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SITZUNGSBERICHTE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
——— —
——r
JAHRGANG 1904.
ERSTER HALBBAND. JANUAR BIS JUNI.
STÜCK I—XXXIV MIT NEUN TAFELN
UND DEM VERZEICHNISS DER MITGLIEDER AM 1. JANUAR 1904.
BERLIN 1904.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
EINER.
Verzeichniss der Mitglieder am 1. Januar 1904 . e -
Dirtnuey: Die Funetion der Anthropologie in der Cultur de 16. ean 17. ehrhunderts x
R. Scnexex: Tlieorie der radioactiven Erscheinungen \
G. Kremn: Bericht über Untersuchungen an den sogenannten Een. und den nt Schiefer.
gesteinen der Tessiner Alpen
Coxze: Hermes Propylaios (hierzu Taf. I) TEE
Tır. Wıesano: Dritter vorläufiger Bericht über die von Pen Könipliehen Mizeen een ee
bungen in Milet
Diers und A.
Kıeix: Die
Renz: Dee ne aus "Milet (hierzu Tat. m.
Meteoritensammlung der Ps Friedrich -Wilhelms - Universität zu
21. Januar 1904 2
F. Braun: Der Hertz’sche Gitterv Sean im Gebiete den Kichiharen. Skanlıng
Harnack: Über einige Worte Jesu, die nicht in den kanonischen Evangelien stehen, nebst einem An
hang über die ursprüngliche Gestalt des Vater-Unsers
WALDEYER:
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jalıresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Jahresbericht
Festrede
über die Sammlung der griechischen Inschriften
über die Sammlung der lateinischen Inschriften .
über die Aristoteles- Commentare P
über die Prosopographie der römischen Bersorzeit . —3. yahrhımdert)
über die Politische Correspondenz Faievrıcn’s des Grossen
über die Griechischen Münzwerke
über die Acta Borussica . i
über den Thesaurus linguae Takdın ; ER
über die Ausgabe der Werke von WEIERSTRASS
über die Kanr-Ausgabe .
über die Ausgabe des Ibn Saad ß
über das Wörterbuch der aegyptischen Ehrache
über den Iudex rei militaris imperii Romani .
über die Ausgabe des Codex Theodosianus
über die Geschichte des Fixsternhimmels .
über das »Tlierreiclı«
über das »Pflanzenreich « ea le
über die Ausgabe der Werke Wıruern vox re Ss
der Deutschen Commission ?
über die Forschungen zur Geschichte der neaharhdeutschen. Schnktsprsche
der Huxsoror -Stiftung
der Savıcny- Stiftung .
der Borp-Stiftung . :
der EouAarn Gernann- Stiftung
der Hersaxn und Erıs£ geb. Ts Were le
Jahresbericht der Kirchenväter- Commission
Jahresbericht der Commission für das Wörterbuch der: Aeitschen Be
Jahresbericht
der Akademischen Jubiläumsstiftung der Stadt Berlin.
Die Runonr Vırenow -Stiftung .
Inhalt.
Uebersicht der Personalveränderungen . . . ae nn re ER de ee RE:
Quiscke: Doppelbrechung der Gallerte beim ann und Schrumpfense- 2 Er
H. Dessau: Zu den Milesischen Kalenderfragmenten . . . ee
Mösıus: Die Formen, Farben und Bewegungen der Vögel, ästhetisch heirachtet Pr a er
R. Heymoss: Die flügelförmigen Organe (Lateralorgane) der Solifugen und ihre elanmar Be
Tu. Arsrecnr: Neue Bestimmung des geographischen Längenunterschiedes Potsdam —Greenwich . .
J. Bernstein und A. Tscuermar: Über das thermische Verhalten des elektrischen Organs von
IEHRERD 9 Se a Ra. 5,0 2% a a
Dirrney: Die Function der Anthropologie in der Cultur des 16. und 17. a unders‘ Fortsetzung .
F. W. K. Mürrer: Handschriften -Reste in Estrangelo-Schrift aus Turfan, Chinesisch-Turkestän
Enter: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes (hierzu Taf.) . ». » ». 22...
C. Rusce und J. Preent: Über die magnetische Zerlegung der Radiumlnien . . » ». 2 2...
Erman: Die Sphinsstlle . . . . i 5 en. 0. 3:
Sacnau: Das Berliner Fragment des Müsä Ibn Ukba. Ein Beitrag zur Kenntniss der ältesten arabi-
Sehen Geschichtslittaratar. (hierzu Tat. IV). re Er EEE
Y. Crönert: Eine attische Stoikerinschrift . . . .. . Dee 0:
SER Über die Aser’schen Functionen von drei _V sränderlichten Rortsetzungi ee
F. Rıcnarz und R. Scnexer: Weitere Versuche über die durch Ozon und dureh Radium hervorgerufenen
Biehterscheinungen . . un co a... e ee ur
Voser: Untersuchungen über das speetroskopische Doppelztenu hen BAuigae. .. . >
van’r Horr, U. Grasst und R. B. Denxısox: Untersuchungen über die Bildungsverhältnisse der oceani-
schen Salzablagerungen. XXXIV. Die Maximaltension der constanten Lösungen bei 83°, .
Scuorrky: Über redueirte Integrale erster Gattung . ». 2 2.2. . ee sareır cı
J. Harımann: Untersuchungen über das Spectrum und die Balın von ö ok . ee
H. BaumnAver: Über die Aufeinanderfolge und die gegenseitigen Beziehungen der Kenn in
täehenreicheneZonen namen a N ee RA
Frogexivs: Über die Charaktere der mehrfach transitiven Geupren Ne et ee ae
Kıein: Über das Meteoreisen von Persimmon Creek, bei Hot House, Cherokee Ge: Nord -Carolina .
van’r Horr, H. Sacns und O. Bıacn: Untersuchungen über die Bildungsverhältnisse der oceanischen
Salzablagerungen. XXXV. Die Zusammensetzung der constanten Lösungen bei 8° . . . .
STRASBURGER: Über Reductionstheilung . . . . 2 R Ks a PER...
von Wıramowırz- MoELLENDORFF: Satzungen einer ınilesreenen Sangergilde (hierzu Taf. NV) ee Re
Tueopor Monnsen-Stiftung . . . ee SE .o Me no
Herrwis, O.: Über Beziehungen des iierischen Eies zu aan aus ihn sich entwiekelnden Embryo. .
Krein: Über einen Zusammenhang zwischen optischen Eigenschaften und chemischer Zusammensetzung
beim Veesuvian« - =. 0.00 00 wenn de 10
van’r Horr und W. MEvErHorFFer: Untersuchungen über die Bildungsverhältnisse der oceanischen Salz-
ablagerungen. XXXVI. Die Mineralcombinationen (Paragenesen) von 25° bis 83° . . ..
E. Barrowırz: Über den Bau des Geruchsorgans der Oyelostomata . » 2 2... er:
C.F. Geiser: Zur Erzeugung von Minimalflächen durch Schaaren von Curven en Arte
Fıscner und F. Wrepe: Über die V, erbrennungswärme einiger organischer Verbindungen . . . . .
von Hermnorrz: Hydrodynamische Untersuchungen. Aus dem Nachlass zusammengestellt von W. Wırn
Praner: Über die Extinetion des Lichts in einem optisch homogenen Medium von normaler Dispersion
Nahren.sVWWeiteres’zu den Milesischen Parapesmen. 2 Sr
SCHREZERRVVS Diehlateinischen Buchstabennamen. 2.2 nr
KekuLE von Stravonitz: Über den Apollldes@Kanachos er ee N
Pıscner: Bruchstücke des Sanskritkanons der Buddhisten aus IdykutSari, Chinesisch- "Turkestän (hierzu
BRARSVIE— VI) 000% te en ns er ee Me Re ee a a re
R. Luruer und F. Weigerr: Über umkehrbare photochemische Reactionen im homogenen System. I. An-
thrazen und Dianthrazen . . . 2... A EI WE EN € er De he
O. Hor.ver-Esger: Jahresbericht über die Heranspabe der Menue Germaniae itorted a ae
WareurG: Über die Ursache des Voltaefleets. Nach Versuchen des Hrn. Greınacner . . . . .»
BtervAcaH: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. . ». . » 2 2 2 2 2 2 2 0 2...
Harnack: Ein neues Fragment aus den Hypotyposen des Clemens . . x 2 2 2 nn ne.
Harnack: Der Brief des britischen Königs Lucius an den Papst Eleuthertus . ». » 2 2 2...
ze.
VERZEICHNISS
DER
MITGLIEDER DER AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
AM 1. JANUAR 1904.
I. BESTÄNDIGE SECRETARE.
Gewählt von der
Er Adamers. =. ..0:....0 . ‚phys.-math.,Classe...
Be kallenrgar nn... plhil.-hist: -
es re plulichnstr -
- Waldeyr .-.. . . . . plıys.-math. -
II. ORDENTLICHE MITGLIEDER
der physikalisch - mathematischen der philosophisch historischen
Classe Classe
De
Hr. Adolf Kürchhoff
Hr. Artinır Auwers . ae EEE Ran
- Johannes Vahlen
- Eberhard Schrader
- Alexander Conze .
- Simon Schwendener
- Hermann Munk . N
: - Adolf Tobler
- Hermann Diels
- Hans Landolt
- Wilhelm Waldeyer . en Re
- Heinrich Brunner .
- Franz Erlhard Schulze BT ET NRE
- Otto Hirschfeld
- Wilhelm von Bezold A N a er
- Eduard Sachau
- Gustav Schmoller .
- Wilhelm Dilthey .
Datum der Königl.
Bestätigung
1S7S April 10.
1893 April
1895 Nov. 2
1896 Jan. 20.
Datum der Königlichen
Bestätigung
1860 März 7.
1866 Aus. 18.
1874 Dec. 16.
1575 Juni 14.
1377 April 23.
1879 Juli 13.
1580 März 10.
1881 Aug. 15.
1881 Aug. 15.
1881 Aue. 15.
1884 Febr. 18.
1854 Aprıl 9.
1884 Juni 21.
1885 März 9
1886 April 5
1887 Jan. 24.
1887 Jan. 24.
1887 Jan. 24.
1
Hr.
Ferdinand Frhr. von Richthofen
Eir:
Ordentliche Mitglieder
der physikalisch - mathematischen der philosophisch -historischen
Classe Olasse
Karl Klein
Karl Möbius .
Adolf Engler Ne a
Hr. Adolf Harnack
Hermann Karl Vogel .
Hermann Amandus Schwarz
Georg Frobenius
Emil Fischer
Oskar Hertwig
Max Planck . 2
- Karl Stumpf
- Erich Schmidt .
- Adolf Erman .
Friedrich Kohlrausch
Emil Warburg
Jakob Heinrich van’t Hoff Re
- Reinhold Koser
- Max Lenz .
Theodor Wilhelm Engelmann .
donitz
- Ulrich von Wilamowitz-
Moellendorff .
Wilhelm Branco el:
Robert Helmert . 5
Friedrich von Hefner ltemjech
Heinrich Müller-Breslau . 2 ee en
- Heinrich Zimmer .
- Heinrich Dressel .
- Konrad Burdach .
- Richard Pischel
Friedrich Schottky . sl
- (Gustav Roethe .
- Dietrich Schäfer
- Eduard Meyer .
- Wilhelm Schulze
(Die Adressen der Mitglieder s. S. VIII.)
- Reinhard Kekule von Stra-
Datum der Königlichen
Bestätigung
1887 April 6.
1888 April 30.
1890 Jan. 29.
1890 Febr. 10.
1892 März 30.
1892 Dec. 19.
1893 Jan. 14.
1893 Febr. 6.
1893 April 17.
1894 Juni 11.
1895 Febr. 18.
1895 Febr. 18.
1895 Febr. 18.
1895 Aug. 13.
1895 Aug. 13.
1896 Febr. 26.
1896 Juli 12.
1896 Dec. 14.
1898 Febr. 14.
1898 Juni 9.
1899 Mai 3.
1899 Aug. 2.
1899 Dec. 18.
1900 Jan. 31.
1901 Jan. 14.
1901 Jan. 14.
1902 Jan. 13.
1902 Mai 9.
1902 Mai 9.
1902 Juli 13.
IO03@Janssers:
1903 Jana%
1905 Aug. 4.
1903 Aug. 4.
1903 Nov. 16.
II. AUSWÄRTIGE MITGLIEDER
der physikalisch-mathematischen
Classe
der philosophisch -historischen
Classe
Hr. Otto von a in
Leipzig
Hr. Albert von Koelliker in
Würzburg . BE U BE IE SEES
- Eduard Zeller in Stuttgart
- Theodor Nöldeke in Strass-
burg
- Friedrich Tnheofz Dr, in
Winterthur .
- Theodor von Sickel ın en
- Pasquale Villari in Florenz .
- Franz Bücheler in Bonn
Hr. Wilhelm Hittorf in Münster i.W..
Lord Kelvin in Netherhall, Largs
Hr. Marcelin Berthelot ın Parıs .
- Eduard Suess in Wien
- Eduard Pflüger in Bonn ee Br a at
Rochus Frhr. von Lilieneron ın
Schleswig
r. Leopold Delisle in Paris
IV. EHREN- MITGLIEDER.
Earl of Crawford and Balcarres in Haigh Hall,
Hr. Max Lehmann in Göttingen
- Ludwig Boltzmann in Wien A
Se. Majestät Oskar II., König von Schw En ed N
Hugo Graf von und zu Terchenfeld in Berlin
Hr. Friedrich Althoff in Berlin
- Richard Schöne in Berlin :
Frau Elise Wentzel geb. Heckmann in Berlin
Hr. Konrad Studt in Berlin .
- Andrew Dickson White in Ithaca, at nz
Wigan
II
Datum der Königlichen
Bestätigung
1855 Nov. 30.
1892 März 16.
1895 Jan. 14.
1900 März 5.
1901 Jan. 14.
1902 Nov. 16.
Datum der Königlichen
Bestätigung
1883 Juli 30.
1887 Jan. 24.
1888 Juni 29.
1897 Sept. 14.
1900 März 5.
1900 März 5.
1900 März 5.
1900 März 5.
1900 März 17.
1900 Dee. 12.
1*
IV
Hr.
V. CORRESPONDIRENDE MITGLIEDER.
Physikalisch- mathematische Classe.
Ernst Abbe in Jena.
Alexander Agassiz in ae a
Adolf von Baeyer in München
Friedrich Beilstein in St. Petersburg .
Ernst Wilhelm Benecke in Strassburg
Eduard van Beneden in Lüttich .
Oskar Brefeld in Breslau
Otto Bütschli in Heidelberg
ir Jolm Burdon- Sanderson in Oxford
*. Stanislao Cannizzaro in Rom
Karl Chun in Leipzig
Gaston Darboux in Paris £
Richard Dedekind in Braunschweig .
Nils Christofer Duner in Upsala
Ernst Ehlers in Göttingen .
Rudolf Fittig in Strassburg
Walter Flemming in Kiel
Max Fürbringer in Heidelberg
Albert Gaudry in Paris .
» Archibald Geikie ın London
. Wolcott Gibbs in Newport, R. 1.
Er Gill, Kgl. Sternwarte am Ca der Cuten Hoffnung
Paul Gordan in Erlangen
Ludwig von Grajf in Graz .
Gottlieb Haberlandt in Graz .
Julius Hann in Wien
Victor Hensen in Kiel :
Richard Hertwig in München .
Wilhelm His in Leipzig .
‚Joseph Dalton Hooker ın Sl
William Huggins in London
”. Leo Koenigsberger in Heidelberg .
Michel Levy in Paris.
Franz von Leydiy in Ben 0. m T..
Gabriel Lippmann in Paris
Moritz Loewy in Paris .
Hubert Ludwig in Bonn .
Datum der Wahl
1896
1895
1884
1888
1900
1887
1899
1897
1900
1888
1900
1897
1880
1900
1897
1896
1893
1900
1900
1889
1885
1890
1900
1900
1899
1889
1898
1898
1893
1854
1895
1893
1898
1887
1900
1895
1898
Oct.
Juli
Jan.
Dee.
Febr.
Nov.
Jan.
März
Febr.
Dee.
Jan.
Febr.
März
Febr.
Jan.
Oct.
Juni
Febr.
Febr.
Febr.
Jan.
Juni
Febr.
Febr.
Juni
Febr.
Febr.
29.
18.
7.
April 28.
Juni
Juni
Dee.
Mai
l&
1
12.
4.
Juli 28.
Jan.
Febr.
Dee.
Juli
20.
22.
12.
14.
Physikalisch-mathematische (lasse.
Hr. Eleuthere Mascart in Paxis . :
- Dmitri) Mendelejew in St. Peferebure
- Franz Mertens in Wien .
- Henrik Mohn in Christiania
- Alfred Gabriel Nathorst in Stoe oe
- Karl Neumann in Leipzig E i
- Georg von Neumayer in Nenkadı asıd. ad ’
- Simon Neweomb in Washington .
- Max Noether in Erlangen
- Wilhelm Pfeffer ın Tanz \
- Ernst Pfitzer in Heidelberg .
- Emile Picard in Paris
- Henri Poincare ın Parıs .
- Georg Quincke in Heidelberg
- Ludwig Radlkofer in München
Sir William Ramsay in London
Lord Rayleigh in Witham, Essex . k
Hr. Friedrich von Recklinghausen in Strassburg
- Gustaf Retzius in Stockholm
- Wilhelm Konrad Röntgen in München
- Heinrich Rosenbusch in Heidelberg
- George Sahnon in Dublin
- Georg Ossian Sars in Christiania
- Giovanni Virgimo Schiaparelli in Mailand
- Friedrich Schmidt in St. Petersburg . {
Hermann Graf zu Solms- Laubach in Strassburg .
Hr. Johann Wilhelm Spengel in Giessen .
- Eduard Strasburger in Bonn
- „Johannes Strüver in Rom
- Otto von Struve in Karlsruhe .
- Julius Thomsen in Kopenhagen
- August Toepler in Dresden .
- Melchior Treub in Buitenzorg
- Gustav Tschermak in Wien .
Sir Willam Turner in Edinburg
Hr. Woldemar Voigt in Göttingen .
- Karl von Voit in München i R ;
- Johannes Diderik van der Waals in Aerden
- Eugenius Warming in Kopenhagen
- Heinrich Weber in Strassburg .
- August Weismann in Freiburg i.B. .
- Julius Wiesner in Wien . !
- Alexander William Williamson in High Pitfold, Hasleniere
- Clemens Winkler in Dresden
Datum der Wahl
1895
1900
1900
1900
1900
1893
1896
1883
1896
1889
1899
1898
1896
1879
1900
1896
1896
1885
1893
1896
1887
1873
1898
1879
1900
1899
1900
1889
1900
1868
1900
1879
1900
1881
1898
1900
1898
1900
1899
1896
1897
1899
1875
1900
Juli
Febr.
Febr.
Febr.
Febr.
Mai
Febr. !
Juni
Jan.
Dee.
Jan.
Febr.
Jan.
März
Febr.
Oct.
Oct.
Febr. :
Juni
März
Oct.
Juni
Febr. 2
Oct.
Febr.
Juni
Jan.
Dee.
Febr.
April
Febr.
März
Febr.
März
März
März
Febr.
Febr.
Jan.
Jan.
März
Juni
Nov.
Febr.
vI
Physikalisch-mathematische Classe.
Datum der Wahl
ee
Hr. "Adslf, Witliner. in. Aachen. . \.., ee BB deMarzuae
= Rerdmand Zirkel ın Leipzig . „Va me . 1887 Oet. 20.
- Karl Alfred von Zittel in München . . . . ........1895 Juni 13.
Philosophisch-historische Classe.
Hr. Wilhelm Ahlwardt in Greifswald. - . . .: 2.2.2...1888 Febr. 2.
= Karl von Ama ın München ': .. 0. We Far IT:
- Graziadio Isaia Ascohk in Mailand . . . 2 2 ..2..2...1887 März 10.
- Theodor Aufrecht m Bonn . . ee. MlSCAMEEBERR
- Ernst Immanuel Bekker in He ee leid ‚Ihnilt: 28),
eu Otiol-Benndorf,in Wien... ..... 00 Swen PIUS N ee
= BmiedrichBlass in Halle a. S.. . : mr 900 Tanzes:
=" Eugen »Bormann in Wien . .: . a we 2 NLRORTEREEZe
=, Ingram: Byywater in Oxford . . . „es am... „SS Now
- - Antonio Maria Cerianv n Mailand . : ...2..........1869 Nov. 4.
- Heinrich Denifle in Rom. . . ee BIOGDEETETEN
- Wilhelm Dittenberger in Halle a.S.. ... . . ...... 1882 Juni 15.
= Touis.:Duchesne in. Rom... 1. 10.2... 0 re TI
= Benno! Erdmann m Bom . ... 2 „aan ran
- Kuno Fischer in Heidelberg . . . - . 2..2.2.....1885 Jan. 29.
- Paul Foucart m Panrıs . . a lalorkechniit 17,
- Ludwig Friedländer in Sue ee el/0) Alain. - IV
- Oskar von Gebhardt in Leipig . : - » 22... ...1903 Ali 9.
- Theodor Gomperz in Wien. . . en kelepy (Ola 112):
- Franeis Liewellyn Griffith in Ashton une Yu >17: 24 1900 Janı 18:
- Gustav Gröber in Strassburg . . . . . sn. 90T le
= WWällielmvon Hartel in Wien . . a BEI
- Georgios N. Haizidakis in Athen. . . . 2. 2... ... 1900 Jan. 18.
- Albert Hauck in Leipzig . - EI Eee let
- Johan Ludvig Heiberg in Kopenhagen erlaan el8I6 Marz
- Max Heinze in Leipzig . - - ee ll Ann: Silleı
- Richord Henze in Wien . .. 2 „u wear 29a:
- Antoine Heron de Villefosse in Paris. . . . » . .„ .„ 1893 Febr. 2.
- Leon Heuzey in Paris . . . ee Ko)oi0) Asien ler
- Hermann von Holst in Freiburg i. FE ee ikerser ale „29:
- Theophile Homolle in Athen . . . . ER EIERN ON
- Vatroslav JagiE n Wien. . . ee NED ee
- William James in Cambridge, Mass. er Nee
- Karl Theodor von Inama-Sternegg in Wien . . .. . . 1900 Jan. 18.
- Ferdinand Justi in Marburg . . . . ... 20.0.0... .1898 Juli 14.
Karl Just inıBonn 2 2 re 5a aN rs lE
- Panagiotis Kabbadias in an a er, >; .+..1887 New. 17.
- Frederic George Kenyon in London . . . » . . . „1900 Jan. 18.
- Eranz Keelhorn in Göttingen . . . . .n „me 1880 Dee. 16.
vu
Philosophisch-historische Classe.
us en a Datum der Wahl
Hr. Georg Friedrich Knapp in Strassbug . . » 2.0.1893 Dee. 14.
SS BastlRlzan]schewsnaSts Petersburg Sr een 1891 Juni 4.
- August Leskien in Leipzig . » » » 22 en. 1900 Jan. 18.
a ndla Benasseur in Patıs 20... ae, 1900. Jan. 18,
- Giacomo Lumbroso n Rom . . 2 ee STARNOveR 2.
- Johm Pentland Mahaffy in Dublin . . 2... 2... 1900 Jan. 18.
- Frederic William Maitland in Cambridge . . -: . . .. 1900 Jan. 18.
lasim Maspego in Paris. 2. ar Ban 51897 Fulir; 15.
- Adolf Michaelis in Strassburg . . . - ne kereisı Ahnnndin all,
- Alexander Stuart Murray in London . . . . 2... 1900 Jan. 18.
Ele Messoasan. Wien. > ea es 9 290 239005, Jan.) 18.
Heinrich NtssenaneBonner near 1900 Tanz 18:
Sr Juhusı. Opperb in Ranise. A N 0502 Marzel
- Georges Perrot in Paris . . ER SS
- Wilhelm Radloff in St. Beterebure SNETEIETN 218957 Jan 1:0:
- Victor Baron Rosen in ‘St. Petersburg . . . . . . . 1900 Jan. 18.
- Richard Schroeder in Heidelberg . . . . . . .......1900 Jan. 18.
= Emil Schürer in. Göttingen... m an. 0.2.0.2 0:5 9% 118935 duli 20.
il Smarem Paris. ev. 2 A Neal? 1900 Jan 18.
EB Uihsard. ‚Sievers in. Leipzie. . "2... nen 1900, Jana,
- Christoph von Sigwart in Tübingen . . . . ........1885 Jan. 29.
- Albert Sorel in Paris. . . u. ee 900 ans
- Friedrich von Spiegel ın München ES AT NER 3182er:
- Henry Sweet in Oxford. . . a INS ROHR Tune 6;
Sir Edward Maunde Thompson in Load BE SONST m elsghr Mar 2
Hr. Vilhelm Thomsen in Kopenhagen. . . . 2. 2........1900 Jan. 18.
ueHerman. Usener in. Bonn . 2 ns ne
Ga:.0lamor Vateli snnRlovenz .r a en 97egulto:
Kurt Wachsmushin: Leipzig...) „ul ag. Sarnen 7 218m, A.
rlemele WerlanaParısı no Te 1896 MärzAl2:
- Julius Wellhausen in Göttingen . . . . 2.2.2. ...1900 Jan. 18.
= Luchng Wünmer:n Kopenhagen. .°...'2.... 1.1891 Juni 4.
- Wilhelm Windelband in Heidelberg . . . . . ..... 1903 Febr. 5.
Sllreım Wundtänleipzig u. nn... 202070619007 Jan:, 718.
BEAMTE DER AKADEMIE.
* Bibliothekar und Archivar: Dr. Köhnke.
Wissenschaftliche Beamte: Dr. Dessau, Prof. — Dr. Ristenpart. — Dr. Harms.
Dr. Czeschka Edler von Maehrenthal, Prof. — Dr. von Fritze. — Dr. Karl Schmidt.
VI
WOHNUNGEN DER ORDENTLICHEN MITGLIEDER
UND DER BEAMTEN.
Hr. Dr. Auwers, Prof., Geh. Ober-Regierungs-Rath, Lindenstr. 91. SW. 68.
- = von Bezold, Prof., geh. Ober-Regierungs-Rath. Lützowstr. 72. W
- = Branco, Prof., Geh. Bergrath, Maassenstr. 35. W. 62.
- = Brunner, Prof., Geh. Justiz-Rath, Lutherstr. 36. W. 62.
- - Bwrdach, Professor, Grunewald, Paulsbornerstr. 8.
- = ÜConze, Professor, Grunewald, Wangenheimstr. 17.
- - Diels, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Kleiststr. 21. W. 62.
- = Dilthey, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Burggrafenstr. 4. W. 62.
- = Dressel, Professor, Charlottenburg, Knesebeckstr. 3.
- = Engelmann, Prof., Geh. Medieinal-Rath, Neue Wilhelmstr. 15. NW.7.
- = Engler, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Steglitz, Neuer Botanischer
Garten.
- = Erman, Professor, Steglitz, Friedrichstr. 10/11.
- - Fischer, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Hessische Strasse I—4. N. 4.
- = Frobenius, Professor, Charlottenburg, Leibnizstr. 70.
- - Harnack, Professor, Fasanenstr. 43. W. 15.
- - von Hefner-Alteneck, Hildebrandstr. 9. W. 10.
- - Helmert, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Potsdam, Geodätisches Institut.
- - Hertwig, Prof., Geh. Medieinal-Rath, Grunewald, Wangenheimstr. 28.
- - Hürschfeld, Professor, Charlottenburg, Carmerstr. 3.
- - van’t Hof, Professor, Charlottenburg, Uhlandstr. 2.
- = Kekule von Stradonitz, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Landgrafen-
str. 19. W. 62.
- Kirchhoff, Prof., Geb. Regierungs-Rath, Matthaeikirchstr. 23. W.10.
- - Klein, Prof., Geh. Bergrath. Charlottenburg, Joachimsthalerstr. 39/40.
- = Kohlrausch, Professor, Charlottenburg, Marchstr. 25°.
- = Koser, Geh. Ober - Regierungs-Rath, Charlottenburg, Carmerstr. 9.
- = Landolt, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Albrechtstr. 14. NW. 6.
- - Lenz, Professor, Augsburgerstr. 52. W. 50.
- = Meyer, Professor, Gross-Lichterfelde West, Mommsenstr. 7/8.
- - Möbius, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Sigismundstr. 8. W. 10.
- - Miüller-Breslu, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Grunewald, Kurmär-
kerstr. 8.
- - Munk, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Matthaeikirchstr. 4. W.10.
- = Pischel, Professor, Passauerstr. 23. W. 50.
- Planck, Professor, Achenbachstr. 1. W. 50.
Hr.
Hr.
Dr.
IX
Freiherr von Richthofen, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Kurfürsten-
sor- Ll’0. V262:
Roethe, Professor, Westend, Ahorn-Allee 30.
Sachau, Prof., Geh. Regierungs-Rathh, Wormserstr. 12. W. 62,
Schäfer, Prof., Grossherzogl. Badischer Geh. Rath, Steglitz, Fried-
riehstr. 7.
Schmidt, Professor, Derfflingerstr. 21. W. 35.
Schmoller, Professor, Wormserstr. 13. W. 62.
Schottky, Professor, Steglitz, Fichtestr. 12°.
Schrader, Prof., Geh. Regierungs-Ratlı, Kronprinzen -Ufer 20. NW. 40.
Schulze, Franz Bilhard, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Invalidenstr. 43.
N. 4.
Schulze, Wilhelm, Professor, Kaiserin Augustastr. 72. W. 10.
Schwarz, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Grunewald, Humboldtstr. 33.
Schwendener, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Matthaeikirchstr. 28. W. 10.
Stumpf, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Augsburgerstr. 61. W. 50.
Tobler, Professor, Kurfürstendamm 25. W. 15.
Vahlen, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Genthinerstr. 22. W. 35.
Vogel, Prof., Geh. Ober-Regierungs-Rath, Potsdam, Astrophysikali-
sches Observatorium.
Waldeyer, Prof., Gel. Mediemal-Rath, Lutherstr. 35. W. 62.
Warburg, Prof., Geh. Regierungs-Ratlı, Neue Wilhelmstr. 16. NW. 7.
von Wilamowitz- Moellendorjf, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Westend
Eichen- Allee 12.
Zimmer, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Halensee, Auguste Victoriastr. 3.
’
. Czeschka Edler von Maehrenthal, Professor, Wissenschaftlicher Beamter,
Stendalerstr. 3. NW.5.
Dessau, Professor, Wissenschaftlicher Beamter, C harlottenburg, Car-
ımerstr. 8.
von Fritze, Wissenschaftlicher Beamter, Kurfürstenstr. 112. W. 62.
Harms, Wissenschaftlicher Beamter, Schöneberg, Erdmannstr. 3.
Kölmke, Bibliothekar und Archivar, Charlottenburg, Goethestr. 6.
Ristenpart, Wissenschaftlicher Beamter, Friedenau, Beckerstr. 6.
Schmidt, Karl, Wissenschaftlicher Beamter, Bayreutherstr. 20. W. 62.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei
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| KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
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| ' AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
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8 7. Januar 1904.
4
MIT' DEM VERZEICHNISS DER MITGLIEDER DER AKADEMIE
AM 1. JANUAR 1904.
BERLIN 1904.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
WrzleqalegelerelerelerelerelereleteletelerelepeleteletelepaletetsTeI I -TSISTSITSI-TSIeTeIT=1-T=1=TeI-TeISFelST=IST=IT=JSTeISTeIST=ITeleT=1eT=lreler=lereernlSrSJSr=lSrulerSlerulerelern
Auszug aus dem Reglement für die Redaetion der »Sitzungsberichte«. ;
51.
2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Octav regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die sämmtlichen zu einem Kalender-
jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
fortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserdem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch - mathematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch -historischen Classe ungerade
Nummern.
82.
1. Jeden Sitzungsbericht eröffnet eine Übersicht über
die in der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilungen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten.
2. Darauf folgen die den Sitzungsberichten über-
wiesenen wissenschaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckfertig übergebenen, dann die, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gehö-
rigen Stücken nicht erscheinen konnten.
welche nieht in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet.
85.
Den Bericht über jede einzelne Sitzung stellt der
Secretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte.
Derselbe Secretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei-
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
$ 6.
1. Für die Aufnahme einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $ 41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglements die folgenden beson-
deren Bestimmungen.
2. Der Umfang der Mittheilung darf 32 Seiten in
Octav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nicht übersteigen. Mittheilungen von Verfassern, welche
der Akademie nicht angehören, ‚ sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist
nur nach ausdrücklicher Zustimmung der Gesammt -Aka-
demie oder der betreffenden Classe statthaft.
3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
tenden Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Nothwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzschnitte fertig sind und von
besonders beizugebenden Tafeln die volle erforderliche
Auflage eingeliefert ist.
87.
1. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
schaftliche Mittheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer Ausführung, in
deutscher Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2. Wenn der Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
Die Akademie versendet ihre »Sitzungsberichte« an Ten Se, mit, en sie im Schriftverkehr steht,
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinbart wird, rn Irei
die Stücke von Januar bis April in der ersten Hälfte des .
» Mai bis Juli in der ersten Hälfte des Mona.
October bis December zu Anfang des
®
Mittheilungen, |
- nummer, Tag und Kategorie der Sitzung, dere
_ plare auf ihre Kosten abziehen lassen.
BR 528.
; spondirender Mitglieder direet bei der Akademie oder bei
ist, steht es frei, auf Kosten der RS weitere gleiche
stimmte Mittheilung muss in einer akademischen Sean | |
sobald das. _Manuseript Benckfertie vorliegt,
öffentlichen beabsichtigt, als ihm dies nach den gelten-
den Rechtsregeln zusteht, so bedarf er dazu der Ein-
willigung der Besound. Akademie oder der betreffenden
Verlangen verschickt. Die Verfasser verzichten damit
auf Erscheinen i ihrer Mittheilungen nach acht Tagen.
a‘ y „ $ 11. £ 2 \
re Pen Arbeit erhält nerkgeiitä
fünfzig Sonderabdrücke mit einem Umschlag, auf welchem
der Kopf der Sitzungsberichte mit Jahreszahl, Stück-
Titel der Mittheilung und der Name des Verfassers stehen.
2. ei Mittheilungen, die mit dem Kopf der Sitzungs-
berichte und einem angemessenen Titel nicht über zwei
Seiten | len, fallt in der Regel der Umschlag fort.
% Einem Verfasser, welcher Mitglied der Akademie
Sonderabdrücke bis zur Zahl von noch hundert, und
auf sei ine Kosten noch weitere bis zur Zahl von ne
hundert (im ganzen also 350) zu unentgeltlicher Na
theilung abziehen zu lassen, sofern er diess rechtzeitig
dem redigirenden Secretar angezeigt hat; wünscht er auf \
seine ‚Kosten noch mehr Abdrücke zur Vertheilung zu 1
erhalten, so bedarf es der Genehmigung der Gesammt-
Akademie oder der betreffenden Classe. — Nichtmitglieder |
erhalten 50 Freiexemplare und dürfen nach rechtzeitiger |
Anzeige bei dem redigirenden Secretar weitere 200 Exem- |
; Test zur Aufnahme in die Sitzungsberichte be-
vorgelegt: werden. Abwesende Mitglieder, sowie alle
Nic} htmitglieder, haben hierzu die Vermittelung eines ihrem
Fache angehörenden ordentlichen Mitgliedes zu benutzen. |
Wenn s schriftliche Einsendungen auswärtiger oder eoıre-
einer der ‚Classen eingehen, so hat sie der vorsitzende
oder durch ein ‚anderes Mitglied zum
Vortrage zu bringen. Mittheilungen, deren Verfasser der
Akademie ı nicht t angehören, hat er einem zunächst SreIBneR,
scheinenden Mitgliede zu überweisen.
[Aus Stat. sa, 2. — Für die Aufnahme bedarf es
einer ausdrücklichen Genehmigung der Akademie oder
einer der Classen. Ein darauf gerichteter Antrag kann,
|
|
|
gestellt und ‚sogleich. zur ums
ET u 829.
a Der redigirende Secretar ist für den Inhalt des
ı Theils der Sitzungsberichte, jedoch nicht _
} ı aufgenommenen kurzen Inhaltsangaben der
gelesenen Abhandlungen verantwortlich. Für diese wie
für alle übrigen Theile der Sitzungsberichte sind
nach Jed er rAene. nur die Verfasser verant-
wortlich. REN! pi
gebracht werden.]
al, nämlich:
nn a
er in
echt ie Er Fertigstellung des Registers.
1
SITZUNGSBERICHTE 1904.
l:
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
7. Januar. Sitzung der philosophisch-historischen Classe.
Vorsitzender Secretar: Hr. Dies.
1. Hr. Dirtuey las über die Function der Anthropologie
im 16. und 17. Jahrhundert.
Er behandelte die Entwickelung der Anthropologie in diesem Zeitraum und ihr
Verhältniss in ihrer ersten Periode zu der Dichtung der Zeit und in der zweiten zu
den Geisteswissenschaften.
2. Derselbe legte im Auftrage des Verfassers vor: B. ErDMAnN,
Historische Untersuchungen über Kanr’s Prolegomena. Halle, Nie-
meyer, 1904.
3. Der Vorsitzende legte folgende mit Unterstützung der Aka-
demie gearbeiteten Werke vor: 1. Georgii Monachi Chronicon ed. C. DE
Boor. Vol. I. Lipsiae, Teubner, 1904; 2. A. Fıscnuer, Das deutsche
evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts. Nach dessen Tode
vollendet und herausgegeben von W. Tüneer. Bd. ı. Gütersloh, Ber-
telsmann, 1904.
Sitzungsberichte 1904. 1
2 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 7. Januar 1904.
Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des
16. und 17. Jahrhunderts.
Von W. DiLrazy.
Erster Abschnitt.
Menschenkunde und Theorie der Lebensführung im Zeitalter der
Renaissance und Reformation.
Die Änderung der Lebensverhältnisse während des 15. Jahrhunderts
rief im Gegensatz zur Weltverneinung des Mittelalters ein neues Gefühl
les Lebens hervor, und das unter diesen Bedingungen entstehende
Wiederverständnis des Altertums gab Material und Formeln, es aus-
zudrücken. Die Bejahung des Lebens war der Grundzug der neuen
Zeit; der Mensch und seine natürlichen Verhältnisse zu seiner Um-
gebung wurden Mittelpunkt des Interesses; sich ausleben, seinen Macht-
willen geltend machen, in der Schönheit des Lebens und in deren
Retlex, der Literatur und Kunst, sich selber genießen — dazu ein
verschärfter Sinn für die Auffassung der Charaktere, für die Kenn-
zeichen der Leidenschaften und für das Triebwerk der Affekte, wie
: dies
er an den Höfen und in den Stadtrepubliken sich ausbildete
war der neue Lebenszusammenhang, der sich über den Horizont des
Bewußtseins damals erhob. Und der philosophische Reflex hiervon
war eine umfangreiche Literatur: ihr Gegenstand war der Mensch, die
physiologische Bedingtheit des Seelenlebens, die Macht der Affekte,
die Temperamente, die Verschiedenheit der Charaktere von Individuen
und von Völkern, die Physiognomik und der sonstige Inbegriff von
Mitteln, Charaktere zu erkennen, und endlich die Folgerungen aus
dieser Menschenkunde für die Lebensführung: sie bezogen sich auf
las Betragen, Verständnis und Behandlung anderer Menschen und Be-
stimmung des sittlichen Lebenszieles. Die Grundformen philosophischer
Lebenshaltung, wie das Altertum sie entwickelt hatte, treten jetzt zu-
erst wieder mit offenem Visier und in freiem Tageslichte uns entgegen.
Lorenzo Varta, Erasmus, MAcHIAVELLI, ÜARDANO, MONTAIGNE, JUSTUS
Lirsius, GIornano Bruno vertreten Lebensstellungen des Menschen, und
eben die Erhebung ihrer Lebensstimmung zu philosophischem Bewußt-
sein gibt ihnen ihre ausgeprägte Physiognomie.
Dirvney: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts. 3
Die so entstehende Literatur hat ihre schulmäßige Doktrin in
einer neuen Anthropologie. Diese erforscht im Unterschied von der
modernen Psychologie die Inhaltlichkeit der Menschennatur selber, den
Lebenszusammenhang, in welchem die Inhalte und Werte des Lebens
fe
zum Ausdruck gelangen, die Entwicklungsstufen, in denen das ge-
schieht, das Verhältnis zur Umgebung, endlich die individuellen Da-
seinsformen, zu denen der Mensch sich differenziert, und so entspringt
folgerichtig aus ihr eine Lehre von der Lebensführung, eine Beurteilung
der Lebenswerte, kurz eine Lebensphilosophie. Diese Literatur setzte
ein mit der Vertiefung in die Person, welche das eigene Innere zu
erfassen unternahm, um auf diese Ansicht ihre Lebensführung zu
gründen. Prrrarca und die moralphilosophischen Traktate aus der
großen Zeit von Florenz, welche an die Stoa sich anschließen, stehen
am Beginn dieser Bewegung." Das neue Wissen um den Menschen
vertieft sich dann beständig in VıvEs, ÜARDANO, SCALIGER, TELESIO,
MOoNTAIGNE, GIORDANO Bruno; drei neue Momente führen dann die wissen-
schaftliche Vollendung dieser Anthropologie herbei: die Inventarisie-
rung und Systematisierung der stoischen Überlieferungen durch die
holländische Philologie, die Anwendung der Gaumerschen Mechanik
auf das Seelenleben und endlich, seit Huvsco Grorws, der Aufbau des
natürlichen Systems von Recht, Staat und Religion auf die neue an-
thropologische Wissenschaft.
Diese Literatur umfaßt im Gegensatz zur scholastischen Be-
griffswissenschaft neben den schulmäßigen Schriften über Anthro-
pologie, den Eneyklopädien und den Werken über die Natur Ge-
spräche, Briefe, Essays. So konnte sich die neu auftretende Kunst,
den Menschen zu sehen, den Zusammenhang von Äußerem und Innerem
zu gewahren, Temperament und Individualität aufzufassen, der ganzen
gebildeten Welt mitteilen. Es entstanden die bewunderungswürdigen
historischen Charakteristiken des MacnsmavErLı und GUICCIARDINI, die
Selbstbiographien des Cerriını und Carpano. Was in Italien zuerst
gewonnen war, breitete sich über die anderen Länder aus, im Zu-
sammenhang damit entstand die große Diehtung, mit ihrer Kraft, die
Innerlichkeit auszusprechen, wie sie in den Kanzonen und Sonetten
seit Perrarca und ihren Erläuterungen geübt wurde, und mit ihrer
naiven Macht der Charakteristik in Roman und Drama. In dieser
ganzen Literatur tritt das Verhältnis des Menschen zu den großen
Zweckzusammenhängen, in die er verwebt ist, gänzlich zurück, un-
vergleichlich aber macht sich die Kunst geltend, Personen hinzustellen
und Leidenschaften zu schildern. Dies ist die Folge einer wissen-
! Näheres in meiner Abhandlung, Archiv für Philosophie IV 624 ff.
I*
4 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 7. Januar 1904.
schaftlichen Auffassung, die noch nicht die tieferen Probleme der
Gesetzlichkeit des Seelenlebens zu bewältigen vermag, aber in der
äußeren und inneren Beschreibung, insbesondere der Affekte und
Charaktere, unvergleichlich ist. Das Sehen dieser Zeit ist naiv, sinnen-
stark, den ganzen leiblich-seelischen Menschen umgreifend und voll
von genialem Detail. War doch auch damals das politische und
soziale Handeln mehr auf die Beobachtung des Menschen, auf die
Rechnung mit den herrschenden Persönlichkeiten und ihren Mitteln
gegründet als auf das Studium der Zweckzusammenhänge des wirt-
schaftlichen und sozialen Lebens.
Die Nationen sind in diesem Zeitraum noch durch die lateinische
Sprache und bereits durch den lebendigsten Verkehr derer, die in der
neuen Richtung vorwärtsgingen, miteinander verbunden. Ein Grund-
unterschied macht sich doch geltend. Bei den romanischen Völkern
mit ihrer animalischen Lebendigkeit, ihrem Lebenssinn, ihrem Rechnen
mit den gegebenen Kräften, mit ihrem Beobachtungsvermögen hat sich
diese Literatur zunächst entwickelt, und als sie dann auf die ernsten,
schweren, religiös-grübelnden nordischen Völker überging und dort unter
dem Einfluß der Reformation sich entfaltete, hat sie einen ganz anderen
Charakter angenommen.
Fortbestand und Umbildungen der zwei Hauptformen der
mittelalterlichen Anthropologie.
Die aristotelisch-scholastische und die platonisch-mystische An-
thropologie, die sich im Mittelalter entwickelt hatten, bestanden auch
im 16. Jahrhundert fort. Die erstere Doktrin überwog in den kirch-
lichen Personen und Instituten. Und es entsprach nur deren Bedürfnis,
wenn hier zuerst die aristotelische Theorie von den Gemütsbewegungen
zu einer Klassifikation fortgebildet wurde. Innerhalb der Vierteilung
des Aristoteles fassen wir hier das praktische Verhalten in den sinn-
lich bedingten Begehrungszuständen und Leidenschaften ins Auge.
Der oberste Einteilungsgrund des affektiven Verhaltens bei Tmomas
geht zurück auf Ar. de anima Ile 3 Ile 10. Das Streben (örezıc), sofern
es nicht vom Verstande geleitet wird, ist entweder Emieymia (cupiditas)
oder örrA (ira). Dies ist verwandt mit der platonischen Sonderung der
zwei ersten Seelenteile. Entsprechend sondert Tuomas das concupisci-
bile und iraseibile; im ersteren herrscht das direkte Verhältnis des
sinnlichen Begehrens zu Gut oder Übel; treten Schwierigkeiten in den
Weg, so entsteht das irascible Verhalten, dessen charakteristisches
Merkmal die Anstrengung ist, das Sichemporarbeiten gegenüber der
Hemmung.
Dirrney: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts. 3)
Die Einteilung entnimmt aus der inneren Erfahrung den Verlauf im Fühlen
und Streben und die Gegensätzlichkeit in den Affektzuständen. Da aber die weitere
Unterscheidung der einzelnen Affekte durch deren innere Merkmale sehr schwierig
ist und die Vorstellungen von den Gegenständen, auf die sie sich beziehen, am deut-
lichsten in diesen Gesamtzuständen hervortreten, werden die ferneren Einteilungen
hergenommen von den äußeren Bedingungen, unter denen die Affekte auftreten. Vor
allem unterscheidet Tuomas die Momente des Verlaufs (gradus in processu appetitivi
motus), entweder Liebe, Verlangen, Freude, oder Haß, Abwendung und Schmerz.
So entsteht die Anordnung, die in folgender Tabelle ausgedrückt werden mag:
Coneupiseibile Iraseibile
Circa bonum: Circa malum: Circa bonum Circa malım
Amor Odium Futurum:
A nm.: Daraus folgend, daß ein Spes a desperatio Audacia — timor
simile vel conveniens sich mit
dem strebenden Vermögen ver- Praesens:
bindet. Ira
Desiderium Fuga
Gaudium Tristitia
Jenseits des affektiven Verhaltens die Sphäre des Willens, unter den Bedingungen
der Sinnlichkeit, aber von ihr unabhängig, in der freien Entscheidung aus Vernunft-
gründen; Stadien: eonsilium, consensus, usus. Hier entspringen die vier Kardinal-
tugenden, während aus dem theoretischen Verhalten die intellektuellen Tugenden
hervorgehen. Das Ziel des Seelenlebens ist also wie bei Aristoteles ein doppeltes und
das beschauliche Verhalten wird bevorzugt. Eine unermeßliche Literatur schloß sich
an Tsomas an, und durch SuAarez gelangte dieser Standpunkt im 17. Jahrhundert zur
Herrschaft in den kirchlichen Kreisen.
Eine zweite Grundform der von der christlichen Religiosität be-
stimmten Anthropologie findet sich in den mystischen Schriften, welche
von Platon oder dem Neuplatonismus bestimmt sind. Die metaphysische
Einrahmung dieser Anthropologie wird in allen diesen Systemen durch
dieselben Begriffe gebildet. Verwandtschaft der Seele mit der intelli-
giblen Welt und Ausgang aus ihr, die Inkorporation derselben, die
so entstehende Zweiseitigkeit ihres Wesens, nach welcher sie der sinn-
lichen und zugleich der übersinnlichen Ordnung angehört, der so be-
dingte zeitliche Verlauf ihres Lebens, und endlich das in ihrer Ver-
wandtschaft bedingte Ziel ihrer Rückkehr in die intelligible Welt. Die
näheren Bestimmungen dieser Metaphysik variieren nach dem Verhältnis
von Emanation und Schöpfungslehre, von Kreation der Seele oder
stufenweisem Herabsteigen der göttlichen Kraft oder Abfall der Seele.
Überall aber in dieser platonisierenden Mystik stammt aus diesem
metaphysischen Hintergrund der einheitliche metaphysische oder reli-
giöse und zugleich der sittliche Gesichtspunkt, unter welchem der
Ablauf des Lebens aufgefaßt wird. Alle psychischen Vorgänge sind
verknüpft zu dem einheitlichen Zusammenhang der Verwirklichung des
höchsten Gutes: der Vereinigung mit der inteiligiblen Welt: sie sind
Seiten und Stufen dieses Prozesses. So wurde hier zum ersten Male
ein Typus von Entwicklungsgeschichte der Seele im Zeitverlauf auf-
6 Sitzung der philosophisch - historischen Classe vom 7. Januar 1904.
gestellt. So einseitig derselbe war, lag doch hierin die hinreißende
Macht, welche diese Lebensdeutung und die aus ihr fließende Anthro-
pologie geübt hat. Es war ein Weltdrama, in welchem aus der Ver-
senkung des Gottverwandten in die Leiblichkeit ein Konflikt entstand
und durch das Welttreiben hindurch schließlich in der Gottanschauung
und Gottesliebe zu reiner Auflösung gelangte.
Diese Mystik durchlief verschiedene Stadien und Formen von der Epoche des
Kampfes der Weltreligionen untereinander, in der sie in den Formen der Gmnosis,
des Neuplatonismus und der Philosophie der Kirchenväter sich manifestierte, bis auf
ihre letzte unter dem Einfluß der kritischen Philosophie entwickelte Form in dem
späten ScHELLING, in BAADER, FRIEDRICH SchLEGEL und verwandten Geistern. Es lag in
ihrer Lebensdeutung eine Zweiseitigkeit, die schon in Platon angelegt war. Wie die
sinnliche Welt zugleich die Manifestation der Ideen und die Verminderung ihrer
Kraft im Sinnlichen ist, so ist die Hingabe an diese sinnliche Welt zugleich die Ab-
kehr von der Ideenwelt und die Vorstufe ihrer Erfassung. So konnte diese Lebens-
deutung und die aus ihr entspringende Anthropologie so verschiedene Formen an-
nehmen, wie sie in Aucusrın, BOnAVENTURA und dann wieder in der mit der platonischen
Akademie verknüpften Literatur, die am Hof der Mediceer sich entfaltete, auftreten,
ja, sie konnte ein Bestandteil der Anthropologie Spmozas wie der SCHOPENHAUERS
werden.
Die Entwicklungsstufen werden von Prorın auf der theoretischen Seite als
Wahrnehmung, Verstand und anschauende Vernunft unterschieden; die Betonung des
Willens, der servitudo in der Versenkung ins Sinnliche und der libertas in der Hin-
gabe an die übersinnliche Welt, die beiden Lebensweisen und eivitates bei Aususrın
bereiten die Unterscheidung der praktischen Stufen vor. Und so können nun die
beiden Viktoriner und Bonaventura das ganze Seelenleben des Menschen unter den
Gesichtspunkt einer Stufenfolge in seinem erkennender und seinem affektiven Ver-
halten aufwärts bis zu der anschauenden Erkenntnis und der Liebe Gottes, oder, da
dieses beides eins ist, zum amor dei intellecetualis Srınozas darstellen. Und zwar
unterscheidet Huco vox Sr. Vıcror drei Hauptstufen im Fortgang der erkennenden
Seele zu Gott: eogitatio, meditatio und ceontemplatio. Die unterste Stufe ist die sinn-
liche Wahrnehmung und Vorstellung der wechselnden und vergänglichen Erscheinungen.
Die zweite oder die Meditation ist die Erforschung der Relationen und ursächlichen
Beziehungen in freier, diskursiver Tätigkeit des Verstandes; auf ihr richtet sich der
Blick auch in das Innere des Menschen. Die höchste oder die Kontemplation ist die
unmittelbare Anschauung des göttlichen Wesens und der in ihm gegründeten Ordnung,
Mit diesen Stufen der Erkenntnis stehen die des affektiven Verhaltens in innerer Be-
ziehung. Den wechselnden Bildern der sinnlichen Objekte entspricht die regellose,
vom Zufall geleitete Liebe, die auf die vergänglichen, sinnlichen Gegenstände gerichtet
ist. Und auf der höchsten Stufe fallen, wie bei Srınoza, anschauende Erkenntnis und
Liebe zusammen. Ich übergehe hier die Variation dieser Theorie bei Rıc#Arv
von Sr. Vıeror und die künstlerisch tiefe Darstellung derselben durch BoxavEntura,
besonders in dem itinerarium mentis ad deum. Und nun beginnt die Literatur der
Zeit über die Liebe, in der mit dieser mystischen Doktrin die Einwirkung des Minne-
sangs sich verbündet. Gersox hat die theoretischen Stufen mit den affektiven noch
genauer verbunden und die Einheit der intellektualen Anschauung mit der Liebe
mystisch gefeiert. Kanzonen und Kommentare über sie, Abhandlungen, Dialoge handeln
in Italien und Frankreich von der sinnlichen und der mystischen Liebe. Diese Literatur
ist durch eine Reihe von Mittelgliedern hindurch zu Spınoza gelangt, und die drei
einander entsprechenden Stufen des intellektuellen und praktischen Verkailens wurden
ihm zum Gerüst seines Aufbaus der geistigen Welt. Überallhin aber war von un-
ermeßlicher Wirkung die Einführung eines lebendigen Entwicklungszusammenhangs
in die Anthropologie.
re
Dirrsey: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts. 7
Es kam nun aber in dem mystischen Platonismus der Renaissance die andere
Seite zur Geltung, welche neben der Weltentfremdung in Platon liegt. Platon hat die
Stufen des affektiven Verhaltens, die seinen Erkenntnisstufen entsprechen, am deut-
lichsten auf dem Gebiete des Eros unterschieden. Dieser, -als Streben nach dem
Besitze des dauernden Gutes, in der gottverwandten Natur des Menschen gegründet,
zugleich aber, als Streben in deren sinnlicher Endlichkeit, Sohn der Fülle und des
Mangels, durchläuft die Stufen der Liebe zu den schönen Gestalten, schönen Seelen,
schönen Wissenschaften, um in der Liebe für die ewige Idee Erfüllung zu finden.
Hier spricht sich die Doppelseitigkeit dieser Lebensdeutung aus, nach weleher mönchische
Mystiker den Untergang der Idee in der sinnlichen Schönheit, und höfische, künst-
lerische Renaissancemenschen die Verklärung der Erscheinung und Gestalt durch die
Idee hervorheben konnten. Die Weltfreudigkeit wurde jetzt an Platons Gegenwart
der Idee in den Erscheinungen hervorgehoben.
Marsırıus Fıcımus wertet den Schmerz im Sinne der Renaissanceschriftsteller:
die Vernunft spricht gegen ihn, weil er dasjenige jedesmal hindert, was uns zum
Schutz dienen kann.! Und im Begriff der Gottesliebe wird das Philosophische der
intellektualen Anschauung stärker betont. Nıcoraus Cusanus hebt an der Vereinigung
mit Gott vor allem hervor, daß das Verlangen in ihr endet und der Frieden ein-
tritt, daß die Liebe immer auf Verwandtschaft gegründet ist und so Gottes- und
Menschenliebe zusammengehören.” Und nach Tuomas CamranerLa ist die intuitive
Anschauung des Göttlichen zugleich Erkenntnis und Liebe Gottes. So bereitet sich
SPINOZA Vor.
Die Formel, daß Gott sich selbst liebt, die dann Srınoza benutzt, um die
menschliche Gottesliebe auf einen höchsten Ausdruck zu bringen, ist in dieser plato-
nischen Mystik häufig (der jüngere Pico de morte Christi lib. I c.ı p.32), ebenso,
daß dem Erkennen die Liebe folgt (ebendaselbst e.7). Und dem amor dei intellectualis
verwandt ist manches bei dem jüdischen Renaissancephilosophen Leo Hrsrz=vs in seinen
Dialogen über die Liebe.
Die neue Menschenkunde und Lehre von der Lebensführung.
Ich entwickle die Grundzüge der neuen Anthropologie. Der
wichtigste lag in der veränderten Wertung der menschlichen Sinn-
lichkeit in Wahrnehmung und Affekt. Vıves hob die Bedeutung des
auf die Selbsterhaltung gerichteten Zuges in uns hervor und faßte
die Affekte als ein System von Anreizen zur Tätigkeit in der Richtung
auf das Nützliche und von Abwehr gegenüber den Schädlichkeiten.
Teresıo wies den inneren Zusammenhang auf, in welchem die Selbst-
erhaltung als Grundeigenschaft aller Kräfte und Wesen sich äußert in
Andrang und Abwehr und ihre Erkenntnismittel vom Werte der Dinge
in Lust und Schmerz hat. Hiermit hing zusammen das Streben, die Ein-
heit des menschlichen Daseins wiederherzustellen aus den Trennungen,
die Körper und Seele, Sinnesauffassung und Intellekt, Affekt und
Willensentscheidung auseinandergerissen hatten. Dies ist der eigent-
! Massırıus Fıcınus, in Platonem, Ausgabe 1561, Basel, tomus secundus p. 1429.
® Nıcoraus Cusanus, Exeitationum liber III, p. 437, Ausgabe 1565, Basel, und
liber VII, p. 588 und 589.
8 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 7. Januar 1904.
liche Gegenstand des Streites zwischen CARDAnO und SCALIGER. SCALIGER
hatte für sich die Klarheit der Unterscheidungen, welche Aristoteles
gegeben hatte, während Carpano noch nicht wagt und auch noch
nicht vermag, aus dem neuen Pampsychismus und der neuen Wertung
der Persönlichkeit die Konsequenzen zu ziehen. Ein weiterer Grund-
zug der neuen Psychologie liegt in der Erkenntnis von der Bedeutung
der körperlichen Vorgänge im Haushalte des Lebens. Es sind Medi-
ziner, Naturforscher und in den neuen physiologischen Theorien ver-
sierte Philosophen, welche die Doktrin fortbilden. Dann aber entsprang
aus dem Gefühl vom Werte des Erlebnisses und aus der Freude an
seiner Auffassung eine unvergleichliche Vertiefung in den konkreten
Reichtum des seelischen Geschehens. Diese Anthropologie geht auch
über diejenigen antiken Schriftsteller, welche im Greisenalter der alten
Welt in Selbstschau sich vertieften, hinaus. Sie säkularisierte den
ganzen Reichtum, den die christliche Mystik erobert hatte. Auch sie
war auf die innere Struktur und den Zusammenhang des Seelenlebens »
gerichtet, und auch ihr Hauptinteresse bildeten Wille, Triebe, Affekte,
ihre Beherrschung und ihr Einfluß auf das Leben. Sie ist nicht eine
Einzelwissenschaft, sondern Studium der Seele als Schlüssel für Kenntnis
und Behandlung des Lebens. Und hierdurch ist nun ein weiterer Grund-
zug bedingt. Sie mußte die Schranken der allgemeinen Seelenlehre über-
schreiten und die ganze Mannigfaltigkeit der Formen zu umfassen suchen,
in denen menschliches Seelenleben auftritt. Barkray in seinem Spiegel
der Seelen blickt von einer Höhe bei London hinab auf die Stadt, den
Fluß und die Last seiner Schiffe, das Häusermeer. Der Gedanke an
(die unermeßliche Fülle menschlichen Lebens ergreift ihn. Er möchte
den verschiedenen Geist der Jahrhunderte und der Nationen erkennen,
und so versucht er eine Psychologie der Völker zu entwerfen. Die
Lehre von den Temperamenten war ein Lieblingsgegenstand der Zeit.
Aus der Physiognomik der Alten bildete sich eine Methode, die In-
dividualität der Personen durch Merkmale zu erkennen. Man stu-
dierte die Einwirkung des Milieus. Die physiologische Grundlage
wurde für die Erklärung der Wahrnehmung, Einbildungskraft, der
Ileenassoziation und des Affektes verwertet. Obwohl Melanchthon
Spiritualist war, hat doch seine Schrift über die Seele ihre Grund-
lage in Anatomie und Physiologie. Und ein letzter Grundzug. Diese
Anthropologie findet ihre eigenste Anwendung in einer Lebenskunst,
wie die Gesellschaft jener Tage sie bedurfte. Denn die Kraft der
Persönlichkeiten, ihre Geltung bei den Fürsten oder in den höch-
sten republikanischen Behörden, ihr Studium der Menschen, die In-
triguen, waren damals mächtiger als zu irgendeiner anderen späte-
ren Zeit.
Dirraey: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts. )
Lorenzo Varra gewann schon die Einsicht, daß alles mensch-
liche Streben nur durch die im Gefühl erfahrenen Werte in Bewe-
gung gesetzt wird. Der erste große systematische Schriftsteller auf
dem Gebiet der Anthropologie ist der Spanier Vıves. Er will an die
Stelle der verwickelten scholastischen Begriffswissenschaft die Rich-
tung auf das Erfahrbare setzen, und dieser Gesichtspunkt forderte
eine neue Menschenkunde. Die Momente, sie hervorzubringen, be-
gegneten sich in ihm; der Freund des Erasmus kannte das gesamte
überlieferte Material der Menschenkunde und Lebenslehre, und der Hu-
manist, der auf dem schlüpfrigen Boden des Hofes von Heısrıcn VII.
lange sich bewegen mußte, der weite Reisen hinter sich hatte, als
er Sein Eremitenleben in Brügge begann, kannte die Welt und die
Menschen. Das Entscheidende war aber doch sein angeborenes Genie
für die Auffassung menschlicher Zustände.
So bezeichnet Vıves den Übergang aus der metaphysischen Psycho-
logie zu der beschreibenden und zergliedernden. Er ist einzig in der
Kraft der Schilderung seelischer Zustände, er sucht ihre zeitlichen und
ursächlichen Relationen aufzufassen und so einen Strukturzusammen-
hang des seelischen Lebens zu gewinnen. Und zwar ohne Hypo-
thesen erklärender Art über die kausalen Verhältnisse, in dem Ge-
fühl, Begehren und Vorstellen zueinander stehen.
In Rücksicht auf Originalität wie auf den Umfang der Darstellung liegt der
Schwerpunkt seiner Schrift de anima! in der Theorie der Affekte. Das berühmte
Vorwort Srınozas zu seiner Affektenlehre, welches die Wichtigkeit des Gegenstandes
und die Notwendigkeit seiner neuen Bearbeitung hervorhebt, hat seinen Vorläufer in
dem Anfang des dritten Buches, das von den Affekten handelt. Es ist der schwierigste
Gegenstand wegen der Mannigfaltigkeit der Gemütsbewegungen, der notwendigste,
damit für die furchtbaren Krankheiten der Seele eine Heilung gefunden werde. Und
er ist von allen bisherigen Schriftstellern, auch den Stoikern, Cicero, Aristoteles, un-
genügend behandelt. So kündigt Vıves eine gründlichere Erforschung der mensch-
lichen Gemütsbewegungen an. Der Mensch strebt nach Erhaltung seiner selbst und
nach glücklichem Leben. Aus diesem Drang entstehen die Aflfekte. Er definiert
Affekt: »Istarum facultatum quibus animi nostri praediti a natura sunt ad sequendum
bonum vel vitandum malum, aectus dieuntur affeetus sive affeetiones, quibus ad bonunı
ferimur vel contra malum vel a malo recedimus.« (Anfang des dritten Buches.) Sie
erstrecken sich also sowohl auf vorübergehende Erregungen als auf habituelle Seelen-
zustände. Sie sind höchst verschieden, und ihre Verschiedenheit wächst ins Uner-
meßliche durch die Unterschiede der menschlichen Anlagen.
Die den Affekten einwohnende Grundtendenz ist nützlich. Denn die eine Seite
des affektiven Verhaltens, in welcher dasselbe sieh auf Güter bezieht, ist der mensclhıh-
lichen Seele notwendig als ein System von Anreizen, damit sie nicht unter der Last
des Körpers in Faulheit und Schlaf versinke: immer wieder muß sie aufgerüttelt
werden. Die andere aber, in der sich dieses affektive Verhalten auf die Übel bezielıt,
ist der Zügel, der sie von den Schädlichkeiten zurückhält.
! Ich zitiere nach einem Exemplar der Königl. Bibliothek zu Berlin, in Basel
erschienen, ohne Jahreszahl, zugleich enthaltend Amerpachii de anima libri IIII,
Melanchthonis liber I.
10 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 7. Januar 1904.
Sehr fein spricht er vom Lebenswerte des Gefühls, das aus dem Eindruck dessen,
was in einem Mißverhältnis zu unserer Natur steht, entspringt, noch bevor dasselbe
uns verletzt hat (offensio). Gleichgültig ist uns beinahe nichts: ein Satz, der dann bei
Srınoza wichtig wird. So mißbehagt uns bei dem ersten Eindruck von Menschen
ihr Gang, ihr Antlitz, irgend eine Bewegung. Diese Offension ist nun dem Menschen
gegeben, damit er bei dem ersten Geschmack eines Übels sich sofort zurückziehe,
da sonst aus der Gewöhnung an dasselbe sogar eine Hinneigung entstehen kann
(de offensione, p. 230). Schädlich ist dann freilich das Übermaß dieses Affektes,
wenn unter den Eindrücken der Dinge und Menschen die Offension überwiegt.
Und von der Scham (pudor) sagt er schön, daß sie dem Menschen wie ein Pädagoge
beigegeben sei. Denn der Knabe oder Jüngling ist noch schwach an Einsicht, und
so hat er in der Scham einen Antrieb, das Urteil zu verehren, das von Überlegenen
ausgeht oder von der Überzahl. Und ebenso werden Frauen und Kinder durch
sie zurückgehalten, Affekten ohne Maß sich in ihren Äußerungen zu überlassen.
Kurz, eine Theorie von dem Lebenswerte der Affekte erstreckt sich durch deren
ganze Darstellung.
Dem affektiven Verhalten ist aber das Urteil beigegeben, das die richtige Ab-
sehätzung der Übel und Güter ermöglicht, aber auch die Seele unrichtigen Wert-
bestimmungen preisgibt. Bei Vıves ist auf Grund der stoischen Doktrin schon der
erste Ansatz zu den Schilderungen Srınozas von der Macht der Affekte im natürlichen
Verlauf des Seelenlebens und der Selbstherrschaft des Willens im Weisen, der sie
sich unterwirft. Wie die Bewegungen des Meeres wechseln vom leisen Zittern der
Wellen bis zum furchtbaren Sturm, wie sie unter der Wirkung des Windes zuneh-
men, wie ihnen schließlich nichts widersteht, — ganz so veränderlich und furchtbar
sind auch die menschlichen Gemütsbewegungen. Schließlich verwirren und verkehren
sie nicht nur die inneren Zustände, sondern auch die äußeren Sinneswahrnehmungen,
so daß die Liebenden, Zürnenden, Fürchtenden Dinge zu sehen und zu hören glauben,
die nicht sind.
Die Einteilung der Affekte ist der des Truomas und seiner Schule verwandt
und gehört also unter den Typus der aristotelischen. Vorstellung, Gefühl und Be-
gehren werden hier wie in allen Einteilungen der Renaissancezeit nicht von einander
getrennt. In den tatsächlichen Gemütszuständen sind ja diese Seiten immer vereinigt.
Hierauf berulit das Recht der Renaissanceanthropologie, die innere Gliederung des
Affektlebens selber hinzustellen, ohne etwa bei der Freude über die Gegenwart eines
Gutes auf das Vorwiegen des Gefühls in ihr besonders zu reflektieren; ist doch in dieser
Freude auch ein Streben, das Gute festzuhalten, in irgend einem Grade enthalten.
Schlimmer ist freilich, daß von der Stoa ab die Urteile, welche auf die Affekte ein-
wirken, dem Intellekte zugeschrieben werden, während sie tatsächlich als Werturteile
vorwiegend Reflexe aus dem affektiven Verhalten sind. Der oberste Gesichtspunkt
ist bestimmt durch den Satz, daß der amor auf einem Verhältnis der Verwandtschaft
mit seinem Gegenstande berulit, und das odium auf einer Inkongruenz zwischen beiden.
Das Bewußtsein dieses Verhältnisses, das aus der Berührung mit dem Gegenstande
entspringt, ist sonach als amor und odium der primäre Affekt. In ihm wird das Gut
und das Übel gesetzt, welche dann in Freude und Trauer als gegenwärtig genossen
und in Begierde und Furcht für die Zukunft erstrebt werden. Die Klasse der Affekte,
die sich dem Übel entgegenstellen, ist aus der aristotelisch -scholastischen Unterschei-
dung des concupiseibile und irascibile hervorgegangen. So ergibt sich nun die An-
ordnung der Affekte, die wir hier nach den Definitionen und Einteilungen aus seiner
enumeratio affectuum in eine Tabelle bringen. In der Darstellung selber freilich wird
er zu einer anderen und tieferen Beobachtung der Verhältnisse der Verwandtschaft
geführt. Er ordnet dann auch die motus animi contra malum den beiden anderen
Klassen unter.
Dirruey: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts. al
Motus animi (affeetus)
a ne
ad bonum a malo contra malum
I Allubescentia prima sur- I Offensio, primus motus de
gentis motus aurula; malo, allubescentiae contraria;
confirmata fit: Amor; confirmata fit: Odium
sub amore sunt: favor, re-
verentia, misericordia.
II Motus de bono praesenti, II de malo praesenti I in malum praesens
quod sumus asseeuti Maeror Ira, invidia, indignatio
Laetitia;
sub laetitia: delectatio.
Äußerung: risus.
Il Motus de bono futuro Ill de malo futuro II in malum futurum
Cupiditas Metus Fiducia et audacia
sub ceupiditate: spes
Diese Einteilung des affektiven Lebens schließt sich an Aristoteles und Thomas an.
Indem er nun aber in die Darstellung selbst eintritt, überwiegen die inneren ursäch-
lichen Beziehungen, die aus der Zergliederung der einzelnen Affekte sich ergeben.
Eine logische Durchführung der Klassifikation war in beiden Darstellungen nicht durch-
führbar wegen der Unhaltbarkeit des überkommenen Ausgangspunktes in den beiden
primitiven Affekten Liebe und Haß. Das Bedeutende aber sind die Ansätze zu einer
genetischen Auffassung.
Welch ein Bild, wie von Liebe und Haß aus die Affekte sich verzweigen und
in irgend einem Grade jeder Wahrnehmung oder Vorstellung ihre Färbung mitteilen,
die im Bewußtsein auftritt. Wie eine gewisse natürliche »Kongruenz« des Willens
mit einem sich darbietenden Gute ihn zu diesem hinzieht und so die ersten leisen
Bewegungen der Allubescentia entstehen, wie sie in der Heiterkeit der Miene, dem
Hochziehen der Augenbrauen, der Erhellung des Gesichtsausdrucks und im Lächeln
sich ausdrücken. Die Festigung dieser Stimmung ist dann die Liebe. Ihre Darstellung
ist ein Meisterstück. Geringes kann anfänglich sie aufheben, Tätigkeit oder andere
Leidenschaften wirken ihr entgegen. Unter den Momenten, die sie hervorrufen, hebt
er auch die beiden hervor, welche dann Spınoza in seiner Erklärung vornehmlich an-
gewandt hat. Wir lieben den, der uns selber wohltut, oder jemandem wohltut, den
wir lieben. Durch diesen Satz geht Srınoza von der Freude zur Liebe über. Inter-
essanter aber ist die Übereinstimmung in bezug auf die Formen der Liebe in Sym-
pathie und Mitleid.! »Die Ähnlichkeit (similitudo) zwischen Subjekt und Gegenstand
bewirkt sowohl Sympathie als Mitleid«: Ähnlichkeit in Lebensalter, Sitten, Körper-
konstitution, Studien, Lebensstellung, Geschlecht. Es ist, wie wenn bei dem An-
schlag einer Saite die von gleicher Spannung auf dem anderen Instrument mittönt.
Srinoza erklärt die commiseratio ganz ähnlich daraus, daß die Vorstellung des Affekt-
zustandes in einem uns ähnlichen Wesen in uns selber den ähnlichen Zustand hervor-
ruft. Nur daß Vıves auch den Einfluß des vermittelnden Gedankens erwähnt, dal> ein
Leidzustand um so mehr uns droht, je verwandter wir selbst dem Leidenden sind.
Warum wird ein reicher Mann mit Blinden und Armen eher Mitleid haben als mit einem
armen Philosophen? Weil er annimmt, daß er eher blind oder lahm werden kann als
Philosoph. Ebenso berücksichtigt Srınoza bei seiner Erklärung der Sympathie aus
Assoziation den Fall, in welchem sie oder die Antipathie entstehen, weil Dinge oder
Personen mit denen etwas Ähnliches haben, die Lust oder Schmerz der Regel nach
in uns hervorrufen. Dem amor werden dann neben misericordia und sympathia auch
favor und veneratio zugeordnet: jener »die beginnende Liebe«, diese das Gefühl der
Größe, die Bewunderung einflößt, aber ohne das von Beeinträchtigung unserer Per-
! Vıves, De anima III, cap. de misericordia et sympathia.
12 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 7. Januar 1904.
son, da sonst Furcht überwiegen müßte. Wie das Bewußtsein eigener Größe die
Seele erweitert, so muß hier eine Zusammenziehung derselben stattfinden. Auch hier
finden sich wieder sehr tiefe Beobachtungen.
Auf der entgegengesetzten Seite des Hasses treten zuerst die vorübergehenden
Affekte der Offension, der verächtlichen Stimmung und des Zornes auf. Letzterer ist
von dem iraseibile zu unterscheiden. Die Offension entsteht einerseits, wie wir sahen,
aus der Inkongruenz, welche entweder zwischen dem Körper oder der Seele und dem
äußeren Gegenstande besteht; hier berührt er die convenientia der verschiedenen
Sinnesbilder und der Begriffe mit den Gegenständen, aus welcher unter den anderen
Gefühlen auch das Gefallen an der Wahrheit und das Mißfallen am Irrtum oder der
Lüge entspringt. ÖOffension entsteht aber dann auch als vorübergehendes Mißgefühl
über Verletzungen. Bringt das Übel zwar keinen Schaden hervor, erregt aber das
Urteil der Verwerfung, so entsteht die verächtliche Stimmung (contemptus). Zorn
wird dann definiert als die herbe Gemütsbewegung, die entspringt, wenn jemand das
von ihm besessene Gute verachten sieht, da er es doch selbst nicht als verächtlich
betrachtet: worin er eine Verachtung seiner Persönlichkeit erblickt.! Zorn ist eine
Gemütsbewegung, Zornmütigkeit eine dauernde Beschaffenheit oder ein ingenium
naturale; die herrliche Schilderung desselben ist Seneca sehr verschuldet. Und wenn
nun die Offension eingewurzelt ist, sich auf einen Gegenstand bezieht, von dem beständig
Verletzungen ausgehen, und darauf gerichtet ist, selber diesem eine schwere Verletzung
zuzufügen, dann entsteht der Haß (odium). Während bei Spınoza das odium all-
gemeiner gefaßt wird, als die Ursache jeder Machtverminderung treffend und auf
Entfernung und Vernichtung derselben bedacht.” Wenn Vıvzs dann die invidia, zelotypia
und indignatio dem odium unterordnet, so ist dies auch bei Srınoza der Fall, nur
daß Eifersucht als ein gemischter Affekt von seinen Definitionen ausgeschlossen ist.
Dann unterscheidet Vıves die ultio als die Betätigung des odium von diesem selbst
und leitet sie ab durch den Satz: was irgend der Affekt von einem äußeren Gegenstand
in Empfang nimmt, strebe er auf den zurückzuwerfen, von dem er es empfing, sei
es gut oder böse.” Dies Gesetz wird bei Srınoza* so näher bestimmt: das odium ist
die tristitia concomitante idea causae externae, und da die Seele vorzustellen strebt,
was eine solche Ursache ausschließt, so entsteht das Streben, diese Ursache zu ent-
fernen und zu zerstören.
Und nun entsteht aus diesen beiden Grundaffekten das Streben, den Gegenstand
der Liebe zu erlangen oder den erlangten festzuhalten und den des Hasses abzuwehren.
Tnomas von Aquın hatte Hinwendung und Abwehr unterschieden, Furcht und Hoffnung
aber dem irascibile zugeordnet. Letzteres war selbstverständlich unhaltbar. Erst die
Einteilung, welche die Lust und Schmerzgefühle zugrunde legt, konnte einen klaren
Zusammenhang erreichen. Vıves definiert cupiditas als das Streben, ein Gut. das
zuträglich erscheint, zu erlangen, wenn es abwesend ist, oder zu erhalten, wenn es
in Besitz ist. Und dies Gut dient entweder der Selbsterhaltung (esse) oder dem bene
esse. Die Natur hat nun den Menschen mit den Affekten ausgestattet, welche ihn
antreiben, zu erreichen und festzuhalten, und vorsichtig und tapfer machen in der
Abwehr. Die so entstehenden Gemütszustände spezaalisieren sich weiter nach dem
Gegenstand, auf den die Begierde gerichtet ist. So ist nun doch schließlich unter
dem Begehren auch Abwehr mit inbegriffen. Als eine Form der cupiditas definiert
er die Hoffnung, nämlich: Zuversicht, es werde uns, was wir wünschen, zuteil
werden.° Teleologisch angesehen erscheint sie Vıves als ganz vorzüglich notwendig
unter soviel Kümmernissen und harten, fast unerträglichen Dingen. Die Furcht da-
De anima 1l1I, de ira et offensione.
Eth. III prop. 13.
De animalll, de ultione et erudelitate.
Eth. III prop. 13. Scholion.
De anima Ill, spes.
» ww
o
Divrsey: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts. 13
gegen hat er nicht ausdrücklich als eine Modifikation der Begierde bestimmt, sondern
definiert sie als Zusammenziehung der Seele, hervorgerufen durch die vermutete An-
kunft eines als Übel Gewerteten.! Und mit keinem Worte wird die Furcht hier
bezogen auf die Verhältnisse des Begehrens. So entsteht eine Unebenheit in der Be-
handlung dieser koordinierten Aflfekte, in denen eben Streben oder Abwehr in ver-
schiedenem Grade auftreten kann. Wenn Vıves diese Gruppe nur unter dem äußeren
Gesichtspunkt des Strebens nach einem künftigen Guten oder der Abwehr eines kom-
menden Übels auffaßt, so wird hier recht deutlich, wie die Auffassung der inneren
Verhältnisse später erst möglich wurde, indem von einer strebenden Wesensbestimmt-
heit und von den primären Affekten der Lust und Unlust ausgegangen wurde, wie
dies in Teresıo und im 17. Jahrliundert auftrat.
Dieselben Mängel entstehen in bezug auf das innere Verhältnis, in welchem
Freude, Schmerz und die ihnen zugeordneten Affekte zu den anderen Gemüts-
bewegungen stehen. Es ist eben nicht möglich, die Freude einfach zu definieren als
den Gemütszustand, der auf die Gegenwart eines Gutes sich bezieht, und so muß
Vıves selbst von der laetitia das gaudium unterscheiden, das der Aufhebung eines
Übels folgt. Und ebensowenig ist die entsprechende Unterordnung der Betrübnis
unter das malum praesens möglich, da sie ja ebenso aus der Entziehung eines Guten
folgen kann. Verwandt mit der Furcht ist ihm dann die Scham (pudor), als die
Furcht vor der Schande, welche als solche aber nicht die vor einem aus ihr er-
wachsenden Schaden enthält.
Den Schluß bildet die Schilderung des Stolzes (superbia). Seine natürliche
Grundlage ist nicht schlimm: das Bewußtsein des Menschen von seiner höheren Ab-
kunft, die berechtigte Liebe zu sich selbst, nach der er sich der höchsten und wahr-
haften Güter wert erachtet. So ist auch in diesem von ihm tief in seinen zer-
störenden Wirkungen geschilderten Affekt der teleologische Charakter des Seelenlebens
bemerkbar.
Endlich hat Vıves auch schon tiefe Blicke in die Gesetzlichkeit getan, welche
das affektive Leben beherrscht. Affekte sind nach seiner Definition Kräfte, mit denen
die Natur uns zur Bereicherung von Gütern und Vermeidung von Übeln ausgerüstet
hat. Sie sind also stets »Bewegungen der Seele«. Daher das Gleichgewicht, Seelen-
ruhe, Sicherheitsgefühl nicht als Affekte anzusehen sind. Die Kraft in diesen Be-
wegungen ist ihnen selber einwohnend oder wird durch äußere Ursachen ihnen zu-
geleitet. Die Affekte verstärken oder hemmen sich gegenseitig. Einer ruft den anderen
hervor. So entsteht aus der Liebe invidia, odium und ira, wenn ein anderer den geliebten
Gegenstand haßt oder verfolgt: das von SpınozA später so genial ausgenutzte gesetzliche
Verhältnis. Ebenso entsteht aus der Liebe unter gegebenen äußeren Bedingungen
die Begierde, die Hoffnung. die Furcht, bei Erreichung ihres Zieles die Freude,
andernfalls der Schmerz. So tritt zur teleologischen Wertung der Affekte das klare
Bewußtsein von der Kausalgesetzlichkeit, nach welcher gegebene Affekte unter hinzu-
tretenden Bedingungen sich umsetzen in neue Gemütsbewegungen. Ebenso klar er-
kennt Vıves, daß Affekte sich gegenseitig nach dem Verhältnis ihrer Kraft verdrängen
und aufheben. Den bei Spınoza so wichtigen Satz, daß im Widerstreit der Affekte
das Übergewicht nicht durch den moralischen Wert, sondern durch die Stärke des
Affektes entschieden wird, formuliert Vıves und erläutert ihn an dem Bilde des bür-
gerlichen Kampfes. in welchem niemand auf den Besseren, sondern jeder auf den
Mächtigeren hört. So unterwirft sich der stärkste Affekt das ganze Reich der Seele.
Und wie in dem Selbsterhaltungsstreben die Affekte gegründet sind, so ist ihre Stärke
schließlich vom Verhältnis zu diesem Grundtrieb bestimmt. Er unterscheidet die
schwachen von den starken, die vorübergehenden von den dauernden, und betont
immer wieder die Macht des Gesetzes der Eingewöhnung wie Aristoteles. Von der
! De anima III, de metu.
14 Sitzung der philosophisch historischen Classe vom 7. Januar 1904.
Macht der Affekte über das Gemüt, die so aus den kausalen gesetzlichen Relationen
entsteht, befreit sich der Weise durch die richtige Wertbestimmung der Dinge.!
Lauter Sätze, welche dann in der bestimmteren Fassung, welche die Analogie der me-
chanischen Naturanschauung darbot, bei Ho»zees und Srınoza wieder begegnen
werden.
In Carvano ist das Bewußtsein von sich selbst, unbändiges Be-
dürfnis des Ruhmes, Sinn für die Mannigfaltigkeit menschlichen Da-
seins ausgeprägter und das autoritätsfeindliche Vertrauen zum eigenen
Genie stärker als in irgendeinem Zeitgenossen. An seine außer-
ordentliche Persönlichkeit, seine unzähmbaren Affekte, seine Visionen,
seine Ahnungen und an sein Bewußtsein von seiner Singularität, das
an die Originalgenies des 18. Jahrhunderts gemahnt, knüpft sich
doch bei erheblichen Verdiensten in Mathematik und Medizin die
Dauer seines Namens. Er verwebt den Bericht über seine Person
überall in seine Schriften und hat schließlich in der Autobiographie
de vita propria eine psychologisch wie künstlerisch geniale Darstellung
derselben gegeben. Hierin vergleicht ihn GorrnE richtig mit Ben-
VENUTO ÜEruist und MontaAısne. Die Grundlage des hier hervortreten-
den Lebensverständnisses liegt aber in seiner Anthropologie, wie sie
in den beiden Schriften de subtilitate und de varietate rerum sich findet.
Sie liegen zwischen den Schriften des Vıves de diseiplinis 1531, de
anima et vita 1538 und der Schrift des Tezesıo de rerum natura, welche
vollständig 1586 erschien.
Wie Gausteı bestreitet er die Teleologie, die den Zweck der
Natur im Menschen findet. Dieser Irrtum entspringt, weil der Mensch
alles zu seinem Vorteil zu brauchen vermag.” Was ist, ist um seiner
selbst willen. Sätze, die Spmoza zu völliger Verwerfung teleologischer
Betrachtung fortbildete. Hieraus entspringt ihm nun seine liebevolle
Freude an der Eigenart der Wesen bis auf ihre Sonderbarkeiten. Es
ist die Zeit der beschreibenden Naturerkenntnis, und dem Menschen
scheinen neue Organe zu erwachsen, Realität aller Art zu erblicken.
Die Ausgangspunkte der Erklärungen in seiner Anthropologie sind
überall physiologisch. *
Sehr schön sind seine ästhetischen Betrachtungen. Die Gegenstände erregen in
den Sinnen in dem Maße Lust, als sie leicht erkennbar sind; so entspringt eine die
! Zu dieser ganzen Theorie ist das Prooemium des dritten Buches De anima
und die dann folgende Enumeratio affeetuum zu vergleichen (S. 167— 169).
2 De subtilitate Lugd. 1550, p.415 — 418. R
3 Ableitung der wenig erfreulichen Eigenschaften der menschlichen Rasse aus
der Mischung der Stoffe im Körper, S.439f.; Studium der Ausdrucksbewegungen,
S. 444; physiologische Erklärung der Seufzer und Tränen (S. 454) als eines zweck-
mäßigen Mittels der Natur, die vom Schmerz bewirkte physische Hemmung aufzu-
heben; die schlechten Charaktereigenschaften durch körperliche Gebrechen begünstigt,
S.455. Der Mechanismus, durch welchen die Affekte körperliche Veränderungen her-,
vorrufen, S 456.
Dirrney: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts. 13
Konsonanz und die überschauliche Proportion begleitende Lust; der Eindruck des
Schönen entsteht hier aus den Maßverhältnissen der Dinge. Er zeigt an dem Ver-
hältnis der Teile des Gesichts, der Anordnung der Säulen oder Bäume die Wirkung
der Symmetrie auf das Gefühl. Hier beruft er sich auf die Alten und bereitet Krr-
Lers Ideen vor. Der Vorzug des Gehörsinnes liegt darin, daß er leichter Gemüts-
bewegungen erregt. Hier entwickelt er, wie die verschiedene Kombination der Unter-
schiede der Töne nach Höhe und Tiefe, nach ihrer Stärke, nach Rauheit und Santt-
heit, nach Geschwindigkeit der Folge sowie nach Dissonanz und Konsonanz im Ge-
müte kriegerische Energie, Rührung, freudige Lebhaftigkeit und Mäßigung hervor-
bringen. Und sehr fein führt er nun für alles Empfindbare drei Prinzipien der
ästhetischen Wirkung durch. Zuerst ist das Gefallen geknüpft an die Proportion,
dann an das Mittelmaß des Reizes, endlich an den Fortgang von dem weniger zu
dem mehr gefälligen Eindruck. In seiner Darstellung der Affekte geht er von der
Theorie der Lebensgeister aus: im Zustande der Freude strömen sie nach außen, dem
Gegenstand entgegen, und in dem der Traurigkeit ziehen sie sich von den äußeren
Teilen zurück, und zwar plötzlich in den heftigen Unlustaffekten und langsamer in
den stetig wirkenden. Diese Grundvorgänge bedingen dann die Veränderungen in
Blutbewegung und Blutwärme, und so entstehen die typischen Unterschiede in den
körperlichen Wirkungen der Affekte.
In der Schrift De varietate rerum 1556 kommt noch stärker sein Grundgefühl
von der unermeßlichen Mannigfaltigskeit der Dinge zum Ausdruck. Auf all diesen
beschreibenden medizinischen, anthropologischen Arbeiten beruhen schließlich die Ge-
sichtspunkte seiner Selbstbiographie. Äneas Syıvıus, Benvenuro Crreinı haben das
lebhafteste Bild ihrer eigenartigen Persönlichkeit und ihres Verhältnisses zur Außen-
welt hinterlassen. Aber erst Carvanus hat aus dem höchsten Begriff der biographi-
schen Aufgabe, wie er ihm aus seinen anthropologischen Studien entstanden war, und
mit all den Kunstmitteln, die durch die so gefaßte Aufgabe gefordert wurden, seine
Selbstbiographie abgefasst.
Mit Bewußtsein stellt er seine widerspruchsvolle und dämonische Individualität
hin, ausgehend von seiner physischen Struktur, den in ihm vorherrschenden Affekten
des Ruhmes, der Liebesleidenschaft und des Zornmutes, sowie von den Eigenheiten
seiner Auffassungsgabe, seinen Visionen, seinem Vermögen der Voraussage, seiner
intuitivren Begabung. Und ebenso bewußt unternimmt er, die Notwendigkeit aufzu-
zeigen, welche die Ausbildung seiner Individualität bestimmt hat. Die Konstellation,
die über seiner Geburt waltete, hat die zweifelhaften wie die glücklichen Eigenschaften
seines Lebens vorbestimmt. Von Vater und Mutter leitet er dann Züge seiner Indi-
vidualität ab; beiden gemeinsam waren Zornmütigkeit und Unbeständigkeit, die auf
ihn übergingen. Nun berichtet er von den Umständen, die auf sein Leben eingewirkt
haben. Statur und Körpererscheinung, Gesundheit, seine körperlichen Übungen und
seine Lebensordnung vergegenwärtigen die physische Grundlage seiner Existenz. Als
seinen stärksten Beweggrund hebt er die Liebe zum Ruhm hervor; so früh er denken
kann, war er darauf gerichtet, seinen Namen zu verewigen. Er spricht über sich,
seine sinnlichen Leidenschaften, sein falsches Spiel, sein Bedürfnis zur Rache, wie der
Naturforscher über die Organisation eines Raubtiers, mit der Ruhe thoretischen Ver-
haltens, in welcher später Srınoza die Affekte auffaßte.
Die Streitschrift des Jur. Caes. ScALIGER (1557) gegen das Werk des Caro. de
subtilitate war das am meisten besprochene Ereignis innerhalb der damaligen anthro-
pologischen Forschung. Auch ScaLıGER hatte eine immpetuose Natur von demselben
gigantischen Selbstgefühl und derselben Einmischung des Kultus seiner Persönlichkeit
in die wissenschaftliche Untersuchung. Von solchen Eigenschaften ward er hingezogen
! Eine andere Ursache der Lust, welche durch die Sinne vermittelt wird, liegt
in Vornehmheit und Seltenheit der Gegenstände, da dann aus dem Besitz besondere
Befriedigung unseres Selbstgefühls entspringt; S. 462. 463.
16 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 7. Januar 1904.
zu der Betrachtung der menschlichen Leidenschaft. Die Überlegenheit, welche er über
den Carvano zu behaupten schien, beruhte doch nur darauf, wenn man von seiner
göttlichen Grobheit absieht, dass er der dunklen, aber tiefen Intention des CArDANo
auf einheitliche, physiologisch begründete Auffassung des Seelenlebens die klaren
Distinktionen des damals aus der scholastischen Verderbnis wiederhergestellten Aristo-
teles gegenübersetzte.'" Wenn Scarıser die Lehre des Carpanus von Symmetrie und
Proportion als der Grundlage der ästhetischen Eindrücke in den beiden höchsten
Sinnen bestreitet, so ist Carpano hier der Weiterblickende, und die Distinktionen
seines Gegners von Sinn und Intellekt, Qualität und Proportion, sind gegen seine
Theorie selbst nicht entscheidend. Wenn die Hauptdifferenz zwischen beiden in der
Theorie des affektiven Lebens darauf beruhte, daß Carpanvs die Einheit in diesem
Verhalten durchzuführen suchte und sonach die Grundeigenschaft des Begehrens nicht
nur innerhalb der Sinnlichkeit, sondern auch im Willen findet und den Affekt auf
beide Gebiete erstreckt, wogegen ScauıGEr die affektive Zuständlichkeit der Seele,
das hieraus entspringende Begehren und die Willensentscheidung sondert und aus
diesen Momenten dann die äußere Handlung hervorgehen läßt, so daß das Begehren
vom Willen getrennt ist und seine zeitliche Bedingung ausmacht — wie wenig fördern
doch diese aristotelischen Distinktionen des Scauıser, wie gar nicht greifen sie ein
in das frische Leben der damaligen anthropologischen Forschung!
Die Poetik des ScaLıGEer war eine der großen Taten der damaligen Geistes-
wissenschaft. Sie sammelte in sich den Inbegriff der Traditionen des gesamten Alter-
tums. Die fragmentarische Überlieferung der aristotelischen Lehre lockte, ein voll-
ständiges Lehrgebäude aufzustellen, aus welcheın die Regeln für die dichterische
Praxis und die Kritik abgeleitet werden könnten. Dies war das Ziel der Poetik des
ScALIGER so gut als der des Vına und des Lorzz. Poetik bleibt im aristotelischen
Sinne eine Kunstlehre, die auf Regelgebung gerichet ist und die Topik und Rhetorik
der Alten, insbesondere des Aristoteles, sind neben den Resten ihrer Poetik die Fund-
stätten für die Bausteine dieser neuen Wissenschaft. Genau so ist aus ihnen später
in Deutschland die Hermeneutik formiert worden. So bilden das zweite und vierte
Buch, welche die Kunstmittel darstellen, und darin vor allen die Lehre vom bild-
lichen Ausdruck, die eigentliche Masse in dem Werk des ScaLısEer. Das bewußte
Machen, das Aufsetzen von Bildern und rednerischen Figuren, wie es aus der Rhetorik
stammt: dies ist der Hauptpunkt, in welchem die Doktrin dieser Poetik mit dem
geschraubten, pomphaften, bildlich gesteigerten Stil der Epoche zusammenhängt. Da-
her hat diese Poetik keinen Zusammenhang mit der Anthropologie der Zeit oder ihres
Urhebers in der Lehre von der Einbildungskraft als deın schaffenden Vermögen des
Dichters: auch war ja kein Ansatz zu einer solehen Behandlung der Poetik in der
Anthropologie der Zeit vorhanden. Und auch die Bestimmungen des Carpano und
anderer platonisierender und pythagorisierender Denker über die Gründe des Eindrucks
von Schönheit in Symmetrie, Proportion usw. wurden, wie wir sahen, von ihm
törichterweise zur Seite geschoben. Der Zusammenhang dieses ersten großen Ent-
wurfs der Poetik mit der Anthropologie der Zeit besteht an einem anderen Punkte:
in der Theorie der Affekte. Und hier berührt sich ScatLıGer mit dem innersten Geiste
der werdenden großen Phantasiedichtung. Es handelt sich um den Zweck der Dichtung.
Ich lasse die keineswegs einwandfreie Polemik gegen Aristoteles zur Seite. ScALIGER
knüpft an die in der Polemik mit Carnpano entwickelten Unterscheidungen. Aus
den Charakteranlagen (mores) entspringen die Gemütsbewegungen (affeetus). Und
diese gehen als innere Akte (actus interiores) den äußeren Handlungen voraus. Der
Zweck der Dichtung besteht nun in der moralischen Belehrung des Menschen. Das
Verhältnis der Dichtung zu den angegebenen Stadien, in denen die Handlung entsteht,
ist entgegengesetzt demjenigen, das in der Wirklichkeit des bürgerlichen Lebens statt-
findet. In letzterem ist die Handlung das Endziel, während in der Dichtung die Dar-
! Cap. 300, 2.
een
ur
Dirraey: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts. 17
stellung der Handlung das Mittel ist: der Dichter lehrt Affekte durch Handeln. Die
Handlung ist also das Gewand, in das der Dichter seine Lehre einhüllt, und der Affekt
ist der eigentliche Gegenstand der Belehrung, welche auf die Bestimmung unserer Hand-
lungen wirken will.! Ferner wird die Lehre von den Affekten noch an einer anderen
Stelle benutzt, in dem wichtigsten dritten Buche, wo dort von der künstlerischen Dar-
stellung von Charakteren und Leidenschaften die Rede ist. So zeigt sich uns hier der
Zusammenlıang zwischen dieser Poetik, deren Einfluß unermeßlich gewesen ist, und der
kommenden Tragödie, welche in der Darstellung des Nexus, der von Anlagen durch
Affekte zu Handlungen führt, und in der breiten Darstellung des Affektlebens ihren
Mittelpunkt hatte. Für dies innere Verhältnis ist dann auch dasjenige sehr belehrend,
was Bacon über denselben Gegenstand entwickelt hat.
Der herrschende wissenschaftliche Kopf war auf diesem Gebiete
TeLesıo, geboren 1508 zu Cosenza. Wie er die Erklärung der Na-
tur aus ihr selber, sonach aus dem Erfahrbaren unternahm und hier-
für das Zusammenwirken der Forscher in der Richtung auf Beob-
achtung und Experiment herbeizuführen suchte, hierin der Vorgänger
Bacoxss, so hat er auch die Anthropologie loslösen wollen von der
Metaphysik und dem Zusammenhang des Naturerkennens einordnen.
So hat denn auch sein Hauptwerk De rerum natura iuxta propria
prineipia in den späteren Auflagen von 1586 und 1583 der früher
1565 erschienenen Naturlehre die Seelenlehre untergeordnet. Und er
zuerst hat nun die kausalen Relationen zwischen den Erscheinungen
des Seelenlebens vermittels oberster Prinzipien des Naturzusammen-
hangs abzuleiten unternommen, wie das dann Spmozas Methode war.
Vor allem aber hat er die Andeutungen des Vıvzs über einen allum-
fassenden Kausalzusammenhang des Seelenlebens fortgebildet. Der
Mensch ist ihm ein sich selbst erhaltendes psychophysisches Wesen,
das aus den Außenreizen Erkenntnis entwickelt und auf sie in Affekten
und Handlungen reagiert. Teresıo zuerst hat die von außen erwirkten
Veränderungen in diesem Wesen, nämlich die Sinneseindrücke in
modernem Geiste untersucht (Buch VID)‘ und genetisch von dieser
Grundlage aus die Mittel des Naturerkennens abgeleitet. Wie Vıves
hat er die Lebenswerte der Affekte anerkannt, kraft deren sie der
Selbsterhaltung des organischen Wesens dienen und sonach heilsam
und notwendig sind, wofern sie das mittlere Maß weder überschreiten
noch hinter ihm zurückbleiben. In ihm vollzieht sich die Wendung
in der Anordnung der Affekte, welche Hosges und Spixoza vorbereitet
hat: was den Körper und den ihm einwohnenden (schließlich eben-
falls physischen) Spiritus stärkt und erhält, ruft kraft des Strebens
nach Selbsterhaltung Lust hervor, was ihn vermindert oder zerstört,
Schmerz, und diese sind die beiden primären Affekte. Hiermit ist
die Metaphysik aus diesem wichtigen Teile der Seelenlehre beseitigt
und genau die von Hosges und Spixoza gegebene psychophysische
SPoetieesy IbAVUIS.c.3; vel.lib. IN, e.720.
Sitzungsberiehte 1904.
DD
18 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 7. Januar 1904.
Interpretation der Affekte eingeführt. Ich habe nun früher im ein-
zelnen nachgewiesen‘, wie Teresıo in seinen einzelnen Sätzen von
GALEn und der Stoa bestimmt ist, und wie er zuweilen, bis in die
Worte hinein, Srıxoza in dessen anthropologischen Hauptsätzen vor-
bereitet hat. Dasselbe gilt in bezug auf Hosses.
Ich füge zu dem dort Gesagten nur einige Bemerkungen hinzu. Die Abgren-
zung von Metaphysik und Physik ist freilich auch bei Teresıo darum nicht voll-
ständig deutlich, weil er einen übersinnlichen, ewigen Geist festhält, der im Unter-
schied von dem aus dem Samen entwickelten direkt von der Gottheit eingegossen und
hinzugefügt ist. Dieser ist also eine die Grenzen des Naturzusammenhangs über-
schreitende Tatsache, wie die des göttlichen Wesens selber. Andererseits aber fällt
doch diese Tatsache im Unterschied von den durch keine Erfahrung kontrollierbaren
metaphysischen Wahrheiten, wie der Existenz Gottes, nach ihm in das Erfahrbare,
weil sie in der inneren Erfahrung unseres sittlichen Bewußtseins gegeben ist. TELesıus
schließt V, 2 und 3 auf diesen unsterblichen Geist aus folgenden Erfahrungen: der
Mensch erforscht Dinge, die ihm von keinem Nutzen sind, und vernachlässigt über
der »seligen Betrachtung« der göttlichen Dinge das Wohl seines Körpers, aus
einem inneren Verlangen nach der Anschauung und dem Verkehr mit der höheren
Welt. Alle anderen animalia sind nur auf die Dinge, die der Selbsterhaltung dienen,
bedacht; sie begnügen sich im Genuß der gegenwärtigen Güter, wogegen die mensch-
liche Seele, auch wenn man sie unter dem Zuströmen aller Güter vollkommen glück-
lich vermuten könnte, doch stets anxia, semper remotis futurisque prospiciens ist.
Der Mensch sieht willig der Zerstörung seines Körpers entgegen. Er verachtet die
Schlechten selbst auf der Höhe ihres Glückes. liebt und verehrt dagegen die Guten.
Alle diese Eigenschaften lassen sich aus dem Spiritus e semine eductus nicht erklären.
Endlich hat Teresıo die Existenz einer unsterblichen Seele, als ein Postulat einer
gerechten Weltordnung angesehen. Da nun Teresıo mit Recht die Einheit des
Seelenlebens gegenüber den aristotelischen Dualismus festhalten will, gibt er dem
aristotelischen Begriff der forma substantialis die Wendung, daß er den unsterblichen
Geist als eine hinzutretende Form des Körpers und der Lebensgeister faßt, auf der
dann der höhere Intellekt und der Wille beruht. Gänzlich hinfällig ist die öfters
geäußerte Ansicht, als ob es dem Teresıo mit dieser Doktrin nicht ganz ernst wäre.
Sie ist vielmehr das unvermeidliche Komplement seiner physiologischen Psychologie,
die auf den Lebensgeist sich gründet. Als Hozses und Srınoza diese physiologische
Spirituslehre aufgeben konnten, bedurften sie auch der forma superaddita nieht mehr.
Aus einer Kombination von Erfahrungen schließt Teresıo, daß im ganzen
Univ&rsum mit der Materie ein Analogon des Psychischen verbunden und sonach das
Seelenleben in Tieren und Menschen eine Äußerung dieser allgemein verbreiteten
Kraft ist. Das zweite allgemeine Naturprinzip, auf dem seine Anthropologie beruht,
ist das Streben nach Selbsterhaltung, das schon den zwei Naturkräften und dann
weiterhin jedem aus ihrem Zusammenwirken an der Materie entstehendem Körper
innewohnt. Jedes Ding kennt kein anderes Übel, als die Zerstörung seiner selbst.?
Das dritte allgemeine Naturprinzip der Anthropologie ist die innere Teleologie des
animalischen Wesens, nach welcher der Selbsterhaltung seine Teile und seine Funk-
tionen dienen. Und für die Psychologie der individuellen Unterschiede tritt dann die
Lelıre von der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Dinge, gleichsam einem in der
Natur angelegten Prineipium individuationis hinzu.
Der Kanon oder die mensura (offenbar entsprechend dem Begriff des Kriteriums
im Theoretischen), welche der Bewegung aller Affekte die Ziele geben, ist die Selbst-
erhaltung. Sie wirkt wie die Feder in einem Uhrwerk, indem sie den Gang der Affekte
! Archiv Band VII, 82 ff.
2 Tel. de rer. nat. IX, 2.
Ben
Dirrney: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts. 19
bestimmt. Sie tut dies durch die Grundeigenschaft des affektiven Lebens, nach welcher
Lust geknüpft ist an das, was die Macht des Körpers steigert, und Unlust an das,
was sie vermindert oder zerstört. Wieder alles Hosges und Srınoza. Dieser Trieb
der Selbsterhaltung führt die Menschen zusammen in gesellschaftliche Verbände und zu
vertrautem Verkehr, und er erregt in ihnen das Gefühl des Wohlwollens für die Mit-
menschen. Denn getrennt vermöchten sie kein sicheres Leben zu führen; der ein-
zelne könnte nicht alles, was er zur Erhaltung des Lebens braucht, sich selbst ver-
schaffen, der Kampf gegen andere Lebewesen und gegen Gewalttaten schlechter Men-
schen ginge oft über die Kräfte des Alleinstehenden hinaus. Hier bereitet Teresro
das Naturrecht von Hozses auf Grund der antiken Tradition vor. Und da der Mensch
erkennt, daß die Leiden, die seine Mitmenschen bedrücken, auch ihm drohen, daß
das Gute, was jenen zufällt, auch ihm erreichbar ist, so entsteht das Mitgefühl, und
dieses kann sich in Haß gegen die umsetzen, welche dem schaden, den wir lieben.
Der echteste Ausdruck des Geistes der Renaissance sind die Wertbestimmungen,
nach welchen Trresıo die Affekte abschätzt. Die Traurigkeit und alle ihr ver-
wandten Affekte sind als eine Zusammenziehung des Geistes eine Schwäche und
Herabsetzung desselben, dagegen sind fortitudo und sublimitas als Erweiterungen der
Seele Steigerungen der Lebenswerte in ihm, sonach Tugenden.
Nicht lange nach dem vollständigen Werke des Terzsıo erschienen
in Frankreich 1588 die Essays des Moxtaisne. Ich habe nachgewiesen',
daß er neben dem Einfluß der Skeptiker auch den der römischen Stoa
und des Plutarch in sich aufgenommen hat, und in unserem Zusammen-
hang wird ersichtlich, wie er den Vıvss und Texzsıo fortsetzt. Er ver-
ehrt in allem die Natur und strebt, sie rein zu vernehmen. Sie lenkt
uns durch den Trieb nach Freude, und ihre Mittel sind die Affekte,
ohne die unsere Seele bewegungslos daläge wie ein Schiff auf offenem,
ruhigem Meer. Auch bei ihm findet sich der Zweifel am Wert der
Reue, gegründet darauf, daß das Vergangene im Zusammenhang des
Universums bedingt war, die Bevorzugung der männlichen und freudi-
gen Gefühle — alles wie bei Hosses und Srmoza. Das stoische Prinzip
des naturgemäßen Lebens, auf welches nun in der nächsten Generation
ein natürliches System der menschlichen Lebensordnungen gegründet
werden sollte, steht im Mittelpunkte seiner Moral, und das Größte in
ihm — worin er der Renaissance und vornehmlich dem CARDANo ver-
wandt ist — ist die Hinstellung seiner eigenen Individualität im Ge-
fühl des Rechtes, das eigene Wesen auszuleben.?
Diese ganze Reihe von Denkern schließt der Süditaliener GiorDANO
Bruno, der Philosoph der italienischen Renaissance, durch welchen deren
künstlerischer Geist und ihre ästhetischen Ideale in die Sphäre der Philo-
sophie erhoben worden sind. Wie seine Naturansicht die Trümmer des
antiken Materialismus zu einem neuen mächtigeren, erhabeneren Ge-
bäude vereinigt und zugleich die in Teresıo angelegten Konsequenzen
zieht durch den Begriff des einen unendlichen und göttlichen Uni-
! Archiv IV, S. 646 ft.
?2 Über sein Verhältnis zur Stoa das Nähere in dem zitierten Aufsatz.
20 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 7. Januar 1904.
versums: so hat auch die aus dieser Doktrin fließende Anschauung des
Menschen, so ungenügend sie in der wissenschaftlichen Begründung
ist, doch die Ideale der Renaissance am vollkommensten realisiert. Die
ganze Dogmatik des Christentums wird als anthropozentrisch, dua-
listisch und jüdisch-partikular dem Standpunkt des Sinnenscheins und
der Imagination untergeordnet. Die Auflösung dieses Scheines ist die
Philosophie. Der Höhepunkt des philosophischen Bewußtseins ist der
heroische Affekt, in welchem Bruno das Lebensgefühl der Renaissance
größer als irgend ein anderer Denker ausgesprochen hat. Nicht nur die
katholische, sondern auch die protestantische Lebensführung scheint
ihm dies heroische Lebensgefühl zu unterdrücken. Wie eine lodernde
Flamme glüht und leuchtet in ihm das Renaissancebewußtsein von der
Schönheitsherrlichkeit der Welt, von jener unermeßlichen Varietas re-
rum, die Carpano so tief empfunden hatte, von dem individualen
Eigenleben jedes Teiles des Universums. Hinter ihm liegt die Schul-
philosophie und das Christentum; Aristoteles ist nur darin nachzu-
ahmen, daß er hinwegschritt über die früheren Philosophen. Er ver-
ehrt den Prrrarca, aber seine sentimentale Liebe findet er zugleich des
Mitleids und des Lachens würdig: eine wahre Tragikomödie. Aus dem
Altertum strahlen zu ihm vornehmlich herüber das Gestirn Platos und,
es umkreisend, das des Plotin, »des Fürsten aller Platoniker«, und in
der Moral das der Stoa, insbesondere des Epiktet und Mark Aurel.
Die Menschenkunde und die Lehre von der Lebensführung, wie
die Renaissance sie gewonnen hatte, ist nun auf die nordischen Völker
übertragen worden. Hier aber traf sie nun auf Lebensbedingungen
ganz anderer Art, und in den großen protestantischen Bewegungen
mußten diese Doktrinen veränderte Formen annehmen. Ich habe früher
versucht, die seelische Lebendigkeit, welche hier in den verschiedenen
Formen des protestantischen Glaubens sich ausbildete, und die hinter
den Dogmen und Moralschriften aufgesucht werden muß, zur Darstel-
lung zu bringen."
Verhältnis dieser Literatur zu Kunst und Dichtung.
Jedesmal, wenn eine Kultur abstirbt und eine neue entstehen soll,
erblaßt die Begriffswelt, die aus der älteren hervorgegangen war und
löst sich auf. Das Erlebnis, wie es bedingt ist durch die gesellschaft-
lichen Veränderungen und die Fortschritte der Wissenschaft, emanzi-
piert sich gleichsam eine Zeit hindurch von den Fesseln begrifflichen
Denkens: für sich wird es eine Macht über die Gemüter. Hiervon
ist dann die Folge eine ganz neue Schätzung von Kunst und Dich-
! Archiv V, 337ff.; VI, 6ıff., 225fl., 5ı8ft.; VII, 29ft.
Dirraey: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts. 21
tung als des unmittelbaren Ausdrucks dessen, was die Zeit bewegt, und
ein direktes Verhältnis jeder Art von Literatur über die Natur des
Menschen und die Führung des Lebens zur Kunst und Dichtung. So
erleben wir es heute, und so war es im 16. Jahrhundert und in den
Anfängen des 17. bis zur Entwicklung des naturwissenschaftlichen
Geistes in KerLer, GaLiteı und Descartes. Der systembildende Geist
ruht ja niemals: ist er doch in dem metaphysischen Bedürfnis gegrün-
det, das Rätsel von Welt und Leben in allgemein gültiger, wissenschaft-
licher Erkenntnis zu lösen. Aber kein Aufwand von Scharfsinn kann
den Gespinsten des begrifflichen metaphysischen Denkens, die in solchen
Zeiten entstehen, Farbe und Kraft des Lebens geben. Und wie nun
Kunst und Dichtung in solchen Zeiten der höchste Ausdruck der Lebens-
auffassung werden, so schöpfen sie doch nicht ohne jede andere lite-
rarische Vermittlung aus ihnen selber die Tiefe der Lebensansicht. In
dem angegebenen Zeitraum hat die neue Kunst und Dichtung sich ent-
faltet in der Atmosphäre der ausgedehnten Literatur, die vom Menschen
und seiner Lebensführung handelte. So hat in der bildenden Kunst
die Lehre von den 'Temperamenten, den Ausdrucksbewegungen, den
individuellen Verschiedenheiten, wie sie aus den Schriften der Alten
herüberkam und sich fortbildete, auf die beiden größten Genies der
Charakteristik und des Ausdrucks, auf Lıiowarno und DÜRER, gewirkt.
Rarraeıs ganze Lebensstimmung schwimmt in dem Lichte jener Poesie,
die aus der Literatur und Dichtung von der Liebe, von der Ver-
wandtschaft der irdischen und göttlichen Schönheit stammte, welche
damals alle Gebildeten beschäftigte. Die Sonette MicHEL ANGELOS
offenbaren sein inneres Verhältnis zu der platonisierenden Mystik
jener Tage. Und man findet sich versucht zu vermuten, daß RusEns
unter dem Einfluß der geistigen Atmosphäre stand, welche die starken
Bewegungen, die Affekte der Seele, die daraus entspringenden star-
ken Handlungen auf eine neue Weise nachempfand, schätzte und zer-
gliederte. Vornehmlich aber hat nun diese ganze Literatur auf die
Dichtung der Epoche und in ihr wieder besonders auf das Drama ge-
wirkt. Wenige Spuren direkter Einwirkung der Schriften, von denen
wir sprachen, sind auf uns gekommen, wie die zweifellose Einwirkung
Montaisnes und die mögliche Brunos' auf SHAKESPEARE, wie das Ver-
hältnis Racmes zu Port-Royal, dem Sitz der tiefsten Seelenkunde des
Zeitalters, oder wie Morı&res Kenntnis der philosophischen Diskussionen
jener Tage. Wir kennen nicht die unzähligen Kanäle, durch welche
von den großen Reservoirs der Menschenkunde jener Tage sich Frucht-
barkeit über die Gefilde der Poesie verbreitete. Dichter aber, als wel-
! Vgl. Archiv VII, 282.
22 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 7. Januar 1904.
che von der Anschauung der Menschen leben, werden auch damals
mehr als aus Büchern aus der Anschauung der von dieser Literatur
formierten Persönlichkeiten und aus dem lebendigen Gespräch, das
unter den Gebildeten jener Tage von dieser Literatur bedingt war,
gelernt haben. Schließlich liegt der Beweis für dies ganze Verhältnis
nicht nur in den spärlichen direkten Beziehungen zu dieser Literatur,
die nachgewiesen werden können, sondern darin, daß diese ganze
Dichtung einmütig eine Kraft manifestiert, die sinnliche Seite des
Menschen, die äußeren Zeichen des Charakters, die körperlichen Aus-
drucksmittel der Leidenschaften zu erfassen, die Struktur der Individuen
sehen zu lassen, den inneren Zusammenhang von Affektzuständen
darzustellen, welche niemals vorher oder nachher erreicht worden ist.
Es ist, als ob die Figuren von SHAKESPEARE oder MoLiErE durchsichtig
in die Triebkräfte ihrer Seelen blicken ließen. Sie fordern die Kunst
mimischer Darstellung wie keine anderen, und ermöglichen sie, weil
schon dem Dichter die körperliche Seite der inneren Zustände immer
gegenwärtig war. Und auch die Begriffe dieser großen Dichter über
das Verhältnis des Charakters zum Schicksal hängen zusammen mit
den Debatten jener Tage über diese Frage.'
Zweiter Absehnitt.
Die Anthropologie und das natürliche System der Geisteswissen-
schaften im 17. Jahrhundert.
Die neuen anthropologischen Begriffe des 16. Jahrhunderts, wie sie
zunächst bei den romanischen Völkern sich entwickelt hatten, wirkten
selbstverständlich auch auf die Politiker und die politischen Schrift-
steller. Aber die Ideen über die Verbesserung der gesellschaftlichen
Ordnungen waren zunächst durch die christlichen und die platonischen
Ideale bestimmt, sie entbehrten also der allgemeingiltigen Grundlage
in einer realen Erkenntnis der menschlichen Natur: so folgerten die
Utopie des Morvs (1516) und die revolutionären Ideen der Spiritualisten
in Deutschland aus willkürlichen Idealbegriffen, und noch die Politik
des Justus Lirsıus (1589) ist konstruiert aus den Begriffen der Tugenden,
welcher der Fürst bedarf; die Anforderungen der harten Realität finden
dann unter der Tugend der prudentia erst einige Berücksichtigung,
wie der Geist der Zeiten sie verlangte. Der außerordentliche Fort-
schritt, der von dem politischen Bedürfnis der Zeit gefordert wurde
! In bezug auf SuarespeAare habe ich einiges über dieses Verhältnis entwickelt
in den Sitzungsberichten dieser Akademie 1896 vom 5. März.
Dirrsey: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts. 23
und in den neuen Anschauungen des Menschen eine theoretische Grund-
lage erhielt, bezog sich auf die Prinzipien der äußeren Politik.
{ Ich habe in früheren Abhandlungen dargelest, wie der Begriff der Staatsraison,
die von dem Machtstreben der Staaten aus die Regeln des politischen Handelns al-
leitet, in den Kämpfen der italienischen Staaten sich ausbildete, in der venezianischen
Politik die erste grundsätzliche Verwirklichung und in Macntaveruıs Schriften ihre
Doktrin erhielten. Macnraverrı hat das politische Denken auf seine anthropologischen
Prinzipien gegründet. Die Gleichförmigkeit der Menschennatur, die Macht der Ani-
malität und der Affekte, vor allem der Liebe und der Furcht. ihre Grenzenlosigkeit
— dies sind die Einsichten, auf welche jedes folgerichtige politische Denken und Han-
deln und die politische Wissenschaft selbst gegründet werden muß. Die mit Tatsachen
rechnende positive Phantasie des Staatsmanns hat in diesen Erkenntnissen, die den
Menschen als eine Naturkraft begreifen und Affekte dadurch überwinden lehren, daß
sie andere Affekte ins Spiel bringen, ihre Grundlage. Sarrı entwickelt in seiner po-
litischen Schrift von 1615 mit der Kälte des Naturbetrachters Prinzipien und Technik
der oligarchischen Regierung Venedigs, Gurccrarninı, Parura und Borero vertreten
in milderer Form denselben Standpunkt, und das Testament Rıckerırus ist auf das-
selbe Prinzip der Staatsraison gegründet, aber gemäßigt durch die vornehmeren Ge-
siehtspunkte, wie sie die Reputation des Souveräns in den großen Monarchien for-
derte. Der niederländische Vertreter der römischen Stoa, Scıorprivs, hat in seiner
Schrift über die Methode der Politik, die Coxrına herausgegeben hat, Autarkie und
Wohlfahrt des Staates als die Richtschnur alles politischen Handelns hingestellt und
die Beweggründe der Moral nur in mittelbares Verhältnis zu ihr gesetzt; der po-
litische Denker hat über die Tyrannis und die Revolutionen nur zu sprechen wie ein
Arzt über Fieber und Entzündungen. Dieser Vergleich ist demjenigen ähnlich, welchen
Spınoza in weiterem Sinne auf die Betrachtung des ganzen affektiven Lebens ange-
wandt hat: »als ob von Linien, Ebenen oder Körpern die Rede wäre«. Und Lırsivs
selber hat in seinen Vorschriften über die fürstliche prudentia die Frage aufgeworfen,
ob nicht in deren säuberliche Mischung einige Tropfen von böswilliger List und Be-
trug eingemischt werden dürften, er hat diese Frage bejaht, in Erwägung, daß Natur
und ratio das Staatswohl zum unbedingten Maßstab der politischen Handlungen machen,
und daß die Politik der Zeit voll von Lüge, List und Trug sei.!
Prinzipien der Fortbildung der Rechts- und Staatsordnung, ge-
gründet auf die neue anthropologische Wissenschaft und systematisch
durchgeführt, haben sich aber in einem ganz anderen Zusammenhang
entwickelt. Zwei Momente greifen hier ineinander. Die protestanti-
schen Schriftsteller untersuchten, zumal seit der Bartholomäusnacht
(1572), das Verhältnis des Rechtes der Fürsten zu dem der Unter-
tanen und gingen dabei zurück auf den griechisch-römischen Begriff
des Staatsvertrages. Die Schriften von Henning 1562, LAnGuEer 1569
und Horomasnus 1585 sind durch ihre wissenschaftliche Methode be-
merkenswert. Hesnıse nennt seine Schrift De lege nature methodus
apodietica, und Lansver bezeichnet bereits als sein Verfahren die geo-
metrische Methode, wie sie Hosses und Srınoza dann übten.” Das
andre Moment lag in der Renaissance der römischen Rechts- und
Staatslehre. Diese vollzog sich durch die großen französischen Juristen
! Näheres in meinen Aufsätzen im Archiv. besonders VII, 56 ff.
®2 Meine Abhandlung, Ba.VIl, 59 ff.
24 Sitzung der philosophisch--historischen Classe vom 7. Januar 1904.
der Schule von Bourges, unter denen mehr historisch Cvracmws und
vorwiegend systematisch Doxerıus die Führer waren. Die römische
Rechtswissenschaft hatte die naturrechtlichen Theorien der Griechen
mit dem Rechtssystem selbst in Beziehung gebracht, und so gelangte
auch auf diesem Wege die naturrechtliche Theorie in ihrer Anwend-
barkeit auf die positive Jurisprudenz zur Geltung. Und da nun die
neue bürgerliche Gesellschaft auf die rechtliche Gleichheit aller Staats-
bürger und andererseits auf die Durchführung der staatlichen Souve-
'änität hindrängte, so gewann sie in der naturrechtlichen Lehre die
theoretische Grundlage ihrer Konstituierung und das Kampfmittel gegen
die Selbständigkeiten, die im Innern der Gesellschaft im Mittelalter
sich gebildet hatten. Aus diesem Bedürfnis gingen drei große Werke
hervor, die Staatslehre des Bons 1577, die Politik des ALrnus 1603
und das Völkerrecht des Hwso DE GroorT 1625." Hwco Groriws, der
letzte unter diesen Schriftstellern und der einflußreichste, steht nun
bereits unter dem Einfluß der Erneuerung der römischen Stoa, welche
sich damals in der niederländischen Philologie vollzogen hatte.
Das Verhältnis der Zeit zu der Stoa und der durch sie bedingten
römischen Lebensansicht beruht vornehmlich darauf, daß hier ein
Zusammenhang gegeben war, in welchem aus dem teleologischen
Charakter des Weltzusammenhanges vermittels der Lehre vom Menschen
ein Inbegriff allgemeingültiger und unveränderlicher Regeln abgeleitet
wurde, an welche jede Ordnung der Gesellschaft in Recht, Staat
und religiösem Glauben gebunden ist. Dies war es, was die Zeit be-
durfte: Begründung neuer Ordnungen, unabhängig von den bisherigen
Autoritäten: Autonomie des Geistes in der Regelung seiner praktischen
Betätigungen im bürgerlichen Leben: unangreifbare Grundsätze für die
Regelung der Gesellschaft nach ihren neuen Bedürfnissen. Die
Prinzipien der rationalen Gestaltung von Recht, Staat und Religion
als den Formen geistigen Lebens konnten aber nur auf den erkannten
gesetzlichen Zusammenhang des Geistes begründet werden. Sie
forderten also eine Fortbildung der Anthropologie.
Drei historische Momente wirkten zusammen, die Anthropologie,
wie sie Vıves und Teresıo geschaffen hatten, fortzubilden. Die An-
forderungen, welche in der rationalen Gestaltung von Recht, Staat
und Religion enthalten waren, das Material, das nun in der philo-
logischen Rekonstruktion der römischen Stoa gewonnen wurde, die
Methoden und Prinzipien, die in der mechanischen Naturwissenschaft
sich darboten. So entstand die größte Leistung der Anthropologie
dieser Zeit: die Aufstellung von Gesetzen, welche den ursächlichen
! Das Nähere über dieselben meine Abhandlung Archiv VII, 63 ft.
Direney: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts. 25
Zusammenhang des Seelenlebens beherrschen, so daß die einzelnen
seelischen Zustände aus dem obersten Prinzip der Selbsterhaltung
eines von der Außenwelt bedingten und auf sie reagierenden psycho-
physischen Wesens abgeleitet werden. Die klassischen Repräsentanten
dieser Anthropologie sind auf Grund des Descartes Hosges und Srınoza.
Ich habe über den Einfluß der römischen Stoa auf die Systeme dieser drei Philo-
sophen an anderer Stelle gehandelt; sie stehen aber gemeinsam zugleich unter der Ein-
wirkung der beiden anderen angegebenen geschichtlichen Momente, und zu diesen treten
Einflüsse mannigfacher, höchst komplizierter, zum großen Teil gar nicht mehr feststell-
barer Art. Die Frage nach den Schriften, welche auf Srinoza gewirkt haben, konnte
in einem gewissen Umfang durch Parallelstellen aufgeklärt werden. Den ersten
Nachweis solcher Art gab TREnDELEnBURG, der für den Traktat I3, wo auf eine üb-
liche Unterscheidung von 8 Arten von Ursachen rekurriert wird, übliche Lehrbücher von
HEEREBOORD und BURGERSDLJICK, als die Autoren, denen er folgte, nachweist (Beiträge I1I
316ff). FREUDENTHAL (Spinoza und die Scholastik in den EnuArn ZELLER gewidmeten
Aufsätzen 1887) gewann aus der Analyse der cogitata metaphysica den Nachweis der
Bekanntschaft Srınozas mit HEEREBOORD, BurGErspisck und anderen Autoren der
jüngeren Scholastik; von dieser Grundlage aus konnte er dann auch an der Ethik
die Verwertung der scholastischen Tradition plausibel machen. Andererseits hat
Sıswarr den Nachweis geliefert, daß Srınoza wahrscheinlich den Gıorpano Bruno
selber gelesen hat; würde man diese Lektüre nicht als streng erwiesen ansehen, so
müßte Srınoza durch ein uns zur Zeit unbekanntes Mittelglied mit Gıiorpano Brunos
Ideen in Beziehung stehen (Stewarr: Spınozas kurzer Traktat, übersetzt und erläutert.
1370. Einl. S. 38.43). Wieder eine andere Quellenklasse, auf welche Joe hinwies,
ist weniger gut bezeugt; indeß daß die jüdischen Religionsphilosophen von Srınoza
benutzt worden sind, und daß unter ihnen besonders Maımonives und ÜRrEskas be-
merkenswerte Parallelen zeigen, kann kaum bestritten werden. Nimmt man hierzu
die offenliegende Benutzung von Descarres und Hosges, so ergibt sich hieraus seine
Berührung mit sehr verschiedenen Kreisen von Literatur in dieser Epoche. Dazu
zeigt die in emem Brief von Scnurrer an Leıenız enthaltene Angabe seltener Bücher
in seinem Nachlaß, daß er auch entlegenere Schriften über religiöse und politische
Gegenstände in Besitz hatte. Alle diese Nachweise gestatten, dem Kern Srınozas
näher zu dringen. Man mul suchen, sie durch eine andere Methode zu verbinden
und zu ergänzen. Spınoza hat was er gelesen verdaut und in eigene Lebenskraft
verwandelt. So sind alle Beweise direkter Abhängigkeit durch Parallelen in enge
Grenzen eingeschlossen. Er ist aber in Kern seiner Ideen vom ersten Dialog ab getragen
von einer großen Bewegung der Zeit, gleichviel auf welche Art ihm deren Kenntnis
im einzelnen zufloß. Aus dem Verhältnis seiner tiefen Seele zu dieser umgebenden
Bewegung entspringt die innere Form und Struktur seines Systems. Diese ist in der
Ethik, rückwärts in dem Fragment de emendatione und weiter zurück im Traktat so
einfach, daß in dieser Rücksicht Spınoza wie ein durchsichtiger Kristall vor uns liegt.
Der erste Eintritt in die philosophische Bewegung um ihn mag schon vermittelt
gewesen sein durch seinen Unterricht bei dem humanistischen Arzte van DER Enpe;
denn diesem schrieb man zu, er habe seinen Schülern die Keime des Atheismus ein-
geimpft; bei diesem Atheismus des humanistischen Arztes werden wir an den Natura-
lisınus des Lucrez und an moderne Schriften dieser Richtung, wie Teresıo, zu
denken haben. Auf Enpes geistige Bedeutung wirft seine Rolle als Unterhändler ein
Lieht und ein näherer Verkehr mit ihm scheint wahrscheinlich nach der Überlieferung,
Spınoza sei als dessen Hilfslehrer tätig gewesen. Die Grundrichtung Srinozas tritt
schon in dem ersten Dialog hervor, der in den Tractat de deo et homine eingelegt
ist. Den Grundbegriff desselben bildet die in ihrer Totalität unendliche und höchst
vollkommene Natur. Die Begierde sieht in dieser Natur überall nur Verschieden-
heiten; die ratio löst aber diese Bedenken und demonstriert die Einheit, welche vom
26 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 7. Januar 1904.
Intellekt unmittelbar erfaßt wird, woraus dann die vollkommene Liebe zu dieser voll-
kommenen und unendlichen Natur entspringt. In diesen Sätzen ist die Erkenntnis
der unendlichen Natur nach ihren Stufen und in ihrer Verbindung mit dem Fortgang
vom Affekt zur Gottesliebe schon vollständig enthalten. Die Struktur des Systems
ist also von vornherein ein Monismus, in dem sich die Seelenlehre nach dem Schema
der platonisierenden Mystik gliedert, und Srınozas eigenste Erfindungen entspringen
aus der Anpassung dieser Struktur an die wissenschaftliche Lage. Alles was er las,
wandelte sich ihm sofort in Stoff zur Ausgestaltung dieser Grundanlage des Systems.
Justus Lirsıus, GERARDUS Vossıus, Scıoprrus und Hemsıus haben
in erster Linie die Rekonstruktion der römischen Stoa in der nieder-
ländischen Philologie vollzogen. Auch die früheren Stufen der Anthro-
pologie hatten unter dem Einfluß der römischen Stoa gestanden, und
die Theorie der Lebensführung war ebenfalls tief von dem einfachen
Zusammenhang zwischen der teleologischen Naturordnung, dem natur-
gemäßen Leben und den unabänderlichen natürlichen Gesetzen der
Gesellschaft bestimmt gewesen, wie die römische Stoa sie aufstellt.
Jetzt entstand aber ein philologisch begründetes Wiederverständnis.
Welch eine glorreiche Blüte erlebte damals dies einzige freie Gemein-
wesen der damaligen Welt. Es ruhte auf der Grundlage eines durch
Handel und Industrie mächtigen Bürgertums, getragen von der aktiven
reformierten Religiosität. Es gewährte den freien Denkern und Sehrift-
stellern zuerst in Europa eine sichere Zuflucht. Der internationale
Zusammenhang, welcher die Reformierten der verschiedenen Länder
miteinander verknüpfte, eröffnete den großen französischen Juristen,
welche sich mit größerer oder geringerer Entschiedenheit zur Huge-
nottenpartei bekannten, eine neue Heimat in Basel, Genf, „Heidelberg,
Altdorf, vornehmlich aber in den Niederlanden. Leyden wurde die erste
Universität im modernen Verstande; denn das Merkmal einer solehen ist
die Verbindung des Unterrichts mit der unabhängigen Forschung als aus-
drücklichem Zweck des Universitätsbetriebs. Die französischen Reli-
gionskämpfe bestimmten den größten Philologen der Zeit, J. J. ScALIGER,
zur Übersiedelung dahin. Mehr als an einer anderen Stelle Europas
wurde damals Arbeit für den Fortschritt der Wissenschaften hier ge-
leistet, und all diese Arbeit war von allgemeinen Ideen bestimmt.
Die Ideen der römischen Stoa verbanden sich hier mit der arminiani-
schen Erfassung des Idealismus der Freiheit und des höchsten mora-
lischen Begriffes der Gottheit, wie sie im Studium des Cicero und
des Seneca erwachsen waren. Bis in die niederländische Dichtung,
besonders das Drama, erstreckt sich der Eintluß der hier vollzoge-
nen Verbindung römischer Stoa mit dem freien in den Sekten sich
entwickelnden protestantischen Christentum: sie war innerlichst ver-
wandt dem zähen, geduldigen und ruhigen niederländischen Geiste.
Das war die Atmosphäre, in welcher Grorıus, Spısoza und GEULINCX
hintereinander sielı entwickelt haben.
Dirraey: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts. A
Wieder begegnen wir einer Gruppe von Schriften aller Art, systematischen Dar-
stellungen der römisch-stoischen Doktrin, Briefen, Dialogen, Essays, welche eine euro-
päische Wirkung geübt haben und in großen Kreisen der Gebildeten gelesen wurden.
Der angesehenste unter diesen philologischen Stoikern war Jusrus Lirsıus (geb. 1547).
Er machte namentlich in der Schrift De constantia und in seinem System der Politik
Anspruch darauf, als Philosoph und als Schriftsteller zu gelten. In der ersteren
Schrift hat er die stoische Doktrin mit den Grundgedanken der christlichen Religio-
sität zu versöhnen unternommen und in der zweiten auf die antike Tugendlehre eine
Staatstheorie begründet.
In der Schrift De constantia preist er die Stoa, weil sie mehr als irgend eine
andere Sekte den Begriff der Providenz zur Geltung gebracht und den Menschen zu
der ewigen Ordnung der Dinge hingezogen hat.! Hier, wie überall, bevorzugt er die
römisch umgeformte Stoa des Seneca. Chrysipp dagegen hat zuerst die männliche
Sekte durch seine spitzfindigen Untersuchungen verderbt und entnervt.” Der Dialog
ruht auf Seneca. Lırsıus hat die Niederlande verlassen wegen der bürgerlichen Un-
ruhen. In der Unterhaltung mit seinem Freunde CAarorus Lancıus weist ihn dieser
darauf hin, daß er bürgerliche Unruhen gerade jetzt überall finden werde: in uns
selbst aber bringen wir Unruhe oder Ruhe überallhin mit: unser Geist muß gefestigt
und gebildet werden, damit uns Ruhe werde in Unruhen und Frieden inmitten der
Waffen. So ruft ihn der Freund zur constantia auf. Sie wird definiert als die
rechte, unbewegliche Stärke der Seele, die durch das Äußere und Zufällige weder
maßlos erhoben noch herabgedrückt wird. Stärke aber definiert er als die innere
Festigkeit, die nicht aus der opinio, sondern aus der reeta ratio stammt.? Mit constantia
hat Scıoprıus die eYrrAselAal, wie sie Diogenes (VII, rı5f.) aufzählt, bezeichnet: die
der ratio entsprechende innere Gemütsverfassung des Weisen. Auf seine weichlichen
Bedenken antwortet dem Lırsıus sein Freund: »Es spricht zu dir ein Philosoph, nicht
ein Flötenspieler.«c Zwei Punkte sind nun von Bedeutung. Er verwirft die miseratio
als die Pusillanimität, die unter dem Druck des fremden Leidens zusammenbricht, er-
kennt aber im Unterschied zu ihr die miserieordia an als die Neigung des Geistes,
fremden Mangel oder Bekümmernisse zu erleichtern. Hier berührt er die Streitfrage,
welche schon zwischen der strengeren Stoa und den Peripatetikern® bestand, und die
Scıorrıus mit besonderem Nachdruck behandelt hat. Epiktet hatte gemahnt, vom
Anblick eines Jammernden sich nicht bewegen zu lassen: denke bei dir, daß ihn nicht,
was ihm zustieß, quält, sondern die vorgefaßte Meinung desselben; vor allem aber
seufze nicht mit. LaerLıus PEREGRINUS in seiner interessanten Schrift über Erkenntnis
und Besserung der Leidenschaften der Seele von 1598 findet hierin eine unglaubliche
Gemütshärte, die den Menschen der Menschlichkeit beraube. Scıorrıus aber inter-
pretiert dieselbe Stelle des Epiktet im Sinne der Schrift des Seneca De elementia.
Hier findet Seneca die Wohltätigkeit und kraftvoll-freudige Unterstützung des Un-
glücklichen dem Weisen geziemend; Mitleid aber als eine Bekümmernis wegen fremden
Leidens muß demselben fern sein; das sind schwache Augen, die beim Anblick eines
Triefäugigen überfließen, wie es Krankheit und nicht Fröhlichkeit ist’, immer mit
dem Lachenden zu lachen. Dieser Ansicht vom Mitleid also tritt Scıorrıus bei.
So trat also auch von dieser Seite die Verurteilung des Mitleides an Hosers und
Spınoza heran. Der zweite Punkt betrifft die providentia. Es gab keinen Punkt, der
damals in den Niederlanden heftiger umstritten gewesen wäre als die Frage der
Providenz, der Gnadenwahl und des ihr verwandten stoischen Determinismus. Lirsıus
mildert letzteren durch Bevorzugung der römischen Stoa und spricht zwar von der
-
De const. 1, cap. 18.
De const. I, cap. 17.
De const. |, cap.4.
Cie. Tuse. IV, $ 43 ff., $ 506.
De elem. II. 5 und 6.
u» oo »
28 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 7. Januar 1904.
wohltätigen Notwendigkeit, erkennt aber ausdrücklich die Wahlfreiheit an und zieht
sich schließlich zurück in die Anweisung: Necessitatis non aliud eflugium est, quam
velle quod ipsa cogat. Und ebenso hat er in seiner Manuductio ad Stoicam philoso-
phiam die Paradoxa der strengen Stoa, wie die von der Affektlosigkeit und Apathie
des Weisen, der Verwerflichkeit des Mitleids und der Verzeihung, mit den Aus-
kunftsmitteln der eklektisch-römischen Richtung abzumildern gewußt. Sein Ideal war
das eines christlichen Stoikers. Aus diesem Ideal ging auch seine in vielen Auflagen
über Europa verbreitete Politik hervor. Sie baut sich auf die Lehre von den Kar-
dinaltugenden auf. In Lirsıes zuerst ist der ganze Zusammenhang der stoischen
Moralphilosophie der Anschauung der moralischen Welt zugrunde gelegt worden.
Eine zarte und zugleich leidenschaftliche, zur Melancholie geneigte Natur, welche in
der Verbindung der Stoa mit dem Christentum ihren Halt fand — so tritt er uns in
seinen Briefen entgegen: seine Persönlichkeit stellt er hier als ein höchst Interessantes
und Bedeutendes den Zeitgenossen dar. Die Streitigkeiten, in welche seine kirchen-
politischen Ideen ihn besonders mit dem edlen Verteidiger der Toleranz CoornHErT
verwickelten, haben ihn ins Ausland und in die Arme der Jesuiten getrieben. Auch
DasıeL Heınsıus, der Philolog, Dichter und Historiker, und Gerarvvs Vossıvs stehen
unter der Einwirkung der stoischen Philosophie.!
Die Systematisierung der stoischen Überlieferung über die Affekte und die
moralische Lebensführung war nun aber das Werk des Scıorrpivus in seinen Elementa
philosophiae Stoicae moralis (1606). Auch in diesem deutschen Philologen waltet die
Tendenz der Vereinigung der stoischen Moralphilosophie mit dem Christentum, und
auch ihm ist Seneca der Vermittler zwischen diesen beiden. Wohl haben die Para-
doxien der stoischen Sekte, »der stärksten und heiligsten«, derselben üblen Leumund
bereitet, richtig interpretiert steht aber diese Moralphilosophie sowohl mit dem katho-
lischen Glauben als mit den Lehren der anderen vornehmsten Philosophen im Ein-
klang. Stoa und Christentum denken über das höchste Gut einstimmig. Indem
Scıorrıus nun daran geht, den systematischen Zusammenhang des moralischen Lebens
von den Affekten an durch ihre Reinigung hindurch bis zu der Ordnung der
Pflichten darzustellen, nimmt er seinen Ausgangspunkt in dem sehr wertvollen
Gedanken einer allgeıneinen Wertlehre, den er einer Stelle des Seneca? entnimmt.
Die Wissenschaft des moralischen Lebens zerfällt nach dieser in drei Teile: der erste
hat die Abschätzung der Lebenswerte zum Gegenstand, der zweite die Herstellung
eines angemessenen Verhältnisses des Trieblebens zu diesen Wertbestimmungen, und
der dritte die Regeln der Handlungen, welche dem entsprechen. Die Notwendigkeit
einer solchen allgemeinen Theorie der Lebenswerte wird von ihm begründet. Was
wäre so notwendig, als jedem Ding seinen Wert zu bestimmen? Die Größe desselben
abzuschätzen ist die oberste und erste Aufgabe: von hier aus erst kann der Antrieb
geregelt werden, welcher der Größe des Wertes entsprechend sein muß. Das Leben
kann nur dann mit sich in Übereinstimmung sein, wenn die Handlung sich dem An-
trieb nicht versagt und der Antrieb aus dem festgestellten Wert des Gegenstandes ent-
springt, sodaß seine Stärke diesem Werte entspricht. Diese höchst merkwürdige Auf-
stellung einer obersten Theorie der Lebenswerte für die moralischen Wissenschaften wird
nun von Scıorrıus benutzt.” Er stellt eine Tabelle auf, was vor ihm auch andere, wie
Larrıus PEREGRINUS getan haben, und der erste Teil seiner moralischen Wissenschaft
wird hier bestimmt als Theorie de aestimatione. Der Maßstab der Wertbestimmung
wird in dem Prinzip gefunden, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben. In diesem
Prinzip ist ein Maßstab des bonum, des honestum und der virtus enthalten. Es ist
klar, daß die Bestimmung der mittleren Linie des Handelns aus dem Ziel des Lebens
bei Aristoteles auf diese Theorie eingewirkt hat.
! Letzterer hat in seiner Schrift De theologia gentili et origine et progressu
idololatriae im 3. Buch, cap. 36 und an anderen Orten über. die Affekte gehandelt.
2 Sen., Ep. 89, 14.
® Scıorrıus, Elementa cap. 119.
Dirrsev: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts. 29
Der Zeitwert der Schrift des Scıorrıvus liegt dann in der Systematisierung der
stoischen Moralphilosophie, welche alle Einzelbestimmungen in sich aufzunehmen suchte,
ja einige Ergänzungen vornahm, deren Scıorrıus mit sonderbarem Selbstgefühl Er-
wähnung tut. Hierbei ordnet er die drei Teile der stoischen Moralphilosophie, die
eben angegeben wurden, einem allgemeineren Unterschiede unter, welchen er ebenfalls
aus einer Stelle des Seneca entnimmt.! Seneca unterscheidet? decreta und praecepta.
Scıorrıus definiert diesen Unterschied dahin, daß jene das Leben allgemein regeln,
diese die einzelnen Teile des Lebens, die menschlichen Handlungen nach der Ver-
schiedenheit von Ort und Zeit bestimmen. Und so zerfällt ihm nun die stoisch-
moralische Disziplin in die decreta, deren oberster Teil von der aestimatio und deren
zweiter von der appetitio handelt, und in die praecepta, deren erster Teil die medi-
eina affectuum und deren zweiter die officia zum Gegenstande hat. So entsteht für
die Lehre von der appetitio die folgende Anordnung:
Appetitio:
. naturalis et (ea qua inclinamus ad ea, quae ad conservationem nostri pertinent,
sine motu, ER qua virtutem seu honestum seetamur: ad virtutem enim, ut ad
eaque vel summum bonum, natura magis inclinamus quam ad conservationem nostvi.
boni, : h
: Se ex quibus oritur aegro-
venturi: cupiditas :
NER: a tatio seu morbus, ut
prineipes, sen libido, ae Er
N ESTER avaritia, ambitio, mu-
uarıum a s Ev - : j
4 k an p lierositas etc.
dieit opinione venturi: metus. Hine oritur offensio
ieiturque pa- Bee : 2
nr Rn ER seu fastidium sive abhorrentia, tt
105 v - : : SE z
SA SC mali inhospitalitas, MIcorYNelA, MICANEPW-
tus vel pertur-
batio, quae
dividitur in
TIlA,
praesentis: aegritudo seu tristitia.
. iudicio sus-
cepta et cum
motu aliquo,
quae commotio
est vel
libidini subiectae sive species libidinis: ira,
exeandescentia, odium, amor etc.,
prineipibus voluptati: delinitio, lactatio ete.,
subieetas, ut Imetui: pigritia, terror, timor ete.,
aesritudini: misericordia, invidentia, angor,
luetus ete.
tione,
constans et prudens et cum etiam incommodi c. r.
prineipes ut [es elatio anımi c. r.,
|eutic: declinatio mali
voluntas: appetitio cum ra-
vel
ratione: OPMH vel EYTiAsela voluntati: benevolentia, cle-
vehementior ne
2 © Eu nascuntur ex tas seu laetitia.
sine ratione
sive constantia, et dividitur in mentia etc.,
prineipibus jgaudio: recreatio, hilaritas
subiectas ut etc.,
cautioni: reverentia seu vere-
cundia, castitas seu sanctitas.
Dieser Tabelle geht in der des Scıoprıus die der aestimatio vorher. Wie die
systematische Anordnung der Affekte in ihr im ganzen den in den stoischen Eintei-
lungen und Definitionen der späteren Zeit entspricht®, wurde sie nun für die philoso-
phischen Schriftsteller der folgenden Periode ein nützliches Mittel der Orientierung,
! Scıoprıus, Elementa cap. 119.
?2 Seneca, Ep. 94 und 95.
3 Vel. außer Seneca insbesondere Cic. Tuse. IV $ ırfl.; Diocenes VII, 110 ff.
und Anpronıcus.
30 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 7. Januar 1904.
wenn sie auch uns heute nichts neues sagen kann. Unter den praecepta waren dann
die medieina affeetuum und die officia gesondert und bis ins einzelste gegliedert. Und
darin lag nun das für die Zeit nützliche, daß Scıorpivs in seiner Schrift den großen
Zusammenhang bis ins einzelste sichtbar machte, in welchem gleichsam der moralische
Gemütsprozeß in seinen Stadien von der stoischen Philosophie aufgefaßt worden war.
Als einen solchen Typus der umlaufenden philosophisch-philologischen Literatur dieser
Klasse haben wir sie hier besprochen, so wenig bedeutend sie auch, abgesehen von
diesem literarisch-historischen Zusammenhang, ist.
Im Jahre 1597 erschienen zuerst die Essays von Bacon und 1605 dann die eng-
lische Ausgabe der Schrift De dignitate et augmentis scientiarum, die lateinische 1623.
Bacon löst die moralische Wissenschaft los von der Theologie; die sittlichen Ordnun-
gen stehen nach ihm unter einem Naturgesetz; dieses hat sein äußeres Merkmal an
dem consensus, innerlich wirkt es als Instinkt und natürliches Licht — alles Sätze,
welche aus der Stoa stammen. Der innere Instinkt ist auf Selbsterhaltung und auf
Gemeinwohl gerichtet. Die unterscheidende Eigentümlichkeit Bacons liegt nun aber
darin, daß er eine Wissenschaft fordert, welche die Verwirklichung der im Natur-
gesetz geforderten Lebenshaltung durch die Hilfsmittel herbeiführen will, welche in
einer neuen Wissenschaft der Menschenkunde enthalten sein würden. Unter die
Lücken in den bestehenden Wissenschaften, welche seine Eneyklopädie feststellt,
zählt er auch, daß eine Doetrina de cultura animi fehle.!
Der erste Teil dieser Theorie soll eine Charakterologie sein. Das Material derselben
muß bei Dichtern und Geschichtsschreibern aufgesucht werden; unter den letzteren
hebt er Tacırus, Conines, Guicerarpdinı hervor. Wie die Agrikultur eine Kenntnis
der Verschiedenheiten von Boden und Klima fordert, oder die Medizin eine solche der
Körperunterschiede, so muß die Kultur des Geistes gegründet werden auf die Kenntnis
der Unterschiede der Charaktere. Der zweite Teil dieser neuen Wissenschaft ist die
Doktrin der Affekte in ihren verschiedenen Graden und Formen. Sie sind die Krank-
heiten der Seele oder die Stürme, die in der menschlichen Seele die großen Unruhen her-
vorbringen. Aristoteles hat scharfsinnig und gut von ihnen gehandelt, aber von seiner
Theorie hat er in der Moral keinen Gebrauch gemacht. Bacon lobt die Stoiker, findet
aber auch hier, daß die lebensvollen Darstellungen des affektiven Lebens bei Diehtern und
Historikern von keiner Theorie noch erreicht worden seien. Bei ihnen vor allem findet
sich die Verwertung des Verhältnisses, nach welchem ein Affekt benutzt werden kann,
einen anderen zu unterdrücken oder einzuschränken. Wie Jäger sich eines Tieres
bedienen, um ein anderes zu jagen. Hierauf beruhe dann auch die Benutzung von
Belohnungen und Bestrafungen in der Rechtsordnung: die übermächtigen Affekte von
Furcht und Hoffnung können andere schädliche zurückdrängen. So kommt an dieser
Stelle Bacon dem Satze des Srınoza ganz nahe, daß ein Affekt immer nur durch
einen anderen überwunden werden könne, ohne daß er ihn doch besäße. Der dritte
Teil dieser Theorie soll von den Heilmitteln und dem Heilungsprozeß handeln, durch
welchen der Mensch sich von den Krankheiten der Affekte zu befreien vermag, und
hier hat Bacox schöne Regeln entwickelt und insbesondere die Macht der Gewöhnung,
die Aristoteles so schön dargelegt hatte, verwertet. Wie nun auch diese Theorien auf
die Stoa vielfach zurückgehen, habe ich früher nachgewiesen.” Eine der schönsten
populären Schriften über Seelenkunde und Lebensweisheit aus dieser Zeit sind seine
Essays. Hier hat er über die einzelnen Affekte, ihre Bedingungen, die inneren Ver-
hältnisse, nach welchen sie in den verschiedenen Charaktertypen zusammenwirken,
die geistvollsten Bemerkungen gemacht.
1601 erschien dann die Schrift von CuAarron, De la sagesse. \Vieder tritt uns
hier eine Persönlichkeit eigensten Gepräges entgegen, die Kenntnis ihrer selbst und
! De dign. et augm. seientiarum lib. VII c. 3.
2 Archiv VII, S. 46ft.
Dirraey: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts. 31
der Menschen zum Geschäft ihres Lebens gemacht hat. Der Schüler Moxywaısnes
betont noch stärker die moralische Gebrechlichkeit des Menschen, und doktrinärer als
jener hat er die stoischen Lehren von den Affekten, den Mitteln der Befreiung von
ihnen und dem Ideal des Weisen verwertet.! Auch dies war eine Schrift, welche auf
den ganzen Kreis der Gebildeten gewirkt hat.
In allen diesen Schriften, so verschieden sie sonst sind, herrscht
eine Form der Anthropologie, und macht sich eine Funktion der-
selben geltend. Ihren Hintergrund bildet die neue, das ganze welt-
liche Leben durcehdringende Lebendigkeit, welche der im Norden auf-
getretene Protestantismus hervorgerufen hatte, und die sich auch Frank-
reich und den katholischen Niederlanden mitteilte. Die moralischen
Ideen erhielten durch diese Bewegung eine außerordentliche Macht.
Es entstand das Streben nach einer allgemein gültigen Begründung
derselben. Das »Licht der Natur,« das die römische Philosophie ver-
ehrte, ward in den Lehren der Stoa, im christlichen Idealismus, ja
in allen großen Philosophen als ein einmütiges und genugsames ge-
funden. So fand nun auch hier, wie vorher in den Denkern der süd-
lichen Renaissance, eine neue Vertiefung des Menschen in sich selbst,
in die letzte Innerlichkeit seines Wesens statt. Das Schema des Ver-
laufes eines in seiner Autonomie festgegründeten innerlichen Lebens
fand man vornehmlich in den Lehren der Stoa von einem teleologischen
Zusammenhang der Natur, der Selbsterhaltung, den Anlagen unseres
Wesens, in denen sie teleologisch wirksam ist, dem Hineingeraten
des Menschen in das Treiben der Affekte und in die Knechtschaft
durch sie und endlich der Befreiung des Menschen von ihr durch die
Erkenntnis der Lebenswerte. Die Innerlichkeit, die so hier im Norden
entstand und auch einzelne französische Kreise beeinflußte, hat als ein
weiteres Moment die englische und niederländische Dichtung wie die
von Racme bedingt. Auf dem Boden der aristotelisch-scholastischen
Lehre von einer unabhängigen geistigen Substanz, welche die Affekte
gleichsam nur von außen und vorübergehend zu verwirren vermögen,
hat Descartes das Schema der stoischen Moralphilosophie verwertet,
Spinoza auf der Grundlage des neuen Monismus, zugleich von anderen
Voraussetzungen aus GEULINCK.
Wir sahen, wie nun aber die neue Anthropologie allmählich noch
eine andere Funktion in der geistigen Kultur auszuüben begann: sie
wurde die Grundlage für die Werke, welche ein natürliches System
von Recht, Staat und Religion aufzurichten und zur praktischen
Geltung zu bringen unternahmen: den Höhepunkt dieser zunächst
von den Naturwissenschaften unabhängigen Bewegung bildet Huso
(sRoTIUS.
! Näheres in meiner Abhandlung Archiv VII, S. 50.
32 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 7. Januar 1904.
Das an anderer Stelle und unter anderem Gesichtspunkt über Grorıus Gesagte!
bedarf hier folgender Ergänzungen. Grorıus geht aus von der Definition des Staates.?
Er sucht nun in den Rechtsordnungen der Staaten die durch die Natur des Menschen
und der Sachen gegebenen und darum notwendigen Begriffe und Sätze des Natur-
rechts auf. Dieses aber begründet er schließlich auf die Wissenschaft von der
menschlichen Natur: denn aus dem Verhältnis der konstanten Züge derselben zu der
Natur der Dinge entspringen die natürlichen, allgemein gültigen Bestimmungen über
die Ordnung der Gesellschaft. Wie Bacon findet er in ihr zwei einander be-
schränkende Anlagen. Jedes lebende Geschöpf sorgt von seiner Geburt ab für sich;
es strebt sich zu erhalten, vermeidet seinen Untergang und sucht auf, was seine
Selbsterhaltung befördert. Es entwickelt sich im Menschen aber auch ein sozialer
Trieb; schon die Tiere schränken die Sorge für ihr Eigenleben ein durch die Rück-
sicht auf ihre Jungen und auf andere Tiere derselben Klasse. In den Kindern zeigt
sich früh Mitleid und das Streben, anderen wohlzutun. Mit dem geselligen Trieb
verbindet sich Sprache und das Vermögen, allgemeine Regeln zu bilden und ihnen
gemäß zu handeln. Hierauf beruhen das Recht und die in ihm enthaltenen Vor-
schriften, fremden Gutes sich zu enthalten, Verbindlichkeiten zu erfüllen, verschuldeten
Schaden zu ersetzen, sowie das Prinzip der Wiedervergeltung. Ferner liegt in unserer
Natur das Vermögen, Güter und Übel zu bemessen, und die gegenwärtige Lust der
Rücksicht auf die Zukunft aufzuopfern. Die so entstehenden Regeln des Lebens sind
in ihrer Gültigkeit unabhängig von der Existenz oder dem Willen der Gottheit, weil
sie in der Natur begründet sind.*
Der Übergang aus diesem Stadium der Begründung einer po-
litischen Wissenschaft auf die Anthropologie in dasjenige, dessen
Hauptrepräsentanten Hosges und Spmoza sind, liegt in einer Anzahl
von Dokumenten der Entwickelungsgeschichte von HossBEs vor uns.
Er ging von dem Begriff der Staatsraison aus, den MaAcHraveıL und
die venezianischen Politiker entwickelt hatten, und der eben in
Rıcnzrieu als dem glücklichen Leiter eines großen Staatswesens seine
klassische Repräsentation gefunden hatte. In den Wirren der englischen
Bürgerkriege entstand ihm der Plan eines neuen Naturrechtes, dessen
Mittelpunkt Staatsmacht und Staatsraison sein sollten. Er trat Hvco
Grorıvs entgegen, dem Anhänger der sozialen Richtung des Naturrechts
der Fortsetzer der radikalen Doktrin desselben, dem Schüler der Stoa,
des Cicero und der römischen Jurisprudenz der Vertreter jenes nackten
Machtbegriffes, den zuerst die griechischen Sophisten entwickelt hatten.
So formierte er seine ersten Begriffe von der Natur des Menschen
und gründete auf sie den ersten Entwurf seines Naturrechtes. Wie
er nun aber alle Richtungen des Naturrechtes um sich her auf die
vieldeutigen Erfahrungen über die Menschen und die auf sie gegrün-
dete Anthropologie sich berufen sah, fand er sich gezwungen, festere
Grundlagen für eine wissenschaftliche Seelenlehre aufzusuchen. Er
! Archiv VII, 66—74.
® Lib.I cap. ı $14 übereinstimmend mit der bekannten Definition Ciceros, die
ihrerseits auf Aristoteles Politik III, 6 beruht.
® Grorıs de iure belli et pacis in der Einleitung und am Beginn des zweiten
Kapitels.
2
Dirrery: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts. 33
begründete seinen Begriff eines einheitlichen Staatswillens auf den
eines allgemeinen mechanischen Zusammenhangs. Seine politische
Wissenschaft wurde jetzt eine Dynamik des großen politischen Kör-
pers, sein politisches Ideal das eines sicher functionierenden mecha-
nischen Systems, und dieses konnte nur gefaßt werden als gegründet
in der Erkenntnis des Menschen als eines psychophysischen Mecha-
nismus. So erhielt die Anthropologie die Form der Konstruktion
der psychophysischen Erscheinungen aus wenigen Prinzipien nach
Gesetzen, welehe mechanisch die Beziehungen dieser Erscheinungen
regeln, und die höchste Ausbildung fand dieser Standpunkt in der
Ethik Srinozas. Der Gegensatz, welcher zwischen dem aristotelisch-
scholastischen Dualismus, in welchem Descartes seinen Idealismus
der Freiheit zum Ausdruck brachte, und diesem anthropologischen
Monismus von Hosßes und Srınoza bestand, wurde dann in Leısnız
durch den Gedanken der Entwickelung in den Individuis überwunden.
Und wenn Hosgses und Srınoza nur auf die Gleichförmigkeiten des
Seelenlebens gerichtet waren, so nahm Lrıenız das Prinzip der in-
dividuellen Verschiedenheiten von NıcorLAus Cusanus, CARDANUS und
Bruno wieder auf. Die Philosophie dieser Zeit war eine Interpretation
aller gegebenen Erscheinungen vermittelst evidenter logischer, mathe-
matischer und metaphysischer Begriffe und Grundsätze. Dies Ver-
fahren sollte die Entscheidung liefern über den Zusammenhang, in
welchem das mechanische System der Natur und die psychischen Tat-
sachen sich zueinander verhalten. Auch die geometrische Methode des
Spınoza ist nur in diesem Sinne zu verstehen. Die so für die Inter-
pretation des Seelenlebens enstehenden Grundbegriffe konstruieren
die Anthropologie. Und aus dieser folgt das natürliche System der
gesellschaftlichen Ordnung.
Ausgegeben am 14. Januar.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei.
Sitzungsberichte 1904. 3
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SITZUNGSBERICHTE 190
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
7. Januar. Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe.
Vorsitzender Secretar: Hr. Auwers.
1. Hr. F. E. Scuuzze las über den Bau des respiratorischen
Theils der Säugethierlunge. (Erscheint später.)
Das respiratorische Parenchym der Säugethierlunge wird gebildet von zahlreichen
selbständigen » Alveolarbäumehen«, welche theils als terminale Fortsetzungen der letzten
Bronchioli, theils als Seitenäste kleiner Bronchien erscheinen. Der sehr verschieden
lange, einfach röhrenförmige Stamm eines jeden »arbor alveolaris« zeigt entweder nur
vereinzelte Alveolen, bez. mit Alveolen besetzte seitliche Aussackungen »sacculi alveo-
lares«, oder er ist ringsum gleichmässig mit Alveolen besetzt. Er geht über in das
baumartig verzweigte System der Alveolargänge »ductuli alveolares«, welche stets rings-
um ganz mit Alveolen besetzt sind, und endet mit den seitlich oder terminal in die
Alveolargänge einmündenden blinden Alveolarsäckchen »saceuli alveolares«. — Die von
Mirrer als besondere kugelig erweiterte Theile des Alveolargangsystems beschriebenen
»Atria« liessen sich an den bisher studirten Säugethieren nicht erkennen. Im ein-
zelnen bestehen grosse Differenzen im Bau der Alveolarbäumchen und in der Grösse
der Alveolen bei den verschiedenen Säugethieren.
2. Hr. vav’r Horr legte eine Arbeit des Hrn. Dr. Run. Schexck in
Marburg vor: Theorie der radioactiven Erscheinungen.
Den Kernpunkt der Abhandlung bildet die Auffassung, dass die Elektronen bei
Erscheinungen chemischen Gleichgewichts, zumal bei demjenigen zwischen Sauerstoff
und Ozon, eine Rolle spielen, welche sich dem sogenannten Massenwirkungsgesetze
unterordnet.
3. Hr. Kıeın legte einen Bericht des Hrn. Prof. Dr. G. Kremn in
Darmstadt vor über seine mit akademischen Mitteln ausgeführten Un-
tersuchungen an den sogenannten »Gneissen« und den
metamorphen Schiefergesteinen der Tessiner Alpen.
Es wird der Nachweis erbracht, dass der Tessiner Gneiss ein echter Granit mit
primärer Fluidalstructur ist. Die ihn bedeckenden metamorphen Schiefergesteine
werden als contactmetamorph angesprochen und ihre Lagerung als die eines nord-
westlich streichenden Sattelgewölbes gedeutet, in dessen Scheitel das Tessinthal ein-
geschnitten ist. Der früher als archäisch angesehene Tessiner Gneiss wird als jung-
tertiär aufgefasst.
4. Hr. F. E. Scuurze überreichte die 18. und 19. Lieferung des
Zr
36 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 7. Januar 1904.
Werkes »Das Tierreich«: Paridae, Sittidae und Certhüdae von C. E.
HerımAYR und Tetrawonia von R. von LENDENFELD, und Hr. EneLer das
18. Heft (IV. 5): R. Pırerr, Taxaceae des Werkes »Das Pflanzenreich «,
sowie ein neues Heft der Monographien afrieanischer Pflanzenfamilien:
VII. Strophantus, bearb. von E. Gize.
Ferner wurden übergeben: Gesammelte Schriften von Anour Fick.
I. Band. Physiologische Schriften. Würzburg 1903, und: WiIEsSER und
seine Schule. Ein Beitrag zur Geschichte der Botanik. Festschrift,
von K. LissBAuEr, L. LinsBAuvEr und L. v. Portuem. Wien 1903.
37
Theorie der radioactiven Erscheinungen.
Von Dr. RupoLr ScHENcK
in Marburg.
(Vorgelegt von Hrn. van’r Horr.)
hr einer in Gemeinschaft mit Hrn. Prof. Dr. Rıcnarz in Marburg aus-
geführten Arbeit! wurde der Nachweis erbracht, dass das Ozon in die
Gruppe der radioactiven Substanzen gehört. Es ist klar, dass ein
solches, in beliebiger Menge zur Verfügung stehendes Material ge-
eigneter ist, um Untersuchungen über das Wesen der Radioactivität an-
zustellen, als die so kostspieligen und in nur so kleinen Mengen er-
hältlichen Präparate der bisher bekannt gewordenen radioactiven Stoffe.
Wir wollen nun versuchen, ob es nicht möglich ist, aus den
bereits bekannten Eigenschaften des Ozons einige Schlüsse abzuleiten,
welche für das Radioactivitätsproblem von Bedeutung sein können.
Bildung und Spaltung des Ozons.
1. Ozonisirung durch Elektrieität.
Es ist eine bekannte Thatsache, dass sich bei einer grossen Zahl
von elektrischen Vorgängen, beim Überschlagen von Funken, bei der
Elektrolyse und im Dielektrieum bei der sogenannten stillen Entla-
dung, aus gewöhnlichem Sauerstoff O, die allotrope Modification Ozon
von der Formel O, bildet.
Andererseits geht aus den in der citirten Abhandlung geschil-
derten Versuchen hervor, dass Ozon beim Zerfall Leitfähigkeit für Elek-
trieität erhält, also Gasionen aussendet und in Sauerstoff übergeht. Es
bildet sich aus Sauerstoff in Gegenwart von Gasionen und zerfällt in
Sauerstoff und liefert dabei Gasionen. Wir haben es also mit einem
umkehrbaren Vorgang zu thun, dessen Ähnlichkeit mit einem Disso-
eiationsvorgang sofort in die Augen springt, wenn man die Gasionen,
wie es in der modernen Behandlung der elektromagnetischen Vorgänge
allgemein geschieht, als etwas Materielles betrachtet. Wir bedienen
! Diese Sitzber. 1903. LII (17. Dec.).
38 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 7. Januar 1904.
uns dieser Behandlungsweise rein formal, ohne Rücksicht darauf, ob
die Elektronen eine wirkliche oder nur eine scheinbare Masse besitzen.
Wir können dann sagen, Ozon bildet sich aus Sauerstoff und
Gasionen und zerfällt andererseits in diese Bestandtheile. Wir dürfen
es unter diesen Umständen als eine chemische Verbindung von Elek-
tronen mit Sauerstoff, als ein Sauerstoffelektronid auffassen.
Eine Möglichkeit, sich ein Bild von diesen Vorgängen zu ver-
schaffen und die Vorstellung in das Gewand einer chemischen Formel
zu kleiden, ist vielleicht die folgende.
Wir nehmen an, dass unter dem Einfluss elektrischer Störungen,
bei denen sowohl positive als negative elektrische Theilchen oder Elek-
tronen entstehen, eine Spaltung der gewöhnlichen Sauerstoffmoleküle
OÖ, in ihre Atome! erfolgt. Es ist bekannt, dass die positiven Elek-
tronen eine grosse Neigung zur Verbindung mit materiellen Atomen
besitzen. während die negativen ein selbständiges Dasein zu führen
vermögen. Deshalb ist es möglich, dass die positiven Elektronen mit
Sauerstoffatomen zu Sauerstoffatomionen sich vereinigen, während die
negativen unverbunden bleiben. Wenn wir für die positiven und nega-
tiven Elektronen die Symbole E* und E” einführen, so können wir
den Vorgang durch die Formel zum Ausdruck bringen:
0,+2E+2E- =20E!-+2E..
Die Vereinigung zu den Ozonmolekülen stelle ich mir in folgen-
der Weise vor:
2.0, + 20E54 22H, =2 07 X0SE I E20
Es ist damit dem Grundgesetz der Elektrieitätslehre, dass keine
Entstehung einer Ladung einer Art ohne Auftreten der aequivalenten Elek-
trieitätsmenge entgegengesetzter Art möglich ist, Rechnung getragen.
Die Umkehrbarkeit des Processes kommt zum Ausdruck, wenn
wir schreiben:
20,+20E/ +25 2 20, 1OR)rEr 2207
Wir wollen nun im Folgenden die elektrisch geladenen Theilchen
— Atomionen sowohl wie Elektronen — unter dem Begriff »Gasionen«
zusammenfassen. Sie sind stets in aequivalenten Mengen vorhanden.
Die Umkehrbarkeit dieses eigenartigen Dissociationsvorganges
zwingt uns ohne weiteres, das Gültigkeitsbereich des Massenwirkungs-
gesetzes auf die Gasionen auszudehnen. Die Elektronen und Atom-
ionen folgen also in ganz derselben Weise dem Massen-
wirkungsgesetz wie die elektrolytischen Ionen und die
elektrisch neutralen Moleküle.
! Vergl. hierzu van"r Horr-Couen, Studien zur chemischen Dynamik, S. 86.
R. Scuenex: Theorie der radioactiven Erscheinungen. 39
Die Dissoeiation des Ozons in seine Componenten Sauerstoff und
Gasionen hat nun eine Merkwürdigkeit, die diesen Vorgang von den
meisten der gewöhnlichen Dissociationsprocesse unterscheidet. Der Zer-
fall geht nämlich unter Wärmeentwicklung vor sich, Ozon ist eine
endotherme Verbindung. Für derartige Dissociationen folgt aus dem
zweiten Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie, dass die Gleich-
gewichtsconstante, welche die Öoncentrationen des Stoffes mit denen
seiner Spaltungsproducte im Gleichgewichtszustand verknüpft,
K= Oos « Cokz - Oma
Co;
mit steigender Temperatur kleiner wird. Also wird auch das Ozon
mit Erhöhung der Temperatur an Beständigkeit zunehmen." Daraus
folgt ohne weiteres, dass die Concentration der vom Ozon im Gleich-
gewicht ausgesendeten Gasionen bei höheren Temperaturen unter im
übrigen gleichen Bedingungen eine kleinere sein wird als bei niedri-
geren Temperaturen.
2. Ozonisirung durch Radium.
Es ist eine bekannte Thatsache, dass man in der Nähe von kräftig
wirkenden Radiumpräparaten Ozongeruch® wahrnimmt. Die Erklärung
des Phänomens kann nach unseren Ausführungen ohne weiteres ge-
geben werden, wenn wir der Thatsache eingedenk sind, dass Radium-
präparate durch Aussenden von Gasionen die Luft stark ionisiren. Es
sind Sauerstoff und Elektronen vorhanden und es erfolgt natürlich Bil-
dung von Ozon, bis Gleichgewicht eingetreten ist zwischen den beiden
Gasen und den Gasionen.
Es liegt nun nahe, das Radium und die übrigen radioactiven
Substanzen ebenfalls als Elektronide aufzufassen, die Arbeiten von
Ruruerrornp und Soppy” über das Radiothor scheinen mir wenigstens
eine solehe Auffassung durchaus zu rechtfertigen. Die Gleichgewichts-
verhältnisse bei diesen Stoffen liegen aber etwas anders als bei dem
gasförmigen Ozon. Wir haben es ja mit festen Substanzen, mit hetero-
genen Gleichgewichten zu thun. Es ist zu erwarten, dass hier für
jede Temperatur eine constante Gasionenconcentration, welche mit dem
radioactiven Ausgangsmaterial und seinem festen Zersetzungsproduet
im Gleichgewicht steht, sich ausbilden wird. Der ganze Vorgang würde
ein Analogon sein zu der Dissociation des Caleiumearbonates in Cal-
ciumoxyd und Kohlensäure.
! Vergl. hierzu Nersst. Naturforschervers. Cassel 1903. Vortrag.
? Proc. Chem. Soc. 18. 219. (1902).
3 GieseL, F. Ber. d. Deutch. chem. Ges. 35. 3608. 1902.
40 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 7. Januar 1904.
Die Ausbildung eines solchen Gasionengleichgewichts hat bisher
noch nicht beobachtet werden können, offenbar weil Nebenreactionen,
wie etwa ÖOzonisation und Fortführung der Reactionsproducte, eine
fortwährende Störung des Gleichgewichtes bewirken.
Wahrscheinlich sind die Gleichgewichtsconcentrationen der Gas-
ionen für die verschiedenen Substanzen sehr verschieden. Ihre Kennt-
niss würde von höchster Wichtigkeit sein. Sehr gross dürfte die
Tension wohl beim Radium sein.
Wir haben in unserer früheren Abhandlung bereits die gewaltige,
merkwürdig grosse Wärmeentwickelung der Radiumpräparate bei der
Elektronenabgabe erwähnt. Die Thermodynamik gestattet uns daraus
wieder einen wichtigen Schluss zu ziehen. Die Gasionentension muss
mit steigender Temperatur abnehmen.
Dieser Umstand gestattet uns nun vorauszusagen, unter welchen
Bedingungen es dereinst möglich sein wird, das Radium aus seinen
Zerfallsproducten wieder aufzubauen. Die Bedingungen sind hohe Tem-
peratur und kräftige Elektroneneoncentrationen.
Es sei gestattet, über die Herkunft der radioactiven Stoffe einige
Vermuthungen zu äussern. Es scheinen hier Stoffe vorzuliegen, die
sich bei vuleanischen Vorgängen, die von kräftiger Elektrieitätsent-
wickelung begleitet waren, gebildet haben. Es mag hier erwähnt
werden, dass die Spectrallinien des Heliums, eines Spaltungsproductes
des Radiums, bei irdischen Substanzen zuerst an einem lavaähnlichen
Auswürfling des Vesuvs beobachtet wurden und zwar durch PALmıErı
im Jahre 1882.
3. Ozonisirung durch chemische Vorgänge.
(Theorie der Autoxydation.)
Wenn wir ein Verständniss für die Bildung von Ozon bei che-
mischen Vorgängen, bei der langsamen Verbrennung von Phosphor,
bei der Oxydation organischer Substanzen, wie Terpentinöl u. s. w.,
gewinnen wollen, so ist es nothwendig, sich der Ergebnisse der Arbeit
von RoßErT von HrrmnorLzz' und F. Rıcnarz zu erinnern. Sie haben
gefunden, dass das Dampfstrahlphänomen durch eine sehr grosse Zahl
von chemischen Reactionen ausgelöst wird. Um ein paar Beispiele
zu geben, erwähne ich nur die langsame Oxydation von Aether, die
Vereinigung von Stickoxyd und Sauerstoff zu Stiekstoffdioxyd, die
Verbrennungsprocesse. Es brauchen aber keineswegs Processe zu sein,
bei denen der Sauerstoff mit in Action tritt. Auch die Vereinigung
von Salzsäure und Ammoniak zu Chlorammonium, die Dissociation
! Wien. Ann. 40. 161 (1890).
R. Scuener: Theorie der radioactiven Erscheinungen. 41
des Stickstofftetroxydes N,O, in Stickstoffdioxyd, die Vereinigung von
Wasserstoff und Chlor zu Chlorwasserstoff bewirkten Condensation des
Dampfes. Für eine Reihe dieser Processe wurde dann von Unrıe'
das Auftreten von Gasionen, welche die Entladung eines Elektroskopes
bewirken, nachgewiesen. Aus diesen wichtigen Untersuchungen ist
zu entnehmen, dass bei vielen chemischen Reactionen, vielleicht bei
allen, Gasionen auftreten. Ihre Mengen, das darf man wohl, a priori
sagen, werden bei den verschiedenen chemischen Vorgängen sehr ver-
schieden sein, wir werden den allerverschiedensten Abstufungen be-
gegnen. Systematische Untersuchungen auf diesem Gebiete liegen noch
nicht vor, es ist eine völlige terra incognita.
Wenn nun chemische Reactionen mit Erzeugung von Gasionen
Hand in Hand gehen, so ist es verständlich und nothwendig, dass
anwesender Sauerstoff ozonisirt wird. Diese Ozonbildung wird in um
so höherm Maasse stattfinden, je kräftiger die Ionisirung beim pri-
mären Process ist, die entstehende Ozonconcentration ist direet ein
Maass für deren Stärke. Wenn diese Theorie der Autoxydation richtig
ist, so dürfen wir hoffen, Ozonisirung auch einmal bei solchen Vor-
gängen anzutreffen, bei denen die primäre Reaction ohne Mitwirkung
von Sauerstoff vor sich geht. Bis jetzt sind leider solche nicht be-
kannt” und es ist wohl auch nicht danach gesucht worden.
Bei den Autoxydationsprocessen wird nun häufig die Entstehung
von Wasserstoffsuperoxyd beobachtet. Das Wasserstoffsuperoxyd ist
ein völliges Analogon des Ozons; es ist von ihm bekannt’, dass es
“manationen aussendet, welche durch Aluminiumblech auf die photo-
graphische Platte wirken, wir dürfen es also wohl genau so wie das
Ozon als ein Elektronid ansprechen. Es bildet sich und zerfällt unter
ganz ähnlichen Bedingungen, selbst die Analogie in den thermischen
Verhältnissen findet sich hier wieder.
Der maximale Leuchtdruck des Phosphors und die scheinbaren Aus-
nahmen vom Massenwirkungsgesetz.
Die Gültigkeit des Massenwirkungsgesetzes bei Gasionenreactionen
macht nun eine Reihe von merkwürdigen und räthselhaften Erschei-
nungen verständlich.
Es ist eine bekannte T'hatsache, dass Phosphor in reinem Sauer-
stoff von Atmosphärendruck nicht leuchtet und auch keine Oxydation
erfährt, dass aber bei Verminderung der Sauerstoffeoncentration beide
! Dissertation. Marburg 1903.
2 Schliesslich kann man die Ozonisirung durch Radium so auffassen.
® Graerz, Ann. d. Physik [4.] 9. 1100 (1902).
42 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 7. Januar 1904.
Vorgänge wieder auftreten. Von Irepa' und von Ewan ist die Ab-
hängigkeit der Reactionsgeschwindigkeit von der Sauerstoffeoncentra-
tion bei der langsamen Verbrennung des Phosphors messend verfolgt
worden. Die Untersuchungen führten zu dem Resultat, dass bei niedri-
gen Sauerstoffdrucken die Reactionsgeschwindigkeit dem Massenwir-
kungsgesetz folgt. Es wäre nun äusserst merkwürdig, wenn bei den
höheren Sauerstoffeoncentrationen das Naturgesetz von der Massen-
wirkung keine Gültigkeit mehr besitzen sollte. Wir dürfen wohl an-
nehmen, dass die Ungültigkeit nur eine scheinbare ist.
Es besteht die Erfahrungsthatsache, dass das Leuchten des Phos-
phors bei einer ganz bestimmten Druckgrenze des Sauerstoffs aufhört,
die, falls fremde störende Substanzen nicht zugegen sind, nur von der
Temperatur abhängig ist. Bei etwa 20° liegt der maximale Leuchtdruck
des Phosphors bei einem Sauerstoffpartialdruck von 670—-700 mm.
Diese Grenze steigt, wenn man dem Sauerstoff kleine Ozonmengen
zufügt, und zwar um so mehr, je grösser die Ozonmenge ist.
Für die Erklärung dieser höchst merkwürdigen Erscheinung wollen
wir uns zwei Punkte in das Gedächtniss zurückrufen, dass erstens bei
chemischen Reactionen, und zwar mit Sicherheit bei der Einwirkung
von Sauerstoff auf Phosphor, eine Entwicklung von Elektronen erfolgt
(primärer Vorgang) und dass zweitens die Elektronen auf Sauerstoff
unter Ozonbildung einwirken. Diese ist aber nicht vollständig, son-
dern es bildet sich wegen der Umkehrbarkeit des Processes ein Gleich-
gewicht zwischen Sauerstoff, Ozon und Gasionen aus. Die Concen-
tration der letzteren wird um so grösser sein, je kleiner der Sauer-
stoffdruck ist, und es werden alle Indieatoren, welche auf Gasionen
ansprechen, bei kleinen Sauerstoffdrucken intensivere Wirkungen zeigen
als bei höheren. Vergrössern wir bei einem in Dissociation befind-
lichen System die Concentration eines Zerfallproductes, so wird die
Concentration des anderen Spaltungsproductes kleiner. Es ist das
eine aus dem Massenwirkungsgesetz folgende Thatsache.
Wenn wir nun die Voraussetzung machen, dass der Phosphor
oder eines seiner Oxydationsproducte unter dem Einfluss von Ionen
zum Leuchten veranlasst werden, und wenn wir die weitere zulässige
Annahme hinzufügen, dass die Oxydation des Phosphors durch Sauer-
stoffatomionen bewirkt wird, so haben wir alle Punkte, welche zur
Aufstellung der Theorie erforderlich sind. Wir brauchen höchstens
die Bemerkung hinzuzufügen, dass der Indieator eine bestimmte Em-
pfindlichkeit besitzen, d. h. auf eine gewisse minimale Ionenconcen-
tration für unser Auge wahrnehmbar ansprechen soll.
! Vergl. van'r Horr-Conen, Studien zur chemischen Dynamik S. 64.
hs
“ ” . a « . . »)
R. Scnenex: Theorie der radioactiven Erscheinungen. 43
Haben wir leuchtenden Phosphor in einer Sauerstoffatmosphäre,
so haben wir neben ihm, und mit ihm im Gleichgewicht, Ozon und
Gasionen. Die letzteren erregen einerseits Leuchten und bewirken an-
dererseits die Oxydation des Phosphors. Steigern wir nun den Sauer-
stoffdruck, so wird die Ozonceoncentration auf Kosten der Ionen ver-
grössert. Ihre Zahl wird schliesslich, bei genügender Steigerung der
Sauerstoffeoncentration, kleiner als der Betrag, welcher erforderlich
ist, um die Luminiscenzwirkung unserm Auge bemerklich zu machen.
Hand in Hand damit geht die Abnahme der Reactionsgeschwindig-
keit, der Forderung des Massenwirkungsgesetzes gemäss.
Ähnliche maximale Leuchtdrucke! finden sich bei anderen lang-
sam verlaufenden Oxydationen wieder und sie sind sicher in ähnlicher
Weise zu erklären.
Über die Emanationen der radioactiven Stoffe und die indueirte
Radioactivität.
Bei seinen Untersuchungen über das Thorium fand Rurnerrorv’,
dass dieser Stoff eine sogenannte »Emanation« aussendet, ein Gas.
wie es scheint, von radioactiven Eigenschaften. Auch Radium liefert
eine solche Emanation, wie Dorn’ gefunden hat. Neuerdings sind
von Gorpstein' eingehende Untersuchungen über den Gizser’schen
Emanationskörper publieirt worden, ein Emanationspräparat, welches
man mit Hülfe von radioactivem Cer gewinnt. An diese Emanationen
knüpft sich ein ganz besonderes Interesse seit der Aufsehen erre-
genden Mittheilung von Rausay’ und Soppy, dass die Emanation zer-
fällt und dass unter den Zersetzungsproducten Helium beobachtet
wurde.
Die Emanation des Radiothors lässt sich durch flüssige Luft ver-
diehten und es ist sogar möglich gewesen, ihren Siedepunkt zu be-
stimmen. RUTHERFORD und Soppy fanden. dass die verdichtete Ema-
nation bei — 130° plötzlich verdunstet.
Sollte diese Emanation nicht aus Ozon bestehen? Die Bedingun-
gen zur Bildung dieses Stoffes sind, wie wir oben gesehen haben,
stets gegeben, wenn Luft mit radioactiven Substanzen in Berührung
kommt. Ozon lässt sich durch flüssige Luft condensiren und sein Siede-
! Es besteht die Möglichkeit, mit ihrer Hülfe Verfahren zur Bestimmung der
Jonenconcentrationen auszuarbeiten.
® Phil. Mag. (5) 49, 1. 1900.
® Abhandl. der Naturforsch. Gesellsch. zu Halle. Juni (1900).
* Verhandl. der Deutschen Physik. Gesellsch. 5, 392 (1903).
5 Proc. Roy. Soc. 72, 204 (1903).
44 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 7. Januar 1904.
punkt liegt nach Orszewskı' bei — 106°, nach neueren Untersuchungen
von Troost” bei — 119°.
Er liegt also etwas höher als der der Emanation; wenn wir aber
bedenken, dass diese wohl kaum Ozon in reinem Zustande repräsen-
tiren kann, dass sich die übrigen Bestandtheile der Luft, welche einen
tiefern Siedepunkt als Ozon besitzen, in dem Condensationsproduet
auflösen und ein Gemisch mit ihm bilden werden, so müssen wir
einen Siedepunkt erwarten, welcher unter dem des reinen Ozons liegt.
Es scheint hier unsere Vermuthung eine wichtige Bestätigung zu fin-
den, denn die Differenz der Siedepunkte ist gar nicht allzu erheblich.
Wenn bei den Versuchen über die Emanationen die Luft nicht
ganz vollständig ausgeschlossen ist, so besteht stets der Verdacht der
Ozonbildung und der Auflösung von den Bestandtheilen der Luft in dem
Ozon beim Abkühlen mit flüssiger Luft. Es scheinen uns deshalb auch
die Versuche Ramsay’s und Soppy’s, die von verschiedener Seite so ge-
deutet werden, als entstünde das Helium aus der Emanation, noch
nicht absolut beweisend zu sein. Es kann ja das Helium, welches in
der Luft des Ransay' schen Laboratoriums wohl stets in kleinen Mengen
enthalten ist, in der Emanation, welche eventuell aus ceondensirtem
Ozon besteht, einfach gelöst sein. Beim Aufbewahren der Röhrchen,
welche die wieder gasförmige Emanation enthalten, wird sich das Ozon
zersetzen, und es können alsdann die Spectrallinien des Heliums unter
den geeigneten Bedingungen zur Geltung kommen. Wie sich die Speetra
von Gasen, denen Ozon beigemengt ist, verhalten, wissen wir noch nicht;
es ist aber nicht ausgeschlossen, dass die Anwesenheit dieses radioactiven
Stoffes zu allerhand Störungen des normalen Bildes Veranlassung gibt.
Es ist also nothwendig, dass die Rausav’schen Versuche an anderen
Orten und unter veränderten Bedingungen wiederholt werden. Erst
dann wird sich zeigen, ob beim Aufbewahren der Emanation wieder
Helium auftritt und ob die bisherige Deutung der Versuchsresultate zu-
lässig ist.
Ich halte mich nicht für berechtigt und es liegt mir durchaus fern,
an den Versuchen des Hrn. Rausay eine Kritik üben zu wollen, aber bei
Untersuchungen, welche Fundamentalpunkte einer Wissenschaft be-
treffen, muss alles berücksichtigt werden, was die Beobachtungen be-
einflussen könnte. Deshalb gestattete ich mir, auf diese mögliche Fehler-
quelle die Aufmerksamkeit zu lenken. Die Möglichkeit einer Abspal-
tung von Helium aus den Radiumpräparaten halte ich für sehr wahr-
scheinlich. In diesem Falle würden wir bei Gegenwart von Sauerstoff
eine Vertheilung der Elektronen zwischen dem Helium und dem Sauer-
! Lanporr-Börnsteın, Tabellen S. 126.
® Compt. rend. 126. 1751.
R. Scuenex: Theorie der radioactiven Erscheinungen. 45
stoff haben, und diese hängt von der Haftintensität der Elektronen an
den verschiedenen materiellen Atomen ab.
In naher Beziehung offenbar zu den Emanationen steht die so-
genannte indueirte Radioactivität. Man beobachtet, dass alle mög-
lichen Körper, welche sich in der nächsten Nachbarschaft von radio-
activen Substanzen befinden, allmählich ebenfalls radioactiv werden.
Diese indueirte Radioactivität geht aber nach kürzerer oder längerer
Zeit verloren.
Wenn die Körper sich in atmosphärischer Luft befinden, kann
man die Vermuthung aussprechen, dass Ozon der Träger der Induetion
ist. Das gebildete Ozon wird wie andere Gase von der Oberfläche
fester Stoffe adsorbirt und sendet dann beim Zerfall Elektronen aus,
welche die für die radioactiven Substanzen charakteristischen Phänomene
auslösen.
Die Zerstreuung der Elektrieität durch die Luft lässt sich wohl
sicher auf die Anwesenheit kleiner Ozonmengen zurückführen, viel-
leicht ist sogar die Leitfähigkeit der Luft das sicherste Maass für die
ÖOzonisirung. Unter diesen Umständen kann es nicht Wunder nehmen,
dass man an den verschiedenen Punkten der Erdoberfläche, in den
verschiedenen Räumen so verschiedene Elektrieitätszerstreuung findet.
Die Ursache der Ozonbildung sind Fäulniss- und Verwesungsprocesse;
man darf das wohl als sicher annehmen, denn in Räumen, in denen
Fäulnissorganismen nicht aufkommen können, wie z. B. in den Schäch-
ten der Kalibergwerke', wo die concentrirte Salzlösung eine dauernde
Desinfection bewirkt, ist die Elektrieitätszerstreuung ausserordentlich
viel kleiner als in Kellern und bewohnten Räumen. Es dürfte daher
das Ozon auch für die elektrischen Vorgänge in unserer Atmosphäre
von grosser Bedeutung sein.
In dieser Mittheilung ist eine Vollständigkeit der Litteraturan-
angaben nicht angestrebt worden. Es ist mir auch bekannt, dass der
eine oder andere Punkt meiner Auseinandersetzung von anderen Fach-
genossen gelegentlich” gestreift worden ist. Ich konnte hier nicht im
einzelnen darauf eingehen. Bei der experimentellen Durcharbeitung
des erschlossenen Gebietes und den Berichten über die erhaltenen
Forschungsergebnisse werde ich bemüht sein, die Litteratur in vollstem
Umfange zu berücksichtigen.
! Erster u. GEITEL, Phys. Zeitschr. 4. 522. (1903.)
2 Vergl. den zusammenfassenden Vortrag über die Elektronentheorie auf der
Naturforscherversammlung zu Hamburg, von Kaurmann (1902); ferner: J. Stark,
Die Dissoeiirung und Umwandlung chemischer Atome. Braunschweig 1903.
46
Bericht über Untersuchungen an den sogenannten
„erneissen“ und den metamorphen Schiefergesteinen
der Tessiner Alpen.
Von Prof. Dr. G. KLemm
in Darmstadt.
(Vorgelegt von Hrn. Kreın.)
e
I Folgenden soll ein vorläufiger Bericht über Untersuchungen des
Verfassers in den Tessiner Alpen gegeben werden, die er mit Unter-
stützung der Königlichen Akademie der Wissenschaften ausführte, um
die genetischen Beziehungen zwischen den dortigen »Gneissen« und
den sie im allgemeinen überlagernden metamorphen Schiefergesteinen
aufzuklären.
Als Ausgangsort für diese Studien wurde die Gegend zwischen
Airolo und Faido gewählt. in der die Grenze beider Gesteinsgruppen
mehrfach gut und in leicht zugänglicher Weise aufgeschlossen ist.
Besonders bietet die Schlucht des Tessins zwischen den Stationen
Rodi-Fiesso und Faido der Gotthardbahn vorzügliche Gelegenheit zur
Untersuchung des »Gneisses (Gn)« und des »glimmerreichen Gneisses,
in Glimmerschiefer übergehend (Glgn)«. wie die hier auftretenden Ge-
steine auf K. vox Frırscı’s »Geognostischer Karte des Sanet Gotthard.«
genannt werden.'
Kurz unterhalb des früheren Zollhauses Dazio grande bei Rodi
ist der engste Theil der Schlucht, und hier finden sich auch in den
Felsen, aus denen die Strasse herausgesprengt ist, und in den vom
Flusse glatt geschliffenen Wänden die deutlichsten Beweise dafür, dass
der sogenannte »Gneiss« ein echter Granit mit primärer Fluidal-
struetur ist.
! Beiträge zur geologischen Karte der Schweiz. XV. Lieferung. Bern 1873. Das
in vorliegendem Berichte besprochene Gebiet ist topographisch dargestellt auf Blatt 503
(Faido) des topographischen Atlas (Siegfried - Atlas) der Schweiz, der auch die Grundlage
der Karte von Frrrsc#’s bildet.
G. Krenn: Über die »Gneisse« und die Schiefer der Tessiner Alpen. 47
Wenige Schritte oberhalb eines kleinen Kapellchens mündet in
die Tessinschlucht eine von Norden, vom Monte Piottino, herabzie-
hende Runse. die in (unkelm, deutlich geschichtetem Schieferhorn-
fels ausgewaschen ist. Auf ihrer Westseite, unmittelbar an der Land-
strasse, ist der Contact zwischen »Gneiss« und Hornfels vorzüglich
aufgeschlossen. Die Grenze zwischen beiden Gesteinen verläuft fast
genau senkrecht, und von ihr aus fällt die Schieferung des Hornfelses
steil nach Osten, die Parallelstructur des »Gmeisses« ebenso steil nach
Westen ein. Schon mit blossem Auge erkennt man leicht, dass letzterer
in das Schiefergestein Apophysen entsendet, welche dessen Schieferung
theils durchqueren, theils auch parallel zu ihr eingedrungen sind. Am
Contact selbst verwischt sich, wie man diess besonders gut an ge-
schliffenen Platten sieht, die Parallelstruetur des »Gneisses«, und es
entsteht eine bis zu mehreren Centimetern starke Zone längs der Grenze,
in der offenbar eine innige Vermengung der Bestandtheile beider Ge-
steine stattgefunden hat. In Schliffen quer zur Grenze sieht man,
dass eine starke Resorption des Schiefergesteines stattgefunden hat.
Dieses stellt sich dar als ein augitführender Biotithornfels, der auch
Feldspath und in manchen Lagen primären Kalkspath führt. Er hat
eine sehr enge, feine Fältelung. welche die Schieferung des Gesteines
erzeugt. In der Grenzzone gegen den »Gneiss« hat meist eine ausser-
ordentlich starke Anhäufung des lichten, malakolithartigen Augits statt-
gefunden, und ausserdem sieht man, zum Theil deutlich gegen den
»Gneiss« abgegrenzt, zum Theil ganz in ihm verschwimmend, Fetzen
des Schiefergesteines im »Gneiss« eingeschlossen. Der »Gneiss« führt
auch noch in einer Entfernung von mehreren Centimetern vom Contact
lichten Augit. der ihm sonst fremd ist.'
Diese Beobachtungen beweisen, dass der »Tessiner
Gneiss« ein echter Granit mit Parallelstructur ist, der an
dem Schiefer deutliche exogene und endogene Üontact-
erscheinungen zeigt.
Analoge Wahrnehmungen lassen sich thalabwärts von der ge-
schilderten Stelle vielerorts machen, und besonders an den glattge-
schliffenen Wänden des Tessinbettes sieht man zahlreiche dunkle Schie-
ferschollen, die sich deutlich von dem sie umschliessenden hellen
Granit abheben, der sie injieirt und durchtrümert.
Es liegt daher kein Grund vor, den vieldeutigen Namen »Gneiss«
noch weiter für das soeben als Granit erkannte Gestein zu verwenden,
! Die mikroskopische Beschaffenheit der Tessiner Gesteine soll nach Abschluss
der Feldaufnahmen in einer besonderen Abhandlung ausführlich erläutert, hier aber
nur insoweit besprochen werden, als es zur Begründung der über die genetischen
Beziehungen jener Gesteine vorgetragenen Anschauungen unbedingt erforderlich ist.
48 Sitzung der plıysikalisch-mathematischen Classe vom 7. Januar 1904.
das schon H. pe Saussure in seinen »Voyages dans les Alpes etc.«
Tome VII p.ıı als Granit bezeichnete, ohne an dessen Parallelstructur,
die er treffend schildert, Anstoss zu nehmen.
Der Tessiner Granit ist ein in frischem Zustande hellgrau ge-
färbtes, vorwiegend klein- bis mittelkörniges Gestein von sehr wechsel-
voller Structur. Diese ist bei Airolo und Faido überall als deutliche
Parallelstruetur entwickelt, geht aber weiter nach Südosten zu in eine
mehr massige, fast richtungslos-körnige über.
An sehr vielen Stellen ist die Parallelstructur durchaus eben-
tlächig und bedingt eine Absonderung des Granites in mächtige Bänke
und Platten (piotta), von denen z. B. der Monte Piottino, den der
Tessin in der Schlucht des Dazio grande durchbricht, seinen Namen hat.
Fig. 1.
Granit mit gefältelter Fluidalstruetur. Mairengo bei Faido. 4/9 d. nat. Gr.
Besonders zwischen Rodi und Faido trägt aber die Parallelstruetur
des Granits sehr häufig einen stark gefältelten Charakter, den schon
Saussurr£ (a. a. O.) erwähnt und beschreibt. Namentlich hat aber F.M.
Starrr in seiner Arbeit: »Wie am Monte Piottino die Parallelstruetur
des Gneisses in Schichtung übergeht« (N. Jahrb. f. Min. u. s. w. 1832, I,
S. 75— 101) dieselbe eingehend besprochen. Er suchte darzuthun, dass
sie durch Einwirkung seitlichen Druckes auf den starren Gneiss ent-
standen sei, und versuchte, den Mechanismus dieses Vorganges experi-
mentell zu erklären.
Betrachtet man eine aus solchem Granit mit gefalteter Parallel-
struectur senkrecht zu dieser geschnittene Platte (Fig. 1), so sieht
man eine vielfältige Wechsellagerung von hellen, glimmerarmen bis
G. Kreun: Über die »Gneisse« und die Schiefer der Tessiner Alpen. 49
glimmerfreien und dunkleren biotitführenden bis biotitreichen Lagen
sowie ausserdem noch dunkele, die Parallelstruetur durchsetzende Linien,
welche die Durchschnitte von Biotitaggregaten bilden, die aus sehr zahl-
reichen, in paralleler Stellung dicht aneinandergereihten, auf gewissen
Flächen angehäuften Blättchen bestehen.
Auf den ersten Bliek ist man wohl versucht, die milchweissen
glimmerfreien Lagen für Feldspath zu halten, erkennt aber schon mit
der Lupe, dass sie aus einem oft recht feinkörnigen Aggregat von
Feldspath und untergeordnetem Quarz bestehen, während in anderen
hellen Lagen der Quarz über den Feldspath dominirt. Das Mengen-
verhältniss der quarzreichen und der feldspathreichen Lagen ist äusserst
variabel, so dass manchmal nur vereinzelte feldspathreiche Lagen in
quarzreicher Umgebung auftreten, manchmal gerade das umgekehrte
Verhältniss herrscht, sehr oft aber ein Gegensatz in der Zusammen-
setzung der einzelnen Lagen überhaupt nieht zu bemerken ist.
Die Falten sind von sehr verschiedener Höhe und Steilheit, bald
auf grössere Erstreckung hin von gleichmässiger Grösse und sym-
metrisch zu parallelen Mittelebenen angeordnet, bald recht ungleich-
mässig gross, unsymmetrisch ausgebildet, eng zusammengedrückt, über-
kippt, flexurartig u.s.w., und zwar nicht selten alle diese verschie-
denen Formen dicht neben einander, wie Fig. ı zeigt, welche einen
Durchschnitt durch einen Block abbildet, der sich als Gerölle des von
Mairengo bei Faido herabstürzenden Wildbaches fand.
Mehrfach liess sich beobachten, dass derartig gefaltete Gesteins-
partien mitten zwischen ebentlächig-parallelstruirten liegen, so dass
sich die Falten oft recht rasch nach oben und unten zu verflachen
und ausebnen (Fig. 2).
Wie schon erwähnt, werden Partien stark welligen Granits durch-
zogen von Flächen, parallel zur Medianebene der Falten, auf denen
sich zahllose Biotitschüppchen an einander gelegt haben, so dass diese
Flächen im Querschnitt als meist dünne, oft recht ebene, oft aber
auch vielfach gezackte schwarze Linien erscheinen, längs deren das
Gestein leicht theilbar ist. In manchen Fällen kommen diese Linien
so zu Stande, dass sich die Schenkel steiler, eng übereinanderliegen-
der Falten an einander legen, während häufig diese Linien mitten
durch die Scheitel der Falten oder durch die Schenkel hindurehsetzen.
Ziemlich häufig ist zu beobachten, dass an diesen Glimmerstreifen die
Gesteinslagen abschneiden und Verschiebungen erlitten haben. Es ent-
stehen dadurch unter Umständen so verworrene Strueturbilder, wie
Fig. 3 zeigt, Bilder, welche die Annahme leicht begreiflich erscheinen
lassen, dass hier stark verquetschte, von vielen Verwerfungen durch-
zogene Gesteine vorliegen.
Sitzungsberichte 1904. 4
50 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 7. Januar 1904.
Indessen ergibt sich doch bei genauerer makroskopischer und
mikroskopischer Untersuchung, dass an eine kataklastische, aus dem
starren Gestein herausgebildete Structur hier nicht zu denken ist, dass
vielmehr die Entstehung der verschiedenartigen Lagen im Granit, der
Fig. 2.
Granit mit gefalteter Fluidalstruetur.
Dazio grande bei Rodi-Fiesso. 5/s d. nat. Gr.
Falten, welche dieselben zeigen, der diese Falten durchsetzenden Glim-
merstreifen und der scheinbaren Verwerfungen vor der Verfesti-
gung des Granitmagmas abgeschlossen war, dass also alle diese Er-
scheinungen Fluidalstrueturformen sind.
Die Glimmerblättehen, die auf.den scheinbaren Verwerfungen liegen,
haben zwar zum grössten Theile unregelmässige, zum Theil aber idio-
@. Kresm: Über die »Gneisse« und die Schiefer der Tessiner Alpen. 51
morphe Umrisse. Hierdurch ist ein scharfer Unterschied zwischen den
glimmerbesetzten Flächen des Tessiner Granits und echten Rutschflächen
gegeben, auf denen die Glimmerblättchen stets im stärksten Maasse ver-
ändert worden sind. Wie alle Untersuchungen an gequetschten Graniten
gezeigt haben, sind es stets zuerst die Glimmerblättehen, welche in den
Quetschzonen zerrissen und zerfetzt, verbogen, gestaucht und zusammen-
geknäuelt werden, auch wenn die übrigen Gesteinsgemengtheile nur erst
Bin
Granit mit scheinbaren Verwerfungen. Dazio grande bei Rodi-Fiesso. 4/, d. nat. Gr.
schwache Spuren des Gebirgsdruckes aufweisen. Nun zeigt aber die
mikroskopische Untersuchung auch der am stärksten gefältelten und
scheinbar ganz von Verwerfungen durchzogenen Tessiner Granite nirgends
etwas von derartigen Deformationen ihrer Glimmer, auch nicht an den
Querschnitten jener scheinbaren Verwerfungen. Übrigens ist auch deren
makroskopisches Aussehen völlig anders als das von Quetschzonen im
Granit.
Derartige Rutschflächen zeigen nämlich stets eine mehr oder weniger
starke Glättung, die oft bis zur Spiegelbildung geht; meist sind sie fein-
gestreift und ausserdem stets mit Umwandlungsprodueten der Granit-
gemengtheile imprägnirt. Auch in sonst ganz frischem Gestein zeigen
4*
52 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 7. Januar 1904.
sich überall längs der Quetschzonen deutliche Zersetzungserscheinungen,
Infiltrationen von Eisenoxyd, Neubildungen wie Serieit oder Epidot u. s. w
Alles diess aber fehlt an den in Rede stehenden Structurflächen des Tessi-
ner Granits vollständig. Ferner sieht man bei der mikroskopischen Unter-
suchung von Granitquetschzonen in diesen stets eine besonders starke
Zermalmung aller Gemengtheile. Das Gestein zeigt sich daher von viel-
fach verzweigten Adern stark zertrümmerten Materiales durchzogen, die
sich oft sehr scharf gegen fast unveränderte Gesteinspartien abheben.
Gerade diese Inconstanz der Structur hat der Verfasser! als das am
meisten charakteristische Merkmal gequetschter Granite bezeichnet, und
A. Sauer” hat sich diesen Ausführungen mit Bezug auf die kataklasti-
schen Granite des Aarmassivs angeschlossen.
Der Tessiner Granit aber zeigt bei aller Variabilität seiner makro-
skopischen eine ausserordentliche Gleichmässigkeit der mikro-
skopischen Structur, so dass die Ausbildung der einzelnen Gemeng-
theile und ihre Verbandsverhältnisse in den am stärksten gefalteten
und scheinbar vielfach verworfenen Abarten dieselben sind, wie in denen
mit ebenflächiger Parallelstructur.
Die Hauptgemengtheile dieses Granits sind Quarz, Feldspäthe und
zwei Glimmerarten. Neben Orthoklas erscheint reichlich ein verschwom-
men gitterstreifiger Mikroklin und ein Plagioklas, dessen Auslöschungs-
schiefe in den symmetrisch auslöschenden Schnitten etwa 10° beträgt,
und der daher der Oligoklasreihe angehören dürfte. Die Feldspäthe sind
fast nie idiomorph und umschliessen nicht selten Quarzkörnchen, eine
Erscheinung, die Granite mit viel resorbirtem Schiefermaterial zu zeigen
pflegen. Sehr bemerkenswerth ist das ziemlich häufige Auftreten mikro-
pegmatitischer Aggregate von Feldspath und Quarz, eine Erscheinung,
die bis jetzt nur aus Eruptivgesteinen, nie aber aus Sedimenten be-
schrieben worden ist. Glimmer ist in recht wechselnder Menge vor-
handen, und zwar neben Biotit auch reichlicher, oft mit jenem ver-
wachsener Muscovit. Auch diess scheint für schieferreiche Granite cha-
rakteristisch zu sein, wie z.B. für den an Schiefergesteinseinschlüssen
so reichen kleinkörnigen »Hauptgranit« der Sächsischen Lausitz.
Ob die in manchen Partien des Tessiner Granits reichlich an-
wesenden hellbraunen Glimmerblättchen Ausbleichungsproduete des
Biotits darstellen oder ob sie einer besonderen Glimmerart angehören,
ist noch näher zu untersuchen.
Die Quarze zeigen überaus häufig undulöse Auslöschnng, die ja
für die Quarze protoklastischer Granite geradezu charakteristisch ist,
! Bemerkungen über Kataklas- und Protoklasstructur in Graniten. Notizbl. d. V.
f. Erdkunde u. d. geol. L.-A. zu Darmstadt. IV. Folge, Heft 18. 1897. S. 27 —37-
2 Geologische Beobachtungen im Aarmassiv. Diese Berichte. 1900. S. 740.
G. Kreun: Über die »Gneisse« und die Schiefer der Tessiner Alpen. 55
und die verschwommene Gitterstruetur der Mikrokline steht hiermit
vollkommen in Einklang. Diese protoklastischen Phänomene aber sind,
wie nochmals betont werden muss, ganz gleichmässig durch die Masse
des fluidalstreifigen Granits vertheilt, und nirgends zeigen sich Er-
scheinungen, die auf spätere Kataklase hindeuten.
Hiernach ist also die Structur des Tessiner Granits als echte
Fluidalstruetur anzusprechen, die vor allem in der Anordnung
der Glimmerblättehen zum Ausdruck kommt. Diese, welche unter den
Hauptgemengtheilen des Granits die ältesten Ausscheidungen sind,
wurden durch den im emporgepressten Magma herrschenden Druck
parallel zur Berührungsfläche des Granits mit seiner sedimentären
Hülle angeordnet; die Fältelungen, welche wir jetzt vielfach im Tes-
siner Granit sehen, und die Glimmerstreifen, welche die Falten durch-
setzen, müssen wir der Einwirkung seitlichen Druckes zuschreiben,
der auf zähflüssige, noch nicht völlig erstarrte Magma durch
die noch fortdauernde Faltung der sedimentären Hülle aus-
geübt wurde. Die Krystallisation des Quarz-Feldspath-Gemenges im
Granit hat sieh erst nach Aufhören des Druckes, also nach
Abschluss der Aufrichtung des Gebirges, vollzogen. Diess
geht unzweifelhaft aus der Art der Anordnung und der Verwachsung
der Gemengtheile hervor und aus der völligen Unverletztheit der
Glimmerlamellen. Diese konnten ihre ecomplieirte Anordnung ohne Zer-
störung ihrer Form nur in einem noch plastischen Medium erhalten;
und dass das Quarz-Feldspath-Aggregat des Granits erst dann aus-
krystallisirt ist, nachdem die Glimmerlamellen diejenige Anordnung
erhalten hatten, die sie jetzt zeigen, erhellt daraus, dass die Glimmer-
blättehen sehr oft durch mehrere Quarz- und Feldspathkörner
hindurchgehen, ohne irgend welche Deformation aufzu-
weisen.
Vergleicht man die hier kurz erörterte Fluidalstruetur des Tes-
siner Granits mit derjenigen anderer {luidaler Eruptivgesteine, so
zeigen sich zwischen ihnen viele Analogien. Namentlich die ausge-
zeichnet fluidalen Quarzporphyre von Weinheim und von Gross-
Umstadt im Odenwald zeigen ganz ähnliche Fältelungen ihrer Schlieren
zwischen ganz gestreckten Lagen sowie Verwerfungen der einzelnen
Lagen gegen einander, Erscheinungen, die sich auch hier unzweifelhaft
im noch plastischen Magma herausgebildet haben und keinesfalls
der Einwirkung von Gebirgsdruck auf das starre Gestein zugeschrie-
ben werden können.‘ Und wie sich im Porphyr vom Wachenberg
! Vergl. den Vortrag des Verfassers über den Quarzporphyr von Weinheim.
Ztschr. d. Deutsch. Geol. Ges. 1go1. S. 50.
54 Sitzung der plıysikalisch- mathematischen Classe vom 7. Januar 1904.
bei Weinheim an der Bergstrasse die Schlieren an den zahlreichen
Einsehlüssen stauen, so sieht man auch nicht selten im Tessiner
Granit, dass es eingeschlossene Schieferschollen sind, welche von der
Parallelstruetur des Granits umflossen werden und deren Faltenbil-
dung veranlassen.
Die Structur des Tessiner Granits schwankt auch bedeutend in
Bezug auf die Korngrösse; besonders treten oft porphyrische Abarten
auf, sogenannte »Augengneisse«. An den Steilwänden der Tessin-
schlucht oberhalb Faido sowie auch in verschiedenen Schluchten am
linken Thalgehänge bei Faido kann man das häufige Auftreten der-
artiger porphyrischer Schlieren mitten im gleichmässig-körnigen Granit
deutlich beobachten. Die porphyrischen Feldspathe sind oft mehrere
Centimeter lang, erweisen sich aber vielfach nicht als einheitliche
Individuen, sondern lassen eine Zerbrechung in mehrere Theilstücke
erkennen, zwischen die sich Gesteinsgrundmasse bisweilen eingedrängt
hat. Auch bestehen manche der von Glimmerflasern umschmiegten weissen
Flecke, die man von fern wohl für porphyrische Feldspäthe halten
möchte, aus feinkörnigem Gemenge von Feldspath und Quarz.
Noch mehr Schwankungen als die Korngrösse zeigt der Glimmer-
gehalt des Granits. Häufig treten die Glimmerblättchen einzeln, wenn
auch reichlich auf; vielfach aber bilden sie zusammenhängende Häute,
die mehrere Millimeter dick werden. Und von dieser Structurform
finden sich alle Übergänge zu Graniten, welche dicht erfüllt sind
mit parallel angeordneten, meist starke Resorptionserscheinungen zei-
genden Schieferfetzen, die randlich ganz in der Granitmasse ver-
schwimmen.
Wandert man von Faido aus thalabwärts, so findet man in den
Granitbrüchen von Chiggiogna, Lavorgo, Chironico, Giornico die
Parallelstructur überall noch deutlich entwickelt; in den grossen
Brüchen von Osogna tritt sie aber schon sehr zurück bei abnehmendem
Glimmergehalt des Gesteines; zugleich werden auch Schiefereinschlüsse,
die bei Lavorgo und in der Biaschinaschlucht noch recht häufig sind,
viel seltener. Bei Claro endlich wird ein fast völlig dem normalen
Granit gleichendes Gestein abgebaut, das nicht viel mehr Parallelstruc-
tur aufweist, als manche Abarten des bekannten mittelkörnigen Gra-
nits der Lausitz. Schiefergesteinsfragmente kommen bei Claro nur
noch vereinzelt vor. Die schwache Parallelstructur des Gesteines, das
hier ganz allgemein als Granit bezeichnet wird, ist in technischer Hin-
sicht sehr von Vortheil, da sie das »Spalten« des Granits sehr er-
leichtert. Zwischen Osogna und Claro befindet man sich auf der Sohle
des Tessinthales in einem Theile des Granitmassivs, der wohl über
2000” von der Grenze gegen die Sedimente entfernt ist. Nach Ca-
Z
G. Kresu: Uber die »Gneisse« und die Schiefer der Tessiner Alpen. 99
stione zu, mit der Annäherung an die steil aufgerichteten Schiefer-
gesteine, welche hier den Granit bedecken, nimmt die Parallelstructur
wieder bedeutend zu. Jedoch konnte der Verfasser hier noch keine
eingehenden Untersuchungen ausführen.
Um festzustellen, ob der weiter nach Südwesten zu auftretende
Granit von Baveno, ein Gestein von ganz richtungsloser Structur, auch
derartige parallelstruirte Varietäten bildet an der Grenze gegen seine
Deckengesteine wie der Tessiner Granit, unternahm der Verfasser im
Herbst 1902 eine Excursion an den Lago Maggiore. Am Westufer
desselben trifft man nach Überschreitung des gewaltigen Schuttkegels
der Maggia bei Ascona Amphibolite mit prachtvollen granitischen In-
jeetionen und bei der Wanderung an diesem Ufer nach Süden zu eine
Fülle verschiedenartiger hochkrystalliner Sedimente, «die in typischer
Weise von Graniten durchtrümert werden, die bald klein-, bald grob-
körnig, bald gleichmässig gekörnt, bald ausgezeichnet porphyrisch sind
und durchweg deutliche Parallelstructur zeigen. Diese Sedimente sind
noch bei Baveno selbst anstehend in Hohlwegen, die nach den grossen
Steinbrüchen südwestlich vom Orte führen. Plötzlich aber stösst man
auf ein gewaltiges Quarzfelsriff, das etwa nordwestlich streicht, und
unmittelbar jenseits desselben stelıt der massige Miarolithgranit an.
Offenbar ist also hier an einer Verwerfung von bedeutender Sprung-
höhe die Schieferhülle des Lakkolithen tief abgesunken, so dass sie
nun unvermittelt an den massigen Kern stösst, und dass der Über-
gang aus diesem in parallelstruirte Randpartien und die von diesen
in die Sedimente ausstrahlenden Injeetionstrümer hier nicht nachzu-
weisen sind.
Der Tessiner Granit scheint im Gegensatz zu anderen Granitmassi-
ven eine einheitliche Masse darzustellen. Wenigstens konnten bis jetzt
nirgends Anzeichen dafür gefunden werden, dass hier, wie etwa im
Odenwald und der Lausitz, ein älterer Granit von einem jüngern
durchtrümert wird. Ganz frei von Nachschüben ist er auch nicht,
aber dieselben spielen hier eine ganz untergeordnete Rolle im Ver-
gleich zur Masse des Hauptgesteines. Bei Faido bemerkt man in der
Dazioschlucht zahlreiche helle Aplitgänge, die theils parallel zur Flui-
dalstruetur injieirt sind, theils auch dieselbe durchtrümern, ganz in
derselben Weise wie der Hauptgranit die von ihm eingeschlossenen
Schieferschollen. Diese Aplite sind von klein- bis feinkörnigem Ge-
füge und lassen manchmal deutliche Parallelstructur erkennen, die sich
aber nie so hoch entwickelt, wie in den »Alsbachiten« des Odenwaldes.
An der Tessinpromenade bei Faido stehen mehrere solche schon von
weitem durch ihre helle Farbe auffallende Aplitgänge an, deren silber-
weisse Glimmerblättchen vorwiegend parallele Anordnung zeigen.
56 Sitzung der physikalisch -mathematischen Classe vom 7. Januar 1904.
Recht verbreitet ist eine zweite Gruppe von Ganggesteinen, die man
ihrem ganzen Auftreten nach als Pegmatite deuten muss, obwohl sie
im Gegensatz zur normalen Ausbildungsweise der Pegmatite so arm
an Feldspath zu sein pflegen, dass sie gewöhnlich fast reine Quarz-
gänge darstellen. Oft enthalten sie nur vereinzelte Feldspäthe und nur
an den Salbändern Glimmerbestege. Auf Hohlräumen führen sie häufig
zierliche Rosetten von muscovitartigem Glimmer, nicht selten auch Glieder
der Chloritgruppe, ferner Eisenglanz, Schwefelkies und Kupferkies, wäh-
rend Turmalin meist fehlt. Die Berechtigung, diese Quarzadern, welche
so häufig zwischen den Granitlagen als linsenförmige Körper oder als
Bänder auftreten, und welche in der ganzen sedimentären Hülle des
Tessiner Granits verbreitet sind, als Aequivalente der Pegmatite auf-
zufassen, möchte der Verfasser aus seinen Untersuchungen über die
Spessartgesteine! herleiten, bei denen er alle möglichen Übergänge aus
echten feldspathreichen Pegmatiten in fast reine Quarzgänge nachweisen
konnte.
Dagegen waren lamprophyrische Ganggesteine im Tessiner Gra-
nitgebiete, soweit der Verfasser dasselbe bis jetzt kennen lernte, nir-
gends wahrzunehmen. —
Nachdem im Vorhergehenden die Zusammensetzung und die Struc-
tur des Tessiner Granits kurz geschildert worden sind, mögen nun-
mehr einige Beobachtungen mitgetheilt werden, die sich auf die Glie-
derung und die Lagerungsverhältnisse der ihn bedeckenden
Sedimente beziehen und auf die Verbandsverhältnisse an der
Grenze zwischen beiden.
Zwischen Airolo, genauer der Thalenge des Stalvedro, und Rodi
wird das linke, nördliche Gehänge des Tessinthales bis in grosse Höhe
von Granit gebildet, während das rechte, südliche aus Schiefergesteinen
besteht, die bei vorwiegend westöstlichem bis nordwestlichem Streichen
nach Süden oder Südwesten einfallen. Von Rodi ab tritt der Granit
auch auf das südliche Ufer über und seine Grenze gegen die Schiefer
liegt daselbst bei Faido etwa 400”, bei Gribbio (etwas südlich von Faido)
schon gegen 500” über der Thalsohle.. Am Nordgehänge liegt die
Granit-Schiefergrenze am Ritomsee beim Hötel Piora etwa 700", am
Predalppass nördlich von Faido etwa 1500” über dem Tessin.
Steigt man von Faido aus neben den schönen Wasserfällen der
Piumogna das südliche Thalgehänge hinan, so findet man, wie früher
beschrieben, in der Thalsohle ausgezeichnet fluidalen, oft stark por-
phyrischen Granit. Am Elektrieitätswerk sieht man in dem Kessel,
! Beiträge zur Kenntniss des krystallinen Grundgebirges im Spessart. Abhand-
lungen d. hess. geol. Landesanstalt. Bd. II, S. 190 u. 242.
G. Kresu: Über die »Gneisse« und die Schiefer der Tessiner Alpen. BY
den sich der jäh herabstürzende Wildbach ausgehöhlt hat, sehr gut
den Reichthum des Granits an dunkelen Schieferschollen, die seiner
Parallelstruetur und Plattung parallel gelagert sind. Bei weiterm An-
stiege bis zu der Stelle, von der die Rohrleitung für das Aufschlag-
wasser der Turbinen ausgeht, trifft man zahlreiche Klippen, die gut
erkennen lassen, wie manchmal durch Schieferschollen die ebenflächige
Parallelstructur des Granits zur Faltenbildung gezwungen wird, wie
sich aber diese Falten nach oben und unten rasch ausebnen. Die Häufig-
keit der Schieferschollen und der Glimmerreichthum des Granits nehmen
beim Anstieg beständig zu.
Ganz dasselbe Bild bietet sich auf der neuen Strasse von Faido
nach Dalpe, neben der sich an vielen Stellen schöne frische Gesteins-
anbrüche finden. Hier wird etwa von der grossen Kehre dieser Strasse
an der Reichthum des Granits an Schieferschollen und an Glimmer
ganz ausserordentlich, und da, wo der Weg den Steilhang überwunden
hat, stehen Klippen eines Mischgesteines an, das wohl zu gleichen
Theilen aus Schieferhornfels und Granit besteht. Von hier an bietet
das Piumognabett selbst, das oberhalb der grossen Fälle noch eine An-
zahl kleinerer Strudel mit prachtvoll geglätteten Wänden bildet, für
mehrere hundert Meter aufwärts fortlaufende gute Aufschlüsse. Un-
mittelbar über dem obersten Fall steht noch unzweifelhafter, wenn auch
sehr schieferreicher und selbst stark schieferiger Granit an, der aber
häufig Granat führt, offenbar ein Resorptionsproduct des granatreichen
Glimmerschiefers, der von da an als geschlossene Masse auftritt, immer
noch reich an Granitadern, die, meist parallel der Schieferung injieirt,
sich an den glatten Felsen sehr deutlich abheben. Der Glimmerschiefer
ist hellgrau und führt viel Granat, sehr häufig auch Staurolith, seltener
Disthen. Ausser von Granit wird er von zahlreichen Quarzadern durch-
zogen, die der Verfasser als pegmatitartige Bildungen ansieht. Etwas
unterhalb der Brücke vor Dalpe wird das rechte Ufer flacher, und ge-
waltige Auhäufungen von Glacialschutt verhüllen das feste Gestein, das
aber am steilen linken Ufer in Klippen ansteht, deren Streichen und
Fallen im ganzen mit den Richtungen übereinstimmt, die man unten
im Tessinthal an den Granitplatten misst. An der Brücke selbst wird
der Glimmerschiefer von Dolomit überlagert, der ein seiner Mächtig-
keit nach schwer zu bestimmendes Band bildet, das sich noch etwa
kilometerweit nach Südosten verfolgen lässt, sich dann aber auskeilt.
Auf von Frıtsem’s Karte ist die Dolomitpartie zu weit nach Südosten
verlängert, da sie auf dem steilen Fusswege von Faido nach Gribbio
trotz vielen Suchens nicht mehr nachzuweisen war. Von Dalpe aus
zieht sich der Dolomit in einem zusammenhängenden Streifen über
Cornone nach Prato, wie diess auch Starrr auf Blatt VI und VI seiner
58 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 7. Januar 1904.
leider an vielen Stellen sehr stark schematisirten Übersichtskarte der
Gotthardbahnstrecke zur Darstellung gebracht hat. Bei Prato ver-
schwindet er unter gewaltigen Massen von Wildbachschutt, um erst
wieder westlich von Fiesso an dem von Tremorgio herabstürzenden
Bach zum Vorschein zu kommen. Zwischen Dalpe und Prato, nament-
lich bei letzterm Orte, kann man öfters denselben Glimmerschiefer
wie im Piumognaprofil als Liegendes des Dolomits nachweisen. Am
Wege von Prato nach dem Monte Piottino stehen in einem kleinen
Bachrinnsal im Liegenden des Dolomits granatreiche, theils silber-
weisse, theils dunkele Schiefer an, die man bis dahin durchquert, wo
das Berggehänge mit seinen grossen, südwärts fallenden Platten be-
ginnt. Diese bestehen schon aus stark injieirten Schiefern, von denen
aus ein allmählicher Übergang in schieferreichen Granit nachzuweisen
ist. Den Dolomit schliesst ein kleiner Schurf am Kirchhügel von Prato
auf. Er ist hier stark zerklüftet und zeigt deutliche Rutschflächen.
Er lässt keine Schichtung erkennen, wird aber von gut geschichtetem
Kalkstein überlagert, der N 60° W streicht und mit etwa 40° nach
Süden einfällt; auch er ist stark zerklüftet. Wahrscheinlich handelt es
sich hier um eine kleine, durch Bergrutsch vom Kirchhügel abgelöste
Scholle, die noch ungefähr ihr früheres Streichen und Fallen beibe-
halten hat. Jedenfalls lässt sich in den soeben beschriebenen Profilen
Faido-Dalpe und Prato-Monte Piottino nirgends eineV erwerfung zwischen
»Gneiss« und Glimmerschiefer nachweisen, wie sie STAPFF angenommen
hat. Vielmehr beweist die typisch ausgebildete Injectionszone der Schie-
fer, dass nach dem Empordringen des Granits keine tektonische Ver-
änderung mehr sich vollzogen hat. Verfasser hat noch kein Gebiet
»krystallinen Grundgebirges« kennen gelernt, welches so völlig den
Eindruck ungestörter Lagerung darbietet als das der Tessiner Alpen.
Hier fehlt jede Andeutung von Quetschzonen und Verwerfungen, welche
die krystallinen Gebiete des Odenwaldes, Schwarzwaldes, der Vogesen,
des Thüringer Waldes oder des Erzgebirges u. s. w. so reichlich durch-
setzen. Zertrümmerungserscheinungen nimmt man in dem bis jetzt
vom Verfasser untersuchten Theil der Tessiner Alpen nur da wahr, wo
es sich um junge Bergstürze handelt, wie z.B. bei Catto, Quinto und Osco.
Zu demselben Resultat wie bei Faido und Prato gelangt man,
wenn man von Airolo aus auf dem gewöhnlichen Wege nach Piora
ansteigt. Derselbe führt zuerst mit mässiger Steigung am linken Thal-
gehänge über Madrano und Brugnasco, wobei man zuerst über nord-
wärts fallende Glimmerschiefer geht, denen auch hornblendereiche,
dunkele Schiefer eingelagert sind, die an der Thalstrasse unterhalb
vom Stalvedro bessere Aufschlüsse zeigen. An manchen Klippen kann
man deutliche, die Schiefer durchsetzende oder ihnen parallel ein-
G. KrLemn: Über die »Gneisse« und die Schiefer der Tessiner Alpen. 59
geschaltete Granittrümer beobachten. Halbwegs zwischen Madrano und
Brugnasco betritt man dann das Granitgebiet. Der Granit ist selır
reich an Schieferschollen, sehr deutlich parallelstruirt und plattig ab-
gesondert mit nördlichem Einfallen. Derselbe Granit begleitet uns auf
dem Wege nach Altanca, wo letzterer in die Schlucht des aus dem
Ritomsee abfliessenden Foosbaches einbiegt und bei dem steilen An-
stiege bis In Valle fortwährend das Mischgestein von Schiefer und Granit
durehschneidet. Oberhalb der letzten Hütten stellen sich dann ge-
schlossene Glimmerschiefermassen ein, die aber noch starke granitische
Injeetionen zeigen, die sich bis an’s Hötel Piora beobachten lassen. Das
Streichen des Schiefers ist Westnordwest, das Einfallen nordwärts ge-
richtet, zum Theil ziemlich steil. Verfolgt man von dort aus über den
Fongio die Schiefer in ihrem Streichen westwärts, so gelangt man im Ab-
stieg wieder zurück zum Stalvedro im Tessinthal. Die Schiefer-Granit-
grenze läuft also, wie diess auch von Frırsen's Karte angibt (der Glimmer-
schiefer ist als »Glgn, Glimmerreicher Gneiss, in Glimmerschiefer über-
gehend« bezeichnet), ungefähr dem Wege von Brugnasco nach Altancz
und In Valle parallel, woraus es sich leicht erklärt, dass man hier
überall einen so schieferreichen Granit antrifft. Auch in diesem Profil
ist also keine Verwerfungstfläche zwischen Schiefer und Granit vor-
handen, sondern die ursprüngliche Contacttläche.
An der Stelle, wo unterhalb Airolo der Tessin die quer zu seinem
Laufe streichenden, steil aufgerichteten Schiefer durchbricht, dem
Stalvedro, bieten sich sowohl an der Landstrasse, welche die Felsen
zum Theil durchtunnelt, als auch unten in der Schlucht vorzügliche
Aufschlüsse. Es stehen hier vorwiegend Glimmerschiefer an, denen
aber auch Quarzitschiefer eingelagert sind, und sie werden vielfach
durehtrümert von stark flaserigen Graniten, namentlich am westlichen
önde der Schlucht.
Wie schon oben erwähnt, steigt die Grenze zwischen Schiefer
und Granit um so höher über die Thalsohle, je weiter thalabwärts
man wandert. Am Predalppasse, der den Übergang von Faido nach
dem Val S. Maria bildet, liegt sie etwa 250” unter der Passhöhe und
etwa 1500” über Faido. Obwohl in diesem Profil die Aufschlüsse nieht
so gut sind wie auf der südlichen Thalseite, kann man doch auch
hier sehen, dass die jetzt sichtbare Grenze zwischen Schiefer und Granit
auch die ursprüngliche ist. Die Schichten fallen hier nach Nordosten
bez. Osten ein. In der Fortsetzung desselben Gebirgskammes nach Süd-
osten sieht man am Pizzo di Molare, den der Verfasser noch nicht be-
suchen konnte, ein hellleuchtendes Dolomitband stark nach Südosten
oder Süden einfallen, und die Sedimente reichen dort bis in ein tieferes
Niveau hinab.
60 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 7. Januar 1904.
In den bisher besprochenen Profilen haben wir also überall als
Hangendes des Granits Glimmerschiefer kennen gelernt, der
seinerseits wiederum von Dolomit oder marmorartigem Kalk-
stein überlagert wird. Auch Gyps und Anhydrit treten in engem
Verbande mit dem Dolomit bei Airolo auf.
Über diesem ersten Dolomitlager folgt im Piumognathal auf dem
südlichen Gehänge ein sehr mächtiger Complex silberweisser, an Stauro-
lith und Disthen local sehr reicher Glimmerschiefer, die z.B. an der
Alpe La Piotta gut aufgeschlossen sind. Hier enthalten manche Schichten
zahllose Staurolithzwillinge nach $P$ (232). Diese Schiefer werden
wieder überlagert von Dolomit, der N60°W streicht und mit etwa
25°SW einfällt. Dessen Hangendes bilden wiederum ähnliche Glimmer-
schiefer, wie die Liegenden. Das Dolomitband lässt sich mit dem Auge
in die gewaltigen Steilwände hinein verfolgen, in denen der imposante
Pizzo Forno nach dem Piumognathale abstürzt. Zur Zeit der Anwesen-
heit des Verfassers, Anfang Juli 1903, waren aber diese Wände, wie
überhaupt der ganze Thalschluss des Piumognathales, noch so mit
Schnee bedeckt, dass eine Begehung unmöglich war. Man kann aber
aus den Geröllen des Piumognabettes schliessen, dass die den Dolomit
bedeekenden Glimmerschiefer von denselben schönen, an grossen Granat-
krystallen und langen Hornblenden reichen Glimmerschiefern und Kalk-
silieathornfelsen überlagert werden, die auch bei Airolo das Hangende
des obersten Dolomitlagers bilden, sowie, dass auch Granit im Bereiche
der Piumognaquellen sehr verbreitet ist.
Der Dolomit von der Alpe La Piotta lässt sich mit annähernd gleich
bleibendem Streichen und Fallen über den Piz Lambro (2138”) und die
Alpe Cadonigo nach der Alpe Cadonighino verfolgen, wo die blendend
weissen, tremolitreichen Dolomite in der Passscharte erscheinen, über
die der Weg von Dalpe nach dem Campolungopass geht. Am Cadoni-
ghinopass streicht der Dolomit etwa N 80° O und fällt mit etwa 35°
nach S ein. Auch hier treten Glimmerschiefer im Hangenden und
Liegenden des Dolomits auf. Die Lagerungsverhältnisse am Campo-
lungopass konnten ungünstiger Schneeverhältnisse halber noch nicht
genauer untersucht werden.
Beim Abstieg vom Cadonighinopass nach Dalpe überschreitet man
unterhalb der Alpe Cadonighino silberglänzende Glimmer- und Quarzit-
schiefer, innerhalb deren in dem wilden Tobel, den der nach Mascengo
abstürzende Bach gebildet hat, krystalliner Schieferkalk ansteht. Sein
Liegendes bilden wieder helle, oft garbenschieferartig gefleekte Glimmer-
schiefer.
Steigt man von Alpe Campolungo über den Tremorgiosee nach
Fiesso, so durchschreitet man zuerst mächtige Glimmerschiefermassen,
G. Kremn: Über die »Gneisse« und die Schiefer der Tessiner Alpen. 61
die ganz constant nach S oder SW einfallen und die Wände des tiefen
Kessels zusammensetzen, in dem der schöne Tremorgiosee liegt. Etwas
unterhalb seines Abflusses trifft man dann auf die hier nur wenige
Meter mächtigen Schieferkalke, die wir unterhalb Alpe Cadonighino
fanden, und durchquert dann ein sehr monotones System von grauen
Kalkphylliten mit dunkelen granatreichen Glimmerschiefern. Dieser
ganze Schichteneomplex streicht WNW und fällt nach S ein. Fast am
Fusse des Berggehänges steht Dolomit an, die Fortsetzung des bei Prato
und an der Piumognabrücke bei Dalpe beobachteten Lagers. Er hat
dasselbe Streichen und Fallen wie sein Hangendes.
Die grauen Kalkphyllite setzen von Fiesso aufwärts bis zum Stal-
vedro überall die unteren Partien des südlichen Tessinthalgehänges zu-
sammen und zeigen dabei ganz vorwiegend westnordwestliches Streichen
bei südlichem Einfallen. Zwischen Piotta und Stalvedro wird letzteres
immer steiler und nimmt manchmal sogar nördliche Richtung an. Je-
doch herrscht an höheren Stellen des Gehänges, wie Verfasser bei einer
Exeursion von Ambri nach dem Sassellopass feststellen konnte, wieder
südliches, allerdings meist recht steiles Einfallen vor.
Jedenfalls erhält man bei der Betrachtung der Lagerungsweise der
metamorphen Sedimente auf dem südlichen Gehänge des Tessinthales
den Eindruck, dass dieselben den südlichen, südwärts fallenden
Flügel eines grossen, nordwestlich streichenden Sattelge-
wölbes bilden, in dessen Scheitel das Tessinthal einge-
sehnitten ist, und dessen Nordflügel von den Schichten bei
Airolo-Piora-Predalp-Molare aufgebaut wird. Alle Abwei-
chungen im Streichen und Fallen, die man local beobachten kann,
scheinen nur ganz untergeordnete Erscheinungen zu sein, Runzelun-
gen, welche den einfachen sattelförmigen Bau des ganzen Schichten-
systems nicht stören.
Am Stalvedro findet sich in den Sedimenten zweifellos eine starke
Störung; dieselbe ist aber älter als der Granit, da sie nichtihn
übergreift. Eine Verwerfung in dem Sinne, welchen Starrr (a.a.0.
S.580) annimmt, oder eine Überschiebungsfläche'! zwischen Granit und
den Sedimenten auf der Südseite des Tessinthals liegt nicht vor.
Der Nordflügel des Tessiner Sattels ist am besten aufgeschlossen
am Eingang des Val Canaria bei Airolo in einer von Norden kommenden
Schlucht, die auf der Siegfriedkarte als »Ronco di Berri« bezeichnet wird.
ı C. Scumivr spricht im »Livret guide geologique dedie au Congres geologique
international, VI® Session & Zurich 1884, p. 187 von einer derartigen Überschiebung
der »Monte di Sobrio« — über die »Tessiner« Masse. Er spricht ebenda auch von
einer »Tessiner Mulde«, während er a.a.O. p.129 die Tessiner Masse als Domge-
wölbe bezeichnet.
”
62 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 7. Januar 1904.
Das Profil ist durch von FrırscH in den Erläuterungen zu seiner Gott-
hardkarte S.134 beschrieben, und GRUBENMANN hat in den Mittheilungen
der Thurgauischen naturforschenden Gesellschaft (Heft VII, Frauenfeld
ı888) unter dem Titel »Über die Gesteine der sedimentären Mulde von
Airolo« eine Anzahl der in den tieferen Theilen jenes Profils anstehenden
Gesteine petrographisch untersucht und mit den zum gleichen Schichten-
system gehörigen Gesteinen verglichen, die zwischen Tom- und Ritom-
See im Val Piora anstehen. Auch Scamipr bespricht (Livret guide ete.
p- 155) jene Gesteine.
Als unterstes Glied dieser Schichtenreihe sind die im Stalvedro
aufgeschlossenen Glimmerschiefer aufzufassen, auf deren Übereinstim-
mung mit den tiefsten Gliedern des Piumognaprofiles schon oben hin-
gewiesen wurde. Sie werden überlagert von Dolomit, Gyps und An-
hydrit, die besonders im Val Canaria selbst gut aufgeschlossen sind.
Über einer sie bedeckenden Zone von Glimmerschiefern, Quarzitschiefern,
Thonglimmerschiefern u. s. w. folgt dann eine etwa 300” mächtige Ab-
lagerung von Kalkglimmerschiefer, über dieser nochmals Glimmerschiefer
und verwandte Gesteine, die dann wiederum von Gyps und Dolomit
überlagert werden, auf die sich dann nochmals Glimmerschiefer legen.
Die bis hier aufgezählten Sedimente über den Stalvedroschiefern fasst
GRUBENMANN als Glieder einer Doppelmulde, der »Bedrettomulde« oder
»sedimentären Mulde von Airolo« auf. Die ausserordentlich charakte-
ristischen, amphibol- und granatreichen Glimmerschiefer aber, welche
auf den hier aufgezählten Schichten völlig concordant auflagern, trennt
er ohne Angabe von Gründen von der »Bedrettomulde« ab.
Der Verfasser kann sich nach seinen bisherigen Beobachtungen
mit dieser tektonischen Anschauung durchaus nicht einverstanden er-
klären. Es ist ihm ganz unwahrscheinlich, dass die Schich-
ten des Val Canaria- und Tom-Ritomseeprofils eine Doppel-
mulde darstellen, weilsich innerhalb derselben nirgends die
so ganz unverkennbaren, von Hornblende durchspickten
Schiefergesteine finden, welche dieht über dem obersten
Dolomitlager auftreten. Da sie den anderen Schichten des Pro-
files zweifellos concordant aufgelagert sind, müssten sie mitgefaltet sein
und innerhalb der angeblichen Doppelmulde mindestens zweimal auf-
treten. Der Verfasser kann vielmehr die Sedimente des Tessiner Sattels
nur als ein Schichtensystem auffassen, in dem drei verschiedene
Horizonte von Dolomit bez. Gyps und Marmor auftreten. Diese
drei Horizonte haben wir aber im Südflügel des Sattels in ganz ana-
loger Weise entwickelt gefunden und als Hangendes des obersten im
Piumognathal auch dieselben hornblende- und granatreichen Glimmer-
schiefer wie bei Airolo.
G. Krıenu: Über die »Gneisse« und die Schiefer der Tessiner Alpen. 63
Dass alle dem »Tessiner Gneiss« aufgelagerten Schichten. starke
Umwandlungen erlitten haben, darin stimmen alle bisherigen Beobachter
überein, und zwar haben sie dieselben für »dynamometamorph«
erklärt. Besonders GrUBENMAnN betont diess sehr scharf und schreibt
dem Gebirgsdruck einen ganz wesentlichen Einfluss auf die Formge-
staltung der Gemengtheile jener Sedimente zu (a.a.0. S. 26). Er geht
sogar so weit, dass er für die Erklärung der Rhombendodekaäderform
der Granaten an das Verhalten plastischer Kugeln (z. B. aus Glaserkitt
bestehend) erinnert, die, in geschlossenem Raum allseitigem Druck
ausgesetzt, die Gestalt von Rhombendodekaödern annehmen. Scnnmipr
dagegen sagt von diesen Gesteinen, die er ebenfalls als Producte der
Dynamometamorphose auffasst (a. a. 0. S.142): »Die Umwandlung der-
selben ist aber weniger eine mechanische, sondern vielmehr eine che-
mische, d.h. die ursprünglichen Gemengtheile wurden in Lösung ge-
bracht und krystallisirten in der Gesteinsmasse wieder aus. Erhöhte
Temperatur und Druck bei gleichzeitiger Einwirkung von Lösungsmit-
teln, d.h. Wasser, welches Kohlensäure, Kieselsäure, Borsäure und
Titansäure gelöst enthält, genügen allein vollständig zur Erklärung der
weitgehendsten Umkrystallisation der Gesteinsmassen.«
Nachdem nun aber der »Tessiner Gmeiss« als echter Granit von
jüngerm Alter als die ihn bedeckenden Sedimente nachgewiesen wor-
den ist, kann es nicht mehr zweifelhaft erscheinen, dass letztere durch
den Granit eine echte Contactmetamorphose!' erfahren haben. Denn
jene Sedimente treten uns jetzt als relativ dünne Schollen entgegen, die
überall von Granit unterteuft werden, der auch zwischen ihnen überall
zu Tage tritt und sie randlich im stärksten Maasse injieirt hat. Für
die Contactmetamorphose spricht auch die Hornfelsstruetur der Tessiner
Schiefergesteine, die später eingehend geschildert werden soll.
Übrigens lassen solche Gesteinstücke, wie das umstehend in Fig. 4
abgebildete, schon bei makroskopischer Betrachtung erkennen, dass
nicht der Druck, welcher die Faltung des Gesteines bewirkte, auch
seine Umkrystallisation erzeugt haben kann. Das abgebildete Stück
ist ein stark gefalteter, an Hornblendenadeln sehr reicher Hornfels aus
dem Ronco di Berri. Die Hornblenden liegen grossentheils völlig regel-
los durch die ganze Masse zerstreut, ein reichlicher Theil derselben
senkrecht oder schräg zur Mittelebene der Falten und oft tangential
zu den Stellen stärkster Faltung. Auch unter dem Mikroskop zeigen
die von Einschlüssen, besonders Quarzkörnchen, dicht erfüllten Horn-
blenden keinerlei Biegung oder Zerbrechung und keine Spur
! Die Anschauung, die Scuuivr in dem oben eitirten Satze von der Wirkung
der Dynamometamorphose entwickelt, unterscheidet sich ja nur wenig von den An-
schauungen über das Wesen der Contactmetamorphose. }
64 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 7. Januar 1904.
von optisch anomalem Verhalten. Wären sie noch während derFal-
tung des Schiefers, also durch den Druck, welcher die Faltung bedingte,
entstanden, so könnten sie unmöglich die geschilderte Beschaffenheit
haben. Sie müssten vielmehr, da sie oft durch verschiedene Sehichten
hindurchsetzen, an verschiedenen Stellen ihrer Längsrichtung sehr un-
Fig. 4.
Gefalteter Hornfels, reich an Hornblendenadeln.
Roneo di Berri bei Airolo. /2 d. nat. Gr.
gleichem Drucke ausgesetzt gewesen sein, der nothwendigerweise me-
chanische Deformationen oder doch wenigstens optische Anomalien
hätte hervorrufen müssen. Der Satz, den Rosengusch ausgesprochen
hat: »Was während des Druckes und durch den Druck sich bildete,
wird dureh ihn nicht deformirt. Keine Kraft zerstört das, was sie
schuf, so lange die Existenzbedingungen des Geschaffenen fortdauern «,
kann hier unmöglich herangezogen werden, da ja die Richtung und
ve
G. Kremm: Über die »Gneisse« und die Schiefer der Tessiner Alpen. 65
damit auch die Stärke des Druckes auf die in der Krystallisation be-
griffenen Hornblenden fortwährend sich geändert hätten. Der-
artige Stücke, die man häufig bei Airolo sammeln kann, beweisen viel-
mehr, dass die Umkrystallisation des Schiefergesteines erst
nach Abschluss der Faltung vollzogen sein und dass während
und nach der Umkrystallisation kein Gebirgsdruck mehr ein-
gewirkt haben kann. Es kann daher nur eine reine Gontactmeta-
morphose' jene Umkrystallisation bewirkt haben.
Durch Petrefaetenfunde am Nufenenpass, im Val Piora u. s. w. ist
sichergestellt, dass ein Theil der eontactmetamorphen Schiefer lia-
sisches Alter hat. Der Tessiner Granit, der sie umgewandelt hat,
muss daher postliasisch sein. Da aber nach dem heutigen Stande
der Kenntnisse die Schichtenfaltung in der Tessiner Masse erst in
jungtertiärer Zeit erfolgt ist, und da die umgewandelten Sedimente
und der Granit nach dessen Erstarrung keinen Gebirgsbewe-
gungen mehr ausgesetzt gewesen sind, so muss der Tessiner
Granit als jungtertiär aufgefasst werden. —
Am Schlusse dieses Berichtes möchte der Verfasser nochmals be-
tonen, dass er bei seinen bisherigen Untersuchungen sein Augenmerk
hauptsächlich auf das Studium des Tessiner Granits gerichtet hat. Er
muss sich vorbehalten, die hier kurz entwickelten Anschauungen über
die Tektonik der Sedimente der Tessiner Alpen durch weitere Special-
untersuchungen noch zu beweisen und zu vervollständigen.
! Auch E. WeınscHenk hat bereits die Sedimente der Tessiner Alpen als contact-
imetamorph angesprochen. Grorw’s Zeitschr. f. Krystallogr. 1899, NXXI. S. 258 — 265.
Ausgegeben am 14. Januar.
h- Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei
Sitzungsberichte 1904. 5
SITZUNGSBERICHTE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
In.
i
ne Nm 5%,
MIT TAFEL I uno II.
BERLIN 1904.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
Auszug aus dem Reglement für die Redaction der » Sitzungsberichte«.
81.
2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Oetav regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die sämmtlichen zu einem Kalender-
jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
fortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserdem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch- mathematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch-historischen Classe ungerade
Nummern.
8.2.
1. Jeden Sitzungsbericht eröffnet eine Übersicht über
die in der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilungen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten.
2. Darauf folgen die den Sitzungsberiehten über-
wiesenen wissenschaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckfertig übergebenen, dann die, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gehö-
rigen Stücken nieht erscheinen konnten. Mittheilungen,
welche nicht in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet.
85.
Den Bericht über jede einzelne Sitzung stellt der
Seeretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte.
Derselbe Seeretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei-
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
8 6.
1. Für die Aufnahme einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $ 41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglements die folgenden beson-
deren Bestimmungen.
2. Der Umfang der Mittheilung darf 32 Seiten in
Octav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nicht übersteigen. Mittheilungen von Verfassern, welche
der Akademie nicht angehören , sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist
nur nach ausdrücklicher Zustimmung der Gesammt-Aka-
demie oder der betreffenden Classe statthaft.
3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
tenden Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Notliwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzsehnitte fertig sind und von
besonders beizugebenden Tafeln die volle erforderliche
Auflage eingeliefert ist.
87.
1. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
schaftliche Mittheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer Ausführung, in
deutscher Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2. Wenn der Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
aan dene dem m |
Die Akademie versendet ihre »Sitzungsberichte« an diejenigen Stellen, mit denen sie im li steht,
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinbart wird, jährlich drei Mal, nämlich : ,
die Stücke von Januar bis April in der ersten Hälfte des Monats Mai, F
» Mai bis Juli in der ersten Hälfte des Monats August, S
» October bis December zu Anfang des nächsten Aue nach Fi ertigselung des Bag.
” ”
” ”
]
|
|
|
|
öffentlichen beabsichtigt, als ihm dies nach den gelten-
den Rechtsregeln zusteht, so bedarf er dazu der Ein-
willigung der Gesammt- Akademie oder der betreffenden
Classe.
$8.
5. Auswärts werden Correceturen nur auf ven
Verlangen verschickt. Die Verfasser verzichten damit
auf Erscheinen ihrer Mittheilungen nach acht Tagen. .
or
ne
nee
EEE
s1l.
1. Der Verfasser einer unter den »Wissenschaftlichen
Mittheilungen« abgedruckten Arbeit erhält unentgeltlich
fünfzig Sonderabdrücke mit einem Umschlag, auf welchem
der Kopf der Sitzungsberichte mit Jahreszahl, Stück-
nummer, Tag und Kategorie der Sitzung, darunter der
Titel der Mitteilung und der Name des Verfassers stehen. i |
2. Bei Mittheilungen, die mit dem Kopf der Sitzungs-
berichte und einem angemessenen Titel nicht über zwei
Seiten füllen, fällt in der Regel der Umschlag fort. i
3
RE
3. Einem Verfasser, welcher Mitglied der Akademie
ist, steht es frei, auf Kosten der Akademie weitere gleiche
Sonderabdrücke bis zur Zahl von noch hundert, und
auf seine Kosten noch weitere bis zur Zahl von zwei-
hundert (im ganzen also 350) zu unentgeltlicher Ver
theilung abziehen zu lassen, sofern er diess rechtzeitig
dem redigirenden Secretar angezeigt hat; wünscht er auf
seine Kosten noch mehr Abdrücke zur Vertheilung zu.
erhalten, so bedarf es der Genehmigung der Gesammt-
Akademie oder der betreffenden Classe. — Nichtmitglieder
erhalten 50 Freiexemplare und dürfen nach rechtzeitiger
Anzeige bei dem redigirenden Secretar weitere 200 u .
plare auf ihre Kosten abziehen lassen.
$ 28.
1. Jede zur Aufnahme in die Sitzungsberichte be-
stimmte Mittheilung muss in einer akademischen Sitzung
vorgelegt werden. Abwesende Mitglieder, sowie alle
Nichtmitglieder, haben hierzu die Vermittelung eines ihrem
Fache angehörenden ordentlichen Mitgliedes zu benutzen.
Wenn schriftliche Einsendungen auswärtiger oder corre-
spondirender Mitglieder direet bei der Akademie oder bei
einer der Classen eingehen, so hat sie der vorsitzende
Secretar selber oder durch ein anderes Mitglied zum
Vortrage zu bringen. Mittheilungen, deren Verfasser der
Akademie nicht angehören ‚, hat er einem zunächst. Bedienen
scheinenden Mitgliede zu überweisen. >
[Aus Stat. $ 41, 2. — Für die Aufnahme bedarf es
einer ausdrücklichen Genehmigung der Akademie oder
einer der Classen. Ein darauf gerichteter Antrag kann,
sobald das Manuscript druckfertig vorliegt,
gestellt und sogleich zur Abstimmung gebracht N 4
$ 29.
1. Der redigirende Secretar ist für den Inhalt des 4
geschäftlichen Theils der Sitzungsberichte, jedoch nicht
für die darin aufgenommenen kurzen Inhaltsangaben de 3
gelesenen Abhandlungen verantwortlich. Für diese wie 4
für alle übrigen Theile der Sitzungsberichte sind
nach jeder Richtung nur die Verfasser verant-
wortlich. 4
Er EINSTEIN he amd
67
SITZUNGSBERICHTE 1904.
Il.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
Vorsitzender Secretar: Hr. Auwers.
l. Hr. von Bezorp las über »Lufttemperatur und Luft-
wärme«. (Erscheint später.)
Häufig wird, besonders in neuerer Zeit, anstatt »Lufttemperatur« das Wort
»Luftwärme« gebraucht. Diess ist ein sehr bedenklicher Sprachgebrauch, der zu Un-
richtigkeiten führt und wichtige Thatsachen verhüllt. So entspricht z. B. einer bestimmten
Temperaturschwankung in grösseren Höhen eine geringere Wärmeschwankung als an der
Meerestläche, in 5500” nur etwa die Hälfte. Bei feuchter Luft ist es sogar möglich,
dass in Folge zunehmender Feuchtigkeit der Wärmegehalt wächst, während die Tem-
peratur sinkt. In der Mittheilung werden diese Verhältnisse nach verschiedenen Rich-
tungen hin genauer untersucht, und wichtige Schlüsse daraus gezogen.
2. Hr. Coxze machte eine Mittheilung über eine in Pergamon
gefundene Copie des Hermes Propylaios von Alkamenes.
3. Hr. Kekure von Srranonızz legte einen dritten, von Hrn. Director
Dr. Turopor Wiırsann eingesandten vorläufigen Bericht über die von
den Königlichen Museen veranstalteten Ausgrabungen in
Milet vor.
4. Hr. Pıscner legte eine Abhandlung des Hrn. Dr. O. Franke
vor: Beiträge aus chinesischen Quellen zur Kenntniss der
Türk-Völker und Skythen Central-Asiens. (Erscheint in «dem
Anhang zu den Abhandlungen von 1904.)
In der Abhandlung wird auf Grund der von den chinesischen Historikern über-
lieferten Nachrichten dargelegt, wie in den beiden letzten Jahrhunderten v. Chr.
eine rückläufige Bewegung unter den skythischen Stämmen nach Westen und Süden
stattfand. Diese Bewegung pflanzte sich nach Nordindien fort. Die Indoskythen unter
Kaniska giengen um die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. als Sieger aus dem Kampfe
um Nordindien hervor und gründeten später das grosse Kushän-Reich unter Kozulo-
kadphises, Oimokadphises und ihren Nachfolgern.
5. Die Akademie genehmigte die Aufnahme einer am 10. Dee.
v.J. von Hrn. Hrrrwis in der physikalisch-mathemathischen Classe
vorgelegten Abhandlung der HH. Prof. Dr. RuporLr Krause und Dr.
Sitzungsberichte 1904. 6
68 Gesammtsitzung vom 14. Januar 1904.
S. Kremrxer in Berlin: »Untersuchungen über den Bau des
Centralnervensystems der Affen: das Nachhirn vom Orang
Utan« in den Anhang zu den Abhandlungen von 1904.
6. Hr. Warpever erläuterte im Anschluss an die Mittheilung des
Hrn. Prof. H. Vrenow im Anhang zu den Abhandlungen der Akademie
vom Jahre 1902 eine von demselben nach Verticalschnitten durch
den gesammten Örbitalinhalt einschliesslich des Lidapparats ent-
worfene Tafel.
Es wurden insbesondere hervorgehoben feinere Bauverhältnisse der Lider, der
Lidmuskeln, des Septum orbitale, der septalen Brücke am Musculus obliquus inferior
und der Wimpern.
7. Als Fortsetzungen akademischer Unternehmungen überreichten
Hr. Dırzs Vol. HI p. II des Supplementum Aristotelieum: Aristotelis
res publica Atheniensium ed. F. Kexyox. Berlin 1903. und Hr. Koserr
den 29. Band der Politischen Correspondenz FrıeprıcH s des Grossen.
Als von der Akademie unterstützte Werke wurden eingereicht:
H. Kıesann, die wirtswechselnden Rostpilze. Berlin 1904, und E. Ar-
DERHALDEN, Bibliographie der gesamten wissenschaftlichen Literatur über
den Alkohol und den Alkoholismus. Berlin und Wien 1904.
Das corr. Mitglied Hr. Hauck liess sein Werk übergeben: Kirchen-
geschichte Deutschlands. Vierter Theil. Leipzig 1903.
Die Akademie hat das ordentliche Mitglied ihrer physikalisch-
mathematischen Classe Hrn. FrıieDrRIcH VON HEFNER-ÄLTENECK am 7. Januar.
und das correspondirende Mitglied derselben Classe Hrn. Kart ALrren
vox Zırten in München am 5. Januar durch den Tod verloren.
a in
69
Hermes Propylaios.
Von ALEXANDER Ü0NZE.
Hierzu Taf. 1.
B.: den Ausgrabungen des archäologischen Instituts in Pergamon
wurde nach den Berichten der HH. DörrreLp und Arrmann am 6. No-
vember v. J. eine Herme mit bärtigem Kopfe gefunden, aus weißem
Marmor. Sie lag in Stücke zerbrochen im Schutte in einem der Ge-
mächer (Kaufläden oder Werkstätten), welche für den Hinaufgehenden
linker Hand entlang der zur Oberstadt hinaufsteigenden Hauptstraße,
oberhalb des unteren Marktplatzes, sich aneinander reihen. Es ist
die Gegend südlich unterhalb der Zisterne auf dem Plane in den
Athenischen Mitteilungen des Instituts 1902, Taf. I, auf welchem die
Gemächer noch nicht ausgegraben erscheinen. Aus den Stücken wieder
zusammengesetzt, hat sich die Herme so glücklich wieder herstellen
lassen, wie sie auf der Abbildung, welche hier auf Taf. I beigegeben
ist, sich darstellt, einer Abbildung, die nur zu einer vorläufigen Kennt-
nisnahme dienen soll. Tadellos erhalten sind die Hauptsachen, das
Gesicht, abgesehen von einer unerheblichen Lücke im Barthaar, und
die Inschrift. Der Kopf ist nach den Berichten der Entdecker über-
lebensgroß, eine Kopie zwar und aus römischer Zeit, aber von sorg-
fältiger Durchbildung und sehr wirkungsvoll. Außer dem, was unsere
Abbildung vorläufig genügend zeigt. ist zu bemerken eine Schnur,
welche den Kopf hinter den vorderen drei Lockenreihen und über
die lang in den Nacken hinabfallende Haarmasse hin umgibt und
diese Haarpartien gegen die glatt gelassene obere Schädelfläche ab-
grenzt. An den Seiten des Hermenschaftes sind die Eintiefungen für
die üblichen Ansätze. Die ursprüngliche Höhe der ganzen Herme
ist, da das Unterteil fehlt, nieht genau anzugeben, muß aber, nach
der Stelle des Geschlechtsteils zu urteilen. ziemlich erheblich ge-
wesen sein.
Auf der Vorderfläche des Schaftes steht zu unterst der Weisen-
spruch: T'noeı cayrön. Darüber in vier Zeilen das Epigramm:
Eiahceıc AnKAMENEoC TIEPIKANNEC ATANMA,
"EPMAN TON TIPO TIYA@N' Eicato TTepramıoc.
70 Gesammtsitzung vom 14. Januar 1904.
Gleich anfangs, als wir hier den Fund besprachen, machte mich
Hr. Rıcmarnp Schöne auf die dem Anfange dieses Epigramms gleiche
Wendung in dem Antipater-Epigramm der Anthol. palat. VI, ı8 auf-
merksam: Eiatacıc AnKMANA USW.
»Du wirst erkennen, daß dieses des Alkamenes herrliches Bild
ist, Hermes, der vor dem Tore. Pergamios stellte es auf.«
Dieser Pergamios ist uns sonst nicht bekannt. Er mag zur Zeit
Hadrians gelebt haben. Paläographisch stimmt zu der Hermeninschrift
eine der Weihinschriften für Hadrian in Pergamon selbst (I. v. P. 373).
Hermenbilder standen viele vor Toren. Aber der Hermes, der
hier so KAT &zox4n so genannt ist, wird doch kein anderer sein als
der in Athen, ön TIpomYanıon ÖnomAroycı, wie Pausanias sagt (I, 22. S:
KATA A& THUN EcoAoN AYTHN HAH TAN €c AKPOTIOAIN EPMAn, ON TIPotYArıon
ÖNOMAIOYCI, KAl XAPITAC CWKPATHN TIOIÄCAI TON CWoPoNIcKOY AETOYCIN KTA.).
Von dem Relief der Chariten. über das zuletzt Amerune gehandelt
hat (Die Skulpturen des Vatikanischen Museums. Museo Chiaramonti
n. 360) hat man längst, namentlich seit BExnporFs Ausführung in der
Archäol: Zeitung XXVII, 1869. S. 55 ff.. den Hermes als eine selb-
ständige Figur abgetrennt, und auch Frazer neigt bei seiner Ab-
wägung der Ansichten dahin, ihn für ein Einzelbild zu halten.
Die Vermutungen über seinen genaueren Standplatz lasse ich
beiseite. Die Inschrift bringt uns die schwerwiegende Neuigkeit,
daß es ein Werk des Alkamenes gewesen sei, der uns sonst ja als
der Künstler eines anderen in derselben Gegend aufgestellten Werkes,
der Hekate eniryrriala, genannt wird, von dem ein Hermes aber ander-
weitig nicht erwähnt wird.
Verdient das Zeugnis der Weihinschrift des Pergamios Glauben?
Mir scheint nach dem, was wir uns über den Kunstcharakter des
Alkamenes glauben vorstellen zu können: Ja. Daß wir die gute
Kopie eines Werkes der reifen Zeit des fünften Jahrhunderts v. Chr.
vor uns haben, wird niemand bezweifeln. Aber auch mit dem, was
man mit Wahrscheinlichkeit unter unserem Antikenbesitze auf Alka-
menes zurückgeführt hat (Furrwänster, Meisterwerke S. 117ff.), ver-
einigt sich der pergamenische Hermes sehr wohl und wird dann fort-
an als ein durch das inschriftliche Zeugnis besonders fester Ausgangs-
punkt für die Zurückführungen auf den dem Phidias im Altertum
so nahe gestellten Meister zu gelten haben. Hierfür fällt meiner
Meinung nach eines noch besonders schwer in die Wagschale, der
künstlerische Eindruck, den das neugefundene Werk, auch losgelöst
von aller anderen Überlieferung, macht. Ich urteile einstweilen nur
nach den Photographien, glaube aber da trotz aller Abschwächung,
welche die Kopistenarbeit mit sich bringen muß, selbst der Wirkung,
Sitzungsber. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1904
Conze: Hermes Propylaios.
Conze: Hermes Propylaios. 71
die ein Zeus des Phidias auf den Beschauer übte, nahe zu sein. Es
ist noch keine Individualität eines Hermes, es ist ein eroßer Gott,
mit Festhalten gewisser Altertümlichkeiten zu religiöser Wirkung,
kenntlich als ein göttliches Sonderwesen durch das althergebrachte
Gesamtschema, an dem aber das Antlitz auf eine höhere Stufe «e-
hoben ist.
Die von Pergamios aufgestellte Kopie wird nicht die einzige uns
erhaltene sein. Man wird danach die zahlreichen, oft Dionysos ge-
nannten Köpfe in den Museen durchmustern, in denen der Wider-
schein eines berühmten Originals, voraussichtlich in mannigfacher
Brechung und meist unerfreulich schematisiert, sich zu erkennen geben
wird, schwerlich irgendwo reiner, als in dem Exemplare aus Perga-
mon, wo man seit der Könieszeit in so besonders naher Beziehung
zu attischen Vorbildern stand.
In der Benennung Dionysos sind wir bisher vielfach zu weit
gegangen für diese Köpfe, zu deren Untersuchung, als auf attische
Originale des fünften Jahrhunderts zurückgehend, schon FurTwÄNGLER
aufforderte (Meisterwerke, S. 684, Anm. ı). In den Königlichen Museen
hier kommen drei Exemplare besonders in Betracht: Beschreibung
Nr. 104, 107 und der Schröper'sche Kopf, Archäol. Anzeiger 1903,
8232, n..0:
Auf den Besitz eines solchen Werkes würde jedes Museum stolz
sein. Da wir es nicht für uns erworben haben, sehe ich es nir-
gends lieber als an einem Ehrenplatze in der Schöpfung Hannı Bey’s,
dem Ottomanischen Museum in Konstantinopel, von wo es in Ab-
güssen recht bald allgemeiner zugänglich gemacht werden möge.
Dritter vorläufiger Bericht über die von den König-
lichen Museen begonnenen Ausgrabungen in Milet.
Von THEODOR WIEGAND.
(Vorgelegt von Hrn. KekuLE von STRADONTTZ.)
D: Arbeiten des Herbstes 1901 begannen am 3. Oktober. Sie waren
anfangs weniger auf neue Grabung als auf die Durchführung einer
sorgfältigen Bearbeitung der bisher entdeckten Architekturmonumente
gerichtet; kleinere Ausgrabungen, z. B. an der Südseite des Buleuterion
und an dessen Propylaion, traten ergänzend hinzu. Der Aufnahme der
Rathausruine!' sowie des Grabbaues von TA mArmara” hatte sich Herr
Regierungsbaumeister Hugert Knackruss aus Cassel gewidmet, das
Nymphäum’ bearbeitete Hr. Dr. phil. JuLıus Hürsen aus Frankfurt a. M.
Bei der Aufmerksamkeit, welche die römischen Nymphäen und die ihnen
Fig. 1. verwandten Bauten neuerdings
besonders durch die Entdeckun-
gen der deutschen Baalbek-Ex-
pedition® und durch E. Maass’
Buch über die Tagesgötter’ auf
sich gezogen haben, war die
nachträgliche Auffindung des
Architravfragments Fig.ı sehr
willkommen, da wir damit eine
sichere Datierung des Nym-
phäums in das Zeitalter des
Kaisers Titus gewinnen; das
Monument rückt dadurch zeitlich an die Spitze der bisher bekannt
gewordenen Nymphäen. Es sei hier gleich erwähnt, daß wir später
gegenüber der Nordseite des Nymphäums, in 52” Abstand von diesem,
gl. Sitzungsber. d. Königl. Preuß. Akad. d. Wiss. ıgo1r, XXXVII, S. gogft.
gl. ebenda S. 913.
gl. ebenda S. 907.
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J
» or
ahrbuch d. Kais. Deutschen Arch. Inst., XVII, 1902, S. 103 ff.
° E.Maass, Die Tagesgötter in Rom und den Provinzen, Berlin 1902, S. 37ff.
Tu. Wıesanp: Ausgrabungen in Milet. Ill. 73
die Reste einer großen jonischen Marmorhalle (Wandelgang 740 breit,
Säulendurchmesser 90°") mit rückwärts anliegender Kammerflucht fanden
(vgl. den Plan Fig. 2), die nach Süden aber hier ohne Kammern —
rechtwinkelig umbiegt. Weitere Ausgrabungen müssen entscheiden,
ob das Nymphäum mit dieser der hellenistischen Zeit entstammenden
Anlage verbunden war oder ob es sich um einen Säulenhof‘ von selb-
ständiger Bedeutung handelt.
REIETII TE
Er. WEN
1
Als Vorbedingung für weiteres Fortschreiten sowohl im Gebiet
der Löwenbucht als auch in der Nekropolis, wo Hr. Dr. Carı W arzınger
hellenistische Gräber am Kalabaktepe, alte Brandgräber und römische
Anlagen am heiligen Tor beobachtet hatte, stellte sich immer dringen-
der die Notwendigkeit des Ankaufes größerer Geländestrecken heraus.
Daß wir ihn durchführen konnten, verdanken wir in erster Linie pri-
74 Gesammtsitzung vom 14. Januar 1904.
vater Hülfsbereitschaft mehrerer Altertumsfreunde; etwa die Hälfte
des antiken Stadtgebietes (rund ı Million Quadratmeter) konnte so
für künftige Forschungen gesichert werden.
Als ich mit Huserr Knackruss am 6. Oktober 1902 die folgende
Kampagne eröffnete, an der vom 20. Oktober bis 21. Dezember auch
Hr. Dr. Warrer Korse als Epigraphiker teilnahm, begannen wir mit
der durch schwierige Grundbesitzverhältnisse bisher verhinderten Unter-
suchung des südlich von Buleuterion liegenden Geländes. Sofort ergab
sich ein bedeutsames Resultat: zunächst eine auf drei Stufen sich er-
hebende 16397 lange, nach Süden geöffnete Marmorhalle aus helle-
nistischer Zeit mit dorischer Außenarchitektur und innerer Säulen-
stellung (vgl. den Plan Fig. 2). An den Enden dieser 1280 tiefen
Kolonnade setzt sich rechtwinklig je eine andere Halle an. Die nach
Osten geöffnete hat ebenfalls 12”8o Tiefe, die nach Westen geöffnete
zeigt dagegen einen 14.42 tiefen Wandelgang und an diesen schließt
sich rückwärts ein in drei Reihen hintereinander geordnetes Kammer-
system; die vorderste Kammerreihe ist 6°20 tief, die zwei dahinter
folgenden haben jede etwa 260 Tiefe; bis jetzt sind rıı Kammern
festgestellt, sämtlich von 4.10 Breite. Die Gesamttiefe der Halle
betrug rund 30”, ihre Länge dagegen ist bisher nur bis auf 172"
verfolgt, ebenso die des gegenüberliegenden Säulenganges. Aber schon
Jetzt zeigt sich, wie gewaltig dieser, der großen Agora von Magnesia
am Mäander völlig ebenbürtige Platz im Stadtbilde gewirkt, ein wie
bedeutendes Zentrum des städtischen Lebens dieser tausendsäulige
Hof gewesen sein muß, der ergänzend zu dem den Ansprüchen des
Verkehrs nieht mehr genügenden älteren Markte an der Löwenbucht
hinzutrat. Wie dort, so läßt sich auch hier die ganze Anlage als
zweistöckig nachweisen, da die den durchlaufenden Triglyphenfries
krönenden Gesimsblöcke keine Traufrinne, sondern ein gerades Lager
für darüberliegende Werkstücke eines Oberstockes zeigen. Nach der
Form der zahlreiche Farbspuren in Rot und Blau aufweisenden Zier-
profile, dem knappen Echinus der Kapitelle, dem niedrigen Architrav
und den flachen Tropfenleisten mit sehr breiten kurzen Guttae und
sehr spitz unterschnittener Scotia gehört der Bau in die jüngere helle-
nistische Zeit und ist jedenfalls später als das Rathaus zu datieren,
jedoch ist römischer Einfluß wegen der echt griechischen technischen
Tradition sicher auszuschließen; Mörtel ist z. B. nur bei Reparaturen
verwendet. Von den Inschriften, die auf dem neuen Markt gefunden
wurden, sei erwähnt eine hellenistische Sonnenuhr, auf welcher Hr.
Dr. Korsz das Wintersolstitium (Trori# xeımerin#), das Aequinoctium
(ichmerin#) und das Sommersolstitium TPorH# eerın#) inschriftlich ver-
merkt fand.
Tu. Wırsannp: Ausgrabungen in Milet. I. 75
Es wird die Aufgabe späterer Untersuchungen sein, darüber Klar-
heit zu erlangen, wie die neuentdeckte Agora — wir nennen sie im
Gegensatz zum nördlichen Markte an der Löwenbucht künftig den Süd-
markt — im Süden abschloß. War der Platz hier frei oder öffnete
sich auch gegen Norden eine Halle? Und wie waren die umgeben-
den Quartiere eingeteilt? Sicher ist, daß am der Ostseite des Süd-
marktes später sehr große römische Hausanlagen, die durch Feuer zu-
grunde gegangen sind, gelegen haben. Eine derselben wurde teil-
weise aufgedeckt; sie zeigte ein Hausperistyl von 63” Länge, das mit
vielfach wechselnden geometrischen Mosaikfeldern in Schwarz, Gelb,
Weiß und Rot ausgelegt war. Mäander und große schwarze Delphine
unterbrechen stellenweise die Buntheit der Rauten, Quadrate, Kreise
und Monde, die sich in immer wieder neuen Kombinationen anein-
anderreihen.
Das spätere Schicksal des Südmarktes hat sich bei dieser Unter-
suchung klar ergeben: als um 260 n. Chr. die Schutzmauer gegen die
Goten gezogen werden mußte, ist der ganze Platz von der Verteidi-
gung ausgeschlossen und preisgegeben worden. Soweit die Hallen
nicht damals sehon zerfallen waren, wurden sie niedergerissen, die
Bauglieder zur Füllung der neuen Festungsmauer fortgeschleppt. Der
Zug dieser Verteidigungslinie ist an der Straße, die den Südmarkt
vom Buleuterion scheidet, festgestellt worden, wo sie die Rückwand
der nach Süden geöffneten Markthalle benutzt. Weiterhin erkennt
man, etwa in der Mitte zwischen Rathaus und Nymphäum, einen aus
zahlreiehen alten Architekturstücken erbauten Turm, der eine immer
sichtbar gewesene Ehreninschrift für Trajan enthält.
Zu umfassenderen Untersuchungen im Gebiet der Löwenbucht
nördlich vom Buleuterion ließ uns die Regenperiode damals nicht viel
Zeit. Indessen sind Versuchsgräben gezogen worden, deren einer ein
außergewöhnliches Interesse bot, da in ihm die Marmorbasis (H. 50°",
Br. 124°”, T. 124°”) eines kolossalen Bronzestandbildes für Seleukos I.
Nikator gefunden wurde — denn um diesen Herrscher muß es sich
nach dem vorzüglichen Schrifteharakter des Steines handeln:
Bacınea CenevKkon
ö AaAmoc 6 MıinHciwn
"ATIönnwN!
Mehrere ähnliche Basen ohne Aufschrift lagen daneben. Weiterhin
fand sich eine Anzahl Marmorblöcke, die allem Anschein nach die
Nachbildung eines Schiffes darstellen, wozu auch einige Blöcke mit
Tritondarstellungen in flachem Relief sehr gut passen. Der Bug des
Schiffes scheint durch zwei in einen gemeinsamen Kopf endigende,
76 Gesammtsitzung vom 14. Januar 1904.
lebensgroße Löwen gebildet worden zu sein. In größerer Tiefe fanden
wir auf wohlgefügtem Marmorpflaster eine halbkreisförmige Exedra in
situ. Dieser Befund und die Größe der Basisblöcke, die nicht weit
verschleppt sein können, läßt auf eine besonders wichtige Anlage
schließen, bei der der Gedanke an ein städtisches Apollonion wohl
zulässig ist. Überhaupt scheinen die das innere Ende der heiligen
Straße umgebenden Stadtteile an hervorragenden Bauwerken reich ge-
wesen zu sein. So liegt unweit der Fundstätte der Seleukosbasis auf
dem östlichen Abhang des Theaterhügels ein aus Porosblöcken er-
richteter, einst mit Marmor umkleideter Unterbau, dessen kammer-
ähnliches inneres Gewölbe an die kunstvollen Substruktionen perga-
menischer Bauten erinnert. In dem diesen Kern bedeckenden Schutt
fanden sich zahlreiche jonische Säulentrommeln, Reste von Ranken-
simen und gute Sima-Löwenköpfe, die ebenso wie die dabei gefundenen
Vasenscherben den Charakter der besten hellenistischen Zeit tragen.
Wir werden in der nächsten Kampagne ein Hauptaugenmerk auf die
Aufklärung der Löwenbucht richten.
Die erwähnten Enteignungen hatten es inzwischen ermöglicht,
ein am Theater sich ausdehnendes kleines Zigeunerdorf zu beseitigen
und an die Aufdeckung des gewaltigen Bauwerks zu schreiten, das
an Größe von keinem andern Theater Kleinasiens übertroffen wird.
Es ist mit der Front gegen Südwesten in den höchsten Hügel des
Stadtgebietes eingebaut und ragt heute noch mehr als 30" über die
Ebene empor. Dem Cyriacus von Ancona, der 1446 den Bau beschrieb',
machten die hochgewölbten Parodosportale und die Marmorwände der
140” langen Front einen so großen Eindruck, daß er das Monument
für fast völlig intakt hielt. Und doch erhob es sich einst noch um
mindestens 10” höher über dem Hügel, denn die oberste Galerie ist
eingestürzt. Sie war abgeschlossen mit einem löwenköpfigen Mar-
morgesims, während die Basis der im obern Teil mit Blendbogen
belebten Parodosmauer von einem 120° hohen, mit plastischen
Flechtbändern und Lorbeerstäben geschmückten Sockelprofil gebil-
det wurde. Der Umfang des äußern Theaterkreisbogens beträgt
230”, die Bühnenbreite 34”. Die Orchestra fanden wir 10” hoch ver-
sehüttet.
Ein großartiges und bewegtes Bild bot sich im Altertum von den
Stufen des Zuschauerraumes. Unmittelbar zu Füßen des Bühnenhauses
und der steil aufragenden Parodoswände lag ein tief einbuchtender
Hafen, der im Nordosten von großen Thermenanlagen mit vorgelagerten
Säulenhallen, im Süden vom Stadion begrenzt wurde. Darüber hinaus
! E. Zıesarın, Neue Jahrbücher 1902, 1. Abt., S. 221f.
Tu, Wıesann: Ausgrabungen in Milet. III,
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78 Gesammtsitzung vom 14. Januar 1904.
sah man die ganze &zw mönıc' in flacher Niederung sich ausdehnen,
rechts davon glänzte das Meer mit der nahen Insel Lade, der steile
Berggipfel des samischen Kerketeus und das sich vorschiebende Mykale-
kap schlossen das Bild auf der rechten, die weißen Kalksteingebirge
Kariens auf der linken Seite ab.
Das Theater ist in seiner jetzigen Gestalt römisch. Es besteht
aber kein Zweifel, daß es an der Stelle des an sich vorauszusetzenden
und auch durch Einzelfunde (s. u.) und durch Inschriften bezeugten
älteren griechischen Theaters” steht, denn die Stützmauern der Paro-
doi und der Bühne sind in derselben wuchtigen Bossenquadertechnik
wie die hellenistischen Stadtmauern errichtet, so daß man zunächst
den Eindruck hatte, als stütze sich hier das Bühnenhaus geradezu auf
einen Teil der hellenistischen Stadtmauer. Es besteht gute Aussicht,
den Grundriß des hellenistischen Bühnengebäudes in der Hauptsache
zu ermitteln. In römischer Zeit waren die westlichen Stützmauern
durch eine Balustrade mit Waffenfries gekrönt, von dem sich vor
der nordwestlichen Parodos viele Platten gefunden haben. Eine breite
Freitreppe führte aus dem Hafen zu den Zugängen des Westflügels.
Im Osten bedurfte es einer solchen Treppe nicht, da das Niveau der
Stadt hier so hoch lag, daß man das Theater in gleicher Höhe mit
dem östlichen Portal erreichte.
Das System der inneren, gewölbten Korridore wird durch einen
Blick auf die linke Hälfte des Planes Fig. 3 klar, die einen Horizontal-
schnitt in der Höhe des mittlern Diazoma darstellt. Diese Korridore
sind auf beiden Flügeln 4” breit, nur der von Norden einmündende
39” lange Tunnel des Westflügels ist 3” breit. Um auf letzterm
zum mittlern Umgang des Sitzraumes zu gelangen, stieg man vom
Portal der Südseite (Fig. 4) über 32 Stufen empor; um von demselben
Portal auf den obern Umgang zu gelangen, benötigte man 71 Stufen,
die wir sämtlieh noch in ihrer alten Lage vorgefunden haben. Der
Westflügel enthält außer den Korridoren auch noch drei große gewölbte
Kammern. Vier solcher Kammern finden sich im Ostflügel, jedoch
fehlt hier die innere Treppe zum obersten Rang und der Tunnel von
Norden.
Man ersieht aus der Planskizze (Fig. 3), daß der Zuschauerraum,
dessen Sitze sämtlich aus Marmor hergestellt sind (Fig. 5), drei Um-
gänge hatte. Der unterste liegt am Beginn der Sitzstufen und ist nur
1”47 breit. Er liegt etwa 2” höher als die Orchestra, die durch eine
! Arriani Anabasis I, ı8 ff. Ebenso wird in Soloi zwischen €zw rrönıc und eicw
mönıc geschieden, Hrserner-Wiraerm, Reisen in Cilieien und Lykien 1896, Wiener
Denkschr. VI, Nr. ı01, S. 43.
? DirrENBERGER, Sylloge 1?, Nr. 314, 46.
Tu. Wıesann: Ausgrabungen in Milet. II.
80 Gesammtsitzung vom 14. Januar 1904.
mit Sockelprofil und Kranzgesims eingefaßte, marmorverkleidete Wand
umgrenzt war. Sieben in dieser Wand verteilte, mit Kassetten ab-
eedecekte Nischen wird man wohl kaum anders denn als Bildnischen
erklären, und man wird dabei vielleicht den Gedanken an die
sieben Tagesgötter, wenn auch nicht ohne Vorbehalt (Maass, a.a.0.
S.287ff.), zulassen dürfen. In der Mitte des untersten Umgangs
standen zwei einem hellenistischen Bauwerk entlehnte Säulen. Ein
zweites Paar stand ebenso rückwärts auf der fünften Stufe; das ganze
diente offenbar einer Ehrenloge, deren Schattendach auf diesen Säulen
ruhte.
Der zweite, mittlere Umgang teilte sich in einen äußern, offenen
Teil von etwa 2” Breite und in einen innern, überwölbten Gang von
2.30 Breite und 2'5o Höhe. Es ist hervorzuheben, daß dieser Um-
gang zwei Stufen tiefer als der äußere Teil liegt und somit zum Auf-
fangen der von den oberen Rängen herabfließenden Regenmengen diente.
Das Wasser trat durch die Türen ein und sammelte sich in zwei den
Umgang einsäumenden, 30°” breiten, flachen Rinnen, aus denen es
in den überdeckten Mittelkanal des Ganges abfloß. Die Zugänge zu
dem Umgang sind teils direkte mit schiefer Ebene als Schwelle, teils
em
sind sie rechtwinklig umbiegend und mit eingelegten Stufen ange-
ordnet, eine Vorrichtung, die sichtlich mit dem Bestreben zusammen-
hängt, den Zustrom des Publikums zu regulieren. Dieselbe Einrich-
tung findet sich auch bei dem obern Umgang. Hier ist jedoch die
Höhe des Gewölbes mit Rücksicht auf die darüberliegenden höchsten
Sitzstufen größer (3”), auch finden sich auf der Rückseite Ausgänge,
die der näheren Aufklärung harren.
Durch diese Umgänge war das Theater also in drei Ränge zer-
legt. Der untere enthielt ı3 Sitzreihen, die in fünf Keile geteilt
waren, der mittlere ebenfalls ı8 Sitzreihen in zehn Keilen. und auf
dieselbe Reihenzahl werden wir für den obersten Rang geführt, für
welchen dann 20 Keile anzunehmen sind. Jetzt sind vom obersten
Rang nur noch wenige Stufen in situ vorhanden, überall aber sieht
man noch die radialen, einst schräg aufsteigenden Mauerschenkel, die
als Seitenwandungen der die Sitze tragenden, teilweise noch erhalte-
nen Tonnengewölbe dienten. Ein nicht mehr erhaltener äußerer Um-
gang, konzentrisch der äußersten Peripherie des Sitzraumes, bildete
den Abschluß des Ganzen; er lag in dem Teil, der auf der Plan-
skizze (Fig. 3) mit weiten Parallellinien schraffiert ist. Die oberste
Reihe jeden Ranges hatte Sitzbänke mit Rücklehnen, die bei den übri-
gen Sitzen nicht nachzuweisen sind. Besondern Schmuck tragen die
den Zwischentreppen benachbarten Sitze, da sie bis in die obersten
Ränge hinauf mit Löwenfüßen ausgezeichnet sind.
Fig. 5.
Ta. Wıesann: Ausgrabungen
pe.
in Milet.
II.
sı
o.)
DD
Gesammtsitzung vom 14. Januar 1904.
Der Orchestraboden trug ein kostbares Marmorplattenpflaster. Was
davon erhalten ist, zeigt Streifen in leuchtend rotem, in violett geäder-
tem und in bläulich-weiß zestreiftem Marmor.
Die Proskenion-Vorderwand liegt noch verborgen in einer dieken
byzantinischen Festungsmauer, die schon vor dem neunten Jahrhun-
dert n. Chr. quer über die Orchestra gezogen wurde. Aus ihr stammen
u.a. die von RavEr-Tnomas auf Taf. XX ihres Werkes »Milet et le
golfe Latmique« veröffentlichten Skulpturen. Hier fanden sich auch
die Reste des hellenistischen Sternbildkalenders, der im Anschluß an
diesen Bericht von den HH. Dirrs und Rem besprochen wird. Wie-
viel von der Proskenion-Vorderwand noch aufrecht erhalten ist, wird
sich erst bei der im nächsten Herbst beabsichtigten Niederlegung der
Festungsmauer herausstellen. Hinter ihr sind die in drei Reihen an-
geordneten Pfeiler, welche den Marmorplattenbelag des römischen
Spielplatzes trugen, zum Vorschein gekommen (s. Fig. 5). Von den
Parodoi führt jederseits ein schmales, flach überwölbtes Treppchen
in diesen verdeckten Raum herab.
Das römische Spielhaus ist noch nicht ganz freigelegt. Man er-
kennt aber jetzt schon, daß zwei Perioden zu unterscheiden sind.
Der ersten gehören prächtige Pilaster und Säulen aus rotem, aegypti-
schem Granit, aus grünem Euböamarmor und aus dunkelblau geäder-
tem weißem Marmor an. Die Kompositkapitelle zeigen einen sehr
guten, scharfen Schnitt der Akanthusblätter, die Zahnschnitte sind
sorgfältig ausgearbeitet und die Kassettendecke zeigt reiche, tief ge-
höhlte Muster. Dieselben guten Traditionen zeigen sich auch bei den
Gliedern einer großen, flachen Nische, deren Gebälk sich zusammen-
gefunden hat. Den Eingang zur Bühne von den Parodoi aus bildeten
gewölbte Tore aus weißem Marmor. Der Schlußstein des westlichen
Bogens trägt auf der einen Seite ein Gorgoneion, auf der anderen
das milesische Stadtwappen, den Löwen. Zu dieser relativ sehr guten
Architektur passen auch die Pfeiler-Kompositkapitelle des Südportals
der westlichen Parodos: über zwei Reihen Akanthusblätter schwebt
eine Nike mit ausgebreiteten Flügeln, umgeben von leichtem Ranken-
werk. Die Ecke des Kapitells wird durch die Protome eines Flügelgrei-
fen gebildet; von den zwei Voluten ist die eine als einfache Schnecke
gestaltet, die andere ausgefüllt mit dem Brustbild eines bärtigen, der
Nike zugewandten Giganten. Das sind Bildungen, wie wir sie von
den Kapitellen des Apollotempels zu Didyma kennen, deren Entstehung
in vorrömischer Zeit HaussovrLıer' mit guten Gründen vertreten hat.
! HavssourLier, Etudes sur l’histoire de Milet et du Didymeion. "Paris 1902.
S. 277-
Tu. WıiEesano: Ausgrabungen in Milet. 111. 83
Daß aber ihr pergamenisch beeinflußtes Vorbild bis ins zweite Jahr-
hundert n. Chr. nachgewirkt hat, zeigt sich hier deutlich und wird
auch durch zwei überlebensgroße, «der Bühnenarchitektur angehörige
Telamone aus Marmor bewiesen, deren kraftvolle Formen der perga-
menischen Kunst nahestehen. Denn das Theater von Milet ist erst
in trajanisch-hadrianischer Zeit fertiggestellt worden. Das lehrt uns
der Name des mit der Oberaufsicht «der Arbeiten beauftragten Pro-
pheten Ulpianos in einer Orakelinschrift, die wir beim Eingang in
den obern Umgang auf einem Kalksteinblock an der Südseite des
obersten Treppenabsatzes des Westflügels in situ fanden (H.: 60°,
BRE7SS)l:
Of oikoaömoı ol ep €...... N
"Ermironon. ErronABoı TOY MEPOYC TOY
BEATPOY, OY EPFETIICTATEI Ö TIPOSÄHTHC
eelo? OyYnmıanoc "Hpwc, EproaoTel ö AP-
5 XITEKTWN MHnösInoc. TA EIAHMA|TA
Kjai TA TET|PJAeTA KATA TON KEIONWN
TEPIEINÜCIN Kal Enerkovclin A] AnnHNn Ep-
TOAOCIAN CKETITWNTAI! 7 BEOC EXPHCE'
"EmmepAmoIC TIINYTAIC AWMHCECIN EYTEXNIAIC TE
10 EYTTANAMOY BWTÖC TE YTIO@HMOCYNAICI #EPICTOY
XPHCBAI CYMOOPÖN ECTI AITAIOMENOIC BYCIAICI
TTannaaa TePiroreneian 1a Ankımon "Hpaka|[AA
Z. 7 enerkove [ın Al, Z.9 minyTalc. Z. 12 1a’ Ankımon (von Prorr).
Z. 8 zwischen ckentontaı und eeöc steht ein schräger Trennungsstrich.
Die Anfrage an das Orakel ist in die nieht gewöhnliche Form
einer konjunktivischen -Doppelfrage gekleidet: rrerieinwcın Kal ENErKOYCIN
[= Enerkwcın verdumpft? (vgl. K. Dierericn, Unters. z. gr. Spr. S. 15)]
H... CKETTTWNTAI; »sollen die Maurer die Bogen und die Gewölbe über
die Säulen spannen und (diese Arbeit) auf sich nehmen oder sich nach
einem andern Arbeitslos umsehen?« Der Konjunktiv mit der Frage-
partikel AÄ ist in einigen Dodonäischen Orakeln ähnlich gebraucht,
Corzitz, Gr. Dialektinschr. II, 1561 C, 1; 1589, I; 1590, 4.
Zeigt schon die Anbringung der Inschrift an der Wand des obersten
Ranges, daß die an das Orakel gestellte Frage sich auf die höchsten
Teile des Sitzraumes beziehen muß, so geht aus den weiterhin ge-
brauchten technischen Bezeichnungen insbesondere hervor, daß es sich
um den Abschluß, den äußersten Umgang des Zuschauerraumes han-
delt, der, wie z. B. in Ephesus, mit einer umlaufenden Halle bekrönt
war. Schon standen die Säulen dieser Halle, da scheint sich ein
Streit erhoben zu haben, dessen näherer Anlaß sich zwar unserer Be-
Sitzungsberichte 1904. 7
54 Gesammtsitzung vom 14. Januar 1904.
urteilung entzieht, der aber die Bauleute zur Befragung des Orakels
veranlaßt, ob sie den Rest der Arbeit durchführen sollen oder ob sie
andere Arbeitsangebote vielleicht noch an anderen Teilen desselben
Theaters unter anderen Architekten und Oberaufsehern — annehmen
sollen. Als Arbeit blieb ihnen noch das Spannen (rerieinein) der von
Säule zu Säule gehenden Bogen (eintmara) der Hallenfront und die
Konstruktion der hinter den Bogen ansetzenden, die Verbindung mit
der Rückwand herstellenden Kreuzgewölbe (TetpAeta; so belehrt mich
H. Knackruss, denn jedes Kreuzgewölbe besteht ja aus vier dreieckigen
Feldern).
Die Antwort des Orakels ist weder stilistisch erfreulich noch sehr
klar. Die Dative hängen sämtlich von xrAcen, Z. ır ab. AwmHcecın
eYrexnliaıc Te ist als En AIA avoin für »Kunstfertigkeit, Meisterschaft
im Bauen« zu fassen (von Prorr), zu denen man im späten Griechisch
gewiß Adjektiva wie Emrreirpoc und rınvTröc setzen kann. Es empfiehlt
sich, der erfahrenen, klugen Baukunst und dem Rat des geschickten,
vortrefflicehsten Mannes zu folgen. indem man der Pallas Tritogeneia
und dem starken Herakles flehend mit Opfern naht. Diese beziehen
sich wohl auf Athena “ErrAnH als Patronin jeder Kunstfertigkeit und
auf den Änkımoc "Hrakadc als Bürgen für die Festigkeit und Tragfähig-
keit des Gewölbes (vgl. Atlas).
Die Bauglieder der zweiten römischen Epoche des Bühnenhauses
sind zum großen Teil aus denen der ersten Epoche umgearbeitet wor-
den. Die Schmuckteile, unter denen ein übertrieben hohes Pfeifen-
ornament immer wiederkehrt, dann ein platter, verkümmerter Zahn-
schnitt und die ganz unsorgfältige Art der Ausführung erwecken den
Eindruck einer recht späten Zeit. Zu diesem letzten Bau sind aber
auch die Glieder eines ganz ausgezeichneten archaischen Bauwerkes
vernutzt worden. Zuerst haben sich davon Läuferplatten mit leicht
gekörntem Spiegel gezeigt, der von doppelten, feinen Rändern um-
rahmt ist, dann ähnlich fein behandelte Orthostaten und altertümliche,
38°” hohe Eierstäbe mit Astragalen, andere wieder von 28°" Höhe
ohne Astragal. Auch mit großen Reliefs scheint der Bau ausgeschmückt
gewesen zu sein, da sich an einer Platte der Rest von Pferdefüßen
und eines menschlichen Fußes daneben, fast lebensgroß, gezeigt hat.
Da die jetzt in Berlin befindliche Platte mit der Darstellung einer
archaischen Sphinx in der Nähe der Bühne gefunden wurde, so ist
es wohl möglich, daß diese Platte dem interessanten Bauwerk, dessen
Hängeplatte mit altjonischem Anthemienmuster geschmückt ist, ange-
hört. Technisch merkwürdig und für die Güte der Ausführung be-
zeichnend ist, daß man für die Bleivergüsse die Läuferschichten senk-
recht durchbohrte, um von oben gießen zu können und so den Anblick
Ta. Wiesann: Ausgrabungen in Milet. IM. 1615)
eines von außen ansetzenden Gußkanals zu vermeiden. Vielleicht ist
ein Fingerzeig für die Bedeutung des Baues eine in der Bühne ver-
baute Marmorquader mit der archaischen Aufschrift:
AOHWAI
IM 3'H
Die hellenistischen Stützmauern der Bühne ließen uns hoffen. daß
wir auch von dem ältern Spielhaus einiges finden würden. In der
Tat hat sich hinter dem römischen Proskenion die Vorderwand des
ältern Bühnenhauses, ähnlich konstruiert wie die in Priene, gezeigt;
vom Oberbau hat Hr. Knackruss zwei schöne Pilasterkapitelle und ein
Geison ermittelt, dessen Konsolendekorationen als hellenistisch schon
früher an den Hallen des Nordmarktes der Löwenbucht nachgewiesen
werden konnten. Von hellenistischen Inschriften seien erwähnt: ein
horosartiger Stein Arraacwn TIrrotH — wohl die erste Bekundung der
Arraaeic in Milet selbst; zu ergänzen wäre vielleicht xırıacryce im Hin-
blick auf die im Theater üblichen Getreideverteilungen KATA XInIACTYN.
Dann die Weihung eines Siegers bei dem T'hespischen Musenfest,
Philinos, an Dionysos und die Musen, besonders aber die nach dem
Scehriftcharakter auf den berühmten Bildhauer Silanion zu beziehende
Inschrift:
Die Schrift steht der Alexanderzeit durchaus nahe, wie ein Ver-
gleich mit den Inschriften vom Athenatempel zu Priene ergibt, nur
in geringen Einzelheiten ist sie etwas moderner, z. B. in dem ge-
schwungenen < und dem T, so daß der Versuch, Silanion über die von
Plinius angegebene Zeit höher hinaufzurücken, hier keine Stütze erhält.
Es ist nun noch einzelner Untersuchungen im nordwestlichen
Stadtgebiet Erwähnung zu tun. Eine Tastung in der Gegend südlich
vom Stadion innerbalb des Dorfes Balad führte uns auf ein sehr
stattliches griechisches Privathaus (Länge des Hofes 15", Säulendurch-
messer 68°), dessen Peristyl mit weißem, rot gestreiftem Mosaik
ausgelegt ist. Nahe diesem Hause wurde ich auf die Trümmer einer
aus großen und zahlreichen Marmorblöcken bestehenden Rundbasis
aufmerksam, deren Stücke teils in einem Acker beim Pflügen zum
Vorschein kamen, teils in einer alten Moschee verbaut waren. Die
sofortige Aufgrabung und Sammlung lohnte sich, da sich auf der
Zi
86 Gesammtsitzung vom 14. Januar 1904.
Vorderseite der Basis ein über drei Blockschichten reichender, 72 Zeilen
langer Brief des Königs Eumenes’ II. an den ionischen Städtebund er-
gab. Da die Basis noch ihrer Zusammensetzung harrt und der Text
erst dann endgültig festgestellt werden kann, so beschränke ich mich
hier auf eine vorläufige Mitteilung des Inhaltes.
Eumenes II. hat zwei Gesandte des jonischen Bundes, Eirenias
und Archelaos, zur Überreichung eines Ehrenbeschlusses während eines
Aufenthaltes in Delos empfangen. Als Führer und Wohltäter der
Hellenen wird ihm, unter Hervorhebung seiner zahlreichen großen
Kämpfe gegen die Barbaren, der Dank der Städte ausgesprochen;
durch ihn sei erst die Wohlfahrt wieder gesichert worden — drmwc
Al TÄC EAAHNIAAC KATOIKOYNTEC TIÖNEIC AIA TIANTÖC EN EIPHNHI KAl THÄI BEn-
TIETHI KATACTAceIı YrrApxwcın (Z. 1I— 13). Nachdem die Gesandten so-
dann der den einzelnen Bundesstädten erwiesenen Wohltaten gedacht
und an die traditionelle Politik Attalos’ I. erinnert haben, verkünden
sie die Verleihung eines goldenen Siegerkranzes und eines vergoldeten
Standbildes an den König, wobei dieser sich den Ort der Aufstellung
selbst aussuchen möge. Die Ehren sollen bei den panjonischen Festen
und in jeder einzelnen Bundesstadt noch einmal besonders ausge-
rufen werden. Eumenes erklärt sich in längerer Rede zur Annahme
der Ehren bereit, gibt dabei seiner Hoffnung auf dauernde Freund-
schaft mit dem Bunde Ausdruck und bestimmt eine größere Summe
für die würdige Begehung seiner Hmera enonvmoc bei der panjonischen
Panegyris (Z. 51); und nun ist es interessant, wie der König auf Grund
der kyzikenischen Abkunft seiner Mutter Apollonis seine Verwandtschaft
mit Milet feststellt. Deshalb will er in Milet das ihm verliehene
Standbild errichtet sehen, und zwar En TO ErHeicmenw HMin Yrrö MiAH-
clion relmene[i, ölte rAP En TAYTH TA möneı cvnTenosnTelc] TAN TTANArYPIN
erHoicee THN TIMÄN HMIN, THC TIÖNEWC MÖNHC TON |AAWN MEXPI TOY TIAPON-
TOC TEMENOC ANAAEAEIXYIAC HMIN KAl CYFTENOYC KPINOMENHC AlA KYIIKHNOYC,
ENAOEA AC TIOANA Kal ÄzlA MNHMHC YTIEP TÖN IWNWN TIETIPAXYIAC OIKEIOTÄTHN
EAOFILOMHN THN ÄNÄBECIN ECcEcAAl EN TAYTH, KTa. (Z. 60— 68). Wir be-
sitzen in der gefundenen Basis den Unterbau jenes vergoldeten Stand-
bildes Eumenes’ II. und vielleicht sind auch noch Reste des Evmeneion
vorhanden. Die Ehrung aber wird nicht ohne Beziehung zu jener
Wandlung der römischen Politik gegen Eumenes sein, die im Tage
von Sardes ihren Gipfelpunkt erreichte und ein noch engeres An-
schließen der Hellenenstädte an den König zur Folge hatte (vgl. Polyb.
XXXI, ıo Dino.)
Nachgrabungen am Südwestende der Stadt haben durch zwei in
eine frühbyzantinische Kirche verbauten Inschriften den Gedanken an
ein dort zu suchendes Heiligtum des seöc Yrıcroc nahegelegt:
Te. Wıesanp: Ausgrabungen in Milet. III. 87
meetloher 37© , Breite 52°”.
Ton iereA To? ÄrIWTA-
Toy [eeo? Yrilcrov cwTAroc
OYımıon KArrıon
BOYAEYTHN Ö CTATIWN
TON KATA TIÖAIN KHTIOY-
PÖN TON TAION EYEPFETHN
Ymep TÄC EAYTOn CWTHPilac.
Es müssen danach im Stadtgebiet des römischen Milet zahlreiche
Gärten vorhanden gewesen sein. Über statio = Innung Böckn CIG.
5853, Kusırschek, Jahreshefte 1903, Beiblatt S. So u. 81, wo aller-
dings nur Innungen ausländischer Kaufleute erscheinen.
2. Höhe 40°”, Breite 56°.
OYımıon KaAPrıon
TON TIPO®HÄTHN TOY
ÄTIWTATOY 8E0Y
YYicToY
0 CTÖNOC TÜN CWAHNO-
KENT@ÖN TON IAION EY-
EPFETHN AlA TIANTWN.
Es handelt sich um die Flottille der Muschelfischer, die ihren
Namen von der beliebten Eßmuschel cwaAn erhalten haben (Athenäus
III, 85D, 9goDE, wo diese Fischer auch cwaHnıcTai und cwAHNnoeHPaı ge-
nannt werden). Schalen solcher cwaAnec sind im Schutt der Aus-
grabungen oft zu bemerken; daneben beobachtete Hr. Prof. VossELEr
aus Stuttgart auch meterdicke Schichten von Purpurmuscheln, die
einen sichtbaren Beweis des blühenden Gewerbes sowohl der Muschel-
fischer als der rmopeyrosAsoı darstellen. Das durch kentein ausgedrückte
Loskratzen und Losstoßen der Muscheln von felsigen Stellen mittels
dreizack- oder rechenartiger Werkzeuge kann man heute noch in allen
Häfen der Levante beobachten.
Die am Fundort der beiden Inschriften aufgedeckte frühchrist-
liche Kirche möge bei der Bedeutung des Mäandertales für die Ent-
wickelung der altbyzantinischen Kunst kurz besprochen werden. Der
Grundriß ist nahezu quadratisch (Fig. 7): das Innere bildet ein Kreis
von 11" Durchmesser, der durch tiefe Nischen in den vier Ecken er-
weitert ist. Der Haupteingang liegt im Westen, ihm gegenüber die
auffällig kleine Nische des Presbyters. Je ein Nebeneingang findet
sich an der Nordseite und in der Nordwestecke. Vor dem Haupt-
eingang wird ein noch nicht ausgegrabener Narthex anzunehmen sein.
Gesammtsitzung vom 14. Januar 1904.
85
7:
Fig.
N... ml
A ii
Homv
Ta. Wıersann: Ausgrabungen in Milet. II. 119)
Der Boden der Kirche war mit Marmorplatten bedeckt, auf denen
im Kreise acht Marmorsäulen von 5" Höhe standen. Ihr glatter Schaft
ruht auf einer reich profilierten viereckigen Sockelbasis und trägt
Akanthuskapitelle von scharfer Arbeit und guter Zeichnung. Marmorne
Stichbalken, deren Stirn das lateinische Kreuzzeichen trägt, legten
sich radial von der Mauer über die Kapitelle. Darüber erhoben sich
Ziegelbogen als Träger einer Kuppel.
Wichtiger noch als diese Kirche ist die Auffindung einer etwa
in der Mitte zwischen Didyma und Milet am Meere liegenden drei-
schiffigen Basilika altbyzantinischer Zeit wegen der mit ihr verbundenen
Klosteranlage. Die Kirche ist über 20” lang. Von den drei Apsiden
drückt sich nur die mit einer Presbyterienbank versehene mittlere im
Außenbau architektonisch aus. Der Fußboden war mit Mosaik be-
deckt; im Narthexmosaik liest man vor der Tür zum Mittelschiff:
"Emi Novnexiov
TIPECBYTEPOY KE Ol-
Ko|nömoy Ere-
NONTO TÄ EPTA.
A|PXANrenE c-
[Y soneeı]
Man wird an den für jene Gegenden vorzugsweise in Betracht
kommenden Erzengel Michael als Schutzherrn der Kirche denken
müssen. Dicht neben dem Narthex fand sich ein Saal mit rußge-
schwärzten Hypokausten, in einem andern Gemach steht eine mo-
nolithe, runde Ölpresse von mehreren Metern Durchmesser, daneben
liegt ein Raum, der mit seinen sorgfältig zementierten Wänden ver-
mutlich als Kelterkammer zu erklären ist. Die ganze Anlage scheint
an der Stelle antiker Bauten zu stehen: denn die Mittelapsis besteht
ganz aus Orthostaten und Epistylien eines griechischen Marmorrund-
baues, zu dem sich auch das Zahnschnittgeison und zierliche jonische
Säulen gefunden haben. Wir wissen, daß vor den Toren Milets wich-
tige Tempel gelegen haben, z. B. der Thesmophoren', und das uralte,
von Alyattes verwüstete und glänzend wiederhergestellte Heiligtum
der Athena von Assesos.” Man findet Erwähnungen des letztern
Ortes bis ins 13. Jahrhundert unserer Zeitrechnung in den Urkunden
des Klosters Patmos.” Heute ist der Name im Volke verschollen.
! Parthenios, narr. am. 8; HaussouLLıer, Etudes sur l’histoire de Milet et du
Didymeion, p. 64.
2 Herodot I rg ff.; R. Scnuserr, Geschichte der Könige von Lydien, S.43 ff.
® Mürrer und Mıixrosich, Acta et diplomata monasteriorum et ecclesiarum
orientis III p. 167 ff,
90 Gesammtsitzung vom 14. Januar 1904.
Um aber die alten Kultstätten wiederzufinden, wird sorgfältige Be-
achtung der byzantinischen Reste in der Umgebung Milets notwen-
dig sein.
Zum Schlusse sei der Befestigungen gedacht. Grabungen vor dem
heiligen Tor haben gelehrt, daß wir zwei hellenistische Perioden der
Stadtbefestigung zu scheiden haben. Die ältere Mauer. zwei Meter dick
und mit isodomem Marmorquaderwerk errichtet, ist vertreten durch
einen dem früher geschilderten heiligen Tor vorgelagerten besondern
Torbau, der von zwei quadratischen Türmen von 7" Seitenlänge flan-
kiert ist und dessen Mauerschenkel unter der jüngeren hellenistischen
Mauer, die in früheren Berichten schon beschrieben ist, verschwinden.
Diese jüngere 4"50— 5” dieke Mauer ist dießmal namentlich am Süd-
westende der Stadt aufgeklärt worden, wobei sich eine 5” breite Aus-
fallpforte mit vorgelagertem Turm gefunden hat. Eine fast überein-
stimmend angelegte Ausfallpforte liegt etwas weiter östlich, wo eine
in situ gefundene Inschrift den Ort als jepormnatik TON einörtawn bezeich-
net. Weiter gegen das Südwestende der Stadt zu macht die Mauer
auf ihrer Innenseite einen zimmerartigen Einsprung (6: 3”15), dann
folgt eine Treppenrampe von über 22” Länge, die sich in 3" Breite
dem Zug der Stadtmauer anlegt, so daß hier die Gesamtdicke 840
beträgt.
Als unter Kaiser Trajan das Niveau der &zw rmönıc erhöht wurde,
scheint die Stadtmauer schon im Verfall gewesen zu sein. Die Wacht-
stuben im heiligen Tor waren in Brunnenkammern umgewandelt wor-
den, römische Häuserfundamente reichen bis dieht an oder gar über
den Mauerring. Mit der Gotengefahr kam die Notwendigkeit einer
neuen Schutzlinie, die in der oben schon geschilderten Art eilig,
mit Hülfe antiker Monumente, gebildet wurde und wobei ganze Stadt-
teile ausgeschlossen wurden. Endlich die byzantinische Zeit, in der
nur noch das Theater als Zufluchtsort benutzt wurde. Die Parodos-
portale wurden mit Sitzstufen und Baugliedern der Bühne vermauert,
eine 4” dicke Schutzmauer wurde dem Proskenion entlang über
die Orchestra gezogen bis zur Höhe des mittlern Umganges. Ein
Kastell, dessen Südmauer auf den Gewölben der obersten Ränge steht,
krönte das Ganze; ein weiter Zwinger dehnte sich nach Norden und
nach Osten bis zur Nähe der Löwenbucht. In der Cavea des Thea-
ters entstanden Wohnhäuser, zu deren Bau aufgerichtete Sitzstufen
benutzt wurden. Der bunte Marmorboden der Orchestra wurde durch-
schlagen, uın die gewaltigen Gewölbe einer mehrere Stockwerke tiefen
Zisterne herzustellen; über der einstigen Kaiserloge wurde eine Kirche
errichtet. Münzen des Ikonoklastenkaisers Theophilos (329— 842) und
seiner Witwe Theodora beweisen. daß dieß alles schon vor dem neun-
Tu. Wıesannp: Ausgrabungen in Milet. III. 91
ten Jahrhundert geschehen sein muß. Neues Licht wirft diese Wand-
lung auf die von Böckn OIG. II 2895 ausführlich behandelte Plane-
teninschrift an der Nordwestecke des Theaters. E. Maass' hat es
neuerdings für möglich erklärt, daß die Inschrift eine Art offizieller
Bauinschrift gewesen sein könne; das ist nach Art der Anbringung
und der Schrift ausgeschlossen, wie schon Cyriacus von Ancona ge-
sehen hat. Ein neugefundenes Stück einer übereinstimmenden Pla-
neteninschrift zeigt überdieß, daß der Bau an mehreren Stellen mit
demselben Text beschrieben war. Heidnischen oder jüdischen Cha-
rakter der Erzengel anzunehmen, sehe ich keinen Grund. Nach der
Umwandlung des Theaters in eine byzantinische Festung lag es den
Christen nahe, diesen Zufluchtsort ganz besonders den höheren Mäch-
ten zu empfehlen.” Und der erflehte Schutz: Arıe ®YAAToNn THN TIÖNIN
MinHcion Kal TIÄNTAC TOYC KATOIKOYNTAC Scheint den Bewohnern reichlich
zuteil geworden zu sein. Denn obwohl schon unter Kaiser Andro-
nikos II. (1252— 1328) die Mäanderebene an die Mohammedaner ver-
loren war, zeigen die im Kastell gefundenen Johannitermünzen, z.B.
des Grolmeisters Raimund (1365—-1375), daß sich das KAcTPpon TÜNn
TTarnation noch bis weit über die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts
erfolgreich gehalten hat.
! Tagesgötter S. 244 f.
® Daß die sieben Götter im übrigen in Milet älter sein können als das Theater-
kastell, soll nicht bestritten werden.
92
Parapegmenfragmente aus Milet.
Von H. Dıers und A. Reun.
(Vorgetragen am 11. November 1903 [s. Jahrg. 1903 S. 997).)
Hierzu Taf. I.
Bi der Ausgrabung des Theaters in Milet haben sich bei der Kam-
pagne des vorigen Winters vier Bruchstücke grobkörnigen Marmors
gefunden (das Fragment Ö in der Zisterne der Orchestra), welche der
Leiter der Ausgrabung Hr. Direktor Dr. Tr. Wırsann sofort als Über-
bleibsel eines öffentlich ausgestellten Kalendariums erkannt hat. Da ich
mich wegen des Parapegmas des Demokrit (Vorsokr. S. 408ff.) jüngst mit
dieser Literatur etwas beschäftigt hatte, so übergab mir Hr. von KEkuLE,
an den Abschrift, Zeiehnung und Abklatsche der Fragmente von Hrn.
Wırsasn eingesandt waren, im Juli d. J. die Sachıe zur Bearbeitung.
Obgleich es leicht war, an der Hand der antiken Parapegmen die
Sternphasen größtenteils zu ergänzen, bedurfte es doch zur sicheren
Entscheidung der Anordnung der Fragmente und Deutung der leider
stark verstümmelten Anweisung im Fr. B eines mit diesem Gegenstande
genauer vertrauten und wit den nötigen Hülfsmitteln ausgestatteten
Spezialisten. Ich wandte mich daher an den durch seine Studien
auf dem Gebiet der antiken Astronomie, namentlich aber jüngst durch
seine Rekonstruktion der Salzburger Kalenderuhr' rühmlichst bekannt
gewordenen Dr. A. Renm in München mit der Bitte, eine fachmännische
Erklärung und Ergänzung der Milesischen Fragmente zu versuchen.
Obgleich er im Begriff stand, sich der Koischen Expedition des Prof.
Dr. R. Herzoe anzuschließen, entsprach er doch meiner Bitte sofort
und es gelang ihm in wenigen Tagen die Resultate zu gewinnen, die
mit seinen eigenen Worten im folgenden mitgeteilt werden. Er er-
kannte, daß die vier damals allein bekannten Fragmente zu zwei ver-
schiedenen Kalenderwerken gehören, die sich nicht nur durch die
! Jahresh. d. österr. Arch. Instit. VI (1903), S. 41 ff.
Sitzungsber. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1904. Taf. II.
Nr. 456A.
Dırıs und Reum: Parapegmenfragmente aus Milet.
in, ULMER
: h
Diers und A. Reum: Parapegmenfragmente aus Milet. 93
Schrift und andere Äußerlichkeiten scheiden (das hatte bereits Hr.Wır-
sAnD festgestellt), sondern auch durch die Art der Anordnung und
die benutzten astronomischen Quellen. Denn AD prunkt mit erlesenen
Namen wie Euktemon, Eudoxos, Philippos (von Opus), zitiert die
Aegypter, ja zieht einen fabulösen Inder namens Kallaneus heran, wäh-
rend BC (Epikrates?) keine Autoritäten anführt, obgleich er nachweis-
lich Meton-Euktemon und Kallippos benutzt hat. Nach der Schrift
scheint dieser der Jüngere, und da der Abstand der Schrift kaum merk-
lich ist, darf man vielleicht vermuten, daß sie beide nur um einen Me-
tonischen Zyklus von 19 Jahren voneinander abstehen. Doch müssen
diese feineren Bestimmungen erst nach genauer Kenntnis der Originale
getroffen werden, die nun wohl bald in Berlin eintreffen werden.
Unterdessen gestatte ich mir, was ich darüber bis jetzt ermittelt habe,
vorzulegen.
Zur Bestimmung des Alters der Inschriften, die bei solchen Kalen-
darien von besonderer Wichtigkeit ist, stand mir zunächst nur der
aus den Zeichnungen des Hrn. Wıecann, vor allem aber aus den Ab-
klatschen erkennbare Schrifteharakter zu Gebote, der natürlich für
einen der Epigraphik Fernerstehenden um so schwieriger zu verwerten
war, als man längst davon abgekommen ist, die Chronologie der lokalen
Schriftentwiekelung nach dem uns einigermaßen vertrauten attischen
Modell zu bestimmen. Die von mir befragten Fachmänner bestätigten
meinen Eindruck, daß man an das zweite Jahrhundert v. Chr., eher
an den Anfang als an das Ende, denken müsse. Genaueres lehrte ein
unscheinbares Bruchstück, dessen Existenz durch einen reinen Zufall
zu meiner Kenntnis gelangte. Ich hatte mich nämlich wegen einer
anderen Frage an Hrn. Dr. Korse gewandt, der, wie ich wußte, an
den Ausgrabungen in Milet im Winter 1902 mitgewirkt und sich mit
der Feststellung des milesischen Kalenders beschäftigt hatte. In den
mir gütigst zur Verfügung gestellten Notizen fand ich die Bemerkung,
es sei im Jahre 1899 eine kleine Marmorinschrift (Inv. 84) zutage ge-
kommen, wonach die Sommersonnenwende im Archontat des Apseudes
(433/2) auf den 13. Skirophorion = 21. Phamenotlı des ägyptischen
Kalenders falle, im Jahre des -eyktoc aber' auf den 14. Skirophorion
— ıı Payni. Ich erkannte, daß die erste Solstitialbestimmung nichts
mit Milet zu tun habe, sondern sich auf die berühmte Beobachtung
des Meton und Euktemon vom 27. Juni 432 v.Chr.” beziehe, die von
den Alten öfter erwähnt wird. Ptolemaios gibt im Almagest (las
Genaueste III 2 S. 205, 20 Heib.: exeinu MEN TÄP ÄNATPÄGETAI TETENH-
! Hr. Kotse zitierte nur aus dem Gedächtnisse, da ihm keine Abschrift des
Fragmentes zu Gebote stand.
® In Wirklichkeit 28. Juni u 27" nach Böcku (W. Foerster) Sonnenkr. S. 43/44-
94 Gesammtsitzung vom 14. Jan. 1904. — Mittheilung vom 11. Nov. 1903.
MmenH er Arevaovc Apxontoc AsıınHcı KAT Airytitioyc Damenwe KA TIPWIAC.
Diodor XII 36, 2 berichtet darüber unter dem Archon Apseudes [43 3/2]:
en AcC TAlc Asunaıc METWN 5 TTAayYcanioY MEN YIöc, ACAOZACMENOC A& EN
ÄCTPONOTIAI, EEESHKE THN ÖNOMAIOMENHN ENNEAKAIAEKAETHPIAA, THN APXHN TIOIH-
CAMENOC ÄTIO MHNöc EN AsHnAic CKIPoO®OPIÖNOC TPICKAIAEKÄTHC. EN AE TOIC
EIPHMENOIC ETECI TÄ ÄCTPA THN ATIOKATÄCTACIN TIOIEITAI KAl KABÄTIEP ENIAYTOY
TINOC MEFÄNOY TON ANAKYKAICMÖN AAMBÄNEI. AIO Kal TINEC AYTON METWNocC
ENIAYTON ÖNOMÄIOYCI. AOKEI A& Ö ANHP OYTOC EN TÄ TIPOPPHCEI Kal TIPOFPA@RI
TAYTHI BAYMACTÜC EITITETEYXENAI" TÄ TÄP ÄCTPA THN TE KINHCIN KAl TÄC ETII-
CHMACIAC TIOIEITAI CYME@NWC TH TPA®H.! AIO MEXPI TÖN Kae HMÄC XPÖNUN Oi
MAEICTOI TON "EnnkNWN XPWMENOI TH ENNEAKAIAEKAETHPIAI 0Y AIAYEYAONTAI
TÄC AnHBelac.”
Es war also zu vermuten, daß das kleine Bruchstück, von dem
mir nachträglich Kunde ward, zu einem der beiden Parapegmen ge-
hören müßte. Wenn hier die erste berühmte Solstizbeobachtung Metons
angezogen und eine zweite solche Beobachtung mit Nennung des,
natürlich attischen, Archonten chronologisch fixiert wird, so kann das
nur den Sinn haben, die moderne Kalendereinrichtung als Nachbild
der athenischen vom Jahre 432 zu bezeichnen. Dieser milesische Ka-
lender also gehört zu den vulgären nach Metons Enneakaidekaöteris
orientierten Parapegmen, von denen Diodor spricht. Zur Handhabung
eines solchen Kalenders gehört selbstverständlich, daß man weiß, wie
der bürgerliche veränderliche Mondkalender mit dem ewigen in Stein
gehauenen solaren Kalender in Einklang zu bringen sei. Dazu muß
man vor allem den Ausgangspunkt des ıgjährigen Zyklus fixieren,
und das geschieht in dem kleinen Bruchstück so, daß die damals im
zweiten Jahrhundert allgemein gültige attische Archontenrechnung zu-
sammen mit der für astronomische Rechnung allein brauchbaren und
von den Alexandrinern eingeführten ägyptischen Jahresrechnung zur
Anwendung gelangte. Es kommt also vor allem darauf an, das zweite
Datum zu ermitteln. Die Endung des attischen Archonten -eyKToc (diese
Angabe erwies sich später als irrig) führte zu keinem Resultate; denn
der einzig in Betracht kommende Archon TTonveyktoc, der in das Jahr
! Die Verbindung des Zyklus mit den Sternbeobachtungen und Wetterangaben
scheint das Charakteristische dieses Werkes gewesen zu sein. Denn mit der öffent-
lichen Aufstellung eines Schaltzyklus war Oinopides (Vorsokr. 9 S. 240, 6) den beiden
Astronomen vorangegangen. Und zwar scheint die Idee der Enneakaidekaöteris und
die Beobachtung der Sonnenwende von Meton herzurühren, die Sternphasen und
Episemasien von Euktemon, der auch Beobachtungen in Thrakien (Amphipolis) und
Umgegend beisteuerte. Das Parapegma des Demokrit (Fr. 14) zeigt schon ganz die
Einrichtung des Metonischen.
®2 Vel. Philochoros und Kallistratos bei Schol. Arist. Av. 997 und die unten S. 97
angeführte Stelle.
Dies und A. Renn: Parapegmenfragmente aus Milet. 95
275 gehört, mußte von vornherein ausscheiden, weil die Schrift nieht
in den Anfang des dritten Jahrhunderts gesetzt werden durfte. So
blieb als einziger Anhalt zur Fixierung des Jahres nur die Gleichung
mit dem ägyptischen Kalender. Da das ägyptische Wandeljahr all«
vier Jahre um einen Tag zurückbleibt, so entspricht die Differenz
zwischen dem 21. Phamenoth (201. Tag des ägyptischen Jahres) und
dem ıı. Payni (281. Tag), also So Tage, einem säkularen Unterschied
von 320 Jahren. Zieht man diese Differenz ab von dem Metonischen
Epochenjahr 432, das in dem Bruchstück als Ausgangspunkt genannt
ist, so erhält man das Jahr ıı2 v. Chr., dessen Jahresanfang (1. Thoth)
auf den 20. September fällt. Der ıı. Payni dieses Jahres (281. Tag)
gleicht sich also dem julianischen 27. Juni. Daraus ergibt sich, daß der
milesische Astronom gerade wie Meton eine etwas ungenaue Solstitial-
beobachtung zugrunde gelegt hat." Die Bestimmung des Jahres nach
dem ägyptischen Kalender läßt nun, da genauere Stundenangaben
fehlen, einen Spielraum von vier Jahren, da die Jahre 113— 110 alle
den gleichen Neujahrstag haben. Von diesen Jahren ist ı13/2 TTarA-
monoc, 112/1 Asonycıoc und 110/9 TTonvkaeıtoc in der attischen Archon-
tenliste festgelegt. Wäre also der Name TToavlevKtoc richtig, so müßte
dieser Archont in die leere Stelle des Jahres ı 11/10 einrücken, und die
Rechnung würde vielleicht doch noch zu Bedenken Raum geben, da
man ungern mit dem Ansatz der Schrift an das Ende des zweiten
Jahrhunderts heruntergehen würde.”
Glücklicherweise hat sieh inzwischen das kleine, aber inhaltsreiche
Marmorbruchstück in Milet vorgefunden (Nr. 84); ein von Hrn. Wırsann
gefertigter Abklatsch und eine von Hrn. Dr. Freprıcn hergestellte Ab-
schrift gestatten eine vollständig sichere Herstellung wenigstens der
linken Spalte des Fragments:
! Hr.W.Foersver hatte die Güte, mir seine Berechnung der Sommersonnenwenden
für die Jahre ı12 bis 109 v. Chr. (—ı1ı bis —ı08 astr.) nach julianischem Datum mit-
zuteilen:
ı12 v.Chr. Juni 25 22" 6" (Tagesanfang Pariser Mitternacht)
BET » 3A
IIo » 20 grad
LO E 33:
®2 Doch hat Hr. HırLrer von GÄRTRINGEN mir gütigst einen Papierabklatsch der
Inschrift von Andros IG. XII 5, 722 [= IG. Ins. V 722 = CIG. II add. 23495 — Le Bas
II 1802] zur Verfügung gestellt, die nach Beremann, Philol. 1847, 645, WanpınGron
u.a. um 108 v.Chr. angesetzt wird (Krers bei P.-Wıssowa RE. II 2289,7 geht sogar
noch tiefer hinab). Diese Schrift hat eine ziemliche Ähnlichkeit mit den milesischen
ndern.
96 Gesammtsitzung vom 14. Jan. 1904. — Mittheilung vom 11. Nov. 1903.
Nr. 84.
elerınac Trolm|Ac [re-
NOMENHC Em AyeYAaoyc EXOM
Ckıiposorıßnoc Ir, H- KAIETT
TIC Än KATÄ ToYc AÄirv- Ae0
s TITIOYC MiA KAl K KAIC
To? ®amenve, Ewc EKKA
TA|c renomenhc Em THPIAI- - - - - Hl
TTonlvkneitoy Ckı- MEPA
POeoPI|WNOC IA, Ka- 0AW
ıo TA A& ToY|c Airynti- ENNEA
ovc roY TTayjni TAc ia, KAITI
KATA a& TO MinlAcıon AICT
enE
Der authentische Text des Steines beseitigt mit einem Schlag
alle Unsicherheit. Der athenische Archont Polykleitos (die Lesung ist
völlig klar) ist natürlich identisch mit dem Eponymen des Jahres 110/9
und bestätigt somit lediglich die aus der Angabe des ägyptischen
Datums angestellte Berechnung. Denn der ıı. Payni des mit dem
20.September (1. Thoth) beginnenden ägyptischen Jahres des Polykleitos
(110/9) ergibt den 27. Juni 109 als den von dem milesischen Kalender-
fabrikanten angesetzten ierminus post quem seiner nach Metons Vor-
gang mit der nächsten Numenie beginnenden Enneaknidekaöteris. So-.
dann ergibt sich bereits aus dem Abklatsch (was man am Original
demnächst genauer wird feststellen müssen), daß dieses Fragment 84
in Schriftgröße und Schriftform mit 456 BC, nicht aber mit 456 AD
stimmt. Denn diese hat bei A und A geschweifte Schenkel, und der
Bindestrich des A ist schärfer und winkliger nach unten gezogen als
in der Schrift von 84 und 456 BC. Auch ist © und 2 in AD oft viel
kleiner als die übrigen Buchstaben, während sie in 84 und 456BC
nicht stark von der üblichen Schrifthöhe abweichen. Vor allem ist
ein individueller Unterschied im ® bemerkenswert. In 84 nämlich wie
in 456 BC ist der in AD regelmäßige Kreis des mittleren Rundes ®
zu einer Ellipse mit abgeplatteter Basis $ umgestaltet, was aus den
entsprechenden Formen der ptolemäischen Kalamusschrift abgeleitet
ist. Mithin ist der Stifter des auf das Jahr 109 bestimmten Kalenders
wahrscheinlich der in der großen Überschrift genannte ENJIKPATHz
PYAR[POY oder wie man ergänzen will, und das Bruchstück 34 müßte
nach dem Inhalte vermutlich am Anfange der Einführung seine Stelle
finden, von der uns das mit breiteren Kolumnen ausgestattete Mittel-
stück in 4560 erhalten ist.
“un
Diers und A. Reum: Parapegmenfragmente aus Milet. 97
Leider läßt sich die rechte Spalte des Fragments 84 nicht er-
gänzen, zumal die Breite der Kolumnen nicht feststeht. Nur soviel
darf man aus Z. 7 und ıo vermuten, daß die Einrichtung des neun-
zehnjährigen Zyklus erörtert wurde. Welcher Anfangstag nach mile-
sischem Kalender für die Enneakaidekaöteris gelten sollte, war wohl in
Z.12ff. der rechten Spalte gesagt. Nun mußte noch das System der
Schaltjahre angegeben werden, damit der bürgerliche Kalender ohne
Schwierigkeit auf das astronomische Parapegma übertragen werden
konnte. Die speziellen Anweisungen zum Einstecken des Monatsdatums
in die Löcher des solaren Kalenders folgten dann in dem uns er-
haltenen Mittelstück 456 0.
Ich lasse nun die unabhängig von jenem erst neuerdings bekannt
gewordenen Fragmente entworfene Bearbeitung des Herrn Renm wörtlich
folgen.
Um die nicht geringe Bedeutung des kalendarischen Monumentes
zu würdigen, das uns die Ausgrabungen in Milet geschenkt haben, ist
es wohl wünschenswert, zusammenzustellen, was wir über die technische
Einrichtung der Witterungskalender aus antiker Überlieferung erschließen
können, um so mehr. als mir eine Vorarbeit darüber nicht bekannt ist.
An die Spitze der Zeugnisse hat das schol. Arat. ad v.752 p. 478. SM. zu
treten: nachdem dort in ziemlich verworrener Weise von Metons Tätig-
keit als Astronom gehandelt ist, heißt es: aezAmenoı Toinyn (seil..den me-
tonischen Zyklus) ol merA METwnA ACTPONÖMOI TIINAKAC EN TAIC TIÖAECIN EOHKAN
TIEPI TON TOY Hniov TIEPIHOPÜÖN TÜN ENNEAKAIAEKAETHPIAWN, ÖTI KAG EKACTON ENI-
AYTON TOIÖCAE ECTAI XEIMÜN Kal TOIÖNAE BEPOC KAi TOIÖNAE »EINÖTWPON Kal
ToIolae ÄNEMOI Kal TIOANÄ TIPÖC BIWBEREIC XPEIAC TOIC ANEPWTTOIC.... ... EAEEANTO
A& aytAEnnunec Trap’ Airyrıtion Kal Xanaalon. Ergänzend entnehmen wir
aus Aelian V. H. X 7 (Merun 5 AevkonoeYc ACTPOAÖTOC ANECTHCE CTHAAC
Kal TAc Hnlov TPoTIÄC KarterpAyato Kra.), daß Meton selbst.die Auf-
zeichnung seines Kalenders auf öffentlich auszustellende Tafeln unter-
nahm. Das Aratscholion nun klingt so, als setze der Autor voraus,
es sei der Kalender fortlaufend für alle 19 Jahre des Zyklus in Stein
gegraben gewesen: etwas anderes ist auch aus Diod. XI 36, 2. 3 nicht
zu entnehmen. Aber soll man wirklich glauben, Meton habe die
doch alljährlich in gleicher Weise sich wiederholenden Phasen und
die nach der Theorie des 5. Jahrhunderts mit ähnlicher Regelmäßig-
keit wiederkehrenden Episemasien rgmal in wesentlich gleicher Weise
in dem teuern Material verewigen lassen?! Auch findet sich in den
ı Iperer, Handb. der Chronol. 1 328, stellt sich die Sache in der Tat so vor;
der Konsequenz für die Zyklen des Kallipp und Hipparch mit ihren 76 und 304 Jahren
weicht er aber doch aus (S. 353)-
98 Gesammtsitzung vom 14. Jan. 1904 — Mittheilung vom 11. Nov. 1903.
stattlichen Resten der alten Parapegmen,. die uns literarisch erhalten
sind, nirgends eine Spur, daß sie mehr als die 365 Tage des ge-
meinen Sonnenjahres umfaßt hätten. Aber freilich, schlechthin so
wie das altertümlichste Stück, das pseudogeminische, in den Hand-
schriften steht. konnten die Parapegmen für den praktischen Gebrauch
nicht eingerichtet sein, d. h. sie konnten sich nicht auf die Angabe
der zodiakalen Data beschränken und die bürgerlichen völlig ignorieren.
Um die Tabellen für den modernen Forscher handlich zu machen,
haben Wacnsnurn in seinem Lydus De ostentis und Manıtivs in seinem
Geminus die julianischen Daten beifügen müssen: im griechischen Alter-
tum vollends war bei der Veränderlichkeit des Jahresanfangs eine
Identifikation der nach den Zodiakalzwölfteln eingeteilten Phasen und
Episemasien mit den Daten des bürgerlichen Jahres ohne Anweisung
unmöglich. Aber vergeblich sucht man im 17. Kapitel des Geminus,
das von den Episemasien handelt, oder in Galens Kommentar zu
Hippoer. Epid. I (T.XVIL ı p. 15 ss. K.), wo die Beziehungen zwischen
Sternphasen und bürgerlichen Daten erklärt werden, nach irgend einer
Angabe in der gewünschten Richtung: ja Gem. p. 182, 24M. (errel a&
OYK EAYNANTO OYe HMEPAN OYTE MÄNA OYTE ENIAYTÖN WPICMENON ÄNATPAYAI
(seil. die Kalendermacher), en &ı TI TOYTWN EMITEAEITAI. ... . . WPICMENOIC
TICI CHMEIOIC HBENHCAN A®OPICAI TÄC METABONAC TOYF Aepoc) scheint eher auf
das Fehlen der bürgerlichen Daten hinzuweisen.
Ein leiser Fingerzeig für unsere Frage ist vielleicht in Arats
Phaenomena in einer Stelle enthalten, die aus der Beziehung auf
die Parapegmen Licht gewinnt. Am Ende seines Gedichtes, v. 1142
bis 1144, spricht Arat davon, wie sich die Zuverlässigkeit der Wetter-
vorhersage steigert, wenn mehrere gleichbedeutende Zeichen zusanımen-
treffen; zwei geben eine große, drei eine sichere Gewähr. Dann fährt
er fort:
“145 AlEI A AN TIAPIÖNTOC ÄPIEMOIHC ENIAYTOF
CHMATA, CYMBANAWN, Ei TIOY Kal ET ACTEPI TOIH
H@C AÄNTEAAONTI »AEINETAI” H KATIÖNTI,
ÖTMTIOIHN KAl CHMA AETHI.
Weder die Erklärung der Scholien noch die von Voss, welche
beide an die Zeichen des vorangehenden Jahres denken, ist verständ-
lich. Die Bedeutung der Sternphasen ist doch nach der Lehre der
Parapegmatisten in jedem Jahre die gleiche. Vielmehr kann Arat nur
meinen, man solle zu den Wetterzeichen, wie er sie lehrt, noch die
in den Parapegmen verzeichneten hinzunehmen: aber natürlich die des
laufenden Jahres, so daß maPıwn ENIAYTÖöC Wie TIEPITEAAÖMENOC ENIAYTÖC ZU
! So A richtig; KATEPxeTAaı CM.
1
’
x
<
j
b
h
Diers und A. Reun: Parapegmenfragmente aus Milet. 99
verstehen ist. Daran schließt sich dann das Folgende ohne Anstoß:
».leinen Wetterkalender brauchst du aber eigentlich nur während der
acht Tage des Monats zu Rate zu ziehen, an denen der beste Wetter-
prophet, der Mond, nicht am Himinel steht«. Völlig klar wird indes
die Stelle erst, wenn man in v. 1146 statt cHmara Hmara schreibt: »die
Tage des ablaufenden Jahres zähle, damit du feststellen könnest, ob
eine Episemasie des Kalenders mit einem von «dir beobachteten Zeichen
anderer Art übereinstimme«.' Also nach der Auffassung des Arat
oder vielmehr des Verfassers der ursprünglichen Schrift TTepi cHmeion
muß man »Tage zählen«, um ein Parapegma benutzen zu können.
Das setzt voraus, daß wenigstens für einen bürgerlichen Tag im
Jahr — man wird natürlich an den ersten denken — überliefert war,
welche Stelle er im Sonnenjahr hatte. Ielı stellte mir also bisher die
Sache so vor, daß Meton zwar den Kalender nur einmal aufgezeichnet,
aber. sei es einleitungsweise, sei es durch Randbemerkungen zum ersten
Monat, für alle 19 Jahre seines Zyklus die Lage des bürgerlichen Neu-
jahrstages im Sonnenjahr bestimmt habe. Zur Erleichterung des Nach-
zählens mochten dann Verzeichnisse der ÄcTPwn AIACTHMATA dienen, wie
sie im Papyrus Eudoxi uns vorliegen.”
Soweit etwa die Kalender mit dem Zweck, praktisch gebraucht
zu werden, in Buchform verbreitet waren. wird sich schwerlich
ein anderer Modus ausfindig machen lassen. Bei den Kalendern auf
Stein hingegen war die Einrichtung anders und zwar für den Be-
nutzer ganz wesentlich einfacher. Das ist es, was uns der Fund
von Milet lehrt; dazu kommt, wie sich gleich zeigen wird, daß
er uns für den bisher nicht recht verständlichen Namen mAPÄTIHrMA"
I Gestützt wird diese Vermutung wie meine ganze Erklärung durch den aus
gleicher Quelle wie Arats Dichtung getlossenen (vgl. zuletzt BphW 1902, Sp. 516)
Text der sogenannten Dissertatio Laurentiana bei MrEGER, De Theophrasti qui fertur
TTepi cHmeion Libro (Leipzig 1889) S. 71: EZETAION AE Kal TÄC KAT” ENIAYTON
HMEPAC KAI ETIICKOTIÖN, El TIOY ANATOAH ACTPON H AYCIC EKEINAIC TAIC HMEPAIC FINETAI,
EN AIC KAI CHMEIA TINOC XEIMÖNOC TIPOAHNOYTAI, [EN AIc| AN EYPHIC (eYPoic cod.) ToYTo,
moAY (TTonYC cod.) MAnnoN 6 XEIMWN TIPOCHMAINETAI.
2 Ein weit genaueres Verzeichnis gleicher Art steht im cod. Vindob. gr. philos.
108 fol. 232Y, aus dem es mir Borr freundlich mitteilte. Ich habe es bereits für die
Publikation vorbereitet und dabei gefunden, daß es aus dem Parapegma Kuktemons
exzerpiert ist. Im folgenden gedenke ich gelegentlich von seinen Angaben Gebrauch
zu machen.
3 Das von Geminus an in der astronomischen Literatur übliche Wort scheint
zuerst vorzukommen in des Thrasyllos’ Verzeichnis der Schriften des Demokrit (Diog.
Laert. IX 47, Dıers, Fragm. d. Vorsokr. S. 374); doch - ist es vielleicht dort nur von
Thrasyll zur Erklärung des Haupttitels Merac enıaytöc A AcrronomiH beigefügt. Da
es übrigens die Sache sehr gut bezeichnet, sehe ich nieht ein, warum es nicht von
dem Erfinder der Vorrichtung sollte aufgebracht sein. Dieser Erfinder war wohl trotz
Plinius und Unger nieht Demokrit, sondern Meton im Verein mit Euktemon.
Sitzungsberichte 1904. 3
100 Gesammtsitzung vom 14. Jan. 1904. — Mittheilung vom 11. Nov. 1903.
die Erklärung liefert. Drei von den vier Bruchstücken, die uns hier
beschäftigen, enthalten kalendarische Angaben, wie wir sie aus den
Parapegmen kennen, ebenso nach den Zodiakalzeichen gruppiert, wie
wir das im Geminusparapegma finden. Aber es fehlt die Tagnummer:
statt ihrer sind am Rande vor den einzelnen Phasen oder Epi-
semasien Löcher angebracht. Natürlich sollten sie je ein Plättchen
mit dem jeweiligen bürgerlichen Datum aufnehmen. Da es aber nicht
an jedem Tag eine Phase oder Episemasie zu verzeichnen gab, muß-
ten auch die unbesetzten Tage markiert werden: sonst konnte ja
derjenige, welcher den Apparat zu bedienen, d. h. die Plättchen bei-
zustecken hatte, unmöglich aus der Tafel den Abstand zweier
Phasen erkennen. Diesem Zweck dienten die zwischen die Zeilen
zesetzten Löcher: an und für sich konnten sie leer bleiben, sie dien-
ten ja nur demjenigen, der das Beifügen der bürgerlichen Daten. zu
den Episemasien besorgte, zum Abzählen. Aber es war wohl zweck-
mäßiger, die ganze Reilıe zu bestecken, statt einen Teil der Nummern
zesondert aufzubewahren. Nur hat man sich nicht vorzustellen. daß
alle 365 Löcher ständig ausgefüllt gewesen und alle Nummern ein-
mal, am Jahresschluß. verändert worden seien: eine Serie für einen,
höchstens zwei Monate genügte dem Zweck vollkommen, wenn nur
der Aufseher nach Ablauf eines jeden Monats die erledigte Serie für
den nächsten, bzw. übernächsten »beisteckte«. Das ist die Manipu-
lation, von der Nr. 456C, rechte Spalte, handelt. Das Beistecken
der Daten des Mondmonats zu den Zeichen des Sonnenjahrs wird in
der Inschrift selbst mit dem Wort mararırnYnaı bezeichnet: nun ist
klar, weshalb diese Gattung von Kalender marArHrma, zu deutsch
etwa »Steckkalender«, hieß.
Ich lasse nunmehr an erster Stelle den soeben benutzten Text
4560 folgen, mit Ergänzungen, die, soweit es sich nicht bloß um
das Ausfüllen von Buchstabenlücken handelt, lediglich annähernd den
Sinn herstellen wollen, und mit einem möglichst kurz gefaßten Kom-
mentar, dann in gleicher Bearbeitung die drei Parapegmenfragmente';
von ihnen schließe ich 456 B unmittelbar an 456 C an, obwohl 456 D
Zodiakalzeichen behandelt, die dem B vorausliegen. Denn es hat sich
mir gezeigt, daß uns nicht die Reste eines, sondern zweier
Parapegmata vorliegen, AD auf der einen, B, zu dem C gehört, auf
der anderen Seite. B hat nämlich nach Hrn. Wırsanp etwas andere
Schrift und andere Buchstabengröße als AD und ist auf einen Block von
' Von den Ergänzungen stammt der größte Teil von den HH. Wıesaxn und
Diers. Wo ich bei ABD abgewichen oder weiter gegangen bin, geschah es zumeist
auf Grund eines ungefähr für das Jahr 100 v. Chr. angepaßten Hiwnmelsglobus, der
durch Borrs Güte zu meiner Verfügung steht (vgl. Bor, Sphaera S.83 A. 2).
j
j
j
2—
f
j
N
|
i
j
Dıers und A. Reun: Parapegmenfragmente aus Milet. 101
anderer Dieke geschrieben; es ist aber auch insofern etwas anders
ausgestattet, als die leeren Tage nicht am Ende der Zeilen oder auf
eigenen, sonst frei bleibenden Linien angebracht, sondern zwischen
die beschriebenen Zeilen eingeflickt sind.‘ Noch wesentlicher sind
die inhaltlichen Differenzen: AD gibt reichlich Episemasien, B ver-
ziehtet völlig” auf sie und beschränkt sich auf die Sternphasen; da-
bei arbeitet B nicht wie AD nur mit den auch sonst üblichen Phasen,
bevorzugt vielmehr wunderlicherweise schr weit südlich oder nörd-
lich stehende Sternbilder, auch laufen Fehler mit unter, von denen
AD frei zu sein scheint. Ferner gibt AD die Gewährsmänner an
und ist infolgedessen genötigt, die gleiche Phase mehrfach zu wieder-
holen, B bietet keine einzige Doppelangabe. Kurz, AD präsentiert
sich als eine kompilatorische Arbeit nach Art des Geminus-Parapeg-
mas, B gibt sich als selbständige Leistung eines Autors, als den wir
wohl den in der Überschrift mit so stolzen Buchstaben sieh nennen-
den [’Emlıkeatuc, oder wie der Mann hieß, anzusprechen haben. Nur
die Voraussetzung, daß wir es mit den Resten zweier Parapegmen zu
tun haben, setzt uns endlich instand, eine vernünftige Anordnung
für das Original zu erschließen. Während nämlich A Widder und
Stier, D Wage und Skorpion, also unmittelbar aufeinander folgende
Zeichen behandelt, finden wir in B die Reihe Schütze— Wassermann —
Widder, d.h. in B folgt immer das übernächste Zeichen, wobei,
stärker als in AD, das Bestreben obgewaltet zu haben scheint, die
Zeichen in annähernd gleicher Höhe beginnen zu lassen. Nach den
Buchstabenresten, die oben am Rande von B erhalten sind, ist für
diesen Kalender folgende Anordnung zu vermuten:
Krebs Jungfrau Skorpion Steinbock Fische Stier
Löwe Wage Schütze Wassermann Widder Zwillinge.
In AD hingegen standen die Zeichen in langer Reihe neben-
einander oder in dieser Weise übereinander:
DZ Rrebs Löwe Jungfrau Wage Skorpion Schütze
A Steinbock Wassermann Fische Widder Stier Zwillinge.
! [In B scheint nur die Orthographie Akpönyxoc vorzukommen, in AD nur das
falsche AKPonYxoc. Diers.]
2 Die Angabe der reeypoı cynexeic 456 BZ. 16f. ist nur eine scheinbare Aus-
5 45
nahme; der Zephyr gilt, als Signal des Frühlingsanfangs, einer Phase gleich.
® Nach dem Vorbild des Geminus-Parapegmas lasse ich den Krebs voran-
stehen, zumal da so eine Anordnung erzielt wird, wonach über Schütze und Wasser-
mann ein Zeichen stand. Der Frage, in welches Zeichen damals in Milet das bürger-
liche Neujahr fiel, wird natürlich hiermit nicht präjudiziert.
4 Wenn diese Gruppierung richtig ist, so muß die untere Reihe von der oberen
dureh einen angemessenen Zwischenraum getrennt gewesen sein; die letzte Episemasie
beim Widder mußte über dem Anfang des Stiers Platz finden.
S*
102 Gesammtsitzung vom 14. Jan. 1904. — Mittheilung vom 11. Nov. 1903.
Erstes Parapegma.
nm
4560; breit oben 0.52, unten, wo Bruch ist, 054: loch.
links 019, rechts 0.20: beiderseits Bruch.
=
In der Mitte:
? ?
EST ]NIEKSEFASTE ES ER NE DREI E
Linke Spalte:
moıel |ülcre Hnıakıın
H A& CEnIC ECTIN A
IWIAIOY Ol AE KYKnlc-
I 2... .| EKÄCTHI AYl-
amaıe |oC »EPÖMENOC Tacı
>’
NEMO CHA ES ONE EA
Rechte Spalte:
. ÖMENON, TON A ETTIÖNTA TIAPA|TI|ATA-
Naı, TÄC A’ HMmEpac, OTAN 5 melc alelne|HI, me- in
Tateehnalı] eic TAN AlNA|rPAsANn TON o
HMEP@N
5
HAHN Zee © Se A BA RR RN o
°
Wie viel unten fehlt, ist nicht zu bestimmen.
Offenbar handelt es sich in beiden Spalten um eine Art von
Gebrauchsanweisung für den Kalender. Aus den geringen und schwer
lesbaren Resten der linken Spalte vermag ich einen Satz nicht mit
Sicherheit zu rekonstruieren; doch müssen hier die einzelnen Bestand-
teile des Parapegmas und die notwendigsten kalendarisch -astronomi-
schen Begriffe erklärt gewesen sein: mit Kvkanicroı (Z. 3) werden die
kleinen runden Löcher gemeint sein, mit Aric (2.4) der Bogen, der
ein Ekliptikzwölftel darstellt, mit ceaic die Kolumne oder der Absatz,
der einem solehen Zwölttel entspricht. Diese Erörterung mag mit ae
(Z. 2) der allgemeinen Angabe angereiht gewesen sein, daß das ganze
' Der Name Epikrates kommt in (noch unpublizierten) milesischen Inschriften
mehrfach vor.
Diers und A. Reun: Parapegmenfragmente aus Milet. 103
Parapegma eine Haıach merloaoc umfasse. Also mag Z.2 ff. dem Sinne
nach etwa Folgendes enthalten haben:
ERUHIE EKACTIH A& cenic ECTIN Ä-
Yic Enöc| IwialoY, oi A& KYknic-
Koi Aal HMEPAI, Ac EN| EKACTHI AYi-
al d Hnıloc BEPÖMENOC .....
d.h. jeder Absatz entspricht einem Zodiakalzeichen, «die Löcher bei
jedem Zeichen entsprechen der Zahl der Tage, an denen die Sonne
sich in ihm bewegt.
Die rechte Spalte behandelte die Veränderungen, die mit den
Tagnummern, hier schlechtweg Hmeraı genannt, vorzunehmen sind:
der Text von Tön- bis Hmepon' ist verständlich, wenn man aus dem
Vorausgehenden zu emiönta etwa MmAna ergänzt; nach Hmerön mochte
folgen To? Esezic (oder Er&poy oder metA ToFTon) mHnöc. Die Infinitive
sind von einem vorausgehenden acı abhängig zu denken. Der Sinn
ist also: nach Ablauf einer gewissen Zeit muß man die Tage weiter-
versetzen, um so den folgenden Monat dem Sonnenjahr »beizustecken«.
Rechts folgte dann, wie die erhaltenen drei Löcher lehren, sogleich
das Parapegma selbst.
456B breit 044; hoch etwa 026; ringsum Bruch.
Linke Spalte:
Rechts oben Buchstabenreste, dann, nach einem freien Raum
von etwa 0.05:
ı 0 En Toz|örHı d Haioc
» © WPlon| EWioc AYneı Kal TIPO-
KYWN Ejwıoc AYneı
3 © KYwN EjWIoc avneı
5 4 0 TOzÖ|THC ÄPpxeraı EwWloc E-
mıTElanwn Kal TIEPCEYC Ö-
noc E|WIOC AYNeı
ol o
o cK|oprıioy TO KENTPON Erti-
1
Telaneı Ewıon
(a) zte)
10 10 0 T|ÖZEYMmA EWION EmTenneı
ır 0 Ix|eYc 5 nöTIoc ÄPxeTAI ÄKPO-
N|Yxoc AYneın
12 0 Ae|töc EwWioc Ermitennei
13 0 Alaymloı Mmecofcı AvYöme-
non]
U ANATPA®HN ergänze ich nach den oben ausgeschriebenen Ptolemäus- und Geminus-
Stellen (S.93 und 97); [der Abklatsch läßt deutlich das A zu Anfang erkennen. Drers.]
104 Gesammtsitzung vom 14. Jan. 1904. — Mittheilung vom 11. Nov. 1903.
Schütze, 24. November bis 23. Dezember jul. (nach kallippischem
Schema). Erhalten ist etwa die erste Hälfte des Zeichens. Die Phasen
von Orion und Kyon sind früher angesetzt als bei G (= Pseudo-Geminus),
es wird sich aber nichts anderes ergänzen lassen. Nach Globus, G S und
ı2' (Eudoxos) und Vindob. habe ich Orion vor Kyon gesetzt. Zu 2.5
vgl. G 7 (Kallippos), zu Z.8 G ıo (Euktemon): wegen dieses Ab-
standes nehme ich an, dass zwischen Z. 7 und 8 zwei Löcher standen.”
Zu 2.13 vgl. &@ ı5 (Euktemon), zu Z.ı4 vgl. Gı6. Nimmt man
meine Ergänzungen der Löcher an, so decken sich die Abstände
mit denen bei @. — Z. 2/3 Prokyon. 2. 6 Perseus sind evident falsche
Phasen. Man möchte an Vertauschung der beiden Gestirne denken.
Auch Ichthys ist wohl etwas zu früh angesetzt.
456B. Mittlere Spalte:
En Tolc AYTloic
(eF nie}
N
ı 0 EN YAPOoXOwI Ö HAloc
> 0 |newn| EWIoc ÄPxeTaı AYNWN
5 KAl AYPA AYNEI
oo
s © OPNIC AKPÖNYXOC APXETAI AYNWN
000000000
ıs © ANAPOMEAA ÄPXETAI EWIA EITI-
TEANEIN
oo
ı8 © YAPOXOOC MECOI ANATENAAWN
10 19 © IMTIOC EWIOC APXETAI ETTI-
TEANEIN
°
21 © KENTAYPOC OAOC EWIOC AYNEI
22 0 YAPOC ONOC EWIOC AYNel
23 © KHTOC ÄPXETAI AKPONYXON
15 AYNEIN
x © ÖICTÖC AYNEI, IEPYPWN ÜW-
PA CYNEX@N
o000
29 0 OPNIC ONOC AKPONYXOC AYNEI
» © [APKToFPoc| AKPÖNYxoc Erm-
20 [tenneı]
! So bezeichne ich die Tagnummer im geminischen Parapegma.
?2 [Nachträglich glaube ich die Hälfte des rechten Loches auf dem Abklatsch
wahrnehmen zu können. Bin zweites vorher muss nach dem Abstand angenommen
werden. Diers.]
Diers und A. Renn: Parapegmenfragmente aus Milet. 105
7.1 vermag ich nicht zu ergänzen; es muß sich um die letzten
Tage des Steinbocks handeln. Seine letzten zwei Tage sind auch bei
G ohne Phase.
In Z.2 bedeutet A, wie Hr. Dırrs erkannt hat, die 30 Tage des
Wassermanns; es war also durchgehends in B die Tagzahl der Zeichen
zum Beginn angegeben: Z. 3 ff. Wassermann, 22. Januar bis 20. Fe-
bruar. Alle 30 Tage sind erhalten. Zu Z.4 Leon vgl. G 2 (Kal-
lippos), zu Z.5 Lyra vgl. G 3 (Euktemon); P(tolemaeus) hat, wie
aus der Episemasie zu T'ybi 29 — 24. Januar zu ersehen', beide Pha-
sen vorgefunden, und zwar, unserm Kalender entsprechend, nicht
an zwei aufeinander folgenden, sondern am gleichen Tage; Z.5 ist
mit ayneı der Spätuntergang gemeint (so auch Z. 16). 2.16 Tag 24
Oistos, vgl. @ 25 (Euktemon, Abstand von Lyra identisch) und Vin-
dob. Trotz dieser verblüffenden Übereinstimmung ist kein Zweifel,
daß es sich um eine uralte Korruptel oder ein uraltes Mißverständnis
in Euktemons Parapegma handelt;” ja, bei Jungfrau 10, wo das gleiche
Sternbild bei G (für Euktemon) und im Vindob. wiederum überein-
stimmend genannt wird, liegt ohne Frage abermals der nämliche Irr-
tum vor.” An beiden Stellen paßt, wie der Globus zeigt, Ornis.' Man
hat demnach nur die Wahl, anzunehmen, Euktemon habe dieses Stern-
bild Pfeil genannt, oder in seinem Archetypus habe ein den Späte-
ven nicht mehr verständlicher Name für den Schwan — etwa olwnöc?
gestanden, der dann in der gemeinsamen Quelle unserer Parapegmen an
den beiden ersten Stellen in öicröc korrumpiert worden, an der letzten
(vgl. A. 4) ausgefallen wäre. — Irrtümer, die dem »Epikrates« zur Last
fallen, stehen bei Tag 19, wo aHreı emitennon eher am Platz wäre,
und bei 29, wo önoc unrichtig ist. vorausgesetzt, daß der Schwan
auf des Epikrates Globus den gleichen Raum einnahm wie auf dem
unsern. Z.19 Tag 30 habe ich Arktofpoc ergänzt, obwohl die Phase
sonst etwas später gelegt wird (von Eudoxos um 4 Tage). Noch
ist der Asteriskos neben 2.16 Tag 24 zu erwähnen: ich zweifle nicht,
daß damit dieser Tag als der des Frühlingsanfangs soll bezeichnet
werden.” Nur unter dieser Voraussetzung rechtfertigt sich ja auch
Kannintol KAl EYKTHMoNI eoyel. Bei G ist zu beiden Phasen YeTIA vermerkt.
Bemerkt haben den Fehler bereits die griechischen Handschriften bei G 25,
die das in der lateinischen Übersetzung erhaltene ölctöc (sagitia) auslassen. Immoc ver-
suchte Manitius einzusetzen.
® Vgl. ferner Plin. XVIII 310. Clodius zum 4. Sept. und 18., 19., 27. Febr.
* Das gleiche Sternbild füllt die Lücke bei G (Euktemon) Stier 30. Und zwar
paßt in allen Fällen der hellste Stern des Bildes « (Deneb).
° [Freilich ist die Frühlingsgleiche in den Parapegmen erst zu Widder ı (G Euk-
temon, Kallippos) oder 6 (Eudoxos) notiert. Der populäre Frühlingsanfang, Zephyrs
Eintritt, ist bei G (Demokrit) schon zu Wassermann 16, (Euktemon) Wassermann 17
gesetzt. Diers.]
2
106 Gesammtsitzung vom 14. ‚Jan. 1904. — Mittheilung vom 11. Nov. 1903.
die Aufnahme einer Witterungsangabe in den sonst nur Phasen ver-
zeichnenden Kalender (vel. o. S.ı01 A. 2). Dann ist eben ein so früher
Ansatz von Frühlings Anfang doch nicht. wie Unger in Iwan Mürnvers
Handbuch 1° 723 und Furereisens Jahrb. 1890 1. 156ff. 383 aunimmt,
den Theoretikern Eudoxos und Hipparch ausschließlich eigentümlich.
456B. Rechte Spalte:
ı |o en Kpıwı 6 Haiocı
2 0 iIxeywn 0 CYNAECMOC EWIOC EITI-
TEelAnEı
0 ME|TAC IXOYC EWIOC APXETAI EITITEA-
6 © KEINTAYPOC ÄPXETAI ÄKPÖNYXOC €-
mit[Ennein
00
To 9.00 EN|FÖNACIN APXETAI AKPO-
NYx|oC EITITEANEIN
oo
12 0 TINJEIANEC ÄKPONYXOI AYNOYCIN
[0]
14 © KA|CCIETIEIA AKPÖNYXOC
ÄP|XxETAI AYNEIN
er
115, 15, 30 m. nl
ve
ı3 ©
Widder, 23. März bis 22. April. Erhalten etwas mehr als die
erste Hälfte des Zeichens. Da nur der linke Rand der Schrift, höch-
stens «drei Buchstaben umfassend. erhalten ist, muß die Ergänzung,
namentlich was den Wortlaut betrifft, mehr oder weniger hypothetisch
bleiben. Auch die Abstände bleiben zweifelhaft: denn wo überhaupt
Löcher zwischen den Zeilen sieh finden, ist nicht zu sagen, wie viele
ihrer waren. Außer Zweifel steht aber die Deutung auf das Zeichen
des Widders, nicht durch «ie Gruppierung des Ganzen (vgl. 0. S. 10T),
die ja selbst erst erschlossen ist, sondern durch die Ergänzung von
7.10—12: wenn in 10/11 von einer Spätphase des Engonasin die Rede
ist, in ı2 die Pleiaden genannt werden — und ich kann mir keine
andere Ergänzung denken — dann muß es sich um den Spätauf-
gang des ersteren (und den Spätuntergang der letzteren) handeln; denn
anders sind Phasen dieser zwei Gestirne nicht so nahe zusammenzu-
bringen. Bei ( steht zu Widder 10 (Euktemon) und zu Wilder 13 (Eu-
Diers und A. Rens: Parapegmenfragmente aus Miiet. 107
doxos, Demokritos) die Pleiadenphase verzeichnet. So ließen sich
denn auch die anderen Zeilen im allgemeinen mit ziemlicher Wahr-
scheinlichkeit ergänzen; zu bemerken ist hierzu nur Folgendes: Z. ı
ist nach Analogie der beiden andern Spalten ergänzt; Widder ı weiter
hinaufzurücken, verbietet die Symmetrie; auch Z. 2, wenn richtig er-
gänzt, spricht dagegen, denn die Phase entspricht G ı (Kallippos).
Der Wortlaut, namentlich auch der Artikel, ist durchaus arbiträr, da
die Zeilenlänge nicht gleich bleibt. Z.4 ist ja merac ixeyc neben
ixoyc 6 nörioc 1. Sp. Z. ı ı auffallend; doch laufen beide Termini neben
einander her (vgl. Maass, Comm. in ‚Är. rel., p. 104, 19). emiteanwn
neben emrennein Z. 11, (da der Verfasser ohne ersichtlichen Bedeutungs-
unterschied wechselt.‘ Z. 16 sind, meine ich, am Rande die Spuren
eines angefangenen Loches zu sehen: der Steinmetz hat es dann an
seinem richtigen Ort. nämlich eingerückt. wirklich ausgeführt. Es
kann sich aber auch um eine zufällige Verletzung des Steins handeln;
sollte das Zeichen dem x (mittlere Spalte Z. 16) entsprechen, so
müßte es vor die Reihe der Löcher gerückt sein, wäre auch wohl
mit einer Phase oder Episemasie verbunden.
Zweites Parapegma.
456 D breit 035: hoch 020, links etwa 0"ıS; ringsum Bruch.
Linke Spalte:
Ka|TA
2 ?
[0] [0] 6)
2 © CKOPTIIOC ÄKPWNY|xOC AYNEI
KAT’ EYAOZON Kal AiryTıtioyc ©
5 4 © BoPEeAc Kali NÖTOC TINEI KAT EYAOEON
KAl Air |YTITIovc. KATÄ AEC INAWN KAA-
AANE|A CKOPTIIOC AYNEI METÄ BPON-
T|Ac Kal AnemoYy
[0) [0]
10 7 © YAAjec AKPWNYXoI EITITEAAOYCIN
— KAT eY|aozon KAl AIFYTITIOYC
8 © YAAEC EcrjErıaı ETTITEAAOYCIN
KATÄ INAÖN KAN|NANEA
ı Bei G wird der, wie es scheint, von Eudoxos und Kallippos eingeführte Aus-
druck stets korrekt mit dem Infinitiv verbunden. In Z. 16 hat wohl mAPeenoc önH
EWIA AYNEI gestanden.
Sitzungsberichte 1904.
le}
108 Gesammtsitzune vom 14. Jan. 1904. — Mittheilune vom 11. Nov. 1903,
>- >-
Wage, 26. September bis 25.Oktober. Erhalten das dritte Viertel
des Zeichens. Der hier zuerst, dann in diesem Parapegma noch mehrfach
zitierte Inder Kallaneus ist uns sonst nicht bekannt; auch nennt uns die
antike Überlieferung keine Inder als Parapegmatisten." Z. 3 ergänzt
nach Analogie des Folgenden und G17. Z.5 ergänzt nach G19 und
P Phaophi 16 und 17 (13. und 14.Oktober). Zu Z.7/8 vgl. P Phaophi 16
KAICAPI ÄNEMOC ÄTAKTOC, YETÖC, BPONTAI. Z. IO ergänzt nach G@ 22.
Die Abstände stimmen genau zu G.
456D. Rechte Spalte:
KATA A SER
5 3 0 Yäaelc Edlaı Aaynoycı ......
KAT Re
+ 0 Yaaelc Eülaı AYNOYCI, XEIMÜN
10 C®0A|POC KAT’ EYAOEON
s o xeım[&pıoc 6 ÄHP KAT’ EYAOEON
6 © YAalec Eblaı AYNnovcı Kal
’
xeim|ainei KATÄ INA@N KANNANEA
730%
! [Ich zweifle nicht, daß dieser Inder Kallaneus identisch ist mit dem von One-
sikritos fr. 10. 33 (Ser. Al. p. 50, 57 Mürrer) und Megasthenes fr. 42 (II 439 Mürrer)
in die Alexandergeschichte eingeführten Gymnosophisten Kalanos, den Klearechos
TTepi Yrınoy fr. 69 (II 323 M.) als Gesamtnamen der indischen Philosophen auffaßte:
KANOYNTAI A&, ÖC ®ACIN, Ol #INÖCOSOI TIAPA MEN "INAoIc Kananoi, TIAPA A& CYroıc loYAaloı,
während Onesikritos behauptet, statt seines indischen Namens CeinHc sei er wegen
seines Grußes Kane von den Hellenen Kanande genannt worden. Über die einheimische
Überlieferung teilt mir Hr. Pısener folgendes mit:
Ȇber den Gymnosophisten Kalanos wissen die indischen Quellen nichts.
Wir können nicht einmal seinen Naınen mit Sicherheit auf einen indischen zurück-
führen. KannaneyYc kommt ja der vermutlichen Namensform nahe, wenn diese
Kalyäna, mittelindisch Kalläna, ist, was »gut«, »schön«, »vortrefflich«, »edel« bedeutet
und oft als Eigenname vorkommt. Von Astrologen ist dem Namen nach ein Kalyä-
nasarman bekannt, der einen Kommentar zu dem berühmtesten astrologischen Werk
der Brhatsamhitu des Varähamihira geschrieben hat. Wir kennen aber nur ein ein-
ziges Fragment und wissen über seine Zeit nichts. Die des Varämihira ist auch schlecht
beglaubigt. Sein Tod wird meist 587 n. Chr. gesetzt. Er soll andererseits ein Zeit-
genosse des Kalidäsa gewesen sein, der Ende des 4. und Anfang des 5. Jahrhunderts
n. Chr. gesetzt wird. Einen berülımten indischen Schriftsteller, dessen Name ähnlich
lautete wie Kannaneyc, kennen wir bis jetzt unter den Astrologen nicht.«
Vermutlich wird bei den Indern auelı nie ein solcher Astronom zum Vorschein
kommen. Denn es scheint nach den Verkehrsverhältnissen zwischen Indien und Ionien
I
Diers und A. Renm: Parapegmenfragmente aus Milet. 109
Skorpion, 26. Oktober bis 24.November. Erhalten das letzteViertel
des Zeichens. Zweimal im Jahr ereignen sich Phasen des Orion und der
Hyaden in der Weise, daß die Orionphase vorangeht: beim Spät-
untergang im Zeichen des Widders und beim Frühuntergang im Skor-
pion;: auch wenn im folgenden (456 A linke Spalte) nicht das unge-
fähr entsprechende Stück aus dem Widder erhalten wäre, könnte an-
gesichts der Episemasien unseres Zeichens, die von stürmischem
Wetter reden, kein Zweifel sein, daß wir es mit Phasen des Spät-
herbstes zu tun haben. Die Ergänzung im einzelnen ist natürlich
sehr unsicher, auch hinsichtlich der Abstände, da am Zeilenende
mehrfach Löcher stehen konnten. Z.off. war mein Gedankengang
dieser: Zu Z.gf. Tag 4 vgl. G Evaozwı YAnec (EWIAI) AYNOYCI’ Kal XEl-
mAaineı coöapa —= P Atlıyr 26 (22. Nov.) EYaözwı xeım®n ceoaröc, zu Z. 11
Tag 5 vgl. P Athyr 27 (23. a Eyaözwı ..... xeimerioc d Afp. Dann
habe ich zu Tag 6 Kallaneus gefügt, fußend auf der Beobachtung, dab
er wiederholt dem Eudoxos in kurzem Abstande folgt. — Z. 5/6 Tag 3
ist vielleieht nach G 27 zu ergänzen vAae|c Eülaı AYoNnTAI Kal EoYei| KATÄ
[Eykt4monal, wofern man sich nicht an der Vernachlässigung der Elision
stößt (vel.456D linke Spalte Z.5: 456A linke Spalte Z. 1, rechte Spalte
Z.2.5.8.10). Z.3. Vom Orion kann ich mir in dieser Zeit keine
andere Phase denken als die nach dem Globus und der Anleitung von
G15 eingesetzte; danach ist vielleicht Z. 4 EyKtHmona zu ergänzen.
Bei Z.7 Lyra ist am Rande wohl deshalb kein Loch angefügt, weil
die Phase auf den nämlichen Tag wie die vorhergenannte zu be-
ziehen ist. Nach Eudoxos fällt die Phase (vgl. G) auf Skorpion 21.
— Endlich ist zu bemerken, daß unter der Voraussetzung der Rich-
tigkeit meiner Ergänzung die Phase bei Tag 4 (auch die bei 5) etwas
früher angesetzt sein mußte als bei G, wo sie Skorpion 29 ist; denn
wenn man Tag 4 — Skorpion 29 verstehen wollte, müßte das Zeichen
32tägig sein, was ein Unding ist.
456A breit unten, wo rauhe Stoßtläche ist, 0754; hoch
diek etwa o”18.
D
D
in alexandrinischer Zeit ziemlich ausgeschlossen, daß solehe Sternbeobachtungen der
Inder, wenn es wirklich deren damals gab, nach dem Westen gedrungen und auf den
griechischen Zodiakos übertragen worden seien. Vielmehr scheint dieser Rallaneus zu den
weisen Örientalen, wie Nechepso und Petosiris, Ostanes, Akicharos, Zoroaster u.a. zu ge-
hören, die vom dritten Jahrhundert an als Träger angeblicher orientalischer Weisheit in
der astrologischen Literatur der Alexandriner eine Rolle gespielt haben. S. Vorsokratiker
S. 459, 16 Den nackten Gymnosophisten als Vertreter der Astronomie anzurufen, ist
freilich eine barocke Idee. Aber er ist, wie die häufige Erwähnung in der späteren Litera-
tur zeigt (vgl. auch Athen. mechan. S.5,8 Wescner), eine populäre Figur gewesen. Dier.s.]
! Das ist 23. Nov. jul.; gleichwohl ist die Phase mit P, wie geschehen, zu
kombinieren, da P nach der Unger’schen Reduktion (Zeitrechnung 2 S.747) die eudoxi-
schen Phasen in der Regel einen Tag früher bringt als G.
110 Gesammtsitzung vom 14. Jan. 1904. — Mittheilung vom 11. Nov. 1903.
Linke Spalte:
ı © TINEIAAEC ECTIEPIAI AYNo|vcın KAT EY-
AOEON, KATÄ AC I|NAWN KAAAANCA
2 © TINEIAREC EcM|EPIAı AYNOYCIN
KAl ETTIICHMAINEI XANALHI
o| o [6) [6)
Y|Ac KPYTITETAI ECTIEPAC, XANALAl
un
ı
o
ETTIT |INONTAI KAl IEBYPOC ETTITINEI
KATÄ EYKTHIMONA, KATA AC INAWN
Ganzer unterer Rand, 0"04 hoch, leer. Oben ist über Zeile ı
veınkatey leerer Raum.
Widder, 23. März bis 22. April. Erhalten etwa das dritte Viertel.
7,.1—4 ist so stilisiert, daß die in Loch ı und 2 zu setzenden Tag-
zahlen in die Satzkonstruktion einbezogen werden. Es ist also zu ver-
stehen KATA ac Inaßn Kannanea TAı (folgt die Tageszahl, die eingesteckt
wurde) maeıAaec Kran. — ZI Tagı!' = Gı3, 2.6 Tag7°” = G23; also
in unserem Parapegma 6tägiger, bei G rotägiger Abstand. Das zweite
Datum ist wohl sicher mit P Pharmuthi 20 (15. April) zu kombinieren;
ob aber dem ersten PPharmuthi 16 (also 4tägiger statt 6tägiger Ab-
stand) oder P Pharmuthi 13 (also 7tägiger statt 6tägiger Abstand) ent-
spricht, wage ich nicht zu entscheiden; jedenfalls zeigen hier sämt-
liche Zeugen starke Differenzen (im Vindob. ist die Zahl ausgefallen).
— Die letzten Tage des Zeichens müssen über dem nächsten ge-
standen haben (samt dem Wort Kannanea); mindestens eine Phase (G 27)
wird noch verzeichnet gewesen sein.
456 A. Rechte Spalte:
ı © Alz avnelı Ecrierac |.....
KAT EYKTHMONA o
3 0 AlE AKPWNYXOC AYNEI KA|T” EYAOEON
KAl @lAITTION Kal AIrYTITIloYc
l
5 4 0 AlE Ecmepia AYNei KATÄ INA|ÜN
KAANANEA (6)
6 © AETOC EIITEANEI ECTIEPAC
KAT EYKTHMONA
7 © ÄPKTOYPOC AYETAI EWBEN Kal EITTICH-
10 MAINEI KAT EYKTHMONA, TAI A A|YTÄI Ac-
TOC ETIITEANEI ECTIEPAC KAl KAT|A
®IAITITTON
! An YAaec zu denken verbieten die Raumverhältnisse; auch wäre damit nichts
gewonnen.
a
? eemepac ist überflüssig; der Autor wußte offenbar nicht, daß KpYrıtecea bei Euk-
temon immer den Spätuntergang bedeutet (vgl. Manitius zu G p.228, zo und im Index).
Diers und A. Reun: Parapegmenfragmente aus Milet. 111
Ganzer unterer Rand 004 hoch leer. Oben Z.ı verstoßen, so
daß nur der untere Teil der Buchstaben zu sehen ist.
Stier, 23. April bis 24. Mai. Erhalten das letzte Viertel des
Zeichens. Z.ı folgte auf Ecrıerac vielleicht eine (nirgends erhaltene)
Episemasie. Z.ı Tagı=G25, 27 Tag6=G31ı, also in un-
serem Parapegma s5tägiger, bei @ 6tägiger Abstand; Vindob. gibt
wie unser Parapegma 5tägigen Abstand. Z.9 Tag 7 = @32; Ab-
stand von Aetos identisch (vgl. auch P. Pachon 29 und 30, 24./25. Mai).
— Z.3 kann wohl nur EYaozon ergänzt werden (vgl. P. Pachon 26,
21. Mai), da für Euktemon in diesen Tagen des Stiers nur die eine
Z. ı angesetzte Phase überliefert ist. — Z. 10/11 würde «ai wohl
sinnentsprechender vor Aeröc stehen (zur Nennung des Philippos vgl.
P. Pachon 29/30).
Endlich hat sich die Hoffnung erfüllt, der IDeLer vor 80 Jahren
in seiner Chronologie (317) Ausdruck gegeben hat: » Vielleicht ist man
einst bei wiederholter Durchforschung des klassischen Bodens so
glücklich, ein solehes Monument (Parapegma) zu entdeceken«; um in
Kürze zu rekapitulieren, was wir durch die glückliche Entdeckung
lernen, so gibt sie uns erst den rechten Begriff von einem TAPÄTIHrMA,
und zwar sprachlich und sachlich: sie bezeugt (durch BÜ und den
Kallaneus in AD), daß neben den bekannten Parapegmatisten noch eine
ganze Anzahl anderer muß tätig gewesen sein, deren Schriften uns
verloren sind'; sie bezeugt endlich, was wichtiger ist, daß die lite-
rarische Überlieferung der Parapegmen in der Terminologie und in
den Zahlen leidlich zuverläßig ist. Eine Würdigung im einzelnen,
die vielleicht auch der Frage näher treten dürfte, welche Zodiakal-
schemata hier zugrunde liegen, kann indes jetzt bei der Kürze der
Zeit, die für diese erste Bearbeitung verfügbar war, noch nicht ge-
geben werden.
! Epikrates gibt sich zwar den Anschein, als arbeite er ganz selbständig; es
ist aber, besonders nach dem Irrtum in B mittlere Spalte Z. 16, so gut wie sicher ge-
worden. daß er auch literarische Quellen, Meton-Euktemon und den (in AD nicht
benutzten) Kallippos, herangezogen hat.
Ausgegeben am 21. Januar.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei
Sitzungsberichte 1904. 10
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SITZUNGSBERICHTE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IV. V.
21. Januar 1904.
BERLIN 1904.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
Auszug aus dem Reglement für die Redaetion der »Sitzungsberichte«.
$1.
2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Octav regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die sämmtlichen zu einem Kalender-
Jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
fortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserdem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch-mathematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch-historischen Classe ungerade
Nummern.
8.2.
1. Jeden Sitzungsbericht eröffnet eine Übersicht über
die iu der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilungen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten,
2. Darauf folgen die den Sitzungsberichten über-
wiesenen wissenschaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckfertig übergebenen, dann die, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gehö-
rigen Stücken nicht erscheinen konnten. Mittheilungen,
welche nicht in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet.
85.
Den Bericht über jede einzelne Sitzung stellt der
Sceretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte.
Derselbe Seeretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei-
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
56.
I. Für die Aufnahme einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglements die folgenden beson-
deren Bestimmungen.
2. Der Umfang der Mittheilung darf 32 Seiten in
Octav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nicht übersteigen. Mittheilungen von Verfassern, welche
der Akademie nicht angehören, sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist }
nur nach ausdrücklicher Zustimmung der Gesammt-Aka-
demie oder der betreffenden Classe statthaft.
3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
ten.len Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Nothwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzschnitte fertig sind und von
besonders beizugebenden Tafeln die volle erforderliche
Auflage eingeliefert ist.
8.7.
l. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
schaftliche Mittheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer Ausführung, in
deutscher Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2. Wenn der Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
Die Akademie versendet ihre »Sitzungsberichte« an diejenigen Stellen, mit denen sie im Schriflverkeh
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinbart wird ‚Jährlich drei Mal, nämlich :
die Stücke von Januar bis April in der ersten Hälfte des Monats Mai,
» D » Mai bis Juli in der ersten Hälfte des Monats August, N, 0
» October bis December zu Anfang des nächsten Jahres nach Fertigstellung des Registers.
öffentlichen beabsichtigt, als ihm dies nach den gelten-
den Rechtsregeln zusteht, so bedarf er dazu der Ein-
willigung der Gesammt- Akademie oder der betreffenden
Classe. :
S8, j
5. Auswärts werden Correeturen nur auf besonderes
Verlangen verschickt. Die Verfasser verzichten damit
auf Erscheinen ihrer Mittheilungen nach acht Tagen.
re
sı1. 4
1. Der Verfasser einer unter den » Wissenschaftlichen
Mittheilungen« abgedruckten Arbeit erhält unentgeltlich
fünfzig Sonderabdrücke mit einem Umschlag, auf welchem Ä
der Kopf der Sitzungsberichte mit Jahreszahl, Stück-
nummer, Tag und Kategorie der Sitzung, darunter der
Titel der Mittheilung und der Name des Verfassers stehen. |
2. Bei Mittheilungen, die mit dem Kopf der Sitzungs- 4
berichte und einem angemessenen Titel nicht über zwei
Seiten füllen, fällt in der Regel der Umschlag fort.
3. Einem Verfasser, welcher Mitglied der Akademie
ist, steht es frei, auf Kosten der Akademie weitere gleiche
Sonderabdrücke bis zur Zahl von noch hundert, und
auf seine Kosten noch weitere bis zur Zahl von zwei-
hundert (im ganzen also 350) zu unentgeltlicher Ver-
theilung abziehen zu lassen, sofern er diess rechtzeitig
dem vedigirenden Seeretar angezeigt hat; wünscht er auf
seine Kosten noch mehr Abdrücke zur Vertheilung zu
erhalten, so bedarf es der Genehmigung der Gesammt-
Akademie oder der betreffenden Olasse. — Nichtmitglieder
erhalten 50 Freiexemplare und dürfen nach rechtzeitiger
Anzeige bei dem redigirenden Secretar weitere 200 Exem-
plare auf ihre Kosten abziehen lassen.
828.
1. Jede zur Aufnahme in die Sitzungsberichte be-
stimmte Mittheilung muss in einer akademischen Sitzung
vorgelegt werden. Abwesende Mitglieder, sowie alle
Nichtmitglieder, haben hierzu die Vermittelung eines ihrem
Fache angehörenden ordentlichen Mitgliedes zu benutzen.
Wenn schriftliche Einsendungen auswärtiger oder corre-
spondirender Mitglieder direet bei der Akademie oder bei
einer der Classen eingehen, so hat sie der vorsitzende
Secretar selber oder durch ein anderes Mitglied zum
Vortrage zu bringen. Mittheilungen, deren Verfasser der
Akademie nicht angehören, hat er einem zunächst geeignet
IT nn ne Are Es
4
ROBERT ENOUEN EERESN
— =
ie nennen
scheinenden Mitgliede zu überweisen. nr
[Aus Stat. $41, 2. — Für die Aufnahme bedarf es
einer ausdrücklichen Genehmigung der Akademie oder z
einer der Classen. Ein darauf gerichteter Antrag kann,
sobald das Manuseript druckfertig vorliegt,
gestellt und sogleich zur Abstimmung gebracht werden.] Y
Sa Plan e ne
1. Der redigirende Secretar ist für den Inhalt des
geschäftlichen Theils der Sitzungsberichte, jedoch nicht
für die darin aufgenommenen kurzen Inhaltsangaben
gelesenen Abhandlungen verantwortlich. Für diese
für alle übrigen Theile der Sitzungsberichte sin
nach jeder Richtung nur die Verfasser vera)
wortlich. er j
N
113
SITZUNGSBERICHTE en
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
21. Januar. Sitzung der physikalisch-mathematischen Olasse.
Vorsitzender Secretar: Hr. Auwers.
1. Hr. Kırın las: Die Meteoritensammlung der Königlichen
Friedrieh-Wilhelms-Universität zu Berlin am 21. Januar 1904.
Der aus der Zeit von Weiss, Rose und Wessky überkommene Bestand der
Sammlung beläuft sich. nach dem Absetzen der Pseudometeoriten und doppelt geführten
Localitäten, auf 213 Fall- und Fundorte; heute weist die Sammlung deren 466 auf,
hat sich also um mehr als das Doppelte vermehrt, auch sind jetzt alle wesentlichen
Lücken ausgefüllt. In Europa kommt sie zur Zeit nach Wien, London und Paris.
In Folge der bewirkten Vermehrung der Sammlung wird eine zusammenfassende Be-
arbeitung derselben in nächster Zeit möglich sein. — Unter dem interessanten Neuen,
was die vorliegende Arbeit enthält, nimmt der Nachweis des Leueits unter den
Mineralien der Meteoriten die erste Stelle ein.
2. Hr. Eneermann überreichte einen Bericht über die von Hrn. Geh.
Med.-Rath Prof. J. Berssteın in Halle mit Assistenz des Hrn. Prof.
A. TscHERMAK im vergangenen Jahre mit akademischen Mitteln ausge-
führten Untersuchungen über das thermische Verhalten des elek-
trischen Organs von Torpedo. _(Ersch. später.)
3. Hr. Kontrauscn hat in der Sitzung am 7. d. M. die hier nach-
träglich folgende Mittheilung des Hrn. Prof. F. Braun in Strassburg vor-
gelegt: Der Hrrrz’sche Gitterversuch im Gebiete der sicht-
baren Strahlung.
Der Verfasser hat gesucht, den Herrz’schen Gitterversuch für Lichtschwingungen
nachzuahmen. Es ist ihm diess, ausgehend von Kunpr’schen bisher nicht erklärten
Beobachtungen, \gelungen, indem er einen dünnen, über eine ebene Glasplatte ge-
spannten Metalldraht durch eine kräftige Flaschenentladung zerstäubte. Der dabei
entstehende Metallbeschlag verhält sich in gewissen Partien gegen Licht ganz ebenso
wie ein Herrz’sches Gitter gegen elektrische Wellen. Der Verfasser macht eine
Reihe von Anwendungen, insbesondere zur Discussion der mikroskopischen Bilder
von mit Gold gefärbten Dünnschnitten organischer Gewebe.
Sitzungsberichte 1904. 11
114 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
Die Meteoritensammlung der Königlichen
Friedrieh-Wilhelms-Universität zu Berlin
am 21. Januar 1904.
Von C. Kreim.
I. Einleitung.
Re meiner Arbeit vom 5. Februar 1903' konnte ich constatiren, dass
die Meteoritensammlung der Universität sich seit dem Bestande vom
15. October 1889 von:
237 Fall- und Fundorten mit 215477° Gewicht
auf 330 » » » 232024 »
gehoben hatte. Dabei fehlten aber noch viele Fundorte und namentlich
solche, die in ihren Meteoriten Repräsentanten ganzer Gruppen
darstellen.
Durch das nicht genug anzuerkennende Entgegenkommen der
hohen Staatsregierung war ich in der Zwischenzeit nicht nur in der
Lage, die Lücken in den Repräsentanten der Hauptgruppen ausfüllen
und viele neue Meteoriten erwerben zu können, sondern auch die
wichtigsten europäischen Sammlungen zu besuchen und zu studiren,
vielerlei Belehrung zu empfangen und einen erfolgreichen Tauschver-
kehr einzuleiten.
Im Frühjahr 1903 ging ich zunächst nach Paris, wo im Musce
d’histoire naturelle (Jardin des Plantes) in der, bezüglich der Aufstellung
mit der mineralogischen vereinigten geologischen Abtheilung sich in
der Mitte des Schausaales die Meteoriten befinden.
Die Sammlung war schon von DAuBkREE sehr gepflegt worden, und
sein Nachfolger, Prof. Meunıer, widmet sich mit Eifer ihrer Vervoll-
kommnung.
Der neueste Katalog von 1898 weist 466 Nummern auf; es sollen
aber jetzt an 600 sein. Hervorzuheben sind die Prachtstücke von
Juvinas, Estherville, La Caille, Coahuila, Chareas, Canon Diablo, Ata-
cama und viele andere. Die Sammlung ist im Grossen nach dem
! Diese Sitzungsberichte, 1903. S. 139—172.
ea
Kreın: Meteoritensammlung 1904. +15
Daugrer’schen System und im Einzelnen nach natürlichen Gruppen,
repräsentirt durch einzelne hervorragende Typen, aufgestellt. Aus
der Sammlung haben wir: Roda (1871), Tadjera (1867), Angers (1822)
und Lance (1872) im Tausch erworben.
Von Paris wandte ich mich nach London. Hier konnte ich nur
die Sammlung des British Museum, Natural History, besichtigen, da
die Sammlungen des Museum of Praetical Geology in Jermyn Street
in Neuaufstellung begriffen waren.
Das British Museum hat am Ende seines herrlichen Mineralien-
saales, wohl des schönsten der Welt, in einem Quertract seine her-
vorragende Meteoritensammlung aufgestellt. Nach dem Katalog von
1896 waren es 476 Localitäten, die inzwischen unter der umsich-
tigen und energischen Leitung von Prof. FLercHer, dem Nachfolger von
Könıe,, WATErHouUse und MAskELYNE, wohl sehr angewachsen sein mögen.
Die Aufstellung ist nach den Fallzeiten erfolgt oder, wenn diese
nicht bekannt sind, geographisch angeordnet. Viele hervorragende
Stücke sind vorhanden, darunter das leider stark abbröckelnde Eisen
von Cranbourne, Australien, mit 3731" Gewicht.
Aus dem British Museum erhielten wir im Tausch: Shergotty
(1865), Bustee (1852), Aubres (1836) und Lodran (1868).
Auf der Rückreise besuchte ich auch Brüssel und besah die bel-
gischen Meteoriten im dortigen Museum.
Beziehungen konnte ich nicht anknüpfen, da der Director des
Mineralogischen Museums, Prof. Cr£ment, kurz vor meiner Anwesen-
heit gestorben und der fernere Meteoritenkenner in Gent, Prof. Rexarp,
schwer krank war; derselbe ist dann auch bald darauf gestorben.
Im Herbst 1903 reiste ich nach Wien, Budapest und Prag.
In Wien ist zur Zeit die grösste Meteoritensammlung vorhanden,
und es wird kaum möglich sein, dass eine andere dieselbe, nament-
lich was Lehrhaftigkeit, Schönheit und Grösse der Stücke anlangt,
erreichen wird. — Der neueste Katalog von Berwerr# (Annalen des
k. k. naturhistorischen Hofmuseums 1903, Bd. XVII) zählt 560 Locali-
täten, die sich in der Folge wohl rasch vermehren werden.
Die Samdmlung nimmt im Hofmuseum einen ganzen Saal ein.
Eine grosse Vitrine ist für die Eisenmeteoriten bestimmt, dar-
unter sind namentlich hervorzuheben: Babb’s Mill, Kokstad, Hex River
Mounts, Elbogen (mit durch natürliche Ätzung entstandenen Wınmann-
srÄtren’schen Figuren), Braunau, Hraschina‘ Mazapil, Quesa und viele
andere.
Eine zweite grosse Vitrine enthält die Steinmeteoriten mit:
Knyahinya, Lance, Mincy, Tieschitz, Estherville, Ohaba, Mezö-Madarasz,
Moes, Pultusk, Stannern, Eagle Station u. s. w.
Ile
116 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
Frei ausgestellt sind: Youndegin mit 909" Gewicht, nach Cran-
bourne in London das grösste und schwerste Eisen in Europa, danach
Coahuila und Canon Diablo, ferner zwei Platten des Eisens mit gröbsten
Lamellen von Mount Joy.
Die Meteoritensammlung in Wien verdankt ihre Bedeutung:
VON SCHREIBERS, VON WIDMANNSTÄTTEN, PARTSCH, HoERNESs, von Har-
DINGER, TSCHERMAK, sodann namentlich Brezına und nach ihm BERwERTH.
Die Aufstellung war nach dem Rosr - Tscueruax - Brezima’schen
System erfolgt, von dem jetzt, aus Gründen der Vereinfachung, wieder
in etwas abgewichen worden ist.
Aus dem Wiener Hofmuseum erhielten wir im Tausch: Shergotty
(1865), Peramiho (1899), Mordvinovka (1826).
Ein Besuch in Budapest liess mich die schöne und in den Stücken
wohlgewählte Meteoritensammlung studiren. Sie steht jetzt unter
Prof. Krenser und hatte im Jahre 1886 254, jetzt etwa 360— 370
Fundorte. Da in ihr die Sammlungen des Fürsten Loskowırz, von
v. Baunnaver (Haarlem) und die vom Staatsrath von Braun (Wien)
angekaufte Privatsammlung aufgegangen sind, so ist ihr schöner Be-
stand erklärlich. Sie ist nach dem Brezma’schen System aufgestellt.
Es wird ihr auch in der Zukunft nicht fehlen, da der »Ober-
kustos«, H. vos Sensey, jährlich aus seinen Mitteln Tausende für sie
ausgiebt — ein ebenso seltener als für reiche Leute nachahmungs-
werther Vorgang.
Von sonst nicht vertretenen grösseren Meteoriten sind in Budapest
die Meteorsteine von Nagy Borov£, gefallen 9. Mai 1895, und O Ferjeto,
gefallen 25. Juli 1900, zu sehen.
Die Sammlung des Böhmischen Nationalmuseums in Prag steht,
was Anzahl der Vorkommen anlangt, den oben genannten nach. Sie
hat aber sehr gewählte Stücke (etwa 200 Stück), und die Aufstellung
derselben und die der Mineralien überhaupt ist die schönste, die man
sehen kann. Sie macht ihrem Director Prof. Vrsa alle Ehre.
Auf meinen zwei Reisen erfreute ich mich des Raths und der
Beihülfe der nachgenannten Herren und bin vielen derselben auch
sehr verbunden für die Erlaubniss, die unter ihrer Leitung stehenden
Sammlungen besehen und studiren zu dürfen.
Es sind zu nennen: Brck£, BERWERTH, BREZINA, TscHErMAR (Wien),
Conen (Greifswald), FLETCHER, Jupp, Tearı (London), FouQuE, GAUBERT,
Lacroix, Meunıer, Micner-Levy (Paris), Krenser, Zımany (Budapest),
Rosesgusch (Heidelberg), VreA (Prag).
Leider war es mir, trotz mehrfacher Bemühungen, nicht vergönnt,
mit den Sammlungen von Budapest und Prag in einen Tauschverkehr
treten zu können.
-
Krein: Meteoritensammlung 1904. 10,
Bei der Abfassung dieses Katalogs wurden, ausser den in diesen
Sitzungsberichten 1903, S. 140 genannten, noch benutzt: der neue
Katalog von BERWERTH 1903 und der von W. Brunss über die Strass-
burger Meteoritensammlung 1903.
Von Meteoriten ist hier jetzt eine nahezu genügende Anzahl vor-
handen, um sich für ein System entscheiden zu können. Es wird
dies möglich sein, wenn die noch zu erwerbenden und die vorhan-
denen Meteorsteine mikroskopisch untersucht und die ebenfalls noch
zu vermehrenden Meteoreisen neben den vorhandenen geprüft worden
sind, zu welch ersterem Zwecke zur Zeit 500 Dünnschliffe vorliegen.
Einstweilen ist nach dem Vorgange von BERWwERTH die alte Anordnung
erhalten geblieben, nur wurden, wie dort, die Untergruppen »geadert«
und »breccienartig« bei den Meteorsteinen weggelassen.
Im System sind durch Tausch und Kauf die wesentlichsten Lücken
ausgefüllt, namentlich haben wir, bis auf eine Ausnahme, zu allen
Gruppen Repräsentanten.
Die Katalogisirung wurde im Sinne der vorjährigen fortgesetzt,
und ich dabei durch die HH. Dr. BrLowskv, von WoLrr, TAnsHÄUSER
und Arrxı unterstützt.
Die Anordnung des Katalogs ist dieselbe geblieben, wie es 1903
in diesen Sitzungsberichten S. 141 auseinandergesetzt wurde.
118 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
II. Zusammenstellung der Fall- und Fundorte, sowie der Fall- und
Fundzeiten der Meteoriten und ihrer Gewichte.
Das Gewicht ist in Grammen angegeben.
Gewichte unter 0?3 sind nicht angeführt.
Lau- Gefallen Gewicht
fende oder Fallort Art
Dam; Gefunden d. Haupt- | im
mer stücks Ganzen
|
I. Meteorsteine. _ |
1. Eisenarme Meteorsteine ohne runde |
Chondren. |
Achondrite.
a. Eukrite.
Bestehen aus Augit und Anortlit. Die Rinde ist
schwarz und glänzend.
I 22.V. 1808 Stannern, lelaus, Mährenee eye en Eur 449 1496.5
2 13. Vl. 1819 Jonzae, Saintonge, Frankreich ............. Eu 2 2
3 15. VI. 1821 Juvinas, Ardeche, Frankreich.............. Eu 568 1012
4 24. X. 1899 *Peramiho, kathol. Missionsstation im Bezirke
Songea, Deutsch-Ostafrika .............. Eu 4 | 4
b. Leueituranolith. |
Besteht aus Leueit, Anorthit, Augit, Glas und
Erz. Die Rinde ist schwarz und glänzend.
5 V]. 1861 *Schafstädt bei Merseburg ................ L 3.5 7-5
c. Howardite. |
Bestehen aus Bronzit, Olivin, Augit und Anorthit.
Die Grundmasse ist locker und führt einzelne härtere
Ausscheidungen. Die Rinde ist schwarz und glänzend.
6 13. XI. 1803 Sankt Nicolas, Mässing, Bayern...........- Ho 22 22
7 13. XII. 1813 Tuotolaks, Wabore, BRinnlandererzer ren Ho A| 5
8 7.Vl1l. 1823 Nobleborough, Lincoln Co., Maine, N. America] Ho 0.5 0.5
9 5.X. 1827 Bialystock,HRusslandr- re er: Ho 72 79
10 14.V1l. 1845 Le Teilleul, LaVivionnere, Manche, Frankreich | Ho 1.4 1.9
II 5. VIII. 1855 Petersburg, Lincoln Co., Tennessee, N. America} Ho 55-5 73-5
12 2. Vlll. 1882 *Pawlowka, Fluss Karai, Bezirk Balachew,
GouyrSaratoyy., Bussland upper: Ho 106.5 109.5
d. Bustite. |
Bestehen aus Bronzit und Augit. Die Rinde ist |
braun und matt.
13 14. IX. 1836 X Aubres, Bezirk Nyons, Dep.Dröme, Frankreich | Bu 9.5 9:5
14 2. XIl. 1852 *Bustee, Goruckpur, Nordwest-Provinz, Ost-
INGE rare SE ge e eRROE eNerngere Bu 2.5 2.5
sichtstabelle erläutert.
sind mit einem * bezeichnet.
+ Die hinter den Namen stehenden abgekürzten Bezeichnungen der Arten sind in einer späteren Über-
X Die seit Abfassung des Meteoriten-Ratalogs vom 5. Februar 1903 neu hinzugekommenen Stücke
2=
Kreın: Meteoritensammlung 1904.
Lau-
fende
mer
15
16
17
18
2
20
21
22
23
24
23
Gefallen
oder
Gefunden
22. XII. 1863
1. XII. 1889
25. VIII. 1865
Frühjahr 1871
25. III. 1843
29. VI. 1843
30. XI. 1850
17. VI. 1870
20.1. 1869
3.X. 1815
22. IX. 1886
Fallort
e. Amphoterite.
Bestehen aus Bronzit und Olivin. Die Rinde
schwarz und matt.
Manbhoom, Bengalen
Jelica- Gebirge, Serbien
f. Shergottit.
Besteht aus Augit und Maskelynit. Die Rinde ist
braun und glänzend.
*Shergotty, Umjhiawar, Behar, Bengalen, Ost-
indien
g. Rodit.
Besteht aus Bronzit und Olivin, sowie etwas Feld-
spath. Die Rinde ist schwarz und matt,
*Roda, Huesca, Aragonien, Spanien
h. Chladnite.
Bestehen wesentlich aus rhombischem Augit. Bei
hellgelblicher und glänzender Rinde ist letzterer
Enstatit, bei grauschwarzer und matter Bronzit.
Bishopville, Süd-Carolina, N. America
Manegaon, Eidulabad, Ostindien
Shalka, Bancoorah, Ostindien
lbbenbühren, Prov. Westfalen
i. Angrit.
Besteht wesentlich aus Augit, untergeordnet sind
Olivin und Magnetkies. Die Rinde ist schwarz und
glänzend.
Angra dos Rais, Rio de Janeiro, Brasilien ..
k. Chassignit.
Besteht wesentlich aus Olivin. Die Rinde ist schwarz
und schwach glänzend.
Chassigny, Haute Marne, Frankreich
l. Ureilit.
Besteht aus Olivin und Augit. Untergeordnet sind
Nickeleisen ünd Kohlenstoff. Letzterer ist zum
Theil amorph, zum Theil Diamant. Die Rinde ist
mattschwarz und besitzt viele glänzende schwarze
Fleckchen.
Nowo-Urej, Krasnoslobodsk, Penza, Russland
Gewicht
Art ——
d. Haupt- im
stücks Ganzen
Am 3
Am 112 II4
She 4 5
Ro 0.5 | 0.5
Chl 172 233
Chl — —
Chl 79 85
Chl 1930 1934-5
A 2 2
Cha 13 13
Ur 4 4
25 Achondrite.... | 522T1.4
120 Sitzung der
physikalisch- mathematischen Classe vom 21. Januar 1904,
@& @&® &® ww DD UN
a bb Ho 8 @m=Sı
+
Gefallen
oder
Gefunden
16. XI. 1492
11. IV. 1715
3. VII. 1753
7. 1X. 1753
Mitte VII. 1766
13. IX. 1768
20. XI. 1768
17. XI. 1773
19. 11. 1785
132% 1787
24. VII. 1790
16. V]. 1794
13. XI. 1795
16.1. 1796
8/12. 11l. 1798
19. XlI. 1798
26. 1V. 1803
8.X. 1803
Gefunden 1804
5. IV. 1804
24. XI. 1804
6.1V. 1805
XI. 1805
25. Ill. 1807
14. XI. 1807
19. IV. 1808
3. IX. 1808
Gefallen 1808
Gefallen Mitte
VIII. 1810
23. XI. 1810
12. III. 1811
8. VI. 1811
10. IV. 1812
15.1V. 1812
5.VIll. 1812
5.—6.1X. 1812
RuaeNoRrt
Eisenhaltige Meteorsteine mit
Chondren.
Chondrite.
Bestehen aus rhombischem Augit (Bronzit), Enstatit,
Olivin, Augit und Eisen und führen polyedrische
und runde oder nur runde Chondren.
Ensisheim, \Ober-Elsassen ee ee
Schellin, Garz, Stargard, Prov. Pommern ...
Krawin b. Plan, Tabor, Böhmen ...........
Luponnas, Ain, Frankreich................
Albareto, Modena, Hallen een
Tnee, Sarthe, Brankreieh ee
Mauerkirchen, Ober- Österreich ............
Sena, Sigena, Aragonien, Spanien..........
Wittmess, Eichstädt, Bayern...............
Jigalowka, Bobrik, Charkow, Russland .....
Barbotan, Landes, Frankreich
Siena, Lueignano d’ Asso, Toscana, Italien...
Wold Cottage, Yorkshire, England.........
Bjelaja Zerkow, Ukraine, Kiew, Russland...
Salles, Villefranche, Rhöne, Frankreich......
Benares, Krakhut, Ostindien
L’Aigle, Normandie, l’Orne, Frankreich.....
Saurette, Apt, Vaucluse, Frankreich........
Darınstadt, Hessen
High Possil, Glasgow, Schottland
Hacienda de Bocas, S. Luis Potosi, Mexico. .
Doroninsk, Irkutsk, Sibirien...............
A'SCO.;-LOTSICA 0.2, en ehee)e aD Fee wlan leder are
Timoschin, Juchnow, Smolensk, Russland...
Weston, Fairfield Co., Connecticut, N. America
Borgo San Dorino, Cusignano, Parma, Italien
Lissa, Bunzlau, Böhmen
Mooradabad, Delhi, ÖOstindien
Mooresfort. Tipperary, Irland
Charsonville, Loiret, Frankreich
Kuleschowka, Gouv. Poltawa, Russland.....
Berlanguillas, Burgos, Castilien, Spanien....
Toulouse, Haute Garonne, Frankreich
Erxleben, Magdeburg, Prov. Sachsen ........
Chantonnay, Vendee, Frankreich ...........
*Borodino, Gouv. Moskau,
Russlands. oa era stone era ern eeneele e dee teen
Fluss Stonitza,
Gewicht
d. Haupt- | im
stücks Ganzen
Gefallen
oder
Gefunden
10. IX. 1813
15.1. 1814
5. IX. 1814
18.11. 1815
10.1V. 1818
VI. 1818
1o. VIII. 1818
13. X. 1819
12. VII. 1820
13. IX. 1822
30. XI. 1822
3. VI. 1822
15.1. 1824
14. X. 1824
10. 11. 1825
27. IX. 1825
19.V. 1826
16. II. 1827
9.V. 1827
4. VI. 1828
8.V. 1829
14. VIII. 1829
9.IX. 1829
13.V. 1831
9.IX. 1831
25. XI. 1833
8.1. 1834
12. VI. 1834
4.VIll. 1835
11. XI]. 1836
18. IV. 1838
6.VI. 1838
Bekannt 1338
13. 11. 1839
17. VII. 1840
22. Ill. 1841
12. VI. 1841
26.1V. 1842
3. VI. 1842
2.Vl. 1843
16.1X. 1843
I. 1844
25.1. 1845
Krein: Meteoritensammlung 1904.
R-allort
Inmericks Adarestlrlandi nern een
Alexejewka, Bachmut, Ekaterinoslaw, Russland Cw
Agen, Lot et Garonne, Frankreich ......... Ci
Durala, Umbala, Delhi, Ostindien.........- &
Zaborzika, Volhynien, Russland............ Cw
Seres, Mäcedonien, Türken... ccne.ceecnen (lg
Slobodka, Smolensk, Russland...........-- Ce
Bohtzea Gera, Thürinzene. es rel re te Cw
Lasdany, Lixna, Witebsk, Russland ........ Cg
La Baffe, Epinal, Vogesen, Frankreich ..... Ce
Allahabad, Futtehpore, Ostindien........... Cw
* Angers, Maine et Loire, Frankreich....... Cw
Renazzo), Berrara, Italiens ee se Cs
Praskoles, Zebrak, Beraun, Böhmen........ Ce
Nanjemoy, Charles Co., Maryland, N. America] Ce
Honolulu, Owahu, Sandwich-Inseln......... Cw
*Mordvinovka, Pawlograd, Gouv. Ekaterings-
layaw Russland re re Cw
Mhow,Azım ‚Gur, Ostindienss ee sepereeseee Ci
Drake Creek, Nashville, Tennessee, N. America] Cw
Richmond, Henrico Co., Virginia, N. America| Cck
Forsyth, Monroe Co., Georgia, N. America..| Cw
Deal, Longbranch, New Jersey, N. America . Ci
Krasnoj-Ugol, Räsan, Russland............ Ce
Vouille, Poitiers, Vjienne, Frankreich....... (ei
Zmorow, Weessely,. Mähren... Anrede. 'g
Blansko,, Brünn, Mähren . er nee (g
Okniny, Volhynien, Russland.............. (g
Charwallas, Hissar, Delhi, Ostindien........ Ci
* Aldsworth, Cirencester, Gloucestershire, Eng-
Ei Sonn 20 0 Aura 0.0,.9 800 Fa BDO Cg
Maea0% Rio, Assu, Brasihenk. once nn Ci
Akburpoor, Saharanpoor, Östindien ......... lg
Chandakapoor, Beraar, ÖOstindien........... Ci
Simbirsk, Russland (Bartsch) .............. Ck
Pine Bluff, Little Piney, Missouri, N. America] Ce
Cereseto, Casale, Piemont, Italien.......... Ce
Grüneberg, Prov.. Schlesien. ............... Cg
Chäteau Renard, Loiret, Frankreich........ Ci
Pusinsko Selo, Milena, Croatien............ Cw
Aumieres, Lozere, Frankreich ............. Cw
Uttecht,sHlollandı Zen een ee Ce
Klein-Wenden, Erfurt, Prov. Sachsen....... Ck
Cerro Cosina, Dolores Hidalgo, Mexico..... Ck
Le Pressoir, Indre et Loir, Frankreich...... Ce
stücks
Gewicht
d. Haupt-| im
Ganzen
EN
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MED ESTIDIOFST
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122
Lau-
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106
107
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III
112
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132
133
134
135
136
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138
139
140
141
142
143
144
145
146
147
Gefallen
oder
Gefunden
V. 1845
25. Il. 1847
20.V. 1848
27. XI. 1848
31. X. 1849
13. VI. 1850
17. 1V. 1851
5.X1. 1851
23.1. 1852
4. IX. 1852
13. X. 1852
Gefunden 1852
10. 11.
6. III.
6. 111.
IR
11.V. 1855
13. V. 1855
VI. 1856
12. XI. 1856
28. II. 1857
24. 11]. 1857
1. IV. 1857
11. X. 1857
27. XU. 1857
19. V. 1858
9. XI1. 1858
24. XII. 1858
28. Ill. 1859
2. Il. 1860
28. III. 1860
1.V. 1860
14. VII. 1860
12.V. 1861
14.V. 1861
28. VI. 1861
1. X. 1862
7. X. 1862
2. Vl. 1863
8. VIII. 1863
ıı. Vlll. 1863
7. XD. 1863
12. IV. 1864
1853
1853
1853
1854
Sitzung der physikalisch - mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
Fallort
*Barratta, Neu - Süd - Wales,
Australien ee ee
Hartford, Linn Co., Jowa, N. America......
Castine, Hancock Co., Maine, N. America...
Deniliquin,
*Ski, Amt Akershuss, Norwegen...........
Monroe, Cabarras Co., N. Carolina, N. America
Kesen, Iwate, Japanwen errang
Gütersloh, Minden, Prov. Westfalen ........
XNulles, Catalonien, Spanien ..............
Yatoor, Nellore, Madras, Östindien.........
Dorf Mezö Madaräsz im Comitat Maros-Torda,
Siebenbürgen@e rer Re lereee
Borkut, Marmaros, Ungarn....2.......2....
Mainz, Hessen-Darmistade ee
Girgentn, Sicilienere age
*Duruma, Mombas, Wanika-Land, Ostafrika
Segowlee, Chumparun, Östindien...........
Linum, Fehrbellin, Prov. Brandenburg ......
Kaande, Oesel, Livland er. Dee
Gnarrenburg, Bremervörde, Prov. Hannover..
Avilez.: Durango, SP Mexienmreeg es rer
Trenzano, Brescia, Malenz een
Parnallee, Madura, Östindien...............
Stawropol, Kaukasus, Rassiande erregen
Heredia, Costa Rica, Centralameriea........
Veresegyhäza, Ohaba, Blasendorf, Ungarn...
Quenggouk, Pegu, Hinterindien.............
Kakowa, Temeser Banat, Ungarn ..........
Aussun, Montrejeau, Haute Garonne, Frankreich
Molina, Murcia, 1Spanteneegeer een.
Harrison Co., Indiana, N. America .........
Alessandria, San Giuliano veechio, Piemont..
Kheragur,, Agra, Ostindieneees er ee:
New Concord, Museingum Co. , Ohio, N. America
Dhurmsala, Kangra, Ostindien .............
Butsura, Goruckpur, Östindien.............
Canellas, Villa nova, Barcelona, Spanien....
Mikenskoi, Grosnaja, Kaukasus............
“Sevilla, Andalusien, Spanien .............
Menow, Alt-Strelitz, Mecklenburg .........
Scheikahr Stattan, Buschhof, Curland.......
Aukoma, Billistfer, Livlandie een ee
*Shytal, Daeca, Bengalen, Ostindien
Tourinnes la Grosse, Tirlemont, Belgien ....
Nertt,. Cürlandi4.....n22 na
Gewicht
d. Haupt- im
stücks Ganzen
Krein: Meteoritensammlung 1904.
123
" Lau-
fende
Num-
|
mer
148
149
150
151
152
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154
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183
184
185
186
187
188
189
Gefallen
oder
Gefunden
26. VI. 1864
25. III. 1865
25. VIII. 1865
IV. 1866
9. VI. 1866
6. XII. 1866
Gefunden
um 1866
9. VI. 1867
30.1. 1868
29. II. 1868
20. III. 1868
20—30.V1.1868
ı1.V11. 1868
Gefunden 1868
1.1. 1869
5. V. 1869
22.V. 1869
19. IX. 1869
Gefallen 1870?
21.V. 1871
14. VI. 1871
10. XII. 1871
28. VI. 1872
31. VIII. 1872
Gefallen (?) 1873
11.V. 1874
14.V. 1874
20.V. 1874
26. XI. 1874
Gefunden 1874
12. 11. 1875
19. VI. 1876
28. VI. 1876
21. X1. 1876
3.1. 1877
17-.V. 1877
13. X. 1877
19. XI. 1877
15. VI. 1878
5. IX. 1878
20. X]. 1878
Gefunden um 1878
Fallort
Dolgowoli, Volhynien, Russland
*Claywater, Vernon Co., Wisconsin , N. America
*Senhadja, Aumale, Constantine, Algier ....
Udipi, Delhi, Ostindien
Knyahinya, Unghvar, Ungarn..............
Elgueras, Cangas de Onis, Oviedo, Spanien. .
Rushville, Brockville. Franklin Co., Indiana,
NEräAmenica ee see SORT
*Tadjera, Setif, Constantine, Algier, N. Africa
BultusksaSiele,Nowy; Bolent. een.
Motta di Conti, Villanova, Casale,. Piemont,
Italien
*Daniel’s Kuil, Griqualand, Südafriea
*Pnompehn, Cambodga, Cochinchina
ÖOrnans, Salins, Doubs, Frankreich
*“Goalpara, Assam, Ostindien...............
Hessles Upsala,n Schweden. ne sl.
Krähenberg, Zweibrücken, Bayern .........
Kernouve, Clegueree, Bretagne, Frankreich..
Tjaber Badanazr Java... Sr seine
Mac Kinney, Collen Co., Texas, N. America
*Searsmont, Waldo Co., Maine, N. America
Laborel, Dröme, Frankreich
Bandong, Goemorveh, Preanger, Java
Sikkensaare, Tennasilm, Esthland
Orvimiorber Romsı Italien». 32. essen:
Aleppo, Haleb, lemasıen nassen.
*Sevrukovo, Bez. Belgorod, Gouv. Kursk,
Kusslander.atei ae ee
Castalia, Nash Co., N. Carolina, N. America
*Wirba, Widdin, Bulgarien
Kerilis, Cötes du Nord, Frankreich
Waconda, Mitchell Co., Kansas, N. America
Homestead, Amana, Sherlock, Jowa, N. America
Vavilovka, Gouv. Cherson, Russland........
Ställdalen, Nya Kopparberget, Schweden....
*Rochester, Fulton Co., Indiana, N. America
Warrenton, Sanct Peter, Missouri, N. America
Hungen, Hessen, Deutschland
Sokobanja, Sarbanovac, Alexinac, Serbien...
Cronstadt, Orange River, Südafriea.........
Treschitz/Preraus»Mähren...en.esesonehee
Dandapur, Goruckpur, Östindien ...........
Rakowka, Tula, Russland. .......022.2. 2040.
Bluff, Lagrange, Fayette Co., Texas, N. America
CeOrn
Gewicht
d. Haupt- |
stücks
im
Ganzen
0.3 | 0.3
55 | 5.3
TR I
1333 1817
4 4
3 3
| 5
8070 10647-5
3-5 3-5
6.5 6.5
26 26
0.5 0.5
39 66
5 5-5
520 520
0.5 0.5
133 272
I I
121.5 130.5
1.5 1.5
14 30
38-5 38.5
9.5 9-5
32.5 32.5
II II
1.5 1.5
3 3
14 23
2276 | 2357
46.5 46.5
41.5 41.5
Lı LI
5 5
Spl. Spl.
70 70
I22 122
4-5 4-5
15 15
2 43
89 139
124
Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 2]. Januar 1904.
Lau-
fende
Num-
mer
190
191
192
193
194
195
Gefallen
oder
Gefunden
31.1. 1879
17.V. 1879
18. II. 1880
18. VI. 1881
19. XI. 1881
3. II. 1882
28.1. 1883
16.11. 1883
3. X. 1883
19. 111. 1854
20.V. 1884
6.1V. 1885
27.1. 1886
24. V. 1886
10. XI. 1886
Vor 1887
1. I. 1887
30. VIII. 1887
Gefunden 1887
Gefunden 1887
Gefundenvorı888
VII. 1889
1889 beschr.
3. II. 1890
10. IV. 1890
2.V. 1890
25. VI. 1890
Gefunden 1891
20. VII. 1892
29. VIII. 1892
13.11. 1893
26.V. 1893
Bekannt 1893
9. IV. 1894
9. V. 1894
27. VII. 1894
27.V.1895
Gewicht
Fallort rg Var
d. Haupt- im
stücks | Ganzen
La Becasse, Dep. Indre, Frankreich ........ Cw 2 2
Gnadenfrei, Prov. Schlesien. ............... Ce 13-5 13.5
Toke uchi mura, Yofugori, Tamba, Japan...| Ck 47-5 5I
Pacula,. Hidaleo, Mexicorrzrae ee Cw 22.5 22.5
Gross-Liebenthal bei Odessa, Russland...... Cw 39 46.5
Möcs (Vajda-Kamaras), Siebenbürgen ....... Cw 1064
(Bare) A OBEREN. » I41.5
(Palatka) SR » 133 1384
(Gyulatelke) 2 Pos: » 35-5
(Visa) De Bon » Io £
* Saint Caprais de Quinsae, Gironde, Frankreich] Ci 16 16
Alfianello, Brescia, Italien............u0-... Ci | 12590 | 12759
Ngawi, Madioen, Java... u. .nee neuen. CeN I I
Alastoewa, Djati Pengilon, Java............ Ck 480 4830
Midt Vaage, Tysnes, Hardangerfjord, Norwegen] Cg 12 30
Chandpur, Mainpuri, Nordwestprovinz, Öst-
indien: 21-1 Terae RR RE Cw 3 8
Nammianthal, South Arcot, Madras, Ostindien| Ce 12.5 12.5
Assis), Berusja, Italiens ser Ce 23-5 23-5
Maeme, Nipon, Japaner ege rer Cw 97-5| 1435
*San Emigdio Range, San Bernardino Co.,
Californien, IN. Americas errie re Ge 3 3
Bjelokrynitschie, Volhynien, Russland....... Ci 9 II
Ochansk a.d. Kama, Gouv. Perm, Russland..| Ce 390 445
*Pipe Creek, San Antonio, Bandera Co., Texas,
N. America see een Ck 4-5 4-5
San Pedro Springs, Texas, N. America...... Ck 1.5 1.5
*Carcote, Wüstencordillere, Chile.......... Ck I 1.5
Ergheo, Brava, Somalihalbinsel, Afriea...... Ck 105 105
*Gilgoin, Gilgoin Station, Neu-Süd-Wales,
Australien... Seas Cs 113 129
Antifona, Colleseipoli, Spoleto, Italien ...... Ce 41.5 41.5
Misshof, Rıcası Curnlande re Een Ce 18 18
Forest, Winnebago, Iowa, N. America...... Ce 30 63.5
Farmington, Washington, Kansas, N. America] Cs 59 110.5
Long Island, Phillips Co., Kansas, N. America| Ck 136.5 188
Guarena, Prov. Badajoz, Estremadura, Spanien] Ck 4-5 4-5
Bath, South Dakota, N. America ........... Ce 42 45
Prieetown, Highland Co., Ohio, N. America. | Cw 1.5 1.5
Beaver Creek, British Columbia, N. America. | Cck 4 4
Prairie Dog Creek, Kansas, N. America..... Cek 37-5 46
Fisher, Polk Co., Minnesota, N. America....| Ci 59-5 59-5
Bori, Centralprovinz, Ostindien ............ (Ei 2 3-5
*Sawtschenskoje, Gouv. Cherson, Russland . | Cek 8 | 8
Ambapur Nagla, Sikandra Ras, Ostindien ...| Ce 37 | 39-5
Kreis: Meteoritensammlung 1904. 125
Gefallen Gewicht
der Fallort — —
G AAREER ae d. Haupt-| im
an stücks | Ganzen
227 | Gefunden 1895 | Oakley, Logan Co., Kansas, N. America .... 20.5 35
228 9. IV. 1896 Ottawa, Franklin Co., Kansas, N. America .. 1.5 1.5
229 13. 1V. 1896 Tesvesib- Namur, Belgiene... once. 2% 2.5
230 19. V. 1897 *Meuselbach, Amt Gehren, Schwarzburg-Ru-
BOJSEA URTEIL Re Eee Re 0.5 0.5
231 20. V]. 1897 Langon, Bouches-du-Rhöne, Frankreich .... 29 29
232 1. VIII. 1897 HayIıd LO ZN] WBOSDIENE Teer. 91.5 91.5
233 15. 1X. 1897 GambatsaRKhampur, Indienerer een 72.5| 73
234 5. VII. 1898 Andover, Oxford Co., Maine, N. America ... 7.5| 7-5
235 15. XI. 1898 *Saline Township, Sheridan Co., Kansas,
INERENTNETA CAESAR ERNST OEREES NER Ci 169 182
236 25.1. 1899 *Zomba, Britisch- Centralafriea............. Cw I 1
237 12. III. 1899 Bjurböle, Stensbölle Fjord, Borgä, Finnland. | Ce 359 657
En Nessa@0,aKansas, EN.IAmerIca a era eree )
238 Erubpiy 1599 Kansada, Ness Co., Kansas, N. America..... \ Cs 19.5 33
239 10. VII. 1899 Allegan, Allegan Co., Michigan, N. America . |CeOrn 109 117
240 Bekannt 1900 | India Rico, Argentinien ................... Ck 1 I
241 21. X. 1901 SS Hyıtlıs2Abor Ban, Einnlandes 2. eaaseesee Ck 165 165
242 | 1go1 beschrieb. | *Kissj, Bezirk Tschistopol, Gouv. Perm ....| Cs 33-5 33-5
243 15. XI. 1902 *Bath Furnace, Bath Co.,. Kentucky, N. America] Cw | 76.5 76.5
218 Chondrite.... 69570.8
Anhang.
Eisenführende Meteorsteine mit Chondren
und Kohlegehalt.
Kohlige Chondrite.
Der Silieatgemengtheil besteht aus rhombischem
Augit (Bronzit) und Olivin. |
244 15. 11I. 1806 Alais, Gard, Brankreich . .. 0.0.00 eseennen K 14 | 22.5
245 13. X. 1838 Cold Bokkeveld, Capland, Südafriea........ RK 9 18.5
246 15.1V. 1857 KahasDebreczn, nUngaun er... 2 eereeereet: K 0.5 0.5
| 247 14.V. 1864 Orgueil, Tarn et Garonne, Frankreich...... K 149 | 149
ı 248 23. VlI. 1872 *Lanee, Loir et Cher, Frankreich.......... Ke I I
' 249 1.Vll. 1879 Nogoya, Entre Rios, Argentina ............ K 974 1797
ı 250 18.VI. 1889 Michei, Mittel-Russland. cc... neaeeeueen K 20 | 20
251 7.1V. 1891 Indarch, Schuscha, Transkaukasien, Russland| Ke 14-5 14-5
8 kohlige Chondrite.... 2023
126 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
Lau-
En Gefallen Gewicht
ende
d Art ———
Num- G : 7 d. Haupt- im
mer enneagr stücks | Ganzen
II. Mesosiderite.
Übergänge von den Meteorsteinen zu den
Meteoreisen.
Bestehen aus einem Eisennetz, in welchem Olivin
und Bronzit mit wechselnden Mengen von Plagioklas
die Maschen füllen.
252 4. VII. 1842 Banea, 11081000, 9paniankmreger ee ee M 10 10
253 Gefunden 1856 | Hainholz, Paderborn, Prov. Westfalen. ..... M 215 456.5
254 | Gefunden 1856 | Mincy, Taney Co., Arkansas, N. America...| M 68 106
255 | Gefunden 1857 | Macquarie River, N. S. Wales, Australien ...| M 14-5 14-5
%efunden 1861 | Vaca Muerta (Sierra del Chaco), Atacama, S.
256 AmeriCa ee LE M 398 8
Gefunden 1874 | “Mejillones, Atacama, Bolivia, S. America .. 75 sI
257 ro. V. 1879 Estherville, Emmet Co., Iowa, N. America ..| M 4407 4557
258 | Gefallen V.1880 | Veramin, Teheran, Persien................ M 7 7
259 | Gefunden 1887 | Crab Orchard, Cumberland Co., Tennessee,
IN. America Rec M 40 49-5
260 | Gefunden 1887 | Morristown, Hamblen Co., East Tennessee,
IN EA mer car ER M 165 165
261 | Gefunden 1888 | Doüa Inez, Atacama, Chile, S. America..... M 19.5 19.5
262 | Gefunden ı888 | Llano del Inca, Atacama, Chile, S. America.| M 56.5 56.5
Anhang.
Lodranit.
Krystallinisch - körniges Gemenge von Olivin und
Bronzit in einem feinen zusammenhängenden Netz
von Nickeleisen.
263 1. X. 1868 *Lodran, Mooltan, Punjab, Ostindien ...... Lo 5-5 5-5
| ı2 Mesosiderite .... | | 5965
Don Erwähnt, Gewicht
a © | Gefunden oder Fundort und Fallort Art ;
| Beschrieben d. Haupe Er
cn stücks Ganzen
III. Meteoreisen mit Silieaten.
Pallasite.
Bestehen aus einem Eisengerippe mit Silicatkörnern.
a. Olivin-Pallasite.
Bestehen aus einem Eisengerippe mit Körnern von Olivin.
264 Krasnojarsk, Jeniseisk, Sibirien (Pallaseisen)....
Imilac, Atacama, Bolivia, S. America ..........
887 3117.5
3010 3793
265 1.5 1.5
Campo del Pucara, Catamarca, Argent. Rep. ...
Kreım: Meteoritensammlung 1904.
189)
|
Lau-
fende Gefunden oder
Beschrieben
Num-
mer
! Gewöhnlich erscheinen alle Toluca-Eisen unter einer Nummer.
zusammen.
Erwähnt,
267 1810
268 1859
269 1868
270 1880
271 1885
272 1885
273 I. VI. 190
274 1902
275 1903
‘
1751
276 1833
1861
i 277 Um 1400
i 278 Bekannt
etwa 1600
2279 | 26. V.ı751
ı 280 1780
\ 281 1784
282 1784
283 1784
234 1784
Fundort und Fallort Art
Albacher Mühle, Bitburg, Niederrhein
A)UNtChtyersehttastreenrerereteen he steleiete were
b)nlimgeschmolzeni. 42 nee
Rokicky, Brahin, Minsk, Russland ............
Port Orford, Rogue River Mountains, Oregon,
IN YAIN EI A Eee are ner
*MountVernon, Christian Co., Kentucky, N. America
Eagle Station, Carrol Co., Kentucky, N. America
Brenham Township, Kiowa Co., Kansas, N.
PO
PO
PO
PO
RSHEN 9 06 Doro anne RD an Daran PO
Pawlodar, Semipalatinsk, Asiat. Russland ...... PO
*Marjalahti, Kirchspiel Jaakima, Viborgs Län,
anna ep eg RN ee PO
Admire, Lyon Co., Kansas, Nord-America ..... PO
SHinmarken, „Norwerenee eig: PO
b. Bronzit-Pallasit, Siderophyr.
Besteht aus einem Eisengerippe mit Körnern von Bronzit
und aecessorischem Tridymit.
Steinbach, Sachseniae. rasen ee rare akane
Steinbach, Sachsen (Rittersgrün) ....22.2..22....
Steinbach, Sachsen (Breitenbach, Böhmen) .....
PB
PB
PB
13 Pallasite ....
IV. Meteoreisen.
a. Oktaödrische Meteoreisen.
Zeigen Schalenaufbau (z. Th. Zwillingsbildung) oder
Skeletbildung nach dem Okta&der und geben diesen
Aufbau, zu dem verschiedene, mehr oder weniger
nickelhaltige Eisensorten (Balkeneisen [Kamaeit], Band-
eisen |[Taenit], Fülleisen [Plessit]) beitragen, durch
Anätzen zu erkennen. Hierdurch entstehen, bei der
verschiedenen Angreifbarkeit jener Eisensorten durch
Säuren, die WıpmannstÄrten’schen Figuren.
BlbosenuRohmene u er slesterclene anfelere erefehett de Om
La Caille, Grasse, Var, Frankreich............ Om
Eiraschina,@Aoram, Groalene.. sera: Om
Descubridora, San Luis Potosi, Mexico........ Om
Bendesos Bahia, Brasiliens esse naesaasen. [07%
Sierra blanca, Durango, Mexico .............. (0%
SPennants- Risen) aus Moskaus. . u2ccceenenaee Om
Xiquipilee, Toluca, Mexico.............. er Om
Manıls-Dolucay Mexico rasen dere „I Og
d. Haupt-
stücks
Gewicht
im
Ganzen
ıo | Io
757 2780
254 313.5
184 191.5
148 148
135 221
27 27
86 | 86
31.5 31.5
916 916
22.5 47
3682 | 4247-5
| sp
| 16082
|
|
165 225
91 22210255
=) 27-5
2 125
33, || 34-5
141 147-5
Ru 2)
32965 | 54861
189.5 189.5
Hier sind aber Arten Om und Og
128 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
Erwähnt, Gewicht
Gefunden oder Fundort und Fallort Art en
Beschrieben d. Hanpt- Ze
stücks Ganzen
235 1804 Misteca, Oaxaca, Mexicor rn mr nee Om 1228 123I
2836 1804 Chareas, San) Euis’ Potosi,2Mexieof ern erere: Om 28 28
287 1804 Durango, Mexico“. ze Tre, Om 544 782
288 1808 Cross Timbers, Red River, Texas, N. America ..| Om 106 136
289 1810 Santa-Rosa, ‚Bunja, Colombia ersenereee: Off 499 973-5
(Von BoussınsAaurr an A. v. Humsorp'r.)
290 1814 Tenarto), Saroser Com. UÜngarnreree er rer. Om 249.5 532
2g1 1818 Cambria, Lockport, New York, N. America ....| Of 193 240.5
292 Vor 1819 | Burlington, Otsego Co., New York, N. America..| Om 104 118.5
293 1820 Guilford Co., N. Carolina, N. America ......... Om 0.5 0.5
294 1829 Bohumilitz, Prachin, Böhmen... Og 1329.5 | 1405.5
295 1835 Black Mountain, Buncombe Co., N. Carolina,
N: Ameriear...... REEL EI e Og 32-5 33-5
296 1836 Wichita Co., Brazos, Texas, N. America ....... Og Io Io
297 1839 Baird’s Farm, Asheville, N. Carolina, N. America] Om 6 13
298 1839 Butnam Co., Georgia, N. American. ge: Of 24-5 245
299 1840 Cosby’s Creek (Cocke Co., Sevier Co., Tennessee),
NAD ERIC a A EEE Eee Re Og 198 338
300 1840 Carthago, Caney Fork, Smith Co., Tennessee,
N., America... 2, ee Om 771-5 819.5
301 1840 Maeura, Szlanieza, Arva, Ungarn............. Og 6220 10106
302 1840 Smithville, De Calb Co., Tennessee, N. America] Og 2.5 2.5
303 1846 Jackson Co., Nashville, Tennessee, N. America| Om 2 2
304 1346 Netschaevo, Tula, Russlandererren nee OmN 382 562
305 1847 Seeläsgen, Prov. Brandenburg ................ Ogg 1635 4385
306 1850 Ruff’s Mountain, Lexington Co., S. Carolina,
N: "American. NE tete Om 142 275
307 1850 Salt River, Kentucky, N. America............. Oft 19.5 19.5
308 1350 Schwetz, Rgbz. Marienwerder, Prov. Westpr. ...| Om 5006 10178.5
309 1850 Seneca Falls, Seneca River, New York, N. America| Om 17 17
310 1852 Chupaderos, Chihuahua, Mexico .............- Of 190 190
BI 1853 Löwenfluss, Seitenfluss d. gr. Fischflusses, S. Africa] Of 60 74-5
312 1853 Tazewell, Claiborne Co., Tennessee, N. America] Off 609 722
SIR 1854 Cranbourne, Melbourne, Victoria, Australien ...| Og 236 279
314 1854 Jewell Hill, Madison Co., N. Carolina, N. America] Of IoI 101
315 1854 Madoe, Ob. Canada, N. America .............. Of 29 29°
316 1854 Sarepta, Saratow, Russland ee eoereeine Og 1860 1962
317 1854 Werehne Udinsk, Niro, Witim, Sibirien..... ..| Om 569 569°
318 1856 Denton ‚Co., Texas, N. America. were Om II II
319 1856 Fort Pierre, Nebrasca, Missouri, N. America ...| Om 12.5 12.5
320 1856 Orange Rıveri(Garib), IS: AITICa te rer Om 28.5 28.5 |
321 1858 Staunton, Augusta Co., Virginia, N. America... | Om 1470.5 | 1521.65 |
322 1858 Trenton, Milwaukee, Wisconsin, N. America....| Om 1398 1420
323 1358 Wooster, Wayne Co., Ohio, N. America....... Om I I
324 1860 Cleveland. Ost Tennessee, N. America .......... Om 39 39
(Von ApaE an EHRENBERG)
Kreın: Meteoritensaminlung 1904. 129
Gewicht
Lau- Erwähnt,
ine Gefunden oder Fundort und Fallort EEE; Ei
mer Beschrieben "stücks , Ganzen
325 1860 Coopertown. Robertson Co., Tennessee, N. America 172 172
326 1860 Lagrange, Oldlıam Co., Kentucky, N. America. . 592 1013
327 1860 Marshall Co., Kentucky, N. America .......... 72.5 72-5
328 1863 *Bückeberg (Preussen u. Schaumb. Lippe) b.OÖbern-
kirchen, Kr. Rinteln, Regbez. Oassel........ 69 69
329 1863 Nejed, Wadee Banee, Khaled, Centr. Arabien... 29 29
330 1863 Russel Gulch, Gilpin Co., Colorado, N. America 502 | 502
331 1863 Saint Francois Co., Missouri, N. America ...... 6 | 6
332 1863 Smith’s Mountain, Rockingham Co., N. Carolina, |
NiwAmerIcat ke er ee ee 3.5 8.5
333 1866 Bear Creek, Denver Co., Colorado. N. America . 44 | 76
334 1866 Juncal, Paypote, Atacama, Chile.............. | 57
335 1867 Casas grandes, Chihuahua, Mexico ............ ZT ma,
336 1869 Amakaken, südlich Caperr, Patagonien, S. America 2.5 | 2
337 1871 Bacubirito, Ranchito,, Mexican. neeeen.aeekee 365 | 365
338 1871 *Vietoria (Iron Creek), Saskatchewan River,
British @NEHA m erTeae ee sera ee erh s 28 28
339 1873 *Chulafinnee, Claiborne Co., Alabama. N. America 64 91.5
340 1874 *Butler, Bates Co., Missouri, N. America...... 39-5 39-5
341 1876 *Noehtuisk, Gouv. Jakutsk, Sibirien, Russland . LER) I
342 | 20.1V.ı876 | “Rowton b. Wellington, Shropshire, England .. 25 2.5
343 1876 Saeramento Mountains, Eddy Co., New Mexico,
1896 beschr. ING NERILEN 2.5 0 nase 20 00.000.009 0.060. 400000 764 784-5
344 1877 Dalton, Whitfield Co., Georgia, N. America.... 30.5 30.5
345 1879 Niagara, Forks Co., Nord Dakota, N. America . 3-5 4
346 1880 *Ivanpah, San Bernardino Co., Californien
NINE No a a BE I I
347 1880 Lexington Co., S. Carolina, N. America........ 194-5 194-5
348 1881 Costilla Peak, Colorado. N. America........... 147 147
349 1883 Old Fork of Jenny’s Creek, Wayne Co., W.
Viranian NS Americas agents are stehe 5 5
350 1883 Sao Juliäo de Moreira, Ponte de Lima, Minho, |
alone. ae ee N Sue 186.5 | 2gı
351 1883 Walker Township, Grand Rapids, Michigan, |
NG nalen ausge fo akaesolhonaacheaeee 2655 | 265
352 1884 Glorietta Mountain b. Canoneito, Sta. Fe Co.,
NewsNexicos N. FAmerika a a see: 9615 9868
353 1884 JoeWright, Independence Co., Arkansas, N. America 64.5 125-5
354 1884 Merceditas, Santiago, ‚Chile. ........n.c.crocca. |
355 1884 Penkarring Rock, Youndegin, W. Australien ... 77 | am!
356 1885 Jamestown, Stutsman Co., N. Dakota, N. America 1285| 128.5
B57 | 27- XI. 1885 | *Mazapil, Zacatecas, Mexico ................. 17 | 17
358 1885 TUgNos7L Ohr ee ee 28 63.5
359 1886 Thunda, Windorah, Queensland, Australien .... 42.5 42.5
360 1886 Tonganoxie, Leavenworth Co., Kansas, N. America 8 8
361 1887 Carlton, Hamilton Co., Texas, N. America ...... 70 70
Sitzungsberichte 1904. 12
130 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
Lau-
- Erwähnt,
a Gefunden oder
Num- x
en Beschrieben
362 1887
363 1887
364 1887
365 1888
366 1888
367 1888
368 1888
369 1888
370 1889
371 1839
E72 1890
373 1390
374 1890
375 1890
370 1891
377 1891
78 1891
379 1891
380 1892
381 1893
382 1893
333 1893
354 1893
335 1894
386 1894
387 1894
388 1894
389 1895
390 1895
391 1895
392 1896
393 1896
394 1897
395 1897
396 1897
397 | 1. VIII. 1898
398 1898
399 1898
400 1899
Gewicht
Fundort und Fallort Art
d. Haupt- im
stücks Ganzen
Mount Joy, Adams Co., Pennsylvanien, N. America | Ogg 954 1100
Silver Crown, Laramie Co., Wyoming, N. America|l Og 11782 | 172
Waldron Ridge b. Tazewell, Claiborne Co., Ten-
nessee., N. American ee Og 366 366
Bella Roca, Sierra de San Fraaneisco, Santiago,
Papasquiaro, Durango, Mexico ............. Of 38.5 38.5
Bischtübe, Gouv. Turgaisk, Russland.......... O8 174 174
St. Geneviöve Co., Missouri, N. America ....... Of 257 257
Thurlow, Hastings Co., Ontario, Canada....... Om 18 18
Welland, Ontario, Canada, N. America. ....... Om 43.5 | 43.5
XCuernavaca, Morelos, Mexico ............... Of 214 214
Independence, Kenton Co., Kentucky. N. America] Om 292 406.5
Apoala,, Oaxaca, Mexico „rer. Om 457 | 457
Augustinowka, Gouv. Ekaterinoslaw, Russland... | Om 24-5 24.5
Bridgewater Station. Burke Co., N. Carolina, |
N, America. 4.8. wa Of 141 T41
Franceville, El Paso Co., Colorado, N. America] Om 12 123
“Bald Eagle, Williamsport, Pennsylvanien,
INELÄMErICa Se ee ee ee Om 51 5I
Canon Diablo, Arizona, Neu Mexico, N. America] Og 1585 1692.5
*Tajgha b. Krasnojarsk, Sibirien, Russland..... | Om 49 49
oubil, rleniseisk, Husslandess ser Om 86.5 86.5
Mount Stirling, West-Australien .............. Og 471 471
Ballinoo, Murchison River, West-Australien .....| Off 246 281
El Capitan, Neu Mexico, N. America ......... Om 2 2
Mooranoppin, West-Australien................ Ogg 38.5 | 38-5
Plymouth, Marshall Co., Indiana, N. America ..| Om 103-5 103.5
Arlinston, Sibley Co., Minnesota, N. America ..| Om 55 55
Canton, Cherokee Co., Georgia, N. America....| Og 152 152
Oroville, Butte Co., Californien............... Om 23-5 23-5
Roebourne, Nordwest-Australien .............. Om 177 265
Nocoleche, Wanaaring, N. S. Wales........... Om 9.5 12.5
Öseuro Mountains, Socorro Co., Neu Mexico,
INK America. nee EEE. Og 18.5 18.5
*Reed City, Osceola Co., Michigan, N. America| Og 169.5 169.5
Beaconsfield, Vietoria, Australien ............. Ogg 236 236
Luis Lopez, Socorro Co., Neu Mexico, N. America| Om 32 32
Lipan Flats, San Angelo, Tomgreen Co., Texas,
IN EÄMELICaN. tee ee EEE ee Om 196.5 196.5
Mungindi, Queensland, Australien ............. Of 475 546
u. Of
Rosario, Honduras, Central-America........... Om 40 40
*Quesa, Enguera, Valencia, Spanien .........». Of 0.3 0.3
ZATISspe, Sonoyas Mexico rege Og 210.5 210.5
*Kodaikanal, Madura, Madras, Indien ........ OfR 89.5 89-5
= Moctezuma, Sonora, Mexico. ars ur Om 2 g
Kreiy: Meteoritensammlung 1904.
l
31
Lau-
fende
Num-
mer
402
403
404
405
406
407
408
409
410
Erwähnt,
Gefunden oder
3eschrieben
1901
1902
1792
1810
1853
1860
1863
15. VI. 1900
1834
Gefallen
4ıı (Herbst?)
412
413
414
415
416
417
418
419
420
421
422
423
424
425
426
1837
14. VI. 1847
1850
1855
1863
1867
1867
1872
1878
1879
1882
1882
1887
1887
1887
1899
Fundort und Fallort Art
Gewicht
d. Haupt-
stücks |
im
3
Ganzen
*Mukerop, Bez. Gibeon, Gross - Namaqualand,
Deutsch” Sud-West-Aftien or. cn encnne Om-Ot| 3780 3780
Rhine Valley (Villa®), Süd- Australien ......... Og 123.5 123.5
Algoma, Wisconsin, N. America .............. Om 2 | 5
Anhang.
Grobkörnige Aggregate oktaödrischer
Meteoreisen.
ACateCaSEMEITCO RT er aka ObZ | 1219 1410
Sta. Rosa, Marktplatz (Karsten), Colombia...... ObZ 0.5 | 0.5
Sta. Rosa, Marktplatz (Wilhelm Reiss). Colombia.. | ObZ 169 | 209
Union” @0, Georgia, N. American cn 2. en. ObZ 39-5 | 54
Nelson Co., Kentucky, N. America............. ObZ 258 | 358.5
Eopiapo, Sierra di Deesa, Chile»... cn. ObEC | 2915 3443
N’Goureyma, Prov. Macina, Sudan............ ObZ 200 29
133 okta@drische Eisen. |127738.3
b. Hewaödrische Meteoreisen.
Zeigen durchgreifende, hexa@drische Spaltbarkeit, keine
okta@drische Schalenbildung und geben beim Anätzen
in vielen Fällen durch die Neumann’schen Linien einge-
lagerte Zwillingslamellen nach dem Oktaöder zu erkennen.
Lime Creek, Claiborne, Alabama, N. America...| H 154 157
Coahuila, Mexico (Santa Rosa-Saltillo)......... H 16 16
Coahunla; Mexico (Santa Rosa) 2.20... cc a....: H 6 6
Coahuila, Mexico (Bolson de Mapini).......... H I311-5| 2554.5
BraumauleBohmenkmeee u nen ee H 1354 1624
Pittsburg, Alleghany Co., Pennsylvanien, N. America] H I I
GeumaleNıssoans u NAAMEerICan ee Hb 238 238
Dakota, Indian Territory, N. America.......... H 55 | 55
Auburn, Macon Co., Alabama, N. America ..... H 17-5 17-5
Seottsville, Allen Co., Kentucky, N. America....| H 72-5 1225
Nenntmannsdorf, Pirna, Sachsen.............. H 4 4
Tombigbee River, Choctaw Co., Alabama, N. America| H (?) 102.5 102.5
Lick Creek, Davidson Co., Nord Carolina, N. America| H II LI
Fort Duncan, Maverick Co., Texas, N. America| H 579 | 686.5
Hex River Mounts, Capland, S. Africa ........ H 80.5 80.5
San Antonio, Kendall Co., Texas, N. America..| Hb 5I 51
*Floyd Mountain, Indian Valley Township, Pulaski
COS Viram1a, EN ENMenIcası een een. Hb 457 457
Hollands Store, Sommerville, Chattooga Co.,
(EOn EIER IN -PÄNTENI Cars ER Re ee ne Hb 51.5| 51.5
Murphy, Cherokee Co., Nord Carolina, N. America| H 217 217
17 hexa@drische Eisen... | 5402.5
132 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
Lau- Erwähnt, Gewicht
fende | Gefunden oder Fundort und Fallort Art =
Dr Beschrieben d. Haupt- im
mer stücks Ganzen
c. Dichte Meteoreisen.
427 1716 Siratik, Senegal, Westafrica.........eeeucnce. Dby 64-5 73-5
428 1783 Campo del Cielo, Otumpa, Tueuman, Argentina| Dby 131 19L
429 1793 Capland), Südafriea@e.. era RE Daß 4335 | 744
430 1810 Rasgata, Zipaquira, Colombia................. Dby 79-5 130
431 1840 Smithland, Livingston Co., Kentucky, N. America| Dba 14 14
432 1842 Babb’s Mill, Green Co., Tennessee, N. America. | Dba 42.5 48
433 1846 Deep Springs Farm, Rockingham Co., Nord-
Carolina, N. America ....... er yelaevaysteferke rate Dba 314 314
434 1847 Chesterville, Chester Co., Süd-Carolina, N. America | Dby 148 395
1850 Muchachos, Tucson, Arizona (Carleton), N. America | Dbß 27 27
435 | 1869 Muchachos, Tucson, Arizona (Ainsa, Sonora)
N; Ameriea u... re ee DbP 2 2
436 1857 Locust Grove, Henry Co., Georgia, N. America| Dby 65 65
437 1862 Kokomo, Howard Co., Indiana, N. America....| Daß 7 7
438 1867 <Wacaria, Duraneoss Mexico pre rer Daa ve I
439 1869 Shingle Springs, Eldorado Co., Californien,
NP America. ... 0.2 0relepeser eigene ferne eier Daß 61 | 61
440 1871 Tquique, Peru .......nn 2 ers Daß | 10625 | 10650
441 1884 * Hammond, Saint Croix Co., Wisconsin, N. Ameriea| Daa 35-5 | 35-5
442 1886 *Rafrüti, Emmenthal, Canton Bern ........... DJ1.G 2.5 2.5
443 1888 Primitiva, Salitra, Tarapaca, Chile............ Dby 32.5 32.5
444 1891 Sierra de la Ternera, Atacama, Chile.........- Daß 619.5 619.5
445 1892 *Morradal, Grjotlien, Skiaker, Norwegen ....... Dba Ts 1.5
446 etwa 1893 Forsyth Co., Georgia, N. America ............ Dby 412.5 4125
447 1896 “San Cristobal, Antofogasta, Chile, S. America... | Dba 8 | 8
448 1899 *Ophir, Illinois Gulch, Deer Lodge Co., Mon- |"Mr& |
tana, EN Amer RT Dby 69 69
22 Dichte Eisen .... 13903.5
d. Noch nicht bestimmte Meteoreisen.
449 Yardea Station, Gawler Range, Süd- Australien. 0.5 0.5
450 Apollonia, Tlaseala,2MexicorereeereReeRerrere 130.5 130.5
2 noch nicht bestimmte Eisen .... | 131
Gesammtsumme:
4507 Eall- "und! Rundorte..... . .. san ee 246037.5 gr
Gewicht.
IO.
II.
12.
23%
Krein: Meteoritensammlung 1904. IS)
II. Zusammenstellung der Arten der Meteoriten.
Eukrit (Eu). Augit und Anorthit.
Stannern 1808. Jonzac 1819. Juvinas 1821. Peramiho 1899.
Leucituranolith (L). Leueit, Anorthit, Augit, Erz, Glas.
Schafstädt 1861.
Howardit (Ho). Bronzit, Olivin, Augit, Anorthit.
Sanet Nicolas 1803. Luotolaks 1813. Nobleborough 1823. Bialystock 1827.
Le Teilleul 1845. Petersburg 1855. Pawlowka 1882.
Bustit (Bu). Bronzit und Augit.
Aubres 1836. Bustee 1852.
Amphoterit (Am). Bronzit und Olivin.
Manbhoom 1863. Jelica 1889.
Shergottit (She). Augit und Maskelynit.
Shergotty 1865.
Roda (Ro). Bronzit und Olivin, sowie etwas Feldspath.
Roda 1871.
Chladnit (Chl). Wesentlich Bronzit.
Bishopville 1843. Manegaon 1843. Shalka 1850. Ibbenbühren 1870.
Angrit (A). Wesentlich Augit, untergeordnet Olivin
und Magnetkies.
Angra dos Rais 1869.
Chassignit (Cha). Wesentlich Olivin.
Chassigny 1815.
Ureilit (Ur. Olivin und Augit mit Eisenadern; führt
Diamant.
Nowo-Urej 1886.
Howarditischer Chondrit (CHo).
Siena 1794. Borgo San Donino 1808. Harrison Co. 1859. Sevilla 1862.
Krähenberg 1869. Ottawa 1896.
Weisser Ghondrit (Cw).
Luce 1768. Mauerkirchen 1768. Jigalowka 1787. Wold Cottage 1795. High
Possil 1804. Hacienda de Bocas 1804. Asco 1805. Lissa 1808. Moora-
dabad 1808. Kuleschowka ı811. Alexejewka 1814. Zaborzika 1818.
Politz 1819. Allahabad 1822. Angers 1822. Honolulu 1825. Mordvi-
novka 1826. Drake Creek 1827. Forsyth 1829. Pusinsko Selo 1842.
Aumieres 1842. Hartford 1847. Castine 1848. Ski 1848. Girgenti 1353.
Linum 1854. Kaande 1855. Scheikahr Stattan 1863. Tourinnes la Grosse
1863. Dolgowoli 1364. Senhadja 1865. Pnompehn 1868. Bandong 1871.
Aleppo 1873. Wirba 1874. Vavilovka 1876. La Becasse 1879. Pacula
1881. Gross-Liebenthal 1881. Möcs 1882. Chandpur 1885. Ma&me 1886.
Pricetown 1893. Lancon 1897. Zomba 1899. Bath Furnace 1902.
14. Intermediärer Chondrit (Ci).
Schellin 1715. Luponnas 1753. Salles 1798. L’Aigle 1803. Berlanguillas
1811. Toulouse 1812. Agen 1814. Durala 1815. Mhow 1827. Deal 1829.
134 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
15.
16.
RR
18.
19.
20.
21.
22.
23.
Vouille 1831. Charwallas 1834. Macao 1836. Chandakapoor 1838. Chäteau
Renard 1841. Mainz 1852. Duruma 1853. New Concord 1860. Dhurm-
sala 1860. Butsura 1861. Canellas 1861. Shytal 1863. Nerft 1864. Laborel
1871. Dandapur 1878. Rakowka 1878. Saint Caprais 1883. Alfianello
1883. Bjelokrynitschie 1887. Fisher, Polk Co. 1894. Bori 1894. Zavild
1897. Gambat 1897. Saline Township 1898.
Grauer Chondrit (Cg).
Sena 1773. Barbotan 1790. Saurette 1803. Darmstadt 1804. Doroninsk 1805.
Charsonville 1810. Chantonnay ı812. Borodino 1812. Limerick 1813.
Seres 1818. Lasdany 1820. Znorow 1831. Blansko 1833. Okniny 1834.
Aldsworth 1835. Akburpoor 1838. Grüneberg 1841. Monroe 1849. Mezö
Madaräsz 1852. Parnallee 1857. Ohaba 1857. Kakowa 1858. Molina
1858. Alessandria 1860. Udipi 1866. Knyahinya 1866. Elgueras 1866.
Pultusk 1868. Castalia 1874. Kerilis 1874. Homestead 1875. Ställdalen
1876. Hungen 1877. Cronstadt 1877. Midt Vaage 1884. Lesves 1896.
Ness Co. 1899.
Chondrit-Orvinit (CO).
Orvinio 1872.
Chondrit-Tadjerit (CT).
Tadjera 1867.
Schwarzer Öhondrit (Cs).
Renazzo 1824. Barratta 1845. Mikenskoi 1861. Mac Kinney 1870. Sevru-
kovo 1874. Gilgoin 1889. Farmington, Washington Co. 1890. Kissj Igor.
Kügelchenchondrit (Ce).
Krawin 1753. Albareto 1766. Wittmess 1785. Bjelaja Zerkow 1796. Benares
1798. Timoschin 1807. Weston 1807. Mooresfort 18r0. Slobodka 1818.
La Baffe 1822. Praskoles 1824. Nanjemoy 1825. Krasnoj-Ugol 1829.
Pine Bluff 1839. Cereseto 1840. Utrecht 1843. Le Pressoir 1845. Kesen
1850. Gütersloh 1851. Nulles 1851. Yatoor 1852. Borkut 1852. Gnarren-
burg 1855. Avilez 1856. Trenzano 1856. Heredia 1857. Quenggouk 1857.
Aussun 1858. Kheragur 1860. Rushville 1866. Motta di Conti 1868. Hessle
1869. Searsmont 1871. Sikkensaare 1872. Waconda 1874. Rochester
1876. Sokobanja 1877. Tieschitz 1878. Gnadenfrei 1879. Nammianthal
1886. Assisi 1386. San Emigdio Range vor 1887. ÖOchansk a. d. Kama
1887. Antifona 1890. Misshof 1890. Forest, Winnebago 1890. Bath 1892.
Ambapur Nagla 1895. Andover 1898. Bjurböle 1899.
Kügelchenchondrit-OÖrnansit (CeOrn).
Ornans 1868. Warrenton 1877. Allegan 1899.
Kügelchenchondrit-Ngawit (CeN).
Ngawi 1883.
Krystallinischer Kügelchenchondrit (Cek).
Richmond 1828. Menow 1862. Beaver Creek 13893. Prairie Dog Creek
1893. Sawtschenskoje 1394. Meuselbach 1897.
Krystallinischer Chondrit (Ck).
Ensisheim 1492. Erxleben 1812. Simbirsk 1838. Klein Wenden 1843. Cerro
Cosina 1844. Segowlee 1853. Stawropol 1857. Aukoma 1863. Claywater
(Vernon Co.) 1865. Daniels’ Kuil 1868. Kernouve 1869. Tjabe 1869.
Bluff 1878. Toke uchi mura 1880. Alastoewa 1884. Pipe Creek 1887.
San Pedro Springs 1887. Carcote vor 1888. Ergheo 1889. Long Island
1891. Guarena 1892. Oakley 1895. India Rico 1900. Hvittis 1901.
24.
BIS:
26.
27.
29.
BT.
22.
34-
Krein: Meteoritensammlung 1904. 139
Chondrit-Goalparit (ÖG).
Goalpara 1868.
Kohliger Chondrit (K).
Alais 1806. Cold Bokkeveld 1838. Kaba 1857. Orgueil 1864. Nosoyä 1879.
Mighei 1889.
Kohliger Kügelchenchondrit (Ke).
Lance 1872. Indarch 1891.
Mesosiderit (M).
Barea 1842. Hainholz 1856. Mincy 1856. Macquarie River 1857. Vaca
Muerta 1861. (Mejillones 1874.) Estherville 1879. Veramin 1880. Crab
Orchard 1887. Morristown 1887. Dona Inez 1888. Llano del Inca 1888.
Lodranit (Lo). Olivin und Bronzit in einem feinen Netz
von Nickeleisen.
Lodran 1868.
Olivin-Pallasit (PO).
Krasnojarsk 1749. Imilae 1800. (Campo del Pucara 1879.) Albacher Mühle
1802. Rokicky 1810. Port Orford 1859. Mount Vernon 1868. Eagle Station
1880. Brenham 1885. Pawlodar 1885. Marjalahti 1902. Admire 1902.
Finmarken 1903.
Bronzit-Pallasit, Siderophyr (PB).
Steinbach 1751. (Rittersgrün 1833. Breitenbach 1861.)
Oktaödrische Eisen mit feinsten Lamellen (Off).
Santa Rosa, Tunja 1810. Salt River 18350. Tazewell 1853. Bacubirito 1871.
Butler 1874. Ballinoo 1893. Mungindi 1897 (manchmal Of).
Oktaödrische Eisen mit feinen Lamellen. Vietoria-
Westgruppe (OfV). a
Oktaädrische Eisen mit feinen Lamellen (Of).
Cambria 1818. Putnam Co. 1839. Chupaderos 1852. Löwenfluss 1853. Jewell
Hill 1854. Madoc 1854. Lagrange 1860. Bückeberg 1863. Russel Gulch
1863. Smith’s Mountain 1863. Bear Creek 1866. Walker Township 1883.
Jamestown 1835. Carlton 1887. Bella Roca 1888. St. Genevieve Co. 1888.
Cuernavaca 1889. Bridgewater 1890. Quesa 1898.
Oktaödrische Eisen mit mittleren Lamellen (Om).
Elbogen um 1400. La Caille etwa 1600. Hraschina 1751. Deseubridora 1780.
Tennants Eisen 1784. Xiquipilco 1784. Misteca 1804. Charcas 1804.
Durango 1804. Cross Timbers 1808. Lenarto 1814. Burlington vor 1819.
Guilford 1820. Baird’s Farm 1839. Carthago 1840. Jackson Co. 1846.
Ruff’s Mountain 1850. Schwetz 1850. Seneca Falls 1850. Werchne Udinsk
1854. Denton Co. 1856. Fort Pierre 1856. Orange River 1856. Staun-
ton 1858. Trenton 1858. Wooster 1858. Cleveland 1860. Coopertown
1860. Marshall Co. 1860. Nejed 1863. Juncal 1866. Amakaken (Caperr)
1869. Victoria 1871. Chulafinnee 1873. Rowton 1876. Dalton 1877.
Niagara 1879. Ivanpah 1880. Costilla Peak 1881. Glorietta Mountain
1884. Joe Wright 1884. Merceditas 1884. Mazapil 1885. Puquios 1885.
Thunda, Windorah 1886. Tonganoxie 1886. Thurlow 1888. Welland 1888.
Independence 1889. Apoala 1890. Augustinowka 1890. Franceville 1890.
Bald Eagle 1891. Tajgha 1891. Toubil 1891. El Capitan 1893. Plymouth
136 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
1893. Arlington 1894. Oroville 1894. Roebourne 1894. Nocoleche 1895.
Luis Lopez 1896. Lipan Flats 1897. Rosario 1897. Moctezuma 1899.
Mukerop 1899 (Om-Og). Algoma 1902.
35. Oktaödrische Eisen mit groben Lamellen (Og).
Bendegö 1784. Sierra blanca 1784. Bohumilitz 1829. Black Mountain 1835.
Wichita Co. 1836. Cosby's Creek 1840. Magura 1840. Smithville 1840.
Cranbourne 1854. Sarepta 1854. Saint Frangois Co. 1863. Casas grandes
1867. Nochtuisk 1876. Sacramento Mountains 1876. Lexington Co. 1880.
Old Fork of Jenny’s Creek 1883. Penkarring Rock 1884. Silver Crown
1887. Waldron Ridge 1887. Bischtübe 1888. Canon Diablo 1891. Mount
Stirling 1892 (z. Th. Ogg). Canton 1894. Oscuro Mountains 1895. Reed
City 1895. Arispe 1898. Rhine Valley (Villa?) _rgor.
36. Oktaädrische Eisen mit gröbsten Lamellen, zum Theil
von wechselnder Lamellenbreite (Ogg).
Seeläsgen 1847. Sao Juliäo 1883. Mount Joy 1887. Mooranoppin 1893.
Beaconsfield 1896.
37. Oktaödrische Eisen mit mittleren Lamellen und einge-
lagertem mesosideritischem Silicat. Netscha@ävogruppe
(OmN).
Netscha&vo 1846.
38. Oktaädrische Eisen mit feinen Lamellen. Dieselben sind
zum Theil normal, zum Theil wellig gebogen und gegen
einander verworfen. Das Eisen führt Einlagerungen,
die aus Enstatit, Augit und Tridymit bestehen. Kodai-
kanalgruppe (OfK).
Kodaikanal 1898.
39. Grobkörnige Aggregate oktaäödrischer Eisen. Zacatecas-
gruppe (ObZ).
Zacatecas 1792. Sta. Rosa, Marktplatz 1810. Union Co. 1853. Nelson Co.
1860. N’Goureyma 1900.
40. Grobkörnige Aggregate oktaädrischer Eisen. Copiapo-
gruppe (ObC).
Copiapo 1863.
41. Normale hexaödrische Eisen (H).
Lime Creek 1834. Coahuila 1837. Braunau 1847. Pittsburg 1850. Dakota
1863. Auburn 1867. Seottsville 1867. Nenntmannsdorf 1872. 'Tombigbee
River (?) 1878. Lick Creek 1879. Fort Duncan 1882. Hex River Mounts
1882. Murphy 1899.
42. Grobkörnige Aggregate hexaädrischer Eisen (Hb).
Central Missouri 1855. San Antonio 1887. Floyd Mountain 1887. Hollands
Store 1887.
43. Körnige bis dichte Eisen mit orientirten Schlieren (Da).
a. Oktaödrische Schlieren.
Cacaria 1867. Hammond 1884.
ß. Hexaädrische Schlieren.
Capland 1793. Kokomo 1862. Shingle Springs 1869. Iquique 1871. Sierra
de la Ternera 1891.
Kreın: Meteoritensammlung 1904, 137
44. Körnige bis dichte Eisen, schlierenfrei, Ataxite (Db).
a. Nickelreich.
Smithland 1840. Babb’s Mill 1842. Deep Springs Farın 1846. Morrodal 1892.
Anhang: San Cristobal 1896.
ß. Mit accessorischem Forsterit.
Muchachos Carleton, Tucson 1851. Muchachos, Ainsa Tucson 1869.
y. Nickelarm.
Siratik 1716. Campo del Cielo 1783. Rasgata 1810. Chesterville 1847. Locust
Grove 1857. Primitiva 1888. Forsyth 1893. Ophir 1899.
Anhang: Rafrüti 1886.
45. Noch nicht bestimmte Eisen.
Yardea Station 1887. Apollonia 1897.
IV. Bemerkungen.
Bei den hier mitzutheilenden Untersuchungen sei stets auf E. A. Würrıns, Die
Meteoriten in Sammlungen 1897 und auf E. Cosen, Meteoritenkunde |
1894, ll 1903 verwiesen.
1. Meteorsteine.
Peramiho 1899. Wir verdanken unser Stück von 4° Hrn. BERWERTH
in Wien, der es aus dem Hofmineraliencabinet im Tausch abliess.
Eine eingehende Bearbeitung wird von dort aus erscheinen.
Hier sei nur bemerkt, dass das Stückehen eine eukritische Rinde
hat und unter dem Mikroskop im Schliff aus Anorthit, monoklinem
Augit und wenig Erz besteht.
Schafstädt 1861. Den Namen »Leueituranolith« habe ich nach
dem vorherrschenden Mineral und der Herkunft gewählt. Wir be-
obachten hier den Leueit zum ersten Male unter den Mine-
ralien der Meteoriten.
Die Zusammensetzung aus Leueit, Anorthit, Augit, brauner
glasiger Grundmasse und Erz habe ich schon 1903 geschildert; sie
entspricht im Ganzen einem Leueittephrit typischster Art.
Speciell ist noch anzufügen, dass der Feldspath sich durch grosse
Auslöschungsschiefen öfters als Anorthit, oder damit nahe verwandt,
charakterisirt. n, bestimmte sich an sehr schief zur Zwillingsgrenze
auslöschenden Lamellen mit dem Totalrefleetometer' zu 1.586.
Der Leucit zeigt alle am Ikositetraöäder möglichen Durchschnitte,
namentlich quadratische, dreiseitige, rhombische und beliebige, so-
wie alle Erscheinungen der vollständigen Zwillingsbildung nach dem
ehemaligen Rhombendodekaöder. Mit dem Totalrefleetometer findet
Sehzar = 140, &— 15475:
ı C. Kreis, Diese Sitzungsberichte 1898, S. 325.
138 Sitzune der physikalisch-mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
5 P2)
Der Augit lässt neben seiner Prismenspaltbarkeit starke Risse
nach ooP©o (100) beobachten, löscht öfters zu letzteren senkrecht
und parallel aus und zeigt im Konoskop, rechtwinklig zur Spur
von &©P% (100), eine Axe, excentrisch, aber in der Medianebene.
Andere Partieen haben grosse Schiefen. Nephelin zeigt sich zuweilen.
Die Rinde ist schwarz und glänzend. Wo sie sich erst nach
dem Zerspringen des Steins gebildet hat, ist sie dünn. Sie schmilzt
die Leueite nicht ein, was einen Rückschluss auf die Stärke der
Erhitzung zulässt. Auch ist sie, veranlasst durch die Zersplitte-
rung des Steins, vielfach eingesenkt, was mich Anfangs befremdete
(a. a.0.1903, S.170). Unter der Rinde sind die Bestandtheile des
Meteoriten nicht verändert (vergl. Conen a.a.0.1903, II, S. 88).
Um sich eine Ansicht über das Zustandekommen der Rinde
des Meteoriten zu bilden, wurden Versuche, die Oberfläche irdischer
ähnlicher Gesteine: Leueittephrite vom Vesuv, Acqua acetosa, Rocca
Monfina zum Schmelzen zu bringen, angestellt.
Es ist hierzu vor dem Gebläse lichte Rothgluth bis Weissgluth
erforderlich.
Diese Temperatur kann ein Stein bekommen, der mit plane-
tarischer Geschwindigkeit durch den Raum geht und dann zur Erde
fällt. — Ein Stein, der aus einer Esse oder aus einem Hochofen
kommt, kann sich zwar ebenso stark erhitzen, wird aber durch
die Explosion mehr oder weniger senkrecht in die Höhe getrieben
und muss nahe an dem Ort derselben wieder niederfallen.
Nach dem Berichte der Frau Apotheker CErerıe Hrrıwıs, geb.
ScHier ist an der ausserirdischen Herkunft nicht zu zweifeln.
Der Meteorit fiel an einem ruhigen Abend des Juni 1861 bei
Eintritt der Dämmerung (der Tag war nicht mehr festzustellen) und
kam schief über die Dächer von SW. her, leuchtete feurig
auf, zischte raketenartig beim Gang durch die Luft und zerplatzte
beim Auffallen. Die einzelnen Stücke waren so heiss, dass man
sie nieht sofort aufnehmen konnte.
In der Nähe des Guts waren zu der Zeit des Falls keine
hohen Schornsteine; eine Dampfziegelei ist erst später
gebaut worden. Die nächsten Städte sind Querfurt und Laucha;
ihre Entfernung vom Fallort beträgt etwa 3 Stunden.
Da Frau Hrrrwie auch den noch in ihrem Besitz befindlichen
Rest des Meteoriten in dankenswerthester Weise an das hiesige
Museum gegeben hat, so besitzen wir jetzt als Hauptstück 3°°5 und
im Ganzen (noch 2 Stücke) 7°5.
Pawlowka 1882. Das Stück ist von Prof. H. A. Warp in Chicago
gekauft und stammt aus der Gresoryr'schen Sammlung, wo es mit
Krein: Meteoritensammlung 1904. 139
119° geführt war. Nach Abzug von Analysen- und Schliffmaterial
wiegt das Vorhandene noch 109®5.
em
Unser Hauptstück ist nahezu vierseitig und 3°7 hoch, 3° 5
breit, 6°” tief, an zwei Seiten mit einer schwarzen glänzenden, zum
Theil wulstigen Rinde versehen.
Mikroskopisch zeigen sich lichte, gelbe und dunkle Mineral-
partieen neben feinkörniger Grundmasse.
Unter dem Mikroskop! erkennt man als Einsprenglinge’, selten
idiomorph gestaltet: monoklinen, zum Theil lichten Augit mit deut-
licher Prismenspaltbarkeit, auch pinakoidaler Ablösung nach ooP&o
(100), Bronzit, Enstatit (zum Theil mit später bei Roda zu schildern-
den Erscheinungen), Olivin, kleine Feldspathlappen mit Albitlamellen
ı Vergl. Tır. Tscuerwyscnow. Zeitschr. d. Deutsch. Geol. Ges. 1883, B. 35. S. 190.
® Wenn man einen solchen Schliff besieht, so ist die richtige Erkenntniss aller
dieser Mineralien unter Umständen, namentlich bei kleinen, regellos begrenzten Theilchen,
bisweilen recht schwierig.
Obwohl man alle Eigenschaften der betreffenden Mineralien kennt, lassen sich
viele bei der Kleinheit und Unvollkommenheit der krystallinen Partieen nicht oder
schlecht anwenden.
Es ist daher wichtig, sich der Stärke der Doppelbrechung dieser Mineralien zu
erinnern und mit Keilen I.—II. Ordnung zu operiren. Dann kann man Vieles, wenn
nicht Alles, im horizontal liegenden Schliff ausrichten, ohne denselben drehen
oder sonst behandeln zu müssen.
Will man dann für einen Durchschnitt noch genauere Resultate erzielen,
so muss man den auf demselben Prineip beruhenden Comparator von Micuer Levy
u. Lacroıx, Les Mineraux des Roches 1888, p. 53 anwenden.
Der Enstatit hat ) «= 1.674, 8 = 1.669, y = 1.665
» Bronzitt » \ @—-y= 0.009; «—- Q = 0.005; B— y = 0.004.
» Olivin » «=1.697, B= 1.678, y= 1.661
@—y= 0.036: «— ßB= 0.019; B—y= 0.017.
» Augit » e=1.733, = 1.717, y= 1.712
y 2 n
@—y= 0.021; @&— © = 0.016; — = 0.0053.
Eine genügende mittlere Dünne der Präparate vorausgesetzt, kann man mit
einem Keil I. Ordnung einen Enstatit-Durchschnitt zum Verlöschen bringen und mit
ihm bei Tischdrehung alle gleichwerthigen. Solche anderer Lage wie der Probe-
krystall wird man durch geringes Variiren des Tons des Keils ebenfalls zum Ver-
löschen bringen und sich notiren, welche Keilstellen dabei anzuwenden waren. Ungleich
dicke Schliffe nach einander zu untersuchen, bedarf der geänderten Töne wegen
Vorsicht.
Bei den anderen Mineralien Augit und Olivin, die, wenn die Enstatite schwarz
sind, noch aufleuchten, merke man sich die Stellen im Präparat und verfahre
mit Farben aus höheren Ordnungen entsprechend, aber lasse sich nicht durch die
Farben täuschen, die entstehen, wenn vom Tone des Keils die Farbe des Minerals
sich abzieht. Aus diesem Grunde beginne man mit den am schwächsten
doppelbrechenden Mineralien zuerst.
Auf diese Art kann man Alles bestimmen, auch Körner ohne sonstige verwerth-
bare (weil schlecht erkennbare) Eigenschaften.
140 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
und grosser Schiefe (Anorthit), grosse Feldspathpartieen mit sehr
kleiner Schiefe der Zwillingslamellen, je 1ı°—2° zur Zwillingsgrenze
(Andesin), Erz und ein doppelbrechendes Mineral, was in einem
günstigen Schliff, ohne dass es äussere deutliche Formen zeigt, z. Th.
wie ein Dodekaöderschliff von Leueit mit entsprechenden, den Win-
keln nach, nach den Rhombenseiten gehenden Lamellen aussieht,
z. Th. einheitlich ist. Die Polarisationstöne, mit und ohne Gyps-
blättehen untersucht, sind wie beim Leucit und stärker als beim
Maskelynit, die Spannungskreuze, durch Einschlüsse erzeugt, ver-
halten sich wie beim Leueit und nicht wie beim Maskelynit (vergl.
dessen Beschreibung in der Folge).
Eine zweite Partie hat auch keine deutliche äussere Form, die
innere Anordnung der optisch sich hervorhebenden Theile ist aber
eine annähernd achtseitige, wie ein zonenstruirter Leuecit.
Undeutliche Stellen ähnlicher Art kommen dann noch mehr
vor, aber nur einmal die zwei deutlichen.
Ich glaube, dass auch hier Leueit vorliegt, zumal die Analyse
einen Kaligehalt giebt, den sonst von den vorhandenen Mineralien nur
der Feldspath, etwa als Kali-Kalk-Natronfeldspath gedacht, auf-
nehmen könnte.
Die Grundmasse ist holokrystallin und besteht aus kleinen, eben-
falls nicht idiomorphen Theilen der Augite und des Olivins.
Diese letzteren Mineralien trifft man in jedem Schliff an, die
grossen Feldspathe sind selten und nicht immer zu finden, ebenso
das als Leueit gedeutete Mineral, das nur in einem von acht
Schliffen sieh zeigte, was bei Beurtheilung des Mineral-
bestands von Schliffen überhaupt sehr zu beachten ist.
Die Analyse, in dankenswerther Weise von Hrn. Dr. Linpner,
Chemiker an der Bergakademie dahier, ausgeführt, ergab:
S107 =150.91 MgO = 14.69
HI = 00% KO 097 |
Ke0) — 15.05 N2207= 2:04 |
Reı03.=)12.74 EEOF—IO44
A056. 30 Er
Mn0,=7030 Nie
0407 — 76.24 "100.29
Spec. Gew. 3.335 bei 17° C.
Angew. Menge z. Best. von H?O u. dann der Alkalien 0%7926; z. Best. des
FeO = 087755; z. Best. d. übrigen Bestandtheile = 087755.
Die Analyse wird allen vorhandenen Mineralien gerecht.
Kreın: Meteoritensammlung 1904. 141
Es lassen sich aus ihr genau der Leucit, annähernd die Feld-
spathe und nicht Enstatit, Bronzit und Augit nach dem richtigen
Mengenverhältniss berechnen.
Der Meteorit von Pawlowka ist daher nach Analyse und mikro-
skopischem Befund wahrscheinlich ein leueitführender Howardit.
Aubres 1836.
Bustee 1852.
Aubres und Bustee stammen aus dem British Museum und
wurden im Tausch erhalten.
Beide zeigen Bronzit, der zum Theil in Enstatit übergeht,
und Augit.
Die Bronzite sind öfters wellig gebogen und undulös auslöschend.
Die Enstatite haben zuweilen die bei Roda zu beschreibenden Er-
scheinungen.
Shergotty 1865. Aus dem British Museum und dem Wiener Hof-
museum im Tausch erhalten.
Den Tscuermar’schen Untersuchungen, wonach der Stein aus
Augit und Maskelynit besteht, habe ich Folgendes hinzuzufügen.
Der Maskelynit ist, soweit es die Partieen aus Shergotty lehren,
isotrop, daher entweder regulär oder amorph. Seine zu beobach-
tenden Doppelbrechungserscheinungen rühren hier von Einschlüssen
her, die seine Masse deformiren.
Bei den entstehenden Spannungskreuzen wird der Arm rechts
oben, links unten schwach blau, der andere gelb, wenn mit dem
Gypsblättehen Roth I. Ordnung untersucht wird, dessen kleinere
Elastieitätsaxe in der ersteren Richtung liegt.
Die Brechungsverhältnisse sind so, dass, mit dem Totalreflecto-
meter geprüft, sich keine merkbare Doppelbrechung (entsprechend
dem Verhalten ungestörter Platten unter dem Mikroskop) zeigt und
nr — 1.48
ist. Der Leueit hat
MB —ELNG
N AO
und die Spannungskreuze sind bei ihm bei gleicher Lage des Gyps-
blättchens im Arm rechts oben, links unten gelb und im anderen
Arm blau, also entgegengesetzt wie oben. Die Färbung der
Quadranten ist viel energischer als beim Maskelynit.
Roda 1871. Es liegt eine Analyse von Pısanı vor (Compt. rend. 1874
T. LXXIX, p. 1507), die Folgendes ergab:
142 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
In Säuren
zersetzbarer Theil unzersetzbarer Theil
Si0° — ICHS Sayle) 45.50
NEE Ta 0.71 1.68
FeO —710.09 3-58 14.00
MgO — 20401 a2 22.80
Cao —Neh8 1327 1.65
Alkalien = 0.80 Cr?O? 0.34
FeS — 14.75 85.97
Re6r02 — 7050
Summe IO1.I3 100.72
RAmmELSBERG, Die chemische Natur der Meteoriten, Abhand-
lungen dieser Akademie 1379, sieht im unzersetzbaren Theil Bronzit
und meint. der zersetzbare könne nicht blos aus Olivin bestehen. Er
berechnet danach aus der Menge der Thonerde Anorthit, sagt aber
zum Schluss, der Stein von Roda verdiene eine neue Analyse.
Hierzu ist wohl nur in Paris das Material vorhanden.
Gegen RANMELSBERG ist zunächst einzuwenden, dass die PısAnt-
sche Analyse, wenn sie richtig ist, reinen Anorthit nicht zulässt,
da ein Gehalt an Alkalien vorhanden ist. Sind die Alkalien Natron,
so müsste ein natronhaltiger Kalkfeldspath berechnet werden.
Der mikroskopische Befund zweier kleiner Dünnschliffe ergab:
Olivin, Bronzit, Enstatit und keinen Feldspath.
Der letztere könnte indessen immer noch vorhanden sein, wenn
vermehrtes Material untersucht wird.
Olivin und Bronzit zeigen nichts Besonderes, dagegen hat der
im Schliff helle Enstatit manche Eigenthümlichkeiten.
Sieht man von dem hohen Relief der Partieen ab, so zeigen
sich Erscheinungen, wie sie H. Rosexguscn, Mikr. Phys. d. Mine-
ralien 1885, Taf.17, Fig.6 und Micnzer Levy und Lacroıx, Les Mineraux
les Roches 1888, p. 261, fig. 160 beschrieben und abgebildet haben.
Die Platte besteht aus Enstatitpartieen, die orientirt und Dial-
lagpartieen, die schief zur Verwachsungsgrenze auslöschen.
Enthält so ein Blättehen wenig Diallag, so wird es unter dem
Gypsblättchen (kleinere Elasticitätsaxe von vorn links nach hinten
rechts) blau, wenn es mit seiner Längserstreckung in diese Lage
kommt, und gelb senkrecht dazu. Auf dem vorderen Pinakoid steht
die II. Mittellinie mit negativem Charakter der Doppelbrechung senk-
recht und der Totalrefleetometer zeigt n, = 1.67 an.
Von Feldspath ist also trotz der lamellirten Partie
keine Rede, sieht man aber vom starken Relief und der Stärke
der Doppelbrechung ab, so könnte man das Blättchen für ein ver-
Krrın: Meteoritensammlung 1904. 143
zwillingtes von Plagioklas halten, etwa für ein solches, was schief
zur Zwillingsgrenze geschnitten ist und bei dem sich die Auslöschungs-
schiefen der einen Lamellen vermehrt haben, während die der an-
deren nahezu © geworden sind.
Ähnliche Gebilde fand ich auch in Manbhoom 1863 und
Jelica 1881. Berwertn giebt dort, Katalog 1903, S. S5, Feldspath
an. Ich habe keinen Feldspath gefunden, es ist aber möglich, dass
er sich in anderen Schliffen findet.
Borodino ı812. Von Dr. Brezısa in Wien erhalten. Kleines Bruch-
stück mit viel Rinde. Über die näheren Daten dieses während oder
vor der Schlacht bei Borodino (7./12. IX. 1812) gefallenen Meteoriten
vergl. Würrıne, Die Meteoriten in Sammlungen 1897, S. 40 u. 41.
BarattaıS45. Von diesem Stein, der früher in Australien in festen
Händen war, sind in neuerer Zeit durch Hrn. Prof. Warn in Chicago
mehr Exemplare in den Handel gekommen.
Der Stein erweist sich als ein schwarzer Chondrit, zeigt Bronzit,
Olivin, Enstatit, Augit, schöne excentrisch strahlige Chondren von
Enstatit und führt Eisen.
Mezö Madaräsz 1852. Früher wurde Fekete Mezö Madarasz geschrieben.
Berwertu, Meteoritenkatalog 1903. S. 68 giebt an, dass Fekete
— Weiler sei. — Andere sind derselben Ansicht und spotten über
die obige Bezeichnung.
Nach den gefälligen Mittheilungen des Hrn. Dr. vox ZmäAnv in
Budapest ist: »Mezömadaras ein kleines Dorf im Comitat Maros-Torda;
zu Mezömadaras gehört die Fekete-dülo (fekete = schwarz, dülo =
Berglehne, Hügellehne); jedenfalls war oder ist noch jetzt Fekete-
major (major = Meierhof) der Ort, auf dessen Territorium der Me-
teoritenfall am 4. September 1852 stattfand. «
»Fekete ist aber nicht: das Dorf: es soll eigentlich zu
setzen sein:
Dorf Mezömadarasz im Comitat Maros-Torda. — Fekete major
gehört nur zu dem Dorf.«
Duruma 1853. Von Prof. vos Grortn in München aus der Sammlung
des bayerischen Staates im Tausch erhalten. Zeigt Bronzit, Olivin,
Augit, Enstatit, Eisen und wenig Chondren.
Linum 1854. In meiner früheren Mittheilung, diese Sitzungsber. 1903,
S. 161, bemerkte ich, dass der Stein unter der Rinde von sandiger
Beschaffenheit sei und eine starke Zertrümmerung der Gemengtheile
in den Schliffen zeige.
Beides hat sich bei Entnahme von Material mehr nach dem
Innern zu gehoben und rührte offenbar vom Aufschlagen beim Fall
und von der Wirkung der Erhitzung und Abkühlung her.
144 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
Die Analyse führte in dankenswerther Weise Hr. Dr. Linpxer,
Chemiker an der Bergakademie, aus. Sie ergab:
SiO? = 43.05 SE:
ARO®— 29 = Sm
Her =e732 ES F3
L [eo]
Mühe — rl gi
MgO = 25.72 e7 52
x = °
020, a Se
NaO= 1.39 5 92 5
K-02—3020 ER
MnO’ = 7020 en -
Metall. Fe = 15.83 NZ A:
An S geb. Fe — 73.23 "sa
Ni =; a er
; Be
Ss = 1.85 Elelbz S
P — 20707 Sö &
RI NN)
60 — ou 88
2 —— je} % in
EOS —oN ale
Summa 99.99
Spec. Gew. 3.542 bei 17°C.
Hr. Lmpser schreibt: »Eisen und Nickel, metallisch, sind
mit Quecksilberehlorid-Chlorammonium ausgezogen worden. Der
Rest, welcher die Silicate und die Schwefelmetalle enthielt, wurde
auf Fe titrirt = 4.26 Procent Fe. Aller Schwefel = 1.85 Procent
wurde an Eisen als FeS gebunden erachtet; dies erfordert 3.23 Pro-
cent Fe. Der Rest 1.03 Fe giebt 1.32 Procent FeO«. Dieses kann
mit Cr?O® verbunden sein oder den Silicaten angehören.
Der mikroskopische Befund ergab a. 0. 0. 1903, S.161 und 162:
hellen Olivin, Bronzit, Augit, dann Eisen, Labrador, Schwefeleisen.
Diesen Bestandtheilen wird die Analyse gerecht, lässt aber ihr Men-
genverhältniss bis auf das Nickeleisen, Schwefeleisen, den Labrador
und den Chromit nicht ermitteln.
Sevilla 1862. Von Srürrz in Bonn gekauft, der das Stück von
A. Stuer in Paris erhielt.
Man erkennt in eckigen Ausscheidungen: Bronzit, Olivin, grosse
excentrisch strahlige Chondren von Enstatit, dann Augit und Eisen.
Shytal 1863. Von Bönm in Wien gekauft, stammt aus dem Museum |
in Caleutta. |
Bronzit, Olivin, Enstatit, wenig Chondren, ebenso Augit, aber
nicht reichlich; Eisen.
Kreıy: Meteoritensammlung 1904. 145
Sendhaja 1865. Von Prof. H. A. Warp in Chicago gekauft. Bronzit,
Enstatit, Olivin, wenig Chondren, wenig Augit, Eisen. Die Ge-
mengtheile, namentlich die die Grundmasse bildenden, sind sehr
zertrümmert.
Tadjera 1867. Aus dem Musee de Geologie, Jardin des Plantes,
Paris, durch Hrn. Prof. Meunıer im Tausch erhalten.
Bildet den Typus des Chondrit-Tadjerits.
Eine dunkele, glasige Grundmasse, in der, inselartig einge-
schlossen, Nester von Bronzit, Enstatit (hie und da cehondritisch)
und Olivin liegen. Eisen.
Daniels’ Kurl 1868. Von V.H. Gresory, London gekauft. Meist
allotriomorph körniges Gemenge von Bronzit, Enstatit (Chondren),
Olivin, Augit, Eisen.
Pnompehn 1868. Gekauft von Srürrz in Bonn, der den Stein von
Sturr in Paris erhielt.
Bronzit, Enstatit, Olivin, Augit, Eisen. Excentrisch strahlige
Chondren von Enstatit und Chondren in Form von Körnerhaufen
von Olivin. Eisen.
Goalpara 1868. Von Prof. Bückıne in Strassburg aus dem dortigen
Universitäts-Museum im Tausch erhalten.
Man hat vorgeschlagen, den Ureilit und die Meteoriten von
Goalpara und Dyalpur zu einer Gruppe zu vereinigen. Da Nowo
Urej aber Diamant führt, die beiden anderen nicht, so scheint mir
der Vorschlag Brezına’s passend zu sein, zwei Gruppen zu machen
(Meteoritenkatalog 1896, S. 254).
Ich führe den Ureilit unter den Achondriten auf und betrachtete
Goalpara und Dyalpur als Chondrit-Goalparit. ©. G.
Sevrukovo 1874. Gekauft von V.H. Gresory in London. Schwarze
Grundmasse mit Inseln von Silicaten, die wesentlich aus Olivin
und Bronzit bestehen. Der Meteorit zeigt Chondren und führt
Eisen.
Rochester 1876. Gekauft von Bönm in Wien. Aus der Sammlung
des Marquis DE VIBRAYE.
Olivin,. Bronzit, zahlreiche Chondren, Eisen, Erz. Grundmasse
krystallin.
Sokobanya, Sarbanovac, Alexinae, Serbien 1877. Der Fallort
muss nach den gefälligen Mittheilungen des Hrn. Prof. Zusoviıc in
Belgrad in obenstehender Weise geschrieben werden.
Saint Caprais de Quinsac 1883. Gekauft von Bönm in Wien.
Nach dem Referat von Conen, N. Jahrb. f. Min. u. s. w. 1884,
II, S. 32 besteht der Stein vorherrschend aus Augit, Olivin, Eisen
und Magnetkies und hat eine schwärzliche Rinde.
Sitzungsberichte 1904. 13
146 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
Nach meinen Untersuchungen ist dies richtig und der Augit
besteht aus monoklinem (Zwillinge nach oPx (100) und vor-
herrschend rhombischem (Bronzit und Enstatit). Die Grundmasse
ist feinkörnig.
San Emigdio Range vor 1887. Gekauft von Prof. H. A. Warp,
Chieago. Vergl. Merill. Proc. United States National Museum 1883,
S. 161—167, Referat N. Jahrb. f. Min. u.s.w. 1891, II, S. 417.
Die Merırv’sche Untersuchung wird bestätigt. Die constituiren-
den Mineralien sind rhombischer und monokliner Augit, Olivin,
Chondren in excentrisch faserigen Partieen und in Kugelhaufen. Eisen
und Eız.
Pipe Creek 1887. Gekauft von Prof. H. A. Warp in Chicago.
Krystallinisch-körniges Gemenge von Bronzit, Enstatit, etwas
Augit, Olivin, Eisen und Erz, Grundmasse.
Carcote, vor 1388. Von Prof. BEckenkamp in Würzburg aus dem
Min.-Geol. Inst. der Universität im Tausch erhalten.
Besteht aus Bronzit, Enstatit (Chondren), Olivin, Augit, Eisen
und hat krystallinische Struetur.
Gilgoin Station 1889. Von Prof. H. A. Warn in Chicago und StÜrTz
in Bonn gekauft.
Starke Zertrümmerung der Gemengtheile: Bronzit, Enstatit, Oli-
vin. Chondren von Bronzit, excentrisch strahlig. Eisen, Erz, dun-
kele Grundmasse.
Sawtschenskoje 1894. Von Prof. H. A. Warn gekauft. Feinkörnige
Grundmasse, einzelne deutliche Einsprenglinge von Bronzit und Oli-
vin. Enstatit in excentrisch strahligen und kugeligen Chondren,
Eisen, Erz.
Meuselbach 1897. Von Prof. Bückme aus dem Min.-Petr. Inst. der
Universität Strassburg im Tausch erhalten.
Der Stein, ein krystallinischer Kügelchen-Chondtrit, besteht nach
Lixcx, Annalen des k. k. Hofmuseums, Wien 1899, S. 103 u.ff., aus
Olivin, Bronzit, Nickeleisen, Troilit, farblosem und braunem Glas,
Chromit u.s.w. Das helle Glas wird als Maskelynit angesehen.
Andover 1598. Im vorigen Katalog stand als Fallzeit 5. August 1901.
Dies muss 5. August 1898 heissen. Hr. Prof. H. A. Warp hatte zwar
in seiner Arbeit über Andover dieses letztere Datum angegeben (Pro-
ceedings of the Rochester Academy of Science 1902, p. 79), da-
gegen in einer späteren Meteoritenliste irrig 5. August I90I gesetzt.
Saline Township 1898. Von Bönn in Wien und Prof. H. A. Warn
in Chicago gekauft.
Nach Farrıneron, (der in diesem Vorkommen auch Phosphor
fand, besteht der Meteorit (Science N.S. 1902, Vol. XVI, p. 67 u. 68)
Kreın: Meteoritensammlung 1904, 147
aus Olivin, Bronzit und Nickeleisen. — Man kann hinzufügen Ensta-
tit in schönen excentrisch strahligen Chondren, solehen aus Körner-
haufen bestehend und durch Mischung beider Arten entstandenen,
Ness Co. 1899. Mit Farrkmeron, Meteorite Studies I. Field Columbian
Museum, Vol. I, Nr. ıı, 1902, p. 304, erachte ich, wie früher,
Ness Co. und Kansada Ness Co. für einen Fundpunkt, halte den-
selben aber auch hier von Prairie Dog Creek, 1893, ge-
trennt. — Wegen des Funddatums vergl. Wırr Tassin. Desc. Cat.
of the Meteorite Coll. in the Un. States Nat. Museum 1902, S.691.
Hvittis 1901. Von Prof. H. A. Warn in Chicago gekauft.
Nach Leon. H. Boreströn, Die Meteoriten von Hvittis und Mar-
Jalahti, Inaug.-Diss. Helsingfors 1903, ist Hvittis ein krystallinischer
Enstatitchondrit.
Kissy 1901. Von Prof. H. A. Warn in Chicago gekauft. Beschrieben
von STUCKENBERG in Kasan, 1901, Naturf. Gesellschaft 32. Jahrgang.
Da die Beschreibung in dem Journal russisch ist, so kann ich
nichts darüber angeben und bemerke nur aus dem Referat von B. Doss,
N. Jahrb. f. Min. u.s.w. 1903, I, S. 212, dass an der Zusammen-
setzung dieses Chondriten farbloser Olivin, farbloser Augit, Magnet-
kies und Troilit, sowie Nickeleisen theilnehmen sollen. Strahlige
und feinkörnige Chondren wurden beobachtet.
Dieses kann ich mit dem Hinzufügen bestätigen, dass die schön-
sten excentrisch strahligen Chondren aus Enstatit bestehen, daneben
auch Bronzit vorkommt, wenig Eisen vorhanden ist, und die Grund-
masse schwarz und undurchsichtig erscheint.
Bath Fournace 1902. Ausgezeichnete excentrisch strahlige Chondren
von Enstatit sind in reichlicher Menge vorhanden, daneben zer-
trümmert Bronzit und Olivin. Eisen.
2. Mesosiderite.
Estherville 1879. Während wir früher nur wenig von diesem in-
teressanten Vorkommen besassen (150°), konnten wir ein grosses
Prachtstück, 33°” hoch, 18— 19 cm breit und von 4407” Gewicht,
erwerben.
Dasselbe zeigt vorzüglich die Zusammensetzung aus Eisenklum-
pen (von 2 zu 24 cm gross) und Steinpartieen (von 3 zu 5 em).
Dies macht es erklärlich, dass die Einen bei der Zertrümme-
rung des Meteoriten nur Steine, die Anderen nur Eisen aufnahmen.
Lodran 1868. Aus dem British Museum erhielten wir ein ausge-
zeichnetes Stückchen im Tausch, was aus Olivin und Bronzit be-
steht, zusammengehalten durch ein feines Netz von Nickeleisen.
13*
148 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
8. Pallasite.
Mount Vernon 1868. Von Bönm in Wien erworben. Nach demselben
wird Prof. Merırı in Washington das Vorkommen näher beschreiben.
Dasselbe ist hier einzureihen und als ein silicatreicher Pallasit
zu bezeichnen. Er steht auf der Grenze zu den Mesosideriten, aber
das Eisen hängt zusammen und ist nach Art der Pallasite vertheilt.
Das Silicat ist überwiegend oder ganz Olivin. Dies kann
man constatiren durch den allgemeinen Charakter, die Zweiaxig-
keit, grossen Axenwinkel um die I. Mittellinie von + Charakter,
mittleren Brechungsexponenten = 1.68 und Löslichkeit in Salzsäure.
Marjalahti 1902. Von diesem interessanten, durch Leon. H. Bore-
ström, Die Meteoriten von Hvittis und Marjalahti 1903, Inaug.-Diss.
Helsingfors, beschriebenen Vorkommen erwarben wir durch Hrn.
Prof. H. A. Warn in Chicago 86°.
Das Stück gehört zu denen, die auf’s Land und nicht in’s
Wasser fielen. In Folge dessen rostet es nicht, hat. aber durch
die unverständigen Finder gelitten, die aus dem hellen Eisen, das
sie für Platin hielten, die Olivine zum grössten Theil herausbrachen.
Finmarken 1903. Eine ausgezeichnete Platte, 25°" lang und 12°" hoch.
Nach Conen, Mitth. d. naturw. Vereins von Neuvorpommern
und Rügen, 35. Jahrg. 1903, soll das Eisen grosse Ähnlichkeit
mit dem Pallaseisen haben. Dies ist richtig: mir scheint das Vor-
kommen aber doch etwas Besonderes zu sein, wofür namentlich
auch die grossen und reichlich vorhandenen Olivine sprechen.
4. Meteoreisen,
Tennants Eisen 1784. Von Dr. Brezına in Wien erhalten, der es
aus Moskau bekam.
Ein Eisen mit mittleren Lamellen und schwarzen Einlagerungen,
vielleicht von Cohenit.
Bückeberg 1863. Von V.H. Gresory in London gekauft.
Eisen mit feinen Lamellen. Von dem ziemlich bedeutenden Fund
kam seiner Zeit die Hauptmasse nach London in das British Museum.
Mazapil 1885. Von Dr. Brezma in Wien erhalten.
Dieses merkwürdige Eisen, Om, ist in seinem Fall am 27. No-
vember 1885 beobachtet worden. Der Fall ereignete sich, als der
Bıera’sche Comet die Erdbahn schnitt, und es muss daher dieses Eisen
als demselben oder seinen Trümmern angehörig betrachtet werden.
Vergl. Dr. Brezma, Wiener Katalog 1885, $S. 308—327.
Mount Joy ı887. Im früheren Katalog 1903, S. 153, 158 und 168 stand
dieser Fundort bei den breceienartigen Eisen. Die grösste der hiesigen
Kreiın: Meteoritensammlung 1904. 149
cm
Platten von etwa 10°" Breite und etwa 18°s5 Länge war noch nicht
gross genug, um zu zeigen, dass das Eisen zu den oktaödrischen
mit gröbsten Lamellen gehöre. — Hierauf machte mich mein College
Hr. Prof. Conen in Greifswald aufmerksam und zwar auf Grund der
Betrachtung der grossen Platten in Wien. Bei meinem Besuche im
Sommer 1903 dortselbst konnte ich mich von der Richtigkeit dieser
Mittheilung überzeugen und ordne demgemäss die hiesigen Platten,
wie geschehen, an.
Kodaikanal 1898. Von Bönm in Wien gekauft.
-Das Vorkommen wird von BErwErTH, Meteoritenkatalog 1903,
S. 20, unter die Eisen Of gestellt.
Dazu ist zu bemerken:
1. Dass das Eisen nicht unerhebliche Mengen etwa bis zu 15 Pro-
cent von Silicaten in + bis I cm grossen Partieen eingelagert
enthält.
Dieselben bestehen aus Enstatit mit hohem Relief. öfters
senkrecht zur ersten + Mittellinie getroffen, dann auch ver-
längert nach € und in dieser Richtung die Farbe des Gyps-
blättehens zum Steigen bringend, wenn die kleine Elasti-
eitätsaxe mit der gleichen in Gyps coineidirt. Beim Be-
trachten dieser Partieen wird man an die Notiz von Weın-
'SCHENK, TSCHERMAR’s Min. und petr. Mitth. N.F.1ı898, 17,S.567
u.68 erinnert, die auch Conen, Meteoritenkunde Il. 1903, S.232
wiedergiebt. Alle dort niedergelegten optischen und chemi-
schen Erforschungen passen auf Enstatit, zumal wenn man
sich erinnert, dass derselbe in Schliffen, die nieht in den
Zonen der Krystallaxen liegen, leicht bemerkbare Schiefen be-
kommt (vergl. Cross, Bulletin of the U. S. Geol. Survey Nr. 1,
Washington 1883 und Am. Journal of Science Vol. XXV1.1883,
p- 76, sowie N. Jahrb. f. Min. 1884, 1, S. 228 u. 29 der Referate).
Auch die Lamelle, welche eine parallel der optischen
Axe (senkrecht zur zweiten Mittellinie) getroffene Partie in das
Feld einer solchen, senkrecht zur optischen Axe (senkrecht
zur ersten Mittellinie) bringt, erklärt sich leicht beim rhom-
bischen Enstatit durch eine Zwillingsbildung nach 2P& (o21)
und die Annahme 2P% (021): coPoo (010) = 138° 444",
mit ä:b:d — 0.97133:1:0.57000 (vom Rarn).
Weiterhin kommt monokliner Augit vor. Derselbe er-
scheint in Stücken mit Zwillingslamellen nach oP& (100),
die öfters, wie die Lamellen im Eisen durch fremde Ein-
flüsse: Auffallen u.s. w. gebogen und die Stücke zerborsten
sind. An einheitlichen Stellen eines Schliffs, annähernd parallel
150 Sitzung der physikalisch -mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
ooP © (010), beobachtet man das beinahe eentrische Austreten
der Mitte des Curvensystems parallel der Axenebene und eine
Schiefe von je 43° der Lamellen zur Zwillingsgrenze.
Endlich erscheint ein Mineral mit niedrigem Relief, fieder-
und fächerförmig ausgebreitet; auf den Fächertheilen sieht
man oft eineZwillingsgrenze und Auslöschung von 7°dazu. Das
Mineral ist schwach doppelbrechend, die Töne sind ähnlich de-
nen des Leueits, dessen Structur aber völlig fehlt. Auf
der Ebene der Fächerblättehen steht eine Mittellinie, von
einem kleinen Axenwinkel umgeben, nicht ganz normal und
ist von positivem Charakter der Doppelbrechung. Beim Er-
wärmen auf etwa 130°C. — (C.Kreis, Diese Sitzungsber. 1897,
S. 331 — verschwindet die Doppelbrechung in einzelnen Par-
tieen, ändert sich in anderen; die ersten sind normal zur
ersten Mittellinie. Vergl. F. Rıyne in E. Conen a. a. OÖ. 1903
II S. 260. — Ich halte nach diesen Eigenschaften das Mine-
'al für Tridymit.
2. Dass das Eisen öfters zeigt, dass die Lamellen an Verwerfungs-
grenzen nur selten hüben und drüben gleichartig fortsetzen.
Dass die Lamellen des Eisens, manchmal, grade nicht selten,
os
wellenförmig gekrümmt oder gebogen erscheinen und zahl-
reiche Rhabdite zwischen sich führen.
Vergleicht man dies Vorkommen mit bekannten, so könnte etwa
Netschaövo, vor 1846, herangezogen werden. Der Silicatantheil in
Netschaövo ist aber von dem Charakter eines Mesosiderits und ent-
hält viel Eisen, Olivin, Bronzit, letzteren in Krystallen und in kugelför-
migen Chondren.
Nach obigen Untersuchungen müsste das Eisen von Kodaikanal
als Silicate führend bezeichnet werden und selbst von feinem La-
mellenaufbau die Gruppe: Kodaikanal OfK bilden.
Moctezuma 1899. Prof. Conzen, von dem das Stück stammt, ist der
Ansicht, dass es vielleicht mit Misteca 1804 zu vereinigen sei.
Beide sind Eisen Om, doch liegt Moctezuma unter 28°49'N.B.
und 109° 30'W.L. und Misteca unter 16°45' N.B. und 97°4'W.L.,
so dass die Fundorte doch recht weit auseinanderliegen.
Mukerop 1899. Über dieses interessante Eisen handeln Berwerrn,
Sitzungsber. d. k. k. Akademie zu Wien, B. CXI 1902, S. 648 u. f.,
und Bkrezına u. Conen, Jahreshefte des Vereins f. vaterl. Naturkunde
in Württemberg, 1902, Bd. 58, S. 292 — 306.
Unser Stück, von Bönmm in Wien erworben, ist aus demselben
Block, aus dem das Wiener Exemplar stammt, und zwar ist es bei
BERwERTH, a. 0.0. S. 658 mit Nr. 4 bezeichnet. Es ist 30°" hoch
"RR:
Kreın: Meteoritensammlung 1904. 151
und breit. Wie dort beschrieben, wurde es aus einem Oktaöder-
vielling nach O (r11), parallel dieser Fläche, geschnitten und zeigt
in der Hauptsache WınmansstÄrten sche Figuren nach dem Oktaöder
und nach einem Hexakisoktaöder, doch nehmen an seinem genauen
Aufbau noch mehrere, nämlich zusammen 6 Individuen: I, 2, 3,
Ars 5a umd: 6, Theil.
Tombigbee River 1878. Die im vorhergehenden Verzeichnisse 1903
S. 168 aufgeworfene Frage nach der genauen Stellung dieses Eisens
im System habe ich, da ich neues Material bis jetzt noch nicht
erhalten habe, nicht entscheiden können und muss daher dieses
Eisen, was vielleicht zu den Eisen Off gehört, noch hier stehen lassen.
Floyd Mountain 1887. Von Prof. H. A. Warp in Chicago erhalten.
Ein schönes Beispiel der grade nicht häufigen hexaädrisch
breecienartigen Eisen.
Hammond 1384. Von Dr. Bkezına in Wien erhalten.
Hübscher Repräsentant der Conen’schen Gruppe Daa der dichten
Eisen. Kommt der Abbildung bei Brezına, Wiener Sammlung 1896,
S. 289, Fig. 30 sehr nahe. Zeigt in Schlauchform hübsche Schlieren
eingelagert. Das Eisen wird durchsetzt von Bändern matten und
dichten Eisens, die glänzendes Eisen mit Cohenit-Einlagerungen
enthalten. Dieselbe matte Eisenart strahlt sechsgestaltig von einem
Einschluss aus und jeder Strahl enthält in seiner Mitte eine dunkle
Schicht (Cohenit), umgeben und durchsetzt von hellem Eisen.
Ternera 1891. Eine Beschreibung gaben Kunz und WEINScHENK.
Min. u. petr. Mitth. von Tscnerumak 1891, N.F., Bd. 12, S.184— 185.
Über die Resultate der Ätzung ist nicht mehr, wie dort mit-
getheilt, zu berichten.
Das Eisen wurde in dankenswerther Weise von Hrn. Dr. Linpxer
analysirt. Es zeigt den P-Gehalt, den Conex, Diese Sitzungsber.
1900, S. 1129, bei der Weinscnrnk’schen Analyse vermisste:
Linpxer WEINSCHENK
Fe 82.17 83.02
Ni 16.22 10222
Co 1.42 1.63
S ©4173 ——
je 0.11 —
100.05 100.87
Spec. Gew. 7.694. Angew. Substanz = 3%"2266.
Yardea Station 1875 und
Apollonia 1887 konnten noch nicht bestimmt werden. Yardea ist
zu klein und Apollonia zu zersetzt.
152 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
V. Stand der Sammlung, Art der Erwerbung, Geschenkgeber,
Tausch.
Die Meteoritensammlung der Königlichen Friedrich - Wilhelms-
Universität besass am 5. Februar 1903:
ı. 2ıı Fall- und Fundorte von Meteorsteinen mit 74970°-
A » » » Mesosideriten » 1477.45
a OR) » » » Pallasiten » .14888.5
Pa 0 KG » » » Meteoreisen » 141488.—
38o: Fall- und Fundorte mit . .........2... 232824°-
Von diesem Bestande sind abzusetzen für Tauschmaterial, Schliffe
und zur chemischen Untersuchung:
1... Meteorsteine 7%. ==... 202 Se ve g6r'—
2. Mesösiderite: a. ee Var _
3: y Pallasite 2.2, 22 Eee —
A=.4. Meteoreisen. 4.18.02 ea AslEr Are NE EEE as
1297 —
Ferner sind die Meteoreisen um einen Fundpunkt zu verringern,
da Sacramento Mountains, Eddy Co., New Mexico, N. Am., 1876 mit
764° und Saeramento Mountains, Badger Co., New Mexico, N. Aın.,
ı896 mit 19°s5 zusammenfallen und als 1876 gefallen, 1896 be-
schrieben angeführt sind.
Somit verbleiben:
ı. 2ıı Fall- und Fundorte von Meteorsteinen mit 74874°—-
2 Karben » » » » » 147725
BU ERO, u» » » » Pallasiten » 14883.5
ha 3. Kae » » » Meteoreisen » 141455.—-
379 Eall- und’ Fundortermi eg ser 232695°—
Hierzu kommen an Neuanschaffungen:
1. 40 Fall- und Fundorte von Meteorsteinen mit 1058°%3
Gewichts - Vermehrung vorhandener Vor-
kommen ...W VRR 882.9
2. ı Fall- und Fundort von Mesosiderit...... > 5.5
Gewichts - Vermehrung vorhandener Vor-
kommen... er. RT: 4482.—
3. 3 Fall- und Fundorte von Pallasiten....... Tro2e5
4. 27 Fall- und Fundorte von Meteoreisen .... 5530.8
Gewichts - Vermehrung vorhandener Vor-
kommen a. #020 ne ehe 189.5
77. Eall- und Eundortermit nr ers 13342°5
Kreiın: Meteoritensammlung 1904. 155
Die Meteoritensammlung der Königlichen Friedrich - Wilhelms-
Universität besitzt somit am 21. Januar 1904:
I. 251 Fall- und Fundorte von Meteorsteinen mit 76815°2
ZU HRR22I » » » Mesosideriten » 5965.—
BEATS 4 » » » Pallasiten » 16082.—
aA » » » Meteoreisen » 147175.3
zusammen 450 Fall- und Fundorte! mit ............ 246037°°5.
Im Durchschnitt kommen daher 546°7 auf den Fundort.
Die Ankäufe erfolgten von den Herren:
Bönm in Wien, Dr. Brezıma in Wien, Vıcror H. GresorY in
London, Srürtz in Bonn, Prof. H. A. Warn in Chicago
und wurden ermöglicht durch die von der hohen Staatsregierung in
dankenswerthester Weise gewährten ordentlichen und ausserordent-
lichen Mittel.
Als Geschenkgeberin ist Frau Apotheker C. HrrLwıe zu nennen,
die das noch in ihrem Besitz verbliebene grösste Stück des Leueit-
uranoliths von Schafstädt (3°5) schenkte.
Im Tausch wurden erhalten:
von Prof. Dr. Conen, Greifswald, Cacaria, Morrodal, Quesa,
Moctezuma; aus dem mineralogisch -geologischen Institut der
Universität Christiania (Prof. Bröscer) Ski; dem British Mu-
seum in London (Prof. FLercner) Aubres, Bustee, Londran,
Shergotty; dem mineralogischen Institut der Universität Mün-
chen (Prof. von Grorn) Duruma; dem Musee d’histoire na-
turelle, Paris (Prof. Mrunter), Angers, Lance, Roda, Tad-
jera; dem mineral.-petr. Institut der Universität Strassburg
(Prof. Bückme) Goalpara, Meuselbach; dem k. k. Hofmuseum
in Wien (Prof. Berwerrtu) Mordvinovka, Peramiho, Shergotty;
dem mineral. -geolog. Institut der Universität Würzburg (Prof.
BECKENKAMP) Carcote.
Dagegen wurden an diese Orte im Tausch abgegeben Stücke von:
Alexejewka, Cronstadt, Ibbenbühren, Klein-Wenden, Linum,
Sena Sigena, Ternera, Toke uchi mura.
! Durch eine in diesen Tagen erhaltene Sendung ist die Zahl der Fall- und
Fundorte auf 466 gestiegen. Da sich unter den Zugängen auch Victoria West, Cap
Colonie. 1862. Of. V befindet, so sind jetzt zu allen Arten Repräsentanten vorhanden.
Der Hzrrz'sche Gitterversuch im Gebiete der
sichtbaren Strahlung.
Von Prof. FERDINAnND BRAUN
in Strassburg.
(Vorgelegt von Hrn. Konrrausch.)
Rn: Satan Hertz im Jahre 1588 gezeigt hat, dass elektrische
Schwingungen, welche aus Luft auf Gitter aus Metalldrähten senkrecht
auffallen, in zwei Componenten zerlegt werden, von welchen die den
Drähten parallele Schwingung refleetirt, die dazu senkrechte dagegen
nahezu ungeschwächt durchgelassen wird, lag es nahe, diese im Gebiet
der Optik unbekannte Erscheinung auch dort aufzusuchen, um damit
einen Beweis für die Identität der sichtbaren Schwingungen mit elek-
trischen zu erbringen. Es hat insbesondere Hr. H. E.J. G. nu Boıs'
und später derselbe Forscher in Gemeinschaft mit Hrn. Rugens” diese
Analogie verfolgt. Sie haben auch durch Messungen Polarisations-
erscheinungen feststellen können, indem im allgemeinen eine Compo-
nente stärker hindurchgieng als die andere, doch sind ihre Resultate
keine directe Bestätigung der Theorie; denn im sichtbaren Spectrum
gieng durch ihre Gitter gerade diejenige Componente stärker hindurch,
welche nach der elektromagnetischen Liehttheorie schwächer hindurch-
gehen sollte. Erst beim Zurückverfolgen der Strahlung bis über etwa
die dreifache Wellenlänge sichtbarer Strahlen findet nach Durchschrei-
ten eines Indifferenzpunktes ein umgekehrtes Verhalten, aber, wie es
scheint, auch nur in einem kleinen Gebiete von Wellenlängen statt,
um dann vielleicht — wenn es gestattet wäre zu extrapoliren — wieder-
um umzukehren. Dieses Verhalten kann nicht Wunder nehmen. Die
feinsten Drahtgitter, welche diese Forscher benutzen konnten und welche
vielleicht überhaupt herstellbar sind, waren aus Drähten von o”"”o1
Dicke hergestellt und hatten ebenso breite Zwischenräume. Während
! pu Bois, Wien. Ann. 46, S. 542, 1892; 48, S. 546, 1893.
® pu Boıs und Ruzens, Wien. Ann. 49, S. 593, 1893. Bezüglich weiterer Litte-
ratır verweise ich auf diese Arbeiten. Eine von den Verfassern in Aussicht gestellte
Fortsetzung habe ich nicht finden können.
F. Braun: Gitterpolarisation. 155
mm
daher die »Gitterconstante« o""'o2 ist, repräsentirt jede Drahtdicke und
jeder Zwischenraum rund 20 Wellenlängen sichtbaren Lichtes. Wenn
auch zu erwarten ist, dass eine exaet durchgeführte Theorie durch die
genannten Versuche würde bestätigt werden, so fehlt dieser Vergleich
doch noch zur Zeit.
Näher an die Erscheinung kam Hr. Ansronn' (in wesentlicher
Wiederholung eines Fızeau’schen Versuches) durch mikroskopische Be-
mm
obachtungen eines sehr feinen Spaltes, den er auf höchstens o0""0001
Breite schätzt, in einer Silberschicht, wo er Polarisationserscheinungen
fand, welche den elektrischen Beobachtungen von Hrn. Warrz” ent-
sprechen würden. Breitere Spalten verhielten sich umgekehrt.
2. Im Jahre 1886 hat Kunpr” das Folgende mitgetheilt. Kuxpr
hatte sich auf Glasplatten, welche horizontal im Abstand von wenigen
Millimetern unter einem dünnen verticalen Metalldralit lagen, der im
luftverdünnten Raume als Kathode diente, durch dessen Zerstäubung
dünne Metallspiegel hergestellt, welche im allgemeinen die Gestalt
eines ausserordentlich flachen Kegels besassen. Untersuchte er eine
solche Metallschicht in nahezu parallelem Lichte zwischen zwei ge-
kreuzten Nicols, so fand er, dass die Metallplatte das Gesichtsfeld
erhellte: er beobachtete aber gleichzeitig ein dunkeles Kreuz, dessen
Arme den Polarisationsebenen parallel lagen; die Durchkreuzungs-
stelle lag immer genau an der Spitze der konischen Metallschicht,
also in dem Punkte, über welchem sich die Kathode (bei der Her-
stellung des Spiegels) befunden hatte. Kuspr deutete die Erschei-
nungen als die Folge einer Orientirung der abgeschleuderten Theilchen
und bezeichnete sie als Doppelbrechung, wenn er auch die Schwierig-
keit, wie eine solche in sonst isotropen Metallen entstehen sollte, klar
erkannte und aussprach.
3. Eine ungezwungene Erklärung für die Kunpr'sche Beobachtung
würde sich ergeben, wenn man annehmen dürfte, dass die radial
orientirten Metalltheilchen, obschon sie nach Kunpr's Versuchen unter
dem Mikroskop wie eine homogene Schicht erscheinen, sich dennoch
wie Herrz’sche Gitter verhalten.
Nach dieser Auffassung müsste man erwarten, dass die parallel
den Polarisatorschwingungen® gelegenen Metallstäbehen das Licht re-
ı H. Ausrons, Wien. Ann. 48, S. 717. 1893.
® K. Warız, Wien. Ann.’63, S. 234. 1897. 66, S. 308. 1898.
® A. Kunpr, Wien. Ann. 27, S. 59. 1886.
* Iehı rede im Folgenden der Einfachheit der Darstellung wegen meist von den
Schwingungen des Lichtes und verstehe darunter den Fresser’schen Vector, welcher
senkrecht zur Polarisationsebene liegt und mit dem elektrischen Vector der elektro-
magnetischen Theorie eoineidirt.
156 Sitzung der physikalisch - mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
flectirten, und der entscheidende Versuch würde in dem Nachweis
gelegen sein, dass, auch ohne Gegenwart eines Analysators, sich ein
dunkeler Streifen, parallel zur Schwingungsriehtung, vorfände, welcher
z. B. den Drehungen des Polarisators folgen müsste.
4. Wie einem Beobachter von der Umsicht, welche Kuxpr aus-
zeichnete, eine derartige Erscheinung sollte entgangen sein, schien mir
zwar schwer verständlich. Aber andererseits erklärt die supponirte
Auffassung, dass Kunpr keine der Kalkspathfigur entsprechenden Ringe
beschreibt; und endlich schien eine Beobachtung von Hrn. Dessau!
meine Annahme zu unterstützen. Dieser beobachtete, dass bei einer
geringen Drehung des Analysators aus der gekreuzten Stellung heraus
das dunkele Kreuz sich »in zwei Hyperbelarme« auflöste.
5. Als ich die in der hiesigen Sammlung noch vorhandenen, von
Kunpr und Hrn. Dessau hergestellten Präparate einer Prüfung unter-
warf, wurde mir das negative Resultat von Kuspr erklärlich. Die
Helliekeit des von ihm benutzten Sonnenlichtes wird nämlich bei
parallel gestellten Nicols oder Weglassen des Analysators im allge-
meinen so unerträglich, dass man nur an ein Arbeiten mit objectiv
entworfenem Bilde denken kann und daher schon besonders nach einer
derartigen Erscheinung suchen muss.
Eine Durchmusterung in dieser Art der mehr als zwanzig vor-
handenen Präparate lieferte aber auch kein positives Resultat. Dieser
negative Befund wurde aber erklärlich durch die Thatsache, dass ich
auch nicht im Stande war, die Kunpr’sche Erscheinung an denselben
mit irgend welcher Sicherheit nachzuweisen.”
Auch durch die Herstellung neuer Präparate kam ich dem Ziele
nicht näher; ich überzeugte mich nur, dass die Teelnik nicht ganz
einfach ist und Erfahrung zu verlangen scheint. Nachdem auch Zer-
stäubung von galvanisch im Vacuum glühend gemachten Palladium-
drähten sowie eine grosse Anzahl nach dieser Art im hiesigen In-
stitut von Hrn. AECkKERLEIN hergestellter Palladiumspiegel kein besseres
Resultat ergeben hatten, habe ich versucht, ob nicht Metallbeschläge,
wie man sie dadurch erhält, dass man eine kräftige Flaschenentladung
durch einen dünnen Metalldraht schickt, geeigneteres Material sein könne.
In der That glaubte ich bei einem sicher über 50 Jahre alten
derartigen Goldpräparate Spuren der gesuchten Erscheinung zu finden,
während mir diess an einer ähnlichen Silberzerstäubung nicht gelingen
wollte.
! B. Dessau, Wien. Ann. 29, S. 353, insbesondere S. 373, 1886.
?2 Schon bei einer mehrere Jahre früher vorgenommenen Durchprüfung zeigte
sich nur noch an zwei Exemplaren und auch da nur an einigen Stellen die Kunpr-
sche Erscheinung.
F. Braun: Gitterpolarisation. 157
6. Diese Zerstäubungen lassen sich sehr leicht herstellen. Man
spannt einen dünnen Metalldraht über eine Glasplatte (die selber meist
wieder auf einer dickeren Glasplatte auflag), kittet am besten die Enden
mit etwas aufgetropftem Siegellack fest und belastet zwei Stellen des
Drahtes mit an ihrer Unterfläche ebenen Gewichten, die als Elektro-
den dienen. Ich habe gewöhnlich Metalldrähte von einigen Üenti-
metern Länge gewählt, aber auch Silberdrähte von über ein Drittel
Meter Länge glatt zerstäuben können. Die Dicke des Metalldrahtes
spielt eine wesentliche Rolle; o"'""ı ist schon nieht mehr günstig,
o”"0o6 und o”"o4 pflegen gute Dimensionen zu sein.
Durch diese Drähte habe ich Entladungen von 7, 9 und 20 pa-
rallel geschalteten Flaschen, die auf eine Schlagweite von 6 bis IOomm
mit einer Influenzmaschine geladen waren, hindurchgehen lassen. Die
Capaecitäten entsprachen etwa 20000, 27000 und 40000 cm. Ich habe
immer nur einen Entladungsschlag benutzt.
Sobald die Funkenstrecke durchschlagen wird, erscheint ein helles
Licht über dem ganzen Draht. Ich vermuthe, dass zuerst eine Stelle
des Drahtes durchbrochen wird und ein Gleitfunke von da aus den
Draht bis an die Elektroden zerstäubt. Aber auch unterhalb der Elek-
troden findet sich derselbe häufig verändert, wenn ich mich nicht
täusche, sogar unter Umständen jenseits derselben. Diese Erschei-
nungen müssen aber für sich weiter verfolgt werden.
Bedeckt man den Draht mit einer zweiten, einfach darauf gelegten
Glasplatte, so kann man feine Zerstäubungen bis zu mehreren Centi-
metern Abstand von der Drahtaxe erhalten.
7. Die optische Untersuchung geschah mittels eines (SEIBERT'schen)
Mikroskopes, wie es für mineralogische Zwecke gebräuchlich ist.‘ Un-
terhalb des Objecttisches befindet sich der feststehende Polarisator,
welcher ein schwach convergentes Licht auf die Platte wirft. Der
Öbjecttisch kann genau centrirt werden und ist dann gut centrisch
drehbar. Zwischen Objeetiv und Collimatorlinse kann ein Nicol (gegen
den Polarisator gekreuzt) von aussen eingeschoben werden. Bei meinem
Instrument war durch das Einschieben dieses Analysatornicols keine
störende Verschiebung des Bildes gegen das Fadenkreuz des Oculares
bemerkbar.
Eine einwandfreie Untersuchung kann nur geschehen in der cen-
trirten Partie des Objeetes. Das Gesichtsfeld muss gleichmässig hell
sein; für die meisten Zwecke ist am besten diffuses Tageslicht, als
Ersatz dafür kann auch das von einem weissen Papierschirme zurück-
! Die leihweise Überlassung dieses Instrumentes, ebenso wie der zugehörigen
photographischen Apparate verdanke ich den HH. Collegen Bückıns und Brunns.
Die ersten Photographien war Hr. Dr. Sörtser so freundlich für mich anzufertigen.
158 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
geworfene Licht eines Auerbrenners dienen. Ich finde aber, dass es
für feinere Nuaneirungen nicht ausreicht. Bei Benutzung künstlichen
Lichtes hat man dafür zu sorgen, dass der Mikroskopspiegel von
keinem direeten Licht getroffen wird: ebenso muss in allen Fällen
der ganze obere Theil des Objecttisches und das Auge (durch einen
schwarzen, gebogenen Pappschirm) vor Beleuchtung geschützt sein.
Die fastausschliesslich verwendete Vergrösserung war 28fach (linear).
8. Ein zerstäubter Draht zeigt dann etwa folgendes Bild': In der
Axe, wo er auflag, einen hellen Strich; das Glas scheint dort Ver-
änderungen erlitten zu haben; rechts und links davon ein schmales
Metallband; von diesem gehen, senkrecht zum Draht, feine, aber noch
durchsichtige, sich allmählich verjüngende Metallstreifen (also in der
Form sehr spitzer gleichschenkliger Dreiecke) aus; endlich darüber hinaus
sehr dünne breite Metallstaubbeschläge.
Die centrale Partie (in welcher sich z. B. bei Silber Flecken von
wunderschöner Färbung, die etwas dichroitisch zu sein scheinen, be-
finden) lasse ich ausser Betracht. Es handelt sich vorzugsweise um
diejenigen Stellen, wo die dichteren, in diffusem Licht noch ziemlich
dunkelen Streifen in den feinen, kaum merklich absorbirenden Metall-
beschlag auslaufen.
Als ich diese Stellen bei einem zerstäubten Silberdraht (0"'"07
Durchmesser) absuchte, indem ich die Streifen abwechselnd parallel und
senkrecht zur Schwingungsrichtung des Polarisators drehte, gelang es
mir Partien aufzufinden, welche dunkler waren für Parallelstellung”,
heller, wenn sie um 90° gedreht waren. Am besten war es bei offen
zerstäubten Drähten. Aber auch bedeckt zerstäubte zeigten die Er-
scheinung. Bei letzteren glaubte ich auch noch in Partien, welche
von der Drahtaxe entfernt waren, einen Unterschied im Ver-
0
etwa 2”
halten der Streifungen je nach ihrer Orientirung erkennen zu können.
Sie macht sich hier geltend als mehr oder weniger starke Differenzirung
gegen die Umgebung. Deutlicher wurde die Erscheinung, wenn zwei
solcher Partien mit ihren Metallfäden, die Streifenrichtung gekreuzt,
auf einander gelegt wurden. Dann waren immer die jeweils den Polari-
satorschwingungen parallelen deutlicher.
9. Man wird natürlich, solange man die Structur der Streifen, die
man erzeugen will, nicht nach Willkür in der Hand hat, auch nur
auf ein tastendes Absuchen nach günstigen Partien angewiesen sein.
Denn während einerseits nach den Anschauungen, von denen wir aus-
gehen, eine Orientirung nach einer Richtung hin gefordert wird, muss
! Eine Abbildung gibt M. Törrer, Wien. Ann. 65, S. 874, 1898.
® Diess soll immer heissen: die Striche parallel zu den auffallenden Lichtschwin-
gungen.
F. Braun: Gitterpolarisation. 159
man andererseits verlangen, dass die feinen mikroskopisch voraussicht-
lich nicht mehr auflösbaren Metallstreifehen dureh ganz oder nahezu
metallfreie Streifen getrennt sind. Die Methoden von SıEDENTorrF und
Zsısmonny' werden, wenigstens in gewissen Partien, mit Vortheil heran-
gezogen werden.
Die Auffindung passender Stellen wird nun sehr erleichtert, wenn
man den Analysatornicol einschiebt. Dreht man das Präparat so, dass
die Streifenrichtung 45° mit den gekreuzten Polarisationsebenen bildet,
so findet man eine Anzahl Büschel (vergl. Fig. 3), welche hell auf
dunkelm Grund erscheinen und bei Drehung um #45° verschwinden,
d.h. die Kunpr’sche Erscheinung zeigen. Wenn unter diesen eine
gut ausgesprochene, nicht zu kleine Stelle ausgesucht, auf den Schnitt-
punkt des Fadenkreuzes geschoben und dann nur im Lichte des Po-
larisators beobachtet wurde, so zeigte diese Stelle immer — diffuses
Tageslicht vorausgesetzt — schwach, aber unverkennbar (wie ich durch
andere Beobachter controliren liess) sich dunkler in Parallelstellung
als senkrecht dazu.
10. Verschiedene Variationen des Versuches führten nicht wesent-
lich weiter als zu der sicheren Überzeugung der Richtigkeit der
Beobachtung, es felilte aber noch die Prägnanz der Erscheinung. Auch
Drähte von Gold (0.1 und 0.06 mm) gaben kein wesentlich besseres
Resultat.
Erst als ich in Besitz dünner Platindrähte von o"”"04 Durch-
messer gekommen war, konnte ich die Erscheinung so stark erhalten,
dass jeder Zweifel beseitigt war. Nach meinen Erfahrungen gelingt
der Versuch mit ihnen sicher. Ich fand am günstigsten bei den er-
wähnten 20 Flaschen eine Funkenstrecke von 6—8 mm Länge, den
Draht glatt auf die Glasplatte ausgespannt, knoten- und knickfrei,
nicht über 3°” lang, offen zerstäubt.
Man wird kaum ein Präparat finden, welches die Erscheinung
nicht zeigt, das eine freilich besser als das andere. Die Bedingungen
habe ich noch nicht viel variirt, insbesondere im Vacuum noch gar
keine Versuche gemacht.
Man sucht am sichersten in der angegebenen Weise zwischen
gekreuzten Nicols, schiebt eine passend scheinende Stelle in die Axe
des Mikroskopes, entfernt dann den Analysator und beobachtet nur
im Lichte des Polarisators.
Im Sinne der Thatsachen gesprochen wird man finden: die
Stellen mit gut ausgesprochener Aufhellung sind intensiv dunkel
(sammetschwarz) gefärbt, wenn ihre Strichrichtung senkrecht zur Po-
' H. Sıeventorr und R. Zsıcmoxpy, Annalen d. Physik (IV), 10, S. 1, 1903.
160 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
larisationsebene liegt, sie werden relativ hell (etwa schwach zimmt-
braun), wenn sie der Polarisationsebene parallel liegen.
Im Sinne der elektromagnetischen Lichttheorie gesprochen: sie
lassen wenig Licht durch, wenn die Streifen parallel dem elektrischen
Vector liegen, viel dagegen, wenn sie senkrecht zu demselben ge-
stellt sind.
Platingitter: (Nr. 2).
Fig. 1. Fig. 2.
Striche senkrecht zu den Striche parallel zu den
Liehtschwingungen. Lichtschwingungen.
a a
(Nur Polarisator.)
Fig. 8.
Striche unter 45° zu den
Lichtschwingungen
(gekreuzte Nicols).
Die Figuren geben eine Reproduction photographischer Aufnah-
men; die Platten von Fig. ı und Fig. 2 sind genau gleich lange, bei
gleichem sehr schwachem, aber aussergewöhnlich constantem Tages-
licht (Nebel) exponirt worden (8”); Fig. 3 zeigt die Streifen zwischen
F. Braun: Gitterpolarisation. 161
gekreuzten Nicols (über eine Stunde in theilweise hellerm Lichte
exponirt).. Die Copien sind gleichfalls in genau identischer Weise
hergestellt. Natürlich zeigt sich, direet gesehen, der Unterschied un-
gleich stärker als in der Reproduction; man erkennt aber doch, dass
in Fig. ı die Platindreiecke nur sehr schwach erscheinen; nach Drehen
des Präparates (Streifen parallel den auffallenden Lichtschwingungen)
werden sie scharf und deutlich; Fig. 3 erläutert, dass die Erscheinung
auftritt an denjenigen Stellen, welche das Kunpr'sche Phänomen zeigen.
11. Auch bei den besten Präparaten, welche ich bis jetzt er-
halten habe, ist das den Streifen parallel schwingende Licht nicht
völlig ausgelöscht. Es setzen sich daher beide Componenten wieder,
falls sie — wie diess, wenigstens bei Platin, in erster Annäherung der
Fall zu sein scheint — ohne Phasendifferenz hindurchgehen, wieder
zu einer linearen Schwingung zusammen. Diese wird je nach der
Dichte der Streifungen verschiedenes Azimuth haben. Man beobachtet
diess am besten, wenn man den Analysator aus dem Rohre entfernt
und ‚durch einen drehbaren Oecularnicol ersetzt. Kreuzt man den-
selben gegen den Polarisator (die Streifen im Azimuth 45°), so dass
man die Fig. 3 sieht, und dreht ihn dann um kleine Winkelbeträge,
so wandert eine dunkele Stelle über die Nadeln hinweg.
Dass die Figuren 2 und 3 nicht vollkommen identisch sind, er-
klärt sich hieraus.
Ob auch Phasendifferenzen vorhanden sind, so dass eine der wirk-
lichen Doppelbrechung durchaus aequivalente Erscheinung auftritt, habe
ich noch nicht entscheiden können.
12. Während das in 10 angegebene Verhalten die Regel ist, kom-
men aber doch Fälle vor, welche sich derselben noch nicht zu fügen
scheinen. Ich habe an einzelnen sehr dünnen Stellen von Gold- und
Platinpräparaten, wenn auch schwach, aber doch, wie ich glaube, deut-
lich beobachten können, dass das parallel zu den supponirten Streifen
schwingende Licht mit grösserer Intensität hindurchgieng als die senk-
rechte Componente. Ich habe diess an manchen Stellen, namentlich in
unmittelbarer Nähe des Drahtes, gefunden. Es scheinen dort, worauf
auch das makroskopische Aussehen der Metallzerstäubung hinweist, Un-
regelmässigkeiten vorhanden zu sein, herrührend von Knickungen oder
schlechtem Aufliegen des Drahtes auf der Platte. Die Aufklärung
dieses Punktes ist, solange man auf mikroskopische Beobachtung an-
gewiesen ist, penibel und bedarf noch weiterer Versuche, möglichst
mit gleichmässigen, grösseren Flächen.
13. Gleichzeitig in der Richtung der Zerstäubung wirkende con-
stante oder in der Periode der Flaschenentladung wechselnde (aber freilich
gegen den Strom um 90° in Phase verschobene) elektrische Felder, ebenso
Sitzungsberichte 1904. 14
162 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
gleichzeitiges galvanisches Anwärmen des Drahtes bis zu dunkeler Roth-
gluth gaben kein erkennbar anderes Bild der Zerstäubung.
Platin ist dasjenige Metall, welches auch nach Angabe des Ent-
deekers das Kunpr’sche Phänomen am deutlichsten zeigt. Warum
andere Metalle weniger günstig sind, ob hier die Brechungsexponenten
eine Rolle spielen, kann vielleicht aus weiteren Versuchen erklärt werden.
Durch Bedecken mit Wasser, Schwefelkohlenstoff oder Methylen-
jodid konnte ich keine sichere Änderung erkennen. Auch einen Ein-
fluss der Farbe (rothen und blauen Glases) habe ich bei Platin nicht
beobachtet. Scheinbare Änderungen waren auf geänderte Lichtinten-
sität zurückzuführen und konnten auch durch eingeschobenes berusstes
Glas hervorgerufen werden.
Die etwa vorhandenen Gitterwirkungen konnten bisher, mangels
genügenden Sonnenlichtes, nicht verfolgt werden; ebenso wenig die
feinen, oft wunderbar zarten und schön gefärbten Interferenzerschei-
nungen, welche sich nach Unterlegen eines feinen Spaltes bei Silber-
präparaten unter dem Mikroskop zeigen und von dem Öffnungswinkel
des auffallenden Lichtes abhängig zu sein scheinen.
14. Unter dem Mikroskop habe ich mit 100- und etwa 5oofacher
Vergrösserung eine Structur, welche die Erscheinungen erklären könnte,
nicht mit Sicherheit nachweisen können.
Im gewöhnlichen Tageslicht sah ich gar keine Differenzirung.
Unter Verwendung directen Auerlichtes habe ich feine Streifungen
beobachten können, welche auch beim Drehen ihre Helligkeit ändern;
dazwischen aber Felder ohne erkennbare Structur, welche fast gleich-
mässig heller und dunkler wurden. Diese letzteren Flächenfelder waren
keineswegs immer da besonders hervortretend, wo auch sichtbare
Streifen sich befanden. Man wird also nicht annehmen dürfen, dass
ihre Helligkeitsänderung durch die sichtbaren Streifen bedingt sei.
Mir selbst fehlte hinreichende Erfahrung in der Untersuchung so
feiner Präparate mit noch stärkeren Vergrösserungen sowie in der
Beurtheilung der Bilder. Hr. Dr. H. Stıpentorr von der Firma Carl
Zeiss in Jena hatte die Gefälligkeit ein Präparat im hiesigen Institut
zu prüfen. Mit der homogenen Immersion von 2” und der Apertur
1.3 zeigte sich bei Untersuchung im Auerlicht sowie in dem einer
Bogenlampe das folgende Bild: eine Anzahl Körnehen, welehe ohne
erkennbare Regelmässigkeit vertheilt waren; zwischen denselben ein
nicht mehr auflösbares gleichmässig helles Feld, welches die charakteri-
stischen Erscheinungen der Gitterpolarisation und scheinbaren Doppel-
brechung noch sehr scharf erkennen liess.
15. Das Interesse, welches die Erscheinungen bieten, ist nicht
auf den Nachweis des optischen Analogons zum elektrischen beschränkt;
F. Braun: Gitterpolarisation. 163
sie beanspruchen, wie mir scheint, auch ein selbständiges optisches
Interesse. Ich bin überzeugt, dass schon Beobachtungen, z. B. auf mine-
ralogischem Gebiete, vorliegen, welche jetzt unter einem andern Ge-
sichtspunkte erscheinen werden. In der That zeigte mir Hr. College
Bückme, nachdem er meine Präparate gesehen hatte, sofort ein ähn-
liches mineralogisches.
Eine Lasourx’sche Beobachtung an Würfeln von Chlorsilber, welche
in einer Richtung gepresst wurden, führt sich vielleicht auf entstehende
Silberlamellen zurück.' Dass in Brom-, Jod- und Chlorsilber durch Druck
eine Zersetzung eintritt, haben Mvers und ich gezeigt.”
Auch Beobachtungen, über welche kürzlich Hr. Scnumauss® im An-
schluss an Versuche des Hrn. MaAsorana berichtete, lassen sich vermuth-
lich auf Gitterpolarisation zurückführen.
16. Sieht man von dem einen in 10. erwähnten Punkte ab, so ist
die vollkommene optische Analogie zu den Herrz’schen elektrischen
Gittern festgestellt.
Ich möchte noch auf einige Anwendungen hinweisen. Wenn es
z. B. gelingen würde, sehr dünne Krystallplättchen einer hochmole-
eularen organischen Goldverbindung derart zu zerstören, dass nur die
Goldmolecüle, und zwar wesentlich an ihrem Orte, erhalten blieben,
so müsste ein Metallgitter resultiren, aus dessen optischem Verhalten
man, namentlich an der Hand einer durchgeführten elektromagneti-
schen Gittertheorie’, einen Schluss auf den Abstand der Metalltheilchen
machen könnte. Ich habe eine Anzahl Versuche in dieser Richtung hin
unternommen, z. B. Bleiacetat in sehr dünner Schicht auf Glas aus-
krystallisiren lassen und dann mit einem Schälchen, das eine concen-
trirte Lösung von Kaliumsulfhydrat enthielt, zusammen unter eine Glas-
glocke gestellt. Man dürfte hier erwarten, dass ein Gitter aus Bleisulfid
bleibt, während die Essigsäure und das Krystallwasser zur Sulfhydrat-
lösung wanderte. Dieser und eine Reihe ähnlicher Versuche haben aber
bisher noch keine sicheren Schlüsse ziehen lassen.
17. Dagegen glaube ich auf einem andern Gebiete einen Schritt
weiter gekommen zu sein. Hr. Angronn’ hat beobachtet, dass dünne
! Ich kenne den Versuch nur aus Amsronn, Sitzungsber. d. Königl. Sächs.
Akad. d. Wiss. 7. December 1896.
®2 J.E.Myess u. F. Braun, Phil. Mag. (5) 44. p.ı72. 1897. Vergl. Carey Lea, ibid,
® A. Schmauss, Ann. d. Phys. (4) 10. S. 658. 1903. ı2. S.186. 1903.
* Vergl. J. J. Tuosson, Recent Researches in Elecetrieity and Magnetism. Ox-
ford 1893. P.425, insbesondere Phasenänderung betreffend.
5 H. Aneronn, Sitzungsber. d. Kgl. Sächs. Akad. d. Wiss., 7. December 1896. In
dieser Litteratur bin ich selbstverständlich nicht bewandert.
14*
164 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
Schnitte aus dem Holze der Coniferen oder aus den Sehnen von Mäuse-
schwänzen, die mit zweiprocentiger Goldchloridlösung getränkt und
nach dem Trocknen dem Sonnenlichte ausgesetzt wurden, sehr hübschen
Dichroismus zeigen. Er hat mit Recht nach dem damaligen Stand-
punkte unserer Kenntnisse sich für die Erklärung damit begnügt, an-
zunehmen, dass das eingelagerte Metall für sich oder in Verbindung
mit der Grundsubstanz zu einem anisotropen Gebilde werde.
Wenn wir aber berechtigt wären, anzunehmen, dass sich hier
Gitter aus metallischem Gold im Gewebe bildeten, und diese nach den
hier beschriebenen Versuchen die Erscheinung hervorrufen, so würden
wir umgekehrt aus den Polarisationserscheinungen bei so gefärbten
Schnitten einen Schluss ziehen können auf eine gitterartige Molecular-
struetur, deren Auflösung selbst mit den stärksten Mikroskopsystemen
vielleicht schon eine principielle Grenze gesetzt wäre.
18. Ich habe die Amgronn’schen Versuche mit Spänen der ge-
wöhnlichen Holzwolle wiederholt. Diese Späne sind noch zu dick
und müssen in Zukunft durch dünnere Schnitte ersetzt werden. Trotz-
dem konnte ich an denselben die Amgroxnn’schen Angaben bestätigen.
Wurden nach vorherigem Trocknen solche Fasern in einem Glas-
rohre erhitzt, das in die Dämpfe von siedendem Quecksilber eintauchte,
und durch welches ein Strom von Kohlensäure (mit Bleiacetat und
doppeltkohlensaurem Natron gewaschen, mit Chlorcaleium getrocknet
und durch Watte filtrirt) hindurchgeleitet wurde, so habe ich an den
Präparaten nachher Folgendes beobachtet:
a) Zwischen gekreuzten Nicols sind sie (die Streifen in mittlere
Azimuthe gedreht) an dünnen Stellen hell mit einem prachtvollen
Rubinroth, das an die Farbe der Gläser alter Fenster erinnert. Die
Hauptmasse wird dunkel, wenn ihre Fasern parallel oder senkrecht
zu den Schwingungen des Polarisators stehen.
b) Ich habe, auch ohne Analysator, an einzelnen Fasern, schwach,
aber deutlich die oben beschriebene Gitterwirkung beobachten können.
c) Bei derselben Anordnung, wie sub b, zeigte sich mit Drehen
des Präparats, dass Zeichnungen für gewisse Stellungen undeutlich
werden, bisweilen fast ganz verschwinden; bei einer Drehung um 90°
aus dieser Lage heraus werden sie dagegen deutlich und dunkel. Die
ausgezeichneten Lagen waren meistens nahezu parallel oder senkrecht
zur einfallenden Schwingungsebene.
Im Sinne unserer Auffassung würden sich damit feine Gitter-
strueturen verrathen, welche (falls die mikroskopische Auflösung ver-
sagt) theils parallel, theils senkrecht zur Faserrichtung verlaufen.
Das Bedenken, dass Aschenbestandtheile Ursache der Erschei-
nungen sein möchten, hatte ich anfangs. Ich habe es fallen lassen
F. Braun: Gitterpolarisation. 165
a) in Folge von Controlversuchen; b) ich habe Späne genommen, welche
einfach in der Amgroxn schen Weise behandelt waren; andere, welche
gut ausgewässert waren; wieder andere, welche mit verdünnter Salz-
säure, endlich solche, welche mit verdünnter Salzsäure und nachher
mit verdünnter Flusssäure behandelt und dann ausgewaschen waren —
alle mit demselben Ergebniss. Auch ein Imprägniren (nach dem Aus-
waschen) mit einprocentiger Chlorkaliumlösung (in der Absicht, da-
durch ein besseres Skelet zu erzielen) änderte nichts.
19. Wenn es gestattet ist, anzunehmen, dass organische Gold-
verbindungen bei der Temperatur des siedenden Quecksilbers zerstört
werden', so dürfen wir schliessen, dass das Gold als Gitterbildner wirkt.
Falls es aber, wie wahrscheinlich, die gleiche Rolle auch in anderen
Fällen übernimmt, so wird die Deutung von Bildern im polarisirten
Lichte vielfach eine ganz andere werden; die Polarisationserscheinungen
selber wird man aber vielleicht mehr, als meines Wissens bisher ge-
schah, zur Aufklärung heranziehen.
Es ist anzunehmen, dass erst mit Abständen, die gleich oder
kleiner sind als eine halbe Wellenlänge, die Gitterpolarisation eintritt
in der Weise, dass die parallel den Gitterstäben schwingende Com-
ponente stärker reflectirt wird; diess ist in Übereinstimmung mit einem
direeten Versuche des Hrn. Augroxnn.” Wenn es gestattet ist, nach
Analogie der elektrischen Gitter zu schliessen, und wenn wir ein der-
artiges als Schema zu Grunde legen dürfen, so sollte die Gitterpolari-
sation mit zunehmender Feinheit des Gitters wachsen, um einen Maximal-
werth zu erreichen und dann rasch in der Weise abzunehmen, dass
beide durchgelassene Componenten gegen Null convergiren. Dann
sind wir aber wahrscheinlich schon in der Nähe molecularer Dimen-
sionen.
Eine praktische Beobachtungsregel würde dann etwa so lauten.
Man untersuche ein Goldpräparat bis zu den Grenzen der mikrosko-
pischen Leistung. Findet sich keine Structur mehr, aber Gitterpolari-
sation, so darf auf eine submikroskopische Gitterstruetur geschlossen
werden, deren Fasern parallel den stärker ausgelöschten Schwingungen
liegen.
Eine Controle gegen wirkliche Doppelbrechung (und natürlich auch
Gitterpolarisation mit Phasenänderung) besteht darin, dass die Farbe
nicht in die complementäre umspringt durch Drehung des Analysators.
! Um diese an und für sich wahrscheinliche Annahme zu prüfen, habe ich eine
Verbindung, welche wohl zu den beständigsten gehören dürfte, nämlich Amylmercap-
tangold (im CO,-Raum), im Quecksilberdampfbad geprüft. Sie zeigte sich vollständig
zersetzt.
®2 H. Ausronn, Wiıep. Ann. 48, S.717. 1893.
166 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 21. Januar 1904.
Die gekreuzten Nicols spielen dann eine andere Rolle, als man
seither annahm. Der Analysatornicol stellt nur das bequemste Mittel
dar, um durch eine Differenzmethode kleine Unterschiede in der Hellig-
keit beider Componenten (parallel und senkrecht zu den Gitterstäbchen)
zu erkennen. Man braucht, um die »Doppelbrechung« zu sehen, sehr
intensives Licht. Hat man mit dieser Lichtstärke ohne gekreuzte Nicols
gearbeitet, so ist man meist so geblendet, dass man nach Einschieben .
des Analysatornicols anfangs nichts erkennt. Man wird nicht über-
schätzen, wenn man annimmt, dass man von dieser Intensität noch
leicht 0.0001 zu bemerken vermag unter Bedingungen, wie sie die
gekreuzten Nicols hervorbringen. Ganz anders wird es aber, wenn man
verlangt, dass man selbst einige Procent der Lichtstärke, addirt zu
einer schon vorhandenen endlichen Lichtintensität, nach Drehen des
Präparates soll unterscheiden können.'
Der Analysator müsste ersetzbar sein durch eine Vorrichtung,
welche die beiden durch das Gitter ausgespaltenen Componenten zwei
getrennten Gesichtsfeldern zuführt und sie dort, ähnlich wie bei einer
dichroskopischen Lupe, nebeneinander legt. Eine solche Anordnung
würde wichtig sein, wenn es sich um die Entscheidung handelt, ob
wahre Doppelbrechung oder Gitterpolarisation vorliegt an Empfind-
lichkeit und Bequemlichkeit wird sie die gekreuzten Nicols jedoch nicht
leicht übertreffen, weil man bei ihnen zu enormen auffallenden Licht-
stärken übergehen kann.’
20. Die oben gemachte Bemerkung ist auch zu beachten bei der
Beurtheilung vorstehender Versuche. Sie sind naturgemäss nur die
ersten Anfänge mit noch nicht ad hoc ausgebildeten Methoden, und
ich verkenne nicht, dass meine Schlüsse bisher der Lösung einer
Gleichung mit zwei Unbekannten ähnlich sind. Doch hat die Gleichung
etwas vom Charakter einer diophantischen. Es kommen noch Neben-
bedingungen hinzu, welche die Lösungsmöglichkeiten einschränken. In
der That scheint sich immer die supponirte submikroskopische Struc-
tur auch wieder makroskopisch zu reproduciren, was bei nahezu pa-
rallel neben- und übereinandergelegten feinsten Fasern auch erklärlich
! Berücksichtigt man die in Betracht komınenden trigonometrischen Factoren,
so ergibt sich für das Azimuth 45° und gekreuzte Nicols die von der auffallenden
Intensität J hindurchgehende =+JYy’, wenn angenommen wird, dass das senkrecht
zu den Gitterstäbchen schwingende Licht ohne Schwächung hindurchgeht und y einen
echten Bruch bedeutet. Bei Betrachtung ohne Analysator wird dann im einen Falle J,
nach Drehung um 90° dagegen J(r—Y)? beobachtet. Setzt man + y?’ = 0.0001, so
ergibt diess für direete Betrachtung im blossen Lichte des Polarisators eine Differenz
der Lichtstärken von 4 Procent.
® Ein diehroskopisches Ocular hat schon, wie ich später erfuhr, Ansronn im
Jahre 1888 angegeben.
F. Braun: Gitterpolarisation. 167
ist. Immerhin wird sich der ganze Kreis der Beweise erst allmählich
schliessen. Das bisher Beobachtete hat sich aber, in sich selber wider-
spruchslos, derart aneinandergefügt, dass ich am positiven Endergeb-
niss nicht zu zweifeln vermag. Wie weit die mineralogische und ins-
besondere die biologische Forschung aus dem Mitgetheilten glaubt
Nutzen ziehen zu können, muss ich dem Urtheil der auf diesem Ge-
biete Orientirten überlassen.
Ausgegeben am 28. Januar.
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Pan, an:
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169
SITZUNGSBERICHTE la
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DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER: WISSENSCHAFTEN.
21. Januar. Sitzung der philosophisch -historischen Classe.
Vorsitzender Secretar: Hr. Diers.
l. Hr. Harnack las Über einige Worte Jesu, die nicht in
den kanonischen Evangelien stehen, nebst einem Anhang
über die ursprüngliche Gestalt des Vater-Unsers.
In der Abhandlung sind 13 Sprüche Jesu, die nicht in den kanonischen Evangelien
stehen, untersucht, und zwar solche Sprüche, die auf guter Überlieferung beruhen
oder durch ihren Inhalt Anspruch darauf erheben, von Jesus zu stammen. In dem
Anhang wird gezeigt, dass Lucas statt der sog. drei ersten Bitten des Vater-Unsers
wahrscheinlich nur geboten hat: »Dein heiliger Geist komme [auf uns] und reinige
uns«. Einheitlich und fest sind daher nur die Anrede (»Vater«) und die 4.—6. Bitte
in den Evangelien überliefert. Sie sind die ursprüngliche Gestalt des Vater- Unsers.
Die Zusätze bei Matthäus lehnen sich an die jüdische Gebetspraxis an, zugleich aber
an die Verkündigung Jesu. Der Zusatz bei Lucas grenzt das Gebet als christliches
gegen das Gebet der Johannesjünger ab und stammt aus der Erfahrung des apostoli-
schen Zeitalters.
2. Hr. Coxze legte das mit Unterstützung der EpuArp GERHARD-
Stiftung herausgegebene Werk vor: Tu.Wırsann, Die archaische Poros-
Architektur der Akropolis zu Athen. Cassel und Leipzig, Fischer, 1904.
3. Der Vorsitzende legte das mit Unterstützung der Akademie
herausgegebene Werk vor: Procli in Platonis Timaeum commentaria
ed. E. Dırnz. I. Lipsiae, Teubner, 1904.
170
Über einige Worte Jesu, die nicht in den
kanonischen Evangelien stehen,
nebst einem Anhang über die ursprüngliche Gestalt des
Vater-Unsers.
Von ADpoLr HARrNACcK.
Nient von den neuen Sprüchen Jesu, die in den letzten Jahren theils
publieirt, theils signalisirt worden sind, will ich auf den folgenden
Blättern handeln, sondern von bekannten Sprüchen, die mir besonders
werthvoll zu sein scheinen, die aber trotz der tüchtigen Unter-
suchungen von Rescn und von Ropes noch manche ungelöste Probleme
bieten oder nicht genügend aufgeklärt sind. Hrn. Rescn gebührt das
Verdienst, das Material mit höchstem Fleisse gesammelt zu haben.
Hr. Ropes hat es in kurzen trefflichen Untersuchungen gesichtet. Eine
Abhandlung über die älteste Gestalt des Vater-Unsers füge ich hinzu,
weil ich zeigen zu können hoffe, dass ein gewöhnlich für apokryph
gehaltener Satz bei Lucas lucanisch ist.
I
Geben ist seliger als Nehmen.
Apostelgeseh. 20, 35: nern MNHMONEYEIN TE TON AÖFWN TOY KYPioY
IHco?, OTIı aYtöc einen MAKAPION ECTIN MAANON AIAÖNAI ÄH AAMBÄNEIN.
Zum Text: makApıoc D*Gigas Pesclitto [aber die letztere bietet dazu:
»qui dat... qui aceipit«]. Constit. Apost. IV, 3: ’Erei Kal ö KYPIoc MAKAPION
EITTEN EINAI TÖN AIAÖNTA HTIEP TON NAMBANONTA. Anastasius Sin., Quaest. 14:
"Eriei KAl Ö KYPIoc MAKÄPION EITIEN EINAI TON AIAÖNTA YTIEP TÖN AAMBANONTA. Epi-
phanius, haer. 74, 5: ‘Araeön AlAönal MAnnoNn H AAMBANEIN. Dieser Thatbestand
berechtigt nieht, mit Brass (Acta apostol. sive Lucae ad Theophil. liber alter,
sec. formam «quae videtur Romanam, 1896, p.71) in die [angebliche] erste
Ausgabe der Apostelgeschichte den Spruch in der Form zu setzen: MAKAPION
MÄANAON TON AIAÖNTA YTIEP TÖN AAMBANONTA, denn die beiden Zeugen Peschitto
und Const. App. (in der syr. Didaskalia, der Grundschrift des Const. App.,
fehlt der Spruch, und Anastasius ist wohl von Const. App. abhängig) sind
verhältnissmässig jung. Dazu kommt, dass (s. u.) »MAKAPIoc«, auf Actionen
bezogen, ungewöhnlich ist (s. u.), und es daher sehr nahe lag, die Infinitive
durch Partieipien zu ersetzen, zumal da es in der Didache (e. 1) einen Spruch
gab, der MakAPioc 6 AlaoYc lautete. Aus demselben Grunde (um das neu-
trische MAKAPION zu vermeiden) hat Epiphanius »Araeön« Statt »MAKAPION«
Harnack: Nicht-kanonische Worte Jesu. 171
geschrieben (oder Gedächtnissfehler?), und D*Gigas haben sogar MAKAPIöC
ECTIN MAANON AIAÖNAI H AAMBANEIN bieten zu dürfen geglaubt.
Aus dieser Übersicht ergiebt sich, dass auch Rescen’s (Agrapha, Ausser-
kanonische Evangelien- Fragmente, in den Texten und Untersuchungen,
Bd. 5, Heft 4, 1889, S. ı50f.) Meinung abzulehnen ist, die verschiedenen
Texte seien verschiedene Übersetzungen eines hebräischen Originals. Dieser
Meinung liegt die unhaltbare Hypothese zu Grunde, eine hebräische Saınm-
lung der Sprüche Jesu habe sich, sei es als ganze, sei es theilweise, bis
tief in das 4. Jahrhundert hinein erhalten und die Geschichte des griechischen
Textes beeinflusst. Ubrigens wäre, selbst wenn man das annehmen dürfte.
kein Anlass vorhanden, hier von dieser Annahme Gebrauch zu machen.
In der Einführungsformel bieten LP, viele Minuskeln, Vulg., Sahid., Arm.
und Aethiop. TON Aöron bez. ToY AöroY. Das ist die schlechter bezeugte und
leichtere, also falsche LA. — A°®, Minuskeln, Basil., Epiphan. und Chrysost.
lassen “IHcoY fort; die Weglassung erklärt sich leichter als die Hinzufügung,
da die Formel »der Herr Jesus« weniger gebräuchlich war als »der Herr«
und »der Herr Jesus Christus«.
Das Herrnwort findet sich in der Rede, die Lucas dem Paulus
bei seinem Abschied von den Ephesiern in den Mund gelegt hat. In
das Evangelium hat Lucas das Wort nicht aufgenommen, sei es, weil
er es damals noch nicht kannte, sei es, weil es ihm die Quellen, denen
er dort gefolgt ist, nicht boten. Dass Paulus es wirklich eitirt hat,
dafür haben wir keine Gewähr, mag man auch die Rede zu den relativ
glaubwürdigeren rechnen und sich erinnern, dass der Apostel, wie
seine Briefe beweisen, manchmal Herrnworte angeführt und sich auf
sie berufen hat. Wir können die Bezeugung des Spruchs also nicht
über die Zeit der Apostelgeschichte hinaufführen.
Die Citationsformel ist lehrreich, weil sie Worte des Herrn als
einen Complex voraussetzt und zwar als einen bekannten. Ganz
ähnlich lautet die Citationsformel im ungefähr gleichzeitigen ersten
Brief des Clemens (ce. 13): MAnICTA MEMNHMENOI TON AÖFWN TOY KYPIOY
"IHCoOP, OYc ENANHCEN AIAÄCKWN ... OYTWC TÄP EITTIEN’ "EneATe, INA EneH-
eAte Kra., vergl. Polycarp ad Philipp. 2: MmnHmonevonTec Ün eitten d KYPıoc
AlAAcKkun' MH KPinete Kra., und eine Quellenschrift der apostol. Kirchen-
ordnung (Texte u. Unters. Bd. 2, Heft 5, S. 30): mpo&neren YMin, OTE
EAlAAcKen, OTI 10 Aceenec Kran. Jesus blieb zunächst noch immer der
»Lehrer«, obgleich er als »der Christus« und »der Herr« verehrt wurde.
Das Fortbestehen des Bewusstseins, die Schüler Jesu zu sein, ob-
gleich man ihn als Herrn und Gott wusste, ist merkwürdig (s. meine
Geschichte der Ausbreitung des Christenthums, 1903, S. 286 ff.). Das
»alaAckeın« fehlt zwar in der Einführungsformel hier, aber dafür tritt
das ayYtöc ein, welches an das AaYTöc &sA erinnert.
Was die Form des Spruchs anlangt, so ist sowohl das neutrische
»MmakAPıon« auffallend als auch der mit mAnnon gebildete Comparativ.
Paulus schreibt I. Cor. 7, 40: makarıwTera A& EcTin EAN OYTWc MeinH, aber
mit mAnnon gebildete Comparative finden sich auch sonst, s. Jes. 54, I
172 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 21. Januar 1904.
(Galat. 4, 27): monnA TÄ TERNA TÄC EpAmov MAnnoN H TÄC EXOYCHC TÖN
Anara. Die semitische Grundlage schimmert hier deutlich durch (der
mit 72 verbundene Positiv). Ein neutrisches »makArıon« findet sich
in den Sprüchen Jesu sonst nieht, so häufig das Wort sonst ist (von
MmAaKaPla Enrıic ist im Titusbrief [2, 13] die Rede, aber das ist ein Sprach-
gebrauch, der den Pastoralbriefen eigenthümlich ist und mit 5 makArıoc
eeödc I. Tim. ı, ı1; 6, 15 zusammenzustellen ist). Am nächsten kommt
dem Gebrauch von makArıoc an unserer Stelle Jacob. I, 25: oYroc MA-
KAPIOC EN TA moıhceı AYToY Ecral. In ihren Rückübersetzungen haben
Sırkınson und DeLıTzscH makArıon mit 270 wiedergegeben, gewiss nicht
mit Recht: es ist das hebräische "ws oder "wsn. Der Spruch wird
durch dasselbe aus dem irdischen Eudämonismus in den Eudämonismus
der zukünftigen Zeit, die Gott heraufführt, gehoben.
Die Maxime als solche ist in ihrer Zeit nicht frappirend; sie ge-
hört zu denen, die auch die griechisch-römische Ethik hervorgebracht
hat, und zwar die der Stoa sowohl als die Epikurs.‘ Vermuthlich
findet sie sich auch bei den jüdischen Lehrern. Aber ausgezeichnet
ist sie in der evangelischen Fassung durch ihre Prägnanz und durch
das »marArıon«. Eben deshalb liegt kein Grund vor, an ihrem Ur-
sprung von Jesus zu zweifeln. Wie sie überliefert worden ist, ver-
mögen wir nicht zu enträthseln. Die Annahme, dass der Spruch in
schriftlicher Fixirung im Zusammenhang mit anderen Worten Jesu
zu Lucas und seinen ersten Lesern gekommen ist, ist trotz des Con-
texts (MNHMoNEYEIN TON nörwn) keineswegs nothwendig. Man darf sogar
sagen, dass die Annahme unwahrscheinlich ist. Hätte nämlich der Spruch
je in irgend einem Evangelium gestanden, so hätte man ihn gewiss,
namentlich seitdem sich die Apostelgeschichte verbreitet hatte, von
dort hervorgezogen. In diesem Falle wäre es erlaubt gewesen, ein
apokryphes Evangelium zu benutzen, da der Spruch durch die Apostel-
geschichte legitimirt war. Er begegnet aber nirgends unabhängig von
diesem Buch. Naiv ist die Marginalnote des gelehrten Schreibers des
Codex H (saec. fere.IX) der Apostelgeschichte zu unsrer Stelle: »’Ex
TOn Aıatäzewn«. Er wusste also, dass der Spruch auch in den aposto-
lischen Constitutionen steht (s.o.), hielt dieses Werk für ein echt aposto-
lisches und glaubte nun, Lucas habe den Spruch aus ihm entnommen.
Der Zusammenhang, in welchem der Spruch in der Apostelge-
schichte angeführt wird, ist nicht zu übersehen. Es handelt sich dort
! Für die Stoa s. Seneca, Epist. 81, 17: »Errat [!] si quis benefieium aceipit liben-
tius quam reddit«, für die Epikureer Plutarch, Moral. p. 778 C: ’Enikoypoc ToY eY
TIÄCXEIN TO EY TIOIEIN 0Y MÖNoN KAnnIoN AnnA Kal Halon [!] EINAI @Hcın. Plutarch legt dem
König Artaxerxes das Wort bei: TO TIPoceeiNAI TOY AwENEIN BACIAIKOTEPÖN EcTi. Dies
Wort führt freilich in eine ganz andere Riclıtung.
Harnack: Nicht-kanonische Worte Jesu. 173
nicht um blosses Geben oder um Geben im engeren Sinn des Worts,
sondern um Hülfeleistung jeder Art in Bezug auf die Schwachen, und
zwar um eine Hülfeleistung, zu der man sich die Mittel durch harte
Arbeit verschafft: mAnTA Yrreacıza YMIN, OTI OYTWC KOTMIÖNTAC AEI ANTI-
ANAMBÄNECBAI TON ACBENOYNTWN, MNHMONEYEIN TE TON AÖTWN TOY KYPIoY KTA.
Das Wort Jesu hat in dieser Anweisung, die sich auch in der Didache,
dem Hirten des Hermas und dem Barnabasbrief findet, die weiteste
Anwendung erhalten und ist, so gefasst, zu einer Grundregel der christ-
lichen Ethik geworden. Den christlichen Stempel aber trägt der Spruch
an seiner Form — nicht als Gebot, sondern als Seligpreisung ist er
gegeben.
Schliesslich ist noch auf eine Stelle in der urchristlichen Litteratur
hinzuweisen, die mit der unsrigen ganz nahe verwandt und gleich-
zeitig mit ihr ist. Im I. Clemensbrief (c. 2) liest man: TTAntec Te ETA-
TIEINO®PONEITE MHAEN ÄAAIONEYÖMENOI, YTTOTACCOMENOI MANAON H YTIOTACCONTEC,
HAION AIAÖNTEC H AAMBÄNONTEC", TOIC E»oAloic TO? eco? Apkoymenoı. Hat
der Verfasser die Apostelgeschichte gelesen und den Ausdruck von
dort übernommen, oder geht er direkt auf den Spruch Jesu zurück
oder trifft er zufällig mit ihm zusammen? Abhängigkeit von der Apostel-
geschichte ist in dem ausführlichen Brief (trotz e. 13, s. 0.) nicht nach-
weisbar, vielmehr spricht e. 5 gegen eine solche; Herrnsprüche hat
der Verfasser sonst nirgends in seine eigenen Worte eingeflochten,
sondern sie stets kenntlich gemacht. Also ist es wahrscheinlich, dass
er sich nicht bewusst gewesen ist, ein Herrnwort zu citiren; möglich,
dass er doch, ohne es zu wissen, von ihm abhängig ist. Lienrroor
(z. u. St.) hält die Abhängigkeit für zweifellos.
Die folgenden vier Sprüche sind den Fragmenten des Hebräer-
Evangeliums entnommen.
2.
Wer den Geist seines Bruders betrübt, (ist des schwersten
Verbrechens schuldig).
Hieronymus, In Ezech. 18,7: »In evangelio quod iuxta Hebraeos
Nazarei legere consueverunt inter maxima ponitur erimina, qui
fratris sui spiritum contristaverit.«
! Die lateinische Version, die wahrscheinlich noch dem 2. Jahrhundert angehört,
lautet: »Libenter dantes magis quam accipientes«. Das »libenter« erinnert an Seneca
(s- 0.). Der Comparativ »libenter magis« ist beim Übersetzer wohl aus Reminiscenz
an den Wortlaut des Spruchs in der Apostelgeschichte zu erklären, doch s. Rönsch,
Itala und Vulgata S. 342.
174 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 21. Januar 1904.
Zum Text: Der Spruch ist nur dwech Hieron. überliefert; der Nach-
satz ist dem Gedanken, nicht aber dem Wortlaut nach sicher und kann
daher nicht mehr hergestellt werden.
Der Gedanke ist Matth.5, 22 (auch anderen Sprüchen Jesu) so ver-
wandt, dass man keinen Grund hat, ihn in der hier vorliegenden neuen
Form als Spruch Jesu zu beanstanden. Auch Hr. Rorrs (die Sprüche
Jesu, in den Texten und Untersuchungen Bd. 14, Heft 2, 1896, S. 145)
urtheilt so, während Hr. Resc# (S. 375) meint, ein Wort Jesu sei hier
in einseitiger Weise auf die Spitze getrieben. Ich vermag davon nichts
wahrzunehmen; Matth. 5, 22 lautet doch nicht etwa schwächer? Auch
das ckanaanlizeın in der verwandten Stelle Matth. 18, 6 ist kaum anders
zu verstehen als das »contristare«.
In der griechischen Übersetzung des Hebräer-Evangeliums hat
wohl aymein Tö TInefma To? Aaenoo? gestanden (nyrein findet sich bei
Marcus und Lucas nicht, sondern nur bei Matthäus, der auch sonst
dem Hebräer-Evangelium nahesteht). Paulus schreibt Ephes. 4, 30:
MY AYTIEITE TO TINEYMA TO Arion TO? 8e0%. »Den Geist betrüben« ist viel-
leicht eine geläufige Redensart gewesen, und so erklärt sich der pleo-
nastisch scheinende Ausdruck » den Geist seines Bruders betrüben«. Aber
er ist vielleicht in der direkten Absicht gebraucht, an das »Betrüben
des heiligen Geistes« zu erinnern.‘ Will man das nicht annehmen
— es würde ein Acumen in den Spruch bringen, welches sonst den
Sprüchen Jesu fremd ist —, so muss man rıne?fma wirklich pleonastisch
verstehen, was aus der biblischen Sprache bekanntlich auch zu belegen
ist. — Ayrıein verwerthet Paulus öfters in demselben Sinn wie hier, so
vor Allem Röm. 14, 15: ei rÄP AIA BPÖMA Ö AAEN®ÖC COY AYTIEITAI, OYKETI KATÄ
ATATIHN TIEPITTATEIC. Sprüche Jesu, wie den unsrigen, hat Paulus ge-
wiss gekannt. Dass der Spruch erst aus Matthäus zurechtgemacht ist,
dafür giebt es schlechterdings keinen Anhalt. Neues lernen wir nicht
aus ihm, aber wir freuen uns doch, ihn zu besitzen.
! Es ist nicht unmöglich, dass es ein Herrnwort gegeben hat, welches vor dem
»Betrüben des (heiligen) Geistes« gewarnt; zu der oben abgedruckten Stelle aus dem
Epheserbrief sind nämlich noch folgende Stellen zu vergleichen: Hermas, Mand. X, 2:
MH EAIBE TO TINEYMA TO ÄrION TO EN Col KATOIKOYn. Pseudocyprian, De aleat. 3: »Monet
dominus et dieit: Nolite eontristare spiritum sanctum qui in vobis est,
et nolite exstinguere lumen quod in vobis effulsit.« Dazu I. Thess. 5,
19: TO TINEYMA MH CBENNYTE (s. Resch S. 215 fl., Rores S.73f.).. Eine Wurzel des
Spruchs mag Jes. 63, 10 sein: TIAPOEYNAN TO TINEYMA TO ÄTION AYTOY.
Bi
Harnack: Nicht-kanonische Worte Jesu. 175
... und niemals sollt ihr fröhlich sein, ausser wenn ihr
euren Bruder in Liebe seht.
Hieronymus, In Ephes. 5, 3f.: »In Hebraico quoque evangelio
legimus dominum ad diseipulos loquentem: “Et numquam)’, inquit,
“laeti sitis, nisiquum fratrem vestrum videritis in earitate.«
Zum Text: Auch dieser Spruch ist nur durch Hieronymus überliefert,
aber im Unterschied vom vorigen als directes Citat gegeben. Das »Et«, welches
zum Citat gehört, zeigt, dass der Spruch der Schluss eines Redestücks ist, das
wir leider nicht zu enträthseln vermögen. Die Rede war an die Jünger ge-
richtet.
Das Wort zeigt seine aramäische Fassung noch in der Super-
übersetzung, nämlich in dem »videritis in caritate«, wo sich »in cari-
tate« nicht auf das Object, sondern auf das Subjeet bezieht und das
»videre« ganz semitisch ist.
Der Spruch bildet eine schöne und eigenthümliche Parallele zu
Matth. 5, 24. Hier heisst es, die Jünger sollen nicht vor Gott treten,
ohne sich mit dem Bruder versöhnt zu haben; in unsrem Spruch wird
die Liebe, d.h. die Versöhnung, als die Bedingung jeglicher Freude
gefordert. Dass Jesus dieses so gut wie jenes gesagt haben kann,
hätte Hr. Resc# (S. 375) nicht bestreiten sollen. Was er mit seinem
»starken Ansatz zur Gesetzlichkeit« will, ist mir so unverständlich wie
Hrn. Ropzs (S. 145). Aber auch dass Jesus voraussetzt, » dass seine Jünger
sich freuen« und dies nicht missbilligt, ist nichts weniger als auffal-
lend, wenn man auch nicht auf Matth. 5, 12 verweisen darf. Übrigens
ist der Satz nicht positiv, sondern negativ gegeben.
Die Form »euren Bruder« (statt »deinen Bruder«) findet sich bei
den Synoptikern nur Matth. 5, 47 (aber im Plural).
Das Hebräer-Evangelium ist nicht, wie noch immer Einige an-
nehmen, nachträglich aus dem Griechischen zurecht gemacht worden.
Auch unser Spruch verbietet diese Annahme, da er, wie gezeigt, se-
mitisch coneipirt ist.
4.
Nieht soll ruhen der Suchende, bis er finde,
Wenn er aber findet, wird er staunen,
Staunend aber wird er zur Herrschaft kommen,
Herrschend aber wird er Ruhe haben.
Clemens Alex., Strom. II, 9,45: sınel Kal Ararık TAN Anheeıan 5 einö-
CO®0OC EK TOY BEPATIWN EINAI TNHCIOC Al ATATIHN HAH @lAOC NOMICBEIC. TAYTHC
AE APXH TO GBAYMÄCAI TÄ TIPATMATA, WC TInATwN EN DeAtATtw AEreı, Kal
176 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 21. Januar 1904.
Marteiac &n TAIc Tlaraadcecı TIAPAINDN »OAYMACON TÄ TIAPÖNTA, BABMON TOY-
TON TIPÖTON TÄC ETIEKEINA TNWCEWC YTIOTIBEMENOC«. H KAN TO Kae EBpal-
oYc eYarreniw »O BAYMACAC BACIAEYCEI«, TETPATITAI, »KA) Ö BACIAEY-
CAC AÄNATTAHCETAN.
Clemens Alex., Strom. V, 14, 96: "Em Teneı rAÄP To? Tımalov aEreı
» T® KATANOOYMENW TO KATANOOYN EZOMOIÜCAI AEIN KATÄ THN ÄPXAIAN ®YCIN,
ÖMOIWCANTA A& TENOC ExeIN TO? TIPOTEGENTOC AÄNEPÜTIW YTIO BEWN APICTOY
BloY TIPÖC TE TÖN TIAPÖNTA KAl TON ETIEITA XPÖNON«. ICON TÄP TOYTOIC EKEINA
AYNATAI'
OY MAYCcETAI Ö IHTÜN, Ewc AN EYPH,
EYPÜWN AE BAMBHOHCETA|I,
BAMBHOEIC A& BACIAEYCEI,
BACINEYCAC AE& ETTANATITAYCETAI.
Zum Text und zur Überlieferung. Die vollständige Form des
Spruchs ist jetzt sichergestellt, nachdem schon vorher Hr. Zaun (Geschichte des
Neutestamentlichen Kanons Bd.2, S. 657) das zweite Citat bei Clemens gefun-
den hatte (es war verborgen geblieben, da es nicht als Citat eingeführt ist).
Dass es die vollständige Form bietet, beweist das neue Bruchstück einer Samm-
lung von Sprüchen Jesu, welches die HH. Grensrer und Hunt publieiren wer-
den, über das sie aber schon einige Mittheilungen gemacht haben. Hier findet
sich nämlich der Spruch wörtlich oder fast wörtlich genau so wie bei Cle-
mens Strom. V, 14, 96. Diese Thatsache ist in verschiedener Hinsicht von
grosser Bedeutung. r. lehrt sie, dass in die von GRENFELL und Hun'r ent-
deckte Sammlung von Herrnsprüchen ein Spruch aus dem Hebräer-Evange-
lium Aufnahme gefunden hat; damit ist zum ersten Mal eine Quelle dieser
Sprüche aufgedeckt. 2. Entscheidet sie, wie bemerkt, zwischen den beiden
Forınen des Spruchs bei Clemens. 3. Zeigt sie, dass Clemens nicht, wie
Zaun gemeint hat, selbst aus dem aramäischen Original übersetzt hat (und
so zu seinen verschiedenen Fassungen gekommen ist), sondern dass eine
griechische Übersetzung des im Hebräer- Evangelium enthaltenen Spruchs
(also wohl auch des ganzen Evangeliums) um das Jahr 200 bereits existirte;
denn auf die Meinung kann Niemand verfallen, der Sammler der von GREN-
FELL und Hunr entdeckten Sammlung habe den Spruch aus den Stromateis
des Clemens entlehnt. Dort findet er sich ja (in der vollen und richtigen
Fassung) nicht als Herrnwort gekennzeichnet. Für die Geschichte des He-
bräer- Evangeliums ist daher der neue Fund von höchster Bedeutung. 4. Lehrt
die Stelle, wie vorsichtig man bei den Citaten des Clemens sein muss: durch
die Beleuchtung, in die er den Spruch in dem ersten Citat gerückt hat, hat
er ihn so unkenntlich gemacht, dass bisher fast alle Kritiker auf Grund die-
ses Spruchs ein sehr ungünstiges Urtheil über das Hebräer-Evangelium ge-
wonnen haben und gewinnen mussten. Nimmt man aber an, dass dem Cle-
mens der Spruch auch in der ersten Fassung, die er bietet, schon überliefert
war — und das ist nicht unmöglich, denn das 6 eayYmAcac ist nicht der ein-
zige Unterschied der beiden Fassungen —, so muss man folgern, dass es zur
Zeit des Clemens bereits zwei Übersetzungen des Hebräer- Evangeliums ge-
geben hat. Endlich 5. zeigt das Citat in seiner zweiten Form bei Clemens,
dass dieser Schriftsteller sogar Herrnworte, ohne sie kenntlich zu machen,
in seinen Text aufgenommen hat. Vielleicht verbergen sich also in seinem
grossen Werk noch andere Citate aus uralten Schriften, ohne dass wir es
wissen!
Harnack: Nicht-kanonische Worte Jesu. 1ErE7
Die Form »ÄnATTAHCETAI« findet sich auch Apoc. Joh. 14, 13 und im Hirten
des Hermas. Das Verbum eErranarmYeceai, welches die zweite Gestalt des
Spruchs bei Clemens bietet, findet sich auch Luce. 10, 6 und Röm. 2, 17.
Der Spruch ist nicht so schwierig, wie er auf den ersten Blick
erscheint: er steht in nächster Verwandtschaft mit den Gleichnissen
vom Himmelreich bei Matth. e. 13. Zur ersten Zeile (»Nicht soll ruhen
der Suchende, bis er finde«) ist das Gleichniss vom Kaufmann zu ver-
gleichen, der köstliche Perlen sucht. In beiden Fällen ist das zu Suchende
das Himmelreich; vergl. den von den HH. Grexrerr und Hunt früher
publieirten Herrnspruch: EAn MH NHCTÜCHTE TÖN KÖCMON, 0Y MA EYPHTE
THN BACIAEIAN ToY ee0Y%, Matth. 6, 33: IHTEITE A& TIPÖTON THN BACINEIAN,
und Matth. 7, 7: 6 IHT@N eyPickeı.
In der zweiten Zeile ist »eamsHekcetai« (eaymAceı) natürlich nicht
im Sinne von »durch etwas Furchtbares entsetzt werden« zu verstehen;
noch weniger ist mit Clemens an das platonische »Staunen« zu denken',
sondern es ist ein Staunen über ein überschwängliches Glück, das in
Freude übergeht. Die nächste Parallele ist Matth. 13, 44: "Omoia ecrin
H BACINEIA EHCAYPW KEKPYMMENW EN TO ATPO, ÜN EYPÜWN ÄNGPWIIOC EKPYYEN,
KAl ATIO TÄC XAPÄC AYTOY YTmÄrei Kal Twnel TIANTA Kta. In den alten
griechischen Übersetzungen des Alten Testaments wechseln &eaymacan
und eeamsHencan [eben deshalb ist die Annahme nicht nothwendig,
Clemens habe das esaymacan willkürlich eingesetzt], bez. exectkcan und
BAMBOFNTAI, EN TH EKCTÄcEeIı moY und EN T@ BAMBEIceAl Me, EeopyBlieHun und
€eamshehn (Ps. 47,6; Hiob 26, ıı; Ps. ı15, 2; Daniel 8, 17, s. Zann,
a.a.0.). An allen diesen Stellen ist das Entsetzen freilich durch etwas
Schreckliches verursacht, aber das hindert nicht, an anderen Stellen
und an unsrer Stelle ein Entsetzen, das sich in Freude verwandelt,
anzunehmen. Im Neuen Testament findet sich eamseiceA nur bei Marcus
(1,27; 10, 24. 32); hier bedeutet es überall das stutzende Staunen,
welches die Thaten und Worte Jesu erregen. Dagegen findet sich
ö eämsoc nur bei Lukas, und e. 5,9 braucht er es genau in dem Sinn,
den eamseiceA: an unsrer Stelle hat. Als Petrus den wunderbaren Fisch-
zug gethan hatte, heisst es: eAmBoc TIEPIECXEN AYTON Kal TIÄNTAC TOYC CYN
aY1®.” Mit Fug aber hat Hr. Rescu (S. 379) auch II. Clem. ad Kor. 2, 6
! Christliche Gnostiker schlossen sich an Plato an und lehrten dieses Staunen;
s. die von Clemens angeführte Stelle aus den TTaraaöceıc des Mattlıias.
® Hieraus ergiebt sich, dass Hr. Zaun auf falscher Fährte war, als er erklärte:
»Die diesseits von Schreck und Furcht Erstarrten werden im zukünftigen Aeon
als Könige über die Welt herrschen. Sprüchen wie Luk. 6, 2ı würde dieser nochı
ähnlicher sein, wenn eamselceAi die vom Lehrer des Clemens diesem mitgetheilte Über-
setzung, SAYMAIEIN aber eine willkürliche Verschönerung des Clemens wäre. Es könnte
ein Wort wie hebr. rrr (Kal und Niphal) zu Grunde liegen, welches die beiden Be-
deutungen »zerschmettert, zerbrochen werden« und »in Schrecken und Entsetzen ge
rathen« in sich vereinigte. Der hebräische Amanuensis des Clemens hätte dann nicht
Sitzungsberiehte 1904. 15
178 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 21. Januar 1904.
(EKEINO TAP ECTIN META KAl BAYMACTON, OY TÄ ECTÜTA CTHPIIEIN AnnA TÄ
nintonta) und 5, 5 (H A& Emarrenia TO% XPICTOY METÄNH KAl BAYMACTH
ecrın) verglichen. Auch an I. Petr. 2,9 (To? Ek cköToYc YMÄc KANECANTOC
EIc TÖ BAYMACTON AYTo? »&c) darf erinnert werden. eaymAzeın wird in
den vier Evangelien in demselben Sinne wie eamseiceaı vom Staunen
über die Worte und Thaten Jesu gebraucht. In einem Sinn eigener
Art steht es in den Worten Joh. 5, 20: 6 TMATHP einel TON YION Kal
n
TIANTA. ACIKNYCIN AYT® A AYTOC TIOIEI, KAl MEIIONA TOYTWN AEIZEI AYTW EPrA,
INA YMEIC BAYMÄLHTE.
Die dritte Zeile zeigt, dass die sacınela das zu suchende und zu
findende Gut ist: eamsHeeic Aa& BacıneyYcei. Dass »die Bacıneia finden «
gleichbedeutend ist mit der Antheilnahme an der Herrschaft des Messias,
zeigt der Spruch Matth. 19, 23, ferner auch I. Kor. 6, 2 und Apok. 3, 21;
20, 4. Indessen ist, wie bei den Himmelreichs-Gleichnissen in Matth. 13,
der Gegensatz der jetzigen Zeit und des zukünftigen Aeon nicht deut-
lich ausgedrückt.
Die vierte Zeile bringt die sich steigernde Satzkette durch das
ÄNATTAHCETAI (ETTANATIAYcETAI) nicht nur zu einem vollkommenen Abschluss,
sondern sie nimmt auch das oY maycetaı der ersten Zeile wieder auf
und rundet so in kunstvoller Weise das Ganze. Zu AnaTAYeın (ANA-
maycıc) s. Matth. ı 1, 28f.: Er® AnNATIAYCcw YMÄC .... EYPHCETE ANÄTIAYCIN
Talc vyxalc Ymön, Matth. 12, 43: ıHTein AnArraycın, Apok. 14, 13: na
ÄNATIAYCONTAI €K TON KöTTwNn. Das »oYk Exein AnAraycın« ist die Hölle
(Apok. 14, ıı). Am genauesten aber berührt sich mit unsrer Stelle
ein schon zur zweiten Zeile eitirter Satz aus dem 2. Clemensbrief (5, 5):
H Erarrenia TO? XPICTÖ? METÄNH KAl BAYMACTH ECTIN KAl ÄNATIAYCIC TÄC MEn-
ANOYCHC BACINEIAC . ... TI OFN ECTIN TIOIHCANTAC EIITYXEIN AYTOn; Hat der
Verfasser des Briefs unseren Spruch gekannt? Die drei Begriffe eAv-
MACTÖöC — Bacınela — AnAraycıc finden sich hier wie dort.
Die richtige Interpretation des Spruchs muss die ungünstigen Ur-
theile über ihn zerstreuen. Noch Hr. Rescn (S. 378) meinte: »Sinn und
Zusammenhang ist, verglichen mit Matth. ıı, 29, gerade der entgegen-
gesetzte. Dort die demüthige Jesusnachfolge, hier chiliastische Herr-
schaftshoffnung, aber nicht zu erreichen auf dem Wege der Selbst-
verleugnung, sondern des in diesem Zusammenhange ganz unverständ-
lichen eavmAzeın, dessen absoluter Gebrauch, wie er hier vorliegt, von
allen Anschauungen des echten Urchristenthums vollständig abweicht. «
mit eAMBHeEIC (— Ekrinareic), sondern mit CYNTETPIMMEnoc oder einem ähnlichen Wort
übersetzen sollen. Die, welche zerbrochenen Geistes, zerknirschten Herzens sind,
sollen als Könige herrschen.« Hier ist das eAmseiceAai völlig missverstanden, der
Gegensatz vom Diesseits und dem zukünftigen Aeon ist eingetragen, willkürlich ist ein
hebräischer Lehrer des Clemens eingeführt, kurz — Alles ist falsch.
Harnack: Nicht-kanonische Worte Jesu. 179
Dies ist ganz besonders verkehrt. Die Gedanken sind vielmehr sämmt-
lich als Gedanken Jesu zu belegen. Wir haben primäre Überlieferung
vor uns; Bedenken kann nur die kunstvolle Form erregen, aber auch
Matth. ıı, 28f. erregt solche.
5%
Ich wähle mir die Guten aus [habe mir ausgewählt]; die
Guten sind die, welche mir mein Vater im Himmel ge-
geben hat.
Euseb., Theophan. Syr., ed. Lex, IV, ı2 (engl. p. 234): »Die Ur-
sache aber der Scheidung der Seelen, die aus dem Hause hervorgehen
[s-. Matth. 10, 34f.], hat Er gelehrt, wie wir es gefunden haben an
einer Stelle in dem Evangelium, das bei den Juden ist in hebräischer
Sprache, wo er sagt: »Ich wähle mir die Guten aus; die Guten
sind die, welche mir mein Vater im Himmel gegeben hat.«
Zum Text: Eusebius hat das Citat in demselben Capitel zweimal
gegeben; aus der Wiederholung ersieht man, dass in der ersten Anführung
das dritte Wort (77) zu tilgen ist (s. Gressmann, Studien zu Eusebs Theo-
phanie, 1903, in den Texten u. Unters. Bd. 23, Heft 3, S. 112); ich habe es
in der Übersetzung bereits fortgelassen.
Hr. Resch (S. 394 f.) hat den im Hebräer-Evangelium überlieferten
Spruch missverstanden, wenn er sagt: »Dass der Herr gerade die
Guten sich auserwählt ..., widerstreitet sowohl der johanneischen als
der synoptischen Tradition«. Er vergleicht dann Clemens, Recog. I, 51
(»invitare venit ad regnum iustos quosque et eos qui placere stu-
duerunt ei«) und findet hier eine »judenchristliche« Anschauung, die
dem Spruch: oYk HÄneon kanecaı aıkalovc stracks zuwiderlaufe. Das ist
richtig — der so verstandene Spruch ist unchristlich und würde dem
Celsus gefallen, der die Berufung von Sündern Christus gegenüber
scharf getadelt hat —, aber der Satz hat nicht den Sinn, den Resch
ihm gegeben hat: denn ı. werden »die Guten« näher bestimmt durch
den Satz: »die Guten, welche mir mein Vater im Himmel gegeben
hat«, 2. hat man unter »den Guten« nicht moralisch Gute zu ver-
stehen. Das syrische Wort (ev) kann sehr wohl die »homines bonae
voluntatis« bezeichnen (s. den Gebrauch von "88 in‘Daniel 3, 32 und
6, ı). Hr. Preuscnen hat (Antilegomena, 1901, S. 8) übersetzt: »die
Wohlgefälligen«. Zu erinnern hat man sich an das »gute« Acker-
feld in Matth. 13, 8. 23. Auch darin irrte sich Hr. Rescn, dass er
den Spruch auf die Auswahl der zwölf Jünger bezieht. Von ihnen ist
hier nicht die Rede (s. gegen Rescn die Ausführung Zanv’s, a.a.0.
S. 702f.). Der Schwerpunkt des Spruchs ruht augenscheinlich in den
Worten: »welche mir mein Vater im Himmel gegeben hat«. Weniger
152
180 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 21. Januar 1904.
an Matth. ı1, 27 als an Joh. 17, 2. 6. 9. 24 und 18, 9 sieht man sich
hier erinnert.‘ In dieser Hinsicht ist der Spruch von nicht geringer
Bedeutung, weil er eine Brücke zum vierten Evangelium schlägt. Dass
er auf guter Überlieferung beruht, ist nieht zu bezweifeln (so auch
Hr. Rorzs). Die Annahme, dass er aus unseren kanonischen Evangelien
zurechtgemacht ist, hat nichts für sich.
6.
Worin ich euch ergreife (finde),
darin werde ich (euch) auch richten.
Zum Text. Zu der grossen Anzahl von Zeugnissen für diesen Spruch,
die CorELıer und Resch (S. Iı2ff., s. S. 227ffl., 290f.) gesammelt haben, hat
Ropes (S. 137ff.) noch mehrere hinzugefügt. Seitdem ist noch ein Zeugniss
hinzugekommen. Maruta von Maipherkat citirt in seinem Brief an den Ka-
tholikos Isaak den Spruch (s. Braun, De S. Nicaena Synodo. Syrische Texte
des Maruta von M., 1898, Nr.4, vergl. Theol. Litt.- Zeitung 1899, Nr. 2,
Col. 46): »Wie ihr erfunden werdet, so werdet ihr behandelt werden«. Der
von Resc# nur lateinisch mitgetheilte Text bei Theodorus Studita lautet
griechisch (Cozza-Luzr, 1888): OmoY ce EYPw, Ekel ce KPINO.
Wenn irgendwo, so liegt hier die Annahme nahe, dass die verschiedenen
Fassungen des Spruchs auf zwei verschiedene Übersetzungen aus dem Ara-
mäischen zurückgehen; denn Justin, der älteste Zeuge, schreibt, Dialog. 47:
EN OoIC AN YMÄC KATANAB@, EN TOYTOIc KAl KPINd. Dagegen führen fast alle
übrigen (etwa 2o Zeugen) auf die Form &n & [oion] eYpw [einmal findet sich
auch Eaw] ce, En ToYT® [ToIoYTon] KAl KPInö ce. Clemens Alex., Quis div. 40
bietet bereits eine Mischform: &»’ olc AN EYPw YMAc, Er TOYToIC KAl KPING.
Nur durch Justin, aber durch ihn auf’s bestimmteste, ist der
Spruch als Herrnwort gekennzeichnet. Nachdem er auf Grund von
Ezech. 33, 12— 20 ausgeführt hatte, dass Gott den reuigen Sünder
wie einen Gerechten annimmt, den aber, der sich von der Frömmig-
keit und dem Rechtthun abkehrt, als Sünder und Gottlosen ansieht,
fährt er fort: Aıo Kal 5 Hmeteroc KYrıoc "IHcoFc Xrictöc einen’ "En oic
AN YMÄC KATANABW, EN TOYToIc Kal KPIN®d. Fin Gedächtnissfehler des
Justin ist nicht leicht anzunehmen, am wenigsten kann er den Spruch
bei Ezechiel selbst oder in einem Ezechielapokryphon gefunden haben.
In der Folgezeit wird der Spruch in Ost und West (Cyprian) meistens
angeführt, ohne dass seine Herkunft angegeben wird; aber in den
Quaest. Pseudo-Athanasii 36 (Mixe T. 28, p. 17), bei Elias Cretensis
(Ius Graeco-Rom. lib. V, Resp. I, Frankf. 1596, p. 337) und in der
Vita S. Johanniei (Byzant. Zeitschr. III, ı, S. 150f.), drei späten Zeugen,
wird er als Prophetenspruch (eHci 6 eeöc AIA TO? TIPO@HTOY [TON TIPO®H-
! Auf Matth. 24, 31 verweist Hr. Rores (S. 149): [ol Arrenoi] EmicYNAzoYcin TOYc
EKAEKTOYC AYTOY EK TON TECCAP@N ANEmwn. Aber diese Stelle passt gar nicht, da
unser Spruch nicht eschatologisch ist.
Harnack: Nicht-kanonische Worte Jesu. 181
tön]) bezeichnet. Johannes Climacus (Miexe T.88, p. Sı2) nennt ihn
bestimmt eine »eunk To? lezekiän« und ebenso Pseudo-Athanasius
{Vitae Patrum, Micne T. 73, p. 136). Daraus zu schliessen, dass der
Spruch in einem Apokryphon Ezechiel gestanden hat, ist schwerlich
erlaubt; mit mehr Recht könnte man an einen interpolirten Ezechiel
denken. An den Rand von c. 33 (s. besonders v. 20: EKACToN EN TAlc
Öaoıc AYToY KPIn® YmAc) mag frühe schon das Herrnwort geschrieben
worden sein, das ja bereits Justin im Zusammenhang mit diesem
Capitel eitirt hat. In demselben Zusammenhang findet es sich auch
bei Hieronymus. Er schreibt p. 122, e. 3: »Iustitia iusti non libera-
bit eum in quacumque die peccaverit, et iniquitas iniqui non nocebit
ei, quacumque die conversus fuerit [Ezech. 33, 2]. Unumquemque
iudicat deus sicut invenerit. Nec praeterita considerat, sed
praesentia, si tamen vetera crimina novella conversione mutentur«.
Der Gang der Dinge ist wohl dieser gewesen: das Wort war zuerst
als Spruch Jesu überliefert; dann wurde es herrenlos, sei es, dass man
den Ursprung nicht mehr kannte, sei es, dass man absichtlich den
Autor unterdrückte, da das Wort nicht in den kanonischen Evangelien
stand; dann wurde es als Wort Ezechiel’s bezeichnet, weil es seiner
Ausführung in e.33 sehr nahe steht und vielleicht in einigen Hand-
schriften zu derselben gesetzt war.
Über den Sinn des Wortes kann kein Zweifel sein; Hieronymus
hat es richtig erklärt: »non praeterita deus considerat, sed praesentia«
(so auch Rores S. 139). An dem Gleichniss von den klugen und
thörichten Jungfrauen (Matth.25, 1—ı4) hat es eine gewisse Parallele.
Die Parallelen aus Paulus (katanamsAneın), die Hr. Resen (S. 128 £.) eitirt
— I. Thess. 5, 4! Philipp. 3,12! —, sind keine solchen. In den sy-
noptischen Evangelien findet sich KaTanamsAneın nur Marc.9,18. Ob
das Wort in utramque partem interpretirt werden darf, ist mindestens
fraglich. Es scheint drohenden Charakters zu sein. An der »Echtheit«
des Worts, d. h. an uralter, guter Überlieferung ist nicht zu zweifeln.
Dass Jesus in demselben als der Richter erscheint, ja sich selbst als
den Richter bezeichnet, hat zwar deutlichere Parallelen bei Johannes
als bei den Synoptikern, aber sie fehlen auch bei diesen nicht, s. vor
Allem Matth. 25, 3ıff. Zur Zeit wird die Echtheit dieser Sprüche
bestritten, meines Erachtens nicht mit Recht. Ist unser Spruch echt,
so ist die Beziehung Jesu auf Ezech. 33 — denn eine solche liegt
unzweifelhaft vor — von Bedeutung.
Woher haben Justin, Clemens und die ältesten Zeugen den Spruch
erhalten? Schwerlich aus mündlicher Überlieferung. Justin drückt sich
so bestimmt aus, dass man nur an eines der von ihm gebrauchten
Evangelien denken kann. Hätte man es nur mit Clemens zu thun,
182 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 21. Januar 1904.
so läge das Hebräer- Evangelium am nächsten (auf dieses scheint auch
die doppelte Übersetzung zu führen). Aber dass Justin dieses Evan-
gelium gekannt hat, lässt sich nicht nachweisen. Das Petrus-Evan-
gelium hat Justin gekannt und benutzt. Sollte es aus diesem Evan-
gelium stammen? Non liquet. — Die Vorliebe der Kirchenväter für
dieses Wort bis tief in das frühe Mittelalter hinein bedarf keiner Er-
klärung. Drückt es doch mit besonderer Prägnanz einen Gedanken
aus, der sowohl im Sinne des Trostes wie der Drohung verstanden
werden konnte und daher ein eschatologischer Text ersten Ranges war.
%
An eben diesem Tage sah er [Jesus] einen arbeiten
am Sabbath und sprach zu ihm: Mensch, wenn Du
weisst, was Du thust, bist Du selig; wenn Du es
aber nieht weisst, bist Du verflucht und ein Über-
treter des Gesetzes.
Nach Lue. 6, 4 bringt der Cod. D folgenden Vers: TA AYTA Hmera
BEACAMENÖC TINA EPFAIÖMENON TO CABBÄTW EITTEN AYTW' ÄNGPWTIE, EI MEN
OlAAc TI MoIETC, MÄKAPIOC ET’ EI AC MN OIAAC, ETMIKATÄPATOC Kal
TTAPABÄTHC EI TO? NÖMDY.
Im 6.Capitel (v. ı ff.) erzählt Lucas die auch von Marcus und
Matthäus berichtete Geschichte von den Jüngern, die am Sabbath
Ähren ausrauften und assen, und knüpft daran, wie jene, die Ge-
schichte von der Heilung des Kranken mit der starren Hand am Sab-
bath. Zwischen beide Erzählungen schiebt der Cod.D die vorstehende
Anekdote (nicht ungeschiekt nach der ersten, da beide im Freien auf
dem Felde spielen) und stellt den Vers 5 (»der Menschensohn ist ein
Herr auch des Sabhaths«) erst an den Schluss der drei Geschichten,
die dadurch zu einer Einheit zusammengeschlossen erscheinen.
Die Anekdote ist nicht ursprünglich von Lucas erzählt und aus
irgend welchem Grunde gleich Anfangs in den Handschriften fortge-
lassen worden — in diesem Falle hätte es nicht heissen können: »an
eben diesem Tage ... am Sabbath«, sondern nur: »an eben diesem
Tage —; sie ist also ein Zusatz, was ja auch an sich das Wahr-
scheinlichste ist.' Der Codex D birgt unter mehreren Schichten schlimmer
Übermalung bekanntlich auch gute (aber nicht lucanische) Überlieferung.
Das hier gebotene Stück findet sich sonst nirgends; auch besitzen wir
! Nach Hrn. Resca (S.190 f.) ist sie lucanisch und soll den ursprünglichen Zu-
sammenhang geben. Allein Resch hat sich über den merkwürdigen Anfang nicht aus-
gesprochen.
Harnack: Nicht-kanonische Worte Jesu. 183
bei keinem Kirchenvater eine Anspielung auf dasselbe." Es scheint einer
schriftlichen Quelle entnommen und schlecht herausgeschnitten zu sein;
doch kann das TA aYTA Hmera auch auf den zurückgehen, der die Er-
zählung eingefügt hat. In diesem Falle könnte die Geschichte aus münd-
licher Überlieferung stammen, ja sie könnte sich auch aus einer Gnome
entwickelt haben, weil die Situation so kurz und farblos geschildert
wird (s. Ropres S. 126). Allein sie ist doch ausreichend präcisirt, und
das Ganze weist in Einzelheiten den Typus der evangelischen Erzäh-
lungen auf. Zu eeacAmenoc vergl. Luc. 5, 27: EeeAcaTo TEAWNHN
KABHMENON, ZU EpraIömenon vergl. Matth. 21, 28: cHmeron EprAIov EN T®
ÄMTIEAÖNI, zu Änepwrie vergl. Luc. 12, 14: AnePwTIE, TIC ME KATECTHCEN KPI-
TAN KTA., zu olarc vergl. Marc. 10, 38 (Matth. 20, 22): oY« olaate Ti
Alteicee, Luc. 23, 34: oYK olaacın TI TIOI0Fcın, Luc. 9, 55: oYK OlaATe 010Y
TINEYMATÖC Ecte YMeilc; und Joh. 4, 22: Ymelc TIPOCKYNeiTe Ö OYK OlAATE,
Ymelc TIPOCKYNOTMEN Ö OIAAMEN, zu MakAPIoc ei vergl. Matth. 16,17: ma-
KAPIoc ei, Cimwn.
Was den Sinn des Spruchs betrifft, so darf man nicht übersehen,
dass das negative Glied am Schluss steht, also das betonte ist: er
wendet sich also nicht an solche, die die religiöse Freiheit ver-
schränken, sondern — bei voller Anerkennung dieser Freiheit — gegen
solche, welche sich von dem Gesetze loslösen, ohne zu wissen, was
sie damit thun — ohne den Christusglauben als neue Stufe über der
alttestamentlichen Religion erkannt zu haben, sagt man. Eine solche
Mahnung würde nicht aus den Kreisen des nachapostolischen, vul-
gären Heidenchristenthums stammen; denn dieses hat sich sehr schnell
über seine Loslösung vom jüdischen Ceremonialgesetz beruhigt oder
hat vielmehr nie Skrupel empfunden, obgleich es das Christenthum
keineswegs als Contrast zur Religion des Alten Testaments erkannt
hatte. Der Spruch müsste vielmehr in den paulinisch -johanneischen
Gedankenkreis gehören, und zwar speciell in den paulinischen. Nach
Paulus bleibt der Jude zum Halten des Gesetzes verpflichtet, so lange
er nicht die Predigt vom Kreuze Christi als des Gesetzes Ende er-
kannt und den Contrast von Gesetz und Gnade erlebt hat. Eben
dies scheint auch unser Spruch zu sagen, und Röm. ı4, 23 kann dann
mutatis mutandis hier verglichen werden: mAn ö oYk E« TICTEWC ÄMAP-
TIA ECTIN.
! Die Meinung von Hrn. Rescn (S. 188 ff.), Paulus müsse die Geschichte bez. das
Herrnwort gekannt haben (wegen Gal. 2,18, Röm. 2, 1. 3 |AnePwrte, sonst stimmt nichts],
Röm. 2, 25. 27 [tAPABATHC nömoyY] und Röm. 14, 23), ist unhaltbar. Über das Wahr-
heitsmoment, das ihr vielleicht zu Grunde liest, s. später. Noch merkwürdiger ist,
dass nach Urn. Resch auclı Jacobus das Wort gekannt haben soll, weil auch er von
TAPABÄTHC NöMOY (2, II, cf. 2, 9) spricht.
184 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 21. Januar 1904.
Aber muss der Spruch nicht anders verstanden werden und kann
er nicht doch von Jesus selbst stammen und die ganze Erzählung auf
echter Überlieferung beruhen? Mir scheint das wohl möglich, obgleich
die sonst bekannten Erzählungen über das Verhältniss Jesu zum Sabbath
nicht in dieselbe Richtung weisen. »Der Menschensohn (der Mensch?)
ist auch ein Herr des Sabbaths«, lautet anders als unser Spruch. Aber
warum soll es unmöglich sein, dass Jesus auch einmal etwas anderes
über diese Materie gesagt hat? Die Form des Spruchs bietet, wie
gezeigt, kein Hinderniss. Auch die Voraussetzung scheint mir kein
Hinderniss zu sein, dass der unbekannte Bauer, der am Sabbath auf
dem Felde arbeitete, eventuell bereits als ein »Wissender« gilt. Im
Sinne Jesu ist dieses »Wissen« ein anderes als bei Paulus. Es ist
die Einsicht, dass es auf den Kern des Gesetzes ankommt und nicht
auf die Ceremonien. Solche Einsicht setzt,Jesus bei Manchem vor-
aus, und sie war damals in der That vorhanden. Darf man also den
Spruch so paraphrasiren, dass er diejenigen selig preist, welche sich
an die äusseren Gesetzesbestimmungen nicht binden in der Gewiss-
heit, dass es auf etwas Anderes ankommt, die aber bedroht, welche
diese Gewissheit nicht besitzen, sondern die Gesetzesbestimmungen
leichtsinnig oder eigensüchtig in den Wind schlagen —, so kann hier
echte Überlieferung vorliegen. Noch ist darauf hinzuweisen, dass
der Spruch darin ein Acumen hat, dass hier die Sünde der Unwissen-
heit eine sehr schwere ist, während sie sonst als lässlich gilt, ja gar
nicht als Sünde beurtheilt wird.
8.
Wer nahe bei mir ist, ist nahe beim Vater,
Wer fern von mir ist, ist fern vom Reich.
Origenes, Hom. inJerem. XX, 3 (Lommazzsch, T.20, p. 399): »Legi
alicubi quasi salvatore dicente, et quaero — sive quis personam figu-
ravit salvatoris sive in memoriam adduxit —, an verum sit hoc quod
dietum est: Ait autem ipsi [ipse] salvator: "Qui iuxta me est iuxta
ignem est; qui longe est a me longe est a regno.«
Didymus, in Ps.35, 35 (Mıexe, T. 39, e0ol.1488): Aı6 eHcın 6 cwTHP"'
"O Erryc mov errvc TOP TIYPÖC' d A& MAKPÄN ÄTT EMOY MAKPÄN ATIÖ
TÄC Bacınelac.
Zum Text: Schwerlich ist das Citat bei Didymus unabhängig von
dem des Origenes. Am Ende des 4. Jahrhunderts ist eine selbständige Kennt-
niss jenes Apokryphons, aus dem Örigenes geschöpft hat, nicht mehr anzu-
nehmen. Dazu kommt, dass, wie bekannt, Didymus nicht nur ein Lands-
mann, sondern auch ein eifriger Leser und Verehrer des Origenes gewesen
ist. Wir haben also nur Origenes als Zeugen für den Spruch.
Harnack: Nicht-kanonische Worte ‚Jesu. 185
Wo das Citat bei Origenes beginnt, ist nicht ganz sicher. Liest man,
wie überliefert, »ipsi«, so gehören die Worte: »Ait autem ipsi salvator«
bereits zur Quelle. In diesem Falle haben wir den abgerissenen Schluss
eines Gesprächs. Allein es ist nicht wahrscheinlich, dass Origenes das Stück
so ungeschickt abgetrennt hat. Dazu kommt, dass Origenes im folgenden Capitel
Jesus mehrfach »salvator« nennt und es wenig glaublich ist, dass die Schrift,
aus der das Wort stammt, ihn ebenso eingeführt hat. Man wird daher
»ipse« zu lesen haben und die Worte: »Ait autem ipse salvator« dem Ori-
genes zuweisen (dann wird die Annahme noch einmal bestätigt, dass Didy-
mus hier den Origenes ausgeschrieben hat; denn auch er bietet »ö cWTHP«).
Unzweifelhaft hat Origenes »errYc ToY TIYPöc« gelesen, wie die latei-
nische Übersetzung und Didymus bieten; denn im Folgenden eommentirt er
»das Feuer«: »Ut enim, qui iuxta me est, iuxta salutem est, ita et iuxta
isnem est, et qui audiens me et audita praevaricans factus est vas irae prae-
paratuin in perditionem, cum iuxta me est, iuxta jgnem est.« Dennoch halte
ich »tiYPöc« für einen Lesefehler des Origenes statt TIATPöC; denn r. was
»das Feuer« hier bedeuten soll, ist unklar. Soll man nach Luk. ı2, 49 er-
klären (mYp Äneon BaneiN Em TAN FAN) oder nach Luk. 3, 16 (AYTOC YMAc BATI-
TICEI EN TINEYMATI Ärlo Kal rıyPl)? Ist vom Gericht oder vom Martyrium und
Leiden! oder vom Feuergeist die Rede? (2) entsprechen sich »Feuer« und
»Reich« durchaus nicht, während die beiden Zeilen doch ganz parallel gebaut
sind, und man demgemäss auch in der ersten Zeile einen tröstlichen Begriff
erwartet. »Vater« aber und »Reich« stehen in genauester Parallele. Dazu
kommt, dass wir unter den von GRENFELL und Hunr entdeckten Sprüchen
Jesu einen besitzen, der da lautet: "EAN MH NHCTEYCHTE TON KÖCMON, OY MH
EYPHTE TÄN BACINEIAN TOY 8E0Y° KAl EAN MH CABBATICHTE TO CÄBBATON OYK
Övecse TON TTATEPA. Hier stehen »BAcınela« und »TATHP« in Correspondenz
(vergl. Matth. 26, 29: En TA Bacınela TOY TIATPÖC MmoY)?, und ö TIATHP ist ebenso
absolut gesetzt wie an unsrer Stelle. Da endlich mypöc und rrATPöC graphisch
sich wenig unterscheiden und leicht verwechselt werden konnten, so halte
ich die Conjeetur MATPöC für geboten.
Einer Erklärung bedarf der Spruch nicht, so einfach ist er. An-
klänge an andre Sprüche Jesu fehlen nicht”, vergl. das »oY makpAn ei Amo
TAc Bacınelac TO? eeoY« Mare. 12, 34. An echter Überlieferung braucht
man nicht zu zweifeln. Wie anders ist das johanneische: » Wer mich
siehet,
siehet den Vater«, im Vergleich mit unserem: »Wer nahe bei
mir ist, ist nahe beim Vater!«
Was die Fundstelle betrifft, so hat Hr. Zanv (Gesch. des neutesta-
mentlichen Kanons II, S. 639) mit Recht bemerkt, dass man nicht wohl
an ein Evangelium denken kann (gegen Hrn. HıreenreLn, der an das
Ägypter-Evangelium denkt). Origenes hätte sich seiner Gewohnheit ge-
mäss anders ausgedrückt, wenn er den Spruch in einem Evangelium ge-
funden hätte, und er hätte einem solchen gegenüber schwerlich bemerkt:
»sive quis personam figuravit salvatoris, sive in memoriam adduxit«.
ı
2
Siehe Clemens Alex., Strom. Il, 7, 35: Kal 6 ErrYc KYPloY TIAHPHC MACTIF@N.
Barnab. 7, ır stehen Jesus selbst und »das Reich« in Parallele: oYTo, @HCIN,
Ol BENONTEC ME lAEIN Kal ÄAYACcBAl MOY TYC BACINEIAC ÖBEINOYCIN BNIBENTAC KAl TIABÖNTAC
AABEIN Me.
3
ws 4 er x N , 4 GO
Vergl. auch Ephes’ 2, 13: oi MOTE ÖNTEC MAKPAN EFENHEHTE ETYC.
186 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 21. Januar 1904,
Wir müssen daher auf die Feststellung der Fundstelle verzichten, da die
Zahl der in Betracht kommenden möglichen Schriften nicht gering ist.
Der Zweifel des Origenes braucht uns in dem Urtheil, hier echte Über-
lieferung zu besitzen, nicht zu erschüttern; denn ein Wort Jesu, das
nicht in den Evangelien stand, durfte Origenes nicht ohne Umstände
als Instanz eitiren.
3
Hast du deinen Bruder gesehen, so hast du deinen Gott
|Herrn] gesehen.
Clemens Alex., Strom. I, 19, 94: Eiaec rAP, eHci, TÖN ÄAENSÖN
coY, ElAec TÖN BEÖN COY, TÖN CWTÄPA OlMAı BEÖN EIPfCceAl HMIN TÄ NYN.
Clemens Alex., 1. e. II, 16. 70: Myvcrtikwteron A& HAH TO »Inoeı
CEAYTON« EKEelsen ElaHTTAI" Efaec TÖN ÄAERABÖN COY, EIAEC TON
BEÖN COY.
Tertullian, De orat. 26: »Fratrem domum tuam introgressum ne
sine oratione dimiseris “Vidisti‘, inquit, "fratrem, vidisti domi-
num tuum —., maxime advenam, ne angelus forte sit«.
Palladius, "*H xae’ Airyrıton TÖn monAxwn ictopia (Preuscuen, Palla-
dius und Rufinus, 1897, S. 48): Aeci Epxomenoyc TOYc ÄAENGOYC TIPOC-
KYNEIN’ 0Y TÄP AYTOYC AnnÄ TON BEON TIPOCEKYNHCAC’ EIAEC TÄP, ®HCI, TON
ÄAENBON coY, eiaec KkYpıon [om.L] Tön seön coy [für KYpıon — coy
bietet der Syrer xrıcrön].
Zum Text: Das coy nach Aaenoön ist um des Parallelismus willen
beizubehalten, obschon es Tertullian nicht bietet. Nicht mit derselben Sicher-
heit kann man sich für eeöc (Tertullian KYPioc) entscheiden. »KYPioc« wird
auch durch Palladius gestützt; denn das Fehlen des Worts bei einem
Zeugen, während alle übrigen es bieten, fällt schwerlich in’s Gewieht, zumal
da nieht »KYPioc«, sondern »eeöc« durch den Vordersatz vorbereitet erschien
und somit »eeöc« als ein Zusatz zu gelten hat, der gemacht ist, um die
Correspondenz herzustellen. Andererseits ist »eeöc« prägnanter.
Keiner der Zeugen bezeichnet den Spruch als ein Herrnwort;
sie haben ihn also nicht als ein solches gekannt; aber ı. der Spruch
ist sicher aus dem Semitischen übersetzt, wie die Fortlassung der
Conjunktion im Vordersatz beweist, 2. seiner Voraussetzung nach trägt
er alttestamentliches Gepräge, vergl. Genes. 33, 10 und Exod. 4, 16,
3. er stammt aber nicht aus dem Alten Testament, dagegen darf
man ihn wohl in den Gedankenkreis Jesu einrechnen, und er berührt
sich besonders stark mit den beiden Herrnsprüchen, sub Nr. 2 und 3,
4. hat Jesus die Worte gesprochen (Matth. 25, 40): &e’ öcon EmoifcaTte
EN) TOYTWN TON ÄAAENEWN MOY TÜN ENAXICTWN, EMoi ErtolHcATe, SO ist ihm
unser Wort wohl zuzutrauen. Natürlich darf man nicht mit Clemens
und dem syrischen Übersetzer des Palladius unter »Gott« Christus ver-
Harnack: Nicht-kanonische Worte Jesu. 187
stehen, sondern Gott selbst.‘ Bei der Erklärung des Spruchs soll man
nicht übersehen, dass das dem griechischen »eiaec« entsprechende
hebräische (aramäische) Wort einen speeielleren Sinn hat als jenes.
Auf eine ganz falsche Fährte ist Hr. Resch (S. 297) bei der Erklä-
rung des Spruchs gerathen, indem er als die innere Voraussetzung
des Spruchs die Gottebenbildlichkeit des Menschen bezeichnet hat.”
Hr. Ropzs (S.49) ist dann noch weiter gegangen und hat behauptet, der
Sinn des Citates mache wegen der philosophisch entwickelten Anwen-
dung vom Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen die Zurück-
führung auf ein Wort Jesu unwahrscheinlich. Die Gottebenbildlich-
keit darf nicht eingemischt werden. Der Spruch gehört einfach in
die Reihe der Sprüche, die die Nächsten- und Gottesliebe miteinander
verflechten, ja identifieiren (vgl. Johannes). Dass er von Jesus selbst
stammt, ist nicht gewiss, aber nicht unwahrscheinlich. Vielleicht
war er im Hebräer-Evangelium überliefert und ist frühe von dort aus
in Umlauf gekommen, ohne dass man den Ausgangspunkt mehr wusste.
10.
Oftmals haben sie begehrt, eines dieser Worte zu hören,
und hatten keinen, der (es) sagte.
Irenäus, haer. I, 20, 2 (über die Mareianer referirend): AnnA Kal
EN TO eipukenaı TTonnAkıc ErreeymHca [der alte Lateiner »concupivie]
ÄKOFCAI ENA TON AÖTWN TOYT@N, KAl OYK Ecxon |[Lat. »habui«] Ton
&poYnta [Lat. »qui diceret mihi«], Emeainontöc eacı einaı [so der La-
teiner, der Grieche bei Epiphanius: aein] AıA To? Enöc TON AnHeüc EnA
BEON, ON OYK EFNWKEICAN.
Zum Text: Sowohl Epiphanius als der alte Lateiner haben »erreey-
MHCA« gelesen, und dadurch wird der Spruch zu einer Aussage Jesu über
sich selbst; allein trotz der einstimmigen und alten Bezeugung ist die Con-
jeetur »ErteeYmHcAn« Westcorr’s (Introduetion to the study of the Gospels,
6th edit., 1881, p. 463), der auch Hr. Rorzs (S. 56) folgt, anzuerkennen. Zwar
geht Hr. Resch (S. 347) zu weit, wenn er das Logion als Aussage Jesu für un-
geheuerlich und unsinnig erklärt — wir wissen ja gar nicht, von welchen
»Worten« Jesus gewünscht hat, dass er sie höre —, aber das »ErieeYmHcA«
ist in »ETIESYMHCAN« zu verwandeln, 1. weil die Marcianer so gelesen haben
müssen; denn ihr »öNn oYKk ErNn@keicAn« führt auf diese Lesart; 2. weil Irenäus
ebenfalls so gelesen haben muss; denn er hätte nicht stillschweigend über
den Vers hinweggehen können, als stünde er in seinem eigenen Evangelium,
! Er, und nicht ein Herr überhaupt, ist auch zu verstehen, wenn man »KYPloc«
statt »seöc« liest.
2 Nicht minder verkehrt ist die Verweisung (a. a.O.) auf den apokryphen Spruch:
»Ita me in vobis videte, quomodo quis vestrum se videt in aquam aut in speculum«,
der gar nichts mit unsrem Herrowort zu tlıun hat.
188 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 21. Januar 1904.
wenn er »ErteeYMHcA« gelesen hätte; 3. weil Matthäus das erreoYmHcan (c. 13, 17)
in einem auch sonst parallelen Spruch bietet: rmoAnol TIPO®ÄTAI Kai AlkAIOI
[e
ETTIEOYMHCAN IAEIN Ä BAETIETE Kal OYK EIAAN, KAl ÄAKoYcAI A AKOYETE KAl OYK
Hkovcan. Dazu kommt, dass sich noch erklären lässt, wie es zur falschen
Lesart »erreoymHca» gekommen ist: man meinte, das »EmeAiNoNToc« fordere
sie, indem man es durch einen naheliegenden Irrthum auf das Subject des
Spruchs bezog, während es doch auf den, der den Spruch gesprochen hat,
zu beziehen ist.
Die Interpretation des Wortes macht keine Schwierigkeit, sobald
der Text richtiggestellt ist. Subjeet sind wohl wie in Matth. 13, 17
»die Propheten und Gerechten«, und das Object sind die Worte Jesu.
Das »oYK Ecxon TON EroFnTAa« ist lebendiger als das »oYk Hkovcan« des
Matth. und Lucas (10, 24), und das »Eena TON AörwN TOYTon« ist kräf-
tiger als das »A äkovere«. So darf sich die Fassung unseres Spruchs
wohl mit der kanonischen messen. Hält Jemand aber die schlichtere
Fassung der kanonischen Evangelien für die ältere, so kann man nicht
sicher widersprechen.
Wo aber hat das Wort, hinter welchem eine semitische Grund-
lage .hindurchsehimmert (oYx &cxon TON EroPnta), gestanden? Irenäus
fand sich durch dasselbe so sehr an Matthäus erinnert, dass er keine
Bemerkung gemacht hat. Aber im Matthäus steht das Wort so nicht,
und dass es nur ungenau wiedergegeben ist, ist nicht anzunehmen.
Durch Zufall erhalten Sprüche nicht eine so prägnante Fassung. Die
Marcianer, eine in der Mitte des 2. Jahrhunderts entstandene christ-
liche Secte, müssen es aus einem uns unbekannten Evangelium ge-
schöpft haben, welches mit den kanonischen sehr verwandt war, aber
doch auch von ihnen abwich (s. Zaun, Gesch. des neutestamentlichen
Kanons I, S. 740, 744). z
dar
(Denn es spricht der Herr): »Ihr werdet sein wie
Lämmer mitten unter Wölfen.« Es antwortete aber
Petrus und spricht zu ihm: »Wenn nun die Wölfe
die Lämmer zerreissen?« Jesus sagte zu Petrus:
»Nicht fürchten sollen sieh die Lämmer vor den
Wölfen, nachdem sie (die Lämmer) gestorben sind,
und ihr, fürchtet euch nicht vor denen, die euch
tödten und euch nichts zu thun vermögen, sondern
fürchtet euch vor dem, der, nachdem ihr gestorben
seid, Vollmacht über Seele und Leib hat, (sie) zu
werfen in die Feuerhölle!«
II. Clemens ad Cor. 5: (Aereı rip 5 KYpıoc)' "Ececee wc ÄPNIiA EN
MECW AYKWN. ATIOKPIBEIC a& 5 TIEtpoc ayT@ nereı" "EAN OYN AIACMAPÄ-
am
Harnack: Nicht-kanonische Worte Jesu. 189
ZWCIN Ol AYKOoI TÄ APNIa; Einen Ö Incosc TO TTerpw' MH soBeicowcan
TÄ ÄPNIA TOYC AYKOYC METÄ TO ATTOBANEIN AYTA. Kal YMEIC MH 0-
BEICBOE TOYC ATTOKTENNONTAC YMAÄC KAl MHAEN YMIN AYNAMENOYC
TTOIEIN, AANÄA BOBEICBE TÖN METÄ TO ATTOBANEIN YMÄC EXONTA EEOYCIAN
YYXÄc KAl CWMATOC, TOY BANEIN EIC TEENNAN TIYPÖC.
Jal'p:
(Es sprach der Herr): Wenn ihr bei mir versammelt
in meinem Busen seid und meine Gebote nicht thut,
werde ich euch verwerfen und zu euch sagen: Wei-
chet von mir; ich kenne euch nicht, woher ihr seid,
ihr Übelthäter.
I. Clemens ad Cor. 4: (eitten ö «Yrioc [Iuco?c: der Syrer])' "EAn
ÄHTE MET EMO? CYNHTMENOI EN TÖ KöATw moy [in uno sinu: der
Syrer] KAl MH MOIÄTE TÄC ENTOAÄC MOY, AÄTTOBAA® YMAÄC KA) Ep
YMin’ YTIATETE AT EMmoY, OYK OlAA YMmACc TIÖBEN ECcT&, EprATtaı
ANOMIAC.
Die beiden Sprüche gehören zu den apokryphen Evangelien-
eitaten des II. Clemensbriefs, der, wie ich anderswo gezeigt habe, von
dem römischen Bischof Soter herrührt (um das Jahr 167). Diese
Citate werden von Lientroor u. A. mit Recht auf das Ägypterevan-
gelium zurückgeführt, da das in ce. ı2 stehende Citat höchstwahr-
scheinlich aus ihm genommen ist.
Beide Sprüche (die Jünger Christi sind in beiden als Lämmer
bezeichnet) fehlen in unsern Evangelien, sind aber durch zahlreiche
und sehr nahe Berührungen mit ihnen verbunden:
Lue. 10, 3 (Matth. 10, 16): 'laoy [er®| Aroctemnw YMmAc üc APNnac
[Matth. mpösaTAa] En mecw aYKwn.
Matth. 10, 28: Kai MM soBeicee ATIÖ TÜÄN ÄTIOKTENNÖNTWN TO CWMA,
THN AC YYXHN MH AYNAMENWN ÄTIOKTEINAI” BOBHEHTE AL MANAON TON AYNA-
MEnoN [Kal] YYxHNn Kal COMA ATIOnECAI EN TEENNH.
Lue. 12, 4f.: m4 »oBHehTe ATIö TÜN ÄTIOKTENNÖNTWN TO CWMA Kal METÄ
TAYTA MH EXÖNTWN TIEPICCÖTEPÖN TI TIOIHCAI' YTIOAEIEW AE YMIN TINA $OBHEÄTE.
$OBHEHTE TON META TO AÄTIOKTEINAI EXONTA EEOYCIAN EMBANEIN EIC THN TEENNAN’
NA, AErW YMIN, TOYTON ®OBHEHTE.
Zu vergleichen ist auch Excerpt. ex Theodot. p. 972: »osHeHte
TOYN, AETEI, TON METÄ BANATON AYNÄMENON KAl YYXHN KAl COMA EIC FEENNAN
BANEIN, PD. 981: 58 CWTHP nEreI, »oBEIceAI AEIN TÖN AYNÄMENON TAYTHN THN
YYXHN KAl TOYTO TO CWMA TO YYXIKÖN EN FEENNH Arionecal, Justin., Apol.I, 19:
MH ©OBEICBE TOYC ANAIPOYNTAC YMÄC KAl METÄ TAYTA MH AYNAMENOYC TI TIOIÄ-
CAl, EITTE, GOBHEHTE AC TON METÄ TO ATIOBANEIN AYNÄMENON KAl YYXHN Kal
190 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 21. Januar 1904.
cömA eic reennan EMmBaneln, Clemens, Hom. XVI, 4: mA »osHeATe And To?
ÄTIOKTENNONTOC TO CWMA, TH AE YYXH MH AYNAMENOY TI TIOIÄHCAI” $OBÄEHTE
A& TON AYNÄMENON KAl CWMA KAl YYXHN EIC THN TEENNAN TO? TIYPOC BANEIN.
Lue. 13, 26f.: Kal Ärrokpieelc Epei YMin’ oYK Olaa YMAC TIÖBEN EcTe...
Kal Epei’ nerw YMin, oYK olaa |[Ymac| TIösen Ecte' Amocthcete [AnöctHTe]
AT €MmoY TIÄNTEC ErrAtai Aaıklac, cf. Justin., Apol.I, 16: Kai TöTE Erö
ayTtoic' "ArıoxwPeite AtT EMo?, EprATaı TAC AnoMiac, Justin., Dial. 76: Kai
ep@ AYTolc" "AnaxwPreite Ar Eemo?, Matth. 7, 23: Kai TÖTE Ömonoräcw AYToic
öTIı oYaerıote ernwn YMmAc' Arioxwpeite |das YrrArete unseres Textes ist
sonst bei Matthäus und Marcus häufig] Am &mo? oi Eprarömenoı TAN
ANOMIAN.
Was die erste Erzählung betrifft, so ist sie den Fragmenten, die
sich bei Matthäus und Lucas finden, überlegen; denn dort ist aus
dem ersten Satze: Ececee wc APNIA EN MEcw AYKwn eine Aussendung
(Amoctenneın) geworden. Alles aber, was sich auf die Aussendung der
Jünger in den Evangelien bezieht, ist seeundäre Überlieferung (siehe
Weizsäcker und WELLHAUSEN zu den Stellen. Dagegen hat die
Fassung in unserem Stück nichts, was Anstoss giebt. Man hat hier
vielmehr nun ein schönes Beispiel, wie Aussendungsreden entstanden
sind. Unser Citat führt uns hinter unsre Evangelien. Auch der
Satz: »Fürchtet euch nicht u. s. w.« ist bei Matthäus (Io, 28) und
Lucas (12, 4f.) ganz ohne Context und Zusammenhang, kommt also wie
aus der Pistole geschossen, während er in unserem Stück in bestem
Zusammenhang steht. Dort ist er ein Trümmerstück, hier erscheint
er in einer natürlichen Structur. Dass das nachträglich künstlich
gemacht ist, ist unwahrscheinlich. Hr. Rores (S. 146) meint: »Dass
die katholische Tradition diese wenig bedeutende Frage des Petrus
und Antwort Jesu nicht aufbewahrt hat, ist nicht befremdend.« Wenig
bedeutend? Ein merkwürdiges Urtheil! Ebenso schlecht ist der Ge-
schmack des Hrn. Resca (S. 377), der von einer »fast allzu harm-
losen Zwischenrede« des Petrus spricht.
Das erste Stück darf als aus primärer Überlieferung stammend
betrachtet werden, und wir freuen uns, dass uns noch der Spruch
herber Jenseitigkeit und Ironie Jesu erhalten ist, den unsere Evan-
gelisten unterdrückt haben: »Nicht fürchten sollen sich die Lämmer
vor den Wölfen, nachdem sie [die Lämmer] gestorben sind.'
! Ein Nachklang unseres Stücks ist vielleicht in den Acta Johannis zu consta-
tiren (Zaun, Acta Joh. S. 83: &neTeinaTo NErWN" 1A0Y ÄMIOCTENAW CE ÜC TIPÖBATON EN
MECW AYKON KAl MH oBHefc AYToYc), doch reicht wohl die Verweisung auf Matth. 10,
16.28 — die Combination lag nahe — aus. Agathangel. c.63 — auf diese Stelle ver-
weist Hr. Resc# (S. 378) — ist schwerlich, trotz des AlacrtapAccein, von unserer Stelle
abhängig (so auch Rorks S. 147).
Harnack: Nicht-kanonische Worte Jesu. 191
Die zweite Stelle ruht auf Jes. 40, II (TO Braxionı AYToY cYnAzeı
ÄPNAC KAl EN TO Könnw AYTo? Bactäceı) und Ps. 6,9 (AmöcTHTe Ar’ EmoY
TIÄNTEC Oi EPFALÖMENO! THN ANOMIAN). Sie ist gewiss nicht eine nachträg-
liche steigernde Variation von Luc. 13, 26f. (so Zann, a.a.0.1S.937),
sondern beruht auf selbständiger und, wie mir scheint, guter Überliefe-
rung. Die Anlehnung an die alttestamentlichen Stellen widerstreitet
dem nicht, und dass das »moiein TÄc EntonAc moy« in den johanneischen
und somit in einen späteren Gedankenkreis weist (RoreEs S. 58), ist
nicht sicher. Johanneisch wäre »THrein TÄc ENTonAc« (€. 14, I5. 21;
15, 10). In welchem Zusammenhang der Spruch gesagt ist, ist nicht
zu enträthseln; es braucht nicht der von Lucas ce. ı3 zu sein.
h22
Das Schwache wird durch das Starke gerettet werden.
Dieser nur einmal bezeugte Spruch steht in der sogenannten Apo-
stolischen Kirchenordnung (c. 26) in einem sehr merkwürdigen Zu-
sammenhang (s. Texte und Untersuchungen Bd. 2 H. 5, 1886, S. 28ff.):
"OTe ÄTHcen Ö AIAÄCKANOC TON ÄPTON KAl TO TIOTHPION KAl HYNÖTHCEN AYTÄ
nerwn‘ ToFTö Ecti TÖ cOMmA MoY Kal TO AIMA, OYK ETETPEYEN TAYTaıc [scil.
den ihn begleitenden Frauen] cyctAnaı Hmin [den Jüngern]. MArea
eitten’ AIA Mapıkm, OTI EIAEN AYTHN Melai@can. MaPia EITTEN’ OYKETI Er&naca,
AAN EMNÄHCEHN TÜN AÖTWN TOY KYPloY HM@N Kal Ärannlaca'" TIPOENErE FÄP
HMIN, OTE EAIAACKEN, OTI TO ÄCBENEC AIA TOY ICXYPoY CWeHcETAI.
Zum Text: Erst durch die syrische Handschrift von Malabar (jetzt
in Cambridge) haben wir den vollständigen Text dieses Stückes erhalten
(s. Nestte in der Theol. Litt.-Ztg. 1902, Nr. ı). Alle bisher bekannten
Zeugen — es waren nieht wenige — lassen nämlich die Worte nach »ere-
AACA« und vor »TIPoenere« aus, der Syrer aber bietet: »sondern ich erinnerte
mich der Worte unseres Herrn und freute mich; ihr wisst ja, (dass er uns
vorhergesagt hat).« Übersetzt man diese Worte, wie ich gethan, in’s Grie-
chische zurück, so bemerkt man, dass das Homöoteleuton (Erenaca — HrAN-
niaca) den Ausfall verschuldet hat. Das »ihr wisst ja« ist eine Amplification,
wie sie in syrischen Übersetzungen häufig ist.
Die apostolische Kirchenordnung ist wahrscheinlich in der ersten
Hälfte des 4. Jahrhunderts entstanden, aber sie ruht auf älteren
Schriften. Auch unser Stück ist das Fragment einer solehen und darf
seinem Kerne nach dem 2. Jahrhundert zugerechnet werden. Es
stammt aus der Zeit, da man (vergl. Tertullian, de baptismo) einen
Kampf gegen die Zulassung der Frauen zu kirchlichen Würden bez.
zu eultischen Functionen (abgesehen vom Wittwen- und Diakonissen-
! Siehe zu den letzten Worten die folgende textkritische Bemerkung.
192 Sitzung der pbilosophisch -historischen Classe vom 21. ‚Januar 1904.
Amt) führte" Damals hat man die seltsame Anekdote erzählt über
das letzte Mahl Jesu. Sie ist herausgesponnen aus der Erwägung, dass
die Frauen Martha und Maria bei diesem Mahle zugegen gewesen sein
müssen, dass sie aber bei der Abendmahlsfeier nicht erwähnt werden.
Hieraus folgerte man, dass sie sich etwas haben zu Schulden kommen
lassen, und daher sei das weibliche Geschlecht von der Theilnahme
an der Feier ausgeschlossen worden. Der Erzähler scheint das so zu
deuten, dass sie in Folge dessen nicht als Diakonen bei ihr. fungiren
dürfen; wenigstens glaube ich den nicht ganz klaren Bericht so ver-
stehen zu müssen. Da die apostolische Kirchenordnung eine Fiction
ist, in der die Apostel redend auftreten, so lässt sie auch Martha
und Maria in ihrer Versammlung zugegen sein und sprechen. Martha
klagt die Maria an, sie habe gelächelt” und damit das Unheil ver-
sehuldet: Maria wehrt sich: nieht gelacht habe sie’, sondern sie habe
in Erinnerung an ein Wort des Lehrers frohlockt (Aranniaca, s. Luc. I,
46: Firanniacen TO TINeYMA MoY). Dieses Wort nun, welches sie anführt,
welches also auf noch älterer Überlieferung beruhen muss, lautet:
»Das Schwache wird durch das Starke gerettet werden.«
Maria, d. h. der Erzähler, giebt ihm hier augenscheinlich den Sinn,
dass das Weibliche durch das Männliche gerettet wird, und gewinnt
so eine Autorität für die Anweisung, auf die es ihm ankommt, dass
die Frauen nur durch Männer, nämlich durch die Priester, die Heils-
güter erlangen können, nicht selbst aber als Priester fungiren dürfen.
Das ist natürlich eingetragen. Der Spruch ist aus diesem Zusammen-
hang loszulösen und für sich zu betrachten. Als solcher steht er inner-
halb der Herrenworte isolirt; dagegen klingen einige paulinische
Sprüche an (I. Thess. 5, 14; I. Cor. 12, 9; 1. Cor. 3, 7 ff. 9, 22), doch
können auch sie keineswegs als wirkliche Parallelen gelten.” Der Sinn
! Aus späterer Zeit vergl. Apostol. Didaskalia e. ı4 p. 77 (ed. Acnerıs): »Denn
er, Gott der Herr, Jesus Christus unser Lehrer, hat uns, die Zwölf, ausgesandt, das
[jüdische] Volk und die Heidenvölker zu lehren. Es waren aber mit uns Jüngerinnen:
Maria von Magdala und Maria, die Tochter des Jacobus, und die andere Maria; er
hat sie jedoch nieht ausgesandt, mit uns das Volk zu lehren. Denn, wenn es nöthig
gewesen wäre, dass die Frauen lehrten, so hätte unser Lehrer ihnen befohlen, mit
uns zu unterweisen.«
2 Was sich der Erzähler bei dem Vorwurf des Lächelns, den er die Martha
machen lässt, gedacht hat, bleibt dunkel. Ob er bloss an einen Unfug gedacht hat
oder ob er die Möglichkeit andeuten wollte, Maria habe bei den Worten: ToYTö Eerti
TO cÖMA moyY aus Unverstand oder Unglauben (wie Sarah) gelächelt? In jedem Falle
bleibt die Erzählung höchst merkwürdig.
8 OYkeErı Erenaca ist auffallend; oYkertı wird man hier schwerlich anders deuten
können als ein verstärktes oYk, aber ein soleher Gebrauch ist bestritten, s. Buwırmann,
Grammatik des Neutestamentlichen Sprachidioms 7, 1867, S. 574 f.
* Gegen Resch (S.153 f.), der Fremdes aus den Evangelien und den Briefen her-
beigebracht hat und vor Allem darin irrt, dass er in »Tö Aceenec« die durch die Sünde
a
Harnack: Nicht-kanonische Worte Jesu. 193
des Spruches ist in der Allgemeinheit zu belassen. Am besten ver-
gleicht man noch Luc. 6, 39: mATı AYNATAaı TY@nöc TY®AöN ÖAHreIN; MUr
der Geförderte und Starke vermag dem Schwachen zu helfen. Aber
auch diese Zusammenstellung ist wenig aufklärend; denn in unserem
Spruch liegt augenscheinlich der Schwerpunkt in der Verheissung
dessen, was geschehen soll. Wahrscheinlich hatte er seine Determi-
nirung an einer Erzählung, die vorausging, die wir nicht kennen.
Er kann ein echtes Herrnwort sein, aber es ist auch möglich, dass
er ein Reflex ist aus den späteren Spannungen zwischen »Schwachen«
und »Starken«. Auch die Verweisung auf das bei Origenes erhaltene
apokryphe Herrnwort: aıA ToYc Äcseno®nTac FceenoyNn KTA., passt nicht.
Schliesslich ist zu erwägen, ob »Tö Aceenec« und »Tö IcxYPön« per-
sönlich zu fassen sind, ob sie nicht vielmehr als »Fleisch« und »Geist«
oder ähnlich zu erklären sind (s. Mare. 14, 38: TO Men TINETMA TIPÖEYMoN,
H A& cAPz Aceenkc). In diesem Falle wäre nicht an ein echtes Herrn-
wort zu denken.
13.
Zur Perikope von der Ehebrecherin (Joh. 7, 53 ff.).
I. Hr. WeriHAusen hat (das Evangelium Marci, 1903, S.94. 129)
darauf hingewiesen, dass Jesus vor seiner Gefangennahme längere Zeit
in Jerusalem gelehrt haben muss. »Der Versuch des Marcus, den Auf-
enthalt in eine Woche zusammenzudrängen, misslingt; der Stoff wider-
strebt dem an sich etwas unsicheren Schema der sechs Tage, in das
er gezwungen werden soll. ... Und wenn er c. 14, 49 (ef. Matth. 26, 55;
Luce. 22, 53) sagt: »Ich bin doch täglich bei euch gewesen und habe
im Tempel gelehrt,« so reicht ein zweitägiges Lehren (Mare. 11, 15
bis 12, 38) nicht aus, um xae’ Hmeran zu rechtfertigen.«e Diese Er-
wägung ist richtig. Zum Lehren Jesu im Tempel in jener Zeit siehe
auch noch Mare. 12, 35; Luc. 19, 47: Kal Än AlAAckun TO KA®” HMEPAN
En TO iepß, Luc. 20, I: Kal Ereneto En MIA TÖN HMEPÜ@N AIAÄCKONTOC
AYTO? TON AARON EN TO iep@, vor allem aber Luc. 21, 37: Än a& TÄc
HMEPAC EN TO IEPÖ AIAACKWN, TÄC A& NYKTAC EEEPXÖMENOC HYAIIETO EIC TO
Öroc TO Kanoymenon "Erramwn. Bestätigt wird ein mehrtägiges Lehren
Jesu im Tempel durch die Perikope von der Ehebrecherin. Diese Peri-
kope stammt aus einem Evangelium, und zwar, wie ich Texte und
Unters. Bd. ı3 H.2 S.5off. wahrscheinlich gemacht habe, aus dem
Petrusevangelium. In einem Theil unserer Handschriften ist sie nach
Joh. 7, 52 gestellt, während die Mss. der Farrargruppe sie, chrono-
geschwächte Menschenwelt und in »Tö IcxYpön« die Kraft, welche in Christus erschie-
nen ist, erkennen zu müssen meint.
Sitzungsberichte 1904. 16
194 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 21. Januar 1904.
logisch richtig, nach Luc. 21, 38 bieten; denn in dem Evangelium,
dem das Stück entnommen ist, ist sie unzweifelhaft im Zusammenhang
mit Jesu letzten Reden erzählt. Das Stück beginnt nämlich mit den
Worten: Kal ETIOPEYeHcAN EKACTOC EIC TON OIKON AYTOF', "IHcoFc A& Eno-
peyeH eic TO "OPpoc TÜN "EnAlwN. ÖPEPOY A& TIÄNIN TIAPEFENETO EIC TO IEPÖN,
KAl TIÄC 6 nAOC HPXETO TIPÖC AYTON, KAl KABlIcac EAlAAcKEN AYToYc. Wir
sehen hier, dass sich eine förmliche Gewohnheit herausgebildet hatte:
am Tage lehrt Jesus im Tempel — das Volk weiss ihn bereits dort
zu finden —, und Nachts ist er auf dem Ölberg. Luc. 21, 37 erhält
hier die willkommenste Bestätigung.
2. Die Frage der Schriftgelehrten und Pharisäer in Bezug auf
das im Ehebruch ertappte und vor Jesus gestellte Weib: en T® nömo
Mwschc ENETEINATO TÄC TOIAYTAC NIBÄIEIN’ CY OYN TI AEreıc; wird durch
die spätere Interpolation: TOFTO A& EnErON TIEIPAIONTEC AYTON, INA EXWCIN
KATHFOPEIN AYToY, verdunkelt. Die Ausleger, der Richtung folgend, in
welche die Interpolation weist, sind daher auch in Verlegenheit. In-
wiefern konnte die Antwort, die Jesus gab, Anlass zu einer Anklage
bei der römischen Obrigkeit werden? Mochte er mit Moses sich ein-
verstanden erklären oder milder urtheilen — die Entscheidung konnte
ihm vor dem römischen Forum nicht schädlich sein. Die Frage ist
daher anders zu verstehen. Durch seinen Einzug in Jerusalem und
die stürmische Tempelreinigung hatte er sich als Messias bekannt. Die
Prophezeiung der Zerstörung des Tempels war wahrscheinlich auch
schon bekannt. Die jetzt an ihn gerichtete Frage setzt seinen An-
spruch, der Messias zu sein, voraus und erhält erst von hier ihr
Acumen: »Moses hat befohlen, solehe Weiber zu steinigen: was sagst
Du«? Es ist nicht nöthig anzunehmen, dass die Frage als eine ver-
sucherische im bösen Sinne gemeint war; ja der überraschend schnelle
Ausgang der Geschichte (dass einer nach dem anderen beschämt ab-
geht) legt diese Absicht nicht nahe. Hatten es die Fragenden darauf
abgesehen, Jesus in schwere Verlegenheit zu setzen, ja ihn um den
Hals zu bringen, so begreift man ihre Beschämung und ihren schnellen
Rückzug nicht. Begreiflich aber ist derselbe, wenn die Fragenden
in gutem Glauben Jesus um eine Entscheidung angingen. Die Frage
war ja wirklich eine brennende, da das Gebot des Moses zu hart
erschien. Indessen unser Berichterstatter, der die Schriftgelehrten und
Pharisäer als die Fragenden einführt, hat bereits an eine versucherische
Frage gedacht, wenn auch nicht mit der Absicht, daraus eine Anklage
vor der römischen Obrigkeit eonstruiren zu können.
! Hr. Weiss nennt diese Worte einen ungeschiekten Übergang, den der Inter-
polator gemacht hat (Joh. Ev., Meyer 9. Aufl. S.263); aber warum sollen sie nieht der
Vorlage angehören, die falsch abgeschnitten ist? Als Übergang sind sie zu ungeschickt.
Harnack: Die ursprüngliche Gestalt des Vater- Unsers. 199
3. Bei der Beurtheilung des Verhaltens Jesu ist Alles abzuweisen,
was jenseits der Richtlinie liegt: »Richtet nicht! Ich richte nicht«
(vergl. Luc. 12, 14: TIc me KATECTHCEN KPITHN Ä MEPICTAN €o Ymäc;). Speciell
der Gedanke an Sündenvergebung ist fernzuhalten. Um so wichtiger
und, eindrucksvoller sind die Worte: ToPevYoy, ATO TO? NYN MHKETI
ÄmAPTAane. Die Besserung ist das Entscheidende.
Anhang.
Die ursprüngliche Gestalt des Vater-Unsers.
Unsre neueren kritischen Ausgaben bieten das Vater-Unser in der
Lucanischen Form übereinstimmend also (Lue. 11, 2—4):
TTATer, Arıacettw TO ÖONOMA coY'
EneATw H BAcinelA CoY’
TÖN APTON HM@N TON ETTIOYCION AlAOY HMIN TO KAO HMEPAN,
KAl Avec HMIN TÄC ÄMAPTIAC HMON, KAl TÄP AYTOI A®IOMEN
TTANTI Ö®EINONTI HMIN,
Kal MH EICENETKHC HMAC EIC TTEIPACMÖN.
Von der Gestalt bei Matthäus unterscheidet sich diese ı. durch
das Fehlen der Worte (bei rrATer) »uimon 5 En Toic oYranoic«, 2. durch
das Fehlen der sogenannten 3. Bitte »renHeftw TO BenHMA coY üc EN
OYPAN® Kal Em rAc«, 3. durch das Fehlen der sogenannten 7. Bitte
»AnnA PFcal HmAc ATIO TO? TIONHPO?«, 4. durch die Übersetzungsvariante in
der 4. Bitte für »Aöc Amin cHhmeron«, 5. durch die Übersetzungsvarianten
in der 5. Bitte für »TA ösveınAMmATA« und für »üc Kal HMelc A®HKAMEN TOIc
Öveinetaıc HMOn«.'
Die Mehrzahl der Kritiker sieht in der Lucanischen Gestalt die
Urgestalt des Vater-Unsers, in der des Matthäus aber eine spätere
Erweiterung. Hr. Rescn dagegen (Texte u. Unters. V Heft 4, S. 398.
und X Heft 2, S. 228 ff.) kehrt das Verhältniss um: Lucas habe »nach
seiner Gewohnheit« verkürzt. Dazu behauptet derselbe Kritiker, Lucas
habe nicht »eneAtTw H Bacıneia coy« geschrieben — dies sei eine spätere
Conformation mit dem Matthäustext —, sondern »eneetw TO TINE?MA coY
TO Arıon €® HMAC Kal KABAPICATW HMAc«. Beigetreten ist ihm meines Wissens
nur Hr. Brass, der muthig genug gewesen ist, diese Worte in den
von ihm recensirten Text des Lucas aufzunehmen (Evang. sec. Lucam,
1897, p. XLIIf., 51). Da bisher kein berufsmässiger Exeget diese Lesart
! Auch im Hebräerevangelium hat das Vater- Unser gestanden; wir wissen aber
von der Gestalt, die es dort hatte, nicht mehr als die eine, freilich besonders wich-
tige Thatsache, dass das Wort, dem das »erioYcioc« entspricht, dort mähär (= len-
demain) lautete.
16*
196 Sitzung der philosophisch historischen Classe vom 21. Januar 1904.
anerkannt hat und Rescn und Brass auf halbem Wege stehen geblieben
sind'!, ist es nothwendig, die Frage auf’s neue zu erörtern, zumal da
das handschriftliche Material zu Gunsten der merkwürdigen Lesart sich
vermehren lässt. Aber auch noch an einer anderen Stelle scheint mir
der Text nicht sicher zu sein: ist »#Hmön« nach Arron bei Lucas wirk-
lich zu lesen? — Ist der Lucastext correct hergestellt, so tritt das
Problem der Urgestalt des Vater-Unsers in eine ganz neue Beleuchtung.
ik:
Der Thatbestand in Bezug auf die sogenannte ı. und 2. Bitte bei
Lucas ist folgender:
1. Fast alle unsre Handschriften und Versionen bieten sie in der
Fassung, wie sie oben gegeben sind, aber die grosse Mehrzahl unter
ihnen bieten auch die Sätze des Matthäus als Interpolationen, also die
3. und 7. Bitte und den Zusatz zur Anrede; nur einige älteste bieten
sie nicht. Es kann also kein Zweifel sein, dass der Text des Lucas
schon frühe nach dem des Matthäus corrigirt worden ist.
2. Dagegen fehlt im Minuskel-Codex 700 (GRrEGoRY), al. 604,
Brit. Mus. 2601 Egerton’, saec. XI. die zweite Bitte (»Dein Reich
komme«); an ihrer Stelle stehen die Worte: "Eneetw TO TINEFMA coY
TO ArION €’ HMAC Kal KABAPICATW HMAc. Derselbe Thatbestand liegt im
Cod. Vatiean., olim Barb. IV, 31 (Nr. 214 von Sopen)” vor; nur lauten
hier die Worte: ’Eneetw coY TO TINE$MA TO ÄTION KAl KABAPICATW HMAC.“
Beide Codices weisen im Übrigen die bekannten Interpolationen aus
Matthäus auf.
3. Gregor von Nyssa lässt in seiner Auslegung des Vater-Unsers
die Worte »Dein Reich komme« ganz bei Seite, hat sie also in seinem
Lucas nicht gelesen und erklärt nur obige Bitte um den Geist (De
orat. dom. 3,1 p.737ff.). Dreimal führt er die Worte an, das erste
Mal in der Form: e&reetw TO Arion TINEYMA CcoY €® HMAC KAl KABAPICATW
HmAc, das zweite Mal lässt er &o’ Hmac fort, das dritte Mal stellt er
es nach &neetw und schreibt T5 rınefma TO Arıon ohne cov. Überein-
stimmend mit Gregor schreibt Maximus Confessor in seiner Auslegung
des Vater-Unsers (ad Matth. 6, 10, Mine Bd. 90 Col. 884): ö EnTarea
MaTeAlöc ®HCI BACINEIAN AANAXO? TÜN EYATTENICTÜN ETEPOC TINEYMA KEKAHKEN
ÄTION, ®ACKWN " ENBETW COY TO TINEYMA TO ÄTION KAl KABAPICATW HMAc. Maximus
! Hr. Horrzuann hat sich unsicher ausgesprochen (Handeommentar’?, 1892, S.1T5).
®2 Edid. Hoskıer, 1870, p. 32.
® Geschrieben im Jahre 1153 von dem Presbyter Manuel, Konk&anaPoc ToY ArioY
CTesanitoy.
* Gütige Mittheilung des Freiherrn von Sopen iun.
Harnack: Die ursprüngliche Gestalt des Vater-Unsers. Io )T
mag von Gregor abhängig sein (Comgeris, Zaun), aber sein Zeugniss
bleibt doch werthvoll. Hätte er niemals diese LA selbst gelesen,
so hätte er sie schwerlich auf die blosse Autorität Gregor’s einge-
führt.
4. Marcion (um 140) ist unser ältester Zeuge für den Text des
Lucas. Wie hat er gelesen? Von Tertullian (adv. Marc. IV, 26) er-
halten wir Kunde (vergl. Zaus, Gesch. des neutestamentlichen Kanons
2.Bd. S. 471): »Denique sensus orationis quem deum sapiant, re-
»cuius et in primordio spiritus super aquas ferebatur«..... »eius
regnum optabo venire«.... »quis dabit mihi panem cotidia-
num«?.... »quis mihi delieta dimittet«?.... »quis non sinet
nos dedueci in temptationem?« Dass Tertullian hier nicht seinen
Text des Vater-Unsers dem Marcion unterlegt, zeigt De orat. 2ff. (Ter-
tullian selbst befolgt den gewöhnlichen Text)’; dass er treu referirt,
beweist die Thatsache, dass er nur fünf Bitten aufführt. Also hat
Mareion an erster Stelle eine Bitte um den heiligen Geist gelesen?,
an zweiter die Bitte um das Kommen des Reiches. Er stimmt also
mit den bisher aufgeführten Zeugen überein; aber während sie
die Bitte um den Geist statt der zweiten Bitte bieten, bietet
Marcion sie statt der ersten.
5. Noch sind zwei indirecte Zeugen zu nennen. In den Acta
Thomae (ce. 27 Bonner) heisst es*: ’Enee TO Ärıon TINEFMA KAl KABAPICON
TOYC NE@POYC AYTÖN KAl THN Kapalan, und in der Liturgie von Konstan-
tinopel (p.109 Swamson)’ wird der Geist also angerufen: “Enee...
KAl KASAPICON HMAC.
Der Thatbestand in Bezug auf das »#Hmön« in der vierten Bitte
ist folgender: fast alle Zeugen bieten es; aber im Syrus Sinaiticus,
diesem unschätzbaren Zeugen, fehlt es, und Marcion las nach dem
Zeugniss des Origenes »ÄPToNn coY«.
! Dass Maximus nicht mehr gewagt habe, den Evangelisten, der dies geschrie-
ben haben soll, mit Namen zu nennen (Zaun), ist eine seltsame Annahme, da er doch
sagt, dass es ein Evangelist ist, der die Variante bringt.
® Gegen eine hier einschlagende Hypothese von Cnase (Texts and Stud. I, 3,
p- 26) s. Zaun, Theol. Litt.- Blatt 1892 S. ıız3f., Gesch. des neutestamentlichen Kanons
2. Bd. S. 1015f.
® Wie die Bitte formulirt war, lässt sich nach Tertullian’s verkürzenden Mit-
theilungen nicht entscheiden. Nichts spricht aber dagegen, dass sie wie bei Gregor,
Maximus und in den beiden Minuskel- Codices gelautet hat. Aus dem »super aquas«
‘ könnte man sogar auf &® HmAc schliessen.
* Hierauf hat Hr. Rescn zuerst hingewiesen.
® CHAsE p. 29.
198 Sitzung der philosophisch -historischen Clssse vom 21. Januar 1904.
2.
Was die ursprünglichste Form der Bitte um den heiligen Geist
betrifft, so mag man die Varianten TO TInefmA covY TO ÄrIoN, COY T. TIN.
T. Är., TO ÄF. TIN. coy, TO TIN. T. Är. auf sich beruhen lassen; aber nicht
ganz gleichgültig ist, ob &e’ HmAc ursprünglich ist oder nicht. Der
Vaticanus, Maximus und Gregor (an der zweiten Stelle) bieten es
nicht. Die Zeugen halten sich also — wenn man Marcion als un-
sicher ausser Betracht lässt — die Waage; die Hinzufügung ist aber
leichter erklärlich als der Wegfall (s. Act. 1,8; 11,15; 19,6, wo es
überall beim Kommen des Geistes steht). Dazu kommt vielleicht noch
ein anderes: Der Cod. D, der sonst das Vater-Unser bei Lucas in der
aus Matthäus interpolirten Gestalt bietet, formulirt die erste Bitte so:
ÄTIACOHTW TO ÖNOMA coY €» HmAc. Indem man behauptete, dass das
»&® HmAc« schlecht zu dieser Bitte passt, meinte man hier ein Trüm-
merstück aus der Bitte um den heiligen Geist erkennen zu können.
Schwerlich mit Recht: denn nur für einen Griechen, nicht für einen
Semiten ist ÄrıaceiTw TO ÖnoMA coy €e Hmac anstössig.' Richtiger könnte
man umgekehrt argumentiren, »&e’ #HmAc« habe ursprünglich zu Arıac-
ehTw TO ÖnoMmA coy gehört und sei dann zu »Eneetw« geschoben worden.
Dies ist um so wahrscheinlicher, als unter der Voraussetzung, die
erste Bitte und die Bitte um den Geist seien bei Lucas ursprünglich,
das Hmelc nur in der ersten Bitte fehlen würde, während es in allen
übrigen Bitten steht. Ich würde somit kein Bedenken tragen, das
€» HmAc zur ersten Bitte zu ziehen und aus der Bitte um den Geist
zu streichen, wäre es gewiss, dass Lucas die erste Bitte wirklich
geboten hat (s. dagegen unten).
3.
Stammt die Bitte um den heiligen Geist von Lucas selbst oder
ist sie nachträglich an Stelle einer anderen Bitte eingeschoben?
Mir scheint, dass nach methodischen Grundsätzen schon der
äussere Befund nahezu entscheidet. Bei Marcus und Lucas haben
stets die Lesarten den Vorzug, die nicht mit Matthäus stimmen;
denn Conformationen mit dem Text dieses Evangelisten begegnen wir
auf Schritt und Tritt. Dass aber gerade beim Vater-Unser Matthäus
auf's Stärkste den Lucastext nachträglich beeinflusst hat, ist allgemein
zugestanden. Man wird daher auch den letzten Schritt thun müssen.
! Nur die Form des Gedankens, nicht der Gedanke selbst, musste bei Griechen
Anstoss erregen. Der Gedanke lag vielmehr überall nahe; vergl. schon die ältesten
Ausleger: »der Name soll bei uns geheiligt werden«.
Harnack: Die ursprüngliche Gestalt des Vater- Unsers. 199
Ferner, woher sollte ein Späterer, wenn er das Vater-Unser bei
Lucas in derselben Form las wie bei Matthäus, den Muth genommen
haben, diese Form zu corrigiren und etwas ganz Neues einzusetzen?
Und welches Motiv soll ihn geleitet haben? Die Bitte um das
Kommen des Reiches konnte nicht einmal einem radicalen Spiritualisten
anstössig sein. Denn wie leicht war sie umzudeuten! Umgekehrt
aber — wie nahe lag es, den Lucastext auch hier mit Matthäus zu
conformiren, zumal, nachdem sich die von Matthäus gebotene Form
in den Gottesdiensten durchgesetzt hatte!
Endlich, wenige Zeilen nach dem Vater-Unser (s. ec. 11,13) steht
bei Lucas der Satz: ei oYn Ymeic TIONHPOI YTIAPXONTEC OIAATE AÖMATA ÄTABÄ
AIAÖNAI TOIC TEKNOIC YM@N, TIOCW MAANON Ö TIATHP Ö EE OYPANOY AWCEI TINEFMA
ÄrIon Tolc AlToYcın AYTön. Bei Matthäus lautet dieser Spruch (7, ı1):
& RER Awceı AraeA TOIc AITOFcIın AYTön. Man erkennt also, dass Lucas
das mıne?mAa Arıon in Sprüche Jesu eingefügt hat, wo die Überlieferung
etwas Anderes bot, dass er die Bitte um den heiligen Geist als die
erste und wichtigste voraussetzt, und dass er sie unmittelbar nach
dem Vater-Unser erwähnt. Welche Bedeutung aber überhaupt das
tıne?ma Arıon bei Lucas hat (eine Verwandtschaft mit Johannes!), braucht
hier nicht ausgeführt zu werden. Es ist ein Centralbegriff in den
Erzählungen der Apostelgeschichte, und besonders kommen e.1,8;
II, 15; 19,6 unserer Stelle sehr nahe. Was aber das »KaearıcAtw«
betrifft, so steht in der Apostelgeschichte e.15,8f. die schlagende
Parallele: AoYc TO 1Inefma TO Arıon ... TA TIICTEI KABAPICcAC TÄC KAPAIAC AYTON.!
Aus diesen Gründen” darf man meines Erachtens nicht zweifeln,
dass Lucas die Bitte um den heiligen Geist im Text des Vater- Unsers
geboten hat. Dass sie sich heute bei nur wenigen Zeugen des Textes
noch findet, ist kein Gegengrund; denn ı. sind die Zeugen, wenn
man sie nicht nur zählt, sondern auch wägt, sehr erheblich, 2. sind
die Minuskeleodices auf diese Lesart bisher noch nicht untersucht
worden; ganz zufällig ist man auf zwei Zeugen gestossen: es können
zehn oder zwanzig oder noch mehr sein, welche die Lesart bieten°,
! In den Evangelien findet sich das Wort in übertragener Bedeutung nicht; in den
Briefen ist es nicht selten, vergl. Paulusbriefe, Ilebräer-, Titusbrief, I. Joh. und Jacobus.
® Noch ein wichtiges Argument wird am Schluss der Abhandlung zur Sprache
kommen. — Eine schlagende Parallele ist die Entdeckung, dass der Lucastext an
einer ebenfalls solennen Stelle nach Matthäus corrigirt worden ist. Lucas schrieb bei
der Geschichte von der Taufe Jesu: »Mein Sohn bist du; ich habe dich heute ge-
zeugt«; aber dafür sind sehr frühe schon die Worte eingesetzt worden: »Du bist mein
lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe«.
® Leider haben wir auch vom grossen textkritischen Werke Soven’s hier keine
Aufschlüsse zu erwarten, da er Lucas rı nicht als Stichproben-Capitel zur Unter-
suchung der Minuskeln ausgewählt hat. Immerhin aber verdanken wir ihm einen
neuen Zeugen (Ss. 0.).
200 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 21. Januar 1904.
3. grade beim Vater-Unser musste sich der Matthäus-Text schnell
durchsetzen und Entgegenstehendes verdrängen; dazu: es giebt im
Neuen Testament nicht wenige alte, ja ursprüngliche Lesarten, die trotz
der Menge der Handschriften und Versionen nur durch einen oder ein
paar Zeugen überliefert sind.
4.
Wo stand nach Lucas ursprünglich die Bitte um den heiligen Geist?
Marcion las: TTArer, Eneetw TY Arıon TINETMA coy |[Ee’ HMmAc] Kal Kaea-
PICATW HMAc!" Eneetw H BACIKEIA COY.
Die übrigen 4 Zeugen bieten: TIATep Arıaceftw TO DNOMA coY'
Eneetw TO TINETMA cov TO Arion |E® HmAc]| Kal Kaearichtw HmAc.
Hätte man nur die Wahl zwischen diesen beiden Formen, so wäre
wohl die zweite zu bevorzugen; denn das doppelte &neetw, dessen
Sinn hier und dort ein verschiedener ist, befremdet. Aber wie kam
Marcion dazu, die Bitte um die Heiligung des Namens, wenn er sie vor-
fand, auszustossen? Etwas begreiflicher wäre bei ihm die Ausstossung
der Reichsbitte. Aber freilich kann man auch umgekehrt fragen, wie
kamen die übrigen Zeugen dazu, die Reichsbitte auszumerzen, wenn
sie ursprünglich war? Eines ist gewiss: entweder Marcion oder
die übrigen Zeugen sind bereits durch den Matthäustext be-
einflusst gewesen. Dann aber ist, da sich Ausmerzung überhaupt
nicht erklären lässt, die Schlussfolgerung m.E. geboten, dassim Lucas-
text weder die ı. noch die 2. Bitte gestanden hat. Dass die
3. Bitte bei ihm gefehlt hat, aber schon sehr früh eingesetzt worden
ist, gestehen alle zu. RescH und Brass sind einen Schritt weiter ge-
gangen und haben erkannt, dass auch die 2. Bitte ursprünglich gefehlt
hat und erst nachträglich hinzugefügt worden ist. Sie glaubten aber,
trotz des Gegenzeugnisses des Marcion, die erste Bitte für Lucas fest-
halten zu können. Aber eine Ausmerzung durch Marcion ist unerklär-
lich. Man muss den Weg hier bis zu Ende gehen, zumal da die drei
ersten Bitten bei Matthäus nicht leicht zerrissen werden können: Lucas
selbst hat statt der drei ersten Bitten nichts anderes geschrieben, als
TTAtep, EneeTw TO Arıon TINEYMA coY [Eo HMAc| Kal Kaeapıcarw HmAc. Diesem
Texte ist aus Matthäus bald die eine, bald die andere Bitte (d. h.
die ı. oder dje 2.) hinzugefügt worden, und zwar schon in frühester
Zeit; zuletzt, aber noch im 2. Jahrhundert, ist die Dreizahl der von
Matthäus gebotenen Bitten an die Stelle der Bitte um den Geist
gesetzt worden.
! Dass Marcion so gelesen hat, braucht man nicht in Zweifel zu ziehen; Ter-
tullian giebt in seinem Referate des marcionitischen Vater-Unsers nur die Stichworte
(s. oben).
uni
Harnack: Die ursprüngliche Gestalt des Vater- Unsers.
201
Diese aus dem textkritischen Befund sich nahelegende Annahme
bestätigt sich aus inneren Erwägungen: zur Bitte um den heiligen
Geist passt weder die Bitte um die Heiligung des Namens recht, noch
die Bitte um das Kommen des Reichs. Sie passen weder ihrem In-
halte noch ihrer Form nach. Sie sind kurze gedrungene Gebetsseuf-
zer eschatologischer Färbung (s. Zaun in seinem Matthäuscomm.
z. d. St.); die Bitte um den Geist aber bezieht sich auf die Gegen-
wart, und es ist ausdrücklich gesagt, was der Geist soll: er soll (die
Herzen) reinigen. Das liegt in einer ganz anderen Richtung als die
drei ersten Bitten bei Matthäus.!
Was das »#mön« in der 4. Bitte betrifft, so scheint mir die Auto-
rität des Syrus Sinaiticus stark genug, um es ernstlich zu gefährden.
Auch hier scheint eine Conformation mit Matthäus vorzuliegen (leider
fehlt der Matthäustext an dieser Stelle im Syr. Sinait.). Dazu kommt,
dass die Lesart des Marcion »ÄPTon coy« — gewiss eine Willkür —
sich leichter erklärt, wenn er ein absolutes »Apron«, als wenn er
fand.
»APTON HMON«
>.
Die beiden Formen des Vater-Unsers bei Matthäus und bei Lucas,
richtig wiederhergestellt, erweisen sich in ihrer ersten Hälfte als sehr
verschieden. Wie ist über ihre Ursprünglichkeit zu urtheilen?
Lueas. Matthäus.
TTArter' TTAtTep HMO@n 5 En Tolc OYPANoIc'
Eneetw TO ÄTION TINETMA cov [Ee
Hmäc] KAl KABAPICATW HMAC'
TON Äpron |HM@N?| TON Erioycion
AlAOY HMIN TO KAa” HMEPAN’
KAl Abec HMIN TÄC ÄMAPTIAC HMÜN,
KAl TÄP AYTO|l A®IOMEN TIANTI
ÖBEINONTI HMIN
ÄTIACOHTW TO ONOMA COY'
EneATW H BACINnEIA COY'
TENHEHTW TO BEAHMA COY, WC EN
EN
OYPAN® KAI Em TÄc'
TON APTON HMÖN TON ETTIOYCION AÖC
HMIN CHMEPON
KAl ABec HMIN TÄ ÖBEINHMATA HMÖN,
WC KA HMEIC ABHKAMEN TOIC ÖbEl-
NETAIC HM@N '
KAl MH EICENEFKHC HmAc eEic TIEI- KAl MH EICENETKHC HMAC EIC TIEIPAC-
PACMÖN. MON, AnnÄ PYcal HMAC ATIO TOY
TTONHPOY.
! Hält man die Autorität des Marcion für zu schwach, um die Bitte um die Heili-
gung des Namens zu streichen, so mag man diese Bitte für den Lucastext neben der
Bitte um den heiligen Geist retten (in der Form Ärıace4Tw TO ÖNomA coY €&® HMAc);
aber man muss dann die Schwierigkeit in den Kauf nehmen, dass die Bitte um den
202 Sitzung der philosophisch--historischen Classe vom 21. Januar 1904.
Das Ergebniss der Vergleichung kann man aus dieser selbst ab-
lesen, so sicher drängt es sich auf; indessen werden einige Worte
doch nicht überflüssig sein.
I. An die Ursprünglichkeit der ersten Bitte, wie sie Lucas bietet,
kann nicht gedacht werden; enthält sie doch seine eigene religiöse
Anschauung oder richtiger die religiöse Erfahrung und Anschauung
des Kreises, zu dem er gehört. Die Annahme ist nicht nothwendig,
dass er sie selbst stilisirt hat; sie kann ihm bereits überliefert wor-
den sein (doch s. unten). Die Begabung mit dem (heiligen) Geist war
im apostolischen und nachapostolischen Zeitalter das entscheidende,
den Christenstand begründende Erlebniss. Indem Lucas oder seine Ge-
währsmänner die Bitte um den Geist dem Herrngebet als Einleitung
oder besser als Grundlegung voranstellen, ergänzen sie es, wie sie es
nach ihrer Erfahrung ergänzen mussten. Würden sie Jesus Christus
selbst hier genannt haben, so würden sie die Erfahrung, um die es
sich handelt, nieht in ihrer unmittelbaren und deutlichen Form aus-
gesprochen, sondern schon theologisch fixirt haben. Der »Geist« ist
das unmittelbar Gewisse und Notliwendige.
2. Aber auch daran kann kaum gedacht werden, dass die drei
ersten Bitten, welche Matthäus bietet, ursprünglich sind. Sicher ist,
aus dem Vergleich mit Lucas, dass der Zusatz zu »tAtep« und die soge-
nannte 7. Bitte stilisirte Amplificationen sind; zugestanden ist ferner
längst, dass die 3. Bitte in diesem Gebet nicht ursprünglich ist. Die-
ses Urtheil muss nun auch auf die ı. und 2. ausgedehnt werden. Was
hätte den Lucas bestimmen können, die Bitten zu streichen (so Resch),
wenn sie ihm im Herrngebet überliefert gewesen wären? Bei der ı. Bitte
lässt sich schlechterdings kein Motiv einsehen, aber auch in Bezug auf
die 2. muss man constatiren, dass Lucas nirgendwo sonst den Begriff
BAcineia (To? seo?) vermieden hat. Er hat auch den eschatologischen
Charakter des Begriffs (trotz Stellen wie IO,9. II; 11, 20; 17, 20f.)
bestimmt festgehalten (s. 21, 31; 22, 18 u. s.w.). Dazu kommt, dass
die drei ersten Bitten bei Matthäus zusammengehören und eigentlich
eine einzige — eindrucksvoll, aber auch kunstvoll — stilisirte Bitte
darstellen. Es sind heisse Gebetsseufzer, vergleichbar dem Suspirium
in der Didache (ce. 10): &neetw [A] xApıc Kal TIAPeneETw 5 KöcMmoc oYToc.
Sie sind gewaltiger und umfassender als dieses, aber gehören doch
zu ihm. Andererseits aber sind sie, wie längst nachgewiesen,
Geist, die ihrer Natur nach eine Initiationsbitte ist (s. u.), an zweiter Stelle steht.
Ich vermag mich an dieser Rettung nicht zu betheiligen; denn ein so wirres Gebet
(erst die Bitte um die Heiligung des Namens, dann die Anrufung des Geistes, dann
wieder Bitten) kann ich nicht für lucanisch halten. Es ist aus Conformation ent-
standen.
Harnack: Die ursprüngliche Gestalt des Vater- Unsers. 203
den officiellen jüdischen Gebeten blutsverwandt und stellen
in kürzester Form ihren wichtigsten Inhalt dar.'
Das Ergebniss ist: die Bitte um den heiligen Geist (Lucas) ist
gewiss nicht ursprünglich, und die drei ersten Bitten bei Matthäus
sind es höchst wahrscheinlich ebenfalls nicht.
6.
Das, was dem Lucas und Matthäus gemeinsam ist, lautet also:
TTAtep' TON ÄPTON TON ETTIOYCION AÖC” HMIN CHMEPON”, KAl Äoec HMIN
TA ÖsEIAHMATA" HMON, WC KAl HMEIc A®HKAMEN TOIC ÖBeInETAIC HMON’, KAl MA
EICENErKHC HMAC Eic TIEIPACMÖN."
Diese drei Bitten sind sowohl bei Lucas als bei Matthäus durch ka)
verbunden, während die vorangehenden unverbunden stehen.
Das ist nicht unwichtig.
Die drei Bitten sind ferner durch das gemeinsame #meic verbunden.
Die drei Bitten beziehen sich auf die einfachsten aber wichtig-
sten Zustände, in denen sich Jedermann zu jeder Zeit findet und
empfindet oder doch empfinden soll.
Dass zwischen den drei ersten Bitten bei Matthäus und den vier
folgenden ein Hiatus liegt, ist längst erkannt worden, aber auch in
der Recension des Lucas bemerkt man sofort, dass die drei Bitten
enge zusammengehören gegenüber der Bitte um den heiligen Geist.
Kann das Bittgebet dieser drei Bitten für sich bestehen? Ist es ein
Ganzes oder ist es ein Torso? Ich wüsste nieht, was ihm fehlt, und
ich sehe nicht, dass es durch seine Kürze und durch die Beschrän-
kung (auf das Brod, die Verschuldungen und die Versuchung) die vor-
zügliche Überlieferung verleugnet, in der wir es besitzen.’ Vorzüglich
! Auch schon das Herrngebet selbst (d. h. Bitte 4,—6) ist dem Schimone Esre
etwas verwandt.
2 AlaoY.
TO Kae” HMEPAN.
TAC ÄMAPTIAC.
KAl TÄP AYTOI A®IOMEN TIANTI ÖBEINONTI HMIN.
In dem, was dem Lucas und Matthäus gemeinsam ist, steht der von diesem
gebotene Text dem aramäischen Original wohl um eine Stufe näher. Ob Lucas sprach-
lich an ö®elaHma Anstoss genommen oder ob er als Pauliner ÄmAPTIA eingesetzt hat,
steht dahin. Nicht unwichtig ist das Perfeetum »AsHkamen« des Matthäus, obschon
der Grundtext wohl auclhı durch das Präsens übersetzt werden konnte. Tö kKA®
HMEPAN = CHMEePoN kommt auch sonst bei Lucas vor. »AlaoY« ist correcter (also jünger)
als »Aöc« in diesem Zusammenhang. Das Wort öseinerkc war dem Lucas zu vulgär.
? Der Kern des Gebets ist die Bitte um Vergebung. Das hat Matthäus noch
richtig herausgefühlt, wenn er dem Vater-Unser unmittelbar die Worte naclıfolgen
lässt (6, 14): EAN TÄP A®ÄTE TOIC ÄNEPWTIOIC TÄ TIAPATITWMATA AYTON, A®Hcel Kal YMIN Ö
TIATHP YMÖN O oYPAnNIoc. Dieser Kern stelıt zwischen zwei Bitten, die an der Ver-
ao a» w
204 Sitzung der plilosophisch-historischen Classe vom 21. Januar 1904.
darf man die Überlieferung nennen; denn sowohl die vollkommene
sachliche Übereinstimmung der beiden Zeugen, wie die Varianten bestä-
tigen es, dass wir hier Urgestein vor uns haben." Je grösser der Ab-
stand der Überlieferung in der ersten Hälfte des Gebets bei Lucas und
Matthäus ist, um so frappanter ist die Concordanz in der zweiten.
Der Zusammenhang aber, in den Matthäus das Vater-Unser gestellt
hat, ist offenkundig unrichtig. In Verbindung mit einer langen Rede
kann es nicht gestanden haben, am wenigsten nach der Mahnung:
»Wenn du betest, gehe in dein Gemach, und, nachdem du die Thüre
geschlossen, bete zu deinem Vater«. Ja man darf auf Grund dieser
Stelle fragen, ob Jesus überhaupt ein Mustergebet und ein solches für
viele zugleich (kmeic) gelehrt haben kann. Indessen jene Mahnung zum
ausschliesslichen Gebet im Verborgenen ist doch eum grano salis zu
verstehen. Was sie verbietet, steht in ce. 6, 5.
Lucas bringt eine Erzählung, nach der das Vater-Unser die Er-
füllung der Bitte eines Jüngers ist: »Lehre uns beten, wie auch Johannes
seine Jünger beten gelehrt hat«. Diese Erzählung scheint auf den
ersten Blick einwandsfrei; allein das Vater-Unser in seiner Urgestalt
enthält nichts, was auf einen solchen antithetischen Ursprung deutet.
Im Folgenden werden wir sehen, dass die Veranlassung, wie sie Lucas
berichtet, einem schweren Bedenken unterliegt.
Ts
Wie sind die von Matthäus und Lucas überlieferten Formen des
Herrngebets entstanden?
Die Antwort auf diese Frage ist im Vorhergehenden zum Theil
angedeutet. Matthäus giebt das Gebet liturgisch-feierlich ausgestaltet,
und zwar unter Anlehnung an die überlieferten jüdischen Haupt-
gebete. Es klingt aus in einem nach Gedanken, Form und Rhythmus
parallelen Doppelsatz. Gleichartig und ebenfalls rhythmisch sind die
drei ersten neuen Bitten gestaltet; sie stellen eine dreifaltige Bitte
dar und finden in dem üc &n oYpan® Kal Em rAc ihren Abschluss.”
Gewiss sind es Bitten, ja heisse Bitten, aber man kann sie zugleich
auch als eine Doxologie in Form von Bitten betrachten. Wenn in
einem noch späteren Stadium der Geschichte des Vater-Unsers —
suchsgeschiehte merkwürdige Parallelen haben. — Die Verlockung, die Bitte um das
Brod geistig zu deuten (die so nahe liegt, wenn ihr die drei ersten Bitten voran-
gehen), wird geringer, wenn sie das Gebet eröffnet. Ganz schwindet aber die Ver-
suchung nicht. Bereits Mareion hat sie so gedeutet.
! Vergl. auch das Hebräer Evangelium (s. o.).
® Die Worte gehören zur dritten Bitte, aber wirken doch wie ein Abschluss
zu allen drei Bitten.
Harnack: Die ursprüngliche Gestalt des Vater- Unsers. 205
aber noch in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts (siehe die
Didache) — eine förmliche Doxologie an den Schluss gesetzt worden
ist, so entspricht dieser neue Zusatz ganz dem Charakter des Gebets,
wie es bei Matthäus vorliegt und trägt nichts Fremdes ein. Wie
früh es die Form angenommen hat, die Matthäus bietet, wissen wir
nicht, jedenfalls noch in judenchristlichen Kreisen — das zeigt die
Anlehnung an die jüdischen Gebete — und in der Zeit, da noch
Judenchristliches auf das heidenchristliche Gebiet überging, vermuth-
lich also noch unter den Augen der Zwölfjünger.' Trotz jener An-
lehnung ist aber nicht nur alle so nahe liegende Polylogie vermieden,
sondern es ist auch lediglich das den alten Gebeten entnommen, was
in der Verkündigung Jesu in neuem Lichte hervorgetreten
war. In diesem Sinne sind auch die drei ersten Bitten echt. Sollte
das Herrngebet ein feierliches Gemeindegebet werden, so kann man
sich keine umfassendere, kürzere und würdigere Form denken als die
bei Matthäus vorliegende. Sie enthält nichts, was Jesus nicht gesagt
haben könnte, wohl auch nichts, was er nicht gesprochen hat, wenn
auch nicht in diesem Zusammenhang. Man kann noch mehr sagen:
Jesus hat — so berichtet noch Matthäus — nicht die Anweisung ge-
geben: »Betet dieses«, sondern: »Also sollt ihr beten«, hat er ge-
sprochen. Die Gemeinde hat ihn verstanden, sofern sie seine Worte
nicht bloss eopirt hat. Was sie ihnen hinzufügte, das hatte sie auch
von ihm gelernt und gab es in wundervoller Reinheit und Prägnanz
wieder.
Lucas hat das ursprüngliche Herrngebet nur durch eine Ein-
gangsbitte vermehrt. Es könnte scheinen, als sei die Bitte um den
heiligen Geist Christen, namentlich paulinischen, so natürlich gewesen,
dass die Hinzufügung derselben einer Erklärung nicht bedarf. Allein
erstlich war die altchristliche Vorstellung die, dass man den Geist
entweder hat (als dauernden Besitz) oder nicht hat — als tägliche
Bitte erscheint die Bitte um den heiligen Geist daher auffallend —,
sodann macht auch der Zweck, um dessen willen hier um den Geist
gebeten wird (die »Reinigung«), es wahrscheinlich, dass es sich um
ein Initiationsgebet handelt, d.h. um ein Gebet, durch das der
Christenstand erst begründet werden soll. In dem Momente
aber werden wir auf ein Doppeltes aufmerksam, nämlich r. auf die
Einführung des Vater-Unsers bei Lucas (»Einer seiner Jünger sprach
! Schon Marcus mag das Herrngebet als Gemeindegebet in der von Matthäus
gebotenen Form gekannt haben; ce. ı1, 25 (s. Werrnausen’s Bemerkung zu der Stelle)
schreibt er: »Und wenn ihr steht und betet, so vergebt, was ihr etwa gegen wen
habt. damit auch euer Vater in den IHimmeln [dieser Ausdruck findet sich nur
hier bei Marcus!) euch eure Übertretungen vergebe«.
206 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 21. Januar 1904.
zu ilım: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger
gelehrt hat«) und 2. auf die Stelle Lucas, Apostelgeschichte 19, 2
(»Paulus traf zu Ephesus einige Jünger und sprach zu ihnen: Habt
ihr, als ihr gläubig wurdet, den heiligen Geist empfangen? Sie
aber antworteten ihm: Wir haben nicht einmal gehört, dass es einen
heiligen Geist giebt. Er sprach: Woraufhin seid ihr denn getauft?
Sie antworteten: Auf die Taufe des Johannes. Paulus sprach:
Johannes hat mit der Busstaufe getauft u.s.w..... Da wurden sie
auf den Namen des Herrn Jesus getauft und..... der heilige
Geist kam auf sie«). Sobald man diese Stellen eombinirt, erscheinen
die Worte, mit denen Lucas das Vater-Unser eröffnet, in einem ganz
anderen Licht. Auf sie fällt jetzt der Schwerpunkt, und sie
— aber auch nur sie — stehen in engstem Zusammenhang
mit dem angegebenen Anlass: »Herr, lehre uns beten, wie auch
Johannes seine Jünger gelehrt hat«. Durch die Bitte um den
heiligen Geist soll sich das Vater-Unser von dem Gebet der
Johannesjünger unterscheiden.'
Die Nicht-Ursprünglichkeit der Bitte um den heiligen Geist im
Herrngebet wird dadurch noch einmal gewiss, aber auch die Un-
geschichtlichkeit des Anlasses, der nach der Darstellung des Lucas
zum Herrengebet geführt haben soll. Correspondirt dieser Anlass
nur mit jener Bitte im Gebet, die nachträglich hinzugefügt worden
ist, so fällt er selbst dahin. Zu fragen ist daher nur noch dies, ob
dem Lucas die Bereicherung und Determinirung des Vater-Unsers schon
überliefert gewesen ist, durch welche es ein Initiationsgebet ge-
worden ist (denn das ist es in der lucanischen Gestalt auf alle Fälle).
Möglich ist das, denkbar ist auch, dass es ihm als christliches Ini-
tiationsgebet im Gegensatz zu den Johannesjüngern bereits überliefert
war. Aber wahrscheinlicher ist doch wohl — bei dem Interesse,
welches er selbst an der Auseinandersetzung mit den Johannesjüngern
(wie der 4. Evangelist) genommen hat —, dass erst er dem Herrn-
gebet durch Voranstellung der Bitte um den heiligen Geist den con-
fessionellen Charakter gegenüber den Johannesjüngern gegeben hat.
Auch er hat, wie Matthäus, den Wortlaut des identisch überlieferten
Gebets nicht verändert, aber sich die Freiheit genommen, dasselbe
zu bereichern.
Den wirklichen Anlass des Gebets kennen wir also nicht mehr;
denn auch die von Lucas erzählte Veranlassung hat sich als unhalt-
bar erwiesen. Das Herrngebet ist somit ein frei schwebendes Stück
! Dies ist ein neues und vielleicht das stärkste Argument dafür, dass die Bitte
um den heiligen Geist bei Lucas wirklich ursprünglich ist; denn nur sie steht mit
dem Anlass des Gebets, wie Lucas ihn angiebt, in fester Correspondenz.
Harnack: Die ursprüngliche Gestalt des Vater- Unsers. 207
der Überlieferung. Da erhebt sich die bereits oben berührte Frage
in verstärkter Form auf’s Neue, ob nicht auch die Urgestalt des Gebets
Jesus abgesprochen werden muss. Da es bei Marcus fehlt, so hat
Hr. Wertuausen (Marcus S. 98) Bedenken angedeutet: »Marcus mag
es als Gemeindegebet gekannt haben [wegen 11, 25, s. o.|, hat aber
nicht gewagt, es dem Wortlaut nach auf Jesus zurückzuführen. Jesus
giebt bei ihm kein Formular. sondern nur allgemeine Regeln für das
Beten. Er stellt die Bereitwilligkeit zu vergeben schlechthin als Vor-
bedingung auf, ‘wenn man steht und betet. Auch die Bitte: "Führ
uns nicht in Versuchung” steht bei Mare. 14, 37 für sich und nicht
im Zusammenhange des Vater-Unsers.« Diese und andere Bedenken
scheinen mir nicht durehschlagend. Viele echte Worte Jesu sind als
frei schwebende überliefert, und das Schweigen des Marcus in Bezug
auf Reden und Worte Jesu, welehe Matthäus und Lucas bieten, be-
weist an und für sich nichts. Seine Ökonomie vermögen wir in dieser
Hinsicht überhaupt nicht zu durchschauen. Das Vater-Unser, wie
Matthäus es mittheilt, kann ein Formular genannt werden; aber die
Urgestalt des Herrngebets fällt nicht unter diese Kategorie‘. Sie ent-
hält nur schlechthin nothwendige Bitten; aber sie und nur sie heraus-
zuheben, das ist die grosse Entdeckung in der Welt des Gebets. Man
kann nicht Jedem in jedem Momente zumuthen, er solle um die Heili-
gung des Namens Gottes, das Kommen des Reichs u. s. w. bitten —
dazu gehört eine gehobene, feierliche Stimmung, wie sie vornehmlich
die cultische Gemeinsamkeit erzeugt —, aber jene drei Bitten sind
nichts Anderes als die Entfaltung der rechten Gebetsgesinnung selbst.
Sie sind weder so erhaben, dass man eines besonderen Aufschwungs
zu ihnen bedarf, noch so speciell, dass sie nicht immer präsent sein
können. Eben deshalb sind sie weniger eine Anweisung als die
selbstverständliche Darstellung der Grundform kindlichen Gebets und
fallen nicht unter die Schranken, die Jesus dem Gebet gezogen hat.
Auch das »Wir« und »Uns« ist schwerlich zu beanstanden: Jesus
hatte doch einen festen Kreis von Jüngern, von Nachfolgern um sich
gesammelt. Nun kommt hinzu, dass die Bezeugung des Kerns bei
Matthäus und Lucas ganz einheitlich und vortrefflich ist, und dass
die Geschichte des Gebets, wie sie schon in diesen beiden Evangelien
vorliegt, der Annahme der Authentie sehr günstig ist. Man hat es
nur bereichert, aber an keiner Stelle zu verändern gewagt, und man
hat es Zwecken dienstbar gemacht, für die es sich eigentlich nicht
eignet. Das gilt besonders von der Form, wie sie Lucas bietet.
! Hr. Werrsausen hatte im Zusammenhang der Erklärung des Marcus - Evan-
geliums keine Veranlassung, die Frage aufzuwerfen, ob sich etwa ein ursprünglicher
Kern des Herrengebets ermitteln lässt.
208 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 21. Januar 1904.
Warum hat man sich diese Mühe gemacht, wenn man einer flüssigen
oder unsicheren Überlieferung gegenüberstand oder überhaupt keiner
von Jesus herrührenden ?
»Vater, das Brod für den kommenden Tag gieb uns heute, und
vergieb uns unsre Schulden, wie auch wir vergeben haben unsern Schul-
digern, und führe uns nicht in Versuchung hinein« — so lautete das
ursprüngliche Herrngebet. Bei Matthäus ist uns dieses Gebet in be-
reicherter und liturgisch stilisirter Form als Gemeindegebet erhalten,
unter Anknüpfung an die jüdische Gebetsübung und an die Verkündi-
gung Jesu. Bei Lucas liegt es uns vermehrt um eine einleitende Bitte
vor, welche die Erfahrung der christlichen Gemeinde im apostolischen
Zeitalter enthält, im Unterschied von allen anderen religiösen Gemein-
schaften, zunächst von der der Johannesjünger.
Ausgegeben am 28. Januar.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei.
SITZUNGSBERICHTE
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
VI.
28. Januar 1904.
| BERLIN 1904.
_ VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
i IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
[nr -TaleT=1- TER SIT TeI-TelerelerelerelereleTelerzlerelerel-Te1-TelSTzIeTelerelerel-TelereleTeIT I -TSISFel-Tet
Auszug aus dem Reglement für die Redaction der »Sitzungsberichte« .
$1.
2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Octav regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die sämmtliehen zu einem Kalender-
jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
fortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserdem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch- matlıematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch-historischen Classe ungerade
Nummern.
$ 2. £
1. Jeden Sitzungsbericht eröffnet eine Übersicht über
die in der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilungen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten.
2. Darauf folgen die den Sitzungsberichten über-
wiesenen wissenschaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckfertig übergebenen, dann die, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gelıö-
rigen Stücken nicht erscheinen konnten. Mittheilungen,
welehe nicht in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet.
85.
Den Bericht über jede einzelne Sitzung stellt der
Secretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte.
Derselbe Secretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei-
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
$6.
l, Für die Aufnahme einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $ 41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglements die folgenden beson-
deren Bestimmungen.
2. Der Umfang der Mittheilung darf 32 Seiten in
Octav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nieht übersteigen. Mittheilungen von Verfassern, welche
der Akademie nicht angehören, sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist
nur nach ausdrücklicher Zustimmung der Gesammt-Aka-
demie oder der betreffenden Classe statthaft.
‘3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
tenden Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Notliwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzschnitte fertig sind und von
besonders beizugebenden Tafeln die volle erforderliche
“ Auflage eingeliefert ist.
8.7.
1. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
schaftliche Mittheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden. Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer end in
deutscher "Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2. Wenn der Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
Die Akademie versendet ihre »Sitzungsberichte« an diejenigen Stellen, ‚ mit denen sie im Sch
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinbart wird, jährlich drei Mal, nämlich: A
die Stücke von Januar bis April in der ersten Hälfte des Monats MET
» Mai bis Juli in der ersten Hälfte des Monats August,
Da RR . October bis December zu Anfang des nächsten Höre nach Fertigtell
” ”
. Classe.
öffentlichen. beabsichtigt, als ihm dies nach den gelten-
den Rechtsregeln zusteht, so bedarf er dazu der Ein-
willigung der Gesammt- Akademie oder der betreffende
$8. 3
5. Auswärts werden Correeturen nu
Verlangen verschickt. ‚Die Kg ve
Be füllen, fällt in der Regel der Ums t
3. Einem Me welcher re der Aknde
Alalanib oder der be befendlen Classe. _ "Nicht
erhalten 50 Fr eiexemplare und dürfen Szchkerelı
vr
plare auf ihre Kanen abziehen lassen. N:
828. °
1. Jede zur Aufnahme in die S
stimmte Mittheilung muss in einer “
vorgelegt werden. Abwesende Mitglieder
°
Wenn schriftliche ER auswärtiger de:
En Mitglieder direct u der Akademie ‚oder bei
einer iler ER Ein darauf gerichtete
sobald das Manuscript druckfe
gestellt und sogleich zur AimnE gebracht ext
für alle Sn Theile der
nach jeder Richtung nur
wortlich.
209
SITZUNGSBERICHTE 1904.
v1.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN:
28. Januar. Öffentliche Sitzung zur Feier des Geburtsfestes Sr. Majestät
des Kaisers und Königs und des Jahrestages König Frıeprıcn's I.
Vorsitzender Secretar: Hr. WALDEYER.
Hr. WaArLpevER eröffnete die Sitzung, welcher Se. Excellenz der
vorgeordnete Hr. Minister Dr. Srupr beiwohnte, mit folgender Rede:
Zur Doppelfeier dieses Tages, der seit der Thronbesteigung Kaiser
Wirneru sl. dessen Geburtsfest mit dem Gedächtniss unseres Erneuerers,
König Frieprıc#'s Il., vereinen lässt, waren wir am 29. Januar 1903
zum letzten Male in den altgewohnten Räumen versammelt, die wir
der Huld des grossen Frreprıcn verdankten. Dieselbe Feier sieht uns
heute an einer anderen Stätte, welche nur zeitweilig unsern Zwecken
dienen soll, während dort unter den Linden hunderte emsiger Hände
mit Zeichenstift, Winkelmaass und Kelle sich regen, um für uns ein
neues glänzendes Heim an dem alten geschichtlichen Platze zu be-
reiten. Wir verdanken es der Munificenz und weit vorschauenden Ob-
sorge unseres Kaiserlichen Herrn und erhabenen Schützers, auf den
sich heute zuerst unsere Blicke in dankbarem und freudigem, befreitem
Empfinden lenken. Mit dankbarem Empfinden gegen den Lenker aller
Geschicke, der die dunkle Sorge kurz vergangener Tage von uns ge-
nommen hat, so dass wir befreiten und freudigen Herzens unserm in
aller seiner jungen Kraft und Frische uns wiedergewonnenen Herrscher
an seinem Geburtsfeste zujubeln können. So gestaltet sich die heutige
Feier für uns zu einer besonders bedeutsamen und tief gefühlten. Nicht
aber für uns allein! Wenn etwas die alte Erfahrung, dass sich Freude
zum Leid gesellt, wie Leid zur Freude, uns abermals vor Augen führen
konnte, so war es die aufrichtige, innige Theilnahme an dem Wohl
und Wehe unseres, des Deutschen Kaisers, welehe in dieser Zeit die
ganze Welt durchzuckt und bewegt hat. Möge sich die reine Freude,
die wahre menschliche Theilnahme erweckt, mit ihrem ganzen Wohl-
Sitzungsberichte 1904. 17
210 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
thun auf unsern Kaiserlichen Herrn und sein Haus legen für und für;
nimmermehr werde sie getrübt! Das sei unser Wunsch aus offenem
Herzen!
Unser Erinnern am heutigen Tage gilt aber auch unserm Er-
neuerer und zweitem Stifter König Frıeprıcn, dem Philosophen und
Akademiker auf dem Throne, und seiner Zeit! Wenn auch über
100 Jahre verflossen sind, seit der grosse einsame König sein Auge
schloss, so lebt und webt doch seine Zeit in unsere hinein, wie denn
ein geheimnissvolles Band alles Lebendige umfasst von Anbeginn. Je
mehr wir unsere ethnologischen, historischen und entwicklungsge-
schiehtlichen Studien vertiefen, desto mehr werden wir uns des inneren
Zusammenhanges bewusst, der das Menschengeschlecht verkettet und
der es uns unter dem Bilde eines grossen Stromes erscheinen lässt,
der über die Erde hinwegtfliesst, sich fort und fort erneuernd, ein
Theilchen bedingt vom anderen nach ewigen Gesetzen.
Die Zeit FrıepricHn's des Grossen war für Deutschland, wie für
die meisten Culturländer, reich an hervorragenden Förderern der bio-
logischen Wissenschaften. Man könnte sagen, dass ein frischer Zug
der Beschäftigung mit biologischen Problemen durch die Lande ging.
Ich brauche nur an die Namen Karr von Linn£E, LAZZARO SPALLANZANI,
ALBRECHT von Harzer und Kasrar Frieprıcn Worrr zu erinnern. Die
bedeutendsten Werke dieser Männer, deren Einfluss tief auch in unsere
Zeit eingreift und weit darüber in die kommenden Jahrhunderte hinein-
reichen wird, fallen in die friderieianische Zeit. Drei von ihnen,
Linn£, gewählt 1746, SparLanzanı, gewählt 1776, und Harrer, ge-
wählt 1749, gehörten unserer Akademie als auswärtige Mitglieder an;
Harrer suchte man, wiewohl vergebens, nach Berlin zu ziehen, den
vierten, Kaspar Frieprıcn Worrr, der an Bedeutung keinem nachsteht,
ja, durch Gedankentiefe an die vorderste Stelle gehören mag, liess
man sich entgehen, obwohl er ein Berliner Kind und, man kann es
in gewissem Sinne sagen, aus dem Heere Frıeprıcn s des Grossen her-
vorgegangen war. Von ihm und dem grossen entwicklungsgeschicht-
lichen Probleme, durch dessen geistvolle und für seine Zeit entschei-
dende Behandlung er seinen Namen unsterblich gemacht hat, will ich
in dieser Stunde hier in Erinnerung an die fridericianische Epoche,
der er doch Vieles verdankt, handeln. Die nähere Veranlassung dazu
entnehme ich aber dem Umstande, dass gerade das Worrr’sche Pro-
blem in unserer Zeit, wenn auch in vertiefter Fassung, wieder wie
damals die Geister auf den Kampfplatz geführt und zum Theil neue
Forschungsrichtungen in der Entwicklungsgeschichte geweckt hat.
Kasrar FRIEDRICH WoLrF — Andere schreiben, wie es auch GOETHE
thut, fälschlich »Worr« — wurde in Berlin 1733 als Sohn eines Schnei-
WALDEYER: Festrede. ala
dermeisters geboren. Nähere Geburtsdaten habe ich nicht ermitteln
können. Sein Vater muss in guten Vermögensverhältnissen gelebt ha-
ben, denn er konnte nicht nur die Studien seines Sohnes in Berlin
und Halle bestreiten, sondern ihn auch später noch, als er ohne Ein-
künfte seinen Forschungen oblag, unterhalten.
Den ersten Unterrichtsgang Worrr's kennen wir nicht. Später,
mit 20 Jahren, finden wir ihn als Zögling des hiesigen Collegium
medico-chirurgicum, aus welchem sich im Laufe der Zeit die jetzige
Kaiser Wilhelms- Akademie für die militärärztlichen Studien, und die
medicinische Facultät unserer Universität entwickelt haben. Das Col-
leeium stand zu der Zeit, in der Frreprıcn's Il. grosse Aera begann,
in grosser Blüthe und in hohem Ansehen weit und breit, da Männer
wie der ältere Liegerkünn, der ältere Mecker, CorHentvs und ein wenig
später der ältere WALTER an ihm wirkten — diese sämmtlich zugleich
Mitglieder unserer Akademie. Worrr berichtet selbst von seinen
anatomischen Studien unter Mecker. Augenscheinlich genügte indessen
dem strebsamen Jünger der Naturwissenschaften die einseitig mediei-
nische Ausbildung, die er damals hier nur finden konnte, nicht, auch
wollte er den Doctorgrad erwerben. und so treffen wir ihn ein Paar
_ Jahre später! auf der Universität zu Halle, wo er schon als 26 jähriger
durch seine Doctordissertation den Grund zu seinem späteren Ruhme
legte. Er promovirte mit seiner »Theoria generationis«e am 28. No-
vember 1759.
Welchem Einflusse es zu danken ist, dass Worrr seine junge
Kraft der Entwicklungsgeschichte zuwendete, und weshalb er nach
Halle zog, wissen wir nicht. Worrr war ein stiller, echter Gelehrter
und Forscher, wenig mittheilsam, nur seiner wissenschaftlichen Arbeit
lebend, und so haben wir von seinem Lebensgange und den Ein-
flüssen, die auf ihn gewirkt haben mögen, nur wenig erfahren. Ent-
wicklungsgeschichte wurde damals hier nicht getrieben, aber auch
nicht in Halle; überhaupt war die ganze Zeit nach des grossen
Marrıenı Tode (1694) für diese Wissenschaft eine wenig förderliche
gewesen. Nur ALBRECHT von HALLER ragt hier, wie in allen Zweigen
der Biologie, ruhmvoll hervor, obwohl seine grössten Verdienste nicht
gerade auf diesem Felde liegen. Auf Worrr mag der grosse damalige
Göttinger Anatom und Physiologe indireet eingewirkt haben durch
seine Schriften und seine weit und breit anerkannte Bedeutung‘, die
die Augen Aller auf ihn lenkte. Das geht auch daraus hervor, dass
Worrr in seiner berühmten Erstlingsschrift, welche ihrer ganzen An-
! Worrr wurde am 10. Mai 1755 als Stud. med. bei der Hallenser Universität
immatrieulirt.
17
212 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
lage und Durchführung nach eine lange Beschäftigung mit ihrem Gegen-
stande voraussetzt, sich eingehend mit Harrer’s Lehren, als deren
Gegner er auftritt, beschäftigt. Da entwicklungsgeschichtliche Auf-
gaben ihn vorzugsweise auch während seines ganzen übrigen Lebens
am meisten angezogen haben, so ist klar, dass er sich schon von
Anfang seiner Studien solchen zugewendet haben muss. Es hat da
doch wohl der Einfluss Mecker's mitgewirkt, der einer der bedeu-
tendsten Schüler Harrer’s war. Da nun Harrer fast der Einzige war,
der damals in Deutschland Entwicklungsgeschichte trieb, so hätte
man Worrr eher als späteren Göttinger Studenten vermuthen sollen,
denn als Hallenser. Vielleicht gaben für Halle äussere Gründe den
Ausschlag, gegen Göttingen innere.
Worrr fühlte sich, als er die Universität Halle bezog, wohl schon
als Gegner Harrer’s in dem ihn beschäftigenden grossen Probleme;
andererseits schätzte und verehrte er Harrer auf’s höchste, wie aus
seinem Briefwechsel mit Letzterem hervorgeht. Dazu kam, wovon
dieser Briefwechsel und vieles Andere, wie die Anhänglichkeit Mvur-
sınna’s an Wort, seine Liebe zur Zurückgezogenheit, Zeugniss geben,
Worrr’s feinsinnige Natur, die ihn einem Streite mit einem von ihm
so hochverehrten angesehenen Manne aus dem Wege gehen hiess. Der
derzeitige Vertreter der Anatomie und Physiologie in Halle! konnte ihn
wohl nicht bewogen haben, Halle zu wählen.
Übrigens braucht man bei Leuten vom Schlage Kasrar FrieprıcH
Worrr’s nicht viel nach Einflüssen zu fragen; solche finden ihre eigenen
Wege und stellen sich ihre Aufgaben selbst!
Nach Erlangung der Doctorwürde kehrt Worrr nach Berlin zu-
rück und sendet von hier aus seine Dissertation an Harzer. Hieran
knüpft sich jener bereits genannte Briefwechsel, der für beide Theile
ehrenvoll ist und uns den Charakter Worrr's im schönsten Lichte zeigt.
(Epistolarum ab eruditis viris ad Albertum Hallerum seriptarum Tomi VI.)
Das fiel mitten in den siebenjährigen Krieg, und zwar in die für
König Friepricn unglücklichsten Jahre 1759 und 1760. In ÜorHEnıus
hatte die Preussische Armee einen vortrefflichen Leiter ihres Lazareth-
wesens. Er wünschte seine Feldscherer und Chirurgen ordentlich vor-
gebildet für ihren verantwortungsvollen Beruf und richtete deshalb be-
sondere Vorlesungen in der Anatomie und praktische Übungskurse
nicht nur in Berlin, sondern auch bei den grösseren Feldlazarethen ein.
! Es war Paırıpp AporLr BoEHNER (1741— 1789). Er hinterliess eine ansehn-
liche Reihe von Schriften über die verschiedensten Gebiete der Mediein: Pharma-
kologie, Innere Mediein, Geburtshülfe, Anatomie und Physiologie; einzelne behandeln
auch entwicklungsgeschichtliche Themata, sind jedoch ohne besonderen Werth. In
seinen »Institutiones osteologicae« finden sich saubere Abbildungen von Embryonen
und embryonalen Skeleten. >
WALDEYER: Festrede. 218
Dazu berief er Worrr, den er als Zögling des Berliner, Collegium me-
dieco-chirurgieum wohl kannte und schätzte, nach Breslau und be-
freite ihn bald, als er den grossen Erfolg sah, den Worrr mit seinen
Cursen hatte, von dem sewöhnlichen Lazarethdienste. Hier machte
Worrr auch die Bekanntschaft des damals 17 jährigen, aus einer Barbier-
stube in Stolp hervorgegangenen, späteren ausgezeichneten Berliner Chi-
rurgen UHrIsTIANn Lupwis Mursınsa und wählte sich den geweckten jungen
Lehrling zu seinem Amanuensis. Mursınna hat Worrr es nie vergessen,
dass er ihm seine erste wissenschaftliche Ausbildung verdankte und
ist ihm stets ein treuer, ergebener Freund geblieben. Von ihm haben
wir auch die meisten Nachrichten über Worrr's Leben, die wir in der
ersten Ausgabe von GoErnE's Schrift: »Zur Morphologie«, Stuttgart und
Tübingen 1817, S.252— 256, abgedruckt finden. Sie sind aus Berlin
vom 3. März ı819 datirt und mit Mursına’s Namen unterzeichnet.'
Der Hubertusburger Friede löste die Lazarethe auf, und Wourr
wie Mursınna kamen, zunächst ohne Erwerbsbeschäftigung, nach Berlin
zurück. Eine schwere Zeit für Beide begann. Worrr fühlte den Lehr-
und Forscherberuf in den Gliedern und scheint sich auf Erwerb durch
ärztliche Praxis erst gar nicht eingerichtet zu haben. Da am Collegium
medico-chirurgiecum kein Platz für ihn frei war, so wendete er sich
an Coruexius mit dem Anliegen, dass es ihm gestattet werden möchte,
als freier Docent Vorlesungen über seine Studienfächer, insbesondere
Physiologie, der die Entwicklungsgeschichte derzeit zugehörte, zu hal-
ten. Das stiess auf den entschiedenen Widerstand der Lehrer am Colle-
gium medico-chirurgieum. Ich möchte hier nicht in das harte Ur-
theil des Biographen Worrr's, Aurren Kırennorr's, über das damalige
Lehrer-Personal des Collegium einstimmen. Es hatte thatsächlich
allein das Recht, diese Vorlesungen zu halten, und einschneidende
Neuerungen werden niemals ohne Widerstand durchgesetzt. Schliess-
lich wurde auf Cornexmws’, der ja doch selbst Mitglied des Collegium
war, Betreiben Worrr's Antrag genehmigt. Worrr lebte hier bei seinen
Eltern und nahm nun Mursınsa wieder zu seinem Amanuensis an.
Seine Vorlesungen — er las auch über Logik, ferner über Pathologie
und Therapie — fanden nach Mursınsa’s Bericht so viel Beifall, «dass
es schwer wurde, ein hinreichendes Auditorium dafür zu finden. Aber
das Wasser zwischen dem »Privatdocenten«, denn das war Worrr im
echten Sinne des Wortes, und seinen ehemaligen Lehrern war getrübt;
es soll zu schärferen Gegensätzen, zu Kathederpolemiken und sogar
zu Streitigkeiten zwischen den gegenseitigen Schülern gekommen sein,
! Obwohl auf dem Titelblatte der Goerne’schen Schrift als Jahr 1817 stehen
geblieben ist, finden sich doch darin mehrere kurze Einschiebsel späteren Datums.
214 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
und Worrr sah ein, da ihm bei einer eingetretenen Vacanz im Colle-
gium medico-chirurgicum ein weit weniger Befähigter vorgezogen
wurde, dass er in Berlin wenig Aussichten auf Erlangung einer Pro-
fessur oder einer Stelle in der Akademie habe. Aber von der Aka-
demie kam ihm, wenn auch indireet, doch die ersehnte Förderung,
mit der er ihr freilich — und man kann es nur auf’s Höchste be-
klagen — für immer entrissen wurde. Nach dem von L. StıepA ver-
fassten betreffenden Artikel in A. Hırsc#'s Biographischem Lexikon
hervorragender Ärzte aller Zeiten und Völker hat kein Geringerer als
LEONHARD Eurer dazu mitgewirkt, dass Worrr einen Ruf an die Peters-
burger Akademie erhielt, dem er im Frühjahr 1767, nachdem er in
Berlin sich noch verheirathet hatte, folgte. Ob die Nachwirkungen
der früheren Contlietszeit sich so lang hin ausdehnten, vermag ich
nicht zu sagen; kurz die Berliner Akademie hat auch in der Folge
nicht daran gedacht, Worrr, der 1794 starb, wieder zu gewinnen
oder ihm einen Platz unter ihren auswärtigen oder Ehrenmitgliedern
einzuräumen. Mecker war schon 1774 gestorben, aber WALTER senior
überlebte Worrr um viele Jahre, und ihm traue ich es zu, nach ge-
nauerer Bekanntschaft mit seinem Wesen und Lebensgange, dass er
ein schwer zu versöhnender Gegner war. Bestimmtes jedoch vermag
ich nicht darüber zu sagen.
Waren die Kampfesjahre in Berlin zugleich, wie wir von Mursınna
und durch die aus jener Zeit stammenden Veröffentlichungen erfahren,
zugleich Jahre eifrigster Arbeit gewesen — ausser kleineren Mitthei-
lungen besorgte Worrr eine zweite höchst interessante deutsche Aus-
gabe seiner Theoria generationis — so setzte sich dies in Petersburg
bei sorgenfreier, wenn auch bescheidener Existenz, mit verdoppeltem
Eifer und nie erlahmender Forschungslust fort. Die Acta Academiae
scientiarum Petropolitanae geben vollgültiges Zeugniss davon. Drei
der späteren Werke Worrr’s seien hier erwähnt: »De formatione inte-
stinorum praeeipue, tum et de Amnio spurio aliisque partibus em-
bryonis gallinacei, nondum visis, observationes, in ovis ineubatis in-
stitutae«, ferner: »de ordine fibrarum musculorum cordis« in ı2 Ein-
zelabhandlungen und (1789): »Von der eigenthümlichen und wesent-
lichen Kraft der vegetabilischen sowohl als auch der animalischen
Substanz, als Erläuterung zu 2 Preisschriften über die Nutritionskraft«.
Die erstgenannte grosse Abhandlung über die Bildung des Darm-
kanals ist gleich der Theoria generationis ein klassisches und unseres
Autors bedeutendstes Werk: ich kann den Werth desselben nicht besser
in kurzen Worten wiedergeben, als es unser auswärtiges Mitglied
Hr. von Körtiker in seinem Lehrbuche der Entwicklungsgeschichte
(U. Aufl. S.ı0) gethan hat, wo es heisst: »Durch diese Untersuchung
m
15
WALDEYEr: Festrede.
Worrr’s wurde zum ersten Male ein Organ von seinem ersten Anfange
bis zu seiner Vollendung verfolgt, und, was noch wichtiger ist, die
Bildung eines so zusammengesetzten Apparates, wie der Darm, auf
eine einfache blattartige primitive Anlage zurückgeführt.« Durch diese
gründlich und meisterhaft durchgeführte Arbeit wird Worrr, wie von
Körriker weiter darlegt, auch zu einem für seine Zeit merkwürdig
tiefen Einblick in die Auffassung der ersten Entwicklungsvorgänge
geführt, die er in der Bildung von blattartigen Primitivorganen er-
blickt. Worrr sagt: »Diese nicht etwa eingebildete, sondern auf den
sichersten Beobachtungen begründete und höchst wunderbare Analogie
von Theilen, die in der Natur so sehr von einander abweichen, ver-
dient die Aufmerksamkeit der Physiologen im höchsten Grade, indem
man leicht zugeben wird, dass sie einen tiefen Sinn hat und in der
engsten Beziehung mit der Erzeugung und der Natur der Thiere steht.
Es scheint als würden zu verschiedenen Malen hintereinander nach
einem und demselben Typus verschiedene Systeme, aus welchem dann
ein ganzes Thier wird, gebildet und als wären diese darum einander
ähnlich, wenn sie gleich ihrem Wesen nach verschieden sind. Das
System, welches zuerst erzeugt wird, zuerst eine bestimmte eigen-
thümliche Gestalt annimmt, ist das Nervensystem. Ist dieses vollendet,
so bildet sich die Fleischmasse, welche eigentlich den Embryo aus-
macht, nach demselben Typus das Gefässsystem und der Darmkanal
wieder nach demselben Typus«.
Dies Werk Worrr's blieb, augenscheinlich weil es in den damals
wenig zugänglichen Petersburger Acta und dabei in lateinischer Sprache
abgefasst war, fast ganz unbekannt, bis es der Enkel Jonas FRIEDRICH
Mecker’s des Älteren, des Lehrers von Worrr in Berlin, der noch
berühmtere Jomann FriEepDrIcH MEcKEL der Jüngere, Anatom in Halle,
ı8ı2 in’s Deutsche übertrug und auf’s Neue herausgab.
In den Abhandlungen über die Anordnung der Muskelfasern des
Herzens wagt sich Worrr an eines der schwersten Probleme der Ana-
tomie und Physiologie, ein Gebiet, auf dem, ich möchte sagen, täglich
noch neue Funde gemacht werden. Fast alle späteren Arbeiten gehen
hierin auf Worrr zurück.
Besonderes Interesse erregen die Kritiken, welche Worrr an den
Arbeiten übt, welche aus Anlass der von der Petersburger Akademie
gestellten Preisfrage über die »Nutritionskraft« eingelaufen waren und
von denen die eine, die beste, BLumengacH zum Verfasser hatte. Brunen-
BACH stellt darin die in jener Zeit so vielfach diseutirte Ansicht auf,
dass zur Erklärung der Erscheinungen des organischen Lebens eine
besondere Kraft anzunehmen sei, die die Ernährungs- und Form-
bildung beherrsche; er nannte diese Grundkraft den »Bildungstrieb,
216 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
Nisus formativus«. Das war einfach ein Wort für ein unbekanntes
und unverstandenes Etwas, wie wir solehen Wortbildungen seit dem
grauesten Alterthum überall da begegnen, wo der Mensch dem nie
versiegenden Drange folgt, den Erscheinungen des Lebens auf den
Grund zu kommen. Am bekanntesten ist als solch ein leeres Wort,
womit weiter nichts gesagt ist, als das wir von dem Wesen dessen,
was wir damit bezeichnen wollen, nichts wissen, der Ausdruck
»Lebenskraft«. Man kann diesen Worten nur darin ihre Berechtigung
zuerkennen, dass mit ihnen ausgedrückt werden soll, die uns be-
kannten Naturkräfte, für welche das Causalitätsgesetz gilt, reichen
noch nicht aus, um die Erscheinungen des Lebens zu erklären.
Worrr hat nun sowohl in seiner 'Theoria generationis, wie überall
in seinen Schriften, wo sich Gelegenheit dazu bot, insbesondere aber
in der in Rede stehenden letzten Abhandlung vom Jahre 1789 sich
auch mit einer solehen Kraft, die er » Wesentliche Kraft, Vis essen-
tialis« nennt, auf das Eingehendste beschäftigt. BrumengacH’s »Bil-
dungstrieb« will er nicht gelten lassen und fertigt ihn mit der ihm
eigenen feinen Kritik in höflichster Form ab. Seine » Vis essentialis«
sucht er mit grossem Aufwande von Scharfsinn näher in ihrer Art
festzustellen. Sie besteht nach ihm in molecularen — so würden
wir heute sagen — anziehenden und abstossenden Kräften, die er
mit den anziehenden und abstossenden Kräften der unorganischen
Naturkörper vergleicht; doch soll diese Vis essentialis der lebendigen
Dinge nicht dieselbe sein, wie die anstossenden und abstossenden
ınoleceularen Kräfte des Unbelebten. Darum ist ein lebendiger Körper
keine Maschine, die einfach denjenigen Gesetzen der Mechanik unter-
liegt, denen die unbelebte Natur mit eiserner Nothwendigkeit ge-
horcht. Dass aber in den Organismen die mechanischen Kräfte der
unbelebten Natur mitthätig sind, erkennt Worrr klar und bündig an.
Nur die eigentlichen Lebenserscheinungen der Entstehung und Ent-
wicklung, der Ernährung, des Wachsthums u. s. f. der Organismen.
können nicht ohne Annahme einer besonderen Kraft, seiner Vis essen-
tialis, verstanden werden. Er sucht nun aber diese Vis essentialis
(loch ihres Räthselhaften zu entkleiden und sie näher zu begreifen,
indem er sie sich als abstossende Kraft für Substanzen, die in den
sich entwickelnden und lebenden Organismus nicht eingehen sollen, als
anziehende für solche, die dieser Organismus nothwendig hat, denkt.
Wir kommen alsbald auf diese Lehre Worrr’s, wenn wir von
seinen Entwicklungsgrundsätzen, wie er sie in seiner Theoria gene-
rationis niedergelegt hat, zu sprechen haben werden, zurück.
Vorerst soll noch einer bedeutsamen Entdeckung Worrr's, der
Erkenntniss des morphologischen Organisationsprineips der höheren
WALDEYER: Festrede. 2m
Pilanzen, der Kormophyten, was wir gemeinhin unter dem Namen
der »Metamorphose der Pflanzen« verstehen, gedacht werden. Es ist
Jedermann bekannt, dass an dieses Schlagwort der Name GorTHE's
geknüpft ist. Es handelt sich hierbei um nichts Geringeres als um
eine vergleichende Morphologie der Pflanzenkörper, um die Beantwor-
tung der Frage, von welcher Grundform die einzelnen Formgebilde
der Pflanzen, also u. a. Blätter, Wurzeln, Blüthen- und Fruchttheile
abzuleiten sind, und ob es eine oder mehrere soleher Grundformen
giebt, ob es Vergleichspunkte zwischen den niederen Pflanzen, den
Thallophyten und den Kormophyten giebt, wie sich diese Forment-
wicklung paläontologisch begründen und verfolgen lässt, kurz um
ein ungeheures Gebiet voll des grössten wissenschaftlichen Interesses,
wie jedes vergleichende Forschungsgebiet. Was Woırr und GoETHE
darin geleistet haben, sind kleine Anfänge im Vergleich zu dem, was
das heutige Gebiet der allgemeinen äusseren Morphologie der Pilanzen
umfasst, aber es sind eben die Anfänge, mit denen die Bahn gebrochen
wurde. Und von WorLrr muss man sagen, dass er auf streng wissen-
schaftlichem Wege zu seinen Ergebnissen kam; fast der ganze erste
Theil seiner T'heoria generationis handelt davon. Und ist es nicht
ein seltsames Zusammentreffen, dass hier in Berlin, wo die Anfänge
der vergleichenden Morphologie der Pilanzen auftauchten, 100 Jahre
später ihr in Hrn. Arexanper Braun einer ihrer grössten Förderer,
wenn wir von phylogenetischer Begründung absehen, erstanden ist!?
GOETHE beschäftigte sich mit der Frage, ohne von Worrr's Vor-
arbeiten etwas zu wissen. Sobald er aber, und zwar merkwürdiger
Weise durch den grossen Philologen Frıeprıcn Ausust Worr, unserm
Mitgliede', Kenntniss von Kaspar Frieprıcn Worrr’s — Beide sind nur
namensverwandt — Arbeiten erhielt, hat er Worrr’s Priorität und
grosse Verdienste unumwunden und mit dem grössten Lobe anerkannt.
In seiner Schrift »Zur Morphologie«, Bd. I, Ausgabe von 1817, führt
er zunächst die in St. Petersburg gehaltene Gedenkrede an, die ich
zur Charakterisirung Worrr's hier mittheilen möchte:
»Er (Worrr) brachte, heisst es, nach St. Petersburg schon den
wohlbefestigten Ruf eines gründlichen Anatomen und tiefsinnigen
Physiologen mit, einen Ruf, den er in der Folge zu erhalten und zu
vermehren wusste durch die grosse Zahl trefflicher Aufsätze, welche
in den Sammlungen der Akademie verbreitet sind. Er hatte sich
schon früher berühmt gemacht durch eine tief und gründlich durch-
dachte Probeschrift über die Zeugung und durch den Streit, in wel-
' Über die eigenthümliche Stellung Fr. A. Worr's zur Akademie vergl. Harnack:
s
Geschichte der Königl. Preuss. Akad. d. Wissensch. Bd. I, 2. Hälfte S. 560, 641 Anm. 2,
S. 650, 652 und 654.
218 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
chen er deshalb mit dem unsterblichen Harrer gerieth, der, unge-
achtet ihrer Meinungsverschiedenheit, ihn immer ehrenvoll und freund-
scehaftlich behandelte. Geliebt und geschätzt von seinen Mitgenossen
sowohl wegen seines Wissens, als wegen seiner Geradheit und Sanft-
muth, verschied er im 61. Jahre seines Alters, vermisst von der
ganzen Akademie, bei der er seit 27 Jahren sich als thätiges Mit-
glied erwiesen hatte. Weder die Familie noch die hinterlassenen Pa-
piere konnten etwas liefern, woraus man einigermaassen eine um-
ständlichere Lebensbeschreibung hätte bilden können. Aber die Ein-
förmigkeit, in welcher ein Gelehrter einsam und eingezogen lebte,
der seine Jahre nur im Studierzimmer zubrachte, giebt so wenig
Stoff zur Biographie, dass wir wahrscheinlich hiebei nieht viel ver-
missen. Der eigentliche bedeutende und nützliche Theil vom Leben
eines solehen Mannes ist in seinen Sehriften aufbewahrt; durch sie
wird sein Name der Nachwelt überliefert, also, indem uns eine Lebens-
beschreibung abgeht, geben wir das Verzeichniss seiner akademischen
Arbeiten, welches gar wohl für eine Lobrede (Eloge) gelten kann. denn
es lässt mehr als die schönsten Redensarten die Grösse des Verlustes
empfinden, den wir durch seinen Tod erleiden«.
Man hätte wohl erwarten dürfen, dass man ein wenig näher auf
eine Analyse dessen, was die Schriften Worrr'’s Bedeutendes enthalten,
eingegangen wäre; aber auch diese kurze Fassung ist werthvoll; sie
lässt uns den stillen Gelehrten erkennen, der nur seiner Arbeit lebte,
wie ich ihn schon vorhin charakterisirt hatte.
Gorrne spricht sich im Anschlusse daran in höchster Anerken-
nung über Worrr aus, dessen Schriften er von der Zeit an — es war
zur Zeit der »Campagne in Frankreich « auf's Eifrigste studirt babe
und theilt wörtlich den Abschnitt, der sich auf die Pflanzenmetamor-
phose bezieht, aus der Mecxer'schen Übersetzung des Worrr’schen
Werkes über den Darmkanal mit, nebst eigenen Bemerkungen. So
kam er auch dazu, bei dem ihm gut bekannten Mursınna diejenigen
örkundigungen einzuziehen, deren ich vorhin gedachte und die uns
glücklicherweise, eben durch GorrHE, erhalten sind.
Wenden wir uns nunmehr zu dem entscheidenden Schritte, mit
welchem Worrr der damals herrschenden Entwicklungstheorie ent-
gegentrat, womit ein neuer, ungemein fruchtbar erscheinender Abschnitt
der Embryologie angebahnt wurde und dessen Tritt auch noch in
unsere Zeit hineinhallt.
In kurze Worte gekleidet liegt die bedeutsame That K. Fr.W ourr’s
darin, dass er als grundlegenden Vorgang bei der Entstehung und
Heranbildung junger organischer Wesen, Pflanzen oder Thiere, eine
völlige Neubildung der ersten Anfänge oder Keime derselben inner-
Waıpeyer: Festrede. 219
halb des elterlichen Organismus zu erweisen suchte, »Epigenesis«,
dass er dagegen die zu seiner Zeit herrschende Lehre von der bereits
im elterlichen Körper vorhandenen Vorbildung der Nachkommenschaft
im Kleinen, aber mit allen zugehörigen Organen, die dann bloss sich
herauszustalten, zu entwickeln hatten, »Evolutio« widerleete. Er
setzte an die Stelle der »Evolutionslehre« die Lehre von
der »Epigenesis«. Daher betitelt Worrr seine berühmte Doetordisser-
tation auch nicht als »Theoria evolutionis«, sondern »T'heoria gene-
'ationis« und übersetzt das auch in der 1764 von ihm in Berlin besorgten
Deutschen Ausgabe mit »Theorie von der Generation«. Wir verstehen
heute unter »Generation« den Vorgang der »Zeugung«. Davon handelt
Worrr nicht allein und bleibt daher auch in der Übersetzung bei dem
Worte »Generation«, welches bei ihm mehr den Sinn hat, den wir heute
dem Worte »Entwicklungsgeschichte«, »historia evolutionis« beilegen.
Wir ersehen daraus, dass das Wort für die Lehre, welehe Worrr be-
kämpfte, geblieben ist, aber dieses Wort »Evolutio«, »Entwicklungs-
geschichte«, hat durch Worrr's elassische Untersuchungen einen anderen
Sinn bekommen, wenngleich auch nicht völlige den, den Worrr unter
»Epigenesis« verstand.
Zur Zeit als Worrr seine Untersuchungen begann, waren, wie
kurz angedeutet, die hervorragendsten Biologen, Allen voran ALBRECHT
von Harrer, der Meinung, dass die Keime neuer Pflanzen, Thiere
und Menschen in den elterlichen Organismen im Wesentlichen in der-
selben Form mit allen ihren Organen, aber im Kleinen, vorgebildet
und enthalten seien, beim Menschen also als »homunculi« in dem
vielfach gebrauchten Sinne dieses Wortes. Die Ausgestaltung dieser
Keime, bestiolae, homunculi, zum Neugeborenen bestehe also im We-
sentlichen in einem »Entfalten« und » Auswachsen« der mikroskopisch
kleinen Anlagen von Kopf, Rumpf und Extremitäten sammt allen in-
neren Theilen, die sämmtlich schon vorhanden gewesen seien. Daher
stammt auch der, wie gesagt, heute allein noch gebräuchliche Aus-
druck: »Evolutio«, »Entwicklung«. »Entwicklungsgeschichte«. Trug
nun die Mutter von Anbeginn die kleine Frucht in sich, so musste
sie sie schon gehabt haben, als sie selbst noch ein Embryo, ein Ho-
muneulus, war; ihre Mutter musste sie gleichfalls in sich getragen
haben bis zum Anbeginn des Menschen- oder des betreffenden Thier-
geschlechtes hinauf; die »homunculi« oder »bestiolae« mussten einer
in den anderen eingeschachtelt gewesen sein, daher nannte man diese
Lehre auch die »Einschachtelungstheorie«. Andere Ausdrücke sind
»Präformations«- oder »Prädelineationstheorie«. Allen Ernstes gab
man sich die Mühe, zu berechnen, wie viele Keime unsere Stamm-
mutter Eva in sich geborgen haben müsse.
220 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
Eine neue Streitfrage wurde in diese Lehre hineingeworfen, als
die männlichen Keimelemente, die Spermien, durch Ham und Lerv-
WENHOEK entdeckt wurden, indem schon LEEUWENHOER vermuthete,
dass dieses die homunculi oder bestiolae seien; das mütterliche Ele-
ment, das Ei, diene nur als Ernährungsmaterial, während andere,
die Ovisten, diesem Ei seine bisherige Stellung gewahrt wissen
wollten.
So stand die Lehre von der Entwicklung — wenn ich hier ein-
mal von einigen anderen Theorien, wie der der Panspermie, absehe —,
als Worrr seine Studien begann. Es ist erstaunenswerth, wie vollendet
in Form und Inhalt die erste Schrift des 26jährigen jungen Mannes
erscheint. Sie umfasst die sämmtlichen Lebewesen, Pflanzen und
Thiere, gliedert sich, streng logisch durchgearbeitet, in einen ein-
leitenden, klar bereits den Inhalt angebenden, dann in einen kritisch-
tlıeoretischen Theil. Soll man aber bei aller Hochachtung vor WoLrr's
Bedeutung das bleibende Ergebniss seines Werkes angeben, so muss
man sagen, dass es in der negativen Seite, in der erfolgreichen Be-
kämpfung der Evolutionslehre von Marrıeni, SWAMMERDAM, LEEUWEN-
HOEK, BONNET, A. von HALLer und Leiıssız — denn auch unser grosser
Begründer gehörte dieser Lehre an — gelegen ist. Wenn auch nicht
sofort die Reaction siegreich vordrang, so muss man doch sagen, dass
seit 1759 die Präformationslehre allmählich zurückwich, namentlich
seit ihr Brumensacn in seiner scharfen, witzsprühenden Weise kurz
vor Wourr’s Tode zu Leibe ging. Das, was aber Worrr und BrumEn-
BacH thatsächlich besiegt haben, war nur die damalige Fassung
der Präformationslehre in ihrer, ich möchte sagen, grobsinnlichen
Form, als ob thatsächlich in den elterlichen Organismen die Nach-
kommen als kleine Pflänzchen, Thierchen oder Menschlein en minia-
ture verborgen lägen. Wir belächeln das heute vielleicht und er-
achten damit Worrr's Verdienst zu gering; aber in Wahrheit hat er
eine grosse That gethan und einer wissenschaftlichen Entwicklungs-
geschichte im heutigen Sinne den Boden bereitet. Waren die Nach-
kommen als Wesen en miniature schon vorhanden, dann gab es ja
eigentlich nur ein Wachsthum, eine Entfaltung des schon fertig Ge-
gebenen, dann gab es keine Umgestaltungen, keine Formneubildungen
aus anders gestalteten Anlagen, kurz, dann gab es keine Entwicklungs-
geschichte in dem Sinne, wie wir heute das Wort verstehen. Hierin
liegt die bleibende Bedeutung von Kaspar FrIEDRIcH Worrr's Theoria
generationis.
Nicht glücklich aber war Worrr in der Lehre, die er an die
Stelle setzte. Er kam von seinen Beobachtungen an den Pflanzen
darauf. Die noch durchsichtigen jüngsten Keimanlagen bei den Pflan-
WALDEYER: Festrede. 221
zen hielt er für eine flüssige Masse, die noch gar nicht organisirt
sein sollte. Dieser Masse wohne aber jene »Vis essentialis«, die vor-
hin erwähnt wurde, inne, und organisire sie im Verein mit andern
accessorischen Kräften, die nach Ort, Zeit und andern Umständen
verschieden seien. Zu der Vis essentialis komme als zweite für die
Formgestaltung nothwendige Eigenschaft das Vermögen der flüssigen
Urmasse, allmählich fester zu werden. Die »Vis essentialis« liess er
im Wesentlichen, wie wir sahen, in einer anziehenden und abstossen-
den Kraft bestehen, durch welche für den jungen sich entwickelnden
Organismus das Brauchbare und Nöthige herangezogen, das Unbrauch-
bare beseitigt werde. Diese ganze Lehre beruht aber einmal auf einer
falschen Voraussetzung, das andere Mal nimmt sie willkürlich eine be-
sondere Kraft an, deren thatsächliches Vorhandensein durch Nichts
bewiesen wird.
Die Zurückweisung der alten Evolutionslehre hat Worrr am ein-
gehendsten in seinem Meisterwerke Ȇber die Bildung des Darm-
kanals« erreicht. Ich führe (in der Übersetzung J. Fr. Mecxer's) einen
Satz daraus an, der zugleich zeigt, wie Worrr sich zur Entstehung
der Vis essentialis stellt; er hält sie für eine Kraft, die zwar bloss
der »vegetabilischen und animalischen Materie« innewohne, aber eine
Naturkraft sei, wie alle übrigen. Es heisst bei ihm: »Hieraus leuchtet
unstreitig einem Jeden ein, dass bei der Fortpflanzung nicht die Theile
der organischen Körper, zwar unendlich klein und unsichtbar, aber
doch fertig und vollendet vorher vorhanden sind und unmittelbar aus
der Hand der schaffenden Natur hervorgegangen, endlich nur durch
zufällige Umstände, gewissermaassen erweckt, anfangen sich zu ent-
wickeln, sich ausdehnen und zuletzt zur völligen Grösse heranwachsen.
Nicht dies ist der Gang, sondern die Bildung der organischen Körper
im Allgemeinen ist den blossen Naturkräften überlassen, welche der
thierischen oder vegetabilischen Materie einwohnen; eine Materie dieser
Art aber, die mit solcher Kraft versehen ist, diese wurde von Gott
unmittelbar aus dem Nichts geschaffen. Denn wenn ein kleiner, un-
sichtbarer, aber vollständiger, schon voraus vorhandener Magen all-
mählich sichtbar und grösser würde, so müsste man ihn offenbar, so-
bald man ihn sieht, ganz, vollkommen und genau in der Gestalt des
erwachsenen Magens sehen, er möchte auch noch so klein sein, nie
aber halb, nie offen, nie mit ganz fremden Theilen verbunden.« Das
weist aber nun Worrr unter Anderem für den Magen nach, dass er
bei seinem ersten Auftreten nicht als das Gebilde erscheint, als was
er uns später entgegentritt, sondern als eine völlig anders gestaltete
Anlage, deren allmähliche Umformung wir durch ihn im Einzelnen
erfahren.
222 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
Aus dem eben angeführten Satze sowie aus der ganzen Auffassung
Worrr’s von der »Vis essentialis« geht aber meines Erachtens auch
hervor, dass man Worrr nicht zu den Monisten zählen kann, wie das
mehrfach geschehen ist. Worrr sagt zwar, die vis essentialis sei eine
Naturkraft wie alle übrigen, doch ist sie nach ihm nur der organischen
Substanz eigen, und an einer anderen Stelle, in der Theoria generationis,
bekennt er sich offen zur Annahme einer immateriellen Seele: »Ich will
nur noch Weniges bemerken«, sagt er in der vierten Anmerkung zu $225
seiner T'heoria generationis: » Alle die Functionen des Körpers, von denen
ich geläugnet habe, dass sie auf mechanische Weise sich vollziehen, habe
ich auf keine Art erklärt; ich habe nur den Zusammenhang, der zwischen
der Maschine und dem Leben besteht, untersucht, den Ursachen des
Letzteren aber dort, wo es zu der Maschine keine Beziehung hat, nicht
weiter nachgeforscht. Wenn du also, wohlwollender Leser, in dieser
Beziehung meine Ansicht errathen wolltest, so könntest du leicht irren.
Am nächsten wird man wohl meine Ansicht treffen, wenn man an die
Meinung Sranr's oder an die von ihm übernommene und etwas ge-
änderte Wnvrr's und anderer Neuerer denkt, der zu Folge die in
unserem Körper sich vollziehenden Functionen der Thätigkeit einer im-
materiellen Seele zugeschrieben werden, die dieselben entweder leitet
und frei handelt oder die durch den ihr auferlegten Zwang bestimmt
wird. Ich möchte aber nicht, dass mir dies als ein Fehler angerechnet
werde oder dass es scheine, als ob ich mir widerspräche, weil ich den
gebräuchlichen Ausdrücken zu Liebe in der ganzen Abhandlung so ge-
sprochen habe, als ob Alles sich auf mechanische Weise vollzöge.«
Man sieht also, dass Worrr, obwohl er die natürlichen Lebensvorgänge
nach mechanischen Naturprineipien sich vollziehen lässt — das will
er, wie aus seiner ganzen Abhandlung hervorgeht, mit dem Ausdruck
»Maschine« sagen —, den letzten Urgrund des Lebens nicht in den
mechanischen Naturkräften sieht. Wenn auch nicht teleologisch, so ist
die Lebensauffassung Worrr’s doch keineswegs monistisch.
Wie es bis auf unsern Tag so ist, so wurden auch damals natur-
theoretische Betrachtungen mit religiösen Vorstellungen verknüpft.
Und es ist bezeichnend, wie man — namentlich war es HarLer —
in den Lehren Worrr's einen Verstoss gegen die Religion erblickte.
Harrer wirft dies Worrr‘ in einigen Briefen an den Letzteren vor.
Wenn, wie Worrr wolle, der junge Keim eines Menschen eine völlige
Neubildung und zwar Anfangs nicht organisirt, sei, so könne man
ihn ja nicht als von Gott erschaffen ansehen, wohl aber seien alle
Menschen von Gott erschaffen, wenn sie nach der Präformationslehre
auf das erste Menschenpaar auch organisatorisch zurückgeführt wer-
den müssten. Ehe wir nun von Worrr Abschied nehmen, möchte
WALDEYErR: Festrede. 223
ich seine Antwort an den von ihm so hochgeschätzten HALtLEer an-
führen, die ihn in seiner Bescheidenheit, aber auch in seiner inneren
Festigkeit als echten Naturforscher klar charakterisirt: »Und was un-
sere Streitsache betrifft, so denke ich also: Mir nicht mehr als Dir,
herrlicher Mann, liegt die Wahrheit am Herzen. Sei es, dass or-
ganische Körper aus dem unsichtbaren in den sichtbaren Zustand sich
erheben, sei es, dass sie aus der Luft sich hervorbringen: es giebt
keinen Grund, weshalb ich dies mehr als jenes wünschen, oder jenes
vielmehr wollen, dieses nicht wollen sollte. Und eben dies ist ja
auch Deine Meinung. Einzig der Wahrheit forschen wir Beide nach;
das, was wahr ist, suchen wir. Warum also sollte ich gegen Dich
streiten? Warum sollte ich Dir widerstreben, da Du mit mir nach
demselben Ziele strebst? Deiner Obhut vielmehr vertraue ich voll Zu-
versicht meine Epigenesis an, sie zu vertheidigen und auszubauen,
wenn sie wahr ist: ist sie aber falsch, so soll sie auch mir ein
verhasstes Ungeheuer sein. Ich werde die Evolution bewundern,
wenn sie wahr ist, und werde den anbetungswürdigen Urheber
der Natur mit demüthigster Andacht verehren als eine den mensch-
lichen Einsichten unerklärbare Gottheit: ist sie aber falsch, so wirst
Du sie, auch wenn ich schweige, ohne Zögern verwerfen.« (Citirt nach
A. Kırcumorr.)
Sehen wir nun, wie die Ausläufer der grossen Controverse, ob
Evolution, ob Epigenesis? sich bis in die Gegenwart fortsetzen. Die
Vorstellung der Evolutionisten zur Zeit Harter’s und Worrr's war
falsch, ebenso falsch aber auch die Epigenesis, wie Worrr sie auf-
baute. In veränderter Form, wie sie durch die zahlreichen Ent-
deckungen neuer einschneidender Thatsachen und insbesondere durch
experimentelle Forschung nothwendig geworden war, zieht sich die Er-
örterung über dies grosse Problem aber bis zu unseren Tagen hin. Es
sind insbesondere die Namen Kar Ernst von Baer’s, Boverrs, ÜHABRY’S,
Drissch’s, GorrtE’s, Herest’s, Oskar und Rıcnarp Hrrrwiıe’s, Hıs’,
VON KÖLLIkER’s, LoEB’s, Morean’s, NussBAaum’s, PANDER’S, PFLÜGER’S, PrE-
vosr’s und Dumas’, Reıcnerr's, Remar’s, Roux’, OsKAR SCHULTZE’S,
SCHWANN’S, HERBERT SPENcER’Ss und Weısmanvs, welche mit diesen
Forschungen verknüpft sind. Seit der Entdeckung des Furchungs-
processes und des Aufbaues der cellulären blattförmigen Anlagen aus
den Abkömmlingen der Eitheilung, weiterhin der Organe und Ge-
webe aus diesen Anlagen, seit der Entdeckung des Säugethiereies ist
die Fassung einer Epigenese im Sinne Worrr’s unmöglich geworden.
Nun aber hat die Neuzeit noch überraschendere Resultate gebracht. Bei
verschiedenen Thieren lässt sich zeigen, dass diejenigen Zellen des Kör-
pers, aus denen die neuen Individuen hervorgehen, die Geschlechts-
D2A Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
zellen, schon zu einer sehr frühen Zeit in dem sich bildenden Embryo
präformirt sind. Beim Pferdespulwurm kann man nach Ablauf der
ersten Theilung der befruchteten Eizelle schon erkennen, welche von
den beiden Theilungszellen später die Geschlechtszellen, also diejenigen
Zellen, aus denen die nächstfolgende Generation hervorgehen soll, lie-
fern wird. Und mit ungefähr der fünften Theilung sind die ersten Ge-
schlechtszellen selbst schon da. Wenn diese sich beim weiteren Wachs-
thum des Embryo noch vermehren, so gehen aus dieser Vermehrung
nur noch Geschlechtszellen hervor. Alle übrigen Zellen bilden die
sonstigen Gewebe und Organe des Körpers: man nennt sie daher
jetzt Körperzellen.
So setzt sich denn jedes Individuum aus zwei differenten in ein-
ander steckenden Zellencomplexen zusammen, den Fortpflanzungs-
zellen (Geschlechtszellen), welche nur einen kleinen Theil der Ge-
sammtzellen des Körpers bilden, und den grossen Complexen der
Körperzellen, aus denen alles Übrige, also fast der gesammte Leib,
gebildet wird. Nur die Geschlechtszellen sind es, welche sich ge-
gebenen Falles in continuirlicher Reihe fortpflanzen von einem In-
dividuum zum anderen; die Körperzellen haben kein Fortpflanzungs-
vermögen von einem Individuum auf das andere. So kann man sich
den Ablauf des Menschen-, Thier- und Pfilanzenlebens unter dem Bilde
einer continuirlichen, horizontal fortschreitenden Abseissenlinie vor-
stellen, auf der sich von Strecke zu Strecke Ordinaten erheben. Die
Ordinaten sind die einzelnen Individuen, sie sterben einzeln ab; in
der Abseisse ist die Reihe der dauernd lebensfähigen Geschlechtszellen
gegeben.
Diese Vorstellung harmonirt viel mehr mit einer geläuterten Prä-
formationslehre als mit der Epigenesis Wourr's.
Aber noch auf einem anderen Gebiete, dem der Entwicklungs-
physiologie oder der Entwicklungsmechanik von Rovx, erheben sich
Fragen, welche in einem gewissen Grade den Streit zwischen den
Evolutionisten und Epigenesisten fortleben lassen. Eine derselben
lautet: ist in der Eizelle oder in dem Haufen der Furchungskugeln
oder in den Keimblättern der zukünftige Embryo schon in der Weise
vorgebildet, dass man sagen kann: aus diesem Zelleneomplex entsteht
dies Organ, aus jenem jenes, kurz, giebt es eine sogenannte »Pro-
spective Eistruetur« und wie weit geht diese? So kann man an den
eben gelegten Eiern der Fliegen erkennen, wo sich der Kopftheil,
wo sich Rücken- und Bauchtheil des künftigen Fliegenembryo an-
legen werden. Wenn Rovx von den zwei ersten Furchungszellen
eines Froschembryo die eine durch eine glühende Nadel abtödtete,
so entwickelte sich die andere Zelle ruhig weiter, brachte aber zu-
WALDEvErR: Festrede. 225
nächst nur einen halben Embryo zu Wege, je nach der Wahl (der
operirten und nicht operirten Zelle entweder einen linken oder einen
rechten Halbembryo. Solche und ähnliche Erfahrungen sprechen für
eine mehr oder minder weitgehende Präformation, deren Begriff jetzt
natürlich im Sinne der Zellenlehre zu modifieiren ist.
Andere Erfahrungen haben dagegen gezeigt, dass man bei ver-
schiedenen Thieren, wie Amphibien, Echinodermen u. A., nicht nur aus
einer ersten Furchungszelle, sondern auch aus einer Zelle späterer Ge-
nerationen noch einen Ganzembryo erzielen kann, allerdings ent-
sprechend kleiner. Diese Ergebnisse neigen nach der Seite der Epi-
eenesis, natürlich diese wiederum im Sinne der Zellenlehre umge-
ändert gedacht.
So zieht sich die grosse Frage, die in der friderieianischen Zeit
hier in Berlin wesentlich mit ausgefochten wurde, in unser Jahrhundert
hinüber, viel mehr vertieft, aber auch viel mehr verwickelt. Werden
unsere Epigonen ihre völlige Lösung erleben, oder wird das Wort,
dass in das Innere der Natur kein erschaffener Geist eindringe, wahr
bleiben? Die zunehmende Schwierigkeit liegt darin, dass wir uns auch
bei rein morphologischen Fragen an immer kleinere Massentheilchen
wenden müssen. Es gilt hier vollkommen der Satz, den kürzlich
Hr. ExgELmann in seiner Rede über die Herzthätigkeit ausgesprochen
hat: »Wie bei allen fundamentalen Lebensvorgängen liegt die Haupt-
schwierigkeit für die weitere energetische Erforschung darin, dass die
morphologischen, chemischen und physikalischen Bedingungen, au
welche ihr Zustandekommen geknüpft ist, bereits in unsichtbar kleinen
oder doch in so kleinen Massentheilchen vereinigt sind, dass eine
gesonderte Beobachtung, geschweige denn Messung der einzelnen
Partialvorgänge und ihrer räumlichen Beziehungen ausgeschlossen er-
scheint. «
Ich habe Ihre Blicke um anderthalbhundert Jahre zurückgelenkt
und sie von da wieder zur Gegenwart geführt. Die Akademie hat
ihre Aufgaben in dieser Zeit unentwegt zu erfüllen gesucht, ob auch
schwere Zeiten und schwere Verluste sie dann und wann zu lähmen
drohten. Der Stamm der Männer, welche noch so recht der Zeit Kaiser
Wirsern'sI. angehören, lichtet sich mehr und mehr. Haben wir Ruporr
Vırcnow und Dünmrer als die letzten der vom alten Heim her ge-
storbenen zu Grabe geleitet, so sind in den wenigen Monaten unserer
jetzigen Unterkunft schon drei aus unserer Mitte geschieden: Urkıcı
Könter, Tim:opor Mommsen und vox HEFNER-ALteneek! Es ziemt sich
ihrer am heutigen Tage zu gedenken, insbesondere Tneopor MonnseEn’s,
in dem sich gewissermaassen die Akademie verkörperte; möchten ilır
zu keiner Zeit solche Männer fehlen!
Sitzungsberichte 1904. 18
226 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
Aber wenden wir den Blick von wehmüthiger Erinnerung ab zu
erfreulicherem Bild, so begrüssen wir unsern go)jJährigen EpuvArD ZELLER
in seiner schwäbischen Heimat gehobenen Herzens und erinnern uns
freudigen Dankes der Kaiserlichen Glückwünsche, die unser erhabener
Schirmherr ihm zu seinem Geburtstage gewidmet hat. In diesem Danke
sollen heute meine Worte ausklingen!
Alsdann wurden (die Jahresberichte über die von der Akademie ge-
leiteten wissenschaftlichen Unternehmungen sowie über die ihr ange-
oliederten Stiftungen und Institute erstattet.
Sammlung der griechischen Inschriften.
Bericht des Hrn. von WILAMOWITZ-MOELLENDORFF.
Eine neue durchlaufende Bezifferung der von der Akademie ver-
öffentlichten oder begonnenen oder geplanten Inschriftensammlungen
ist durchgeführt; genauer berichten darüber die Sitzungsberichte 1903,
S. 703: die Übersicht wird jedem neuen Hefte beigegeben werden;
neue Titelblätter sind den Besitzern der erschienenen Bände zur Ver-
fügung gestellt. Damit ist ein Arbeitsprogramm aufgestellt, das weder
die schleunige Ausführung aller Theile unbedingt fordert, noch eine
Erweiterung der geographischen Grenzen ausschliesst. Entscheiden
soll allein das wissenschaftliche Bedürfniss und die praktische Durch-
führbarkeit. Aber es darf gehofft werden, dass dieser Rahmen sich
ebenso gut bewähren wird wie der des Corpus Inscriptionum Lati-
narum. Freilich der Name Corpus ist aufgegeben, denn dass die
Akademie ebenso alle griechischen Inschriften herausgäbe wie alle
lateinischen, ist weder möglich noch wünschenswerth. Insbesondere
liegen die Kleinasiens in der sicheren Hand des Österreichischen archäo-
logischen Institutes. Aber so viel verspricht unser Programm aller-
dings, dass die Akademie für die griechische Epigraphik Europas
soreen will.
Damit sie das wirklich kann, ist unbedingt erforderlich, dass
die ältere und die laufende Litteratur ohne Lücken ausgezogen wird,
also in dem Archive der Akademie die Kenntniss der bereits publi-
eirten und bearbeiteten Inschriften immer präsent erhalten wird, wie
das in Wien für Kleinasien geschieht. Schon die Nachträge lassen
sich sonst nur ungenügend und mit unverhältnissmässigem Aufwande
Berichte über die wissenschaftlichen Unternehmungen der Akademie. 227
herstellen. Auch muss ein Ort sein, wo Abschriften und Abklatsche
von Inschriften gesammelt und bewahrt werden können, auch solche
die eine Sonderpublication nicht verdienen. Die Gründung eines solchen
Archives ist begonnen, obwohl die Räumlichkeiten in der Zeit des Um-
baues sehr ungünstig sind. Prof. Freiherr HırLer von GAERTRINGEN hat
bereits in diesem Jahre den Anfang mit der Arbeit des Excerpirens
gemacht. Es sind uns auch in dankenswerthester Weise von den
Königlichen Museen einige Abklatsche syrischer Steine überwiesen. Es
wird noch mancher Jahre bedürfen, geniessen werden die Früchte
der Arbeit vielleicht erst andere: aber gerade darum ist es eine aka-
demische Aufgabe.
Durch Anfertigung eines Registers sind die drei Hefte Nachträge
zum ersten Bande der attischen Inschriften abgeschlossen, denn dieser
Band kann nicht mehr ergänzt, sondern muss einmal in irgend einer
Weise erneuert werden. Dasselbe gilt von den attischen Inschriften
römischer Zeit. Hr. Dr. Hans von Prorr hatte ihre Neubearbeitung
übernommen, ohne dass über die Form entschieden war. Sein jäher
Tod ist nicht nur für diese Abtheilung ein schwerer Schlag und be-
sonders schmerzlich, da der strebsame Mann eben das Ziel erreicht
hatte, ersehnte Aufgaben ganz selbständig angreifen zu können. Er
hatte noch im Frühjahre Lakonien zum zweiten Male bereist, um für
Hrn. Prof. Max Fräsker die Inschriften aufzunehmen. Im Sommer er-
lag dieser einem längeren Leiden, und büssten wir so einen lange
mit unserm ‚Unternehmen verbundenen Gelehrten ein, dessen sorg-
fältige litterarische Forschung auch seinem unfertigen Nachlass hohen
Werth verleiht. Nun übernahm Hr. vox Prorr den ganzen Band, nur
um ihn doppelt verwaist zurückzulassen. Es ist Vorsorge getroffen,
dass trotzdem schon in diesem Jahre die Arbeit vor den Steinen wieder
aufgenommen wird.
Die thessalischen Inschriften, bearbeitet von Hrn. Prof. OÖ. Kern,
stehen unmittelbar vor dem Drucke.
Erschienen ist Band XU, Heft 5. erste Hälfte, bearbeitet von
Prof. Freiberrn Hırzer von GAERTRINGEN; das sind die Inschriften der
eigentlichen Cykladen ausser Tenos. Dies ist zurückgestellt, weil ein
belgisches Mitglied der Ecole francaise, Hr. Dr. Drvovuy, dort ertrag-
reiche Grabungen veranstaltet hat, deren Ergebnisse abzuwarten waren.
In dankenswerthester Weise hat der Finder und die Eeole francaise
aber schon jetzt alle Funde mitgetheilt, und so wird die Bearbeitung
gemeinsam geschehen, gewiss das Erwünschte für die Wissenschaft.
Freiherr HıLLer von GAERTRINGEN hofft noch in diesem Jahre ein
Ergänzungsheft zu XII, 3, den Ertrag seiner späteren Ausgrabungen
auf Thera, fertig zu stellen.
18*
228 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
Den Bearbeiter von Heft 4, den Inschriften von Kos und Kalym-
nos, Hrn. Prof. R. Herzogs, haben wir bei seinen Untersuchungen des As-
klepiosheiligthumes in Kos von Neuem unterstützt, da der epigraphische
Zuwachs überaus reich ist, so reich, dass die Wissenschaft die Fort-
setzung der Grabungen verlangt.
Für Heft 7. die Inschriften von Amorgos, die Hr. J. DELAMARRE
in Paris bearbeitet, hat die Herstellung der Abbildungen begonnen.
Geplant war für den letzten Sommer die Bereisung der Inseln des
tırakischen Meeres durch Hrn. Dr. ©. Freprıen, erschien jedoch wegen
der macedonischen Wirren nicht angezeigt: sie ist für diesen Sommer
bestimmt in Aussicht genommen.
Der Vorsitzende der Öommission hat Griechenland besucht, wesent-
lich um mit den massgebenden Personen persönlich Fühlung zu
nehmen. Der Besuch von Delos, Mykonos und Delphi, deren In-
schriften die französische Akademie im Rahmen unseres Werkes über-
nommen hat, lehrte, dass die Bewältigung der hier durch die Eeole
francaise entdeckten Schätze unmöglich überhastet werden darf, trotz-
dem aber dank der bewunderungswerthen Energie des Hrn. Tır.
HonorzEe die delphischen Inschriften bereits alle copirt sind. Vor
Allem aber hat sich die vollkommene Übereinstimmung über Ziele
und Wege herausgestellt. Dasselbe gilt gegenüber den entscheiden-
den Stellen der griechischen Verwaltung. der Generalinspection der
Alterthümer und der archäologischen Gesellschaft, deren Liberalität
und Thatkraft über jedes Lob erhaben sind. Auch im Fürstenthum
Samos, das an Stelle des verhinderten Vorsitzenden Freiherr Hırrer
VON GAERTRINGEN besucht hat, dürfen wir auf volles Entgegenkommen
hoffen, wenn es Zeit sein wird, dort einzusetzen. Den Dank für
mannigfache Förderung durch Behörden und einzelne Gelehrte, nament-
lich Frankreichs und Englands, spricht die Vorrede des erschienenen
Heftes aus: das neidlose Zusammenwirken für die gemeinsame Sache
ist vorhanden, die beste Gewähr, dass die Arbeit guten Fortgang
nehmen kann, falls sich nur hinreichend befähigte und eifrige Be-
arbeiter finden.
Sammlung der lateinischen Inschriften.
Bericht des Hrn. Hırscurern.
Bevor ich heute den alljährlichen Bericht über den Fortgang
des lateinischen Inschriftenwerkes erstatte, liegt mir die schmerzliche
Pflicht ob, des Heimganges des Mannes zu gedenken, dessen Name
mit diesem akademischen Unternehmen seit seinem Beginn unauflös-
lieh verknüpft war und es für alle Zeiten bleiben wird. Dass das
Berichte über die wissenschaftlichen Unternehmungen der Akademie. 229
Corpus inseriptionum Latinarum ins Leben getreten und seiner Voll-
endung nahe gebracht worden, dass es unserer Akademie beschieden
gewesen ist, der Wissenschaft dies Werk zu schenken, ist das un-
vergängliche Verdienst Tnueropor Momnsen’s, der nach langer segens-
reicher Thätigkeit aus unserer Mitte geschieden ist. Er war der
Schöpfer und Träger zahlreicher Unternehmungen unserer Akademie;
aber das lateinische Inschriftenwerk ist doch weitaus seine grösste
Schöpfung und sein Lieblingskind geblieben. Dieses Werk in die
Wege zu leiten und durchzuführen, wurde er im Jahre 1858 in unsere
Körperschaft berufen, und bis zu seiner Todesstunde ist er ihm in
unablässiger Thätigkeit treu geblieben. Seine alten Arbeitsgenossen
Henzen, pe Rosst, Rırscn, und manche jüngere Gelehrte, die sich
später zu ihnen gesellten, sind vor ihm dahingegangen; er hat, so
schwer und tief er es empfand, allein geblieben zu sein, bis zu seinem
Ende mit fester Hand das Steuer geführt. Unermüdlieh schaffend,
helfend und mahnend hat er den Fortgang des Werkes mit unge-
schwächtem Interesse verfolgt, und auch als er aus den akademischen
Commissionen ausgeschieden war, gestattet, dass dieser Bericht mit
seinem Namen geziert bleibe. In seinem hohen Sinne die Arbeit
fortzuführen, wird das Streben aller derer sein, denen es vergönnt war,
seine Mitarbeiter zu sein.
Über den Fortgang des Unternehmens ist Folgendes zu berichten:
Die Sammlung der stadtrömischen Inschriften (VD) ist durch die
im vergangenen Jahr erfolgte Herausgabe der Additamenta zu einem
vorläufigen Abschluss gelangt. Einen grösseren Nachtrag zu den In-
schriften gedenkt Hr. Hürses in der Ephemeris epigraphica zu ver-
öffentlichen. Die Vorarbeiten zu den Indices sind auch in diesem
Jahr unter Leitung des Hrn. Dessau gefördert worden: doch kann ihre
Drucklegung für das nächste Jahr noch nicht in Aussicht genommen
werden.
Den Satz der Indices zum XI. Band (Mittelitalien) hat Hr. Bor-
MANN begonnen.
Die Inschriften von Nordgallien (XII. ı) sind von Hrn. vox Do-
MASZEWSKI SO weit zum Druck gebracht, dass der von Hrn. Hırson-
FELD bearbeitete französische Theil baldigst zum Abschluss gelangen
und das Erscheinen dieses Fascikels für diesen Sommer in sichere
Aussicht gestellt werden kann. Den durch ZAneEnEister's Tod unter-
brochenen Druck der Inschriften Germaniens (XII, 2) hofft Hr. von
Domaszewskır nach Erledigung einer Revisionsreise aufzunehmen.
Für das gallisch -germanische Instrumentum (XII. 3) hat Hr. Bons
in diesem Sommer eine sechswöchentliche Reise an den Rhein und
in die Schweiz unternommen, um das massenhafte, in den dortigen
230 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
Museen und Privatsammlungen befindliche Material zu revidiren und
zu ergänzen. Die noch ausstehenden Abtheilungen, insbesondere die
Inschriften auf Glas und Metall, sind zur Drucklegung grossentheils
fertiggestellt. Die Sammlung der im ganzen römischen Reich ge-
fundenen Augenarztstempel, die der französische Gelehrte Hr. Esp£-
RANDIEU, wie bereits im letzten Bericht mitgetheilt wurde, mit dan-
kenswerther Bereitwilligkeit übernommen hat, ist im Manuseript abge-
schlossen und der Satz derselben bereits begonnen worden.
An der Fortführung der Drucklegung des stadtrömischen Instru-
mentum (XV, 3) ist Hr. Dressen in diesem Jahr verhindert gewesen.
Die Neubearbeitung der republikanischen Inschriften (I?) hat Hr.
Lonnatzzscn so weit gefördert, dass der Druck voraussichtlich in diesem
Sommer in Angriff genommen werden kann. Die Fertigstellung des
Werkes zu überwachen und die Gesetzurkunden zu redigiren, ist
Hrn. Momusen nicht mehr, wie er gehofft hatte, beschieden gewesen;
auf die Bitte der Akademie hat sich ihr auswärtiges Mitglied Hr.
Bücnerer bereit erklärt, an seine Stelle zu treten. Die Akademie ist
ihm für diese Zusage zu aufrichtigem Dank verpflichtet.
Hr. Mau stellt die sofortige Aufnahme und ununterbrochene Fort-
führung des Druckes der Pompejanischen Wandinschriften (IV. Supple-
mentband) in Aussicht.
Die Africanischen Inschriften (VII. Supplementband) sind von
den HH. Casnar und Dessau bis auf die umfangreichen, während des
Druckes des Bandes zu Tage getretenen Funde und die in Vorbe-
reitung befindlichen Indices abgeschlossen; der dritte Faseikel wird
in wenigen Wochen zur Ausgabe gelangen.
Das epigraphische Archiv in der Königlichen Bibliothek steht
Dienstags von 11—ı Uhr unter den durch die Beschaffenheit der |
Sammlung gebotenen Cautelen der Benutzung offen.
Aristoteles - Commenlare.
Bericht des Hrn. Diers.
Im vertlossenen Jahre sind folgende Bände fertiggestellt worden:
V 5: Themistius in libr. XII Metaphys. hebr. und lat., herausgegeben
von S. Lanpaver, V 6: Themistius (richtiger Sophonias) in Parva Na-
turalia, herausgegeben von P. WespLanp, XIV 3: Philoponus (richtiger
Michael) de generatione animalium, herausgegeben von M. Haypuck,
XXIIı: Michael in Parva Naturalia, herausgegeben von P. WENDLAND,
und endlich der letzte Band des Supplementum Aristotelieum II 2:
Aristotelis res publiea Atheniensium, herausgegeben von F. G. Krxyox.
- .. ” ” Var ” ” ‘
Berichte über die wissenschaftlichen Unternehmungen der Akademie. 231
Von B. VII Simplieius in Categorias ist der Text ausgedruckt. Der
Index konnte nicht rechtzeitig fertiggestellt werden, da der Heraus-
geber, Prof. KAusrreiscn, in der Zwischenzeit im Auftrag der Akademie
eine wissenschaftliche Reise nach England auszuführen hatte. B. XIII 2
und XVIII 2 sind dem Drucke übergeben worden, so dass nur noch
drei Hefte der ganzen Sammlung ausstehen.
Prosopographie der römischen Kaiserzeit.
Bericht des Hrn. Hırscureun.
Die HH. Kress und Dessau sind in diesem Jahr durch andere
Arbeiten verhindert worden, die Drucklegung des Schlussbandes zu
beginnen.
Politische Correspondenz Frırprıcu's des Grossen.
Bericht der HH. Scumorter und Koser.
Der soeben ausgegebene Band 29, wie die vorangegangenen durelı
Hrn. Vorz bearbeitet, führt in 807 Nummern vom ı. August 1769
bis zum 30. Juni 1770. Die Preussische Politik wurde in diesem
Zeitraum durch das Bestreben geleitet, die mittlere Linie zwischen
Russland und Österreich, deren Interessen in der orientalischen mehr
noch als in der polnischen Frage auseinandergingen, einzuhalten und
einem feindlichen Zusammenstoss beider Mächte vorzubeugen. Die
politische Lage kennzeichnet sich auf der einen Seite durch die am
12./23. October 1769 erfolgte Erneuerung der preussisch-russischen
Defensivallianz von 1764, auf der anderen durch die Begegnung zwischen
König Frıeprıcı und Kaiser Joseru II. zu Neisse (25. bis 28. August
1769) sowie durch die sich anschliessenden Verhandlungen wegen
einer zweiten Zusammenkunft und wegen einer preussisch - österreichi-
schen Friedensvermittelung zwischen Russland und der Pforte.
Griechische Münzwerke.
Bericht des Hrn. Dresser.
Die Fortsetzung des ersten Bandes des nordgriechischen Münz-
werkes hat nach dem Rücktritt des Hrn. Pıck Hr. Dr. K. Reerıne in
Berlin übernommen und mit der Redaction der Münzen von Tomis
bereits begonnen.
Die Vorarbeiten zum zweiten, für die Münzen von '[hracien be-
stimmten Bande haben die HH. Strack und Münzer in regelmässiger
22 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
Weise weitergeführt. Der Erstere hat die Zettel der für sein Gebiet
in Betracht kommenden Städte und die der Inseln Thasos und Imbros
durchgearbeitet, Hr. Münzer den Rest der Zettel von Pautalia fertig-
gestellt sowie das umfangreiche Material für Perinthus vollständig
und das ebenso reiche für Philippopolis theilweise bearbeitet.
Der Druck des dritten, die macedonischen Münzen umfassenden
Bandes ist nicht fortgesetzt worden. Doch hat Hr. GAEBLErR eine An-
zahl von Untersuchungen, die dazu bestimmt sind, die Einleitung zu
diesem Bande zu entlasten, beendet und zum Theil in der Zeitschrift
für Numismatik zum Druck gebracht, ferner das von Hrn. von Frıtze
während seiner Reise für ihn gesammelte neue Material verarbeitet,
so dass die Wiederaufnahme des Druckes in diesem Jahre mit Sicher-
heit erfolgen wird.
Über die Vorarbeiten für das kleinasiatische Münzwerk ist
Folgendes zu berichten:
Hr. Kusırscher hat den Druck des die karischen Münzen um-
tassenden Bandes nieht beginnen können, da er behindert war, die
für die endgültige Redaction noch erforderlichen Reisen nach Paris
und Athen zu unternehmen. Nur einige kleinere Sammlungen in
Österreich und Ungarn sowie die Münzen in Bologna, Ravenna und
Rimini wurden aufgenommen. Die Excerptensammlung und die Ord-
nung der Zettel für das ganze kleinasiatische Gebiet wurde fortgesetzt.
Hr. vo Frırze hat vom 29. Januar bis zum 3. September die für
die Bearbeitung der Münzen von Mysien und Troas nothwendigen Rei-
sen ausgeführt. Besucht wurden die Sammlungen Italiens, Griechen-
lands, der Türkei und Österreichs. Die Benutzung wurde fast überall
in der liberalsten Weise gewährt; nur in Constantinopel musste wegen
des Neubaues des Museums die Untersuchung der noch ungeordneten
Münzsammlung unterbleiben. Das Ergebniss der siebenmonatigen Reise
ist ein sehr zufriedenstellendes gewesen und auch den anderen Mit-
arbeitern am akademischen Münzwerke zu Gute gekommen, da Hr. vos
Frırze zahlreiche Desiderata für den thraeischen Münzband erledigte
und nach Möglichkeit auch Abdrücke für die Gebiete der HH. GAEBLER
und Kusrrschek anfertigte. Die Zahl der während dieser Reise in
Siegellack abgedrückten Münzen beläuft sich auf nahezu 3500. Seit
seiner Rückkehr hat Hr. vox Frırze mit der Anfertigung und Einord-
nung der Gipsabgüsse begonnen.
Das für die Münzen von Olbia und Tyra bisher gesammelte Mate-
rial, das ursprünglich für den I. Band des nordgriechischen Münzwerkes
bestimmt war, sowie die Zettel für die Münzen des heutigen Südruss-
lands, des Kaukasus nebst Pontus und Paphlagonien hat die Akademie
Sr. Kaiserl. Hoheit dem Grossfürsten ALEXANDER MicnAmLowirsch von
Berichte über die wissenschaftlichen Unternehmungen der Akademie. 233
Russland überlassen, um für eine unter der Leitung Sr. Kaiserl. Hoheit
vorbereitete Gesammtpublication der Münzen jener Gebiete verwerthet
zu werden. Die Akademie hat die Zusage, dass diese Publication in
ihrer Anlage dem I. Bande des akademischen Münzwerkes sich an-
schliessen und nicht nur in russischer, sondern auch in deutscher
Sprache erfolgen werde, mit besonderem Danke aufgenommen.
Acta Borussica.
Berieht der HH. Scumorser und Koser.
Das vergangene Jahr 1903 hat aus den gleichen Gründen wie
das Vorjahr nicht zur Fertigstellung neuer Bände geführt.
Die Briefe König Frieprıcn Wiruern's I. an den Fürsten Leorornn
von Dessau sind leider durch Prof. Dr. Kravske in Königsberg immer
noch nicht ganz fertig gestellt.
Der Druck des Band VII der inneren Staatsverwaltung, welcher
die Acten von 1746—45 enthält, ist durch Prof. Dr. Hmrze bis zu
Bogen 39 gediehen, er wird im Laufe des Jahres 1904 ausgegeben
werden. Unser früherer Mitarbeiter, Dr. Bracat, jetzt Archivar am
Königl. Hausarchiv, hat die Anfertigung des Registers für den Band
übernommen. Prof. Dr. NaupE hat die Abtheilung Getreidehandels-
politik von 1740 an weiter gefördert; ebenso Dr. Srorze die Bearbei-
tung der Acten der inneren Staatsverwaltung von 1723—1740. Es
ist Hoffnung, dass dieser Theil der Publieation bis 1740 bald ganz
vollendet sein wird.
Die von Dr. Frhr. von ScuRöTTEr bearbeitete Münzgeschichte. Dar-
stellung und Acten von 1701—1740, ist im Druck. Der erste Theil,
die Darstellung, 18 Bogen umfassend, liegt schon gedruckt vor; der
Druck der Acten hat begonnen. Der Band wird im Laufe dieses Jahres
ausgegeben werden können. Die Münzgeschichte der Zeit Frıeprıcn's
des Grossen ist im Manuscript zu einem erheblichen Theile fertig.
Dr. Wırnerm NaupE ist am 7. Januar plötzlich einem Herzschlag
erlegen; die Acta Borussica verlieren an ihm einen ihrer ältesten und
geschätztesten Mitarbeiter.
Thesaurus linguae latinae.
Bericht des Hrn. Diers.
Da im abgelaufenen Jahre das Unternelimen der fünf deutschen
Akademien unter der Leitung des Generalredactors Prof. F. VorLner
in München seinen regelmässigen Fortgang genommen und besondere
234 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
Beschlüsse nicht zu fassen waren, fiel ausnahmsweise die Jahrescon-
ferenz der Thesaurus-Commission aus. Ich habe daher Hrn. Prof.
VoLLmER gebeten, unserer Akademie einen etwas eingehenderen Jahres-
bericht zu geben. Er lautet folgendermaassen:
»Fertiggestellt wurden vom ı. Januar 1903 an von Band I Bogen
75—59, von Band II Bogen 61—86, ferner die Citirliste 15 Bogen,
die dem nächsten Hefte beigegeben, aber auch einzeln verkauft werden
wird. Dieses Verzeichniss führt die im Thesaurus benutzten Autoren
in alphabetischer Reihenfolge nebst Angabe ihrer Lebenszeit, ihrer
maassgebenden Ausgaben (bez. Handschriften) sowie der Ordnungs-
nummer ihrer Zettel im Thesaurusmaterial an. Auch über den Kreis
der Thesaurusbearbeiter und -leser hinaus, für die das Verzeichniss
ein unentbehrliches Hülfsmittel ist, wird es sich voraussichtlich manche
Freunde erwerben. «
»Im Ganzen sind also 56 Bogen vollendet worden, vier Bogen
weniger als die nach den Ergebnissen der vorhergehenden Jahre be-
rechnete Minimalleistung betragen sollte. Diese Differenz erklärt sich
durch Krankheit und andere Abhaltungen einzelner Assistenten sowie
durch den Wechsel, der im Personal des Bureaus im vorigen Jahre
stattgefunden hat.«
» Ausgetreten sind nämlich zum ı. April v. J. Prof. Zimmermann,
zum 15. April Dr. Böser, zum ı. October Dr. Bıcker. Neu eingetre-
ten ist dagegen nur Dr. B. A. Mürırer am 1. August. Dr. vox Mess
wurde der Arbeit für sechs Monate durch Krankheit, Dr. MünscHeEr
für zwei Monate durch eine militärische Übung entzogen. So besteht
das Bureau am I. Januar d. J. aus dem Generalredactor, dem Redactor,
dem Seceretär und acht Assistenten. Drei Assistentenstellen sind also
noch zu besetzen, und es ist dringend zu wünschen, dass das Bureau
bald wieder auf den vollen Bestand gebracht werde und, was ebenso
wichtig ist, dass die älteren, eingeübten Beamten und Assistenten auf
die Dauer an das Unternehmen gefesselt werden. «
»Um diese Constanz des Bureaus auch finanziell sicherzustellen,
werden die ausserordentlichen Beiträge zu Gehaltszulagen verwandt,
die in dankenswerther Weise von den deutschen Regierungen und Aka-
demien im vorigen Jahre, und hoffentlich auch weiter, dem Thesau-
rus bewilligt worden sind: von Baden 600 Mark, Elsass-Lothringen
1000 Mark, Hamburg 1000 Mark (hier als dauernder Zuschuss), Preussen
(in Form von zwei Stipendien) 2400 Mark, Württemberg 700 Mark,
von der Kgl. Preuss. Akad. d. Wiss. 1000 Mark, von der Kgl. Ges.
d. Wiss. zu Göttingen 1000 Mark, von der Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss.
50o Mark, zusammen 8200 Mark, dazu 1000 Mark von der Kgl. Akad.
d. Wiss. zu Wien für 1904.«
Berichte über die wissenschaftlichen Unternehmungen der Akademie. 235
>
»Mit dem erwähnten Ausfall an Arbeitszeit und Arbeitskraft des
Bureaus hängt es auch zusammen, dass das in diesem Jahre bewäl-
ticte Material noch keinen Fortschritt gegen das frühere an Concen-
tration aufweist, obwohl der Generalredaetor nach dieser Seite unab-
lässig thätig ist. Denn fehlt es an Assistenten, so fehlt es natürlich
bei der nothwendigen Schnelligkeit der Arbeit auch an Zeit, einen zu
lang gerathenen Artikel immer wieder zu erneutem Kürzen zurückzu-
geben. So war es denn bisher nicht zu hindern, dass der Gesammt-
umfang der fertiggestellten Theile nicht viel (absolut gerechnet 287
Seiten), aber doch ein Stück den dem Plane nach zur Verfügung
stehenden Raum überschreitet. «
Nach diesem Berichte des Generalredaetors darf der Wunsch aus-
gesprochen werden, es möge gelingen, den leitenden Persönlichkeiten
des Münchener Bureaus einen grösseren Stab zuverlässiger Hülfskräfte
dauernd zu gewinnen, die im Stande sind, wenn sie die nothwendige
Schulung zu diesem Zwecke erlangt haben, selbständig zu arbeiten,
d. h. nicht nur ein richtiges, sondern auch ein klares und gedrängtes
Referat auf Grund des gewaltigen Zettel- und Stellenstoffes zu geben.
Das ist die Lebensfrage des Thesaurus, der ohne eine opferwillige Hin-
gebung (dazu geeigneter junger Gelehrter nicht durchgeführt werden
kann.
Bericht über die Ausgabe der Werke von WEIERSTRAss.
Berieht des Hrn. Auwers.
Band III, der Schlussband der Abhandlungen, ist im Mai 1903
ausgegeben worden.
Ein neuer Band der Vorlesungen: Elliptische Functionen, ist im
Manuscript zur Hälfte vollendet und wird in einigen Monaten in Druck
gegeben werden.
Kanrt- Ausgabe.
Bericht des Hrn. Dir rury.
Der vierte Band der Werke ist erschienen. In einigen Monaten
werden Bd. II (Vorkritische Schriften I) und Bd. III (Kritik der reinen
Vernunft in der zweiten Auflage) herausgegeben werden. Der Druck
von Bd. V (Kritik der praktischen Vernunft und Kritik der Urtheils-
kraft) hat begonnen.
Dem Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen haben wir
Dank dafür zu sagen, dass er uns das Manuseript der Schrift Kanr's
»Vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur« zur Verfügung
gestellt hat. a
236 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
Ausgabe des Ibn Saad.
Bericht des Hrn. Sacnar.
Der Druck ist so weit vorgeschritten, dass die ersten vier Bände,
welche von den Herren BROCKELMANN, ZETTERSTEEN, Horovırz und
dem Berichterstatter bearbeitet sind, innerhalb der nächsten Monate
ausgegeben werden können. Die anschliessenden Bände über die Über-
lieferer aus Medina, dem übrigen Arabien, Kufa und Basra werden
von den HH. Lirrert, Meıssner und ZETTERSTEEN für den Druck vor-
bereitet. In die Aufgabe der Edition der Biographie Muhammed’s
haben sich die HH. Dr. Euern Mırrwoch, Dr. Joser Horovırz und
Prof. Dr. Frieprıcn Schwarıy getheilt. In den Osterferien 1903 hat
Hı. Horovırz im Britischen Museum die inhaltsverwandten Theile des
Waxıpr'schen Werkes verglichen. Die sämmtlichen Collationsarbeiten
sind abgeschlossen, und von dem ersten Theil der Prophetenbiographie,
der von Hrn. Mırrwocı herausgegeben wird, liegen bereits die ersten
Bogen gedruckt vor.
Wörterbuch der ägyplüischen Sprache.
Bericht des Hrn. Erman.
Unser Unternehmen hat im verflossenen Jahre grössere Fort-
schritte gemacht als in jedem früheren. Die Zahl der verzettelten
Stellen betrug 5993, also mehr als das Doppelte der vorjährigen
Leistung; die Zahl der alphabetisirten Zettel war 79632. Es sind
somit jetzt im Ganzen verzettelt 20672 Stellen, alphabetisirt 342375
Zettel.
Auch abgesehen von diesem äÄusserlichen Resultate können wir
mit dem in diesem Jahre Geleisteten wohl zufrieden sein. Es wurden
folgende Texte verarbeitet:
Religiöse Litteratur: die Pyramidentexte, die die Grundlage
des Wörterbuches bilden, wurden nach vierjähriger Arbeit von Hrn.
SETHE vollendet. Die Bearbeitung der wichtigen Amduatlitteratur wurde
von Hrn. Grafen Scuack in Angriff genommen. Die Festgesänge der
Isis und Nephthys und das Apophisbuch verzettelte Hr. Lanse.
Klassische Litteratur: die sogenannte »Berliner Lederhand-
schrift« durch Hrn. Rorper.
Neuägyptische Litteratur: Pap. Anastasi III und V und die
Briefe des Pap. Sallier I durch Hrn. Wereezisskı nach der Vorarbeit
des Hrn. Ermas. Pap. Koller durch Hrn. Rorper. Der grosse Pap.
Harris wurde nach den Vorarbeiten der Hl. SrEısporrr und ErMmaN
von Hrn. Wreeziısskı begonnen.
Berichte über die wissenschaftlichen Unternehmungen der Akademie. tt
Tempelinschriften: Hr. Garnier förderte diesen wichtigen
Theil unserer Aufgabe um ein Beträchtliches; er erledigte die Tempel
von Derelbahri und Redesieh, sowie die wesentlichsten Inschriften
von Karnak und Medinet Habu. Die »Inscription dedicatoire« des
Ramses-Tempels von Abydos verzettelten die HH. BorracHer und Gau-
THIER nach Vorarbeiten des Hrn. Erman: auch Hr. MöLrer arbeitete
weiter an diesem Tempel.
Gräberinschriften: die Mastaba’s des alten Reichs aus Lersivs,
Denkmäler II und englischen Publicationen wurden von Hrn. Rorper
in der Hauptsache zu Ende geführt. Die Gräber zu Der Rife und
Beni Hasan wurden von demselben begonnen. Grössere Inschriften
aus Gräbern des neuen Reichs, besonders solche historischen Inhalts,
bearbeitete Herr GARDINER.
Geschäftliche Texte: Berliner Pap. 3047 durch Hrn. Roeprr.
Die Rückseite des Pap. Abbott durch Hrn. Erna.
Inschriften in den Museen: die Museen zu Leiden, Turin,
Genf und Lyon wurden von den HH. Gaurnter, WRrECZINsKIı und JUNKER
fertiggestellt, der Louvre zum grössten Theil von den beiden erst-
genannten erledigt. Hr. GArnInEr arbeitete am British Museum und
anderen englischen Sammlungen. Hr. Mapsen setzte die Verzettelung
der Kairiner Stelen des mittleren Reichs unter Leitung des Hrn.
Lange fort.
Inschriften griechisch-römischer Zeit: grössere Denk-
steine und Grabsteine dieser Zeit erledigte Hr. Serne. Ihre Tempel-
inschriften, die für die lexikalische Forschung von so grosser Wich-
tigkeit sind, konnten endlich von Hrn. Junker ernstlich in Angriff
genommen werden, nachdem die Königliche Akademie zur Bewälti-
gung dieser Sonderarbeit einen besonderen Zuschuss gewährt hatte.
Der Anfang ist mit dem Tempel von Denderah gemacht worden, für
dessen Inschriften wir im Berliner Museum eine grosse Anzahl von
Abklatschen besitzen.
An der Verzettelung arbeiteten in diesem Jahre mit: die HH.
BoLLAcHER, ERMAN, GARDINER, GAUTHIER, JUNKER, LANGE, MADsEn,
MöLter, ROEDErR. Graf Scnack, SETHE, Wreczisskıi. Die Nebenarbeiten
wurden wie bisher von den HH. Borracner und VosELsanG und von
Frl. MorsENsTERN erledigt. Hr. Serne arbeitete während längerer Zeit
an der Einlegung der Zettel aus dem provisorischen Alphabet in das
definitive.
Die HH. Jusker und Roeder wurden zum October als ständige
Hülfsarbeiter angestellt; dem ersteren gewährte der Herr Bischof von
Trier zu diesem Behufe einen dreijährigen Urlaub. Hr. GARrDINER,
der nach Berlin übersiedelte, übernahm die Führung der Textlisten.
238 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
Durch freundliche Mittheilung von Abschriften, Abklatschen und
Photographien wurden wir von den HH. Borcnarpt, BREASTED, GaR-
DINER und ScHÄFER unterstützt.
Index rei militaris imperü Romani.
Bericht des Hrn. HırscHreı».
Hr. Rırteruise ist leider auch in diesem Jahr durch seine Amts-
geschäfte an der Ausarbeitung des von ihm gesammelten Materials
verhindert worden.
Codex Theodosianus.
Bericht des Hrn. Diers.
Das letzte Werk, das Monusen in der Reihe seiner grossen Aka-
demiepublicationen angeregt und selbst mit der Energie des Jünglings
vorbereitet und durchgeführt hat, der Codex Theodosianus, ist glück-
licher Weise, soweit von vornherein die Mitarbeit des Gründers in
Aussicht gestellt war, vollendet worden, wie er es selbst in seinem
letzten Berichte für das Jahr 1903 versprochen hatte. Das Manuseript
zum ersten Bande ist von Monusen's Hand vollständig abgeschlossen
worden, der Druck selbst war von seiner Hand bis fast zu Ende
geleitet worden. Die letzten Bogen der grossen Einleitung sind im
Satz. Die Drucklegung wird beaufsichtigt von Prof. O. SEEck in Greifs-
wald, der unserer Akademischen Commission für den "Theodosianus
beigetreten ist, und von Dr. Pavr Meyer, dem Herausgeber des zweiten
Bandes. Zum Abdruck sollen im ersten Bande noch gelangen: ı. die
von Prof. L. Trauvge in München übernommene paläographische Er-
klärung der beigegebenen Facsimiletafeln und 2. die Untersuchung
von Prof. A. von Wrerscnxo in Innsbruck De usu Breviarü Alariciani
forensi et scholastico per Hispaniam Galliam Italiam regionesque vicinas.
Die Bearbeiter stellen die Ablieferung der Manuscripte für die nächste
Zeit in Aussicht, so dass die Publication des ganzen Bandes im Früh-
ling dieses Jahres erfolgen dürfte.
Die Arbeiten für die Ausgabe der Leges Novellae ad Theodosianum
pertinentes sind, wie der Herausgeber, Hr. Dr. Paıvı M. Mryer berichtet,
so weit gediehen, dass der Text nebst Apparat der Novellae Theodosii I.
und Valentiniani III. gedruckt vorliegt, ausserdem Kapitel I, II, VI
der Prolegomena im Manuscript fertiggestellt sind. Der Herausgeber
hofft bis zum Herbst dieses Jahres die Ausgabe der Novellae vollendet
vorlegen zu können.
Berichte über die wissenschaftlichen Unternehmungen der Akademie. 239
Geschichte des Fixsternhimmels.
Bericht des Hrn. Auwers.
Die fortlaufende Eintragung der Catalogörter in den allgemeinen
Zetteleatalog ist bis zur Epoche 1375 fortgeschritten, indem im, Be-
richtsjahre etwa 166000 Oerter aus Catalogen mit Epochen zwischen
1855 und 1875 übertragen wurden.
Ausserdem wurde eine grössere Anzahl früher übergangener klei-
nerer Cataloge und vereinzelter in Zeitschriften u.s. w. zerstreuter Be-
stimmungen aus der Zeit 1750— 1845 verwerthet, indem daraus etwa
4000 Oerter ausgezogen — zum Theil erst abgeleitet — wurden.
Das Fehlerverzeichniss zu den ausgezogenen Catalogen liegt bis
zur Epoche 1825 einschliesslich druckfertig vor und ist weiter bis 1860
zusammengestellt, mit welcher Epoche ein zunächst herauszugebender
I. Theil abschliesst. Zur Drucklegung desselben hat Hr. A. F. Lmprmans
in Darmstadt zweitausend Mark zur Verfügung gestellt: eine neue Be-
thätigung zur Förderung der Wissenschaft, für welche die Astronomen
Hrn. Lispemans zu wirklichem Dank verpilichtet sind.
Das Thierreich.
Bericht des Hrn. ScHuLze.
Im vergangenen Jahre sind zwei Thierreich -Lieferungen, die acht-
zehnte und neunzehnte der ganzen Reihe, erschienen. Erstere ent-
hält drei Vogelfamilien, die Meisen (Paridae), die Kleiber (Sittidae) und
die Baumläufer (Certhüdae) und ist von Hın. Heıımayr in München
bearbeitet. Die letztere enthält die Bearbeitung der mit vierstrahli-
gen Kieselnadeln versehenen Spongien, der Tetraxonia, von Hrn. Prof.
voN LENDENFELD in Prag.
Die zwanzigste Lieferung, welche die Schnurwürmer (Nemertini)
behandelt, ist zwar fertiggedruckt, konnte aber noch nicht ausge-
geben werden, weil sie noch dem Bearbeiter, Hrn. Prof. Bürser in
Santiago in Chile, zur Revision vorgelegt werden muss.
Die in Vorbereitung befindliche einundzwanzigste Lieferung wird
den ersten Theil der Amphipoden von Mr. Stessine in Tunbridge Wells
in englischer Sprache bringen.
Das Pflanzenreich.
Bericht des Hrn. Engrer.
Das »Pflanzenreich« oder Regni vegetabilis conspectus hat im
vergangenen Jahre recht erhebliche Fortschritte gemacht. Es sind
sieben Monographien mit einem Gesammtumfang von 71 Druckbogen
240 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
erschienen. Über die grosse Familie der Orchidaceae, an deren Bear-
beitung sich einige Gelehrte unter Führung unseres correspondiren-
den Mitgliedes Hrn. Prırzer (Heidelberg) betheiligen werden, ist der
erste Theil, von ihm selbst bearbeitet, erschienen. Dr. W. Runtaxn
(Berlin) hat die Zriocaulaceae, für deren Neubearbeitung ein dringendes
Bedürfniss vorlag, erledigt; Dr. W. Grosser (Breslau) bearbeitete die
Cistaceae, bei welehen die ausserordentliche Variabilität der Arten das
Studium sehr erschwerte, auf Grund umfangreichen Materials; Prof.
Dr. C. Mrz (Halle a. S.) lieferte im Anschluss an eine vorjährige Be-
arbeitung der Myrsinaceae die der nahestehenden Theophrastaceae. Aus
der Feder Prof. Dr. Bucnexaus (Bremen) erschien die Bearbeitung der
Scheuchzeriaceae, Alismataceae und Butomaceae. In einem starken Band
veröffentlichte Prof. Dr. E. Koenxe (Berlin) die Monographie der von
ihm durch einige Jahrzehnte studirten Zythraceae. Endlich hat Dr.
R. Pıreer (Berlin) die Bearbeitung der wichtigen Familie der Taxa-
ceae, in welcher auch die Fossilien von Bedeutung sind, durchgeführt.
Alle Monographien erleichtern durch eine Fülle guter Abbildungen
(insgesammt 1910 Einzelbilder in 226 Figuren) die Benutzung und
bringen zahlreiche neue Arten an’s Licht, welche bisher in den Mu-
seen unbearbeitet lagen: sodann geben die Monographien aber auch
eine gute Unterlage für pflanzengeographische Forschungen. Die Zalıl
der Mitarbeiter nimmt stetig zu, so dass ein continuirliches Erschei-
nen weiterer Monographien gesichert ist.
Ausgabe der Werke Wırnerm von Humskornr's.
3ericht des Hrn. Scnnuipr.
Von WirsenLm von Humsonpr's »Gesammelten Schriften« sind im
Juni 1903 der erste (Leıtzmann s Ausgabe der »Werke« im engeren
Sinn I: 1785— 1795) und der zehnte (Gersnarpr’s Ausgabe der »Poli-
tischen Denkschriften« I: 1802-—- 1810), im December der elfte Band
(»Politische Denkschriften« II: 18Sr0—ı813) erschienen; der zweite ist
ausgedruckt, der die zweite Abtheilung schliessende zwölfte geht jetzt
unter die Presse.
Das Briefeorpus bedarf‘ noch mancher Ergänzung. Es ist neuer-
dings durch Hrn. Grafen p Havssonvizze, Mitglied der Academie francaise,
und Hrn. Dr. Günrner, Vorstand der Danziger Stadtbibliothek, in
dankenswerthester Weise gefördert worden.
Berichte über die wissenschaftlichen Unternehmungen der Akademie. 241
Deutsche Commission.
Bericht der HH. Burvacn, Rorrne und Sceumipr.
Die Deutsche Commission hat heute zum ersten Mal über ihre
Pläne und Arbeiten zu berichten. In’s Leben gerufen, um mit aka-
demischen Mitteln die Erkenntniss der heimischen Sprache und Litte-
yatur zu fördern, wird sie bemüht sein, in ruhiger, aber weitgreifen-
der Vorbereitung den breiten und festen Grund zu legen, auf dem
sich dereinst die nationalen Werke errichten lassen, die von der Aka-
demie längst in’s Auge gefasst sind: eine Geschichte der neuhoch-
deutschen Sprache und der grosse Thesaurus linguae Germanicae, der
Leben und Reichthum unserer Muttersprache in seinen Schatzkammern
bergen soll.
Die Commission hat zunächst eine Inventarisirung der litte-
‚arischen Handschriften deutscher Sprache bis in’s 16. Jahrhun-
dert in Angriff genommen, die sich zu einer Handschriftenkunde des
deutschen Mittelalters auswachsen soll. Nur so wird es möglich werden,
das reichbewegte sprachliche und geistige Leben voll zu erfassen und
zu verstehen, aus und in dem sich Humanismus. Reformation und
Schriftsprache bei uns entwickelt haben: insbesondere wird nur so
ein umfassender Überblick zu gewinnen sein über die erbauliche, wissen-
schaftliche, technische und Übersetzungsprosa der mächtig ringenden
Zeit, die dem Buchdruck unmittelbar vorhergeht. Auch deutsche Hand-
schriften des späteren 16. und des 17. Jahrhunderts, sowie die mittel-
und neulateinischen Manuseripte Deutschlands sollen berücksichtigt
werden, soweit sie Werke von ästhetischem Anspruch, vornehmlich
Dichtungen, enthalten. Die Leitung dieser Handschriftenaufnahme ist
so vertheilt worden, dass Hr. Burpacn das grösste und wichtigste Ge-
biet übernimmt, die Bibliotheken Mittel- und Süddeutschlands, der
preussischen Provinzen Öst- und Westpreussen, Posen, Schlesien, ferner
Österreich-Ungarns und der Schweiz, Italiens und Russlands, wäh-
rend Hrn. Rorrne das übrige Preussen, die kleineren norddeutschen
Staaten, Hessen-Darmstadt, Luxemburg, ferner Frankreich, England,
die Niederlande und die nordischen Länder zufallen. Natürlich be-
darf es einer sehr grossen Zahl von Mitarbeitern. Eingeleitet sind
die Inventarisationsarbeiten bereits für Königsberg, Ost- und West-
preussen, Breslau, Prag, Wien, München, Leipzig, Jena, Rom; Bremen,
Bonn, Coblenz, Darmstadt. Fulda, Giessen, Greifswald, Halle, Ham-
burg, Münster, Waldeck: die HH. Dr. Burs (Hamburg), Dr. Heın
(Giessen) und Dr. SrtEısgErGEer (Greifswald) haben schon die ersten
Proben eingereicht, die, so gering sie an Zahl sind (10), doch ahnen
lassen, welch Ertrag unser wartet: neben einem niederdeutschen Frei-
Sitzungsberichte 1904. 5 19
242 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
dankfragment taucht da z.B. eine Übersetzung von Guillaume de Digulle-
villes Pelerinage de la Vie humaine (15. Jahrhundert), eine Bearbei-
tung von Hans Sachsischen Fastnachtspielen aus dem 17. Jahrhundert,
eine ändernde und kürzende Handschrift von Gryphius Peter Squenz
u. A. neu zu Tage. Schon jetzt lässt sich übrigens vorhersagen, dass
sowohl die Aufnahme der Handschriften selbst wie namentlich auch
die Organisation ‚und Controle der Inventarisirungsarbeiten in Zukunft
Reisen der Leiter und der Mitarbeiter nöthig machen werden. Die
einlaufenden Beschreibungen sollen zu einem Archive gesammelt und
in ihm sofort derartig verzettelt werden, dass jeder Zeit eine voll-
ständige und vielseitige Übersicht über das vorhandene Material ge-
sichert ist.
Es soll ferner in rascher Folge eine Reihe von ungedruckten
deutschen Werken des Mittelalters und der frühneuhoch-
deutschen Zeit publieirt werden: leidet doch die litterarhistorische
wie die sprachgeschichtliche Forschung schwer darunter, dass die
poetische und namentlich die prosaische deutsche Litteratur von 1250
bis 1500 nur in einer unzulänglichen, oft fast zufälligen Auswahl
herausgegeben worden ist. Die Akademie beabsichtigt weniger kriti-
sche Ausgaben als die zuverlässige Wiedergabe guter Handschriften
mit den unentbehrlichsten Berichtigungen und Erklärungen: saubere
Handschriftenabdrücke haben ihren eigenthümlichen bleibenden Werth
für die Erkenntniss der Sprach- und Geschmacksentwicklung auch
neben den kritisch «urchgearbeiteten Editionen, für die sie zugleich
die beste Vorbereitung bilden. In Zukunft sollen diese Publicationen
die Prosa jeder Art, namentlich auch die Fachprosa, in ihren Kreis
ziehen: zunächst aber schien es geboten, eine Anzahl der noch un-
gedruckten gelesenen Dichtungen des ausgehenden Mittelalters schnell
zugänglich zu machen. Im Vorbereitung oder doch in feste Hände
gelegt sind folgende Ausgaben: die Weltchronik, der Alexander und
der Wilhelm Rudolf’s von Ems, der Rennewart Ulrich’s von Türheim,
Seifrid’s Alexandreis, der Wilhelm von Österreich Johann’s von Würz-
burg, Friedrich von Schwaben, die Christherrechronik, Karl und die
Schotten, Dichtungen des deutschen Ordens, das Buch der Märtyrer,
die Sprüche des Teichners, Sammelbände von kleineren Erzählungen
und Beispielen, von Volks- und Gesellschaftsliedern: dazu die Oxforder
Mystikerhandschrift. Wir haben begründete Aussicht, dass schon im
laufenden Jahre die ersten Hefte erscheinen werden. Den Verlag
dieser »Deutschen Texte des Mittelalters«, die Hr. Rorrne leitet, hat
die Weidmann’sche Buchhandlung übernommen.
Endlich sind durch Hrn. Scmupr über eine der deutschen Litteratur-,
Bildungs- und Sprachgeschichte höchst wünschenswerthe Gesammt-
Berichte über die wissenschaftlichen Unternehmungen der Akademie. 248
ausgabe der Werke WırLann’s, die auch seine Übersetzungen und
Briefe umfassen soll, eingehende Berathungen mit dem besten Kenner,
Hrn. Bervmarp SEuUFFERT in Graz, gepflogen, die Grundsätze für das
ganze Unternehmen entworfen und Mitarbeiter in's Auge gefasst worden.
Die Vertheilung der Werke auf Bände ist im Gang, ebenso ein Register
aller handschriftlichen Materialien und maassgebenden Drucke. Ein
Verlagscontraet konnte noch nicht abgeschlossen werden. An WIELAND
sollen sich andere wichtige Schriftsteller des 18. Jahrhunderts anreihen.
üs liegt in der Natur der Sache, dass die Deutsche Commission
heute fast nur von Plänen und Zielen zu berichten hatte, über denen
sich fernere und höhere Ziele aufbauen. Wenn wir mit Zuversicht
auf den allseitigen kräftigen Fortschritt unserer Arbeiten rechnen, so
berechtigt uns dazu die verständuissvolle und thätige Hülfsbereitschaft,
die wir fast überall und über Erwarten sefunden haben, wo immer
wir Mitarbeit und Unterstützung warben.
Die Deutsche Commission ist augenblicklich zusammengesetzt aus
den HH. Burvacn, Diers, Dirruey. Koser, Rortne, Scumir: geschäfts-
führendes Mitelied ist Hr. Rorrne.
Forschungen zur Geschichte der neuhochdeutschen Schrifisprache.
Bericht des Hrn. Burpacn.
Von den durch mich in Angriff genommenen und geleiteten For-
schungen zur Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache, die
1. deren Ursprung und Emporkommen im 14., 15., 16. Jahrhundert,
2. ihre Einigung im 17. und 18. Jahrhundert und 3. die Ausbildung
der modernen Litteratursprache zum Gegenstand haben, konnte seit
dem vergangenen Sommer nur die erste Gruppe gefördert werden.
Hervorragend wichtig ist dabei die Feststellung der Beziehungen zu
den Anfängen des deutschen Humanismus und der dadurch hervor-
gerufenen neuen Formen des Satzbaus und Stils der Prosa in der
lateinischen und deutschen Kanzleisprache. Für ein bedeutendes Doecu-
ment dieser Bewegung innerhalb der böhmisch-mährischen Kanzleien um
die Wende des 14. Jahrhunderts, eine reichhaltige Olmützer Sammel-
handschrift, die ich zuerst untersucht und in grösseren Theilen abge-
schrieben hatte, wird von mir jetzt mit Unterstützung des Hrn. Dr.Wirrı
SCHEEL, der mir seit dem October 1903 zur Seite steht, eine Publica-
tion und möglichst vielseitige Beleuchtung vorbereitet. Die Handschrift
stammt aus dem Schülerkreise des Kanzlers Kaiser Karl's IV., des Schle-
siers Johann von Neumarkt. Dieser Johann von Neumarkt, ein ge-
schiekter und mannigfach interessirter Gehülfe seines kaiserlichen Herrn,
192
244 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
des grossen Centralisators und Reorganisators deutscher Bildung und
deutschen Wohlstands, hat die königliche Kanzlei reformirt, den Stil
ihrer lateinischen und deutschen Urkunden umgebildet und in neue
Bahnen geleitet, er hat auf Befehl des Kaisers auch lateinische reli-
eiöse Schriften in's Deutsche übersetzt und ist durch diese Übertra-
gungen der älteste deutsche Schriftsteller einer kunstvollen, leben-
digen, den modernen Leser an Luther's Sprachkraft gemahnenden
neuhochdeutschen Prosa, in jenem durch bayerisch -österreichischen
Einschlag modifieirten ostmitteldeutschen Sprachtypus, der fortan unter
dem nachwirkenden Anstoss der von Karl IV. in Böhmen, Mähren,
Schlesien und den abhängigen Nachbargebieten geschaffenen neuen
staatlichen, kirchlichen und wissenschaftlich-litterarischen Cultur der
Kern unserer gesammten schriftsprachlichen Entwicklung geblieben ist
bis auf den heutigen Tag. Jene bedeutungsvolle Olmützer Miscellan-
handsehrift enthält ausser sechs, bis auf einen unbekannten, lateini-
schen Briefen Johann’s von Neumarkt eine bunte Sammlung latei-
nischer Gedichte und Prosawerke Petrarca’s,. mit dem Johann von
Neumarkt in persönlichem Verkehr und Briefwechsel gestanden und
den er als seinen Meister verehrt hatte. Meine Abschriften aus die-
sem Olmützer Codex sind von Hrn. Dr. ScuheeL für den Druck redigirt,
die photographisch aufgenommenen Textstücke übertragen und in das
Druckmanuscript eingereiht worden. Für alle von Petrarca herrühren-
den oder ihm zugeschriebenen Gedichte und Abhandlungen ist von
Hrn. Dr. Scherer eine Untersuchung der Frage, ob sie schon bekannt
oder gedruckt seien, auf's Neue angestellt worden und hat bis jetzt hin-
sichtlich des allergrössten Theils — meine frühere, vorläufige Nach-
forschung bestätigend — zu einer verneinenden Antwort geführt. Fer-
ner hat Hr. Dr. Scheer sowohl für die prosaischen als auch für die
poetischen Bestandtheile die Untersuchung auf die Ermittelung der un-
mittelbaren Vorbilder ausgedehnt, wobei sich besonders die Benutzung
und Nachahmung von Livius, Florus, Valerius Maximus und nament-
lich Ovid ergeben hat. Der Abschluss dieser Arbeit ist im Laufe des
Frühjahrs zu erwarten.
Hunsorort- Süftung.
Bericht des Vorsitzenden des Guratoriums Hrn. WALDEYER.
Die HH. Tuıwenıus und Lupwiıe Diers sind mit der weiteren Be-
arbeitung des von ihren Reisen mitgebrachten wissenschaftlichen Ma-
terials beschäftigt. Der Vorsitzende des Curatoriums hat über Eigen-
thümlichkeiten von Papua-Schädeln, die zum Theil von Hrn. Tuıtextus
Jahresberichte der Stiftungen und Institute. 245
gesammelt worden waren, in der Sitzung der physikalisch-mathemati-
schen Classe der Akademie vom 10. Dezember d.J. Mittheilung gemacht.
Die für das Jahr 1903 zur Verfügung stehende Summe von rund
7000 Mark ist Hrn. Dr. Leostuarn Scnurtze, Privatdocenten an der Uni-
versität Jena, zu systematisch- und geographisch -zoologischen Unter-
suchungen in Deutsch-Südwestafrica verliehen worden. Hr. Dr. Leoxnarn
ScHuLtzE ist bereits seit einigen Monaten an Ort und Stelle thätig
und hat sowohl dem zoologischen Museum wie der anatomischen An-
stalt eine Reihe werthvoller Sammlungsstücke eingesendet. Die für
1904 verfügbare Summe beläuft sich auf Sooo Mark.
Sarıenr-Stiflung.
Bericht des Hrn. Brunner.
I.
Über die Arbeiten zu einer neuen Ausgabe von Gustav Hon£ver’s
Werk: »Die deutschen Rechtsbücher des Mittelalters und ihre Hand-
schriften« (1856) haben die HH. Dr. Borcauine und Dr. JuLıus GIERKE
einen eingehenden Bericht erstattet. Dem Honrver'schen Verzeichniss,
das 741 Handschriften von Rechtsbüchern aufzählt, konnten 299 neue
Nummern eingereiht werden, die der Bericht im Einzelnen verzeichnet.
Andererseits mussten aus dem Honever’schen Verzeichniss 25 Nummern
gestrichen werden, theils weil sie mit anderen Nummern identisch sind,
theils aus sonstigen Gründen. Ein Wechsel des Aufenthalts ist bei
56 Nummern constatirt worden. Verloren gegangen sind seit 1856
25 Handschriften. Von allen neu eingestellten Nummern und von
einer grossen Anzahl alter Nummern sind ausführliche Beschreibungen
angefertigt worden.
I:
Vom Vocabularium lurisprudentiae Romanae ist im Jahre 1903
das von Hrn. B. Küster bearbeitete vierte Heft (ceterum —cymbium) aus-
gegeben und damit der erste Band vollendet worden. Er trägt die
Widmung: In memoriam Theodori Mommsen, qui hoc opus fundavit.
Das Manuscript des fünften Heftes wird von seinem Bearbeiter Hrn.
GruprE voraussichtlich zu Ostern d. J. eingeliefert werden.
borr- Stiftung.
Bericht der vorberathenden Commission.
Am 16. Mai 1903 hat die Königliche Akademie der Wissenschaften
den zur Verfügung stehenden Jahresertrag der Borr-Stiftung von 1902
im Gesammtbetrage von 1350 Mark in 2 Raten verliehen. Die grössere
246 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
Rate von 900 Mark wurde Hrn. Dr. Argerr Bürk in Tübingen zuer-
kannt in Anerkennung und zur Weiterführung seiner Arbeiten auf
dem Gebiete der indischen Philologie, die kleinere Rate von 450 Mark
Hrn. cand. phil. Jonans BECKER aus Cöln, z. Z. in Berlin, zur Fort-
setzung seiner Dialektforschungen auf slavisch -litauischem Gebiete
innerhalb Deutschlands. Im Vermögensbestande der Stiftung ist keine
Änderung eingetreten.
Enbvarnd GERHARD- Stiflung.
Bericht des Hrn. Conze.
Das Stipendium wurde seit dem Inslebentreten der Stiftung zum
ersten Male im Jahre 1894 Hın. Pucuhsteın für Untersuchung der
antiken Befestigungen von Paestum verliehen. Die Publication ist
noch nicht erfolgt. Auch die Ergebnisse der mit dem Stipendium
unterstützten Arbeiten des Hrn. NoAck über griechische Städteruinen
in Akarnanien und Aetolien sind noch nicht veröffentlicht, und das
Hrn. Böntau zu Untersuchungen auf Lesbos verliehene Stipendium hat
noch nicht in Verwendung genommen werden können.
Als erste durch eine zweimalige Bewilligung aus den Mitteln
der Stiftung unterstützte Arbeit ist soeben die Publication des Hrn.
Wirsann erschienen: Die archaische Poros-Architektur der Akropolis
zu Athen. Text und Atlas. Cassel und Leipzig 1904.
Bericht der Hermann und Erise geb. Hrckmann WENTZEL- Stiftung.
Bericht des Guratoriums.
Die drei grossen litterarischen Unternehmungen der Stiftung sind
im Berichtsjahr planmässig fortgegangen. Die Leiter haben darüber
die hier als Anl. I und II folgenden Berichte erstattet.
Die von Prof. Pırwivpson zum Abschluss seiner Forschungen im
westlichen Kleinasien für 1903 geplante dritte Reise wurde auf 1904
verschoben und soll nun in diesem Jahre in etwas erweitertem Umfang
ausgeführt werden.
Prof. A. Vorırzkow hat seine Forschungsreise nach Ostafrica und
Madagaskar im Januar 1903 angetreten und bis jetzt planmässig durch-
geführt. Er hat erst die Witu-Inseln und Pemba, dann die Haupt-
inseln der Comoren-Gruppe eingehend durchforscht, und ist am 1. No-
vember auf Madagaskar gelandet; seine letzte Mittheilung ist von dort
aus Tullear vom 25. December 1903. Ein vorläufiger Bericht über
Jahresberichte der Stiftungen und Institute. 247
die Arbeiten auf den Witu-Inseln und Pemba ist in der Zeitschrift
der Gesellschaft für Erdkunde veröffentlicht.
Die Geldbewilligungen des Jahres 1903 haben betragen: 6000 M.
zur Fortsetzung der Bearbeitung des Wörterbuchs der deutschen Rechts-
sprache: 4000 M. zur Fortsetzung der Kirchenväter- Ausgabe; 3000 M.
für die Bearbeitung der römischen Prosopographie: 1000 M. für weitere
Ausdehnung der dritten kleinasiatischen Reise des Prof. Pımwireson.
Anl. I.
Bericht der Kirchenväter -Commission für 1903.
Von Aporr Harnack.
I. Ausgabe der griechischen Kirchenväter.
In dem Jahre 1903 ist der 10. Band der Kirchenväter- Ausgabe
erschienen, nämlich:
Örigenes’ Commentar zum Johannesevangelium (Preuscuen).
Im Druck befinden sich vier Bände, nämlich:
Eusebius’ Kirchengeschichte, 2. Theil, nebst der Übersetzung
Rufin’s (Scuwartz und Monmusen r):
Eusebius, Topica (Krostermasn) und Theophania (GrEssmann):
Gnostische Schriften in koptischer Sprache (K. Scımipr);
Clemens Alexandrinus, Werke, Bd. I (Sräurın).
Von dem » Archiv für die Ausgabe der älteren ehristlichen Schrift-
steller« wurden neun Hefte ausgegeben, nämlich:
Bd. VII Heft 4: Jasssen, Das Johannesevangelium nach der
Paraphrase des Nonus;
Bd. IX Heft 1: K. Scıumr, Die alten Petrusakten:
Bd.IX Heft 2: Wrepe, Die Echtheit des 2. Thessalonicherbriefs:
Bd. IX Heft 3: Harsack, Der pseudocyprianische Traktat De
singularitate clerieorum. Die Hypotyposen des 'T'heognost.
Der gefälschte Brief des Bischofs T’heonas;
Bd. IX Heft 4: vos Scnugert, Der sogenannte Prädestinatus:
Bd. X Heft 1: Lrirorot, Schenute von Atripe:
Bd.X Heft 2: Acneuıs und Freummne, Die syrische Didaskalia;
Bd.X Heft 3: Frhr. vox Sopen, Die eyprianische Briefsammlung;
Bd. X Heft 4: Warrz, Die pseudoclementinischen Schriften.
D
Im Druck befinden sich zwei Hefte.
Die Vorarbeiten für weitere Bände der Kirchenväter- Ausgabe sind
fortgeführt worden. Grössere Unterstützungen erhielten Bınzz und
PArumENTIER (Reise nach Italien für Sokrates, Sozomenus und Theodoret),
Karıgerow (für Übersetzungen von Werken Hippolyt’s aus dem Geor-
gischen in's Russische), Körscnau (Reise naclı Italien für Origenes,
248 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
De prineipiis), Wenprann (Reise nach Paris für Hippolyt, Philoso-
phumena), Schwartz (Reise nach Italien für Eusebius, Praeparatio),
K. Schmpr (Reise nach Aegypten für koptisch - gnostische Schriften).
Der der Commission zugeordnete wissenschaftliche Beamte K.
Schmipr hat seine grosse Ausgabe der Acta Pauli in koptischer Sprache
vollendet. Dieselbe ist in Leipzig (J. ©. Hinrichs’sche Buchhandlung)
erschienen.
2. Prosopographia Imperii Romani saee. IV—VI.
Die von der Commission seit drei Jahren geplante Prosopographie
von Diocletian bis zu Justinian’s Tode hat das Curatorium der Stiftung
im Herbst 1902 in die Zahl der von ihr herauszugebenden Publi-
cationen aufgenommen. Die Commission hat mit der Leitung der kir-
chenhistorischen Abtheilung Hrn. JüLıcner, der profanhistorischen Hrn.
Sercx betraut. Dank der freiwilligen Mitarbeit einer grossen Anzahl
von Kirchenhistorikern sind die Vorarbeiten im Laufe des Jahres 1903
bedeutend gefördert worden. Die Commission beklagt hier wie in Bezug
auf die Ausgabe der Kirchenväter den Verlust ihres Mitgliedes Hrn.
Monusen auf’s tiefste. Er hat die Arbeiten nicht nur mitgeleitet —
der Plan der Prosopographie gehört ihm an, und die Durchführung
lag ihm besonders am Herzen — sondern er hat auch selbst mit-
gearbeitet. Seine Rufin-Ausgabe ist vollendet: die Drucklegung wird
Hr. Scnwarrz übernehmen. Seine umfangreichen Excerpte für die
Prosopographie sind Hrn.Serck anvertraut worden, den die Commission
an seiner Stelle zum Mitglied gewählt hat.
Anl. I.
Bericht der Commission für das Wörterbuch der deutschen Rechtssprache.
für das Jahr 1903.
Von Heıskıcn Brunner.
Die akademische Commission tagte zu Heidelberg am 28. und
29. März 1903. Sie revidirte durch Stichproben das in der Heidel-
berger Universitätsbibliothek aufbewahrte Archiv der Excerptenzettel
und fasste Beschlüsse über Anlage und Ergänzung des Quellenver-
zeiehnisses, über einzelne zur Excerpirung heranzuziehende Quellen-
werke, über Bestellung neuer Mitarbeiter und über die Ausarbeitung
einer erweiterten und vervollständigten Instruction für die Excerptoren.
Im März 1903 bildete sich in Wien ein »österreichisches Comite
zur Förderung des deutschen Rechtswörterbuchs.« Mitglieder dieses
Comites sind Hr. Sectionschef und Prof. Excellenz vox INAMA-STERNEGG,
Hr. Oberlandesgerichtsrath Dr. Tıreopor Morroc#h, Hr. Archivdirector
Jahresberichte der Stiftungen und Institute. 249
Hofrath Dr. G. Wıster und die HH. Prof. Erssr Freiherr vox Scuwinp,
Sıcmunp ADter, Arrons Dorscn, Rıcnarn HEinzeL, Kart Kraus, J. Minor
und O. vox Zarzineer. Nach dem Vorbilde der schweizerischen Com-
mission stellt sich das österreichische Comite die Aufgabe, für die Zwecke
des Rechtswörterbuchs die deutschen Quellen Oesterreich-Ungarns sy-
stematisch zu excerpiren und die Excerpte an unser Heidelberger Ar-
chiv abzuliefern. Vorsitzender des österreichischen Comites ist Hr.
Prof. Dr. Ersst Freiherr vox Schwisp, Wien III, Reisnerstrasse 32, an
den alle die Angelegenheiten dieses Comites betreffenden Zuschriften
zu richten sind.
Über die Arbeiten des Jahres 1903 erstattete der wissenschaft-
liche Leiter des Unternehmens Hr. Scnrorper folgenden Bericht.
Bericht des Hrn. ScHROEDER.
Die Gesammtzahl der in das Archiv eingeordneten Zettel belief
sich bei der letzten Feststellung auf 171500; sie ist seitdem auf mehr
als 200000 gestiegen. Einen besonders dankenswerthen Zuwachs bil-
den die von Hrn. Prof. Lıegermann eigenhändig hergestellten Auszüge
aus dem ersten Bande der »Gesetze der Angelsachsen«, 3000 Excerp-
tenzettel umfassend. Das im Laufe dieses Jahres für die österreichi-
schen Rechtsquellen begründete Wiener Comite hat bereits 10000 Ex-
cerptenzettel zusammengebracht; die Titel der unter ihrer Leitung aus-
gezogenen Quellen sind in dem unten folgenden Verzeichniss durch
** bezeichnet. Die schweizerische Commission hatte die von ihr über-
nommene Aufgabe bereits im vorigen Jahre in der Hauptsache zu Ende
geführt: die inzwischen von ihr noch eingegangenen Nachträge sind in
unserer Zusammenstellung durch * gekennzeichnet. Die Grıum’schen
Weistümer sind nunmehr bis auf einen kleinen noch ausstehenden
Rest des ersten Bandes vollständig ausgezogen. Die Auszüge aus dem
Schwaben- und Deutschenspiegel sind von der Leitung in Angriff ge-
nommen worden, nachdem sich herausgestellt hat, dass die kritische
Ausgabe von Rockısser’s nicht abgewartet werden kann: sie werden
ebenso wie die ebenfalls begonnenen Auszüge aus dem kleinen Kaiser-
recht im Laufe des nächsten Jahres vollendet werden. Ein Verzeich-
niss der noch ausstehenden Quellen ist in Arbeit genommen; schon
Jetzt ergibt sich, dass ihre Bewältigung noch geraume Zeit und einen
erweiterten Kreis von Mitarbeitern erfordern wird. Um so dankens-
werther ist die Unterstützung, die das Unternehmen in Folge der Ini-
tiative der HH. Fockema Anpreae und Vervam bei den holländischen
Gelehrten gefunden hat. Unser Verzeichniss führt bereits verschiedene
werthvolle Beiträge derselben auf. Die von der Wörterbuch -Com-
250 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
mission beschlossene neue » Anleitung zum Excerpiren für das deutsche
Reehtswörterbuch« wurde sämmtlichen Mitarbeitern, auch denen der
Wiener Commission, zugestellt. Sie lehnt sich an die von der schwei-
zerischen Commission entworfene Anleitung an und hat sich bereits
in hohem Grade bewährt, insbesondere hat sie für die Leitung eine
wesentliche Ersparniss an Zeit- und Arbeitsaufwand gebracht. Von
den ständigen Hülfsarbeitern war Dr. Rorr hauptsächlich mit den Ein-
ordnungen in das Archiv und der Ergänzung des Verzeichnisses der
zusammengesetzten Wörter, Dr. Wanr mit der bibliographisch genauen
Feststellung der Quellenverzeichnisse beschäftigt. Da Dr. Want als
Beamter der Universitätsbibliothek seine Thätigkeit für das Wörter-
buch auf drei Stunden täglich einschränken musste, so war eine Er-
eänzung der ständigen Hülfskräfte geboten. Seit dem ı. November
ist Dr. LroroLn PErers, vorerst mit beschränkter Arbeitszeit, als stän-
diger Hülfsarbeiter gewonnen. Da Dr. Rorr zum ı. April 1904 aus-
scheiden wird, so erwächst für die Wörterbuch-Commission die Auf-
gabe, sich über eine Neuorganisation der ständigen Hülfskräfte der
Leitung schlüssig zu machen. Ohne zwei ständige Hülfsarbeiter sind
die ihr obliegenden Aufgaben schlechthin nicht zu bewältigen. Wenn
die hierfür erforderlichen Mittel nicht flüssig gemacht werden können,
lässt sich die Einreihung der immer zahlreicher eingehenden Excerpten-
zettel in das Archiv und die Aufarbeitung der hektographisch herge-
stellten Zettel nicht mehr regelmässig bewirken: es würden Stauungen
eintreten, bei denen eine erspriessliche Förderung der noch ausstehen-
den umfangreichen Arbeiten nicht mehr möglich wäre.
Verzeichniss der im Jahre 1903 ausgezogenen Quellen.
(Die Beiträge der schweizerischen Commission sind mit einem *, die der österreichischen mit zwei ** bezeichnet.)
**Ackermann aus Böhmen: Prof. Berxr (Leitmeritz).
**Acta Tirolensia I (vollendet): Jos. Krarr (Seminar von VoLTELIKI).
**Anegenge, her. von Halın (Gedichte des 12. und 13. Jh., 1840): P. B. BranpL (Se-
minar SEEMÜLLER).
Artikel der Bauern, Die zwölf, her. von Götze, Hist. VJSchr. V. 1902: Dr. Kornxe.
Bär, Urkunden und Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung der Stadt
Koblenz, 1898: Dr. Rorr.
**Beheim, Michael, Buch von den Wienern, her. von Karajan, 1843: Epw. ZELLWERER,
(Seminar Prof. Kraus). b
**Beheim, Michael, Reimchronik von Friedrich von der Pfalz (1469), her. von Hoffmann,
Quellen und Erörterungen z. bayer. u. deutsch. Geschichte 3, 1— 258: Epm. Zerr-
WERKER (Seminar Kraus).
Beweisung, Stück von der, her. von Homeyer, Des Sachsenspiegels 2. Teil I, 363 fl.:
SCHROEDER und LoRENTZEN.
Bilsteiner Gerichtsordnung (17. Jh.), bei Geisen, Teutsches Corpus iuris, Hannover
1709: Prof. Hıs.
**Biterolfund Dietleib, her. von Jänieke, Deutsches Heldenbuch I. 1866: C. Tuumser
(Seminar R. Kraus).
**Bonus, her. von M. Haupt, Zeitschr. f. deutsch. Altertum 2, 208 ff.: R. Fınpeıs (Se-
minar K. Kraus).
Jahresbericht der Stiftungen und Institute. 251
*Bremgarten, Urkunden im Stadtarchiv Bremgarten: Oberrichter Dr. W. Merz (Aarau).
Codex diplom. Saxoniae regiae, 2. Hauptteil. NI (Universität Leipzig). XII (Frei-
berg): Dr. G. Leuserr (Giessen).
Deichordnungen (unvollendet): Dr. J. Grerkz (Göttingen).
*"Diemer, Deutsche Gedichte des ır. und ı2. Jh., 1849 (Loblied auf den heiligen Geist
Gebet einer Frau, Antichrist, Leben Jesu, Himmlisches Jerusalem): K. Tuunser
(Seminar K. Kraus).
**Dietrich und Wenezlan, Deutsches IIeldenbuch V. 1870: Prog (Seminar K. Kraus).
Dortmund, Statuten und Urteile, her. von F. Frensdorff, Halle 1882: Referendar
E. Rugex (Berlin).
**Eders Relationen (Sammlung Chorinsky, handschriftlich): Orro Back (Seminar vox
Schwixp).
"Eidgenössische Abschiede II. Fortsetzung: Prof. Warrer Burexuarpr (Lausanne).
**Eisen-Satz- und Ordnung von 1660, Codex Austriacus I, 318 ff.: Franz Leirer (Se-
minar von SCHWwiND).
Entwurf einer hessischen Landesordnung, Geisen,, Teutsches Corpus iuris, Hannover
1709, S. 391 $l.: Prof. Hıs.
Erbbuch der Ämter Langensalza und Thamsbrück von 1516 (Arehiv Magdeburg):
Prof. Hıs.
Erbregister des Amtes Sontra (Archiv Marburg): Prof. Hıs.
Erfurt, Diplomata des Erfurter St. Petersklosters (Königl. Bibliothek in Berlin):
Prof. Hıs.
**Ermreuther Saalbuch von 1537 und Gemeindeordnung von 1698, Geschichte der
Familie von Künssberg-Thurnau, München 1838: Esern. von Künssgere (Seminar
von ScHwixD).
**Ferdinandeische Bergordnung von 1553 f. d. niederösterreichischen Lande: Fraxz
Leırer (Seminar von Scnwixp).
Fidiein, Historisch-diplomatische Beiträge z. Geschichte der Stadt Berlin, IV. (Ber-
linische Urkunden von 1232— 1700): Dr. Wanr.
von Freyberg, Sammlung historischer Schriften und Urkunden, II. 1829: Dr. Rorr.
**Fuchs, Neidhart, bei Bobertag, Narrenbuch S. 149 ff. (Kürschner, Deutsche National-
litteratur XI): Ext Kreıster (Seminar K. Kravs).
**Genesis, Millstädter, her. von Diemer, Genesis und Exodus, 1862: Dr. V. DorLsaver
(Znaim).
**Genesis, Wiener, her. von Hoffmann von Fallersleben, Fundgruben Il.: Dr. V. Dorr-
MAYER.
*Gengenbach, Pamphilus von, her. von K. Gödeke, 1856: Dr. Aug. STEIGER (Bern).
Gera, Stadtrecht von 1658, bei Schott, Sammlungen z. d. deutschen Stadt- und Land-
rechten 1. 1772: SCHROEDER und Dr. Degen (Heidelberg).
Glosse zum Sächs. Lehnrecht: Probe aus der Glosse des Sächs. Lehnrechts, bei
Homeyer, Des Sachsenspiegels 2. Teil, I S. 343 ff.: Scnrorper und Prof. Lorentzen.
Görlitz, Stadtbuch, her. von Jecht, N.-Laus. Magazin 69 und 70; Rügegericht von
Görlitz und Löbau, her. von Bötticher, ebd. 73: Hofgerichtsbuch, her. von Knoche,
ebd. 74; Liber vocationum, her. von Jecht, ebd. 77: Dr. G. Srosse.
Grimm, Weistümer, I. fortgesetzt von S. 332—640: Dr. H. HrErwaGen.
II. vollendet: K. Sterser.
VI. vollendet: Prof. Greiner.
Hanserecesse I: Die Recesse und Acten der Hansetage von 1256—1430, I. 1870:
Dr. Bopex (Hamburg).
**Heinrich von Freiberg, Tristan: Prof. A. Bersr (Leitmeritz).
**Heinrich von Neustadt, Apollonius, her. von Jos. Strobl, Wien 1875 (verbessert
nach der Wiener Handschrift): Ina Seser (Seminar K. Kraus).
**Heinrich von Neustadt, Von Gottes Zukunft, her. von Jos. Strobl, Wien 1875:
Ipa Sensr (Seminar K. Kraus).
**Hochzeit, her. von Karajan, Deutsche Sprachdenkmäler des 12. Jh., 1846: Eur
Keeıster (Seminar K. Kraus).
**Juliana, her. von Schönbach, Sitz.-Berichte der Wiener Akademie d. W., phil.-hist.
Classe, Band ı01: Exır Kreister (Seminar K. Kraus).
**Jüngling des Konrad von Hoslau, Zeitschr. f. deutsch. Altertum VIII: Rarı Kreıster
(Seminar K. Kraus).
Kennemerland, Recht van het: Prof. Fockena Axpreae (Leiden).
252 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
Kennemerland, Costumen der Hooge Vierscharen van K.: Prof. Fockema ÄANDREAE.
Kirchhoff, Erfurter Weistümer, 1870 (ergänzt aus dem Magdeburger Staatsarchiv):
Prof. Hıs.
**Konrad von Fussesbrunnen, Die Kindheit Jesu (Quellen u. Forschungen zur
Sprach- und Culturgeschichte der germ. Völker 43, Strassburg 1881): Ina SEnsL
(Seminar K. Kraus).
*Konrad von Würzburg, Klage der Kunst, her. von E. Joseph (Quellen u. For-
schungen 54, Strassburg 1885): Dr. Barınser (Zürich).
"Konrad von Würzburg, Der Schwanritter, her. von F. Roth, 1861: Dr. Barınger.
Kopialbücher der Klöster Reinhardsbrunn und Georgenthal (Archiv Gotha): Prof. Hıs.
Laber Marktstatuten, her. von Neudegger, Zur Geschichte der Reichsherrschaft Laber
auf dem Nordgau, Regensburg 1902: Frl. von Schwerin (München).
Laijsche Anzaigung, München, o. J. (wahrscheinlich von 1531): K. STERNER
(München).
**Landtafel oder Landesordnung des Erzherzogtuns Oesterreich unter der Enns, 2.
und 3. Buch (Sanımlung Chorinsky): Rapvany und Gar (Seminar von SCHWInD).
**Landtafeln, ÖOberösterreichische (Sammlung Chorinsky): Fraxz Lrırer (Seminar
von SCHWIND).
**Laurin, Deutsches Heldenbuch ]. 1866: H. Frısa (Seminar K. Kraus).
Leiden, Keuren der Stadt Leyden. 1583 und 1658: Archivar Dr. Overvoorpe (Leiden).
**Leuthold von Säben, bei v. d. Hagen, Minnesinger I. III. 327. 451. 468. IV. 239 ft.:
Pırker (Seminar K. Kraus).
Liebermann, Gesetze der Angelsachsen, I. Halle a. S. 1903: Prof. LiEBERMANNn.
**Lori, Sammlung des baierischen Bergrechts, München 1764: K. Sterner (München)
und Esern. von Künssgere (Seminar von ScHwinD).
**Mai und Beaflor, her. von Pfeiffer, Dichtungen des deutschen Mittelalters VII
Leipzig 1848: R. Fıroeıs (Seminar K. Kraus).
**Der Mantel, her. von Warnatsch, Germanistische Abhandlungen II: SuLzENBACHER
(Seminar SEEMÜLLER).
Mecklenburgisches Urkundenbuch I-XVII: Prof. Marrın Worrr (Berlin).
**Meleranz, von dem Pleier, her. von Bartsch, Stuttg. 1861 (Lit. Ver. 60): SCHNEIDER
(Seminar SEEMÜLLER).
**Milstätter Sündenklage, Zeitschr. f. deutsch. Altertum NX: E. KreısLer (Se-
minar K. Kraus).
**Mönch von Salzburg, ler. von Mayer-Rietsch, Die Mondsee -Wiener Liederhand-
schrift (Acta Germaniae III. 4. IV. ı): Nussvaumer (Seminar SEEMÜLLER).
**Der Nibelungen Not, her. von Bartsch, 1870: Paur Pıcstrer (Seminar K. Kraus).
Niederösterreichische Landgerichtsordnung von 1514/40 und 1557 (Wien
1555. 1560): Dr. Gorpscauipr (Berlin).
Nördlinger Staturen von 1650: Der Stadt N. alte Gewohnheiten, Gebräuch, Gesätz
und Ordnungen, her. von Schott, Sammlungen z. d. deutschen Land- u. Stadt-
rechten, I. 1772: SCHROEDER und Dr. Desen.
**Oesterreichisches Landrecht, Ausgabe: von Schwind u. Dopsch, Ausgewählte
Urkunden Nr. 34 u. 50: Gera vos Rapvany (Seminar von ScHwisp).
Oesterreichische Weistümer VI (Steirische u. Kärnthische Taidinge): Dr. vax
VLEUTEN und RK. STErxeEr.
Oesterreichische Weistümer I (Salzburg): RK. STERNER.
Oorkondenboek van Holland en Zeeland, Supplement, door J. de Fremerye,
’s Gravenhage ı901: Archivar OvERvoorDE (Leiden).
Osnabrücker Urkundenbuch, her. von Philippi und Bär, I-IV. Dr. Börser (Bochum).
**Sankt Oswald, her. von Ettmüller, 1835: J. MirteLzerser (Seminar SEEMÜLLER).
**()tto der Raspe (Abschrift im Besitze des Prof. Schöubach in Graz): Eiserschürz
(Seminar K. Kraus).
Pirlins Sammlung Tiroler Gesetze I. (Augsb. 1506), nach dem Abdruck bei Rapp,
Beiträge z. Geschichte von Tirol u. Vorarlberg V., 1829, S.131—ı61: Referendar
Herına (Dresden).
Placaetboek, Groot, vorvattende de placaten, ordonnantien en edicten van de
Staten-General der Vereenighde Nederlanden I. 1—64: Mr. Roruis CouquErquE
(Haag).
Promptuarium iuris, Ausg. von Gengler, De codice saeculi XV. Erlangensi inedito,
Erlangae 1854: Rechtspraktikant Goıtein (Heidelberg).
Jahresberichte der Stiftungen und Institute. 253
**Vom Rechte, her. von Karajan, Deutsche Sprachdenkmäler des ı2. Jh., 1846: Emır
Kreıster (Seminar K. Kraus).
**Reformation der Steirischen Landhandfeste von 1446, Druck 1842: Seminar
von Luscnin.
**Reformation des Landrechtens des löblichen Fürstentum Steyr, Wien 1533:
W. ZeısberGEr (Seminar PuntscHArt in Graz).
Reformation Sigmunds, Friedrich Reisers Reformation des K. Sigmund, her. von
Böhm, 1876: Dr. Kornne.
Reichsabschiede, Sammlung der, (Koch), II theilweise: Dr. Kurr Perers (Kiel).
Reichstagsakten, Deutsche, her. durch die (Münch.) Hist. Commission, 1. Reihe.
II. (angefangen): Frh. von Schwer (München).
IV. Dr. Vısener (Giessen).
V. Dr. Vosr (Giessen).
Rigaer Kämmereiregister, her. von A. von Bulmerineq, 1902: SCHROEDER.
Rockinger, Denkmäler des baierischen Landesrechts, veröffentl. von L. von Rockinger,
II. ı, München 1891: Dr. van VLEUTEn.
Rockinger, Briefsteller und Formelbücher des ı1. bis 14. Jh. (Quell. u. Erörterungen
z. bayer. u. deutsch. Geschichte, IX. ı) 1863: Scurorper und Dr. l,EoroLp Perers.
**Rosengarten, A., her. von G. Holz, 1893: Rıcuarn Steiner (Seminar K. Kraus).
Rottweil, Rotweilisch Hofgerieht-Ordenung, Frankfurt a.M. 1535: Prof. Greiser.
**Rubin, bei v. d. Hagen, Minnesinger I. und III.: R. Fınpeıs (Seminar K. Kraus).
*Rudolf von Enis, Der gute Gerhard, her. von M. Haupt, 1840: Dr. Aus. Steiger (Bern).
Ruland’s Handlungsbuch, Stuttgart 1843: Dr. Want.
Sachsse, Meklenburgische Urkunden (zu Ende geführt): Dr. von Boxın (Potsdam).
Salbücher der hessischen Amter Allendorf, Vacha und Frauensee (Archiv Marburg):
Prof. Hıs.
**Sankt Bernhard, Gründungsgeschichte von, Font. rer. Austr. II. 6: Prof. SermüLrer.
**Der von Scharfenberg, bei v. d. Hagen, Minnesinger I. 349 ff.: Pırker (Seminar
K. Kraus).
Schlotheim, Stadtrecht, Neue Mitteilungen des thür.-sächs. Vereins 21, 105 ff.:
Prof. Hıs.
**Schwazerische Bergordnung von 1468, bei Wagner, Corpus iuris metalliei, 1791:
Fraxz Leirer (Seminar von SCHWIND).
**Schwazerische Erfindung, 1556: Franz Leirer (Seminar von Schwixp).
*Schweizer Minnesänger, her. von K. Bartsch, bei Bächtold u. Vetter, Bibl. älterer
Schriftwerke der deutschen Schweiz, VI.: Dr. Aue. Steıcer (Bern).
**Des Fürstentums Steyer Gerichtsordnung von 1574 und 1622, Grätz 1638 und
München 1622: W. ZeisperGer (Seminar PustscHArT, Graz).
Stolper Statut von 1611, bei Schott, Sammlungen z. d. Land- u. Stadtrechten I,
241 ff.: SchroEper und Dr. Deskn.
Stralsunder Schifferbruderschaft, Statut von 1488, Pommersche Jahrbücher III.
(1902) S.179 ff.: ScHRoEDER.
Stralsunder Verfestungsbuch, her. von Franeke und Frensdorff, 1875: Dr. Lurpe.
Stumpf, Acta imperii, Urkunden des Kaiserreiches aus dem ıo. bis 12. Jh., 1865 bis
1881: SCHROEDER.
**"Tanhusaere, bei v. d. Hagen, Minnesinger II. II.: R. Fıspeıs (Seminar K. Kraus).
**Thomasin von Zirklaria, Der wälsche Gast. Bibliothek der gesamten deutschen
Nationallitteratur XNX, 1852: R. Fınpeıs (Seminar K. Kraus).
Tiroler Polizeiordnung von 1493, bei Rapp, Beiträge V, 149 ff.: Referendar Herıns
(Dresden). 5
Tiroler Halsgerichtsordnung von 1499, ebenda V, ız1ff.: Herıxc.
Johann Tölner’s Handlungsbuch von 1345 — 1350, her. von Koppmann, 1885: Scuror-
DER und Want.
**Tractatus de iuribus incorporalibus. 1679, Codex Austriacus: R. Derannay (Se-
minar von SCHwinD).
**Tractatus iuris varii practiei, I. (Hütlers Sammlung X): Friepr. Winter (Seminar
VON SCHWIND).
**Ulrich von Lichtenstein, Frauendienst, Deutsche Dichtungen des Mittelalters VI.:
Hans SıEster (Seminar K. Kraus).
**Urbare Meinhards II von Tirol, Fontes rerum Austriacarum II, 45: Joser Krarr
(Seminar von VOLTELINI).
254 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt, her. von G. Schmidt, I—-III, 1863 bis
ı887 (Publicationen a. d. königl. preuss. Staatsarchiven XVII. XXI. XXV]): Dr,
LeoroLp PeErers.
Urkundenbuch des Klosters Cornberg, her. von Schmincke, Zeitschr. f. hess. Gesch.,
Supplement I: Prof, Hıs.
Urkundenbuch des Klosters Germerode, her. von Schmincke, ebenda: Prof. Hıs.
**Urkundenbuch des Landes ob der Enns, IV.: Ruporr von Laun (Seminar von
SCHwInD).
Urkundenbuch der Vögte von Weida, Gera und Plauen I: Prof. Hıs.
**Hans Vintler, Die pluemen der tugent, her. von Zingerle 1874: Kar KreısLer
(Seninar K. Kraus).
**Vorderösterreichische Bergordnung von 1731, bei Wagner, Corp. iur. metalliei:
Fraxz Leirer (Seminar von Scuwinn).
Waitz, Urkunden z. deutsch. Verfassungsgeschichte, 1886: Dr. Lrororn Perers.
**Walberan, Deutsches Heldenbuch 1, 1866: Prog (Seminar K. Kraus).
**Walter von Mezze, bei v. d. Hagen, Minnesinger I. III.: R. Fıpeıs (Seminar K. Kraus)
"*Walter v. d. Vogelweide, her. von Wilmans, 2. Aufl. 1883: Kart Mezusık (Seminar
RK. Kraus).
**Walther, Aureus iuris Austriaci tractatus, bei J. B. Suttinger de Thurnhof, Con-
suetudines Austriacae, 1718: Ar. GAL (Seminar von ScuwixD).
Wasserschleben, Deutsche Rechtsquellen des Mittelalters, 1892, S. 221—29r:
K. Sterxer (München).
Wasserschleben, Prinzip der Sukzessionsordnung, 1860 (Sippzahlregeln, S. 125 ff.
Erbrechtsregeln, S. 134 ff.): Dr. von Mörrter (Berlin).
Wehner, Alte und erneuerte Ordnung und Reformation des Hofgerichts zu Rotweil,
1610: Prof. Greixer.
”*Weinzehent- und Bergrechtsordnung von 1710, Codex Austriaeus III. 615:
I’ranz Leirer (Seminar von Scuwinn).
Weise des Lehnreclts, her. von Homeyer, Des Sachsenspiegels 2. Teil, I. 543 fl.:
SCHROEDER U. LORENTZEN.
**Bruder Wernher, bei v. d. Hagen, Minnesinger Nr. ı17: Jos. MırTELBERGER (Seminar
SEEMÜLLER).
Wigand, Provinzialrechte des Fürstentums Minden, II. 1834: Dr. Börser (Bochum).
Wigand, Provinzialrechte der Fürstentümer Paderborn und Corvey, III. 1832:
Dr. Börcer.
Würtembergisches Landrecht von 1555 und 1610: Rechtspraktikant Goıreın
(Heidelberg).
Zeitschrift f. Wortforschung I—V, 1901—1903: SCHROEDER.
Zeitz, Erbrecht von 1562, bei Schott, Sammlungen z. d. deutschen Land- u. Stadt-
rechten I 278 ff.: Scnroeper und Dr. Degen.
Zeitz, Statuten von 1573, ebenda I. 263 ff.: Schrorper und Desexn.
**Zinnbergwerksordnung Ferdinands I. von 1548 für Schlakenwalden, Schönfelden
und Lauterbach, Corpus iuris et systema iuris metalliei, 1749: Franz Leırer (Se-
minar VON SCHWIND).
Zittau, Stadtrecht von 1567, bei Schott, Sammlungen z. d. deutsch. Land- u. Stadt-
rechten ]J. 1772: SCHROEDER und Degen.
"Zürich, Sammlung der bürgerl. und Polizeigesetze und Ordnungen löblicher Stadt
und Landschaft Zürich, V. 1799: Oberrichter Dr. W. Merz (Aaran).
**Zwettl, Gründungsgeschichte und Gemarkungsverse, Font. rer. Austr. II, 3 S.ıfl.
43: Prof. SEEMÜLLER.
Akademische Jubiläums -Stiftung der Stadt Berlin.
Bericht des Vorsitzenden des Curatoriums Hrn. WALDEYER.
Im laufenden Jahre werden zum ersten Male die Erträgnisse der
Stiftung, welche sich auf rund 14 000 Mark belaufen, für ein wissen-
schaftliches Unternehmen verliehen werden. Anträge auf solche Ver-
Jahresberichte der Stiftungen und Institute. 258
leihungen können für dieses Mal nur von einem ordentlichen oder
auswärtigen Mitgliede der physikalisch-mathematischen (lasse der
Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften gestellt werden.
»Solehe Anträge sind, wie es in $ 9, Alinea 3 der Stiftungs-Satzungen
lautet, mit möglichst genauem und vollständigem Plan und Kosten-
anschlag — wobei soweit als thunlich auch Bearbeitung und Ver-
öffentlichung der von dem Unternehmen zu erwartenden Ergebnisse
in Betracht zu ziehen sind — vor Ablauf des Monats Juli (1904)
lem Curatorium einzureichen. «
Rvoorr Vırcuow- Stiftung.
Die Akademie hat dem Statut der Runour Vırcnow -Stiftung ge-
mäss zwei Delegirte, die HH. von Rıcnrnoren und Diers, in den Vor-
stand der Stiftung entsandt. Diese haben sich an der am 24. Januar
«l.J. stattgefundenen Constituirung des Vorstandes betheiligt. Derselbe
besteht ausser den beiden Delegirten der Akademie aus dem Ober-
bürgermeister von Berlin Hrn. Kırscuser, Hrn. Prof. Hans Vırcnow
und IIrn. Lissaver (Delegirte der Berliner Gesellschaft für Anthropo-
logie, Ethnologie und Urgeschichte), Hrn. Prof. von DEN STEINEN (Dele-
girter der Berliner Gesellschaft für Erdkunde) und IIrn. L. Deusrück.
Zum ersten Vorsitzenden wurde Hr. Vırcıow, zum zweiten Hr. vox Rıcır-
HOFEN, zum Schatzmeister Hr. Deigrück gewählt.
Die Jahresberichte über die Monumenta Germaniae historica und
über das Kaiserliche Archaeologische Institut werden in den Sitzungs-
berichten veröffentlicht werden, nachdem von den leitenden Central-
directionen die Jahressitzungen abgehalten sind.
Sodann verlas der Vorsitzende nachstehenden Erlass des vorge-
ordneten Ministeriums, betreffend die Verleihung des Verdun-Preises:
Die durch Allerhöchstes Patent vom 18. Juni 1844 angeordnete
Commission, welche Seiner Majestät dem Kaiser und Könige das beste
in den Jahren 1598 bis Ende 1902 erschienene Werk über deutsche
Geschichte behufs Ertheilung des zum Andenken an den Vertrag von
Verdun gestifteten Preises zu bezeichnen hatte, ist nach erfolgter Er-
nennung der Mitglieder im vorigen Jahre vorschriftsmässig zusammen-
getreten. Dieselbe hat zufolge Berichtes vom 23. November v. J. be-
schlossen, dem Werke »König Frirprıcn der Grosse« von ReııoLn
Koser, von welchem die 2. Auflage des I. Bandes und die ganz be-
sonders gelungene Darstellung des Siebenjährigen Krieges in das Jahr-
fünft von 1898 bis 1902 fällt. den Preis zuzuerkennen.
256 Öffentliche Sitzung vom 28. Januar 1904.
Seine Majestät der Kaiser und König haben geruht, durch Aller-
höchsten Erlass vom 4. Januar d. J. diesen Beschluss der Commission
zu bestätigen und dem Director der Staatsarchive und des Geheimen
Staatsarchivs hierselbst Geheimen Ober-Regierungsrath Dr. Koser den
stiftungsmässigen Preis von Eintausend Thalern Gold nebst der goldenen
Denkmünze auf den Vertrag von Verdun zu ertheilen.
Schliesslich berichtete der Vorsitzende über die seit dem FrıEDRICHs-
Tage 1903 (29. Januar) bis heute unter den Mitgliedern der Akademie
eingetretenen Personalveränderungen:
Die Akademie verlor durch den Tod
das ordentliche Mitglied der physikalisch-mathematischen Classe
FRIEDRICH VON HEFNER- ÄLTENECK am 7. Januar 1904;
die ordentlichen Mitglieder der philosophisch-historischen Classe
Urrıcn KöntLer am 21. October 1903,
THEopDor Momusen am 1. November 1903:
die auswärtigen Mitglieder der physikalisch-mathematischen Classe
Sir GEORGE GABRIEL Stokzes in Cambridge am 2. Februar 1903,
Kart GEGENBAUR in Heidelberg am 14. Juni 1903;
das auswärtige Mitglied der philosophisch-historischen Classe
Gaston Parıs in Paris am 6. März 1903:
die eorrespondirenden Mitglieder der physikalisch-mathematischen Classe
Josıan Wırrarp Gises in New Haven am 28. April 1903,
Lviecı Cremona in Rom am 10. Juni 1903,
Rupvorr Lirscnitz in Bonn am 7. October 1903,
Karr ALFRED vox ZırteL in München am 5. Januar 1904;
die correspondirenden Mitglieder der philosophisch -historischen Classe
SpwArD Bytes Cowzır in Cambridge am 9. Februar 1903,
Kar Aporr von CorseLms in München am 10. Februar 1903,
Hermann von Horst in Freiburg i. B. am 20. Januar 1904.
Neu gewählt wurden
zu ordentlichen Mitgliedern der philosophisch -historischen Classe
DiETRICH SCHÄFER
£ am 4. August 1903,
EpuArn MEYER ;
Wirnern ScuurzE am 16. November 1903;
zu eorrespondirenden Mitgliedern der philosophisch -historischen Classe
Wiırnerm WisperLgann in Heidelberg am 5. Februar 1903,
ÖsKAR VON GEBHARDT in Leipzig am 9. Juli 1903.
Ausgegeben am 4. Februar.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei.
SITZUNGSBERICHTE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
[
h
_AKADENIE DER WISSENSCHAFTEN.
VIE, :
4. Fegruvar 1904.
BERLIN 1904.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
PET
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
Auszug aus dem Reglement für die Redaction der »Sitzungsberichte
$].
2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Octav regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die sämmtlichen zu einem Kalender-
jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
fortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserdem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch-mathematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch -historischen Classe Bnessade
Nummern.
8.2.
1. Jeden Sitzungsbericht eröffnet eine Übersicht über
die in der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilungen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten.
2. Darauf folgen die den Sitzungsberichten über-
wiesenen wissenschaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckfertig übergebenen, dann die, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gehö-
rigen Stücken nicht erscheinen konnten. Mittheilungen,
welche nicht in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet.
E 85.
Den Bericht über jede einzelne Sitzung stellt der
Secretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte.
Derselbe Secretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei-
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
$ 6.
1. Für die Aufnahme einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $ 41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglements die folgenden beson-
deren Bestimmungen.
2. Der Umfang der Mittheilung darf 32 Seiten in
Octav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nicht übersteigen. Mittheilungen von Verfassern, welche
der Akademie nicht angehören, sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist
nur nach ausdrücklicher Zustimmung der Gesammt-Aka-
demie oder der betreffenden Classe statthaft.
3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
tenden Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Nothwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzschnitte fertig sind und von
besonders beizugebenien Tafeln die volle erforderliche
Auflage eingeliefert ist.
87.
1. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
schaftliche Mittheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer Ausführung, in
deutscher Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2. Wenn der Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
Die Akademie versendet ihre »Sitzungsberichte« an diejenigen Stellen, mit denen sie im Schr!
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinbart wird, jährlich drei. Mal, nämlich: “
die Stücke von Januar bis April in der ersten Hä fte des Monats Mall ee
» 5 » Mai bis Juli in der ersten Hälfte des Monats August, i ;
FAßss » October bis December zu Anfang des a Jahres nach Fertigstlung des 1
für alle übrigen "Theile der Sitzungs
öffentlichen beabsichtigt, als ihm dies nach den gelten-
den Rechtsregeln zusteht, so bedarf er dazu der Ein-
willigung der Gesammt- Akademie oder der betreffend
Classe. RT ae
BHRSEIS: h
ENTER tamerien Correeturen nur auf besonderes,
Verlangen verschickt. Die Verfasser verzichte! \
auf Erscheinen ihrer Mittheilungen nach acht en
$1l. Rn IE
1. Der Verfasser einer unter den » Wissensch,
Mittheilungen« abgedruckten Arbeit erhält unentge
fünfzig nanaisete mit einem Umschlag, aufı
der Kopf der Sitzungsberichte mit Jahreszahl, R
nummer, Tag und Kategorie der Sitzung, darunter
Titel der Mittheilung aaa, der Name des Verfassers : sich nn
2. Bei Mittheilungen, die mit dem Kopf der Sitzungs
berichte und einem angemessenen Titel nicht übe
Seiten füllen, fällt in ae Reese der wuen 15
Sonderabdrücke bis zur Zahl von noch Mae:
auf seine Kosten noch weitere bis zur Zahl von
hundert (im ganzen also 350) zu unentgeltlicher V M
EhRLEUNE, en zu lassen, sofern er at recht
Akademie oder der een Classe. — Nichtmitgl
erhalten 50 Freiexemplare und dürfen nach r
Anzeige bei dem redigirenden Secretar weitere 20
plare auf ihre Kosten abziehen lassen.
$ 28. A
1. Jede zur Aufnahme in die Sitzungsbe; icht. bei
stimmte Mittheilung muss in einer akademischen ‚Si
vorgelegt werden. Abwesende Mitglieder, sowie a
Nichtmitglieder, haben hierzu die Vermittelu 3
Fache angehörenden ordentlichen Mitgliedes 1
Wenn schriftliche Einsendungen auswärtiger
spondirender Mitglieder direct bei der Akademie
einer der Classen eingehen, so hat sie der vo
Secretar selber oder durch ein anderes Mitglied
Vortrage zu bringen. Mittheilungen, ‚deren Verfas
Akademie nicht angehören, hat er einem zunächst I;
scheinenden Mitgliede zu überweisen.
sobald das KERN es
gestellt und sogleich zur Abstimmung gebracht:
$ 29.
1. Der redigirende Seeretar ist für den Inh
geschäftlichen Theils der Sitzungsberichte, ‚jedoch
für die darin aufgenommenen kurzen Inhaltsangab
gelesenen Abhandlungen verantwortlich.
TI
nach jeder Richtung nur die Verfasser
wortlich.
257
SITZUNGSBERICHTE 1904.
LYIE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
4. Februar. Gesammtsitzung.
Vorsitzender Secretar: Hr. Auwers.
l. Hr. Srumpr las: Über die Abgrenzung der Willens-
handlungen.
Hierunter ist verstanden sowohl ihre begriffliche Abgrenzung gegenüber den
willenlosen Handlungen als ihre reale Abgrenzung (Einheit oder Mehrheit) im Flusse
des psychischen Lebens. Diese Fragen hängen zusammen. Es werden Kriterien auf-
gestellt und an einer Anzahl von Typen menschlicher Willenshandlungen durchgeführt.
2. Hr. Quisckr, corr. Mitglied, übersendet eine Mittheilung: Über
Doppelbrechung der Gallerte beim Quellen und Schrumpfen.
3. Hr. Diers legte eine Mittheilung des wissenschaftlichen Beamten
der Akademie Hrn. Prof. H. Dessau vor: Zu den Milesischen Ka-
lenderfragmenten.
In dem Fr. 84 (rechte Spalte; s. oben S. 96) lässt sich nach Pseudogemin. ce. 8
die Erwähnung des 76jährigen Cyklus des Kallippos ergänzen. Das Intervall, das in
der linken Spalte zwischen der Solstitialbeobachtung des Meton (432) und der neuen
Milesischen (109) sich berechnen lässt, beträgt 323 Jahre, also genau 17 Metonische
Cyklen.
Sitzungsberichte 1904. 20
258 Gesammtsitzung vom 4. Februar 1904.
Doppelbrechung der Gallerte beim Aufquellen und
Schrumpfen.
Von G. QUINcKE.
Die Fortsetzung der Untersuchungen: »Über unsichtbare Flüssigkeits-
schichten und die Oberflächenspannung flüssiger Niederschläge bei Nie-
derschlagmembranen, Zellen, Colloiden und Gallerten«, welche ich am
25. Juli 1901 der Königlichen Akademie der Wissenschaften vorgelegt
hatte, hat folgende Resultate ergeben.
ı. Flüssige Gallerte besteht aus unsichtbaren Schaumkammern mit
flüssigen Schaumwänden. Starre Gallerte aus unsichtbaren Schaum-
kammern mit erstarrten Schaumwänden.
Brocken von flüssiger Gallerte fliessen zusammen wie Schaum-
flocken von Seifenschaum. Brocken von starrer Gallerte fliessen nicht
zusammen.
2. Doppelbrechung von Leimgallerte durch Biegung
oder Dehnung. Durch Erkalten warmer Gelatinelösung erhält man
Leimgallerte ohne Doppelbrechung, welche aus unsichtbaren Schaum-
kammern mit flüssigen Wänden von sehr klebriger, ölartiger Flüssig-
keit besteht. Prismatische Stäbe dieser Leimgallerte werden durch
Biegen doppeltbrechend. Die Doppelbrechung ist wie bei gebogenen
Glasstreifen positiv an den Stellen mit positiver Dilatation. negativ an
den Stellen mit negativer Dilatation, mit optischer Axe parallel der
Zug- oder Druckrichtung. Die Doppelbrechung nimmt mit dem Alter
der Leimgallerte, der Dilatation und dem Leimgehalt zu. Bei glei-
cher Dilatation zeigen gebogene und gedehnte Stäbe nahezu gleiche
Doppelbrechung.
Bei gleicher Dilatation ist die Doppelbrechung des gebogenen
Spiegelglases 400 und 200 Mal grösser als die Doppelbrechung von
1o und 20 procentiger gebogener Leimgallerte. Die Elastieität des
Spiegelglases ist 2 Millionen Mal grösser als von Ioprocentiger Leim-
gallerte.
Verschiedene Stellen derselben Leimgallerte können bei derselben
Dilatation verschiedene Doppelbrechung zeigen, je nach der Menge
Quixncre: Doppelbrechung der Gallerte beim Quellen und Schrumpfen. 259
unsichtbarer Schaumwände, die sich zufällig bei dem Entstehen der
Leimgallerte aus der erkaltenden Leimlösung abgeschieden haben.
In einem mit Wasserdampf gesättigten Raume schrumpfen pris-
matische Stäbe aus Leimgallerte Tage lang langsam ein und zeigen
in den Aussenschichten negative Doppelbrechung mit optischer Axe
normal zur Oberfläche. Wahrscheinlich wird durch langsame Oxy-
dation die Temperatur der feuchten Leimgallerte über die der Um-
gebung gesteigert wie bei feuchtem Heu.
3. Doppelbreehung von Leimgallerte beim Aufquellen
und Schrumpfen. Prismen, Kugeln und Cylinder von Leimgallerte
zeigen beim Aufquellen in Wasser an der Aussenseite vorübergehende
positive Doppelbrechung, daneben im Innern vorübergehende negative
Doppelbrechung, mit optischer Axe normal zur Obertläche.
In einem gleichzeitig eingeschalteten Babinet’schen Compensator
zeigt der centrale Interferenzstreifen normal zur Oberfläche der auf-
quellenden Gallerte einen Wellenberg an der Stelle positiver, ein Wellen-
thal an der Stelle negativer Dilatation der Gallerte. Wellenberg und
Wellenthal werden beim Aufquellen der Leimgallerte zuerst grösser,
rücken dabei nach dem Innern fort, werden tlacher und breiter und
verschwinden schliesslich, ähnlich wie Wellenberg und Wellenthal in
einer Wellenrinne mit Wasser allmählich abtlachen und verschwinden.
Aber die Erscheinung verläuft in einer Wellenrinne in einigen Se-
ceunden oder Minuten, bei dem Interferenzstreifen der Leimgallerte in
Stunden oder Tagen. Bei dünnen Gallertmassen schneller, bei dicken
Gallertmassen langsamer.
Beim Schrumpfen in Luft, Alkohol, Glycerin zeigen Prismen, Ku-
geln und Cylinder von Leimgallerte an der Aussenseite vorübergehende
negative Doppelbrechung, daneben im Innern vorübergehende positive
Doppelbrechung mit optischer Axe normal zur Oberfläche. Die Er-
scheinungen verlaufen umgekehrt wie beim Aufquellen.
Der centrale Interferenzstreifen eines gleichzeitig eingeschalteten
Babinet’schen Compensators zeigt normal zur Obertläche der schrumpfen-
den Leimgallerte ein Wellenthal und negative Dilatation nahe der Ober-
tläche. Daneben im Innern der Gallerte einen Wellenberg und po-
sitive Dilatation. Wellenthal und Wellenberg rücken langsam nach
dem Innern fort, und werden dabei flacher und breiter.
Bei wiederholtem Aufquellen und Schrumpfen geht die positive
Doppelbrechung der Leimgallerte durch einen isotropen Zustand in
negative Doppelbrechung über und umgekehrt.
Kugeln aus Leimgallerte werden durch Aufquellen in Wasser ein
positiver, durch Schrumpfen in Luft, Alkohol, Glycerin ein negativer
Sphärokrystall mit optischer Axe, normal zur Oberfläche. Beim Über-
20*
260 Gesammtsitzung vom 4. Februar 1904.
gang aus dem geschrumpften in den gequollenen Zustand ist ein ne-
gativer Sphärokrystall von einem positiven umhüllt. Beim Übergang
aus dem gequollenen Zustand in den geschrumpften erscheint ein po-
sitiver Sphärokrystall von einem negativen umgeben.
Leimgallertkugeln gehen durch äussern Druck parallel dem Durch-
messer über in ein Ellipsoid mit negativer Doppelbrechung und op-
tischer Axe parallel der Druckrichtung. Bei Druck im Azimuth 45°
verwandelt sich das dunkele Kreuz zwischen gekreuzten Nicol’schen
Prismen in dunkele Hyperbeln, die bei zunehmendem Druck in der
Druckriehtung immer weiter aus einander rücken. Drückt man eine
Leimgallertkugel, die durch Aufquellen ein Sphärokrystall mit star-
ker positiver Doppelbrechung geworden ist, im Azimuth 0° oder 45°,
so behalten die vom schwarzen Kreuz oder den dunkelen Hyperbeln
begrenzten Quadranten ihre Polarisationsfarben.
Die vom Druck hervorgerufenen Änderungen der Gestalt und
Doppelbrechung verschwinden sofort mit Aufhören des Drucks.
Cylinder aus Leimgallerte zeigen beim Aufquellen und Schrumpfen
ähnliche positive und negative Doppelbrechung wie Kugeln.
Durch das Gewicht der Prismen, Kugeln und Cylinder aus Leim-
gallerte ändert sich deren Gestalt im Verlauf mehrerer Tage bei con-
stantem Wassergehalt, indem die flüssigen, sehr klebrigen Schaum-
wände langsam aus einander und in einander fliessen.
In der Nähe von Luftblasen zeigen Leimgallerte beim Aufquellen
und Einschrumpfen ähnliche vorübergehende positive und negative
Doppelbrechung mit optischer Axe normal zur Oberfläche der Luft-
blasen wie Kugeln aus Leimgallerte in Luft.
Leimgallerte in kurzen Glasröhrchen, welche in Wasser aufquillt
oder in Luft, Alkohol, Glycerin einschrumpft, zeigt im allgemeinen
an der nicht von Glas bedeckten Obertläche ähnliche vorübergehende
positive und negative Doppelbrechung wie Kugeln aus Leimgallerte;
daneben im Innern entgegengesetzte Doppelbrechung wie aussen. Stellen
mit positiver und negativer Doppelbrechung können mehrere Male im
Innern wechseln.
Grösse und Verlauf der vorübergehenden Doppelbrechung hängen
von der Geschwindigkeit des Aufquellens und Schrumpfens ab. Die
Doppelbrechung der Leimgallerte ist um so grösser, je schneller die
Leimgallerte das Wasser aufnimmt oder verliert.
Genügend langsam aufgequollene oder geschrumpfte Leimgallerte
zeigt keine Doppelbrechung.
Die Viscosität der ölartigen Schaumwände und die Doppelbrechung
der Leimgallerte wird durch die Mengen Luft, Alkohol, Glycerin, Ben-
zol modifieirt, welche beim Schrumpfen und Aufquellen in der wasser-
Quiscke: Doppelbrechung der Gallerte beim Quellen und Schrumpfen. 261
armen Leimlösung A der Schaumwände und in der wasserreichen Leim-
lösung 5 im Innern der Schaumkammern verschieden stark löslich sind.
Durch Aufquellen und Schrumpfen können in Leimgallerte grössere
(4 bis 6 Mal grössere) Dilatation und Doppelbrechung erzeugt werden
als durch Biegung, Dehnung oder Druck.
Leimgallerte, deren Schaumwände in dilatirtem Zustande erstarrt
sind, und Bruchstücke dieser Gallerte bleiben dauernd doppeltbrechend.
4. Doppelbrechung von Gallerten. Ähnliche positive und
negative Doppelbrechung wie Leimgallerte mit optischer Axe normal
zur Obertläche zeigen alle von mir untersuchten Gallerte bei genügend
schnellem Aufquellen und Einschrumpfen, nämlich:
a) geronnene Üolloidlösungen, wie Kieselsäure, Eisenoxydhydrat,
Eiweiss, Stärke, Tannin, arabisches Gummi. (Traganthgallerte, die durch
Druck optisch positiv doppeltbrechend wird, zeigt auch beim Ein-
schrumpfen positive Doppelbrechung);
b) gallertartige Niederschläge, deren Schaumwände kürzere oder
längere Zeit eine Öölartige, klebrige Flüssigkeit sind, wie Calciumcar-
bonat, Caleiumphosphat, Ferrocyankupfer, Arseniktrisulfid, Schwefel,
Seifengallerte und Myelin:
c) Gallerte aus alkoholhaltiger wässeriger Lösung von Mangan-
sulfat, Aluminiumsulfat, Ammoniumsulfat, Magnesiumsulfat oder Zink-
sulfat;
d) aufquellende oder schrumpfende Krystallsplitter von Chabasit,
Heulandit und ähnlichen Silieaten.
Der eontinuirliche Übergang von Sphärokrystallen oder Gallerten
mit unsichtbaren zu solchen mit sichtbaren Schaumkammern und die
gleichzeitige eontinuirliche Änderung der Erscheinungen der Doppel-
brechung bei Kieselsäure, ß-Eiweiss, Caleiumearbonat und Arsenik-
trisulfid bestätigen die Auffassung der flüssigen und starren Gallerte
als Schaummassen mit unsichtbaren flüssigen und starren Wänden.
Gallertkugeln, welche zwischen gekreuzten Nicol’schen Prismen
Airy’sche Spiralen zeigen, bestehen aus radial angeordneten gewun-
denen Röhren mit entgegengesetzter Windungsrichtung in beiden über-
einander liegenden Halbkugeln.
5. Viseosität und Doppelbrechung von Flüssigkeiten
und festen Körpern. Elastische Nachwirkung. Klebrige Flüssig-
keiten werden wie feste Körper durch Dehnung oder Compression posi-
tiv oder negativ doppeltbrechend mit optischer Axe parallel der Rich-
tung der grössten positiven oder negativen Dilatation. Die Doppel-
brechung der klebrigen Flüssigkeiten ist aber vorübergehend und ver-
schwindet wieder nach Verlauf einer gewissen Zeit, der Relaxations-
zeit, wenn die durch Dehnung oder Compression in der klebrigen
262 Gesammtsitzung vom 4. Februar 1904.
Flüssigkeit erzeugten Dilatationen sich ausgeglichen haben. Diese vor-
übergehende Doppelbrechung verschwindet um so langsamer, je grösser
die Dilatation und Viscosität, je grösser die Relaxationszeit der dila-
tirten Flüssigkeit ist.
Die Relaxationszeit wächst mit der Grösse der Dilatation. Sie
hängt aber auch ab von den Dilatationen und der Viscosität der be-
nachbarten Flüssigkeitsschichten. Mit der Art der Vertheilung der
Dilatationen in diesen Flüssigkeitsschichten, mit der Geschwindigkeit
ihrer Entstehung und mit der Dauer ihrer Wirkung muss die Relaxa-
tionszeit und die sichtbare Doppelbrechung sich ändern.
Feste Körper sind Flüssigkeiten mit grosser Viscosität und grosser
Relaxationszeit. Die Relaxationszeit ist verhältnissmässig klein für
kleine Verschiebungen der Theilchen oder kleine Dilatationen. Sie wird
sehr gross (unendlich), sobald dauernde Dehnung oder Verkürzung
eingetreten ist. Dauernde Dehnung und Verkürzung werden eintreten,
sobald die Verschiebungen der kleinsten Theilchen nicht mehr ausser-
ordentlich klein sind. Von der Grösse dieser Verschiebungen und der
Geschwindigkeit, mit der sie an einer bestimmten Stelle und in deren
Nachbarschichten auftreten, sowie von der Wirkungsweite der Mole-
cularkräfte hängt «lie Relaxationszeit und die elastische Nachwirkung ab.
Von den Moleeularkräften hängt die Grösse der Elastieität und
Oberflächenspannung ab bei klebrigen Flüssigkeiten und bei festen
Körpern.
Bei festen Körpern erzeugt die elastische Nachwirkung ähnliche
Änderungen der Gestalt und der Dimensionen wie bei klebrigen Flüssig-
keiten. Die elastische Nachwirkung muss auch bei festen Körpern
von den Dilatationen der Nachbarschichten abhängen und von der Ge-
schwindigkeit, mit der diese Dilatationen aufgetreten sind. Damit
sind auch die Erscheinungen der elastischen Nachwirkung in Über-
einstimmung.
Die Doppelbrechung klebriger Flüssigkeiten entspricht der Doppel-
brechung fester Körper durch bleibende Dehnung oder durch bleibende
positive oder negative Dilatation bei Verlängerung oder Verkürzung.
Wasser ist eine Flüssigkeit mit kleiner Viscosität und verschwin-
dend kleiner Relaxationszeit. Zwischen festen Körpern und Wasser
gibt es alle möglichen Übergänge, alle möglichen Werthe der Vis-
cosität und Relaxationszeit.
Bei alter colloidaler Eisenoxydhydratlösung beträgt die Relaxa-
tionszeit wenige Secunden, bei Leimlösung, je nach der Concentration
Secunden, ıo Minuten bis I Stunde und mehr.
Starre Gallerte haben festgewordene Schaumwände mit unendlich
grosser Relaxationszeit.
a u
Quiscke: Doppelbrechung der Gallerte beim Quellen und Schrumpfen. 263
6. Geschlossene und offene Schaumkammern. Die ge-.
schlossenen Schaumkammern einer Gallerte können nur ihr Volumen
vermehren und aufquellen, wenn das Wasser durch die flüssigen Kam-
merwände nach dem Innern der Schaumkammern diffundirt: feste
Wände lassen kein Wasser hindurch und brechen bei mässiger Vo-
lumenvermehrung des Inhalts der Schaumkammern.
Das beim Quellen und Schrumpfen der Gallerte von der ölartigen
wasserarmen Flüssigkeit A der Schaumwände und der wasserreichen
Flüssigkeit B im Innern der Schaumkammern aufgenommene und ab-
gegebene Wasser ist grösstentheils Lösungswasser.
Bei einer Schaummasse oder Gallerte quellen und schrumpfen die
sichtbaren und unsichtbaren geschlossenen Schaumkammern am Rande
der Schaummasse oder Gallerte viel schneller als im Innern. Um so
schneller, je dünner die Schaumwände sind.
Da sich die Schaumkammern nur am Rande der Gallerte frei aus-
lehnen können, so werden die Schaumkammern aus klebriger Flüssig-
keit beim Aufquellen in den Aussenschichten parallel der Oberflächen-
normalen gedehnt und vorübergehend positiv doppeltbrechend. Gleich-
zeitig üben die aufgequollenen Schaumkammern einen Druck auf die
klebrige Flüssigkeit im Innern der Gallerte aus und machen diese vor-
übergehend negativ doppeltbrechend mit optischer Axe normal zur
Oberfläche der Gallerte.
Beim Einschrumpfen nimmt umgekehrt das Volumen der Schaum-
kammern in den Aussenschichten ab, die klebrige Flüssigkeit der
Schaumwände wird in den Aussenschichten parallel der Normale der
Gallertoberfläche verkürzt und vorübergehend negativ doppeltbre-
chend, im Innern der Gallerte gedehnt und vorübergehend positiv
doppeltbrechend mit optischer Axe parallel der Oberflächennormale der
Gallerte.
Die Doppelbrechung verschwindet, sobald die positive und nega-
tive Dilatation in der klebrigen Flüssigkeit der Schaumwände sich aus-
geglichen haben.
Die Richtung der grössten Quellung und Schrumpfung fällt mit
der Richtung der grössten Dilatation der klebrigen Schaumwände oder
der optischen Axe der Doppelbrechung an den verschiedenen Stellen
der flüssigen Gallerte zusammen.
Besteht derInhalt derSchaumkammern einer flüssigen Gallerte eben-
falls aus sehr klebriger Flüssigkeit — was besonders beim Schrumpfen
der Gallerte eintreten kann —., so kann dieselbe auch vorübergehend
dilatirt und doppeltbrechend werden. Die Doppelbreehungen der Wände
und des Inhalts der unsichtbaren Schaumkammern lagern sich über
einander oder addiren sich.
264 Gesammtsitzung vom 4. Februar 1904.
Erstarren die Schaumwände der Gallerte in dilatirtem Zustande,
so bleiben sie dauernd dilatirt und die Gallerte ist dauernd doppelt-
hrechend. Dauernde Doppelbrechung beweist, dass die Wände der
Schaumkammern der Gallerte erstarrt sind. Vielleicht auch der Inhalt
der Schaumkammern.
Sind in der Gallerte offene Schaumkammern vorhanden, so werden
Quellung und Schrumpfung, Dilatation und Doppelbrechung geringer
bei sonst gleichen Bedingungen.
In dünnen Gallertschichten werden geschlossene Schaumkammern
bei Wasseraufnahme und -abgabe ihr Volumen in der Richtung der
Normale der Gallertobertläche leicht ändern können. Die flüssigen
Schaumwände werden parallel der Öbertlächennormalen gedehnt oder ver-
kürzt und zeigen nur positive oder negative Doppelbrechung mit optischer
Axe parallel der Oberflächennormalen. Die Schichten mit entgegen-
gesetzter Dilatation und Doppelbrechung im Innern der Gallerte fehlen.
In dünnen Gallertschichten werden lange, geschlossene Schaum-
kammern mit Wänden aus klebriger Flüssigkeit bei Wasseraufnahme
unter Volumenvermehrung kürzer und dieker. Die ganze Gallertschicht
quillt, wird breiter und dünner, sobald die Längsrichtung der Schaum-
kammern mit der Öberflächennormalen der Gallertschicht zusammen-
fällt. Bei Wasserabgabe und Schrumpfen werden die umgekehrten
Gestaltsänderungen eintreten. Die Gestaltänderung muss um so grösser
sein, je schneller die Wasseraufnahme und -abgabe erfolgt und je
klebriger die Flüssigkeit der Schaumwände ist.
7. Doppelbrechung organisirter Substanzen. Vegetabili-
sche Membranen und thierische Gewebe sind aufgequollene oder ge-
schrumpfte Schaummassen oder Gallerte mit sichtbaren oder unsicht-
baren Schaumkammern.
Die Wände dieser Schaumkammern sind in dilatirtem Zustande
erstarrt, wenn die organischen Substanzen dauernde Doppelbrechung
zeigen.
In Übereinstimmung mit dieser Auffassung zeigen vegetabilische
Membranen positive und negative Doppelbrechung mit optischer Axe
normal zur Oberfläche. Nach Hrn. S. SchwEspEsEer können Theile mit
positiver und negativer Doppelbrechung in derselben Pflanzenzelle
neben einander liegen.
Hr. V. voy Esser fand thierische Gewebe, wie Hornbildungen,
ebenfalls bald positiv, bald negativ doppeltbrechend.
Bei vegetabilischen und thierischen Objecten fällt nach den HH.
S. SCHWENDENER und W.Tu. Exeeruasn die Richtung stärkster Quellung
mit der optischen Axe der positiven oder negativen Doppelbrechung
zusammen.
Quincrke: Doppelbrechung der Gallerte beim Quellen und Schrumpfen. 265
In den dünnen Fibrillen der Muskelfasern liegen abwechselnd
viele dünne Querschichten von doppeltbrechender und einfachbrechen-
der Substanz. Bei der Contraction des Muskels quellen, wie Hr.
W. Tu. EngerLmann gefunden hat, die doppeltbrechenden Querschichten,
während die einfachbrechenden Querschichten um ebensoviel schrumpfen.
Die geschlossenen Schaumkammern der quellenden und schrump-
fenden Gallerte in beiden Arten von Querschichten haben also flüssige
Schaumwände. Die geschlossenen, langgestreckten, unsichtbaren
Schaumkammern der dünnen, doppeltbrechenden Querschichten liegen
mit der Längsrichtung parallel der Längsrichtung der Muskelfasern,
werden beim Aufquellen kürzer und dicker und bewirken dadurch
die Contraction des Muskels. Dabei wird die klebrige Flüssigkeit
der Schaumwände gedehnt und vorübergehend positiv doppeltbrechend
mit optischer Axe parallel der Dehnungsrichtung.
In den Schaumwänden der Querschichten mit dauernder Doppel-
brechung liegt ein Gerüst von dünnen Lamellen starrer Gallerte mit
offenen Schaumkammern und festen, doppeltbrechenden Schaumwänden.
Diess Gerüst ist bedeckt und erfüllt mit der ölartigen, wasserarmen
und klebrigen Flüssigkeit der Schaum wände.
Durch die zunehmende Formänderung der Schaumkammern bei
der Quellung kommen die doppeltbrechenden Längswände derselben
immer mehr in gekreuzte Stellung. Die Doppelbrechung der Quer-
schichten erscheint dadurch kleiner.
Diese Abnahme der Doppelbrechung in den festen Theilen und
die Zunahme der Doppelbrechung in dem flüssigen Theile der Schaum-
wände lagern sich über einander und erklären die von Hrn. V. von
Esner beobachteten Schwankungen der Doppelbrechung bei der Gon-
traetion des Muskels.
Sitzungsberichte 1904. 21
266
Zu den Milesischen Kalenderfragmenten.
Von Prof. H. Dessav.
(Vorgelegt von Hrn. Dıers.)
In dem auf S.96 publizierten Inschriftfragment aus Milet ist in der
ersten erhaltenen Spalte von zwei Sommersonnenwenden die Rede, von
denen-die eine am 13. Skirophorion des attischen Archontates des
Apseudes, also 432 v. Chr., die zweite am 14. Skirophorion des Ar-
chontates des Polykleitos — nach der glücklichen Ergänzung des Hrn.
Dies — also im Jahre 109 v. Chr." beobachtet worden sein soll.
Die erste der beiden Beobachtungen ist, wie Hr. Dies gesehen hat,
die berühmte des Meton und Euktemon, die den Ausgangspunkt der
Einführung des neunzehnjährigen Zyklus in Griechenland gebildet hat.
Von dieser ist die zweite Beobachtung durch 323 Jahre, also 17 neun-
zehnjährige Zyklen getrennt. Damit ist zu vergleichen, daß Aristarch
von Samos, einer der ältesten Astronomen der alexandrinischen Pe-
riode, die Sommersonnenwende am Ende des 50. Jahres der ersten
kallippischen Periode, d.i. im Jahre 280 v. Chr.’, 192 Jahre oder 8
neunzehnjährige Zyklen nach Meton, beobachtet hat (Hipparch meri
enıaycioy mer&eoyc bei Ptolemaeus Almagest II ı p. 203, 10; 206, 5—8.
25; 207, I ed. Heiberg). Es scheint, daß die an der Scheide zweier
neunzehnjähriger Zyklen gelegenen Sommersonnenwenden von den
Astronomen mit Vorliebe beobachtet oder doch in der astronomischen
Literatur eine Zeitlang mit Vorliebe diskutiert worden sind.” Das In-
tervall zwischen den beiden Beobachtungen war in der Inschrift an-
r
gegeben gewesen: [Arno TAc elerınac Tro|m|Ac [rejnomenHc em Areyaoyc...
L
Ewc [TAlc renomenne Em [TTonjvkaeitov . . (die Angabe des Intervalls
ı W.S. Fersuson The Athenian Archons (Cornell Studies in classical Philology
X, 1899) p- 85. Kırcuner Prosopogr. Att. n. 11973.
?2 Ipeter I 344. A. Momnsen Chronologie 297.
® So hat noch Ptolemaeus im Jahre 139/140 n. Chr. die Tag- und Nachtgleichen
beobachtet, um das Resultat mit den um 285 (15%X 19) Jahren älteren genauesten
Beobachtungen Hipparchs zu vergleichen (Ptolemaeus III ı p. 204. 205 ed. Heiberg).
H. Dessau: Zu den Milesischen Kalenderfragmenten. 267
selbst fehlt); vgl. Ptolemaeus a. a. O. p. 206: kai Ectin TA men And TÄC
em To? AveYaovc ÄNATEFPAMMENHC BEPINÄC TPOTIÄC MExPı TÄC YTIÖ TON TIEPI
APicTAPXON TETHPHMENHC KTa. -— Welche Betrachtungen der Autor' der
Inschrift an die Feststellung des Intervalls zwischen den beiden Beob-
achtungen zunächst geknüpft hat, läßt sich natürlich mit Bestimmtheit
nicht mehr sagen, wohl kaum, wie in jener Schrift Hipparch an die
Intervalle der von ihm registrierten Sommersonnenwenden, solche über
die Größe des Sonnenjahres, sondern eher solche über den neunzehn-
jährigen Zyklus und die mit ihm vorgenommenen oder noch vorzu-
nehmenden Verbesserungen. Dazu mag schon der Umstand, daß die
Sommersonnenwende vom 13. Skirophorion auf den 14. gerückt war
(oder schien), Anlaß gegeben haben. (Dem Datum der Beobachtung
liegt offenbar ein bereits verbesserter neunzehnjähriger Kalender zu-
grunde, sonst hätte die Sommersonnenwende sich viel weiter vom
13. Skirophorion entfernt; offenbar der kallippische; die Astronomen
des 3. und 2. Jahrhunderts v. Chr. datierten nach Jahren kallippischer
Perioden). — Wie dem aber auch sei, in der zweiten Spalte der In-
schrift, von der nur kümmerliche Reste, je 4 oder 5 Anfangsbuch-
staben von ıı Zeilen, erhalten sind, war der Autor dahin gelangt,
von dem 76jährigen Zyklus des Kallippus zu reden, und zwar an-
scheinend mit denselben Worten. wie unsere hauptsächlichste Quelle
für diese Dinge, die Isagoge des Geminus. Zu Anfang von Z.5 ist
eKKal... erhalten, mit £xkailaeka läßt sich nichts anfangen, da die
Zahl 16 in den Kalendertheorien keine Rolle spielt (wenn es sich
um ein Datum handelte, wäre die Zahl nicht ausgeschrieben); aber
der Rest fügt sich mit dem in der folgenden Zeile erhaltenen THPIA...
ZU EKKAIEBAOMHKONTAETHPIA... (Geminus’ Bericht über den kallippischen
Zyklus lautet folgendermaßen (isag. e.8, S.ı22 ed. Manitius): oi rer)
KÄAAITITTON TENÖMENOI ACTPÖAOTOI ... CYNECTHCANTO THN EKKAIEBAOMHKONTAETH-
PIAA CYNECTHKYIAN EK TECCAPWN ENNEAKAIAEKAETHPIAWN, AITINEC TIEPIEXOYCI ...
HMEPAC.... BIYne. Ganz ähnlich scheint in der Inschrift Sp. I Z.4—7
gestanden zu haben:
Kal CIYNecTHcAnTo TAN] (18 Buchst.)
EKKA[IEBAOMHKONTAE|- (17 Buchst.)
THPlIAJA TIePIexovcan H|- (18 Buchst.)
MErAlC...
! Statt der von Hrn. Reum oben S.ı02 vorgeschlagenen Ergänzung des Namens
Eplikrates könnte man auch an Antlikrates denken, der in einem Epigramm der
Anthologie [A. P. XI 318] wegen seiner astronomischen und astrologischen Studien
verspottet wird. Aber dieser Astronom läßt sich nach Zeit und Ort nicht genauer
festlegen.
268 Gesammtsitzung vom 4. Februar 1904.
Die Länge der Zeilen war ungefähr dieselbe wie in Spalte I (in
der Z.2 18, 2.4 17 Buchstaben zählt). — Weiter scheint der Autor,
nach dem in Z.9 erhaltenen ennear...., die Enneakaidekaeteris wieder
berührt, etwa ihr Verhältnis zur 76jährigen Periode dargetan zu
haben. — Schlüsse auf die Abfassungszeit oder Entstehungsart der
Schrift des Geminus dürften aus der ja keineswegs verwunderlichen
Übereinstimmung mit der Inschrift nicht zu ziehen sein.
Ausgegeben am 11. Februar.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
FF. FEBRUAR 19 04.
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Auszug aus dem Reglement für die Redaetion der »Sitzungsberichte«.
81.
2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Octav regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die rimtliehen zu einem Kalender-
jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
fortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserdem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch-mathematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch - historischen Classe ungerade
Nummern.
$ 2. *
1. Jeden Sitzungsbericht eröffnet eine Übersicht über
die in der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilungen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten.
2. Darauf folgen die den. Sitzungsberichten über-
wiesenen wissenschaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckfertig übergebenen, Jann die, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gehö-
rigen Stücken nicht erscheinen konnten. Mittheilungen,
welehe nicht in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet.
272
5.
Den Berieht über jede einzelne Sitzung stellt der
Seeretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte.
Dexselbe Seceretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei-
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
86.
1. Für die Aufnahme einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $ 41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglements die folgenden beson-
deren Bestimmungen.
2. Der Umfang der Mittheilung darf 32 Seiten in
Octav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nieht übersteigen. Mittheilungen von Verfassern, welche
der Akademie nicht angehören, sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist
nur nach ausdrücklicher Zustimmung der Gesammt-Aka-
demie oder der betreffenden Classe statthaft.
3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
tenden Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Nothwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzsehnitte fertig sind und von
besonders beizugebenden Tafeln die volle erforderliche
Auflage eingeliefert ist,
072
Te
1. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
schaftliche Mittheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer Ausführung, in
deutscher Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2. Wenn der Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
'theilung abziehen zu lassen, sofern er diess rechtzeitig
öffentlichen beabsichtigt, als ihm dies nach den gelten-
den Rechtsregeln zusteht, so bedarf er dazu der Ein-
willigung der Gesammt- Akademie oder der betreffenden
Classe:
8.
5. Auswärts werden Correcturen nur auf Be
Verlangen verschickt. Die Verfasser verzichten damit ;
auf Erscheinen ihrer Mittheilungen nach acht Tagen.
4
Bi
;
$1l. D
1. Der Verfasser einer unter den Wissenachafklichent
Mittheilungen« abgedruckten Arbeit erhält unentgeltlich
fünfzig Sonderabdrücke mit einem Umschlag, auf welchem
der Kopf der Sitzungsberichte mit Jahreszahl, Stück-
nummer, Tag und Kategorie der Sitzung, darunter der
eh der Mittheilung und der Name des Verfassers stehen.
. Bei Mittheilungen, die mit dem Kopf der Sitzungs-
Bee und einem angemessenen Titel nicht über zwei
Seiten füllen, fällt in der Regel der Umschlag fort.
3. Einem Verfasser, welcher Mitglied der Akademiel
ist, steht es frei, auf Kosten der Akademie weitere gleiche
Sonderabdrücke bis zur Zahl von noch hundert, und
auf seine Kosten noch weitere bis zur Zahl von zwei-
hundert (im ganzen also 350) zu unentgeltlicher Ver- 3
2
dem redigirenden Secretar angezeigt hat; wünscht er auf
seine Kosten noch mehr Abdrücke zur Vertheilung ij
erhalten, so bedarf es der Genehmigung der Gesammet
Akademie oder der betreffenden Classe. — Nichtmitglieder
erhalten 50 Freiexemplare und dürfen nach |
Anzeige bei em redigirenden Secretar weitere 200 ra
plare auf ihre Kosten abziehen lassen.
828.
1. Jede zur Aufnahme in die Sitzungsberichfe be
stimmte Mittheilung muss in einer akademischen Sitzung
vorgelegt werden. Abwesende Mitglieder, sowie alle
Nichtmitglieder, haben hierzu die Vermittelung eines ihrem
Fache angehörenden ordentlichen Mitgliedes zu benutzen.
Wenn schriftliche Einsendungen auswättiger oder corre-
spondirender Mitglieder direet bei der Akademie oder bei
einer der Classen eingehen, so hat sie der vorsitzende
Seeretar selber oder durch ein anderes Mitglied zum
Vortrage zu bringen. Mittheilungen, deren Verfasser der
Akademie nicht angehören, hat er einem zunächst geeignet
scheinenden Mitgliele zu überweisen.
[Aus Stat. $ 41, 2. — Für die Aufnahme bedarf es
einer ausdrücklichen Genehmigung der Akademie oder
einer der Classen. Ein darauf gerichteter Antrag kann,
sobald das Manuscript druckfertig vorliegt
gestellt und sogleich zur Abstimmung gebracht werden.]
29. :
l. Der redigirende Sea ist für den Inhalt des
geschäftlichen Theils der Sitzungsberichte, jedoch. nicht
für die darin aufgenommenen kurzen Inhaltsangaben der
gelesenen Abhandlungen verantwortlich, Für diese wie
für alle übrigen Theile der Sitzungsberichte sind
nach jeder Richtung nur die Verfasser verans
wortlich. ; Ren =
ee I
Die Akademie versendet ihre »Sitzungsberichte« an diejenigen Stellen, mit denen sie im Schriftverkehr steht,
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinbart wird, jährlich drei Mal, nämlich:
die Stücke von Januar bis April in der ersten Hälfte des Monats Mai,
_ Mai bis Juli in der ersten Hälfte des Monats August,
* October bis December zu Anfang des nächsten Jahres nach F‘ eügstellung des Registers..
En
|
4
4
269
SIIZUNGSBERICHTE Auller
Vin.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
11. Februar. Sitzung der physikalisch-mathematischen Qlasse.
Vorsitzender Secretar: Hr. Auwers.
1. Hr. Mösıus las: Die Formen, Farben und Bewegungen
der Vögel, ästhetisch betrachtet.
Idealbilder schöner Vögel sind uns nicht angeboren. Sie entstehen unabsicht-
lich aus Wahrnehmungen gewandt fliegender Vogelarten. Schönheit tritt stets in in-
dividueller Ausprägung anschaulich auf und gefällt als eine Einheit mannigfaltigen ge-
setzlichen Inhalts. Abweichungen von den gewohnten Eigenschaften des Vogelideals
missfallen, weil sie unseren Erwartungen nicht entsprechen, auch bei Vögeln, welche
erhaltungsmässig (physiologisch zweckmässig) gebaut sind. Schönheit und organische
Zweckmässigkeit decken sich also nicht. Die Formen der Vögel haben einen höhern
ästhetischen Werth als die Farben. Das Laufen und Schwimmen der Vögel sind keine
so schönen Bewegungen wie das Fliegen und Schweben.
2. Hr. Herrwıe überreichte die zweite Auflage seines Werkes:
Die Elemente der Entwickelungslehre des Menschen und der Wirbel-
thiere. (Jena 1904.)
3. Hr. F. E. Scnuzze legte eine Mittheilung des Hrn. Dr. R. Hry-
mons hierselbst vor: Die flügelförmigen Organe (Lateralorgane)
der Solifugen und ihre Bedeutung.
Die flügelförmigen Organe der Solifugen entwickeln sich aus den Seitenplatten
der Embryonalanlage am 2. Beinsegment. Sie dienen als embryonale Athmungsorgane
und verschwinden beim jungen Thiere mit dem Beginn der Tracheenathmung. Die
flügelförmigen Organe haben keine Beziehung zu den Flügeln der Insecten, sie ent-
sprechen dagegen den Lateralorganen bei den Embryonen der Gigantostraken und
Pedipalpen und deuten auf eine Verwandtschaft der Solifugen zu diesen Thieren hin.
4. Hr. Hermerr legte eine Mittheilung des Hrn. Geh. Reg.-Raths
In. AugrecHht in Potsdam vor: Neue Bestimmung des geographi-
schen Längenunterschiedes Potsdam— Greenwich.
Die Bestimmung wurde ausgeführt, um eine dem gegenwärtigen Stande der Be-
obachtungskunst entsprechende Genauigkeit in der Kenntniss der Lage von Nord-
deutschland gegen den Nullpunkt der geographischen Längenzählung zu erhalten.
Sitzungsberichte 1904. 22
270 Sitzung der plıysikalisch-mathematischen Classe vom 11. Februar 1904.
Die Formen, Farben und Bewegungen der Vögel,
ästhetisch betrachtet.
Von K. Mösıus.
Welche Vögel halten Sie für die schönsten? fragte ich einen Orni-
thologen, der alle Vögel, die wir auf einer Wanderung durch Kiefern-
und Eichenwälder der Mark Brandenburg hörten oder sahen, an ihrer
Stimme und an ihrem Flug erkannte. Verwundert stillstehend ant-
wortete er: Daran habe ich noch nie gedacht. Und doch hatte ihn
die Schönheit unserer Vögel schon im Knabenalter so sehr gefesselt,
daß er sie nicht nur im Freien beobachtete, sondern auch in Käfigen
hielt. um sich an ihren Bewegungen, ihrer Gestalt und Farbe zu er-
freuen. Nach und nach immer mehr mit wissenschaftlichen Unter-
suchungen verschiedener Vogelformen beschäftigt, hielt er ihre ästhe-
tischen Eigenschaften kaum noch der Beachtung wert. Selbst dann,
wenn ihm eine wissenschaftlich untersuchte Art mehr gefiel als eine
mit ihr verglichene andere Art, fragte er nicht nach dem Grunde der
verschiedenen ästhetischen Eindrücke, welche beide auf ihn machten.
Ähnlich verhalten sich die meisten Vogelfreunde und wissenschaft-
lichen Vogelkenner. Sie äußern ihre Freude über die Schönheit ge-
wisser Vögel, aber psychologische Erklärungen ihrer ästhetischen Ur-
teile geben sie nicht. So sagt C. Linse, der berühmte Begründer der
systematischen Tierkunde, im 9. Kapitel des 2. Bandes seiner Amoe-
nitates academicae': »Die Vögel sind unter allen Tieren wohl die schön-
sten. Ihre Gestalt ist so schön, daß man nichts Angenehmeres sehen
kann. Was gleichet wohl an Glanz und Schönheit dem Kolibri? Was
übertrifft den bunten Schwanz des Pfauen?« In dem verbreiteten Werke
Das Tierleben schreibt A. Brenn’, der vortreffliche Darsteller der
äußeren Eigenschaften und Lebensweisen der Vögel: »Die Anmut ihrer
Gestalt, die Schönheit der Farben, die Schnelligkeit und Behendigkeit
ihrer Bewegungen, der Wohllaut ihrer Stimme, die Liebenswürdigkeit
ihres Wesens ziehen uns unwiderstehlich an.«
! Des Ritter ©. von Lınne Auserlesene Abhandlungen aus der Naturgeschichte,
Physik und Arzneiwissenschaft, übersetzt von J. T.H. Leipzig 1776 —78. Bd. 2, S.269.
®2 Die Vögel, 3. Aufl., Leipzig und Wien 1891, Bd.r, S. 33.
Bi £
Mörıvs: Die Vögel, ästhetisch betrachtet. 271
Keinem Menschen ist das Idealbild eines schönen Vogels ange-
boren. Einem jeden. der Sperlinge, Schwalben, Drosseln, Tauben,
Krähen, Möwen und andere gewandt tliegende Vögel oft sieht, prägen
sich Gedächtnisbilder ihrer Formen und Bewegungsweisen ein.
Ihr Rumpf ist länglich eiförmig; nach vorn geht er allmählich
über in einen dünneren Hals, der einen abgerundeten Kopf trägt.
Der Schnabel ist kürzer als der Kopf, der Schwanz ungefähr ebenso-
lang wie der Rumpf. Aus diesem ragen nur die unteren Teile der
Beine hervor. Wenn sich die Flügel von dem Rumpf abheben und
zum Fluge ausbreiten, werden die Füße an den Leib in die Höhe
gezogen. In dieser Lage bieten sie dem Druck der Luft am wenig-
sten Widerstand dar. Die Luft wird von dem spitzen glatten Schnabel
leicht durchschnitten. Kein schwerer Kopf, kein langer Hals ziehen
den Schwerpunkt des Körpers aus dessen Mitte nach vorn, kein langer
Schwanz nach hinten. Er liegt mitten zwischen und unter den Flügeln
und etwas hinter ihnen, so daß sie die ganze Körperlast leicht und
sicher in die Luft erheben und darin vorwärts bewegen können.
Jede Änderung in der Stärke und Richtung des Luftdruckes emp-
findet der Vogel und ändert danach die Flügelschläge, die Haltung
des Halses, des Kopfes, des Schwanzes und der Füße immer so, daß
ihn seine Bewegungen dem Ziele, welches er ins Auge gefaßt hat,
näher bringen.
Aus allen diesen Wahrnehmungen entsteht nach und nach un-
absichtlich das Idealbild eines schönen Vogels, mit welchem wir Vögel,
die vor uns sitzen, vorbeilaufen oder vorüberfliegen, vergleichen, wenn
wir sie schön oder häßlich finden. Sind in ihnen die Eigenschaften
des uns eingewohnten Ideals anschaulich verwirklicht, so können wir
uns ohne weiteres Besinnen in ihre Natur hineindenken, hineinfühlen.
Wir verstehen sie, das macht uns Freude. »Wer Schönheit erblickt«,
sagt Gorrue, »fühlt sich mit sich selbst und mit der Welt in Über-
einstimmung. «'
Weicht ein Vogel, den wir erblicken, auffallend von unserem Vogel-
ideal ab, so finden wir in ihm nicht, was wir erwarteten. Das ist
uns unangenehm. Diesem Gemütszustande geben wir dadurch Aus-
druck, daß wir ihn häßlich nennen.
Wenn Besucher der zoologischen Gärten und Museen die Pelikane
häßlich finden, weil sie zu große Schnäbel haben und einen schwer-
fällig watschelnden Gang, so vergleichen sie diese großen Schwimm-
vögel warmer Meeresküsten mit ihrem Idealbilde eines schönen Vogels,
' Wahlverwandtschaften. I. Kap. 6. Sämtliche Werke in 40 Bdn. Stuttgart und
Tübingen. 1854. Bd.r5, S. 54.
DDL,
272 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 11. Februar 1904.
der einen kleinen Schnabel und zierliche Füße besitzt und sich leicht
fortbewegt. Daß der Pelikan in seinem langen Schnabel mit einem
Hautsacke am Unterkiefer ein vortreffliches Werkzeug zum Fangen von
Fischen, seiner Hauptnahrung, besitzt. und daß die großen Hautplatten
zwischen den Zehen der watschelnden Füße sehr zwecekmäßige Ruder-
schaufeln beim Schwimmen bilden, das hindert sie nieht, den Pelikan
häßlich zu nennen. Ein für seine Lebenstätigkeiten zweckmäßiger Bau
des Pelikans ist also kein hinreichender Grund, ihn schön zu finden.
In jedem normal ausgebildeten gesunden Tiere arbeiten die Organe so
zusammen, daß es nicht allein sich selbst lebendig erhält, sondern
auch noch die Fähigkeit besitzt, seine Eigenschaften auf Nachkommen
zu übertragen. Es müßten uns also alle Tierformen in gleichem Grade
schön erscheinen, wenn lediglich ihre erhaltungsmäßige oder zweck-
mäßige Organisation sie schön machte.
Zweckwidrige Eigenschaften an Gegenständen, welche Menschen
gemacht haben, mißfallen, weil sie der bekannten Absicht, der Idee,
für deren Verwirklichung sie ausgeführt wurden, widersprechen.
Weil man niemals ästhetisch befriedigt ist, wenn man Unzweck-
mäßiges an menschlichen Werken wahrnimmt, so haben manche
Ästhetiker geschlossen, daß alles Zweckmäßige schön sei. Das ist
eine zu weitgehende Wertung eines logischen Gegensatzes.
Ursprünglich bezeichnet das Wort Zweck einen großköpfigen
Nagel, der in den Mittelpunkt einer Scheibe als Zielstelle für die
Schützen eingeschlagen wurde." Aus dieser sinnlichen Bedeutung ist
die unsinnliche entsprungen, nach welcher Zweck das ist, wonach man
im Geiste zielt, also ein Gedanke, der die Tätigkeit eines selbst-
bewußten Wesens bestimmt und leitet. Menschliche Tätigkeiten,
Menschenwerke sind zuerst im Neuhochdeutschen zweckmäßig ge-
nannt worden, dann auch die Beschaffenheit und die Tätigkeit der zur
Erhaltung der Individuen und Arten der verschiedenen Pflanzen-
und Tierformen dienenden Organe. In den biologischen Wissenschaften
angewendet, soll das Wort zweckmäßig nicht sagen, daß die Ein-
richtung der Pflanzen- und Tierformen vor ihrer Verwirklichung von
einem geistigen Wesen ausgedacht und gewollt worden sei, wie Menschen-
werke, ehe sie ausgeführt werden. Es soll nur bedeuten, daß die
Organe einer jeden Lebensform für deren Erhaltung nach allgemein
herrschenden physischen Gesetzen gut arbeiten.
Die Notwendigkeit der zahlreichen verschiedenen Tier- und Pilan-
zenformen sehen wir nicht ein; denn wissenschaftlich läßt sie sich
nicht feststellen. Das hat schon I. Kanr 1788 in der Schrift: Ȇber
! M. Heyne, Deutsches Wörterbuch, III, 1895, S.1457.
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Mösıus: Die Vögel, ästhetisch betrachtet. 3
den Gebrauch der teleologischen Prinzipien in der Philosophie«' aus-
einandergesetzt. Hier sagt er, daß wir nach Zwecken wirkende Kräfte
nurin uns selbst kennen. »Es mag die Ursache organisierter Wesen
in der Welt oder außer der Welt anzutreffen sein, so müssen wir ent-
weder aller Bestimmung ihrer Ursache entsagen oder ein intelli-
gentes Wesen uns dazu denken; nicht als ob wir (wie MEnDELssonN
und andere glaubten) einsähen, daß eine solche Wirkung aus einer
anderen Ursache unmöglich sei, sondern weil wir, um eine andere
Ursache mit Ausschließung der Endursachen zum Grunde zu legen,
uns eine Grundkraft erdiehten müßten, wozu die Vernunft durchaus
keine Befugnis hat, weil es ihr alsdann keine Mühe machen würde,
alles, was sie will und wie sie will, zu erklären.«e Und Gorrur?
schreibt: »Die Vorstellungsart der Endursachen gefällt, weil sie wirk-
lich etwas Geistiges hat und als eine Art Anthropomorphismus ange-
sehen werden kann. Dem Aufmerksameren freilich wird nicht ent-
gehen, daß man der Natur nichts abgewinnen kann, wenn man ihr,
die bloß notwendig handelt, einen Vorsatz unterschiebt und ihren
Resultaten ein zweckmäßiges Ansehen verleihen möchte. «
Wer sich die erhaltungsmäßige Organisation der Tiere und Pflan-
zen durch die Annahme begreiflich macht, daß sie nach einem vor-
ausgedachten Plane verwirklicht worden sei, der tritt aus dem Be-
reiche der Naturwissenschaft über in das Gebiet der Metaphysik
und des religiösen Glaubens.
Die erhaltungsmäßige Einrichtung der lebenden Wesen nennt Kar’
in seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft »innere Zweckmäßig-
keit« oder Vollkommenheit, eine »Zweekmäßigkeit ohne Zweck«,
die er der äußeren Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit gegenüber-
stellt. » Asthetischen Urteilen«, schreibt er, »wird keine innere Zweck-
mäßigkeit, auf welche sich die Zusammensetzung des Mannigfaltigen
beziehe, zugrunde gelegt. Viele Vögel (der Papagei, der Kolibri,
der Paradiesvogel), eine Menge Schaltiere des Meeres sind für sich
Schönheiten, die gar keinem nach Begriffen in Ansehung seines Zwecks
bestimmten Gegenstande zukommen, sondern frei und für sich ge-
fallen. «
K. Rosenkranz! bemerkt über denselben Gegenstand folgendes:
»In der Baunsartenschen Asthetik ist der Begriff der Vollkommen-
Sämtliche Werke, herausgegeben von HArtEnstEın, IV, S. 492 — 493.
?2 Geschichte der Farbenlehre. Sämtliche Werke, Stuttgart und Tübingen, 1854,
Bd. 39, S. 162.
? Sämtliche Werke, herausgegeben von Harrenstein, V, $15 und 16, S. 231
und 234.
* Asthetik des Häßlichen, 1853, S.ı1.
274 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 11. Februar 1904.
heit mit dem der Schönheit identisch genommen. Allein Vollkommen-
heit ist ein Begriff, der mit der Schönheit nicht direkt zusammen-
hängt. Es kann ein Tier sehr zweckmäßig, also als lebendiges In-
dividuum, sehr vollkommen organisiert und eben deswegen sehr häß-
lich sein, wie das Kamel, das Unau, die Sepia, die Pipa usw.«
Wenn der Araber das Kamel als milch- und butterspendendes
Haustier, als geduldigen und ausdauernden Lastenträger preist, hat er
Gefallen an seinem Nutzen, nicht an seiner Schönheit. In der Natur
wird vieles schön gefunden, was, von gewissen Standpunkten aus
betrachtet, sehr unzweckmäßig ist. Ausgedehnte Heidestrecken sind
unzweckmäßig für lohnende Ackerwirtschaft, aber schön für den, der
sie in der Blütezeit des Heidekrautes durchwandert, ohne nach ihrem
Nutzwerte zu fragen. Kahle Felsenwände sind ihren Besitzern er-
traglose unzweckmäßige Massen. Der Naturfreund bewundert ihre
Schönheit.
Das oft gehörte Urteil: »Der Pelikan ist ein häßlicher Vogel«
gab mir Anlaß, die irrtümliche Meinung: » Alles Zweckmäßige ist schön «
zu widerlegen. Nun soll mir die Betrachtung des Pfauhahns, eines
Vogels, dessen Schönheit seit alten Zeiten immer wieder bewundert
wird, zur Darstellung des wahren Wesens tierischer Schönheit dienen.
Wer vor einem balzenden Pfauhahn steht, versunken in den An-
blick seines aufgerichteten Schwanzes, gefesselt durch die Form und
Haltung seines Körpers, durch die Farben und den Glanz seines Ge-
fieders, ohne nachzudenken, wie der Pfau diese Eigenschaften erhalten
hat oder wozu sie ihm dienen, und dabei einen Genuß empfindet,
den er am besten mit den Worten: Der Pfau ist schön! glaubt
ausdrücken zu können, der sag
die äußere Erscheinung dieses Vogels etwas aus, sondern zugleich
auch über den Gemütszustand, in den er durch den Anblick des Pfau-
hahns versetzt worden ist. Denn schön ist der Pfau nicht an und
für sich; schön erscheint er nur einem, der ihn sieht und mit Genuß
betrachtet. Dieser Genuß entspringt nicht allein aus den sinnlichen
Empfindungen, welche die Farben, die Form, die Haltung und die
Bewegungen des Pfaues in dem Beschauer erregen, sondern auch noch
aus Erinnerungen, welche dessen Anblick in ihm wachrufen.
Aus der Haltung und den Bewegungen schließt er, nach Erfah-
rungen an sich selbst, daß der Pfau ein empfindendes und wollendes
Wesen ist, welches durch eigene Kräfte dem Niederzuge der Schwere
widersteht. In der gleichseitig fächerförmigen Ausbreitung der Schwanz-
federn und in der Lage der Flügel zu beiden Seiten des Leibes er-
bliekt er die Übereinstimmung der Körperform mit den Gesetzen des
Gleichgewichts. In der Aufeinanderfolge und zunehmenden Größe der
t mit diesem Ausruf nieht bloß über "
REN
Mösıus: Die Vögel, ästhetisch betrachtet.
prächtigen Flecke auf den langen Schwanzfedern erscheint ihm die
gesetzmäßige Umbildung gleichartiger Teile eines Ganzen.
Die Wirkungen dieser Gesetze treten ihm beim Anblick des Pfau-
halıns unmittelbar, anschaulich entgegen. Er wird sich bewußt, daß er
sie schon in ähnlichen anderen Erscheinungen wahrgenommen hat, dal
er sie kennt. Dazu ist jedoch die Bekanntschaft mit der wissen-
schaftlichen Fassung der Gesetze, als bloßer, aus ähnlichen Wahır-
nehmungen abgeleiteter Gedanken nicht nötig. Ja, die Betrachtung
dieser Gesetze, abgelöst von der sinnlichen Empfindung der Form und
der Farbe des Vogels, würde den Beschauer abziehen von dem Genusse
seiner Schönheit.
Ästhetisch wirken Tiere nur dann angenehm, wenn sie als eine aus
Teilen zusammengesetzte Einheit sinnlich wahrgenommen werden.
Kein schöner Vogel, kein schöner Schmetterling ist einem anderen
Individuum seiner Spezies vollkommen gleich. Jede Wiederholung ist
eine andere räumlich und zeitlich neue Versinnlichung derselben Natur-
gesetze, welche in ihm verwirklicht sind. Dasselbe gilt auch von
schönen anatomischen und mikroskopischen Präparaten, schönen physi-
kalischen und chemischen Experimenten.
»Warum bin ich vergänglich, o Zeus? so fragte die Schönheit.
Macht ich doch, sagte der Gott, nur das Vergängliche schön.« Gorrue.!
Gerade diese, nie genau so wiedererscheinende Eigentümlichkeit
reizt die Sammler von Vögeln, Konchylien, Schmetterlingen, Käfern und
anderen Tieren ebenso wie die Sammler von Kunstwerken, welche auch
nur einmal existieren, ihre Sammlungen durch Varietäten und Ab-
errationen der Speziestypen zu bereichern. Jedes in der Form und
Farbe von dem Speziestypus abweichende Individuum befriedigt
momentan den allgemein menschlichen Trieb, bekannte Gesetze in immer
neuer Weise versinnlicht zu sehen.
Es sind ungefähr 15000 Arten Vögel beschrieben und in Museen
und Privatsammlungen durch zahlreiche Exemplare vertreten, von denen
keins einem anderen vollkommen gleich ist.” Die Vogelwelt der ganzen
Erde bietet also menschlichen Augen einen unerschöpflichen Reichtum
verschiedener ästhetischer Eindrücke dar. Die ästhetischen Eigenschaften
der Vögel liegen in der Form, der Farbe und in den Bewegungsweisen.
! Vier Jahreszeiten. Sommer. Nr. 35. Sämtliche Werke. Stuttgart u. Tübingen.
1854, Bd. 1, S. 308.
2 Das Zoolosgische Museum in Berlin besitzt nach Angabe des Kustos der Vogel-
sammlung Prof. Dr. Reıcnenow über 10000 Arten, von denen nur die Hälfte ausgestopft
und aufgestellt ist, die andere Hälfte liegt in Balgform in Kästen.
276 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 11. Februar 1904.
Alle drei harmonieren mit den Eigenschaften der Elemente, in und auf
welchen sich die Vögel vorwiegend bewegen. Ästhetisch betrachtet,
kann man sie daher in Luft-, Wasser- und Erdvögel einteilen.
Die Hauptmasse des Vogelkörpers, der Rumpf, ist eiförmig oder
spindelförmig. Wenn der Vogel nicht fliegt, pflegt er die Flügel so
dicht an den Rumpf anzulegen, daß sie mit ihm eine einheitliche Masse
bilden, an welche nach vorn der Hals und Kopf angegliedert sind.
Hinten ragen bei den meisten Vögeln auch noch Schwanzfedern über
den Rumpf hinaus. Der ganze Vogelkörper erscheint also als eine aus
verschiedengestalteten Teilen zusammengesetzte Einheit, in welcher
der Rumpf die vorherrschende größte Masse bildet. »Zu aller Schön-
heit gehören Mannigfaltigkeit und Einheit. Einförmigkeit erweckt Über-
druß«, schrieb vor hundert Jahren der Ästhetiker Esrrmarn.' Ver-
schiedenes, Mannigfaches überschaut man mit mehr Befriedigung, als
eine in sich unterschiedslose Einheit, weil sie uns mehr Vorstellungs-
inhalt gibt.
Die guten Flieger, welche unserem idealen Vogel zugrunde liegen,
sind vom Kopfe bis zum Schwanz mit Federn bedeckt, deren Schäfte
und Fahnen hinterwärts übereinander liegen. An diese einheitliche
Federdecke sind wir so gewöhnt, daß ein kahler Kopf, ein kahler
Hals mißfällt. Die erwartete Übereinstimmung des erbliekten Vogels
mit unserer Vorstellung wird nicht erfüllt. Das ist uns unangenehm.
Als Beispiele führe ich an: Gymnocephalus calvus (Gu.) Kahlkopf,
Neophron perenopterus (L.) Aasgeier, Gyps fulvus Gm. Gänsegeier.
Ungeschwänzte Vögel gefallen weniger als geschwänzte, weil
ihnen ein vorausgesetztes Glied fehlt. Beispiel: Apteryx australis Suaw
Kiwi.
Sehr lange Hälse, sehr große Schnäbel, sehr lange Beine
und Schwänze gefallen nicht, weil sie den Blick von dem Rumpfe,
der Hauptmasse des Körpers ablenken, also die Erfassung der Ein-
heit der Vogelgestalt erschweren. Beispiele: Docimastes ensifer (Boıss.)
Kolibri, Dichoceros bicornis (L.) Nashornvogel, Pelecanus onocrotalus L.
gemeiner Pelikan, Rhamphastus toco (Gum.) Riesentukan.
Die Häßlichkeit eines langen Halses und Schnabels wird jedoch
gemildert durch einen langen Schwanz und lange Beine. Der Rumpf
bleibt dann doch die Mittelmasse zwischen Anhangsteilen, die sich
das Gleichgewicht halten. Beispiele: Ardea cinerea L. Fischreiher,
Ciconia alba L. weißer Storch.
Der Vogel drückt seine Gefühle und seinen Willen vornehmlich
durch die Haltung und die Bewegungen des Kopfes aus. Feder-
1
Jon. Aug. Eeeruarn, Handbuch der Ästhetik in Briefen. 4 Bände. Halle
1803— 1805. Bd. ı. Zehnter Brief, S. 59.
. usa”
DE ee De re
Mösıus: Die Vögel, ästhetisch betrachtet. 277
kronen und auffallende Farben, welche den Blick auf den Kopf hin-
lenken, sind daher verschönernde Zierden des Vogelkörpers. Beispiele:
Galerita eristata (L.) Haubenlerche, Bombyeilla garrula (L.) Seidenschwanz,
Aixw sponsa (L.) Brautente, Upupa epops 1. Wiedehopf, Goura coronata
Frem. Kronentaube, Grus pavonina (L.) Kronenkranich.
Nach vorn gerichtete Haubenfedern gefallen weniger als nach
hinten gerichtete. Sie widersprechen der Regel, der alle nach hinten
gerichtete Deckfedern des Vogelkörpers folgen. Beispiele: Phalacro-
corax graculus L., Crax alector L. Hokkohuhn.
Die Augen der Vögel haben eine große Pupille, deren Schwärze
sie auffallend von den sie umgebenden Hautteilen und Federn abhebt
und daher den Blick auf sie lenkt. Bei vielen Vögeln ist sie von
einer lebhaft gefärbten Iris umschlossen, z. B. bei den Eulen. In
keinem anderen Organ versinnlicht sich der psychische Zustand des
Vogels so eindrücklich wie im Auge. Den Eulen geben die großen,
vorwärts gerichteten Augen ein menschenähnliches Ansehen. In dieser
Wirkung werden sie unterstützt durch die niedergebogene Schnabel-
spitze, welche aus den Gesichtsfedern wie eine Nase hervorragt, und
auch noch durch die aufrechte Haltung des ruhenden Körpers. Auf
solche ästhetische Eindrücke ist die Erhebung der Eulen zum Symbol
der Göttin Athene und der Wissenschaft zurückzuführen.
Wie der augentragende Kopf, so ist auch der bewegbare Sch wanz
ein ästhetisch wichtiges Organ der Vögel. Er besteht stets aus einer
geraden Zahl von Federn, meistens aus zwölf‘, hat also eine gefallende
symmetrische Form. Sind alle Federn gleich lang, so erscheint der
ausgebreitete Schwanz regelmäßig fächerförmig. Beispiele: Turdus
merula L. Schwarzdrossel, Passer domesticus L. Sperling und die meisten
anderen Singvögel.
Gabelschwänze gefallen melr als gerade abgestumpfte, weil
sie die Symmetrie auffallender veranschaulichen als diese. Beispiele:
Hirundo rustica L. Rauchschwalbe, Tetrao tetrix L. Birkhahn.
Sind einzelne Federn eines gabelförmigen Schwanzes regelmäßig
gebogen, so tritt zur Symmetrie noch eine die Mannigfaltigkeit be-
reichernde Eigenschaft hinzu, die seine Schönheit steigert. Beispiele:
Menura superba Davızs Leierschwanz, Schlegelia wilsoni (Cass.) Paradies-
vogel. Stufenschwänze gefallen als Ausdruck eines Wachstums-
gesetzes. Die Länge der aufeinanderfolgenden Federn nimmt regel-
mäßig zu. Beispiele: Pica pica (L.) Elster, Lesbia sparganura (Suaw)
Kolibri, Aegithalus caudatus (L.) Schwanzmeise. Die langen gebogenen
Schwanzfedern im Schwanze des Haushahns sind aus demselben Grunde
schön, wie das steigende und fallende Wasser eines Springbrunnens.
Sie versinnlichen Überwindung und Sieg der Schwere. Der aufsteigende
278 Sitzung der physikalisch -mathematischen Classe vom 11. Februar 1904.
Teil widerspricht der Schwere, der niederhängende gehorcht ihr. Beide
bilden durch eigene elastische Festigkeit eine Einheit, die als gesetz-
liche Erscheinung gefällt.
In der ästhetischen Betrachtung und Beurteilung der Vögel spielen
die Farben eine Hauptrolle. Lebhafte Farben und starker Glanz
machen einen so starken Eindruck, daß sie den Blick mehr auf sich
ziehen als die Formen der Vögel. Die ersten ästhetischen Eindrücke,
welche Kinder und Ungebildete fesseln, sind lebhafte Farben. Die
Formen fesseln erst den, der ihre Bedeutung für die Bewegungen,
die Haltung des Körpers und für den Ausdruck psychischer Zustände
kennt. In den Formen der Vögel tritt uns also mehr uns schon be-
kannter eigener Vorstellungsinhalt entgegen als in den Farben. Darin
besteht ihr höherer ästhetischer Wert.
In einfarbigen Vögeln tritt die ästhetische Wirkung der Form
eindrucksvoller auf als in verschiedenfarbigen. Beispiele: Oygnus olor (Gm.)
Schwan (schwimmend), Corrus corax L., Corvus corone L. Rabenkrähe.
Verschiedene lebhafte Farben, welche grell zusammenstoßen,
gefallen weniger als Farben, die ineinander übergehen. Jene er-
schweren, diese erleichtern die Auffassung des Vogelkörpers zu einer
ästhetischen Einheit. Beispiele: Rhamphastus discolorus L. Tukan.
Auf die gelbe Farbe der Kehle folgt die rote Farbe der Brust und
des Bauches, beide getrennt durch eine hellgelbe Querlinie. Nicht
schön. Farbenübergänge zeigt Cyanocoraw armillatus Gray, Scheitel
und Kehle hellblau, Rücken, Bauch und Schwanz dunkelblau. Seiten
des Kopfes schwarz.
Wenige komplementäre Farben sind schöner als eine Buntheit
vieler lebhafter Farben, die den Blick hin- und herziehen. Beispiele:
Phacromaerus macrocinna (Br.) männlicher Pfauentrogon. Rücken- und
Schwanzdeckfedern glänzend grün, Brust rot, Flügelfedern und mitt-
lere Steuerfedern schwarz, äußere Steuerfedern weiß. Lesbia sparga-
nura (Suaw) Kolibri. Kehle und Brust grün, Schwanz rot. Ampelis
cayana (L.) Männchen: Kehle purpurn, Kopf, Brust und Bauch hell-
blau, Rücken und Schwanz dunkelbraun. (yanocoraw peruanus OA».
Bauch und äußere Schwanzfedern gelb, Kopf oben hellblau, Rücken
und mittlere Schwanzfedern hellgrün. Dagegen Psittacus spurius Kunu
bunter australischer Papagei. Kopf oben rotbraun, Seiten des Halses
gelbgrün, Rücken und mittlere Schwanzfedern grasgrün, Flügel- und
äußere Schwanzfedern blau, Brust und Bauch hellblau, Schwanzwurzel
oben gelb, unten rot, Unterschenkelfedern rot.
Glanz erhöht die Wirkung der Federfarben. Der Blick wird
zuerst durch die hellste Stelle gefesselt. Von dieser aus nimmt die
u
Mösıvs: Die Vögel, ästhetisch betrachtet. 279
Helligkeit des farbigen Lichtes, der Form des Federkleides entsprechend,
allmählich ab. Indem man dieser Lichtabnahme folgt, erfaßt man Form
und Farbe des Vogels angenehm als ästhetische Einheit. Beispiele:
Lamprotornis aeneus (Gum.) Glanzstar, Sturnus vulgaris (L.) gemeiner Star,
Männchen im Frühlingskleid. Viele Kolibris und Paradiesvögel.
Längsstreifen sind schöner als Querstreifen, weil sie der Haupt-
richtung des Vogelkörpers folgen. Beispiel: Numida vulturina Harnw.
Geierperlhuhn. Tüpfel lassen den Bliek nicht zur Ruhe kommen,
führen ihn hin und her, gefallen daher weniger als Längsstreifen.
Beispiele: Numida meleagris (L.) gemeines Perlhuhn, Apteryx oweni
Govrp Schnepfenstrauß. Querstreifen hemmen den Blick, der
Hauptriehtung des Körpers zu folgen. Beispiele: Cueulus canorus (L.),
Kuckucksweibehen, Upupa epops L. Wiedehopf, Trichoglossus cyano-
grammus W ası. Neuguinea-Papagei. Auf der roten Brust sind schwarze
Querstreifen.
Als Läufer machen die zweibeinigen Vögel keinen so schönen
Eindruck wie Säugetiere, deren Körper durch vier gleich große Beine
vollkommener unterstützt wird. Die kleinen Singvögel, Tauben,
Wachteln, Rebhühner u. a. laufen, trippeln und hüpfen zierlich am
Boden hin. Die Störche, Reiher und Kraniche schreiten bedächtig
einher. Der Lauf der Strauße und Kasuare sieht plump aus.
Das Schwimmen der Enten, Gänse, Schwäne, Taucher, Mö-
wen und anderer Wasservögel gefällt als mühelose Fortbewegung.
Der wenig eingetauchte Leib wird vom Wasser getragen. Leicht
treiben ihn die Ruderplatten der Schwimmfüße, deren Bewegungen
wenig oder gar nicht sichtbar sind, vorwärts. Die Taucher, Alken
und Pinguine machen mit ihren kurzen Flügeln flugartige Ruderschläge
unter dem Wasser. Ihre Beine sind so weit nach hinten gerückt,
daß der Körper beim Stehen und Schreiten aufrecht gehalten werden
muß, wodurch die Pinguine lächerlich menschenähnlich werden.
Die schönste Bewegung der Vögel ist der Flug. Er ist die
vollkommenste Überwindung der Schwere in dem leichtesten und
durchsichtigsten Elemente. Er übertrifft alle tierischen Fortbewegun-
gen an Schnelligkeit und Ausdauer. Der fliegende Vogel überblickt
besser als der Bodengänger die Hemmnisse der Fortbewegung und
kann sich leicht über sie hinwegheben, um in gerader Richtung
seinem Ziele entgegen zu streben. Von seiner hohen Bahn herab-
schauend, empfängt er viel mehr sein psychisches Leben bereichernde
Gesichtseindrücke als der Bodengänger. Alle diese Wahrnehmungen
machen uns das Fliegen zur vollkommensten und schönsten Bewe-
280 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 11. Februar 1904.
gung lebender Wesen. Wir möchten auch gern durch weite Hori-
zonte ohne jedes Hindernis fliegen können. Diesem Wunsche fol-
gend, hat die menschliche Phantasie übermenschlichen Wesen Flügel
verliehen. Aber Flugmaschinen herzustellen, welche wirkliche Men-
schen nicht nur in ruhiger, sondern auch in bewegter Luft einem
bestimmten Ziele sicher nähertragen können, das ist noch keinem
Flugtechniker gelungen."
Der Flug der kurzflügeligen Hühner, Enten. Taucher ist
nicht so schön wie der Flug langflügeliger Vögel. Die Schlagweite
ihrer Flügel ist auffallend groß und macht den Eindruck mühevoller
Muskelarbeit.
Viel schöner ist der Flug der Singvögel, Schwalben, Seeschwal-
ben, Möwen und Raubvögel. Die Schlagweite ihrer Flügel ist kleiner,
nicht auffallend bemerkbar. Ihre Flugriehtung ändern sie leicht und
gewandt durch unmerkliche Änderungen der Form und Haltung der
Flügel, des Halses und Schwanzes. Sie scheinen mühelos zu schwe-
ben. An die Hebearbeit, die der schwebende Vogel vorher ausführen
mußte, denkt der Bewunderer des Schwebens nicht, denn ästhetisch
fesseln nur gegenwärtige Erscheinungen.
Die formschönsten Vögel sind die großen Tagraubvögel: die
Falken, Adler und Weihen. Ihr Rumpf ist spindelförmig und geht
über in einen kurzen Hals. Der Schnabel ist kürzer als der Kopf
und gebogen. Füße und Schwanz sind kürzer als der Rumpf. Mit
diesem als der größten Körpermasse werden alle anderen Körperteile
leicht zu einer ästhetischen Einheit zusammengefaßt.
Die Stellung des ruhenden Falken und Adlers ist aufrecht. Mit
gespreizten Zehen umfaßt er den Ast, auf dem er sitzt. Wie feste
Säulen tragen ihn die starken Ständer. Scharf und fest blicken die
großen glänzenden Augen in die Ferne. Kräftige Flügel heben den
Adler über die Wipfel der höchsten Bäume und tragen ihn über die
Gipfel der Gebirge. Mit ausgebreiteten Flügeln hoch kreisend, erblickt
er leicht eine lebende Beute, ergreift sie mit scharfen Krallen und
! Der Flugtechniker Lirıenrnar verwendete ein Paar große, aus Bambusrohr
und Segeltuch zusammengesetzte Tragplatten, die Vogelflügeln sehr gut nachgebildet
und so leicht waren, daß man sie in die Hände nehmen konnte, um sich nach einem
Anlauf von einer Anhöhe aus durch Gegenwind in die Luft erheben und darin fort-
tragen zu lassen. Bei seinem letzten Flugversuche stürzte er nieder und verunglückte,
weil er die Haltung der Flügel und des schwanzartigen Steuers seiner Maschine un-
vorhergesehenen Luftströmungen nicht ebenso schnell und sicher anpassen konnte, wie
ein fliegender Vogel, der jede Abänderung des Luftdruckes fühlt und reflektorisch
sofort durch zweckmäßige Stellungen seiner Organe benutzt. Diese reflektorische
Tätigkeit des lebendigen Vogels maschinell zu ersetzen, ist die schwierigste Aufgabe
der Flugtechnik. An die Wichtigkeit ihrer Lösung scheinen manche leidenschaftliche
Flugkünstler gar nicht gedacht zu haben.
Mörıus: Die Vögel, ästhetisch betrachtet. 281
überwältigt sie. Alle diese Eigenschaften und Tätigkeiten des Adlers
fassen wir in einem Worte zusammen, wenn wir ihn schön nennen.
Wer den Adler nur ausgestopft, nur in Käfigen gesehen hat,
dem ist dessen Schönheit nicht so inhaltsreich, wie denen, welche
ihn oft im Freien beobachteten, seine Lebensweise und den Bau seiner
Organe kennen.
Je vollständiger uns die gesetzlich wiederkehrenden Eigenschaften
einer Tierart bekannt sind, desto mehr ästhetischen Genuß bereitet
uns der Anblick eines gut ausgebildeten Individuums derselben.
In einem schönen Vogel sehen wir verschiedenes uns bekanntes
Gesetzliches vereinigt zu einer sinnlich anschaubaren, uns erfreulich
fesselnden Einheit.
Die flügelförmigen Organe (Lateralorgane) der
Solifugen und ihre Bedeutung.
Von Dr. Rıcuarp Hrynuons.
(Aus dem Zoologischen Institut in Berlin. Vorgelegt von Hrn. F. E. Scuurze.)
De Entdecker der flügelförmigen Organe bei den Solifugen ist
ÜRONEBERE.' Er beobachtete bei fast fertigen Embryonen sowie bei
ganz jungen Thieren ein Paar flügelförmiger Anhänge, die dorsal
von dem Ansatzpunkte der Extremitäten zwischen dem ı. und 2. Bein-
paar entspringen, die weder Nerven, noch Muskeln, noch Tracheen
enthalten und deren Bedeutung um so räthselhafter ist, als sie dem
erwachsenen Thiere vollständig fehlen. BmurA’, der diese Anhänge
ebenfalls auffand und als Seitenorgane bezeichnete, war der Meinung,
dass sie mit dem Körper über dem ersten Beinpaare mittelst eines
Stieles zusammenhiengen, und dass sie später zusammenschrumpften,
während man bei dem ausgewachsenen Thiere zungenförmige drei-
eckige unter den Mandibeln (Cheliceren) gelegene Hautfalten wahr-
scheinlich als ihren Überrest anzusehen habe.
Bezüglich der morphologischen Deutung glaubt CronEBERG, dass
man diese Gebilde vielleicht mit gewissen als Rudimenten einer Schalen-
duplicatur anzusehenden Anhängen bei den Embryonen von Asellus
vergleichen könne. Korscnerr und HEıDEr’, die sich im übrigen gegen
die Verwandtschaft der Solifugen mit den Inseeten aussprechen, er-
örtern dagegen die Ähnlichkeit der flügelförmigen Anhänge der Soli-
fugenembryonen mit den Flügelanlagen der Inseeten. Allerdings kommen
bei den Solifugen diese Anhänge nicht an dem entsprechenden Körper-
segmente wie bei den Inseeten vor, aber die genannten Autoren weisen
doch ausdrücklich darauf hin, dass die Ausbildung ganz ähnlicher
! CRONEBERG, A. Über ein Entwicklungsstadium von Galeodes. Zoolog. Anzeiger,
10. Jahrg. 1887.
® Bırura, A. Beiträge zur Kenntniss des anatomischen Baues der Geschlechts-
organe bei den Galeodiden. Biolog. Centralblatt. ı2. Bd. 1892.
® Korscherr und Heiver. Lehrbuch der vergleichenden Entwicklungsgeschichte
der wirbellosen Thiere. 2. Heft. Jena 1892.
TR
ae a 4 a
SR: Jan
R. Hzynuons: Lateralorgane der Solifugen. 2853
tlügelförmiger Anhänge bei den Termitenlarven gleichfalls durchaus
nicht allein auf die beiden typischen flügeltragenden 'Thoraxsegmente
beschränkt ist.
Wenn die Schwierigkeiten hinsichtlich der differenten Lagerung
fortfallen, so kann thatsächlich ein Vergleich zwischen den Insecten-
flügeln und den flügelförmigen Organen der Solifugen als berechtigt
erscheinen. Zweifellos ist es wiehtig, Näheres über die flügelförmigen
Organe bei den Solifugen festzustellen, denn wenn wirklich den In-
seetenflügeln entsprechende Einrichtungen bei den letztgenannten Thieren
vorkommen sollten, so ist es natürlich klar, dass diese Thatsache doch
sehr wesentlich zu Gunsten einer verwandtschaftlichen Beziehung (der
Solifugen mit den Insecten sprechen würde.
Die flügelförmigen Organe lassen sich bei @aleodes bis in frühe
Entwicklungsstadien zurückverfolgen. Die erste Andeutung dieser Or-
gane konnte ich bereits in einer Embryonalperiode wahrnehmen, in
der die Segmentirung des jungen Keimstreifens noch nicht beendet
ist, indem der Körper an seinem Hinterende noch in eine undifferen-
zirte Knospungszone übergeht. Diese Knospungszone wird erst im
spätern Entwicklungsverlauf aufgetheilt und liefert die noch fehlenden
Metameren. In dem betreffenden Stadium sind aber bereits im Bereiche
des Cephalons (= Cephalothorax der bisherigen Bezeichnungsweise')
sechs paarige knopfförmige Höcker neben der Medianlinie hervorgetreten,
nämlich die deutlich postoral gelegenen Cheliceren, die Maxillarpalpen
(Pedipalpen), sowie vier Beinpaare. In der darauf folgenden Rumpf-
region fehlen noch die höckerförmigen Gliedmaassen, und die Segmente,
soweit sie überhaupt angedeutet sind, stellen einfache, nur in der
Medianlinie unterbrochene Querwülste dar. Bei @Galeodes eilt also die
öntwieklung des vordern Körperabschnittes (Cephalons) der Entwick-
lung der hinteren Rumpfregion voran, eine Erscheinung, die in ähn-
licher Weise auch beim Skorpion von Brauer” beobachtet worden ist.
Mit der schnellen Entwicklung des Cephalons steht es auch im
Zusammenhang, dass in diesem Abschnitt bereits die ersten Spuren der
Ganglienanlagen erkennbar sind, die als paarige Zellengruppen medial
von den Extremitäten erscheinen. Diese letzteren sind von ungleicher
Grösse (Fig. 1). Am stärksten entwickelt sind bei der Embryonal-
! In einer früheren Arbeit (»Zoologica« Heft 33. ıgor) habe ich bereits gezeigt,
dass die Arachnoiden (und Gigantostraken) gar keinen Cephalothorax besitzen, sondern
dass die bisher mit diesem Namen bezeichnete Körperregion bei ihnen im Vergleich
mit den übrigen Arthropoden der Kopf ist und daher folgerichtig als Cephalon (bez.
Prosoma nach einer älteren Bezeichnungsweise von Ray LAnkeEstEr) benannt werden muss.
2 BRADER, A. Beiträge zur Kenntniss der Entwicklungsgeschichte des Skorpions.
II. Zeitschr. f. wiss. Zoologie. 59. Bd. 1895.
284 Sitzung der physikaliselı-mathematischen Classe vom 11. Februar 1904.
bedeutendste Länge erreichen. Sehr viel schwächer entwickelt zeigt
sich in diesen frühen Stadien das erste Beinpaar, entsprechend seiner
kümmerlichen Ausbildung beim fertigen Thiere. Wenn somit die
Gliedmaassenanlagen des jungen Keimstreifens im allgemeinen in dem
Grade ihrer Ausbildung ihre spätere und definitive Entwicklungsform
schon errathen lassen, so zeigt sich an dem zweiten Beinpaar
Bags:
SURDL:
Maxp.-
Mat
a
ee ..Seit
P3: EC
Cephaler Abschnitt der Embryonalanlage von Galeodes caspius Bırura. Chel = Cheliceren; Kbl =
Kopflappen (Gehirnanlage); Lat= Lateralorgane; Maxp = Maxillarpalpen (Pedipalpen); P2,P3=
zweites, drittes Gangbein; Seit = Seitenplatten.
der Embryonalanlage eine Eigenthümlichkeit, die in keiner Hinsicht
mit irgend einer Bildung beim fertigen Thiere in Zusammenhang zu
bringen ist. Es handelt sich dem Anschein nach um eine Art Schizo-
podie, indem das zweite Beinpaar nicht wie alle anderen Extremi-
täten einfach, sondern zweiästig erscheint. Deutlich unterscheidet
man an dieser Extremität einen kleinen vordern (Fig. ı Lat) und
einen grössern hintern Abschnitt (P 2), die von einander durch eine
tiefe, von der lateralen Seite einschneidende Furche getrennt werden.
R. Hrynons: Lateralorgane der Solifugen. 285
Thatsächlich ist, namentlich bei ein wenig jüngeren Keimstreifen, die
Trennung zwischen den beiden Abschnitten noch nicht vorhanden.
Es existirt dann noch ein einfacher wulstförmiger Höcker, und wenn
hierauf die erwähnte Furche auftritt, so kann man sehr leicht den
Eindruck gewinnen, als ob ein vorderer Ast von dem Extremitäten-
stamm abgegliedert würde.
Bei einer genauen Untersuchung zeigt sich indessen, dass diese
Auffassung in morphologischer Hinsicht nicht genau dem wirklichen
Sachverhalte entspricht. Was am zweiten Beinsegmente in früheren
Stadien als einfacher wulstförmiger Höcker erscheint, ist noch nicht
als einheitliche Extremitätenanlage aufzufassen, sondern stellt den noch
ungegliederten Segmentwulst dar. Man kann sich an den extremitäten-
tragenden Körpersegmenten davon überzeugen, dass die Gliedmaassen-
höcker genau genommen nicht den ganzen Längsdurchmesser der
Segmenthälfte von vorn bis hinten ausfüllen, sondern dass sie am
hintern Rande der Segmente entspringen. Am vordern Rande der
Segmente bleibt somit eine Zone undifferenzirten Ektoderms zurück,
die ich als Seitenplatte (Fig. ı Seit) bezeichnen will, da sie im weitern
Entwicklungsverlauf in laterodorsaler Richtung weiterwächst und an
der Bildung der dorsal von den Extremitäteninsertionen gelegenen
lateralen Wand des CGephalons Antheil nimmt.
Den Seitenplatten von Galeodes entsprechende Ektodermtheile
kommen auch bei Inseetenembryonen vor, bei denen sie im allge-
meinen freilich von vornherein eine mehr laterale Lage besitzen. Das
Vorhandensein solcher Seitenplatten bei den Embryonen der Arach-
noiden ist wohl als sehr wahrscheinlich anzusehen, obwohl es aus den
bisher vorliegenden Beschreibungen nicht ausdrücklich hervorgeht.
Auch bei Galeodes sind übrigens die in Rede stehenden Seiten-
platten in verschiedenen Segmenten sehr verschiedenartig entwickelt.
Sehr wenig deutlich sind sie im Chelicerensegment und im Segment
der Maxillarpalpen, deren Extremitätenanlagen rasch eine bedeutende
Entfaltung zeigen. In ähnlicher Weise sind die Seitenplatten auch
im Segment des ersten Beinpaars auf eine äusserst schmale Zone von
Ektodermzellen beschränkt. Dagegen treten die Seitenplatten im dritten
und und vierten Beinsegment im Bereiche des embryonalen Ektoderms
deutlich hervor, sie haben hier eine annähernd dreieckige Gestalt und
liegen als selbständige Felder vor den knopfförmigen Gliedmaassen-
anlagen (Fig. I).
In dem hier besonders interessirenden zweiten Beinsegment ist
das Verhalten im Prineip genau das gleiche wie in den soeben be-
sprochenen beiden Segmenten. Der Unterschied wird lediglich da-
durch bedingt, dass die Seitenplatten die Gestalt von Höckern (Fig. ı
Sitzungsberichte 1904. 23
286 Sitzung der plıysikalisch- mathematischen Classe vom 11. Februar 1904.
Lat) angenommen haben, die vorn und lateral bereits am deutlichsten
abgegrenzt sind und die sich jetzt auch von der Extremitätenanlage
abzugrenzen beginnen, womit es zur Entstehung der oben erwähnten
von der lateralen Seite einschneidenden Furche kommt. In diesen
aus den Seitenplatten des zweiten Beinsegments entstandenen beiden
Höckern sind die Anlagen der späteren flügelförmigen Organe oder
Lateralorgane der Solifugen zu erblicken.
Ich habe die erste Entstehung dieser Lateralorgane und ihre Be-
ziehung zu der 'Topographie der Embryonalanlage so ausführlich ge-
schildert, um zu zeigen, dass sie nicht als Anhänge oder Theile der
Gliedmassenknospen angesehen werden können, eine Auffassung, die
im ersten Momente zwar sehr nahe zu liegen scheint, für die ich
aber bei meinen Beobachtungen an Galeodesembryonen keine Stütze
gefunden habe. Wenn es auch keinem Zweifel unterliegen kann, dass
die tlügelförmigen Lateralorgane im Bereiche der Embryonalanlage des
Eies entstehen, so sind sie doch Anhänge, die neben der Insertion
der Gliedmaassen und nicht etwa von diesen aus ihren Ursprung nehmen.
Durch Untersuchung von Schnittserien haben diese Befunde eine
weitere Bestätigung und Ergänzung gefunden. Die Zugehörigkeit der
in Rede stehenden Organe zum embryonalen Bezirk geht daraus her-
vor, dass sieh unter ihnen Mesoderm befindet. indem das Cölom-
säckehenpaar des zweiten Beinsegments in seinem vordern Abschnitte
bis unter die Anlagen der Lateralorgane reicht. Diese letzteren stellen
nicht solide Verdiekungen dar, sondern sie sind gerade wie die Ex-
tremitäten Ausbauchungen der Ektodermschicht. Der concaven Seite
dieser Ausbauchungen liegt die somatische Wand des an dieser Stelle
etwas erweiterten Cölomsäckchens an. Die Ektodermschicht der La-
teralorgane besitzt in diesen Stadien dieselbe Dicke wie das Ektoderm
der Extremitäten, während an den Seitenplatten des dritten und vier-
ten Beinsegments das Ektoderm erheblich dünner bleibt.
In den folgenden Entwicklungsstadien vollzieht sich eine rapide
Grössenzunahme der flügelförmigen Lateralorgane, die in ihrem Wachs-
thum genau mit demjenigen der Beine Schritt halten. Bei einem voll-
ständig segmentirten Keimstreifen gewinnt man bei flüchtiger Betrach-
tung den Eindruck, als ob die Galeodesembryonen dekapod wären:
in dem Maasse erinnern die Lateralorgane in ihrer Grösse und oft auclı
in ihrer Form an die vier Thoraxbeinpaare.
Ich gebe in Fig. 2 ein Bild von einem Keimstreifen, dessen Ex-
tremitäten bereits gegliedert sind. Die flügelförmigen Lateralorgane
stellen etwas nach lateral und nach hinten gerichtete sackförmige An-
hänge dar. Wenn diese im vorliegenden Falle vollständig glatt und
gerade gestreckt sind, so habe ich doch zu bemerken, dass ich gar
R. Heryuons: Lateralorgane der Solifugen. 287
nicht selten auch Knickungen und Einkrümmungen der genannten An-
hänge beobachten konnte, durch welche ihre Extremitätenähnlichkeit
sehr wesentlich erhöht wird. Diese Einkniekungen halte ich aber
nicht für normal, sondern sie dürften in Folge der Gonservirung ent-
HR standen sein.
De: Auffallend ist in diesem
Stadium die etwas verän.lerte
Lage der Lateralorgane; sie
PERS .- liegen jetzt nicht direet vor
ne Cher 3 r
dem zweiten Beinpaar, sondern
erstrecken sich weiter lateral
._ Maxp (bez. dorsal) von der Insertion
desselben, eine Verschiebung,
die mit der entsprechenden
Bewegung der Seitenplatten
nach der laterodorsalen Seite
des Eies im Zusammenhange
steht.
An der Basis der flügel-
förmigen Lateralorgane lässt
sich leicht eine weite ovale
Öffnung nachweisen, durch
welche ihr Binnenraum mit
Cephaler Abschnitt eines Keimstreifens von Ga- der primären Leibeshöhle der
Kr puma, Tan vn de Seele Eimbryonalanlage im Zusam-
— Cheliceren; Dat = Lateralorgane; Maıp = menhange steht. Wenn man
Maxillarpalpen (Pedipalpen); Mgl=Ganglion ds yon dieser Öffnun oe auseeht
Maxillarpalpensegments; R = Rostrum (Ober- j 2 = ;
lippe); St= cephales Stigma.
so kann man einen kurzen
rundlichen vordern und einen
grösseren langgestreckten sackförmigen hintern Theil an jedem Late-
ralorgane unterscheiden, das an seiner Ventralseite leicht concav ge-
krümmt ist.
Der histologische Bau der genannten Organe ist ein sehr ein-
facher. Sie werden lediglich von einer einfachen Schicht kubischer
bis kurzeylindrischer mit polygonalen Wänden versehener Zellen ge-
bildet, deren Grenzen mit vollkommener Deutlichkeit sich nachweisen
lassen. Eine Eigenthümlichkeit dieser Zellen im Gegensatz zu den
übrigen Ektodermzellen des Körpers besteht in ihren verhältnissmässig
grossen und schwach sich tingirenden Kernen. Daher kommt es, dass
an den gefärbten Präparaten die Lateralorgane sehr viel heller als die
übrigen Körpertheile erscheinen. Hinsichtlich des histologischen Baues
ist weiter zu erwähnen, dass das Zellplasma keinerlei Einschlüsse oder
DDEJ}
23
288 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 11. Februar 1904.
Vacuolen besitzt, sondern an den Präparaten fast homogen aussieht.
Die Kernmembran ist äusserst zart. Im Chromatinnetz sind gröbere
Körnchen gleichmässig vertheilt, ausserdem unterscheidet man im Kern
ein, seltener mehrere stärker glänzende und sich färbende Körper-
chen (sogenannte Nucleolen). Von diesem Stadium an bemerkte ich
keine typischen Mitosen mehr. Die Vermehrung der Zellelemente
scheint gänzlich aufgehört zu haben oder sie findet höchstens nur
noch in sehr geringfügigem Maasse statt. Die Existenz einer gelegent-
lichen amitotischen Vermehrung kann ich hiermit nicht vollständig
ausschliessen; ich habe aber bisher keine Bilder gesehen, welche wirk-
lich mit Sicherheit diesen Vorgang erkennen liessen. Ich bemerke
ferner, dass die gegebene Beschreibung nicht völlig für die dem Kör-
per anliegende Seite der Lateralorgane zutrifft, indem dort, und zwar
namentlich in der Nähe der oben erwähnten Öffnung, die Zellen nie-
driger bleiben und dunklere, den übrigen Ektodermkernen ähnliche
Kerne besitzen. Der Übergang von den charakteristischen Zellen der
Lateralorgane zu den nicht differenzirten Ektodermzellen ist also ein
allmählicher.
Der gesammte Hohlraum der tlügelförmigen Lateralorgane ist mit
der Blutflüssigkeit des Körpers prall erfüllt, welche durch die basale
Öffnung einen ungehinderten Zutritt und entsprechenden Abiluss findet.
Amöboide Blutzellen sind in den Organen zahlreich anzutreffen, sie
liegen theils einzeln, theils in Gruppen beisammen, bisweilen frei im
Lumen, oder sie sind der Innenseite der Wand angelagert. Hierbei
sind auch mitotische Theilungen der Blutzellen jetzt wie namentlich
noch in etwas späteren Stadien häufig in den Lateralorganen zu beob-
achten. Wenn man von dem Blute absieht, so treten aber weder
mesodermale noch ektodermale Gewebstheile in irgend eine Beziehung
zu diesen Organen, die somit weder Muskeln und Bindegewebe, noch
Tracheen oder Nerven enthalten.
Der weitere Entwicklungsverlauf ist ein verhältnissmässig ein-
facher. Gleichzeitig mit der Entstehung der äusseren Chitinschicht
findet auch an den flügelförmigen Lateralorganen die Bildung von Chitin
statt, das zunächst nur als ein äusserst zartes, den Zellen dicht an-
liegendes ceuticulares Häutchen erscheint.
Bei den Lageverschiebungen, die alle Körperanhänge während der
ventralen Einkrümmung (Umrollung) des Embryos erleiden, werden
auch die Lateralorgane in Mitleidenschaft gezogen. Sie gelangen an
die Seitenwand des Körpers und sind dann, wie bereits ÜRONEBERG
angab, dorsal und ein wenig vor der Insertion des zweiten Beinpaars
an der Seitenwand des Körpers befestigt. Die geringfügige Verschiebung
nach vorn hängt damit zusammen, dass bei der Umwachsung des Dotters
j
R. Heyuons: Lateralorgane der Solifugen. 289
die aus den Seitenplatten entstandenen Ektodermschichten sich etwas
rostrad bewegen, wobei die Lateralorgane mitgezogen werden. Da-
gegen sah ich letztere niemals, wie Bıruza angibt, direet über dem
ersten Beinpaar mit dem Körper zusammenhängen, wie ja überdiess
ihre Zugehörigkeit zum zweiten Beinsegment aus dem "ganzen Ent-
wicklungsverlauf hervorgeht.
Während der Umrollung besitzen die Lateralorgane vorübergehend
den grössten Umfang, offenbar in Folge passiver Ausdehnung, indem
während der Verschiebung aller Körpertheile der Blutdruck am stärksten
ist. Nach vollständig beendetem Umrollungsprocess, wenn der Embryo
seine definitive, ventral etwas eingekrümmte Lagerung im Ei einge-
nommen hat, besitzen die Lateralorgane dagegen relativ sogar eine
viel geringere Grösse als beim Keimstreifen, ein Umstand, der sich
wiederum damit erklärt, dass wegen des Fehlens (oder der grossen
Seltenheit) von Zelltheilungen kein Wachsthum an den Organen mehr
stattgefunden hat, während alle übrigen Körperanhänge sich inzwischen
durch Vermehrung ihrer Elemente stark gedehnt und vergrössert haben.
Die Untersuchung von Eiern zwei Tage nach ihrer Geburt zeigt,
dass die Basis der Lateralorgane sich stielförmig abgeschnürt hat.
Durch den hohlen Stiel hindurch findet zwar auch jetzt noch ein
Austausch zwischen dem Körperblute und dem Blute in den Organen
statt, immerhin ist die Communication jetzt eine engere geworden,
und der Austausch ist somit bereits etwas erschwert. Ein Collabiren
der Organe ist aber ausgeschlossen, da ihre äussere Chitinschicht sehon
hinreichend diek und starr ist, um ein etwaiges Zusammenfallen zu
verhüten.
Es mag dahingestellt bleiben, ob die verminderte Cireulation mit
den Degenerationserscheinungen im Zusammenhange steht, die in etwas
späteren Stadien bereits an einzelnen Zellkernen zu constatiren sind.
Diese gewinnen vielfach eine mehr unregelmässige zackige Form.
Einzelne Kerne lösen sich schliesslich in glänzende Kügelchen und
Körnehen auf, die ins Innere gelangen, wo sie von den Blutzellen
aufgefressen werden.
Wenn nach dem Aufsprengen der zarten Eischale die erste Häutung
des jungen, noch bewegungsunfähigen Thierchens sich vorbereitet, so
ist das Schicksal der flügelförmigen Lateralorgane besiegelt. Bei der
Bildung der neuen Chitinhaut schliesst sich die Körperhypodermis unter
dem dünnen basalen Stiele Die Communicationsstelle, die den Blut-
zufluss ermöglichte, verschwindet, und die neue Cuticula breitet sich
continuirlich unter dem Lateralorgan aus.
Eine vollständige Auflösung sämmtlicher Zellkerne in diesem
Organ ist die Folge hiervon. Das Zellplasma und selbst die Zell-
290 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 11. Februar 1904.
grenzen bleiben noch lange sichtbar, wenn die Kerne sich bereits in
zahllose winzige Körnchen aufgelöst haben. Interessant ist, dass bei
der Abschnürung des Organs von dem lebenden Körper einzelne
Blutzellen mit abgetrennt werden. Sie bleiben in den Lateralorganen
zurück und behalten ungeachtet der allgemeinen Zersetzung noch einige
Zeit hindurch ihr typisches und normales Aussehen bei.
Bei der folgenden ersten Häutung werden die flügelförmigen La-
teralorgane, soweit die von ihnen allein noch vorhandenen Chitin-
hülsen diesen Namen noch verdienen, mit abgeworfen, und an dem
jungen, nun bewegungsfähigen Thiere erinnert dann keine Spur mehr
an ihre einstige Existenz. Hautfalten beim ausgewachsenen Thiere
oder bei irgend einem auf die erste Häutung folgenden Entwicklungs-
stadium von Galeodes sind also nicht auf die Lateralorgane zurück-
zuführen.
Ehe ich zu einem Vergleich mit ähnlichen Organen bei anderen
Arthropoden übergehe, mag noch die muthmaassliche physiologische
Bedeutung der geschilderten Organe bei den von mir untersuchten
Solifugenembryonen erörtert werden. Die relative Grösse der Lateral-
organe, das eigenthümliche Aussehen ihrer Zellkerne, die sich scharf
von den embryonalen, noch undifferenzirten Kernen der Körpergewebe
unterscheiden, endlich der auffallende Blutreichthum machen es gewiss,
dass es sich hier nicht um bedeutungslose oder rudimentäre Anhänge
handeln kann, sondern dass sie eine ganz bestimmte, für den Embryo
wichtige Thätigkeit ausüben.
Eine ausscheidende Function ist meines Erachtens nach nicht an-
zunehmen, denn abgesehen davon, dass ich keine Spur irgend eines
Secretes oder Exeretes beobachtet habe, deutet auch die histologische
Struetur der Zellen keineswegs auf Drüsenzellen hin. An eine Sinnes-
function ist wegen des Fehlens von Nerven und nervösen Endorganen
nicht zu denken. Für Pulsationsapparate fehlt die Museulatur. Sehr
nahe scheint mir aber die Annahme einer respiratorischen Bedeutung
zu liegen, die sehr gut mit den beobachteten Verhältnissen harmonirt.
Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Solifugeneier ihre Ent-
wieklung im Mutterleibe durchlaufen, und dass sie dort nur von einer
feinen Schale umgeben in den weiblichen Geschlechtswegen ruhen, so
kann sehr wohl eine Einrichtung von Werth erscheinen, die den Gas-
austausch zwischen der embryonalen und der mütterlichen Gewebs-
flüssigkeit erleichtert. Für diese Function dürften die blutreichen dünn-
wandigen und oberflächlich gelegenen flügelförmigen Lateralorgane vor-
züglich geeignet sein. Ihre Bedeutung verlieren sie nach der Geburt
bald nach dem Platzen der Eischale, wenn atmosphärische Luft von
den Stigmen aufgenommen werden kann. Der rasche Schwund und
ME U N
R. Heyuons: Lateralorgane der Solifugen. 291
der darauffolgende endgültige Verlust der betreffenden Organe wird
hiermit begreiflich.
In physiologischer Hinsicht halte ich demnach die tlügelförmigen
Anhänge (Lateralorgane) der Solifugen für embryonale Blutkiemen.
Für das morphologische Verständniss der geschilderten Organe bei
den Solifugenembryonen halte ich es für nothwendig, auf einen Ver-
gleich mit ähnlichen Organen mit anderen Artlıropoden einzugehen,
obwohl bei der Lückenhaftiekeit unserer Kenntnisse hier noch manches
Iıypothetisch bleiben muss.
Es ist wichtig, dass die Embryonen von Limulus ein Paar von
Organen besitzen, die denen von Galeodes offenbar entsprechen. Ent-
deckt oder doch zuerst richtig erkannt wurden diese Organe von Wa-
TAsE', der sie als »dorsal organs« beschrieben hat. Wenn letztere auch
ausserhalb des Keimstreifens entstehen, so stimmen sie doch ihrer Lage
nach vollkommen mit den beschriebenen Lateralorganen von Galeodes
überein, denen sie auch darin gleichen, dass sie am Ende der Enı-
bryonalzeit wieder verschwinden. Kınestey” beobachtete, dass bein
Limulusembryo anfänglich sogar jederseits eine Reihe derartiger seg-
mental angeordneter Organanlagen mit wahrscheinlich »glandular or
sensory fonetions« vorhanden ist, von denen ein Paar die Lateralorgane
(dorsal organs) liefert, während der Verbleib der übrigen Anlagen noch
unklar ist.
Den Skorpionen, deren Embryonalentwicklung manche Eigenthüm-
lichkeiten aufweist (z. B. Embryonalhüllen), fehlen die Lateralorgane.
Immerhin sind von Parren® und Brauer’ bei diesen Thieren eigen-
artige segmentale Ektodermverdickungen gefunden, die vorübergehen(l
an der Basis der Gliedmaassenanlagen erscheinen und die vielleicht
als Rudimente der erwähnten segmentalen Organe von Limulus auf-
gefasst werden können. x
Die Pedipalpen zeigen in ihrer embryonalen Entwicklung sehr
viele Übereinstimmungen mit den Solifugen. Es darf daher nicht über-
raschen, dass wir bei beiden Gruppen die Lateralorgane in ganz ähn-
licher Gestaltung antreffen. Die Existenz von Lateralorganen bei Phryy-
nus und Telyphonus ist aus einer vorläufigen Mittheilung von STRUBELL’
! Warase, S. On the Structure and Development of the Eyes of Limulus. Joun
Horxıns’ Cire. VIII. 1889.
® Kıncstey, J.S. The embryology of Limulus. Journ. of Morphology vol.7. 1892.
> Parren, W. On the origin of Vertebrates from Arachnids. Quart. Journ. Mier.
Sc. 31.Bd. 1890.
* Braver, A. Beiträge zur Kenntniss der Entwicklungsgeschichte des Skorpions.
1. Aa.
° SrrugeLL, A. Zur Entwicklungsgeschichte der Pedipalpen. Zool. Anzeiger,
15. Jahrg. 1892.
292 Sitzung der plıysikalisch-mathematischen Classe vom 11. Februar 1904.
ersichtlich. Wenn auch eingehendere Beschreibungen noch fehlen, so
ist es doch klar, dass bei den Pedipalpen embryonale Anhänge vor-
kommen, die den Lateralorganen der Solifugen homolog sind. Hierfür
spricht die übereinstimmende Lage am zweiten Beinsegment sowie der
Umstand, dass sie am Ende der Entwicklung wieder zu Grunde gehen.
Bei den Pedipalpen sollen aber diese Organe einen drüsigen Bau be-
sitzen.
Soweit die bisherigen Erfahrungen reichen, sind die Lateralorgane
von Limulus und den Pedipalpen die einzigen Gebilde, die sich mit
denen der Solifugen mit genügender Sicherheit homologisiren lassen.
Allerdings wurden von Fausser' die von ihm entdeckten embryonalen
paarigen Drüsen der Phalangiden ebenfalls zur Kategorie der Seiten-
organe hinzugerechnet. Es handelt sich in diesem Falle um ein Drüsen-
paar, das erst in sehr späten Stadien des Embryonallebens, wenn das
Ektoderm bereits aus kleinen Zellen besteht, neben den sich be-
reits pigmentirenden Augen zur Anlage kommt. Das weitere Schicksal
dieser Drüsen (»Seitenorgane«) ist unaufgeklärt geblieben. Wenn sie
auch nach den Angaben des genannten Forschers den älteren Phalan-
giden fehlen, so kann ich es auf Grund der gegebenen Darstellung
doch nicht für wahrscheinlich halten, dass diese Drüsen lediglich für
das Embryonalleben bestimmt sein sollen, sondern vermuthe, dass sie
auch noch wenigstens während der ersten Stadien der metembryonalen
Entwicklung funetionsfähig sein werden. Jedenfalls unterscheiden sich
die in Rede stehenden Drüsen durch ihr Auftreten in späten Em-
bryonalstadien in charakteristischer Weise von den Seitenorganen aller
übrigen Arthropoden, die zur Zeit des Umrollungsprocesses bereits das
Maximum ihrer Entwicklung erreicht zu haben pflegen.
Wenn man die eben besprochenen Drüsen der Phalangiden von
der Betrachtung ausschliesst, wie das meiner Überzeugung nach noth-
wendig ist, so zeigen sich also bei gewissen primitiven Arachnoiden-
formen (Solifugen. Pedipalpen) und ebenso bei den Gigantostraken über-
einstimmende Lateralorgane, die in frühen Stadien schon beim Keim-
streifen auftreten und während der Entwicklung des Embryos allem
Anschein nach eine bestimmte Funetion haben. Es ist wahrscheinlich,
dass diese Organe ursprünglich in grösserer Zahl und segmentaler An-
ordnung vorhanden sind.
Bei Arachnoiden und Gigantostraken sind somit übereinstimmende
embryonale Organe nachgewiesen, und ihre Existenz kann neben anderen
Thatsachen als ein weiterer Beweis dafür angesehen werden, dass beide
! &aycenp, B. Jmıoabı 10 neTopinm paspıyia 1 auaTomin NaykoBb-EBHOKROCHeBT
(Phalangüdae). St. Petersburg 18gr.
FED. =
R. Heyuons: Lateralorgane der Solifugen. 293
Thierabtheilungen zu einer gemeinsamen Arthropodengruppe gehören
und sie daher im System auch vereinigt werden können. Ich habe
für diese Artlıropodengruppe seiner Zeit' den Namen Chelicerata vor-
geschlagen.
Bei den Crustaceenembryonen ist das Vorkommen von Seiten-
organen keine Seltenheit. Es ist aber ein wesentlich anderes Bild,
das uns hier entgegentritt. Während die Lateralorgane von Galeodes
bestimmt im embryonalen Bereiche des Eies entstehen, so entwickeln
sich die Seitenorgane der Crustaceen nach Nussaum” stets im blasto-
dermalen Bezirk. Während die Seitenorgane von Galeodes und ebenso
allem Anschein nach auch diejenigen der anderen Cheliceraten in
keinerlei Beziehung zum Dotter treten, so bestehen die Seitenorgane
der Crustaceen aus »Vitelloeyten«, indem sie genau wie das Dorsal-
organ nur Theile des Blastoderms sind, die während der Entwickelung
des Embryos eliminirt werden müssen, indem sie zumeist in den Dotter
einsinken, wo sie zu Grunde gehen.
Auch in der Lage ist ein strenger Vergleich zwischen den Late-
ralorganen der Crustaceen einerseits und denjenigen der Arachnoiden
und Gigantostraken andererseits nicht durchzuführen, ich halte es des-
halb bei dem gegenwärtigen Stande unserer Kenntnisse nicht für möglich,
die Seitenorgane der Cheliceraten und Teleioceraten! (Crustaceen) für
gleichartige Gebilde anzusehen. Selbst wenn aber, was sich vorläufig
nicht entscheiden lässt, wirklich eine gemeinsame Grundform existirt
haben sollte, so ist es doch nicht zu verkennen, dass diese Organe
bei den genannten beiden Gruppen eine durchaus andere Form und
andere Bedeutung angenommen haben.
Bei den ateloceraten Arthropoden (Myriopoda und Insecta) sind
Seitenorgane” nicht aufgefunden worden.
Hieraus ist ersichtlich, dass die Seitenorgane bei den drei Haupt-
abtheilungen der Arthropoden, soweit sie überhaupt vorkommen, sich
recht verschiedenartig verhalten, ein Umstand, der um so bemerkens-
werther ist, als bei Embryonen der Cheliceraten, Teleioceraten und
! Heynmons, R. Die Entwieklungsgeschichte der Skolopender. Zoologica. 33-
Heft. 1901.
® Nussaum und Scureiger. Beiträge zur Kenntniss der sogenannten Rücken-
organe der Crustaceenembryonen. Biolog. Centralbl. 18. Bd. 1898.
® Der von mir nachgewiesene Ursprung der Lateralorgane im Bereiche des
Keimstreifens, sowie die muthmassliche primäre segmentale nordnehe dieser Organe
bei den Cheliceraten kann vielleicht einen Vergleich mit den am ersten Abdominal-
segmente bei gewissen Inseetenembryonen vorhandenen paarigen drüsigen Anhängen
(sogenannten Pleuropoda) nicht als ganz ausgeschlossen erscheinen lassen, doch halte
ich es wegen des Fehlens aller weiteren Anhaltspunkte für zwecklos hierauf näher
einzugehen.
294 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 11. Februar 1904.
Ateloceraten im Prineip vollkommen übereinstimmende und zweifellos
auch homologe blastodermale Dorsalorgane beobachtet worden sind.
Es ist nach diesen Erörterungen wohl nicht schwer, die oben
berührte Frage zu beantworten, ob das Vorhandensein der flügelför-
migen Lateralorgane bei den Solifugen auf eine verwandtschaftliche
Beziehung dieser Thiere zu den Inseeten hindeutet oder nicht.
Da die flügelförmigen Organe der Solifugen aus den embryonalen
Seitenplatten hervorgehen, mithin in einem embryonalen Bezirke ent-
stehen, dessen Aequivalent bei den Insecten im weitern Entwicklungs-
verlauf die Dorsalplatten und also indireet auch die Flügel entstehen
lässt, so kann dieser Befund vielleicht im ersten Augenblick als ein
neues Criterium erscheinen, das zu Gunsten der Flügelnatur der Seiten-
organe spricht. Ich bin jedoch der Meinung, dass diese Folgerung
jeder weiteren Begründung entbehrt.
Niemals entstehen die Flügel der Inseeten im Keimstreifenstadium,
nie entwickeln sie sieh überhaupt vor vollständiger Fertigstellung der
thorakalen Dorsalplatten, und das Gleiche gilt natürlich auch für die
vorspringenden thorakalen Seitenwände der Tergite bei den Termiten.
Es handelt sich also bei den Flügelbildungen der Insecten um typische
metembryonale Organe, bei den flügelförmigen Organen der Solifugen
dagegen um ausgesprochene embryonale Organe. Würden die letzte-
ren Rudimente der ersteren darstellen, so würden wenigstens auch die
benachbarten Muskeln, Tracheen oder Nerven irgend eine Beziehung
zu diesen Organen erkennen lassen müssen, was aber nicht der Fall
ist. Endlich sei noch auf die Differenz in der segmentalen Anordnung
hingewiesen. Das die flügelförmigen Anhänge der Solifugen tragende
zweite Beinsegment ist nach meinem Dafürhalten dem ersten Maxillar-
segment der Insecten homolog, an dem bekanntlich flügelähnliche
Bildungen noch nicht beobachtet worden sind.
Wie ich oben erklärt habe, gehören die flügelförmigen Anhänge
der Solifugen vollständig zur Kategorie der embryonalen Lateralorgane,
die in ganz ähnlicher Weise auch bei einigen anderen Vertretern der
Cheliceraten vorkommen. Anstatt auf eine Verwandtschaftsbeziehung
zu den Insecten hinzudeuten, ist also das Auftreten der flügelförmigen
Lateralorgane bei den Solifugen ein Zeichen ihrer Arachnoidennatur,
für welche, wie ich an anderer Stelle zu zeigen gedenke, auch der
gesammte übrige Verlauf der Embryonalentwicklung spricht.
RT -
295
Neue Bestimmung des geographischen Längen-
unterschiedes Potsdam-Greenwich.
Von Geh. Reg.-Rath Prof. Dr. Tu. ALBrecHr,
Abtheilungsvorsteher im Königlichen Geodätischen Institut.
(Vorgelest von Hrn. Herverr.)
In Sommer 1903 wurde vom Geodätischen Institut die Bestimmung
les geographischen Längenunterschiedes Potsdam — Greenwich in der
Absicht vorgenommen, einen sichern Anschluss des mitteleuropäischen
Längennetzes an Greenwich als dem Ausgangspunkt für die Zählung
der geographischen Längen zu erlangen.
Ein solcher war insofern noch nicht vorhanden, als die im Jahre
1895 von englischer Seite ausgeführte Längenbestimmung Green wich—
Potsdam in Verbindung mit dem 1891 vom Geodätischen Institut
bestimmten Längenunterschied Potsdam—Berlin und dem 1876 aus
einer Cooperation der Berliner Sternwarte mit den österreichischen Län-
genbestimmungsarbeiten hervorgegangenen Längenunterschied Berlin —
Greenwich einen Schlussfehler von 0°225 aufweist. Ebensowenig konnte
die Verbindung über Paris wegen der schon Jahrzehnte lang bestehen-
den Unsicherheit in der Annahme des Längenunterschiedes Paris—
Greenwich befriedigen.
Die Beobachtung erfolgte unter Anwendung des Rersorn’schen
Registrirmikrometers mit Umlegung inmitten jedes Sterndurchganges.
wobei streng an der Bedingung festgehalten wurde, in beiden Kreis-
lagen an genau denselben Stellen der Schraube zu beobachten. An
jedem Abend wurden drei vollständige Zeitbestimmungen (aus je 6 —7
Zenithsternen und ı Polstern in oberer oder unterer Culmination be-
stehend) beobachtet, welche vier von einander unabhängige Signal-
wechsel symmetrisch einschlossen. Auch war das Beobachtungspro-
gramm so gewählt, dass eine möglichst weitgehende Elimination der
Unsicherheiten in den Annahmen der Rectascensionen der Sterne ein-
trat. In der Mitte der Längenbestimmung fand ein Wechsel der Be-
obachter und der Instrumente statt.
296 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 11. Februar 1904.
Zur Ausführung der Signalwechsel auf elektromagnetischem Wege
war dem Geodätischen Institut seitens der deutschen und der engli-
schen Telegraphen-Verwaltung ein Telegraphendraht Potsdam-Berlin—
Emden-Bacton-London-Greenwich zur Verfügung gestellt worden.
Derselbe bestand aus einer 522"" langen, vorwiegend aus Bronzedraht
bestehenden oberirdischen Strecke auf deutschem Gebiete, einem
425"" langen submarinen Kabel und einem 235" langen, aus Kupfer-
draht bestehenden Theile auf enelischem Territorium. Die beiden
oberirdischen Strecken waren daher, abgesehen von der Verschieden-
heit des Leitungsmaterials, überdiess noch von ungleicher Länge, so
dass zu befürchten stand, dass aus dieser Unsymmetrie eine Beein-
trächtigung der Sicherheit des Endresultates hervorgehen könnte.
Um diesem Bedenken von vorn herein zu begegnen, erklärte sich
die englische Telegraphen-Verwaltung bereit, durch weitere Einschal-
tung einer 334" langen Schleife London-Bedford-Leicester-Dunstable—
London die englische Landlinie auf nahezu das gleiche Maass zu
bringen wie die deutsche und damit die Lage des Kabels thatsäch-
lich zu einer symmetrischen zu gestalten.
Beim gewöhnlichen Telegraphenbetriebe sind an den Übergangs-
stellen von der oberirdischen Leitung zum submarinen Kabel, d.i.
in Emden und Bacton, Translatoren im Gebrauch. Da man aber bei
Längenbestimmungen nur mit direeten Leitungen operiren darf, wenn
man sich nicht der Gefahr aussetzen will. durch Einschaltung un-
controlirbarer Zwischenapparate die Sicherheit des Endresultates zu
gefährden, sind diese Translatoren während der Dauer der Beobach-
tungen ausgeschaltet worden. Um aber bei dieser Gelegenheit auch
gleich mit festzustellen, welchen Einfluss die Translatoren auf das
Resultat des Signalaustausches ausüben, ist nach Schluss der Beob-
achtungen jedes Mal auch noch ein Signalwechsel unter Einschaltung
der Translatoren ausgeführt worden.
Alle Signalwechsel sind unter strengem Ausgleich der Strom-
stärken genau dem Verfahren gemäss ausgeführt, welches schon bei
zahlreichen Längenbestimmungen des Geodätischen Instituts in An-
wendung gekommen war und sich nach jeder Richtung hin bewährt
hatte.
Die Stromzeit hat sich aus den Signalwechseln bei direeter Schal-
tung für die 1091“ lange oberirdische Leitung und das 425"” lange
Kabel zu +0!141 ergeben, während aus den Signalwechseln nach
Schluss der Beobachtungen, bei denen die Translatoren eingeschaltet,
aber die 334°” lange Schleife innerhalb der englischen Landleitung aus-
geschaltet war, der Betrag +0°079 hervorgegangen ist. Durch die
doppelte Übertragung war zwar zunächst ein Zeitverlust bedingt, der-
Ta. Argrecmr: Längenbestimmung Potsdam — Greenwich. 297
selbe wird aber nach Ausweis der obigen Zahlen reichlich aufgewogen
durch die beschleunigte Signalübermittlung innerhalb des Kabels, welche
unter der Wirkung der Übertragungssysteme erzielt wird.
Die Uhrdifferenz, auf welche es bei den Längenbestimmungen
in erster Linie ankommt, findet sich aus den Signalwechseln mit
Translatoren im Mittel der 24 Beobachtungsabende um o0!o12 grösser,
als aus den Signalwechseln bei direeter Schaltung. Da aber bei den
Längenbestimmungen der Einfluss der Stromzeit auf die Uhrdifferenz
nur dann eliminirt wird, wenn dieselbe in beiden Stromrichtungen
einen völlig gleichen Betrag aufweist, diese Bedingung aber bei der
direeten Schaltung in ungleich höherm Maasse gewährleistet ist als
im Fall der Übertragung, so kann es keinem Zweifel unterliegen,
dass nur die aus dem Signalaustausch bei direeter Schaltung hervor-
gegangenen Uhrdifferenzen der Längenbestimmung zu Grunde gelegt
werden dürfen.
Die gegenseitige Übereinstimmung der vier Signalwechsel eines jeden
Beobachtungsabends ist insofern eine ausserordentlich befriedigende, als
sich der mittlere zufällige Fehler der aus einem Signalwechsel hervor-
gegangenen Uhrdifferenz aus den Abweichungen der je vier Werthe unter
einander zu &0.002 ergeben hat und daher der mittlere Fehler eines
aus je vier solchen Werthen bestehenden Abendresultates nur # 0.001
beträgt.
In Betreff der Linienbatterien war insofern eine Ungleichheit
zwischen Potsdam und Greenwich vorhanden, als die Batterie in Pots-
dam aus 164 Meidinger-Elementen vom Typus der Reichs-Telegraphen-
Verwaltung, diejenige in Greenwich aus 88 Bichromat-Elementen von
der Art bestand, wie solche in der englischen Telegraphen -Verwaltung
Verwendung finden.
Die letzteren Elemente besitzen eine doppelt so grosse elektro-
motorische Kraft als die Meidinger-Elemente, so dass also die Stärke
der Batterien einander gegenseitig nahezu entsprach. Dagegen pflegt
der innere Widerstand der Bichromat-Elemente erheblich hinter dem-
jenigen der Meidinger-Elemente zurückzubleiben, und etwa von der
Ordnung zu sein, wie derjenige der Accumulatoren sowie der neuerdings
von der Firma Sırvnens & Harske in den Handel gebrachten Beutel-
Elemente. |
Um zu prüfen, ob aus einer Verschiedenheit des innern Wider-
standes eine Beeinflussung der Resultate hervorgehen kann, wurden
in den Tagen vom 4. bis ı 1. Juli Versuche über den Einfluss der Qualität
der Elemente in der Weise ausgeführt, dass bei einer fortlaufenden
Reihe von Signalwechseln die Meidinger-Batterie in Potsdam zeitweilig
zunächst durch eine Batterie von 94 und dann durch eine solche von
298 Sitzung der physikalisch - mathematischen Classe vom 11. Februar 1904.
63 Beutel-Elementen ersetzt wurde. Die Batterie von 94 Beutel-Ele-
menten wies eine wesentlich grössere Stromstärke auf als die Batterie
von 164 Meidinger-Elementen, während die Batterie von 63 Beutel-
Elementen nur wenig schwächer war als die Meidinger-Batterie. Diese
Versuche führten zu dem Resultat, dass die Batterie von 63 Beutel-
Elementen innerhalb der Grenzen einer Tausendstel-Seeunde dieselben
Uhrdifferenzen ergab wie die nahezu äquivalente Meidinger- Batterie,
während aus den Signalwechseln mit der wesentlich stärkeren Batterie
von 94 Beutel-Elementen ein um 0:005 grösserer Werth der Uhrdiffe-
renz hervorgieng.
Hierdurch war der Beweis geliefert, dass trotz des in der Lei-
tung befindlichen Kabels keine Beeinträchtigung der Sicherheit des
Endresultates zu erwarten war. Es trat aber ausserdem noch ein Um-
stand hinzu, welcher geeignet war, in dieser Beziehung jeden Zweifel
zu beseitigen. Im Lauf der Arbeiten stellte sich nämlich heraus,
dass die in Greenwich verwendeten Bichromat-Elemente in Folge einer
geeigneten Wahl der Bichromat-Paste einen wesentlich grössern innern
Widerstand besitzen, als diess sonst bei Biehromat-Elementen der Fall
zu sein pflegt. Hr. Wanacn hat während seiner Anwesenheit in Green-
wich Messungen ausgeführt, welehe ergaben, dass der innere Wider-
stand der betreffenden Elemente 6.4 Ohm gegenüber einem solchen von
7.5 Ohm der Meidinger-Elemente beträgt, und dass daher in Wirklich-
keit ein prineipieller Unterschied der beiden Elementen-Gattungen nicht
besteht.
Endlich wurden noch Versuchsreihen zur Entscheidung der Frage
angestellt, ob die Wahl der Batteriepole einen Einfluss auf die resul-
tirende Uhrdifferenz ausübt. Da nämlich bei den Längenbestimmungen
des Geodätischen Instituts die Umkehr in der Stromriehtung beim
Übergang vom Geben zum Empfangen der Signale dadurch umgangen
wird, dass man an den beiden Endstationen die entgegengesetzten Pole
der Linienbatterie mit der Leitung in Verbindung setzt, so war es von
Wichtigkeit, experimentell den Nachweis zu liefern, dass die Wahl
der Batteriepole willkürlich vorgenommen werden darf. Zu diesem
Zwecke wurden am ı1. und 18. Juni ausser den vier Signalwechseln in
der normalen Stromrichtung (in Potsdam der Kupferpol und in Green-
wich der Zinkpol in Verbindung mit der Leitung) weitere vier mit um-
gekehrten Polen ausgeführt. welche das Resultat ergeben haben, dass
ungeachtet des in der Leitung befindlichen submarinen Kabels die aus
den beiden Arten der Signalwechsel hervorgegangenen Uhrdifferenzen
vollkommen mit einander übereinstimmen.
Die Längenbestimmung hat die nachstehenden Tagesresultate
ergeben:
EBENE
Mn 0 4
Ta. Argrecur: Längenbestimmung Potsdam — Greenwich. 299
1903 EEE Abweichung Gesicht
ifferenz vom Mittel
Wanach in Potsdam, Aregreeut in Greenwich
Mai 7 52”"16.017 —0:034 1.00
13 16.079 +0.028 0.63
18 16.058 +0.007 0.83
19 16.035 —0.016 0.59
20 16.067 +0.016 0.80
2I 16.054 +0.003 0.56
23 16.110 +0.059 0.88
24 16.017 —0.034 1.00
25 16.048 —0.003 0.83
28 16.023 —0.028 0.84
29 16.053 +0.002 0.88
30 16.067 +0.016 0.47
31 16.057 +-0.006 1.00
ALgrEcHT in Potsdaın, Wanacn in Greenwich
Juni 20 52"16.064 +0:013 0.58
22 16.052 +0.001 0.51
24 16.046 —0.005 0.32
26 16.042 —0.009 0.97
27 16.055 +0.004 0.97
28 16.062 +0.011 0.77
30 16.032 —0.019 0.97
Juli 2 16.069 +0.018 1.00
9 16.078 +0.027 0.97
10 16.039 —0.012 1.00
II 16.030 —0.021 0.88
Der mittlere Fehler eines vollen Tagesresultates vom Gewicht ı
beträgt 0.021 und die Summe der persönlichen und der instrumen-
tellen Gleichung:
ALBRECHT, Instr. II — Wanacn, Instr.II = 0:000 #0:005 (mittl. F.).
Als Endresultat der Längenbestimmung Potsdam-Greenwich ist
der Werth anzusehen:
Transit Cirele der Sternwarte in Greenwich westlich vom öst-
lichen Meridianhaus des Geodätischen Instituts in Potsdam:
mittlerer Fehler: =0:005
wahrsch. » 0.003
52" 16.051 Gewicht: 19.30 24 Abende.
Dieses Resultat ergibt, verglichen mit dem Ergebniss der im Jahre
1895 von englischer Seite ausgeführten Längenbestimmung Green-
wich-Potsdam, eine Verbesserung jenes Werthes von +0.098.
Da ferner der Längenunterschied Potsdam —Berlin im Jahre 1591
durch zwei unabhängige Längenbestimmungen des Geodätischen In-
stituts zu 1"18:721 ermittelt worden war, entspricht der obige Werth
einem Längenunterschied Berlin—Greenwich von:
AD! s
33 34-772.
300 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 11. Februar 1904.
Die im Jahre 1876 ausgeführte Längenbestimmung Berlin-Green-
wich würde hiernach um —0.127 zu corrigiren sein und es läge somit
nahezu eine Compensation der für die Längenbestimmungen in den
Jahren ı876 und 1895 abgeleiteten Verbesserungen vor.
Verbindet man den obigen Längenunterschied Berlin— Greenwich
mit dem Endresultat der im Jahre 1877 vom Geodätischen Institut
ausgeführten Längenbestimmung Berlin-Paris: 44”13:860, so würde
sich für den Längenunterschied zwischen Paris und Greenwich der Werth
9" 20.912
ergeben, welcher sich auf 9”20:882 redueirt, wenn man an Stelle
des direet beobachteten Längenunterschiedes Berlin— Paris den Betrag
44"13.3890 einführt, welcher aus der Ausgleichung des europäischen
Längennetzes von Prof. van DE SanpE BAarHuyzen (Genfer Verhandlun-
gen der Permanenten Commission der Internationalen Erdmessung im
Jahre 1893. sowie Astronomische Nachrichten Nr. 3202) entnommen
werden kann.
Dieser Werth ist in befriedigender Übereinstimmung mit dem Werth
9” 20.887,
welehen man erhält, wenn man die beiden niederländischen Bestim-
mungen: Leiden—Greenwich = 17" 56:100 und Leiden— Paris =
8”35:.213 mit einander combinirt.
Dass dem oben abgeleiteten Resultat für den Längenunterschied
Potsdam — Greenwich in der That ein hoher Grad der Zuverlässigkeit
innewohnt, kann ausser aus den einzelnen Ergebnissen auch aus der
guten Übereinstimmung der Resultate der im Jahre 1902 sowohl von
deutscher, als auch von russischer Seite ausgeführten Längenbestimmung
Potsdam-Pulkowa gefolgert werden. Diese Längenbestimmungen wur-
den streng nach dem Verfahren des Geodätischen Instituts, zwar nahezu
gleichzeitig, im übrigen aber völlig unabhängig von einander aus-
geführt. Sie haben trotz der Schwierigkeiten des Signalwechsels auf
der 1696“ langen und recht unvollkommen isolirten Leitung eine
Übereinstimmung der beiderseitigen Resultate innerhalb der Grenze von
0.011 ergeben; man wird daher auch in dem Resultat der Längenbe-
stimmung Potsdam-Greenwich die Hundertstel-Secunde als nahezu
verbürgt ansehen können.
.
h
301
Über das thermische Verhalten des elektrischen
Organs von Torpedo.
Von J. BERNnsTEIN und A. TscHEerRMAK
in Halle.
(Vorgelegt von Hrn. Eneermann am 21. Januar [s. oben S. 113].)
De bisherigen physiologischen Untersuchungen über das elektrische
Organ der Fische sind darauf gerichtet gewesen, die Stärke, Kraft,
Richtung und Dauer des Schlages festzustellen. Es ist gefunden wor-
den, dass die Entladungen aus einzelnen Schlägen von kurzer Dauer
bestehen, welche immer in derselben Richtung verlaufen. Die in den
Säulen des Organs hinter einander geschichteten Elemente nehmen beim
Schlage an derjenigen Seite, an welcher die Nervenfaser eintritt, nega-
tive Spannung an. Einen Aufschluss über die Ursache der in diesen
Elementen entstehenden Potentialdifferenzen vermochten die bisherigen
Untersuchungen indess nicht zu geben.
Die neueren thermodynamischen Untersuchungen und Theorien
über elektrische Ketten von von HerLmnuortz, Braun, Jaun und Anderen
lassen nun die Möglichkeit zu, auch das elektrische Organ in dersel-
ben Richtung zu prüfen. Man kann die elektrischen Ketten in zwei
Gruppen theilen, in solche, welche exotherm arbeiten und sich bei
der Arbeit erwärmen, und in solche, welehe endotherm arbeiten
und sich bei der Arbeit abkühlen. Die Kraft der ersteren sinkt,
die der letzteren steigt mit zunehmender Temperatur. Die galvani-
schen Ketten, welche sich erwärmen, verwandeln einen Theil der che-
mischen Wärme in Stromarbeit, diejenigen, deren Temperatur constant
bleibt, die ganze chemische Wärme, und diejenigen, welche sich ab-
kühlen, setzen Wärme ihrer Substanz und ihrer Umgebung in Strom-
arbeit um. Zu der letzteren Art der Ketten gehören auch die von
von Heımnortz erfundenen Concentrationsketten, in denen nicht
chemische, sondern osmotische Kräfte arbeiten.
Setzt man eine Kette in ein Calorimeter und führt den Strom der-
selben durch eine Leitung nach aussen, während man die Kette durch
Zufuhr oder Ableitung von Wärme bei constanter Temperatur erhält,
so besteht zwischen der chemischen Wärme der Kette Q, der an das
Sitzungsberichte 1904. 24
302 Sitzung der phys.-math. Classe v. 11. Febr. 1904. — Mittheilung v. 21. Jan.
Calorimeter abgegebenen oder aus ihm bezogenen Wärme C und der in
dem äussern Leiter erzeugten Stromwärme $, folgende Beziehung.
Es ist: Qa=C+S,.. (1)
Ist © positiv, d. h. wird Wärme vom Calorimeter aufgenommen,
so ist Q>S,; ist C=0, so wird die ganze chemische Wärme in
Stromarbeit umgesetzt; ist aber C negativ, d. h. wird Wärme dem Ca-
lorimeter entzogen, so ist Q<S, und kann Null oder negativ werden.
Bei der Concentrationskette ist Q=o0, also C=—S$,; bei einigen
galvanischen Ketten ist Q negativ.
Beim elektrischen Organ ist nun folgender wesentlicher Umstand
zu beachten. Dasselbe ist im Ruhezustande stromlos und verwandelt sich
erst bei der Thätigkeit in eine stromgebende Kette. Diese Verwand-
lung kann nur durch eine chemische Änderung der Substanz des Organs
bedingt sein, die eine positive oder negative Wärmetönung haben kann.
Ebenso findet bei der Rückverwandlung ein chemischer Process statt.
Der mit dieser Umwandlung verbundene Wärmeumsatz U muss von
der chemischen Wärme Q, die mit der Strombildung allein verknüpft
ist, gänzlich getrennt werden. Denkt man sich das elektrische Organ
vollständig isolirt, so würde bei der Thätigkeit in der offenen Kette
desselben nur die Wärmemenge U (als positive oder negative Grösse)
zum Vorschein kommen, während Q gleich Null werden würde. Zu
der chemischen Änderung kann aber auch eine physikalische Zustands-
änderung hinzutreten, welche eine Temperaturänderung zur Folge hat.
Kurzum es soll die ganze Umwandlungswärme, welche unter glei-
chen Bedingungen auch in der offenen Kette des Organs auftreten
würde, mit U bezeichnet werden. Diese Wärmemenge wird sich als
positive oder negative Grösse zu Q hinzuaddiren und in der Calori-
meterwärme C zum Vorschein kommen. Für das elektrische Organ
haben wir daher die Gleichung:
Q+U=(C+S, (2)
wenn das Organ durch einen äussern Kreis geschlossen ist. Wenn
das Organ aber isolirt wäre, hätten wir die Gleichung:
DI: (23)
und wenn wir annehmen könnten, dass die Umwandlungswärme des
isolirten Organs gleich der des geschlossenen Organs wäre, so würde
Q=C0+8—6 (3)
sein. Da C, $, und (; experimentell zu bestimmende Grössen sind,
so würde sich entscheiden lassen, ob die chemische Wärme positiv,
Null oder negativ ist, d.h. zu welcher Art von Ketten das elektrische
Organ gehört.
J. Bernstein u. A. Tscnermar: Thermisches Verhalten des elektr. Organs. 303
Auf Grund dieser Überlegungen wurden die folgenden Versuche
angestellt, und zum grössern Theile in der zoologischen Station zu
Neapel im März und April v. J. an den Organen von Torpedo aus-
geführt. Die hierzu nöthigen Hülfsmittel hat die Königliche Aka-
demie der Wissenschaften zu Berlin zur Verfügung gestellt. Nach un-
serer Rückkehr waren wir durch Vermittelung des Berliner Aquariums
in den Stand gesetzt, die Versuche an einigen hertransportirten Fischen
fortsetzen zu können. Bei den Vorbereitungen zu diesen Versuchen
konnte von vornherein nicht darauf gerechnet werden, den Wärme-
umsatz des Organs mit einem Calorimeter zu messen und mit diesem
den ganzen Process durch Zu- oder Ableitung von Wärme isotherm
zu leiten. Wir beschränkten uns daher darauf, die Temperaturände-
rungen des Organs bei der T'hätigkeit auf thermoelektrischem Wege
zu messen. Die hieraus berechneten Wärmemengen sind annähernd
als die Calorimeterwärmen C und (; angesehen worden. Es dienten
hierzu 10- und 20-gliedrige Säulen von Eisen-Constantan, welche in die
ausgeschnittenen Organe entweder eingesenkt oder zwischen die beiden
Organe eines Thieres eingelegt wurden. Ferner wurde eine Hripex-
Haın sche Säule aus Wismuth-Antimon von 15 Gliedern angewandt. Ein
sehr empfindliches Panzergalvanometer nach Rugens (Siemens & Halske)
war mit der Säule verbunden (grösste Empfindlichkeit = 0°000088 C
auf ı Scalentheil).‘ Die Reizung geschah immer von den Nerven aus
mit Strömen eines Inductoriums, die meist eine Seeunde lang dauerten.
Zur Messung der elektrischen Energie der Entladung konnte eine
elektrische Methode mit Hülfe eines Elektrodynamometers nicht be-
nutzt werden, da die Schläge des Organs in nicht berechenbaren Cur-
ven ablaufen. Es wurde daher die Wärmemenge $, in der äusseren
Leitung mit Hülfe eines elektrischen Luftthermometers bestimmt, wel-
ches nach Art des von P. Rırss angegebenen construirt war. Da die
maximale Wirkung an demselben zu erwarten war, wenn der Wider-
stand im Luftthermometer gleich dem der Organe” ist, so wurde statt
der Metalldrähte desselben ein Kohlefaden einer Glühlampe benutzt.
Sehr gute Dienste leistete eine Glühlampe von 275 Q Widerstand,
die durch Anschmelzung einer engen Röhre in ein Luftthermometer
verwandelt war. Die Luftthermometer wurden durch Ströme von be-
kannter Stärke und Dauer über die ganze Scala empirisch graduirt.
Die Messung der elektrischen Energie der Entladung mit diesen
Instrumenten ergab unerwartet günstige Resultate, obgleich die vor-
! In einigen Versuchen wurde auch ein Derrez-p’Arsonvar'sches Thermogal-
vanometer benutzt.
® Der Widerstand zweier auftinandergelegter Organe von mittlerer Grösse be-
trägt im Mittel 250 Q.
24*
304 Sitzung der phys.-math. Classe v. 11. Febr. 1904. — Mittheilung v. 21. Jan.
her in Halle geprüften Luftthermometer auf elektrische Schläge eines
Schlitteninduetoriums von der ungefähren physiologischen Wirkung
eines Torpedo-Schlages nur sehr wenig reagirten. Diess erklärt sich
zur Genüge aus der viel längeren Dauer der Einzelschläge des Or-
gans, obgleich ihre maximale Kraft nur bis auf etwa 30 Volt (Scuön-
LEIN) steigt. Von zwei frischen aufeinandergelegten Organen, welche
mit Zinkplatten und Zinksulphatbäuschen zum Luftthermometer ab-
geleitet waren, erhielten wir an demselben bei einer maximalen Se-
eundenreizung Ausschläge der Flüssigkeitssäule im Rohr von 40—50 mm
und darüber. Die nach einer längeren Versuchsreihe hieraus berech-
nete maximale Energie der Entladung in dem äussern Stromkreis
entspricht einer Wärmemenge von etwa 0.12 Grammcalorien in einer
Secunde.
Sehr viel schwieriger, als wir es von vorn herein erwartet hatten,
gestaltete sich die Messung der Temperaturänderungen bei der Rei-
zung des Organs. Gleich in der ersten Reihe von Versuchen mit den
angelegten oder eingesenkten 'Thermosäulen traten am Galvanometer
beträchtliche Ablenkungen auf, welche als thermische erscheinen konn-
ten, da die Thermosäulen durch Lackirung und Isolirung gegen die
Einwirkung der Schläge geschützt schienen und zur Vermeidung uni-
polarer Wirkungen mit der Erdleitung verbunden waren. Aber die
Regellosigkeit dieser Ablenkungen in positiver und negativer Rich-
tung, welche Anfangs beträchtliche Erwärmungen oder Abkühlungen
vortäuschten, führten uns zu der Überzeugung, dass wir es nicht mit
rein thermischen Ablenkungen zu thun hatten, sondern dass trotz
aller Vorsicht ein Theil der Schläge in die Thermosäulen hineinbrach.
Die Ursache dieser Störung liegt offenbar darin, dass die den Löth-
stellen der Säule anliegenden Stellen des Organs, obwohl in gleichem
Niveau gelegen, doch nicht ganz gleiches Potential annehmen, so
dass trotz Lackirung ein Strom durch die Säule und ein Nebenstrom
durch das Galvanometer geht. Es war sehr schwierig, diese Störung
ganz zu beseitigen, denn selbst dicke Lackschichten schützen bei Be-
rührung mit Seewasser und thierischer Flüssigkeit nicht absolut und
andererseits beeinträchtigen sie die Wärmeleitung erheblich. Dazu
kam, dass die Empfindlichkeit des 'Thermogalvanometers eine sehr
hohe sein musste. Nach einer Reihe von Controlversuchen mit feuch-
ten Fliesspapierbäuschen, durch die Induetionsströme geleitet und
denen die Thermosäulen angelegt wurden, ergab sich endlich, dass
das Überziehen der Säulen mit einer feinen Gummimembran genügen-
den Schutz gegen Zweigströme des Schlages bietet und die Wärme-
leitung nicht wesentlich schwächt. Dig oben erwähnte HEIDENnHAIN-
sche Säule eignet sich hierzu am besten. Dieselbe gab in diesem
J. Bernstein u. A. Tscnermar: Thermisches Verhalten des elektr. Organs. 305
Zustande an dem benutzten Galvanometer bei einer Muskelzuckung
einen thermischen Ausschlag von 6—10 Scalentheilen (gleich etwa
0°0015 C.).
Nach dem oben entworfenen Plan der Untersuchung musste nun
das thermische Verhalten des Organs unter folgenden Bedingungen
untersucht werden: erstens bei möglichst guter Isolirung desselben,
zweitens bei Arbeitsleistung nach aussen, d.h. in Verbindung
mit dem Luftthermometer, und drittens bei Kurzschluss, d.h. wenn
beide Flächen des Organs durch eine möglichst gute Leitung mit
einander verbunden sind, so dass die umgesetzte Energie fast ganz
im Innern des Organs verbleibt. Die Isolation des Organs würde
dem unbelasteten Muskel entsprechen, das Organ mit Aussenleitung
dem belasteten, Arbeit sammelnden Muskel, und das Organ mit Kurz-
schluss dem gespannten, sich isometrisch econtrahirenden Muskel, wel-
cher keine äussere Arbeit verrichtet.
Von einer absoluten Isolation des Organs kann natürlich hier
nicht die Rede sein, da es immer von einer Feuchtigkeitsschieht um-
geben ist und auch im Innern zwischen den Säulen geringe Abglei-
chungen des Stromes stattfinden können. Meist wurden die beiden
auf einander gelegten Organe eines Thieres innerhalb eines abzu-
schliessenden Behälters von der Rücken- und Bauchfläche durch Zink-
platten mit ZnSO,-Bäuschen abgeleitet. Die obere Platte hatte einen
länglichen Ausschnitt zum Aufsetzen oder Einsenken einer T'hermo-
säule an einer von Haut entblössten Stelle des Organs, oder es wurden
auch die Thermosäulen mit einer Seite zwischen beide Organe ein-
geschoben. Bei Isolation blieb die Leitung der Zinkplatten offen,
oder es wurden auch die Organe ganz nackt ohne Anlegung von
Platten untersucht. In vielen Versuchen wurden Isolation mit Luft-
thermometerleitung, Isolation mit Kurzschluss, Kurzschluss mit Luft-
thermometerleitung, und auch alle drei Anordnungen mit einander
abgewechselt.
Unter Beachtung der oben besprochenen Vorsichtsmassregel ergibt
sich das bemerkenswerthe Resultat, dass bei jeder der genannten
Anordnungen die Temperaturänderungen des Organs bei
der Reizung entweder sehr geringe oder mit den angewand-
ten Mitteln nicht nachweisbare sind. Es unterscheidet sich
mithin das elektrische Organ in seinem thermischen Verhalten wesent-
lich von dem Muskel. Während dieser bei jeder Form der Contrac-
tion neben der Arbeitsleistung eine erhebliche Wärmemenge bildet,
und bei einer tetanischen Reizung von ı° sich um nahezu 0°1C. er-
wärmen kann, ist bei dieser Reizung und selbst bei zehnmaliger
Wiederholung einer solehen Reizung im günstigsten Falle eine Er-
306 Sitzung der phys.-math. Classe v. 11. Febr. 1904. — Mittheilung v. 21. Jan.
wärmung um höchstens 0°001 C. im elektrischen Organ nachzuweisen,
wenn dasselbe isolirt ist. Die Umwandlungswärme U (Formel 2
und 2a) ist also als sehr klein anzusehen.
Es folgt zweitens aus den sehr geringen thermischen Änderungen
des Organs bei Aussenleitung zum Luftthermometer und selbst beim Kurz-
schluss, dass das elektrische Organ mit Bestimmtheit nicht
zu denjenigen Ketten gehört, welche mit erheblicher chemi-
scher Wärme exotherm arbeiten. Die chemische Wärme kann,
wenn überhaupt vorhanden, jedenfalls nicht viel grösser sein, als zur
Erzeugung der elektrischen Energie erforderlich sein würde, wie es
bei einem Danterr’schen Element annähernd der Fall ist.
Schwieriger dagegen war es zu entscheiden, ob das elektrische
Organ überhaupt eine exotherm oder vielmehr eine endotherm arbeitende
Kette ist. Diese Entscheidung konnte nur bei kräftigen Entladungen
unter den uns zu Gebote stehenden Empfindlichkeiten der Thermo-
säule und des Galvanometers herbeigeführt werden, und auch diess nur
nach möglichst vollkommenem Temperaturausgleich in der Thermosäule
und Stillstand des Galvanometerspiegels. Bedenkt man nun, wie schnell
die Reizbarkeit des Organs nach dem Tode abnimmt, so wird es nicht
Wunder nehmen, dass unter vielen Versuchen nur sieben in Betracht
kommen, und von diesen waren auch die ersten drei noch durch Strom-
zweige des Schlages gestört.
Wenn nun das elektrische Organ sich wie ein Danıerı verhielte,
die chemische Wärme also gleich der elektrischen Energie wäre, so
müsste beim Kurzschluss eine Erwärmung eintreten, welche der ge-
sammten Stromwärme entsprechen würde, bei Aussenleitung zum Luft-
thermometer dagegen eine geringere Erwärmung, welche nur der inneren
Stromwärme des Organs entsprechen würde. Im erstern Falle ist nach
Formel (1) C=Q, im zweiten C= Q—S8..
Wenn dagegen das elektrische Organ nach Art einer Öoncentra-
tionskette endotherm arbeitet, so müsste beim Kurzschluss die Tempe-
raturänderung Null sein, da der osmotische Process gerade soviel Wärme
bindet als die Stromwärme beträgt, und bei Aussenleitung zum Luft-
thermometer müsste eine Abkühlung des Organs eintreten, welche der
äusseren Stromwärme entsprechen würde. Im erstern Falle ist, da
Q=0 ist, nach Formel (1) C=o, im zweiten = —S$..
Nimmt man für beide Arten von Ketten noch eine positive Um-
wandlungswärme U an, so würden für die exotherme Kette die Formeln
nach Formel (2) lauten:
ı. Isolation: DE
2. Aussenleitung: QHU=(C+S,
3. Kurzschluss: Q+-U=(.
e
F
J. Bernstein u. A. Tschermar: Thermisches Verhalten des elektr. Organs. 307
Für die endotherme Kette würden hiernach die Formeln lauten:
ı. Isolation: UI
2. Aussenleitung: U=(C+S,
Bu Kurzschluss: UL=1C.
In den nachfolgenden Versuchen sind unter A die Galvanometer-
ablenkungen angegeben, unter 2. Th. die Ausschläge des Luftthermo-
meters, unter 8, die Stromwärme des Schlages in dem Luftthermo-
meter, unter 8; die innere aus S, und dem Widerstand der Organe
berechnete Stromwärme derselben', unter $,+ 5; ihre Summe. Aus
den Werthen von S, und S; konnten diejenigen Temperaturänderungen
des Organs @, und 6; berechnet werden, welche den Werthen von $,
und $; entsprechen.
Zu diesem Zwecke war die Bestimmung der specifischen Wärme
des elektrischen Organes erforderlich, welche wir im Mittel zu 0.845
gefunden haben. Aus den Werthen von @; und 6, kann man wiederum
die ihnen entsprechenden Galvanometerausschläge A, und A, berechnen.
Betrachtet man das Organ als exotherme Kette nach Art eines DanıELL,
so hätte man bei Zuleitung zum Luftthermometer eine positive Ab-
lenkung A, entsprechend der Temperaturerhöhung +6; zu erwarten.
Betrachtet man dagegen das Organ als eine endotherme Kette nach
Art einer Concentrationskette, so hätte man unter dieser Bedingung
eine negative Ablenkung A, entsprechend einer Temperaturerniedrigung
— 0, zu erwarten. Beide Ablenkungen könnten nur rein zum Vor-
schein kommen, wenn die Umwandlungswärme U gleich Null wäre.
Da aber die thermischen Änderungen des Organs unter allen Bedin-
gungen von ähnlicher Grössenordnung sind, so kommt die Umwand-
lungswärme wesentlich in Betracht. Im Falle der exothermen Kette
würde sie die positiven Werthe erhöhen, im Falle der endothermen
Kette würde sie die negativen Werthe vermindern oder sogar um-
kehren.
Es folgt aus den berechneten Versuchen, dass das Resultat der-
selben in allen dreien mit der Annahme einer endothermen Kette mit
positiver Umwandlungswärme vereinbar ist, während nur ein Versuch
(4) auch der Annahme einer exothermen Kette Genüge leisten würde.
Es ist also hiernach sehr wahrscheinlich, dass das elektrische Or-
gan der Fische eine endotherme Kette und zwar eine Con-
centrationskette ist. Man muss aber hinzufügen, dass durch den
! Nach jedem Versuch wurde der Widerstand der Organe in der Versuchslage
und -ableitung in beiden Richtungen gemessen. Der Widerstand vom Bauch zum
Rücken in der Richtung des Schlages, welcher immer kleiner ist als der in der um-
gekehrten, wurde zur Rechnung verwerthet.
308 Sitzung der phys.-math. Classe v. 11. Febr. 1904. — Mittheilung v. 21. Jan.
Umwandlungsprocess beim Schlage zugleich Wärme erzeugt wird. Die
+ zur Erzeugung elektrischer Energie nothwendige Wärme wird zum
Theil aus der Umwandlungswärme, zum Theil aus der Umgebung be-
zogen. Damit steht wohl der Umstand im Zusammenhang, dass elek-
Versuch ı.
Mittelgrosse Torp. marmorata. Beide Organe = 1248". Widerstand 5 > R= 206.8 (). Derrez-
Galvanometer ohne Vorschaltwiderstand (Spule = ı50 0). ıofache Eisen - Constantan - Thermo-
säule, sehr stark gefirnisst, zwischen den Organen. Empfindlichkeit e = 0?0003132 C. auf
ı Sealentheil.
Exotherme Kette
Endotherme Kette
2
er Cal.
| +0.0006 Reiz.
schnelle Abl. TSQTE
also Strom- Luft-
zweig des therm.
Schlages
2.14 49 +2 Isolation
ebenso schnell
3.| 4 51 Luft-
thernı.
Die Ablenkungen A; und Aa könnten beide durch die Stromschleife +3 verdeckt worden sein.
Versuech"2.
Grosse Torp. marmorata. Beide Organe = 200%5. Widerstand B>R= 220.9 ). Dasselbe
Galvanometer. Heıpennarn’sche Thermosäule (15 Wismuth- Antimon-Glieder) mit Guttapercha-
papier überzogen. e = 0°0001107 C.
Exotherme Kette
Endotherme Kette
- = men onen RRDETNTE
d; bel
.|4°59=| Wanderung. .5 +0.000184 | —0.00023 | —2.07 | Luft-
vor d. Reiz. | therm.
10 Se,—ı2° Reiz.
nach d. Reiz. DIL.
10Se.-10°-15
vor d. Reiz. Isolation
10 Se.—28° Reiz.
nach d. Reiz. IX
Kurz-
schluss
Werthe in Sealentheilen:
Endotherme Kette: ı. u =C;+& , Cı=o, Ur=+2.07; 8. würde durch U ge-
rade gedeckt worden sein. 2. und 3. U» und U; sind o wegen Abnahme des Schlages. Stimmt!
Exotherme Kette: 1. Qr+Ur = Cı+8,, Cı=o; wenn Q=S;+S, ist (Dasıert),
so hat man: (dı+U:r = 2.07, (dı = 1.66+2.07 = 3.73 und Ik = —1.66. Stimmt nicht!
J. Bernstein u. A. Tscuervax: Thermisches Verhalten des elektr. Organs. 309
Versuch 3.
Mittelgrosse Torp. marmorata. Beide Organe = 96g8r. Widerstand = ı88 NM. Panzergalvanometer.
Heıpennars’sche Säule mit Gummimembran. e= 0°000088428 (.
2 Exotherme Kette Endotherme Kette
Sets; | —— are Bem.
Ö: Ar 0. Aa
L.Th.
mm
er Cal.
1.| 4°45”] Wandertmp. Luft-
10 Se.—ı2° therm.
Reiz.
+10.06| —0.001301 | —14.72] 10x 1°
2. 27 Se.—20° Isolation
bleibt stehen Reiz.
10x1°
3. 0.02601| 0.01778] 0.04379] +0.0002127 | +2.4 | —0.0003918 —4.43 | Luft-
therm.
Reiz.
10x 1°
4. 11 Sc.—20° Luft-
I2 » —20° therm.
[6) 9 10.02128] 0.01455|0.03583| +0.0001741 | -+2.0 | —0.0002546 | —2.9 Reiz.
ebenso 10x 1°
Endotherme Kette: ı. H=Ci+& =3+14.72= 17.72. 2. ”=(2= 5-10, also +.
+ Ih 0348, = —344.43 = 1.43. 4. U, = (+8, =0+29= 29. Stimmt! U hat anfangs
stark abgenonmen, zuletzt etwas zugenommen.
Exotherme Kette: ı. +", =C:+$., = 17.73, ı = Si, +, = 10.064 14.72 = 24.78,
es ist aber Qı+Ur nur 17.725; Cr = Si, +U: = 10.06+U:= +3, also U=—7.06. Stimmt
nicht! 3. +3, = C3+Sr, =—3+4443=143; Q3 = Si, + Se, = 2.4+4.43 = 6.83, während
Q+Q, = 1.43 it. G=S, +9 =24+09, = —3, also = —0.6! 4. (y=Si,+U, = 2.0+
U, =o, also U=—-2.0! Q,=S,+%, = 2.0+2.9=4.9, während Q,+U, = (4+S., = 2.9 ist.
Stimmt nicht!
trische Organe sich nur in wärmeren Klimaten entwickeln konnten und wir
den Fisch mit stärkstem Organ, den Zitteraal, in den Tropen vorfinden.
Im ganzen schliesst sich das elektrische Organ in seinem ther-
mischen Verhalten mehr dem Nervengewebe als dem Muskelgewebe
an, da in ersterm bisher eine Temperaturänderung bei der Reizung
noch nicht econstatirt werden konnte. DiesesV erhalten spricht auch für die
Ansicht, dass die Elemente des elektrischen Organs als eigenthümlich
entwickelte Nervenendapparate anzusehen sind, in denen sich die spe-
eifische Muskelsubstanz der embryonalen Zellen zurückgebildet hat.
Wir haben noch einen zweiten Weg beschritten, um zu ent-
scheiden, ob das elektrische Organ zu den exothermen oder endo-
thermen Ketten gehört. Derselbe besteht darin, den Temperatur-
coefficienten der Kraft beim Schlage zu ermitteln. Wie oben bemerkt,
zeigen die endothermen Ketten einen positiven, die exothermen einen
negativen Temperaturcoefficienten. Die Organe wurden mit unpolarisir-
baren Zinkplatten versehen in ein grösseres Oelbad eingesenkt und
310 Sitzung der phys.-math. Classe v. 11. Febr. 1904. — Mittheilung v. 21. Jan.
Versuch 4.
Übermittelgrosse Torp. marmorata. Beide Organe = 1098's. Widerstand =258.5 Q. Panzer-
galvanometer. Heıpexmarn’sche Säule. e= 0°000088428 C.
= f Exotherme Kette Endotherme Kette
Zeit A L.Th| 8. Se | Be
B; | 4a
er Cal. i 4: |
ınm er Cal. er Cal.
14.0 |0.02249| 0.02185| 0.04434| +0.000229 | +2.6 | —0.0002358 | —2.7
0.01250|0.02537|] +0.0001311 | +1.5
—0.0001349 , —1.5
Endotherme Kette: 1. ı =Cı=+3. 2. =G+8, =6+27=837. 3. 9=(;
=+5. 4. ,=(,+8,=3.5+15=+5. Stimmt, abgesehen davon, dass Ü1<<D; ist.
Exotherme Kette: 1. ı+U,=C,;,=+3 ist auch auffallend gering. 2. Q2+U;
= G+S8, = 87; & = S,+U, = 26+0, u = +34, Q=87—3.4=5-3 ist denkbar.
4 QA+U, = G+8,=5, 4 =S&,+U,=1.5+U,, U= 2.0, Q, = 3.0 ist denkbar.
von den Nerven nur durch einen einzelnen Öffnungsinductionsschlag
gereizt. In den Organkreis wurden mindestens 10000 QO eingeschaltet,
um die Änderung des Widerstandes im Organ mit wechselnder Tem-
peratur vernachlässigen zu können. Ausserdem wurden in diesen
Kreis 10— 1000 () eingeschaltet, von denen ein Nebenstrom in das
Galvanometer geleitet wurde. Daher konnten die ersten Ausschläge
der mittleren elektromotorischen Kraft des Schlages annähernd pro-
portional gesetzt werden. Die Abkühlungen wurden meist zwischen
18° und 3°C., die Erwärmungen zwischen 18° und 32°C. vorgenommen.
Jedesmal fand ein Hin- und Rückgang der Abkühlung und Erwärmung
statt, so dass man durch die für jede Temperatur gewonnene Mittel-
zahl die sehr störende zeitliche Änderung des Organes einigermaassen
zu eliminiren suchte. Es ergab sich aus diesen Versuchen, dass unter-
halb 18°— 20°C. der Temperaturcoefficient constant ein po-
sitiver ist, dagegen verwandelt sich dieser Wertli bei Erwärmungen
über 20° bis gegen 32° C. allmählich in einen negativen. Es besitzt
also das Organ bei ungefähr 20° Ü. ein Optimum der Kraft.
Bem.
Kurz-
schluss
Reiz.
2X
Reiz.
ıxı°
Luft-
therm.
Kurz-
schluss
Reiz.
IXTE
Reiz.
Ixı°
Luft-
therm.
J. Berssrein u. A. Tscuermax: Thermisches Verhalten des elektr. Organs. 311
Es kann hiernach wohl keinem Zweifel unterliegen, dass bei
den gewöhnlichen Temperaturen des Mittelländischen Meeres (Golf
von Neapel unter 5” Tiefe) von im Mittel 15°C. das elektrische
Organ von Torpedo eine endotherme Kette ist. Wenn sie nun eine
reine Concentrationskette bildet, so müsste die elektromotorische Kraft
nach den Formeln von von Hrrmnorız und Nersst der absoluten Tem-
peratur nahezu proportional wachsen." In einem sehr gut gelungenen
Versuche dieser Art, welcher hier Platz finden möge, haben wir in
der That bei der Berechnung Werthe erhalten, welche mit den be-
obachteten gut übereinstimmen.
Versuch 5.
Kleinere Torp. ocellata. Abkühlung von 18° bis 3° und Wiedererwärmung auf 18°C. Unter
E beob. sind die Mittelwerthe der Galvanometerablenkungen, unter E ber. die berechneten
Werthe, unter £ die Celsiusgrade, und unter 7' die absoluten Temperaturen angegeben.
E beob. E ber.
185 | —
188.75 | 187
192 | 189
194-5 191
197 | 193
LINSE | 195
In manehen anderen Versuchen haben wir freilich beträchtliche
Abweichungen von dieser Proportionalität gefunden, und zwar ein ver-
hältnissmässig viel stärkeres Sinken der Kraft mit vorschreitender Ab-
kühlung. Diese grösseren Abweichungen liessen sich aber sehr wohl
aus der Annahme erklären, dass das Organ dureh die niederen Tem-
peraturen in seiner chemischen Constitution mehr oder weniger ge-
schädigt wurde. Eine Erholung von dieser Schädigung ist bei der
Wiedererwärmung meistentheils zu bemerken.
Ebenso liesse sich aber auch die Abnahme der Kraft bei Erhöhung
der Temperatur bis gegen 32° C. erklären, ohne dass man anzunehmen
brauchte, dass das Organ sich bei diesen Temperaturen in eine exo-
therme Kette verwandle. Die höhere Temperatur beeinflusst die che-
mische Constitution des Organs ebenfalls in ungünstigem Sinne. Auch
von dieser Schädigung erholt sich das Organ wieder theilweise bei
der Abkühlung.
Wenn man demnach das elektrische Organ als eine Gon-
centrationskette ansieht, so liegt es nahe, ihre Constitution nach
! Abgesehen von den Änderungen der Ionengeschwindigkeiten mit der Tem-
peratur.
312 Sitzung der phys.-math. Classe v. 11. Febr. 1904. — Mittheilung v. 21. Jan.
demselben Prineip zu erklären, wie es für die Muskel- und Nerven-
ströme bereits geschehen ist.‘ Nach Versuchen von W. OstwaALp?” ver-
halten sich halbdurchlässige Membranen gegenüber Elektrolyten häufig
so, dass sie das eine Ion durchlassen, während 'sie das andere zurück-
halten. Es entsteht dadurch an ihrer Oberfläche eine Potentialdifferenz,
die einer elektrischen Doppelschicht ähnlich ist. Da nun die lebenden
protoplasmatischen Membranen der Pflanzen- und Thierzellen nach Unter-
suchungen von PFErrEr u. A. als mehr oder weniger halbdurchlässige
anzusehen sind, und im Zellsaft Elektrolyte aufgelöst sind, so kann die
Zelle von einer mehr oder weniger starken elektrischen Doppelschicht
eingehüllt sein.
Die Säulen des elektrischen Organs bestehen aus einer grossen
Anzahl von scheibenförmigen Elementen, welche man als elektrische
Zellen anzusehen hat. Jedes Ele-
ment zerfällt in drei Platten, in
die Nervenplatte, in welcher sich
die Nervenfasern ausbreiten, in die
Mittelplatte oder Mäanderschicht
und in die nervenfreie Gallertplatte,
wie nebenstehende Figur schema-
tisch angibt. Beim Schlage nimmt
die Nervenplatte negative, die
Gallertplatte positive Spannung an.
Denkt man sich nun alle drei Platten
von einem Elektrolyten gleich-
6 = Gallertschicht. mässig durchtränkt, dessen posi-
P = Papillar- oder Alveolarschicht. F =
M = Maeanderschicht. tives Ion von der Substanz derselben
N = Nervenschicht. -
Nf = Nervenfasern. durchgelassen, dessen negatives
Ion aber von derselben festgehalten
wird, so werden die beiden Oberflächen einer elektrischen Zelle von
einer gleichstarken elektrischen Doppelschicht begrenzt sein, welche
ihre positive Seite nach aussen wendet, wie es die + und — Zeichen
in der Figur angeben. Die Spannungen heben sich also in der Ruhe
auf. Wird ferner bei der Reizung die Nervenplatte auch für das
negative Ion durchlässig, so entsteht ein Schlag in der Richtung
nach der Gallertplatte, der so lange dauert bis die Nervenplatte sich
wieder restituirt hat. Der chemische Process in der Nervenplatte
würde die Umwandlungswärme U erzeugen, welche wir nach obigen
! J. Berssrein, Untersuchungen zur Thermodynamik der bioelektrischen Ströme.
Prrüger’s Archiv f. Physiologie Bd. 92. 1902.
2 Elektrische Eigenschaften halbdurchlässiger Scheidewände. Zeitschr. f. physikal.
Chemie VJ. 1890.
- s z DO,
J. Bernstein u. A. Tscnermax: Thermisches Verhalten des elektr. Organs. 313
Versuchen angenommen haben. Die Substanz der Gallertplatte, welche
durch die Mäanderschicht von der Nervenplatte getrennt ist, müssten
wir als nicht reizbar ansehen.
Es liegt nun nahe, die in dem elektrischen Organe enthaltenen
Salze oder eines derselben als diejenigen Elektrolyte zu betrachten,
deren Ionen bei dem Schlage in Wirkung treten. Hiermit würde die
von Tu. Weyr! angegebene Thatsache übereinstimmen, dass das Wasser-
extract (des gereizten Organes weniger Salze enthält als das des nicht-
gereizten: denn während des Schlages müsste eine grössere Menge des
Elektrolyten austreten als in der Ruhe. Die von demselben Unter-
sucher gefundene Vermehrung der Phosphorsäure im gereizten Organ
könnte trotz stärkerer Osmose beim Schlage von dem Umwandlungs-
process herrühren. Vielleicht sind es die negativen Ionen der Phosphor-
säure oder deren organische Verbindungen (Glycerinphosphorsäure?),
für welche die elektrische Zelle in der Ruhe nicht durchlässig ist.
Während der Erholung müsste eine Ansammlung des Elektrolyten
stattfinden, vielleicht vermittels der Aufnahme von organischen P-
haltigen Substanzen.
Somit glauben wir das alte und berühmte Problem der Entste-
hung thierischer Elektrieität, dem Emm nu Bors-Revmonn die erfolg-
reiche Arbeit seines Lebens widmete, um einen Schritt seiner Lösung
näher gebracht zu haben. Leider hat der Winter unsere Versuche unter-
brochen, doch hoffen wir dieselben im nächsten Frühjahr und Sommer
mit verbesserten Hülfsmitteln wieder aufnehmen zu können.
Der Königlichen Akademie der Wissenschaften sprechen wir für
die reichlich gewährte Unterstützung sowie der Direetion der zoolo-
gischen Station zu Neapel für das freundliche und hülfreiche Entgegen-
kommen während unseres Aufenthaltes daselbst unsern ergebensten
Dank aus.
! Physiologische und chemische Studien an Torpedo. Archiv für Physiologie
von pu Boıs-Reymonn 1884, S. 321.
Ausgegeben am 18. Februar.
ee
Kr & ae .
HER
315
SITZUNGSBERICHTE ns
IX.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
= Beh uar. Sitzung de philosophisch -historischen Ülasse.
Vorsitzender Secretar: Hr. Dıeıs.
*]. Hr. Scumivr las: Über den Text der Werke Heınkıch von
Kreıst's.
Von der Geschichte ihrer Überlieferung ausgehend und im besonderen Hinblick
auf die auch handschriftlich vorliegenden Dramen, zeigte er, wie in einer neuen kri-
tischen Ausgabe der Text und die Lesarten einzurichten seien.
2. Hr. Dırıney legte eine Abhandlung »über die Function der
Anthropologie in der Cultur dessechzehnten und siebzehnten
Jahrhunderts« vor, welche eine Fortsetzung des Vortrags vom
7. Januar bildet.
Die Abhandlung unternimmt, den Zusammenhang der philosophischen Systeme
mit der Cultur ihrer Zeit an einem Beispiel aufzuklären. Sie untersucht den besonderen
Charakter der Anthropologie des 17. Jahrhunderts und deren inneren Zusammenhang
mit der Theorie der Lebensführung. Insbesondere zeigt sie die hervorragende Stellung,
welche die Theorie der Affekte in dieser Anthropologie einnimmt. Hieraus lassen sich
dann die Beziehungen ableiten, welche diese Anthropologie mit Litteratur, Religiosität
und Geisteswissenschaften der Zeit verbinden.
3. Hr. vos Wıramowırz- MorLLEnDoRFF legte eine Abhandlung des
Dr. Wırneım Crönerr in Göttingen vor: »Eine attische Stoikerin-
sehrift«. (Ersch. später.)
Unter Heranziehung neuer Abschriften des philodemischen Index Stoicorum wird
die Inschrift IGII 953, Archon Lysiades, auf das Jahr 152/151 bestimmt, und von den
genannten Personen eine Anzahl als Mitglieder der stoischen Schule aufgewiesen.
4. Hr. Sacnau legte eine Mittheilung des Dr. F.W.K. Mürrer in
Berlin vor: Handschriften-Reste in Estrangelo-Schrift aus
Turfan, Chinesisch-Turkistan.
5. Der Vorsitzende legte vor: Cu. U. Crark, The Text tradition
of Ammianus Marcellinus. New Haven, Conn. 1904.
316 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 11. Februar 1904.
Die Funktion der Anthropologie in der Kultur
des 16. und 17. Jahrhunderts.
Von W. DiLrtaev.
(Fortsetzung.)
D:. neue wissenschaftliche Form, welche die Anthropologie in der
Zeit der großen Systeme von DEscArTEs, HoBBEs, Spınoza und Leısnız
annahm, und die Funktion, die sie in diesem Zeitraume ausübte,
waren bedingt durch die Voraussetzungen, unter welchen diese Systeme
allesamt standen. Die wichtigste dieser Voraussetzungen war die neue
mathematische Naturwissenschaft, welche das ganze Denken dieses
Zeitraums beherrscht hat. Sie zunächst bestimmte die Form, welche
nunmehr die Anthropologie annahm, während dem Material nach die-
selbe in den Beschreibungen, Anordnungen und Erklärungen der vorher-
gehenden Zeit ihre Grundlage hatte. Ferner war die wissenschaftliche
Form und Funktion dieser Anthropologie abhängig von der Struktur,
welche diesen großen Systemen gemeinsam war. Da das System des
DeEsSCcARTES zuerst auf die neue mathematische Naturwissenschaft ge-
gründet ist, so erscheint in ihm zuerst diese neue Struktur. Sie setzt
sich aber bei ihm noch nicht fort in die Anwendungen der Anthro-
pologie auf die Geisteswissenschaften, diese vollzogen sich erst in
Hozges, und die volle Ausbildung erreichten sie in Spmoza und in
Leigxız; alsdann machte die Struktur dieser Systeme einer andern Form
des systematischen Denkens Platz, seitdem die analytische Methode
von Locke ab siegreich vordrang. So stehen LockE und die »neuen
Versuche« von Lemsız an der Grenze dieser Periode und sie leiten
hinüber in das Zeitalter der Aufklärung.
Divrney: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts (Fortsetzung). 317
I. Die Struktur der Systeme von DESCARTES, HoBBES, SPINOZA
und LEisnız und die in ihnen enthaltenen Voraussetzungen der
Anthropologie.
1. Loeiseh erkenntnistheoretische Grundlegung als
bestimmend für die neue Struktur.
Ich versuche, die gemeinsame Struktur dieser Systeme darzu-
stellen. Die Begründung der Philosophie schließt in ihnen allen ein
doppeltes Moment in sich. Von Gaumter ab war mit dem natur-
wissenschaftlichen Denken das Bewußtsein über dessen Methoden
verbunden, und der mathematischen Naturwissenschaft entsprechend
wurde die Unterordnung der Erfahrungen in Beobachtung und Ex-
periment unter einfache Verhältnisse mathematischer Gesetzlichkeit in
irgendeiner Art von Zusammensetzung dieser beiden Faktoren zum
Prinzip der Methode. Indem nun dies Verfahren auf die Erkenntnis
des Universums angewandt wurde, entstand die philosophische Me-
thode der Konstruktion der gegebenen Erscheinungen durch logische,
mathematische und metaphysische Begriffe und Sätze, welche ihre
Evidenz in sich selber tragen. Seit Descartes entstand aber zugleich
für diese Systeme das Bedürfnis, die Realität der Erscheinungen,
welche nach dieser Methode konstruiert wurden, in irgendeiner Form
aus dem von Descartes aufgestellten Prinzip des Bewußtseins abzu-
leiten. Ich zeige, daß eine solche Ableitung bei HosgeEs, Spıwoza
und Leissız vorliegt.
Die Grundlegung der Philosophie beruhte auf der Verbindung
jener logisch-methodischen und dieser erkenntnistheoretischen Be-
trachtungsweise, und diese war «dann schließlich abhängig von dem
Problem des Verhältnisses der allgemeinen Begriffe zur Erfahrung.
Abgetan sind die Allgemeinbegriffe, welche Typen der Wirklichkeit
enthalten, wie etwa die von Pflanze oder Tier. Das Problem liegt in
den allgemeinen Begriffen, welche analytisch die in allen Erscheinungen
enthaltenen gedanklichen Elemente enthalten und die Konstruktion der
Erscheinungen ermöglichen — die notiones communes.
In dem System des Descartes, auf dessen frühere Darstellung ich verweise, sind
die logisch-methodische und die erkenntnistheoretische Untersuchung, die zunächst
getrennt waren, künstlich verbunden durch die Übertragung des Merkmals der Evidenz
im cogito sum auf die notiones communes. Das System von Hosses geht von der
Logik aus, welche die formalen Leistungen des Denkens bestimmt, diese ermöglichen
mit Hilfe der Zeichen die Konstruktion der Phänomene durch allgemeine Begriffe nach
dem Typus des Rechnens. Alsdann wird erkenntnistheoretisch der Gang festgestellt,
nach welchem vom Satz des Bewußtseins aus diese Konstruktion vollbracht werden
kann. Nach dem hierbei angewandten Verfahren bildet dies System den Übergang
aus dem Materialismus zu dem Positivismus. Dieser ist die erkenntnistheoretisch orien-
Sitzungsberichte 1904. 25
318 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 11. Februar 1904.
tierte Erklärung der Wirklichkeit aus den in den Körpern gegebenen Phänomenen.
Hossges geht mit dem englischen Nominalismus und Bacon davon aus, daß alle Erkenntnis
Interpretation der Phänomene durch das Denken sei. Hatte Bacon an dem induktiv-
experimentellen Verfahren dessen analytische Bedeutung herausgehoben, so ist nun
bei Hogses Analysis und Synthesis die Metlıode des erfahrenden Denkens. Philosophie
ist ihm die Ableitung der Ursachen aus den Phänomenen und der Phänomene aus den
Ursachen (Opp. lat. ed. Molesw. I, p. 2). Sonach ist sein System Erfahrungsphilosophie,
und seine letzte große Leistung war, wie ich früher nachgewiesen habe, die Ableitung
der Kategorien aus der Erfahrung und damit die Rechtfertigung des Empirismus gegenüber
der ganzen voraufgegangenen idealistischen Metaphysik. Diese logisch - erkenntnistheore-
tische Begründung des Systems mußte sich aber zugleich ınit der kritischen Lehre des Des-
carrzs über den Erkenntniswert der äußeren Phänomene auseinandersetzen. Hosses hat
in seiner Schrift De corpore hinter der Darstellung seiner Logik am Beginn seiner ersten
Philosophie (Opp- lat. 1, Srff.) in solcher stillschweigenden Auseinandersetzung mit
Descartves sich den Weg von dem Satze der Phänomenalität zu seiner Konstruktion
des Wirklichen aus dem Zusammenhang der Bewegungen an körperlichen Teilen ge-
bahnt. Er erkennt den Satz der Phänomenalität an; die äußeren Objekte erscheinen
nur als existierend, d. h. außer uns bestehend. Es entsteht so eine doppelte Betrach-
tungsweise dieser Bilder: nach der einen sind sie die inneren wechselnden Beschaffen-
heiten der Seele, und nach der anderen wird dasjenige in ihnen Enthaltene, welches
ihre Konstruktion möglich macht, als außenwirklich angesehen.
Nun sind sie aber in ihren mathematischen Verhältnissen und den Beziehungen
der Bewegungen nach Gesetzen konstruierbar. Die Erklärung vollzieht sich durch
die Allgemeinbegriffe von Außensubstanz (Körper) und ihren Akzidenzien, Ursache,
Kraft, Quantum, Raum, Zeit, Bewegung, welche in der Sinneserfahrung enthalten
sind. Die Phänomene werden durch diese in ihnen enthaltenen allgemeinen Begriffe
konstruiert. Da nun eine rationale Theorie irgendwelcher äußeren oder inneren
Tatsachen nur durch eine solche Konstruktion der Phänomene unter Voraussetzung
der Außenrealität der in ihnen enthaltenen Konstruktionselemente möglich ist, durch
dies Verfahren aber alle Wirklichkeit konstruiert werden kann, so ergibt sich hieraus,
daß die Wissenschaft von der Objektivität der Außenwelt ausgehen muß; das, woraus
sie konstruiert, das System der Bewegungen, das an Korpuskeln stattfindet, erweist
sich Hosges so als Realität. In diesen und den auf sie gebauten anderen Sätzen hat er
die erkenntnistheoretische Grundlage des ganzen späteren Positivismus geschaffen.
Und aus ihm ergibt sich nun auch die kritische Grenze des Wissens, wie jeder
echte Positivismus sie festgehalten hat. Wie man auch über die Vorbehalte von Hosses
in bezug auf die Geltung der christlichen Glaubenssätze denken mag, darin sind seine
Worte klar: »Wer den ganzen Mechanismus des organischen Körpers durchschauen
würde, und nicht einsähe, daß er von einem Verstand eingerichtet und geordnet sei
zu seinen Funktionen, der muß selbst als ohne Verstand erachtet werden« (Opp. Il,
p- 6). Hier wird die ganze Theorie des Descarves von der teleologischen Begründung
des mechanischen Zusammenhanges an die Grenze des Wissens geschoben, dort aber
anerkannt.
Und uun ergibt sich ihm hieraus die Aufgabe, aus den Verhältnissen der Bewe-
gungen in Raum und Zeit auch die inneren Wahrnehmungen zu erklären, da sonst
eine rationale Theorie derselben ausgeschlossen wäre. Subjekte von Tätigkeiten sind
nur unter dem Begriff des Körpers verständlich, und so müssen auch die Bewuht-
seinserscheinungen, die im menschlichen Körper auftreten, als dessen Leistungen auf-
gefaßt und aus den in ihm stattfindenden gesetzlichen Verhältnissen der Bewegungen
an den kleinen Teilen abgeleitet werden. Dieses sind die Folgerungen, auf welche
er den neuen Materialismus gegründet hat, der nun seine Anthropologie beherrscht.
Auch Srınoza geht von dem Satze der Phänomenalität aus. Von diesem aus unter-
nimmt seine philosophische Methode zunächst, wie die des DEscArTEs, eine Grundlegung
seines Systems, die der Traktat De intelleetus emendatione enthält. Am Beginn der
Ethik treten uns dann Definitionen und Axiome entgegen, welche die Konstruktionsmittel
Dirrsey: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts (Fortsetzung). 319
der gegebenen Wirklichkeit enthalten. Ich habe nun nachzuweisen versucht, daß die
erkenntnistheoretische Grundlegung in dem Traktat De intellectus emendatione dauernd
das Fundament der Ethik Spinozas bilden sollte (Archiv VII S. 88/89, XIII S. 481/432).
Ist dies richtig, dann ist auch die Struktur des Systems von Srınoza der des carte-
sianischen ähnlicher, als bisher angenommen ist.
Das Zeitalter des Descarres knüpft in bezug auf das Problem der Erkenntnis
da an, wo der Streit zwischen Karneades und den Stoikern dieses gelassen hatte. Der
antike Skeptizismus war durch die drei Denker, die in Toulouse ihre Bildung em-
pfangen haben, MonwAısne, SancHez, ÜHARRON, erneuert worden. Und auch das
Streben, eine feste Grundlage des Erkennens zu gewinnen, setzte an dem Punkte ein,
bis zu welchem die Alten gelangt waren. Der erste durchgreifende Satz war hier,
daß die Sinnesempfindung als solche weder wahr noch falsch sei; erst das hinzu-
tretende Urteil enthält Wahrheit oder Irrtum in sich. So konnten die Einwendungen,
welche die Skeptiker aus den Sinnestäuschungen hergenommen hatten, als nichtig
widerlegt werden. Nach der vierten Meditation des Descarres entstehen unsere Irr-
tümer daraus, daß unser Wille Entscheidungen der Erkenntnis herbeizuführen tendiert,
die über die Grenzen des für ihn zur Zeit Entscheidbaren hinausreichen. Nach
der sechsten Meditation entstehen dementsprechend die Sinnestäuschungen aus Ur-
teilen, welche einen Irrtum des Denkens einschließen. Descarres hebt die Denkver-
mittelungen so hervor, daß er als einer der Begründer der Lehre von der Intellek-
tualität der Sinneswahrnehmungen betrachtet werden muß. Hosses sieht wahr und
falsch nur in dem sprachlich ausgedrückten, diskursiven Denken (Opp. lat. I p. 31,
I p.ı23; prine. et probl. aliqu. geom. c. XII ı, UI p.21; Leviath. de homine c. TVs
vgl. Sext. Math. VII, 70), und der Irrtum entsteht in der Anwendung dieses Denkens
auf die Sinnesempfindungen: natura ipsa errare non potest (Hozses, Opp. I p.49 sQ.).
Sonach fällt die Entscheidung über alle Wahrheit von Sätzen dem Denken zu. Seine
Überlegenheit wird noch gesteigert durch die Einsicht in die Subjektivität der Sinnes-
empfindungen von Farbe, Ton, Geruch und Geschmack, da es durch sein Räsonnement
so die unmittelbar gegebenen Qualitäten der Gegenstände in ihrer Subjektivität erkennt
und von den Erscheinungen ausscheidet.
Der Traktat Spınozas steht auf diesem Boden. Derselbe findet das Kriterium
der Wahrheit (signum) in dem Überzeugungsgefühl, das mit dem klaren und dent-
lichen Begreifen verbunden ist. Die Idee eines einfachen Gegenstandes muß klar
und deutlich sein; denn wenn ein solcher überhaupt aufgefaßt wird, so wird er
auch vollständig aufgefaßt. Die Methode der sicheren Erkenntnis muß sonach Kon-
struktion aus begrifflichen Elementen sein. Ihr Ziel ist der Kausalzusammenhang der
Wirklichkeit; aber nicht derjenigen der veränderlichen Einzeldinge, sondern der Kausal-
zusammenhang der festen und ewigen Tatsachen und der ihnen einwohnenden Ge-
setze, nach welchen alles einzelne stattfindet und geordnet ist. Suchen wir uns den
Sinn der folgenschweren Sätze des Traktats zu verdeutlichen. Der herrschende Be-
griff desselben ist das singulare aeternum. Es ist Realität, die aber nicht heute ist
und morgen nicht mehr ist, sondern immer dieselbe und eindeutig. Im Gegensatz
zu dem falschen Allgemeinen der Scholastik, welches die fließende ungefähre Be-
grenzung einer Klasse von Exemplaren ist, ist dies singulare aeternum in den ein-
zelnen Dingen als ihr Teilinhalt analytisch enthalten und kehrt eindeutig in ihnen
wieder. r
Und hier entspringt nun auch die Methode und das Ziel seiner Anthropologie.
Die von Srıwoza aufgestellte Mechanik der Gemütszustände ist ebenfalls Darstellung
des Kausalzusammenhangs, in welchem nach Gesetzen die unveränderlichen und ein-
deutigen Typen der Gemütsbewegungen verknüpft sind. Sie sind enthalten in dem
veränderlichen Fluß des Lebens, und sie werden vom Denken aus ihm herausgeholt.
Spınoza bezeichnet dann in der Ethik diese festen und ewigen Realitäten, welche in
den Einzelwahrnehmungen enthalten sind, als »dasjenige, was allem gemeinsam und
wie im ganzen in jedem Teil enthalten ist« (Eth. II prop. 38 ff.). So ist also hier die
methodische Formel aufgestellt für eine Anthropologie nach naturwissenschaftlicher
25"
*)
32
Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 11. Februar 1904.
Methode in dem Sinne, in welchem das Zeitalter der mathematischen Naturwissen-
schaft sie bestimmte.
Auch das System von Leısnız hat logisch erkennnistheoretische Voraussetzungen
seiner metaphysischen Bestimmungen. Es genügt auf zwei Punkte hinzuweisen. Der
Unterscheidung der beiden Denkgesetze des Widerspruchs und des Grundes ent-
spricht in dem System von Lrisnız die der ewigen und der tatsächlichen oder zufälligen
Wahrheiten. Jene haben ihr Merkmal an der Unmöglichkeit ihres Gegenteils. Wenn eine
Wahrheit notwendig ist, kann man durch Analyse zeigen, daß sie schließlich zurück-
geleitet werden kann auf einfache Wahrheiten, deren Gegenteil einen Widerspruch
enthält: ihre intuitive Gewißheit beruht also auf dem Satz des Widerspruchs (Opp.
Erpn. 707). Solche Wahrheiten, welche gelten, unterscheidet Leıenız von den tat-
sächlichen Wahrheiten, welche in der Erfahrung gegründet sind, Aussage über Existenz
enthalten und schließlich auf intuitiv in der Erfahrung Gegebenes zurückgehen. So
müssen also die notwendigen Wahrheiten zurückgeleitet werden können auf erste Sätze,
deren Gegenteil unmöglich ist. Soweit sie reichen, ist unsere Erkenntnis klar, deutlich
und durchsichtig. Die in der Erfahrung intuitiv gegebenen Tatsachen können nur
durch den Satz vom Grunde zur Erkenntnis verbunden werden. Nach diesem ist eine
Tatsache nur existierend, eine Aussage nur wahr, sofern sie einen zureichenden
Grund hat, kraft dessen sie so und nicht anders ist, wenn uns auch diese Gründe
oft unbekannt bleiben müssen. Die Folge der Tatsachen breitet sich durch das ganze
Universum aus; die Mannigfaltigkeit der Dinge in der Natur ist grenzenlos. So geht
die Zergliederung dieser Folge der Tatsachen in das Endlose. Der Grund dafür, daß
ich jetzt schreibe, liegt in einer Unendlichkeit räumlicher Beziehungen von Bewe-
gungen der Gegenwart und Vergangenheit, und aus einer Unendlichkeit innerlicher
Neigungen und Dispositionen setzt sich der Bestimmungsgrund dieser Handlung zu-
sammen. ‚Jedes tatsächlich Gegebene, zu welchem ich so zurückgehe, setzt Anderes
voraus. Ich muß schließlich den letzten zureichenden Grund in einer notwendigen
Substanz aufsuchen — in Gott (a.a. 0. 707.8). Und wenn die ewigen Wahrheiten in
dem göttlichen Verstande gegründet sind, so muß der zeitliche Zusammenhang der
Tatsachen, der in keine Notwendigkeit auflösbar ist, vielmehr den Charakter der
Singularität und Zufälligkeit an sich trägt, in dem göttlichen Willen gegründet sein,
d.h. in der Wahl der besten unter den möglichen Welten. So geht der Weg von
Leısnız durch logische Betrachtungen in die Metaphysik. Diese hat nun vor sich das
Problem der Verknüpfung einer unendlichen Mannigfaltigkeit von zeitlich koexistenten
und sukzedierenden Dingen nach dem Satze vom Grunde, unter der allgemeinsten
Bedingung der notwendigen Wahrheiten. Das von Coururar (Log. d. Leızx., p. 216f.)
Dargelegte über die Bedeutung beider Denkgesetze sowohl für das Gebiet der ewigen
als der tatsächlichen Wahrheiten ist mit obigem Grundunterschied wohl zu vereinigen.
Ich finde die hier vorausgesetzte Realität einer inneren undäußeren Weltbei
Leiısxız in einem Brief an Foucker (Leisxız philos. Schriften, GEeruArDT 369 ff.), der
sicher zwischen 1673 und 1676 in Paris geschrieben ist, durch ein an Descarres’
Methode angeknüpftes Verfahren begründet. Leısnız ergänzt den Ausgangspunkt
des Descartes. Wir wissen, daß wir denken: hieraus muß mit Descartes gefolgert
werden, daß wir sind. D. hat aber den anderen in der inneren Erfahrung enthaltenen
Ausgangspunkt für den Beweis der Existenz von Wirklichkeit übersehen. Dieser geht
nun von der Erscheinung des Wechsels und der Veränderung der in uns auftretenden
Bilder aus und schließt aus ihm auf die Realität der Außenwelt. Ein Brief über
SchwELings Exerc. 1690 (gegen Hvers cens. ph. Cartes.), geschrieben um 1691, ist
schärfer in dem Tadel der ersten Sätze des Descarres und ersetzt sie durch den
Satz, daß das in der inneren Wahrnehmung Gegebene allein intuitiv gewisses Wissen
von Realität enthält: dann wird hier ebenfalls unterschieden zwischen dem in der
inneren Wahrnehmung gegebenen Wissen vom Ich und dem von der varietas in meinen
Vorstellungen. Dies beides ist voneinander unabhängig und gleich ursprünglich. Der
Beweisgang, welcher in diesen Briefen angelegt ist, findet sich dann vervollständigt
in späteren Arbeiten, besonders in den neuen Versuchen (IV, e.ır). Die Bilder drängen
Divrney: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts (Fortsetzung). 321
sich auf gegen unseren Willen. Sie stehen in einem Zusammenhang, der unter Vor-
aussetzung ihrer äußeren Ursachen Theorien ermöglicht, welche Voraussage und ab-
sichtliche Herbeiführung bestimmter Eindrücke gestatten. Endlich stehen unsere Wahr-
nehmungen mit denen anderer Personen in Übereinstimmung. Reicht auch dieser Be-
weis nur bis zur Wahrscheinlichkeit, so muß und kann diese uns genügen. So hat
Leısnız von Descarıes aus den Beweisgang für die Realität der Außenwelt gefunden,
den jede neuere Untersuchung nur feiner ausbilden kann.
Diese rohen Grundlinien der logisch -erkenntnistheoretischen Grundlegung des
Leissız müssen hier ausreichen, die Stellung dieser Untersuchungen in seinem System zu
bestimmen. Selbstverständlich ist die ganze allgemeine Logik als grundlegend von
Leısnız gedacht.
2. Die Struktur der Systeme und die Funktion der
Anthropologie.
Der Mittelpunkt dieser verschiedenen Systeme ist die Konstruktion
der Phänomene vermittels der logischen, mathematischen und meta-
physischen Begriffe. Da die mathematische Naturwissenschaft die in
den Sinnen gegebenen Erscheinungen zurückführt auf Bewegungen von
Teilen der Materie nach Gesetzen und sonach aus der Physik jede
Erklärung aus seelischen Kräften ausschließt, so erhielt das psycho-
physische Problem eine neue Fassung, und es ergaben sich neue Schwie-
rigkeiten für seine Auflösung. Es beherrschte die ganze Metaphysik
dieser Epoche. Die verschiedenen Möglichkeiten seiner Auflösung wur-
den durchlaufen. Keine derselben war dem Beweis wirklich zugänglich.
Und so treibt die innere Dialektik, die in diesem Problem enthalten
ist, von einem Standpunkt zu dem andern, bis in dem Verlauf von
Descartes ab bis Leissız die wichtigsten Möglichkeiten erschöpft sind.
Die Schwierigkeiten, die in einem Standpunkt enthalten sind, treiben
über ihn hinaus; aber es ist unrichtig, mit der Schule Hrseers anzu-
nehmen, daß sie zum folgenden Standpunkt hinführen. Sie können
nach dem von mir angegebenen Prinzip der Mehrseitigkeit der Konse-
quenzen, im Fortgang von einem Widerspruch innerhalb eines Systenis,
auf verschiedene Art aufgelöst werden, und die Lebensverfassung der
großen philosophischen Persönlichkeiten entscheidet über die Richtung,
in welcher dies geschieht. Unter den Problemen, welche diese Systeme
zu lösen unternehmen, ist indessen das psychophysische nur eines und
wenn nun die Anthropologie hier durchaus von der Metaphysik be-
stimmt wird, so sind es in jedem dieser Systeme mehrere Sätze, die
entscheidend dessen Anthropologie bestimmen.
Die vornehme und stolze Persönlichkeit des Descartes bestimmt sein ganzes
System von dessen Ausgangspunkt im Selbstbewußtsein bis zum Abschluß in der
großen Gesinnung (generosite), die im guten und angemessenen Gebrauch des freien
Willens gegründet ist und die ungeregelten Leidenschaften beherrscht. Dieser Idea-
lismus der Freiheit muß unter den neuen Bedingungen die sittliche Verantwort-
lichkeit und die Wahlfreiheit zusammendenken mit dem mechanischen Zusammenhang
322 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 11. Februar 1904.
der physischen Welt. Dies geschieht zunächst durch die Unterscheidung der Not-
wendigkeiten, an welche die Gottheit selbst gebunden ist, und der Freiheit in Gott,
kraft deren er aus dem uns unerkennbaren höchsten Zwecke unter den unzähligen
Möglichkeiten von Welten eine ausgewählt hat. Ihre Verwirklichung vollzieht sich
durch den Schöpfungsakt, durch welchen die Gottheit eine ursprüngliche Verteilung
der Materie und Bewegung hervorbringt: aus ihr geht in der Weltevolution unser
jetziges Weltsystein hervor. Dieses Verhältnis zwischen Teleologie und Mechanismus
im Universum bestimmt denn auch die Physiologie des Descartes; in dem mensch-
lichen Körper sind das Herz als das Zentralorgan der Blutbewegung, die Nerven als
Empfindungsorgane, das Gehirn als ihr Zentrum und die Muskeln als die Bewegungs-
organe so eingerichtet und zusammengeordnet, daß sie den Zweck des Lebens durch
mechanische Mittel realisieren. Das Mittel, welches in diesem Mechanismus des Lebens
die zweckmäßige Beziehung seiner Teile untereinander unterhält, sind die Lebensgeister;
sie sind Erzeugnisse des physischen Prozesses und unterliegen daher ebenfalls den
Gesetzen der Mechanik. So werden sie, während ihr Begriff aus einer panpsychistischen
Theorie hervorgegangen war, den Anforderungen einer Mechanik des Lebens angepaßt.
Sie werden destilliert aus dem Blute im Herzen, steigen dann durch die Arterien in das
Gehirn, verteilen sich in den Nerven, werden den Muskeln zugeführt, alles nach den
Gesetzen der Mechanik. So sind die tierischen und menschlichen Organismen zweck-
mäßig konstruierte Maschinen; vermittels der Bewegung der Lebensgeister übertragen
sie die mechanischen Veränderungen in den Sinnesapparaten mechanisch auf das Gehirn
und regen dort, wieder vermittels mechanisch - gesetzlicher Bewegung, Veränderungen
in den Muskeln an, durch welche diese körperliche Maschine auf die Außenwelt
reagiert. So wird die Zweckmäßigkeit des Lebens mechanisch realisiert; und
auch ohne jede Mitwirkung eines geistigen Prinzips würde ein solcher Körper Ein-
drücke empfangen, verwerten und zweckmäßig auf sie reagieren.
In dem menschlichen Körper ist nun aber, und zwar in der Zirbeldrüse des
Gehirns, die Wechselwirkung desselben als eines zweckmäßig wirkenden Apparates mit
der denkenden Substanz hergestellt. Die Würdigung der Annahme, daß in jedem
Menschen mit der zweckmäßigen Maschine des Körpers eine freie zur Erhebung über
die sinnlichen Passionen bestimmte denkende Substanz verknüpft sei, darf nicht den
Schluß aus dem cogito sum zu einseitig betonen. Auf zwei Momenten beruhte vor
allem diese Überzeugung: auf dem Charakter der Allgemeinheit und Notwendigkeit in
unserer Erkenntnis, dann auf der sittlichen Verantwortlichkeit unserer Handlungen
und dem Erlebnis der Freiheit, welches dieser großen Persönlichkeit als die sicherste
Tatsache des Bewußtseins erscheint und das die moralische Verantwortlichkeit möglich
macht. So liegt hinter jenem scholastischen Schlusse auf die Seelensubstanz_ tiefer
reichend das Bewußtsein der Selbständigkeit und Würde des menschlichen Geistes,
wie sie im allgemeingültigen Denken und im freien Handeln sich äußert, und Kanr
denkt nur in der Linie dieses Idealismus der Freiheit folgerichtig weiter, wenn er die
Seelensubstanz als transzendente Hypothese eliminiert, jene echten Grundlagen des
Standpunktes aber festhält. Dieses sind nun die metaphysischen Voraussetzungen, welche
die Anthropologie des Descarves beherrschen. Die Bewußtseinsstellung des DEScARTES,
welche ihren Ausdruck in seiner Metaphysik findet, bestimmt auch seine Inter-
pretation der seelischen Vorgänge.
Die Anthropologie des Descarres hat so wenig als seine Metaphysik von SpınozA
ihre notwendige und folgerichtige Fortentwickelung erhalten. Gewiß gibt es Mo-
mente, in welchen eine Fortbildung von dem einen dieser anthropologischen Systeme
zu dem andern stattfindet. In andern Punkten aber verhalten sie sich zueinander
als verschiedene Möglichkeiten, die anthropologischen Probleme aufzulösen, welche
durchlaufen werden, und deren jede ihr eingeschränktes Recht, die Tatsachen zu
interpretieren, auch weiterhin behauptet hat. Wie würde Descarres, der Repräsentant
eines höchst aristokratischen Bewußtseins von der Autonomie des Menschen, darüber
gelächelt haben, wenn ihm Spiwozas Ethik als Konsequenz seines Systems wäre
vorgelegt worden!
ED u END
Dirrsey: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts (Fortsetzung). 323
Die Struktur des Systems von Hosses verläuft äußerlich in seinen Elementa
philosophiae nach folgenden Teilen. Die Körper, als die Gegenstände aller Erkenntnis,
zerfallen nach Ursprung und Eigenschaften in die natürlichen und die durch den
menschlichen Willen zusammengesetzten, und so zerfällt die Philosophie in philosophia
naturalis und in philosophia eivilis; und da nun die Erkenntnis der ingenia, affeetus
und mores der Einzelmenschen die Grundlage für die Eigenschaften von Gesellschaft
und Staat bildet: so sind Ethik und Politik zu unterscheiden. Das Charakteristische
dieser Einteilung ist, daß der Wille als den politischen Körper hervorbringend, den
Mittelpunkt der Anthropologie bildet und ihre Funktion vornehmlich in der Begründung
der Lehre vom gesellschaftlichen Körper gefunden wird. Näher ergeben sich dann die
folgenden einzelnen Abteilungen. Logik, erste Philosophie, welche beide, wie vorher
dargestellt, die Erkenntnistheorie einschließen, allgemeine Theorie der Bewegungen
und Größen, darauf gegründet Physik oder Lehre von den Naturerscheinungen, An-
thropologie, in welcher zu der Konstruktion aus der Gesetzlichkeit der Bewegungen
und aus der Physik hinzutritt die Zergliederung der inneren Erfahrungen nach ihren
Zusammenhang und ihren Abhängigkeitsverhältnissen, und endlich auf Anthropologie
gegründet Lehre von Gesellschaft, Staat, Recht und Religion. Entsprechend der
späteren positivistischen Lehre verbinde sich in jedem folgenden Teil die Hinzuziehung
neuer Erfahrungen oder vorher nicht benutzter Erfahrungsbestandteile mit der Deduktion
aus dem Früheren. Der innere Strukturzusammenliang des Systems ist bestimmt durch
die Ableitung aus den oben angegebenen logisch-erkenntnistheoretischen Sätzen. Aus
diesen folgt als der Zusammenhang der menschlichen Erkenntnis die Erklärung aller
äußeren und inneren Phänomene aus den Verhältnissen der Korpuskeln, welche das
Universum bilden, naclhı den gesetzlichen Beziehungen von Raum, Zeit und Bewegung
auf Grund einer ersten Anordnung.
Die Anthropologie entsteht durch das Zusammenwirken der Zergliederung der
inneren Erfahrungen, welche auf deren Zusammenhang nach Kausalgesetzen gerichtet
ist, mit den Schlüssen, die sich deduktiv aus der ersten Philosophie und Physik er-
geben. Wie sie die inneren Zustände durch den Begriff des conatus in den Zusammen-
hang der räumlichen Bewegungen einordnet, habe ich an anderer Stelle dargestellt.
(Archiv XIII, 445 ff., dazu vgl. Köuter, Archiv XV, in zwei Aufsätzen.) Die inneren
Vorgänge sind Bewegungen, und zwar Effekte der Bewegungsvorgänge, die am
organischen Körper stattfinden. Durch diesen Satz macht Hosses Epoche in der
Geschichte des Materialismus. Nicht die mit inneren Eigenschaften ausgestatteten
Massenteilchen sind die Träger der seelischen Vorgänge, sondern diese sind Funktionen
des lebenden Körpers.
Der Mensch ist für Hosses ein System von physischen Teilchen, welchem eine
im Herzen zentrierte Eigenbewegung einwohnt, die durch einströmende erregende
Luftteilchen unterhalten wird. Dieses System steht unter den beständig wechselnden
Einwirkungen der Außenwelt vermittels der Sinnesorgane, und es paßt den Bedürf-
nissen seiner Erhaltung vermittels seiner äußeren Willenshandlungen sein Milieu an.
Die räumlichen Bewegungen, welche die Oberfläche desselben treffen, setzen sich um
in innere (conatus); so entsteht die doppelte Reihe der Vorstellungsvorgänge und der
Gemütsbewegungen, und von diesen aus vollzieht sich wieder die Umsetzung zu der
räumlichen Bewegung der Teile des Körpers und den physischen Veränderungen in
der Außenwelt. So sind die Vorgänge des Seelenlebens nur vorübergehende Effekte
des physischen Systems, welches das Universum ausmacht, — gleichsam Interpola-
tionen in dem großen Text des Buches der Natur. Was in der inneren Wahrneh-
mung auftritt, ist nur ein Ausschnitt aus dem allgemeinen Bewegungssystem nach Ge-
setzen, dessen Erscheinung die Welt ist. Und zwar gelangen von den inneren räum-
lich unmeßbaren Bewegungen, welche im Universum auftreten, nur diejenigen zur
inneren Wahrnehmung, welche zur Wahrnehmbarkeit fixiert werden. Der Reflex-
mechanismus des DEscArTESs ist so durch Hozses zu der ersten klaren Einsicht
in die Struktur des Seelenlebens fortgebildet. Diese Struktur ist der Zusammen-
hang, in welchem die Leistungen des Seelenlebens untereinander zur Selbsterhaltune
324 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 11. Februar 1904.
des zu psychischen Vorgängen fähigen Körpers zusammenwirken, — gleichsam Mor-
phologie und Physiologie des Seelenlebens.
Weiter ergibt sich aus den Prämissen die erste durchgeführte moderne Theorie
des Determinismus. Sie beruht auf der stoischen Doktrin und gibt ihr durch die
neue mathematische Naturwissenschaft eine streng wissenschaftliche Begründung. Diese
Lehre ist schon in den frühesten Schriften von Hozses dargestellt (Elements of law,
ed. Tönnıes, cap. 1. 196 ff.). In den späteren ist sie dann systematisch begründet und
wird so endlich in dem Streit mit dem Bischof Braus#atr ausführlich, beredt und mit
einem großen Aufwand von Invektiven und von guten und schlechten Gründen verteidigt
(das Nähere Tönnıes, Hoses 160 ff.). Von hier aus entspringt für Hosses die Aufgabe
der Anthropologie, den Zusammenhang des Seelenlebens nach Gesetzen aufzuzeigen.
Hozees zuerst ist zu völliger Klarheit über den großen Satz gelangt, daß Gemüts-
bewegungen nur aufgehoben werden können durch andere Gemütsbewegungen, nie-
mals aber durch eine affektfreie Vernunft. Er zeigt ferner zuerst, wie die Spezifika-
tion der Gemütsbewegungen durch gesetzliche Verhältnisse bestimmt ist. Den Ge-
setzen der Ideenassoziation, wie sie seit Aristoteles aufgestellt worden waren, gibt er
eine originelle Fassung. Sukzedierende Bewegungen sind reproduzierbar auf Grund
der durch diese Sukzession gestifteten Verbindungen. In dieses Spiel der Assoziation
greift regulierend das Denken ein, welches am Faden des Verhältnisses von Wirkun-
gen, Ursachen und Mitteln, rückwärts und vorwärts verläuft. Diese Theorie der Ge-
setzlichkeiten des Seelenlebens vollendet sich in dem Satz: Wollen ist nur eine zu-
sammengesetztere Form des Begehrens (Opp. III, 48). Und die Anwendbarkeit der
Anthropologie auf Lebensführung und Gesellschaftsordnung ist durch den Satz der Stoa
und des Teresıo vermittelt: Das letzte Ziel aller Begehrungen ist die Selbsterhaltung.
Man bliekt in das Räderwerk einer Maschine! Denn die Vernunft ist nur dazu da,
die in uns wirksamen Antriebe durch die Urteilsbildung über die natürlichen und er-
fahrenen Werte und ihre Verhältnisse, sowie durch das Räsonnement über ihre
Folgen zu regulieren. Sie ist der Rechenmeister, der keine Werte schaffen kann,
sondern nur die Rechnung über sie führt.
Aber wie kann nun im Gebiet von inneren Vorgängen, die sich doch einer genauen
und objektiven Messung entziehen, aus solcher Rechnung eine Formel und eine Kraft,
das Leben zu regulieren und die Gesellschaft zu leiten, entstehen? Die Insuffizienz
dieser Anthropologie zur Lösung einer solchen Aufgabe zeigt sich sofort, wenn Hosses
daran geht, die Ordnungen des Staates und der Kirche aus der Natur des von ihm
konstruierten Menschen abzuleiten. Die Zurückführung aller menschlichen Gefühle,
Neigungen und Handlungen auf das Streben nach Selbsterhaltung, die Ausschließung
jeder ursprünglichen sozialen und altruistischen Anlage in unserer Natur, die Beto-
nung von Furcht, Menschenverachtung und Aberglaube unter den Gemütsbewegungen
bestimmen seine Konstruktion des Staates und der Gesellschaft. Diese Überzeugungen
entstammen nicht einer objektiven Theorie, sondern sind im letzten Grunde der
eigenste und tiefste Ausdruck seines Charakters. So verbirgt sich hinter dem Schein
logischer Argumente eine impetuose Subjektivität.
Drei Momente wirken in seinem System zusammen. Aus dem Inneren seiner
Person, wie sie auf Reisen, an Höfen und in der Beobachtung der politischen Wirren
sich geformt hatte, kam seine tiefe Misanthropie, argwöhnisches furchtsames Miß-
trauen und der lebhafte Wunsch nach einem ruhigen und gesicherten Lebenszustand.
»Glück ist nur der beständige gute Erfolg in den von uns begehrten Dingen. Solange
wir leben, gibt es keine beständige Seelenruhe; denn das Leben selbst ist Bewegung
und der Mensch kann so wenig ohne Begier, Furcht und andere Leidenschaften leben
als ohne Empfindung« (Opp. III, 50). Das zweite Moment lag in dem Charakter der
neuen großen Staaten; sie mußten Menschen von ganz verschiedener Abstammung,
Sitte und Rechtsgewöhnung zusammenzwingen; sie strebten die bestehenden organischen
Verbände sich zu unterwerfen, unter ihnen vor allen die Kirche; sie waren einerseits
genötigt mit den Eigeninteressen zu rechnen und andererseits von dem Streben geleitet,
die Souveränität voll und ganz zur Anerkennung zu bringen. Das dritte Moment war
Dirrney: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts (Fortsetzung). 325
die einseitige und hartnäckige Energie in der Anwendung der neuen mechanischen
Grundvorstellungen: sie führte zur Verneinung jedes Unterschiedes geistiger Tatsachen
vom Naturmechanismus. Eben daraus, daß diese drei Gedankenmassen in denselben
konstruktiven Zusammenhang von Körperlehre, Anthropologie und Staatslehre einzuge-
hen fähig waren, entstand der innere logische Zusammenhang dieses Systems.
Die metaphysische Grundlehre Srınozas von der unendlichen vollkommenen
Natur, welche von Gott nicht unterschieden ist, ist nicht aus Descartes abgeleitet,
sondern, wie sie uns gleich im ersten Dialog fertig entgegentritt, ist Spınoza ge-
tragen von der monistischen Bewegung der Renaissance: insbesondere erscheinen
als die Vorgänger seines Monismus Teresıo, GioRDANO BRUNO und in einigen Haupt-
punkten Hosses, und zwar stehen alle drei sichtbar unter dem Einfluß des antiken
Naturalismus, wie derselbe in den vorsokratischen Schriften über die Natur, in der
Stoa und in Lucerez ausgebildet ist. Eben um diese Zeit vermittelte eine höchst um-
fangreiche und unter den Gebildeten verbreitete Literatur diese Überlieferung. Und
den Einfluß dieser Traditionen verstärkten nun die in der Renaissance selber wirk-
samen Kräfte. Der Gegensatz gegen die mittelalterliche Weltverneinung fand seine
metaphysische Konsequenz in der Leugnung einer transzendenten Ordnung: war doch
diese im letzten Grunde Ausdruck jener Weltentsagung. Und das Evangelium von
der unendlichen und vollkommenen Natur war der Ausdruck der Weltfreudigkeit und
des Bewußtseins der Zugehörigkeit zur Natur. Dieser Geist der Renaissance lebt in
Teresıo (vgl. z. B. a.a.O. IX p. 363) ganz wie in Spınoza, und ich habe zu zeigen
versucht, wie eine so direkte Übereinstimmung zwischen einzelnen Stellen beider
Denker besteht, daß die Lektüre des Teresıo für Spıwoza dadurch wenigstens für
die Zeit der Ausarbeitung der Ethik sehr wahrscheinlich wird. Und Spıinozas religiöser
Affekt gegenüber der allwirkenden Natur war in Denkern dieser neuen Bewegumg
wie GiorRDANO Bruno vorbereitet.
Aus dieser Anschauung von einer allwaltenden göttlichen Natur ergab sich nun die
Determination aller einzelnen Veränderungen durch den Zusammenhang des Ganzen,
aus dieser aber folgte die Notwendigkeit der menschlichen Handlungen. In dieser
Weltanschauung ist kein Raum für Zufall oder Freiheit. Eine lückenlose Ordnung
verbindet im ganzen Universum Ursachen und Wirkungen zu einem Zusammenhang,
dessen logische Repräsentation der Erkenntniszusammenhang ist. Diese Lehre Spınozas
war nicht nur in Hosses enthalten, sondern drang auf Spinoza aus einer vielverbreiteten
Literatur ein. Besonders Cieeros Schrift de fato und Seneea brachten jedem Ge-
bildeten den stoischen Determinismus nahe. Lorenzo Varra de libero arbitrio (1493)
hatte zuerst ihr Verständnis den Zeitgenossen vermittelt; selbst in Deutschland hat
MErLAncHTHoN in seinen Lehrschriften die fatalis necessitas der Stoa und die Ver-
teidigung derselben durch Varta ausführlich dargelegt und bekämpft. Stoisierende
Schriftsteller für die Gebildeten, wie Lırsıus, MontaıGnE, verbreiteten die Kenntnis
derselben Lehre. In dieser ganzen Tradition gelangen die stoischen Argumente zur
Geltung, welche auch für Spınoza bestimmend waren. Die Stoiker erklären das Auf-
treten einer Veränderung ohne zureichende Ursache für logisch so unmöglich als das
Entstehen eines Etwas aus dem Nichts (Plut. de fato und Alex. de fato), dieselbe logische
Unmöglichkeit ist im dritten Axiom Srınozas ausgesprochen. Die Stelle des Cicero
de divin. Ic. 55, von dem ordo seriesque causarum, quum causa causae nexa rem ex
se gignat berührt sich mit Eth. prop. 23, Opp. I de emendat. p. 30 über ordo series-
que causarum. Alexander de fato erklärt: träte ein Vorgang im Weltall auf, ohne im
Kausalzusammenhang desselben begründet zu sein, so wäre die Einheit des Weltganzen
zerrissen, und in Spınozas Abweisung der Freiheit als eines imperium in imperio ist
dasselbe Argument enthalten.
Der Pantheismus Spiwozas erhielt nun seine unterscheidende und ganz originale
Gestalt, und die Anthropologie des großen Denkers empfing ihre weitere Begründung
durch die Unterordnung des Menschen unter den Begriff eines Modus an der Substanz
und den aus der Attributenlehre abgeleiteten Parallelismus von Körper und Geist in
diesem Modus. Noch in dem Traktat war die Annahme, daß die eine Substanz
326 Sitzung der philosophisch--historischen Classe vom 11. Februar 1904.
unendlich viele Attribute hat, unter ihnen Denken und Ausdehnung, und daß diese
beiden aufeinander wirken. In der Schrift de intelleetus emendatione wird ebenfalls
noch ein Wirken von Denken und Ausdehnung aufeinander angenommen. Diese
natürliche Voraussetzung wurde von dem Okkasionalismus erschüttert; eben nun in
den Jahren der Ausarbeitung der Ethik erschienen einige Schriften desselben, welche
die Schwierigkeiten der Wechselwirkung zwischen Körper und Geist darlegen. So
1661 Louis de la Forge traite de l’ame: hier wurden die Schwierigkeiten vorgelegt,
das Problem ward aber nur durch die Annahme eines einzigen anpassenden sött-
lichen Willensaktes aufgelöst. Dann stellte Corpemoy in seinen dissertations philo-
sophiques die Schwierigkeiten mit höchster Klarheit dar und schloß die Wechsel-
wirkung aus (diss. V p.73—81). 1666 erschien nun Geulinex, Ethica: sein Argument
aus der Konstanz der Bewegungsgröße war vor allen das stärkste. Indem Srınoza
nun ebenfalls die Wechselwirkung von Geist und Körper ausschloß, entstand nach
der Struktur seines Systems die Lehre von dem Parallelismus des physischen Mecha-
nismus des Universums und der seelischen Repräsentation desselben. Wie verschiedene
Ausgangspunkte zu dieser Lehre hinführten, mag ein Satz aus der brevis explicatio
mentis des Henricus Regius zeigen (1657). Gehe man davon aus, daß cogitatio und
extensio Attribute seien, welche bestimmten Substanzen einwohnen, so könne die
mens als ein Attribut, das demselben Subjekt wie die Ausdehnung einwohne, aufgefaßt
werden. Und endlich lag auch in dem erkenntnis-theoretischen Problem ein Motiv,
das Srınoza auf seine Lehre vom Parallelismus führte.
Die so entstehende neue Metaphysik Spınozas begründet seine Anthropologie, und
diese ist dann nicht nur die Grundlage einer Gesellschaftslehre wie bei Hosses, sondern
aus ihr geht auch ein anderer genialer Wurf in der vergleichenden Religionswissen-
schaft hervor; die tiefsten Probleme derselben werden hier durch die neuen anthro-
pologischen Begriffe aufzulösen unternommen. Zugleich tritt uns hier ein neuer Typus
der Verbindung der Affektenlehre mit der Theorie der Lebensführung entgegen, welcher
auf die größten Köpfe bis zur Gegenwart Einfluß geübt hat. Dieser Zusammenhang ist
so eng, dal ich vorziehe, die Anthropologie des Spınoza erst in diesen ihren großen
Beziehungen an späterer Stelle vorzustellen. Sie ist die höchste Form der von Teı.esıo,
Descarres und Hosses geschaffenen neuen Lehre vom Menschen. Der zentrale Begriff
der Anthropologie des Jahrhunderts war der Mensch als ein sich erhaltendes psycho-
physisches System, in welchem das Milieu Bilder, Assoziationen, Denkvorgänge,
Hinwendung, freudigen Affekt, andererseits Abwendung, das Spiel der Leidenschaften
und die geistige Arbeit der allmählichen Herrschaft über dieselben hervorruft und das
dann dementsprechend auf sein Milieu reagiert. Dieser Zentralbegriff ist von Seınoza
vollendet worden.
Die Struktur des Systems von Leıssız ist darin mit Descartes, Hosses und
SpinozaA konform, daß logische und erkenntnistheoretische Einsichten die Voraus-
setzung der Metaphysik sind, die Anthropologie metaphysisch begründet ist und in
dieser dann die Voraussetzungen für die Geisteswissenschaften enthalten sind: welchen
nun auch die Ästhetik mit klarem Bewußtsein solcher Prinzipien unterstellt ist. Die
Metaphysik selbst hat freilich eine ganz neue Struktur, durch welche sie sich den
ınodernen Begriffen über eine solche Wissenschaft annähert. Leızsız war auf die
Einheit der griechischen Anschauungsweise, wie sie sich in Platon und Aristoteles zu-
sammenfaßt, mit einem gereinigten Begriff des Christentums und mit dem naturwissen-
schaftlichen Geiste gerichtet. Dies war der Ausdruck seiner Universalität, welche alle
geschichtlich lebendige Kraft sich assimnilierte. An mehreren Stellen hebt er hervor, wie
er stets nur aufsucht was er billigen kann. So war sein Bemühen darauf gerichtet, die
Naturbegriffe mit denen zu verknüpfen, welche die geistige Welt verständlich machen.
Er bewirkte aber diese Verbindung durch eine metaphysische Konzeption. Die
Monaden, als die unzerlegbaren. sonach unräumlichen Lebenseinheiten, können nur nach
der Analogie der Geistigen gedacht werden; so sind sie einerseits der Grund der Er-
scheinung der Materie und ihrer mechanischen Ordnung, und sie erzeugen andererseits
>?
in ihrer Entwicklung aus sich die höchsten geistigen Leistungen. So wird in diesem
ea de
Dirruey: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts (Fortsetzung). 2
System die Psychologie zum Mittelpunkt des Weltverständnisses, sofern jede Realität
nach Analogie der Geister gedacht werden muß, und damit entsteht eine neue Stellung zu
dem psychophysischen Problem, welches damals das metaphysische Denken beherrschte
und die Anthropologie bestimmte. Die physische Welt ist das Phänomen der geistigen,
und der Mensch ist eine Verbindung von Monaden, in welcher diejenige regiert, welche
die Trägerin der geistigen Lebensäußerungen ist. Diese war die letzte unter den mög-
lichen Stellungen, welche das Denken des 17. Jahrhunderts zum psychophysischen Problem
einnehmen konnte. Die Universalität von Leisnız spricht sich dann darin aus, daß
er den Versuch unternahm, die Mechanik des Universums mit der Anschauung der in
ihm verwirklichten Werte, den gesetzlichen Zusammenhang in einem Ganzen mit dem
Selbstwert und der freien Macht einer Person, wie sie nun nach Anerkennung strebte,
zu versöhnen. Die mechanischen Prinzipien haben Anwendbarkeit auf die ganze Wirk-
lichkeit, und zwar können alle Phänomene der körperlichen Welt mechanisch oder durch
Zr 1686. GERH.
8.XIl.
Phil. I. 73). Aber in der letzten Analyse der Prinzipien der Physik und Mechanik
findet sich, daß man diese Prinzipien nicht durch die bloßen Modifikationen der Aus-
dehnung erklären kann: die Natur der Kraft erfordert ein Mehreres (ebenda S. 75).
Wie man eine Maschine am besten deutlich macht, wenn man den Zweck aufweist,
dem ihre Teile dienen, so wird auch das Wie des Zusammenhanges des physischen
Mechanismus deutlicher durch den Rückgang auf den Begriff des Zweckes (Gern. Phil.
IV. 339).
Hier entspringen die Gedanken, welche noch Kanr bestimmten. Die organische
Welt bedarf einen Erklärungsgrund, der die Form und den Zusammenhang des Ganzen
begreiflich macht, und die geistige Lebenseinheit fordert darüber hinaus einen Erklä-
rungsgrund für die einheitliche Spontaneität ihrer Lebensäußerung. Endlich tloß aus
dieser universalen Richtung das Streben, das Universum als einen inneren Zusammen-
hang zu erfassen, dessen Glieder stetig ineinander übergehen. So war seine größte
philosophische Konzeption die Aufstellung der Prinzipien, welche in allen Gebieten
der Wirklichkeit herrschen und diese untereinander zu einem Ganzen verknüpfen.
Im besonderen war die Aufstellung des Prinzips der Kontinuität von unermeßlicher Wir-
kung bis zu den Zeiten Hrrvers, Goernes und Hrsers. Dieses aus mathematischen
Betrachtungen bewiesene Prinzip wird nun in der Form einer metaphysischen Doktrin
zum Ausdruck gebracht. Er verlegt den Erklärungsgrund für die Eigenschaften der
organischen und der geistigen Lebenseinheit in ein Prinzip der Form. Er vollzielit
eine metaphysische Generalisation, nach welcher dieses Prinzip allen letzten Bestan(d-
teilen der Wirklichkeit einwohnt, so daß es in jedem derselben eine Fähigkeit unend-
licher Entwicklung zur Folge hat. Er verlegt dann die Verbindung dieser Entwicklungs-
einheiten in eine ursprüngliche Anordnung, auf Grund deren sie sich ohne physischen
Influx aufeinander beziehen zu einem harmonischen Ganzen. Wenn für Descartes
das starre Auseinander mechanischer Gesetzlichkeit im Raum und die lebendige Inner-
lichkeit des denkenden Geistes getrennte Welten waren, so breitet sich für Leiıenız
über das ganze Universum die Abstufung aus, die von dem Unbewußten emporführt
zur Helle des Bewußtseins: alles harmonisch zu einer Einheit verbindend durch Ent-
wicklung und Kontinuität.
Von dem Walten dieses Prinzips der Kontinuität ist er so fest überzeugt, daß
er da, wo zwischen Klassen von Wesen Übergänge und Vermittelungen zu fehlen
scheinen, ihre Auffindung als sicher voraussagt. Dieser große Gedanke war höchst
wirksam, die Evolutionstheorie vorzubereiten, wenn auch Leıenız selber vor ihr Halt
machte. Aus den vulkanischen Erscheinungen schließt er auf einen ursprünglichen
Zustand unseres Planeten und auf die Gestaltung seiner Oberfläche durch den fort-
schreitenden Prozeß ihrer Erkaltung. Er trat ein für die Erkenntnis der Versteine-
rungen als der Reste älterer Lebewesen, und so wurden ihm diese zu Zeugnissen der
Erdgeschichte. Keine Kluft zwischen einer toten Materie und dem organisierten
Körper besteht für ilın: denn dieser ist ihm ein natürlicher Automat, der nur den
die Korpuskularphilosophie erklärt werden (Leıwnız an ARNAULD
328 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 11. Februar 1904.
künstlichen unendlich überragt, denn er zeigt auch in den nur dem Mikroskop zu-
gänglichen Teilen noch feinste Strukturen und Gliederungen. Dieser vorausschauende
Geist rüttelt an der starren Systematik des Tier- und Pflanzenreiches; vielleicht daß
in irgendeiner Zeit oder an irgendeinem Ort des Universums die Arten der Tiere der
Abwandlung mehr unterworfen sind oder waren oder sein werden, als dies gegen-
wärtig bei uns der Fall ist. Und von dem Universum selber sagt er: »Erwäge ich
alles, so glaube ich, dal in dem Universum die Vollkommenheit beständig zu-
nimmt«. Wie eine Pflanze oder ein Tier hat es die Tendenz zu einem Zustand der
Reife, aber im Unterschied von diesen erreicht es dieselbe nie, geht aber auch nie zu-
rück, altert niemals. Dem entspricht vollständig, daß er die Vorstellung von einem
Kreislauf der Dinge verwirft, denn »die Seligkeit verlangt einen beständigen Fortschritt
zu immer neuen Freuden und Vollkommenbheiten«.
In einem merkwürdigen Fragment (ungedruckt und vielleicht zwischen 1676 und
1686) stellt er ein Axioma perfectionis auf und unternimmt dessen Verträglichkeit
mit dem Prinzip der Erhaltung der Kraft nachzuweisen. Im Philosophieren gehe ich
davon aus, daß etwas existiert; daher muß es, da nichts ohne Grund ist, einen Grund
geben, warum das Etwas eher (potius) existiert als das Nichts. und der Grund muß
in der res necessaria liegen. Diese Ursache erwirkt weiter, daß das »Mehr« (plus)
eher (potius) als das Weniger (minus) ist, und hieraus geht hervor »mein großes
Axiom der Vollkommenheit«: »ut maxima prodeat realitas quae haberi potest«. Rea-
lität ist nun zu schätzen nach der Menge, Mamnigfaltigkeit und Ordnung der Dinge.
In der Menge ohne die Mannigfaltigkeit wäre darum keine hinreichende Realität, weil
diese nicht nur nach der Materie, sondern auch nach den Formen abzuschätzen ist.
Und unter mehreren schlechthin Ähnlichen reichte eines aus, damit nicht den übrigen
der Platz weggenommen würde. Die Ordnung aber in der Mannigfaltigkeit liefert eine
gewisse Einheit in der Vielheit. So bezieht sich alles möglichst aufeinander und ge-
schieht mit höchster Vernunft. Es kann hiernach kein Vacuum geben, und da die
sprunghafte Veränderung eine Art von Vacuum oder Hiatus wäre, muß die Verän-
derung nach dem Gesetz der Kontinuität stattfinden. »Immer dieselbe Quantität von
Aktion und Kraft erhält sich, nämlich die größtmögliche«: »aber der Grad der Voll-
kommenheit ist nicht immer derselbe: dies darf nicht sein, weil sonst keine Verän-
derung stattfinden könnte, da sie nicht einem Zweck zustreben würde; immer also
strebt die Welt nach größerer Vollkommenheit und sie lernt immer vollkommener ihren
Urheber auszudrücken, indem sie sich entfaltet (evolvendo), »neque involutiones evo-
lutionibus aequipollent«.
Ein anderes Fragment (ungedruckt) schließt im Einverständnis mit früher Er-
wähntem den Kreislauf der Dinge aus, sonach die regierende Anschauung des Alter-
tums. »Viele Ansichten vom Weltganzen lassen sich durch die Betrachtung des Welt-
besten widerlegen, wie wenn jemand behauptet, daß in der Welt immer dasselbe bleibt,
nur mit dem Unterschiede, daß, was für jetzt hier aufhört, anderswo entstehe, oder
wenn jemand wenigstens irgendeine begrenzte Periode annimmt, nach welcher alles
Frühere in seiner früheren Ordnung wiederkehrt. Daß dies falsch sei, erweist sich
daraus, daß Gott auf diese Weise keinen Zweck in seinem Schaffen haben würde;
denn wozu findet eine Veränderung derart statt, daß alles wie vorher wäre? usw.
Eine Anschauung von unermeßlicher Tragweite! Sie sollte Naturanschauung,
Anthropologie und Geisteswissenschaften umgestalten. Sie sollte insbesondere einen
ganz neuen Zusammenhang zwischen den beiden letzteren erzeugen; indem sie das
Prinzip der Entwicklung in der Anthropologie zur Geltung brachte, ermöglichte sie
hierdurch das geschichtliche Bewußtsein innerhalb der Geisteswissenschaften.
Ein zweites Moment von der größten Bedeutung wirkte aus der Metaphysik von
Leisnız in seine Anthropologie — das Prinzip der Individualität. Fassen wir zu-
nächst seinen historischen Ursprung ins Auge. Aus dem Verhältnis der Unterordnung
des Besonderen unter das Allgemeine waren die Ideen oder substantialen Formen her-
vorgegangen. Indem das 16. Jahrhundert von der Anschauung des Universums und
des Verhältnisses vom Ganzen zu den Teilen ausging und den Eigenwert der Mannig-
Zu “
Dirrney: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts (Fortsetzung). 929
faltigkeit in diesen Teilen heraushob, entstand in Nıcoraus von (usa, CARDANO, GIOR-
a pano Bruno und anderen das lebendige Gefühl für die Bedeutung der varietas rerum
, in dem göttlichen Weltzusammenhang sowie für den Eigenwert des Individuums.
Leisnız ist nun auf das tiefste und nachhaltigste von dieser Richtung der Renaissance-
philosophie ergriffen. Sie entsprach seinem ganzen Lebensgefühl. Schon 1663 gab
er dem in seiner Disputatio de prineipio individui Ausdruck. Hier knüpfte er an
scholastische Formeln an. Die mittelalterlich realistische Voraussetzung. daß das uni-
versale einen höheren Grad von Realität als das singulare habe, unter der auch Srr-
xoza stand, wurde von ihm verneint: das Individuum ist ein ens positivum, das durch
ein Negatives nicht konstituiert werden kann: negatio non potest producere aceidentia
individualia. Die Konsequenz dieser Lehre ist, daß das Universum selbst ein »singu-
lare« ist, welches unter notwendigen Wahrheiten steht, aber in seiner Tatsächlichkeit
die Verwirklichung eines bestimmten Falles der in jenen allgemeinen Wahrheiten ent-
haltenen Möglichkeiten ist. So weit ist hier Leıenız ganz modern, der großen Inten-
tion von GoETHE und SCHOPENHAUER nächstverwandt, und nur die theologischen For-
meln, welche die Wahl dieses Falles aus den Möglichkeiten ausdrücken, müssen als
die vergängliche Hülle dieser großen neuen Anschauung von der Singularität und In-
dividualität des Universums angesehen werden. Nur eine Hülle! Denn der gott-
gesetzte Zweck ist ja nach den vorher angegebenen und vielen anderen Stellen zu
bestimmen als Individuation, welche die größtmögliche Verwirklichung aller Formen
und Stufen individualen Daseins enthält: Gedanken, welche den höchsten Ertrag der
Renaissance, ihre Bejahung des Lebens und ihre varietas rerum darstellen.
Bei Leisxız selber aber lag die neue Weltanschauung noch m den Banden der
metaphysischen Doktrin. Für ihn ruht die Möglichkeit der Entwickelung und diese
selbst nur in den Elementen des Wirklichen — den Monaden; wogegen die Formen
der organischen Natur in harter Abgeschlossenheit verharren. Zwischen den Monaden
selber besteht kein intluxus physieus. Jede derselben repräsentiert an einem bestimmten
Standort das Universum: sie ist eine Substanz, die in sich Gehalt und Regel ihrer Ent-
wiekelung trägt. Und die Klassen und Arten, die das Universum enthält, sind nicht
verbunden durch eine reale Enwickelung; sondern nur durch eine Stufenfolge der
Werte, die der aristotelischen analog ist.
So zeigt auch die Psychologie von Leıznız ein Doppelantlitz. Sie ist getragen
von den großen Gedanken der Individualität und ihres Eigenwertes, der Entwickelung,
welche in der geistigen Lebenseimheit nach einem in ihr liegenden Gesetz die Abfolge
ihrer Zustände erzeugt, und des Prinzipes der Kontinuität, und ausgehend von diesen
Prinzipien macht sie Epoche im Entwickelungsgang der Psychologie. Und in der Funk-
tion der Psychologie für die Geisteswissenschatten findet zugleich ein großer Fortschritt
; statt. Das starre natürliche System wandelt sich so, daß Lerenız die geschichtliche
Ri Weltanschauung vorbereitet. Wie nun aber die Lebenseinheit keine Anstöße von
außen empfängt, welche neue Inhalte vermitteln, geht die große Beziehung eines struk-
turierten Seelenlebens zum Milieu hier verloren, und die Entwickelung fällt in die
bloße Form der Aufklärung dessen, was die Lebenseinheit enthält.
Wir wenden uns nun zu den näheren Bestimmungen dieser neuen Anthropo-
logie. Diese müssen zunächst an den metaphysischen Begriff der Monade angeknüpft
werden. Der Mensch ist ein Aggregat von Monaden. Das Verhältnis der herrschenden
Monade, welche der Träger der geistigen Lebensäußerung ist, zu denen, welche den Kör-
per bilden, und von denen einige beständig aus ihm aus oder in ihn neu eintreten, wird
durch den Begriff der prästabilierten Harmonie gedacht. Körper und Seele sind zwei
Uhren, die weder durch einen Mechanismus so verbunden sind. daß der Gang der
einen den der andern regelt, noch von außen durch das Eingreifen einer Person be-
ständig aneinander angepaßt werden: vielmehr ist das Verhältnis so eingerichtet, daß
die Vorgänge einander korrespondieren. Der Willensimpuls und die Bewegung des
Armes entsprechen einander nur durch diese ursprüngliche Einrichtung. In dieser
künstlichen unfruchtbaren Theorie macht sich sogleich die verhängnisvolle Einwirkung
des Ausschlusses des physischen Influxus in einem System in sieh geschlossener geisti-
330 Sitzung der philosophisch--historischen Classe vom 11. Februar 1904.
ger Einheiten geltend. Die Monade, welche der Träger der Bewußtseinstätigkeiten im
Menschen ist, bestimmt nicht die anderen, aus denen der Körper zusammengesetzt ist:
sie ist herrschend, weil ihrer Verfassung bei der ursprünglichen Anordnung jene übrigen
angepaßt worden sind. Es wird sich zeigen, in welchem Umfang den influxus phy-
sieus die logischen Beziehungen zwischen den Teilen des Universums zu reprä-
sentieren vermögen. Das Seelenleben ist weiter die Funktion einer Monade. Es ist
bestimmt durch deren Eigenschaften. Unter diesen ist die erste, daß sie eine Kraft-
einheit ist. Worin immer ihre Handlungen bestehen mögen, so wird sie zu solchen
nieht erst durch Übertragung von außen befähigt, sondern besitzt in sich selbst den
Grund zu Handlungen. Substanz ist ein der Handlung fähiges Wesen (Erpam. 717). » Wir
teilen unserem Geiste eine ihm einwohnende Kraft zu, Handlungen hervorzubringen,
die in ihm selbst gegründet sind« (Gern. Phil. IV, 510). Eine solche Krafteinheit,
nicht eine Verbindung solcher, ist die menschliche Seele. Leıswız hat jederzeit den
herkömmlichen Beweis der idealistischen Philosophie für ihre einheitliche, unräumliche
Natur angenommen, nach welchem die Verbindung der Sinneseindrücke zu der Einheit
des Objektes oder des Urteiles nur unter dieser Bedingung möglich ist.
Diese Krafteinheit wird nun von Leısnız mit einem aristotelischen Ausdruck
als Entelechie bezeichnet. Er nennt Entelechie die Monade, sofern sie Autarkie in
sich trägt: diese macht sie zur Quelle ihrer inneren Handlung und gleichsam zu einem
unkörperlichen Automaten (Erpx. 706. womit Hosees zu vergleichen). Er schließt aber
aus dem Begriff der Entelechie jede Annahme eines ruhenden Vermögens aus, er be-
dient sich vielmehr des Hossesschen Begriffes vom conatus: sie ist eine Kraft, deren
Aktion erfolgen muß, wenn nichts sie hindert (Erpnu. 526). Alle Entelechien oder
Monaden müssen nun mit Perzeption begabt sein; dies folgt für Leızsız daraus, dal
die Perzeption nichts anderes ist als der Ausdruck der Vielheit in der Einheit (ex-
pressio multorum in uno) (Gern. Phil. I. 3ı1). Sind aber die Entelechien von Per-
zeption begleitet, so sind sie Seelen (Erpm. 250). Wir müssen alle Monaden als un-
teilbar, sonach als unräumliche Einheiten durch eine Nachahmung des Begriffs, den
wir von den Seelen haben, verstehen, also nach deren Analogie. Wieder geht er von
Hozses aus; auf der niedrigsten Stufe ist die seelische Aktion noch nicht fixiert. da
hierzu das Gedächtnis gehört. Perzeption ist der vorübergehende Zustand einer Mo-
nade, die in sich schließt und repräsentiert eine Mannigfaltigkeit in der Einheit, d.h.
in der einfachen Substanz. Die Perzeption und was von ihr abhängt kann nicht auf-
geklärt werden durch Begriffe der Mechanik: denn dies würde heißen durch Figuren
und Bewegungen (Erpu. 706). Sie ist die ursprünglichste Tätigkeit der Seele und als
solche noch nicht zu deutlicher Merklichkeit gebracht. Ein Geräusch, das wir per-
zipieren, aber nicht beachten, wird durch eine kleine Zunahme apperzipierbar. Dies
beweist, daß das noch unbeachtete Geräusch eine Veränderung in der Seele bewirkt
hat, da sonst eine kleine Vermehrung nicht die Merklichkeit derselben herbeiführen
könnte (Erpn. 233).
Nach dem Prinzip der Individuation, nach welchem das Weltganze in eine un-
endliche Mannigfaltigkeit von Individuen gegliedert ist, muß sich nun die Differenzierung
in der Innerlichkeit des einzelnen Individuums fortsetzen. Jede Monade oder Kraft-
einheit erzeugt in sich eine Mannigfaltigkeit von Perzeptionen |[Erpu. 706]. Diese
unendliche Differenzierung der Perzeptionen aber besteht in der Verschiedenheit ihrer
Inhaltlichkeiten. Jede Perzeption repräsentiert nach ihrem Begriffe als Ausdruck der
Vielheit in der Einheit ein mannigfaltig gegliedertes Objekt [Gera. Phil. II, 317,
Erpn. 706]. So ist die Monade in der bunten und überquellenden Fülle ihrer Per-
zeptionen nicht nur eine ganze Welt im kleinen, sondern trägt in ihnen auch zugleich
das Bild des ganzen Universums in sich; sie ist gleichsam sein lebendiger Spiegel.
Nur spiegeln die Monaden nach dem ihnen immanenten Prinzip der Differenzierung
die Welt auf verschiedene Weise. Wie sich etwa ein und dieselbe Stadt dem Beschauer
je nach seinem Standpunkt verschieden darstellt [Gera. Phil. IV. 434; Erpn. 184; 187].
Dies schließt aber zugleich ein, daß die Perzeptionen in der Monade nach den Graden
ihrer Deutlichkeit unendlich abgestuft sein müssen, und daß es also eine Unzahl un-
Diver: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts (Fortsetzung). 331
merklicher Vorstellungen in ihr geben muß. Denn die Perzeption, die wir apperzi-
pieren, muß selbst wiederum eine Menge von Perzeptionen in sich enthalten, deren
Grad von Deutlichkeit so klein ist, daß wir sie nicht apperzipieren können [Erpn.
233. 715]-
Damit sind nun im wesentlichen die metaphysischen Grundbegriffe gegeben, inner-
halb deren sich jetzt das Leienızens Anthropologie eigentümliche Problem erhebt: wie
ist die Entwicklung des menschlichen Seelenlebeus zu denken?
II. Der Fortschritt der Anthropologie in diesen Systemen.
Der erste gemeinsame Fortschritt dieser Systematiker in der An-
thropologie bestand darin, daß der Begriff von Lebenskräften in den
organischen Körpern verworfen wurde. Auf dieser neuen Grundlage
mechanischer Gesetzlichkeit, die auch die Organismen umfaßt, ent-
stand jetzt erst eine klare Fassung des psychophysischen Problems.
Jede Anthropologie wurde nun auf eine der möglichen psychophysischen
Hypothesen gegründet. Die verschiedenen Möglichkeiten, unter der
Voraussetzung der mechanischen Gesetzlichkeit in der physischen Welt
das Problem des Verhältnisses der Reihe physischer Vorgänge zu der
anderen Reihe der psychischen, die im Menschen verbunden sind, auf-
zulösen, wurden klar formuliert und zuerst an der Erklärbarkeit der
Erfahrungen von diesen verschiedenen Voraussetzungen aus erprobt.
Es entstand endlich Klarheit darüber, was einem solchen körperlichen
Apparat als seine Leistung zugeschrieben werden könne; die trübe
Mischung des Physischen und Psychischen in den Begriffen von einer
vegetativen und animalischen Seele endigte: der direkte Übergang aus
dem Stoff zu Lebensgeistern, deren Leistungen auch aus den Be-
dingungen physischen Geschehens nicht streng abgeleitet waren, ver-
schwand aus dem Seelenleben: der Boden für die moderne Anthro-
pologie war gereinigt.
Der zweite Grundzug der Anthropologie dieser großen Systeme
entstand aus der Übertragung der Methoden und Grundbegriffe einer
mechanischen Konstruktion der Körperwelt auf das Gebiet des geistigen
Lebens. Descartes machte den Übergang zu dieser neuen Anthro-
pologie dadurch, daß er die Lebensgeister in allen ihren Leistungen
der mechanischen Gesetzlichkeit unterwarf. Die vollständige Über-
tragung der mechanischen Gesetzlichkeit auf das geistige Leben voll-
zog sich dann erst in Hosses und Srınoza. Und Srmoza hat zuerst
vollständig und systematisch das Gebiet der Gemütsbewegungen und
Willensvorgänge als einen Zusammenhang nach Gesetzen zu begreifen
versucht.
Doch dauerte immer noch, entsprechend der Struktur dieser Systeme, die Unter-
ordnung der Anthropologie unter die Metaphysik fort. Die Anthropologie war ab-
hängig von der metaphysischen Lösung des psychophysischen Problems. Sie war
332 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 11. Februar 1904.
bestimmt durch den scharfgeprägten Begriff der Seele: dieser war abgeleitet aus der
Interpretation der Erfahrungen durch die in scharfen Sonderungen klar und deutlich
voneinander sich abhebenden, verstandesmäßig auseinandergerissenen Begriffe von
Substanz, Attribut, Modus, Ursache und Wirkung. Sie stand endlich in bezug auf
die Wertbestimmung der typischen Lebensvorgänge unter der Konsequenz der meta-
physischen Prinzipien. Im Vergleich zu der freieren lebendigeren Interpretation der
Erfahrung war eine solche Anthropologie im Nachteil gegenüber manchen Schriften
des 16. Jahrhunderts. Aber in diesem Stadium hat doch nur die Anwendung meta-
physischer Begriffe die Aufstellung eines das ganze seelische Gebiet umfassenden Kausal-
zusammenhangs ermöglicht. Und jede wirksame Metaphysik hat eine Seite der Wirk-
lichkeit herausgehoben und einseitig von ihr aus das Ganze systematisiert: so schärfte
sie den Blick für die von ihr aus erkennbaren anthropologischen Kausalzusammen-
hänge: sie begann sie auszulösen aus dem konkreten Komplexe des Seelenlebens. Da-
mit leistete die Metaphysik der Anthropologie den Dienst, welchen der Naturwissen-
schaft die Hypothesen geleistet haben, durch welche Induktion und Experiment geleitet
wurden. Und eine andere Folge: der menschliche Geist durchlief damals die Mög-
lichkeiten, den Sinn und den Zusammenhang des Lebens aufzufassen. Es folgten ein-
ander die heitere moralische Rationalität des Descarres, dann die Überzeugung von
der ausschließlichen Triebkraft der Selbstbehauptung durch die Affekte in allen mensch-
lichen Handlungen, in der uns Hosses finster ja schrecklich entgegentritt, weiter die
metaphysische Formulierung des Entwicklungsganges durch die Passionen zur Liebe
Gottes aus adäquater Erkenntnis in Spınoza, endlich die Erfassung der vollen seelischen
Lebendigkeit in den Relationen von unmerklichen Vorstellungen mit der Apperzeption
und in der unendlich fortschreitenden Entwicklung des Geistes zur rationalen Moralität.
Und so entstand damals die große innere Freiheit, das Leben nach den verschiedenen
in ihm enthaltenen Seiten aufzufassen. Darin lag ein neues Moment der Souveränität
des Geistes. deren nun das 18. Jahrhundert genoß, und eine Vorbereitung des geschicht-
lichen Bewußtseins, welches das Werk des neunzehnten gewesen ist. Und für das
Verständnis des Lebens, wie es die Menschen des 17. Jahrhunderts über Literatur
und Kunst erfüllt hat, war gerade die Kombination der dynamischen Betrachtungs-
weise mit der Lebensauffassung, wie diese metaphysische Anthropologie sie vermittelte,
höchst wichtig.
Das aber war nun der Hauptfortschritt, daß diese neue Methode,
welche vom stolzen Bewußtsein erfüllt war, von den Seelenvorgängen
zu reden wie der Mathematiker von Figuren oder wie der Physiker
von den Gesetzen der Bewegung, durch die strikte Anwendung der
Kausaluntersuchung zu den ersten strengen Theorien in den einzelnen
Zweigen der Anthropologie gelangte. So konnten nun auch in der
Moral die Paränese und in der Politik das leere Ideal dem wissen-
schaftlichen Denken Platz machen.
Der Grundstein der modernen Psychologie wurde damals gelegt durch die Er-
klärung der Sinneswahrnehmungen. Mehrere Momente wirkten zusammen, daß
hier die am meisten dauernde psychologische Leistung des Jahrhunderts vollbracht wurde:
eine Leistung, die gleichmäßig entscheidend für Anthropologie und Erkenntnistlieorie
geworden ist. Der methodische Fortgang forderte auf diesen beiden Gebieten der Phi-
losophie zuerst die Auflösung dieses Problems. Zugleich war die Sinneslehre am
meisten den exakten Bestimmungen des naturwissenschaftlichen Denkens zugänglich.
Und zwar stand die Anwendung der Fortschritte in der Optik auf die Psychologie des
Gesichtssinns im Mittelpunkt dieser Forschungen des 17. Jahrhunderts. Endlich forderte
die mechanische Theorie der Materie eine erkenntnistheoretische Ergänzung durch den
psychologisch begründeten Beweis der Subjektivität der in den Sinnesempfindungen
gegebenen qualitativen Bestimmungen der Gegenstände. Dies sind die Momente, welche
Dirıner: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts (Fortsetzung). 333
nunmehr in der Entstehung der ersten wissenschaftlichen Theorie der Sinneswahr-
nehmungen zusammengewirkt haben. Die Kritik der sinnlichen Weltanschauung war
zuerst in Demokrit als das Korrelat seiner Mechanik qualitätsloser, nur nach den Ver-
hältnissen von Raum, Größe, Gestalt und Stellung verschiedener Atome aufgetreten.
Aus den angegebenen Motiven ging nun das Bedürfnis hervor, die unvollkommene
atomistische Erklärung der Entstehung der Sinnesqualitäten zu verbessern, und so
erklärt sich, daß Gariteı, Descartes und Hosses ungefähr gleichzeitig diese Aufgabe
zu lösen, und so psychologisch die von der Physik erforderte Subjektivität der sinn-
lichen Qualitäten erklärbar zu machen unternahmen. In diesem Vorgang war nun aber
entscheidend, daß Descartes in seiner Dioptrik die Lehre von den Bildern, die sich
vom Objekte ablösen und in das Auge eintreten, durch eine mechanische Theorie er-
setzte. Nimmt man das zwischen dem Außenkörper und dem wahrnehmenden Auge
befindliche Medium als relativ starr an, so wird von dem äuleren Gegenstande aus
ein Druck zum Siunesorgan fortgepflanzt. So wie ein solcher Druck von dem Blinden
empfunden wird, der tastend mit seinem Stabe an einem Gegenstande hingeht und so
sich ein Bild desselben verschafft. Demnach rufen die quantitativen Verhältnisse von
Größe, Gestalt, Bewegung, Lage, Dauer und Zahl der Gegenstände die Eindrücke des
Gesichtssinnes hervor. Und in verschiedenen wichtigen Punkten, wie der Erklärung
dafür, daß wir die Objekte aufrecht sehen und in der Erklärung des Regenbogens, hat
Descartes die modernen Theorien der Gesichtswahrnehmung vorbereitet. Die Schwierig-
keiten in dieser Theorie haben ihre Fortbildung durch Hosses erwirkt, der vor dem
Erscheinen der Dioptrik des Descartes noch Anhänger der Spezieslehre war, dann
aber ebenfalls sehr viel zu deren Beseitigung beigetragen hat. Auch die anatomische
Struktur der anderen Sinne und die Bewegungsvorgänge, welche die Eindrücke in
ihnen hervorrufen, sind von Descartes in der Intention untersucht worden, die
Qualitätenkreise dieser Sinne und deren subjektive Geltung abzuleiten. Der Tast-
sinn ist ihm der Grundsinn. Der neue Standpunkt der Erkenntnis der Sinnesleistun-
gen, welcher den Beginn der modernen Anthropologie bezeichnet, wird am besten
in den Schlußparagraphen der Prinzipien überblickt. Wie denn überhaupt nicht
auf die Meditationen, sondern auf diese viel reifere Schrift die Vorstellung der
Lehre des Descartes zu gründen ist. Der menschliche Geist hat seinen Sitz im Ge-
hirn, hier kommt auch die Empfindung zustande, von dem Gehirn aus verlaufen die
Nerven nach allen Seiten des Körpers, so daß keine Stelle desselben berührt werden
kann, ohne daß an ihr Nervenenden in Bewegung geraten. diese Bewegung sich auf
das Gehirn überträgt und die Seele so entsprechend der Verschiedenheit der Bewe-
gungen zu sinnlichen Wahrnehmungen angeregt wird. Daß der Geist vermittels des
Gehirns die Vorgänge im Körper auf Anlald des Bewegungsvorganges im Sinnesnerven
empfindet, zeigt sich in Gehirnkrankheiten, welche die normale Empfindung stören.
oder bei Aufhebung der Verbindung der Sinnesnerven eines Gliedes mit dem Gehirn,
da dann diese Glieder ihre Empfindungsfähigkeit verlieren. Und zwar können die in
das Gehirn übertragenen Bewegungen in dem Geiste (Qualitäten der Einpfindung, die
den Bewegungen ganz unähnlich sind, hervorrufen. Dies beweist, wie Garirer schon
hervorgehoben hatte, das Gefühl des Kitzels und das des Schmerzes, welche durch
Berührung hervorgerufen werden können. Er verallgemeinert nun diesen Erweis
der Subjektivität der sinnlichen (Qualitäten in der Richtung, in welcher
‚JoHANNEs MÜLLER ihn dann durchführte. Die örtliche Bewegung in den Sinnesnerven,
in der Leitung zum Gehirn und in diesem selbst vermag im Hautsinn Kitzel durch Be-
rührung, im Auge Lichtfunken durch Stoß und im Ohr durch Zuhalten desselben mit
dem Finger ein zitterndes Gemurmel hervorzubringen. Und endlich beruft er $ich dafür,
daß die qualitativen Unterschiede in den Empfindungen aus der Mannigfaltigkeit der
Bewegungsvorgänge entstehen, wie später Locke darauf, daß Raumunterschiede und
Bewegungen ebensowohl im Gesichtssinn als im Tastsinn aufgefaßt werden, während
Farben, Töne. Geschmack, Geruch nur in je Einem Sinne auftreten. Ferner be-
gründet er denselben Satz daraus, daß ihre Auffassung klar und deutlich sei. Auch
gibt Descarıes bereits eine Erklärung der phantastischen Gesichtserscheinungen, in
Sitzungsberichte 1904. 26
39 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 11. Februar 1904.
deren Bann noch ein CArvano ganz verstrickt gewesen war. Es sind Sinneswahr-
nehmungen, wie die von Außengegenständen hervorgerufenen; aber der Eindruck
gelangt nicht vom Sinnesnerven in der Nervenbahn zum Gehirn, sondern er entsteht
in diesem selber durch die Bewegung der Lebensgeister, welche die Spuren ver-
gangener Eindrücke in einer bestimmten Richtung erregen. So entstehen Träume.
Halluzinationen, aber auch das Spiel der Seele mit Erinnerungsbildern.
Die Theorie der Sinneswahrnehmung und ihrer Subjektivität sowie der Sinnes-
täuschungen ist durch Hogses von dem Prinzip eines mechanischen Systems aus, das auch
die Bewußtseinserscheinungen in sich begreift, durchgeführt worden. Dabei mischen
sich wunderlich Fortschritte über Descartes hinaus mit Rückständigkeiten. Einer
der wichtigsten Fortschritte bestand darin, daß er die von Außengegenständen be-
stimmten Empfindungen, die Traumerscheinungen und die Halluzinationen unter
Einen Gesichtspunkt zusammengefaßt hat. Das Sinnesbild entsteht unter
normalen Verhältnissen aus der Reaktion gegen den äußeren Bewegungsvorgang,
welche im Beginn der Bewußtseinserscheinungen stattfindet. Diese Reaktion kann
nur eine Bewegung sein, da Bewegung immer wieder Bewegung hervorbringt; aber
dieselbe hat kein angebbares Verhältnis zu endlichen Raum- und Zeitgrößen, wir
werden derselben, während sie für das begriffliche Denken dem System der räum-
lichen Bewegungen eingeordnet ist, nur als einer intensiven Wirkung inne, und diese
ist die Empfindung und das aus Empfindungen bestehende Bild. Diese Empfindung
aber wird vermittels der Einrichtungen, welehe das Festhalten einer eingedrückten
Bewegung ermöglichen, zu Dauer und Vergleichbarkeit erhoben, wodurch dann erst
Bewußtsein in unserem Sinne entsteht. In diesen Sätzen bereitet sich die von
Leienız zu höchster Deutlichkeit erhobene Unterscheidung der Bewußtseinsstufen
vom Unmerklichen aufwärts vor. Denn die intensiven Zustände (conatus), die wir
seelisch nennen, haben nun ihre breite, unermeßlich mannigfaltige Grundlage an
den Reaktionen, welche nicht festgehalten und verglichen werden. Nur dal bei
Hosers diese Reaktionen nach Entfernung des Gegenstandes wieder aufhören, sonach
nicht nur unmerklich, sondern auch flüchtig dahingleiten. Hieraus folgt dann eine
weitere wichtige Einsicht von Hosses. Bewußte Empfindung tritt nur auf, wo wir
unterscheiden; würden alle Teile des körperlichen Systems entweder ruhen oder in
derselben Bewegung begriffen sein, so entstände keine bewußte Empfindung. Mit
diesen Sätzen ist aber eine der sonderbaren Rückständigkeiten von Hosses verbunden.
Das Organ der seelischen Zustände bestimmt er im Gegensatz gegen die klare
anatomische Einsicht des Descartes als das Herz. Aus denselben erklärenden
Momenten leitet er Träume und Halluzinationen ab. Während des wachen
Lebens rufen die Bewegungen von den Sinnen her im Herzen Veränderungen des Blıt-
umlaufs und durch sie bedingte Gefühle hervor, und diese erwirken die Phantasmen.
Es ist dieselbe Bewegung, die, von Außenobjekten her, im normalen Leben stattfindet,
aber in umgekehrter Richtung. Die Bilder aber sind zusammengesetzt aus Erinnerungen,
ihre Klarheit ist dadurch bedingt, daß wir im Schlaf abgeschlossen sind gegen die
äußeren Eindrücke. Und wie nun Hosees überall das Affektive bevorzugt, hat er
übereinstimmend mit manchen späteren Erklärern aus Traumbildern und Halluzinationen
die Entstehung des Geister- und Gespensterglaubens und schließlich die religiösen
Grundvorstellungen abgeleitet. Die Projektion der Bilder erklärt er aus dem Gegen-
streben in dem zum Bild erregten Organ.
Die aus dem Wahrnehmungsvorgang abgeleitete Perzeption, welche der res
(Srıvozas modus) entspricht, ist nun für die ganze Anthropologie des Jahr-
hunderts das psychische Grundgebilde, an das alle weitere Ableitung seelischer
Voreänge anknüpft. Nicht als ob Descarıes, Hosses und Srinoza nicht wüßten,
daß sich die Perzeption aus Empfindungen zusammensetzt: aber erst Locke und Leısxız
haben fruchtbare Einsichten über den Aufbau der Wahrnehmung aus den Empfindungen
sewonnen: damit beginnt sich erst die Starrheit des Perzeptionsbegriffs zu lösen.
Diese Perzeptionen, als die psychischen Grundgebilde, setzen sich, wenn die Bewe-
gung aufhört, die sie hervorbrachte, in Erinnerungsbilder um. Die Lehre von der
EM
Diveney: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts (Fortsetzung). 335
Ideenassoziation und dem Gedächtnis wird in dieser Epoche vornehmlich fortgebildet.
indem deutlichere anatomische Vorstellungen zur Erklärung des Erinnerns angewandt
werden. Descarres spricht von Spuren oder Dispositionen, die im Gehirn zurück-
bleiben und vergleicht sie mit Faltungen, die in einem einmal zusammengelegten Papier
zurückbleiben. Hosses begründet auf solche Vorstellungen sein Assoziationsgesetz, naclı
welehem die in dem Wahrnehmungsvorgang entstandene Verbindung durch Sukzession
in den Residuen zurückbleibt und die Reproduktion ermöglicht. Vorzüglich entwiekelt
dann Hozses den Unterschied zwischen dem unwillkürlichen Gedankenlauf und dem
vom Willen geleiteten Denken. Das Denken entsteht ihm durch die Zerlegung der
Perzeptionen und die neuen Verbindungen ihrer Bestandteile. Und seine Ausbil-
dung der nominalistischen Lehre von der Bedeutung der Zeichen für das Denken be-
reitet LEIBNıZz vor.
Ebenso ist die andere Seite des Seelenlebens, die Lehre von der Entstehung und
den Formen der Bewegungen in dieser Zeit gefördert worden auf Grund genauerer
Vorstellungen von den anatomisch- physiologischen Bedingungen. Es war von durch-
sreifender Bedeutung, daß die Theorie des Drscarres vom Körper als einem Auto-
maten und seiner Wechselwirkung mit dem Geiste den Unterschied zwischen Reflex-
bewegungen und willkürlichen Handlungen aufklärte. Er zuerst konstruiert einen
Apparat des Körpers, in welchem die äußeren Reize ohne Zwischeneintreten seelischer
Leistungen Bewegungen der Glieder auslösen. Dieser automatische Zusammenhang
ist der äußere Mechanismus, dessen sich der Wille bedient, wenn er Zweckhandlungen
durch seinen Impuls hervorruft. Jede Handlung der Seele besteht darin, daß sie da-
durch, daß sie etwas will, eine Bewegung der mit ihr verbundenen Zirbeldrüse er-
wirkt, in der Weise, wie sie zum Hervorbringen der Wirkung erforderlich ist, welche
diesem Willen entspricht (Passions I 41). Die Vorstellung ruft bei den willkürlichen
äußeren Handlungen die Bewegung hervor, und zwar bewegt die Seele die Zirbeldrüse.
und diese Bewegung pflanzt sich durch die Nerven zu den Muskeln fort und erweckt
so die Bewegung der Glieder; bei den inneren Handlungen werden im Innern des
Herzens die Veränderungen herbeigeführt, welche für das Erinnern oder die Spannung
der Aufmerksamkeit in einer bestimmten Richtung oder für die Auffassuug eines Ge-
genstandes unter bestimmten Bedingungen erforderlich sind.
Denkt man sich nun einen Körper als Automaten, dessen Veränderungen durch
die Außenobjekte hervorgerufen werden und der nach seiner Struktur auf die Außen-
objekte reagiert. Denkt man sich weiter bewußte Vorgänge, welche, worin immer
gegründet, diesem Nexus der Bewegungen in dem Automaten zugeordnet sind —
und das ist die Aufstellung, welche Descarres, Hozses, Spıinoza, Leiznız in irgend-
einer Weise ausgebildet haben —: dann bildet den Mittelpunkt der Psychologie
in allen diesen Systemen der seelische Zusammenhang, in welchem die von
außen hervorgerufenen Eindrücke sich nach inneren Gesetzen umsetzen in zweckmäßige
äußere oder innere Willenshandlungen. Der Verlauf, in welchem die Bilder entstehen,
die Assoziationen derselben sich ausbilden und so Erinnerungen und Phantasiebilder
möglich werden, ist erörtert. Der weitere, in welchem logisches Denken, Sprach-
zeichen, die Methoden der Forschung und die Kategorien der Weltauffassung sich
ausbilden, wurde entsprechend den Traditionen der antiken Philosophie ganz verschieden
gefaßt: insbesondere machte sich hier der Grundgegensatz zwischen der Lehre von im
Geist angelegten begrifflichen Elementen und dem Empirismus geltend. Ich darf mich
hier auf frühere Darlegungen berufen!, und nur über das neue Stadium, in welches
durch die Psychologie des Leısnız diese Probleme traten, wird bei dieser zu sprechen
sein. So wenden wir uns nun dazu, in welcher Weise das Denken, die Gemütsbe-
wegungen und der sittliche Wille in allen diesen Systemen als zusammenwirkend zu
dem einheitlichen Lebensprozeß aufgefaßt sind, welcher im Zentrum dieser neuen Anthro-
pologie steht. Ein großer gemeinsamer Grundzug verknüpft zunächst in dieser zen-
tralen Theorie die Hauptsysteme des Jahrhunderts. Sie geben eine typische Ent-
! Archiv für Gesch. der Phil. XIII, 347— 360 und 445 — 482.
26*
3506 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 11. Februar 1904.
wicklung des menschlichen Geistes, von der Macht der Leidenschaften über
die Seele bis zu der Befreiung durch die Einsicht. Hierin beruhen sie alle auf dem
römisch-stoischen Lehrmaterial. Es ist dargelegt, wie dieses ebendamals ins-
besondere in der niederländischen Philologie zu erneutem Verständnis und ganz all-
gemeiner Wirkung gelangt ist. Der grandiose Zug dieser stoisch-römischen Ethik,
welche von der Beschreibung der Macht der Leidenschaften fortschreitet zu der sitt-
lichen Autonomie, die auf die Erkenntnis der natürlichen Bezüge unseres Geistes mit
dem Zusammenhang der Dinge gegründet ist, hat ihr den stärksten und dauerndsten
Einfluß verschafft, den je eine philosophische Ethik hat erringen können. Von ihren
Begriffen sind alle diese Systeme durchzogen: wie denn die Macht des römischen
Geistes in diesem Zeitraume im Kampf mit den christlichen Ideen oder auch in Ver-
bindung mit ihnen sich überall geltend machte. Diese Lehre von der Lebensführung
wirkte zunächst durch die Mittelglieder, die wir in der Anthropologie des 16. Jahr-
hunderts durchlaufen haben. Vor allem erfaßte Teresıo in der Selbsterhaltung das
höchste Gut des Menschen und den Maßstab für die Beurteilung und die Regulierung
der Affekte, bestimmte als die Verwirklichung des höchsten Gutes die erhabene Ge-
mütsverfassung (sublimitas), welche auf der Weisheit beruht, von einem starkmütigen,
festen Willen (fortitudo) getragen ist und im eigenen Gefühl ihres Wertes lebt. Ein
Begriff, dem ganz der magnanimite und generosite des Descartes entspricht. DescAarrEs
war aber in den Niederlanden zugleich ganz umgeben von direkter stoischer Tradition,
und seine Briefe über das glückselige Leben an die Prinzessin Erısager# und über
das höchste Gut an die Königin Curısrına von Schweden sind von den Ideen der
stoischen Schule, insbesondere des Seneca, erfüllt. Und Hosses nahın als huma-
nistischer Gelehrter die antike Tradition in sich auf. Doch haben diese Denker die
stoischen Ideen zugleich selbständig unter der Einwirkung der neuen Anthropo-
logie auf bedeutende Weise, fortgebildet. Ringt sich doch in ihnen die Erkenntnis
durch, daß eine Gemütsbewesung immer nur durch eine andere überwunden werden
kann: wir werden sehen, wie Descarres schon auf dem Wege zu derselben sich be-
findet. Es entsteht die Einsicht in einen gesetzlichen Zusammenhang, in welchem die
typischen Formen der Gemütsbewegungen verknüpft sind. So blicken diese Philosophen
mit dem Auge des Naturforschers in den kausalen Zusammenhang nach Gesetzen, der
in dem scheinbar zufälligen Spiel der Affekte waltet. Und sie machen die Kausaler-
kenntnis fruchtbar für die Theorie der Lebensführung und die Geisteswissenschaften,
indem sie von Teresıo und Hozsers ab in der Selbsterhaltung einen Maßstab für eine
Wertbestimmung der Affekte gewinnen, der in der Seele selber gelegen ist und nicht
dureh eine äußere Teleologie an deren Vorgänge herangebracht wird. Eine solche
Wertbestimmung werden wir auch bei Srınoza, dem Gegner der gewöhnlichen teleo-
logischen Betrachtungsweise, finden: seine ganze Ethik beruht auf ihr.
Die Anthropologie hat nur langsam die seelischen Tatsachen zum Bewußtsein
gebracht, typische Formen derselben untersucht und mit Namen bezeichnet, dieselben
zergliedert und von ihrem inneren Zusammenhang untereinander Vorstellungen ge-
bildet. In dieser bis heute fortgehenden Arbeit war von besonderer Schwierigkeit die
Unterscheidung und Bestimmung der Zustände des Bewußtseins selber.
Auf Grund der Lehre des Platon und des Aristoteles von der Zusammenfassung
und Vergleichung der Sinneseindrücke durch die Einheitstätigkeit des Denkens unter-
schied Galen die Veränderung des Sinnesorganes durch den äußeren Eindruck vom Be-
wußtwerden desselben, und Provın sonderte die Synthesis und die Verständigung der
Eindrücke durch das Denken, als gegründet in der Einheit des Bewußtseins, von den
Inhalten selber, die zusammengefaßt und verstanden werden; er sonderte vom bloßen
Stattfinden von Eindrücken und inneren Zuständen ihre Erhebung in das deutliche
Bewußtsein durch die Aufmerksamkeit, und er sah schließlich die wesentliche Eigen-
tümlichkeit des menschlichen Geistes im Selbstbewußtsein, in welchem der Geist, der
denkt, sich dessen bewußt ist, daß er denkt.
Leienız, der größte Psychologe des 17. Jahrliunderts, hat diese Begriffe mit
der stoisch-römischen Lehre von den kleinen, d. h. unmerklichen Vorstellungen zur
Dirrsey: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts (Fortsetzung). Sal
Einsicht in den Entwickelungszusammenhang der typischen Formen und der Grade des
Bewußtseins verbunden. Die Seele ist Entelechie, die als Einheit in dem Mannigfachen
ihrer Perzeptionen wirksam ist; sie hat die Tendenz zur Variation, zum Fortschritt
von Perzeption zur Perzeption und zu der zunehmenden Klarheit und Deutlichkeit
der Perzeptionen. Die unbemerkten Perzeptionen gelangen zu verstärktem Bewußtsein
durch die Aufmerksamkeit, und diese wendet sich wechselnd unter den unzähligen
gleichzeitig vorhandenen, unmerklichen Perzeptionen einzelnen zu, während sie in Rück-
sicht der anderen gleichsam in einem partiellen Schlaf sich befindet. Apperzeption
ist nun die Erhebung der unmerklichen, dunklen und verworrenen Vorstellungen zu
klarem und deutlichem Bewußtsein. In diesem Fortgang entstehen die Aneignung der
Perzeptionen, das Selbstbewußtsein und die Erhebung der in der Monade dunkel ent-
haltenen Beziehungsbegriffe, durch welche das Universum gedacht wird, zu klarer
Erkenntnis und zur Anwendung auf das gegebene Mannigfaltige. Die Perzeption ist
zunächst von keiner unterscheidenden Tätigkeit begleitet; der nächste Schritt ist, dal
sie von den anderen Perzeptionen unterschieden wird. Auf der Stufe der deutlichen
Vorstellung werden dann die in ihr enthaltenen Teile gesondert, und das Ich unter-
scheidet sich im Selbstbewußtsein von ihr. Dieser Fortschritt zu immer deutlicherer
Vorstellung findet statt in einer kontinuierlichen Stufenreihe. So ermöglichen die neuen
Begriffe die Durchführung des von Leısnız aufgestellten Prinzips der Kontinuität im
Seelenleben. Ihr Licht erstreckte sich über alle Gebiete der Psychologie. Durch sie
wurde der innere Zusammenhang der wechselnden verschiedenartigen Zustände der
Seele im Lebensverlauf verständlich, welehen Platon und die Stoa herausgehoben hatten:
die Seele trägt in jedem Momente ihre ganze Vergangenheit in sich, und die Be-
stimmungsgründe für ihr zukünftiges Verhalten liegen in ihr. Die scharfen Be-
grenzungen ihrer Zustände bei Descartes, die starren Vorstellungen und Volitionen
des Spınoza werden nun endlich durch Leıenız überwunden: hierin reicht Leırsız
über die Aufklärung hinaus in das geschichtliche Denken der folgenden Epoche. Und
auch für die Lehre von den menschlichen Gemütsbewegungen entstand nun eine ganz
neue Grundlage.
Die Atfektenlehre des 17. Jahrhunderts.
Die eigentümlichste Funktion der Anthropologie des 17. Jahrhun-
derts ist, in Fortentwickelung der des 16.: eine Theorie der Lebens-
führung, ja weiterhin die Geisteswissenschaften zu begründen, und
zwar aus der Theorie der Affekte. Eine typische Entwickelung zu einer
'ationalen Lebensführung wird aus dem Zusammenhang der Affekte
abgeleitet. Dies fordert, dal in den Affekten ein Maßstab ihres Wertes
und eine Kraft, ihn zur Geltung zu bringen, enthalten sei.
Dem Zuschauer des Spieles menschlicher Leidenschaften zeigt sich eine grenzen-
lose Mannigfaltigkeit der Gemütsbewegungen. Bevor die Wissenschaft sie analysiert,
heben die Sprache des Lebens und die an sie angeschlossene Begriffsbestimmung
typische Formen wie Freude, Mitleid, Hoffnung, Begierde heraus. An diesen hat,
wie wir sahen, zunächst die Anthropologie ihren Erkenntnisstoff. Und daher bildet
ihre Klassifikation und ihre Verbindung zu einer inneren Geschichte der Seele das
große Thema dieser Anthropologie auch während des 16. Jahrhunderts. Sie werden
wie feste Entitäten behandelt. Und erst Leıisnız beginnt hinter diese wieder auf den
Fluß des Lebens zurückzugehen. Will ınan die Einteilungen der Affekte würdigen, so
ist zunächst die richtige Einsicht hervorzuheben, daß in jedem Typus einer Gemüts-
bewegung Gefühl und bestimmte gedankliche Elemente verbunden sind und ein Trieb
angelegt ist. In jeder Freude ist der Trieb sie festzuhalten, in jedem Schmerz ein
Trieb zur Befreiung angelegt. Hossrs bemerkt tiefsinnig, daß in jeder im Vorgang
338 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 11. Februar 1904.
der Befriedigung entstehenden Freude, da die Befriedigung gleichsam stückweise ein-
tritt, das Begehren fortdauert. Und wie das Gefühl Ausgangspunkt eines Begehrens
sein kann, so kann es auch aus ihm in seinem Verlauf entstehen.
Verschieden sind die Wertrelationen der Gemütsbewegungen. Hoffnung und
Furcht begleiten die Wertrelationen eines Zukünftigen zu unserm Leben; wogegen
Freude und Schmerz sich auf gegenwärtige Erweiterung oder Hemmung unseres Le-
bens beziehen. Liebe und Haß dagegen begleiten Relationen, in denen das Gefühl
der Erweiterung oder Hemmung unseres Lebens überwogen wird von dem objektiven
Wertgefühl. Ebenso tritt in Gefallen und Mißfallen, in der Freude an uns selbst, in
der Verehrung anderer die Rückbeziehung auf Nutzen oder Schaden oft ganz zurück
hinter dem Gefühlseindruck von Werten. Endlich in Mitleid und Mitfreude zeigen sich
Formen der Miterregung, in denen eine Rückbeziehung auf uns selbst nicht enthalten ist.
Andrerseits finden wir Unterschiede der Stärke. des Ablaufs, der Dauer. des
plötzlichen Hervorbrechens und raschen Verschwindens, des Anklingens und Abklingens,
des Anschwellens und Abschwellens, der Ausbreitung, der Schärfe oder Weichheit.
Aus den Verschiebungen in den Verhältnissen soleher Relationen und Faktoren
der Gemütsbewegungen geht die Umwandlung eines affektiven Typus in den andern
hervor. Bald nähert sich der allgemeine Gemütszustand diesem. bald jenem affektiven
Typus, dann wiederum zeigt er immer kompliziertere Mischungsverhältnisse; es ent-
stehen Gefühlskomplexionen. Stimmungen. deren einzelne Bestandteile kaum mehr
aufzuweisen, kaum mehr auf affektive Typen zu reduzieren sind; alles dies bedingt
durch äußere Einwirkungen und dureh den seelischen Strukturzusammenhang, durch
Disposition, durch Nachwirken früherer Gefühlserlebnisse.
Betrachtungen solcher Art zeigen deutlich, daß die Erkenntnis dieser Zustände
hinter ihre typische Formen auf die in ihnen enthaltenen Faktoren zurück-
sehen muß. um sie in dem Zusammenhang des Lebens zu verstehen. Man darf die
typischen Formen nieht als starre Entitäten auffassen. die in Wirkliehkeit isoliert auftreten.
einander bekämpfen und verdrängen, vom Kampfplatz wieder verschwinden, um
anderen gewissermaßen hypostasierten Typen Platz zu machen, sondern muß immer
von neuem auf den Gesamtzusammenhang des Gemütslebens. in seiner Mannigfaltig-
keit in seinen Übergängen, in seinen Dispositionen und Stimmungen zurückgehen. So
wird deutlich, daß die Erklärungen eines lHosses oder Spınoza. welche nach Bezie-
hungen. die in keiner inneren Wahrnehmung gegeben sind, die Mannigfaltigkeit dieser
Affekte auf ein Prinzip der Selbsterhaltung und in ihm gegebene Grundaffekte zurück-
führen, nicht mehr Wert haben als irgendeine naturphilosophische Hypothese. Die Ana-
logie mit der Mechanik ist trügerisch. Umd wenn Tuomas von Ayuın das iraseibile oder
DescArrEs die adıniration oder Leıssız und Suarresgury die Miterregungen in ihrer
Eigenart herausheben, so entsteht doch auch hieraus eine gewagte Hypothese, sobald
aus der Unmableitbarkeit eine Ursprünglichkeit gefolgert wird. Dennoch muß der
menschliche Geist die Möglichkeiten der Beziehungen durchlaufen, die in einem ge-
gebenen Mannigfaltigen enthalten sind. um dasselbe in seine Gewalt zu bekommen.
Die Weltanschauungen. die in dieser Epoche hervortraten, gewannen gerade durch
ihre Interpretation des Menschenlebens ihre eigenste Macht: denn in ihr reflektierte
sich die Bewußtseinslage, aus der sie hervorgingen. energischer als in den meta-
physischen Projektionen.
Und eben im Zusammenhang des erklärenden Prinzips mit der Metaphysik wurde
das Kriterium der Wertbestimmung gefunden, welches in den einzelnen inneren Erleb-
nissen als solchen nicht gegeben ist. Denn das Gefühl als solches hat für den Moment
und die Person immer recht. Die Tiere, denen die Fähigkeit der Generalisation fehlt,
handeln mit unfehlbarer Sicherheit aus dem Nexus ihrer Affekte. Sie haben freilich
nur für den Augenblick recht. Weder im momentanen Gefühl liegt das Kriterium
der Werte noch in einem metaphysischen Prinzip. Es bildet sieh im Leben selber,
in dem Leben der Menschheit und in dem des einzelnen. Die großen Lehrmeister
des Menschen sind auch hier Erfahrung, Versuch und Festhalten der Ergebnisse in
verstandesmäßigen Regeln. Wir müssen die Illusion, welche in der \Vertbestimmung
|
|
Ä
Direney: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts (Fortsetzung). 359
eines Gutes und in Antrieben zu Handlungen, dergleichen der Zorn ist, welcher das
Zweckmäßige überschreitet, erfahren, um belehrt zu werden. Von dem, was andere
durchleben, von ihren Leiden durch ihre Passionen bis zu ihrem Untergang weht
dann eine Erfahrung über den Lebenswert der einzelnen Affekte in dem Grade aus.
als die Eindrücke davon mit sinnlicher Stärke auf‘ uns wirken und wir die inneren
Zustände zu reproduzieren vermögen. Eine Ergänzung solcher Erfahrungen liegt im
Durchleben der Affekte in der Poesie oder der künstlerischen Geschichtsdarstellung.
Durch die besondere Art von Erfahrung, die im Miterleben stattfindet, erleben wir
in der Dichtung die schmerzlich süße Spannung der Leidenschaft, die Auflösung der
Illusion über den Wert ihrer Befriedigung, die äußeren Folgen der in ihr wirksamen
srenzenlosen Steigerung einseitiger Begierde, andererseits aber das ruhige Glück deı
auf die stetigen, der Außenwelt konformen rationalen Gewöhnungen gegründeten Le-
benszustände, der heroischen Seelenstärke, der Hingabe an die über unser Dasein
veichenden großen Objektivitäten. An diesem Punkte erlangen wir einen tieferen Ein-
bliek in die Funktion der Poesie im Haushalt der menschlich zeschichtlichen Welt.
Dies alles sind Lebenserfahrungen: denn sie lehren nicht kausale Zusammen-
hänge nun, sondern sie lassen die in ihnen auftretenden Lebenswerte im Gefühl er-
fahren. Und zwar nach den gesetzlichen Verhältnissen. welche im Verstehen, Nach-
bilden, Mitgefühl und der Reproduzierbarkeit innerer Zustände enthalten sind.
Das Erlebnis enthält Erfahrungen von den einzelnen Lebenswerten unserer Passio-
nen, der äußeren Objekte derselben, unseres Selbst, als eines Gegenstandes von Passion,
und endlich des universalen Zusammenhanges, der ebenfalls deren Gegenstand werden
kann. In dem Erfahren tritt dann zum Einzelerlebnis die Vergleichung dieser Lebens-
werte: wieder ein sehr komplizierter Vorgang. von der einfachen Abmessung des Ge-
fühlswertes bestehender Zustände zu ihrer Vergleichung mit den Folgen. die in der Zu-
kunft wirken und deren Vorausnahme nach dem von Seixoza erkannten Verhältnis gerade
dureh die Unruhe, welche in der Seele die Erwartung hervorruft. eime besonders
starke Wirkung hat — nur daß er die individuelle Verschiedenheit in diesem Punkte
nicht richtig beachtete — bis zu immer verwickelteren Verhältnissen. Endlich bilden
wir Generalisationen über Gefühlzustände, Lebenswerte. Tugenden und Pflichten. Und
auch diese haben wiederum ihre Kraft durch die Gefühle und Antriebe, welche aus der
Nachbildung des in ihnen enthaltenen Konkreten, aus den Erfahrungen über das befrie-
digende Gefühl, das die Unterordnung unter sie durch die so entstehende Regelung und
Sicherheit des Lebens begleitet. aus dem befriedigenden Bewußtsein der Verhältnisse
von Notwendigkeit, die dem Leben Festigkeit geben. vor allem aber aus der Über-
einstimmung in Grundsätzen mit den Mitmenschen und dem so entstehenden freund-
lichen Verhältnis zur Welt entspringen. So lernen wir richtig gegeneinander abschätzen
die impetuose Einzelmacht unserer Passion und die ruhigen, dauernden Gefühle, die
aus Gewöhnung und festen Verhältnissen zur Außenwelt entspringen, das Ausleben un-
seres partikularen Daseins in der Korruptibilität desselben und das bald enthusiastische.
bald stille Glück der Hingabe an die großen Objektivitäten, die vor uns waren und nach
uns sein werden. Die höchste und letzte Form dieses Glückes ist die philosophische
oder religiöse Hingabe an den großen Zusammenhang der Dinge als einer göttlichen
Ordnung und eines göttlichen Reiches. Diese flüchtige und selbstverständlich ganz un-
vollständige Skizze der Entwickelung. die aus dem beständigen Wechsel unserer (re-
miütsbewegungen durch Erfahrung und Versuch zu festen Prinzipien der Lebensführung
leitet. denen zugleich richtige Einsicht und Kraft der Motivation einwohnt, hat nur den
Zweck. das Verständnis und die Beurteilung der nunmehr folgenden Theorien zu er-
möglichen. Sie stellt die Verhältnisse in einem schematischen Zusammenhange dar;
dieser aber tritt nun in historische Relationen ein. welche über das Vorherrschen der
Momente, die Abfolge, in der sie das Leben bestimmen. und die Gesichtspunkte ent-
scheiden. welche das Bewußtsein und die Erkenntnis der Gemütszustände leiten. Und
so haben wir es auch im folgenden mit Theorien von den Affekten zu tun, welche
durch die allgemeinen Bedingungen der fortschreitenden Philosophie des Jahrliunderts
und durch die besonderen in und um die großen Persönlichkeiten bedingt gewesen sind.
340 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 11. Februar 1904.
Die Affektenlehre des DEscARTES im Zusammenhang mit seiner
Anthropologie.
Die Anthropologie des Descartes ist dualistisch: sie betrachtet
«len Menschen als zusammengesetzt aus zwei Substanzen, die in Wechsel-
wirkung miteinander sich befinden. Dieser Dualismus ist der onto-
logische Ausdruck und das Komplement des Idealismus der Freiheit,
in der strengen Form von Wahlfreiheit. in welcher Platon, Aristoteles,
Scholastik und Mystik diesen Standpunkt gefaßt haben. Er unter-
scheidet sich aber von jenem älteren Dualismus dadurch, daß die
Dualität nicht in das Seelenleben selber fällt. Dieser Fortschritt in
der Fassung des Idealismus der Freiheit ist dadurch ermöglicht, dal
(die vegetative und sensitive Seele eliminiert wird: der Körper als ein
automatischer Apparat und der durch die Merkmale des Denkens
und des freien Willens eharakterisierte Geist bringen in ihrer Wechsel-
wirkung die Erscheinungen des Seelenlebens hervor. Dies ist also
ein Dualismus in dem Sinne, in welchem auch moderne Denker wie
Lorze Dualisten gewesen sind; sie leugnen die Lebenskraft, erklären
die Leistungen des physischen Apparates aus der zweckmäßigen An-
ordnung der nach physischen Gesetzen wirkenden Teile und die seeli-
schen Erscheinungen aus der Wechselwirkung eines solchen Körpers
mit einer seelischen Substanz. Die näheren Bestimmungen der carte-
sianischen Anthropologie über Wesen, Ziel und Wert des Seelen-
lebens folgen dann aus dem Begriff des Geistes, als einer geschaffenen
Substanz, die von Gott abhängig, aber in Beziehung auf jedes andere
Ding, und sonach auch auf den Körper, selbständig und unabhängig
ist. Das Lebensgefühl des Menschen, das Bewußtsein seiner Selbständig-
keit und zugleich auch das der Abhängigkeit, und zwar nicht nur
von einzelnen wenigen und von außen, sondern in seinem Bestande
selber, drückt sich in diesem Begriff einer endlichen relativen Sub-
stanz vollkommener aus als in Spinozas Modusbegriff. Das Inadäquate,
das dem Begriff anhaftet, ist darin gegründet, daß die so vielfach be-
wegliche menschliche Lebendigkeit durch diese scharfgeschnittenen Ver-
standesbegriffe ausgedrückt werden soll. Sie sondern die Substanz von
ihren Akzidenzien, das Attribut vom Modus, die Substanz von der
Substanz, so daß sie auseinanderreißen anstatt nur analytisch ein als
Zusammenhang Gegebenes durch Unterscheiden zu verdeutlichen. Das
ist eben der Grundcharakter der Metaphysik dieser Epoche.
Und so mußte der Versuch des Descartes mißglücken, die menschliche
Lebendigkeit in ihrer Stellung zum Universum durch diese Begriffe
auszudrücken.
Direney: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts (Fortsetzung). 341
»Die ganze Natur des Geistes besteht darin, daß er denkt«
(5. Antwort in den Meditationen). Denken ist das Attribut der Seele.
Sonaech muß Descartes die verschiedenen Leistungen der Seele ableiten
aus ihren verschiedenen Beziehungen, wie sie durch die Verbindung
mit dem Körper möglich werden: sie sind die Modifikationen des
Denkens.
Aus dem Verhältnis von Körper und Geist entspringen zunächst die folgenden
Grundanschauungen der Anthropologie des Drscarres. Der Körper als Automat ist
ein System von Bewegungen, und auch die Lebensgeister sind Erzeugnisse des phy-
sischen Prozesses, körperlich und den Gesetzen der Körper unterworfen. Und da
nun die Tiere keine Seele haben, so müssen alle Leistungen, die wir an dem tierischen
Körper gewahren, bloße Bewegungen sein, und sie müssen dem menschlichen Körper
ganz so wie dem tierischen zugeschrieben werden. Die Bewußtseinsvorgänge. welche
der Mensch in innerer Beobachtung auffaßt. haben sonach ihren Sitz in der Seele.
Die Einheit (unio). welche Körper und Geist verbindet, muß als Tatsache anerkannt
werden. ohne daß sie doch aus den Begriffen beider verständlich gemacht werden
kann. Und die Mannigfaltigkeit der Bewußtseinszustände ist nicht gegründet in
der Struktur des Geistes, welcher an und für sich nur auf die intelligible Welt kraft
der ihm innewohnenden Ideen eine Beziehung haben würde, sondern in den Verhält-
nissen desselben zu seinem Körper und vermittels desselben zu den äußeren Gegen-
ständen.
Diese Verhältnisse bestimmen zunächst die oberste Einteilung der Bewultseins-
zustände. ‚Jenseit der Grenze des von der Wechselwirkung mit dem Körperleben
bedingten Seelenlebens steht das Denken des Intelligiblen, das der Seele an sich selber
zukommt. Dasselbe ist der Rest, welcher von der Lehre über den Intelleetus purus
in Descartes übrig bleibt. Wenn die Seele ihr eigenes Wesen betrachtet. wenn sie die
von ihr selbst erzeugten Ideen sich zum Bewußtsein bringt, so verhält sie sich hier den-
kend, aufmerkend und sonach auch wollend nur zu sieh selbst (mehrfach in den Medita-
tionen, aber auch Passions I, 20). Sie ist an sich selber Substanz, ihre Leistung ist, all-
gemein ausgedrückt, Denken, oder besser: Descarres bezeichnet jede Art ihrer Äußerung
mit dem Ausdruck Denken. Da Denken ihr Wesen ist, so ist sie an sich immerfort den-
kend und nur aus den Hemmungen durch den Körper können ihre bewußtlosen Zustände
erklärt werden. Die Bewußtseinszustände sind ihre Modifikationen. Dieselben müssen
nach ihrer Wechselwirkung mit dem Körper dem obersten Gegensatz von Aktion und
Passion untergeordnet sein. Sofern der Körper und die durch ihn einwirkenden Aulien-
dinge handeln, so wird die Seele sich leidend verhalten, und sofern die selbsttätige Seele auf
den Körper handelt, ist sie aktiv und verursacht im Körper und mittelbar in den Außen-
dingen Bewegungen. Ich gebe die Worte des Descartes über diese beiden obersten Klassen
der Seelenzustände. Die einen sind Aktionen der Seele und die anderen ihre Passionen.
»Unter ihren Aktionen verstehe ich alles Wollen; denn wir erfahren, daß dasselbe
direkt aus unserer Seele stammt und nur von ihr abzuhängen scheint. Dagegen kann
man im allgemeinen als ihre Passionen alle Arten von Perzeptionen oder Erkennt-
nissen in uns bezeichnen «; sie werden in der Seele hervorgerufen durch die vorgestellten
Gegenstände (Passions 1], 17, vgl.ı). Die Aktionen des Willens zerfallen in innere
und in äußere Willenshandlungen; jene enden in der Seele selbst, wie wenn wir
Gott lieben wollen oder unsere Aufmerksamkeit einem Gegenstand zuwenden. Diese
enden im Körper, so wenn wir unsere Beine in Bewegung setzen, um spazieren zu
gehen (ebendal, 13).
Ebenso zerfallen unsere Perzeptionen wieder in zwei Rlassen, die einen haben
die Seele zur Ursache, die anderen den Körper. Die meisten durch den Körper
bewirkten Vorstellungen gehen von den äußeren Gegenständen aus, werden von den
Nerven auf das Gehirn übertragen und die Seele nimmt sie wahr, so das Licht einer
Flamme oder den Ton einer Glocke. Auch hier betont Descartes wieder seinen
342 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 11. Februar 1904.
psychologisch erkenntnistheoretischen Gedanken, daß wir nur einen Seelenzustand
wahrnehmen und ihn ohne zureichenden Grund auf den Außenvorgang beziehen,
der ihn hervorrief. Andere Bilder entstehen, wenn die Bewegung der Lebensgeister
die Spuren früherer Eindrücke im Gehirn erregt; sie unterscheiden sich von den
in den Sinnen hervorgerufenen Bildern durch einen geringeren Grad von Lebhaftig-
keit und Deutlichkeit: sie sind gleichsam Schatten von jenen: auch in ihnen verhält
die Seele sich leidend. Eine zweite Klasse von Perzeptionen bezieht sich nicht auf
Außengegenstände, sondern auf unseren eigenen Körper. Solche sind die Appetitus
naturales, wie Hunger und Durst, ferner sämtliches Schmerzgefühl, Hitzegefühl
und andere Sinneswahrnehmungen, die wir nur im Körper empfinden und nicht auf
Außengegenstände beziehen. Von diesen beiden Arten der Passionen, welche physisch
bestimmt sind und auf Körper sich beziehen, unterscheidet Descarres das Gewahr-
werden von Zuständen, welche wir der Seele zuschreiben und nicht auf die zunächst
wirkende Ursache beziehen; die Gefühle von Freude und Zorn können durch Außen-
gegenstände angeregt werden, sie werden aber von uns nicht wie Sinneswahrnehmungen
auf diese bezogen, sondern als innere seelische Zustände aufgefaßt. Diese nennen wir
nun in engerem Sinne Passionen. Descartes definiert die Passionen als Perzep-
tionen oder Empfindungen oder Emotionen der Seele, die man nur auf diese selbst be-
zieht und die verursacht, erhalten und verstärkt werden durch irgendeine Bewegung der
Lebensgeister. Und sie bilden nun den Gegenstand seiner psychologischen Haupt-
schrift. Sie sind Perzeptionen, aber nicht klare Erkenntnisse, vielmehr, die am mei-
sten von ihren Passionen bewegt werden, kennen sie selbst am wenigsten: eben aus derVer-
bindung der Seele mit dem Körper folgt ihre verworrene Dunkelheit. Sie sind Emp-
findungen, sofern sie wie die Außengegenstände durch die Nerven vermittelt sind.
Am besten aber bezeichnet man sie als Emotionen der Seele, weil sie stärker als alle
anderen Bewußtseinszustände die Seele bewegen und erschüttern. Sie beziehen sieh
nur auf die Seele, im Unterschiede von denjenigen Perzeptionen, die auf andere Körper
oder unseren eigenen bezogen werden, und sie entstehen aus der Bewegung der Lebens-
geister. Sonach können sie nur begriffen werden aus der Wechselwirkung des Körpers
mit der Seele.! Und dies ist nun der Gesichtspunkt, von welchem die Schrift des
Descartes über die Passionen ausgeht. Der französische Denker war zweifellos der
größte philosophische Stilist seit Praron. und er hat nichts so Leichtes wie dieses
geniale und tiefe Werk verfaßt; er scheint gleichsam mit seinem Gegenstande zu spielen.
Er hatte 1644 sein tiefstes, reifstes philosophisches Werk, die Prinzipien der
Philosophie, veröffentlicht. Dieses reichte bis zu der Darstellung der organischen
Lebewesen und des Menschen. Damals beabsichtigte er in zwei weiteren Büchern diese
Gegenstände zu behandeln; doch erklärte er ausdrücklich, daß er noch nicht über
alle sie betreffenden Punkte zur Klarheit gelangt sei. Die menschlichen Leidenschaften
waren um diese Zeit an den Höfen und in der Gesellschaft Gegenstand lebendigen
Interesses nach ihrer sinnlichen wie ihrer ınystischen Seite. Dazu kam die Fülle der
vorhandenen Literatur seit den Tagen der Stoa, welche den Fortgang des Geistes
zur Herrschaft über die Leidenschaften in großem Sinne dargestellt hatte. Während
seines ganzen niederländischen Aufenthaltes, der von 1629 —1649 dauerte, übten die
Schriften, welche Anthropologie und Moral der Stoa verkündet haben, einen starken
Einfluß. Als die Schrift über die Passionen erschien, lebte noch Danıer Heınsıvs.
DEScARTES selbst erwähnt in seinen Prinzipien über die Naturphilosophie (IV, $190) einen
Punkt aus der Affektentheorie der Stoa. Eben auf den Zusammenhang der Lehre von
den Passionen mit einer Theorie der Lebensführung war Descarıes so gut als die
! Passions 1, 17— 29. Etwas anders gruppiert sind diese Seelenzustände in
den Prinzipien 4. 190. Dort wird von dem Unterschiede der sensus externi oder
Sinnesorgane und der sensus interni ausgegangen. Letztere zerfallen in zwei Rlassen.
Die zu Bauch, Schlund usw. gehenden Nerven rufen die natürlichen Begehrungen
(appetitus naturales) wie Hunger und Durst hervor. Die zu dem Herzen und den
Herzkammern gehenden Nerven bilden den anderen inneren Sinn.
Dirsser: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts (Fortsetzung). 343
stoische Literatur der Zeit gerichtet, und er begegnete sich hierin mit den Interessen
seiner königlichen Schülerin. Der Weg zur Auflösung dieses Problems war ihm vor-
geschrieben durch seine Anthropologie, welche aus dem Verhältnis einer denkenden,
freien, geistigen Substanz zu dem Strukturzusammenhang des Körpers und den Lei-
stungen der Lebensgeister in ihm die seelischen Zustände ableitete. Hierauf beruht
nun das Bewußtsein seiner Originalität in dieser Theorie, er hat im Beginn der Schrift
über die Passionen gesagt, er schreibe, als ob vor ihm niemand den Gegenstand berührt
habe. und an einer anderen Stelle (II, Art.68) bemerkte er von der Einteilung der
Leidenschaften: »ich entferne mich von der Ansicht aller, die früher über diesen Gegen-
stand geschrieben haben«. Doch bezieht er sich hierbei nur auf die scholastische
Einteilung in das coneupiseibile und in das iraseibile.
Seinen leitenden Grundgedanken, wie er sich aus der Verknüpfung der stoischen
Lehre mit seiner eigenen Anthropologie ergab, hat er in dem Brief über das höchste Gut
1647 am klarsten ausgesprochen. Der rationale Wille, der vom klaren Denken geleitet
ist. bringt in seiner Betätigung die höchste Befriedigung hervor; er allein ist in unserer
Macht, und unbegrenzt, wie er ist, vermag er auch die Leidenschaften zu beherrschen.
»Die beatitudo besteht in der ganz allgemeinen Befriedigung des Geistes. Diese aber
folgt aus einem festen und beständigen Willen, alles, was wir als Bestes erkennen, zu
verwirklichen und die ganze Kraft unseres Intellektes auf ein richtiges Urteil über
dieses Beste zu verwenden« (an Elisabeth, (Euvres ed. Cous. IX, 215— 222). Unter
diesem Gesichtspunkt also entstand während des Winters 1645 — 1646 die Abhandlung
über die Passionen der Seele. Und als er nun mit der Königin Christine von Schweden
in Verbindung trat, welche über diese Gegenstände tief nachgedacht hatte, hat er auch
in einem Briefe über die Liebe, der für sie bestimmt, und einem über das höchste
Gut, der an sie gerichtet war, seine letzten Ideen entwickelt.
An diesem Punkte darf an die allgemeinen Betrachtungen erinnert werden über
die Stellung der Affektenlehre des 17. Jahrhunderts. Aus der ganzen Renaissanceanthro-
pologie kam diesen Theorien als erster Grundzug das Bewußtsein von der Nützlichkeit
der Affekte im Haushalte des seelischen Lebens. Descartes geht im Erweis ihres
Nutzens von den Beziehungen aus, welche zwischen den Bedürfnissen des Men-
schen, den äußeren Gegenständen und den Passionen bestehen (Passions Il, Art. 52).
Die Objekte, welche die Sinne bewegen. rufen in uns nicht in Rücksicht aller ihrer
Verschiedenheiten verschiedene Leidenschaften hervor, sondern allein in Rücksicht auf
ihren Nutzen oder Schaden, oder allgemein auf ihre Wichtigkeit für uns. So besteht
der Nutzen aller Leidenschaften allein darin, daß sie die Disposition der Seele er-
wirken, diejenigen Dinge zu wollen, die nach dem Willen der Natur uns nützlich
sind, und in diesem Willen zu verharren. Die größte Macht für das Gelingen unserer
Unternehmungen liegt in der freudigen Bewegung der Seele, mit der wir sie unter-
nehmen. »Ich habe oft bemerkt, daß Dinge, die ich fröhlichen Herzens tat und ohne
einen inneren Widerstand dagegen, mir gewöhnlich gelungen sind.« Er ist geneigt, in
dieser Abwesenheit inneren Widerstandes bei Unternehmungen den Erklärungsgrund
für den sokratischen Begriff des Genius zu finden und hieraus auch sich verständliel
zu machen, warum Sokrates von demselben richtig geführt wurde. Sogar auf seine
Erfahrungen beim Hasardspiel beruft er sich. So stimmt er mit der Affektenlehre der
Renaissance überein in der Bevorzugung der freudigen Zustände (an Elisabetlı
IX, 398 ff.). Selbst der Zorn ist ein nützlicher Affekt, wenn er als sittliche Entrüstung
zur Abwehr antreibt. Darin aber liegt nun nach ihm das entscheidende Moment für die
Beurteilung des Wertes der Affekte, daß die höchste Tugend selber nicht
affektlos ist. Denn die Seelenruhe (die tranquillitas animi der Stoa) ist ein Gefühls-
zustand. Sie (oder die innere Zufriedenheit) ist der Preis, der uns anreizt zur tugend-
haften Handlung. So richtet der Bogenschütze seine Handlung auf das Ziel, aber zum
Schießen wird er durch den ausgesetzten Preis angereizt. Und was lehrt uns nun die
Lebenserfahrung? Unter allen Lebenswerten ist der am meisten dauernde, sichere, mild,
freundlich und beständig erfreuende die Seelenruhe, die innere Befriedigung, die
aus dem Bewußtsein moralisch rationalen Handelns entspringt. Nur sie hängt aus-
>44 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 11. Februar 1904.
schließlich von uns selber ab und kann uns daher nieht entrissen werden (Oeuvr. X,
59— 64). Wohlbegründete Zufriedenheit mit uns selbst und Selbstachtung, in der wir
den Wert unserer Person freudig erleben, werden von ihm als Passionen und, sofern
sie durch Gewöhnung und Nachdenken sich festigen, als stetige glückliche Gemüts-
beschaffenheiten bezeichnet. Unter allen Passionen ist die generosite die höchste. sie
ist Selbstachtuug, die auf der richtigen und stetigen Anwendung der Freiheit des
Willens beruht, die uns zu großen Dingen befähist, den andern Menschen befreun-
det, von Neid, Furcht und Zorn befreit (Passions III 153, 156, 161). Der Begriff ist
vorgebildet bei Aristoteles als Mittleres zwischen übertriebenem Selbstgefühl und Klein-
mut: MerAnoYYXla (magnanimitas). Dieser Begriff ist dem spinozistischen der Gottes-
liebe darin parallel. daß er den höchsten der Affekte bezeichnet, welcher die Seele
befreit und die schädlichen Leidenschaften auflöst. Er ist aber von jenem Begriff des
Spınoza darin unterschieden, dal3 er das weltliche und menschliche Ideal dieser großen
französischen Epoche bezeichnet: Lebensfreude, Richtung auf große Dinge, verbunden
mit zarten sittlichen Gefühl, Furehtlosigkeit und Erhabenheit über die ordinären Lei-
denschaften. In der französischen Tragödie hat dies Ideal am vollkommensten Racıne
dargestellt, welcher sich in Port-Royal unter dem Einfluß der cartesianischen Schule
entwickelt hat: sein Hippolyte ist die vollkommenste Verkörperung dieser &enerosite,
und gerade durch die französischen Züge in ihr unterscheidet er sich von seinem klas-
sischen Vorbild. Wir dürfen jetzt den Schluß ziehen: obwohl es DescArres nicht aus-
drücklich ausspricht, so werden doch nach seinen Lebensbesriffen die Passionen nicht
überwunden durch die Vernunft, sondern durch eine höchste Passion, welche auf der
vollkommensten Erfahrung über die Werte der Leidenschaften beruht.
Wie wird es nun möglich sein, ein System der Leidenschaften aufzustellen?
‚Jede typische Form der Passion ist getragen von einem bestimmten physisch definier-
baren Verhalten der Lebensgeister, und Descarres hat diese physischen Bedingungen
der Gemütsbewegungen sorgfältig beschrieben (L’'homme IV, 383 ff. und in den zwei
ersten Büchern der Schrift über die Passionen), wie das der physiologischen Zeitrich-
tung entsprach. Er hat auch die äußeren Zeichen der Passionen, welche von diesen
physischen Grundlagen derselben abhängen, dargestellt, wie dies das Zeitinteresse eben-
falls forderte. Die Einteilung selbst geht von dem anthropologischen Grundschema
aus, das wir entwickelt haben. Die Seelenzustände zerfallen in Passionen und Aktionen
(Passions I Art. 17). Die Passionen in die, die den Körper, und in die, welche die
Seele zur Ursache haben. Die eigentlichen Passionen, die passions de l’äıne haben
ihren Gegenstand in der Seele selber. Er unterscheidet nun als ursprünglich sechs
Passionen, und diesen ordnet er dann die übrigen unter. Ich stelle diese Anordnung
in folgender Tabelle dar.
Die sechs Grundpassionen.
I. Admiration,
entstehend aus dem Eindruck eines neuen oder von unserer Erwartung verschiedenen
Gegenstandes, bestehend in der Verwunderung bis zum Erstaunen, ohne daß noch ein
Bewußtsein von Angemessenheit des Gegenstandes an uns oder von seinem Gegenteil
darin enthalten wäre. Wenn er hinzufüst, daß sonach ohne diese Überraschung der
Gegenstand leidenschaftslos aufgefaßt würde, so ist darin der ältere Begriff der für
die Selbsterhaltung indifferenten Objekte enthalten ($ 53).
II. Amour, III. Haine,
entstehend aus der Wahrnehmung, daß der Gegenstand uns convenable ist oder nicht,
wonach dann der Gegenstand als bon oder mauvais bestimmt wird ($ 56).
Aus diesen Grundrelationen der Seele zu nützlichen oder schädlichen Gegen-
ständen entstehen alle Passionen außer der admiration und den in sie eintretenden
Passionen von estime und mepris. Insofern sind sie nach der alten Einteilung von
—
345
amour und haine abhängig, unter Hinzutritt der Beziehung auf Zukunft, Gegenwart
und Vergangenheit. Das ist aber das Neue und Tiefe in seiner Einsicht, daß unter
dem Eintreten dieser Relationen in das Bewußtsein nieht Zusammensetzungen mit
amour und haine, auch nicht Unterformen derselben, sondern neue primitive Typen
der Passionen entstehen.
IV. Desir,
entstehend aus der Beziehung auf die Zukunft. Tiefe, von Srıxoza verwertete Be-
merkung, daß die Passionen nach dem Verhältnis des Nützlichen und Schädlichen uns
mehr bestimmen, auf die Zukunft uns zu richten als auf Gegenwart oder Vergangen-
heit. Und zwar ist desir ebenso auf die Erhaltung eines Gutes oder der Freiheit
von einem Übel wie im Falle der Abwesenheit des Nützlichen oder der Anwesenheit
eines Schädlichen auf die Veränderung dieses Verhältnisses gerichtet ($ 57).
Dirruey: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts (Fortsetzung).
r 2
V. Joie,
bezüglich gegenwärtiges
als gegenwärtig vorgestelltes, uns zuge-
höriges Gut.
auf ein
oder
VI. Tristesse,
bezüglich auf gesenwärtiges oder
als gegenwärtig vorgestelltes, uns zuge-
höriges Übel. $ 61.
ein
Aus diesen sechs Grundpassionen lassen sich nach ihm alle anderen ableiten.
I. Admiration.
1. Estime, 2. Mepris,
entstehend aus dem Eindruck der Größe entstehend aus dem Eindruck der Klein-
des Objekts, $ 54. heit des Objekts.
Entstehen diese beiden Empfindungen in der Beziehung auf uns selbst, d.h. auf
unser eigenes Verdienst, das wir abschätzen und das in dem richtigen Gebrauch unserer
Willensfreiheit und der Herrschaft über unsere Willensakte besteht, so entstehen:
3. Magnanimite (generosite) und 4. Humilite vertueuse.
Entsteht sie in der Beziehung auf anderes uns Anhaftendes, das keinen unbe-
dingten Wert hat, wie Geist, Schönheit, Reichtum, Ehre, so entstehen:
5. Orgueil und 6. Bassesse als fehlerhafte humilite.
Entsteht die admiration durcli Beziehung auf äußere Objekte, sofern wir sie be-
trachten als freie Ursachen, welche vermögend sind uns gut oder übel zu tun, so ent-
stehen $ 55
7. Veneration 8. Dedain.
II. Amour. Ill. Haine.
Amour kann zunächst unterschieden werden nach den Gegenständen; die typischen
Formen derselben aber entstehen erst aus der Unterscheidung der Liebe, welche den
Gegenstand als ein Gut aneignen will, von derjenigen, welche aus dem psychologischen
Verhältnis hervorgeht, nach welchem wir den geliebten Gegenstand als ein anderes
Selbst betrachten: alsdann ist das Streben direkt auf die Interessen desselben gerichtet,
betrachtet sein Wohl als das eigene, ja kann dieses bis zur Aufopferung des eigenen
verfolgen, und zwar entsteht je nach der Schätzung des geliebten Gegenstandes $ 83
1. Simple affeetion 2. Amitie 3. Devotion
Wertlegen auf ihn weniger Wertlesen wie auf dasSelbst Wertlegen mehr als auf das
als auf uns selbst Selbst.
Durch die beiden Klassen von Liebe und Haß geht eine zweite Distinktion.
Wir nennen gut oder schlecht, was die inneren Sinne oder das Denken uns als un-
serer Natur entsprechend oder unangemessen vorstellen. Wir nennen schön oder
häßlich, was den äußeren Sinnen, insbesondere dem Gesichtssinn, entsprechend oder
unangenehm ist. Er bezeichnet die so entstehenden Passionen als agrement und hor-
reur; sie wirken am stärksten, doch trügen sie auch am meisten. 85.
346 Sitzung der philosophisch historischen Classe vom 11. Februar 1904.
IV Desm.
Die Sonderung des Begehrens in desiderium und fuga, wie DeEscArTEs sie wohl
schon aus seinem scholastischen Unterricht kannte, wird von ihm verworfen. In der
Flucht vor der Krankheit ist das Streben nach der Gesundheit enthalten. $ 87. So
vermeidet er die Schwierigkeiten, die aus der Unterordnung von spes und metus
unter diese beiden Typen des Begehrens entsprungen waren. Das Begehren, das aus
der Wirkung auf die äußeren Sinne entspringt, erreicht die größte Stärke in dem
Liebesaffekt. $ go. Tritt zum Begehren das Bewußtsein, daß seine Erfüllung viel
oder wenig Wahrscheinlichkeit hat, so entspringen $ 58
1. Esperance 2. Crainte
(eine Art der letzteren: jalousie).
Bei höchstem Grad der Wahrscheinlichkeit steigern diese sich zu
3. Seeurite (oder assurance) 4. Desespoir.
Aus der Reflexion auf Mittel und Ausführung des Begehrens entstehen $ 59
5. Irresolution 6. Courage (oder hardiesse) 7. Lächete
aus Schwierigkeit in Wahl sich entgegenstellend der Gegenteil des Mutes
der Mittel Schwierigkeit der (Peur Gegenteil der
Ausführung hardiesse)
Eine Art der hardiesse: 8. Emulation.
Hier schließt Descartes eine Passion an, welche aus der Reflexion auf die
Vergangenheit entsteht, sofern eine Handlung vor der Überwindung der Unent-
schlossenheit vollzogen wurde: $ 60
Remords de eonscience (morsus conscientiae).
V. Joie. VI. Tristesse.
Aus Inbetrachtziehen eines gegenwärtigen eines Übels usw.
Gutes, das uns gehört.
Gehört das Gut nicht uns, sondern ande- Gehört das Übel nicht uns, sondern ande-
ren Menschen, so entsteht ($ 62), ren Menschen, so entsteht
wenn wir sie dessen für würdig halten, wenn sie es unseres Erachtens verdienen:
weil die Dinge geschehen, wie sie sollen:
I. Joie (serieuse). 2. ‚Joie accompagnee de ris et de moquerie.
wenn für unwürdig wenn sie es unseres Erachtens nicht ver-
3. Envie (eine Art der tristesse). dienen:
4. Pitie (eine Art der tristesse).
Bei Inbetrachtziehen der Ursache des gegenwärtigen (oder vergangenen)
Guts Übels
wenn durch uns selbst verursacht $ 63: wenn durch uns selbst verursacht:
5. Satisfaction (de soi-meme). 6. Repentir.
wenn durch andere verursacht, nieht auf wenn durch andere verursacht, nicht auf
uns bezüglich $ 64: uns bezüglich, $ 65:
7. Faveur. 8. Indignation.
auf uns bezüglich: auf uns bezüglich:
9. Reconnaissance (neben faveur). 10. Colere (neben indignation).
Bei Inbetrachtziehen der möglichen Meinung der anderen, $ 66.
bien: mal:
ı1. Gloire. ı2. Honte.
Auf die Vergangenheit bezüglich, $ 67.
bien: mal:
13. Regret (eine Art von tristesse). 14. Allegresse (eine Art von Jjoie).
Die Ähnlichkeit der Anordnung mit dem neustoischen Übergang von den appe-
titiones naturales zu den die Seele trübenden und beunruhigenden Passionen und von
diesen zu der constantia ist sichtbar; aber die neuen durchgreifenden Gesichtspunkte
bedingen eine viel tiefere Beschreibung und Anordnung. welche auf schönen Beob-
Diener: Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts (Fortsetzung). 347
achtungen beruht. Die Durchführung bringt freilich an den Tag, daß ohne Analysis
der Passionstypen der stufenweise Übergang einer Form in die andere nicht zur Wür-
digung gelangt. Formen, die unter amour und haine stehen, sind anderen unter ad-
miration so nahe verwandt, daß hier das walıre Verwandschaftsverhältnis in der An-
ordnung nicht zur Geltung gelangt. Und doch sind die Verhältnisse der Typen zu
einander richtiger als in den gezwungenen Ableitungen des Hosses und Srınoza auf-
gefaßt. Der Maßstab der Würdigung der Affekte, von welchem die "Theorie der
Lebensführung abhängt, lag für Descartes schließlich in dem metaphysischen Begriff
des Geistes als Denken und freier Wille. Aus der Macht der Affekte zurückkehren zur
Unabhängiskeit des Geistes durch die beständige freudige, starke, rationale Willens-
verfassung: darin lag ihm die höchste Lebensaufgabe. Eine Formel über den In-
halt dieses Willens oder das höchste Gut hat er nicht aufgestellt: er starb mitten
in diesen Studien: es mangelte seinem System die Möglichkeit, Ethik oder Gesell-
schaftsleben abzuleiten. Erst Hosses hat von den nenen Grundlagen der Affektenlehre
aus dies unternommen.
348
Handschriften-Reste in Estrangelo-Schrift aus
Turfan, Chinesisch-Turkistan.
Von Dr. F.W.K. MüLLEr.
(Vorgelegt von Hrn. Sacnav.)
I. Material.
D:. im folgenden zu besprechenden Handschriften-Reste wurden von
der im vorigen Jahre aus Ost-Turkistan mit reicher archäologischer
Ausbeute heimgekehrten Expedition, welche unter Leitung des Prof.
GrÜnweEneL stand, in der Umgegend von Turfan teils aufgekauft,
teils an Ort und Stelle persönlich ausgegraben. Bezüglich der Ein-
zelheiten der Auffindung, welche manches weiter unten unter III. zu
Sagende in anderer Weise bestätigen. muß vorläufig auf den Expe-
ditionsbericht verwiesen werden.
Die meisten der bisher untersuchten Fragmente sind auf Papier
(ler verschiedensten Formate, ein aus zwei Doppelblättern bestehendes
Schriftstück ist auf dünnes, weißes Leder und eins. leider nur in einem
kleinen Fetzen erhaltenes, ist auf Seide geschrieben. Alle sind sorg-
fältie und deutlich geschrieben. mehrere sind mit schönen Initialen
bzw. eelben. grünen. blauen un«d roten Überschriften und Schluß-
zeilen oder auch abwechselnd mit schwarzer und roter Schrift ver-
ziert. Einzelne müssen — nach den leider nur wenig zahlreich er-
haltenen Fragmenten zu urteilen — wahre Prachtstücke der Miniatur-
malerei gewesen sein. Allen gemeinsam ist eine eigentümliche Vor-
liebe für sehr kurze Zeilen, was den Handschriften ein außerordentlich
charakteristisches Aussehen eiebt (vel. die Faksimiles).
[3
I. Schrift und Sprache.
Wie schon in der Überschrift angegeben, sind diese Manuskripte
in Estrangelo geschrieben. Die Kenntnis dieser syrischen Schrift allein
genügt aber nieht zum Verständnis der Texte, wie ein Blick auf die
K. Mürrer: Handschriften -Reste in Estrangelo -Schrift aus Turfan. 34)
Faksimiles lehrt. Nach einigen mißglückten' Entzifferungsversuchen
gelang es dem Unterzeichneten, durch eine Reihe von Kombinationen
2
das folgende Alphabet“ festzustellen:
R NEN he
" a ac
3 Höchst merkwürdig sind hierbei:
Va ae Su 7
N 9 rn ı. das Fehlen der gewöhnlichen syrischen
RUN NEN r Buchstaben Am, ka.
IN e 2. die neuen Zeichen —_S und £
a —
erw. Al Kundin yor — 2, # Ma 8:
Dura 73 3. die Modifikation bez. Differenzierungen
& 7? ma 9 N\=[/,\X=/ (das gewöhnliche syrische 7),
A D . a np »
Var die Schlußform des n = %, die Form des
— ® 8 ms (= syrisches g), das q = (syrisch eher
AL EN = = m!), X € ist wohl aus dem syrischen Ssäde
N 4 5 = entstanden, die Verwendung des syrischen x
N I7/ für h
{ el aD
Belege.
AEATER
Iron an Harasan
wianar Khürasa
r Tr. vr
a Z en Wie schon aus den angeführten
wu Khnrkhsid Beispielen hervorgeht, haben wir es
hier mit den beiden Sprachen Türkisch
ne Gabrasl und Mittelpersisch zu tun. Zum weite-
sit zaeraı . „ . DR
ED N, ren Beweise mögen hier noch einige
_h ua F77 7
R ei entscheidende Stellen aus den Hand-
EEE x ep, »
I Airislag schriften folgen.
Zivandagan
nenn Anar
ee dar sakhıun
Auen MikhaL
inden num Zürksanlar
wine Tengr££
ER ev ! Was vor allem dadurch verursacht wur-
7 : de, daß das am besten erhaltene Fragment auf
an SE eilga weißem Leder, welches vorzüglich deutlich ge-
IE za schrieben ist, sich für Entzifferungsversuche
Rx: 3 am allerwenigsten eignete.
BEN RAT, 2
Die Reihenfolge der Buchstaben @— v ist
durch einen alphabetisch angeordneten Hymnus
A a
9 Hag gesichert.
Sitzungsberichte 1904. 27
No EN
>50 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 11. Februar 1904.
„:
Türkiseh:
1. Vgl. Faksimile Zeile 9 fled.: Ai tengriila khüt
bülmis alp bilgd Küigür khangdän. Es ist dies der
ne Lamb nn Name des bekannten Chäns: Ai tängridä kut bulmis Alp
Sta an mama
auı mega
tuemıe KSEHREET
your am un
“nr ax
when Ss.
Tre Diem s
An Sonde
a vuchge
Nr
IL —n mean de
one rm
! Regierte S25— 832. Der chinesische Name ebenda Ze HZ Dr
bilgä tängri Ujgur kagan — der das Glück im Himmel
gefunden hat, der tapfere, weise, himmlische, uigu-
rische Chän', zflg. THousen, zitiert von ScHLeeEr, Die
chinesische Inschrift auf dem uigurischen Denkmal von
Kara Balgassun p. 6.
2. Vgl. Faksimile eines kleinen Blattes: gut ürndän-
mis alp gütlüg gqüil [Rül] bilgd & tengri khänimiz = unser
himmlischer Chän @. usw.
Guss Br
Ausensas,
«id, .> ha
vuuinitog
Persisch:
Fragment in roter und schwarzer Schrift.
. pis dei dfürind pad
[6:7
eihär gandrag dvad [cd]
dfürihäd wa "stäihdd
in pid 'i vazragli wa
—= vor ihm preisend nach
den 4 Seiten und
preise und lobe
.. den Vater der Größe und...
Ir er] yF-
K. Mürter: Handschriften - Reste in Estrangelo-Schrift aus Turfan. 351
2. Fragment in roter Schrift (vgl. Faksimile).
ärdävan päkdn. %.
—n
LE FERE rdinidärü wa pisübdi
= FÄRRES Kann i khüddimdn däfridag
mSau)en Aura rrertentee ndm. M. mari ch'|'n
klnirkhsid hamicd g,
edan mrennaa
nirdsan päigl [s]
us Arbeusenues
U ndmdg
Nyearüst RR har
Sean — dies Remeny
zer die Führung und Leitung
unseres Herrn, dessen Name
gepriesen ist. M. der Herr..
die Sonne und alle ////
Provinz Choräsän ....
3. Aus Handschrift Älaf (vel. Faksimile Z. 2).
. päsban dz dndarın wa-
Asndasranımına 48) birün. hiydr dead [od] paädär.
Staunoininsmanamse Dilihim 6 fristagdin tahmdn
3 Iiminameyenanemı Zörmandin. Rıtfäil Milkhail
rm Rn Ta an una Gabräil Sardil.....
wupuönseöinuemn _ lem Wächter des Inneren und Äußeren.
num Senn sk Freund (?) und Schützer.
a ern due. die Engel, die Starken, die ne
Raphael, Michael, Gabriel, Sarael .
Diese wenigen Sprachproben mögen vorläufig genügen. Es sei
noch erwähnt, daß in den Texten sehr altertümliche Formen vorkom-
men wie pädkhsäh, rökhsand und das schon oben erwähnte Ahirkhsid
für pädisäh, rösand, khörsed.
Recht auffällig ist schließlich die Ähnlichkeit gewisser türkischer
»Runen« mit den entsprechenden Zeichen des oben gegebenen syri-
schen Alphabets, so besonders m, /, /!, t, f, n. Darüber wie über
das vom Verfasser des Fihrist überlieferte »manichäische« Alphabet
wird aber später sich Gelegenheit finden zu sprechen.
III. Welcher Literatur gehören diese Reste an?
Die Frage: Welcher Literatur gehören die genannten Handschriften
an? kann meines Erachtens auf Grund der äußeren und inneren Zeug-
352 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 11. Februar 1904.
nisse wie folgt beantwortet werden: Wir haben hier Reste der ver-
loren geglaubten manichäischen Literatur vor uns.
Heute mögen nur kurz die folgenden Beweise angeführt werden:
1. Der in einigen Hymnen vorkommende Refrain: yazdmäri Mäni.
[räri wohl = syr. Titel mär(i) mein Herr.]
2. Der oben zitierte Ausdruck pid "i vazargiüi, »Vater der Groß-
herrlichkeit«, der als spezifisch manichäisch durch den Verfasser des
Fihrist! belegt ist: A| z|, A|, al Ay.
3. Die häufige Nennung der in der Mani-Religion eine bedeutende
Rolle spielenden Lokalitäten Xhurdsdn” und Babylon” (Baäbil zamig).
4. Die Beschaffenheit der Handschriften, die minutiöse Ausfüh-
rung und liebevolle Ausstattung derselben. Vgl. die yon KesstEr,
Mani 1899 p. 366 mitgeteilte Stelle des al-Gähiz (gest. 859): »Ibrähim
as Sindi sagte einmal zu mir: »Ich wünschte die Zandiken [d. i. Ma-
nichäer] wären nicht so verpicht darauf, teures Geld auszugeben für
sauberes weißes Papier und für die Anwendung von glänzend schwar-
zer Tinte, und daß sie nicht so hohen Wert legten auf die Schön-
schrift usw.« Ibid. p. 371, über die »nach Mani-Art« geschriebenen
und verzierten Werke. Vgl. auch die Bemerkungen des hl. Augustin
über die manichäischen Bücher: Adv. Faustum Lib. XII e.6 u. ıS (zitiert
bei Früser a.a. 0. S. 385): Tam multi et tam grandes et tam pretiosi
codices vestri — incendite omnes illas membranas elegantesque tec-
turas decoris pellibus exquisitas ete.
5. Die zu dem Fundbericht gut passenden Aussagen der chine-
sischen Historiker. Der Kürze halber will ich hier nur eine Be-
merkung Drverıas‘ zitieren:
»Somme toute, aucun texte chinois ne nous dit que, d’une ma-
niere generale, les Ouigours fussent manicheens; les auteurs chi-
nois nous rapportent simplement quilyavait des Ouigours
manicheens, que des Mäni qui etaient sans doute d’origine
chald&enne ou persane, avaient facilement acces aupres de leur
khakan, et qu’ils avaient la confiance de celui-ci au point de lui
servir habituellement de conseillers. «
Auf diese wichtige Frage der manichäischen Literatur hoffe ich
in der Folgezeit zurückkommen zu können.
! Vgl. Frücer, Mani 1862 S. 274.
® Vgl. Frücer a. a. O.s.v.: »Zufluchtsort der Manichäer«.
Ib. »alleiniger Sitz des Oberhauptes der Manichäer«. — Berünis Chronologie,
übersetzt von E. Sacuau p. 121.
4
3
Deverra, Musulmans et manicheens chinois, im Journal asiatique 1897 p. 475-
Ausgegeben am 18. Februar.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei.
SITZUNGSBERICHTE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
18. 25. Fegruar 1904.
MIT TAFEL II uxo IV.
BERLIN 1904.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
Auszug aus dem Reglement für die Redaetion der » Sitzungsberichte «,
$1.
2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Octav regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die sämmtlichen zu einem Kalender-
jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
fortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserdem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch-mathematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch-historischen Classe ungerade
Nummern, s2.
1. Jeden Sitzungsbericht eröffnet eine Übersicht über
die in der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilungen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten.
2. Darauf folgen die den Sitzungsberichten über-
wiesenen wissenschaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckfertig übergebenen, dann die, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gehö-
rigen Stücken nicht erscheinen konnten. Mittheilungen,
welche nicht in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet.
85.
Den Bericht über jede einzelne Sitzung stellt der
Secretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte.
Derselbe Secretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei-
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
56.
1. Für die Aufnahme einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $ 41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglements die folgenden beson-
deren Bestimmungen.
2. Der Umfang der Mittheilung darf 32 Seiten in
Oectav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nieht übersteigen. Mittheilungen von Verfassern, welche
der Akademie nicht angehören, sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist
nur nach ausdrücklicher Zustimmung der Gesammt-Aka-
demie oder der betreffenden Classe statthaft.
3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
tenden Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Nothwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzschnitte fertig sind und von
besonders beizugebenden Tafeln die volle erforderliche
Auflage eingeliefert ist.
87.
1. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
schaftliche Mittheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer Ausführung, in
deutscher Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2. Wenn der Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
Die Akademie versendet ihre »Sitzungsberichte« an diejenigen Stellen, mit denen sie im Schere seh,
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinbart wird, jährlich drei Mal, nämlich: F
die Stücke von Januar bis April in der ersten Hälfte des Monats Mai, NE }
7. » Mai bis Juli in der ersten Hälfte des Monats August, Y°
» October bis December zu Anfang des nächsten Jahres nach F‘ ertigselung des Bayieiere
öffentlichen beabsichtigt, als ihm dies nach den gelten-
den Rechtsregeln zusteht, so bedarf er dazu der Ein-
willigung der Gesammt- Akademie oder der betreffenden
Olasse.
. $8,
5. Auswärts werden Correcturen nur auf besonderes
Verlangen verschickt. Die Verfasser verzichten damit
auf Erscheinen ihrer Mittheilungen nach acht Tagen.
811.
1, Der Verfasser einer unter den »Wissenschaßtlichen
Mittheilungen« abgedruckten Arbeit erhält unentgeltlich”
fünfzig Sonderabdrücke mit einem Umschlag, auf welchem
der Kopf der Sitzungsberichte mit Jahreszahl, Stück-
nummer, Tag und Kategorie der Sitzung, darunter der li
Titel der Mittheilung und. der Name des Verfassers stehen. N
2. Bei Mittheilungen, die mit dem Kopf der Sitzungs-
berichte und einem angemessenen Titel nicht über zwei |
Seiten füllen, fällt in der Regel der Umschlag fort. ‘
3. Einem Verfasser, welcher Mitglied der Akademie
ist, steht es frei, auf Kosten der Akademie weitere gleiche N
Sonderabdrücke bis zur Zahl von noch hundert, und H
auf seine Kosten noch weitere bis zur Zahl von zwei- 3
hundert (im ganzen also 350) zu unentgeltlicher Ver-
theilung abziehen zu lassen, sofern er diess rechtzeitig 3)
dem redigivenden Secretar angezeigt hat; wünscht er auf |
seine Kosten noch mehr Abdrücke zur Vertheilung zu
erhalten, so bedarf es der Genehmigung der Gesammt-
Akademie oder der betreffenden Classe. — Nichtmitglieder
erhalten 50 Freiexemplare und dürfen nach rechtzeitiger 4
Anzeige bei dem redigirenden Secretar weitere AlEra:
plare auf ihre Kosten abziehen lassen. N j
8 28. ie {
1. Jede zur Aufnahme in die Sitzungsberichte ber
stimmte Mittheilung muss in einer akademischen Sitzung 4
vorgelegt werden. Abwesende Mitglieder, sowie alle |
Nichtmitglieder, haben hierzu die Vermittelung eines sihrem |
Fache angehörenden ordentlichen Mitgliedes zu benutzen. N
Wenn schriftliche Einsendungen auswärtiger oder eorre-
spondirender Mitglieder direct bei der Akademie oder bei
einer der Classen eingehen, so hat sie der vorsitzende
Secretar selber oder durch ein anderes Mitglied zum
Vortrage zu bringen. Mittheilungen, deren Verfasser der 1
Akademie nicht ehren! hat er einem zunächst, LESER
scheinenden Mitgliede zu überweisen.
[Aus Stat. $ 41, 2. — Für die Küfıakrmn DeHset es
einer ausdrücklichen Genehmigung der Akademie oder £
einer der Classen. Ein darauf gerichteter Antrag. kann,
sobald das Manuseript druckfertig vorliegt,
gestellt und sogleich zur Abstimmung gebracht werden 1%
Wi
> S 29.
1. Der redigirende Seeretar ist für den Inhale.dea A R
geschäftlichen Theils der Sitzungsberichte, jedoch nicht
für die darin aufgenommenen kurzen Inhaltsangaben der,
gelesenen Abhandlungen verantwortlich. Für diese wie
für alle übrigen Theile der Sitzungsberichte sind E
nach jeder Richtung nur ‚die ee verant-
wortlich. % 3
SITZUNGSBERICHTE 1904.
X.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
18. Februar. Gesammtsitzung.
Vorsitzender Secretar: Hr. Auwers.
1. Hr. Exerer las über die Vegetationsverhältnisse des
Somalilandes.
Erst jetzt ist es, auf Grund der in den letzten zwanzig Jahren nach dem Somali-
land unternommenen Forschungsreisen, möglich, die pflanzengeographischen Verhältnisse
dieser Halbinsel klar zu legen. Das einen Theil der Halbinsel einnehmende Gallahoch-
land schliesst sich in seiner Vegetation vollkommen Abyssinien an. Dagegen ist das
übrige Somaliland durch einen grossen Reichthum an niedrigen Buschgehölzen ausge-
zeichnet, ähnlich wie das Damaraland. Unter den Baumformen herrschen Akazien.
Eine Eigenthümlichkeit ist neben der Übereinstimmung des nördlichen Küstenlandes
mit demjenigen Arabiens das reichliche Auftreten ostmediterraner Typen im nördlichen
Hochland, von besonderm Interesse das Vorkommen der Populus euphratica am Tana
nahe unter dem Aequator.
2. Hr. Pranck legte eine Mittheilung der HH. Proff. C. Rusner und
J. Preeut in Hannover vor: Die magnetische Zerlegung der Ra-
diumlinien.
Durch die magnetische Zerlegung der stärksten Radiumlinien wird gezeigt, dass
sie den stärksten Linien im Speetrum von Mg, Ca, Sr, Ba homolog sind. Das Ra-
dium wird dadurch auch spectroskopisch als zur Gruppe der alkalischen Erden gehörig
erkannt. Zwischen den Linienabständen und dem Atomgewicht zeigt sich eine ein-
fache Beziehung, die einen Schluss auf das Atomgewicht von Radium erlaubt.
3. Hr. Erman machte Mittheilungen aus einem Bericht des Hrn.
Dr. Borcnarpr über die Tempelbauten auf Philae nach ihrer Über-
fluthung. Eine Schlammdecke hat sich auf der Insel nicht abgesetzt.
Dagegen zeigen die Reliefs schon jetzt eine Abstumpfung der Kanten,
und über der Wasserlinie tritt eine breite Salzausschwitzung an allen
Wänden hervor.
4. Hr. Eserımans hat in der Sitzung am 3. December 1903 eine
Abhandlung des Hrn. Geh. Med. Raths Prof. Dr. G. Frırscn hierselhst
Sitzungsberichte 1904. 28
354 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
vorgelegt: Die Retinaelemente und die Dreifarbentheorie. Die-
selbe soll in den Anhang zu den Abhandlungen des Jahrganges 1904
aufgenommen werden.
5. Hr. Hesrı BecQuzrer in Paris, Professor am Museum d’Histoire
Naturelle und an der Ecole Polytechnique, Mitglied des Institut de
France, wurde zum correspondirenden Mitgliede der Akademie in der
physikalisch-mathematischen Classe gewählt.
Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes.
Von A. EnGLer.
Hierzu Taf. III.
Botanisch wiehtige Reisen im Somaliland.
|B4E vor 36 Jahren war von der Vegetation des tropischen Afrika nur
die der Nilländer einigermaassen gründlich erforscht, so dass Schweın-
FurTH im Jahre 1868, nachdem er ein Jahr vorher mit Unterstützung
von P. Ascuerson das wichtige Werk »Beitrag zur Flora Aethiopiens«
veröffentlieht hatte, eine vortreffliche pflanzengeographische Karte nebst
Charakteristik des Nilgebietes und der Uferländer des Rothen Meeres
(PETERMANN’s geogr. Mittheil. 1868, Taf. 9) herausgeben konnte, für
welche insbesondere die Sammlungen von 0. G. EHRENBERG, ÜIENKOWSKI
und W. Scnimper, sowie die Schilderungen Tu. Korscny’s und Sreup-
ner’s neben seinen eigenen Beobachtungen die Grundlage abgegeben
hatten. Für das übrige tropische Afrika sollten zum grossen Theil erst
die grundlegenden Sammlungen und Beobachtungen gemacht oder die
vorhandenen Sammlungen, wie diejenigen von WErwırsch aus Angola
und Benguella, noch bearbeitet werden. Die meist dürftigen, ohne spe-
eielle Pflanzenkenntniss gemachten Angaben der zahlreichen Forschungs-
reisenden, welche in den folgenden Jahrzehnten so viel Aufklärung
über die oro- und hydrographischen Verhältnisse Afrikas gebracht
haben, reichten nur gerade hin, um eine mangelhafte Vorstellung von
der Physiognomik der Vegetation zu geben; andererseits waren mit
wenigen Ausnahmen die auf Sammlungen sich beziehenden systema-
tisch floristischen Publicationen — zwar die unerlässliche Grundlage
für weitere Forschungen — nicht ausreichend, um eine befriedigende
Vorstellung von der Vegetation und pflanzengeographischen Gliede-
rung der einzelnen Gebiete zu geben. Es ist dies nicht Schuld der
Bearbeiter, sondern der Sammler, welche früher es meist unterliessen,
den von ihnen gesammelten Pflanzen genaue Bemerkungen über
Entwicklung und Beziehung zu ihrer Umgebung beizufügen. Als
rühmenswerthe Ausnahmen sind von älteren Sammlern zu nennen
I8*
356 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
W.Scninrer und Werwırscn; in neuerer Zeit jedoch sind viele Sammler,
zum Theil auch mit Unterstützung der Photographie, den wissenschaft-
lichen Bedürfnissen mehr entgegengekommen, und so sind die Bota-
niker, welche sich eingehender mit der Flora Afrikas beschäftigt haben,
allmählich zu einer klareren Vorstellung von der Vegetation Ost- und
Westafrikas gelangt, die aber noch nicht in weitere Kreise, auch nicht
in die pflanzengeographischen Handbücher, eingedrungen ist. Noch
völlig unzureichend ist unsere pflanzengeographische Kenntniss meh-
rerer Theile des inneren Afrikas, so auch der deutsch - ostafrikanischen
Gelände vom Kiwu-See bis zum Banguelo-See, und ebenso war es bis
vor Kurzem bestellt mit dem grossen Horn Afrikas, der Somalihalb-
insel. Günstige Umstände haben es gefügt, dass gerade die umfang-
reichsten Pflanzensammlungen von der Somalihalbinsel. welche ins-
gesammt fast 4000 Nummern umfassen, im Berliner botanischen Mu-
seum von mir und meinen Mitarbeitern bearbeitet werden konnten.
Da nun bereits ein sehr reiches Material von Abyssinien und Öst-
afrika an unserem Museum zur Verfügung stand und ich hierüber
pflanzengeographische Studien gemacht hatte, so schien mir die Zeit
gekommen, auch für die Somalihalbinsel die Grundzüge der Pflanzen-
verbreitung zu entwerfen, indem ich die allerdings oft recht kümmer-
lichen botanischen Angaben der Reisenden mit den viel reicheren Er-
gebnissen der Herbarstudien zu einem Ganzen verarbeitete. Dabei
will ich nicht verkennen, dass wir über viele Theile der Somalihalb-
insel noch sehr wenig wissen und dass sicher mehrere der in neuerer
Zeit aufgestellten Pflanzenarten aus Somaliland wieder fallen werden;
aber nichtsdestoweniger kann man jetzt die Grundzüge der in diesem
Gebiet bestehenden Pflanzenverbreitung herausfinden.
Zwar hatte schon im Jahre 1856 Speke die im Norden der Somali-
halbinsel sich hindurchziehende Gebirgskette im Gebiete der Warsangueli
durchquert und hierbei Einiges gesammelt; aber die ersten nennens-
werthen' botanischen Ergebnisse aus dem Somaliland verdanken wir
J. M. HıLpegranpt, welcher im März 1873 nach einem Besuch von
Berbera und Bulhar in Lasgori am Fuss des Ahlgebirges landete und
in letzterem bis zur Höhe des Jafir-Passes vordrang. Diese Expedition
ergab etwa 150 Arten, von denen viele erst in neuerer Zeit bestimmt
wurden. Im Juli 1873 machte er von Sansibar aus einen Ausflug nach
Brava an der Ostküste der Halbinsel, der ı8 Küstenpflanzen ergab.
Auf seiner zweiten afrikanischen Reise 1875 begab er sich im März
von Aden wieder an die Nordküste der Somalihalbinsel, drang von
!_ voN DER Decken, dessen Expedition nach dem Kilimandscharo auch botanisch
nicht ohne Ergebnisse war, fand leider 1865 bei seinem Versuch, auf dem Dschuba
in's Somaliland vorzudringen,. den Tod.
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Es6rEr: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 357
Meith in das Serrutgebirge bis zu 2000" vor und sammelte etwa
200 Arten. deren Bestimmungen zum Theil noch nicht veröffentlicht
sind, während ein Theil der bei der Ausgabe der Pflanzen mitgetheilten
Bestimmungen der Berichtigung bedurfte. Nach längerem in botani-
scher Beziehung sehr erfolgreichen Aufenthalt auf Sansibar verblieb
er einige Zeit in Lamu, von wo er nur etwa 12 Arten mitbrachte.
Die nächsten botanischen werthvollen Expeditionen waren die von R£-
voıt, welcher drei Reisen, December 1877 bis Mai 1878, August 1878
bis Januar 1879, und Juli 1880 bis 1881, in das nordöstliche Somaliland
unternahm. Er bereiste zunächst die Küsten von Benadir und Me-
dsehurtin, überschritt die Gebirgskette im Nordosten der Halbinsel
zwischen Gandala und Berguel, er drang ferner von Bender Gasem,
einem kleinen Hafen der Nordküste vor bis in das Thal des Darror
und endlich durchquerte er bei seiner dritten Reise die Gebirgskette
von Lasgori aus, im Lande der Warsangueli, überschritt den Darror
und seine Zuflüsse in ihrem oberen Lauf und machte Halt am Fuss
der Karkarberge. Als botanisches Ergebniss dieser Expeditionen wurden
144 Arten von Francuer in dem 1882 erschienenen Werk, »Faune et
Flore des pays Somalis« aufgezählt. Diese verhältnissmässig kleine
Sammlung ist insofern wichtig, weil sie zum Theil aus Gebieten stammt,
deren Flora uns völlig unbekannt war, und anderseits die Sammlungen
Hınpesranpr’s' ergänzt.
Ferner sind von pflanzengeographischem Interesse die Berichte
von Joser Mrxers über seine zu Jagdzwecken unternommenen Expe-
ditionen in den westlichen Theil des nördlichen Somalihochlandes,
namentlich sein Aufsatz » Ausflug in das Somaliland«, in Prrermann’s
Mittheilungen 1884, S. 401—412 und der Bericht über seine »Zweite
Reise in das Somaliland und Besteigung des Gan Libach« in Prrer-
masn’s Mittheilungen 1885, S. 449ff. Es sind dies treffliche Schilde-
rungen, in denen auch der Vegetation so gedacht wird, dass man
! FranchHer befand sich aber sehr im Irrthum, als er in der Vorrede zu seiner
Bearbeitung (S. 3, 4) über Hırpesrannr sagte: »mais il ne parüt pas avoir penetre
bien avant dans l’interieur du pays; ses explorations ont dü se borner au littoral et
e’est A peine sl a pu toucher les chaines de basses montagnes qui en sont le plus
rapprochees«. Der erste Satz ist richtig, der zweite durchaus falsch, da Hırperrannr
bis zu 2000" Höhe vorgedrungen ist; es ist dies um so sonderbarer, als Fraxcner
den Aufsatz Hırperranvr’s eitirt, in welchem dieser über die Besteigung des Ahl-
gebirges berichtet. Auch hat Hırpesranvır auf jeder seiner kurzen Expeditionen in
das nördliche Somalihochland mehr Arten gesammelt, als Revoır auf allen seinen Ex-
peditionen zusammengenommen. Dazu kommt, dass Revo. nur krautige und klein-
strauchige Arten mitbrachte. Ferner fehlen bei mehr als einem Drittel seiner Pflanzen ge-
nauere Fundortsangaben und viele der neuen Arten Francner's sind nicht ohne Ver-
gleich mit den verwandten Formen anzunehmen; ich habe daher seine Angaben bei
meiner pflanzengeographischen Studie nur dann benutzt, wenn ich keine Bedenken hatte.
358 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
wenigstens einige aus HırLpEgranpr's Sammlungen bekannte Pflanzen
wieder erkennt.
Die geographisch erfolgreiche Reise der Gebrüder James, welche
im Jahre 1885 unternommen wurde und über das nördliche Hochland
hinweg durch das trockene Hinterland Haud nach Ogaden und bis
an die Gestade des Wabbi-Schebeli führte, ergab etwas über 100 gut
bestimmbare Pflanzen, die in dem Reisewerke von James »The unknown
horn of Africa« (1838), p.318— 323, von D. OLıver aufgezählt wurden.
Ende 1884 hatten auch K. vow HArvesser und PaAvummscHk£E ihre
Forschungsreise nach Harar angetreten, welche von Zeila dureh das
Goban- und das Issaland über Bir-Kaboba nach Dschildessa und von da
über Gurgura, Bellaua, Ego nach Harar führte, also durch das nord-
westliche Gebirgsland der Halbinsel, welches zum Gallahochland auf-
steigt. Von dieser durchaus wissenschaftlichen Expedition wurden nur
60 Pflanzen mitgebracht, welehe Prof. Güntuer Beck von MANAGETTA
bestimmte und in dem Reisewerk Paurrrscnke's »Harar« (1888), S. 450
bis 462 beschrieb.
Erheblich reicher als die Sammlungen der letztgenannten Reisenden
waren die der Italiener Rogeechtr-Brıccnerti und Rusrorı. 188g unter-
nahm der erstere auf demselben Wege, den HAarDEssEr und Paurırsenke
eingeschlagen hatten, eine Reise nach Harar, von der eine kleine
Pflanzensammlung an das Istituto botanico der Universität Rom ge-
langte; die Angaben über die Pflanzenphysiognomik des Landes in
seinem 1896 erschienenen Reisewerk »Nell’ Harrar« sind nur dürftig.
Auch die 1890 unternommene Reise an der Ostküste der Halbinsel von
Obbia bis Allula ergab keine bedeutende botanische Ausbeute. Dagegen
sind sehr wichtig die Sammlungen, welche er von seiner kühnen Dureh-
querung im Juli und August 1891 mitbrachte. Von Mogadoxo marschirte
er zunächst an der Benadirküste entlang bis Adalle, von hier in
grösserer Entfernung von der Küste nach Elhur, von da in einem
landeinwärts gerichteten Bogen über Harardare nach Obbia; dann nord-
westlich nach Mudug, hierauf in einem schwachen Bogen südwestlich
durch Merehan nach Gurrati am Wabbi, dann an diesem aufwärts bis
Barri, von hier nach Faf und am Tug Faf aufwärts nach Warandab,
wo er der Karawane der Expedition RusrorLi-KeLLer begegnete. Als-
dann eilte er am Tug Faf weiter aufwärts bis Een und wendete sich
von hier wieder ostwärts nach dem ein wenig südlicher gelegenen
Milmil in Ogaden, dann ging er nordwärts nach Rer-es Saghir im
Lande der Haberaul am Fuss der nördlichen Gebirgskette und nun
nordöstlich nach Berbera.
Die erste Expedition des Fürsten Rusrorı, an welcher Prof. ©. KeLzer
aus Zürich theilnahm, ging Anfang Juli 1891 von Berbera ab über Lafarug
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Enster: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 359
zum Pass Dscherato im Gan Libach, dann Ende Juli durch das trockene
Haud nach Ogaden. Mitte August traf die Expedition in Warandab
ein und gelangte am Faf entlang nach dem Wabbi. Anfang September
wendete man sich nach Überschreitung desselben westwärts und kam
durch immense Steppen des südwestlichen Ogaden nach Elmeger;
dann wurde nach Norden umbiegend der obere Lauf‘ des Wabbi in
der Gegend von Bessare erreicht, Ende September der Wabbi über-
schritten, bis Mitte October bei fast täglich strömendem Regen im
Wabbithal geblieben, dann Ende October in das Hügelland der Ab-
dallah bis zum Fuss der Goraberge und über diese hinweg wieder
nach Warandab vorgedrungen. Von da erfolgte die Rückkehr. Prof.
Dr. ©. Kerrer, welcher diese Expedition als Zoologe begleitete, hat
auch eine interessante Pflanzensammlung von derselben mitgebracht
und in seiner Schilderung der Expedition »Reisestudien in den Somali-
ländern« im Globus 1896, S. 131— 187, 203—208, 361—367, eine
lehrreiche Charakteristik der von ihm bereisten Gebiete gegeben; eine
geringe Anzahl Bestimmungen der von ihm gesammelten Pflanzen findet
sich im Bulletin de l’Herbier Boısster III (1895) und 2. ser. III (1903)
sowie in den letzten Bänden der Flora of tropieal Africa.
Durch ein viel grösseres Gebiet führte die zweite Expedition
Rusrorı in den Jahren 1892—1894, welche Dr. Domenico Rıva als
Botaniker begleitete. Nach einigem Aufenthalt in Berbera brach die
Expedition im December auf und erreichte ziemlich auf demselben
Wege, wie die erste Expedition Rusrorı Milmil am Rande des Haud-
gebietes Ende December 1892. Im Januar und Februar 1893 wurde
Ogaden in der Richtung nach SW. durchreist und am Web Ruspoli
entlang zum Ganale oder Dschuba vorgedrungen. Derselbe wurde
oberhalb der Mündung des Daua im März 1893 erreicht. Nach Über-
schreitung desselben bei Dolo und längerem Aufenthalt im Mündungs-
gebiet des Daua bewegte sich die Karawane Rusrorr's vom April bis
Juli den Daua aufwärts durch das untere Boran nach dem oberen
Boran. Im September 1893 ward Dscharibule erreicht, man drang
nach Dseham-Dscham vor und befand sich im Gallahochland. Von
Dscharibule aus wandte sich Rusrouı weiter westwärts und erreichte
noch Coromma im Lande der Amara und Quellgebiet des zum Stephanie-
See fliessenden Sagan. In diesem schönen Bergland wurde bis Anfang
December 1893 eifrig gesanımelt; aber leider wurde am 4. December
RusrozLı von einem angeschossenen Elephanten getödtet und damit die
sehr wichtige Expedition an weiteren Fortschritten gehindert. Zum
Glück hat Dr. Rıva die bedeutende wissenschaftliche Ausbeute nach
Rom zurückgebracht: aber leider fand er, von Mitteln entblösst, in
seiner Heimat ein trauriges Ende. Von Rogeccnrs und Rusrorrs sehr
360 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
umfangreichen Sammlungen (etwa 2000 Nummern) wurden die Pterido-
phyten von Prof. Prrorra, die Gramineen von Dr. Cmiovenna in Rom,
die Amarantaceen von Prof. Dr. Lorrıore, die Euphorbiaceen von Prof.
Dr. Pax, die Convolvulaceen von Dr. Harzer f., alles Übrige von mir
und meinen Herren Mitarbeitern am botanischen Museum bearbeitet.
Die Veröffentlichung‘ der Bestimmungen und Beschreibungen neuer
Arten erfolgte im Annuario del R. Istituto botanico di Roma seit 1395
und ist auch noch nicht ganz abgeschlossen.
Die vom October 1895 bis Februar 1596 dauernde Expedition der
Fürsten Demeter und NicoLas GHIKA-ÜOMANESTI war zwar nicht lang,
schlug aber mehrfach vorher nieht begangene Wege ein, zunächst
durch das Goban südwestlich gegen Harar bis Dschidschiga, von hier
im November am Ererfluss entlang am Rande des Haud südöstlich
nach Dagabür, wenig westlich von Milmil, hierauf etwas westlich über
den oberen Lauf des Tug Faf zum Dabalaberg am Dakato im nörd-
lichen Ogaden, im December am Dakato und Tug Burka entlang an
den Fuss des 1371” hohen Dschigo im südlichen Ogaden, hierauf
weiter südwärts bis Senmoreto am Wabbi. Nach Überschreiten des
letzteren und südwärts gerichteten Marsch bis 5°4 erfolgte die Rück-
reise vom Wabbi am 8. Januar durch Ogaden bis Milmil und durcli
das Haud über Haruf nach Berbera. Die nur 54 Arten umfassende,
von den HH. Prof. Schweirurtu und Vorkens bearbeitete Pflanzen-
sammlung enthält ausser der neuen Scerophulariceengattung Ghikaea auch
eine Anzahl neuer Arten; aber das vom Fürsten Nicoras D. GmmkA
herausgegebene Reisewerk »Cing mois au pays des Somalis«, 1897,
bringt die besten Vegetationsansichten, welche über das Somaliland
erschienen sind.
Inzwischen hatten Anfang 1895 auch Miss Enırm Core und Mıs.
Lorr Pinruıps einen Ausflug von Berbera auf den Golis Range gemacht:
sie waren bis zu 1600” vorgedrungen und hatten 300 Pflanzen ge-
sammelt, von denen die Botaniker Kews im Kew Bulletin 1895. S.
211— 230, 68 als neu beschrieben. Auch wurden einige Arten von
SpencER Le M. Moore im Journal of botany 1899 beschrieben, einige
! Leider sind in diesen Veröffentlichungen die geographischen Angaben mangel-
haft; es liegt dies 1. an der sehr grossen Ungenauigkeit und Unvollständigkeit der
Atlanten und grösseren Karten bezüglich des Somalilandes, von der ich mich selbst
auch erst nach genauerem Studium der Speeialkarte über die verschiedenen Marsch-
routen der neueren Forscher überzeugt habe; 2. an der sehr schlechten Schrift
Dr. Rıva’s auf den Pflanzenetiquetten; 3. daran, dass er selbst auch die geographischen
Bezeichnungen einzelner ‘Theile des Somalilandes verfehlt hat. Ich halte mich in
dieser Abhandlung an die Schreibweise der von Ü. Jurıscn gezeichneten und dem in
der deutschen Kolonialgesellschaft, Section Berlin von Frhr. von ErtAnGer über seine
Reise gehaltenen Vortrage beigegebenen Karte, Dietrich Reimer (Vohsen), Berlin 1902.
Exsrer: Über die Vegetationsverbältnisse des Somalilandes. 361
andere auch in den letzten Bänden der Flora of tropical Africa. Es
ist dieser Beitrag für die Feststellung der pflanzengeographischen Ver-
hältnisse sehr wichtig.
1894 und 1895 hatte auch Doxarnson Surru seine geographisch
wiehtige Expedition nach dem Somali- und Gallaland unternommen.
Er bereiste zunächst, wiederholt zwischen den Richtungen Ost—-West
und West-Ost wechselnd, von Milmil ausgehend, das nördliche Ogaden
und Arussi-Galla bis zum Quellgebiet des Daroli, vom 4. Januar ab
am Tug Ainli (zwischen 7° und 6° n.Br.) entlang zum Wabbi-Schebeli,
dort bis Bari, dann durch Ogaden südwestlich nach dem Ganale-
Dschuba, hierauf zunächst am Daua entlang, bei Dschellago im Fe-
bruar 1895 von Rusrorr’s Weg abgehend, ungefähr am 4° n. Br. weiter
westwärts und vom 39° ö. L. nordnordwestlich in’s Gallahochland zum
Abbaja-See, dann südlieh zum Stephanie-See, von Mai bis Juni an
diesem herum, im Juli zum Rudolf-See und an dem in diesen mün-
denden Niänam nordwärts bis 6° n. Br., hierauf am Ostufer des
Rudolf-Sees entlang, theilweise dem Wege Graf Trrexts und vox
Hönnxer's folgend, zum Guaso Nyiro im N. des Kenia und dann nach
Borati am mittleren Tana: am 25. October 1895 endete die Expediton
in Lamu. Wäre auf derselben regelrecht gesammelt worden, so hätte
sie ungemein viel zur Aufklärung botanisch unerforschter Gebiete bei-
tragen können, doch nach den bisher veröffentlichten Beschreibungen
zu urtheilen, scheint die Ausbeute nicht bedeutend gewesen zu sein,
wohl aber enthalten die berichte von Smiru mancherlei Beiträge zur
Kenntniss der allgemeinen Physiognomik der Vegetation der Somali-
halbinsel.
Sehr erfreulich sind dagegen die botanischen Ergebnisse der Ex-
peditionen, welche die HH. Carr Frhr. von ERLANGER und O. NEUMANN,
begleitet von dem Arzt Hrn. Dr. Erzesseex durchführten. Anfang Ja-
nuar 1900 ging die Karawane von Zeila ab auf dem üblichen, aber
noch nie so gründlich botanisch erforschten Wege über Dadab, Ensa,
So-omadu, Bir-Kaboba, Dabaas, Artu, Dschildessa, Belaua nach Harar,
wo die Erlaubniss Menelik’s zum Bereisen der Gallaländer erwartet
werden musste. Dieser unfreiwillige Aufenthalt wurde im März zu
einer erfolgreichen Expedition nach dem Haramaya-See und auf den
3500” hohen Gara Mulata benutzt. Sodann wurde die Umgebung
Harars gründlich erforscht. In der zweiten Hälfte des Mai bewegte
sich die Expedition über die Abhänge des Dschebel Hakim hinweg
nach dem Lande der Ennia Galla, welchem mehrere Zuflüsse des
Wabbi entspringen. Nach Überschreitung des oberen Wabbi zwischen
Atschabo und Gurgura folgte die Expedition dem Wabbi aufwärts,
aber südlich von demselben bis Sheik Hussein im Lande der Arussi-
362 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
Galla, wo ein von Mitte Juni bis 7. Juli dauernder Aufenthalt Ge-
legenheit zum Sammeln gab. Nach Besteigung des 3200” hohen Abu-
el-kassim und des Abunass kam man über die Hochebene Diddar,
zur Regenzeit über den Hauasch und seine Zuflüsse am 14. August
nach Adis Abeba. Hier wartete man drei Monate auf das Ende der
Regenzeit und dann trennte sich die Expedition O. Nrumann’s von der
Frhr. von ERLANGER s, welche auch weiterhin von Dr. ELLENBEcK be-
eleitet wurde. Am 14. November erreichte diese, nunmehr direct nach
S. gehend, den 3000” hohen Berg Sekuala, dann durch das mit 5
erossen Seen versehene Hochland Sidamo, endlich Aberasch oder
Aberra, den Hauptort von Dscham Dscham. Anfang Januar 1901 wurde
von Aberra ein dreiwöchentlicher Austlug nach den Ufern des Abbaja-
Sees und des Gangjule-Sees unternommen, auch der Oberlauf des
Sagan bei Burdschi überschritten und Rusrorr's Grab besucht. Vom
23. Januar bis 23. Februar dauerte die Reise durch das Quellgebiet
des Wabbi und des Ganale, ein bis 3000” aufsteigendes Hochland
ostwärts nach Ginir im Lande der Arussi Galla. Von hier wurde am
ı5. März der Marsch südwärts angetreten nach dem Lande der Gurra,
an der Grenze von Boran, zwischen Wabbi und oberem Ganale, hierauf
der Ganale überschritten und am rechten Ufer desselben die Reise
bis Dolo, oberhalb Lugh fortgesetzt, wo man am 28. April eintraf.
Nach Überschreitung des Daua vor seiner Mündung wurde zunächst
südwestliche Richtung gegen El Uak im östlichen Boran eingeschlagen,
nachher südöstliche, um Bardera am Dschuba zu erreichen. Dies ge-
schah am 2. Juli, und am 10. Juli traf man bei Gobwen Kismaju un-
weit der Mündung des Dschuba ein. Auf dieser Expedition wurden
etwa 2500 Pflanzen von Hrn. Dr. ErLengEck in instructiver Weise ge-
sammelt und mit genauen Bemerkungen über Standortsbeschaffenheit
und Pflanzengemeinschaft versehen, so dass man nach Durcharbeitung
(les Materials eine gute Vorstellung von der Vegetation bekommt.
Durch die Überweisung dieser Sammlung an das Königliche botanische
Museum ist demselben eine sehr werthvolle Bereicherung zu Theil
geworden. Hrn. Oscar Neumans’s Reisewege nach der Trennung von
der Expedition des Frhrn. vos ERLANGER erstreckten sich zunächst
in Schoa weiter nordwärts bis an den blauen Nil, dann wurde süd-
wärts bis zum Abhaja-See derselbe Weg eingeschlagen wie von der
Erraneer'schen Expedition: vom Südufer des Abbaja-Sees aber wandte
sich Ir. Oscar Neumann nordöstlich über Uba, Gofa, Doko, nach Über-
schreitung des in den Rudolf-See fliessenden Omo nach Kaffa und
von diesem Hochland westwärts am Gelo entlang nach dem Nil. Auch
auf dieser Expedition wurden im Gallahochland und Kaffa eine Pflanzen-
sammlung zu Stande gebracht, welche Hr. Oscar Neumann dem bo-
EnGLER: Über die Vesetationsverhältnisse des Somalilandes. 36:
tanischen Museum überwies. Aus diesen Angaben ergiebt sich, dass
an letzterem nunmehr die Pflanzenwelt des ganzen nordöstlichen Afrika
recht gut vertreten ist.
Nachdem ein Theil der grossen Sammlungen von Rusront, Rogeceni
und ELLEsgeck durchgearbeitet war, ergab sich sehr bald das Resultat,
dass die Flora des Gallahochlandes und auch noch die der Hochgebirge
von Harar sich eng an die Flora des abyssinischen Hochlandes an-
schliesst, und dass, wie ich schon in meiner vor 12 Jahren erschienenen
Hochgebirgstlora des tropischen Afrika (Abhandl. d. Preuss. Akad. (.
Wiss. Berlin 1891, S. 45— 47) auf Grund des damals bekannten Ma-
terials nachweisen konnte, auch die Flora des nördlichen Somalihoch-
landes mit derjenigen Abyssiniens etwas verwandt ist. Immerhin steht
die Flora des nördlichen Somalihochlandes und die des ganzen übrigen
Somalilandes im Süden des Gallahochlandes im Gegensatz zu der Flora
des letzteren und Abyssiniens. Es soll nun meine Aufgabe sein, die
allgemeinen Grundzüge der Pflanzenverbreitung in diesem Theil der
Somalihalbinsel auf Grund des vorliegenden Materials zu entwickeln,
indem ich mir vorbehalte, auf die Flora des Gallahochlandes später
einzugehen.
Die Vegetation des Küstenlandes.
Die Besprechung der Flora beginnt am besten mit derjenigen der
Küstenregion. Die Nordküste, welche nur vorübergehend, im December
bis März, durch einzelne Regenschauer befeuchtet wird, ist von Sand
und Geröll bedeekt und von seichten Regenrinnen durchzogen. Von
Meeressiphonogamen wurden am Strand von Obbia die beiden an den
Küsten des indischen Oceans verbreiteten Arten Cymodocea isoetifolia
Ascners. und Halophila stipulacea (Forsk.) ASCHErs. constatirt: sie sind
aber sicher auch anderweit an der östlichen Somaliküste anzutreffen,
nachgewiesen auch bei Lamu.
Mangroveformation ist nur an wenigen Stellen der Somaliküste bis
jetzt aufgefunden worden, obgleich sie auch im Rothen Meer im Dalak-
archipel auftritt. An einer nicht näher angegebenen Stelle der Nord-
küste wurde Siderxylon diospyroides Bax. gesammelt, das mit dem süd-
afrikanischen S. inerme L. sehr nahe verwandt ist. Bemerkenswerth
ist ferner, dass in der Bucht von Allula Roszcen Aricennia offieinalis
L. gesammelt hat; es dürfte dort auch Rhizophora mucronata zu er-
warten sein. In grösserer Vollkommenheit ist die Mangroveformation
um Lamu entwickelt, wo sie auch auf Gerbrinden ausgebeutet wird.
Dort kommen vor: Rhizophora mucronata Lan., Ceriops Candolleana
Law., Bruguiera gymnorrhiza (L.) Lan., Avicennia officinalis L., Suaeda
monoica FORSK.
.
364 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
Die Strandvegetation des Somalilandes ist zwar überall eine sehr
spärliche; aber im Westen von Bulhar und Gerri entschieden etwas
reichlieher als östlich davon, namentlich östlich von Berbera wird sie
immer dürftiger. Specielleres wissen wir nur über einzelne Theile. An
dem sandigen Strande bei Zeila wächst der kleine, nur 10° hohe und
durch rosenfarbene Blüthenstände auffallende Cyperus effusus Rorrg. und
nicht fern von der Küste tritt oft auf grosse Strecken alleinherrschend
die Chenopodiacee Suaeda monoica FoRsK. in I-1.5 m hohen Büschen auf.
In einiger Entfernung von der Küste finden sich auf sandig-lehmigem
Boden Oasen, in deren einer, Tokoscha, eine ziemlich reichliche Ve-
getation beobachtet wurde. Zunächst fallen auf die beiden einige Meter
hohen Leguminosen-Bäume Prosopis juliflora DC. (lebi) mit Fiederblättern,
welche an die des Schinus molle erinnern, und mit orangefarbenen Blüthen-
ähren, und die angepflanzte oder verwilderte Parkinsonia aculeata. Von
Sträuchern wurde hier nur beobachtet Chrozophora obligua (V au) Juss.
mit lanzettlichen, graugrünen Blättern. Als Schlingstrauch tritt auf
der succeulente Cissus quadrangularis L. Niedriges, kaum 1" hohes
Gesträuch bilden Heliotropium zeylanicum Lan. mit gelblichen Blüthen
und Abutilon graveolens (DC.) W. et Arn. mit röthlich gelben Blüthen.
Die Krautflora setzen folgende, stellenweise in grosser Menge auftre-
tende Arten zusammen: das im nordöstlichen tropischen Afrika so ver-
breitete Panicum turgidum Forsk. mit niederliegenden, wurzelnden
Sprossen und aufrechten, armblüthigen Stengeln von 30— 40cm Länge,
Cleome papillosa Steup., die der Indigofera semitrijuga Forsk. ähnliche
1. somalensis Varkr, Heliotropium longiflorum Hocnst. und das niedri-
gere H. undulatum Van, sowie Pavetta crassipes K. Scu. und Gossypium
Stockü Mast. Neben diesen aufrechten Kräutern finden sich folgende
mit ausstrahlenden, niederliegenden Aesten: Euphorbia scordifolia JacQ.,
Tribulus terrester L. var. cistoides (L.) Ouıw., Cucumis pustulatus Hocust.
f. und Citrullus colocynthis Scnrap. Auch einzelne Acanthaceen finden
sich in dem Küstenland, allerdings mehr gegen das Gebirge hin, so:
Ruellia patula Jaco. und R. discifolia OrLıw. In der Nähe von Berbera
wachsen am sandigen Strand /pomoea pes caprae L. fil. und der strau-
chige Convolvulus hystriv V ann; in einiger Entfernung vom Strand sind
nur dürftige zerstreute Grasbüschel von Andropogon contortus L. und
niedrige, kaum mannshohe Acacia zu sehen; auch werden vereinzelte
Tribulus terrester L. und Hibisceus mieranthus Cav. angetroffen. Am Fuss
der völlig kahlen 100” hohen, zerstreuten Hügel finden sich hier und
da einige Acacien, hier und da auch einige andere Dornsträucher, so
Berchemia discolor (Krorzscn) Hrusı., Barleria triacantha Ners. Unweit
Berbera wachsen auch die ruthenförmige Resedacee Ochradenus bacca-
tus Deuite, die schlingende Aselepiadacee Leptadenia heterophylia (DeuızE)
ExGrLer: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 365
Decexe., das dickstämmige Adenüum somalense Baur. f., die Suceulenten
Caralluma retrospiciens N. E. Brown und ©. Edithae N. E. Brows. Um
160” oberhalb Berbera wurde Cyperus nubicus C. B. CLarke gesammelt.
Bei Lasgori am Fuss des ziemlich nahe an das Meer herantreten-
den Ahlgebirges sammelte HıLpegrannr auf dem Kalksand des Strandes
Cleome brachycarpa V anuı, Zygophyllum simplex L., Fagonia acerosa Boıss.,
Indigofera somalensis Varke, 1. semitrijuga Forsk., Euphorbia granulata
Forsk., Anticharis glandulosa (Expr.), Ascners., Heliotropium pterocarpum
Hocust. et STEUDNER, Schweinfurthia aptera Varke, Convolvulus littoralis
Varke, welcher von Eprru Corr am Fuss des Golis noch bis 400"
Höhe beobachtet wurde. An anderen Stellen des Strandes weiter
östlich wurde auch die weitverbreitete Ipomoea pes caprae (L.) Sw.
gefunden und bei Lasgori kommen noch vor der mehrjährige Convol-
vulus Hildebrandti Varke mit ruthenförmigen Stengeln, C. sericophyllus
T. Anpers. und die halbstrauchige Merremia somalensis (V ATKE) HALLIER f.
Wir sehen also hier schon die Convolvulaceen, wie auch in den
übrigen unteren Regionen des Somalilandes reichlich vertreten. Von
Gräsern finden sich hier Pennisetum cenchroides A. Rıcn. und P. dicho-
tomum Deumwe. Am Fuss des Ahlgebirges wurde am Strande auch Sta-
tice axillaris Forsk. nachgewiesen und weiter östlich bis Allula unweit
des Cap Guardafui die merkwürdige Statice cylindrifolia Forsk. Zwischen
dem Ahlgebirge und Cap Guardafui wurden ferner von Revom am
Strande gefunden: Diceratella sinuata (Frascn.), Reseda amblyocarpa
Fres., Fagonia arabica L. und F. glutinosa Der., Tribulus alatus Deuie,
Euphorbia longetubereulosa Hocusr. Bei Lasgori findet sich auch nahe am
Strand in trockenem Wasserlauf Gestrüpp von Tamarix orientalis Forsk.,
um welches sich Flugsand anhäuft, dazwischen Salvadora persica GaRcıN
und Calotropis procera R. Br., ausserdem die sparrigen Sträucher Indigo-
‚fera argentea L. var. brachycarpa V aun, Tephrosia decorticans 'TAuBerr und
auch Tephrosia apollinea (Der.) DC, die Halbsträucher Aerua lanata Juss.,
die aus Nubien bekannten Leguminosen Taverniera aegyptiaca Boıss. und
Crotalaria thebaica (Der.) DU, Chrozophora obligua (Vaur) Juss. und die
eigenartige schmalblättrige Aristolochia rigida Ducnartre mit langen
niederliegenden Ruthenästen, Forskalia viridis Enurens., die saftreiche
Euphorbia systyla Evew. und Pulicaria Hildebrandti Varke. Mehrere
dieser Pflanzen finden sich auch in den Vorhügeln. Vereinzelte
Gruppen von Schirmakazien und Zizyphus bilden hier die einzigen
Baumformen. Die Vegetation des höher gelegenen Küstenlandes im
Norden der Halbinsel bespreche ich weiter unten im Zusammenhang
mit der Vegetation des Vorgebirges.
Die Strandilora der Ostküste ist nach allen Schilderungen jeden-
falls sehr dürftig, was sich auch leicht daraus erklärt, dass hier ein
366 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
höheres gebirgiges Hinterland fehlt. Von der Küste der Nordost-
spitze, von Medschurtin liegt uns Einiges aus den Sammlungen Ro-
Becenrs vor, so Boswellia Freercana Bırpw. von dem weit vorspringen-
den felsigen Ras Hafun, während Boswellia neglecta S. Moore auf der
Hochebene vorkommt, ferner Kleusine Robecchü Csiovenva und Helio-
tropium arenarium VArkE vom Ras Mabber, von einzelnen Stellen
Salvadora persica Garcın, von dem Mündungsgebiet des Wadi Nogal
Iphione macrophylla Varke und die interessante strauchige Kelleronia
splendens Scnisz,. auch Zygophyllum simplex L. und Ipomoea adenioides
Scamz var. ovato-lanceolata Haıuier f. Am Strande von Obbia wurde
auch der dornige Convolvulus hystriv Van nachgewiesen.
Die Benadirküste schildert uns Rogeecnt als durchweg sandig,
nur hinter den 30—100 m hohen Dünen und in den Zwischenräumen
zwischen denselben kommt etwas dürftiges Weideland vor. Von
Mogadoxo oder Mogadiseio sind einzelne interessante Arten durch Sir
Jonn Kırk bekannt geworden, der von allen Küstenländern Ostafrikas
Pflanzen nach Kew sendete, so besonders die Stapeliee Caralluma somalica
N.E. Br. und C. speciosa N. E. Br.
Bei Brava im Süden der östlichen Somaliküste wurden auf den
sandigen Strandhügeln folgende wenig bemerkenswerthe Arten beobh-
achtet:
Cenchrus spec.. Aristolochia rigida Ducn., Cassytha filiformis L., Blaeodendron
somalense Varke, Allophylus spec., Melhania spec., Rhynchosia memmonia (Der.) DC.,
Heliotropium zeylanicum Lam., und H. arenarium Varkxe, Convolvulus subspathulatus
Varke und Ipomoea asarifolia (Desr.) Ron. et Scuurr., Blepharis edulis (Vaur) Pers.,
Justicia baravensis C.B. CLarkE und .J. flava Vaur, Senecio discifolius Orıyv. und Lac-
tuca Schimperi Jau». et SpacnH.
Im Mündungsgebiet des Dschuba bei Kismaju wurde am Strande
Strauchwerk von Scaevola lobelia L. beobachtet, dahinter Rhus villosa
L. Fır. und Psychotria punctata Varke; von krautigen Pflanzen kommen
hier Palanisia strigosa Boser, Alysicarpus rugosus DU. und Gloriosa vires-
cens DC. vor. Ein bemerkenswerther Fund von Kiunga zwischen Kis-
maju und Lamu ist die neue Rubiacee Mitratheca richardsonioides K.Scn.,
welche sich von der nahestehenden Oldenlandia durch das Öffnen der
Kapsel vermittelst eines sich ablösenden Deckels unterscheidet. Recht
gutes Material besitzt das Berliner botanische Museum aus den Küsten-
formationen bei Lamu, theils aus den Sammlungen HıLpDEBrRAnDT's,
theils, und zwar noch besseres, aus den Sammlungen von Tnonas.
In den an die Mangrove sich anschliessenden Sümpfen des Küsten-
landes finden sich hier:
Limnophyton obtusifolium (L.) Mıqu., Hibiscus cannabinus L. und H. tiliaceus L.,
auf angrenzendem Wiesenland:
Aspilia wedelüformis Varke, Blepharis pratensis S. MoorE, Striga pubiflora Krorzsch
var. sansibarensis VATKE.
Ester: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 367
Am $lachen sandigen Strand wachsen:
Cassia mimosoides L., Waltheria americana L., Borreria filituba K. Scnum., Momor-
dica trifoliata Hoox. f., Nidorella mierocephala Srerız vr. (auf feuchtem Sand).
Ziemlich pflanzenreich sind die Dünen: hier finden wir mehrere
Sträucher:
Uvaria Denhardtiana Essı. et Dies, COrotalaria laburnifolia L., Jatropha curcas L.
(verwildert), Phyllanthus floribundus Mürr. Arg., Heeria mucronata Bernn. und var. obovata
(Eexr.) Ensr., Ochna Thomasiana Est. et Girs, Calotropis procera R. Br., Lawsonia inermis
L., Strychnos Volkensii GıLG, Ehretia petiolaris Lam., Clerodendron ineisum Kıorzscon, Van-
guwiera spec., die Schlingpflanzen:: (aesalpinia bonducella Rox»., Jasminum tettense Kuorzscn,
Momordica trifoliata Hook. f.
Zwischen dem Gesträuch wachsen einzelne Stauden, wie:
Polygala linifolium Boser, Commelina benghalensis L., Asystasia gangetica (L.)
T. Anp, Stathmostelma pedunculatum (A. Rıcn.) K. Scn., Lightfootia madagascariensis
N. DH
die meisten aber auch auf offenem Dünensand zerstreut; darunter
sind mehrere mit niederliegenden Zweigen, so namentlich:
Ipomoea pes caprae L. und Canavalia ensiformis DC. mit weithin kriechenden
Zweigen, @iesekia pharnaceoides L., Tribulus terrester L.. Euphorbia pilulifera 1., Olden-
landia Schimperi (Syeup. et MHocusr.) T. Ann.
Dagegen sind aufrechte, im Dünensand wachsende Arten:
Aerua javanica (Buru.) Juss., Orotalaria sansibarica Bextn., Cassia mimosotides L.,
Tephrosia spec., Iatropha Hildebrandti Pax, Sida cordifolia L., Pedalium murex L.,
Diodia aulacosperma K. Scan.
Bei dem etwas südlicher gelegenen Kipini wurden auf den Dünen
gefunden:
Harrisonia abyssinica Ouıv., Sophora tomentosa L., Hibiscus tiliaceus L., Ampe-
locissus Chantini Prancn., Pretrea zanquebarica (Lour.) Gay und parasitisch Loranthus
Dregei Eckı. et Zevn. var. obtusifolia En6t.
Im Allgemeinen kann man als sicher festgestellt ansehen, dass
die Strandflora und überhaupt die des Küstenlandes im Norden der
Halbinsel sehr stark mit der arabischen übereinstimmt und an ihrer
Ostseite allmählich sielhı der ostafrikanischen nähert, dass dies aber
mit grösserer Entschiedenheit erst bei Lamu zum Ausdruck kommt.
Die Vegetation an den unteren Flussläufen.
Von Flussläufen in der Ebene des Somalilandes sind nur die
nach Süden gerichteten des Tana, Ganale-Dsehuba und Wabbi-Sche-
beli in Betracht zu ziehen. Folgen wir dem Dschuba aufwärts, so haben
wir aus den Buschgehölzen von Kismaju bis Feleschid, 50” ü. M.,
Belege von folgenden Arten:
A. Sträucher: (Cadaba farinosa Forsk. (2— 3”). Cephalocroton cordofanus Hocustr..
‚Jatropha spec., Polygala obtusissimum Hocusr. (r” hoch), Seddera mierophylla Exsı. (05),
Adenium somalense Baur. f.. Solanum albicaule Korschy.
B. Schlingpflanzen: Ipomoea pulchella Rorn und 1. biflora Pers.
368 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
C. Stauden und einjährige Kräuter: Dapeyrousia cyanescens Bax., Giesekia
pharnaceoides L., Farsetia grandiflora Yres. var. angustipetala Ensr., Tephrosia senticosa
Pers., Hermannia Erlangeriana K. Scn., Pseudosopubia Erlangeriana EnsuL., Oyenium
‚paueidentatum Ener... Pedalium murex 1... Asystasia gangetica (L.) T. Anvers, Diodia aula-
cosperma K. Sc.
Auf der Strecke von Feleschid aufwärts, von 50" ü.M. zu 150”
aufsteigend, sind die Uferwälder des Dsehuba sehr dieht und von
Seeen und Sümpfen durchsetzt. Dumpalmen sind schon reichlich vor-
handen, und die Acacienwaldungen sind so dicht, dass stellenweise
der Weg für die Expedition mit der Axt gebahnt werden musste.
Betreffs der Dumpalmen ist zu bemerken, dass nach den Abbildungen
von Uferlandschaften des Somalilandes dieselben verzweigte Stämme
besitzen und meist als /7. thebaica Marr. bezeichnet werden. Bis jetzt
habe ich aber noch nicht Früchte der Dumpalmen des Somalilandes
gesehen, und so ist es noch zweifelhaft, zu welcher Art sie gehören.
In diesem dichten Uferwald wurde auch der bisher nicht bekannte
10" hohe Mimosoidenbaum Piptadenia Erlangeri Harns constatirt. Ausser-
dem fanden sich hier folgende Arten:
A. Sträucher: Allophylusrubifolius (Hocasır.) Ensr. und Lantana Petitiana A. Rıca.,
welche durch ganz Ostafrika verbreitet sind. ausserdem Strophanthus mirabilis GıLs, ein
r”5 hoher Strauch.
B. Schlingpflanzen: Dalechampia scandens L, die Passitloracee Adenta Ellen-
beckii Harss und die häufige Coceinta moghadd (Forsk.) ÄSCHERS.
C. Stauden: die Gräser Panicum Petiveri Trın. und P. maximum Jacg., die
Gentianacee Enicostemma vertieillatum (L.) Ensr., Vernonia cinerea Less., Priva leptostachya
Juss., bis 1"5 hoch und 4 Acanthaceen, Asystasia gangetica (L.) T. Anp., Neuracanthus
scaber S. Moore, Barleria salicifolia S. Moore und B. umbrosa Lısvau, von denen die
beiden letzteren bis jetzt weiter südwärts nicht aufgefunden sind.
In den Waldsümpfen wurden gesammelt:
Panicum quadrifarium Hocnsır., bis 2” hoch; Mimosa asperata L., ein bis 3” hoher
Strauch, Combretum constrietum (Bexen.) Laws., auch bis 3" hoher Strauch, Triumfetta
trilocularis L., bis 2"5 hoch. Moschosma polystachyum (L.) Bexın., Asystasıa gangetica
(L.) T. Anv., Eebolium barlerioides (Moore) Lısvau, Pentodon pentander (ScnH.) VATKE,
eine kleine Rubiacee mit bläulichen Blüthen.
Die Busehgehölze zwischen Feleschid und Bardera charakterisiren
die sehr häufig vorkommende Salvadoracee Dobera glabra DC., die 15
hohe Maerua Erlangeriana Gıue und die 1.5 hoch werdende Apoeynacee
Adenium somalense Baur. f. als Steppenbusch,, ebenso die zwischen diesen
Büschen klimmende blattlose Aselepiadacee Sarcostemma viminale R. Br.,
auch eine nicht bestimmbare, bis 3” hohe Euphorbia mit eylindrischen,
dünnen, blattlosen Stengeln. Ausserdem finden sich hier noch fol-
gende Sträucher und Hochstauden:
Acalypha fruticosa Forsk., 1"5 hoch; Hibiscus erassinereis Hocasır., mit blutrothen
Blüthen, H. panduriformis Burn., mit gelben Blüthen, wie vorige etwa 15 hoch; (lero-
ddendron acerbiana \Vıs., bis 25 hoch, mit länglichen Blättern und weissen Blüthen;
Solanum duplosinuatum Krorzscn, 1”5 hoch; Neuracanthus-scaber S. Moore, 1.5 hohe
Acanthacee, mit ziemlich grossen (6%X4 em) verkehrt- eiförmigen Blättern, Himantochilus
Ensrer: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 369
sessiliflorus T. Ano., 1.5 hoher Strauch, mit verkehrt-eiförmigen Blättern und langen
rothen Blüthen; Satanocrater paradoxus Lisvau; S. somalensis Lınvau, rm hoch, mit
kleinen verkehrt-eiförmigen Blättern und ansehnlichen violetten Blüthen; „Justicia
Fischeri Lınpau, 15 hoch, mit 2“ langen Blättern und gelben Blüthen; Bebolum
ım
barlerioides (Moore) Liınpav, bis 2" hoch, mit eiförmigen Blättern und weissen
Blüthen; Barleria salicifolia S. MoorE, 075 hoher Strauch. mit unten grauhaarigen,
länglichen Blättern; LDeucas royleoides (Bex'rn.) VArke, massenhaft im Schatten grösserer
Bäume, nur etwa 60°" hoch; Rhynchosia caribaea DC.
Auffallend ist hier der grosse Reiehthum an strauchigen Acan-
thaceen (7 Arten), der uns auch sonst noch im Somaliland mehrfach
entgegentritt.
Häufig sind die Sträucher mit den Flechten Theloschistus flavicans
Norm. und Ramalina complanata var. denticulata M. Arc. besetzt. Zwi-
schen den Sträuchern finden sich auch die windenden Convolvulaceen:
Ipomoea dichroa Hocusr., I. turpetnum Maxso, Hewittia bicolor W aux.
et Arn., Jacguemontia ovalifolia (Vant) Haruier f. und die niedrige
Seddera Erlangeriana Exeı.
Der südlichste Theil des Somalilandes wird von dem Tana dureh-
flossen, über dessen Vegetation ich einigen Aufschluss auf Grund einer
Sammlung geben kann, welche die Gebrüder DEnHARDT mit ihrem Be-
gleiter, Hrn. Truomas im Jahre 1896 zusammengebracht und dem Bot. Mu-
seum überwiesen haben. Wir folgen von Korokoro, nahe am Aequator,
dem Fluss bis zu seinem Mündungsgebiet. Das merkwürdigste Er-
gebniss dieser Expedition war, dass in den Uferwäldern von Korokoro,
nahe am Aequator, Populus euphratica OLıvier aufgefunden wurde, in
einer Subspecies, welche ich wegen der kurzen Blüthenstände und der
auffallend grossen Früchte unterschieden und Denhardtiorum (Enever,
in Notizblatt des Berl. Bot. Gart. u. Mus. 1898, S. 218) genannt habe.
Bisher kannte man von dieser interessanten Pappel das weite Areal
von der Songarei bis Palästina und bis zum westlichen Tibet, ein
kleineres in Algier und Marokko und endlich ein drittes von ASCHERSON
1877 entdecktes in der kleinen Oase der libyschen Wüste. Das Auf-
finden eines vierten, so weit südlich gelegenen Areals ist ebenso in-
teressant für die Lehre von der Pilanzenverbreitung, wie auch für die
Lehre von der Artbildung: denn meine Subspeeies ist sicher von P. eu-
phratica weit mehr verschieden, als viele neuerdings unterschiedene
Arten von ihren Verwandten.
In grösserem Abstand vom Ufer wachsen bei Korokoro:
A. Bäume und Sträucher: Acacia senegal Wırın., Grewia populifolia V aut,
Oephalocroton cordofanus Hocusır., Combretum aculeatum Venxv., Himantochilus sessiliflorus
T. Aso., Dirichletia glaucescens Hırrn; parasitisch Loranthus ugogensis Ext.
B. Halbsträucher und Stauden: Pavonia Kotschyi Hocası., P. zeylanica Cav.,
P. glechomifolia (A. Rıcn.) GasckE, Pseudosopubia Hildebrandti (VarkeE) Ener. var. breei-
folia Ensr., Stachytarpheta indica (L.) VAnr.
Sitzungsberichte 1904. 29
am 3 sm ;
370 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
Weiter südlich, bis Massa in Malakoti und daselbst (etwa bis
ı° s. Br.) wurden am Ufer des Tana gefunden:
A. Bäume und Sträucher: Poinciana elata L., Terminalia Thomasii Enct. et
Dıers, Grewia Denhardtii K. ScH., Maerua calantha GıLG, Cassia goratensis Fres., (om-
bretum constrictum (Bext#.) Laws.
B. Lianen und Schlingpflanzen: Paullinia pomata L., Cissus Thomasi Gıus,
Landolphia florida Bexıu. nebst var. /eiantha Orıw., Momordica trifoliata Hoox. f..
occinia moghaddd (Forsk.) AscHERS.
C. Stauden und Halbsträucher: Triumfetta tomentosa Bos., Hibiscus caly-
phyllus Cav., Abutilon indicum (L.) Don, Pseudosopubia Hildebrandtü (Vauke) Excı.,
Heliotropium Steudneri Varse, Leucas glabrata (Vanı) R.Br., Barleria prionitis L., Justi-
cia odora V auL.
In grösserem Abstand vom Ufer, in der Buschsteppe, fallen auf:
Terminalia praecox Eneı. et DieLs, Maerua Denhardtiorum Ging, Combretum Den-
hardtiorum Ense. et Diers, Hibiscus crassinervis Hocastı., Jonidium enneaspermum Vest.
var. angustissimum lEssrt., Rhinacanthus rotundifolius C. B. Crarke und Aloe wituensis
Baker.
Bei Kosi unter 2° s. Br. finden sich:
Kigelia aethiopica DEcKEN, Rinorea elliptica (Orıv.), Strophanthus Courmontü Sacı.,
Melanthera Brownei (DC.) Sca. Bır.
Hier sowohl wie bei Ngau unter 2°5' treten in den Buschge-
hölzen schon einige Arten auf, welche auf die Flora der Sansibar-
küste hinweisen: es wurden bei Ngau gesammelt:
Tylachium Thomasü Girs, Acridocarpus sansibaricus A. Juss., Ochna mossambicensis
Krorzscn, Bauhinia wituensis Harms, Cissus rotundifolia (Forsk.) VauL, Rhaphanistro-
carpus Boivini Cocn., Hibiscus micranthus, Talinum cuneifolium Wırıv., Polanisia strigosa
Bor., Ruellia patula Jacg., sodann auch die beiden durch dicke fleischige Stämme aus-
gezeichneten Steppenbewohner Pyrenacantha vitifolia ExsL. und Adenium coaetaneum Svarr.
Am Flussufer und am Rande von Sümpfen wurden von Koro-
koro bis Ngau gefunden:
Celosia argentea L., Nasturtium indicum (L.) DC., Mimosa asperata L., Crotalaria
Thomasii Hanns, Olitoria ternatea L., Rhynchosia flavissima Hocusr., Corchorus trilocu-
laris L., Ammannia auriculata WırLo., Jussieua linifolia Varı und J. erecta L., Conyza
argyptiaca (L.) Arı.. Sphaeranthus eyathuloides O.Horrn.; in Seen wächst Nymphaea lotus L.
Auf den Sandbänken des Tana kommen unter dem Aequator vor:
Heliotropium ovalifolium Forsk. und H. Steudneri Varse, Turnera ulmifolia L. var.
Thomasü Uran und Loewia tanaensis Ursan, an anderen Stellen @linus lotoides L.
Endlich wurden an Sümpfen im Mündungsgebiet des Tana ge-
sammelt:
Thespesia populnea Gurt. et Perr., Abutilon asiaticum (L.) Don, Cassia occiden-
talis L., auf Sträuchern Loranthus Sadebeckü Ener. und L. Kirkü Or.
Die Vegetation des unteren Somalilandes von etwa 150” bis etwa
500" ü. M.
Das Somaliland östlich vom Wabbi Schebeli mit Merehan.
Hauija, Medschurtin ist, abgesehen von dem schmalen Küsten-
streifen im Norden, der niedrigste Theil der Halbinsel, welcher sehr
allmählich aufsteigt. Die Vegetation ist eine ärmliche und uns nur
a Tr . r . ei . 1 . Yard
Enster: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. a
aus den Sammlungen Rosecenr's bekannt. Von Mogadoxo über Itala
bis Mereg hatte sich Rogecent’s Karawane nahe an der Küste gehalten
und erst unter 4° n. B. wandte sie sich etwas mehr landeinwärts
gegen das 20“ von der Küste entfernte Harardere. Zwischen den
niedrigen, der Küste parallel verlaufenden Hügeln wurden im Mai
Spuren dürftigster zerstreuter Gras- und Krautvegetation neben ein-
zelnen kümmerlichen Dornsträuchern und an den sanften Abhängen
der Hügel einzelne Acazien, selbst einzelne Bestände getroffen.
Nördlich von Harardere zwischen und an den Wuirwuir-Hügeln
führt der Weg sogar 4" durch einen sogenannten Acazienwald und
durch Gebüsch;: sowie man sich aber gegen Elhur (5° n. B.) der Küste
nähert, trifft man wieder sehr steriles Land. Fruchtbarer wird es
westwärts gegen Hamara: schon das nahe bei Elhur gelegene Wadi
Oglow ist von Feldern mit Durrah, Sesam, Bohnen, Baumwolle und
Melonen oder mit diehtem Gebüsch bedeckt, und in der Nähe von
Hamara werden ausgedehnte Bestände hoher Acazienbäume angetroffen;
auf dem darauf ostwärts gegen Obbia eingeschlagenen Wege über
die 300" hohen Dablaror-Hügel durchschritt man durchweg Gebüsch
und traf auf der Höhe aromatische Kräuter beherbergendes Weideland.
Leider finden sich keine Pflanzen aus diesem Gebiet in Roszcenr's
Sammlungen. In der letzten Woche des Juni wurde der Marsch von
Obbia nach Warandi zurückgelegt und hierbei Baum- und Buschsteppen,
kurz vor Warandi auch Salzsteppen mit Suaeda monoica durehschritten.
Grösstentheils wird zwischen den sandigen Hügeln und auf den Plateaus
derselben leidliches Weideland angetroffen, in welchem Aristida Sie-
beriana Trıs. var. nubica Trın. et Rupr. besonders häufig ist. Auch
giebt Rogecent an, dass hier und da Rasen von Cynodon dactylon Prrs.,
das immer das Anzeichen eines etwas nährstoffreicheren Bodens ist,
wahrgenommen wurden. Von anderen, auf dem sandigen Boden zer-
streuten Kräutern sind zu nennen Heliotropium arenarium \ aızz, Boer-
havia plumbaginea Cav., Aerua javanica (Br.) Juss. oft massenhaft, die
Asclepiadacee Brachystelma subaphyllum K. Sen. und Cucumis dipsaceus.
Während auf dem Sandboden nur zwergige Acazien wachsen, treten
auf rothem thonigen Boden grosse Acazien in Beständen auf, stellen-
weise auch diehte Gehölze mit verschiedenen Arten, welche häufig
mit Loranthus curviflorus Bextu. besetzt sind. Nicht selten sind kleine
Bäumchen von Cassia longiracemosa Varke, welche auch aus der Gegend
von Teita in Englisch-Ostafrika bekannt ist, sowie die Capparidaceen
Maerua crassifolia Van und Cadaba heterotricha Stocks (= C. soma-
lensis Fraxcen.). Ein häufiger Strauch ist die graublättrige Indigofera
argentea V au und ebenso ist durch weissfilzige Blätter eine bisher nicht
bekannte strauchige Composite aus der Gruppe der Mutisieae Dicoma
29*
372 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
somalensis ©. Horrn., ausgezeichnet. Die Vorliebe der Naturvölker,
filzblättrige Pflanzen als Schmuck zu tragen, zeigt sich auch hier, indem
die Eingeborenen von diesem ghedhad oder uwadad genannten Strauch
Zweige in’s Haar stecken. Als Schling- und Kletterpflanzen treten hier
auf Coceinia moghadd (Forsk.) Ascners. und Corallocarpus Ehrenbergü
Hoox f. Von grösseren Halbsträuchern sind noch die Malvaceen Pa-
vonia Kotschyi Hocnst. und Senra incana Cav. zu nennen, von kleineren
Sträuchern eine Reseda mit fiedertheiligen Blättern und eine Crotalaria,
sodann eine polsterbildende halbstrauchige Dlepharis. Ein sehr bemer-
kenswerther Fund aus diesem Gebiet ist der kleine Strauch rumassan,
die Turneracee Loewia glutinosa URBAN, ausgezeichnet durch Höckerchen,
welche einen klebrigen Saft ausscheiden.
Weniger wichtige Arten dieser Gegend sind noch folgende:
Hibiscus aristaevalvis GARcKE, Üorchorus hirsutus L. var. stenophyllus KR. Sc#.,
Portulaca quadrifida L. und Oucumis fieifolius A. Rıcn. var. echinophorus Naup., die sehr
sparrige Pulicaria Grantü.
Von Warandi durch Merehan steigt das Land zwischen 47°40
und 46° ö.L. von etwa 150" zu 250” ü. M. und weiter westwärts
gegen 45°15 schliesslich bis zu 500” ü. M. Aber doch bedingt
dieses sanfte Aufsteigen des Geländes schon eine Änderung der Vege-
tation. Die Gehölze werden reichlicher und dichter; sie zeigen eine
grössere Mannigfaltigkeit von Arten; Obstgartensteppe und gemischte
Busch- und Dornbuschsteppe herrschen auf dem rothen thonigen,
oft streekenweise nackten Boden. Von Rosgecent werden diese und
andere Gehölze sogar als »foresta« bezeichnet. Leider reiste Rogeccht
durch Merehan im Juli, während dessen sehr viele der Dornbusch-
<ehölze noch nicht belaubt waren; es konnten daher mehrere der
gesammelten Zweige nicht auf die Art bestimmt werden; ferner ist
sehr zu bedauern, dass von den Acacien, welche auch hier herrschen,
so wenig brauchbares Material vorliegt. Doch scheint nach einer
Abbildung schon bei Warandi Acacia spirocarpa Hocnst. aufzutreten.
Ausser den Acacien kommen aber auch noch zwei andere Bäume aus
der Familie der Leguminosen vor, die durch doppeltgefiederte Blätter
und prachtvolle, grosse gelbe Blüthen ausgezeichnete, über das um-
gebende Buschwerk oft mächtig hinwegragende Poinciana elata L.,
welche von der Erythraea bis in das Kilimandscharo-Gebiet verbreitet
ist, und die mit einfach gefiederten Blättern und apetalen Blüthen
versehene Cordyla africana Lour., welche bisher zwar aus Senegam-
bien, dem centralafrikanischen Seengebiet, dem Ghasalquellengebiet
und vom Sambesi, aber nicht aus dem nördlichen Ostafrika bekannt
war. Das kleine Bäumchen Cassia longiracemosa VATKE findet sich
auch in Merehan. In den Vordererund treten, wie in den von mir
bereisten Steppen Östafrikas, zwischen Usambara und Paregebirge,
EnGrer: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 373
zwischen Taveta und Voi: Burseraceen, Capparidaceen und Grewia-
Arten. Von den gesammelten Burseraceen sind zu nennen Boswellia
multifoliolata Exsı., Commiphora gurrha Escr. und (©. rostrata Excu.,
kleine bis 4” hohe Bäumchen oder Sträucher, von Capparidaceen
Boscia coriacea Pax, Maerua cerassifolia Van und Cadaba glandulosa
Forsk. Dazu kommen die Rhamnacee Zizyphus hamur Exer. und die
Tiliaceen Grewia populifolia V auı und Gr. villosa Wırun., welche letztere
auch als kleines Bäumchen entwickelt ist. Von Malvaceen ist Hibiscus
Bricchettü (PırotTa) GÜRKE zu nennen, ein Strauch mit grossen ge-
lappten Blättern und sehr grossen rosavioletten Blüthen, sodann die
kleineren Sträucher Abutilon fruticosum Gun. et Prrr., Hibiscus crassi-
nervis Hocnst., Pavonia Kotschyi Hocust. und P. zeylanica Gav. Be-
sonders auffallend ist der stattliche Zygophyllaceenstrauch Aelleronia
splendens Scuinz, gewissermaassen ein strauchig gewordener Tribulus
mit grossen gelben Blüthen, und recht charakteristisch sind drei kleine
Dornbäumehen der Gattung Jatropha, J. villosa (Forsk.) MürL. Are..
J. ferox Pax und J. Robecchü Pax. Ferner wachsen hier die im nordöst-
lichen Afrika vom Etbaigebirgsland bis zum Ghasalquellengebiet, sowie
in Arabien und dem nordwestlichen Indien verbreitete Cordia gharaf
(Forsk.) Enreng. und der schon vorher erwähnte Compositenstrauch Di-
coma somalensis OÖ. Horrm. In den trockenen Gebieten des Somalilandes
entwickeln sich auch einige Cruciferen zu Sträuchern, so namentlich
Arten der Gattung Farsetia, von denen wir in Merehan F. Robecchiana
Esser. zu verzeichnen haben. Ebenso ist von besonderem Interesse die
strauchige Convolvulacee Ipomoea citrina HarLıer f., welche der südwest-
afrikanischen I. dammarana Renore Ähnlich ist und durch ihre gelben
Blüthen auffällt. Von Schlingpflanzen wachsen hier ein Cissus, eine
Daemia und Ceropegia, sowie einige Cucurbitaceen, namentlich Corallo-
carpus und Coccinia. Wo das Buschdickicht von offenen Stellen unter-
brochen wird, da kommen niedrige strauchige Formen oder polsterartige
Halbsträucher vor, so die nur in Merehan gefundene Amarantacee Da-
sysphaera Robecchiü Lorr. (Exgrer’s Bot. Jahrb. XXVIU Taf. I) mit weiss-
filzigen Zweigen und Blättern, Reseda Rivae Gıue., Heliotropium strigosum
Wırep. und A. Steudneri Varke, die Labiaten Capitanya otostegioides
GürkeE und Leucas argyrophyllaV arke, die Acanthaceen Leucobarleria Ro-
beechii Lispau und Megalochlamys linifolia Lisvav.
Von schwächeren krautigen Pflanzen wurden nur die Amarantacee
Psilotrichum Robecchiüi Lorr., Corchorus hirsutus L. und die endemische
Convolvulacee Hyalocystis prostrata Hauer f. gesammelt, ein klebriges
Kraut, welches durch kurzgestielte, handförmig gelappte Blätter an
eine Malvacee erinnert, glockige blassviolette Blüthen und einsamige
Kapseln mit dünner, häutiger Wandung besitzt.
374 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
Das Thal des Wabbi-Schebeli wurde von Roszcent zwischen
6° und 5° n. Br. und zwischen 45° und 443° ö. L., wo es etwa 200”
ü. M. liegt, durchwandert. Die Vegetation macht auf den aus der
Steppe kommenden Reisenden den Eindruck grösster tropischer Üppig-
keit. Wir erkennen aber doch an den daselbst gesammelten Pflanzen,
dass ein Theil von ihnen wohl Bodenfeuchtigkeit empfängt, aber doch
während des grössten Theiles des Jahres Lufttrockenheit auszuhalten
hat, und die an den vom Wasser nicht erreichten Thalwänden wachsen-
den Pflanzen sind ausgesprochene Xerophyten. An einzelnen besonders
geschützten Stellen kommen auch Farne mit etwa 1" langen Blättern
(vielleicht ein Nephrodium) vor, wie eine auf S.437 des Rogzcenr'schen
Werkes gegebene Abbildung darthut, doch sind derartige Plätze jeden-
falls nieht dem allgemeinen Charakter entsprechend. Nicht bloss am
Wabbi-Schebeli, sondern auch an einem kleinen Bachzufluss Firfir sind
hohe Acacia und mächtige Hyphaene (thebaica Marr.?) die Charakter-
bäume. Gesammelt wurde aber nur Acacia seyal Druive. Von grösseren
Leguminosenbäumen ist noch Poinciana elata L. durch Herbarexemplare
belegt. Sehr häufig bildet Tamarix orientalis Forsx. grössere Bestände.
Als stattlicher Baum tritt noch Terminalia orbieularis Eseı. et Diers var.
macrocarpa Exsı. et Diers auf. Ferner erscheint die Apocynacee Arduina
edulis (Vanı) K. Sci. als dichter, wenn auch nicht hoher Baum. Das
Buschwerk des Thales bilden folgende, bisweilen auch zu kleinen Bäu-
men sich entwickelnde Sträucher: die Capparidaceen Maerua rigida R. Br.,
Capparis deeidua (Forsx.) Pax, Cadaba heterotricha Swocks, CO. divaricata
Give und ©. mirabilis Gins, Boscia xylophylla Gıws, Cassia sophora 1.
(Strauch, bis 15), die Rhamnaceen Zizyphus jujuba Lam., Z. hamur
Ener. und Berchemia discolor (Krorzscn) Hrmstey, das sehr eigenartige
strauchige Zygophyllum Robecchiü Exer., die ebenfalls neue Euphorbiacee
Bricchettia somalensis Pax, die Tiliaceen Grewia populifolia Vauı und
G. villoa Wırvv., die Malvacee Thespesia danis Orıv. (bis 4" hohes
Bäumchen), die 1" hohe Stereuliacee Hermannia panniculata Fraxcn.
und die Acanthacee Himantochilus sessiliflorus T. Ann. Unweit des
Wabbi findet sich auch der strauchige Coleus aulihanensis Scuwrin. et
Vorx. Halbsträucher von den Ufern des Wabbi sind Justieia shebe-
lensis Rexpre, J. gesnerifolia Renpue, Eebolium barlerioides (S. Moork)
LispAu.
Als Schlingpflanzen treten auf Cissus somaliensis Giws, die Ascle-
piadacee Pentatropis hoyoides K.Som., Coceinia moghadd (Forsk.) ASCHERS.,
Blastania fimbristipula Korseny et Prvr., Corallocarpus Ehrenbergü Hoox. f.
Unmittelbar am Flussufer ist Sesbania leptocarpa DC. häufig, ferner
wurden Typha latifolia, Arten von Cyperus und Scirpus beobachtet und
im Fluss selbst Nymphaea lotus L. Auch Gräser sind reichlich vor-
Ester: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 33a)
handen, zum Theil solche, welche als Futterpflanzen geeignet sind;
Panicum colomum L., Pennisetum_ ciliare Lx., Eriochloa remola (Rırz.)
Cniov., Sporobolus podotrichus Gmov., Chloris multiradiata Hocusr., Tetra-
pogon triangulatus (Hocusr.) Scuweısr., Kragrostis verticillata Scumr. Von
grösseren Stauden wachsen in den Lichtungen zwischen den Gebüschen:
Gloriosa minor REenpLE (im Westen des Wabbi), Aerua lanata (1.) Juss.,
Indigofera viscosa Lan., Tephrosia incana Grau., Trüumfettia flavescens
Hocusr., Abutilon indieum Dos, Hibiscus cannabinus L., Pavonia Kotschyi
Hocusr. und P. glechomifolia GarckE, verwildert Gossypium herbaceum L.,
Barleria linearifolia Pırs.. Epaltes gariepina (DC.) Srrrrz, Polyeline spec.,
Laggera spec. Viele dieser Stauden finden sich auch im oberen Nil-
land. Interessant ist, dass hier auch noch die grosse Orobanchacee
Cistanche hutea Desv. vorkommt. Ferner sind häufig Bestände der
Sansevieria Ehrenbergü Scnuwrrn., welche eine von den Eingeborenen
verarbeitete Faser liefert. Auf Blössen wachsen Boerhavia vulvarüfolia
Poır., Tetragonia somalensis Exeı., Talinım cuneifolium Wirwv., Vahlia
viscosa Roxg., Tribulus terrester L. nebst var. cistoides (L.) Ouıv., Phyllan-
thus reticulatus Poır., Heliotropium cinerascens Streu». und H. supinum L.,
Barleria spec., Oldenlandia corymbosa L. und O. rhynchotheca K. Scır.,
Cucumis dipsaceus Ehrenb. An ganz trockenen Plätzen wächst die
Aselepiadacee Zdithcolea grandis N. E. Br. mit grossen schwärzlich-
violetten Blüthen. Roszcen war vom Wabbi nach Norden gezogen,
wo der Tug Faf, ohne den Wabbi zu erreichen, sich in der Ebene
verliert; von dieser Strecke liegen keine Sammlungen vor; aus seinen
Berichten geht hervor, dass er sogenannten Wald (Acacienbestände),
Buschland und Grasfluren mit hohen Stauden durchwanderte, hier und
da in dem Alluvialland auch grosse Ficus antraf.
Gebiet der Mündung des Web und des Daua in den
Ganale-Dschuba.
In der Gegend von Dolo etwas nördlich von 4° n. Br. und etwas
östlich von 42°ö6.L. nimmt der Ganale, welcher im Unterlauf als
Dschuba bekannt ist, den von 6° n. Br. an ihm nahezu parallel ver-
laufenden Web und den von 40°ö.L. an sich meist unter 4° n. Br.
haltenden Daua auf. Wir sind jetzt nach den Sammlungen Rusrour's
und EirEngBecK's in der Lage, über die Vegetation der Ufergelände
dieser Flüsse, welche von etwa 300” an aufsteigen, Mittheilungen
zu machen.
Bis zu etwa 400” Höhe ü. M. sind ausser Hyphaene folgende
Bäume beobachtet worden: hier und da Phoenix reclinata "TmouArs,
häufiger Acacia seyal Deı.. A. socotrana Barr. f., A. glaucophylla SreunD.,
376 Gesammtsitzung vom 15. Februar 1904.
dann Tamarindus indica L. und Kigelia aelhiopica Deese., auf ihren Wur-
zeln und denen der Acacien auch der bekannte Parasit Hydnora abys-
sinica R. Br., sodann Terminalia Ruspolü EneuL. et Dies, ausgezeichnet
dureh sehr grosse scheibenförmige Früchte, Dalanites aegyptiaca Deumz.
Zizyphus jujuba Lan., Grewia carpinifolia Juss. und G. villosa Wırtn.,
Tamarix orientalis Forsk., die bisher nur am Web gefundene Moringa
Ruspoliana Exer., Dichrostachys nutans Bentn., Cordia Ellenbecki GüRkE
(4—5 m hoch).
Mehr abseits vom Ufer auf trockenem, lehmigen oder auch stei-
nigem Boden wachsen eine grössere Anzahl Bäume und Sträucher, von
denen einige weiter verbreitet sind, mehrere aber dem Somaliland
eigenthümlich zu sein scheinen; ich nenne zunächst die grösseren,
welche wenigstens 2” hoch werden:
Capparidaceae: Maerua candıda Gırc; Boscia zylophylla Gıvs (2—5m hoch);
Courbonia subcordata Gı.s (I—2 m hoch).
Simarubaceae: Kirkia tenuifolia Essr., bis 3” hoch, fiederblättrig, mit kleinen
eiförmigen Blättchen und kleinen grünlichen Blüthen.
Burseraceae: Commiphora truncata Ensr., auch besetzt mit Loranthus panganensis
Ensr.; ©. Erlangeriana Exct.
Malpighiaceae: Diaspis albida Nırvenzu, 2—4 m hoch, in dünne schwach
schlingende Zweige endigend.
Euphorbiaceae: Jatropha ferox Pax, bis 4" hoch; J. Rivae Pax; Euphorbia
Grosseri Pax, bis 4" hoher, vom Boden aus verzweigter Strauch, mit 5—6 cm langen,
verkehrt-eiförmigen, in Büscheln stehenden Blättern.
Celastraceae: Gymnosporia senegalensis (Lam.) Lors. var. inermis Loks.
Malvaceae: Thespesia danis OL.
Borraginaceae: Cordia gharaf (Forsk.) EHRENB.
Compositae: Vernonia cinerascens ScH.-Bır., 2"5—4.5 hoher Strauch, mit keil-
förmigen, in Büscheln stehenden Blättern.
Besonders interessant sind die kleineren Sträucher:
Chenopodiaceae: Suaeda monoica Forsk., 1"”— 25 hoch, findet sich nur stellen-
weise, auch in Deutsch -Ostafrika, auf salzigem Boden; dann aber massenhaft und fast
dominirend.
Amarantaceae: Üentema Ellenbeckiü Gırs, eine Amarantacee, bis 0.75 hohe,
dichte graue Büsche bildend; Sericocomopsis pallida (S. Moore) Scaınz, 1"—ı.5 hoher
Strauch, mit in Büscheln stehenden spatelförmigen Blättern an Kurztrieben und mit
in Scheinähren endenden Langtrieben.
Cruciferae: Diceratella Ruspoliana Excı.; Farsetia fruticosa ExsıL.; F. Robec-
chiana EnGt.
Capparidaceae: Calyptrotheca somalensis GıLG, ein eigenartiger Capparidaceen-
strauch, welcher blattlos bleibt und sternförmig aufspringende Früchte besitzt.
Moringaceae: Moringa longituba Exsr., eine sehr interessante Art, welche nebst
der oben erwähnten baumförmigen Art auf das Somaliland beschränkt zu sein scheint.
Leguminosae: Crotalaria senegalensis Bacıe, 1.5 — 25 hoch; Cassia longirace-
mosa \V ATKE.
Zygophyllaceae: Kelleronia splendens Scaınz, die bereits früher erwähnt wurde;
Zygophyllum Robecchü Exssr., bis 1" hoher Strauch.
Euphorbiaceae: Cephaloeroton cordofanus Hocusr., bis 1" 5 hoch; Triumfetta fla-
vescens Hocnst., bis. 2" hoch.
Exsrer: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 371
Sterculiaceae: Harmsia sidoides K. Sch., eine bis jetzt dem Somaliland eigen-
thümliche Gattung der Stereuliaceae, Hermannia boranensis K. Sca.. 0"5 hoher Strauch,
mit eiförmigen gekerbten Blättern und Rispen, kleinen Blüthen.
Convolvulaceae: Ipomsea Donaldsonii RenpLe (= 1]. Ghikae Scuwrn. et Vor«.),
1"5— 25 hoch, sehr häufig.
Verbenaceae: Cyclocheilon Kelleri Exsr., bis 0%5 hoher Strauch, mit hellrosen-
farbenen Blüthen; ©. minutibracteolatum Ex6L.
Labiatae: Capitanya otostegioides GÜRKE; Erythrochlamys spectabilis GÜRKE, an
felsigen Plätzen.
Scrophulariaceae: Ghikaea superba (RennLe) (= Graderia superba RenpLE = Gh.
spectabilis Scawrin. et Vork.), ein Serophulariaceenstrauch mit ansehnlichen gelben
Blüthen.
Acanthaceae: Ecbolum barlerioides (S. MoorE) Lıxpav.
Rubiaceae: Dirichletia macrantha K. Scn., (Rubiacee), ı—2 m hoher Strauch mit
rothen Blüthen; D. aspera K. Sen.; Randia? sphaerocarpa K. ScH.
In dem Buschgehölz treten auch ziemlich zahlreiche Schling- und
Kletterpflanzen auf, nämlich:
Asparagus racemosus Wırıd., Caesalpinia sepiaria Roxs., Oylista scariosa Avr., Rhyn-
chosia flavissima Hocnsr., Dalechampia scandens L. var. cordofana (Hocnsr.) Mürr. Arg.,
Cissus macrothyrsa GıLG. 0. somaliensis Gırs (an trockenen Plätzen). ©. quadrangularis
L. (? wegen Unvollständigkeit des Materials), Hewittia bicolor W. Arn., Tacazzea api-
culata Ouıv., Dregea rubieunda K. Scu.. Owystehna senegalense Deene., Daemia cordi-
folia (Rerz.) K. Scn.. Thunbergia Guerkeana Lınpau, wie noch einige andere Acantha-
ceen des Somalilandes, auffallend durch 1!" lange, weisse Blüthen, Momordica trifo-
liata Hoox. f., Corallocarpus parvifolius Cocn., Coccinia moghadd (Forsk.) AScHErs.
Von hygrophilen Stauden und Kräutern wurden nur festgestellt:
Arundo donax L., Panicum leersioides Hocusr., Nasturstium palustre
(Leys.) DC., N. indieum (L.) DC., Veronica aquatica Bersn.: es fehlen
aber noch die Cyperaceen.
In den Gebüschen und den Liehtungen zwischen denselben finden
sich folgende Stauden:
Panicum Petiveri Trın. (in Gebüschen). P. pennatum Hocasr., Leptochloa obtusiflora
Hocusr., Pupalia lappacea (L.) Moqu., Clitoria ternatea L., Crotalaria boranica Harns,
Eriochloa trichopus Hocasr., Sporobolus agrostoides Cnıov., Gloriosa virescens Lınpr., Mat-
thiola Erlangeriana Ensr. mit fiedertheiligen Blättern und violetten Blüthen, bis 8o«m
hoch, Indigofera senegalensis Lan., Pavonia zeylanica Lam., Hibiseus rhabdotospermus
GarckE (in Gebüschen). H. dietyocarpus Wess, Seddera hirsuta Danner (in Gebüschen),
Convolvulus rhyniospermus Hocnsr. (oft massenhaft), Merremia hederacea (Burnm.) Har-
Lıer f., Heliotropium longiflorum Hocusr. et Sırun., Orthosiphon tenuflorus BexTH.,
Pluchea sordida (VaıseE), Orıv. et Hıern (steinige Plätze), Vernonia cinerascens ScH.
Bıp., V. Hildebrandtii Varke und V. pauciflora Less., Asystasia rostrata (Hochsr.) Sonus.
Hierzu kommen die Knollen- und Zwiebelgewächse: Chlorophytum tuberosum (Rox».)
Bax., Drimia confertiflora Dammer und D. brevifolia Bax. mit hellbläulichen Blüthen,
Scilla somaliensis Bax., Orinum scabrum Her». und Pancratium tortuosum Vexr., letzteres
mit grossen weissen Blüthen.
Auf sandigem, unfruchtbarem Boden finden sich zerstreut eine
Anzahl weit verbreiteter einjähriger Pflanzen, zum Theil mit nie«der-
liegenden, ausstrahlenden Zweigen, sowie auch einige aufrechte
Kräuter:
378 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
Chenopodium album und Boerhavia paniculata &. Rıcn. und B. vulvarüfolia Poır.,
Glinus lotoides L., @. spergula (L.) Pax, Giesekia pharnaceoides L., Digera alternifolia
(L.) Ascners., Farsetia grandiflora Fourn. var. angustipetala Encr., Oleome brachycarpa
Vanut (sehr häufig), Vahlia viscosa Rox»., Canavalia ensiformis DC., Tribulus terrester L.
nebst der var. cistoides (L.) Orıv., Euphorbia gramulata Forsk., Corchorus olitorius L.,
‚Jonidium enneaspermum Venxv. var. hirtım (Ktorzsca) Orıv., Lippia nodiflora (L.) Rıcn.,
IHeliotropium einerascens Sweun., H. longiflorum Hocastr. et Sreun., H. ovalifohum
Forsk. und H. Steudneri Varke, Leucas glabrata (Vaur) R. Br.; die Pedaliaceen Ptero-
discus Ruspolii Ener. mit rübenförmiger Wurzel und blaurothen Blüthen, und Pedahum
Ruspolü Excr., ein 50°“ hohes Kraut mit gelben Blüthen, Pentodon pentander (Scuux.
et Tnonn.) VarkE, Cucumis ficifolius A. Rıc#. var. echinophorus Naun., C. melo L. var.
agrestis Naun., Blumea aurita DC., Eclipta alba (L.) Hassk., Pluchea ovalis (Pers.) DU.,
endlich Oldenlandia corymbosa L., O. Schimperi T. Ann.
An ähnlichen Stellen wachsen auch einige Halbsträucher:
Indigofera spinosa Forsk., Senra incana Cav., Heliotropium strigosum Wırrn., Glos-
sonema Revoilii Francu., und die Acanthaceen: „Justicia palustris (Hocasr.) T. Anp.,
Barleria diacantha NeeEs, B. mucronifolia Lıspvau, B. Rivaei Lınvau, Blepharis boerhawii-
‚folia Pers., Ruellia linearibracteolata Lınvau, Leucobarleria nivea Lınpav.
Man beachte auch hier die auffallend grosse Zahl von Acan-
thaceen.
An ganz sterilen, sandigen und steinigen Plätzen erhalten sich
fast blattlose Sträucher, wie Kuphorbia somalensis Pax und Suceulenten,
nämlich Euphorbia schizacantha Pax, etwa 1" hoch, dicht verzweigt, mit
dünnen suceulenten Stengeln und 2°5 langen Dornen, die Passifloracee
Adenia aculeata (Ouiv.) Esser. und die Asclepiadaceen Caralluma retro-
spieiens (EHRENB.) N. E. Br. und Kdithcolea grandis N. E. Br.
Etwas höher als die besprochenen Thallandschaften liegt die
Lorian-Ebene im Lande der Garre-Livin, zwischen Daua und Dschuba;
sie wurde von der Errasser’schen Expedition im Mai 1901 durch-
zogen; man stieg vom Daua aus über Dschiroko und Wantu nach
El Uak von 400” bis zu 550" auf und von EI Uak nach Bardera am
m m
Dschuba von 550" zu 200” herunter. Der trockene rothe sandige
Lehmboden ist theils mit Acaciengehölz, theils mit laubwerfender
Buschsteppe bedeckt, welche eine grosse Zahl eigentümlicher Arten
birgt. Von höheren Baumformen ist nur Poinciana elata L. in den
Sammlungen vertreten; aber von Baumsträuchern und Sträuchern
wurden von Dr. ErLexgeck folgende Arten gesammelt: a) grössere, 2 bis
4" hohe Sträucher, Celosia populifolia (Hocusr.) Moqu. (bis 2" hoch,
an einem Wasserloch), Uvaria leptocladon Ouıv. (bis 25 hoch, mit
voriger, das nördlichste Vorkommen dieser Art und der Gattung
Uvaria in Ostafrika), Crotalaria laburnifolia L., Kirkia tenuifolia Exeı.,
bis 3" hoch, die Malpighiacee Aeridocarpus ferrugineus Eser., Hippo-
eratea crenata (Krozzscn) K. Scnun. et Lors. (= H. Kirkü Ouw.), He-
linus mystacinus (Aır.) E. Mey. var. parvifolius Exer., Terminalia bora-
nı
nensis Exer., ein 3-4” hoher Baumstrauch mit spatelförmigen Blät-
EnGrer: Über die Veeetationsverhältnisse des Somalilandes. Dt
tern, Symphyochlamys Erlangeri GürkE, ein eigenthümlicher Malvaceen-
strauch von 4” Höhe, mit nierenförmigen Blättern und grossen gelben
Blüthen, Premna resinosa (Hocnsr.) Scuav., bis 3” hoch, Erythro-
chlamys spectabilis Gürke, bis 2”5 hoher Labiatenstrauch mit ansehnlichen
violetten Blüthen, die Acanthacee Satanocrater paradoxwus Lispau. mit
eiförmigen Blättern und grossen zinnoberrothen Blüthen, die Rubiacee
Chomelia oligantha K. Sceu.
Kleinere Sträucher und Halbsträucher von 0°75-1.5 Höhe sind
folgende: Tephrosia nubica Bax., bis 1" hoch, mit silbergrauen Blät-
tern und rosafarbenen Blüthen, oft massenhaft auftretend, Clhuytiandra
somalensis Pax, bis ı"5 hoch, Jatropha villosa (Forsk.) Müur. Ars.,
Triumfettia flavescens Hocust. var. hirsuta K. Seu., Senra incana UAv.,
Gnidia Vatkeana Esser. et Girs und eine strauchartige Ipomoea mit
violetten Blüthen. Noch niedriger sind einige halbstrauchige Acan-
thaceen: Schwabea anisacanthus (Scuwrrn.) Liınpau, Duvernoia somalensis
Lispau, Barleria homoiotricha Cuarke (?) und B. acanthoides Vaur. Als
3” hoher sueculenter Dornstrauch verdient Beachtung Euphorbia Er-
langeri Pax mit dünnen fleischigen, kleindornigen Stengeln. Von
Schling- und Klimmpflanzen sind hier gesammelt worden: Rhynchosia
discolor Krorzscn, der succulente Cissus rotundifolia (Forsk.) Vaur,
die ebenfalls suceulente Adenia venenata Forsk., Ipomoca (Seect. Leiocalya),
Thunbergia glandulifera Lispau mit länglichen Blättern und langen,
blassgrünen Blüthen, und TA. gigantea Lispau, mit 1“"5 (!) langen,
weissen Blüthen, Corallocarpus peduncularis (Naun.) Cosn. und Melo-
thria spee. (verwandt mit M. maderaspatana Coex.). Die hier gesam-
melten Stauden sind zum grösseren Theil weiter verbreitete Arten:
Cyperus Frerei C.B. Crarke, Chlorophytum tuberosum (Roxe.) Bax., Oxygonum sa-
lieifolium Danner, Talinum cuneifolium Wırrv., Cleome brachycarpa V AHL und (. serru-
lata Pax, Vahlia viscosa Roxs.. Crotalaria patentihirta Harus, Zornia diphylla Pers.,
Stylosanthes mucronata WırLnd., Pavonia Ellenbeckii GÜürkE, Glossonema Rivaei K. Scn.,
Heliotropium indicum L., Bouchea pterygocarpa Scaav., Priva leptostachya Juss., Coleus
pachyphyllus Gürke, mit diekfleischigen Blättern und violetten Blüthen, Cistanche lutea
(Desr.) Horrussg. et Lınk, Hypoestes Hildebrandti Lınpau, Barleria Hochstetieri Ners,
Blepharis lineariifolia Prrs., Achyrocline glumacea (DC.) Orıv. et Hıern, Gutenbergia
Rueppellüi Scn. Bır.
Vegetation des westlichen Vorgebirgslandes oberhalb 500" bis an
die Grenze des Hochgebirges.
Gegen die Hochgebirge des Gallalandes hin ändert sich die Flora
nun sehr allmählich. Im Wesentlichen herrschen an den Flussläufen
Acacienbestände und in einiger Entfernung von denselben Obstgarten-
steppe oder niedriges laubwerfendes Buschgehölz, auf besonders stei-
380 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
nigem Boden Succulentensteppe; aber diese Formationen zeigen bei
weiterem Aufstieg andere Arten und allmählich solche des Gebirgs-
busches.
Über die Vegetation des mittleren Daua giebt uns die
Sammlung der zweiten Rusrori'schen Expedition, welche vom Juni
bis August 1593 am rechten Ufer dieses Flusses aufwärts zog und
denselben auch stellenweise berührte, Auskunft. Die Sammlung aus
diesem Gebiet ist dürftig, aber doch lehrreich und verhältnissmässig reich
an interessanten Formen.
Bei Gerima und Bela wurde sehr trockenes felsiges Gelände be-
rührt, und es wurden daselbst ausser der schon früher erwähnten
Terminalia polycarpa Ener. et Diers folgende bemerkenswerthe Arten
aufgefunden: Dorstenia erispa Exser., mit dickem, fleischigem Stamm,
Moringa longituba Eneı., Crotalaria polysperma Korscnv, Statice Mauro-
cordatae ScnwFrrn. et VoL«., auch vom Fürsten GmmkA-Comanestı bei
Burka am Dakato gesammelt, Astrochlaena tubiflora Haruer f., Ble-
pharis linearifolia Pers., Barleria chlamydocalyx Lisvau, Megalochlamys
linifolia Lisvau, Eelipta alba (L.) Hassk. An anderen Stellen fanden
sich Elionurus Rogleanus Nrrs und Melhania Denhamii R. Br. var.
grandibracteata K. Scn. In der Gegend von Jabidscho wurde Anfang
Juli der Daua berührt; es liegen von hier nur vor: Gymnosporia cre-
nulata Exer., Sesbania punctata DC., Erythrochlamys spectabilis GÜRKE,
Diwernoia somalensis Linpau, Thunbergia gigantea Lixvau.
Recht auffallend ist die Sammlung, welche bei Banas vom 14.
bis 21. Juli zusammengebracht wurde. Von Baumformen wachsen hier
auf steinigem oder grobkiesigem Boden: Acacia pennata Wırın., Mun-
dulea suberosa, Croton pulchellus Baır., Sterculia triphaca R. Br., von
Sträuchern /pomoea chrysosperma Hauer f., I. longituba Haruer f.,
von Stauden Kalanchoö Rohlfsü Eseu., Crotalaria laburnifolia L., Stylos-
anthes Boyeri VoseL, Zornia diphylla Prrs., Sida ovata Forsk., Waltheria
americana L., Evolvulus alsinoides L.. Ipomoea Hildebrandtü V arke (win-
dend), 1. obscura L. var. abyssinica Hauer f. (windend), Hypoöstes
Forskaliüi (Vaur) R. Br.: auf‘ Felsen wachsend Senecio Gunnisiü Bax..
mit fingerdickem, ı°5 langem, succulentem, von pfriemenförmigen
Blattdornen besetztem Stengel und an 5°" langen Stielen stehenden
Blüthenköpfehen. In Tümpeln wurde Utricularia inflata Forsk. auf-
gefunden, weiter oberhalb bei Arigulgoli in einem Teich Lagarosi-
phon spec.
Bei Dschellago weiter aufwärts wurde trockenes Buschgehölz an-
getroffen, in dem neben Dombeya multiflora Prascn. und Helinus
mystacinus (Arr.) Hrust. folgende Stauden und Halbsträucher beob-
achtet wurden: Aloö otallensis Bax., Heliotropium cinerascens STEUD.,
ven
EnGrer: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 381
Leucas abyssinica (Bentu.) Brıqu., Auttya fruticosa Lispau, Barleria
stelligera Lisvau, Cistanche lutea (Desr.) Horrnes. et Link, welche auch
noch weiter oberhalb Dschacorsa auftritt und überhaupt im Somali-
land verbreitet zu sein scheint.
Gegen und bei Dschacorsa wurden im Anfang August, ebenfalls auf
trockenem steinigem Boden, gesammelt: G@ymnosporia senegalensis (Lan.)
Lors., Harmsia sidoides K. Scn., Eucelea kellau Hocnst. als Zeichen
der beginnenden Gebirgstlora, Hildebrandtia africana V arke, Clerodendron
myricoides R. Br., Asparagus racemosus Wırıo. var. Ruspolü Exer., die
Schlingpflanzen Tragia mitis Hocnsr. var. cinerea Pax., Pentarrhinum
abyssinicum Deexe. und die Stauden Erucastrum leptopetalum Excı..,
Kalanchoe brachycalyx A. Rıcn., K. glandulosa Hocnsr., Phyllanthus niruri
L. (an sandigen Plätzen), Hypoöstes Forskalü (Van) R. Br., Ruellia
Ruspolü Lisvau, Justicia major (Hocusr.) T. Anno. An feuchteren krau-
tigen Plätzen wächst hier Sphaeranthus eylindrieus ©. Horrm. Ausser-
dem kommt hier Ficus Rivae Wire. vor, welche mit F. hararensis
WARB. verwandt ist.
Unweit Salule und Aloi bei einer Höhe von etwa 700" ü.M. tritt
die Andropogonee Themeda Forskalii Hacker sehr häufig auf: in den
Gebüschen finden sich Acacia mellifera Bexsrtu., die Amarantacee Chio-
nothrix latifolia Resoue, Cadaba barbigera Gins, Bridelia cathartica Bert. f.,
Hibiscus rostellatus Guswn. et Perr., Rhamnus staddo A. Rıcm. als weiteres
Zeichen der in grösserer Höhe beginnenden Hochgebirgstlora, /pomora
Donaldsonü Rexpte var. pubicalyx Haruer £., Asparagus racemosus W ıLuD.,
Tragia mitis Hocnst., Polanisia hirta (Krorzscn) Pax, Plumbago zeylanica
L.. Heliotropium zeylanicum Lam., Verbena offieinalis L., Hyptis pectinata
(L.) Poır.. BDlepharis cuspidata Lisvau, Hygrophila spieiformis Lispauv.
Am Ufer des Daua wachsen hier Andropogon contortus L., Pani-
cum crus galli L. forma aristata Gniov., Eriochloa ramosa (Rerz.) Cmov.,
Leersia hexandra Sw. var. australis Dur. et Scunz, Sporobolus robustus
Kunrn, Phragmites communis Trın. var. isiacus Cosson, Melanthera Browniü
(DC.) Scu. Bir. Noch weiter aufwärts bis Diriri treten auf Grewia po-
pulifolia Vanı, Peucedanum araliaceum (Hocusr.) BExtu. et Hook. f. var.
Fraxinifolium (Hıeks) Ener., Cordia gharaf (Forsk.) Eurens., Rlıynchosia fla-
vissima Hocusr., Desmodium paleaceum Guiwe. et Perr., Pavonia Kraussiana
Hocusr., Seddera hirsuta Dannmer, also im Wesentlichen noch Steppen-
pflanzen, doch schon mehr Repräsentanten der Vorgebirgssteppe.
An den Fällen des Daua bei Robe tritt der Charakter dev letzteren
noch mehr hervor; es finden sich daselbst:
Maerua Pirottae Gıns, Trichilia emetica Vıur, Themeda Forskalü Hacker var.
ümberbis, Tricholaena grandiflora Hocusr., Hydrosme gallaensis Ener., Ipomoea pes tigridis
L. var. africana HaLLıer f., Indigofera viscosa Lau., Waltheria americana L., Micromeria
abyssinica (Hocasr.) Bexru.. Stemodiopsis Rivae Esge., eine eigenartige Serophulariacee,
382 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
Veronica aquatica Bernu., die Acanthacee Ruspolia pseuderanthemoides Lıspau, Melasma
orobanchoides (BEN'rH.) ENnGL.
Am kleinen See von Ermoi in dieser Gegend wurden Sida spinosa L..
Cotula anthemoides L., Sphaeranthus brachystachys ©. Horrm. und Senecio
subscandens Hocust. gefunden, welche in den tieferen Regionen nicht
vorkommen. Bald wird auch Panicum maximum Jacg. häufig, und For-
men von Pelargonium multibracteatum Hocnsr., Oyenium gallaense ExseL.,
©. Herzfeldianum (V arke) ExeL., Mucuna melanocarpa Hocnsrt., Lefeburea
abyssinica A. Rıcn. machen sich als Repräsentanten der Gebirgsflora
des Gallahochlandes geltend, während Steppenpflanzentypen wie (ap-
paris Rivae Gıws und Jatropha mollis Pax mehr vereinzelt sind.
Obstgartensteppe und niedriges Buschgehölz im Gebiet
des mittleren Ganale.
Am Ganale aufwärts findet sich bis zu 700” bei Marta Obstgarten-
steppe oder niedriges Buschgehölz. Von 4-5” hohen, selten darüber
hinausgehenden Bäumen sind zu nennen: die Salvadoracee Dobera
glabra DC., Bosiwellia boranensis ExeL., mit dieht weichhaarigen, viel-
paarigen Blättern, mit gekerbten Blättchen und röthlich weissen Blüthen,
Commiphora flaviflora Eser., mit einfachen, spatelförmigen, gezähnten
Blättern, ©. albiflora Exseı., mit zweipaarigen oder gedreiten Blättern,
C. Erlangeriana Eseı., mit grossen dreipaarigen Blättern und 5°” langen
Blättchen. Mehr strauchartigen Wuchs zeigen Grewia bicolor Juss., @.
pilosa Wırrn., Combretum Ellenbeckii Ener. und ©. Erlangerianum Exeı.,
Caesalpinia oligophylla Harms und ©. Erlangeri Harns, letztere mit rosa-
farbenen Blüthen, 2—5 m hoch und häufig, Ormocarpum bibracteatum
Bax., mit gelben Blüthien, Cordia gharaf (Forsk.) Eureng. und (©. Ellen-
beckü GÜRKE (4-5” hoch), Strychnos spec. (verwandt mit Str. spinosa
Lan.), Marsdenia stelostigma K. Sc#., 3-4" hoch, mit eiförmigen Blättern.
Kleinere, nur 1-2” hohe Sträucher dieser Buschsteppe sind folgende:
Farsetia fruticosa Eseı., Bauhinia Ellenbeckiüi Harms, Polygala obtusissimum
Hocausr., Triumfettia flavescens Hocusr., Harmsia microblastos K.Sen., Cien-
Fugosia Ellenbeckü GürkE, sehr häufig, mit kirschrothen Blüthen, C/ado-
stigma hildebrandtioides Hauer f., ein sehr interessanter silbergrauer
Convolvulaceenstrauch, Erythrochlamys spectabilis GüRkE, Capitanya otoste-
gioides GürkE, Oyclocheilon eriantherum (NV ATKE) Ener., Bebolium Linneanum
Kurz, Ruttya speciosa (Hocasr.) Ener., Ruspolia pseuderanthemoides LixvAu,
Himantochilus sessiliflorus T. Ann.
Von Sehlingpflanzen wachsen hier: Rhoieissus Ellenbeckü Gıe, Peri-
ploca linearifolia Deexe. und Melothria maderaspatana Coex.
Von Gräsern finden sich häufig: Tricholaena leucantha Hocust. und
Latipes senegalensis Kuntn, von anderen Stauden und Halbsträuchern:
Ensrer: Uber die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 385
Commelina albescens Hassx., Asparagus Pauli Guilielmi Sowns, Tephrosia
heterophylla Varke, Phyllanthus maderaspatensis L., Euphorbia Ellenbeckii
Pax, E. pseudo-Holstii Pax, Pavonia arabiea Hocasr., Hibiscus mierantinıs
L., Glossonema Revoilii Franen. und @. Rivaei K. Sen., Erythrochlamys
vehutinus GÜRKE, mit dieht grauer Behaarung, Ocimum Stirbeyi Vork. et
Scuwrrtn., Lindenbergia scutellarioides Ascuers. var. viridescens ENx6L.,
Ruellia diseifolia Oxıv., Schwabea anisacanthus (Scuwrru.) LinDav. Auch
die einjährige Mollugo nudicaulis L. kommt vor. Ferner sind auch hier
einige Knollen- und Zwiebelgewächse wie überall in dieser Formation
anzutreffen: Chlorophytum, Drimiopsis, Drimia brevifolia Bax., Ornitho-
galum. An steinigen Plätzen wachsen Dorstenia foetida (Forsk.) SCHwrrH.
et Ener., sehr niedrig, mit rübenförmiger Wurzel und sternförmigem
Receptaculum, desgleichen die Velloziacee Barbacenia Schnizleiniana
(Hocnst.) Pax.
In grösserer Höhe ü. M., vom Ganale bei Burkare (1100") ist
ausgedehntes Buschgehölz vorhanden, aus welchem aber nur Adenium
somalense Baur. f. (2"” hoch), Cordia gharaf (Forsk.) EHREnB. und Solanum
darassumense Damner (1" hoch, weissblühend) gesammelt wurden.
Vegetation des oberen Vorgebirgslandes im oberen Boran
und im Lande der Arussi- und Ennia-Galla, an der Grenze
des Hochgebirges.
Es empfiehlt sich nun. dem von der Erraxcer schen Expedition
eingeschlagenen Wege in umgekehrter Richtung weiter aufwärts in das
Grenzgebiet von Boran und Arussi-Galla-Land hinein zu folgen, da
die Vegetation desselben bis zu grösserer Höhe noch viel Überein-
stimmung mit der oben geschilderten zeigt.
Im oberen Boran, oberhalb Burkare, an einem Zufluss des Ganale,
herrscht bis 1200" ü.M. dichtes Acaciengehölz auf sandig lehmigem,
vielfach auch steinigem Boden. Die hier nachgewiesenen Bäume sind:
Acacia mellifera Bextn. (bis 5" hoch), Grewia populifolia V an, Combretum
Erlangerianum Esser. (2—5 m hoch).
Zu ihnen gesellen sich folgende Sträucher: Farsetia Ellenbeckü Exeu.,
bis 1"5 hoch, mit dünnen Zweigen und rosafarbenen Blüthen, Diaspis
albida Nozu. (Malpighiacee, 2-3" hoch), Hildebrandtia somalensis Ex6u.,
sehr häufig, Ghikaea superba (Resore), Ocimum Ellenbecki Gürkz, sehr
schöner, 15 hoher Strauch, mit schmalen, 4°” langen Blättern und
blaurothen Blüthen mit sehr langen Staubfäden, Oldenlandia rotata Bax.,
bis 2” hoher Rubiaeeenstrauch mit grossen weissen Blüthen, Dirichletia
macrantha K.Sen., bis 15 hoch, mit 3%"5 langen Blüthen. — Von Stauden -
kommen vor: Sporobolus Rehmannü Hacken, Panicum Petiverü 'Trıs.,
384 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
Chloris myriostachya Hocust., Barbacenia Schnizleiniana (Hocusr.) Pax, Tri-
bulus terrester L., Orthosiphon silvicola Gürke und O. pallidus Rovız, sodann
einige Zwiebelgewächse, Uropetahım sp., Crinum sp. (aff. Kirkü Bax.),
auch einige Arten mit rübenförmiger Wurzel, wie Dorstenia Ellenbeckiana
iner., Pedalium intermedium Essı. und Oyphia glandulifera Hocusr., endlich
auch wieder die auffallende Asclepiadacee Edithcolea grandis N. E. Brown.
Aber auch noch im steinigen Thal des Mane herrscht an den
Abhängen Obstgartensteppe, während unten Tamarindus indica L., bis
7" hoch, mit seiner breiten Krone auffällt. An den Abhängen wachsen:
Commiphora Hildebrandtii Eser., mit gedreiten, weichhaarigen Blättern,
Boswellia spee., Balanites aegyptiaca Deumwe, in einer kleinblättrigen,
stark behaarten Form, Terminalia Brownei Fres. var. gallaensis Eneı.,
T. mierocarpa Exsser., mit 2-3°” langen, verkehrt-eiförmigen Blättern,
(rewia parvifolia Hocust., Psiadia incana Oxıy. et Hırrs, sehr häufig,
mit kleinen, graubehaarten, verkehrt-eiförmigen Blättern. Zwischen
den Sträuchern schlingen: Pentatropis spiralis Dzrcxe. und Peponia to-
mentosa Girs. Stauden und Halbsträucher dieser Gegend sind: Poly-
gala Erlangeri GürkE, Hibiscus cerassinervis Hocnsr., H. micranthus L.,
Cyenium Herzfeldianum (V are) Ener.
Auch zwischen dem Daruli und dem Web kommt auf rothem
Sand- und Lehmboden an Abhängen zwischen 1700” und 1500” ü. M.
Buschgehölz mit viel dornigem Unterholz vor. Sehr häufig ist Ster-
culia triphaca (Lour.) R. Br. als 3-5” hoher Baum mit weisser Rinde
und grünlich-rothen Blüthen: darunter wachsen die 2-3” hohen Ochna
inermis (FoRSK.) Schwrrm. (= O0. Rivae Exeı.), welche über Harar bis
Arabien verbreitet ist, die eigenartige Huphorbia monacantha Pax, mit
cm
ı“”5 langen Dornen, die Halbsträucher Cyenium Ellenbeckü Exer.. Or-
thosiphon tenuiflorus Bextu. und Crossandra nilotica Ouv.
Um Ginir im Südosten des Arussi-Gallalandes gehen die Busch-
gehölze der Steppe allmählich in Gebirgsbusch und lichten Wald
über. Am Ufer des Daroli und in den angrenzenden Buschgehölzen
finden sich in einer Höhe von 1500—1700m ü. M. folgende Bäume
und grössere Sträucher: Commiphora arussensis Exer. (Baum und
Strauch), Croton pulchellws Bawr., sehr häufig und durch die silber-
grauen Blätter auffallend, Acalypha psilostachyoides Pax (bis 3" hoch),
Pistacia lentiscus L. var. emarginata Exeı. (Baum und Strauch), Gym-
nosporia Engleriana Los. var. macrantha Loxs. (bis 5” hoch), Mystro-
wylon aethiopicum (Tmuns.) Lors. var. Burkeanum (Soxn».) Loxs., Pista-
ciopsis gallaensis Exsez. (3—6 m hohe Sapindacee, Baum oder Strauch),
Dodonaea viscosa L. (bis 3” hoch, sehr häufig), Combretum Erlangeria-
num Esser. (bis 4”), ©. gallaense Eser. (bis 5”), Arduina edulis (V AkL)
SPRENG. (3” hoher Strauch). Kleinere, sehr häufige Sträucher sind:
Exsrer: Uber die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 385
Ormocarpum spec. (vergl. (0. trichocarpum Tauz.), Pavonia Kraussiana
Hocust. und Solanum dennekense Danmer. Ein niedriger, flache Polster
bildender Halbstrauch ist Seddera Hallieri Exern. In den Gebüschen
klettert Olematis simensis Fres. — Die Staudenflora der Buschgehölze
setzt sich hier zusammen aus: Panicum quadrifarium llocnsr., etwa
1" hoch, Commelina nudiflora L. und €. albescens Hassk., Üleome ser-
rulata Pax, Oxalis anthelmintica A. Rıcn., Phyllanthus maderaspatensis L.,
Plumbago zeylanica L., Evoloulus alsinoides L.. Justicia flava V anu, Olden-
landia Schimperi (Steup. et Ilocnsr.) T. Ann., Laumnaea nudicaulis (L.)
Hoox. f., Berkheya Spekeana Ouıv. Auf Felsen wachsen: Selaginella
niammiamensis Hırrox. und Portulaca quadrifida L.
Bei 2000”
lentiscus und Mystroxylon, auch bis 4
aber ausserdem Rhus villosa L. fil. var. dentata Exer., Chiuytia abys-
sehen wir in demselben Gebiet auch noch Pistacia
hohe Grewia occidentalis L.:
m
m
sinica Jaup. et SpracHu, bis 4" hoch, sehr häufig die interessante,
systematisch isolirte Ulmacee Barbeya oleoides Scuwrru., bis 4" hohe
Büsche der Composite Tarchonanthus camphoratus L. und ebenso hohe
Rosa moschata Mir. var. abyssinica (R. Br.) Creriw, also zahlreiche
abyssinische Hochlandstypen. Dazu kommen von kleineren Sträuchern
Tephrosia dichroocarpa Sreun., Crotalaria spec., Sida Schimperiana
Hocusrt., Struthiola ericina Giws, Heteromorpha arborescens CUman. et
ScnveeHt., Oyenium asperrimum Exscı., das sehr schmalblättrige Ocimum
formosum Gürke, von Stauden: Hypozxis spec., Melhania ovata (Cav.) SPpr.,
Nepeta azurea R. Br., Pentas lanceolata (Forsx.) K. Sen. var. angustifolia
K.Scn., Athrixia abyssinica (Sen. Bır.) Orıv. et Hıerv; auf Felsen wachsend:
Pelargonium multibracteatum WHocust. und Coleus pachyphyllus GÜRKE.
Im Anschluss an das dem Ganale tributäre Gebirgsland bespreelie
ich jetzt das von der Erranger’schen und Neumann’schen Expedition
durchzogene Gebirgsland der Arussi- und Ennia-Galla, welches
dem oberen Wabbi und seinen Zuflüssen zugehört. Das obere Thal
des Wabbi wurde von der Erraneer’schen Expedition am 7. Juni 1901
erreicht. Tamarindus indica L. bildet hier dichte Bestände. Von
Sträuchern kommen vor: Hippoeratea obtusifolia Roxs. var. Rtichardiana
(Cam».) Lors., Lawsonia inermis L., Gymnema subrolubile Dzone., eine
Asclepiadacee mit hier und da windenden Zweigen, alle 3-4" hoch:
ferner Justicia potamophila Lispau, 1" hoch, Barleria Rivaei Linpav,
die Rutacee Polysphaeria parvifolia Hıers, mit dünnen Zweigen und
lineal-lanzettlichen Blättern, endlich der 15 hohe Compositenstrauch
Vernonia cinerascens Scn. Bır., der überhaupt im Somaliland verbreitet ist.
Schlingpflanzen sind: Phytolacca abyssinica llorrm., Osystelma esculentum
(L.) R. Br., eine Asclepiadacee mit dünnen Zweigen, bis in die höch-
sten Bäume schlingend, mit ziemlich grossen weissen Blüthen, Daemia
Sitzungsberichte 1904. 30
386 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
cordifolia (Rerz.) K. Scn., Leptadenia heterophylla (Der.) Drexe., ebenfalls
Asclepiadaceen, und die kleinblüthige Cucurbitacee C'yelantheropsis parvi-
‚flora (Coen.) Harms. Im Gebüsch des Uferwaldes wachsen noch die
Stauden: Diceratella umbrosa Eneı., Cassia occidentalis L., Pavonia cey-
lanica Cav., Barleria Hochstetteri Nezs mit länglichen Blättern und rosa-
farbenen Blüthen und Heliotropium ovalifolium Forsx. Dicht am Fluss
stehen Cyperus artieulatus L. und Gomphocarpus glaberrimus Ouıv., der
bis 2" hoch ist.
An den felsigen, bis zu 500” über der Thalsohle aufsteigenden
Abhängen des oberen Wabbi-Thales hat die Vegetation den Charakter
der Gebirgs-, Baum- und -Buschsteppen. Baumartig sind ent-
wickelt Kuphorbia Grosseri Pax, mit verkehrteiförmig -spatelförmigen
m
Blättern, die am Ende der holzigen Zweige dicht zusammengedrängt
sind, und Sesamothamnus Erlangeri Exer., eine Pedaliacee mit 1°" langen
Blattdornen und Büscheln 3—-5°" langer, 2—-2.5 cm breiter, unterseits
grauer Blätter. mit grossen, fleischigen, weissen, rosa angehauchten
Blüthen, deren 6°” lange Röhre nach unten in einen 4°” langen Sporn
und nach oben in einen 2°” breiten Saum übergeht. Unter den Sträu-
chern und Halbsträuchern treten wieder die Acanthaceen besonders in
den Vordergrund. Mehr als 1" Höhe erreichen von den gesammelten
Arten nur Cadaba mirabilis Gi, mit dünngestielten, ovalen Blättern,
Euphorbia jatrophoides Pax, mit spatelförmigen, unterseits grauen Blät-
tern, Grewia salvüfolia Hayse und die Acanthacee Himantochilus sessili-
florus T. Axp., mit kleinen ovalen Blättern und langen gelbrothen
Blüthen; letztere beiden werden sogar baumartig. Dagegen sind
meist nur 0.5 hohe Sträucher: Crotalaria Jamesü Ouıwv., Jatropha Ellen-
beckii Pax, Harmsia sidoides K. Scn., Ruellia discifolia Oliv.. R. litho-
phila Lısvau, Rhaphidospora cordata (Hocusr.) Nees, Eebolium Linnaeanum
Kurz. Sodann findet sich hier Pyrenacantha Ruspolü Exseı., eine lcaci-
nacee mit knolligem Stamm, verwandt mit P. malvifolia Ener. Von
Kräutern liegen vor: Barbacenia Schnizleiniana (Hocnsr.) Pax, mit 2“ 5
langen, weissen Blüthen, Cleome brachycarpa Vaur, Pelargonium multi-
braeteatum Hocusr., Crossandra nilotica OLıv. und Crabbea hirsuta Harv.
Das Steppenelement findet sich auch noch in grösserer Höhe,
von 1200— 1400 mü.M. auf dem Wege vom Wabbi über Gurgura bis
Gallaboda vertreten. Es ist Gebirgsbaumsteppe auf steinigem,
rothem Lehm, mit oft ziemlich dieht stehenden Bäumen und Sträuchern.
Der häufigste Baum oder Strauch ist Acacia latronum W ırıv., mit I—- 2°"
langen Stipulardornen, dann finden sich hier Sierculia triphaca R. Br.
und Terminalia hararensis Exer., als 4-5” hohe Bäume. Dazu kommen
Ithus retinorrhoea Stun. (in einer tiefen Felsenschlucht), Grewia par-
vifolia Hocust. Kleinere Sträucher von 0?5—ı"5 Höhe sind Trium-
Exster: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 357
fettia flavescens Hocnst., Capitanya otostegioides Gürke, Blepharis mollugini-
folia Pers., Psiadia incana Orıv. et Hırrv (alle vier graufilzig) und
Oldenlandia rotata Bax. mit linealischen Blättern und grossen, weissen,
trichterförmigen Blüthen. Als Schlingpflanzen kommen hier vor: Pen-
tarrhinum abyssinicum Deene. mit länglich - herzförmigen Blättern, Ade-
nopus spec. Die Staudenvegetation wird von folgenden Arten ge-
bildet: Latipes senegalensis Krn., in Lichtungen häufiges Gras, Urinum
ammocharoides Bax., zwischen Geröll, mit dem Boden anliegenden
Blättern und ı""2 langen rosenfarbenen Blüthen, die Orchidee Kulophia
Petersiü Rene. f., 1”5 hoch, mit dieken Blättern und grünlich weissen
Blüthen, Aerua lanata (L.) Juss., Polanisia strigosa Bos., Lotus arabieus L.,
Melasma orobanchoides (Bextn.) Werrst., Barleria ventricosa NExs.
Von Gallaboda bis Scheikh Hussein sehen wir in einer Höhe von
1300— 1600 m auch wieder Acacien- und Grassteppen in Gebirgsbusch-
steppen übergehen. Ausser den grösseren Acacien, welche bisweilen
»lichten Wald« bilden, wurden beobachtet: Acacia pseudostenocarpa
Harms, bis 5” hoch, mit sichelförmigen Hülsen im Köpfchen, Dra-
caena Ellenbeckiana Exer., bis 6" hoch, mit steifen, langzugespitzten
Blättern, Rhus glaucescens A. Rıcu. var. obovatifoliolata Exer., bis 5"
hoch. Die Zahl der Sträucher und Halbsträucher nimmt zu und
zeigt ein Gemisch von Arten der unteren Steppe mit denen des
Gebirgsbusches. Wir können folgende anführen:
Osyris abyssinica Ext. (1"), Capparis tomentosa Lam. (3”), Dichrostachys nutans
Bexten. (>—4 m), Rhynchosia malacotricha Harns (1") und Rh. Ellenbecküi Harns (05),
Chiytia abyssinica Jau». et Sracn (2"”), Rhus villosa L.f. (3"), Heeria insignis (Der.)
©. Kıze. var. latifolia Encr. (1"5), Allophylus Erlangeri Gıus (4"), A. Ellenbeckianus
Ging (3”), Sida Schimperiana Hocusr. (1"), Terminalia Browniü Fres. var. gallaensis
Enor. (4”), Heteromorpha arborescens Cnan. et Scuueenr., Buclea kellau Hocusr. (4").
Clerodendron myricoides R. Br. var. grosseserratum Gürxe (15), Otostegia Erlangeri GÜRKE
(2”), Cyelocheilon ovatum Ensr. (4"5), Oyenium fruticans Ess. (2"), Lepidagathis scariosa
Nees (0"'s), Blepharis molluginifolia Pers. (05), Duvernoia somalensis Lindau (3").
Schling- und Klimmpflanzen sind hier:
Cardiospermum corindum 1. forına elematideum Rıvır., Daemia cordifolia (Rez.)
K. Sc#., das blattlose Cynanchum sarcostemmoides K. Sch. mit langen windenden Inter-
nodien. und Cineraria Schimperi Sch. Bır.
Auch die Gräser und Stauden sind grossentheils verschieden von
denen der unteren Regionen:
Pennisetum orientale (W.) A. Rıcn., Andropogon hirtus L., Themeda Forskali Hack.
var. punctata (Hocasr.) Hack., Panicum lachnanthum Hocasr., alle etwa 1" hoch, Le-
‚pidopironia cenchriformis X. Rıcn., Pennisetum ciliare (L.) Link, Eragrostis rigidifolia
Hocust., diese nur 40— 50 cm hoch, Habenaria Eminii Kräxzr., mit grünlichweissen
Blüthen, mit 4— 5 em langem Fruchtknoten und 10—ı2 cm langem Sporn, Kalanchoe
grandiflora A. Rıcn. mit rdm langer Blumenkrone, Rhynchosia minima L., Monsonia
biflora DC., Pelargonium glechomoides A. Rıcn., die Gentianacee Belmontia grandis E. Mexy,
Leucas Neuflizeana Cour»., Oyenium minimum Exssr., nur 5—1o cm hoch, mit kleinen
verkehrteiförmigen Blättern und weissen Blüthen, Melasma orobanchoides (BEN'TH.)
30*
388 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
In einem Flussthal zwischen Laku und Scheik Hussein bei
1400” ü. M. ist schon dichter Wald vorhanden, in welehem Buzus
Hildebrandtii Baızı. sehr häufig ist; hier kommen ferner vor: (apparis
tomentosa Lam., Rhoieissus Revoilü PrLancnh., Justicia Fischeri Linpauv var.
laetevirens (RENDLE) CLARKE. In diehter bewachsenen Flussthälern findet
sich auch sehr häufig Selaginella yemensis (Sw.) Sprine.
Auf die Flora von Scheik Hussein werde ich in einer späteren
Abhandlung über das Gallaland eingehen.
Die Vegetation im unteren Ennia-Galla-Land bespreche ich, so-
weit wir sie durch die Erranger’sche Expedition kennen, in der Rich-
tung vom oberen Wabbi nach Harar, also umgekehrt zum Reiseweg.
Auf dem Plateau Atschabo zwischen Modsho und Wabbi mit trockenem
steinigem Boden tritt Buschsteppe auf, in welcher Salvadora persica
häufig ist. Hier findet sich aber auch die eigenartige Bauhinia Ellen-
becküi Harıs mit einpaarigen, 15 langen Blättern und bis 3°"5 grossen
hellgelben Blüthen, der prächtige Acanthaceen - Strauch Satanocrater
Ruspolü Lispau mit trichterförmigen, 4°" langen Blüthen und die klim-
mende strauchige Rubiacee Siphomeris petrophila K.Scn. Auch eine
eigenthümliche baumartige Leguminose, Dicraeopetalum stipulare Harns
aus der Verwandtschaft der Gattung Cadia kommt hier vor: sie ist
ausgezeichnet durch dichtgedrängte, nach dem Abfallen der Blätter
zurückbleibende und verkorkende Stipularbasen.
Auf dem 1200” hohen Bergplateau Kumbi macht sich die Nähe
des Gallahochlandes schon in einzelnen Arten bemerkbar. Hier wurden
gesammelt: Panicum controversum Steup., Albuca spee.. Habenaria ce-
ratopetala A. Rıcn., Achyranthes aspera L.. Tephrosia senticosa Pers.,
Tragia involucrata L. var. cannabina (L.f.) Mürr. Arc., Triumfettia flavescens
Hocast., Melasma asperrimum (Hocusr.) Ener., Clitoria ternatea L., Do-
lichos formosoides Harms mit dreilappigen Blättern und Pentatropis spiralis
(Forsk.) K. Scnuun.
Auf dem Plateau von Rufa zwischen dem Modscho und Gobele herr-
schen Baumsteppe oder lichter Akazienwald, in welchem ausser den
Acacien Poinciana elata L.. Terminalia polycarpa Exner. et Diers, T.
Ruspolü Esser. et Dırıs, Commiphora Boiviniana Exer., also richtige
Steppenbäume vorkommen. Sträucher dieses Plateaus sind: Indigofera
Schimperi Jaug. et Spacu, Diaspis albida Nırpexnzu, Commiphora Ellen-
beckü Exer., Euphorbia glochidiata Pax und E. jatrophoides Pax, Grewia
‚Fferruginea Hocsst. Zwischen ihnen treten massenhaft die halbstrauchi-
gen Acanthaceen Barleria diacantha Ners, B. Hildebrandtü S. Moorr: und
Justicia Urbaniana Lıxpau, 5—7 m erreichend, auf. Andere Halbsträucher
sind: Hermannia Erlangeriana K.Scu. und Cyelocheilon Kelleri Excu.
Von Stauden wurden gesammelt: Panicum pinnatum Hocust., Digera
Exster: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 389
alternifolia (L.) Ascnuers., Portulaca quadrifida L., Crotalaria pyenostachya
Bextn., Abutilon graveolens (DC.) W.et Arx., Hibiscus hirtus L., Acalypha
indica L.
Von ähnlichem Charakter ist auch die Vegetation der Hochebene
zwischen dem Gobele und Argobba: sie besitzt sogar typische Arten
der Dornsteppe. Den Hauptbestand bildet Acacia senegal Wirun. Da-
zwischen finden sich die 1-2” hohen Sträucher der Amarantacee Chio-
nothrie latifolia Respue, der Malpighiaceen Diaspis albida Nozu. und
Triaspis Erlangeri Exeı., der Triumfettia flavescens Hocusr., des Solanum
longestamineum DAanmer, des so weit verbreiteten Compositen -Strauches
Psiadia incana Ou. et Hrn, des meist blattlosen Senecio longiflorus (DÜ.)
Or. et Hıerv und die durch fleischigen Stamm ausgezeichnete Apocy-
nacee Adenium somalense Bar. f. Die hier vorkommenden Arten der
Stauden und Halbsträucher sind folgende:
A. Kleinere Sträucher oder Halbsträucher: Indigofera Schimperi Jau». et
Sprach, Oluytiandra somalensis Pax, Hibiscus crassinervis Hocası., Capitanya otostegioides
Gürke, (Oyelocheilon Kelleri Exsr., Barleria parviflora R.Br., B. eranthemoides R. Br.
und Lepidagathis scariosa NEES.
B. Höhere Stauden: G@loriosa virescens Lınpr., Kalanchoe brachycalyx A. Rıcn.
var. Erlangeriana Exsr.,. Hibiscus dongolensis Deriue, Pavonia arabica Hocusr., Leucas
Petitiana A. Rıcn.
C. Kleinere, bis 5®" hohe Stauden: (ommelina nudiflora L., Digera alterni-
flora (L.) Ascuers., Rhynchosia minima DC., Tribulus terrester L. var. cistoides L., Aca-
Iypha indica L., Pavonia Ellenbeckii Gürxe, Heliotropium zeylanicum Lam., Leucas urtici-
‚folia (Vaur) R. Br. und die Acanthaceen Crossandra nilotica Orıv., Ruellia leucoderma
Linvau, ‚Justicia palustris (Hocnsr.) T. Anp., J. parviflora R. Br., J. debilis Vanr.
Von dieser Vegetation des Plateaus ist die der dazwischen lie-
genden Thäler ein wenig verschieden. An den steinigen Abhängen des
Modscho-Thales wächst Acacia Erlangeri Harms, bis 5” hoch. Sodann
ist, wie auch in anderen Thälern, häufig die Amarantacee Sericoco-
mopsis pallida (S. Moore) Scnisz als 15 hoher Strauch. Dann kommen
hier vor:
Indigofera trita L. fil., Triumfettia flavescens Hocusr., die Labiate Erythrochlamys
spectabilis GüRKE, Premna resinosa (Hocnsr.) Scuauv., Schwabea anisacanthus (SCHWFTH.)
Linvau, Oleome brachycarpa Vanı, Sida spinosa L., Abutilon hirtum L., Hibiscus aristae-
valvis GAaRcKE, Ocimum basilicum L.
Am Ufer des Gobele im Ennia-Galla-Land wurden gesammelt:
Poinciana elata L., und die Sträucher Acalypha fruticosa Forsk., Hibiscus hirtus L.,
Premna resinosa (Hocası.) Scnau., Diwernoia somalensis Lınpau, Ruspolia pseuderanthemoides
Linvau, Asystasia axillaris Lınnau und A. excellens Lınvau, Thunbergia gigantea Linvar,
bis 5" hoch, mit weissen, ıdm langen Blüthen. Siphomeris campanulata K. Scuum., alle
2—3" hoch und mit ansehnlichen Blüthen. Mit ihnen wachsen zusammen die Klimm-
und Schlingpflanzen Paederia Pospichilii K. Scn., Kedrostis foetidissima Cosn. und Cucumis
dipsaceus Eurzc., sowie die hohen Stauden Fleurya lanceolata Ensr., Aerua leucura Moguv.,
Celosia populifolia (Hocasrr.) Moguv., ‚Justicia palustris (Hocasr.) T. Ann. Ausserdem finden
sich am Flussufer Talinum cuneifolium W. und Orthosiphon tenuiflorus Bern.
390 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
Vegetation von Ogaden.
An die oben besprochenen Gebiete schliesst sich östlich und süd-
lich das Vorgebirgsland Ogaden an, aus welchem Jaues, KeLrer,
Rogeecnt, Fürst GukA-Comanestı und Rıva als Begleiter von Rusrorı
Pflanzen mitgebracht haben. Dadurch bin ich in der Lage, ziemlich
zahlreiche Arten anzuführen, welche die Vegetation zusammensetzen.
Der grösste Theil des Ogaden ist Hochplateau zwischen dem Wabbi-
Schebeli und Tug Faf. Während der Trockenzeit von Juli bis September
sind die ausgetrockneten Grasfluren gelb und sowohl das niedere Busch-
werk wie die sich über demselben erhebenden Schirmacacien sind ent-
blättert, nur in Senkungen und Einschnitten gedeihen einzelne immer-
grüne Gehölze und die gesammte Vegetation erscheint nur da immer-
grün, wo an steinigen Hängen suceulente Kandelaber-Euphorbien sich
mit Alo& und succulenten Ascelepiadaceen vereinigen. Nach den starken
Octoberregen prangt das Ogaden im reichen Blüthenschmuck.
Obwohl der westliche, vom Wabbi durchflossene Theil des Ogaden
im Vegetationscharakter von dem östlichen, zum Tug Faf abfallenden
und darüber hinaus sich erstreckenden Theil nicht erheblich verschieden
zu sein scheint, so will ich doch aus Rücksicht auf spätere Forschun-
gen die im Westen und Osten festgestellten Arten gesondert aufführen.
Zum westlichen Theil gehört das Gebiet der Abdallah, in
welchem Krrrer auf der ersten Rusrorr'schen Expedition sammelte und
das von Karanle, in welchem Rıva auf der zweiten Expedition thätig
war. Von den reichlich auftretenden Acacien waren nur Acacia senegal
Wirrp. und A. socotrana Baur. f. sicher zu bestimmen. Sodann sind
häufig drei nahe verwandte Terminalia mit spatelförmigen Blättern, T.
polycarpa Exeı. et Dıeıs, T. Kelleri Ener. et Dıeıs, T. bispinosa Scnwrru. et
Vorx. Das Gesträuch ist namentlich reich an Capparidaceen, strauchige
Acanthaceen scheinen hier weniger häufig zu sein als halbstrauchige
und ebensolche Labiaten. An Böschungen tritt besonders häufig auf
die Amarantacee Sericocomopsis pallida (S. Moore) Scnmz, an anderen
Stellen der schöne derselben Familie angehörige Strauch Chionothrix
latifolia Renpıe; zerstreut findet sich Farsetia Robecchiana Ener. Von
Capparidaceen wurden bestimmt: Boscia somalensis Gıwe., Cadaba glandu-
losa Forsk., C. longifolia DO., C. Ruspolü Girs, Maerua oblongifolia A. Rıcn.,
M. macrantha Give; mit ihnen kommen vor: die eigenartige Convolvulacee
Oladostigma hildebrandtioides Hauer f., Cordia gharaf (Forsk.) Enrens.
Der für das Somaliland charakteristische Zygophyllaceenstrauch Aelle-
ronia splendens Scusz wurde hier zuerst entdeckt. Sodann können wir
noch nennen: Boswellia Rivae Ener. , Euphorbia Kelleri Pax, Thespesia danis
Orıv., Combretum aculeatum VextT., Ipomoea eitrina Hauuer f., I. spathulata
Enster: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 391
HaLuıer f., Erythrochlamys spectabilis Gürke und die Pedaliacee Sesamo-
thammus Rivae Eneu.
Schlingpflanzen dieser Gegend sind Teramnus labialis Spr., Cissus
cymosa Schun. et Tuonn., Dregea rubicunda K. Sch., Hewittia bicolor
W. Arn., Coceinia moghadd (Forsk.) AscHers., Ü. ecirrhosa Cosn., Mo-
mordica trifoliata Hoox. f., M. sessilifolia Cocs., Oreosyce Halleri Cocn.
Stauden, welche in den Gebüscehen und Liehtungen, insbesondere am
Rande der Bachbetten vorkommen, sind: Chloris myriostachya Hocusr.,
Sporobohıs pellueidus Hocusr., Matthiola Rivae Excı., Indigofera Baukeana
Varke, Abutilon graveolens (DC.) Wiısur et Arn., Hibiseus rostellatus
Gum. et Prrr., H. cannabinus L., Hypoöstes Forskalü, (Vaur) R. Br.,
H. Hildebrandtii Lispau, Ruellia patula Jacg. und R. leucoderma Lisvav.
In den Lichtungen und auf den Grasfluren finden sich auch Orinum
scabrum Hers., Kyllingia nervosa Steup., K. ewvimia 6. B. ULarkE var.
Kelleri ©. B. Cuarke, Athanasia ramosa Kıarı. An offenen sandigen
Plätzen und in den nur zeitweise Wasser führenden Bachbetten
wachsen hin und wieder auch einzelne dieser Arten, ausserdem
aber Asparagus africanus Lam., Doerhavia linearifolia Pers., Reseda
Carmen Sylvae Scuwrrn. et Vork. (auch an feuchten Stellen), Vahlia
viscosa Rox»., Glinus lotoides L., KBuphorbia napoides Pax, kleines
einjähriges Kraut mit rübenförmiger Wurzel, Sida ovata Forsk., Jo-
nidium enneaspermum Vent., Ipomoea obscura (L.) Lispr. var. abyssinica
HALLIER f., J. cairica (L.) SwEET, Jacquemontia ovalifolia (V ann) HALLER f.,
Heliotropium ovalifolium Forsk. und H. cinerascens Sveuv., Lippia nodi-
flora (L.) A. Rıcn., Pterodiscus Kellerianus Scumz, Cucumis pustulatus
Hoor. f., Eclipta alba (L.) Hassk., Achyrocline pumila Krarr (ist wohl
nur A. glumacea Or. et Hıers.). Auf den Plateaurücken und an trockenen
felsigen Stellen werden zahlreiche Halbsträucher angetroffen, von
denen viele Arten bis jetzt anderswo nicht gefunden wurden und
sich wohl auch noch später als endemisch erweisen werden: Kan-
donia somalensis Scnisz, Reseda Rivae Gius, R. Ruspolü Girs, Statice
Maurocordatae Scuwrın. et Vork. (sehr nahestehend der 8. cylindri-
folia Forsx.), die Labiaten Hyperaspis Kelleri Brıqu., Erythrochlamys
Kelleri Brıqu., Ocimum somaliense Brıqu., ©. Kelleri Brıqu., die Scro-
phulariaceen: Lindenbergia sinaica (Deexe.) Br#. et Hoox. f., Pseudo-
sopubia obtusifolia Eneu., Cyelocheilon Kelleri Exeu. und C. minutibracteo-
latum Exer., die Acanthaceen Barleria pseudoprionitis Lisvau, B. Pi-
rottaei Lısvau und Leucobarleria nivea Lınvau, L. polyacantha Linvav,
Blepharispermum fruticosum Kıarr. Von Pflanzen der auf ganz trockenen
Plätzen entwickelten Suceulentensteppe haben sich in den Samm-
lungen vorgefunden: Zuphorbia spec. vom Habitus der E. Nyikae Pax,
E. glochidiata Pax, Dornstrauch vom Habitus der E£. splendens, aber
392 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
hlattlos, mit vierkantigen dünnen Zweigen und herunterlaufenden,
grossen Dornenpolstern, die Asclepiadacee Echidnopsis tessellata (DEcneE.)
K. Sch. und Adenium somalense Baur. f., auch die Liliacee Eriospermum
somalense SCHINZ.
In dem östlichen Teil des Ogaden, dem auch das östlich
vom Tug Faf gelegene Gebiet von Hahi, Harradigit und Gerloguby
zuzurechnen ist, welches James und Tururr durchreisten, wurden fol-
gende Arten sicher festgestellt.
A. Bäume und grössere Sträucher: Acacia seyal Deuite, A. albida DeLıLE,
A. arabica Wırrv., Albizzia anthelmintica A. Brocn., Dichrostachys nutans Bexrn.. Ficus
sycomorus L.,. Ficus, verwandt mit F. asperifolia Mıq., Sericocomopsis pallida (S. Moork)
ScHinz, Capparis tomentosa Lam., Boscia coriacea Pax, Cadaba glandulosa Forsk., Maerua
angolensis DC.. M. *cerassifolia Vanr, Zizyphus jujuba Lau., Bricchettia somalensis Pax,
Euphorbia Schimperi Prest, Grewia bicolor Juss.. @. populifolia Vanı, Salwadora persica
Garcın, Cordia gharaf (Forsk.) Eurene., Ipomoea Donaldsonü RexptLe, I. cicatricosa
Bax., Hildebrandtia africana Vaıke, Withania frutescens (L.) Paug. nebst var. Robecchii
Dauner, W. somnifera (L.) Dun. var. intermedia Dammer, Satanocrater Ruspoli Lınpau,
Psiadia incana Or. et Hırrn.
B. Schlingpflanzen: Dregea rubicunda K. Sca., Pentatropis hoyoides K. Scu.,
Daemia cordifolia (Revz.) K. Sen.
C. Stauden und grössere Halbsträucher, welche in Gebüschen und
Buschlichtungen wachsen: Kyllingia eximia C. B. CLarkE, Asparagus abyssinicus
llocusr., Commelina albescens Hassx., Aneilema somaliense C. B. CLarkE, Asparagus
africanus Lan., Anthericum Jamesiü Bax., Polygala aus der Verwandtschaft des P. tinc-
torium V auu, Cassia obovata Coruan., Triumfettia flavescens Hocusı., Abutilon fruticosum
Gustr. et Perr., A. graveolens (DC.) Wıcur et Arn., Pavonia glechomifolia GARcKE,
P. cristata (Scuwmv.) GürkE, P. Kotschyi Hocusı., Senra incana Cav., Malva verticillata
L.. Hibiscus crassinervis Hocusr., H. micranthus L.. H. calyphyllus Cav., Lantana salvi-
‚Folia Jacg., Leucas inflata Benru.. Solanum coagulans Forsx., S. carense Dunar, S. gra-
cilipes Dun., S. albicans Korschy, Cistanche lutea (Desr.) Lx. et Horrn., Hypoöstes
Forskalii (Vaut) R. Br., Vernonia abyssinica Scu. Bır., V. cinerascens Scu. Bır., Cen-
taurea Hochstetteri OL. et Hırrn.
D. Knollen- und Zwiebelgewächse: Albuca Donaldsonii Respue, Crinum
Thruppü Bax., Pancratium trianthum Bax., Urginea spec., die Aracee Stylochiton grandis
N. E. Brown.
E. Meist kleinere Stauden sandiger Flussufer und trockener Bach-
rinnen: Güsekia pharnaceoides L.. Talinum cuneifolium Wırro., Polanisia foliosa Hoox. f.,
P. hirta Ouıv., Vahlia viscosa Roxsg., Monsonia senegalensis Gvirr. et PerrR.. Tribulus
terrester L. nebst. var. cistoides, Chrozophora plicata (Vanı) Juss., Senra Zoös Scuwr'n.
et Vork., Corchorus hirsutus L. var. angustifolius K. Scn., Gomphocarpus fruticosus
It. Br., Ipomoea cairica (L.) Sweer, Heliotropium supinum L., Pulicaria undulata DC.,
Achyrocline glumacea Or. et Hırrn.
F. Niedrige Halbsträucher: Seddera arabica (Forsk.) CHoısy, Orthosiphon
lonufflorus Benun., Ocimum Knyanım Varke, O. piliferum Brıqu., 0. tomentosum Orıv.,
O. tereticaule Poır., Erythrochlamys leucosphaera Brıqu., Lasiocorys hyssopifolia Fraxch.,
Leucas argyrophylla (V avxe) Brıqv., Crossandra nilotica Ouıv., Barleria argentea Baur. f.,
‚Justicia heterocarpa |‘. Ann.
G. Suceulenten dieses Gebietes sind die einem Cereus ähnliche Zuphorbia
Robecchii Pax und der durch seine dicken Internodien ausgezeichnete Cissus cach-
‚Formis GıiLe.
ei Tr . * . .. . . +) s
Exster: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 393
Für das Grenzgebiet zwischen Ogaden und dem der Ennia
Galla, welches wie das an Arussi Galla grenzende, von Frhrn. von ErLAN-
GER durchreiste Gurra bei Burkare (s. S.383) im Wesentlichen denselben
Vegetationscharakter zeigt, wie die oben besprochenen Theile Ogadens,
Jedoch im Norden etwas üppiger erscheint, ist die kleine von Fürst
GumAa zusammengebrachte, von SCHWEINFURTH und Vorkens bearbeitete
Sammlung die einzige pflanzengeographische Quelle. Am meisten wurde
um Burka und am Dakato, sonst etwas weiter nördlich am Salul Ende
November gesammelt. Dort kommen von Bäumen Acacia senegal Wınnn.
mit Loranthus curviflorus Bextn., und Terminalia bispinosa Scuwrrn. et
Vork. vor, weiter nördlich bei Dagabur noch der typische Steppen-
baum Poinciana elata L., welcher die anderen überragt. Die Sträucher
bilden zwar oft dichte Gebüsche, sind aber nicht sehr hoch. Es sind
zu nennen: Sericocomopsis pallida (S. Moore) Scrixz, welche auch hier
massenhaft auftritt und ein beliebtes Futter der Rhinocerosse sein soll.
Capparis decidua (Forsk.) Pax, Crotalaria Comanestiana VoLK. et SCHWrTH.,
©. dumosa Frascn. und ©. albicaulis Francn., Kelleronia splendens Scnuxz,
Diaspis albida Nievenzu, Ipomoea Donaldsoniü RexpıE und I]. cicatricosa
Bax., Erythrochlamys spectabilis Gürke. Von Gräsern und Stauden, welche
in Gebüschen vorkommen, wurden hier nur Sporobolus Ghikae ScuwrTH.
et Vork., Crinum scabrum Bax., Abutilon hirtum Lam., Pavonia Kraussiana
Hocnusr., Hibiscus mieranthus Gav., Triumfeltia flavescens Hocusr., Solanum
coagulans Forsk. gesammelt. In Bachbetten und auf sandigem Boden
finden sich: Tribulus terrester L., Cueumis dipsaceus Eure., Pulicaria
arabica Cav., Achyrocline glumacea (DC.) Or. et Hırrys und die Halb-
sträucher Statice Maurocordatae VoLK. et Schuwrrn., Ocimum Stirbeyi VoLK.
et Scuwrrn.. Leucus inflata Bestu., die Acanthaceen Lindauea speciosa
Resoıe, Barleria proxima Lisvau, B. Marghilomanae VoLx. et Schwrru.,
Orossandra parviflora Lisvau, Justicia Romaniae Scuwrrn. et Vork., Ec-
bolium Linnaeanum Kurz, die Composite Psiadia gnaphaliopsis Scuwrrun.
et Vork. Noch weiter nördlich wurden zwischen dem Erer und dem Faf
nur die Acanthaceensträucher Satanocrater Ruspolü Liısvau und 8. soma-
lensis Linpau, die strauchige Scrophulariacee Ghikaea superba (Rexvrr),
die mehrjährige Ipomoea Paulitschkei Scuwrrn. et Vork. und Wedelia
abyssinica Varkz gesammelt. Geschildert wird das Land dort als ein
steiniges Plateau mit zahlreichen kleinen Dornbüschen, während am
Erer Bach eine ziemlich üppige Vegetation auftreten soll.
Wenig anders als in den besprochenen Theilen des Ogaden ist
der Vegetationscharakter der Gegend zwischen Warandab und Milmil,
deren Boden als sandig oder steinig und trocken geschildert wird. Dies
geht ohne Weiteres aus folgender Aufzählung der daselbst gesammelten
Ptlanzen hervor.
394 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
A. Bäume: Acacia arabica Wırnv., A. senegal WirLv., A. nubica Bennm., Entada
aff. abyssinicae, Sesbania aculeaia Pers. am Bach.
B. Sträucher: Chionothriv latifolia RenvLe, Cadaba glandulosa Forsk., (. fari-
nosa Forsk., Capparis decidua (Forsk.) Pax, Courbonia brevipilosa GıuG, Maerua oblongifolia
A. Rıcn., M. sessiliflora Give, Boscia somalensis GıLG, Ormocarpum bracteatum Bax., Bric-
chettia somalensis Pax, Euphorbia somalensis Pax, Grewia bicolor Juss.. @. ferruginea
Hocnst., Salvadora persica Garcın, Ipomoea cicatricosa Bax., Ghikaea superba (Renxor.e)
var. denticulata Ensı., Satanocrater Ruspolü Lısvau, Vernonia cinerascens Sen. Bır.
C. Schlingpflanzen: Cynanchum dentatum K. Scu., Daemia cordifolia (Rervz.)
RK. Sc#.
D. Hohe Staudenundgrosse Halbsträucher: Triumfettia flavescens Hocasır.,
Pavonia Hildebrandtii Gürke, Abutilon hirtum lLam., Hibiscus mieranthus Cav. und H.
crassinervis Mocnst., Plumbago zeylanica L., Heliotropium einerascens SyeunD., ‚Justicia
debilis Vaur, Geigeria elata (DC.) Bru. et Hook. f.. Achyroline glumacea (DC.) Or. et
Hıern, COentaurea Hochstetteri OLıv. et Hıern.
E. Gräser: Pappophorum glumosum Hocusr., Panicum lachnanthum Hocastr.,
Tricholaena leucantha Hocasr., (ynodon Ruspolianus Caıov.
F. Kleinere Kräuter: Chenopodium murale L., Ch. opulifolium Scuran.,. Mat-
thiola Rivae Ensr., Polanisia strigosa Boser, Oleome brachycarpa Vaur var. angustifolia
GırG, Euphorbia granulata Forsx., Ipomoea obscura L. var. abyssinica Harnıer f., Leucas
urtieifolia (Vaur) R. Br., Vernonia pauciflora Less., V. abyssinica Scu. Bır., Bothrioeline
grindelüfolia ©. Horrn., Pulicaria orientalis Jaus. et Seacn. Alle diese Arten wachsen
im Flussbett bei Milmil auf sandigem Boden; ebenso
G. Halbsträucher: Diceratella Ruspoliana Exsr., Kalanchoö grandiflora A.Rıcn.,
Hermannia panniculata Francn., Heliotropium Steudneri Varke, Leucas argyrophylla (V auKE)
Brıqu., Barleria quadrispina Lınvau, B. linearifolia Pers., B. acanthoides Vaur, Leuco-
barleria nivea Lınnau, Hypoöstes Hildebrandtii Lıspau, Lepidagathis scariosa (W An.) NEes.
Auf steinigem Boden bei Milmil finden wir auch ausgeprägte Succu-
lentensteppe, welcher folgende Arten angehören: Aloö Ruspoliana Bax.,
ein dracaenenartiger Baum, Euphorbia Robecchii Pax von der Tracht eines
Cereus, Adenia aculeata (Ouıv.) Exer., Caralluma retrospieiens (EuRENB.)
N. E. Br., ©. subulata (Forsk.) Deexe. Diesen schliesst sich der blatt-
lose Klimmstrauch Seneeio longiflorus Orıv. et Hırry an. Solche Suceu-
lentensteppe tritt auch zwischen Milmil und dem nördlichen Hoch-
gebirge in dem zumeist aus ärmlichen Grasfluren bestehenden Haud
auf. Der Vollständigkeit halber will ich hier auch die Arten nennen,
welche A. Terraccıano (Bull. della Soc. bot. ital. 1892 p. 421—-426)
nach der kleinen Sammlung der HH. Ganvıo und Baupı DE VESME aus
Rer Amaden im Westen von Warandab aufgeführt hat, kann aber
bezüglich einiger Bestimmungen Zweifel nicht unterdrücken.
Es werden genannt:
Commiphora opobalsamum (Kuxın) Ener., Boswellia Carteri Bırvw. (scheint mir
zweifelhaft), Zizyphus spina Christi (L.) Wırn., Ocimum depauperatum V ayxE, Orthosiphon
grandiflorum A. TERR.,. Sopubia Candü A. Terr. (scheint mir zweifelhaft), Hebenstreitia
rariflora A. Terr. (ich habe Hebenstreitia nur aus dem Gallahochland gesehen), Aerua
lanata (Burn.) Juss., Tragus racemosus Harr., Pappophorum brachystachyum Jau». et
Spacu, var. plosum A. TerR., Oyperus bulbosus Van, Commelina Forskalei Hocnsı.,
Barbacenia Schnizleiniana (Hocnsrw.) Pax, Littonia Baudii A. Terr., Dianthera semite-
trandra Kr. (wird eine (leome sein), Tribulus terrester L., Sida rhombifolia L., Pavonia
arabica Hocustr., P. Kotschyi Hocnsr., Luederitsia Pirottae A. Terr. (Luederitzia gehört
- 23 re : IE n : 90x
Esser: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 395
zu Pavonia), Hibiscus cernuus A. Terr., Heliotropium glomeratum A. Terr. (scheint mir
fraglich), Craterostigma auriculatum Donmer. (wohl Or. plantagineum Hocusr.), Ruellia
grandiflora Pers., Oldenlandia retrorsa Boıss. (ist Synonym von 0. Schimperi T. Ano.),
Cucumis Figarei DeLire (ist Synonym von Cucumis fteifolius A. Rıcn.).
Das Haud ist eine zwischen dem nördlichen Gebirgszug und
Ögaden liegende Ebene, in welcher die Reisenden (die Expeditionen
von James und Rusrorrı nahmen diesen Weg) meistens 4—5 Tage
brauchen, um einen der kleinen zerstreuten Steppenseen zu erreichen
und dort etwas Wasser zu finden. Solche Seen sind die von Laku,
nordöstlich von Milmil, in deren Umgebung neben grossen Schirm-
akazien auch Kandelabereuphorbien vorkommen. Hier fand Kerrer
unter Anderem auch: Cyperus bulbosus Vaur, Seirpus maritimus L., Po-
lanisia Kelleriana Scninz, Pavonia arabica Hocnsr. var. glanduligera GürxE,
Panicum maceroblepharum Hacker, Ipomoea citrina Hauer f., Oynanchum
trifurcatum Scurse. (= Schizostephanus somalensis N. E. Brown). Eine
grössere fruchtbare Mulde ist weiter nördlich die von Hahi, in wel-
cher dichtes Akaziengebüsch die sanften Abhänge bekleidet, während
im Grunde der Mulde grosse Ficus und ausgedehntes Culturland
der Landschaft einen üppigeren Charakter verleihen. Kerrer spricht
auch von ausgedehnten »Wiesen«, welche stattliche Rinderherden
ernähren und von üppigem »Galleriewald« am Rande des ausgetrock-
neten Flussbettes, in welchem die Brunnen von Oduin liegen. Ausser-
halb dieser Oasen ist das Haud eben, vorzugsweise mit Buschsteppen
oder weiten Grassteppen bedeckt, wie namentlich in dem westlichen
Theil, dem Tuju. Hier und da treten aber auch Baumgrassteppen
und wüstenähnliche Striche mit Eisenerzknollen auf. Aus der sterilen
Tujusteppe und dem Haud kennen wir nur folgende Sträucher: Acacia
senegal Wırrp. (auf sandigem Boden oft ausgedehnte Gebüsche bil-
dend), Boscia elegans Gine, Grewia populifolia Vaun, Convolvulus Ruspolü
Danner (Dornstrauch), Ipomoea eitrina HALLıER f. und das fleischstämmige
Adenium somalense Barr. f£. Dagegen kommen hier zahlreiche Gräser
vor: Andropogon Aucheri Boıss. var. quingueglumis (Hocusr.) Hacker, A.
commulalus Stzun., A. Kelleri Hacker, Tetrapogon villosus Desr., stellenweise
den Boden bedeckend, T. spathaceus Hacken, Enteropogon Ruspolianus
Cmiov., Panicum Rivae Cmov., Coelachyrum praeflorum Cmov., Dacty-
loctenium aristatum Lx., Aristida Kelleri Hacker. Ferner finden sich
hier auch die Pedaliacee Pterodiscus Kellerianus Scunz und einige Halb-
sträucher, wie Kteseda oligomeroides Scuinz, Pavonia glechomifolia A. Rıcır,
Seddera latifolia Hocnsr. et Sreun., Heliotropium Steudneri Varke, Bar-
leria prowima Lispau, BD. argentea Bar. f., Ruellia discifolia Ouıv., Justicia
Urbaniana Lispav. Hier vorkommende Kräuter sind: Commelina im-
berbis Hassk., Boerhavia verticillata Porr., B. squarrosa Inner, B. plum-
396 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
bayinea Cav., Tribulus terrester L., Ipomoca obscura Kerr, Achyrocline
glumacea (DC.) Or. et Hırrn.
Das Gebiet der Haberaul im Westen des Haud ist der Theil
des nördlichen Gebirgslandes, welcher von so vielen Reisenden auf
dem Wege von Berbera nach Ogaden durchwandert wurde. Wir folgen
bei der Besprechung der Vegetation am besten den Spuren dieser
Reisenden. Nachdem man den vegetationsarmen Korallensand (s. oben
S. 364) überschritten hat, trifft man bei Deragodle auf horizontal ge-
schiehtetes (Quarzitgestein mit tief eingegrabenen Wasserläufen und
vereinzelten Wassertümpeln in der langsam aufsteigenden Ebene. Bis
dahin finden sich nur die wenigen Küstenpflanzen und vereinzelte
Dornsträucher von Commiphora opobalsamum (L.) Ense. var. güleadense
(L.) Ener., Turraea Iycioides Bar., Ipomoea_ cicatricosa Bax., Combretum
hobol Exsr. et Dıers. Dann wird die Vegetation etwas reicher, na-
mentlich in den Wasserläufen. Auch hier sehen wir dichte Bestände
von Tamarix orientalis Forsk. (= T. articulata V auı), hochstämmige
Acacıa spirocarpa Hocusr. mit schirmförmiger Krone, auch Acacia glau-
cophylla Sreud., ferner Tamarindus indica L. mit mächtiger Krone und
und einzelne schlanke Phoenix reclinata Jaca. Auch Balanites aegyp-
tiaca Druwe und Zizyphus jujuba L. finden sich hier und weiterhin.
Von Stauden und Halbsträuchern sieht man Heliotropium Vatkei GÜüRrkE,
Barleria argentea Baur. f., Schwabea anisacanthus (SCHWEINF.) LinDAu.
Ungefähr an der Grenze des Küstenlandes Guban und Haberaul
liegt der schöne, von ansehnlichen Granithügeln umgebene Wasser-
platz Lafarug an einem breiten Flussbett. Hier herrscht schon park-
artiges Buschgehölz, welches hier und da von diehteren Baumgruppen
unterbrochen wird.
Von kleineren Gehölzen dieser Gegend sind zu nennen:
Maerua rigida R. Br. und Capparis galeata Fres., Commiphora Rivae Exer. und
€. Robecchüi Ensr., Berchemia discolor (Krorzscn) Heustey, Combretum insculptum EnGt.
et Dıers und C, hobol Encr. et Dıeıs, Gnidia somalensis (FrAnca.) GitG (an sandigen
Stellen zwischen Deragodle und Lafarug), @n. pentamera H. W. Prars., Premna resinosa
(Hocasr.) Schau., Withania somnifera (1.) Dun. und W. frutescens Paug. nebst var.
Robecchii Danner, Solanum carense Dun., Capitanya otostegioides GÜRKE, Leucas cumeifoha
Bax. und L. Jamesü Bax., der blattlose Ruthenstrauch aus der Familie der Asele-
piadaceen, Leptadenia pyrotechnica (Forsk.) DEcne. und die grosse Oalotropis procera R.
Br., auch die kleinstrauchige Rubiacee Oldenlandia rhynchotheca K.Scn.
Von Schlingpflanzen wurden hier beobachtet:
Smilaw Kraussiana Meıssn., Cissus rotundifolia (Forsk.) Vaur., Daemia cordifolia
(Rerz) K. Sch., Ipomoea pes tigridis L. var. africana HALLıEr f., Melochia corchorifolia L.,
Coccinia moghadd (Forsk.) AscuERrs.
Die Gräser wachsen theils zerstreut, theils bilden sie schon bei
Lafarug zusammenhängende Grastluren.
w
Exgter: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 397
Zunächst werden wahrgenommen die grossen Büschel von Brianthus Ravennae
P. Beauv. subspec. purpurascens Hacken, Andropogon Aucheri Boıss. var. quingueglumis
(A. Rıcn.) Hacker, Eragrostis ciliaris (L.) Link, das oft massenhaft auftretende Panicum
turgidum Forsx. und am Fuss der Hügel ebenfalls gesellig wachsend Panicum maximum Jacg
Ausserdem kommen noch weiter oben vor:
Panicum scalarum ScHwEinr., Setaria vertieillata subspee. aparine, Pennisetum orientale
A.Rıc#. und var. altissimum Hocası., P. polycladum Cniov., P.ciliare Lx. var. anachoreticum
Cnıov., Sporobolus capensis Kunıu var. altissimus Cmiov., Dactylon offieinale Vıun., Entero-
pogon macrostachyus (Hocusr.) Munro und E. somalensis Cniov., Choris multiradiata
Hocasr., Dactyloctenium glaucophyllum (Muxro) Courson, Eragrostis Barrelieri Davzav.
Von grösseren Stauden und höheren Halbsträuchern wurden hier
constatirt:
Diceratella Ruspoliana Encr., Reseda Carmen Sylvae Schwrın. et Vork., Kalancho&
glandulosa Hocasr., Cassia occidentalis L., Acalypha Bailloniana M. Arc., Sida acuta Burn.
S. cordifolia L., Pavonia glechomifolia A. Rıca., Trichodesma spec., Justicia debilis Van,
Gomphocarpus fruticosus R. Br. var. tomentosus (Burcn.) R.Scn., Emilia sagittata (V auı) DC.
Kleinere im Sand wachsende Stauden sind:
Tribulus terrester L. var. eistoides L., Fagonia arabica L.. Glossonema Thruppü Ouıw.,
Ipomoea calycina (Roxe.) Crarke, Leucas Neufliseana Coure., Cucumis prophetarum L.,
Geigeria alata (DC.) Brn. et Hook. f.
Zwischen Steinen und Felsen wachsen folgende Halbsträucher:
Indigofera spinosa Forsk., Orotalaria retusa L., Corchorus depressus (L.) (= Ü. anti-
chorus RiuscnH., Waltheria americana L., Seddera arabica (Forsk.) Cuoısy, die Borraginacee
Sericostoma albidum Francn., Heliotropium undulatum Vauı und zeylanicum Lau., Linden-
bergia sinaica (DEcNE.) Bentn., Ruellia discifolia OLıv., Hypoästes Forskalii (Van) R. Br.,
Peristrophe bicalyculata (V aun) NEes.
Von Suceulenten sind zu nennen die niedrige Kuphorbia zylacantha
Pıx mit ı
Ferner kommen hier, wie überall an steinigen Plätzen Aloö-Arten vor,
cm
dieken Gliedern und Caralhıma subulata (Forsk.) Deene.
und Sansevieria Ehrenbergü Scuweinrtw. bildet dichte Bestände.
Eine Tagereise hinter Lafarug steigt das Gebirge steil an nach
dem Pass von Dscherato, dann folgt ein breiter Rücken, welcher nach
Süden sich sanft in die Grassteppen von Tuju verliert. Wasserplätze
des Südabhanges, an denen auch gesammelt wurde, sind Sik in halber
Höhe und Adadle näher am Fuss.
Von dem oberen Haberaul kann ich anführen: die Sträucher
Indigofera amorphoides Jaug. et Spacu, BDricchettia somalensis Pax, Aca-
Iypha frutiosa Forsx., Grewia populifolia Vanu, Combretum insculptum
Eser. et Dies, Gnidia somalensis (Frascn.) GıLe, Daemia cordifolia (Rerz.)
K. Scen., die baumförmige Aloö Ruspoliana Baker, die ebenfalls baum-
förmige, blattlose Zuphorbia Schimperi Prest, die grösseren Stauden
Kalanchoö Kelleriana Scuinz, Hibiscus calyphyllus Cav., Leucas martini-
censis (Sw.) R. Br., die Halbsträucher Leucas abyssinica (Bextu.) Brıov.,
Ruellia patula Jaca., Hypoöstes Forskaliüi (Van) R. Br., Justicia odora
(Forsk.) Vant, Peristrophe bicalyculata (Vanuı) Nees, Schwabea anisacan-
Ihus (SchwrrH.) Linpau und die Suceulente Euphorbia zylacantha Pax.
398 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
Recht gut kennen wir das Vorgebirgsland im Norden der
Somalihalbinsel von der Küstenregion bis Zeila aufwärts
gegen Harar.
Zwischen Warabot und Dadab, am Fuss des ausgedehnten vul-
kanischen, von zahlreichen Wadis oder Chors durchschnittenen Vor-
gebirgslandes herrscht in Höhe von etwa 140” ü. M. Dornbusch-
steppe mit vereinzelten höheren Bäumen von Acacia spirocarpa Hocnsr.,
A. senegal Wırwv. (A. verek Guir. et Perr.) und Balanites aegyptiaca
Der. (Kidi genannt); stellenweise geht die Dornbuschsteppe in Suc-
eulentensteppe über. An den Ufern der Flussbetten aber findet sich
noch Tamarix orientalis Forsk. oft in grösseren Beständen und Bäume
von 10" Höhe bildend. Auch Grewia populifolia Vaun wird daselbst
mehrere Meter hoch. An den Bäumen schlingen empor Coccuhıs
leaeba DC., Cissus ternata Gmer., massenhaft, oft dichte Überhänge auf
den Bäumen bildend, Combretum aculeatum Vxsw., Momordica bal-
saminea L., Coceinia moghadd (Forsk.) Ascners., Pentatropis spiralis
Deexe., während Ceropegia subaphylla K. Sen. und C. botrys K. Sen.
niedrig bleiben. Zwischen den Bäumen wachsende Stauden und
grössere Halbsträucher sind Jatropha lobata L., Digera alternifolia (L.)
Ascners. und Priva leptostachya Juss. An freieren Stellen finden sich
Corchorus triangularis L., Ruellia patula Jaca., schaarenweise Mollugo
cerviaria L. und Boerhavia vertieillata Poır., mit auf dem Boden liegen-
den weit verzweigten Ästen. Sodann finden sich auf dem trockenen
Flussbett auch noch die Sträucher: Aerua leucura Mog., die Convol-
vulacee Hildebrandtia somalensis Exer., Lantana Petitiana A. Rıcn., Sola-
num albicaule Korscny und Withania frutescens Paug. nebst var. Ro-
becchii Dann.
In den Dornbuschsteppen wachsen Cadaba rotundifolia Forsk.,
Maerua oblongifolia A. Rıcn., als mehrere Meter hoher Strauch, die
eigenthümliche strauchige Bignoniacee Rhigozum somalense Haruer f.
mit gelben Blüthen, die dornige Euphorbia wylacantha Pax, Cynan-
chum defoliascens K. Scu. und Leptadenia pyrotechnica R. Br. mit ruthen-
förmigen Zweigen ohne Laubblätter. Von Kräutern wurden hier an
trockenen sandigen Stellen nur beobachtet: Panicum turgidum Forsk.,
die Zwiebelgewächse Pancratium tortuosum Her. und Littonia Hardeggeri
G. von Beck und die niedrige halbstrauchige Indigofera spinosa Forsk.
An etwaigen Bergabhängen treten auf: die Asclepiadaceen Caralhıma
subulata Deoxe. mit 1°" dicken Stengeln, welehe an den Spitzen kleine
Blätter und Blüthen tragen, und ©. retrospiciens (Eure.) N. E. Br.,
welche bis ı" hoch, einem Caectus ähnlich sich entwickelt und durch
kugelige Blüthenstände mit zahlreichen schmutzig violetten Blüthen
ausgezeichnet ist.
Ensrer: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 399
In grösserer Höhe über dem Meere, um 350”, bei Ensa, ober-
halb des Chor Ensa, treten im Acaciengebüsch folgende Sträucher auf‘:
Croton somalensis Pax et VarkE mit eiförmigen silbergrauen Blättern,
Grewia somalensis K. Scu. mit weissen Blüthen, Siatice awillaris Forsk.
var. Ellenbeckiü Exsı., eine stattliche, bis 1" hohe, häufig vorkommende
Art. Kleinere Sträucher oder Halbsträucher sind: Diceratella Rus-
poliana Excn., bis 50°" hohe Crucifere mit lilafarbenen Blüthen, Üro-
talaria Deflersii Scuwrrn.. 70° hoch, mit ı
drigeren Crotalaria Ellenbeckii Hanns, Indigofera spinosa Forsk., welche
dın
langen Trauben. die nie-
oft massenhaft vorkommt und Heliotropium strigosum Wir. Von Kräu-
tern wachsen hier: Boerhavia elegans var. Ellenbeckiü Hemer, Crotalaria
lupinoides llocusr., Cleome papillosa Streu». und brachycarpa Vanı mit
kleinen trifoliaten Blättern. Justieia uncinulata Ouıv. mit schmalen, läng-
lichen Blättern und weissen, fein roth gestreiften Blüthen, Aristolochia
bracteata Rerz. mit niederliegenden Zweigen, herzförmigen Blättern und
kaffeebraunen Blüthen, Pavonia arabica Hocust.. hier und da auch
eingeschleppt Argemone mewicana L.
In dem Wadi Fullah bilden zwischen 300” und 450” an den Ufern
das Gesträuch: Grewia villosa W. var. glabrior K. Scu. und Saladora
m
persica (L.) Garcım, beide bis 4” hoch. Dazwischen schlingen und
klimmen: die Amarantacee Pupalia lappacea (L.) Moqu., Ipomoea ob-
scura Linor. var. abyssinica Haruıer f. mit herzförmigen Blättern und
gelben Blüthen, Dalechampia scandens L., Daemia cordifolia (Rerz.) K.Sen.
Sodann treten höhere Stauden auf. als in den tieferen Lagen: Polanisia
hirta (Krozzsen) Pax, 1" hohe Capparidee mit violetten Blüthen, Uro-
talaria Comanestiana Scuwrru. et Vork., bis 1.5 hoch, Abutilon graveolens
(DC.) W. et Arn. (2"” hoch), Hibiscus vitifolius L. (1"”— 1.5 hoch), Senra
incana Cav., bis 1" hoch. Von niedrigeren Kräutern sind zu nennen:
Dactyloctenium aegyptiacum (L.) W., mit seinen Ausläufern weithin
kriechend, Pennisetum ciliare (L.) Lx.. Cyperus rotundus L., Commelina
Forskaliü V auu, Cleome brachycarpa V an, Heliotropium Steudneri V ATkE,
Priva leptostachya Juss., Boerhavia diffusa 1. forma glutinosa hirsuta. Im
Geröll der Abhänge wachsen noch folgende mehr halbstrauchige Arten:
Diceratella sinuata Fraxen., Triumfettia flavescens Hocnst., Orthosiphon
pallidus Roxg., Ruellia patula Jaco., Schwabea anisacanthus (Scuwrin.)
Lisoav, die Asclepiadacee Glossonema Erlangeri K.Scn. und die krautige.
durch himmelblaue Blüthen auffallende Borraginacee Trichodesma cala-
thiforme Hocusr.
Um 500—650 m ü. M. enthält die Dornbuschsteppe auf sandig-
lehmigem Boden: Euphorbia Schimperi Presw, bis 5" hoch, mit stiel-
runden Zweigen und kleinen linealischen Blättern, in grossen Massen
auftretend, Calotropis procera B. Br., über 2” hoch, Cadaba glandulosa
400 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
Forsk., bis 2" hoch, mit «eelblichen Blüthen. Croton somalensis Pax et
Vırke, die strauchige und kletternde Passifloracee Adenia venenata
Forsk., ferner Justiecia Urbaniana LispAau, einen niedrigen Acanthaceen-
strauch mit rosafarbenen Blüthen. Dazwischen wachsen von Stauden:
Sansevieria quineensis (L.) Wırrn., Priva leptostachya Juss.. Corchorus
depressus (L.) = (C. antichorus Räusen.), Anticharis arabieca (Sreup. et
Hocnst.) Exor., Clitoria ternatea L., 1” hoch, die grosse Orobanchacee
Cistanche lutea (Desr.) Horrusee. et Lisk, die einem Sonchus ähn-
liche Cichoriee Launaea goraeensis (Lan.) OÖ. Horrm., welche 05 —ı"
hoch ist.
Auf mehr sandigem, aber nur wenige Uentimeter mächtigen Boden
finden sich: Giesekia pharnaceoides L., Aizoon canariense L., Zygophyllum
simplex L., Fagonia acerosa Boıss.(?), alle mit niederliegenden, schwach
entwickelten Zweigen. Direct zwischen Steinen wachsen folgende Stau-
den und Halbsträucher: (leome brachycarpa V aur, Indigofera trigonelloides
Jaup. et Sracn, Pavonia Kotschyi Hocnsr., Orthosiphon pallidus Roxue,
Cucumis fieifolius Naun., Seddera spinescens PETER, ein sparriger, nur 20°”
hoher Convolvulaceen-Halbstrauch, eine Zuphorbia aus der Verwandt-
schaft der E. longituberculata Hocast.,. die nur 8°" hohe succulente
Asclepiadacee Echidnopsis nana K. Sem. und einzelne 05 hohe Sträucher
von Jatropha villosa (Forsx.) Miırr.
Um 8oo” Höhe ü.M. wurden bei Arruena auf den sandigen Ufern
eines ausgetrockneten Baches Cordia erenata Der. als 3" hoher Strauch
und Justicia Romaniae Scuwrru. et Vork. beobachtet, ausserdem die
Stauden Pupalia orbiculata Wıeur, Portulaca oleracea L., Orygia decumbens
Forsk., Pedalium murex L. Von steilen Felsen hängt herab die präch-
tige Capparis galeata Fres., mit dicken rundlichen Blättern von 5"
Durchmesser und schönen weiss und roth gefärbten Blüthen. Zwischen
Felsblöcken und Geröll wachsen einige Bäume: Sterculia triphaca R. Br.
und Zizyphus spina Christi (L.) Wırrn., welche bis 10" Höhe erreichen,
ferner Commiphora Neumannii ExeL., 1--5 m hoher Baum. Ausserdem
finden sich hier die Sträucher Melhania Philippiae Ev. Bax., niedrig, mit
röthliehgrünen Blüthen, die Acanthacee Ecbolium barlerioides (S. Moorr)
Lisvau, die Halbsträucher Diceratella sinuata Francn., Hibiscus crassinervis
Hocust. und Lantana Petitiana A. Rıcn., sowie die Stauden Cassia obovata
Corzan., Tephrosia heterophylla V are, Sisymbrüum erysimoides Desr., Striga
gesnerioides (WırLD.) VATKE.
Von Bir-Kaboba (auch Bia-Kaboba) über Daba-as und Artu bis
Dschildessa ist auf kiesig-sandigem Boden in einer Höhe von 300 bis
1000 m ü. M. vorzugsweise Acaciensteppe anzutreffen. Das Gehölz in
der Nähe der Flussläufe ist allgemein gebildet aus Acacia senegal Wırzn.,
A. arabica Wırno. und A. latronum Wırın.,. welche letzteren bis 15” Höhe
Exsrer: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 401
erreichen. Ebenso hoch wird der knorrige Capparidaceen-Baum Cadaba
heterotricha Stocks mit verkehrt-eiförmigen, graugrünen Blättern und
weissen Blüthen. Dazwischen kommen folgende niedrige Sträucher vor:
Cadaba farinosa Forsk., nur 40—50cm hoch, von krüppeligem Wuchs,
Crotalaria albicaulis Franen. (1” hoch), Barleria proxima Lisvau, bis 30°"
hoch, mit ockergelben Blüthen, Schwabea anisacanthus (Scuwrru.) LinpAau
und die Asclepiadacee Gl/ossonema Revoilü Franen. Auch wurden hier
eonstatirt Actinopteris radiata (Koxnıe) Link, Pedicellaria pentaphylla (L.)
Schr. und Launaea goraeensis (Lam.) O. Horrn., ferner suceulente Caral-
huma und Stapelia. Auf dem steinigen Plateau zwischen den Fluss-
läufen finden sich von hohen Bäumen hauptsächlich Poineiana elata L.,
von kleineren, nur etwa 2" hohen Grewia villosa W. var. glabrior K. Sen.
und Cassia goratensis Fres. Als Sträucher treten hier auf: Courbonia
spec., in grossen Massen, Grewia salvüfolia Heyse, bis 2" hoch, Cro-
talaria albicaulis Frasen., als llalbsträucher: Sida ovata Forsx., Abutilon
fruticosum Gun. et Perr., Diceratella sinuata Fraxen. und die suceu-
lente 1” hohe Caralluma retrospieiens (Eurge.) N. E. Brown. Unter den
hier vorkommenden Kräutern sind noch hervorzuheben: das bis 2” hohe
Verbascum ternacha Hocusr. als Vorbote der abyssinischen Hochlands-
flora, Anticharis linearis Bextu. und Heliotropium longiflorum Hocusr.
et Steup. Alle von Rogzcen auf dieser Strecke gesammelten Arten
liegen auch in der Ausbeute ELtengeer’s vor, mit Ausnahme von Hyd-
nora abyssinica R. Br. und Tristachya Bricchettiana GmovenpaA, für welehe
aber speciellere Standortsangaben fehlen.
Vegetation des nördlichen Somalihochlandes.
Die Vegetation des nördlichen Somalihochlandes, welches im Cap
Guardafui und der Insel Socotra seinen Abschluss findet, kennen wir
nur noch sehr fragmentarisch; aber das, was wir jetzt wissen, ist
doch sehon ausreichend, um die wesentlichsten Grundzüge der dort
herrschenden Vegetation zu erkennen. Wir haben oben gesehen, wie
in der Küstenregion die Vegetation gegen das Gebirge hin allmählich
reichlicher wird. Hinter den fast ganz vegetationslosen Bergen von
Dobar und Bio Gore liegen bei 280” die schon ziemlich fruchtbaren
Grasfluren von Isa Musa; dann findet man in den Wasserläufen Be-
stände von Tamarisken, grossblätterigen Ficus und hohen Graswuchs,
auf der nun folgenden Hochebene von 500—600 m ü. M. mit Gras-
fluren abwechselnde Dornbuschsteppe, in welcher nur kleine Acacien
und andere Dornsträucher vorkommen, grosse Bäume gänzlich fehlen.
Weiterhin tritt auf der Ebene Worworr gutes Weideland auf, und nun-
mel'r sieht man die steilen Hänge des Gebirges von 600— 1500 m Höhe
6}
Sitzungsberichte 1904. 31
402 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
mit hohen Kandelaber-Euphorbien besetzt, welche wohl als Z. abyssi-
nica Räuscn. bezeichnet werden, deren Zugehörigkeit zu dieser Species
aber noch von keiner Seite nachgewiesen ist. Daneben treten Aloö- Arten
und suceulente Asclepiadaceen auf. Noch um 1000” wurden hier die
schöne grossblüthige Asclepiadacee Kdithcolea grandis N. E. Br. gesam-
melt und der kleine sueeulente Senecio (Notonia) Gunnisiü Bar. An solchen
Stellen wachsen auch Sansevieria quineensis (L.) Wırın. und Barbacenia
acuminata (Bax.) Ener. Auch in dieser Höhe sind die Bachbetten von
Tamarix, Fieus, Tamarindus und Zizyphus lotus eingefasst; stellenweise
verschönert auch eine hochstämmige Phoenix reclinata das Landschafts-
bild. Von solchen Stellen dürfte auch Cureuligo gallabatensis SCHWFTH.
stammen, welche von Mrs. Lorr PnıtLırs gesammelt wurde. Auch (on-
volwuhıs sphaerophorus Bax. wird vom Fuss des Golis Range angegeben.
In den Schluchten des über die 1500. — 1790 m hohe Hochebene auf-
steigenden Golis-Gebirges finden sich nur noch vereinzelt Euphorbien,
dafür aber dichtes Buschgehölz, in welchem der immergrüne Buwus
Hildebrandtii Baıwv. besonders massenhaft auftritt. Schon auf der Hoclı-
ebene Es Schech herrscht im Januar eine sehr angenehme Temperatur:
des Tages etwa 24°C., in der Nacht 12°C.; in der Nacht vom 15. Januar
sank bei 1550" Höhe das Thermometer auf 3°C. Es ist daher erklär-
lich, dass oberhalb dieser Hochebene im Golis-Gebirge an den Bach-
läufen Juniperus procera Hocast. vorkommt und dass derselbe auf dem
Hochplateau, dessen steile Felsen bis zu 2000” und 2150" Höhe ü.M.
reichen, grosse Wälder bilde. An Bachufern findet sich auch Epi-
pactis somaliensis RoLre. Zwischen den Wäldern befinden sich auch
Blössen mit kurzem, groben Gras und zahlreichen blüthenreichen Stau-
den und Halbsträuchern. Das im Osten aufsteigende Wokker- oder
Waggar-Gebirge ist trockener als die Golis-Berge, aber Kandelaber-
euphorbien sind dort weniger zahlreich, dagegen wachsen daselbst
einige Commiphora und nach Angabe von Mexees eine Pflanze mit 0° 5
diekem, kugeligem Stamm, welche entweder eine Pyrenacantha oder Tre-
matosperma sein muss, wahrscheinlich die letztere. Am Nordfuss dieser
Berge jedoch kommt dichter Euphorbien-Dornbusch mit ganzen Be-
ständen von Sansevieria (if) vor, die wahrscheinlich zu 8. Ehrenbergü
SCHWEINFTH. oder 8. Schimperi Bax. gehört. Von den Damen Miss Evırn
Core und Mrs. Lorr Pıuruies sind in den Golis-Bergen und dem Wokker-
Gebirge fast nur Stauden und kleine Sträucher gesammelt worden und
ich muss mich in Ermangelung weiterer Angaben auf folgendes Ver-
zeichniss' beschränken.
! Ich bin fest überzeugt, dass allmählich, wenn die in Berlin, Paris, London und
Rom aus diesem Gebiet aufgestellten Arten verglichen werden, eine grössere Anzahl fallen
wird, doch hat dies auf die allgemeinen pflanzengeographischen Ergebnisse keinen Eintluss.
%i . r . .. - a « / )
Enster: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 403
A. Sträucher: Crotalaria Phillippsiae Bax., C. aurantiaca Bar., C. leucoclada Bax.
(1000”), Turraea Iycioides Bax., Jatropha Phillipsiae RenoLe, ‚J. palmatifida Bax., Abu-
tilon molle Bax.. Asclepias flavida N.E. Br., A. Phillipsiae N. E. Br., A. integra N. E. Br.
(bis 15 hoch), Arduina edulis (Vaur) SprenG., Ipomoea cicatricosa Bax., Cordia soma-
lensis Bax., Cyelocheilon somaliense Orıv.. Lantana concinna Bax., L. Petitiana A. Rıcn.,
und L. salvüfolia Jacq., Olerodendron Neumayeri Vaıke, Ocimum menthifolium Hocnsr.,
O. vertieillifolium Bax., Thunbergia affinis S. Moore var. pulvinata S. MooreE, Dyscharista
somalensis RENDLE (= Satanocrater fruticulosus (RoLrE) Lınpau), Barleria Hildebrandtü
S. Moore, Ecbolium parvibracteatum RenpLe, Pavetta Phillipsiae S. Moore, Pentas gla-
brescens Bar. und P. pauciflora Bax., Vernonia amplevicaulis Bax., V. yomphophylla Bax.,
V. eryptocephala Baw. Etwas grössere Sträucher sind: Rhus somalensis Ener. (= Rh.
myriantha Bax.), Acocanthera Schimperi (A. DC.) Scuwrın. var. Deflersii Swarr.
B. Schlingpflanzen und Klimmsträucher (1900"): Asparagus falcatus L..
Cardiospermum corindum L., Jasminum somaliense Bax., J. floribundum R. Br. (1600"),
Daemia extensa R. Br. (= D. cordifolia K. Scu.), Astrochlaena Phillipsiae (Bax.), Ipomoea
heterosepala Bax.. I. obscura (L.) Liınor. var. abyssinica HALLıEr. f., Momordica dissecta
Bax., Senecio basipinnatus Bar.
C. Stauden. Knollen- und Zwiebelgewächse der Grasfluren: Okloris
somaliensis RENDLE, Oyperus somaliensis C. B. Crarkg, (. flabelliformis Rovr»., Schoenus
nigricans L., Iphigenia somalensis Bax., Drimia Coleae Bax., Albuca Melleri Bax., Orni-
thogalum sordidum Bax., Chlorophytum tenuifolium Bax.. Paneratium trianthum Here., Hy-
poxis angustifolia Lan., Haemanthus somalensis Bax. (1900"), Acidanthera bicolor Hocusı.
(1300”), A. Gunnisü Renpre (2100"”), Eulophie Phillippiae RotLre und E. Coleae RoLre,
Indigofera tritoides Bax., Polygala somaliense Bax., Plantago albicans L., Centaurea Ayl-
meri Bax. (1600"), Carduncellus eryptocephalus Bax.
D. Mehr in Gebüschen und Lichtungen wachsende Stauden: Aspa-
ragus asiaticus L. und A. africanus Lam., Ipomoea cairira (L.) Swerr var. indica Har-
tier f., Verbascum somaliense Bax., Coleus gomphophyllus Bax., C. cuneatus Bax., C. so-
malensis S. Moore (am Gan Libach), Blepharis boerhaviifolia Pers., Asystasia parvula
C. B. Crarke, Barleria eranthemoides R. Br., B. setigera RennLe, Justicia flava V AuL.
J. Phillipsiae Reapıe, J. Smithii S. MoorE, Stephanolepis centauroides S. Moorr, ver-
wandt mit Bothriocline, Vernonia Phillipsiae S. Moore.
E. Halbsträucher und mehrjährige Stauden, welche theils auf steini-
gen und sandigen Plätzen, theils in Felsritzen wachsen: Pellaea lomarioides Bax., Uya-
notis somaliensis C. B. CLarke, Matthiola dimolchensis Bax. f. und M. Smithü Bax. f.;
Kalanchod flammea Syapr, K. somalensis Bax., Crassula Coleae Bax. (einjährig), Lupinus
somaliensis Bax. (1600"), Kelleronia Gillettü Bax. f., die Euphorbiacee Lortia erubescens
Renote mit fleischigen Blättern, Melhania Philippiae Bax. f. und M. muricata Barr. f.,
Hibiscus argutus Bax., Heliotropium albo-hispidum Bax., Trichodesma stenosepalum Bax.,
und T. grandifolium Bax., Ocimum staminosum Bax. (T000" — 1300"), Orthosiphon mollis
Bax. und O. calaminthoides Bax., Coleus vestitus Bax. (T000"), C. speciosus Bax., Miero-
meria biflora (Ham.) Bentvi., Salvia nudicaulis Vaut, Ballota fruticosa Bax., Leucas
thymoides Bax., L. pauchjuga Bax., L. Coleae Bax., Otostegia modesta S. Moore, Teuerium
‚polium L., Linaria patula Bax., Pterodiseus saccatus S. Moore, Pt. undulatus Baur. i*
Parasystasia somalensis (Francn.) Lınpau (= Asystasia Coleae Roure), Barleria waggana
Renpte, B. homoiotricha C. B. CLarke, B. rotundisepala Renpıe, B. aridicola RENDLE,
B. Lorteana Rexore, B. ventricosa Nees, Hypoöstes Hildebrandti Lınvau, H. Forskalii
R. Br.. Pentanopsis fragrans Renpte, mit niederliegenden Zweigen, Oldenlandia rotata
Bax., O. fasciculata Hıers, O. Schimperi T. Anvers. var. somalensis Bax. f. (einjährig),
Otomeria rupestris Hırrv (1950"), Helichrysum somalense Bax. f., ein kleiner Strauch,
Dicoma somalense S. Moor£, Pulicaria Phillipsiae S. Moore, P. Aylmeri Bax. (I 300").
Dorstenia Phillipsiae Hoox. f., mit fleischigem eylindrischem Stämmchen, nur wenig
verschieden von D. crispa Exsr.
F. Kleine Felsenpflanzen, welche Polster bilden: Arenaria vestita Bar.
und Paronychia somaliensis Bar.
3l*
404 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
Etwas anders als im Golis- und Wokkergebirge ist (lie Flora weiter
östlich in dem von HıLvesranpr bereisten, aus Kalk bestehenden Ahl-
gebirge. An einem Wasserlauf aufwärts wandernd traf HıLDEsranpr
dichtes Gebüsch von Tamarix orientalis Forsk., Salvadora persica und bis
6” hoher Moringa arabica Pers. (= M. aptera Gaerrın.), auf den Felsen
bis 2” hohe Sträucher der kleinblättrigen Jatropha asplenüfolia Pax, in
schattigen Felsspalten Lavandula pubescens DEexe., Megalochlamys linifolia
Linpau (600”— 1000”), während über die Böschungen des stellenweise
eingerissenen Tugs der dornige Convolvulus hystrix Van herabhängt.
Zwischen den Steinen des Tugbettes finden sich einige einjährige
Pflanzen: Oleome brachycarpa V aun, Reseda amblyocarpa Fres. (bis 1000"),
Phyllanthus maderaspatensis L., Euphorbia granulata Forsx. (bis 1500"),
ferner die saftreiche Zuphorbia systyla Epew. (bis 1300”), einige Halb-
sträucher, wie Tephrosia heterophylla\V are, Heterachaena massaviensis Fres.
(bis 1000”), Pulicaria Kurtziana V arke (bis 1000"), Pluchea heterophylla
VarkE (bis 2000”), Justicia Urbaniana Linvav (bis 2000”) und ein-
zelne Gräser, wie Eragrostis ciliaris (L.) Link, E. somaliensis Terra-
cIANO (bis 1000”), Aristida adscensionis L. var. abyssinica Trın. et Rupr.,
A. abmormis Cmov., A. brachypoda Tauscn (bis 1000”), Pennisetum
cenchroides A. Rıcn. (bis 2000").
Von den in den halbxerophytischen Formationen Afrikas so ver-
breiteten Malvaceen finden sich auch hier mehrere Arten: Hibiscus
micranthus L. (bis 1800"), Abutilon hirtum Dox., A. fruticosum Guru. et
Perr. (bis 1800"), Pavonia somalensis Fraxen., P. arabica Hocnsr.,
Senra incana Cav. Diese beginnen alle schon am Fuss der Vorberge
und steigen in der angegebenen Weise hinauf. Dagegen sind auf
die Vorberge beschränkt die Burseraceen (ommiphora truncata ExcL.
und ©. cinerea Exer., der klimmende Malpighiaceen-Strauch Caucanthus
squarrosus (Ranıek.) Nozuv., (die etwa 2” hohe Vernonia spathulata C. H.
ScuuLzz Bir. und Combretum somalense ExerL. et Diers (obbel).
Der einzige grössere Baum der Gegend ist hier die Combretacee
Conocarpus lancifolius Exer. (dammas) mit länglich-lanzettlichen Blät-
tern, bis 10” hoch. An den senkrechten Felsmauern sieht man die
am Grunde verbreiterten Stämme der Boswellia Freereana Biırpw., des
» Meithi-Weihrauchs« oder »gekar«, im "Thal dagegen werden auch
noch weiter aufwärts, bis 1000", schöne Dammasbäume angetroffen, an
feuchten Stellen Zragrostis tenella P. Brauv., Cyperus sphaerospermus
Schran., viel Antirrhinum apterum Varke. In schattigen Felsspalten
treten nur Matthiola elliptica R. Br., Farsetia longisiligua Deenz. auf,
diehte Büsche der Verbenacee Cyclocheilon eriantherum (N aykE) Ex6L.
mit überhängenden Ruthenästen und reichen weissen Blüthenständen,
Senra incana Cav., Hyoscyamus muticus L. (vereinzelt), der niedrige
Dass
Enter: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 405
m
) und die halbstrau-
ehigen Heliotropium somalense Varxe und H. hirsutissimum Varke. In
Halbstrauch Polygala caleicolum Cuov. (bis 1500
einer höhlenartigen Einsenkung der steilen Felswand wächst die stark
drüsig bekleidete Scrophulariacee Chaenostoma Iyperiaeflorum (V Arkn)
Werrstem (= Urbania Iyperiaeflora (Varke), ganz ähnlich, wie ihre
nahe Verwandte Chaenostoma canariense (WEB et Berrn.) Wertst. in
der von mir besuchten Caldera di Bandama auf Gran Canaria. Weiter
aufwärts ist das Kalksteingeröll von Acacien bestanden, von denen
einzelne auch schon tiefer als Gestrüpp auftreten, von der 3” hohen
Acacia glaucophylla Streu. (hadad) und A. socotrana Baur. f. (djerim),
welehe beide reichlich Gunmi liefern. Häufig sind auch eine pyra-
midenförmige Acaecia (girma) und A. Petersiana Borır var. gulla Exeı.
mit Schirmkrone. In das Dorngewirr der Acacien mischen sich einige
im März noch blattlose Commiphora myrrha (N. ab Es.) Ener. (didin)
von krüppelhaftem, knorrigem Wuchs, die halbstrauchige Triumfetta
actinopetala S. Moore, Trichodesma Hildebrandti Gürke mit starren Zwei-
gen und an schattigen Stellen bis 1000” Cleome pruinosa T. Anpers.
Auch der Acanthaceenstrauch Zebolium barlerioides (S. MoorE) Linpau
mit zinnoberrothen Blüthen nimmt an der Bildung des Unterholzes
Theil, während die baumartig entwickelte Zhretia Brauniü VATKE mit
ihrer Krone die der Acacien erreicht. In Felsritzen wächst Selaginella
imbricata SPRinG mit eingerollten Sprossen. Mächtig entwickelt ist hier
Adenium somalense Baur. f.. dessen Stamm aus oft 1" haltender Basis
bis zu 3" Höhe aufsteigt.
In einer Thalsenkung wurde ein Cissus mit fleischigen fünftheiligen
Blättern und Asparagus africamus Lam. beobachtet, sodann auch die in
Aegypten, am Sinai und in Syrien verbreitete Ephedra alte C. A. Mey.
Ferner wächst in steinigen Thälern die halbstrauchige 1" hohe Gypso-
phyla montana Baur. f. (= @. somalensis Fraxcn.). Während in der un-
teren Region des Gebirges die Commiphora und Acacia herrschen,
nehmen in grösserer Höhe suceulente Gewächse zu; eine Aloö mit
breiten, graugrünen Blättern tritt häufig auf, sodann die eigenthüm-
liche Icacinacee Trematosperma cordatum Urs. Nunmehr beginnt die
Wolkenregion. Bis 05 hohe, meist graufilzige Sträucher und Stau-
den bilden hier dichtes niedriges Buschwerk, besonders fällt die massen-
haft auftretende, blaublühende Acanthacee Satanocrater somalensis Linpau
auf, neben ihr sieht man eine grauseidig behaarte Orotalaria, die mono-
typische Euphorbiacee Gülgia candida Pıx, Orthosiphon pallidus Rovtr,
die weissfilzige Leucas somalensis VATrkE, die Amarantacee Chionothrixw
somalensis (Moore) Hook. f.. Aerua lanata Juss. und A. javanica (Burn.)
Juss. Auch Sansevieria guianensis (L.) Wırın. kommt hier vor. Nur
wenige höhere und tiefgrüne Sträucher durchbrechen den grauen Be-
406 Gesammtsitzung von 18. Februar 1904.
stand der Halbsträucher, Pupalia lappacea (L.) Moov. und die Legu-
minose Ormocarpum coeruleum Baur. f. mit violetten Blüthen. Nur ver-
einzelt treten die stattlichen Schirmbäume der Acacia Petersiana var.
gulla auf.
In den Thalschluchten dagegen herrscht reichere Baumvegetation:
da finden sich kräftige Fieus, Conocarpus lancifolius Exeı., Terminalia
somalensis Ener. et Diers, Commiphora somalensis Exer. und Buxus Hilde-
brandtii Baırı., welcher in grösserer Höhe bestandbildend erscheint, wie
im Golis-Gebirge. Im dunklen Schatten dieser Bäume finden sich auch
hier Acanthaceen. Als Spreizklimmer tritt besonders die strauchige
Acanthacee Ruttya fruticosa Lispau auf, leuchtend mit feurigrothen
Blüthen. Andere strauchige und halbstrauchige Acanthaceen (Region
von 1500 bis 2000 m) sind noch Anisotes velutinus LıspAu, dicht grauhaarig,
Barleria pseudoprionitis Lispvau, Lepidagalhis scariosa Ners, Crossandra
nilotica Ouıv. Es kommen ferner hier vor die Halbsträucher: Melhania
Engleriana K. Scu. und Abutilon fruticosum Gum. et Perr. Den Steinen
angedrückt aber wachsen die kaum fingerlangen und nur 1°” dicken,
von pfriemenförmigen Dornblättern besetzten, cereusähnlichen Stengel
des Senecio Gunnisü Bax., an denen die dünnen Stiele der zinnober-
rothen Blüthenköpfe stehen.
Oberhalb der Wolkenregion nimmt der Baumbestand zu. Nume-
risch herrscht Acacia Petersiana Bote var. gulla; aber Buxus Hilde-
brandtii Baron und die Terminalia somaliensis ExeL. et Diers bilden
mit ihr einen dichteren waldartigen Bestand. Hier finden sich auch
am Boden und auf den Bäumen zahlreiche Moose und Flechten: von
letzteren wurden gesammelt: Theloschistes chrysophthalmus Tu. Fr., Pla-
codium fulgens DC., Parmelia urceolata Escuw. var. nuda MürL. Ars. und
P. somalensis Mürn. Are. In Felsspalten wächst auch bei 1500" Höhe
die Anacardiacee Lannea obcordata Eser.. ferner finden sich zwischen
1500” und 2000" Barleria Hildebrandtii S. Moore, die Rubiacee Pavetta
gardeniifolia Hocusr. var. breviflora VATKE, die strauchige Huphorbia noxia
Pıx und Crossandra nilotica Ouıv.
m
Dann war das etwa 2100” hohe Plateau Yafır erreicht, über
dem sich noch 120” hohe steile Felswände erheben. Hier wachsen
Withania somnifera (L.) Dusar, die Amarantacee Pupalia lappacea (1..)
Mogv. und Lasiocorys argyrophylla Varke mit silbergrau behaarten
Blättern und Kelehen. Auch Ballota Hildebrandtii Varxe et Kurtz
kommt hier vor. Sehr häufig ist wie in allen ostafrikanischen Hoch-
ländern der 1.5 bis 2” hohe Strauch Tarchonantius camphoratus 1.,
ein sehr eigenthümlicher endemischer Strauch dieser Höhe aber die
Euphorbiacee Tragia parvifolia Pax. Er weicht durch sein Wachsthum
von den anderen Arten der Gattung ab, die wie die hier auch vor-
Ei:
ExGrer: Über die Veeetationsverhältnisse des Somalilandes. 407
kommende T. mitis Hocnsr. var. einerea Pax Schlingptlanzen sind. Die
auffallendste Pflanze dieses Plateaus ist die stattliche Dracacea schizantha
Baker, deren mannsdieker Stamm aus Felsritzen emporsteigend sieh
sehon ı" über der Erde in armdicke Äste verzweigt. Wie in allen
Gebirgen von Abyssinien bis zum Capland treffen wir auch hier in
der oberen Region eine baumförmige Cussonia an, nämlich ©. micro-
stachys Harus, welche der ©. Holsti von Usambara ähnlieh ist. Auch
eine baumartige Aloö (ob A. Ruspoliana Bax., der daär modod) findet
sich hier an Stellen, welche vor Winden geschützt sind, ausserdem
wachsen hier 2 AloE mit kurzem Stamm, die eine mit purpurfleckigen
Blättern. In Waldlichtungen treten sehr häufig, aber in ziemlichen
Abständen die 2" hohen, zierlich fiederblättrigen Sträucher der Legu-
minose Cadia varia HER. auf, welche auch durch ihre purpurfarbenen
Blüthen auffällt. Die zwischen ihnen wachsende Staudenvegetation
war verdorrt; aber in Felsspalten konnten noch einige Halbsträucher
festgestellt werden: Matthiola elliptica R. Br., Lavandula pubescens Deene..,
Heliotropium pallens Der., die häufig vorkommende Convolvulacee Sed-
dera spinescens Baker, die Verbenacee Douchea sessilifolia VATKE, die
Acanthaceen Barleria glandulifera Lısvau und B. argentea Bax. f. (= S0-
malia diffusa Ouıv.), Hypoestes Hildebrandtii Lıspoau und das schöne rotlı-
früchtige Solanum Hildebrandtii Au. Br. et Boucne. Ferner wächst hier
an felsigen Standorten der gelblich filzige Strauch Solanum Reichenbachii
Varke. An ganz wenigen Stellen finden sich nur kleine Halbsträucher,
ein diehtästiges Polygala, Ruellia diseifolia Ouıw., ein suceulenter Coleus,
der sehon vorher erwähnte und bis hierher aufsteigende Senecio Gun-
nisii Bax. und Heliotropium Vatkei GürkE (von Hırvesraspr fälschlich
als HT. tiymoides Jaus. et Seacn angegeben). Der obersten Region dürfte
auch Inula somalensis VATKE angehören.
Leider hat J. M. HıLpesranpr über seinen zweiten im Februar 1875
von Meith aus unternommenen Besuch des an das Ahlgebirge sich an-
schliessenden Serrutgebirges keinen eingehenderen Bericht erstattet: es
ist aber die dort gemachte Sammlung eine wesentliche Ergänzung der
ersten, und ich führe alle Arten an, welche jetzt sicher bestimmt
sind. Der allgemeine Charakter der Vegetation ist durchaus derselbe,
wie im Ahlgebirge.
Bis zu 500"
Verbreitung der 7” Höhe erreichenden und in Ostafrika sehr verbrei-
Höhe ü. M. erstreckt sich in den Vorbergen die
teten A. mellifera Bextu., der nur 3” hohen A. misera Varke und
A. somalensis Vaıze, der 8" Höhe erreichenden A. spirocarpa Hocnsr.
Ferner sind in dieser unteren Region verbreitet Doswellia neglecta
S. Moor£e, die Anacardiacee Lannea cuneifoliolata Esser. und die Ver-
benacee Premna somalensis Bax.
408 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
An einer schattigen Stelle bei 600" Höhe wurden einige Moose
gesammelt, Hymenostylium secundum C.Mürr., Hyophila Somaliae GC. Mürr..
Fissidens somalensis C. Mürr., Weisia tophicola C. Mürz. Auch Cyperus
laevigatus L. und Pteris longifolia L. finden sich in den Vorbergen.
Eine Anzahl Pilanzen der Vorberge erstreckt sich von da bis in höhere
Regionen, so: Dorstenia foetida (Forsx.) Schwrrn. (bis 1500"), Achyran-
thes aspera L. var. sicula Bexın. (bis 1800”), Matthiola elliptica R. Br.
(bis 1000”), Abutilon asiaticum G. Don (bis 1000"), Senra incana Cav.
(bis 1000"), Pavonia arabica Hocnsr. (bis 1800”), A. fruticosum Gut.
et Prrr. (bis 1800"), Acalypha segetalis C. Mürr. (bis So0”), A. soma-
lensis Pax (bis 1000”), Indigofera umbraticola VATKE (bis 1000"), Medi-
cago lupulina L. (bis 1000”), Cassia Corneliana VATKE (bis 1000”), Krol-
vulus alsinoides L. var. erectus ScuwEinrtn., Penlas parviflora Hirn (bis
1300"), Cheilanthes farinosa Kaurr. (bis 1300”), Selaginella yemensis
Sprine (= 8. somalensis Bar.) (bis 1800”) und die krüppeligen Sträucher
von Commiphora myrrha (N. ab Es.) Esser. nebst var. molmol Exeı.,
sowie Premna resinosa ScuavEr. Bis etwa 1000” Höhe ü. M. finden
sich ferner einige Baumformen, in den Wasserläufen die grossen Ficus
populifolia V au var. somalensis Wargurs, F. salieifolia Varu, auch an
anderen Stellen Terminalia somalensis EneL. et Dies, Ehretia Braunü
Varke, Cadaba longifolia R. Br., Grewia populifolia V au. Bei Soo”
beginnt hier auch schon Dracaena schizantha Bax.
Um 1000" —-1200” werden mehrere recht bemerkenswerthe Sträu-
cher angetroffen, von denen einige auch bis in grössere Höhen ver-
breitet sind, alles ausgeprägte Steppensträucher, die grauen Amaran-
taceen Ohionothriw somalensis (S. Moore) Hook. f. und Sericocomopsis pallida
(S. Moore) Scumnz, die Capparidaceen Cleomodendron somalense Pax, ein
Mittelglied zwischen Capparidaceen und Cruciferen, Maerua somalensis
Pıx in dichten Büschen, Courbonia subcordata Gırs, Pistacia lentiscus
L. var. emarginata Exsscı., Pittosporum abyssinicum Dee, mehr ein
Hochgebirgsstrauch, Fntada sudanica Schweisrtn. (auch als kleiner
Baum), Zygophyllum Hildebrandtü Exer., ein bis 2” hoher Strauch mit
fleischigen verkehrteiförmigen Blättern, zahlreiche Balsamsträucher,
wie Boswellia Carteri Bırvwoon (bis 1800”), Commiphora Hildebrandtiü
S. MoorE (bis 1500”), (©. serrulata Exeu. (verwandt mit (©. Schimperi,
his 1500"), ©. opobalsamum (Kunrtu) Ener. var. Kunthü Exer. (bis 1500”),
Croton somalensis VATKE et Pax, Grewia bicolor Juss., Dodonaca viscosa
L., Olea somalensis Ba. f. (kleiner Baum. bis 1350"), Acocanthera Schim-
peri (DC. £.) Scnwrrn. (bis 1300"), Hildebrandtia africana Varke und H.
somalensis Exer., Clerodendron Neumayeri S. Moore (auch bis 5” hoher
Baum, bis 1800"), Cyclocheilon eriantherum (NV arke) Exer., Solanum albi-
caule Korseuy, Psiadia incana Or. et Hırrn. In Schluchten beginnt hier
Ester: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 409
auch schon der bis 1600" hinauf reichende Buxus Hidebrandtiü Baınn..
und bei 1200"
Uns Hildebrandtii Pax zu, bei 1300
Von Schlingpflanzen dieser Region sind mir nur bekannt ge-
gesellen sich ihm Maesa lanceolata NV aus und Phyllan-
Ficus somalensis VATKE.
worden: Tragia mitis Hocust., Teramnus labialis L. var. somalensis V aTKE,
Momordica charantia L. Um 1000”-—-1200” wachsen ferner folgende
Halbsträucher: Polygala caleicohum Cuovar (niedrig, bis 1500"), Lantana
Petitiana A.Rıcn. (bis 1500"), Pleetranthus rupestris (Hocusr.) Bax., Ortho-
siphon tenuiflorus Bextu. (bis 1300") Ocimum tereticaule Poır., Lasiocorys
arabica Jaup. et Spacu, Lindenbergia sinaica (Deene.) Bentu. (bis 1SO0"”).
Justicia Urbaniana Lisvau, Ruellia patula Jaca. Stauden und einjährige
Kräuter wurden hier nur wenig «esammelt: Seilla somalensis Bax..
Chlorophytum somalense Bax., Andrachne somalensis Pax, Jonidium ennea-
spermum Vest. var. angustissimum Exseu. (bis 1500”), Convolvulus serico-
phyllus T. Asp. Auch der schon mehrfach erwähnte kleine catusähn-
m m
liche Senecio Gunnisü Bax. findet sich von 1000" bis 1300". Von Farnen
findet sich von 1100" an bis 1500" Actinopteris radiata (Korsıe) Link.
und bei 1200" wurden an einem Wasserplatz angetroffen: Adiantum ca-
pillus Veneris L., die Moose Trichostomum fontanum C. Mürr. und Splachno-
bryum aquaticum GC. Mürr. sowie Chara foetida var. catophloea A. Br.
Bei 1300” tritt Sporobolhus festivus Hocnsr. auf und Leucas brachy-
phylla Jaug. et Spacn., auch das Farnkraut Cheilanthes coriacea Drexe.
(bis 1800”). Bei 1400” erscheinen die strauchige Flacourtiacee Aberia
verrucosa Hocnst., welche auch in Abyssinien vorkommt, die halb-
m m
strauchige monotypische und endemische Labiate Renschia heterotypica
(S. Moore) Varke, Solanum Schimperi Hocnsr. und Cynoglossum micran-
tHnım Desr.
Um 1500
dissima Ener. und O. abyssinica Hocusr., Salvia somalensis VarkE (bis
2'"" hoch, bis 1800”), der prächtige Acanthus arboreus Forsk. (bis 1800"),
Tarchonanthus camphoratus L., Psiadia arabica Jaus. et Spacn (bis 1800"):
m
werden wahrgenommen die Sträucher: Osyris rigi-
die Halbsträucher: Hibiscus miceranthus L.. Orthosiphon somalensis
Varke, Micromeria abyssinica (Hocusr.) Bern. (bis 1800”), Crossandra
nilotica Ouv. (= Cr. brachystachys (Frascn.) Lispav, bis 1800"), Or.
spinosa Bzcx (bis 1800"); die Stauden und Annuellen: Arenaria ser-
pyllifolia L. (an sandigen Stellen), Oxalis corneulata L. (bis 1800").
Geranium simense Hocnst., Scrophularia arguta Sor., Linaria somalensis
VarkE, Salvia nudicaulis Van var. congesta A. Rıcu. (bis 1800"), Cuscuta
hyalina Roru und Asplenium praemorsum Sw. (bis 1800").
Bei 1600” beginnt auch hier Juniperus procera Hocust., dessen
Bestände Hınprsranpr bis 1800” beobachtete, zugleich tritt die strauchige
2" hohe Ballota Hildebrandtii Varkz et Kurrtz auf, ferner die dormige
410 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
halbstrauchige Seddera somaliensis (V ATKE) HALLER f., Panicum maximum
Jaco., Cyperus obtusiflorus Vanı, Antheriewm corymbosum Bax., Ornitho-
galum caudatum Aır., auch Barbacenia Hildebrandtiüi Pax (bis 1900”) und
Crassula somalensis Pax.
Um 1800"
Ausserdem kommen noch folgende Sträucher und Halbsträucher vor:
ist wiederum die strauchige Cadia varia vWHEr. häufig.
Melhania ovata (Cav.) Borss. var. montana K. Scıu., Ipomoea argyrophylla
Varke, Heliotropium Vatkei GÜRkE, Stachys Hildebrandtü VATKE, Lasiocorys
abyssinica BExtn., Mieromeria biflora (Ham.) Bentn., M. punctata (R. Br.)
Bru. var. angustifolia Varke, Solanum Hildebrandtii A. Br. et VATkE,
Ruttya fruticosa Lisvau, Felicia abyssinica Sen. Bır., Osteospermum murt-
catum E. Mev., Euryops pinifolius A. Rıcn.
Sodann die Stauden: Viola somalensis Ener., Trichodesma heleo-
charis S. Moore, Nepeta azurea R. Br., Teuerium polium L., Craterostigma
pumilum Hocusr., Orobanche minor Surros, Centaurea Hochstetteri (Bucuus-
GER) Or. et Hrerx.,. Holothrixv Vatkeana Rene. f.
Unter den aufgeführten Sträuchern. Halbsträuchern und Stauden
befinden sich mehrere, welche auch in Abyssinien und Arabien vor-
kommen, auch einzelne mediterrane Arten. Auf Triften und in der
Nähe menschlicher Wohnungen wachsen noch folgende: Pennisetum
villosum R. Br., Chenopodium album L.. Brassica juncea (L.) DC., Sisym-
brium irio L., Anagallis arvensis L., Verbascum ternacha Hocnsr., Galium
aparine 1., Heterachaena massaviensis Fres.
Endlich wurden noch um 1900" —-2000" constatirt: Anthericum
inconspicuum Bax., Lantana somalensis VAarkE, Pulicaria Renschiana
nı
VArKE, P. chrysopsidoides C. H. Scuvurz Brp., Iphione microphylla V ATke,
mit Ausnahme der ersten Art, alle halbstrauchig und fast alle ende-
misch. Aus dem Gebiete der Warsangueli werden von FRAncHET
folgende von Revo gesammelte Arten erwähnt, welche sich nicht
unter den bisher aufgeführten finden:
Morettia Revoilii Francn., Farsetia Boivini Fourn., (leome arabica L. var. steno- ,
carpa Francn., Ol. droserifolia Deine, Hibiscus sanguineus FrancH., H. somalensis
FrancH., Pavonia somalensis Francnh., P. serrata FRANcH., Haplophyllum arbuscula
Francn., Crotalaria argyraca Francn., Kissenia spathulata R. Br., Pulicaria petiolaris
Jaur. et Spacn, P. adenophora Francn., Hyoscyamus grandiflorus Francn., Justicia soma-
lensis Francn., Gnidia somalensis (Francn.) GırG, Craterostigma plantagineum Hocusr.
Unter diesen Arten verdienen die beiden durch fetten Druck
kenntlich gemachten besondere Beachtung, weil sie auch in Arabien
vorkommen und pflanzengeographisch wichtig sind.
Weiter östlich im Gebirge bei Meraya wurden von Re£voız folgende
Arten gesammelt:
Cleome brachycarpa V au, (Ol. albescens Franch., (adaba somalensis FRANcH.. Senra
incana Cav., Corchorus depressus (L.), Cassia holoserica Fraxch., Heliotropium stilosum
Franen., Pulicaria monocephala Fraxcn., Pluchea pinnatifida Hoox. f.
Exsrer: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 411
Revom rühmt zwar den grossen Reichthum an aromatischen
Sträuchern, hat aber keinen einzigen mitgebracht.
Mehr im Innern, im Lande der Medschurtin, wurden von ihm
gesammelt:
Capparis galeata Fres., Tribulus Revoili Franc. (strauchig, und wahrscheinlich
zu Kelleronia gehörig), Polygala tinctorium Vaur, Barleria acanthoides Vanu, Nelsonia
campestris R. Br., Vernonia somalensis Francn., Senecio pendulus (DC.), Tragia canna-
bina L., Selaginella imbricata Srring, Cheilanthes fragrans Hoox., Actinopteris radiata
(Kornıs) Lx., Tristachya somalensis Franen., Littonia Revoilü Francn., Urinum abyssini-
cum Hocastr., Pleuropteranthe Revoilii Francn., eine eigenthümliche Amarantaceen-
gattung, Forskalea viridis Eurene., Vigna tenws Francn. (?), Ammannia attenuata
Hocasr., Solanum piperiferum A. Rıcn., Pterodiscus speciosus Hocast. f. (?), G@lossonema
Revoilii Francn., Oucumis ficifolius A. Rıcn.
Allgemeine Ergebnisse.
So lückenhaft auch unsere Kenntnisse der Flora des Somali-
landes im Vergleich zu der eines Landes der gemässigten Zone sein
mögen, so sind sie doch jetzt schon ausreichend, um die wesent-
lichsten Übereinstimmungen und Unterschiede im Vergleich mit an-
deren Gebieten des tropischen Afrika hervortreten zu lassen. Wie
ich schon oben angedeutet habe und in einer zweiten Abhandlung
des Näheren ausführen werde, schliesst das von SW. nach NO.
streichende Gallahochland vom Rudolf- und Stefanie-See bis Harar
sich in seiner Vegetation durchaus an diejenige Abyssiniens an; ferner
habe ich schon in meiner Hochgebirgstlora des tropischen Afrika und
später in den Abhandlungen über die Gebirgstloren Usambaras und
des Nyassalandes zeigen können, wie im ganzen ostafrikanischen Ge-
birgsland zahlreiche gemeinsame und vicariirende Arten auftreten.
Durch diese im Norden gar nieht, im Süden nur hier und
da unterbrochenen Hochländer wird die Somalihalbinsel
vom centralen und westlichen Afrika stark isolirt und
dieser Umstand bedingt es, dass die Flora des Somalilandes (ich
schliesse das obere Gallaland und Harar davon aus) von der des
eentralen und westlichen Afrika erheblich verschieden ist, obwohl
die klimatischen und Bodenverhältnisse ganz dieselben Vegetations-
formationen bedingen, wie sie in den Steppengebieten der oberen
Nilländer (Djur, Kordofan, Darfur, Nubien) in denen Englisch- und
Deutsch-Ostafrikas auch auftreten. Von Natal bis Mombassa herr-
schen zwischen dem Meer und den landeinwärts gelegenen HHoch-
gebirgen parkartige Buschgehölze, welche sich durch einen grossen
Reichthum von Bäumen und Sträuchern aus zahlreichen Familien
auszeichnen. Von diesen reichen nun auch noch manche Arten in
die benachbarten sterileren Steppengebiete hinein, namentlich in die
412 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
gemischten Dorn- und Buschsteppen am Fuss der Gebirge: sodann
ist demzufolge auch die Vegetation der Ufergehölze in diesen Steppen-
gebieten eine etwas mannigfaltigere. Das ist in der oberen Nilebene
und im Somaliland nicht der Fall. Trotz der Üppigkeit des Wabbi-
thales. des Dschubathales. von der die Reisenden schwärmen, trotz
der diehten Wälder, von denen sie oft berichten. fehlen in der
oberen Nilebene und im Somaliland zahlreiche Familien und Gattungen.
welche im übrigen Ostafrika angetroffen werden.
An den Küsten und unteren Flussläufen des Somalilandes, sowie
im oberen Nilthal fehlen die Pandanus, welehe im Küstenland Deutsch-
Ostafrikas angetroffen werden, desgleichen die Flagellaria, es fehlen in
den Nil- und Somali-Steppen die in den immergrünen Dornbuschsteppen
Östafrikas vorkommende Vanilla Roscheri. die in den ostafrikanischen
Steppen vertretenen Orchidaceengattungen Aöranthus (Guyonianus Rene.
f.), Angrecum (aphyllum Tuov.), Ansellia (africana Lispr.), die Zingi-
beraceengattung Aaempfera (jedoch in Sennar), die Balanophoraceen-
gattung Sarcophyte, die Anonaceengattung Artabotrys (in Uferwäldern
der ostafrikanischen Steppe), die Rosaceen Parinarium, die Leguminosen
Baphia, Afzelia und Brachystegia, die Erythroxylon, die Simarubacee
Harrisonia, die Dichapetalum, die Sapindacee Pappia, die in Ostafrika
an Wasserläufen wachsenden Sorindeia, die Sapotaceengattung Mimusops,
die Apocynacee Landolphra (erst am unteren Tana), die Bignoniaceen
Markhamia und Stereospermum, ausserdem aber noch sehr viele Gattun-
gen, welche in der Quolla des abyssinischen Hochlandes, im Lande der
Niam-Niam und am Fusse der ostafrikanischen Gebirge vertreten sind,
wie z. B. Anona senegalensis Pers. Noch wichtiger ist aber, dass im
Somaliland einzelne typische Steppenpflanzen fehlen, welche im Westen
Abyssiniens häufig sind, nämlich: Borassus aethiopum Marr., die noch
im Djurgebiet hainbildend auftritt, Butyrospermum Parkii (G. Dos)
Korscay var. niloticum (KorscHy) PiERRE, welches daselbst ebenfalls sehr
verbreitet ist, Adansonia digitata L., welche als charakteristischster
Steppenbaum vom Limpopo nordwärts bis Darfur und Keren und west-
wärts bis Senegambien verbreitet ist und noch im nordöstliehsten Winkel
ihres Areals, im Thal von Sacca und Kufil am Abhang des Algeden-
Plateaus ganz besonders häufig ist.‘ Auch Cyperus papyrus L., in
Sümpfen der central- und ostafrikanischen Steppe häufig, scheint im
Somaliland zu fehlen und Raphia, von welcher eine Art in Deutsch-
Ostafrika nicht selten, R. Mombuttorum Drupe im Djurland vorkommt.
! Wegen Adansonia habe ich speciell bei Prof. C. Kerzer in Zürich und bei Hrn.
Dr. ErLLenBeck angefragt. Ersterer schrieb mir: »Auf der ganzen Reise kam mir auclı
nicht ein einziges Stück zu Gesicht«; letzterer theilte mir ınit, dass er sie im Lande
der Arussi-Galla häufig gesehen habe.
Exsrer: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 413
fehlt auch im Somaliland. Weiter auf das Nichtvorkommen anderer weit
verbreiteter afrikanischer Steppenpflanzen im Somaliland einzugehen,
empfiehlt sich vorläufig nicht, da noch manche Pilanze bisher über-
sehen worden sein kann.
Auch das nördliche Hochgebirge des Somalilandes weist mehrere
negative Merkmale gegenüber dem übrigen ostafrikanischen Gebirgs-
land auf. Wir haben gesehen, dass daselbst Juniperus procera Hocnsr.
Bestände bildet, auch sollen Lobelien aus der Section Rhynchopetahım
daselbst vorkommen; es finden sich dort auch das abyssinische Gr-
ranium simense Frzs. und manche andere abyssinische Art: aber es
fehlen doch auch viele Gattungen und Arten, von denen man nicht
gut annehmen kann, dass sie bis jetzt übersehen wurden. Ich nenne,
ganz absehend von den in Abyssinien und anderen Hochgebirgen nur
über 1900" vorkommenden Gattungen wie Erica und Blaeria nur fol-
gende: Tacca pinnatifida Forsk., Dioscorea, Gladiolus, Peperomia, Myrica,
m
Trema quineensis, Protea, Hagenia, Brucea, Clausena, Bersama, Im-
patiens, Sparmannia, Hypericum lanceolatum Lam., H. intermedium Srevn.,
H. Schimperi Hocust., Delphinium, Viola abyssinica Srrun., die Um-
belliferen, Olinia, Myrsine africana L., Buddleia, Swertia, Sebaca,
Bartschia, Veronica abyssinica Fres., Halleria, Scabiosa, Monopsis u.s.w.
Es wird wohl noch die eine oder andere Gattung nachgewiesen werden;
aber jedenfalls wird es sich nur um einzelne handeln, da wir von
dem Abyssinien zunächst gelegenen Theil des Gebirges am meisten
wissen und gegen das Cap Guardafui hin dasselbe immer trockener
wird. Auch an der Küste des Somalilandes scheinen viele in Ost-
afrika bis Mombassa und Sansibar verbreitete Arten zu fehlen, wie
z. B. Colubrina, Pemphis, Randia dumetorum Lam., Afzelia, Tetracera,
Rourea, Heinsia u. a.
Den negativen Merkmalen der Somaliflora stehen aber auch einige
positive gegenüber. Der Reichthum an Succulenten ist nicht grösser
als in der Massaisteppe am Nordabfall des Usambara- und Ugueno-
gebirges; ebenso kann quantitativ der Reichthum an Burseraceen nicht
grösser sein, als zwischen den Burubergen und Voi und weiter nord-
wärts, wo man meilenweit durch Obstgartensteppe wandert, die von
verschiedenen C(ommiphora-Arten gebildet ist, ausserdem aber auch
Boswellia, Sesamothamnus, Hildebrandtia, Cyclocheilon enthält, doch ist
im nordöstlichen Somaliland auf kleinem Raum eine grössere Mannig-
faltigkeit der Arten von Commiphora und Boswellia, als irgendwo anders.
Jedenfalls aber wird das pflanzengeographische Gebiet des Somalilandes
südwestlich über den Kenia hinaus bis in die Gegend von Ndi und
Ndara auszudehnen sein. Besonders charakteristisch ist für das Somali-
land hinsichtlich der Formationen die Entwickelung niedrigen Steppen-
AA Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
busches, aus dem nur einzelne grössere Bäume hervorragen, ferner
bei sehr vielen dieser Steppenbüsche reichliche Dornbildung oder aber
Ausbildung von Lang- und Kurztrieben,. in den trockensten Theilen des
Somalilandes auch die Ausbildung polsterförmiger oder fast kugeliger
kurzer Stämme. denen dünne Zweige entspringen, ferner Reichthum an
Arten mit angeschwollener rübenförmiger Wurzel. Durch diese Pflanzen-
typen zeigt das Somaliland eine grosse Übereinstimmung mit dem Herero-
land. Hier wie dort sind Acacien, Combretaceen und Tamarix die herr-
schenden Bäume, hier wie dort Commiphora-Arten und Capparidaceen die
herrschenden Strauchformen, hier wie dort kommen strauchige Con-
volvulaceen, strauchige Pedaliaceen (Sesamothamnus), Apocynaceen mit
tleischigem Stamm (Adenium und Pachypodium) und ebensolche Passi-
floraceen (Adenia und Echinothamnus), grossstrauchige fettblättrige Zygo-
phyllum, dornstrauchige Bignoniaceen aus der Gattung Rhigozum, zahl-
reiche halbstrauchige Acanthaceen und Labiaten aus der Unterfamilie der
Ocimoideae, strauchige und halbstrauchige Amarantaceen, halbstrauchige
Resedaceen und Polygala vor: hier wie dort finden wir suceulente Zuphor-
bia, Aloe und Stapelieae, auch dieselben Gattungen von Zwiebelgewächsen.
Erwähnenswerth ist ferner das Vorkommen derselben Rutaceengattung
Thamnosma in Hereroland und auf Socotra, welches, trotz seines bedeu-
tenden insularen Endemismus, sich doch pflanzengeographisch eng an
Somaliland anschliesst. Ferner ist hier auch darauf hinzuweisen, dass
die einzige altweltliche Loasacee Küissenia spathulata Expu. in Arabien,
im Lande der Warsangueli des Somalilandes und zugleich in Damara-
und Namaland vorkommt. Sonst aber sind es fast durchweg andere
Arten, die in dem nordöstlichen und südwestlichen Steppengebiete
Afrikas ähnlichen Charakter zeigen; wir können daraus nur entnehmen,
dass die Vertreter dieser Familien oder Gattungen besonders geeignet
sind, sich einem regenarmen Klima anzupassen.
Trotz einer gewissen physiognomischen Übereinstimmung der Ve-
getation des Somalilandes mit der des Damaralandes ist es leicht, auf-
fallende Eigenthümlichkeiten in der Flora des ersteren herauszufinden;
ich erinnere nur an die eigenthümlichen Moringaceen, die eigenthüm-
lichen Icaeinaceen Trematosperma und Pyrenacantha, an Boswellia, die
Simarubacee Kirkia, die Sapindacee Pistaciopsis, die Convolvulaceen-
Gattungen Hyalocystis, Hildebrandtia und Cladostigma, die endemischen
Capparidaceen-Gattungen (l/eomodendron und Calyptrotheca, an die mit
Cadia entfernt verwandte Gattung Dicraeopetahum, die endemische strau-
chige Zygophyllacee Aelleronia, an die Verbenaceen-Gattung Cyelocheilon,
die strauchige Serophulariacee Ghikaea, an Stemodiopsis und die Gat-
tung Pseudosopubia, welche wie Pistaciopsis auch noch in das Sansibar-
Küstengebiet hinüberreicht, an die Stereuliaceen-Gattung Harmsia, die
#
4
Ester: Über die Vegetationsverhältnisse des Somalilandes. 415
Euphorbiaceen Lortia und Briechettia, die Turneraceen-Gattung Loewia,
die endemische Asclepiadacee Kdithcolea, die endemische Amarantacee
Pleuropteranthe, die Malvacee Symphyochlamys, die Labiaten-Gattung
Hyperaspis, die Borraginaceen-Gattungen und Poskea, die Rubiacee
Mitratheca. Sodann ist auch der Reichthum an strauchigen und halb-
strauchigen Acanthaceen im Somaliland noch erheblich grösser als
im Damaraland, auffallend auch die Entwicklung sehr langer Blüthen
bei einigen Thumnbergia, sowie das Auftreten der endemischen Gattun-
gen Leucobarleria und Ruspolia. Es herrscht also ein grosser Gattungs-
endemismus im Somaliland.
Endlich haben wir als einen ganz besonders auszeichnenden Cha-
rakterzug in der Flora des Somalilandes hervorzuheben das Auftreten
des ostmediterranen Florenelementes; einmal finden wir, wie nicht zu
verwundern, an der nördlichen Somaliküste mehrere an der arabischen
Küste auftretende Arten oder nahe Verwandte derselben, die ich hier
nicht aufzählen will, ausserdem aber auch andere mediterrane Typen.
Die auffallendsten Erscheinungen dieser Art sind die oben S. 369 erwähnte
Populus euphratica OLivier var. Denhardtiorum Exer., und die baum-
artige Pistacia lentiscus L. var. emarginata Exer., dann verweise ich
auf Duxus Hildebrandtii Baır., der ausser seinen mediterranen Ver-
wandten auch noch solche im Ilimalaya und auf Madagaskar besitzt.
auf die strauchigen Farsetia, die halbstrauchigen Arten der Gruciferen-
Gattungen Diceratella und Malcolımia, auf das Vorkommen der Gattungen
Gypsophila, Mieromeria, Lavandula, Carduncellus, Cistanche.
Dass einzelne im Capland reich entwickelte Typen auch im Somali-
land Vertreter besitzen, wie Rhus, Pelargonium, Lyperia, Lobostemon
(in der nahestehenden Gattung Leurocline), will ich hier nicht weiter
ausführen; nur das will ich bemerken, dass in den Gebirgen Deutsch-
ostafrikas mehr capenser Typen auftreten.
Das Vorkommen mehrerer mediterraner Typen im Somalilande er-
kläre ich nieht etwa so, dass ich eine ehemalige stärkere Entwicke-
lung des mediterranen Elementes im Somaliland annehme, sondern
dadurch, dass Wind und Thiere Samen ostmediterraner Pflanzen naclı
dem Somaliland gebracht haben und dieselben dort auf dem reichlich
dargebotenen offenen Terrain zur Entwickelung gekommen sind. Dass
in einzelnen Fällen hierbei Veränderungen vor sich gehen, beweist
uns Populus euphratica subspee. Denhardtiorum Exer. Wir haben Gründe
anzunehmen, dass die Steppen Afrikas seit der Tertiärperiode sich
allmählich immer mehr ausgedehnt haben und dass die hygrophile
Gebirgsflora auch stellenweise tiefer hinabgereicht hat, jedenfalls
reicher als jetzt entwickelt gewesen ist: das sich ausdehnende Steppen-
terrain bot Raum zur Ansiedelung fremder Arten und zur Erhaltung
416 Gesammitsitzung vom 18. Februar 1904.
neu entstehender. Ganz anders aber als das Auftreten der ostmedi-
terranen Typen im Somalilande ist das von Aissenia zu erklären. Diese
ist schwerlich aus Arabien nach dem Somalilande gelangt, sondern
von hier nach Arabien und nach dem Somalilande aus dem Nama-
land. Wir wissen gegenwärtig noch nichts über die Keimdauer der
Samen von KÄüssenia, welche, in eine holzige Frucht eingeschlossen,
wohl geschützt sind und durch die zu einem Flugapparat vergrösser-
ten fünf Kelchblätter über Land nach und nach Kilometer weit ge-
trieben werden können: aber es ist nicht anzunehmen, dass die Früchte
von Kissenia sowie die Samen von Populus euphratica auf einmal über
grosse Strecken transportirt werden können: vielmehr muss die Ver-
breitung von Aüssenia allmählich vor sich gegangen sein. Wenn ich
die Verbreitung dieser Pflanze von Namaland her annehme, so habe
ich dafür gute Gründe. Aüssenia ist der einzige Vertreter einer in
Amerika reich entwickelten Familie, der Loasaceen: der Blüthenbau
dieser Familie ist so eigenartig, dass eine Parallelentwickelung der-
selben in zwei entfernten Erdtheilen aus einer weitverbreiteten Urform
ausgeschlossen ist. Es giebt nur folgende beiden Möglichkeiten: ent-
weder ist ein Vorfahr von Aüssenia über den Atlantischen Ocean aus
Amerika nach Afrika gelangt und hat sich dort verändert, oder es
haben auf einem zwischen Amerika und Afrika gelegenen Lande
Stammformen der Loasaceen existirt, von denen Aüssenia herzuleiten
ist. Da nahe Verwandte von Aössenia in Amerika nicht existiren und
der Fruchtbau derselben einen weiten Transport durch die Luft aus-
schliesst, so bleibt, soweit ich jetzt sehen kann, nur die zweite Mög-
lichkeit. Hierzu sei noch bemerkt, dass in den letzten Jahren die
fortschreitende Erforschung der Flora Afrikas immer mehr Pflanzen
ergeben hat, welche in der afrikanischen Pflanzenwelt, ebenso wie in
der asiatischen, isolirt dastehen, dagegen mit amerikanischen Typen
mehr oder weniger. oft sogar auffallend nahe verwandt sind.
417
Über die magnetische Zerlegung der Radiumlinien.
Von C. Runge und J. PrecHr
in Hannover.
Toro 7 D) sur
(Vorgelegt von Hrn. Praxck.)
Wir haben die stärksten Linien, die das Funkenspeetrum des Radiums
liefert, im magnetischen Felde untersucht und, wie zu erwarten war,
gefunden, dass sie genau dieselbe Zerlegung zeigen, wie die stärksten
Linien des Funkenspeetrums von Mg, Ca, Sr, Ba. Die Zerlegung ist
nicht bloss qualitativ dieselbe, was die Zahl der Componenten und
ihre relativen Intensitäten betrifft, sondern auch quantitativ, wenn man
nur die Abstände in der Scala der Schwingungszahlen misst.
Die stärksten Linien des Funkenspectrums von Mg, Ca, Sr, Ba bilden,
wie Runge und Pascnen gezeigt haben', drei Linienpaare, die sie als
Hauptserie und als erste und zweite Nebenserie bezeichnen. Obwohl
nämlich in keinem dieser Fälle mehrere Glieder derselben Serie beob-
achtet worden sind, so besteht doch wegen der Analogie dieser
Linienpaare mit den Linienpaaren der Alkalien und der Gruppen Cu,
Ag, Au und Al, In, Tl kein Zweifel, dass sie die entsprechende Rolle
spielen, und daher sind ihnen auch die entsprechenden Bezeichnungen
gegeben worden. Das Linienpaar, das als erste Nebenserie bezeichnet
worden ist, hat das charakteristische Merkmal, dass die Linie grösserer
Wellenlänge an der weniger brechbaren Seite noch von einer schwäche-
ren Linie, einem Satelliten, begleitet ist. Beim Magnesium ist der
Satellit allerdings nicht beobachtet worden, doch muss man dieses nach
der Analogie der Linienvertheilung wohl so erklären, dass der Satellit
beim Magnesium der Hauptlinie zu nahe rückt, um von ihr getrennt
zu werden. Der Satellit steht in der Scala der Schwingungszahlen von
der Linie kleinerer Wellenlänge eben so weit ab, wie die Componenten
des Paares der Hauptserie und der zweiten Nebenserie von einander.
Wir können nun zeigen, dass die stärksten Linien im Funken-
speetrum des Radiums sich genau ebenso verhalten. Wir haben hier
auch drei Linienpaare, die wir ebenso als Hauptserie und als erste
und zweite Nebenserie bezeichnen. Bei dem Linienpaar der ersten
Nebenserie haben wir auf der Seite der grösseren Wellenlängen den
Satelliten, der von der Linie kleinerer Wellenlänge in der Scala der
! Runge und Pascken, Sitzungsber. 1902, S.720.
Sitzungsberichte 1904. 32
418 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
Schwingungeszahlen eben so weit absteht, wie die beiden Linien der
als Hauptserie und zweiten Nebenserie bezeichneten Paare. Die Haupt-
serie und die zweite Nebenserie unterscheiden sich ebenso wie bei
Mg, Ca, Sr, Ba dadurch von einander, dass die kleinere Wellenlänge
bei dem Linienpaar der Hauptserie die stärkere, bei der zweiten
Nebenserie dagegen die schwächere der beiden Linien ist.
In der folgenden Tabelle sind die Wellenlängen und die Schwingungs-
zahlen der drei Linienpaare zusammengestellt. Unter Schwingungszahl
verstehen wir die Zahl der Liehtschwingungen, die auf ein Centimeter
Weglänge kommen.
| Wellenlänge | Schwingungszahl
Abstand
A 108/A
Hauptserie S 230289 35678.6 N 91.5
{ 2795-63 357701 )
i o = 2798.07 5738.9 )
Mg . Nebenserie } En he 2.
Is 1: JM eben exichen a es N 92.1
2. Nebenserie ) 293451 a 91.5
! 2928.74 | 341444 |)
& |
Hauptserie | 3968.63 231908 222.9
\ 3933.83 25420.5 )
3181.40 31432.7 N)
Ca \ 1. Nebenserie | 3179.45 | 31452.0 \ 223.1
3158.98 31655.8 |
| |
2. Nebenserie 3737.08 201569 h 223.1
3706.18 26982.0 |
a |
Hauptserie ana le > 8or.4
| 4077.88 24522.5 )
3475-01 | 28776.9
Sr 1. Nebenserie 3464.58 28863.5 | 801.1
| 3380.89 | 29578.0
| | | t |
| 2. Nebenserie | 430560 Rena ! 801.6
(| 4161.95 24027.2 S
— 1 ai Ber -_ er
Hauptserie N BIER re N 1691.1
| ! 4554.21 219577 |)
|
| 4166.24 24002.5 )
Ba \ 1. Nebenserie | 4130.88 24207-9 \ 1691.4
3891.97 0 | 256939 |
2. Nebenserie S | AIINE | 1690.9
u 4525.19 | 22098.5
l 7 Te DRITTE ae Are TIBNE
| £ 4682.36 21356.8
Hauptserie N Es | ee 4858.4
| 4436.49 22540.3
Ra 1. Nebenserie } 4340.83 | 23037-1 \ 4858.38
| 3649.75 | 27399.1 |
2. Nebenserie 5813.85 ee 4858.6
| | 4533-33 | 220589 |)
€. Russe und J. Preenr: Die magnetische Zerlegung der Radiumlinien. 419
Für jedes der fünf Elemente stimmen die Abstände der Com-
ponenten in den drei Linienpaaren, soweit die Genauigkeit der Messung
reicht, mit einander überein.
Schon diese Zusammenstellung zeigt die Gleichartigkeit der fünf
Speetren. Sie tritt indessen noch viel deutlicher hervor, wenn wir
die Zerlegungen der Linien im magnetischen Felde betrachten.
Die folgende Tabelle gibt die Zerlegung der Radiumlinien in der
Scala der Schwingungszahlen zusammen mit den Mitteln der Zerle-
gungen für die entsprechenden Linien der anderen Elemente nach den
Messungen von Russe und Pascnen. Alle Zerlegungen sind auf die
gleiche Feldstärke von 31000 ÜGS bezogen. Die Zahlen jeder Hori-
zontalreihe bezeichnen die Abstände der Componenten der betreffenden
Linie von ihrem gemeinsamen Schwerpunkt, gemessen in der Scala der
Schwingungszahlen.
Abstände der Componenten von ihrem Sehwerpunkt | O1 N der Scala der Schwingungs-
Wellenlänge in der Scala der Schwingungszahlen 108/A zahlen euere: in der Scala der
| ellenlängen:
I. Hauptserie und zweite Nebenserie.
Stärkere Componente.
Ra 3815 —2.36 —1.44 -—05I +051 +1,48 +2.33 0.015 A.
Ra En ) | De —1.36 —0.46 +0.48 +1.36 =. | 5 en A.
Mg, Ca, Sr, Bi Br N —0.44 Rn +1.37 +2.28
Schwächere Componente.
Ra 4682 —1.36 -—0.92 -+0.92 -+1.86 0.022 A.
Ra en nr ar = en —0.97 a +1.80 I | 0.021 A.
Mg, Ca, BR Er —0.94 -+0.94 -+1.82
II. Erste Nebenserie.
Ra 4436 | —2.05 —1.13 +1.09 +2.09 | 0.020 A.
Ba Be BER: IR —1.1I —0.78 FE +1.44 Ber |
Ra 4341 —1.53 0.00 +1.53 | 0,019 A.
Me, Ca. Saal ei 0.00 Be a
Ra 3650 | —1.28 0.00 -+1.27 0.013 A.
Mg, Ca, St Ba | 2 — IanT ++0.01 R +1.10 E
Bei der ersten Nebenserie ist die Zerlegung des Satelliten nicht
vollständig gelungen. Die beiden parallel zu den Kraftlinien schwin-
genden Componenten fliessen mit den benachbarten vier Componenten,
die senkrecht zu den Kraftlinien schwingen, zusammen. Jene sind
32*
420 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
Fig. 1.
FE 3815 In —/otorz ehe
ee Ra 5814 E Ta 10:0BAHN®
2
S.1Mg, Ca, Sr, Ba
®
2)
zZ +
Z | Ra 4682 Inn 10.022 AR
® IRa 4533 0.0270 A
Mg, Ca, Sr, Ba Basen
BE 4436 = = un: t + Inn — 0.020A,
ae; a8
Ba 4166 Er
+ E
Fe
iganasan “
Z|Ra 4341 : mm — 0,019 A.
a) Et
w
{7} + |
®& |Mg, Ca, Sr, Ba
© =
# =
EFEFE - + |
- N
Ra 3650 Baaanen, R mm. '0,013A. b |
Mg. Ca, Sr, Ba = j
aber kräftiger, und so gelingt es noch ihre Lage zu bestimmen. Es
würde möglich sein auch die senkrecht zu den Kraftlinien schwin-
genden Componenten vollständig zu erhalten, wenn man durch einen
Kalkspath die parallel schwingenden Componenten unterdrückte. Da-
durch wird indessen das Licht beträchtlich geschwächt, so dass eine
längere Exposition und damit eine grössere Menge Radium erforder-
C. Runge und J. Preenr: Die magnetische Zerlegung der Radiumlinien. 421
> > >
lich wird. Auch bei Caleium und Strontium haben RunsE und PAscHEn
die vollständige Zerlegung des Satelliten nicht erreichen können. Es
ist indessen kaum zu bezweifeln, dass die Zerlegung mit der bei der
Bariumlinie beobachteten identisch ist.
Wir glauben, dass in allen Fällen die Abweichungen der Zer-
legungen der Radiumlinien von den Zerlegungen der entsprechenden
Mg,Ca, Sr, Ba Linien den Beobachtungsfehlern zuzuschreiben sind. Man
erkennt aus der letzten Spalte der Tabelle, wie viel die Abweichung
beträgt, wenn man sie auf die Scala der Wellenlängen umrecehnet. Die
grösste Abweichung geht, wenn man sie ganz auf die Wellenlänge
der Radiumlinie wirft, nicht über 0.022 einer Angström’schen Einheit
hinaus, und bei der Unschärfe und Schwäche mancher der Componenten
halten wir Messungsfehler von dieser Grösse für erklärlich.
Die Figur ı stellt die Resultate der Tabelle anschaulich dar. Die
parallel den Kraftlinien schwingenden Componenten sind mit p be-
zeichnet. Man muss sich die einzelnen Componenten natürlich erheb-
lich breiter als die Linien der Zeichnung vorstellen. Die theoretische
Breite einer Linie, die physikalisch unendlich fein wäre, ist in der
ersten Ordnung unseres Gitters (und diese kam fast allein in Betracht)
gleich dem hunderttausendsten Theil der Wellenlänge. Nun kommt
aber hinzu, dass viele der Componenten eine sehr merkliche physi-
kalische Breite haben. Besonders breit sind z. B. die Componenten
von 3650, bei denen auch die grössten Abweichungen .beobachtet
worden sind.
Ausser den drei Linienpaaren sind noch einige Radiumlinien im
magnetischen Felde beobachtet worden. Vorallem schien es uns inter-
essant, festzustellen, ob die Hauptlinie der Bunsenflamme Ra 4826.12
dieselbe Zerlegung hat wie die Hauptbunsenflammenlinien von Ba,
Sr, Ca: Ba 5535.69, Sr4607.52, Ca4226.91.
Diese Vermuthung fand sich in der That bestätigt, wie die fol-
gende Tabelle zeigt:
Zerlegung in der Scala der Schwingungszahlen
Ra 4826 —1.39 0.00 +1.39 0.1 entspricht 0.023 A.E.
Ca, Sr, Ba —1.37 —0.01 +1.39
Endlich konnten noch die folgenden beiden Zerlegungen beob-
achtet werden:
Zerlegung in der Scala der Schwingungszahlen o.1 entspricht
Ra 5661 —1.55 +0.02 +1.53 0.032 A.E.
Ra 4699 —1.36 —0.02 +1.37 0.022 A.E.
Die Feldstärke betrug bei unseren Aufnahmen ungefähr 30000 ÜGS.
Die in der Tabelle angegebenen Zerlegungen sind aber auf die Feld-
422 Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
stärke von 31000 umgerechnet, um mit den auf diese Feldstärke be-
zogenen Zerlegungen der Mg, Ca, Sr, Ba Linien vergleichbar zu sein.
Gemessen wurde die Feldstärke bei unseren Aufnahmen durch die Zer-
legung der Bariumlinie 4554 und der beiden gelben Natriumlinien,
die gleichzeitig mit den Radiumlinien bei der Aufnahme erschienen.
Im übrigen waren die Apparate und die Anordnung des Versuchs die
gleichen, wie sie in der Arbeit über das Quecksilberspectrum von Runge
und Pascuen beschrieben sind.'
Schon die Anordnung der Hauptradiumlinien in drei Linienpaaren
gleichen Abstandes macht es wahrscheinlich, dass sie den Hauptlinien
von Mg, Ca, Sr, Ba homolog sind. Damit wollen wir sagen, dass jene
für Radium dieselbe Rolle spielen wie diese für Mg, Ca, Sr, Ba. Durch
den Beweis, dass die Hauptradiumlinien auch im magnetischen Felde
in derselben Weise aufgespalten werden wie die Hauptlinien dieser
Elemente, scheint uns die Homologie mit Sicherheit festgestellt zu sein.
Denn man muss bedenken, dass die beobachteten Typen der Zerle-
gungen charakteristische Typen sind, die in den Spectren dieser
Elemente nur bei den fraglichen Linien beobachtet worden sind.
Es liegt nahe, die homologen Linien daraufhin anzusehen, ob die
Schwingungszahlen in einfacher Weise als Function des Atomgewichts
betrachtet werden können. Wenn man die betreffenden Schwingungs-
zahlen für jedes der fünf Elemente durch Punkte einer Horizontalreihe
darstellt und die Horizontalreihen dabei dem Atomgewicht entsprechend
in verschiedenen Abständen zeichnet, so zwar, dass die Abseisse jedes
Punktes der Schwingungszahl, die Ordinate dem Atomgewicht pro-
portional ist, so sollte sich eine einfache Abhängigkeit vom Atomge-
wicht dadurch zeigen, dass die Punkte, welche homologen Linien ent-
sprechen, auf einer glatten Curve liegen. Das ist auch für die zweite
Nebenserie der Fall, während für die Hauptserie und erste Nebenserie
eine in die Augen fallende Regelmässigkeit nicht behauptet werden
kann. Wenn man dagegen nicht die Schwingungszahlen selbst, son-
dern die Differenzen je zweier Schwingungszahlen, die einem Linien-
paar entsprechen, als Function des Atomgewichts betrachtet, so tritt
sehr deutlich eine Regelmässigkeit hervor. Man kann sie durch eine
einfache empirische Formel zusammenfassen
Yy — (BOgE
wo y das Atomgewicht, x die Differenz der Schwingungszahlen und
ce und n Constanten sind. Wenn man statt w und y selbst die Loga-
rithmen dieser Grössen einführt, so kann man auch sagen, dass der
! Runge und Pascnen. Anhang zu den Abhandl. der Berl. Akad. 1902.
. . r . . . *)*
C. Runge und J. Preemwre: Die magnetische Zerlegung der Radiumlinien. 423
Logarithmus des Atomgewichts eine lineare Funetion des Logarithmus
des Abstandes der Linienpaare ist. Fig. 2 stellt den Zusammenhang
der Logarithmen graphisch dar.
Die Punkte für Mg, Ca, Sr, Ba liegen danach so genau in einer
Geraden, dass wir geneigt‘ sind, den Werth, welehen Madame Cvrıe
für das Atomgewicht von Radium gefunden hat, für zu klein zu halten.
Wir finden für eine Gerade, die sich so gut wie möglich an die ersten
vier Punkte anschliesst, die Formel
log y = 0.2005 + 0.5997 log «,
deren Werthe in der folgenden Tabelle mit den beobachteten Atom-
gewichten zusammengestellt sind:
‚ Abstand der
Linien bei den
Linienpaaren
Atomgewicht | Atomgewicht
berechnet beobachtet
Mg 91.7 23.84 24.36
Ca | 223.0 40.6 40.1
Sr 801.4 87.5 87.6
Ba 1691.1 136.9 137-4
Ra 4858.6 257.8 225
Der Werth 257.8, den die Formel für das Atomgewicht von Radium
liefert, ist ja allerdings extrapolirt; aber es erscheint uns der Anschluss
in den ersten vier Punkten zu gut, als dass eine so grosse Abweichung,
wie Madame Curıe's Werth sie verlangt, wahrscheinlich wäre. Dazu
kommt, dass bei der experimentellen Bestimmung des Atomgewichts
eine Verunreinigung des Präparates durch Elemente von geringerm
Atomgewicht nicht ausgeschlossen ist. Drmargay, der das Präparat
von Madame CvrıE speetroskopisch untersucht hat, führt in seiner
Liste zwei Linien als Radiumlinien auf, von denen wir sicher wissen,
dass sie schwache Bariumlinien sind." Er schreibt diesen beiden Linien
die beträchtlichen Intensitäten 5 und 7 zu. Diese beiden Linien haben
wir in einem uns von Hrn. Gieser gefälligst überlassenen Präparat
nicht gefunden. Daraus geht hervor, dass das von DrEmargaY unter-
suchte Präparat keineswegs rein war, wahrscheinlich nicht so rein
wie Gıeser’s letztes Präparat, das nach unserer Untersuchung auch noch
Barium enthielt.
Wie sich aber auch die Frage über das Atomgewicht entscheiden
mag, jedenfalls ist auch durch die speetroskopische Untersuchung mit
! Vergl. den demnächst in den Annalen der Physik erscheinenden Aufsatz der
Verlasser.
Gesammtsitzung vom 18. Februar 1904.
424
/ (soo A SPp Jus90ag Er = m!) SPpurIsgeuatug sop Snugumoor]
se 0's ST
HH
S
54
Logarithmus des Atomgewichts
o%
€. Runse und J. Precwr: Die magnetische Zerlegung der Radiumlinien. 425
Fig. 3.
aller Schärfe dargethan, dass das Radium der Gruppe der alkalischen
Erden zuzurechnen ist.
Wir fügen in Fig. 3 eine vergrösserte Abbildung der magnetischen
Zerlegung der Linie 5814 bei.
Ausgegeben am 3. März.
427
SITZUNGSBERICHTE iz
XI.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
25. Februar. Sitzung der philosophisch -historischen Classe.
Vorsitzender Secretar: Hr. Diers.
Hr. Erman las über die Sphinxstele.
Er besprach die Inschrift, die sich zwischen den Tatzen der grossen Sphinx
befindet und die uns berichtet, dass König Thutmosis IV. in Folge eines Traumes die
Sphinx habe vom Sande reinigen lassen. Der ungewöhnliche Ton der Erzählung und
ihre Orthographie machen es wahrscheinlich, dass sie erst in einer späteren Zeit
entstanden ist; vielleicht sollte sie eine zerstörte Inschrift des Königs ersetzen.
428 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 25. Februar 1904.
Die Sphinxstele.
Von ApoLr Erman.
Die ägyptische Geschichte ist ein so dürres Feld, daß jeder kleine
Zug, der etwas Leben und Farbe in sie bringt, uns doppelt willkommen
ist. So hat man denn auch die sogenannte Sphinxstele, als sie vor
nunmehr 28 Jahren von Brusscn übersetzt wurde, mit besonderer
Freude empfangen; sie ist eines der Paradestücke der Ägyptologie ge-
worden, das in jeder Darstellung der ägyptischen Geschichte vorge-
führt wird.
Eine wiederholte Beschäftigung mit diesem Denkmal hat mich aber
zu einer abweichenden Ansicht geführt, die ich hier darlegen möchte.
Ich gebe zunächst eine Übersetzung und kurze Erläuterung der
Inschrift: mein Text beruht auf der Kopie von Lersıs' und auf der
alten Kopie von Sarr, die in den Werken von Youns” und Perkins
und Vvse’ veröffentlicht ist und die noch Teile des Textes erhalten
hat, die schon zu Lersıus’ Zeit fehlten. Auch ein Abklatsch und eine
Photographie stand mir zur Verfügung. Trotzdem bleibt eine Revision
(besonders der Lücke in Zeile 6) erwünscht.
Datum.
(1I— 2.)
EB BE ENG NZ N
EEN en meer
ma
»Im Jahre ı, im dritten Monat der UÜberschwemmungszeit, am
16. Tage unter der Majestät des Horus, der starke Stier, der an Glanz
! LD. III, 68.
® Hieroglyphies pl. 80.
® Pyramids of Gizeh III, 114 ft.
Erman: Die Sphinxstele. 429
SE ‚ des Herrn der Kronen mit dauerndem Königtum wie Atum, des
Besiegers des Gegners, stark an Schwert, der die neun Völker besiegt, des
Königs von Ober- und Unterägypten Men-chepru-re, des Sohnes des
Re Thutmosis, der an Diademen(?) glänzende, der von ....... geliebt
wird, dem Leben, Dauer und Wohlsein gegeben ist gleichwie dem Re
ewiglich.«
Einleitung.
(2.)
Meere ZineTesi-g
ars Saiten
»Der gute Gott, der Sohn des Atum, der Schützer des Horus der
im Horizonte wohnt, das lebende Bild des Herrn des Alls, der Groß-
könig, der von Re erzeugt ist, der treffliche Erbe des Chepre, mit
schönem Antlitz wie sein Vater, der... . hervorkam, versehen mit der
Gestalt des Horus in seinem Haupte (sie).«
Le}
Das f in If nistein | zu verbessern.
Au
Die Lesung || & wird durch die Kopie von SALt SE
A
daß sie richtig ist, zeigt Totb. 78, 9 Na, 0 SINE a,
IN: Dann wird aber vor cz ® etwas fehlen, denn der Sinn
| wa
wird doch sein: »der geboren ward in der Gestalt des Horus [und
mit seinen Kronen] auf dem Haupte«. — Auch das Zwt ist mir
.. ” ” ” a .-
unverständlich, man ist versucht, es in N j zu ändern.
EN
(23.)
a lei Elze n
Seel 2 SR
»Der König von Ober- und Unterägypten, den die Götter [lieben?,
ein Herr?] der Beliebtheit bei den neun Göttern, der Heliopolis reinigt
und den Re befriedigt, der das Haus des Ptah herstellt, der die
Wahrheit dem Atum darbringt und sie dem Gott, der südlich von
4530 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 25. Februar 1904.
seiner Mauer wohnt, hinaufreicht, der (sich) ein Denkmal errichtet
durch tägliche Opfer für den Gott, der alles tut (sie) und Treffliches
sucht für die Götter von Ober- und Unterägypten, der ihre Tempel
baut aus Kalkstein und alle ihre Opfer verbessert. «
Daß Heliopolis und Memphis hier ausschließlich genannt sind, hat
seinen Grund natürlich darin, daß die Sphinx in der Nähe dieser beiden
Städte liegt.
Das —— 7 muß, wenn anders der Text in Ordnung ist, hier
bedeuten sollen: »(der alles (für die Götter) tut«, doch kann ich diese
Anwendung sonst nicht belegen.
Br)
ar. - Near ceigjit
»Der leibliche Sohn des Atum Thutmosis, der an Diademen(?) glän-
zende, gleichwie Re (sie), der Erbe des Horus und Inhaber seines Thrones
Men-chepru-re, der mit Leben beschenkt ist (sie).«
Daß der fünfte Name des Königs hier dem vierten vorangeht, ist
schon auffällig; noch seltsamer aber ist, daß der Verfertiger der In-
schrift den Zusatz, der am Schluß der Königstitulatur stehen muß,
das N zerrissen und verkehrt auf beide Namen verteilt hat. Diese
Verwirrung erklärt sich natürlich, wenn man annimmt, daß er für
diese Namen eine Vorlage hatte, auf dem sie so angeordnet waren,
wie dies in den Beischriften der Königsbilder üblich ist:
Das hat er dann gedankenlos kopiert, ohne zu merken, daß die Namen
von links zu lesen waren.
en
NAT ARAR MEI LU
VE TEL
ser
Ersan: Die Sphinxstele. 43
»Seine Majestät aber war ein Kind wie Horus der Knabe in Chem-
mis: seine Schönheit war wie die des Gottes, der seinen Vater schützte,
und er wurde gesehen (sie) wie der Gott selbst; die Soldaten jauchzten
aus Liebe zu ihm, die Königskinder und alle Großen (sie). Da über-
flutete ihn seine Kraft, und er wiederholte den Kreislauf seiner Stärke
(sie) wie der Sohn der Nut.«
N ‚Q. . r & En ANA
Der N rn wird Ar nhn oder Hr hrd zu lesen sein; vgl. N S)
ud "PS anna
— EN Br
AZ P.578; N._9 9 AP.428(=M6ı3 = N an))g Ale sXojıe
vgl. auch Mar., Karn. 16, 47."
p
u . q 5 | MI R
7 ist mir bedenklich und ebenso das } A | j | Dies
z | Kzurzı
VE
e | ce n Kar
letztere könnte man zwar zur Not so erklären, daß man en als
—
Verb dazu ereänzte, doch würde dann dem zweiten Verse immer noch
h =
das Gegenstück zu wm 3 mangeln:
Se
»die Soldaten jauchzten aus Liebe zu ihm
und die Königskinder und alle Großen [wegen seiner ..... |«
Wahrscheinlicher ist mir daher, daß der Text fehlerhaft ist.
Mit der ungewöhnlichen Verbalform wnArf hr... wird hier an-
gegeben, daß das königliche Kind schließlich heranwuchs und damit
reif wurde zu den im folgenden geschilderten Freuden des Jünglings-
alters. Aber die Worte, mit «denen der Verfasser der Inschrift dies
ausdrückt, sind ungewöhnlich: aus dem alten Worte (As el »über-
schwemmen«, das er gebraucht, möchte man schließen, daß er sie
irgendeinem alten religiösen Texte entnimmt. Und ein solches äußer-
liches Herübernehmen könnte auch das »er wiederholte den Kreis”
seiner Stärke« wie Osiris erklären, denn von Osiris, der wieder auf-
lebte, kann man wohl sagen, daß er aufs neue stark wurde, aber auf
einen heranwachsenden Knaben paßt es doch nicht.
ZZper NER) (mittleres Reich, Kairo 20539) ist natürlich auch Hr hrd nhn
(oder nhn hrd) zu lesen; die Ausdrücke zer) und N N x — Bi kann ich nur
\ I
D
aus späten Texten belegen. Ganz jung ist natürlich Fi “APTIOKPÄTHC.
® Der Ausdruck wAm sn ist von dem Lauf der Sonne hergenommen (zZ. B.
Edfou ed. Rocuzmonteix 1 417; Perrıe, Koptos 2ob 3); er wird aber auch über-
tragen für »erneuern« gebraucht, z.B. »ich stellte her, was in Koptos zerstört war
X Nm 88a
I l os —#tlo] und wiederholte ihm den Kreislauf aller seiner
Buzz |
Sachen in richtiger Weise« (a.a. O. 20a 16).
432 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 25. Februar 1904.
(5—-6.)
ZU AN Feel
ENTE in!
Verzi Znil? | Be u El
»Er tat aber etwas, das ihn vergnügte, in der Wüste von Memphis
auf ihrer südlichen und nördlichen Seite, indem er mit Speeren(?) nach
der Scheibe(?) warf und Löwen und das Wild der Wüste jagte und sich
auf seinem Wagen erging, indem seine Pferde schneller waren als der
Wind, zusammen mit dem einen und dem anderen (?) von seinen Dienern,
und kein Mensch wußte es.«
nl IN ist ein seltenes altes Wort, das etwa »Tat« bedeutet;
vgl. WASIZ jede gute Tat (Rec. XI. 159, nach «dem Original),
IC \ »diese große Tat« (Grab des Sabni in Elephan-
tine); ich rechte die Stelle etwa als m [r] sd>-Ar »eine Tat des
Sichvergnügens« fassen.
In wit! ist wu als ” aufzufassen.
a |
Das Wort Ab(?), das »Scheibe« oder »Ziel« bezeichnen muß, kenne
ich sonst nicht.
(SE)
MBIT EM. Ra—
g
a AR [A Ha
ee >
Ve cX oz
| EN Be SUN EN f=\ N ® =
AN FERPI FT Teien
avatgL Zen N—ot- ®
»Es trat aber seine Stunde ein, wo er seinen Dienern Ruhe gab
an der erlesenen (Stätte?) des Harmachis, neben dem Sokaris von Ro-
seta=und Renutet nee ee a ER und
Sechmet ................, an dieser herrlichen Stätte der Urzeit,
in der Gegend der Herren von Babylon und des heiligen Weges der
Götter zur westlichen Nekropole von Heliopolis.«
Erman: Die Sphinxstele. 433
Die Stelle führt, ebenso wie die vorhergehenden und wie die
folgende, einleitend einen der Umstände an, unter denen die eigent-
liche Erzählung sich abspielte und ist wie üblich mit IN eingeleitet
(Gramm. ? $ 347); der Sinn ist also: er pflegte die Diener immer neben
der Sphinx schlafen zu lassen. Was soll dann aber das m: das doch,
so wie sonst, »geschah, trat ein« bedeuten wird?' Man muß wohl an-
nehmen, daß »seine Stunde der Ruhe trat ein« an der Stätte des Har-
machis bedeuten soll: sie »trat jedesmal dort ein«, was freilich unklar
genug ausgedrückt wäre.
In dem Ausdruck »die auserlesene des Harmachis« vermißt man
ein Substantiv. Die Aufzählung der Götter, (deren Lesung nicht überall
feststeht, mag im einzelnen auf sich beruhen; es sind natürlich alle
die großen und kleinen Gottheiten, die in der Nähe der Sphinx
irgendeine heilige Stätte hatten. Den Reigen eröffnet, wie billig,
der Sokaris, dessen berühmtes Heiligtum Roseta ja unmittelbar neben
der Sphinx lag”; daß von all den Göttern, die im Tempel der »Py-
ramidenherrscherin« Isis neben der großen Pyramide verehrt wurden,
keiner hier genannt ist, ist auffallend.
Des weiteren ist die Stätte noch dadurch geheiligt, daß auch
jenseits des Niles (freilich in 9 km Entfernung) Gottheiten — die von
Babylon — wohnen und endlich führt der »Gottesweg der Götter
zum westlichen Horizonte von Heliopolis« an der Sphinx vorbei.
Diese letztere Bemerkung, die auf einem der Fragmente der letzten
Zeilen wiederkehrt, ist übrigens sehr merkwürdig; man kann sie
nicht wohl anders verstehen, als daß Giseh als eine der Metropolen
von Heliopolis angesehen wurde trotz der 22km, die beide Orte von
einander abliegen.”
(7—8.)
ne x sie
a — a LI um <> Il
' Man möchte fast vermuten, daß ein Nachsatz ausgefallen ist: »Trat aber
seine Stunde ein, wo er seinen Dienern Ruhe gab. [so begab er sich] zu der Stätte
des Harmachis.«
® Daß der sogenannte Sphinx- oder Granittempel zu dieser heiligsten Stätte ge-
hört, hat schon MarırrrE gesehen (MArıerrE, Le serapeum de Memphis, publie par
G. Maspero, I p. 99 und 100).
® Von Memphis, zu dem man Giseh gewöhnlich rechnet, liegt es freilich kaum
weniger weit ab.
Sitzungsberichte 1904. 33
434 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 25. Februar 1904.
Ei RA elle Ne
een 2,
—_ seliz
Amann u
»Das sehr große Bild des Chepre ruht aber an dieser Stelle, groß
an Macht und herrlich an Kraft, über dem der Schatten des Re
schwebt; die Häuser von Memphis kommen zu ihm und alle Ort-
schaften auf seinen beiden Seiten, indem ihre Hände es preisen, (be-
laden) mit großen Spenden für es.«
Der »Schatten« des Re, der über der Sphinx schwebt, ist wohl
nur ein Ausdruck dafür, daß das Bild von dem Gotte beseelt ist.
Die Stelle charakterisiert die Sphinx als ein heiliges Wesen von
lokaler Bedeutung; Memphis und die Dörfer, die nördlich und süd-
lich von Giseh liegen, verehren sie. Was ist aber mit den Ir von
Memphis gemeint?
Erzählung.
(89.)
EHER F EMI RAT
en FRrRZ> ES 0 _NI a we = Sr An
{ () mem Aug IN N ANAANA ANANAN > 2 AANMN
— I RO IRTIIISER O a Imm Sf gen
@ = Bu:
& mzı: a VAR ER DO an?
XIDI— un \ Ann —h
N r | re IN ; | FEN |
=: = 0 l a 8 ? |
f=\ vg Wet S eg
111m | =. 20 F Bla —> —
»Einen von diesen Tagen geschah es: der Prinz Thutmosis kam
und erging sich zur Mittagszeit. Er setzte sich in den Schatten dieses
großen Gottes, und der Schlaf und der Schlummer ergriffen ihn zu
der Stunde, wo die Sonne im Scheitel steht, und er bemerkte, wie
die Majestät dieses herrlichen Gottes mit seinem eigenen Munde redete,
so wie ein Vater vor seinem Sohne redet:«
Die hier beginnende eigentliche Erzählung wird mit einer Phrase
eingeführt, wie sie sonst in den Märchen am Anfang neuer Abschnitte
üblich ist.
Nach dem Wortlaut müßte man die Stelle dahin verstehen, daß
der Prinz erst am Mittag seine Spazierfahrt begann, nach dem aber,
was vorher über die Gewohnheiten des Prinzen gesagt ist, wird wohl
ı u ‚
Erxan: Die Sphinxzstele. 435
gemeint sein, daß der Prinz, der den Morgen gejagt hatte, um Mittag
Rast machte. Der Verfasser der Inschrift zeigt sich ja auch sonst als
ein mangelhafter Stilist.
u
= a ü ee E =
Bei on o ist natürlich das in N zu verbessern: auch die
Er
Pluralstriche in |, = sind unrichtig.
' (9—10.)
a Ze SS IE) RE en
Bio =——}- ee
MAIER Ra Te jf> 2
(up BE \\) Ös 0
A BE — um OU SZ
\ IF Nını
4
»Sieh mich an, blicke mich an. mein Sohn Thutmosis. Ich bin
»dein Vater Harmachis-Chepre-Re-Atum, (ich) gebe dir mein König-
»tum auf Erden an der Spitze der Lebenden. Du wirst die ober-
»ägyptische und die unterägyptische Krone tragen auf dem Throne
»des Keb, des Erbfürsten. Dir gehört die Erde in ihrer Länge und
»ihrer Breite, was (immer) das Auge des Herrn des Alls erleuchtet.
»Zu dir (kommen) die Nahrung Agyptens und die großen Gaben aller
»Länder.«
Statt __o wird N für N zu lesen sein. Auch daß Geb nur
DO heißt, ist auffallend: sein richtiger Titel ist am Der Aus-
ne = Ba,
druck DB ist mir so nicht bekannt: daß er Agypten bezeichnen soll,
ist aber klar.
(10— 12.)
IR
MER STTENNIF-IIN
year re
SEHE ÜMZSFT-ENE
33°
436 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 25. Februar 1904.
»Mein Leben währt (schon) eine lange Zeit an Jahren. Mein
Antlitz ist dir zugewendet, und mein Wunsch steht nach dir: du
sollst mir ein Schützer meines Wesens sein, denn(?) ich bin in einem
Leiden aller meiner erlesenen(?) Glieder. Mir naht der Sand dieser
Wüste, auf welcher ich mich befinde. Eile zu mir, damit du tuest,
was ich wünschte, indem ich wußte, daß du mein Sohn und mein
Schützer sein würdest. Tritt(?) heran; siehe, ich bin mit dir; ich
bin dein Führer. «
Haben die beiden ersten Sätze einen inneren Zusammenhang?
Für Zwk nj mk wird twk ny|r|mk ‘zu lesen sein, vgl. wfr »er wird
etwas sein«, Gramm. ? $ 269. Ob ich das vieldeutige $Ar richtig
wiedergebe, stehe dahin.
a, = N liegt die eigentümliche Konstruktion
EN ==>
vor, der wir auch noch im Koptischen begegnen: man knüpft den
Relativsatz nieht an ein Substantiv, dem das Demonstrativ vorher-
geht, sondern läßt das Demonstrativ dem Substantiv wie eine Apposi-
tion folgen und hängt den Relativsatz an das Demonstrativ: »die
Wüste, diese, in welcher ich bin«.
mm
Für die perfektische Relativform = J ist die imperfektische
NW
nm
a N) zu I
Wenn statt a hier = I steht, so mag dies
SIE
WVVvw\
wn vielleicht die V nen ausdrücken: »was schon (seit lange)
in meinem Herzen war«.
Statt des verschriebenen RR A wird : \ N zu lesen sein,
was freilich auch eine ungewöhnliche Schreibung von $% wäre.
(172 —T3.)
A Ö | GVGD
== — &=1GGD77
= SE II ee Sl DRGGG
S
a) Baar SS on EI e Desk I RREEN
I ni ee
Si NE
et 1 I RUN G 39000
| lei SIR 3 9
DT, GG > =
DT CAT —Z
1199::: 79 » > num Lea
rr%#% 7EBE ya
Erman: Die Sphinxstele. 437
»Nachdem er dieses Wort vollendet hatte, da erwachte (?) dieser
Prinz, weil (??) er dieses hörte..... und er wußte die Worte dieses
Gottes und er legte Schweigen in sein Herz. Er sagte: »Kommt,
laßt uns zu unserm Haus in der Stadt eilen, damit wir (?) diesem Gotte
ein Opfer darbringen, damit wir(?) ihm Ochsen, Früchte (?) und alle
Blumen bringen, damit wir den Wennofre (?) preisen.............
Chephren, ein Bild (?) gemacht für (?) Atum Harmachis..... «
An der hier gegebenen Auffassung der beiden ersten Sätze kann
man wohl nicht zweifeln, doch erwartet man nach gewöhnlichem
Sprachgebrauch (Gramm.? $ 212), daß der Satz mit der »-Form hinter
dem anderen stehen solle.!
Die Lesung dieses Schlusses beruht meist nur auf der alten Kopie
und ist unsicher: das gu gibt PERRING und Vyse.
»Unser Haus der Stadt« soll wohl heißen, daß der Prinz in
Memphis oder in einer andern Stadt der Gegend lebte.
Statt © mm lies O I oder vielmehr, da Aw keinen Sinn gibt,
K—a 1 K-ı ı ı
N NWVM MM
I wm und ebenso I für In;
& g! [| all (a
Die Ergänzung ly empfiehlt sich scheinbar, was soll aber
der Osiris hier statt des Harmachis?
Gern wüßte man, in welchem Zusammenhange König Chephren
hier erwähnt war. Vielleicht war er nur genannt, weil seine Pyramide
gerade hinter der Sphinx und in ihrer Richtung liegt, als gehöre die
Sphinx zu ihr.
Einzelne kleine Bruchstücke sind uns noch von dem fehlenden
Ende der Inschrift erhalten. Dabei wieder wie schon oben
ZB N
».... des Chepre in der westlichen Nekropole von Heliopolis, in... .«
Drei andere
zoo Ing
"ZM\Mı ı ıO IZ
NS NG
» IS 1} 17
nal
könnte man unter anderm auf Stiftung von Opfern beziehen wollen.
EA Ä 5
! Diese Stellung kommt auch sonst vereinzelt vor, vgl.
wm Awvm Iamm SZ>
[=\ BSD | : TE
num SI = I | »„nachdem dieser Gott alles, was er wollte, mit ihr getan
RZ —— Uamen vum
hatte, so sagte Amon usw.« (Navırze, Derelbahri, pl.47 = GAveEr, Louxor, pl. 79).
438 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 25. Februar 1904.
Ägyptische Königsinschriften haben bekanntlich nichts von der
Sachlichkeit, die anderswo für Texte offizieller Herkunft gebräuchlich
ist. Sie sind fast immer poetisch gehalten in Form und Inhalt, und
wir wandeln in ihnen nicht auf dem Boden der Wirklichkeit. Sie
spielen in einer höheren Welt, in der der König und die Götter mit-
einander verkehren und einander das Beste antun; die profane Welt
der Menschen verschwindet von dem hohen Standpunkt dieser Dich-
tung aus fast ganz oder tritt doch nur als Folie der Handlung auf,
die zwischen Gott und Herrscher sich abspielt. Man lese z. B. die
Turiner Inschrift des Haremheb, die ja auch ebenso wie die Sphinx-
stele uns die Vorgeschichte eines Königs erzählt. Sie hatte dabei
allerlei Menschliches von ihrem Helden zu berichten, seine Tätigkeit
als Beamter, sein Wirken am Hof eines früheren Herrschers, einen
Zug nach Oberägypten, der ihm die Krone verschaffte, die Heirat
mit einer Prinzessin des alten Hauses, und doch ist das alles so ver-
göttlicht, wenn ich so sagen darf, daß nirgends die rohen Tatsachen
hervortreten; sie bewegt sich nur in Andeutungen und allgemeinen
Wendungen, die alles verdecken und verklären.
Somit wird ein König, der auf einen Traum hin ein altes Heilig-
tum wiederherstellt, dies etwa so der Nachwelt verkünden: »Du
mein Vater der Gott hast mich erzogen usw.:; ich will es dir ver-
gelten usw.; du bist mir einst im Traume erschienen, als ich neben
deinem großen Bilde ruhte, und du hast mir gesagt: reinige mich
von dem Sande usw.; ich aber bin ein Sohn, der nicht vergißt, was
ihm sein Vater gesagt hat usw.« Oder er kann auch (es ist dies
ein anderes Schema solcher Texte) so berichten: »seine Majestät saß
auf dem Throne usw.; er berief seine Beamten und sagte ihnen:
mein Vater Harmachis hat mir gesagt usw.; nun geht und vollendet
das Werk, das ich für meinen Vater machen will usw.« Immer würde
in diesen Inschriften das Gewicht auf die Reden des Gottes und des
Königs gelegt sein und das irdische Nebenwerk würde nur im Hinter-
grunde auftreten. Daß der Gott geredet hat, ist das Wesentliche, das wie
und wann und wo ist eine Nebensache, deren breitere Erörterung den
heiligen Vorgang nur herabziehen kann. Und nun sehe man, wie unsere
Sphinxstele ihrerseits erzählt. Während sonst der gefeierte Gott, wie
es sich gehört, als eine gegebene Größe eingeführt wird, erzählt uns
der Verfasser dieser Inschrift erst breit, daß ein solches heiliges Wesen
bei Memphis liegt, und zählt uns dazu auf, wieviel andere Götter in
der Nähe dieser Stätte hausen. Des längeren wird uns erzählt, wie
der König als Prinz sich auf der Jagd vergnügt hat, und sogar die
Diener, die ihn dabei begleiten, werden uns nicht erlassen. Auch
das erfahren wir, daß er diesem Sport nur im geheimen huldigte,
Erman: Die Sphinxstele. 439
und gut bürgerlich klingt es, wenn der künftige Pharao sagt: wir
wollen »zu unserm Hause in der Stadt« zurückkehren."
Wäre die Sphinxstele die Dedikation eines beliebigen Mannes,
so könnte man dies sich vielleicht als private Geschmacklosigkeit er-
klären. Aber die Inschrift kann ja doch nur als ein offizielles Denk-
mal angesehen werden, das auf den besonderen Befehl des Herrschers
errichtet ist, um ein persönliches Gelübde desselben zu erfüllen und
da ist dieser Ton wirklich sehr auffallend. Der Erzählung fehlt die
Erhabenheit und Würde, die solehe Texte sonst haben, und dafür
hat sie einen novellistischen, etwas kindlichen Charakter.
Auch an einigen Punkten des Inhalts könnte man Anstoß nehmen.
Der Prinz soll bei Memphis Löwen gejagt haben — hat es die wirk-
lieh noch im fünfzehnten Jahrhundert bei Memphis gegeben? Und war
die Stätte der großen Sphinx, unmittelbar an dem heiligen Roseta, wo
es doch gewiß nicht an Priestern gefehlt haben wird, wirklich eine
Stelle, die sich ein jagender Prinz zum täglichen Ruheplatz wählen
konnte?
Und weiter: erzählen offizielle ägyptische Inschriften wirklich so
ungeschickt, wie wir das oben wiederholt in unserer Inschrift bemerkt
haben? Was für eine Unbeholfenheit auch im Bau des ganzen Textes,
mit seiner endlosen Exposition in vier gleichgebauten Sätzen:
Der König ı. er war aber ein Kind usw.
Da wurde er stark.
DL
er jagte aber immer da und da usw.
3. er ruhte aber immer bei der heiligen Stätte
aus USW.
4. da befindet sich aber die Sphinx.
Einen von diesen Tagen geschah es: der Prinz kam und schlief
ein usw.
Ich kann nicht umhin, dies alles bedenklich genug zu finden und
habe mich daher seit langem gefragt, ob diese Inschrift, die so aus
dem Rahmen der andern offiziellen Texte herausfällt, nicht etwa ein
späteres Fabrikat ist, ähnlich der bekannten, einst viel berühmten Ben-
treschstele, deren späte Entstehung heute von niemand mehr bezweifelt
! Es wird wohl niemand dem entgegenhalten wollen, daß auf dem Fraserschen
Skarabäus ja doch auch eine Jagd Amenophis’ II. erzählt werde. Dort bildet die
merkwürdige Jagd eben den Gegenstand, den das kleine Denkmal verewigen soll,
während sie auf der Sphinxstele ein Nebenwerk ist.
440 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 25. Februar 1904.
wird. Auch die HH. BreAstep und Serne haben schon solche Zweifel
gehegt, wie ich freundlichen Mitteilungen derselben entnehme. Jeden-
falls wird man diese Inschrift nur dann für alt halten wollen, wenn
dieses Alter sich mit anderen Gründen belegen läßt und wenn sie sich
in anderer Beziehung als tadellos erweist. Dem ist aber nicht so,
vielmehr spricht auch ein anderes wesentliches Kriterium gegen sie,
ihre Orthographie. Die Rechtschreibung des neuen Reiches ist freilich
schon buntscheckig genug, und wer sich die Mühe nicht verdrießen
läßt, in den Inschriften des neuen Reiches nach ungewöhnlichen Schrei-
bungen zu suchen, wird so manches darin finden, was sonst nur in
älterer oder in späterer Zeit vorkommt. Auf vereinzelte Sonderbar-
keiten, die in einem Texte vorkommen, wird man daher noch nicht
viel geben. Aber in unserer Inschrift treten die wunderlichen Schrei-
bungen denn doch zu zahlreich auf, als daß sie nicht einen beson-
deren Grund haben müßten. Man vergleiche':
N (253.712) für |, eine uralte Schreibung, die im neuen Reich,
soviel ich weiß. nur in den Texten von Derelbahri vorkommt, die
überhaupt archaisch schreiben. Desto häufiger ist diese Schreibung in
saitischer Zeit.
N INES (Z. 5) statt KAN altertümlich.
| Di
on (Z. 2) Nor (Z. 3) statt o% 15% Derartige Schreibungen
kommen im neuen Reich nur vereinzelt vor (Rec. de trav. XII, 106,
4.17; Derelbahri 19; 37), während sie in saitischen Texten gewöhn-
lich sind.
<e— .. . ”
N © (Z.3) so überhaupt nicht nachzuweisen; auch N#-
=]
.—
findet sich nur in ganz späten Texten.
(227), Sur ENG | ‚ Ist im neuen Reich ungewöhnlich;
!
nur in einer unpublizierten Inschrift des Sethostempels von Abydos
steht JE
A und? (Z. 2.7) zur Schreibung eines Wortes für »Bild«
EN
(hntj(?), twt(?)) ist überhaupt nicht nachzuweisen und wohl eine will-
kürliche Spielerei.
Pa für AR kommt sonst nirgends vor.
mn
! Für das Folgende ist das Material des Wörterbuches benutzt.
Erman: Die Sphinxstele. 44]
Dv anstatt = in walk! (Z. 5) und u (ib.) ist alter-
tümlich; das letztere findet sich so geschrieben im Kagemnigrab und
in Berscheh (1 7; I 19).
(arr << . . ” .. ”
—_n(2.9. 13) für 40 oder ist im neuen Reich ungewöhnlich.
an
oO (Z. 10) statt o»o, s ist im neuen Reich unge-
wöhnlich.
| = als Infinitiv (2.9) und als singularisches Substantiv (Z. 12)
I 1 n
ist barbarisch.
= (Z. 6) statt ee en. ist für das neue Reich ganz ungewöhnlich.
Auffällig sind auch die starken Abkürzungen in a Ger!
(Z. 7).
Man wird also die Orthographie dieses Textes als eine sehr un-
regelmäßige bezeichnen müssen, die sich in der Einmischung archai-
sierender und barbarischer Schreibungen schon der Weise der saiti-
schen Zeit nähert.
Angesichts dieses Befundes schwindet nach meinem Gefühle die
Möglichkeit, daß die Sphinxstele ein gleichzeitiges Denkmal des vierten
Thutmosis sei, fast ganz; ein Versuch, sie zu retten, müßte schon von
sehr unnatürlichen Annahmen ausgehen. Und wem es bedenklich er-
scheinen mag, ein so großartiges Denkmal dem Herrscher abzusprechen,
dessen Namen es verewigt, der sei daran erinnert, daß das Präch-
tige daran, der gewaltige Steinblock, überhaupt nicht ihm zu eigen
angehört, denn der ist, wie Petrie gesehen hat, einfach den Ruinen
der Nähe entnommen; es ist ein Türblock des Tempels vor der
zweiten Pyramide. Und auch sonst ist die Herrlichkeit der Sphinx-
stele nicht so groß, wie sie auf den ersten Blick erscheint; sie ist
ohne Sorgfalt gearbeitet und hat einen Überfluß an Schreibfehlern,
wie man ihn in einem guten offiziellen Denkmal sonst nicht findet.
Man vergleiche nur z. B.:
NE IE
le)
UN für 92 (7.5)
5, für m]]] 10
Ra für NIa (Z.11)
442 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 25. Februar 1904.
©
; für (27221)
k— N (M]
ws für ; (Ze12))
I allel
Zi den
us für Be (Z. 13)
und vor allem die wunderliche Umkehrung der beiden Königsnamen
und die Zerreißung ihres Attributes, die oben zu Z. 3—4 be-
sprochen ist.
Sieht man sich dann weiter die Stelle an, wo die Sphinxstele
gefunden ist, so findet man, daß sie die Rückwand einer kleinen
Kapelle bildet, die hinten zwischen den Tatzen der Sphinx steht.
MARIETTE hat angenommen, daß dieses kleine Gebäude aus griechisch-
römischer Zeit stamme und daß die Inschrift ursprünglich an einer
anderen Stelle gestanden habe; vermutlich haben die Löwen, Altäre
und Inschriften, die in römischer Zeit dazugetan sind, ihn zu diesem
Urteil veranlaßt. Ich sehe, soweit ich von hier aus urteilen kann,
keinen Grund dazu, diese Kapelle selbst für so spät zu halten. Im
Gegenteil, wer die Sphinxstele betrachtet, wird es wahrscheinlich
finden, daß sie für diese Stelle von Anfang an bestimmt gewesen ist;
hat man doch die Stelenform nur im Relief auf ihr angedeutet, um
so dem Steinblock seine viereckige Gestalt zu belassen, die eben nötig
war, da er die Rückwand der Kapelle bilden sollte. Ist aber diese
Beobachtung, daß die Sphinxstele von Anfang an an dieser Stelle ge-
standen hat und für sie gearbeitet ist, richtig, so kommen wir auch
in ihrer Datierung weiter. Denn als man diese Kapelle errichtete,
da nahm man zu ihren Seitenwänden zwei Oberteile von Denkmälern
Ramses’ II., die von Arbeiten desselben bei der Sphinx (die ja auch
sonst beglaubigt sind)', herrührten. Die Sphinxstele würde also um
ein beträchtliches jünger sein als die Zeit Ramses’ II.
Fassen wir alles zusammen, so gewinnen wir etwa folgendes Bild
des wahrscheinlichen Hergangs. Die Sphinx war einst ein natürlicher
Fels gewesen, der: von weitem wie eine liegende Sphinx aussah, ein
Fels, wie sie sich in diesen Wüsten öfters finden. Dann hatte ein
alter König, vielleicht Chephren, der Erbauer der benachbarten Pyra-
mide, dieser Ähnlichkeit nachgeholfen, indem er ihren Zacken zu einem
Königskopfe gestaltete und sie zu seinem Bilde machte. Längst war
diese Entstehung vergessen, und im neuen Reiche galt die Sphinx
! Ein Bruchstück des Bartes trägt seinen Namen.
Erman: Die Sphinxstele. 443
den Leuten der Umgegend schon als ein Bild des Sonnengottes, des
Harmachis N ©’. wie sie ihn mit einer vulgären Namensform' be-
nannten. Damals haben dann auch verschiedene Könige und Privat-
leute etwas für diesen Harmachis getan, haben ihn vom Sand ge-
reinigt und haben allerlei Denkmäler neben seinem Bilde hinterlassen.
Auch eine spätere Zeit hat sich des armen, immer wieder ver-
sandeten Gottes angenommen und hat ihm unter anderem die kleine
Kapelle zwischen seinen Tatzen gebaut. Dabei hat man verwendet,
was von alten Denkmälern vorhanden war, die den Ruhm des Har-
machis bei früheren Königen belegen konnten. Für Ramses II. fand
man zwei Fragmente vor, die man ohne weiteres benutzen konnte.
Auch für Thutmosis IV. wird ein Bruchstück vorgelegen haben,
denn wo sollte der Verfertiger unserer Stele sonst sein
hergenommen haben, das wir oben (S.430) als eine Vor-
lage von ihm erkannt haben. Aber im übrigen mag dieses
Denkmal zu sehr zerstört gewesen sein, als daß man es
noch hätte als ältesten Beleg für den Kultus des Har- Na:
machis verwenden können, und so hat man dann statt
seiner ein neues Denkmal des vierten Thutmosis gemacht und hat es
so schön gemacht, wie es nur irgend möglich war, d. h. aus einem
Granitblock, den man nicht weit zu suchen brauchte, und mit einem
Inhalt, wie er einer solehen Stelle würdig schien. Man hielt sich
dabei an den Stil der Märchen, in denen man sich ja die alte
Geschichte zu überliefern pflegte. Daher der Traum des Prinzen, da-
her die Jagd auf Löwen, daher die Diener, die ihn begleiten und
die nur dazu da sind, damit das Ruhebedürfnis motiviert werden kann.
Daher auch die schöne Bemerkung, daß niemand von dieser Tätigkeit
des Prinzen etwas wußte, eine Bemerkung, die die Geschichte geheim-
nisvoller erscheinen läßt, die sonst aber keinen vernünftigen Zweck
hat. Und daher endlich auch die Phrase »einen von diesen Tagen
geschah es«, die zu den gewöhnlichen Wendungen der Märchen ge-
hörte. Man möchte fast glauben, daß dem Verfertiger der Stele wirk-
lich ein Märchen dieses Inhalts vorlag, das er zur Herstellung seiner
Inschrift benutzte.
— ee e e — U
I N Harmachis ist ein Name wie Amenemope | —| (d; das m
833 9%) WM =
dieser Formen mag etwa die tonlose Form von + sein. Harmachis ist immer
nur der Name der großen Sphinx; wenn wir uns angewöhnt haben, den Namen des
>)
alten >, des »horizontischen Horus«, so zu lesen, so ist das ein Irrtum, den wir
endlich aufgeben sollten.
444 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 25. Februar 1904.
Unsere Sphinxstele wäre demnach als eine restituierte Inschrift
anzusehen, freilich aber als eine willkürliche und freie Restitution.
Die Zeit, in der sie verfertigt ist, kann man nicht genauer bestimmen;
sie wird jedenfalls nicht jünger sein als die saitische Zeit, sie könnte
eber auch wohl in die 21. oder 22. Dynastie gehören.
445
Das Berliner Fragment des Müsä Ibn "Ukba.
Ein Beitrag zur Kenntniss der ältesten arabischen
Geschichtslitteratur.
Von EpuArD SAcHArv.
(Vorgetragen am 10. December 1903 [s. Jahrg. 1903 S. 1099].)
Hierzu Taf. IV.
D:. Handschrift der Königlichen Bibliothek in Berlin, Prrermasn II. 30
birgt neben minderwerthigen Schreibereien einen litterarischen Schatz,
den man vielleicht längst gehoben hätte, wenn nicht seine äussere
Hülle angethan wäre, bei erster Bekanntschaft den Zweifel zu erregen,
ob die aufzuwendende Zeit und Arbeit dem zu erhoffenden Gewinn
entsprechen werde. Wir meinen die gebräunten, am oberen Rande
abgegriffenen letzten vier Blätter dieses Saramelbandes, eine Art nach-
lässig hingeworfenes Collegheft eines in Damascus lebenden Gelehrten
des 14. christlichen Jahrhunderts, das uns die ältesten bisher bekann-
ten Reste der arabischen Geschichtsschreibung erhalten hat, neunzehn
Excerpte aus dem Maghäzi-Buche des Müsä Ibn "Ukba. Sein ungefähr
hundert Jahre nach Muhammed’s Tod in Medina, dem Stammsitze der
islamischen Geschichtswissenschaft, gesammeltes, gross angelegtes Werk
über den Ursprung des Islams und seine Entwickelung bis über den
Tod seines Gründers hinaus war den Gelehrten der ältesten Abbasiden-
zeit in Küfa und Bagdad wohl bekannt, wurde von ihnen als das
beste und zuverlässigste seiner Art gepriesen, ist aber seitdem der
Vernichtung der Zeiten anheimgefallen, wenigstens bis auf den heu-
tigen Tag nicht aufgefunden worden.'
! Verzeichniss der arabischen Handschriften von W. Aurtwarpr II, S. 248,
Nr. 1554. A. Sprenger, Das Leben und die Lehre des Mohammed, III, S. LXVII,
CXIII; derselbe in Journal of the Asiatic Society of Bengal, XXV (1856), S. 218.
SPRENGER hat besondere Nachforschungen nach dem Werke Müsä’s, auch in Mekka
und Medina, anstellen lassen. Ferner WüsrenreLp, Die Geschichtsschreiber der
Araber, Nr. 21 und C. BrockeLmann, Geschichte der arabischen Litteratur I, S. 134.
A446 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 25. Febr. 1904. — Mittheil. v. 10. Dec. 1903.
Muüsä ist älter als Ibn Ishäk, dessen durch Ibn Hisam redigir-
tes und verschlechtertes Werk zur Zeit für uns das älteste erhaltene
Denkmal der islamischen Geschichtsschreibung ist. Müsä ist 141 der
Flucht, Ibn Ishäk ı50 gestorben. Der Kerntheil von Müsä’s Leben
fällt in die Periode der unbestreitbaren Suprematie des Omajjadischen
Chalifats von Damascus, wo die frommen Männer in Medina nicht
mehr daran denken konnten, wie in den Tagen der Harra-Schlacht
mit den Waffen den verhassten Usurpatoren aus dem Geschlechte Abü
Sufjän’s entgegenzutreten, vielmehr sich darauf beschränken mussten,
in frommer Andacht, Studium und Unterricht das heilige Feuer des
Islams zu pflegen und zu erhalten. Nur die letzten sechs Jahre von
Müsä’s Leben ragen noch in die Abbasidische Periode hinein; er darf
aber als völlig frei von Einflüssen der Abbasiden angesehen werden,
während Ibn Ishäk auf Veranlassung des zweiten Chalifen aus dieser
Dynastie sein Werk abgefasst hat.
Die biographische Notiz von Dhahabi s. bei A. Fischer, Neue Auszüge u. s. w.
ZDMG. 44, 436—438. Der Artikel bei Nawawi. Biographical dietionary, S. 582 ist
ein Auszug aus der Notiz von Mukaddasi, die wir hier aus Lannsere 35, Bl. 134 b
(Handschrift der Königl. Bibliothek) folgen lassen:
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as ll za a de ul do a, al a I u al
ac
Der Rest ist entbehrlich, weil er nur bekanntes enthält. Der Neffe Müsä’s,
Ismäfil Ibn Ibrähim Ibn “Ukba, soll den Beinamen aa geführt haben (Täg-al’arüs
VI, 423), der in anderen Quellen wie der Tuhfa (Prrermann II, 328), vermuthlich
irrthümlich, auch auf Müsä und seine Brüder übertragen ist (statt des Stammesnamens
Sa).
Sıcnau: Das Berliner Fragment des Müsä Ibn “Ukba. 447
Müsä und Ibn Ishäk gehörten beide nicht zu den vornehmen
Geschlechtern der Gründer und Patriarchen des Islams; beide waren
Freigelassene, verdankten aber vornehmen Geschlechtern den Ursprung
ihrer Freiheit. Ich nehme an, dass es sein Grossvater Abü-Ajjäs
war, der zuerst die Freiheit erlangte und zwar von der Gemahlin
Alzubair’s, Umm Chälid Bint Chälid; es ist wahrscheinlich, dass seine
Nachkommen Beziehungen der Pietät gegen das historische Geschlecht
Alzubair’s bewahrt haben, wie es Thatsache ist, dass sein Enkel Müsä
in persönlichem Verkehr mit Urwa, dem Sohne Alzubair’s, gestanden
hat und ihm den Kerntheil seines historischen Wissens verdankt.
Alzubair war ein Vetter Muhammed’s, einer der ersten Muslime, und
sein Sohn Abdallah beherrschte als in Mekka residirender Chalife die
eine Hälfte des islamischen Reiches in Opposition gegen den Omajja-
dischen Chalifen in Damascus.
Müsä hatte keinen Antheil an der Politik seiner Zeit, lebte viel-
mehr zusammen mit seinen Brüdern Muhammed und Ibrähim das
ruhige Leben eines Forschers und Lehrers in Medina, ertheilte Rechts-
gutachten und konnte täglich zwischen den kanonischen Gebeten in
der Moschee gesehen werden, wie er einen Kreis von Jüngern um
sich versammelte und ihnen über alle Fragen des Rechts, der Theo-
logie und der Geschichte des Islams Vorträge hielt. Er ist auch in
Medina gestorben und hat nicht durch Reisen sein Wissen und Werk
in anderen Ländern verbreitet wie nach ihm Ibn Ishäk. Die arabi-
schen Kritiker schätzen sein Werk ausserordentlich hoch, erklären es
für das correcteste von allen und beurtheilen demgegenüber die be-
kannten Werke von Ibn Ishäk und Alwäkidi, denen die heutige Wissen-
schaft ihre Kenntniss von der Urgeschichte des Islams entnimmt, recht
abfällig. Wir sind zur Zeit noch nicht in der Lage, diese Urtheile im
Einzelnen nachprüfen zu können, dürfen aber mit Sicherheit annehmen,
dass Müsä in den ältesten Gelehrtenkreisen von Küfa und Bagdad,
wohin sein Werk frühzeitig verbreitet worden sein muss, das grösste
Ansehen genass. Alwäkidi, Ibn Sad, Albelädhori und Tabari eitiren
ihn, Ibn Ishäk dagegen verschweigt ihn.
Müsä steht dem Anfange der arabischen Geschichtsschreibung und
aller arabischen Litteratur sehr nahe. Soweit ich zur Zeit sehe, hat
er noch drei Vorgänger gehabt, welche ebenfalls als Verfasser von
Maghäzi -Büchern genannt werden, den Freigelassenen Sad Ibn Surahbil,
der 123, 18 Jahre vor Müsä, gestorben ist; ferner "Urwa Ibn Alzubair
und Abän, den Sohn des Chalifen Othman. Jener starb 94, dieser
später, wahrscheinlich 105, muss aber dennoch der ältere von beiden
gewesen sein, da bei der Anmusterung zur Kameelschlacht im Novem-
ber 656 ‘Urwa als noch zu jung abgewiesen, während Abän als Com-
A448 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 25. Febr. 1904. — Mittheil. v. 10. Dec. 1903.
battant angenommen wurde. Danach ist dieser Sohn des dritten Cha-
lifen der Vater der arabischen Geschichtsschreibung. In der Geschichte
seiner Zeit tritt er dadurch hervor, dass er sieben Jahre lang für den
omajjadischen Chalifen Abdelmelik das Statthalteramt von Medina ver-
waltete.'
Das Berliner Bruchstück von Müsä’s Geschichtswerk enthält zwanzig
Auszüge, und jeder einzelne besteht aus der Angabe der Gewährsmänner,
dem Isndd, und der Erzählung selbst, dem Main. Ein Theil dieser
Erzählungen handelt in wenigen Worten oder Sätzen von einzelnen
Äusserungen Muhammed’s, während andere in etwas grösserer Aus-
führlichkeit über Ereignisse aus seinem Leben und ihre Begleitumstände
Auskunft geben. Sie sind von dem Epitomator ausdrücklich als den
zehn Theilen des Originalwerkes entlehnt bezeichnet. Theil ı ist
durch die Tradition I vertreten, Theil 2 durch die Traditionen I, III,
IV, Theil 3 durch Nr.V, Theil 4 durch Nr. VI, Theil 5 durch die
Nr. VII—XI, Theil 6 ist nicht vertreten, dagegen ist Theil 7 vertreten
durch Nr. XI, Theil 8 durch Nr. XII, XIV, Theil 9 durch Nr. XV,
XVI und Theil 10 durch XVI—XIX.
Mag nun diese Eintheilung von Müsä selbst oder von einem
späteren Diaskeuasten herrühren, auf alle Fälle beweist sie, dass das
Werk das ganze Leben Muhammed’s bis zu den Ereignissen unmittel-
bar nach seinem Tode umfasste, dass es eine ausführliche Biographie
war. Und diese wird zu Anfang wie zu Ende der Excerpte aus-
drücklich als maghäzi bezeichnet, ebenso wie die Werke seiner
oben genannten drei Vorgänger, woraus sich mit Sicherheit ergiebt,
dass dies Wort nicht allein die kriegerischen Expeditionen Muham-
meds bezeichnen kann, sondern eine viel allgemeinere Bedeutung
hatte, dass es das ganze Leben und Wirken Muhammed’s be-
zeichnete. Wenn daher Alwäkidi und Ibn Sad ihre Darstellung der
Kriege Muhammeds speciell als das Buch der Maghäzi” bezeichnen,
so ist dies nicht mehr der Sprachgebrauch des Müsä Ibn "Ukba und
seiner medinischen Zeitgenossen, sondern derjenige einer späteren Zeit
und eines anderen Landes.
! Ibn Sa’d V. ed. ZETTERSTEEN, S. II2. I13.
2 Ich vermuthe, dass das Wort maghäzi in den Kreisen der Christen, welche
den Islam annahmen, aufgekommen ist. Die Christenheit jener Zeit bezeichnete ihre
grossen Männer, die wunderthätigen Heiligen wie Simeon Stylites, die grossen Mär-
tyrer als die Athleten, die Athleten Gottes enieı Ale, und ihre
Thaten als Kämpfe rähadh Aenoı. In gleichem Sinne nannten sie das wunder-
bare Leben und die Thaten Muhammed’s seine maghäzi, seine Kriege, Kämpfe.
Lisän al’arab erklärt maghäzi als die Verdienste (die Grossthaten) der in den
Kampf ziehenden, den Kampf führenden, d. i. des Muhammed und seiner
Genossen.
Sacnau: Das Berliner Fragment des Müsä Ibn “Ukba. 449
Die Frage nach der Authentie, nach der Überlieferung, ob die
zwanzig Traditionen der Handschrift mit Recht dem Müsä Ibn "Ukba
beigelegt werden, glaube ich dahin beantworten zu sollen, dass in
den Traditionen I—XIX nichts zu einem Zweifel an Müsä’s Autor-
schaft berechtigt, dass aber ebenso sicher die letzte Tradition, Nr. XX,
unecht ist, d. h. nicht von Müsä herrühren kann.
Die äussere Beglaubigung ist völlig einwandfrei. Die Epitome
beginnt mit der Igäza, d. h. dem Verzeichniss der Männer, welche
einer dem anderen die Schrift von dem Verfasser bis zu dem Epito-
mator überliefert haben. Diese Namenreihe ist folgende:
1. Müsä Ibn “Ukba (+ 141).
2. Sein Neffe, Ismäil Ibn Ibrähim Ibn “Ukba, der nach einer
Überlieferung im Jahre 160, nach anderer unter dem Chalifat von
Almahdi 158— 168 gestorben sein soll.
3. Ismäil Ibn Abi-"Uwais Abdallah, der nach Dhahabi (Codex
Sprenger 271 Bl. 48b) im Jahre 226 gestorben sein soll.
4. Abü-Muhammed Alkäsim Ibn Abdallah Ibn Almughira. Unbe-
kannt.
5. Abü-Bekr Muhammed Ibn Abdallah Ibn Ahmed Ibn Attäb
Al’abdi. Derselbe Name begegnet im Isnäd der Tradition XX. Ich nehme
an, dass dies derselbe Gelehrte ist, der bei Dhahabi, SPRENGER 27 3 Bl.70b
unter dem Namen Abü-Bekr Muhammed Ibn Abi-Attäb Albaghdädi
Al’ajan genannt wird und A. H. 240 gestorben sein soll. Wenn diese
Combination richtig ist, muss die letztere Zahl verschrieben sein für 340.
6. Abü-Alhusain Muhammed Ibn Alhusain Ibn-Muhammed Ibn
Alfadl Alkattän, der nach Rıruv, Supplement to the catalogue of the
Arabie manuseripts of the British Museum S. 312, Col.2 (Nr. 511) 415
in Bagdad gestorben ist.
7. Abü-Bekr Ahmed Ibn Ali Ibn Thäbit Alchatib Albaghdädi,
der 463 gestorbene Verfasser einer Chronik von Bagdad (vergl. Cata-
logue des manuscrits Arabes de la bibliotheque nationale Nr. 2128 und
Riıeu a. a. ©. Nr. 655).
8. Abü-Muhammed Hibat-Alläh Ibn Ahmed Ibn Muhammed Ibn
Hibat-Allah Al’ansäri Ibn Alfakfäni, der in Damascus lebte und A.H.
524 gestorben ist. Vergl. Rıeu a.a. O. Nr. 657.629. Er hatte dies
Werk A.H. 457 von seinem unter Nr. 7 genannten Lehrer erhalten.
9. Abü-Tähir Barakät Ibn Ibrähim Ibn Tähir Alfurusi Alchusüi,
ein damascenischer Gelehrter, der von 510— 598 lebte. Vergl. Ibn
Challikän ed. WüstesreLp Nr. 110. Er hatte das Werk A.H. 519 von
seinem unter Nr. 8 genannten Lehrer erhalten.
10. Abü-Alhasan Ali Ibn Abd-alwähid Ibn Abi-Alfadl Ibn Häzim
Al’ansäri, genannt Ibn Al’auhad, und Abü-Muhammed Ibn Ismäil Ibn
Sitzungsberichte 1904. 34
450 Sitzung der phil.- hist. Classe v. 25. Febr. 1904. — Mittheil. v. 10. Dec. 1903.
Ibrähim Ibn Abi-al Säkir Ibn Abdallah Ibn Sulaimän Altanüchi. Diese
beiden haben das Werk A.H. 594 von ihrem unter Nr. 9 genannten
Lehrer erhalten.
ı1. Saraf-aldin Abü-Abdallah Alhusain Ibn Ali Ihn Muhammed
Ibn Alimäd Alkätibi Alkurasi.
ı2. Abü-Almahäsin Gamäl-aldin Jüsuf Ibn Sams-aldin Muham-
med Ibn Omar Ibn Muhammed Ibn Abd-alwahhäb Ibn Kädi Suhba,
ein damascenischer Gelehrter, der A.H. 789 = 1387 n. Chr. Geb. ge-
storben ist. Er hatte seine unter Leitung des unter Nr. ıı genannten
Lehrers gemachte Abschrift dieser Blätter am 2. Dhulhigga 733 in
einem Orte in der Ghüta von Damascus vollendet. Vergl. WÜSTENFELD,
Die Geschichtsschreiber der Araber Nr. 444a. Diesem Gelehrten ver-
danken wir die Erhaltung der Auszüge aus Müsä’s Geschichtswerk.
Diese Überliefererkette giebt zu zwei Bemerkungen Anlass. Das
Original ist bis 457 = 1065 in Bagdad überliefert worden, taucht aber
dann mit 519 = 1125 in Damascus auf. Seitdem ist es verschollen.
Vielleicht würde es sich daher am meisten empfehlen, in den Biblio-
theken von Damascus nach Müsä’s Werk zu suchen. Der Verfasser des
Tarieh-Alehamis, Aldijärbakri, der im 16. christlichen Jahrhundert
in Mekka lebte, tlıut so, als hätte er das Werk des Müsa vor sich
gehabt (ed. Cairo II, 61). Ferner erscheint diese Überliefererkette von
zwölf Generationen zur Überbrückung eines Zeitraumes der 592 Jahre
vom Tode des Verfassers ı41 bis zur Überlieferung seines Werkes an
den Damascener Gelehrten Abü-Almahäsin 733, was 494 Jahre für je
eine Generation ergiebt, reichlich kurz und man muss daher vielleicht
mit der Möglichkeit rechnen, dass in derselben, besonders in der älteren
Hälfte, einige Glieder verloren gegangen sind.
Mit der jüngsten Person der Überliefererkette ist diejenige Person
zu verbinden, welche diese Blätter geschrieben hat, das ist Abü-Huraira
Ibn Muhammed Ibn Alnakkä$. Er hat sie datirt vom 26. Sabän 782.
An diesem Tage wurde die Vorlesung des Abü-Almahäsin, an der
ausser Abü-Huraira noch andere Personen Theil genommen hatten,
vollendet. Vergl. die beiden Nachschriften auf Bl. 77b, von denen
die erstere von Abü-Huraira, die zweite und sehr schlecht geschrie-
bene von einem anderen Zuhörer der Vorlesung herrührt.
Wir lassen hier die Übersetzung der 19 Überlieferungen mit einigen
Anmerkungen folgen und geben den arabischen Text am Ende mit
besonderer Pagination. Der Text, zu dessen Controlle die Photo-
graphie von Bl. 76b und 77a dienen mag, ist genau nach der
Handschrift gegeben, während die Punkte, Vocale und wenige Lese-
zeichen von mir hinzugefügt worden sind, um ihn etwas lesbarer zu
machen.
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Sacnau: Das Berliner Fragment des Müsä Ibn "Ukba. 451
Übersetzung.
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Aus dem ersten Theil.
»Ibn Sihäb von Sälim Ibn Abdallah von Abdallah Ibn Omar:
Ich habe gehört, wie der Bote Gottes sprach: Während ich
schlief, träumte ich, dass ich den Umgang um die Ka’ba machte.
Siehe da, es erschien ein Mann mit glattem Haar zwischen den (!) zwei
Männern', dessen Haupt von Wasser tropfte. (Andere Lesart: Dessen
Haupt von Wasser floss.) Da sprach ich: Wer ist das? Man sagte:
»Der Sohn der Maria«. Da ging ich fort mich abwendend. Siehe
da, es erschien ein rother Mann, eine mächtige Erscheinung, mit
krausem Haar, einäugig, als wäre sein Auge eine (auf dem Wasser)
schwimmende Weinbeere. Da sprach ich: Wer ist das? Man sagte:
Das ist der Antichrist. Am ähnlichsten von allen Menschen ist ihm
Ibn Katan vom Stamme Chuzäa.«
Diese Überlieferung findet sich mit demselben Isnäd bei Buchäri
ed. Krenr I, 368, 19— 369, 4; Kastaläni V, 414— 416. Den eigen-
thümlichen Vergleich schwimmende Weinbeere s. in demselben
Zusammenhang auch bei Buchäri III, 173, 17.
II.
Aus dem zweiten Theil.
»Ibn Sihäb: Der erste, welcher in Medina vor dem Boten Gottes
die Freitagsgottesdienste für die Muslims abhielt, war er, nämlich Mus’ab
Ibn “Umair.
Ibn Sihäb erzählt auch noch einen anderen Bericht auf Autori-
tät des Suräka?’, der von dem hier gegebenen abweicht. «
Dass Musab, Muhammeds erster Apostel in Medina, dort die
Freitagsfeier eingerichtet habe, wird von Ibn Sad II. I. 83, 25 be-
richtet. Die andere Nachricht, auf die hier angespielt wird, ist ver-
muthlich die von Ibn Ishäk 290, 5ff. und Ibn Sad II. I. 84, ı ge-
gebene, nach welcher Asad Ibn Zurära der Begründer des Freitags-
gottesdienstes in Medina war. Über das Verhältniss zwischen Musab
und Asad, einen der ı2 Nakibs (Apostel), vergl. Ihn Sad II. II. ed.
Horovızz S.139, 35 ff.
! Buchäri: »zwischen zwei Männern«.
® Siehe den Isnäd der folgenden Tradition.
452 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 25. Febr. 1904. — Mittheil. v. 10. Dec. 1903.
IN.
»Abderrahman Ibn Mälik Ibn Gusum Almudligi von seinem
Vater Mälik von seinem Bruder Suräka Ibn Gu’sum:
Als der Bote Gottes Mekka verlassen hatte, um nach Medina auszu-
wandern, setzten die Kurais für den, der ihn ihnen zurückbrächte, einen
Preis von 100 Kamelen aus. So erzählte er: Als ich nun (eines Tages)
in der Versammlung meiner Leute sass, kam einer von den Unsrigen
und sprach: »Bei Gott, ich habe soeben drei an mir vorbeigehen
sehen; ich vermuthe, es ist Muhammed.« Darauf winkte ich ihm
mit den Augen zu, er solle schweigen, und sprach dann: »Das sind
nur die N.N., die ihre Thiere, die sich verlaufen haben, suchen.«
Worauf Jener antwortete: »Vielleicht«, und schwieg. Nachdem ich
noch eine Weile sitzen geblieben, erhob ich mich, ging nach Hause,
liess mein Pferd kommen und es nach dem tiefsten Theil des Thales
führen. Dann nahm ich meine Waffen hinter meinem Gemache her-
aus, nahm meine Loospfeile, mit denen ich mir zu wahrsagen pflegte,
und zog meinen Panzer an. Dann nahm ich die Loospfeile heraus
und zog einen davon. Siehe da, es war der, den ich nicht leiden
kann, auf dem geschrieben stand: »Nicht schädigt er ihn« (d.i. den
Feind).‘ Hoffte ich doch Muhammed zurückzuholen und die 100 Kamele
zu gewinnen. Nun ritt ich seiner Spur nach. Während aber mein
Pferd mit mir dahin jagte, stolperte es und ich fiel herunter. Darauf
nahm ich wieder meine Loospfeile heraus und zog einen davon. Siehe,
wieder kam derselbe Pfeil heraus. Nun aber versteifte ich mich erst
recht darauf ihm zu folgen, und so ritt ich weiter. Als Muhammed
und die Seinigen mir in Sicht kamen und ich in der Richtung nach
ihnen hinschaute, stolperte wieder mein Pferd, die beiden Vorder-
füsse waren in den Boden eingesunken und ich fiel herunter. Ich
riss mein Pferd heraus. Ihn aber (den Muhammed) begleitete eine
Rauchwolke wie von Staub, und nun erkannte ich, dass er vor mir
gefeit sei und dass er die Oberhand gewinne. Da rief ich sie (Mu-
hammed und die Seinigen) an und sprach: »Schaut mich an. Bei
Gott, ich will euch keinen Verdacht einflössen, und von mir geschieht
euch nichts zu Leide.«e Da sprach der Bote Gottes (zu Abü Bekr):
»Frag ihn nach seinem Begehr.« Der sprach es, ich aber antwortete:
»Schreib mir einen Zettel als ein Zeichen (des Einvernehmens) zwischen
mir und dir.«< Da sprach er: »Schreib ihm den Zettel, o Abü Bekr.«
Das that er auch und übergab den Zettel mir. Ich habe dann ge-
schwiegen und von dem Vorgefallenen nichts erzählt.
! Der Glossator Alsuhaili (Codex SPRENGER 101 Bl. 7a 6) giebt folgende Erklärung:
a N.
Sacuau: Das Berliner Fragment des Müsä Ibn "Ukba. 453
Als aber dann (8 Jahre später) Muhammed Mekka erobert hatte
und auch mit den Leuten von Hunain fertig war, zog ich aus, um
ihn zu treffen, ausgerüstet mit dem Zettel, den er mir hatte schreiben
lassen. Auf dem Wege zu ihm gerieth ich mitten unter eine Kriegs-
schaar der Medinenser, und die fingen an mit ihren Lanzen nach mir
zu stossen und zu rufen: »Wehr dich«. Ich drang aber hindurch
bis in die Nähe des Boten Gottes, der auf einem Kamele sass, in-
dem ich den Eindruck hatte, als ob sein im Steigbügel ruhender
Unterschenkel so weiss war wie das Mark in der Spitze der Dattel-
palme.' Ich hielt nun den Zettel mit der Hand in die Höhe und
sprach: »O Bote Gottes, das ist der Zettel von dir.« Da sprach er:
»(Du kommst) an einem Tage, wo Treue und pietätvolles Gedenken
herrschen soll.” Tritt nahe heran.« Darauf nahm ich den Islam an
und erwähnte dann etwas, um ihn danach zu fragen.« Ibn Sihäb
erzählt: Er fragte ihn nur nach verirrten 'Thieren und nach etwas,
was er für dieselben gethan hatte.« Ich sagte weiter nichts als dies:
»O Bote Gottes, verirrtes Vieh kommt zu meinen Cisternen, nachdem
ich sie für meine Kamele mit Wasser gefüllt habe. Ist es ein ver-
dienstliches Werk für mich, wenn ich sie tränke?« Da sprach der
Bote Gottes: »Ja wohl, an jeder gluthheissen Leber ist ein Gottes-
lohn« (zu verdienen). So erzählte er (Suräka Ibn Gusum). Dann
ging ich von dannen und trieb darauf dem Boten Gottes (etliches
Vieh) als meinen Beitrag zur Gemeindesteuer zu.«
Diese Überlieferung findet sich fast ganz ebenso bei Ibn Ishäk
331. 332; Wäkidi (Werrnausen, Muhammed in Medina, S. 374) und
Buchäri ed. Kreaz Ill, 39.41; in zwei verschiedenen Fassungen bei
Ibn Al’athir, Usd-alghäba I, 265. Zur Erklärung des Wortes ER
>) \> a auch überliefert in der Form >| Sb as PEN vergl. Ibn
AY’athir’s Nihäja I, 215.
IV.
»Ibn Sihäb behauptet, “Urwa Ibn Alzubair habe erzählt, dass Al-
zubair dem Boten Gottes begegnet sei, wie er (Alzubair) mit einer
Karawane von Muslims, welche in Syrien Handel trieben und nach
Mekka zurückkehrten, auf der Reise war. Diese machten nun ein
Tauschgeschäft mit ihm, und bei der Gelegenheit bekleidete Alzu-
bair den Boten Gottes und Abüı Bekr mit weissen Gewändern.«
! Vergl. Werrsausen, Muhammed in Medina, S. 374, Anm. ı.
® Derselbe Ausdruck von Muhammed bei anderer Gelegenheit gebraucht, s. Ibn
Ishäk S. 821, 21.
454 Sitzung der phil.- hist. Classe v. 25. Febr. 1904. — Mittheil. v. 10. Dee. 1903.
Dieselbe Tradition bei Buchäri ed. Kreuz III, 40. Nach Ibn Sad
IN.I, 153,19 war es nicht Alzubair, sondern 'Talha Ibn “Ubaidalläh,
der aus Syrien kommend Muhammed unterwegs auf der Flucht von
Mekka nach Medina traf und ihn wie Abü Bekr mit syrischen Ge-
wändern bekleidete. Talha zog weiter nach Mekka, kehrte aber auch
seinerseits bald seiner Heimat den Rücken und nahm die Familie
Abü Bekr’s, welche nach dessen und Muhammed’s Flucht noch in
Mekka zurückgeblieben war, mit sich nach Medina (s. Ibn Sada.a.O.,
Zeile 23, 24).
V.
Aus dem dritten Theil.
»Näfi von Abdallah Ibn Omar: Einige von den Genossen des
Boten Gottes sprachen zu ihm: »Rufest du Todte an?« worauf er
erwiderte: »Jawohl, denn ihr hört meine Worte nicht besser als
sie« (die Todten hören ebenso gut wie ihr).«
Diese Unterredung soll nach der Schlacht bei Bedr stattgefunden
haben. Die Überlieferung findet sich ebenso bei Buchäri ed. Kreuz III,
70, 17.18; vergl. auch daselbst S. 58, 12 — 16.
v1.
Aus dem vierten Theil.
»Ibn Sihab von Anas Ibn Mälik: Einige Ansär baten den Boten
Gottes um eine Erlaubniss, indem sie sprachen: »Gieb uns die Er-
laubniss, o Bote Gottes, und wir wollen unserem Schwestersohn
Abbäs sein Lösegeld erlassen.« Er aber sprach: »Nein, bei Gott nicht.
Lasst keinen Dirhem fahren.«
Dieselbe Tradition bei Buchäri III, 69, 1.2. Mit Abbäs ist der
bekannte Onkel Muhammed’s gemeint. Über seine Gefangennahme
bei Bedr s. Sprenser, Leben und Lehre des Muhammed II, 131,
Anm. ı; Tabari I, 1341; Ibn Kutaiba, Maärif S.77. Über den Aus-
druck Ü>| ir\ s. eine andere Tradition bei Buchäri I, 388, ı8ff.
Von einer eigentlichen oder Blutsverwandtschaft zwischen Abbäs und
den Medinensern ist mir nichts bekannt, denn seine Mutter war Nu-
tailla vom Stamme Namir Ibn Käsit, also keine Medinenserin (s. Ibn
Kutaiba, Maärif S. 57, 6).
VL.
Aus dem fünften Theil.
»Ibn Sihäb pflegte diese Geschichte so zu erzählen: Abderrahman
Ibn Abdallah Ibn Ka’b Ihn Mälik Alsulami und verschiedene Gelehrte
ve Su
Sıcnau: Das Berliner Fragment des Müsä Ibn “Ukba. 455
auch die Führerschaft seines Vaters angefochten, und doch war er,
bei Gott, geeignet für das Commando, war mir einer der liebsten
von allen Menschen, und dieser (sein Sohn) ist mir einer der liebsten
won allen Menschen nach ihm. Darum sorgt für ihn, wenn ich nicht
mehr bin. denn er zählt zu den Edelsten von euch.«
Dieselbe Überlieferung findet sich wenigstens dreimal bei Buchäri II,
440; IL, 133. 192. Vergl. ausserdem Ibn Ishäk, S. 999, 14: 1006, 20ff.
Der Wunsch des sterbenden Propheten wurde pietätvoll vom Chalifen
Omar ausgeführt. Als er die Vertheilung der Staatseinkünfte festsetzte,
bevorzugte er den Usäma vor seinem eigenen Sohne Abdallah, obgleich
dieser erheblich älter war und in mehr Schlachten für den Islam ge-
kämpft hatte als Usäma. Als Abdallah sieh darüber beschwerte, er-
widerte ihm sein Vater: »Ich habe ihn bevorzugt, weil er dem Boten
Gottes lieber war als du und weil sein Vater (Zaid) dem Boten Gottes
lieber war als dein Vater (d. i. ich, Omar).« Siehe Ibn Sad II. 1.
243, 8.10.
IX.
»Müsä (Ibn ‘Ukba) von Sälim Ibn Abdallah von Abdallah Ibn Omar:
»Der Bote Gottes pflegte nicht (seine Tochter) Fätima auszunehmen «
(von irgendwelchen Bestimmungen oder harten Maassregeln, die er
erliess).
Hiermit ist wohl der Ausspruch Muhammed’s: »Und wenn es
die Fätima selbst wäre, die gestohlen hätte, so würde ich ihr die
Hand abhauen,« zusammenzustellen. Vergl. Buchäri II, 441 und II,
145. Wie lieb er andererseits sie hatte, drückt er nach einer anderen
Tradition in folgenden Worten aus: »Fätima ist ein Stück von mir;
wer sie erzürnt, erzürnt mich.« Siehe Buchäri I, 447.
X.
»Müsä Ibn “Ukba von Abdallah Ibn Alfadl, dass dieser den Anas
Ibn Mälik habe sagen hören: »Ich trauerte über diejenigen von den
Meinigen, die in der Harra (in der Schlacht in der Harra A.H. 63)
gefallen waren. Da schrieb mir Zaid Ibn Arkam', als er von meinem
grossen Schmerze erfahren hatte, dass er gehört habe, wie der Bote
! Ein medinischer Waisenknabe vom Stamme Chazrag, der im Hause des Ab-
dallah Ibn Rawäha aufwuchs und mit diesem an der Schlacht von Müta Theil nahm. Er
war zur Zeit der Schlacht am Berge Uhud noch Knabe, hat an allen folgenden Schlachten
Theil genommen, sich später in Küfa niedergelassen und ist dort A. H. 68 gestorben.
Er soll zu den intimen Freunden Ali’s gehört und für ihn bei Siffin gekämpft haben.
Usd-alghäba II, 219.
456 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 25. Febr. 1904. — Mittheil. v. 10. Dec. 1903.
haben mir berichtet, dass ‘Ämir Ibn Mälik Ibn Gafar, genannt der
Lanzenspieler, als Heide zum Boten Gottes kam. Dieser trug ihm
den Islam an, ‘Ämir aber weigerte sich, wollte indessen dem Boten
Gottes ein Geschenk bringen. Darauf sprach der Prophet: »Ich nehme
das Geschenk eines Heiden nicht an.« Nun sprach “Ämir Ibn Mälik:
»Schieke mit mir von deinen Boten, wen du willst. Ich bin ihr
Beschützer.« Darauf schickte der Bote Gottes eine Schaar der Sei-
nigen, unter ihnen Almundhir Ibn Amr Alsäidi, der genannt wird
»Eile-zum-Tode«, als Spione unter die Bewohner des Nagd.
Nun hörte Ämir Ibn Altufail von ihnen. Er bot die Bantı Ämir
auf zum Kampfe, diese aber verweigerten ihm die Heeresfolge und
wollten nieht den Ämir Ibn Mälik entehren (unter dessen Schutz die
Medinenser standen). Darauf bot Ämir Ibn Altufail die Bantı Sulaim
gegen sie auf. Diese leisteten ihm Heeresfolge, und nun tödteten sie
die Medinenser am Brunnen Ma'üna, ausgenommen den Amr Ibn Umajja
Aldamri. Er gerieth in die Macht des Ämir Ibn Altufail, der aber
liess ihn los. Als Amr Ibn Umajja zum Propheten kam, sprach dieser
zu ihm: »Von ihnen?« (d. h. von ihnen, deinen Genossen, kommst
du allein zurück ?).
Ausführlicher geben diesen Bericht Ibn Ishäk, S. 648ff. und Wäkidi
ed. Kremer, S. 337ff. (Werrnausen, Muhammed in Medina, S. 153ff.);
in späterer Fassung Usd-alghäba IV, a1ı. Die Lesung oJ so in
der Handschrift. Nach der Nihäja von Ibn Alathir s.v. 3 soll Mu-
hammed die Worte oJ Es gesprochen haben, als er die Nachricht
von dem Tode des Haräm Ibn Milhän erhielt.
Die Punctation er Es empfehle ich auf Grund des Ausspruchs,
den Muhammed nach einer Überlieferung an Sad Ibn Abi Wakkäs,
als er von Maüna zurückkehrte, gerichtet haben soll:
eıte] u se ae
(bei Wäkidi ed. Kremer, S. 342 1. Z2.).
vM.
»Ismäil Ibn Ibrähim Ibn "Ukba von Sälim Ibn Abdallah von Ab-
dallah Ibn Omar: »Daher fochten einige Leute die Führerschaft des
Usäma an (d.h. sie waren unzufrieden, dass Muhammed dem erst
neunzehnjährigen Usäma, dem Sohn seines Adoptivsohnes Zaid, das
Obercommando über die Expedition gegen die Griechen übertragen
hatte). Darauf erhob sich der Bote Gottes und sprach: Wenn ihr
jetzt die Führerschaft Usäma’s anfechtet, nun wohl, ihr habt vorher
Sacuau: Das Berliner Fragment des Müsä Ibn “Ukba. 457
Gottes sprach: »O Gott, vergieb den Ansär und den Kindern der Ansär,
und wir bitten dich um deine Gnade für die Kindeskinder der Ansär.«
Ibn Ishäk S. 886, ı2 berichtet einen ähnlichen Segensspruch über
die Ansär und ihre Descendenz, den Muhammed nach der Vertheilung
der Beute von Hunain gesprochen haben soll. Ebenso Wäkidi bei
WELLHAUSEN, Muhammed in Medina S. 380.
XI.
»Derselbe Abdallah Ibn Alfadl: Einige Leute, die bei ihm (Anas
Ibn Mälik) waren, fragten ihn nach Zaid Ibn Arkam. Darauf sprach
er: Das ist derjenige, zu dem der Bote Gottes spricht: »Dieser ist
es, dem Gott ein ganzes Maass verliehen hat dureh sein Ohr.«
Das heisst: Gott hat ihm dadurch ein volles Maass des Verdienstes
um den Islam zu "Theil werden lassen, dass er Muhammed die Dienste
eines Spions geleistet hatte. Vergl. Ibn Ishäk S. 727, 17, wo Muham-
med’s Ausspruch in etwas abweichender Form überliefert ist; auch
Wäkidi bei Werumausen, Muhammed in Medina S. 181.
X.
Aus dem siebenten Theil.
»Müsä Ibn 'Ukba von Ibn Sihäb von Said Ibn Almusajjib von Ab-
dallah Ibn Kab Ibn Mälik, dass der Bote Gottes damals (wann?) zu
Biläl (seinem Ausrufer) gesagt habe: »Erheb dieh und dann kündige
ihnen an, dass nur der Gläubige in das Paradies kommt und dass
Gott seine Religion nicht fördert durch die Hülfe eines Frevlers.« Dies
geschah, als der Mann erwähnt wurde, von dem der Bote Gottes
gesagt hatte, dass er zu den Bewohnern der Hölle gehöre. «
Es ist mir nicht bekannt, bei welcher Gelegenheit Muhammed
diesen Ausspruch gethan und welche Person er gemeint hat.
X.
Aus dem achten Theil.
»Müsä Ibn "Ukba von Näfi‘ von Abdallah Ibn Omar: Nach der
Eroberung von Chaibar baten die Juden den Boten Gottes, dass er
sie in Chaibar belasse unter der Bedingung, dass sie arbeiteten (den
Boden bearbeiteten) und die Hälfte der Frucht bekämen. Darauf sprach
der Bote Gottes: »Wir wollen euch unter dieser Bedingung darin be-
lassen, so lange es uns genehm ist.« So blieben die Juden in Chaibar,
bis Omar (Lücke im Text) sie von dort wegführte, indem er sprach:
»Der Bote Gottes hat in seinem Testament drei Dinge verfügt: dass
458 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 25. Febr. 1904. — Mittheil. v. 10. Dec. 1903.
die Rahawijjün, Därijjun, die Leute von Saba’ und die As’arijjün
die Ernte von je 100 Wask von Chaibar bekommen sollen; dass die
Sendung des Usäma Ibn Zaid ausgeführt werde, und dass nicht zwei
verschiedene Religionen (in Arabien) geduldet werden.«
Dieselbe Tradition findet sich bei Ibn Ishäk S. 776 und Wäkidi
(Werrnausen, Muhammed in Medina, S. 285. 287), wo aber die Sabäer
ausgelassen sind.
XIV:
»Müsä Ibn "Ukba von Näfi von Abdallah Ibn Omar: Omar liess
Juden, Christen und Parsen gemäss den Geschäften, die sie hatten,
in Medina nicht länger als drei Tage verweilen und pflegte zu sagen:
»Zwei Religionen können (in Arabien) nicht beisammen sein.« Er
verbannte die Juden und Christen vom arabischen Continent.«
Mit dieser Bestimmung ÖOmar’s ist vielleicht diejenige Muham-
med’s zusammenzustellen, dass seine Fluchtgenossen nicht länger als
drei Tage nach Abschluss der Pilgerfahrt-Riten in Mekka verweilen
sollten (vergl. Ibn Sad II. I. 297, 22).
XV.
Aus dem neunten Theil.
»Müsä Ibn ‘Ukba von Ibn Sihäb von “Urwa Ibn Alzubair von Mar-
wän Ibn Alhakam und Almiswar Ibn Machrama:
Der Bote Gottes sprach, als er (nach der Schlacht bei Hunain)
den Menschen gestattete die gefangenen Hawäzin freizulassen: »Ich
weiss nicht, wer (von meinen Leuten) euch den Loskauf gestattet
oder nicht gestattet. Darum kommt wieder her, damit eure Führer
eure Sache bei uns zur Sprache bringen.«e Nun gingen sie zurück
zu ihren Leuten, worauf ihre Führer sie instruirten. Danach kehrten
sie zurück zu Muhammed, und dann benachrichtigten sie ihn, dass
die Leute (d. h. diejenigen von Muhammed’s Genossen, denen die
Beute von Hunain zugefallen war) ihnen in liebenswürdiger Weise
die Erlaubniss (zum Loskauf der Ihrigen) gegeben hatten. «
Dieser Bericht deckt sich inhaltlich mit Ibn Ishäk S. 877 und
Wäkidi (Werrnausen, Muhammed in Medina, S. 378). Der Wortlaut
findet sich ebenso bei Buchäri II, 148, ı2ff.
XVr
»Ibn Sihäb von Said Ibn Almusajjib und “Urwa Ibn Alzubair:
Die Gefangenen vom Stamme Hawäzin, welche der Bote Gottes zu-
rückgab, waren 6000, Männer, Weiber und Kinder. Er stellte einigen
Sacnau: Das Berliner Fragment des Müsä Ibn “Ukba. 459
Frauen, welche (als Kriegsbeute) einigen Kuraisiten gehörten, so dem
Abderrahman Ibn Auf und Safwän Ibn "Umajja, welche die beiden
ihnen zugefallenen Frauen bereits zu ihren Kebsweibern gemacht
hatten, die Wahl (ob sie bleiben oder zu ihrem Stamme zurückkehren
wollten), beide aber zogen es vor, zu ihrem Stamme zurückzukehren. «
Vergl. Wäkidi bei Wertnausen, Muhammed in Medina S. 375.
XML
Aus dem zehnten Theil.
»Ismäil Ibn Ibrahim Ibn “Ukba von seinem Onkel Müsä Ibn "Ukba
von Ibn Sihäb: Der Bote Gottes machte die Wallfahrt der Vollendung
im Jahre ı0. Bei der Gelegenheit zeigte er den Menschen die Riten
(der Wallfahrt), die sie auszuführen haben, und redete zu ihnen in
Arafa, indem er auf seiner Kameelin Algad’& sass.«
Vergl. Ibn Ishäk S. 968ff., wo aber der Name der Kameelin nicht
genannt ist. Bei Wäkidi a.a. O. S. 430 heisst sie Alkaswa.
XV.
»Müsä Ibn “Ukba von Ibn Sihäb von ‘Urwa Ibn Alzubair von Almis-
war Ibn Machrama von Amr Ibn Auf, einem Schutzgenossen der Banüı
“Amir Ibn Auf, der mit Muhammed an der Bedr-Schlacht Theil ge-
nommen hatte: Der Bote Gottes hatte den Abü “Ubaida Ibn Algarräh
(nach Bahrain) geschickt, um die Kopfsteuer des Landes zu holen.
Er hatte mit den Bewohnern von Bahrain einen Vertrag geschlossen
und den Al’alä Ibn Alhadrami als Befehlshaber über sie gesetzt. Als
nun Abi “Ubaida mit der Habe nach Medina kam, hörten die Ansär
von seiner Ankunft. Es war gerade um die Zeit, wo sie mit dem
Boten Gottes das Morgengebet beten sollten. Als sie nun seiner an-
siehtig wurden, stellten sie sich ihm in den Weg, aber der Bote Gottes
lächelte, als er sie sah, und sprach: »Mir scheint, ihr habt von der
Ankunft des Abü “Ubaida gehört und dass er was mitgebracht hat.«
Darauf sprachen sie: »Ja wohl, o Bote Gottes.« Darauf sprach er:
»Nun wohl, so freut euch und hoffet auf etwas, das euch Freude
bereitet. Bei Gott, ich fürchte nicht die Armuth für euch; was ich
aber für euch fürchte, ist, dass (Hab und Gut) über euch ausgeschüttet
wird, wie es über Menschen vor euch ausgeschüttet worden ist, ihr
es dann euch unter einander streitig macht, und dass dadurch eure
Gedanken abgelenkt werden, wie die Gedanken der Früheren abge-
lenkt worden sind.«
460 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 25. Febr. 1904. — Mittheil. v. 10. Dec. 1903.
Die Entsendung des Abü “"Ubaida nach Bahrain ist ein Nachtrag
zu dem Capitel bei Ibn Ishak 8.965: Wael Je Julia «| >Yl =>
Diese ganze Überlieferung findet sich ebenso bei Buchäri III, 68, ı8 ff.
XIX.
»Müsä Ibn "Ukba von Sa’d Ibn Ibrähim von Ibrähim Ibn Abder-
rahmän Ibn Auf: Abderrahmän Ibn Auf war an jenem Tage bei Omar
Ibn Alchattäb, und er (Abderrahmän) war es, der das Schwert! Alzu-
bair’s zerbrach. Gott aber weiss es am besten, wer es zerbrochen
hat! — Dann erhob sich Abü Bekr, haranguirte die Leute und ent-
schuldigte sich bei ihnen, indem er sprach: »Bei Gott, ich habe nie-
mals eine Gier nach der Herrschaft gehabt, ich habe nie einen An-
spruch darauf erhoben und habe niemals Gott darum gebeten, weder
geheim noch öffentlich. Ich habe aber Unruhen befürchtet. Ich habe
keinen Genuss an der Herrschaft. Ich habe ein gewaltiges Geschäft
übernommen, zu dem ich nicht die Kraft habe und das ich nur dann
bewältigen kann, wenn Gott mir die Kraft dazu giebt. Bei Gott,
ich möchte, dass derjenige von Allen, der am meisten der Sache ge-
wachsen ist, an meiner Stelle wäre.« Die Fluchtgenossen waren mit
seiner Rede und seiner Entschuldigung einverstanden. Ali aber und
Alzubair Ibn Allawwäm sprachen: »Wir sind nur deshalb zornig ge-
wesen, weil man uns nicht zur Berathung beigezogen hat. Wir sind
der Meinung, dass Abü Bekr von Allen, nachdem der Bote Gottes
nicht mehr da ist, am meisten Anrecht auf die Herrschaft hat. Er
war mit dem Boten Gottes allein in der Höhle (auf der Flucht). Wir
erkennen seine hohe Stellung und sein Alter an. Auch hat der Bote
Gottes noch zu seinen Lebzeiten ihn mit dem Gebet vor der Gemeinde
beauftragt. «
Dass Alzubair bei jener Gelegenheit das Schwert gezogen hat,
wird von Tabari I,ı820, 1818 berichtet; dass aber Abderrahman Ibn
Auf sein Schwert zerbrochen hat, ist mir aus anderen Quellen nicht
bekannt.
XX,
»Überliefert von Abü Bekr Muhammed Ibn Abdallah Ibn Attäb (2)
von Muhammed Ibn Sälih, benannt Ka’b Alzäri’, von Said Ibn Ibrähim
von Saif Ibn Omar von Abü Rauk Atijja Ibn Alhärith Alhamdäni von
Abu Ajjüb von Ali: Gott selbst hat seinem Propheten sein Ende ange-
' Eine Tradition bei Buchäri III, 57 weiss zu berichten, dass es mit Silber
verziert war.
Sacuau: Das Berliner Fragment des Müsä Ibn “Ukba. 461
kündigt, indem er ihm offenbarte: »Wenn Gottes Hülfe kommt und der
Sieg« (die Eroberung) Sure 110,1. Die Eroberung (von Mekka) trat
ein im Jahre 8 nach der Flucht des Boten Gottes. Als er dann in
das Jahr 9 der Flucht eintrat, da erschienen die Gesandtschaften der
Stämme bei ihm in rascher Reihenfolge. Da er nicht wusste, wann
sein Ende sein würde, handelte er demgemäss. Daher erweiterte er
die Gesetze, gab gemessene Befehle und veröffentlichte Privilegien, und
liess Vieles von den Geschichten aufschreiben. So hat denn das (ge-
schriebene) Privileg den Zweifel aufgehoben, während doch über einige
Privilegien ein Zweifel bestand. Er unternahm den Feldzug nach Tabük
und handelte wie Jemand, der Abschied nimmt.
Ende der aus den Maghäzi (des Müsä Ibn "Ukba) excerpirten Ge-
schichten. «
Die letzte Tradition (XX) ist unecht, d.h. stammt nicht aus dem
Maghäzi-Buche des Müsä Ibn "Ukba, sondern ist eine von einem Schrift-
steller des II. Jahrhunderts d. Fl. berichtete, auf Ali zurückgeführte
Nachricht. Vielleicht war sie in dem Werke Müsä’s von einem Leser
auf dem Rande beigefügt, und wurde von dem Epitomator, da sie ihm
als Schlussaceord für seine Epitome gefiel, an diese Stelle übertragen.
Die Gewährsmänner dieser Tradition sind:
Ali (+ 40).
Abü-Ajjüb, vermuthlich Chälid Ibn Zaid Al’ansäri (+ 52).
Abü-Rauk Atijja, ein Schüler des gı gestorbenen Anas Ibn
Mälik und des 105 gestorbenen Alsa’bi.
Saif Ibn Omar, gestorben nach 170. Vergl. Dhahabi, Spr.271,
Bl. 23ıb und ausführlicher Mizzi, Ldbg.40, Bl.57b. Von
ihm sagten schon seine Landsleute, dass er fälsche 2 og“
at, Vergl. WernuAusen, Skizzen und Vorarbeiten VI, ı ff.
Su’aib Ibn Ibrähim. Mir nur als Schüler des vorhergehen-
den aus Mizzi a.a.O. Bl. 58a bekannt, wo er Er ll
genannt wird.
Muhammed Ibn Sälih. Mir unbekannt.
Abu-Bekr Muhammed Ibn Abdallah Ibn Attäb, vermuth-
lich identisch mit Abü-Bekr Muhammed Ibn Abi-Attäb
Albaghdädi Alajan (-+ 240). Vergl. Ibn Hagar, Takrib S.33 1
und über das Todesdatum hier oben S. 449 Nr. 5.
Wenn man auf Grund dieser Traditionen die Frage stellt, welche
Quellen unserem Müsä zur Verfügung standen, so findet man bestätigt,
was schon aus den biographischen Artikeln über ihn bekannt war,
dass er in erster Linie von Ibn Sihäb d. i. Muhammed Ibn Muslim
Alzuhri (+ 124) abhängt (s. die Traditionen U, VI, XVID), dass er
462 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 25. Febr. 1904. — Mittheil. v. 10. Dec. 1903.
aus dessen Vorträgen, mehr vielleicht noch aus seinen Collectaneen
zwei wichtige Gattungen von Nachrichten entnommen hat, von denen
die eine auf den ältesten Sohn des Chalifen Omar, Abdallah Ibn Omar,
die andere auf ‘Urwa, den zweitältesten Sohn von Muhammed’s Vetter
Alzubair zurückgeht. Die beiden Isnäds sind folgende:
Ibn Sihäb (+ 124)
von
Sälim Ibn Abdallah oder Näfi‘
von
Abdallah Ibn Omar (+73).
Näfi” (+ 117) war der Freigelassene Omar’s, Sälim (+ 106) sein Enkel,
der Sohn des Abdallah Ibn Omar. Vergl. die Traditionen I, V, VII,‘
IX, XIH, XIV. Der andere Isnäd ist:
Ibn Sihäb (+ 124)
“Urwa Ibn Alzubair (+ 94),
dem der Verfasser die Traditionen IV, XV, XVI, XVII verdankt. Auf
eine nicht minder hochstehende Persönlichkeit geht die Tradition XIX
zurück, durch Vermittelung des Sad Ibn Ibrähim (+ 127), der von
väterlicher Seite ein Enkel des Abderrahman Ibn Auf, von mütterlicher
Seite ein Enkel des Sad Ibn Abi Wakkäs war, auf seinen Vater Ibrähim
(+ 76), den zweitältesten Sohn des Abderrahman Ibn "Auf. Dass auch
die beiden grossen Überlieferer, Muhammed’s Diener Anas Ibn Mälik
(+91) und Said Ibn Almusajjib (+ 94) d. i. die von ihnen ausgehen-
den Überlieferungen von Müsä zu Rathe gezogen worden sind, wie die
Traditionen VI, X, XII und XVI beweisen, war von vornherein zu er-
warten. Die anderen in diesen Isnäds vorkommenden Personen sind:
I. Abderrahman Ibn Mälik Ibn Gusum Almudligi, sein Vater
Mälik und dessen Bruder Suräka in Tradition II. Vergl. Dhahabi,
SPRENGER 272, Bl. ı51b (Handschrift der Königl. Bibliothek).
2. Abderrahman Ibn Abdallah Ibn Kzxb Ibn Mälik Alsulami in
den Traditionen VII und XI, gestorben unter dem Chalifat des Hisäm
(105—125).
3. Abdallah Ibn Alfadl in den Traditionen X und XI. Vergl.
Dhahabi a. a. O. Bl. 83b.
4. Der damascenische Chalife Marwän Ibn Alhakam (+65) in
der Tradition XV.
5. Almiswar Ibn Machrama (+ 64) in den Traditionen XV und
XV.
6. Amr Ibn Auf in der Tradition XVII, gestorben unter der Re-
gierung Omar’s (13—23).
! Ich nehme an, dass hier zwischen Müsä’s Neffen Ismä’il und Sälim der Name
Müsä’s ausgefallen ist.
Sıcnau: Das Berliner Fragment des Müsä Ibn "Ukba. 463
Die anderweitigen Nachrichten, welche auf Autorität des Müsä
Ibn ‘Ukba bei den ältesten Historikern, Alwäkidi, Ibn Sa’d, Albelädhori,
Tabari, überliefert werden, lassen erkennen, dass er wohl mit einer
gewissen Vorliebe solche Nachrichten in sein Werk aufgenommen hat,
die in letzter Instanz auf seinen Grossvater Abü Habiba, einen Frei-
gelassenen des Gemahls der Patronin seines Geschlechts, des Alzubair
zurückgingen. Müsä’s Mutter war eine Tochter des Abü Habiba (Ibn
Sad V ed. ZETTERSTEEN S. 221). Solche Nachrichten finden sich bei
Alwäkidi, s. Werrnausen, Muhammed in Medina S. 344, 7, und 'Tabari
190772081.2998, 3073; I. u. 1231; IIl..ıv. 2300.232422378.
Aus denselben Historikern lernen wir, dass Müsä seine historischen
Studien nicht auf das Leben Muhammed’s beschränkt, vielmehr auf
die folgenden Ereignisse bis gegen das Ende des ersten Jahrhunderts
der Flucht ausgedehnt hat. Das jüngste mir zur Zeit bekannte Er-
eigniss, welches von Müsä berichtet wird, findet sich bei Tabari X. ı.
1231, eine Unterredung zwischen Abü Habiba und dem omajjadischen
Statthalter in Mekka während der Regierung des Chalifen Alwalid Ibn
Abdelmelik (85 — 96). Aus Ibn Sad ersieht man, dass in dem Werke
von Müsä Tabellen vorhanden gewesen sein müssen, Verzeichnisse
von allen denjenigen Personen, welche z. B. an der Auswanderung
nach Abessinien und später an den Schlachten bei Bedr und "Uhud
Theil genommen hatten. Ibn Sad eitirt mehrfach Einzelangaben aus
diesen Verzeichnissen zum Vergleich mit den Angaben von Ibn Ishäk,
Abü Masar und Alwäkidi.
464 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 25. Febr. 1904. — Mittheil. v. 10. Dec. 1903.
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! Die obere Hälfte der Zeichen ist abgerissen, die Lesung conjectural.
® Von hier an sehr schlecht geschrieben, sodass Vieles nicht mit Sicherheit ge-
lesen werden kann.
Sacnau: Das Berliner Fragment des Müsä Ibn “Ukba. 465
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Sitzungsberichte 1904. 35
466 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 25. Febr. 1904. — Mittheil. v. 10. Dee. 1903.
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468 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 25. Febr. 1904. — Mittheil. v. 10. Dec. 1903.
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Sıcnau: Das Berliner Fragment des Müsä Ibn ‘Ukba. 469
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470 Sitzung der phil.- hist. Classe v. 25. Febr. 1904. — Mittheil. v. 10. Dee. 1903.
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Sitzungsber. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1904.
Taf. IV.
Handschrift der Königl. Bibliothek in Berlin, °
Pet. II, 30, Bl. 75b. 76a.
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Sıcnau: Das Berliner Fragınent des Müsä Ibn 'Ukba.
471
Eine attische Stoikerinschrift.
Von Dr. WILHELM ÜRÖNERT
in Göttingen.
(Vorgelegt von Hrn. von W ıLamowrrz-MoErtennorrr am 11. Februar
[s. oben S. 315].)
=
Wen man die Abbildungen des Zenon, Chrysippos und Poseidonios'
nicht rechnet, so hat man bisher noch keinen der Stoiker der vor-
ehristlichen Zeit auf einer Inschrift wiedergefunden.” Es sind aber
auch noch niemals alle Steine planmäßig auf Philosophennamen unter-
sucht worden, so daß uns eine Arbeit fehlt, die ohne Zweifel einiger
wichtiger Entdeckungen nicht entbehren würde. Da ich nun eine Aus-
gabe von Philodems Schrift über die Geschichte der Stoiker vorbereite, so
hat mich das Sammeln der Belegstellen auch zu den Inschriften geführt.
Dabei stieß ich auf eine Urkunde, die mehrere stoische Philosophen
vereinigt. Doch ehe ich sie vorlege, will ich einen anderen Stein be-
sprechen, da er wenigstens zu einer Namenvergleichung den Anlaß bietet.
Auf der Akropolis von Ilion ist folgender Ehrenbeschluß gefunden
worden’:
EIEIAN AlavEenHc Tlönnewce TH-
MNITHC AIATPIBWN TIAPÄ TWI BACI-
NEl @INOC WN KAl EYNOYC AIATENEI
T®I AHMWI, XPEIAC TIAPEXÖMENOC
5 TPOeYMWC EIC OÖ AN TIC AYTON
TTAPAKAAHI, AECAOXBAI THI BOYAHI Kal
ToI Ahmwı usw."
ı Vel. J. J. Bernovirnı, Gr. Ikonographie 11 135. 154. 188, dazu noch die Büsten
unterschrift Tön XP[Ycınmon | AXPicioc | miepH Athen. Mittel. XXVII 297 (erste Kaiserzeit,
aus Athen). H. von Prorr betonte Mieprt und nahm an, daß die Büste dem Gotte
Mithras geweiht worden sei. Mit voller Sicherheit läßt sich dies indessen nicht be-
haupten, da es immerhin möglich ist, daß wir den Namen des Vaters (MiepA) vor uns
haben. Mit dem Ausgange der hellenistischen Zeit beginnen die Genitivendungen durch-
einander zu geraten, vgl. über ToY EYMmenH, ToY MoycH usw. meine Memoria Hercul. 163,
ToY TTACIKPATH MEISTERHANS 3 120. Der Name Mierfc ist in Kleinasien zu Hause, und
über AxPicioc läßt sich wenigstens so viel sagen, daß er wohl kein Athener war.
® [Aristokreon, der Neffe des Chrysippos, hat das athenische Ehrendekret 1G.
II 5. 407° (DrrrenßErGer, Syll. 481) erhalten. U. v. W.-M.]
® H. SchLiEmanN, Ilos S.710; H. Scauipt, Schliemanns Samml. troj. Alt. Nv. 9656,
S.315; W. Dörrreıv, Troja und Ilion 11 465 (A. Brückner).
* Es folgen die üblichen Worte.
472 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 25. Febr. 1904. — Mittheilung v. 11. Febr.
Brückner setzt die Inschrift nach den Buchstabenformen in die
Zeit um 200 v.Chr. Dann liegt es am nächsten, in »dem« Könige
den Landesherrscher, Attalos I. (241—-197) zu sehen. Die Ilier sind
ihm auch in seinen Kämpfen gegen Antiochos II. und Achaios treu
geblieben (Polyb. V 78,), während die Temniter im Jahre 218 wieder
in seine Gewalt kamen (ebenda 77,, WıLcken, Realenz. 112, 2162). Nun
findet sich im Stoikerindex, wo die Schüler des Chrysippos aufgezählt
werden, folgende Stelle (Kol. xıvn):
[i-
KANÖC WN" “Yanoc Coneyc,
ÖN Kal CoAlpwi TIPOECKO-
NAKENAI ®HCIN APICTO-
KPEWN EN TAIC XPYcin-
TToY TA®AlC" AIAPÄNHC
{071
THmNitHe 6 TWT .....
SORTE ee
MENGE ONE
ComPrArRETTI (S.72) hat nach Z.5 nur noch wenige Trümmer ge-
lesen und auch diese nicht alle richtig (die Ergänzung I#nu]|noc einloc
2.9 ist hinfällig). Wollten wir die beiden Männer einander gleich-
setzen, so würde die verschiedene Form nicht stören, da das äolische
Aı-asenHnc (vgl. Fick-BecHteL, Personenn. 138, W. Schutze, @.G@. A.
1897, 893) leicht in das übliche Aıa-eAnuc umgesetzt werden konnte.
Daß Diaphenes auf seiner Ehreninschrift nicht als Philosoph bezeichnet
wäre, entspräche dem Gebrauche der Zeit. Es sei hier nur an Philo-
nides aus Laodikeia, der auf den Steinen öfter genannt wird, erinnert.
Daß er ein bedeutender Epikureer war, hat erst seine herkulanensische
Vita gelehrt.” Aber auch der Papyrus gibt uns keine genaue Aus-
kunft. Es kann eine Bemerkung über eine Eigentümlichkeit seines philo-
sophischen Wirkens vorliegen, etwa wie bei Ariston Diog. VII 37: 8 THn
ÄAIAGOPIAN EICHTHcAmenoc, aber auch eine Angabe über das Leben oder
die politische Tätigkeit (monırevcAlmenoc) ist möglich. Immerhin schien
es mir nicht unzweckmäßig, die beiden Zeugnisse gegeneinander zu
halten. Vielleicht wird einmal ein zweiter Stein mehr Licht verbreiten.
! Auch TO ist, wenn auch nicht in demselben Grade, möglich.
®2 Auf T folgt noch ein Punkt am unteren Zeilenende, so daß nur A, H, |,
A, P und Y, nicht aber €, O und W in Betracht kommen.
3 Vel. die Sitz.- Ber. 1900, 942 fl. 997.
W, Crönerr: Eine attische Stoikerinschrift. 473
Um vieles sicherer aber ist das Urteil bei einer um zwei oder
drei Menschenalter jüngeren attischen Namenliste (IG. II 953).
Emil AycıAaoY ÄPXONTOC OIAE TEPOTIOIHCAN
"PwmAla:
Xpycınmoc € Oioy Cnmikvelon AnArYPAcIoc
TTronemala:
s Alexanmıoaotoc TTeirailevc) Anrtimartpoc Tleıpaievc
N Jıkorennc ®inAlanc OHrYnoc TTıeevc
AnleectHrioc Er MvpPin(oyttHc) Criörioc "Pwmaloc
Mlnacaröpac Anezanalreyc) "Epmünaz "Epmeioc
TTlavciaymmoc TTeipaievc ArxıknÄc AAKIAAHC
0 Oleösınoc TTeipaerc Nykickoc € Oloy
AlmennAc Covnievc TTysıroc APAsHnIoc
APrigaroc TTeipaerc Pınkmwon EipeciaHc
Anapeac TTannHnevc Menenaoc Tleıpaieyc
“Arectoc Maraewnıoc KrAtermoc "PamnoYcioc
ıs Nıkömaxoc TTerıieoian(c) Neöntixoc AxAPneYc
Ackanmiöawpoc Coynilevc Anezanapoc OTPYNEYc
&lınımmianc ®nvevc Birxıoc Asmoneyc
"Elrlm|öawroc ®reArrioc BacıneiaHc Tleipaierc
&leiaımmoc ®avelvc) Arıaaac TAPrHTTIoc
20 TlimHcieeoc "Erxievc Cenerkoc Aekeneeyc
"Ifefp|on Arhnıevc Aezanarpoc Anasnvcriolc
Pnlavkiac OetTanöc Förroc CeHTTioc
Alelılerönaoc! CymanHrtTlioc) MurPpöawroc TTeipaierc
Alıonvcioc Kriwerc Muaeıoc TTeıpaıevc
2: TTlanaitıoc Pöaioc Menanaroc Tleıpaıevc
Anmösınoc TTeipaievc TToceıawnıoc Aanmrttpeylc
© pAcımmoc “lKarıevc TToceıawnıoc TTeıpaıerc
“Ion AmeıtpormAsen "Ectialoc OHmakeYc
“Alnezıc Mapaewnıoc APrictarxoc PamnoYcioc
30 Blion” ÄLHNIEYc Amonnöawroc Tleıpalevc
K]parınmoc Kheicıev(c) Ackanmalaluc TTeipaılevc
Alpxenaoc Cyrankttiloc) A|
O]jeöawroc "Pamnovcioc
AlPicrapxoc AeyYkonoeYc
ss Mlemnun CaPaıanöc
Klannictpatoc Arrennlsen
Alevkıoc
ı .„T.OTOAAOC der Stein; TIpw]tTönAoc KöHLer, was aber bisher in Attika noch
nicht belegt ist. Es ist wohl der Archon Arıcrönac 161/o v. Chr. (Kırcaner, Prosop.
I 484). 2 Oder Alion.
474 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 25. Febr. 1904. — Mittheilung v. 11. Febr.
I 8
Zuvörderst ist über die Zeit des Archonten Lysiades zu reden.
Könter setzte ihn in die erste Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr., Tu.
Honmorze in das Jahr 145/4, von SCHörrer in das Jahr 146/5, FERrGUson
in das Jahr 166/5, Kırcnner um 160. Nachdem nämlich IG. II 2 er-
schienen war, ist ein zweites urkundliches Zeugnis des Archonten
Lysiades gefunden worden. In einer Inschrift aus Delos, welche 'En-
KPATOY ÄPxonToc Emmi TÄc ATTANnIAoc ENAeKATHc TIPYTanelac abgefaßt ist und
einen Beschluß der auf Delos wohnenden Athener enthält, »oTI Aokel
TEI BOYAEI ETTAINE CAl ToYc]| ATOPANOMHCANTAC EIC TON ETTI APXONTOC ÄPXONTOC
ENIAYTON«, steht geschrieben: AnArPAYAI AC TÖAE TO YHOICMA TON TPAMMA-
TEA TOY ErimernHToY MNHeIsInoN EIC CTHAHN NIBINHN Kal CTÄCAI AKonoYawc
Toic Apzacın Tön em Avlclıaaov Arxontoc enıaytön (Bull. Hell. XVI 371).
Hieraus ergab sich zunächst, daß Archon dem Epikrates unmittelbar
voraufging. Aber C. DousLEr (a. a. Ö. 370), Homoıze (XVII 162) und
VON SCHÖFFER (Realenz. II 591) schlossen weiter, daß das Amtsjahr des
Archon auf das des Lysiades folgte. Dieser Ansicht ist von FERGUSON
The Athenian archons S. 62 widersprochen worden. Da er nämlich unter
Anwendung des von ihm glücklich aufgefundenen Gesetzes von der
nach den Phylen geordneten Reihenfolge der Ratsschreiber für Archon
und Epikrates die Jahre 141/39 und 139/7 erhalten und den letzteren
Ansatz gewählt hatte, mußte er den Lysiades aus dem Jahre 140/39,
ddas schon von Antitheos sicher besetzt war, entfernen." Er behauptet
nun, daß der Zusatz auf der delischen Inschrift erkennen lasse, daß
das Jahr des Lysiades für die Ordnung der Dinge auf Delos von Wich-
tigkeit gewesen sei. Das deute doch auf die Wiederherstellung der
athenischen Herrschaft auf Delos, also auf 166/5. Kırcnner (At. Pro-
sop. 11 484) rückt Archon und Epikrates, da inzwischen die Jahre 138/6
von A. Wiırnerm mit Sicherheit den Archonten Timarchos und Hera-
kleitos gegeben worden waren, um zwölf Jahre hinauf (141/39)’, be-
hält aber die Absonderung des Lysiades bei, so jedoch, daß er diesen
Archonten um etwa 160 ansetzt.
Aber Frreusons Behauptung, daß Lysiades von Archon zu trennen
sei, läßt sich nicht verteidigen. Während sonst nach der Anweisung
ÄNATPAYAI AE usw. regelmäßig die Stelle oder die Stellen bezeichnet
werden, an denen die Inschrift ihren Platz finden soll, fehlt in dem
! [Vielmehr Hagnotheos, MExtER, Acad. ind. S.ı19. U. v. W.-M.]
® Die Umstellung hatte schon F. Jacogyv, Apollodor S.350 Anm. 4 vorgenommen,
da ein Akademiker, den er für einen Schüler des Lakydes hielt, nach Acad. ind. S. So
er APICTOSÖNTOC TOY META BeAITHTON gestorben ist, Theaitetos aber auf Epikrates
folgte. Indessen ist jener Philosoph, ein gewisser Eubulos, soviel sich bis jetzt er-
gründen läßt, ein Enkelschüler des Lakydes gewesen. Den Beweis für diese Behaup-
tung gedenke ich demnächst in einem besonderen Aufsatze über Telekles zu erbringen.
W, Crönerr: Eine attische Stoikerinschrift. 475
Delischen Beschlusse diese Angabe. Damit aber doch der Schreiber
nicht im Unklaren sei, wird ihm bedeutet, den Stein demjenigen bei-
zugesellen, der das Dekret für die Agoranomen des Lysiadesjahres
enthalte. Dann ist aber offenbar die Inschrift, auf die in dem Be-
schlusse hingewiesen wird, die letzte ihrer Art, an die sich nun die
neue anschließen soll.
Ist aber Lysiades der unmittelbare Vorgänger des Archon, dann
bleiben uns für ihn, da Epikrates durch den Ratsschreiber, einen Sy-
palettier, auf 162/1, 150/49 oder 138/7 festgelegt ist, nur die Jahre
164/3. 152/1 und 140/39. Der Ansatz 162/1 ist dadurch ausgeschlossen,
da die Jahre 165/60 durch die Archontenreihe Pelops — Euerg[ —
Erastos — Poseidonios — Aristolas sicher bestimmt sind (Kırcnner
II 642). Auch ist zu sagen, daß die Beziehungen zwischen den Namen
der Lysiades-, Archon- und Epikratessteine und denen anderer In-
schriften (vgl. Fereuson S. 62f., 70f. und Kırcuner GGA.1900, 460)
mehr zu den beiden andern Ansätzen stimmen. Die Hieropoieninschrift
enthält Männer, deren Väter um 186-—ı83 gelebt haben, deren Söhne
aber um 118-100 nachzuweisen sind. Dies ergibt als mittlere Zeit
154— 141. Aber auch der dritte Ansatz läßt sich nicht halten, da,
wie schon eben erwähnt wurde (S. 474), das Jahr 140/39 durch Hagno-
theos besetzt ist. Da nun auch 138/6 für Timarchos und Herakleitos
gefordert sind (S.474), bleibt für Epikrates kein Platz mehr übrig.
Damit ist denn Lysiades auf das Amtsjahr 152/1 bestimmt.
Gegen das Jahr 140/39 sprieht auch noch eine andere Beobach-
tung. Daß eine so große Anzahl von Hieropoien an einem Feste mit-
wirken, läßt uns vermuten, daß dazu eine besondere Veranlassung
vorlag. Und da das Fest die Ptolemaien sind, so muß erwartet werden,
daß damals der ägyptische Königshof in Athen sehr angesehen war.
Dies kann aber schwerlich im Jahre 140/39 der Fall gewesen sein,
als eben Euergetes II. durch seine Grausamkeit und seine Willkür-
herrschaft das Einschreiten der Römer notwendig gemacht hatte. Phi-
lometor hingegen (181/0o—145) unterhielt mit Athen gute Beziehungen;
IG. II 968, siegt er an den Panathenaien keaHtı monıKoı (etwa 168/7
bis 164/3). Was freilich den großen Festaufwand veranlaßt hat, können
wir nicht erkennen.
Die für Lysiades angenommene Amtszeit erhält, wenigstens zu
einem gewissen Grade, eine Bestätigung durch einen Philosophen-
namen.
TTanaitıoc “Pöaioc I25. U. Könter hatte sich zwar bei diesem
Namen des Stoikers erinnert, doch verwarf er alsbald den Gedanken,
da dieser Mann in die von ihm angenommene Zeit des Lysiades nicht
zu passen schien. Aber dieses Bedenken ist nun, nachdem die Zeit-
476 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 25. Febr. 1904. — Mittheilung v. 11. Febr.
bestimmung sicherer geworden ist, hinfällig. Hinzu kommt, daß der
Name Panaitios auf Rhodos nicht häufig ist, vgl. IG. XILı, 46,, TTA|-
cıoc' TTanaıriov (Stratege aus der Stadt Rhodos, ı. Jahrhundert v. Chr.),
und — TTjanaıtiov 767; (Lindos). Endlich ist uns ausdrücklich be-
zeugt, daß der Philosoph in Attika seinen Heimatnamen nicht auf-
gegeben hat (s. unten S. 481). Für ihn sind folgende Zeitbestimmungen
bekannt:
1. Er hörte noch Diogenes den Babylonier. Seine Geburt fällt
also wenigstens 25 Jahre vor den Tod des Lehrers (nach 156/5; Zeı-
LER läßt ihn um 150 sterben, Susemmur noch vor 151/0). SCHMEKEL
(Mittelstoa 2) zieht noch in Betracht, daß der jüngere Seipio, der enge
Freund des Panaitios, im Jahre 184 geboren wurde, und setzt darum
die Geburt des Rhodiers in die Zeit von 185— 180 (190— 185 Suse-
“ıHL 11 64).
2. Im Jahre 141 begleitet er den jüngeren Sceipio auf seiner Ge-
sandtenreise. Wie lange sie gedauert hat, ist nicht genau bekannt.
Da sie aber einen sehr großen Umfang angenommen hat (eine Ein-
schränkung macht B. Nızse Ill 279), so sagt F. Marx, nachdem er alle
Einzelheiten geprüft hat: »/egatio facta est intra annos 1411 et 139«
(Rhein. Mus. XXXIX 71). Daß sie vor die Zeit der Schulleitung fällt,
ist ohne weiteres klar.
3. Panaitios starb um 110 oder 109, wie SCHMEKEL S.2 ausge-
rechnet hat (» Ende 110 und spätestens Anfang 108« Susemmu Il 65).
Es ist nun in der Ordnung, daß ich zwei Kolumnen des Index
Stoicorum vorlege, welche unsere geringe Kenntnis von dem Leben
des Panaitios nicht wenig erweitern. Über die Gesandtschaftsreise
handelt Kol. ıvı. Die vorhergehende Kolumne erzählt die Herkunft
des Panaitios, so daß in dem verlorenen Rest von ıv (etwa 26 Zei-
len) die Jugendgeschichte, die philosophische Ausbildung, die Ent-
stehung des Verhältnisses zu Seipio und der Antritt der Reise erzählt
worden sein muß.
Ö AE TWN . AOOYCH.. N
CTPATEYCÄMENOC €. |
AYTON EN NAYCIN ETITÄ
TIPOC ®IAOMABHC! . AN-
s aa AYo ToYc larpolY|c Eae-
! So ergänze ich nach 735; Nikarörac TTAcıoc (Epistates des Apollontempels,
etwa ıoo v. Chr.). Denn die Namen TTAcioc und TTAcıc sind einander gleich. Der
Stoiker war der Sohn eines Nikagoras (Suidas und Ind. Stoic. LI3) und entstammt
einer der vornehmsten Familien der Insel (TÖn eYre]necTAtun An [mATPöeen LV ı— 2).
Auch der Name Ainesidamos gehört der Familie an, vgl. Nikaröra CT(P)Arinmov,
[k]Jae’ Yiosecian a& [AilnHcIalA)MmoY 347: und TON A’ Ainhlcfiaamon LV 5.
W, (röxerr: Eine attische Stoikerinschrift. A477
HeH CYNXWPHCAI THC
eic AsHnAac ATIOAHMIAC
ern ayt@ mlerlacixein
TONTOCE... WP(.)MHC...
10 CYNATIOAHMOYNTWN At
[
AYT|oNn eYeela cmleYcac
jeic Aeunac KATHxen|
Wenn ich noch nicht alle Schwierigkeiten lösen konnte, so ent-
scehuldigt dies die arge Zerrissenheit der Kolumne. Ein Mittelstück
(2. 4— 10), dazu mehrere kleinere Teile mußten unter Kol. ıvıi, wo
sie als soffoposti verdeckt lagen, herausgeholt werden. Für Z. 1-4
vermag ich noch keine befriedigende Ergänzung vorzulegen; »ınomAsHAn 4
ist nieht möglich, gegen eine bisher noch unbelegte Bildung »ınomA-
eHcın streiten die zwischen ı und Aa erhaltenen Reste, die auf ein »,
wo oder a hinweisen; auch den syntaktischen Zusammenhang erkenne
ich nicht. Aber ctpartercamenoc und die geringe Zahl der Schiffe deu-
ten darauf hin, daß wir es mit der Gesandtenreise Scipios zu tun
haben, der sehr große Vollmachten hatte. Das Folgende aber ist
klar. Panaitios will den Römer verlassen und nach Griechenland
zurückkehren; er bittet, daß ihn noch die zwei Ärzte (AYo rovc latpoyc
statt roYc aYo larpoyc wegen des Hiatus ?) begleiten dürfen, und eilt
dann geraden Weges nach Athen. In Z. 8 ist meracxein sehr unsicher,
in 9 hat vielleicht zwischen p und m kein Zwischenraum bestanden.
Es ist sehr ärgerlich, daß Philodem einer unbedeutenden Einzelheit
der Reise soviele Worte gibt: immerhin aber ist die Erkenntnis wich-
tig, daß Panaitios nicht die ganze Reise mitgemacht hat.
Es folgen vier Kolumnen, in denen von dem Vermögen und der
Freigebigkeit des Panaitios gehandelt wird: ıvır (nur wenig erhalten:
merıcAmeno|[c| — TAnANT|a), Lv” (heute bis auf zwei Buchstabenteilchen
verloren), ıvım (sehr zerrissen) und ıuıx (Beschreibung einer reichen
Erbschaft; Scnmegers Vermutungen S. 4' bestätigen sich nicht). Auf
Kol. ıx wird das Verhältnis zu Antipatros geschildert.
Kal aıA [mjeränunn Ezın
1AIOTIPATEIN AYNAME-
NOC OYK EKPINEN, ANNÄ
TPOEZATEIN ÄNTITIA-
5 TPWI" KAl TOFTO TIOI@N
mExPpı TEROYC (OYK)' ÄMEnE-
! Dies Wörtchen, dessen man nicht entraten kann, ist vermutlich durch Haplo-
graphie ausgefallen.
478 Sitzung der phil.- hist. Classe v. 25. Febr. 1904. — Mittheilung v. 11. Febr.
T|H|TOC ErENETO' XPÖNW!
AE 0 MEN AIA TO THÄPAC
ec|xönazeln| KAT’ OIkon
ı0 KABH|MENOC, 8 A& Hrlei-'
ceaı Aılteitlo| YIno| Ton
[CYCxonACTÖN|
Hier erfahren wir nun, «daß Panaitios zuerst als Assistent des
Antipatros” die philosophische Vorschule leitete und später, als jener
infolge seiner Altersschwäche nicht mehr in den Hörsaal gehen konnte
und seine Vorlesungen zu Hause abhielt, zur Übernahme des Scholar-
chats aufgefordert wurde. Es ist also, was erst durch die neue Le-
sung deutlich wird, die Schulleitung an den regelmäßigen Besuch des
Schullokals geknüpft. Wann Antipatros gestorben ist, wissen wir nicht’,
aber wir erkennen, daß Panaitios’ Lehrtätigkeit schon früh begonnen
hat. Und daß er seinen Freund nicht auf der ganzen Reise begleitete,
deutet darauf hin, daß ihn wichtige Geschäfte nach Athen riefen; ohne
Zweifel konnte ihn Antipatros nicht länger entbehren. Nun stellen
wir wiederum die Jahre 164/3, 152/ı und 140/39 zur Wahl. Der
erste Ansatz würde uns nötigen, die Geburt des Panaitios noch in die
neunziger Jahre zu legen, was sonst durch nichts empfohlen wird.
Zwischen den beiden anderen Ansätzen aber bleibt uns die Wahl. Denn
da Panaitios nicht die ganze Reise mitgemacht hat, so konnte er sehr
wohl im Sommer 140 wieder in Athen sein. Aber schon als junger
Mann wurde er in Athen öffentlich geehrt (unten S. 482), was wieder
auf Verdienste hindeutet: das stützt den mittleren Ansatz.'
Doch Panaitios ist nicht der einzige Stoiker unter den Hieropoien
des Amtsjahres 152/1 gewesen.
Mnacarörac Anezanareyc 18. Der Mann erscheint als Schüler
des Diogenes in der Epitome des Diogenes Laertios Usener, Epicurea
! r nach H ist so gut wie sicher; auf keinen Fall folgte T.
®2 Das Wort rroezArein, das noch Kol. ıxxvır 2 wiederkehrt: mAPEnITTeN Ae TO
TöI TTANAITIOI TTAPAMONON TIPOEZÄTEIN Kal TO AIKAION AYTOY TAPCEA TEFONENAI MACHTHN,
sonst sich aber nirgends in diesem Gebrauche findet, ist erst von Usexer (bei Münzer,
Realenz. 1 2856,) richtig erklärt worden, vgl. €zAreın in der Bedeutung »bestimmmen«
»erklären« Thesaur. L. Gr. 111 1210°.
® Worauf sich Scuwerers Behauptung gründet, daß Panaitios im Jahre 129 der
Nachfolger des Antipatros wurde (S. 129), habe ich nicht ausfindig machen können.
* Im Ind. Stoie. folgt auf Kol.rx die Darstellung der Philosophie des Panaitios
(rxı-rxı), dann kommen Bemerkungen iiber die Lebensführung (rxırn), über den Ge-
schmack (rxıv), über die Untersuchungsweise (?) und die Rede (rxv—ıxvi), über den
Gemeinsinn (rxvır), über die verliehenen Ehren (rxvın), über die Freunde (rxıx), über
den Tod (rxx), über das Begräbnis und die Grabrede (rxxı-ıxxır), endlich über die
Schüler (LxxIt—LxXV, LXXV®, LXXVI-LXXIX).
I DEE
\W. Crönerr: Eine attische Stoikerinschrift. 479
S. XI: Asoren#nc‘ Amonnöawroc‘ BoHesc‘ MunHcarxianc” MIN Aacarörac.'
Nectwp‘ Bacıneianc‘ AApaanoc' Antinatpoc‘' "Hpakneianc‘ CuwcirenHc' TIa-
nAITIoc" CE)KATWN' Tloceıawnıoc usw. Daß nämlich alle Männer, die
zwischen Aıoren#c und Antinatroc liegen, zur Schule des Babyloniers
gehören, ist schon längst bemerkt worden. Noch näher wird Mnasa-
goras durch den Index Stoicorum bestimmt. Auf Kol. x, zı und rır
werden die Schüler des Diogenes aufgezählt. Kol. ı bietet heute nur
noch geringe Trümmer, ıı aber beginnt also:
xov TÄc TPwiAaoc A-
NEZANAPEIAC' TTAnAi-
tıoc Nıkaröpov "Pörioc'
MNnHcAPXocC USW.
Die attische Inschrift legt es nahe, Mnacarörac MnacAp(?)|xoy zu er-
gänzen. Die Namenform Mnacarörac werden wir in der Troas eher
erwarten denn in dem ägyptischen Alexandreia.
Bacıneianc TTeiraieyc Il 20. Auch dieses ist, wie die Namen-
verzeichnisse IG. Iund I lehren, ein unattischer Name. Nun wissen
wir von zwei Philosophen, die ihn führten. Der eine, ein Tyrier,
war das vierte Schulhaupt im Kepos; seine Blüte ist von mir (in
diesen Sitzungsber. 1900, S. 958) in die Jahre 180— 150 gesetzt wor-
den. Es kann aber nicht bezweifelt werden, daß wir hier den an-
dern vor uns haben. In der eben ausgeschriebenen Epitome erscheint
er neben Mnasagoras als Schüler des Diogenes. Daß er die stoischen
nextA aufhob und den Satz aufstellte »mHaen einAaı AcWMATON«, berichtet
Sext. Emp. 344, B. (vox Arnm, Sfoic. vet. fragm. III S. 268); sonst
wissen wir nichts von ihm.
Antinatpoc Tleiraseyc Il5. Es ist vielleicht der Nachfolger des
Diogenes, Antipatros von Tarsos, dessen Fragmente nun von Arnın
zusammengestellt hat (Sfoie. vet. fragm. III 244— 258)” Doch ist hin-
zuzufügen, daß auch ein Schüler des Karneades möglich ist (s. unten
S. 481).
! Mnacaröpac Bonners und Diers’ Abschrift des Cod. Par. 1759 (P); ebenso der
daraus abgeschriebene Laur. rxıx 35 (H) nach Rose, Hermes I 370. Also verdient
E. Marrını, der Leipz. Stud. xıx 64 aus P MnHcarörac ausschreibt, keinen Glauben.
® Das wichtige Bruchstück Nr. 67 (aus Philodem TTeri T&n CTwıkön) werde ich
bald in besserer Gestalt vorlegen. Übersehen ist Philodem TTepi örrAc xxxıı 36. Diese
Stelle hat Gomrerz, Beitr. zur Kritik III (Wiener Sitzungsber. phil. -hist. Kl. Bd. 53)
S. 583 ohne Grund auf den Tyrier bezogen. Denn unter den Werken des andern wird
auch eine Abhandlung über den Zorn erwähnt (Nr. 65, aus Athen. XIV 643°). Auch
die Erklärung der Stelle ist nicht richtig, denn gerade das Wort eHPla, um das sich
alles dreht, widerstreitet der Überlieferung. Ich hoffe, auch dieses Bruchstück, das
übrigens noch auf Kol. xxxıv hinüberreicht, bald in vollständigerer Lesung vorführen
zu können.
480 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 25. Febr. 1904. — Mittheilung v. 11. Febr.
Arornnöawroc Tleıaıevc Il 30. Dies kann der Landsmann und
Schüler des Diogenes sein, der ebenfalls in der Epitome steht, vgl.
auch Ind. Stoie. LI 7 Aronnöau/Polc] Cenelv|xelvjc Amo Tlirpioc. Er führt
den Spitznamen "Esınnoc (= Eminnoc, » der Blinzler«): seine Bruchstücke
hat von Arsım a.a.0. S. 259— 261 zusammengetragen."
AckaHnmıöaoroc TTeıpaıeyc I5. Während in Kleinasien Dutzende
von Asklepiodoten sich finden, ist in Athen sonst nur noch einer
bezeugt (IG. II 455,.).- Also stammt auch wohl dieser Mann aus dem
Auslande. Ein Asklepiodotos aber ist als Schüler des Panaitios be-
kannt, vgl. Ind. Stoie. LXAXIU:
- [aıetpi-
ven En PwmHi KAkel
IÖnToc Erı TTanaıTi-
OY KATECTPEYEN" ÄckKAH-
mI6A0oTOC ÄCcKAHTIOoAo-
un
Toy NikaleYc, Öc Kal AY-
tölc eile "Plomnn Alalelen'
die Ergänzung ConPArETTIs öc Kal aY|töc TTlolceıawniov aıhkovcen hat vor
der Nachprüfung nicht standgehalten. Mit Kol. ıxxıı beginnt die Liste
der Schüler des Panaitios. Der Mann, der noch zu Lebzeiten seines
Lehrers stirbt, ist ohne Zweifel einer der ältesten Schüler gewesen,
so daß wir dasselbe auch von Asklepiodotos annehmen können. Wäh-
rend Comparertrı an den Taktiker, den Schüler des Poseidonios, dachte
(vgl. besonders Dies, Doxogr. 19), hat ZeLLEr (II ı° 569 und 585)
zwischen einem älteren und einem jüngeren Asklepiodotos unterschie-
den, wohl in Berücksichtigung der zeitlichen Unterschiede.
Förroc Ce#trioc Il 22. In Attika sind zwar die Namen Forriac
und Förrinmoc sehr häufig, aber Törroc kommt nur selten vor (IG. I:
drei Leute), so daß wir auch diesen Mann im Ausland suchen dürfen.
Die Schülerliste des Panaitios schließt mit diesen Worten (Kol. ıxxvi):
Aurmoknhc Mec-
s chnioc' [öproc AAkeanı-
mlölnıoc. "Erw ae Kal Öi-
BP[wNnA OlAA
! Bei Diog. VI ı25 (fr. 15): Artonndawpoc A& En TÄI PycikÄl KATÄ THN APXAIAN
durfte nicht KATÄ THN APXÄN geschrieben werden, da Ekaocın hinzuzudenken ist. So
Fowrer, Panaetü et Hecatonis fragmenta S.49, vgl. noch Usener, G.G.N. 1892, 188,
der die Arxala und die AHm®AHc des Demosthenes bespricht, und En TIoANAIc TÖN APXAI@N
(nämlich "OmkPoY Ekaöcewn) Schol. A zu | 657. Daß das Werk des Apollodoros viel ge-
lesen war, ergibt sich auch daraus, daß es zu Augustus’ Zeit einen Erklärer gefunden hat:
BEWN Anezanaperc ... Erpaye TÄAc AronnoawpoY ®rcionorikAc eicarwrAc YTIOMNHMA Suidas.
2 Aber IG. II sechzehn Leute des Namens ‘AckAHmIöAwPoc.
W. Crönerr: Eine attische Stoikerinschrift. 481
Das Schülerverzeichnis scheint aus mehreren Quellen zusammengestellt
zu sein (LXXII—LXXV, LXXVI I-6, ıxxvu 6ff.), so daß also der Gorgos
zu den nachträglich Hinzugefügten gehören würde. Damit wären wir
in der Bestimmung der Lebenszeit ohne enge Beschränkung, und auch
Gorgos könnte zu dem älteren Schülerkreise gehören. Indessen möchte
ich diese Gleichung nur als möglich, nicht als wahrscheinlich be-
zeichnen.
Von den aufgefundenen Philosophen haben die einen ihren Heimat-
namen bewahrt, während die anderen sich in einen Demos einschreiben
ließen. Dies erinnert an Plut. de Stoie. rep.4 S. 1034": Kai MAN ÄNTITTATPocC
en T®I Tlepi KneAneovc Kal XPYcintmoY AIABOPAC ICTÖPHKEN, OTI LHNWN Kal
KneäneHnc oYK HoenHcan ÄAsHnaloı TENEceAl, MH AÖZWCI TÄC AYT@N TIATPIAAC
AAIKEIN. OTI MEN, El KAAWC OYTOI, XPYCcInToc OYK ÖPBWC ETIOIHCEN ErFFPABEIC
eic THN TIONITEIAN, TTAPEICew usw. Dem Beispiele des Chrysippos sind die
meisten Stoiker unserer Inschrift gefolgt. Fremde aber blieben Panaitios
und Mnasagoras. Das bezeugt für den einen auch Proklos (= Plutarch)
zu Hes. Opp. 707 (VII 84 Bernard.): «Ai örewc TTanaitioc, TIOAITHN AYTON
AÄBSHNAIWN TIOIÄCAI CTIEYAONTWN, EITTE TWI CW&PONI MIAN TIÖNIN APKEIN.
Wenn ich bei der Durchsicht der Namen unserer Hieropoienliste
den Aronnöawroc Tleıpaievc II 30 mit dem Stoiker aus Seleukeia in Ver-
bindung zu bringen gewagt habe, so geschah dies darum, weil man die
Beobachtung macht, daß sich die ausländischen Philosophen in den Demos
Peiraieus mit Vorliebe haben aufnehmen lassen." Deutliche Beispiele
geben Ackanmiöaoroc Tleıpaieyc 15 und Bacıneianc TTeipasevrc II 18, welche
Männer sich schon durch ihre Namen als Fremdlinge zu erkennen geben.
Ich glaube imstande zu sein, dafür noch ein Beispiel anzuführen. Unter
den Schülern des Karneades” erscheint Ind. Acad. XXIII 38 = XXXI 36
ein BartAkhc Nikaselvc|. Das ist ein unattischer Name (BAaT-Akhc: die
Namen Bation, BArıc, BArıoc usw. gehören zu den Inseln und nach
Kleinasien). Die Weihinschrift IG. III 778 (»aetatis Augusti« DITTENBERGER)
Apraion Apraioy IIn..a() Batäcuc BatAkKov Tleıpalievc) gepartevaeic ANEEHKEN
ist von HırscHrEeLp wegen des Künstlernamens AHmATPıoc ®inwnoc TTre-
reAcıoc ins 2. Jahrhundert v. Chr. gesetzt worden (vgl. nun KırcHner,
Prosop. 1226 Nr. 3442, II 445 Nr. 1578a). In dem Weihenden ver-
mute ich den Akademiker.
! Der Peiraieus ist der Demos der Händler und Unternehmer (Ü. Schering,
Leipz. Stud. 1897, 76 —78), also auch vorzüglich der Ausländer.
® Es ist noch zu erwähnen, daß die Hieropoienliste vielleicht auch einige
Schüler des Karneades enthält, vgl. AckaHmıAlalHc TTeipaifeyc II 31 mit AckAH-
MAAHC ’ArrameyYc Ek CyPlac Ind. Ac. XXIV 4 und MHTPöAwPoc Tleiraievc Il 23 mit
MIHTP[ö]awro[c “Arralmeyc. Auch kann in “Anrinatpoc TTeipaieyc II 5 an Stelle des
Stoikers ein Schüler des Karneades angenommen werden: ’An]TimAaTploc] AnezanareYc
XXIII ı2. Karneades selbst war ArHnieYc (Kırcnner 1 548, Nr. 8257, Ditt. Syll.® 298).
Sitzungsberichte 1904. 36
482 Sitzung der phil.- hist. Classe v. 25. Febr. 1904. — Mittheilung v. 11. Fehr.
Das Hieropoienamt haben nach unserer Inschrift auch einige
Ausländer bekleidet. Auch an den Panathenaien sehen wir ziemlich
um dieselbe Zeit nichtathenische Hieropoien mitwirken: IG. II 954,
Ej/nomoc Kfyzik|unöc und „, Arıclromen[(nc) Anıkalenacceyc. In dem vor-
aufgehenden Jahrhundert hatte schon Lykon, der ebenfalls ein Aus-
länder geblieben ist (Aykan einöco(soc) IG. II 334,..), dasselbe Amt be-
kleidet, vgl. Antig. v. Kar. bei Athen. XII 547” (S.85 Wiır.): jeromoıAcal
TE Kal TON MoYc@n EITIMEAHTHN TENECBAI" A AH TIÄNTA EWAINETO AOTOY MEN
ÄNAÖTPIA KAl #INOCOBIAC EINAI, TPY#ÄC TE Kal TIEPICTÄCEWC oikelötera.‘ Daß
die Schüler des Diogenes öffentliche Ämter nieht verschmähten, lehrt
auch die Liste des Ind. Stoie., die Kol. zır also beginnt: ev|rarröc Yiöc'
ereneto | ac Kal Apeorraritnc oYroc. Über Panaitios insbesondere ist noch
Kol. rxvur zu vergleichen, wo ich also lese: AnnA Kal sInoTIMWc ETHPHCEN
TA TE iepA Kal TA rY-
MNACIA KAl THN CYNEI-
SICMENHN ATIAP|XHN(?) Kal
TO THÄC AIANOIAC TTEPI
THN BEWPIAN ACXOAON.
r
s eamlA r|AP AYTOı cıro-
METPON EYE|YNH KAl
ER 9% n enlexei-
Aber vielleicht ist der Kreis der auf unserem Steine vereinigten
Stoiker noch größer gewesen. Schon jetzt ist die Inschrift eine gute Er-
klärung zu Athen. V 186°: rIonn@n rOPN eicı GINOCÖSWN EN ÄCTEI CYNOAOI, TÜN
MEN AIOTENICTÖN, TON AC ÄNTITTATPICTÖN AETOMENWN, TON A& TTANAITIACTÜN.
Nun finden wir noch manche Namen, bei denen wir erwägen dürfen,
ob sie nicht auch in die Stoa gehören: zunächst zwei Römer, Aevkıoc
I 37 und Crrörioc "Pumaioc II 7°, dann zwei Fremde, TnavYkiac BertTanöc
122 und Memnon Carasanöc I 35, endlich ein attischer Bürger mit un-
attischem Namen, Menenaoc TTeıpaievc 13. Diese Erwägungen haben
zunächst keinen Wert. Aber wenn einst die noch geschlossenen Reste
des Index Stoicorum. die die unteren Enden etwa von Kol.xxx bis
! Für die ältere Zeit vgl. Böckn, Staatshaushaltung ?1 274, 11 62*. [|Lykon be-
kleidete das Amt in dem privaten slacoc Movcön der Peripatetiker, wo natürlich das
Bürgerrecht nicht erfordert war. So kann es auch hier stehn. U. v. W.-M.]
2 Das hat ihm denn schon frühe manche Ehren eingetragen, vgl. Lxvmm 3—6:
NE@I Mer TÄP | ÖNTI BAnNOY CTESANON | KAl [TTPOEENIAN EKYP@|[CAN AYIT[OI.
3 Der älteste italische Stoiker ist bis jetzt C. Blossius ‘aus Cumä, ein Schüler
des Antipatros (Realenz. III ı, 571), auf den in Philodems Schrift TTeri Tn CTwIkön
Pap. 155, Pezzo ı2, Kol. 2 angespielt wird: eic] KammanoyYc HmAc Kai | TYPPHNIAN THN
tranalı]ÄN | CAapaöna Kai TTepcac m[eToiKiz[eijn Kal TO TIePAc elijrein | TAN TAYPIKÄN.
W. Crönerr: Eine attische Stoikerinschrift. 483
zum Schlusse enthalten', aufgerollt werden können, dann ist es nicht
unmöglich, daß sich auf unserer Inschrift ein neuer Stoiker werde er-
kennen lassen.
! In dem kleinen, kaum 205" wiegenden Papyrusstücke sind also noch Er-
gänzungen zu den Schülerlisten des Chrysippos (xLv—xtvin), des Zenon (xLVi—XLIx),
des Diogenes (x—rır), des Antipatros (rıı—rıv) und des Panaitios (LXxIm—LxxIx)
verborgen.
Ausgegeben am 3. März.
485
SITZUNGSBERICHTE ae
Xu.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
25. Februar. Sitzung der physikalisch-mathematischen Olasse.
Vorsitzender Secretar: Hr. Auwers.
*]. Hr. Schwarz las über diejenigen Minimalflächen von alge-
braischem Typus, welche längs keiner auf ihnen liegenden Linie
singuläre Flächenelemente besitzen (Minimalflächen von algebraischem
Typus ohne Rückkehrkante); ferner über eine algebraische Iden-
tität, welche mit der conformen Abbildung der Fläche einer Halb-
ebene auf die Fläche eines Kreisbogendreiecks zusammenhängt, dessen
“2 TOT 57,
Winkel Te
Die Identität ist folgende:
42 —1)[3°. 2° — 2-3%.2° — 7.3°.5.2— 22] +2[3%.0—2°]°
— [2.312.205 — 3.11.01 424.3%.71.2° — 27.35. 197.2 —201.39.23.0- 207.
sind.
2. Hr. Scuortky machte eine weitere Mittheilung über die Aser-
schen Funetionen von drei Veränderlichen.
Die Bestimmung der Nullpunkte von « in Rırmann’s partieulärer Lösung wird
auf eine kubische Gleichung zurückgeführt.
3. Hr. Krem legte eine Mittheilung des Hrn. Prof. Dr. H. Baun-
HAUER in Freiburg (Schweiz) vor: Über die Aufeinanderfolge und
gegenseitigen Beziehungen der Krystallformen in flächen-
reichen Zonen. (Ersch. später.)
Es wird dargethan, dass die Flächenanlage nicht willkürlich erfolgt, sondern in
derselben die Regelmässigkeit sich zeigt, dass die Indices abgeleiteter Flächen von
denen der Hauptflächen abhängig sind.
4. Hr. Exerer überreichte folgende Druckschriften: Ascuerson und
GRAEB, Synopsis der mitteleuropäischen Flora, Lief. 29-30. Leipzig 1904.
und: Handbuch der Blüthenbiologie, begründet von P. Kunrn, fortge-
setzt von LoEw und Arrer, 3 Thle., Leipzig 1898 — 1904.
486
Über die Aper’schen Funetionen von drei
Veränderlichen.
Von F. ScHoTTkY.
(Fortsetzung der Mittheilung vom 19. November 1903.)
I. meiner letzten Mittheilung war für die ungerade Aser’sche Function
00,8
0.05
ein Ausdruck gegeben, aus dem sich die geometrische Bedeutung der
Gleichung c = 0 erkennen lässt. c verschwindet für diejenigen der
Curve L= 0 angehörigen Punktepaare (x, y, 2). (w’, y', 2’), wofür die
alternirende Form @ gleich © wird, mit Ausschluss derer, wofür gleich-
zeitig P oder P’ verschwinden.
Nun tritt aber der eigenthümliche Umstand ein, dass die Glei-
chung Q=0, wenn (x, y',2’) ein beliebiger Punkt der Ebene ist,
zwar im Allgemeinen einen nicht zerfallenden Kegelschnitt darstellt;
ist aber (x’, y’,2’) ein Punkt der Curve L=o0, so zerfällt Q in zwei
Linearfactoren, von denen der eine P’ ist. Denn auf dem Kegelschnitt
Q=0 müssen sechs Punkte der Geraden P’= 0 liegen. Es folgt
daraus, dass die drei von (x, y', 2’) und den Doppelpunkten verschie-
denen Schnittpunkte, die die Curve dritten Grades P=o mit der
Curve L=o hat, auf einer zweiten Geraden, R’=o liegen, falls
(©, y', 2’) selbst ein Punkt der Curve L= 0 ist. Die drei Nullpunkte
von o liegen ebenfalls auf einer Geraden, und zwar sind es die drei
übrigen Schnittpunkte der Linien =o,L=o.
Diese geometrischen Beziehungen lassen sich leicht direet er-
kennen. Die Gleichung L=0 sagt aus, dass die Functionaldeter-
minante von X,Y,Z nach x, y, 2 verschwindet. Aus dieser Gleichung
lassen sich Z sowie die Differentialquotienten von X und Y nach 2
eliminiren, wenn man die Identität X\@a+Yy+Zz= o berücksichtigt,
und ausserdem die Differentialgleiehungen, denen X und Y als homo-
gene Functionen genügen. Die Gleichung L=o nimmt dann die
Form an:
Scnorekv: Über die Aser’schen Functionen von drei Veränderlichen. 487
I Ze = = 277 + a )
dw oy oYy dm
Andrerseits ist
ar ar
— APR) a ap + mg + u.8S.W.,
wie aus den Definitions-Gleichungen:
a Tee
C 2
P=xX+yY+:zZ
hervorgeht. Liegt nun der Punkt (@’,y’,z’) auf der Curve L=o,
so kann man, gemäss der Form, in der diese Gleichung zuletzt dar-
gestellt war, in der quadratischen Form @ die Coeffieienten von ay, &2
und yz durch die von x’, y’, 2° ausdrücken. So ergiebt sich direet:
QrER Re
wo R' die lineare Function bedeutet:
w—leX | „BoaY’, Porz
a EP u
dw J oy 02
Nimmt man auch &,y,2 auf der Curve L=o an, so ist ebenso
—Q=PR,
‚0logX
a —— ar: USE Na
dx
daher:
AR le
Betrachten wir nun die drei von (#’, y', 2’) und den sieben Doppel-
punkten verschiedenen Punkte, welche die Curven P=o0, L=o ge-
meinsam haben. In diesen kann P’ nicht gleich © sein. Denn die
beiden Curven der Punkte (w,y,2) und (X, Y,Z) entsprechen sich
gegenseitig eindeutig; aus den Gleichungen P=o, P'=o, in Ver-
bindung mit den Identitäten
XAa+Yy+Zz=o, Xa+Yy+Zzr= o
würde aber folgen, dass die drei Determinanten
YZ—ZY,, ZX—XZ, XY—YX
gleich © wären. — Aus der Gleichung
PR=—P'R
folgt daher, dass die drei Punkte auf der Geraden R’= 0 liegen.
Die Nullpunkte von o sind die drei übrigen Schnittpunkte dieser Ge-
raden mit L=o0.
488 Sitzung der physikalisch -mathematischen Classe vom 25. Februar 1904.
In meiner Arbeit: Abriss einer Theorie der Ager’schen Functionen
von drei Variabeln, Leipzig, Teubner, 1880, waren die Nullpunkte von
c in andrer Weise definirt. Legt man durch (x’, y’, 2’) und einen der
Doppelpunkte, x, eine Gerade, so schneidet diese die Curve L=o0in
drei weiteren Punkten. Legt man durch diese drei weiteren Punkte
und die sechs von x verschiedenen Doppelpunkte eine Curve dritten
Grades, 2, = 0, so enthält diese die Nullpunkte von o. Die Func-
tion 2, ist in der angeführten Schrift, S. 79, explieite dargestellt; so-
mit kann man die Nullpunkte von © jetzt auch definiren als Durch-
schnittspunkte einer gegebenen Curve dritter Ordnung mit einer ge-
gebenen Geraden.
Ausgegeben am 3. März.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei.
Pr
| SITZUNGSBERICHTE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
XI.
3. März 1904.
BERLIN 1904.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
Auszug aus dem Reglement für die Redaetion der »Sitzungsberichte«.
IR
2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Octav regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die sämmtlichen zu einem Kalender-
jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
fortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserdem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch-mathematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch historischen Classe ungerade
Nummern.
$ 2.
1. Jeden Sitzungsbericht eröffnet eine Übersicht über
die in der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilungen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten.
2. Darauf folgen die den Sitzungsberichten über-
wiesenen wissenschaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckfertig übergebenen, dann die, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gehö-
rigen Stücken nicht erscheinen konnten. Mittheilungen,
welche nieht in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet.
85.
Den Bericht über jede einzelne Sitzung stellt der
Seeretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte.
Derselbe Secretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei-
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
86.
1. Für die Aufnahme einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $ 41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglements die folgenden Beaptz
deren Bestimmungen.
2. Der Umfang der Mittheilung darf 32 Seiten in
Octav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nicht übersteigen. Mittheilungen von Verfassern , welche
der Akademie nicht angehören, sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist
nur nach ausdrücklicher Zustimmung der Gesammt-Aka-
demie oder der betreffenden Classe statthaft.
3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
tenden Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Nothwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzschnitte fertig sind und von
besonders beizugebenden Tafeln die volle erforderliche
Auflage eingeliefert ist.
87.
1. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
schaftliche Mittheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer Ausführung, in
deutscher Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2. Wenn der Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
öffentlichen beabsichtigt, als ihm dies nach den gelten-
den Rechtsregeln zusteht, so bedarf er dazu der Ein-
willigung der Gesammt- Akademie oder der betreffenden
Olasse,
$8. &
5. AOReRrR werden Correeturen nur auf besonderes
Verlangen verschickt. Die Verfasser verzichten damit
auf Erscheinen ihrer Mittheilungen nach acht Tagen.
$ 11.
1. Der Verfasser einer unter den » Wissenschaftlichen
Mittheilungen« abgedruckten Arbeit erhält unentgeltlich
fünfzig Sonderabdrücke mit einem Umschlag, auf welchem
der Kopf der Sitzungsberichte mit Jahreszahl, Stück-
nummer, Tag und Kategorie der Sitzung, darunter der
Titel der Mittheilung der Name des Verfassers stelıen.
2. Bei Mittheilungen, die mit dem Kopf der Sitzungs-
berichte und einem angemessenen Titel nicht über ne
Seiten füllen, fällt in der Regel der Umschlag fort.
3. Einem Verfasser, welcher Mitglied der Airdenie
ist, steht es frei, auf Kosten der Akademie weitere gleiche
Sonderabdrücke bis zur Zahl von noch hundert, und
auf seine Kosten noch weitere bis zur Zahl von zwei-
hundert (im ganzen also 350) zu unentgeltlicher Ver-
theilung SHahen zu lassen, sofeın er diess rechtzeitig
dem redigirenden Secretar angezeigt hat; wünscht er auf
seine Kosten noch mehr Abdrücke zur Vertheilung zu
erhalten, so bedarf es der Genehmigung der Gesammt-
Akademie oder der betreffenden Classe. — Nichtmitglieder
erhalten 50 Freiexemplare und dürfen nach rechtzeitiger
Anzeige bei dem redigirenden Seeretar weitere 200 Exem-
plare auf ihre Kosten abziehen lassen.
s28.
1. Jede zur Autrahhe in die Sitzungsberichte be-
stimmte Mittheilung muss in einer akademischen Sitzung
vorgelegt werden. Abwesende Mitglieder, sowie alle
Nichtmitglieder, haben hierzu die Vermittelung eines ihrem
Fache angehörenden ordentlichen Mitgliedes zu benutzen.
Wenn schriftliche Einsendungen auswärtiger oder corre-
spondirender Mitglieder direet bei der Akademie oder bei
einer der Classen eingehen, so hat sie der vorsitzende
Secretar selber oder durch ein anderes Mitglied zum
Vortrage zu bringen. Mittheilungen, deren Verfasser der.
Akademie nicht angehören; hat er einem zunächst, geeignet
scheinenden Mitgliede zu überweisen. s
[Aus Stat. $ 41, 2. — Für die Aufnahme bedarf” es
einer ausdrücklichen Genehmigung der Akademie ‚oder
einer der Classen. Ein darauf gerichteter Antrag kann,
sobald das Manuscript druckfertig vorliegt,
gestellt und sogleich zur ri werden.]
$ 29. x
1. Der redigirende Secretar ist für den Inhalt des
geschäftlichen Theils der Sitzungsberichte, jedoch nicht
für die darin aufgenommenen kurzen Inhaltsangaben der
gelesenen Abhandlungen verantwortlich. Für diese wie
für alle übrigen Theile der Sitzungsberichte sind
nach jeder Richtung nur die Verfasser verant-
wortlich. f 3
Die Akademie versendet ihre -Sitzungsberichte= an diejenigen Stellen, mit denen sie im Schriftverkehr oh
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinbart wird, jährlich drei Mal, nämlich:
die Stücke von Januar bis April in der ersten Hälfte des Monats Mai,
» Mai bis Juli in der ersten Hälfte des Monats August, N
» October bis December zu Anfang des nächsten Jahres nach Fertigstellung 2
5 Registers.
489
SITZUNGSBERICHTE 1904.
XI.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WIS SENSCHAFTEN.
n
3. März. Gesammtsitzung: 74
Vorsitzender Secretar: Hr. Auwers.
*]. Hr. Koser las über die Neuordnung des Bey ischen
Archivwesens durch den Staatskanzler Fürsten von Har-
DENBERG.
Die noch heute bestehende Gesammtorganisation der preussischen Staatsarchive
geht in ihren Grundzügen auf HArDENBERG zurück, der an den Fragen des Archiv-
wesens nicht bloss einen bestimmenden, sondern einen bis in die kleinen Einzelheiten
gehenden persönlichen Antheil genommen hat. Von Harpexzerg’s Entwürfen ist auch
auf diesem Gebiete nach seinem T'ode vieles zurückgelegt worden; vor allem unter-
blieb, nachdem die Minister des Königlichen Hauses und des Auswärtigen, Fürst Wrrrr-
GENSTEIN und Graf BErNsTorFF, die oberste Leitung der Archivverwaltung übernommen
hatten, die von HARDENBERG zugesagte weitherzige Erschliessung der Staatsarchive für
die Zwecke der wissenschaftlichen Forschung und die nach dem Muster der Ecole
des chartes geplante Errichtung einer Archivschule.
Hr. vav’r Horr legte eine Mittheilung der HH. Prof. F. Rıcnarz
und Dr. Run. Scnuenck in Marburg vor: Weitere Versuche über
die dureh Ozon und durch Radium hervorgerufenen Licht-
erscheinungen.
Die Mittheilung bildet eine Ergänzung der früheren über dasselbe Thema, worin
die Analogie des Verhaltens von Ozon und Radium betont wurde. Es stellt sich nun-
mehr heraus, dass das Leuchten der Sidot'schen Blende unter Einfluss von Ozon von
einer Oxydation herrührt, während dasselbe unter Einfluss von Radium sich auch in
Abwesenheit von Sauerstoff zeigt und also anderer Natur ist.
3. Die Akademie hat Hrn. Prof. Dr. ALgert Leitzumann in Jena
und Hrn. Dr. Cart Scuünppekopr in Weimar zur Vollendung ihrer Aus-
gabe der Briefe von GEORG ÜHRISTOPH LICHTENBERG 500 Mark bewilligt.
Sitzungsberichte 1904. 37
490 Gesammtsitzung vom 3. März 1904.
Weitere Versuche über die durch Ozon und durch
Radium hervorgerufenen Lichterscheinungen.
Von F. Rıcuarz und RupoLr SCHENK
in Marburg.
(Vorgelegt von Hrn. van’r Horr.)
In einer früheren Mittheilung' haben wir u. a. die Beobachtung an-
gegeben, dass Sidotblende (Zinksulfid) in einem Ozonstrome leuchtet.
In Bezug auf die Beobachtung dieses Leuchtens selbst tragen wir
noch nach, dass der Sauerstoffistrom vor dem Özonisiren durch Vor-
lagen getrocknet wurde; wir erwähnen diess, weil erhöhte Luftfeuch-
tigkeit das schwache Restleuchten der Sidotblende vermehrt; dieser
Einfluss war bei unseren Versuchen ausgeschlossen. Ferner handelte
es sich bei einigen Versuchen nicht um Verstärkung von Restleuchten,
sondern die Sidotblende war nach längerm Abschluss jeglicher Strah-
lenart vor der Berührung mit Ozon fast völlig dunkel und leuchtete
dann erst in Berührung mit Ozon.
Wir haben nun weiterhin untersucht, ob eine Beziehung besteht
zwischen dem Leuchten der Sidotblende einerseits durch Ozon und
andererseits durch Radiumbestrahlung in Sauerstoff bez. in Luft, wie
wir damals schon vermutheten (a. a. OÖ. S. 1105).
An kräftigen Präparaten von Radiumbromid beobachtete bereits
F. Giesen” die Ozonisirung der umgebenden Luft, die durch den Geruch
wahrnehmbar ist. Auch an den kleinen Mengen von Radiumbromid,
welche uns zur Verfügung standen (3”®), liess sich die Ozonbildung
nachweisen. Das Radiumpräparat wurde mit einem Stück Jodkalium-
stärkepapiers in ein Rohr mit Sauerstofffüllung eingeschlossen; nach
einiger Zeit zeigte sich kräftige Bläuung durch ausgeschiedenes Jod.
Da Ozon die Sidotblende zum Leuchten bringt, so muss ein Theil
der Luminescenz, welche sie in Gegenwart von Luft unter dem Ein-
! Diese Sitzungsber. 10. Dec. 1903, S. 1102.
2 F. GisseL, Ber. d. D. Chem. Ges. 35, 3610; 1902.
F. Rıcnarz und R. Scuencx: Weitere Versuche über Ozon. 491
tluss von Radium zeigt, durch Ozon direet oder indireet (durch Sauer-
stoff-Ionen) verursacht sein. In der That ist, wie wir erkannt haben.
die Fluorescenz der Sidotblende in Gegenwart von Radium in einer
Kohlensäure- Atmosphäre etwas schwächer als in Luft. Wir haben
die Versuche sehr häufig wiederholt und eine Versuchsanordnung ge-
funden, welche eine Täuschung durch subjeetive Einflüsse, die bei der
Schätzung von Helligkeitsdifferenzen leicht vorkommen können, un-
möglich macht. Ein kurzes weites Glasrohrstück wurde auf der einen
Seite mit einem einfach durchbohrten Gummistopfen verschlossen, durch
dessen Bohrung ein zur Spitze ausgezogenes Glasrohr gieng: es konnte
von seinem andern zu einem engern Rohr ausgezogenen Ende her
durch einen Dreiweghahn beliebig mit einer Atmosphäre von getrock-
neter Luft oder trockener Kohlensäure gefüllt werden. In den wei-
tern Vorstoss wurde ein Stück mit Sidotblende präparirtes Papier
eingeklemmt. Am einen Ende, der Eintrittsstelle der Gase, wurde
die Büchse mit Radiumbromid, die Glimmerseite nach unten, aufge-
legt. In einer Entfernung von 2°" wurde durch eine Spur Radium
ein leuchtendes Pünktchen auf dem Papier markirt. In trockener Luft
zeigte sich Folgendes. Die nächste Umgebung des Radiums leuchtete
sehr hell. Der leuchtende Fleck hatte die Form eines Halbmondes
und war umgeben von einem schwach leuchtenden Bezirk. dessen
äussere Grenze über den leuchtenden Punkt hinausgieng. Ersetzten wir
die Luft durch Kohlensäure, so war an dem hellen Fleck eine wesent-
liche Änderung nicht wahrzunehmen, wohl aber an dem schwächer
leuchtenden Hofe, dessen Ausdehnung sehr viel kleiner wurde. Seine
Äusserste Grenze war in einer Kohlensäure- Atmosphäre um mindestens
1°" nach dem Präparat zu verschoben. Die Intensität des Leuchtens
der Sidotblende unter dem Einfluss von Radium ist also in Kohlen-
säure schwächer als in Luft.
Die Versuche sind oft wiederholt und die Beobachtungen von
mehreren gänzlich unbeeintlussten Beobachtern bestätigt worden.
Es liegt nahe anzunehmen, dass die Verstärkung des Leuchtens
der Sidotblende durch Radium in Luft gegenüber demjenigen in Koh-
lensäure hervorgerufen wird durch Ozon (bez. Sauerstoff-Ionen); das
sehwache Leuchten der in Luft hinzutretenden Höfe möchten wir auch
seiner Erscheinungsweise nach als ein »wolkiges« bezeichnen, ebenso
wie das Leuchten in einem Ozonstrom. Der weitaus grössere Theil
des Leuchtens der Sidotblende durch Radium hängt dagegen mit der
ÖOzonbildung nicht zusammen, sondern ist durch freie Elektronen,
Röntgenstrahlen (welche Sidotblende lebhaft tluoreseiren machen), kurz
durch die ganze übrige Gesammtstrahlung des Radiums hervorgerufen.
Baryum-Platin-Cyanür, welches nicht in Ozon leuchtet, zeigt auch
492 Gesammtsitzung vom 3. März 1904.
(lurech Radium leuchtend keinen Unterschied in Luft oder Kohlen-
säure.
Zweitens haben wir nachgewiesen, dass Zinkblende — unserer
Vermuthung gemäss — durch Ozon zu Zinksulfat oxydirt wird. Fein
gepulverte und mehrmals ausgekochte Zinkblende wurde in Wasser
suspendirt: nach dem Durchleiten eines schwachen Ozonstromes (Dauer
ungefähr 10 Minuten) zeigte die abfiltrirte Flüssigkeit auf Zusatz von
Chlorbaryumlösung einen deutlichen Gehalt von Sulfat an. Es ist als
selbstverständlich zu schliessen, dass durch einen Dauerversuch Sidot-
blende in einer Sauerstoffatmosphäre auch vermittelst Radiums oxydirt
werden könnte.
Das Leuchten der Sidotblende unter dem Einfluss von Ozon ist
also als Oxydationsleuchten aufzufassen: die Luminescenz des Zinksul-
fids in Gegenwart von Radium jedoch nur zum kleinsten Theile als
Oxydationsluminescenz zu betrachten. Da der weitaus kräftigste Theil
der dureh Radium verursachten Leuchterscheinung auf andere Ursachen
zurückzuführen ist, so erscheint in dieser Hinsicht die Analogie zwi-
schen dem Ozon und dem Radium als eine beschränkte. Wir betonen
ausdrücklich, dass es uns bisher weder gelungen ist, negative Elek-
tronen, noch auch eine den Röntgenstrahlen ähnliche Strahlungsart
am Ozon nachzuweisen. Und auch in den gemeinsamen Erscheinungen,
wie Erzeugung von Leitfähigkeit, der Wärmeentwickelung beim Zer-
fall u. s. w., übertrifft Radium das Ozon an Intensität gewaltig, ent-
sprechend der unvergleichbar viel weiter gehenden Spaltung des Ra-
diums in Zerfallsproduete, unter denen ja sogar Helium von Ranusay
zuerst gefunden und dessen Auftreten ganz kürzlich von den Üvrıes
bestätigt worden ist. Immerhin glauben wir, dass die Analogie zwi-
schen Radioactivität und dem Verhalten des Özons erstere unserm
Verständniss etwas näher rückt.
Wir haben nun weiterhin noch andere Fälle von Leuchten
dureh Ozon gefunden. Während weisser Phosphor bekanntlich schon
in Luft leuchtet, thut rother diess nicht; er leuchtet aber in Ozon;
gewöhnlicher rother Phosphor schwach, der aus Lösung in Phosphor-
tribromid abgeschiedene' sehr kräftig. Entsprechend der desozonisi-
renden Wirkung von Sidotblende und rothem Phosphor konnte auch
nachgewiesen werden, dass ein Strom von abgestandenem Ozon, das
allein nicht mehr auf den Dampfstrahl wirkte, nach der Berührung
mit einer jener Substanzen kräftige Wirkung auf ihn erhielt. Bei die-
ser Gelegenheit sei dieselbe Beobachtung für einen über Platin strei-
chenden Ozonstrom erwähnt, wodurch die Vermuthung, dass die mit
! RupoLr Scuenck, Ber. d. D. Chem. Ges. 36, 979; 1903.
F. Rıc#arz und R. Scuexnck: Weitere Versuche über Ozon. 493
Platinelektroden beobachtete Leitfähigkeit des Ozons mit der kataly-
tischen Wirkung jener zusammenhängt (vergl. unsere frühere Mitthei-
lung 1903 S. 1103), an Wahrscheinlichkeit gewinnt.
Es leuchten ferner in Ozon sehr schwach: glasige arsenige Säure
(in Stücken), kräftig: ein Tropfen Terpentinöl.‘ Bei diesen Versuchen
wurde zufällig gefunden, dass der Finger leuchtet, wenn er in den
in die Luft austretenden Strom stark ozonisirten Sauerstoffs hinein-
gehalten wurde: ebenso Wolle, Papier, Leinwand, Watte, und
zwar für ein gut ausgeruhtes Auge recht stark und kurze Zeit nach-
leuchtend, vermuthlich durch das Haften des Ozons an jenen Kör-
pern, die noch nach einem halben bis ganzen Tage nach Ozon riechen.
An einem Wattebausch, der in eine Flasche mit ozonisirtem Sauer-
stoff hineingebracht wurde, konnten wir kein Leuchten wahrnehmen;
es wurde aber wieder schwach sichtbar beim Zublasen von Luft.
Ob die durch Ozon sich oxydirenden Substanzen selbst oder die
beim Zersprengen des Ozons :ilurch sie freiwerdenden O-Ionen leuch-
ten, soll speetralanalytisch zu entscheiden versucht werden. Vielleicht
leuchtet in einigen Fällen das eine, in anderen das andere. Für Ionen
scheint uns das von Hrn. E. WArsure” gefundene Leuchten elektri-
schen Windes zu sprechen, und andrerseits beim Selbstleuchten des
Radiums der von Sir Wırzıam Husemws und Lady Husems” spectral-
analytisch gelieferte Nachweis, dass es vom Stickstoff der umgebenden
Luft herrührt. In diesem Falle würde das schwächer auftretende
Sauerstoffspeetrum neben dem kräftigern des Stickstoffs, wie in an-
deren Fällen, nicht zur Geltung kommen.
! Einige andere organische Substanzen, die in Ozon leuchten, hat Orro ange-
geben: Compt. r. 123, 1005; Ann. chim. phys. [7] 13, 47.
® E. Warsurs, Verhandl. der Deutsch. Physik. Ges. 4, 294 — 295; 1902.
® Proc. Roy. Soc. London 72, 196. 409; 1903.
Ausgegeben am 10. März.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei
Sitzungsberichte 1904. 38
SITZUNGSBERICHTE
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
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5 AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
XIV. XV.
10. März 1904.
Re; BERLIN 1904.
a 15 2.
‚VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
Re a N
r - ' IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
Auszug aus dem Reglement für die Redaetion der »Sitzungsberichte«.
$1.
2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Oetav regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die sämmtlichen zu einem Kalender-
jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
fortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserdem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch-mathematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch-historischen Classe ungerade
Nummern.
8.2.
1. Jeden Sitzungsbericht eröffnet eine Übersicht über
die in der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilungen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten.
2. Darauf folgen die den Sitzungsberichten über-
wiesenen wissenschaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckfertig übergebenen, dann die, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gehö-
rigen Stücken nicht erscheinen konnten. Mittheilungen,
welche nicht in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet.
85.
Den Bericht über jede einzelne Sitzung stellt der
Seeretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte.
Derselbe Seeretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei-
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
$ 6.
1. Für die Aufnahme einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $ 41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglements die folgenden beson-
deren Bestimmungen.
2. Der Umfang der Mittheilung darf 32 Seiten in
Octav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nicht übersteigen. Mittheilungen von Verfassern, welche
der Akademie nicht angehören, sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist
nur nach ausdrücklicher Zustimmung der Gesammt-Aka-
demie oder der betreffenden Classe statthaft.
3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
tenden Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Nothwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzschnitte fertig sind und von
besonders beizugebenden Tafeln die volle erforderliche
Auflage eingeliefert ist.
87.
1. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
schaftliche Mittheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer Ausführung, in
deutscher Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2. Wenn der Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
öffentlichen beabsichtigt, als ihm dies nach den gelten-
den Rechtsregeln zusteht, so bedarf er dazu der Ein-
willigung der Gesammt- Akademie oder der betreffenden
Classe.
$8.
5. Auswärts werden Correeturen nur auf besonderes
Verlangen verschickt. Die Verfasser verzichten damit
auf Erscheinen ihrer Mittheilungen nach acht Tagen.
$1l.
1. Der Verfasser einer unter den » Wissenschaftlichen
Mittheilungen« abgedruckten Arbeit erhält unentgeltlich jr
der Kopf der Sitzungsberichte mit Jahreszahl, Stück-
nummer, Tag und Kategorie der Sitzung, darunter der
Titel der Mittheilung und der Name des Verfassers stehen.
2. Bei Mittheilungen, die mit dem Kopf der Sitzungs- _
berichte und einem angemessenen Titel nicht über zwei
Seiten füllen, fällt in der Regel der Umschlag fort.
3. Einem Verfasser, welcher Mitglied der Akademie
ist, steht es frei, auf Kosten der Akademie weitere gleiche
Sonderabdrücke bis zur Zahl von noch hundert, und
A
auf seine Kosten noch weitere bis zur Zahl von zwei-
hundert (im ganzen also 350) zu unentgeltlicher Ver-
theilung abziehen zu lassen, sofern er diess rechtzeitig
dem redigirenden Seeretar angezeigt hat; wünscht er auf
seine Kosten noch mehr Abdrücke zur Vertheilung zu
erhalten, so bedarf es der Genehmigung der Gesammt-
Akademie oder der betreffenden Classe. — Nichtmitglieder
2 Peipei
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4
fünfzig Sonderabdrücke mit einem Umschlag, auf welchem
nee
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erhalten 50 Freiexemplare und dürfen nach rechtzeitiger _
Anzeige bei dem redigirenden Secretar weitere 200 Exem- <
plare auf ihre Kosten abziehen lassen. >}
8.28. =
1. Jede zur Aufnahme in die Sitzungsberichte be-
stimmte Mittheilung muss in einer akademischen Sitzung
vorgelegt werden. =
Nichtmitglieder, haben hierzu die Vermittelung eines ihre
Fache angehörenden ordentlichen Mitgliedes zu benutzen.
Wenn schriftliche Einsendungen auswärtiger oder corre- vs
spondirender Mitglieder direet bei der Akademie oder bei
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4
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einer der Classen eingehen, so hat sie der vorsitzende
Secretar selber oder durch ein anderes Mitglied zum
Vortrage zu bringen. Mittheilungen, deren Verfasser der
Akademie nicht angehören, hat er einem zunächst geeignet
scheinenden Mitgliede zu überweisen. eb
1
[Aus Stat. 841, 2. — Für die Aufnahme bedarf ee
einer ausdrücklichen Genehmigung der Akademie oder RN
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einer der Classen. Ein darauf gerichteter Antrag kann,
sobald das Manuscript druckfertig vorliegt,
‚gestellt und sogleich zur Abstimmung gebracht werden.} a
Inhalt des E
geschäftlichen Theils der Sitzungsberichte, jedoch nicht. 2
8 29.
1. Der redigirende Secretar ist für den
für die darin aufgenommenen kurzen Inhaltsangaben der
gelesenen Abhandlungen verantwortlich. Für diese wie
für alle übrigen Theile der Sitzungsberichte sind
nach jeder Richtung nur die Verfasser verant-
wortlich.
Die Akademie versendet ihre »Sitzungsberichte« an diejenigen Stellen, mit denen sie im Schriftverkehr steht,
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinbart wird, jährlich drei Mal, nämlich:
die Stücke von Januar bis April in der ersten Hälfte des Monats Mai,
Mai bis Juli in der ersten Hälfte des Monats August,
» October bis December zu Anfang des nächsten Jahres nach Fertigstellung des Registers.
ERER
Abwesende Mitglieder, sowie alle
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495
SETZUNGSBERIOMTEIL. 1°
XV.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
10. März. Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe.
Vorsitzender Secretar: Hr. Auwers.
1. Hr. Voczn las: Untersuchungen über das spectrosko-
pische Doppelsternsystem ßAurigae.
Der Stern ß Aurigae, schon seit 1890 als spectroskopischer Doppelstern bekannt,
ist hauptsächlich auf dem Observatorium in Cambridge (America) beobachtet worden.
Vor kurzem hat nun Hr. Tıxnorr in Pulkowa Messungen an dort aufgenommenen
Speetrogrammen ausgeführt, und ist zu Resultaten gekommen, die den früher über
ßAurigae gewonnenen Ansichten widersprechen. Verf. hat daraufhin Beobachtungen
auf dem Potsdamer Observatorium anstellen lassen, deren Bearbeitung ihn dazu führte,
dass sowohl die aus den Cambridger Beobachtungen von Picrering abgeleitete Um-
laufszeit der den Doppelstern bildenden Körper als auch die von Tıxnorr ermittelte
falsch ist. Die Umlaufszeit beträgt 3 23" 2" ı6°, und unter Zugrundelegung dieser
Periode verschwinden die von Tırnorr gefundenen Anomalien. Die Bahn beider Sterne
um den gemeinsamen Schwerpunkt ist nahezu kreisförmig, die Massen beider Körper
sind sehr nahe gleich, und ihre Summe übertrifft die Masse der Sonne mindestens um
das Vier- bis Fünffache.
2. Hr. van’r Horr machte eine weitere Mittheilung über die
Bildungsverhältnisse der oceanischen Salzablagerungen.
XXXIV. Die Maximaltension der constanten Lösungen bei 33°.
Gemeinschaftlich mit Hrn. Grassı und Denıson wurden die bei der natürlichen
Salzlagerbildung bei 83° eine Rolle spielenden Lösungen verfolgt. Es handelt sich
dabei, ausschliesslich der Kalksalze und Borate, um zehn Salzmineralien. Die Verhält-
nisse werden beherrscht durch die Kenntniss von zwanzig constanten Lösungen, wo-
von zunächst die Maximaltension bestimmt wurde.
3. Hr. Scnortxy machte eine Mittheilung über redueirte In-
tegrale erster Gattung.
Es wird ein System von o Integralen aufgestellt, das zur Definition Aser'scher
Functionen von « Variabeln dienen kann, obgleich das Geschlecht der einzelnen In-
tegrale höher als o ist; und es wird das Aser’sche Theorem für diesen Fall formulirt.
4. Hr. Strasgurger, corr. Mitglied, übersendet eine Abhandlung:
Über Reductionstheilung. (Ersch. später.)
Bei Galtonia candicans, welche ein besonders günstiges Untersuchungsobjeet dar-
stellt, sowie bei Tradescantia virginica konnte an den primären Oocyten bez. Sper-
Sitzungsberichte 1904. 39
496 Sitzung der physikalisch - mathematischen Classe vom 10. März 1904.
matocyten eine heterotypische Reduetionstheilung beim ersten Theilungsschritte nach-
gewiesen werden, der eine homöotypische Theilung folgte. Es werden im Anschluss
hieran besprochen insbesondere die Bedeutung der Chromosomen für die Vererbung,
ihre Individualität, die Synapsis und die Bastardirungsfragen.
5. Hr. Voser legte eine Abhandlung des Hrn. Prof. J. Hartmann
in Potsdam vor: Untersuchungen über das Spectrum und die
Bahn von Ö Orionis.
Der Verfasser hat das von Destanpres in Meudon im Jahre 1900 entdeckte spec-
troskopische Doppelsternsystem ö Orionis auf Grund seiner Spectralaufnahmen auf dem
Potsdamer Observatorium genauer untersucht. Die von dem Entdecker angegebene
Periode ı? 22" hat er unrichtig befunden; er hat eine Periode von 54 17" 34” 48° ab-
geleitet und alle Elemente der elliptischen Bahn festgestellt. Bei seinen Untersuchun-
gen über das Spectrum des Sterns hat er die Wahrnehmung gemacht, dass eine dem
Caleium zugehörige Spectrallinie an der periodischen Verschiebung der anderen Linien
des Sternspectrums durch die veränderliche Bewegung des Sterns nicht theilnimmt,
was zu der Folgerung Anlass gibt, dass sich eine aus Caleiumdämpfen bestehende
Nebelmasse zwischen uns und dem Stern befindet.
6. Die folgenden Druckschriften wurden vorgelegt, als Ergeb-
nisse von Untersuchungen, zu denen die Akademie Unterstützungen
gewährt hat: Dr. M. Gräfin von Linpen, Morphologische und physio-
logisch-chemische Untersuchungen über die Pigmente der Lepido-
pteren. I. Die gelben und rothen Farbstoffe der Vanessen. Bonn 1903
(S.-A. Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 98); Rıcuarp Hesse, Über den feinern
Bau der Stäbchen und Zapfen einiger Wirbelthiere. Jena 1904 (S.-A.
Zool. Jahrb., Suppl. VI).
497
Untersuchungen über das specetroskopische Doppel-
sternsystem B Aurigae.
Von H. C. Voceı.
Specktoskopische Doppelsterne lassen sich im allgemeinen nur unter
Anwendung starker Zerstreuung mit Hülfe von Spaltspeetrographen
durch genaue Messung der Verschiebungen von Linien im Sternspec-
trum gegen die Linien im Spectrum ruhender Lichtquellen auffinden.
Aus den periodischen Veränderungen der im Visionsradius gelegenen
Geschwindigkeitscomponente können dann Untersuchungen über die
Bahnen der Sterne angestellt werden, selbst wenn nur eine Componente
des Sternpaares sichtbar ist. Für den speciellen, wie es scheint, nicht
häufig vorkommenden Fall, dass beide Componenten nahezu gleich hell
sind, tritt bei der Bewegung der Körper um einander, wenn dieselbe
in einer Ebene erfolgt, die nicht zu nahe senkrecht auf dem Visions-
radius steht, eine periodische Verschiebung der über einander gelagerten
Spectra beider Körper und damit eine periodische Verdoppelung der-
jenigen Spectrallinien ein, welche von Elementen herrühren, die in
den leuchtenden Atmosphären beider Himmelskörper vorhanden sind.
In diesem Falle lassen sich Untersuchungen über die Umlaufszeit, so-
wie Ermittelungen über weitere Elemente der Bahn des Doppelstern-
paars allein schon auf Grund der Distanzmessung der verdoppelten
Spectrallinien ausführen, und wenn noch auf die Bestimmung der Be-
wegung des Systems im Visionsradius verzichtet wird, ist für die
speetroskopische Beobachtung eines derartigen Doppelsterns ein Spalt-
speetrograph nicht erforderlich; es genügen Spectralaufnahmen mit
Objeetivprismen.
Einer der Hauptrepräsentanten dieser Classe spectroskopischer Dop-
pelsterne ist nun der Stern 2.Grösse 8 Aurigae. Hier sind, nach der In-
tensität der Speetrallinien zu schliessen, beide Componenten gleich
hell, und die Speetra beider Körper gehören der weniger linienreichen
Classela2 an. ß Aurigae wurde als speetroskopischer Doppelstern bei Ge-
legenheit der auf dem Observatorium des Harvard College von PıckErınG
39*
498 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 10. März 1904.
vor etwa 15 Jahren unternommenen speetrographischen Durchmuste-
rung im Jahre 1890 erkannt', und durch fortgesetzte, zahlreiche photo-
graphische Aufnahmen des Speetrums dieses interessanten Sterns sind
weitere Grundlagen für eingehendere Untersuchungen gewonnen worden.
Auf dem Potsdamer Observatorium ist je ein Spectrum des Sterns
bei den von mir in den Jahren 1888 bis 1891 angestellten Unter-
suchungen über die Bewegung der Sterne im Visionsradius” am 14. No-
vember 1888 und am 3. Januar 1889 aufgenommen worden. Auf
beiden Platten befinden sich an der Stelle, wo die Magnesiumlinie
A 4481 liegt, zwei Linien von beinahe derselben Stärke. Die damaligen
Aufnalımen erstreckten sich nur über einen kleinen Theil des Speetrums
in der Nähe von Hy, und ausser dieser Wasserstofflinie und der er-
wähnten Doppellinie waren nur einige äusserst zarte Linien im Spec-
trum des Sterns zu erkennen. Das Auftreten einer Doppellinie bot bei
der damals noch geringen Kenntniss dieser Gegend in Sternspectren
nichts Auffallendes; bei wiederholten Aufnahmen hätte jedoch die Ver-
änderlichkeit des Abstandes beider Linien nicht übersehen werden
können. Gleich nach dem Bekanntwerden der Entdeckung der binären
Natur von 8 Aurigae hat auf meine Veranlassung Prof. Scheiner, der
mir bei meinen damaligen Untersuchungen assistirte, noch weitere fünf
Aufnahmen des Sternspecetrums gemacht, durch deren Ausmessung ich
die in Cambridge gewonnenen Resultate auf das unzweifelhafteste
bestätigen konnte. Ich habe meine Messungen und die daraus abge-
leiteten Folgerungen im December 1890 zusammengestellt. Sie sind
in Nr. 3017 der Astronomischen Nachrichten und später (1892) mit
noch einigen Zusätzen im I. Theile des VII. Bandes der Publicationen
des Astrophysikalischen Observatoriums zu Potsdam (S. 139 u. f.) ver-
öffentlicht worden.
Ich mache hier noch besonders darauf aufmerksam, dass ich da-
mals gefunden hatte, dass die relativen Intensitäten der Componenten
der Mg-Linie A 4481 einem Wechsel unterworfen sind, indem auf
einigen Platten die nach Roth gelegene Componente, auf anderen die
nach Violett zu gelegene eine etwas grössere Intensität besass. Fer-
ner hatte ich mich bemüht zu ermitteln, ob man die Massen beider
Körper als nahezu gleich ansehen könne, mit anderen Worten, ob der
Schwerpunkt des Systems nahe in der Mitte zwischen beiden Körpern
oder näher dem einen Körper gelegen sei. Diese Beobachtungen waren
insofern nicht leicht, als bei den damaligen Spectralaufnahmen nur
das Wasserstoffspeetrum zum Vergleich benutzt wurde. Die Versuche
! Henry Drarer Memorial. Fourth annual report, 1890.
® Publicationen des Astrophysikalischen Observatoriums zu Potsdam Bd. VII,
I. Theil, 1892.
VoseL: Das speetroskopische Doppelsternsystem ß Aurigae. 499
führten zu dem Ausspruch: »Die Übereinstimmung (der angeführten
Messungen) lässt keinen Zweifel übrig, dass die Geschwindigkeit
beider Körper in der Bahn zur Zeit der grössten Elongation wenig
von einander verschieden ist« (a. a. O. S. 143). Ich füge hier noch
einige Sätze aus dieser Publication (S. 143 u. 144) an.
» Weitere Beobachtungen über die periodische Verdoppelung der
Linien im Spectrum von ßAurigae hier anzureihen, hätte meines Er-
achtens keinen Zweck gehabt, da aus dem grossen, in Cambridge ge-
sammelten Beobachtungsmaterial die Periode des Umlaufs beider Sterne
sich mit grosser Sicherheit hat ermitteln lassen. Pickerine hat im
Januarheft (1891) des »Sidereal Messenger« nur eine vorläufige kurze
Angabe über die aus den Cambridger Beobachtungen sich ergebende
Periode für ß Aurigae gemacht: Umlaufszeit 3°23" 36"7 (3%9838), Linien
in dem Spectrum einfach ungefähr 1891 Januar ı mittl. Mittag Green-
wich.«
»Mit dieser Periode habe ich unter der Annahme, dass die grösste
Distanz der Linien 28 geogr. Meilen entspricht, die Potsdamer Beob-
achtungen zurückberechnet und die beste Übereinstimmung unter der
Annahme für die Epoche (Linien einfach) 1891 Januar 1, 3" m. Zt.
Greenwich erhalten« (folgt Tabelle). »Zur weiteren Charakteristik des
Doppelsternsystems und zur Vervollständigung der obigen Angaben
führe ich noch an, dass 1891 Januar 2, u m.Zt. Greenwich, die brech-
barere der getrennten Linien die stärkere gewesen ist.«
»Unter der Voraussetzung, dass die Bahn beider Körper kreis-
förmig und ihre Neigung gegen die Gesichtslinie gering ist, ergibt
sich unter Zugrundelegung einer Periode von rund 4 Tagen und einer
Bahngeschwindigkeit von 15 geogr. Meilen die Entfernung beider Körper
zu 1650000 geogr. Meilen, die Masse des Systems würde = 4.7 © sein.«
Mr. Rausaur hat in dem Märzheft 1891 der Monthly Notices’
bei der Mittheilung einer Methode zur Bahnbestimmung spectrosko-
pischer Doppelsterne aus einigen Cambridger Beobachtungen die Pe-
riode für 8 Aurigae zu 31968 (3%23”14”) abgeleitet. Er findet weiter,
dass die Bahn des Doppelsternsystems eine Ellipse ist mit einer
Excentrieität e = 0.156. Die mittlere Entfernung der Körper be-
rechnet er zu 7500000 miles (rund ı2 Millionen Kilometer).
Das Octoberheft 1898 des Astrophysical Journal vol. VIII (p. 173 u.f.)
enthält eine Veröffentlichung von Miss A. Maury über die K-Linien in
dem Spectrum von ßAurigae (The K-Lines of ß Aurigae), in welcher
mitgetheilt wird, dass 200 Photogramme von ß Aurigae auf dem Har-
ı A. Ramsaur, On the Determination of Double Star Orbits from Speetroscopie
Observations. Monthly Notices vol. LI, Nr. 5.
500 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 10. März 1904.
vard-Observatorium in dem Zeitraume von gJahren — 188g bis 1898 —
erhalten worden sind. Mit Ausnahme des Winters 1896/97 sind jedes
Jahr Beobachtungen angestellt worden und zwar mit Objectivprismen
in Verbindung mit dem »Drarrr-Teleskop« von ıı Zoll. Bei 120 Auf-
nahmen wurden zwei Prismen, bei den übrigen So drei und vier Pris-
men in Anwendung gebracht.
Über das System wird mitgetheilt: Periode = 3" 23" 37"; relative
Geschwindigkeit — 240”; Entfernung beider Körper unter der Voraus-
setzung, dass die Gesichtslinie in der Bahnebene liegt, ungefähr =
8 Millionen engl. Meilen; (lie Masse der einzelnen Componenten = 1.250.
Die Periode ist also dieselbe, die oben als die von PıckErine 1891
in dem Sidereal Messenger mitgetheilte angeführt worden ist. Den
Kern der Abhandlung bildet eine Untersuchung über die relative In-
tensität der Componenten der Linie K.
Wie ich schon im December 1890 mitgetheilt habe, sind die
Componenten der Magnesiumlinie A4481 einem Wechsel in Bezug auf
ihre relative Intensität unterworfen, und Miss Maury hat bei der Durch-
sicht der grossen Anzahl in Cambridge gesammelter Aufnahmen, die sich
weiter ins Violett erstrecken, dasselbe auch für die Linie K (A 3934),
die in dem Speetrum von ß Aurigae noch kräftiger ausgeprägt ist als die
Mg-Linie, gefunden. Leider sind die Untersuchungen und Folgerungen
daraus verfehlt, wie ich weiter unten zeigen werde.
Gelegentliche Beobachtungen von ßAurigae auf dem Pots-
damer Observatorium.
Seit 1891 sind nur vereinzelte Aufnahmen des Speetrums von ßAu-
rigae erhalten worden. So hat Prof. Harrmann im Jahre 1897 einige
Aufnahmen der Spectra hellerer Sterne am Schröper'schen Refractor
mit dem Spectrographen von 1888 ausgeführt, unter denen sich auch
eine Aufnahme von ßAurigae befindet, auf welcher die Mg-Linien
getrennt erscheinen. Die nach Violett zu gelegene Componente ist
breiter und verwaschener als die andere, wodurch die Messung er-
schwert wird, die bei der wohl unter sehr ungünstigen Verhältnissen
ausgeführten Aufnahme überhaupt nur von geringer Sicherheit ist.
Ich führe die Beobachtung hier an, da sie immerhin zur Bestätigung
der Richtigkeit der weiter unten abgeleiteten Periode benutzt werden
kann: 1897 November 10.378 M.E.Z. Relative Bewegung der Com-
ponenten 205°" in der Secunde.
Aus demselben Grunde erwähne ich hier noch einige Aufnahmen,
die mit dem Spectrographen D in Verbindung mit dem photographi-
schen 33°”-Refractor ausgeführt worden sind. Trotz der geringen Dis-
Voger: Das spectroskopische Doppelsternsystem ßAurigae. 501
persion, welche der Spectrograph besitzt, lässt sich doch noch mit
einiger Sicherheit erkennen, in welcher Phase die Componenten des
Doppelsterns sich befunden haben. Ein günstiger Umstand ist es, dass
die Spectra sich weit ins Ultraviolett erstrecken, und dass die Linie K,
die im Spectrum von ßAurigae, wie schon erwähnt, scharf erscheint,
wegen der grösseren linearen Ausdehnung der (im prismatischen Spec-
trum) nach der brechbareren Seite des Spectrums gelegenen Speectral-
theile noch mit einiger Sicherheit gemessen werden kann.
Die erste Aufnahme rührt von Prof. Wırsıns her; sie wurde bei
der von mir gemeinsam mit Prof. Wırsıne ausgeführten speetrographi-
schen Untersuchung' hergestellt.
1896 Mai 7.456 M.E.Z., K weit getrennt, A=0175, entsprechend
einer relativen Geschwindigkeit von 227”.
Die weiteren Aufnahmen mit dem Speetrographen D sind von
Dr. EBERHARD und Dr. Lupenporrr ausgeführt worden, die sich einige
Zeit mit der Untersuchung der brechbarsten Theile von Sternspectren
beschäftigten, zu welcher der sehr lichtstarke Apparat D besonders
geeignet war. Sie sind bei diesen Untersuchungen bis zu A 3550
gekommen. Die Theile in der Nähe von Hy sind bei sämmtlichen
zu dem Zwecke angestellten Aufnahmen vollkommen überlichtet, und
selbst die Spectralgegend bei K ist meist schon etwas zu lange ex-
ponirt. Die Aufnahmen sind bei möglichst engem Spalt (o""oı) an-
gefertigt worden, und die Componenten der Linie K sind daher sehr
scharf und gut messbar. Die Messungen habe ich unter Anwendung
verschiedener Vergrösserungen ausgeführt.
1899 Rel. Geschw. Bemerkungen
März 5.50 M.E.Z. etwa ıookm K erscheint als breite Linie, vielleicht doppelt.
» 11.50 » — K einfach, breit.
» 12.43 » — K weit getrennte Doppellinie, Platte überexponirt.
» 12.49 > 212 » K weit getrennt, recht sichere Messung.
» 14.46 » 217 » Recht sichere Messung.
» 15.43 » etwa 100 » K vielleicht doppelt.
» 17-44 » _ K ziemlich schmal und scharf.
Aus den Messungen geht hervor, dass die Componenten der
Linie K am ı2. und 14. März sich sehr nahe im Maximum der
Trennung befunden haben. Infolge der geringen Dispersion ist bei
kräftigen Linien eine Trennung, die einer relativen Bewegung von
100 entspricht, nicht mehr zu erwarten; es stellen daher die anderen
Spectrogramme, auf denen die Linie K einfach erscheint, durchaus nicht
ohne weiteres Zeiten der absoluten Deckung der Linien dar.
Nachdem es mir durch Ausmessung der zahlreichen Speectralauf-
nahmen, die Dr. Eseruarp und Dr. Lupennorrr mit dem Spectro-
! Publicat. des Astrophys. Obs. Bd. XII, Nr.39, S. 39.
502 Sitzung der physikalisch - mathematischen Classe vom 10. März 1904.
graphen IV am 33°”-Refractor im Frühjahr 1901 von Z Ursae majoris
erhalten hatten, gelungen war, endlich die Verhältnisse dieses gleich-
zeitixg mit 9 Aurigae 1890 entdeckten und in Bezug auf die Linien-
verdoppelung diesem ähnlichen speetroskopischen Doppelsternsystems
klarzulegen', regte sich in mir der Wunsch, mich nochmals eingehender
mit dem System ß Aurigae zu beschäftigen, und ich ersuchte daher
Prof. Harrmass, für die von mir geplanten Untersuchungen Aufnahmen
vom Spectrum dieses Sterns zu machen, und zwar mit dem Spec-
trographen I am 80°"-Refraetor. Die mit diesem Apparate (einem
Prisma) von Prof. Harrmann von anderen Sternen erhaltenen Speectro-
gramme erstrecken sich weit über K hinaus und sind dadurch aus-
gezeichnet, dass sie auf der ganzen Strecke von Hß bis HZ eine
nahezu gleiche, ausserordentliche Schärfe besitzen. Leider ist es für
ßAurigae bei nur vier Aufnahmen an vier auf einander folgenden Tagen,
an zwei Tagen sehr nahe zur Zeit des Maximums der Linientrennung,
an den zwei anderen zur Zeit des Minimums, geblieben.
Ich theile hier meine Messungen und Beobachtungen an den vor-
trefflich gelungenen Spectrogrammen mit.
1901 September 23, ı2"20" M.E.Z. K doppelt, beide Linien
sind nahezu gleich breit, die weniger brechbare etwas breiter und
etwas weniger scharf begrenzt. Der Abstand beider Linien betrug nach
zahlreichen Messungen, die unter Anwendung verschiedener Vergrösse-
rungen und mit einfachen oder Doppelfäden, sowie auch bei verschie-
denen Lagen der Platte unter dem Mikroskop, ausgeführt wurden,
oR662 = 0""1655. Alle Wasserstofflinien von Hß bis HZ sind trotz
ihrer Breite und Verwaschenheit deutlich getrennt. Das gut ausge-
sprochene Intensitätsminimum lässt eine recht sichere Messung zu. Weder
die Linie He noch die dabei liegende Ca-Linie sind jedoch zur Messung
geeignet, da die Ca-Linie noch in den Schatten der breiten Linie He
fällt. Für Hö geben meine Messungen für den Abstand der Linien
o®612, für Hy 0"480. Zahlreiche feine Linien im Spectrum erscheinen
doppelt.
Einer Verschiebung von ı" entspricht bei K, Hö und Hy bez. eine
Bewegung von 3341, 3867 und 4644, und damit ergeben sich
für die relative Geschwindigkeit beider Körper die Werthe: 221" (5),
237” (2), 223°” (1). Die eingeklammerten Zahlen geben die Gewichte
an, mit denen ich in der unten befindlichen Zusammenstellung die
Werthe zu einem Mittel vereinigt habe. In Anbetracht der grösseren
Schärfe der Linien K, der zahlreicheren Messungen, die an denselben
! Diese Berichte ıgor, XXIV, S. 534 u.f. »Der spectroskopische Doppelstern
Mizar.«
r » . w)
Voger: Das spectroskopische Doppelsternsystem ßAurigae. 503
angestellt worden sind, und ihres grösseren linearen Abstandes haben
die Messungen ein so erheblich grösseres Gewicht erhalten.
September 24, 13"17" M.E.Z. Die Linie K erscheint einfach,
aber sehr breit. Aus der gemessenen Breite und den Messungen der
Breite der getrennten Componenten der Linie am vorhergehenden Tage
habe ich — allerdings mit nur geringerer Sicherheit — die relative
Verschiebung zu o®ı14 ermittelt. (Die vier Aufnahmen von ß Aurigae
sind mit derselben Spaltweite und unter günstigen Bedingungen aus-
geführt worden, und die Speetra sind paarweise zum Verwechseln
ähnlich.)
Auf dem Speetrogramm sind zwischen Hß und H{ 55 bis 60 feine
Linien zu erkennen, von denen mehrere mit den Linien des Eisenspec-
trums übereinstimmen.
September 25, 13"24” M.E.Z. K doppelt. Die weniger brech-
bare Linie ist etwas schmaler als die andere; der Unterschied ist kaum
merklich. Der Abstand der beiden Linien K, aus vielen Messungen
abgeleitet, ist—=0"629, der der Linien Hö= 0'557 und der der Linien
Hy=0%498, entsprechend: 210“ (5), 215“ (2) und 231“" (1).
September 26, ı2"52" M.E.Z. K einfach, scharf begrenzt, die
Breite fast vollkommen gleich der auf dem Spectrogramm vom 24. Sep-
tember. Das Spectrum ist sehr reich an feinen Linien, die noch deut-
licher als auf der Aufnahme vom 24. September hervortreten. Zwischen
H{ und K konnte ich 8 Linien erkennen, zwischen K und He 5, zwi-
schen He und Hö 14, zwischen Hö und Hy 34 und 16 in der etwas
überexponirten Partie des Spectrums Hy bis A4550. Aus der Messung
einer doppelt erscheinenden Eisenlinie und aus Breitenmessungen an der
Linie K konnte ich die relative Bewegung der Körper zu 46"” ableiten.
Die Resultate der Messungen über die relative Geschwindigkeit der
Componenten des Doppelsternsystems an den 4 Platten sind demnach:
1901 Sept. 23.514 M.E.Z. 225 kın
» 24.553 38: »
» 25.558 214 »
» 26.536 46: »
Da die Sternspectra von einem Vergleichsspectrum (Eisen) einge-
schlossen sind, konnte noch aus der Verschiebung der Linie K auch
die Radialbewegung des Systems abgeleitet werden, unter der Vor-
aussetzung, dass die Massen beider Componenten gleich sind. Die
einzelnen Platten ergaben für die Geschwindigkeit der Bewegung des
Systems relativ zur Sonne folgende Werthe:
Sept. 23 = —20.6 km
» 24 = —14.0:»
» 25=—20.7 »
„ 26=—14.I:»
504 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 10. März 1904.
Da zur Ableitung der Verschiebung für Sept. 23 und Sept. 25, wo
die Linie K verdoppelt war, einfach das Mittel aus den Messungen
an den einzelnen Linien genommen wurde und die Componenten des
Systems sich in zwei um 180° verschiedenen Phasen befanden, lässt
sich noch aus der Übereinstimmung beider Messungsreihen folgern, dass
der Schwerpunkt des Systems thatsächlich sehr nahe in der Mitte zwi-
schen beiden Körpern gelegen sein muss. Meine früheren, oben ange-
führten, allerdings auf weniger sicherer Basis ruhenden Messungen wer-
den damit bestätigt. Es dürfte auffallen, dass die Werthe paarweise
übereinstimmen. Ihre Mittelwerthe weichen um 66 von einander ab
(66 entspricht einer linearen Verschiebung von 0””005 auf der Platte).
Am 24. Sept. und am 26. Sept. sind die Linien K jedoch nicht mehr
getrennt; sie bilden vielmehr eine breite Linie, deren Mitte nicht mit
der Mitte zwischen beiden Linien, aus denen sie zusammengesetzt ist,
zusammenfällt, wenn die Componenten der Linie an Intensität und
Breite verschieden sind (ich gebe deshalb den Beobachtungen von
beiden Tagen das Gewicht 2).
Bei der sehr nahe 4 Tage betragenden Periode war, da die vor-
stehenden Beobachtungen nahe dem Maximum und Minimum der Linien-
trennung angestellt worden waren, erst nach längerer Zeit eine wesent-
lich andere Phase in der Stellung der Körper zu erwarten. Eine Wie-
derholung der Beobachtungen unterblieb aber schliesslich ganz, da sich
zeigte, dass mit der Pıcxerme’schen Periode die Harrmann’schen Auf-
nahmen, von dem von mir für 1891 Januar 1, 38 M.Z. Greenwich an-
gegebenen Nullpunkte aus gerechnet (wie sich später ergab, rein zu-
fällig), dargestellt werden konnten.
Ich hielt damit die Periode, die ja nach Abschluss der 9-jährigen
Beobachtungen von Miss Maurv unverändert wieder angeführt wor-
den war, für keiner wesentlichen Verbesserung bedürftig. Mein Er-
staunen war daher nicht gering, als in den Astronomischen Nachrichten
No. 3916 ein Artikel von Hrn. G. A. TırHnorr erschien', der durch Aus-
messung der von Hrn. BeLororsky auf der Pulkowaer Sternwarte in den
Jahren 1902 und 1903 angefertigten Speetrogramme von ß Aurigae zu
höchst eigenthümlichen Resultaten gelangt war, die den früheren An-
nahmen gänzlich widersprachen.
Über die Bearbeitung der in Pulkowa ausgeführten Spectro-
gramme von 6. A. Tırnorr.
Hr. Tıxnorr findet zunächst, dass die Umlaufszeit der beiden Körper
6 Minuten geringer ist, als sie Pıckerıne angegeben hat (er findet P=
3"23”30"4), und vermuthet, dass dieselbe sich im Laufe der 12 Jahre
! Recherches sur les vitesses radiales de l’etoile ß Aurigae.
Voser: Das speetroskopische Doppelsternsystem 8 Aurigae. 505
verändert habe. Es würde das nicht unwahrscheinlich sein, da Hr.
Tıxorr in 8 Aurigae ein ganz complieirtes System erblieken zu müssen
glaubt, welches nicht nur aus zwei, sondern aus vier Körpern bestehe.
Die Curve, welche die relativen Geschwindigkeiten innerhalb einer
Periode darstellt, hat nach ihm die beistehende Gestalt. Er erklärt sie
240 kır
760
160
240 kın
d
od 05 14 15 2d 2.5 3d 3.5 4
als entstanden durch Übereinanderlagerung zweier Sinuscurven, von
denen die eine die soeben angeführte Periode von nahezu 4 Tagen be-
sitzt, während die Periode der anderen genau ein Fünftel (19'ı) davon
beträgt. Zur Zeit sei es noch nicht möglich, die Trennung beider Curven
vorzunehmen, weil die Gesammt-Curve noch nicht in allen Theilen
genau genug bekannt sei. Aus der zeitweisen Verdoppelung der Com-
ponenten der einzelnen Linien, die er an einigen Aufnahmen wahr-
genommen hat, so dass z.B. am 21. Januar 1904 Hy in vier Compo-
nenten zerfällt, von denen die Abstände ı-2 46°", 1-3 224°“, 3-4 43“
und 2-4 221" relative Geschwindigkeit ergeben, kommt Hr. Tıxnorr
zu der Ansicht, dass 8 Aurigae aus zwei Gruppen von Körpern zusammen-
gesetzt sei, von denen jede aus einem Stern mit starken, und einem
zweiten mit schwachen Spectrallinien bestehe. Die Umlaufszeit der
Sterne innerhalb einer jeden Gruppe sei Lore während jede Gruppe eine
Umdrehung um den Schwerpunkt des Systems in 3"23"5 vollende. Das
Verhältniss der Massen der zwei Gruppen sei nahe =ı: der Schwer-
punkt des Systems bewege sich mit einer Geschwindigkeit von — 16°“
im Visionsradius.
Schliesslich wird noch in der Abhandlung die Angabe gemacht,
dass am. 3. Februar 1903 ı0" M.Z. Pulkowa eine Conjunetion stattge-
funden habe, und dass am 4. Februar die nach Roth zu gelegene Com-
ponente der Magnesiumlinie A4481 die stärkere gewesen sei. —
506 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 10. März 1904.
Derartige Verdoppelungen der Componenten der einzelnen Linien
habe ich schon früher im Speetrum von ( Ursae majoris beobachtet;
wie durch dieselben aber ganz symmetrisch gelegene Einbuchtungen in
der Geschwindigkeitseurve an den beiden Maximalstellen, entsprechend
einer Geschwindigkeitsänderung von etwa 90°”, entstehen sollen, ist mir
vollkommen unverständlich.
Wenn ich nun auch die Folgerungen des Hrn. Tıxnorr aus den
von ihm angestellten Beobachtungen wohl für etwas verfrüht, jeden-
falls aber als auf sehr schwacher Basis stehend ansehen musste, hielt
ich doch eine sofortige weitere Prüfung der Verhältnisse dieses Doppel-
sternsystems für dringend erforderlich, und es wurde sogleich damit
begonnen, Speetralaufnahmen von ß Aurigae herzustellen.
Neuere Beobachtungen auf dem Observatorium zu Potsdam.
Die unglaublich schlechten atmosphärischen Verhältnisse im De-
cember v. J. vereitelten die eifrigen Bemühungen von Dr. EBERHARD und
Dr. Lupenporrr, in Kürze das erforderliche Beobachtungsmaterial zur
Stelle zu schaffen. Die vereinzelten Beobachtungen liessen keine Sicher-
heit erlangen, in welcher Phase der Doppelstern sich befand, und nur
so viel war zu Anfang des Jahres mit Bestimmtheit zu erkennen,
dass die bisher erlangten Beobachtungen sich in keiner Weise mit der
Pıcrerise’schen Periode in Einklang bringen liessen. Dieser etwas be-
unruhigende Zustand wurde erst behoben, als es gelang, in der ersten
und seit Mitte December bis jetzt einzigen durchaus klaren Nacht am
27. Januar 1904 17 auf einander folgende Beobachtungen und am Abend
des nächsten Tages noch zwei Beobachtungen auszuführen, dadurch
die Zeit der Deckung der Spectra mit einer ausserordentlichen Sicher-
heit festzulegen und nunmehr die Beobachtungen mit einer allerdings
ganz anderen Periode als der bisher angenommenen darzustellen. Später
angestellte Beobachtungen gaben noch weitere Bestätigung, dass die
aus den Cambridger Beobachtungen abgeleitete Periode gänzlich falsch
gewesen ist. Mit der Periode von 3°960 gelang zunächst ein befriedigen-
der Anschluss an den von Hrn. Tırmorr angegebenen und oben mitge-
theilten Zeitpunkt der Conjunction, sodann an die vier Harrmann’schen
Aufnahmen vom September 1901 und endlich nach einer kleinen Ver-
änderung der Periode auch an den von mir für 1891 Januar I gegebenen
Zeitpunkt der Deckung der Spectra. Mit der Periode
P= 3.0590 — 3.23, 2016:
gelang es weiter, nicht nur die sämmtlichen früheren Potsdamer Be-
obachtungen darzustellen, sondern auch die Tıxnorr’schen Messungen als
ganz vorzüglich zu erkennen, die sich einer schlichten Sinuscurve
Vocer: Das spectroskopische Doppelsternsystem ß Aurigae. 507
anschlossen, und somit alle Anomalien, die Hr. Tıxnorr gefunden hatte,
zum Verschwinden zu bringen. — Die Rechnungen sind sämmtlich von
Dr. Scuwrypar nach der Formel:
t—1
220 sn Dr 360°)
ausgeführt worden, in welcher P die eben angeführte Periodendauer
bedeutet, 222*” der Maximaltrennung der Linien in Kilometern ent-
spricht und für {, 1904 Januar 27.750 M. E.Z. angenommen worden ist.
Der Anschluss der Tixuorr’schen Beobachtungen an diese Formel
ist so vollkommen, wie er in Anbetracht der Unsicherheit der Mes-
sung der nicht ganz leicht aufzufassenden Spectrallinien in derartigen
Spectren möglich ist, und das schöne von ihm gelieferte Beobach-
tungsmaterial machte es möglich, die Untersuchungen über 8 Aurigae,
soweit sie sieh auf die Bahnbestimmung, die Massenbestimmung und die
Radialgeschwindigkeit des Systems beziehen, zur Zeit vollkommen ab-
zuschliessen.
Wünschenswerth würden noch Untersuchungen sein, die jedoch
nur unter ganz günstigen Verhältnissen und mit Anwendung sehr starker
Zerstreuung ausgeführt werden müssten, durch welche Klarheit über den
steten Wechsel im Aussehen der Spectrallinien in den Speetren derartiger
speetroskopischer Doppelsterne gebracht wird. Ich werde weiter unten
noch specieller auf diesen Punkt eingehen, lasse aber zunächst hier die
Resultate der von mir ausgeführten Messungen an den von Dr. EBErmarn
und Dr. Lupexvorrr entweder gemeinsam oder in Abwechselung am
33°"-Refraetor mit Speetrograph IV hergestellten Speetrogrammen folgen.
Nr Datum Mg Ti Mittel | der |, net B| Bemerkungen
M.E.Z Beob. IE u |
km | km km km km
I 1903 Dee. 22.315 | 217 213 215 To 2r2 — 3
2 24.230 210 | 226 | 218 | 1-2 217 — 1
3 25.304 | 71 RL 0
4 27275 | s:| ss) sel Hı| m | Hi]
5 28.291 200 | 190(4) | TOT eye 207 || #16 , Comp. Me, Ti dopp.
6 29.364 107 | 109 (3) | 108 | #1 106 —_ 2
7 31.208 | 59 | 9 | +ı 62 | +3
8 1904 Jan. 4.211 74 | 62 (4) Te 76 +5\
9 5.330 el ee | re 189 + 6 | Comp. Hy, Mg, Ti dopp.
10 6.226 96: 15:(2)) 82: | 1 Sl |
| 10.274 | 131 a ler ı15s | — 2 | Comp. Mg, Ti dopp.
12 | .472 183 \ 183 Io Ar 168 | —I5
13 17-323 171 183 | 17 | 2 en Comp. Hy, Mg?, Ti dopp.
14 .398 ı 147 145 1461 2 146 | o
15 RN er Tzs lang (2. Er | —ı8
16 19.457 | 134 | 137($) | 135 1 124 | -—ıı
273 | 27.224 169° 171 Nom 2 165 —5
508 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 10. März 1904.
Datum | ' | | ze | Be- | |
Nr. Mg | Ti | Mittel Bir rechnet R-—-B Bemerkungen
M.E.Z. b.
| km km km | km km
18 1904 Jan. 27.248 153 | 153 3-1 | 159 + 6 | Comp. Mg sehr ungleich, Hy,
19) .275 162 | 162 1 | 52 | ie | Mg dopp.
20 | .298 160 | IEreowaer 144 | —16 |
21 3230| ATS 153 152 I-2 | 139 | —ı3 |
22 345 .| 137 137 I 133 | —4|
23 .368 141 140 141 3-1 126 —I5
24 .390 124 124 | +-ı a 2 Comp. Mg sehr verwaschen.
25 .412 127 130 128 | ı-2 | 114 |
26 .435 L15 115 | 31 | 106 — 9 | Comp. Mg sehr ungleich.
27 | .457 | zn | Ha oo I, un
28 | .482 109 | 9a aliETo28] 04: | 92 | —&)
29 | 5350 WEloıT 68 68 | | | +6
30 .557 60 60 607.7 67 +7
31 .578 43 56 5o I 60 +10
32 .603 67 59 63 I 51 —ı2
33 “633 | 27 | 40 34 I 4 | +7|
34 28.234 158 | | 158 I 154 —_4ı|
35 .335 | 187 | 187 a 175 = |
36 | 30.240 160 156 | 158 I-2 | 161 E23 |
37 | 262 | 165 | 164 165 || een)
38 .282 164 TOA Al 2.43 1 Se
39 Febr. 9.350 199 ROH ET 202 +3\
Anmerkung. In der 3. Columne sind die relativen Geschwindigkeiten angegeben, wie
sie aus den BEN Pech ungen an der Magnesium-Linie A 4481 sich Brschan Zur Beurtheilung der
Zerstreuung des Apparats sei erwähnt, iss einer Verschiebung um ı® der Messschraube (0.25 mm
Steigung) eine Geschwindigkeit von 341.7 km entspricht. In len 4. Columne sind die Resultate
aus den Messungen an einer auf mehreren Platten sehr gut ausgeprägten Linie, deren Wellen-
länge ich zu 4549.69 Ä.E. bestimmt habe, enthalten. Da Sans KEDSENENEN mit einer Titan-
at zu identifieiren ist, hat die Columne die Überschrift »Ti« erhalten. ı® entspricht in dieser
Gegend des Speetrums 365.3 km. Die Messungen an der Ti-Linie sind öfter etwas minderwerthiger
als die an der Mg-Linie; die einigen Werthen in Klammern beigefügten Zahlen sind Gewichte,
die bei der Mittelbildung in Columne 5 berücksichtigt wurden. Der mit einem Stern versehene
Mittelwerth bei Beobachtung ır ist dadurch entstanden, dass auf der Platte auch an der Fe-
Linie X 4326 eine recht sichere Messung der Entfernung der verdoppelten Linie ausgeführt
werden konnte, welche 102 km (2) Geschwindigkeit ergab. Die Columne 6 enthält Angaben über
die Güte der Beobachtungen. Mit 2 sind die besten Aufnahmen bezeichnet.
Die Abweichungen der Beobachtungen von der Sinuscurve be-
tragen im Durchschnitt 7" bis 8"”, die negativen im Sinne R—B über-
wiegen (im Mittel —3“”), und da die grösseren Werthe meist auf dem
absteigenden Curvenstück gelegen sind, deuten sie an, dass der Abfall
einer direct durch die Beobachtungspunkte gelegten Curve etwas schroffer
erfolgt als der Aufstieg. Wollte man diese geringen Abweichungen
für reell halten, so würde man auf eine geringe Elliptieität der Bahn
beider Körper zu schliessen berechtigt sein. Als w.F. der Messungen
an einer Platte ergibt sich #6“.
Die Tixmorr’schen Messungen schliessen sich noch näher an die
Sinuscurve an; ich lasse dieselben hier folgen.
Vocer: Das speetroskopische Doppelsternsystem A Aurigae. 509
Nr. | Datum Beob. | Rechn. | R-B
M.E. Z. | |
| km | km km
I 1902 Febr. 14.421 161 146 —15
2 15.388 | 160 172 +12
3 19.406 | 145 | 159 +14
4 | 26.381 173 166 —7
5 26.410 180 173 — 7
6| 27.379 | 142 145 +3
7 März 4.401 172 184 +12
8 5.415 102 118 +16
9 11.448 | 34 | 89 5
10 | 12.396 200 | 197 — 3
11 13.396 96 | 99 223
12 24.407 | 228 | 214 nl
13 April 7.399 218 222 +4
14 7-427 218 2222 +4
15 Nov. 15.517 | 191 | 193 +2
16 | 16.442 100 89 —II
IE 17.438 198 E52025 27 2-74:
18 | 25.472 176 183 +7
19 26.454 | 131 er |
20 Dee. 9.502 133 142 +9
27 \ 11.445 | 154 E52 62
22 14-417 | 155 162 +7
23 19.443 128 et || ar
24 1903 Jan. 18.371 | 65 | -6
25 19.406 | 216 218, | +12
26 20.383 49 47 _ 2
27 | 21.403 | 217 | 219 | +2
28 | 23.408 | 219 20| +ı
29 24.373 einfach, breit 37 —
30 25.429 | 221 222 | 1
31 31.398 | 218 222, | +4
32 Febr. 3.403 | einfach, breit 80 HE —
33 | 10.375 | 217 221 I +4
34 | März 11.296 102 95 —7
35 21.379 147 \..148 re
36 27.276 140 737 —3
Die Abweichungen der durch Messung erhaltenen Geschwindig-
keiten von der durch die Sinuseurve dargestellten betragen im Durch-
schnitt 6°”, die negativen und positiven Werthe heben sich nahezu
auf (im Mittel +1”). Als w. F. ergibt sich #5""; die Bestimmungen
sind also den meinigen an Genauigkeit überlegen, was sich daraus
erklärt, dass ich mich auf die Messungen der Mg- und Ti-Linie
beschränkt habe, während Hr. Tixsorr mehrere Linien in jedem Spec-
trum gemessen hat, und ausserdem etwa die Hälfte der von ihm be-
nutzten Spectrogramme mit einem Sternspeetrographen von grösseren
Dimensionen ausgeführt worden sind.
510 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 10. März 1904.
Der von Hrn. Tıxnorr angegebene Zeitpunkt der Deckung der
Spectra oder der Conjunetion der Componenten des Doppelsterns: 1903
Februar 3, $”59" M.E.Z. berechnet sich nach der oben aufgestellten
Formel zu: Februar 3, 9" 6” M.E.Z.
Ich kehre nun zu den Potsdamer Beobachtungen aus früheren
Jahren zurück. Für die Beobachtungszeiten 1901 Sept. 23.514, Sept.
24.553, Sept. 25.558 und Sept. 26.536 ergibt die Rechnung nach der
oben aufgestellten Formel die relativen Radialgeschwindigkeiten zu
220”, 49, 215°" und 50°, und durch Vergleichung derselben mit
den im vorstehenden mitgetheilten Messungen erhält man als Ab-
weichungen im Sinne R—B: —5“, +11”, +1® und +4.
Rechnet man ebenso die Werthe für die Zeiten, zu denen die
m
mit dem schwach zerstreuenden Speetrographen D erhaltenen Spectro-
gramme im Jahre 1899 hergestellt worden sind, so ergibt sich die Ge-
schwindigkeit für März 5.5 119“, März ı1.5 101, März 12.43 187,
März 12.49 198“, März 14.46 196“, März 15.43 11“ und März 17.44
101“”. Eine Vergleichung mit den Beobachtungen zeigt, dass dieselben
nicht in Widerspruch mit der Rechnung stehen. Dasselbe gilt auch
für die vereinzelte Beobachtung, die mit demselben Apparate 1896
Mai 7.456 angestellt wurde. Nach der Rechnung soll die Trennung
der Linien einer relativen Bewegung von 216°” entsprechen.
Endlich schlossen sich auch die ersten Beobachtungen, die hier zur
Ermittelung der Radialgeschwindigkeiten von Sternen mit dem 1888
von mir construirten Speetrographen ausgeführt worden sind, so gut
an die Rechnung nach der Formel an, als es zu erwarten stand, wenn
man beachtet, dass diese Aufnahmen im allgemeinen an sich weniger
scharf sind, und dass ferner die Mg-Linie A4481 ausserhalb des Be-
reiches völlig scharfer Abbildung durch das Camera-Objectiv gelegen
ist. Ich habe die Platten nochmals nachgemessen, konnte aber keine
wesentlich andere Auffassung gewinnen. Bei der Aufnahme vom 6. Dec.
1890 gelang es mir bei günstiger Beleuchtung, die einzelnen Compo-
nenten der breit erscheinenden Mg-Linie zu erkennen und ihren Ab-
stand zu messen. Ich lasse die Beobachtungen, denen ich auch noch
die vereinzelte, mit demselben Apparate ausgeführte Beobachtung aus
dem Jahre 1897 zufüge, hier folgen:
Voser: Das speetroskopische Doppelsternsystem ß Aurigae. 511
| Messungen
Datum | Berechnet R—B
| frühere | neue Mittel
km km km km km
1888 Nov. 14.424 188 181 185 146 —39
1889 Jan. 3.276 194 204 199 213 +14
1890 Nov. 22.401 30: 35 33 32 — 1
25.410 212 218 215 221 +6
26.428 (einfach) 0: 0: 8 +8:
Dec. 14.338 (einfach) 37 37 24 —13
21.281 | 205 207 206 220 +14
1897 Nov. 10.378 | — 205 205 190 —15
Anmerkung. Der Anschluss der Beobachtungen an die Curve kann durch eine Ver-
grösserung der Periode um drei Einheiten der fünften Deeimale oder um 3° noch etwas ver-
bessert werden. Es ergeben sich alsdann für die einzelnen Beobachtungen folgende Abweichungen
im Sinne R-B: —30 km, +17 km, —ı3 km, +7 km, +4 km, —ı km, +12 km und —ı2 km.
Durch weitere Vergrösserung der Periode werden die Beobachtungen wieder weniger gut dargestellt.
Die Zeit, zu welcher die Spectrallinien 1891 Jan. ı einfach er-
schienen, berechnet sich nach der neuen Formel auf 2"ıı"M.E.Z.,
während ich aus den sieben ersten Beobachtungen früher abgeleitet hatte
1891 Jan. ı 3" M.Z. Greenwich oder 4" M.E.Z.
Ich glaube nach allen diesen Proben die Richtigkeit der ange-
gebenen Formel für erwiesen ansehen zu können und halte die Periode
für sicher bis auf wenige Einheiten der fünften Decimale oder #5‘,
da die Beobachtungen etwa 1400 Perioden umfassen.
Aus der beigegebenen graphischen Darstellung (Fig. 2) geht weiter
hervor, dass sich die 85 Beobachtungen über alle Theile der Curve er-
strecken, und dass die Abweichungen von der Sinuscurve und damit
von einer Kreisbahn nur sehr gering sind. Die Excentrieität der Bahn,
wenn überhaupt eine solche sich durch spätere Beobachtungen noch
mit Sicherheit herausstellen sollte, wird wohl kaum den Werth 0.05
überschreiten, so dass der früher von Rausaur ermittelte Werth 0.156
nicht bestätigt wird.
Unter der Annahme einer kreisförmigen Bahn, einer relativen Ge-
schwindigkeit beider Körper von 222“" und der oben abgeleiteten
Periode 3°9599, resultirt für die Masse des Systems
4.5 ©
sind ’
m+ m, =
und für die Entfernung beider Körper ergibt sich a sini= ı2 Mil-
lionen Kilometer." (Die abweichende Angabe für die Masse jeder der
Da eine Veränderung der Helliekeit bei ß Aurigae bisher nicht beobachtet
g gs 8
worden ist, eine theilweise Deckung der Körper also nicht stattfindet, kann der Maximal-
werth für den Winkel ’, welchen die Gesichtslinie mit der Senkrechten auf die Bahn-
ebene einschliesst, berechnet werden, wenn man noch Annahmen über die Durchmesser
Sitzungsberichte 1904. 40
Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 10. März 1904.
512
Der specetroskopisehe Doppelstern ® Aurigae.
Voser: Das speetroskopische Doppelsternsystem 8 Aurigae. 513
Componenten, die Miss Maury in der Eingangs erwähnten Abhandlung
macht: 1.25 ©, beruht wohl auf einem Schreib- oder Druckfehler.)
Wie oben gezeigt, und wie weiter durch die nachstehenden Be-
obachtungen über die Radialgeschwindigkeit des Systems bestätigt wird,
sind die Massen der beiden Componenten des Doppelsternsystems nicht
viel von einander verschieden.
Radialgeschwindigkeit des Systems.
Durch Anschluss der Messungen der Mg-Linien an das Vergleichs-
spectrum (Fe) habe ich noch aus den Potsdamer Beobachtungen von
1903 und 1904 die Bewegung des Systems in der Gesichtslinie aus
35 Platten abgeleitet und im Mittel aus allen Beobachtungen für die
Geschwindigkeit des Systems gefunden:
onen
Dieser Werth ist in guter Übereinstimmung mit einem von Hrn.
DesLanoees 1892 gefundenen Werthe —ı9“”, mit dem aus den 4 Pots-
damer Aufnahmen aus dem Jahre 1901 sich ergebenden, der im Mittel
—ı8"” beträgt, und mit der Tixnorr’schen Bestimmung — 16". Bei
der Ableitung der Bewegung des Systems ist die Verschiebung der Mitte
der getrennt erscheinenden Mg-Linien durch Anschluss an Fe-Linien
ermittelt worden, und es hätten sich Schwankungen in den so erhal-
tenen Werthen für die Grösse der Verschiebung in Folge der Bewegung
des Systems zeigen müssen, wenn der Schwerpunkt nicht sehr nahe
mit der Mitte zwischen beiden Körpern zusammenfiele. Die Schwan-
kungen zwischen den einzelnen Werthen sind aber nicht grösser, als
sie bei den immerhin schwer aufzufassenden M&-Linien zu erwarten
waren.
Die Beobachtungen in der einen Hälfte der Bahn, von Deckung
zu Deckung der Linien gelegen, geben im Mittel für die Geschwin-
digkeit des Systems —ı9“"4, die Beobachtungen aus der anderen Hälfte
der Bahn —22""7.
Eine weitere Bestätigung dafür, dass beide Componenten des Sy-
stems sehr nahe gleiche Masse haben, konnte durch die direete Be-
rechnung der Geschwindigkeit der einzelnen Körper relativ zur Sonne
der Körper des Doppelsterns macht. Bei der frühen Entwicklungsstufe, auf der sich
die Himmelskörper von der Spectralelasse Ia2 befinden, kann wohl vorausgesetzt
werden, dass ihre Dichtigkeit geringer ist als die der Sonne. Nimmt man für die
Durchmesser der Componenten von ß Aurigae den doppelten Sonnendurehmesser, so
wird = 77°, und es ist dann a = 12400000Km, m + mı = 4.9©. Für © = 60° wachsen
diese Werthe erheblich, für @ resultirt rund 14 Millionen Kilometer, für die Massen
ergibt sich 6.9 ©.
40*
514 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 10. März 1904.
aus den Verschiebungen der Mg-Linien gegen die Linien des Vergleichs-
speetrums abgeleitet werden. Die Rechnung und graphische Darstellung
hat Dr. Scnwrypar ausgeführt. Mit der Annahme einer Maximalgeschwin-
digkeit von 111" stellt ein und dieselbe Sinuseurve die für jeden der
Körper gefundenen Geschwindigkeiten sehr gut dar.
Über die zeitweisen Veränderungen im Aussehen der Linien
im Spectrum von P Aurigae.
Wie ich oben angegeben habe, hatte ich schon bei den ersten
Beobachtungen die Wahrnehmung gemacht, dass die eine Componente
der Mg-Linie breiter und etwas verwaschener, wohl auch etwas kräf-
tiger als die andere erschiene und ein Wechsel insofern stattfände,
dass einmal die stärkere, ein andermal die schwächere Componente
mehr nach Roth zu gelegen war. Diese Beobachtung liess den Ge-
danken aufkommen, dass das Speetrum des einen Körpers etwas kräf-
tiger sei als das des andern, und dass der Wechsel dann mit der
Stellung der Körper in der Bahn zusammenhinge.
Die wenigen Beobachtungen konnten keine Sicherheit darüber
bringen. Da ich aber andrerseits keinen Grund hatte, an der Rich-
tigkeit dieser Annahme zu zweifeln, gab ich als Charakteristik für das
Aussehen des Spectrums an: 1891 Jan. 2 ist die brechbarere Compo-
nente der Mg-Linien die stärkere (s. oben).
Von einem ganz ähnlichen Gesichtspunkte muss auch Hr. 'TıkHorr
ausgegangen sein, da er analog der von mir vor 12 Jahren gemachten
Angabe sagt: »1903 Febr. 4 ist die stärkste Componente der Mg-Linie
die weniger brechbare«. Leider sind seinen Beobachtungen keine Be-
merkungen über die relative Intensität der Componenten beigefügt,
sonst wäre es mir mit Zugrundelegung der richtigen Periode möglich
gewesen zu entscheiden, ob thatsächlich ein Wechsel der Intensitäten
nach jeder Conjunction stattfindet oder nicht. Das erstere muss der
Fall sein, wenn die Linien in dem Spectrum des einen Körpers un-
verändert stärker sind als in dem andern, das letztere, wenn der
Wechsel ein rein zufälliger ist.
Ich habe keinen regelmässigen Wechsel, der von der Lage der
Körper in der Bahn abhängig ist, nachweisen können; im Gegentheil
bin ich durch die neuesten Beobachtungen, besonders durch die in
der Nacht vom 27. zum 28. Januar dieses Jahres ohne Unterbrechung
ausgeführten Aufnahmen, überzeugt worden, dass der Wechsel ganz
unregelmässig erfolgt.
Auch bei ( Ursae majoris findet ein Wechsel in der relativen In-
tensität der Componenten der Mg-Linien statt; es ist mir aber ebenso
Vosrn: Das spectroskopische Doppelsternsystem 8 Aurigae. 515
wenig wie bei 3 Aurigae möglich gewesen, einen Zusammenhang mit
der Phase, in welcher sich die den Doppelstern bildenden Körper
befinden, zu entdecken.
Miss Maurv hat nun in der Eingangs erwähnten Abhandlung eine
Zusammenstellung in der Art gemacht, dass sie in einem Jahre die
Platten gezählt hat, auf denen die nach Roth zu gelegene Compo-
nente der Linie K die stärkere war, ferner die Anzahl derjenigen er-
mittelt hat, auf welcher das Gegentheil stattfand, und die Anzahl der-
jenigen, auf welchen beide Componenten gleich hell erschienen. Sie
findet einen Wechsel in der relativen Intensität innerhalb der über
9 Jahre sich erstreekenden Aufnahmen in der Weise, dass eine Umkehr
mit jedem Jahre stattfindet. dass also die relativen Intensitäten der Com-
ponenten von K sich in jedem Jahre umgekehrt verhalten, wie im
vorhergehenden Jahre. — Es ist nun leicht einzusehen. dass eine der-
artige Zusammenstellung, wenn sie nicht an der Hand einer die Be-
obachtungen darstellenden Curve geschieht, zu keinem brauchbaren Re-
sultate führen kann; denn angenommen, es fände thatsächlich ein
Wechsel nach jeder Conjunetion statt, so könnte es der Zufall wollen,
dass in einem Jahre der grösste Theil der Platten zu einer Zeit auf-
genommen wurde, als sich die Sterne in der ersten Hälfte der Balın
zwischen zwei Conjunetionen befanden, in dem nächsten Jahre in der
zweiten Hälfte. Das einzige Interessante, was man aus der Tabelle
entnehmen kann, ist das, dass die Fälle, in denen die Componenten
gleich intensiv erschienen, im Durchschnitt nur 17 Procent aller Be-
obachtungen ausmachen.
Was nun die Grösse der relativen Intensitätsänderungen «der Me-
Linie, auf die sich vorwiegend meine Beobachtungen erstreckt haben,
anbelangt, so ist dieselbe oft recht bedeutend. Auf einigen Platten
ist die eine Componente scharf, sehr deutlich und gut begrenzt, die
andere dagegen sehr breit, verwaschen und so schwach, dass eine
Messung ihrer Lage nur schwer auszuführen ist. Einmal erscheint
die eine Linie doppelt, zuweilen auch beide; sie bestehen dann ent-
weder aus einer breiteren und einer ganz schmalen Linie, oder aus
zwei gleich breiten Linien, deren Abstand einer relativen Bewegung
von 40" bis so"
die Ti-Linien im Aussehen ganz überein, häufiger sind sie gänzlich
verschieden. Die Wasserstofflinie Hy erscheint auf einigen Platten
deutlich vierfach. Es treten zuweilen im Spectrum neue einfache, oft
ganz scharfe Linien auf, zu denen sich keine Componenten finden
lassen, während die Mg-Linien getrennt sind.
Das sind alles Erscheinungen, die ich auch schon im Spectrum
von ( Ursae majoris beobachtet habe. Ich setze einen darauf be-
entspricht. Manchmal stimmen die Mg-Linien und
516 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 10. März 1904.
züglichen Passus meiner zweiten Abhandlung über { Ursae majoris!
hierher.
Ȇber die Verschiedenheit des Aussehens der Componenten der
Mg-Linien auf verschiedenen Aufnahmen habe ich auch schon in dem
ersten Berichte über die Beobachtungen von Mizar gesprochen. Die
weiteren Beobachtungen haben keine Entscheidung darüber bringen
können, dass die Veränderungen mit der Periode in Zusammenhang
ständen. « ;
»Selten sind die Componenten der Mg-Linie in Bezug auf Inten-
sität und Breite gleich, gewöhnlich ist die brechbarere der Compo-
nenten die breitere; nach einer Deckung der Speetra hat mit Bestimmt-
heit kein Wechsel im Aussehen nachgewiesen werden können. Unter
den neueren Beobachtungen sind einige, bei denen beide Componenten
wieder doppelt sind. Die Linien der zwei Linienpaare sind dann sehr
scharf und schmal. Die Ungleichheiten als zufällige Veränderungen
im Korn der photographischen Schicht anzusehen, scheint wohl aus-
geschlossen, da die Ungleichheiten im Aussehen der Mg-Linien sich
auch zuweilen in demselben Sinne bei einigen Eisenlinien zeigen, frei-
lich, wegen der Schwäche derselben, nur mit geringer Sicherheit.
Es scheint mir aber die Annahme nicht ausgeschlossen, dass bei den
stark variirenden Abständen der beiden Körper bei ihrer Bewegung
um einander (16 bis 51 Millionen Kilometer) gegenseitige Störungen
in den Atmosphären der Weltkörper entstehen, die zeitweilig Um-
kehrungserscheinungen oder Verbreiterungen zur Folge haben.«
Wenn es nun bei (Ursae majoris berechtigt erschien, Störungen
in den Atmosphären bei der starken Elliptieität der Bahn (e = 0.502)
anzunehmen, so liegt hier bei einer fast kreisförmigen Bahn kein Grund
zu einer solehen Annahme vor.
Die von Tiıxuorr ausgesprochene Ansicht, dass jede der Compo-
nenten wieder ein Doppelstern sei, ist ja nicht direet abzuweisen;
sie erhält aber durch das ähnliche Verhalten der Linien bei ( Ursae
majoris meiner Ansicht nach keine Stütze. Ich möchte daher die Auf-
merksamkeit auf folgende Überlegung lenken.
Die Spectra der Classe Ia2 zeigen ausser den breiten Wasserstoff-
linien, den Linien des Caleiums, Magnesiums, Eisens und Titans nur eine
mehr oder minder grosse Anzahl ganz schwacher Linien. Im Spectrum
von 8Aurigae erscheint zu der Zeit der vollkommenen oder nahezu
vollkommenen Deckung beider Spectra das continuirliche Spectrum
! 1. Abhandlung: Diese Berichte 1901, XXIV, S. 534 u.f. 2. Abhandlung: Wei-
tere Untersuchungen über das Spectroskopische Doppelsternsystem Mizar, Archives
Neerlandaises, Harlem 1901, S.661 u.f.
Voser: Das speetroskopische Doppelsternsystem 8 Aurigae. 517
durchzogen von einer sehr grossen Anzahl feiner Linien, so dass dem
eontinuirlichen Spectrum das Aussehen einer feinen, stellenweise nicht
aufzulösenden Schraffirung verliehen wird. Bei der Verschiebung zweier
solcher über einander gelagerter Spectra gegen einander projieiren sich
die Linien des einen Speetrums auf den durchaus nicht gleichmässigen
Speetralgrund des andern Speetrums, und es können und müssen da-
durch Linien, die man in dem einzelnen Spectrum kaum erkennen
konnte, plötzlich stärker hervortreten; andere aber werden, wenn sie
gerade mit einer helleren Stelle des superponirten Spectrums zusammen-
fallen, stark geschwächt werden'. Ich bin der Ansicht, dass sich mög-
licherweise damit auch die zeitweisen Verdoppelungen, der Wechsel der
relativen Intensität oder der Schärfe der breiten, getrennt erscheinenden
Mg-Linien oder Ti-Linien oder der Linie K erklären lassen. Es kommt
ferner noch hinzu, dass die Absorption in den Atmosphären der Körper
von der Spectralelasse Ia2, vielleicht mit Ausnahme der Caleiumabsorp-
tion, keine sehr kräftige ist, so dass die Linien im allgemeinen bei
der Übereinanderlagerung zweier Speetra noch zum Theil aufgehellt
werden, wenn die Speetra sich nicht vollkommen decken. Darauf be-
ruht es auch, dass das Gelingen speetrographischer Aufnahmen der-
artiger Spectra so sehr von der richtigen Expositionszeit abhängt.
Ohne Zweifel spielt ferner die Structur der photographischen Schicht
hier eine viel grössere Rolle, als bei der Aufnahme nicht über ein-
ander liegender Spectra.
Zuar Ergründung der besprochenen Erscheinungen sind nur Spectro-
gramme, die mit Hülfe eines sehr stark zerstreuenden Spectrographen
auf möglichst feinkörnigen Platten hergestellt sind, verwendbar. Es
wird erforderlich sein, häufige Aufnahmen in kurzen Zwischenräumen
vorzunehmen und die Veränderungen an der Mg-Linie A 4481 mit denen
an anderen Linien zu vergleichen.
! Ich wurde zu dieser Ansicht geführt durch die Resultate, die sich bei Anwen-
dung einer von Hrn. Berororsky in Pulkowa angegebenen Methode, ganz schwache
Linien in Speetreu besser sichtbar zu machen, erzielen lassen. Diese Methode besteht
darin, dass man zwei Spectralaufnahmen desselben Objeets so über einander legt, dass
sich die Hauptlinien decken. Es treten dann schwache Linien recht deutlich hervor, und
wenn man eine Photographie von den über einander liegenden Speetrogrammen anfertigt,
kann man die Linien des neuen Speetrogramms durch Überlegen einer der ersten
Platten noch weiter verstärken.
518
Untersuchungen über die Bildungsverhältnisse
der ozeanischen Salzablagerungen.
XXXIV. Die Maximaltension der konstanten Lösungen
bei 83°.
Von J. H. van’r Horr, U. Grassı und R. B. Denison.
BD. obere Temperaturgrenze, welche zum Abschluß der Untersuchung
über die Salzlagerbildung gewählt wurde, war die Temperatur von 83°,
bei der das Auftreten von Kainit aufhört. Nach einer früheren Mit-
teilung! sind dann. neben Steinsalz, folgende Vorkommnisse zu berück-
sichtigen: Sylvin KCl, Carnallit MgC1,K.6H,0, Bischofit MgCl,. 6H,O,
Kieserit MgSO,.H,O, Loeweit Mg,Na, (SO,),.5H,O, Vanthoffit MgNa,
(SO,),;, Thenardit Na,SO,, Glaserit (K,Na),SO, und Langbeinit Mg,K,
(SO,),. Das Nebeneinandervorkommen, die Paragenese, dieser Mine-
ralien wird nach vorhergehenden orientierenden Versuchen durch das
in Fig. ı enthaltene Schema zum Ausdruck gebracht.
Die eingehendere Untersuchung der quantitativen Verhältnisse
wurde dureh Bestimmung der Tension der in obigem Schema ange-
deuteten konstanten Lösungen A bis Z eingeleitet. Diese Messungen
sind verhältnismäßig leicht ausführbar, bieten eine Kontrolle der ver-
muteten Sachlage und Andeutungen über die Zusammensetzung der
Lösungen, während schließlich übersehene Körper sich in dieser Weise
am leichtesten anzeigen, wie es bei den entsprechenden Messungen
bei 25° der Fall war.”
I. Die Umrandung des Sättigungsfeldes und der Krystalli-
sationsendpunkt. (Gemeinschaftlich mit Grasst.)
Die Tensionen der Lösungen wurden gegen Phosphorpentoxyd ge-
messen mit dem Bremer -Froweinschen Tensimeter, Quecksilber als Meß-
! Diese Sitzungsberichte 1903, 678.
®? Ebenda 1900, 1018.
van'r Horr: Oceanische Salzablagerungen. XXXIV. 519
flüssigkeit und die Messung zunächst beschränkt auf die Umrandung
des Sättigungsfeldes (A bis L der Fig.ı), Chlornatrium und den Kıy-
stallisationsendpunkt Z. Die Salzmischung betrug 5° und die Mengen-
verhältnisse wurden auf Grund der bei 25° durchgeführten Löslich-
keitsbestimmungen abgeschätzt, nur wurde von keinem Salze weniger
als 0®5 genommen und von Magnesiumchlorid, falls Sättigung daran
verlangt wurde, nicht weniger als 2°. Angefeuchtet wurde dann diese
Mischung mit 0°5 einer bei 25° gesättigten Lösung, welche vorher
mit den Körpern, an denen Sättigung verlangt wurde, bei 83° gerührt
Carnallit
Kieserit ———————— [}
Q
R E =
Langbeinit
Loeweit Ww P
I V
Vanthoffit Glaserit KCl
H S
Na,SO,
. , 5 B
war. In dieser Weise ging die Einstellung der Tension innerhalb 4
bis 6 Stunden also glatt vor sich, was schon andeutete, daß obiges
Schema in Fig. ı den Tatsachen entspricht. Die Luftkorrektur wurde
anfangs mit Äther und Kohlensäure durchgeführt, bis sie sich über-
tlüssig zeigte, und jede Bestimmung doppelt gemacht. Die Verhält-
nisse bei H, I und K wurden besonders sorgfältig verfolgt, weil es
sich da um Körper handelt, die bei 25° noch nicht auftreten, und dem-
entsprechend die betreffenden Tensimeter während 40 bis 60 Stunden
beobachtet. Für die Reduktion der Quecksilberablesung an Glasskalen
auf 0° wurde durch 1.015 dividiert und die Temperatur 83° mit Normal-
thermometer kontrolliert.
520 Sitzung der physikalisch - mathematischen Classe vom 10. März 1904.
Die Resultate waren folgende:
Druck in Millimetern Hg bei o°
Sättisnng an Chlornatrium und App. I App. II Mittel
O. 298.5 298 298.3
A. MgCl,.6H, OÖ 106 106.4 106.2
B. RCI 272.8 273 272-9
C. Na3,SO0, 297.5 296.5 297
D. MgCl,.6H,0, Carnallit 102.2 102.5 102.4
E. KCl, Carnallit 185 186.6 185.8
F. KCl, Glaserit 270.8 271.5 271.2
G. Na,SO,, Glaserit 283 283.5 283.3
H. Na,SO,, Vanthoffit 292.5 290.8 291.7
I. Loeweit, Vanthoffit 284.2 283.6 283.9
RK. Loeweit, Kieserit 265.3 266.3 265.8
L. MgeCl,.6H,0, Kieserit 104.7 104.6 104.7
Z. MgCl,.6H,0, Kieserit, Carnallit 101.8 102 101.9
I. Die übrigen konstanten Lösungen.
(Gemeinschaftlich mit Denıson.)
Die Messungen wurden in derselben Weise wie oben angegeben
ausgeführt, ohne Luftkorrektur, und ergaben auch dasselbe Resultat,
wie die wiederholte Bestimmung am Krystallisationsendpunkt Z zeigte.
Das Gleichgewicht stellte sich wiederum in einigen Stunden ein, nur
bei Anwesenheit von Langbeinit waren einige Tage zu dessen Ein-
treten notwendig.
Die Resultate waren folgende:
Druck in Millimetern Hg bei o°
Sättigung an Chlornatrium und App. I App. Il Mittel
Z. MgCl,.6H,0, Kieserit, Carnallit 101.7 101.7 101.7
Q. KÜl, Kieserit, Carnallit 183.6 183.6 183.6
t. RCl, Kieserit, Langbeinit 215.2 216.2 215.7
Y. Kieserit, Langbeinit, Loeweit BAT 254-7 255.2
W. Glaserit, Langbeinit, Loeweit 269.5 269.5 269.5
P. KCl, Glaserit, Langbeinit 264.5 265.5 265
V, Glaserit, Loeweit, Vanthoffit 275-5 275.5 275-5
S. Na,SO,, Glaserit, Vanthoffit 279.5 278.5 279
Werden schließlich sämtliche Beobachtungen, auf Millimeter Queck-
silber abgerundet, in Fig. 2 eingetragen, so zeigen sich die zu erwar-
tenden Beziehungen übersichtlich durch Pfeile, welche die Richtung
der Tensionsabnahme anweisen. Die Eekpunkte (A, B, C) der Figur
entsprechen Tensionsmaxima (106, 273. 297), deren Wert nur durch
denjenigen für Chlornatrium allein (298) übertroffen wird. Zwischen
diesen Eekpunkten zeigen sich drei den Anfang der Krystallisations-
bahnen anweisende Minima in D, L und F. Von dort aus nimmt
die Tension bis zum Krystallisationsendpunkt Z ab, wo sie überhaupt
den kleinsten Wert hat. Dazu wird durchwegs der Satz bestätigt,
daß eine neue Sättigung die Tension vermindert, was sich darin zeigt,
daß die vom Rand nach innen gehenden Linien immer mit nach innen
7 a vanr Horr: ÖOceanische Salzablagerungen. XXXIV. 521
_ weisenden Pfeilen versehen sind. Die Tensionsbestimmungen haben
_ also ohne Ausnahme die in Fig.ı enthaltenen Vermutungen über die
Sättigungsverhältnisse bei 33° bestätigt.
Fig. 2.
106 (A)
101.8 (Z) \
ee
105 102
A
84 I ———E
arg
A
> V
284 276
A A
> Ss
292 279
A
> | > < B
283 (G) 271(F) 273
Über redueirte Integrale erster Gattung.
Von F. ScuortKY.
enn ein algebraisches Gebilde definirt ist durch zwei Gleichungen
zwischen drei Veränderlichen:
Hp,)=0:Kle:p,)=O°,
von denen die erste vom Range oder Geschlechte r sein möge, so wird
der Rang > dieses Gebildes (2, 9.9) im allgemeinen grösser als r sein:
— 0
Die z Integrale erster Gattung, die zu diesem Gebilde gehören, lassen
sich dann so wählen, dass sie in zwei Reihen zerfallen:
U URS UNO
von denen die Reihe der « nur 27, die der v nur 20 primitive Pe-
rioden besitzt. Die Reihe der « dient zur Definition einer Classe AsEr-
scher Funetionen von r Variabeln, die der Riemann schen Theorie an-
gehören. Die Reihe der v aber führt zu Aper'schen Funetionen von
c Variabeln, die allgemeinerer Natur sind.
Von den Grössen « ist klar, dass sie sich in der Forın darstellen:
Ur — IR, dp,
wo jedes R, eine rationale Funetion bedeutet. Die Frage ist aber:
Wie sind die v, algebraisch zu definiren? In dem Falle, wo die Glei-
chung X= 0 in Bezug auf 2 vom zweiten Grade ist, ist diese Frage
beantwortet durch meine Arbeit: Über die charakteristischen Gleichun-
gen symmetrischer ebenen Flächen (CrerLer, Bd. 106, 1890). Bringt
man die Gleichung A = o auf die Form:
2, — S(pRg)e
so sind die » diejenigen Integrale erster Gattung, die in der Gestalt
> adp
<
u
dargestellt werden.
Scnorrky: Über redueirte Integrale erster Gattung. 523
Um die Frage allgemein zu beantworten, stelle ich sie so: Wie
sind die » zu definiren, damit für diese Integrale ein Additionstheorem
besteht, gleich als wenn sie zu einer Gleichung vom Geschlechte
gehörten ?
Es sei gegeben eine Gleichung G(x,y) =0o vom Geschlechte z.
Wählt man zwei rationale Functionen p,g von @,y, so sind diese
wiederum durch eine irreduetible Gleichung H(p,g) = 0 verbunden.
Das Geschlecht dieser zweiten Gleichung kann nicht grösser als p sein,
da jedes Integral erster Gattung, das zur Gleichung H = o gehört,
zugleich ein Integral erster Gattung für das Gebilde (x,y) ist. Im
allgemeinen wird das Geschlecht der zweiten Gleichung nur gleich ©
oder > sein können. Ich nehme aber an, G(x,y) = 0 sei von der spe-
ciellen Beschaffenheit, dass bei besonderer Wahl von p,g das Ge-
schlecht r der Gleichung H(p,g) =0 zwischen > und oO liegt:
rs Te)
Ich setze dann p=r-+o.
Es ist unmöglich, dass sich &,y rational durch p,g ausdrücken
lassen. Die Anzahl der verschiedenen Punkte (x, y), die zu einem
Werthepaare p, qg gehören. nenne ich n und bezeichne n solche Punkte
als eine Gruppe.
Wenn es sich darum handelt, ein vollständiges System von Inte-
gralen erster Gattung aufzustellen, die zum Gebilde (x, y) gehören,
so können in diese Reihe zunächst die r Integrale erster Gattung auf-
genommen werden, die zur Gleichung H(p,g) = 0 gehören:
u. = [R.(p. Ddp @=1,2..2)
Die © übrigen seien in der Form:
0: = |Ss(8, Y)dp (P=1,2..e)
gegeben, wo 8, eine rationale Function von (x, y) bedeutet. Die Inte-
grale dieser zweiten Reihe denke ich mir nun durch Hinzufügung von
linearen Aggregaten der ersten Reihe so redueirt, dass identisch:
NS, y) = 0
v=I
ist, wenn die Summation über eine beliebige Punktgruppe erstreckt
wird. Eine solche Reduction ist jedenfalls möglich. Denn wenn die
Summe
>, Y,)
nicht 0 ist, so ist sie jedenfalls eine rationale Function F;(p,g) des
zur Gruppe gehörigen Werthepaares (p,g), und es ist
524 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 10. März 1904.
[F(p, dp
ein Integral erster Gattung, also linear durch w,, w,..u, ausdrückbar.
F
Ersetzt man nun $;(x,y) durch
I =
Sa(®, Help: ) — Sa(®, y),
so ist offenbar:
n
> Sp(a, D Y,) =o.
v—ı
Hiernach nehme ich jetzt an, dass die Integrale vo; in der an-
gegebenen redueirten Form dargestellt sind.
Denke ich mir nun zwei Reihen von je r Punkten ("> o):
(8,59); (> 9%) O.0rO (8, 47); (4 %;) I00 (my)
(der Kürze wegen will ich sie durch
SEI BEL E70
bezeichnen), so gewählt, dass die « Gleichungen
stattfinden, so lässt sich diese transcendente Forderung durch eine
algebraische ersetzen.
Die r zugehörigen Integralsummen:
sh
z
s
, »Er
> du. = 6, (a—urEizez)
2
werden im allgemeinen von © verschiedene Werthe haben. Es ist
aber nach dem für die Integrale «, bestehenden Ager'schen Theorem
zulässig, zu setzen:
wobei
!
nn
Punkte des Gebildes (p,g) bedeuten, von denen die 7’ ganz willkür-
lich angenommen werden können, während »,.7,.., von den Punkten
n, E und &’ algebraisch abhängen.
Zu jedem Punkte „, oder „, gehört nun eine Punktgruppe &,,
Ne 7 . 3 E 1
oder &,W= I,2..n) und zu jedem der Integrationswege von 7, nach
ScHorrkY:
Über reducirte Integrale erster Gattung.
7. eine Gruppe von n Integrationswegen im Gebilde
n Integrale
sind alle gleich
somit kann man die letzte Gleichung folgendermaassen schreiben:
BE, 3 un Er
> lau. +3 5 du on
A=ZIy
KR Te)
&
r vi
Genau dieselbe Gleichung gilt aber auch für die Integrale v..
Denn nach der Voraussetzung ist zunächst:
Ferner ist:
r &
ı1=ıI
5
Denn diese Summe ist:
Auf allen Integrationswegen durchläuft p dieselben Werthe.
D
n Syyk
> S(@, y)dp.
v=ıI
&
Sy
kann deshalb die Summe als ein Integral auffassen, und dies ist
N,
[sx«. Y)+ Sol, yo). + Sn: Y))dp = 0.
N,
Wir sehen also: es besteht die Gleichung:
=ıLı
RZ=Iv=ı
a E
U
&, Ein 0 Eu
dw-+ > > dw = 0
E
Man
für sämmtliche p = o-+r Integrale erster Gattung, die zur Gleichung
G(&,y) = 0 gehören. Daraus folgt, dass eine rationale Function von
(©, y) existirt, die unendlich wird in den Punkten = ‚ oin den Punkten
526 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 10. März 1904.
£,, die ausserdem nur unendlich wird in 7 willkürlich gewählten Punkt-
gruppen, und oO in r Punktgruppen, die algebraisch durch die Punkte
Z,,& bestimmt sind. Man kann daher die aufgestellte transcendente
Forderung ersetzen durch die algebraische:
Es muss eine rationale Function von (2, y) existiren, die in den
Punkten der einen Reihe verschwindet, in denen der andern unendlich
wird, und die ausserdem nur in Punktgruppen 0 und unendlich wird.
Wenn z.B. die Gleichung H(p,g) = 0 vom Range ı ist, sodass
p und g elliptische Functionen des Integrals « werden, so ist für das
Bestehen der o Gleichungen:
B do. 0 (255)
u
ser
a
nieht nothwendig, dass eine rationale Function R(x,y) existirt, die
nur in den Punkten &, und & null und unendlich wird. Aber es ist
nothwendig, dass eine Function von der Form
existirt, welche diese Eigenschaft hat: wobei a eine Constante be-
deutet, deren Werth von den Punkten Z&, und £ abhängen darf.
527
Untersuchungen über das Spectrum und die Bahn
von Ö0rionis.
Von Prof. Dr. J. HArrmann
in Potsdam.
Vorgeleet von Hrn. Voceı.
Do o
E48 der ersten Resultate, welche Hr. DesLanpres mit dem neuen,
am photographischen 62°"-Refractor der Sternwarte zu Meudon ange-
brachten Spectrographen fand, war die Entdeckung der Osecillation von
ö Orionis. Die Bezeichnung »Oseillation« gebrauche ich an Stelle des
schwerfälligen Ausdruckes » Veränderlichkeit der Geschwindigkeit in der
Gesichtslinie«; jedoch ist der Begriff der Oseillation ein noch etwas
weiterer, da er jede Art periodischer Änderungen im Spectrum um-
fasst, ohne über deren Erklärung etwas auszusagen.
Nach dem Bekanntwerden' der erwähnten Entdeckung, welche
Hr. Destanoees am 12. Februar 1900 der Pariser Akademie vorlegte,
veranlasste Hr. Geh. Oberregierungsrath Voser die auf dem Gebiete der
Sternspectroskopie in Potsdam thätigen Beobachter, eine Nachprüfung
der interessanten Erscheinung vorzunehmen, und es wurde durch die
mit vier verschiedenen Spectrographen damals in Potsdam ausgeführten
Beobachtungen als zweifellos erwiesen, dass ÖöOrionis zur Gruppe der
oscillirenden Sterne gehört. Auch Hr. Wrienr erbrachte durch drei
Beobachtungen mit dem Mills-Spectrographen der Lick-Sternwarte eine
Bestätigung der Entdeckung.”
Aus seinen elf Beobachtungen leitete Hr. DesLanpees eine Umlaufs-
zeit von 1.92 Tagen ab, und er schloss auf eine sehr grosse Excen-
trieität der Bahn. Meine damaligen Beobachtungen, die ich mit dem
grossen Speetrographen III (mit drei Prismen) am 80°"-Refraetor aus-
geführt hatte, liessen sich jedoch mit dieser Dauer der Periode nicht
in Einklang bringen, und da es sich bei den Messungen gezeigt hatte,
dass man die Beobachtung des Sterns wegen der ausserordentlichen
Verwaschenheit seiner Spectrallinien vortheilhafter mit geringerer Dis-
! H. Destanoees, Variations rapides de la vitesse radiale de l’etoile ö Orion.
Comptes Rendus 130, 379. 1900.
® Liek Observatory Bulletin Nr. 4, 1900.
Sitzungsberichte 1904. 41
528 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 10. März 1904.
persion ausführen würde, so nahm ich denselben in das Beobachtungs-
programm des Speetrographen I (mit nur einem Prisma) auf. In den
Wintermonaten 1901/2 und 1902/3 habe ich dann mit diesem Apparat
eine grössere Beobachtungsreihe ausgeführt, über deren Bearbeitung ich
im Folgenden berichten werde.
Es sei hier schon bemerkt, dass meine Messungen die von Hrn.
DestLAannres berechnete Periodendauer nicht bestätigt haben; die wahre
Dauer beträgt vielmehr das dreifache der von ihm angegebenen Zahl,
auch ist die Excentrieität nur gering. Wie ich mich überzeugt habe,
lassen sich allerdings die Beobachtungen von DEsLANDREs zufällig auch
durch eine Periode von 1!92 ziemlich gut darstellen, mit alleiniger Aus-
nahme seiner ersten und letzten Messung. Diese beiden Beobachtungen
lauten
1899 Dee. 84 V=+95km
1900 Jan. 25.3 V=-50 »
Addirt man zur ersten Beobachtungszeit das fünfundzwanzigfache
der Periode: 25x 192 = 48°o, so erhält man
1900 Jan. 25.4 V=+95 km
und dieses steht im Widerspruch mit der letzten Beobachtung. Durch
die von mir abgeleitete Umlaufszeit werden dagegen alle Beobachtungen
von DESLANDRES gut dargestellt.
In Tabelle I gebe ich zunächst das Verzeichniss meiner sämmt-
lichen Beobachtungen. In der ersten Spalte dient die römische Ziffer
zur Bezeichnung des angewandten Spectrographen. Die zwei Platten
IV 43ı und IV 435 wurden mit dem am photographischen 33°”-Re-
fractor angebrachten Spectrographen IV von Hrn. Dr. Lupennporrr auf-
genommen, der mich auch bei den Aufnahmen mit Speetrograph I am
So®”-Refractor unterstützt hat. In der Columne »Julian. Zt.« wurden,
wie auch später im Texte, stets die drei ersten Ziffern, die 241 lauten,
fortgelassen; diese Zeitangaben sind stets in Greenwicher Zeit ausge-
drückt. V ist die beobachtete Geschwindigkeit in der Gesichtslinie
relativ zur Sonne und e der mittlere Fehler dieser Zahl, berechnet
aus der inneren Übereinstimmung der aus den einzelnen Linien ab-
geleiteten Resultate; unter Z ist die Anzahl der zur Berechnung der
Geschwindigkeit benutzten Linien angegeben. Die zwei letzten Columnen
werden später erklärt.
TabellezT.
Platten- |
Mittl. Zt. Greenw. | Julian. Zt. | V | || R V-R
nummer | ||
TA —_
| | km km | | km | km
UI 41 | 1900 Febr.25 6"48 | sor6d28 | +840 +6 | ı Sr es || == (or!
143 März ı 625 | 5080.27 — 2 — 66.4 +21.0
II 49 | TOES 5086.26 | — 494 | 5 | 2 Is: 58.5 + 9.1
Platten- |° Mitt. Zt. Greenw. Julian. Z.| V | e |ı R V-R
nummer | |
km km | km km
IV 431 | 1901 an Se 5390.34 | — 24.5 — I — 44:7 |, +20.2
IV 435 | 982 5394.33 | — 30.9 °— I | 286 | —2
Taas53 1901 Nov. 23. 10: 6 | 5712.42 | + 635 | 29| 6 + 63.3 + 0.2
I 189 1902 Jan. 13 719 | 5763.30 | — N | +14.1
I ıgı 19729035 5763.40 IN er 6.9| 9 | — 7.8 +13.9
I 196 | 14 832 | 5764.36 | + 92.2 8.4 10 | -+103.2 —IT.O
I 200 | 14 1035 | 5764.44 | +I1o.5 4-8 8 || +110.0 + 0.5
I 204 | X6.02 8035 01025766:36 + 27.0 3.1 6 + 235 | +35
mars | Febr. 4 ıo ıı 5785.42 |° — 65.0 9.1 6 — 65.1 + 0.1
W227 10 850 5791.37 | — as. 66| 6 | — 580 | +12.9
I 224 | ELSE) | 5792.26 IlZE 17.8 6.1) 6 | + 13.6 + 4.2
I 226 | 12 546 | 5793.24 | +#1249 | 95| 2 +120.5 + 4.4
Tw227| 13 522 | 5794.22 +107.1 | 6.3 | 6 +104.5 + 2.6
Igasına TA, 275026 5795.23 + 3:9 | 65 [76 + 3.0 + 0.9
I 232 | NE A42 | 5796.20 | — 63.0 3.0 6 — 61.1 — 19
T 234 | Om ET 5797.210 23 3.0007 — 52.9 + 0.6
Il 245 März 5 6 20 5814.26 | — 596 | 6.1 8 — 59.8 | + 0.2
1 247 | Gm 25,260 1725, 815:.230 0.-7427-3 3.3 7 | +180 | +86
I 253 | E20 5820.31 | — 43.5 a ai |) 0
I 254 | zw 5 3800 WE5Bar.2au 7454 6.2| 6 | + 50.6 — 5.2
I 256 | 13, 5:35 5822.23 +123.4 | 7.0 72 |\17-2.133:4 5:0
2625| A543 5823.24 | + 68.7 le +68 | — I
I 266 | Apuls2r 2073 5842.26 I 79-5 6.6 | 7 — 66.2 —13.3
I 268 | 2) 22 5842.31 | — 60.0 | A — 671 | Fa
1284 | OR T6 5849.30 | — 30.0 47 | 3 ans Ar
I 288 | 10646 5850.28 | + 81.2 3:8 7 + 96.4 | —ı5.2
I 475 Dee. ıı 914 6095.38 | — 49.3 4.1 7 — 48.4 | — 09
I 481 T2U 8053 6096.37 | + 47.2 08 | 6 + 43.0 | — 0.8
I 485 | 13 849 6097.37 | +128.7 896 +133.2 | — 45
I 491 N 6098.46 | + 56.1 4.9 6 + 63.5 — 7.4
I 494 1903 Jan. 9 8 7 6124.34 | — 32.7 Ta 265 | — 6.2
I 495 T2We0E23 6127.39 + 38.2 AR 8 + 35.8 + 2.
I zoı Kg 8Er2 6128.34 | — 46.4 2a — 45.2 — 1.2
I 505 1410171549. 6929.32 — 69.3 3-5 5 — 66.4 — 2.9
I 509 17, 285327 | ‚6132.36 | +127.1 | © +I1Lo | +16.1
I 523 | Febr. 7 8351 | 6153.37 | 0.0 | ga 00
TMinarz'zı Marz 28 | 6181.23 — 54-9 6.0| 9 — 55.8 | + 0.9
NG | ı2 551 | 6186.24 | — 61.2 731 9 — er) | Se 5
Tsar | 15025659 6189.26 | +135.4 5:22.16 +132.7 | + 2.7
ö Orionis gehört zum Typus der Orionsterne (Ib), deren Speetrum
neben den Linien des Wasserstoffs hauptsächlich die des Heliums zeigt.
Im vorliegenden Falle sind alle diese Linien äusserst verwaschen und
matt, so dass ihre Messung sehr schwierig und unsicher ist. Wegen
der geringen Intensität der Linien sind alle Plattenfehler sehr störend,
und in Folge ungleichmässiger Kornablagerung erscheinen die Linien
häufig krumm und unsymmetrisch, bisweilen sogar verdoppelt. Durch
eine besondere Untersuchung habe ich mich davon überzeugt, dass die
Andeutungen von Verdoppelungen und unsymmetrischen Verbreiterungen
41*
530 Sitzung der physikalisch -mathematischen Classe vom 10. März 1904.
nicht durch Linien veranlasst sein können, welche der zweiten Com-
ponente des Systems angehören: jedoch halte ich es nicht für aus-
geschlossen, dass die Form der Linien, vielleicht in Folge heftiger
Bewegungen in der Gashülle des Sterns, kleinen reellen Änderungen
unterworfen ist.
Muss man hiernach öOrionis für ein Doppelsternsystem halten,
dessen eine Componente, wie man sich auszudrücken pflegt, »dunkel«
ist, so möchte ich doch darauf aufmerksam machen, dass man hier
unter »Dunkelheit« nur einen relativ geringen Helligkeitsunterschied
zu verstehen hat. Schon ein Unterschied von etwa einer Grössenclasse
würde ausreichen, um das Speetrum der schwächeren Componente fast
zum völligen Verschwinden zu bringen, und bei einem Unterschied von
zwei Grössenclassen ist es unmöglich, dass auch nur eine Spur des
schwächern Speetrums erscheint. In dieser geringen Grössendifferenz,
die zur Auslöschung des schwächern Spectrums genügt, liegt auch
die Erklärung der Thatsache, dass sich unter den zahlreichen bisher
entdeckten spectroskopischen Doppelsystemen nur eine sehr kleine An-
zahl solcher befindet, bei denen sich auch die zweite Componente im
Speetrum nachweisen lässt.
Wegen der grossen Unschärfe der Linien ist bei der Ausmessung
dieses Speetrums der persönlichen Auffassung des Beobachters ein sehr
weiter Spielraum gelassen, und man hat daher, um zu einwandfreien
Resultaten zu gelangen, streng darauf zu achten, dass alles Subjeetive
nach Möglichkeit aus den Beobachtungen eliminirt wird. Zu diesem
Zwecke habe ich bei den Messungen, die ich sämmtlich selbst aus-
geführt habe, folgende Regeln befolgt. Erstens wurde jede Platte in
den beiden Lagen (Violett rechts und links) völlig unabhängig aus-
gemessen. Ist diese Messung in zwei Lagen selbst bei Spectren mit
scharfen Linien, wie ich an anderer St&lle' gezeigt habe, sehr zu em-
pfehlen, so ist sie bei verwaschenen Linien ganz und gar unerlässlich,
da in diesem Falle die psychophysischen Fehler in der Schätzung der
Mitte der Linien ausserordentlich hohe Beträge annehmen. Zweitens
wurde während der Messungen auf das strengste jede Voreingenommen-
heit des Beobachters vermieden, indem die Reduction der Beobach-
tungen und die Zeichnung der Geschwindigkeitscurve erst nach völliger
Beendigung aller Messungen vorgenommen wurde. Endlich habe ich,
um möglichst sichere Geschwindigkeitswerthe zu erhalten und um das
benutzte Plattenmaterial durch diese Bearbeitung völlig zu erledigen,
mir zur Regel gemacht, alle in jeder Aufnahme erkennbaren Linien
zu messen. Während sich die Messungen aller früheren Beobachter,
! Astr. Nachr. 155, 97, 1901.
J. Harınann: Spectroskopische Untersuchungen über ö Orionis. 531
die mit stärker dispergirenden Apparaten arbeiteten, auf die Hy-Linie
beschränkten, habe ich im ganzen 20 verschiedene Linien messen können.
Für die Geschwindigkeitsbestimmung selbst konnten hiervon jedoch
nur diejenigen Linien benutzt werden, die sich auf der Mehrzahl der
Platten mit einiger Sicherheit messen liessen, und deren Wellenlängen
hinreichend genau bekannt waren. Es sind diess die elf in Tabelle II
aufgeführten Linien
Tabelle I.
Fr} r | ; I}
Bezeichnung | Element | A
HE I 4H 3889.20
He | .H |. 3970.23
He | 4026.34
Si | 4089.00
I1ö H | 4101.89
Hy H 4340.64
He | 4388.10
He | 4471.65
Mg | 4481.38
Hß H | 4861.50
He | 4922.10
Die Wellenlängen der übrigen 9 Linien, die in Tabelle II zu-
sammengestellt sind, habe ich aus den Messungen im Sternspeetrum
selbst berechnet. Dieselben sind, wie der in der dritten Columne an-
gegebene mittlere Fehler zeigt, wegen der äusserst schwierigen Messung
zwar ziemlich unsicher, doch genügen sie, um später in Verbindung
mit anderen Sternen desselben Typus eine sichere Identifieirung zu
ermöglichen.
Tabelle II.
Zahl der | | | “
A mittl. F. Bemerkungen
| Platten | >
3933.68 7 (+0.34) , Ca; stets äusserst matt und schmal
4069.49 3 | +0,16
4097.49 | 32 POT NS
ANTo- 20 N T 0.07 | Si
4144.94 2 0.28
4200.42 | 0.20 | Hö' nach Pıckerına
4541.78 2 | Hy' nach Pıckerıne
4649.68 16 0.14 | wohl Gruppe, 4 ÄE breit
4686.20 | 0.12
Von den in Tabelle III aufgeführten Linien zeigt die Caleiumlinie
A 3934 ein ganz eigenthümliches Verhalten. Zunächst unterscheidet
sie sich von allen übrigen Linien dieses Sternspeetrums dadurch, dass
sie stets ausserordentlich matt, aber fast völlig scharf erscheint, und
es fiel ınir daher auf, dass bei der Berechnung der in Tabelle III zu-
532 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 10. März 1904.
sammengestellten Wellenlängen gerade bei dieser Linie die Überein-
stimmung zwischen den Resultaten der verschiedenen Platten erheblich
geringer war, als bei den anderen, viel unschärferen Linien. Eine nähere
Untersuchung hierüber hat mich nun zu dem ganz überraschenden
Resultat geführt, dass die Caleiumlinie A 3934 an der durch
die Bahnbewegung des Sterns verursachten periodischen
Linienverschiebung nicht theilnimmt.
Wie aus Tabelle II ersichtlich, hatte ich bei der ersten Durch-
messung der Aufnahmen diese Linie auf sieben Platten, auf denen sie
besonders gut zu erkennen war, gemessen. Um das gefundene eigen-
artige Resultat völlig zu sichern, habe ich dann mein ganzes Platten-
material einer nochmaligen Durchsicht unterworfen, wobei sich im ganzen
zwölf Platten fanden, auf denen sich die Messung der Linie mit Sicher-
heit ausführen liess. Das Resultat dieser zweiten Ausmessung, die
selbstverständlich wieder unter strengster Vermeidung jeder Vorein-
genommenheit ausgeführt wurde, ist in der mit II überschriebenen
Columne der Tabelle IV enthalten, während unter I das Ergebniss der
ursprünglichen Ausmessung gegeben ist. In dieser Tabelle habe ich
die Platten nach dem in der zweiten Columne gegebenen Werthe von V,
der wahren, aus der Bahnbestimmung folgenden Geschwindigkeit des
Sterns relativ zur Sonne, geordnet. Die aus der Caleiumlinie allein
berechneten Geschwindigkeiten sind mit (’ (rel. zur Erde) und €
(rel. zur Sonne) bezeichnet.
Tabelle IV.
Platten- v |) CausX 3934 |Reduc.) | De
nummer | 1° | It | Mittel || auf © |
km || km km km || km | km km
1247 + 18.0 | +44 | +39 | +42 | —27 | +15 —ı
1254 + 50.6 | +44 | +44 | —27 +17 +1
1153 + 63.3 | #15 | #0ı | #ır | +9 +20 +4
1485 +133.2 | #24 | +19 | +22 | o #22 6
1491 leere | ei —ı2
1495 + 35.8 | | +38 | #38 | —14 | +24 | +8
I 204 + 23.5 | +35 | +25 | +30 | -ı16 +14 —_ 2
I 231 + 73.02 +40 | 440 | —25 +15 —ı
1232 — 61.1 | #25 | +32 | +28 | 25 +3 —13
I 266 — 66.2 +46 | +49 | +48 | 26 | +22 +6
Izı5 | +43 | +43 | —23 +20 4
I 22ı — 58.0 | +42 | +42 | —24 +18 +2
Mittel +16 km
Die Werthe von € sind, wie die in der letzten Columne aufge-
führten Abweichungen vom Mittel zeigen, gänzlich unabhängig von V,
also vom Orte des Sterns in seiner Bahn, und sie stimmen so gut
J. Harımann: Speetroskopische Untersuchungen über ö Orionis. 538
unter einander, wie man es bei der Schwierigkeit der Messungen nur
erwarten kann.
Nachdem hierdurch die Thatsache, dass eine einzelne Linie des
Spectrums an der oseillirenden Bewegung der übrigen nicht theil-
nimmt, völlig sichergestellt ist, fragt es sich, wie sie erklärt werden
kann. Dass die der beobachteten Linie entsprechende Absorption erst
auf der Erde stattgefunden habe, ist schon wegen der Art dieser Ab-
sorption ganz unwahrscheinlich. Auch würde dann die betreffende
Linie überhaupt in jedem Sternspectrum auftreten, und die aus ihrer
Lage berechneten Geschwindigkeiten ©’ müssten durch Anbringung der
Reduction auf die Sonne in schlechtere Übereinstimmung kommen. Allein
gerade das Gegentheil ist der Fall; erst durch Reduction auf die Sonne
wird der Werth von € völlig constant, und hierdurch ist der kos-
mische Ursprung der Linie bewiesen.
Die zunächst liegende Annahme, dass die beobachtete Linie der
zweiten Componente des Doppelsternsystems angehöre, führt auf zwei
Schwierigkeiten. Da die Werthe € in Tabelle IV keinerlei Abhängig-
keit von V erkennen lassen, so müsste man für die zweite, licht-
schwächere Componente eine mindestens zehnmal so grosse Masse
annehmen, als für den hellen Stern. Ist diess schon sehr unwahr-
scheinlich, so ist es noch auffälliger, dass sich von dem Spectrum
des zweiten Körpers keine einzige weitere Linie verrathen sollte. Das
Auftreten einer solchen einzelnen Linie würde sich durch keinen der
bisher bekannten Spectraltypen erklären lassen, und es weist vielmehr
mit ziemlicher Sicherheit auf das Vorhandensein einer mit dem Sterne
nicht unmittelbar zusammenhängenden absorbirenden Gasschicht hin.
Man wird hierdurch zu der Annahme geführt, dass sich auf der
Visirlinie zwischen der Sonne und Ö Orionis an irgend einer Stelle des
Raumes eine Wolke befindet, welche jene Absorption hervorbringt, und
sich mit 16°” Geschwindigkeit von uns entfernt, falls man noch die
nach der Natur der beobachteten Linie sehr wahrscheinliche Annahme
zulässt, dass die Wolke aus Caleciumdampf besteht. Diese Folgerung
findet eine wesentliche Stütze in einer ganz ähnlichen Erscheinung,
die das Speetrum der Nova Persei im Jahre 1901 zeigte. Während
in diesem Spectrum die Linien des Wasserstoffs und anderer Elemente
durch ihre enorme Verbreiterung und Verschiebung und den fort-
währenden Wechsel ihrer Form auf stürmische Vorgänge in der Gas-
hülle des Sterns schliessen liessen, wurden während der ganzen Dauer
der Erscheinung die beiden Caleiumlinien A 3934 und A 3969 sowie
die D-Linien als völlig scharfe Absorptionslinien beobachtet, welche
die constante Geschwindigkeit +7'" ergaben. Schon damals äusserte
ich den Gedanken, dass die genannten scharfen Linien wahrscheinlich
534 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 10. März 1904.
ihre Entstehung nicht auf der Nova selbst, sondern in einer in der
Gesichtslinie liegenden Nebelmasse hätten, eine Ansicht, die durch die
spätere Entdeckung der Nebel in der Umgebung der Nova nur an Wahr-
scheinlichkeit gewonnen hat. Auch bei ÖOrionis ist es nieht unwahr-
scheinlich, dass die Wolke in Zusammenhang mit den ausgedehnten
Nebelmassen steht, welche von Barnarn! in der Umgebung nachge-
wiesen wurden. Die zweite Caleiumlinie A 3969 wird im Spectrum von
ÖOrionis durch die breite Wasserstofflinie He überdeckt und kann
daher nicht beobachtet werden.
Auf eine weitere eigenthümliche Erscheinung möchte ich an die-
ser Stelle noch aufmerksam machen. Berechnet man die Componente
der Sonnenbewegung V. nach Canrgerv's vorläufigen Elementen der
Apexbewegung”, so erhält man:
für ÖOrionis VJ = -+18.1 km
» Nova Persei + 3.7 »
Beide Zahlen stimmen innerhalb der Beobachtungsfehler mit der
beobachteten Geschwindigkeit der Caleiumwolken überein, so dass sich
also diese Wolken in beiden Fällen fast in vollkommener Ruhe (relativ
zu den 280 von ÜAmpgern benutzten Fixsternen) befinden.
An welcher Stelle der Visirlinie die Nebelmasse liegt, lässt sich
nicht ermitteln: um ihre seitliche Ausdehnung zu bestimmen, wird
man die Spectra der benachbarten Sterne, namentlich solcher mit ver-
änderlicher oder stark abweichender Geschwindigkeit, auf das Vorkom-
men der Caleiumlinie zu prüfen haben. In den Spectren von e und
ZOrionis ist diese Linie vorhanden, doch kann man, da die Geschwin-
digkeit dieser Sterne nur wenig von der oben angegebenen Bewegung
der Wolke abweicht, ihre Zugehörigkeit zum Spectrum des Sterns oder
der Wolke nicht entscheiden.
Auch die übrigen Linien der Tabelle III habe ich in gleicher Weise
auf ihr Verhalten geprüft, jedoch bei keiner etwas Ähnliches nach-
weisen können.
Nach diesen Bemerkungen über das Speetrum von ÖOrionis wende
ich mich nunmehr zur Bahnbestimmung.
Durch die Beobachtungen, welche im Februar 1902 an sieben
auf einander folgenden Tagen gelangen (s. Tabelle I), wurde zunächst
zweifellos erwiesen, dass die Periode nicht 192, sondern 5 bis 6 Tage
beträgt. Dass nicht etwa, wie Drstanpees vermuthete, eine noch
ı E. E. Barnaro, Diffused Nebulosities in the Heavens. Astrophys. Journ. 17,
77, 1903.
> W. W. Camegert, A Preliminary Determination of the Motion of the Solar
System. Astrophys. Journ. 13, 80, 1901.
J. Harınann: Spectroskopische Untersuchungen über ö Orionis. 535
kürzere Periodendauer vorliegt, wurde durch wiederholte Aufnahmen
an einem Abend (1902 Jan. 13, Jan. 14, April 2) nachgewiesen. Durch
Anschliessen immer weiter entfernter Beobachtungen ergab sich dann
in bekannter Weise als vorläufiger Werth die Umlaufszeit
U 2733 3%
Diese Zahl ist auf o!ooı sicher, und sie genügte daher, um alle Be-
obachtungen jedes einzelnen Winters auf einen Umlauf zu redueiren
und so die Zeichnung der Geschwindigkeitscurve zu ermöglichen.
Ich habe die Zeichnung dieser Curve zuerst getrennt für die ver-
schiedenen Jahre ausgeführt, da es den Anschein hatte, als ob die
Bahn mit der Zeit stark veränderlich sei. Vier Beobachtungen von
VosEL und Schreiner hatten in den Jahren 1888 bis 1591 keinerlei
Geschwindigkeitsänderungen des Sterns erkennen lassen. Dieselben sind
in den Publicationen des Astrophys. Observatoriums zu Potsdam Bd. VII,
Theil I, S. 100 veröffentlicht und lauten:
1888 Dec. 10.37 V= -.2.7 km
1889 Jan. 5.34 —o.l »
1891 Feb. 26.26 +24 »
27.26 +3.7 »
Dann folgten in den Jahren 1899 und 1900 die Beobachtungen von
DEsLANDRES, von Wrieut und vom Verfasser, welche Geschwindigkeiten
von — 69“ bis + 95"" ergaben, und meine Messungen von 1902 und
1903 führten endlich auf eine Schwankung von — 795 bis + 135""4.
Hiernach schien die Amplitude der Schwankung stark zu wachsen,
was sich leicht durch die Annahme einer Änderung der Neigung der
Bahnebene gegen die Visirlinie erklärt hätte.
Von entscheidender Bedeutung waren hier nun die Potsdamer
Aufnahmen aus den Jahren 1888 bis 1891. Rechnete man mit der
angegebenen Periodendauer und der jetzigen Grösse der Geschwin-
digkeitsänderung zurück, so zeigte es sich, dass die beiden ersten
damaligen Beobachtungen zufälliger Weise an zwei Zeitpunkten aus-
geführt worden waren, an denen die Geschwindigkeit des Sterns that-
sächlich sehr klein war, so dass den Beobachtern die Veränderlichkeit
leicht entgehen konnte. Dagegen musste bei der dritten Beobachtung die
Geschwindigkeit etwa — 50”, bei der vierten etwa + 50" betragen
haben und daher auch auf den damaligen Aufnahmen mit Sicherheit nach-
weisbar sein, falls sich wirklich die Amplitude der Schwankung in-
zwischen nicht geändert hatte. Hr. Geheimrath Voscer hatte daher die
Güte, die vier Platten einer nochmaligen Ausmessung zu unterwerfen,
welche in der That für die erste und zweite Platte eine Bestätigung
des frühern Resultates, für die dritte und vierte aber eine erhebliche
Änderung der Auffassung ergab. Da bei den damaligen Speetralauf-
536 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 10. März 1904.
nahmen die künstliche Wasserstofflinie auf dem Sternspectrum selbst
lag, so war gerade bei den Sternen vom I. Typus, bei denen nur
die verwaschene Hy-Linie gemessen wurde, die Beobachtung ausser-
ordentlich erschwert, und die Beobachter haben, wohl durch die gute
Übereinstimmung der beiden ersten Platten veranlasst, die dritte und
vierte Platte unter unrichtiger Auffassung der Linie gemessen. Die
neue Ausmessung führte zu den Geschwindigkeiten
— 88km
nn Sell >
55.0
13230
die in so gutem Einklang mit der jetzigen Bewegung stehen, dass
man die Annahme einer Änderung der Bahn fallen lassen kann. Auch
die Beobachtungen von 1899 und 1900 zwingen für sich allein nieht zu
dieser Annahme. Die Beobachtungszeiten liegen so, dass zufälliger-
weise die positive Maximalgeschwindigkeit niemals beobachtet worden
ist, wodurch die Amplitude scheinbar kleiner wurde. Wie ich weiter
unten zeigen werde, lassen sich auch diese Beobachtungen mit der
jetzigen Bahn genau darstellen.
Was endlich die beiden nach meinen Beobachtungen aus den
Wintern 1901/2 und 1902/3 gezeichneten Geschwindigkeitscurven an-
belangt, so waren dieselben vollständig gleich und konnten genau zur
Deckung gebracht werden.
Aus diesen Gründen habe ich den anfänglichen Plan, für jede
der beobachteten Erscheinungen eine selbständige Bahn zu berechnen,
fallen lassen, und meine Bahnbestimmung beruht auf der gleichzeitigen
Verwendung meiner sämmtlichen mit dem Spectrographen I in den
Wintern 1901/2 und 1902/3 ausgeführten Beobachtungen. Von der
Verwendung der älteren Messungen zur Bahnbestimmung habe ich Ab-
stand genommen, einmal weil alle diese mit stärkerer Dispersion aus-
geführten Bestimmungen erheblich ungenauer sind, und zweitens weil
eine geringe Änderung der angenommenen Umlaufszeit diese entlegenen
Beobachtungen zu stark beeinflusst hätte. Ich habe die frühere Pots-
damer Reihe daher nur zur Ableitung der definitiven Umlaufszeit her-
angezogen.
Um die Beobachtungen des Winters 1902/3 mit völliger Sicher-
heit auf das vorhergehende Jahr zu übertragen, habe ich folgenden
Weg eingeschlagen. Nachdem, wie erwähnt, die getrennten Geschwin-
digkeitseurven für beide Jahre gezeichnet waren, wurden auf beiden
Gurven die Zeitpunkte abgelesen, in welchen die Geschwindigkeit
—50, —40..... +100, +110 km erreicht wurde, und zwar auf dem
aufsteigenden und dem absteigenden Bogen der Curve. Auf diese Art
N ® ”- . . 3m
J. Harrmann: Speetroskopische Untersuchungen über d Orionis. 537
ergaben sich 34 Bestimmungen der Zeitdifferenz, um welehe man die
zweite Curve, d.h. die Beobachtungen von 1902/3, verschieben musste,
um sie mit denen von 1901/2 zur Deckung zu bringen. Als Mittel
der 34 Differenzen ergab sich 332°53; da diese Zahl 58 Umläufen
gleich ist, so ergibt sich daraus U= 5'7333, zufällig genau mit dem
oben angegebenen Werthe übereinstimmend.
Nachdem auf diese Art sämmtliche 37 mit Speetrograph I aus-
geführten Beobachtungen auf den einen Umlauf 1902 Februar 10 bis 16
übertragen waren, wurde die Bestimmung der Bahnelemente nach der
Methode von Lenmann-Fırnes' ausgeführt. Diese ergab folgende Ele-
mente:
Geschwindigkeit des Schwerpunktes Vo =+23.1 kın
Epoche des Periastrunis T = 5793.35 = 1902 Febr. 12.35
Epoche für V=o to = 5792.13 = 1902 Febr. 11.13
Länge des Perihels (vom 2 an) © = 339° 18:9
Länge des entferntesten Punktes der Bahn ur = 95 32.9
nächsten D » » U2=264 27.1
Excentrieität e = 0.10334
Projection der grossen Halbaxe
auf die Gesichtslinie a sin? = 7906600 km
m sindi
0.601 ©
Massenverhältniss nn
(mı + mz)?
Da die Neigung ö der Bahn gegen die Tangentialebene, die dureh
den Schwerpunkt der Bahn senkrecht auf den Visionsradius gelegt
wird, unbekannt bleibt, so lässt sich der Werth der’Halbaxe a selbst
nicht berechnen. Dagegen kann man die Distanzen angeben, bis zu
welehen sich der sichtbare Stern hinter und vor diese Ebene bewegt,
denen also die oben mit «, und «, bezeichneten Längen entsprechen.
Es ergibt sich, dass sich der Stern bis 8069400*” hinter diese Ebene
und bis 7498500*" vor die Ebene bewegt. Macht man die drei An-
nahmen i= 45°, 60°, 75° und 90°, so erhält man:
für i=45° a= 11182000 km
60 9129800 »
75 8185600 »
90 7906600 »
Man erkennt aus dieser Zusammenstellung, dass die Bahn, falls
man i nicht sehr klein annimmt, etwa den sechsten Theil des Durch-
messers der Merkurbahn hat. Sind die Massen der beiden Componenten
des Doppelsystems, worauf ich sogleich noch näher eingehen werde,
nahezu gleich, so würde hiernach der Abstand der Sterne von ein-
ander ungefähr ein Drittel des Abstandes des Merkur von der Sonne sein.
! Astron. Nachr. 136, 17, 1894.
538 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 10. März 1904.
Für die Masse des Systems kann man, da über die Bewegung
der zweiten Componente nichts bekannt ist, nur die oben gegebene
Relation
»2 sin?t
———— = 0.601 ©
(m, + m,)
berechnen, in der »n, die Masse des sichtbaren, m, die des unsicht-
baren Sterns ist. Auch hier kann man jedoch durch plausibele An-
nahmen wenigstens zu einer näherungsweisen Schätzung der wahren
Verhältnisse gelangen.
Alle speetroskopischen Doppelsysteme, bei denen bisher die Be-
obachtung der zweiten Componente gelungen ist, bestehen aus zwei
Sternen von nahe gleicher Masse, und es lässt sich zeigen, dass auch
im vorliegenden Falle der dunkle Stern nicht wesentlich kleiner als
der sichtbare sein kann. Rechnet man zunächst den sehr unwahr-
scheinlichen Fall m, = 5m, durch, in welchem also der dunkle Stern
fünfmal so gross wäre als der helle, so erhält man
m, sin’! = 0.865 ©
Di sn 2 = 0.1723.
(m, + m,) sin’i= 1.035 ©
In diesem Falle würde also die Gesammtmasse des Systems schon
sicher grösser sein, als die Sonnenmasse. Rechnet man in gleicher
Weise die Annalimen m, = m,, m, = 5m, und m, = Iom, durch, so
erhält man die in Tabelle V zusammengestellten Werthe für die Massen.
Tabelle V.
| m: sind i m, sindi | (m,-+m,) sin3 i
|
m, = 0.2m, 0.1730 | 0.865 © 1.038 ©
m, =m, 2.404 » 2.404 » 4.808 »
m, = 5m, 108.2 » 21.6 » 129.8
m, = 10m, 127.27 13 799.9 >»
Nimmt man m, merklich grösser als m, an, so kommt man,
wie die Tabelle zeigt, ganz abgesehen von dem Factor sin’‘, schon
auf ganz enorme Massen, und es dürfte daher wohl das Wahrschein-
lichste sein, dass auch bei ÖOrionis die beiden Massen nahe gleich
sind. Rechnet man daher unter der Voraussetzung m, = m, nun
wieder die früheren Annahmen über den Betrag von i durch, so
erhält man
für i= 45° m, + m, = 13.60
60 7-4 »
75 5-30
90 4.8 »
4 - ” ” ‘
J. Hırımann: Speetroskopische Untersuchungen über ö Orionis. 539
Man erkennt aus diesen Betrachtungen, dass die Gesammtmasse des
Systems sicher grösser als die Sonnenmasse, wahrscheinlich von der
Ordnung der fünf- bis zehnfachen Sonnenmasse ist.
Um die Vergleichung sowohl der jetzt vorliegenden, als auch
etwaiger späterer Beobachtungen mit der gerechneten Bahn zu erleich-
tern, habe ich nach obigen Elementen eine in Intervallen von o'oı
fortschreitende Ephemeride, die an anderer Stelle veröffentlicht werden
wird, berechnet. Das Argument 7 derselben ist von demjenigen Zeit-
punkte an gerechnet, in welchem V zunehmend durch Null geht, und
den man aus 4+nÜU erhält, wo n eine ganze Zahl ist.
Ich habe diese Ephemeride nun zunächst in der folgenden Weise
benutzt, um die älteren Potsdamer Beobachtungen zur Ableitung der
definitiven Periodendauer heranzuziehen. Hat die ältere Beobachtung
zur Zeit £ die Geschwindigkeit V ergeben, so wird zu V in der Tabelle
der Werth von T aufgesucht, und der Zeitpunkt +7 entspricht dann
demselben Punkte der Bahn wie /, so dass stets 44T —T eine ganze
Anzahl von Perioden ist. Ob r auf dem aufsteigenden oder auf dem
absteigenden Theile der Curve liegt, ist schon vorher mittels der ge-
näherten Umlaufszeit festzustellen.
Die Berechnung von U aus den älteren Potsdamer Beobachtungen
nach diesem Verfahren, welches die Benutzung jeder vereinzelten älteren
Beobachtung ermöglicht und bei der Mittelbildung zugleich jeder Beob-
achtung das ihr zukommende Gewicht ertheilt, ist in Tabelle VI ent-
halten.
Tabelle VI.
Beobachter t | v IF "er o+T—t|n U
3 | km ı |
VOoGEL-SCHEINER 982437 |— 8.8| 5965 | 48ı5dar| 840 | 597326
1008.34 + 3.7 | 3-09 4786.88| 835 5.7328
1790.26 | —55.0 | 5.04 | 4006.91 | 699 | 5.7323
1791.26 |+13.0| 0.13 4001.00 | 698 5.7321
Man erhält durch Summirung der Zahlen H-T—t und n
3072.U,= 2171670420
IC 57325:
Die Beobachtungen von DesLanores können, da die Beobachtungs-
zeiten von ihm nicht näher angegeben sind, nicht zur Periodenbestim-
mung verwendet werden und eben so wenig die einzelnen mit starker
Dispersion erhaltenen Beobachtungen aus den Jahren 1900 und 1901.
Für die Reihe aus dem Winter 1902/3 ergibt sich die in Tabelle VII
enthaltene Berechnung. Die Beobachtungen, welche wegen ihrer Lage
in der Nähe der Wendepunkte der Geschwindigkeitscurve T nur un-
sicher ergeben würden, sind hierbei fortgelassen.
540 Sitzung der physikalisch -mathematischen Classe vom 10. März 1904.
Tabelle VI.
Beobachter | t V | 7 bett nn U
|
| km
HARTMANN 6095138 | 49.3 5814
298811 | 2 547329
|
|
6096.37 |+47.2| 0.41 | 303.83 53 5.7326
6098.46 |-+56.1 | 2.58 | 303.75 53 5.7311
6124.34 |—32.7| 5.39 | 326.82 | 57 | 5.7337
6127.39 |+33.2| 2.75 | 332.51 | 58 5.7329
6128.34 |—46.4 | 3.74 | 332.47] | 58 | 5.7322
6153-37 0.0| 0.00 | 361.24 | 63 5.7340
6181.23 |—54.9 | 5.04 384.06 ı 67 5.7322
Es folgt daraus: 461 U= 2642'79
Dr Sa
Durch Vereinigung mit dem vorhergehenden Resultate erhält man
endlich
3533.U1—20252:09,
woraus als definitiver Werth der Periodendauer folgt
U= 5'7325 # 010002 oder 5?17"34"48° # 17°.
Mit Hülfe dieser Periodendauer habe ich nun unter Benutzung der
Ephemeride die Vergleichung aller Beobachtungen mit der gerechneten
Bahn ausgeführt. Für meine eigenen Beobachtungen ist diese Ver-
gleichung in den beiden letzten Spalten der Tabelle I enthalten. Den
früher gemachten Bemerkungen über die Unsicherheit der Messungen
entsprechend sind die Darstellungsfehler V—R zum Theil recht erheb-
lich; aus der Summe der Fehlerquadrate ergibt sich der mittlere Fehler
einer Aufnahme mit Speetrograph I zu #8*”o. Erheblich grösser ist
noch die Unsicherheit der mit grösserer Dispersion aufgenommenen
Platten, wie diess aus der in Tabelle VIII gegebenen Vergleichung der
Messungen der anderen Beobachter mit der Rechnung zu ersehen ist.
Für die Beobachtungszeiten von DESLANDRES und WRrıscHT, die von den
Beobachtern nicht näher angegeben sind, habe ich plausibele Annahmen
eingesetzt.
Tabelle VII.
Beobachter Datum Julian. Zt. | V R IT VzR
| |
km kın kın
VOGEL - SCHEINER ı888 Dee. 10 0982437 — 8.8 — 19.3 +10.5
1889 Jan. 5 1008.34 + 3.7 + 27.5 —23.8
| ı89ı Febr.
J. Harınann: Spectroskopische Untersuchungen über Ö Orionis. 541
Beobachter Datum Julian. Zt. 1% R BR
| | km kın kn
DeEsL.ANDRES ı899 Dec. 8 | 4997.42 +95 +102.8 — 7.8
9 4998.42 —I5 + 21 —17.1
12 5001.42 +70 + 43.1 +26.9
15 5004.42 —38 — 21.8 —16.2
18 5007.42 +31 + 75-3 Ze
1900 Jan. 9 | 5029.38 —37 | — 31.6 — 5.4
10 | 5030.38 | -+64 | + 78.8 —14.8
12 5032.38 | +80 + 46.6 | +33.4
13 | 5033.38 1, 249 — 42.2 — 6.8
| 18 | 5038.34 | +14 + 22.5 — 8.5
| 25 | 5045.34 |) —so — 63.9 | +13.9
|
WRrısHT 1900 Aug. 12 5244.98 +3 — 3.6 + 6.6
| 21 5253.96 +51 + 80.0 —29.0
Sept. 17 | 5280.92 —69 — 66.0 — 3.0
Man erkennt aus den Werthen der letzten Columne auch sofort,
dass die Messungsschärfe bei allen Beobachtern von genau derselben
Ordnung gewesen ist.
Nachdem die Bahnbestimmung beendigt war, habe ich noch eine
Untersuchung über das Verhalten aller einzelnen zu den Geschwindig-
keitsmessungen benutzten Linien angestellt. Zu diesem Zwecke wurden
die aus jeder einzelnen Linie berechneten Geschwindigkeiten sowie auch
alle Bemerkungen, die während der Ausmessung der Platten über das
Aussehen der Linien niedergeschrieben waren, nach dem Orte des Sterns
in seiner Bahn geordnet. Es zeigte sich hierbei, dass sowohl die übrig-
bleibenden Fehler der einzelnen Linien als auch unsymmetrische Ver-
waschenheit, scheinbare Verdoppelung und ähnliche Erscheinungen ganz
regellos an allen Punkten der Balhın auftraten, so dass hieraus zunächst
keine weiteren Schlüsse gezogen werden können.
Mit einigen Worten muss ich noch auf den Einfluss der Licht-
geschwindigkeit auf diese Bahnbestimmung eingehen. Derselbe würde
im allgemeinen drei Correetionen bedingen, die erste, unter dem Namen
Lichtgleichung bekannte, wegen des im Laufe eines Jahres periodisch
wechselnden Abstandes der Erde vom beobachteten Stern, die zweite,
ganz analoge, wegen des in der Zeit U periodisch wechselnden Ab-
standes, und die dritte wegen der mit der Geschwindigkeit V, er-
folgenden linearen Zunahme des Lichtweges. Hiervon sind die beiden
ersten Correetionen im vorliegenden Falle ganz zu vernachlässigen.
Der grösste Einfluss der Lichtgleichung auf die Differenz zweier Be-
obachtungszeiten beträgt 4” 24°= 0'0030 und ist daher, da alle Be-
obachtungszeiten, der Genauigkeit der Messungen entsprechend, nur auf
o!oı angegeben wurden, verschwindend. Dasselbe gilt für die Licht-
gleichung in der Bahn des Sterns, die im Maximum 20!2 = 00002
542 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 10. März 1904.
beträgt. Dagegen ist die dritte Correetion durchaus merklich. In
Folge des mit der Geschwindigkeit V, = 23“"1 zunehmenden Abstandes
erscheint uns die Periodendauer U um 38:02 länger als die wahre
Umlaufszeit U,, welche demnach nur 5" 17" 34” 9:98 = 5'73206 be-
trägt. Mit diesem Werthe T, sind auch die oben gegebenen Bahn-
elemente, speciell @ sin ö, gerechnet.
Zum Schluss sei noch erwähnt, dass ÖOrionis der Veränderlichkeit
verdächtig ist. Schon J. Hrrscnen glaubte eine Veränderung der Hellig-
keit zu bemerken, und der Stern ist seitdem öfters, jedoch mit wider-
sprechendem Resultat, beobachtet worden. Auwenrs! constatirte im Jahre
1854 einen regelmässigen Lichtwechsel, den er bis 1858 mit einer
Periodendauer von 1608 verfolgte, die nahe dem Dreifachen der oben
gefundenen Umlaufszeit gleich ist. Spätere Beobachter hielten die
Schwankung des wegen seines tiefen Standes schwer zu beobachten-
den Sterns nur für scheinbar. Jedenfalls dürfte es sich empfehlen,
einmal eine möglichst scharfe photometrische Messungsreihe zur defini-
tiven Entscheidung der Frage auszuführen. Falls eine theilweise Be-
deekung des Sterns durch seinen Begleiter stattfinden, derselbe also
dem Algoltypus angehören sollte, würden sich die genäherten Zeiten
der Minima aus der Formel: 1902 Febr. 14.02+nÜU berechnen.
! Astron. Nachr. 50, 103, 1859.
543
Über die Aufeinanderfolge und die gegenseitigen
Beziehungen der Krystallformen in flächenreichen
Zonen.
Von Prof. Dr. H. BaumHAuER
in Freiburg (Schweiz).
(Vorgelegt von Hrn. Kreın am 25. Februar |s. oben S. 485].)
In einer vor kurzem in der Zeitschrift für Krystallographie (38, 625)
erschienenen Abhandlung und in einer daran sich anschliessenden
Mittheilung im Centralblatt für Mineralogie u. s. w. (1903, 665) habe ich
für einige Mineralien mit flächenreichen Zonen (Jordanit, Dufrenoysit,
Baumhauerit, rhombischer Schwefel, Anatas) gezeigt, dass innerhalb
jener Zonen eine Reihe von Formen mit arithmetisch wachsenden
Indices und von zunächst fast gleicher, dann bei eomplieirterm Sym-
bol abnehmender Häufigkeit auftritt, welche Reihe ich als primäre
Reihe bezeichnet habe. Ist die Zone eine normal entwickelte, so
leiten sich die übrigen (secundären, tertiären u.s.w.) Formen derselben
aus den Gliedern der primären Reihe, zwischen welche sie einge-
schaltet sind, durch einfache oder wiederholte Complication,
d. i. Addition der entsprechenden Indices, ab, wobei mit zunehmender
Complication die Häufigkeit der betreffenden Flächen kleiner wird.
Ebenso wie die Häufigkeit der auf einander folgenden Glieder einer
primären Reihe nur innerhalb gewisser Grenzen nahezu gleich bleibt,
bei complieirterm Symbol aber merklich abnimmt, so ist auch der
Grad der Complieation (d. i. das Auftreten secundärer, tertiärer u. s.w.
Formen) zwischen je zwei auf einander folgenden Gliedern derselben
ein ungleicher; auf einer gewissen Strecke, da wo die primären
Formen grösster Häufigkeit oder von grösstem Winkelabstande liegen,
wird er im allgemeinen seinen Höhepunkt erreichen und in gewisser
Entfernung von jener Strecke auf o herabsinken. Ich habe mich
nun bemüht, weitere Beispiele einer solchen oder ähnlichen Zonen-
entwicklung aufzufinden, was mir auch gelungen ist: solche Beispiele
sollen im Folgenden besprochen werden. Indessen wurde ich dabei
auf die weitere Frage geführt, inwieweit überhaupt für irgend eine
Sitzungsberichte 1904. 42
544 Sitzung der phys.-math. Classe v. 10. März 1904. — Mittheilung v. 25. Febr.
flächenreiche Zone (bez. für ein Zonenstück) eines einzelnen Kry-
stalls das Gesetz der Complieation gilt, d.h. ob und wie sich das
Symbol einer beobachteten Fläche der Zone aus den Symbolen der
benachbarten Flächen durch Addition der gleichstelligen Indices ab-
leiten lasse. Die Beantwortung dieser Frage ist für unsere ganze
Auffassung der Zonenentwicklung (und damit der Entwicklung des
gesammten Flächencomplexes) eines Krystalls von grundlegender Be-
deutung. Es ist dabei nothwendig, von einzelnen flächenreichen
Krystallen auszugehen und sämmtliche auf einander folgenden Flächen
der betreffenden Zone, eventuell unter Anwendung eines verkleinernden
Goniometer-Fernrohrs, zu ermitteln.
Ich möchte nun im Folgenden erstens die Resultate eigener und
mit besonderer Rücksicht auf obige Frage an einigen Krystallen ange-
stellter Messungen mittheilen und die daraus sich ergebenden Gesetz-
mässigkeiten erörtern, dann zweitens die gesammte Formenreihe flächen-
reicher Zonen verschiedener Mineralien betrachten, also die Reihe
von Flächen der betreffenden Zonen, welche man bisher überhaupt
an den Krystallen jener Mineralien beobachtet hat.
ı. Realgar. Es wurden sieben Krystalle dieses Minerals in der
Prismenzone geprüft, vier (I—IV) stammen von einem Handstück von
Allchar (Macedonien), drei (V—-VII) aus dem weissen, körnigen Do-
lomit des Binnenthals. Nachstehend ist die Reihenfolge der in der
genannten Zone der einzelnen Krystalle constatirten Flächen aufgeführt':
l
(010) (120) (230) (110) (430) (320) (210) — (210) (320) (1To) (010) (120) (230) (T1o) (430)
(210) — (Tıo) (230) (T20) (010).
II.
(010) (120) (230) (450) (110) (430) (210) — (210) (320) (430) (1To) (230) (120) (010) (120)
*
(230) (450) (110) (430) (320) (210) — (210) (320) (430) (710) (230) (720) (010).
II.
(oto) (120) (230) (110) (430) (320) (210) — (210) (320) (430) (110) (450) (230) (120) (010)
(230) (110) (430) (210) — (210) (320) (430) (Tıo) (o1o0).
IV.
(010) (120) (230) (110) (430) (320) (210) (310) (410) — (2To) (320) (430) (650) (170) (450)
(230) (oT0) (230) (10) (650) (430) (320) (20) — (210) (430) (650) (T10) (230) (120) (o1o)
We
(010) (110) (210) (100) (210) (1To) (0To) (110)
NAL
(010) (110) (210) (100) (210) (110) (450) (230) (120) (oTo) (120) [(230)]? (Tro) (430) (210)
(470) (100) (210)
! Einzelne erst bei wiederholter Beobachtung und mit verkleinerndem Fernrohr
gefundene Flächen sind mit * bezeichnet; sie sind linienähnlich schmal oder äusserst klein.
® Die Fläche (230) konnte ich zwar nicht an dem Krystall selbst, wohl aber
an einem an der betreffenden Stelle mit ihm fast parallel verwachsenen, kleinen
Krystall nachweisen.
H. BaumsAaver: Krystallfornen in flächenreichen Zonen. 545
v1.
(010) (110) (430) (210) (100) (210) (320) (430) (1T0) (450) (230) (120) (250) (0To) (210) (410)
(Too) (410) (210) (430) (Tıo) (010)
An den Krystallen von Allchar tritt merkwürdigerweise (100)
nicht auf. Zwischen (210) und (210), bez. (210) und (210) liegt des-
halb der grösste Winkelabstand von etwa 67°, wodurch hier die Zone
in zwei Stücke getheilt ist, welche Spaltung bei I-IV durch einen
Strich angedeutet wurde. An den Binnenthaler Krystallen wurde hin-
gegen (100) stets gefunden.
Es ist nun von grossem Interesse, die in obigen Reihen auf ein-
ander folgenden Symbole zu betrachten.
Bei I findet man, dass in jedem Theile der Zone ein Symbol
durch Complication aus den beiden benachbarten Symbolen erhalten
wird, z. B. (120) = (010)+ (230), (230) = (120)+ (110) u.s.w. Eine
Ausnahme findet sich nur bei (430). Allein die Prüfung der folgen-
den Krystalle zeigt, dass solche Ausnahmen dort häufig erscheinen;
man zählt deren im ganzen 30, eine Zahl, welche beweist, dass hier
von einer durchgreifenden oder auch nur annähernd geltenden Regel
nicht gesprochen werden kann. Ermitteln wir nun die Häufigkeit
der einzelnen Flächen bei den sieben Krystallen, so finden wir, dass
erscheint:
(100)... 5 mal (320) ... 12 mal, (230) ... 17 mal,
(bez. ro mal), (430) ... 18 mal, (120) ... 14 mal,
(410)... 5 mal, (650) ... 3 mal, (250) ... I mal,
(310) ... ımal, (110) ... 25 mal, (010) ... 14 mal
(210) ... 24 mal, (450) ... 6 mal, (bez. 28 mal).
Die Zahl der Formen (100) und (010), welche nur mit zwei
Flächen an einem Krystall erscheinen können, ist deshalb im Verhält-
niss zu den übrigen Formen zu verdoppeln.
Dabei erscheinen meist breit bez. ziemlich breit die Flächen von
(210), (110), (230), (010), nicht selten auch die von (430), (120) und
(320). Es liegt nun nahe, folgende Formen (mit untergesetzter Häufig-
keitszahl) als Glieder einer primären Reihe aufzufassen:
(100) (210) (110) (230) (120) (250)
ıo 24 25 17 24
Die Häufigkeitszahl steigt bis (Io) an und fällt dann zuletzt
rasch ab. Um aber die anderen Formen von dieser primären Reihe
abzuleiten, muss man alle Glieder der letzteren auf den Index A = 2
bringen: (200) (210) (220) (230) (240) (250). Wir wollen jedoch,
um die neuen Symbole besser mit den alten vergleichen zu können,
nun nicht A= ı setzen, sondern direet aus obigen Symbolen die-
Jenigen der secundären und tertiären Formen zwischen (200) und (230)
ableiten:
42*
546 Sitzung der phys.-math. Classe v. 10. März 1904. — Mittheilung v. 25. Febr.
I III I III I III II III I II I II I I I
(200) 2) (410) (620) (210) (640) ( (430) (650) (220) (670) (450) (680)]| ol . (240)... (250)
ıo 5 I 24 12 3 25 14 I
Wie man sieht, stimmen die Häufigkeitszahlen im allgemeinen
recht gut mit der Annahme dieser primären Reihe und der daraus
folgenden Complication überein, doch wurden (610) und (670), beides
tertiäre Formen, an den von mir gemessenen Krystallen nicht gefun-
den. Im Folgenden sind nun die an den sieben Krystallen beobachteten
Flächen der Reihe nach in obigen Symbolen geschrieben:
I:
(010) (240) (230) (220) (430) (640) (210) — (2To) (640) (220) (0To) (240) (230) (220) (430)
(2To) — (220) (230) (240) (010)
II.
(010) (240) (230) (450) (220) (430) (210) — (2To) (640) (430) (220) (230) (240) (0To) (240)
(230) (450) (220) (430) (640) (2To) — (210) (640) (430) (220) (230) (240) (010)
II.
0) a (640) (210) — (2To) (640) (430) (220) (450) (230) (240) (oTo)
(220) (430) (To) — (210) (640) (430) (220) (o1o)
IV.
) (220) (430) (640) (210) (620) (410) — (210) (640) (430) (650) (220) (450)
) (220) (650) (430) (630) (210) — (210) (430) (650) (220) (230) (240) (010)
Vr
(010) (220) (210) (200) (210) (220) (010) (220)
VI.
(010) (220) (210) (200) (210) (220) (450) (230) (240) (010) (240) [(230)] (220) (430) (210)
(470) (200) (410)
VI.
(oro) (220) (430) (210) (200) (210) (640) (430) (220) (450) (230) (240) (250) (010) (210) (410)
(200) (#10) (@10) (430) (220) (010)
(010) (240) (230) (
(
(oro) (240) (230)
(230) (010) (230)
Es ist interessant, zu sehen, dass nunmehr mit nur zwei
Ausnahmen bei I (gegen 30 Ausnahmen oben) jedes Symbol durch
Addition der benachbarten gleichstelligen Indices erhalten werden
kann.” Eine Reihe von Symbolen, welche in dem hier herrschenden
Verhältniss der Complication zu einander stehen, sei im Folgenden
als eine eontinuirliche Reihe bezeichnet. Eine solche Reihe er-
gibt sich nun beim Realgar auch, wenn man die Symbole aller”
! (680) = (340) wurde am Realgar überhaupt noch nicht gefunden und hier
nur der Vollständigkeit halber eingefügt.
®2 Es würde diess ausnahmslos der Fall sein, wenn zwischen (640) und (220) bei
Krystall I noch (430) aufträte.
® Nur eine Form wurde in diese Reihe nicht aufgenommen. Es ist diess g= (520),
welehe von Haıınger (Hınıze, Handbuch der Mineralogie II, 354) von Nagyag an-
gegeben wird; sonst wird sie meines Wissens nirgend erwähnt. Ob diese Form wohl
sicher ist? — In obige Entwicklung aus einer primären Reihe würde sie nicht
gut passen, da sie erst in Folge höherer (vierter) Complication erscheinen würde
[(520) = (830) + (210)]-
H. BaunuAaver: Krystallformen in flächenreichen Zonen. 547
bisher an demselben beobachteter Formen der Prismenzone [also auch
die hier nicht gefundenen (610), (670) und (130)] nach abnehmendem
Verhältniss A: Ak und in der zuletzt gewählten Form neben einander
schreibt; man erhält dann die Reihe:
(200) (610) (410) (620) (210) (640) (430) (650) (220) (670) (450) (230) (240) (250) (260) ... (010).
Setzt man jetzt A/= ı, d.h. halbirt man die Achse a, so er-
gibt sich:
I II II III I IL Il II I III 1 I I 1 I
(100) (310) (210) (320) (110) (340) (230) (350) (120) (370) (250) (130) (140) (150) (160)... (010)
Während zwischen den primären Formen (100) und (110), so-
wie (110) und (120) die Flächen erster und zweiter Complication
(II und II) vollzählig erscheinen, nimmt von (120) an die Complica-
tion ab, indem (380) zwischen (250) und (130) noch nicht beobachtet
wurde; von (130) an folgen dann nur noch Glieder der primären
Reihe. So bildet die Prismenzone des Realgar ein sehr schönes Bei-
spiel der Zonenentwicklung, wie ich sie früher insbesondere am Jor-
danit und rhombischen Schwefel beobachtet habe.
2.Skleroklas. Die durch Flächenreichthum ausgezeichnete Brachy-
domenzone dieses Minerals scheint ein weiteres Beispiel für die am
Realgar gefundene Zonenentwicklung zu liefern. Es wurde von mir an
vier Krystallen folgende Reihenfolge von Flächen, zum Theil mit Hülfe
des verkleinernden Fernrohrs beobachtet:
T:
(001) (045) (089) (oı1) (043) (021) (041) (010) (04T) (02T) (0-12.7) (043) (01T) (045) ... (00T)
DIET
(001) (0.4.11) (025) (049) (012) (047) (023) (045) (o1ı) (o-12-11) (087) (043)?
III.
(oor) (045) (or) (043) (021) (041) (010) (04T) (02T) (085) (032) (043) (087) (023) (012) (00T)
IVE>
Diese Reihen sind durchaus nicht eontinuirlich. Prüft man aber
die einzelnen Formen auf ihre Häufigkeit, so gelangt man dahin, in
dieser Zone eine primäre Reihe: (040) = (010), (041), (042) = (021),
! Die hier angeführten Formen wurden bei erneuter Messung in zusammen-
hängendem Zonenstück an Kr. IV meiner Abhandlung über den Skleroklas (s. diese
Sitzungsberichte 1895, S. 243) beobachtet. Dabei ist jedoch (049) statt des früher
angenommenen Symbols (0-9-20) gesetzt [(049)::(oo1) ber. 15°23', beob. 15°293';
(0-9. 20) erfordert 15°34', doch ist (049) einfacher und passt gut in die Reihe]. (043)
konnte hier nicht mit Sicherheit constatirt werden.
2 Vor (023) wurden hier noch (047) und (049) beobachtet, doch gehören diese
beiden Flächen einem mit dem grössern (IV) parallel verwachsenen kleineren Krystall
an. Bei (0-12-7) ist der Krystall abgebrochen.
548 Sitzung der phys.-math. Classe v. 10. März 1904. — Mittheilung v. 25. Febr,
(043)... anzunehmen. Durch erste und zweite Complication würden
sich davon die Symbole der secundären Formen: (081), (083), (085),
(087)... sowie der tertiären:
(©-12.1), (©-.12.-2) = (061).7(0-72.4) = No -1)aKo Dar ze
ableiten.
Schreibt man nun die obigen Symbole für I-IV in dieser Weise
um, so erhält man folgende Reihen:
I.
(001)... (045) (089) (044) (043) (042) (041) (040) (041) (042) (0-ı2.7) (043) (044) (045) . .. (00T)
1.
(001)... (0-4: 11) (0-4: 10) (049) (048) (047) (046) (045) (044) (0: 12- 11) (087) (043)
III. E L e
(001)... (045) (044) (043) (042) (041) (040) (04T) (042) (085) (0 - 12 - 8) (043) (087) (046) (048) ... (00T)
IV.
(046) (045) (044) (043) (085) (0- 12-7), sowie (045) (044) (043) (042) (041) (081) (040)
Wie man sieht, lässt sich nun, mit wenigen Ausnahmen, stets
ein Symbol aus den beiden benachbarten abgesehen von der Grenz-
form (001) — durch einfache Complication ableiten. Es würde diess
ausnahmslos der Fall sein, wenn bei I noch (085), sowie bei III noch
(044), (045) und (047) vorhanden wären. Allerdings ist auch die
Zahl der hier zusammengestellten Krystalle nur eine sehr kleine.
Ördnet man sämmtliche an denselben beobachteten Brachydomen nach
steigendem Index / und setzt dabei den Index % der primären Reihe
=I, so erhält man:
1 I I I III II III I I I I u I I I
(010) (021) (ort) (012) (037) (025) (038) (013) (027) (0-3-11) (014) (029) (015) (016) (o17)
I I I I
(018) (019) (0-1.10) (0-L-IT)
Das ist eine vollkommen continuirliche Reihe. Auffallend ist da-
bei der Umstand, dass zwischen den sehr häufigen Formen (011) und
(012) keine andern durch Complication sich einschieben.
3. Dolomit. Dieses Mineral bietet in seinen Rhomboödern ein
schönes Beispiel einer continuirlichen Formenreihe, und zwar lassen
sich die positiven und negativen Rhombo&der zu einer einzigen der-
artigen Reihe zusammenfassen. Man beobachtete überhaupt folgende
Rhomboeder: ‚;R, 3ZR, #R, BR, iR, BR, aR, AR, or.
— SR, m a SR Anden Krystallen des Binnenthals,
! &R wurde von mir zuerst an einem Krystall des Binnenthals gefunden
(oR: SR gemessen ı1°133', 152", 323', im Mittel 11°20*', berechnet 119264"; 2R würde
erfordern 10°53'). — Auch £R fand ich zuerst an dem von Hıyrze (Zeitschrift f.
Krystallographie 7, 438) beschriebenen Krystall des gleichen Fundortes. Hın'rze hatte
dafür das Symbol }R angegeben; er maass die Neigung zur Basis zu 35° 0' und
(annähernd) 34° 54', während }R verlangt 35°47'. Ich beobachtete sieben Flächen der
IH. BaunuAaver: Krystallformen in flächenreichen Zonen. 549
welche sich bekanntlich durch gute Ausbildung auszeichnen, fand ich
HR, sR, BR, IR, AR, Ri 4, —5R, —2R, —8R. Bezieht man
die verschiedenen Rhomboäder auf die Hauptachse und zwei Neben-
achsen, so erhält man die folgenden Symbole mit Mirrer’schen Indices:
(4-4:19) (225) (447) (8-8-ı1) (445) (111) (331) (441) (1-1:10) (112)
(445) (332) (221) (831). Hiervon sind im Folgenden (331), (332) und
(1-1-10) unberücksichtigt geblieben. Die beiden ersteren wurden zu-
erst und (331) nur von Serra (Mem. Ac. Torino 1856, XVIM) für den
Dolomit von Traversella angegeben; sie sind vielleicht beide zu strei-
chen. Bzcxe! bemerkt hierüber: »Eine Bestätigung von 3R durch genaue
Messung wäre wohl erwünscht. Die Bestimmung beruht auf Messung
mit dem Anlegegoniometer; das Messungsresultat ist nicht mitgetheilt.
Die betreffende Combination sieht gerade so aus, wie die am Dolomit
nicht seltene R-4R. — —2R wird von Srıra als Abstumpfung der
Polkanten von 3R ohne Messung angegeben; diese Form gibt übrigens
auch Hessengere an. Immerhin wäre eine Bestätigung erwünscht.
— ‚oR, von Hessengere für Binnenthal angegeben, ist wohl als Vicinal-
fläche anzusehen, wäre also eigentlich zu streichen.« Auch Gorvscunmr
(Index der Krystallformen) bezweifelt die Realität von —;;R. Nach alle-
dem bleiben noch folgende ır Formen: (4:4:19) (225) (447) (8-8-ı1ı)
(445) (tı1) (441) (112) (445) (221) (881).
Indem man vom stumpfsten positiven Rhomboäder über das (nicht
beobachtete) Protoprisma hinaus zum stumpfsten negativen Rhombo&der
geht, erhält man die Reihe:
(4:4:19) ... (225) (447) (8-8-11) (445) (r11) (441) (88T) (221) (445) (112)
Am häufigsten sind (111), (441)”, (225), sowie (445) und (221).
Man kann dieselben deshalb als Glieder einer primären Reihe be-
trachten, wobei hy =k=4 wird. So erhält man zunächst:
(4-4:19) ... (4-4 :10) (447) (444) (441) (442) (445) (448)
= (225) = (von) — (227) = (17)
Die dritten Indices der direct auf einander folgenden Glieder der
primären Reihe unterscheiden sich durch die Differenz =3, und man
betreffenden Form an dem (mir durch Hrn. Prof. von Grorn gefälligst zur Ver-
fügung gestellten) Hıyıze’schen Krystall und fand die Neigung zur Basis zu 34° 544
bis 35°43'; darunter befinden sich reelıt gute und gute Werthe: 34°54', 34955’, im
Mittel aller ergibt sich 34°58'. Diess stimmt sehr gut mit dem für &R berechneten
Winkel 34°57'. Die von Hınıze an demselben Krystall ermittelte Form 4R gibt indess
hier wie auch sonst recht schwankende Werthe: 37°92' bis 37°43!', ja es wurde noch
37°57', 38° 52' und 38°ı6' beobachtet, während sich für oR:#R berechnet 37° 33%”.
»R gehört jedenfalls zu den wenig charakteristischen Formen des Dolomits.
! "Tscuermar’s Mineralog. u. Petrogr. Mitth. 1890, S. 224.
®? »+4R ist nächst +R wohl die häufigste aller Dolomitformen« (Becker).
550 Sitzung der phys.-math. Classe v. 10. März 1904. — Mittheilung v. 25. Febr.
gelangt durch Subtraction dieser Zahl aus der positiven in die nega-
tive Rhomboöderreihe [(442)=(4:4:1—3)]. So bilden die positiven
und die negativen Rhomboäder eine zusammenhängende Reihe (eine
ganz Ähnliche Erscheinung werden wir beim Klinohumit antreffen).
Durch Complication gelangt man von den Symbolen der primären
Reihe zu denen der übrigen drei oben angeführten Formen:
I I I u 11 I 1 1I I I 1%
(4°4:19) ... (44:10) (447) (8-8-ı1) (12.12.15) (444) (441) (88T) (442) (445) (448)
=(445)
Die Entwicklung ist allerdings eine ungleichmässige, vielleicht
gestört durch das Einschneiden anderer Zonen. Doch ist die obige
Reihe — abgesehen von der Lücke zwischen (4:4:19) und (4-4:10)
— eine vollkommen continuirliche. Andererseits wäre es wohl
möglich, dass weitere Untersuchungen zur Auffindung noch anderer
Formen, wie z. B. der secundären (885) = (444) + (441) führen würden.
Jedenfalls kann wohl nicht bezweifelt werden, dass hiermit das Ge-
setz der Entwicklung der Flächen in der Rhomboäderzone des Do-
lomits richtig erkannt ist.
4. Klinohumit. Die Krystalle dieses Minerals (Humittypus Ill nach
G. vom Rarn) bieten bekanntlich interessante Eigenthümlichkeiten dar.
G. von Raru' bezog dieselben »als auf ihre Grundform auf ein rhom-
bisches Oktaöder mit a:b:c= 1.08028 : ı: 5.65883«. Wie beim
zweiten Humittypus (Chondrodit), mit dem wir uns hier nicht beschäf-
tigen wollen, so herrscht auch beim Klinohumit nach dem genannten
Forscher »die Hemiödrie«, welche in Wirklichkeit die Krystalle mit
ß = 90° in’s monokline System verweist. Doch kann man in ge-
wissem Sinne von einer theils hemiödrischen, theils holo&drischen
Entwicklung reden, indem bei der vom Rarn'schen Aufstellung ge-
wisse Formen bez. Symbole nur in der positiven oder negativen,
andere hingegen in beiden, zu scheinbar rhombischen Combinationen
führenden Stellungen erscheinen. So findet man:
(arı)(rıt); (r13) (013); (r15)(r15); (117)(117); (tor) (10T); (103) (103);
(105) (105); (107) 107); (109) (109);
sowie andererseits:
(121) (125) (129) (1.2.13) neben (123) (127) (1-2-11) (1-2-15)
vom Rarıu bemerkt: »Die Reihe (121) (123) u. s.w. ist besonders
zahlreich vertreten mit 8 Formen. Mit erstaunlicher Regelmässigkeit
alterniren dieselben auf der vorderen und hinteren Seite, indem wir
vorn die Ableitungszahlen I, >, 5, 1, hinten 3, 4, 1; erhalten. «
! Possenp. Annalen, Ergänzungsband V, 1871, S. 373.
H. Baunnaver: Krystallformen in flächenreichen Zonen. 551
Behalten wir die vom Rarm’sche Aufstellung bei, so finden wir
mehrere Zonen bez. Reihen, welche wohl mit Recht als primäre auf-
zufassen sind. Bei dieser Auffassung klären sich (ähnlich wie beim
Dolomit in der Rhomboäderreihe) die eigenthümlichen Krystallisations-
verhältnisse auf. Man beobachtet folgende Reihen:
ı. Zone [o1o]: (109) (107) (105) (103) (101) (101) (103) (105) (107) (109)
2. » [100]: (016) (014) (012) (010)
3 [170]: (119) (117) (115) (113) (01) (111) (113) (115) (117)
(der dritte Index fällt stets um 2)
[210]: (1-2-13) (129) (125) (121) (123) (127) (t-2-11) (1-2-15)
5: » [230]: (323) (32T) |(325)] (329)
(der dritre Index fällt stets um 4)
PS
Damit sind schon 34 von den 40 bekannten Formen des Klino-
humits eingeordnet." Es fehlen noch (100), (oor), (110), (O11), (120)
und (236). Als secundäre Form schiebt sich ein (100) bez. (200)
zwischen (101) und (101), (110) bez. (220) zwischen (111) und (ILL),
(oıı) bez. (022) zwischen (012) und (010), als quartäre Form (120)
bez. (480) zwischen (121) und die noch nicht beobachtete tertiäre
Form (361). (236) tritt ganz vereinzelt auf. Wie man sieht, wird
die Krystallisation des Klinohumits fast ausschliesslich von den Gliedern
der primären Reihen beherrscht; eine Complication findet nur in wenigen
Fällen bei grossen Winkelabständen statt, wodurch sich das Gesammt-
bild der Entwicklung kaum verändert. Die Reihen ı, 2 und 3 sind
auch nach Einschaltung von (200), (022) und (220) eontinuirlich;
(120) ist vielleicht unsicher. Reihe 5 ist unvollständig, da (325) bis-
her noch nicht beobachtet wurde.
Während in den Zonen [oı0]| und [110] die auf einander
folgenden primären Formen mit der Differenz 2 beim dritten
Index so über die Grenze zwischen + und — hinweggehen,
dass beiderseits gleiche Indices erscheinen (symmetrische Ver-
theilung), bedingt die Differenz 4 bei den Zonen [210] und
[230] die unsymmetrische, d.i. dem monoklinen System (nach
vom Rarn der »Hemiödrie«) entsprechende Entwicklung bez.
Vertheilung der Symbole.
Die von vom Rarn an 25 Krystallen ausgeführten Messungen haben
gezeigt, dass diese Krystalle stets von einer so normalen Ausbildung
waren, wie sie kaum vollkommener bei einem andern Mineral beob-
achtet sein dürfte. vom Rarı theilt seine Beobachtungen speciell an
9 Kırystallen mit, indessen ist das hier gebotene Material nicht hin-
reichend, um daraus sichere Schlüsse in Bezug auf die Häufigkeit der
einzelnen Formen abzuleiten. Hierzu müsste eine grössere Zahl, wenn
! Von einigen vieinalen Formen wurde hier abgesehen.
Sitzungsberiehte 1904. 43
552 Sitzung der phys.-matlı. Classe v. 10. März 1904. — Mittheilung v. 25. Febr.
möglich ringsum ausgebildeter Krystalle durchgemessen werden. Leider
ist es mir selbst wegen Mangels an Material nicht möglich, diese Arbeit
auszuführen.
5. Antimonit weist mehrere flächenreiche Zonen auf, von denen
wir folgende kurz betrachten:
ı. [100]: (001) (013) (012) (023) (034) (oı1) (043) |(032)] (053) (021) (031) (041) (092)
2. [001]: (100) (310) (210) (320) (430) (110) (560) (340) (230) (350) (120) (250) (130) (140)
(150) (160) (170)
3- [30T]: (103) (113) (123) (133) (143) (153)
4. |302]: (203) (629) (213) (223) (233) (243) (253) (263) (273) (283) (2-12 - 3)
5. [10T]: (101) (313) (323) (434) (656) (878) (111) (676) (343) (353) (121) (131)
Zone [100] bildet, ergänzt durch die noch nieht beobachtete Form
(032), eine continuirliche Reihe; als primäre Formen sind wahrschein-
lich zu betrachten (oo1) (o11) (021) (031) (041), als secundäre dem-
nach (012) [(032)] (092), als tertiäre (013) (023) (043) (053), als quartär
(034). Man erhält also:
I 1 1I I Ve I II II 111 I I I 1
(001) (013) (012) (023) (034) (o11) (043) |(032)] (053) (021) (031) (041) (092)
eine im allgemeinen sehr regelmässige Entwicklung.'
Ganz ähnlich ist der Bau der zweiten Zone, in welcher wir als
primäre Reihe annehmen: (100) (110) (120) (130) (140) (150) (160)
(170). Wir erhalten dann, abgesehen von der vielleicht nicht siche-
ren (560):
I ul 11 II Ve 1 II u II I 1 1 I I I I
(100) (310) (210) (320) (430) (110) (340) (230) (350) (120) (250) (130) (140) (150) (160) (170)
eine vollkommen eontinuirliche und selır regelmässig entwickelte Reihe.
Zone [301] wird anscheinend nur aus Gliedern einer primären
Reihe gebildet; dasselbe gilt im wesentlichen von Zone [302], in
welcher jedoch zwischen (203) und (213) die vereinzelte tertiäre Py-
ramide (629) beobachtet wurde und zwischen den beiden letzten Formen
mit hohem, zweiten Index eine Lücke vorhanden ist. In der fünften
Zone endlich, welche weniger regelmässig entwickelt ist, sind wohl
als primäre Formen anzunehmen (101) = (303), 313, 323, (III) =
(333); (343). (353); (121) = (363), (131) = (393). Seeundare Koren
wären dann (656) und (676), eine Lücke wäre vorhanden zwischen
(363) und (393). Die beiden Symbole (434) und (878) passen nicht
gut in die Reihe bez. würden sich erst in Folge höherer Compliecation
einstellen. Vielleicht sind sie durch andere Symbole zu ersetzen, welche,
obgleich anscheinend complieirter, auf einfachere Weise abgeleitet wür-
! Die quartären Formen bezeichne ich mit IVa oder IVß, je nachdem sie
zwischen I und III oder zwischen II und 11] liegen (vergl. hierüber auch die Bemer-
kungen in meiner Abhandlung im Centralblatt für Mineralogie u. s. w. 1903, S. 667).
HU. Baussaver: Krystallformen in flächenreichen Zonen. 555
den. Bekanntlich entsprechen nicht immer die einfacheren Symbole
am besten den beobachteten Winkeln (vergl. beim Dolomit $ R). Über
die Berechtigung solcher Vermuthungen können natürlich nur erneute
Messungen, sowie über die Realität der oben angenommenen primären
Reihen Beobachtungen über die Häufigkeit der einzelnen Formen end-
gültig entscheiden.
Diess gilt auch hinsichtlich anderer Beispiele einer ähnlichen Zonen-
entwicklung, wie ich sie bei verschiedenen Mineralien (z. B. Arsenkies,
Baryt, Datolith, Zoisit) getunden zu haben glaube. Erst eingehende
weitere Beobachtungen und statistische Behandlung des Gefundenen
können dort zu einer wohl begründeten Auffassung führen.
Dennoch dürften sich jetzt schon aus obiger Untersuchung wie
aus meinen früheren Beobachtungen einige Regeln ergeben, welche
wahrscheinlich eine allgemeinere Gültigkeit besitzen.
1. Die natürliche Reihenfolge der Flächen innerhalb einer frei
entwickelten, formenreichen Zone (bez. eines Zonenstücks) eines ein-
zelnen Krystalls steht unter dem Gesetze der Complication
oder strebt doch diesem Gesetze zu; jedes Symbol ist also im all-
gemeinen durch Addition der gleichstelligen Indices der beiden be-
nachbarten Symbole ableitbar. Zuweilen (wie bei Realgar, Skleroklas,
Dolomit) ist es jedoch notwendig, zunächst eine Umformung der jetzt
gebräuchlichen Symbole vorzunehmen, wobei die häufigsten Formen
als Glieder einer primären Reihe erscheinen. Manchmal findet man
scheinbar fehlende Flächen, wenn auch nur sehr schwach entwickelt,
bei sorgfältigster Untersuchung auf (s. Realgar). Die Formenreihe ist
eine econtinuirliche oder nähert sich wenigstens einer solchen. Im
erstern Falle kann man die betreffende Zone (bez. das Zonenstück) als
vollkommen bezeichnen.
2. Ordnet man in arithmetischer Reihe die an den Krystallen
eines Körpers überhaupt beobachteten Formen (bez. Symbole) einer
flächenreichen Zone, so zeigt auch eine solche Reihe (direct oder nach
der oben angegebenen Umformung der Symbole) vollkommene oder
fast vollkommene Complication, ist also ganz oder fast ganz con-
tinuirlich. Neue Flächen können natürlich immer noch aufgefunden
werden, ordnen sich dann aber nach dem Gesetze der Complication
ein. Andererseits deutet eine Lücke in der Reihe darauf hin, dass
noch nicht alle in Wirklichkeit in der Zone auftretende Formen an
den bis jetzt untersuchten Krystallen des betreffenden Körpers beob-
achtet wurden.
3. Stellen die Symbole einer Zone direct oder nach der ange-
gebenen Umformung eine continuirliche Folge dar, so befinden sich
darunter gewisse Formen von grösserer Häufigkeit, welche einer, in
554 Sitzung der phys.-math. Classe v. 10. März 1904. — Mittheilung v. 25. Febr.
dieser Abhandlung Eingangs näher charakterisirten primären Reihe
angehören. Dazu kommen dann, insbesondere auf der Strecke der
Formen grösster Häufigkeit bez. einfachster Indices, secundäre, ter-
tiäre, eventuell quartäre Flächen, während in grösserer Entfernung
von jener Strecke und gegen das Ende der Zone bez. des Zonenstücks
in der Regel nur noch Glieder der primären Reihe auftreten. In ein-
zelnen Fällen wird jedoch eine Zone bez. ein Zonenstück nur von
primären Formen gebildet.
Ausgegeben am 17. März,
555
SITZUNGSBERICHTE Ele:
XV.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
10. März. Sitzung der philosophisch -historischen Classe.
Vorsitzender Secretar: Hr. Diers.
*Hr. Lenz las über Bısmarcr’s Bemühungen um eine Re-
form der Patrimonialgerichtsbarkeit.
Ein erstes Licht auf den Plan Bısmarer’s, eine Reform der Patrimonialgerichts-
barkeit, und zwar für die beiden Jerichower Kreise. ins Leben zu rufen, haben zwei
Briefe von ihm an Lupwıs von GERLACH, beide aus dem Jahre 1847, geworfen (Bıs-
marck-Jahrbuch III). Dazu kamen dann Andeutungen in den Briefen Bısuarer’s an
seine Braut und neuerdings in den Aufzeichnungen aus dem Leben GerLacH’s. Aus
den Akten des Justizministeriums, die der Vortragende benutzen durfte, ergab sich,
dass Bismarck einen analogen Versuch im Verein mit Hrn. von BüLow- CummERow
schon vorher für den Regenswalder und einen Theil des Naugarder Kreises zu reali-
siren versucht hatte, und ferner, dass Beides in engem Zusammenhang stand mit den
Reformabsichten, welche die Regierung Frıeprıch Wiırnerm’s IV. hinsichtlich der Pa-
trinonialgerichtsbarkeit verfolgte. Die Entwiekelung dieser Pläne von 1840 bis zur
Revolution, die ihnen mit der gutsherrlichen Gerichtsbarkeit selbst ein Ende machte,
wurde dargelegt.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei
Sitzungsberichte 1904. 44
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN DD —
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
XVI.
17. März 1904.
BERLIN 1904.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
Auszug aus dem Reglement für die Redaction der »Sitzungsberichte«.
$1.
2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Oetav regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die sämmtlichen zu einem Kalender-
jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
fortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserlem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch- mathematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch-historischen Classe ungerade
Nummern.
$2.
1. Jeden esbenieht eröffnet eine Übersicht über
die in der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilungen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten.
2. Darauf folgen die den Sitzungsberichten über-
wiesenen wissensehaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckfertig übergebenen, dann die, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gehö-
rigen Stücken nicht erscheinen konnten. Mittheilungen,
welche nicht in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet.
85.
Den Bericht über jede einzelne Sitzung stellt der
Secretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte,
Derselbe Secretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei-
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
S 6.
l. Für die Aufnahme einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $ 41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglements die folgenden beson-
deren Bestimmungen.
2. Der Umfang der Mittheilung darf 32 Seiten in
Oectav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nicht übersteigen. NMittheilungen von Verfassern, welche
der Akademie nicht angehören. ‚ sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist
nur nach ausdrücklicher Zustimmung der Gesammt-Aka-
demie oder der betreffenden Classe statthaft.
3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
tenden Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Nothwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzschnitte fertig sind und von
besonders beizugebenden Tafeln die volle erforderliche
Auflage eingeliefert ist.
87;
1. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
schaftliche Mittheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer Ausführung, in
deutscher Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2. Wenn der Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
Die Akademie versendet ihre »Sitz ungsberichte« an diejenigen Stellen, mit denen ‚sie im Sehriferkehr rs
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinbart wird, jährlich drei Mal, nämlich: ;
die Stücke von Januar bis April in der ersten Hälfte des Monats A ae N P-
Mai bis Juli in der ersten Hälfte des Monats August,
» October bis December zu Anfang des nächsten Jahres nach Pertgung Register,
” .. ”
_ nummer, Tag und Kategorie der Sitzung, darunter der }
öffentlichen beabsichtigt, als ihm dies nach den gelten- h
den Rechtsregeln zusteht, so bedarf er dazu der Ein- E
willigung der Gesammt- Akademie oder der betreffenden
Classe. Ban
$8. Be.
5. Auswärts werden Correcturen nur auf besonderes
Verlangen verschickt. Die Verfasser verzichten damit
auf Erscheinen ihrer Mittheilungen nach acht Tagen.
Sale Ei.
1. Der Verfasser einer unter den » Wissenschaftlichen a,
Mittheilungen« abgedruckten Arbeit erhält unentgeltlich R
fünfzig Sonderabdrücke mit einem Umschlag, auf welchem
der Kopf der Sitzungsberichte mit Jahreszahl, Stück-
Titel der Mittheilung an? der Name des Verfassers stehen. :
2. Bei Mittheilongen, die mit dem Kopf der Sitzungs- E
berichte und einem angemessenen Titel nicht über zwei
Seiten füllen, fällt in der Regel der Umschlag | fort. £ N
3. Einem Verfasser, welcher Mitglied der Akademie
ist, steht es frei, auf Kosten der Akademie weitere gleiche
Sonderabdrücke bis zur Zahl von noch hundert, und
auf seine Kosten noch weitere bis zur Zahl von zwei-
hundert (im ganzen also 350) zu unentgeltlicher Ver-
theilung abziehen zu lassen, sofern er diess rechtzeitig
dem redigirenden Secretar angezeigt hat; wünscht er auf
seine Kosten noch mehr Abdrücke zur Vertheilung zu
erhalten, so bedarf es der Genehmigung der Ceanuk >
Akademie oder der betreffenden Oase: — Nichtmitglieder iR
erhalten 50 Freiexemplare und dürfen nach rechtzeitiger
Anzeige bei dem redigirenden Secretar weitere 200 Exem-
plare auf ihre Kosten abziehen lassen, uled CM
N 28. f EE
1. Jede zur Aufnahme in die Sitzungsberichte bei
stimmte Mittheilung muss in einer akademischen. Sitzung,
vorgelegt werden. Abwesende Mitglieder, sowie alle
Nichtmitglieder, haben hierzu die Vermittelung t einesi
Fache angehörenden ordentlichen Nitgliedes zu benutzen. «
Wenn schriftliche Einsendungen auswärtiger oder corre-
spondirender Mitglieder direet bei der Akademie oder bei
einer der Classen eingehen, so hat sie der vorsitzende
Secretar selber oder durch ein anderes Mitglied zum
Vortrage zu bringen. Mittheilungen, deren Verfasser der
Akademie nicht angehören, hat er einem zunächst ‚geeignet A
scheinenden Mitgliede zu überweisen. f
[Aus Stat. Sal, 2. — Für die Aufnahme bedarf es
einer ausdrücklichen Genehmigung der Akademie oder
einer der Classen. Ein darauf gerichteter Antrag kann,
sobald das Manuscript druckfertig vorliegt,
gestellt und sogleich zur Abstimmung gebracht ezuelE
.$29. A
1. Der redigirende Secretar ist für den Inhalt: des.
geschäftlichen Theils der Sitzungsberichte, ‚jedoch nicht
für die darin aufgenommenen kurzen Inhaltsangaben der
gelesenen Abhandlungen verantwortlich. Für diese wie
für alle übrigen Theile der Sitzungsberichte sind
nach jeder Rtichtung nur die Verfasser Varantng
wortlich. f R
|
a
SI
SITZUNGSBERICHTE 1904.
XVI.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
17. März. Gesammtsitzung.
Vorsitzender Secretar: Hr. Auwers. -
l. Hr. Frogentvs las: Über die Charaktere der mehrfach
transitiven Gruppen.
Eine 2rfach transitive Gruppe von Substitutionen hat mit der symmetrischen
Gruppe desselben Grades alle Charaktere gemeinsam, deren Dimension höchstens
gleich r ist.
2. Hr. Kreiın legte ein neues Meteoreisen von Persimmon
Creek, bei Hot House, Cherokee Co., Nord Carolina vor und
sprach über dessen merkwürdige Eigenschaften.
3. Von den eingegangenen Druckschriften kamen besonders zur
Vorlage: Morrke's Militärische Werke. III. Kriegsgeschichtliche Arbei-
ten. Dritter Theil. Her. vom Grossen Generalstabe. Berlin 1904: und:
THEODOR ScHIEMANN, Geschichte Russlands unter Kaiser Nıkoraus 1.
Band I. Kaiser ALzxanper II. und die Ergebnisse seiner Lebensarbeit.
Berlin 1904.
4. Die Akademie hat durch ihre physikalisch-mathematische Classe
bewilligt: Hrn. Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Gustav Frırscn in Berlin zur
Herausgabe eines Atlas mit Darstellungen der hauptsächlichsten Typen
der gegenwärtig in Aegypten lebenden Bevölkerung 2000 Mark: Hrn.
Dr. Epwiın S. Faust in Strassburg i. E. zu Untersuchungen über das
Schlangengift 1000 Mark.
Das eorrespondirende Mitglied der physikalisch -mathematischen
Classe GroreE Sarnmon zu Dublin ist am 22. Januar verstorben.
Sitzungsberichte 1904. 45
558 Gesammtsitzung vom 17. März 1904.
Über die Charaktere
der mehrfach transitiven Gruppen.
Von G. FRoBENIUS.
Bass zweifach transitive Gruppe von Permutationen hat den Charakter
%(R) = «a-1, wenn « die Anzahl der Symbole ist, welche die Sub-
stitution R ungeändert läßt. Dieser bekannte Satz bildet das erste
Glied einer Reihe von Sätzen, die ich im folgenden entwickle: Eine
vierfach transitive Gruppe besitzt außerdem die beiden Charaktere
»4(2-3)+ß und }(&-1)(&-2)-®&, wo 8 die Anzahl der binären
Zyklen in der Substitution AR ist. Bei noch höherer Transitivität hat
die Gruppe noch andere Charaktere mit der symmetrischen Gruppe
desselben Grades gemeinsam ($ 3). Diese Ergebnisse leite ich aus
einem von Hrn. Nerro gefundenen Satze über Substitutionengruppen
($ ı) ab.
Bei diesem Anlaß teile ich ($ 4) eine neue Darstellung der Cha-
raktere der symmetrischen Gruppe mit, die für ihre Berechnung ganz
besonders geeignet scheint. Mit Hilfe der gewonnenen Resultate be-
rechne ich zum Schluß die Charaktere der beiden von Marnızu ent-
deckten fünffach transitiven Gruppen der Grade 12 und 24.
SEITE
Durch eine Verallgemeinerung von Sätzen, die von Caucuv und
von mir aufgestellt waren, ist Hr. Netto in $ ı und $ 2 seiner Arbeit
Untersuchungen aus der Theorie der Substitutionen- Gruppen, ÜRELLE’s
Journal, Bd. 103 zu folgenden Resultaten gelangt:
I. Multipliziert man die Anzahl der Zyklen des Grades s, die in allen
Substitutionen einer Gruppe der Ordnung h vorkommen, mit der Zahl s,
so erhält man ein Vielfaches von h, und wenn die Gruppe s-fach transitiv ist,
die Zahl h_ selbst.
II. Multipliziert man die Anzahl der Kombinationen von x Zyklen des
Grades 1, A Zyklen des Grades 2, u Zyklen des Grades 3 usw., die in
allen Substitutionen einer Gruppe der Ordnung h vorkommen, mit der Zahl
Frogentus: Über die Charaktere der mehrfach transitiven Gruppen. 559
s = 1x! 2’a! 3"u!...., so erhält man ein Vielfaches von h, und wenn die
Gruppe r = (#x»+2%+3u + .-.-)-fach transitiv ist, die Zahl h selbst.
Da dieser Satz die Grundlage der folgenden Untersuchung bildet,
will ich hier auch seinen Beweis entwickeln.
Man schreibe <+A+u+:.. leere Klammern auf, von denen %
einen Platz, A zwei Plätze, « drei Plätze usw. enthalten. Man nehme
x+2A+3u+--.— r verschiedene Symbole und setze sie in allen mög-
lichen Anordnungen an die leeren Plätze. Dann erhält man alle Sub-
stitutionen dieser Symbole, die aus x Zyklen des Grades I, A Zyklen
des Grades 2, # Zyklen des Grades 3 usw. bestehen, und jede dieser
Substitutionen s = 1*’x! 2A! 3*u! ... mal.
Nun sei gegeben eine Gruppe $ des Grades n und der Ordnung A.
Aus den n Symbolen wähle man r (= n) verschiedene «#, Bay, 2-2 aus.
Durch die } Substitutionen der Gruppe 9 mögen sie in «',B’,y',---$',
in «”, &’, y”,...$” usw. übergeführt werden. Die p verschiedenen Sy-
steme von Symbolen, die man so erhält, nenne ich konjugierte Systeme
(in bezug auf 9). Enthält die Gruppe g Substitutionen, die jedes der
r Symbole x, 8,y,.-- $ ungeändert lassen, so ist pq = h (Cam. Jorban,
Traite des substitutions, Nr. 44).
Sei R eine Substitution von $, welche x Zyklen des Grades 1,
A Zyklen des Grades 2, u Zyklen des Grades 3 usw. enthält. Man ordne
die Zyklen von R etwa so, daß erst die x Zyklen des Grades I, dann
die A Zyklen des Grades 2 usw. stehen, und dann erst die übrigen
Zyklen in beliebiger Anordnung folgen. Es ist nicht ausgeschlossen,
daß R mehr als x,A, u... Zyklen der Grade 1,2,3.... enthält. Dann
kann man R auf verschiedene Arten in der angegebenen Art schreiben.
Die Anzahl solcher Substitutionen R, jede so oft aufgezählt wie eben
angegeben, sei v. Dann ist » die Anzahl der Kombinationen von
x Zyklen des Grades 1, A Zyklen des Grades 2 usw., die in allen Sub-
stitutionen von 9 vorkommen.
In jeder dieser » Substitutionen kann man noch die ersten x Zyklen
untereinander vertauschen, die A folgenden untereinander vertauschen
und jeden dieser A Zyklen auf 2 Arten schreiben (&,8) oder (ß,«&) usw.,
also kann man jede dieser v Substitutionen auf s = 1*x! Pr! "u! ---
Arten schreiben. Dann erhält man vs Substitutionen, die alle wenig-
stens der Form nach verschieden sind.
In einer dieser vos Substitutionen A mögen an den ersten r Plätzen
innerhalb der Klammern die r Symbole #, ®,y, :-- Sin dieser Reihen-
folge stehen. Seien #,B,,B,,--- B,_, die g Substitutionen von 9,
die jedes der r Symbole «, 8,y, :-- $ ungeändert lassen. Dann stehen
in den g verschiedenen Substitutionen A, AB,, AB, --- AB, ,, aber in
keiner anderen, die r Symbole 4, ®,y, :-- $ an derselben Stelle, wenig-
45*
560 Gesammtsitzung vom 17. März 1904.
stens jedesmal in einer der verschiedenen Formen, in denen sich eine
dieser Substitutionen unter den aufgestellten vs findet. Ist «,ß’,y’, --- $’
eines der p mit &,8,y,:-- konjugierten Systeme, so finden sich
auch genau g Substitutionen darunter, in denen «, 8’, y’, :-: S’ in dieser
Reihenfolge die ersten r Plätze einnehmen. Unter den vs betrachteten
Substitutionen gibt es also pg = Ah, worin die ersten r Plätze in den
Klammern mit den Symbolen &,®,y, :-- 3, oder «,®’,y’, --- 3’, oder
a, B",y”,---9”,--- in dieser Reihenfolge besetzt sind. Diese A Sub-
stitutionen sind durch irgend eine von ihnen alle vollständig bestimmt.
Enthält das aufgestellte System von vs Substitutionen noch eine weitere
Substitution A,, so entspringen daraus wieder h, die unter sich und
von den A ersten, wenigstens der Form nach, verschieden sind. Mithin
ist os = mh ein Vielfaches von h. Ist die Gruppe 9 r-fach transitiv, so
ist &,8,y,:::$ mit jedem System von r verschiedenen Symbolen kon-
Jugiert. Daher ist m = 1.
8 2.
Sei R eine Substitution von $, die genau «,®,y, :-- Zyklen der
Grade 1,2,3, --- enthält. Dann kommt R unter den oben aufgestellten
v Substitutionen (:) () () --. mal vor. Dies bleibt auch richtig, wenn
nicht &>x2,8 >, y>wu,-- ist, weil dann jene Zahl gleich Null ist.
Folglich ist
el 2. B\/y ER Em sn
FEN IE), re
wo die Summe über die 4 Substitutionen R von 9 zu erstrecken ist.
Ist 9 r-fach transitiv, so ist m —=1. Nun seien s,, &,s,, ::: Variable,
denen wir die Dimensionen (Gewichte) 1,2,3,:-- beilegen, so daß
dem Produkte s“ ss‘ --- die Dimension <+2?+3u+ --: zu erteilen ist.
Ist dann 5 r-fach transitiv, so verschwinden in der Differenz
Akykır- \R A A M :
die Koeffizienten der Glieder, deren Dimension <r ist. Für x,A,1,:--
können alle Werte 0,1,2,--- gesetzt werden. Nach Vertauschung der
Reihenfolge der beiden Summationen läßt sich die eine ausführen.
Die Entwicklung der Differenz
er R : r a
(1.) @U+S)° 140° +9 )-entiarinre
beginnt also mit Gliedern, deren Dimension > r ist.
Nun seien &,,%,,°""&%,_1>Yı> Yas ''"Yn_, Variable, die alle die Di-
mension l haben. Setzt man dann
a ME Fe EEE ee);
Frosentus: Über die Charaktere der mehrfach transitiven Gruppen. 561
so beginnt die Entwicklung von s, mit Gliedern der Dimension x. Da-
her fängt die Entwicklung der Differenz
l u @ » @
„2 rate ta) (em) SEN
(ya seyn) >
—esitaet3sern
mit Gliedern an, deren Dimension >r ist.
In meiner Arbeit Uber die Charaktere der symmetrischen Gruppe,
Sitzungsberichte 1900, im folgenden mit S. zitiert, habe ich in $3
gezeigt, daß
(2) (atntHaatnt tm) A,a, 2)
= € [x; ’ %yn en; 1x” (R)a,' 2° I o
”)
ist. Hier ist x®(R) = x%;,,... ein Charakter der symmetrischen
Gruppe, genauer ausgedrückt, der Wert eines solehen Charakters für
eine Substitution R, die aus &,8,y--- Zyklen der Grade 1,2,3.--
besteht. Ist x, die größte der n Zahlen x,,x,::-x, des Systems (x),
so will ich (S. $4, (2.))
(3.) ut" +%1-3(n-1)(n-2)= 2n-1-m,—n
die Dimension des Charakters %, nennen. Demnach gibt es nur einen
Charakter der Dimension 0, den Hauptcharakter % = I, nur einen
N i 5 0 : ;
Charakter der Dimension 1, «il — &-1, zwei Charaktere der Di-
mension 2,
(4-) x[ı|= ee-9+8 ; x|ol = e-D@-»-8,
drei Charaktere der Dimension 5,
x|.|=42@-D@-3) +(a-1)B+y,
(5) x|o|= :e-De-2e-3)-(«-ne+r,
| ala 2)(a—4) Ben
fünf Charaktere der Dimension 4,
x|2l= seem Den 440-1) Der iBlE-D Han rt,
x|o| = aaa 9-3 Da-DB+3E@-1)4+@-17-3,
x|3] = }et@-ne-81e-0) +:(a-1)(a-2)B-B (B- 1) -8,
x|i|= iee-9e-996-5) -tata-se 486-0) +3,
x|oi| — ala 1){a4)(a-5) + Be 2)-(a1jy.
562 Gesammtsitzung vom 17. März 1904.
sieben Charaktere der Dimension 5, und allgemein so viele Charaktere
der Dimension n’, wie sich n’ als Summe von positiven (>0) Sum-
manden darstellen läßt, oder wie sich }n’(n’+1) als Summe von n’
verschiedenen nicht negativen (>0) Summanden darstellen lässt.
Jede der hier aufgestellten Funktionen der Variabeln &,®, y,d,:-:
ist ein Charakter % für alle Werte von n, die eine gewisse Grenze
übersteigen. Für kleinere Werte aber kann er gleich -% oder auch
stets gleich 0 sein (vgl. S.$S 4). Dies erkennt man daran, ob das
erste Glied für = n positiv, negativ oder Null ist. Endlich kann
für ein gegebenes n einer dieser Ausdrücke, der formal von höherer
Dimension ist, mit einem von kleinerer Dimension dieselben Werte
haben. Z. B. ist x[o:| = |. für n = 3. Bei gegebenem n ist da-
her für jeden Charakter die Darstellung als Funktion von #,B,y,:-
zu wählen, bei der seine Dimension möglichst klein ist. Dann ist
die Anzahl der Charaktere des Grades n und der Dimension n’ gleich
der Anzahl der Zerlegungen von 3n’(n’+1) in n’ verschiedene Sum-
manden, deren jeder <n ist. Die höchste Dimension, n—1, hat nur
der dem Hauptcharakter assoziierte Charakter (-1)? ++.
Jeder solchen Zerlegung
(7.) a ee een. no)
entspricht ein Charakter der Dimension r’, der fr =y=::—=0
den Wert
A(fı, Aa, Anr)
Aldo del
——
7
_—
(a—A,)(a—-%,) :-(a—A,.)
hat. Man kann ihn durch die rn’ den Bedingungen (7.) genügenden
Zahlen A,,A,,:--A,. charakterisieren, oder einfacher in folgender Art:
Seien n-1-u,,.n’—1 —d, die der Zahlen, 0, 1, n 1, die
nieht unter A,,:--A,, vorkommen, und seien n’+ß,,:-:n+ß, die der
Zahlen A,.:--A,, die >n’ sind. Dann ist dieser Charakter oben mit
| ER | bezeichnet.
Bı vr p,
S 3:
Die Entwicklung der Funktion A (x, 2%, ,_,, ,) beginnt, wenn
x, =] ist, mit Gliedern der Dimension Z(n-1) (n-2). Sei
va A (a, Sn 1) Alyı, Sr L) esıtaSsatssste
1
irn ee
U h 0) = [A Ag x] [Aı An, An] x (R) x (R)
N Ne un
u U, ee Yı Js en 2
Frosentus: Über die Charaktere der mehrfach transitiven Gruppen. 563
wo R die A Substitutionen von 9 durchläuft, und
ur tmatm ht tat =anent+l)
ist. Dann beginnt die Entwicklung der Differenz U-V mit Gliedern,
deren Dimension >r+(n-1)(n—2) ist. Dasselbe gilt für jede andere
r-fach transitive Gruppe 5 des Grades n. Für diese bleibt der Aus-
druck V derselbe, während U in eine Summe [/’ übergeht, worin R
die Ah’ Substitutionen von 5° durchläuft. Folglich beginnt auch die
Entwicklung von
(U-V)-(U-V)= U-U
mit Gliedern, deren Dimension >r+(n-1) (n—2) ist. Die Summe
1
(1.) 73 x (E)XO(RT)
hr
hat daher für 5 und 9 denselben Wert, falls
Aut + trtı tr For +en-1) (Rn -2)
ist. Der Umfang dieser Bedingung wird am weitesten, wenn man
unter %, (A,) die größte der Zahlen <,,---%, (A,,-:-A,) versteht. Dann
besagt sie, daß die Summe der Dimensionen der beiden Charaktere
x9 und «9 <r ist. Sei jetzt
(2.) a EN
n
Wählt man dann für 5 die symmetrische Gruppe © des Grades n,
so verschwindet die Summe (1.), außer wenn , =A,,'''%,—=A,, kurz
(x) = (A) ist; dann hat sie den Wert 1. Dasselbe gilt daher unter der
obigen Bedingung für jede r-fach transitive Gruppe 9.
Nun ist 95 eine Untergruppe von © Folglich ist jeder Cha-
rakter 49)(R) von © eine lineare Verbindung der Charaktere von 9,
deren Koeffizienten positive ganze Zahlen sind. Aus der Formel
3 xUR)xW(R) = h (2x<r),
worin R die Substitutionen von 5 (nieht von &) durchläuft, und aus
den bilinearen Relationen, die zwischen den Charakteren von 9 be-
stehen, ergibt sich demnach der Satz:
I. Jeder Charakter der symmetrischen Gruppe, dessen Dimension =; r
ist, ist auch ein Charakter jeder r-fach transitiven Gruppe.
Und speeiell:
II. Jede zweifach transitive Gruppe hat den Charakter «—-1, und jede
transitive Gruppe, welche diesen Charakter hat, ist zweifach transitiv.
III. Jede vierfach transitiwve Gruppe hat die Charaktere
Bl za(a-3)+Pß » z(a-1) (a-2)-B,
und jede transitive Gruppe, welche alle diese Charaktere hat, ist vierfach
transitiv.
564 Gesammtsitzung vom 17. März 1904.
Ist ferner (x) von (A) verschieden, so ist
3 xRxKMR) = 0,
2
falls die Summe der Dimensionen von 4% und %® <r ist. Ist also
die Dimension von X” >4r, und demnach die von x” <4r, so
ist 4) ein Charakter von 9, %” aber eine lineare Verbindung von
Charakteren von 9, unter denen der Charakter %” nicht vorkommt.
S4
Definiert man den Charakter 4”, wie S. $ 3, durch m ver-
schiedene Zahlen A,, ... A,, deren größte A, ist, so ist seine Dimension
(1.) ur ma) mon em
Dann ist
(2) (mt: +2)° (a? +. +a2)B (ad + --- +83)9--- Alam, m)
—5> Day Bus ?%as An] a. am.
2 m
(%)
Damit ein bestimmter Charakter
A, °C \
(3-) A Wer 5)
in dieser Entwicklung vorkomme, genügt es m>a,+1 zu wählen.
Nun ist nach S. 84 (7.)
+. ++b.. +b,=n-r,
also a,+b,<n-lundn’=n-1-b,>a,. Daher kann man m=n'+1
setzen, dann ist A,—= n, und der Charakter x,” der Dimension »7 ist
durch die n’+1 verschiedenen Zahlen
(4.) (x®) DER Ras ann
charakterisiert, die der Bedingung (7.), $ 2, genügen.
Ich will nun zeigen, wie man %” durch den entsprechenden
Charakter
(5.) PO) OA): Ars Aaycc Au
der symmetrischen Gruppe des Grades n’ ausdrücken kann. Dabei
benutze ich die folgende bekannte Formel: Ist
(2-2) (8-2). -(@-,) =" hm 4 46 ’ De ee Re
n
so ist
1 Bryt se PB sY...
(6.) SET Re
; r — 1eal2Bß!gry!...
a,b,ıy° Yo 5% Cl
wo sich die Summe über alle nicht negativen Zahlen 2,®,y,--- er-
streckt, die der Bedingung
DI 2 BE Se
genügen.
5
Frogenius: Über die Charaktere der mehrfach transitiven Gruppen. 565
In Formel (2.) sim =n'+l, u=z,
(2-21). (2-0) = a" 4a" 4. +Hbo, at Hals.
Nach Absonderung des Faktors A(&,,:--x,) ist dann die linke
Seite gleich
(+ s1) (@® + s Pla +s)% (a Hari. + tv),
‚+8, auszudrücken ist.
worin £, mittels der Formel (6.) durch s, , &
s% ... multipliziert, worin
Dann ist x” mit Gliedern der Form ss?’
(72) a’+2ß’+3y' +. —=n
ist. Um den Koeffizienten eines solchen Gliedes zu berechnen, hat
man den Zahlenkoeffizienten
BIHlWE
von ssis#... in (2+Ss)* (+5s)® (2’+s,)” --- mit dem Zahlenkoeffi-
zienten von s“ * SP" Ss?" ... ina” +42" "+... +, zu multiplizieren.
Dieser ist nach (6.)
(CHE
1° =*(a’—a)! 2? R(B—A)! BY #ly’—u)!---
Man setze zur Abkürzung
(8) Em =&ırta(,)(?),
wo sich x von 0 bis zur kleineren der beiden Zahlen E,n bewegt.
Ist eine dieser beiden Null, so ist S, — | zu setzen. Dann ist der
Koeffizient von 2", s,° 3° --- gleich
(- 1)e +8 Hy "+ y . . i
1e’a’! 38’g’1 gu’y’! —Sıla,a 2 (BEE) Sa
Nun ist aber, wenn man den Faktor A (x, x,.) wieder hinzugefügt,
ED Ser N SE) ER IE ABER An’
Sa Say Aa, 3 2.) SIr2 A VrBnyne [%ı ’ Ay; 1], 52 Bar.
Durch Vergleichung der Koeffizienten von x --- x" in der Formel
(2.) erhält man daher
(9.) Xu ae >3 Sıla,a )22(6,B )>s(9,Y ) 2 ( DE
1e"a | a9" BI ay'y’l..-
ar, Byrne k \ y
worin W = LP irgend ein Charakter des Grades n’, und % = %” der
ihm entsprechende Charakter des Grades rn und der Dimension 7 ist.
Die Summe ist über alle Lösungen der Gleichung (7.) zu erstrecken.
Aus dieser allgemeinen Relation ergeben sich die Formeln (4.), (5.),
(6.), $ 2 in der einfachsten Weise.
566 Gesammtsitzung vom 17. März 1904.
Bedient man sich der S. $ 4 eingeführten Charakteristik, so ent-
spricht dem Charakter ;
a ae
nach der Bezeichnung von $ 2 der Charakter
aa,
ER x
und nach (4.) ist
(A # I nee!
(10.) (3 — Ce, Bere ne
worin aber, falls 8, = 0 ist, oben 0 und unten —1 zu streichen ist.
Durch Auflösung der Gleichungen (7.) erhält man die über alle
Paare entsprechender Charaktere bezogene Summe
KZX
(GREIFT Ed, Nee (0,2) ElR Ber Va ee
Nach 'S. $ 3, (6.) ist fursar n=9r Dry 0
Adız +: m) la=dı) ade) I Wyr.osa
Xa&,0,0,.- — — \,) ZE® IE _ = ar N) + (a—\,.).
Setzt man diese Werte in der Formel (11.) ein, so erhält man
eine Eigenschaft der Charaktere des Grades n’. Spricht man sie für
die Gruppe des Grades n aus, so lautet sie
(12.) 32x92... EN) Er) = CN DZ
wo (A) alle Zahlensysteme A,.---A, durchläuft, die den Bedingungen
(13.) At: +, =zn(n+1) (ISA, <A << An)
a und wo Z£ eine Variable ist. Setzt man auch hier «=n,
B=0,y=0,-- so ergibt sich
0 Be) em.) = N. e,n)
i = >, = ( 3 )-
Die Funktion 3,(Z,n) ergibt sich aus der Reihenentwicklung
/
o z" = be
0 re = e?(1-2)°
oder aus der Formel
15 B Ar Im
Frosenius: Über die Charaktere der mehrfach transitiven Gruppen. 567
e'2#,(&,n) = Di(e:
oder aus
Mit Benutzung der entwickelten Sätze habe ich die Charaktere
aller mehrfach transitiven Gruppen berechnet, deren Grad = 24 ist.
Außer den symmetrischen und alternierenden Gruppen der verschie-
denen Grade ist keine Gruppe bekannt, die mehr als fünffach transitiv
ist, und man kennt nur zwei fünffach transitive Gruppen, die beide von
Marnızu entdeckt sind, und deren Charaktere ich hier angeben will.
Die Substitutionen der fünffach transitiven Gruppe M,, des Grades
n = 12 und der Ordnung A = 12. 11. 10. 9. S zerfallen in 15 Klassen.
Zwei Substitutionen von M,, sind konjugiert, wenn sie in der alter-
nierenden Gruppe des Grades 12 konjugiert sind. Daher bilden alle
Substitutionen, die in gleich viele Zyklen desselben Grades zerfallen,
eine Klasse, nur die Substitutionen der Ordnung 11 zerfallen in zwei
inverse Klassen (11), und (11)_. In der ersten Spalte der Tabelle
bezeichnet das Symbol (6) (3) (2) die Klasse der Substitutionen, die
in 4 Zyklen der Grade 6, 3, 2, 1 zerfallen, das Symbol (3)' die Klasse
der Substitutionen, die in 4 Zyklen des Grades 3 zerfallen. Die Zyklen
ersten Grades sind weggelassen, außer bei der Hauptklasse (1)".
In früheren Tabellen pflegte ich die Anzahl A, der Elemente der
Ih
h,
setzen, die Anzahl der Elemente der Gruppe, die mit einer Substi-
tution R der 7" Klasse vertauschbar sind, also die Ordnung einer
gewissen Untergruppe. Die Summe der Normen der in einer Zeile
p“" Klasse anzugeben. Es scheint zweckmäßiger, sie durch zu er-
: ei -
stehenden Werte aller Charaktere ist gleich n In der ersten Zeile
- :
findet sich der Grad f, = «®(E) jedes Charakters 4”. Ich benutze
diese Zahl zur Kennzeichnung von %”. Die drei Charaktere, wofür
f. = 55 ist, unterscheide ich durch 55, 55%, 55%. In der letzten
Spalte soll das Zeichen 16 daran erinnern, daß von den beiden in-
versen Charakteren 16% und 16% nur der eine angegeben ist.
Nach den entwiekelten Sätzen hat M,, die Charaktere &-1: 11”,
(«-1)(@-2)-8:55® und 32(2-3)+%:54. Die drei in Formel (5),
2 aufgezählten Charaktere dritter Dimensionen der symmetrischen
ruppe ©, zerfallen jeder in zwei Charaktere von M,,, nämlich
9 +55®%, 120 +45, 144+176. Die beiden ersten Charaktere der Formel
(6), $ 2 zerfallen in 119 +54+66+144 und 66 +120 + 144.
[ep) UR vl
(de)
568 Gesammtsitzung vom 17. März 1904.
hr 121102988
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192 1,3. 785 ar tr 77 22s0e66
32 ee il 1 2-2 —
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54 ae or 1 1 EA —2
10 1 1 1 0.9202 05 2.001 1-1 0 —1 1
8 1 1-1 -1 ee
2) 6 1 0 %° —1 -1 1 OO 0 1 Or)
11 182120. 2107ER 0 -1 1 Ai
11 1% +069,.707 4 Kor] 0-1 6)
240 1-1-1-5-5 5 5 6 —1 0 4 -4
10 ee 1-1 0-1 —1
32 1 -1 3 —1 —1 area ir
36 1 -1 -1 1 1 1 3, Ro oe
12 1-1 -1 1 1 Tee 1.0
8 1 —1 1 1. —1 ZI 0 ee DER OO
Die Substitutionen von M,,, die ein Symbol ungeändert lassen,
bilden eine vierfach transitive Gruppe M,, des Grades Il und der Ord-
nung 11.10.9.3. Ferner enthält M,, eine mit M,, isomorphe dreifach
transitive Gruppe des Grades 12 und der Ordnung 12. 11. 10.6. Daher
kann man M,, auch mittels dieser Gruppe als transitive Gruppe von
Permutationen von 12 Symbolen darstellen, und erhält so einen äußeren
Automorphismus von M,,, wodurch sich die Klassen (8) (2) und (8) (4)
und ihre Quadrate (4)’ und (4)’(2)’ vertauschen. Durch diesen Auto-
morphismus geht der Charakter 11® in 11®, der Charakter 55° in 55®
über. Die übrigen Charaktere sind mittels der Untergruppe M,, be-
rechnet.
Mit Vorteil kann auch die folgende besonders bemerkenswerte
Untergruppe von M,, benutzt werden: Sei (1,2,3,4,5,6) (7,8,9) (10, 11)
(12) eine Substitution der Klasse (6) (3) (2). Dann bilden alle Sub-
stitutionen R von M,,, die nur die 6 ersten (und nur die 6 letzten)
Symbole unter sich vertauschen, eine Gruppe der Ordnung 6! Jede
solehe Substitution R zerfällt in zwei Substitutionen, R,, die nur die 6
ersten, und A,, die nur die 6 letzten Symbole unter sich vertauscht.
Sowohl R, wie R, durchlaufen die 6! Substitutionen der symmetrischen
Gruppe ©, des Grades 6, und es entsprechen sich R, und R, in dem
bekannten äußeren Automorphismus dieser Gruppe. In der Tat ent-
sprechen so den Klassen (6), (3)’ und (2)’ von ©, die Klassen (3) (2),
(3) und (2), und ihre Vereinigung ergibt die Klassen (6) (3) (2), (3)°
Frorentus: Über die Charaktere der mehrfach transitiven Gruppen. 569
und (2) von WM... Aus dem Hauptcharakter von ©, ergibt sich der zu-
“ sammengesetzte Charakter 1+11®9+11®+54+55® von M,, aus dem
anderen linearen Charakter von ©, der Charakter 119 +559+ 66, und
so erhält man die beiden einfachen Charaktere 55® und 66. Dann
liefern die obigen Formeln alle Charaktere bis auf 16% und 16°, die
sich aus den bilinearen Relationen leicht bestimmen lassen.
Ist 4(R) ein Charakter von 9, so sind
2
(1.) (XRP-xX(R®)) , xl)? + xlR®))
lineare Verbindungen der Charaktere mit ganzen positiven Koeffizienten.
Wählt man für %(R) den Charakter 16%, so erhält man so 120 und
16) +54 + 66.
$ 6.
Die Substitutionen der fünffach transitiven Gruppe M,, des Grades
n = 24 und der Ordnung
r—19422322221.20748
zerfallen in 26 Klassen. Die Klasse (7), enthält die Quadrate der Sub-
stitutionen der Klasse (14) (7) (2); und die Kuben der Substitutionen
der Klasse (21) (3),. Die Gruppe M,, hat den Charakter &-1: 23,
die beiden Charaktere (4), $2 : 7.36 und 23.11. Die drei Charaktere (5),
$2 sind: 23. 21+ 23.55, 23.77, 55. 64, die fünf Charaktere (6), $ 2:
7.36 + 55. 64 + 23. 21 + 23. 144 + 23. 45®,
23. 77 +77.72 47700 +770®%,
23.55 +55. 64+ 23.99 + 23. 144 + 23. 11. 21+ 11. 35. 27,
77.72 +11. 35. 27 +11. 35. 27,
23.45 + 23. 88 + 23. 144 + 23. 21. 11+ 23.7. 36.
Die Substitutionen, die ein, zwei, drei Symbole ungeändert lassen,
bilden die Gruppen M,,, M., M,. Außer M,, habe ich noch die
beiden folgenden besonders bemerkenswerten Untergruppen zur Be-
rechnung der Üharaktere von M,, benutzt:
Teilt man eine Substitution R der Klasse (15) (1) (5) 8) in die
beiden Teile R, = (15) (1) und R, = (5) (3) (oder eine Substitution
R = (14) 2) (N) (l) in R, = (14) (2) und R, = (7) (l)), so erhält man
eine Einteilung der 24 Symbole in zwei Systeme von 16 und 8 Sym-
bolen. Die Substitutionen von M,,, die nur die Symbole jedes dieser
beiden Systeme unter sich vertauschen, bilden eine intransitive Gruppe
Miss. Jede ihrer Substitutionen R entsteht durch die Vereinigung
von zwei entsprechenden Substitutionen R, und R, zweier homomor-
570 Gesammtsitzung vom 17. März 1904.
phen transitiven Gruppen M,, und 2, der Grade 16 und 8. M,, ist
die dreifach transitive lineare Gruppe der Ordnung
(1.) 21(2-1) (2-2) (!-2°) (2).
Sie enthält die elementare Gruppe N der Ordnung 16 als in-
a
. 1 . = f
variante Untergruppe, und —T, ist der alternierenden Gruppe
N
des Grades 8 isomorph.
Die Gruppe M,,;, kann auch in folgender Art erhalten werden:
Die Substitutionen von M,,, die 5 Symbole ungeändert lassen, bilden
eine intransitive Gruppe der Ordnung 48 und des Grades 16 +3. Sie
enthält 32 Substitutionen der Klasse (3)° und 15 der Klasse (2)'. Die
letzteren bilden mit der identischen Substitution eine elementare
Gruppe N der Ordnung 16. Die Gruppe M,,,, besteht aus allen mit R
vertauschbaren Substitutionen von M,..
Die Gruppe M,, enthält demnach die beiden nicht isomorphen
einfachen Gruppen der Ordnung ,8! als Untergruppen. Die eine ist
M,,. Die andere, 7,, erhält man, indem man mittels einer Substitution
der Klasse (15) (5) (3) die 23 Symbole in zwei Systeme von 15 und
5+3 = 8 Symbolen teilt. Die Substitutionen von M,,, die nur die
Symbole jedes dieser beiden Systeme unter sich vertauschen, bilden
die Gruppe %..
Die Charaktere von W,, findet man meist schon aus den Charakteren
von M,,, die zu der Gruppe - — 2, gehören. Die Charaktere von
X, habe ich in meiner Arbeit Über die Charaktere der alternierenden
Gruppe, Sitzungsberichte 1901, S. 309 mitgeteilt. Aus den Charak-
teren 1, 14, 21, 21 von 2, entspringen die folgenden zusammengesetzten
Charaktere von M,,:
1+23+7.36 + 23.2 :
7.36 +55. 64 + 23.21+ 23. 45®+ 23.88 + 23.
55. 64 +23. 11+ 23. 77 +11
23. 11. 21+11. 35. 27
wo 23.33 das Verhältnis der Ordnungen von M,, und M,, ist.
Eine andere wichtige Untergruppe von M,, erhält man, indem
man die 24 Symbole in passender Art in zwei Systeme von je 12 teilt.
Die Substitutionen von M,,, die nur die Symbole jedes dieser beiden
Systeme unter sich vertauschen, bilden eine mit M,, isomorphe Gruppe.
It R= RR, eine solche Substitution, so ist der Isomorphismus der
beiden von A, und R, durchlaufenen Gruppen M,, der in $ 5 erwähnte
a Au
>
a
ra SEO oO, Sgr O0, SESES 7 SZ Er SL Sen STB oEnE>
a | N =
Se
-
-
au
NN ES SE ee en RE Ze A
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oo eaNososoar rn rr soo cs oo o© vs no lo HT
Bea] I] m ee!
|
Or)
a
-
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or)
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Bu
+
-
or)
a
[oz]
[er]
De)
a
[2,0]
[eo]
25
a
te}
Le}
hl
1
(5)'
(4) (2)?
(n,(4' = B')
Dear = B*)
(8)’(4)(2)
OREIRP)E
(11)
(15)(5) (3),
(15)65) 8)-
(14)(7)(2),(B)
(14)(7)(2)_(B”)
(23);
(23)_
(12)’
(6)'
(4)‘
(3)
(Bj
110)’ (2)’
(21)(3),(A)
21@)_(AT)
(4)'(2)'
(12)(6)(4)(2)
24
96
7.72
15. 2°
20
21
2]
Bug
12
AH non
7.36 23.11
28 13
2 10
2 3
4 1
) 1
0 1
0 —ı
1 —2
—ı|
—l
—ı
0 —l
0 —]
—1 0
—] 0)
0 1
0 l
0 1
0 1
12 11
2 ii!
0 1
0 l
4 =3
1 0
24923292. 21420.48
22. 45 23.45
8 —21
0 )
0) 0)
2 3
+(-14V-7) -14V-7
1(-1-V-7) —ııV7
0 —1
) 0
0 1
0 0
0 0
+(-14+V-7) 0
(14-7)
1 0)
1 0
1 1
I 1
—2 =
3 —g
10 5
0 0
23. 456)
27
21.21 770
7 —14
3 5
1 0
—] —2
0) 0
0 0
—| 0
1 1
0 0
+(-1+V-15) 0
1 (-1-V-15) 0
0 0
0 0
1 1(-1+V-23)
1 +(-1-V-23)
0 )
0 )
3 =
0 -7
=o 10
1 (0
0 0
0 0
1 2
1 —1
23. 21
35
23.05
49
23. 88
23. 99
21
23. 144
48
23.11.21
49
11. 35. 27
—21
0
Frosgenws: Über die Charaktere der mehrfach transitiven Gruppen. 571
äußere Automorphismus dieser Gruppe. Z.B. entspringt aus dem Haupt-
charakter von M,, der zusammengesetzte Charakter
123 477.304 23.55 + 23.45 — 23.7.16
von M,,, dessen Grad gleich dem Verhältnis der Ordnungen der beiden
Gruppen ist.
Setzt man in den Formeln (1) $ 5 für (R) den Charakter 45",
so erhält man die beiden Charaktere 45. 22% und 45. 23.
572 Gesammtsitzung vom 17. März 1904.
Über das Meteoreisen von Persimmon Creek, bei
Hot House, Cherokee Co., Nord-Carolina.
Von C. Krem.
Aur der 3°4 langen und ebenso breiten Platte treten nach dem
Ätzen zahlreiche kleinere, durch eine schwarze Substanz getrennte
Partien hervor, die feinste Lamellen eines okta@drischen Eisens
zeigen. Das Merkwürdige ist, dass diese Lamellen auf dem einen
Feld Rechtecke, auf dem anderen Rhomben oder Dreiecke oder un-
regelmässig vierseitige Figuren bilden.
Das oktaädrisch gebaute, überdies nickelhaltige Eisen ist daher
nach dem Würfel, Dodekaäder, Oktaöder oder einer anderen Gestalt
in den einzelnen Partien und Feldern getroffen.
Entweder liegt nun eine Breccie mit beliebiger Orientirung der
einzelnen Theile oder, wie bei Mukerop, ein complieirter Zwilling nach
dem Oktaöder vor. Dies müssen nähere Untersuchungen, namentlich
an grösseren Platten, entscheiden.
Das Eisen hat magnetisches Schwefeleisen, also wohl Magnetkies,
neben Partien von Rhabdit, eingelagert und führt ausserdem dunkele,
anscheinend silicatische Einlagerungen. Dieselben bestehen aus rhom-
bischem und monoklinem Augit, vielleicht auch Olivin, die ihrer-
seits in einer Grundmasse von Kies oder Eisen liegen. — Insofern ver-
hält sich das Eisen bezüglich seiner mesosideritischen Einlagerungen
ähnlich dem von Netscha&vo (1846), OmN. Am nächsten kommt es dem
breccienartigen, Silicate führenden Eisen Of.b.K von Kodaikanal (1898),
unterscheidet sich aber doch von demselben und müsste als die neue
Art Persimmon Üreek aufgeführt werden, und zwar wegen des
oktaädrischen Eisens mit feinsten Lamellen als Off, wegen der breceien-
artigen Bildung (ev. Zwillingsbildung) als b und wegen der Silicatfüh-
rung und ganzen Eigenart als P, zusammen Öff. b. P.
Ausgegeben am 24. März.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei.
SITZUNGSBERICHTE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
XV. XV.
24. März 1904.
DA
2
Porn
AT
BERLIN 1904.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
Be B ne WI ENTRT ER 1
ET r % N I rn $ m Syn Er de EEE En A He A
raleyzleyeleyeleralerelerelorel SE n - ! 1
An 1m eebnıe estate =
200 Kc$ \ i
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die
Auszug aus dem Reglement für die Redaction der »Sitzungsberichte«.
$1.
2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Octav regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die sämmtlichen zu einem Kalender-
jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
fortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserdem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch- mathematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch - historischen Classe ungerade
Nummern. Er
1. Jeden Sitzungsbericht eröffnet eine Übersicht über
die in der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilupgen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten.
2. Darauf folgen die den Sitzungsberichten über-
wiesenen wissenschaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckfertig übergebenen, dann die, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gehö-
rigen Stücken nicht erscheinen konnten. Mittheilungen,
welche nicht in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet.
85.
Den Bericht über jede einzelne Sitzung stellt der
Seeretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte.
Derselbe Seeretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei-
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
$ 6.
1. Für die Aufnahme einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $ 41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglements die folgenden beson-
deren Bestimmungen.
2. Der Umfang der Mittheilung darf 32 Seiten in
Octav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nieht übersteigen. Mittheilungen von Verfassern, welche
der Akademie nicht angehören, sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist
nur nach ausdrücklicher Zustimmung der Gesammt-Aka-
demie oder der betreffenden Classe statthaft.
3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
tenden Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Nothwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzschnitte fertig sind und von
besonders beizugebenden Tafeln die volle erforderliche
Auflage eingeliefert ist.
87.
1. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
schaftliche Mittheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer Ausführung, in
deutscher Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2. Wenn der Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
Die Akademie versendet ihre »Sitzungsberichte« an diejenigen Stellen,
|
|
öffentlichen beabsichtigt, als ihm dies nach den gelten-
den Rechtsregeln zusteht, so bedarf er dazu der Ein-
willigung der Gesammt- Akademie oder der betreffenden
Classe.
$8.
5. Auswärts werden Correcturen nur auf besonderes
Verlangen verschickt. Die Verfasser verzichten damit
auf Erscheinen ihrer Mittheilungen nach acht Tagen.
$s 11. ;
1. Der Verfasser einer unter den » Wissenschaftlichen
Mittheilungen« abgedruckten Arbeit erhält unentgeltlich
fünfzig Sonderabdrücke mit einem Umschlag, auf welchem
der Kopf der Sitzungsberichte mit Jahreszahl, Stück-
nummer, Tag und Kategorie der Sitzung, darunter der
Titel der Mittheilung und der Name des Verfassers stehen.
2. Bei Mittheilungen, die mit dem Kopf der Sitzungs-
berichte und einem angemessenen Titel nicht über zwei
Seiten füllen, fällt in der Regel der Umschlag fort.
3. Einem Verfasser, welcher Mitglied der Akademie
ist, steht es frei, auf Kosten der Akademie weitere gleiche
Sonderabdrücke bis zur Zahl von noch hundert, und
auf seine Kosten noch weitere bis zur Zahl von zwei-
hundert (im ganzen also 350) zu unentgeltlicher Ver-
theilung abziehen zu lassen, sofern er diess rechtzeitig
dem redigirenden Secretar angezeigt hat; wünscht er auf
seine Kosten noch mehr Abdrücke zur Vertheilung zu
erhalten, so bedarf es der Genehmigung der Gesammt-
Akademie oder der betreffenden Classe. — Nichtmitglieder
erhalten 50 Freiexemplare und dürfen nach rechtzeitiger
Anzeige bei dem redigirenden Secretar weitere 200 Exem-
plare auf ihre Kosten abziehen lassen. e ;
$ 28.
1. Jede zur Aufnahme in die Sitzungsberichte be-
stimmte Mittheilung muss in einer akademischen Sitzung
vorgelegt werden. Abwesende Mitglieder, sowie alle
Nichtmitglieder, haben hierzu die Vermittelung eines ihrem
Fache angehörenden ordentlichen Mitgliedes zu benutzen.
Wenn schriftliche Einsendungen auswärtiger oder corre-
spondirender Mitglieder direet bei der Akademie oder bei
einer der Classen eingehen, so hat sie der vorsitzende
Secretar selber oder durch ein anderes Mitglied zum
Vortrage zu bringen. Mittheilungen, deren Verfasser der
Akademie nicht angehören, hat er einem zunächst geeignet
scheinenden Mitgliede zu überweisen. ER
[Aus Stat. $ 41, 2. — Für die Aufnahme bedarf es
einer ausdrücklichen Genehmigung der Akademie oder
einer der Classen. Ein darauf gerichteter Antrag kann,
sobald das Manuscript druckfertig vorliegt,
‚gestellt und sogleich zur Abstimmung gebracht werden.]
$ 29.
l. Der redigirende Secretar ist für den Inhalt des
geschäftlichen Theils der Sitzungsberichte, jedoch nicht
für die darin aufgenommenen kurzen Inhaltsangaben der
gelesenen Abhandlungen verantwortlich. Für diese wie
für alle übrigen Theile der Sitzungsberichte sind
nach jeder Richtung nur die Verfasser verant-
wortlich, s “
mit denen sie im Schriftverkehr. steht,
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinbart wird, jährlich drei Mal, nämlich:
die Stücke von Januar bis April in der ersten Hälfte des Monats Mai,
Mai bis Juli in der ersten Hälfte des Monats August, j 5 .
» October bis December zu Anfang des nächsten Jahres nach Fertigstellung des Registers..
575
SEEZUNGSBERICHETE 9%
xXVvn.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
24. März. Sitzung der philosophisch-historischen lasse.
. &
Vorsitzender Secretar: Hr. Dıers.
l. Hr. Kekure von Stravonırz las über den Apoll des Kana-
ehos. (Ersch. später.)
Ein bei den von den Königlichen Museen unternommenen Ausgrabungen in Milet
1903 gefundenes spätrömisches Relief zeigt die Figur eines Apoll, die auf rohe Weise
den Apoll des Kanachos wiedergiebt. Dies gab dem Vortragenden den Anlass, die
Kunststufe und die Eigenart des Kanachos zu erörtern.
2. Der Vorsitzende legte vor: Corpus Inseriptionum Latinarum.
Vols. VIII suppl. Pars III. Inseriptionum Mauretaniae latinarum, milia-
riorum et instrumenti domestiei in provineiis Africanis repertorum supple-
mentum ed. I. Scumor (7), R. Cacnat, H. Dessau. Berolini, G. Reimer,
1904.
Ausgegeben am 7. April.
Sitzungsberichte 1904, 46
575
SETZUNGSBERICHTE 19°
xXVvin.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
24. März. Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe.
Vorsitzender Secretar: Hr. Auwers.
l. Hr. Fischer legte eine gemeinschaftlich mit Hrn. Franz WREDE
ausgeführte Untersuchung über die Verbrennungswärme einiger
organischer Verbindungen vor. (Ersch. später.)
Um eine grössere Genauigkeit in der Aichung der calorimetrischen Bombe Ber-
THELOT'S zu erzielen, haben die Verfasser durch Vermittelung des Hrn. KostrAusch
die HH. Prof. JAEGER und Dr. vox StreınwEHr veranlasst, in der Physikalisch- Tech-
nischen Reichsanstalt ein neues elektrisches Verfahren für diesen Zweck auszuarbeiten,
Mit einem derartig geaichten Instrument sind die Verbrennungswärmen von 35 orga-
nischen Verbindungen bestimmt worden. An der Hand der Resultate wird u.a. der
thermische Effect der Polypeptid-Bildung und der conjugirten Doppelbindung be-
sprochen.
2. Hr. van'r Horr machte eine weitere Mittheilung über die
Bildungsverhältnisse der oceanischen Salzablagerungen:
XXXV. Die Zusammensetzung der constanten Lösungen bei 83°.
Gemeinschaftlich mit HH. Sacas und Brac#k wurden die zwanzig Lösungen con-
stanter Zusammensetzung, die bei 83° den Krystallisationsgang beherrschen, quantitativ
untersucht.
3. Hr. KoEni@sBERGER übersendet: Hydrodynamische Unter-
suchungen, aus dem Nachlass von H. vov HELMHOLTZ zusammenge-
stellt durch Prof. W. Wırn in Würzburg. (Ersch. später.)
Prof. Wırv hat unter den Herunorrz’schen Papieren eine fast druckfertige Ab-
handlung »über Wasserwogen« gefunden, ferner zwei unabgeschlossene, aber ohne
Schwierigkeit zum Abschluss zu bringende Aufsätze über die Bewegung compressibeler
Flüssigkeiten, bei denen Symmetrie um eine Axe herrscht, und eine nur angefangene
Untersuchung über das Verhalten spiralig sich aufrollender Wirbel,
46*
576 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 24. März 1904.
Untersuchungen über die Bildungsverhältnisse
der ozeanischen Salzablagerungen.
XXXV. Die Zusammensetzung der konstanten Lösungen
bei 83°.
Von J. H. van’r Horr, H. Sıacas und ©. Bıacn.
Die. bei 83° möglichen Lösungen von konstanter Zusammensetzung,
welche den Krystallisationsgang beherrschen, und deren Tension früher
bestimmt wurde', sind nunmehr der Zusammensetzung nach unter-
sucht. Die Arbeitsweise entsprach der schon früher beschriebenen:
eine Lösung also, die auf Grund vorliegender Daten von der ge-
wünschten Sättigung nicht weit entfernt ist, wurde mit den gepulver-
ten Bodenkörpern bei 83° bis zur Chlorkonstanz gerührt, dann fand
ein neuer Zusatz dieser Bodenkörper statt, bis der Chlorgehalt der
Lösung, nach Rühren, ungeändert blieb, und nun überzeugte man sich,
daß die filtrierte Lösung wohlausgebildete Proben der Bodenkörper
ungeändert läßt. Neu hinzugezogen wurde noch die mikroskopische
Untersuchung des nach Rühren ungelöst gebliebenen Bodensatzes und,
nach Analyse, die Berechnung, welche (bei Bekanntheit der genom-
menen Mengen sowie der Zusammensetzung von Anfang- und End-
lösung) zeigt, ob irgend ein Bodenkörper ausgegangen ist.
I. Die an Magnesiumchlorid gesättigten Lösungen.
Vier von den zu untersuchenden Lösungen sind an Magnesium-
chlorid gesättigt; daneben, in den respektiven Fällen, an Chlornatrium
allein (A), an Chlornatrium und Carnallit (D) oder Kieserit (L), schließlich
an allen vier Bestandtteilen (Z). Praktisch sind diese Lösungen nicht viel
anderes als gesättigte Lösungen von Magnesiumchlorid, da Chlornatrium,
Chlorkalium und Magnesiumsulfat darin fast unlöslich sind. Bei Fest-
stellung der Zusammensetzung dieser Lösungen sind deshalb nicht
! Diese Sitzungsberichte 1904, 518.
van'r Horr: Öceanische Salzablagerungen. XXXV. 577
einfach die vier Analysenresultate ohne weiteres als Grundlage ge-
nommen, da winzige unvermeidliche Abweichungen dann leicht das
Gesamtbild entstellen. Vielmehr ist das Hauptgewicht gelegt auf die
einzige für die Krystallisationsverhältnisse in Betracht kommende
Lösung im Endpunkt Z (bei gleichzeitiger Sättigung an Magnesium-
chlorid, Kieserit, Chlornatrium und Carnallit) um daran, an Hand
einer nachher zu erwähnenden Regel, die anderen Lösungen anzu-
knüpfen.
Die Z-Lösung wurde erhalten durch mehrtägiges Rühren bei 33°
einer gesättigten Magnesiumchloridlösung mit den vier erwähnten
Bodenkörpern bis zur Chlorkonstanz. Zu beachten ist hier wie bei
den folgenden Bestimmungen, bei denen Kieserit eine Rolle spielt,
daß ein durch Entwässern von Bittersalz erhaltenes Monohydrat lös-
licher ist als Kieserit und sich die Lösung unter Abgabe von Mag-
nesiumsulfat erst sehr allmählich auf Kieseritsättigung einstellt; viel
schneller führt dementsprechend ein natürlicher Kieserit zum Ziel.
Die Analyse ergab:
28.51 Prozent Cl 0.36 ProzentSO, 0.54 ProzentK 9.65 Prozent Mg
entsprechend:
1000H,0 119.101, 1.180, 2K, 117.3Mg0.9Na,
abgerundet:
1000H,0 ıNa,Cl, 2K,CL, 116 MgCl, ıMgSO, (Z) (Bıacn).
Die indirekte Natriumbestimmung ist, bei so kleinen Mengen,
unsicher und würde durch eine direkte ersetzt sein, falls nicht ander-
weitig der erhaltene Wert sich als richtig gezeigt hätte. Einerseits
ergeben die bei 25° gemachten direkten Bestimmungen bei Sättigung
an Magnesiumchlorid auf 1000H,0 neben ı0o0oMgCl, im Mittel eben-
falls ıNa,Cl,: andererseits führte eine früher aus besonderen Gründen
bei 61°5 ausgeführte direkte Natriumbestimmung zum selben Natrium-
wert (1000H,0 ı.2 Na,C1, 0.5K,CL, 110.8MgCl, ıMgSO,).
Die Zusammensetzung der drei anderen Lösungen, welche an Mag-
nesium- und Natriumehlorid, dabei bzw. an Carnallit oder an Kieserit
gesättigt sind, schließlich die an Magnesiumchlorid allein gesättigte
läßt sich aus derjenigen von Z ableiten unter Annahme einer äqui-
molekularen Verdrängung, einer in derartigen Fällen vielfach bestätig-
ten Regel.
Daraus ergibt sich:
L. Sättigung an Chlornatrium, Magnesiumchlorid und Kieserit:
1000H,0 ıNa,Cl, 120MgQ], ıMgSO,.
578 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 24. März 1904.
D. Sättigung an Chlornatrium, Magnesiumchlorid und Carnallit:
1000H,0 ıNa,Cl, 2K,Cl, 117MgC1..
A. Sättigung an Chlornatrium und Magnesiumchlorid:
1000H,0 ıNa,Cl, 121MgCl..
Sättigung an Magnesiumchlorid:
1000H,0 123MgCl..
Diese Zahlen deeken sich übrigens mit den direkten Bestimmun-
gen, auch für Magnesiumchlorid allein, nur daß kleine Schwankungen
sich zeigen, was kaum anders zu erwarten ist. Gefunden wurde:
L. 1000H,0 0.6Na,Cl, 121MgCl,0.9MgSO, (Sachs).
D. 1000H,0 1.8Na,Cl, 112.6 MgQl, 1.7K,Cl, (Sacns).
A. 1000H,0 oNa,Cl, 117.1MgCl, (Sacas).
1000H,0 124MgCL; (80°).
II. Die Umrandung des Sättigungsfeldes.
(Gemeinschaftlich mit Sacas).
Bei Untersuchung der übrigen 8 Lösungen B, C und Ebis X am
Rande des Sättigungsfelds sind die leichteren Fälle zuerst genommen.
Es sind das die sogenannten kongruenten Lösungen’, deren Zusammen-
setzung der Summe von Wasser und Bodenkörpern entspricht, also die
an Chlornatrium und bzw. Chlormagnesium, Chlorkalium und Natrium-
sulfat gesättigten mit zwei Bodenkörpern und die in den zwischen-
liegenden Endpunkten D, F und Z mit drei. Von ersteren ist schon
die verhältnismäßig schwierigste (A) bei Sättigung an Magnesium-
chlorid erwähnt; die leichteste ist diejenige (©) bei Sättigung an
Natriumsulfat, weil deren Zusammensetzung sich mit der Temperatur
wenig ändert und übrigens eine bezügliche Bestimmung vorliegt.
ı. Sättigung an Natriumchlorid und Natriumsulfat (C).
Ausgegangen wurde von 143° (entsprechend 100° H,O?) der bei
25° gesättigten Lösung:
1000H,0 51Na,Cl, 12.5 Na,SO,
und im ganzen wurden 17° NaCl und 15° Na,SO, zugesetzt.
! Diese Sitzungsberichte 1897. 74.
? MEyERHOFFER, Sitzungsber. d. kaiserl. Akad. der Wiss. in Wien, 1895, 849.
® Diese Menge ist von Hrn. Sacns durchweg benutzt zur Vereinfachung der
Sättigungsbrechung.
van'r Horr: Oceanische Salzablagerungen. XNXXV. 579
Die Analyse ergab:
15.58 Prozent Cl 3.04 Prozent SO,,
entsprechend:
1000H,0 56.7 C1, 8.2SO, 64.9 Na,,
abgerundet:
1000H,0 56.5 Na,Cl, 8Na,SO,.
Dieses Resultat entspricht den Bestimmungen von KurnAkorr',
nach denen der Wert für 83° folgender ist:
1000H,0 55.6Na,Cl, 8.6 Na,SO,.
Für diesen ersten Fall sei beispielsweise die Berechnung der übrig-
gebliebenen Bodenkörper durchgeführt, an der Hand der Gleichung:
5.55 H,0+0.86 NaCl + 0.18Na,SO,
= xv(1000H,0 56.7 01,8.2SO, 64.9 Na,) + yNaCl + zNa,SO,.
Die Bedingung ist offenbar, daß y und z positiv und nicht all-
zuweit von Null entfernt sind. Im gegebenen Fall sind y und z bzw.
0.23 und 0.13, was aussagt, daß so viele Grammoleküle, d.h. 13°
Chlornatrium und 18° Natriumsulfat ungelöst blieben.
2. Sättigung an Natrium- und Kaliumchlorid (DB).
Ausgegangen wurde von der bei 25° gesättigten Lösung:
1000H,0 44.5Na,Cl, 19.5K,Cl,
und im ganzen wurden 11° NaCl und 19° KÜl zugesetzt.
Die Analyse ergab:
19.21 Prozent Cl 10.35 Prozent K,
entsprechend:
1000H,0 76.20], 37.2K, 39 Na,
abgerundet:
1000H,0 39Na,0Cl, 37K,Cl,
3. Sättigung an Chlornatrium, Chlorkalium und Glaserit (F).
Ausgegangen wurde von der bei 25° gesättigten Lösung:
1000H,044Na,0l, 20oK,0], 4.5 Na,SO,
und im ganzen wurden 11° NaCl, 13° KCl und 20° Glaserit zugesetzt.
Die Analyse ergab:
19.1 ProzentÜl 1.45 Prozent SO, 10.45 Prozent K
! Chem. Centralblatt 1902, I, 1127.
® Precmr fand 1000H;0 40.5 Na,Cl, 37.3 K.Cl,;, (Comev, Dictionary of Solu-
bilities, 337)-
580 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 24. März 1904.
entsprechend:
1000H,0 78.201,4.4S0, 38.8K, 43.8Na,.
1000H,0 39.5 Na,Ul, 39K,C], 4.5 Na,SO,.
4. Sättigung an Chlornatrium, Glaserit und Natriumsulfat (G).
Ausgegangen wurde von der bei 25° gesättigten Lösung:
1000H,0 44Na,0], 10.5K,Cl, 14.5 Na,SO,
und im ganzen wurden 21° NaCl, 38° Na,SO, und 50° Glaserit zugefügt.
Die Analyse ergab:
16.47 Prozent Cl 3.9 Prozent SO, 5.96 ProzentK,
entsprechend:
1000H,0 64.801, 11.3SO, 21.2K, 54.9Na,,
abgerundet:
1000H,0 43.5 Na,Cl, 2ıK,Cl, 11.5 Na,SO, (nach 46 Stunden).
5. Sättigung an Natriumchlorid, Vanthoffit und Natrium-
sulfat (H).
Ausgegangen wurde von einer Lösung:
1000H,0 46Na,Cl, 16.5MgSO, 3Na,SO, (H bei 25°).
Die schließliche Zusammensetzung:
51.2 Na,0l, 4.6MgCl, 11.4MgSO,
legte die Vermutung nahe, daß ungenügend Bodenkörper vorhanden
waren. Deshalb wurde nunmehr diese Lösung zum Ausgang gewählt
und je 25° der drei Bodenkörper zugesetzt.
Die Analyse ergab:
15.33 Prozent Cl 3.89 Prozent SO, 1.4 ProzentMg,
entsprechend:
1000H,0 55.5 Cl, 10.4SO, 14.8Mg 51.1Na,,
abgerundet:
1000H,0 51Na,Cl, 4.5 MgCl, 10.5MgSO, (nach 36 Stunden).
6. Sättigung an Natriumchlorid, Vanthoffit und Loeweit (I).
Ausgegangen wurde von einer Lösung:
1000H,0 26Na,Cl, 7MgCl, 34MgSO, (I bei 25°).
van'r Horr: Oceanische Salzablagerungen. XXXV. 581
Die schließliche Zusammensetzung:
1000H,0 32.7Na,0l, 23.6MgQl, 15MgSO,
legte die Vermutung nahe, dal ungenügend Bodenkörper vorhanden
waren. Deshalb ist nunmehr diese Lösung zum Ausgang gewählt und
wurden je 25°” der drei Bodenkörper zugesetzt.
Die Analyse ergab:
15.77 ProzentCl 4.72 ProzentSO, 3.27 ProzentMg,
entsprechend:
1000H,0 57.2Cl, 12.6SO, 34.6Mg 35.2Na,,
abgerundet:
1000H,0 35 Na,Cl, 22MgÜl, 12,5MgSO, (nach 50 Stunden).
7. Sättigung an Chlornatrium, Kieserit und Loeweit (K).'
Ausgegangen wurde von einer Lösung:
1000H,0 2.5 Na,0l, 79MgC], 9.5MgSO, (K bei 25°)
und insgesamt wurden 35° NaCl, 30° Kieserit und 30° Loeweit zugesetzt.
Die Analyse ergab:
20.13 Prozent Ül 2.07 ProzentSO, 6.28 Prozent Mg,
entsprechend:
1000H,0 73.80], 5.680, 67Mg 12.4 Na,,
abgerundet:
1000H,0 12.5 Na,Cl, 61.5 MgQl, 5.5MgSO, (nach 40 Stunden).
8. Sättigung an Chlornatrium, Chlorkalium und Garnallit (E).
Ausgegangen wurde von der entsprechenden Lösung bei 25°:
1000H,0 2Na,0l, 5.5K,Cl, 70.5 MgCl,
und insgesamt wurden 30° NaCl, 40° KCl und 50° Carnallit zugesetzt.
Die Analyse ergab:
25.72 ProzentÜl 7.87 ProzentMg 2.76 ProzentK,
! Durch Versuche (mit Hrn. Denıson) wurde festgestellt, daß zwischen Kieserit und
Loeweit bei 83° kein magnesiumreicheres Sulfat, etwa Natriumlangbeinit Mg, Na, (SO,)-;,
existiert.
? Die Sättigungsberechnung zeigt, daß der Loeweit ausgegangen ist.
582 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 24. März 1904.
entsprechend:
1000H,0 103.201, 91.9Mg ı0K, ı.3Na,,
abgerundet:
1000H,0 1.5Na,0l, 10K,Cl, 92MgCl], (nach 35 Stunden).
III. Die übrigen konstanten Lösungen.
(Gemeinschaftlich mit Bıacn.)
Bevor die Untersuchung der sieben Lösungen, um die es sich
handelt, in Angriff genommen wurde, ist, um den Anschluß an den
vorhergehenden zu sichern, eine Wiederholung der Sättigungsbe-
stimmung für Chlornatrium und Natriumsulfat vorgenommen, mit dem
Ergebnis:
1000H,0 55.9Na,CL, 8.4Na, SO, ,
was mit dem früheren Befund übereinstimmt.
ı. Sättigung an Öhlornatrium, Carnallit, Kieserit und
Chlorkalium (Q).
Ausgegangen wurde von 100° einer Lösung:
1000H,0 ıNa,Cl, 1 3K,Cl, 86.5MgCl,
und insgesamt wurden 15° Chlornatrium, 60° Chlorkalium, 55° Car-
nallit und 30° Kieserit zugegeben. Wohl weil letzteres ein teilweise
entwässertes Magnesiumsulfat war, nahm die Einstellung längere Zeit
in Anspruch.
Die Analyse ergab:
24.84 ProzentCl 1.58 ProzentSO, 3.22 ProzentK 7.7Prozent Mg,
entsprechend:
1000H,0 100.601, 4.3SO, 11.9K, 91.4Mg 2.ıNa,,
abgerundet:
1000H,0 2Na,0l, 12K,Cl, 86.5MgCl, 5MgSO, (nach 500 St.).
2. Sättigung an Chlornatrium, Chlorkalium, Kieserit und
Langbeinit (R).
Eine erste Bestimmung, bei der die Rechnung Zweifel über die
genügende Anwesenheit der Bodenkörper veranlaßte, ergab:
1000H,0 7.5 Na,0l, 13 K,01, 73.5 MgCl, 4.5 MgSO..
83
oa
van'r Horr: ÖOceanische Salzablagerungen. XNXXV.
Von dieser Lösung wurden dann 100° genommen und insge-
samt 25° Chlornatrium, 25° Chlorkalium, 40° Kieserit und 25° Lang-
beinit zugesetzt.
Die Analyse ergab:
24.64 ProzentCl 1.65 ProzentSO, 4 ProzentK 6.7 1 Prozent Mg,
entsprechend:
1000H,0 102.201,5S0O, ı5K,SıMg ıı1.2Na,
abgerundet:
1000H,0 ı ıNa,Cl, 15K,CL, 76MgCl, 5MgSO, (nach 300 St).
3. Sättigung an Chlornatrium, Kieserit, Loeweit und
Langbeinit (Y).
Ausgegangen wurde von 100° einer Lösung:
1000H,0 10.5 Na,Cl, 6.5 K,Cl, 24.5 MgC1,4.5MgSO,
und insgesamt wurden 35° Chlornatrium, 35° Kieserit, 30° Lang-
beinit und 35° Loeweit zugesetzt.
Die Analyse ergab:
17.9 ProzentCl 4.98 Prozent SO, 2.97 ProzentK 5.02 Prozent Mg,
entsprechend:
1000H,0 68.2Cl, 14SO, 55.9Mg 10.3K, ı6Na,.
abgerundet:
1000 H,0 16Na,Cl, 10.5K,C1,42MgÜl, 14MgSO, (nach 400 St.).
4. Sättigung an Chlornatrium, Chlorkalium, Glaserit und
Langbeinit (P).
Ausgegangen wurde von 100° einer Lösung:
1000H,0 3 1Na,Cl, 3ıK,Cl, 15 MgCl, 5MgSO,
und insgesamt wurden je 30° der vier Bodenkörper zugesetzt.
Die Analyse ergab:
18.72 ProzentÜl 3.28 ProzentSO, 9.11 ProzentK 1.92 Prozent Mg,
entsprechend:
1000H,0 76.2C1, 9.980, 33.6K, 22.8Mg 29.7 Na,,
abgerundet:
1000H,0 29.5 Na,Cl, 33.5K,CL, 13MgCl, 10MgSO, (nach 240 St.).
584 Sitzung der physikalisch -mathematischen Classe vom 24. März 1904.
5. Sättigung an Chlornatrium, Glaserit, Thenardit
und Vanthoffit (S).
Es wurde ausgegangen von 100° einer Lösung:
1000H,0 43 Na,Cl, 2ıK,Cl, ıMgC], 14MgSO,
und insgesamt wurden je 25° der vier Bodenkörper zugesetzt.
Die Analyse ergab:
16.5 ProzentCl 4.41 ProzentSO, 6.23 Prozent K 0.66 Prozent Mg,
entsprechend:
1000H,0 65.201, 12.980, 22.3K, 7.6Mg 48.2Na,,
abgerundet:
1000H,0 43 Na,Cl, 22.5K,Cl,7.5MgSO, 5.5Na,SO, (nach 140 St.).
6. Sättigung an Chlornatrium, Loeweit, Glaserit und
Langbeinit (W).
Die beiden noch zu untersuchenden Lösungen W und V (Vant-
hoffit statt Langbeinit) boten eine besondere Schwierigkeit, da de-
ren Zusammensetzung wenig auseinandergeht, was auch schon die
Tensionsbestimmung (bzw. 270"”" und 276”" bei W und V) vermuten
ließ. Dementsprechend wäre fraglich, ob, wie angenommen, Loeweit
und Glaserit nebeneinander vorhanden sein können, während Vant-
hoffit und Langbeinit sich gegenseitig ausschließen, oder umgekehrt.
Nach Einstellung der Lösung W ist deshalb der ungelöst gebliebene
Teil mikroskopisch auf Loeweit und Glaserit untersucht, welche beiden
sich vorhanden zeigten, auch Langbeinit war als regulär leicht durch
die Polarisationsvorrichtung erkennbar.
Ausgegangen wurde von IOOo® einer Lösung:
1000H,0 3 1 Na,Cl, 20.5 K,Cl, 13.5 MgCl, 15.5MgSO,,
welche als Ergebnis eines vorangehenden Versuchs erhalten wurde,
bei dem die Sättigungsberechnung Zweifel über genügende Anwesen-
heit der Bodenkörper veranlaßte. Insgesamt wurden dann je 15° der
vier Bodenkörper zugesetzt.
Die Analyse ergab:
16.63 Prozent Cl 5.58 ProzentSO, 6.73 ProzentK 2.45 Prozent Mg,
entsprechend:
1000H,0 66.31, 16.4SO, 24.3K, 27.5 Mg 29.9Na,,
abgerundet:
1000H,0 30Na,0l, 24.5K,Cl, 12MgCl, 16.5MgSO, (nach 100 S$t.).
van'r Horr: Öceanische Salzablagerungen. XXXV. 585
7. Sättigung an Ohlornatrium, Loeweit, Glaserit und
Vanthoffit (V).
Ausgegangen wurde von 100° einer Lösung:
1000H,0 3 ı Na,(], 20.5 K,Cl, 13.5 MgÜl, 15.5 MgSO,
und insgesamt wurden je 25° der vier Bodenkörper zugesetzt.
Die Analyse ergab:
17.09 ProzentÜl 5.79 ProzentSO, 7.13 Prozent K 2.2 Prozent Mg,
entsprechend:
1000H,0 69.80], 17.450, 26.4K, 26.1 Mg 34.7 Na,,
abgerundet:
1000H,0 34.5 Na,Cl, 26.5K,01,8.5MgCl, 17.5MgSO, (nach 48 St.)
Mikroskopisch ließ sich Loeweit erkennen, während Vanthoffit als lang-
sam sich lösender Körper durch Wasser abtrennbar war.
IV. Zusammenstellung und graphische Darstellung der Resultate.
Die obigen Bestimmungen seien zunächst tabellarisch angeordnet:
auf 1000 Mol. H,O, in Molekülen
Sättigung an Chlornatrium und Na,0l, R,Cl, MgCl, MgSO, Na,S0,
0. 59
A. MgCl, .6H,O I 121
B. KCl 39 37
C. Na,SO, 56.5 8
D. MgCl,.6H,0, Carnallit I 2 117
E. KCl, Carnallit 1.5 10 2
F. KCl, Glaserit 39-5 39 4-5
G. Na,SO,, Glaserit 43-5 21 11.5
H. Na,SO,, Vanthoffit 5I AS 10.5
I. Vantlhoffit, Loeweit 35 22 12.5
K. Loeweit, Kieserit 12.5 61.5 5.5
L. Kieserit, MgO]l, .6H,O I 120 I
P. KCl, Glaserit, Langbeinit 29.5 33:5 13 10
Q. KCl, Carnallit, Kieserit 2 12 86.5 5
R. KCl, Langbeinit, Kieserit I 15 76 5
S. Glaserit, Na,SO,, Vanthoffit 43 22.5 as 5.5
V. Loeweit, Glaserit, Vanthoffit 34-5 26.5 8.5 17-5
W. Loeweit, Glaserit, Langbeinit 30 24-5 12 16.5
Y. Loeweit, Kieserit, Langbeinit 16 10.5 42 14
2. Carnallit, MgCl, .6H,O, Kieserit I 2 116 I
Sämtliche Daten sind in der früher angegebenen Weise in um-
stehende Figur eingetragen', in der OA, OB und OC den Achsen für
bzw. Magnesiumchlorid, Kaliumehlorid und Natriumsulfat darstellen.
Die Felder entsprechen der Sättigung an Chlornatrium und folgenden
Körpern:
" Entsprechend der Bemerkung auf S. 581 liegt K wahrscheinlich etwas näher an I.
586 Sitzung der physikalisch -mathematischen Classe vom 24. März 1904.
L$
A(Myeı,)
D
(Na; S0,) C
Feld Formel Mineralogische Bezeichnung
ı. ALZD MeOCl, .6H,O Bischofit
2. BFPRQE KCl Sylvin
3. CGSH Na,SO, Thenardit
4. DZQE MeCl,K..6H,O Carnallit
5. FPWVSG (K, Na), SO, Glaserit
6. HSVI MeNa,(SO,), Vanthoffit
7. IYWYK Ms, Na,(SO,),. 5H,0 Loeweit
8. KYRQZL MeSO,. H,O Rieserit
9. WPRY Ms RK;(SO,); Langbeinit
Dann ist in der Figur auch der Krystallisationsgang in großen
Zügen ersichtlich: der Krystallisationsendpunkt liegt in Z, in welehem
Punkt die Krystallisationsbahnen DZ, LZ und FZ zusammentreffen.
587
Über Reduktionsteilung.
Von EDUARD STRASBURGER.
(Vorgetragen am 10. März [s. oben S. 495].)
De: Beantwortung der Frage, ob der Beginn einer neuen Generation
im Tier- wie im Pflanzenreiche durch eine »Reduktionsteilung« ein-
geleitet werde, ist noch fortdauernden Schwankungen unterworfen.
Bald steigt die Welle zugunsten einer zweimaligen Längsspaltung auf,
bald sinkt sie wieder, um einer Reduktionswelle Platz zu machen.
Im ganzen wird dieser Wechsel bestimmt durch die theoretischen
Anschauungen, welche in dem gegebenen Augenblick vorherrschen.
Denn im Tier- wie im Pfilanzenreiche ist die Sicherstellung und Deu-
tung der Tatsachen auf diesem Gebiete auf besondere Schwierigkeiten
gestoßen. So kommt es, daß gerade jene, welche sich am eingehend-
sten mit der Lösung dieses Problems befaßt haben, nicht selten in
ihrer Ansicht schwankten. Der Wechsel ihrer Auffassung wurde be-
stimmt durch den fortschreitenden Gang der Erkenntnis, der, mit zu-
nehmender Zahl der erforschten Objekte und mit den veränderten
Methoden der Untersuchung, auch die theoretischen Anschauungen
klärte.
So hat denn auch Boverı, dem wir so viel Förderung auf diesem
Gebiete verdanken, in seiner letzten Publikation, welche die »Ergeb-
nisse über die Konstitution der chromatischen Substanz des Zellkerns«
zusammenstellt und kritisch beleuchtet, seinen frühern Standpunkt!
insofern geändert, als er statt für zwei Längsspaltungen der Chromo-
somen in den primären Oozyten und Spermatozyten der Metazoen,
für eine parallele Kopulation zweier einfach gespaltener Chromosomen
eintritt.” Danach gestaltet sich auch für ihn jetzt der Vorgang dort so,
daß durch den einen der beiden Teilungsschritte eine Trennung ganzer
Chromosomen, also eine Reduktionsteilung, durch den andern eine
Trennung der Längshälften von Chromosomen, also eine gewöhnliche
ı Zellenstudien Heft 3, 1890, S. gff.
? Ergebnisse 1904, S.77.
588 Sitzung der phys.-math. Classe v. 24. März 1904. — Mittheilung v. 10. März.
Mitose sich vollzieht. Bei bestimmten Tieren soll die Reduktion schon
im ersten, bei anderen erst im zweiten Teilungsschritt erfolgen. Diese
Annahme einer Reduktionsteilung läßt sich besser mit der Indivi-
dualitätstheorie der Chromosomen, deren Anhänger Boverı ist, in
Einklang bringen. Denn aus ihr ergibt sich ohne weiteres die halbe
Zahl der Chromosomen in den Geschlechtsprodukten und deren volle
Zahl nach der Befruchtung in den Kernen des Abkömmlings.
Die in den Spermatozyten und ÖOozyten gewisser Krebstiere,
Anneliden und Insekten neuerdings bekannt gewordenen Vorgänge lassen
kaum eine andere Deutung als die einer Reduktionsteilung zu. Gleich-
zeitig regen sie die Annahme einer Verschiedenheit der im Kern ver-
einten Chromosomen an, eine Vorstellung, die Boverı durch sinnreiche
Versuche noch anderweitig zu stützen sucht. In der »Synapsis« der
primären Oozyten- und Spermatozytenkerne vermutet er im Anschluß
an Monrtsonmery und Surrox einen Vorgang, der durch »Zusammen-
ballung« den homologen Chromosomen erleichtert, sich gegenseitig
aufzufinden. Da sollen die Paare sich bilden, deren Komponenten auf
die Tochterzellen verteilt werden. Als solche homologe, in Paaren
vereinte Chromosomen, hätten auch jene zu gelten, die sich bei Mono-
hybriden nach dem Mrsper’schen Gesetz spalten und getrennt in die
Geschlechtsprodukte gelangen.'
Boverı weiß es wohl’, daß der Deutung, die er den in tierischen
primären Oocyten und Spermatocyten sich abspielenden Vorgängen gibt,
die Angaben der Botaniker entgegenstehen. Bei diesen war in der
Tat die Annahme einer doppelten Längsspaltung der Chromosomen
in den Sporenmutterzellen annähernd zur Herrschaft gelangt. Neuer-
dings beginnt sich aber wieder eine entgegengesetzte Bewegung in
verstärktem Maße geltend zu machen, zu deren Auslösung die Arbeiten
auf tierischem Gebiete und das Verhalten der pflanzlichen Bastarde
vornehmlich beigetragen haben.
Beobachtungen, aus welchen bestimmt hervorgehen soll, daß bei
dem ersten Teilungsschritt in Pollenmutterzellen eine Reduktionsteilung
vorliege,. haben J. B. Farmer und J. E. S. Moore ganz vor kurzem in
den Proceedings of the Royal Society veröffentlicht”; theoretische
Erwägungen, die zu einem ähnlichen Ergebnis führen, stellt J. P. Lortsy
im letzten Heft der Flora vom 6. Februar d.J. an."
Boverı, Ergebnisse 1904, S. 114.
ar 0 IS:
> Bd.72, 1903, S. 104. Soeben (24. Februar 1904) folgt die gleiche Angabe für
die Sporenmutterzellen der Farne, ebenfalls in den Proceedings Bd.73, 1904, S. 86
durch R. P. GrEcorr.
* 1904, Bd. 93, S. 65.
SrRASBURGER: Über Reductionstheilung. 589
Besonders ausgedehnt ist die zoologische Literatur, die für uns in
Betracht kommt. Da sie soeben in Boverıs »Ergebnissen« eine sach-
gemäße Zusammenstellung gefunden hat, so will ich im wesentlichen
hier auf Boverı verweisen. Damit sollen die Verdienste jener Forscher,
wie BuErscHLi, FLEnmInG, WEISMmAnN und seiner Schüler, E. van BENEDEN,
Gebrüder Herrwıs, WALDEyER, E. B. Wırson, auf deren Arbeiten ich
nicht verweise, in keiner Beziehung geschmälert werden. Auf pflanz-
lichem Gebiete will ich andererseits meine Zitate auf die allerletzten
Veröffentlichungen beschränken.
Aus letzteren greife ich vorerst eine von Lorsy gewählte Bezeich-
nung heraus, die mir zweckentsprechend scheint und die manche Wieder-
holung überflüssig macht. Lorsv schlägt vor, primäre Spermatozyten
und Oozyten, sowie Sporenmutterzellen gemeinsam Nachkommenbild-
ner, »Gonotokonten«, ihre Teilungsprodukte somit »Gonen« zu nennen,
was im folgenden geschehen soll.
In ihrer eben angeführten vorläufigen Mitteilung bestätigen Farmer
und MoorE zunächst die übereinstimmend behauptete Tatsache, daß
in den Prophasen der heterotypischen Teilung der Gonotokonten der
Kernfaden eine Längsspaltung erfährt. Während der darauf folgenden
Zusammenziehung des Spirems sollen die Spaltungsprodukte sich pa-
rallel stellen und mehr oder weniger vollständig verschmelzen. Das,
was man bisher für die Längshälften der Chromosomen hielt, seien
in Wirklichkeit die aneinandergelagerten Schenkel jener Schlingen, die
der Kernfaden in der Prophase beschrieb. An der Umbiegungsstelle
werde eine wahre Schlinge weiterhin durchbrochen und so in zwei
Chromosomen zerlegt, aus denen sie der Anlage nach bestand. Denn
die Schlingen seien als bivalente Chromosomen aufzufassen. Diese bi-
valenten Chromosomen würden alsdann in die Kernspindel so einge-
fügt, daß je eine Hälfte der Schlinge in einen Tochterkern übergehen
müsse. So stelle dieser Teilungsvorgang nicht die Durchführung einer
vorausgehenden Längsspaltung dar, vielmehr die quere Trennung der
beiden Chromosomen, die mit ihren Enden zu einem bivalenten Chro-
mosom von schleifen-, ring- oder stäbchenförmiger Gestalt vereinigt
waren. Die ursprüngliche Längsspaltung, welche der Kernfaden in
den Prophasen zeigte, trete dann meist wieder hervor und liefere
jene Bilder, die als zweite Längsspaltung der Chromosomen gedeutet
worden seien.
Bisher hatte man an pflanzlichen Gonotokonten die Reduktions-
teilung, d. h. eine quere Halbierung der Chromosomen, soweit man
überhaupt für eine solche eintrat, fast allgemein in den zweiten Tei-
! Genau dieselben Angaben wiederholt R. P. Grecorry a. a. 0.
Sitzungsberichte 1904. 47
590 Sitzung der phys.-mathı. Classe v. 24. März 1904. — Mittheilung v. 10. März.
lungsschritt verlegt. So geschah es durch Davım M. Morrier und mich',
durch Beraserr”, durch C. Ismıkawa.”' Davı M. Morrıer und ich’ sahen
bald darauf unser Versehen ein und, so wie die Dinge jetzt stehen, lassen
sich kaum stichhaltige Gründe für eine Reduktionsteilung im zweiten
Teilungsschritt pflanzlicher Gonotokonten noch anführen. Daher der
Satz bei Lorsy: »Es scheint aber bei Pflanzen auch wohl sicherlich der
Fall vorzukommen, daß die erste Teilung nach der numerischen Re-
duktion eine Äquationsteilung, die zweite eine Trennungsteilung ist,
dafür sprechen namentlich BrrAserrs Figuren von Iris« nicht berechtigt
erscheint. Soweit meine Erfahrungen über Sporen-, Pollen- und Em-
bryosackmutterzellen sich erstrecken, folgt in diesen Gebilden stets auf
die numerische Reduktion der Chromosomen eine heterotypische, auf
diese eine homöotypische Teilung. Also, falls wirklich eine Reduk-
tionsteilung in pflanzlichen Gonotokonten stattfindet, muß sie sich ent-
weder in dem ersten oder in dem zweiten, doch für alle Fälle in dem-
selben Teilungsschritt vollziehen.
Für den zweiten Teilungsschritt erscheint mir nunmehr nach dem
jetzigen Stand unseres Wissens die Möglichkeit einer Reduktionsteilung
bei den Metaphyten ausgeschlossen. Auch für den ersten Teilungs-
schritt war ich, übereinstimmend mit Gvienarnp® und GREGOIRE', um
nur diese Forscher zu nennen, zu der Annahme einer Längsspaltung
der Chromosomen gelangt. Die seitdem auf zoologischem Gebiete er-
schienenen Arbeiten, besonders jene von WALTER S. Surron‘, konnten
aber nicht umhin, mich immer wieder zu kritischen Überlegungen an-
zuregen. Schien es doch in der Tat, als wenn auf zoologischem Ge-
biete die Annahme einer Reduktionsteilung immer unabweisbarer werde.
Dann mußte sie aber schlechterdings auch für pflanzliche Gonotokonten
Geltung haben. Zudem waren in den letzten Jahren auf experimen-
tellem Gebiete Tatsachen festgestellt, welche sich vom Standpunkte
der Reduktionsteilung besser begreifen ließen.
t Jahrbücher f. wiss. Bot., Bd. XXX, 1897, S. 200 u. 397.
® Ber. d. Deutsch. Bot. Ges. 1898, S. 33.
® Journal of the College of Science. Imp. Univ. Tokyo, Bd. X, Tt. II, 1897,
S. 2IQ.
4 Auch GeorGeE Francıs Arkınson hatte eine Reduktionsteilung für den zweiten
Teilungsschritt bei Trillium grandiflorum angegeben, zugleich aber für Arisaema triphyllum
diese Reduktionsteilung in den ersten Teilungsschritt verlegt. Bot. Gazette Bd. XXVIII,
1899, 8. 1.
5 Ber. d. Deutsch. Bot. Ges. 1897, S. 327.
Archives d’anatomie microscopique publies par Bausıanı et Ranvier Bd. Il,
1399, P- 455:
” In der Revue »La cellule« Bd. XVI, 1899. p. 235.
$ Bull. ofthe Univ. of Kansas Bd. I, 1900, p.135; Biol. Bull. Bd. IV, 1902, p. 24;
Bd. VI, 1903, p. 231.
STRASBURGER: Über Reductionstheilung. 591
Als ich seinerzeit zu der Überzeugung gelangt war, daß die Be-
fruchtung nicht artenbildend, vielmehr artenerhaltend wirke, konnte
ich mich mit der zweimaligen Längsspaltung der Chromosomen in den
Gonotokonten sehr wohl abfinden; anders, nachdem die Merkmalspal-
tungen in den Gonen der Monohybriden samt allen Folgeerscheinungen
es verlangten, in Einklang mit den Ergebnissen der mikroskopischen
Forschung gebracht zu werden. Zwar suchte ich mich zunächst auch
mit dieser neuen Sachlage abzufinden, indem ich mir vorstellte, dal
die Spaltung vor der numerischen Reduktion der Chromosomen in den
Pollen- und Embryosackmutterzellen sich vollziehe, doch fühlte ich
mit der Zeit immer mehr, daß meine Annahme nur ein Notbehelf sei',
denn sie verlangte, daß alle demselben Mutterkern abstammenden Kerne
mit den gleichen Tendenzen ausgestattet seien, während eine Halbie-
rung der Tendenzen in Wirklichkeit alle Deutungen vereinfachte. Dazu
kam, daß tatsächlich während der numerischen Reduktion der Chro-
mosomen in den Pollen- und Embryosackmutterzellen eine Beseitigung
irgendwelcher Bestandteile des Mutterkerns nicht wahrzunehmen ist.
Der zunehmende Grad von Wahrscheinlichkeit, der für eine Re-
duktionsteilung in den Gonotokonten sich geltend macht, veranlaßte
Lorsv, dieses Problem konstruktiv in dem gleichen Sinne zu behandeln.
Als willkommenen »Beweis« seiner Annahmen begrüßte er die vor-
läufige Mitteilung von J. B. Farmer und J. E. S. Moore, die ihm zu
rechter Zeit eine Bestätigung der Reduktionsteilung auch für das Pflanzen-
reich zu bringen schien. Ob die Farmer-Moorr’sche vorläufige Mit-
teilung auf alle diejenigen, die mit Teilungsvorgängen in pflanzlichen
Gonotokonten sich eingehend befaßt haben, denselben überzeugenden
Eindruck machte, mag dahingestellt bleiben. Das hing davon ab, ob
sie die Behauptung wollten gelten lassen, daß die Doppelfäden beim
ersten Teilungsschritt in den Gonotokonten von Lilium und von an-
deren sich entsprechend verhaltenden Pflanzen das Ergebnis nicht
einer Längsspaltung, sondern einer Faltung seien. Die der vorläufigen
Mitteilung beigefügten Figuren erbringen an sich noch nicht einen
solehen Beweis, ungeachtet sie doch in dieser Absicht ausgewählt sein
mußten. Verglich man mit ihnen die ganze Serie der V. GREGOIRE-
schen Abbildungen für Zilium”, so konnte man leicht zu dem Ergebnis
kommen, dort sei auf Grund ganz entsprechender Figuren ein ent-
gegengesetzter Schluß gezogen worden. Der einzige Unterschied, der
beim Vergleich der FArmer-Moore'schen Figur mit älteren Bildern des-
selben Zustandes auffällt, ist, daß FArmer-Moore alle Fadenpaare als
Biol. Zentralblatt Bd. XX, 1900. S.7069.
Era ON Rare
592 Sitzung der phys.-math. Classe v. 24. März 1904. — Mittheilung v. 10. März.
geschlossene Schleifen darstellt, während GuUIGNArD, GREGOIRE, ich und
andere sie oft mit beiderseits freien Enden zeichneten. Letzteres trifft
auch in Wirklichkeit zu, und mit diesem Umstand war entsprechend
zu rechnen. Daß die Doppelfäden im ersten Teilungsschritt in den
Gonotokonten der Lilien und ihnen ähnlich sich verhaltenden Ge-
wächse einem Faltungsvorgang ihre Entstehung verdanken könnten,
ist auch schon früher in Erwägung gezogen worden. (GUuIGNARD im
"besonderen gibt die Gründe an, die ihn bei Naias major gegen eine
solehe Annahme gestimmt hätten. Man könne, führt er an, ziemlich
häufig feststellen, daß die Enden der Doppelfäden frei seien, außerdem
wäre, falls es sich um einen einzigen, in seiner Mitte umgebogenen
Faden handeln sollte, schwer, die so völlig gleiche Länge der beiden
Schenkel einzusehen.‘ Dementsprechend hatten auch M. A. FArmER
und J. E. S. Moore früher” diese an beiden Enden freien oder zu Schlei-
fen oder Ringen vereinigten Doppelfäden für Produkte der Längs-
spaltung erklärt. Das hindert nicht, daß FArmer-Moore aller Wahr-
scheinlichkeit nach jetzt im Rechte sind, wie denn meine Bemerkungen
nicht den Zweck hatten, den Wert der Ergebnisse, zu denen sie nun-
mehr gelangten, herabzusetzen, vielmehr nur die Schwierigkeiten noch-
mals zu betonen, welche die Forschung auf diesem Gebiete zu über-
winden hatte.
Die Zweifel, welche die Veröffentliehungen der Zoologen immer
wieder in mir weckten, veranlaßten mich fortdauernd nach einem pflanz-
lichen Objekte zu suchen, das zur Lösung der Aufgaben geeigneter
als die früheren sei.
Ein solches Objekt habe ich in den Pollenmutterzellen von Gal-
tonia candicans gefunden.” Von ihm aus ließ sich denn auch das zwar
entsprechende, doch wesentlich verwickeltere Verhalten von Trades-
cantia virginica klarlegen und schließlich auch eine Grundlage für die
Beurteilung des Verhaltens der Lilien und anderweitiger Gewächse
gewinnen. Um den Erörterungen vorzugreifen, welche die FARMER-
Moorr'sche vorläufige Mitteilung alsbald veranlassen dürfte, halte ich
es für geboten, diese kurze Veröffentlichung nicht aufzuschieben. Eine
ausführliche Arbeit, an der die HH. Dr. K. Mıyake und Dr. JAmEs BERTRAM
Overron im hiesigen Institut beteiligt sind, soll ihr folgen.
UENSa202 S. A0T-
?2 Anat. Anzeiger Bd. XI, 1895, S.72.
® Die Gonotokonten dieser Pflanze wurden seinerzeit schon von SCHNIEWIND-
Taıes untersucht (Die Reduktion der Chromosomenzahl und die ihr folgenden Kern-
teilungen in den Embryosackmutterzellen der Angiospermen, 1901, S.ro und Taf.]
und II), doch ergeben sich nicht aus dem Vergleich der Schilderung und den Figuren
die für uns erwünschten Aufschlüsse.
SrRrAsSBURGER: Über Reductionstheilung. 595
Die Gonotokonten von Galtonia candicans weisen nur sechs Kern-
plattenelemente in ihren Spindeln auf. Damit stellen sie sich der
Naias major‘, den Trillien’ und der Zostera marina” zur Seite, die
bis jetzt unter den Phanerogamen den Vorzug genießen, die geringste
Zahl von Chromosomen in ihren Gonotokonten zu führen, da tatsäch-
lich Canna indica nieht drei Chromosomen, wie Wırcann will‘, son-
dern deren acht besitzt. Im lockern Knäuelstadium der als » Mutter-
kerne« allgemein bezeichneten Großmutterkerne der Pollenmutterzellen
(Fig. 1)’, noch während die Windungen des Kernfadens in einem Knoten-
punkte zusammenlaufen, vollzieht sich deren Längsspaltung. Diese
Längsspaltung wird hier nur angedeutet, sie führt nicht zu einer Son-
derung der Schwesterfäden. So wird in den Pollenmutterzellen von
Galtonia von vornherein die weitere Untersuchung erleichtert. Man
stellt fest, daß der Kernfaden dicker und kürzer wird, Zahl und Weite
seiner Windungen vermindert (Fig. 2). Dann teilt er sich in sechs
aufeinander folgende Chromosomen, die ihre Bivalenz dadurch zu er-
kennen geben, daß sie sich sofort nochmals, der Quere nach, in je
zwei gleich lange Stücke durchschnüren (Fig. 3). So entstehen zwölf
! GUIGNARD a.a.0. pP. 477-
2 GroRGE Francıs Arkınson, Bot. Gazette Bd. XXVII, 1899, p.ı und Joun
MerLE CouLrer and CHARLES JAMES ÜHAMBERLAIN, Morph. of Angiosperms, 1903, p.S1.
® Rosengerg, Medd. f. Stockh. Högsk. Bot. Inst. 1901, Sond.-Abdr. S. 1o.
% Bot. Gazette Bd. XXX, S. 25.
5 Alle Figuren ı5oomal vergrößert.
° Ein Teil der Chromosomen lag im nächst tiefern Schnitt.
594 Sitzung der phys.-math. Classe v. 24. März 1904. — Mittheilung v. 10. März.
Chromosomen, deren paarweise Zusammengehörigkeit auch weiterhin
kenntlich bleibt (Fig. 4). Sie folgen mehr oder weniger stark ge-
krümmt der Kernwandung. Einzelne Paare neigen alsbald zusammen
und vermögen es sogar, durch Zusammenfügung ihrer Enden, völlig
geschlossene Ellipsen zu bilden (Fig. 4). Der Nachweis von zwölf,
zu sechs Paaren verbundenen Chromosomen in jeder Kernhöhle ist
hier eine leichte Aufgabe. Die Glieder in den Paaren werden allmäh-
lich kürzer und dieker. Die Zahl jener Paare wächst, deren Glieder
sich der Länge nach aneinandergefügt haben. Nunmehr beginnen
Spindelfasern sich im Umkreis des Kernes zu differenzieren. Alsbald
Fig. 4.
schwindet die Kernwandung, und es werden die Paare von den Spin-
delfasern erfaßt und in die werdende Kernspindel eingereiht (Fig. 5).
Wie der ganze Verlauf der Entwicklung hier mit voller Klarheit lehrt,
besteht somit jedes der sechs Elemente der Kernplatte aus zwei ein-
wertigen, durch quere Teilung eines zweiwertigen Chromosoms her-
vorgegangenen Gliedern. Auch steht es fest, daß die Glieder, die
wir in Paaren vereinigt sehen, in dem Kernfaden aufeinander folgten.
So kann man eine Kernspindel von Gal/tonia mit ungetrübter Freude
betrachten; sie läßt weder in ihrer Entstehung, noch in ihrem fertigen
Aufbau an Klarheit etwas zu wünschen übrig (Fig. 6). Auch ihre Fasern
sind auffallend scharf gezeichnet und nehmen leicht distinkte Färbung
an. Sie setzen zu mehreren an der Polseite eines jeden Paarlings an,
und vereinigen sich in der Nähe der Pole zu je einem stärkern Strang.
SrrAsBURGER: Über Reduetionstheilung. 595
Mit ihren Enden ist die Kernspindel beiderseits an der Hautschicht
der Mutterzelle befestigt. Die beiden Glieder eines jeden Paares werden
dann auseinandergezogen. Sie wandern zunächst als einfache, ent-
weder ganz gerade, oder an ihren Polenden etwas umgebogene Stäb-
chen nach den Polen (Fig. 6). Erst mit Annäherung an diese Pole
wird ein Spalt in den Chromosomen kenntlich, der eine mehr oder
weniger deutliche V-förmige Figur aus ihnen erzeugt und ihre Zu-
sammensetzung aus zwei Längshälften, den Produkten der in den Pro-
phasen angedeuteten, doch nieht durchgeführten Längsspaltung verrät.
Haften die beiden Glieder eines Paares so fest aneinander, daß ihre
Trennung auf Hindernisse stößt und verzögert wird, so kann sich ihre
Zusammensetzung aus zwei Längshälften, durch Auseinanderweichen
dieser, schon in der Nähe des Äquators kenntlich machen (Fig. 7).'
Die geringe Zahl der Chromosomen, die in die Bildung der Tochter-
kerne bei Galtonia eintreten, gestattet es, ihr Schicksal weiter zu ver-
folgen. Zunächst berühren sich die Chromosomen mit ihren Polenden,
trennen sich aber vollständig, sobald die Kernwandung angelegt ist
und sieh die Kernhöhle zu bilden beginnt. Jedes Chromosom fängt an
sich zu strecken und seine freien Äquatorialenden einzuziehen, dabei
erfährt es stellenweise eine Verengung, an anderen Orten eine Aus-
weitung und gewinnt zugleich einen zackigen Umriß. Die angeschwol-
lenen Stellen lassen innere Hohlräume, eine Art Vakuolisierung, er-
kennen. Die freien Enden der Chromosomen legen sich aneinander, oder
! Teile der vordersten Chromosomen durch das Messer entfernt.
596 Sitzung der phys.-math. Classe v. 24. März 1904. — Mittheilung v. 10. März.
sie werden nur durch Linienfäden verbunden; letztere bilden alsbald
auch seitliche Brücken zwischen den Chromosomen. Eine annähernde
Unterscheidung der von den einzelnen Chromosomen eingenommenen
Bezirke bleibt während des ganzen, nur kurzen Ruhezustandes möglich.
Dann stellen sich Veränderungen in den Tochterkernen ein, die
den umgekehrten Verlauf wie in den Anaphasen nehmen, und es son-
dern sich die zuvorigen Chromosomen wieder heraus. — Das weitere
Verhalten der Chromosomen in den Prophasen der Tochterkerne wird
jetzt annähernd übereinstimmend beurteilt, und die Deutung der Vor-
gänge, zu der man sich verständigte, daß nämlich in dem zweiten Tei-
lungsschritt jene Längshälften der Chromosomen von einander getrennt
werden, die der erste Teilungsschritt schon vorbereitet hatte, leuchtet
immer mehr ein. Im Anschluß an die Annahme einer doppelten Längs-
spaltung der Chromosomen bei der heterotypischen Teilung hieß es
aber, daß es die Produkte der zweiten Lägns-
spaltung sind, die sich in der homöotypi-
schen Teilung von einander trennen; jetzt
können es nur die Produkte der ersten
Längsspaltung sein, da diese allein erfolgt.
So dürfte denn die ersehnte Überein-
stimmung der Ergebnisse auf tierischem und
pflanzlichem Gebiete für einen der wichtig-
sten Vorgänge ontogenetischer Entwicklung
angebahnt sein. Es läßt sich annehmen,
daß bei Metazoen und Metaphyten von den
beiden Teilungen der Kerne iu den Gono-
tokonten die eine eine Reduktionsteilung,
die andere eine Äquationsteilung ist. Bei
den Metaphyten vollzieht sich im ersten
Teilungsschritt die Reduktion, im zweiten die Äquation, während
bei Metazoen auch eine umgekehrte Reihenfolge angegeben wird,
ohne, wie mir scheint, endgültig erwiesen zu sein.’ Damit wäre die
vielumstrittene Frage, ob die »Reifungsteilungen« eine Reduktions-
teilung in sich schließen, zugunsten Weısmanns entschieden, der zu-
erst, und zwar 1887, aus theoretischen Gründen für einen solehen Vor-
gang eintrat, wenn er ihn auch, den Kenntnissen der damaligen Zeit
entsprechend, nur unvollkommen auffassen konnte.”
' Vergl. dazu S. 198 der Abhandlung von Var. Hecker, »Bastardierung und
Geschlechtszellenbildung« in den Zool. Jahrb., Suppl. VII, 1904. Diese Abhandlung
gelangt soeben in meine Hände.
2 Über die Zahl der Richtungskörper und über ihre Bedeutung für die Ver-
erbung, S. 42.
Srrasgurser: Über Reductionstheilung. 597
Dementsprechend muß ich ändern, was ich früher als Merkmal
der heterotypischen Teilung angab. Sie beruht nicht auf einer dop-
pelten Längsspaltung der auf ihre halbe Zahl reduzierten Chromosomen,
vielmehr auf der einzigen Längsspaltung dieser zweiwertigen Chromo-
somen, durch welche gleichwertige Schwesterchromosomen für den näch-
sten Teilungsschritt vorbereitet werden, und in einer Querteilung, welche
einwertige Chromosomen schafft. Letztere werden auf die Tochter-
kerne verteilt, in welehen ihre homöotypische Teilung durch Trennung
ihrer beiden Längshälften sich vollzieht.
Soweit als eine geschlechtliche Sonderung in den unteren Abtei-
lungen des Tier- und Pflanzenreiches bereits vollzogen ist, dürften Re-
duktionsteilungen berufen sein, die durch die Befruchtung bedingte
Verdoppelung der chromatischen Elemente auszugleichen. Eine größere
Zahl von Beobachtungen weist bereits auf das Vorhandensein eines sol-
chen Vorgangs auch bei Protozoen und Protophyten hin. Gewisse für
Algen und Diatomeen schon früher erörterte Fälle hat Lorsv in seinem
Reduktionsaufsatz von neuem hervorgehoben.' In einer jetzt veröffent-
lichten, die Tetrasporenbildung bei Diktyotazeen behandelnden Arbeit,
tritt J. Lnovp Wiruıams”, im Anschluß an FArnmer-Moorr, ebenfalls für
eine Reduktionsteilung ein.
Versuchen wir es, den Vorgang, wie er sich für die Pollenmutter-
zellen von Galtonia nunmehr ergab, durch eine jener schematischen
Darstellungen zu veranschaulichen, wie sie auch Lorsv entwirft, so
könnte das in folgender Weise geschehen. An einem etwas abgeflachten
Stabe machen wir die beiden aus seiner Längsspaltung hervorgegan-
genen Hälften durch besondere Schraffierung kenntlich (A); dann unter-
brechen wir den Stab in der Mitte, um seine Querteilung anzudeuten
(b). Das Sichzusammenlegen der beiden kürzer und dieker gewordenen
Querhälften vergegenwärtigen wir uns durch eine dritte Figur (C). An
der Kernspindel werden dann die beiden Querhälften wie folgt (D)
auseinander gezogen. In den Tochterkernen sondern sich nach Voll-
ziehung der von Lorsy verlangten Wendung an der Kernspindel (#)
die Längshälften jeder Querhälfte voneinander (F).
Zu demselben Ergebnis wie bei Galtonia hätte ich eigentlich schon
früher, bei der Untersuchung der Pollenmutterzellen von Tradescantia
virginica, gelangen können, denn jenes Objekt weist im wesentlichen
die nämlichen Verhältnisse wie Galtonia auf. Doch bei Tradescantia
treten der Untersuchung größere Schwierigkeiten entgegen; die be-
deutendere Zahl der Chromosomen erschwert den Einblick in die Bilder,
! Flora Bd.93, 1904, S. 84.
® Annals of Bot. Bd. XVIII, 1904, S. 145.
598 Sitzung der phys.-math. Classe v. 24. März 1904. — Mittheilung v. 10. März.
zumal das Objekt sich nicht eben leicht nach Wunsch fixieren läßt.
Unsere Versuche, bessere Präparate von dieser Pflanze zu erlangen,
dauerten aber fort und wurden schließlich auch von Erfolg gekrönt,
so daß wir demnächst bessere Bilder, als es bisher geschehen ist,
werden veröffentlichen können.
Bei Tradescantia virginica vollzieht sich, wie bei Galtonia, die Längs-
spaltung des Kernfadens zu einer Zeit, wo er noch sehr dünn ist und
zahlreiche Windungen zeigt. Während der Kernfaden an Dicke zu-
nimmt, und die Zahl seiner Windungen sich verringert, wird die Spal-
tung unkenntlich. Dann folgt bei Tradescantia der Augenblick, wo
der Faden in zwölf Segmente zerfällt, welche in halber Länge sich
Fig. A.
einschnüren. Die Glieder dieser Paare werden kürzer und dicker, an-
nähernd zylindrisch. Zugleich stellt sich ein für Tradescantia charak-
teristischer Zustand ein, der diese Gliederpaare durch Lininfäden zu
einer einzigen Kette verbunden zeigt, die sich in regelmäßige Win-
dungen legt. Diese Windungen laufen annähernd parallel zueinander
und sind senkrecht zur späteren Teilungsebene orientiert. Sie fallen
selbst an frischen Pollenmutterzellen auf, die man in Wasser unter-
sucht. Es sah sie daher schon im Jahre 1880 BArANETZKY, in dessen
Beschreibung es heißt!, »daß die Windungen des Kernfadens sich
nach einer Richtung orientieren, so daß sie alle mehr oder weniger
parallel nebeneinander zu liegen kommen«. Dieses »Konvolut« er-
scheine von oben gesehen »als eine rundliche Platte, die dem Beob-
! Bot. Zeitg. 1880, S. 265, Taf. V, Fig. ır ff.
SYRASBURGER: Über Reduetionstheilung. 599
achter die Umbiegungsstellen des Kernfadens zuwendet«. Der Zu-
sammenhang der Glieder in diesem Konvolut hört erst nach Anlage
der Kernspindel auf. Die Glieder der Kette werden von den Spindel-
fasern erfaßt und so gerichtet, daß von jedem der zweiwertigen Glieder-
paare je ein einwertiges Glied nach einem andern Spindelpol zu liegen
kommt. Die beiden Glieder jeden Paares stehen einander gegenüber
und bleiben dabei entweder annähernd gerade, oder krümmen sich
mehr oder weniger in Bogen gegeneinander, ja in den meisten Fällen
so weit, daß sie mit den zuvor freien Enden zusammenstoßen. So
entstehen Ellipsen, die in halber Länge, entsprechend der Ansatzstelle
ihrer Spindelfasern, in einen kurzen Fortsatz ausgezogen erscheinen.
Wo die Chromosomen gerade bleiben. oder nur eine schwache haken-
förmige Einkrümmung zeigen, liegt die Insertion der Spindelfasern
an ihrem freien Polende, oder in dessen Nähe an der Umkrümmungs-
stelle, was eben ihre Gestalt bestimmt. Zu jeder Seite der Äquatorial-
ebene kommen in solcher Weise zwölf einwertige Chromosomen zu
liegen, die weiterhin nach den Spindelpolen befördert werden. Die
in der Prophase angedeutete Längsspaltung wird an den einzelnen
Gliedern, meist noch vor Fertigstellung der Kernspindel, wieder kennt-
lich, und sie tritt deutlich während ihrer Wanderung nach den Spindel-
polen hervor.
Somit sind es auch bei Tradescantia, durch Querteilung bivalenter
erzeugte univalente Chromosomen, welche bei der heterotypischen Tei-
lung eine Trennung erfahren, um auf die Tochterkerne verteilt zu
werden. Es liegt eine unzweifelhafte Reduktionsteilung vor. Was
die Art der Befestigung ihrer Chromosomenpaare an der Kernspindel
anbetrifft, zeigen Galtonia und Tradescantia entgegengesetztes Verhalten.
Bei Galtonia werden die Paare ganz vorwiegend an ihren Polenden
von den Spindelfasern erfaßt, bei Tradescantia meistens in mittlerer
Länge an ihren entgegengesetzten Längsseiten. Daher ist die Vorder-
ansicht auseinanderweichender Chromosomen, während ihre Längs-
spaltung sich vollzieht, in beiden Fällen eine andere. Denn bei Galtonia
ist die Spaltungsebene alsdann radial, bei Tradescantia tangential zur
Spindel orientiert.
Selbst nachdem der Gang der heterotypischen Teilung für Galtonia
und Tradescantia klargelegt war, schwankten wir längere Zeit noch
hin und her in Beurteilung der Bilder, die uns Lilium bot. Immer
wieder sahen wir uns veranlaßt mit der Möglichkeit zu rechnen, daß
bei diesem Objekt die Längsspaltung des Kernfadens doch zur Aus-
bildung jener Doppelfäden führe, welehe den späteren Prophasen zu-
kommen. Der Umstand, daß bei ZLilum die Längsspaltung des Kern-
fadens ganz durchgeführt wird, die Zusammenziehung und Verdiekung
600 Sitzung der phys.-math. Classe v. 24. März 1904. — Mittheilung v. 10. März.
soleher Spaltungsprodukte aber ganz ähnliche Bilder, wie sie die
späteren Doppelfäden zeigen, liefern könnte, erschwert ganz ungemein
die Entscheidung. Oft glaubt man schon seines Urteils ganz sicher
zu sein und gelangt doch wieder bei dem nächsten Präparat ins
Schwanken. Daher kam es auch, daß seinerzeit die Angaben von
H. H. Dıxox' für Lilium longifolium und von Jonn H. SchArrner’ für
Lilium Philadelphicum keinen Eindruck machten. Dixon hatte bereits
behauptet, daß die Doppelfäden in den Pollenmutterzellen von Lilium
longifolium aus den Schlingen des lockern Knäuels hervorgehen. Jonn
H. ScuArrner ließ die Produkte der Längsspaltung im »Macrospore
nucleus« der Embryosackanlage von Lilium Philadelphicum wieder zu
einem einzigen Band sich vereinigen und dieses Schleifen bilden. Die
Schenkel der Schleifen sollten an der Spindel sich voneinander trennen,
eine Querteilung, und damit eine Reduktionsteilung vollziehen. — Es
läßt sich wohl behaupten, daß durch den Umstand, daß bei Pflanzen
die Untersuchung sich besonders an Lilium hielt, ein Objekt, das zu
so viel widersprechenden Deutungen Anlaß gab, die Klärung der
Verhältnisse wesentlich aufgehalten wurde. Auch bei Wiederaufnahme
der Untersuchung von Lilium sahen wir uns längere Zeit noch ver-
anlaßt mit der Möglichkeit umzugehen, daß die Doppelfäden in den
Pollenmutterzellen Spaltungsprodukte des Kernfadens seien, und wir such-
ten daher nach einem Vorgang, welcher Übereinstimmung mit Galtonia
und Tradescantia bringen sollte. Eine solche Übereinstimmung konnte
durch Zusammenfaltung der Doppelfäden vor ihrer Einreihung in die
Kernspindel erzielt werden. Solche Faltungen sind früher beschrieben
worden, freilich mit dem Zusatz, daß die beiden Schenkel des ge-
falteten Gebildes in der Äquatorialebene der Spindel zu liegen kämen,
was zur Trennung ihrer beiden Längshälften hätte führen müssen.
Jetzt wäre es auf ihre polare Orientierung angekommen. Eine er-
neute Prüfung dieses Zustandes fiel nicht zugunsten einer etwaigen
solehen späten Faltung aus, und so wurden wir denn immer wieder
auf das Studium der jüngeren Zustände zurückgewiesen. Schließlich
gewannen wir denn auch die Überzeugung, daß die Längsspaltung
des Kernfadens, trotzdem sie stellenweise zu seiner Verdoppelung führt,
wieder rückgängig wird, daß somit FArmer-MoorE im Recht sind,
wenn sie eine solche Wiedervereinigung der Spaltungsprodukte be-
haupten. Andererseits konnten wir nicht bestätigen, daß bei Lilium
die im Zustande des lockern Knäuels vorhandenen Windungen zur
Bildung der Doppelfäden direkt führen. Die Umbiegung, der die
! Annals of Bot. Bd. IX, 1895, S. 663.
2 Bot. Gazette Bd. XXIII, 1897, S. 430.
SrrassurGer: Über Rednctionstheilung. 601
Doppelfäden ihre Entstehung verdanken, vollzieht sich später, erst
nach vollzogener Wiedervereinigung der Spaltungsprodukte, einer
wesentlichen Verkürzung und Verdiekung des Kernfadens und seinem
Zerfall in zwölf Chromosomen. Damit ist trotz noch bleibender Unter-
schiede doch eine wesentliche Annäherung an Galtonia gewonnen.
Als Unterschied verbleibt im wesentlichen nur die stärkere, zeitweise
Durchführung der Längsspaltung und die zeitigere Aneinanderfügung
der in jedem zweiwertigen Fadenabschnitt vertretenen beiden ein-
wertigen Glieder. Auch ist die Vereinigung dieser Glieder schließlich
noch intimer, so daß die Doppelelemente fast wie einfache Stäbe bei
ihrer Einfügung in die Kernspindel erscheinen. Daß die Trennung
der Längshälften in jedem Gliede gleich zu Beginn des Auseinander-
weichens so stark sichtbar wird, könnte wohl als eine Folge der zu-
vor weit stärker durchgeführten Längsspaltung gelten.
Nach Klärung dieser Verhältnisse, die eine einheitliche Behandlung
der Kernteilungsvorgänge in den Gonotokonten der Tiere und Pflanzen
zulassen, gewinnen auch andere Fragen, die man an den Reduktions-
vorgang anzuknüpfen suchte, eine allgemeine Bedeutung. In manchen
tierischen Gonotokonten, die verschieden große oder sonst unter-
scheidbare Chromosomen führen, konnte festgestellt werden, daß bei
der numerischen Reduktion die einander entsprechenden Chromosomen
paarweise zur Vereinigung kommen.‘ Es lag nahe, je eines von
diesen Chromosomen von dem Vater, je eines von der Mutter abzu-
leiten. Die Reduktionsteilung sollte diese Chromosomen dann trennen
und den beiden Tochterkernen zuführen. Eine weitere Frage war
die, ob bei solcher Scheidung alle mutmaßlichen väterlichen oder
mütterlichen Chromosomen demselben Tochterkerne zufallen. Surron
und Boverr neigen nicht zu dieser Annahme’, sie halten es vielmehr
für wahrscheinlicher, daß die verschiedensten Kombinationen dieser
elterlichen Elemente in den einzelnen Gonen, die aus der Gono-
tokonte hervorgehen, verwirklicht werden. Was an den bisherigen
Objekten nur auf Grund von Überlegungen über die Verteilung der
beiden Chromosomen jeden Paares anzunehmen wahrscheinlicher er-
schien, dafür lassen sich bei Tradescantia einige direkte Anknüpfungs-
punkte gewinnen. Denn bei Tradescantia bleiben, wie wir sehen, die
univalenten Chromosomen durch Lininfäden miteinander verbunden
und lassen im Augenblick der Spindelbildung die Feststellung ihrer
ursprünglichen Anordnung im Kernfaden meist noch zu. Die in par-
! MontGonerv, Surron, in Bovert a.a. 0. S. 72.
er aL02 Sasse 75:
602 Sitzung der phys.-math. Classe v. 24. März 1904. — Mittheilung v. 10. März.
allelen Windungen aufeinander folgenden Chromosomen werden von
den Spindelfasern erfaßt und endgültig an der Spindel verteilt. Würde
das nun in der Weise geschehen, daß regelmäßig je zwei zu ver-
schiedenen Paaren gehörende Chromosomen auf derselben Seite der
Äquatorialebene verbleiben, so gäbe das, wie das beifolgende Schema
zeigt, gleich viel der mutmaßlichen väterlichen und mütterlichen
Chromosomen für jeden der zu bildenden Tochterkerne. Die direkte
Beobachtung lehrt, daß das nicht der Fall ist. Meist zwar verharren
je zwei aufeinander folgende Glieder der Kette, so wie in unserm
Schema angedeutet ist, auf derselben Seite der Äquatorialebene, doch
häufig sieht man auch ein Tochterehromosom sich umbiegen und allein
auf‘ der einen Seite des Äquators verbleiben, während das folgende
auf die andere Seite hinübergeführt wird. Hieraus folgt, daß es
nicht darauf ankam, durch gegenseitige Verbindung der ÖÜhromosomen-
paare in einer Kette die gleiche Zahl der als väterlich oder mütterlich
gedeuteten Chromosomen jedem der beiden Tochterkerne zu sichern.
Doch da andererseits die geschilderte Umbiegung einzelner Chromo-
somen leicht dazu führen könnte, daß zwei demselben Paare ent-
stammende Paarlinge auf derselben Seite der Äquatorialebene ver-
harren, so stellen sich auch immer zu gleicher Zeit Unterbrechungen
in der Kette ein, durch welehe die notwendige Freiheit der Vertei-
lung gewahrt wird. — Es sind mir andere Pflanzen bisher nicht
begegnet, die eine so lang anhaltende Verbindung der Chromosomen
in ihren Gonotokonten aufzuweisen gehabt hätten. Es pilegen viel-
mehr sonst nur die zu demselben Paare gehörenden Glieder aneinander
zu haften. was von vornherein ihre wechselnde Orientierung zu den
Polen der Kernspindel ermöglicht.
In den pflanzlichen Gonotokonten folgen die auf die Tochter-
kerne zu verteilenden einwertigen Chromosomen in dem unsegmen-
tierten Kernfaden nachweisbar aufeinander. Sollten sie wirklich die
von dem Vater und von der Mutter abstammenden Chromosomen
vorstellen, so würde hieraus sich des weitern ergeben, daß diese
im Mutterkern mit einander abwechselnd in den Aufbau des Kern-
fadens eingehen. Daß der Kernfaden diesen Aufbau schon im Be-
fruchtungsakt bei der Vereinigung von Spermakern und Eikern erlangt
haben sollte, erscheint ausgeschlossen. Die Teilungsbilder des Keim-
kerns sprechen dagegen. Sie tun dies besonders deutlich bei gewissen
tierischen Objekten. Den Arbeiten Rückerts, HAEcKERs, ÜoNnKLıns'
ist zu entnehmen, daß bei bestimmten Krebstieren und Schnecken
ı Vgl. bei Boverı a.a.0. S.58. Für die Furchungskerne von Ascaris hatte das
zuerst EpvArD van BENEDEN 1883 in den »Recherches sur la maturation de l’&uf ete.«
p- 314 angegeben.
S’PRASBURGER: Über Reductionstheilung. 603
die durch den Befruchtungsvorgang zusammengeführten beiden elter-
lichen Kerne ihre Selbständigkeit in den Kernen des Abkömmlings
dauernd bewahren. Erst in den Gonotokonten des Abkömmlinges
vollzieht sich die innigere Vereinigung der väterlichen und mütter-
lichen Chromosomen. T. H. Moxrteomery' sprach zuerst 1901 den
(edanken aus, dal in den Keimzellen (Germ-Üells) der Metazoen
diese Vereinigung der väterlichen und mütterlichen Chromosomen auf
jenem Stadium der Zusammenballung des Inhalts ihres Mutterkerns
erfolge, den J. E. S. Moore als »Synapsis« bezeichnet hatte.” Zu einer
ähnlichen Auffassung gelangte WiıruLıam Austin Oannon’, weil es ihm
schien, daß sie am besten die Mexoer'sche Spaltungsregel erkläre.
Im besondern ging dann Warrer S. Surrox' auf die Einzelheiten des
Vorgangs in den Keimzellen ein und behandelte sie in seinem Auf-
satz »The Uhromosomes in Heredity«. Noch weiter versucht es
Boverr in seinen »Ergebnissen«° in die Aufgabe einzudringen und zu
zeigen. wie wahrscheinlich es sei, dal im Zustande der Synapsis die
homologen Chromosomen sich gegenseitig anziehen und aufsuchen,
um miteinander zu kopulieren. »Sollte das Sy-
napsisstadium irgendwo fehlen«, fügt Bovekı
hinzu, »und einfach aus seinem typischen Ge-
rüst oder kontinuierlichen Spiremfaden sich die
Copulae differenzieren, so dürfte daraus zu
schließen sein, daß alle Chromosomen dieses Organismus essentiell
gleichwertig sind und sich ganz beliebig paaren können. «
Nun ist freilich im Pflanzenreiche, bis in die letzte Zeit hinein,
jener Zustand der Synapsis, der mir in Pollenmutterzellen schon vor
fünfundzwanzig Jahren auffiel®, immer wieder von einzelnen Forschern
als Kunstprodukt gedeutet oder ganz in Abrede gestellt worden, wobei
sie nicht selten auch verschiedene Zustände mit diesem Namen belegten.
So wendet sich beispielsweise Jonw H. Scuärrner' gegen die E. Sarcant-
schen Angaben, welche der Synapsis des Mutterkerns im Embryosack
von Lilium Martagon eingehender gedenken‘, mit dem Bemerken, daß
es sich dabei um ein Produkt der Präparation handle. So bemerkt
Guisnarn”" für die Pollenmutterzellen von Naias major, daß es ihm in
! Trans. Amer. Phil. Soc. Bd. XX, 1901.
” Ann. of Bot. Bd. IX, 1895, p. 435.
° Bull. of the Torrey Bot. Club Bd. 29, 1902, p. 660.
* Biol. Bulletin Bd. IV, 1903. p. 231.
Aa. 078358:
® Archiv f. mikr. Anatomie Bd. XXI, 1882, Sonderabdr. S.6 und Taf. I Fig. 3.
” Bot. Gazette Bd. XXIII, 1897, S. 442.
° Ann. of Bot. Bd. X, 1896, p. 457.
Arch. d’anat. mieroscopique Bd. II, 1899, p. 460.
604 Sitzung der phys.-math. Classe v. 24. März 1904. — Mittheilung v. 10. März.
diesen, soweit sie in normalem Zustande fixiert waren, nicht gelang,
eine als Synapsis zu bezeichnende Kontraktion zu beobachten. Und
doch hatte J. E.S. Moorr Recht', als er die Behauptung aufstellte,
daß die Synapsis allgemein den Kernen zukommt, die in heterotypische
Teilung eintreten. Ich kann jetzt hinzufügen, daß es der wichtigste
Zustand im Entwicklungsgang dieser Teilung ist, von dem sich voraus-
sagen läßt, daß er die Forscher ganz besonders in der nächsten Zukunft
beschäftigen wird.
Aus den Angaben der Zoologen sollte man schließen, daß in
diesem Zustande die individualisierten Chromosomen zusammengedrängt
werden und sich gegenseitig aufsuchen. Das ist nun nicht der Fall.
Wie unsere gemeinsame Arbeit im einzelnen zeigen wird, handelt es
sich vielmehr um wesentlich andere Vorgänge, die geeignet sind,
die ganze Erscheinung in ein neues Licht zu stellen. Zwei Bilder,
(Fig. S und 9) die ich nach Präparaten von James BERTRAM OVERTON
entworfen habe, sollen zur vorläufigen Orentierung dienen. Die Pflanze,
um die es sich handelt, ist Thalietrum purpurascens. Sie zeigt den
Vorgang besonders deutlich, weil die Zusammendrängung der Elemente
weniger groß als sonst ist. Das Gerüst des Mutterkerns ballt sich
einseitig an seiner Wandung zusammen. Das Chromatin zieht sich
aus den Lininfäden zurück und läßt sie als wenig tingierbare, zarte,
perlschnurartig gegliederte Fäden zurück. Es bildet Körnchen, die
sich um einzelne Zentren sammeln (Fig.8). Alsbald läßt sich fest-
stellen, daß die Zahl dieser Zentren zwölf beträgt (Fig. 9), entsprechend
der Zahl der späteren Chromosomenpaare. Ich will diese Zentren als
Gamozentren bezeichnen. Dort bilden die Körnchen zunächst lockere
Gruppen. Doch im nächsten Stadium sieht man sie schon zu kleinen
Körpern vereinigt, in welchen es schwer wird, sie einzeln zu unter-
scheiden. Diese Körper strecken sich etwas und schnüren sich deut-
! Ann. of Bot. Bd. IX, 1895, p. 435:
SIRASBURGER: Über Reductionstheilung. 605
lich in der Mitte ein. Dann beginnen sich die Körnchen der beiden
Hälften zu sondern und mit Hilfe des Linins in Fäden anzuordnen.
So spinnt sich ein feiner ununterbrochener Faden aus, um den dünn-
fadigen Knäuel zu bilden, der die Synapsis ablöst. Dann folgt die
Längsspaltung des Kernfadens. Das die weiterhin sich trennenden
zwölf bivalenten Segmente des Kernfadens den zwölf Körpern ent-
sprechen, welche die Synapsis aufweist, und daß die Querteilung
jedes bivalenten Chromosoms Hälften jener Körper wieder trennt, ist
wohl nieht zu bezweifeln. — Bei Galtonia sammelt sich in der Synapsis
entsprechend der späteren Zahl der Chromosomenpaare das Chromatin
nur um sechs Zentren. Die Zusammenballung des Inhaltes ist während
dieses Vorgangs bei Galtonia so bedeutend, daß die Zählung der
Chromatinkörper nicht immer gelingt. — Tradescantia bildet in der
Synapsis einen Körnerballen, in welchem die einzelnen Bezirke sich
nicht unterscheiden lassen. An ihrem Vorhandensein ist aber schwer-
lich zu zweifeln. Aus diesem Körnerballen differenziert sich das äußerst
lange Spirem, dessen zunächst hin und her gewundener Faden sich
alsbald in so regelmäßige Spiralen legt, daß der ganze Kern, bei
Änderung der Einstellung, um seine Achse zu rotieren scheint. —
Das Kernkörperchen wird in der Synapsis stets aus dem Kerngerüst
hinausgedrängt, als wenn es die Vorgänge, die sich in ihm abspielen,
nicht stören sollte. Wo die Ohromatinmengen so bedeutend wie bei
Tradescantia sind, also beispielsweise auch bei Frittillaria und Lilium,
wird das Kernkörperchen gegen die Kernwandung gedrückt und ab-
getlacht, jenes charakteristische Aussehen gewinnend, das von jeher
in der Synapsis solcher Pflanzen auffallen mußte.
Aus allen diesen Angaben geht hervor, daß die Vorstellung, es
legten sich in der Synapsis geformte und wohl abgegrenzte Chromo-
somen aneinander, nicht zutreffend ist. Der cehromatische Inhalt der
Ohromosomen ist es vielmehr, der in Gestalt kleiner Körner sich um
bestimmte Mittelpunkte sammelt. Da die Zahl dieser Mittelpunkte der
reduzierten Zahl der Chromosomen, somit der Zahl der Chromosomen-
paare entspricht, so läßt sich annehmen, daß das Chromatin je eines
väterlichen und eines mütterliehen Chromosoms einem Gamozentren
zustrebe. Die Chromatinkörner vermögen hierbei in eine so innige
Beziehung zu treten, wie sie für abgegrenzte Chromosomen gar nicht
möglich wäre. Man sieht sie tatsächlich je einen Körper bilden und
dann erst sich wieder in zwei Hälften zerlegen. Ich glaube nicht
einen Fehlschluß zu machen, wenn ich annehme, dal3 die Chromatin-
körner eben deshalb die Lininbande verlassen, damit eine so freie
Wechselwirkung unter ihnen möglich werde. Ich will diese Chromatin-
körner, entsprechend der Bedeutung, die ich ihnen beilege. Gamosomen
Sitzungsberichte 1904. x 48
606 Sitzung der phys.-math. Classe v. 24. März 1904. — Mittheilung v. 10. März.
nennen, den Körper, den sie bilden, ein Zygosom.' Aus diesen Zygo-
somen gehen dann wieder zwei Chromosomen hervor, an deren Formung
das Linin sich beteiligt.
3evor wir es versuchen, weitere theoretische Erörterungen an
diese Beobachtungen zu knüpfen, wollen wir uns die Ergebnisse ver-
gegenwärtigen, zu denen die Zuchtversuche mit Hybriden, sowie die
mikroskopische Untersuchung ihrer Gonotokonten bisher geführt haben.
Eine ihrer größten Förderungen hat die Vererbungslehre durch
lie von GrEGoR MenpeL entdeckte Regel erfahren, nach der gewisse
Hybriden bei Bildung der Geschlechtsprodukte ihre Merkmale spalten.
Denn diese Entdeckung schuf eine sichere Grundlage für eine plan-
mäßige experimentelle Bastardforschung, die dank den Arbeiten von
Hvuco vr Vrıes, C. CoRRENS, E. Tscuermax, W. Bareson und E. R.
Sıunvers sich großer Erfolge schon rühmen kann. Bei Mono- bzw.
Polyhybriden, die mit einem Paare oder mit mehreren Paaren gegen-
sätzlicher Merkmale ausgestattet sind, erfolgt bei der Bildung der Go-
nen eine Spaltung dieser Paare, so zwar, daß die Gonen zur Hälfte
das eine, zur Hälfte das andere Merkmal erhalten. Dabei vollzieht
sich die Trennung in den einzelnen Paaren unabhängig voneinander,
so daß zwei gegebene, von verschiedenen Paaren stammende Merk-
male, sowohl derselben Gone, wie auch zwei verschiedenen Gonen
zufallen können. — Außer diesen spaltenden Hybriden gibt es auch
»konstante«’, welche diesen Vorgang nicht zeigen. Die Abkömmlinge
solcher Bastarde »pflegen ihren Eltern und einander gleich zu sein,
und diese Konstanz erhält sich im Laufe der Generationen. Dem-
zufolge entstehen Bastardrassen, welche abgesehen von der etwa ver-
minderten Fertilität, von echten Arten kaum zu unterscheiden sind. «” —
Endlich existieren auch sterile Bastarde, deren Erzeugung auf ge-
schlechtlichem Wege möglich war, die aber selber unfruchtbar bleiben.
Das Bestehen solcher Bastarde beweist, daß ein Zusammenwirken
elterlicher Kerne im Abkömmling möglich ist, ohne daß deren Gamo-
somen so viel Wahlverwandtschaft besitzen, als zu ihrer Vereinigung
innerhalb der Gonotokonten nötig wäre. So ist denn schon oft auf
! Im Anschluß an Gameten und Zygoten, mit denen sie zu vergleichen sind.
Die Bezeichnung Gameten hatte ich 1877 (Bot. Zeitg. S.756) für solche Geschlechts-
produkte vorgeschlagen, welche noch nicht die gestaltliche Sonderung in Spermatozoiden
und Eier zeigen, ihr Produkt war die Zygote. — W. Bareson schlägt jetzt in den
Proceedings of the Cambridge Phil. Society Bd. XII, 1903, p. 53 vor, diese Bezeich-
nungen auf alle Geschlechtsprodukte und das Erzeugnis ihrer Vereinigung auszudehnen,
was mir sehr zutreffend scheint.
?® Huco DE Vrıes, Die Mutationstheorie Bd. ll, 1902, S.66.
® Huco pe Vrıes, Befruchtung und Bastardierung 1903, S.57:
Sırassurser: Über Reductionstheilung. 607
den Augenblick der Bildung der Sexualzellen als auf eine besonders
kritische Periode im Leben der Bastarde hingewiesen worden. »Da-
her«, sagt Huco pE Vrıes in seinem Vortrage über Befruchtung und
Bastardierung', »die ganz gewöhnliche Erscheinung, daß die Produk-
tion von Ei- und Samenzelle mehr oder weniger vollständig mißlingt,
daß die Bastarde entweder keine befruchtungsfähigen Samenknospen,
oder keinen tauglichen Blütenstaub, oder keines von beiden hervor-
bringen. «
Über mikroskopische Befunde in den Gonotokonten von Hybriden
liegen im besondern einige botanische Berichte vor. Vor allem sind
es die Angaben von H.O. Jurr” über Syringa Rothomagensis, die als
Bastard von S. vulgaris und 8. persica gilt.” Jurn fand, daß sich Stö-
rungen der Entwicklung im Kern der Pollenmutterzellen zum Teil
schon zur Zeit der ersten Sonderung des Kernfadens einstellen. Dann
kommen Durchsehnürungen der Mutterkerne in zwei gleich große oder
verschieden große Stücke im Zustand des noch dünnen Fadenknäuels
vor. Jurn beobachtete auch 'Teilungsvorgänge des Mutterkerns, welche
die Mitte zwischen Mitose und Durchschnürung hielten, wobei ganze
Chromosomen auf die Teilungsprodukte übergingen. Die Zahl der
Chromosomen bei 8. Rothomagensis hält Jurn für größer als bei S. vul-
garis, doch wagt er es nicht bestimmt zu behaupten. Auch bei der
mitotischen Teilung sind typische Bilder im ersten Teilungsschritt
selten. Es scheint, als wenn eine Anzahl Chromosomen nieht gespalten
und unverändert in die Tochterkerne überginge. Unter Umständen
ist es auch die Ausbildung der Spindelfasern, die abnorm verläuft.
Endlich sieht man Chromosomen außerhalb der Teilungsfiguren im
Cytoplasma liegen und dort kleine Kerne bilden. Jurr' erwägt bei
diesem Anblick, ob es sich nicht um eine Entmischung der hybriden
Kernsubstanzen handle. Der zweite Teilungsschritt der Pollenmutter-
zellen von 8. Rothomagensis scheint nach Jurr weit regelmäßiger als
der erste zu verlaufen, was uns ganz begreiflich erscheint, da die
Schwierigkeit in dem heterotypischen Teilungsschritt wurzelt. — Außer
den Jurr’schen Angaben liegen auch Beobachtungen von O. RosenBEre’
über das Verhalten der Öhromosomen in den Geweben und den Pol-
lenmutterzellen des Bastards Drosera longifolia x rotundifolia vor. Zu-
nächst wurde festgestellt, daß Drosera longifolia doppelt so viel Chro-
mosomen in den Geweben und in den Pollenmutterzellen als D. ro-
! 1903, 8.53, 56.
® Jahrb. f. wiss. Bot. Bd. XXNXV, 1900, S. 639.
° Focke. Die Pflanzenmischlinge 1881, S.255-
ZN. a. 0. 648:
° Ber. d. Deutsch. Bot. Gesellsch. 1903, S.11o.
48*
608 Sitzung der plıys.-math. Classe v. 24. März 1904. — Mittheilung v. 10. März.
tundifolia führt. Es weist Drosera rotundifolia in den Kernen der Ge-
webe 20, in den Pollenmutterzellen 10 Chromosomen auf, Drosera
longifolia 40 und 20. Die Kerne im Gewebe des Bastards besitzen,
wie zu erwarten war, 30 Chromosomen, in den Pollen- und Embryo-
saekmutterzellen findet man hingegen, wie eine heute mir zu Händen
kommende neueste Arbeit von RoseEngere lehrt, nicht 15, sondern
>20 Chromosomen.' RosExgEre stellt nun fest, daß von diesen 20 Chro-
mosomen Io eine deutliche doppelte Zusammensetzung zur Zeit der
Spindelbildung aus dem Pollen- und Embryosaekmutterkern zeigen,
ı0 hingegen einfach sind. ROosENBERG nimmt an, daß in den Doppel-
ehromosomen Paarlinge von Drosera longifolia und D. rotundifolia, in
den ungepaarten die überschüssigen Chromosomen von D. longifolia
vorliegen. Die doppelwertigen Chromosomen werden regelrecht in
die Kernspindel eingereiht. Die anderen kommen dem einen oder
andern Pol näher zu liegen. Nur die zweiwertigen Chromosomen er-
fahren die regelrechte Spaltung, die einwertigen gelangen entweder
mit in die Tochterkernanlage, oder sie bleiben zum Teil im Cyto-
plasma liegen, wo sie kleine wertlose Zwergkerne erzeugen. Die Zahl
dieser ausgeschalteten Chromosomen wächst noch beim zweiten Tei-
lungsschritt, so daß man in den Enkelkernen fast immer nur noch
ı0 Chromosomen zählt. In Pollenkörnern wie in Embryosackkernen
stellen sich weiterhin meist Entwicklungsstörungen ein, so daß die
meisten Gonen zugrunde gehen. Doch lehrte die Untersuchung, daß
die Möglichkeit der Bildung einzelner Keime nicht ganz ausgeschlossen
ist. — Anfügen ließen sich noch weniger vollständige Angaben von
Wırrıam Austın Cannon” über das Verhalten der Gonotokonten eines
Baumwollhybriden, Gossypium Barbadense x herbaceum. Cannon fand ab-
norme Pollenkörner in allen Antheren vor. Die Mutterzellen führten
zum Teil normale, zum Teil abnorme Teilungen aus. Im letztern
Falle wurden amitotische Durcehschnürungen der Kerne beobachtet und
im Extrem Mutterzellen mit zahlreichen, ungleich großen Kernen. —
Mercarr” will in den Pollenmutterzellen hybrider Gladiolen je zwei
Kernspindeln beobachtet haben und meint, ihre getrennte Bildung sei
dureh das Ausbleiben einer Vereinigung väterlicher und mütterlicher
Chromosomen veranlaßt worden. Er findet sich darin in Überein-
stimmung mit Guver', von dem ähnliche Angaben über die Sperma-
togenesis hybrider Tauben vorliegen.
Ber. d. Deutsch. Bot. Gesellsch. 1904, S.47-
Bull. of the Torrey Bot. Club Bd. 30, 1903, p.I33-
3 Proceedings Neb. Acad. Se. Bd. VII, 1901, p.1og.
Spermatogenesis of normal and hybrid pigeons 1900.
Sırassurser: Über Reductionstheilung. 609
Das ist der Anfang der Bemühungen auf einem Gebiete, das plan-
mäßig weiter durehforscht werden muß, und verspricht, noch wichtige
Ergebnisse zu liefern.
Ältere und neuere Angaben über die Obliteration der Embryo-
säcke in Hybriden zeigen, wie schwer es im besondern dem Bastard
wird, solehe auszubilden. G. Tısenter' ist aber nicht der Meinung,
daß überall bei sterilen Bastarden die Ovula mißgestaltet sind.
Versuchen wir das Vorausgeschickte nun weiter zu verwerten
und an unsere über Synapsis gemachten Beobachtungen anzuknüpfen.
Zunächst erklärt sich die Existenzmöglichkeit unfruchtbarer Bastarde
aus der zuvor schon begründeten Angabe, daß die väterlichen und
mütterlichen Chromosomen in den Kernen des Abkömmlings als solche
fortbestehen. Welche Schwierigkeiten sich in den Prophasen der hete-
rotypischen Kernteilung während der Synapsis einstellen, davon können
wir uns jetzt eine bestimmte Vorstellung machen. Da treten Wechsel-
wirkungen zwischen den Elementen der chromatischen Substanz auf,
durch welche diese veranlaßt werden, sich aus dem Lininverband zu
befreien und um bestimmte Zentren zu sammeln. Aus der Zahl dieser
Zentren ergibt sich, daß sie die Vereinigungsstellen von Gamosomen
je zweier Chromosomen sein müssen. Es zwingt sich die Vorstellung
auf, sie für die Gamosomen homologer, vom Vater und von der Mutter
stammender Chromosomen zu halten. Was sie zusammenführt könnten
Einflüsse sein, ähnlich jenen, welche Gameten veranlassen, sich gegen-
einander zu bewegen. Man denkt unwillkürlich an Chemotaxis, kann
sich aber die Schwierigkeiten nicht verschweigen, die aus der An-
nahme erwachsen, daß die von den verschiedenen Zentren ausgehenden
Wirkungen qualitativ verschieden sein müßten. Andererseits ließe sich
manche Erscheinung vom Standpunkt der Chemotaxis leichter begreif-
lich machen, so daf3 die Anziehung der Paarlinge in der Nähe sich
in Abstoßung verwandelt. Denn die Träger sowohl der zusammen-
gehörenden gleichwertigen, wie der zusammengehörenden gegensätz-
lichen Merkmale müßten zunächst, soweit sie zu einem homologen
Chromosomenpaar gehören, auf dasselbe Attraktionszentrum hineilen,
bei Steigerung des Reizes sich dort aber bei den einen wie den anderen
eine Repulsion der Paarlinge einstellen. Ob der eine oder der andere
Paarling eines Paares in diese oder jene Hälfte des Zygosoms gelangt,
könnte dann vom Zufall abhängen, vorausgesetzt, daß nicht korrela-
tive Einflüsse das Zusammenbleiben bestimmter Gamosomen begünstigen.
Bei »konstanten« Hybriden bleibt, wie mir scheint, nichts anderes
! Beihefte z. bot. Zentralbl. Bd. XV, 1903, S. 408.
610 Sitzung der phys.-math. Classe v. 24. März 1904. — Mittheilung v. 10. März.
übrig, als die Annahme, daß auch für solehe Gamosomen des einen
Elters, zu welchen der Paarling im andern fehlt, bei gewisser Wahl-
verwandtschaft die Anziehung bestimmter Zentren sich geltend machen
kann. Damit aber, so wie es tatsächlich geschieht, das durch ein
solches unpaariges Gamosom vertretene Merkmal gleichmäßig auf die
Abkömmlinge vererbt werde, müßte sein Träger bei der Teilung des
Zygosoms eine Spaltung erfahren. Das wäre an sich nichts auffallendes,
wenn man bedenkt, daß die Spaltung von Chromatinscheiben zu dem
Vorgang jeder normalen Kernteilung gehört und daß die Gegensätze,
welche zur Teilung des Zygosoms führen, auch die Teilung unpaariger
Gamosomen auslösen könnten. Hingegen müßten solche Gamosomen
in Hybriden, die kein wirksames Attraktionszentrum im Gonotokont
finden, von der Zygosomenbildung ausgeschlossen bleiben. Sie würden
voraussichtlich einen störenden Einfluß auf die Wechselwirkung der
anderen Gamosomen ausüben, vielleicht besondere Chromosomen, die
der Teilung aber unfähig wären, oder besondere kleine Kerne, ja selbst
eigene Kernspindeln bilden, auch wohl alle weiteren Entwiecklungs-
vorgänge im Gonotokont verhindern. Wie es im einzelnen dabei zu-
gehen mag, darüber wird uns das Studium der Synapsis der Hybriden
vielleicht noch weitere Aufklärung bringen.
Die Individualität der Chromosomen, für welche im besondern
Boverr' bei tierischen Objekten so entschieden eintritt, hat neuerdings
auch auf botanischem Gebiet eine neue Stütze durch die Arbeit von
V. Gresome und A. Wvsarrts” gefunden. Diese Forscher führen aus,
daß die Chromosomen getrennt in die Prophasen jeder Kernteilung
eintreten und daß es auf keinem Stadium einen fortlaufenden Kern-
faden in den Kernen gebe. In den Mutterkernen der pflanzlichen
Gonotokonten geht hingegen, wie wir sicher behaupten können, ein
ununterbrochener Kernfaden aus der Synapsis hervor. Daß in ihm
die Chromosomen trotzdem ihre Individualität nicht einbülßten, das
besagt die Zahl, in der sie alsbald sich voneinander sondern. Auch
ließe sich nicht recht, von dem jetzigen Standpunkte unseres Wissens,
die Notwendigkeit einer Reduktion der Chromosomenzahl in den Gonen
einsehen, wenn nicht die Individualität eines jeden Chromosoms dauernd
festgehalten würde. Ob aber nicht unter Umständen die Zahl der
Chromosomen in den Kernen doch geändert zu werden vermag, ist
eine andere Frage. Das könnte, unter Wahrung ihrer Individualität,
durch Längsspaltung für Vermehrung, durch longitudinale Aneinander-
! Ergebnisse S. 4.
? Beihefte z. bot. Zentralbl. Bd. XIV, 1903, S. 18.
SYRASBURGER: Über Reductionstheilung. 611
fügung und Verschmelzung homologer väterlicher und mütterlicher Chro-
mosomen für Verminderung geschehen. J. B. Farmer, J. E. S. Moorr
und L. Diesy geben ein anderes Verhalten für apogamische Sprossung
aus Prothallien der Farne an, eine Angabe, die freilich der weiteren
Begründung noch bedarf. Da sollen Zellkerne aus einer Zelle durel
die Wand, die sie durchbohren, in die Nachbarzelle gelangen, mit
dem Kern dieser verschmelzen und so die für den Sporophyt not-
wendige Verdoppelung der Chromosomenzahl bewirken.
Wie die Erscheinungen der Synapsis in den Gonotokonten un-
zweifelhaft lehren, liegt der Schwerpunkt aller Vorgänge, die zur Ver-
teilung der erblichen Merkmale auf die Gonen führen, in der ehroma-
tischen Substanz. Diese wird durch Linin zu bestimmten Chromosomen
verbunden. So mag in der Tat das Linin über Zahl und Abgrenzung,
also über die Individualität der einzelnen Chromosomen bestimmen.
Nur in diesem Sinne könnte ich Varentın HaccKER beipflichten, der
in seiner letzten Veröffentlichung schreibt': »Die Kontinuität der Kern-
teile liegt demnach in der Grundsubstanz, welche dem Achromatin
oder Linin, zum Teil wohl auch dem Plastin der Autoren entspricht«.
Hingegen muß ich jetzt erst recht, auf Grund der Erscheinungen,
welche die Synapsis bietet, den ganzen Schwerpunkt in den chroma-
tischen Inhalt der Chromosomen verlegen. Die chromatischen Gamo-
somen müssen wir als die Träger der erblichen Eigenschaften ansehen:
das Linin hingegen bestimmt nur über Größe und Zahl der Verbände,
die für dieselbe Pilanze festgelegt sind, aber selbst bei nahe verwandten
Pilanzen verschieden sein können, denen somit nur eine sekundäre Be-
deutung zukommen kann. Die Chromatinkörner, die wir in den Go-
notokonten von Fhalietrum sich um einzelne Mittelpunkte sammeln sehen,
habe ich als Gamosomen bezeichnet. Ich habe dieselbe Bezeichnung
auch für die mutmaßlichen Träger einzelner Merkmale, die in Wechsel-
wirkung treten, gebraucht, um nicht die Zahl der Bezeichnungen vor-
zeitig zu vermehren. Doch ist mir aus theoretischen Gründen und
dem Vergleich mit anderen Objekten bereits völlig klar, daß jedes der
mikroskopisch unterscheidbaren Gamosomen von Thalietrum aus einer
Vielheit jener Einheiten bestehen muß, die im Zygosom in Wechsel-
wirkung treten. Eine Vielheit solcher Einheiten muß auch in jeder
Uhromatinscheibe eines Kernfadens, bei allen karyokinetischen Vor-
gängen vertreten sein und eine jede dieser Einheiten bei der Längs-
spaltung des Kernfadens eine Halbierung erfahren. Sollten aber, wie
ich es annehmen möchte, die in der Synapsis als Körner, in der Karyo-
kinese als Chromatinscheiben auftretenden Gamosomenkomplexe in
! Bastardierung und Geschlechtszellenbildung, S. 230.
612 Sitzung der phys.-math. Classe v. 24. März 1904. — Mittheilung v. 10. März.
ruhenden Kernen in ihre Einheiten zerlegt werden, so könnte das aus-
reichen, um ihren Nachweis durch Färbungsmittel zu erschweren. Die
scheinbare Abnahme des Chromatins im ruhenden Kern darf somit,
meiner Ansicht nach, nicht als Beweisgrund gegen die sonst so wohl-
begründete Ansicht gelten, daß das Chromatin der Träger der erb-
lichen Eigenschaften sei.
Weitere Untersuchungen der Synapsis im Tier- und Pflanzenreiche
sind notwendig, um dem im vorhergehenden entwickelten Gedanken-
gang eine noch festere Grundlage zu verschaffen. Aus diesem Grunde
unterlasse ich es auch, jetzt schon Stellung zu den bisherigen Hypo-
thesen über die stofflichen Träger der erblichen Eigenschaften zu
nehmen, bestehende Übereinstimmungen und vorhandene Gegensätze
hervorzuheben.
Wie uns die Vorgänge bei der Synapsis lehren, wird in diesem
Augenblick die Individualität der väterlichen und mütterlichen Chromo-
somen aufgegeben. Sie vereinigen sich zu einem einzigen Zygosom,
aus dem erst wieder zwei neue Chromosomen hervorgehen. Diese
Chromosomen enthalten nicht ausschließlich nur vom Vater oder von
der Mutter stammende Gamosomen, vielmehr fand eine teilweise Aus-
wechselung dieser statt. Daraus erklären sich hinreichend die Ver-
schiedenheiten der Kinder eines Elternpaares sowie die Spaltungser-
scheinungen bei Monohybriden.
Weiter ist die Frage angeregt und erörtert worden, ob jedes Chro-
mosom als Träger der sämtlichen Eigenschaften des Organismus an-
zusehen sei oder nicht, ob in einem Worte die einzelnen Ohromosomen
nur mehr oder weniger übereinstimmende Wiederholungen derselben
Gamosomen darstellen oder ob dies nicht der Fall sei. Boverı' tritt
für die Verschiedenheit unter den Chromosomen ein und sucht sie
experimentell an doppeltbefruchteten Seeigeleiern zu stützen. Solche
disperme Eier zerfallen simultan in vier Zellen. Da aber jedes ein-
zelne Chromosom nur auf zwei Zellen verteilt werden kann, so müssen
die vier Blastomeren verschiedene Chromosomen erhalten. Es gelingt
nun, die vier Blastomeren künstlich voneinander zu trennen und fest-
zustellen, daß jede sich in der Regel verschieden und vor allem ver-
schieden weit entwiekelt. Auch zeigen aus dispermen Eiern hervor-
gegangene Keime, deren Blastomeren man nicht getrennt hat, eine
entsprechend verschiedene Potenz der Entwicklung in den aus diesen
Blastomeren entstandenen Bezirken. — Ein anderer, wie mir scheint,
entscheidender Beweis für die Verschiedenheit der Chromosomen läßt
sich aus dem Verhalten der gegensätzlichen Merkmalpaare von Mono-
ı Ergebnisse S. 42.
STRASBURGER: Über Reductionstheilung. 613
hybriden entnehmen. Solche Hybriden liefern bekanntlich, wenn sie
untereinander bestäubt werden, Nachkommen, bei welchen das domi-
nierende Merkmal in 75 Fällen auf 100 zur Geltung kommt. Das ist
eine glatte Spaltung nach der Formel': 1ıIDD+2DR+ıRR. Eine
solche glatte Spaltung würde nicht erfolgen, wenn bei der hetero-
typischen Teilung mehr als ein Chromosomenpaar, und es läßt sich
hinzufügen, auch mehr als ein Gamosomenpaar in diesem als Träger
der gegensätzlichen Merkmale gelten könnte. Denken wir an die Hy-
briden der gelb- und grünkeimigen Erbse, die so regelrecht spalten.
Auf Grund sonstiger Erfahrungen über Chromosomenzahl bei Diko-
tylen wollen wir zwölf Chromosomenpaare in den Gonotokonten der
Erbse annehmen. Würde jedes dieser zwölf Paare Träger der gegen-
sätzlichen Merkmale sein, da müßte es sich nach der Wahrscheinlich-
keitsrechnung jedes siebente Mal treffen, daß die bei der heterotypi-
schen Teilung erzeugten Tochterkerne sechs gelbe und sechs grüne
Anlagen enthalten. Dann würden aber die gelben Anlagen als domi-
nierende die grünen rezessiven unterdrücken, die Tendenz aller vier
Gonen des betreffenden Gonotokonten somit gelb sein. Das gäbe bei
den Nachkommen eine Verschiebung zuungunsten des Grün um über
14 Prozent. In Wirklichkeit entsprechen aber die Ergebnisse der Züch-
tung streng der aufgestellten Formel.”
Für die Ungleichwertigkeit der einzelnen Chromosomen im Kern
ist auch ihre konstant verschiedene Größe und ihr verschiedenes Aus-
sehen in den Gonotokonten der Insekten angeführt worden"; weiter der
Umstand, daß zwei einander äußerlich sich gleichende Chromosomen
sich zu Paaren für die heterotypische Teilung dort vereinigen. Die
verschiedene Größe und das verschiedene Aussehen der Chromosomen
kann in der Tat für deren Ungleichwertigkeit ins Gewicht fallen, we-
niger die Vereinigung einander gleichender Chromosomen zu Paaren.
Denn diese Gleichheit ist eine Folge der Vorgänge in der Synapsis,
und sie erschien den Zoologen nur deshalb so auffällig, weil sie nur
die Paarung der fertig ausgebildeten Chromosomen zu sehen bekamen.
Auch im Pflanzenreiche fällt oft die ungleiche Größe der Chromosomen
in den Gonotokonten auf. Den extremsten Fall, der mir begegnete,
ı D= dominieren, R=rezessiv. Die Formel nach dem Vorschlag von W.
Bareson und E. R. Saunpers. Reports to the Evolution Commitee I, 1902, p. 8.
® Bis jetzt sind die Chromosomenzahlen bei Dikotylen wenig bekannt. Sollten
diese Zahlen bei der Erbse größer als zwölf sein, so würde die Zahlengleichheit gegen-
sätzlicher Anlagen sich in den Tochterkernen entsprechend seltener einstellen. Der
Ausfall zugunsten des Gelb könnte leichter verdeckt bleiben. Doch bezweifle ich sehr,
daß eine geringe Mehrheit schon dem schwächern Merkmal die Herrschaft ver-
schaffen sollte.
® Vgl. bei Boverı a.a.0. S. 52.
Sitzungsberichte 1904 49
614 Sitzung der phys.-math. Classe v. 24. März 1904. — Mittheilung v. 10. März.
bieten die Pollenmutterzellen von Funkia Sieboldiana dar.‘ Manche Chro-
mosomenpaare, sowohl bei der heterotypischen, wie in der homöoty-
pischen Teilung, sind um das vielfache länger als die anderen. Sollten
die Paarlinge als solche vom Vater und von der Mutter übernommen
worden sein, so könnte man, bei der sonstigen Variabilität auf diesem
Gebiete, über die völlig gleiche Länge der Paarlinge staunen. Anders,
wenn diese gleiche Länge das Ergebnis ist einer genauen Halbierung
der Zygosomen in der Synapsis.
Das Verhalten spaltender Monohybriden, das uns zur Annahme
nur je eines Gamosomenpaares für je ein Merkmalpaar stimmt, scheint
mir auch geeignet, eine Entscheidung in der Frage über die »qualita-
tive Verschiedenheit im einzelnen Chromosom« herbeizuführen. BovErı
sprach sich für eine solche Verschiedenheit aus”, weil es Fälle gibt,
in welchen während der Furchung die dem Soma zufallenden Zellen,
im Gegensatz zu den Urgeschlechtszellen, einzelne Stücke ihre Chro-
mosomen abstoßen. Ist das gespaltene Merkmal nur in einem einzi-
Chromosom des Gonotokonten der Erbse vorhanden und nur durch
ein einziges Gamosom dort vertreten, so kann ein solches Chromosom
auch nicht seiner ganzen Länge nach qualitativ gleiche Eigenschaften
beanspruchen.
Die im vorausgehenden entwickelten Ansichten weichen in mancher
Beziehung von meinen früheren ab. Ich wage nicht anzunehmen, daß
sie in allen Punkten nunmehr das Richtige treffen, doch geben sie
Ausdruck dem, was in diesem Augenblicke meine wissenschaftliche
Überzeugung ist. »Wo ich etwas antreffe, das mich belehrt, da eigne
ich es mir zu. Das Urteil desjenigen, der meine Gründe widerlegt,
ist mein Urteil, nachdem ich es vorerst gegen die Schale der Selbstliebe
und nachher in derselben gegen meine vermeintlichen Gründe abge-
wogen und in ihm einen größeren Gehalt gefunden habe.«®
! E. SrrAsguURGEr, Histol. Beitr. Heft III, 1900, S. 45.
BER 2.08.20.
® Immanver Kayr, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der
Metaphysik 1766, S. 74.
Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 24. März 1904. 615
Zusatz zu der Mittheilung von Ilrn. Prof. F. Braux in Strassburg im Sitzungs-
bericht der phys.-math. Classe vom 21. Januar:
Der Herrz’sche Gitterversuch im Gebiete der sichtbaren Strahlung.
Verf. hat nachträglich mitgetheilt, dass in seiner Abhandlung eine in
Wıerpemann’s Annalen 60, 1897 erschienene Arbeit von H. Rusexs und E.F.
Nicnors in Folge Übersehens unerwähnt geblieben sei. »Mit Hülfe der Ruzenxs-
schen »Reststrahlen« haben HH. Rusens und Nıcnors schon im Jahre 1897
nachgewiesen, dass diese, deren Wellenlänge etwa 40 mal diejenigen des sicht-
baren Lichtes übertrifft, sich gegen Metallgitter verhalten wie elektrische
Wellen. Der Nachweis, dass in der Strahlung leuchtender Körper Schwin-
gungen dieses Charakters enthalten sind, ist damit natürlich gegeben. «
Ausgegeben am 7. April.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei.
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SITZUNGSBERICHTE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
XIX. XX. XXI
7. 14. April 1904.
MIT TAFELV.
—— K
BERLIN 1904.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
Auszug aus dem Reglement für die Redaction der »Sitzungsberichte«.
SIT-
2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Oetav regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die sämmtlichen zu einem Kalender-
jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
fortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserdem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch-mathematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch-historischen Classe ungerade
Nummern.
8.2.
1. Jeden Sitzungsbericht eröffnet eine Übersicht über
die in der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilungen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten.
2. Darauf folgen die den Sitzungsberichten über-
wiesenen wissenschaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckfertig übergebenen, dann die, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gehö-
rigen Stücken nicht erscheinen konnten. Mittheilungen,
welche nieht in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet.
85.
Den Berieht über jede einzelne Sitzung stellt der
Seeretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte,
Derselbe Secretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei-
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
86.
1. Für die Aufnahme einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $ 41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglement die folgenden beson-
deren Bestimmungen.
2, Der Umfang der Mittheilung darf 32 Seiten in
Octav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nicht übersteigen. Mittheilungen von Verfassern, welche
der Akademie nicht angehören, sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist
nur nach ausdrücklicher Zustimmung der Gesammt-Aka-
demie oder der betreffenden Classe statthaft.
3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
tenden Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Nothwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzschnitte fertig sind und von
besonders beizugebenden Tafeln die volle erforderliche
Auflage eingeliefert ist.
57.
1. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
schaftliche Mittheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer Ausführung, in
deutscher Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2. Wenn der Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
Die Akademie versendet ihre »Sitzungsberichte« an diejenigen Stellen, mit denen sie im Schriftverkehr steht,
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinbart wird, jährlich drei Mal, nämlich:
die Stücke von Januar bis April in der ersten Hälfte des Monats Mai, i 5
» Mai bis Juli in der ersten Hälfte des Monats August, ”
» October bis December zu Anfang des nächsten Jahres nach Bertgeling des Rain
\
I
t
|
|
öffentlichen beabsichtigt, als ihm dies nach den gelten-
den Rechtsregeln zusteht, so bedarf er dazu der Ein-
willigung der Gesammt- Akademie oder der betreffenden
Classe.
88.
5. Auswärts werden Correeturen nur auf besonderes
Verlangen verschickt.
auf Erscheinen ihrer Mittheilungen nach acht Tagen.
sıl.
1. Der Verfasser einer unter den »Wissenschaflichen il
Mittheilungen« abgedruckten Arbeit erhält unentgeltlich
fünfzig Sonderabdrücke mit einem Umschlag, auf welchem 3
der Kopf der Sitzungsberichte mit Jahreszahl, Stück-
nummer, Tag und Kategorie der Sitzung, darunter der
Titel der Mittheilung und. der Name des Verfassers stehen.
2. Bei Mittheilungen, die mit dem Kopf der Sitzungs-
berichte und einem angemessenen Titel nicht über zwei
Seiten füllen, fällt in der Regel der Umschlag fort.
3. Einem Verfasser, welcher Mitglied der Akademie
ist, steht es frei, auf Kosten der Akademie weitere gleiche
Sonderabdrücke bis zur Zahl von noch hundert, und
auf seine Kosten noch weitere bis zur Zahl von zwei-
hundert (im ganzen also 350) zu unentgeltlicher Ver-
theilung abziehen zu lassen, sofern er diess rechtzeitig
dem redigirenden Secretar angezeigt hat; wünscht er auf
seine Kosten noch mehr Abdrücke zur Vertheilung zu
erhalten, so bedarf es der Genehmigung der Gesammt-
Akademie oder der betreffenden Classe. — Nichtmitglieder
erhalten 50 Freiexemplare und dürfen nach rechtzeitiger
Anzeige bei dem redigirenden Secretar weitere 200 res
plare auf ihre Kosten abziehen lassen.
$ 28.
1. Jede zur Aufnahme in die Sttzungeberieh& te
stimmte Mittheilung muss in einer akademischen Sitzung.
vorgelegt werden. Abwesende Mitglieder, sowie alle
Nichtmitglieder, haben hierzu die Vermittelung eines ihrem:
Fache angehörenden ordentlichen ‚Mitgliedes zu benutzen.
Wenn schriftliche Einsendungen auswärtiger ‚oder corre-
spondirender Mitglieder ee bei der Akademie oder bei
einer der Classen eingehen, so hat sie der vorsitzende
Secretar selber oder durch ein anderes Mitglied zum
Vortrage zu bringen. Mittheilungen, deren Verfasser der
Akademie nicht Augchördnl hat er einem zunächst; geeignet
scheinenden Mitgliede zu überweisen. ri
[Aus Stat, $ 41, 2. — Für die Ratakbmei bedarf es
einer ausdrücklichen Genehmigung der Akademie oder
einer der Classen. Ein darauf gerichteter Antrag kann,
sobald das Manuscript druckfertig vorliegt,
gestellt und sogleich zur Abstimmung. Be u
$ 29.
l. Der redigirende Secretar ist für den Inhalt u
geschäftlichen Theils der Sitzungsberichte, jedoch nicht
für die darin aufgenommenen kurzen Inhaltsangaben der.
gelesenen Abhandlungen verantwortlich. Für diese wie
für alle übrigen Theile der Sitzungsberichte ‚sind
nach jeder Richtung nur die Verfasser verant-
wortlich. .
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Die Verfasser verzichten damit
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617
SITZUNGSBERICHTE 1904.
XIX.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
7. April. Gesammtsitzung.
Vorsitzender Secretar: Hr. Auwers.
l. Hr. von Wıramowrrz - MOELLENDORFF las: Satzungen einer mi-
lesischen Sängergilde.
Auf einem Steine, der aus den milesischen Ausgrabungen eben in die König-
lichen Museen gelangt ist, steht eine umfängliche Inschrift, die zwar erst um 100 v. Chr.
geschrieben ist, aber Copie einer Urkunde spätestens um 500 v. Chr., die selbst wieder
auf beträchtlich ältere Aufzeichnungen zurückgeht. Wir haben also einen zusammen-
hängenden Text aus der Zeit, wo die griechische Prosa eben in Milet litterarisch zu
werden begann.
2. Die folgenden Druckschriften wurden vorgelegt: H. Diers und
W. Scnugert, Didymos’ Kommentar zu Demosthenes (Papyrus 9780)
nebst Wörterbuch zu Demosthenes’ Aristokratea (Papyrus 5008). Berlin
1904 (Berliner Klassikertexte her. von der Generalverwaltung der
Kgl. Museen. Heft I.); Anorr Erwman, Aegyptische Chrestomathie zum
Gebrauch auf Universitäten und zum Selbstunterricht. Berlin 1904:
C. Scamipt, Acta Pauli. Aus der Heidelberger koptischen Papyrushand-
schrift Nr. ı herausgegeben. Leipzig 1904: Hermann Braus, Tatsäch-
liches aus der Entwickelung des Extremitätenskelettes bei den nie-
dersten Formen. Jena 1904 (S. A.); Hexrı Moıssan, Traite de chimie
minerale. Tome I, Metalloides, fase. 1. Tome III, Metaux, fase. 1.
Paris 1904.
3. Aus Anlass der Feier des achtzigsten Geburtstages von TnEopor
Monnsen am 30. November 1897 und in dem Wunsch, seinem Namen
ein neues dauerndes Denkmal verehrungsvollen Dankes zu setzen, haben
einige persönliche Freunde ein Capital von 80000 M. mit der Be-
stimmung zur Verfügung gestellt, diess Capital einer Stiftung zur
Förderung derjenigen Studien zu widmen, deren Pflege T#Eopor MomMsEN
sich vorzugsweise zur Lebensaufgabe gemacht hatte.
Bei seinen Lebzeiten aufkommende Zinsen sollten dem ursprüng-
lichen Stiftungscapital zugeschlagen. nach seinem Tode das Ganze
Sitzungsberichte 1904. 50
618 Gesammtsitzung vom 7. April 1904.
von den vorläufig eingesetzten Verwaltern der Akademie zur stiftungs-
mässigen Verwendung übereignet werden.
Nachdem die landesherrliche Genehmigung zur Annahme der Zu-
wendung durch Allerhöchsten Erlass vom 26. Januar d.J. erfolgt ist,
hat die Akademie gegenwärtig das Stiftungsvermögen in Besitz ge-
nommen. Die für die Verwaltung und Verwendung vorgeschriebenen
Bestimmungen werden hier weiter unten im Wortlaut der Stiftungs-
urkunde mitgetheilt.
Die Namen der Stifter sind ihrem Wunsche entsprechend bis
jetzt der Akademie nicht kundgegeben worden. Die Akademie kann
daher nur diesen öffentlichen Weg einschlagen, um der Dankbarkeit
Ausdruck zu geben, zu welcher die Stifter durch die eben so hoch-
herzige wie verständnissvolle Förderung wissenschaftlicher Arbeit sie
verpflichtet haben.
Die Akademie hat das auswärtige Mitglied der philosophisch -histo-
rischen Classe Hrn. Orro von BönHrtLisek in Leipzig am ı. April. und
das correspondirende Mitglied derselben Classe Hın. ALEXANDER STUART
Murray in London am 5. März durch den Tod verloren.
619
Satzungen einer milesischen Sängergilde.
Von ULrıcH von WILAMOWITZ- MOELLENDORFF.
Hierzu Taf.V.
Der Stein, dessen Photographie ich vorlege, ist mir von dem Direktor
der Sammlung der antiken Skulpturen unseres Museums, Hrn. KEkuLE
VON STRADONITZ, zur Herausgabe anvertraut worden; bei seiner unge-
wöhnlichen Bedeutung habe ich nicht warten mögen, bis ich die Er-
läuterung erschöpfen könnte, sondern schleunigst allen die Gelegenheit
geboten, zu ergänzen, was ich versäume.
Der Stein ist in diesem Winter unweit der Löwenbucht entdeckt,
in einem Heiligtume, das nach den Angaben des Hrn. Tu. Wırsann
mit Sicherheit als das des Apollon Delphinios anzusprechen ist; seit
einigen Wochen ist es im Pergamon-Museum. Es ist eine Steinplatte
mit seitlichen Anschlussflächen, hoch 2.51, breit oben 1.17, unten 1.29,
diek oben 0.14, unten 0.26; unter der Schrift ist noch ein Raum
in der Höhe von 0.93 frei. Weiterer Beschreibung überhebt mich
die Photographie. Er ist so gut wie intakt erhalten; nur an zwei
Zeilenenden (20. 21) fehlt ein Buchstabe; in Z. 34 hat der Schreiber
zwei Buchstaben getilgt, irgend eine Verschreibung zu beseitigen. Keine
Spur von Interpunktion. Man sieht der Schrift leicht an, daß sie
jünger ist als die datierbare Kalenderinschrift des Theaters (Sitz.-Ber.
1904 S.92ff.), die von verschiedenen Händen herrührt. Etwa 100 v.Chr.
ist das höchste mögliche Alter. Allein Orthographie und Sprache zeigen
auf den ersten Blick, daß wir die Erneuerung einer alten Urkunde
vor uns haben, obwohl darüber jeder Vermerk fehlt. Dabei sind von
derselben Hand als Nachträge zwei Sätze durch Leerlassen einer Zeile
abgeteilt: auf dem Originale werden sie von anderer Hand gewesen
sein. Es ist nach anderen Analogien sehr wohl denkbar, daß auch
innerhalb des Textes dort Tilgungen und Zusätze vorgenommen waren;
die Erläuterung wird lehren, daß der Text nicht einheitlich ist. Allein
das läßt sich in der Kopie nicht unterscheiden, und jeder Schluß wird
dadurch unsicher, daß schon das Original eine Ältere, durch Zusätze
50*
620 Gesammtsitzung vom 7. April 1904.
erweiterte Aufzeichnung voraussetzte. Da sich an einigen Stellen un-
zusammenhängende Worte, Z. 6 sogar sinnlose Buchstaben vorfinden,
muß man auch mit der Verstümmelung der Vorlage rechnen. Der
Abschreiber, dem sehr vieles unverständlich sein mußte, hat im ganzen
sorgfältig gearbeitet und je weiter er kam, um so mehr sich auf die
Wiederholung der Buchstaben beschränkt. Seine Vorlage schrieb durch-
weg den hybriden Diphthong oy nur mit o; das hat er erhalten. Das
entsprechende e hat er zu Anfang mehrfach in das ihm geläufige cı
umgesetzt, eeınaı 4, creicocı 6, eyeın IO, 24; dann hat er es gelassen.
Das Iota der Diphthonge mit langem ersten Vokale, das zu seiner
Zeit nicht nur verstummt war, sondern vielfach fortgelassen ward,
hat er sehr oft fortgelassen, meist hinter 4, aber auch hinter w, 26.
Hinter # war es freilich schon zur Zeit des Originales im Ionischen
nieht mehr fest: aber es läßt sich nieht entscheiden, was davon auf
das Original zurückgehen kann. Höchst verwirrend war dem Kopisten
das ionische #ı, das von Haus aus zweisilbig gewesen war, zur Zeit
des Originales wohl schon einsilbig, und nun als eı oder # lebte, ge-
sprochen i oder als sehr spitzes e.e Da ist das ı bald fortgelassen
(z.B. ıepno 38), bald gesetzt, und sogar doppelt geschrieben, 1erHıla
14, 19; xPHlizwcı 4I; TeAHa I5 neben TeneiA 20, 21, TIAHON 23 für Traelon.
Fälschlich zugesetzt ist ein ı in oyrwı 5: das entspricht der Weise
derselben Zeit. Sehr bemerkenswert ist e für aı zweimal, in KATA
CTIENAETE 26, ıcea IO, wo der normale Akzent freilich icala ist; aber
der Kopist kannte das Wort überhaupt schwerlich, und wenn wir
z. B. sehen, daß der Pergäer Artemidoros, der Wohltäter Theras,
seine Heimatsbezeichnung rmerraloc konstant als Daktylus gebraucht,
so beweist das nieht nur, daß auch der eirkumflektierte Diphthong
vereinfacht ward, sondern, sollte ich meinen, daß die Betonung des
Lebens nicht auf dieser Silbe ruhte. Unsere Akzentuation ist ja Sklavin,
wenn nicht bloß byzantinischer, so doch herodianischer Paradosis, und
die lebendige Rede wird sich von der des Papieres in der Betonung
nicht weniger unterschieden haben als sonst. Daß wir hierin noch
die Fesseln des Trägheitsgesetzes tragen, liegt ja nur daran, daß die
Zeugnisse der echten Sprache keine prosodischen Zeichen tragen. Die
einzelnen Verschreibungen werden praktischer je an ihrem Orte be-
sprochen.
Ich setze nun die Inschrift mit Worttrennung, gemeinen proso-
dischen Zeichen und Interpunktion, aber ohne jede Änderung her,
der Übersichtlichkeit halber in Abschnitten, die gleich besprochen
werden. Hinzu füge ich nach dem Vorgange der französischen Epi-
graphiker eine Übersetzung; das ist wirklich nützlich, nicht nur als
Kontrolle des Herausgebers.
Sitzungsber. d.
OPTFAOFURS USYOSISOTFW dOuTo uoFunzyeg » JINOANATTAON] - ZUIMONVTIM NOA
er. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1904.
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vox Wıraxowrrz-MOoELLENDORFF: Satzungen einer milesischen Sängergilde. 621
"Em PınTew TÖ A1oNnYcio MOATIÖN AICYMNÖNTOC, TIPOCETAIPOI ÄCAN OINnW-
man AramHaHc APrıctokpAteoc, OrnHewn Avkoc KnEANToc
Biwn Aronnoawro, Bwpswn KpHeeYc "EpmwnAKktoc OPpAcun An-
TINEONTOC, EAOEZE MOATIOICIN’ TÄ OPFIA ANATPAYANTAC BEINAI EC
TO IEPON KAl XPÄCBAI TOYTOICIN. KAl OYTWI TÄAE TPABBENTA ETE
en.
Unter Philtes, Dionysios S., als Obmann der Sänger, Beigenossen
waren aus der Phyle der Oinoper Agamedes, Aristokrates S., aus der der
Hoplethen Lykos Kleas S., Bion Apollodoros S., aus der der Boreer Kre-
theus Hermonax S., Thrason Antileons S., beschlossen die Sänger, eine
Niederschrift der Kulthandlungen in dem Heiligtume niederzulegen und diese
anzuwenden. Und so ward diese Schrift niedergelegt.
2.1. Der Mann heißt ®ıntAc, kontrahiert aus ®ıinteac, das zeigt
2. 30 Xarew, denn das ist der XarpAc Kaecıoc, Teixiöche Apxöc, dessen
Porträtstatue wir besitzen (Rönt, Inser. ant. 488). Wir hatten XArkc
betont, als ob der Genetiv XArHtoc wäre wie in Athen. So ist auch
die echte Form OaAnfc Oanew, kontrahiert aus Baneac, gut griechisch;
begreiflich, daß man oft OAnHtoc deklinierte. — AlcymnAtHc heißt der
Vorstand der Sänger; als Name eines Beamten unbekannter Kompetenz
kennen wir ihın aus den dirae Teiorum; zwei Aisymneten sind einmal
in Naxos eponym. (DITTENBERGER, Syll. 517). Als höchster Beamter er-
scheint der aicımnnarac in Megara; bekannt ist die Verwendung des Titels
für außerordentliche Beamte, wie Solon in Athen (mit dem Titel aıan-
aaKTHc), Pittakos in Mytilene, wie Aristoteles aus Kyme jemanden kannte
(Fgm. 594: Schol. Eur. Med. 9 scheint minder glaubhaft), und der Name,
der die Billigkeit hervorkehrt, ist wohl überall gesucht worden, als
man das alte Recht der Könige oder des Adels brach oder beugte.
Aber schwerlich ist der aicvmn#ATtHc der monrioi einem staatlichen Beamten
nachgebildet. Ein besonders junges Stück des Epos liefert eine viel
bessere Analogie; übrigens erscheint schon da die falsche Vokalisierung
mit v, die nur in Megara nicht eingedrungen ist. © 269 treffen wir unter
den Phäaken neun aAicymnAtaı bei einer Vorstellung von Gesang und
Tanz. Sie sind atmıoı ol KAT’ Arünac Ey TPÄCCEcKoN ArTANTA. Sie glätten
den Tanzplatz, machen Raum für die Vorstellung: Herold und Sänger
stehen ihnen bei, wie sie uns hier im Nachtrage begegnen werden.
Den sHTApmonec der Phäaken entsprechen die monnoi Milets. Sie sind
ein selbständiges Kollegium; aber als mpoceraipoı (durch die Präposition
wird scharf betont, daß sie keine morroi sind)‘ treten fünf Vertreter
des Volkes hinzu, a4mioı, wie die Odyssee sagt, gewählt aus Phylen
1 TIPOCETAIPILTEIN, TIPOCETAIPICTHC findet sich bei Herodot und Thukydides; echt
attisch ist es nicht; da würde man TIAPeAPoI sagen.
622 Gesammtsitzung vom 7. April 1904.
des Volkes. Ob die drei hier genannten damals die einzigen waren,
oder die Phylen nur in einem Turnus berücksichtigt wurden, muß
dahingestellt bleiben. Alle drei kennen wir aus den milesischen
Kolonien, z. B. Kyzikos, allerdings mit mehreren anderen." Jedenfalls
hat Milet nicht die vier vorkleisthenischen Athens gehabt. Die Form
“Oraneec ist mir neu und sehr befremdlich. Die Bwreic® hat der
Kopist verlesen (E zu B); die alten Phylen bestanden zu seiner Zeit
nicht mehr. — Z. 5 öprıa bezeichnet noch einfach iepA Aarwmena ohne
den Nebensinn des geheimen oder des orgiastischen; so wenden Aischy-
los (Sieben 180) und Sophokles (Ant. 1013, Trach. 765) das Wort
noch an, nicht mehr Euripides und Aristophanes. — Wer die Auf-
zeichnung besorgt hat, bleibt ungesagt; das Kollegium hat offenbar
noch keinen Protokollführer. Die Aufstellung geschieht in dem Heilig-
tum, offenbar dem des Apollon, in dem die Abschrift gefunden ist.
Das ist aber nicht das eigene Lokal der Sänger, die keineswegs bloß
für den Apollonkult da sind. Ihr eigenes Lokal wird oft daneben er-
wähnt, immer so, als hieße es monroc oder monmon, denn es steht
Ec MmonTIoN 20, &mMmontiwi I2, 17, 43. Ein solehes Wort ist sprachlich
kaum zulässig, und so vermute ich, daß überall der Genetiv monmön
gestanden hat, den der Kopist nicht verstand. Das ist um so glaub-
licher, als er 2.45 Amö mornnoön, obwohl er das öfter richtig geschrieben
hatte, zu armomonnmwı verdorben hat. Aufgezeichnet sind keineswegs
alle Handlungen der Sänger, sondern nur wenige, die sich nämlich
auf den Dienst des Apollon beziehen, also mit diesem Heiligtume zu-
sammenhängen. Aber allerdings geht die Konstitution der Genossen-
schaft im Apollonheiligtum vor sich. Das ergeben die nächsten Ab-
schnitte.
6 "EBAomAloicı" THI OFAWIATITONEIKAI TA IEPA H CTIAATXNA CTTEICOCI MOATIWN
AICYMNHTHC' Ö A& AICYMNHTHC KAl O TIPOCETAIPOC TIPOCAIPETAI, OTAN Ol
KPHTHPEC TTÄNTEC CTIECBEEWCI KAl TIAIWNICWCIN.
Am Feste des Siebenten, am achten .........2cee2.: > der Obmann
der Sänger; der Obmann wählt sich auch Beigenossen, wenn alle Misch-
krüge gespendet sind und sie den Päan gesungen haben.
Die "Esaomata werden den Apollon angehen, als sein Geburtsfest;
ich kenne sie sonst nicht. Bezeichnend für das Statut ist, daß es an
! Szanro, Die griechischen Phylen 55 ff.
® Ihr Eponyın Boros erscheint in einer Nelidengenealogie bei Pherekydes (Schol.
Plat. Symp. 2084, Pausan. II 18), und, was sehr wichtig ist, als Führer einer der
fünf cTixec, in die das ınyrmidonische Heer zerfällt, in der ordre de bataille, die
in die alte Patroklie eingelegt ist (TT 177). Die Phyle ist später noch ein militärischer
Begriff, und das Heer pflegt eher eine Ordnung und Gliederung zu erfahren als die
Gemeinde.
von Wıranowirz-MOELLENDORFF: Satzungen einer milesischen Sängergilde. 623
dem ,Haupttage selbst die Sänger nicht beschäftigt zeigt: sie werden
da bei sich, nicht für diesen Tempel zu tun gehabt haben. Die fol-
genden Buchstaben entziehen sich dem Verständnis; der Kopist hat
seine Vorlage nicht mehr lesen können, und ich vermag nichts zu er-
raten. Man erwartet die Bestellung des Aisymneten. In dem nächsten
Satze gewinnt man den angemessenen Sinn, wenn man den Artikel
vor mpoceraipoc tilgt; dann ist das Akkusativ des Plurals, und der Fehler
erklärt sich daraus, daß der Kopist diesen verkannte. Daß der Beanıte
sich seine Beigeordneten selbst wählt, entspricht der attischen Ordnung.
Hier geschieht das nach Vollendung der Kulthandlung; die Vertreter
der Gemeinde sind eben keine Mitglieder der Gilde. Was man sich
genauer dabei zu denken hat, daß der Mischkrug libiert wird, ist frag-
lich; der Ausdruck kehrt 13 wieder. Vermutlich ist es kurz dafür
gesagt, daß der Mischkrug dadurch geweiht wird, daß aus ihm ge-
spendet wird, so daß die Beigenossen erst zutreten, nachdem die
Weihung geschehen ist, aber am Trinken teilnehmen.
TH AE& ENATH KAl ATIO
TÄC Oc#Yoc Kai THC TIEMTTAAOC HN ICXOCIN CTEBANHBÖPOI,
0 TOYTWN TIPONATXANEI TÄ ICEA Ö NEOC' ÄPXONTAI BYEIN TÄ IEPHA
APXO ATIO TOYTWN ArtönnwnI Aensıniwi' KAl KPHTÄPEC KIPNEATAI KATÖ-
TTEP EMMOATIWI KAI TTAIWN TINETAI, Ö A& EEIWN AICYMNHTHC ATIO TON HMice-
wN eYeı ICTIHI" KAl KPHTÄPAC CTIENAETW AYTÖC KAI TIAIWNIIETW.
Am neunten. Sowohl von der Hüfte wie von dem Fünftel, das die
Kranzträger erhalten, von diesen bekommt vorab das Entsprechende der Neue.
Sie fangen an, die Opfertiere zu schlachten ..... dem Apollon Delphinios.
Und Mischkrüge werden gemischt wie im Sängerhause, und es gibt einen
Päan. Der abtretende Obmann opfert von der Hälfte der Hestia, und
Mischkrüge soll er von sich aus spenden und einen Päan soll er singen.
Der Neue ist, wie der Gegensatz des abtretenden zeigt, der Aisym-
netes, der nun zum ersten Male fungiert, also den Tag zuvor gewälhlt
sein muß. Er erhält diesmal Anteil an den Opferstücken, die sonst
ihre bestimmten Abnehmer haben. Das Fünftel der Kranzträger kommt
noch öfter vor; die Hüften gehören nach 38 den Onitaden. Wieviel
der neue bekommt, ist mit TA icala bezeichnet. Darin liegt, daß es nicht
dasselbe zu sein braucht, TA ica, sondern gleichwertig. Hesych ica a’
MEPIC, Ol A&, ÄraeH KAl ICH Molpa. So wendet denn auch Kallimachos ı, 63
er icaiHı" in dem Sinne an, in dem das fünfte Jahrhundert &m ichı Kal
! Solche Stellen verführten zu dem Wahne, icala wäre ein Substantiv; das
empfahl ein Purist wie Phrynichos (@Prala Berk. An. 73), und dann bildete sich ein
Geck wie der jüngere Philostrat (Imag. 3) ein, es wäre griechisch, wenn er schrieb
TÄC ICAIHC ErImenoYMmenoc EN T@I ArtoTemnein. Griechisch wäre ToY icoY gewesen.
624 Gesammtsitzung vom 7. April 1904.
dmoiaı mit schärferer Präzisierung sagt (nicht nur Athen, sondern auch
Herodot 9, 7). — Texeın, das reduplizierte Präsens, hat intensive Kraft,
obtinere. Gegenüber narxAneın liegt darin der dauernde rechtliche An-
spruch auf das Präzipuum. rera icxein Thuk. 3, 58 genau so; Herodot
5, 41 talaa Tcxeı, bekommt ein Kind; Pherekydes im schol. Apoll.
Rhod. 3, 1186 "Icaih, An icxeı Airvrıtoc, erhält zur Frau. Die attische Tra-
eödie und Pindar kennen solchen Gebrauch nicht mehr; abgesehen von
der Bedeutung cohibere, inhibere,, KATEXEIN Emexein, ist Icxein synonym mit
&xeın und überwuchert in der späten Zeit, weil es klangvoller ist. — Der
Satz ÄpxonTAı eYein TA IEPHA APxXO ATIÖ TOYTwn Arıönnonı Acnsınioı wird durch
Ausfall, Unleserlichkeit oder teilweise Tilgung der Vorlage unverständ-
lich geworden sein. Man vergleicht 23 Apxonraı ol CTEsANHeOPOI TAyPpe@noc
ovein Artöanonı Aecrsıniwı ATTO TÜN APICTEPON ATTAPzAMmenol. Aber weder APxo,
das sowieso verstümmelt ist, noch Arö roYTaon fügt sich einer analogen
Gestaltung. — Dem Beginne des Opfers entspricht, daß gleich danach
die Mischkrüge nur gemischt werden, also das Spenden noch nicht
eintritt. Daß wir über die Zeremonie im Unklaren bleiben, ist be-
greiflich, da mit Katörer Em monmon auf die den Sängern in ihrem
Hause geläufige Praxis verwiesen wird. Der abtretende Obmann hat
die Hälfte zur Verfügung; daß dies vorausgesetzt wird, muß der archai-
schen Rede zugute gehalten werden. Er leistet das Abschiedsopfer
an Hestia, d.h. die Göttin des Herdes, der nicht hier, sondern in dem
Hause der Sänger ist. Es geziemt sich, daß er der Göttin des Hauses
huldigt, dem er ein Jahr lang vorgestanden hat. Aus dem Besitze
der Hestia nehmen die Sänger (Z.41) Gerät und sonstiges Zubehör zum
Opfer. — Mit Übergang aus dem Präsens, das die öprıa nicht sowohl
vorschreibt als beschreibt, in den Imperativ heißt es dann eyeı... kai
crrena&tw. In einem Atem redet so kein Mensch. Das ist ein Zusatz;
aber da der Obmann die Mischkrüge ayrtöc spenden soll, d.h. ohne
Ingerenz anderer, also sua sponte et pecunia, so konnte dieser Zusatz
wohl gemacht werden, als man unter Philtes die örrıa aufschrieb. Was
nicht bare Pflicht war oder aus der Überantwortung der Opferstücke
von selbst folgte, das stand in der Hand des Beamten: das Kollegium
konnte ihm nur ans Herz legen, es so zu machen wie schicklich und
von dem seinen etwas zuzufügen.
TÄI AcKA-
THI ÄMIAAHTHPIA, KAl AIAOTAI ATTO MOATIÖN AYO TEPHIIA TOICI CTEBANHPO-
15 POICIN TEAHA, KAl Epaeraı Arriönnwnı Aensiniwi, KAl AMIANONTAI Ol CTE-
®ANH®ÖPOI Oi TE NEOI KA| OIEPEW, KAl OINON TIINOCI TOM MOATIÖN, KAl KPHTÄPEC
CTTENAONTAI KATÖTIEP EMMOATIWI" Ö AL EEIWN AICYMNHTHC TIAPEXEI ATIEP Ö
ÖNITAAHC Kal NATXÄNEI ATIEP Ö ÖNITÄAHC
r ’ ” - . ur . Auyın
von Wıramowrrz-MoELLENDORFF: Satzungen einer milesischen Sängergilde. 625
Am zehnten Wettkämpfe, und gegeben werden aus dem Besitze der
Sänger zwei Opfertiere den Kranzträgern, vollkommene (ausgewachsene),
und werden dem Apollon Delphinios geschlachtet. Und es konkurrieren die
Kranzträger, sowohl die neuen wie.........-. Und sie trinken den Wein
der Sänger, und Mischkrüge werden gespendet wie im Hause der Sänger.
Der abtretende Obmann leistet was der Eseling leistet und erhält was der
Eseling erhält.
ÄMIAAHTHPIA, mit einem neuen Worte, heißt was in Attika Arönec
heißt, wo nur die Regatta den ionischen Namen Amınna behalten hat.
Da wir mit Sängern zu tun haben, wird sich die Konkurrenz auf dem
Gebiete der monrı# bewegen; man denkt sich das gut nach dem o der
Odyssee, das uns den Aisymneten zeigte. Dazu braucht man den Fest-
braten, den die Sänger aus eignem Besitze bringen und diesmal dem
Gotte dieses Heiligtums opfern, und man braucht Wein, den sie auch
aus eignem liefern. &raeın in sacraler Bedeutung bei Homer verbunden
mit iepa oder exarömsHn, Ähnlich Herodot; aber als Synonym zu eveın
den Antiquaren (Porphyr de abst. 2, 59) und Grammatikern (Hesych)
bekannt. An der Konkurrenz beteiligen sich die Kranzträger, von denen
wir schon hörten, daß ihnen ein Fünftel des Opfers zufiel, sowohl die
neuen (denn te mul zwei Unterabteilungen unter cresanHsöroı bringen:
daß es anreihe, ist wider die einfache Rede) Kal oıerew. Soll man lesen
Kal 6 Terpewc, also nur den Ausfall des Schluß-c von ierewe (so be-
kanntlich milesisch für fepevc) annehmen? Schwerlich. Denn daß der
Priester allein den neoı angereiht wäre, ist unglaublich: das würde
sein oil TE Annol CTESANHEÖPOI Kal Ö Tepewc. Aber ein einzelner Priester
paßt als Konkurrent überhaupt nicht. Also wird abzuteilen sein kai
oi erew, und in diesem entweder der Gegensatz zu den neugewählten
stecken. wie oben neoc und &zıon:; aber enoı ist zu kühn, und von einer
Wahl der Kranzträger sonst keine Spur; oder aber es ist eine höhere
Klasse von cresanHeöroı den Jungen entgegengesetzt. Am leichtesten
wird oi iepew: sein, dessen schließendes Iota der Kopist auslassen durfte.
Das wären also Priester, die sich freilich mit dem einen von Z. 45
schlecht vertragen: wenn nicht gar ierewc —= lerHoc, in seiner Ableitung
überhaupt das ierön einaı, nicht das iereyein, wie Tererc, trägt, nicht
den Sehlächter bedeutet, sondern den einem Gotte gehörigen‘, also den
bewährten Genossen gut zukommen kann.
Die "OnıtAaaı sind nach den Pflichten, die ihnen unten auferlegt
werden, die Genossen, die eigentlich alle Dienste zu leisten, auch alles
' Die Bildung ist keineswegs erst asiatisch, AmeIAPHoc — AmelArewc, daneben
AMBSIAPHC, wie IEPHc in Arkadien (oder iepäc, wieder ist der Akzent eine Täuschung),
in Oropos gibt eine genaue Analogie, und der Name hat auch dort überwiegend die
dorische Vokalisation, mit der er in das Epos kam.
626 Gesammtsitzung vom 7. April 1904.
Geschirr und Handwerkszeug zu stellen haben, und nur ein Stück vom
Opferfleisch bekommen. Der Name ist gentilizisch, und den Eponymos
würden wir näher kennen, wenn die Hesychglosse nicht verstümmelt
wäre, von der wir nur noch lesen önitHc' Hpwc‘ ÖNnoMmA’ Kal Icwc EIH AN."
Aber in der Genossenschaft der monnoi stehen die önıTAaaı nicht als
ein Geschlecht, neben dem ein anderes mit besserem Rechte stünde,
denn es erscheinen nur Funktionäre, CTE®ANHBÖPOI, AICYMNHTHC, TEPEWC,
und der abtretende Aisymnet rangiert als önıtaaukc. So kommt man
zu der Annahme, daß das Gros der grade nicht amtierenden Sänger
den Namen önıtAarı führt. Dann muß entweder die Gilde ursprünglich
aus dem Geschlechte der Onitaden bestanden haben, etwa wie das
Geschlecht der Euneiden in Athen Musik und Tanz bei gewissen Kult-
handlungen leistete, und später der Name auf die beschränkt sein, die
zu den eigentlichen Funktionen der mono! nicht herangezogen wurden,
was kaum wahrscheinlich ist; oder die Ableitung ist so wenig genti-
lizisch wie xpewkortiaaı oder crrovaarxiarı, und dafür der Esel bezeichnend
für die Pflichten derer, die genug zu schleppen hatten, zumal auf der
langen Prozession, die gleich beschrieben wird. In dem Namen önitkc
ist der Stamm gewiß ebenso fühlbar gewesen wie in dem Stein öniTkHe
und der Pflanze önitıc, und die öneAraı, die Kleisthenes von Sikyon
als Phylennamen erfunden haben soll (Herod. 5, 68) sind eine Parallele.
OTAN CTE®ANHEÖPOI IWCIN EC
ÄIAYMmA H TIÖNIC AIAOl EKATÖNBHN TPIA IEPHIIA TENEIA’ TOYTWN EN BANY, EN
20 A& ENOPxEC’ Ec MoArIön H TIÖnIc AlA0l TAPFHAIOICIN TEPÖN TENEION KAl METATE|!
TNIOICIN IEPON TEREION "EBAOMAIOICIN AC AYO TEAEIA Kal XÖN TOM TIANAION Ö|P
THC EKACTHC" TOYTOICI TOIC TEPOICIN Ö BACINEYC TIAPICTATAI, AATXANEI AE
OYAEN TIAHON TON AAAWN MOATION.
Wenn die Kranzträger nach Didyma gehen, gibt die Stadt als Heka-
tombe drei vollkommene Opfertiere, von diesen eins weiblich, eins unkastriert;
ins Heiligtum der Sänger gibt die Stadt an den Targelien ein vollkommenes
Opfertier, und an den Metageitnien ein vollständiges Opfertier, und an dem
Feste des Siebenten zwei vollkommene, und einen Chus von dem alten Maße
an jedem Feste. Bei diesen Kulthandlungen assistiert der König, bekommt
aber nicht mehr als die Sänger.
Der Kopist hat nicht nur wie immer &c mornön für €c Mmonm@N
geschrieben, sondern zweimal ieron für jepkıon. Bemerkenswert ist,
daß er mertareı-tnioicın abteilt: ganz richtig, denn es kann zwar kein
Wort mit ın beginnen, aber wohl eine Silbe, macht es doch nicht
! Unsere Namenlexika führen einen angeblichen Heraklessohn Onites; das ist
falsche Lesart für "Oaitkc. Ich habe die Sache für ein neues Bruchstück des hesio-
dischen Ratalogs untersucht, in dem er ergänzt werden muß. Hoffentlich kann es
bald herausgegeben werden.
Bin
Y - - ” u. * 7 Yard
von Wırauowrrz- MoELLENDoORFF: Satzungen einer milesischen Sängergilde. 627
Position. In demselben Worte ist die einzige Stelle, wo der Stein
keine unzweifelhafte Lesung ergibt: ob hinter merare noch ein Iota
stand oder nicht, bleibt wegen des verstoßenen Randes unsicher; aber
die Sprache verlangt es. Von dem Rho in örtäc am Ende der nächsten
Zeile ist keine sichere Spur; die Photographie täuscht. Inhaltlich be-
ginnt nun die Beschreibung der Hauptaktion der Sänger, die Prozession
nach Didyma; aber als die Leistung der Stadt angegeben ist, wird
gewissermaßen parenthetisch zugefügt, was sie für die hier nicht be-
schriebenen Kulthandlungen im eigenen Lokale der Sänger zu liefern
hat: ihr Anrecht war den Sängern begreiflicherweise sehr wichtig.
Die Hekatombe hat offenbar die Bedeutung eines Vollopfers bekommen,
und dies wird durch je ein Stück der drei Geschlechter bezeichnet,
denn wenn ein Männchen und ein Weibchen unter den dreien ge-
fordert sind, wird das dritte ein Hammel sein. Die Qualität Teneioc
wird durch die Kastration nicht alteriert, ist also »ausgewachsen«.
Grammatisch wertvoll ist enorpxec. Man flektiert im Maskulinum enörxkc
nach der ersten (enörxan steht auch bei Theokrit 3, 2), im Neutrum
sagt man e€norxa seit Homer Y, 147. Ein Femininum enopxic (nieoc)
bei Plinius 37, 10 könnte direkt auf örxıc bezogen werden, während
sonst Enopxıc nur als Schreibfehler für enörxuc begegnet; aber nun
werden wir es zu enopxAc ziehen und danach betonen. Unsere Stelle
entscheidet über Herodot 8, 105; enorxiwn die Florentiner Klasse, Enor-
xıewn der Romanus, enorpxewn der Parisinus: dies das richtige: R hat
beide Formen kontaminiert. 6, 32 enörxıac die Florentiner Klasse, das
attisch-vulgäre enörxac die römische; zu schreiben Enorxeac. Ein Lukian
(Dial. deor. 4, ı) beweist mit seinem &norxın nicht mehr als das Alter
der Varianten. — Tarrhnioıcın mit der Tenuis statt der Aspirata wie
bei Anakreon. — xo?Yn sagte man also schon altionisch, während die
Athener xoevc xoA festhielten; die Gemeinsprache ist wieder einmal
ionisch. Das Maß war reduziert, seit die Stadt die Lieferung auf sich
genommen hatte, aber die Sänger hielten darauf, daß sie nicht weniger
bekamen. — Der König, der geistliche Repräsentant der Stadt’, ist
beteiligt, so oft die Stadt die Opfertiere stellt, genießt aber keine
Bevorzugung. In welche Kategorie der monrıoi er gerechnet ward, ist
nicht bezeichnet; wir erfahren nirgends, was die monroi erhielten,
sondern nur von ihren Unterabteilungen.
KAl ÄPXONTAI Ol CTESANH®OPOI T AYPEW-
noc eyein Amönnonı Aenrsıniwi ATIO TON ÄPICTEPÖN ÄTITAPEAMENOI, KAl KPHTH-
25 PICAC TECCEPAC. KAI TYANO| ®EPONTAI AYO, KAl TIBETAI TIAP EKATHN THN TIPÖCBEN
iX
TIYAEWN ECTEMMENOC KAl AKPHTW KATACTIENAETE, Ö A ETeroc €c Alayma Em]
! Bekannt aus einer Opferordnung des 5. Jahrhunderts. DiirEnzerser Syll. 627.
628 Gesammitsitzung vom 7. April 1904.
BYPAC TIBETAI" TAYTA A& TIOIHCANTEC EPXONTAI THN ÖOAON THN TIAATEIAN MEXPI
ÄKPO, ÄTT ÄKPO A& AlÄ APYMÖ, KA TTAIWNITETAITIP@TON TIAP EKATH TÄTIPÖCBEN TIY-
NEWN TIAPÄ A YNAMEI, EITEN EITI NEIM@NI ETT ÄKPO TIAPÄ NYMeAlIC, EITEN
map EpmA "En-
30 KEnAAO TTAPA ®yaniwi, KATA KEPAIITHN TIAPA XAPEW ANAPIÄCIN, EPAETAI AE TOI TIAN-
eywı &reı mTapA KepaliTHIı AAPTÖN, TIAPA Dyniwı A& OYA BYETAI TTÄNT ETEA
Und es beginnen die Kranzträger im Taureon zu opfern dem Apollon
Delphinios, nachdem sie von den linken Seiten Erstlingsopfer gebracht haben,
und vier Mischkrüge geweiht hat. Und Steinwürfel werden getragen
zwei, und er wird aufgestellt neben der Hekate vor dem Tore, bekränzt (wohl
eher mit einer Binde umwunden), und er wird mit Ungemischtem besprengt.
Der andere wird nach Didyma an die Türe gestellt. Nachdem sie das getan
haben, gehen sie den breiten Weg bis auf die Höhe, von der Höhe durch den
Wald. Und Päan wird gesungen zuerst bei der Hekate vor dem Tore bei
Dynamis, dann auf der Wiese auf der Höhe bei den Nymphen, dann beim
Hermes des Enkelados bei Phylios, in der Gegend des Gehörnten bei den Manns-
bildern des Chares. Geopfert wird in dem Jahre des Allopfers bei dem Ge-
hörnten ein Abgezogenes, beim Phylios wird Räucherwerk verbrannt alle Jahre.
Das Opfer für den Delphinios, das in seinem Heiligtum gebracht
wird, gehört zu der Prozession nach Didyma, deren Datum nur in dem
Satze über das Opfer steht. Den Taureon kannten wir für Milet außer
durch seine Kolonien aus der Inschrift bei HaussouLLier Eiudes sur
V’histoire de Milet 176, und durch Herodas: der Kökkınoc BAYB@n wird
von alters her den Milesierinnen zugeschrieben. — Wie es genau zu ver-
stehn ist, daß die Ararx# von der linken Seite (des Opfertieres doch
wohl) dem Opfer vorhergeht, kann ich nicht sicher sagen; es würde
gut passen, wenn eyeın das Verbrennen des craArxna wäre, die Erzeu-
gung der duftigen «nich. Daran schließen sich die Worte Kal KPHTHPICAC
Teccerac, unverständlich. da Prädikat und Subjekt im Singular fehlen;
man erwartet die Nennung des Aisymneten. Es ist also irgend etwas
verwirrt, wohl wieder durch Ausfall. An sich ist «pHtHPicac gut: De-
mosthenes gebraucht den Ausdruck in der Beschreibung der Weihen,
in denen Aischines seiner Mutter ministrierte (18, 259), und dazu steht
bei Photius die Glosse KPATHPIIWN’ OINON EN KPATÄPI KIPN@N H ATIO KPA-
THPON EN TOIC MYCTHPIOIC CTIENAWN: es entspricht also dem KPHTÄPA CTIEN-
aeın oben. Und dal TEccerac zugefügt wird, zu dem das Nomen aus
dem Verbum zu entnehmen ist wie ekaıkAcac mian bei Aristophanes und
viel der Art, empfiehlt die Worte nur. — Der Hauptzweck der Pro-
zession nach Didyma ist die Aufrichtung der beiden ryanoi: aber da
an mehreren Punkten ein Päan gesungen wird, begreift man die Heran-
ziehung der monmoi. Nach der Fassung der Vorschrift kann es scheinen,
als würden die ryanoi beide aufgestellt, ehe die Wanderung beginnt,
=, S & A , ee 2 °
von WirLamowrrz- MoELLENDORFF: Satzungen einer milesischen Sängergilde. 629
die also den Rückweg von Didyma anginge. Allein das ist wohl nur
Ungeschiek. Hekate, die den ersten ryanöc und auch den ersten Päan
erhält, steht vor den Toren von Milet, es kann gar nicht anders sein.
Der Rückweg wird übergangen, weil er nicht mehr in feierlicher Form
gesehieht. Das Wort ryanoi erscheint hier zum ersten Male in einem
Texte, aber bei Hesych stand immer ryanöc' KYBoc H TETPÄTWNOC Aleoc:
nur zog man diesem die Schreibung derselben Glosse im Etymol. Magn.
vor, ryanöc, da es ja die Wendung ryanöc nieoc wirklich gibt (Schol. € 99
belegt sie mit einem vermutlich kallimacheischen Verse) und Analogien
nicht fehlen. Nur bleibt unverständlich, wie ryanöc, das immer etwas
mit einer Höhlung zu tun hat, grade einen Würfel bezeichnen sollte.
Nun werden wir der Schreibung des Hesych den Glauben nicht ver-
sagen. Die Errichtung eines solchen Steinwürfels für Apollon ist recht
merkwürdig; aber man versteht sie als Symbol des Agyieus, der ja
keineswegs bloß dorisch ist. Der, den in Korkyra M#c icaro (Athen.
Mitteil. XIX, 241), hat Kegelform: zylindrische geben Grammatiker an
(Hesych Arvıevc): der Würfel wird nieht minder brauchbar sein. Zu-
gehörig ist wenigstens rYanına“ Ereicmata reıcoi, das durch 'Theognostus
Can. 108 geschützt wird.‘ — Daß nach der Nennung der zwei mit dem
Prädikate im Plural ohne weiteres folgt, «al rieetaı .... und dann erst
aus 6 a’ Ereroc sich ergibt, daß der eine von beiden gemeint war, ist
sehr gutes Griechisch, mag auch oft genug ein ö men und ähnliches
interpoliert worden sein; der Sprachgebrauch gilt seit dem homerischen
TTAPAAPAMETHN, sEYTUN Ö A’ Örlicee alwkwn. — Der breite Weg ist die
heilige Straße über den Berg, das Äkron, von Milet nach Didyma. Von
den Stationen ist die erste dicht vor dem Tore; ob Dynamis ein Men-
schenname oder der eines Lokalheros ist, muß dahinstehen. Das gleiche
gilt von Phylios (der aber wohl Heros ist) und Enkelados: der Keraitnc
ist zufällig bekannt, weil Kallimachos ihn erwähnt hatte, Et. gen.
KEPAIITHC (Keraictuc, Codd. von OÖ. SchnEipEr verbessert, nur werden wir
nun nicht mehr mit ilhm «eraituc schreiben) römoc MınHToY ATIO TOoY TON
ATıIönnwNA KEPATA TOY ÄPPENOC TPATOY ÄMEATOMENOY YIT AYTOY TIHEAI EXel.
ovtw Kannimaxoc Een lAamsoıc (Fgm. 98°). Kallimachos wird die Bock-
melkerei mit seinem spöttischen Behagen erwähnt haben. —— Die Weilı-
geschenke des Chares sind die bekannten Sitzbilder, die Newron an der
heiligen Straße aufgefunden hat, jetzt im Britislı Museum (Inser. of the
Br. M. 933; Rönu, Inscr. ant. 488). Ihr Platz war also am Keraiites,
! Natürlich kenne ich den Akzent von ryanöc nicht; Hesych, oder wer es war,
der den Diogenian durchakzentuiert hat, kannte ihn auch nicht: aber es ist ja Sitte,
in diesen Dingen unehrlich zu sein. Von der Etymologie schweige ich: Tyanic TY-
Aimmoc TyYnlaac u. a. ist vielleicht zugehörig. aber auch ungedeutet. rorrYAaoc FOrFYAneIN
gehört zu rYanöc.
630 Gesammtsitzung vom 7. April 1904.
unweit von Didyma. — Das mAneyon €roc ist im Ausdruck und auch
im Begriffe neu, aber verständlich. — Das aartön ist hier wohl sicher
ein Schaf, obwohl Galen (Anatom. 7,15, II 644 K.) sagt, en TI TON
AAPTÖN ÖNOMAIOMENWN OION Ä TIPÖBATON H BoYn A Aira. In der bekannten
Opferinschrift von Mykonos (DITTENBERGER Syll. 615, 21) steht AeprA
MEAANA ETHcıA, und da ist kein Zweifel daran, daß Schafe gemeint sind.
Hesych ararA bezieht sich auf Homer Y 169, wo die Scholien die Me-
tathesis monieren, die ihrer Zeit also ungebräuchlich war; sie konsta-
tieren auch, daß die meisten Handschriften denV okalismus APreTA zeigten,
zu Mykonos stimmend. Milet zeugt für die von der Paradosis bevor-
zugte Form. — oYA sind AP@MATA, eYMIAMATA, wie die Grammatiker er-
klären (Scnxeiver zu Kallimachos Fgm. 354, der auch bei Pindar
Fgm. 130, 7 diese Bedeutung nicht bezweifeln durfte); denn die Spe-
zies mußte hier genau bezeichnet werden: eyeın im Gegensätze zu Er-
aeın hat also seine ursprüngliche Bedeutung, während es oben Z. 10
gradezu schlachten war oder zu sein schien; 24 läßt die Grundbedeu-
tung zu.
ÖNITA-
AHICI TIAPEZIC KEPAMO CIAHPO XAAKO EYAWN YAATOC KYKAWN AAIAOC PIMT@N
KPEA EITIAIAIPEN $ANATKTHPIWN AECM@N TOIC TEPHIOICIN’ TTAPÄ CTEGANHBÖPOC
AYXNON KAl ÄAnEIoA' OTITHCIC CTNATXNWN, KPE@N EYHCIC, TÄC ÖC»YoC Kal
35 TÄC TIEMTTÄAOC HN CTEBANHSÖPOI ICXOCIN EYHCIC KAl AIAIPECIC, KAl MOIPHC AA-
ZIC. EITITIECCEN TÄ EnATPA € HMEAIMNO TWTTÖAAWNI TIAAKÖNTINA, TAI EKA-
THI AE XWPIC.
Den Eselingen (kommt zu) die Leistung von Ton-, Eisen-, Erzgeschirr,
von Holz, von Wasser, von Tischen (?), von Kien, von Matten, das Fleisch
darauf zu zerteilen, von Walzen (?), von Fesseln für die Opfertiere; neben
den Kranzträgern Lampen und Öl; das Braten der Eingeweide, das Kochen
der Fleischstücke, von der Hüfte und dem Fünftel, das die Kranzträger
erhalten, das Kochen und Zerlegen, und der Empfang eines Anteiles. Die
Fladen zu backen aus einem halben Scheffel, für den Apollon in Kuchen-
art, für die Hekate aber gesondert.
Wie der verbale Ausdruck önıTAaaı TIAPexoYcI Kepamon in nominale
Form umgesetzt ist, das ist bemerkenswert, aber durchaus der Sprache
gemäß, denn da das Nomen, das dem Verbum entspricht, sein Objekt
im Genetiv erhalten muß, konnte das frühere Subjekt passend nur in
den Dativ treten, um den allerdings auch denkbaren doppelten Genetiv
zu vermeiden. Freilich ließe sich derselbe Ausdruck an sich auch
auflösen tarexeraı önıTAanıc Keramoc. Es folgt korrekt eine Reihe von
Genetiven, aber mit aYxnon kal Aneıoa treten Akkusative ein, die sich
nicht könstruieren lassen; dann folgen Nominative; aber diese bezeichnen
Aktionen, lassen sich also an mArezıc angliedern, obwohl Infinitive
r or . . . er . Gi)
von Wırasowirz- MoELLENDoRFF: Satzungen einer milesischen Sängergilde. 631
passender gewesen wären. In emimeccein kommt ein Infinitiv, aber nicht
mehr von rArezıc abhängig, sondern imperativisch, wie es sonst in
dem Statut nirgends geschieht. Offenbar sind diese Bestimmungen all-
mählich zusammengestellt; der Grundstock des Statutes reicht eben
weit über das Jahr des Philteas hinauf. So mag man sich erst mit
Kienspänen zur Erleuchtung begnügt haben, so daß die Öllampe eine
neue Auflage war, die dann bei der Einfügung nicht grammatisch an-
gepaßt ward. Und ebenso mag sich die Notwendigkeit, über die enarra
etwas zu sagen, erst später herausgestellt haben. Unter den einzelnen
Dingen, die zum Opferschmause erforderlich sind, ist unklar, was die
krenoı sind. Pollux führt zwar 6, 82 als Name für runde Servierplatten,
oYc alckovc Kanofcı, die Bezeichnung kYkaoyc Ärrypovc an, und das kehrt
10,62 wieder. Aber es fehlt ein Beleg, und da Athenäus und die
zahlreichen Komikerfragmente, die er für diese Dinge anführt, nichts
davon wissen, auch die Parallelüberlieferung bei Hesych nichts hat,
so ist der Schluß gestattet, daß wenigstens in Athen der Ausdruck
nicht galt. Eine Ergänzung Boreus, die ihn in eine attische Inschrift
gebracht hat', ist nicht nur deshalb falsch. In dem schönen Statut
für den Herakles des Diomedon aus Kos (Paron-Hıcks 36, DitTEnBERGER
Syll. 734, 128) wird zwar ein KYknoc xankorc geweiht, sicher dasselbe
wie hier, aber er steht hinter dem Bett und der zugehörigen Bank,
weit getrennt von dem anderen Hausrat, Kandelabern, Lampen usw.,
so daß man kaum an einen Teller, eher an den runden Tisch, aAickoc,
denkt, der auf den Heroenmahlen vor dem Bette zu stehn pflegt. Hier
wundert man sich über jedes Bronzegerät, da ja der xanköc schon ge-
nannt war; immerhin mag auch hier solch ein Tischehen gemeint sein,
aber ein hölzernes, das in homerischer Art vor jeden Schmauser ge-
stellt ward. — Auch Piv, Geflecht, Matte, ist kein attisches Wort (Yiasoc
würde man sagen), aber bei Heredot belegt.” Wundervoll ist die alte
ı 1G. 112,689 = (IG. ı61. Der Stein ist nur von Fouruont in einer Kirche von
Ampelokipi abgeschrieben, Köster hat sich bei Böckns Ergänzung beruhigt. Aber seit
die Zugehörigkeit des Steines zu den Inventaren der Chalkothek erkannt ist, wird
man 5 KYakoc nicht mehr in KYkaol, sondern in KYaeo| verbessern, die in der verwandten
Rechnung 678 mehrfach vorkommen; das tun KAaol auch, und bei kAnol, 6, durfte man
sich überhaupt nicht beruhigen.
2 Bei Herodot ist 4,71 Piyi rezipiert, obwohl die Florentiner Klasse Piyei hat.
Dagegen folgt die Vulgata dieser 2, 96. in @eYPH KATEPPAMMENH PITTEI KANAM@N, und man
schämt sich nicht. ein neues Wort Tö Pimoc auf den Itazismus zu gründen, obwohl
das richtige Pımi die römische Klasse und Pollux 10,43 bezeugen. Da das Wort Atlıen
gänzlich fehlt, ist das Sprichwort eeoY eenontoc KAn Emmi Pimöc mmneoic da nicht ge-
wachsen, das Aristophanes Fried. 699 parodiert. Wenn es bei Orion 5,6 scheinbar
aus dem Thyestes des Euripides angeführt wird (Fgm .397). und der Bischof Theophilos
aus BOYecroy wirklich den Autor ®ectioc gemacht haben wird, so kann der Vers dem
Euripides doch nicht zugetraut werden; möglich, daß ein Grammatiker auf eine ent-
fernte Anspielung hin den Fehlschluß machte oder nahelegte. Bei Plutarch Pyth. or. 22,
632 Gesammitsitzung vom 7. April 1904.
Kraft der Sprache in dem zur Zweckbestimmung schlicht angereihten
Infinitiv Kkpea Emiaıapein. emı ist rein lokales Adverb, mit dem Verbum
keineswegs verwachsen: Worttrennung ist in solchen Fällen Willkür;
um den Akzent wird nur streiten wer nicht weiß, was die sarcia be-
deutet. s»anarktArıa, das ein Verbum sAanAccw voraussetzt, ist ganz neu.
Von den Ableitungen dieses Stammes ist höchstens der Name einer
Spinne oAnarz attisch, eAnarz, der Keil, nicht einmal in der übertragenen
Bedeutung für die keilförmig geordnete Infanterieabteilung, obwohl das
homerisch ist: in der militärischen Sprache der Makedonen ist es eben-
sogut ein Homerismus wie die Eigennamen Alexandros, Ptolemaios,
Kassandros usw.' Dagegen ist die Bedeutung truncus ionisch (sAnarrec
esenov Herodot 3, 98) und samt Ableitungen, #AanAarro?n, einen Knüppel-
damm machen (Philon. Mech. 5, 98 ScHöne) usw. in der Gemeinsprache
und namentlich der Technik gebräuchlich geblieben und als phalanga
oder vielmehr palanga (anklingend an palus) ins Lateinische gelangt,
palanca italienisch und spanisch, daher unser Planke und das Palanguin.
Hesych hat eanärrwma mommA TIc En Toic alonvcioic, ungeschiekt gekürzt,
denn bezeichnet wird natürlich die Maschine, auf der das Schiff gezogen
ward, das in den ionischen Prozessionen den Gott trug. Und so werden
hier die sanarktäpıa die Walzen oder auch nur Böcke sein, auf denen
die apollinischen Steine an ihren Bestimmungsort geschleift werden. —
TTAPÄ CTESANH®ÖPOYC AYXNON Kal Aneiea. Die Präposition mit dem Akkusativ
ist archaisch, wie oben rieetaı tar "ERATHn.” Die Lampe ward wohl neben
den zum Schmause gelagerten Kranzträgern aufgestellt. Aneısa in dieser
Form, die doch nichts als ein verstümmeltes Aneıoar ist, war bisher
bei Aischylos Ag. 313 zuerst belegt, und überhaupt nur in Poesie.
Neu scheint die Katachrese des Wortes, in dem wir unmittelbar das
Salben hören, für Brennöl: für Speiseöl steht es bei Aischylos und
wird es von dem Arroc Aneısatitac des Epicharm (52) vorausgesetzt.
— In emimecceın »darauf backen«, em Tolc eyomenoıc muß die Präpo-
sition eine bestimmte konkrete Bedeutung haben; »außerdem backen«
würde rPpocreccein sein. — EnATPA TIEMMATA TIPOC BYcian TINACCÖMEnA Hesych.
p- 405” ist der homerische Pandaros in einer längeren Ausführung behandelt, darauf
folgt oY rAP EIxen "OMHPoC THN AYTHN TTANAAPWI AIANOIAN, El FE TIANAAPOC HN O TIOIHCAC,
BE0OY BENONTOC KAN Ermi Pimöc rmeoic. Welche Torheit, da TTinaAroc zu schreiben! Me-
nanaroc wird das Wahre sein: dem traute man noch lieber als dem Euripides ein
iambisches Sprichwort zu, und so stelıt der Vers in den MenAnaroyY MoNöcTIXA 67 1 Mein.
! Herakles ı? 11. Grundverkehrt ist aus diesen Namen jüngst wieder die
hellenische Rasse der Makedonen abgeleitet worden. die ich im übrigen gar nicht
bezweifle.
®2 Die Spinne »AanArrion ist woll eigentlich das Spinngewebe, das ja aus Keilen
besteht; APAxnHc bezeichnet ja auch das Tier und sein Produkt.
> In der attischen Dichtersprache wird unterschiedslos TAPA TIHrÄC und TIAPÄA
TIHrAIC gesagt, nur ist das erstere, weil altertümlich, vornelhmer.
4 ” * B u. . 35
von Wıramowırz- MoELLENDORFF: Satzungen einer milesischen Sängergilde. 635
Die Athener sagen exathp: beim Opfer gebraucht, z. B. Aristophanes
Ach. 246. Die Grammatiker (z.B. Suidas; bei Photius ausgefallen)
sagen, der Name käme daher, daß der Teig breit gestrichen würde,
Enaynetaı; das wäre hübsch, ist aber kaum denkbar, da beide Ab-
leitungen aktivisch verstanden werden müssen; es muß etwas sein, das
ERAYNEI. — TAI AC ErAtHı xweic kann nicht wohl anders aufgefaßt werden
als in der Ilias © 467 nAec a’ &k AHmnoIo TIAPECTACAN OINON ÄTOYCAI TIOANAI,
TÄC TIPOEHKEeN "IHconiaHnc "EYnHoc, xwPpic a Arpeianıc "Aramemnon!ı Kal Me-
NEAAWI ADKEN IHconiaHc Aremen meey. Wenn ein Gegensatz zwischen den
beiden Göttern beabsichtigt wäre, so würde im ersten Gliede men nicht
fehlen. — Das Hekateopfer beweist, daß die ganzen Pflichten und
Rechte der Onitaden für die Prozession nach Didyma gelten; sie konn-
ten hier ja auch nur für einen speziellen Fall Platz finden; aber wir
können daraus das Generelle entnehmen.
FINETAI ÖNITÄAHICIN ATTO MOATI@N ÖCHYEC TIACAI EKTOC ÜN Oi
CTEBANHEÖPOI ICXOCIN, AEPMATA TIÄANTA, BYAAHMATA TPIA ATI TEPHO EKÄCTO, 8Y-
WN TÄ TIEPITINÖMENA, OINON TON EN T@I KPHTÄPI TIEPITINÖMENON, TIEMTTÄC TÄC H-
4° MEPHC.
Es wird den Eselingen von den Sängern, alle Hüften mit Ausnahme
von dem, was die Kranzträger erhalten, alle Häute, drei Fladen von jedem
Opfertier, von dem Räucherwerk was übrig bleibt, den Wein, der im
Mischkruge übrig bleibt, ein Fünftel auf den Tag.
Wieder ist in den Satz, der die Gegenleistungen der Gilde für
die Dienste der Onitaden enthält, ein Nachtrag eingefügt, der sich
durch die Störung der Konstruktion verrät, oinon TON... TIEPITINOMENON.
Vermutlich gehört zu den Weinresten der Rest des Räucherwerkes;
man kann es den Worten nur nicht ansehen, ob sie Akkusative oder
Nominative sind. Solche Reste zu nehmen erscheint uns nur für das
Gesinde schicklich, und wir würden es kaum unter seinen Ansprüchen
aufzählen; hier steht es neben den Häuten, die oft unter den Sporteln
der Priester stehen und wirklich eine beträchtliche Einnahme bilden.
Vom Opferfleisch kommt auf die Onitaden genau so viel wie auf die
Kranzträger; da diese bevorzugt werden mußten, waren ihrer olıne
Zweifel viel weniger. Die Verteilung der andern drei Fünftel läßt
sich nieht erschließen; wir haben eben nur ein Exzerpt des Statuts.
eywn kann an sich sowohl von eya 31 wie von eyal 44 kommen;
aber nur das erste gibt Sinn. — &xrtöc mit dem Genetiv im Sinne
von AAN ist dem guten litterarischen Griechisch ganz fremd, zumal
dem Attischen; auch hier antizipiert das Ionische die koın#, vgl.
Dirresgereers Index S. 294. — Eine Überraschung bietet das neue
Wort eyanAmata;: aber ich hoffe, eine Aufklärung. Zuerst dachte ich
an einen Schreibfehler, denn gemeint sind eyaAmatra, wie niemand
Sitzungsberichte 1904. Sl
634 Gesammtsitzung vom 7. April 1904.
bezweifeln wird, der im Phaon des Platon (Athen. X 442) einem Dämon
A&pmA Kai eyahmata geopfert findet. Dies Wort, das früh verschollen
ist, wird bei Theophrast Char. 10 eyHuanmata geschrieben: das seltene
zugehörige Verbum lautet eyhaHcaceAaı in der besseren Überlieferung
bei Pollux 1, 27. Bei Timäus steht ey#mara, und diese Glosse kehrt
bei Hesych ganz wieder: bei Platon kommt weder eyhma, das sprach-
widrig ist, noch eyaHma vor; aber es kann auch diese Singularität
wie andere in unserm Text ausgemerzt sein. Andererseits ist gleich
möglich, daß eine Timäusglosse bei Hesych, wie daß eine Diogenian-
glosse bei Timäus interpoliert ist. Jedenfalls ist dies Zeugnis in
Wahrheit eins für eyakma, denn dieselbe Erklärung steht bei Hesychı
auch zu diesem Lemma, und dieselbe bieten die Scholien zu Aristo-
phanes Fried. 1040 und Phrynichus Bekk. An. 42, 25, immer zu eyaHma.
Die richtige Deutung Äneıra oinwı Kal Enalwı Ermppaınömena oder ähnlich
hat eine falsche eymıAmara neben sich, die im Scholion BT zu | 270
wiederkehrt, wo die Orthographie eunymara (die in B eine perverse
Etymologie erzeugt hat) nur ein Schreibfehler, wenn auch ein früh-
byzantinischer, ist. Für die Bedeutung entscheidend ist namentlich
ein Zitat aus den Avrömonoı des Pherekrates (Clemens Alex. VII, 846),
»ihr Menschen legt den Göttern von der Hüfte nur den nackten
Knochen als Opfer hin, wie den Hunden, eit! AnnAnovc AIcXxYNöMeEnOıI
EYAHMAacı KPYTITete TIonnolc.« Und dann eine Stelle aus 'Theophrast bei
Porphyrius de abst. 2,6. »Als die Menschen die Getreidenahrung an-
genommen hatten, ATIHPzZANTö TI TÄC YAIcBEIcHe TPO@ÄC TIP@TON Eic TIYP
Toic eeolc, Ösen ETI Kal NYN TIPÖC TI TEREI TÜÖN OYHAON“ TOoIc Yalceelcı
eyahmacı xpwmesa. Erst später sind die menanoı aufgekommen, in denen
verschiedene würzende und duftende Zusätze sind; dann tritt Honig,
Öl und Wein hinzu.« In den vielen erbaulichen Geschichten, die bei
Porphyrios folgen, um das unblutige Opfer zu empfehlen, wird die-
selbe Handlung einmal so erzählt, eYcanta TON YAICTÜN EKk TOY TIHPI-
Aloy ToIc TPIC| AAKTYnoIıc (2,15), das andere Mal Ex TAc TMHPAC TON
AnoITWN Önirac APAKAC Eevahcato (2, 17). Es ist also klar, daß die
eyatmara eigentlich nur Schrot sind, aber (das lehren die Grammatiker)
später mit Öl und Wein befeuchtet wurden. Sie bildeten auch nicht
bloß ein Opfer für sich, sondern es ward damit das Opferfleisch be-
deckt. Sachlich dasselbe sind die ey#nai, die schon im | 220 ins
Feuer geworfen werden, in gleicher Weise ein paarmal auch in Athen
erwähnt. Also formal werden wir eYauma nicht umhin können für
eine anomale Zusammenziehung von evAnuma zu halten, und da das
! Dies Wort ist anstößig und wirklich nicht zu ertragen, wenn Theophrast
genau geredet hat; Reıske hat eyciön gesetzt, sachlich durchaus zutreffend; man ver-
treibt nur ungern eine Glosse durch ein KYPION ONOMA.
3
. ” B . ... B ı)=m
von Wıirasowirz-MoELLENDORFF: Satzungen einer milesischen Sängergilde. 635
inhaltlich identisch mit ey#a# ist, so wird man auch hier formalen
Zusammenhang suchen. eY-AnHMA, BYAHMA, BYHAH OYHNEIceAl, BYAElceAl,
das muß alles zusammengehn. evAnHuma ist Opfermehl, wir kennen
ja Anuma außer in übertragener Bedeutung (Soph. Aias 381) bei Hesych
mit der Erklärung &seön Änevrpon. Und evHar' führt auf ein altes
Nomen #aH gleicher Herkunft, mit Vokalsteigerung wie aHeH zu nae,
HBH Zu ÄB-Pöc, HKH ZU ÄK-Poc, AHMH zu TaAmwon. Mit den Opferstücken
hat man zuerst Schrot, vaıcrA verbrannt. Dann ward es vornehmer;
yaıcrA sind in Athen Kuchen oder Fladen geworden; dasselbe gilt
für die eyan#matra in Milet. Und wenn das Opfer erst gut schmeckt,
essen die Menschen mit. Das Verbrennen wird zum Rösten im Opfer-
feuer. So erhalten die Onitaden von jedem Opfertier drei der zuge-
hörigen evanftmara. Man ist sehr versucht sie mit den Enatpra zu
identifizieren, deren Bereitung oben angegeben ist. Der Hermes des
aristophanischen Plutos redet erst 1115 von einem YAICTön, 1126 von
einem TInAKoFc. TÄ Enatpa Ermmetterai: zu dem Emmi paßt trefflich was
bei Timäus steht (wieder ohne im Text des Platon seine Referenz
zu haben) vaıctA. OYTWCc AETONTAI TÜN CIINÄTXNWN KEKOMMENWN EIC NETTTÄ
META ÄPTON ArtapxAai TInec. Da ist das Brot an die Stelle des Breies,
der ÄnsıTa Enalwı BEBPETMENA, getreten; denkt man sich diese auf kleine
Fleisehstücke gegossen, die dann damit in die Breite verstrichen werden,
wie die Bücklingbrocken im Eierkuchen, so kann der Brei wohl »der
Treiber« heißen, in dem Sinne wie der Schmied Actıiaa #nacen, M 295”.
10 OTI AN TOYTWN MH TIOIÖCIN ÖNITAAAI, EAOFE MOATIOICIN ETTI KAPOTTINO, CTE-
®ANHEÖPOC ATIO TON ICTIHIWN TIAPEXEN. OÖTI A AN ÖNITÄAAI XPHIITWCIN, EAAE
MOATIOI-
Cl CTESANHPÖPOICIN ETTITETPAYBAI.
Was hiervon die Eselinge nicht tun, beliebte den Sängern unter Cha-
ropinos, sollten die Kranzträger aus dem, was der Hestia gehört, leisten.
Was aber die Eselinge verlangen, beliebte den Sängern, sollte den Kranz-
trägern anheimgestellt bleiben.
Damit die heilige Handlung richtig vor sich geht, sollen, falls
die Onitaden versagen, die bevorzugten Mitglieder eintreten; daß sie
das können, z. B. fehlendes Geschirr schaffen, liegt daran, daß sie
aus dem Dienste der Hestia, den sie auch versehen, das Notwendige
heranholen können. Der Hestia opferte oben Z.13 der abtretende
Aisymnet. Der Kult des Herdes in einer Gilde ist der ihres Herdes,
der in dem Lokale stehend zu denken ist, en monnan. Also rekurriert
2 Der Akzent ist Autoschediasma der Grammatiker, Herodian zu | 220, Theo-
gnost Can. 673.
®2 In dem Opfer der Acharner ist der EnatHP bereits ein Kuchen; aber Brei,
Ernoc, wird daraufgegossen.
636 Gesammtsitzung vom 7. April 1904.
die Gilde im Notfall auf ihren eigenen Besitz, auch bei den örrıa für
Apollon Delphinios. Die Gegenleistung an die Onitaden ist einfach
auf die Stephanephoren abgewälzt: das Plenum hat keine Lust sich
weiter darauf einzulassen. Diese zwei korrelaten Bestimmungen, der
Schluß des Statutes, waren erst notwendig geworden, als in der Praxis
Mißstände hervortraten. Es ist durch die Einfügung der Beschluß-
formel und des Datums klar gemacht, daß die Sätze anderen Ursprunges
sind. Man könnte sie für Nachträge halten; daß dem aber nicht so
ist, zeigt die Form &aae, die unter Philteas schon von dem später
in ganz Hellas gültigen &aoze verdrängt ist. Wir kennen &raae aus
Gortyn (GDJ. 4982, 5011), TÄ Feraanköta aus dem lokrischen Statut
für Naupaktos, aus Ionien das Nomen Aaoc', das den Schluß erlaubte,
es wäre einmal in Ionien auch &aae gesagt. Aber es in einem Do-
kumente Milets anzutreffen, ist doch eine schöne Überraschung. So
früh also hat dort die schriftliche Aufzeichnung begonnen, daß eine
Form, in der das Vau noch wirkte, fest genug werden konnte, um
sich formelhaft zu erhalten.” Gewiß können wir nicht einmal schätzen,
wie lange Charopinos und Philteas im Amte gewesen ist, aber daß
dies Statut in seiner Vorlage in eine Sprachperiode hinaufreicht, die
uns sonst nur das Epos zeigt, entspricht zwar dem, was man über
Milets Schriftwesen vermuten konnte, aber es ist schön, daß man es
nun weiß.
Nun kommen zwei durch Abstand auf der Kopie, sicher im An-
schluß an das Original, kenntlich gemachte Nachträge.
KHPYKI ÄATENEIH EMMOATIÖI TIÄNTWN KAl AAZIC CIIATXNWN ATIO EY@N EKAC
TEWN KAl OINO POPH Ec TÄ YYKTHPIA TERECI TOIC EWYTO, 6 A OINOC ATIO
MOATIWI FINETAI.
und wieder nach einer Zeile Abstand
TOI WIAWI AEITINON TIAPEXEI Ö IEPWC, ÄPICTON AE WICYMNHTHC.
! Foucarr hat eben das Maskulinum AAoc glänzend sowohl in einer thasischen
Inschrift wie in der halikarnassischen Lygdamisinschrift hergestellt (Revue de Philo-
logie 1903, 216). Es ist allerdings beschämend, daß wir so lange an das Neutrum
geglaubt haben, ohne jeden Grund und wider die Überlieferung. Denn bei Hesych
AAHMA AAoc ist zwar das Geschlecht ungewiß. und bei Arcadius 52 Schmidt kann
Aaoc auch auf A 88 (köPoc, zu AAHN gehörig) gehn. Aber im Etymologikum steht ja
AAON' APECKEIAN CHMAINEI H TNOMHN® H KöPon A Kömon. Obwohl das bei Hesych fehlt,
wird es eine Diogenianglosse sein, und der Akkusativ zeigt, daß eine bestimmte Stelle
gemeint war: das Wort hatte also in die Litteratur Eingang gefunden, vermutlich bei
einem alten Ionier, etwa Archilochos oder Hipponax.
® Gesprochen mögen sie unter Philteas Aae haben, wie Anakreon wenigstens
ein KIPNEATAI, Z.1T, dreisilbig sprach. Aber in beiden Fällen war eben die Ortho-
graphie zu der Zeit fixiert, die was sie schrieb auch sprach. Die wunderbare
Übereinstimmung zwischen Sprache und Schrift im Attischen ist doch auch ein Zeichen
dafür, daß man dort eigentlich erst mit der Demokratie zu schreiben begonnen hat.
- 2 z ie a 2 97
von Wiraxowrrz-MorLLEnDoRFF: Satzungen einer milesischen Sängergilde. 631
Für den Herold Befreiung von allen Leistungen im Sängerhause, und An-
teil an den Eingeweiden von allen Opfern, und Transport des Weines zu allen
kühlen Stätten auf seine Kosten, aber der Wein wird aus dem Sängerhause
geliefert. Dem Musiker liefert Abendbrot der Priester, Mittag der Obmann.
Der Kopist hat emmontwn, Arto monton und ıepewc verschrieben,
ich möchte wenigstens nicht an eine Kontraktion ierwc glauben. Einen
Herold werden sie niemals entbehrt haben; es ist nur das Bedürfnis
später hervorgetreten, seine Kompetenzen festzustellen. Dem Kolle-
gium gehört er offenbar nicht an, schmaust auch nicht mit, sondern hat
nur an dem Sakrament teil, zu dem zu laden seine Aufgabe war. —
eyön wird als Genetiv von eYH durch EkAactewn erwiesen; dies Wort
war bisher nicht anerkannt, sondern wurde mit Tö eYoc vermischt,
das neben dem oben belegten TO eYon eigentlich ArwmartA bedeutet und
so | 270 steht, aber im weiteren Sinne, eycia, z.B. von Aischylos
verwandt wird. Nun wird man nicht zaudern O 261 in aiccom Yrıep
ey&un das Femininum eYH anzuerkennen, wo nur evcıön paßt, da das
Opfer nur in einer crronaH besteht." — Über vykrärıa sind wir nur durch
Athenäus XI, 503° unterrichtet; seine Belege sind je ein Vers aus
Aischylos und Euripides, die einen Ort des Anaryvxeceai, der Kühle,
meinen, und einer aus dem Aigimios, der neben Hesiod einen Milesier
Kerkops zum Verfasser zu erhalten pflegt, Ensea TIOT’ EcTal EMÖN YYk-
THPION Öpxame naön; das wird wohl auch Ort der Kühlung, Erfrischung
sein. Die Belege ergeben also nicht, was der Gewährsmann des Athe-
näus, Nikandros von Thyateira, als Bedeutung angibt, Ancwaeıc kai
eYcKıoı TOTOI ToIc veoic Aneımenoı. Aber dann hat er eben noch andere
gehabt, die bei Athenäus nicht mehr stehn, denn nur diese engere
Bedeutung paßt hier; ein Athener würde Arch gesagt haben. Die
Sänger hatten also sehr viel mehr Plätze zu besuchen als das Heilig-
tum der Hestia (vermutlich ihr eigenes Haus) und des Delphinios, und
diese waren kühl und schattig. Wir sind in einer Zeit, wo die Götter
selbst noch längst nicht alle einen naöc haben, und wenn sie es tun,
doch die heiligen oikoı und croAi fehlen, in denen später die Opferer
ihre Schmäuse abhielten. Da legen sie sich in den Schatten der Bäume,
die um den Altar gepflanzt sind, und wenn die Onitaden den Wein
für die Genossen mitgebracht haben, so hat sich der Herold seinen
Schlauch im Vereinshause füllen lassen, und irgend ein Bengel hat
ihn ihm nachgetragen.
HH eYH ist nun gesichert; da wird es sich wohl noch öfter antreffen lassen.
In der lakonischen Inschrift über die Freiheit von Delos (DirrengEerser 60) ergänzt
Homore Kai e|lön] KAl NAFÖN KAI TÖN XPEMATON TON TÖ el. Die Götter passen nicht,
man verlangt die Opfer; daher Rönr und Dirrengerser eYeon, zu lang, wie WILHEL2
moniert. Also wohl eYän.
638 Gesammtsitzung vom 7. April 1904.
Daß die monroi eines wıaöc bedürfen, befremdet zunächst. Es ist
ein Mensch, dessen Dienste mit zwei guten Mahlzeiten am Tage ab-
gelohnt sind; auf Teilnahme an den Opfern macht er keinen Anspruch.
Man kann aus dem uns bekannten, Opferzeremoniell Athens nur den
AYaHtAc heranziehen, der zu jedem Opfer nötig ist. Den sHTAPmonec
der Phäaken, die uns den Aisymneten lieferten, spielt Demodokos auf,
dem der Herold sein Instrument reicht. Sie sind freilich keine Sänger,
aber bei den Milesiern beschränkt sich ihre morr# auch auf den Päan,
den die Gebildeten alle zu singen verstehn. Schon daher mochte die
Zuziehung eines gelernten Sängers erwünscht sein. Wenn man aber
sieht, daß der Aoıaöc des Epos in der Odyssee die gleiche soziale
Stellung hat wie hier, daß das ionische Epos der Paywıaoı keine musika-
lische Begleitung mehr hat, dagegen die daraus entwickelte Elegie die
Flöte, so daß ein Mimnermos von Beruf Flötenspieler ist, so kann man
sich denken, daß wıaöc sich in der Richtung entwickelt hat, daß er
mehr Musikant als Sänger ward. Doch da sind Zeugnisse abzuwarten.
In diesem zweiten Nachtrag zeigt sich sprachlich jüngere Zeit:
die Beamten erhalten alle den Artikel, der in der Hauptinschrift noch
meist fehlte, es sei denn, er diene als Stütze für a€ und in 6 Bacınevc.
Die Krasis ist recht ionisch, wie namentlich die Choliambiker zeigen;
sie steht auch in dem Zusatze 36 romörnwnı. Altionisch ist aber die
ganze Urkunde; genauere Zeitbestimmung könnte mit unserm Sprach-
materiale niemand wagen, um so erwünschter, daß sie sich sonst geben
läßt. Die Prozession nach Didyma führt zu den Statuen des Chares:
die haben wir, und man muß sie um des Stiles willen vor die Skulp-
turen rücken, die Kroisos am Tempel von Ephesos hat aufrichten
lassen. Sagen wir also, sie stammten aus dem Anfange des sechsten
Jahrhunderts, ohne zu vergessen, daß das der unterste Ansatz ist; die
Schrift des Chares würde ich lieber noch höher hinaufrücken. Daß
die Stiftung des Chares in dem Ritual der Sänger Milets sehr lange
Berücksichtigung fand, ist kaum zu glauben. Aber wir brauchen keine
Probabilitäten: nach den Ausführungen HaussouLuiers unterliegt es
keinem Zweifel, daß Didyma seit der Zerstörung durch Dareios 494
bis auf Alexanders Auftreten nicht existiert, wie das Kallisthenes
(Strab. 814) ausdrücklich bezeugt.‘ Wir besitzen also eine Urkunde,
die spätestens zur Zeit des Hekataios redigiert ist, aber auf beträcht-
! Er redet vom Erlöschen des Orakels; ohne das konnte der Kult dauern;
er redet aber auch von dem Wiederaufbrechen der verschütteten heiligen Quellen:
ohne sie konnte der Ort nicht heilig sein, also kein Kult bestehn. Milet hatte An-
laß, sich zu rehabilitieren; daher die Epiphanie der Gottheit, deren Zeichen das
Erwachen des begeisternden Quells ist; es war die erste Aktion der Art, die im fol-
genden Jahrhundert so viel Nachfolge fand.
N ” - . @rL ” €
von Wırasowitz-MoELLENDorFr: Satzungen einer milesischen Sängergilde. 639
lich älteren Aufzeichnungen beruht. Das ist ungleich wichtiger als
die einzelnen interessanten Tatsachen, die wir dem Texte entnehmen,
oder auch der Einblick in das Kollegium der mornnol. Gewiß fällt auch
dadurch auf mancherlei Licht, und der erste Herausgeber wird wohl
nur einen kleinen Teil davon bemerken. Der Vater des Tyrannen
Aristagores heißt Molpagores, ist also davon benannt, daß ein Vor-
fahr von ihm im Kreise der monrroi das Wort zu führen wußte: Namen
gleicher Herkunft kommen auch sonst in Ionien vor und bezeugen die
Verbreitung solcher Kollegeien, die bereits nicht mehr gentilizische Ver-
bände sind wie die Euneiden in Athen. Das Ritual des Kultus, die
Dedikation der ryanoi, die Verbindung des Apollon Delphinios in Milet,
der am Hafen wohnt, mit dem Didymeus, der die vorhellenische Orakel-
stätte auf dem Berge innehat, das ist wichtig und wird hoffentlich
durch weitere Urkunden aus dem Delpbinion ergänzt werden. Aber
das sprachliche Resultat ist doch das Wichtigste. Denn ist dies auch
nur eine Kopie, sie ist doch ungleich verläßlicher als alle litterarische
Überlieferung der altionischen Prosa. Sie stimmt nun durchaus zu
dem, was im Gegensatze zu der Herodotüberlieferung aus den In-
schriften und der Überlieferung und Metrik der ionischen Dichter,
namentlich des Anakreon, erschlossen war. Die Schrift ist ganz kon-
sequent und zeugt für litterarische Durchbildung. Natürlich wird das
Hiat hindernde Ny vor Vokalen und oft auch Konsonanten gesetzt.
Die Kontraktion geht sehr weit und wird in der Schrift berücksich-
tigt. e und e verschmelzen immer, und wenn ein Vokal vorhergeht,
auch e und o. Es heißt zwar myaeun, aber eyün, moıacı. Selbst in
dem alten einfachen Worte schreibt man wie in Athen vıaöc. Der
echte Diphthong oy ist streng von dem unechten o gesondert. Die
Psilosis regiert, KATörer, Ar iepHio; wem es Spaß macht, mit den pro-
sodischen Zeichen zu spielen, mag den Asper verbannen. Die langen
Dative der beiden ersten Deklinationen sind fest, aber vor Vokal wird
das schließende i elidiert und nicht geschrieben, und da tritt für das
sonst geltende -Hıcı in dem zweisilbigen Worte nymeaıc (eiten) die Endung
ein, die wir entsprechend im späten Epos finden. Von dem i-Stamm ist
der Dativ schon aynameı, wie in den dirae Teiorum. Laut- und Formen-
lehre machen gar keine Schwierigkeit; die Syntax ist wohl altertüm-
lich, aber doch gelenkig genug, und in der Verständlichkeit verrät sich
eine lange Übung, deutlicher noch in der Bewahrung des Petrefakts
&aae. Der Kontrast zu dem Stammeln in den Urkunden des Mutter-
landes, auch wenn sie viel jünger sind, ist frappant. Erst die attische
Demokratie, die Erbin Ioniens, geht weiter. Wir sind eben in der
Heimat der griechischen Prosa. Da wir von der milesischen Litteratur
so wenig übrig haben und die ausgleichende Macht des attischen Reiches
640 Gesammtsitzung vom 7. April 1904.
alles Spätere nivelliert hat, machen uns hier einzelne Wörter Mühe und
tritt manches Neue auf. Aber es ist alles, was nicht verstümmelt ist,
verständlich: wie anders würde sich das in Korinth und Argos stellen,
von bildungslosen Orten zu schweigen. Geschichtlich ist die Bestätigung
unseres grammatischen und sprachlichen Wissens und unserer Schlüsse
auf die Bedeutung der milesischen Sprache viel wichtiger, als wenn
wir etliche rare Formen und unverständliche Vokabeln erhalten hätten.
Um so greller ist der Kontrast zu dem Texte Herodots, den wir und
die Gelehrten des 2. Jahrhunderts n. Chr. überliefert erhalten haben, der
also nach aller Analogie der Textgeschichte um 200 v. Chr. ziemlich
ebenso aussah. Daß über seiner nicht rein ionischen, aber doch im
wesentlichen ionischen Rede ein häßlicher archaistischer Firnis liegt,
ist unbestreitbar, aber ob dieser Archaismus schon von ihm selbst
herrührt oder aus der Reaktion gegen die attische Kultur, die gleich
nach Alexander besonders stark in Asien bemerkbar wird, das wage
ich noch nicht zu entscheiden, glaube aber das letztere.
641
T#EoDor MoMmMsEN - Stiftung.
Auszug aus der Stiftungsurkunde vom 30. November 1897.
Artikel 1.
Nach dem Tode TueEovor Monmnsen’s haben die Verwalter des Stiftungs-
kapitals dasselbe an die Königliche Akademie der Wissenschaften in
Berlin als die damit bedachte Eigenthümerin herauszugeben mit dem
Ersuchen, der damit errichteten
» THEopDor Monnsen - Stiftung«
ein Statut auf der Grundlage der folgenden Bestimmungen zu geben:
SET:
Die Erträge des Stiftungskapitals dienen von dem Zeitpunkt ab,
mit welchem das im $ 2 festgesetzte Zinsgenussrecht seine Erledigung
gefunden haben wird, dazu, wissenschaftliche Unternehmungen auf
dem Gebiete der römischen Geschichte und der verwandten Disciplinen,
namentlich der elassischen Philologie, der römischen Rechtswissenschaft,
der Epigraphik und der Numismatik, durch Hergabe der dazu erforder-
lichen Mittel an die dazu geeigneten Personen zu ermöglichen oder
zu erleichtern.
un
2
Einer ausdrücklichen Anordnung der Stifter zufolge sind vom Tode
TuEopor Monnsen’s ab alle aufkommenden Zinsen des Stiftungskapitals
an diejenigen noch lebenden Töchter Tnueropor Monusen’s zu zahlen,
welche am 30. November 1897 unverheirathet waren.
Die jeweilig noch lebenden vorbezeichneten Töchter empfangen
die Zinsen nach Massgabe der Fälligkeitstermine zu gleichen Antheilen.
Eine Eheschließung nach dem 30. November 1897 hebt das Recht auf
den Bezug einer Quote des Zinsertrages oder des ganzen Zinsertrages
nicht auf. Die durch Tod oder Verzicht frei werdenden Antheile fallen
den übrigen Berechtigten zu gleichen Quoten zu.
Die Verwendung der Revenuen des Stiftungskapitals für die wissen-
schaftlichen Stiftungszwecke beginnt demgemäss mit dem Zeitpunkt, in
welchem die Längstlebende der am 30. November 1897 unverheirathet
gewesenen Töchter Turopor Monnsen’s verstorben sein wird.
642
Gesammtsitzung vom 7. April 1904.
=
3 3-
Das Kapitalvermögen der Stiftung besteht aus:
I.
D
95}
dem ihr ursprünglich zugeführten Kapitalbestande,
denjenigen Kapitalzuwendungen, welche sie etwa künftig —
ohne ausdrückliche abweichende Bestimmung über die Ver-
wendung von Seiten des Gebers — empfangen wird,
den nieht verbrauchten und unter dieser Voraussetzung dem
Vermögensstock zuzuschlagenden Zinsen.
Diess Kapitalvermögen ist unangreifbar. Nur die reinen Zins-
erträge des Kapitalstockes, abzüglich aller Verwaltungskosten, dürfen
zu den Stiftungszwecken aufgewendet werden (vergl. $ 4 Ziffer 4).
84.
Die Wahl der Unternehmungen und der für ihre Ausführung ge-
eigneten Personen ist der philosophisch-historischen Classe der Aka-
demie überlassen.
Dabei sollen folgende Gesichtspunkte massgebend sein:
Ir
DL
J
alle Bewilligungen sind so zu bemessen, dass ihre Ausführbar-
keit selbst unter der Voraussetzung eines der wirthschaftlichen
Entwickelung entsprechenden Zinsrückganges gesichert ist, und
nur so zu gewähren, dass ihre Einschränkung vorbehalten bleibt,
falls ein Herabgehen des Zinsertrages sie erfordert;
die Bewilligung darf in der Form der Verleihung eines Sti-
pendiums für wissenschaftliche Reisen oder für wissenschaft-
liche heimische Arbeiten, aber auch als Beitrag zu den Druck-
und sonstigen Herstellungskosten wissenschaftlicher Werke er-
folgen ;
die Bewilligung kann in der Gestalt einer einmaligen Hergabe
oder einer periodischen Leistung, äussersten Falls jedoch auf
die Dauer von fünf Jahren stattfinden und kann unter der Vor-
aussetzung sich wiederholender Gewährungen an den Vorbehalt
des Widerrufs für den Fall geknüpft werden, dass die Thätig-
keit des Honorirten den Erwartungen der Classe nicht ent-
sprieht;
es ist zulässig, die verwendbaren Mittel für einen längern
Zeitraum — höchstens jedoch auf die Dauer von fünf Jahren
— aufzusammeln, um sie demnächst der Ausführung einer
grösseren Unternehmung zu widmen. Eine Zuschlagung nicht ver-
brauchter Zinsen zum Kapital ($ 3 Ziffer 3) findet deshalb nur
in so weit statt, als die philosophisch-historische Classe der
Akademie durch Beschluss ausspricht, dass zur Zeit für die
Tueopor Monnsen - Stiftung. 643
Verausgabung oder Aufsammlung der verfügbaren Mittel für
einen bestimmten Zweck kein Anlass vorliege:
die Staatsangehörigkeit des zu Unterstützenden ist nicht ent-
en
scheidend. Auch an Nichtdeutsche dürfen Bewilligungen erfol-
gen. Jedoch haben bei gleicher Wichtigkeit des Zwecks deutsche
Unternehmungen und deutsche Gelehrte vor fremdländischen den
Vorzug;
6. auf den durch die Mittel oder die Beihülfe der Stiftung ermög-
lichten oder erleichterten Publicationen ist ersichtlich zu machen,
dass die Veröffentlichung mit Beihülfe der » Tneopor Monnsex-
Stiftung der Königlichen Akademie derWissenschaften in Berlin «
geschehen ist: auch sind der Akademie mindestens zwei Exem-
plare einer jeden solchen Publication einzureichen.
S5-
Die philosophisch-historische Classe der Akademie entscheidet
innerhalb der statutenmässigen Grenzen und unter Einhaltung der hier
gegebenen Grundsätze über die Verwendung der verfügbaren Stiftungs-
Erträgnisse.
Die Beschlussfassung (der Classe soll so stattfinden, dass das Er-
gebniss in der Leibniz-Sitzung bekannt gegeben werden kann.
6.
Die Königliche Akademie der Wissenschaften übernimmt die Ver-
waltung der Stiftung und vertritt diese nach aussen.
Das Stiftungsvermögen bildet, wenngleich rechnungsmässig abge-
sondert verwaltet, einen Bestandtheil des Vermögens der Akademie.
Die in den Statuten der Akademie enthaltenen Vorschriften für
ihre Vermögensverwaltung sind deshalb auch für das Stiftungsvermögen
massgebend.
Wird das Stiftungsvermögen auf den Namen der Akademie in das
Staatsschuldbuch oder das Reichsschuldbuch eingetragen, so ist bei der
Eintragung seine Kennzeichnung als Stiftungsvermögen durch einen ent-
sprechenden Vermerk sicherzustellen.
Abgesehen von den laufenden Zinseingängen vereinnahmt die ver-
waltende Kasse Gelder für die Stiftung auf Anweisung des jeweilig
vorsitzenden Seeretars der Königlichen Akademie der Wissenschaften.
UN
Sie leistet Zahlungen auf dessen Anweisung.
Die verwaltende Kasse legt alljährlich über das Stiftungsvermögen,
als ein für sich bestehendes, und dessen Einnahmen und Ausgaben,
unter Speeialisirung des Kapitalbestandes in seiner jeweiligen Belegung,
Rechnung.
644 Gesammtsitzung vom 7. April 1904.
Diese Rechnung ist der Jahresrechnung der Akademie, als ein
Anhang der Jahresrechnung, anzufügen und gelangt mit der letzteren
zur Prüfung und Entlastung.
S7-
Änderungen des festgestellten Stiftungsstatuts bedürfen, um in Gel-
tung zu treten, eines übereinstimmenden Beschlusses der philosophisch-
historischen Classe und der Gesammt-Akademie sowie der Bestätigung
dureh das vorgeordnete Königliche Ministerium.
Artikel I.
Der philosophisch-historischen Classe der Akademie bleibt es vor-
behalten. dem in Artikel II unter den $$ ı—7 in seinen Grundzügen
vorgesehenen Statut diejenigen Änderungen und Ergänzungen zu geben,
welche sich als nothwendig oder nützlich erweisen werden, um die aus
den Grundzügen ersichtlichen Zwecke der Stiftung zur Ausführung zu
bringen oder um den die Annahme der Stiftung ausdrückenden Be-
schluss des Plenums der Akademie und demnächst den diese Annahme
sanetionirenden Allerhöchsten Erlass Sr. Majestät des Kaisers und Königs
zu erlangen.
Indessen darf die eigentliche Zweckbestimmung der Stiftung (Ar-
tikel U $ı) und der Grundsatz der Unangreifbarkeit ihres Kapitalver-
mögens (Artikel II$ 3) nicht aufgegeben, auch das Zinsgenussrecht der
Töchter Turopor Monnsen’s (Artikel II $ 2) nicht eingeschränkt werden.
Das Stiftungsvermögen ist der Akademie mit Abrechnung vom 22. März 1904
übergeben worden in Gestalt von nom. 94300 Mark 3%procentigen Communal- und
Kreis-Obligationen und nom. 4500 Mark 4procentigen Provinzial- und Communal-
Obligationen nebst einem zum Kapital gehörigen Baarbestande von 202 Mark.
Als das nach dem Eingang von Art. II der Stiftungsurkunde auf Grund der
Bestimmungen dieses Artikels von der Akademie aufzustellende Statut sollen die in
$$ 1—7 des Art. II getroffenen Anordnungen selbst bis auf weiteres unverändert gelten.
Ausgegeben am 21. April.
645
SITZUNGSBERICHTE SS
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
14. April. Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe.
Vorsitzender Secretar: Hr. Auwers.
l. Hr. Herrwiıe las über Beziehungen des thierischen Eies
zu dem aus ihm sieh entwickelnden Embryo.
Als Beweis gegen das Prineip der organbildenden Keimbezirke werden Experi-
mente mitgetheilt, in denen das unbefruchtete Froschei der Einwirkung der Centri-
fugalkraft ausgesetzt und dadurch im Innern eine Verlagerung leichterer und schwererer
Eibestandtheile (Kern, Protoplasma und Dotter) herbeigeführt wurde. Die Folge des
Eingriffs war, dass nach Ausführung der Befruchtung die Entwicklungsprocesse an-
statt am animalen am vegetativen, pigmnentfreien Pol ihren Ausgang nahmen, dass also
gewissermassen beide Pole ihre Rollen umgetauscht haben. In einer zweiten Reihe
von Experimenten wird gezeigt, wie durch einen einfachen Eingriff befruchtete Frosch-
eier sich im Raume derartig orientiren lassen, dass ihre ersten Theilebenen parallel zu
einander eingestellt werden.
2. Hr. Kreıv sprach über einen Zusammenhang zwischen
optischen Eigenschaften und chemischer Constitution beim
Vesuvian.
Es wird der Nachweis erbracht. dass die Chromocyklite dieses Minerals, die
Vorkommen vom Ala- und vom Brucittypus beim Erhitzen in optisch normalen
negativen Vesuvian übergehen, der von allen genannten Varietäten den geringsten
Gehalt an Wasser und Fluor besitzt. Dieselben optischen Verhältnisse hatte der Vor-
tragende bei den entsprechenden Varietäten des Apophyllits 1892 erforscht und gezeigt,
dass durch Erwärmung alle obengenannten Varietäten dieses Minerals in normalen
positiven Apophyllit vom Brucittypus umgewandelt werden.
3. Hr. van'r Horr machte eine weitere Mittheilung über die Bil-
dungsverhältnisse der oceanischen Salzablagerungen. XXXVI.
Die Mineraleombinationen von 25° bis 83°.
Gemeinschaftlich mit Hrn. MEvERHoFFER wurde festgestellt. an welche Tempe-
raturgrenzen die möglichen (aus Chloriden und Sulfaten von Natrium, Kalium und
Magnesium bestehenden) Mineraleombinationen gebunden sind. Es ergaben sich in
dieser Weise etwa 40 Temperaturanweisungen, die auch in bestimmten Fällen ange-
wendet wurden, und auf Temperaturen oberlalb 60° bei der Bildung einiger Natur-
vorkommnisse deuteten.
4. Hr. Warvever legte eine Mittheilung des Hrn. Prof. Dr. E. Barıo-
646 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 14. April 1904.
wırz in Greifswald vor: Über den Bau des Geruchsorgans der
Cyclostomata.
Die Riechzellen von Petromyzon Jluviatilis tragen wie die Stützzellen am freien
Ende einen Besatz von zahlreichen, feinen, oft hin- und hergebogenen, sehr hin-
fälligen Wimpern, deren Länge nicht ganz die der Wimperhaare der Stützzellen er-
reicht. Es ist wahrscheinlich, dass diese Riechhaare beim lebenden Thiere flimmern.
5. Hr. Scuwarz legte eine Abhandlung von Hrn. C. F. GEisEr, Pro-
fessor am eidgenössischen Polytechnikum in Zürich vor: Zur Erzeu-
gung von Minimalflächen durch Schaaren von Curven vor-
geschriebener Art.
Diese Abhandlung enthält die Entwiekelung eines Verfahrens, durch welches
alle reellen und imaginären Minimalflächen bestimmt werden können, welche eine
Schaar von geraden Linien, oder eine Schaar von Kreisen enthalten. Dasselbe Ver-
fahren wird auch zur Lösung der Aufgabe benutzt. alle Flächen zu bestimmen, für
welche die eine Schaar der Krümmungslinien von einer Schaar von geraden Linien,
oder von einer Schaar von Kreisen gebildet wird.
647
Über Beziehungen des thierischen Eies zu dem aus
ihm sich entwickelnden Embryo.
Von Oscar Herrwiıc.
D. befruchtete Ei bezeichnet man als die Anlage des aus ihm ent-
stehenden Thieres; dabei drückt man durch das Wort Anlage aus,
dass zwischen dem Keim und dem ausgebildeten Thiere bestimmte
Beziehungen bestehen, die, wenn alle übrigen Entwicklungsbedingun-
gen erfüllt sind, es mit Nothwendigkeit bewirken, dass aus einem
bestimmten Ei immer ein bestimmtes Thier hervorgeht. In diese Be-
ziehungen einzudringen und dadurch dem allgemeinen und an sich sehr
wenig aussagenden Begriff » Anlage« einen festeren Inhalt zu geben,
haben die Embryologen seit zwei Jahrzehnten theils durch vergleichende
Beobachtungen, theils mit Hülfe mannigfach variirter Experimente ver-
sucht. Auch ich habe solche in letzter Zeit wieder angestellt, auf
deren Ergebnisse ich hier indessen nur kurz eingehen will, indem es
mehr meine Absicht ist, über den augenblicklichen Stand der Frage
einen kurzen Überblick zu geben.
Lange Zeit herrschten unter den Embryologen zwei diametral ent-
gegengesetzte Auffassungen, von denen die eine besonders von Hiıs,
die andere von PrrLüser vertreten wurde.
Wirnerm Hıs, das Hühnerei als Beispiel nehmend, denkt sich.
dass einestheils jeder Punkt im Embryonalbezirk der Keimscheibe einem
späteren Organ oder Organtheil entsprechen müsse und anderntheils
jedes aus der Keimscheibe hervorgehende Organ in irgend einem räum-
lich bestimmbaren Bezirk der flachen Scheibe seine vorgebildete An-
lage haben müsse. Auf dem Wege rückläufiger Verfolgung werde man
dahin kommen, auch in der Periode unvollkommener oder mangelnder
morphologischer Gliederung den Ort jeder Anlage räumlich zu bestim-
men; ja wenn man consequent sein wolle, habe man diese Bestim-
mung auch auf das eben befruchtete, und selbst auf das unbefruchtete
Ei auszudehner. Das Prineip, wonach die Keimscheibe die Organ-
anlagen in flacher Ausbreitung vorgebildet enthält und umgekehrt, ein
jeder Keimscheibenpunkt in einem späteren Organ sich wiederfindet,
nennt Hıs das Prineip der organbildenden Keimbezirke.
648 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 14. April 1904.
Dagegen ist Prrüser auf Grund von Experimenten, die er an
Ampbhibieneiern ausgeführt hat, zu der Vorstellung geführt worden,
dass das befruchtete Ei gar keine wesentliche Beziehung zu der
späteren Organisation des Thieres besitzt, so wenig als die Schnee-
flocke in einer wesentlichen Beziehung zu der Grösse und Gestalt
der Lawine steht, die unter Umständen aus ihr sich entwickelt. Dass
aus dem Keime immer dasselbe entsteht, kommt daher, dass er immer
unter dieselben äusseren Bedingungen gebracht ist. Wie ein Krystall-
stäubehen in einer Mutterlauge sich zu einem grossen regelmässigen
Körper durch Anfügung neuer Moleküle heranbildet, so soll im Ei
eine vielleicht selbst mit dem Mikroskop nicht sichtbare, organisirte
Molekülgruppe zum normalen Organismus auswachsen. Dem Hıs’schen
Prineip der organbildenden Keimbezirke hat Prrüser die Lehre von
der Isotropie des Eies gegenübergestellt.
Seitdem haben sich unsere Anschauungen in der angeregten Frage
wesentlich geklärt und vertieft auf Grund zahlreicher, zum Theil sehr
interessanter Experimente, welche von vielen Forschern ausgeführt
worden sind, von Roux, von Driescn, von mir selbst. von Wiırson,
MorGAn, Cunn, Fischen und manchen Anderen.
Weder das Prineip der organbildenden Keimbezirke, noch die Lelıre
von der Isotropie des Eies entspricht den neugewonnenen Vorstellungen.
Mit dem Hıs’schen Prineip sind unvereinbar besonders die Ex-
perimente, durch welche man die befruchtete Eizelle auf dem Stadium
der Zwei-, Vier- oder Achttheilung in 2, 4 oder 8 entwicklungsfähige
Stücke hat zerlegen können. Bei gewissen Thierarten, wie bei Echino-
dermen, beim Amphioxus u. s. w. lässt sich das Resultat sowohl durch
mechanische als durch chemische Eingriffe leicht erreichen. Durch
vorsichtiges Schütteln in Meerwasser haben Driesch uud Wırson Eier
vom Seeigel und vom Amphioxus in so viele einzelne Embryonalzellen
zerlegt, als gerade durch den Furchungsprocess entstanden waren. Die
Folge des Eingriffes aber war, dass jetzt jedes Theilstück sich auch
nach der Abtrennung weiter entwickelte, nun aber nicht etwa ein Stück
eines Embryos, sondern wieder ein vollständiger Embryo wurde, wie
er sich aus dem ganzen Ei entwickelt haben würde. Es entsteht also
aus jedem Theilstück wieder eine normale Keimblase, aus dieser eine
Gastrula, und aus dieser gehen wieder die folgenden Embryonalformen
hervor, die, abgesehen von ihrer geringeren Grösse, vollkommen den
einzelnen Entwieklungsstadien des ganzen Eies gleichen. Auf diese
Weise kann man z. B. aus einem achtgetheilten Ei anstatt einer
grösseren acht kleinere Amphioxuslarven züchten.
Die chemische Methode, durch welche ein gleiches Resultat er-
zielt wird, besteht darin, dass man Eehinodermeneier in kalkfreies
. » Ar N ”
Hervewıs: Beziehungen zwischen Ei und Embryo. 649
Meerwasser während des Furchungsprocesses bringt. In Folge des
Mangels an Kalk haben die bei der Theilung entstehenden Embryonal-
zellen das Bestreben, sich zu einer Kugel abzurunden, sie platten sich
daher nicht mehr an den Berührungsflächen ab, haften nicht mehr fest zu-
sammen, ja trennen sich schliesslich vollständig. Wenn solche Zellen in
normales Meerwasser zurückgebracht werden, theilen sie sich weiter, ihre
Theilproduete haften aber jetzt normalerweise zusammen und liefern,
wie die durch Schütteln getrennten Stücke, vollständige normale Em-
bryonen, nur von einer entsprechend geringeren Grösse.
Aus solehen Erfahrungen muss man nothwendigerweise den Schluss
ziehen, dass in der ungetheilten Eizelle nicht besondere Bezirke ver-
schiedener Anlagen für bestimmte Organe des späteren Embryo vor-
handen sein können. Denn wäre dies der Fall, dann könnte ja aus
einem Bruchtheil des Eies, z.B. aus einem Viertelstück, sich kein nor-
maler, nur etwas kleinerer Embryo mit allen Organen entwickeln, da
nach dem Prineip der organbildenden Keimbezirke ihm drei Viertel der
Anlagen fehlen würden.
Einen anderen Beweis habe ich im letzten Jahre auf einem anderen
experimentellen Wege geführt, indem ich Froscheier auf einem zu dem
Zweck besonders construirten Apparat vor der Befruchtung der Ein-
wirkung der Centrifugalkraft unterwarf.' Bekanntlich besteht das Froschei
aus zwei verschiedenen Hälften, einer sogenannten animalen und einer
vegetativen Halbkugel. Die erstere ist schwarz pigmentirt, enthält mehr
Protoplasma, und der Kern ist leichter; die letztere ist ziemlich frei von
Pigment, enthält mehr Nahrungsdotter und ist in Folge dessen schwerer.
Mit ihrer Gallerthülle wurden die Eier auf einem Objectträger
festgeklebt und so centrifugirt, dass ihre leichtere pigmentirte Hälfte
nach aussen gekehrt war. Da sich die Kugel vor der Befruchtung in
der dicht anliegenden Dotterhaut und in der Gallerte nicht drehen
kann, bleibt der leichtere Pol trotz Einwirkung der Centrifugalkraft
nach aussen gekehrt. Im Innern werden aber, wie das weitere Ver-
halten zeigt, Substanzumlagerungen hervorgerufen. Das leichtere Proto-
plasma und mit ihm der Eikern wandern allmählich nach dem ein-
wärts gewandten, vegetativen Pol zu, am animalen Pol aber sammeln
sich die grösseren und schwereren Dotterplättchen an. In Folge dessen
schlägt nach der Befruchtung das Ei eine von der Norm abweichende
Entwicklung ein.
Alle Verhältnisse sind jetzt gewissermaassen umgekehrt. Während
normalerweise die erste Theilungsfurche am animalen Pol beginnt und
! Oscar Herrwıs, Weitere Versuche über den Einfluss der Centrifugalkraft auf
die Entwicklung thierischer Eier. Arch. f. mikrosk. Anatomie Bd. 63, 1904.
Sitzungsberichte 1904. 52
650 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 14. April 1904.
von hier langsam nach dem entgegengesetzten Pol durchschneidet, ist
jetzt das Gegentheil der Fall; während später bei der normalen Acht-
theilung vier kleine pigmentirte Zellen an den animalen Pol zu liegen
kommen, werden jetzt vier kleine helle Zellen am vegetativen Pol ge-
bildet. In Folge dessen setzt sich später die vegetative Eihälfte, die
auch immer nach oben gekehrt bleibt, aus viel kleineren, hellen Zellen
zusammen als die ursprünglich animale, an welcher sich grosse pig-
mentirte Zellen finden. Ebenso entsteht jetzt die Keimblasenhöhle in
der entgegengesetzten Eihälfte. Mit einem Wort, es haben in Folge der
Eingriffe die beiden Eihälften ihre Rollen bei der Entwicklung um-
getauscht.
“Auch aus diesen Experimenten geht hervor, dass das Ei keine
so starre und im Detail ausgearbeitete Organisation haben kann, wie
sie das Prineip der organbildenden Keimbezirke erfordern würde.
Aber auch die entgegengesetzte Prrüser’sche Auffassung von der
Isotropie des Eies entspricht nicht den Verhältnissen. Es ist schon von
vielen Forschern beobachtet worden, dass namentlich bei dotterreichen
Eiern die ersten Furchungsebenen eine ganz bestimmte Lage zu ein-
ander einnehmen und dass eine von ihnen mehr oder minder der spä-
teren Medianebene des Embryos bei normaler Entwicklung in ihrer
Richtung entspricht, wie besonders Roux sich nachzuweisen bemüht
hat. Derartige Beziehungen von Anfangsstadien des sich entwickeln-
den Eies zu späteren Stadien und zu Bauverhältnissen des Embryos
hat Driescn ihre prospective Bedeutung genannt.
Auch nach dieser Richtung habe ich am Froschei ein beweisendes
Experiment angestellt.‘ Beim gewöhnlichen Entwicklungsverlauf theilt
sich das befruchtete Ei zuerst durch eine vertieale Ebene in zwei Stücke,
darauf durch eine zweite verticale Ebene, welche die erste rechtwinklig
schneidet, in vier Quadranten, die dritte Theilebene wird eine horizon-
tale. Wenn man viele, gleichzeitig befruchtete Eier vor sich hat, so
kommt die erste verticale Theilebene in verschiedene Richtungen regel-
los zu liegen. Es ist nun aber ein leichtes, durch einen einfachen
Eingriff alle Eier zu zwingen, sich annähernd in derselben Richtung
zu theilen. Man bringt eine Anzahl eine Stunde nach ihrer Befruch-
tung auf einen Objeetträger, auf welchem sie sich der Schwere nach
bald so orientiren, dass ihre leichtere pigmentirte Hälfte nach oben
gerichtet ist, dann werden sie durch Auflegen einer zweiten Glasplatte
nach der bekannten Platteneompressionsmethode nur ein wenig zu einer
! Oscar Herrwiıs. Über eine Methode, Froscheier am Beginn ihrer Entwick-
lung im Raume so zu orientiren, dass sich die Richtung ihrer T'heilebenen und ihr
Kopf- und Schwanzende bestimmen lässt. Festschrift zum 70. Geburtstag von Ernsr
HaAEcKEL. Jena 1904.
Herrwıs: Beziehungen zwischen Ei und Embryo. 651
dicken Scheibe platt gedrückt und in einer feuchten Kammer so auf-
gestellt, dass das Plattenpaar einen Winkel von 45° mit der Horizon-
talen bildet. Bei dieser Zwangslage findet eine Anordnung der leich-
teren und schwereren Bestandtheile des Inhaltes unter einer langsam
vor sich gehenden Drehung in der Weise statt, dass die leichtere,
an ihrer Oberfläche pigmentirte Substanz nach dem oberen Rande des
zu einer dicken Scheibe etwas abgeplatteten Eies zu liegen kommt,
dagegen die schwerere, hellgelbe Hälfte sich nach dem unteren Rande
nach abwärts senkt. Dabei ordnen sich die Dotterkörnchen in drei
Zonen an. Im Protoplasma unter der Pigmentrinde liegen die aller-
kleinsten, in einer mittleren Zone werden sie grösser und in der Um-
gebung des vegetativen Poles sind sehr grosse Plättchen angehäuft.
Die Form der am animalen Pole angesammelten Substanz, in welche
auch der Kern des Keimes hineinrückt, hat Born einem sogenannten
Shed-Dach verglichen. Es lässt sich jetzt die Eischeibe, wenn sie in
der beschriebenen Weise sich auf der Glasplatte im Raum orientirt
hat, nur durch eine verticale Ebene, welche durch die Mitte des oberen
pigmentirten und des unteren hellen Randes hindurchgelegt ist, in
zwei vollkommen symmetrische Hälften zerlegen.
Diese Symmetrieebene wird im weiteren Verlauf mit wenigen Aus-
nahmen auch zur ersten Theilungsebene der auf einem Objeetträger
befindlichen Eier. Der Experimentator kann also durch einen be-
stimmten Eingriff die Eier im Raum gleichsinnig der Art orientiren,
dass ihre Symmetrieebenen annähernd parallel zu einander liegen und
ebenso die ersten Theilebenen in der gleichen Richtung gebildet werden
und mit der Symmetrieebene zusammenfallen. Ich betone den Ausdruck
annähernd. Denn eine absolute, vollkommene Übereinstimmung der
Theilriehtungen darf man nicht erwarten. Abweichungen von wenigen
Graden werden häufig beobachtet.
Beim weiteren Studium der Entwicklung lässt sich in dem Auf-
treten der sich entwickelnden Organe eine gewisse Beziehung zur Sym-
metrieebene des Eies nicht verkennen. Namentlich gilt dies für die Lage
des Urmundes. Dieser entsteht stets an der unteren Fläche als eine
hufeisenförmige Rinne, deren Concavität nach dem unteren Rand der
Eischeibe gerichtet ist. Eine Ebene, welche die Mitte des Urmundes
unter rechtem Winkel schneidet, fällt in der Mehrzahl der Fälle mit
der oben beschriebenen Symmetrieebene des Eies und in Folge dessen
auch mit der ersten T'heilungsebene annähernd zusammen.
Solche Wahrnehmungen hat man zu Gunsten des Prineips der
organbildenden Keimbezirke zu verwerthen gesucht. Es bietet sich
aber für sie eine viel einfachere Erklärung dar. Die im Vergleich zu
anderen Zellen des Körpers beträchtliche Grösse des Eies beruht darauf,
59*
Dr
652 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 14. April 1904.
dass in das Protoplasma Nährstoffe, sogenannte Dotterplättchen, welche
während der Embryonalentwicklung nach und nach aufgebraucht wer-
den, abgelagert sind. Die Ablagerung erfolgt in den meisten thierischen
Eiern nicht gleichmässig; häufig bildet sich dabei, wie bei den Am-
phibien, z. B. beim Frosch, eine polare Differenzirung aus, in Folge
deren der Eiinhalt in eine protoplasmareichere, animale und in eine
dotterreichere, vegetative Hälfte gesondert ist. Eine weitere Folge dieser
Differenzirung ist die excentrische Lage des Zellenkerns, welcher stets
den Ort der grössten Protoplasmaansammlung aufsucht.
Die in der Form des Eies und in der Differenzirung seines In-
halts gegebenen Verhältnisse üben nun, wie ich den Sachverhalt in
meinem Lehrbuch kurz zusammengefasst habe, auf eine ganze Reihe
von Entwicklungsprocessen, am meisten aber auf die ersten Stadien,
einen sehr eingreifenden, gewissermaassen richtenden Einfluss aus.
So bestimmen sie, wenn der Kern in Karyokinese tritt, die Richtung
der Spindelfigur. Letztere wird bei einer kugeligen, aber bilateral-
symmetrisch 'organisirten Eizelle gewöhnlich so eingestellt, dass die
erste Theilebene mit der Symmetrieebene zusammenfällt. Hieraus er-
klärt es sich auch, warum in unserem Experiment des comprimirten
und unter einer Neigung von 45° aufgestellten Froscheies ihre ersten
Theilebenen vertical und gleich gerichtet sind. Die Kernspindel muss
sich in Folge der Form der protoplasmatischen Hälfte des Eies, die
einem Shed-Dach verglichen wurde, horizontal und parallel zu den
comprimirenden Platten einstellen. Hiermit ist natürlich auch die
Richtung der ersten Theilebene bestimmt, da sie stets die Mitte der
Kernspindel unter rechtem Winkel schneiden muss. Die ersten Pro-
cesse der Entwicklung haben dann wieder eine prospective Bedeu-
tung für die sich weiter anschliessenden.
653
Über einen Zusammenhang zwischen optischen
Eigenschaften und chemischer Zusammensetzung
beim Vesuvian.
Von C. Kein.
Nenn ich im Jahre 1892 (diese Sitzungsber. S. 217—265) die
optischen Verhältnisse des Apophyllits studirt hatte, machte ich im
Jahre 1894 (diese Sitzungsber. S. 751— 762) eine gleiche Untersuchung
am Vesuvian.
Als Resultat dieser Untersuchungen ergab sich, dass der Apophyllit
sich in seinen optischen Erscheinungen vom positiven Leukocyklit
bis zum negativen Chromocyklit ändert und durch Erwärmung
dieses letztere Endglied, in der Axenbilderscheinung: schwarzes Kreuz,
umgeben von Blau mit grünem Ring (a. a. 0. 1892, S. 260), bis unter
das Ausgangs- und Anfangsglied, nämlich bis zu den bisweilen auch
so vorkommenden Brueitringen (a. a. O. 1892, S. 245 und 263), ge-
trieben wird.
Nach längerem Liegenlassen an feuchter Luft (1+—2 Jahre) gehen
die Erscheinungen zurück und es findet dann, offenbar durch Wasser-
aufnahme, eine Wiederherstellung des ehemaligen Zustandes statt (a.a.O.
1894, S. 759).
Der Vesuvian zeigt in seinen optischen Verhältnissen Bewegung
zwischen weit grösseren Extremen, indem er von einem normalen
optisch negativen Krystall durch das Brueitstadium, zu dem von
Ala (Andreasberg beim Apophyllit) und dann zu den Chromocykliten
von Fleims, Fassa und Monzoni und endlich zu dem optisch positiven
Vesuvian von Wilui, der wieder normale Ringe hat, verläuft (a.a.O.
1894.
Eine Übersicht über diese Verhältnisse gibt nachstehende Tabelle,
in der die Wirkungen der Srere’schen Combination (a. a. O. 1392,
S. 245/46) mit den Erscheinungen beim Apophyllit und beim Vesuvian
verglichen sind. — Man wolle auch die unterdessen erschienene inter-
essante Arbeit von C. Hrawarscn, Bestimmung der Doppelbrechung
für verschiedene Farben an einigen Mineralien, Tscuermax, Min.-petr.
Mitth., N.F. 1902, Bd. XXI, S. 107—155 nachsehen.
654 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 14. April 1904.
SteEEs’sche Combination.
E | Apophyllit. IV ian.
Phenakitplatte mit Kalkspathkeil, der | DE a | a {
| i B : = Im allgemeinen positiv. | Im allgemeinen negativ.
successiv weiter eingeschoben wird. |
E MN der Ri Viele Fundorte.
| Srweiterung der Ringe. "Künstlieh durch E
urch Er-
I. | Erhaltung des Charakters der — >
| Da | hitzen von 2—5 zu
De erhalten.
An natürlichen Krystallen |
Brueitstadium. ‚ sehr selten. Künstlich | Kedabek.
2.| J.conv. L. Erster Ring innen |durch Erhitzen von 2—5 Charakter der
| braunroth, aussen blaugrün. |zu erhalten. Charakter Doppelbr. = —
der Doppelbr. = +
Viele Fundorte.
Leukoeyklitstadium. .
] 1. Eat per Tirol, Island u. s. w. Vesuv.
Ur 0 Ye Pr ur‘ >E eo I}
3: ah a 5 wi Charakter der (Hrawarscı 1902)
violett, aussen grün. |
E Doppelbr. = + |
Andreasberger- oder Ala-Ringe. Andreasberg. | Ala.
4. J.conv. L. Erster Ring innen Charakter der | Charakter der
£ |
blau, aussen roth. Doppelbr. = + Doppelbr. = —
Chromocgklite. Änderung der Fleims, Fassa,
| Doppelbr. nach der Farbe. Viele Fundorte. Monzoni.
5- | J. conv. L. Verschwommene Charakter der Charakter der
| schwarze Kreuze, leuchtende Doppelbr. von + bis — Doppelbr. = von —
| Farben um sie auftretend. | bis +
| Verengung der Ringe. | Wilui.
6. | Normales Ansehen derselben; roth = Charakter der
| innen, blau aussen. ' Doppelbr. = +
|
Im Anschluss an meine frühere Arbeit (a. a. OÖ. 1894) habe ich
nunmehr so viel Vesuvianvorkommen, als ich bekommen konnte, im
convergenten polarisirten Lichte auf Doppelbrechung und Färbung der
Ringe untersucht und dabei folgendes gefunden.
Es zeigten sich die Krystalle als:
I. Optisch negativ und normal, d. h. hatten im Interferenz-
bild beim ersten Ring Roth innen, Blau aussen, in den Vor-
kommen von!':
"Auerbach, "Göpfersgrün, *"Hohenfriedberg, Pfitschthal,
Zillertal, Eger, Zermatt, Egg, "Ecker, Corbassera (Alathal),
' Die gegen 1394 neu untersuchten Vorkommen sind mit * bezeichnet.
r y s mr
Kreın: Vesuvian. 655
Valle.di Lanzo, Valle di Sturra, Vesuv, "Achmatowsk (hell-
grün), "Kimito (Finnland), "Sandford, Maine.
Den Brucittypus repräsentirte: "Kedabek.
3. Dem Alatypus gehörten an: Mussa-Alp (grün), "Achmatowsk
(dunkelgrün).
4. Chromocyklite waren die Krystalle von Fleims, Predazzo,
Monzoni, Banat, der *Kolophonit von Arendal (dunkelbraun)
und ein hellgelbes Vorkommen von "Tortola (Westindien).
5. Als einziger Repräsentant des optisch positiven Vesuvians er-
D
scheint der Vesuvian von Wilui, der wieder normal gefärbte
engere Ringe darbietet und bei dem in Folge dessen die Doppel-
brechung gestiegen ist.
In meiner früheren Arbeit (diese Sitzungsber. 1894, S. 759) theilte
ich mit, dass es mir nicht gelungen war, die Vesuviane mit abnormer
Farbenfolge in solche mit normaler, ähnlich wie beim Apophyllit, über-
zuführen.
Nunmehr habe ich typische Beispiele aller Vorkommen in Platten
senkrecht zur Hauptaxe in einem Leczere -Forqussnon schen Schmelz-
ofen nach einander F— + Stunde lang heftig geglüht und konnte so es
erreichen, dass:
ı. der Vesuvian (Brucittypus) von Kedabek,
die Vesuviane (Alatypus) von der Mussa-Alp (Alathal) und
Achmatowsk,
D
3. die Vesuviane (Chromoeyklite) von Fleims, Predazzo, Monzoni
Banat, Kolophonit Arendal, Tortola (Westindien)
in den gewöhnlichen normalen Typus mit negativer Doppel-
breehung für alle Farben und der Färbung Roth innen, Blau
aussen im ersten Ring des Axenbildes übergingen.
Das Vorkommen von Wilui widerstand bis jetzt den Bemühungen,
trotzdem das Präparat bis zum oberflächlichen Schmelzen erhitzt worden
war. Zur Untersuchung wurden die geschmolzenen Partien wegge-
schliffen.
Abgesehen hiervon tritt durch die Untersuchungen, wie sie oben-
stehend mitgetheilt sind, die interessante Thatsache zu Tage, dass
das Bedingende für die abnormen Ringerscheinungen beim Apophyllit
und Vesuvian wohl aus ein und derselben Ursache herzuleiten sein möge.
Beim Apophyllit sind es die flüchtigen Bestandtheile: Fluor und
vornehmlich Wasser, die beim Erhitzen entweichen und dadurch die
Änderungen bewirken; diess beweisen die Untersuchungen von HerschH,
von mir und von Anpers Hennıe (Geol. Fören Förhandlinges Nr. 194,
B. 21, 1899, p. 391— 415).
Sollte diess beim Vesuvian nicht auch der Fall sein?
656 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 14. April 1904.
Diess tritt zunächst in der Litteratur nicht zu Tage und es werden
dort anderen Verhältnissen, z. B. dem Eisengehalt bez. dem Verhält-
niss von Fe’O?: FeO, aber auch dem Borgehalt grössere Einflüsse zu-
geschrieben.
In Bezug auf letzteren ist namentlich Mars Weurr (Studien über
Vesuvian, Zeitschr. f. Kryst. 1895, Bd. XXV, S. 1— 37) heranzuziehen.
Derselbe schildert zwar die Verhältnisse des Chromoeyklits von Cziklowa
S. 26 richtig, schreibt aber S. 37: »alle bis jetzt erkannten borfreien
Vesuviane sind dagegen optisch negativ«.
Diess möchte nicht ganz aufrecht zu erhalten sein, da es nach
Jannascn und WEINGARTEN' borfreie Vesuviane gibt, die nach ihren
Fundpunkten: Canzoecoli und Cziklowa, Chromocyklite sind und wohl
immer neben ihrer negativen Doppelbrechung für gewisse Farben, einen
positiven Charakter derselben für andere Farben zeigen. Von dem in
einzelnen Fällen nachgewiesenen, nur geringen (0.10 Procent) Borgelalt
kann es sicherlich allein nicht abhängen, wie sich die optischen Ver-
hältnisse nach Farben und Ringen gestalten, ebensowenig vom Über-
gang von FeO in Fe?O?.
Der Vergleich mit dem Apophyllit vielmehr und der ähnliche
optische Bau beider Mineralien lassen die Ursachen der optisch ab-
normen Verhältnisse in etwas Anderem suchen.
Hierzu ist es nöthig, einen Blick auf die chemische Constitution
zu werfen, zumal schon die älteren Zusammenstellungen von C. Ramners-
BERG (Zeitschr. d. deutsch. geologischen Gesellschaft 1886, Bd. 38, S. 508)
Beziehungen wahrscheinlich machten, worauf ich (1894, a. a. 0. S. 761
Fussnote) gebührend hinwies.
Dieser Blick wird nieht nur durch die unvollkommenen älteren Ana-
lysen, sondern auch durch die besseren neuen, denen leider die optische
Untersuchung des Materials fehlt, sehr erschwert, und ich möchte das
ganz unterschreiben, was Hrawarsen a.a. 0. 1902, S. 140—145 über
diese Dinge sagt.
Um indessen aus dem vorhandenen Analysenmaterial doch einigen
Nutzen ziehen zu können, habe ich den Assistenten am Mineralogischen
Institut, Herrn Dr. von Worrr, gebeten, eine Zusammenstellung der
Vesuviananalysen, so viel als man deren habhaft werden konnte, zu
machen.
Es kommen 25 Analysen von normalen negativen Vorkommen,
ı5 vom Alatypus, 12 von Chromoeykliten, 10 von normalen positiven
und 21 von Vorkommen zusammen, bei denen die optische Charakteristik
fehlt, im ganzen 83 Analysen.
! Uber die chemische Zusammensetzung und Konstitution des Vesuvians. Zeitschr.
3 . er : ANSE,
f. anorg. Chemie 1895. VIII, S. 358.
Kreım: Vesuvian. 657
Aus allen Analysen des Vesuvians (mit Ausnahme des von Wilui)
kann man ein Mittel ziehen mit:
1. CaO, ziemlich constant 35.50 Procent
DIES) Pre N a. 2775 »
32 31:0 und’Ee”0:. 20.— »
28 >MEOMEO). 1: na 3.
Be Nlkallentee.se. 0. 1.— »
6. Wasser und Fluor... 2.75 »
100.— Procent
Berücksichtigt man den Bestand an flüchtigen Bestandtheilen. so
kommen:
1. Auf die normalen und negativen Vesuviane ungefähr 2.6 Pro-
cent Wasser und Fluor.
2. Auf die Vesuviane vom Alatypus 2.75— 2.80 Procent Wasser
und Fluor.
3. Auf die Chromoeyklite im allgemeinen weniger an Wasser und
Fluor als Nr. 2; selten dagegen 2.93 Procent Wasser und Fluor.
4. Auf den Vesuvian von Wilui nur dann über 3 Procent an flüch-
tigen Bestandtheilen, wenn man, wie Hr. von Wourr bemerkte, Wasser,
Fluor und Borsäure addirt.
Die Reihe scheint also auf den ersten Anblick durchaus nicht von
dem Anfangsglied zu den complieirten so voranzuschreiten, wie es naclı
den optischen Eigenschaften anzunehmen wäre.
Diess tritt erst bei einer gewissen Deutung und den obigen An-
nahmen ein. Es ist aber zum Verständniss derselben zu bemerken, dass
im Gegensatz zum Apophyllit, bei welchem die Chromoeyklite sehr ein-
heitlich und gleichmässig den Schliff beherrschend gebildet sind, beim
Vesuvian die chromoeyklitischen Partien niemals gleichmässig den gan-
zen Schliff erfüllen, vielmehr nur in einzelnen Partien desselben neben
trüben Partien vorkommen. Sie werden in Folge dessen, da die Reihe
vom normalen Mineral über den Alatypus an Wasser und Fluor zu-
nimmt, die Gesammtprocente, die sie erhöhen müssten, aus obigen
Gründen geringerer Verbreitung eventuell nicht erhöhen. Dass diess
Verhältniss des gelegentlich nur localen Auftretens chromoeyklitischer
Substanz wirklich vorhanden ist, bestätigte früher und jetzt die Unter-
suchung (vergl. a.a. 0. 1894 8.759).
Aus der Betrachtung der einzelnen Vorkommen des Apophyllits
und Vesuvians zeigt sich weiter, dass ein und derselbe Fundort Ver-
schiedenes bei sonst gleichem Ansehen liefert.
Wie schon a.a. O0. 1892, S. 252 ausgeführt, sind die Vorkommen
von Utö, Bergenhill, Quana juato, Poonah u.s.w. beim Apophyllit,
658 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 14. April 1904.
ohne dass ein äusserer Unterschied zu erkennen wäre, theils Leuko-
eyklit, theils Chromoeyklit; beim Vesuvian haben wir den Vesuvian
vom Vesuv in normaler Anlage und in leukoeyklitischer, den Vesuvian
von Achmatowsk im normalen Typus und in dem von Ala.
Alles diess deutet darauf hin, dass austreibbare und wohl auch
wieder aufnehmbare Substanzen es sind, deren Vorhandensein die
optisch abnormen Erscheinungen in den Ringen bedingen.
Sie bewirken als OH’ = OH-+-H und die eventuelle Ersetzung
durch FI+Fl die Änderungen in den Ringen des Apophyllits und
Vesuvians ohne weiteres und ohne (oder eventuell nur geringe)
Anwesenheit von Bor.
Tritt diess hinzu, so ändert sich, und zwar nicht im Apo-
phyllit, der Bor nicht enthält, wohl aber im Vesuvian, der Cha-
rakter der schon vorher durch andere Momente positiv gewordenen
Doppelbrechung nochmals so, dass diese energischer wird und in den
Farben der Ringe normale (erster Ring innen roth, aussen blau) Er-
scheinungen unter Beibehaltung des positiven Charakters der Doppel-
brechung auftreten.
Festzuhalten ist aber immer, dass die Erscheinungen vom
normalen Zustand bis zu dem Chromocyklitbild: Schwarzes
Kreuz, von Blau mit grünem Ring umgeben und einheitli-
cher Doppelbrechung (— beim Apophyllit, + beim Vesuvian) ohne
Borgehalt des jeweiligen Minerals zu Stande kommen und
durch Erhitzung auf die unteren Stufen des betreffenden
Minerals zurückgeführt werden können.
Mit dem Eintreten des Bors im Vesuvian nimmt der vorher schon
zum Theil vorhandene positive Charakter dieses Minerals an Intensität
zu. Welche Rolle aber dann das Bor in der Constitution spielt, ist
nicht bekannt. Nach der alten Auffassung geht es mit Al’O? zusammen
und vertritt dasselbe. Hier scheint es sich den flüchtigen Bestand-
theilen H’O und Fl zuzugesellen, aber doch sich nicht ganz so zu ver-
halten wie diese, und eine etwas andere Rolle zu spielen.
659
Untersuchungen über die Bildungsverhältnisse
der ozeanischen Salzablagerungen.
XXXVI Die Mineralkombinationen (Paragenesen) von
25° bis 83°.
Von J. H. van’r Horr und W. MEYERHOFFER.
Neastdem die Salzmineralien (soweit dieselben aus den Chloriden und
Sulfaten von Natrium, Kalium und Magnesium bestehen), um die es
sich bei den extremen Temperaturen von 25° und 83° handelt, er-
mittelt sind und auch die Temperaturen, bei denen dieselben neu auf-
treten oder verschwinden, verbleibt als letzte Aufgabe die Feststellung
der Temperaturen, welche die Mineralkombinationen (Paragenesen) be-
grenzen. Daraus geht dann von selbst hervor, welche Kombinationen
bei isothermer Einengung, falls die Zeit zur Einstellung der Gleich-
gewichtslage vorhanden ist, ausgeschlossen sind.
Da die Untersuchung ermitteln soll, wie die paragenetische Tafel
für 25°' sich allmählich in diejenige für 83°” verwandelt, sind die so-
genannten Umwandlungstemperaturen zu bestimmen, bei denen neue
Paragenesen auftreten und alte verschwinden; im Sinne der Phasenregel
sind das die Temperaturen, bei denen in den konstanten Lösungen ein
neuer Bodenkörper hinzutritt.
Was die Bestimmungsmethode betrifft, so bieten sämtliche Tem-
peraturen, um die es sich handelt, als Umwandlungstemperaturen,
bei denen sich eine Wasserabspaltung vollzieht, die bekannten Merk-
male und können mit den üblichen Methoden bestimmt werden. Fast
durchweg hat sich dabei das BREMER-Froweissche Differentialtensimeter
als überlegen gezeigt. Bei den betreffenden Temperaturen werden näm-
lich mehrere Tensionen einander gleich, einerseits die Kristallwasser-
tension der Bodenkörper, anderseits die Tension einiger konstanter
Diese Sitzungsberichte 1902, 1107.
® Ebendaselbst 1904, 519.
660 Sitzung der physikalisch - mathematischen Classe vom 14. April 1904.
Lösungen. Je nach dem Fall lassen sich also die Vergleichsobjekte,
zur Beschleunigung der Einstellung, geeignet wählen. Dazu ist bei
(len etwas höheren Temperaturen, um die es sich handelt, die Tension
und damit die Tensionsdifferenz im allgemeinen größer und so die
jestimmung leichter. Eine wesentliche Verbesserung in der Hand-
habung der Tensimeter wurde dann noch dadurch erzielt, daß die
gesättigte Lösung nicht durch Anfeuchten der Salzmischung dargestellt
wurde, sondern durch‘ Einbringen einiger Tropfen derselben in die
Tensimeterkugel und Übersehütteln der Salzmischung. Die Evakuierung
wurde hierdurch erleichtert, wohl weil der Wasserdampf die Luft aus
der Salzmischung fortspült. Nur vereinzelt kam neben dem 'Tensimeter
das Dilatometer in Anwendung; dasselbe arbeitet im allgemeinen lang-
samer und zeigt, bei den ziemlich komplizierten Verhältnissen, meistens
andere Umwandlungen neben der gesuchten an. Schließlich wurde
die Aufgabe dadurch sehr vereinfacht, daß schon mehrere Beobach-
tungen vorlagen, während einige Temperaturen sich mit genügender
Genauigkeit abschätzen ließen, da so wie so auf halbe Celsiusgrade ab-
gerundet ist.
Der Einblick in die gefundenen Verhältnisse wird erleichtert durch
eine ungezwungene Gruppierung der Erscheinungen: von 25° an ver-
einfacht sich nämlich das Bild anfangs (bis 37°) durch sukzessives
Fortfallen von drei Verbindungen, Schönit, Magnesiumsulfathepta- und
-hexahydrat; dann, in einer zweiten Periode (37°—-55°) treten drei
Körper neu hinzu, Langbeinit, Loeweit und Vanthoffit; in der dritten
Periode schließlich (55°—83°) verschwindet wieder eine Gruppe von
drei, Astrakanit, Leonit und Kainit.
I. Erste Periode (25° bis 37°). Fortfallen von Schönit, Reichardtit
und Hexahydrat.
A. Fortfallen von Schönit. Der Schönit, welcher sich beim
Erhitzen unter Wasserabspaltung in Leonit verwandelt:
(SO,),MgK,.6H,O = (SO,),MgK,.4H,0+2H,0,
kommt in dieser Weise bei 26° ganz zum Verschwinden', bei Anwesen-
heit von Chlornatrium, Astrakanit und Glaserit. Zwischen dieser Tem-
peratur und 25° liegt dann noch diejenige, bei der «ie Paragenese des
Schönits mit Chlorkalium aufhört, welche Temperatur also als unweit
' Diese Sitzungsberichte 1903, 681.
van’ Horr: Oceanische Salzablagerungen. XXXVI. 661
25°5 zu betrachten ist. Folgende Schemata bringen diese Verhältnisse
zum Ausdruck !':
25°%5 26°
Mg0l,
Kies, Oarn,
Carn.
Mg. 6 IM Me. 6
I RER ner
Me. — Mg.
Leon. N Leon. er
Astr. Sch. Astr. |[Sn. OK Astr.
‘Then. Glas. Then. Glas. Then.
B. Fortfallen von Reichardtit M&SO,.7H,O. Das Magnesium-
sulfatheptahydrat verwandelt sieh in Hexahydrat unter Wasserabspal-
tung und kommt in dieser Weise bei 31° ganz zum Verschwinden‘,
bei Anwesenheit von Chlornatrium und Astrakanit. Zwischenliegende
Temperaturen werden bedingt dureh das Aufhören der Paragenese mit
Kainit bei 27°° und mit Leonit. Die letztere Temperatur, welche,
nach dem Sättigungsdiagramm', die erstere nur um ein ganz geringes
übersteigen kann, ist deshalb als 27°5 angenommen. Folgende Sche-
mata bringen diese Verhältnisse zum Ausdruck:
Filz
Ne i
Oarn.
Kain,
Leon, Leon.
Mg.
C. Fortfallen vonMagnesiumsulfathexahydrat MgSO,.6H,O.
Das Hexahydrat verwandelt sich unter Wasserabspaltung in Kieserit
(MgSO,.H,O) und kommt in dieser Weise bei 35°5 ganz zum Ver-
schwinden’, bei Anwesenheit von Chlornatrium und Astrakanit. Zwischen-
Glas. Then. Glas.
! Die Stellen, an denen in diesen Diagrammen Körper verschwinden oder neu-
auftreten, sind mit © bezeichnet.
2 Diese Sitzungsberichte 1903, 680.
® Diese Sitzungsberichte 1902, 281. Daß bei dieser Temperatur Schönit sieh
bereits in Leonit verwandelt, und diese Verwandlung im betreffenden Versuch vielleicht
ausgeblieben ist, kann die gefundene Temperatur nur unwesentlich geändert haben.
* Diese Sitzungsberichte 1903, 370.
% Ebendaselbst 1903, 680.
Then.
662 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 14. April 1904.
liegende Temperaturen werden bedingt durch das bzw. Aufhören der
Paragenese mit Kainit und Leonit. Da dieser Vorgang der obigen
Verwandlung des Heptahydrats vollkommen entspricht, ist für die
drei Stadien in beiden Fällen dieselbe Temperaturdifferenz angenommen.
Sie beträgt beim gänzlichen Fortfallen 4°5, und so sind die hier in
o-
Frage kommenden Temperaturen 31°5 und 32°. Folgende Schemata
bringen diese Verhältnisse zum Ausdruck:
3195 35°5
MeCl, MgQl,
Carnall. Carnall.
Ries. Kain.
me
Kain.
Leon. CR
Glas.
HI. Zweite Periode (37° bis 55°). Auftreten von Langbeinit, Loeweit
und Vanthoffit.
A. Auftreten von Langbeinit. Der Langbeinit bildet sich
aus Leonit und Kieserit unter Wasserabspaltung:
(SO,),MgK,. 4H,0 + MgSO,. H,O = (SO,),Mg,K,+ 5H,O
bei 37° und Anwesenheit von Chlornatrium und Kainit." Schon bei
einer Temperatur, die nach der Überlegung auf S. 661 nur wenig höher
liegt, tritt die Paragenese mit Astrakanit ein, für welche dement-
sprechend 37°5 angenommen ist. Folgende Schemata bringen diese
Verhältnisse zum Ausdruck:
31
Mgt(l,
Carnall.
Rain.
CR
Then,
! Diese Sitzungsberichte 1902, 280. Das bei dem betreffenden Versuch Hexa-
hydrat statt Kieserit genommen ist, kann die beobachtete Temperatur nicht wesentlich
geändert haben.
van'r Horr: Oceanische Salzablagerungen. XXXVI. 663
B. Auftreten von Loeweit. Der Loeweit bildet sich aus Astra-
kanit unter Wasserabspaltung von Wasser:
2(SO,),MgNa,.4H,0 = (SO,), Mg.Na,. 5H,0 + 31,0
bei 43° und Anwesenheit von Ohlornatrium, Kieserit und Langbeinit.'
Dem Diagramm ist nunmehr folgende Form gegeben:
Carnall.
Leon.
(las.
Then.
0. Auftreten von Vanthoffit. Der Vanthoffit bildet sich aus
Natriumsulfat und Astrakanit unter Wasserabspaltung:
Na,SO, + (SO,),MgNa,. 4H,0 = (SO,),MgNa;+ 4H,0
bei 46° und Anwesenheit von Chlornatrium und Glaserit.” Die Para-
genese kommt dann in folgender Weise zum Ausdruck:
46°
Carnall.
D. Weiterentwickelung der neugebildeten Mineralien.
Das Neuauftreten der oben erwähnten Mineralien hat, durch die Ent-
wickelung derer Gebiete, einige Änderungen der Paragenese zur Folge.
Zunächst dehnt sich das Gebiet des Loeweits aus:
1. Bei 47° kommen Loeweit und Leonit zusammen oder, was auf
dasselbe hinauskommt, verwandelt sich Astrakanit in Loeweit bei An-
! Diese Sitzungsberichte 1902, 374- Daß im betreffenden Versuch Hexahydrat
und Leonit genommen wurden, kann die gefundene Temperatur nieht merklich ge-
ändert haben.
?2 Ebendaselbst 1903, 502.
Ci
664 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 14. April 1904.
wesenheit von Chlornatrium, Langbeinit und Leonit, wie ein Tensi-
meterversuch zeigte, bei dem die Kristallwassertension der Astrakanit-
Loeweitmischung die Tension der an Astrakanit, Chlornatrium, Leonit
und Langbeinit gesättigten Lösung bei 47° überstieg.
2. Zweitens hat sich bei 48°5 das Gebiet des Vanthoffits derart
ausgedehnt, daß Astrakanit von Natriumsulfat getrennt wird, mit an-
deren Worten Astrakanit und Thenardit bilden Vanthoffit, bei Anwesen-
heit von Chlornatrium.'
3. Dann, bei 49°, hat sich das Gebiet des Loeweits so weit ent-
wickelt, daß die Paragenese von Astrakanit und Kieserit zum Ver-
schwinden kommt, mit anderen Worten Astrakanit bildet Loeweit bei
Anwesenheit von Chlornatrium und Kieserit, wie ein Tensimeterver-
such zeigte, bei dem obige Kristallwassertension die Tension der an
Astrakanit, Chlornatrium und Kieserit gesättigten Lösung bei 49° über-
stieg.
4. Bei 55° schließlich hat sich das Gebiet von Langbeinit bis
zum Chlorkalium ausgedehnt und trennt Kainit von Leonit, mit anderen
Worten Leonit bildet bei dieser Temperatur mit Kainit Langbeinit und
Chlorkalium (bei Anwesenheit von Chlornatrium) nach folgender Glei-
chung:
(SO), MgK,. 4H,0+SO,Mg.KCl.3H,0 = (SO,), Mg,K,+KC1-+ 7H,0.
Diese eigentümliche Reaktion zeigte wiederum das Tensimeter an, in
dem die Maximaltension «der Mischung von Leonit, Kainit, Langbeinit
und Chlorkalium bei 55° die Tension der an Chlornatrium, Chlor-
kalium, Leonit und Kainit gesättigte Lösung überstieg.
Folgende Schemata bringen diese Verhältnisse zum Ausdruck:
47° 48°5
Carnall. Carnall.
! Diese Sitzungsberichte 1903,
665
MstÜl,
Carnall.
Kies. Kain.
Lb.
Loew. BE: i
Astr. —— CR
Vnth. Glas.
Then.
II. Dritte Periode (55° bis 83°). Fortfallen von Astrakanit, Leonit
und Kainit.
A. Fortfallen von Astrakanit.
wie erwähnt, unter Wasserabspaltung in Loeweit verwandelt, kommt
Der Astrakanit, welcher sich,
in dieser Weise bei 60° ganz zum Verschwinden bei Anwesenheit von
Chlornatrium und Vanthoffit.' Bei 56°5 hört die Paragenese mit Leonit
auf”; bei 59°5 diejenige mit Glaserit, ınit anderen Worten Astrakanit
bildet bei dieser Temperatur Loeweit bei Anwesenheit von Glaserit,
Chlornatrium und Vanthoffit, wie ein Tensimeterversuch zeigte, in dem
die Tension der Mischung von Astrakanit und Loeweit diejenige der
gesättigten Lösung von Astrakanit, Vantlıoffit, Glaserit und Chlor-
natrium bei 59°5 zu übersteigen anfing.
diese Verhältnisse zum Ausdruck:
Folgende Schemata bringen
56°5 59%5 60°
MsCl, Mg(l,
Carnall. Carnall. Carnall.
: = Kies. =
Kain. Kain. Kain.
B. Fortfallen von Leonit.
Loew.
Leon.
Glas.
Loew.
Then.
BB
Vnth.
CIR
Der Leonit, welcher bei Erhitzen
und Anwesenheit von Chlornatrium unter Wasserabspaltung in Lang-
beinit und ein natriumhaltiges Kaliumsulfat (Glaserit) zerfällt:
2(SO,).MgK,.4H,0 = (SO,),Mg.K, + SO,K, + SH,O
! Diese Sitzungsberichte 1903. 503. Auf Grund der dort erwähnten Dilatometer-
versuche ist 60° statt der früher angegebenen 59° genommen.
2
Sitzungsberichte 1904.
® Ebendaselbst 1903, 682.
666 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 14. April 1904.
kommt in dieser Weise bei 61°5 ganz zum Verschwinden bei gleich-
zeitiger Anwesenheit von Loeweit', nachdem bei 60°5 die Paragenese
mit Kaliumehlorid aufgehört hat, wie ein Tensimeterversuch auswies,
bei dem die Maximaltension der Mischung von Leonit. Langbeinit,
Glaserit und Chlornatrium bei 60°5 diejenige der an Chlornatrium,
Chlorkalium, Glaserit und Langbeinit gesättigten Lösung zu übersteigen
anfing.
Folgende Schemata bringen diese Verhältnisse zum Ausdruck:
60°5 61°5
MgCl,
Carnall. Carnall.
Loew.
C. Fortfallen von Kainit. Der Kainit, welcher beim Fr-
hitzen unter Wasserabspaltung in Chlorkalium und Kieserit zerfällt:
SO,Mg.KCl. 3H,0 = KC1+S0,Mg.H,O+ 2H,O
kommt in dieser Weise bei 83° ganz zum Verschwinden” bei Anwesen-
heit von Chlornatrium und Langbeinit, nachdem bei 72° die Paragenese
mit Carnallit aufgehört hat.” Folgende Schemata bringen diese Ver-
hältnisse zum Ausdruck:
72°
MgCl,
Kieserit
Then. Then.
! Diese Sitzungsberichte 1903, 681.
2 Dilatometrische Bestimmung. MEYERHOFFER, Zeitschr. für anorganische Chemie
1903, 163.
® Diese Sitzungsberichte 1902, 1108.
van'ır Horr: Oceanische Salzablagerungen. XXXV]. 667
IV. Zusammenfassung und Anwendung der Resultate.
Während im vorhergehenden die Umwandlungen nach der Tem-
peratur angeordnet waren, bei der dieselben stattfinden, damit die
allmähliche Änderung der Paragenese zum Ausdruck kommt, seien
jetzt die erwähnten 23 Umwandlungen ihrer chemischen Natur nach
betrachtet.
Dieselben kommen im Grunde auf 9 Vorgänge hinaus, die zu
23 werden durch Änderung der Körper, in deren Anwesenheit sie
sich abspielen. Diese 9 Vorgänge lassen sich dann wiederum in
3 Gruppen einteilen, je nachdem es sich um einfache Wasserabspaltung,
Doppelsalzbildung oder einen noch komplizierteren Vorgang handelt:
I. Einfache Wasserabspaltung (bei Anwesenheit von Chlornatrium).
A. Umwandlung von Schönit in Leonit.
1. Bei Anwesenheit von Glaserit und Chlorkalium (25°5).
2. Bei Anwesenheit von Glaserit und Astrakanit (26°).
B. Umwandlung von Reichardtit in Hexahydrat.
1. Bei Anwesenheit von Leonit und Kainit (27°).
2. Bei Anwesenheit von Leonit und Astrakanit (27°5).
3. Bei Anwesenheit von Astrakanit (31°).
GC. Umwandlung von Hexahydrat in Kieserit.
1. Bei Anwesenheit von Leonit und Kainit (31°5).
2. Bei Anwesenheit von Leonit und Astrakanit (32°).
3. Bei Anwesenheit von Astrakanit (3595).
D. Umwandlung von Astrakanit in Loeweit.
1. Bei Anwesenheit von Langbeinit und Kieserit (43°).
2. Bei Anwesenheit von Langbeinit und Leonit (47°).
Bei Anwesenheit von Kieserit (49°).
Bei Anwesenheit von Glaserit und Leonit (56°5).
Bei Anwesenheit von Glaserit und Vanthoffit (5995).
Bei Anwesenheit von Vanthoffit (60°).
[o ud 58)
I. Doppelsalzbildung (bei Anwesenheit von Chlornatrium).
A. Umwandlung von Leonit und Kieserit in Langbeinit.
I. Bei Anwesenheit von Kainit (37°).
2. Bei Anwesenheit von Astrakanit (37°5).
B. Umwandlung von Astrakanit und Thenardit in Vanthoffit.
1. Bei Anwesenheit von Glaserit (46°).
2. Ohne weiteres (48°5).
53*
668 Sitzung der physikalisch - mathematischen Classe vom 14. April 1904.
©. Umwandlung von Leonit in Glaserit und Langbeinit.
ı. Bei Anwesenheit von Chlorkalium (6095).
2. Bei Anwesenheit von Loeweit (61°5).
D. Umwandlung von Kainit in Kieserit und Chlorkalium.
1. Bei Anwesenheit von Carnallit (72°).
2. Bei Anwesenheit von Langbeinit (83°).
II. Umwandlung von Leonit und Kainit in Langbeinit und
Chlorkalium bei Anwesenheit von Chlornatrium (55°).
Diese Reaktion gehört zu den verhältnismäßig seltenen Typen,
zu denen auch die doppelte Zersetzung zählt, weil sie sich zwischen
vier Bodenkörpern abspielt, welche nur bei der Umwandlungstem-
peratur nebeneinander vorhanden sein können (in Berührung mit der
gesättigten Lösung).
Diese Zusammenstellung zeigt gleichzeitig, welche Mischungen
bei der tensimetrischen Bestimmung zu nehmen sind: einerseits die
trockne Mischung der Körper, zwischen denen die Umwandlung sich
abspielt, andererseits das bei niederer Temperatur stabile System und
die hinzugehörigen Bodenkörper, angefeuchtet mit deren gesättigter Lö-
sung. Allgemeiner kann als Lösung eine solche genommen werden, die
gesättigt ist an sämtlichen Körpern, die bei der Umwandlungstemperatur
nebeneinander sein können, bis auf einen, denn alle diese Lösungen
werden bei der Umwandlungstemperatur gleich. Auch durch Ver-
gleichung der Tension dieser Lösungen unter sich läßt sich also die
Umwandlungstemperatur ermitteln, nur daß dann die Differenzen in
der Nähe der Umwandlungstemperatur kleiner sind.
Zur etwaigen Anwendung können die erhaltenen Resultate in einer
anderen Weise angeordnet werden, indem angegeben wird, durch
welche Temperaturen die möglichen Paragenesen begrenzt sind. Die
folgende Tabelle enthält eine solche Zusammenstellung, in der Weise
vereinfacht, daß die ausgeschlossenen Kombinationen zum Teil fort-
gelassen, zum Teil durch Minuszeichen angegeben sind. Mit Plus-
zeichen sind dann diejenigen Kombinationen versehen, welche von
unterhalb 25° bis oberhalb 83° möglich sind. Das Chlormagnesium,
dessen Paragenese mit Kieserit und Carnallit unverändert bleibt, ist
nicht aufgenommen, und die Temperatur ist auf ganze Grade nach
oben abgerundet.
van'r Horr: Oceanische Salzablagerungen. XXXVI. 669
|Langl. Vanth.) Mg. 6 | Carn. | Leon. | Glas. | CIK | Kain. | Kies. | Astr. |
| | |
Then. | ob. 46 | u _ + _ | —_ | —_ | bis 49 | Then.
Mg. 7 — | — [biszr) — |bisas| — | — |bis27| — |biszı| Mer
Schön. 4 | ne — .'pis26:|bis'26|bisa6| — — |bis 26| Schön.
Eoew. |0ob.43 | ob.60 | — — [47—62| ob. 57 We — ,0b.43 |43—60| Loew.
Astr. _ |38—47|46—60 28—36 bis 57 |bis 66 °— — 32—49| Astr. |
Kies. job.37| — |bis36| + [32-38 — |ob.72|bis 83 | Kies. | |
Kain. 3783| — |bis 32 |bis 72 | bis 55 — ‚bis 83 | Kain. |
CIK EN + |bis6r| + | CIK |
Glas. ob.61 06.46 | — — 126—62| Glas.
Leon. |37—62| — 127—32) — |Leon. | |
Langb.| Vanth., Mg. 6 | Carn. | | |
Die Anwendung der etwa 40 Temperaturanweisungen, welche
diese Tabelle enthält, sei auf ein paar Fälle beschränkt.
In erster Linie bietet die vor kurzem von Kusıerscnky gefundene
Mineralkombination ein besonderes Interesse. Dieselbe enthält (neben
Chlornatrium) Loeweit, ein neues Doppelsulfat (SO,), Na,Mg und Glase-
rit." Darin ist eine mehrfache Temperaturandeutung enthalten: einer-
seits weist das Auftreten von Loeweit, nach der obigen Tabelle, auf
Temperaturen oberhalb 43° hin; anderseits weist dasjenige des neuen
Doppelsulfats hin auf Temperaturen oberhalb 46°; dann aber macht
die Paragenese von Loeweit und Glaserit schon eine oberhalb 57° ge-
legene Temperatur wahrscheinlich, während die Kombination des neuen
Doppelsulfats mit Loeweit "Temperaturen von 60° und höher wahr-
scheinlich macht. Die von Kusıerscuky gefundene Kombination ist
zuerst in dem Diagramm für 59°5 enthalten; die hohe Temperatur
erklärt wohl deren Seltenheit, geht jedoch nicht über die von Karr-
scınsky direkt beobachtete hinaus.”
In zweiter Linie hat die paragenetische Tabelle noch zu einer
kleinen, mit Hrn. Drxısox ausgeführten Untersuchung veranlaßt. In
einer Sammlung Staßfurter Mineralien fand sich nämlich eine Stufe
vor, angeblich eine Kombination von Astrakanit, Kainit und Chlor-
natrium, welche die obige Tabelle ausschließt. Nun liegen aber im
Diagramm für 25° Astrakanit und Kainit einander so nahe (W bis V),
daß ein kleiner Bestimmungsfehler die Abwesenheit der Paragenese
veranlaßt haben kann.” Wiederholung der Bestimmung würde die
Entscheidung kaum bringen, und so ist ein anderer Weg verfolgt,
der unzweideutig zum Ziele führte. Treffen nämlich Astrakanit und
Kainit bei 25° entgegen der Angabe des Diagramms zusammen, so
1
2
Diese Sitzungsberichte 1902, 404.
Sitzungsberichte der Ung. Akademie der Wissenschaften, 21. Okt. 1gor.
® Diese Sitzungsberichte 1903, 370.
670 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 14. April 1904.
schließen sich bei dieser Temperatur Reichardtit und Leonit aus, und
dann muß folgende Reaktion stattfinden können:
>MeSO,.7H,0 + MgK,(SO,).4H,0+ 2NaCl
— SH,O+MgNa,(SO,),4H,0+ 2MgS0,.KCl.3H,0.
Mit der Lösung, welche halbwegs zwischen V und W liegt, sind
deshalb einerseits Mischungen von dem einen, anderseits von dem
anderen System in Mengeverhältnissen zusammengebracht, welche der
Zusammensetzung der Lösung Rechnung tragen. Dabei zeigte sich
unzweideutig die Kombination Magnesiumsulfat-Leonit als die stabile:
sie blieb bei 25° ungeändert:;: die andere dagegen verwandelte sich
allmählich, wie die Abhärtung, die Kontraktion im Dilatometer und
die mikroskopische Verfolgung eines Rührversuchs zeigte. Ist hiermit
die Paragenese von Astrakanit und Kainit bei 25° ausgeschlossen, so
hat schon ein früherer Versuch! gezeigt, daß bei ansteigender Tempe-
'atur die beiden (V und W) noch weiter auseinandergehen und dann
noch von 37° an durch Langbeinit getrennt werden. Unterhalb 25°
ist aber das Eintreten der Paragenese ebenfalls ausgeschlossen, da
dann eine Verwandlung im Sinne der obigen Gleichung unter Wasser-
abspaltung stattfinden müßte, während bekanntlich derartige Verwand-
lungen immer unter Wasseraufnahme erfolgen, falls sie durch Abküh-
lung veranlaßt werden. Bei näherer Untersuchung stellte sich dann
auch heraus, daß die betreffende Mineralstufe nicht der angeblichen
Kombination von Astrakanit und Kainit entsprach, und, nach Privat-
mitteilung des Hrn. Precnt, scheint dieselbe auch nicht aufzutreten.
! Diese Sitzungsberichte 1902. 281.
er}
nn |
—
Über den Bau des Geruchsorgans der ('yc/o-
stomala.
Von Prof. Dr. E. BALLowırz
in Greifswald.
(Vorgelegt von Hrn. WaLpever.)
Ik Jahre 1900 begann ich damit, Untersuchungen über den feinern
Bau des Geruchsorgans der Wirbelthiere anzustellen. Durch eine von
der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin mir bewilligte
Subvention von 800 Mark wurde es mir ermöglicht, besonders während
eines Aufenthaltes am Mittelmeer, ein grösseres Material für diese Unter-
suchungen zu sammeln.
Im Folgenden gebe ich zunächst einen kurzen Bericht über die
Resultate, welche ich am Geruchsorgan der Rundmäuler (Cyelostomata)
erhielt. Weitere Berichte werden folgen.
Berücksichtigt wurde Petromyzon fluviatilis. Die frisch gefangenen
Fische erhielt ich während eines Aufenthaltes in Carlshagen auf der
Insel Usedom im August und September 1901. Während dieser Monate
streichen die Neunaugen an der Küste Pommerns und der vorgelagerten
Inseln entlang, bevor sie in die Flüsse im October aufsteigen, und
fressen mit Vorliebe die Häringe aus den Häringsnetzen aus. Um sie
zu erbeuten, muss bei der Aufnahme der Häringsnetze vorsichtig ver-
fahren werden, da die Neunaugen sich von den Häringen, an welchen
sie sich festgesogen haben und welche sie bis auf die Wirbelsäule an-
fressen, leicht ablösen und ins Wasser zurückfallen. Dieses aus der
Ostsee stammende Material wurde durch zahlreiche Exemplare ergänzt,
welche ich mir während der Monate October bis December aus der
Oder lebend kommen liess.
Das unpaare Geruchsorgan von Petromyzon besteht aus drei
Abschnitten, dem Zuleitungsrohr, dem Riechsacke und dem Nasen-
gaumengang.
Das Zuleitungsrohr ist ein kurzes, fast senkrecht zur Kopfober- |
fläche gestelltes, leicht gebogenes Rohr, welches sich in der Median-
linie an der Oberfläche des Kopfes in einer kreisrunden, von einem
672 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 14. April 1904.
niedrigen Hautsaum umstellten Öffnung öffnet. Bei seiner etwas er-
weiterten Einmündung in die Riechhöhle erhebt sich von seinen unteren
und den seitlichen Wänden eine halbmondförmige Falte. Das an Nerven
reiche Epithel, welches sich schon in der Nähe der äusseren Öffnung
verdünnt, besteht im Gange aus geschichteten, mehr abgeplatteten,
an der freien Oberfläche mit Cuticularsaum versehenen Zellen, welche
denen der äusseren Epidermis ähnlich sind; nur hören die eigenthüm-
lichen kolbenartigen und granulirten Zellen der Epidermis schon in der
Nähe der äusseren Öffnung des Zuleitungsrohres auf, worauf schon
LANGERHANsS hingewiesen hat.
Die Höhle des von einer Knorpelkapsel umgebenen Riechsackes
bildet einen in dorsoventraler Richtung etwas abgeplatteten, quer-ovalen
Hohlraum, von dessen oberer, unterer und den seitlichen Wänden sich
bis 13 schmale und hohe Schleimhautfalten erheben und das Lumen
einengen; auf Querschnitten erscheinen sie radiär zum Mittelpunkte der
Riechhöhle gestellt. Die Höhe dieser Schleimhautfalten differirt etwas;
die mediane obere und besonders die mediane untere erreichen die
grösste Höhe und deuten dadurch noch eine paarige Zusammensetzung
der Riechhöhle an.
Nach vorn hin nimmt die Höhe der Falten ab, bis sie sich in
der Nähe der Einmündung des Zuführungsrohres verlieren; hier vorn
ist mithin der von den Falten freigelassene Binnenraum der Riechhöhle
am grössten.
Nach hinten hin verengert sich der centrale, kleine, von den
Falten freigelassene Binnenraum und verschwindet schliesslich ganz.
Dieses Verschwinden wird dadurch veranlasst, dass sich hinten die
Schleimhautfalten auf der Oberfläche eines von hinten nach vorn vor-
ragenden, auf dem Querschnitt des Riechsackes central gelegenen Ge-
webszapfens vereinigen: der Querschnitt des Gewebszapfens hat die
gleiche Form wie der Querschnitt der ganzen Riechhöhle, ist aber
wesentlich kleiner. Zuerst kommen hier die beiden medianen Schleim-
hautfalten zur Vereinigung, alsdann je nach ihrer Höhe alsbald auch
die anderen.
Durch dieses centrale Zusammenfliessen der Falten werden die
tiefen Spalten zwischen ihnen, welche vorher gemeinsam in den cen-
tralen Binnenraum der Riechhöhle ausmündeten, zu auf dem Querschnitt
allseitig geschlossenen, recessusartigen Krypten, welche sich noch eine
Strecke weit als schmale radiäre Hohlräume nach hinten hin fortsetzen.
Ihre Höhe nimmt, je weiter nach hinten, um so mehr ab, da sich auch
der centrale Gewebszapfen nach hinten hin vergrössert und dadurch
die Krypten einengt. Schliesslich endigen die Krypten als niedrige
Spalten blind.
a -
E. Barrowrrz: Geruchsorgan der Cyclostomata. 673
An jede Krypte schliesst sich nun nach hinten hin je ein Drüsen-
packet an, welches sich im hintern Theil der Krypten auch etwas
seitlich und nach oben und unten hin erstreckt. Diese Drüsen erweisen
sich auf den Durchschnitten als bläschenartig erweiterte Räume von
verschiedener Grösse. Ihre Innenwand ist mit einem einschichtigen,
meist niedrigen, kubischen bis eylindrischen Epithel bedeckt; ein grosser
Theil der Zellen besitzt an der freien, dem Lumen zugewandten Ober-
tläche einen dichten Cilienbesatz. Jedes Drüsenpacket mündet mit wohl
nur einer feinen Öffnung in das Lumen seiner zugehörigen Krypte
zwischen den Epithelzellen der letzteren aus. Die Drüsen werden von
grösseren Bluträumen umgeben.
Die histologische Zusammensetzung ist, in Kürze charakterisirt,
die folgende.
Der frei gegen das Innere der Riechhöhle vorspringende Rand der
Falten wird von einem dicken, geschichteten, nicht flimmernden Epithel
bedeckt von ähnlicher Zusammensetzung wie das des Zuleitungsrohres.
Die Oberfläche der äussersten, mehr napfförmigen Zellen zeigt eine
dieke, gestrichelte Cuticula. Dieses Epithel geht vorn in das des Zu-
leitungsrohres unmittelbar über, hinten fliessen die Epithelstreifen an
der Oberfläche des erwähnten Gewebszapfens zusammen. In die Krypten
erstreckt es sich nicht hinein.
Die laterale Wand des Riechsackes ganz im Grunde der schmalen
Spalten zwischen den Schleimhautfalten wird von einem niedrigen
Flimmerepithel eingenommen. Zwischen den Basen der kurzeylindri-
schen oder auch konischen Flimmerzellen finden sich kleine Ersatzzellen.
Dieses flimmernde Cylinderepithel reicht bis gegen das hintere Ende
der Krypten.
Das hohe Riechepithel ist nur auf die einander zugewandten
Seitenflächen der Falten und auf die spaltförmigen Krypten beschränkt,
in den letzteren mit Ausnahme ihrer, wie oben geschildert, mit Flimmer-
epithel überzogenen peripherischen Wand.
In der Nähe des freien Randes der Falten kommen des öftern
isolirte, von dem Riechepithel deutlich abgesetzte, versprengte Inseln
des mit Cuticularsaum versehenen Epithels zur Beobachtung, welches
den freien Faltenrand bedeckt. Diese verschieden grossen Epithelinseln
springen an der Oberfläche des Riechepithels meist eigenthümlich pilz-
artig Vor.
Das Riechepithel setzt sich, wie G. Rerzıus 1880 zuerst in über-
zeugender Weise dargelegt hat, aus den flimmernden Stütz- oder Isolir-
zellen und den eigentlichen Riechzellen zusammen. Auch mir ist es
nicht gelungen, Übergänge zwischen diesen beiden differenten Zellen-
formen aufzufinden.
674 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 14. April 1904.
Hinsichtlich der Stützzellen vermag ich der Beschreibung von
G. Rerzıus Wesentliches nicht hinzuzufügen. Die Fussstücke ihrer
Flimmerhaare sind als längliche Stäbchen gut zu erkennen, lassen sich
aber mit Eisenhämatoxylin nicht speeifisch färben, ebenso wenig wie
diejenigen des Flimmerepithels im Grunde der Spalten. An den häufig
getheilten Ansatzfüsschen, mit welchen sich die Stützzellen peripher
an eine punktirte Membran anheften, wurde oft eine feine Faserung
beobachtet.
Die Riechzellen sind leicht zu isoliren und lassen sich auch nach
der Gorerschen Methode imprägniren, welche auch oft die Stütz-
zellen färbt. Über ihre Anzahl und Vertheilung gibt am besten die
Tinetion aufgeklebter Serienschnitte vermittelst Eisenhämatoxylin Auf-
schluss. Dieses Färbeverfahren tingirt die Riechzellen bei richtiger
Anwendung ganz specifisch intensiv blauschwarz und lässt sie da-
durch auf das übersichtlichste in den Schnitten ganz prächtig hervor-
treten.
Die Riechzellen sind in ihrem Zellenleib wesentlich kürzer als
die Stützzellen und bestehen aus zwei differenten Theilen, einem die
freie Schleimhautoberfläche erreichenden, kernhaltigen Protoplasma-
körper und einem gegen die Propria der Schleimhaut verlaufenden,
sehr feinen, varikösen, oft in ganzer Ausdehnung isolirbaren Nerven-
fortsatz. Der letztere geht in den Gorer-Präparaten eontinuirlich und
nicht selten unter knieförmiger Umbiegung direct in eine feine Ol-
factoriusfaser über. In den mit Eisenhämatoxylin gefärbten Schnitten
lässt er sich nur eine kurze Strecke in der Nähe des Protoplasma-
körpers verfolgen und lässt bisweilen eine leichte Schlängelung er-
kennen.
Der langgestreckte Protoplasmakörper besitzt meist zwei bauchige
Anschwellungen, von denen die untere, der Propria zugewandte,
constant ist und den grossen Kern führt. Das obere, frei an die
Schleimhautfläche vorragende, in den Präparaten meist ein wenig kopf-
artig verdickte Ende trägt einen Besatz von zahlreichen, oft hin und
her gebogenen, sehr hinfälligen Wimpern, welche ganz das Aussehen
gewöhnlicher Flimmerhaare besitzen. Es ist nicht unwahrscheinlich,
dass sie im Leben flimmern. Ihre Länge erreicht nicht ganz die der
Flimmerhaare der Stützzellen. Das dem Protoplasma eingefügte Ende
der Haare erscheint fussstückartig als dunkler Punkt, sowohl an den
isolirten Zellen, wie oft auch an stärker entfärbten Eisenhämatoxylin-
präparaten.
Die freien Enden der Elemente des Richepithels stecken in einem
sehr ausgeprägten Netz von Schlussleisten, von deren Substanz sich
Theile auch noch an den isolirten Zellen auffinden lassen. In den
=
E. Barrowrrz: Geruchsorgan der Cyclostomata. 675
mit Eisenhbämatoxylin tingirten Präparaten treten diese Schlussleisten
ausserordentlich deutlich hervor. Sie werden in den mit Sublimat
fixirten Präparaten von den wie leicht gequollen aussehenden Enden
der Riechzellen an der freien Oberfläche der Riechschleimhaut überragt.
In mit Eisenhämatoxylin tingirten Flächenschnitten zeigen die
Protoplasmakörper der Riechzellen einen unregelmässig eckigen Quer-
sehnitt, berühren sich niemals breit mit den Flächen, werden viel-
mehr durch eine der zwei Stützzellen von einander isolirt.
Das Bindegewebe der Propria des Riechsackes ist durch den
Reichthum an Blutgefässen und durch die schwarze, starke Pigmen-
tirung ausgezeichnet. Das Pigment gehört sehr zahlreichen, ver-
zweigten Pigmentzellen an, welche sich auch in die Falten in grosser
Zahl hineinerstrecken.
Die beiden, durch völlig getrennte Öffnungen der knorpligen
Riechkapsel eintretenden Riechnerven zerfasern sich sogleich in zahl-
reiche Äste, welche bündelweise an die Krypten und die Falten her-
antreten.
Im vordern Theil des Bodens des Riechsackes, unmittelbar unter-
halb und etwas nach hinten von der Einmündung des Zuleitungsrohres,
liegt die weite Communicationsöffnung der Riechhöhle mit dem Nasen-
gaumengang. An der Grenze zwischen den beiden Öffnungen erhebt
sich die oben erwähnte Falte und verhindert, dass das Wasser direct
aus dem Zuleitungsrohr in den Nasengaumengang, und umgekehrt,
übertritt. Sie zwingt vielmehr das bald in der einen, bald in der
anderen Richtung strömende Wasser stets in die Riechhöhle hinein-
zuwirbeln und die Oberfläche der Riechschleimhaut zu bestreichen.
Von dieser Communicationsöffnung geht der an seiner inneren
Oberfläche mit einem dünnen, nur aus wenigen Zelllagen bestehenden,
mit Cuticularsaum versehenen Epithel bedeckte Gang unterhalb des
Riechsacks, des Gehirns und des vordern Endes der Chorda eine grosse
Strecke weit nach hinten hin. In seinem vordern Theil, unterhalb
des Geruchsorgans, wird seine Wand noch durch Knorpel verstärkt
und dadurch stets klaffend erhalten. Hinten dagegen ist seine Unter-
wand weich und stösst unmittelbar an die Dorsalwand des Schlunds
und des Darms.
In seinen vorderen zwei Dritteln ist der Gang noch eng, klaffend,
mit auf dem Querschnitt quer-ovalen Lumen, welches nach hinten
an Höhe zunimmt. Sein hinteres Drittel erweitert sich in transversaler
und verticaler Richtung sackartig und besitzt hier eine weiche, nach-
giebige Wand. Die Erweiterung reicht bis ganz in die Nähe der Ein-
mündung der zweiten Kiemenöffnung in den Kiemengang jederseits,
um hier dieht vor und oberhalb dieser Einmündung blind zu endigen.
676 Sitzung der physikalisch -mathematischen Classe vom 14. April 1904.
Dieser ganze hintere, erweiterte, weichwandige Theil des Nasen-
gaumenganges muss daher unter der Einwirkung der sich contra-
hirenden Kiemenkorbmuseulatur stehen und muss im Rythmus der
Respiration abwechselnd ausgedehnt und comprimirt werden. Dieser
Theil wirkt daher als Aspirationsblase zur steten Erneuerung des Riech-
wassers dieses Ektoparasiten, ähnlich dem Gummiballon eines Sprays,
eine Function, welche von Jonannes MÜLLER schon erkannt und ge-
würdigt worden ist.
Während seines Verlaufes unter dem Gehirn besitzt der Nasen-
gaumengang in seiner dorsalen Wand schmale, schlauchförmige Aus-
sackungen des Epithels.
#
or)
S
|
Zur Erzeugung von Minimalflächen durch Schaaren
von Ourven vorgeschriebener Art.
Von C. FE. GEIseEr,
Professor am eidgenössischen Polytechnikum in Zürich.
(Vorgelegt von Hrn. Scmwarz.)
Nileugre: hat in seinem »Memoire sur la courbure des surfaces« die
Aufgabe behandelt: alle Minimalflächen zu bestimmen, welche durch Be-
wegung einer Geraden parallel zu einer Ebene entstehen, und als Lö-
sung eine geradlinige Schraubenfläche gefunden, welche zur Unter-
scheidung von anderen geradlinigen Schraubenflächen als Meusnıer’sche
Schraubenfläche bezeichnet werden kann. Durch Cararan ist dann be-
wiesen worden, dass diese Fläche die einzige reelle geradlinige Minimal-
fläche ist. Seither hat man erkannt, dass zu den geradlinigen Minimal-
flächen auch die Developpabeln gehören, welehe dem unendlich fernen
imaginären Kreise umschrieben sind. Endlich hat Sornus Lin noch eine
imaginäre geradlinige Fläche dritten Grades entdeckt, welche ebenfalls
eine Minimalfläche ist.
Im nachfolgenden ist eine Methode entwickelt, welche die ge-
nannten Fälle gleichzeitig aufzufinden gestattet und mit deren Hülfe
sich beweisen lässt, dass dieselben alle möglichen (reellen und ima-
ginären) geradlinigen Minimalflächen erschöpfen. Sie gibt auf die
Bestimmung aller eine Schaar von Kreisen enthaltenden Minimal-
tlächen angewandt neben der bekannten, durch Umdrehung der Ketten-
linie um ihre Direetrix entstehenden reellen Fläche zunächst noch eine
imaginäre Minimalfläche vierten Grades; für die allgemeinen, aus einer
Schaar von reellen Kreisen gebildeten Minimaltlächen gewinnt man mit
ihrer Hülfe einen grundsätzlich einfachen Beweis des Ensnerer’schen
Satzes, dass die Rırmann sche Fläche die allgemeinste dieser Art ist.
Zum Schlusse wird gezeigt, wie dieselbe Methode auch in der Lehre
von den Krümmungslinien von Nutzen sein kann.
IE
Wenn &,y,2 cartesische Coordinaten im Raume bedeuten und A
ein veränderlicher Parameter ist. so stellen die Gleichungen
(1.) o(2,9,2:%) = 0, Ulz,y,2;%) = 0
(2
678 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 14. April 1904.
wo g und & gegebene Functionen dieser Grössen sind, zwei Schaaren
von Flächen dar. Als entsprechende Individuen sind solche Flächen
gp und % zu bezeichnen, welche demselben Werthe von A zugehören.
Durch Elimination von A aus den beiden Gleichungen erhalte man
F(x,y,2) = 0, so ist das geometrische Bild dieser neuen Gleichung
eine Fläche F, die durch die Schnitteurven entsprechender g und X er-
zeugt wird. Die Fläche F hat in jedem ihrer Punkte P(x,y,2)
zwei Hauptkrümmungsradien ?, und z,, die folgendermassen gefunden
werden können:
Man setze
dp ab dp ab op ab dp AaW 9 ad dpa
)BaAa Ra m wa y N ne ana Be
2 2 en
tet —P)
so sind >, und 7, die Wurzeln der in Bezug auf x quadratischen Glei-
chung
DO ax IXı IXı
op dY dz An
9X. DXa ul 0x IX.
Dr ya ez Bun.
OX, oX, 9X, IX,
3.) 98 oY 92 .n Sy n
a ap 2 ee
AZ ay dz OR
a VZ av az h
ER 9Y dz OA
oder in abgekürzter Form
n°
(4) L-M:—+N.
Der Coeffieient M lässt sich in zwei Theile zerlegen, von denen der
eine die Ausdrücke %, , %s; %, selbst im zweiten Grade, der andere im
ersten Grade enthält. Für
BEOXKT IN I a eh Er
Br 9 Y 02 am 272 We IX Ggs — or 9%
IX 0% ae ad f) ax, \
20, de Xr + % A DH, a, X, Xı R 2 — — KR
92 9Y 00 02 £ 9% dm
= AıXı = Ay5X 3 = Q,,X3 + 2Q,,X3X3 + 24,1 X3Xı + 2412 XıXa
> dp IX op 0%, dp dx, WW ax, Ib dx, aVb dx,
any tz.’ An ya de ar
dp Ip dp ab a Aw .
Ay Kt Xıt 72 "X Hay nt at |
* . * .- a
C. F. Geiser: Erzeugung von Minimaltlächen dureh Curvenschaaren. 679
ergibt sich
(5-) M = Gae ne
M ist eine Function von &,y,2; A, sodass die Gleichung NM =
für jeden Werth des Parameters A eine Fläche liefert. Ent-
hält diese für jeden Werth von A die Schnitteurve der dem-
selben Werthe von A entsprechenden Flächen y und U ihrer
ganzen Ausdehnung nach, so ist F eine Minimalfläche.
Ill,
Bedeuten a,b,c,d gegebene Funetionen von A, so sind
(1.) p=y+ta+b=0, v=zta+rd=0
die Gleichungen einer geradlinigen Fläche F. Bezeichnet man die
ersten und zweiten Ableitungen nach A mit Accenten, so wird
M=—= (1+@+0&)(pP’W-W’p)+ 2(b’e’—-ad)(ap’ +cW)
2) — Ar? +Br +6,
wo A,®,C€ Funetionen von A sind. Soll F eine Minimalfläche sein,
so muss M für jeden Werth von x verschwinden, es müssen also
a,b,c,d gemäss den Gleichungen
230% B—I0R On)
bestimmt werden. Man erkennt unmittelbar die Lösung:
(3-) 1+H®+@®=0, be’ —-ad —=0
welche zeigt, dass die dem unendlich fernen imaginären Kreise
®, umschriebenen Developpabeln als Minimalflächen be-
trachtet werden können. Die beiden Gleichungen
1 + —=0, a +! = 0
liefern dieselbe Lösung.
Ist I+a@’+e = 0, so hat man für eine Minimalfläche F zunächst
(4.) ac ed — 0;
es existirt also zwischen a und c eine lineare Relation, d.h. die Er-
zeugenden von F stützen sich auf eine unendlich ferne gerade Leit-
linie &,. Soll F reell sein, so kann ®, zur unendlich fernen Geraden
der XY-Ebene gemacht werden; es ist dann ce = 0, während a,b,d
die Doppelgleichung
da’-ad' 2a db’ bd”
(5.) Feuer Een 7
680 Sitzung der physikalisch - mathematischen Classe vom 14. April 1904.
befriedigen; die Integration führt zur Merusnıer’schen Schrau-
benfläche. Die angewendete Methode behält im wesentlichen ihre
Gültigkeit noch, wenn ®&, eine imaginäre Gerade ist.
Nur der Grenzfall, in welchem &, zur Tangente von 8, wird,
muss besonders behandelt werden. Man wähle den reellen Punkt von
$&, zum unendlich fernen Punkte der Z-Achse, dann wird
1+2 —=0, OR 0R Da 08
Die Gleichung ® = 0 führt auf
= +5+B=0,
[4
wo 4 und & die Integrationsconstanten sind. Unter Benutzung des
hieraus sich ergebenden Werthes von b folgt aus 6 = 0 weiter:
= +ye+d+ö—I,
oc
wo y und d wieder Integrationsconstanten bedeuten. Durch Elimination
von b,c,d aus diesen beiden Integralgleichungen und den Gleichungen
p=0 und Y = 0 folgt (unter der Voraussetzung a’ = —1)
(6.) 30:(2—y)+3a(2-d)(y+ar—-B)-aly+ax-E” —= 0
als Gleichung einer imaginären geradlinigen Minimalfläche
dritten Grades. Doppelgerade und Leitlinie derselben haben
sich in einer Tangente von &, vereinigt. (Lır, Math. Annalen
Band XIV, S. 353).
11.
Eine Rotationsfläche kann aufgefasst werden als das Erzeugniss
der Schnitte correspondirender Individuen eines Systems paralleler Ebe-
nen und eines Systems concentrischer Kugeln. Diess führt zu deı
Darstellung:
es po=w+by+ez+r=E+HN—=0
; v=,(®+yP+2#)+u=ıK+Uu—=0,
wo a,b,c constante Werthe haben und « eine Funetion des Para-
meters A ist. Setzt man
a+b2 + ce —rc
und bezeichnet die Ableitungen nach A mit Aeccenten, so ergibt sich
M=-2(so:-W’—-2E.W+K)-w’(oK-E*)
Für eine Minimalfläche muss jedesmal, wenn die Gleichungen (1.) er-
füllt sind, auch die Gleichung
C. F. Geiser: Erzeugung von Minimalflächen durch Curvenschaaren. 681
(2.) Au—0
befriedigt sein. Durch Elimination von #& und Ä ergibt sich aus (1.)
und (2.)
(3.) 20 (uu”— uw”) + 4u—4uA+Uu N” — 0.
Der Fall = 0, in welchem die Axe des Büschels paralleler Ebenen
eine Tangente von , ist, führt auf
u=at+PR\,
wo & und % Integrationsceonstanten sind. Ersetzt man hier « und A
dureh ihre aus (r.) sich ergebenden Werthe, so erhält man in
(4.) -5 = aE'-ßBE (+b?+=0)
die Gleichung einer Minimalfläche Es ist eine Fläche
vierten Grades mit einem Doppelkegelschnitt; dieser besteht
aus zwei Geraden, die sich in einer Tangente von SR, ver-
einigt haben.
Ist « # 0, so kann man ohne Beeinträchtigung der Allgemeinheit
ce —=1 setzen. Durch die Substitution =-£, u=-3z(£+w) ver-
wandelt sich dann (3.) in
12 er L..;; WE d’n
(5.) I (=. 7-5)
und diess führt durch Integration auf die Rotationsfläche
der Kettenlinie.
Versteht man jetzt unter a,b,c Funetionen von A und setzt
g=a+by+e+1=E+1l=0 (a +b?+c?—e)
(6.) | 1 N
v=,-(® +7? +2) + =; KHrı=(,
so ist durch diese Gleichungen ein System eoncentrischer Kugeln auf
ein System von Ebenen bezogen, welche im allgemeinen nicht mehr
parallel sein werden. Nun erhält man
M = oE_AsE' + (6E”- EE’)-E+(sE"-o'E')K-2E”.K
Eine Minimalfläche tritt auf, wenn neben den Gleichungen (6.) noch
die Gleichung erfüllt ist:
-0’+2(R0’-20)E’-(1+2c)E’-6E"+ME" — 0.
Sie stellt für jeden Werth von A einen Cylinder dritten Grades dar,
welcher den durch (6.) gegebenen zugehörenden Kreis enthalten muss.
Diess ist unter Voraussetzung der Realität von a,b,c nur möglich,
Sitzungsberichte 1904. 54
682 _ Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 14. April 1904.
. . n ”
wenn die unendlich fernen Geraden der Ebenen Z=(0 und 2 =0
zusammenfallen. Es ist dann
d.h.: a,b.c sind in constantem Verhältniss und die Ebenen des Sy-
stems alle unter sich parallel. Durch die Voraussetzung der Realität
wird man also wieder auf die Rotationsfläche der Kettenlinie geführt.
IV.
Die allgemeinste Fläche F, welche durch die Bewegung eines
Kreises entsteht, kann durch die Gleichungen dargestellt werden:
(1.) g=a+by+e+l1=E+1=0
i v=t@e+yP+Z2)+zaatyte = ;KreE—=0,
7
wo a,b,c;a,b,c beliebige Functionen des Parameters A sind. Unter
diesen Voraussetzungen wird M eine ganze Function 5°" Grades in
Bezug auf x, y.2, welche sich mit Hülfe der Gleichungen (1.) auf den
4'en Grad redueiren lässt. Die Glieder, welche den 4" Grad wirklich
erreichen, erscheinen unter der Form
M'= -2€-.E”.
Beschränkt man sich auf die unendlich fernen Elemente, so er-
kennt man, dass F nur dann eine Minimalfläche sein kann, wenn für
jeden Werth von A die Schnittpunkte der unendlich fernen Geraden
E, von E= 0 mit dem unendlich fernen Kreise von X=0 (d.h.
mit 8,) auf dem unendlich fernen Schnitte des Gebildes M’—= 0 ge-
legen sind. Soll die Minimalfläche reell sein, so sind es auch die
Coeffieienten von x,y,2z in den Polynomen E,E',&. Es muss des-
halb EZ, entweder mit €, (der unendlich fernen Geraden von € = 0)
oder mit E/ (der unendlich fernen Geraden von E’= 0) zusammen-
fallen.
Liegen Z, und €, vereinigt, so ist die Ebene g — 0 parallel der
Tangentialebene im Anfangspunkte O0 der Coordinaten an die Kugel
= 0 und es ist möglich, eine Kugel mit dem Mittelpunkte O an-
zugeben, welche den Sehnittkreis von g = 0 und Y/ = 0 enthält. Da-
mit ist man auf den am Schlusse von III. behandelten Fall zurück-
geführt, der die Rotationsfläche der Kettenlinie ergab.
Fallen E, und E/, zusammen, so ist
’
a|s
©. F. GEiser: Erzeugung von Minimalfllächen dureh Curvenschaaren. 683
es bleibt also die Ebene 7= 0 und damit auch die Ebene y —= 0
bei Variation von A sich stets parallel. Daraus folgt der Satz von
Ennerer: Ist eine reelle Minimalfläche durch Bewegung eines
veränderlichen Kreises entstanden, so bilden die Ebenen
der erzeugenden Kreise ein Büschel von parallelen Ebenen.
Eine solche Fläche wird analytisch am einfachsten durch das
Gleichungssystem dargestellt:
oO GN 0
v—= ally-R)’+ ler) Pl=0,
wo 2,v,p Functionen des Parameters A sind. Nun wird M von der
Form
—
6)
Be
<
M= Ay + BzrC (A, B,C Funetionen von X)
und für eine Minimalfläche müssen die Gleichungen erfüllt sein:
A) B=(, C=0.
Die Entwicklung gibt zunächst
A909. up: — 0, Bi 2a v—peyee 0
und unter Ausschluss des Falles 7 = 0:
= ep Vin
mit u, und v, als Integrationsconstanten. Man hat ferner
y
(3.) #_° — eonst.
ut. 40
und damit den Satz: Die Mittelpunkte der Kreise, aus denen die Minimal-
fläche gebildet ist, liegen in einer Ebene senkrecht zum Büschel der
parallelen Kreisebenen.
Die übrig bleibende Gleichung € = 0 kann in die Form gebracht
werden
(4-) (mot vo)er ten pp"=0.
Ihre Integration führt in etwas veränderter Gestalt der Glei-
chung zu derjenigen Minimalfläche, welche Rırmans in $19
seiner Abhandlung: »Über die Fläche vom kleinsten Inhalte
bei gegebener Begrenzung« gefunden hat.
2
Für die Fläche F, welche durch die Gleichungen I. (1.) bestimmt
ist, sollen die Krümmungslinien bestimmt werden. In der Umgebung
eines Punktes P, für dessen Werthsystem (x. y,2,?%) diese Gleichungen
erfüllt sind, gelten auf F die Bedingungen
54*
684 Sitzung der Be Classe vom 14. April 1904.
P)
ap
IX ee
- dy+ de = da —0
ee 3, a “
zu welchen für die Richtungen der Krümmungslinien noch kommt:
dx, X da
(2.) de u yı=0.
dig % de
(Die Ausdrücke %, sind als Functionen der x,y,2,A durch I, (2.) be-
stimmt.) Aus den Gleichungen (1.) und (2.) ergeben sich zwei Lö-
sungen für die Verhältnisse dx: dy:dz:dr entsprechend den beiden
durch P gehenden Krümmungslinien von F.
Sollen die zu einem gegebenen Parameterwerth A gehörenden Flächen
g=0 und Y=0 sich in einer Krümmungslinie von F schneiden, so
ist längs derselben dA = 0, also für
een a Wp op re LIE, 2,
ey a y u’ ee 9a 92 90° 0 y dm
(3.) da: dy:de=U:B:E.
Damit verwandelt sich (2.) in
= E
A +8 se * ee. |
(4.) I er Gr, x 8l=0,
“ S s IX
anne OLD
die Krümmungslinie von F muss demnach auch auf der durch (4.)
bestimmten Fläche liegen.
Wenn für jeden Werth vonA dieFlächeR® = 0 die Schnitt-
eurve der Flächen = 0 und Y =0 enthält, so erhält man
durch Variation von‘ das eine System der Krümmungslinien
von F.
VE
Zur Erläuterung des allgemeinen Resultates sollen die beiden ein-
fachsten Fälle betrachtet werden.
A. Es seien wie in II.
(1.) e=yta+b=0,v=zt+a+d=0
die Gleichungen einer geradlinigen Fläche; die aus V,(4.) sich ergebende
Bedingung dafür, dass die Erzeugenden das eine System der Krüm-
mungslinien bilden, lautet: -
il
C. F. GEiser: Erzeugung von Minimalflächen durch Curvenschaaren. 685
(2.) (d’-d’ei)(ı+a®+c) —= 0.
Setzt man hier den ersten Factor gleich Null, so erhält man
die abwickelbaren Flächen. Aus dem zweiten Factor er-
geben sich die geradlinigen Flächen, deren Erzeugende sich
auf 8, stützen.
B. Um die Flächen zu finden, für welche die eine Schaar der
Krümmunsgslinien aus Kreisen besteht, geht man von der Darstellung
in IV. aus:
(1) g=sua+by+a+41=0, V=;(e+ty+2)+a+byre—0.
Es ist also für diesen Fall
.) A=bdb(z+c0)-c(y+b),, B=elz+a)-az+t),, C=aly+b)-b(z+a)
und die Gleichung V,(4.) geht über in
G) (ax +by+ d’z ange) I:
(da +dby+ cz) A+HHB +] (WHBH+Ü) 0.
Der erste Factor links wird zu Null für
Geben ahaeid:
Zur geometrischen Deutung dieser Bedingung beachte man, dass die
Enveloppe der Kugelschaar
(4.) + Yy?+22+ Zus + 20y + 2wz +t—= 0
(wo u,v,w,t Functionen des Parameters A sind) durch die Gleichun-
gen (1.) dargestellt ist, wenn man setzt:
u v w
ee DE are
Yu-wt tv—vit t!w— w't
(= un: = Een = a:
Da nun
ER I Rn
EST BERGE 2
wird, so hat man eine Bestätigung des bekannten Satzes:
Besteht bei einer als reell vorausgesetzten Fläche die
eine Schaar der Krümmungslinien aus Kreisen, so ist die
Fläche die Enveloppe einer Kugelschaar.
Es bleibt noch der Fall, in welehem man die Gleichung (3.) durch
die Annahme erfüllt:
W+B+C—=0,
wo die Werthe aus (2.) einzusetzen sind. Durch Reduction mit Hülfe
der Gleichungen (1.) ergibt sich:
686 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 14. April 1904.
(5) (a? + 6?+ 0?) (a?+ b?+ &)— (aa + bb + cc—1)? — 0.
Diess ist die Bedingung dafür, dass g = 0 eine Tangentialebene der
KugelY =0 sei. Die Fläche #=0 wird also von Nullkreisen
gebildet, sie ist eine geradlinige Fläche, deren Erzeugende
sich auf 8, stützen: man ist demnach auf einen bereits
unter A. behandelten Fall zurückgeführt.
687
Über die Verbrennungswärme einiger organischer
Verbindungen.
Von Emır Fıscher und FrAnZ WReEDeE.
(Vorgetragen am 24. März [s. oben S. 575].)
De Kenntnis der Verbrennungswärme organischer Verbindungen ist
nicht allein für manche rein chemische Betrachtungen, sondern nament-
lich auch für die Behandlung wichtiger biologischer Fragen wertvoll,
besonders seit man in der Benutzung der kalorimetrischen Bombe
von BERTHELOT eine ausgezeichnete Methode zur Bestimmung solcher
Größen besitzt. Trotz des stattlichen Zahlenmaterials, welches in den
letzten Dezennien mit Hilfe dieser Methode durch BErTHELOT und seine
Schüler, durch Sronmann, Lousinıne u. a., festgestellt und in dem
großen Werk von BerrueLor »Thermochimie« gesammelt ist, umfaßt
die thermische Untersuchung doch nur einen relativ kleinen Teil der
bekannten Kohlenstoffverbindungen, und die Zeit scheint noch ferne
zu sein, wo man in der organischen Chemie die Bestimmung der
Verbrennungswärme, ähnlich wie die des Schmelzpunktes, der Lös-
lichkeit, des optischen Drehungsvermögens und anderer physikalischer
Konstanten, als allgemein übliche Operation betrachtet.
Zumal in Deutschland, wo die Produktion neuer organischer Ver-
bindungen besonders eifrig betrieben wird, ist seit dem Tode Sron-
manns die Thermochemie dieser Stoffe so gut wie gänzlich vernach-
lässigt worden, und nur in technischen und physiologischen Instituten
ist BertueLors Bombe in Gebrauch. Wir haben es deshalb für zeit-
gemäß gehalten, solche Untersuchungen aufzunehmen, und teilen die
ersten Resultate mit in der Hoffnung, daß unser Beispiel Nachahmung
finde, oder daß uns Material für derartige Bestimmungen aus anderen
Laboratorien überlassen werde.
Die Einriehtung des Arbeitsraumes und die Ausführung der Be-
stimmungen geschah unter den von Berrueror', Lousınıne® und Stonu-
! Thermochimie.
2 Beschreibung der Hauptmethoden, welche bei der Bestimmung der Ver-
brennungswärme üblich sind.
688 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
mann! angegebenen Vorsichtsmaßregeln. Als Bombe benutzten wir
das neue Modell von Dr. KrOEkEr, das von dem Mechaniker J. PrreErs
(Berlin) geliefert wird und welches einige kleine Vorzüge vor der
BertueLor-MAnterschen Bombe hat. Besondere Aufmerksamkeit haben
wir auch der Eichung des Kalorimeters zugewandt, weil diese die
Grundlage für die Berechnungen bildet und weil darin ein Haupt-
grund für die Abweichungen in den Resultaten verschiedener Beob-
achter liegt. Zum Beweis dafür mögen die Werte dienen, die von
Bertn£eLor und seinen Schülern einerseits und von STOHmAnN anderer-
seits als Verbrennungswärme für Benzoesäure, Naphthalin und Rohr-
zucker angegeben werden und die in Tabelle I auf Seite 3 zusammen-
gestellt sind.
Da die Abweichungen viel größer sind als die Fehlerquellen der
Methode, so sind sie sehr wahrscheinlich durch die verschiedene Art
der Eichung des Kalorimeters verursacht. Unter diesen Umständen
drängte sich der Gedanke auf, die Eichung des Kalorimeters nach
einem ganz neuen Verfahren, durch Einführung einer genau gemesse-
nen Elektrizitätsmenge, zu vollziehen. Da uns aber in der Hand-
habung elektrischer Methoden nicht die nötige Erfahrung zur Ver-
fügung stand, so haben wir uns an den Präsidenten der Physikalisch-
Technischen Reichsanstalt, Hrn. F. Kontrausch, mit der Bitte um
Hilfe gewandt. Auf seine Veranlassung haben dann die HH. Prof.
Dr. JaeGEer und Dr. vox STEINwEHR ein Verfahren für diesen Zweck
ausgearbeitet und danach eine Reihe genauer Messungen ausgeführt,
die wir als Grundlage für unsere Rechnungen benutzen werden. Be-
züglich der Einzelheiten des Meßverfahrens verweisen wir auf die
Mitteilung jener beiden Herren in den Verhandlungsberichten der
Deutschen Physikalischen Gesellschaft vom 23. Januar 1903. An
dieser Stelle soll nur folgendes daraus erwähnt werden: Die Tempe-
raturmessung geschah mittels mikrometrischer Fernrohrablesung und
mit einem Einschlußthermometer, das etwa 5° Quecksilber enthält, das
Temperaturintervall von o bis 36° umfaßt und in Zehntelgrade geteilt
ist. Der Abstand der Teilstriche für je 1° beträgt 0“6. Die Kapillare
ist so weit, daß ein Klopfen des 'Thermometers vor der Ablesung
zur Vermeidung des Hängenbleibens überflüssig war. Die auf die
Bombe aufgewickelte Spule bestand aus einem sehr dünnen und nur
wenige Millimeter breiten Konstantanstreifen, der sorgfältig isoliert
war. Die Dauer des Stromdurchganges wurde automatisch durch
einen Chronographen festgestellt. Ferner wurden Stromstärke und
Spannung während des Versuches sowie der Widerstand vor und
! J. pr. Chem. 39. 503.
Fıscuer u. F.Wrepe: Verbrennungswärme organischer Verbindungen. 689
nach demselben kontrolliert. Das Resultat der zahlreichen Versuche
ist in Kilowattsekunden angegeben und bietet eine absolute Genauigkeit
von fast 1:1000. Das Mittel beträgt: 11.606 Wattsek. = ı° für
unser Üalorimeter und unsere Bombe bei der üblichen Füllung mit
Sauerstoff von 25 Atmosphären. Das elektrische Maß ist für die
unten mitgeteilten Versuche beibehalten, da es sich bei diesen Bestim-
mungen lediglich um Messungen chemischer Energie handelt. Letz-
tere im CGS-system auszudrücken, wird wohl immer üblicher werden,
wie denn auch W. Ostwap' bereits den Vorschlag gemacht hat, alle
thermochemischen Daten auf Kilo-Joule umzurechnen. Andererseits
aber ist in den technischen und biologischen Wissenschaften die Calorie
so eingebürgert, daß es zwecklos wäre, sie hier verdrängen zu wollen.
Glücklicherweise ist das Verhältnis von elektrischer Maßeinheit und
Calorie bei 15° heutzutage mit einem hohen Grad von Genauigkeit
bestimmt: es entspricht dem Faktor 0.2394 Cal. = ı Kilowattsek. Wir
werden die so berechneten Calorien später neben den elektrischen
Maßen angeben.
Um den Zusammenhang mit dem älteren Zahlenmaterial zu wahren,
haben wir mit der neuen Eichung die Verbrennungswärme von Benzoe-
säure, Naphthalin und Rohrzucker bestimmt. Aus dem Vergleich mit
den Angaben von Berrneror und Sronmann ergibt dann die Differenz
den Unterschied in der Eichung des Kalorimeters.
Tabelle Il.
2 Merbrennungswarme £ | Benzoesäure | Naphthalin Rohrzucker
pro Gramm in cal. bei koust. Vol. | |
| |
IN achwunSes | 63549 | 9667-8 3937-8
SEISTORMANNGEN Ste een] 6322.3 | 9628.3 3955-2
» Berrnetor-RecourA®.... | 6345 | 9688 —
» Berreezor-Lousimine*..... | 6322.1 9696.1 —
» Berraetor-VieLLE®. .... _ | 9718.1 3961.7
Bezüglich der benutzten Apparate erwähnen wir, daß zum Mischen
des Kalorimeterwassers ein dreiteiliger, senkrecht auf und ab gehender,
durch Motor betriebener Rührer Verwendung fand. Benutzt wurde
ein Einschlußthermometer, das etwa 30° Quecksilber enthielt. Wegen
Grundriß der allgemeinen Chemie. A. 3. 88 u. 253.
J. pr. Chem. 40, 128; J. pr. Chem. 40, 90; J. pr. Chem. 45, 313.
Ann. chim. (6) 13. 317 u. 303.
Ann. chim. (6) 13. 331 u. 326.
° Ann. chim. (6) 10. 442 u. 458.
» oo»
690 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
der engen Kapillare mußte das Instrument während der Ablesungen
regelmäßig geklopft werden. Die etwa 30°" lange Skala reichte von
1ı4°6 bis 20°2 und war in Hundertstelgrade geteilt, während die
Tausendstel mittels Lupe noch genau geschätzt werden konnten. Das
Instrument war auf das Luftthermometer bezogen. Seine Anschließung
an das Thermometer, das für die elektrische Eichung der Bombe ge-
dient hatte, wurde in der Weise ausgeführt, daß zunächst beide 'Thermo-
meter sehr genau kalibriert und unter Berücksichtigung der Korrektur-
tabellen verglichen sowie auf ihre Trägheit geprüft wurden. Die
Wägung der einzelnen Teile ergab eine Differenz von 0.0051 Wattsek.
für die eingetauchten Stücke; dieser Betrag war also dem oben an-
geführten Wert 11.606 Wattsek. hinzuzufügen für Bestimmungen mit
dem großen Thermometer. Schließlich wurde noch eine größere An-
zahl Verbrennungen von Naphthalin und Benzoesäure ausgeführt unter
abwechselnder Benutzung beider Thermometer. Alle drei Methoden
ergaben recht gute Resultate, so daß die Anschließung als hinreichend
genau zu betrachten ist.
Für die Bereehnung des Wärmeverlustes durch Strahlung wurde
die Reenaurt-Praunvtersche Formel in Anwendung gebracht
Die von den HH. Jarger und von StEeınwEur benutzte Methode, die
Korrektion aus der durch den Gang des Thermometers umschriebenen
Fläche zu berechnen, führte bei einer Reihe von Versuchen, für welche
sie nebenher durchgeführt wurde, zu dem gleichen Resultat wie die
erstere.
Bei manchen der später erwähnten Verbindungen mißlang die
übliche Zündung durch den glühenden Eisendraht. Mit viel besserem
Erfolge haben wir hier die bereits von Berrneror empfohlene Kollodium-
wolle verwendet. Sorgt man dafür, daß sie über die ganze Substanz-
menge sich ausbreitet, so findet eine momentane Entzündung an der
ganzen Oberfläche statt, und die Verbrennung verläuft dann ruhig und
glatt. Die Entzündung der Kollodiumwolle geschah durch einen Platin-
draht, der elektrisch erwärmt wurde. Wie für den Eisendraht war
auch für die Kollodiumwolle eine Bestimmung der Verbrennungswärme
erforderlich. Dieselbe ergab als Mittel von 5 Versuchen: 9.905 Wattsek.
pro Gramm (= 2371.5 Cal.), während 50”" des verwendeten Eisen-
drahtes den Wert 0.046 Wattsek: = 11.0 Cal. haben. Die elektrische
Energie, welche die Erwärmung des Platindrahtes verlangte, war nach
wiederholten Versuchen so gering, daß sie vernachlässigt werden konnte.
Fiscner u. F.Werepe: Verbrennungswärme organischer Verbindungen. 691
Da selbstverständlich für die Gewinnung richtiger thermischer
Werte die Reinheit der Substanzen erste Bedingung ist, so wollen wir
für die von uns untersuchten Produkte zunächst die Art der Dar-
stellung und Reinigung angeben. Von jeder Substanz wurde vor der
thermischen Bestimmung eine Elementaranalyse ausgeführt. Außerdem
wurde in der Regel zwischen den verschiedenen thermischen Ver-
suchen die Substanz nochmals umkristallisiert, so daß die thermischen
Werte selbst ein neues Kriterium für die Reinheit gaben.
1. Benzoesäure.
Käufliches Präparat von E. Mrrcex-Darmstadt aus Harn darge-
stellt und sublimiert. Zur Reinigung wurde es zweimal im Vakuum
destilliert und mehrfach aus Wasser umkristallisiert.
2. Naphthalin.
Käufliches reinstes Material, aus Alkohol zweimal umkristallisiert
und bei gewöhnlichem Druck fraktioniert.
23.. Rohrzucker.
Aus farblosem Kandiszucker durch Umkeistallisieren aus ver-
dünntem Alkohol gewonnen.
4. Phenylessigsäure.
Präparat von Kaurzsaum. Die letzten von Srommann hierfür ver-
öffentlichten Zahlen waren mit der Einschränkung angegeben, daß es
ihm anscheinend nicht gelungen sei, die Verbindung völlig zu reinigen:
der von ihm gefundene Wert lag noch um den verhältnismäßig großen
Betrag von 3 Cal. für die molekulare Verbrennungswärme höher als
der von der Benzoesäure aus berechnete Wert. Tatsächlich enthält
das käufliche Material eine Verunreinigung, die in einer alkalischen
Lösung eine schwache Trübung hervorruft. Sie läßt sich aber da-
durch entfernen, daß man die alkalische Lösung mit Tierkohle auf-
kocht und kalt filtriert. Die mit Salzsäure freigemachte Säure wurde
dann unter stark vermindertem Druck fraktioniert und aus Wasser
umkristallisiert.
5. Glyeocoll.
Präparat von Kautsaum. Von uns noch gereinigt über das Kupfer-
salz, und auf dem Wasserbade im Vakuum getrocknet.
692 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
6. Alanin.
Präparat von Kantsaum. Gereinigt über das Kupfersalz und auf
dem Wasserbade im Vakuum getrocknet.
0°1818 Subst. 0°%'2696 CO, 0%1303 H,O
C,H,0,N Berechnet: C 40.45 H 7.86
Gefunden: 40.45 7.97
Da das Präparat synthetisch bereitet war, so handelt es sich
natürlich um die racemische Form.
7. Leuein (optisch aktiv).
Dargestellt durch Verseifung des Esters' und aus Wasser um-
kristallisiert. Originalpräparat.
8. Glyeylglyein NH,.CH,.CO.NH.CH,.COOH.
Aus dem Hydrochlorat mit Silberoxyd gewonnen.”
0o®1824 Subst. 0%2434 CO, 0%1007 H,O
G,H,0,N, Berechnet: 036.36 H76.06
Gefunden: 36.39 6.13
9. Glyeylglyceinäthylester NH,.CH,.CO.NH.CH,.C0,.C.H..
Aus dem Hydrochlorat mit Natronlauge gewonnen.” Das Präparat
löste sich noch nach 14 Tagen fast klar in Chloroform.
0®1790 Subst. 082934 CO, o%ı222 H,O
C;H,.0,N, Berechnet: C 45.00 H 7.5
Gefunden: 44.71 7.6
10. Glyceylglyeincarbonsäure
COOH.NH.CH,CO.NH.CH,COOH.
Aus &-Carbäthoxylglyceylglyeinester durch Kochen mit Natron-
lauge und Ausfällen mit Norm-Salzsäure erhalten.” Umkristallisiert aus
Wasser und im Vakuum über Schwefelsäure getrocknet.
' E. Fıscher, Ester der Aminosäuren, Ber. d. D. chem. Ges. 34, 445 u. 446.
® E. Fıscher und E. Fourneau, Über einige Derivate des Glyeocolls, Ber. d.
D. chem. Ges. 34, 2870 u. 2872.
® E. Fischer, Über einige Derivate des Glyeocolls, Alanins und Leueins,
Ber. d. D. chem. Ges. 35. 1097.
Fischer u. F. Wreoe: Verbrennungswärme organischer Verbindungen. 693
11. a&-Oarbäthoxylglyeylglyeinester.
Aus dem Hydrochlorat des Glyeylglyeinesters mit Chlorkohlen-
säureester gewonnen." Getrocknet im Vakuum über Schwefelsäure.
0%1700 Subst. 0?2899 00, o®1o5ı H,O
0,H,0,N, Berechnet: C 46.55 H 6.89
Gefunden: 46.51 6.85
ı2. ®-Carbäthoxylglyeylglyeinester.
Durch Veresterung der Glyeylglyeincarbonsäure gewonnen.” Ge-
trocknet auf dem Wasserbade im Vakuum.
0°1759 Subst. 0°%'2988 CO, 01082 H,O
C,H,s0,N, Berechnet: C 46.55 H 6.89
Gefunden: 46.33 6.83
13. Glyeinanhydrid (Diacipiperazin).
C0.CH;
NH - go
Dargestellt nach Currıvs aus freiem Ester durch Stehenlassen mit
Wasser” Vom Glycocoll gereinigt durch rasches Umkristallisieren
aus IO Teilen siedenden Wassers und Auswaschen mit Alkohol und
Äther.
0%2007 Subst. 0%3105 CO, 0%0970 H,O
C,H,0,N, Berechnet: 0 42.11 H 5.27
Gefunden: 42.20 5.38
14. Alaninanhydrid (3.6-dimethyl-2.5-diacipiperazin,
Aus Alaninaethylester dargestellt durch Erhitzen auf 180°." Ge-
reinigt durch Umkristallisieren aus nicht zu wenig Alkohol mit Tier-
kohle.
0®18336 Subst. 0®3414 CO, 0%1177 H,O
C;H,.0,N, Berechnet: C 50.70 H 7.04
Gefunden: 50.71 7.14
! E. Fischer und E. FourneAu, Über einige Derivate des Glycocolls. Ber. d. D.
chem. Ges. 34. 2875.
* E. Fıscner, Synthese von Derivaten der Polypeptide. Sitzungsber. 1903. 387
und Ber. d. D. chem. Ges. 36. 2097.
® Vgl. E. Fıscher u. Fourneauv. Ber. d. D. chem. Gesell. 34. 2870.
* E. Fıscher, Ester der Aminosäuren, Ber. d. D. chem. Ges. 34. 442.
694 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
15. Leucinimid (3.6-diisobutyl-2.5-diacipiperazin).
Dargestellt aus dem Ester! und aus Alkohol umkristallisiert.
0%1924 Subst. 0%4484 CO, 0%ı1709 H,O
G,.H..0,N, Berechnet: © 5 3.72 Ho m
Gefunden: 63.55 9.84
16. Leueylglyeylglyein
CH,
A >CH. CH; . CH(NH;) . CO. NHCHz . CO . NHCHz . COOH
CH3‘
Aus &-Bromisocapronylelyeylglyein mit wäßrigem Ammoniak dar-
gestellt.” Umkristallisiert aus Wasser mit Alkohol und über Schwefel-
säure getrocknet. Originalpräparat.
17. Isoserin NH,.CH,.CH(OH).COOH.
Durch Erhitzen von 8-Chlormilchsäure mit NH, im Autoklaven
bei 130° gewonnen. Gereinigt durch Umkristallisieren aus Wasser mit
Tierkohle.®
02006 Subst. 0®2509 CO, 01216 H,O
C,H,0,N Berechnet: 'C 34.28 - H'6.67
Gefunden: 34.11 ans
18. 1-Asparaginsäure.
Präparat von Kahlbaum. Gereinigt durch Umkristallisieren aus
Wasser mit Tierkohle.
0°1985 Subst. 0°2619 CO, 0%0og27 H,O
C,H,0,N Berechnet: C 36.09 H 5.26
Gefunden: 35.98 5.36 j
19. Glutaminsäure (aktiv).
Gewonnen durch Säurespaltung® des Caseins. Isoliert als Hydro-
chlorat. Umkristallisiert aus Wasser mit Tierkohle.
0°1930 Subst. 0%2884 C0, 0®1085 H,O j
6,H,0,N . ‚Berechnet; C' 40.91 ° H76.72
Gefunden: 40.75 6.26
E. Fıscner, Ester der Aminosäuren, Ber. d. D. chem. Ges. 34. 448.
E. Fıscuer, Synthese von Polypeptiden. Ber. d. D. chem. Ges. 36. 2990.
® E. Fıscner und H. Leucns, Ber. d. D. chem. Ges. 35. 3794 (1902).
* E. Fıscner, Über die Hydrolyse des Caseins durch Salzsäure. Zeitschr. f.
physiol. Chem. 33. 153.
Fischer u. F. Wreos: Verbrennungswärme organischer Verbindungen. 695
20. Phenylglyeocoll C,H,CH(NH,). COOH.
Die Vorschrift von Tırmann (Ber. d. D. chem. Ges. 13. 333) zur Dar-
stellung der Verbindung läßt sich insofern vereinfachen, als die Ver-
einigung des Benzaldehyd-Cyanhydrins mit Ammoniak in alkoholischer
Lösung auch ohne Erwärmung im Laufe von etwa 12 Stunden glatt
vonstatten geht. Für die thermische Untersuchung diente ein farb-
loses Präparat, dessen Zusammensetzung hier ausnahmsweise nicht
durch die gewöhnliche Elementaranalyse, sondern durch Auffangen
der in der Bombe enthaltenen Kohlensäure in einem Kaliapparate fest-
gestellt war.
0%49938 Subst. 0°%05028 Naphthalin: 13354 CO,
(— Naphthalin: 0%1723 CO,)
0,H,0,N Berechnet: C 63.57
Gefunden: 63.61
21. Anilinoessigsäure C,H,.NH.CH,.COOH.
Präparat von Kahlbaum. Durch schnelles Umkristallisieren aus
Wasser mit Tierkohle gereinigt. Farblose Kristalle.
021914 Subst. 0F4458C0; . 081047 H,O
C,H,0,N Berechnet: 6 63.56 H 5.96
Gefunden: 63.52 6.08
22. Anhydrid (Azlaeton) der Benzalhippursäure.
Die Darstellung dieser und der folgenden drei Verbindungen ge-
schah nach ERLENMEYER jun. (Liesıss Ann. 275, I— 20). Schwach gelb-
liche Nadeln. Schmelzpunkt 165-166°. Umkristallisiert aus Benzol.
° 02003 Subst. 0%°5655 CO, 0%0831ı H,O
6.HLON: "Berechnet: G77.vr H4.42
Gefunden: 76.99 4.59
23. Benzalhippursäure (Benzoylaminozimmtsäure).
CsH;—CH = C--CO0H
NH 60.CsH;
Darstellung s. Nr. 22. Gereinigt durch Umkristallisieren aus
Alkohol.
0%2020 Subst. 0%5306 CO, 0%°0883 H,O
C.H,,0,N Berechnet: E 71.91 H 4.94
Gefunden: 71.61 4-85
696 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
24. Benzoylphenylalanin.
CsHz . CHzCH.. COOH
NH. COCsH,
Darstellung s. Nr. 22. Umkristallisirt aus Alkohol.
0°1925 Subst. 0®'5052 CO, 0®1000 H,O
C,H,,0,N Berechnet: 0 71.38 H 5.53
Gefunden: 71.47 Se]
25. Phenylalanin (inaktiv) C,H,.CH,CH (NH,) COOH.
Darstellung s. Nr. 22 und Ber. d. chem. Ges. 33. 2385." Ge-
reinigt durch Umkristallisieren aus Wasser mit Tierkohle.
0®1920 Subst. 0%'4600 CO, o0%1161ı H,O
C,H,.0,N. Berechnet:/C'65.45 H/6.67
Gefunden: 65.37 672
26. Barbitursäure.
CO—NH
CH co
Nco—NH’
Dargestellt aus Harnstoff und Natriummalonsäurediäthylester nach
Mic#Aer. Journ. f. prakt. Chemie 35. 456. Umkristallisiert aus Wasser
mit Tierkohle. 6 Tage im Vakuum über Schwefelsäure getrocknet.
0°1716 Subst. 02358 CO, 0%0504 H,O
6,H,0,N. ' Berechnet:70737 5or Hfzs13
Gefunden: 37.48 3.26
27. CC-Diäthylbarbitursäure (Veronal).
CO—NH
9 N
C2H;)2C co
EN nn
Aus Harnstoff und Diäthylmalonester durch Kondensation mit
Natriumäthylat gewonnen. Umkristallisiert aus Wasser.
C;H,,O,N, Berechnet: C 52.18 H 6.52
Gefunden: 52.05 6.72
28. Seidenfibroin.
Sogenannte technisch degommierte Seide wurde mehrfach bei 117°
Je 6-8 Stunden im Porzellangefäß mit 25 Teilen Wasser bei 14-2 At-
‘ E. Fıscner und A. Movneyrar, Spaltung einiger racem. Aminosäuren in die
optisch aktiven Komponenten.
Fischer u. F. Wrede: Verbrennungswärme organischer Verbindungen. 69%
mosphären Druck ausgelaugt', bis jedesmal konstante Gewichtsab-
nahme (etwa ı Prozent) eintrat. Das Fibroin wurde bei 120° ge-
trocknet.
o®1772 Subst. 0®3181 CO, 0%1026 H,O
o&1I9g7I » 30% >81 N. (89.5,4709-5)
Gefunden: C 48.96 H 6.43 N 18.16
Zum Vergleich geben wir hier auch die Analysen des Stoffes, die
von BERTHELOT und STOoHmAnn ausgeführt sind:
BERTHELOT? STOHMANN u. LANGBEIN®
C 48.09 Prozent 48.63 Prozent
ER637 » 6.08 »
INS77:96 » 18.97 »
STLIOSE7 » —
29. 4-Methyluraeil.
NH—60
co SCH
NH-C.CH;
Dargestellt aus Harnstoff und Acetessigester nach BEurenn. Vgl.
Liesıcs Annalen 251. 238. Umkristallisiert aus Alkohol.
0o®1982 Subst. 0%3470 CO, 0%0890 H,O
GEH-OIN., Berechnet 647.62 14.76
Gefunden: 47.75 4.99
30. 5-Methyluraeil (natürliches Thymin).
NH—CO
co 20.08;
NH—CH
Gewonnen aus der Thymusdrüse des Kalbes (s. Ber. d. D. chem.
Ges. 26. 2753). Für die Untersuchung stand uns ein Teil des Ori-
ginalpräparates zur Verfügung, für dessen Überlassung wir auch an
dieser Stelle Hrn. Dr. Nrumann unseren besten Dank sagen. Ge-
reinigt wurde das Präparat durch Umkristallisieren aus Wasser mit
Tierkohle.
! E. Fıscner und A. Serra, Über das Fibroin der Seide. Zeitschr. f. physiol.
Chem. 33. 179.
® Berrnerors Präparat enthielt S; s. Ann. chim. (6) 22. 44.
® Journ. f. prakt. Chem. 44. 378.
Sitzungsberichte 1904. 55
698 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
31. 4-Methylhydrouraeil.
NH—CO
coX 1 m
NH--CH.CH;
Dargestellt aus Crotonsäure mit Harnstoff." Originalpräparat. Um-
kristallisiert aus Alkohol.
32. 4-Phenyluraeil.
NH--C0
co ICH
NH-C-CsH,
Durch Zusammenschmelzen von Harnstoff und Benzoylessigester
erhalten (s. E. Warnımeton, Journ. f. prakt. Chem. 47, 201). Aus Eis-
essig umkristallisiert.
33. n-Capronsäure (synth.) CH,.CH,.CH,.CH,.CH,. COOH.
Präparat von Kanutsaum. Mehrfach unter vermindertem Druck
fraktioniert.
0°1517 Subst. 023447 0027 027426. H.0
(G,H,.0,. Berechnet: C’62.06 . H 10.34
Gefunden: 61.97 10.44
34. Hydrosorbinsäure CH,.CH,.CH = CH.CH,. COOH.
Aus Sorbinsäure mit Natriumamalgam dargestellt. Im Vakuum
fraktioniert.
0.2239; Subst. 025173 C0°027783 EMO
0,H,0, Berechnet: 63.16 7877
Gefunden: 63.01 8.85
35. Sorbinsäure CH,.CH = CH—CH = CH—-COOH.
Aus Ürotonaldehyd durch Kondensation mit Malonsäure.” Ge-
reinigt durch Umkristallisieren aus 5oprozentigem Alkohol.
0°1834 Subst. .0®4311 CO, oF1210K,O
0,H;0, Berechnet: C 64.28 H 7.14
Gefunden: 64.11 1238
' E. Fıscner und G. Röper, Synthese des Uracils, Thymins und Phenyluraeils.
Ber. d. D. chem. Ges. 34, 3754-
® OÖ. Dorner, Synthese der Sorbinsäure. Ber. d. D. chem. Ges. 33. 2141.
Fischer u. F.WreDE: Verbrennungswärme organischer Verbindungen. 699
Zu der in der folgenden Tabelle II gegebenen Zusammenstellung
des gefundenen Zahlenmaterials ist zu bemerken:
1%
[057
Die Angabe der gesamten Zahlen geschieht aus dem Grunde,
weil sie für eine spätere Kontrolle oder Umrechnung er-
forderlich sein kann.
Bei der Berechnung der Strahlung nach der oben angeführten
Formel wurde 6, und 6, für T und T’ eingesetzt; eine merk-
liche Änderung des Resultates ist dadurch nicht zu befürchten.
Für n ist durchweg die Zahl 7 einzusetzen, wobei die Ab-
lesungen des Thermometers nach je ı Minute erfolgten.
Der Wasserwert des Systems betrug bei einer Füllung von
25 Atm. Sauerstoff 11.6188 Wattsek.. der sich zusammen-
setzt aus dem Originalwert der elektrischen Eichung 11.606,
ferner der Korrektion für unser Thermometer 0.0051 und
der Korrektion 0.0077 für die in der Bombe vorhandene
Feuchtigkeit (18). Die Bestimmungen von Benzoesäure und
die 3. Bestimmung von Alaninanhydrid sind mit einer Füllung
von 50 Atm. Sauerstoff ausgeführt. Hier erhöht sich der
Wasserwert des Systems auf 11.6272.
Die zur Berechnung der »molekularen Verbrennungswärme«
benutzten, abgekürzten Molekulargewichtszahlen sind in Klam-
mern jedesmal neben dem Namen der Verbindung angegeben.
Die molekulare Verbrennungswärme bei konstantem Druck
wurde erhalten nach der Formel
Ww=W-+ oe «1.21 Wattsek.:
wo H, O und N die Anzahl der in der Verbindung ent-
haltenen Atome Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff be-
zeichnen. Die Formel entspricht der von Stoumans, KLEBER
und Lansgein gebrauchten (Journ. prakt. Chemie 39. 523) mit
dem Unterschied, daß an Stelle von Calorien die Watt-
sekunden getreten sind und daß statt ı8° die Temperatur
16° gewählt ist, weil der größte Teil unserer Versuche in
der Nähe von 16° ausgeführt ist.
| Substanz
r. |
Nun DM
De
er ne
700 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
op
ın gı
I.
0.99435
0.97620
0.993709
0.96040
0.978330
1.01025
0.979093
1.00823
1.01134
1.01260
2.
0.52730
0.52763 |
0.59243 |
0.49308 |
0.50642 |
0.51457
3. Rohrzucker (34
1.01747 |
1.09030 |
1.01843 |
Eisen Kollodw.
Wattsek. Wattsek.
lin
Wattsek.
Benzoesäure (I22)
Naphthalin (123)
460 |
460 |
460 |
|
460 |
460 |
460
I
Naphtha- | Salpeter-
säure
Wattsek.
4. Phenylessigsäure (136) fest
0.73483 |
0.77782
0.381665
1.04900
5:
0.70220
1.00715 |
1.01407 |
0.97637 |
6.
0.71979
0.68665
0.99983
0.0782
896
| 461
460
Glyeocoll (75) fest
460
460 |
460
460
Alanin (89) fest
460
8.6530
1.4284
0.49343
1.7801
279
397
397
431
—0.00215
250,
150
04
06
-++0.00205
160
2
9n+ 0,
= —NT
.. - . Lord
Fischer u. F. Wrede: Verbrennungswärme organischer Verbinduneen. 701
o- be} De}
Verbr.-Wärme in Calorien
| Verbrennungswärme in Wattsekunden
|
EArIe Ton | SINE me mus — un pro gr | pro Molekül
9 korrig. | 91 korig. | At | pro gr bei | pro Molekül bei bei konst. Vol.
| | | konst. Vol. | konst. Vol. | konst. Druck eal. Cal.
17.8340 | 20.1015 0.0122 | 26.559, | | | |
17.6620 19.8920 | 090 | 26.556 | | |
17.4035 19.6640 179 | 26.548 | |
17.2020 19.3950 078 26.531
17-3615 19.5910 120 | 26.531
17.2575 19.5615 | 114 | 26.537
17.6915 19.9220 | 140 | 26.543
17.4520 | 19.7435 | 208 26.559
16.8910 19.2010 095 | 26.552 |
17.1135 19.4220 | 121 26.539 | |
| | 26.5455 | 3238.6 3239.8 6354.9 175-3
17.3640 19.1835 189 40.366
17.6350 | 19.4495 247 40.367 |
17.2565 | 19.3000 | 231 | 40.382 |
17.6660 | 19.3700 | 179 40.421 |
17.6980 | 19.4525 121 | 40.378
15.2270 | 17-0070 148 40.388
| 40.384 5169.1 5173-9 9667-8 1237-5
17.5670 19.0160 164 | 16.664 |
18.1550 19.7040 189 16.642 |
17.2860 | 18.7490 | 045 16.668 | |
| 16.658 5697.0 5697.0 | 3987-8 | 1363.9
15.0310 16.8370 147 | 28.651
16.2840 | 18.1950 200 28.666
15.4980 17.5015 | 179 | 28.672
17.1705 19.7515 | 161 28.686 | e
| | | 28.669 | 38990 | 3901.4 6863.4 933.4
18,1590 19.6920 062 | 13.023 | |
17.8450 19.1070 |— 017, 13.043 | |
17.7165 18.9000 048 13.057 | |
17.0785 | 18.3235 091 | 13.025 | | |
u j |
| | 13.037 977-8 977-2 3121.0 234.1
17.6735 19.1405 | 038 | 18.310 |
17.5220 19.0830 |— 008 18.323 |
16.0370 17.7100 111 | 18.320
| 18.318 1630.3 1630.9 | 4385.3 390.3
702 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
Nı.
w N
D&D DD —-
Po u -
m 8
voe
Substanz
in er |
7:
0.74258 |
0.79101
0.73071 |
0.715293 |
8.
0.70153
0.70012 |
0.69729 |
9.
0.84 106
0.96420
0.86913
Io.
0.84230
0.380415
0.78745
II.
0.49998
0.62085
0.62624
|
E2.
0.70715
0.71255
0.77181 |
|
13.
0.92308 |
1.01410 |
1.07468
e | Naphtha- | Salpeter-
Eisen ' Kollodw. una I 5 A
| lin säure
Wattsek. Wattsek. | Wattsek. | Wattsek. |
Leuein (131) fest
0.0460 | 0.16638 | 0.0450 —0.0020 | +0.0014
460 | 0.18173 | 502 | 16
460 | 0.17608 | 438 08 | 25
460 | | 0.16154 | 450 17 17
Glyeinanhydrid (114) fest
0.1282 | 418 08 | 16
0.1370 | 418 Io | to
0.1004 | 418 07 11
Alaninanhydrid (142) fest
460 0.1870 564 06 27
460 0.1414 | 585 03 | 31
460 | 795 20 13
Leucinimid (226) fest
460 | | 523 12 2
460 | 23 23 20
460 502 21 19
Glyeylglyein (132) fest
460 8.4686 301 09 | 16
460 8.2840 | 376 | 08 | 20
460 | 10.7165 | 397 06 21
Glyeylglyeinester (160) fest
460 | 71-9726 423 09 28
460 ni 9.1510 473 23 15
460 | | 9.6073 | 543 3 26
| | |
| | | |
Glyeylglyeincarbonsäure (176) fest
460 | 116 06 12
460 | 180 11 |
460 | | 201 IT | 05
|
«-Carbäthoxylglyeylglycinester (232) fest
460 | | | 439 | 17 09
460 | | 439 28 oI
460 | 460 | 27 02
| |
(3
Nn—ı
_ On
I
0. + do
2
11.292
11.888
11.037
11.440
6.853
6.046
6.810
10.785
12.194
11.267
14.822
14.103
12.831
8.551
9.449
10.751
12.456
13.297
14.177
5.641
6.028
6.543
9.056
9.556
9.072
Zr) )
%
Fiscner u. F. Wreoe: Verbrennungswärme organischer Verbindungen. 703
| | Verbrennungswärme in Wattsekunden Verbr.-Wärme in Calorien
BR | Be x > — ——— - ro er »ro Molekül
Boskomig. | On korrig. | =At |) no gribei pro Molekül bei ee nn
| konst. Vol. konst. Vol. | konst. Druck eal. Cal.
17.6900 | 19.4530 | 0.0077 | 27.359 | | |
17.4110 | 19.2885 087 | 27.354 | | |
18.0260 | 19.7560 155 27.391 | |
17.7710 | 19.5580 099 ___27.394 |
| | 27.3145 | 3586. 35902 | 6553.3 858.5
15.0890 16.1485 100 17.471 | | |
14.7950 15.8575 | 044 17.450 | | |
15.4085 16.4630 | 067 17-479 | |
E | 17-467 1991.2 | 19900 | q4ı8ı.5 476.7
15.2430 16.9285 | 169 23.173
15.4460 17.3715 195 23.183
16.3725 18.1115 074 23.219
| | 23.192 3293-3 3294-5 5552.2 788.4
15.5960 17.9050 166 31.963 |
15.3490 17.5525 114 31.880 |
15.3205 | 17.4800 | 091 31.875 |
31.906 7210.7 | 7219.2 | 7638.2 1726.2
15.0835 16.4525 093 14.939
15.4235 16.9295 Se) 14.929
15.5275 17.2520 127 14.982
14.950 1973-4 1972.2 3579-1 472-4
15.5945 17.5495 172 | 21.006
15.2130 | 17.2890 083 | 21.014 |
15.7590 | 17.9770 158 | 21.050 |
| | | 21.023 | _3363.7 3364-9 5032.9 805.3
17.3000 | 18.1905 | 072 11.237
17-0170 | 18.0030 027 11.265
17.4270 | 18.4690 024 11.230
| | | 11.244 1978.9 | 1975-3 2691.7 | 473.7
17.0995 18.5130 | 048 | 20.217
16.7950 18.2880 |—0.0010 | 20.217 |
16.8640 | 18.2758 |—0.0002 | 20.233 | |
| m |
| | 20.222 4691.6 4692.8 4841.1 | 1123.2
Nr.
[PP Su
> DB -
a vb —-
> DB -
u.
Br
704 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
Substanz
in gr
15.
0.83030
0.930409
0.92076
16.
0.54152 |
0.52015
0.549238
1.00497
1.01134
1.00960
19.
0.69460
0.68270
0.920553
20.
0.62061 |
0.66513
0.71093
2I.
0.71868
0.729497 |
0.68585
22.
0.70535 |
0.70800 |
0.68823
—
2 z |
ei R Naphtha- | Salpeter- | n—ı 0,+ 9
isen | Kollodw. lin as 3 | a | >94 _— .- ")
| I
Wattsck. Wattsek. Wattsek. Waittsek. |
8-Carbäthoxylglyeylglyeinester (232) fest
0.0460 | 0.0439 | —0.0013 | -+0.0012 | 9.093
460 | 514 19 | 08 | 10.113
460 | 502 16 | 10 | 10.002
| | | |
Leueylglyeylglyein (245) fest
460 | | 0.8428 | 326 a 06 | 7-331
460 0.831858 368 165 025 7.069
460 0.9781 389 Da) 08 | 7.541
| | |
|
Isoserin (105) fest
0.1357 | 586 10 | 04 | 5.443
0.1441 209 03 10 | 5.374
0.1992 188 10 05 5.350
ol
Asparaginsäure (133) fest
460 0.1381 209 10 | 08 | 6.579
460 0.2383 | 230 09 | 06 | 6.816
460 0.3433 209 10 | 12 | 6.797
|
Glutaminsäure (147) fest
0.1090 8.1044 293 10 | 20 10.199
0.0771 7.2975 | 251 | 08 | 20 9.803
460 0.2952 | 264 | 05 | 20 7.680
Phenylglyeocoll (15r) fest
0.0911 293 05 25 9.076
0.1128 | 309 04 | 26 9.619
0.0981 I" a) 04 | 26 10.280
| | | |
Anilinoessigsäure (151) fest
0.0938 376 06 22 10.608
0.1046 376 10 18 10,868
0.1073 | 356 15 | | 10.155
Anhydrid der Benzalhippursäure (249) fest
460 | | 418 | 14 | 23 | 12.056
460 468 | 09 29° 11.937
460 | 397 20 20, 11.437
Fiscner u. F.Wreove: Verbrennungswärme organischer Verbindungen. 705
| Verbr.-Wärme in Calorien
| | | Verbrennungswärme in Wattsekunden
|
NE | Br — —— | ro gr ro Molekül
0, korrig. 91 korrig. zAı pro gr bei pro Molekül bei bei kön Vol.
konst. Vol. konst. Vol. | konst. Druck | eal. Cal.
16.7840 | 18.1920 | 00070 | 19.693
16.5580 | 18.1438 | 039 | 19.747
16.7695 18.3330 055 | 19.694 |
None | 4eao | 457.2 | 4718.8 1094.8
15.6350 | 16.7720 | 032 22.7162 |
15.6015 16.6965 007 22.7420 |
16.1240 17.2905 042 22.828 |
| | 2.7 | 55805 | 55835 54528 | 1335.9
15.6965 16.5435 020 13.713
16.4650 17.3085 062 13.718
15.7900 16.6200 027 13.685
13.705 14391 | 1438:5 3281.0 344-5
15.6770 | 16.7385 041 12.116
16.1130 | 17.1980 031 | 12.197 |
16.3515 | 17.4370 | 068 | 12.165 | |
| | 12.159 1617.2 1615.4 2910.9 387-1
16.2560 17.8790 | 118 15.480 | |
16.6060 18.1380 | 123 15.444 |
16.4015 17.6470 119 15.472
15.465 2273-4 2272.8 3702.3 544-2
17.2870 18.6965 | 158 | 26.490
17.1505 18.6630 | 163 26.490
17.2630 18.8800 162 26.507
26.496 | 40009 | 40027 6343.17 | 957-8
17.3065 18.9620 137 26.803
17.6110 19.2930 111 26.772 | |
17.1455 18.7265 | 101 26.746 | |
| 26.774 4042.9 4044-7 6409.7 967-9
14.9920 16.8760 | 139 31.139 |
15.2745 17.1665 077 31.209 | |
14.9550 16.7980 108 | 31.172
| Meg ee I}
| 31.173 02.2 | 17165.2 | 1462.9 | 1858,3
Nr.
mb -
ou - on. mv
EL 0 Zu SE
|
|
I
706 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
Substanz
in gr
|
|
23.
0.70257 |
0.787904
0.77771
24.
0.76953
0.71335
0.72680
25.
0.70690
0.64600
0.70545 |
26.
0.609967
0.68352 |
0.065927
|
27-
0.727I0 |
0.69195
0.70910
28.
0.87028
0.78285
0.790595
29.
0.77635
0.74505
0.833510
0.73327
30.
0.52815 |
0.714300 |
0.067853 |
aphtha- | Salpeteı- |
Eisen Kollodw. ran 2 SB 2
| lin \ säure
Wattsek. Wattsek. Wattsek. | Wattsek.
Benzalhippursäure (267) fest
0.0460 | | 0.0376
460 397
460 418
Benzoylphenylalanin (269) fest
460 |
| |
|
460 |
Phenylalanin (165) fest
0.1377 |
0.1119
0.1221
!
Barbitursäure (128) fest
0.1148 | 10.4178
0.1158 | 7.0379
0.0936 | 5.6274
| |
CC-Diäthylbarbitursäure (184)
0.0956
0.1317
0.1193
Seidenfibroin fest
0.1420
0.1282
0.1549
4-Methyluracil (126) fest
| 0.1153 |
0.0963 |
0.0924 3-.S0rar |
|
0.1241 | 4.5464
5-Methyluracil (126) fest
F2o:o781. 1 21.1518
| 0.0624 1.4599
0.0733 1.3690 |
397
376
376
|
| ®
|
—0.0007
26
24
08
fest
13
08
16
10
+0.0030
13
15
|
n—I
>
>2
L
du +
0n+0o
—- .)
2
11.277
12.302
12.177
12.300
11.454
11.690
10.857
10.015
10.891
10.000
8.210
7.268
9.017
8.628
8.807
10.331
9.369
8.487
8.110
7.756
10.384
9.978
5.994
8.494
7:787
>) r .. . r . MN
Fischer u. F.Wreoe: Verbrennungswärme organischer Verbindungen. 707
| : NEimantHiaEEergerenenS
| | Verbrennungswärme in Wattsekunden Verbr.-Wärme in Calorien
Pr en =: — ee ro gr »ro Molekül
00 ‚korrig. 91 korrig. | =At | pro gr bei | pro Molekül bei I bei Ko Vol.
| | konst. Vol. | konst. Vol. | konst. Druck cal. Cal.
15.3310 17.0750 | 0.0190 29.036 |
15.3650 | 17-3295 | o61 28.982 | | |
15.7770 | 17.7195 076 | 29.021
| | 29.013 7746.6 7749.06 6945.8 1854.5
15.2335 | 17.1785 | 115 | 29.429 | |
15.2475 | 17-0470 166 29.464 |
15.5420 | 17.3785 | 115 | 29.428 | |
| | 29.440 | 7919.4 7923.6 | 7947-9 1895.9
16.2835 18.0075 071 28.203
16.1945 17.7635 123 28.210 |
16.8615 18.5690 188 | 23.204
28.206 4653.9 | 4656.9 6752-4 T114.1
14.9500 16.5585 T15 | 11.804 | | |
15.3450 16.6470 089 | 11.777
15.6600 | 16.8134 070 KrTa2 |
| | || 1506.7 | 1503.1 2818.0. | 360.7
16.7332 18.1395 057 | 22.380
16.7485 18.0900 053 22.373
16.6210 | 17.9960 050 | 22.391
| 22.381 | 418.1 4119.3 53580 | 985.9
Torars | X17.7705 || 052 21.598 | |
16.5143 | 17.9720 089 21.545 | |
16.4140 | 17.7345 | 098 | 21.618 |
21.587 | 5167.9
16.1625 | 17.4250 097 | 18.838 | |
16.5475, | 17-7575 086 18.824 | | | |
16.3540 18.0115 078 | 18.804 | |
15.9690 17.5575 048 | 18.820 |
| | |
18.821 | 2371-5 2370-3 4505.8 | 567.7
15.1760 16.1350 | 032 | 18.783 |
15.1975 16.5255 067 RT os |
16.1020 | 17.3165 | og0 | 18.773
| | | TS. 7800| 2366.0 23648 | 4495-3 | 566.4
Nr. |
nen -
|
708 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
Substanz |
in gr
Bir
0.71038 |
0.71665
0.716065 |
32%
0.50040
0.52313 |
0.52475 |
33-
0.82040
1.02360 |
0.387755 |
34.
0.438330
0.67202
0.68211
0.48350 |
0.57760 |
39
0.60039 |
0.55733
0.67700 |
Wattsck. Waittsek.
|
| Naphta- Is a -
lin | säure
"Wattsek. Wattsek.
Eisen Kollodw.
4-Methylhydrouraeil (128) fest
| o.ogı2 | 5.6029 | 0.0397
| 915575 | 6.83825 | 384
| 0.0653 | 4.8737 | 438
| |
Phenyluraeil (188) fest
0.0927 | 301
0.0718 1.3307 272
0.0624 | 0.9397 272
| |
Capronsäure (116) flüssig
460 376
460 460
460 355
Hydrosorbinsäure (114) flüssig
460 | 167
460 104
460 125
460 217
460 | | 222
Sorbinsäure (112, fest
460 | 272
460 | 251
460 218
| —0.0006
08 |
II
21
16
dn+ 80
——————— yet
10.770
11.517
10.553
7:.050
8.038
7-850
9.472
16.783
14.465
7.182
10.868
9.900
7.844
9.436
9.279
8.619
10.484
a x r Pr} . . 7
Fischer u. F.Wrepde: Verbrennungswärme organischer Verbindungen. 109
| | | Verbrennungswärme in Wattsekunden Verbr.-Wärme in Calorien
ae, | De I- — | — pro gr | pro Molekül
0, korrig. | 9n korrig. = | pro gr bei | pro Molekül bei bei konst. Vol.
| konst. Vol. | konst. Vol. | konst. Druck cal. Gal.
16.4010 18.1190 | 0.0102 | 20.195 | |
16.4080 18.2520 | 100 20.245 | | |
16.3455 | 18.0135 o8ı | 20.221 | |
| | 20.220 2588.2 25882 | 4807 | 619.6
15.0190 16.1115 | 053 25.244 |
15.1220 16.3665 127 25.190 | |
15.4855 | 16.6980 149 | 25.215. -| | |
S | | 25.216 4740.7 | 4740.7 | 6036.8 | 1134.9
15.4270 17.5555 158 30.267 |
15.1580 17.8040 235 | 30.212 | | |
15.1425 | 17.4070 2550 I oa | | |
30.235 3507.2 3512.00 | 1238.2 | 839.6
14.8350 | 15.9250 | 165 | 29.190
16.8170 | 18.5015 098 | 29.209
16.8000 13.5110 | 093 | 29.217
14.9740 | 16.1875 | 072 | 29.193
15.0245 | 16.4760 065 | 29.212 |
29.204 | 3329.2 33328 | 6991.4 797.0
15.1780 16.6195 | 014 27.802 |
15.5710 16.9087 049 27.862 |
15.0630 16.6830 052 | 27.792 |
27.819 3115.75 3217.20 0 6059:80 | 27459
710 Sitzung der phys.-matlı. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
Aus der Zusammenstellung ist ersichtlich, daß bei einigen Sub-
stanzen ein Zusatz von Naphthalin nötig war, um eine rasche und voll-
ständige Verbrennung herbeizuführen.
Außer den drei zuerst erwähnten Substanzen, die schon früher
besprochen wurden, sind noch Phenylessigsäure, Glyeocoll, Alanin,
Leuein, Asparaginsäure, Barbitursäure, Seidenfibroin, Capronsäure und
Sorbinsäure früher Gegenstand thermischer Untersuchungen gewesen.
Wir haben die betreffenden Daten zum Vergleich in der folgenden
Tabelle III zusammengestellt:
Tabelle IH.
Molekulare Verbrennungs-
wärmen in Calorien
bei eonstauten Volumen
| | Unsere Be-
\ Unser stimmungen |
‘ Altere
neuer \berechnetnach Z
Wert |St.s Wert für Werte
Benzoesäure |
Phenylessigsäure | 933-4 928.6 | 930.1 | StroHumAnn, J. pr. Chem. 53. 367.
Elyeocoll 222.17 23441 232.9 | 234-7 |Swoanmann u. LANGBEIN, J. pr. Chem. 44.
| 381.
| | \ 235.0 Berturor et Anoee, Ann. de chim. (6)
| | | 22.8.
Mann... .... | 390.3 388.4 | 387.6 | Sronuann, J. pr. Chem. 44. 382.
| | | 389.0 | Berrneror et Anpre, Ann. de chim. (6)
| | | 22.8.
Beucınerser: | 858.5 854.1 854-8 | Sronmann, J. pr. Chem. 44. 383.
| \ 856.1 | BerrHeLor et Anpre, Ann. de chim. (6)
| | 22.9.
Asparaginsäure . | 387.1 385.2 385-6 Sroumann, J. pr. Chem. 44. 386.
387.2 | BerrHELor et Anpre, Ann. de chim. (6)
| 22.72.
Barbitursäure ... | 360.7 _ 354-2 Marıcnon, Ann. de chim. (6) 28. 292.
Seidenfibroin . . |5167.9 ZZ 4979-6 Sronmann, J. pr. Chem. 44. 378.
pro gr 5095.7 Berrueror et Anpr£e, Ann. de chim. (6)
22.44.
Capronsäure ..| 839.6 835-4 837-6 | Sronmann, J. pr. Chem. 49. rrı.
| 830.2 | Louscınıne, Ann. de chim. (5) 25. 140.
Sorbinsäure . . . | 745-9) 742.2 742.8 Sronmann, 2. f. physik. Chem. ro. 410.
| — | 728.95 Ossırorr, Z. f. physik. Chem. 2. 649.
Für die molekulare Verbrennungswärme in Calorien sind 3 Werte
angegeben:
1. Der von uns gefundene neue Wert, berechnet mit der elek-
trischen Eiechung des Kalorimeters.
Fiscner u. F.Wrepe: Verbrennungswärme organischer Verbindungen. 711
2. Der von uns gefundene neue Wert, berechnet mit dem Wasser-
wert unseres Kalorimeters, der mit Srtoumanss Verbrennungs-
wärme für Benzoesäure = 6322.3 cal. ermittelt war.
3. Ältere Angaben.
Der Vergleich von 2 und 3 ergibt direkt die Abweichungen unserer
thermischen Bestimmungen von denen STOHMANNS.
Im einzelnen haben wir noch folgendes zu bemerken:
Phenylessigsäure wurde von Sronmann bestimmt: er legte aber
selbst dem Resultat keinen besonderen Wert bei, weil er das Präparat
für nicht ganz rein hielt.
Der von Sronmann für Glycocoll ermittelte Wert ist etwas größer
als der unsere: wir vermuten, daß diese Differenz durch die verschie-
-dene Reinheit der Präparate bedingt ist. Nach unseren Erfahrungen ist
es nötig, das käufliche Produkt über das Kupfersalz zu reinigen.
Auch beim Alanin ist diese Reinigungsmethode empfehlenswert,
obgleich diese Aminosäure leichter als die vorhergehende durch Um-
kristallisieren aus Wasser gereinigt werden kann. Wohl infolge dieses
Umstandes sind auch die Differenzen zwischen den älteren thermischen
Werten und unseren geringer.
Die Werte für Leuein von BERTHELOT und SToHmann liegen sehr
nahe zusammen und stimmen auch mit den unseren bei gleicher Be-
rechnung recht gut überein.
Das gleiche gilt für die Asparaginsäure.
Für Barbitursäure hat Marıenon ziemlich stark abweichende Zahlen
gefunden.
Die Abweichungen bei Seidenfibroin zwischen unseren Zahlen
und den von BerrneLotr und Stonmann gefundenen Werten erklären
sich durch die verschiedene Reinigung des Materials, und wir ver-
weisen in der Beziehung auf die oben zusammengestellten Elementar-
analysen.
Bei Capronsäure weichen die Angaben von Loveısıne ziemlich
stark von denen Sronmanss und den unsrigen ab; das mag zum Teil
an dem Präparat gelegen haben, vielleicht ist daran auch die Methode
schuld, da jene Bestimmungen, wie es scheint, noch nicht mit BERTHELOTS
Bombe ausgeführt sind.
Schwerer zu erklären sind die Differenzen bei der Sorbinsäure,
wo Össmorr die molekulare Verbrennungswärme 728.95 fand. Da-
gegen ist der von Sroumann angegebene Wert mit dem unsrigen nahezu
identisch.
Vergleicht man die in der Tabelle II zusammengestellten Resul-
tate, so ergeben sich für die molekularen Verbrennungswärmen der
untersuchten Stoffe folgende Regelmäßigkeiten:
712 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
ı. Zunahme für ıCH;:
Wattsek. Wattsek. oder Cal.
en ee Bo 1b
ee ai 6525 1562
a ne 3% 651.9 156.1
Aeester a en aan
a
Gina Be 662 sm
aa RT
Barbitursäure 1506.7
Diäthylbarbitursäure 4118.1 #2 652.9 156.3
Der von BErTHELoT und Stonmann für 1 CH, berechnete Mittel-
wert schwankt zwischen 157 und 158 Cal.
2. Zunahme für 2H:
Wattsek. Wattsek. oder Cal.
Benzalhippursäure 7746.6 n
8 5
Benzoylphenylalanin 7919-4 22 A
4-Methyluraeil 2371-5 R
4- Methylhydrouraeil 2588.2 Zune Sn
EISCHESERLINERUDE (flüssig) 3329.2 1780 2
Capronsäure (flüssig) 3507-2
Capronsäure (fest) 3496.9
Sorbinsäure 3115.75 “2 1995 a5
Mithin Sorbinsäure — Hydrosorbinsäure 203.15 48.6
Der Vergleich zwischen Capronsäure und Sorbinsäure ist direkt
nicht möglich, weil die erstere flüssig, die letztere fest verbrannt wurde.
Leider ist für keine der beiden Säuren die Schmelzwärme direkt be-
stimmt. Nimmt man aber an, daß sie für Capronsäure ungefähr so groß
ist wie für Ameisensäure, Essigsäure und Buttersäure (2.4—2.5 Cal.
= 10.3 Wattsek.), so würde die Differenz zwischen Sorbinsäure und
Capronsäure = 381.15 (d.h. 2X 190.6) Wattsek. Man sieht, daß dieser
Wert nicht unbeträchtlich größer ist als die Differenz zwischen Hydro-
sorbinsäure und Capronsäure.
Dieses Resultat scheint von allgemeinerem Interesse zu sein, denn
die Sorbinsäure enthält ein sogenanntes »konjugiertes System benach-
barter Doppelbindungen«. J. Tuiere, dem man eine neue Theorie dieser
! J. pr. Chem. 49, 110; bzw. Thermochimie. Berraeror. Bd.]. 495, 649.
* a r r .. . r . - ‘
Fischer u. F.WREDE: Verbrennungswärme organischer Verbindungen. 713
Doppelbindungen verdankt, hat bereits die Vermutung ausgesprochen ',
daß solche konjugierte Doppelbindungen einen Einfluß auf die Ver-
brennungswärme ausüben, und dafür verschiedenes Zahlenmaterial an-
geführt.
Nach unserem Resultat ist das hier in auffallendem Maße der Fall
und zwar ganz im Sinne der Tuiereschen Betrachtungen; denn die Zu-
nahme der Verbrennungswärme für 2 H ist beim Übergang von Sorbin-
säure zu Hydrosorbinsäure erheblich größer als beim Übergang von Hy-
drosorbinsäure zu Capronsäure (203.1: 178).
Dies Beispiel beweist also von neuem den Nutzen thermischer
Untersuchungen für die energetische Betrachtung der Doppelbindung.
Es verdient hier vielleicht noch hervorgehoben zu werden, daß
Ostwarp” auch das Leitvermögen der Sorbinsäure im Vergleich zu
Hydrosorbinsäure anormal gefunden hat. Wahrscheinlich werden sich
in dem Brechungsvermögen ähnliche Abweichungen von den sonst
gültigen Regeln zeigen.
3. Zunahme für ıNH;:
Wattsek. Wattsek. oder Cal.
Phenylessigsäure 399.0
Phenylglyeocoll 4000.9 a ae
> y ’ ı äur St)? 12
I henylpropions iure (St) 4534-3 Hrel6 28.6
Phenylalanin 4653.9
Glutarsäure (St)* 2151.2 ne N
Glutaminsäure 2273-4 x 9,3
Ein Vergleich der Normal-Capronsäure mit Leuein erscheint nicht
statthaft, denn man weiß jetzt, daß das Leucin ein Derivat der Iso-
butylessigsäure ist.
Der Mittelwert für ı NH, beträgt nach Stonmann 26.9 Cal. oder
113 Wattsek.’
4. Anhydridbildung:
A. Bildung von Dipeptid (— ı H,O)
Wattsek. Wattsek. oder Cal.
2x Glyeocoll 1955.6 ;
1x Glyeylglyein 1973-4 u 43
B. Bildung von Tripeptid (— 2H,0)
2x Glycocoll 1955.6
+ 1x Leuein 3586.0
1.6
Ä > x 19.5 4-7
Leueylelyeylglyein En 80:5
! Ann. d. Chemie 306. 103.
® 2. f. physik. Chemie 3. 274.
Japr. Chem2532365-
* J. pr. Chem. 49. 116.
® J. pr. Chem. 44. 395.
Sitzungsberichte 1904. 56
714 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
C. Bildung von Diaeipiperazin (— 2 H,O)
2% Glyeoceoll 1955-6
N ®
ıx Glyeinanhydrid 1991.2 35.0 8.5
2x Alanin 3260.6 ER 5
ıXx Alaninanhydrid 32933 32.7 TE
2X Leuein 7172.0 ar h
ı%X Leueinimid 7210.7 39.7 9.3
Wenn der thermische Wert der Anhydridbildung bei den Amino-
säuren auch nicht besonders groß ist, so liegt er doch außerhalb
der Beobachtungsfehler und führt zu dem Schluß, daß die Bildung
dieser Polypeptide und Diacipiperazine aus den Aminosäuren unter Ab-
sorption von Wärme erfolgt, daß also diese Polypeptide, verglichen
mit den Aminosäuren, für den festen Zustand, endothermische Kom-
binationen sind.
Die Verhältnisse liegen hier ähnlich wie bei den Amiden, deren
Entstehung aus den Ammoniaksalzen der entsprechenden Säuren eben-
falls meist unter Wärmeabsorption vor sich geht. BERTHELoT hat diese
Erscheinung bereits ausführlich besprochen! und auch auf die Bedeu-
tung der Tatsache für die Physiologie hingewiesen, wenn man die Pro-
teinstoffe als Amide betrachten wolle. Wir sind nun allerdings der An-
sicht, daß einfache Amidgruppen in den Proteinstoffen zwar vorhanden
sind, aber an Masse weit zurücktreten gegen die Verkettungsform der
Polypeptide. Sollten aber weitere Untersuchungen an den syntheti-
schen Produkten dieser Klasse unser bisheriges Resultat bestätigen, so
würde für die Peptidgruppe BerrueLors Bemerkung ebenfalls Gültig-
keit bekommen.
5. Unterschiede für Isomere:
Wattsek. Wattsek. oder Cal.
Eye yeneal 4000.9 1 ER:
Anilinoessigsäure 4042.9
a-Carbäthoxylglyeylglyeinester 4691.6
D JUlDn S, 5
P-Carbäthoxylglyeylglyeinester 4573.0 88 2a
4-Methyluraeil 2371.5 2
5-Methyluraeil 2366.0 = 3
Ähnliche Differenzen wie zwischen Phenylglyeocoll und Anilino-
essigsäure zeigen sich zwischen den beiden flüssigen Toluidinen und
Methylanilin® oder zwischen Alanin und Sarkosin.*
Auffallend ist der große Unterschied zwischen a- und ß-Carb-
äthoxylglyeylglyeinester, deren Struktur noch nicht sicher festgestellt ist.
! 'Thermochimie I, 680; Mechanique Chim. I, 99; Ann. chim. [5] IX, 348 u. [6]
RSMINER To:
?® BerrneLor, Thermochimie II, 834.
3 SroHManN u. LANGBEIN, J. pr. Chem. 44. 392.
SQ
m
[Dr 1
Fiscner u. F.Wrepe: Verbrennungswärme organischer Verbindungen.
6. Phenylgruppe:
Wattsek. Wattsek. oder Kal.
Phenylglycocoll 4000.9 E
Glycoecoll 977-8 Ss 123-7
Phenylalanin 4653.9
Alanin 1630.3 3a23.0 723.8
STOHMANN gibt für die Phenylgruppe, wenn sie an Kohlenstoff
gebunden ist, den Mittelwert 714,9 Cal. an.!
Was endlich die Genauigkeit der von uns angegebenen Werte
betrifft, so bemerken wir, daß der mögliche Fehler der elektrischen
Eichung unseres Kalorimeters von den HH. JAEGER und von STEINWEHR
auf 1—2Promille des Gesamtwertes geschätzt wird. Dazu kommen dann
‚die üblichen Fehler der einzelnen Bestimmungen und endlich diejenigen,
die durch die Unreinheit der Materialien bedingt sind. Die ersteren
schätzen wir bei den Durchschnittszahlen in keinem Falle auf höher als
1005 des Gesamtwertes. Auf letztere, die natürlich sehr erheblich sein
können, haben wir, wie schon früher hervorgehoben wurde, ganz be-
sondere Aufmerksamkeit verwendet und uns bemüht, die Materialien
so rein wie möglich darzustellen. Wie weit dies im Einzelfalle ge-
lungen ist, läßt sich allerdings nur durch eine Wiederholung der Ver-
suche feststellen.
ı J. pr. Chem. 32. 67.
a
56
16
Hydrodynamische Untersuchungen.
Von H. v. HELMHOLTZz.
Aus dem Nachlass zusammengestellt
von
Prof. Dr. W. Wien in Würzburg.
(Vorgelegt durch Hrn. Kornıcspereer am 24. März [s. oben S. 575].)
Die folgenden Untersuchungen über hydrodynamische Probleme habe ich aus
Papieren, die mir Hr. Geheimrath KoenıGsBERGER zur Durchsicht übergeben hatte,
aus dem Nachlass von H. v. HerLnuorız zusammengestellt. Die Ausbeute ist eine recht
geringe geworden. da der bei weitem grösste Theil der Papiere theils Anfänge der
veröffentlichten Abhandlungen, theils abgebrochene Rechnungen enthielt, deren Durch-
führung offenbar nicht gelang. Dass in den sehr umfangreichen Rechnungen über
Wasserwogen keine neuen durchführbaren Entwicklungen vorhanden sind, glaube
ich auf Grund frühern eingehenden Studiums dieser Fragen garantiren zu können.
Ich habe von diesen daher nur eine kleine, fast druckfertige und daher ganz ungeändert
selassene Abhandlung (Nr. I) für die Veröffentlichung geeignet gefunden, die zwar
nichts besonders neues enthält, aber wegen der originellen Behandlungsweise bemerkens-
werth ist.
Die beiden kleinen Aufsätze Nr. II und Nr. III behandeln die Bewegung com-
pressibeler Flüssigkeiten, bei denen Symmetrie um eine Axe herrscht. Da die bisherige
mathematische Behandlung der Cyklonen fast nur unter der Voraussetzung einer in-
compressibelen Flüssigkeit gelungen ist, so sind diese Entwicklungen von besonderm
Werth. Beide Betrachtungen waren nicht abgeschlossen, aber so weit geführt, dass ein
Abschluss ohne Schwierigkeit zu erreichen war.
Nr. IV behandelt die sehr originelle Frage nach dem Verhalten spiralig sich
aufrollender Wirbel. Es finden sich hierüber mehrere Ansätze, die von gleichen Voraus-
setzungen ausgehen, aber alle abgebrochen werden, offenbar weil die mathematische
Entwicklung nicht genügt, um die Grenzbedingung gleichen Drucks an beiden Seiten
der spiraligen Unstetigkeitsfläche zu erfüllen. Trotzdem habe ich diese Betrachtung
aufgenommen, weil sich vielleicht eine weitergehende Analyse wird anknüpfen lassen.
Meine Zusätze und Fortsetzungen sind von dem Hernnor'rz’schen Text durelı
kleinern Druck unterschieden.
I.
Wasserwogen.
Die Richtung der © sei die Höhe positiv gemessen nach der Tiefe
zu. Die Ebene der xy die der Fortpflanzungsrichtung der Wellen
parallele. Es wird vorausgesetzt, dass bei gleichem x und y und ver-
W. Wıex: Hydrodynamische Untersuchungen von H. v. Hrrnsorrz. alt
schiedenem z Druck und Geschwindigkeit constant seien. P sei die
Potentialfunetion der äusseren Kräfte, p der Druck, ? die Dichtigkeit
in der Flüssigkeit, v die den x, und v die den y parallele Geschwin-
digkeit, ? die Zeit, so reduciren sich die hydrodynamischen Gleichun-
gen auf:
da a de dy
D
I P—
( p dv 23 dı dı
—e u -—
dy dt da dh)
ER du “ dv
da a
IN IN
Man setze v = _ und 2 — a was nach der letzten Gleichung
RS
erlaubt ist, so redueirt sich das Ganze auf:
p
Je ) de) dydb db d’Y
dx ac — dydt a dy dydx de dy
I.
p
d| P—
( p ) _ db dy GAR, day dY \
dıy ade a ar dx dadı
Man differentiire die erste dieser Gleichungen nach y, die zweite nach &
KELLER : e a dl
und subtrahire sie von einander, so erhält man, wenn man at Fr
n ?
mit A bezeichnet
dY dAaY dY day dAY L
nd
zur allgemeinen Bestimmung der Function /, oder
dA dAY day
u- +0 + —&
y di
Au bleibt für jedes einzelne Massentheilchen ungeändert.
Wenn wir nur solche Bewegungen untersuchen wollen, welche
sich unverändert fortsetzen, in der Richtung von den positiven zu den
negativen y hin, so müssen wir % zu einer Function von (y-+- at)
machen, welches wir mit 'w bezeichnen wollen. Dann wird die Glei-
chung 2
dYy dad ( dY ) dal
= m m 0
du da
718 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
deren Integral ist, wenn $} eine willkürliche Function bezeichnet
Al — Aoas, ee elleleLe mh /sylelntielie e/ Le le niierte N 3-
Aus der Gleichung (2) geht hervor, dass der Werth von Al für
jedes Wassertheilchen constant ist. Diese Gleichung wird erfüllt, wenn
man jedem Wassertheilchen eine gewisse elektrische Dichtigkeit AV er-
theilt denkt, ausserdem beliebige elektrische Massen ausserhalb der
Wassermasse annimmt und die Geschwindigkeit jedes Theilchens pro-
portional der elektrischen Richtkraft, aber senkrecht dagegen macht.
Die äusseren elektrischen Massen können beliebig bewegt gedacht
werden.
Setzt man A innerhalb einer Wassermasse gleich 0, nennt dw
ein Element irgend einer geschlossenen Curve in der xy Ebene und
dn die nach innen gerichtete Normale desselben, so ist
day
|E@=o
d
Dem a entspricht eine Bewegung in Richtung der Curve. Es gibt
dn
also in diesem Falle keine in sich zurücklaufenden Curven, die der Be-
wegungsrichtung der Theilchen folgen. Für jede mit Wasser gefüllte
Kreisfläche in der xy Ebene ist das Drehungsmoment um ihren Mittel-
punkt gleich o.
Hat aber Au innerhalb einer Wassermasse Werthe, die von O ver-
schieden sind, so entstehen Rotationsbewegungen.
Da das A einesWassertheilchens durch Einwirkung äusserer Kräfte,
die eine Potentialfunetion haben, nicht verändert werden kann, so kann
durch Einwirkung solcher Kräfte auf eine ruhende Wassermasse auch
nur eine solehe Bewegung entstehen, bei welcher Al = o.
Wir betrachten zunächst mit Vernachlässigung der Reibung solche
Wasserwogen, bei denen AV = 0, und wo die Wogen in unveränderter
Form fortschreiten, U also eine Function von (y+af) = w ist. In dem
letztern Falle können wir nach Gleichung (3) statt
Al =( auch
vVra=l Me 14
als Gleichung der Strömungscurven gebrauchen. Wenn AV =o, wird
die erstere Gleichung unbrauchbar, die letztere bleibt brauchbar. Wäre
%= 0 die Gleichung von Strömungscurven, so wäre
dy dd du dd du
= = En —
dx dy dy dx dt
='0.
Setzen wir für % jetzt (“+axr—C), so wird die Gleichung identisch.
W. Wıex: Hydrodynamische Untersuchungen von H. v. Hernsortz. als
Die Gleichungen ı werden jetzt
dt dl @JL db AL
— en 0
dx dw? dv dude dx dw
p
I P—
; ( 2) e3| db day dL dy dl
do de du da 2 de de dy
(
oder weil — -—- =0, so ist integrirt
dw de
»_ dd NV (a)
r =a.+:(G Fe \ 5
Ist die Schwere die einzige äussere Kraft, welche auf die Masse der
Flüssigkeit wirkt, also P= g«, so ist
ee a b.
— =(0+9% Gm: ( + (eermens (5
fo dx dı
Bei einer Flüssigkeit mit freier Oberfläche haben wir also folgende
Bedingungen zu erfüllen:
1. im Innern der Flüssigkeit
d’X ON
2. an der freien Oberfläche muss der Druck constant sein, und
sie muss eine Strömungsfläche sein, also für sie muss gleichzeitig sein
DFB Bunde OU MEN LE
dal ‚\fal\, (dv a !
— BO —— ar) Naoo000osoe 5.
are wie (= do | \ 8
3. wenn die Flüssigkeit nach unten noch durch einen horizon-
talen ebenen Boden begrenzt ist, für welchen 2 = /, so ist
VE N BEE NIE
Ist die Flüssigkeit unendlich tief, so ist Y,, gleich © zu setzen.
Ein particeuläres Integral der Gleichung 6 ist
NL Br A ey (eos5+V—r sin d) c+y (sin 8—y—ı cos d) w
und ferner jede Summe aus solchen Gliedern, wie das eben gegebene.
Setzen wir die Summe so zusammen, dass alles Imaginäre wegfällt,
so nehmen die Glieder folgende Gestalt an:
Kersten y(z sin d—w cos d)+ €
720 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
Sollen die Wogen, welche nach einander folgen, gleiche Grösse haben,
so muss die Zeit, also » aus dem Exponenten verschwinden, also
sind = Oo sein, und wir erhalten
V= > ı A,e” sin [yo-+c] |
wo zu jedem beliebigen y, jedes beliebige A und ec gesetzt werden kann.
Wir nehmen zuerst ein einzelnes Glied, und untersuchen es in
Bezug auf die Bedingungen der freien Oberfläche im Fall unendlicher
Tiefe. Der Exponent y muss negativ sein, dann wird in unendlicher
Tiefe die Function Y gleich 0, wäre er positiv, würde sie unendlich
gross. Es sei also
= Ae’* sin (yu),
daraus die Gleichung der Strömungslinien
Ae7”" sin wtax —=(
und wenn an der freien Oberfläche für ?=o und y=o auch 2 =o
sein soll, wird die Gleichung dieser
Ae7”" sin wtar=o,
also
q !
SIND Yo E— = OS 8.
r A \
Der Druck wird durch folgende Gleichung gegeben:
p SE . A —yI a I 2 A2 2 2y: !
= ga+aydAe” sin w— —YAeT"—D........ ( 9.
An der freien Oberfläche muss der Druck constant gleich Null sein.
Setzen wir den Werth von sin yw aus 8 in Gleichung 9, so erhalten wir
2
n
-
= ga — ayo— -YAeT—D.
Entwickeln wir e””” in einer Reihe, so erhalten wir
P=—_D—:yA
+2 lg —ay+Yy4A’)
— .’ yY A?) + ete.
Setzen wir also
—D="yA’ und
2
so wird
W.Wıen: Hydrodynamische Untersuchungen von H. v. Herunor'z. 121
Ist ? die Wellenlänge, so ist
und bleiben x und A klein gegen A, so ist der Druck an der Ober-
fläche nur noch gleich einer kleinen Grösse von der 4°” Dimension.
Bis auf diesen Grad von Genauigkeit genügt also die Annahme eines
Gliedes der Sinusreihe.
Gang der Werthe von & und y.
Um die Form der Wellen zu bestimmen, setzen wir {= 0, also
nach Gleichung 8
a
sin (yy) = — 7 .e”
A
Die Function we” ist für +0 gleich +, nimmt dann continuirlich
ab, bis sie für 2@=o auch gleich o ist, erreicht dann ein negatives
a I LAY: B I
Minimum, wenn @=— _. Ihr Minimalwerth ist alsdann ——, dann
nv ve
J J
wird sie wieder grösser, bis sie bei = —& wieder o wird. Die
Gleichung
me 30
hat also für positive Werthe von C einen reellen Werth von x, für
. Tr E A Tr :
negative Werthe von C, welche absolut kleiner sind als —, je zwei
Ye
reelle Werthe von x, für solche, welche grösser sind, nur imaginäre.
Jetzt schreiben wir Gleichung 8
ve" = — — sin (yo).
a
Für die Werthe von yw, wo der Sinus negativ ist, gibt es nur einen
Werth von z, für »o= tar it z=ooderx =—, für positive
A I
Werthe des Sinus gibt es stets zwei Werthe von x, wenn — <—, also hat
a ye
Fig. 1.
i
1
! i
1
722 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
die Curve hier zwei Arme, die ganz von einander getrennt bleiben. Ist
A I
— —., so haben beide Curvenarme einen Punkt gemeinsam. Wird —
a ye E e
noch grösser, so zerreisst die untere Wellenfläche und verbindet sich
mit den Armen der oberen. Dann brandet die Welle an ihrer Spitze.
r . a
Der höchste Werth von A ist also — und der entsprechende von x
£e
\ I i ae =
ist — —- oder Danach wird der höchste Werth des Druckes an
y 2%
der Oberfläche der Spitze der Welle
B &
Der höchste Druck in der Linie = 0 ist ayA oder in diesem Falle
m
Jener negative Druck wäre dann also der e“ Theil dieses posi-
z -
*), kein unbeträchtlieher Fehler.
ıı
tiven (etwa
Fig. 2.
A 1
a "ne
1
ae
Er
A I Wasserwellen
a ye a i
“ cos (yy+yat) = — A wer"
Stationäre Bewegungen in compressibelen Flüssigkeiten,
die um eine Axe symmetrisch sind.
Vergl. Wiss. Abh. Ill, S. 289.
Wir setzen
= pcosS, 2=osind
- dy { RER EN
„Vz 50cosy— wsınJy
dt
dz an ERS Q
„= w=3zsSınJ + wpcosy
dt
|
IN
w
W. Wien: Hydrodynamische Untersuchungen von H. v. HeLunortz.
Die hydrodynamischen Gleichungen lauten
0oV ı0p _du
ee ee
oV ,n0p dv dee 0 0 0
en ? er dt Ar + 7, (u) + 7, me (we) = ©
oV .10p dw
ER
wo V das Potential der äusseren Kräfte, p den Druck, e die Dichtig-
keit, «, v, w die Componenten der Geschwindigkeit nach den Axen
der Coordinaten bezeichnen.
Führen wir nun anstatt der Grössen y und 2, v und w die neuen
eund S, ZEund w ein und nehmen an, dass alle Grössen von $ un-
abhängig sind, also Symmetrie um die x-Axe herrscht, so erhalten
wir folgende neue Gleichungen
oV ı0p du du du
! 02 eco a rer
Van. de oE 0E
5 Dose a en
dw do om. Dr
I ort
oder
a, d 2 )
n es
IV ©
Rn (pe) = le ee) + — (pe})
Die Gleichungen I und II ergeben, wenn e eine Function von
p ist und
: dp = dp
B
a 9E du
Berne:
gesetzt wird, durch Elimination von & und V
ar 0 0 0
(1) = RrErr (EI), (uN+ 2pu
und
h 2
2 — V-—--wW+?) _ u EN
0 : an
. dE
724 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
? ist die doppelte Drehungsgeschwindigkeit um die Richtung $
als Drehungsaxe.
Für stationäre Bewegungen müssen die partiellen Ableitungen
nach der Zeit verschwinden.
Wir können dann IV erfüllen, indem wir setzen
0%,
pu=— Ay
0%,
Pa F
Er dx
I 0%
u = — Ze Von
I A) op
} |
I: ei I 0
Fa eo
Dann wird III
A? 0Y. 0
C [6
% (’w) — - 2 (uw) = oO
do 0x" dx op
Diese Gleichung ist erfüllt, wenn >’w eine Function von % ist.
Andererseits gibt (1)
0 (WA 0 fd A dw
- : —- — = 202 —
do | dx £&p O2 \0o eo hs
oder
a Pr u 0 \ dw
(2a) Sz - — en — = 2pWw
0x Op\ ep oe O0\e 9x
Wenn uw = constant ist (worauf die Reibung hindrängt, die
Geschwindigkeitsunterschiede auszugleichen strebt), so ist ——- eine
i ne ED
Function von %. Wir setzen
A dF
€o dog,
und
en A 0X d v wir: %
3a = -- (1 +09 +" + E)+ =
z ep dw 0x u = Bir:
0% le s 3 0
(3b) es ne = Ah: (\ Amar = (u =2& )+ E 7
also |
= 5 - ; SuSE |
(3e) F=V+09+;-W+&)+: - |
wodurch der Druck bestimmt wird. |
W. Wien: Hydrodynamische Untersuchungen von H. v. Hernnor'z. 725
Dieser Werth von F wird constant, sobald die Geschwindigkeien
u und Z gleich Null sind, und unterscheidet sich von einer Constanten
sehr wenig, solange « und £ kleine Werthe haben, so dass ihre Qua-
drate keinen merklichen Eintluss auf Druck und Dichtiekeit haben.
Beschränken wir uns auf diese Fälle schwacher Bewegungen und
(6)
A 0% ; : j
beachten, dass auch 2 “ von der Ordnung £’ und w’ sind, so wird
ep dx :
die Gleichung (3e)
0:
(4) V+9+7> = Const.,
d.h. für den Druck ergeben sich dieselben Werthe wie für£=u= 0.
Der Einfluss der Bewegung macht sich für den Druck dann nur durch
Veränderung der Dichte e geltend.
Nun war
j de du Oo (ı dw 0/1 0%
ee = SS. c
0x ds or \ep 0X op Ep op
NE ke et \
Nehmen wir für ] die einfachste Form, nämlich ce, + b, so
Aa%
haben wir
A a h I du eco
(4a) — CD — s2)+ 2
€
ep 0a \ep da ep Op \ep dp
Da zu der Function % eine Constante hinzugefügt werden kann,
ohne an der Bewegung etwas zu ändern, so ist 5b ohne wesentliche
Bedeutung und kann, wenn ce von Null verschieden ist, gleich Null
gesetzt werden.
Die Lebendige Kraft ist
32 Ab We) Fr 2
Try; [ac an (5) gt 3
1a ep? \ cp ep \0w
[Pr?
an
r or Q Ay or d or 5 e
erg, R - | es | dr
DR op ‚ep op dx ep 0% j
wo N die äussere Normale und ds das Element der Begrenzungslinie
bezeichnet, deren Umdrehung um die w-Axe die Begrenzungsfläche
des ganzen betrachteten Raumes ergibt. Verschwindet IN oder %
: oN
an der Grenzfläche, so ist mit Rücksicht auf (4a)
L= —rc [we@a:
Da L positiv sein muss, so ist c nothwendig negativ.
726 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
Die Differentialgleichung (4a) kann auch durch die Vorschrift er-
setzt werden, dass die erste Variation der Grösse
9% 9% ‘ B =
|| Era (( 3) + ) ) + 0% \eododa
verschwinden soll, wenn % an den Grenzen den Werth Null erhält.
Wenn in einem einfach zusammenhängenden Raum keine Strömung
durch die Oberfläche bei stationären Bewegungen eintritt und keine
Rotationsbewegung vorhanden ist, so ist keine Bewegung im ganzen
Raum vorhanden. Wenn ce unddb=o, soistt A=O, und für die
Bewegung mit den Geschwindigkeiten u und £ existirt keine Rotation.
Setzt man in der Gleichung (4a) die Grösse c= o und betrachtet
zwei mögliche Lösungen der dann entstehenden Gleichung
dor ı od (m 0%,
(5) a ee ee a
€ &% Ep dx ep op ep 0?
die wir mit %, und %, bezeichnen; setzt dann %, und %, in die
Gleichung (5) ein und zieht beide entstehende von einander ab, so ist
4) aa: |
u EA
€ op Ep op
=o
Yı%, genügt also der Gleichung (5) für d5=o. Wenn also
%,. und %, an der Oberfläche verschwinden sollen, so verschwindet
die durch %,—%, dargestellte Bewegung im ganzen Raum, d.h. es
existirt nur eine Lösung, welche die Vorschrift erfüllt.
Bis hierher ist das HeL.umor.rz’sche Manuscript bis auf unwesentliche Änderungen
wiedergegeben.
Der folgende »Luftstrom über die Ebene« überschriebene Abschnitt ist mir wohl
in dem Ziel der Untersuchung, nicht aber in den einzelnen Schritten der Rechnung
verständlich gewesen, die übrigens auch nicht zu Ende geführt ist.
Hersmorrz geht von der Differentialgleichung
de (19 al /arı ko
— (ea. er ee
de \e do or \e de
aus, deren Zusammenhang mit Gleichung (5) mir nicht klar geworden ist. Er setzt
dann
Ei Por
dp = gedg,
was jedoch keinen verständlichen Sinn hat, da die Richtung 9 keine bestimmte ist
und also die Schwere nieht parallel g wirken kann. Da mir eine Verwechslung von
Bezeichnungen vorzuliegen scheint, so habe ich nach den vorhandenen Andeutungen die
Rechnung so durchgeführt wie sie mir dem Hernmorrz’schen Ziel zu entsprechen schien.
Ich setze in der Gleichung (5)
Bar
(6) S, — (era
W. Wien: Hydrodynamische Untersuchungen von H. v. Hernnortz. 127
dann ist die Gleichung (5) erfüllt wenn
2% = 2«&(n +1)
Da
I 00 2«
um — % = — 22
go 09 IS)
5 >
2 I dy, [67
.— - = 2(n+-1)y AaRHı
7 ed 0% DB
ist, so haben wir sowohl verticale wie radiale Strömungen. Wir nehmen x als die
verticale Richtung und legen = o in die obere Grenzfläche. An dieser verschwindet
dann sowohl x wie £.
Wir können nun die gewonnene Lösung leicht so verallgemeinern, dass die ver-
ticale Strömung noch an einer zweiten horizontalen Ebene, für x = %h, verschwindet,
wohin wir dann die Erdoberfläche zu verlegen haben.
Zu dem Zweck fügen wir eine Lösung der Gleichung
Tag Jo 9
KeD+iN=
g dw dx 09
hinzu. Eine solche ist
so dass jetzt
ZUR: 2y2
= — - V — E
5 ß ß
2«0 (r +1),
Zen ln I\ar-+tı ne en
& B @rı)an2 B
ist. « verschwindet auch hier für = o, ausserdem für = Ah, wenn
ah +! Er y=o
ist. Die radiale Strömung verschwindet für 9=o. Wir können & schreiben
2 I
NER Gay = EEE nr en,
h
Man sieht hieraus, dass E für «= 2 IR sein Zeichen umkehrt.
S n-+ı 2
In den oberen Schichten ist die Strömung entgegengesetzt wie in den unteren.
Die durch eine Cylinderfläche vom Radius 9 einströmende Gesammtmenge muss
Null sein. In der That ist
h
[e&u% =o,
°
Jetzt ist für = o die radiale Strömung nicht Null, sondern es ist
N _ malt
Ss B 9
Ist £ hier an einer Stelle gegeben, so ist dadurch die Constante « bestimmt, während
die Consarlen ® und n durch den Barometerdruck bestimmt sind, wie wir noch später
sehen werden.
Die hier behandelte Lösung des Problems würde einer Cyklone entsprechen, bei
der an einer Cylinderfläche g = const. eine bestimmte Strömung der Luft erfolgt.
Insofern ist diese Lösung hydrodynamisch unvollständig, als kein bestimmter
Grund vorliegt, warum gerade eine so specielle Art von Strömung durch die äussere
Cvlinderfläche vorhanden sein soll.
128 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
Wenn wir aber vorschreiben, dass % auch an einer begrenzenden Cylinderfläche
verschwinden soll, so gibt es, wie wir gesehen haben, eine einzige Lösung von (5).
Um diese zu erhalten, fügen wir zu unserer Lösung noch eine hinzu, die der
Gleichung
genügt, die wir auch
I, En 3%, ee od,
dr? 70% do
>
schreiben können. Setzen wir nun
(Bene
Ya Yı(a).b2(e),
so ist diese Gleichung erfüllt. wenn
da’); nd\,
en en ya
dc? ehr Y
d? ! 2 I d\; 2.|
— - ——on =o
da? oe da "2
. 5 5 5
sind.
Setzen wir
n—+ı
Y=J(mx)x ? , Y, = 2J(imo),
e $
so haben wir die beiden Gleichungen
d2J; raddE + (m ch (n Ehe Ye JRR
dee Fr & Du: ==
d?.J,; 1 dJ, De T J
de? B de = (" Zi E J,=O0,
die beide durch Besser’sche Functionen integrirt werden.
>
n41ı
Für 2= o verschwindet J, von der Ordnung x ° ; es verschwindet dort also
u, während £ endlich bleibt.
Für g= 0 verschwindet .J, von der Ordnung 9; also verschwindet & für g= 0,
während x endlich bleibt.
Die beiden Besser’schen Functionen sind nach der gewöhnlichen Bezeichnung
J,(mx) und Jr(im 8)»
(n +1)? 3
wenn v2 — Na gesetzt wird.
Nun muss J,(mx) auch für «= Ah verschwinden und es muss für e=R
Knabe Xr X
sein, d.h. es soll
aR art? —_ «RM ttarti N, =o
sein.
Um das zu ermöglichen, setzen wir
n—+1
\h=x2°?3 arJ, (my),
a
wo sich die Summation auf sämmtliche »,, die der Gleichung
J, (mh) = 0
genügen, erstreckt. Die a sind die ganzen Zahlen, die Stellenzeiger dieser Wurzeln sind.
\V. Wıen: Hydrodynamische Untersuchungen von H. v. Hermnonvz. 729
Die Coefficienten a, müssen so bestimmt werden, dass
n4tı
«Rx 2 (At ar a" tt)
JlimR
Ian), (mız) =
a
ist. Diess ist (vergl. Heıwe, Handbuch der Kugelfunctionen Bd.2 S. 213) der Fall, wenn
h
2A 63
v= [AI (m hype [mas dr
J,(ma
P
Rz
ie —a == -
Jı(im R)
ist. Es ist also
% m TE (MFH! a TEN)
nt ı
+ı ? I a), (max) Jı (im g)
a
zu setzen.
Dadurch, dass die einzelnen Glieder der Reihe für = A verschwinden, ver-
schwindet % für =o und e—=4. Ausserdem ist durch die Bestimmung der Coeffi-
cienten „=o füro=R.
Zur Bestimmung der Constanten n und @, von denen die Dichte e abhängt,
können wir die oben abgeleitete T’hatsache benutzen, dass für genügend schwache
Bewegungen der Druck sich wie für ruhende Luft berechnet. Nur muss der Einfluss
der Bewegung insofern berücksichtigt werden, als angenommen werden muss, dass
die Bewegungen doch noch schneller erfolgen als der Ausgleich der Temperaturunter-
schiede durch Wärmeleitung, so dass für den Zusammenhang zwischen Druck und Dichte
ı
es
Be Te
zu setzen ist, wo 4 das Verhältniss der speeifischen Wärmen der Luft bezeichnet.
Wir haben dann
dp = gedx
kpyet—:
Te
Wo Po, & die Werthe an der Erdoberfläche bezeichnen. Für «= 4 berechnet sich
hieraus die Höhe der Atmosphäre
(vergl. A. Rrrrer, Anwendungen der mechanischen Wärmetheorie auf kosmologische
Probleme S. 3; Hannover 1879).
Wir hatten in Gleichung (6)
e= Bar
gesetzt. Um hiermit in Übereinstimmung zu bleiben, müssen wir
n=
ß
I
ee
SQ
un
6
An)
„
—_
m
os
m
E
|
-
setzen.
Die Bewegung ist daher vollständig bis auf die Constante « bestimmt. Und
diese ist bekannt, wenn die Geschwindigkeit an irgend einer Stelle gegeben ist.
Sitzungsberichte 1904. 57
730 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
II.
Stabilität stationärer Wirbel.
Wir setzen
g®
u E-
1 = pCosY$ en oz dw
/ s Br 1 re
J—psnS EN 02 p
ein
Nach den bekannten Gesetzen der Wirbelbewegung ändert sich
der Abstand zweier Flüssigkeitstheilchen in demselben Verhältniss wie
der Quotient von Drehungsgeschwindigkeit und Dichtigkeit. Haben
wir also in einem Cylinder nur axiale und radiale Bewegung, so sind
die Wirbellinien Kreise. Zwei auf einem solchen Kreise befindliche
Flüssigkeitstheilchen ändern ihren Abstand im Verhältniss .. Daher ist
(0
p = Const —
€
Ferner ist das Produet aus Drehungsgeschwindiekeit und Quer-
DES fe
sehnitt constant. Folglich muss constant sein
Conse (2 coded — If ° dedb
4 Ep A): 2 ep
ebenso die Lebendige Kraft. Man verlange, dass diese ein Grenzwerth
sei für constant bleibende Wirbelfäden unter gleichzeitiger Erfüllung
der Continuitätsgleichung
© -
Dann muss die Gleichung gelten, da bei der Variation (2) Os
€
N ’6 \e $2 & a © 0 a d
o=—= Jul (E+w)g+ — 3 —. 5% (5,69 + 3.000) [eaas
und nach partieller Integration und Integration nach $ von o bis 27
75 ler oe (co X g/o 0%\)
BE 227 il een \+an(su+e &p Ze)\a:
co
ds (x. Np+a — Co Ne)35+ (u cos N? — a’ — cos N) on
= &p
wo ds das Linienelement der Curve bezeichnet, die bei ihrer Um-
drehung um die 2-Axe die den Raunf begrenzende Oberfläche gibt,
N die Normale der Oberfläche.
[|
W. Wırn: Hydrodynamische Untersuchungen von H. v. Heramorrz. 751
Diess gibt die Bedingungen:
für das Innere des Raumes:
N) n
ER 2 SER —G
02\&p "%
(2)
0 2 0%,
erw a’; ob co —E —,ß)
für die Obertläche:
n O\x; 7 r
o = 4 (dE cos Np + dw cos N2) + «a 192 cos Nz—dwcos Np| (2a)
ep
Da die Strömung durch die Oberfläche Zcos Na + w cos Nz ist, so
„verschwindet ihre Variation, wenn die Einströmung constant ist, d.h.
es ist d£cos No+dweosN2 = 0. Verschwindet ausserdem s an der
Obertläche, so ist die Oberflächenbedingung erfüllt. Wenn wir aus den
Gleichungen (2) % eliminiren, so erhalten wir
Ten)
7 Pr a))* . ke 7 ON ”
Wenn wir nun die Gleichung
oder
N A ar ne DE —O
erfüllen, indem wir setzen
an av
= &p 02
1 ocRz
ep 00
wo Y = const. die Strömungslinien sind, so ist
Beau o/fı W\|
|
Ziehen wir diese Gleichung von 3 ab, so .folgt
ATOLLON PERLE
Q (. E +“ Be yaNepy. en
02\ep\ oz dz eo dp &p cp
ar
732 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
Hieraus folgt, von dem Speeialfall % = ap +bz abgesehen,
(
+ a — = Const =o
2
also
a ed, eo /ı
4) ” (2 ep op vaz ep 02),
als Differentialgleichung für die Function %, vorausgesetzt, dass man e
als Function von e und 2 gegeben betrachten kann.
SS.
Die gesammte Lebendige Kraft ist
oLN\? oLb\? nn val Br oe /(ı 0%
) Br a ep son“ r Yl ep do
all ı 2
ur = ap en — —_gq | Bi
Es muss demnach a imaginär sein, da die Lebendige Kraft posi-
tiv sein muss (vergl. S. 10).
Im allgemeinen werden die Werthe von @, welche passen, durch
die Form des vorgeschriebenen Raums bedingt sein; nur wenn zwei
oder mehrere solehe Werthe gleich sind, ist continuirliche Änderung
in der Vertheilung der vorhandenen Wirbelfäden möglich, ohne den
Betrag der Lebendigen Kraft zu verändern: also müssen solche Bewe-
gungen, die einfachen Werthen von a’ entsprechen, stabil sein.
Setzen wir jetzt
p=rsing — rVYı— u
2.603 00 m
so wird Gleichung (4), wenn e nur Function von r ist,
aa a. nel ee. 1
a Ep cp de ep\ Op Op \ep de 02 (.)
ı [or or en er eo
= ee en
Es de den er lon r? du?
+ = ir Ve x a mn z L_ (Ten
ep\ or ou r Ep pedn
ı (ol (1— u?) do) I de
|| em on
| er r ou pe? dr
und weiter
0° u
er’(I—u) = a Zn E “= a Zr =
or edr dr r dw
Bei der Anwendung auf die irdische Atmosphäre können wir setzen
r= R—h (R = Radius der Atmosphärengrenze)
und Ah gegen R als verschwindend klein ansehen.
rn f m 9%
W. Wıen: Hydrodynamische Untersuehungen von IH. v. Hewmmortz. 133
Ferner können wir setzen
m
Een
wenn wir die dynamischen Veränderungen des Drucks, die nur von
den Quadraten der Geschwindigkeit bestimmt werden und eine Ab-
hängigkeit der Dichtigkeit e auch von # herbeiführen würden, ver-
nachlässigen.
Unsere Differentialgleichung wird jetzt
0 L mob ON),
2 v alt2ma ma 2 2
(5) Wr) a nam) au
Wegen der Oberflächenbedingung in dem Variationsproblem muss
co, also auch /, an allen Grenzflächen Null sein.
Wenn die Wirbel sehr breit gegen ihre Höhe sind, werden die
Differentialquotienten nach x zu vernachlässigen sein (da dann die auf-
steigende Strömung schwach ist).
Es ist also annähernd
N,
(1— u?) 2 eNUR — \ A
a an
Soweit geht der geordnete Text, dem noch eine Anzahl von Transformationen
folgen, die offenbar den Zweck hatten, die Differentialgleichung (5) zu integriren.
Nun lässt sich aber leicht zeigen, dass die Vernachlässigung der Differential-
quotienten nach u» unzulässig ist.
Das allgemeine Integral der letzten Gleichung ist nämlich sehr einfach; es lautet
N” —- Asın (bh #*) +B cos (bh" +)
wenn
I—u? &
TH
a (m+1)?
ist.
3 B 5 a Jar 5 1 R 7 Ya ua
Dan <ı bleibt, ist 5 imaginär; es setzt sich also U aus den Functionen e'’*
und ei" +? zusammen. Mit diesen ist es unmöglich, die Grenzbedingungen zu erfüllen,
dass U fürk=h, und A=o verschwindet. Aber selbst wenn man darauf verzichten
wollte und sich mit dem Verschwinden von Y für A = h, begnügen würde, was nicht
ganz ungerechtfertigt wäre, mit Rücksicht auf den Umstand, dass für A=o auch die
Dichtigkeit «= 0 ist, so sieht man doch ein, dass die Differentialquotienten nach u
keineswegs immer gegen die von A klein sind.
Die allgemeine Integration der Differentialgleichung (5) habe ich nicht finden
können. Sehr leicht ist es indessen für eonstante Dichte, also m=o die Gleichung
zu integriren. Sie lautet dann
en SCH
GE — ee Hr ar:
Setzen wir nun V = py,; und nehınen an, dass p nur von A, % nur von a» ab-
hängt. so erhalten wir
Rt da ..dey,
GE ze Re +(1-u)p re
734 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
Setzen wir ferner
= sin bh,
: a Te
soit=ofürA=o undA=-_, ferner
h
dı
d’o, R? 2?
(1— u?) an (#+ = 1-))% = [6)
@
eine Gleichung, die Glieder von drei Dimensionen in Bezug auf » enthält und daher
nicht mehr durch die hypergeometrische Reihe integrirt wird.
Es ist leicht, %, in eine Potenzreihe zu entwickeln, die indessen für u = ı divergirt.
Um zu entscheiden, ob x, auch für a=1ı endlich bleiben kann, nehmen wir a
sehr nahe gleich 1. Dann haben wir die Gleichung
3%
(1— 1?) ZT =o
Setzen wir „= x, so ist
27 le
4l1- A ee LS ((— a) — R’b’y,=o
dx? dx
eine Differentialgleichung, die mit der Normalform der hypergeometrischen Reihe
za) R + (+04)
übereinstimmt, wenn wir
I
Re?
Nn
atk=—
setzen.
Da y— («+2)>o ist. so ist nach einem bekannten Satz von Gauss die hyper-
geometrische Reihe für c=ı endlich.
IV.
Aufrollende Wirbel.
Die Bearbeitung der Aufzeichnungen über aufrollende Wirbel war dadurch sehr
erschwert, dass die Papiere fast nur Formeln ohne Text enthielten und die Rechnungen
nicht zu Ende geführt sind.
Obwohl sich die Ergebnisse der ausgeführten Rechnungen bestätigen liessen. so
war doch zu erkennen, dass das erstrebte Resultat, zwei durch gleichmässig bewegte
logarithmische Spiralen begrenzte Flüssigkeitsmassen in hydrodynamischem Gleich-
gewicht zu erhalten, sich nicht erreichen lässt. weil die Bedingung gleichen Drucks
auf beiden Seiten der Grenzfläche nicht erfüllbar ist. Dass Herunorrz diess selbst
erkannt hat, geht aus einer Bemerkung hervor, »diess gibt verschiedenen Druck auf
beiden Seiten der Wirbelfläche, was nicht zulässig ist ohne Beschleunigungen«.
Wahrscheinlich ist diess der Grund gewesen, dass die Rechnung nicht zu Ende
geführt wurde.
Ich habe es aber doch für zwecekmässig gefunden, den analytischen Ansatz der
Herusorrz’schen Rechnungen mitzutheilen, weil sich unter der Annahme, dass die
begrenzenden Spiralen fest liegen, d. h. unter Aufgabe des Problems einer sich auf-
rollenden Spirale ein eigenthümlicher Fall von discontinuirlicher Flüssigkeitsbewezung
ergibt, bei dem Flüssigkeiten verschiedener Dichte an einander vorbeiströmen können.
.e
W. Wien: Hydrodynamische Untersuchungen von II. v. Hermnorrz. 735
Wir setzen
dx Ib ad
2=2c05s% zn =u=:;, =—;
dt dx 77
ee dy RI er),
Kl er
d ) e) I AND,
u =E=uesS$-+vsn$ = 2 =— —
dt = de RS
ds N Z ı db ab
ER zı=— ustnyJt-vcosy = = ArSy = As
Die hydrodynamischen Gleichungen sind bekanntlich erfüllt, wenn wir
+ id = F(w+iy) = F(oe'”)
annehmen.
Wir setzen
Pb E in — Aetlog e+i5) —ias (log +15) m Arallog2+ eS) +ia(S— slog;) ;
so dass
oO
= Aone "sin a($ — e log 2).
An den Linien, deren Gleichung
—elogg +9 =o (D)
und
— S+eloge=r (11)
sind, ist = o.
Diese beiden Curven sind logarithmische Spiralen, durch die der Raum in zwei
Theile getheilt wird. Für den ersten setzen wir
Y, = A,ote®® sin a($ — elog go)
für den zweiten
ee des a =
JV,=4, get” sina(S — 8 log 2).
Damit an den beiden Spiralen L verschwinde, muss a sanzzahlig sein. Die
beiden Curven bilden dann Grenzlinien der Flüssigkeit.
Die tangentiale Strömung in Raum (r) an der Spirale I ist, wenn N die Rich-
tung der Normale bezeichnet,
N,
aN
— A,ao® Tter®” VItHecosa($—e logo)
us Aaa a Vıre
in Raum 2
a,
an 7
und an der Spirale II
— A,ag ta Yız a
N,
2 Ze
Sr ler Vır ®
an
0 2 a
ne er A,aot "tagen yr er
a
Die Constanten a und e sind willkürlich. Die Werthe von 7 werden je nach
c
der Bestimmung von @ und e entweder im Unendlichen oder für g = o unendlich werden.
Für beide Grenzwerthe können sie nicht endlich bleiben, da dann
I
I+:
sein müsste, was mit der Vorschrift, dass a ganzzahlig sei, unvereinbar ist.
a— Ita =0, 0 =
736 Sitzung der phys.-math. Classe v. 14. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
In jedem Raum fliesst die Strömung an der einen Spirale aus, an der anderen
ein. Beide Strömungen werden durch die Spirale
elegg I = =
von einander getrennt. Durch diese findet nur eine senkrechte Strömung von der
einen Seite zur anderen im Betrage von
Ang te Yı+
statt.
Ist @ positiv, so ist die Geschwindigkeit im Unendlichen unendlich, für 2 = o Null.
Dann strömt die einströmende Flüssigkeit theilweise durch die Spirale
7
elge — IS = 5
nach der anderen Seite zur ausströmenden und wird von dieser mitgenommen. Es
gelangt dann keine Flüssigkeit bis ins Centrum, sondern strömt vorher wieder heraus.
Ist a negativ, so ist die Geschwindigkeit im Unendlichen Null, für o = o un-
endlich. Dann strömt die ausströmende Flüssigkeit durch die erwähnte Spirale zur
einströmenden und gelangt wieder nach innen. Auf diese Weise bleibt alle Flüssigkeit
im Innern.
Die Gesammtströmung durch einen von den Spiralen I und II begrenzten Quer-
schnitt ist in allen Fällen Null.
Damit diese Strömung dauernd bestehen kann, muss an beiden Spiralen
Ab: 2 ab; 2
al (
an) N
sein. Diese Bedingung ist erfüllt, wenn
A 5,4,
ist.
Die Existenz solcher spiraliger Bewegungen von Flüssigkeiten kann man häufig
beobachten. Insbesondere scheinen sie an der Grenze sich mischender Luftschichten
von verschiedener Dichte zu entstehen, deren Theorie wohl von Hermnorvz im we-
sentlichen ins Auge gefasst war. (Wiss. Abh. III S. 237.)
Da die Geschwindigkeiten in der Spirale aber unendlich klein gegen die äusseren
sind, so wird jede entstehende Spiralbewegung nur wenig Geschwindigkeit aufnehmen,
dadurch aber, dass die beiden Luftmassen in den vielen Windungen an einander vor-
beigeführt werden, eine schnelle Mischung herbeiführen.
Ausgegeben am 21. April.
137
SITZUNGSBERICHTE 1904.
xXXı.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
14. April. Sitzung der philosophisch-historischen Olasse.
Vorsitzender Secretar: Hr. Diers.
1. Hr. Wiırnem Scnuzze las über die lateinischen Buchstaben-
namen. (Erscheint später.)
Das heute übliche ABC hat seine endgültige Gestalt nicht vor dem Ende des
4. nachchristlichen Jahrhunderts erhalten. Vorher galt für die semivocales FLMN
RSX statt der Buchstabirmethode vielmehr die Lautirmethode, deren Erfinder die
Römer sind. Die wichtigsten Differenzen der modernen und der spätrömischen Praxis
werden erörtert.
2. Hr. von Wıramowırz -MOELLENDORFF legte vor: THEODOR WIEGAND
und Urrıcn von WıILAMOWITZ- MOELLENDORFF: Ein Gesetz von Samos
über die Beschaffung von Brotkorn aus öffentlichen Mitteln.
(Erscheint später.)
Eine von den HH. Tu. Wırsanp und A. Reuu in Samos abgeschriebene um-
fängliche Urkunde regelt den Ankauf von Korn, das der Hera gehört, aus den Zinsen
einer Stiftung und seine Vertheilung an die Bürger.
Ausgegeben am 21. April.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei.
[0 +)
Sitzungsberichte 1904. 5
| a AR £ 4 u
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DE mr I TEISra Hih=sng &; PEN Er sat aka
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B- L j
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-. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
XXH.
21. Arrın 1904.
BERLIN 1904.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
a
Auszug aus dem Reglement für die Redaction der »Sitzungsberichte«.
81.
2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Octav regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die sämmtlichen zu einem Kalender-
jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
fortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserdem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch-mathematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch -historischen Classe ungerade
Nummern.
8.2.
1. Jeden Sitzungsbericht eröffnet eine Übersicht über
die in der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilungen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten.
2. Darauf folgen die den Sitzungsberichten über-
wiesenen wissenschaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckfertig übergebenen, dann die, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gehö-
rigen Stücken nicht erscheinen konnten. Mittheilungen,
welche nicht in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind dureh ein Sternchen (*) bezeichnet.
85.
Den Bericht über jede einzelne Sitzung stellt der
Seeretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte.
Derselbe Seeretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei-
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
-8 6.
1. Für die. Aufnahme einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $ 41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglements die folgenden beson-
deren Bestimmungen.
2. Der Umfang der Mittheilung darf 32 Seiten in
Octav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nieht übersteigen. Mittheilungen von Verfassern, welche
der Akademie nicht angehören, sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist
nur nach ausdrücklicher Zustimmung der Gesammt-Aka-
demie oder der betreffenden Classe statthaft.
3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
tenden Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Nothwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzschnitte fertig sind und von
besonders beizugebenden Tafeln die volle erforderliche
Auflage eingeliefert ist.
8.7.
1. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
schaftliche Mittheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer Ausführung, in
deutscher Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2. Wenn der Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
öffentiichen beabsichtigt, als ihm dies nach den gelten-
den Rechtsregeln zusteht, so bedarf er dazu der Ein-
willigung der Gesammt- Akademie oder der betreffenden
Classe.
88.
5. Auswärts werden Correeturen nur auf besonderes
Verlangen verschickt. Die Verfasser verzichten damit
auf Erscheinen ihrer Mittheilungen nach acht Tagen.
$1l.
1. Der Verfasser einer unter den » Wissenschaftlichen
Mittheilungen« abgedruckten Arbeit erhält unentgeltlich
fünfzig Sonderabdrücke mit einem Umschlag, auf welchem
der Kopf der Sitzungsberichte mit Jahreszahl, Stück-
nummer, Tag und Kategorie der Sitzung, darunter der
Titel der Mittheilung und der Name des Verfassers stehen.
2. Bei Mittheilungen, die mit dem Kopf der Sitzungs-
berichte und einem angemessenen Titel nicht über zwei
Seiten füllen, fällt in der Regel der Umschlag fort.
3. Einem Verfasser, welcher Mitglied der Akademie
ist, steht es frei, auf Kosten der Akademie weitere gleiche
Sonderabdrücke bis zur Zahl von noch hundert, und
auf seine Kosten noch weitere bis zur Zahl von zwei-
hundert (im ganzen also 350) zu unentgeltlicher Ver-
theilung abziehen zu lassen, sofern er diess rechtzeitig
dem redigirenden Secretar angezeigt hat; wünscht er auf
seine Kosten noch mehr Abdrücke zur Vertheilung zu
erhalten, so bedarf es der Genehmigung der Gesammt-
Akademie oder der betreffenden Classe.. — Nichtmitglieder
erhalten 50 Freiexemplare und dürfen nach rechtzeitiger
Anzeige bei dem redigirenden Secretar weitere 200 Exem-
‘plare auf ihre Kosten abziehen lassen.
f
$ 28.
1. Jede zur Aufnahme in die Sitzungsberichte be-
stimmte Mittheilung muss in einer akademischen Sitzung
vorgelegt werden. Abwesende Mitglieder, sowie alle
Nichtmitglieder, haben hierzu die Vermittelung eines ihrem
Fache angehörenden ordentlichen Mitgliedes zu benutzen.
Wenn schriftliche Einsendungen auswärtiger oder corre-
spondirender Mitglieder direet bei der Akademie oder bei
einer der Classen eingehen, so hat sie der vorsitzende
Seeretar selber oder dureh ein anderes Mitglied zum
Vortrage zu bringen. Mittheilungen, deren Verfasser der
Akademie nicht angehören, hat er einem zunächst geeignet
scheinenden Mitgliede zu überweisen. ;
[Aus Stat. Sal, 2. — Für die Aufnahme bedarf 63
einer ausdrücklichen Genehmigung der Akademie oder
einer der Classen. Ein darauf gerichteter Antrag kann,
sobald das Manuscript druckfertig vorliegt,
gestellt und sogleich zur Abstimmung gebracht werden.]
$ 29.
1. Der redigirende Seeretar ist für den Inhalt des
geschäftlichen Theils der Sitzungsberichte, jedoch nicht
für die darin aufgenommenen kurzen Inhaltsangaben der
gelesenen Abhandlungen verantwortlich. Für diese wie
für alle übrigen Theile ‚der Sitzungsberichte sind
nach jeder Richtung ‚nur die Verfasser verant-
wortlich.
Die Akademie versendet ihre »Sitzungsberichte an diejenigen Stellen, mit denen sie im Schriftverkehr steht,
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinbart wird, jährlich drei Mal, nämlich:
die Stücke von Januar bis April in der ersten Hälfte des Monats Mai,
» Mai bis Juli in der ersten Flälfte des Monats August,
» October bis December zu Anfung des nächsten Jahres nach Fertigstellung des Registers.
.
739
SITZUNGSBERICHTE 1904.
XXH.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
21. April. Gesammtsitzung.
Vorsitzender Secretar: Hr. Auwers.
1. Hr. Pranck las über die Extinetion des Lichts in einem
optisch homogenen Medium von normaler Dispersion.
Anknüpfend an eine frühere Untersuchung wird auf Grundlage der elektro-
magnetischen Lichttheorie ein neuer Ausdruck für die Extinetion des Lichts bei nor-
maler Dispersion abgeleitet.
2. Hr. Herrwie hat in der Sitzung am 3. März eine weitere Ab-
handlung der HH. Prof. R. Krause und Dr. S. Krempser: »Unter-
suehungen über den Bau des Öentralnervensystems der Affen.
Das Hinter- und Mittelhirn vom Orang Utan.« vorgelegt, deren
Aufnahme in den Anhang zu den Abhandlungen des Jahres 1904 heute
genehmigt wurde.
3. Zu wissenschaftlichen Unternehmungen hat die Akademie durch
die philosophisch-historische Classe bewilligt: Hrn. Prof. Dr. Leororn
Conn in Breslau zu einer Reise nach Rom zum Zwecke der Verglei-
chung einer Philo-Handschrift 850 Mark: Hrn. Dr. WırneLm ÜRÖNERT
in Göttingen zu einer Untersuchung der philosophengeschichtlichen
Papyri in Neapel 400 Mark; Hrn. Prof. Dr. Hriwrıcn Finke in Frei-
burg i. B. zur Förderung seiner Arbeiten für die Herausgabe der diplo-
matischen Correspondenz des Königs Jayme III. von Aragon (1291 bis
1327) Soo Mark; Hrn. Prof. Dr. Jonannes KromavEr in Özernowitz zum
Abschluss der Herausgabe der von ihm aufgenommenen Karten antiker
Schlachtfelder 1900 Mark; Hrn. Pfarrer W. Tümrer in Unterreuthen-
dorf zur Herausgabe von Band II des Werkes »Das deutsche evange-
lische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts« nach den Materialien des ver-
storbenen Oberpfarrers D. ALgert Fischer 600 Mark.
Sitzungsberichte 1904. 59
740 Gesammtsitzung vom 21. April 1904.
Über die Extinetion des Lichtes in einem optisch
homogenen Medium von normaler Dispersion.
Von Max Pranck.
Einleitung.
De Vorgang, den wir als Extinetion des Lichtes bezeichnen. d.h.
die allmähliche Abschwächung, welche die Intensität eines Liehtstrahls
auf seinem Wege durch ein Medium erfährt, lässt sich, vom Stand-
punkt der elektromagnetischen Theorie aus betrachtet, auf zwei von
einander gänzlich verschiedene Ursachen zurückführen. Die eine dersel-
ben beruht auf der Eigenschaft des durehstrahlten Mediums, stationäre
galvanische Ströme zu leiten. Die Erklärung des Einflusses der galva-
nischen Leitungsfähigkeit auf die Extinction des Lichtes fällt vollständig
zusammen mit der der Wärmeerzeugung durch den galvanischen Strom.
Denn jeder Lichtstrahl bedingt eine periodisch wechselnde Erregung,
diese erzeugt in dem leitenden Medium einen periodisch wechselnden
Strom, und die dureh diesen Strom producirte Joure’sche Wärme kommt
von der Energie der fortschreitenden Strahlung in Abzug. Nimmt man
also die Leitungsfähigkeit des Mediums als gegeben an, so ergeben
sich daraus die Gesetze der durch sie bedingten Extinetion des Lichtes,
ohne dass irgend ein näheres Eingehen auf die Frage nach der Natur
des Vorgangs der Extinetion erforderlich wäre. Diese Folgerung der
MaAxweır'schen Theorie, deren Bedeutung längere Zeit hindurch nicht
durch entscheidende Thatsachen belegt werden konnte, ist neuerdings
durch die Versuche von E. Hasen und H. Rusens' über Reflexion und
Emission langwelliger Strahlen an zahlreichen Metallen und Metall-
legirungen mit überraschender Genauigkeit sichergestellt worden. Ist
somit die Frage nach dem Einfluss der galvanischen Leitungsfähigkeit
auf die Extincetion des Lichtes als erledigt zu betrachten, so knüpft
sich daran die weitere Frage nach der Ursache der Wärmeerzeugung
durch den galvanischen Strom. Auch hier ist zu einer befriedigenden
Lösung schon ein vielversprechender Anfang gemacht worden durch
! Ann. d.Phys. ı1, 5.873, 1903. Verhandl. d. Deutschen phys. Ges. 6, S. 128, 1904.
Praner: Extinetion des Lichts. 741
die von E. Rıeck£E'! und namentlich die von P. Drupe” aufgestellte Theorie,
wonach der galvanische Strom in Metallen auf Bewegungen freier Elek-
tronen zurückzuführen ist, und die Joure'sche Wärme diejenige Energie
darstellt, welehe aus geordneter in ungeordnete Bewegung der Elek-
tronen verwandelt wird. Eine kräftige Stütze hat diese Anschauung
neuerdings erhalten durch eine Untersuchung von H. A. Lorentz’, aus
welcher hervorgeht, dass die aus den Bewegungen der Elektronen
berechnete Emission von Wärmestrahlen in Verbindung mit dem Kıren-
ıorr'schen Satz von der Proportionalität des Emissions- und des Ab-
sorptionsvermögens zu den bekannten durch Messungen sichergestellten
Gesetzen der Wärmestrahlung schwarzer Körper für lange Wellen führt.
Aber die im Bisherigen besprochene Ursache der Extinetion des
Lichtes, die sich in der Natur hauptsächlich auf dem Gebiet der langen
Wellen geltend macht, ist nicht die einzige und nicht die wichtigste.
Weit häufiger in der Optik sind diejenigen Fälle, in denen die Ex-
tinetion des Lichtes mit der galvanischen Leitungsfähigkeit des Me-
diums gar nichts zu thun hat, die also am reinsten bei vollkommenen
Nichtleitern zu beobachten sind. Die Theorie dieser Erscheinungen
ist sehr viel complieirter, da sie ein näheres Eingehen auf die mo-
lecularen Vorgänge bei der Extinetion zur unumgänglichen Voraus-
setzung hat. Nehmen wir also ein galvanisch nichtleitendes Medium,
so kommt für die optischen Vorgänge darin in erster Linie in Betracht
die Art seiner Homogenität. Im absoluten Sinne homogen ist wohl
nur ein einziges Medium: das reine Vacuum: wenigstens würden sonst
die Grundthatsachen der Chemie kaum verständlich sein. Ob die Sub-
stanz eines einzelnen Atoms oder Elektrons als absolut homogen an-
zusehen ist oder nicht, kommt hier nicht weiter in Betracht. Wenn
man also die Eigenschaft der Homogenität nicht auf das reine Vacuum
allein beschränken will, so wird man jedes Medium als physikalisch
homogen bezeichnen müssen, dessen Ungleichartigkeiten sich erst dann
zeigen, wenn man zu Dimensionen von der Grössenordnung der Mo-
leküle herabsteigt. Da nun speciell die optischen Vorgänge sich in
den Dimensionen der Wellenlängen abspielen, welche ihrerseits gross
sind gegen die Dimensionen der Moleküle, so wird man als Kriterium
der optischen Homogenität eines Mediums die Bedingung aufstellen
können, dass alle solehe beliebig herausgegriffenen Theile des Mediums,
deren Dimensionen von der Grössenordnung einer optischen Wellen-
länge sind, noch als gleichartig zur Wirkung kommen. Danach ist
ein Medium, in welches fremde, gegen eine optische Wellenlänge kleine
1
Wien. Ann. 66, S. 353, 1898.
® Ann.d. Phys. ı, S. 566, 1900.
® Ber. d. Akad. d. Wiss. Amsterdam, S. 666, 1903.
59*
742 Gesammtsitzung vom 21. April 1904.
gleichartige Partikel in gehöriger Anzahl eingelagert sind, immer noch
als optisch homogen anzusehen, und zwar einerlei ob die Partikel aus
einzelnen Molekülen oder aus einer so erossen Anzahl von Molekülen
bestehen, dass man jeder einzelnen Partikel die Eigenschaften eines
ausgedehnten Mediums (Dielektrieitätsconstante, Leitungsfähigkeit) zu-
schreiben kann.' Die fremden Partikel unterscheiden sich von den
Eigenmolekülen des Mediums in optischer Hinsicht nicht anders als
sich die Theile zweier verschiedenartiger in einander gelöster Stoffe
unterscheiden. Erst wenn die Dimensionen der eingelagerten Partikel
oder die Abstände benachbarter Partikel in die Grössenordnung der
optischen Wellenlängen rücken, geht die optische Homogenität verloren.
Aus dieser Betrachtung folgt, dass auch ein trübes Medium, wie
es z.B. in der bekannten Diffraetionstheorie von Lord Ravreıcn be-
handelt wird, in optischer Hinsicht genau so homogen ist wie jede
physikalisch oder chemisch homogene Substanz, sofern nur die ein-
gelagerten Partikel und ihre Abstände klein sind gegen die betrach-
teten Wellenlängen. Optisch leer im absoluten Sinne ist nur das reine
Vacuum. Man kann daher auch umgekehrt jedes physikalisch homo-
gene Medium als ein durch eingelagerte Moleküle getrübtes Vacuum
bezeichnen.
Wenn nun eine Lichtwelle primär in ein solches Medium ein-
dringt, so wird daselbst ein periodisch wechselndes elektrisches Feld
erzeugt, und es werden dadurch die in dem Medium befindlichen Elek-
tronen und Ionen in Bewegung gesetzt. Da nun aber, der oben ein-
geführten Annahme gemäss, die Elektronen und Ionen hier nicht, wie
in Leitern, frei beweglich, sondern an bestimmte Moleküle oder Par-
tikel gebunden sind, wo sie Schwingungen innerhalb gewisser Grenzen
ausführen können, so beschränkt sich die Wirkung der primären Welle
auf eine Erregung von alternirenden Schwingungen der elektrischen
Theilchen, und dadurch wird jede Partikel das Centrum einer neuen,
secundären Lichtwelle von derselben Periode. Auf dieser Voraus-
setzung beruht eine jede elektromagnetische Theorie der Dispersion
und Absorption nichtleitender Medien.
Ich habe in zwei vorhergehenden Arbeiten den Fall moleku-
larer Partikel näher behandelt unter der Annahme, dass der mitt-
lere Abstand zweier benachbarter Partikel zwar klein ist gegen die
Wellenlänge, wie es die Bedingung der optischen Homogenität erfor-
dert, dass aber doch der Zwischenraum zwischen den Partikeln gross
genug ist, um stets die Eigenschaften des reinen Vacuums zu besitzen.
! Der prineipielle Unterschied dieser beiden Fälle macht sich nur in der Frage
nach den optischen Eigenschaften einer einzelnen Partikel geltend.
Pranck: Extinetion des Lichts. 743
Dann tritt die grosse Vereinfachung ein, dass benachbarte Partikel auf
einander nur mit elektrodynamischen Kräften wirken, die sich im
Mittel gegenseitig aufheben, und man kann die optischen Schwingun-
gen jeder einzelnen Partikel gesondert von denen der übrigen behan-
deln wie die Schwingungen eines durch eine äussere Welle erregten
elementaren Vibrators mit einer oder mehreren Eigenperioden. Die
durch die Anwesenheit der Partikel bedingte Extinetion des Lichtes
wird dann nicht durch eigentliche Absorption bedingt, d. h. durch
Verwandlung in Energie ungeordneter Bewegung der Elektronen und
Moleküle, sondern durch Zerstreuung, oder, wenn man es so nennen
will, dureh Beugung oder Reflexion des Lichtes an den Partikeln. Dochı
ist die letztere Bezeichnungsweise zu eng für den Fall, dass die Pe-
riode der primären Welle einer Eigenperiode der Partikelschwingungen
nahekommt; denn dann tritt starkes Mitschwingen, anomale Disper-
sion und selective Absorption ein. Liegt aber die Periode der pri-
mären Welle sehr entfernt von allen Eigenperioden der Partikel, so
ist das Mitschwingen einer einzelnen derselben nur unmerklich, und
der im Ganzen resultirende Effeet kommt nur wegen der grossen An-
zahl der Partikel zu Stande. Dies ist der Fall der normalen Disper-
sion, in welchem die Extinetion immerhin nur sehr schwach ist. Ab-
solut genommen verschwindet die Extinetion aber nie, ausser im reinen
Vacuum. Daher kann man sagen, dass es für keine einzige Strahlen-
art von endlicher Wellenlänge einen absolut durchsichtigen Körper
giebt. Eine untere Grenze der Extinetion lässt sich für jede Substanz
und jede Wellenlänge ohne Weiteres aus dem Brechungsexponenten
und der Molekülzahl berechnen.'
In der folgenden Untersuchung bin ich auf die Berechnung der
Extinetion im Falle der normalen Dispersion noch etwas näher ein-
gegangen als in meinen vorigen Arbeiten, da ich inzwischen gefunden
habe, dass in diesem Falle durch Benutzung einer von mir schon vor
längerer Zeit abgeleiteten, in weiteren Grenzen gültigen Gleichung für
das Mitschwingen eines durch eine primäre Welle erregten Resonators
die Formel für die Extinetion sich noch verbessern lässt. Die Formel
für die Dispersion wird von dieser Correetur nicht betroffen.
Zum Schlusse werden die erhaltenen Resultate mit denen der
schon im Jahre 1881 von Lord Ravrzısn entwickelten Theorie des
Liehtdurchgangs durch trübe Medien verglichen. Dass ein solcher
Vergleich zulässig ist und naheliegt, hat mir schon im vorigen Jahre
Hr. G. Mıe brieflich in einer freundlichen Mittheilung bemerkt. Die
Voraussetzungen der beiden Theorien weichen zwar insofern erheblich
! Siehe unten Gl. (15) oder Gl. (16).
744 Gesammtsitzung vom 21. April 1904.
von einander ab, als Lord Ravyrzıen der Substanz einer einzelnen Par-
tikel einen eigenen Brechungsexponenten (bez. in der Sprache der
elastischen Lichttheorie eine »optische Dichte«) zuschreibt — durch
diesen und durch das Volumen ist die optische Natur einer Partikel
bestimmt — während in meiner Theorie die Natur einer Partikel durch
Eigenperiode und Dämpfungsdeerement festgelegt wird. Aber das
Entscheidende, was den Vergleich der Theorien möglich macht, ist,
dass in beiden die eingelagerten Partikel klein gegen die Wellenlänge
angenommen sind und dass in beiden die Extinction auf Zerstreuung
des primären Lichtes von den Partikeln zurückgeführt wird.
In der That zeigt sich eine für die Verschiedenheit der Ausgangs-
punkte, wie mir scheint, sehr bemerkenswerthe Übereinstimmung
beider Theorien in Bezug auf die Formel für die Extinetion, während
die Dispersion in der Ravrzısn'schen Theorie naturgemäss ganz fehlt.
$ı. Formulirung der Aufgabe.
Die Grundgleichungen der elektromagnetischen Vorgänge in dem
betrachteten Medium werden durch folgende vectorielle Beziehungen
dargestellt':
D—=c cunlf$, dv® = 1
S=-ec cwlf, an (1)
Ss») — C+ ArNf J
Hierbei bedeuten & und 9 die elektrische und die magnetische Feld-
intensität, D die elektrische Induetion, ce die Fortpflanzungsgeschwin-
digkeit im reinen Vacuum, f das elektrische Moment eines Moleküls,
das als elektrischer Dipol mit einer einzigen Eigenperiode voraus-
oesetzt wird, und N die Zahl der in der Volumeneinheit enthaltenen
Moleküle.
Zu diesen Gleichungen kommt noch diejenige Beziehung, durch
welche die Abhängigkeit der Schwingungen eines Moleküls von der
erregenden Kraft ausgedrückt wird. Dieselbe lautet in der angeführten
Abhandlung Gl. (15):
no EXT en;
Moe, a
+ ante ©,
wobei n, die Frequenz (Zahl der Schwingungen in der Zeit 2”) der
Eigenperiode des Moleküls, © das als klein vorausgesetzte logarith-
mische Deerement der Schwingungsamplitude und €’ die erregende
Kraft bedeutet. & und €’ hängen zusammen durch die Beziehung:
! Diese Berichte, Sitz. v. 1. Mai 1902, Gl. (14), S. 484.
Praner: Extinetion des Lichts. 745
€ ae ie (2)
3
Hierdureh ist das Problem vollständig formulirt.
Die oben angeführte Schwingungsgleichung habe ich schon vor
längerer Zeit abgeleitet' und seitdem vielfach benutzt. Sie stellt aber
nur eine Annäherung dar: denn sie wurde gewonnen aus der Differential-
gleichung dritter Ordnung’:
wobei die Constanten:
ir Dam A DEN
3ctz cds
so dass man auch schreiben kann:
)
TENg Ing (3
Da nun sc nach der Voraussetzung eine kleine Zahl darstellt, so werden
im Allgemeinen die beiden Glieder mit s, welche die Dämpfung und
die Erregung der Schwingungen bedingen, nur einen kleinen Einfluss
besitzen, und die Schwingungen werden nahezu nach der Gleichung
i+mf= 0, d.h. mit der Frequenz n, erfolgen. Dann ist in erster
Annäherung f= -f, und die Gleichung (3) redueirt sich auf die
zuerst angeführte einfachere Form. Anders wird es jedoch, wenn die
Frequenz der Schwingungen sich merklich von rn, entfernt. Dann wird
sowohl das Glied mit f als auch dasjenige mit f von der Grössen-
ordnung der Glieder mit c, eine Resonanz im engeren Sinne findet
nicht mehr statt, und die von den Molekülen ausgehenden Wirkungen
werden nur dadurch merklich, dass sie in grosser Anzahl im Raume
vorhanden sind. Dies ist der bei der normalen Dispersion verwirk-
lichte Fall, den wir hier weiter verfolgen wollen.
Durch Substitution des Werthes von © aus (2) in (3) ergiebt
sich als Schwingungsgleichung:
on: BEOINGEN Seo
af [m- zu in a 4)
welche sich von der entsprechenden Gleichung (19) meiner früheren
Arbeit nur durch die Form des Dämpfungsgliedes unterscheidet.
! Diese Berichte, Sitz. v. zo. Febr. 1896, Gl. (31), S. 165, oder Wien. Ann. 60,
S. 593, 1897. ’
27 Ara. O. GI./(25).
746 Gesammtsitzung vom 21. April 1904.
$2. Erhaltung und Zerstreuung der Energie.
Die Zunahme der gesammten in einem beliebigen Raumtheil des
Mediums enthaltenen Energie E ist gleich dem Povnrine’schen Energie-
tfluss durch die Oberfläche dieses Raumes in das Innere:
— = ..|Ie. SL-ds
= E far [E, 5]-dr
— fe eurl S—S- curl E) dr,
wobei [E, 5] = -[S:; ne das Vectorproduct, E59 = 9:€ das scalare
Produet zweier Vectoren & und 9 bezeichnet.
Daraus ergiebt sich mit Benutzung von (1):
dE 1 - Zu Ha GE (565) ee
— Bd oL Ne rn
zE alt D+S-H)dr + a ne Ne) dr
Setzen wir nun zur Abkürzung:
a (5)
No
no
Zedc
so lässt sich mit a von (4) schreiben:
dE en 5
= = NU —— ;
IE + Ode) tz: fdr
Da Er
Die gesammte Energie X des betrachteten Raumes setzt sich also
aus zwei wesentlich verschiedenen Theilen zusammen. Der erste Theil,
dessen zeitliche Anderung durch ein vollständiges Differential darge-
[I
stellt wird, bildet die Energie des geordneten Vorganges, der zweite
Theil stellt die dem geordneten Vorgang entzogene, durch Strahlung
zerstreute Energie dar. Hierzu leistet ein einzelnes Molekül in der
Zeit dt den Beitrag:
De
—1-dt, 6
(6)
Das Molekül strahlt also innerhalb eines Elementarkegels, dessen Rich-
tung und Offnung durch die Polarwinkel $S und $ und ihre Differen-
tiale dS und d® bestimmt ist, die Energie aus!:
dee
= Psin’sdsdp, (7)
welcher Ausdruck, über $ von 0 bis r und über & von 0 bis 27 integrirt,
zu dem oben Werth führt.
! Vergl. z. B. Ann. d. Phys. 9, S. 625, 1902.
Al . . . / 7
Praner: Extinetion des Lichts. 747
$ 3. Ebene periodische Wellen.
Wir beschränken von jetzt an die Betrachtung auf den Fall, dass
in dem bezüglich der Coordinaten y und 2 unbegrenzten Medium ebene
Wellen, die in der XZ-Ebene polarisirt sind, in der Richtung der
positiven &-Axe fortschreiten. Dann redueiren sich die Vectoren €,
D und f auf ihre Componenten €,, D,, f,, und der Vector 9 auf seine
Componente 9,. Die Gleichungen (1) gehen dann über in:
22€, 92 22€
Se Sale la tan
apa + Anl ar ec Im (8)
Wir setzen nun:
Se u
&, = er) f, ar oe ze) (9)
und betrachten », die Schwingungsfrequenz der einfach periodischen
Welle, als reell, dagegen die Constanten A,a und
p=xı+tD
als complex. Dann giebt der imaginäre Theil von p den Brechungs-
exponenten v, der reelle Theil den Extinetionscoeffieienten x der Wellen-
amplitude. Aus (8) und (4) folgt dann, mit Elimination von A und a:
6oc®N
No
2 — el S
P N ze
na — N? — — N)
No NG
20c3 N =
Benutzt man nun statt N den echten Bruch g = Zen und führt
0
ferner zur Abkürzung die beiden Constanten ein:
n?— (1-9)m an? n?
39m > sg (10)
Ei
so ergiebt sich durch Berechnung von p, und durch Trennung des
reellen und des imaginären Theiles, für den Brechungsexponenten v:
„VER HR + Wr) en
2(a® + £)
und für den Extinetionscoeffieienten x:
Ve+B Ze HB (a + Bt-) ER
2(a* +?)
Dies Resultat unterscheidet sich von dem in meiner früheren Arbeit
$9 erhaltenen lediglich durch die Bedeutung der Constanten ß, welche
2
X
& ; n : : :
dort der ersten, hier der dritten Potenz von — proportional ist. Die
No
Abweichungen verschwinden daher, wenn nahezu n = n,, also im
Gebiet der anomalen Dispersion und metallischen Absorption, sie wer-
Sitzungsberichte 1904. 60
748 Gesammtsitzung vom 21. April 1904.
den um so beträchtlicher, je weiter n, die Frequenz der primären
Welle, von n,, der Eigenfrequenz der Moleküle, abweicht. Wir wollen
uns hier deshalb hauptsächlich mit dem letzteren Fall, dem Fall der
normalen Dispersion, beschäftigen.
4. Normale Dispersion. Extinetionscoeffieient.
Relaxationsstrecke.
ur
Normale Dispersion findet statt, wenn die Frequenz n der fort-
schreitenden Wellen so weit von der Eigenfrequenz n, der Moleküle
abweicht, dass die Constante z entweder merklich grösser als 1 oder
merklich kleiner als 0 ist. Dann ergiebt sich, da 8 nach seiner Be-
deutung in der zweiten Gleichung (10) eine kleine Zahl ist, wenn man
die Ausdrücke für v* und x’ in Reihen nach aufsteigenden Potenzen
von ®° entwickelt und bei den niedrigsten Potenzen stehen bleibt:
Va 1 a en I (13)
a 4a°(a—1
Diese Ausdrücke sind dieselben wie die früher von mir erhaltenen;
der Unterschied liegt nur in der Bedeutung von ®. Daher bleibt die
von ® ganz unabhängige Dispersionsformel und die aus ihr abzuleiten-
den Werthe von %,, g und c auch bei dem hier erzielten höheren
Genauigkeitsgrade die nämlichen. Dagegen ändert sich die Grösse
des Extinctionscoeffieienten x erheblich.
Eliminirt man aus den beiden Gleichungen (13) die Grösse #, so
ergiebt sich für den Extinetionscoeffieienten:
PR)?
— on
und mit Substitution des Werthes von ® aus (10):
er) Al an}
Erg, DE on BINDENEE (14)
wenn statt der Frequenzen n und n, die entsprechenden auf das Va-
cuum redueirten Wellenlängen A und A, eingeführt werden.
Die frühere Formel für x lautete dagegen ($ 12 a.a.0.):
Der verbesserte Werth des Extinetionseoeffieienten % unterscheidet sich
, oe R \
also durch den Factor ( .) vom alten. Für Wasserstoff von 0° C.
unter Atmosphärendruck ergiebt sich daraus nach den Messungen von
KETTELER, wenn / die Relaxationsstrecke bezeichnet, d. h. die Schicht-
Praner: Extinetion des Lichts. 749
dieke, in welcher die Amplitude einer ebenen Welle auf den e Theil
verkleinert wird, statt der früher ($ ı2) aufgestellten Tabelle:
Linie Brechungsexponent v Relaxationsstrecke 2 Extinetionscoeffieient x
B 1.00014217 1.S- 10° cm 6:0 10-24
D 1.00014294 1.0: 10° cm 9.6.1074
@G 1.00014554 2.7:10° cm 2.5 - 10718
$5. Vergleich mit der Theorie von Lord Ravreıen.
In seiner Theorie des Lichtdurchgangs durch ein homogenes
nichtleitendes Medium, welches viele kleine gleichartige nichtleitende
Partikel suspendirt enthält, berechnet Lord Rayreıcn' für den Extinetions-
coeffieienten A einer ebenen Welle:
E= He“
folgenden Ausdruck:
Ms 327° (n— 1)
InAt
Hierbei bedeutet # die Energie der Welle, u den Brechungs-
exponenten des durch die Partikel modifieirten Mediums, bezogen auf
den des reinen Mediums als Einheit, und » die Anzahl der in der
Volumeneinheit enthaltenen Partikel. Dies ergiebt in der hier gebrauch-
ten Bezeichnung:
_ 32°(v—1)?
= ann =, (1
on
—
Um diesen Werth von A mit dem oben für den Extinctionscoeffi-
cienten x gefundenen zu vergleichen, hat man zu bedenken, dass die
Energie der Welle proportional dem Quadrat ihrer Amplitude ist, also
nach (9) proportional:
& > ARentit- 2)
Hieraus folgt:
In Arı
h=_—=- n
C A
also aus (14):
Sr Eh e
aa) (16)
Wenn v nahe = ı, und dies ist der Fall, in welchem beide Theorien
die beste Annäherung geben, so kann v„”’-1=2(v-1) gesetzt werden,
und dann werden die Ausdrücke (15) und (16) für A vollkommen
identisch.
! Phil, Mag. 47, p. 379, 1899. Gl. (14).
750 Gesammtsitzung vom 21. April 1904.
Diese Übereinstimmung der ‚beiden Theorien in Bezug auf den
Extinetionseoeffieienten ist um so bemerkenswerther, als ihre Resul-
tate in Bezug auf die Dispersion ganz aus einander gehen. Denn die
Ravreiısu sche Theorie trägt der Dispersion überhaupt keine Rechnung,
sie ergiebt nämlich für den Brechungsexponenten v des durch die
Partikel modifieirten Mediums, wieder unter der Voraussetzung, dass
(v—1) klein ist!:
vl N 72001), (17)
wo T das Volumen einer Partikel, v’ den Brechungsexponenten der
Partikelsubstanz vorstellt. Die Wellenlänge A kommt hier gar nicht vor.
Dagegen liefern die obigen Ausdrücke (13) für v und (10) für z,
wenn v nahe = 1, also g hinreichend klein ist:
Val 2
2° -%)
Nur für sehr lange Wellen wird v unabhängig von der Wellenlänge,
nämlich:
39 __30Ne® 30N%
ne
Mit der Formel (17) von Lord Rayrzısn verglichen liefert dies:
d.h. in den Gebieten der langen Wellen, wo die Dispersion nicht mehr
merklich ist, lässt sich Übereinstimmung der beiden Theorien dann er-
zielen, wenn das Volumen 7 einer homogen und nichtleitend vorge-
stellten Partikel und der Brechungsexponent v’ ihrer Substanz mit der
Wellenlänge 7, ihrer Eigenschwingung und ihrem Dämpfungsdeerement o
durch die letzte Relation verbunden werden.
IA2220..Gl. (in).
Ausgegeben am 28. April.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei.
KA ar m en u una an ad une
un Leu rea nn en u u OU a >
SITZUNGSBERICHTE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
XXI. XXIV.
28. Arrır 1904.
BERLIN 1904.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
Ststels]
Auszug aus dem Reglement für die Redaction der »Sitzungsberichte«.
81.
2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Octav regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die sämmtlichen zu einem Kalender-
jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
fortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserdem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch- mathematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch-historischen Classe ungerade
Nummern.
8 2.
1. Jeden Sitzungsbericht eröffnet eine Übersicht über
die in der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilungen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten.
2. Darauf folgen die den Sitzungsberichten über-
wiesenen wissenschaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckfertig übergebenen, dann die, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gehö-
rigen Stücken nicht erscheinen konnten. Mittheilungen,
welche nicht in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet.
85.
Den Bericht über jede einzelne Sitzung stellt der
Seeretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte.
Derselbe Secretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei-
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
$ 6.
1. Für die Aufnahme einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $ 41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglements die folgenden beson-
deren Bestimmungen.
2. Der Umfang der Mittheilung darf 32 Seiten in
Octav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nicht übersteigen. Mittheilungen von Verfassern, welche
der Akademie nicht angehören ‚ sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist
nur nach ausdrücklicher Zustimmung. der Gesammt-Aka-
demie oder der betreffenden Classe statthaft.
3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
tenden Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Nothwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzschnitte fertig sind und von
besonders beizugeben-Jen Tafeln die volle erforderliche
Auflage eingeliefert ist.
87.
l. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
schaftliche Mitrheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer afehrones in
deutscher Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2. Wenn der Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
öffentlichen beabsichtigt, als ihm dies nach den gelten-
den Rechtsregeln zusteht, so bedarf er dazu der Ein-
willigung der Gesammt- Akademie oder der betreffenden
Classe.
88.
5. Auswärts werden Correeturen nur auf besonderes
Verlangen verschickt. Die Verfasser verzichten damit
auf Erscheinen ihrer Mittheilungen nach acht Tagen.
s1l.
1. Der Verfasser einer unter den » Wissenschaftlichen
Mittheilungen« abgedruckten Arbeit erhält unentgeltlich
fünfzig Sonderabdrücke mit einem Umschlag, auf welchem
der Kopf der Sitzungsberichte mit Jahreszahl, Stück-
nummer, Tag und Kategorie der Sitzung, darunter der
Titel der Mittheilung und der Name des Verfassers stehen.
2. Bei Mittheilungen, die mit dem Kopf der Sitzungs-
berichte und einem angemessenen Titel nicht über zwei
Seiten füllen, fällt in der Regel der Umschlag fort.
3. Einem Verfasser, welcher Mitglied der Akademie
ist, steht es frei, auf Kosten der Akademie weitere gleiche
Sonderabdrücke bis zur Zahl von noch hundert, und
auf seine Kosten noch weitere bis zur Zahl von zwei-
hundert (im ganzen also 350) zu unentgeltlicher Ver-
theilung abziehen zu lassen, sofern er diess rechtzeitig
dem redigirenden Secretar angezeigt hat; wünscht er auf
seine Kosten noch mehr Abdrücke zur Vertheilung zu
erhalten, so bedarf es der Genehmigung der Gesammt-
Akademie oder der betreffenden Classe. — Nichtmitglieder
erhalten 50 Freiexemplare und dürfen nach rechtzeitiger
Anzeige bei dem redigirenden Secretar weitere 200 Exem-
plare auf ihre Kosten abziehen lassen.
$ 28.
1. Jede zur Aufnahme in die Sitzungsberichte be-
stimmte Mittheilung muss in einer akademischen Sitzung
vorgelegt werden. Abwesende Mitglieder, sowie alle
Nichtmitglieder, haben hierzu die Vermittelung eines ihrem
Fache angehörenden ordentlichen Mitgliedes zu benutzen.
Wenn schriftliche Einsendungen auswärtiger oder corre-
spondirender Mitglieder direct bei der Akademie oder bei
einer der Classen eingehen, so hat sie der vorsitzende
Secretar selber oder durch ein anderes Mitglied zum
Vortrage zu bringen. Mittheilungen, deren Verfasser der
Akademie nicht angehören, hat er einem zunächst geeignet
scheinenden Nlitgliede zu überweisen.
[Aus Stat. $ 41, 2. — Für die Aufnahme bedarf es
einer ausdrücklichen Genehmigung der Akademie oder
einer der Classen. Ein darauf gerichteter Antrag kann,
sobald das Manuscript druckfertig vorliegt,
gestellt und sogleich zur Abstimmung gebracht werden.]
$ 29.
1. Der redigirende Secretar ist für den Inhalt des
geschäftlichen Theils der Sitzungsberichte, jedoch nicht
für die darin aufgenommenen kurzen Inhaltsangaben der
gelesenen Abhandlungen verantwortlich. Für diese wie
für alle übrigen Theile der Sitzungsberichte sind
nach jeder Richtung nur die Verfasser verant-
wortlich.
Die Akademie versendet ihre »Sitzungsberichte« an diejenigen Stellen, mit denen sie im Schriftverkehr sicht,
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinbart wird, jährlich drei Mal, nämlü
die Stücke von Januar bis April in der ersten Hälfte des Monats ro P
- - » Mai bis Juli in der ersten Hälfte des Monats August, 4
eo » October bis December zu Anfang des nächsten Der nach F, ertigstellung des Royickh,
751
SERZUNGSBERICHTE , 12%
XXI.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
28. April. Sitzung der philosophisch -historischen Classe.
Vorsitzender Secretar: Hr. Diıers.
l. Hr. Dresser las über die Goldmedaillons aus dem Funde
von Abukir. (Abh.)
Eingehend besprochen werden fünf aus diesem Funde für das Königliche Münz-
cabinet erworbene Stücke mit den Bildnissen Alexander’s des Grossen, der Olympias
und des Kaisers Caracalla. Die Analyse der in drei verschiedenen Auffassungen dar-
gestellten Alexanderbildnisse ergiebt, dass sie auf Vorlagen aus hellenistischer Zeit
zurückgehen, eins davon aller Wahrscheinlichkeit nach die Copie eines Cameo ist.
2. Der Vorsitzende legte eine Mittheilung des Hrn. Dr. A. Renm
in München vor: Weiteres zu den milesischen Parapegmen.
Es hat sich zu den früher veröffentlichten Bruchstücken zweier »Steckkalender«
in Milet neuerdings ein fünftes gefunden, das ergänzt und erläutert wird. Ferner wird
ein Gutachten des Hrn. Prof. Dr. von Hırzer über die paläographische Zusammenge-
hörigkeit der verschiedenen Fragmente und einzelne Lesungen mitgeteilt und besprochen.
3. Es kam zur Vorlage: A. Harnack, Geschichte der altchristlichen
Litteratur bis Eusebius. Th. 2. Die Chronologie. Bd. 2. Die Chrono-
logie der Litteratur von Irenaeus bis Eusebius. Leipzig 1904.
Sitzungsberichte 1904. 61
752 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 28. April 1904.
Weiteres zu den milesischen Parapesmen.
Von A. Reunm.
(Vorgelegt von Hrn. Diers.)
Di. Originale der oben S. 92 ff. veröffentlichten Fragmente sind
nach ihrem Eintreffen in Berlin auf Ersuchen von Hrn. Diers durch
Hrn. Hırver von GAERTRINGEN vom Standpunkt des Epigraphikers aus
untersucht worden. Sein Bericht legt nahe, die Zusammengehörig-
keit der theoretischen Texte mit den zweierlei Kalenderfragmenten
anders, als oben geschehen, zu beurteilen; ferner veranlassen Bemer-
kungen über Reste einzelner Buchstaben an etlichen Stellen neue Er-
gänzungen oder Änderungen meiner früheren Vorschläge. Weiter ist
im Laufe des Winters in einer Mandra im Gebiete des alten Milet ein
weiteres verschlepptes Bruchstück zum Vorschein gekommen, von dem
mir Hr. von Krxrure Abklatsch und Photographie gütigst zur Unter-
suchung übersandt hat. Ich gebe nun das Hırrersche Gesamtgutachten
mit den Worten des Verfassers als I, die Einzelbeobachtungen mit
meinen Bemerkungen dazu als II, das neue Fragment als IH.
I. Hr. HırLLer von GAERTRINGEN schreibt:
»Ich habe die fünf bis dahin gefundenen Parapegmenfragmente
(A,B,C,D und Nr. 84) im März lediglich auf ihr Äußeres geprüft
und jetzt das neugefundene Stück (= N) verglichen. Die ersteren
habe ich im Original im Pergamonmuseum gesehen; von N lagen
mir eine gute Photographie und ein ausreichender Abklatsch vor.
Die augenfälligsten Tatsachen sind folgende:
1. D, A und N haben dieselbe Schrift. Charakteristisch A mit
gebrochenem Mittelstrich (in kleinen Varianten); # mit Oval, das ver-
schieden gut gelungen ist. Höhe von drei Zeilen mit den beiden
Zwischenräumen 0.035—0.037. Steindieke D 0.172, A 0.18, N un-
bekannt.
2. B allein hat a mit geradem Querstrich. B hat # mit Kreis-
segment, wie sonst nur 84. Dicke von B 0.21; drei Zeilen (wie
oben) 0.035 hoch.
mn
A. Reum: Weiteres zu den milesischen Parapegmen. (98
3. C hat eine dünnere, zierlichere Schrift als alle anderen;
affektierte Eleganz; charakteristisch © mit Dreispitz, wie es in den
rhodischen Künstlerinschriften um 100 v. Chr. und später beliebt war.
Die Form des ® nähert sich A, D, N, im Gegensatz zu B und 84.
A mit gebrochenem Mittelstrich und A mit geschwungenem wechseln.
Dicke 0.19, drei Zeilen etwa 0.04 hoch.
4. 84 hat kräftigere Schrift als alle anderen. & mit Kreis-
segment, wie B; A mit mäßig geschwungenem Mittelstrich, wie mit-
unter C; anders als B, welches a, und anders als A, D, N, welche
A haben. Drei Zeilen ungefähr 0.045 hoch. Dicke 0.22.
Somit sind die Schriften von B, © und 84 jede sui generis,
wenn auch schwerlich in der Zeit wesentlich untereinander verschieden.
Berücksichtigt man den Inhalt, so sieht man, daß D, A, N ganz
ohne Frage zu einem und demselben Parapegma gehören (»Zweites
Parapegma«). B ist anders beschaffen (»Erstes Parapegma«).
Ö und 84, die beiden erklärenden Texte, sind untereinander in
der Form am meisten verschieden. Wollte man etwa C auf A,D,N,
und 84 auf B beziehen (bisher waren Ü und B zusammengestellt), so
müßte man doch in beiden Fällen einen Wechsel der Hände zwischen
Erklärung und Kalender annehmen. Solcher Wechsel kann in dieser
Zeit als Schönheitsmittel empfunden sein; vgl. die verschiedenen Zeilen-
höhen der schon angeführten gleichzeitigen Künstlerinschriften von
Rhodos. C zeigt ja auch eine besonders hohe Überschriftzeile. «
Nach diesen Ausführungen des Hrn. voxw Hırzer werde ich im
folgenden die Bemerkungen zu 84 und B zusammen behandeln. © muß
man jetzt wohl als Einleitung zu ADN betrachten; denn da am rechten
Rande von © Löcher erhalten sind, das Stück also sicherlich mit
einem Parapegma unmittelbar zusammengehört, bleibt nur die Wahl,
es mit AD N zu verbinden oder, was äußerst unwahrscheinlich ist,
in C den einzigen erhaltenen Rest eines dritten Parapegmas zu er-
kennen. Für die erste Eventualität spricht noch, daß die Abstände
der Löcher zu denen in ADN stimmen, wie Hr. von Hıruer auf An-
frage feststellt. Wenn denn ÖADN eine Einheit bilden, muß frei-
lich gesagt werden, daß die Ergänzung der linken Spalte, die ich oben
S. 103 versucht habe, Schwierigkeiten macht; denn bei ADN ent-
spricht, wenn nicht alles trügt, keineswegs je eine Spalte (cenic) einem
zwıaıron (v@l. Al. Sp.). Doch wird das letzte Wort hierüber nicht zu
sprechen sein, solange wir nicht wissen, welches »Zodiakalschema«
dem Kalender A DN zugrunde lag, eine Frage, die nach meinen
bisherigen Untersuchungen aus dem erhaltenen Material nicht zu be-
antworten ist. Man muß sogar mit der Möglichkeit rechnen, daß
61*
754 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 28. April 1904.
in A DN die Zodiakalzeichen überhaupt nicht geschieden waren,
vielmehr, was bei einer Kompilation aus Euktemon und Eudoxos
durchaus verständig wäre, die 365 Taglöcher ungeschieden anein-
andergereiht waren. Hoffen wir, daß weitere Funde Licht in diese
Frage bringen!
II. Zu 84 bemerkt Hr. HıLıer von GAERTRINGEN: Z.5 Kaıcy; Z. II
Kaım; Z.13 Aıct oder aıcm.
Bl. Sp. Z.2 am Anfang nach Hrn. vo Hırrer »statt wrion lieber
ein Wort auf c«. Zu erwägen sind Hnioxoc, TAYPoc, narwöc. Beim
Hnioxoc könnte nur an den Beginn des Untergangs (Stern ı) gedacht
werden: dann wäre aber nach dem Sprachgebrauch unseres Parapeg-
matisten zu erwarten &&1oc Ärpxeraı ayneın; denn nur bei kleinen Stern-
bildern oder solchen, die dureh einen hellen Stern bezeichnet werden,
fehlt die Unterscheidung von Anfang und Ende der Phase. Eben-
diese Beobachtung (die auch gegen meinen früheren Vorschlag wrion
spricht) ist gegen raYpoc ins Feld zu führen: denn es müßte heißen
TaYPoc Önoc aYnei. Das wäre die Phase, die bei G unter Skorpion 28 aus
Kallippos verzeichnet steht. Aber auch diese Parallele kann die Ergän-
zung TAYpoc nicht empfehlen, weil gerade beim Schützen in unserm Para-
pegma die Daten aus Kallippos (und Euktemon) nie verspätet, sondern
vielmehr stets um 3 bis 4 Tage verfrüht erscheinen. Man vergleiche:
Parapegma
456B G Quelle
Zeichen des Schützen
Tag
Frühuntergang des Sirius 3 7 Euktemon
Beginn des Frühaufgangs des Schützen 4 7 Kallippos
Frühaufgang des Skorpionstachels 7 10 Euktemon
Frühaufgang des Adlers 12 15 Euktemon
Frühuntergang der Zwillinge bis zur Mitte 13 ı6 Kallippos.
So bleibt nur das kleine Sternbild aarwöc, dessen Untergang dann,
auch wenn man an den Stern $ am Ende des Schwanzes (Hipp. in
Arat. p. 240,16) denkt, freilich recht spät angesetzt ist (25. November);
doch mag daran erinnert werden, daß die Phase bei Clodius (p. 153,
16 W.) am 2ı. November, bei Columella (p. 312, 26 W.) am 22. No-
vember verzeichnet ist, also nur unwesentlich früher. An die astro-
nomische Genauigkeit von B hohe Anforderungen zu stellen, sind wir
Ja zudem durch die Erwähnung des Prokyon in dieser Reihe gewarnt.
! Auch wenn man statt des Prokyon den Stern rPöroYc (n Geminorum, vgl.
Eratosth. Catast. X p. 88 s. Ror., Hipp. in Arat. p. 240, 4; 268, 28) setzen wollte,
bliebe hier ein grober Fehler bestehen.
. . . lei
A. Reum: Weiteres zu den milesischen Parapegmen. 155
Bl. Sp. 2.15 nach Hrn. von Hırrer »ging der Text anscheinend
weiter; unter dem o von avömenoı vielleicht ein Rest von einem rm; un-
sicher«. Eine sichere Ergänzung wird kaum möglich sein: nach dem
Globus kann man denken an
Alaymloı mecofcı Avöme-
Z.15 nol Kal AKPönYxXoı Elm|ıtea-
novcin önoı| oder
Z.15 noı Kal Örnıc Önoc Ejmlırea-
neı Ewloc].
Br. Sp. 2.15 nach Hrn. von Hırzer »eher e, nicht m«. Mit e
beginnen nur die Sternbilder errönacın und &rıeoı. Ersteres Sternbild
(bei dem man an mecoi enıternnon denken müßte, vgl. vorher Z. 10) ist
durch das Fehlen des Artikels ausgeschlossen. So bleibt nur
e|pısoı Ewioı EmTennovcin;
dabei ist in Kauf zu nehmen, daß die Phase bedeutend zu früh an-
gesetzt ist. Am 25. April hat sie Plin. p. 325, 20 W. für Ägypten,
am 29. Clodius p. 132, 3W. Hier bei B kommen wir auf den 7. April,
wenn man nicht, was freilich durchaus zulässig ist, annehmen will,
daß mit dem rechten Rande der Platte noch manche, vielleicht sehr
viele Taglöcher verloren gegangen sind.
Cr. Sp. Z.ı nach Hrn. vox Hırrer »maralm|ur|n|v, der letzte Buchstabe
sehr deutlich«; also maralm|ur|n|Y naı. Z. 4 »HmepwnI.TAT.CHMAC. ... .«,
2.5 Anfang »..umelr«, Z.6 »munolc«.
Z.4 läßt wohl nur die Ergänzung mlelrA T|ö] cAma zu, obschon
es wundernimmt, das Wort in einem Prosatext in der Bedeutung
»Zeichen, Marke« zu finden. Aber das muß man wohl hinnehmen.
Dann aber nötigt dieser Textzuwachs zu einer etwas andern Auffassung
der Stelle, als ich sie oben S. 103 vorgetragen habe." Das cAma, das
neben den Hmeraı figuriert, kann nur dazu gedient haben, den Tag
des Neumondes hervorzuheben. Wenn nun die Tagmarken im Laufe
des Jahres hinter die jeweilige Neumondmarke zu versetzen sind, so
muß man annehmen, es seien die letzteren, ihrer 12 oder 13, immer
ı Während ich diese Stelle formuliere, kommt mir durch die Freundlichkeit
des Verfassers ein Aufsatz »Die öffentlichen Kalender im alten Griechenland« von
Hrn. Bırınger (in der Beilage des Württembergischen Staatsanzeigers vom 22. April 1904
S. 65 ff.) zu; ohne Kenntnis der neuen Lesung stellt darin Hr. B. die Vermutung auf
(S. 69), daß für jedes Jahr des Zyklus die Numenien durchlaufend bezeichnet waren;
die Numenienstifte denkt er sich mit den Anfangsbuchstaben der betreffenden Monate
versehen. Nur insofern kann ich seine Ansicht von der technischen Handhabung des
Steckkalenders nicht teilen, als er, wie mir scheint gegen den Wortlaut von C, nur
einen, täglich zu versetzenden Tagstift annimmt.
756 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 28. April 1904.
für das ganze Jahr beigesteckt gewesen, so daß man auf der Tafel
die Einteilung des bürgerlichen Jahres stets überschauen konnte. Eine
solehe Neumondmarke steht dann einfach statt der Tagnummer 1.
Danach wird es mir fraglich, ob ich Z. ı mit Recht zu emiöntA ergänzt
habe mAna: ich möchte jetzt lieber enıayrön hinzudenken, also: nach
Ablauf jedes Jahres soll man das lunare Schema des folgenden bei-
stecken; die Tagmarken aber, die nur für einen Monat vorhanden
sind, werden immer nach dessen Ablauf hinter die anschließende Neu-
mondmarke versetzt.
IN. Das neue Fragment des zweiten Parapegmas. Breit etwa
0°275; hoch 0”135; ringsum Bruch. Ich gebe das Bruchstück, über
dessen Zugehörigkeit zum zweiten Parapegma man kein Wort zu ver-
lieren braucht, wie die früheren gleich mit meinen Ergänzungen.
ı 0 YAc Ewıa Emitennei Klal ETTIcH-
MAINEI NÖTW|I KAT’ EYKTHMONA, TÄI A AY- ©
TAI KATÄ @JIAITTION APKTOFPOC AYE-
TAI Ewseln KAl ETTICHMAINEI
5 2 0 YAaec] Emitennoycın Eweeln Kal En-
CHMAIlneı AYTAIc KATA einımmlon, TAI A’
AYTAı K]AT’ EYAozon Tinelälaec Eiiaı
ermt&lanovcın
3 0 YAaec Eilıaı Emitenlaovcın
10 KAT INA@|N Kanna[nea
Zwillinge, 25. Mai bis 25. Juni; erhalten die ersten Tage, viel-
leicht auch das Ende des Stieres (s. u... Das Loch rechts neben
7.2 gehört zum Ende der Zwillinge, d.h. zur nächsten (und wohl
letzten) Spalte. Die Ergänzung geht aus von der Arkturphase; auch wenn
das n am Anfang von Z.4, das nur die Ergänzung &ween gestattet,
nicht, wie ich urteile, mit Sicherheit zu lesen wäre, dürfte man nicht
zweifeln, daß der Frühuntergang und nicht der in das Zeichen des
Skorpions (26. Oktober bis 24. November) fallende Spätuntergang ge-
meint ist. Denn die für den zweiten Tag angesetzte eudoxische Ple-
Jadenphase könnte dann nur gleichfalls die Spätphase sein; diese fällt
aber einen ganzen Monat vor den Spätuntergang des Arktur (3. Okt.,
bezw. 2. Nov. Eudoxos bei G); ferner ist an dem zweiten Tag für
Philippos ein Frühaufgang angegeben, und ayrAlc Z.6 gestattet nur an
Iyaden oder Plejaden zu denken.
Ist so die Ergänzung von Z. 3. 4 gesichert, so ergibt sich die-
jenige der folgenden Zeilen schon aus den Raumverhältnissen. _Auf-
* * ” Li
A. Renn: Weiteres zu den milesischen Parapegmen. 757
Z.5 ist für maeıAaec bestimmt kein Platz, Z.9 noch weniger.‘ Minder
selbstverständlich, aber, wie mir scheint, im wesentlichen doch sicher,
ist die Ergänzung von Z. 1.2.” Nach der bisherigen Herstellung han-
delt es sich um Tage, die unmittelbar oder doch fast unmittelbar an
456A rechte Spalte (oben S. 110) anschließen, wo Z.9 der Frühunter-
gang des Arktur nach Euktemon verzeichnet steht; ebenda folgt näm-
lieh Z. 3 eine Phase der Capella nach Philippos der entsprechenden
euktemonischen in zweitägigem, Z. 10 eine Phase des Adlers nach
Philippos der euktemonischen in eintägigem Abstand; Zufall ist das
nicht: es sei daran erinnert, daß bei P die philippischen Episemasien
fast durchgängig (in 25 von 27 Fällen) mit den euktemonischen identisch
sind; der Unterschied von unserm Parapegma besteht nur darin, daß
.P die Episemasien beider auf die nämlichen Tage setzt. Sehr ähnlich
müssen aber beide Parapegmen gewesen sein. Nehmen wir aber demnach
für unser Bruchstück unmittelbaren zeitlichen Anschluß an das vorherge-
hende oder höchstens zweitägigen Abstand an, so bleibt uns, wie G lehrt,
gar nichts anderes übrig, als für Euktemon gleichfalls den Frühauf-
gang der Hyaden zu ergänzen; dann trifft es sich sehr hübsch, daß auch
für die Hyadenphase Philippos in eintägigem Abstand dem Euktemon
folgt, der vierte derartige Fall in wenigen Zeilen. Aber eine kleine
Abweichung unseres Parapegmas von @ erhalten wir dabei allerdings;
denn bei @ fallen Euktemons Arktur- und Hyadenphase auf den näm-
lichen Tag (Stier 32), hier wäre die letztere wenigstens um einen Tag
später gesetzt.” Indes war mir der Wortlaut jener Stelle bei & längst
verdächtig, da eine fremde Phase zwischen die beiden aus Euktemon
eingeschoben ist: En a& rAı a8 Eykrimonı ApktoFroc [Ewıoc] ayneı" Er-
cHmaineı. Kanninmwı [6] TArpoc anreı Anatennwon. Eykrfmonı YAaec [En]
ermtennovcın' Errichmainei. Da sind also, wohl schon vom Kompilator dieses
Parapegmas, zwei Phasen fälschlich auf einen Tag vereinigt. Hierfür
spricht auch, daß bei P der Vermerk Eyktumonı Emichmaineı in dieser
Zeit an drei aufeinander folgenden Tagen wiederkehrt (24. 25. 26. Mai).
Ob man nun Euktemons Hyadenphase als Stier 32 oder als Zwil-
linge ı (kallippisch) zu betrachten hat, ist nicht zu entscheiden. Im
ersten Falle wären bei G die Arkturphase und die beiden vorangehenden
(Adler und <Ornis)) um einen Tag hinaufzurücken: man bekäme so
! Kallaneus folgt auch sonst den andern Parapegmatisten in ein- bis zweitägigem
Abstand (456 D 1. Sp. Tag 2.4, Tag7.8; A 1.Sp. Tag 1.2, r. Sp. Tag 3.4).
2 Der letzte Buchstabe von Z. ı scheint nach der Photographie A zu sein; aber
die zwei schrägen Striche, die man darauf sieht, sind im Abklatsch nicht zu bemerken,
der vielmehr ein stark verscheuertes H zeigt; es handelt sich also bei der Photo-
graphie wohl um kleine, zufällig beschattete Ritzer.
3 Der Vindob. gibt 4 Tage nach der Arkturphase die TAYpoy emTond; sind
damit die Hyaden gemeint, so ist, wie öfters, statt Hmeraı A zu schreiben HMErA AR
758 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 28. April 1904.
bei G für die Phasen von Arktur, Adler, Capella (s. o. S. ıır) die
nämlichen Abstände wie bei AD N und im Vindob., nämlich Capella-
Adler 5 Tage (statt 6), Adler-Arktur ı Tag. Aber diese Erwägung liefert
nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit, keine Entscheidung. Welche Stelle
die betreffenden Tage im Schema des milesischen Parapegmas hatten,
ist vollends nicht zu sagen. Wenn es z. B. nach Eudoxos eingerichtet
war, bei dem Stier und Zwillinge z3otägig sind, so entspricht hier der
Tag, der bei G Stier 32 heißt, dem Tage Stier 23 und das ganze
Fragment N kann noch zum Stier gehören; wenn es nach Euktemon
angelegt war, der Stier und Zwillingen je 31 Tage gibt, so entspricht
hier der Tag, der bei & Stier 32 heißt, dem Tage Stier 30: immer
vorausgesetzt, daß der Tag Krebs ı = Sommersonnenwende überall
identisch ist. — Z. 2 habe ich in Anlehnung an Olodius (26. 28. 29. Mai)
zweifelnd nöroı ergänzt; es könnte auch in Analogie zu Z. 6 an ayrAı
gedacht werden (der Singular YAc nach 456A 1. Sp. Z. 6).
Das wichtige Fragment gibt noch zu einigen weiteren Erörterungen
Anlaß. Das Z.4. 5 von mir hergestellte emichmaineı aYTAic ist im Sprach-
gebrauch der Parapegmen sonst nieht belegt; ich ziehe es dem übrigens
gleichfalls mit dem Dativ nicht bezeugten £rmrnei vor, da der Ausdruck
errımnei dem Euktemon eigentümlich zu sein scheint, während für Phi-
lippos eben an diesen Tagen bei P (24. 25. Mai) Errichmacia und Ertichmainei
verzeichnet ist. "Errichmaineı mit Dativ steht bei Geminos Isagog. p. 188,
18: monnAkıc Ag (Tic ist in den Ausgaben sinnlos eingeschoben) mee’ Hmepac
Tpreic Ä Teccarac ErrechmHne TAI Ermtonfı A TAI Ayceı TO? Actpov. Ähnlich
sind auch die Stellen [Theophr.| De sign. $ 52: Tolc a’ Actpoıc (Emi A
Tolce Actpoıc Wimmer) eiween Wc EI TO TIONY CHMAINEIN KAl TAIC ICHMEPIAIC
N
Kal TPOTIAIC OYK EIT AYTAIc, Ann A TIPO AYTON A Ycreron Mıkpdl, und |[Aristot.]
Probl. 26, 12 = 32 Em TrAcı men CHMAINEI TOIC ÄCTPOIC AYOMENOIC H ETI-
Tennovcın KTa. — Sachlichen Anstoß erregt die eudoxische Plejadenphase
2.7, die nach der hier gegebenen Einordnung des Fragmentes' etwa
auf 25. oder 26. Mai gesetzt ist und auffällig genug dem Frühuntergang
des Arktur nach Euktemon folgt, statt ihm beträchtlich voranzugehen.
G gibt sie 11 Tage früher als unser Fragment (Stier 22, 14. Mai), P, bei
dem sie aus dem Notat eeroyc ApxH# zu erschließen ist, hat sie nach
der Überlieferung doppelt, 13 und 7 Tage früher (12. und 18. Mai).
Das Richtige hat hier @&: es ist schon von Böckn (Sonnenkreise S. 105 ff.),
und zwar nicht nur an diesem einen Beispiel, beobachtet, von TAnnERY
! Ich habe die Gleichsetzung der euktemonischen Daten bei G und im milesi-
schen Parapegma zur Grundlage der Untersuchung gemacht rein aus dem Zweckmäßig-
keitsgrund, weil sie am zahlreichsten sind. An sich kann man natürlich auch von der
eudoxischen Phase ausgehen und dann diejenigen des Euktemon und Philippos für ver-
früht erklären.
A. Reus: Weiteres zu den milesischen Parapegmen. Vor
(Memoires de Bordeaux, Il. serie, tome 2, 1886 S. 179ff.) weiter belegt
und begründet, daß Eudoxos in seinem Parapegma unter Vernach-
lässigung der wirklichen Erscheinungen am Himmel möglichste Sym-
metrie der Phasen anstrebt: der eudoxische Frühuntergang der Plejaden
aber fällt nach dem übereinstimmenden Zeugnis von G und P auf den
ı3. November, d. h. genau ein halbes Jahr vor das Datum des Früh-
aufganges, wie es @ angibt. Eine Verspätung der eudoxischen Phase
gegenüber G zeigt unser Parapegma auch beim Widder (oben S. 110),
aber da beträgt die Differenz nur 4 Tage; bei der Wage (S. 107f.)
herrscht Übereinstimmung. Zu erklären vermag ich diese Erscheinung
nicht; es wäre auch nichts damit gewonnen, wenn man an unserer Stelle
Verschreibung für yAaec annehmen wollte, wobei dann eine Verfrühung
gegenüber G zu statuieren wäre, indem bei & der Frühaufgang nach
Eudoxos auf Zwillinge 5 (29. Mai) gesetzt ist.
760
Die lateinischen Buchstabennamen.
Von WILHELM SCHULZE.
(Vorgetragen am 14. April 1904 [s. oben S. 737].)
Der Gegensatz zwischen Rom und Byzanz scheidet noch heute Europa
in zwei Kulturzonen. Jede Zone hat ihre besondere Schriftgeschichte,
die hier an Rom anknüpft, dort an Byzanz. Im Westen herrscht das
lateinische ABC', dessen Buchstabennamen, in praktischer Knappheit
auf das Unentbehrlichste zusammengedrängt, mehr Zeichen des Lautes
als Namen des Schriftbildes zu sein scheinen, im Osten muss sieh das
griechische Alphabet mit der aus ihm entstandenen Abart der slavi-
schen Schrift in die Herrschaft theilen. Dem griechischen Ans®AsHToc
entspricht ksl. azbuka, nach den beiden ersten Gliedern der zum Ersatze
der griechischen Anea BATA rAmmaA AEATA usf. ersonnenen nationalen Namen-
reihe a2b buky vede glagoli dobro usf. Noch ist die Herrschaft der slavi-
schen Schrift, von den Rumänen abgesehen, unerschüttert, aber die natio-
nalen Buchstabennamen beginnen vor dem Einflusse des Westens bereits zu
weichen. Ich weiss nicht, wie Puschkin selbst seine Verse (Onegin 2, 33, 5)
korsetp nosila otcenb uzkij,
i russkij H, kakp N franeuzskij,
proiznositb umela vB nos&
gelesen hat, ob damals etwa noch der Gegensatz des slavischen naspb und
des französischen enne, der nationalrussischen azbucniki und der westeuro-
päischen abecedarü (ABCschützen), bestand: die Grammatiken von heute
lehren jedenfalls auch für das russische Alphabet die Buchstabennamen
im Wesentlichen nach dem Muster der westlichen Sitte, im Unterschiede
von den conservativeren Serben, die az und buki noch nicht über Bord
geworfen haben. So ist zu erwarten, dass das ABC, die Erfindung
römischer Schulmeister, sich am Ende noch die ganze Welt erobern wird.
Frz. früher Abegoy, it. Abici Dv Üanse s abedarium abeturium. Man meint
aus abecedarius und abracadabra (Bvschzrer im Thes. 1, 128) schliessen zu sollen, dass
es früher ABCD hiess. Doch wird zu erwägen sein, ob nicht die Form abecetarius
mindestens ebenso gute handschriftliche Gewähr hat wie abecedarius. Vel. Thes. 1, 63
und ausserdem ir. abbgitir (latinisiert abgatoria nach Dv CanGe sv) Gverersock Be-
merkungen über die lateinischen Lehnwörter im Irischen, Königsberg 1882, 56. Hätte
WOoeLFFLın Arch. f. lat. Lexikographie 4, 103 bei Dv Cange den Artikel abeturium nach-
geschlagen, so würde er schwerlich so leichtherzig; aus überliefertem auetorium abeturium
das gewöhnliche abecedarium hergestellt haben. — Über Alter und Herkunft des &ech.
abeceda (poln. abecadlo) bin ich nicht unterrichtet.
1
ge
. “ . a
W. Scnurze: Die lateinischen Buchstabennamen. 6l
Die heute in Westeuropa übliche und neuerdings auch von den
Russen recipierte Praxis der Buchstabenbenennung, die auch durch die
Einführung der Lautiermethode in den elementaren Leseunterricht nicht
überwunden worden ist, ruht nämlich trotz aller Diserepanzen im Ein-
zelnen auf dem Grunde eines einheitlichen Systems', dessen Existenz
für das ausgehende Alterthum durch Priscian ausdrücklich und aus-
führlich genug bezeugt wird. II 7, 26K.
Aceidit igitur litterae nomen figura potestas:
nomen velut AB et sunt indeclinabilia tam apud Graecos ele-
mentorum nomina quam apud Latinos”, sive quod a barbaris inventa
dieuntur, quod esse ostendit Varro in II de antiquitate littera-
rum docens lingua Chaldaeorum singularum nomina litterarum ad
carum formas esse faeta” — [8,6] sive quod nee aliter apud Latinos
poterant esse, cum a suis vocalibus vocales nominentur, semivocales
vero in se desinant, mutae a se incipientes vocali terminentur, quas
si fleetas significatio quoque nominum una evanesecit.
Vocales igitur ut dietum est per se prolatae nomen suum osten-
dunt, semivocales vero ab e incipientes et in se terminantes, absque
X quae ab i ineipit per anastrophen graeei nominis =”, quia necesse
fuit cum sit semivocalis a vocali ineipere et in se terminare, quae
novissima a Latinis assumpta post omnes ponitur litteras quibus latinae
dietiones egent (quod autem ab Z ineipit eius nomen, ostendit etiam
SERVIVS in commento quod scribit in poxarvm his verbis: semi-
vocales sunt septem, quae ita proferuntur ut inchoent ab e littera et
desinant in naturalem sonum, ut EF EL EM EN ER ES IX, sed IX
ab i ineipit. id etiam Evrrorıvs confirmat dieens: una duplex IX, quae
ideo ab i ineipit, quia apud Graecos in eandem desinit), mutae autem a
se ineipientes et in e vocalem desinentes, exceptis Q et A quarum altera
in u, altera in a finitur, sua confieiunt nomina. # enim aspirationis
magis est nota (sein Name FA ist aus anderen Quellen zu supplieren).
ı JGrınm DG 3, 1137 des Neudrucks (beachte den Gegensatz von d. ha und
frz. ache). Wichtig ist auch der erste grammatische Tractat in Snorris Edda, heraus-
gegeben von DAutervp und Jönsson Den ferste og anden grammatiske afhandling i
Snorres Edda (Kopenhagen 1886), wo S. ro. 38 die Reihe BE CE [nach gewöhnlicher
Aussprache Zse, nach “schottischer dh. irischer aber che di. ke] DE EF GE HA EL
EM EN PE ER ES TE EX [so noch heute im Dänischen und Schwedischen] und
S. 12.42 für den ‘griechischen Buchstaben” Y der Name VT [heute englisch wy] an-
gegeben wird. Vel. Bsörn Macnvsson Örsen Den tredje of fjerde grammatiske af-
handling i Snorres Edda (Kopenhagen 13884) Einl. 255, wo sehr einleuchtend vermuthet
wird, dass der Name «i von den Angelsachsen zu den isländischen Stammesverwandten
gelangt ist. Leider schweigt sich /Elfrie, der im übrigen die gewöhnliche Reihe (mit
IX HAKAQV) giebt, über den Namen dieses für die angelsächsische Orthographie
so wichtigen Vocals Y aus. JElfvries Grammatik und Glossar herausgegeben von
Zveriza 6.
762 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 28. April 1904. — Mittheilung v. 14. April.
a) Probus inst. art. IV 48, 36 nomen unius euiusque litterae omnes artis
latores praeeipueque VARRO neutro genere appellari iudiearunt et aptote deeli-
nari iusserunt. Varro ling. lat. 9, 38. 515. Cledonius V 26, 32. 28, ı3 Pom-
peius 111, 11 (mit einem Citate aus Cicero, das am besten erhalten ist in
den fragm. Bob. VII 538, 10 Cicero in Verrinis [2, 187] "usque ad alterum
R’) Priscian III 490, 23 Palaemon V 537, 40 regulae Augustini 501, 24.
Seit Quintilian kann man die Namen der litterae als Feminina gebrauchen;
in den romanischen Sprachen herrscht heute Schwanken. b) An®A Boöc
kesanf, Polnikec Hesych coll. Bekker AG 381, 27, ®oinikac 0YTw sc. An®A
KANEIN TÖN BOYN Plutarch qu. conv. 9, 2, 3. ce) commentum Einsidlense
anecd. Helv. 224, 12.
In der That ist dies die Lehre der Donatecommentatoren. Ich
eitiere Servius, weil schon Priscian ihn eitiert hat!: IV 422, ı5 semi-
vocales sunt septem quae ita proferuntur ut incohent ab e littera et
desinant in naturalem sonum, ut EF EL EM EN ER ES IX», sed
X ab # incohat et duarum consonantium fungitur loco. 422, 32 mutae
sunt novem quae debent incohare a naturali sono et in vocalem e
litteram desinere, ut BG et reliquae ex quibus tres, quoniam non
desinunt in e, eontumeliam patiuntur, (H KQ)”. H a plerisque ad-
spirationis nota, a plerisque consonans habetur.
a) EX cod. Plarisinus], corr ex Prisciano. Dieselbe Corruptel
Sergius IV 477,1. b) suppl ex Sergio IV 520, 21. 25.
Priscian giebt also einfach weiter, was sich schon vor seiner Zeit
als traditionelle Schulpraxis festgesetzt hatte. Um so befremdlicher
wirkt es, dass er für eine Einzelheit, für die Benennung des X, und
nur für diese, sich ausdrücklich und mit wörtlichen Citaten auf zwei
Zeugen beruft, auf den Donateommentator Servius und einen, soviel
ich sehe, nicht mit Sicherheit zu identifieierenden Eutropius, den schon
die Namensform einer ziemlich späten Epoche zuzuweisen empfiehlt.
Man gewinnt den Eindruck, als ob für den Buchstabennamen X doch
eine Divergenz der dem Priscian zugänglichen Quellenschriften bestan-
den habe, die es rathsam erscheinen liess, seine sicherlich im Sinne
der herrschenden Praxis getroffene Entscheidung durch die Autorität
einiger Grammatikereitate zu decken. Es ist bezeiehnend, dass sich
solche Citate nur aus der jüngsten Schicht grammatischer Studien be-
schaffen liessen, der Priscian selbst zeitlich nicht allzu fern stand. Viel-
leicht besitzen wir aber auch heute noch einen Zeugen der von ihm
stillschweigend bei Seite geschobenen abweichenden Lehre in dem Ver-
fasser der mit dem klangvollen Namen des Probus geschmückten in-
stituta artium, die man indes in der vorliegenden Gestalt frühestens
ins 4. Jahrhundert setzen darf: IV 49, 10 vocales per se proferuntur,
hoc est ad vocabula sua nullius eonsonantium egent societate, ut puta
AEIOV, et per se syllabam facere possunt. 49,27 semivocales se-
! Die sonstigen Zeugnisse bei Fr. Marx studia Luciliana, Bonn 1882, 8.
{=} - ’ ’
W, Scnurze: Die lateinischen Buchstabennamen. 763
cundum musicam rationem per se proferuntur, hoc est ut ad vocabula
sua nullius vocalium egeant societate, ut FLMNRSX. at vero se-
cundum metra latina et structurarum rationem subiectae vocalibus no-
mina sua efficiunt, ut EF EL EMEN ERES EX. sed per se sylla-
bam facere non possunt. 50,5 mutae nee per se proferuntur nec per
se syllabam facere possunt. per se hae non proferuntur, siquidem
vocalibus litteris subieetis sie nomina sua definiunt, ut puta BE CE
GE HA KA PEQVTE. Gewiss ist es leicht, hier (wie bei Servius
IV 422, 16, oben S. 762) EX in IX zu corrigieren'; aber irgendwelche
Nöthigung, den Wortlaut unseres Textes anzutasten, vermag ich nicht
zu erkennen. Vielmehr halte ich es für recht wahrscheinlich, dass hier
noch die einheitliche Benennung aller 7 semivocales erhalten ist, die
freilich bald darauf durch die Erfindung des Namens IX gestört werden
sollte.” Ich werde später zu zeigen haben, dass die ganze Haltung der
Definitionen, die das von den Buchstaben handelnde Kapitel der in-
stituta artium darbietet, durchaus das Gepräge einer Übergangszeit
trägt, während die Donatcommentare, und in ihrer Gefolgschaft auch
Priseian, sich mit entschlossener Abstreifung überwundener Anschauun-
gen und überlebter Formulierungen ganz auf den Boden einer neuen
Lehre stellen. Bei diesem Gegensatze der Gesammthaltung ist Niemand
berechtigt im Einzelnen vollkommene Übereinstimmung zwischen Probus
und den Genossen des Servius zu fordern und auf Grund dieser For-
derung überlieferte Diserepanzen durch Textesänderungen auszuglei-
chen, die sonst durch nichts indieiert sind.
Das lateinische ABC, mit Ausschluss der stets als Fremdlinge
empfundenen Buchstaben Y und Z, umfasste also 5 mit ihrem natür-
lichen Laute ohne Zusatz benannte vocales: AEIOV, 7 semivocales
mit vocalisch beginnenden Namen: EF ELEMEN ER ES EX bz. IX,
9 mutae mit vocalisch schliessenden Bezeichnungen: BE CE DEGE
PETE HA KAQV. Es ist festzustellen wichtig, dass wir diese Namen-
reihe als Ganzes wohl bis in die Zeit der Donateommentare zurück-
zuverfolgen im Stande sind, aber für Donat selbst durch kein directes
oder indireetes Zeugnis zu erweisen vermögen. Und in Verbindung
damit giebt die andere Thatsache zu denken, dass zwischen Donat und
seinen Commentatoren ein Bruch der Tradition erfolgt ist in der Ge-
staltung der den einzelnen Buchstabenklassen angepassten Definitionen.
Bei Donat heisst es IV 367, ı1. 21. 368,5:
l Fr. Marx 11.8.
® Heute scheiden sich in diesem Punkte die einzelnen Völker, Niederländer und
Deutsche haben IX, Engländer (trotz /Elfrie), Dänen und Schweden EX, die Italiener
sagen icse icchese iccase, die Spanier equis. Dass diese Unterschiede aber sehr alt sind,
wage ich nieht zu behaupten.
764 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 28. April 1904. — Mittheilung v. 14. April.
vocales sunt quae per se proferuntur et per se syllabam faciunt.
semivocales sunt quae per se quidem proferuntur, sed per se sylla-
bam non faciunt.
mutae sunt quae nee per se proferuntur nee per se syllabam faciunt.
Die dritte dieser Definitionen wird gelegentlich durch Einführung von
possunt um ein für den Sinn ziemlich belangloses Wort erweitert: Marius
Vietorinus VI 5, 24 mutae sunt quae neque per se proferri possunt nec
per se syllabam faciunt, Diomedes 1423,3 mutae sunt quae nec proferri
per se possunt nee syllabam facere (ähnlich Audax VII 326, 16 Dositheus
332,4). Im Gegensatze dazu hält die zweite Definition ihr proferuntur, das
die semivocales mit den vocales in gewissem Sinne auf eine Stufe stellen
soll’, durchaus fest und verschmäht die Umschreibung durch proferri pos-
sunt, die hier, im positiven Satze, selbstverständlich eine Abschwächung
der ganz bestimmten Aussage: per se quidem proferuntur bedeuten würde.
Diese Definitionen sind gewiss ein Erbstück der Schultradition,
wie ihre fast gleichlautende Wiederholung bei Charisius 17,8. 8,4. 14
Diomedes 422,5. 29. 423,7” Marius Vietorinus VI 5, 16. 21. 24 Audax
(dem excerptor Scauri et Palladii) VII 325,15. 326,8. ı6 und Dosi-
theus 381,10. 382,1.4 (vgl. auch IV 220,4) beweist. Um so merk-
würdiger ist es, dass die an Donat anknüpfenden Grammatiker sich
durch ihre Fassung ersichtlich geniert fühlen und sie in höchst cha-
‚akteristischer Weise zu modificieren bemüht sind.
In der That, was sollte diese Zeit auch mit einer Definition an-
fangen, die von den semivocales wie von den vocales in einem Athem
behauptet: per se proferuntur? Wohlgemerkt nicht etwa blos proferri
possunt. Wo in aller Welt gab es denn eine Gelegenheit die Consonanten
FLMNRSX per se, dh. ohne vocalische Hilfe’, auszusprechen?
Gewiss kann man ihre naturales sonos, die sibilos, stridores, strepitus, von
denen bei den Grammatikern öfters die Rede ist’, durch “Lautieren’
ı Die ara ne der vocales und semivocales hat offenbar den Zweck, den
Terminus semivocales zugleich zu interpretieren und zu rechtfertigen. Diomedes hat
diese Absicht selbst zwar nicht mehr ganz begriffen, lässt sie aber den Aufmerksamen
deutlich genug erkennen, I 422,5 vocalium potestates sunt duae quod tam pronuntiatae
singulae syllabas faciunt et per se proferuntur quam cum consonantibus iunctae sylla-
bam facere possunt, 423,6 semivocales dietae, quod dimidium eius potestatis (sc. vo-
calium) habent, etenim per se enuntiantur, sed per se (nec) syllabam nee plenam vocem
faciunt. Besser Pompeius V ro1, 8.
® Diomedes wechselt nur gelegentlich den Ausdruck: 1 423,7 per se enuntiantur
- 422,6 per se proferuntur). Die Stellen habe ich in der vorigen Anmerkung ausgeschrieben
(vgl. noch 423, 8. 24). In der Sache sind beide Verba natürlich vollkommen gleichwertig.
° Audax VII 325, 16 sine alterius adminiculo (Diomedes I 423, 8 sine auxilio vo-
calium, 423, 24 sine adminieulo vocalium).
* Es macht sich sehr fühlbar, dass der Grammatik die Erkenntnis des Unter-
schiedes zwischen eun# und yösoc, den die Musiker mit Recht aufgestellt hatten, ganz
verloren gegangen war. Kvenner-Brass 1,65.
an 24222
Dre ”
7 z ER mp
W. Senvrze: Die lateinischen Buelistabennamen, 765
hörbar machen, aber darauf wird kein Unbefangener so unzweideutige
Ausdrücke wie proferuntur und enuntiantur beziehen wollen.'
ist, vom Standpunkte seiner Zeit aus, ohne Zweifel vollkommen im
Öledonius
Recht, wenn er die Definition der Donatischen ars nieht sowohl inter-
pretiert als bekämpft, V27,27 QVAEPER SE QVIDEM PROFERVNTVR:
falsum est. profertur autem sonus a vocalibus et finitur in naturalem, id
est in proprium sonum. Er hat offenbar die Reihe der Buchstabennamen
EF EL usf. im Sinne. Diese Polemik konnte zum Schweigen gebracht
werden nur durch eine veränderte Formulierung: an die Stelle des Wortes
proferri (oder des gleichbedeutenden enuntiari) tritt der Begriff des sonare,
der fortan die grammatische Tradition beherrscht.” ServiusIV 421,6. ı2
vocales dieuntur quia per se sonant et per se syllabam faeiunt.
(semivocales) per se quidem sonant, sed per se syllabam non faeciunt.
(mutae) nec per se sonant nee per se syllabam faeiunt.
Damit verbindet sich in der Regel eine Ausdeutung des Terminus
semivocalis, die selbst das sonare nur bedingt und gleichsam widerwillig
dieser Buchstabenkategorie zugesteht. ZB. Servius IV 421, 10. 13
(Sergius 520, 11. 13) semivocales dieuntur quia semis habent de potes-
tate vocalium. — mutae dietae ab eo quod nihil habeant de potestate
vocalium. etenim semivocalibus si detrahas vocales [frad naturales]|
sonos, vel paululum sonant, mutis si detrahas, nihil sonabunt.
Wie war es möglich, wird man sich längst gefragt haben, dass
eine Definition, die der doch sonst autoritätsgläubigen und der Über-
lieferung ohne viel eigenes Urtheil blind vertrauenden Zeit nach Donat
so bedenklich erschien und sich, um nicht ganz verworfen zu werden,
eine Öorreetur gefallen lassen musste, von Donat selbst anstandslos in sein
Lehrbuch aufgenommen und auch von anderen Grammatikern, die etwa
dieselbe oder eine naheverwandte Traditionsschicht repräsentieren, ohne
irgendwelche Cautelen wiederholt werden konnte? Ich hoffe, dass uns ein
Stück aus dem Technopaegnion des Dichters Ausonius den Weg zu einer
befriedigenden Antwort auf diese allerdings dringliche Frage eröffnen
wird, nr. 12 bei Scneskt in den Auctores antiquissimi V 2 p. 138 oder in
Pripers Ausgabe nr. 13 S. 166 de litteris monosyllabis graeeis ac latinis. Es
wird für den Leser am bequemsten sein, wenn ich das ganze Gedicht her-
setze. Die Überlieferung beruht auf dem Zeugnisse des eodex Leidensis (V).
! Gut wird proferri von Probus IV 49, ı0 an einer $. 762 mitgetheilten Stelle
erläutert.
* solange und soweit man den lautphysiologischen Dingen auch nur eine Spur
von Verständnis bewahrt hät. Für Priscian, der zum Beispiel bei der Erörterung über
den Charakter des F eine geradezu verblüffende Verständnislosigkeit an den Tag legt,
trifft das nicht mehr zu.
766
20
25
Sitzung der phil.-hist. Classe v. 28. April 1904. — Mittheilung v. 14. April.
Dux elementorum studiis viget in Latiis A
et suprema notis adseribitur Argolieis @.
Hra quod Aeolidum quodque (EI) valet, hoc Latiare E.
Praesto quod e Latium semper breve Dorica vox Eill.
Hoe tereti argutoque sono negat” Attiea gens: O|Y
@ quod et OY® Graecum, compensat Romula vox 0.
Littera sum ıorTAE similis, vox plena iubens ie
Ceeropiis ignota notis ferale sonans V.
Pythagorae bivium ramis pateo ambiguis Y.
Voeibus in Grais numquam ultima conspieior MIY.
ZETA jacens si surgat, erit nota quae legitur N[Y.
Maeandrum flexusque vagos imitata vagor zıı.
Dividuum BETAE monosyllabon Italicum BIE.
Non formam, at vocem DELTAE gero Romuleum DIE.
Hostilis quae forma iugi est, hane efficiet TIfI.
Ausonium si pr seribas, ero Cecropium P|@
et rno quod Graeco, mutabitur in Latium PIE.
Malus ut antemnam fert vertice, sie ego sum TIAY?
Spiritus hie, flatu tenuissima vivificans, HA.
Haeec tribus in Latio tantum addita nominibus KIA,
praevaluit postquam GAMMAE vice functa prius CIE
atque alium pro se titulum replicata dedit G@[E.
Ansis eineta duabus erit cum ıorTA, leges oJ. sic
In Latio numerus denarius Argolicum x |1.
Haee gruis® effigies Palamedica porrigitur oll.
capra fui quondam Boeotia, nune Latium K|A.
Furca tricornigera specie, paene ultima sum Yll.
Au Vz b egat V: negat ScALIGER © eo y V: et oY ScALIGER
dcW © corueis V: gruis Accursıus
v9: Persius 3,56 mit Olauss Note (dazu RhM 24, 615. 31, 468
BaEHRENs Poetae latini minores V 378 v 65) ıo: Quintilian instit. 12,
10, 31 littera M qua nullum Graece verbum cadit ır: Aristoteles
metaphys. A4. 985b 17 Ala®erei TÄP TO MEN A ToY N cXHMATI, TO A& AN
ToY NA TAzel, TO A& Z ToY N eeceı (Z also mit schräggestelltem Verbin-
dungstrich) ı2: die auch von den Steinen bekannte ‘maeandrische’
Form des = (Larfeld im Handbuch ı?, 534 s) wird in der Handschrift
richtig dargestellt, LMverLer RhM 20, 373 ı8: oder T[E?
20: Terentianus Maurus 797 sqq. (VI 349 K.) mit willkürlicher Auswahl
dreier mit K geschriebener bz. abgekürzter Wörter (etwas anders, doch
auch mit Beschränkung auf die Dreizahl Vietorinus VI ı95, 22) 22: sonst
ist von apex die Rede, Terentianus Maurus 896 Probus de nomine IV 215,2
24: aenigma Rusebii de X littera ed. Eserr Ber. Sächs. Ges. 29 (1877),
45 ar. 14, 3 25: wegen Palamedes s. Marius Vietorinus VI 23, 16
Vietorinus 194, 14 Audax VII 325, 24, AWırmanns de M. Terentii Varronis
libris grammatieis 120.
W,. Scuvrze: Die lateinischen Buchstabennamen. 767
Die offenkundigen Schreibfehler habe ich nach dem Vorgange der
Herausgeber beseitigt, jedoch die ebenso offenkundige Interpolation in
v26 stehen lassen, um dem Leser deutlich zu machen, dass hier in
der That ein Interpolator seine Hand im Spiele hat. Die evidente
Besserung scheinen erst Prirers und Mertens gefunden zu haben:
corra fui quondam Boeotia, nune Latium Q|IV.
Der Ungelehrten kaum geläufige Name corra ist in carra entstellt'
und dann der Ausgang des Verses dem verunstalteten Eingange mit
bewusster Änderung angepasst worden.
Die Absicht des Gedichtes, das in einer kleinen Sammlung ähn-
licher Spielereien seinen Platz gefunden hat, ist durchsichtig: die
Reihe der einsilbigen Buchstabennamen sowohl des lateinischen wie
des griechischen Alphabets in einer entsprechenden Anzahl von Hexa-
metern so unterzubringen, dass jedesmal der Vers in den Buchstaben-
namen ausklingt. Statt des Namens wird freilich vom Verfasser regel-
mässig nur das Zeichen des Buchstabens gesetzt, auf dessen Gestalt
sich der Inhalt des Verses oft genug bezieht. Beweisend ist
»; In Latio numerus denarius Argoliecum X.
Aber ein Vers wie
s Hoc tereti argutoque sono negat Attica gens: O
beweist auch ausdrücklich, was ja eigentlich keines Beweises bedarf,
dass die Zeichen beim Lesen in die damals üblichen Namen umge-
setzt werden sollten’: bis zum Ausgange des Altertums ist OY die
regelrechte Benennung des Zeichens O geblieben, im Klange von der
Negation in Nichts unterschieden. Im Versinnern sind dagegen die
Namen ebenso eonsequent ausgeschrieben worden: deshalb musste
v 6, abweichend von der Entscheidung der meisten, auch der letzten
Editoren, das so gut wie überlieferte oY® nothwendig aufgenommen
werden.
Das griechische Alphabet der Zeit umfasst neben ıı zweisilbigen
(oder dreisilbigen) Buchstabennamen, Änea BATA rAmma AEaTA IHTA HTA
eATA IOTA KATıTIA nABAA cirma, 13 einsilbige: swnHenta ei |di.E] 0% [di.O]
! In copia bei Terentius Scaurus VII ı6, 3; ebenfalls in cappa bei (uintilian
instit. 1, 4, 9. Der Name cappa ist auch im Abendlande durch die TPIA KÄTITA KAKICTA
besser bekannt geblieben. regulae Augustini V 501, 28. Auch der erste grammatische
Traetat in Snorris Edda kennt ihn, S. ır. 39 der DaAntLervp- Jönssonschen Ausgabe.
2 Ich habe das beim Abdrucke des Gedichtes angedeutet, indem ich überall das
Zeichen zum Namen vervollständigte, aber meine Zusätze von dem Überlieferten durch
eckige Klammern schied.
3 oy ist ja nur eine ungeschickte Latinisierung, etwa wie day Marius Vietorinus
VI 23, 29 (15, 5) für sa? di. VAV Cornutus bei Cassiodor VII 148, ro Terentius
Scaurus 16, 2. 17, 5 Priscian II 15, 3 (teste Varroxe et Dıpymo) commentum Einsid-
lense anecd. Helv. 223, 27.
Sitzungsberichte 1904. 62
768 Sitzung der phil.- hist. Classe v. 28. April 1904. — Mittheilung v. 14. April.
% 8, Hmioewna MF N? = 'P@ Yi, Aswna TI TA? ol x." Ihnen entsprechen
im Gedichte des Ausonius die Verse 4. 5. 9. 2, IO. II. 12. 16. 27,
15. 18. 25. 24. Allerdings kann man bei v ı8 zweifeln, ob latei-
nisches T|Z oder griechisches T[AY gemeint sein soll. Von den latei-
nischen litterae monösyllabae sind vollzählig vertreten die Vocale
Avı E3 I7 06 V 8°, und fast vollzählig die mutae B[E v ı3
CIE 2ı DIE ı4 G[E22 H|A ıg K[A 20 P[E ı7 (die Aussprache als
PE ausdrücklich durch v 16 bezeugt) Q[V 26. Nur T[Z lässt sich
in v ı8 nicht mehr unterbringen, wenn dieser Vers wirklich dem grie-
chischen 1aY gehört. Wir brauchen nothwendig noch einen zweiten
Vers, um sowohl das T des griechischen wie des lateinischen Alpha-
bets placieren zu können, und es scheint mir so gut wie zweifellos,
dass die einzige noch nicht vergebene und in der überlieferten Form
absolut unverständliche Verszeile 23 r
Ansis eineta duabus erit cum ı0TA, leges ©
dafür allein in Betracht kommen kann. Freilich ohne eine etwas ge-
waltthätige Änderung des in der Handschrift stehenden Zeichens,
dessen verständnislose Einführung ich auf das Konto des von uns schon
einmal ertappten Interpolators zu schreiben geneigt bin, geht es dabei
nicht ab. Ich beziehe v 18
Malus ut antemnam fert vertice, sie ego cum T[AY
auf die gerade Horizontalhasta eines griechischen raY und suche v 23
Ansis eineta duabus erit cum 10TA, leges T[E
eine Form des lateinischen T mit geschwungener Querlinie, deren
nach rechts und links sich streckende Hälften nicht unpassend als
ansae gedacht werden können.” Aber wie man auch über diesen Her-
' Dionysius Thrax ed. Varıc 1, 5 Dionys von Halikarnass de compos. verb. ce. 14.
Probus IV 50, 37 graecarum litterarum vocabula in dimidia parte sunt disyllaba et
in alia monosyllaba, id est ut XXX et VI sonos contineant: also ist IßTA, trotz der
ungenauen Formulierung der einleitenden Worte, als trisyllabon gerechnet. Die Zahl-
zeichen für 6 90 900 sind ausgeschlossen.
® Y ist von den Römern stets als peregrina empfunden worden, darf also in
der Reihe der lateinischen Buchstaben von Niemandem vermisst werden. Pro-
bus IV 50, 38 (gleich hinter der eben ausgeschriebenen Stelle) at vero litterarum lati-
narum nomina cum sint omnia monosyllaba, id est ut XX et unum sonum contineant:
also sind Y und Z ausgeschlossen. Noch die späten versus cuiusdam Seoti de alpha-
beto Barurens Poetae latini minores V 375 haben vielleicht in ihrer ursprünglichen
Gestalt die litterae graecae nicht berücksichtigt. RhM 20, 374. 24, 615. 31, 468.
® Peiper wollte, an sich sehr ansprechend, das Zahlzeichen cAmmı (offenbar
unter dem Namen cAn) hier einführen. Vgl. die Formen des Zeichens bei Woısın de
Graecorum notis numeralibus, Kiel 1886, 41. Aber die EmicHmA gehören nach der
W. Scenurze: Die lateinischen Buchstabennamen. 769
stellungsversuch, dessen Schwierigkeiten ich mir selbst nicht verhehle,
urtheilen mag: sicher ist, dass kein einziger der 27 Verse auch nur
mit dem leisesten Scheine der Berechtigung auf eine lateinische semi-
vocalis gedeutet werden kann. Die griechischen Hmiowna sind ausnahms-
los durch je eine Zeile vertreten, aber selbst die lateinischen Aequi-
valente der Buchstaben m? nY = $®, die in der Gestalt des Zeichens
wenigstens zur Hälfte und in der Benennung sämmtlich zum griechi-
schen Alphabete nicht stimmen, fehlen und fallen durch ihre Abwesen-
heit merkwürdig auf: von dem Zeichen X erfahren wir wohl, dass es im
Lateinischen die Zehnzahl, im Griechischen den Buchstaben x' darstellt,
aber von der Existenz einer lateinischen semivocalis /X wissen die
Verse nichts zu berichten. Es ist also eine ganze Kategorie lateinischer
litterae, deren uns geläufige Namen EF EL EM EN ER ES EX (oder
IX) doch allen Anforderungen dieser metrischen Spielerei genügen
würden’, absichtlich ferngehalten worden. Weder durch eine Laune
des Dichters noch durch eine Zufälligkeit der Überlieferung kann
dieser Sachverhalt befriedigend erklärt werden. Dem Ausschlusse ver-
fallen grade die Buchstaben, deren herkömmliche Klassendefinition
den Nachfolgern Donats Bedenken erweckt und bald zu einer wenigstens
formalen Umgestaltung der traditionellen Lehre von den Buchstaben
und ihrer Eintheilung den Anstoss gegeben hat.
Wer den Ausonius rechtfertigen und sein Verfahren begreifen will,
findet in dem metrischen Lehrbuche des Terentianus Maurus, das nicht
unbeträchtlich älter ist, eine durch ihre Einfachheit überraschende
Aufklärung. Die Namen aller vocales und mutae verwendet er un-
bedenklich, und zwar mit dem Werthe einer langen Silbe, in den
wechselnden Maassen seiner Verse. ZB.
Praxis der antiken Grammatik gar nicht ins Alphabet und sind, soviel ich weiss,
damals namenlos gewesen und noch lange geblieben. Dass Fulgentius, der de aet.
mundi 132, ı2 H. die Zeichen für 6 und go als episemon et cuf aufführt, die angeblich
echtgriechischen Namen stigma und coppa im Sinne gehabt und nur um der von ihm
beliebten absurden Buchstabenspielerei willen unterdrückt habe. ist eine ganz un-
beweisbare Verinuthung (Arch. f. lat. Lexikogr. ı1, 295.) Der hebräische Name des
>? ist nur der Formähnlichkeit zu Liebe willkürlich gewählt; Fulgentius hat nicht
einmal gewusst, dass sein cuf mit dem lateinischen Q geschichtlich identisch ist.
Übrigens wäre es wünschenswerth, wenn die Grammatiker, die das Zahlzeichen für
900 anstandslos cAmrı oder gar CAN zu nennen fortfahren, endlich einmal mit einem
brauchbaren Zeugnisse sei es auch nur aus der byzantinischen Zeit herausrückten.
SoruocLes Greek Lexicon 974 erklärt ausdrücklich, dass für cAmmı überhaupt kein
Beleg existiere, und die Zeugnisse für den dorischen Buchstabennamen cAn haben mit
dem Zahlzeichen nichts zu thun.
® Vergleiche den späten Vers RhM 31. 469
ante mei topo |[?] geminas ss scribere docta.
Beim Lesen hat man also den Namen ES einzusetzen.
SI
0 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 28. April 1904. — Mittheilung v. 14. April.
«e hane enim si protrahamus, A sonabit, X et V
‚s ] et O duae supersunt quinque de vocalibus
> refert nihilum, X prior an Q siet an C'
ss C modo aut P copulare subditam 7 sie solent
so namque B vel C sonare, porro DG et ceteras
::3 H littera sive est nota, quae spiret anhelum.
Die Namen der mutae haben gegenüber vorausgehenden Wörtern mit
consonantischem Schlusse die Kraft der Positionsbildung, schliessen sich
unbedenklich auch dem schwächsten vocalischen Auslaute an und
können ihrerseits vor vocalischem Anlaute ihren Silbenwerth verlieren,
dh. inchoant a naturali sono et desinunt in vocalem sonum, ganz
in Übereinstimmung mit der späteren Praxis, wie sie etwa Pompeius
V ıoı, ı2 formuliert. Diese Verbindung zweier Bestandtheile schildern
vı86ss
B littera vel P quasi syllabae videntur
iunguntque sonos de gemina sede profectos:
nam muta iubet portio comprimi labella,
vocalis at intus locus® exitum ministrat
a sonus? cf. v 196. comes? cf. v 807. 810. 8138.
Dass der Hilfsvocal im Allgemeinen e gewesen ist, verrathen v IOIss
B eum volo vel C tibi vel dicere D 6,
E quae sonitum commodat hisce si negetur,
et labra prementur simul et revineta lingua:
haec vim tacitam sponte sua nimisque mutam
coniuneta potentem sonitus faeit latentis.
Bei den semivocales aber, die Ausonius von seinen Versen ausgeschlossen
hat, ändert sich auch das Verfahren des Terentianus.
> septem religuas hine tibi voce semiplenas
vix lege solutus pote nominare sermo.
has versibus apte quoniam loqui negatur,
instar tituli fulgidula notabo milto:
ut quamque loquemur, datus indicabit ordo
FLMNRSX.
8» semivocales oportet segregare attentius;
quas quidem quia nominatim versus indi non sinit,
ordinis signabo numero, quae sit haec quam disseram,
titulus <ut) praescribit iste discolor sinopide
FLMNRSX.
Statt des Namens tritt also die Ordinalzahl ein, entsprechend der Stelle,
die der einzelnen semivocalis in der durch farbige Schrift besonders
{ ; Be er
W. Scnurze: Die lateinischen Buchstabennamen. 71
hervorgehobenen, die Versabfolge unterbrechenden Buchstabenreihe ge-
bührt, prima = F, secunda,
ex ordine fulgens eui dat locum sinopis (v 233).
— Lusf. Auch hier ist, grade wie bei Ausonius, der Gegensatz zu
den griechischen #mieona und ihren durchaus versgerechten Namen
zu constatieren.
262 Si IATA loquor nABAaAve, nY vel hispidum Po
2 nam = quod Graecis commune videmur habere
KATITIA et cirma facit, non cirma et KATıTTA secundo.
Dass in dem lateinischen ABC des Terentianus, das für die Zeichen
der vocales und der mutae allgemein anerkannte Namen besitzt, auch
‚den einzelnen semivocales besondere aussprechbare Bezeichnungen nicht
gefehlt haben können, ist selbstverständlich. Nach dem vereinigten
Zeugnisse des Terentianus und des Ausonius ist es aber nicht weniger
klar, dass diese Bezeiehnungen aus irgend einem Grunde dem Verse
widerstrebt haben müssen. Daraus ergiebt sich als unabweisbare Con-
sequenz, dass die nach Donat üblichen Buchstabennamen £F EL EM
EN ER ES IX in einer etwas früheren Zeit entweder gar nicht be-
standen haben oder doch von der damals vorherrschenden Praxis nicht
anerkannt worden sind. Darüber ist eigentlich kein weiteres Wort
zu verlieren, zumal Ausonius seinem Technopaegnion sonst solche
Verse wie
et durum nervi cum viscere consonciant os
bissenas partes quis continet aequipares? AS
die, quid significent eatalepta Maronis? in his Au
anstandslos eingemischt hat. Wie man die semivocales damals wirklich
zu benennen (nuncupare) gewöhnt war, sagt uns Terentianus Maurus
glücklicherweise selbst mit denk ich unzweideutigen Worten, 806 ss
nulla nam mutis facultas ad sonum edendum data est:
labra fixa, vineta lingua est, exitus nullus patet,
nexa si non adiuvetur cuilibet vocalium.
namque B vel (' sonare, porro DG et ceteras
quis queat, si non resignet labra vocalis comes,
syllabam fingas ut ante, litteram quam proferas?
semivocales videmus oris exprimi sono
posse vel solas, adhaerens nulla vocalis licet
exitum plenum ministret nuncupandae litterae
verglichen mit 222s
septem reliquas hine tibi voce semiplenas
vix lege solutus pote nominare sermo.
772 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 28. April 1904. — Mittheilung v. 14. April.
Also nennen kann der sermo lege solutus auch die semivocales, freilich
vix, das heisst nicht ohne eine gewisse Schwierigkeit und Unvoll-
kommenheit, sono obscuriore et impeditiore, ore semicluso, wie in
vg2s gut erläutert wird. Es scheint mir darnach ganz klar zu sein,
dass die semivocales, ebenso wie die vocales, zu den litterae per se no-
minatae sive quae per se prolatae nomen suum ostendunt' gehören.
Man “buchstabierte’ die mutae BC D usf. mit einem conventionellen
Hilfsvocal (meist e), aber man “lautierte' die semivocales, indem man
ihr charakteristisches Consonantengeräusch zugleich als Namen des
Buchstabens gelten liess. Der Grund des Unterschiedes ist leicht ein-
zusehen. Die mutae sind momentane Explosivlaute, deren Geräusch
in demselben Augenblicke klingt und verklingt, die semivocales aber
stellen eontinuierliche Geräusche vor, deren Vernehmbarkeit sich durch
beliebige Verlängerung der Exspiration bequem erhöhen lässt. Dort ein
fester Verschluss, der der Exspiration den Weg verlegt, bis er ge-
waltsam gesprengt wird, hier eine Enge, die den Weg wohl behindert,
aber nicht sperrt. Terentianus selbst hat diese Dinge mit so leben-
diger Anschaulichkeit geschildert, dass seine Verse auch hier eine Stelle
finden müssen. v 89ss
at consona quae sunt, nisi vocalibus aptes,
pars dimidium vocis opus proferet ex se,
pars muta soni comprimet ora molientum.
illis sonus obseurior impeditiorque,
utcumque tamen promitur ore semicluso,
vocalibus atque est minor auctiorque mutis:
his caeca soni vis penitus subest latetque,
ut non labiis hiscere, non sonare lingua
ullumve meatum queat explicare nisus,
vocalia rietum nisi iuncta disserarint.
Erst unter der Voraussetzung einer die mutae und die semivocales
entsprechend ihrer physiologischen Eigenheit differenzierenden Behand-
lung wird der Wortlaut der bis auf Donat von der lateinischen Gram-
matik anerkannten Klassendefinitionen ganz begreiflich und zugleich
als vollkommen sachgemäss gerechtfertigt.
vocales sunt quae per se proferuntur et per se syllabam faciunt.
semivocales sunt quae per se quidem proferuntur, sed per se
syllabam non faeiunt.
mutae sunt quae nee per se proferuntur nec per se syllabam faeiunt.
! Der Ausdruck nach Charisius I 9,4 und Priseian II 8, 10.
| : NE 6
W. Scuurze: Die lateinischen Buchstabennamen. 773
Diomedes sagt dafür I 423, 24 mutae dietae quod per se sine
adminiculo vocalium non possunt enuntiari (oben S. 764 Anm.2s) und er-
läutert das selbst durch die einleitenden Bemerkungen des Abschnittes
421, 28: accidunt unicuique litterae tria, nomen figura potestas. nomen
est quo dieitur vel enuntiatur. Das proferuntur und non proferuntur be-
zieht sich also auf die Buchstabennamen, von denen die Grammatiker
statt vom Laute bei ihren Betrachtungen auszugehen pflegen." Als
diese Namen eine Umgestaltung erfuhren, indem an die Stelle der
voeallosen Geräusche FLMNRSX die vollen Silbenklänge EF EL
EM EN ER ES EX traten, musste das traditionelle proferuntur als un-
passend empfunden werden — falsum est’ sagt der Donatcommen-
tator Gledonius —, und man ersetzte es, um die Definition nicht ganz
aufgeben zu müssen, durch sonant, obwohl man in der Praxis doch
auch fortfuhr, den Namen der Buchstaben als Ausgangspunkt gram-
matischer oder lautphysiologischer Erörterungen festzuhalten.”
Aus der Definition der semivocales, quae per se quidem profe-
runtur, sed per se syllabam non faciunt, lässt sich auch der Grund
erkennen, der Terentianus Maurus und Ausonius zum Ausschlusse der
semivocales bestimmt hat. Verse bauen sich auf aus Versfüssen, Vers-
füsse aber bestehen aus Silben; die Namen der semivocales bilden
keine Silbe: also darf man sie im Verse nicht verwenden. Ich meine,
der Schluss ist bündig für jeden grammatischen Dichter, der auf dem
Boden der traditionellen Schuldefinitionen steht, und Ausonius war
ein Schulmeister so gut wie Terentianus Maurus. Als er den nach-
maligen Bischof von Nola Paulinus (geboren 353) und den kaiserlichen
Prinzen Gratian (geboren 359) unterrichtete, hat er die Lehre von den
Buchstaben gewiss in demselben Sinne vorgetragen, wie wir sie etwa
bei Terentianus lesen. Die zweite Ausgabe des Technopaegnion, der
das Stück de litteris monosyllabis neu eingefügt worden zu sein scheint,
fällt ins Jahr 390.° Seines Lehrers Donat, der, wie wir sahen, an
! Man darf nie vergessen, dass FPAMMATIKH von FPAmMA kommt. Noch die beiden
Begründer aller wissenschaftlichen Lautlehre, RKRısk und JGrıuw, trennen sich
in der Terminologie nur schwer von der Gewohnheit der alten Grammatik, deren
kümmerliche Unzulänglichkeit sie doch selbst als die Ersten überwinden lehrten. Rask
sucht in seinem Buche “Undersögelse om det gamle Nordiske eller Islandske Sprogs
Oprindelse’, dessen unvergänglicher Ruhm durch den helleren Glanz der Deutschen
Grammatik wohl überstrahlt, aber nieht verdunkelt werden kann, überall nach Regler
for Bogstavernes Overgange S. 26. 36. 47 statt nach den Gesetzen des Lautwandels und
Grimm überschreibt das Erste Buch der Grammatik “Von den Buchstaben’, obwohl er
gleich Eingangs “paläographische Betrachtungen und Untersuchungen der äusseren Ge-
stalt der Buchstaben’ als in die Diplomatik gehörig abweist.
2 fragm. Bob.VIll 538, 30 semivocales sunt quae detracta vocali a qua inchoant
dimidium sonant. 539, 2 mutae sunt quae detracta vocali in quam desinunt penitus
non sonant. Ähnlich auch an den S.765 ausgeschriebenen Stellen des Servius und Sergius.
3 Fr. Marx bei Pavry-WıssowA 2, 2569.
774 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 28. April 1904. — Mittheilung v. 14. April.
den traditionellen Definitionen noch keinen Anstoss genommen hat, ge-
denkt der heilige Hieronymus zum Jahre 354: Vietorinus rhetor et
Donatus grammaticus praeceptor meus Romae insignes habentur. Da-
mals lehrte Ausonius, wohl schon seit zwei Jahrzehnten, in Bordeaux.
Auch die durch mannigfaltige Berührungen und Übereinstimmungen
mit einander verbundenen Darstellungen des Charisius, Diomedes, Marius
Vietorinus und Dositheus, als deren Entstehungszeit man das 4. Jahr-
hundert zu betrachten pflegt, sind der Tradition treugeblieben. Der
Widerspruch, der, wie wir jetzt zu wissen glauben, eine Veränderung
in der Praxis der Buchstabenbenennung voraussetzt, regt sich zuerst
in der Commentarlitteratur, die sich an das Schulbuch des Donat an-
schliesst. Der Name des Servius, den schon Priseian als Eideshelfer für
die Autorität der neuen Ordnung anruft, führt zwar auch noch ins
4. Jahrhundert, in seine zweite Hälfte natürlich, aber man wird bei
dem ganzen Charakter dieser aus der Praxis der Schule hervorgegange-
nen und der Praxis der jeweiligen Zeit dienstbaren Litteratur, die Ab-
schreiber und Editoren zur Anpassung an die veränderten Bedürfnisse
der Gegenwart gradezu herausforderte, billig bezweifeln dürfen, ob
die für den Autor geltende Zeitbestimmung ohne Weiteres auch für
die Chronologie einzelner Angaben und selbst ganzer Abschnitte in
ihrer vorliegenden Fassung massgebend ist. Freilich würde es auch
recht wohl verständlich sein, wenn Ausonius, dessen Geburtsjahr vom
Beeinne des Jahrhunderts durch etwa ein Decennium getrennt war,
am Ausgange desselben sich nicht mehr entschliessen mochte einer
inzwischen eingebürgerten Neuerung Rechnung zu tragen und der Ge-
wöhnung seiner eigenen Lernjahre selbst im Widerspruche mit zeit-
genössischen Autoritäten treu zu bleiben vorzog.
“ine eigenthümliche Mittelstellung zwischen den Vertretern der
alten und der neuen Ordnung glaube ich dem Verfasser der unter dem
Namen des Probus überlieferten instituta artium anweisen zu müssen.
Die Stellen habe ich schon S. 763 ausgeschrieben. Der wunderliche Gegen-
satz zwischen secundum musicam rationem und secundum metra latina et struc-
turarum rationem macht auf mich den Eindruck, als ob der Verfasser
zwischen den /lautierten FZLMN RSX und den "buchstabierten EF EL
EMENERES EX, also zwischen Vergangenheit und Gegenwart eine
Art harmonistischen Ausgleiches anstrebt, statt die überlebten Formen
einfach preiszugeben und die veränderte Praxis der Gegenwart rückhalt-
los anzuerkennen, wie es die nach der ars des Donat docierenden Gram-
matiker ohne Pietätsserupel zu thun pflegen. Dies Verfahren des Probus
erscheint mir wie ein beachtenswerther Wink für die innere Chrono-
logie der Zeugnisse: wer noch vermittelt, wird wohl ein wenig älter
sein, als wer den Bruch mit der Tradition endgiltig vollzogen hat.
“ ‘ . Pig pm m
W. Scnurze: Die lateinischen Buchstabennamen. (0765)
Deshalb glaube ich, dass sich zunächst der Name X in EX, wie bei
Probus überliefert ist, und erst durch einen abermaligen Act der Um-
gestaltung in IX verwandelt hat.
Für die vocallose Aussprache der die semivocales bezeichnenden
Namen ist Terentianus Maurus nicht unser erster Zeuge. Dass schon
Velius Longus sie für die Verse des Lucilius voraussetzt, hat Fr. Marx
in den studia Lueiliana 5 ss schlagend richtig bemerkt. VII 46, ı5
scimus tamen subtiliorem factam esse divisionem, ut vocales illae qui-
dem dicerentur sine quibus syllaba fieri non possit, ceterae consonantes
quae cum his sonent: nam nihil mutatur ex syllaba. inventi sunt tamen
qui et sine vocali putent posse syllabam fieri. nam animadvertimus
apud comicos S et T pariter scriptas litteras ut apud Terentium in
Phormione [742 s]
non is obsecro es
quem semper te esse dietitasti. St. quid has metuis fores"?
hoc S et T pariter renuntiat silentium. sed si hoc seetentur, possint
etiam plerasque consonantes et omnes semivocales pro syllabis ponere.
nam apud Lueilium in nono, in quo de litteris disputat, omnes vicem
syllabarum implent, cum dieit [fr. 267 B.]
ra re non multum abest hoc cacosyntheton atque canina
si lingua dico nihil ad me nomen hoe illi est
item [fr. 269 B.]
S nostrum et semigraece(i)’ quod dieimus sıcma
nil erroris habet.
ergo haec nihil aliud quam locum syllabae tenere nec tamen syllabas
esse. non ergo accedendum est iis qui putant sine vocali syllabam (Lücke,
wie der Sinn erweist) ut etiam significationem vocis terminent, quoniam
silentium denuntient. et errant: nam et X significat aliquid (sie enim
vocamus) neque tamen ideo syllaba aut lexis est. et haee ipsa con-
stat ex C et S, nec ideo et illam quisquam syllabam dixit, sed dupli-
cem litteram.
* corr ex Terentio. Vgl. auch Paulus ex Festo 515, ı Th. silere tacere
est, fieto verbo a S littera quae initium et nota silentii est. Für die Inter-
jeetion ist vor allem der Zischlaut das Wesentliche, norw. hys hys engl. hush
nhd. sch (neben frz. chut nhd. st pst) JGrınu DG 3, 298. b add Marx.
Ist auch der Text durch recht schwere Entstellungen getrübt, so
lässt sich ihm doch die Hauptsache, auf die es uns hier ankommt,
ohne den Rest eines berechtigten Zweifels abgewinnen. Nam et X
significat aliquid "auch das X bedeutet Etwas’ — nämlich die Laut- oder
Buchstabenverbindung € + s, sie enim vocamus ‘denn so benennen
wir es’ — nämlich mit dem Laute . das Zeichen oder den Buchstaben X.
776 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 28. April 1904. — Mittheilung v. 14. April.
Velius Longus hat also die Gewohnheit seiner eigenen Zeit im Auge.
Er konnte ja auch schwerlich wissen, ob Lucilius selbst S nositrum
mit drei richtigen Silben — etwa als ES oder SE nostrum — ge-
sprochen oder das Öonsonantengeräusch des Buchstabens S als Silben-
stellvertreter hatte fungieren lassen. Auf solehe Fragen gab die Über-
lieferung einem Grammatiker vom Schlage des Velius Longus (oder
seines Gewährsmannes) überhaupt keine brauchbare Antwort. Wohl
ist es möglich, dass eine genauere Beobachtung der prosodischen Wir-
kungen, der Position, des Hiatus und der Elision, die Sache end-
giltig aufzuklären gestattet hätte; aber die Auswahl der Beispiele, die
wir wenigstens an einem sicheren Falle controlieren können, zeigt, dass
der hier zweifellos mit untauglichem Beweismaterial operierende Gram-
matiker solchen Observationskünsten überhaupt nicht gewachsen war.
Er übertrug vielmehr einfach die Praxis seiner eigenen Zeit auf den
alten Dichter, und soweit er damit den Lueiliusversen gegenüber durch-
kommen konnte, hatte er auch methodisch gar nicht einmal so ganz
unrecht. Er machte also, wie er’s gewöhnt war, einen Unterschied
zwischen den einzelnen Consonantenkategorien: plerasque consonantes
et omnes semivocales, dh. “eine ganze Anzahl von Consonanten und
zwar alle semivocales’. Wer alle Consonanten mit vollem Silbenklange
sprach, gleichgiltig ob der Hilfsvocal dem consonantischen Elemente
voranging oder nachfolgte, oder wer alle gleichmässig lautierte, für
den hatte in einer Erörterung über den Silbenwerth der consonantes
die Unterscheidung ja gar keine Bedeutung. Wer aber die Namen
BE und F durch einen fundamentalen Unterschied der Aussprache aus-
einanderhielt, musste differenzieren und speeialisieren." Offenbar befin-
den wir uns mitten in der Discussion einer Aporie, deren (übrigens
im Sinne des Velius Longus ausgefallene) Lösung zum Ausschlusse der
semivocales, und nur dieser, nicht auch der mutae aus den Versen
des Terentianus Maurus und des Ausonius geführt hat. Wenn Velius
Longus sagt, dass bei Lueilius im 9. Buche omnes vicem syllabarum
implent, so kann er auch dies unmöglich von allen Consonanten ge-
meint haben, denn die von ihm selbst aus Lucilius angeführten Bruch-
stücke fr. 2565 B.
— — — — — — — — —est D siet an B
Dne an C, non est quod quaeras atque labores
! Aus einer Vereinigung der Zeugnisse des Velius Longus und des Terentius
Seaurus, dessen Erörterungen VII 14, ı5ss 15, 3ss die Buchstabennamen BE CE DE KA
als einen traditionellen Besitz der lateinischen Sprache behandeln, lässt sich also ein
Beweis dafür construiren, dass die von Terentianus Maurus vorausgesetzte Namenreihe
schon in der Zeit des Traian und Hadrian bestanden hat und ohne Bedenken für
altererbt galt.
W.Scnurze: Die lateinischen Buchstabennamen. WELT
widerlegen jeden Versuch, auch die mutae zu lautieren. Der Gang
des Verses fordert hinter dem consonantischen Anlaute eine Schluss-
silbe mit vollem Vocal: Niemand kann den Hexameterausgang
est D siet an B
metrisch anders lesen als etwa den Schluss des schon aus Terentianus
angeführten sotadeischen Verses 209
an Q siet an (,
der sich beinahe wie eine Reminiscenz aus den Satiren des Lueilius
ausnimmt. Es ist also so gut wie erwiesen, dass schon zur Zeit des
Lueilius diese conventionellen Namen der mutae bestanden haben. Denn
den Grundsatz wird man wohl gelten lassen, dass die später üblichen
Bezeichnungen, soweit sie den alten Versen metrisch genügen, ohne
Noth nicht als junge Neuerungen diskreditiert zu werden brauchen.
Das älteste Zeugnis freilich, das jeden Zweifel über die Gestaltung
des den mutae angehängten Silbenvocals ausschliesst, finde ich erst im
7. Priapeum
Cum loquor, una mihi peccatur littera: nam TE
PE dico semper, blaesaque lingua meast.'
Dagegen können wir, wie Fr. Marx studia Luciliana 7 gesehen hat,
in betreff der semivocales wohl über Lucilius hinaus zu einem nicht
unbeträchtlich älteren Zeugen gelangen. Plautus Mercator 303
DEM. Hodie ire in ludum occepi litterarium,
Lysimache, ternas iam scio. LYS. Quid ternas? DEM. A.M. O.
LYS. Tun capite cano amas, senex nequissime?
DEM. Si canum seu istue rutilum sive atrumst, amo.
In der That kommt der Witz glatt und rein erst heraus, wenn man
nicht “buchstabiert’ A. EM. O, sondern “lautiert' A. M. O0. Der Name
des A steht fest durch Truculentus 690
AST. Perii, rabonem? quam esse dicam hanc beluam?
quin tu arrabonem dieis? STRAT. A facio lueri.
Aus diesen Erörterungen ergiebt sich ein, wie mir scheint, ge-
schlossenes und verständliches Bild der ganzen Entwickelung. Die
Geschichte des römischen Alphabets älterer Zeit folgt, recht im Gegen-
satze zu dem früh erstarrten etruskischen und seinen Ablegern, in ge-
wissem Sinne und Umfange den Wandlungen des griechischen Schrift-
wesens. Rom erweist sich so als eine Stadt des Fortschrittes, die
! Vgl. auch nr. 54
C D si seribas temonemque insuper addas,
qui medium te volt scindere, pietus erit.
nach BvecHerers evidenter Besserung (EDE trad).
178 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 28. April 1904. — Mittheilung v. 14. April.
von der überlegenen Cultur des Griechenthums dauernd zu lernen
sich bemüht. Auch die physiologische Classifieation der Buchstaben
in #wnHeNnTA, HMisona und Aswna haben die römischen Schulmeister früh-
zeitig aus derselben Quelle bezogen und dann, mit einer deutlichen
Regung der Selbstständigkeit, die ich recht bemerkenswerth, sogar
merkwürdig finde, zur Schaffung einer eigenen Nomenelatur des Al-
phabets benutzt, die bei aller kenntlichen Anlehnung an das griechische
Vorbild doch im Wesen der Sache eine unabhängige Neuschöpfung
ist. Für die Namen der Vocale AEIOV lag das Muster in & (und
wohl auch ?) bereit. Zur Bildung der Namen BE DE PETE usf.
mochten die mit überflüssigem Ballast am geringsten beschwerten
Formen rei sel xel! den Anstoss gegeben haben; vermuthlich sprach
man sie damals im Griechischen noch pe? phe khe mit geschlossenem
langem e.” Auch scheint e sich wenigstens in Europa am ehesten für
die Rolle eines indifferenten Vocals zu eignen, wie das Beispiel der
kyprischen Silbenschrift lehren kann.” Die drei %-Zeichen, deren
akustischer Werth gleich oder doch nahezu gleich war, musste man
auf eine künstlichere Weise zu unterscheiden versuchen. Als das
eigentliche Normalzeichen wird C durch die Wahl des allen anderen
mutae beigegebenen e-Vocals vor X und Q@ ausgezeichnet. Es scheint
mir evident, dass die ganze Namenreihe erst erfunden worden ist,
nachdem sich in der lateinischen Schrift die sonderbare Umwerthung
des alten chalkidischen ramma, die ich mir nur durch den nachbar-
lichen Einfluss des für die Unterschiede von tenues und mediae un-
empfindlichen Etruskerthums erklären kann, und im Zusammenhange
damit die Gebrauchsbeschränkung für X und Q' durchgesetzt hatte.
Die Namen KA und QV, die man trotz mangelnder Zeugnisse gewiss
für ebenso alt halten darf wie CE, sind Wirkung, nicht Ursache.
Bei den semivocales zeigte sich der römische Selbstständigkeitsdrang
am reinsten: das Verdienst, die nach meinem Geschmacke hässliche
1 MEISTERHANS-SCHWYZER 6.
® Lat. edyllium aus eIAYAnIoN.
® Im Kyprischen, das nur Silben-, keine Lautzeichen kennt, muss ein vocallos-
schliessender Endeonsonant regelmässig durch das Zeichen mit inhaerierendem e-Vocal
dargestellt werden. EcrtAac und EcTace konnte die Schrift nicht unterscheiden.
* Für diese Gebrauchsbeschränkung war bei Q natürlich die griechische Regel,
die öra nur vor dunkelen Vocalen zuliess, vorbildlich, wenn ich auch nicht be-
greife, weshalb die Verbindung QO ausgemerzt wurde. Oder sollte auch hier die
etruskische Schrift, die selbstverständlich nichts anderes als QV kannte, eingewirkt
haben? Jedenfalls ist die Verdrängung des X durch € Etruskern und Römern gemeinsam.
Dass die Letzteren das K nur in ein paar Wörtern oder notae grade vor a-Vocal
festgehalten haben (A retenta propter notas, Terentius Scaurus VII 14, 13. 15, 19),
mag durch den Namen des griechischen KArA veranlasst sein. Tiefere lautphysio-
logische Gründe darf man hinter CE KA QV gewiss nicht suchen wollen.
W. Senvurze: Die lateinischen Buchstabennamen. 779
Lautiermethode' erfunden und, wenn auch in bestimmt begrenzter Ver-
wendung, in den Lese- und Schreibunterricht eingeführt zu haben, ge-
bührt den Römern ohne jede Einschränkung. Aber an der Ausnahme-
stellung des HA, das die römische Grammatik später, ich weiss nicht seit
wann, ganz willkürlich und ganz unverständig den mutae zurechnete,
merkt man wieder die Abhängigkeit von der griechischen Theorie,
in der, trotz aller Neuerungssucht, der Erfinder der lateinischen Buch-
stabennamen befangen war.” Die Einführung des ionischen Alphabets
hatte den Hauchlaut, obwohl er noch fast ein Jahrtausend in un-
geschwächter Lebenskraft überdauern sollte, für alle Zeiten disquali-
fieiert und aus der Reihe der Buchstaben ausgeschlossen; nur durch
eine Hinterthür, als prosodisches Zeichen, hat ihn die Grammatik
wieder eingeführt, aber niemals als vollberechtigten Sprachlaut gelten
lassen oder ihn in ihre Classification der Buchstaben mit einbezogen.’
Die lateinische Alphabetreihe, die dem FH sein altes Recht dauernd
belassen hat, schuf also eine Verlegenheit, indem sie einen Buchstaben
enthielt, für den in der griechischen Olassifieation nirgends ein Platz
vorgesehen war, obwohl die griechische Sprache den betreffenden
Laut grade so gut besass wie die lateinische‘ Bei F hatte der
Erfinder völlig freie Hand, weil hier das lautliche Correlat dem
Griechischen ganz, das graphische wenigstens dem Normalalphabete
abging: da konnte er sich ohne Voreingenommenheit einfach von
' Die bekannte Etymologie von el-em-en-tum, die noch immer ihre Anhänger hat,
ist dadurch abgethan; denn die Namen haben in älterer Zeit überhaupt nicht EL EM
EN gelautet.
?2 Die lateinischen Buchstabennamen sind bei Lucilius Cicero Varro Augustus
Neutra (doch wohl nach TO rpAmma, TO Ansa), in der Kaiserzeit Feminina (nach dem
Geschlechte von Zittera).
® Das griechische A ist nur durch eine Zufälliskeit der Schriftgeschichte um
sein gutes Recht, als besonderer Laut anerkannt zu werden, betrogen worden. Die
physiologische Betrachtung der Grammatiker geht stets vom Buchstaben, nicht vom
Laute aus, und nimmt den durch die Einführung des ionischen Alphabets geschaffenen
Zustand einfach als etwas Gegebenes und Selbstverständliches hin, ohne je ernst-
lich über seine Nothwendigkeit und Berechtigung zu refleetieren. Die Zeugnisse der
Schriftgeschichte und der Grammatiker unter diesen Umständen für nachträgliche laut-
physiologische Feststellungen über das wahre Wesen der antiken adspiratio zu ver-
wenden (Seemann Aussprache 262 ss) ist nichts als ein grober Misbrauch der Über-
lieferung.
* Dass das lateinische 3 in historischer Zeit, soweit es sich um die normale
Aussprache handelt, je eine wirkliche “Spirans', also ein ach- oder zch-Laut, gewesen
sei, hat meines Erachtens auch Tu. Bırrs Gelehrsamkeit (in dem Buche: Der Hiat
bei Plautus und die lateinische Aspiration) nicht zu erweisen vermocht. Griechischen
spiritus asper und lateinisches 4 hat man im Alterthum nach dem akustischen Ein-
drucke jedenfalls nicht unterscheiden können. — Ausdrücklich fordern die Grammatiker
ex Hymetto, Terentius Scaurus VII 30, 9. 34, 16: das passt gut zu der griechischen
Gewohnheit, aber schlecht zu der Annahme ‘spirantischer” Aussprache des A.
780 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 28. April 1904. — Mittheilung v. 14. April.
seinem richtigen Empfinden leiten lassen, setzte den Buchstaben in
die Klasse der semivocales und gab ihm den entsprechenden Namen.
Bei FH aber fühlte er sich durch die Lehre von den griechischen
mneymara gebunden und wies ihm eine Sonderstellung unter allen
Buchstaben an, indem er seinen Namen zwar nach der Weise der
mutae mit einem Schlussvocal ausstattete, aber mit einem anderen
als dem normalen e-Laute. Die Wahl grade des @ wird man für
das Zeichen des halitus nicht unpassend finden. Das Bewusstsein
von der durch die griechische Theorie bedingten Ausnahmestellung
des H ist der antiken Grammatik niemals verloren gegangen; in der
von Wunderlichkeiten nicht freien Theorie der litterae vacantes (quae
calumniam patiuntur), die ein für verschrobene und überflüssige Ge-
lehrsamkeit von vornherein eingenommener Mann wie Varro gewiss
mit besonderem Behagen ausgeführt haben wird und deren Reflexe
bis in die armseligsten Ausläufer der grammatischen Litteratur des
Alterthums reichen,' gilt A nicht als littera, sondern nach dem Vor-
bilde des griechischen spiritus asper als nota adspirationis.?
Die spätestens im 3. vorchristlichen Jahrhundert erfundene Namen-
reihe des ABC hat sich im Gebrauche der Schule behauptet bis über
die Mitte des 4. nachchristlichen hinaus. Vielleicht schon die ersten
Nachfolger Donats aber haben mit der Lautiermethode bei den semi-
vocales aufgeräumt und die Buchstabennamen mit vorgeschobenem
e-Vocal eingeführt, wie es scheint, zunächst auch für X. Doch konnte
die nie aufgegebene, wenn auch oft bekämpfte Lehre von den litterae
vacantes die jeder Spielerei nur allzu sehr zugänglichen Grammatiker
leicht auf den Gedanken bringen, gerade diesen Buchstaben in eine
Sonderstellung zu drängen und ihn von den übrigen semivocales durch
die Eigenart seines Namens in ähnlicher Weise zu unterscheiden, wie
das seit Alters (und zum Theil aus triftigeren Gründen) bei den
anderen vacantes X QH üblich war. Schon der Wortlaut des von
! Sergius IV 519, ı1, dazu A Wırsanns de M. Terentü Varronis libris grammatieis
93. 124. 220 fr. 105 Fr. Marx studia Luciliana 9s. Daraus hat sich gelegentlich die
Anschauung entwickelt, als ob die vacantes HKQX YZ sammt und sonders erst
ein Neuerwerb des lateinischen Alphabets in seinen jüngsten Entwickelungsphasen
seien, fragın. Bob. VII 539, 12. Schliesslich hat man geglaubt, dass X erst unter Augustus
hinzugekommen sei. BvEcHELER RhM 36, 341.
®2 Die Lehre ist freilich immer auch bekämpft worden, aber doch nie mundtodt
gemacht. Der Gegensatz zwischen den Einen, die das H als littera gelten liessen,
und den Anderen, die ihm nur den Rang einer nota adspirationis zuerkennen wollten,
hat sich am Ende in ein Bald-Bald verwandelt. Cledonius V 28, 8 H quotiens iuvat
vocalem, consonans est, quotiens non iuvat, nota adspirationis (verglichen mit fragm. Bob.
VII 539, 7). Auf diese Schulregel gründet sich dann die Praxis später Dichter, die
das A bekanntlich nach Belieben ignorieren oder als positionsbildenden Consonanten
verwenden.
W, Scaurze: Die lateinischen Buchstabennamen. 781
Priseian angeführten Eutropiuszeugnisses lässt erkennen, dass ein Zu-
sammenhang zwischen der Sonderstellung, die die duplex X unter
den semivocales beanspruchen durfte, und der abweichenden Vocali-
sierung des IX beabsichtigt war: una duplex IX, quae ideo ab ö
ineipit, quia apud Graecos in eandem desinit. Als Geburtshelfer bei
dieser durchaus spielerischen Neuschöpfung mag in der That vielleicht
das griechische zi fungirt haben. Man hätte ja ebenso gut sonst auch
AX sagen können.'
Für Varro als Erfinder der ganz modernen Namen EF EL und
IX ist in dieser Entwicklung offenbar nirgends Raum.” Denn die An-
nahme, dass die Commentatoren des Donat bei ihrer Neuerung etwa
auf einen Jahrhunderte lang vergessenen und verschollenen Reform-
versuch des Varro, von dem kein Früherer etwas weiss, zurückgegriffen
haben sollten, ist so abenteuerlich, dass wohl Niemand diesen Aus-
weg im Ernste betreten wird. Zwar bezieht sich Sergius IV 520, 15,
obwohl er einfach die übliche Lehre des spätesten Alterthums vorträgt,
ausdrücklich auf Varro: VArro dieit consonantes ab e debere incipere
quae semivocales sunt et in e debere desinere quae mutae sunt. ideo
illae quia non ab e incipiunt neque in desinunt, possunt pati calum-
niam ut nee litterae videantur aut non sint necessariae. Hier ist die
Autorität Varros, der die Lehre von den litterae vacantes aufgebracht
oder doch populär gemacht hat, misbraucht worden zur Deckung der
ganzen Namenreihe, die ihre endgiltige Gestaltung allerdings nicht ohne
den Einfluss dieser Lehre erfahren hat. Es giebt keinen anderen Zeugen
für die von Sergius behauptete Thatsache, die sich mit dem oben aus
Terentianus Maurus und Ausonius ermittelten Sachverhalte schlechter-
dings nicht zusammenreimen lässt. So fällt das isolierte Zeugnis zu
Boden und darf als leichtfertiges ayrocxealacma eines späten Grammatikers
bei Seite geschoben werden. Dem Sergius thut man mit dieser Ent-
scheidung gewiss kein Unrecht und Varro befreit man von der Ver-
antwortung für eine Neuerung, auf die erst eine viel jüngere Zeit ver-
fallen ist.
Bei Seite gelassen habe ich die Zeichen Y und Z, die von den
Nationalgrammatikern durchaus als fremd empfunden und stets ausser-
halb der Reihe gestellt werden. Noch der gelehrte Dichter Aceius,
der doch sonst bewusst graeeisiert, hat sie verschmäht’, erst in der
' An eine lautmechanische Entwickelung von ex zu ix mag ich nicht glauben,
trotz der allenfalls anzuführenden Schreibung AıctrAnıa (di. dextralia).
2 Die auf den ersten Blick bestechende Combination, die Marx in den studia
Lueiliana 12 versucht hat, scheitert an den nicht berücksichtigten Zeugnissen des Te-
rentianus Maurus und des Ausonius.
® Marius Vietorinus VI 8, 12.
182 Sitzung der phil.- hist. Classe v. 28. April 1904. — Mittheilung v. 14. April.
eiceronianischen Epoche haben sie sich für die Wiedergabe griechi-
scher Wörter im lateinischen Schreibgebrauch eingebürgert." Die
römische Alphabetreihe sperrt sich ersichtlich gegen ihre Aufnahme,
hat ihnen aber schliesslich doch ein Plätzchen ganz am Ende ein-
räumen müssen’, nach der allgemeinen Regel, die neu aufgenommene
oder neu erfundene Zeichen an den Schluss der Reihe verweist. Den
litterae graecae, als welche sie trotz der Reception die Lehre der
Grammatiker stets anerkannt und behandelt hat, beliess man gewiss
auch den einheimischen Namen. Marius Vietorinus VI 34,20 Z apud
nos ultimam, in qua non sonus litterae, sed vocabulum et duplex
syllaba est, graeeis tantum cum in usum venerint aptam vocibus, ut Y
superius, propter peregrina vocabula reeipiemus, wozu Keır in Ab-
wehr einer falschen Auffassung Rısgecks die sicher treffende Anmer-
kung giebt: immo nomen litterae ZETAE disyllabum vocabulum esse
dieitur. Noch die moderne Schulpraxis hat den alten griechischen
Namen, wenn auch nicht überall ohne Verstümmelung, bewahrt, als
zeta, zeda, zet” Das griechische Y muss wie jedes mit y anlautende
Wort aspiriert gewesen sein, also Y gelautet haben. Das hat Wacker-
nagel zuerst gesehen, und die unabhängige koptische Überlieferung
hat es bestätigt. Ich glaube, erst durch diese Wahrnehmung wird das
volle Verständnis einer Stelle aus Servius’ Commentar zur Aeneis
1, 744 gewonnen, deren Kenntnis ich Bırrs Buch über den Hiat
bei Plautus 129 verdanke: alii dieunt Hyadas dictas vel ab Y littera
vel Aro To? Yöc. Der Buchstabe hiess eben Ay, und grade weil er
so hiess, lag es auch nahe ihn nicht blos zur Darstellung des ein-
fachen y-lautes, sondern auch der Lautcombination A + y zu ver-
werten. Bald nach der Einbürgerung des fremden Zeichens hat man
das versucht, wie die Münzen des P. Plautius Hypsaeus (v.J. 58 v. Chr.)
durch den regelmässigen Gegensatz von aspiriertem Hupsae und (schein-
! Die Alphabete auf republikanischen Münzen schliessen mit X. FRIEDLAENDER
Oskische Münzen 86 Monusen Münzwesen 561. 569 BAnurrerpr Wiener Numismatische
Zeitschrift 32, 1900, 80. Z auf den Münzen der gens Cassia aus augusteischer Zeit
BAurrerpr ebendort 76 |RhM 31, 468]. Über Y spreche ich sogleich.
® Für Marius Vietorinus VI 34, 20 ist Z nostrarum ultima (vgl. auch Fulgentius
de aet. mundi 132, 15 H. in postremum Z), für Quintilian instit. 1, 4, 9 aber X. Sueton
ed. REIFFERScH. p. 137 Caesar quoque Augustus ad filium: quoniam inquit innumerabilia
ineidunt, assidue quae scribi ad alterutrum oporteat et esse secreta, habeamus inter
nos notas sivis tales, ut cum aliquid notis seribendum erit pro unaquaque littera
seribamus sequentem hoe modo: pro A B, pro BC et deinceps eadem ratione ceteras:
pro X autem littera redeundum erit ad duplex A. Die Alphabetreihen auf den Haus-
wänden Pompeiis gehen über X nicht hinaus. ADiererıcn RhM 56, 84 (vgl. mit 98).
Spätere Alphabete sind wohl überwiegend vollständig.
3 Elfrie schreibt 6, ır Z &ac, se greeisca stxf, geendad on a. Also sagte er
sicherlich zeta.
W. Scaurze: Die lateinischen Buchstabennamen. 783
bar) unaspiriertem Ypsae unzweideutig beweisen." Bei den Grammati-
kern hat das wohl mehrfach Beifall gefunden, in welchem Umfange
auch in der Praxis Nachahmung, lässt sich bei der Unsicherheit im
Gebrauche des A-zeichens schwer mit irgend welcher Sicherheit fest-
stellen.” Wie lange die Kenntnis der correeten Namensform fortge-
lebt hat, weiss ich nicht. Aus dem falschen Apuleius (saee. XV) hat
Bırr a.a.0. 166 eine merkwürdige Angabe hervorgezogen: in tenuem
spiritum sonus ipsius (se. Y) desinit, a grossiori ineipit. Gemeint kann
doch nur Ay sein. So hat auch Reuchlin hypsilon geschrieben.” Aber
bei den Romanen hatte sich schon früh ein ganz anderer Name ein-
gebürgert, seit die Aussprache die Unterscheidung der i- und ö-Laute
aufgegeben und das anlautende % hatte verstummen lassen. Denn die
notwendige Consequenz war gewesen, dass man /y und i, die Namen
also des Y und des /, nicht mehr mit dem Öhre unterscheiden konnte
und deshalb auf ein anderes Mittel der Unterscheidung bedacht sein
musste. So ist Y [spr.i] graeca aufgekommen, commentum Einsidlense
aneced. Helv. VII 223, ı1, sp. ygriega, prov. ygrec [Leys d’amors 44].
frz. y grec, it. i greco. Das angelsächsisch -isländische VI ist eine will-
kürliche Combination der beiden Vocale, zwischen denen der Laut ä,
zu dessen Darstellung das fremde Zeichen dienen sollte, in der Mitte
lag. Schon die Alten hatten den Laut des F gelegentlich als einen
sonus medius inter « et ö definiert.
Eine besondere Umbildung hat bei den romanischen Völkern auch
der Name HA erfahren, den in seiner ursprünglichen Gestalt nur die
Germanen, Niederländer Deutsche Dänen Schweden, bis heute be-
wahrt haben, während die Spanier den Buchstaben ache, die Italiener
acca, die Franzosen ache nennen. Die englische Aussprache (2tsch) hält
wohl nur eine ältere normannische Form des französischen ache fest.
Für die richtige Würdigung dieses Namens ist vor allem zu bedenken,
dass er einem Buchstaben gilt, der seit langem im Munde der Ro-
manen verstummt ist.‘ Man braucht sich also über die mangelnde
! BAHRFELDT a. a. 0. 70. Der Gegensatz wird bei Mommsen-Bracas 2, 196 aus-
drücklich hervorgehoben, richtig gedeutet hat ihn Bırr a. a. O. 33. 128s.
® Notieren will ich, dass für Venantius Fortunatus die Schreibung ymnus durch
Buchstabenspielereien doppelt gesichert ist, c. ı, 16, 85. 5,6 carm. 30 ed. Leo.
® Reuchlins Briefwechsel herausgegeben von LGeiGEr 70 nr.76. — Bei Pontianus
hat jedenfalls der Drucker ypsilon, y quod appellant psylon gegeben. de aspiratione 1. ı
fol.22. 28 (in loannis loviani Pontiani opera omnia soluta oratione composita t.2, Venetiis
in aedibus Aldi, et Andreae soceri, mense Aprili. M-D. XIX).
* Ein mittelalterliches Zeugnis, das Bırı entgangen zu sein scheint, steht in den
versus cuiusdam Scoti de alphabeto (jetzt Baearens Poetae latini minores V 375 ss v 22
nomen habens vacuum fragilem deporto figuram,
non nisi per versus in me manet ulla facultas.
Das ist eine ausdrückliche Bestätigung der S. 780? vertretenen Anschauung über die
Praxis der späten Poesie.
Sitzungsberichte 1904. 63
784 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 28. April 1904. — Mittheilung v. 14. April.
Beziehung zwischen Lautwerth und Buchstabennamen nicht weiter zu
wundern. Vielleicht lässt sich seine Entstehung etwa auf folgendem
Wege begreiflich machen. In ein paar Wörtern und Interjectionen
hat die lateinische Sprache den durch A bezeichneten Hauchlaut zur
Spirans verstärkt, michi nichil ach vach proch. Belege giebt Bırr in
dem schon öfters eitierten Buche über den Hiat bei Plautus 13 ss.
121. 180; über michi (auch mici) nichil ist nachzulesen Pontianus de
aspiratione 1.2 fol. 30ss.' Brauchbare inschriftliche Nachweise aus
dem Alterthum findet man für michi in peRossıs inscript. christ. Rom. I
411 (v.J. 393) 425 = BvEcHELEr carm. epigraph. 676,7 (v.J. 395) CIL
VIIs. 18742 (christl.). Statt ch wird auch ce geschrieben’, vermuthlich
hat sich also die Spirans in eine Explosive weiterverwandelt. So ist
im Dänischen und Schwedischen die Interjection ach zu ak bz. ack
geworden.” Diomedes I 423, 19 erkennt auslautendes % nur in einer
einzigen Interjection an, in ah, wofür schon Velius Longus und Teren-
tius Scaurus die Existenz eines berechtigten % voraussetzen. Darnach
° den schliessenden Hauch erst seeundär erwor-
ben zu haben. Nach ihrer Analogie ist es natürlich auch möglich,
vom Buchstabennamen HA über hah zu hach hac zu gelangen; dies
hac aber musste den anlautenden Hauch in romanischer Aussprache
ebenso gut verlieren, wie alle anderen mit 4 beginnenden lateinischen
Wörter. Hier setzt nun ein wichtiges Zeugnis des Pontianus ein, der
für die Interjeetionen ah vah oh de aspiratione 1.ı fol. 2u.6 die
schliessende Aspiration als berechtigt anerkennt, für proh aber zwar
kennt, doch misbilligt. Auch er erörtert nach bekannten Mustern die
Frage, ob H eine richtige littera sei. Dabei argumentiert er l.ı fol. 3
wie folgt: semivocalium omnium praeterquam quod duplex est enun-
tiatio ab e vocali ineipit. at H etsi videtur quodammodo ab a vocali
ineipere, non tamen exit in consonantem, sed spiritu suo terminatur.
mutae omnes praeter F a se incipiunt et in vocalibus desinunt, quod
scheinen va* und pro
de FH diei non potest. Mir scheint es ganz offenkundig zu sein, dass
ihm der Name des Buchstabens, den er als solchen nicht gelten lassen
will, ah lautete (geschrieben vielleicht Aah, wie auch das Wörterbuch der
! Ich habe die Stelle schon Orthographica 24! eitirt. Vgl. auch JGrınm Kleine
Schriften 7, 99 über credemich.
® Vgl. zB. Ausonius ed. Schenk p. LX (mici nieil).
® JGrium DG 3, 285 des Neudrucks. Die deutschen Interjectionen ach wach
kann man doch schwerlich von den mittellateinischen Correlaten trennen oder gar auf
ein germanisches Etymon mit % zurückführen.
* va anecd. Helvet.1ı71, 19 (daneben vach laetantis 158, 33 dach Sergius IV
562, 20).
° pro BvECHELER carm. epigr. 501,7. 902, 7. 1061, 5. 1198, 7. 1535, 3. — Freilich
wird auch a geschrieben 428, ı. Vgl. dazu Sergius IV 519, 37 Pompeius V ı12, 36
LMverter RhM 20, 369.
. .. r- Er
W,. Sc#urze: Die lateinischen Buchstabennamen. 185
spanischen Akademie hache angiebt). Dies ah ist der Ausgangspunkt für
it. acca sp. ache frz. ache, deren schliessende Vocale so unursprünglich
sein werden, wie die in it. effe elle emme sp. efe ele eme. Der Gegensatz
zwischen der germanischen und der romanischen Überlieferung findet in
der Verschiedenheit der lautlichen Entwickelung seine ausreichende Er-
klärung. Die Germanen konnten den Namen HA festhalten, weil ihnen
das Ah als Laut stets lebendig blieb, für das romanische Ohr aber fiel ZA
mit A im Anlaute vollständig zusammen: so ist von ihnen die unentbehr-
liche Unterscheidung ans Ende der Silbe verlegt worden.
63*
786
Über den Apoll des Kanachos.
Von R. KEKkULE Von STRADONITZ.
(Vorgetragen am 24. März 1904 [s. oben S. 573].)
D:: Relief, das ich in Photographie vorlege, ist nicht durch Schön-
heit anziehend, vielmehr auf den ersten Blick von abschreckender
Häßlichkeit. Dazu steht die Art der ursprünglichen Anbringung vor
der Hand noch nicht fest. Um so weniger würde ich es bereits jetzt
in seiner Vereinzelung besprechen, wenn es nicht ein neues Dokument
für die Statue des Apoll des Kanachos in Didyma darböte und un-
erwarteterweise den Gewinn eines, wie mir scheint, nicht unwichtigen
kunstgeschichtlichen Ergebnisses ermöglichte.
Das Relief, dessen Erhaltungszustand die Abbildung mit genügen-
der Deutlichkeit erkennen läßt, ist 1903 bei den von den Königlichen
Museen unternommenen Ausgrabungen in Milet in der Orchestra des
Theaters gefunden worden. Es ist aus weißem, ziemlich großkörnigem
Marmor gearbeitet. Die Höhe beträgt 79°5, die Länge 190°", die
Dicke 33°”. Die Rückseite ist roh behauen. Die Darstellung wird
oben und links, vom Beschauer aus, durch einen sehr schlecht und
flach gearbeiteten Eierstab abgeschlossen. Auf der linken Schmalseite
setzte sich das Relief im rechten Winkel fort, und hier ist ein Baum
erkennbar. Daß an dieser Seite eine Platte rechtwinklig anstieß, be-
weist auch eine trotz der Zerstörung noch deutliche Klammerspur auf
der Oberseite und eine breite vertikale Einarbeitung auf der Rückseite.
Rechts ist die Darstellung nicht in gleicher Weise durch einen verti-
kalen Eierstab, sondern durch eine gerade Anschlußfläche begrenzt.
Doch findet sich hier auf der Rückseite ebenfalls eine vertikale Ein-
arbeitung für eine rechtwinklig anschließende Platte. Eine Klammer-
em
spur ist nieht vorhanden; indes ist hier nach der Rückseite hin die
Zerstörung beträchtlich stärker als auf der anderen Seite Am rechten
Rande entlang läuft eine Aufrauhung von 10° Breite. Das entspricht
genau der Breite des Eierstabs links, und so kann man vermuten,
daß auch hier einmal ein Eierstab vorhanden war, der abgearbeitet
worden ist. Als Möglichkeiten bieten sich dar die Annahmen, daß
KekurE von Srravonırz: Über den Apoll des Kanachos. 17187
das Relief als die linke Eckplatte eines längeren Frieses, oder daß es
als vorspringender Teil innerhalb eines solehen Frieses aufzufassen sei.
Eine Entscheidung ist vorderhand noch nicht zu geben.
Nach den Mitteilungen, die ich Hrn. Wırsanp verdanke, gehört
die Reliefplatte zu einer größeren, schon früher zutage gekommenen
Reihe dekorativer Reliefs. »Sie stammen vom zweiten, spätrömischen
Bühnengebäude, das bedeutend jünger sein muß als das erste römische
trajanisch-hadrianische Bühnengebäude, aus dessen wiederverwende-
ten Resten das zweite, spätrömische größtenteils errichtet war. Die
meisten dieser Reliefs stellen Eroten auf der Jagd nach wilden Tieren
dar, einige aber auch Gottheiten, z. B. den ruhenden Apoll mit dem
Lorbeerbaum und dem Omphalos.«
Zu der letzten Kategorie mit Götterdarstellungen gehört unser
Relief, auf dem wir in der Mitte Apoll, in der Vorderansicht, mit dem
Hirsch auf der rechten, den Bogen in der linken Hand, neben ihm einen
unregelmäßig geformten rundlichen Altar mit brennender Flamme, zu
beiden Seiten die symmetrisch bewegten Jünglinge mit Fackeln sehen.
Über die Bronzestatue des Apoll von Kanachos, die in Didyma
aufgestellt war, berichtet Plinius, offenbar nach Mucianus', wie folgt:
(‚fecit) Canachus Apollinem nudum qui Philesius cognominatur in Didymaeo
Aeginetica aeris temperatura, cervumque una ita vestigüs suspendit, ut linum
supter pedes trahatur, alterno morsu calce digitisque retinentibus solum, ita
vertebrato dente utrisque in partibus ut a repulsu per vices resiliat. Pausanias
nennt die Statue dreimal. I, 16 führt er die Statue des Seleukos vor
der Stoa poikile an, erzählt aus diesem Anlaß allerlei von Seleukos
und sagt dabei: Cenevkon A& BAcınewn EN TOIC MAAICTA TIEIBOMAI KAl ÄnAWC
TENECBAI AIKAION KAl TIPÖC TO Belon EYceBA. TOYTo men rÄp CEnevköc EcTin
! Karmann, Plinius S. 141.
788 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 28. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
6 MınHcioıc TON XAnKO®N KATATIEMYAc Arttönnwna €&c BParxiaac, ANAKO-
MICBENTA €c "ERBÄATANA TÄ MHaıkA Yo Zerzov’ TOoFTo AL CeneYkKeian
olkicac «te. II, 10 nennt und beschreibt er eine Goldelfenbeinstatue
der Aphrodite in Sikyon und bemerkt dazu, ihr Verfertiger sei der
Sikyonier Kanachos, der auch für die Milesier den Apoll in Didyma,
für die Thebäer den Apollon Ismenios gearbeitet habe. VII, 46 spricht
Pausanias davon, daß nicht zuerst Augustus Weihgeschenke und Götter-
bilder aus den 'Tempeln weggenommen habe. Unter den Beispielen
führt er wieder auch die Wegschleppung des Apoll aus Didyma durch
Xerxes an, und daß Seleukos die Statue zurückgegeben habe. Bacınea
TE TON Tlepcan ZEerzuhn TON Anrreioy, xwPic A Oca Ezekömice TOT ÄBHNAIWN
ÄCTEWC, TOYTO MEN &k BravPp@noc ÄrAnMA IcCMeN TAÄCc BPAYPWNIAC AABONTA
APTEMIAoC, TOYTO AL AITIAN Ertenerk@n MinHcioic EBenoKAKÄCAI C#AC ENANTIA
AeHnalun En TH "EnnAaı NAYMAXHCANTAC, TON XAAKOYN EAABEN ÄTIÖANWNA
TON En BParxiaaic" Kal TON MEN VCTEPON EMEnnE XPONW ÜEAEYKOC KATA-
memyein MinHcioic. Die letzte Stelle bei Pausanias endlich, in der er
sich auf Kunstkennerschaft beruft, ist IX, 10. In Theben ist das Heilig-
tum des Apollon Ismenios. TO A& Aranma mereeeı TE Icon T® En Brar-
xiaaıc EcTi Kal TO EIAOC OYAEN AlasÖPWc ExoN’ ÖCTIC A& TON ÄTAAMATWN
TOYTWN TO ETEPON EiAE KAl TON EIPFACMENON ETIYEETO, OY METAAH Oi COBIA
KAl TO ETEPON GBEACAmenw KANAXoOY TIOIHMA ÖN ETTICTACBAI. AIAPEPOYCI Ad
TOCÖONAE’ Ö MEN TAP En BPrarxiaaıc xAnKo?f, O6 AC IcmÄNIöc EcTi KEAPOY.
Strabo XI, 518, XIV, 634 spricht nicht davon, daß Xerxes die
Wegführung der Statue erzwungen habe, sondern berichtet, daß Xerxes
den Tempel ebenso wie die übrigen Heiligtümer außer dem in Ephesos
verbrannt und die Branchiden, die ihm die Tempelschätze überliefert
hätten, mit sich genommen und in Sogdiana angesiedelt habe. Da-
gegen weiß Herodot nichts von dem Brand und der Plünderung des
Tempels in Didyma durch Xerxes, sondern berichtet, daß diese durch
Darius geschehen sei. Orrkıp Mürter' hielt die beiden Nachrichten
für vereinbar und zog daraus den Schluß, daß die Statue des Kanachos
zwischen den beiden Daten, also zwischen 494 und 479, entstanden
und schwerlich vor 488 aufgestellt worden sei. Wie wenig glaublich
die zweite Zerstörung und Beraubung durch Xerxes sei, hat, meines
-Wissens, zuerst SoLnan dargelegt”, und man scheint jetzt allgemein
darüber einverstanden zu sein, daß die Nachricht von der zweiten
Zerstörung und Beraubung durch Xerxes nur auf einem Mißverständ-
nis, auf der Verwechselung mit der ersten durch Darius, beruhe. So
urteilt auch Havssouzuier in seinen trefflichen Etudes sur l’histoire de
! Kunstblatt 1821 Nr. ı6 S.61ff.; Kleine Schriften II S. 357 ff.; Kunstarchäo-
logische Werke I S. 36 ff.
® Zeitschrift für Altertumswissenschaft 1841 Nr. 69 S. 56g9fl.
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KekureE von Srravontiz: Über den Apoll des Kanachos. 789
Milet et du Didymeion (Paris 1900)‘. Gewiß mit Recht. Denn auch
der Ausweg, auf den man durch die vorhin angeführte Stelle des
Pausanias VIII, 46 geraten könnte, daß Xerxes ohne neuen Kriegszug
die Wegführung der Statue erzwungen habe, ist nicht gangbar. Wie
sollte bei der Zerstörung und Plünderung durch Darius die Tempel-
statue unverletzt an ihrer Stelle geblieben sein? Wir werden demnach
die Entstehung des Tempelbilds vor 494 ansetzen dürfen.
Für eine ungefähre Vorstellung von der Statue des Kanachos führt
Orrrıep MÜüLter die Münzbilder” an. »Unter den milesischen Münzen
geben teils autonome — so lauten seine Worte — teils unter den
Kaisern Augustus, Caligula, Ölaudius, Nero, Domitian, Mare Aurel,
Geta, Alexander Severus, Gallien geschlagene das Bild eines Apollon,
der in der Rechten einen Hirsch, in der Linken einen Bogen trägt,
von solcher Eigentümlichkeit, daß man darin ein bedeutendes Götter-
bild, ein Tempelidol, nicht verkennen kann. Jene autonomen Münzen
mögen geschlagen sein, als Seleukos Nikator das Standbild des Ka-
nachos zurückgesandt hatte.« Die Beobachtung ist einleuchtend und
die angeknüpfte Vermutung ganz in Mürrers Weise und so bestechend,
daß man sie gerne glauben möchte. Doch gehen die bis jetzt be-
kannten Münzen, soweit ich bisher sehen kann, nicht über das 2. Jahr-
hundert zurück.” Nach HavssovrLiers Berechnung hat Seleukos, der
‚271 ermordet wurde, die Statue gegen 295 zurückgeschiekt. Im 2. Jahr-
hundert war man eifrig am Bau des Tempels beschäftigt.
Es bedarf keines Wortes, daß der Apoll unseres Reliefs dieselbe
Statue wiedergeben will, und man wird geneigt sein, diesem in Milet
gearbeiteten Relief, das die Münzbildehen so beträchtlich an Größe
übertrifft, Glaubwürdigkeit zuzutrauen, wo nicht besondere Gründe
dagegen sprechen. Der allgemeine Eindruck, die Stellung der Beine,
die Haltung der Arme, die Beigaben sind auf den Münzbildern und
dem Relief die gleichen. Der Gott steht mit beiden Füßen fest auf,
aber hat, in einer Schrittstellung, den linken Fuß vorgesetzt. In der
schräg gesenkten Linken hält er den Bogen. Der rechte Unterarm
ist vorgestreckt, auf der Hand ist der Hirsch. Auf den Münzbildern
sieht es meist so aus, als ob der Hirsch stehe, mitunter kann man
zweifeln, ob er stehe oder sitze, doch mag das vielleicht an der Un-
deutlichkeit des Stempels oder der schlechten Erhaltung der einzelnen
! Vgl. Comptes-rendus de l’acad&mie des inseriptions 1902 S. 97.
®2 Eckner D. N. ll. S. 530 ff.; Heap, Historia numorum S. 505; British
Museum Catalogue of Coins, lonia S. 197fl., 202 Tafel XXXII, XXXIX; Overseck,
Kunstmythologie III (Apollon), Münztafel I, 22. 23. 24. 26; Ismoor, Kleinasiatische
Münzen I S. 89, 27.
® Heav a.a.0. Über den Stephanephoros Aischylinos vgl. HaussouLuier a. a. 0.
S. 206. 212.
790 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 28. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
Exemplare liegen. Auf dem Relief ist er stehend und wendet, wie
auf allen Münzen, den Kopf nach dem Gott zurück. Auf den auto-
nomen Münzen, die alle den Gott im Profil darstellen, sieht man eine
lange Haarsträhne in den Rücken herab, eine andere von hinten her
nach vorn über die Schulter fallen. Der Wulst, der von vorn über
der Stirn nach hinten geht, ist keine Binde, sondern ein Teil des
Haares selbst, das zusammengewunden hinten einen Knoten bildet,
von dem die einzelnen Strähnen herabgehen. Bei der Relieffigur fallen
von hinter den Ohren her zwei vierfach geteilte Strähnen vorwärts
über die Schultern auf die Brust herab. Die Stirn ist von einer Reihe
schneckenförmiger Buckellöckchen begrenzt. Darüber folgt ein wulst-
artiges Band, mit Rosetten verziert, darüber ein plumpgezackter Lor-
beerkranz, und endlich hebt ein breiter glatter Nimbus den Kopf von
dem dahinter befindlichen Eierstab ab. Man kann sich wohl denken,
daß auf den Münzstempeln eine künstlicher geschmückte Frisur verein-
facht ist, sich also den Wulst mit den Rosetten gern gefallen lassen,
wohl auch noch, zumal als zeitweilige Zutat zum Schmuck der Statue,
den Lorbeerkranz. Dagegen ist natürlich der Nimbus für die Statue
des Kanachos völlig unmöglich. Er kann nur entweder eine willkür-
liche Zutat des Verfertigers sein, der mit Hilfe des in seiner Zeit für
Götterdarstellungen üblichen Nimbus den Kopf bequemer von dem
Eierstab löste, oder, was ich lieber annehmen möchte, ein in den
späteren Zeiten überhaupt oder bei festlichen Gelegenheiten an der
Statue angebrachter fremder Schmuck. Die Kaisermünzen gewähren
keine wirkliche Aufklärung; sie sind an sich charakterlos und in der An-
gabe von Haar und Kopfschmuck willkürlich und wechselnd. Mehrmals
kommt Strahlenbekränzung vor; so bei der großen Münze mit den Namen
Balbinus, Pupienus und Gordian, auf die ich hernach zurückkomme.
Zur Erklärung der mechanischen Spielerei des in den Füßen beweg-
lichen Hirsches hilft das Relief nicht weiter. Nur bestätigt es die
Anbringung auf der Hand, und zwar steht das Tier mit den Hinter-
füßen auf den Handballen, mit dem linken Vorderbein steht es auf
den gekrümmten Fingern und hebt das rechte Vorderbein frei in die
Luft.‘ Man hat allerlei ausgedacht, um die Einrichtung zu erklären.
Nachdem schon Sorpan einen Versuch dazu gemacht, diesen aber, wie
den eines Freundes als noch nicht genügend erwogen nicht mitgeteilt
hat, haben sich in neueren Zeiten Prrersen (Archäologische Zeitung
XXXVII, 1880, S.22ff., 192f.) und MaAnter (Journal international
! Das in der evangelischen Schule in Smyrna befindliche, in Tralles gefundene
Marmorfragment, das Haussourtier in der Revue archeol. XXX (1876) S. 292 ab-
gebildet hat (vgl. Rayer, Etudes S. 164), zeigt das Tier (»faon«) auf der Hand
sitzend, mit gestreckten Vorderbeinen. Der Kopf ist zurückgewendet.
Kexvre von Srranontrz: Über den Apoll des Kanachos. mal
d’archeologie numismatique IV, 1901, S.107 ff. zu Tafel 11) darum
bemüht, ohne die Sache zur Evidenz zu bringen. Die Worte, wie sie
bei Plinius stehen, sind nicht zu verstehen, wenigstens bis jetzt nicht
verstanden, da der Ausdruck cal nur auf den Tierhuf oder die Ferse
des Menschen, die digiti aber nur auf die Menschenhand passen. Ver-
mutlich deshalb erklärt FurrtwäÄnster (Die antiken Gemmen I, S. 190)
für sicher!, daß in Plinius’ Beschreibung das Reh als auf dem Boden auf-
stehend gedacht sei. So ist die Darstellung auf mehreren geschnittenen
Steinen (FuRTWÄNGLER a. a. OÖ. zu Tafel 40, 1.2), und diese hatte schon
WeELcKEr” für die Statue des Kanachos benutzt. Da das Relief mit
den Münzbildern in der Stelle des Hirsches übereinstimmt, so wird
man sich dabei beruhigen müssen. Denn die Auskunft, die Stelle,
die der Hirsch ursprünglich einnahm, sei nach der durch Seleukos
erfolgten Rückgabe der Statue verändert worden, ist nicht glaublich.
Es gab außer der Statue des Kanachos noch genug altertümliche Statuen
und Darstellungen des Apoll mit dem Hirsch; Mucianus sah die Spielerei
noch an Ort und Stelle, und es ist doch nicht anzunehmen, daß diese,
wenn sie ursprünglich den am Boden stehenden Hirsch bewegte, nachher
an dem auf der Hand stehenden wiederholt worden sei. Die ganze Nach-
richt für apokryph zu erklären scheint mir nicht möglich und auch
kein Anlaß vorzuliegen. Schon ©. Mürtzer schloß auf »eine nähere
Verbindung der mechanischen und höheren Kunst in jenem Zeitalter,
als später der Fall war«. Gewiß entspricht dergleichen der frühen
! Seine Worte sind: »... Cecır Surru hat ... in den Proceedings of the Soc.
of Antiquaries 2. ser. XI, 1887, S. 251 ff. einen Chaleedon des Hrn. Sıeverına in
London publiziert .... der wahrscheinlich von einem Skarabäoid abgesägt ist und
ältere griechische Arbeit scheint; hier ist dieselbe Statue freier wiedergegeben ...
Cecır Smera vermutet, daß die hier zugrunde liegende Statue die des Apollon
Philesios des Kanachos in seiner ursprünglichen Gestalt war; sicher ist, daß in
Plinius’ Beschreibung 34, 75 das Reh als auf dem Boden aufstehend gedacht ist; den
Widerspruch, in dem dieses Zeugnis mit den Münzen Milets steht, wo das Reh auf
der Hand des Gottes ruht, sucht Cecır Surra durch die Annahme einer nach der
Rückerstattung durch Seleukos erfolgten Restauration der Statue zu erklären. Unsere
griechisch-römischen Gemmen müßten dann auf ältere Nachbildungen der ursprüng-
lichen Komposition zurückgehen.« Ein geschnittener Stein mit Apoll, der auf der
Linken den stehenden Hirsch, in der Rechten den Bogen hält: bei FurrwäÄnGLer
Tafel 44, 57 dazu, außer S. 190, 216. — Orrkıenp Mürrer hatte angenommen, daß
die mechanische Spielerei von dem Hirsch auf der Hand des Gottes zu sondern sei,
offenbar deshalb der Änderung corvumque statt cervumque den Vorzug gegeben und
bei Plinius übersetzt: »... und setzte einen Raben daneben auf die Weise, daß ein
Faden unter dessen Füßen durchgezogen wurde, an welchem die Klauen des Vogels
wechselnd hafteten und sich anklammerten, indem die Zehen an beiden Füßen so
gegliedert waren, dal sie bei der Berührung eine um die andere zurücksprangen.«
® Zu Mürrers Handbuch S.66 mit der Bemerkung: »... so wird zugleich
die Art des Automats und das Motiv, es anzubringen, was auch später geschehen
sein kann, klar.«
792 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 28. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
Kunststufe, und Analogien würden sich auch aus der mittelalterlichen
und noch späteren Kunstgeschichte beibringen lassen.
Das Wichtigste in unserem Relief ist, daß, worauf ich schon
hindeutete, die Figur des Apoll, trotz aller ihrer Roheit noch deut-
liche Züge einer altertümlichen Kunststufe, also der des Kanachos,
bewahrt hat, nicht nur in der Gesamterscheinung, in der Stellung
und Haltung der Beine und Arme, sondern auch in der Formgebung.
Daß der Bildhauer einer solchen Figur die Natur selbständig, und
nun gar mit dem Auge und in dem Sinne eines vor siebenhundert
oder mehr Jahren verstorbenen Künstlers beobachtet hätte — das ist
so sinnlos, daß man es gar nicht aussprechen mag. Er hat sich viel-
mehr bemüht, das, was ihm und allen seinen Zeitgenossen an der
uralten Statue des Kanachos so merkwürdig, so sonderbar vorkam,
auf seine Weise anzudeuten. Dabei gerät man freilich in Zweifel, wie
viel nur seinem eigenen Ungeschick zuzuschreiben, was als ungefährer
Nachklang noch auf das Vorbild hindeuten könne. So ist ihm die
Proportion der Gestalt im ganzen mißlungen, indem sie ihm, wie das
Mißverhältnis zu den langen Armen noch besonders deutlich macht,
zu schwer und kurz geriet. In der auffälligen Angabe der Rippen und
Brustmuskeln, in der Gliederung der Brust und des Bauches, in den
massigen muskeldurchzogenen Unterschenkeln hat er sich offenbar be-
müht, charakteristischen Formen seines Vorbildes nachzugehen. Dasselbe
wird man für die Form und die starke Umrahmung des Augapfels durch
die Lider und die Angabe der Augenbrauen annehmen dürfen. Ich werde
hernach zeigen, daß es uns für die Beurteilung dessen, was wir als
im Vorbild vorgebildet zu betrachten haben, nicht an einer Norm fehlt.
Außer auf die Münzen konnte sich O. Mürtzer auf eine kleine,
im Britischen Museum befindliche Bronzefigur (Catalogue of the bronzes
in the British Museum 209) berufen, die seitlem bei jeder Besprechung
der Statue des Kanachos angeführt wird. Das Figürchen, dessen Höhe
184 cm beträgt, zeigt den Gott in entsprechender Stellung und Haltung.
Auf der rechten Hand hält er ein vierfüßiges Tier ohne deutliches
Geweih, in dem man ein Hirschkalb oder Reh zu erkennen pflegt.
Das Tier liegt mit den Hinterbeinen auf dem Handballen, mit den
im Knie gebogenen Vorderbeinen auf den Fingern. Den Kopf hat
es vorwärts gerichtet. In der durchlochten linken Hand wird der
Gott den Bogen gehalten haben. Die Figur ist sehr schlank, aber
sehr breitschultrig. Um den Kopf herum ist, nach hinten abwärts
gerichtet, ein wulstartiges Schmuckband gelegt. Nach vorn fallen
jederseits drei gelöste Haarsträhnen lang auf die Brust, hinten ist das
Haar in einen langen dicken Knoten gebunden, neben dem kürzere
einzelne Locken herabgehen. Über der Stirn bis zu den Ohren sind
KexvuLe von Srravontrz: Über den Apoll des Kanachos. 193
die Haare nach bekanntem Schema in einzelnen festen Buckellöckcehen,
wie es scheint in zwei Reihen übereinander, fest zusammengedrängt.
Die Augenlider sind stark angegeben; die Schamhaare bilden ein
Dreieck. Die Bronze ist eine Wiederholung eines alten Apollotypus,
dessen berühmtester Vertreter die Statue des Kanachos war, und
solehe kleine Bronzen werden mehr oder minder übereinstimmend
sehr viele vorhanden gewesen sein. Sie ist nicht früh und nicht
scharf in den Formen! und stilistisch kann sie uns für die Statue
des Kanachos nichts lehren, gewiß nichts, was wir nicht anderwärts
her besser wüßten oder voraussetzen müßten. Ein echt archaisches
Werk ist dagegen die kleine Bronzefigur aus Naxos, in unserem
Museum, die Fränker (Archäol. Zeitung XXXVI, 1879, S. 84 ff. zu
Tafel 7) mit der Statue in Zusammenhang bringen wollte. Daß sie
wenigstens in der rechten Hand ein anderes Attribut hält, würde
nicht hindern, sie trotz der Kleinheit zur Veranschaulichung des Stils
zu benutzen, und einer ungefähr gleichen Kunststufe wird sie, wie
auch Fränkers Vergleich mit den Münzbildern bestätigt, gewiß an-
gehören. Aber eine Abhängigkeit gerade von der Statue des Kanachos
ist durch nichts zu erweisen. Gar nichts endlich, um diese Be-
merkung hier beiläufig einzuschieben, ist stilistisch aus der Marmor-
statuette im Museo Chiaramonti, im Vatikan, die mitunter benutzt
worden ist,” zu gewinnen. Sie ist »eine charakterlose Kopie« und
dazu sehr stark ergänzt (Amerune, Die Skulpturen des vatikanischen
Museums I S.497f., Nr. 285). Außer der ganz allgemeinen Ähnlich-
keit ist höchstens der Kopfschmuck hervorzuheben, den AMmELUNG so
beschreibt: »Die Haare umsäumen die Stirn ungescheitelt in Wellen
(unterhöhlt mittels kleiner Bohrlöcher); Schulterlocken und im Nacken
Krobylos (dieser ist hier abweichend von der gewöhnlichen Art ge-
bildet, d. h. die Haare sind nicht nach oben aufgenommen, sondern
so, daß der Schopf der Haarenden unter der darüberliegenden
Schleife der aufgenommenen Strähnen hervorkommt); oben Kranz
von einfachen rosettenartigen Blumen und hohes Diadem.«
Von größeren Skulpturen hatte OÖ. Mürzer zu dem Apoll des
Kanachos angeführt einen Kopf im Britischen Museum (FrIEDERICHS-
Worrers 228) und, mit Vörken den Kasseler Apoll (Bruns -Bruckmann
463a, Micnaruıs, Straßburger Antiken S. 28), beide, wie jetzt wohl
! Der Abguß, den ich vor mir habe (Frıeverıcns-Worrers 51), ist offenbar
nicht gut, und auch die kleine Photographie im Catalogue Tafel I gestattet kein
sicheres Urteil über die Einzelheiten. Doch sieht man, daß z.B. die Haare nicht
streng archaisch sind, und auch Corrısnon, Histoire de la sculpture Greeque I S. 313,
sagt: le style, un peu mou, accuse une date beaucoup plus recente que celle de l’original
et ne saurait nous donner une idee exacte du talent de lartiste.
2 Zuletzt von MaHrer a.a.0.
794 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 28. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
allgemein anerkannt ist, nicht mit Recht. Orıvıer Raver hat die Bronze-
figur von Piombino', von der er eine wundervolle Charakteristik ge-
geben hat”, geradezu als eine Kopie der Statue des Kanachos betrachtet.
Die Deutung dieses Weihgeschenkes eines Mannes, dessen Name auf
Armoc ausging, an Athena steht nicht fest und es ist nicht sicher,
was er in der rechten Hand hatte. Auch wenn die Attribute nicht, wie
Raver voraussetzte, Hirsch und Bogen waren, und die Figur nicht Apoll,
so würde sie deshalb an und für sich sehr wohl zur Veranschaulichung
der Kunststufe und des Stils des Kanachos benutzt werden können.
Aber unser Relief lehrt, daß dies nieht angeht. Ich setze an die
Stelle der Bronze von Piombino vielmehr eine andere vortreffliche
Bronzefigur, die sich ebenfalls im Louvre befindet’, die Statuette eines
agonistischen Speerwerfers, die Hr. KALxmann zum Ausgangspunkt einer
ausgezeichneten Studie über eine bestimmte Richtung innerhalb der
archaischen Kunst genommen hat (Jahrbuch des archäologischen In-
stituts VII, 1892, S. ı27ff., Tafel4). Mir liegen vier Photographien
vor, die ich mit gütiger Erlaubnis des Vorstandes der Antikenabtei-
lung im Louvre habe anfertigen lassen, und ich versäume nicht, Hrn.
Mıcuon für seine dabei, wie so oft mir bewiesene Hilfe meinen besten
Dank auszusprechen. Die Photographie der Vorderansicht ist hiernächst
verkleinert wiedergegeben, ihr gegenüber die Apollofigur des Reliefs.
Nach der Mitteilung des Hrn. Mıcnon stammt die Statuette aus der
alten königlichen Sammlung. Der Fundort ist leider unbekannt. Ich
gebe zunächst die Beschreibung mit den Worten Hrn. KALkmanns, der
die Figur nicht für ein Originalwerk im eigentlichsten Sinne, sondern
für eine Kopie hält, wogegen ich, ohne die Figur selbst wiederge-
sehen zu haben, einen Widerspruch zurückhalten muß.
»Die Figur ist gut erhalten; es fehlt ein kleines Stück am rechten
Ellenbogen und der linke Arm. Die Patina ist dunkelgrün. Wir sehen
einen nackten Jüngling in gerader aufrechter Haltung, der das linke
Bein in Schrittstellung vorsetzt; der rechte Arm ist in Schulterhöhe
seitwärts abgestreckt und der Unterarm erhoben. Zeigefinger und
Mittelfinger der rechten Hand sind gerade nach oben ausgestreckt,
während die übrigen Finger nach der inneren Handfläche zu gekrümmt
sind. Der Jüngling schwang also in erhobener Rechten einen Speer
mittels eines Bandes, der ArkyaH, das um Zeige- und Mittelfinger ge-
wickelt wurde. Sein linker Arm war gesenkt, wie aus dem Mangel
! LonGPErıER, Notice des bronzes antiques (1879) Nr. 69, die beste Abbildung:
Rayer et Tuomas, Milet et le golfe Latmique, Tafelband, Taf. 29. Mir liegen große
Photographien vor; ein Abguß ist im Berliner Museum.
2 Etudes S. 166ff.
3 LOoNGPERIER, Notice Nr. 60.
KERULE von Seravontrz: Über den Apoll des Kanachos. 795
an Patina auf der linken Körperseite ersichtlich ist. Das Fehlen eines
Helmes und jeglicher kriegerischer Rüstung verbietet einen Schild am
linken Arm vorauszusetzen, man kann also nicht die wie in Angriff-
stellung lebhaft ausschreitenden Götter archaischer Münzen zur Deutung
verwerten: vielmehr gibt sich dieser Speerwerfer als Palästrit oder
Agonist zu erkennen.«
Als charakteristisch für die in der Figur dargelegte anatomische
Kenntnis hebt Hr. Karkmann hauptsächlich hervor die deutliche Tren-
nung von Bauch und Beinen, die gerade Aufrichtung des Oberkörpers
mit stark eingezogenem Kreuz. »Neben solchen Anzeichen dafür, daß
der Künstler im Körperbau Regel und Gesetz erkennt, fehlt es nicht
an Details, in denen sich ein sorgfältiges Studium nach dem Leben
ausspricht. So sind an der Seite des erhobenen Armes die vier
untersten Zacken des großen Sägemuskels mit den Rippen angegeben,
auf denen sie entspringen, während auf der anderen Körperseite nur
die Rippen dargestellt sind; auch im Leben wird erst bei erhobenem
Arm der Sägemuskel besonders deutlich.«< Der Kopftypus erinnert
Hrn. Karkmann an die Köpfe des Westgiebels von Ägina. Die deut-
liche Angabe der Muskelpartien ruft die äginetische Kunst ins Ge-
dächtnis. »Auf der Brust sind deutlich gesondert die beiden großen
Muskelpartien des großen Brustmuskels, der zu beiden Seiten des
Brustbeins ansetzt; die durch jene getrennten Muskelpartien bedingte
charakteristische Zeichnung der Brust ist von den Ägineten zuerst
sorgfältig beobachtet.« »Der Kontur der Rippen ist zu einem einheit-
lichen Rande gebildet, welcher die Weichteile des Bauches nach
oben zu bogenförmig einfaßt.« Die Bauchtläche ist übersichtlich
gegliedert. Der Bauch zeigt festes Muskelfleisch, »das durch zwei
horizontale sehnige Inskriptionen und die vertikale Medianrinne (linea
alba) in einzelne Felder zerlegt wird.«e »Die Ägineten haben dieselbe
Teilung des Bauchfeldes; vor den Ägineten ist kein festes Teilungs-
prinzip nachweisbar.« »Endlich zeigen auch die Unterschenkel, wie
zuerst in der äginetischen Kunst, Muskel und Knochen hart und
präzise umrissen.«e Aus allen seinen Beobachtungen, von denen ich
nur einen Teil ausgehoben habe, kommt Hr. Kırkmann zu dem Schluß,
daß die Figur äginetisch sei, aber auf einer etwas früheren Stufe
stehe als der Westgiebel, also älter sei. In scharfen Gegensatz zu
der äginetischen Kunstweise setzt er die Bronze von Piombino. »Die
Behandlung der Muskeln verrät zwar Verständnis für ihren Bau, er-
scheint aber im Vergleich zu der in der äginetischen Kunst üblichen
flau und charakterlos; es ist mehr die beiläufige Wirkung der Muskeln
auf die Körperoberfläche dargestellt, als daß die Formgebung wesent-
lich von der Muskulatur beeinflußt oder gar durch sie bedingt wäre. «
796 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 28. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
Kervure von Srraponttz: Über den Apoll des Kanachos,
798 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 28. April 1904. — Mittheilung v. 24. März.
Wenn wir den Apoll unseres Reliefs mit der Bronze von Piombino
einerseits und mit dem Speerträger andererseits vergleichen, so kann
nicht zweifelhaft sein, daß das Vorbild der Relieffigur auf die Seite
des Speerträgers gehört. Ich hebe hervor den kurzen breiten Hals,
die Linienführung vom Hals in die Schultern, die hochsitzende Brust,
die deutliche Teilung und Bildung des großen Brustmuskels, die auf-
fällige Angabe der Rippen, die Zeichnung der Linea alba, die kurze
Bildung des unteren Teiles des Rumpfes vom Nabel abwärts, die
scharfe Trennung von Bauch und Beinen durch die Inguinalfalten, die
starken sehnigen Unterschenkel. Bei der Relieffigur stehen die Rippen
horizontaler, die Begrenzung des Bauches nach oben ist enger und
weniger rundlich, und man könnte auf den Gedanken kommen, daß
diese engere und knappere Bildung durch das Vorbild selbst veranlaßt
sei, das alsdann darin noch deutlichere Reste der früheren Gewohnheit
gezeigt hätte als die Bronzefigur. Sehr auffällig ist z. B. die enge
sattelförmige Begrenzung des Bauches nach oben hin bei den beiden
hochaltertümlichen delphischen Statuen, die Homorze im Bulletin de
correspondance hellenigue XXIV (1900) Tafel 19. 20 abgebildet und
S. 445ff. besprochen hat und deren eine die Künstlerinschrift eines
argivischen Künstlers trägt. Erst nach und nach und mit allerlei Va-
rianten geht diese enge, knappe und harte Zeichnung der Begrenzung
des Bauches in die freiere und reichere über, wie wir sie bereits bei
der Bronzefigur erkennen. Indes ist bei dieser die Begrenzung nicht
einfach rundlich, sondern über der Rundung noch spitzer weitergeführt,
und in der Seitenansicht tritt die Begrenzungslinie der Rippen sehr
viel schärfer und kantiger hervor. Bei der Relieffigur ist der ganze
obere Teil des Rumpfes verkürzt, und es ist vor allem immer fest
im Auge zu behalten, wie meisterhaft und reich die Bronzefigur, wie
stümperhaft und ärmlich die des Reliefs ist. Ich halte es deshalb für
wahrscheinlicher, daß diese Abweichung nicht durch das Vorbild ver-
anlaßt ist, sondern durch die Schwierigkeit, die der Verfertiger des
Reliefs in der Wiedergabe fand. Keinesfalls aber kann eine solche
Einzelheit den Gesamteindruck verwirren.
Nach dem allem halte ich mich zu dem Schluß berechtigt, daß
wir uns den Apoll des Kanachos stilistisch so zu denken haben wie
die Pariser Bronzefigur des Speerträgers, und daß uns diese Bronze-
figur des Speerträgers unter allen bisher bekannten antiken Denkmälern
die beste Vorstellung von der Kunst des Kanachos geben kann.
Die Behandlung des Kanachos in den kunstgeschichtlichen Dar-
stellungen war bisher sehr dürftig und unsicher. Aus den litera-
rischen Nachrichten allein ist nie ein wirkliches Bild zu gewinnen.
Lebendige wird es erst, wenn sich die literarischen Nachrichten mit
KERULE von Srravontrz: Über den Apoll des Kanachos. 199
Denkmälern zusammenfügen lassen. Jetzt wird uns der viel ange-
führte Satz des Cicero leibhaftig und faßbar: Quis enim eorum qui haec
minora animadvertunt non intellegit, Canachi signa rigidiora esse quam ut
imitentur veritatem, Calamidis dura illa quidem, sed tamen molliora quam
Canachi usw. Und wichtiger ist, daß wir nun die persönliche Art
des Kanachos kennen lernen. Er gehört zu den Künstlern, wie sie
gerade in den Übergangsperioden von steifer Gebundenheit zur Frei-
heit aufzutreten pflegen und von weitreichendem Einfluß sind. Nicht
die künstlerische Gestaltung des Themas oder die Bewegung war ihm
das alleinige erste und entscheidende Ziel, sondern nur in Verbindung
mit der genauesten Darlegung der bis ins einzelnste beobachteten in
der Natur gegebenen Form, auch da wo sie sich dem Beschauer für
gewöhnlich nicht oder nicht deutlich darbietet. Es ist das Interesse
der sozusagen wissenschaftlichen anatomischen Beobachtung der Natur,
das ihn beherrscht, und durch die er sich die Natur untertan zu
machen sucht. Auch die Nachricht des Plinius, daß er die Aeginetica
temperatura aeris angewendet habe, erhält nun Bedeutung. Wenn er
diese Erzmischung angewendet hat, so muß er doch das Geheimnis
der äginetischen Werkstätten gekannt haben. Bei seiner engen Ver-
wandtschaft mit der äginetischen Kunst muß er der Sikyonier von
den Ägineten oder müssen die Ägineten von ihm gelernt haben —
es wird beides zugleich der Fall gewesen sein.
Ich hatte mehrfach OrTrrıep MÜLLER zu nennen, der bei dem
damaligen Stand unserer Kenntnisse in manchem irren mußte. Um
so lieber führe ich an, daß er bereits zu dem Apoll des Kanachos,
wie er ihn sich dachte, die Ägineten zum Vergleich heranzog, die
mit dem Apoll des Kanachos, wie er meinte, gleichzeitig und auch
in Hinsicht der Kunstschulen verwandt seien, und dazu bemerkt, daß
die Künstler von Sikyon und Ägina, aus demselben Stamme hervor-
gegangen, eine fortdauernde Verbindung unterhalten hätten. Ihm waren
die wenigen literarischen Nachrichten wohl bekannt, die eine solche
Verbindung vermuten ließen. Des Kanachos Bruder Aristokles von
Sikyon war der Lehrer des Ägineten Ptolichos, der wieder der Lehrer
seines eigenen Sohnes Synnoon war, und er steht dadurch an der
Spitze einer längeren Abfolge von Künstlern. In der Stufenleiter des
künstlerischen Fortschritts tritt an die Stelle, die bei Cicero Kanachos
einnimmt, bei Quintilian der Äginete Kalon. Der enge Zusammen-
hang zwischen der älteren sikyonisch -argivischen und der äginetischen
Kunst, wie er sich jetzt durch die Denkmäler selbst darstellt, ergibt
zugleich die einfache Aufklärung für die Vorstufen der äginetischen
Giebelfiguren, deren scheinbare Vereinzelung so viel Not gemacht und
mancherlei unmögliche Vergleichungen und Vermutungen veranlaßt hat.
Sitzungsberichte 1904. 64
800 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 28. April 1904. — Mittlieilung v. 24. März.
Der rundliche Altar und die beiden Fackelträger, die auf unserem
Relief neben der Statue des Gottes erscheinen, müssen bereits um
200 n. Uhr. zugleich mit dem Apell als Wahrzeichen für das Heilig-
tum in Didyma gegolten haben. Denn dieselbe Zusammenstellung findet
sich auf einer Münze des Septimius Severus' und auf einer mit den
Namen und Köpfen des Balbinus, Pupienus und Gordianus’, also aus
dem Jahre 238 n. Chr. Abdrücke verdanke ich, durch gefällige Ver-
mittelung des Hrn. Dresser, der Güte des Hrn. Bagerox. Die Münze
des Septimius Severus, die meines Wissens noch nicht abgebildet ist,
zeigt den Gott innerhalb eines Gebäudes, das den Tempel in Didyma
vorstellen soll, und bei dem nach unten zu wohl die große Freitreppe
vorauszusetzen ist. Davor am Boden ist der Altar, rechts und links
die Fackelträger. Die zweite Münze hatte schon OÖ. MüLtLer in einer
freilich wenig genauen Abbildung in den ersten Band seiner » Antiken
Denkmäler« aufgenommen (MÜLLER-WIESELER I. 4, 20): sie ist dann bei
Rayer, Milet et le golfe Latmique als Vignette auf dem Titel des Tafel-
bandes, zuletzt bei Prrror, Histoire de l’art VIII, S. 473, hier in Auto-
typie, abgebildet. Sie gibt dieselbe Zusammenstellung, doch nur zum
Teil deutlicher, da auch hier die Erhaltung zu wünschen übrig läßt
und der Sehrötling sich unter dem Stempel etwas bewegt hat. In
der linken Hand des Apoll kann man den Bogen nur schwer erkennen.
Hier ist die Abschlußlinie unter der Basis der Statue. Die beiden
Fackelträger stehen deshalb auf der gleichen Linie mit der Basis, der
Altar ist zur Seite des Apoll angebracht und, da er freisteht, etwas
zurückgerückt zu denken. Den Altar finde ich nur einmal in der Lite-
ratur erwähnt. Pausanias V, 13 spricht von dem großen Aschenaltar
in Olympia und fährt fort: "Ecrı ae Kal en Aıaymoıc TÜn MiaHcion BWMöc,
emoihen A& Ymö "Hpakneovc To? OHBAlov, KaeA 01 MinHcioı AETOYCIN, ATIÖ
TON lepeiwn TOT AIMATOC’ Ec A& TÄ YCTEPA TO AIMA TÜN EYMATWN OYK Ec
YTIEPOFKON HYEHKEN AYTON M£reeoc. Nach dem Zusammenhang sollte man
! Baseron, Inventaire de la Collection Waddington Nr. 1866.
2 Eckker, D. N.]I S. 531, Mionnet III 173, 805; Cosen 2 V S.ı3n. 2.
Kekure von Sıravontrz: Über den Apoll des Kanachos. s01
zunächst vermuten, daß, wie die Asche des olympischen Altars mit
Alpheioswasser, so die des milesischen mit dem Blut der Opfertiere
vermischt und dadurch gefestigt worden sei. Aber das steht nicht
da. Vielmehr besagt der Wortlaut, daß nach der Behauptung der
Milesier der Altar von Herakles und zwar nur aus dem Blut der Opfer-
tiere hergestellt worden sei. was wohl auf ein sehr massenhaftes Opfer
hindeuten soll, und Pausanias fügt die höhnische Bemerkung zu, später
sei keine besondere Vergrößerung durch Opferblut hinzugekommen.
Wie groß oder klein er gewesen sein mag: man kann nicht wohl an-
nehmen, daß das Opferblut allein ausgereicht habe, sondern es wird
von Anfang an das Opferblut mit Asche oder Erde vermischt worden sein.
Die beiden Fackelträger werden Statuen, vermutlich aus helle-
nistischer Zeit, wiedergeben sollen. Sie sind gedacht als Fackelläufer,
die ihre Fackeln an dem Feuer auf dem Altar, oder mit ihren Fackeln
das Feuer auf diesem anzünden. Es muß also wohl die Lampadedromie
ein Bestandteil der Didymeia gewesen sein, ohne daß ich dies weiter
zu belegen weiß. Auf den Münzbildern sind die Fackelträger wirklich
symmetrisch. Auf dem Relief sieht es aus, als ob nur der links vom
Beschauer in genauerer Erinnerung an das Vorbild gearbeitet, der zur
Rechten dagegen nur eine äußerlich mechanische Wiederholung des zur
Linken im Gegensinne sei. Denn bei dem zur Rechten ist nicht einmal
das Gewand der Haltung entsprechend richtig verändert, sondern hängt
auf der falschen Seite herab. Die zweite Münze zeigt, wie ich schon
anführte, einen Strahlenkranz um den Kopf des Gottes; eine besondere
Bedeutung wird dem schwerlich beizumessen sein, da die Stempel-
schneider jener Zeit daran gewöhnt waren, solche Strahlenkränze
anzubringen, wie, um das nebenbei zu bemerken, auch die Angaben
der Tempel auf den Münzen nicht nur willkürlich, sondern meist sehr
gleichartig sind. Auf der Münze des Septimius Severus ist der Apoll
ohne Strahlenkranz, seine Haltung und Erscheinung weniger stillos und
der ganze Stempel sorgfältiger geschnitten.
Eine sichere Zeitbestimmung läßt sich aus den Münzen für unser
Relief nicht gewinnen. Ich halte es für sehr möglich, daß es in dieselbe
Epoche zu setzen ist und dem dritten Jahrhundert nach Christo ange-
hört. Aber genaueres werden erst die weiteren Untersuchungen der
Reste des zweiten römischen Bühnenbaues im Theater von Milet lehren
können.
Ausgegeben am 5. Mai.
803
SEPZUNGSBERICH RB. 190:
XXIV.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
28. April. Sitzung der physikalisch-mathematischen Olasse.
Vorsitzender Secretar: Hr. Auwers.
1. Hr. Kontrauscn las über eine mit Hrn. Dr. GrÜNEISEN ausgeführte
Untersuchung über das Leitvermögen wässriger Lösungen von
Salzen mit zweiwerthigen Ionen. und im Anschluss daran über
Eigenthümlichkeiten des oxalsauren Magnesiums, die er mit
Hrn. Prof. Myuivs beobachtet hat.
Der Körper vereinigt mit einer hervorragend grossen Trägheit der Auflösung
oder Ausscheidung einen abnormen Gang des Leitvermögens seiner Lösungen. Diese
Eigenschaften werden gemeinschaftlich auf die Bildung complexer Moleküle zurück-
geführt.
2. Hr. Warpever legte das mit Unterstützung der Akademie be-
arbeitete Werk vor: Normentafel zur Entwicklungsgeschichte der Zaun-
eidechse (Lacerta agilis) von KArı PETER. Jena 1904. (Normentafeln zur
Entwicklungsgeschichte der Wirbeltiere. Her. von Prof. Dr. F. Krızrı.
Viertes Heft.)
Ausgegeben am 5. Mai.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei.
Sitzungsberichte 1904. 65
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SITZUNGSBERICHTE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
XXV.
5. Mar 1904.
MIT TAFEL VI, VU, VII.
BERLIN 1904.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
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Auszug aus dem Reglement für die Redaction der »Sitzungsberichte«.
Su
2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Octav regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die sämmtlichen zu einem Kalender-
jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
fortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserdem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch- mathematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch -historischen Classe ungerade
Nummern.
$.2. ; E
1. Jeden S tzungsbericht eröffnet eine Übersicht über
die in der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilungen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten.
2. Darauf folgen die den Sitzungsberichten über-
wiesenen wissenschaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckfertig übergebenen, dann die, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gehö-
rigen Stücken nicht erscheinen konnten. Mittheilungen,
welche nicht in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet.
85.
Den Bericht über jede einzelne Sitzung stellt der
Seeretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte.
Derselbe Secretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei-
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
86.
1. Für die Aufnahme einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $ 41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglements die folgenden beson-
deren Bestimmungen.
2. Der Umfang der Mittheilung darf 32 Seiten in
Octav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nicht übersteigen. Mittheilungen von Verfassern, welche
der Akademie nicht angehören, sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist
nur nach ausdrücklicher Zustimmung der Gesammt -Aka-
lemie oder der betreffenden Classe statthaft.
3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
tenden Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Nothwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzschnitte fertig sind und von
besonders beizugebenden Tafeln die volle erforderliche
Auflage eingeliefert ist.
87.
1. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
schaftliche Mittheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer Ausführung, in
deutscher Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2. Wenn der Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
Die Akademie versendet ihre »Sitzungsberichte« an diejenigen Stellen, mit denen sie im Schriftverkehr ‚steht,
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinbart wird, jährlich drei Mal, nämlich :
die Stücke von Januar bis April in der ersten Hälfte des Monats Mai,
» Mai bis Juli in der ersten Hälfte des Monats August,
» October bis December zu Anfang des nächsten Jahres nach F. ertigstellung des Roger.
öffentlichen beabsichtigt, als ihm dies nach den gelten-
den Rechtsregeln zusteht, so bedarf er dazu der Ein-
willigung der Gesammt- Akademie oder der betreffenden
Classe.
88.
5. Auswärts werden Correeturen nur auf besonderes
Verlangen verschickt. Die Verfasser verzichten damit
auf Erscheinen ihrer Mittheilungen nach acht Tagen.
811.
1. Der Verfasser einer unter den „Wissenschaftliehen i
Mittheilungen« abgedruckten Arbeit erhält unentgeltlich
fünfzig Serdarshdr ücke mit einem Umschlag, auf welchem
der Kopf der Sitzungsberichte mit Jahreszahl, Stück-
nummer, Tag und Kategorie der Sitzung, darunter der
Titel der Mittheilung und. der Name des Verfassers stehen.
2. Bei Mittheilungen, die mit dem Kopf der Sitzungs-
berichte und einem angemessenen Titel nicht über zwei
Seiten füllen, fällt in der Regel der Umschlag fort.
3. Einem Verfasser, welcher Mitglied der Akmdenie
ist, steht es frei, auf Kosten der Akademie weitere gleiche
Sonderabdrücke bis zur Zahl von noch hundert, und
auf seine Kosten noch weitere bis zur Zahl von zwei-
hundert (im ganzen also 350) zu unentgeltlicher Ver-
theilung abziehen zu lassen, sofern er diess rechtzeitig
dem redigirenden Seeretar angezeigt hat; wünscht er auf
seine Kosten noch mehr Abdrücke zur Vertheilung zu
erhalten, so bedarf es der Genehmigung der Gesammt-
Akademie oder der betreffenden Classe. — Nichtmitglieder
erhalten 50 Freiexemplare und dürfen nach rechtzeitiger
Anzeige bei dem redigirenden Secretar weitere 200° Exem-
plare auf ihre Kosten abziehen lassen.
828.
1. Jede zur Aufnahme in die Sitzungsberichte be-
stimmte Mittheilung muss in einer akademischen Sitzung
vorgelegt werden. Abwesende Mitglieder, sowie alle
Nichtmitglieder, haben hierzu die Vermittelung eines ihrem
Fache angehörenden ordentlichen Mitgliedes zu ı benutzen. .
Wenn schriftliche Einsendungen auswärtiger oder corre-
spondirender Mitglieder direct bei der Akademie oder bei
einer der Classen eingehen, so hat sie der Vorsitzende
Secretar selber oder durch ein anderes Mitglied“ zum
Vortrage zu bringen. Mittheilungen, deren Verfasser der
er nicht angehören, hat er EEE 5
scheinenden Mitgliede zu überweisen.
[Aus Stat. $ 41, 2. — Für die Aufnahme bedarf es
einer ausdrücklichen Genehmigung der Akademie oder
einer der Classen, Ein darauf gerichteter Antrag kann,
sobald das Manuscript druckfertig vorliegt,
gestellt und sogleich zur Abstimmung gebracht werden]
8 29. r
1. Der redigirende Seeretar ist für den Inhalt. des
geschäftlichen Theils der Sitzungsberichte, jedoch. nicht
für die darin aufgenommenen kurzen Inhaltsangaben der
gelesenen Abhandlungen verantwortlich. Für diese wie
für alle übrigen Theile der Sitzungsberichte sind
nach jeder Richtung nur die Verfasser verant-
wortlich. Er
«
De
Ss05
SITZUNGSBERICHTE _ 1904.
XXV.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
9. Mai. Gesammtsitzung.
Vorsitzender Secretar: Hr. VAuren.
l. Hr. Pıscner las über Bruchstücke des Sanskritkanons
der Buddhisten aus Idykutsari, Chinesisch-Turkestan.
Es wurde nachgewiesen, dass in den Resten eines von Prof. GrÜNWEDEL aus
Chinesisch-Turkestän mitgebrachten Holzblockdruckes sich Bruchstücke des für verloren
geltenden Sanskritkanons der Buddhisten befinden. Seine Sprache und sein Verhältniss
zum Pälikanon wurde erörtert.
2. Hr. van'r Horr legte eine Mittheilung der HH. R. Lurser und
F. Weıeert über die Verwandlung des Anthrazens in Dian-
thrazen unter Einfluss des Lichts vor.
Die Verfasser finden, dass die polymere Verwandlung des Anthrazens unter Ein-
fluss des Lichts eine umkehrbare Reaktion ist. Dieselbe konnte in einem geeigneten
Lösungsmittel bezüglich der obwaltenden Gesetzmässigkeit untersucht werden, wobei sich
im Wesentlichen zeigte, dass im Gleichgewichtszustand die Menge des Dianthrazens
der in der Zeiteinheit absorbirten Lieltimenge proportional ist.
3. Hr. von Bezorp hat in der Sitzung der physikalisch -mathe-
matischen Classe am 14. April eine Abhandlung von Hrn. Prof. Dr.
K. Haussmann in Aachen vorgelegt: Magnetische Messungen im
Ries und dessen Umgebung. Die Aufnahme in den Anhang zu den
Abhandlungen des 1.J. wurde heute beschlossen.
Die Arbeit bildet eine Ergänzung der von Hrn. Branco in den Abhandlungen
1902 veröffentlichten Untersuchungen über die geognostischen Verhältnisse des Ries-
kessels. Die verschiedenen beigegebenen Karten, insbesondere jene über die stören-
den Kräfte in dem betreffenden Gebiet, zeigen auffallende Beziehungen der magnetischen
Verhältnisse zu dem geognostischen Aufbau.
4. Überreicht wurde von Hrn. Koser ein Exemplar der von der
Historischen Commission der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften
in Wien herausgegebenen Nuntiaturberichte aus Deutschland nebst er-
gänzenden Actenstücken — 2. Abth. 3. Band; von Hrn. Sacuau das
von ihm herausgegebene Werk Ibn Saad, Biographien Muhammeds u. s.w.
Bd. II. Th.ı. Biographien der Mekkanischen Kämpfer Muhammeds
Sitzungsberichte 1904. 66
806 Gesammtsitzung vom 5. Mai 1904.
in der Schlacht bei Bedr. Leiden, E.J. Brill, 1904; von Hrn. EneLer
Berichte über die botanischen Ergebnisse der Nyassa-See- und Kinga-
Gebirgs-Expedition der WestzeL-Stiftung. V. VI. VII; von Hrn. vox
Bzzorn Veröffentlichungen des Königlich Preussischen Meteorologischen
Instituts: A. Sprung und R. Sürıme, Ergebnisse der Wolkenbeobach-
tungen in Potsdam in den Jahren 1896 und 1897. Berlin 1903.
5. Weiter wurden vorgelegt Monumenta Germaniae historica. Ne-
crologia Germaniae. Tom. U. Pars 2, nebst dem in den heutigen Be-
richt aufgenommenen Jahresbericht der Centraldireetion der Monumenta
Germaniae historica.
6. Die Akademie hat auf den Vorschlag der vorberathenden Com-
mission der Borr-Stiftung den Jahresertrag der Stiftung im Betrage
von 1350 Mark dem Oberlehrer am Realgymnasium in Döbeln (Sachsen)
Hrn. Dr. Jonanses Herren zur Fortsetzung seiner Arbeiten auf dem
Gebiete der indischen Fabel- und Märchenlitteratur zuerkannt.
Seine Majestät der Kaiser und König haben durch Allerhöchsten
Erlass vom 3. April d. Js. die Wahl des ordentlichen Professors der
englischen Philologie an der Frıeprıcn -WirneLms-Universität zu Berlin
Dr. Aroıs Branpı zum ordentlichen Mitglied der philosophisch -histo-
rischen Classe der Akademie zu bestätigen geruht.
Die Akademie hat das correspondirende Mitglied der physikalisch-
mathematischen Classe Hrn. Wırserm Hıs in Leipzig am ı. Mai durch
den Tod verloren.
807
Bruchstücke des Sanskritkanons der Buddhisten
aus Idykutsari, Chinesisch-Turkestan.
Von R. Piscuer.
Hierzu Taf. VI-VII.
B% Überlieferung nach, an der zu zweifeln kein Grund vorliegt',
schlug Kasyapa unmittelbar nach dem Tode des Buddha den in Ku-
Sinagara versammelten Mönchen vor, einen Kanon des Dharma und
Vinaya zusammenzustellen. Das geschah auf dem Konzile zu Rajagrha.
Diese ursprüngliche Redaktion des buddhistischen Kanons war ohne
Zweifel in der Sprache des Landes Magadha, der Mägadhi, abgefaßt?,
in der Buddha selbst gepredigt haben wird. Ihr ältestes Denkmal
ist die Inschrift von Piprava, und die Wahl gerade dieses Dialekts
auf dem Behälter der Reliquien Buddhas trägt zum Beweise dafür bei,
daß die Magadhı der Heimatsdialekt Buddhas gewesen ist. Daraus
erklärt es sich, daß den Buddhisten die Magadhı als die Grundsprache
(mülabhäsa) galt, in der die Menschen des ersten Weltalters, Brahmanen,
die vorher keine andere Sprache gehört, und auch die Buddhas ge-
redet haben.” Es ist begreiflich, daß man später die Mägadhi mit
dem Pali identifizierte. Daß aber der Palikanon Spuren eines älteren
Magadhikanons aufweist, ist längst erkannt worden.‘ Teile dieser
ältesten Magadhırezension nennt uns Asoka in dem Edikt von Bairat,
wahrscheinlich genau in der Sprache des alten Kanons: Vinayasamu-
kase, Aliyavasani, Anagatabhayani, Munigatha, Moneyasute, Upatisa-
! Gegenüber Mınasev stimme ich vollständig OLvengeres Ausführungen ZDMG.
52, 613 ff. zu.
® Die alte, später mißverstandene Tradition z. B. in der Vibhanga Atthakathä
bei p’Arwıs, An Introduction to Kachchäyana’s Grammar of the Päli Language (Co-
lombo 1863), p.V. CVIII: Sammasambuddho pi Tepitakam Buddhavacanam tantim @ropento
Magadhabhasay’ eva @ropesi.
° p’Arwıs, a.a.0. p. CVII.
* E. Kunn, Beiträge zur Pali-Grammatik (Berlin 1875), S. 5. 9; E. Mütrer,
A Simplified Grammar of the Pali Language (London 1884), p. 44-
66*
808 Gesammtsitzung vom 5. Mai 1904.
pasine, Laghulovada.' Schon sehr früh spaltete sich der Buddhismus
in zahlreiche Sekten, von denen manche einen eigenen Kanon in ver-
schiedenen Sprachen zusammenstellten. Der uns erhaltene Kanon in
Pali ist der der Sekte der Vibhajyavadinas, einer Schule des ortho-
doxen Sthaviravada. Seine schriftliche Aufzeichnung erfolgte unter
König Vattagamani von Ceylon im 1. Jahrhundert v. Chr. Wir dürfen
annehmen, daß die Vibhajyavadinas von Anfang an das Pali als heilige
Sprache gebrauchten. Nach Vasızsev” gebrauchten von den vier Haupt-
schulen der Vaibhasikas, die dem Hinayana angehörten, die Sthaviras,
die sich von Katyayana ableiteten, als ihre Sprache die Paisacı. Unter
den verschiedenen Paisacıdialekten wird auch ein Magadha Paisacika
aufgeführt, und ich habe darauf aufmerksam gemacht’, daß unter
allen Prakritdialekten die Paisacı dem Sanskrit, Pali und dem Dialekte
des Pallava Grant am nächsten steht, und daß sie als vierte Sprache
neben Sanskrit, Prakrit und Apabhramsa hingestellt wurde. Dem ent-
spricht, daß nach Vasınsev a.a. O0. S.294f. die drei anderen Haupt-
schulen der Vaibhasikas die drei eben genannten Sprachen verwendeten.
Die Mulasarvastivadinas gebrauchten das Sanskrit und betrachteten sich
als Anhänger des Rahula, des Sohnes des Buddha. Die Mahasanghikas
sahen als ihren Lehrer Kasyapa an und schrieben in Prakrit: in welchem
Dialekt, erfahren wir nicht. Die Bücher der Schule der Mahasamma-
tıyas waren in Apabhramsa verfaßt, und diese Schule führte sich auf
Upali zurück. Proben eines buddhistischen Apabhramsa hat BENDALL
in Aussicht gestellt.‘ Ohne Zweifel war am weitesten verbreitet ein
Kanon in Sanskrit. Auf ihn gehen die chinesischen und tibetanischen
Übersetzungen zurück. Die allgemeine Ansicht war bisher, daß dieser
Sanskritkanon verloren sei. Nur Brau’ behauptete: »It is well known
that in many of the larger monasteries of China there are to be found
not only complete editions of the Buddhist Seriptures in the verna-
eular, but also Sanscrit originals, from which the Chinese version was
made.« Gegen diese Behauptung hat pe Groor Widerspruch erhoben.”
DE Groor bemerkt: »Nous ne sommes jamais parvenu ä decouvrir dans
les couvents grand chose de plus que des armoires remplies d’une
grande quantite d’exemplaires d’ouvrages classiques en nombre fort
! Über das Verhältnis dieser Titel zum Pälikanon handelt am gründlichsten
Orvdengerg, ZDMG. 52, 634 ff. Vgl. auch Syıvam Levi, Journal Asiatique IX. Serie,
VII, 484 f. (1896).
2 Wassısew, Der Buddhismus, seine Doginen, Geschichte und Literatur. Aus
dem Russischen übersetzt [von Tu. Benr£ey] (St. Petersburg 1360), S. 295.
® Grammatik der Präkrit-Sprachen $ 27.
* Cikshäsamuccaya (St-Petersbourg [|1897—]1902), p. XlIl, Anm. 2.
5 A Catena of Buddhist Seriptures from the Chinese (London 1871). p.1.
% Le code du Mahäyäna en Chine (Amsterdam 1893), p.7 Anm. 1.
Pıscner: Bruchstücke aus Idykutsari. 809
restreints, richesse de masse, non de contenu, ne pouvant imposer
qu’a des visiteurs superficiels.« pE Groor meint, es sei im Norden
von China vielleicht besser. Aus eigener Erfahrung aber wisse er,
daß man auch dort auf so große Schwierigkeiten stoße, wenn man
etwas anderes als die gewöhnlichsten buddhistischen Schriften suche,
daß es unmöglich sei, die Behauptung Brars als genau zuzulassen.
O. Franke hat dann in seiner Anzeige von DE Groors Buch bestätigt,
»that in all the large monasteries of China so far not one single In-
dian Text has been discovered, except the only Sanscerit manuscript (?)
which is kept on the Tien t'ai shan (in the province of Chekiang).«
Es ist daher nieht wahrscheinlich, daß wir in China viel finden werden.
Größere Hoffnungen konnten die Fragmente erwecken, die S. von OL-
DENBURG aus Handschriftenfragmenten mitteilte, die aus Kaschgar stam-
men. Wie von OLDENBURG zeigte”, hatten diese Bruchstücke Parallelen
im Samyuttanikaya, Anguttaranikaya und Itivuttaka des Palikanons.
Da es sich aber ausschließlich um Verse handelte, die leicht versprengt
werden, konnte man daraus noch nicht auf einen Kanon schließen.
Ich bin jetzt in der Lage nachzuweisen, daß ein Sanskritkanon
noch vorhanden ist. Unter den Sehätzen, die GRÜNWEDEL von seiner
Expedition nach Chinesisch-Turkestan mitgebracht hat, befindet sich
eine Anzahl von Bruchstücken eines Holzblockdruckes in zentralasiati-
scher Brahmı.” Dieselben wurden mir von GrÜünwEDEL freundlichst zur
Untersuchung überlassen, und ich konnte bald feststellen, daß sie Bruchı-
stücke des Sanskritkanons der Buddhisten enthalten. GrÜNnweneEL hat
sie in Idykutsari, der »Stadt des Dakianus«, käuflich erworben. Von
wo sie dorthin gelangt sind, konnte nicht festgestellt werden.
Die Zahl der Blätter ist zwanzig mit vierzig Seiten, deren jede
ursprünglich fünf Zeilen enthielt. Siebzehn Blätter tragen auf der Vor-
derseite in chinesischen, auf der Rückseite in zentralasiatischen Ziffern
die Zahlen 157—173; auf dreien sind die Zahlen abgerissen‘. Die
zentralasiatische Zahlbezeichnung erfolgt in der Weise, daß die Hun-
derte, Zehner und Einer untereinander gesetzt werden. 158 z.B. wird
IOoO
also, wie Tafel VII zeigt, geschrieben 50. Die chinesische, nach An-
8
! The China Review XXI, p. 67.
* Banneru Bocrounaro Orab.senis Unneparoperaro Pyceraro Apxeorornyeeraro
Oömeersa VII, 59f.; ı5ı£.
® So nenne ich die Schrift mit Hoerste. dem die Ehre zukommt, sie entziffert
zu haben.
* Das von Horrxte, JASB.62, Plate IV für 70 angegebene Zeichen ist, wie
unsere Bruchstücke zeigen, vielmehr — 60. Das Zeichen für 70 zeigt Tafel VIII. Ich
nenne die Ziffern zentralasiatisch, weil ich über ihre Herkunft nichts aussagen kann.
810 Gesammtsitzung vom 5. Mai 1904.
sicht der Sinologen nicht von einem Chinesen herrührende, sondern
ungeschickt nachgebildete Aufschrift am Rande stellt, wie Hr. Dr. K.
F. W. Mütter zuerst gesehen hat, fest, daß die Bruchstücke aus dem
Samyuktagama, Band 5, stammen. Die Brahmı-Aufschrift ist auf fol.157.
161. 171. 172 Buddhabhäsita, auf fol. 158 Buddhabhasita |, auf fol. 159.
160. 162—170. 173 Buddhabhäsitah, wozu dann etwa Samyuktagamah
zu denken ist. Diese Bezeichnung entspricht dem chinesischen Fo-shwo
in den Titeln der Sutra bei Bunvyıu Nansıo' z.B. p. 7, Nr. 16; p. 39,
Nr. 116. 1ı9 usw. Sie findet sich schon, worauf ich hinweisen
möchte, in dem Edikt von Bairat, wo der Läghulovade — Rahulovado
genannt wird bhagavata Budhena bhasite. Leider ist keine Über- und
Unterschrift auf den Blättern erhalten, außer sztram auf fol. 170°. Von
fol. 157 sind nur wenige Buchstaben aus Zeile ı und 2 von 157° und
aus Zeile 4 und 5 von 157” erhalten. Das Bruchstück ist aber trotz-
dem von besonderem Interesse. Es ist nämlich der einzige Rest der
rechten Hälfte eines Blattes und beweist, daß auch am Rande der
rechten Hälfte sich genau dieselben Aufschriften in chinesischer und
Brahmi-Schrift befanden wie auf der linken. Alle übrigen nume-
rierten Blätter bilden die linke Hälfte. Am meisten erhalten ist von
fol. 173. Wie Tafel VII zeigt, befindet sich in der Mitte der Seite die
Figur einer Lotosblume, die offenbar die Stelle des Loches vertritt,
das die Handschriften in der Mitte haben, und durch das der zu-
sammenhaltende Faden gezogen wird. Danach beträgt die Länge 40,
die Breite 15% Zentimeter. Jedes Blatt besteht aus zwei Papierlagen,
von denen eine jede nur auf einer Seite bedruckt ist, wie dies in
den chinesischen Drucken der Fall ist und Nichtsinologen am bekann-
testen sein dürfte aus der von ScHiErNEr herausgegebenen Buddhisti-
schen Triglotte (St. Petersburg 1359). Die Schrift ist am ähnlichsten
der der Weber-MSS. Im einzelnen finden sich aber viele Abweichun-
gen, namentlich in den zahlreichen Ligaturen, auch einige bisher ganz
unbekannte Zeichen, so daß trotz des schönen, deutlichen Druckes
die Lesung nicht leicht war. Die Schwierigkeiten wurden vermehrt
durch den fragmentarischen Charakter der Stücke. Wie die Umschrift
zeigt, stimmt der Anfang der Zeilen meist nicht mit dem Anfang des
Wortes überein, der ergänzt werden mußte. In diesen Ergänzungen
habe ich mich auf das geringste Maß beschränkt und sie absichtlich
auch in vielen Fällen unterlassen, wo sie sicher zu sein schienen.
Da mehrere Buchstaben und Ligaturen sich außerordentlich ähnlich
sehen, war Vorsicht geboten. Zwischen ? und n, ce und v ist fast
! A Catalogue of the Chinese Translation of the Buddhist Tripitaka, the Sacred
Canon of the Buddhists in China and Japan. Oxford 1883.
Sitzungsber. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1904. Taf. VI.
Pısch£L: Bruchstücke des Sanskritkanons der Buddhisten aus Idykutsari,
Chinesisch - Turkestän.
Sitzungsber. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1904. Taf. VII.
Ü
ö
PıscheL: Bruchstücke des Sanskritkanons der Buddhisten aus Idykutsari,
Chinesisch - Turkestan.
Sitzungsber. d. Taf. VII.
N
11 “
Taf. VII.
ch-Turkestän.
i, Chinesis
sarl
Bruchstücke des Sanskritkanons der Buddhisten aus Idykuts
PiscHEL
Sitzungsber. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1904.
Pıscaer: Bruchstücke aus Idykutsari. sıll
nie sicher zu scheiden; d und J, g und $, dd und st u. a. gleichen
sich sehr. In der Bezeichnung des verbundenen langen @ herrscht
große Mannigfaltigkeit. Man vergleiche z. B. auf Tafel VI Zeile ı die
Silben da in Tapod@ und g@ in “jaga[mä], Zeile 2 asthad gatrany a,
Zeile 4 aha; Tafel VII Zeile 4 Jana[si] usw. Sehr merkwürdig ist die
Schreibung des Virama. Seine ursprüngliche Bezeichnung ist die, daß
das Zeichen des Anusvara, wie es z.B. auf Tafel VI Zeile 5 in avakasam
erscheint, über und hinter den Buchstaben gesetzt wird. In Nagarı
würde also ein A hier aussehen wie A’. So erscheint die Schreibung
z.B. in avocat fol. 161°, 4 und in duskrtam fol. 171°, 5; 171°, 3. Viel
häufiger aber bleibt der Punkt hinter dem Buchstaben weg, so daß
dann Anusvara und Virama vollständig zusammenfallen. Das ist z.B.
der Fall in abhavat fol. 159", 4; tavat fol. 159", 5; anyat fol. 160", 2;
161°, 1; avocat fol. 160°, 5; syat fol. 164° usw. Zwischen Fa und
Fuer ist also kein Unterschied. Die Setzung des Virama wird, wie
in der Nagarischrift, meist durch Ligaturen vermieden. Mitunter stehen
beide Schreibweisen unmittelbar nebeneinander, wie fol. 164°, 5, das
in Nagarı so aussehen würde: am laye: ansatz. Auch sonst
finden sich in der Schreibung viele Inkonsequenzen, namentlich beim
Anusvara. So steht z. B. fol. 165°, 3 ua Mamıeiint eg:
fol.17 3°, 3 tag: Steraleat:: fol.160”,1 steht geim, aber fol.166°, 3;
166°, 7 mer; fol. 173°, 5 Hegel, aber fol. 173”, 3 faggt u.a. Von
großem Interesse ist ferner, daß, wie in Sarada-MSS. und vereinzelt
in südindischen Inschriften (WACKERNAGEL, Altindische Grammatik $227)
auch hier in der zentralasiatischen Brahmiı neben dem Anusvara auch
der Upadhmanıya gebraucht wird. Eine Probe gibt kuryah prasnasya
Tafel VI, Zeile 5 = fol. 158°, 5. Er findet sich außerdem noch in °pin-
dapatah pra° f01.167°,1; Sarabhah pa° fol. 168°, 1; Sumägadhayah pu°
fol. 170°,4; °jakah pra° fol.ı70”, 2; sarvasyah pra® II’, 4. Dagegen
steht der Visarga: fol. 158”, ı tathagatah param (= Tafel VII, Zeile 1);
fol. 167*, 2, vgl. 5 namah pa°; fol. 167°, ı °pratikrantah pa; fol. 167”, 4
parivräjakah pra°; fol. 168°, ı Sarabhah pari® (gegen fol. 168°, ı Obhah
pa); fol. 171°, 3 °kah pi°; fol. 172°, 5; 173°, 2 Sumägadhayah pu°
(gegen fol. 170°, 4 °dhayah pu°); II, ı dhetoh px. Ob nicht auch
der Jihvamulıya gebraucht wird, läßt sich bei diesem Schwanken
der Schreibweise nicht sagen. In unseren Bruchstücken steht über-
all der Visarga: fol. 159°, 4; 160°, 4; 161*, 2 (zweimal). 5; 164°,4;
165°,1; 165°, 5; 166%, 2; 171°%,4; 171°, 2. Unter diesen elf Stellen
sind zwei, wo A vor einer Pause steht, fünf, in denen es sich um
das Wort duhkha handelt, dessen Schreibung als t. t. formelhaft ge-
wesen sein kann, so daß nur vier ernstlich in Betracht kommen.
Ob das Fehlen des Visarga in sadrs@ sma und hmä sma fol. 173°, 5
812 Gesammtsitzung vom 5. Mai 1904.
ein Fehler ist, mag dahingestellt bleiben. Es kann auch ein ähnliches
Gesetz vorliegen, wie es bei s vor s+ Tenuis in Yajustexten sich findet
(WACKERNAGEL, Altindische Grammatik $287b; Scuraper, Der Karma-
pradipa p. 5f.). Fehlerhaft ist der Visarga in na@mah fol. 167°, 2.5;
1ı67°,4 und der Upadhmäniya in °pindapatahprati? fol.167”,1. Gegen
die Regeln der Grammatik verstößt esaivanto fol.165”,5 für esa evanto;
pravisan asrausuh fol.170”,ı und avocan iha fol. 170°, 3, wo nn für n
stehen müßte. Mit der Sprache des Mahavastu (Senarr I, XIV) hat
unser Werk die Eigenheit gemein, im Nominativ Sing. der Stämme auf
-mat und -vat zu schreiben -mam und -vam statt -man und van. So z.B.
fol. 160", 3 naivantavam nanantavam, fol.160”, 4 äyusmäam; fol. 162°, 2;
171°, ı bhagavam; fol.166”, 3 labdhavam usw. fol. 159°, ı steht ayusmam
mit a, und fol.159", 3 gegen die Grammatik bhagavam tena, während
f01.160", 3 regelrecht anantavams ca und IT’, ı bhagavams teno° steht. Auch
diese Schreibung ist nicht ohne Ausnahme. Wir finden fol. 164,4 $ru-
tavan und I”, 5 Zyusman. Ob in Fällen wie esaivänto, den Schreibungen
-mam, -vam, kin canam fol.173”, 4. dem ganz ungleichmäßigen Samdhi,
Einfluß einer Vorlage in Pali anzunehmen ist, wird später zur Sprache
kommen. ZEigenartig ist die Behandlung von auslautendem -as der
a-Stämme vor anlautendem a mit folgender Doppelkonsonanz. Es wird
nämlich gerade so wie vor andern Vokalen und Diphthongen in a statt o
verwandelt, und anlautendes a bleibt erhalten. So fol.158*, 2 (Tafel VI,
Zeile 2) [e]kaciwaraka asthat und fol. 158", 3 (Tafel VII, Zeile 3) prsta
avyakrtam. Ein Gegenbeispiel ist fol. 173*, ı [eloamrapo |’ |bhzd vor ein-
fachem Konsonanten. Vgl. auch fol. 168°, 2 Bhagavato |? |rthayasanam,
wo es sich aber nicht um einen a-Stamm handelt. Das ist ein Lautge-
setz, das wir linguistisch voraussetzen mußten (WACcKERNAGEL, Altindische
Grammatik $ 272b; $ 285b). Ich glaube nicht, daß ein Sprachfehler
anzunehmen ist. Abgesehen von den vorher angeführten Eigenheiten,
die meist orthographischer Natur sind, und dem schwankenden Samdhi,
der auf eine zugrunde liegende gesprochene Sprache hinweist, ist das
Sanskrit der Bruchstücke einfach und korrekt. Es wäre daher sehr
sonderbar, wenn hier ein Fehler gegen ein ganz elementares Lautge-
setz des Sanskrit vorkommen sollte. Vielmehr werden wir eine dialek-
tische, altertümliche Abweichung annehmen müssen. Auch auf vedi-
schem Gebiete sind uns innerhalb der einzelnen Schulen, namentlich
des Yajurveda, solche Verschiedenheiten bekannt.
Ich lasse nun zunächst den Text der Bruchstücke folgen und
zwar genau in der Abteilung des Druckes. Mit dem ersten, nicht
durch [ ] als ergänzt bezeichneten Buchstaben der Zeile fängt also
auch die Zeile im Druck an, soweit sie erhalten ist. Genau zu be-
rechnen, wie viel fehlt, ist fast nie möglich.
Pıscher: Bruchstücke aus Idykutsari.
Tolansnz
nya
tha
tolyus7b
su
(ya) yena
fol. 158*.
nadı Tapoda tenopajagalma]
[elkacıvaraka asthad gäträny Alva?)
Kokanadasya parivrajakasya (pu?)
tasabdam Srutva ca punar evam äha k
mi saced avakasam kuryah prasnasya
fol. 158°.
ta bhavati Tathagatah param maranäft]
tam Bhagavata na bhavati bhavati v[a]
d iti prsta avyakrtam iti vadasi
[valdasi kin nv äyusman na jänäfsi]
Afr|s[t]ir d[r]stisthanam drstistha
fol. 159°.
[palsyami ko nämäyusmam Analnda iti]
etavat pratibhasya na hamta
yena Anathapindado grhapatils]
[gr]hapater etad abhavat atiprätas talvat]
nv aham yenanyatırthikaparivrajakäfnam]
fol. 159%.
ma upetyanyatırthikaparivrajakaih
[grhalpate Sramanasya Gautamasya drstim
[Bhalgavam tena hi grhapate bhiksusam[ghah]
ka bhiksusamghasya drstih kim
va.s tavat svakasvalkam]
fol. 160%.
[Anatha]pindadam grhapatim idam
[alnyat apara evam aha säsvata...na
[alnantavams ca naiväantavam nanantavam yo di
[alpara evam äha mama drstir naiva bhavati
[Alnathapindadam grhapatim idam avocat kä
81
3
814 Gesammtsitzung vom 5. Mai 1904.
fol. 160°.
[grhalpatir mama bhavamto drstir bhutam samskr|tam]
viditva tasmad aham imam drstim sarvena
[drjstir bhutam samskrtam cetayitam pratityasalmutpannam]
[alyam ayusmam duhkham evalı[nah]
loka idam eva satyam
fol. 161”.
satyam moham anyat ilti]
tad duhkham tasmad ayam ayusma[m] duhkham e[valınah]
[evamvaldı naiva bhavati naiva na bhavati Tathagata[h]
[grhapatilm avocat nanu grhapater api drsti[h]
[ani]tyam yad anityam tad duhkham tasmad grhapatir api du[lhkham]
fol. 161°.
drstir bhutam samskrtam cetayitam prati[tyasamutpannam]
m imam drstim sarvena sarvam nabhyupagata
dam nigrhya svakam vadam dipayitvapalkrantah]
[Bhagavam]s tenopajagama upetya Bha(gava)tpa[dau]
[anyaltirthikaparivrajakaih sa[rdham]
fol. 162°.
[avoJeat sadhu sadhu grhalpate]
| Bhagavam Rajagrhe viharalti]
[sammu]kham sammodanım samramjanım katham vivildham]
bho Gautama na ksamati esapi te
sarvam me na ksamati api nu te
fol. 162”.
[apraltisandhir anupadanam apradu
ster apratisandhir anupadanam a
m api syat tadrsa eva ye ke cilt]
ucyante sramana va brahlmana] [va]
r bhavati evamvadı
fol. 163°.
jevam]vadı ekatyam me ksamat[i] ekaltyam]
[samdve]saya nasamdvesaya sammohaya
adhyavasanaya samvarttate yeyam
[sam]varttate na samragaya asamdvesaya
ya anabhinandanayanupadalnaya]
Pıscher: Bruchstücke aus Idykutsari. 815
fol. 163”.
[ksalmati ekatyam me na ksamati yat tv a
sya na ksamati tad asamragaya sam[mohaya]
nah pratisamsiksati aham ced e
me na ksamati yas caivamdrstir evam|vadı]
[vilgraham ca vivadam ca. pi ja
fol. 164°.
pratinihsargo vyantibhava a
[evam]drstih syam evamvadı sarvam me na
[eljyamvadı ekatyam me ksamati ekatyam
[altra srutavan aryasravaka itah
[salrdham syat vigrahah syad vivado
fol. 164°.
[purvajvad yavad apratisandhir anupadalnam]
[alnupasyina viharttavyam vyaya
syanityanupasyino viharato
vati kaye kayaechandah k:
ya tisthati tisra [ilma [vedanah]
fol. 165°.
[iltimas tisro vedanah kimnidfanah]
sparsaprabhavas tasya tasya sy
Samanti Sıtıbhavamti astangaechamti
[alstam samam easvadam cadınavam ca nih[saranam]
[nih]saranam ca yathabhütam prajänam
fol. 165”.
[anuljpasyi viharati sa kayalsya bhedat]
yato jıvitaparyantikam veda[nam]
vedayitani aparisesam niru
bhedat kayasya bhavisya
[e]saivanto duhkhasya
fol. 166°.
vedayati na samyukta
[upa]yasebhyo visamyukto duhkhfät]
d vyajanam grhitva Bhagavantam vıjalyati]
[vilragam eva nirodham eva pratinih[sargam]
nupasyino viraganupasyino
816
Gesammtsitzung vom 5. Mai 1904.
fol. 166°.
[parivraja]kasya virajo vigatamalam dha[rmacaksuh]
[pralnamya Bhagavantam idam avocaft]
ke brahmacaryam labdhavam Dirgha[nakha]
[ayulsmam yasyarthe kulaputra[h]
[alpi nu tava janato
fol. 167%.
yogah Säriputrena
Sarabho nämah parivrajaka[h]
vacam bhasate ajiato me sramanlanam]
pürvahne nivasya patracivaram aldaya]
[alımim Räjagrhe Sarabho nämah
fol. 167®.
[paseadbhalktapindapatahpratikrantah pa
[e]jkamtanisamnah sambahula bhilksavah]
[pätraeivara]lm adaya Rajagrham pindaya pr[avisan]
[na]mah parivrajakah prativasalti]
[telnopasamkrameta anulkampa]m aldaya]
fol. 168%.
[ilty utthaya yena Sarabhah palrivräjakah]
tar Bhagavato [’|rthayasanam prajüa[pya]
[Bhalgaväm Sarabham parivrajakam idafm äha]
[talsmad dharmavinayad apakranta eva
tvam Sarabha kim asi tüsnım sacelt]
fol. 168°.
[alpidänim Sarabhah parivrajako
[bralhmacarinah Sarabham parivrajalkam]
samkramyaivam vadati vyakuru vyalkuru]
[aparijpurnam bhavisyati vayam te
evabhud dvir api trir api
fol. 169".
samyaksambuddhas tam aham
[alnyenanyam pratisareta bahi[rdha]
[tusnım]bhuto va syan madgubhutah
d evam vadet na sramanasya Gaultamasya]
[yaltha tvam etarhi Sarabha yo me
Pıscher: Bruchstücke aus Idykutsari.
fol. 169°.
gahyam purvavat yavat tadyathl[a]
[salmyak simhanadam naditva utthälyasanat]
[avoJean tadyatha Sarabha rsabha
mat parisadi simhanadam
na(?) bhaddalika va . (s?)i
fol. 170%.
ndakaravitakam va(?)
[parilvrajakasya svakah sa bra(hma?)
sutram
Sumagadhayab puskarinyas tire
tam gatham gitam anugasyati ta
fol. 170°.
pindaya pravisan asrausuh sam
[parivra]jakab prativasati sa evam pa
[Bhalgavantam idam avocan iha
[sayalhne pratisamlayanad vyutthälya]
ca drstva ca punar
fol. 171°.
nisadya Bhagavam pitha
[alham antike brahmacaryam cari[syami]
[palrivrajakah pithasyopari pitha
[vilhethayet präninah | kamseid vi
[dujskrtam samvrtas trisu sthäne[su]
fol. 171°.
velayam gatham babhäse | y:
ma ca vihethaya präninah | kam
[alsti duskrtam samvrtas trisu
ti me sramano Gautamas cet
yaham bho Gauta[ma]
Tol4172=
(dha?)h parivrajakal[h]
babhuva suvimulkta]
[sambahu]lanam brähmanaparivrajak[änam]
[salmudahära ity api brähmafnasatyani]
Sumagadhayah puskarinyas [t]i[re]
8l
-
‘
s1S Gesammtsitzung vom 5. Mai 1904.
fol. 172®.
Buddhenatikrantamanusena
durata eva drstva ca munayo
[pra]jüapta evasane nisadya
[puskalrinyas tire samnisamna
[alsmakam bho Gauta[ma]
fol. 17,32.
[e]jyamrüpo [’Jbhud antarakathasamudahara ity api brahmanasatyani
[brälhmanaparivrajakanam Sumagadhayah puska(rinyas tıre)
[e]tarhi sannisamnah samnipatitah | trmi
[ilti katamani trıni brahmana evam ahul[h]
[ilti manyante sadrsa sma iti manyante hina sma
fol. 173”.
[ilti idam prathamam brahmanasatyam yan maya svayalm]
[salrvam nirodhadharmakam iti vadamana... nu
[alnudarsino viharamti idam dvitiyam bralhmanasatyam]
[evalm ähur na mama kva cana kas cana kin canam aslt]i na(sya?)
[pürvava]d yavad iti yad atra satyam...[a]bhinivisya sarvaloke amamaya
Außerdem sind, abgesehen von kleinen Worttrümmern, noch Bruch-
stücke von drei Blättern vorhanden, die ich mit I, I, II, bezeichne.
Da die Zahlen fehlen, läßt sich nicht entscheiden, was Vorder- und
was Rückseite ist, so daß der Zusammenhang hier ganz unsicher bleibt.
Was ich auf gut Glück als Vorderseite ansehe, bezeichne ich auch hier
mit a, was als Rückseite, mit b. Die Zahlen vorn geben die vor-
handene Zeile an.
15
evam caha
da ca dharmasya canudharmam
vo no ca mam abhyacaksase
KO Un 05
I’
ı. [vJadanuvadam garhasthanıyo
ge sa.ya tam svatra(?)
D
ER kam sada vam
1%
ditva yena Bhagavams tenopaja|gama]
[sambahu]lair anyatırthikapari[vrajakaih]
kurvano no ca bha
oo +
c vety a
Pıscaer: Bruchstücke aus Idykutsari. 819
10:
2 namum
3 ya nivarttamte mith[ya]
4- yat sarvasyah prajaya dırgha
5. [Kalandakani]vape athayusman Anandalhı]
NIE
1R. adharmah | tat kasmad dhetoh pü
22 kulajata gudagumdi
3» samsaramti samsalre]
4- [e]vamgate (oder: tam gave)
II».
2. vasyabhut sa
2. kac cid aham bhadanta
4. vyakaromi na ca me kas eilt]
5% natisarasy uktavadı ca
Die chinesische Aufschrift am Rande gibt, wie bemerkt, an, daß
die Bruchstücke dem fünften Bande des Samyuktagama angehören.
Vasıryev hat a.a.0. S.ı24f. zuerst gezeigt, daß der Teil des Kanons
des Hinayana, der dem Suttapitaka des Palikanons entspricht, in vier
Agama zerfällt: Ekottarikägama, Dirghägama, Madhyamägama und
Samyuktagama. Der Samyuktagama, »der gemischte Agama«, beschäf-
tigt sich nach VasıLsev mit den Gegenständen der Beschaulichkeit.
Dieselbe Einteilung kennt, wie Otpengere hervorgehoben hat!, das
Divyävadana S. 333, wo das Agamacatustaya in Samyuktaka, Ma-
dhyama, Dirghagama und Ekottarika eingeteilt wird; ferner der von
Brar? übersetzte Bericht der Dharmaguptas über das erste Konzil
und Bunyıu Nansıo a.a.0. S.127ff., Nr. 542ff. Der Bericht der Dharma-
guptas sagt über den Samyuktagama, daß derselbe umfaßt habe
»miscellaneous treatises relating to the Bhikshus, Bhikshunis, Upä-
sakas, Upäsikas, the Devas, Sakra, Brahma, Mära and so on«”.
ÖLDENBERG sagt a.a.0. S.654, man sehe auf den ersten Blick, wie gut
dies zu dem Pali-Samyuttaka stimme, welches in der Tat ein Deva-
tasamyutta, ein Marasamyutta, ein Bhikkhusamyutta usw. enthält. Bux-
yıu Nansıo führt das Samyuktagamasutra in Nr. 544 und Nr. 547 auf
und gibt bei Nr. 544 an, daß dieses Sutra von GUNABHADRA unter der
1 ZDMG 52, 653.
2 Verhandlungen des fünften internationalen Orientalisten-Kongresses (Berlin 1882)
I, IVS228:
820 Gesammtsitzung vom 5. Mai 1904.
älteren Sun-Dynastie 420— 479 n.Chr. ins Chinesische übersetzt wor-
den sei, daß es fünfzig Faszikel enthalte, mit der tibetanischen Über-
setzung übereinstimme, und daß etwa die Hälfte dieses Sutra iden-
tisch sei mit den in Nr. 542 und Nr. 543 ausführlich besprochenen
Madhyamäagamasutra und Ekottaragamasutra (so!). Nr. 544 sei zu ver-
gleichen mit dem Palitext des Samyuttanikaya des südlichen Kanons.
Unsere Bruchstücke beweisen aber, daß der Samyuktagama in der
Sanskritrezension jedenfalls nicht identisch war mit dem Samyuttani-
käya, sondern daß er Stücke aus verschiedenen Nikayas enthält in
anderer Anordnung als im südlichen Kanon. Es scheint fast, daß
hier die Sutra über den gleichen Gegenstand zusammengestellt waren,
so daß eine »Konkordanz der Lehre« (Vasınsev a.a.O. S. 124) gebildet
wurde. Doch läßt sich darüber noch nicht sicher urteilen.
Das erste Bruchstück fol. 157’”— 162°, Zeile ı entspricht Angut-
taranikaya V, 185—198. Die Reihenfolge ist aber eine andere, und
die Darstellung ist gedrängter als im Palikanon. Um Ähnlichkeit
und Verschiedenheit deutlich hervortreten zu lassen, setze ich einen
Teil beider Texte, soweit nötig, nebeneinander.
fol. 157®. 158.
yena nadı Tapoda tenopajyaga|ma]
[elkacwaraka asthad gäatranıy a(va?)
Kokanadasya parivr@jakasya
tasabdam srutv@ ca punar evam aha k
mi saced avakasam kuryah prasnasya
1a bhavati Tathägatah param ına-
ranalt]
tam Bhagavata na bhavati bhavati
v[a]
d iti prsta avyakrtam iti vadasi”
| Anguttaranikäya V, 196.
yena Tapoda ten’ upasankami
ekacwaro atthasi gattani sukkhäpaya-
mano'
Kokanado” pi kho paribbajako
sace Ayasma okäsam karoti panhassa
hoti Tathägato param marana
\ hoti ca na ca hoti
ı Harpy liest pubbapayamano. Ich lese wie oben mit Ph und S.1,3 Tapode
gattani parisincitv@ ... atthasi gattani sukkhapayamano. Vgl. v.l. Im Sanskrittext stand
vielleicht @vasayitum. Zu den Abkürzungen vgl. Journal of the Päli Text Society 1896,
p- 102 ff.
2 Dies, nicht Kokanudo, ist also die richtige Lesart. So auch mit derselben
v.1. ©nu° S.1I, 29 Kokanada;, I, 30 Cula-Kokanada, M. Il, 91 Kokanado.
3 Vgl. dazu A. V, 197 ii puttho samano ...
ti vadesi mit A. V, 193 avyakatam
maya. Die im Text berührte Frage wird im Kanon außerordentlich oft besprochen,
wobei meist die Ausdrücke vyakata und
DIT 18785, Sal 222 81V, 3754. 40x
iti puttho samano avyakatam ... ti vadesi.
avyakata stehend wiederkehren. Vgl. z. B.
Ganz ähnlich ist unserer Stelle S. IV, 402
Pıscner: Bruchstücke aus Idykutsari. 821
fol. 158°. | Anguttaranikäya V, 197.
[valdasi kin nv ayusman na jana|sil
tena hi bhavam na jandti
Anguttaranikäya V, 198.
dlr|sitiir d[r)stisthanam drstisth@ ditthigata@ yavata ditthitthana” '
fol. 159". |
[pa]sy@ani ko namayusmam Anal|nda | passamı ti | ko nama” Ayasmd ...
it] \ Anando ti
etavat pratibhäsya na hamta ‚ ttakam pi no na ppatibhascyya
yena Anathapindado” grhapatis
| Anguttaranikäya V, 185.
[gr|hapater etad abhavat atiprätas“ | gahapatissa etad ahosi akalo kho
. ta|vat] | tava
nv aham yenänyatırthikaparivraja- | yan nünaham yena annatitthiyanam
ka|nam] ı paribbajakanam äramo
Folenegr-
ma° upetyanyatırthikaparivrajakaih | upasankami upasankamitv@ tehi anna-
titthiyehi paribbajakehi saddhim
Aus diesem Abschnitt will ich noch die folgenden Stellen her-
vorheben, die besonders charakteristisch sind und keinen Zweifel daran
lassen, daß unser Bruchstück eine Parallele zu dem angegebenen Ab-
schnitte des Anguttaranikäya ist.
fol. 160°. Anguttaranikäya V, 187.
[dr]stir bhutam samskriam cetayitam | esa ditthi ... yam kho pana kin ci
pratityasa| mutpannam]| bhutam samkhatam cetayitam pa-
ficcasamuppannam
[alyam ayusmam duhkham evalı- | yad aniccam tam dukkham yam duk-
[ra] kham tad eva so äyasmä allıno
fol. 161°. Anguttaranikäya V, 188.
[ani]tyam yad anityam tad duhkham | aniccam yad aniccam tam dukkham
tasmäad grhapatir api dul|hkham] yam dukkham tad eva twam ga-
hapati allıno
! Vgl. auch A. V, 186, 4ff.
®2 So zu lesen.
3 So heißt bekanntlich der Mann immer in der nördlichen Überlieferung, während
die südliche ihn Anathapindika nennt. Dies spricht auch gegen eine Übersetzung aus
dem Paäli.
* Hier entspricht dem atipratas im Päli akalo. An anderen Parallelstellen steht
dafür atippago, z.B. A. V, 48,9; S. Il, 32, 28, und dieses Wort ist es zweifellos, das
hier mit atipratas wiedergegeben ist. Man beachte das korrekte Sanskrit gegenüber
dem barbarischen atipragas Mahävastu I, 54, 12; 56,6 mit Anm. p. 418.
5 Ohne Zweifel zu ergänzen: [tenopajaga ma; vgl. fol. 161”, 4.
Sitzungsberichte 1904. 67
2 Gesammtsitzung vom 5. Mai 1904.
Wer den ganzen Abschnitt im Anguttaranikaya mit unseren Bruch-
stücken vergleicht, wird sich leicht überzeugen, daß bei oft wört-
licher Übereinstimmung die Verschiedenheit im Ausdruck doch so
groß ist, daß von einer Übersetzung des Pälitextes nicht die Rede
sein kann. Dasselbe beweisen die andern Bruchstücke. fol. 162* bis
167°, ı sind identisch mit Majjhimanikaya I, 497—501. Der Schau-
platz ist Rajagrha, die handelnde Person der Bettelmönch Dirghanakha,
dessen Namen ich fol. 166”, 3 versuchsweise hergestellt habe. Viel-
leicht ist aber derghalrätram] gemeint, was in ähnlichen Stellen oft
vorkommt. Gleich am Anfang findet sich eine vom Palitext ab-
weichende Wendung, die verdient, hervorgehoben zu werden. Für
das formelhafte Pali summodantyam katham saranıyam vitisaretva@ hat unser
Bruchstück: [sammu]kham sammodanım samramjanım katham vivildham],
wozu zu ergänzen ist [voyatisarya]. Dies ist wieder die übliche Aus-
drucksweise der Nördlichen, wie z. B. Divyavadana 70, 10; 156, 19
zeigt. Im übrigen wechselt hier wieder ganz Wörtliches mit ganz Ab-
weichendem. Die Stelle über die drei Vedanas fol. 165*f. steht so
nicht in M. I, 500, hat aber zahlreiche, wenn auch nicht ganz wört-
liche (ich kann wenigstens keine ganz genau entsprechende Stelle
finden) Parallelen in andern Texten des Palikanons. Ich erinnere nur
zu fol.165*, 4.5 [a]stam samam casvadam cäadınavam ca nihlsaranam]
nihsaranam ca yathabhiütam prajanam an Stellen, wie S. III, 82 (Nr.74, 8)
atthagaman ca assadan ca admavam ca nissaranan ca yathabhütam paja-
näti, die sehr oft wiederkehren, wie in dem Vedanasamyutta S. IV,
208ff., wo auch andere zahlreiche Anklänge sich finden, wie p. 2ı1ff.
aniccanupasst viharati, p.213 sitebhavissanti, Jwvitapariyantikam vedanam,
kayassa bheda, alles Ausdrücke, die aber auch an andern Stellen, die
über die Vedanas handeln, vorkommen. Zu fol. 165”, 3 vedayitani
aparisesam niru läßt sich vergleichen S. IV, 402, 24 aparisesam niruj-
Jheyya und V, 211, 23 yam tajjam vedayitam . . . tam nirujjhati, zu fol.165”,
5 [e]saivanto duhkhasya z. B. S. IV, 43, 26 es’ ev’ anto dukkhassa und
oft. fol. 166°, 2 [upä]yasebhyo visamyukto duhkh[ät] entspricht wörtlich
S. IV, 210, 4 upäyasehi visannutto dukkhasmaä, und daß wirklich diese
Stelle hier vorliegt, macht die vorhergehende Zeile fol. 166°, ı ve-
dayati na samyukta wahrscheinlich, in der man unschwer S. IV, 208,
30 sukham ce vedanam vediyati sannutto nam vediyati wiedererkennt.
Die folgende Zeile fol. 166°, 3 vyajanam grhitva Bhagavantam vija-
[yati] weist wieder auf die Hauptstelle M. I, 497ff., wo p. 500, 36;
501, I steht: zyasma@ Sariputto Bhagavato pitthito thito hoti Bhagavantam
vijamäano, wie ja fol. 167", ı Szriputra ausdrücklich genannt ist, und
fol. 166”, ı dem kasya virajo vigatamalam dha deutlich M. I, 501, 6£.
entspricht: paribbayakassa virayam vitamalam dhammacakkhum, wonach
Pıscner: Bruchstücke aus Idykutsari. 823
ich ergänzt habe. Die in fol. 166°, 4. 5 stehenden Ausdrücke kehren
sämtlieh S. IV, 2ı1ıf. wieder. Es wird dadurch ziemlich sicher,
daß in der Sanskritrezension hier ein Kapitel stand, das inhaltlich
M. I, 497 ff. entsprach, in dem aber der Abschnitt über die Vedanas
p- 500 durch eine Stelle ersetzt war, die inhaltlich S. IV, 204 ff. gleich-
kam. Yasyarthe kulaputralh] fol. 166”, 4 entspricht der häufigen Rede-
wendung yass' atthaya kulaputta sammad eva agarasma anagäariyam pab-
Bramanzı BEN. 1,.496,.2735.5173,-45:8..11, 278,.12;.279, 2.usw.:; Un-
sicher ist die Lesung von fol. 166°, 5 [a]pi nu tava janato. Es kann
ebensogut api tu na ca janato gelesen werden. Aus fol. 164°, ı
[pzrvalvad yavad, dessen Ergänzung sich hier und fol. 173°, 5 aus
fol. 169”, ı ergab, lernen wir, daß das -pe- — peyyäalam des Pälikanons
im Sanskritkanon durch pürravad y@vat mit dem letzten Worte oder
den letzten Worten der zu wiederholenden Stelle ausgedrückt wurde,
wie auch das Divyavadana schon zeigte, z. B. p. 128, 22.
Für das Verhältnis des Palikanons zum Sanskritkanon in den
inhaltlich identischen Stellen ist auch dieser Abschnitt sehr lehrreich.
Es ergibt sich auch hier, wie schon die unten ausgehobenen Proben
zeigen, daß der Sanskritkanon offenbar eine gedrängtere und ganz
selbständige Darstellung hatte. Ein dem pürvavad yavat entsprechen-
des -pe- findet sich im Palikanon hier nicht. Daß unser Sutra auch
dem Mahavastu Ill, 67 bekannt ist, hat bereits OLpengere (ZDMG. 52,
661) hervorgehoben. Wie fol. 162°, 4.5 bho Gautama na ksamati
esapi te.....sarvam me na ksamati api nu te verglichen mit
Majjhimanikaya I, 497 aham hi bho Gotama evamvadı evamditthi sabbam
me na khamatı ti ya pi kho te esa Aggieessana ditthi sabbam me na
khamatz ti esa pi te ditthi na khamatr ti und fol. 164°, 4.5 vati kaye
käyacchandah ka... ya tisthati verglichen mit Majjhimanikaya I,
500 yo kayasmim käyachando käayasneho kayanvayata sa pahryati
zeigt, hatte der Abschnitt vor dem Teile über die Vedanas inhaltlich
gleichen Anfang und gleiches Ende.
Das dritte zusammenhängende Bruchstück, das sich unmittelbar
an das eben besprochene anschließt, umfaßt fol. 167°, 2—fol. 170°, 3
und entspricht Kapitel III, 64 im Anguttaranikäya I, 185—ı88. Daß
fol. 167°, 2. 5; 167°,4 der Visarga in namah und fol. 167°, ı der Upa-
dhmanıya in °patah° falsch ist, habe ich oben S.81ı2 bemerkt. Sprach-
lich ist zu beachten fol. 169°, 3 madgubhrztah und fol. 169", 5 bhadda-
likä. Dem madgubhüutah entspricht im Päli mankubhito, was man zu
Sanskrit manku »schwankend« stellt. madgubhata hat auch das Di-
vyavadana 633, 24: 636,7. Ob es eine Rückübersetzung eines ur-
sprünglichen manku nach Art von mamkuma = matkuna ist, oder ob
das Pali die alte Magadhiform mißverstanden hat, oder ob zwei Sy-
a
64
824 Gesammtsitzung vom 5. Mai 1904.
Jedenfalls möchte ich auf
das Desiwort maggo — pascät Desinamamala 6, ı1ı hinweisen, das auch
in magganniro — anugamanastlah 6, 124 steckt und I, 4 als maga unter
den Worten aus den Landessprachen aufgeführt wird, die Hemacandra
Dieses Mat ist Marathi MT, ART »be-
hind«, »back«, »afterwards«. Man sagt HRI YZUf »to be eclipsed or
outshone«, »to be left in the back-ground«, wie man im Sanskrit sagt
pascat kr »hinter sich lassen«, »übertreffen«. Das ist aber genau die
Bedeutung von madgubhüta. Ganz unbekannt ist mir die Bedeutung
von bhaddalika. An der Lesung ist kein Zweifel möglich. Nach dem
entsprechenden Teile des Palitextes, Anguttaranikaya I, 187, 33 ff.,
kann man vermuten, daß bhaddalika Name eines Tieres ist. Abweichend
vom Palitext beginnt der Sanskrittext mit dem letzten Beispiele vom
Stier fol. 169”, 3: tadyatha Sarabha rsabha = A.1, 188,6: seyyatha pi
@vuso Sarabha usabho. Dem Geschlechte nach würde bhaddalika dem
ambakamaddarı entsprechen, dessen Bedeutung mir ebenso unklar ist
wie die von pussaka (Katze? vgl. Skt. puspaka, das dann pusyaka zu
lesen wäre, PW.VI, S.ı772 und v.]l. zu Mahabhasya I, 208, 2).
Zum Vergleich setze ich wiedereinige Proben her.
nonyma vorliegen, läßt sich nicht sagen.
aus seiner Arbeit ausschließt.
f01..1675,2..3.
Sarabho namah parivräjaka| h)
vacam bhäsate
Anguttaranikäya I, 185, 5.7.
Sarabho nama paribbajako
Ajpndto me srama-
n| nam)
fol. 168°, 3.4.5.
|Bha]gavam Sarabham parivrajyakam
vacam bhäsati annato maya sama-
nanam
Anguttaranikäya I, 186, 1.5. 6.
Bhagava Sarabham paribbayakam etad
avoca
tasma dhammavinaya apakkanta iti
ida|m aha]
[talsmad dharmavinayad apakränta
eva
tvam Sarabha kim asi tasnım sace|t| | evam vutte Sarabho paribbajako tunht
ahosi
In der Sanskritfassung richtet also Buddha an Sarabha direkt
die Frage, weshalb er schweige, während in der Palifassung diese
Tatsache einfach erzählt wird. Wie das unmittelbar auf tasnım fol-
gende sacet zeigt, fuhr in der Sanskritfassung Buddha schon hier mit
den fol. 168”, 4 wiederholten Worten fort: sacet |te] [apari|parnam
bhavisyati vayam te | paripurayisyamah]) = A.], 186, 10: sace te apari-
püram bhavissati aham paripuressami. Im Pali steht davor die Auffor-
derung: vadehi Sarabha kin ti te annato samananam Sakyaputtiyanam
dhammo. Dieser Abschnitt ist für die Beurteilung des Verhältnisses
der beiden Kanons zueinander besonders lehrreich, und ich empfehle
ihn vor allen der Aufmerksamkeit der Fachgenossen.
4
PıscHer: Bruchstücke aus Idykutsari. 825
Das vierte und letzte zusammenhängende Bruchstück reicht von
fol. 170°, 4 bis fol. 173”, 5. wo die Blätter aufhören. Hier scheinen
wieder zwei verschiedene Stücke ineinander gearbeitet zu sein. Aus
fol. 173", ıff. ergibt sich, daß von hier an von den drei Behauptungen
die Rede ist, die die Brahmanen als selbstverständliche Wahrheiten,
brahmanasaty@ni, aufstellen. Soviel ich weiß, ist von den bräh-
manasacca@ni in den bisher von der Pali Text Society veröffentlichten
Teilen des Palikanons nur einmal die Rede: Anguttaranikäya I, 176.
Die Sanskritfassung stimmt auch mit der Palifassung wieder in manchen
Einzelheiten ziemlich überein. Es sei beispielsweise hingewiesen auf
fol. 173°, 5 [Eli manyante sadrs@ sma iti manyante hina sma verglichen
mit A. II, 176, 31 & mannati na sadiso "ham asmt ti mannati na hino
"ham asmt ti mannati, und auf fol. 173”, 4 [evalm ahur na mama kva
cana kas cana kin canam asltli = A. U, 177, 11 evam aha näham kva
cana kassa ci kin canam tasmim na ca mama kva cana kattha ci kin
canam n attht ti. Aber der Unterschied ist hier sonst so groß, daß
von einer Identität der Stellen nicht die Rede sein kann. Schon der
Ort stimmt nicht. Im Palikanon wird die Handlung an das Ufer des
Flusses Sappinı oder Sippiniı verlegt, im Sanskritkanon an das Ufer
des Teiches Sumagadha. Dieser Teich wird auch S.V, 447 erwähnt,
aber in ganz anderem Zusammenhange. Ferner ist im Palikanon von
vier, im Sanskritkanon von drei Brahmanasatyani die Rede. Am Ufer
des Teiches Sumagadha spielt auch der erste Teil fol. 170°, 4 bis
fol. 171", 5, so daß beide Teile wohl zusammengehören. Unglücklicher-
weise ist von der Gäthä fol. 171”, ı nur der erste Buchstabe ya er-
halten und die Worte mä ca vihethaya präninah, die das Ende eines
Stollens oder der ganzen Strophe bildeten. Leider kann ich auch diese
Strophe trotz allem Suchen nicht nachweisen. Ein unglücklicher Zu-
fall ist es auch, daß der Name des Parivrajaka fol. 170°, 2; fol. 172°, ı
nicht erhalten ist. Auf fol. 172° stehen noch zwei Buchstaben, die
wie naga oder iaga aussehen, von dem Arbeiter beim Aufkleben des
Bruchstückes auf Papier aber an eine unrichtige Stelle und falsche
Lage gebracht und daher nicht verwertbar sind. Vielleicht sind andere
glücklicher, die Stelle im Palikanon zu finden.
Von den kleineren Bruchstücken sind I” offenbar identisch mit
Majjhimanikaya II, 127, 4—6. IT’, 4 dharmasya canudharmam ist wört-
lich = dhammassa canudhammam; den Worten T’, 5 no ca mam abhya-
caksase entspricht na ca Bhagavantam abhütena abbhacikkhanti,. und den
Worten I’, ı vadanuradam garhasthantyo entspricht vadanuvado yaray-
ham thanam ügacchatt Üi.
In II’, 5 ist wohl v@pe von mir richtig zu Kalandakanivape ergänzt
worden. In III‘, 2 weisen die Worte kulajata gudagumdi auf Angutta-
826 Gesammtsitzung vom 5. Mai 1904.
ranikaya Il, 212, 5—7, die nach 211, 33 zu ergänzen sind: katama ca
bhikkhave tanhäa .... yaya ayam loko .. tantäkulakajato gulagundikajato ....
samsaram nätivattati. Dem katama-yaya entspricht kasmad dhetoh, dem
samsaram nätivatlati entspricht samsaramti samsä|re|. Die Worte kula-
JUa@ gudagumdi sind danach zu ergänzen zu tantrakulajat@ gudagumdi-
kajatah. Außer A. II, zı1f., wo gulägundikajato steht, findet sich der-
selbe Ausdruck auch S. Il, 92; Dıpavamsa 12, 32, worauf schon Morris
hingewiesen hat', der in den Preliminary Remarks zu A. II, p. 4 über
die Bedeutung gehandelt hat, und S. IV, 155. In S.II, 92 schreibt
FEER guligandhikajata ohne Angabe von Varianten, in S.IV, 158 guna-
gunikajat@ mit den Varianten kulagunthika° und gulagundika®. Zu A.Il,
211 finden sich die Varianten kulagundika° und gulagunthika°. OLpEx-
BERG liest im Dipavamsa ohne Varianten gulägunthika®. Unser Bruch-
stück hat deutlich und zweifellos gudagumdi mit dentalem d in der
Silbe di und kurzes a in der zweiten Silbe da.
Der Fund, den ich hier veröffentliche, ist von weittragender Be-
deutung. Es war längst klar, daß die nördliche Überlieferung in Sans-
krit, Gathadialekt, in chinesischen und tibetanischen Übersetzungen,
verglichen mit der südlichen Überlieferung in Päli, auf eine einheit-
liche Tradition der Lehre des Buddha hinwies.” Wie groß die Über-
einstimmung in den Grundlehren ist, kann erst jetzt völlig erkannt
werden. Daß »die nordbuddhistische Literatur den Palikanon voraus-
setzt«°, wird jetzt nicht mehr behauptet werden können. Aus Fällen
wie fol. 165”, 4 esaiväanto verglichen mit Päli es’ ev’ anto und fol. 17 3°, 4
kin canam mit Pali kin canam, den Schreibungen -mam und -vam für
-män und -van könnte man geneigt sein, auf eine Vorlage in Pali zu
schließen. Aber ich habe bereits mehrmals hervorgehoben, daß die
Annahme einer Übersetzung oder Überarbeitung des Pälikanons durch
den Wortlaut des Sanskritkanons schlechterdings ausgeschlossen ist.
So werden wir Magadhismen annehmen müssen, nicht Palismen.
An die Sinologen tritt nun die Aufgabe heran, die hier veröffent-
lichten Bruchstücke mit dem chinesischen Kanon zu vergleichen. Die
Art, wie nach O. Frasee' die chinesischen Übersetzungen zustande
! Journal of the Päli Text Society 1889, p. zıı, wo statt p. 214 zu lesen ist
p- 2ı1f.
® Die weitschichtige Literatur darüber hat OLpensers, ZDMG. 52, 643 ff. in
gelehrter und vortrefflicher Weise bearbeitet. Ergänzend verweise ich noch auf
Mınasev, Grammaire Palie p. XXVIIIf.; Benpatr, JRAS. 1898, p. 870 ff. (gleichzeitig
erschienen mit OLDEnBeErss Artikel), und besonders auf die oben S.808 erwähnte Schrift
von DE GRooT.
® Winpisch, Mära und Buddha (Leipzig 1895) S.ı, vgl. OrLpengers, ZDMG. 52,
674 Anm. 2.
* The China Review XXI, p. 66.
nu
Pıscner: Bruchstücke aus Idykutsari. 827
gekommen sind, erweckt wenig Vertrauen. Aber es scheint, dal
zwischen dem Hinayana und dem Mahayana ein Unterschied zu machen
ist. Das von L£vı aus dem Kanon des Hinayana übersetzte Rahula-
sütra! zeigt die größte Übereinstimmung mit dem Pälikanon, das von
pE Groor aus dem Kanon des Mahayana übersetzte Brahmajalasütra’
hat niehts mit ihm gemein. So verschieden aber auch die Wege sind,
auf denen sich das Wort des Buddha fortgepflanzt hat, der Kern ist
immer und überall der gleiche geblieben. Turkestan verkündet durch
seine Trümmerstätten aufs neue laut den Ruhm des Weisen von Ka-
pilavastu und seiner Jünger.
! Journal Asiatique, IX. Serie, Tome VII, p. 475 ff.
2
®2 Le code du Mahäyäna en Chine p.8 ff.
[No)
Rn
Über umkehrbare photochemische Reaktionen im
homogenen System. I. Anthrazen und Dianthrazen.
Von RoBErRT LUTHER und FRITZ WEIGERT,
Physikalisch-chemisehes Institut, Leipzig.
(Vorgelegt von Hrn. van’r Horr.)
1&& Jahre 1866 beobachtete J. Frırzscue', daß Anthrazen in Benzol-
lösung im Sonnenlicht in ein schwer lösliches Produkt überging, wel-
ches dieselbe Elementarzusammensetzung wie das Anthrazen hatte und
dem er den Namen Paranthrazen beilegte. Beim Schmelzpunkt, der
höher als der des Anthrazens lag, ging das Paranthrazen wieder in
das Ausgangsmaterial über. Eine Reihe anderer Forscher” beschäftigte
sich später mit dieser Umsetzung, deren Untersuchungsergebnisse in
einer größeren Arbeit von ORNDORFF und CAMERON” zusammengestellt
sind. Letztere studieren die Eigenschaften des Paranthrazens genau,
seine Darstellung und den Einfluß des Lösungsmittels auf die Bildung
im Licht, die Kristallform, Löslichkeiten, bestimmen das Molekular-
gewicht nach der Siedemethode in Phenetol, Anisol und Pyridin und
finden für dasselbe den Mittelwert: M.G. = 357. Das Paranthrazen
entsteht demnach aus dem Anthrazen nach folgender Gleichung:
20, H,. == Cs Rs =
ÖRNDORFF und Caueron schlagen deshalb den Namen Dianthra-
zen vor.
Die Rückbildung von Anthrazen wird nicht nur beim Schmelz-
punkt des Dianthrazens bei 240°, sondern auch »teilweise« in hoch-
siedenden Lösungsmitteln bis zu 182° herab (Anilin) beobachtet.
! J. Frrrzsche, Journ. f. prakt. Chem. 101, 337 (1866); 106, 274 (1869).
?2 GRAEBE u. LiEBERMANN, Lies. Ann., Suppl. 7, 264 (1870). E. Schmipr, Journ.
f. prakt. Chem. (2) 9, 247 (1874). K. Erzs, ebenda (2) 44, 467 (1891). LiNEBARGER, Amer.
Chem. Journ. 14, 597 (1892).
s W.R. Ornporrr und F. K. Cameron, ebenda 17, 658 (1893). Über ähnliche
Umwandlungen analog konstituierter Körper vergleiche in derselben Arbeit: Akridin,
außerdem W. R. Ornvorrr und Ü©. L. Brıss, ebenda 18, 453 (1896): Anthranol. W.R.
ÖrnporFF und H. A. Mesraw, ebenda 22, 152 (1899): ß-Methylanthrazen.
R. Lurner u. F. Weiserr: Über umkehrbare photochemische Reaktionen. 829
Über die Wirkung des Lichtes werden folgende Vermutungen auf-
gestellt: »Diese eigentümliche Umwandlung scheint mit der Absorption
des Lichtes und der Fluoreszenz der Anthrazenlösungen verknüpft zu
sein. Die strahlende Energie wird vielleicht in den Anthrazenlösungen
teilweise in chemische Energie umgesetzt, die das Anthrazen in Par-
anthrazen umwandelt, dessen Unlöslichkeit die Reaktion vollständig
macht«.
Die Möglichkeit, daß hier eine umkehrbare photochemische Re-
aktion vorliegt, ist von keinem Forscher diskutiert worden.
Da bis jetzt nur eine sehr beschränkte Anzahl umkehrbarer photo-
chemischer Reaktionen mit Sicherheit bekannt ist!, solche im homo-
genen System aber überhaupt noch nicht, so erschien es von Inter-
esse, die Anthrazenverwandlung von diesem Gesichtspunkt aus zu unter-
suchen.
Qualitative Untersuchung.
Nach Vorversuchen gelang es beim Licht einer elektrischen Bogen-
lampe”, in einem Gefäß aus Quarzglas in siedendem Phenetol bei 168°
Anthrazen reichlich in Dianthrazen überzuführen. Im Dunkeln ging an-
dererseits eine Suspension von Dianthrazen in siedendem Phenetol in 17
Stunden unter Verwandlung in Anthrazen vollständig in Lösung. Die
beiden Stoffe wurden durch ihre Eigenschaften: Schmelzpunkt, Löslich-
keit und ihre Fluoreszenz (Dianthrazen fluoresziert nieht) identifiziert.
Die Reaktion ist also umkehrbar, und zwar wird durch Bestrah-
lung die Dianthrazenbildung, im Dunkeln die Anthrazenbildung be-
günstigt.
Licht
2CHH < = GH «
Dunkel
Dieselben Resultate wurden in Anisol bei 152° und in Xylol bei
140° erhalten.
Da in Phenetol und Anisol die Löslichkeit des Dianthrazens re-
lativ groß ist (bis 1.5 Prozent), so war Aussicht vorhanden, die um-
kehrbare photochemische Reaktion in homogener verdünnter Lösung
zu studieren.
! Erper, Chem. News 65, 153 [1892]; Luccıv, Zeitschr. f. phys. Chem. 14, 385
[1894]; 23, 577 [1897]; MAarexwarn, ebenda 30, 140 [1899]; E. Bırırz, ebenda 30, 527
[1899]; R. Lurser, ebenda 30, 628 [1899]; vgl. auch Liesesang, Arch. f. wissensch.
Photogr. 1900/01, ILL.
* Entgegen den Angaben von ORNDoRFF und Caueron enthält der elektrische
Kohlebogen viel chemisch wirksame Strahlen.
530 Gesammtsitzung vom 5. Mai 1904.
Bevor zur Beschreibung der quantitativen Ergebnisse übergegangen
wird, sollen einige Beobachtungen mehr qualitativer Natur kurz er-
wähnt werden.
Im bestrahlten Zustande vergrößert sich die Reaktionsfähigkeit
des Anthrazens gegenüber anderen Stoffen außerordentlich stark. Bei
Gegenwart von Schwefelkohlenstoff in Benzollösungen bildet sich unter
dem Einfluß des Lichtes ein schwefelhaltiges Produkt." Der Sauer-
stoff der Luft oxydiert Anthrazen unter Gelbfärbung. Die Darstellung
eines reinen Dianthrazens gelang daher am besten, wenn nur die
siedende Anthrazenlösung bestrahlt wurde, und alle Berührungsflächen
mit Luft durch Abblendung im Dunkeln gehalten werden. Speziell
aus siedendem Xylol scheidet sich das Polymere direkt rein in weißen
hexagonalen Blättchen ab; der Schmelzpunkt kann natürlich nicht
scharf gefunden werden, da er von der Geschwindigkeit der Erhit-
zung abhängt. Bei schnellem Erwärmen liegt er zwischen 270 und
280°.
Die Umwandlung von Dianthrazen in Anthrazen im Dunkeln ist
praktisch vollständig, so daß die Reaktion glatt zu verlaufen scheint.
Im Licht ist die Dianthrazenbildung nicht auf den gelösten Zu-
stand beschränkt: die Oberfläche von Anthrazenblättchen trübt sich
bei Bestrahlung unter Dianthrazenabscheidung, ferner konnte die Um-
wandlung auch im Dampfraume beobachtet werden.
Quantitative Untersuchung.
Um die quantitativen Beziehungen zwischen Anthrazen und Di-
anthrazen im Licht zu studieren, sollte untersucht werden, wie sich
die Zusammensetzung von verdünnten Lösungen bei der Bestrahlung
ändert. Die Methode war folgende:
Da gelöstes Dianthrazen und Anthrazen ihre Eigenschaften be-
sonders bei niederen Temperaturen nur sehr langsam ändern, sind rein
chemische Analysenmethoden anwendbar.” Als Lösungsmittel wurden
bis jetzt nur Phenetol und Anisol bei ihren Siedetemperaturen benutzt.
Als Bestrahlungsfäße verwendeten wir zylinderförmige Gefäße aus
weißem dünnen Glas von 18°” Länge und meistens 27”” äußerem
! LiNEBARGER a. a. O. erwähnt bei dem Studium des Einflusses des Lösungsmittels
auf die Dianthrazenbildung eine Schwarzfärbung in Schwefelkohlenstoff, Chloroform
und Äthylenbromid.
2 O.u.C. a.a.O. geben den Schmelzpunkt 240 — 242° an.
® Als andere quantitative Untersuchungsmethoden könnten die scheinbare Ver-
änderung des Molekulargewichts in den Lösungen und außerdem bei verdünnten Lö-
sungen spektrophotographische und bolometrische Methoden zur Verwendung kommen.
e “ : £ 5)
R. Loruer u. F. Weıserr: Über umkehrbare photochemische Reaktionen. 831
Durchmesser (Fig.). Dieselben waren mit eingeschliffenen oder ange-
schmolzenen Kühlern!' und einem durch eingeschliffenen Stöpsel ver-
schließbaren Ansatzrohr versehen, durch das während des Versuches
Proben der Lösung mittels einer angewärmten Pipette entnommen
werden konnten. Der Gehalt derselben an den beiden Polymeren
wurde auf die Weise bestimmt, daß zunächst bei niederer Temperatur
das Lösungsmittel abgedampft und dann bei 110° im Trockenschranke
das Anthrazen fortsublimiert wurde. Dianthrazen bleibt quantitativ
zurück, Anthrazen wurde aus der Differenz bestimmt.
Als Lichtquelle wurde nur künstliches Licht verwendet, und zwar
für die orientierenden ersten Versuche eine Nebenschlußbogenlampe
älterer Konstruktion mit feststehender Kathode. Die Stromstärke
schwankte zwischen 6.2 und 6.4 Ampere und die Spannung zwischen
56 und 59 Volt. Die Bestrahlungsgefäße wurden derartig aufgestellt,
daß die Mitte der Flüssigkeitssäule in einer Horizontalebene mit dem
Bogen lag. Durch die Untersuchungen von Harzwacns” ist nachge-
! Die Kühler waren mit kurzen Chlorkalziumröhren verbunden.
?2 Harrwachs, Ann. d. Physik [4] ı3, 38 [1904].
832 Gesammtsitzung vom 5. Mai 1904.
wiesen worden, daß die photoelektrisch wirksamen Strahlen nur vom
Kohlebogen ausgehen: dasselbe wurde für die für unsere Reaktion
wirksamen Strahlen angenommen. Die Fluoreszenz der Anthrazen-
lösung war in dieser Stellung der Gefäße am stärksten. Dem Sinken
des Bogens entsprechend mußten die Gefäße in kurzen Abständen
nachgerückt werden.
Bei den späteren Versuchen wurde eine auf Stromstärke regu-
lierende Differentialbogenlampe mit feststehendem Bogen und beson-
ders langer Brenndauer benutzt. Dieselbe war uns von der Firma
Körting und Matthiessen in Leipzig zur Verfügung gestellt worden
und war für Io Ampere und 42 Volt bestimmt. Da jedoch bei der
niedrigen Spannung der Bogen keine Fluoreszenz erregenden Strahlen
aussandte, wurde die Lampe so einreguliert, daß sie im Mittel mit
8.3 Ampere und 53 Volt arbeitete. Als Kohlen wurden eine positive
Dochtkohle und eine negative Vollkohle verwandt. Die wirksamen
Lichtstärken können nur als Mittelwerte betrachtet werden; kompli-
zierte Reguliervorrichtungen auf Lichtintensität wurden noch nicht an-
gewendet, da es uns bei diesen Versuchen auf Ermittelung der Haupt-
gesetze in großen Zügen zunächst ankam.
Qualitative Versuche wurden mit einer uns von Hrn. W.C. Heraeus
gütigst überlassenen Quecksilberbogenlampe aus Quarzglas angestellt;
obgleich Anthrazen bei ihren Strahlen kaum fluoresziert, gelang die
Umwandlung in Dianthrazen äußerst rasch. Die Vermutung von ÖRNDORFF
und ÜAneron, daß die Fluoreszenz mit der Umwandlung in Beziehung
steht, scheint demnach nicht gesichert zu sein.
Eine stets reproduzierbare, sehr starke konstante Lichtquelle, (die
für photochemische Untersuchungen eine wichtige Bedingung ist, be-
sitzen wir noch nicht; da jedoch die Versuche sich über mehrere Stunden
erstrecken, so erlauben die mittleren wirksamen Lichtstärken dennoch
Vereleiche.
Die Art der Bestrahlung geschah auf zweierlei Weise. Die Lösung
wurde in den Bestrahlungsgefäßen mit einigen Platintetraedern durch
eine Flamme zum ruhigen Sieden erhitzt und
I. frei den Strahlen ausgesetzt oder (s. Fig.: a)
2. durch Aluminiumblechrohre, welche über das Glasgefäß ge-
schoben waren, so abgeblendet, daß nur eine bestimmte Höhe (A) des
Flüssigkeitszylinders bestrahlt wurde (s. Fig.: 5). Erstere Anordnung
bot aus weiter unten erörterten Gründen den Vorteil, daß die Ge-
schwindigkeit der Reaktion durch Entnahme verschiedener Proben
gemessen werden konnte, hatte aber den Nachteil, daß die bestrahlte
Oberfläche durch die Bewegung der siedenden Flüssigkeit nicht
konstant blieb und daß sich die Lösung häufig gelb färbte, wodurch
R. Luvner u. F.Weicert: Über umkehrbare photochemische Reaktionen. 833
natürlich veränderte Absorptionsverhältnisse bedingt wurden; bei der
zweiten Anordnung blieben die Lösungen farblos, die Geschwindig-
keit konnte jedoch nur auf dem Wege ermittelt werden, daß mit
der Abnahme des Volumens der Lösung durch die Probeentnahme
gleichzeitig die freie Oberfläche durch ein entsprechendes Verschieben
der Aluminiumrohre verringert wurde.
Die Berechnung der Konzentration (Millimol. pro Liter) geschah
unter der Benutzung der von H. Schirr berechneten Dichten der
Lösungsmittel bei ihren Siedepunkten
Phenetol: 0.82,
Anisol: 0.86.
Versuche im Dunkeln.
Um die Reaktionsordnung der Umwandlung von Dianthrazen in
Anthrazen zu bestimmen, wurden Lösungen von Dianthrazen im Dunkeln
zum Sieden erhitzt und die Abnahme der Konzentration des Poly-
meren (D) verfolgt.
Die Konstante X wurde aus der Formel für monomolekulare Reak-
tionen berechnet und innerhalb enger Grenzen konstant gefunden.
>
Tabelle ı.
Versuch Nr.ı. Lösungsmittel: Phenetol, Siedepunkt = 168°.
Zeit in Minuten 2 o 140 240 425 1225 1650"
(D),.! 16.8 9.5 6.1 3-3 0.2 (6)
K-10*#? Get 8.0 712 6.8 _
Versuch Nr. 20. Lösungsmittel: Phenetol.
Zeit in Minuten ? o 233 323 443 1280'
(D),.! 10.5 5.4 4.09 2.64 0.5
K.10#2 5.4 5-5 5.9 4:5
Versuch Nr. 17. Lösungsmittel: Anisol, Siedepunkt = 152°.
Zeit in Minuten t o 865 1225 2345 3845 5310"
(D),-! 16.38 9.35 7.03 3.26 1.18 0.55
K.10% 1.2 es) 1-3 1.3 1.2
Die Reaktion verläuft im Dunkeln praktisch vollständig im Sinne
der Gleichung C,H, = 2C,H...
' (D) = Milligramm-Molekül pro Liter.
® Auf den Wert der Geschwindigkeitskonstante scheint Feuchtigkeit katalytisch
zu wirken. Der Einfluß wurde als dem Zwecke der Hauptuntersuchung fernerliegend
noch nicht näher studiert.
834 Gesammtsitzung vom 5. Mai 1904.
Versuche im Licht.
A. Geschwindigkeiten.
Im Lichte verändern sich die Konzentrationen von Anthrazen und
Dianthrazen. Es wurden die Anfangsgeschwindigkeiten der Abnahme
der Anthrazenkonzentration bei verschiedenem Gehalt unter sonst glei-
chen Bedingungen bestimmt. In der folgenden Tabelle 2 bedeuten
‚C, und ‚ÜC, die Konzentration des Anthrazens in Milligr.-Molekülen
zu Beginn des Versuchs und nach ? Minuten. C, bedeutet die mitt-
@
4 die Abnahme in der Zeiteinheit. Unter
lere Konzentration und
den Bemerkungen ist die gemeinsame Anordnung der zu vergleichenden
Versuche erwähnt: das Lösungsmittel, die Lampe (Nebenschlußlampe:
N.L. oder Differentiallampe: D.L.), die Entfernung der vorderen Ge-
fäßwand vom Lichtbogen = d (s. Fig.) und die Art der Bestrahlung
(ganz frei oder eine freigelassene Flüssigkeitssäule von der Höhe A).
Tabelle 2.
._ = z | — = - —- -
t 0CA | Can C4 Ar Bemerkungen
ee er 646 | 66.5 | 0.0295 N}Phenetol (168%); N.L.; d= 16%; freie
175 37.6 32.7 35.20 100.0:028 \ Oberfläche.
595' 94.6 80.1 87.4 0.02 JAnisol (152°); N.L.; d=ı18°N24; freie
580 48.4 37-5 43 0.019 \ Oberfläche.
210' 71.3 62.1 66.7 | 0.044 J’Anisol 1 (n522)2, DIE a ren freie
270 47-9 38.1 43 0.036 \ Oberfläche.
840' 94 86 90 0.0095 lAnisol (152°); D.L.; d= 320 R = em
835 46.6 40:60 7 03.6 3| 0.0072 \ 2sgr Lösungsmittel.
ös ergibt sich, daß die Geschwindigkeiten in einem viel kleineren
Verhältnis stehen als die Anthrazenkonzentrationen; bei genügender
Entfernung vom Gleichgewichtszustand fast von den letzteren unab-
hängig sind.
Ähnlich durchgeführte Versuche über die Abnahme der Dianthra-
zenkonzentration (von reinem D ausgehend) erlaubten nach der var'r
Horrschen Beziehung
die Ordnung der Reaktion D->A zu bestimmen und ergaben nach
Tabelle 2a, wie zu erwarten war, daß dieselbe monomolekular, wie
im Dunkeln, verläuft.
R. Lurser u. F. Weicerr: Über umkehrbare photochemische Reaktionen. 835
Tabelle 2a.
a
rc ‚Ca C4 E n Bemerkungen
| At =
83' | 14.33 10.2 | 12.27 0.0504 e Phenetol (168°); D.L.; d= 16°%;
89 | 906 | 6.51 | 8.06 | 0.0347 = h=2, g= 258.
Die aus diesen Bestimmungen nach der Formel auf S. 833 be-
rechneten Werte für X sind 7-7-10* und 8-2-10*. Vergleichbare
Parallelversuche im Dunkeln ergaben für die Geschwindigkeitskonstante
nahezu dieselben Werte 8-8.10”* und 8-0. 10”.
B. Gleichgewichte.
Bei genügend langer Fortsetzung der Versuche werden Gleich-
gewichtszustände erreicht, welche von verschiedenen Faktoren abhän-
eig sind. Die Konzentrationen erreichen den Gleichgewichtszustand
unter sonst gleichen Bedingungen von beiden Seiten (es sei hier auf
die Versuche Nr. 7 und 8; und Nr. 38 und 39 der Tabelle 3 hin-
gewiesen).
Der Gleichgewichtszustand wird, wie Geschwindigkeitsmessungen
lehrten, in siedendem Phenetol schon nach 6—7 Stunden erreicht.
Wenn dureh Vorversuche die Gleichgewichtskonzentrationen bekannt
sind, so wird von Anfang an ein ähnliches Gemisch von Anthrazen
und Dianthrazen gelöst, so daß die Änderung der Konzentration (in
den Tabellen: AC,) bis zum Gleichgewicht nur gering ist. In den
folgenden Tabellen 3 und 4 sind zunächst die sämtlichen Versuchs-
ergebnisse zusammengestellt, deren Diskussion später erfolgt. Es be-
deuten:
Kol. ı die Nummer des Versuches,
Kol. 2 die Dauer der Bestrahlung,
Kol. 3 die Bezeichnung der Lichtquelle (Nebenschlußlampe: N.L.,
Differentiallampe: D.L.) und die Entfernung der vorderen Wand des
Bestrahlungsgefäßes vom Lichtbogen: dem,
Kol. 4 das Gewicht der Lösung: G,
Kol. 5 die Höhe des bestrahlten Flüssigkeitszylinders: A,
Kol. 6 die Anthrazenkonzentration, C,, beim Gleichgewicht,
Kol. 7 die entsprechende Dianthrazenkonzentration: C'y.
Kol. S die Vermehrung oder Verminderung, AC,, der letzteren
vom Anfangswert aus,
Kol. 9 den Radius des Flüssigkeitszylinders: r,
Kol. 10 den Wert einer Konstanten: X, deren Bedeutung später
erörtert wird,
Kol. ıı Bemerkungen zu den Versuchsbedingungen.
836 Gesammtsitzung vom 5. Mai 1904.
Tabelle:
Lösungsmittel: Phenetol, Siedepunkt = 168°.
Nr. hs? | dem gr | em | CA Cp | ACo || de Bemerkungen
2 9 |N.L.ı6 | 41.4 | frei 61.3 | 3.62 | + 3.62 | 1.24 Kı=1.8 | AmSchlußRückverwand-
3 SE Se Al en © ar lung des gebildeten D.
4 93 .. 41.5 nz 4.84 | — 3.40 | » 2.4
6 IO | » 32.5| 40:5 „ 29.5 1.09 |+1.09| » ae)
7 15, || »20) | 40:4 | m. .28.6 321017843: 210 1 er 25
8 163 non 40.4 n„ | 283 3.37 | —ı14.15 Merle » 2.6 | Von reinem Diantlırazen
12 9 15 25.2 » | 36.0 5.02 | + 5.02 | » 22 ausgehend.
Br ae er | > 2 ee: | j RS [Die Versuche wurden
14b 9, j En | ES gleichzeitig ausgeführt.
I4e 103 05 716% » | 497 IT-2 || ent 0 722 » 2.3 = re
19a z » 13 | 254| ach | 39:8: | 3.16 |=t 3:16 | 01.24 een )
19b 9% | » ı184| 25.4 frei 38.9 3:32 U |-#53:320| 7 5» ”9:2.2|)
2 Io n 13 40.6 |? =4.9| 44.6 2.76 | + 2.76 See)
2 | »ı3|24| 49) 458 | 207 | + 407 » » 1,8 |
30] 14 DIE2162 7254 5 37-8 | 4.93 | + 4.93 » BR=3.2
39 |». [20.9 4.1| 38.5 4:58 | — 0.35 | » |» 2.9 | Fortsetzung von 30,
31] 14 » » | 25.6 5 | 78.8 | 5.87 IE an a
31j] 73 nn 21.0 4.1 84 3 BLZ — 0.76 ” ” 3-3 Fortsetzung von 31] nach Ab-
34 8 2m 2555| 5 60.7 | 4:97 | Das. R, re Annoz und Stehen über
36 1930 0 r21372 25.4 5 | 4.8 | 7.27 | + 1.37 rer zu)
37 13% Du 25-3 | 2727 De 1.81 | ” » 3.0 |\
38 14 » 16 | 25.2 | 5 729-5 | 4.24 | + 0.85 ” nn 2 AR Ar
39 14 in 25:3 | 5 | 298 | 417 | — 2.56 » 2 ee [tinblech.
42 T3d le», &= 25-3 5, | A547 4.89 | + 0.12 » "3.1
43 1SEa|ı 27,15: 5 43.9 | 6.37 | + 0.8 8.5 03:5 |
44 aa er 15-4 5 46.1 | 467 | +038| 72 |» 31
48 13% ”130 20.255 BelE240:2 7.10 | — 0.25 1.2401, »23:02||\
9| 133 |» » | 3834| 5 | 405 | 502.|+004 | -» n 3:2
50 135 | »ı6 | 253 | 5 | 38.83 | 4.98 | + 1.02 » BS3&T \
5ı 135 | » 16 25.3 | 2 | 38.9 | 1.99 | + 0.57 » » 3.2]
Tabelle 4. |
ıı bs
Bemerkungen
R. Lurner u. F.Weiserr: Über umkehrbare photochemische Reaktionen. 837
Bei der Bestrahlung eines ruhenden Flüssigkeitsvolumens wird die
Wirkung des Lichtes an der Vorderfläche eine stärkere sein als im
Innern des Volumens. Die Konzentrationen werden daher beim Gleich-
gewichtszustand von Punkt zu Punkt variieren. In den von uns be-
trachteten durch Sieden stark gerührten Lösungen wird sich beim
Gleichgewicht ein mittlerer Wert einstellen, auf den sich die ganzen
folgenden Betrachtungen beziehen.
Die Diskussion der Versuchsergebnisse wird am übersichtlichsten
bei folgender Betrachtung:
Wir wählen die Gleichgewichtskonzentration des Dianthrazens C,
in Milligr.-Molekülen als abhängige Variable, dagegen als unabhängige
Variable'
A. diejenigen Faktoren, die sich auf die Betrachtung beziehen,
[1. Die Art der Lampe L; 2. die Entfernung der Vorderfläche
des Bestrahlungsgefäßes vom Lichtbogen = d; 3. die bestrahlte Ober-
fläche; 3a. der Radius der zylindrischen Flüssigkeitssäule; 4. die Länge
der durchstrahlten Schicht = !.|
B. diejenigen Faktoren, die sich auf den Inhalt der Gefäße be-
ziehen.
|ı1. Das Gewicht @ oder Volumen ® der Lösung; 2. die Konzen-
tration ©, des Anthrazens in Milligr.-Molekülen; 3. das Lösungsmittel,
welches gleichzeitig mit der Temperatur geändert wird.]
Indem man nur einen Faktor variiert und alle anderen möglichst
konstant hält, kann man die Abhängigkeit von C, von den einzelnen
Faktoren ermitteln.
A. Betrachten wir zunächst die Einflüsse, die mit der Bestrah-
lung zusammenhängen.
1. ©, ist von der Art der Lichtquelle abhängig.
2. ©, ist umgekehrt proportional dem Quadrat der Entfernung
von der Lampe und direkt proportional der relativen Lichtstärke.
InsVersuchh Nr. 743,102, 101brist d.— 13.5. 15; 118.4,em
a EN
Aer82 72050330.
m=57.18035 0233.32. — 1.21 31.000,66;
1.2,7071.00,20:06
In Versuch Nr 48 und 50-ist 4137 und 16”
Et,
TEN 0 Sr
GIER OS— TA: T
! Die bis jetzt vorliegenden Versuchsergebnisse erlauben die Bestimmung der unter
A und B aufgezählten Faktoren, während die Zylinderform der Bestrahlungsgefäße,
der Druck einer Atmosphäre und eine Reihe vorher nicht übersehbarer Einflüsse wie
Gefäßmaterial, Wandstärke usw. konstant gehalten wurden.
Sitzungsberichte 1904. 68
338 Gesammtsitzung vom 5. Mai 1904.
3. ©) ist der bestrahlten Oberfläche proportional.
In Versuch Nr. 50 und 5ı ist A=5" und 2”
aD ASERT
GG —=4098%.7009 =es a
3a. Die Veränderung des Radius der Flüssigkeitszylinder hat auf
C', die Wirkung wie eine entsprechende Veränderung der Oberfläche'.
4. Schon von einer 1"” dicken Schicht an ist ©’, unabhängig von
der durehstrahlten Schichtdicke. In Versuch Nr. 38° ist die Schicht-
dicke = ı"", im Versuch Nr. 39 = dem Durchmesser des Flüssigkeits-
zylinders 24””8. Die entsprechenden C, sind 4.24 und 4.17; alles
wirksame Licht wird also schon in der vordersten Schicht absorbiert.
B. Es wurde der Einfluß des Gefäßinhalts auf ©, bestimmt.
1. C, ist umgekehrt proportional dem Volumen oder Gewicht der
Lösung.
In Versuch Nr. 23 und 24 ist g = 40.6 und 25.4 gr.
I I I
ae
m = 2.702.407
= 0.0321,
OO SEHE
I
In Versuch Nr.48 und 49 ist g= 38.4 und 25.5 gr.
je)
== ——: — EHX) ET,
CH = 5:02:70, 0101ER,
2. C, ist nahezu unabhängig von der beim Gleichgewicht vor-
handenen Anthrazenkonzentration.
In Versuch Nr.3 und 4 ist GC, = 57.7 und Ra Osten
und 4.84, im Mittel 4.5; in Versuch Nr. 39, 301, 42, 34, 31 ist
Y R - . IR -
CH 29.8, 38.5, 45.75 60,7 und 84.35. Cn 1514.17, 4:58. 4.807 4507
und 5.11, im Mittel = 4.74; in Versuch Nr. 4157, 45 und 35 ist C,
= 32.5, 52.6 und 58.9; Ch» 3.61, 3.95 und 7.9, im Mittel = 8.30.
t Die Versuche Nr. 14a, b und c, sowie 42, 43 und 44 sind nicht direkt ver-
gleichbar, weil das Volumen nicht konstant gehalten wurde. Die konstanten A sind unter
Berücksichtigung dieser Tatsache berechnet und stimmen auch für die engeren Gefäße
mit denjenigen für die weiteren überein.
® Der Versuch Nr. 38 wurde derartig ausgeführt, daß im Innern des Bestrah-
lungsgefäßes ein dünnes Platinblech von 6°” Höhe derartig befestigt war, daß ein
Zwischenraum von 1"" zwischen demselben und der vorderen inneren Gefäßwand blieb.
Unter und über dem Platinschirm kommunizierte die vordere dünne Schicht mit der
Gesamtflüssigkeit. Durch starkes Sieden wurde eine vollständige Durchmischung er-
reicht. Das Innere des Volumens war völlig verdunkelt.
® Aus A; und B, ergibt sich, daß bei proportionaler Veränderung von Ober-
fläche und Volumen (€, konstant bleibt. Es lassen sich also aus den ohne Blenden
bestrahlten zylindrischen Gefäßen Proben olıne Einfluß auf C, entnehmen.
R. Lurner u. F. Weieerr: Über umkehrbare photochemische Reaktionen. 539
3. C, ist bei Verwendung verschiedener Lösungsmittel bei deren
verschiedenen Siedetemperaturen verschieden.
In Versuch Nr. 5ı (Phenetol bei 168°) ist C, = 1.99; in Versuch
Nr. 46 (Anisol bei 152°) ist C(y = 11.65.
Wenn man diejenigen Faktoren, für welche noch keine zahlen-
mäßigen Beziehungen zu ©, ermittelt wurden (Lichtquelle, Lösungs-
mittel und Temperatur), konstant setzt, so läßt sich die Dianthrazen-
konzentration beim Gleichgewicht berechnen nach:
Lichtstärke - Oberfläche
G=K Tr \
Volumen
.
d’g drr
(für abgeblendete Gefäße) (für freie Gefäße)
een
arhs 2
Der Zahlenwert für Ä ist in der Kol. ıo der Tabellen 3 und 4
berechnet und ist für die Versuchsbedingungen ı, 2 und 3 verschieden;
dieselben sind
für K,: Nebenschlußlampe; Phenetol (£ = 168°),
» K,: Differenziallampe; » (2=708>):
3 ARE: » eRmisol ad 1522):
Wie ersichtlich, sind die X-Werte bei Berücksichtigung der aller-
dings ziemlich großen Fehlerquellen der Methode genügend übereinstim-
mend, so daß die Richtigkeit der obigen Formel wahrscheinlich erscheint.
Unerwartet ist die scheinbare Unabhängigkeit der Gleichgewichts-
konzentration des Dianthrazens vom Gehalt bei Anthrazen. Wenn die
Gesamtkonzentration der Lösung unterhalb der berechneten Dianthrazen-
konzentration liegt, so kann natürlich auch bei vollkommener Umwand-
lung des Anthrazens der Gleiehgewichtszustand nicht erreicht werden.
Nur in den Fällen, in denen die Anthrazenkonzentration verhältnis-
mäßig groß ist, hat dieselbe auf die Konzentration des Dianthrazens
beim Gleichgewicht nur geringen Einfluß.
Auf die theoretische Erörterung des im obigen mitgeteilten rein
experimentellen Befundes soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden.
! Die Oberfläche wurde der Projektion des Flüssigkeitszylinders gleichgesetzt
unter Vernachlässigung des gewölbten Gefäßbodens = 2rh.
2 s bedeutet das spezifische Gewicht des Lösungsmittels beim Siedepunkt. Die
Bedeutung der anderen Abkürzungen ist dieselbe wie früher.
68*
Jahresbericht über die Herausgabe der Monumenta
Germaniae historica.
Von Geh. Reg.-Rath Prof. Dr. Ö. HoLper-Eecer.
(Vorgelegt von Hrn. Brunser.)
& den Tagen vom 14. bis 16. April dieses Jahres wurde die dreissigste
Plenarversammlung der Centraldireetion der Monumenta Germaniae histo-
rica abgehalten. Sie hatte im abgelaufenen Rechnungsjahre wieder einen
schweren, unersetzlichen Verlust durch den Tod des Hrn. Prof. Münr-
BACHER, der am 17. Juli 1903 verstarb, erlitten und entbehrte nun-
mehr zweier ihrer ersten Arbeitskräfte, ihres Vorsitzenden und des
Leiters der Diplomata Karolina. Mit Ausnahme des Hrn. Prof. vos
RırzLer aus München, der sich auf einer Reise in Italien befand und
sich entschuldigt hatte, nahmen sämmtliche andere Mitglieder an der
Versammlung Theil, nämlich die HH. Prof. Bressrau aus Strassburg,
(Geh. Justizrath Prof. Brunner, Archivrath Dr. Kruscn aus Breslau, Prof.
Ritter Luschiv von EBENGREUTH aus Graz, Prof. Repzicn aus Wien, der
an Stelle von Prof. Müntsacner von der Kaiserlichen Akademie der
Wissenschaften zu Wien zum Mitgliede der Centraldireetion gewählt
war, Geheimrath Prof. SchÄrer, der von der Königlichen Akademie
der Wissenschaften zu Berlin in die Centraldireetion delegirt war, nach-
dem Hr. Geheimer Oberregierungsrath Prof. Koser sein Mandat nieder-
gelegt hatte, ferner Prof. STEMMEYER aus Erlangen, Prof. Taner, der
die Führung des Protokolles übernahm, Prof. Trauer aus München,
Prof. Zruner und der Verfasser dieses Berichtes. Unter dessen Vor-
sitz musste die Versammlung wiederum tagen, denn auf die Präsentation
von Kandidaten für die Besetzung der Stelle des Vorsitzenden, die
in den vorjährigen Sitzungen vorgenommen und der Hohen Reichs-
regierung mitgetheilt war, war von dieser eine Antwort nicht einge-
gangen.
Zu Mitgliedern der Oentraldirecetion wurden gewählt Hr. Gehei-
mer Oberregierungsrath Prof. Koser, welcher vor Kurzem ausgeschie-
den war, und Hr. Prof. von Örtentnar zu Wien. Hr. Prof. TrAUBE
O. Horvner-Esser: Monumenta Germaniae historiea. ‚Jahresbericht. S41
legte die Leitung der Auciores antiquissimi und der Antiquitates nieder
und erklärte seinen Austritt aus der Centraldireetion. Diese hatte
auch den am ı. November 1903 erfolgten Tod von Prof. 'Tmzopor
Monnusen zu beklagen, der von 1875 bis 1902 ihr angehört und zum
Zustandekommen ihrer so glücklichen Neuorganisation wesentlich mit-
gewirkt hatte.
Die schweren Verluste, welche die Monumenta Germaniae historica
erlitten hatten. und die nicht ersetzt werden konnten, mussten sich
nothwendig arg störend und schädigend bei der Fortsetzung der Ar-
beiten fühlbar machen. Das zeigt sich darin schon, dass weniger
Bände vollendet wurden, als erwartet werden konnte und angekündigt
war. Es wurden nämlich ausgegeben:
In der Abtheilung Seriptores:
Tomi XXXI pars II.
Widukindi Rerum gestarum Saxonicarum libri tres. Editio quarta.
Post Georsıun Waıtz recoenovit K. A. Krur. Accedit libellus de ori-
eine Swevorum. (In den Seriptores rerum Germanicarum.)
In der Abtheilung Leges:
Legum Seetio IV. Constitutiones et Acta publiea imperatorum
et regum. Tomi III pars prior.
In der Abtheilung Antiquitates:
Neerologia Germaniae. Tomi I pars posterior. Edidit Sıcıs-
MUNDUS HERZBERG-FRÄNKEL.
Vom Neuen Archiv Bd. XXVII, Heft 3. Bd. XXIX, Heft ı. 2.
Im Druck befinden sich 4 Quartbände und 2 Octavbände.
In der Abtheilung Auctores antiquissimi, welche Hr. Prof. Traugr
leitete, ist für deren XIV. Band der Text der Dichtungen des Mero-
baudes, Dracontius und Eugenius von Toledo und ein Theil der In-
dices, Alles bearbeitet von Hrn. Prof. VorLnEr, gesetzt. Es fehlt nur
noch die Einleitung. Das Erscheinen des Bandes darf im Laufe die-
ses Geschäftsjahres erwartet werden. Da Hr. Prof. Trauge seinen Rück-
tritt erklärt hat, muss die von ihm übernommene Ausgabe der Van-
dalischen Gedichtsammlung des Codex Salmasianus von der Aufnahme
in die Monumenta ausgeschlossen werden. Bei der Vorbereitung der
Ausgabe der Diehtungen Aldhelm’s hat Hr. Prof. R. Enwarn zu Gotha
gute Fortschritte gemacht. Er muss noch eine Reise nach Eng-
land unternehmen, um dort befindliches handschriftliches Material zu
sammeln.
In der Serie der Scriptores rerum Merovingicarum hat Hr. Archiv-
rath Dr. Kruscn für die Vita Columbani, die er für die im Druck be-
842 Gesammtsitzung vom 5. Mai 1904.
findlichen Vitae sanctorum auctore Ilona neu bearbeitete, ein sehr viel
reicheres handschriftliches Material herangezogen als für dieselbe Aus-
gabe im IV. Bande dieser Serie. Zu den dort aufgeführten 40 Hand-
schriften kommen jetzt noch etwa 75 andere, während die früher
sehon benutzten wichtigen Handschriften zum Theil noch einmal ver-
glichen wurden. Einen grossen Theil dieser Menge von Codices, die
natürlich nicht alle für die Textgestaltung selbst herangezogen, son-
dern nur elassifieirt wurden, hat Hr. Privatdocent Dr. Levıson auf
einer Reise nach England, auf welcher er auch für andere Abtheilun-
gen viel arbeitete, untersucht, eine bedeutende Anzahl anderer, die
von ausländischen Anstalten übersandt wurden, in Breslau und Bonn
eollationirt; über eine Anzahl weiterer Handschriften berichtete Hr.
Henrı LegesuE zu Paris, der auch anderen unserer Arbeiten seine
stets bereite Hülfe lieh: einige erledigte Hr. Archivrath Kruscn selbst.
Er wandte auch der von dem Bollandisten Hrn. ALserr PoNcELET so
glücklich aufgefundenen Vita Richarü, die als Nachtrag zum IV. Bande
zu geben ist, seine Thätigkeit zu und handelte über sie im Neuen
Archiv XXIX, ı. Hr. Dr. Levısox verglich noch eine grosse Anzahl
von Handschriften für Heiligenleben, welche im V. und VI. Bande
dieser Serie herausgegeben werden sollen, arbeitete an einer Be-
schreibung sämmtlicher für die Scriptores rerum Merovingicarum be-
nutzter Handschriften, die dem Schlussbande angefügt werden soll,
und förderte die Bearbeitung der für einen Band der Seriptores rerum
Germanicarum bestimmten Vitae Bonifatü archiepiscopi Moguntini so,
dass diese nach Beschaffung noch einiger ausstehender Collationen im
Laufe dieses Jahres zum Druck kommen werden. Eine grosse Anzahl
von anderen Gelehrten unterstützte gütigst diese Arbeiten durch Mit-
theilung von Abschriften, Collationen und Berichten, nämlich die HH.
Armanp D Artoıs, Öonservator der Bibliothek Mazarine zu Paris, P.
Franz ASENSTORFER vom Stift St. Florian, ©. Bureau, Bibliothekar in
St.-Omer, A. Cerranı, Vorsteher der Ambrosiana zu Mailand, van DEN
Guzyn. Conservator der Brüsseler Bibliothek, Professor Pietro Guipt,
Vicebibliothekar der Dombibliothek zu Lucca, P. GrEGOR JACOBER vom
Stifte Engelberg. Privatdocent Dr. G. Karo (Bonn), Gymnasialdireetor
Dr. Könter (Wolfenbüttel), Aprıen Oger, Bibliothekar in Namur, En».
Poxceer, Archivar in Mons, On. Porer, Bibliothekar in Auxerre, P.
Hexrı QuEnTIın zu Wroxall, Professor Pro Rasna (Florenz), RıvıEre,
Bibliothekar in Douai, P. Ursan vom Stifte Heiligenkreuz.
Von der Hauptserie der Abtheilung Seriptores konnte die zweite
Hälfte des XXXI. Bandes ausgegeben werden. Der XXXN. Band soll
die Chronik des Minoriten Salimbene de Adam aus Parma bringen,
welehe mit den im XXXI. Bande vornehmlich enthaltenen Chroniken
= . . . . / 6
O. Horvper-Esger: Monumenta Germaniae historiea. Jahresbericht. 843
Sieards von Cremona und Alberts Milioli von Reggio-Emilia in engster
Quellenverwandtschaft steht und stets neben diesen benutzt werden
muss. Auch der XXXI. ist wie der XXXI. Band ganz von dem
Verfasser dieses Berichtes bearbeitet. Der Druck soll im Monat Mai
dieses Jahres beginnen. Sonst waltete über dieser Abtheilung im ab-
gelaufenen Jahre ein Unstern. Ihr Mitarbeiter Hr. Dr. Carteruerı war
für das ganze Jahr beurlaubt, bis er mit dem 31. März 1904 ganz
austrat. Der Mitarbeiter Hr. Dr. Kenr schied am 2. November 1903
aus dem Leben. So war die Abtheilung vom November 1903 bis
Ende März 1904 ganz ohne Mitarbeiter und musste für einige notlı-
wendige Arbeiten die Hülfe von Mitarbeitern der Abtheilung Leges
in Anspruch nehmen, von denen Hr. Dr. Krannmer die Correeturen zum
Register von SS. XXXI mitlas. Hr. Dr. Kenr war für die Zeit vom
April bis October, während der er aber eine achtwöchentliche mili-
tärische Übung zu machen hatte, mit der Arbeit an der vierten Auf-
lage von Widukinds Res gestae Saxonicae beschäftigt, welche mit
einem Anhange der Schrift de origine Swevorum vor Kurzem erschie-
nen ist. Die Ausgabe war bei dem Tode des Herausgebers bis auf
den Index rerum et verborum, welchen Hr. Dr. Sreneer hinzufügte,
vollendet. Die Arbeit, welche Dr. Krur auf die ihm übertragenen
Italienischen Chroniken des 13. Jahrhunderts verwendet hatte, ist gänz-
lich verloren. Besseres ist von den für die Scriptores rerum Germani-
carım in Aussicht genommenen Arbeiten zu berichten.
Hr. Hofrath Prof. von Sımsox zu Freiburg im Breisgau hat die
Ausgabe der Annales Mettenses, in welcher der Text der Handschrift
von Durham zum ersten Mal mit Paralleldruck des bekannten Textes
erscheint, so weit gefördert, dass sie im Sommer oder Herbst dieses
Jahres wird ausgegeben werden können.
Auch die Arbeiten an der Chronik des Cosmas und seiner Fort-
setzer sind rüstig vorgeschritten. Hr. Landesarchivar Dr. Brernorz
zu Brünn, der diese Ausgabe übernommen hat, verglich in Stockholm
die dort aufbewahrte wichtige Handschrift, eine Reihe anderer konnte
er in Brünn benutzen. Hr. Dr. Scuxeivper collationirte auf einer unten
zu erwähnenden Reise die Handschrift der Prager Capitelsbibliothek.
Somit ist das handschriftliche Material vollständig gesammelt und die
Texteonstitution eingeleitet. Ob der Druck noch vor Ende dieses Ge-
schäftsjahres beginnen kann, ist zweifelhaft. Für die Annales Austriae
hat Hr. Prof. Unzırz zu Graz, durch Amtsgeschäfte behindert, noch
wenig thun können.
Hr. Prof. Brocu in Strassburg hat an der von ihm übernommenen
Ausgabe der Annales Marbacenses und der kleineren Elsässischen Anna”
len, welche mit jenen verbunden werden sollen, eifrig gearbeitet,
844 Gesammtsitzung vom 5. Mai 1904.
die quellenkritische Untersuchung abgeschlossen. Nachdem das Stift
St. Paul in Kärnthen die grosse Güte gehabt hat, den werthvollen
Ellenhard-Codex durch den Stiftsarchivar hochwürdigsten Hrn. P. Anser.m
Acuarz nach Strassburg zu senden, dürfen wir hoffen, dass diese Aus-
gabe in diesem Jahre zum Druck befördert werden wird.
Von dem Liber certarum historiarum des Abtes Johannes von Vic-
tring hat der Bearbeiter Hr. Dr. Schneider einen Theil des Manuseriptes
bereits eingereicht, nachdem er auf einer Reise nach Wien die Klosterneu-
burger Handschrift des sogenannten Anonymus Leobiensis und ein dem
Stifte Stams gehöriges Fragment, welches gütigst nach Berlin gesandt
wurde, ausgenutzt hatte. Aber eben jetzt ist eine neue Textquelle
im Münchener Reichsarchiv aufgetaucht, welche bei dem Stande der
Überlieferung dieses Werkes nothwendig untersucht werden muss, ehe
die Ausgabe abgeschlossen werden kann.
Für die nothwendig gewordene gründliche Neubearbeitung der
Chronik Otto’s von Freising, deren frühere Schulausgabe nahezu ver-
eriffen ist, hat sich ein geeigneter Bearbeiter noch nicht finden lassen.
Da das immer noch nicht genügend bekannt ist, möchte ich hier
doch betonen, dass die in den Seriptores rerum Germanicarum erschienenen
Ausgaben schon seit Jahrzehnten keine blossen Schulausgaben mit ver-
kürztem Apparat sind wie früher, wenn auch noch »in usum scholarum «
auf dem Titel steht, sondern dass sie die entsprechenden Ausgaben der
grossen Sammlung Scriplores geradezu ersetzen sollen.
Hr. Prof. SEEmÜLLER zu Innsbruck hat den Druck der Hagen -Chronik
für die Deutschen Chroniken noch nicht, wie er gehofft hatte, beginnen
können, da er noch eine Gruppe von umgearbeiteten Handschriften des
Werkes untersuchen musste, welche Arbeit unerwartet viel Zeit in An-
spruch nahm. Er hält es für wahrscheinlich, dass er im Herbst dieses
Jahres die Arbeit abgeschlossen haben wird, um dann das Manuseript
in den Druck zu geben. Hr. Privatdocent Dr. Gesuarpr in Erlangen
hat die Thüringischen Geschichtsquellen in Deutscher Sprache für die
Deutschen Chroniken übernommen und wird zunächst das Gedicht über
die Kreuzfahrt des Landgrafen Ludwig III. und das Leben des Land-
grafen Ludwig IV., dessen in Reinhardsbrunn verfasste Lateinische Quelle
verloren ist, bearbeiten.
In den Serien der Abtheilung Leges, welche der Leitung des Hrn.
Geheimrath Brunxer unterstehen, hat Hr. Prof. Freiherr von Scuwinp
die Textherstellung der Lex Baiuwariorum weitergeführt. Hr. Prof.
SEcKEL setzte die Untersuchung des Benedictus levita fort und veröffent-
lichte vier Studien über dessen Verhältniss zu den Capitula episcoporum
im Neuen Archiv XXIX, 2. Hr. Prof. Taner konnte, weil er in den
grossen Universitätsferien in Wien für die Indices des ersten Bandes
O. Howver-Esser: Monumenta Germaniae historiea. Jahresbericht. s45
der Karolinger-Diplomata arbeiten musste, die beabsichtigte Reise nach
Frankreich zur Vervollständigung des Materials für die Placita nicht aus-
führen, hat aber die Bearbeitung (des gesammelten Materials, soweit es
ihm unter den gegenwärtigen Umständen möglich war, fortgeführt.
In den Serien der Leges, welche Hr. Prof. Zeuner leitet, hat Hr. Dr.
ScHhwaLm auf einer längeren Reise nach Frankreich, der Schweiz und
Oberitalien, über deren Ergebnisse er im Neuen Archiv XXIX, 3 aus-
führlich berichten wird, weiteres Material für die Constitutiones et Acta
publica imperatorum et regum gesammelt, welches zum Theil benutzt
wurde, um den vor Kurzem erschienenen Halbband II, ı (enthaltend
die Gesetze und Acten Rudolf’s von Habsburg) abzuschliessen. Hr. Dr.
Schwarm ist leider am ı. October 1903 an das Königlich Preussische
Historische Institut zu Rom übergegangen und wird daher den zweiten
Halbband, der die Aeten König Adolf’s, Appendices und Register ent-
halten soll, nur mit sehr verminderter Kraft bearbeiten können, hofft
aber dennoch den Druck desselben noch vor Schluss des laufenden Ge-
schäftsjahres zu beginnen. Für die Stücke in Deutscher Sprache des
Halbbandes III, ı hat Hr. Prof. EpwArp ScHrorper in Göttingen seinen
sachkundigen Rath, wie für viele andere unserer Arbeiten, freundlichst
hergeliehen. Für die Constitutionen Karl’s IV. hat Hr. Dr. Srexser, der
am ı1.Oetober 1903 als Mitarbeiter eintrat, zunächst das vorhandene
Material nach den Regesten und Druckwerken bis 1356/7, welches die
Grundlage für die Auswahl des Stoffes bilden soll, verzeichnet, dann
für die Goldene Bulle einige Exemplare, die nach Berlin gesandt wurden,
verglichen.
Hr. Privatdocent Dr. Werninenorr in Greifswald hat das Manu-
script für den I. Band der Coneilia bis auf geringe Nachträge druck-
fertig gestellt. Der Druck ist stetig fortgesetzt, so dass der erste Halb-
band, der bis Sı6 reicht, im Sommer dieses Jahres erscheinen wird.
Der Druck des zweiten Halbbandes wird unmittelbar darnach begin-
nen. Einzelne Collationen lieferten dafür gütigst die HH. Dr. Bırreraur
zu Erlangen, Geheimer Hofrath Prof. von Hrmemans und Bibliothekar
Dr. Mitcusack zu Wolfenbüttel, Hrsrı Omontr in Paris und die Biblio-
theksverwaltung zu Montpellier.
Für die Lex Salica verglich Hr. Dr. Krammer sechs Handschriften
(in zweien derselben auch die Lex Ribuaria), so dass die Mehrzahl
der wichtigsten jetzt erledigt ist, und untersuchte die Affiliation der
Handschriften, wobei neue Resultate sich ergaben. Mit seiner Hülfe
konnte Hr. Prof. Zrumer schon einen ersten Versuch der Textherstel-
lung machen.
Die Königliche Akademie der Wissenschaften zu Berlin überwies
die im Auftrage der Savıcny-Stiftung gemachten Vorarbeiten der HH.
Sitzungsberichte 1904. 69
846 Gesammtsitzung vom 5. Mai 1904.
Prof. Lenvann und. Prof. Zeumer für die Libri feudorum der Gentral-
direction, wofür diese hier nochmals ihren Dank ausspricht.
In der Abtheilung Diplomata verlor die Serie der Karolinger
ihren Leiter, Hrn. Prof. Müntsacner; die Arbeiten erlitten dadurch
eine schwere Störung. Daher konnte der erste Band der Serie, dessen
Text schon vor Jahresfrist fertig gesetzt war, noch nicht ausgegeben
werden. Von dem permanenten Berliner Ausschuss wurde Hr. Prof.
Taser provisorisch mit der Leitung der Serie betraut, die ihm in den
diesjährigen Sitzungen der Centraldireetion definitiv übertragen wurde.
Er arbeitete sieben Wochen in Wien, um den dort befindlichen Ap-
parat für das Register und die Nachträge zu benutzen. Am 1. October
1903 trat Hr. Dr. Hırscn als Mitarbeiter ein, der die zahlreichen vor-
kommenden Ortsnamen in mühevoller Thätigkeit für das Register be-
stimmte. Dabei hatte er sich auf der Kartenabtheilung der Berliner
Königlichen Bibliothek der zuvorkommendsten Unterstützung des Hrn.
Oberbibliothekars Dr. MEısner zu erfreuen. Jetzt ist auch das Register
des ersten Bandes, der in wenigen Monaten erscheinen wird, im
Druck. Der Mitarbeiter, Hr. Privatdocent Dr. Lecuser, arbeitete zu
Anfang dieses Geschäftsjahres an den Urkunden Ludwig’s des From-
men, leistete zugleich Hülfe bei den Correcturen der zweiten Auflage
des ersten Bandes von MüntsıcHer’s Karolinger-Regesten. Da auch
dieser Band bei des Verfassers Tode unvollendet war, wiewohl der
grösste Theil des Textes schon gedruckt, der Rest des Textes druck-
fertig war, da die Regesten im innigsten Zusammenhange mit der
Ausgabe der Diplomata stehen, und da die Vollendung des Regesten-
bandes für diese von grösstem Interesse war, beauftragte der perma-
nente Ausschuss im Einverständniss mit der Leitung der Bönnmer-
Stiftung Hrn. Dr. Lecnner, die weiteren Correceturen des Bandes zu
lesen, das noch fehlende Verzeichniss der Acta depertita und die Re-
gister herzustellen. So kann der Druck der Schlusslieferung dieses
Bandes sehr bald begonnen werden.
Auch die Arbeiten an den Salier-Urkunden, welche Hr. Prof.
Bresstau leitet, erfuhren insofern eine Störung, als die beiden Mit-
arbeiter der Serie, die HH. Dr. Hesser und Dr. Wise, durch Fami-
lienverhältnisse gezwungen waren, längeren Urlaub zu nehmen, da
der erstgenannte von Beginn des Winterhalbjahres an nur noch einen
Theil seiner Thätigkeit den Monumenta Germaniae historica zuwandte.
Immerhin wurde die Bearbeitung der Urkunden Konrad’s I., welche
der IV. Band der Diplomata bringen soll, so weit gefördert, dass der
Herr Leiter hofft, den Druck vor Ende dieses Rechnungsjahres begin-
nen zu können, obwohl er in diesem Jahre den Rectorat der Strass-
burger Universität zu verwalten hat und daher diesen Arbeiten we-
O. Horver-Eseer: Monumenta Germaniae historiea. Jahresbericht. S47
niger Zeit widmen kann. Hr. Geheimer Regierungsratli Prof. Kar
hatte die Güte, Photographien der von ihm im Barberini-Archiv auf
der Vaticana gefundenen Urkunden Heinrich'’s I. und Heinrich’s II.
für Tolla Hrn. Prof. Bresstau zu besorgen. Und dieser erhielt die
Photographie des angeblichen Originals einer Urkunde Konrad's I.
für Bobbio, von dessen Existenz ihm durch freundliche Mittheilung
des Hın. Grafen CrorLza Kunde zukam, durch die gütige Vermittelung
des hochwürdigsten Hrn. Bischofs von Bobbio, welcher die Urkunde
selbst nach Mailand brachte, und des Hrn. Dr. Rarrı von der Bibl.
Ambrosiana. Hr. Dr. Wise arbeitete im Winter 1903/04 vornehmlich
an einer Untersuchung der nur durch Abschriften von G. F. Scuort
überlieferten Diplome. Seine Ergebnisse wird er im Neuen Archiv
XXIX, 3 mittheilen.
Um die Ausgabe der Diplomata schneller zu fördern, wurde be-
schlossen, eine neue Serie von Lothar III. an in Angriff zu nehmen,
deren Leitung Hr. Prof. von Orrestnar übernahm.
Die Arbeiten für die Abtheilung Zpistolae konnten im abgelaufenen
Jahre nur wenig vorschreiten, da der provisorische Leiter, Hr. Prof.
Taner, der auch für dieses Jahr die Leitung der Abtheilung provisorisch
beibehalten wird, nach dem ersten Vierteljahr auch die Leitung der
Diplomata Karolina übernehmen und diesen mehr seine Thätigkeit zu-
wenden musste, da auch der Mitarbeiter der Epistolae, Hr. Dr. ScnnEiper,
zum Theil durch die oben erwähnte Arbeit für die Scriptores in An-
spruch genommen war. Doch ist von diesem das Material für die
Briefe der Päpste Nicolaus I. und Hadrian II. bis auf geringe Reste
gesammelt, mit der Textgestaltung und kritischen Bearbeitung der
Anfang gemacht.
In der Abtheilung Antiquitates, welche Hr. Prof. Travsr leitete,
hat Hr. Prof. von WıntEerreLp zur Beschaffung weiteres Materials für
versifieirte Heiligenleben und die Sequenzen für die Poetae Latini eine
längere Reise nach Breslau, mehreren Ländern Österreichs, der Schweiz
und Bayern gemacht, auf der er auch mehrere Arbeiten für die Serip-
tores erledigte, während wiederum Hr. Dr. Schmwarn ihm Collationen
für die Sequenzen in Oberitalien besorgte. Danach untersuchte Hr.
Prof. von WinTErFeLD die Frage, welche Sequenzen von Norker selbst
herrühren, und beantwortete sie in einem Aufsatz, der demnächst im
Druck erscheint.
Von den Necrologia ist die lange ausgebliebene zweite Hälfte des
zweiten Bandes, bearbeitet von Hrn. Prof. Hrrzger6G-FrÄnker, in diesen
Tagen erschienen, und damit sind die Nekrologien der Salzburger Diö-
cese abgeschlossen. Hr. Reichsarchivdireetor Dr. Baumann bearbeitete
die von ihm übernommenen Nekrologien der Diöcesen Brixen, Frei-
848 Gesammtsiıtzung vom 5. Mai 1904.
sing und Regensburg für den dritten Band unerhofft schnell, so dass
die Brixener bereits gedruckt sind, der Druck der Freisinger begonnen
ist, die Regensburger druckfertig vorliegen. Hr. Dr. FAstuıseer wurde
in der Bearbeitung der Nekrologien der Diöcese Passau durch Krank-
heit behindert, doch hat er das von Fürstenzell ganz, das von Asbach
fast ganz im Manuscript fertiggestellt.
Nachdem das dritte Heft des XXVII. Bandes des Neuen Archivs,
von Hrn. Prof. BressLau redigirt, vollendet war, lag die Redaction in
dlen Händen des Hrn. Prof. Sreısurver. Es gelang noch nicht, den
Zeitverlust, welcher im vorigen Jahre durch verspätetes Erscheinen des
einen Heftes entstanden war, einzuholen, sondern es erschienen nur
zwei Hefte des XXIX. Bandes. Die Litteraturnachrichten wurden zum
grössten Theil von den Berliner Mitarbeitern geliefert, und diese fanden
bei der Benutzung von Zeitschriften zu diesem Zweck bei den Beamten
der Journalabtheilung der Königlichen Bibliothek, den HH. Bibliothe-
karen Prof. Wunperuicn und Dr. LAvE und Dr. Orro, freundlichstes Ent-
gegenkommen und bereitwilligste Hülfe.
Der vorstehende Bericht ergiebt in mancher Hinsicht ein uner-
freuliches Bild. Auf mehreren Gebieten ist durch Unglücksfälle und
andere Umstände Mangel an Arbeitskräften eingetreten, dem nur zum
Theil abgeholfen werden konnte. Die neu eingetretenen Kräfte werden
auch geraume Zeit brauchen, ehe sie zu voller Wirksamkeit gelangen,
und noch länger wird es währen, ehe sich ihre Thätigkeit in den
Publieationen documentirt. Es ist ja überhaupt ein Übelstand, dass
viele unserer jüngeren Mitarbeiter zu kurze Zeit für uns thätig sind,
dass sie zu anderen Stellungen gerade dann übergehen, wenn sie recht
eingearbeitet und zu recht fruchtbringender Thätigkeit für die Monu-
menta genügend vorbereitet sind.
Sehr viele Bibliotheken und Archive des In- und Auslandes, von
denen einige schon oben genannt sind, haben uns auch in diesem Jahre
ihre handschriftlichen Schätze zugesandt. Unter ihnen stehen wie immer
voran die grossen Bibliotheken zu München und Paris, aber auch die
Bibliotheken Französischer Provinzialstädte, wie Arras, Avranches, Rouen,
haben unserer durch den Herrn Staatssecretär des Äusseren hochge-
neigtest vermittelten Bitte um Übersendung von Handschriften ent-
sprochen. Um so bedauerlicher ist es, dass dieses schöne Beispiel
noch immer nicht von allen Deutschen Anstalten befolgt wird.
Ausgegeben am 19. Mai.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei.
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
XXVIL XXVo.
19. Mar 1904.
MIT TAFEL IR.
BERLIN 1904.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN ARADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
Auszug aus dem Reglement für die Re Redaction der Stuhr.
1
sı. |
2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Oetav regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die sämtlichen zu einem Kalender-
jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
fortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserdem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch- mathematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch-historischen Classe ungerade
Nummern.
8.2.
1. Jeden S tzungsbericht eröffnet eine Übersicht über
die in der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilungen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten.
2. Darauf folgen Jie den Sitzungsberichten über-
wiesenen wissenschaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckfertig übergebenen, dann Jdie, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gehö-
rigen Stücken nicht erscheinen konnten. Mittheilungen,
welche nielit in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet.
$5.
Den Bericht über jede einzelne Sitzung stellt der
Seeretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte.
Derselbe Secretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei-
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
86.
l. Für die Aufnahme einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $ 41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglements die folgenden beson-
deren Bestimmungen.
2. Der Unaog der Mittheilung darf 32 Seiten in
Octav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nicht übersteigen. Mittheilungen von Verfassern, welche
der Akademie nicht angehören , sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist
nur nach ausdrücklicher Zustimmmmp; der Gesammt-Aka-
demie oder der betreffenden Classe statthaft.
3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
tenden Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Nothwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzschnitte fertig sind und von
besonders beizugebenden Tafeln die volle erforderliche
Auflage eingeliefert ist.
87.
1. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
schaftliche Mitcheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer Ausführung, in
deutscher Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2. Wenn Jer Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
Die Akademie versendet ihre »Sitzungsberichte« an diejenigen Stellen, mit - dene Fe Schr
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinbart wird, jährlich drei Mal, ämli /
die Stücke von Januar bis April in der ersten Hälfte des Mona ts Mai, 3
» Mai bis Juli in der ersten Hälfte des Monats August, £
= October bis December zu Anfang des nächsten a nach F Fein
_ Anzeige bei dem redi igirenden Secrets weiter Sal 0 Exe
berichte und einem angemessenen Titel
si
Kr
nz
et der Gesammt- - Akademi
Classe. \
5. a werden. ‚Cor t
Verlangen verschiekt. Die Verfasser verzieh
auf Erscheinen ihrer ae Ta ige) 1
er
$ Er ä Be 2.77 $
1. Der Verfasser einer unter den ‚hen
Mittheilunge abgedruckten Arbe une An h
fünfzig Sonderabdrücke mit einem Imsı a |
der Kopf der Sitzungsberichte mis hi, si ü
nummer, Tag und Kategorie. der. Sitzung, u d &
Titel der Mittheilung und. der Name de: Verfas fassers hen.
2. Bei Mittheilungen, die mit demK Kopf d FR Sit un;
ver ame
Seiten füllen, fällt in der Regel der Umschlag
3. Einem Verfasser, welcher Mitglie d de Kae
ist, steht es s frei, auf Kosten der ng liche
Sonderabdrücke bis zur Zahl ve dert,
auf seine osten Recall weitere bi zZ
theilung Pe zu Inssen, sofern. er FT Hi
dem redigirenden. Secretar. angezeigt hat; , wün: uf
seine Kosten iD a Be?
‚erhalten 50 Freiexemplare und dü: ee
plare auf ihre, Kos en es lassı en.
en
24 Eee zur ur Auf me in y
stimmte Mittheilung ei
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Nichtmitglieder, haben hi Be
Fache angehörer den or Enchen A
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Vortrage zu bringe a == ei
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sobald das Maı nuse
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für alle übrigen T ıeile d 2
nach jeder Richtung nur
wortlich. f
«
849
SUFZUNGSBERICHTE 1904
XXV.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
19. Mai. Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe.
Vorsitzender Secretar: Hr. WALDEYER.
1. Hr. Warsure las Über die Ursache des Voltaeffekts:
nach Versuchen von H. GREINACHER.
Zwei durch ein Gas getrennte Metallplatten, von denen die eine mit Mackwarp-
schem Radiotellur belegt ist, verhalten sich wie die Pole eines galvanischen Elements.
Durch Erhitzen auf 180° in geschlossenem Raum in Gegenwart von Phosphorpentoxyd
wurde die elektromotorische Kraft bei Zink und Magnesium gegen Kupfer-Radiotellur
beinahe zum Verschwinden gebracht und nahm in feuchter Luft wieder beinahe den
ursprünglichen Werth an. Daraus folgt in Übereinstimmung mit den Versuchen von
J. Brown, dass der Voltaeffekt von condensirten Wasserschichten herrührt.
2. Derselbe las ferner Über die chemische Wirkung kurz-
welliger Strahlung auf gasförmige Körper; nach Versuchen
von E. REGENER. (Ersch. später.)
Folgende von der stillen Entladung bewirkte Reactionen werden auch durch
ultraviolette Bestrahlung hervorgebracht: Desozonisirung bei hohem Özongehalt des
Sauerstofis, Zerlegung des Ammoniaks und Stickoxyduls unter Volumvermehrung, Zer-
lesung des Stickoxyds unter Volumverminderung.
Sitzungsberichte 1904. 70
850 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 19. Mai 1904.
Über die Ursache des Voltaeffekts.
Nach Versuchen des Hrn. GREINACHER mitgeteilt von E. WARBURGE.
I. BD: ist neuerdings vielfach gezeigt worden, daß zwei Platten
aus verschiedenen Metallen, wenn man das Gas zwischen ihnen leitend
macht, sich wie die Pole eines galvanischen Elements verhalten, also
eine Potentialdifferenz aufweisen, welche elektrometrisch, unter gün-
stigen Umständen auch galvanometrisch gemessen werden kann. Lei-
tungsvermögen kann dabei dem Gase in sehr verschiedener Weise,
z.B. durch Becoverer-Strahlen erteilt werden." Hr. GrEINACHER hat bei
solehen Versuchen mit Vorteil eine von Hrn. Marckwarn freundlichst
zur Verfügung gestellte Kupfer- oder Silberplatte benutzt, welche nach
dessen Verfahren mit der von ihm als Radiotellur bezeichneten Abart
des Polonium belegt war. Steht einer solchen Platte M’ eine Platte
eines anderen Metalls M gegenüber, so wird der Luftzwischenraum
durch die von M’ ausgehenden #-Strahlen leitend, und die mit M
bzw. M’ verbundenen Quadranten eines Quadrantelektrometers laden
sich zu einer Potentialdifferenz gleich der elektromotorischen Kraft der
Zelle M, M’, wenn deren innerer Widerstand w, gegen den Isolations-
widerstand der äußeren Leitung verschwindet. w,, beurteilt nach der
Schnelligkeit, mit welcher das mit einer passenden Kapazität verbun-
dene Elektrometer sich auflud, ergab sich am kleinsten bei einem ge-
wissen Plattenabstand, welcher je nach der Aktivität von M’ 1.5—5"””
betrug. Dieser Plattenabstand, bei welchem w,/w gleich einigen Pro-
zenten war, wurde bei den Messungen gewählt, und dabei statt der
direkten Bestimmung am Elektrometer eine Kompensationsmethode
mit dem Elektrometer als Nullinstrument benutzt. So ergaben sich,
indem nacheinander verschiedene Metalle M mit M’ verglichen wurden,
Werte der elektromotorischen Kräfte, welche mit denen früherer Be-
obachter hinreichend übereinstimmten.
2. Es fragt sich nun, worauf die Wirkung einer solchen Zelle
beruht. Die nächstliegende Annahme scheint die zu sein, daß das
! Nach Sımpson (Phys. Ztschr. 4, 480) genügt sogar das natürliche Leitungsver-
mögen der Luft, wenn auch die Ladung des Elektrometers dabei äußerst langsam erfolst.
WarzurG: Über die Ursache des Voltaeffekts. 851
durch Bestrahlung leitend gewordene Gas @ zwischen den Platten die
Rolle des Elektrolyten im galvanischen Element spielt. Die am Elektro-
meter gemessene elektromotorische Kraft e wäre dann
e=(M, M')+(M',G)+(G,M). (1)
Doch ist zu beachten, daß jedenfalls die an der Luft oxydabeln
Metalle mit einer Oxydschicht bedeckt sind, und daß diese nach den
Beobachtungen Inmorıs' aus feuchter Luft Wasser aufnimmt, welches
im trocknen Raum nur zum Teil abgegeben wird. Man gelangt so
zu der Vorstellung. daß jedenfalls die oxydabeln Metalle von einer
Wasserhaut oder wäßrigen Lösung W bedeckt sind, so daß die elek-
tromotorische Kraft der Zelle wäre
e= (M, M')+(M,W')+(W,G)+(G6,W)+(W,M) 6)
In diesem Falle würden, wenn das Glied (W’, @)+(G@,W) ver-
nachlässigt werden kann, die wirksamen elektromotorischen Kräfte
dieselben sein wie in einem galvanischen Element aus den Metallen M
und M’ und Wasser oder wäßrigen Lösungen als Elektrolyten, und
die Rolle des Gases käme lediglich darauf hinaus, leitende Verbin-
dung zwischen den Wasserhäuten W und W’ herzustellen, bzw., wenn
sie von gleicher Beschaffenheit sind, ihre Potentiale auszugleichen.
3. Mit dieser Auffassung ist im Einklang die vielfach gemachte
Beobachtung, daß die elektromotorische Kraft der Zelle sich im all-
gemeinen nicht erheblich ändert, wenn ein Wassertropfen zwischen
die Platten gebracht wird so, daß er beide berührt. Der Versuch
ist deshalb schwer exakt zu machen, weil durch den Wassertropfen
die oberflächliche Beschaffenheit des Metalls, welche von großem
Einfluß ist, mitgeändert werden kann. Bei den folgenden Versuchen
wurde der Wassertropfen abwechselnd zwischen die Platten gebracht
und mit Fließpapier wieder aufgetrocknet, und es ist hierunter als
Wasserwert für verschiedene Metalle M der angegeben, welcher sich
beim zweiten Zwischenbringen des Wassertropfens einstellte, als Luft-
wert das Mittel aus den beiden vor und nach Zwischenbringen dieses
Wassertropfens erhaltenen Werten.
Ms Zn Pb Ni Fe Cu Ag Pi
Luft.... —1.063 —0.900 -—0.566 -—0.304 -—0.207 +0.1022 +0.106 +0.142
Wasser. —1.028 —0.20 —0583 —0.318 -—o.281 -+0.07I -+0.208 -+0.370
Differenz +0.035 —0.020 —0017 —0.0I4 -—0.074 -—0.03I +0.102 -+0.228
Die Differenzen sind bei den leicht oxydablen Metallen Mg und Zn
auch prozentisch ziemlich klein, erheblich größer bei den edlen Me-
tallen Ag und Pt.
! Wien. Ann. 31, 1008. 1887.
70*
852 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 19. Mai 1904.
Mit der dargelegten Auffassung auch im Einklang ist die Tat-
sache, daß, wie festgestellt wurde, die elektromotorischen Kräfte der
Zellen sich im allgemeinen ebenso groß in Stickstoff wie in Wasser-
stoff ergaben. Platin hingegen wurde im Wasserstoff um ungefähr
0.5 Volt anodischer, was den an dem Grovzschen Gaselement ge-
machten Erfahrungen völlig entspricht.
4. Eine Entscheidung über die Wirkung der Wasserhaut scheint
am besten dadurch herbeigeführt zu werden, daß man sie entfernt.
Man kann nicht hoffen, dies dadurch zu erreichen, daß man das die
Platten enthaltende Gefäß evakuiert und dann mit trockenem Gase
füllt, da nach Inmorr a.a.O. die Wasserhaut im getrockneten Vakuum
nicht ganz abdampft. Auch weiß man durch die Versuche von
R. Bussen’, daß die Wasser-
haut an Glastlächen sehr
hartnäckig festgehalten und
erst durch Erhitzung auf
etwa 500° gänzlich vertrie-
ben wird. Die Platten muß-
ten daher im getrockneten
Raum erhitzt werden. An-
dererseits liegt auch, wenn
dieser Raum möglichst sauer-
stofffrei gemacht wird, die
Gefahr vor, daß in der Hitze
die Platten durch Oxydation
dauernd verändert werden.
Sollte derVersuch beweisend
sein, so war festzustellen, daß die etwaige, durch die Behandlung
herbeigeführte Veränderung der elektromotorischen Kraft nach Ein-
führen feuchter Zimmerluft wieder rückgängig wird.
5. Unzweideutige Ergebnisse wurden schließlich durch Erhitzen
der Metallplatten in geschlossenem Gefäß in Gegenwart von Phosphor-
pentoxyd erhalten. Der mit der radioaktiven Substanz belegte Metall-
streifen M’ sowie der Streifen M aus dem anderen Metall M waren
an Platindrähte p angelötet und diese in ein Glasgefäß eingeschmolzen
(s. Fig... Während man trocknes Gas durch den Apparat strömen
ließ, wurde Phosphorpentoxyd eingeführt und alsdann bei R und R’
zugeschmolzen.
! Der Eintluß des Wasserstoffs auf den Voltaeffekt am Platin wurde bereits von
Eon. BEcguErer bemerkt (C. R. 22, 677. 1846).
®2 Wien. Ann. 24, 327. 1885.
WarsurG: Über die Ursache des Voltaeffekts. 353
Nach Bestimmung der elektromotorischen Kraft erhitzte man den
Apparat F— 1 Stunde lang auf ungefähr 180° und maß nach dem
Abkühlen die elektromotorische Kraft wieder; zuweilen wiederholte
man diesen Prozeß mehrmals. Endlich öffnete man bei R und KR’,
saugte Zimmerluft durch das Gefäß und maß die elektromotorische
Kraft aufs neue.
Von den erhaltenen Ergebnissen seien folgende angeführt:
Stickstoff.
NER Nach Erwärmen Nach Einführung
= und Abkühlen von Zimmerluft
Mg — 1.974 + 0.003 — 1.22
Zn — 0.967 — 0.006 — 0.7
Cd — 0.540 — 0.015 — 0.719
Kohlendioxyd.
Zu — 0.926 — 0.069 — 0.926
Zu diesen Ergebnissen ist folgendes zu bemerken:
ı. Der Widerstand der Zelle wurde vor und nach dem Erhitzen
nahezu gleich gefunden.
2. Die Wasserhaut des Glases konnte, da sie beiderseits mit
Platin in Berührung war, die elektromotorische Kraft nur durch
Ungleichheit der beiden Platindrähte beeinflussen.
Im Wasserstoff sank bei der angewandten Trockenmethode die
elektromotorische Kraft nicht so weit herab wie im Stickstoff,
z. B. bei Zink nur auf o.2 Volt. Die Ursache davon kann
nicht angegeben werden.
4. Bei den edlen Metallen, bei welchen nach $ 3 durch Ersetzung
der leitenden Luft durch Wasser die elektromotorische Kraft
on
erheblich verändert zu werden scheint, waren die Ergebnisse
nicht entscheidend.
Indessen geht aus den mitgeteilten Versuchen hervor, daß durch
die angewandte Trockenmethode, deren Erfolg wohl auf der Gegen-
wart von Phosphorpentoxyddampf beruht, die elektromotorische Kraft
von Zellen aus oxydablen Metallen bis auf einige hundertstel bzw.
tausendstel Volt zum Verschwinden zu bringen ist, so, daß in feuchter
Atmosphäre wieder elektromotorische Kräfte von der ursprünglichen
Größenordnung eines Volt auftreten. Daraus folgt, daß diese großen
elektromotorischen Kräfte von den Wasserschichten herrühren, und
nach den Erwägungen des $ 3 wahrscheinlich an der Berührungsstelle
zwischen Metall und Wasser wirken.
6. Nimmt man an, daß durch die angewandte Troekenmethode
die Wasserhaut wenigstens im Stickstoff beseitigt ist, so beträgt die
854 Sitzung der plıysikalisch-mathematischen Classe vom 19. Mai 1904.
elektromotorische Kraft der Zelle aus Zink und dem Metallstreifen 7’
im Stickstoff einige hundertstel bzw. tausendstel Volt. Wenn also
zwischen diesen Metallen und Stickstoff elektromotorische Kräfte von
der Größenordnung eines Volt wirken, so folgen sie nach Gleichung (1)
dem Gesetz der Spannungsreihe. Einfacher ist indessen die Annahme,
daß solche elektromotorische Kräfte überhaupt nicht vorhanden sind.
7. Solange man Zellen kennt, bei welchen das zwei verschiedene
Metalle trennende Gas elektrisch leitend gemacht ist, hat man an-
genommen, daß es sich hier um dieselben elektromotorischen Kräfte
handelt, welche in den sogenannten Voltaschen Fundamentalversuchen
die Wirkung herbeiführen. Vom experimentellen Standpunkt wird
diese Annahme dadurch gestützt, daß die elektromotorische Kraft
solcher Zellen ungefähr ebenso groß gefunden wird als der nach einer
der üblichen Methoden bestimmte Voltaeffekt. Vom theoretischen
Standpunkt ist die Erklärung eine verschiedene je nach der Theorie
des Voltaeffekts, welche man zugrunde legt. Nach Voltas eigener
Theorie wirkt beim Voltaeffekt die elektromotorische Kraft zwischen
den Metallen, nach einer Form der sogenannten chemischen Theorie
der Hauptsache nach zwischen den Metallen und den sie bedeckenden
wässerigen Schichten. Man kann jene Theorie die Metallkontakt-
theorie, diese die Elektrolytkontakttheorie nennen; nach letzterer muß
die Elektrizitätsentwieklung auch beim Voltaeffekt den Faranpavyschen
elektrolytischen Gesetzen folgen.
Verbindet man nun eine Zink- und eine Kupferplatte bzw. mit
den Quadrantenpaaren aus dem Metall @ eines Quadrantelektrometers
und macht die Luft zwischen den Platten leitend, so werden dadurch
nach der Metallkontakttheorie, wenn man die elektromotorischen Kräfte
zwischen Metallen und Gasen vernachlässigt, die Potentiale der Zink-
und Kupferplatte ausgeglichen, und die beobachtete Potentialdifferenz
ist (Z, Q)+(Q, CW=(Zn, Cu). Nach der Elektrolytkontakttheorie
werden hingegen, wenn man wieder die elektromotorischen Kräfte der
Gase sowie die wahre, sehr kleine Kontaktpotentialdifferenz zwischen
den Metallen vernachlässigt und die beide Metalle bedeckenden Wasser-
schichten als gleich annimmt, die Potentiale dieser ausgeglichen, und
das Elektrometer gibt die Potentialdifferenz (W, Zn) + (Cu, W) an.
Andererseits ist wohl die einfachste Methode zur Messung des
Voltaeffekts die von Lord Kervın, bei welcher über einem einseitig
verlöteten Doppelhalbring aus zwei Metallen eine einen Radius vom
Ringmittelpunkt bis gegen die Lötstelle hin deekende Nadel schwebt.
Die Ablenkung der Nadel erfolgt in dem einen oder anderen Sinne
je nachdem sie positiv oder negativ geladen wird und gibt die zwi-
schen den beiden Ringhälften bestehende Potentialdifferenz an, welche
WarsurG: Über die Ursache des Voltaeffekts. 855
nach der Metallkontakttheorie zwischen den beiden Metallen, nach der
Elektrolytkontakttheorie zwischen den beiden jene bedeckenden Wasser-
häuten besteht. Wenn also die elektromotorischen Kräfte der Gase
vernachlässigt werden, mißt man hier dieselbe Größe wie bei den
Zellen, welche aus zwei durch ein leitendes Gas getrennten Metallen
bestehen.
Die in $5 beschriebenen Versuche sprechen für die Elektrolyt-
kontakttheorie, welche besonders erfolgreich von Hrn. J. Brown ver-
treten wird. Auch hat derselbe kürzlich! gezeigt, daß der Volta-
effekt zwischen Zink und Kupfer zum Verschwinden gebracht wird,
wenn man die Wasserhäute durch Auskochen in Öl entfernt und wieder
erscheint, wenn feuchte Luft zugelassen wird. Insofern können die
Versuche des $ 5 als eine Bestätigung und Erweiterung dieses Brown-
schen Versuches angesehen werden. Das Verhalten der edlen Metalle
Silber und Platin bedarf nach $5 noch der näheren Untersuchung.
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! Phil. Mag. (6) 5, 591. 1903.
Ausgegeben am 2. Juni.
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XXVI.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
19. Mai. Sitzung der philosophisch -historischen Ülasse.
7; 5 - n T
Vorsitzender Secretar: Hr. VAHLEN.
l. Hr. Burvach las über die älteste Gestalt von GoETHE'S
West-östlichem Divan.
Die älteste urkundliche Form, aus dem Jahre 1814, enthält, im Wesentlichen
chronologisch geordnet, eine Sammlung von 50 Gedichten, der zu Ende des Jahres
ein Prolog und zwei epilogartige Gedichte hinzugefügt wurden, um das Ganze zu einem
Cyklus abzurunden. Ein Theil der Gedichte bildete ein poetisches Reisetagebuch mit
fortlaufender Beziehung auf den Divan des Hafis. und daran anknüpfend erhielt die
Sammlung die Einkleidung in die Form einer fingirten Reise in den Orient. Im Ein-
zelnen wird nachgewiesen, dass auch schon vor dem Abschluss Ansätze zu einer ey-
klischen Anordnung gemacht sind unter Preisgabe des streng chronologischen Prineips.
2. Hr. Harnack las über ein neues Fragment aus den Hy-
potyposen des Ölemens Alex. sowie über den Brief des bri-
tischen Königs Lucius an den Papst Eleutherus.
Er zeigte, dass das neue, von Mercarı entdeckte Clemens - Fragment wahrschein-
lich dem Werke des Papias entnommen ist und des alten Bibeltexts wegen eine be-
sondere Aufmerksamkeit verdient. — Von der vielbehandelten Nachricht des Papstbuchs,
ein britischer König Lucius habe an den Papst Eleutherus geschrieben, wurde nachgewiesen,
dass hier höchstwahrscheinlich eine Verwechslung mit Lucius Abgar von Edessa vorliegt.
3. Hr. vov Wıramowırz- MoELLENDoRFF überreichte das Manuseript
der in der Sitzung der philosophisch-historischen Olasse vom 14. April
vorgelegten Abhandlung »Ein Gesetz von Samos über die Be-
schaffung von Brotkorn aus öffentlichen Mitteln«.
4. Hr. Coxze legte vor ein zum Auflagedrucke fertiges Exemplar
der im Auftrage der Akademie von Hrn. Hauptmann Orrto Berrer auf-
genommenen, gezeichneten und herausgegebenen Karte von Perga-
mon und Umgebung. Das Blatt wird einzeln und im ersten Bande
der »Altertümer von Pergamon« erscheinen.
5. Vorgelegt wurde: Die griechischen christlichen Schriftsteller
der ersten drei Jahrhunderte. Eusebius. Bd. III. Leipzig 1904; und
Monumenta Germaniae historica. Seriptorum Tom. XXXI. Pars II und
Legum Sectio IV. Tom. III. Pars I.
858 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 19. Mai 1904.
Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans.
Von K. Burvacn.
De unmittelbaren Anlaß zu nachstehenden Untersuchungen gab meine
Bearbeitung des West-östlichen Divans für die kommentierte Jubiläums-
Ausgabe der Werke Goethes im Cottaischen Verlag. Ich wurde da-
durch bewogen, dieser Dichtung mich aufs neue entschiedener zuzu-
wenden und eine Arbeit vorläufigem Abschluß entgegenzuführen, die
von mir niemals ganz fallen gelassen worden war, seitdem ich im
Jahre 1833 für die große Weimarische Goethe-Ausgabe in deren 6. Bande
eine kritische Edition des Divans hatte herstellen dürfen. Meine beiden
Ausgaben — ceitiert als Jub. und W. — werden im folgenden ein für
allemal vorausgesetzt, ebenso meine an die Edition des ursprünglichen
Ghasels vom Eilfer sich knüpfende Abhandlung (Goethe-Jahrbuch 1890,
Bd. ıı, S.ıff.) wie mein Festvortrag über den West-östlichen Divan
(Goethe-Jahrbuch 1596, Bd. 17, S. ı"ff.). Was ich hier biete, ist ein
Bruchstück des lange von mir geplanten Buches "Goethe im Orient’
Hoffentlich wird die Einsicht bald ein Gemeingut, daß die gang-
baren Namen Lyrik, Drama, Epos nur Zufälligkeitsworte von höchst
relativer Bedeutung sind und bloß andeutungsweise Grenzwerte aus-
drücken für sehr mannigfaltige Abstufungen, Übergänge und Mischungen
geschichtlich erscheinender poetischer Formen. Aufgeben freilich können
wir die Namen nicht: es sind brauchbare Hilfsgrößen. Herderischen
Winken folgend, hat als einer der frühesten Kenner der Gesetzmäßig-
keit und der unendlichen Fülle des Lebens der Poesie Goethe be-
sonders tief und klar den wahren Sachverhalt ausgesprochen in den
“Noten und Abhandlungen’ zu seinem West-östlichen Divan. Er nennt
da die drei poetischen Gattungen “Naturformen der Diehtung’. "Diese
drei Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken. In dem
kleinsten Gedicht findet man sie oft beisammen, und sie bringen eben
durch diese Vereinigung im engsten Raume das herrlichste Gebild
hervor, wie wir an den schätzenswertesten Balladen aller Völker
gewahr werden. Goethes Divan selbst bewährt die Richtigkeit dieser
Auffassung: er ist eine Sammlung lyrischer Gedichte, in denen die drei
Naturformen der Poesie sich mischen und vielfältig in einander über-
Burvacn: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. 859
gehen. Man kann über die Entstehung und die künstlerische Be-
deutung dieses Werkes, über die allmähliche Ausbildung des ihm
eigenen neuen lyrischen Stils nicht reden, ohne jene fruchtbare
Erkenntnis, welehe die Noten und Abhandlungen’ theoretisch formu-
lieren, darauf praktisch anzuwenden und sich so den Weg der
Forschung zu erlellen.
Die literarischen Überlieferungsformen monodischer Lyrik.
(Gedieht, Sammlung, Cyklus.)
Ein Grundproblem der Überliefrung lyrischer Gedichte, das in
den Literaturen aller Zeiten und Völker sich erneut, ist die Frage: auf
welchem Wege wurde aus den einzelnen augenblicklichen Eingebungen
des Dichters ein vielteiliges Ganzes, aus den ursprünglichen, natür-
lichen Perlen eine zusammenhängende Schnur? Von geringen Aus-
nahmen abgesehen, seien es etwa gelegentliche oder auch systema-
tischen Lehrzwecken der Poetik und Rhetorik dienende Citate, seien
es sonstwie zufällig abgesprengte Bruchstücke, ist die literarische,
selbständige Lyrik der gesamten Welt schriftlich nur in größeren
Sammlungen, als ein Corpus aus vielen Gliedern, verbreitet worden.
Diese Sammlungen mögen unmittelbar oder mittelbar auf den Dichter
selbst zurückgehn, sie mögen der Überlegung oder der Willkür
eines verständnisvollen oder geschmacklosen Ordners entstammen:
immer schaffen sie ein fremdes Element, das des einzelnen Liedes
angeborne Art, Sinn und Absicht seines ersten Bekenntnisses ver-
dunkelt. Es tritt nun in einen größeren Zusammenhang: neue Be-
ziehungen entstehen, Schatten und Licht stuft sich ganz anders ab
als bei dem ersten Aufblitzen der poetischen Inspiration. In einem
nach Formen und Farben abgetönten Kranz wirkt die einzelne Blume
kaum noch durch sich selbst, sondern in und mit ihrer Umgebung.
Das einzelne Iyrische Gedicht ist ein Naturprodukt im Vergleich zu
der Künstlichkeit jeder Sammlung und eines jeden Cyklus: die Zu-
sammenfassung vermehrt die poetischen Eindrücke, und sie beein-
flussen und summieren sich, steigern sich wohl auch. Aber bei der
Entwurzelung und der Umsetzung aus dem ersten Erdreich in die
große Nachbarschaft erlischt jedem einzelnen Gedicht ein Stückchen
von seiner elementaren Kraft, von der Seelenwärme des momentge-
bornen individuellen Lebens.
Und doch ist dieses Schicksal lyrischer Dichtung unabwendlich
nach der Natur der Sache. Hervortreten an die Öffentlichkeit kann
ein lyrisches Gedicht wohl als ein Individuum für sich. Dauern und
auf die Nachwelt kommen, literarisch werden kann es nur in einem
S60 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 19. Mai 1904.
oeschlossenen Verband mit einander in Reih und Glied marschierender,
sei es auch noch so verschiedenartiger Gefährten: der einzelne Iyrische
Klang verhallt mit der Stimme des Dichters oder des Sängers.
Allerdings kann die Musik ihm weittragende Schwingen leihen.
Die Sprüche Walthers von der Vogelweide waren lange vergessen, auch
die großen Liedersammlungen, die sie verewigen, in den Händen oder
auch nur in den Bibliotheken vereinzelter Liebhaber versteckt, als
die musikalischen Weisen einzelnen von ihnen in den Meistersinger-
schulen noch das Leben fristeten und anderen wenigstens, mit Unter-
legung eines neuen, als schöner empfundenen meistersingerischen
Textes, den strophischen und metrischen Leib retteten. Die konser-
vierende Kraft der Musik ist aber eine begrenzte. Wo sie am längsten
wirkt, mumifiziert sie, und am Ende verbleiben nur die unheimlichen
braunen gewickelten Bänder und Tücher, während Leib und Seele
dahin sind. Auch Goethe kannte, wie Herder, Bürger, Schubart und
andere, die naturgegebene Einheit von Gesang und lyrischem Gedicht,
und unser unübersetzbares ‘Lied’ bezeichnet sie ja ungetrennt. Aber
hat die große musikalische Bewegung, die sich an die Namen Hiller,
Johann Abraham Peter Schulz, Reichardt, Zumsteeg und Zelter
knüpft, durch Singspiellied, Lied im Volkston, geselliges Lied, kom-
ponierte Ballade dem literarischen Fortleben der Gedichttexte mehr
als vorübergehend genützt? Haben nicht schon während dieses kurzen
musikalischen Fortlebens die komponierten Gedichte sich Änderungen
und Verkürzungen, Sinnesverdunkelungen gefallen lassen müssen? Er-
leiden sie nicht, wo sie etwa in die volkstümlichen Liederbücher,
also namentlich in die studentischen Kommersbücher, Eingang ge-
funden haben, unaufhörlich neue Entstellungen und Verstümmelungen ?
Auch die Schöpfung des modernen deutschen Kunstliedes auf volks-
tümlicher Grundlage durch den göttlichen und unaussprechlich herr-
lichen Franz Schubert hat daran nicht viel geändert: er so wenig wie
seine Nachfolger — Löwe, Schumann, Franz, Brahms, Hugo Wolf —
haben es vermocht, in ihren Tönen auch dem Worte der Dichter
gleiches Recht und gleiche Integrität, gleiche Beachtung bei den
Sängern und Hörern zu erringen. Es ist noch nicht lange, daß unsere
Konzertprogramme wenigstens die Namen der Dichter für die ge-
sungenen Lieder zu nennen sich entschlossen. Und in der Tat, diese
Kompositionen wollen mehr als ein lyrisches Gedicht erläutern, ver-
tiefen oder konservieren. Sie schaffen ein neues Kunstwerk, mit einer
anderen, im besten Fall mit einer erhöhten Individualität. Goethe
wußte wohl, warum er unter den musikalischen Kompositionen seiner
Gedichte den dünnen und leeren Weisen Zelters vor Beethoven, Schubert,
Mendelssohn den Vorzug gab. Jene trugen in die Wortmusik seiner
Burvacn: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. Ss61
Iyrischen Blumen am wenigsten fremde Individualität und neu stim-
mendes Kolorit hinein.
Von der musikalischen Überlieferung hat das lyrische Gedicht
auf die Dauer noch weniger Schutz seines eigentümlichen persön-
lichen Lebens zu erwarten als von der literarischen Sammlung und
dem Cyklus.
Nur in einem Fall kann die Literatur das Iyrische Gedicht als
Einzelwesen mit seiner vollen unangetasteten Persönlichkeit fixieren:
in der uralten, weit verbreiteten und lange nachlebenden Mischung
erzählender Prosa und daraus hervorwachsender lyrischer oder Iyrisch-
dramatischer Strophen. Diese primitive poetische Gattung liegt am
deutlichsten vor und ist amı besten gewürdigt in altarabischer und
altnordischer Literatur, aber auch in der indischen und in der alten
irischen Poesie, desgleichen in der altfranzösischen erscheint sie, und
vor allem dürfte sie, wie ich vermute, auch in der antiken, grie-
ehischen wie römischen Literatur reich entfaltet gewesen sein, von
wo sie dann unter Nachwirkung von des Martianus Capella “Hoch-
zeit der Philologie mit Merkur’ und des Boethius "Trost der Philo-
sophie’ in Dantes "Vita nuova’ und in den allegorischen, moralisch-
politisch-satirischen Schäferromanen der Renaissancepoeten, in Boc-
:accios 'Ninfale d’ Ameto’, Sannazaros Arcadia’, Montemayors “Diana',
Sidneys "Arcadia’, Barelays 'Euphormio’ und 'Argenis’, d’Urfes “Astree',
Opitzens Hereynia’ und anderen ihre Auferstehung feierte, während die
naturwüchsige, ungeschriebene Tradition im deutschen Märchen wie
eine direkte Fortsetzung des alten Pantschatantra- Typus anmutet.
Als Goethe seine große stilistische Wendung vom Werther zum
Wilhelm Meister machte, knüpfte er gleichfalls an den französischen
Renaissanceroman an und legte seinem Harfner, seiner Mignon und
Philine Liedstrophen in den Mund. Und die Romane, Novellen, Mär-
chen der Romantiker von Tieck und Novalis bis zu Brentano und
Eichendorff vermehrten und verbreiterten die lyrischen Einlagen, in-
dem nun das Beispiel Goethes durch umfassende literarische Kennt-
nis der südromanischen Roman- und Novellenliteratur (Cervantes),
durch die Beobachtung der volkstümlichen Märchenerzähltechnik und
durch die natürlich unvermeidliche spekulierende und diktatorische
Kunsttheorie überboten und das Ergebnis dieser Übertrumpfung als
Kanon proklamiert wurde." Nebenbei bemerkt: auch die bei Goethe
und den Romantikern als typisch auftretende Technik, den Roman
zum Rahmen für eingelegte Novellen zu machen, stammt aus den
romanischen Renaissanceromanen und indirekt aus dem durch des
! Vgl. dazu den Exkurs am Ende dieser Abhandlung.
862 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 19. Mai 1904.
Apuleius Metamorphosen belegten Alexandrinischen Romantypus, der
aber seinerseits — ganz ähnlich wie die gemischte Form des "Ken-
taurs’ seine Analogie in der orientalischen Rahmentechnik findet, wie
sie allbekannt ist aus den großen Weltmagazinen für Märchen und
Novellen “Pantschatantra’, “den 7 weisen Meistern’, “Tausend und eine
Nacht‘. In beiden Fällen, bei der gemischten Form wie bei der No-
velleneinlage, möchte ich je einen gemeinsamen ersten Ausgangspunkt
der Entwicklung für sehr wahrscheinlich halten.
Der Zusammenhang der epischen Umrahmung mit den darin ein-
geschlossenen lyrischen Elementen kann ein sehr verschiedener, ein
innerlicher oder ein mehr oder weniger äußerlicher sein. Rahmen
und Iyrische Bildreihe können gleichzeitig, eins für das andere ge-
schaffen, der Rahmen kann aber auch nachträglich hinzukomponiert,
er kann endlich die Hauptsache und die Lyrik Beigabe sein. Für
alle diese möglichen Verhältnisse gibt es literarische Beispiele genug.
Mag die epische Einrahmung nun geschichtliche, Roman- oder Mär-
chenerzählung, lehrende Betrachtung, Kommentar oder lediglich durch
schmückendes Beispiel belebende', endlich einfach eitierende Abhand-
lung sein, es kann das einzelne Iyrische Gedicht in ihr seine ur-
sprüngliche strahlartige Natur ungedrückt und unbeschattet wahren:
die lebensvolle Einheit des Moments, das Gegenwärtige, Singuläre,
Leibhaftige des persönlichen Gefühls.
Indessen in solcher epischen Umrahmung ist die monodische”
Lyrik noch keine selbständige Gattung. Wo sie das wird, wo sie
als solche in der Literatur auftritt, da muß sie für die errungene Selb-
ständigkeit ihr Herzblut hingeben. Mit tiefstem Sinn stellte Goethe
1815 an die Spitze der Ausgabe seiner lyrischen Gedichte die Vor-
klage’ über die Seltsamkeit, ein leidenschaftlich Stammeln aufzu-
schreiben, lose lyrische Blätter von Haus zu Haus, wohin sie ausge-
flattert waren, wieder einzusammeln und unter einer Decke dem Leser
in die Hand zu geben, was im Leben weit von einander abstand. Der
mittelalterliche Ulrich von Lichtenstein hat die Lücken dieser Lebens-
! Herder liebte es, seine literarischen Untersuchungen zu durchflechten mit
solchen paradigmatisch und erläuternd wirkenden, auffrischenden Blumen: so in den
Zerstreuten Blättern‘. Mit Recht tadelt Hayın Herder 2, 335 die an ihnen verübten
unbegreiflichen Sünden der neueren Herder- Ausgaben: “Man zerpflückt einen mit Über-
legung und Geschmack zusanımengebundenen Strauß, wenn man die Prosaaufsätze der
Sammlungen von den poetischen Stücken trennt. Und höchst treffend im allgemeinen
mit Bezug auf die “Adrastea’: “Aus der Prosa in Poesie überzugehen, Gedanken zu
reimen oder zu skandieren, um sie herzlicher, eindringlicher zu machen, oder bei eigen
Gedachtem an verwandt anklingende Verse anderer zu erinnern, Dichtungen zu kom-
mentieren und wieder die Prosarede durch Gedichte zu illustrieren, ist eine alte Ge-
wohnheit Herders.
® Von der chorischen Lyrik und ihren Schicksalen sehe ich hier überall ab.
Burvaca: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. 863
abstände seiner Minnelieder ausgefüllt, indem er sie in chronologischer
Reihenfolge seiner Autobiographie, der durchaus realistischen Erzäh-
lung seines “Frauendienstes in den Reimpaaren des höfischen Liebes-
romans, einschaltete. Die große Heidelberger Minnesingerhandschrift
hob dann die ganze Liedersammlung unverändert aus und erhielt so
einen rein lyrischen Liebesroman in chronologisch geordneten Lie-
dern, der uns ohne den Frauendienst genau ebenso unfaßbar bliebe
in seinen realen Elementen und seinem geschichtlichen Verlauf wie
die Liederbüchlein der übrigen Minnesinger. Dante hat, indem er die
Arbeit der Troubadourbiographien für sich selbst in eigener Person
leistete, seine Sonette an Beatrice kommentierend umrankt mit der auf
den spiritualistischen Höhen des “dolce stil nuovo’ wandelnden "Vita
nuova. Goethe selbst dagegen, der persönlichste Lyriker, hat im
schärfsten Widerspruch mit jener ergreifenden "Vorklage’ seine Ge-
dichte auf die Nachwelt gebracht durch Zusammenstellungen, die frei
von jedem Kommentar absichtsvoll alle Erinnerung an ihren persön-
lichen Anlaß verwischten und ihren geschichtlichen Zusammenhang
wie ihre genetische Reihenfolge ersetzten durch eine gekünstelte neue
Ordnung ideeller Art. Unter dem Einfluß der "Zerstreuten Blätter’
Herders gibt er der ältesten Sammlung nach dem Prinzip der Ver-
kettung durch ähnliches oder gegensätzliches Motiv eine Art epischen
Zusammenhang typischen und symbolischen Charakters." Mit grau-
samem Wüten gegen sich selbst schnitt er seinen Gedichten den Lebens-
nerv ihrer unsterblichen Schönheit, die Wurzeln des Momentanen und
Individuellen durch. In dem Wahn, dieses zweifelhafte Dogma der neuen
poetischen Wahrheit müsse auch seiner Lyrik einen höheren Adel ver-
schaften. Was dann in der Folge, als die lyrische Produktion an-
wuchs, auf diesem Wege herauskam, zeigt die Ordnung der Gedicht-
bände nach Gesichtspunkten teils der poetischen Gattung, teils der
metrischen Form, teils des Inhalts mit den höchst wunderlich sich
durchkreuzenden und wiederholenden Abteilungstiteln und die Grup-
pierung des Inhalts der einzelnen Abteilungen halb nach sachlicher
Verwandtschaft, halb nach dem Bestreben, einen typischen Verlauf
menschlicher Anlagen, Bestrebungen und Erlebnisse abzuspiegeln.
Freilich hat Goethe selbst eine Ergänzung der Lücken seiner lyri-
schen Konfessionen geschaffen in seiner Selbstbiographie und sogar an
einzelnen Stellen in diese gleich Ulrich von Lichtenstein, gleich Dante
längst bekannte Lieder eingeflochten. Aber wenn er in seiner gegen-
ständlichen, diesseitigen Auffassung der Welt und der Menschen weit
" Vgl. darüber die höchst fördernde und bahnweisende Untersuchung ScHrrERS,
Goethe-Jahrbuch 1883, Band 4, S. 51 ff., die ZArncke sehr ungerecht und grundlos ver-
ächtlich zu machen gesucht hat.
864 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 19. Mai 1904.
entfernt ist von Dantes aufwärtsblickender Begriffismythologie, darin
steht er dem Magier des ‘Neuen Lebens’ nahe, daß seine biographi-
sche Selbsterklärung zwar "das Leben darstellen will, wie es an und
für sich und um sein selbst willen da ist‘, lebend mit dem Leben-
digen’, daß aber auch sie keineswegs die reale Entwickelung seines
Lebens mit dem Wirklichkeitssinn des Geschichtschreibers vorführt.
Angesehen vielmehr mit den Augen des diehtenden Naturphilosophen,
also auch sub specie aeterni, das heißt: nach dem Gesetz der tief-
sinnigen Goethischen Lehre von der notwendigen Metamorphose aller
Natur- und Menschenwelt. “Dichtung und Wahrheit‘ will dichterisch
geschautes Leben erzählen, die Dichtung als Wahrheit begreifen lehren,
aber sie tut es, indem sie die Wahrheit als Diehtung darstellt.'
Goethe, der größte Lyriker, den die Welt sah, war gegen die
Kinder seiner lyrischen Muse ein Erzstiefvater. Er nahm ihnen, als er
sie in die Welt entließ, einen Teil ihrer wirksamsten Kräfte: die unan-
getastete Natürlichkeit und Frische ihrer individuellen Erscheinung.
Philologie, die Freundin und Deuterin des sinnvollen Wortes, des
poetischen Abglanzes menschlichen Lebens, sie darf sich, wenn sie
ihres schwersten, aber auch schönsten Amtes waltet, der Erklärung
lyrischer Konfessionen, nicht auf denjenigen Standpunkt der Geschichte
stellen, den Goethe brandmarkte, als er ihr nachsagte: “sie habe immer
etwas Leichenhaftes, den Geruch der Totengruft‘'. Allein noch weniger
darf sie das reale Substrat lyrischer Gedichte zu ergründen und aus
der künstlerischen Gestaltung herauszuschälen, das Konglomerat oder
die Komposition eines Iyrischen Gedichteorpus in seine ursprünglichen
Bestandteile aufzulösen und diese in ihrem vollen Eigenleben wieder-
herzustellen trachten, indem sie, nach Leben grabend, Leben dichtet.
Von ihrer Forschung wird mehr verlangt: Höheres, aber auch Schwe-
reres.
Es sind überall dieselben Fragen, die sich dieser Forschung ent-
gegendrängen. Rührt die Sammlung und Ordnung der Iyrischen Ge-
dichte von ihrem Dichter her? Ist sie das Werk eines Fremden? Oder
ist sie teilweise das eine, teilweise das andere? Ist sie nach chro-
nologischem oder nach sachlichem Gesichtspunkt angelegt, und wenn
nach sachlichem, nach dem stofflichen Inhalt, wobei die Beziehungen
auf Personen eine wichtige Sonderstellung einnehmen, oder nach der
Form, etwa nach der poetischen Gattung, nach Metrum und Strophe,
nach den Reimen, nach den Gedichtanfängen, nach den Melodien oder
ganz äußerlich bloß nach einzelnen Stichworten des Schlusses, des
! Vgl. das erst durch die Weimarische Goethe- Ausgabe (Bd. 28, S. 356 ff.) be-
kannt gewordene Vorwort zum dritten Teil von Dichtung und Wahrheit nebst Rich.
M. Meyer, Jubiläums- Ausgabe Bd. 22 (1903), S.IX ff. Bd. 24, S. 268 ff. 270.
ven
Burvach: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. 865
Anfangs, des Refrains oder refrainartiger Responsionen? Das Prinzip,
inhaltlich oder formell Verwandtes neben einander zu stellen, schließt
natürlich als logische Umkehrung im gegebenen Fall auch die Kon-
trastwirkung durch Verbindung entgegengesetzter Stücke in sich ein,
wie z. B. bei Herder und Goethe. Denkbar ist auch das Prinzip,
niemals zwei formell oder inhaltlich gleiche oder sehr ähnliche Stücke
auf einander folgen zu lassen. Dagegen die Annahme eines bloßen "Va-
riatio delectat' als leitenden Gesichtspunktes stempelt die Unordnung
zur Ursache der Ordnung. Wir fragen weiter: sind. die einzelnen Iy-
rischen Gedichte selbständig für sich oder, seien es einige, seien es
alle, mit Beziehung auf einander als Cyklus oder zur Abrundung und
Ausfüllung eines Cyklus, als Prolog oder Epilog des Ganzen oder ein-
zelner Teile, als einleitendes Zueignungsgedicht an eine bestimmte
Person geschaffen, dann also zweites Spiegelbild, Reflex eines Reflexes?
Sind sie gruppenweise etwa in Büchern zu verschiedenen Zeiten, als
Einzelausgabe vom Dichter oder einem Editor zusammengestellt, ehe
sie in das größere Corpus kamen? Enthielt das Corpus oder enthalten
einzelne seiner Bücher Nachträge oder Einschübe, die erst nach der
ersten Publikation hinzugedichtet worden sind? Bietet die Sammlung
Gedichte in einer vom Dichter selbst überarbeiteten Gestalt, also in
zweiter oder dritter Auflage? Sind die Gedichte, wie sie in der Samm-
lung erscheinen, auf einen Wurf entstanden und aus einem Guß oder
vermag die höhere Kritik spätere An- oder Einfügungen des Dichters
noch abzusondern? Und wenn wir, wie unsere Pflicht ist, noch tiefer
zurück von dem Buchstaben zufälliger, erkalteter Überlieferung dringen,
bis an den warmen Lebensquell der schaffenden, umgestaltenden Phan-
tasie des Dichters: welchen Anteil haben an dem Gedicht Erlebnis
und Erfindung, literarische Tradition und — bewußte, halb bewußte,
unbewußte — Nachbildung eines bestimmten literarischen Vorbildes?
und wie mischen sie sich?
Mag es sich um die altarabischen Muallagät oder die Hamäsa, um
das prakritische Saptacatakam oder die Sammlungen der provenzali-
schen Troubadour- und deutschen Minnelieder, um das Spruchbuch
Reimars von Zweter, um die lateinische oder die griechische Antho-
logie, um das Liederbuch des Catull oder des Properz, die Epigrammen-
ausgaben des Martial, die Gedichte des Ausonius, um den Canzoniere
Petrarcas oder um die Handschriften und Drucke der Gedichte Goethes
handeln. die Probleme bleiben immer die nämlichen: lockende und
aufregende, an Verheißungen reiche Probleme. Aber ach! wie selten,
wie unvollkommen finden wir aus ihren Labyrinthen den Weg ins
Freie, den ein täuschender Schimmer unserem kritischen Eifer, unserer
drängenden Kombination vorgaukelt.
Sitzungsberichte 1904. 71
8366 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 19. Mai 1904.
Alle Philologie, alte und moderne, hat nur eine Metliode, ihrer
Aufgaben Herr zu werden. Freilich wandelt sich diese eine Methode
nach den verschiedenen Stoffen, die mancherlei Abarten der Probleme
erzeugen. Aber im Kern bleibt sie dieselbe. Sich das immer aufs
neue einzuprägen und nachdrücklich auszusprechen, halte ich für sehr
dienlich. Es schärft das wissenschaftliche Selbstbewußtsein der Philo-
logie und ihre wissenschaftliche Autorität, steigert wohl auch den
Glauben an die Sicherheit und Fruchtbarkeit ihrer kritischen und auf-
bauenden Arbeit im Kreise der angrenzenden Disziplinen, namentlich
derjenigen, die im engeren Sinn die historischen heißen und die — so
geht die Sage — zuzeiten der Philologie nicht übermäßig gewogen
sind. Aber die einzelnen Philologien sollen sich auch bei der An-
wendung der gemeinsamen Methode auf die verschiedenartigen Ob-
jekte gegenseitig beobachten, um von einander zu lernen. Durch ge-
sichertere Erträge des fremden benachbarten Feldes läßt sich die Probe
auf die Richtigkeit des eigenen schwierigen Exempels machen, und Er-
folge auf günstigerem Terrain ermutigen zur erhöhten Energie unter
erschwerten Bedingungen. Die Arbeitsteilung, der die größten Fort-
schritte der philologisch -historischen Wissenschaften verdankt werden,
würde zum Fluch, wollten wir nicht unser Bestes einander absehen
und mit einander austauschen. Und nicht bloß durch Mitteilung
fertiger Ergebnisse. Das reicht nicht aus. Vielmehr nach Möglichkeit
durch wechselseitige Aneignung der verschiedenen Gebrauchsweisen
und Abarten der philologischen Methode.
Viel ist und wird gespottet über die sogenannte "Goethe-Philo-
logie’. Nicht bloß über den etwas dilettantisch isolierenden Namen.
Auch über die Sache, die der anfechtbare Name doch verständlich be-
zeichnet. Und es höhnen darüber nicht allein die Unmündigen, die
über modernen Alexandrinismus' und Waschzettelforschung zetern und
die ernsthafte Bemühung um das lebendige Verständnis unserer großen
Dichter am liebsten mit Knütteln totschlügen — es sind übrigens meist
dieselben, die sonst die Freiheit und den Fortschritt der Forschung,
namentlich der naturwissenschaftlichen, so gern im Munde führen und
sich ins Zeug legen für die Bibelkritik, von der sie allerdings wohl,
wie jeder Philologe, auch ohne Fachmann zu sein, sieht, noch weniger
verstehen (falls das möglich sein sollte). Auch bedeutende Gelehrte,
Historiker, Juristen, selbst Philologen sehen scheel auf die philologische
' Das Wort Alexandrinismus sollte übrigens doch endlich seinen verächtlichen
Sinn verlieren. Wenn man weiß, welch unermeßliche literarische, künstlerische, geistige
Kultur durch diesen Alexandrinisınus gesammelt und so fortgepflanzt worden ist, daß
er im Orient und Oceident durch alle Jahrhunderte bis auf den heutigen Tag be-
fruchtend und vorbildlich gewirkt hat, dann vergeht das Spotten.
Burvach: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. S67
Erforschung der Werke und der Persönlichkeit unseres größten Dichters
herab. Kein Geringerer als Tnueopor Monnsen, dem niemand Enge des
Horizontes oder zünftlerischen Hochmut nachsagen kann, hielt es, als
er Hrn. Erıcn Scnumivrs Antrittsrede in unserer Akademie erwiderte,
für geboten, durch ein fragwürdiges “Ne quid nimis’ eine Grenze zu
ziehn, bis zu der auch auf die neuere deutsche Literatur die alterprobte
philologische Methode übertragen werden dürfe. In Wahrheit gibt
es hier keine andre Grenze als die, welche für alle Philologien, auch
die römische und griechische besteht: die Grenze, welche durch die
Natur der Sache, durch das Maß des Erkennbaren und durch den
wissenschaftlichen Takt des Forschenden gegeben ist. Am wunder-
lichsten ist im Grunde der Protest so vieler Freunde der gegenwärtigen
Diehtung und der heutigen Dichter selbst. Sie sind doch einig darin,
daß es die Probe für alle echte Poesie sei, ob sie aus der Tiefe einer
starken Persönlichkeit hervorquelle, daß nicht der Stoff und nicht die
Form das Kunstwerk machen, sondern ihr Durchgang durch ein davon
ergriffenes Temperament, nicht das Erlebnis an sich, sondern wie es
in einem einzigen Augenblick und in einer Beleuchtung, die so niemals
wiederkehren, sich spiegelt in der Stimmung des Schaffenden. Sie
wissen, die Iyrische Impression ist eine Lichtwelle inneren Lebens.
Schon auf dem Wege zum Wort und Vers verliert sie an Glanz und
Wärme, stirbt etwas in ihr. Und das geschriebene, das gedruckte
Gedicht gibt nur noch einen Auszug, einen Rest, der im Verhältnis
zur unendlich gefühlten, unendlich momentanen, unendlich persön-
lichen Iyrischen Inspiration als kalte blasse Formel erscheint. Ein
ganzer Band Iyrischer Gedichte vollends ist wie eine Schmetterlings-
sammlung: was zuvor umherflatterte und hundertfarbig im Sommer-
sonnenglanz funkelte, nun starr und grau, in Reih und Glied aufge-
spießte Leiber.
Die Philologie gibt diesen lyrischen Schmetterlingen ihre Seele
und ihre Flügel wieder und setzt sie in Sonne und Luft. Sie geht den
Weg zurück vom fertigen Gediehtbuch zur Ausgabe und Niederschrift
des einzelnen Gedichts und noch weiter rückwärts bis zum Moment
seiner Vollendung, ja, wenn möglich, zurück bis zur Konzeption.
Aus den kalten Schriftzügen auf dem stummen Papier möchte sie ihn
wieder herstellen, den ersten leuchtenden Abdruck in der Seele des
Dichters. Die sogenannte Goethe-Philologie will das mit allen Mitteln
der alten erprobten philologischen Methode leisten für den persön-
lichsten unter den großen Lyrikern. Nicht als Totschlägerin und Toten-
gräberin der Poesie, wozu Deutebolde und Stoffhuber und der nun
ruhende, unermüdliche wissensreiche Goethiomastix sie machten, son-
dern als wahre Lebendigmacherin. Sollte sie es nieht verdienen, daß
dl
868 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 19. Mai 1904.
man auf sie achtet und von ihr zu lernen sucht auch außerhalb ihres
Kreises? Denn diese Goethe-Philologie verfügt über eine Fülle und
Mannigfaltigkeit urkundlicher Quellen, äußerer und innerer Zeugnisse,
sachlicher und formaler Kriterien und Ansatzpunkte, wie sie keiner
Philologie für irgend einen anderen Dichter zu Gebote stehn.
Unter aller Goethischen Lyrik gilt dies nun im höchsten Sinne
vom West-östlichen Divan. Für ihn haben wir ein unvergleichlich
sicheres und reiches Beobachtungsmaterial, um in die Tiefen seines Ur-
sprungs, seiner persönlichen und literarischen Wirkung einzudringen.
Wir besitzen eine unter Goethes Augen gedruckte erste Ausgabe (1819,
bei Cotta)! und eine auf dem Fuße folgende Wiederholung (Wien, Arm-
bruster 1820), für die Goethe selbst Korrekturen beisteuerte. Wir
besitzen eine zweite, erweiterte und redigierte abschließende Ausgabe
(im 5. Band der Ausgabe letzter Hand 1827), gleichfalls noch bei
Lebzeiten des Dichters unter seiner Teilnahme erschienen. Wir be-
sitzen die über redaktionelle Fragen mit dem beauftragten Heraus-
geber, dem Jenaischen Philologen Göttling geführte Korrespondenz.
Wir besitzen für diese letzte Ausgabe das von Göttling und Goethe
durchkorrigierte Druckmanuskript. Wir besitzen mehrere der ersten
Edition des ganzen Divans vorhergehende Separatausgaben einzelner
Gedichte, die Goethe selbst für bestimmte Zwecke ausgehoben und
zusammengestellt hatte, wobei er mehrfach den Text diesen Zwecken
gemäß retuschierte, namentlich dem Verständnis erleichterte: im Cotta-
ischen ‘Morgenblatt' und "Taschenbuch für Damen’, in den "Gaben der
Milde’ von Gubitz, in Zelters 'Liedertafel’. Wir besitzen in den "Noten
und Abhandlungen zum besseren Verständnis des West-östlichen Divans
einen vom Dichter selbst verfaßten Kommentar seines Werkes, und
kommentierende Charakteristiken der einzelnen Bücher auch in der
Ankündigung, die er 1816 im Morgenblatt veröffentlichte. Wir be-
sitzen in seinen "Tages- und Jahresheften’, in den gleichzeitigen Tage-
büchern und Briefen mehr oder minder eingehende Nachrichten über
den Divan und einzelne seiner Stücke. Wir kennen die literarischen
Quellen, die ihn poetisch anregten und aus denen er Belehrung schöpfte,
aufs genaueste: die Ausleihverzeichnisse der Weimarischen Bibliothek
lassen es verfolgen, welche Werke und wann er sie entlieh; auch der
Bestand seiner eigenen Bibliothek an orientalischen Büchern ist noch
unberührt vorhanden, darunter sein Handexemplar der Hammerschen
Übersetzung des Hafis, in dem vielfach Bleistiftstriche am Rande die
Stellen zeigen, die in ihm beim Lesen gezündet hatten.
! In dem von mir besorgten 6. Band der Weimarischen Goethe- Ausgabe, der
den Divan enthält, als E bezeichnet.
Burvacn: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. 369
Aber wertvoller und lehrreicher als dies alles ist der erhaltene
Reichtum eigenhändiger Manuskripte zum Divan.
Außer einer Fülle von Konzepten aus allen Stadien der Diehtung
in allen Formaten, außer einem Register über den Stand der poeti-
sehen Arbeit mitten aus der Zeit, da sie noch im Flusse war, be-
sitzen wir für den größeren Teil des Werkes die eigenhändige Rein-
sehrift.'
So ist es wohl nicht zu viel gesagt, wenn ich behaupte: ein
Studium der äußeren und inneren Geschichte der Divanlyrik liefert
dureh ihre sicheren und reichen Ergebnisse auf allen Gebieten der
Exegese und der niederen wie der höheren Kritik geradezu ein Para-
digma für die auf Lyrik überhaupt anwendbare philologische Methode.
Hier kann an einem ausnahmsweise glücklichen Falle gezeigt werden,
was sich erreichen läßt für die schwierigen Probleme, die gerade die
literarische, exegetische und kritische Würdigung Iyrischer Texte dar-
bietet. Hier öffnet sich ein Blick in verborgne Regionen des lang-
samen poetischen Reifens eines lyrischen Kunstwerks wie sonst nir-
gends. Und Mitfühlenden sichtbar wird der geheimnisvolle Prozeß,
durch den der innere Eindruck des Erlebnisses im Dichter keimt und
wächst, von literarischer Anregung befruchtet, sich zum reicheren
Phantasiegebilde entfaltet und dann zum Ausdruck drängend allmäh-
lich alle Stufen des lyrischen Bekenntnisses durchläuft bis zur vollen
Ausprägung der gemäßen Form. Die zahllosen Imponderabilien, die
mit einander die Stimmung des Diehtenden hervorrufen und färben,
die wichtige Grundlage aller Iyrischen Produktion, sonst kaum unserer
Ahnung zugänglich, liegen für viele, ja für die meisten größeren
Divangedichte klar vor Augen. Wir sehen, was Tag und Stunde, der
wechselnde Schauplatz der äußeren Umgebung — hier Berka, Wei-
mar, Jena, dort Wiesbaden, Frankfurt, Heidelberg und die Zwischen-
stationen der Reise —., was Landschaft und Jahreszeit dem Dichter
bringt. Wir fühlen mit ihm, wie auf seiner dichtenden Wanderung
in das frohe, nun befreite Land des Mains, Rheins und Neckars alte
Jugend- und Heimatserinnerungen schlummernde Töne aufwecken. Wir
wissen, wie ihn neue Freundschaften und neue künstlerische literarische
Vorsätze anspornen. Wir erkennen, wie seine Lyrik in der geselligen
Atmosphäre teilnehmender, liebenswürdiger, anregender Menschen auf-
sprießt, wie sie von Frauenliebe durchsonnt wird. Wir spüren den
starken politischen, volkspädagogischen Zug dieser Lyrik und
messen ihn an den Glück und Unglück zusammenballenden, sich langsam
! In meiner Ausgabe (Weim. Edition Bd. 6) als R bezeichnet. Fast alles davon
im Goethe- Archiv zu Weimar.
870 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 19. Mai 1904.
und schwer entwolkenden Zeitverhältnissen. Aber alles dieses ist nur
das erste, das Einzelleben der Lyrik, das sich uns hier enthüllt. Im
Zusammentreten mit anderen gleichartigen beginnt das zweite, das lite-
rarische Leben. Und auch dessen allmähliche Entwicklung, die Zu-
sammenfügung und Verschmelzung im lyrischen Cyklus, wo jedes Ein-
zellied auf die Nachbarn und das Ganze wirkt und von beiden wieder
Rückwirkungen erleidet, läßt sich am Divan so klar und gründlich
wie sonst nirgend beobachten. Gibt es für das lyrische Schaffen eine
künstlerische Gesetzmäßigkeit — und sie ist vorhanden — so läßt
sie sich an diesem Spätling Goethischer Lyrik studieren und begreifen,
in Ehrfurcht vor dem undurchdringlichen Mysterium künstlerischen
Werdens.
Und selbst dieses Mysterium können wir, wenn auch nicht in sei-
nem letzten Grunde, so doch in dem allmählichen Aufleuchten seiner
Strahlen am Divan unserem Verständnis nahebringen. Die große, kaum
abzuschätzende Bedeutung dieses Werks ruht darin, daß es an einem
Wendepunkt der künstlerischen Entwicklung Goethes steht! und einen
neuen lyrischen Stil inaugurierte. Dieser neue lyrische Stil kam Goethe
nicht über Nacht. Er war das allmähliche Ergebnis komplizierter
Mischungen verschiedenartiger älterer Stilelemente. Dieser Mischungs-
prozeß von den tastenden Anfängen bis zum vollen Gelingen und
Fertigwerden liegt, dank dem reichen handschriftlichen und sonstigen
geschichtlichen Divanmaterial, ausgebreitet vor uns wie ein entfaltetes
Tuch. Schwerlich fließt an anderer Stelle eine gleich tiefe Quelle der
Erkenntnis künstlerischen Werdens. Das darum doch ein Wunder
bleibt, vor dem wir in Andacht uns beugen. Und in wachsender
Liebe. Denn je tiefer wir hineinschauen in die äußere und innere
Lebensgeschichte eines Kunstwerks, desto inniger und vertraulicher
wird unser Umgang mit ihm. Fest und fester wachsen uns seine
immer klarer und ausdrucksvoller hervortretenden persönlichen Züge
ins Herz. Immer mächtiger bewegt uns die Ehrfurcht vor der un-
erschöpflichen Fülle des Menschlichen.
2. Der deutsche Divan von 1814.
Für den Divan, der über zweieinhalbhundert Gedichte umfaßt,
sind uns auf mehr als anderthalbhundert Folioblättern etwa drei
Fünftel der fast ganz eigenhändigen Reinschrift erhalten. In zahl-
reichen Korrekturen, in dem gelegentlich wechselnden Charakter der
! Vgl. darüber meine Ausführungen Goethe-Jahrbuch 1890, Bd.ıı, S.13 ff.;
Goethe-Jahrbuch 1896, Bd. 17, S.8—ı8 und Nırsaur, Euphorion 1895, Bd.2, S.6rrff.
BurvacH: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. 871
Schriftzüge und der Tinte, namentlich in den mehrmals als Nachtrag
kenntliehen Überschriften zeigen sich aufs deutlichste die verschiede-
nen Absätze der poetischen Arbeit. Der größere Teil ist eigenhändig
datiert, am häufigsten mit voller Angabe von Ort und Tag, manch-
mal sogar der Stunde der Niederschrift. Nicht ganz wenige tragen
ein doppeltes Datum: das der Vollendung und ein zweites der Um-
arbeitung. Ein Dutzend Blätter, das jetzt verschollen ist, konnten
noch EckERMAnN und RıEner für die sogenannte Quartausgabe von 1836
benutzen: sie entnahmen daraus für das Verzeichnis der Titel oder An-
fänge der Gedichte die Datierungen und haben uns so für den späte-
ren durch Sorglosigkeit verschuldeten Verlust in etwas entschädigt.
Goethes Reinschrift gewährt aber auch Einblick in die Entstehungs-
geschichte des Ganzen: in die wechselnde Gestalt, welche der bewußt
gruppierende und typisierende Kunstverstand des Dichters ihm gab.
Wir lernen das Corpus kennen in einem Zustand, dem die Einteilung
in Bücher noch fremd war.
36 Blätter der Reinschrift tragen oben rechts in der Ecke von
Goethes eigner Hand eine schwarze Zahl: diese Numerierung folgt
den Daten der Entstehung. Goethe hat also zunächst, als er über
die Erzeugnisse seiner neuen Lyrik eine vorläufige Übersicht gewinnen
wollte, chronologisch geordnet. Diese Numerierung schließt ab mit
der Zahl 53. Sie wurde zu Ende des Jahres 1814 eingetragen. Da-
mals umfaßte die Sammlung mithin 53 Gedichte. Erhalten blieben
uns von ihr unmittelbar aber bloß 36.
Dies ist der älteste sichere Kern des West-östlichen Divans. In
der Hauptmasse Gedichte, die zum persischen Sänger MonAanen Schens-
eppın Harıs eine mehr oder minder nahe persönliche und literarische
Beziehung haben. Von dieser festen Grundlage soll meine Unter-
suchung ausgehn. Später wird festzustellen sein, inwieweit sich etwa
auch die nieht unmittelbar und urkundlich als Teile der handschrift-
lichen Sammlung von 1814 vorliegenden 17 Gedichte noch ermitteln
lassen.
Dabei ist hinsichtlich der erhaltenen Reinschrift (R) ein für alle-
mal folgendes zu beachten. Die im Goethe-Archiv davon aufbewahr-
ten Folioblätter bieten durchaus nicht ausnahmslos das Original der
Reinschrift. Die Gedichte Elemente’ (W. S.14) und "Selige Sehnsucht’
(W.S.28) sind uns in zwei Exemplaren der Reinschrift erhalten: das
erste, das Original (R'), war von Goethe an Zelter zur Komposition und
zum Abdruck in der Liedertafel’ frühzeitig ausgeliefert und wurde in
der Sammlung selbst durch die demnach von eigener oder fremder
Hand gefertigte Abschrift (R?) ersetzt. Und dieser Ersatz trägt noch
die schwarzen Nummern des ersten Divans. Diese schwarzen Nummern
872 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 19. Mai 1904.
sind also nirgend ein sicheres Zeugnis, daß nicht hinter dem sie auf-
weisenden Folioblatt der Reinschrift noch ein älteres, das Original,
stehen könne. Und auch für die noch vorhandenen Konzepte ist
eine allgemein gültige Bemerkung notwendig. Was uns von Kon-
zepten bewahrt ist, erschöpft nicht im entferntesten den ursprüng-
lichen Vorrat. Sehr viele der ersten unvollständigen oder unfertigen
Gedichtniederschriften wurden offenbar von Goethe später, nachdem
die endgültige Reinschrift vorlag, vernichtet. Namentlich die auf der
Reise gemachten. Erhalten blieben hauptsächlich solche Entwürfe,
die mit anderen, nicht ausgeführten oder nicht erledigten Entwürfen
auf einem Blatt standen. Wohl zeigen die Blätter der Reinschrift zahl-
reiche Korrekturen und Nachträge. Aber dieser feilenden, klärenden,
steigernden Arbeit, die sich hieraus enthüllt, voraus liegt eine ganze
Stufenreihe der Konzeption, deren urkundliche Zeugnisse, eben die
allerersten flüchtigsten Notizen, uns verloren sind und die allein die
höhere Kritik wieder lebendig und sichtbar machen kann. Womit
natürlich nicht bestritten ist, daß Goethe manche der Divangedichte
ohne jede vorhergehende Aufzeichnung von vornherein aus dem Kopf
in Reinschrift zu Papier gebracht hat.
Das erste Gedicht der schwarz numerierten Sammlung ist, wenn
man zunächst Nr. ı, den Prolog “Hegire® vom 24. Dezember 1814,
beiseite läßt, “Nr.2 Fetwa’', datiert: "Berka Juli 1814. Eine Charak-
teristik der Poesie des Hafıs durch den Mufti Ebusuud und zwar
seine Antwort auf die Frage, ob man den Divan des Hafis als ortho-
doxer Muslim ohne Gefahr für Seelenheil und Sittlichkeit lesen dürfe.
Goethe hat das aus der Vorrede Hammers zu seiner Übersetzung
des persischen Sängers übernommen, fast wörtlich, und rhythmisierte
Hammers Prosa mit ganz leisen Änderungen in reimlosen fünffüßigen
Trochäen. Gleich das erste Gedicht dieser neuen Lyrik erscheint
also in dramatischer Einkleidung: ohne epische Einführung tritt
der Mufti in Person redend auf, allerdings schließt er selbst seinen
Bescheid mit einem epischen zurechtweisenden Begleitwort: “Dieses
schrieb der arme Ebusuud. Gott verzeih ihm seine Sünden alle’,
das in dem Zusammenhang des poetischen Cyklus, worin das Fetwa
nun steht, aufgefaßt werden kann als ein episches erklärendes Nach-
wort des deutschen Dichters und dann das Gedicht doch zu einem
epischen (Erzählung einer direkt angeführten Rede) stempeln würde.
! Die Titel gebe ich immer nach den erhaltnen Blättern von R. Sie können
aber in manchen Fällen erst bei Anlegung der zweiten, rot numerierten Sammlung
(Ende Mai 1815) nachgetragen sein. Das läßt sich mit Sicherheit niemals entscheiden.
Es ist also im folgenden überall ein entsprechender Vorbehalt stillschweigend zu er-
gänzen.
BurvacnH: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. 873
Aber weder die dramatische Einkleidung noch der doppeldeutige epische
Schluß hat mit der poetischen Substanz des Gedichts etwas zu tun.
Diese ist rein lyrisch. Allerdings verhüllte Lyrik, die der verständnis-
volle Leser sich herauswickeln muß. Alle diese dreizehn Verse geben
eine hörbare und faßliche Melodie, die aber nach dem Willen ihres
Gestalters gar nicht durch sich selbst wirken soll, sondern durch eine
in ihr mitklingende Tonfolge oder auch nur durch einen langen Orgel-
punkt, auf dem sie sich aufbaut. Dieser geheime Iyrische Kern ist
dieser: ‘Ich bin in der Lage des Hafıs; auch meine Poesie wird von
strenggläubigen Rigoristen verfolgt; auch für sie hoffe ich auf die milde
Weisheit eines Ebusuud. Mag nun auch ein nachdenkender Leser
diesen lyrischen Kern erfassen ohne weitere Hilfe, selbst ohne von
Hafıs und seiner Dichtung das Geringste zu wissen, sicher ist: Goethe
hat diese Hammersche Prosa nicht sieh angeeignet, damit seine Ver-
sifikation für sich allein bleibe und allein wirke. Er hatte damals
entweder schon Gedichte in Nachbildung des Hafıs oder in Beziehung
auf ihn gedichtet oder war wenigstens entschlossen, es zu tun. Dieses
Divangedicht aus Berka vom Juli 1814, aus der Epimenideszeit, ist
gedichtet in der Voraussetzung begleitender lyrischer Supplemente.
Es kündigt etwas an, was folgen soll oder voraufgeht: eine Reihe
von anderen Gedichten, die jene schweigend ausgesprochene Verwandt-
schaft des deutschen und des persischen Dichters beweisen, den Nach-
folger im Wetteifer mit seinem Vorbilde zeigen sollen, mit anderen
Worten einen Cyklus lyrischer Gedichte, dessen einigender Mittel-
punkt Person und Dichten des Hafıs sein muß.
In der Tat ist denn auch dieses erste Gedicht des Divans von
1814 nicht das älteste. Das folgende Gedicht: “Nr. 3.' Beynahme’
(später im Buch Hafıs, W.S. 33) ist älter, vom "26. Juni 1814’, gleich-
falls also aus Berka und aus den Epimenidestagen. Es gibt wieder eine
rein dramatische Form ohne jede epische Einführung: ein "Zwiegespräch
zwischen Hafıs und dem ‘Dichter’. Dieser fragt nach der Bedeutung
des Beinamens Hafıs und als er zum Bescheid erhält, er bezeichne
ihn als sicheren Kenner des Koran, leitet der östliche Nacheiferer
sein Recht, sich jenem verwandt zu fühlen, daraus her:
Hafıs, drum, so will mir scheinen,
Möcht’ ich dir nicht gerne weichen:
Denn wenn wir wie andre meinen,
Werden wir den andern gleichen.
' Die Zahl 3 ist schwarz durchstrichen und durch eine rechts daneben gestellte
schwarze 4 ersetzt, dann ist auch diese schwarz durchstrichen und dafür links von
der ersten Nummer eine schwarze 5 geschrieben, später sind alle drei rot durch-
strichen (bei der neuen Wiesbader Numerierung).
874 Sitzung der philosophisch - historischen Classe vom 19. Mai 1904.
Und so gleich’ ielı dir vollkommen,
Der ich unsrer heil’gen Bücher
Herrlich Bild an mich genommen,
Wie auf jenes Tuch der Tücher
Sich des Herren Bildnis drückte,
Mich in stiller Brust erquickte,
Trotz Verneinung, Hindrung, Raubens,
Mit dem heitern Bild des Glaubens.
Auch für dieses Gedicht lieferte den Keim eine Notiz in Hammers
Vorrede über den Namen des Hafis, und es darf wohl als das wirk-
lich älteste Gedicht des West-östlichen Divans gelten. An das aller-
äußerlichste, den Beinamen, anknüpfend, hat Goethe, innerlich tief
ergriffen durch die Dichtung des Persers, herrlichste Poesie daraus
entfaltet. Und wir müssen staunend konstatieren: gleich dieses älteste
Gedicht des Divan ist Reflexpoesie, Poesie wiederholter Spiegelung.
Hafıs ist ihm aus seinen Gedichten hervorgetreten wie ein Lebender.
Indem er seine Gedichte liest, glaubt er mit ihm persönlich zu ver-
kehren, ihn reden zu hören und ihm zu antworten. Der natürlichste
Ausdruck für diese lyrische Impression ist der Dialog, die dramatische
Form. Aber diese dramatische Form gibt lyrischen Gehalt: die per-
sönliche, momentane Empfindung des lebenden Dichters, wofür die
Figur und die Worte des Hafis nur Folie sind.
Dieses älteste Gedicht gibt nun aber auch das im 'Fetwa’ fehlende
lyrische Supplement: hier haben wir ja deutlich ausgesprochen das
lyrische Bekenntnis des Wetteifers und der Verwandtschaft. Die Ent-
stehung, die reale Existenz des 'Fetwa’ begreift sich allerdings sehr
gut, wenn ihm "Beynahme vorhergegangen war. Allein vom rein lite-
rarischen Standpunkt des künstlerischen Nebeneinanderwirkens ist die
Umkehrung der chronologischen Reihenfolge, welche die älteste Samm-
lung des Divan vornimmt, weit vorzuziehn. Nun schließt sich “Bey-
nahme’ unmittelbar an als lyrische Auflösung des rätselhaft andeuten-
den 'Fetwa’. Und es ist nicht unmöglich, daß dieses “Fetwa’ von
Goethe bereits gedichtet wurde, um als Präludium des "Zwiegesprächs
zu dienen. Jedenfalls durchbricht die älteste Sammlung des Divan
von 1814 gleich hier, am Anfang, das Prinzip rein chronologischer
Anordnung zu Gunsten des Oyklus.
Nun haben wir allerdings noch ein ausdrücklich als Bestätigung
des Fetwa sich gebendes lyrisches Supplement auf demselben Blatte
der Reinschrift, darunter stehend, ohne Überschrift (später im Buch
Hafis "Der Deutsche dankt’, W.S.37): “Heiliger Ebusuud, hasts ge-
troffen’ Auf dieses weist das zweite Datum am Fuß des Blattes:
“Jena December 1814° und es wird dies noch näher bestimmt als der
18. Dezember durch die Tagebuchnotiz zu diesem Tage: “Fetwa und
Burpvach: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. 75
3
Antwort.
haben. Das uns erhaltene Blatt der Reinschrift zeigt freilich nur
An dem 'Fetwa’ selbst kann Goethe damals nur redigiert
eine Korrektur: V. 2 wunauslöschlich aus “unumstoßlich” (Hammers
Wortlaut). Aber möglicherweise ist es bereits eine Umschrift des
ersten Berkaer Originals aus dem Juli, die erst damals auch alle
übrigen Abweichungen von Hammers Fassung eingeführt und dann
natürlich gleich von vornherein in den Text gesetzt haben könnte.
Ob nun das Antwortgedicht erst am 18. Dezember oder schon früher,
etwa gar gleichzeitig mit “Fetwa’ geschaffen wurde, läßt sich nicht
mit Sicherheit entscheiden. Notwendig war es zur lyrischen Ergänzung
jedenfalls solange nicht, als der Dialog “Beynahme’ unmittelbar dem
'Fetwa folgte und eine solche Ergänzung herstellte.
Gewiß ist nur eins, was, wie sich später zeigen wird, aller-
höchste Bedeutung besitzt: die letzten vier Verse des Bestätigungs-
gedichtes Heiliger Ebusuud, hasts getroffen mit dem äußerlich von
Hafis zur eigenen Person überleitenden ‘Und so kann der alte Dichter’,
die den Charakter des Angeflickten deutlich zur Schau tragen, müssen
am 18. Dezember hinzugefügt worden sein wegen der Einführung des
Paradieses und der ‘Houris’ (s. unten). Allerdings darf dabei nicht
verschwiegen werden, um auch den peinlichen Erdenrest des Zweifels
pflichtgemäß zu tragen: dieses lässig anfügende “Und so’ führt ja
auch die acht Schlußverse im Gedicht "Beynahme’ ein (s. oben). Wer
diese aber für eine spätere Zudichtung erklären wollte, schnitte da-
mit dem Gedicht das Herz aus und erregte den ernstlichsten Zweifel,
ob das Gedicht als ein solcher blutloser Schemen jemals bestanden
haben kann. Einen Schein von Berechtigung erhält die Auffassung,
die in den letzten acht Versen eine Zudichtung etwa aus dem No-
vember oder Dezember 1814 erblickt, durch die Anspielung auf das
Tuch der Veronika: Meister Wilhelms Bild hat Goethe wahrscheinlich
im September-Oktober zu Heidelberg in der Gemäldesammlung der
Brüder Boisseree gesehen. Aber er konnte doch darüber schon früher
von Sulpiz bei dessen Weimarischem Besuch gesprächsweise, auch
durch Nachzeichnungen Kenntnis haben und er kann schließlich auch
ohne solehe künstlerische Anregung des äußeren Auges auf das schöne
Gleichnis verfallen sein. So möchte ich denn zwar in ‘Beynahme” das
Und so als ursprünglich schützen, immerhin aber diese äußerliche
Nachtragsformel, wo andere Indizien bestätigend dazutreten, als ein
Kriterium der späteren Zudichtung verwenden.
‘Nr. 7. Buchstabe Sin. Gasele XIII’! (später “Elemente’ im Buch
des Sängers, W. S. 14). Die Überschrift ist fehlerhaft, statt ‘Sin’ soll
2 VeL-W- zu 15,23 'S..366f., Jub. zu S;09.
876 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 19. Mai 1904.
es 'Schin heißen. Sie bezeichnet das zugrunde liegende Ghasel, zu
dem Goethe ein Gegenstück dichtet. Datum: "Weimar den 22. Juli 1814.
Aus wie vielen Elementen
Soll ein ächtes Lied sich nähren ?
Ganz allgemein gehaltnes Programm für die Gegenstände eines
singbaren Liedes: Liebe, Wein, Lob der männlichen Tapferkeit,
Schelte des Unleidlichen und Häßlichen. Also Anakreontik, Vater-
ländisch-Heroisches, Satire. Die Keime des Buchs der Liebe und
Suleika, des Schenkenbuchs, des Buchs des Paradieses, des Buchs
des Unmuts.
Weiß der Sänger dieser Viere
Urgewalt’gen Stoff zu mischen,
Wird er wie Hafıs die Völcker
Ewig freuen und erfrischen.
Die Beziehung auf Hafıs ganz äußerlich an das fertige "gesellige Lied’
angeknüpft. Derselbe Gedanke des Wetteifers wie in “Beynahme!'.
Das Gedicht erschien 1818 in Zelters Liedertafell. In dem diesem
übersandten Blatt der Reinschrift ist in V.23 die alte Betonung noch
nicht verbessert, es muß ihm also vor dem 2.—5. November 1814
zugegangen sein.
Nun folgt ein poetisches Reisetagebuch, Früchte dreier lieder-
reicher Tage, des 25., 26., 27. Juli, auf der Fahrt von Weimar bis
Hanau. Die chronologische Anordnung ist hier nicht streng bewahrt,
sie ist etwas verschoben zu Gunsten einer sachlichen Gruppierung.
Man sieht: der erste Schritt vom poetischen Tagebuch, dem reinen
lyrischen Wirklichkeitsbekenntnis zu einem künstlerischen Cyklus
ideellen Inhalts wird getan.
Vom 25. Juli 1314, dem ersten Reisetage, der ihn von Weimar
bis Eisenach brachte, datiert ist “ı 1. Seltnes Meteor’ (später "Phänomen’
W.S.17 im ‘Buch des Sängers’): der Nebelregenbogen als verheißungs-
volles Vorzeichen für eine glückliche Reise des Gealterten, dem der
Regenbogen nicht mehr in Farben leuchtet.
Sind gleich die Haare weiß,
Doch wirst du lieben.
Kein Wort von Hafıs.
Vom gleichen Tage ist ‘Nr. ı2. Bunte Felder’ (später "Liebliches’
im “Buch des Sängers’, W.S. 18): aus dem Morgennebel tauchen nun
doch undeutlich bunte Farben hervor:
Ja es sind die bunten Mohne,
Die um Erfurt sich erstrecken.
ich
ze
Burvaca: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. 877
Beziehung auf Hafis stellen zwei ersichtlich nach der ersten Konzep-
tion, aber noch vor der “trochäischen Betonung’ von Hafıs (d. h. vor
Anfang November) eingeschaltete Strophen her:
Sind es Zelte des Vesires? usw.
Sind es Teppiche des Festes? usw.
... Doch wie kommt, Hafıs, Dein Schiras
Auf des Nordens trübe Gauen?
Wenige Stunden danach entstand “Nr. 13. Sollt einmal durch Er-
furt fahren’ (im Divan erst nach Goethes Tod, W. ‘Aus dem Nachlaß’
S. 278): das flüchtige Wiedersehen der vertrauten Stadt weckt Jugend-
bilder, Erinnerungen an frühe Liebeständeleien auf. Die Einkleidung
des lyrischen Kerns ist episch, im flotten Erzählton, die Wendung
zu Hafis wieder sehr äußerlich angeflickt in der. Schlußstrophe:
Und so wollen wir beständig
Wettzueifern mit Hafisen,
Uns der Gegenwart erfreuen,
Das Vergangne mitgenießen.
Schwerlich völlig gleichzeitig mit den ersten drei Strophen, die höchst
handfeste Gegenwart auf eine shakespearische Metapher, Ophelias
Wort von der Bäckerstochter Eule, anspielend, humoristisch gestalten.
Die Schlußstrophe enthält aber den Keim zu dem am nächsten Morgen
in Eisenach gewachsenen Gedicht "Im Gegenwärtigen Vergangnes’
(W.S. 20), das, wenn uns auch die Reinschrift und somit der urkund-
liche Beweis für die Zugehörigkeit zum ältesten, schwarz numerierten
Divan fehlt, doch ohne allen Zweifel schon darin gestanden haben
muß. Man beachte hier: sei nun die Schlußstrophe dem Erfurter
Gedicht erst nach dem Eisenacher Morgengedicht angehängt worden
oder schon vorher, also noch am Tage der Konzeption, jedenfalls
leitet von einem zum andern Gedicht ein eyklischer Faden, sie
sind mit einander vom Dichter ganz kurze Zeit nach ihrer Entstehung
in eine geistige, künstlerische Verbindung gebracht worden.
Vor diese drei Gedichte (Nr. ıı. 12. 13) nun hat Goethe gegen
die Chronologie bereits Ende des Jahres 1814, als er seine Sammlung
numerierte, zwei Lieder vom folgenden Tage gestellt. Sie finden
sich in der Reinschrift auf der Vorder- und Rückseite eines Blattes.
Das eine: “Nr. 9. Vision’, das später noch vor dem Druck aus der
Sammlung ausgeschieden und im 3. Bande der Gedichte (Abteilung
"Lyrisches’) mit dem Titel Der neue Copernicus’ veröffentlicht wurde
(W. 3, 55), beginnt:
Art’ges Häuschen hab’ ich klein,
Und darin verstecket
Bin ich vor der Sonne Schein
Gar bequem bedecket.
878 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 19. Mai 1904.
Es ist der große Reisewagen, dessen hausartige Behaglichkeit Goethe
auch in seinen Briefen öfter rühmt.' Der darin Sitzende glaubt zu
träumen: ihm ist, als tanzten an ihm Wälder und Felder und Berge
vorbei, und er erwartet das Geschrei herbeieilender Zwerge. Doch
Wenn ich’s recht betrachten will
Und es ernst gewahre,
Steht vielleicht das alles still,
Und ich selber fahre.
Kein Zweifel kann bestehen, warum dieses Lied den drei anderen
von Goethe vorangesetzt wurde: es liefert einen kommentierenden Pro-
log zu den folgenden poetisch gefaßten Reiseerlebnissen; es erzählt
uns, daß der Dichter im Wagen gemächlich dahinfährt, einer schönen
frohen Zeit entgegen, mit geschwellten Erwartungen. Es erzählt uns.
Es ist ein Stück epischer Einrahmung, die der Dichter selbst um
seine rein Iyrischen Konfessionen gelegt hat. Die alte Weltform für
die Fixierung lyrischer Gedichte, ‘der Kentaur’, ersteht wieder. Und
wenn hier die epische Umkleidung nicht als Prosa, sondern selbst
Iyrisch erscheint, in strophischer Form, so erinnert uns das daran,
daß auch die ‘gemischte Form’ die Neigung hat, die Strophe oder die
Versform auch auf den epischen Prosarahmen auszudehnen und daß die
Epik in fortlaufenden gleichen Versen wahrscheinlich aus dieser Über-
tragung hervorgegangen ist. Und es lehrt uns diese Beobachtung
noch etwas weit Wichtigeres: Lyrik und Epik sind relative Begriffe.
Ein Gedicht in epischer Form kann seinem künstlerischen Sinn nach
reine Lyrik, reines persönliches Bekenntnis des Augenblicks sein. Ein
Beispiel das Kürenberglied: “Ich zöch mir einen valken'. Umgekehrt
kann ein Gedicht von Iyrischer Form im Zusammenhang mit andern
eine epische Rolle übernehmen, sich künstlerisch in Tatsachenbericht,
in einen scenarischen Wink umsetzen oder einen solchen vertreten.
Das andere, gegen die Chronologie vorangestellte Gedicht vom
26. Juli 1814: ‘Nr. ı0. Liebe und Krieg’ (später "Zwiespalt” im Buch
des Sängers, W. S. 19) hat gleichfalls einführenden Charakter. Es
malt das Entsetzen über den gleichzeitigen Klang der Flöte Cupidos
und der Trommel des Mavors und ist durchaus eine Allegorie. Die
Zeit, in der wir leben — das will es sagen — zerreißt mich durch
ihr ewiges Kriegsgetöse. Wie soll man den Musen leben, wo die
Durehzüge von Truppen, die blutigen Schlachten, Siege und Nieder-
lagen nie aufhören? Das soll die folgenden Gedichte in ihrer geteilten,
ı 2. B. an Christiane gleichzeitig, Reisebericht vom 28. Juli 1814, Weimar. Aus-
gabe Briefe 25, S.ı: "Zuförderst also muß ich die charmante Person Loben, welche
mich das Fahrhäuschen zu betreten bewogen, bey der großen Hitze, dem Staub
und dergleichen wäre ich sonst vergangen.’
Burvacn: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. 879
wechselnden Stimmung begreiflich machen: auch sie sind zerrissen,
voller Unruhe und Unzufriedenheit. Hafis’ Name wird nicht genannt.
Aber das zu ‘Elemente’ angeführte ı3. Ghasel des Buches Schin hat
Goethe durch das Zeitgemäße und Analogische eines Gedankens die
Anregung gegeben:
... Wer könnte sicher
Bleiben vor des Himmels Raubsucht,
Wenn dort Sohre [Venus] Laute schlaget
Und Merih [Mars] die Waffen traget.
Hammer paraphrasiert in der Anmerkung: "Wie ists möglich, hienieden
ruhig zu seyn, wenn Venus beständig mit ihrer Laute lärmet und
Mars mit seinen Waffen klirret, Liebe und Krieg das Leben der Sterb-
lichen unter sich theilen.” Möglich, aber keineswegs notwendig, daß
ein bestimmter einzelner Reiseeindruck noch dabei im Spiel war.
‘Nr. 18. Locken und Zöpfe’ (später im Buch der Liebe "Gewarnt‘,
W.S. 53), ohne Datum: Vergleich mit Hafıs in Liebesdingen, beiden
sind die braunen Locken gefährlich; Schelte über die kettenartigen
schweren neumodischen hoch aufgesteckten geflochtenen Zöpfe, die den
Liebenden abschrecken.
Schwere Ketten fürchtet.
Rennt in leichte Schlingen.
Es folgen ‘Nr. ı9. Rath’ (‘Höre den Rath, den die Leier tönt‘,
später ohne Titel im Buch der Betrachtungen, W. S.67) ‘Nr. 20.
Weltlauf” (dann umgestellt und als 22 beziffert, später Buch des Un-
muts ohne Titel, W. S. 100), ‘Nr. 23. Geschärftes Urteil’ (‘So lang man
nüchtern ist‘, später ohne Titel im Schenkenbuch, W. S. 205), ‘Nr. 24.
Dichten’ (später ’Derb und Tüchtig’ im Buch des Sängers, W.S. 24):
sie sind alle am selben Tage (26. Juli 1814) entstanden und tragen des-
halb deutlich die Einheit der Stimmung zur Schau. Der Dichter denkt
heiter und duldsam über den Weltlauf: man soll einander in seiner
Eigenart leben lassen. Die Rigoristen und Sittlichkeitspfaffen werden
abgewiesen. Im Hintergrund steht Hafıs als Gesinnungsgenosse, als ana-
kreontischer Freund des Weins, des heitern und weisen Lebensgenusses.
Und der Wein, der treue Mann,
Der entzweit am Ende.
Hat doch über solches Zeug
Hafis auch gesprochen ...
... Wie man getrunken hat
Weiß man das Rechte ..
Wenn man nicht trinken kann
Soll man nicht lieben ...
Wenn man nicht lieben kann
Soll man nicht trinken.
850 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 19. Mai 1904.
Dichten ist ein Übermuth
Niemand schelte mich. ..
Mönchlein ohne Kapp’ und Kutt’
Schwatz’ nicht auf mich ein! ..
Wenn des Dichters Mühle geht,
Halte sie nicht ein!
Deun wer einmal uns versteht,
Wird uns auch verzeihn.
Aber noch am selben Tage wird die übermütige Stimmung un
freundlicher. ‘Nr. 26. Selbstgefühl’ (später im Buch des Unmuts ohne
Titel. W. S. 97) zürnt über Selbstsucht und UÜberhebung der Gleich-
stehenden, der verschiedenen Generationen, der Völker gegeneinander.
Der Anfang klingt sehr harmlos:
Keinen Reimer wird man finden,
Der sich nicht den besten hielte.
Aber bald greift die Betrachtung in Tiefstes:
Und wo sich die Völker trennen
Gegenseitig im Verachten,
Keins von beiden wird bekennen.
Daß sie nach demselben trachten.
Eine politische Grundüberzeugung Goethes, die ihn fernhielt von allem
Teutonismus der Zeitgenossen.
Am nächsten Tag (27. Juli) Aufbruch in der Frühe von Fulda.
Das Tagebuch meldet hinter Schlüchtern: ‘Des alten Phasanentraums
gedacht’. Aber das Freudige dieser Erinnrung an die italienische
Reise hielt für den Tag nicht vor oder sie war vielleicht keine un-
getrübt freudige, sie verband sich mit dem vordrängenden Bewußt-
sein der vielfachen Behindrung und Lähmung durch übelwollende
oder kurzsichtige Kritik. Jedenfalls, ein schlimmer Ausbruch erfolgt:
“Nr. 27. Landsleute (später im Buch des Unmuts ohne Titel "Als wenn
das auf Namen ruhte, W.S. 102).
... soll ich hassen,
Auch dazu bin ich erbötig,
Hasse gleich in ganzen Massen.
Man erinnre sich des Programms in Nr.7 (Elemente‘):
Dann zuletzt ist unerläßlich
Daß der Dichter manches hasse.
Die Philisterkritik, die Phrasenhaftigkeit und oberflächliche Hast der
Tagespresse bringt ihn in Harnisch.
Und das Morgenblatt es kann sich
Mit Freymüthigem vereinen,
Und die Elegante dann sich
Allenfalls die beste scheinen.
Und den Schluß macht ein resigniertes “Also war es und wird bleiben.
Burvacn: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. tofoy
Die nächsten Tage leiten den Dichter auf den alten geliebten
Boden der Heimat. Er gelangt nach Hanau und von da Abends nach
Frankfurt. Das Tagebuch berichtet: “Herrliche Abendbeleuchtung der
Dörfer und Villen des linken Ufers’ [des Mains]. Die lang entbehrte
rheinische Sommerglut umfängt ihn. Das Tagebuch erzählt: “Ein Ge-
witter thürmt sich auf. Um sechse [nachmittags] von Frankfurt, wenig
Regen. Um eilf in Wiesbaden. An diesem ‘29. Juli 1814 unterwegs
in der Nacht’ dichtete er ‘Nr. 28. Staub (später “Allleben’ im "Buch
des Sängers’, W.S. 26). Eine wunderbare symbolische, naturphilo-
sophische Improvisation über den vom Gewitter gelöschten Staub.
Lehrreich für das Zusammenwachsen momentaner, rein zufälliger Sinnes-
eindrücke mit dem poetischen Bilde des literarischen Musters. Das
Gedicht gibt die zufälligen Assoziationen der durcheinander spielenden
Gedanken des nächtlich Reisenden getreulich wieder. Es ist heiß und
staubig und der als Vorbote des kommenden Gewitters sich erhebende
Wind macht das sehr bemerklich. Dies der erste, höchst triviale
Anstoß. Da schießt dem von Staubwolken Umhüllten wie ein scherz-
hafter Trost durch den Kopf: ‘welche wichtige Rolle spielt doch der
Staub in des Hafis Liebespoesie! Da ist er ja ein unentbehrliches
Requisit des erotischen Panegyrikus: der Staub auf ihrer Schwelle
ist dem Teppich vorzuziehen des Sultans, Staubwolken von der Lieb-
sten Pforte vorübergeweht sind Hafis lieber als Moschus und Rosenöl'.
Dieser literarischen Vorstellungsassoziation gesellt sich eine andere,
wieder persönliche: eine Erinnrung an ähnliche oder noch stärkere
früher erlebte Staubwolken, an Italien, das Land des fußhohen Staubes.
Und die Pforte der Liebsten des Hafis, von deren Schwelle die Staub-
wolken vorüberwehen, ruft ein zweites Bild wehmütiger persönlicher
Erinnerung hervor:
Doch schon längst, daß liebe Pforten
Mir auf ihren Angeln schwiegen.
Aber dann setzt mächtig die Wirkung des Augenblicks wieder ein,
alle Erinnerungen und literarischen Vergleiche mit dem Donner des
Gewitters zertrümmernd, allen Staub drückender Vergangenheit ab-
spülend. Und das Gedicht atmet tief auf, gekühlt und erquickt, und
wird ein mystischer Hymnus, ein sehnsuchtsvolles Gleichnis der zeu-
genden Naturkraft, die in Staub und Feuchtung, also in der Ver-
einigung polarer Elemente, in der auf die Diastole folgenden Systole
grünendes Leben hervorbringt. Ein poetisches Fragment aus Goethes
naturphilosophischer Meteorologie.
Diese natursymbolische Mystik hält Goethe fest.
! Vgl. meine Anmerkung zu diesem Gedicht in Jub.
Sitzungsberichte 1904. 72
8832 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 19. Mai 1904.
Wenige Tage danach, am 31. Juli 1814, entsteht in Wiesbaden
“Nr. 29. Selbstopfer” (später 'Selige Sehnsucht‘, Buch des Sängers W.
S. 28). Schon die Nebenschrift "Buch Sad Gasele ı° weist auf Hafis
als Vorbild (Hammer 2, 90f.). Vgl. W. S. 372. Jub. zu S. 16. Es ist
ein Gleichnis herakliteisch-platonisch -sufischen Ursprungs in Goethes
naturphilosophischem Sinn: alles echte, gesunde Leben ein ewiges
‘Stirb und Werde‘, eine fortgesetzte Metamorphose.
Etwa einen Monat später fällt das erste Wort über einen Cyklus.
Am 29. August an Riemer: »Die Gedichte an Hafis sind auf 30
angewachsen und machen ein kleines Ganze, das sich wohl aus-
dehnen kann, wenn der Humor wieder rege wird.« Also: "Gedichte
an Hafis’ heißt der Cyklus und er ist nicht fertig, sondern im Kristalli-
sationsprozeß begriffen, der von der guten Stimmung abhängt. Der
feste Mittelpunkt, an den aller Zuwachs anschießen kann, ist die
Beziehung auf Hafıs.
Die Ausdehnung des "kleinen Ganzen’ geht zunächst vom Orphi-
schen ablenkend wieder in der Bahn des geselligen Liedes weiter.
Man glaubt die Nähe Zelters zu spüren, mit dem Goethe in Wies-
baden zusammen lebte. “Nr. 31. Unverwehrtes’ (später "Unvermeidlich’
Buch der Liebe, W. S. 61) und ‘Nr. 32 Liebehen’ (später "Geheimes’
Buch der Liebe, W. S. 62), beide aus Wiesbaden vom gleichen Tage
(31. August 1814) datiert. Die ersten erotischen Klänge des Divans.
Wer kann gebieten den Vögeln,
Still zu sein auf der Flur?
Wer will mir wehren zu singen
Nach Lust zum Himmel hinan,
Den Wolken zu vertrauen,
Wie lieb sie mirs angethan?
Die beiden Anfangszeilen, wörtlich aus Hafıs, geben das Motiv des
Ganzen. Das andere Gedicht spinnt aus zwei Versen des Hafıs (“Über
meines Liebehens Aeugeln Staunen alle Unerfahrne‘) ein zierlich inniges
Liebesliedehen heraus, dem Schuberts schöne Komposition allgemeine
Verbreitung gegeben hat.
“Nr. 34. Herrenrecht und Dienstpilicht (später ohne Titel im Buch
der Betrachtungen, W.S. 86), ohne Datum. Beziehung auf Hafıs fehlt.
Es ist ein ganz persönliches Gelegenheitsgedicht.
Thut und leidet wie sichs findet,
Bleibt nur immer guter Dinge.
Das wird den Dienern hoher Herren und den Hohen Gott gegenüber
eingeschärft: es ist echter Islam, d.h. Gottergebenheit. Die einfache
Form, vier vierfüßige Trochäen überschlagend gereimt, erstrebt in-
sofern bereits orientalischen Reimgleichklang, als die zweite und dritte
Burvacn: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. 883
Strophe denselben Reimausgang “Geringe: guter Dinge an korrespon-
dierender Stelle wiederholen. Dies der erste bescheidene Ansatz zur
Nachahmung orientalischer Verstechnik. Aber Anlaß und Bedeutung
des Gediehts haben mit Hafis und dem Orient nicht das mindeste zu
tun. Zum 23. August hatte der zurückkehrende Herzog Karl August
Goethe nach Mainz kommen lassen und beide waren dann während
der nächsten Tage in Wiesbaden zusammen gewesen, bis der Herzog
am 26. August endlich nach Hause reiste. Es war das erste Wieder-
sehen nach dem glorreichen Krieg. Karl August kam von den Sieges-
festen in England und er kam erfüllt von der wie eine Offenbarung
wirkenden Sehönheit der Londoner Elgin Marbles, als ein Bote des
neuerhöhten Rulıms antiker Kunstherrlichkeit. Wie viel hatten die
beiden sich damals zu sagen. Die Gefahr für das Herzogtum war
beseitigt, der Wiener Kongreß stand bevor, eine Erhebung des Her-
zogs zum Lohn für seine Mitwirkung im Kriege der Befreiung in Aus-
sicht. Das Wiedersehen an einem solchen Wendepunkt mußte Goethe
zu einer poetischen Rückschau auf sein einzigartiges Verhältnis drängen.
So entstand als sein Begrüßungs- und Festgedicht diese Huldigung,
die aus dem persönlichen Erleben langer Jahre ein Bild allgemeiner
Pilicht mit bewegter und bewegender Symbolik gestaltet. Ich ver-
mute, schon am 26. August, gleich nach der Abreise, wurde das Ge-
dicht einem im Tagebuch notierten Schreiben an Serenissimus beigelegt.
Als Nr. 35. 36. 37. 38 präsentieren sich vier Schenkengedichte.
Alle datiert "October 1814: Erträgnisse des Heidelberger Aufent-
halts (24. September bis 9. Oktober 1814). Die Gestalt des jungen
Schenken stammt aus Hafıs, der in seinem Divan ein eigenes Schenken-
buch hat (Sakiname). Das erste zeigt den Schenken eifersüchtig auf
die braunlockige Geliebte des Herrn (Du mit deinen braunen Locken ,
W.S. 209); das zweite, ein Dialog, den Schenken besorgt um des
Dichters Katzenjammer (“Welch ein Zustand! Herr so späte‘, W.S.213),
das dritte nach einem Kuß des Herrn begierig (‘Nennen dich den
großen Dichter‘, W.S. 216); das vierte den Schenken von der Mahıl-
zeit ein Schwänchen (Geschenk von Näschereien) für den Schwan auf-
hebend (Heute hast du gut gegessen, W.S. 215). Durch Boisserce
(1, 264) wissen wir, daß hier der kleine Sohn des Heidelberger Pro-
fessors Paulus mit seinem Schwänchen von Pfirsichen, Kirschwasser und
Mandeln Modell gestanden hat. An diesen schreibt Goethe im nächsten
Jahr (17. März) einen anmutig belehrenden Brief, der sein Verhältnis
zu dem Knaben gut beleuchtet, Ich habe dir, mein lieber kleiner
Freund, vor einiger Zeit bemahlte und bereimte Blätter! geschickt,
! Das waren doch wohl einige dieser Schenkenlieder mit goldener und farbiger
Ornamentik. eingerahmt nach persischer Art, wie Goethe das damals übte.
725
384 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 19. Mai 1904.
um dir dadurch vorläufig anzudeuten, daß ich oft und gern deiner
gedenke. Mit dem Gegenwärtigen aber erhältst du eine Sendung [eine
Sammlung von Mineralien], welche dir angenehmer und nützlicher seyn
sol’ Also auch hier wieder ein Schwänchen.
Die nächsten erhaltenen Nummern bringen einen Umschwung.
Nr. 41 (Wer wird von der Welt verlangen’, später im Buch des Un-
muts, W.S.107) und "42. Wandrers Gemüthsruhe’ (später im Buch des
Unmuts, W.S.106): das erste ohne Datum, das zweite datiert: “Wei-
mar, den 19. November 1814. Wir sehen den Dichter wieder zu Hause
und wieder verbittert. Es ist Fauststimmung.
Wer wird von der Welt verlangen,
Was sie selbst vermißt und träumet?
... Und was du vor Jahren brauchtest,
Möchte sie dir heute geben.
Übers Niederträchtige
Niemand sich beklage;
Denn es ist das Mächtige,
Was man dir auch sage.
Die letzte Strophe des zweiten Gedichts weicht in der Reimart
ab. In den ersten beiden Strophen V.ı.3 “Niederträchtige’: "Mächtige’,
“waltet es’: "schaltet es’. Hier dagegen: ‘solche Noth’: “troeknen Koth'.
Da nun diese dritte Strophe aus der Übersetzung des “Buch des Kabus’
von Diez und einer dagegen gerichteten Kritik Hammers stammt, wor-
auf Goethe nach dem Zeugnis seines Tagebuchs erst am ı1. Januar
aufmerksam wurde', so kann diese dritte Strophe nicht vor dieser Zeit
entstanden sein, also noch nicht dem ältesten Divan angehört haben.
Sie wurde hinzugedichtet, um den eyklischen Faden straffer zu knüpfen.
Die Selbstanrede "Wandrer’ wirkt wieder gleichsam als epische Direk-
tive, indem sie die poetische Einkleidung in die Reise betont. Da-
mals wird wohl auch erst die Überschrift hinzugefügt sein.
Nach längerer Pause setzt die Produktion erst wieder ein während
eines Aufenthalts in Jena. Es ist als ob die Entfernung von Hause
dieser Lyrik des Reisenden neue Schwingen gäbe. “Nr.43. Mystische
Zunge’ (später "Offenbar Geheimniß’ im Buch Hafis, W.S.4ı), datiert:
Jena den 10. December 1814, will Hafis nicht als “mystische Zunge’
gelten lassen und grollt gegen die Obskuranten, die ihm diesen Namen
aufgehängt hätten, die “Wortgelehrten’, die “ihren unlautern Wein’
in seinem Namen verschenken wollen.
Du aber bist mystisch rein,
Weil sie dich nicht verstehn,
Der du, ohne fromm zu sein, selig bist!
Das wollen sie dir nicht zugestehn.
' Siehe meine Anmerkung zu diesem Gedicht in der Jubiläums - Ausgabe.
|
Burvacn: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. Ss5
Olıne fromm zu sein, selig! Das wollte auch Goethe sein. Und für
sein Dichten plädiert er hier gegen zelotische Kritiker.
Als folgende Nummer schließt sich unmittelbar an: "44. Wider-
ruf” (später “Wink” im Buch Hafis, W. S.42). Der Dichter straft sein
letztes Gedicht selbst Lügen:
Daß ein Wort nicht einfach gelte,
Das müßte sich wohl von selbst verstelhn.
Das Wort ist ein Fächer.
Hinter diesem Fächer blitze wie ein schönes Augenpaar der zweite,
der symbolische Sinn hervor. Eine auffallende Meinungsänderung!
Wann fand sie statt? Die nächste Nummer (45) ist vom folgenden
Tage (Jena d.ı1.December 1814) datiert. Also, wie es scheint, sofort?
Die Sache liegt doch anders. Das sich anschließende Gedicht
‘Der Winter und Timur' (später im Buch des Timur, W. S. 137) ist ein
aus der arabischen Chronik des Ibn Arabschah nach der lateinischen
Version von Jones übersetztes Fragment. Die grausige Drohrede des
winterlichen Dämons, (ie dem Welteroberer den Untergang auf seinem
Zug gegen China ankündigt. Jener “Widerruf , der rückwärts auf die
Frage nach der symbolischen Auslegung der Gedichte des Hafis deutet
und die im vorhergehenden Gedicht gegebene Antwort berichtigt, deutet
also zugleich auf das folgende. Das Gedicht ‘Der Winter und Timur’
tritt unverkennbar als Beleg auf für die neugewonnene Ansicht, daß
zwischen den Fächer-Stäben des Wortsinns eines Gedichts ein zweiter
tieferer Sinn hindurchbliekt: in diesem Fall natürlich der russische
Winterfeldzug Napoleons und seine verhängnisvolle Wirkung. Es hat
neuerdings ein scharfsinniger schweizerischer Schriftsteller in einer von
der Tagespresse wie üblich weit über Gebühr belobten Schrift das
Problem "Goethe und Napoleon’ behandelt, unter allerlei versteckten
hämischen Peitschenhieben gegen Goethes politischen Charakter und
darin die wunderliche Behauptung aufgestellt, Goethe habe seine Nach-
diehtung jener arabischen Chronikstelle gar nicht gegen Napoleon ge-
richtet. Für jeden Kenner bedarf das keiner Widerlegung: Goethes
Aussagen im Gespräch mit Boisseree, die Worte der Ankündigung im
Morgenblatt 1816', die Anfangsstrophe des Gedichts ‘Hegire’ sprechen
deutlich genug. Immerhin ist's sehr willkommen, daß nun auch die
nachträgliche Einschaltung des undatierten “Widerrufs’ die symbolische
Absicht, die von Goethe gewollte Beziehung auf Napoleon bestätigt.
Nachträgliche Einschaltung: denn unmöglich kann dies Zufall sein,
daß Goethe am 10. Dezember mit Leidenschaft die mystische Inter-
' “Timurname, Buch des Timur fasst ungeheure Weltbegebenheiten wie in einem
Spiegel auf, worin wir, zu Trost und Untrost, den Wiederschein eigener
Schicksale erblicken.'
856 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 19. Mai 1904.
pretation des Hafis bekämpft, dann noch am selben oder nächsten
Tage widerruft und nun gerade auch auf der Stelle ein so schlagendes
Beispiel findet für seine neue gegenteilige Ansicht vom Doppelsinn des
Worts. Vielmehr hat ihn der zufällige Fund jener prachtvollen Apo-
strophe des Winters in dem Buch von Jones gepackt durch den er-
staunlichen Parallelismus mit der Napoleonischen Katastrophe in Ruß-
land und ihn zur dichterischen Nachbildung angeregt. Dann erst sah
er sich gleichsam selbst durch die vollzogene Tatsache eines Besseren
belehrt über die Frage nach dem symbolischen Sinn der Dichtung und
verfaßte nun — ob gleich nachher oder erst bei Numerierung des
ältesten Divan (Ende 1314) bleibt dahin gestellt und ist auch ohne
Belang — jene Palinodie. Sie ist also nicht durch eine selbständige
innere Regung, auch nicht durch fremdes literarisches Vorbild her-
vorgerufen worden, sondern sie entsprang dem Zusammenstoßen der
beiden mit einander unvereinbaren Gedichte vom Io. und 11. Dezember
im Cyklus. Zwischen ihnen mußte eine Brücke geschaffen werden.
Wiederum also haben wir hier ein Stück einrahmender, wenn man
will kommentierender oder epischer Lyrik, die dem Leser hinweghilft
über einen Gegensatz und ihm berichtet, wie in den Gedanken des
Dichters dieser Gegensatz sich ausgleicht.
Das Gedicht "Winter und Timur’ bedeutet für die Geschichte des
Divans einen bedeutungsvollen Schritt vorwärts. Neben Hafıs tritt hier
zum erstenmal ein ganz anders geartetes Stück orientalischer Dichtung:
volkstümlich realistische historische Epik. Und Goethes glänzende
Nachdichtung führt ihn auf den Weg zum neuen Iyrischen Stil
seines Divans. Es ist, als ob die Kraft der Jugendpoesie in ihm aufs
neue hervorbricht. Der Geniestil lebt wieder auf, gemeistert aber
durch einen gereiften universal geschulten Kunstverstand. Wegge-
blasen die flüssige Anakreontik des Hafisierenden geselligen Liedes aus
den ersten Anfängen des Divans mit ihren lässigen Reimen, ihrer glatten
Singbarkeit. Der Stil des Morlakischen Volksliedes "von der edlen
Frauen des Asan Aga’ scheint sich zu erneuen. Und doch ist es
ein anderer Stil. Wuchtiger, gedrängter, wortsparender, schärfer
in der Versinnlichung. Auf dem Asyndeton und steigernder Wieder-
holung baut er sich auf. Es ist eine treue, wörtliche Übersetzung
der lateinischen Prosaversion in viersilbigen reimlosen (spanischen)
Trochäen, dem romantischen, dem Vers der Cidromanzen, und doch
ist durch die geringfügigen Veränderungen und Verschiebungen der
sprachlichen Ausdrucksmittel stilistisch ein völlig Neues geworden:
der neue episierte Iyrische Stil des Divans, der Stil, in dem symbo-
lische drastische Epik den lyrischen Kern einkapselt, der Stil der
Verjüngung, verjüngter Reife.
Burvacn: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. 887
Das Gedicht ist aber ferner eine ungeheure Erweiterung des in-
haltlichen Gesichtsfeldes. Es ist ein Seitenstück zum Epimenides:
politische, nationale Dichtung großen Stils, die Einlösung der Forde-
rungen der Kaiserin Maria Ludovika von Österreich und des anonymen
Rezensenten der neuen Ausgabe von Hermann und Dorothea." Und
es wird sich zeigen: diese politischen Gedanken arbeiteten in Goethe
weiter, nach künstlerischer Gestaltung drängend. Der Divan sollte
auch ein “Weltenspiegel' werden. Goethe suchte und fand den dafür
gemäßen Stil: den Stil geschichtlicher volksmäßiger Epik, den er här-
tete im Feuer seiner eigenen persönlichen Lyrik. Und er fand auch
wenige Tage nachher den Meister, dem er dabei nachstreben, dem er
den großen Ton nationaler, kunstmäßig veredelter Epik und einer
mächtigen selbstbewußten Individualität ablauschen wollte.
Immer noch in Jena wachsen am 15. Dezember zwei neue be-
trachtende Gedichte hinzu: “Nr. 47 Fünf Dinge unfruchtbar' (später
‘Fünf Dinge’ im Buch der Betrachtungen, W. S.63), aus dem Pend-
nämeh des Ferideddin Attar, und ‘Nr. 48. Gänsespiel’ (später ohne
Titel im Buch der Betrachtungen, W. S. 82). Es sind harte und
schwere Welterkenntnisse, ohne jede Spur’ des Goethe so gern nach-
gesagten Optimismus.
Aber schon der Abend dieses Tags und der folgende Tag (16. De-
zember 1814) beweisen, daß diesem Kenner der Abgründe des mensch-
lichen Lebens zum Trost und zur Rettung niemals lange der Auf-
schwung zum Göttlichen versagt blieb: er schuf ein Gegenstück zu
den pessimistischen “Fünf Dingen’: ‘Fünf andere’ (Buch der Betrach-
tungen W. S. 69), darunter neben den unfruchtbaren "Müßiggang',
Harren und Dulden’ die kräftig und mutig positiven "Thätigkeit', ‘Nicht
lange besinnen', ‘Sich wehren‘, und er schuf‘ das später ‘Sommernacht'
betitelte herrliche Gedicht” (Nr. 49, im Schenkenbuch, W.S. 220).
Es ist völlig ‘commandirte Poesie‘. Goethe hat sie nicht ge-
staltet in einer rheinischen Juninacht unter blühenden Rosen und Naclhı-
tigallensang, wie man zunächst gern annähme.” Tief im Winter viel-
mehr, im Thüringerland, aber Sommer und Sonne im Herzen. Durch-
aus also Reflexpoesie, aber als solche höchster Bewunderung würdig.
Und hier erscheint bereits der neue Divanstil in voller Ausprägung:
! Vgl. meine Anmerkung zu “Der Winter und Timur’ in der Jubiläums - Ausgabe.
® In der Reinschrift datiert “Jena den 16. December 1814', aber nach der Tage-
buchnotiz zum 15. Dezember “Sommernacht” schon am Abend vorher konzipiert.
® Höchstens die erste Strophe könnte, da sie auch einzeln in H ro überliefert
ist, selbständig schon vor dem 26. Juli 1814 konzipiert sein: s. W. zu 220 S. 435 und
S.475 Paralipomena Nr. ı3b, vgl. auch S. 342, die im Einklang mit von Loeper ge-
äußerte Vermutung, das ganze Gedicht sei schon Juni 1814 entstanden, muß ich fallen
lassen.
888 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 19. Mai 1904.
Reimstrophen, jedoch ohne Spur mehr des gemächlich fließenden ge-
selligen Liedes. Zusammengedrängte Fülle des Gefühls, gepreßte Kraft,
kühne starke Worte, nie gehörte zum Teil, fremdartige Reime, Er-
habenes, Naives, Süßigkeit und Scherzen durcheinandergemischt. Das
prachtvolle Zwiegespräch zwischen Dichter und Schenken zeigt die
Pädagogik des Dichters in lebendiger Ausübung, in ihrer Wirkung
auf den zutraulichen, liebend lernenden Schüler, den Schenken, in
einer dramatischen Scene, die in herrlicher Bewegung Dämmerung,
Nacht und Morgenrot der nordischen Sommernacht vorüberführt. Die
lustige Hereinziehung geistreicher antiker mythologischer Paralle-
len, die Verbindung so heterogener Namen wie Bulbul und Hesperus
zeigt, daß der Schauplatz im Norden’ gedacht ist. Der mit dem
Orient vertraute nordische Dichter kennt von seinen Reisen das Griechen-
volk, kennt natürlich die nördlicheren Länder und ihre kurzen Nächte.
Und doch überrascht ihn das Anhalten des abendlichen goldnen Schim-
mers im Westen. Der Knabe, als Perser unkundig der langen nor-
dischen Dämmerung, harrt vergeblich auf den Einbruch der vollen
Nacht, um früherer Unterweisung des geliebten Lehrers eingedenk,
ihm das Aufleuchten der Sterne anzukünden, daß er nach seiner Ge-
wohnheit das Droben schaue und das Loblied der Lichter des Firma-
ments vernehme:
Und das hellste will nur sagen:
Jetzo glänz’ ich meiner Stelle:
Wollte Gott euch mehr betagen,
Glänztet ihr wie ich so helle.
Denn vor Gott ist alles herrlich,
Eben weil er ist der Beste.
Wohl haben schon ältere Verse Goethes die stille Sprache der
Sternennacht zu singen gewußt, voll vernehmbar allein fühlenden, er-
fahrenen Seelen, in denen die Sternenliebe glüht: Mahomets Hymne,
das heilende, sühnende Elfenlied im Faust. Das sind Laute, die nie
vergehn: ewig und niemals ausgehört, wie die Sphärenmusik des alten
Glaubens. Aber die Klänge dieses Divangedichts sind noch farbiger,
noch jubilierender, berauschender: Garten-Sommerduft und Nach-
tigallensang tönt darin mit.’
Hat nur der wolkenlosere reine Himmel des sonnenreicheren
Jena die im gewohnten Geleise des vielgeschäftigen Weimarischen
! Nicht etwa in Griechenland, denn die astronomische Differenz der Sommer-
nacht ist zwischen diesem, das sich ungefähr vom 40. bis zum 36. nördlichen Breiten-
grad ausdehnt und Persien zwischen dem 25. und 40. Grad eine zu wenig beträchtliche.
®2 Auch das prosaische “Oder etwas auch dergleichen’ hat sein volles Recht im
Stil des Gedichts: der Knabe spricht zwar nicht im realistischen Tagesausdruck, aber
doch lässig.
Burvaca: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. ssU
Lebens so rasch wieder verdüsterte Stimmung Goethes aufgeklärt ?
Es war noch eine andere Macht dabei im Spiele.
Das Tagebuch meldet in seiner lakonischen Kürze zum 15. De-
zember ı815: 'Ferdousi Schahname. Abends für mich. "Sommer-
nacht.” Bis Verona Reise vorgelesen’ und zum 16. Dezember: "Per-
sisches Paradies. Bey Knebel: Persisches vorgezeigt.
Ich glaube mich nicht zu täuschen: wir treffen hier auf einen
prägnanten Punkt in Goethes Seelenzustand, auf eine folgenreiche
Wendung zugleich seiner poetischen Produktion. Es sind die Tage,
da in ihm der Plan eines geschlossenen Divancyklus eine reichere
Gestalt gewinnt. Am 14. Dezember hatte das Tagebuch berichtet:
Deutscher Divan’, war zum erstenmal das entscheidende Wort für die
künstlerische Abrundung und Zusammenfassung seiner neuen, durch
Hafis angeregten Lyrik gesprochen und der enggefaßte erste Titel
“Gedichte an Hafis’° aufgegeben. Nun, am 15. und 16. Dezember
wachsen ihm aus zwei starken Eindrücken neue Schwingen für die
Fortführung dieser poetischen Arbeit. Er hat das Manuskript seiner
italienischen Reise bis Verona abgeschlossen und kann es vorlesen.
Indem das Bild seiner damaligen Rettung aus unerträglichen äußeren
und inneren Verhältnissen wieder voll und lebendig wie eine außer
ihm stehende objektive Wirklichkeit auf ihn eindringt, schöpft er
Mut, Vertrauen, Hoffnung, auch den Schrecken der gegenwärtigen
Zeit, die alle geistigen und bürgerlichen Güter zu zertrümmern droht,
entrinnen zu können. Er hat das Gefühl: es gibt eine mögliche Be-
freiung wie damals durch Flucht, durch Flucht in die poetische Welt
des Orients, die das Alte, Ursprüngliche, Ewige der Menschheit dar-
stellt und bewahrt. Es ist als hörten wir ihn schon in jenen Tagen
leise summen ein tröstendes: “Flüchte du in reinen Osten’, als leuchtete
in ihm schon damals der verheißungsvolle Titel des künftigen Pro-
logs: “Hegire'. Und diesem kräftigenden Eindruck der eigenen litera-
rischen Darstellung seiner ersten Flucht gesellt sich ein anderer, der
von außen herantritt.
Der große nationale Dichter Persiens, der Schöpfer des iranischen
Heldenepos, der mitten in der arabischen, islamitischen Kultur die
reichen alten Überlieferungen angestammter, das heißt arischer
mythischer und geschichtlicher Sage den Persern zusammenfassend er-
neuert und sie mit seiner tiefen und gewaltigen Persönlichkeit durch-
dringt, er trat damals zuerst wirkend in Goethes Gesichtskreis. Hier
war mehr als Hafıs, mehr als heiße Anakreontik und glühende Mystik
und berauschende Fülle und Pracht empfindungstrunkener, künstlich
verschlungener Worte. Hier traf ihn der Atem uralter Vorzeit, wirk-
lich ein Hauch aus den ursprünglichsten einfachsten Zuständen der
s90 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 19. Mai 1904.
lhieroischen Zeit des Orients. Hier erhob sich vor seinen staunenden
Augen die überragende Genialität eines Weltdichters, der in der Ge-
walt und Größe seines Schaffens etwas Gigantisches hat. Goetlie
war geblendet, hingerissen. Der Eindruck ließ ihn für Monate nicht
los. Und nach seiner Art rang er mit der übermächtigen künstle-
rischen Erscheinung. Er wetteiferte mit ihr wie mit Hafıs. Hier
fand er das Vorbild für jenen Teil seines Programms des begonnenen
Divaneyklus, den die Verse des oben besprochenen Gedichts "Elemente’
so ankündigten:
Waffenklang wird auch gefodert,
Daß auch die Drommete schmettre;
Daß, wenn Glück zu Flammen lodert,
Sich im Sieg der Held vergöttre.
Hier stand ein doppelter Held vor ihm, ein Held als Mensch und
als Dichter und ein unvergleichlicher Künder tausendfacher Helden-
taten und gab ihm, gab ihm alles was er brauchte.
Bei Hafis ergriff ihn die Ähnlichkeit des Zeitalters mit dem
seinigen, wo bei Zerstörung aller Sicherheit des bürgerlichen Daseins
der Mensch sich auf flüchtigen, gleichsam im Vorübergehen ge-
haschten Genuß des Lebens beschränkt‘. Firdusi sollte ihm nun den
Stoff und den Stil liefern, diese Zerstörung selbst als geschichtlich-
politisches Ereignis im Divan west-östlich abzuspiegeln.
Wie bei Hafıs, hat auch bei Firdusi der Sinn des Namens und
das Verhältnis der Dichtung zu den Geboten des religiösen Gesetzes,
ihre Anfechtung durch strenggläubige kirchliche Zeloten Goethe durch
die Kraft der Analogie mit eigenster Lebenserfahrung zunächst am
tiefsten erregt und poetisch befruchtet.
“Der Gärtnerssohn’ Abul Kasim Mansur ist uns gleich Hafis be-
kannt nur unter seinem ehrenden Beinamen: Firdusi, das heißt “der
Paradiesische’. Wie man das verstand, erläutert folgende Überlieferung.
Als er in seiner Vaterstadt Tus gestorben und man ihn dort in einem
Garten begrub, verweigerte ihm der höchste Scheich von Tus aus
religiösen Bedenken die üblichen Zeremonien und Gebete, weil er die
Anhänger der alten persischen Religion, die Feueranbeter, die Parsen,
" Noten und Abhandlungen Abschnitt “Warnung” W.7, S.109, Zeile 20—23.
Aus dieser Vorstellung dichtete er auch das erst von mir aus dem Nachlaß (W. 6,
S. 275) publizierte, echt west-östliche Gedicht, das vielleicht einmal als Prolog oder
Motto gedacht war:
So der Westen wie der Osten
Geben Reines dir zu kosten.
Laß die Grillen, laß die Schale,
Setze dich zum großen Mahle:
Mögst auch im Vorübergehn
Diese Schüssel nicht verschmähn.
Bl
BirvacH: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. sy]
verherrlicht habe. Aber in der nächsten Nacht träumte ihm, er schaue
den Verketzerten im Paradiese, umhüllt von einem grünen Gewande,
eine Krone von Smaragden auf dem Haupte. Der Paradieseswächter
aber gibt als Grund, warum er den als Irrgläubigen erst Zurück-
gewiesenen doch eingelassen habe, an: “Zur Belohnung für die Verse,
die er zum Lobe Gottes gedichtet:
Das Höchste in der Welt sowie das Tiefste bist du:
Ich weiß nicht, was du bist, doch was ist, das bist du.'!
Erwacht begab sich der Scheich eilends an das Grab des Firdusi und
erwies ihm die tags zuvor versagten kirchlichen Ehren.
Wie tief Goethe hiervon erschüttert wurde, wie das in ihm lange
nachwirkte, tritt uns höchst überraschend, obzwar begreiflich, ent-
gegen. Er selbst fühlte sich mit Firdusi in gleicher Lage: gleich ihm
dureh Fürstengunst erhoben und gelegentlich auch durch Fürsten-
ungunst bedrängt, gleich ihm ein Künder der echten Gottesherrlich-
keit, aber verkannt und verketzert von geistlichen und nichtgeist-
lichen Pfaffen. Auch er glaubte das Anrecht zu haben auf das Paradies.
Und er wollte es in seinem Divan poetisch sich erkämpfen.
Ohne Frage dachte Goethe damals daran, dem ersten politisch-
geschichtlichen Gedicht über Timur in Zukunft verwandte andere
folgen zu lassen. Er studierte Firdusi, in allen ihm erreichbaren
damals vorliegenden Übersetzungen (von Jones, Champion, Hagemann,
Hammer, Ludolf, Wahl), die freilich fragmentarisch und poesielos,
nur einen kongenialen Dichter die geniale Größe des Schahname
fühlen ließen; er las Spezialschriften und Rezensionen in gelehrten
Zeitschriften (von Wallenbourg und Wahl); er stellte Stücke des
Schahname sich aus den Übersetzungen zusammen, stilisierte sie mit
feinstem Nachempfinden um” und trug daraus, Erläuterungen hinzu-
fügend, bei Hofe der Herzogin vor. Erhalten hat sich davon ein von
!‘So bei Hammer, Geschichte der schönen Redekünste Persiens. Wien 1818,
S. 53. Schack, Heldensagen des Firdusi, Band ı, Einleitung (Cottas Bibliothek der
Weltliteratur S. 44) übersetzt “doch was du bist, das bist du. Goethe schöpfte im
Dezember 1814 seine erste tiefergehende Kenntnis des Firdusi aus einer der älteren
literarischen Quellen, die Hammer a. a. O. S. 56 Anmerkung verzeichnet. Die sonst
für den Beinamen Firdusi überlieferten Herleitungen sind völlig albern und haben
auf Goethe, wenn er davon gewußt haben sollte, sicher nicht gewirkt.
?2 Die zuerst von mir mitgeteilte Umarbeitung der Übersetzung Ludolfs (W.
S. 463.) ist für die Entwieklung des neuen Iyrischen Stils Goethes von größter Be-
deutung. Über die Firdusi-Studien s. ebenda (die Tagebuchnotizen vom ı5. und
20. Dezember 1814, vorher S. 391 f. verzeichnet, sind dort versehentlich ausgelassen).
Wie die Erzählung von der Vernichtung Sohaks aus dem Schahname war auch das
persische Volkslied über den Untergang der Zend- Dynastie, das Goethe damals
(Tagebuch 23. Dezember) nach Waring stilisierte (ebenda S. 468f.), für den politischen
Teil des Divan bestimmt. r
892 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 19. Mai 1904.
mir zuerst bekannt gemachtes Stück, das bisher die verdiente Be-
achtung nicht gefunden hat. Und doch ist's nichts Geringeres als ein
Seitenstück zum “Winter und Timur’: der Sturz des Weltbeherrschers
und Tyrannen Sohak durch den vereinten Kampf der "Jünglinge und
Greise’, der ‘Bürger und Krieger’ unter Führung des neuen nationalen
Königs Feridun, der Kampf der Freiheitskriege in persischem Spiegel-
bild. Unter den dankbaren Zuhörerinnen war damals Charlotte von
Schiller. Das geschah Ende Dezember und im Januar und Februar
des nächsten Jahres. Jetzt, am 15. Dezember und während der nächsten
Tage, beschäftigt ihn der Paradiesesgedanke. Es bildet sich ein
neues poetisches Motiv des Divans, das längere Zeit lebt und fort-
wächst, auch auf den Schluß des Faust mit einwirkt, seine Voll-
endung aber erst nach Jahren (1520) in den vier herrlichen dialogi-
schen Nachschößlingen zum Buch des Paradieses gewinnt. Jeder ge-
denkt der unsterblichen Worte im Gedicht “Einlaß” an die Paradieses-
wächterin:
Nieht so vieles Federlesen !
Laß mich immer nur herein:
Denn ich bin ein Mensch gewesen
Und das heißt ein Kämpfer sein.
Mit diesem Motiv des durch Dichtung verdienten Paradieses verknüpfte
sich aber in jenen Dezembertagen auch schon der Vorsatz, das, was
ein Eiferer Firdusi mit Recht oder Unrecht vorgeworfen hatte, gleich
diesem selbst zu tun: den Glauben der alten Perser, den Lichtdienst
zu verherrlichen. Schon am 12. Dezember verzeichnete das Tagebuch
Studium des grundlegenden Werks über die persische Religion von
Thomas Hyde. Die Ausführung, das prachtvolle “Vermächtniß alt-
persischen Glaubens’, gedieh erst im März 1815, fällt also über die
Grenzen der Darstellung des ältesten Divans hinaus.
Zurückbliekend auf das Gedicht “‘Sommernacht' hören wir nun
in den tiefen Worten
Denn vor Gott ist alles herrlich,
Eben weil er ist der Beste
einen geheimen Ton aus Firdusi und der Legende von seiner Bestat-
tung leise mitklingen. Das Paradiesmotiv wirkte dann sogleich auf
die Divanarbeit der nächsten Wochen höchst fruchtbar ein.
Am Vortage des Weihnachtsabends beschwichtigt der Dichter,
nach Weimar in gehobener Stimmung zurückgekehrt, seine Furcht vor
dem Leben mit tapferen Worten (Nr. 50. Worauf kommt es überall an’,
später "Dreistigkeit' Buch des Sängers, W. S. 23): der Schall soll zum
Ton sieh runden! Die Bahn von allem Störenden befreit werden.
BurvacH: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. 893
Eh er singt und eh er aufhört,
Muß der Dichter leben.
Und so mag des Lebens Erzklang
Durch die Seele dröhnen!
Fühlt der Dichter sich das Herz bang,
Wird sich selbst versöhnen.
Das war ein befriedigender Abschluß: ein froher, gefaßter Ausblick
in die Zukunft, ein mutiger Entschluß, nach schwerer peinvoller Zeit
aufs neue zu leben und im Dichten die Versöhnung zu suchen. Das
Jahresende stand vor der Tür. So mochte denn der von der Reise
heimgebrachte poetische Schatz mit den in Jena und zu Hause dazu
gewachsenen Stücken, nachdem die für den zu Zahlenschematismus
Neigenden bedeutungsvolle Zahl 50 erreicht war, bei der ersten ruhi-
geren Überschau sich von selbst bereits zu einem künstlerischen ein-
heitliehen Bild zusammenziehen. Es hörte bereits auf, eine zeitliche
Reihenfolge loser poetischer Urkunden über einzelne persönliche Le-
bensmomente zu sein. Die einzelnen Gedichte fangen an, als Indivi-
duen abzusterben. Aber in der Phantasie des Dichters taucht aus
der versinkenden Vielheit ihres wirklichen Daseins immer bestimmter
schon die Totalität einer neuen, höheren Existenz empor: alles drängt
hin auf die Abrundung zum künstlerischen Cyklus.
Am Weihnachtsabend 1814 wird deshalb zunächst ein Prolog
hinzugedichtet:
Nord und West und Süd zersplittern,
Throne bersten, Reiche zittern,
Flüchte du, im reinen Osten
Paradieses Luft zu kosten,
Unter Lieben, Trinken, Singen
Soll dich Chisers Quell verjüngen.
(Nr.ı. Hegire’, später Buch des Sängers, W.S.5.) Diese ersten
Verse entrollen schon ein förmliches Programm des Inhalts der nach-
folgenden 50 Gedichte, und die weiteren Strophen führen es näher
aus. Auch der Titel dieses Prologs mutet an wie eine Eingebung
des Tags, da Goethe in sein Tagebuch mit gehobener Stimmung den
Abschluß und die erste Vorlesung seiner einstigen Flucht nach Verona
eintragen durfte. Und das eine Wort dieses Titels, Hegire, das ist
“epochemachende Flucht’ wirkt wie ein Selbstkommentar des Dichters:
hier, seht, ich flüchte mich, wie einst auf der Höhe des Lebens nach
Italien, nun als Greis in die alte ewige, ursprüngliche Welt des Ostens,
in die Heimat und die Jugendzeit des menschlichen Geschlechts, um
selbst wieder jung zu werden, um einen neuen fruchtbaren Lebens-
abschnitt, eine innere Wiedergeburt einzuleiten, und ich lade Euch
ein, mir zu folgen, Euch an der Ernte meiner zweiten Hedschra zu
894 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 19. Mai 1904.
laben wie vorzeiten an den Früchten der ersten. Mit dem Datum
‘Sylvester 1814 setzte er dann als 51. Gedicht ein Schluß- und Be-
gleitwort hinzu, das die ungewohnten Lieder und ihren tiefen Sinn,
den weltabgewandten Aufbau einer neuen Welt, einer geliebten Per-
son mit einer moralischen Nutzanwendung ans Herz legt.
Mußt nicht vor dem Tage fliehn:
Denn der Tag, den du ereilest,
Ist nicht besser als der heut'’ge;
Aber wenn du froh verweilest,
Wo ich mir die Welt beseit’ge,
Um die Welt an mich zu ziehen,
Bist du gleich mit mir geborgen:
Heut ist heute, morgen morgen,
Und was folgt und was vergangen,
Reißt nicht hin und bleibt nicht hangen.
Bleibe du, mein Allerliebstes;
Denn du bringst es und du gibst es.
Im vollendeten gedruckten Divan eröffnet dieses Gedicht das achte
Buch, das Buch Suleika, als Proömium. Marianne von Willemer konnte
aber am Sylvester 1814 schwerlich schon "mein Allerliebstes’ genannt
werden. Auch auf den Herzog Karl August, an den das Gedicht als
Neujahrshuldigung und Dedikation gerichtet zu sein scheint', passen
die Worte nieht gerade zum besten. Ich vermutete daher früher, daß
die beiden letzten Verse 1814 noch der Schlußwidmung fehlten und
erst hinzutraten, als das Gedicht seine Rolle tauschte und aus einer
Schlußwidmung des Ganzen an Karl August in eine Introduktion des
von mystischer und persönlicher Erotik «durcehglühten “Buchs Suleika’
sich wandelte. Das geschah, da wir das Datum der ersten Einteilung
in Bücher aus seinem Tagebuch kennen, nicht vor dem 6. Oktober
1815. Zu diesem Tage heißt es nämlich: “Entschluß zur Abreise.
Divan in Bücher eingetheilt. Und nun erst glauben wir auch jenes
“Bleibe du mein Allerliebstes, denn du bist es und du gibst es’ voll zu
verstelın. So konnte Goethe damals aus der Ferne zu Marianne
sprechen, die ihn eben verlassen, die durch ihren blühenden Liebreiz,
ihre demütig innige Neigung, ihr Mitempfinden und Mitdiehten das
Suleikabuch geweckt und mit gleichgestimmten Tönen erwidert hatte,
die nun auch die wehmütig-süßen Nachklänge dieser Liebespoesie
anregt, in teilnehmenden Briefen ihm nahe und seiner Phantasie ge-
genwärtig bleibend. Ihr rief jenes ‘Bleibe’: sie war damals in der
Tat sein Allerliebstes, und sie gab es. Ich glaube jetzt trotzdem,
! Das erkannte bereits Düntzer und bezog darauf des Herzogs Brief vom
Januar 1815: ‘Für das Persieum danke ich bestens, es ist geistreich und galant.’
Burpach: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. s95
daß jene beiden Schlußverse auch schon im Gedicht standen, als es
noch für Karl August bestimmt war: sein Dankbrief nennt es 'galant,,
und nur auf den letzten Zuruf paßt das; auch entspricht der zwei-
wortige geteilte Reim Allerliebstes’: ‘gibst es’ einer orientalisierenden
Technik, die Goethe gerade in den Dezembertagen des Jahres 1814
aufnimmt.
Das 52. Gedicht des chronologisch geordneten Deutschen Divans
ist uns in der alten Nummerierung nicht erhalten. Aber das 53.
(‘Gute Nacht’) ist der allgemeine Epilog, das Begleitwort des Cyklus
an das Publikum und zugleich mit dem Abschied des Dichters ein
Plaudite:
Nun so legt euch liebe Lieder,
An den Busen meinem Volke! ...
Daß die Unzahl sich erfreue!
Und da dieses Schlußwort sich auf das treue Hündlein der Sieben-
schläferlegende bezieht, wird es unmittelbar nach dieser, die das Da-
tum des 29. Dezember 1814 trägt, also gleichfalls zu Ende des Jahres,
entstanden sein. Die Legende selbst aber, ein großes stilisiertes Stück,
ist aus der Beschäftigung mit dem persischen Paradies hervorge-
wachsen. Wodurch sie Goethe anzog und was seine Poetisierung der
alten Weltsage ihm bedeutete, das verraten die Schlußworte über den
Siebenschläfer, der durch die eingesunkene Mauer die Höhle verlälst,
ke)
um, wie er fürchten muß, sein Leben wagend, Brot für die Genossen
zu holen, und dann von Urenkeln, Volk und König als wunderbar
geretteter Ahnherr eines mächtigen Geschlechts erkannt und geehrt
wird.
Nicht zum König, nicht zum Volke
Kehrt der Auserwählte wieder:
Denn die Sieben, die von lang her
Sich von aller Welt gesondert,
Gabriels geheim Vermögen
Hat gemäß dem Willen Gottes
Sie dem Paradies geeignet
Und die Höhle schien vermanert.
Wer anders ist der Auserwählte als der Dichter selbst, als Epimenides-
Goethe, der im langen Schlaf Erhöhung seiner Sehergabe gewonnen
und davon dem Volke gekündet hatte? Der nun als “Verjüngter',
“Neugeborner’ seinem Volke die entdeckte Urweisheit des Orients heim-
bringt? Der als Lohn wie Firdusi das Paradies begehrt? Daran
knüpft dann das “Gute Nacht’ des Abschieds von den Lesern an:
! “Hegire’ V.17. 18 “dort war’: “Wort war’ 24. Dezember, “Dreistigkeit’ V.1.3
überall an’: “Schall an’, “Lauf stört’: “aufhört’, “Erzklang’: “Herz bang” 23. Dezem-
ber, “Sommernacht’ V.33. 35 “Mitternacht sein’: “Pracht sein’ 16. Dezember 1814.
596 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 19. Mai 1904.
Hüte Gabriel die Glieder
Des Ermüdeten gefällig;
Daß er frisch und wohlbehalten
Froh wie immer, gern gesellig
Möge Felsenklüfte spalten,
Um des Paradieses Weiten,
Mit Heroen aller Zeiten
Im Genusse zu durchschreiten,
Wo das Schöne, stets das Neue
Immer wächst von allen Seiten.
Der Schlaf in der Höhle bezeichnet nach der mystischen Erklärung
der Siebenschläferlegende die gottschauende Begeisterung der Weisen
und Frommen. Auch Epimenides erlangt seine Prophetenkraft durch
den Schlaf in der Höhle. ‘Die Schläfer in der Grotte’ heißen sprich-
wörtlich in persischer und arabischer Auffassung die wahrhaft Be-
seligten, von Gott Begnadigten. So nimmt dieses "Gute Nacht’ den
Anfang und Ausklang des Prologs vom Weihnachtsabend wieder auf:
Flüchte du, im reinen Osten
Paradieses Luft zu kosten ...
. Wisset nur, daß Dichterworte
Um des Paradieses Pforte
Immer leise klopfend schweben,
Sich erbittend ew’ges Leben.
Diese drei Gedichte des Deutschen Divan von 1814, alle eine
Frucht des in der Mitte des Dezembers aus Firdusi empfangenen
neuen Phantasiekeims, hängen also aufs engste miteinander zusammen.
Sie sind nicht wie die Mehrzahl der übrigen chronologisch geordneten
einfache Spiegelungen der Eindrücke von Erlebnissen oder von litera-
rischer Lektüre. Sie sind durchaus Reflexe zweiten Grades, die den
Eindruck zurückgeben, welchen die Reihe der eigenen Lieder nun im
Zusammenhang als Ganzes auf die Phantasie des Dichters machte, und
diesen Eindruck dem Leser erklären wollen.
Diese drei Gedichte des chronologischen Deutschen Divans von
1814 sind aber genau besehen doch nichts weiter als ein.epischer
Rahmen, wenn auch in lyrischer strophischer Form. Die Vielheit
der einzelnen lyrischen Konfessionen binden sie zum Strauß, indem
sie ihnen einen epischen Faden durchziehen. Dieser Faden ist das
im Prolog eingeführte, im Epilog symbolisch ausgedeutete Motiv der
Reise, gleichfalls die Frucht jenes Eindrucks aus der Mitte des De-
zembers, da er von seiner Italienischen Reise den ersten Abschnitt,
die Flucht von Karlsbad nach Verona, abschloß und vorlas.
Will mich unter Hirten mengen,
Mich durch Blütenbüsche drängen,
Will mit Caravanen wandlen,
Shawl, Caffee und Moschus handlen.
Jeden Pfad will ich betreten.
Von der Wüste zu den Städten.
Burvacn: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. 397
Diese ‘Will’ und die in V. 8. 15. 31 berichten mehr ein bevorstehendes
Geschehen, als daß sie wie echte Lyrik ein gegenwärtiges Gefühl aus-
sprächen. Sie kündigen an, daß der Dichter die Rolle eines die Welt
durehstreifenden Handelsherrn übernehmen werde, verzeichnen die
Schauplätze (Wüsten, Oasen, Städte mit Bädern und Schenken, Straßen
und Felspfade) und das Personal (Hirten, Maultiertreiber, Räuber, Ambra-
locken schüttelnde Hetären) der zu erwartenden poetischen Reiseerleb-
nisse. Man sieht: der Prolog gibt sceenarische Bemerkungen zu dem
folgenden lyrisch-dramatischen Cyklus. Und dadurch nähert er sich aller-
dings in seiner künstlerischen Substanz, in seiner künstlerischen Aufgabe
epischer Dichtung, deren Grundwesen die Mitteilung, die Aufklärung, die
erläuternde entfaltende Belehrung in Bezug auf bestimmte Tatsachen
und Geschehnisse ist. Dieser Prolog spricht nieht bloß Iyrisches Ge-
fühl aus: er bereitet vor, daß in den nachfolgenden Gedichten euro-
päische Gegenden, Personen und Kulturbegriffe genannt werden kön-
nen, daß der Reisende kein Orientale ist, aber sich in Tracht, Le-
bensweise, Anschauungen der islamischen Welt akklimatisiert, wie
seine geschichtlichen Vorgänger Marco Polo und Pietro della Valle.
Er motiviert, er belehrt, daß der Reisende doch ein Dichter bleibt
und die irdische Geschäftsreise aufwärts strebende Gedanken, die
Sehnsucht nach dem Paradies, das Firdusi beschieden war, umspielen,
nach jenem Paradies, um das die werbenden Worte des Dichters
schweben, sich Unsterblichkeit erbittend. So entdeckt der Prolog das
Ganze von vornherein als Allegorie: dieses kaufmännische Umher-
ziehn und Suchen nach Gewinn, diese Fahrt in den Orient, dieser
Aufblick zum muslimischen Himmel, den die Huris bevölkern, diese
Geschichte von den Siebenschläfern und ihrer Entrückung ins Para-
«dies alles ist symbolisch zu verstehen. Der Dichter reist nur im
Geist in die Heimat des Menschengeschlechts, in Wahrheit in seine
eigene. Und er findet hier nicht die Jugend der europäischen Völker,
sondern die eigene wieder. Er sucht nicht nach materiellen Schätzen
und nicht nach Handelsbeute, sondern nach künstlerischer, wissen-
schaftlicher, menschlicher Bereicherung. Das Paradies aber, in das
der Engel Gabriel, ‘der Bote Gottes an die Propheten’, ihn empor-
trägt und das er mit den Heroen aller Zeiten im Genusse durch-
schreiten soll, aus dem das Schöne in ewiger Neuheit nach allen
Seiten hervorwächst, das Traumland der Diehtung und Kunst, das
Elysium der großen Geister der Menschheit, in das der unsterbliche
Dichter eintritt mit seinen Werken, das ihn aufnimmt gleich Fir-
dusi, gleich Faust, den ewig Strebenden, und das ihm im Fortschritt
seiner irdischen und nachirdischen Entwickelung immer höhere Sphä-
ren eröffnet.
Sitzungsberichte 1904. 73
898 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 19. Mai 1904.
Prolog und Epilog dieses ältesten, chronologischen Divans ver-
treten, mögen sie auch der Form nach noch Iyrisch sein, vom Stand-
punkt der vergleichenden Poetik aus betrachtet, die Stelle der weit
verbreiteten Urform der epischen Schnur für die einzelnen lyrischen
Perlen. Jene "gemischte Form’, jener Kentaur, wie ihn Lukian nannte,
ist in Wahrheit ein tief notwendiges, im Wesen der Lyrik als (der
Bekenntnisdichtung wurzelndes Grundphänomen. Und wenn die epi-
sche Schnur oder der epische Rahmen hier im Divan selbst nicht in
Prosa, sondern auch in strophischer, also lyrischer Form auftritt, so
erinnere ich noch einmal daran, daß auch in der modernen arabischen
oder der südsibirischen Mischform fortwährend Übergänge der Prosa
in die Versforn stattfinden, und daß aus der konventionellen Fixie-
rung dieses Übergangs wahrscheinlich die Epik in fortlaufenden, un-
strophischen Versen sich entwickeln kann oder hier und da, wo nicht
gar überall, sich entwickelt hat.
Exkurs.
Die Mischform aus Prosa und Lyrik.
(Zu S. 861.)
Örientalische Literatur: von Hammer, Geschichte der osmanischen Dichtkunst.
Pest 1836. 1, S. 23; von Schack, Poesie und Kunst der Araber in Spanien und Sizilien.
Berlin 1865. 2, S. 60f.; J. Wellhausen, Letzter Teil der Lieder der Hudhailiten (Skizzen
und Vorarbeiten r). Berlin 1387; Prym und A.Socin, Kurdische Sammlungen (Erzäh-
lungen und Lieder). 2. Abteil. St. Petersburg 1890, S. XIX £. (vgl. z.B. Nr. XXXII:
Prosatext mit Strophen Iyrischen Inhalts, deren genetische Beurteilung dureh Soein
den Lehren einer universalen, empirischen Poetik widerspricht); A. Soein, Diwan aus
Zentralarabien. 1. Teil. Übersetzung (Abh. d. phil.-hist. Kl. d. Sächs. Ges. d. Wissensclr.
XIX, Nr. 2). Leipzig 1900; Radloff, Proben der Volksliteratur der türkischen Stämme
Südsibiriens. St. Petersburg 1866— 1872. I, ı, S. 220 ff. III, S. 108 ff. IV, S. 12 ff. zoı ff. ;
Lassen, Indische Altertumskunde. Leipzig 1861. 4, S. 8310; H. OLvengerg, Zeitschr. der
Deutschen morgenländ. Gesellschaft 1883. Bd. 37, S. 54 ff., 1885. 39, S. 52 ff.; Geldner
und Pischel, Ved. Studien II. Stuttgart 1889, S.243— 295, dazu H. Oldenberg, Göttinger
gelehrte Anzeigen 1890, S. 417 ff. — Irisch: W. Windisch, Verhandlungen der 33. Ver-
sammlung deutsch. Philologen. Leipzig 1879, S.26 f. 28 und Irische Texte. Leipzig; 1880,
S. 63.114. 203. — Altnordisch: Müllenhoff, Zeitschrift für deutsches Altertum. 1879
Band 23, S. 151 (als gemeingermanisch und als Übergangsstufe von der vorauszu-
setzenden ältesten Form, der reinen Prosa, zur späteren epischen Erzählung in fortlau-
fenden Versen erschlossen). — Altfranzösisch (Roman von Aucassin und Nicolette):
W. Hertz, Spielmannsbuch. Stuttgart 1886, S. 361 (hier zuerst allgemeinere Würdigung
der Form und Ableitung aus “orientalischem Vorbild’). — Prinzipiell als Vorstufe
des reinen Epos in gebundener Form zuerst gefaßt von W. Scherer, Poetik. Berlin
1883, S.14 f. (ohne Berücksichtigung von Hertz). Ebenso dann bei Hertz, Spielmanns-
buch. 2. Auflage. Stuttgart 1900, S.48f. 435 f.: “altertümliche typische Form, welche
bei den verschiedensten Völkern der reinen Verserzählung voranging’ (mit Berufung
auf Bedier, Ulrich Jahn, Jacobs, aber unter Ignorierung Müllenhoffs und Scherers und
aller altgermanischen Analogien!). — Wunderbar, daß man sich der antiken Parallelen
in der sogenannten Menippeischen Satire nicht entsann: Varro, Senecas Apokolokyntosis,
Burvacn: Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. 89
Petronius, Martianus Capella, Boethius, woran dann die Renaissancedichter aller Länder
anknüpften. In diesem Fall wenigstens wird wohl von vornherein niemand zu behaupten
wagen, daß die antike Kunstforın das Mittelalter hindurch andauernd in der Renaissance-
zeit einfach natürlich fortgelebt habe. Vielmehr haben wir hier ı. anscheinend selbstän-
dige primitive Entwicklung bei den verschiedensten Völkern, olıne erkennbaren geschicht-
lichen Zusammenhang, 2. bewußte literarisch -gelehrte Nachahmung spätrömischer Muster
durch die humanistisch gebildeten Dielhter. Aber so ganz glatt fügt die Entwicklung
sich dieser Auffassung doch nicht. Bei Aucassin (= arab. Al-Käsiım) wäre Nach-
ahmung arabischer Kunst nicht undenkbar. Anderseits diehtete schon im 12. Jahrhun
dert Hildebert von Tours seinen “Conflietus carnis et spiritus’ in der Mischform des
Boethius: soll das nun Zufall sein, daß hier auch die literarische Einkleidung des In-
halts jenen griechischen Typus der Menippeischen Satire darstellt, wie er erscheint in
dem “Wettstreit des Linsenpurees und der dicken Linsen’ von Meleager, dem Lands-
mann und Nachfolger des Menippos (vgl. dazu M. Haupt über die Eristik, zum Apol-
lonius. Opuseula III, S. 20 f.; von Wilamowitz, Antigonos von Karystos, Berlin 1881,
S. 295 und S. 299 Anm. 5), in der römischen Literatur nachgebildet wurde und aus den
mittelalterlicehen Conflietus und Certamina bekannt ist? Gegen die völlige Selbständig-
keit des antiken und des orientalischen Stroms der Mischform macht mich manches
bedenklich. Überzeugend erschließt Heinze (Hermes 1899 Bd. 34, S.494 fl.) aus Pe-
trons parodistischem erotischen Roman einen pathetisch-erotischen Roman der Griechen
als jüngeren Bruder der hellenistischen Geschichtschreibung. Aber unglaublich ist mir
sein Satz: “Petron war der erste, der den Roman zur Satura machte’ (S. 518 Anm. 3)
und die Ansicht, Petron habe in seiner Dichtung zwei streng geschiedene Gattungen,
den parodistischen Roman und die Satura Menippea, verschmolzen und “mit seinem ge-
läuterten Stilgefühl in der hervorstechendsten Eigentümlichkeit der Menippeischen Satire,
Mischung von Prosa und Vers, gerade ein erwünschtes Mittel’ gefunden zu besonders
eigenartiger und kunstverständiger Wirkung (S. 519). Was Heinze mit Recht Erwin
Rohde vorwirft, daß er zu konstruierend den griechischen Roman auflöse in drei ge-
trennte Komponenten, begeht er hier selbst. Freilich steht seine Auffassung im Ein-
klang mit dem, was Hr. von Wilamowitz über Menippos einst ausführte: “Wo Prosa
und Vers vermischt ward, wo der Sokratische Dialog in seiner eigenen Manier per-
sitliert ward, da war für eine Seite des Barockstils allerdings der vollkommenste
Ausdruck gefunden. Nach der Überwindung jeder formellen Schwierigkeit und der
Erschöpfung allertiefster Themen spielt man mit Inhalt und Form, und in kunst-
mäßiger Stilverletzung sieht man den vollkommensten Sieg des stilistischen
Könnens.. Dem gegenüber möchte ich in der Mischforın keine stilistische Finesse
oder spielerische Erfindung künstlerischer Dekadenz, keinerlei raffinierte Pikanterie
erblicken. Die populäre, primitive Erzählform trat einfach von der Straße in die
Literatur, eine Darstellungsform, die der althellenische und altrömische ‘Improvi-
sator auf öffentlichem Markte’, wie ihn Goethe in den “Noten und Abhandlungen’
zum Divan (Abschnitt “Naturformen der Dichtung’, W. S.ı19) für das moderne
Italien charakterisiert, anwendete, und die natürlich kynischer Literatur besonders
adaequat und willkommen sein mußte. Darin waren epische und mimisch- dramatische
und Iyrische Elemente durcheinander gemischt, Roman, Märchen, Novelle, Ge-
schichtserzählung. Rollendarstellung keimartig enthalten. In dieser Sphäre suche ich
die älteste Form des griechischen Mimus, den neuerdings Hermann Reichs scharfsin-
nige und gelehrte Forschungen zu beleuchten suchen. Hier gediehen wohl seit un-
denklicher Zeit die improvisierten Wechselreden und Rätselstreite, die literarisch ver-
edelt in den Sokratischen Dialogen nachklingen, dramatisch ausgestaltet auf der Bühne
und in burlesker, parodischer Absicht in der Menippeischen Satire fortleben. Auf der
großen Brücke westöstlicher Kulturgemeinschaft, in Syrien, wo sowohl Menippos
als Meleagros zu Hause waren, entstand — so möchte ich vermuten — dann ein festerer
Typus erhöhter Erzählung geschichtlicher, roman- oder märchenhafter Art aus Prosa
und lyrischen Einlagen, der durch Vermittelung der verlorenen griechischen Literatur
in die arabische kam. Ins Abendland trugen ihn dann vielleicht im Zeitalter der
1%
900 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 19. Mai 1904.
Völkerwanderung die wandernden joeulatores und mimi, eine internationale Gesell-
schaft, die lange in der Sphäre der ungeschriebenen Produktion bleibt, deren lehr-
reichster literarischer Repräsentant im zwölften Jahrhundert das Lied des 72 Sprachen
wissenden Meister Trougemund (= arab. dragoman) ist, worin wunderbar uralte in
Indien nachweisbare kultische Eristik oder, wenn ıman will, ein kultischer Mimus fort-
zuleben scheint. Auch bei dem fahrenden Anonymus, den man früher Spervogel
nannte, und dem manche den Namen Herger geben, finden sich frappierend drama-
tische Ansätze. Bei näherem Zusehen steht jedesfalls die von Müllenhoff erschlossene
altgermanische Mischform auf unsicheren Füßen: die nordische Ausprägung könnte
samt ihrem lateinischen Ableger in der Chronik des Saxo Grammaticus auf münd-
lichem Austausch mit südeuropäischer Kunstübung beruhen, vermittelt durch wan-
dernde Märchen- und Geschichtenerzähler, eben die Mimen des mittelalterlichen
Sprachgebrauchs, zum Teil aber wohl auch schon auf literarischer Übertragung, d.h.
auf dem Unterricht in der lateinischen Schulpoetik (über diese siehe meine Aus-
führungen in den Verhandlungen der Kölner Philologenversaminlung von 1895, Leipzig
1896, S.136 f. und Zeitschrift für deutsche Philologie, Band 28, S. 533). Dasselbe gilt
vom Jrischen. — Die neuen Darstellungen der persischen Literatur von Eth& (Geiger-
Kuhn, Grundriß der iranischen Philologie, 2. Band, Straßburg 1896 —ı904, S. 212{f.),
Horn (Geschichte der persischen Literatur, Leipzig 1901) und Browne (A Literary Hi-
story of Persia, London 1902) sowie der arabischen Literatur von Brockelmann (Ge-
schichte der arabischen Literatur, ı. Band, Weimar 1898, und Geschichte der arabi-
schen Literatur, Leipzig 1901) bleiben dem nichtorientalistischen Literarhistoriker auf
solche Fragen leider die Antwort schuldig. — Man wird sich gewöhnen müssen, die
Kultur und das literarische Leben des abendländischen Mittelalters in viel höherem
Maße als bisher in seinem internationalen Charakter, als Erben hellenistischer (alexan-
drinischer) Bildung und ihrer persisch-arabischen Umformung anzusehen. Dann erst
werden die nationalen Elemente der mittelalterlichen Kultur, deren Geschichte Jakob
Grimm und Müllenhoff schon vor Jahrzehnten zu schreiben sich getrauten, wirklich
sicher hervortreten und von der historischen Forschung dargestellt und charakterisiert
werden können. Nicht einmal das ist bisher ermittelt worden, woher der mittelalter-
liche romantische Begriff des Minnedienstes und sein konventioneller literarischer Aus-
druck bei den südfranzösischen, deutschen, italienischen Minnesängern, woher die
Motive und der romantische Idealismus der mittelalterlichen Ritterromane stammen.
Ich finde hoffentlich bald Gelegenheit, meine Überzeugung zu begründen, daß auch
hier mittelbar die alexandrinische Hofdichtung und ihre Fortsetzung und eigentümliche
romantisch -märchenhafte Umbildung durch die Perser im Zeitalter der Sassaniden
und im Zeitalter Firdusis und der persischen Restauration unter Machmud von
Ghazna, unmittelbar die arabische Sitte der Hofdichter und der konventionellen Pane-
gyrik zur Ehrung regierender und hochgestellter Frauen sowie das ins Arabische
übernommene Schema des persischen Liebesromans sehr wesentlich mitgewirkt
haben.
901
Ein neues Fragment aus den Hypotyposen des
Glemens.
Von ADpour HARrnNAcK.
Mercarı, J., Un frammento delle Ipotiposi di Clemente Alessandrino (Rom 1904),
P-T5. 272280.
Der Evangelien-Codex S (= vox Sopen e 89), der in der Vaticana
aufbewahrt wird (Nr. 354) und zu den ältesten datirten Handschriften
des Neuen Testaments gehört (geschrieben vom Mönch Michael »um
6 Uhr am Donnerstag den ı. März 6457 in der 7. Indietion« = p. Chr.
949), ist in neuerer und neuester Zeit öfters verglichen bez. einge-
sehen worden. Merkwürdigerweise hat man dabei ein Scholion über-
sehen, welches zu Matth. 8, 2 am Rande steht (fol. 30 recto); jetzt
hat es Mrrcarı an’s Licht gezogen. Es lautet!':
KaHmenToc
&K TÄC L TÖN YrIoTYriwcewn.
KAl TON AETIPÖN EBEPÄTIEYCEN KAl EITTEN AEClzoN CEAYTÖN TOoIc TEPEFCIN
EIC MAPTYPION, AlÄA TOIAYTHN TIAPAAOcIN. "Eeoc EIXoN oi ieprelc AynAmeı
8E0% netPoYc IAceAal HMEPAIC TAKTAIC. TOYTON OYN TON AETIPON TIOANW XPONW
L
MH AYNHEENTEC 1ACACBAl Eneron' TOYToNn OoYAeic IAcETAIı H MÖNOC Ö XPICTOC
EAN ENeH. TIOANNÄ TOINYN AEHBENTOC TOY AETIPOY Ö CWTHP ETITICTTAATXNI-
ceeic iacAmenoc AYTön [sic], AA ToFTo eitmen' Atense Kali Acizon
CEAYTON TOTC lEPEFCIN EIC MAPTYPION, ÖTI, El TEBEPÄTIEYTAI OYTOC, &o 0Y
EIPHKATE" OYaeic Ann H 6 xPIcTöc MöNoc AYTon (Üod. AYTöc) IAcETAI, HÄnsen
Ö XPICTÖC, KAl TIICTEYCATE AYTÜ.
r
Obgleich der Name »Katmentoc« nur in zwei Buchstaben gegeben
ist (ka), so ist doch mit Mercarı an der Deutung auf Clemens Alexan-
drinus nieht zu zweifeln; denn nicht nur hat er bekanntlich »Hypo-
typosen« verfasst, sondern dieses Werk behandelte auch gerade im
! Die Sperrungen sind von mir.
902 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 19. Mai 1904.
6. Buch (s. Zann, Forschungen III S. 72 ff. 150) die Evangelien. Wo
unser Codex geschrieben ist, scheint bisher nicht ermittelt zu sein,
wenigstens habe ich darüber nichts finden können." Ein Schreiber
und Mönch Michael aus der Zeit um 949 ist sonst nieht nachgewiesen
(vergl. Garprnuausen’s Griech. Paläographie S. 331 unter »Michael«).
Unser Michael aber ist nicht selbst der Schreiber, der das Scholion
und die elf anderen eingetragen hat, die sich in der Handschrift sonst
noch finden: denn Mercartı bemerkt ausdrücklich, dass sie von einer
»manus alia antiqua« herrühren. Ein gelehrter Bruder bekam den
Codex in die Hand und trug die Scholien ein. Mercarı hat sie jetzt
sämmtlich (S. 13—15) — ein Theil war schon früher bekannt — ab-
gedruckt. Auch sie sind nicht unwichtig, aber sie tragen weder zur
Erklärung unseres Scholions noch zur Ermittelung des Compilators
dieser Anmerkungen etwas bei. Nur so viel erkennt man, dass der-
selbe frühestens im 7. Jahrhundert gelebt hat; denn er benutzt den
Commentar des Petrus Laodicenus, der wahrscheinlich im 7. Jahrhun-
dert abgefasst worden ist.
2.
Dass Clemens in seinen Werken »rtrmaraaöceıc« verwerthet hat, be-
zeugt er selbst, und wir finden auch noch solche »rraraaöceıc« in seinen
uns erhaltenen Schriften (s. die Zusammenstellung in meiner Litte-
raturgesch. Th. ı S. 291 ff... Am wichtigsten ist die Mittheilung des
Eusebius (h. e. VI, 13) in Bezug auf die verlorene Schrift des Clemens
TTepi To? TIAcxa: Ersiacennaı Ömonorel (6 KAHMHc) TIPÖC TÜN ETAIPWN, AC
ETYXxE TAPÄ TON AÄPXAIWN TIPECBYTEPWN ÄKHKOWC TIAPAAÖCEIC TPA®H
Tolc METÄ TAYTA TIAPAAOFNAI, sowie die andere (h. e.VI, 14), Clemens
habe in den Hypotyposen eine mAPAAocIıc TÖN ANEKABEN TIPECBY-
TEPon über die »TAzıc« der Evangelien mitgetheilt.” Ausser den »Trara-
söceic« allgemeiner Art nennt Clemens noch eine besondere Schrift
»TTaraaöceıc MaATteioy«, über welche meine Litteraturgesch. Th. 2 Bd. ı
S. 536f. 595 ff. zu vergleichen ist. Sie ist hier natürlich bei Seite
zu lassen.
! Der Bibeltext gehört zu der Gruppe EFGHKMUVFATTER, bez. zu
FGHUV, s. von Geesarpr in Havcer’s Realeneyklop. Bd. 2° S.739. Am nächsten
liegt es, an den Athos zu denken.
® Siehe auch das »fertur in traditionibus« in den Adumbrationen (= Hypo-
typosen) bei Zaun, Forschungen III S. 87. Generell sagt Eusebius (h. e.VI, 13), dass
Clemens in den Hypotyposen ÖNoMACTI &c AlAAcKAnoY TOY TTANTAINOY MNHMONEYEI, EK-
AOXxÄAC TE AYTOY TPA®ÖN KAl TIAPAAÖcEIC EKTEeeiTal (vergl.V,ır). Photius (Cod. 109) be-
merkt, dass die Hypotyposen AIANAMBANOYCI TIEPI PHTÖN TINÖN TÄC TE TIANAIÄC Kal NEAC
TPAGAC, ÖN Kal Kevanalwaßc [üc] AABeN EEHFHCIN TE KAI EPMHNEIAN TIOIEITAI.
2 e
Harnack: Ein neues Fragment aus den Hypotyposen des Clemens. 903
Die »raraasceıc«, welche Clemens zur Verfügung standen, sind
gewiss von verschiedener Art und verschiedener Herkunft gewesen.
Dass ein Theil derselben auf Kleinasien und damit auf die Presbyter-
überlieferungen bei Papias zurückgeht, habe ich (a.a.O. Th. 2 Bd. ı
S. 671f. 685 ff.) wahrscheinlich gemacht. Ich schloss die Ausführungen
mit den Worten: »Es kann nicht wohl bezweifelt werden, dass zu
Clemens eine asiatische Tradition gekommen ist (dass Clemens den
Melito benutzt hat, sagt Eusebius ausdrücklich), die, von der pa-
pianischen nicht unabhängig, das 4. Evangelium um seines theo-
logischen Inhalts willen hoch, ja speeifisch über die anderen erhoben
hat.«c Auch von der zu Ölemens gekommenen Überlieferung über die
Entstehung des Marcus-Evangeliums zeigte ich, dass sie nicht unab-
hängig von der des Presbyter Johannes bei Papias ist.
Mit Recht erklärt Mrrcarı, dass die »marAaocıc«, welche Clemens
in unserem Scholion mittheilt, eine schriftlich fixirte gewesen ist.
Dies ist an und für sich das Nächstliegende und wird durch den be-
sonderen, von dem elementinischen abweichenden Sprachcharakter der
Sätze bestätigt. Dieser Sprachcharakter trifft mit dem lucanischen ein
paarmal zusammen:
&eoc — bei Lucas (Ev. und Act.) zehnmal, in den übrigen Evan-
gelien nur einmal (bei Johannes).
fAceaı — bei Lucas siebenmal, fehlt bei Marcus, bei Matthäus steht
es einmal im Citat (serareyeın heisst es sonst), bei Johannes
einmal und dann noch einmal im Citat.
HMmEPAIC TAKTAIC — S. Act. I2, 2I: TAKTA Hmera. In den Evangelien
fehlen Parallelen.
monAD XPönw — S. Luc. S, 29: monnolc xPpönoıc, Act. 8, II: IKAN® XPÖNW.
Sonst fehlen Parallelen in den Evangelien.'
Mercarı, ohne sich sicher zu entscheiden, nimmt an, dass unser Stück
aus einem apokryphen Evangelium geflossen ist. Allein bereits die
! Zum Sätzchen ö xPIcTöc EAN EneH vergl. Joh. 4, 25. — Sprachlich bietet der
Text, wie er überliefert ist, zwei Anstösse: 6 CWTHP ETTICTIAAFXNICBEIC, IACAMENOC AYTÖN,
AIA TOYTo einen ist nicht erträglich; entweder ist laAcAmenoc in das Verb. finit. zu ver-
wandeln, was freilich auch nicht ganz befriedigt, oder man hat anzunehmen, dass
Clemens den Text, den er wiedergab, verkürzen wollte und dabei incorreet geschrie-
ben hat. Auf eine Verkürzung deutet vielleicht auch das nachhinkende kai mICTEYcATE
AYT® (es gilt den Priestern). Auf Grund desselben muss man annehmen, dass die
Worte von ÖöTI ei TeserArteyTAl an bis zum Schluss als Fortsetzung der Rede Jesu
gelten sollen. Will man diese Annahme vermeiden, so ist Clemens hier aus der Con-
struetion gefallen, indem er die Aufforderung zu glauben in directer Rede giebt.
904 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 19. Mai 1904.
Einführungsformel (»marAaocıc«) macht das etwas unwahrscheinlich';
eine genaue Prüfung aber verbietet diese Annahme. Augenscheinlich
ist unsere »maPAaocıc« entstanden, um Schwierigkeiten, welche die
in den drei synoptischen Evangelien erzählte Geschichte von der Hei-
lung des Aussätzigen dem christlichen Verständniss bot, zu heben.
Zum Anstoss gereichten die Worte Jesu: Aecizon ceayYTön Toic Tepefcın
eic maptypıon. Wie konnte Jesus den Aussätzigen, den er geheilt hatte,
zu den Priestern schieken, und was besagen die Worte eic mapTYPıon?
Die Haggada — eine solche ist die Anekdote —, die hier gegeben
ist, musste fast mit Nothwendigkeit entstehen, sobald jene Fragen
einmal aufgeworfen waren. Die Priester haben diesen Aussätzigen
bereits früher gekannt; sie hatten ihn vergeblich zu heilen ver-
sucht” (dazu musste dann das Märchen erfunden werden, sie hätten
an bestimmten Tagen die Kraft von Gott erhalten, Aussätzige zu
heilen —, stetig konnten sie natürlich diese Kraft nicht besitzen).
»Zum Zeugniss« durfte nichts Anderes heissen als »zum Zeugniss,
dass Jesus der Christ sei«c. Nun stellte sich das Mittelglied von selbst
ein: die Priester hatten nach vergeblichen Versuchen, diesen Aus-
sätzigen zu heilen, erklärt, dass ihn nur der Messias, wenn er kommt,
zu heilen im Stande sein werde. Jesus kam, heilte ihn und schickte
ihn zu den Priestern zurück mit der Aufforderung: »Glaubet nun an
mich; denn ich habe den Kranken geheilt, den nach eurer eigenen
Aussage Niemand anders als der Messias heilen konnte.« So ist —
für die Gläubigen jener Zeit — Alles in's Reine gebracht und jeder
Anstoss beseitigt.
Woher stammt das Stück? Ein in unsern Evangelien überliefer-
tes Herrnwort ist hier durch eine »Paradosis« erläutert. Wir kennen
nur eine Schrift, in die das Stück vortrefflich sich fügt — die
5 Bücher Aoriun KyYPıak@n €EzHur#cewc des Papias. Auch nach dem jüng-
sten Ausleger des Prologs zu diesem Werke, den uns Eusebius (h. e.
III, 39) erhalten hat’, hat Papias die zu erklärenden Herrnworte den
kanonischen Evangelien entnommen und die Auslegungen vornehmlich
aus mündlichen Überlieferungen der Presbyter geschöpft. Da Clemens
' Dass Jesus in der Erzählung ö6 cwTHP heisst, spricht auch nicht für ein Evan-
gelium (s. indessen das Aegypter-Evangelium, Sıron. Ill, 9, 63); doch könnte Clemens
selbst Jesus hier so bezeichnet und den ursprünglichen Ausdruck verwischt haben.
An und für sich kann auch das, was aus einem apokryphen Evangelium stammt, als
»mAPAAocIc« bezeichnet werden, s. Orig. in Matth. X, 17: EK TIAPAAÖcewC ÖPMWMENOI TOY
ETTITETPAMMENOY KATA TTETPON EYATTENloY.
® Man vergleiche dazu Marc. 9, 28 und Matth. 17, 19.
3 Eovarn Scnuwarrz, Über den Tod der Söhne Zebedäi. Ein Beitrag zur Gesch.
des Johannes- Evangeliums, 1904 (Abhandl. der Königl. Gesellsch. der Wissensch. zu
Göttingen, Philol.-historische Classe, Bd.7 Nr. 5).
llarnack: Ein neues Fragment aus den Hypotyposen des Clemens. 905
(s. oben) kleinasiatische Überlieferungen und wahrscheinlich auch das
Werk des Papias gekannt hat, da ferner unsere Erzählung beglau-
bigten Fragmenten aus dem Werk des Papias ähnlich ist', so liegt es
sehr nahe, in ihr ein Bruchstück aus diesem Werk zu erkennen. Den
Namen des Papias zu nennen, hatte Clemens keine Veranlassung; denn
nicht dass Papias das berichtet, war wichtig, sondern dass er eine
Überlieferung wiedergiebt. Dennoch will ich natürlich nicht be-
haupten, der Ursprung des Stücks aus dem Werk des Papias sei ganz
gesichert.”
4.
Es erübrigt noch, den der Anekdote zu Grunde liegenden Bibel-
text zu betrachten.
Zum Bibeltext gehören folgende Sätzchen:
TOAMÄA ... AEHBENTOC TOT NETIPOF (6 CWTHP) ETIICTIAATXNICBEIC ... EITTEN”
“Arıenee Kal AEIEON CEAYTON TOIC TEPEFCIN EIC MAPTYPION.
1. Dieser Bibeltext ist ein gemischter (s. Matth. S, ı—4: Mare.
1, 40— 44; Luc. 5, 12— 14); denn a) das nur von Marcus (1,41) ge-
botene crmarxnıceeic kehrt hier wieder, verstärkt durch emi; ich weiss
nicht, ob emicrraarxnizecea noch anderswo vorkommt als bei Symmachus,
wo es Deuter. 13, 8[9] Übersetzung von >ar ist: 5) das acheentoc findet
sich nur Luc. 5, ı2 (&aeteH), Marc. schreibt rrarakanan, Matth. rPoc-
eKYneı nerwn; C) das Arrenee findet sich nur bei Lucas: Arrenewn Acizon;
d) mit Matth. und Marc. nennt unsere Anekdote den Mann einfach
»einen Aussätzigen«; Lucas vermeidet das und schreibt: An#p rrAAPHc
nerrac. Es ist also ein harmonisirter Text, den wir vor uns haben.’
2. Das Verwandtschaftsverhältniss mit den ältesten Zeugen ist
folgendes:
a) momnA wird von keinem Zeugen sonst vertreten,
' Die Presbyter des Papias erzählen ausser neuen Herrnworten, die sie zur
Erklärung der kanonischen heranziehen, auch Palästinensisches. So wissen sie Nä-
heres vom Tode des ‚Judas und berichten von dem Zustand des Grundstücks, auf dem
er begraben liegt (s. meine Sammlung der Papiasfragınente, Patr. Apost. Opp. edit. II
Pars l, 2 p. 93f.). Das stimmt vortrefflich zu der Fabelei, die jüdischen Priester in
Palästina hätten die Kraft besessen, an bestimmten Tagen Aussätzige zu heilen. — Das
bei Georgios Hamartolos (wahrscheinlich verstümmelt) vorliegende Papiasfragment ist
dem unserigen formell ähnlich; denn es wird dort ein den kanonischen Evangelien
entnommenes Herrnwort (Mare. 10, 35 ff.) durch eine marAaocıc über den Tod des Ja-
cobus und Johannes erklärt.
° Gestreift hat auch Mercarı (p. 7) in seiner Erklärung des Fragments das Werk
des Papias bez. die »Überlieferungen« des Presbyters Johannes bei Papias.
® Der gelehrte Abschreiber hat die »Paradosis« zu Matth. 8, 2 gestellt; der Text-
fassung nach hätte er sie besser zu Lue. 5,12f. stellen sollen; denn mit dem Lucastext
ist die Fassung am meisten verwandt.
906 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 19. Mai 1904.
b) Toic iepeycın — fast alle Zeugen (auch Marecion) T& ierel (auch
ro Apxıepei kommt vor in einigen Minuskeln und [im Mare.] in der
Vulg. u. s. w.), aber Tatian (Ephraem p. 145; Zauw, Forsch. III S. 160)
las Toic ierefcın und ebenso der Syrus Sinait. bei Lucas (bei Matth.
las er Tö ierei, bei Marc. ist hier eine Lücke), ferner der Syrus Curet.
bei Matth. und die Peschittho in allen dfei Evangelien, endlich ff?
im Marcus, g° und gat ebenfalls im Marcus (aber »prineipibus sacer-
dotum«). Die syro-lateinische Lesart Toic iepefcın ist in unserer »Para-
dosis« zum ersten Mal griechisch belegt.
c) Armense Kal — dass das Areneein lucanisch ist, wurde oben
bereits bemerkt (Marc. und Matth. bieten Ynare); während aber fast
alle Zeugen bei Lucas Arrenewn Acizon bieten, bieten D ae wie unsere
»Paradosis« Ärenee ae Kai aeizon, und Tatian, viele Itala-Codd., Vulg.
und Syrus Sinait. lesen Ärrenee, acizon. Auch hier also bezeugt unsere
Anekdote eine uralte Lesart (Ämenee).
d) Am auffallendsten ist, dass sich in unserm Text weder aYToic
nach martYPıon findet, noch die Worte mitgetheilt sind, die in allen
drei Evangelien nach roic ierefcın (TO ierel) und vor eic marTYPIon ste-
hen, nämlich «ai mPocenerke TIePl TOY KAsAPpıcmo? coY KaeWc (A) TIPOCETA-
zen Mufchc (bez. Kal TIPOCENnerKon TO AWPON Ö TIPocerazen Muwfchc). Zu
eic MAPTYPION AYToIlc ist noch zu bemerken, dass der Syrus Sinaiticus
»dass es ihnen ein Zeugniss sei« (Matth.) bez. »dass du ihnen zum
Zeugniss werdest« bietet, der Cod. D aber na eic martYpıon A YMin
ro?to. Diese Lesart (»vobis«) findet sich auch (mit unbedeutenden
Varianten) in den Codd. abe ff?lq'‘, ferner bei Mareion, Tertullian
und Ambrosius.”
Mercarı sucht zu zeigen, I. dass dem Schreiber unseres Frag-
ments die Worte »Kai TIPocenerke KTa.« und »AYToic« noch nicht be-
kannt gewesen sein können, 2. dass die Lesart »Ymin« aus unserer
Erzählung (micteycarte!) entstanden sei. Die erste These hat etwas
Verlockendes: in der That ist die Entstehung unserer exegetischen
Anekdote leichter verständlich bei der Annahme, der Verfasser habe
die Worte »xkal TIPOCENerKE TIEP| TO? KABAPICMOF coY KaeWc (A) TIPOCETAZEN
MwYche« noch gar nicht vor sich gehabt. Allein die christologische
Deutung der Worte »eic martYrpıon« konnte ihm doch auch kommen,
obgleich er jene Worte las. Die Beziehung des »eic mAarTtYpıon« und
des »AaYroic« in dem vollständigen Text ist ja keineswegs ganz klar
(zumal nicht nach dem Text des Matthäus und Lucas; deutlicher ist sie
nach dem Text des Marcus). Soll man »eic maPTYPIon« ZU »TIPOCETAZEN«
' D.h. im Vercell., Veron., Colbert., Corbei., Rehdig. und Monac.
® Tatian hat AYTolc gelesen; im Vorhergehenden scheint aber sein Text: »sieut
praecepit vobis Moyses« gelautet zu haben.
Harsack: Ein neues Fragment aus den Hypotyposen des Clemens. 907
ziehen (wohl das Richtige) oder zu »rpocenerke« oder zu »aeizon TO iepei«?
Bezieht sich »AaYTolc« auf »T& ierei« (als Gattungsbegriff gedacht) oder
auf das Volk (welches aus den Worten »OPpA MHAEN! MHAEN EITTHC« ZU
entnehmen ist)? Ist »eic martYrıon« zu paraphrasiren: »Zum Zeugniss
für sie, dass ich (Jesus) das Gesetz nicht auflöse, sondern beobachte«?
oder »Zum Zeugniss, dass der Aussätzige nun wieder in den allge-
meinen Verkehr aufgenommen werden kann«? oder »Zum Zeugniss,
dass ich (Jesus) die Aussätzigen heilen kann, also der Messias bin «?
Da die letztere Deutung auch bei dem vollständigen Text (und zwar
in allen drei Evangelien) eine mögliche ist und da in unserm Text
auch die Worte fehlen: »öra MHAen| MHAEN Eithc«, so hat man keine
Sicherheit, dass der Verfasser unseres Stücks die Worte »xKai TPocEnerke
kra.« und »aAYroic« nicht gelesen hat. Damit fallen aber auch die
Schlüsse dahin, die Mercarı an das Fehlen der Worte geknüpft hat.
Es ist nicht gewiss, dass die Worte »Kai TPocenerke KTA.« ein späterer
Zusatz sind; es ist vielmehr wohl möglich, dass der Erzähler (vielleicht
sogar erst Clemens) sie willkürlich weggelassen hat, weil sie für seine
Erklärung bedeutungslos waren.
Was aber die Entstehung der uralten Lesart »vmin« betrifft, so
scheint es mir sehr kühn, sie mit Mercarı aus unserer Anekdote
abzuleiten und somit zu behaupten, schon z. Z. des Marcion müsse
diese (also auch die Schrift, aus der sie stammt) vorhanden gewesen
sein. Mercarı lehnt die entgegengesetzte Annahme (p. 9f.) mit einer
kurzen abschätzigen Bemerkung ab. Aber wenn es gewiss ist, dass
der plötzliche Übergang zur 2. Person, der in unserer Anekdote (»micrer-
cate«) und in der Lesart »Yymin« enthalten ist, eine Wurzel haben
muss — hierin stimme ich Mercarı bei —, so liegt doch die Annahme
sehr viel näher, eben das »ymin« habe den Anstoss zur Paraphrase
»riicteYcate« gegeben. Keiner der alten Texteszeugen verräth sonst
auch nur die leiseste Kenntniss unserer Anekdote; wie seltsam wäre
es daher, wenn sie nur das »YMin« für »ayroic« ihr entnommen haben
sollten! Umgekehrt aber wird der Übergang in die 2. Person und
die Paraphrase »micreycare« in der Anekdote leicht verständlich, wenn
die evangelische Perikope dem Verfasser in dem Wortlaut »eic martY-
PIon Ymin« vorlag. Clemens mag in seiner Wiedergabe der Anekdote
das »ymin« aus dem Texte weggelassen haben, weil er es in seinem
Texte nicht las. Will man das nicht annehmen, so müsste man ur-
theilen, der Verfasser der Anekdote habe weder »Ymin« noch »aYroic«
vorgefunden und sei zufällig in seiner Paraphrase »micreYcate« mit
dem »Yrin«, welches schon Mareion las, zusammengetroffen. Das ist,
wie schon angedeutet, die unwahrscheinlichere Annahme; also ist es
wahrscheinlich, dass er Ymin ebenso mit Mareion und den Oceiden-
908 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 19. Mai 1904.
talen gelesen, wie er ja auch mit den Oceidentalen Arrenee und nicht
Arrerneon in seinem Lucastext gefunden hat.
Man darf also nicht mit Mercarı behaupten, unsere Anekdote
müsse älter sein als Mareion, da dieser einen Bibeltext biete, der
nur aus der Anekdote erklärt werden könne. Die Anekdote setzt
vielmehr höchst wahrscheinlich diesen Bibeltext (»vmin«) bereits vor-
aus. Dieses »ymin« hat aber nun allen Anspruch darauf, mindestens
im Text des Lucas als die ursprüngliche Lesart zu gelten, da sie das
Zeugniss des Mareion, des Papias — oder wer sonst der Aufzeichner
unserer Anekdote ist — und der alten Occidentalen für sich hat und
gegenüber »AaYToic« die schwierigere ist.
Nicht so günstig wird über den Plural »Toic iepefcın« zu urtheilen
sein, da Marcion den Singular bezeugt. Auch steht fest, dass die Lesart
unrichtig und später ist; man verstand den Singular (»den zuständi-
gen Priester«) nicht mehr, und auch das »aYToic« (Ymin) schien den
Plural zu fordern. Allein dass die Lesart uralt ist, bezeugt die oben
mitgetheilte Zeugenreihe, in der Tatian, der Syrus Sinait., der Syrus
Curet. und ein paar alte Lateiner stehen. Das ist eine vornehme Be-
zeugung! Dennoch würde ich Bedenken tragen, sie, sei es in den
Matthäustext, sei es in den Lucastext, als die ursprüngliche Lesart
aufzunehmen, weil sie für kein bestimmtes Evangelium stark be-
zeugt ist. Sie gehört wohl einem vortatianischen Mischtext der Syn-
optiker an.
Immerhin zeigt unsere Anekdote durch das »micteYcate« (= YMin),
das »Tolc iepe?cı« und das »Arrenee«, dass sie, ihren Bibeltext anlan-
gend, sich neben unsern ältesten Zeugen sehen lassen kann. Von hier
aus spricht nichts dagegen, dass sie dem Papias zuzuweisen ist.
909
Der Brief des britischen Königs Lucius an den
Papst Eleutherus.
Von Apour Harnack.
In dem Liber Pontifiealis (unter »Eleutherus«)' steht eine Mittheilung,
die in der Ökonomie des Buches einzigartig ist” und die der Ausgangs-
punkt einer grossen Legendenbildung in England von den Tagen Beda’s
an geworden ist.‘ Die Worte lauten:
»Hie [Eleutherus] accepit epistula(m) a Lucio Brittanio [sie] rege,
ut christianus efficeretur per eius mandatum.«
Dass die Nachricht gänzlich unglaubwürdig ist, darüber herrscht
Einverständniss. Eleutherus war von e. 174 bis ce. 189 römischer
Bischof. Damals gab es keine britischen Könige, und hätte es welche
gegeben, so würden sie nicht »Lucius« geheissen haben. Auch kann
eine so wichtige Nachricht nieht wahr sein, die erst einige Jahr-
hunderte nach dem Ereigniss zum ersten Male auftaucht: ihr Anspruch
auf Glaubwürdigkeit ist schon durch ihre Jugend gerichtet.
Aber wie und wo ist die Legende entstanden? Happan, Stuses
und Monmsen meinen, sie sei in Rom aufgebracht worden im 5. oder
6. Jahrhundert; Zmmer schiebt sie nach Britanien; Bönner urtheilt,
sie sei erst in einer Zeit entstanden, da man bestrebt war, den römi-
schen Ursprung der britischen Kirche und, im Zusammenhang damit,
ihr Obedienzverhältniss zum hl. Stuhl zu erweisen, also zwischen e.603
und 680. Zurückhaltender bekennt Hr. Dvcnesxe‘, nachdem er einige
Thatsachen dafür angeführt hat, dass man um das Jahr 500 in Rom
Britanien nicht vergessen hatte: »Tout cela peut servir ä montrer
que les Romains de la fin du V*° sieele et du commencement du sieecle
suivant n’avaient perdu de vue ni la Bretagne ni les Bretons; mais
' Duenuesse, Liber Pontif. I p.136. Mounsen, Liber Pontif. I p. 17.
* Der Liber pontif. kümmert sich in seinen älteren Partien nicht un ausser-
italienische Verhältnisse.
® Nachweise über die Wucherungen der Legende, seit sie Beda in seine
Kirchengeschichte aufgenommen hat, findet man bei Hapvan und Sruses, bei Gamuack
(im Diet. of Christ. Biogr. III p. 754 fl.), Ducuesse, Zimmer, Monusen, Bönmer
(Havcer’s REneyklop. Bd. 5 S. 287 ff.) u. A.
R.c>p- CIE.
910 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 19. Mai 1904.
je m’empresse de reconnaitre quil ny a pas la une explication
suffisante de l’assertion preeise, quoique fausse, de notre auteur
sur la lettre du roi Lucius au pape Eleuthere. D’ou l’a-t-il tiree?
Ö’est ce que, dans l’etat actuel des documents, je dois me resigner
a ignorer.« In der That, nicht dass die Bekehrung Britaniens bis
an’s Ende des 2. Jahrhunderts gerückt worden ist, ist hier das Para-
doxe — solche schwindelhafte Behauptungen sind ja im frühen Mittel-
alter zu Dutzenden in die Welt gesetzt worden —, sondern die be-
stimmten Angaben: »Eleutherus episcopus Rom.«, »Lucius Britta-
nius[?] rex« und ein Brief, den dieser an jenen geschrieben haben soll.
Solange diese Angaben nicht erklärt sind, ist nichts erklärt. Sie aber
haben bisher jeder kritischen Bemühung getrotzt.'
Durch einen Zufall bin ich, wenn nicht Alles trügt, jetzt auf
die richtige Erklärung geführt worden. Als ich das neu entdeckte
Fragment der Hypotyposen des Clemens untersuchte, stiess ich bei
Zaun, Forsch. II p. 70 auf das (angeblich) diesen entnommene Frag-
ment über die Grabstätten der Apostel. Da heisst es:” »Petrus et
Paulus Romae sepulti sunt; Andreas Patrae eivitate Acaiae; Jacobus
Zebedaei in arce Marmarica; Joannes in Epheso; Philippus cum filiabus
suis in Hierapoli Asiae; Bartholomaeus in Albone, eivitate maioris
Armeniae; Thomas in Calaminia eivitate Indiae; Matthaeus in montibus
Parthorum; Marcus Alexandriae in Bucolis (diese beiden Worte fehlen
in M); Jacobus Alphaei iuxta Templum; Thaddaeus et Judas in
Britio (Beruto P) Edessenorum u.s.w.« Dieses »Britio (Beruto)
Edessenorum« rief mir die Nachricht im Papstbuch in das Gedächt-
niss®, und was sich dann ergab, will ich nun mittheilen.
(1) Soweit unsere Kenntnisse reichen — und sie sind in diesem
Fall schwerlich lückenhaft — hat es am Ende des 2. Jahrhunderts
nur einen König und demgemäss nur ein Königreich gegeben, welche
christlich wurden — den König Abgar IX. und sein kleines Reich
Edessa. Abgar IX. bar Manu regierte von 179—c. 216, war also ein
Zeitgenosse des römischen Bischofs Eleutherus. Dass er Christ ge-
worden ist, ist eine Thatsache, die nicht mehr bewiesen zu werden
braucht. Wann er es geworden ist, ist nicht ganz sicher auszu-
! Hr. Mowuusen hat sich immer wieder mit der seltsamen Angabe beschäftigt
und mich nach dem muthmaasslichen Ursprung gefragt. Ich vermochte ihm aber
keine Auskunft zu geben.
® Vgl. zum Text (Mss.M und P) Lirsıus, Die apokr. Apostelgeschichten I S. 214;
Il, 2 S. 161 und Ergänzungsband S. 17.
® Sie that dies, weil ich schon lange gemuthmaasst hatte, die räthselhafte Notiz
hinge irgendwie mit Edessa zusammen; ich fand aber früher keinen Beweis für diese
Annahme.
Harnack: Der Brief des britischen Königs Lucius an den Papst Eleutherus. Y11
machen. Gurscnum gab »ungefähr 202/3« an. Gewiss hat er schon
geraume Zeit vor der Taufe der christlichen Gemeinde in Edessa
nahe gestanden.‘ Begegnet uns also irgendwo und irgend-
wann eine Nachricht, am Ende des 2. Jahrhunderts und
zur Zeit des römischen Bischofs Eleutherus habe sich ein
König dem Christenthum genähert, so haben wir in erster
Linie an den König Abgar IX. von Edessa zu denken.
(2) Abgar IX. von Edessa hiess aber nicht nur Abgar bar Manu,
sondern sein voller Name lautete: Lucius Aelius Septimius Megas
Abgarus IX. [bar Ma’nu]; die Namen Lucius Aelius hatte er zu Ehren
des Commodus angenommen.” Er ist der einzige Abgar, der den Namen
Lucius geführt hat. Damit haben wir den »König Lucius«, den
wir brauchen.
(3) Beziehungen zwischen diesem Abgar und dem römischen Bischof
sind nicht bestimmt zu belegen; indessen ist doch eine verworrene
Nachricht in der Legende über den Ursprung des Christenthums in
Edessa (Acta Addaei) nicht zu verachten, die Palut, den ersten
Bischof Edessas mit dem Bischof Serapion von Antiochien, diesen
aber mit dem römischen Bischof Zephyrin, den zweiten Nachfolger
des Eleutherus (ce. 200— 217), zusammenbringt (Palut soll indireet
von Zephyrin geweiht sein, weil dieser seinen Consecrator, den
Serapion, geweiht habe).” Viel wichtiger aber, weil ganz sicher, ist,
dass schon im Österstreit (um d. J. 190) »die Gemeinden in Osrhoöne
und den dortigen Städten« nach dem Zeugniss des Eusebius ein
Schreiben nach Rom gerichtet haben.” Ferner darf darauf hinge-
wiesen werden, dass Lucius Abgar unter Septimius persönlich in
Rom gewesen ist. Es ist doch sehr wahrscheinlich, dass der dem
Christenthum nahestehende oder vielleicht schon getaufte König da-
mals auch zu dem römischen Bischof in Beziehung getreten ist.
(4) Dass Lucius Abgar, König von Edessa, an Eleutherus in
Bezug auf seinen bevorstehenden Übertritt zum Christenthum ge-
" Nach der wohl gleichzeitigen Eintragung in der edessenischen Chronik zum
J. 515 — 201 p. Chr. (s. HarLıer, Unters. über die edessenische Chronik, in den
Texten und Unters. Bd. IX, H.ı, S. 84, 86) hat die grosse Fluth dieses Jahres
»das Heilisthum der christlichen Kirche« zerstört. Also bestand das Christenthum
dort schon, und zwar als öffentlich anerkannt.
® Zur Zeit des Papstes Eleutherus führte er also diese Namen noch nicht; aber
das ist natürlich gleichgültig: in späterer Zeit war er unter diesen Namen bekannt
und er wurde mit ihnen auch in Bezug auf solche Ereignisse bezeichnet, die vor die
Zeit, da er sie angenommen hatte, fallen.
® Siehe meine Litt.-Gesch., Teil I S. 504, 540, 597 und mein Lehrbuch der
Dogmengesch. Bd. 1,3 S. 453f. Dieselbe Angabe steht auch in den Akten des Scharbil
und Barsamya.
* Siehe meine Missionsgeschichte S. 441.
912 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 19. Mai 1904.
schrieben hat und dies also die ursprüngliche Nachricht ist, ist nun
wohl schon wahrscheinlich; aber wie hat sich Lucius, der König
von Edessa, in einen britischen König zu verwandeln vermocht?
Hier verweise ich auf die Fassung der oben mitgetheilten geo-
graphischen Notiz »in Britio (Beruto) Edessenorum«. Gewiss — sie
lautet zunächst ganz dunkel und seltsam, aber nachdem die Glei-
chung Lucius = Abgar gefunden ist, wird schwerlich Jemand zweifeln,
dass in jenem »in Britio«, das so stark an »Britanien« anklingt, die
Erklärung der Thatsache steckt, dass der König Lucius aus Edessa
nach Britanien versetzt worden ist. Mag das »in Britio« was immer
bedeuten, mag es ganz verderbt sein: ein »in Britio« sagt uns genug,
um — für die barbarische Zeit des frühen abendländischen Mittel-
alters — die Übertragung einer Legende von Edessa, das man kaum
mehr kannte, auf Britanien, das man gut kannte und für das man
nach alten Nachrichten suchte, sehr natürlich zu finden.
Aber was bedeutet: »in Britio (Beruto) Edessenorum«? Hier
sollen die Apostel Thaddaeus und Judas bestattet sein.
Über keinen anderen Apostel giebt es so verworrene Legenden
wie über den Apostel Judas Jacobi. Bekanntlich wird er bald mit
dem Apostel Thaddäus (Addäus, Lebbäus), bald mit dem Apostel
Thomas in der späteren Überlieferung identifieirt, bald von ihnen
unterschieden. Lirsıus hat in seinem grossen Werk über die apo-
kryphen Apostelgeschichten die Legenden über ihn — speeiell auch
über sein Grab — sehr fleissig gesammelt! und zu sichten versucht;
aber er ist in der Aufgabe stecken geblieben und hat an dem wichtigsten
Punkt Traditionen als selbständige neben einander bestehen lassen,
deren secundärer Charakter evident ist.
Die älteste Überlieferung — s. auch Lirsws II, 2 8.154 — weiss
es nicht anders, als dass der Apostel Judas (Jacobi) = Thomas in
Edessa, wo er gewirkt hat, begraben liegt. Dort hat auch die
Pilgerin Silvia (s. Peregr. ec. 19) sein Grab gesehen.
Eine jüngere Überlieferung lässt ihn von Edessa aus in die
weiter östlich gelegenen Gebiete gehen, zuletzt aber merkwürdiger-
weise in Berytus in Phönizien sterben. Die armenische Über-
lieferung lässt ihn nach Armenien gehen und dort in Ararat (Arat,
Ardaz) sterben. Daraus ist in spätester Überlieferung Aradus in
Phönizien geworden. Anderes mag hier bei Seite bleiben.
Livsivs betrachtet die Tradition, Berytus betreffend, als eine selb-
ständige; allein nicht nur die etwa gleichzeitige Umsetzung Ararat (Arat)
in Aradus (Phönizien) macht stutzig, sondern auch die Erwägung, dass
! Siehe Bd.I S. 29, zı2ff., 219. Bd.II, 2 S. 154—-163. Ergänzungsband S. 17.
Harnack: Der Brief des britischen Königs Lucius an den Papst Eleutherus. 913
der sonst mit seiner Mission stets in den Osten und Norden (Meso-
potamien, Armenien) versetzte Judas schwerlich absichtlich oder in
primärer Überlieferung zuletzt nach Phönizien (Berytus) gebracht sein
kann. Dazu kommt, dass in den sonst parallelen spät-syrischen und
spät-griechischen Berichten über den Ort des Todes des Judas Edessa
immer noch mit Berytus wechselt. Endlich auch solche Be-
richte, die Berytus nennen, machen es durch den Zusammenhang, in
dem sie es nennen, klar, dass ursprünglich das phönizische
Berytus gar nicht gemeint war; denn sie lassen den Judas unter
Abgar von Edessa in Berytus sterben.'
Die Lösung ist einfach. Unter »Berytus« kann das bekannte
phönizische ursprünglich nicht verstanden gewesen sein. Also hat
man ein lautlich mit Berytus verwandtes Wort erst später irrthümlich
auf Berytus gedeutet und nun dem Judas in der Todesstunde noch
eine Mission nach Phönizien andichten müssen. Aber wie lautete die
Nachricht ursprünglich. Da helfen uns die Lateiner: Im »Latereulus
apostolorum« (s. oben), der als auf seine Quelle auf Clemens’ Hypo-
typosen verweist’, liest man, Judas sei gestorben in »Britio’ Edesse-
norum«. In dem »Breviarium apostolorum«, das mit dem Latereulus
verwandt ist‘, heisst es: »sepultus est in Verito Armeniae urbe«
(dafür schreibt ein Codex »in monte Armeniae urbis«). Bei Pseudo-
Isidor? ist daraus »in Ethnerico [Nerico] Armeniae urbe« geworden.
Der Thatbestand ist klar: »In Britio Edessenorum« ist die älteste
Form der Nachricht‘, die wir erreichen können. Sie lässt den Judas
in Edessa, wie die älteste Überlieferung, begraben sein; aber
sie hat eine Lokalität in Edessa angegeben’; diese Lokalität ist
! Siehe Pseudo-Dorotheus A: “loYaAac... *Eaecchnolc Kal TIACH TA MecorioTamia
EKHPYEE TO EYATTENION TOY KYPIoY, EI AE& AYTAPOY BACIAEWC TEAICCHNÖN ETENEYTHCEN EN
BHPYT® Kal Ekel BAnTeTAı Enaözwc. Wie wunderlich! Judas ist unter dem König
Abgar von Edessa in dem phönizischen Berytus gestorben und begraben! Ebenso
Pseudo-Epiphanius, Pseudo-Hippolyt (bei Combefis). Dagegen Pseudo-Dorotheus B:
"loYAAc ... EN TIÄCH TA MecoTioTaMlIA KHPYEAC TÖN XPICTON TENEIOYTAI EN "EAECCH Kal
Ekel SATITETAI und ebenso Pseudo-Hippolyt (bei LAGArne): Keira En EAeccH TA TIöneı.
In den Berichten, die Berytus nennen, ist mit Ausnahme eines einzigen (Scholion bei
LAGARDE) niemals »Phönizien« zu Berytus hinzugefügt.
® Mit welchem Recht lasse ich hier dahingestellt sein, aber die Verweisung
zeigt immerhin eine nicht unverächtliche Kenntniss.
® So der Cod. Mareian., der Paris. liest Beruto; aber die Form »Britio« wird
durch die anderen Zeugen bestätigt.
* Siehe Liesıus Bd. 1 S. 212; II, 2 S. 161.
5 Siehe Liesivs Bd. I S. 214; II, 2 S. 161.
° Dass dann für Edessa »Armenien« geschrieben worden ist, ist leicht ver-
ständlich.
” So schreibt eben dieser Latereulus ja auch (s. o.): »Marcus (sepultus est)
Alexandriae in Bucolis, Jacobus Alphaei iuxta templum, Jacobus Zebedaei in
arce Marmarica.«
Sitzungsberichte 1904. 74
914 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 19. Mai 1904.
als »Berytus« verstanden worden, und so ist die Legende ent-
standen, Judas sei in Phönizien gestorben. Die Westsyrer haben ihn
sich nun erobert, wie sie ja auch in Bezug auf die Parallelsage Arat
(Ararat) in Aradus verwandelt haben.
Welche Lokalität aber wird unter »in Britio Edessenorum« zu
verstehen sein? Nun, dies Britium Edessenorum kann doch wohl
— wenn Birtha nicht einfach — Stadt zu setzen ist' — nichts Anderes
sein als Birtha (772) die Burg von Edessa (vergl. »arx Marmarica«).”
Welche Rolle der Burgberg in Edessa gespielt hat, ist bekannt und
öfters dargelegt worden, vergl. z. B. Haruıer, a.a.0.S.84: »Im Süd-
westen trägt der Vorsprung des Gebirges von Edessa die Burg, auf
der der Winterpalast des Königs Abgar IX. lag, und zu der man auf
der hohen Straße, der sog. Beth Sahräy®, aus der Senke zwischen
dem Burgberg und der nordwestlichen Stadt gelangt«, s. die Angaben
über die Bauten Abgar’s IX. auf dem Burgberge in Folge einer furcht-
baren Überschwemmung der unteren Stadt im Jahre 513 = 201 p. Chr.
In der 9. Eintragung der edessenischen Chronik (HArzıer S.91) heisst
es weiter zum Jahre 517 = p. Chr. 205/6: »Es baute Abgar die Palatien
(Birtha, Pl.) in seiner Stadt«.” Der Apostel Judas-Thomas war also
— das besagt die Angabe auf der Burg von Edessa oder (Burg =
Stadt) in Edessa bestattet.
Der Name »Birtha« in Bezug auf Edessa muss so technisch ge-
worden sein, dass ihn auch die Griechen brauchten; denn die An-
gabe, Judas sei »in Britio Edessenorum« begraben, hat sich sogar in
lateinischer Fassung erhalten. Ferner, die Birtha von Edessa ist
mit dem Könige Lucius Abgar IX., eben dem Könige, der sich zum
Christenthum bekehrte, auf’s engste verbunden; er hat dort grosse
Neubauten aufführen lassen. Nun können wir zu unserer Notiz im
Papstbuch zurückkehren: »Eleutherus accepit epistolam a Lucio Brit-
tanio rege, ut christianus efficeretur par eius mandatum.« In »Lucius«
steckt, wie wir gesehen haben, Lucius Abgar, und in dem »Brittanio
rege« steckt das »Britium (Edessenorum)« der Judas-Thomas-Legende.
! Man weiss, wie geläufig bei den Syrern dieser Pleonasmus ist. Die Auf-
schrift des Abgar-Briefes an Jesus (Euseb., h. e. I, 13) lautet z. B.: "IHcoY cwTÄPI Ana-
@ANENTI EN TOTT@ "lepoconYmoan. Ferner sei bemerkt, dass in den von LAGArDE (Constit.
Apost. 1862 p. 281ff.) veröffentlichten griechischen Scholien zahlreiche Städte erwähnt
werden, aber nur bei Rom und bei Edessa »# möAIc« ausdrücklich zum Namen hinzu-
gefügt ist.
2 Dass es in dem Reich von Edessa (Osrho@ne) auch eine Stadt Namens Birtha
gegeben hat, sei angemerkt (s. Paury-Wıssowa III Col. 498); aber an sie wird nicht
zu denken sein. Judas ist der Apostel der Hauptstadt, d.h. Edessas selbst, und dort
ist sein Grab vom 3. Jahrhundert an gezeigt worden.
3 Über das Palatium in Edessa siehe auch die interessanten Angaben der Silvia.
Harnack: Der Brief des britischen Königs Lucius an den Papst Eleutherus. 915
I
Wie die ursprüngliche Überlieferung wörtlich gelautet hat, d.h. in
welcher Weise sich in ihr das Wort Birtha fand, das lässt sich
natürlieh nicht mehr ermitteln‘; aber dass »Britium« aus »Birtha«
entstanden ist und dass es Anlass gegeben hat, hier einen König
Lucius von Britanien zu vermuthen und flugs zu statuiren, scheint
mir nun eine gebotene Annahme zu sein — so wahrscheinlich
wie die, dass in dem Berytus der Legende ebenfalls die Birtha von
Edessa steckt.
Woher aber mag die zum Compilator des Papstbuches oder viel-
mehr zu einem seiner Gewährsmänner gelangte Angabe stammen,
der König Lucius Abgar habe in der Absicht, zum Christenthum über-
zutreten, an den römischen Bischof Eleutherus einen Brief gerichtet?
Da man schwerlich an eine Erinnerung der römischen Gemeinde denken
darf, die sich ein paar Jahrhunderte hindurch fortgepflanzt habe, so
liest die Annahme am nächsten, dass sie aus dem Kecroi des Julius
Africanus herrührt, der, wie bekannt, in diesem Werk von Abgar
mancherlei berichtet und das Archiv von Edessa für die edesse-
nische Königsgeschichte eingesehen hat.” In der Chronik des
Julius kann sie kaum gestanden haben; denn Eusebius hätte sie schwer-
lich übergangen.’
Die Angabe selbst scheint mir keineswegs unwahrscheinlich,
sondern sehr glaubhaft. Trat, wie feststeht, Lucius Abgar zum
Christenthum über, so wird er auch Verbindung mit dem römischen
Bischof gesucht haben, und Eleutherus regierte zu der Zeit, da er den
Übertritt erwog. Dass der römische Bischof Victor, der Nachfolger des
Eleutherus, Beziehungen zu Edessa hatte, haben wir oben gesehen: die
Gemeinden von Osrhoöne haben um das Jahr 190 an ihn ein Schreiben
im Österstreit gerichtet. Da wird man einen Brief des Königs an
Eleutherus nicht in’s Reich der Fabel verweisen dürfen.” Selbst die
spezielle Inhaltsangabe des Briefes des Lucius Abgar an Eleutherus:
»ut christianus efficeretur per eius mandatum« kann wesentlich
! Zu vermuthen ist: »Eleutherus accepit epistulam a Lucio rege Birtio [Edesseno-
rum], ut ete.« Diese Fassung würde die Verwechselung trefflich erklären. Mit Recht
macht mich Hr. Hırschrerp auch darauf aufmerksam, dass die Stellung der Worte
»a Lucio Brittanio rege« und die Unform »Brittanio« auffallend ist. Man erwartet
»a Lucio rege Brittaniae«, und so hat auch Beda die Notiz mit ihrem auffallenden
»Brittanio« corrigirt. Darf man nicht in den seltsamen Worten »a Lucio Brittanio
rege« noch eine letzte Spur des werdenden Quid pro quo’s sehen?
?2 Siehe Haııer, a. a. OÖ. Bd.9 H.ı S. 51, meine Chronologie Bd. 2 S. 161.
3 Aber den Übertritt des Abgar zum Christenthum hat Africanus in seiner Chronik
vermerkt. Von dort ist die Notiz in die Chronik Euseb’s übergegangen (s. z. ann. 2235).
* Nur mit aller Zurückhaltung werfe ich die Frage auf, ob etwa der wirkliche
Brief des Lucius Abgar an Eleutherus von Rom etwas zur Entstehung des gefälschten
Briefwechsels zwischen Abgar und Jesus im 3. Jalırhundert beigetragen hat.
74*
916 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 19. Mai 1904.
richtig, wenn auch eine etwas tendenziöse Modification des wirk-
lichen Briefinhaltes sein,' der von dem Übertritt zum Christenthum
gehandelt hat.
Wann die Umwandlung des Briefes des Lucius Abgar in einen
Brief eines britischen Königs Lucius vorgenommen worden ist, bleibt,
wie bisher, dunkel. Die Beantwortung der Frage hängt von der
Entscheidung der anderen Frage ab, wann die älteren Viten des
Papstbuches ihre jetzige Gestalt erlangt haben. Dieses Problem ist
noch immer nicht widerspruchslos gelöst. Nicht lange vor dieser
Redaction — um das Jahr 500, vielleicht erst erheblich später —
wird das Quid pro quo vollzogen worden sein, welches England
einen christlichen König Lucius um das Jahr 180 geschenkt hat.
Eine Möglichkeit bleibt bestehen, dass es aus Unkenntniss geschehen
ist; das seltsam lautende »Brittanio« könnte dafür sprechen; wahr-
scheinlicher ist doch eine bewusste Absicht. Zur völligen Evidenz
lässt sich die Vertauschung Birta, Britio, Brittanio, Brittaniae nicht
erheben; die Gleichung Lucius = Lucius Abgar scheint mir aber auch
ohne sie gewiss. Doch hat jene Umsetzung an dem Birtio Edesseno-
rum der Apostel-Legenden eine starke Stütze, und wer Vertauschungen
wie Birta, Britio, Beryto, Brittanio für unwahrscheinlich oder gar für
unmöglich hält, dem werden noch viele Freuden und viele Enttäu-
schungen bevorstehen, wenn er sich zum Studium geographischer
Namen und ihres Übergangs aus einer Sprache in die andere in den
Manuseripten des frühen Mittelalters entschliesst.”
! Die Worte »per mandatum eius« tragen den Stempel einer späteren Zeit.
2 Eine Parallele sei hier noch mitgetheilt, die um der Ähnlichkeit des Namens
willen von Interesse ist. In den Subseriptionen des Nieänischen Coneils (s. GELZER
p- LV, meine Missionsgesch. S.447) hat ein Bischof einer (unbekannten) Stadt in
Arabien nach den lateinischen Zeugen so unterzeichnet: »episcopus Beretanensis,
Beritanensis, Beresatana, Beretarensis, Berthanensis, Bartanensis, Veritanensis, Benta-
nensis«. Die syrischen Zeugen schreiben Brtn’ws und Brtnj, letzteres kann ohne Weiteres
in »Britaniae« aufgelöst werden.
97
Ein Gesetz von Samos über die Beschaffung von
Brotkorn aus öffentlichen Mitteln.
Von TnuEopvor WIEGAND und U. von WILAMOWITZ- MOELLENDORFF.
(Vorgelegt am 14. April 1904 [s. oben S. 737].)
Hierzu Taf. IX.
D- Urkunde wurde im Frühjahr 1903 in Tigani innerhalb des alten
Stadtbereichs von Samos gefunden, als man nach Bausteinen grub.
Dank der Fürsorge des Präsidenten der Samischen Regierung, Hrn.
Dr. Tuemıstoxtes SornuLıs, wurde sie alsbald in das Kastell des Lo-
gotheten überführt und in einer Kapelle niedergelegt. Hr. SopkuLıs
hat sie dort im Juli 1903 an Tu. Wırsann gezeigt und in freund-
lichster Weise gestattet, daß dieser Abschrift und Abklatsch nahm,
aus Zeitmangel nur von dem Haupttexte A, da die Namenlisten der
Seiten B und C versintert waren. Von diesen hat Hr. Dr. A. Rem
später Abschrift und Abklatsch genommen, als er im Herbst desselben
Jahres von Milet aus Samos besuchte. Die Abschriften hat U. v. Wıra-
mowırz nach den Abklatschen revidiert, die Erläuterungen hinzugefügt
und das Ganze redigiert.
Der Text steht auf dem Unterteil eines rechteckigen Marmor-
pfeilers, dessen Ablaufprofil erhalten ist. Oben befindet sich eine roh
behauene Fläche, indessen war das antike Werkstück hier sicher be-
endet, da sich darin ein Dübelloch mit Gußkanal befindet , falls dieses
nicht von späterer Verwendung herrührt. Der Pfeiler ist noch 123 cm
hoch, die Vorderseite ist 42.5 em, die Nebenseiten sind jetzt 44 cm
breit. Die Rückseite mit dem Spitzhammer bearbeitet. Das ist ge-
schehen, als zu einer neuen Verwendung des Steins diese Seite und
ein Teil der beiden anschließenden weggehauen ward. Der Haupt-
text A steht auf der linken Nebenseite, B auf der Vorder-, C auf
der rechten Nebenseite. Falls nicht oben der Stein sehr viel länger
war, oder ein gleichfalls beschriebener ansetzte, war auch die vierte
Seite einst beschrieben, denn es fehlt wohl mehr als wir haben. Die
ıcm hohen Buchstaben sind sorgfältig eingehauen, aber die Schrift
918
Sitzung der phil.-hist. Classe v. 19. Mai 1904. — Mittheilung v. 14. April.
ist ziemlich ungleich, sowohl in der Bildung mehrerer Zeichen wie
in der Buchstabenzahl der Zeilen. Eine Probe gibt die von dem Ab-
klatsch genommene Photographie von Zeile 77—90 auf Tafel IX.
15
20
25
30
A
“N Ton eym|opwTATwN. THN AE& ATIÖAEIEIN moleicew|can
To? MHnöc To? KPponıßnoc EN TÄI AEYTEPAI TON ER |KAHCI-
ÖN. CYNATETWCAN A& THN EKKAHCIAN Ol TIPYTÄNEI[C EN TÖI
BEÄTPWI KAl KENEYETWCAN TOYC EKKAHCIÄIONTA|C KA-
TÄ XIAIACTYN KABGIIEIN, CHMEIA TIOIHCANTEC KAl T[örron
AIOPICANTEC EKACTHI TON XINIACTYWN’ Öc A AN ÄTIEI-
ehı Kal MH KABIIH EN THI EAYTOY XINIACTYI, IHMIOYTW-
CAN CTATÄPI TIATPIWI. EAN AE AAIKWC EIHMIÖCBAI Al,
TTAPATPAYACeW, KAI H KPICIC FINECEW EN TÜI TIOAITIKWI Al-
KACTHPIWI EN HMEPAIC EIKOCI. TINECEW A& KAl H TIPOBOAHI
KAl H XEIPOTONIA YIT’ AYTÖN T@N XIAIACTHPWN. EN TAYTHI
A TÄI EKKAHCIAI AOKIMAIETWCAN Al XINIACTYEC Kal TÄ
YrıoehMmAaTaA Kal ToYc Errvoyc.' Ä A’ AN AOKIMACWCIN Y-
TIOB8EMATA KAl OYC AN AOKIMACWCIN EFFTYOYC KATATPA-
BETWCAN Ol TIPYTÄNEIC EIC TÄ AHMÖCIA TPÄMMATA. Ö-
MolWC AE& KAl TOYC ÄTIOAEIXBENTAC MENEAWNOYC KATA-
XWPITLETWCAN EIC TÄ AHMÖCIA TPAMMATA. DOTAN A IH
XEIPOTONIA MEAAH TINECBAI, 6 TÄC TIÖönEWC KÄPYE errely-
zZÄCeW, TOIC XEIPOTONHCACIN OYC NOMITOYCIN BEATICTA
TIPOCTHCECEAI TÜÖN XPHMATWN ÄMEINON EINAI. Oi A&C ATIO-
AEIXBENTEC EICTIPACCETWCAN TON TOKON TIAPÄ TÜN Ac-
AANEICMENWN KAl AIATPABETWCAN TOIC EM TO? CITOY KE-
XEIPOTONHMENOIC ANAPACIN. EKEINOI AEC ATOPAIETWCAN
cITON TON ATIO TÄC EIKOCTÄC ÄTIOMETPOYMENON”
TAc €&z AnAlwN, AIAÖNTEC TÄI BEe@l TIMMHN MH ENÄCCONA
ac TIPOTEPON Ö AHMOC TETAXEN 2.2... TIENTE KAl AY ÖBO-
NnoYCc. TO AE YTIEPAIPON APFYPION, EAM MEN MH AÖEHI TÜI AH-
MWI CITWNEIN, THPEITWCAN AYTOI MEXPI OTOY ETEPOI ATIOAEI-
xeßcın Ei TOP CITOY' EITEN AIATPAHETWCAN EKEINOIC. EAN AL
AÖEHI CITWNEIN, ATIOAIATPABETWCAN TIAPAXPHMA TÜI KE-
XEIPOTONHMENWI CITWNH. EKEINOC AE AÄTOPAIETW TON Ci-
TON €k TACc AnaleiTIaoc xWPAC ÖN TPÖTION AN NOMIIH
AYCITENECTATA KATACTHCEIN TAI TIÖNEI, EAM MH TIOBEN ANNO-
BEN AYCITENECTEPON $AINHTAI T@I AHMWI CITWNEIN. EI A& MH, TE-
Der Stein errvoy.c.
Vor dem letzten non fünf Stellen frei, Rasur.
Die sieben Stellen hat der Schreiber freigelassen.
Taf. IX.
zungsber. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1 904.
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Tu. WIEGAND u. von WiLamowrTZ- MOELLENDORFF: Gesetz von Samos. 919
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! Die beiden ersten Stellen frei.
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Sitzung der phil.-hist. Classe v. 19. Mai 1904. — Mittheilung v. 14. April.
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TPOYMENON.
Die Schmalseiten sind verstümmelt, als der ganze Pfeiler zu
neuer
Verwendung zugehauen ward. Die Breite läßt sich nicht
schätzen; wie die Ergänzungen zeigen, war sie nicht unbeträchtlich,
aber die Anordnung der Namen ließ meistens viel Platz frei. Hinter
Jedem
Namen meistens freier Raum.
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Aıonvcöawploc ....
ArpncAc! AcontılAaov
Xarianmoc Neo|NTt...
Anmntrioc Aptlem....
Kal Yrıep To? Yio? Arltem...
[211
ANeiniac Aubpoy ER[ATON Kal YIIEP TON YiOn
Aıoawpov kai Aecınlloy .....
AHmooon "Ertikoypo[v
Kal Yırep To? Yior "Erıkloypov
10 XAIPITITIOC XAPMITITIOY
Eyaıkion Aineoy Alako|ciac
EyorAioc Aineoy Alar|ociac
"ApHToc "EPzAnopoc Kal |YTTEP ToY YioY
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Lesung sicher; ArHcAc, wenn kontrahiert aus Arhceac, aber überhaupt be-
{remdlich.
Ti. WıEGAND u. von Wıramowitz-MOoELLENDORFF: Gesetz von Samos. 921
APHToY TIeNTaKoclac Tim....
ıs 'EPEHNOPOC EKATON "ErzHnwp [Kal
Iuinoc Aprtemiawpov Alar|ociac
XaPmion XAPIAHMOY AIAKOC|lAc
CurtÄrıxoc Aıonvcioy Yrıep Ar|To?' Kal Tor
vio? MANAPWNOC AIAKOCIAC
20 AıonYcioc CwrtHPixoY EKATÖ[N
®inoeHroc TTonemArxoy EKAT|ön
Mönrtnoc ®ınickoY AIAKOCIAC
AHMHTPIOC” ÄTTOANOAWPOY EIKATON
®inıcrianc Arronnwniov EKAT|öN
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AcKnHmAAHC® ACcKAHTTIAAOY
Meneanmoc Meneatmoy Mykanelyc'
"APxanaPpoc Ton&wc EKATÖN
TTönnıc AeHnAröPOY EKATON
so Arictapxoc Iwsiov Alakoclalc
ANTIxAPHc MeneAHMoY EKATÖN
Avcaniac Aycıkneovc Alako[ciac
Kritwn OYanıAaoY EKATON
Oeöawroc Oeoawrov Ekat|ön
35 "ImmwnaKTianc "Epmioy EKATÖN
Cımiac "ImmwnaKTiaoy EKATÖ|N
Avorennc "YeaHcloy Yrıep AY|TOF Kal TON Yiün
"YaHciov Kal Opacyanoy TE|TPAKOCIAC”
IAHMHTPIoc MHTPOAWPOY ....
so Anazimanaroc AaHritlov ....
AHmATPIoc "EikPAToY E|KATON
Nı6Awroc A1lockoyPlaoy
Timwn Kannırenoy ER|ATON
®inickoc Kıcco? ERatlön
45 APXEANAz XAIPIMENo|YC
Anapöeemic Menwnoc |...
Zenwn "Ekataloy EIKATON
CrrAtun Eratalor |...
! Der letzte Buchstabe nur in der Abschrift.
” TPIoc auf Rasur.
® Hinter dem ersten Ac ein Buchstabe radiert.
Also ein Untertan aus dem festländischen Besitze, der unter den Bürgern er-
scheint, wie in Athen ein CAnaminioc öder "Eneysereyc.
° Vom letzten Buchstaben zeigt der Abklatsch nur eine Hasta, würde also auch
TPIAKOCIAC gestatten.
4
922 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 19. Mai 1904. — Mittheilung v. 14. April.
“Hruciac Aptemia|wpov
so Menemaxoc AAmwl[noc
Cucisioc CuTiwno|c
Kal Yrrep TO? Yior Co]...
"Erikahc "Ermikneovc
Kal Yrıep TO? Yior 'Eriklaeovc
ss Boickoc TIyeonew AılAKOoCIAC
TTrpönovc TIpönov Aıalkociac
MeneKPAtHc KTHcBBloY .....
Taypeac MıkkAnoy EKa|Tön
"Hpöaortoc “"HPpoaöTtoy
60 Aıaröpac AroPAKPITOY
Armon Cocov EkAatöln
AıonYcıoc MHTPoaw|PoY
Aıöawroc |E]Yzeniaov Alıarociac
Oeösınoc Aurmwnolc| EralTön
65 A HNOAOTOCH
"Yenrcıoc IH[no]aötlolr Alıakociac
Anrimatpoc AnTıTmAT[poY
TTyppoc Manarokneiov[c
Anezanaroc Arıcteo[v
70 Kal Yrıep TOY vio? Oeorenovc Aılarociac
Onramennc "HpoadTovY Alakoci[ac
©anfc "EPMioY AIAKOCIAC
Atonnwnioc EYTYxoY EKATÖN
Neicieeoc 07! EKATON
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un
Aıockoypiaunc MHTPOAWPOY EKAT|ÖN
"arporaAc MAIANAPOY EKATÖN
Malianaroc "latpokneloyc AalaKoc|iac
Oelomanariance "Poawnoc EKATÖN
ElYaıoc Cwreov EKATön
so TToceiaımmoc TToceıainmoy EKatöln
TToceiaımmoc ®intew Exa|Tön, Kal
Yrmep ToY Yiof DıinTew EKATÖN
Cweisioc CuwTiwnoc Yrrep Cuwcıisioy
To? TToceıawnioy EKATÖN
85 'Epmwn ArTtonnwNIOY EKATÖN
Mıinniwn MeAANTA” EKATON.
! ®0Yc wohl ein karischer Kurzname üc Tnofc TInofc.
® Der äolische Name (Theophrasts Vater hieß Melantas) hat seine Flexion
bewahrt.
Tu. WIEGAND u. von Wıramowrrz-MOELLENDORFF: Gesetz von Samos.
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.Inoy Er[aron"
ERJATÖN
.. o]|Y EKAToN
SEE EKATÖN
5 me|nTaKo[ciac
EKAT]|ON
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.. 0Y EKATÖN
.. 0|Y EKATON
10 ...@ EKATÖN
.. YTOY AIAKOCIAC
..... TONTOC TIENTAK[OCIAC
. IAOY AIAKOCIAC
.. AWPOY EKATÖN
15 .. o|Y EKATON
.. WNOC EKATON
TIYAA|FÖPOY TIENTAKOCIAC
TT]yaarörov Trentakolciac
. |A0OY AIAKOCIAC mE[NTÄKONTA
En ...10Y AIAKOCIAC TIENTH|KONTA
... YAHIOY” TIENTAKOCIAC
. AlPpıcreoy EKATÖN
KaeocTPAToY EKATON
...TOY EKATÖN
25 .... "Hpoeemiaoc Alakoci[ac
. YKnelovc Alakolciac
22.2. VBAHCIOY EKATON
..... Menekneloyc EKat[ön
TTAnTarnoToY ER[ATON
30 ....0C TTavcanioy EKATöln
....Yroc "Hremon&wc me|nTaKoclac
... APIcT&wc EKATÖN
.. Toc Lwinoy xınlac
“2. POKAEIOYC EKATON
35 .... Alicxpiwnoc EKATÖN
„2... POC Tım&eoY EKATON”
„2.2. ERATAloY AIAKOCIAC
.. eelmıc Zenokneioyc EKATON
! ex fehlt auf dem Abklatsch.
? EyYaHioy die Abschrift.
® TIMeoY eka in Rasur; unter KA sieht man oc.
924 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 19. Mai 1904. — Mittheilung v. 14. April.
.. Alwpoc Biwnoc EKATöN
+0 AHMmHTPIOolc CwTA EKATON
Kal Yrıep TON Yion CuTA Eratön, AHMHTPlioY
TPIAKOCIA|C /AHMoBInoY TPIAKOC|IAC.
Übersetzung.
Die Ernennung (der merneawnoi) sollen sie (die xınıacrArec) im Monat
Kronion in der zweiten Volksversammlung vornehmen. Berufen sollen
die Volksversammlung die Prytanen im Theater und den Teilnehmern
befehlen, sich nach Tausendschaften zu setzen, und dazu für jede Tau-
sendschaft Zeichen aufrichten und einen Platz abgrenzen. Wer un-
gehorsam ist und nicht in seiner Tausendschaft sitzt, den sollen sie
um einen Stater altheimischer Art büßen. Behauptet er zu Unrecht
gebüßt zu sein, so soll er Einspruch erheben und das Urteil soll
binnen zwanzig Tagen beim Bürgergericht! gefällt werden. Die Be-
anstandung und die Abstimmung darüber soll von den Tausendschaft-
lern selbst erfolgen.”
In dieser Volksversammlung sollen die Tausendschaften sowohl
die Pfänder als die Bürgen prüfen. Die Pfänder und Bürgen, die
die Prüfung bestehen, sollen die Prytanen in die öffentlichen Bücher
eintragen: ebenso sollen sie die erwählten Pfleger (meneawnoi) in die
öffentlichen Bücher eintragen. Wenn die Wahl vor sich gehen soll,
soll der Herold der Stadt beten, daß es den Wählern gedeihe, wenn
sie diejenigen wählen, denen sie zutrauen, die Gelder am besten zu
verwalten.
Die erwählten (Pfleger, mereawnoi) sollen die Zinsen von den
Hypothekenschuldnern eintreiben und diese Zinsen an die Korn-
verwalter (Toic Em To? cirov) überschreiben. Die (Kornverwalter)
sollen das Korn ankaufen, das vom Zwanzigstel aus Anaia ein-
geht, und zwar darf der Göttin kein geringerer Preis bezahlt wer-
den, als er früher vom Volk festgesetzt ist, nämlich fünf (Drachmen)
und zwei Obolen. Das überschießende Geld sollen sie, wenn das
Volk keine weiteren Getreideankäufe beschließt, selbst aufheben, bis
andere Kornverwalter ernannt sind: dann sollen sie es an diese über-
! Das TIOAITIKÖN AIKACTHPION steht vermutlich im ‚Gegensatze zum ZeNnIKöN, in
dem Richter saßen, die aus einer andern Stadt erbeten waren.
® Der Ausdruck macht nicht klar, ob der appellierende Tö OnomA ToY TIPYTANEwC
TIPOBANNETAI, oder der Prytan TO önomA TOY AAIKkoYnToc, d.h. ob die auferlegte Ordnungs-
strafe oder die angemeldete Appellation dagegen durch eine Abstimmung der versam-
melten Chiliastys bestätigt werden mußte; wahrscheinlich ist das erste.
Tu. WıEGAND u. von Wıramowrrz- MOELLENDORFF: (Gesetz von Samos. 925
sehreiben.‘ Wird aber Ankauf beschlossen, so sollen sie es sofort an
den erwählten Kornkäufer (cıranHc) definitiv überschreiben.”
Der soll das Getreide aus der Landschaft von Anaia einkaufen
so wie er es der Stadt am billigsten einzurichten glaubt, es sei denn,
daß der Demos es irgendwo andersher billiger bekommen zu können
glaubt. In diesem Falle’ soll es nach dem Beschlusse des Volkes ge-
schehen. Eine Vorlage hierüber sollen alljährlich die Prytanen des
Monats Artemision machen und vorher auf die Tagesordnung setzen.
In jedem Jahr am ersten Tage der Beamtenwahlen nach Ein-
setzung der Wahlbeamten soll das Volk zwei Männer, aus jeder Phyle
einen, als Kornverwalter anstellen, von denen jeder nicht weniger
als drei Talente Vermögen besitze. Diese sollen von den Pflegern die
Zinsen übernehmen, den Preis des Kornes und was sonst an Ausgaben
erwächst, bezahlen, und auch bei der Ausmessung des Kornes mit-
wirken. In derselben Volksversammlung soll das Volk auch einen
Kornkäufer anstellen, der nicht weniger als zwei Talente Vermögen
besitzen muß.
Es soll, wenn es gut scheint, auch eine Ausleihung des aus den
Zinsen erwachsenen Geldes stattfinden, falls Leute gegen Stellung hin-
reichender Hypothek und Bürgschaft das Geld vorwegnehmen und so
das Getreide nutzbringender machen wollen. Die Verbürgung sollen
die Kornverwalter auf ihre eigene Gefahr treffen.
Das gekaufte Korn sollen sie den Bürgern nach Tausendschaften
zumessen, soweit sie ortsanwesend sind, einem jeden Bürger monat-
lich kostenlos zwei Maß. Beginnen sollen sie mit der Zumessung
im Monat Pelysion und so weiter zumessen, so viele Monate es
reicht. Einer statt des andern sollen sie nicht zumessen, es sei
denn, daß einer krank sei. Vornehmen sollen sie die Messung vom
Neumond bis zum zehnten Tag; für die Abwesenden, falls diese zu-
rückkommen, bis zum dreißigsten. Über die Empfänger sollen sie
in jedem Monat beim Rechnungshof Nachweis führen, geordnet nach
Tausendschaften und unter Beifügung der Namen der Empfänger.
Die Tausendschaftler sollen das Recht haben, denselben Pfleger
fünf Jahre hintereinander anzustellen.
Wenn einer der Hypothekenschuldner das Geld nicht entrichtet,
ganz oder teilweise, so soll die Tausendschaft das Pfand verkaufen.
! Darin liegt vielleicht nur die Aufsetzung der Übergaberechnung; aber man
pflegte eine solche Summe bei einem Bankier zu deponieren, so daß die Übergabe
wirklich ein Überschreiben auf einen andern Namen ist.
2 AroAlarPABeın bezeichnet mit der zweiten Präposition, daß die Funktion der
Beamten gleichzeitig, also vor Jahresschluß, erlischt.
° Ein vortreffliches Musterbeispiel für die Erstarrung von ei ae mA; der negative
Bedingungssatz, der vorhergeht, gibt gerade dieselbe Bedingung an wie dieses.
926 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 19. Mai 1904. — Mittheilung v. 14. April.
Entsteht ein Überschuß, so soll er dem Pfandsteller übergeben werden;
fehlt aber etwas, so soll die Tausendschaft das Eintreiben bei dem
Bürgen vornehmen. Den fälligen Zins soll die Tausendschaft den
Kornverwaltern zahlen; zahlt sie ihn nicht, so sollen diese Tausend-
schaftler das fällige Korn sich nicht ausmessen lassen, bis sie ihren
Verpflichtungen nachgekommen sind. Wenn einer der erwählten
Pfleger das Geld, das er ausleihen soll, nicht ausleiht, sondern selbst
in doloser Weise behält, so soll er der Stadt zehntausend Drachmen
schuldig sein. Gleichermaßen soll der, welcher den Kornverwaltern
die Zinsen nicht zahlt, die gleiche Buße schulden, und sein Vermögen
sollen die Rechnungsbeamten der Tausendschaft zuschreiben in der
Höhe des Betrages, den er abzuliefern verpflichtet war. Und zu der
Buße sollen sie ihn auch als ehrlos aufschreiben, und ehrlos soll er
bleiben, bis er bezahlt hat. Die Tausendschaftler, welche den Pfleger
erwählt hatten, der das Geld nicht abliefert, sollen ihr Kornanteil nicht
ausgemessen erhalten (bis er bezahlt). Wenn aber die Tausendschaftler
alle oder einzelne teilweise das Geld zahlen wollen, das der Pileger,
den sie gewählt hatten, der Stadt nicht abgeliefert hat oder der Hypo-
thekenschuldner nicht bezahlt, so soll ihnen dies freistehen, und ent-
sprechend ihrer Zahlung sollen sie Korn zugemessen erhalten, vom
Zeitpunkt der Zahlung ab.
Niemand ist ermächtigt, diese Gelder oder ihre fälligen Zinsen
anders zu verwenden als für das kostenlos auszumessende Korn.
Wenn ein Prytan auf die Tagesordnung setzt oder ein Redner bean-
tragt oder ein Epistat zur Abstimmung bringt, daß das Geld vorweg
für anderes verbraucht oder auf einen anderen Zweck übertragen werden
solle, dann soll jeder zehntausend Drachmen zahlen. Ebenso wenn ein
Schatzmeister oder Pfleger oder Kornverwalter oder Kornkäufer es weg-
gibt oder vorab verbraucht für irgend etwas anderes als das kostenlos
auszumessende Korn.
Erläuterungen.
Die Schrift des Steines wird man auf den allgemeinen Eindruck
hin in den Anfang des 2. Jahrhunderts setzen. Das bestätigt sich
dadurch, daß als Ordnungsstrafe der mATPıoc cTatAp erscheint (3), woraus
folgt, daß neben dieser altheimischen eine andere Münze kursierte.
Im 2. Jahrhundert hat Samos neben den gewöhnlichen Didrachmen,
die man also noch Statere nannte, Silber mit dem Alexanderkopf,
also königliches, geschlagen.'
! Heap hist. num. 519, der die neue Münze mit der Eroberung durch Philippos
205 in Verbindung bringt, und älter kann sie freilich nicht sein. Daß unsere Urkunde
demokratische Autonomie zeigt, ergibt kein chronologisches Moment von Belang.
PR
Fr [2 Yard
Tu. WIEGAND u. von Wirauowrrz-MoELLENDoRFF: Gesetz von Samos. 927
Die Orthographie stimmt zum Anfang des 2. Jahrhunderts. Das
Iota der Diphthonge mit langem erstem Vokal ist hinter a und «
fest, fehlt aber hinter +, namentlich in Verbalformen, 18, 32, 35.
67, 73; einmal hinter einer nominalen, 31, und einmal, in rposoaHi,
10, ist es fälschlich zugefügt. In “Anaıeitiaoc, 32, ist eı für ı ge-
schrieben; das geschieht öfters (z. B. in den delphischen Liedern), um
die selbständige Aussprache des ı zu sichern: sie sprachen Aneitis.
Falsche Aspiration findet sich außer dem gewöhnlichen &# &rH 64 in
Ao AYTOn 87: man sprach eben das Heta nur im Inlaute, und daher
verwirrte man Am AYTOn und A® aYton. Der Stammvokal in Yrıösema
ist meist gekürzt, wie damals gesprochen ward, aber einmal ist
die historische Orthographie Yrıöetma bewahrt, 14. Gekürzt ist der
Diphthong wı in dem Konjunktiv aoi 65, 75. &uc regiert den Kon-
junktiv ohne An 79. Die Sprache ist gut hellenistisch; von älterem
bemerkenswert, daß es noch mexrpı ötoy lautet, 28: das indefinite
Relativ ist altionisch.
Der Schreiber hat seine Sache sehr korrekt gemacht'; Lücken
oder Rasuren innerhalb der Worte sind Selbstkorrekturen ohne Belang;
dagegen ist verhängnisvoll, daß 26 das Nominal des Preises nicht
ausgefüllt ist. Gelassen hat der Schreiber den Raum für die sieben
Buchstaben von AraAxmAc, und es kann kaum etwas anderes fehlen;
vermutlich stand in dem Konzepte, nach dem er arbeitete, das in
der Kursive geläufige Drachmenzeichen, und er war unsicher, wie er
es auf Stein wiedergeben sollte.
Der Inhalt ergibt sich zwar aus dem erhaltenen Teile ohne Mühe,
aber es wird gut sein, ihn kurz zusammenzufassen. Samos besaß
aus alten Zeiten Land auf der gegenüberliegenden Küste bei Anaia.”
Es gehörte eigentlich der Hera, die daher von den Bebauern den
Zwanzigsten in natura erhielt. Dieses Korn sollte nach Volksbeschluß
zu dem festen Preise von 54 Drachmen (auf den Scheffel, wie man
annehmen wird) abgegeben werden. Es versteht sich, daß sich Leute
finden mußten, die das zahlten, und der Zwischenhandel dem Kon-
sumenten mehr abnehmen mußte. Daher wünschte man der Göttin,
deren Schatz am letzten Ende doch dem Staate gehörte, einen sicheren
! Nur an einer Stelle dürfte er doch geirrt haben: 58 Ereroı a& Yrıep ETEPoY
MH METPEITwCAN, wo es korrekt ETeroc Yrıep Er&poy heißen muß. Nur auf‘ Kosten des
Konzipienten kann der Steinmetz entlastet werden.
® Ob die Ländereien an der Mykale, um die sich der immerwährende Streit
mit Priene dreht, dazu gehören, muß die Lokalforschung feststellen. Falls die In-
schrift vom Anaxtempel, Magnesia 94, wirklich magnetisch ist, hat einmal magnetisches
Gebiet sich zwischen Anaia und die Mykale geschoben. Aber die Zuteilung ist keines-
wegs ausgemacht; daß ein Sohn eines Pausanias Küster des Anax gewesen ist und
ein anderer einmal Münzbeamter in Magnesia, beweist nichts.
928 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 19. Mai 1904. — Mittheilung v. 14. April.
Abnehmer und zugleich den Bürgern billiges Brotkorn zu verschaffen.
Darum wollte der Staat, das war die Summe der Bürger, das Korn
selbst erwerben und unter die Bürger gleichmäßig verteilen; natürlich
nur an die Bürger, die sich meldeten, so daß dabei auch eine Unter-
stützung der ärmeren Bürger herauskam. Aber das notwendige Geld
hatte der Staat nicht, und die erforderlichen direkten Steuern waren
gegen das demokratische Credo, oder vielmehr die Form, sie aufzu-
erlegen war die Einforderung »freiwilliger Beiträge«. Die sind denn
auch diesmal gezahlt und stehen auf den Seiten BC; sie sind nicht
übermäßig hoch, 100 Drachmen das Gewölinliche, nur einmal kommen
tausend vor; allerdings erhöht sich häufig der Beitrag dadurch, daß
Väter für ihre Söhne besonders zahlen. Die Summe der Zeichnungen,
soviel wir sie erkennen, darf auf 20000 Drachmen geschätzt werden, ist
also nur ein sehr kleiner Teil, denn man rechnete noch auf einen
Überschuß aus den Zinsen des gezeichneten Kapitals; der Zinsfuß
war ohne Zweifel in dem verlorenen Teile bestimmt. Das Kapital
sollte in gewohnter Weise hypothekarisch angelegt werden, kam also
als sehr erwünschtes Betriebskapital in die Hände solcher, die ge-
zeichnet hatten.‘ Um nun die Begebung der Hypotheken und die
pünktliche Zinszahlung sicherzustellen, griff der Staat auf seine Unter-
abteilungen, die Tausendschaften, zurück. Jede Tausendschaft sollte
die Prästanzfähigkeit derer prüfen, die sich (aus ihrem Gebiete offen-
bar) um ein Darlehn meldeten; sie sollte, falls die Zinszahlung unter-
bliebe, das Grundstück subhastieren, aber auch mit dem eigenen
Vermögen für den Ausfall haften, widrigenfalls die Getreidespende
! In der solonischen Zeit, die das Hypothekenwesen zuerst zeigt, ist die Be-
lastung des Grundstücks eine Kalamität; nicht viel anders denkt man in der ganzen
attischen Zeit. In der hellenistischen ist das ganz anders; die Leute sehnen sich danach
Geld zu billigen Zinsen aufnehmen zu können. Die entwickelte Wirtschaft braucht
Betriebskapital. (Sehr belustigend in der delphischen Urkunde Drr'rEngErGEr Syll. 306.)
Der Hauptmangel der damaligen Volkswirtschaft ist, daß in den erwerbenden Ständen
das mobile Kapital fehlt, und die Schätze an den Zentralstellen, den Königlichen
Kassen, brach liegen oder unwirtschaftlich vergeudet werden. Die Börse fehlt. Immerhin
war in den griechischen Städten, soweit sie wirtschaftlich autonom waren, in Stif-
tungen eine sehr große Masse Kapital vorhanden, das gegen Hypothek ausgeliehen
war. All dieses hat der fremde Wucherer, der römische Senator oder Ritter oder
auch der Italiker, den der Senat mit blutsaugen ließ, aufgefressen; manches auch der
mithradatische Krieg. Seit Sulla gibt es nur verarmte Gemeinden ohne wirtschaftliche
Lebensfähigkeit und einzelne reiche Leute, denen auch das Land meist gehört. An
ihrer Munifizenz hängt die eYeHnia oder eYetHPlA. Die scheinbare Blüte der Römer-
zeit ist die Blüte dieser kleinen Zahl; die römische Verwaltung hat nichts getan für
die Gesundung des wirtschaftlichen Lebens. Daher der rasche Rückfall in Hörigkeit
und Barbarei. Die Kaiserzeit hat nicht nur keine Börse geschaffen, sie hat auch die
hellenistischen Banken verfallen lassen, und eine Landwirtschaft, die sich durch
Hypothek Betriebskapital schafft, existiert auch nicht mehr.
inf
Tu. WiEGAnD n. von Wiıramowerz-MOoELLENDORFF: Gesetz von Samos. 929
für sie aussetzen sollte.‘ Als Organ für die Zinseintreibung, aber auch
für die Mitwirkung bei der Kornverteilung, wählt sie besondere Be-
amte, die Pfleger, meneawnoi, wie sie hier mit einem Namen heißen,
der in Athen unerhört ist (da sagt man £mimenHrai), aber aus dem
Ionischen in die Volkssprache gedrungen ist und durchaus nicht so
poetisch ist wie er klingt. Die Chiliastys muß als Verwaltungskörper
ziemlich außer Aktion gewesen sein, denn man trifft besondere Vor-
kehrungen für die Ordnung ihrer Versammlungen und hält sie un-
praktischerweise alle zugleich im Theater ab. Der Staat wählt vier
Beamte, die schwerfällig genug oi Emi TO? ciToY KexeıPoTONHMENOI ÄNAPEC
heißen. Deren Aufgabe ist, von dem Gelde, das ihnen die Pfleger
einhändigen, das Korn der Göttin zu dem festen Preise einzukaufen,
und sie assistieren der Messung des Kornes bei seiner Übergabe aus
der Hand der Tempelverwaltung in die ihre (maramerreicen 44; die
Beobachtung des Genus verbi und die Präpositionen sind ganz scharf).
Es ist nun vorausgesetzt, daß die aus den Zinsen einkommende Summe
größer sein werde als der Bedarf für das Korn der Göttin. In dem
Falle hat der Staat zu bestimmen, ob der Überschuß für nächstes
Jahr aufbewahrt, oder noch weiteres Korn anderswoher gekauft
werden soll, wobei wieder zuerst an die Äcker von Anaia gedacht
ist. Der Beschluß hierüber wird im Artemision gefaßt, dem attischen
Munichion entsprechend, also sobald der Ausfall der Ernte sich
einigermaßen übersehen läßt, von dem einerseits das Zwanzigstel der
Hera, andererseits der Preis des sonst zu beschaffenden Kornes ab-
hängt. Für den Einkauf des Ergänzungsgetreides wird ein besonderer
Kornkäufer bestellt. Da Zinsen gemeiniglich alle Monat gezahlt wer-
den, die Ankäufe aber nur einmal im Jahre, nach der Ernte, zu er-
folgen hatten, lag das Geld zum Teil monatelang brach: daher wird
den Em To? citov anheimgegeben, es zinstragend anzulegen, aber auf
ihre eigene Gefahr. Die Lieferung des Kornes an die Bürger beginnt
mit dem Jahresanfang und reicht, so lange Korn da ist. Es erhält
jeder Bürger zwei »Maß« den Monat; leider ist keine genauere Be-
zeichnung gewählt: auf die Kopfzahl der Familie ist keine Rück-
sicht genommen. Natürlich wird über die Lieferung genau Buch
geführt, ebensowohl wie die Rechnungen an die Prüfungsbehörde
(EzeTAcTHPıon, wie es mit verbreitetem Namen heißt, attisch aorıcrAPrıon)
gehen. Die Verteilung wird in der ersten Dekade des Monats ge-
leistet; nur wer verreist war, kann seinen Anteil bis zum Ende des
Monats erhalten.
! Bezeichnend ist, daß auch für diesen Fall damit gerechnet wird, es würden
einzelne Mitglieder für die Tausendschaft einspringen.
-1
Sr
Sitzungsberichte 1904.
930 Sitzung der phil.-hist. Classe v. 19. Mai 1904. — Mittheilung v. 14. April.
Die ganze Institution muß einmal in großen Zusammenhang ge-
rückt werden, wozu hier nicht der Ort ist. Die Verteilung des Ge-
treides an die Bürger oder doch die bedürftigen Bürger (denn es
brauchte ja nicht jeder sich sein Teil zu nehmen, und das wird auch
nicht erwartet) erwächst hier daraus, daß der Staat, d.h. die Summe
der Bürger, Anspruch auf den Ertrag des Gemeindelandes hat, das
hier als heiliges Land erscheint. Von Almosen oder Fütterung des
Pöbels ist keine Rede. Die Regierung eines Landes, das Brotkorn
nicht mehr hinreichend erzeugt', hat die Verpflichtung, diesen Handel
zu regulieren. Das hat Athen früh getan, aber nichts Vergleichbares
versucht; Getreideverteilungen sind dort Ausnahmefälle; man übte nur
eine starke Einwirkung auf die Großkaufleute, die Getreide einführten,
geriet aber doch in Zeiten der Teuerung in Abhängigkeit von ihnen.”
Wenn aber in Rom die Demokraten Kornverteilung oder doch staat-
liche Kornverkäufe zu billigem Preise durchgesetzt haben, so ist das
Erste, daß wir uns klar machen: auch hier haben die Römer Insti-
tutionen der hellenistischen Kulturwelt übernommen, das Zweite aber,
daß wir dem Gedanken der Gracchen Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Rom hatte in Asien die ungeheuren königlichen Güter geerbt, die den
Attaliden teils Zinsen, teils Erträge in natura, also Korn, geliefert
hatten: war es wirklich verwerfliche Demagogie, wenn jemand meinte,
dieser Ertrag gehörte den römischen Bürgern und nicht den Steuer-
pächtern oder denen, die den ager publicus okkupierten? Man darf
die Getreidegesetze von den Ackergesetzen und denen über die Pro-
vinz Asia und über Capua und Karthago nicht losreißen. Nur die
Entfernungen und die Größe der Verhältnisse überhaupt machten es
unmöglich, für Rom durchzuführen, was auf einer griechischen Insel
anging, soweit nicht auch dort der Eigennutz der Besitzenden und der
Schlendrian der Verwaltung alle Gesetze bald hat einschlafen lassen.
Aber es war ganz unvermeidlich und keineswegs verwerflich, wenn
die Gedanken der griechischen Demokratie ebensogut in Rom ein-
drangen wie die der griechischen Monarchie. Auch auf diesem Ge-
biete wird die römische Geschichte vom Hellenismus her erst wirk-
lich verständlich.
daß der samische Kalender
ergänzt und definitiv festgestellt wird; Bıscnorrs Aufstellungen (Leipz.
Stud. VII 90) werden nur gesichert, nicht berichtigt. Das Jahr fängt
wie das athenische mit dem Sommersolstiz an (was wohl Nachwirkung
der attischen Herrschaft sein wird); denn der Monat Kronion (Skiro-
Gewinn, der nebenher abfällt, ist
2
' Die felsige Insel gewährt selbst heute ihren etwa 50000 Bewohnern nicht
Raum zu hinreichendem Körnerbau.
Aristot. und Athen. I 219. II 374.
Tu. WıEGanD u. von Wıramowrrz-MOoELLENDORFF: Gesetz von Samos. 93]
phorion), in dem die Wahlen stattfinden, ist begreiflicherweise der
letzte, und der Pelysion, mit dem die Getreideverteilung beginnt, der
erste. Ergänzt wird der Artemision, den man erwarten durfte. De-
finitiv festgestellt wird auch die Zahl der Phylen auf zwei, wie das
durch Themistagoras von Ephesos (Et. M. Actvyrranaia) gegeben war
und nicht hätte bezweifelt werden dürfen.‘ Die Phylen heißen nach
der karischen Stadt XAcıon’, am Flusse XAcıoc und Vorgebirge XAcıon,
die eine, nach Acrtvranala, der Stadt Samos, die andere. Ganz ver-
kehrt ist es, das Vorgebirge Chesion und den Chesios nach dieser
Hauptstadt und an den Fluß Imbrasos zu rücken; denn es ist aus-
drücklich an dem Bergstocke Kerketes lokalisiert, der seinen Namen
Kerki behalten hat, also auf dem westlichen Zipfel der Insel’. Offenbar
sind diese Phylen erwachsen aus der Vereinigung von zwei Städten
und Staaten zu einem oder vielmehr aus der Inkorporierung des kari-
schen Chesion, das dann als Stadt verschwindet. Sie haben also mit
den gewöhnlichen Phylen als Unterabteilungen zu Verwaltungszwecken
nichts zu tun. Denen dienen die xınıacryec, die dem Umfange nach
sich sehr viel besser mit den attischen Phylen als mit den Demen ver-
gleichen lassen; was sie bei der Verwaltung des Kornes zu tun haben,
würden ja auch in Athen die Phylen besorgen. Und so werden sie auch
den Phylen z. B. von Ephesos Kyzikos Perinth entsprochen haben.
! Es war gänzlich unmethodisch, aus Herodot 3, 26 eine eyaH AICXPI@NIA zuzu-
fügen, weil er Leute dieser eya4 als Besiedler der kleinen Oase nennt. Daß bei
ihm eya4 nicht technisch zu nehmen ist, zeigte die eyah Airelaaı in Sparta 4, 149:
beide Male ist ein Geschlecht gemeint; es könnte ebensogut TIATPH stehen.
® Erwähnt von Apollodor im ersten Buche, also bei der Besiedelung der Insel
durch die Ionier, S. 236 Jacosr. Schon das zwingt, die beiden Phylen in die Grün-
dungszeit zu rücken. Schol. Nikander Alex. 151 XHcieic TIPÖTON KATWIKHCAN EN CAMUl,
eita Actyrranaleic. Weil Samos aus den XHcieic am XAcioc und den Actyrmnaleic am
Imbrasos zusammengewachsen ist, erzählt Apollonios (Athen.7, 283°) von einer Heroine,
daß ihre Eltern Imbrasos und die Nymphe Chesias waren. Ebendahin deutet die Ge-
lehrsamkeit des Kallimachos 3, 228, wenn er die Artemis anredet XHciAc “ImsrAaciH; das
folgende Epitheton rIPwToePöne verstehen wir nicht, aber es geht auf den samischen
Artemistempel (Herodot 3, 48), von dem Kallimachos erzählt, daß Agamemnon dort
ein Steuerruder geweiht hätte. Die Artemis ist natürlich die karische Göttin, die es
auf allen Inseln gibt, Hera die aus Argos zugewanderte Hellenin.
3 Nikander Alex. 148 erzählt, daß ein Bock den nYmeAIı XHciAaec die samische
weiße Erde zeigte KepkeTew NIBÖENTOC YTIÖ CXOINWAECIN ÖXeAlc, wozu die älteren Scholien
(Wentzet, Abh. der Gött. Ges. XXXVII 4r) lauten, Tö A& öroc En Öl TO XHcion Ker-
KETION. Den modernen Namen «ibt Ross, Inselreisen II 140. Dort muß man eine vor-
griechische Siedelung suchen: dann hat man Chesion und hat man Karer.
Ausgegeben am 2. Juni.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruekerei.
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SITZUNGSBERICHTE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
XXVII.
2. Juxı 1904.
BERLIN 1904.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
Auszug aus dem Reglement für die Redaction der »Sitzungsberichte«.
81.
2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Octav regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die sämmtlichen zu einem Kalender-
Jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
fortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserdem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch- mathematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch-historischen Classe ungerade
Nummern.
$.2.
1. Jeden Sitzungsbericht eröffnet eine Übersicht über
die in der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilungen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten.
2. Darauf folgen die den Sitzungsberichten über-
wiesenen wissenschaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckfertig übergebenen, dann die, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gehö-
rigen Stücken nicht erscheinen konnten. Mittheilungen,
welche nicht in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet.
85.
Den Bericht über jede einzelne Sitzung stellt der
Seeretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte.
Derselbe Secretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei.
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
86
1. Für die Aufnahme einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $ 41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglements die folgenden beson-
deren Bestimmungen.
2. Der Umfang der Mittheilung darf 32 Seiten in
Octav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nicht übersteigen. Mittheilungen von Verfassern, welche
der Akademie nicht angehören, sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist
nur nach ausdrücklicher Zustimmung der Gesammt-Aka-
demie oder der betreffenden Classe statthaft.
3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
tenden Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Nothwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzschnitte fertig sind und von
besonders beizugebenden Tafeln die volle erforderliche
Auflage eingeliefert ist.
87.
1. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
schaftliche Mittheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer Ausführung, in
deutscher Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2. Wenn der Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
öffentlichen beabsichtigt, als ihm dies nach den gelten-
den Rechtsregeln zusteht, so bedarf er dazu der Ein-
willigung der Gesammt- Akademie oder der betreffenden
Classe. tt
88.
5. Auswärts werden Correeturen nur auf besonderes
Verlangen verschickt. Die Verfasser verzichten damit.
auf Erscheinen ihrer Mittheilungen nach acht Tagen.
SITZ
1. Der Verfasser einer unter den »Wissenschaftlichen £
Mittheilungen« abgedruckten Arbeit erhält unentgeltlich
fünfzig Sonderabdrücke mit einem Umschlag, auf welchem
der Kopf der Sitzungsberichte mit Jahreszahl, Stück-
nummer, Tag und Kategorie der Sitzung, darunter der
Titel der Mittheilung und der Name des Verfassers stehen.
2. Bei Mittheilungen, die mit dem Kopf der Sitzungs-
berichte und einem angemessenen Titel nicht über zwei
Seiten füllen, fällt in der Regel der Umschlag for.
3. Einem Verfasser, welcher Mitglied der Akademie
ist, steht es frei, auf Kosten der Akademie weitere gleiche
Sonderabilrücke bis zur Zahl von noch hundert, und
auf seine Kosten noch weitere bis zur Zahl von zwei-
hundert (im ganzen also 350) zu unentgeltlicher Ver-
theilung abziehen zu lassen, sofern er diess rechtzeitig.
dem redigirenden Secretar angezeigt hat ; wünscht er auf
seine Kosten noch mehr Abdrücke zur Vertheilung zu
erhalten, so bedarf es der Genehmigung der Gesammt-
Akademie oder der betreffenden Classe. — Nichtmitglieder
erhalten 50 Freiexemplare und dürfen nach rechtzeitiger
Anzeige bei dem redigirenden Secretar weitere 200 Exem-
plare auf ihre Kosten abziehen lassen. .
8.28.
1. Jede zur Aufnahme in die Sitzungsberichte be-
stimmte Mittheilung muss in einer akademischen Sitzung
vorgelegt werden. Abwesende Mitglieder, sowie alle
Nichtmitglieder, haben hierzu die Vermittelung eines ihrem
"Fache angehörenden ordentlichen Mitgliedes zu benutzen.
Wenn schriftliche Einsendungen auswärtiger oder corre-
spondirender Mitglieder direet bei der Akademie oder bei
einer der Classen eingehen, so hat sie ‚der vorsitzende
Secretar selber oder durch ein -anderes Mitglied zum
Vortrage zu bringen. Mittheilungen, deren Verfasser der
Akademie nicht angehören, hat er einem zunächst geeignet
scheinenden Mitgliede zu überweisen. j
[Aus Stat. $ 41, 2. — Für die Aufnahme bedarf es
einer ausdrücklichen Genehmigung der Akademie oder
einer der Classen. Ein darauf gerichteter Antrag kann,
sobald das Manuseript ‚druckfertig vorliegt,
gestellt und sogleich zur Abstimmung gebracht werden.]
29.
1. Der redigirende Secretar ist für den Inhalt des
geschäftlichen Theils der Sitzungsberichte ‚ jedoch nieht. e
für die darin aufgenommenen kurzen Inhaltsangaben der
gelesenen Abhandlungen verantwortlich. Für diese wie
für alle übrigen Theile der Sitzungsberichte sind
nach jeder Richtung nur die Verfasser verant-
wortlich. - ;
Die Akademie versendet ihre »Sitzungsberichte« an diejenigen Stellen, mit denen sie im Schriftverkel ri: te
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinburt wird
die Stücke von Januar bis April in der ersten
» Mai bis Juli in der ersten Hälfte des Monats August,
» October bis December zu Anfa
‚Jährlich drei Mal, nämlich:
Hälfte des Monats Mai, En
ng des nächsten Jahres nach Fertigstellung des Registers 2:
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933
SITZUNGSBERICHTE 1904
XXVIH.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
2. Juni. Gesammtsitzung.
Vorsitzender Secretar: Hr. VAHLEn.
1. Hr. van'r Horr las eine weitere Mittheilung aus seinen
Untersuchungen über die Bildungsverhältnisse der oceani-
schen Salzablagerungen. XXXVL. Kaliumpentakalziumsulfat
und eine dem Kaliborit verwandte Doppelverbindung.
Gemeinschaftlich mit Hrn. Geiger wurde ein neues Doppelsulfat von der Zu-
sammensetzung K, Ca; (SO,)s HzO, welches zwischen Anhydrit und Syngenit liegt, unter-
sucht; gemeinschaftlich mit Hrn. Liearenstein ein Doppelborat Ms; K,B.: O;;. 20H,0,
dessen ne mit derjenigen des Kaliborits in Beziehung steht. Die be-
treffenden Verbindungen wurden bisher nicht als Naturprodukte aufgefunden, wiewohl
besonders das Auftreten der ersteren als solches wahrscheinlich ist.
2. Hr. Burvacn sprach Ȇber den Ursprung des mittelalter-
lichen höfischen Minnesangs, Liebesromans und Frauen-
dienstes.« (Erscheint später.)
Die Stellung des lyrischen Hofdichters und der conventionelle Liebesbegriff in der
höfischen Litteratur des ı2. Jahrhunderts sind ein Novum, das, obwohl in der Form
eines festen litterarischen Schemas auftretend, sich weder aus der früheren Poesie
Frankreichs und Deutschlands noch aus antiker Tradition ableiten lässt. Es wird die
Möglichkeit dargelegt, dass die benachbarte arabische Hofdichtung mit ihrer erotisch
gefärbten Panegyrik zu Ehren regierender oder hochgestellter Frauen im Verein mit
dem orientalischen romantischen Liebesroman befruchtend eingewirkt hat.
3. Hr. Warpever überreichte das von der Akademie unterstützte
Werk von Prof. Dr. OÖ. Leumans: »Flüssige Kristalle sowie Plastizität
von Kristallen im Allgemeinen, molekulare Umlagerungen und Aggregat-
zustandsänderungen. Leipzig 1904.«
4. Die Akademie hat Hrn. Dr. Huco Brrrzr in Strassburg i. E.
zur Beschaffung des handschriftlichen Materials für eine Ausgabe der
botanischen Werke des Theophrast 2400 Mark bewilligt.
Seine Majestät der Kaiser und König haben durch Allerhöchsten
Erlass vom 29. Mai ds. Js. die Wahl des correspondirenden Mitgliedes
Sitzungsberiehte 1904. 76
934 Gesammtsitzung vom 2. Juni 1904.
der physikalisch-mathematischen Classe Sir Joseru Darron HookER in
Sunningdale zum auswärtigen Mitglied derselben Classe zu bestätigen
geruht.
Die Akademie hat in der Sitzung am 5. Mai den Professor an
der Universität Göttingen Geheimen Bergrath Dr. AnoLr von KoENnENn
zum correspondirenden Mitglied der physikalisch-mathematischen Classe
gewählt.
Die Akademie hat das correspondirende Mitglied der physikalisch-
mathematischen Classe Hrn. ALEXANDER WırLıam Wiıruıamson in High
Pitfold, Haslemere, am 6. Mai durch den Tod verloren.
935
Untersuchungen über die Bildungsverhältnisse
der ozeanischen Salzablagerungen.
XXXVIl. Kaliumpentakalziumsulfat und eine dem
Kalıborit verwandte Doppelverbindung.
Von J. H. vaw’r Horr.
BD. weiteren Verfolgen der durch die Bearbeitung der Salzlager-
mineralien gestellten Aufgabe, die sich nunmehr wesentlich auf die
Kalksalze und Borate beschränkt, wurden zwei bis jetzt nicht be-
schriebene Verbindungen erhalten, welche möglicherweise auch bei der
natürlichen Salzbildung eine Rolle gespielt haben, und zwar ein Ral-
ziumkaliumsulfat und ein Magnesiumkaliumborat.
I. Das Kaliumpentakalziumsulfat K,Ca,(SO,);H,O.
(Gemeinschaftlich mit Hrn. GEIGER.)
Wird präzipitierter Gips (20°) bei 100° während ı bis 2 Tagen
mit einer 5prozentigen Kaliumsulfatlösung (160°) behandelt, so ver-
wandelt derselbe sich in wohlausgebildete Kristalle, die bei Zusatz
von Gips und Kaliumsulfat im Verhältnis wie sie die Verbindung
enthält, anwachsen und zu den bestkristallisierten Doppelsalzen des
Kalziumsulfats gehören. Die Form erinnert etwas an diejenige des
Gipses, was zu einer Verwechslung führen könnte, jedoch sind die
Endwinkel spitzer; entscheidend als Merkmal ist die Verwandlung in
Berührung mit Wasser, welche zur Bildung von Gips führt, allerdings
erst sehr allmählich bei gewöhnlicher Temperatur.
Bei der Reindarstellung zur Analyse ist sehr darauf zu achten,
daß der angewendete Gips sich vollständig umgewandelt hat, was
die mikroskopische Beobachtung ausweist. Die Entfernung der Mutter-
lauge findet dann in üblicher Weise statt durch Absaugen, schnelles
Durchsaugen von.Wasser, 5Oprozentigem Alkohol und Alkohol. Nach
Trocknen ergab dann die von Hrn. GEIGER ausgeführte Analyse:
9.2 Prozent K 23 Prozent Ca 65.2 Prozent SO, 2.ı Prozent H,O,
936 Gesammtsitzung vom 2. Juni 1904.
was zur Formel:
K,Ca, (SO,),H,O
führt mit:
8.97 Prozent K 22.96 Prozent Ca 66.01 Prozent SO, 2.06 Prozent H,O.
Von den bis jetzt beschriebenen Kaliumkalziumsulfaten ist diese
Verbindung also ganz verschieden, indem Syngenit der Zusammen-
setzung CaK,(SO,),H,O0 entspricht und eine von Dirre' gelegentlich
erwähnte Verbindung die Zusammensetzung Ca,K,(SO,),3H,0 aufweist.
Von Hrn. GeisER wurden dann weiter die Bildungsverhältnisse
für 83° verfolgt, um eventuell auch die Verbindung von Dirte ein-
reihen zu können. Letztere zeigte sich jedoch im ganzen Gebiet nicht
und ist wohl bei 83° nicht stabil. Folgende Löslichkeitsbestimmungen
waren entscheidend, bei denen nur das Kaliumsulfat bestimmt wurde,
weil Kalziumsulfat kaum in Lösung geht:
Moleküle Kaliumsulfat
Sättigung an: auf 1000 Mol. H,O
ı. Kaliumsulfat 2338
2. Kaliumsulfat und Syngenit 22.6
3. Syngenit und Pentasalz 9.9
4. Pentasalz und Anhydrit 1
Aus diesen Bestimmungen geht hervor, daß zur Darstellung der
neuen Verbindung bei 83° sich eine zwischen 3 und 4 liegende
Kaliumsulfatlösung am besten eignet, also mit der Zusammensetzung:
1000H,0 5.6K,SO..
Tatsächlich hat man hierin nur die zur Bildung nötigen Bestandteile
in richtigem Verhältnis zu geben, um bei 83°, allerdings erst nach
drei bis vier Tagen, ein wohlausgebildetes Produkt zu erhalten.
Anderseits verwandelt sich Syngenit in dieser Lösung ganz glatt
in das neue Salz, wobei die Gefahr einer Verunreinigung mit Gips
ausgeschlossen ist.
I. Kaliummagnesiumborat 2K,02MgO ııB,0,20H,0.
(Gemeinschaftlich mit Hrn. Lıc#tensreiın.)
In der Mitteilung über die künstliche Darstellung von Kaliborit?
wurde erwähnt, daß Einwirkung von Chlorkaliumlösung auf Pinnoit
(MgB,O,.3H,0) in der Kälte die Bildung eines Kaliummagnesiumborats
! Compt. rend. 84, 86 (1877).
®2 Diese Sitzungsberichte 1902, 1008.
vanır Horr: Özeanische Salzablagerungen. XXXVII. 937
veranlaßt, das dem Kaliborit ähnlich aussieht, nur größer kristallinisch
ausgebildet ist, auch ungefähr dieselbe Menge Kristallwasser enthält,
sich jedoch von Kaliborit unterscheidet durch Löslichkeit in warmem
Wasser, aus welcher Lösung sich beim Kochen Magnesiumborat aus-
scheidet; auch ist der Kaligehalt (13.3 Prozent K,O) bedeutend größer.
Beim Verfolgen dieses Gegenstandes mit Hrn. LicHtEnstein zeigte
sich auffallenderweise, daß, wiewohl eine Darstellung aus den beiden
Boraten möglich sein sollte, eine rasche Ausbildung nur erzielt wird
bei Anwesenheit von Chloriden, wie es ähnlich bei Pinnoit und Kali-
borit beobachtet wurde. So zeigte sich dann als geeignete Vorschrift
amorpher Pinnoit' mit der zehnfachen Menge einer kalt gesättigten
Lösung von Chlorkalium und Borsäure bei 40° zusammenzubringen
und mit dem Doppelborat zu impfen; nach eintägigem Rühren wird
die Lösung durch eine neue ersetzt, in der sich die Umwandlung
innerhalb weiteren zweitägigen Rührens vollzieht. Als Merkmal dient
die mikroskopische Verfolgung der Bildung von wohlerkennbaren Rhom-
ben und die Löslichkeit in warmem Wasser, die erst vollständig wird,
nachdem sämtlicher Pinnoit sich umgewandelt hat. Absaugen, Aus-
waschen mit Wasser und Alkohol gibt dann ein analysenreines Präparat
(15° aus 20° Pinnoit) von der Zusammensetzung:
13.5 Prozent K,O 5.9 Prozent MgO 25.7 Prozent H,O,
also 54.9 Prozent B,O,,
Die Formel:
2K,0 2Mg0 ı ıB,0, 20H,0
verlangt:
13.48 Prozent K,O 35.74 Prozent M&O 25.75 Prozent H,O
55.03 Prozent B,O,.
Dieselbe steht in entfernter Beziehung zu derjenigen des Kaliborits:
K,04Mg0 ı ıB,0, ı8H,0.
' Erhalten durch teilweise Entwässerung bei 100° des Oktolıydrats Mg Bz0,.8H;0,
das sich aus konzentrierter Borax- und Magnesiumchloridlösung bildet.
Ausgegeben am 9. Juni.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei
Sitzungsberichte 1904. 77
SITZUNGSBERICHTE |
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADENIE DER WISSENSCHAFTEN.
XXIX. XXX.
9. Junı 1904.
BERLIN 1904.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
4
Auszug aus dem Reglement für die Redaction der »Sitzungsberichte«.
Sul:
2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Oectav regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die sämmtlichen zu einem Kalender-
jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
fortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserdem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch-mathematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch-historischen Classe ungerade
Nummern.
872:
1. Jeden Sitzungsbericht eröffnet eine Übersicht über
die in der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilungen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten.
2. Darauf folgen die den Sitzungsberichten über-
wiesenen wissenschaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckfertig übergebenen, Jann die, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gehö-
rigen Stücken nicht erscheinen konnten. Mittheilungen,
welche nicht in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet.
85.
Den Bericht über jede einzelne Sitzung stellt der
Secretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte.
Derselbe Secretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei-
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
$6.
1. Für die Aufnahme einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $ 41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglements die folgenden beson-
deren Bestimmungen.
2. Der Umfang der Mittheilung darf 32 Seiten in
Oetav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nicht übersteigen. Mittheilungen von Verfassern, welche
der Akademie nicht angehören, sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist
nur nach ausdrücklicher Zustimmung der Gesammt-Aka-
demie oder der betreffenden Classe statthaft.
3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
tenden Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Nothwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzschnitte fertig sind und von
besonders beizugebenlen Tafeln die volle erforderliche
Auflage eingeliefert ist.
BZ:
1. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
schaftliche Mittheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer Ausführung, in
deutscher Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2. Wenn der Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
öffentlichen beabsichtigt, als ihm dies nach den gelten-
den Rechtsregeln zusteht, so bedarf er dazu der Ein-
willigung der Gesammt- Akademie oder der betreffenden
Classe. ei
88.
5. Auswärts werden Correeturen nur auf besonderes
Verlangen verschickt. Die Verfasser verzichten damit _
auf Erscheinen ihrer Mittheilungen nach acht Tagen.
sı11. BEN
1. Der Verfasser einer unter den »Wissenschaftlichen
Mittheilungen« abgedruckten Arbeit erhält unentgeltlich
fünfzig Sonderabdrücke mit einem Umschlag, auf welchem
der Kopf der Sitzungsberichte mit Jahreszahl, Stück- 2
nummer, Tag und Kategorie der Sitzung, darunter der
Titel der Mittheilung und der Name des Verfassers stehen.
2. Bei Mittheilungen, die mit dem Kopf der Sitzungs-
berichte und einem angemessenen Titel nicht über zwei
Seiten füllen, fällt in der Regel der Umschlag fort.
3. Einem Verfasser, welcher Mitglied der Akademie
ist, steht es frei, auf Kosten der Akademie weitere gleiche
Sonderabdrücke bis zur Zahl von noch hundert, und Fr
auf seine Kosten noch weitere bis zur Zahl von zwei-
hundert (im ganzen also 350) zu unentgeltlicher Ver-
theilung abziehen zu lassen, sofern er diess rechtzeitig
dem redigirenden Secretar angezeigt hat; wünscht er auf
seine Kosten noch mehr Abdrücke zur Vertheilung zu
erhalten, so bedarf es der Genehmigung der Gesammt-
Akademie oder der betreffenden Classe, — Nichtmitglieder
erhalten 50 Freiexemplare und dürfen nach rechtzeitiger
Anzeige bei dem redigirenden Secretar weitere 200 Exem-
plare auf ihre Kosten abziehen lassen. Ye
Fe
828.
1. Jede zur Aufnahme in die Sitzungsberichte be- .
stimmte Mittheilung muss in einer akademischen Sitzung
vorgelegt werden. Abwesende Mitglieder, sowie alle
Nichtmitglieder, haben hierzu die Vermittelung eines ihrem
Fache angehörenden ordentlichen Mitgliedes zu benutz: n Ber!
Wenn schriftliche Einsendungen auswärtiger ‚oder corre- :
spondirender Mitglieder direct bei der Akademie oder bei
einer der Classen eingehen, so "hat sie der vorsitzende
Secretar selber oder durch ein anderes Mitglied zum
Vortrage zu bringen. Mittheilungen, ‘deren Verfasser der
Akademie nicht angehören, hat er einem zunächst geeignet
scheinenden Mitgliede zu überweisen. K
[Aus Stat. $ 41, 2. — Für die Aufnahme bedarf es
einer ausdrücklichen Genehmigung der Akademie oder
einer der Classen. Ein darauf gerichteter Antrag ‚kann,
sobald das Manuscript druckfertig vorlie; ;
gestellt und sogleich zur Abstimmung gebracht werden
wortlich.
Die Akademie versendet ihre »Sitzungsberichte« an diejenigen Stellen, mit denen sie im Schriftverkehr steht, |
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinbart wird ‚Jährlich drei Mal, nämlich: i
die Stücke von Januar bis April in der ersten Hälfte des Monats Mai, ; I 2 FREE
» Mai bis Juli in der ersten Hälfte des Monats August, Rt WARE 4
= October bis December zu Anfang des nächsten Jahres nach Fertigstellung des Register.
e
}
939
SEEZUNGSBERICHTE 1%
XXIX.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
9. Juni. Sitzung der philosophisch -historischen Olasse.
Vorsitzender Seeretar: Hr. VAHLeEn.
*]. Hr. Rortue berichtet über ein neues Fragment des mittel-
niederländischen Renout van Montalbaen.
Das in Güns (Ungarn) vom Stadtarchivar Ausvszr gefundene Bruchstück ist da-
dureh besonders interessant, dass es auf einen ältern Textzustand mit weit unreineren
Reimen zurückführt als die bisher bekannten Fragmente des mittelniederländischen Epos.
2. Derselbe legt Beobachtungen über regelmässigen Sinnes-
einschnitt in mittelhochdeutschen lyrischen Strophen vor.
(Ersch. später.)
Sehr viele mittelhochdeutsche Strophen zeigen auch ausser den durch die Stollen-
schlüsse gebotenen Absätzen das Gesetz oder doch die Neigung, gewisse Stellen durch
Satzschluss auszuzeichnen. Dieser feste Satzschluss, aus dem sich für Kritik, Inter-
pretation und syntaktische Gliederung Gewinn ziehen lässt, wird auf musikalische
Gründe zurückgeführt.
3. Hr. Conze legt den Jahresbericht über die Thätigkeit
des Kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts im Rech-
nungsjahre 1903 vor.
4. Hr. Divruey überreichte von Kanr’s Gesammelten Schriften
Bd. III. Erste Abtheilung: Werke. Dritter Band, Berlin 1902.
5. Hr. W. Scnurze legte ein Exemplar seines eben vollendeten
Werkes: Zur Geschichte lateinischer Eigennamen. Berlin 1904, vor.
* Erscheint nicht in den Schriften der Akademie.
Sitzungsberichte 1904. 78
I40 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 9. Juni 1904.
Jahresbericht über die Tätigkeit des Kaiserlich
Deutschen Archäologischen Instituts.
Von ALEXANDER ÜONZeE.
| Rechnungsjahre 1903 vollzog sich ein Personenwechsel in der
Zentraldirektion, indem an die durch Hrn. Kırcnnorr’s Rücktritt frei-
gewordene Stelle durch Wahl seitens der Akademie der Wissenschaften
deren Mitglied Hr. Erman eintrat. Der Eintritt des Hrn. LorscuckE
an Stelle Ferıx Herrser’s konnte schon im vorigen Jahresberichte vor-
greifend erwähnt werden.
Das Institut verlor durch den Tod ‘sein Ehrenmitglied Hrn. vos
Keuperr (7 27. April 1903), dessen freundlichen Verhältnisses zu
uns, zumal während der Zeit seiner Botschafterstellung in Rom, wir
dankbar gedenken. Durch weitere schwerwiegende Verluste wurden
die Reihen unserer ordentlichen und korrespondierenden Mitglieder
gelichtet. Tnuropor Monnsen (7 1. November 1903) ging hochbetagt da-
hin, den wir als einen Archegeten des Instituts verehren, Urrıcn KöuLER
(r 21. Oktober 1903), unter dessen Leitung unsere athenische Zweig-
anstalt rasch ihren Platz in der wissenschaftlichen Welt gewann, erlag
seinen Leiden, und wenn wir die anderen uns Genommenen nennen,
so sagen es schon die Namen, wie wir in ihnen Männer verloren
haben, die dem Institute lange und meist in besonders naher Mit-
arbeit verbunden waren: Cnristian BELGER (7 30. Oktober 1903), Max
FRÄNKEL (7 10. Juni 1903), der als Herausgeber unserer Berliner Zeit-
schrift mehrere Jahre mit Hingebung wirkte, GAN6oLF von KıESERITZKY
(7 10. Januar 1904), der die Sammlung der südrussischen griechischen
Grabreliefs übernommen und weit gefördert hatte, ARTHUR MILCHHÖFER
(7 7: Dezember 1903), dessen Name mit der Herausgabe der Karten
von Attika verbunden bleibt, A. S. Murray vom Britischen Museum
(7 6. März 1903) und Haus vox Prort (} 13. September 1903), dessen
erschreckender Hingang das athenische Institut einer so hoffnungs-
reichen Kraft beraubte.
Neu hinzutraten als Ehrenmitglieder die HH. von Bırpr-Rom,
Krüsmann-Berlin, von NeuLimow-Rom; als ordentliche Mitglieder die
Coxze: Jahresbericht des Kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts. 941
HH. Aueruns-Rom, GraeBer-Bielefeld, HALsnerr-Rom, Harrwıs-Rom,
Keır- Straßburg, Rostowzew -Petersburg, SauEr-Gießen, Sıx-Amster-
dam, Srrzycowskı-Graz, Wircken-Halle und Zaun-Berlin; als korre-
spondierende Mitglieder die HH. Conrans-Haltern, von Frırze- Berlin,
GrannoPouLos- Almyros, KromAYER-Czernowitz, Privik -Petersburg, H.
Scuöne-Königsberg und SırBours -Bonn.
Die ordentliche Gesamtsitzung der Zentraldirektion fand vom 20.
bis 23. April 1903 statt.
Die Stipendien für 1903/4 erhielten: das Jahresstipendium für
klassische Archäologie die HH. Arırmans, Kırssume und Korse, das
Halbjahrstipendium für Gymnasiallehrer die HH. Börre und Wericker,
das Stipendium für christliche Archäologie Hr. Micner.
Das »Jahrbuch« und der »Anzeiger« erschienen wie bisher unter
Mitwirkung der HH. Branpıs und Grarr. Hrn. Reisnorn’s Register zu
den ersten zelın Bänden ist im Manuskripte fertig, die Drucklegung
im Gange. Für ein Heft der »Antiken Denkmäler« ist durch Ent-
gegenkommen der Athenischen archäologischen Gesellschaft ein ge-
eignetes Material aus den Funden von Thermos in Ätolien gewonnen.
Als fünftes Ergänzungsheft des Jahrbuchs ist von den HH. Gustav
und ALrrep KörrtE der ausführliche Bericht über ihre Ausgrabungen
in Gordion erschienen.
Aus den Zinsen des Iwanorr-Fonds ist Hrn. RuporLr Hrrzoc - Tü-
bingen abermals eine Beisteuer zu den Kosten seiner Untersuchungen
auf Kos zuteil geworden, wozu auf Ansuchen der Zentraldirektion
eine Spende des Hrn. Reichskanzlers, das Unternehmen wesentlich
fördernd, hinzutrat. Eine Bewilligung der Königlich Württembergi-
schen Regierung, ein Beitrag der Preußischen Akademie der Wissen-
schaften und Geschenke der HH. Sıesuım und von Bıssıne schlossen
sich an. Über alles, was im Sommer 1903 damit wissenschaftlich
gewonnen wurde, hat Hr. Hrrzo«e im »Anzeiger« (1903, S. 186 ff.)
einen vorläufigen Bericht erstattet.
Der Generalsekretar war zur Teilnahme an den Ausgrabungs-
untersuchungen dreimal in Haltern, dann um der Antikenausstellung
im Burlingtonclub willen in London, endlich im Januar mit den HH.
Hirscnren und LoEscHcke zur ersten Sitzung der Römisch-Germanischen
Kommission in Frankfurt und im März zur Jahressitzung des Gesamt-
vorstandes des Römisch-Germanischen Zentralmuseums in Mainz.
Unter den Serienpublikationen ist bei der Sammlung und Heraus-
gabe der »Antiken Sarkophag-Reliefs« unter Leitung des Hrn. Roger,
dank dessen unausgesetzter Hingabe an dieses in seiner Art älteste
Institutsunternehmen, der siehtliche Fortschritt durch Erscheinen des
Bandes III, 2 (Einzelmythen. Hippolytos-Meleagros) zu verzeichnen.
78*
942 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 9. Juni 1904.
Außer den Herren, welche diesem Abschnitte des Werks ihre Unter-
stützung haben zuteil werden lassen und im Vorworte des Bandes
dankbar genannt sind, hat ganz zuletzt noch Hr. Quasuıatı in Tarent
durch seine Mitwirkung unsern Dank verdient.
Auch die Sammlung der »Antiken Terrakotten« hat unter Leitung
des Hrn. KrkuLe von Srraposırz einen erheblichen Fortschritt erreicht
durch das Erscheinen des sogenannten Typenkatalogs von Hrn. Winter
(Band III ı und 2: Die Typen der figürlichen Terrakotten). Die Heraus-
gabe der Sammlung der »Campana-Reliefs« von Hrn. von Ronupen soll
ebenfalls in zwei Bänden erfolgen, zu dessen erstem die Tafeln größten-
teils, der Text etwa zu einem Viertel druckfertig vorliegen. Für die
völlige Fertigstellung und für die Förderung des zweiten Bandes ist
wie bisher Hr. WınsErELD tätig gewesen.
Die Herausgabe der »Karten von Attika« ist abgeschlossen durch
das Erscheinen des Gesamtblattes 1:100000 mit den antiken Orts-
bezeichnungen nach Angabe des Hrn. MiLcHHörer.
Von den mit Unterstützung des Instituts im Auftrage der Kaiser-
lichen Akademie der Wissenschaften zu Wien herausgegebenen » Atti-
schen Grabreliefs« ist die zwölfte Lieferung erschienen; für die nächsten
Lieferungen ist die Ausarbeitung stark fortgeschritten. Die Heraus-
gabe der »Südrussischen griechischen Grabreliefs« hat durch den Tod
GANGOLF von Kızserırzky'’s eine empfindliche Störung erlitten, deren
Beseitigung hoffentlich dieses Jahr bringen wird. Hr. Prunt hat
die Sammlung und Herausgabe der »Griechischen Grabreliefs Klein-
asiens und der Inseln« in die Hand genommen, das Material in Athen
gesammelt, dann auch Kleinasien und einige Inseln bereist und in
Konstantinopel unter außerordentlich geneigter Unterstützung der Di-
rektion des Ottomanischen Museums den dortigen Bestand aufgenom-
men, endlich auch Italien ausgebeutet.
Die von Hrn. Gustav Körrte übernommene Fortführung der Werke
der »Etruskischen Urnen« und »Spiegel« hat im vergangenen Jahre
gegen die vorerwähnte Herausgabe des Werks über Gordion zurück-
stehen müssen, wie auch von anderen im vorigen Jahresberichte
aufgeführten Untersuchungen kein erheblicher Fortschritt aufzuweisen
ist. Die Bearbeiter sind durch andere Verpflichtungen behindert ge-
wesen. Für Hrn. von Domaszewskr's Sammlung der römischen Militär-
reliefs ist aber durch Gewinn einer großen Zahl von Photographien
aus Ungarn das Material auch für das illyrische Gebiet im wesentlichen
vollständig geworden. Es fehlt hauptsächlich noch Italien.
Über die »Ephemeris epigraphiea« berichtet Hr. Hrscureın, daß
nach dem ersten bereits erschienenen auch das zweite Heft des neunten
Bandes in Kürze zur Ausgabe gelangen wird.
Coxze: Jahresbericht des Kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts. 943
Das römische Sekretariat hat Band ı83 seiner »Mitteilungen «
herausgegeben. Von der Sonderausgabe »Hürsen: Die Ausgrabungen
auf dem Forum Romanum 1898—1902« aus Band 17 der »Mitteilungen «
wurde ein zweiter verbesserter Abdruck veröffentlicht. Erschienen ist
ferner die im Auftrage und unter Mitwirkung des Sekretariats von
Hrn. Warruer Anmerune verfaßte Beschreibung der »Skulpturen des
Vatikanischen Museums«, Band I (Berlin 1903). Für den abschließenden
zweiten Band sind die Photographien hergestellt und der Text weit
gefördert. Endlich gab das Sekretariat eine zweite Arbeit des Hrn.
Rıcuarp Dergrück heraus: »Das Capitolium von Signia. Der Apollo-
tempel auf dem Marsfelde in Rom« (Rom 1903).
Hr. Mau setzte die Bearbeitung eines dritten Bandes des Real-
katalogs der römischen Institutsbibliothek fort.
Die Sitzungen fanden regelmäßig statt, mit fast ausschließlich
deutscher Vortragssprache und dabei zahlreichem Besuche und merklich
lebhafterer Beteiligung an den Verhandlungen.
Vorträge hielt der erste Herr Sekretar über altitalische Kunst,
veranstaltete auch einmal einen Besuch von Veji. Der zweite Herr
Sekretar trug im Institut und vor den Monumenten über Topographie
der Stadt Rom vor und verband damit epigraphische Unterweisungen.
Hrn. Mau’s Führung in Pompeji hat in den zwei ersten Wochen des
Juli in gewohnter Weise stattgefunden.
Der Kursus für Gymnasiallehrer aus Deutschland fand in schon
gewohnter Weise statt, vom 30. September bis zum 7. November, unter
Führung der Herren Sekretare, in Neapel und Pompeji auch des Hrn.
Mau und in Florenz unter gütiger Beteiligung des Hrn. Brocktmaus.
Es nahmen teil aus Preußen sechs, aus Bayern zwei, aus Sachsen
ebenfalls zwei, aus Württemberg einer, aus Baden zwei, aus Hessen,
aus Mecklenburg-Schwerin, aus Oldenburg, aus Braunschweig, aus
Elsaß-Lothringen je einer und aus Hamburg zwei Herren.
Eine Reise führte den zweiten Herrn Sekretar nach Dalmatien
zum Studium der römischen Denkmäler in Spalato und Salona.
Auf Reisen, soweit sie nicht durch den Kursus für Gymnasial-
lehrer gefordert wurden, verzichtete der erste Herr Sekretar um so mehr,
als er im Einvernehmen mit den italienischen Leitern des Unternehmens
der Aufdeckung der Reste eines so wichtigen stadtrömischen Monu-
ments, wie der Ara Pacis Augustae seine Aufmerksamkeit widmete.
Die Institutsbibliothek in Rom vermehrte sich um 420 Nummern.
Dank den Regierungen und wissenschaftlichen Gesellschaften, welche
seit Jahren mit ihren Spenden für unsere Bibliothek fortfahren, dank
auch privaten Gebern ist ein erheblicher Teil dieses Zuwachses uns
als Geschenk zugegangen. Als für eine besonders willkommene und
944 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 9. Juni 1904.
wertvolle Einzelgabe möge Hrn. F. W. vo Bissıne ausdrücklich ge-
dankt sein für ein Exemplar der Jahrgänge I—XIV des Jahrbuchs
der Kunstsammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (Wien). Im Aus-
tausche erhielt die Bibliothek wiederum 43 deutsche Gymnasialpro-
gramme von der Verlagshandlung B. G. Teubner und als Geschenk
32 Dissertationen und andere Schriften von deutschen Universitäten,
im Austausche von der Gesellschaft der Bollandisten ein vollständiges
Exemplar der » Acta Sanctorum«. Die Stiftung des Hrn. Fr. BAEnEkER
in Leipzig, deren wir bereits in den zwei letzten Jahresberichten dank-
bar Erwähnung getan haben, ermöglichte auch im Jahre 1903 die An-
schaffung einer Anzahl kostspieliger Werke.
Die Sammlung von Photographien wurde um 147 Nummern ver-
mehrt, darunter Geschenke des Königlich Preußischen Ministeriums
für Kultus und Unterricht, der Gesellschaft für lothringische Geschichte
und Altertumskunde in Metz und des Hrn. H. Esser in Wien. Neuord-
nung und Katalogisierung wurden unter bereitwilliger Mitwirkung der
HH. Arımann und Auerune fortgesetzt.
Das Sekretariat Athen erlitt einen schweren Verlust durch den
jJähen Tod seines Hilfsarbeiters Hass von Prott. An seine Stelle trat
vom November bis zum Schluß des Rechnungsjahres Hr. ErTLinger.
Von den »Mitteilungen« wurde das Schlußheft des Jahrgangs
1902 und der ganze Jahrgang 1903 herausgegeben.
Das Gesamtregister zu Band I—XXV der »Mitteilungen« ist im
Manuskript von Hrn. Barru fertiggestellt; der Druck beginnt.
Es wurde im vorigen Jahresbericht erwähnt, daß Hr. WorTters
die Leitung der Herausgabe der Akropolisvasen und der Funde im
böotischen Kabirenheiligtum weiter behalten hat. Die Scherben der
Akropolisvasen sind bis auf einen geringen Rest vollständig in Zeich-
nung oder Photographie aufgenommen; der ganze Apparat soll jetzt
von Athen nach Berlin überführt werden, um dann die Bearbeitung,
in welche die HH. Grarr und Harrwie sich teilen, energisch zu för-
dern. Von den Funden im Kabirenheiligtum liegen 35 Tafeln in Auf-
lage vor, 8 Tafeln sind noch herzustellen und der Text bedarf, so
weit er vorliegt, noch redaktioneller Durcharbeit.
Die Sitzungen fanden unter stets reger Beteiligung, auch von
Mitgliedern des Griechischen Königshauses, regelmäßig statt. Der
Sitzungssaal wurde auch zu zwei außerordentlichen Sitzungen zum
Besten eines internationalen Frauen-Heims benutzt, in denen Vor-
träge antiquarischen Inhalts vom ersten Herrn Sekretar und vom
Direktor der französischen Schule, Hrn. Homorzze, gehalten wurden.
Vorträge in den ordentlichen Sitzungen hielten außer den Mitgliedern
————
Conze: Jahresbericht des Kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts. 945
des Instituts auch die Herren Sekretare des österreichischen athenischen
Instituts, sowie von griechischen Gelehrten die HH. Kavvapıas, Kera-
MOPULOS, LAMBROS, SOTIRIADIS und SVORONOoSs.
Vorträge fanden von seiten des ersten Herrn Sekretars in dop-
pelter Form statt, für ein größeres Publikum und für deutsche Ge-
lehrte. Je nach dem Wetter wurden die einzelnen Baureste selbst
erläutert oder im Institutshause allgemeinere Fragen behandelt. Der
zweite Herr Sekretar trug erst gegen Ende des Winters in den Mu-
seen vor; außerdem kam den Institutsangehörigen die Teilnahme an
den epigraphischen Vorträgen des Hrn. WirHerLm zugute.
Im Frühling 1903 wurden unter Führung des ersten Herrn Se-
kretars die seit mehreren Jahren üblichen drei Studienreisen auf
dem griechischen Festland, auf den Inseln und nach Troja ausge-
führt. In Korinth übernahm Hr. SchrAper die Erläuterung der durch
die amerikanischen Ausgrabungen in neues Licht gesetzten Ruinen.
Unter den Ausgrabungsarbeiten des Instituts standen auch dieses
Mal die in Pergamon obenan. Sie wurden von dem ersten Herrn
Sekretar vom September bis November geleitet, unter Assistenz des
Stipendiaten Hrn. Arrmann und des Architekten Hrn. Sursos. Über
die Ergebnisse der dies- und vorjährigen Kampagne wird der Bericht
im zweiten Heft der diesjährigen »Mitteilungen« erscheinen. Eine
kleinere Ausgrabung fand unter Leitung der HH. Weicker und Börre
in der Hafenstadt von Megara statt. Hr. DörrreLn benutzte seinen
Sommerurlaub um auf Kosten des Hrn. Gorkoor in der Ebene von
Nidri auf Leukas Ausgrabungen vorzunehmen.
Der erste Herr Sekretar hatte die Ehre im April Seine Kaiserliche
Hoheit den Deutschen Kronprinzen und Seine Königliche Hoheit den
Prinzen Eitel Friedrich auf der Fahrt nach Eleusis, Korinth, Delphi
und Olympia zu begleiten und bereiste im Spätherbst im Anschluß
an den Aufenthalt in Pergamon in Begleitung mehrerer Stipendiaten
Ephesos, Magnesia am Mäander, Priene, Milet und Didyma. Der
Stipendiat Hr. Schröber wurde zu einer Bereisung Lakoniens veranlaßt.
Die Anschaffungen für die athenische Institutsbibliothek mußten
in Ermangelung außerordentlicher Mittel eingeschränkt werden, doch
hielten sich die Schenkungen erfreulicherweise auf früherer Höhe,
so daß im ganzen doch ein Zuwachs von 190 Nummern zu ver-
zeichnen war.
Die Sammlung der Photographien nach eigenen Aufnahmen ist
auch im vergangenen Jahre erheblich gewachsen, sowohl die der
Negative als auch die der Positive und Diapositive; daß die Samm-
lung von Nutzen ist, erhellt aus der Zahl bestellter Bilder, über 4000
im Jahre 1903.
946 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 9. Juni 1904.
Die römisch-germanische Kommission des Instituts ist
mit der ersten Sitzung in Frankfurt a. M. am 4. Januar 1904 in
volles Leben getreten, nachdem ihr Direktor bereits seit Oktober 1902
seine Amtstätigkeit mit Verlegung seines Wohnsitzes nach Frankfurt
begonnen hatte. Die Kommission besteht nunmehr gemäß $ 2 ihrer
Satzungen durch Ernennung seitens des Herrn Reichskanzlers aus
ı. dem Generalsekretar des Instituts und den von der Zentral-
direktion aus ihrer Mitte gewählten HH. HırscnreLn und LoEscHckE,
2. dem Direktor der Kommission Hrn. DRAGENDORFE,
3. vom Herrn Reichskanzler berufen, den HH. Apıckes- Frankfurt,
Epvarn MevEr-Berlin, Schumacher - Mainz,
4. von ihren sechs Regierungen berufen, den HH. Fasrıcıvs-Frei-
burg für Baden, Hryssıne-Straßburg für Elsaß-Lothringen, von HErzoG-
Tübingen für Württemberg, Jacogı-Homburg für Preußen, RAnkE-
München für Bayern, Sorpan-Darmstadt für Hessen,
5. von der Zentraldirektion vorgeschlagen, den HH. von Doma-
szewskı- Heidelberg, OHLENSCHLAGER - München, Rırrterriıns-Wiesbaden,
SCHUCHHARDT-Hannover, Worrr-Frankfurt a. M..
Unter den wissenschaftlichen Untersuchungen des Jahres stand an
erster Stelle die Erforschung des Römerlagers bei Haltern an der Lippe,
bei welcher die römisch-germanische Kommission die Altertumskom-
mission für Westfalen in diesem ihrem Unternehmen mit Geldmitteln
und auch dadurch unterstützte, daß Hr. DRAGENDoRFF mit dem Vorsitzen-
den der Altertumskommission, Hrn. Korpr-Münster, die Leitung der Aus-
grabung teilte. Diese richtete sich auf die weitere Klarlegung des soge-
nannten Uferkastells auf der »Hovestadt« und stellte verschiedene Pe-
rioden dieser Anlage fest; sie wird noch fernerhin fortzusetzen sein.
Auch wurden einige kleine Nachuntersuchungen am großen Lager vor-
genommen.
Ebenfalls mit der Altertumskommission für Westfalen förderte
die röm.-germ. Kommission die Untersuchung des sogenannten Römer-
lagers bei Rüthen.
Dem Altertumsvereine zu Xanten trat die röm.-germ. Kommission
zur Seite bei Durchführung der Untersuchung des dortigen Amphitheaters.
Ferner widmete sich Hr. DrAGEnnorrr der Beobachtung der bei
Gelegenheit der Kanalisationsarbeiten in Trier gemachten Römerfunde,
beteiligte sich auch in Trier an der Führung im Gymnasiallehrer-
kursus um Pfingsten. Mit dem Hanauer Geschichtsvereine trat er zur
Untersuchung vorrömischer Wohnplätze in Verbindung.
Es erschien von den von Hrn. OHLEnscHLAGEr im Auftrage des
Instituts, jetzt der röm.-germ. Kommission, herausgegebenen »Römi-
schen Überresten in Bayern« das zweite Heft.
Coxze: Jahresbericht des Kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts. 947
Durch zahlreiche Reisen war der Direktor bestrebt, sein Arbeits-
gebiet allseitig kennen zu lernen, die Beziehungen zu Vereinen und
Personen zu pflegen und sich an Besprechungen zu beteiligen. So
nahm er an der Versammlung des Verbandes west- und süddeutscher
Altertumsvereine teil, auch an denen des Gesamtvereins deutscher Ge-
schichts- und Altertumsvereine und der deutschen anthropologischen
Gesellschaft. Vorträge hielt er auf den erstgenannten beiden Ver-
sammlungen, außerdem auch in Haltern, in Gießen, in Bonn und in
Basel auf Aufforderung dortiger Vereine.
Die im vorigen Jahresberichte bereits ausgesprochene Hoffnung
auf ein für die heimische Altertumsforschung, zunächst auf altrömi-
schem Boden, ersprießliches Zusammenwirken beginnt sich zu erfüllen.
Die Stadt Frankfurt hat uns gastlich willkommen geheißen, indem
sie einen Jahresbeitrag für die Kosten der Tätigkeit der röm.-germ. Kom-
mission ausgeworfen hat, wofür auch an dieser Stelle zu danken ist.
Der Verwaltungsrat der Dampfschiffahrts- Gesellschaft des Öster-
reichischen Lloyd und die Direktion der Deutschen Levante-Linie be-
günstigten die Reisen unserer Beamten und Stipendiaten auch im
vorigen Jahre in dankenswertester Weise durch gewährte Preisermäßi-
gungen.
Ausgegeben am 16. Juni.
949
SRIIAUNGSBERICHTE 270%
XXX.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
9. Juni. - Sitzung der physikalisch-mathematischen Olasse.
Vorsitzender Secretar: Hr. WALDEYER.
l. Hr. Heınerr las: »Zur Ableitung der Formel vonÜ.F.Gauss
für den mittleren Beobachtungsfehler und ihrer Genauigkeit«.
Diese Ableitung wird einfacher, wenn anstatt der unmittelbar auftretenden Un-
bekannten andere eingeführt werden, die sich durch die redueirten Normalgleichungen
im Anschluss an die Theorie der äquivalenten Beobachtungen ergeben.
2. Derselbe legte vor eine Übersichtskarte der Breiten- und
Azimuthstationen in Europa und Nordafrica, welche für die »Ver-
handlungen der Internationalen Erdmessung in Kopenhagen, 1904«
im Geodätischen Institut unter Leitung von Hrn. Geheimrath ALgreent
durch Hrn. Geometer Förster bearbeitet worden ist.
Während die Karte von 1892 (Verh. in Brüssel) nur 380 Stationen aufwies,
zeigt die neue Karte 108 Stationen, auf denen die geogr. Breite oder das Azimuth
oder auch beides gemessen ist. In einigen Flächenstücken sowie auf einigen meridio-
nalen Linien treten die Stationen dicht zusammen: hier sind Specialuntersuchungen
über die Figur der Erde ausgeführt (u. A. in der Schweiz, in der Umgebung von
Moskau, im centralen Theile des preussischen Staates und auf den Meridianen des
Brockens und der Schneekoppe).
3. Hr. F.E. Scuuzze legte vor: Dr. med. Joun SıEesEL, »Beiträge
zur Kenntniss des Vaceineerregers«.
Verf. verfolgt die von GuArnierı in der Hornhaut mit Pockenlymphe geimpfter
Kaninchen gefundenen Körperchen, welche Cytoryctes variolae benannt und fast allge-
mein als die wahrscheinlichen Erreger der Vaccine angesehen werden, in den inneren
Organen der mit Pockenlymphe geimpften Kaninchen. Unter Benutzung bisher bei
diesen Untersuchungen noch nicht zur Anwendung gebrachter Färbungsmethoden findet
er in den inneren Organen, besonders in den Nieren Gebilde, die als Sporen von Spo-
rozoen in verschiedenen Entwicklungszuständen und als Cysten mit Dauersporen ge-
deutet werden. Letztere sind identisch mit den von GuArNIERı in der Cornea ge-
sehenen Körperchen.
950 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 9. Juni 1904.
Zur Ableitung der Formel von 0. F.GaAuss für den
mittlerenBeobachtungsfehler und ihrerGenauigkeit.
Von F.R. HELMmERT.
ie
Naeh dem zweiten Teil der Theoria Combinationis, Art. 39, ist das
Quadrat des mittleren Fehlers der als gleich genau vorausgesetzten (bzw.
auf gleiche Genauigkeit reduzierten) Beobachtungen
mn (1)
wenn die » voneinander unabhängigen Beobachtungen / die m Un-
bekannten wy2... bestimmen und A ihre von der Methode der kleinsten
Quadrate geforderten Verbesserungen bezeichnen, so daß
= —I+a0Hby+62+.... re 2)
Die Koeffizienten abe... werden hier als streng gegeben vorausgesetzt.
Der mittlere Fehler der Bestimmung von w° aus (1) ist
vr— ut zu? — v*
If = =E V Im — (aa +bß+cy+...)]|} (3)
pp 2
n—m (n — m)”
Hierin bezeichnet v* den Durchschnittswert der 4. Potenzen unendlich
vieler wahrer Fehler der betreffenden Beobachtungsart (in gleicher Weise
wie u’ den der 2. Potenzen); ferner sind #8y... durch die Ausdrücke be-
stimmt:
3 — [el], y =jRr = BA er: (4)
Gauss gibt dann noch einen Näherungsausdruck für (3) an.
Ich habe die Absicht, diese wichtigen Formeln im Anschluß an
meine Theorie der äquivalenten Beobachtungen herzuleiten, wodurch
eine Vereinfachung erzielt wird.'
Auf dem Wege zu dieser Entwicklung war auch Jorpan; er führt
jedoch nicht die charakteristischen Unbekannten in die Fehlergleichun-
gen ein, sondern bildet nur verwandte Systeme reduzierter Fehlerglei-
chungen. Er leitet auch nur Formel (1) ab und begeht dabei eine
! Die Ausgleichungsrechnung nach der Methode der kleinsten Quadrate, Leipzig
1872, S.164 u. f.
Iermerr: Mittlerer Beobachtungsfehler. 951
kleine Unrichtigkeit; ich erkenne aber gern an, daß mich seine Ab-
leitung zu der meinigen veranlaßt hat.'
Von sonstigen Arbeiten dieser Art ist mir nur die Abhandlung
von H. Bruns »Über die Ableitung des mittlern Fehlers«” bekannt ge-
worden (durch gefällige Mitteilung des Hrn. Prof. Dr. Krüger vom Geo-
dätischen Institut). In dieser sehr allgemein gehaltenen Abhandlung
wird die Frage nach der günstigsten Berechnung von u* diskutiert
und gezeigt, daß Formel (1) nur für v’ = zu* die günstigste Berech-
nung gibt, daß diese Formel aber immer als praktisch bequeme zu
benutzen ist, da die günstigste zu verwickelt wird. Der von mir im
folgenden behandelte Fall erscheint in dieser Abhandlung nur als Spe-
zialfall; infolgedessen tritt aber die für ihn mögliche Vereinfachung
der Entwicklung nicht hervor. Auch ist die Endformel nicht auf
die einfachste Form gebracht, wovon weiterhin die Rede sein wird.
2.
Der Einfachheit halber nehme ich im folgenden an, daß die Fehler-
gleichungen durch Multiplikation mit den Quadratwurzeln aus den Ge-
wichten auf gleiche Genauigkeit reduziert seien; die (2) seien diese
umgewandelten Gleichungen. Dazu gehören die Normalgleichungen:
[aa]& + [ab]y + [ac]2+ ... = [el]
[ed Je + [bb]y + [de]z+ ... = [bl] (5)
[ae ]& + [de]y + [ee]z+ ... = [el]
und die reduzierten Normalgleichungen:
[aa]e + [ab]y+[acle+... = [el]
[66 .1]y+[be-1]2e+... = [dl-ı] (6)
[ee-2]2#.... = |d- 2]
usw.
Die linker Hand stehenden linearen Funktionen benutzen wir zur Ein-
führung neuer Unbekannten w,...u,, indem wir setzen:
c—+ [aa] + fa ... U,
ze =
u: ..=u, (7)
z+. = U;
USW.
‘ Handbuch der Vermessungskunde I, Stuttgart 1877, S. 35 —39; 4- Auflage
1895, S.84— 87. S.87 u. wird unnötigerweise [as] = o gesetzt; es wird übersehen,
daß [ad'] = 0 ist.
® Leipziger Universitätsschrift von 1892/93.
52 Sitzung der physikalisch- mathematischen Classe vom 9. Juni 1904.
Aus den Fehlergleichungen denken wir uns hiermit der Reihe nach
xyz... eliminiert. Es folgt dann aus (2):
= —I+au,+b/u,+6 u-+..., (8)
wobei
3 Barts; [ee]
; =b,—4—, 6 =G6—-4—,...
I; ı ı [ea] [ea] 2 (9)
be»1]
ed" —= ec’ —b/ I —,... Io
ı ı ı [06-1] ( )
usw.
Zu (8) gehören die Normalgleichungen:
[aa]u, + [ab’]u, + [ac”]u, +... = [al]
[ad’Ju, + [0b Ju, + [Be u, +... = [b’7] (tı)
[ac” u, + [b’e” Ju, + [e”e” Ju, +... = [e”!]
Nun ist aber nach (9):
18%), = 1-1]. 19. [dei] [ee] = ea eier
ea onen, dene
und nach (Io) und (12):
GL — dh ‚ also [ec] — [ee'=7] —]|ee-2]
We‘ (13)
[e’7] = [e’1] — [07] — [c-ı] = [el- 2]
7
usw.
Hiermit ist nach (6) und (7):
[aa], = [el]
[5], = [b'!] (14)
le
Diese Gleichungen müssen mit den (11) für beliebige Werte der
rechten Seiten übereinstimmen.
Es ist daher:
[eb]; © = [ae] >= [rc dus (15)
welche Beziehungen auch direkt aus (9) folgen.
Die Aufstellung der Normalgleichungen (14) zeigt, daß die Funk-
tionen u der ursprünglichen Unbekannten &yz... aus der Ausgleichung
wie voneinander unabhängige Beobachtungen hervorgehen, indem die
Beobachtungen , = [al]: [aa] , w, = [b’!]:|6’0’] usw. (mit Rücksicht
auf ihre Gewichte) auch die Normalgleichungen (14) liefern würden.
Ich habe 1872 diese »äquivalenten« Beobachtungen unter anderem
Hermerr: Mittlerer Beobachtungsfehler. 955
zur schrittweisen Ausgleichung vermittelnder Beobachtungen mit Be-
dingungsgleichungen benutzt.
Die äquivalenten Beobachtungen sind ein spezieller Fall der
von T. N. TuıeLe nach Orrermann betrachteten, gegenseitig »freien«
Funktionen von Beobachtungsgrößen /, auf die er sogar eine ganz neue
Entwicklung der Methode der kleinsten (Quadrate gründen konnte.
3.
Sind U,U,U,... die wahren Werte der Unbekannten « und be-
zeichnet e die wahren Verbesserungen der /, so ist entsprechend (8):
5; = —I;+a0, +6 U, + U,+..., (16)
was mit (8) gibt:
= 5+ alu, — U.) + bw, —U)+ 6% (u —U,)+.... (17)
Hierzu gehören mit Rücksicht auf (15) die Normalgleichungen:
[ga] (U, — w,)
Tl )
SS)
S
0)
Da
[9 (U, — u,) (18)
[ee KU, — u,) = |e”e]
Nun ist aber aus (17) mittels (15) und (18):
[Ar] = [ee] — [ae] (U, — u,) — [d’ e] (U, — u,) — [e” e] (U, — u,) —...,
oder : f
De (10)
[ea] 7 15:01 [ee]
Hieraus folgt leicht Formel (1), wenn rechter Hand der Durchschnitt
unendlich vieler Fälle genommen wird. Es wird zunächst
[rr] = nu — u — u’ — u’—... (m), (20)
womit sich (1) ergibt. Voraussetzung ist, daß der Durchschnittswert
des g; einer Beobachtung /; für unendlich viele Fälle gleich null ist,
wie bekanntlich Gauss annimmt. Sonst wird über das Fehlergesetz
nichts vorausgesetzt.
4.
Zur Vereinfachung setzen wir nun
a U A
—-—=A ———— eb -————=cusw, (21)
Vlaa] v0] vl
! Elementaer Jagttagelseslaere. Kobenhavn 1897. — Theory of Observations.
London 1903. (Im wesentlichen Übersetzung des vorigen.) S.53 u. f.
954 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 9. Juni 1904.
womit
[rr] = [ee] — [ae] — [be] — [ce —. .. . (22)
Es ist
al = = er, (23)
sowie nach (15)
fab]= 0: au] = [dt] u: (24)
Um das mittlere Fehlerquadrat M° in der Bestimmung von w°
nach (1) zu erhalten, ist der Durchschnitt von
\.el=R— ee
) n — m r \ (25)
für unendlich viele Fälle zu bilden, vgl. (22). Ein vorgesetztes D
möge die Bildung dieses Durchschnitts bezeichnen. Zunächst ist leicht
ersichtlich, daß
De Dee een:
(n — m)”
—uf. (26)
Weiterhin ist zu beachten, daß wegen D(e)=o auch D(z,:$8) = 0,
D(e,g;&5) = O0 sowie D(e,e) =o ist, da alle diese Werte D(e) als
Faktor enthalten. Nun ist
D |} [ee] — [ae]? — [be]? Are — ... = Dlee]’+D [ae + [be + [te + ...\?
2 D'\[ee]|([ae’ + [be + [ee +...)|-. (27)
Hierzu findet sich zunächst ohne weiteres:
Dis] = mw’ +n(n— ı)u*. (28)
Bei Bildung von D}[ae]’[be]*| braucht man nur die Glieder, welche
lediglich gerade Potenzen der e enthalten, zu beachten und erhält diesen
Durchschnitt gleich
[a® b°]v* + ([a?] [6°] — [a’b’]) u’ + 2 ([ab]? — [a?b?]) #*
d.i. wegen (23) und (24):
D \[ae’[be}| = (* — zu')[a®b°] + Rt. (29)
Da nun ferner, wie aus vorstehender Entwicklung leicht zu er-
sehen ist,
Dias] = (v’ — zu‘) [a] + 34°, (30)
so folgt mit gehöriger Anwendung von (29) und (30) auf die ver-
schiedenen Koeffizienten a, b, c usw.:
D}[fas]’ + [be + [e]’ +...) = (u! — zu) [at] + [6] + [e] +. -\
+ alt —zp)i[e ]+ [ee] +[Pe]+.. |rmm+a)w. (39
Hermerr: Mittlerer Beobachtungsfehler. 955
Endlich ist
2D}[ee]([ae]’ + [be + [ee] +. . .)!
= 2(" + (n— 1)u*) [a] + [0] + [e] + - - -|
= 2m(v" + (n— ı)u').
Durelı Einführung von (28), (31) und (32) in (27) ergibt sich
D} [ee] — [ae]? — [be]? — [ce]? — . . .\” = (n — am) v*
+ (n(n— 1)— 2m(n— 1) +m(m-+ 2)) [a
+ (vu! — 32) |fat] + [6] + [e] + - - -!
+ 2(v — zu) {a 6] + [a] + [be] +... .}.
Die beiden letzten Glieder lassen sich zusammenziehen, und es folgt
mithin aus (26):
4 4 4
a eih hr
n—m “ (n—m) Im—[(®+b’+C-+...]|. (33)
Es läßt sich leicht direkt mittels Vergleichung der (2) und (8),
wo (4) und (14) zu substituieren sind, zeigen, daß allgemein
+ HH... = aa; rl +... (34)
ist und also mit (3) Übereinstimmung besteht. Dies möge übergangen
werden. Denkt man sich übrigens die Gausssche Formel (3) auf die
Fehlergleichungen (8) angewandt, so ist die Übereinstimmung un-
mittelbar ersichtlich.
d.
Am einfachsten wird die Ableitung von M?, wenn die Ausglei-
chungsaufgabe in der Form bedingter Beobachtungen gestellt wird.
Sind © Bedingungsgleichungen zwischen den rn Beobachtungen / ge-
geben und bezeichnen die e irgendwelche Verbesserungen, so habe man
o= [p;(l-+ s)]
o= [g; (l;+ e))] V=I...N (35)
o=[r;(l;-+ 8]
In diesen Gleichungen sind etwaige konstante Glieder mit den /
vereinigt gedacht, gerade so wie dies stillschweigend bei den Fehler-
gleichungen (2) angenommen worden ist. Auch denke ich mir die
! auf gleiche Genauigkeit reduziert.
Die rechten Seiten verwandeln wir zunächst in gegenseitig freie
Funktionen mittels der Koeffizienten der reduzierten Normalgleichungen
Sitzungsberichte 1904, 79
956 Sitzung der physikalisch -mathematischen Classe vom 9. Juni 1904.
[pl Ipgl Iprl
[99-1] [gr- 1]... (36)
Inn22]2-
und setzen nach Analogie von (9) und (10):
0. —P; Il i A u 7; [pp] > (37)
y 2 ‚|gr-ı
ua VrT eng 8
Mar: [ag 1]
usw
Es wird damit aus (35) erhalten:
o=[p(4+)]
o=[g (k-+ s)] (39)
o=[r/ (+ e)]
Dafür schreiben wir nach Division mit Y[pp], VYIgg-ıl=Vlg’q];
o=[p,(4+:5)]
o=[4(4+8)] (40)
o=[vu(4+8)]
Es ist nun wegen [pg’] 6 = [pr”] 2 [g’r”] usw.
[pa] = 0 = Ip] = [gt] usw.; (41)
ferner wird
IP] = ı = lg] = Ir] usw. (42)
In (40) können wir nun unter den e einmal die wahren Ver-
besserungen, dann aber auch die plausibelsten Verbesserungen A ver-
stehen. Mit
w, = [pl]
w, = [al]
w,— [tl] (43)
folgt dann
— 1, = [pa] = [pe]
—w, = [9A] = [ge]
— 1, = [vr] = [ke] »
Die Korrelatengleichungen sind
ed rgErih+... Je el)
und die Normalgleichungen infolge (41) und (42):
Hermerr: Mittlerer Beobachtungsfehler. 957
L+wW=o
L£+w,=o 6
B+Ww,=o (49)
Man hat daher endlich aus (44) und (45):
PA] = w+m+W-+... (47)
oder
[RR] = [pe + [ge + [el +... - (48)
Hieraus leitet man unmittelbar ab, daß im Durchschnitt
Pr] = rer +...(e) (49)
oder
_ [Al
= (50)
ist, was mit (1) übereinstimmt, da oa = (n—m) Bedingungsgleichungen
aus n Fehlergleichungen mit m Unbekannten hergeleitet werden können.
Analog wie bei (25) und (26) ergibt sich nun
_ Dipl +lgf+Iel+.- +)
Abel
= Be (51)
M°
Aus (31) kann man unmittelbar entnehmen, lediglich indem man m
durch © ersetzt, daß
Di[pe +[ge? ++..." =
+2) + — ze) P + HUÜ+...)].
Dies in (51) eingesetzt, ergibt
ae zu 0% zu — v*
oder
m! #4 HTTP. (53)
Wenn die c Bedingungsgleichungen im vorigen Abschnitt den n
Fehlergleichungen mit m Unbekannten im zuerst betrachteten Falle ent-
sprechen, müssen die Formeln (53) und (33) für M° dasselbe geben.
Es bilden aber die Koeffizienten
NE
EN EL RRENEN I: Pe A en
ab;t,...P397, %
ziehe
958 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 9. Juni 1904.
die Koeffizienten einer orthogonalen Substitution. Denn es ist nach
dem vorhergehenden erstens
Kerle»:
p]=ı=[r]=l] =.
fa] =o= [a] = [fi] = .. (55)
pal=o=Mml= im ..
zweitens ist auch
[ap] = 0 = [in] = [w] =...
al=o=ll = Il...
lade = oz (56)
usw.
Denn wenn die Bedingungsgleichungen
o=[p(i+A)]
o=[4(+N)]
o=[r/(4+%)] =
usw.
den Fehlergleichungen
= —I+ au, + bu, + cu, + (58)
entsprechen sollen, so muß
ep = opel
]=o=[Py]=leg] =
oe ee (59)
sein, aus welchen Gleichungen die (56) durch einfache Division her-
vorgehen.
Bekanntlich ist nun auch im System (54):
+++... + +++... >1. (60)
Hieraus folgt:
M+gq+r+...)]=[}-(®+b+0-+...)’]
=n— 2m +|\®+b+0-+...)].
Damit gibt (53):
I n* zu* —y! A
zen ‚|e—n+2m— (+ +0C-+...)]},
n— m (n — m)
M’=
was mit (33) übereinstimmt, wenn e = n—m gesetzt wird.
Bruns gelangt für vermittelnde Beobachtungen unmittelbar zu
einer Formel, die die Gestalt von (53) hat, was also eine Transfor-
mation mehr voraussetzt, als oben in den Abschnitten 2 —4.
Hermerr: Mittlerer Beobachtungsfehler. 959
Lerä
Ir
Da sich die Ausdrücke für M® in keiner Form zur praktischen
Auswertung eignen, leitet schon Gauss Grenzwerte ab, innerhalb
deren M° eingeschlossen ist. Aus irgendwelchen Gründen nimmt er
die Grenzen nicht so eng, als es möglich ist. Sie möglichst eng zu
nehmen, ist aber ganz nützlich, weil man dann erkennt, daß die
Näherungsformel
M— os (62)
2 (n — m)
praktisch genügt.
In (33) bezeichne ich jetzt + +d-+... mit Z. Nun ist
Ka; +56;+05+...)] = [a] + [6] + e[e]+...
+ 2a,b,[ab] + 2a,c,[ac] + 2b,c, [be] +... . ,
d.i. nach (23) und (24) gleich +b;+c4-+..., also gleich 4. Es
ist daher
I —ite 1065 (63)
wenn 0; die Summe [(a,4;+ 5,6;+45+....)”] ohne das Glied mit i= ı
bezeichnet.
(63) gilt offenbar auch für jeden anderen Index statt ı; ©
immer eine Quadratsumme. Setzen wir statt ı den allgemeinen In-
dex i, so folgt nun aus (63):
I I E
= +)/ — 16; (64)
2 4
Hiernach liegt 4 zwischen null und eins:
ok. (65)
2
ist
Die 4, sind somit echte Brüche.
Da nun [4] = [a] + [6°] + [Ü]+... = m ist, muß [#] <m sein,
da das Quadrieren echte Brüche verkleinert. Also ist
K®+b’+0+...)]<m. (66)
Andererseits ist [£] offenbar ein Minimum bei Gleichheit der 4,
weil die Nebenbedingung [4] = m besteht. Mithin ist
(®+b+0-+...’]> —. (67)
(66) und (67) geben für M? die Grenzwerte
4 4 4 4 4 4
v— u v—u 3m: —ye m ;
en u RL (68)
N —m Nn— m n—m N
Dieselben Werte ergeben sich aus (53), da [(P’+Q’+U-+...)'| zwischen
c und 0°:n liegt.
960 Sitzung der physikalisch - mathematischen Classe vom 9. Juni 1904.
Beim Gaussschen Gesetz ist bekanntlich v’ = zu‘. In praktischen
Fällen ist etwas abweichend davon oftmals v’ zwischen 2u* und zu
gelegen. Für v* = zu! fallen beide Grenzwerte zusammen. Auch für
andere Fälle ist ihr Unterschied nicht von Bedeutung, wenn nur m
wesentlich kleiner als n ist und zugleich annähernd v’ = zu? wird.
Ist allerdings ’ = 2u' und mn =+#, so ist die obere Grenze
um 50 Prozent größer als die untere. In bezug auf M selbst sind
beide Grenzwerte um rund 25 Prozent des unteren verschieden.
In der Geodäsie kommen viele Fälle vor, wo m:n annähernd 4 oder
noch größer ist. Man schreibt anstatt (68) dann besser als Grenzwerte
vr ut zu! —v'
vu! au —v!' n—2m
2(n—m) 2(n— m) 2(n—m) 2z(n—m) N
Hiervon gibt (62) das arithmetische Mittel annähernd extremer Fälle,
indem bei m=n das 2. Glied der zweiten Grenze entgegengesetzt
gleich dem 2. Glied der ersten Grenze wird.
Schreibt man dagegen die Grenzwerte wie folgt:
2 4 ey 2 4 4 __ .n# n—-m
SE (005
n—m n—m n—m n—m n
so erkennt man, daß der Ansatz
2 4
we. (70)
n—m
etwa doppelt so ungenau ist, als (62). Er empfiehlt sich aber dadurch,
daß er die Kenntnis von v’ nicht voraussetzt, und außerdem gibt er
in der Regel M° nicht zu klein an.
8.
Liegen für u?” mehrere Bestimmungen vor, so sind diese, dem
Geiste der Entwicklung von (1) entsprechend, nach der Formel zu
vereinigen:
malen (au)
worin 3 die Summierung der den einzelnen Bestimmungen zugehö-
renden [AA] und (n— m) anzeigt.
Dies ergibt sich aus der Betrachtung, daß man sich alle Einzel-
ausgleichungen in eine einzige zusammengeschrieben denken kann. Un-
abhängigkeit der Beobachtungen / und Verschiedenheit der Unbekannten-
systeme vorausgesetzt, zerfallen nun aber die Fehlergleichungen und
Normalgleichungen in Gruppen nach Maßgabe der Einzelsysteme, und
es wird die Gesamtsumme der Quadrate der A gleich der Summe der
Hernerr: Mittlerer Beobachtungsfehler. 961
einzelnen [??], ebenso die ganze Differenz (n— m) gleich der Summe
der Einzelwerte.
Die Einzelwerte von w° werden in (71) so miteinander verbun-
den, als wären ihre Gewichte gleich den zugehörigen (n— m). Eigent-
lich sind sie aber umgekehrt proportional ihren M* zu setzen. Das
gibt nur näherungsweise (na— m), wenn nicht v’ = 3u* ist, also ins-
besondere das Gausssche Gesetz gilt. Hierin liegt ein Widerspruch, der
sich dadurch erklärt, daß nach Bruns bei andern Fehlergesetzen, wo
v”,<3zu* ist, Formel (1) nicht den günstigsten Wert im Sinne der Me-
thode der kleinsten Quadrate gibt.
Im folgenden möge für einige einfachere Fälle gezeigt werden,
daß bei der günstigsten Berechnung von u’ Widersprüche nicht ein-
treten. Der Einfachheit halber setze ich dabei bedingte Beobachtun-
gen voraus.
g:
Liegt nur eine Bedingungsgleichung vor, so kann u’ nur aus derem
Widerspruch w bzw. w bestimmt werden, indem man von der Be-
ziehung —w = [pe] ausgeht. Es folgt
w
en] (72)
2
mit dem mittleren Fehlerquadrat
= 2W#—(3u'—v)[p], (73)
wobei b; = p,:/[pp] ist.
Sind zwei Bedingungsgleichungen gegeben, mit Beobachtungen
derselben Art, aber verschiedenen Beobachtungsgruppen, so gibt jeder
2
Widerspruch eine Bestimmung von 4’. Man kann ansetzen
2
2=W= ' mit M= 2#—(zW#—w)[p],
[pp]
I (74)
Bw. — mit ME —ru (322 w) oe];
rg] u
wobei = p::V[ppl, 5 = 4: Vlag] ist.
Zu einem Mittel vereinigt, folgt
KM, Ba:
‚2m N
= nn, (75)
el erg
NE METER
Diese Formel für u” macht seine Bestimmung nicht mehr von
[Ar] = wi+w} abhängig. Man kann nun nachweisen, daß man die-
962 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 9. Juni 1904.
selbe Bestimmung erhält, wenn beide Bedingungsgleichungen in eine
Ausgleichung zusammengefaßt gedacht werden.
Bekanntlich ersetzt man dann w-+Ww? durch die allgemeinere
quadratische Form
Aw: + Bw? + Ow,w,, (76)
deren Koeffizienten ABC so zu wählen sind, daß sich eine möglichst
günstige Bestimmung von u’ ergibt.
Es ist nun —w, = [Ye] und —w, = [ge], der Durchschnittswert
von w? und mw? somit #’. Der Durchschnittswert von w,w, = [Ve] [de]
ist dagegen gleich null wegen [bg] = 0. Der Durchsehnittswert von
(76) wird also (A+B)u’. Es ist daher
Aw; + Bw; + Cw,w, ei
A+B 2
hierzu gehört das mittlere Fehlerquadrat
Alpe? + Zigef + Elpellael I’ _
- er — u". 8
MER H (73)
ABC sind so zu bestimmen, daß M° möglichst klein wird. Zu-
nächst erkennt man leicht, daß C null anzunehmen ist; denn wegen
[a
Pl)
des Umstandes, daß in [pe] und [ge] nur verschiedene e vorkommen,
verschwinden von den Gliedern mit € im Durchschnitt alle Glieder mit
AC und BC, und es bleibt nur das mit C°, nämlich abgesehen vom
Nenner A+B das Glied D}C”[ype]’[ge]’}, so daß M’ mit C=o am
kleinsten wird.
(78) schreiben wir nun
p | Amer — N) + B’lael' — N) + 2 AB (pe leer) es
(A+ Bj hg
Da aber D/[pe]’[ge]}} = u, Di[pel'—u') = M} und Dilge' —u' = M},
so folgt mit A+ B = Konstante, wofür I genommen werden darf:
M?’ = A’M:-+ B’M:. (So)
Dieses wird in bezug auf A+B wegen der Nebenbedingung A+B
—=ı ein Minimum für AM? = BM:, d.h. für
I I I I 1 I
A |); B=——:|— + ——.].
Mm: er rap: Be 2
Das entspricht aber nach (77) und (80) genau den Formeln (75).
Hier ist also in der Tat kein Widerspruch.
Die vorstehende Betrachtung kann leicht auf mehr als 2 Bedin-
gungsgleichungen mit voneinander verschiedenen Beobachtungen aus-
gedehnt werden. Das Ergebnis ist dasselbe.
EV —
Hermerr: Mittlerer Beobachtungsfehler. 963
10.
Ich nehme jetzt an, daß 4 Bedingungsgleichungen gegeben sind,
die in 2 Gruppen zu je 2 zerfallen, so daß in jeder Gruppe die Gleichun-
gen durch die Beobachtungen zusammenhängen, während die beiden
Gruppen unabhängig voneinander sein sollen.
Für die einzelne Gruppe gelten wieder die Formeln (77) und (78),
nur wird für die günstigste Bestimmung CO nicht null. Wir brauchen
indessen die günstigsten ABC gar nicht aufzusuchen. Es genügt zu
wissen, daß M’ nach Maßgabe des Ausdrucks (78) ein Minimum werden
muß in bezug auf ABC mit der Nebenbedingung A+D gleich einer
Konstanten.
Unterscheiden wir die beiden Bestimmungen durch die Indices
a und b, so geben die Gruppen einzeln mit Rücksicht darauf, daß
sowohl w, und w, als auch w, und w, gegenseitig freie Funktionen
sind:
Aw + Bw; + C,w,W,
an Bin (82)
».. A,w; + Bw; + O,w,w,
in
und
Me — D\ Alpe? + Bulgel’ + €.[pellael wi i
A,+B, ”
er | == B,lee]' +6 [ve][3e] ( us
yR A,+B, Me.
Werden alle 4 Gleichungen zusammengefaßt, so tritt an die Stelle
von (76) ein Ausdruck von der Form
(A,w: + Bw? + C,w,w,) + (A,w3 + B,w; + C,w,w,) + R, (84)
wo R die Produkte der w der ı. mit denen der 2. Gruppe enthält.
Der Durchschnittswert von (84) ist (A, + B,+ A, + B,)u’. Es zeigt
sich aber auch leicht wie im Falle (77), (78), daß wegen der Unab-
hängigkeit der beiden Beobachtungsgruppen voneinander die Koeffi-
zienten in R fürs Minimum null sein müssen, so wie dort C null
wurde. Somit folgt
(A.w; + Bw: = Calw, W,) + (4, w; EB: wi O,W, w,)
as A,+B,+ 4,+B,
(Aufpel + Balgef + Culpellaed + (Avlvel? + Bulse’ + Gleellse) \’ _
I — 2 — S6
ME ABEL EB, ee)
‚ (85)
wobei nun aber die ABC andere Werte wie in (S2) und (83) haben
könnten.
964 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 9. Juni 1904.
In gleicher Weise wie beim Übergang von (78) zu (80) sieht man,
daß anstatt (36) geschrieben werden kann, wenn man A, +B,+A,+B,
= N setzt:
M® = 5; D|(AufpeP + Bulael? + Culpellae)’— (A. + Bor)
(87)
+: D } (A,[te]’ + B,[8e]’ + ©, [te][se])’ — (A, + Bı)’ ur},
indem die doppelten Produkte der in (87) übereinander stehenden
runden Klammern sich gegenseitig aufheben.
Vergleicht man mit (83), so erkennt man, daß für die Minimal-
werte von M° einerseits und von MM}. M}; andererseits die Verhältnisse
A,: B,: C,:(A,+B,) bzw. A,: B,: C,:(A,—+ B,) dieselben Werte haben
müssen. Da nun in M7 und M; überhaupt nur diese Verhältnisse vor-
kommen, kann man anstatt (37) schreiben:
u A,+B,. el A,+B,\’.,.
M - (7 )6= (#77) M}.. (88)
Für N = Konstante muß im Minimalfalle also sein:
en 7 ee
VOTE ENDE:
A, ( I I ) (89)
mM;
womit sich aus (85) und (82) ergibt:
mit (90)
Die Gesamtausgleichung gibt hiernach dieselbe Formel zur günstig-
sten Bestimmung von u’, als die Verbindung der beiden Einzelwerte (82)
nach Maßgabe ihrer mittleren Fehler.
Dasselbe würde sich ganz allgemein ergeben, wenn es sich um
voneinander unabhängige Einzelwerte handelt. Ein Widerspruch ist
somit bei günstigster Bestimmung nicht vorhanden.
965
Beiträge zur Kenntnis des Vaceineerregers.
Von Dr. med. Joun SIEGEL.
(Vorgelegt von Hrn. F. E. Scuurze.)
Is Jahre 1892 stellte GuArnıerı durch Impfung der Cornea geeigne-
ter Tiere, besonders der Kaninchen, mit Vaccinelymphe fest, daß in
der Umgebung des Impfstiches neben dem Kerne der Corneaepithel-
zellen nach 48 Stunden eigentümliche Körper, welche er Citoryetes
variolae' nannte, zu finden waren, die er für lebende Organismen und
für identisch mit dem gesuchten Erreger der Vaceine erklärte, weil
sie nur bei dieser spezifischen Impfung gefunden wurden, und weil
die Größe derselben regelmäßig zunahm konzentrisch zum Impfstich.
Ich will hier auf die weitere Entwicklung der Ansichten über die
Bedeutung dieser Körper, welche eine sehr ausgedehnte Literatur her-
vorriefen, in der Bestätigungen und Ablehnungen der GuARNIERISchen
Deutung niedergelegt wurden, nicht weiter eingehen und verweise
nur auf die sehr gründliche kritische Zusammenstellung des ganzen
hierher gehörigen Materials von WAasıEeLewkr's, welcher 1901 in der
»Zeitschrift für Hygiene« zu dem, wie mir scheint, wohlbegründeten
Schlusse kommt: »es müsse als sehr wahrscheinlich bezeichnet wer-
den, daß die Vaceinekörperchen selbst die Vaccineerreger sind«.
Seit von WasıeLewskis Zusammenstellung sind wiederum eine
größere Reihe von Arbeiten erschienen, welehe sich mit den Kör-
pern der Vaceine befassen. Auf einige der bemerkenswertesten will
ich hier kurz eingehen. ÜALmMETTE und Gurrın beschrieben 1901 in
den »Annal. de l’Institut Pasteur« stark lichtbreehende, sehr kleine Kör-
per in der Lymphe, und Dongrowskı beschäftigt sich 1902 in der
» Zeitschrift für klinische Medizin« eingehender mit denselben Körpern.
Besonders konstatiert er zwei Arten der Bewegung: eine schnellere
Pendelbewegung und eine langsamere progressive. Sie sind ursprüng-
lich sehr klein, nehmen aber später an Größe zu und sind dann gelb-
lich gefärbt; Farbstoffe werden von ihnen nicht aufgenommen. Bosc
! Die italienische Schreibart lautet zwar Citorycetes, was in Deutschland allge-
mein in Cytoryetes umgewandelt wurde. Da aber das Wort von pyyvvw abgeleitet wird,
halte ich eine Anderung in Cytorhyctes für geboten.
966 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 9. Juni 1904.
beschäftigt sich im »Centralblatt für Baeteriologie« 1903 wiederum sehr
eingehend mit den Einschlüssen der Epithelzellen bei Schafpocken und
gibt eine größere Reihe farbiger Abbildungen, nach denen die GuAr-
nıerischen Körper in Sporen zerfallen sollen. Anna FoA (»Archiv de
Parasitologie 1903«) lehnt dagegen auf Grund morphologischer und ex-
perimenteller Untersuchungen die Bedeutung der Vaceinekörper als Er-
reger der Krankheit ab, indem sie höchstens zugibt, daß durch unsere
Forschungsmittel nicht erkennbare Einschlüsse der Guarsıserıschen Kör-
per die wahren Parasiten sein könnten. 1903 und 1904 erschienen
im »Journal of medical research« Arbeiten von ÜouncıLman, MAGRATH
und BrIinckErHorr, welche Einschlüsse außer in dem Plasma der Epi-
thelzellen auch in den Kernen beobachteten. Ihnen folgte der Zoo-
loge Carcıss 1904 in derselben Zeitschrift mit einer Untersuchung,
welche unter Benutzung von Analogien aus dem Gebiete der Sporozoen-
klasse und Betonung der rhythmisch sich folgenden Generationen des
Cytorhyctes in Plasma und Kern der Epithelzellen einen geschlossenen
Entwicklungskreis konstruiert mit allerdings sehr vielen hypothetischen
Stufen. Gibt er doch selbst zu: »The first development in the host
is unknown.«
Alle diese Autoren sind, soweit sie den Cytorhyctes für den Er-
reger halten, einig, daß es sich um Protozoen handeln müsse. Die An-
nahme, daß Bakterien in Betracht kommen könnten, ist schon gleich
im Anfang der Beschäftigung mit diesem Gebiet verlassen worden,
nachdem sehr gründliche Versuche zur Anlegung von Kulturen, auf
die ich hier nicht weiter eingehe, fehlgeschlagen waren.
Das Resultat aller bisherigen Untersuchungen kann man wohl
mit den Worten zusammenfassen, daß unter Annahme der Wahrschein-
lichkeit der spezifischen organisierten Natur des Cytorhyetes sowie der
Voraussetzung, daß manche als Sporulationsvorgänge gedeutete Tei-
lungen desselben richtig beobachtet seien, wir seit GUARNIERIS erster
Entdeckung in dem Verständnis des Vaccineerregers nicht wesentlich
weiter gekommen sind.
Als ich meine Untersuchungen im Zoologischen Institut der Ber-
liner Universität von Prof. F. E. Schusze begann, benutzte ich wie
meine Vorgänger zunächst Vacceinelymphe und Corneaepithel als Ma-
terial und konnte konstatieren, daß die besonders von CALNETTE und
Gu£rın sowie von Domgrowskı beschriebenen glänzenden Körper in
Jeglichem bakteriell absolut sterilen Impfmaterial jedesmal in großer
Menge vorhanden sind. Ihre Beschreibung soll später folgen. Außer-
dem fand ich bei der Untersuchung einer sehr großen Anzahl geimpfter
Kaninchenaugen im Schnitt sowie im Ausstriche des Epithels nur ein
einziges Mal einen Ausstrich, welcher mich von dem Vorhandensein einer
J. Sıeser: Beiträge zur Kenntnis des Vacceineerregers. 967
Sporulation überzeugt haben würde, wenn ich solche Präparate öfter
erhalten hätte. Die nebenstehende Photographie (Fig. ı) zeigt ein sol-
ches Bild aus dem Corneaausstrich, in welchem sich ähnliche Gruppen
öfter nachweisen ließen. Neben einer schwach gelblich gefärbten, zu-
sammengefallenen Hülle sieht man etwa ein Dutzend stark glänzender,
ovoider Körper grüngelblich gefärbt, die Eisenhämatoxilin stark auf-
nehmen und den Eindruck machen, als ob Sporen aus einer Zyste
freiwerden. Die Länge dieser Körperchen beträgt im Durchschnitt 2 u.
Dieser einzelne Befund genügte mir jedoch noch nicht, bekommt aber
seine Bedeutung im Zusammenhang mit den später angeführten Unter-
suchungsresultaten.
Nachdem ich mich nach längeren Versuchen, auf diesem Wege
weitere Resultate zu erhalten, über-
ezeugt hatte, daß das Corneageweb
ebenso wie das der Haut zu Aus-
strichen — und solche müssen vor-
handen sein, wenn kleinste Gebilde
in brauchbaren Umrissen und Fär-
bungen dargestellt werden sollen, —
sich nicht besonders gut eignet,
ging ich zu einer anderen Unter-
suchungsmethode über, welche sich
auf folgende Überlegungen stützte.
VonL.Preırrer, VAN DER LorFF,
Monti, FREYER, VANnSELOW, Frosch
und anderen (siehe besonders: Be-
richt zur Prüfung der Impfstoffrage
1896; Berichterstatter P. Frosch)
Corneaausstrich. Dauersporen aus der Cystenhülle
ausfallend. Färbung Eisenhämatoxilin. Photographie. war nachgewiesen worden, daß » der
Vergrößerung 3000.
Vaceinekeim innerhalb einer be-
stimmten Zeit im Organismus (des Kalbes) kreist und zwar immerhin
in soleher Menge, daß beinahe mit jedem Organ Impfpusteln erzeugt
werden können«. Ferner war durch von WAsIELEwsKI gezeigt, daß
Impfungen von Kälbern und Kindern mit Lymphe, die von vaceinierten
Kaninchen gewonnen war, fast regelmäßig gelangen. Hiermit war also
die vollkommene Identität der Erkrankung der Kälber und Kaninchen
dargelegt und somit mußte auch in jedem Organe des Kaninchens der
Krankheitserreger zu finden sein.
Bei Benutzung der inneren Organe des geimpften Kaninchens
mußte Aussicht vorhanden sein, sowohl feinere Schnitte herzustellen
als auch Ausstriche, welche zu den distinktesten Färbungen aus-
reichten.
968 Sitzung der physikalisch -mathematischen Classe vom 9. Juni 1904.
Ehe ich zu den weiteren Resultaten meiner Untersuchungen über-
gehe, will ich noch kurz über die angewandten Methoden berichten.
Gewählt wurden zunächst Kaninchen verschiedener Größe; später aber,
nachdem ich beobachtet zu haben glaubte, daß die Impfungen um
so intensiver ausfielen, je jünger die Tiere waren, nahm ich zu meinen
Untersuchungen Kaninchen so jung wie möglich, welche sich jedoch
schon selbständig ernähren konnten. Es wurden etwa 50 Kaninchen
geimpft und eine Reihe von Meerschweinchen, bei denen dieselben
Resultate gefunden werden. Letztere eignen sich aber wegen der zu
wenig hervortretenden und verhältnismäßig kleinen Augen nicht be-
sonders gut zu Impfungen. Die Art der
Einführung des Impfvirus — als Lymphe
wurde ausschließlich solche aus der König-
lichen Lymphanstalt zu Berlin benutzt —
geschah auf dem Wege oberflächlicher
Impfung der Cornea mittels Stiches oder
mehrfacher Strichelungen oder durch sub-
kutane und intraperitoneale Injektion. Da
ich aber außer einem etwas schnelleren Ver-
lauf bei beiden letzteren Methoden keinen
besonderen Vorteil sah und außerdem aufdie
Erkrankung der Cornea verzichten mußte,
die bei diesen Methoden ebensowenig wie
die einer anderen Stelle der Hautdecke auf-
tritt, wählte ich schließlich nur die corneale
Impfung.
Die Tiere wurden in verschiedenen
a kn von, Zeitintervallen getötet, nach. 6 Stunden,
a a ı2 Stunden, 24 Stunden, 48 Stunden usw.;
für besonders günstig zur Untersuchung
der inneren Infektion erwies sich die Zeit nach 24 Stunden.
Organsaft wurde stets vom lebenden Tiere entnommen und so-
wohl im hängenden Tropfen als auch in Ausstrichen untersucht.
Außerdem wurden Schnitte angefertigt. Als Färbungsmittel diente
für Schnitte Vorfärbung mit Grenacnzes Hämotoxilin und Nachfärbung
mit Boraxmethylenblau sowie Fisenhämotoxilin nach HeıpenHain,
für die Ausstriche schließlich nur Gremsas Eosinazur. Nur letzterer
Färbungsmethode schreibe ich die Auffindung manches feineren
Details zu, bei dem alle anderen Methoden im Stiche ließen. Zur Be-
siehtigung wurde benutzt ein Zeiszsches Mikroskop mit apochromati-
schem Ölimmersionssystem und meistens Okular 12. (Vergr. 1500.) Als
Kontrolle gegen etwaige Täuschung durch miteingeimpfte bakterielle
J. Sıeser: Beiträge zur Kenntnis des Vacceineerregers. 969
Verunreinigungen wurden bei fast sämtlichen Impftieren einige Agar- und
Blutserumröhrehen mit Organteilen beschickt. Sie blieben ausnahmslos
steril. Erwähnen will ich noch, daß zunächst sämtliche Organe durehsucht
wurden und daß einzelne Formen überall, wenn auch in verschiedener
Menge sich fanden. Da nun aber in Milz, Knochenmark und Lymph-
drüsen bestimmte Formen fehlten und die Lunge vernachlässigt wurde,
weil die Luftkanäle einer Infektion von außen nicht verschlossen sind,
blieb Leber und Niere übrig; beide zeigten alle Formen, aber zu den
Giemsafärbungen eignete sich besser die Niere, weil die Ausstriche
der Leber häufig einen sehr feinfleckigen Niederschlag zeigten, in
Beginnende Teilung einer »beweg-
lichen Spores. Sehr stark ver- Die neugebildeten »beweglichen Sporen« haften noch mit dem hinteren
größert. Schematisiert Ende aneinander. Sehr stark vergrößert. Schematisiert.
dem die Flecken (vielleicht Glykogen) sich sehr störend blau färbten.
Ich beschränkte mich daher auf die Niere, welche in jeder Beziehung
genügte. Die folgenden Beschreibungen beziehen sich alle auf Nieren-
gewebspräparate.
Die sich in allen untersuchten Organen, besonders zahlreich in der
Niere findenden kleinsten beweglichen Körperchen (Fig. 2) sind mit den
schon oben erwähnten, von zahlreichen Forschern, zuletzt von CALMETTE
und GuERrIn sowie von Dongrowskı beschriebenen, in der Lymphe befind-
lichen durchaus identisch. Ihre Länge beträgt 1-ı1.5 u, wechselt aber
etwas, besonders da der vordere Teil anscheinend veränderlich ist: die
Breite mißt nur einige Zehntel u. Sie bestehen aus zwei sowohl am
lebenden wie am gefärbten Objekt deutlich sich abhebenden Teilen.
970 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 9. Juni 1904.
Der hintere, wie ich ihn nach der wahrscheinlichen Bewegungsrich-
tung benennen will, beträgt etwa zwei Drittel der Gesamtlänge, ist
walzenförmig und häufig nach hinten etwas anschwellend. Bei GıemsA-
färbung, die einzige, welche gute Bilder liefert, nimmt das stark licht-
brechende Ektoplasma eine schwach bläuliche Färbung an, während die
im Innern gelegenen scharf begrenzten dunklen Flecke, welche ich für
Kerne halte, (es sind gewöhnlich zwei in der Längsrichtung anein-
andergereihte, seltener ein einzelner) bei besonders gut geratenen Prä-
paraten eine rötliche Farbe zeigen. Der vordere Teil hebt sich so-
wohl am lebenden wie am gefärbten Präparate durch einen scharf
hiervortretenden helleren Grenzzone vom hinteren ab. Die Färbung
des vorderen Teiles ist dunkler als das Plasma des hinteren Teiles.
Fig. 5.
Da —
DEI
Doppelte Längsteilung einer s»beweglichen Spore«. Sehr stark vergrößert.
Nierenaustrich. Doppelte Längstei- Schematisiert.
lung einer »beweglichen Sporey Fär-
bung Giemsa. Photographie. Ver-
größerung 3000.
Dieser Teil ist in verschiedener Weise beweglich. Zunächst sieht man
ihn ziemlich schnelle Knickbewegungen (etwa 4 in ı Sekunde) voll-
ziehen, die zu dem starren Rumpfteile deutliche Winkelstellung mar-
kieren. Außerdem aber scheint er auch das Vermögen amöboider Ge-
staltsveränderung zu besitzen, wenn diese Änderungen nicht vielleicht
auf Drehungen zu beziehen sind, was bei der Kleinheit des Objektes
schwer zu entscheiden ist. Man sieht diesen Teil abwechselnd spitz
oder rund oder auch abgeplattet. Ob der ganze Körper in einer be-
stimmten Riehtung vorwärts bewegt wird, ist zunächst schwierig zu
bestimmen, denn bei der Kleinheit desselben folgt er jeglicher auch
noch so geringen Strömung im Präparate. Er ist so klein, daß er,
selbst wenn man das Deckglas ganz fest aufpreßt, noch ausreichend
Platz findet, um Bewegungen um seine Querachse bequem ausführen
zu können. Trotz dieser Beobachtungsschwierigkeiten glaube ich aber
doch nach oft wiederholten langdauernden Prüfungen als die Haupt-
J. SıesEL: Beiträge zur Kenntnis des Vaceineerregers. 971
Fig. 7. Fig. 9.
Häufehen”,von Sporoblasten. Sehr stark vergrößert
1 ()
Fig. 10.
Cyste von Sporoblasten. Sehr stark vergrößert
Schematisiert.
Fig. Ö.
Sporoblasten im Begriff „bewegliche Spo-
ren« zu bilden. Sehr stark vergrößert
Schematisiert.
Kette von Sporoblasten, einzelne in beginnender Teilung. Sehr stark vergrößert.
Schematisiert
richtung seiner Bewegung diejenige in der Richtung des beweglichen
Teiles aussprechen zu können, welches ich daher das Vorderstück
benenne.
Gewisse Ähnlichkeit zeigt dieser Organismus hinsichtlich der
Körperform mit einer Gregarine, die ein Protomerit besitzt, aber im
übrigen wieder erinnert die Art der Kniekbewegungen an die Ookineten
Sitzungsberichte 1904. 80
972 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 9. Juni 1904.
der Malaria, während die angenommene Amöboidveränderlichkeit des
Vorderteils dagegen an die Amöboidkeime der Myxosporidien denken
läßt; auch die häufige Zweikernigkeit zeigt nach dieser Richtung.
Ich will aber mit solchen Vergleichen absolut nicht etwa Homologien
konstruieren, sondern führe sie nur an, um an bereits Beschriebenes
anzuknüpfen. Von ı2 Stunden nach der Impfung an findet man
dieses kleine Körperchen, welches ich vorläufig »bewegliche Sporen«
nennen will, in lebhafter Teilung und zwar, was nebenbei gegen die
Auffassung als Bakterien spricht, in Längsteilung. Das Gebilde schwillt
etwas an und zerfällt am vorderen Ende anfangend in zwei Längs-
teile, die mit dem hinteren Ende ähnlich den sich teilenden Trypa-
mosomen und Spirochäten (siehe Scuaupinss letzte Arbeit über Spiro-
Nierenzellenausstrich sehr stark infiziert. Sehr stark vergrößert.
Schematisiert.
chäte Ziemanni) in Zusammenhang bleiben, indem die Winkelstellung
der beiden Teilprodukte alle Grade ausmachen kann (Fig. 3). Meist
findet man sie in einem sehr gestreckten Winkel. Da die hinteren
verklebten Enden sich spitz ausziehen, so tritt häufig die Hantelform
auf (Fig. 4). Ihre Bewegung in dieser Phase ist eine sich um die
Längsachse langsam rollende.
Nicht selten findet, bevor eine Trennung der beiden Teile vor
sich geht, eine weitere Längsteilung statt, so daß nunmehr eine
Figur entsteht, wie es mir gelang in nebenstehendem Photogramm bei
3000facher Vergrößerung zu fixieren (Fig. 5). Der Deutlichkeit wegen
gebe ich eine schematische Zeichnung daneben (Fig. 6).
Neben dieser Längsteilung verdankt die »bewegliche Spore« noch
einem anderen Vermehrungsmodus ihre Entstehung. Ich will denselben,
da er tatsächlich mit den bei den Coceidien und Hämosporidien »Schizo-
gonie« genannten Prozessen eine sehr große Ähnlichkeit hat, auch ebenso
J. Sieger: Beiträge zur Kenntnis des Vaccineerregers. 973
bezeichnen. In den Ausstrichen nach 24 Stunden findet man zunächst
nicht selten Häufchen und Ketten kleiner, 1-2 u großer Kügelchen,
deren Hauptmasse entweder gar nicht, oder nur in den Randpartien
ringförmig schwach blau gefärbt ist, während regelmäßig im Innern
ein verschieden großer stark sich färbender Kern zu erkennen ist.
Dieser befindet sich meist etwas randständig und zeigt vielfach be-
ginnende Zwei- und Vierteilung (Fig.7 und 8).
Seltener gelingt es, dicht aneinandergelagerte abgerundete Haufen
solcher Kügelchen, welche ich Sporenzysten nennen will, zu finden,
die sich aber auch noch in Nierensehnitten, wenn auch nicht so deut-
Big. 12.
Dauerspore. Sehr stark vergrößert.
Schematisiert.
Nierenaustrich. Dauerspore und Erythroeyt. Färbung
Giemsa. Photographie. Vergrößerung 3000.
lich wie im Ausstrich nachweisen lassen (Fig.9). Charakteristisch für
diese Haufen ist ein fast immer ungleichmäßiges Entwicklungsstadium
der einzelnen Individuen. Wenn die fortgeschrittensten schon eine Vier-
teilung des Kernes aufweisen, die schließlich, wie nebenstehende Ab-
bildung zeigt, zur Bildung von vier Sporen führt, sind einzelne noch
mit den Anfangseinschnürungen des Kerns beschäftigt (Fig. 10).
Die nebenstehende, nach einem Ausstrich angefertigte Zeichnung
gibt eine Vorstellung, wie zahlreich stellenweise die Infektion der Nieren-
zellen ist (Fig.ı1). Zum Unterschiede von den Corneaepithelzelleninfek-
tionen finde ich die im Zellplasma liegenden Keime nicht mit einem un-
gefärbten Saum umgeben, wie ihn Schnitte der Cornea zeigen. Wie mir
scheint, ein Beweis, daß diejenigen recht haben, welche, wie von WA-
SIELEWSKI, die Entstehung dieses hellen Saumes einer Schrumpfung des
974 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 9. Juni 1904.
Corneazellplasmas zuschreiben; denn wenn es sich um einen Teil des
infizierenden Organismus handelte, müßte sich dieser Saum auch in
den nicht geschrumpften Nierenausstrichzellen wiederfinden.
Neben diesen zunächst als »bewegliche Sporen« bezeichneten Ge-
bilden fand ich in einzelnen Ausstrichpräparaten Körperchen, die mit
Dauersporen die größte Ähnlichkeit haben. Nebenstehendes Photogramm
Fig. 12 zeigt seine ovoide Form und seine Größe an dem nebenliegenden
Erythrocyten. Sie finden sich im Ausstrich meist einzeln, seltener in
kleineren Gruppen. Ihre Größe ist nicht immer ganz gleich, wohl aber
die Form und das übrige Verhalten. Sie nehmen den Giemsa-Farbstoff
nur in der äußersten Schicht bläulich auf, während das übrige trans-
parent bleibt. Ihre Eigenfarbe ist schwach gelblich. Auch in Schnitten
fand ich dieselben in Epithelzellen und in den Harnkanälchen liegend,
Färbung mit Eisenhämatoxilin lassen sie dort deutlicher hervortreten;
am besten ist Kontrastfärbung, schwache Vorfärbung des Nierengewebes
mit Hämatoxilin und Nachfärbung mit Boraxmethylenblau, wobei die
Zellkerne blau und die Dauersporen rötlich werden.
Diese Gebilde zeigen eine außergewöhnliche Ähnlichkeit mit den
im Anfang dieser Arbeit beschriebenen, so selten zur Darstellung ge-
brachten Sporen im Ausstrich der Cornea. Schon ein Vergleich der
Figur ı mit Figur 12 und ı3 ergibt dasselbe, und somit wäre denn ein
Zusammenhang zwischen den Cytorhyeteskörpern der Cornea und der
Niere gegeben.
Weitere Entwiceklungsstadien habe ich bisher nicht finden können.
Man sieht, es fehlt noch manches Glied, um einen geschlossenen Ent-
wicklungskreis zu konstruieren. Vor allen Dingen fehlt die Entstehungs-
geschichte der Dauersporen. Vorläufig erinnert manches an den Ent-
wieklungskreis der Coceidien und Hämosporidien, andererseits der
Myxosporidien. Ich verzichte daher ausdrücklich auf den Versuch
einer systematischen Einreihung.
Ausgegeben am 16. Juni.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei.
SITZUNGSBERICHTE
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
XXXIL XXX XXX
16. 23. Junı 1904.
BERLIN 1904.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
$1.
?2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Ostay regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die sämmtlichen zu einem Kalender-
jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
fortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserdem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch-mathematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch -historischen Classe ungerade
Nummern. 2
1. Jeden Sitzungsbericht eröffnet eine Übersicht über
die in der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilungen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten.
2. Darauf folgen die den Sitzungsberichten über-
wiesenen wissenschaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckiertig übergebenen, dann die, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gehö-
rigen Stücken nicht erscheinen konnten. Mittheilungen,
welche nicht in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet.
85.
Den Bericht über jede einzelne Sitzung stellt der
Seeretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte.
Derselbe Secretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei-
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
86.
1. Für die Kunakrs einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $ 41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglements die folgenden beson-
deren Bestimmungen.
2. Der Umfang der Mittheilung darf 32 Seiten in
Octav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nicht übersteigen. Mittheilungen von Verfassern, welche
der Akademie nicht angehören, sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist
nur nach ausdrücklicher Zustimmung); der Gesammt-Aka-
demie oder der betreffenden Classe statthaft.
3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
tenden Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Nothwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzschnitte fertig sind und von
besonders beizugebenden Tafeln die volle erforderliche
Auflage eingeliefert ist.
874
1. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
schaftliche Mittheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer Ausführung, in
deutscher Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2, Wenn der Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
Die Akademie versendet ihre »Sitzungsberichte« an diejenigen Stellen, mit denen sie im er a,
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinbart wird, jährlich drei Mal, nämlich: ;
die Stücke von Januar bis April in der ersten Hälfte des Monats Mai, “ A a Fi
» Mai bis Juli in der ersten Hälfte des Monats August, EEE Be
= October bis December zu Anfang des nächsten Jahres nach. Fertigstellung
öffentlichen beabsichtigt, als ihm dies nach den gelten- t
den Rechtsregeln zusteht, so bedarf er dazu der Ein-
willigung der Gesammt- Akademie ‚oder der betreffenden .
Classe. >
- 88. 4 %
5. Auswärts werden Correeturen nur auf besonderes =
Verlangen verschickt. Die Verfasser verzichten damit ı
auf Erscheinen ihrer Mittheilungen ‚nach acht. Tag en. Yu
j nr‘ R u Pr
$1l. I Ba A h Ch
1. Der Verfasser einer unter den »Wissenschaftlichen 7
Mittheilungen« abgedruckten Arbeit“ erhält unentgeltli h
fünfzig Sonderabdrücke mit einem Umschlag, auf w welchem
der Kopf der Sitzungsberichte mit Jahreszahl, Stück- 4
nummer, Tag und Kategorie der Sitzung, darun 2 er $
Titel der Mittheilung EEE der Name des Verfass 18. stehen.
2. Bei Mittheilungen, die mit dem Kopf der: Sitzungs-
berichte und einem angemessenen Titel nicht über zwei
Seiten füllen, fällt in der Regel der Umschlag fort.
3. Einem Verfasser, welcher Mitglied‘ der Akademie
ist, steht es frei, auf Kosten der Akademie weitere en .
Sonderabdrücke bis zur Zahl von noch hundert, und. 3;
auf seine Kosten noch weitere bis zur Zahl ‚von zwei-
hundert (im ganzen also 350) zu unentgeltlicher Ver- 2
A SRASEEE zu Iamen, sofern er diese vechtz
erhalten, so bedarf es der ee der a A;
Akademie oder der betreffenden Classe. — Ati
erhalten 50 Freiexemplare und dürfen nach rechtz itiger
Anzeige bei dem redigirenden Secretar weitere 200 Exem-
plare auf ihre Kosten abziehen lassen. Pi BER: E
"rei rnit
828. Se + r y
1. Jede zur Aufnahme in die Sitzungsberichte be
stimmte Mittheilung muss in einer n g
vorgelegt werden. Abwesende Mitglieder, sowie alle
Nichtmitglieder, haben hierzu die Vermittlung eines ihrem P
Fache angehörenden ordentlichen Mitgliedes ‚ zu benutzen.
Wenn schriftliche Einsendungen | auswärtiger oder corr
spondirender Mitglieder direet bei der Akademii ie odk
einer der Classen eingehen, so hat sie der Vorsitz ende Pi
Seeretar selber oder durch ein anderes Nitglied zum
Vortrage zu bringen. Mittheilungen, deren Verfasse der
Akademie nicht angehören, hat er einem zunächst ein ei
scheinenden Nitgliede zu überweisen.
[Aus Stat. $41, 2. —
einer ausdrücklichen Genchi m igung. der re “
einer der Classen. Ein darauf gerichteter Antrag x
sobald das Manuseript druckfertig vor
gestellt und sogleich zur Abstimmung a
ge. N
1. Der redigirende Seeretar ist für den a
geschäftlichen Theils der Sitzungsberichte, ‚ jedoch nicht
für die darin aufgenommenen kurzen | tsangaben- d
gelesenen Abhandlungen verantwortlich, Für, Keen
für alle übrigen Theile der Sitzungsberichte sin
nach jeder Richtung nur. au Ren er
wortlich. NE
Bi & - er REN AM
des Registere. }
975
SITZUNGSBERICHTE 1904.
XXXL
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
16. Juni. Gesammtsitzung.
Vorsitzender Secretar: Hr. VAuLen.
1. Hr. Scnärer las über das Wormser Concordat. (Abh.)
Er führte aus, dass allein der kaiserlichen Urkunde dauernde rechtliche Gültig-
keit zuzuerkennen ist, dass dagegen die päpstliche mit dem Ableben Heinrich’s V.
ihre rechtliche Bedeutung verlor. Nur diese Auffassung ermöglicht ein richtiges Ver-
ständniss der Stellung von Staat und Kirche zu den deutschen Bischofs- und Abts-
wahlen des 12. Jahrhunderts.
2. Hr. Sacuau legte zwei weitere Bände der Ausgabe des Ibn Saad
vor, II. 2: Biographien der Medinischen Kämpfer Muham-
meds in der Schlacht bei Bedr, herausgegeben von Joser Horovırz,
und VIII: Biographien der Frauen, herausgegeben von Prof. Dr.
Carı BROCKELMANN. Leiden 1904.
3. Die Aufnahme der von Hrn. Krems in der Sitzung der physi-
kalisch-mathematischen Classe vom 9. Juni vorgelegten Abhandlung des
Hrn. Dr. JuLıus Ronmgere »über die chemische Zusammensetzung
der Eruptivgesteine in den Gebieten von Predazzo und Mon-
zoni« in den Anhang zu den Abhandlungen wurde genehmigt.
Verf. berichtet in der Abhandlung über neue Beobachtungen in dem Arbeits-
gebiet, bringt Analysen der von ihm untersuchten Gesteine und vergleicht dieselben
mit anderen aus dem nämlichen, wie auch aus fremdem Gebiete. Die geologisch
nachgewiesenen Abspaltungen aus dem Ursprungsmagma werden durch die chemische
Zusammensetzung bestätigt.
4. Zu wissenschaftlichen Unternehmungen hat die Akademie be-
willigt
durch die physikalisch-mathematische Classe Hrn. EneLer zur
Fortsetzung des Werkes »Das Pflanzenreich« 2300 Mark; Hrn. War-
BURG zu einer Untersuchung über die specifische Wärme (der Gase bei
hohen Temperaturen 1020 Mark; Hrn. Prof. Dr. Leox Asner in Bern
zu einer Arbeit über das Verhalten des Darmepithels bei den verschie-
denen Ernährungsvorgängen 300 Mark; Hrn. Prof. Dr. Frıeprıcn Danr in
[0 o)
Sitzungsberichte 1904. l
976 Gesammtsitzung vom 16. Juni 1904.
Berlin zur Fortsetzung seiner Untersuchung der deutschen Spinnenfauna
650 Mark; Hın. Prof. Dr. OÖ. Hecker in Potsdam zu erdmagnetischen
Beobachtungen bei Gelegenheit einer wissenschaftlichen Reise im In-
dischen und Grossen Ocean 750 Mark; Hrn. Prof. Dr. WALTER KAUFMANN
in Bonn zu einer Untersuchung über die elektromagnetische Masse
der Elektronen 1000 Mark; der Assistentin am Zoologischen Institut
der Universität Bonn Dr. Gräfin MaArıa von Linpen zur Fortsetzung
ihrer Untersuchungen über die Schmetterlingsfarbstoffe 500 Mark;
Hrn. Privatdocenten Dr. Sıeerrıep PAssarGE in Berlin zur Herausgabe
eines Werkes über die Kalahari 2000 Mark;
durch die philosophisch-historische Classe Hrn. Dies zur Voll-
endung der von Hrn. Mommsen begonnenen Ausgabe des Codex Theo-
dosianus 1000 Mark; Demselben zur Fortführung der Arbeiten an einem
Catalog der Handschriften der antiken Mediein 3000 Mark; Hrn.
Koser zur Fortführung der Herausgabe der Politischen Correspondenz
FrıedrıcH's des Grossen 6000 Mark; Hrn. von W ILAMOWITZ - MOELLENDORFE
zur Fortführung der Sammlung der griechischen Inschriften 5000 Mark;
der Deutschen Commission zur Fortsetzung der von ihr begonnenen
Unternehmungen 11500 Mark; weiter für die Bearbeitung des The-
saurus linguae latinae über den etatsmässigen Beitrag von 5000 Mark
hinaus noch 1000 Mark und zur Bearbeitung der hieroglyphischen
Inschriften der griechisch-römischen Epoche für das Wörterbuch der
aegyptischen Sprache 1500 Mark; endlich Hrn. Privatdocenten Dr. Mark
Linzsarskı in Kiel zur Herausgabe des mandäischen Johannesbuches
800 Mark.
Ausgegeben am 30. Juni.
I
SITZUNGSBERICHTE 17%
XXX.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHE
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
23. Juni. Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe.
Vorsitzender Secretar: Hr. WALDEYER.
l. Hr. von Rıcntnoren las über eine meridionale Bruchzone,
welche in ungefähr 104° östl. von Gr. die tibetische Boden-
schwelle als eine höhere Staffel durch zehn Breitengrade von
den östlich angrenzenden herabgesenkten Gebieten trennt.
&s wurde untersucht, inwieweit westlich von den früher nachgewiesenen Reilıen
von Landstaffelabfällen Ostasiens ähnliche Abfälle bestehen. Morphographisch erkennbar
war seit längerer Zeit um den Meridian von Lan-tschou-fu, zwischen den Breiten-
graden von Liang-tschou-fu und Ti-tau-tschou, ein rascher Abfall der hohen Nan-
schan-Ketten gegen ihre nur noch in niederen Zügen nachzuweisenden, z. Th. nach
NO umbiegenden Fortsetzungen. Viel weiter südlich lässt sich in der Nähe desselben
Meridians zwischen den Breiten von Tschöng-tu-fu und Tung-tschwan-fu ein be-
deutender, streckenweise in Staffeln sich vollziehender Abfall des tibetischen Hoch-
landes aus der Combination verschiedener Beobachtungen ableiten. Jeglicher Anhalt
fehlte bisher für das 400 km messende Zwisehenstück, wo die Gebirge der tibetischen
Anschwellung in dem breit angesetzten Tsinling-Gebirge sich weit nach Osten fort-
setzen. Es wurde erwiesen, dass dort, östlich von Kiu-ting-schan und Min-schan,
dieselbe Bruchzone der Anfügungslinie entlang das ganze Gebirgsland quer durchzieht
und mit östlicher Absenkung verbunden ist. Wie die anderen Meridianbrüche Ost-
asiens, so ist auch dieser von den Gefügelinien des inneren Gebirgsbaues unabhängig.
2. Hr. Kızıs las: »Mittheilungen über Meteoriten«.
oO
In der Abhandlung wird nachgewiesen, dass der heutige Stand der Universitäts-
Sammlung 470 Vorkommen mit 2549015 Gewicht beträgt. Es werden einzelne,
besonders interessante Stücke besprochen, wie die Meteoriten von Victoria West 1862,
Lance 1872 und Willamette, Oregon 1902.
3. Hr. van’r Horr gab eine weitere Mittheilung aus seinen Untersu-
fe) =
chungen überdieBildungsverhältnisse deroceanischen Salzabla-
gerungen. XXXVII. Die Identität von Mamanit und Polyhalit.
Gemeinschaftlich mit Hrn. Vorrman wurde festgestellt, dass im sogenannten Ma-
manit kein selbständiges Mineral sondern ein unreines Polyhalit vorliegt.
4. Vorgelegt wurde das mit Unterstützung der Akademie heraus-
gegebene Werk: Gustav Fritsch, Agyptische Volkstypen der Jetztzeit.
Wiesbaden 1904.
8l*
978
Mittheilungen über Meteoriten.
Von C. KLem.
I. Einleitung.
Ih: mir zur Vervollständigung und Bearbeitung der Meteoritensammlung
der Königlichen Friedrich -Wilhelms -Universität zur Verfügung gestellten
Mittel habe ich in ersterer Hinsicht nunmehr vollständig verwandt. Die
Sammlung besitzt heute 470 Fall- und Fundorte mit 254901°5 Ge-
wicht. Es ist somit gegenüber dem Katalog vom 21.Januar 1904 —
diese Sitzungsberichte 1904 S.114— 153 — eine Vermehrung um 20 neue
Vorkommen und eine Bereicherung des Gewichts (dureh neuere
und durch ältere Vorkommen) von 8864° eingetreten.
Hiermit ist das erworben, was mit den vorhandenen Mitteln und
dem vorhandenen Angebot zu erwerben war', und es werden in der
Folge die Zugänge langsamer fliessen.
Was die für die Bearbeitung der Sammlung bereitgestellten Mittel
anlangt, so sind für sie alle Anschaffungen erfolgt, die zu jenem Zwecke
nöthig waren. Vieles ist in Hinsicht auf die Bearbeitung auch schon
ausgeführt worden.
Bezüglich der Aufstellung der Schausammlung theile ich mit, dass
sie nach dem erweiterten Rose-Tscuermax-Brezına’schen System mit
den Abänderungen erfolgt ist, die ich im letzten Bericht 1904 auf
S.133—137 vorgenommen habe.
Ich habe mich nach langen Überlegungen für das genannte System
entschieden, um meinerseits auch dazu beizutragen, eine gewisse Einheit-
lichkeit in die Sache zu bringen, ohne welche ein Verständniss un-
möglich ist.”
Vorher waren die Meteorsteine und Meteoreisen chronologisch an-
geordnet.
! Mehrfach mussten, um die Structur zu erkennen, grosse und theuere Stücke
gekauft werden.
® Der einzige Punkt, in dem ich noch gegen früher eine Änderung vorgenommen
habe, ist bei den intermediären Chondriten, die nicht Ci, sondern Cwg (weiss -grau)
heissen.
Krein: Meteoriten.
II. Zusammenstellung der Fall- und Fundorte, sowie der Fall- und
Fundzeiten der Meteoriten und ihrer Gewichte.
Das Gewicht ist in Grammen angegeben.
Gewichte unter o%3 sind nicht angeführt.
Gewicht
ar Gefallen
ende N
oder Eallort Art
Num- Gefund d. Haupt- im
mer eLUnden stücks Ganzen
I. Meteorsteine.'
Chondrite.
Etwa 1730 ZOSEFBrovüklzen, Japanese ae Cw 1.5 | 1-5
Mitte VII. 1766 | Albareto,. Modena, Italien ................. (Ce [Zuwachs 2.5
7. VII. 1822 =Aegra, Proy. Doab, Ostindiene. er. nee lg 2 2
3.1.1822 Angers, Maine et Loire, Frankreich ........ Cw [Zuwachs 6
25. 111. 1865 Claywater, Vernon Co., Wisconsin, N. Ameriea| Ck Zuwachs 3
25. VIll. 1865 | Senhadja, Aumale, Constantine, Algier...... Cw [Zuwachs 38.5
22. V. 1868 “Slavetic, zw. Agram und Jaska, Croatien ..| Üg 3-5 | 3-5
10. XMl. 1871 Bandong, Goemoroeh, Preanger, Java ...... Cw [Zuwachs 10.5
2381873 “Khairpur, Bhawalpur, Mooltan, Östindien...| Ck 5-5 5.5
31.1. 1879 La Becasse, Dep. Indre, Frankreich ........ Cw |Zuwachs 21
18. II. 1880 Toke-uchi-mura, Yofugori, Tamba, Japan..| Ck | Analyse |
10. XI. 1836 Mame,NIppoob Japan rt ee erae Cw [Zuwachs 8.5
9. V. 1895 *Nagy-Borove, Liptauer Comitat, Ungarn ..| Üg 13-5 13.5
30. XI. 1901 *Chervettaz, Palezieux, Cant. Waadt, Schweiz| Cck I I
17. VII. 1902 * Mount Browne, Milparinka, Neu-Süd-Wales,
INUSTRANEHRSL Se er SAN sr er eferenehe lee tere Ce 9 9
23. VI. 1872 Lanee, Loir, et; Cher, Frankreich............ Ke [Zuwachs 61.5
II. Mesosiderite.
Lau- Erwähnt, Gewicht
fende Gefunden oder Fundort und Fallort ae Ce Den
Num- : d. Haupt- im
a stücks Ganzen
1885
II. Meteoreisen mit Silieaten.
Pallasite.
Olivin-Pallasite.
Brenham Township, KiowaCo., Kansas, N. America
PO [Zuwachs
6230
! Die neuen Fundortserwerbungen sind mit X bezeichnet. — Wo zu einem vorhandenen Fundort ein
Gewicehtszuwachs zu vermerken ist, findet sich dies angegeben.
980 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 23. Juni 1904.
Lau- Erwähnt, Gewicht
fende Gefunden oder
Num- z
rar Beschrieben
Fundort und Fallort Art
d. Haupt- im
stücks Ganzen
IV. Meteoreisen.
a. Oktaödrische Meteoreisen.
1784 “Sierra de las Adargas b. Huejuquilla.. — Nach
Concepeion, Staat Chihuahua, Mexico, gebracht| Om 69 69
1797 “Prambanan, Soeracarta, Jaya ec Of 2.5 2=5
1840 Smithville, De Calb Co., Tennessee, N. America| Og |Zuwachs| 412.5
1847 *Murfreesboro, Rutherford Co., Tennessee, N.
KUNDEN mORBRG ODER Bauen Om 15-5 15-5
1850 Pittsburg, Alleghany Co., Pennsylvanien, N. America| Og Umstellung
1853 Union Co., Georgia, N. America.............. Ogg Umstellung
1855 Central »Missouri, N. Ameriea.ceee an Ogg Umstellung
1860 Nelson Co., Kentucky, N. America ...........- Ogg Umstellung
Gefallen? 1862| “Victoria West, Kapkolonie, S. Afriea......... OfV 43 | 46
1863 Dakota, Indian Territory, N. America ......... Ogg Umstellung
1873 Chulafinnee, Claiborne Co., Alabama, N. America|l Om [Zuwachs 37-5
1873 *Ssyromolotow, Amtsbezirk Keshma, Angara,
Gouv: Jenisei, Sibirien. ee Om 2 2
Um 1875 “Canyon City, Trinity Co., Californien ........ Om-Og| 356-5 | 356-5
18380 Lexington Co., S. Carolina, N. America........ Ogg Umstellung
1885 * Lucky. Hill, St. Elisabeth, Jamaiea........... Om 18.5 64
1890 *Nagy-Vazsony, Veszprimer Comitat, Ungarn... | Om 5.5 5-5
1893 El Capitan, Neu-Mexico, N. America.......... Om [Zuwachs 305
1902 *Persimmon Creek bei Hot House, Cherokee Co.,
N-Garolna, N? American re Off.b.P. 20.5 22.5
1902 *Willamette, Clackamas Co., Oregon, N. America] Og 981 1009.5
b. Hexaedrische Meteoreisen.
1890 “Summit, Blount Co., Alabama, N. America ...| Hb 16 16
c. Dichte Meteoreisen.
1867 “San Franeisco del Mezquital, Durango, Mexico | Dby 30.5 39-5
1872 Nenntmannsdorf, Pirna, Sachsen.......:...... Dby Umstellung
1898 “Weaver Mountain b. Wickenburg, Arizona, N.
AMELICa a... ee nee EEE Dba 97-5 97-5
Analyse
Kreın: Meteoriten. 981
III. Bemerkungen.
Meteorsteine.
Über die neu erworbenen Chondrite von Ogi 1730, Agra 1822,
Slavetie 1868, Khairpur 1873, Nagy Borove 1895, Chervettaz 1901,
Mount Browne 1902 ist, abgesehen von ihrer oben gegebenen Ein-
reihung in’s System, nichts Besonderes zu bemerken.
Von den schon vorhandenen, nunmehr meist an Gewicht ver-
mehrten Vorkommen von: Albareto 1766, Angers 1822, Olaywater 1865,
Senhadja 1865, Bandong 187 1, La Becasse 1879, Toke-uchi-mura 1580,
Ma&m& 1886 und Lance 1872 interessiren:
Toke-uchi-mura durch eine Analyse des Hrn. Dr. Lispser und
Lance, letzteres, weil es von dem bei Würrıne, Meteoriten 1897 S.199
aufgeführten Stück von 3" stammt, was noch im Besitze der Familie
BovsseuLH -DE LA Taıııe auf Schloss Blanchamp war. Hr. Bönm in
Wien, den ich darauf aufmerksam machte, erwarb das Stück und
liess uns 61°5 davon ab.
Die Analyse von Toke-uchi-mura ergab:
SıO? —#30:39' (08 = Or
Me07 7 —=720.91 NiO —0:30
Feo — Erle, Fe 10.58
CaO 2 Ni — 1)
MnOr = 10.15 Co —/E. 0:05
K°O — 028 Ss — AH
N0 =77.18 P —
Be} —7.0.36 Bebr 0270.95
Summa = 99.40
Spec. Gew. — 3.315.
Pallasite.
Wir verdanken Hrn. Warp ein grosses Prachtstück des Vorkommens
von Brenham Township 1885, welches, 6230° schwer, die Structur
dieses Olivin-Pallasiten sehr schön zeigt.
Meteoreisen.
Die neuen oktaödrischen Eisen von Sierra de las Adargas 1784.
Prambanan 1797, Murfrees boro 1847, Vietoria West 1862, Ssyromo-
lotow 1873, Canyon City 1875, Lucky Hill 1885, Nagy-Vazsony 1590,
Persimmon Creek 1902 und Willamette 1902 sind nach ihrer Art be-
stimmt und eingetragen.
982 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 23. Juni 1904.
Über Persimmon Creek handelt eine besondere Mittheilung — diese
Sitzungsberichte 1904 S8. 572 —.
Bezüglich Willamette ist zu bemerken, dass von diesem durch
seine Grösse sich auszeichnenden Eisen nur grosse Platten die Zu-
gehörigkeit zu Og erkennen lassen. Kleine Platten führen in der
Deutung irre, da die Lamellenzüge sehr unterbrochen sind.
Zuwachs haben erfahren:
Smithville 1540, Chulafinnee 1873, El Capitan 1893.
Eine Umstellung erfuhren Pittsburg 1850 (nach gefl. Mittheilung
von Prof. Comes), Union Co. 1853, Central Missouri 1853, Nelson Co.
ıS60, Dakota 1863 (alle vier nach gefl. Mittheilungen von Hrn. Director
Brezına) und Lexington Co. 1880 durch Messung der Lamellenbreite,
die selten für Og, häufigst für Ogg in Anspruch zu nehmen ist.
Zur Erkenntniss der dureh die HH. Conen und Brezına verbesserten
Artenbezeichnungen waren unsere Stücke z. Th. zu klein, z. Th. zu un-
deutlich, um das Richtige auf Grund der Beobachtung an ihnen zu
erkennen. Man braucht eben durchaus grosse Platten, die hier nicht
vorhanden sind.
Zu den hexaädrischen Meteoreisen ist Summit1Sg90 getreten.
Die diehten Meteoreisen haben eine Bereicherung durch San
Franeisco de Mesquital 13867 und Weaver Mountain bei Wickenburg,
Arizona, N. America 1898 erfahren.
Von Letzterem fertigte Hr. Dr. Linpser eine Analyse. Dieselbe
ergab:
Fe = 80.78 Kein Kohlenstoff,
Nez Kupfer, Chrom,
Goa Mangan.
S = Noms
Pe—=#or12
Grauer Rückstand,
in Säuren unlöslich = 0.15
99.96
Spec. Gew. 7.108 bei 21°C.
Auf Grund der Untersuchungen an grösseren Stücken ist Nennt-
mannsdorf 1892 von Prof. Comen den dichten Eisen angereiht worden.
Kreın: Meteoriten. 953
IV. Stand der Sammlung, Art der Erwerbung, Geschenkgeber,
Tausch.
Am 21.Januar 1904 — diese Sitzungsberichte 1904 S. 153 —
zählte die Meteoritensammlung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-
Universität:
ı. 251 Fall- und Fundorte von Meteorsteinen mit 76815”2
Dan Talmınn » » » Mesosideriten » 5965.—
ZU N 0 » » » Pallasiten »4..10082,
A An » » » Meteoreisen BA
450. Rall- und Eunderte mit 2. .2...2...... 24060375
Im Durchschnitt kamen 546°%7 auf den Fundort.
Der heutige Bestand ist:
ı. 258 Fall- und Fundorte von Meteorsteinen mit *76958°7
212, » » » Mesosideriten » 5965.—
SEE LT2) 408 » » » Pallasiten » 22312.—
A LO » » » Meteoreisen » 149665.8
270. Fall- und Rundorte mit Sen. 2.0.0: 254901°5
Im Durchschnitt kommen jetzt 542°34 auf den Fundort.
Die Meteoriten wurden in der Hauptsache von Hrn. Warn in
Chicago, der in anerkennenswerthester Weise uns viele Doubletten
seiner reichen Sammlung von 603 Vorkommen überliess, dann von
den HH. Dr. Brerzına und J. Bönm in Wien gekauft.
Hr. Prof. Warv schenkte den Meteorstein von Bandong 187 ı mit 10°5.
Vertauscht wurden an Hrn. Prof. Warn, Chicago:
2 fo}
TAESIERAHDIAR CHI N Pan en ann a de 185
22 Sıerra des ls» Ternera 1891. ... =... - „iv... 1°'5
und dagegen:
WillamettesF 9020 2..4. Ze en. 2885
erhalten.
Desgleichen wurden an Hrn. Prof. Tearz, Mus. of Pract. Geology,
London, abgegeben:
FEUNDEOYAIS TE ee en ae ann ne 228
2 OSCHINENSOTE N. er EIER 275°
und dagegen erhalten:
Mietosiaa West 7862... 2.2.2003... 438°
Inely DEE SSE en ae ea seine 64°".
Die Zu- und Abgänge sind bei Aufstellung des neuen Bestandes in
Rechnung gezogen worden.
Sitzungsberichte 1904. 82
984
Untersuchungen über die Bildungsverhältnisse
der ozeanischen Salzablagerungen.
XXXVII. Die Identität von Mamanit und Polyhalit.
Von J. H. van’r Horr und G. L. VoERMAN.
RE 1866 .wurde von GorseL' unter dem Namen Mamanit ein Mineral
beschrieben, das bei Maman in Persien neben Steinsalz und Karnallit
auftritt und sich durch seine Zusammensetzung als Tripelsulfat von
Kalzium, Kalium und Magnesium neben dem Polyhalit stellt. Die
Analyse führte jedoch zu einer vom letzteren verschiedenen Formel:
Ca,K,Mg, (SO,), 3H,0,
während Polyhalit:
Ca,K,Mg(SO,),2H,0
entspricht.
Bei mehreren Versuchen zur Darstellung einer der obigen Formel
entsprechenden Verbindung, welche Darstellung bei den anderen Tripel-
sulfaten, Polyhalit” und Krugit’ gelang, wurde auch unter den an-
scheinend günstigsten Umständen keine Verbindung von der Zusammen-
setzung des Mamanits erhalten, was schon einige Zweifel an dessen
Existenz aufkommen ließ.
Darauf wurde in St. Petersburg 'bei Hrn. MEnDELEEFF um eine
etwa noch vorhandene Probe Mamanit angefragt, und durch freund-
liche Vermittelung des Hrn. Kurnakorr, denen beiden hiermit unser
Dank ausgedrückt wird, bekamen wir das Verlangte unter Etikette
»Polyhalitähnliches Mineral Mamanitstücke aus der Kollektion GoEBEL«.
Diese Probe enthielt einige Gramme des, wie GoEBEL beschreibt,
»weißen, seidenglänzenden Minerals von blättrig faseriger Struktur«,
welche, äußerlich zersetzt, in den inneren Teilen eine einheitliche
Struktur aufwiesen. Sie zeigte sich als Tripelsulfat von Kalzium,
Kalium und Magnesium mit:
U Bulletin de l’Acadcmie de St.-Petersbourg, 1866, 1.
® Bascn, Sitzungsber. d. K. Preuß. Akad. der Wissensch., 1900, 1084.
®? GEIGER, ebenda 1904, 1123.
van'r Horr: Öceanische Salzablagerungen. XXXVII. 985
Ca Ms SO, H,O!
12.8 Prozent 5.6 Prozent 61.2 Prozent 6.1 Prozent
12.4 Prozent 5.3 Prozent 61.2 Prozent 6.7 Prozent,
was von der Gozgerschen Formel nicht weit entfernt ist, welche
verlangt:
13.7 Prozent Ca 5.5 Prozent Mg 65.7 Prozent SO,
6.2 Prozent H,O 8.9 Prozent K
mit alleiniger Ausnahme des Kaliums, das nach Differenz aus obiger
Analyse berechnet sich viel höher, auf 14 Prozent, stellen würde,
was wiederum den Polyhalit in Erinnerung, bringt mit:
13.3 Prozent Ca 4 Prozent Mg 63.7 Prozent SO,
6 Prozent H,O 13 Prozent K.
Der höhere Magnesiumgehalt blieb immerhin auffällig.
Kristallographisch ließ sich die Entscheidung nicht herbeiführen.
Die diesbezügliche Beobachtung, für welche wir Hın. Krem zu großem
Dank verpflichtet sind, zeigte eine sphärolitische Ausbildung, wie sie
auch beim Polyhalit vorkommt, jedoch war in den optischen Ver-
hältnissen ein Unterschied vorhanden, der sich ebensowohl durch Aus-
bildung der Sphärolithenstrahlen nach verschiedenen Richtungen als
durch wesentliche Verschiedenheit erklären ließ.
In demselben Sinne fielen auch Versuche über die Geschwindigkeit
der Zersetzung durch Wasser aus. Unsere Polyhalitproben wurden
dadurch wesentlich schneller angegriffen, was jedoch auch mit der
kristallographischen Ausbildung zusammenhängen kann.
So blieb nur die Entscheidung durch chemische Hilfsmittel übrig.
In erster Linie sind die Darstellungsversuche neu aufgenommen. Die
inzwischen gemachten Erfahrungen hatten dargetan, daß die Ver-
zögerung, welche derartige Darstellungen erschwert, mit der Anwesen-
heit zweiwertiger Metalle als Sulfate steigt und daß Kristallwasser
diesbezüglich ungefähr den Sulfaten einwertiger Metalle entspricht.
Die beschriebenen Doppelsulfate ordnen sich demnach in bezug auf
Schwierigkeit der Darstellung folgenderweise an:
Polyhalit (CaSO,),(MgSO,) (K2S0,)2H,07 (5:5)
Mamanit (CaSO,),(MgSO,), (K,SO,) 34,0 (5:4)
Krugit (CaSO,), (Mg SO,) (KES0)2H.07 (5:73)
Pentakalziumkaliumsulfat (CaSO,). (K,SO,)H,O (5:2):
Dem entspricht die Tatsache, daß Krugit ungleich schwerer darzu-
stellen ist als Polyhalit. Mamanit, als zwischen beiden liegend, muß
! Die Probe wurde zur Entfernung einer geringen Verunreinigung durch Chlor-
natrium, mit Wasser, 5oprozentigem Alkohol und Alkohol gewaschen.
986 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 23. Juni 1904.
sich also voraussichtlich durch entsprechende Versuche erhalten lassen
und in der Bildung viel weniger verzögert werden als das vor kurzem
erhaltene Pentakalziumkaliumsulfat. Dazu sind Polyhalit und Magne-
siumsulfat in einer an beiden gesättigten Lösung, deren Zusammen-
setzung Hr. GEIGER für die Temperatur von 83° ermittelte:
1000H,0 3,5K,SO,92,3Mg SO,
nach Einimpfung mit etwas unseren Mamanits längere Zeit auf 83°
erhitzt, bei welcher Temperatur letzteres sich unverändert hält. Noch
nach vierzehn Tagen war alles ungeändert geblieben, während Krugit
sich in entsprechender Weise schon nach ein paar Tagen merkbar bildet.
Noch ein zweites indirektes chemisches Merkmal wurde angewendet,
indem der eben erwähnten Untersuchung von GEIGER eine Lösung
entlehnt wurde, die sich bei 83° zur Bildung von Polyhalit besonders
eignet, von der Zusammensetzung:
1000H,0 9,7K,SO,45,3MgSO,.
In Berührung mit derselben verwandeln sich Kalksalze, Gips, Anhydrit,
Syngenit, das neue Pentakalziumkaliumsulfat alsbald bei 83° in Poly-
halit; dies wäre demnach auch für den Mamanit zu erwarten. Die
mikroskopische Verfolgung zeigte jedoch, daß Proben von diesem
Mineral sich während eines Monats vollkommen ungeändert halten.
Nunmehr blieb kaum anderes übrig als Wiederholung der Analyse
mit einer möglichst tadellosen Probe, die von dem etwas grau ge-
färbten Ganggestein sorgfältig befreit war. Nach Entfernung der Spur
Chlornatrium in der früher beschriebenen Weise wurde die Kalium-
bestimmung jetzt auch direkt durchgeführt und für Wasser das Mittel
der obigen Bestimmungen genommen; so ergab sich:
14,1 Prozent Ca 13,1 Prozent K 4,2 Prozent Mg
61,6 Prozent SO, 6,4 Prozent H,O,
was mit dem Polyhalit:
13,3 Prozent Ca »- 13 Prozent K 4 Prozent Mg
63,7 Prozent SO, 6 Prozent H,O
fast vollständig übereinstimmt. Der hohe Kaliumgehalt schließt die
Formel des Mamanits (mit 8,9 Prozent K) endgültig aus. Auch der
höhere Magnesiumgehalt, in letzterem gefunden, ist nicht mehr vor-
handen und rührt offenbar vom Ganggestein her.
Ausgegeben am 30. Juni.
987
SEITZUNGSBERICHTE - 22:
XXX.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
23. Juni. Sitzung der philosophisch-historischen Classe.
Vorsitzender Secretar: Hr. VAHten.
l. Hr. Meyer las über ägyptische Chronologie. (Abh.)
Die Resultate der Untersuchung sind folgende: ı. Die Regulirung des ägyp-
tischen Kalenders und der Sothisperiode fällt in das Jahr 4245 v. Chr. (1. Thoth =
20. Juli jul. — 16. Juni gregor., d.h. erster Anfang der Überschwemmung). 2. Alle
Sothisdaten sind eyklisch zu verstehen, d.h. nach dem Kalender berechnet, nicht astro-
noinisch beobachtet. 3. Versuch einer Reconstruction des Turiner Papyrus und Ver-
gleich seiner Daten mit den Königslisten und den Denkmälern. Es ergiebt sich für
Menes etwa 3320 v. Chr., für die Zeit der Pyramidenerbauer (Dynastie 4., 5. von Snofru
bis Onnos etwa 2845 — 2545, für das Ende des Alten Reiches etwa 2365 v. Chr. Die 11.
Dynastie beginnt um 2165 v. Chr.
2. Hr. Scnmorzer überreichte den zweiten Theil seines Grundrisses
der Allgemeinen Volkswirthschaftslehre. Leipzig 1904.
Ausgegeben am 30. Juni.
Berlin. gedruckt in der Reichsdruckerei
Sitzungsberichte 1904. 83
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SITZUNGSBERICHTE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
XXXIV.
30. Junı 1904.
BERLIN 1904.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
Auszug aus dem Reglement für die Redaetion der »Sitzungsberichte«. s
$1.
2. Diese erscheinen in einzelnen Stücken in Gross-
Ostay regelmässig Donnerstags acht Tage nach
jeder Sitzung. Die sämmtlichen zu einem Kalender-
jahr gehörigen Stücke bilden vorläufig einen Band mit
tortlaufender Paginirung. Die einzelnen Stücke erhalten
ausserdem eine durch den Band ohne Unterschied der
Kategorien der Sitzungen fortlaufende römische Ordnungs-
nummer, und zwar die Berichte über Sitzungen der physi-
kalisch- mathematischen Classe allemal gerade, die über
Sitzungen der philosophisch-historischen Classe ungerade
Nummern. 82
1. Jeden Sitzungsbericht eröffnet eine Übersicht über
die in der Sitzung vorgetragenen wissenschaftlichen Mit-
theilungen und über die zur Veröffentlichung geeigneten
geschäftlichen Angelegenheiten.
2. Darauf folgen die den Sitzungsberichten über-
wiesenen wissensehaftlichen Arbeiten, und zwar in der
Regel zuerst die in der Sitzung, zu der das Stück gehört,
druckfertig übergebenen, dann die, welche in früheren
Sitzungen mitgetheilt, in den zu diesen Sitzungen gehö-
rigen Stücken nicht erscheinen konnten. Mittheilungen,
welche nieht in den Berichten und Abhandlungen er-
scheinen, sind durch ein Sternehen (*) bezeichnet.
85.
Den Bericht über jede einzelne Sitzung stellt der
Seeretar zusammen, welcher darin den Vorsitz hatte.
Derselbe Seeretar führt die Oberaufsicht über die Redac-
tion und den Druck der in dem gleichen Stück erschei-
nenden wissenschaftlichen Arbeiten.
$ 6.
1. Für die Aufnahme einer wissenschaftlichen Mit-
theilung in die Sitzungsberichte gelten neben $ 41, 2 der
Statuten und $ 28 dieses Reglements die folgenden beson-
deren Bestimmungen.
2. Der Umfang der Mittheilung darf 32 Seiten in
Oetav in der gewöhnlichen Schrift der Sitzungsberichte
nicht übersteigen. Mittheilungen von Verfassern, welche
der Akademie nicht angehören, sind auf die Hälfte dieses
Umfanges beschränkt. Überschreitung dieser Grenzen ist
nur nach ausdrücklicher Zustimmung Sdder Gesammt -Aka-
demie oder der betreffenden Classe "statthaft.
3. Abgesehen von einfachen in den Text einzuschal-
tenden Holzschnitten sollen Abbildungen auf durchaus
Nothwendiges beschränkt werden. Der Satz einer Mit-
theilung wird erst begonnen, wenn die Stöcke der in den
Text einzuschaltenden Holzschnitte fertig sind und von
besonders beizugebenden Tafeln die volle erforderliche
Auflage eingeliefert ist.
$ 7.
1. Eine für die Sitzungsberichte bestimmte wissen-
sehaftliche Mittheilung darf in keinem Falle vor der Aus-
gabe des betreffenden Stückes anderweitig, sei es auch
nur auszugsweise oder auch in weiterer Ausführung, in
deutscher Sprache veröffentlicht sein oder werden.
2. Wenn der Verfasser einer aufgenommenen wissen-
schaftlichen Mittheilung diese anderweit früher zu ver-
Die Akademie versendet ihre »Sitzungsberichte« an diejenigen Stellen, mit denen sie im Er
wofern nicht im besonderen Falle anderes vereinbart wird, jährlich drei Mal, nämlich: Be 2. ®.
die Stücke von Januar bis April in der ersten Hälfte des Monats Mai, ee
Mai bis Juli in der ersten Hälfte des Monats August,
» October bis December zu Anfang des nächsten Tohkrage nach Fertigstellung. ds Risen u
A
4
- Nichtmitglieder, haben hierzu die Vermittelung eines ihrem Ba? 4
4
i
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öffentlichen beabsichtigt, als ihm dies nach den gelten-
den Rechtsregeln zusteht, so bedarf er dazu der Ein-
willigung der Gesammt- Akademie oder der a
Classe.
ER x S
5. Auswärts werden Correeturen nur auf besonderes Eee
Verlangen verschickt. Die Verfasser verzichten N '
auf Erscheinen ihrer due nach ‚acht De
gı1l. ö EI an
1. Der Verfasser einer unter den »Wissenschaftlichen Be
Mittheilungen« abgedruckten Arbeit erhält unentgeltlich } 1
“fünfzig Sonderabdrücke mit einem Umschlag, aufwelchem
der Kopf der Sitzungsberichte mit Jahreszahl, Stück-
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berichte und einem angemessenen Titel nieht über zw. H
Seiten füllen, fällt in der Regel der Umschlag. fort. a
3. Einem Verfasser, welcher Mitglied der Akademie ’ A
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ist, steht es frei, auf Kosten der Akademie weitere gleiche
Sonderabdrücke bis zur Zahl von noch hundert, nd
auf seine Kosten noch weitere bis zur Zahl von zwei
hundert (im ganzen also 350) zu unentgeltlieher Ver- 5
theilung abziehen zu lassen, sofern er diess rechtzeitig Pr
dem redigirenden Seeretar angezeigt hat; wünscht er auf }
seine Kosten noch mehr Abdrücke zur Vertheilung zu
erhalten, so bedarf es der ‚Genehmigung der Gesammt- |
Akademie oder der betreffenden Classe. — Nichtmitglieder
erhalten 50 Freiexemplare und dürfen nach rechtzeitiger e
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plare auf ihre Kosten abziehen lassen. L ze
stimmte kenne muss in einer akademischen SR
vorgelegt werden. Abwesende Mitglieder, sowie alle
Fache angehörenden ordentlichen Mitgliedes zu ı benutzen. Ns
Wenn schriftliche Einsendungen auswärtiger ‚ode sorre-
spondirender Mitglieder direet bei der Akademie, oder ei
einer der Classen eingehen, so hat sie der vorsitze nde F
Secretar selber oder durch ein anderes Mitglied. zum >
Vortrage zu bringen. Mittheilungen, deren Ve
Akademie nicht angehören, hat er einem zunächst sag
scheinenden Mitgliede zu überweisen. j
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[Aus Stat. $ 41, 2. — Für die Aufnahme bedarf «
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einer ausdrücklichen Genehmigung der Akademie oder.
einer der Classen. Ein darauf gerichteter Antrag kann, vs.
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gestellt und sogleieh zur Abstimmung gebracht werden, X, {
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1. Der redigirende Seeretar ist für den Inhalt de N AR:
geschäftlichen Theils der Sitzungsberichte, jedoch. nieht 5
für die darin aufgenommenen kurzen Inhaltsangaben der u
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für alle übrigen Theile der Sitzungsberichte : sind ?
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989
KL ZENGSBERICH TE) 1208
XXX.
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
30. Juni. Öffentliche Sitzung zur Feier des Leisnızischen Gedächtnistages.
Vorsitzender Secretar: Hr. Diers.
Der Vorsitzende eröffnete die Sitzung, welcher das Ehrenmitglied
der Akademie, Seine Excellenz der vorgeordnete Minister Hr. Dr. Stupr
beiwohnte, mit folgender Festrede:
Es ist das erste Mal, daß die Akademie den dem Andenken von
Leiesız gewidmeten Festtag nicht mehr an der Stätte feiert, die durch
ihn für alle Zeiten der Wissenschaft geweiht worden ist. Es ist das
erste Mal, wo jener astronomische Turm nicht mehr auf uns herab-
blickt, der vor zweihundert Jahren auf das unablässige Treiben des
Gründers unserer Gesellschaft erbaut worden war. Er ist gefallen, und
an seiner Stelle sind nun hundert geschäftige Hände tätig, den Boden
zur Erriehtung der neuen Gebäude herzurichten. Nur wenige der
Lebenden haben diesen ältesten, abgelegenen Teil unseres akademischen
Besitztums betreten. Mit einem Schritt gelangte man aus dem lautesten
Lärm der modernen Großstadt in die selten von menschlichem Fuße
betretenen Räume des Turmes, dessen düstere, verfallene, winklige
Treppen wie in einem verwunschenen Märchenschlosse emporführten
zu dem ältesten Sitzungssaale der Akademie, der noch die alten, von
dem Staube zweier Jahrhunderte bedeckten Schriften der Akademie ver-
wahrte. Einst mochte der Raum einen ganz stattlichen Eindruck machen
wenigstens auf unsere Akademiker, die niemals durch den äußeren
Glanz ihrer Räume verwöhnt worden sind. Von der gewölbten Decke
grüßten Sternbilder und astronomische Embleme, von den Friesen
schauten die Medaillons berühmter Astronomen des Altertums herab,
und die ganze unberührt gebliebene Ausstattung versetzte den Geist
ohne Mühe in die ersten Zeiten der Leissızschen Akademie, wo unsere
Sozietät mit unsäglicher Mühe um ihre Anerkennung und ihre Subsi-
stenz kämpfen mußte.
Sitzungsberichte 1904. 84
990 Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
Die Wissenschaft beginnt an allen Orten, wo sie irgend Pflege ge-
funden hat, in Babylon und in Ägypten wie in Griechenland, in China
wie in Mexiko mit der Himmelsbeobachtung. So war es auch bei uns die
Astronomie, die in der ersten Epoche unserer Akademie vorzugsweise,
ja zuweilen allein gepflegt ward. Bildete doch der akademische Kalen-
der lange Zeit ihre einzige dürftige und schwankende Einnahmequelle.
Die emsigen Beobachtungen, die zu diesem Zwecke der alte Kırca, seine
eelehrte Frau MArıe MARGARETHE und deren Kinder damals auf dem
Observatorium anstellten, gereichen der jungen Sozietät zur besonde-
ren Ehre.
Nicht ohne Absicht also hatte ihr Leıssız die Devise mit auf den
Lebensweg gegeben: Cognata ad sidera tendit. Es ist die Umschrift
auf dem von ihm entworfenen Siegel, das einen Adler im vollen Flug
von der Erde zu den Gestirnen zeigt. Aus einer Beschreibung des
Wappens, das Lrienız damals veröffentlichte, ergibt sich, daß damit
der Brandenburgische Adler gemeint ist, der zu dem gleichnamigen
Sternbild des Himmels emporfliegt.
Aber, erklärt der Erfinder, dieses Siegel hat auch einen geheimen
Sinn. Der Adler bedeutet auch den menschlichen Geist, der vom
Himmel geboren wieder zu seinem Ursprung zurückkehrt, er bedeutet
vor allem den Geist der Akademie selbst, der auf den Bahnen der
Wissenschaft zum höchsten Lichte, zum göttlichen Wesen aller Dinge
empordringt. Indem der Philosoph die Verwandtschaft des Menschen
mit den Sternen so stark betonte, deutete er auf den innersten Kern
seiner eigenen Lehre, die geheimnisvolle Wechselwirkung, in der
jede individuelle Monade zu dem Universum steht. Der Mikrokosmos
ist ein Spiegel des All. Wie im Zentrum eines Kreises unendliche
Radien zusammenlaufen, so ist die menschliche Seele durch unend-
liche Strahlen mit dem Universum verbunden. Zahllose unsichtbare
und unbewußte Fäden spinnen sich zwischen den Einzelwesen und
dem unendlichen All, das von den Gesetzen der Harmonie durchflutet
wird. Es gibt keinen Sprung, keine Lücke in der Natur. Eine
kontinuierliche Stufenreihe von Monaden (Energien oder Kraftzentren
würden wir heute sagen) erstreckt sich von dem niedersten bis zum
höchsten Wesen und sie alle sind miteinander durch das Band der
Verwandtschaft verknüpft. Wie Leısnız von SwAumErDanns Entdeckun-
gen der anatomischen Verwandtschaft zwischen Pflanzen und Insekten
ausgehend Verbindungsformen forderte, welehe die Wissenschaft erst
später im Tierreich wirklich aufgefunden hat, so betrachtet er auch
den Menschen nicht als den Abschluß und die Krone der Schöpfung.
Vielmehr darf er nur eine mittlere Stellung auf der unendlichen Leiter
des Universums beanspruchen. Es wäre ein metaphysisches Vakuum,
Dieıs: Festrede. 99]
wenn man keine höheren Wesen zwischen Mensch und Gott denken
wollte. Diese Genien als Mittelwesen der irdischen und himmlischen
Welt, die schon in der antiken und christlichen Philosophie eine so
bedeutende Rolle gespielt haben, sind eine Lieblingsvorstellung selbst
des rationalistischen achtzehnten Jahrhunderts geblieben, bis der Voll-
ender des Rationalismus Kayr, dessen diesjährige Totenfeier die ganze
gebildete Welt weit über Deutschlands Grenzen hinaus pietätvoll be-
gangen hat, mit der Metaphysik auch diese Dämonenlehre aus dem
Reiche der Philosophie verbannt hat.
Und doch ist diese Verknüpfung des menschlichen Daseins mit
dem Himmel und seinen Sternen einer jener Urgedanken der Mensch-
heit, der unausrottbar ihr eingeprägt erscheint und überall auftritt,
wo sich die Kultur zum Erforschen des Übersinnlichen erhebt und
die ersten wissenschaftlichen Versuche anstellt.
Wir umspannen jetzt in gesicherter historischer Kontinuität die
Geschichte von fünf Jahrtausenden und vermuten davor eine ebenso
große, nur schichtenweise abschätzbare Periode menschlicher Kultur.
In Ägypten reicht die Einführung des an den Sothisaufgang gebun-
denen Sonnenjahres wahrscheinlich tausend Jahre vor den ältesten um
3300 v.Chr. datierbaren ersten König, und diese astronomische Tat
ersten Ranges setzt ganz gewiß eine wissenschaftliche Kultur von
Jahrtausenden voraus. Ebenso finden wir in den altbabylonischen
Ausgrabungen zu Nippur eine unermeßliche bis ins dritte Jahrtausend
vor Chr. zurückgehende Priesterbibliothek, deren nur zum kleinsten
Teile bekannt gewordenen Texte u. a. detaillierte Sternberechnungen
enthalten. Die Sternbeobachtung und Sterndeutung der Babylonier ist
mit ihrer Religion auf das innigste verbunden, und da die Grund-
lagen dieser altbabylonischen Wissenschaft, wie Sprache und Schrift
ausweisen, auf eine viel ältere, dort ansässige sumerische Kultur
zurückgeht, deren erste Anfänge weit hinter dieser Epoche liegen
müssen, und da auch die altchinesische Astronomie in ihren Beob-
achtungen bis zum Jahre 2697 v. Chr. reicht und natürlich ebenfalls
eine geraume Periode der Vorbildung dazu voraussetzt, so blicken
wir wie durch einen Spalt in eine uralte Schicht orientalischer Wissen-
schaft hinein, die uns mindestens bis zum vierten und fünften Jahr-
tausend zurückführt.
Viel später als die Bewohner Ägyptens und Mesopotamiens sind
unsere Urahnen, die Indogermanen, wo sie nun auch ursprünglich
gesessen haben mögen, sei es in Zentralasien oder in Deutschland, zur
Kultur und zur Wissenschaft gelangt. Und doch beginnt auch hier der
Anfang höherer Betrachtung mit dem Zählen und Messen der Gestirn-
läufe. Der gemeinsame, uralte Name des Mondes ist der »Messer«.
84*
992 Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
Der Glaube freilich an einen mystischen Zusammenhang zwischen
den Gestirnen und den Menschen, den die religiöse Auffassung des
Orients früh ausgebildet und mit der fortschreitenden exakten For-
schung immer raffinierter ausgestaltet hatte, stieß bei der Begegnung
mit der indogermanischen Wissenschaft des Abendlandes auf Wider-
stand.
Die ersten Vertreter dieser abendländischen Wissenschaft, die
ionischen Physiker des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts, wollten
von Sterndienst und Sterndeutung nichts wissen. Dies begreift sich
nicht etwa bloß aus dem Rationalismus jener ersten Philosophen, die
ein rein physikalisches System ohne religiösen Hintergrund aufzustellen
wagten, nicht bloß aus dem ebenfalls bereits rationalistischen Denken des
ionischen Volkes, wie es uns die homerische Dichtung enthüllte, sondern
vielmehr gerade aus dem tiefsten Grunde indogermanischer Religion,
die wohl ihre Götter im geheimen Weben der Wälder, im Rauschen
der Quellen, im Leuchten, Donnern und Blitzen des Himmels scheu zu
erkennen und treu zu verehren weiß, aber nicht wagt, wie die ba-
bylonische Religion, den Lauf des Helios und der Selene in ein Rechen-
exempel zu fassen und das Fatum der Gestirngötter durch das Horoskop
zu erforschen. Daher ist der Mondkult in Griechenland unbekannt und
der vereinzelte Sonnenkult wohl nirgends ursprünglich gewesen: die
Sterndeuterei hat ihren Einzug in Griechenland erst gehalten, als das
echte Griechentum ausgestorben war.
Freilich hat sich dort eine andere Zahlenmystik früh und aus
denselben Anfängen wie die ionische Wissenschaft selbst entwickelt.
Der Ionier Pythagoras spielt seine hieraus entlehnte mathematisch-
astronomische Anschauung auf das Metaphysische hinüber. Die Zahlen
gelten mystisch als die Prinzipien des Alls, und das ganze Weltall,
das sich in Stufen von der irdischen Unvollkommenheit zu immer
höherer Vollkommenheit der Sphären erhebt, wird durch eine unsicht-
bare Harmonie (das ist der alte Name) zusammengehalten. Die da-
mals entdeckte Proportion der schwingenden Töne ist nur das irdische
Echo der himmlischen Sphärenharmonie, die in dem rollenden Reigen
der Planeten erklingt. Und Hand in Hand mit dieser mystischen
Physik entwickelt sich eine nicht minder mystische Psychologie. Unsere
Seele (so lehrte man am Anfang des fünften Jahrhunderts im Osten wie
im Westen von Hellas) ist wesensverwandt (»homogen« sagt der Hellene)
der ätherischen Allseele, die das Universum bildet und die Gestirne
zu ewigem Laufe beflügelt. Auf Erden erscheinen diese Gestirnseelen
sichtbar als Sonnenstäubchen. Der Körper, der mit der Seele zusammen-
gejocht ist, fällt im Tode zu Staub, die Seele aber schwingt sich zu
lichten Höhen, wo sie wohl als schöner Stern erscheint. So begrüßt
Diers: Festrede. 993
Aristophanes den pythagoreisch angehauchten Dichter Ion aus Chios,
den Freund des Sophokles, nach seinem Tode als Morgenstern.
Es half nichts, daß die exakte Naturwissenschaft damals aus
dem großen Meteorsteinfall bei Aigospotamoi die wirkliche Natur der
Gestirne erschlossen hatte, die poetische Vorstellung von den Sternen
als den Gefilden der Seligen taucht immer und immer wieder auf, be-
sonders auch in der Akademie Platons, der mehr und mehr die Astronomie
zu einer theologischen Wissenschaft entwickelte und die volkstümliche
Daemonologie als Verbindungsbrücke zwischen Diesseits und Jenseits,
zwischen populärem Glauben und philosophischem Denken ausgestaltete.
Diese Theosophie fand bereitwillige Aufnahme in der späteren Stoa,
die sie wiederum der Philosophie der Römer, des christlichen Mittel-
alters und der Neuzeit überlieferte. Wie sich Augustin dachte, daß
die frommen Menschen nach ihrem Tode in die himmlischen Geister-
scharen einrückten, um die durch den Abfall Satans entstandene Lücke
auszufüllen, so war es für GoETHE, der sich dabei bewußt an Lrısnız
anlehnte, ein tröstlicher Gedanke, sich die Menschenseelen oder, wie
er gern aristotelisch sagte, die Entelechien, auf andern Weltkörpern
fortdauernd und fortentwickelt zu denken gleich den Seligen Knaben
am Schluß des Faust.
Stärker noch als dieser sanft harmonische Gedanke des Pytha-
goreertums hat die furchtbar dämonische Kraft der Astrologie durch
die Jahrtausende fortgewirkt. Geboren in den sonnendurchglühten,
sternklaren Ebenen des Zweistromlandes hat diese chaldäische Wissen-
schaft von Alexander an, gleichsam als Vergeltung für die Eroberung
des Orients durch die Griechen, auf das Abendland seinen fanatischen
Einfluß ausgeübt. Die Propaganda schlich im stillen, die Literatur
verbarg sich. Trotzdem haben die neuesten Forschungen überraschend
zahlreiches Material aus den Winkeln der Bibliotheken hervorgezogen,
und glänzender Scharfsinn hervorragender Forscher hat die Entwick-
lung dieser Pseudowissenschaft auf griechischem Boden zu erhellen
begonnen. Man sieht, wie eine mystisch-gelehrte Literatur etwa vom
zweiten vorchristlichen Jahrhundert an aus Ägypten sich mit großer
Schnelligkeit über den ganzen griechisch-römischen Bildungskreis wie
ein unheimliches Flugfeuer verbreitet und die arme sündengeplagte
und erlösungsbedürftige Menschheit mit den Banden eines grausamen
Fatalismus umstrickt. Zahllose, ebenso geldgierige wie fanatische
Adepten der chaldäisch - ägyptischen Lehre durchziehen die Länder
und jagen mit ihren Horoskopen der Bevölkerung Schrecken ein.
Kaiser wie Bettler verfallen unrettbar seit dem ersten Jahrhundert
unserer Zeitrechnung dem unseligen Gestirnglauben. Ein nicht un-
begabter Dichter stellt seine Leier dem Aberglauben zur Verfügung
994 Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
und widmet sein astrologisches Gedicht dem Kaiser Tiberius, der
selbst der Lehre zugeneigt war.
In diesem Gedichte des sogenannten Manilius zieht sich die
cognatio hominis et mundi als Leitmotiv durch alle Bücher. »Wie
könnten die Menschen«, heißt es, »die Welt erkennen, wenn nicht
in ihnen selbst die Welt wäre!« So ist also kraft dieser Wesens-
verwandtschaft der irdischen und himmlischen Natur das Schicksal
des einzelnen an die Gestirne gekettet. Die Konjunktion der Planeten
bestimmt die Geburtsstunde, und wer jene kennt, der kennt die
Zukunft.
In der römischen Reichshälfte hat sich von Christi Geburt an
diese Lehre von den Planeten und den sie regierenden Göttern so
unmerklich und unheimlich rasch verbreitet, daß sich im Laufe des
ersten Jahrhunderts die Zählung der Tage nach den sieben Planeten-
göttern durchsetzte und sogar in dem gewöhnlichen Marktverkelire
Aufnahme fand. Die Reihenfolge dieser Tagesgötter Saturnus, Sol,
Luna, Mereurius, Jupiter und Venus ist nicht die in der wissenschaft-
lichen Astronomie übliche Ordnung der Planeten, sondern die jener
astrologischen Pseudoliteratur. Daher also muß diese Zählung stammen,
die bis auf den heutigen Tag in allen Ländern Euröpas üblich ist.
Das Eifern der Kirchenväter und der Päpste konnte gegen diese chal-
däische Abgötterei nichts ausrichten. Bei uns heißt selbst der heiligste
Tag der Woche, der dem Herrn geweiht sein sollte, streng heidnisch
nach dem Sonnengotte. Deutschland hat diese Benennung der Wochen-
tage vermutlich um das Jahr 300 vom Oberrhein her aus dem römi-
schen Reiche erhalten und zäh daran festgehalten.
Ganz anders der Orient. Obgleich dort die Wurzel der Astrologie
keimte, obgleich gerade dort stets der Hauptsitz der chaldäischen
Weisheit war, gelang es doch dem Christentum und den scharfen
Angriffen der Apostel gegen diese emporgekommene Planetenrechnung
wirksam aufzutreten und in christlichen Kreisen des Orients und
Griechenlands den Greuel der heidnischen Wochentage auszutreiben.
Eine klägliche Rolle spielt in jener Zeit die Wissenschaft. Viel-
leicht ist es richtiger, diesen hehren Namen für anderthalb tausend Jahre
seit Christi Geburt ganz auszustreichen, da während dieser Zeit kein
selbständiger, fortwirkender wissenschaftlicher Gedanke auf griechisch-
römischem Gebiete gezeugt ward. Aber derjenige, der nach der all-
gemeinen Schätzung noch am meisten Anspruch erheben könnte, als Ver-
treter der Wissenschaft in römischer Zeit betrachtet zu werden, Claudius
Ptolemaeus, dessen Bild in unserm alten Observatorium an bevorzugter
Stelle angebracht war, dieser Mann war Astrolog. Mit tiefem Schmerze
müssen wir gestehen (die neuere Forschung läßt darüber keinen
%
Dıers: Festrede. 9
_
Zweifel), daß der berühmte Verfasser des Almagests zugleich auch
die Tetrabiblos verfertigt hat, das Grundbuch der astrologischen
Afterweisheit, in dem die Geschicke der Völker wie der einzelnen
an die Berechnung der Gestirne angeknüpft und die Wahrheit und
Nützlichkeit dieser Trugwissenschaft gelehrt und beredt verteidigt wird.
So hat der chaldäische Irrwahn die Besten umnebelt und noch
anderthalb Jahrtausende die Menschheit genarrt und gequält. Ein
schönerer Tag brach mit der Renaissance dem Menschengeschlecht an:
allein die Astrologie blühte nur um so mehr. Das christliche Gewissen
fand die Kraft, die Tradition der Kirche abzuschütteln: aber die Stern-
deutung fand selbst in dem feinen Geiste Meranenrtnuons ihren Ver-
fechter. Unser großer KerLer, der die wahren Gesetze der Gestirn-
bewegung enthüllte, hat wenigstens äußerlich noch dem Glauben an
die Astrologie gehuldigt und Wallenstein Nativitäten berechnet.
Selbst in den astronomischen Kalendern, die unsere Akademie
unter der Leitung des wissenschaftlich durchaus auf der Höhe seiner
Zeit stehenden Kırcn herausgab, finden sich noch stets zu jedem Tage
die Planetenaspekten und das daraus mutmaßlich zu entnehmende Wetter.
Ja, in den Anhängen zu den ältesten Jahrgängen findet sich stets ein
Gespräch zwischen Gotthold dem Geistlichen, Sternfreund dem Astro-
nomus oder Sternkündiger, Deutrecht dem Astrologus oder Sterndeuter,
Kunstlieb dem Bürger und Erdmann dem Bauern, worin die Himmels-
und Wettererscheinungen des künftigen Jahres in biederem Tone er-
örtert werden. Astronomie und Astrologie stehen hier durchaus voll-
berechtigt nebeneinander, nur daß jene als Gewißheit aussprechen kann,
was die Sterndeutung nur als Mutmaßung geben darf, da die Influentz
der Sterne von den kalten oder hitzigen, feuchten oder trockenen Auf-
dämpfungen, welche die Witterung der Luft verstärcken oder schwächen,
verändert wird. So gibt denn unser Deutrecht folgende Prognose für
den 12. Januar 1702: »Am 172. Jan. halten zwar Jupiter und Venus
eine Zusammenkunft, so auf ein fein gelinde mit Wolcken und Sonnen-
schein vermischt Gewitter ziehen, aber die Sonne wird von dem kalten Sa-
turno durch einen Gesechstenschein bestrahlet; daher diese nicht wohl durch-
dringen möchte. Ja ich fürchte vielmehr alsdann hefftigen Frost.« Natürlich
wirken die Gestirne auch auf Gesundheit und Krankheit der Menschen
ein, wofür sich unser Deutrecht auf Krpzer beruft. Ein Beispiel seiner
Prognostik aus demselben Jahre 1702: »Der 77. Martü ist © (Ju-
piter in Konjunktion mit Sonne). Das ist seiner Art nach ein guter
Aspect, aber diese beyde gute Planeten werden von dem hitzigen Marte
durch einen schädlichen Gevierdtenschein bestrahlet; daß siehet also gefähr-
lich aus, dörffte treffliche Bewegungen der Feuchtigkeiten und gifftige Fieber
erwecken, da man wohl Ursache hat sich in acht zu nehmen, sonderlich
996 Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
um diese Jahres-Zeit, da sonst alles rege wird; und am Ende des Winters
kommt noch dazu die <h© (Konj. Saturn-Sonne), so für einen rechten
Verstörer der Lebensgeister gehalten wird. — Da wird der Todt seine
Schäffgen ausmertzen.«
Neben diesen astrologischen Beigaben. die damals der Bürger
und Bauersmann nicht missen wollte, wird ab und zu auch das Ho-
roskop gestellt, wenn fürstliche Personen die Astronomenfamilie auf
unserem Turme darum ersuchten. So berichtet Frau MArıE MARGARETE
hocherfreut im Jahre 1709 an Leısnız, daß sie für eine am ıı. Mai
dieses Jahres geborene Prinzessin das Thema habe aufstellen dürfen
und der große Philosoph wird, wenn wir ihn recht kennen, keines-
wegs ungehalten gewesen sein über die oceulten Bahnen, auf denen
der akademische Adler zu den verwandten Sternen flog. Denn eine
Randnotiz seiner Hand vermerkte auf dem Briefe gleichsam als Be-
stätigung eine astrologische Bemerkung aus dem Mercure historique et
politigue dieses Jahres. Lerssız war im Grunde seiner Seele viel melır
mit dem Irrationellen als mit dem Rationellen beschäftigt, weil ihm
jenes das für die Zukunft Fruchtbare bedeutet. Daher hat er und
seine Akademie noch nicht den Zauber der Alchimie und Astrologie
gebrochen. Dies blieb der friderizianischen Zeit vorbehalten, vor
deren energischer Aufklärung die Hexengeister wie die Gestirngeister
endgültig verschwanden oder sich versteckten.
Freilich eine geistige Krankheit, die seit tausend und abertausend
Jahren die Menschheit heimsuchte, kann nicht auf einmal spurlos
verschwinden. Im Orient, namentlich in Persien, Indien und China
steht die Astrologie noch heute in hohem Ansehen und auch bei uns
in Deutschland fehlt es nicht an Rückfällen, die beweisen, daß der
alte Irrwahn ab und zu noch einmal in einzelnen Schwarmgeistern
aufleuchtet, wie noch zu Anfang des vorigen Jahrhunderts ein mutiger
Bekenner der Astrologie, J. W. Prarr in Bamberg literarisch aufge-
treten ist. Es würde nicht der Mühe lohnen in diesem Kreise von dem
letzten Astrologen Berlins FRIEDRICH ADOLF SCHNEIDER zu reden, wenn
die Akademie nicht seiner Leidenschaft für diese oceulte Wissenschaft
dieses Gebäude verdankte, in dem sie zur Zeit ihrer Heimatlosigkeit eine
unzulängliche, aber zur Not erträgliche Freistatt gefunden hat. Obgleich
die Geschichte dieses Gebäudes und seines Erbauers merkwürdig genug
ist und noch bis in die Zeiten unserer Jugend hineinragt, ist sie doch in
dieser raschlebigen Zeit fast verschollen, und der Name des wunder-
lichen Gelehrten hat keine Aufnahme in die Walhalla der »Deutschen
Biographie« gefunden. So mag es gestattet sein heute wenigstens für
einige Augenblicke seiner zu gedenken und ihm zu danken, daß er
uns dieses baumumkränzte Asyl geschaffen hat.
Diers: Festrede. 997
Wer vor etwa vierzig Jahren an diesem Gebäude vorüberging,
dem fiel sein schöner Garten nicht allzusehr auf, da sich damals
deren noch viele in der Potsdamer Straße jenseits der Brücke befanden.
Aber wohl haftete sein Blick an der hoch oben an dem Hause an-
gebrachten Inschrift, die von dem blauen Grunde sich in goldenen
Lettern abhob:
ASTROMETEOROLOGISCHES INSTITUT
€ Jo ©
Diese rätselhafte Inschrift rührte von dem Erbauer dieses Hauses
her, dem Königlichen Rechnungsrat FRIEDRICH ADOLF SCHNEIDER, der
hochbetagt im Jahre 1869 hier verstorben ist. Als Kassierer bei
der Generalkasse des Kultusministeriums angestellt, war er mit den
Vertretern der Wissenschaft in Berührung gekommen und sein nach-
denkliches Gemüt hatte ihn getrieben, die ihm eigne rechnerische
Begabung in den Dienst der Astronomie und Meteorologie zu stellen.
So hatte er zuerst begonnen die damals in Gärtnerkreisen lebhaft
ventilierte Frage wissenschaftlich zu beantworten, ob der Mond auf
das Wachstum der Pflanzen irgendwelchen nachweisbaren Einfluß
hätte. Diese Frage war nicht neu. Schon das Altertum hatte sie
eingehend ventiliert, und Poseidonios, der große Beschützer aller
oceulten Wissenschaften, war im Interesse seines stoischen Fatalismus
für den Einfluß des Mondes auf das Wetter, sowie auf das ganze
Pilanzen-, Tier- und Menschenleben mit Eifer eingetreten.
Dieser Glaube, der sich in den weitesten Kreisen bis auf den
heutigen Tag merkwürdig zäh erhalten hat, veranlaßte nun unsern
SCHNEIDER drei Jahre hindurch genaue Barometerbeobachtungen anzu-
stellen und diese mit den Mondphasen zu vergleichen. Die Resultate
dieser Observation ließ er 1835 in einem Quartheft unter dem Titel
erscheinen: » Versuch den Miteinfluß des Mondes auf den Stand des
Barometers nachzuweisen.« Es versteht sich von selbst, daß die Zahlen
durchaus der vorgefaßten Meinung entsprachen.
Inzwischen aber trat ein bedeutender Umschwung seiner persön-
lichen Verhältnisse ein. Im Jahre 1834 hatte er das Glück in der
preußischen Lotterie das große Los zu gewinnen. Das schien dem
frommen Manne ein Wink vom Himmel. Sofort kaufte er das große
Grundstück an der Potsdamer Straße und errichtete hier das stattliche
Gebäude, in dem wir uns befinden. Auf dem Dache wurden zwei Obser-
vationstürme errichtet, die auch jetzt noch in ihrem ursprünglichen Zu-
stande sich erhalten haben. Im September 1836 war alles vollendet und
vom 2. Oktober desselben Jahres ab wurden die Barometermessungen
998 Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
verbunden mit Gestirnbeobachtungen regelmäßig fortgesetzt. Seine
Opferwilligkeit für die Zwecke der Wissenschaft und seine Arbeits-
energie fanden anfangs Anerkennung und Aufmunterung auch bei
einzelnen Fachleuten wie dem Astronomen Mäprer. Allein gar bald
siegte die astrologische Mystik. ScHneiper berichtet über diese ver-
hängnisvolle Wendung selbst in einer seiner späteren Publikationen
(Berechnung der Temperatur vom 7. Mai bis 6. September 1850. Fol. S. 2.)
mit großem Selbstgefühl folgendermaßen: » Wenige Wissenschaften können
den Moment ihrer Entstehung vollkommen genau angeben. Für die Ent-
stehung der Astro-Meteorologie — dies ist wirklich etwas ganz eigentüm-
liches — kann der Tag, ja sogar die Stunde angegeben werden, wo sie
ins Leben trat. Es war der 23. November 1836 um 21 Uhr 9 Min.,
wo der Unterschied des Barometerstandes von 6.50 Linien gegen den Tages
zuvor, um 3 Uhr 27 Min., den fragenden Gedanken in mir hervorrief:
Sollte dieser große Unterschied wohl von einer Planeten- Constellation her-
rühren? Das Berliner astronomische Jahrbuch für 1836 zeigte in seiner
Abteilung ‚Erscheinungen und Beobachtungen‘, wo die Constellationen der
Zeitfolge nach verzeichnet sind, am 22. November IO Uhr 28 Min. Uranus
in Quadratur mit der Sonne &$|_ ©. Dies sehen und den Plan entwerfen,
wie die Planeten zur Entdeckung eines Gesländnisses ihres Miteinflusses auf
unsere meteorologischen Erscheinungen zu examinieren seien, war das Werk
desselben Augenblickes. Und gleich darauf begannen auch die Arbeiten, welche
von so gesegnetem Erfolge begleitet wurden, daß über den berechenbaren Mit-
einfluß aller Planeten auf unsere Witterungserscheinungen gar kein Zweifel
mehr herrschen kann.«
Die Entdeckung jenes Tages schien ihm so bedeutsam, daß er
die astronomische Formel, welche die Quadratur des Uranus mit der
Sonne ausdrückt, auf jenes Schild des Hauses und auf seinen Grab-
stein setzen ließ. Je mehr er in dieser Astrometeorologie, wir können
kürzer Astrologie sagen, Fortschritte zu machen glaubte, je mehr
ihn das Glück, das ihm nach großen Verlusten zum zweiten Male das
große Los in den Schoß warf, zu begünstigen schien, um so mysti-
scher ward sein Ton. So sagt er an einer andern Stelle: » Von dem
lieben Herrn Jesus bin ich im Jahre 1832 auf eine wunderbare Weise
zur Thätigkeit für die Verbesserung der meteorologischen Forschungen ge-
führt worden, ward dann von dem lieben Gott am 22. November 1836
ebenfalls in wunderbarer Weise berufen, die Astrometeorologie ins Leben
zu rufen. In dem Maße, als ich auf seine vernehmbare Stimme lauschte
und mich durch sie führen ließ, machte die neue Wissenschaft reißende
Fortschritte. Die Astrometeorologie ist also mein unantastbares Eigentum
und so erkläre ich, daß niemand sie treiben und benutzen darf als der von
mir die Gerechtsame zur Benutzung und Weiterführung erkauft hat. Ich
Dıers: Festrede. 999
sehe mich zu dieser Erklärung veranlapt, damit eine Gesellschaft, die sich
zu ihrer Ausbeutung verbindet, in ihrem Eigentumsrecht geschützt bleibe.
An Gottes Segen ist Alles gelegen. «
ScHNEIDER brauchte nicht zu besorgen, daß seine Wissenschaft
unrechtmäßigerweise von illoyalen Bewerbern ausgebeutet werde.
Denn trotzdem er das Interesse des Kultusministers Eıcuuorn und
der allerhöchsten Kreise zu erregen wußte: bis zu ALEXANDER VON
Hunsorpr gelang es ihm trotz hoher Fürsprache nicht vorzudringen.
So blieb ihm die Mitwirkung der Akademie, die er so sehnlichst
wünschte, versagt. Seine unglaublich mühevollen Beobachtungstabellen
fanden keine Verbreitung. Niemand wollte sie schließlich selbst als Ge-
schenk annehmen. Im Jahre 1864 mußte er endlich enttäuscht gestehen:
» Die sehr mühsame Arbeit ist vergebens gewesen und die sehr bedeutenden Kosten
waren unnütz verschwendet. Denn noch heute liegen die Hefte als Maculatur
auf dem Boden ...« Bald danach starb er und hinterließ außer dem
Besitztum und den unverkäuflichen Broschüren ein Kapital, das er
dem Könige vermachte, um aus dessen Zinsen einen geeigneten Mann
mit der Fortführung der astrometeorologischen Rechnungen zu be-
solden. Auf ein Gutachten Doves hin ward dieses Vermächtnis des
Sonderlings zurückgewiesen. Die Muse Urania verschwand aus diesem
stillen Haine, doch zog im Jahre 1882 dafür die Muse der Tonkunst
ein, bis auch sie nach zwanzig Jahren gedeihlichen Wirkens in einen
eigens zu ihren Zwecken erbauten Neubau übersiedeln konnte.
Vom vorigen Jahre an haben nun die akademischen Musen zeit-
weilig ihren Tempel hier aufgeschlagen. Urania aber ist dem Dunste
und Lärme der Weltstadt ganz enttlohen und hat auf einem geeigneteren
Gefilde die astrophysikalischen, meteorologischen, magnetischen und
geodätischen Arbeiten aufgenommen, die in wissenschaftlicher Weise
der Devise Leıssızens Cognata ad sidera tendit zu entsprechen suchen.
Nachdem im Jahre 1847 auf Anregung ALEXANDERS VON HUMBOLDT
die meteorologische Erforschung organisiert und das Königliche Preußi-
sche Institut hier begründet war, gewann unter unserm DovE die
neue Forschung bald die hervorragendste wissenschaftliche wie prak-
tische Bedeutung. In den siebziger Jahren gelang es denn auch die
Meteorologie national und international zu organisieren und in den
nächsten Jahrzehnten auf dem Telegraphenberge zu Potsdam die durch
die Fortschritte und die Ausdehnung der verwandten Wissenschaften
gebotenen Observatorien zu errichten.
Hier hat sich nun Preußens Adler in ganz anderen Bahnen den
verwandten Gestirnen nähern dürfen. Neue Methoden gestatten es
der Erde in ihr inneres Eingeweide zu schauen und am Himmel die
uns umkreisenden Planeten wie die fernsten Fixsterne nach ihrer Zu-
1000 Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
sammensetzung, Temperatur und Bewegung zu fragen. Die Verwandt-
schaft der Stoffe, die bei den Himmelskörpern vermittels des Spektro-
skopes festgestellt wird, gestattet der Grundfrage nach der einheitlichen
Entstehung der Materie auch mit überirdischem Materiale näher zu
treten, und die Beobachtung der elfjährigen Sonnenfleckenperioden
zwingt die allbekannten Beziehungen dieser Wärmequelle zu den
Schwankungen unseres Klimas in geordnete Bahnen. Aber der kühne
Mensch begnügt sich nicht mehr mit der Beobachtung auf der Erde,
er versucht es sogar dem Adler in die höchsten Luftregionen nach-
zufliegen, und in Höhen weit über den höchsten Alpengipfeln gelingt
es ihm wissenschaftliche Beobachtungen zu registrieren. Alljährlich
laufen in unserm Institute von allen Seiten die Ergebnisse vielseitigster,
fruchtbarster Forschung und Beobachtung zusammen. Alljährlich er-
scheinen in unsern eignen Schriften Abhandlungen, welche die fernsten
Gestirne uns näher bringen und die terrestrischen Vorgänge unerwartet
aufklären. Wir wissen zwar noch wenig Sicheres über die Beziehungen
der Erde zum Universum im Verhältnis zu dem, was wir wissen
möchten. Aber wir versuchen doch nicht mehr mit astrologischer
Mystik die Lücke unseres Weltsystems auszufüllen. Unsere Forschung
ist mühseliger und bescheidener geworden. Trotzdem würde Leısnız,
wenn er die heutigen Arbeiten unserer Wissenschaft sähe, zugestehen,
daß der akademische Adler auch jetzt der alten Devise treu bleibt:
Cognata ad sidera tendit.
Darauf hielt Hr. Zimmer folgende Antrittsrede:
Die modernen keltischen Sprachen, wie sie von drei Millionen
Seelen in den entlegensten Strichen der britischen Inseln und der
Bretagne geredet werden, sind halbverdorrte Reiser an einem Stamme,
der im 3. Jahrhundert v. Chr. seine grünen Äste vom Galaterlande in
Kleinasien über Mittel- und Westeuropa bis nach Irland ausbreitete.
Kelten bilden also zu mehr oder minder beträchtlichem Teil das Völker-
substrat der heutigen Völker romanischer und germanischer Zunge Mittel-
und Westeuropas. Der deutsche Altertumsforscher speziell, der sich
mit den Strichen westlich einer Linie von der Wesermündung über
Harz, Thüringer Wald, Sudeten bis zur Donau beschäftigt, stößt fort-
während auf die Spuren keltischer Zunge. Diese Kelten kamen schon
früh in Massilia mit der höheren Kultur der Mittelmeerländer in Be-
rührung und wurden ihre Vermittler an die Germanen. Zahlreiche ge-
meingermanische sprachliche Entlehnungen, die zum Teil über die Zeit
der ersten germanischen Lautverschiebung hinaufgehen, legen Zeugnis
Antrittsrede und Erwiderung. 1001
dafür ab, wie tief vom 6. bis 1. Jahrhundert v.Chr. der Einfluß der Kelten
auf die Germanen gewesen ist.
Jahrhunderte später, um die Mitte des ı. Jahrtausends, ist kel-
tische Sprache durch romanische und germanische Zunge auf Irland
und die Westhälfte Britanniens eingeschränkt. Germanen hatten die
alte Welt in Trümmer geschlagen, wobei griechisch-römische Kultur
und Christentum an vielen Orten, vor allem im Merowingerreich, vom
Schutt mitbedeckt wurden. Nur in Irland fand die in die Formen des
Christentums gegossene antike Bildung in jenen Zeiten Heimstätte und
Pflege. Von Irland zogen im letzten Viertel des 6. Jahrhunderts kel-
tische Mönche ins Frankenreich, wurden Missionare unter Franken,
Alemannen, Bayern, und ihre Missionsstationen waren Bildungsstätten
für germanische Jünglinge. Ihre Nachfolger, die vom Ende des 8. Jahr-
hunderts an aus Irland in das christliche Frankenreich der Karolinger
kamen, übermittelten als Lehrer den Germanen und Romanen das in
Irland bewahrte geistige Erbe des Altertums. Kenntnis des Griechi-
schen ist in jener Zeit der höchste Ausdruck christlich-antiker Bildung:
verstand jemand im Laufe des 9. Jahrhunderts im Frankenreiche Grie-
chisch, so steht er unter dem Verdacht, ein Ire zu sein, oder bei
einem Iren in die Schule gegangen zu sein. So haben Iren vom 7.
bis 9. Jahrhundert als Schulmeister West- und Mitteleuropas die Grund-
steine unserer abendländischen Kultur gelegt.
Steigen wir einige Jahrhunderte weiter hinab, so sehen wir Er-
zeugnisse der Phantasie eines anderen keltischen Volkes bedeutenden
Einfluß auf das Geistesleben des Abendlandes gewinnen. Vor dem An-
sturm der Sachsen im 5. bis 7. Jahrhundert nach Aremorika flüchtende
britische Kelten nahmen in die neue Heimat die britische nationale
Heldensage mit, die mit anderen Sagenelementen des Volkes verschmel-
zend zur romantischen Artursage wurde. Deren Stoffe ergriffen die
Phantasie der romanischen Nachbarn und wanderten von ihnen nach
Norden, Süden und Westen. Unsere bedeutendsten höfischen Epiker
um die Wende des 12. und 13. Jahrhunderts — Hartmann von Aue,
Gottfried von Straßburg, Wolfram von Eschenbach — verdanken so im
letzten Grunde der Phantasie der bretonischen Kelten das Rohmaterial
zu ihren klassischen Werken.
Bei dieser Bedeutung des Keltentums für die Altertumsforschung
West- und Mitteleuropas und der Rolle, welche einzelne neukeltische
Völker im Mittelalter in der Kulturentwickelung und dem Geistesleben
der Völker des Abendlandes gespielt haben, ist das lebhafte Inter-
esse verständlich, das man in Deutschland bei dem im ersten Vier-
tel des 19. Jahrhunderts beginnenden Aufschwung der historischen
Wissenschaften der Erforschung der über ein Jahrtausend sich er-
1002 Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
streckenden Sprach- und Literaturgeschichte der beiden Zweige des
Inselkeltischen entgegenbrachte. Leider blieb aber die keltische For-
schung selbst fast ein Menschenalter von dem Aufschwunge der histo-
rischen Wissenschaften unberührt. Wohl darf die hier in der Aka-
dlemie 1838 gelesene Abhandlung Ȇber die keltischen Sprachen vom
Gesichtspunkt der vergleichenden Sprachforschung« zu den glänzend-
sten Proben von Borrs Scharfsinn gerechnet werden; aber als Anstoß
zu einer Neugestaltung der keltischen Studien reichte sie nicht aus,
zumal Borr selbst fernerhin keine Muße fand, seine Kraft diesem Ge-
biete zu widmen. Die Arbeiten deutscher Gelehrter wie RADLOFF,
KEFERSTEIN, SPARSCHUN, MonE und deren Genossen in England und
Frankreich mußten keltische Sprachforschung in den Augen philo-
logisch geschulter Männer der Lächerlichkeit preisgeben: der Begriff
eines Keltologen fiel mit dem eines Keltomanen zusammen.
Eine keltische Philologie wurde geschaffen durch das Werk "Gram-
matica Celtica, e monumentis vetustis tam Hibernicae linguae quam
Britannicarum dialectorum Cambricae Cornicae Aremoricae comparatis
Gallicae priscae reliquiis construxit J. C. Zeuss. Lipsiae 1853.
Auf einen Wurf war hier unter Benutzung zahlreicher bisher
unverwerteter alter Denkmäler irischer und britannischer Zunge mit
einer auf diesem Gebiete ungewohnten methodischen Sicherheit und
Klarheit eine historische Grammatik der erhaltenen keltischen Dia-
lekte begründet; die Lautverhältnisse dieser Dialekte untereinander
und zu den Überresten des Altkeltischen wurden klar dargelegt, und
damit die bis dahin fehlenden festen Normen für die keltische Etymo-
logie gewonnen. Die Bedeutung des Werkes für die keltische Philo-
logie hat vor mehr als 40 Jahren ein noch lebender hervorragender
englischer Keltist durch das Wort eines Orphischen Dichters Ieyc
APxH, Leyc mecca, Atöc A’ EX TIANTA TETYKTAI treffend gekennzeichnet.
Auf den von Ü. Zeuss gelegten Grundlagen arbeitet seitdem ein sich
immer mehr erweiternder Kreis von Forschern deutscher, englischer,
französischer, italienischer und skandinavischer Zunge am Ausbau der
keltischen Sprach- und Altertumsforschung, und allmählich ist es
ihnen gelungen, die durch das Treiben der Keltomanen in der Ge-
lehrtenwelt hervorgerufene Keltophobie zu bannen und der jungen
Wissenschaft der keltischen Philologie die Aufnahme in den Kreis
der älteren historischen wissenschaftlichen Disziplinen an einzelnen
Hochschulen zu verschaffen.
Soll ich, wie es Sitte ist, von meinem Anteil an der keltischen
Forschung hier reden, so darf ich sagen, daß ich bemüht gewesen
bin, keltische Philologie in möglichst umfassendem Sinne zu nehmen.
Ich habe versucht, Fäden bloßzulegen, die keltische Spracherschei-
Antrittsrede und Erwiderung. 1003
nungen mit der indogermanischen Basis verknüpfen, und habe andere
durchs geschichtliche Leben bis in die Neuzeit verfolgt. Neben dem
Problem der Wirkungen des Akzentes auf die äußere Form im Alt-
irischen hat mich die Frage nach dem Gebrauchsunterschied der ver-
schiedenen Präteritalbildungen dieser Sprache beschäftigt. Altirische
Glossen habe ich gesammelt und andererseits das Verständnis der alten
irischen Sagentexte zu fördern gesucht. Die Fragen, wie Christentum
und antike Bildung nach Irland kamen und welche Schicksale ein
Werk des irischen Häretikers Pelagius hatte, haben mich ebenso inter-
essiert wie die Einflüsse des Aufenthaltes unserer nordischen Vettern
in Irland im 9. und 10. Jahrhundert auf irische Sage und Sprache.
Untersuchungen über Entstehung, Geschichte und Quellen der Historia
Britonum liefern Beiträge zur Literaturgeschichte der Inselkelten im
Mittelalter. Die am Ausgang des 19. Jahrhunderts auf dem Gesamt-
gebiet des modernen Keltentums stark einsetzende Bewegung für eine
Wiedergeburt des keltischen Volkstums schien mir der Beachtung
keltischer Philologie nicht unwert. Daneben habe ich die Bedeutung
des Keltentums für die geschichtliche Entwickelung der Kulturvölker
West- und Mitteleuropas bei meinen Arbeiten nicht aus den Augen
verloren.
Auf meinem Studienweg, der, um nur die Hauptetappen zu
nennen, mich vom deutschen Altertum über indische Philologie und
indogermanische Sprachwissenschaft zu den Kelten führte, haben vor
anderen Lehrern drei durch ihre Werke, Vorlesungen und die im
persönlichen Verkehr gegebenen Anregungen entscheidend auf meine
geistige Ausbildung eingewirkt: Kart MÜLLENHOFF, WILHELM SCHERER
und Jomannes Scnmivr. Die mir zuteil gewordene Ehre, in diesen
erwählten Kreis eintreten zu dürfen, dem sie viele Jahre als Zierden
angehörten, wird mir ein Ansporn sein, im Geiste ihrer wissenschaft-
lichen Bestrebungen noch mehr wie bisher meiner Forschung inner-
halb des Gebietes keltischer Philologie keine Grenzen der Zeit oder
des Ortes zu ziehen.
Hierauf antwortete Hr. Dies als Seeretar der philosophisch -histo-
rischen Classe:
Der Beginn des neuen Jahrhunderts und die damit zusammen-
fallende Jubelfeier unserer Akademie hat ihr die Möglichkeit gegeben,
längst erwünschte Erweiterungen und Ergänzungen ihrer Organisation
durchzuführen. Das Streben der philosophisch -historischen Klasse war
dabei hauptsächlich auf das Deutsche gerichtet, dessen wissenschaft-
liches Studium schon von Leısxız als ein Hauptziel unserer Tätigkeit
1004 Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
bezeichnet worden war. In dem ersten Berichte, den er im Jahre
1702 dem Könige von den Forschungen der neugegründeten Akademie
gibt, heißt es wörtlich so: »Man hat in dem Altertum der teutschen
Sprache nicht wenig entdeeket, das Celtische mit dem Teutschen zu-
sammengehalten, alte teutsche Manuseripte nützlich angewendet, auch
Monumente der teutschen Historie ans Licht gebracht und hoffet, der-
mahleins zu einem rechtschaffenen Wörter-Schaz gelangen zu können.«
Trotz dieser vortrefflichen Anregung und mancher schätzenswerten,
ja genialen Einzelforschung hat die Akademie sowohl des achtzehnten
wie des neunzehnten Jahrhunderts den Prospekten ihres Stifters nur
wenig entsprochen. Um so mehr hofft die des zwanzigsten die alte
Ehrenschuld einzulösen, und der Lrissızen als letztes Ziel vorschwebende
»teutsche Wörter-Schaz« soll auch unser Endziel sein.
Vor allem wichtig erschien es bei der Ausgestaltung dieser deut-
schen Abteilung auch des Volkes der Kelten zu gedenken, die so oft
und so innig in die Anfänge und den Fortgang unserer deutschen
Geschichte verflochten sind. Es gilt dabei namentlich auch die über-
triebenen Vorstellungen einer über ganz Deutschland ergossenen Kelten-
überschwemmung auf das richtige Maß zurückzuführen. Es ist noch
nicht lange her, daß sich die Halloren bei dem früher üblichen Neu-
jahrsempfange als »Halles treue Keltenschaar« dem Kaiser vorzustellen
pflegten. Gegenüber solchen Phantasmen ist die neue Forschung be-
müht, die wirklichen Einflüsse des Keltentums im Altertum und Mittel-
alter mit den Mitteln der strengen Historie und der noch strengeren
Sprachwissenschaft abzugrenzen. Als Vertreter dieser Wissenschaft
strengster Observanz haben wir uns glücklich geschätzt, Sie, Hr. Zimmer,
für eine der durch die Huld Sr. Majestät neugegründeten Stellen ge-
winnen zu können.
Ihre Forschung, verehrter Herr Kollege, ist von Hause aus mit
der Methode und den Zielen der deutschen Philologie vertraut. Ihre
wissenschaftliche Bildung hat von den großen Meistern dieses Fachs,
die unserer Akademie am Ende des abgelaufenen Jahrhunderts zur
Zierde gereichten, die maßgebenden Einflüsse erfahren. Mit einer preis-
gekrönten Schrift über germanische Nominalsuffixe haben Sie Sich 1876
glänzend in die Wissenschaft eingeführt. Mit seltener Vielseitigkeit
wandte sich darauf Ihr besonderes Bemühen der indischen Philologie zu,
und wiederum trugen Sie mit Ihrem »Altindischen Leben« den Preis
davon. So schritten Sie von Sieg zu Sieg zu dem schwierigsten Ge-
biet der indogermanischen Sprachwissenschaft vor, der Keltik, die
von nun an Sie hauptsächlich, wenn auch keineswegs ausschließlich,
festhielt. Sie vertieften sich in die mannigfachen Brechungen der
keltischen Sprachüberlieferung und verfolgten mit unermüdlicher, über-
Antrittsreden. 1005
all die Quellen erschürfender Forschung, linguistisch, literarisch wie
historisch gleichmäßig interessiert, die Sprache und Kultur des ab-
sonderlichen Keltenvolkes von den ältesten Zeiten durch das christ-
liche Mittelalter hindurch bis zu der modernen Erneuerung des alten
Bardentums in Wales, Schottland und Irland. Besonders sei hier
Ihres jüngst erschienenen Buches »Pelagius in Irland« gedacht, das mit
ganz neuem Material die gelehrte Arbeit der irischen Mönche, der
Väter unserer deutschen Bildung, an einem besonders interessanten
Punkte in ein helleres Licht setzt.
Schon vor zwanzig Jahren hat die Akademie die Bedeutung Ihrer
keltischen Studien anerkannt und unterstützt. Ihre von Momnsen 1891
vorgelegte Abhandlung »Über die frühesten Berührungen der Iren mit
den Nordgermanen « bildet eine Zierde ihrer Schriften. Sie freut sich nun-
mehr in der Lage zu sein, geehrter Herr Kollege, Ihrer Wissenschaft eine
Stätte in ihrer Mitte zu bereiten. Möge Ihre Gesundheit Ihnen recht
bald gestatten mit voller Kraft Ihrer wichtigen und interessanten Auf-
gabe Sich zu widmen!
Hr. ScHÄrer hielt folgende Antrittsrede:
Der Pflicht, die den im Laufe des Jahres neu Eingetretenen er-
wächst, an diesem Gedenktage der Akademie Rechenschaft zu geben
über ihre wissenschaftliche Persönlichkeit, werden wohl nicht allzu-
viele genügt haben ohne eine gewisse zagende Befangenheit. Die
unübersehbare Fülle gelehrten Könnens und Wollens, die sich in einer
Körperschaft wie in der der Berliner Akademie vereinigt findet, möchte
wohl auch hochentwickeltem Selbstbewußtsein Zweifel erregen, ob die
auszufüllende Stelle so besetzt werden kann, daß die Harmonie des
Ganzen und die Kontinuität der Entwickelung gewahrt bleibt. Gegen-
über meinem Vorgänger, der durch klare Aufgabenstellung und ebenso
geistvolle wie scharfsinnige Durchführung Meister war in der Lösung
von Problemen mittelalterlicher Einzelforschung, könnte ich nur auf
wenige Belege verweisen, die einen Anspruch zu begründen vermöchten,
auf diesem Arbeitsgebiete neben ihm genannt zu werden. Wenn er
in seiner Eintrittsrede hinweisen konnte auf die umfassenden und grund-
legenden Verdienste, die sich der Mann, dessen Gedächtnis die Aka-
demie heute feiert, um die Kenntnis mittelalterlicher Geschichte er-
worben hat, so liegt darin eine weitere Steigerung der Empfindung,
daß die übertragene Ehre auch eine starke Verantwortung in sich
schließt.
Nach ungewöhnlich schwieriger, doch aber freudenreicher Jugend,
die den Besuch irgendwelcher höheren Bildungsanstalt nicht zuließ,
Sitzungsberichte 1904. 85
1006 Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
und nachdem ich schon fünf Jahre an Volks- und niederen Mittel-
schulen als Lehrer tätig gewesen war, bezog ich in reiferem Alter
die Universität, um im Hinblick auf weitere Ausübung des Lehrer-
berufs klassische Philologie und daneben Geschichte und Geographie
zu studieren. Apour Schmivr in Jena, Hemmkıch von TREITSCHKE in
Heidelberg wurden Anlaß, daß ich mich bald ganz überwiegend der
Geschichte zuwandte, nicht ohne die Überzeugung gewonnen zu haben,
die mir dauernd geblieben ist, daß zur Einführung in die Geschichte
und zumal in die mittelalterliche das Studium der alten Sprachen einen
nicht nur gangbaren, sondern höchst empfehlenswerten Weg darstellt.
HEINRICH voN TREITSCHKE hörte ich in der hochgespannten Zeit vor dem
Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges, konnte den Worten lau-
sehen, mit denen er seine Schüler ins Feld entließ, Worten, die nie-
mand vergessen hat, der sie vernahm. Treitschkes Art zu lehren,
seine innere Hingebung an die Sache senkten sich tief in meine Seele
und sind mir, als ich später selbst das Katheder besteigen sollte, bis in
Äußerlichkeiten hinein ein nie völlig entschwindendes Vorbild gewesen.
Nach dem Kriege habe ich in Göttingen meine Universitätsstudien
abgeschlossen. Was in den historischen Übungen von Grore Wartz
(»Seminar« hat Waırtz nie gehalten) gelernt werden konnte, ist oft
erörtert und gepriesen worden. Mir ist der volle Eindruck davon
geblieben. Mit Treıtscake teilte er die staunenswerte Fülle klaren und
sicheren Wissens auf dem eigenen und manchem benachbarten Gebiete,
die beide Männer hoch hinaushob über die meisten der mitlebenden
Fachgenossen. Kam das bei Treıtschke mehr in Vorlesungen und
schriftstellerischer Tätigkeit zur Geltung, so wurde diese Überlegenheit
bei Waırz in den Übungen eine überaus reiche Fundgrube der Anregung
und Belehrung. In der Handhabung der Kritik blieb Waırz unüber-
troffen. Sie war bei ihm im besten Sinne konservativ, getragen von
der Achtung für die Überlieferung, durchdrungen von der Notwendig-
keit, zunächst diese nach allen Seiten hin verstehen zu lernen, ehe
man dazu schreite, sie auf Grund von Möglichkeits- und Wahrschein-
lichkeitserwägungen oder durch Herantragen von Analogien oder gar
zugunsten von Konstruktionen, die dem Gehalt der Dinge Gewalt
antun, beiseite zu schieben. Was ich später in dieser Richtung selbst
habe arbeiten können, hat die dort gewonnenen Überzeugungen zu
Fleisch und Blut meiner wissenschaftlichen Persönlichkeit werden lassen
und auch, wie ich gestehen muß, mich mit lebhafter Antipathie er-
füllt gegen die, wie mir scheint, in neuerer Zeit steigende Neigung, auch
in der Wissenschaft stets das Neueste für das Beste zu halten. Hrımrıca
von TRreITscHkE und GEoRe Warrz sind vielfach als Antipoden zweier
Richtungen einander gegenübergestellt worden, und es ist ja auch zwi-
Antrittsreden. 1007
schen den beiden Männern ein bewußter Gegensatz gelegentlich zum
Ausdruck gekommen. Ich möchte diese Gelegenheit nicht vorüber-
gehen lassen ohne das Bekenntnis, daß ich beiden Lehrern unaus-
löschlich dankbar bin, nicht zuletzt auch für das Vorbild, das sie
durch die unantastbare Integrität ihres Charakters allen näher in ihr
Wesen Eindringenden gaben. Aus der Förderung, die die eigene Ent-
wiekelung durch sie erfahren hat, ist mir auch die Überzeugung er-
wachsen und geblieben, daß die Sonderung in Schülergruppen, wie sie
teils Brauch geworden ist, teils angestrebt wird, akademischem Geistes-
leben kaum förderlich, der Entwickelung fester Eigenart abträglich ist.
Schon in Heidelberg hatte ich den Entschluß gefaßt, eine Preis-
aufgabe zu lösen, die anläßlich der 5oojährigen Jubelfeier des Stral-
sunder Friedens unter dem Titel »Die Hansestädte und König Walde-
mar von Dänemark« von vier norddeutschen Geschichtsvereinen gestellt
worden war. Die Eindrücke meiner in engster Verbindung mit Wasser
und Schiffahrt verlebten Knabenzeit und die Liebe zu den geschicht-
lichen Gestalten meiner sächsisch-friesischen Heimat, die mir aus den
verschiedensten Quellen zugeflossen war, ließen mich den Gegenstand
mit innigster Neigung umfassen. Das nähere Eindringen in den Stoff,
das erst in Göttingen erfolgen konnte, ergab doch bald, daß eine
wesentliche Vorfrage nicht gelöst war, und so entstand die quellen-
kritische Untersuchung über die dänischen Annalen und Chroniken und
einschlägige schwedische und deutsche Geschichtswerke, die mich in
die wissenschaftliche Welt einführte. Sie wurde ihrerseits aber wieder
Anlaß, daß mir, als ich nach beendigtem Universitätsstudium wieder
zum Lehrerberuf zurückgekehrt war, seitens der damaligen Leitung
der Europäischen Staatengeschichte der Antrag gestellt wurde, Danur-
manns Geschichte von Dänemark, die am Beginn der Neuzeit stehen
geblieben war, fortzusetzen. Das kleine Nachbarland war damals noch
nicht so sehr dem allgemeineren deutschen politischen Interesse ent-
rückt, wie es in den folgenden drei Jahrzehnten als notwendiges Er-
gebnis der Verschiebung der Verhältnisse der Fall geworden ist. Noch
war es in klarster Erinnerung, daß vor dem Deutsch-Französischen Kriege
nie eine große politische Frage die öffentliche Meinung Deutschlands
so einig gefunden hat, wie die schleswig-holsteinische. Dazu kam der
Reiz, das wertvollste Geschiehtswerk eines DauLuann fortzusetzen. So
fiel die Entscheidung in bejahendem Sinne. Sie bedeutete zugleich
eine endgültige Abkehr von der Geographie, die bis dahin mit den
historischen Neigungen stark in Konkurrenz geblieben war, obgleich
ich ihrem Studium in der Universitätszeit nur in Göttingen unter
Warräus hatte nachgehen können. Indem ich die Bearbeitung der
4. Auflage von Gurkes »Lehrbuch der Geographie«, die dann Herrmann
85*
1008 Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
Wasser übernahm, ablehnte, war die letzte Lockung, dieses so inter-
essante und mit der Geschichte in so engem Zusammenhange stehende
Wissensgebiet nachdrücklich anzubauen, überstanden. Doch ist mir
von diesen Neigungen das dauernde Bedürfnis geblieben, die Vor-
stellungen von den geographischen Grundlagen historischen Geschehens
zu möglichster Klarheit herauszuarbeiten, und ich habe diesem Bedürf-
nis auch wiederholt in besonderen Vorlesungen zu genügen gesucht.
Es war mir möglich gewesen, die begonnene Preisarbeit neben
der Lehramtstätigkeit fertigzustellen. Ob sich aber mit dieser Stellung
eine umfassendere wissenschaftliche Beschäftigung werde vereinigen
lassen, mußte zweifelhaft erscheinen. So entschloß ich mich, nicht
ohne schweren Kampf, denn der Lehrerberuf war mir in zehnjähriger
Betätigung lieb geworden, und äußerlich betrachtet bedeutete der Schritt
ein nicht unbedenkliches Wagnis, der Schule den Rücken zu kehren.
Ich übernahm vom hansischen Geschichtsverein die Herausgabe der
dritten Abteilung der Hanserezesse, deren Zeitgrenze ich nach ge-
wonnener näherer Einsicht in den Bestand des Materials selbst be-
stimmen durfte, und deren Veröffentlichung jetzt bis zum 7. Bande
vorgeschritten ist. Schon nach Jahresfrist ist mir dann durch Beru-
fung in die an der Universität Jena neugeschaffene Professur für mittel-
alterliche Geschichte auch wieder ein festerer Halt für die äußere
Existenz gegeben worden. ° In der akademischen Tätigkeit, die ich
seitdem ausüben konnte, haben sich dann die Auffassungen von der
Aufgabe des Geschichtslehrers, über deren Art und Ursprung ich
eingangs Rechenschaft zu geben suchte, fester und fester herausgebildet.
Ich glaube in der Übung des neuen Berufs keinen Anlaß gehabt zu
haben, die frühere Schularbeit zu bereuen.
Die eingehendere Beschäftigung mit der Geschichte der Hanse
war wohl geeignet, den Gesichtskreis nach verschiedenen Richtungen
hin zu erweitern. Umfassende Reisen verschafften mir eine Kenntnis
des um Ost- und Nordsee sich gruppierenden Europa, die die An-
schaulichkeit meiner historischen Vorstellungen außerordentlich geför-
dert hat. Der Blick lenkte sich bald auch auf kolonisierende und
merkantile Tätigkeit überhaupt, und ich habe mich dieser in Vor-
lesungen und Veröffentlichungen mit Lebhaftigkeit und Befriedigung
zugewandt. Sie hat mich in steigendem Maße angezogen, seitdem sie
in unseren Tagen durch völlige Aufteilung der bewohnbaren Erde gleich-
sam auf einen toten Punkt gelangt und, nach menschlichem Ermessen,
vor schwere Entscheidungen gestellt ist. Die Beschäftigung mit der
nordischen Geschichte führte mich vielfach in Fragen, die entlegen
genug waren, um bei ihrer Bearbeitung neben der Neigung ein starkes
Pflichtgefühl zu erfordern. Doch haben sie mir auch die gewaltige
Antrittsreden. 1009
Gestalt Gustav Adolfs nahegebracht, der seine Zeitgenossen in einer
Weise überragte, wie es sonst nur noch von Napoleon gesagt werden
kann, und sie haben mir dadurch ein tiefes Verständnis vermittelt für
die Bedeutung der Persönlichkeit in der Geschichte. Unsere skan-
dinavischen Stammesverwandten haben nicht nur den Retter des Pro-
testantismus aus ihren Reihen hervorgehen sehen, sie haben auch durch
ihr unteritalisches Reich die politische Lage geschaffen, ohne die wir
uns das Emporkommen des Papsttums nicht denken können. Wenn
auf dem Gegensatz zwischen Kaisertum und Papsttum im Mittelalter,
auf dem zwischen Katholizismus und Protestantismus in der neueren
Zeit das rege Geistesleben des Abendlandes gegenüber der Starre des
Orients wesentlich beruht, so haben die entlegenen nordgermanischen
Stämme tief eingegriffen in den Gang der Weltgeschichte. Ich kann
die eingehende Beschäftigung mit ihrer Vorzeit trotz mancher Opfer
und Bedenken nur als einen Gewinn betrachten.
Die Arbeit, die ein Material von dem Umfange des hansegeschicht-
lichen Urkunden- und Aktenbestandes behufs Vorbereitung zur Ver-
öffentlichung erfordert, kann man wohl als trefflich geeignet bezeich-
nen, um mit den anerkannten Regeln historischer Editionstechnik und
mit archivalischer Forschung überhaupt eng vertraut zu machen. Es
liegt für den Geschichtslehrer in der Regel schon in den Aufgaben
seiner Universitätsstellung, daß er sich der landschaftlichen Geschichts-
forschung, die sich ja im letzten halben Jahrhundert so mächtig ent-
wickelt hat, nicht völlig entziehe. So ist es mir in Jena zugefallen,
den Plan zu entwerfen und die Anfangsarbeiten zu leiten für die
Regesta diplomatica neenon epistolaria historiae Thuringiae, die sich
in ihrer weiteren Entwickelung durch ihren überaus fleißigen und tüch-
tigen Herausgeber zu einem der bedeutendsten Quellenwerke mittel-
deutscher Geschichte ausgewachsen haben. In Tübingen konnte ich
als Mitglied der neubegründeten Kommission für die Landesgeschichte
neben anderen Arbeiten die Reihe der » Württembergischen Geschichts-
quellen« eröffnen und für ihre Bearbeitung Grundsätze festlegen, die
für andere landschaftliche Editionsunternehmungen Richtschnur ge-
worden sind. Mehrfach ist die Arbeit in dieser Richtung auch dem
Ausgangsgebiet meiner historischen Spezialinteressen, den Landschaf-
ten der deutschen Küsten, zugute gekommen. Doch würde ich ein
falsches Bild erwecken, wollte ich nicht hinzufügen, daß diese Ar-
beiten und Unternehmungen ganz überwiegend verschiedenen äußer-
lichen Anlässen und Antrieben ihre Entstehung verdanken. Trieb und
Neigung drängten von jeher zur Darstellung; sie erschien mir stets
als letztes und allein würdiges Ziel alles geschichtswissenschaftlichen
Strebens.
1010 Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
Und mit dieser Auffassung steht eine andere Überzeugung in eng-
stem Zusammenhang. Wie ich schon im Vorwort zu meiner Geschichte
der Hansestädte und König Waldemars bekannte, hat mir stets Danr-
manns Wort sonderlich gefallen: » Andere wissenschaftliche Betriebe
mögen den Menschen lehren, sich außer der Zeit zu stellen; die Ge-
schiehtschreibung, welche nicht stark in die Gegenwart dringt, wird
in Phantasterei oder wüstem Sammlerfleiß ersterben.«e Um GEore
Waıtz, der ja auch einer der Ihrigen war, gerecht zu werden, möchte
ich die Bemerkung nicht unterdrücken, daß es diese Äußerung Danr-
MANNS war, die Anlaß gab zu »Schleswig-Holsteins Geschichte« und
damit Waıtz auch unter den Geschichtschreibern einen vornehmen
Platz sicherte. Ich habe mich nicht überzeugen können, daß DauLmanss
Auffassung als eine überwundene anzusehen, daß sie durch Rankes
Art überholt worden und durch sie zu ersetzen sei. Selbstverständ-
lich kommt es mir nicht in den Sinn, die übliche Einschätzung Rankes
kritisieren zu wollen; ich meine, nicht niedriger von ihm zu denken
und nicht kühler für ihn zu empfinden als seine wärmsten Verehrer.
Aber ich habe nicht den Glauben gewinnen können, daß seine Art
nun die Geschichtschreibung überhaupt sei, auch nicht den, daß sich
Regeln von allgemeiner und dauernder Gültigkeit aufstellen lassen für
das Maß der Zurückhaltung, das der Darsteller sich aufzuerlegen hat
gegenüber seinem Stoff, oder gar daß der Darsteller hinter seinem
Stoff völlig verschwinden darf oder soll. Zeiten mit starkem Wollen
werden sich nie das Recht nehmen lassen, die Geschiehte aufzufassen,
wie sie sich ihnen darstellt, und es wird ein vergebliches Beginnen
sein und bleiben, die Geschichtschreibung hinaufrücken zu wollen in
Höhen, in die der Wechsel und Widerstreit menschlicher Ideale nicht
hinaufreicht. Eine Geschichtschreibung, in der eine Persönlichkeit nicht
mehr erkennbar ist, erscheint mir wie ein Körper ohne Seele, und
darüber sind wir wohl alle einig, daß es Rınke völlig fern lag, in
dieser Weise Geschichte schreiben zu wollen oder daß er es je getan
hätte. Das, worin er uns Meister ist und worin wir ihm nachstreben,
die Achtung vor den Tatsachen, die Wahrheitsliebe und Gewissenhaf-
tigkeit der Forschung, das ernste Bemühen, die Zeiten zu verstehen
aus sich selbst, fremde Impulse und Motive nicht unterzuschieben,
das alles kann bestehen neben dem berechtigten Anspruch der eige-
nen Zeit und der eigenen Persönlichkeit, in Darstellung und Auf-
fassung zur Geltung zu kommen. In meinen beiden Bänden zur Ge-
schichte Dänemarks konnte ich an einer bescheidenen Aufgabe mit
Erfolg versuchen, den in wichtigen Fragen scharf voneinander ab-
weichenden Auffassungen der beiden Nationen gerecht zu werden, ohne
mein eigenes Urteil zurückzustellen oder den Dingen und Personen
Antrittsreden. 1011
die innere Teilnahme zu versagen, die sie beanspruchen können. Die
Gegenwart hat unserem Volke nach innen und außen Aufgaben ge-
stellt, die an welthistorischer Bedeutung kaum zurückstehen möchten
hinter jenen, die zur Lösung gelangten durch die Begründung des
Reiches. Ich kann mich nicht davon überzeugen, daß deutsche Ge-
schichtsforschung und Geschichtschreibung diese Sachlage übersehen
können, ohne Einbuße zu erleiden an dem Eintluß, den sie auf die
Entwickelung unseres Volkes oft üben konnten und stets üben sollten.
Historischem Verständnis kann ein starkes Interesse an der umgeben-
den Gegenwart nur förderlich sein. In dieser Überzeugung habe ich
wiederholt zur Feder gegriffen, um in größeren oder kleineren Schriften,
je nachdem mehr wissenschaftlich oder mehr populär, auf das histo-
risch-politische Denken und Empfinden der Mitlebenden einzuwirken.
Ich glaube damit nichts getan zu haben, was selbst vom Standpunkt
strengster Wissenschaftlichkeit aus getadelt werden könnte.
Noch eine Frage möchte ich berühren, um auch in ihr hier
Stellung zu nehmen. In meiner Tübinger Antrittsrede habe ich mich
über das Arbeitsgebiet der Geschichte ausgesprochen und später in
dem Schriftehen Geschichte und Kulturgeschichte meine Ansichten des
weiteren zu begründen versucht. Veranlaßt wurde ich dazu durch
die Beobachtung, die sich mir in der skandinavischen Geschichtslite-
ratur noch mehr als in der deutschen aufdrängte, daß unter dem Lo-
sungsruf Kulturgeschichte Anforderungen an unsere Wissenschaft ge-
stellt wurden, die geeignet waren, sie ihres Inhalts zu entkleiden und
von ihren Grundlagen abzudrängen, nicht so ganz selten, um Trivia-
litäten in den Vordergrund zu schieben. Meine Ansicht kann ich kurz
dahin zusammenfassen, daß es eine Kulturgeschichte, die an die Stelle
der Geschichte treten oder neben ihr eine in sich geschlossene Gesamt-
aufgabe lösen könnte, nicht gibt und nicht geben kann. Was immer man
unter Kultur verstehen mag, nie wird man in Abrede stellen können,
daß Staat und Kirche ihre mächtigsten Faktoren sind und von jeher
waren. Keine andere Institution greift so tief wie diese in das Leben
des Einzelnen wie der Gesamtheit, auch nicht die Gliederung mensch-
licher Kreise, die man sich neuerdings gewöhnt hat unter der Be-
zeichnung der Gesellschaft zusammenzufassen. Der Ergründung staatli-
cher und kirchlicher Verhältnisse hat sich aber geschichtliche Forschung
von jeher ganz überwiegend zugewandt. Daß ihr neues Licht kommen
kann von allen Seiten, wird niemand bestreiten, auch nicht, daß bei
der bisherigen Betrachtung Seiten übersehen oder vernachlässigt sein
können, deren hellere Beleuchtung das Gesamtbild verdeutlicht. In
dieser Erkenntnis wird jeder die zahlreichen und wertvollen Forschun-
gen, die zu einem tieferen Verständnis der verschiedenartigsten Ent-
1012 Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
wiekelungsreihen menschlichen Lebens geführt haben und fortdauernd
führen, als Quellen eines erwünschten Fortschrittes dankbar begrüßen.
Aber Ziel und Mittelpunkt historischer Arbeit wird sein und bleiben
müssen die tiefere Einsicht in den Werdegang von Staat und Kirche,
in Grundlagen und Bedingungen ihrer gedeihlichen Existenz und Ent-
wickelung. Diese Grundanschauung scheint mir völlig vereinbar mit
der größten Hochachtung vor dem Wert und den Ergebnissen histo-
rischer Disziplinen, die sich der Erforschung anderer wichtiger Seiten
des geistigen oder materiellen Lebens der Völker zuwenden. Ich würde
etwas übergehen, was mir wesentlich erscheint, wollte ich nicht hin-
zufügen, daß mir diese Anschauungen befestigt worden sind durch
die Erfahrungen der eigenen Arbeit. Ich habe der hansischen Ge-
schichte nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte meines Lebens gewidmet.
Wirtschaftliche Verhältnisse spielen in ihr eine hervorragende Rolle;
aber je mehr meine Studien sich vertieften, desto klarer wurde die
Einsicht, daß auch in ihr die Entscheidungen fielen durch die Ent-
wickelung der politischen Lage, die Verschiebung der Machtverhältnisse,
die sich unter den in Betracht kommenden Staatswesen vollzog. Es
scheint mir darin eine der wichtigsten allgemeinen Wahrheiten zu
liegen, die man der Geschichte überhaupt abgewinnen kann, und in
der Gegenwart ein Fingerzeig für die Einschätzung aller Maßnahmen
auch des inneren Staatslebens in ihrer Bedeutung für den Bestand
des Ganzen. Wenn ich hinzufüge, daß im Verfolg meiner geschicht-
lichen Arbeit mir die Überzeugung erwachsen ist, daß den ethischen
Kräften eine kaum zu überschätzende Bedeutung im Völkerleben inne-
wohnt, daß die Erhaltung der Fähigkeit, das Ich hinzugeben für die All-
gemeinheit, entscheidend ist für den Bestand der Staaten und Völker, so
glaube ich der Pflicht, Rechenschaft abzulegen über meine Stellung in der
Wissenschaft, die ich vertrete, im wesentlichen genügt zu haben. Ich
darf schließen mit dem Wunsche, daß es mir vergönnt sein möge,
Arbeiten zum Abschluß zu bringen, von denen ich hoffen darf, daß
sie dessen, was aus dieser Werkstatt gelehrten Schaffens hervorgegangen
ist, nicht unwert möchten befunden werden.
Hr. Meyer hielt darauf folgende Antrittsrede:
Wenn es für einen wissenschaftlichen Forscher keine höhere An-
erkennung geben kann, als dass eine zu freier Gelehrtenarbeit ver-
bundene Körperschaft ihn ihrem Kreise einreiht, so wird Niemand
den Dank wärmer empfinden, als ein Historiker, den die Preussische
Akademie in ihre Mitte aufnimmt. - Sind doch von Nırsvar an alle
die grossen Geschichtsforscher und Geschichtsschreiber, die den Stolz
Be
Antrittsreden. 1013
Deutschlands bilden und ihm eine führende Stellung in den historischen
Wissenschaften gewonnen haben, in ihr heimisch gewesen, und noch
vor einem Jahre hat der letzte der gewaltigen Reihe in der vollen geisti-
gen Kraft, die er sich bis in’s höchste Alter erhalten hatte, an dieser
Stätte gewirkt. In die Traditionen eintreten zu dürfen, die solche
Männer geschaffen haben, erfüllt mit freudigem Stolze; zugleich aber
steigert es die Verpflichtung, mit Anspannung aller Kräfte den grossen
Aufgaben zu dienen, welche der Geschichtswissenschaft gestellt sind.
Man hat das vergangene Jahrhundert wohl ein Jahrhundert der
Naturwissenschaften genannt, und Angesichts der beispiellosen Revo-
lution, welche in seinem Verlauf die Naturwissenschaften und vor Allem
die naturwissenschaftliche Technik nieht nur im Denken, sondern in
der gesammten Lebensweise der Culturvölker, in den materiellen Grund-
bedingungen der menschlichen Existenz geschaffen haben, erscheint
diese Bezeichnung gerechtfertigt genug. Aber noch tiefer wird doch
sein innerstes Wesen erfasst, wenn wir es als das historische Jahr-
hundert bezeichnen. In der That, niemals zuvor hat die geschichtliche
Betrachtung in diesem Umfang alle Seiten des geistigen Lebens durch-
drungen, hat man so ernsthaft und so erfolgreich sich bemüht, die funda-
mentalen Probleme des menschlichen Daseins auf geschichtlichem Wege
in ihrer Wurzel und ihrem Wesen zu erfassen, und nie zuvor hat die
geschichtliche Theorie so unmittelbar und so tief in das Leben der
Völker und die Gestaltung der Gegenwart eingegriffen. In keiner Zeit
ist denn auch die Geschichtsforschung in solchem Maasse zugleich
erweitert und vertieft worden, wie in dieser Epoche. Äusserlich tritt
das am sinnfälligsten hervor in der Verschiebung des Anfangs der
Geschichte über Homer und die ältesten Bücher des Alten Testaments
hinauf um mehr als zwei Jahrtausende, wodurch der Umfang des ge-
sicherter historischer Erkenntniss zugänglichen Zeitraums nahezu ver-
doppelt worden ist. Aber es giebt keinen Abschnitt der Weltgeschichte,
der nicht eine innerlich gleichwerthige Vermehrung des Materials sowohl
wie vor Allem des historischen Verständnisses erfahren hätte.
Dieses gewaltige Material zu erschliessen und zu verarbeiten, die
richtige Methode der Behandlung und Interpretation der Quellen aus-
zubilden, die Probleme richtig zu erfassen und ihre Lösung zu ver-
suchen, erforderte die hingebende Arbeit einer unübersehbaren Schaar
von Gelehrten und wird sie in alle Zukunft weiter erfordern. Denn
so reich auch die Ernte an gesicherten Ergebnissen gewesen ist, auch
hier hat sich gezeigt, dass die wissenschaftliehe Discussion ihrem
Wesen nach unendlich ist, und dass wo eine Generation schon geglaubt
hat fast am Ziele zu sein, die nächste in ihren Resultaten nur neue
Probleme erkennt und gerade bei dem einsetzt, was jene als selbst-
1014 Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
verständliche Voraussetzung betrachtet hat, dass sie von hier aus auch
die alten Fundamente nachprüfen und oft genug den Bau von Grund
aus neu aufführen muss. Die Arbeit, die hier auf dem unendlich er-
weiterten Gebiet zu leisten war, überstieg und übersteigt weitaus die
Kräfte des Einzelnen: aus der Einheit der Universalgeschichte er-
wuchsen zahlreiche Einzelwissenschaften, und auch diese haben sich
immer wieder von Neuem getheilt und verästelt. Arbeitstheilung, Be-
schränkung des Forschers auf ein einzelnes Gebiet und weiter auf einen
Bruchtheil dieses Gebiets, und als unentbehrliche Ergänzung dazu
das organisirte Zusammenarbeiten Vieler an der Sammlung und Verar-
beitung des Materials für jeden einzelnen Zweig der historischen Wis-
senschaften wurde auch hier die Losung. Neben, ja geradezu an Stelle
ler Universalität eines Ranke und Droysen, die den Blick immer auf
das Ganze und die allgemeinen Zusammenhänge gerichtet hielten, trat
der Specialist. Und Gewaltiges ist auf diesem Wege geleistet worden:
die grossen Unternehmungen, welche diese Akademie in’s Leben ge-
rufen hat, und die auf keinem anderen Wege hätten geschaffen werden
können, sind ein unvergängliches Zeugniss dieser Entwickelung und
des unermesslichen wissenschaftlichen Gewinns, den wir ihr verdanken.
Aber wir dürfen nicht verkennen, dass damit nur die eine Seite
der Aufgabe der Wissenschaft erfüllt wird. Neben dem Gewinn haben
auch die Schattenseiten sich fühlbar gemacht, die Isolirung, die Auf-
lösung des in seinem innersten Wesen doch einheitlichen Arbeitsgebiets
in zusammenhangslose Theile, die Unterdrückung der lebenskräftigen
Individualität des Forschers, die Gefahr, dass die Detailarbeit den
Compass verliert, den ihr allein der Zusammenhang mit dem grossen
Ganzen gewähren kann, aus dem sie erwachsen ist, und die noch
viel grössere Gefahr, dass die Wissenschaft, die der Culturwelt die
Ergebnisse ihrer Forschung erschliessen will und soll, die Fühlung
mit dieser verliert und die Wirkung nicht mehr ausüben kann, die
zu üben sie berufen ist. Ich glaube mich nicht zu täuschen in der
Annahme, dass in der Gegenwart die Thatsache klarer zum Bewusst-
sein kommt, dass die Specialisirung und die organisirte wissenschaft-
liche Arbeit, wenn die höchsten Aufgaben der Wissenschaft erfüllt
werden sollen, der Ergänzung bedürfen durch eine lebendige zusammen-
fassende Gestaltung. Diese kann immer nur aufgebaut sein auf die
sorgfältigste und gewissenhafteste Detailarbeit; aber wenn dies der
Nährboden ist, auf dem sie erwächst und der allein ihr den wissen-
schaftlichen Charakter zu verleihen vermag, so hat sie auf der anderen
Seite das Recht und die Pflicht, die Probleme, die jene an dem Einzel-
fall erkennt, in ihren grossen Zusammenhang zu stellen und von hier
aus ihre Lösung zu versuchen.
Antrittsreden. 1015
Durch den Entwickelungsgang, der mir beschieden gewesen ist,
habe ich mich von Jugend auf auf diese Seite gewiesen gesehen. Ich
habe in meinem Leben Vielen und für Vieles zu danken; wenn ich
aber an dem heutigen Tage einen Dank aussprechen darf, so gilt er
der Erziehungsanstalt, aus der ich hervorgegangen bin, der Hamburger
Gelehrtenschule, einer Anstalt, die in ihren Vorzügen und auch in den
Gebrechen, die nach menschlicher Art damit verbunden waren, der
Jüngeren Generation schon jetzt als unverständlich und als ein Mythus
erscheinen wird. Sie wollte eine Vorbereitungsschule sein für das
Universitätsstudium, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Was ilıre
Schüler ihr verdanken, ist die Erziehung zu ernster wissenschaftlicher
Arbeit und zu früher Selbständigkeit und geistiger Unabhängigkeit.
Dass das Geschichtsstudium mein Lebensberuf sein müsse, hat für
mich festgestanden, sobald derartige Fragen überhaupt in mir lebendig
wurden; und immer ist es mein Streben gewesen, die Geschichte als
Ganzes, als Universalgeschichte zu erfassen. Eine Beschränkung erwies
sich allerdings alsbald als nothwendig. Dass ich mich der Geschichte des
Alterthums zuwandte, war für den Sohn eines Philologen, dem hier von
Anfang an die Quellen in reichem Umfang zu Gebote standen, begreiflich
genug. Die Versuchung, der so mancher Andere erlegen ist, zur neueren
Geschichte überzugehen, ist an mich nie herangetreten: der gewaltige
Reiz, den der Gegenstand selbst ausübte, wurde verstärkt durch ein leb-
haftes Interesse für das Sprachstudium und vor Allem für die Probleme
der Religionsgeschichte. Der Gedanke, die Geschichte des Alterthums in
ihrem ganzen Umfang durchzuarbeiten und einheitlich darzustellen, ist
sehr früh in mir lebendig geworden; während meiner Studienzeit durfte
ich mich dann ganz der unentbehrlichen Vorbereitung, dem Studium der
orientalischen Sprachen, widmen. So konnte ich alsbald daran gehen, mit
der Ausführung meines Planes zu beginnen: und dieses Werk wird auch
in Zukunft meiner wissenschaftlichen Thätigkeit die Richtung geben.
Um jedoch einer derartigen Aufgabe einigermaassen genügen zu
können, ist die allseitige Anregung und Förderung unentbehrlich, welche
die Grundlage deutscher Gelehrtenarbeit, der rege geistige Austausch
gewährt, den die freien Verkehrsformen des Universitätslebens bieten.
An den Stätten, wo ich bisher zu wirken berufen war, habe ich diese
Anregung und Förderung im reichsten Maasse gefunden. Dass mir
die Akademie eine neue Stätte solcher gemeinsamen Arbeit und
lebendigen wissenschaftlichen Austausches eröffnet hat, dafür fühle
ich mich ihr zum wärmsten Danke verpflichtet.
Den HH. Scnärer und MEvEr antwortete Hr. Vanten als Seeretar
der philosophisch -historischen Classe.
1016 Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
Hierauf sprach Hr. W. ScHuLzE:
Die indogermanische Sprachwissenschaft hat in der Berliner Aka-
demie eine so ruhmreiche Tradition, dass sie den Neuling, der als
ihr Vertreter in diesem Kreise seinen Platz einzunehmen sich anschickt,
nothwendig bedrücken muss. Die glücklichsten Entdecker, die stärk-
sten Anreger und die erfolgreichsten Forscher, die die noch kurze Ge-
schichte seiner Wissenschaft nennt, haben der Akademie angehört und
ein Erbe hinterlassen, dessen Reichthum seinen Verwalter zu Grösserem
verpflichtet, als ich zu leisten versprechen darf. Doch die Wissen-
schaft braucht viele willige Hände und Arbeiter von mancherlei Art
und Begabung: sie gönnt, grade nach grossen und folgenreichen An-
fängen, wohl auch der geringeren Kraft die Freude fördernder Mit-
arbeit, wenn sie nur geleistet wird in dem Bewusstsein des lebendigen
Zusammenhangs mit dem Ganzen.
Die Grammatik, wenigstens im Culturkreise des Mittelmeers, hat
sich entwickelt am geschriebenen Worte; die Umwandelung der Bilder-
schrift in Lautschrift war selbst schon eine der ersten und grössten
grammatischen Leistungen, indem sie die menschliche Rede in ihre
letzten Lautelemente zerlegte.e Denn alle Grammatik ist im Grunde
nichts als Zerlegung, ein Wiederauflösen des von der Natur kunstvoll
Zusammengefügten. Griechen fanden Jahrhunderte später die Analyse
des Satzes und bestimmten die Functionen seiner einzelnen Theile in so
vorbildlicher Form, dass ihre Terminologie sich, freilich in lateinischer
Entstellung, dauernd behauptet. Aus der indischen Wissenschaft aber
stammt die Kunst, auch das Einzelwort selbst, vor dem die europäische
Grammatik in vollkommener Rathlosigkeit Halt gemacht hatte, in die
natürlichen Elemente seines Aufbaus zu zergliedern. Franz Borr, den
wir als den Begründer der indogermanischen Sprachwissenschaft an-
zusehen gewöhnt sind und mit Recht als einen der grössten wissen-
schaftlichen Entdecker preisen, verdankt grade dieser von den Indern
gelernten Kunst seine stärksten und erstaunlichsten Erfolge.
Die Grammatik als Analyse ist nur eine Vorläuferin und Dienerin
der Sprachwissenschaft, der Wırkerm von Humsorpr Ziel und Weg vor-
ausschauend gewiesen hat. Noch thut sie die ersten Schritte auf diesem
Wege und sieht ihr Ziel nur in der Ferne; denn ungestümen Fragern
versagt sich die Sprache und weigert dreister Neugier die Antwort.
In langer geduldiger Arbeit gilt es die unabsehbare Fülle des Sprach-
stoffes von allen Enden der Welt zu beschaffen und jede Sprache und
Sprachengruppe durch alle Mittel der Beobachtung und Untersuchung
zu allmählicher Offenbarung ihrer äusseren und inneren Zusammen-
hänge zu zwingen. Am weitesten gefördert scheint die Arbeit auf
Antrittsreden und Erwiderunsen. 1017
dem Gebiete der indogermanischen Sprachen, durch Keinen gewaltiger
und nachhaltiger als durch den Mann, der als der Erste diese Aufgabe
der Wissenschaft in grossem Sinne, den Muth zum Höchsten und die
Liebe zum Kleinsten glücklich vereinend, ergriffen hat, durch Jacog
Grm. Nirgendwo anders sind aber auch die Bedingungen für den Er-
folg günstiger. Denn das Object der Untersuchung, das heisst hier die
ganze indogermanische Sprachengruppe, zeigt eine so reiche und glück-
liche Gliederung der Theile, dass jeder vom andern Licht zu em-
pfangen und an ihn zurückzugeben scheint, und eine unendliche Kette
schriftlicher Denkmäler gestattet die Entwickelung von Jahrtausenden
aus einem Punkte der Betrachtung zu überschauen. Die Eigenart ihres
Stoffes fordert von der indogermanischen Sprachforschung, wenn ich
die ihr durch die Gunst der Umstände zugefallene besondere Aufgabe
recht verstehe, dass sie sich zu allererst als eine historische Diseiplin
fühle. Die unter einander verwandten Sprachen durch alle Stufen ihrer
geschichtlichen Entwickelung vergleichend zu verfolgen, den Voraus-
setzungen und Wirkungen jeder besonderen Entwickelung nachzu-
spüren, die geheimnisvolle Nothwendigkeit und Gesetzmässigkeit, die
in aller Sprachgeschichte verborgen herrscht, beobachtend aufzu-
decken, ist ihre vornehmste Aufgabe, die schriftliche Überlieferung der
Vergangenheit ihr dankbarstes und aufschlussreichstes Untersuchungs-
material. Hier berührt sich die Sprachforschung mit der Philologie,
mit der sie den Stoff ganz und auch einen beträchtlichen Theil der
wissenschaftlichen Interessen gemeinsam hat. Denn ohne Zweifel ge-
hört die Sprache, als unmittelbarster Ausdruck der nationalen oder
individuellen Eigenart und als litterarisches Kunstmittel, auch der Philo-
logie, und vielleicht muss die Sprachforschung sogar eine der feinsten
und zartesten Aufgaben ohne Concurrenz für immer jener überlassen,
den Nachweis, wie sich die Einzelindividualität in dem überlieferten
Sprachstoffe ausprägt und wie die bedeutende Persönlichkeit ihn um-
prägt und bereichert. Aber unmöglich kann die Sprachwissenschaft
sich auf die Dauer auch von der Pflicht selbständiger Durchforschung
der Überlieferungsmassen entbinden, die sie aus leicht begreiflichen
Gründen bisher noch auf weiten Gebieten der so viel älteren Philologie
hat überlassen müssen. Die Wissenschaft duldet keine mechanische
Arbeitstheilung. Jede Abhängigkeit bedeutet Hemmung und Beschrän-
kung. Ich brauche das Wort nicht zu scheuen, dass die Sprachfor-
schung sich überall von der Philologie unabhängiger machen muss
als bisher; denn ich weiss, dass sie diese Unabhängigkeit nur ge-
winnen kann, wenn sie von der Philologie so viel zu lernen sich be-
müht, wie sie für ihre besonderen Zwecke braucht. Das erst wird
die rechte Art des Zusammenarbeitens sein für die beiden schon dureh
1018 Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
die Gemeinschaft des Stoffes eng verbundenen Diseiplinen, zugleich
die Überwindung der Gegensätze, die sie etwa trennen. Die Freude
des Beobachtens, die einst das Genie Jacog Grinus beflügelt und in
raschem Siegeslauf von Triumph zu Triumph gerissen, scheint nicht
immer auf demselben Boden zu gedeihen mit der Lust und Kunst des
Systematisirens, der die Sprachforschung der Gegenwart so bedeutende
Förderung verdankt. Wenn ich mich nicht täusche, hat diese Kunst
des Ordnens und Bauens schnellere und entschiedenere Fortschritte
gemacht als unsere Thatsachenkenntniss, die doch unendlicher Er-
weiterung und Vertiefung fähig und dringend bedürftig ist. Mancher,
der heute voll Eifer und Begabung aus alten Bausteinen immer neue
sprachgeschichtliche Construetionen aufführen hilft, bedenkt nicht,
welehe Fülle ungehobener Schätze überall in den tiefen Schachten der
Überlieferung schlummert und des Arbeiters harrt, der sie zu Tage zu
fördern willig und geschickt ist. Von diesem Reichthum, der sich nur
den vereinten Anstrengungen Vieler erschliessen wird, zu bergen und
für die geschichtliche Forschung nutzbar zu machen soviel sich meinen
Augen und Händen erreichbar zeigt, ist das Streben meiner Arbeit,
deren Riehtung wesentlich mit bestimmt worden ist durch frühe Be-
rührung mit der Philologie.
Von verschiedenen Seiten und auf vielen Wegen zugleich muss
sich die indogermanische Sprachforschung ihrem Ziele nähern. Nur
wenige kann der Einzelne betreten. An der Sprache Homers habe ich
zuerst das Problem der sprachgeschichtlichen Entwickelung von ferne
zu ahnen begonnen, und wenn ich auch lockenden Seitenwegen nicht
immer widerstanden habe, bin ich im Herzen doch den Griechen treu
geblieben, deren Sprache mir, ich frage nicht ob mit Recht oder mit
Unrecht, heute wie immer als die höchste Manifestation des sprachbil-
denden Menschengeistes erscheint. Meine Arbeit wird im Innern zu-
sammengehalten durch den freilich nie realisirbaren und doch wie
ein Sporn wirkenden Wunsch, die Geschichte dieser Sprache, ihrer
Anfänge, ihrer Grösse, ihres Verfalls, als ein Ganzes zu überschauen.
Doch in der Schule Jomannes Scumiprs habe ich gelernt, dass keine
Sprache aus sich selbst, jede nur aus der Gesammtheit aller verwandten
verstanden werden kann. So weitet sich das Studium einer einzel-
nen Sprache mit innerer Nothwendigkeit zum vergleichenden Sprach-
studium, unter dessen vollerem Lichte sich oft die verworrensten Ver-
hältnisse wie von selbst zu dem Eindrucke der Ordnung und Gesetz-
mässigkeit zurechtrücken. Dies Licht, das gleichsam den sprachlichen
Erscheinungen innewohnt, doch gröberen Sinnen nicht wahrnehmbar
wird, einzufangen und auf den Punkt zu sammeln, an dem es die
seiner Natur gemässe ordnende Wirkung hervorbringen muss, das ist
Antrittsreden und Erwiderungen. 1019
die Kunst, die in ihrer Vollendung den grossen Sprachforscher macht.
JoHAnNnes Schuipt hat sie besessen und geübt wie ganz wenige vor
ihm und neben ihm. Instinetartig fühlte er hinter der verwirrenden
Buntheit der Erscheinungen die strenge Einheit des Gesetzes und zog
sie durch die zwingende Kraft seiner Untersuchung aus allen Hüllen
siegreich an’s Licht. Den vollen Ertrag lebenslanger Arbeit glücklich
einzubringen ist ihm versagt geblieben, aber in dem, was er hinter-
lassen, lebt die erziekerische Wirkung seiner Lehre und seines Bei-
spiels kräftig fort und wird sich auch in der Zukunft an vielen Jün-
gern der Sprachwissenschaft stets von Neuem bewähren. Die Lücke,
die sein Tod gerissen, kann ich, den das Vertrauen der Akademie
auf seinen Platz berufen, nicht ausfüllen; doch der Wissenschaft, in
die er mich eingeführt, in seinem Sinne, wenn auch auf anderen
Wegen nach meinen Kräften dienen zu wollen, darf ich versprechen,
und ich glaube meinen Dank für die Aufnahme in die Akademie durch
nichts Anderes besser bethätigen zu können.
Hrn. W. Scuurze erwiderte Hr. Diers:
Wenn die alte Sitte der Akademie, die Einführung der neuen Mit-
glieder und zugleich die Ehrung der hingeschiedenen auf den Leisxiz-
Tag verlegt, so hat dies eine innere Berechtigung. Wir fühlen uns
dem Stifter bei seinem Feste besonders nahe, wir überlegen im Stillen,
ob er wohl zufrieden sein dürfte mit der Entwickelung seiner Schöpfung,
und mit ihm denken wir heute alle Heroen der Wissenschaft uns geistig
nahe, die den Ruhm unserer Akademie seit zwei Jahrhunderten aus-
machen. Auch ihr Auge fühlen wir in dieser Stunde prüfend auf
uns ruhen, ob wohl der Nachwuchs, der sich heute feierlich der Aka-
demie und der Öffentlichkeit vorstellt, um in die entstandenen Lücken
einzutreten, den großen Traditionen der Vergangenheit entsprechen
werde.
Diesen prüfenden Blick der Unsichtbaren fühlt jeder Neueintretende
auf sich ruhen. Sie haben daher einer natürlichen Empfindung Aus-
druck verliehen, Hr. Kollege, wenn Ihr erster Gedanke den großen
Toten galt, die vor Ihnen an dieser Stätte tätig waren. Gerade diese
jüngste unter ihren Schwestern, die Sprachwissenschaft, ist beinahe
ganz eine Errungenschaft unserer Akademie. Die universale Richtung
der Forschung, die über die Kultursprachen hinausgreifend alle mensch-
liche Rede belauscht und ihren gemeinsamen Gesetzen nachspürt, hat
hier in Winsen von Hungorpr ihren Ausgangspunkt: weiter die spe-
ziellere Richtung der indogermanischen Sprachvergleichung hat Borr,
der Kopernikus dieses Gebietes, genial begründet und 45 Jahre hin-
1020 Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
dureh in unserer Akademie glänzend vertreten; endlich die allerspe-
ziellste Erforschung der trauten Heimatsprache hat unser Jacog Grm
mit urdeutschem Gemüte erfaßt und mit universaler Gelehrsamkeit
durchgeführt.
Ihnen reiht sich würdig ein jüngerer Forscher an, dessen Lebens-
faden die neidische Parze leider viel zu früh abschnitt, JomAannes
Scmumpr, auch er einer von den Helden Ihrer Wissenschaft, den man
immer im dichtesten Schlachtgetümmel, wo um die Entscheidung ge-
fochten wurde, als Vorkämpfer erblickte. Als nach Borrs Tode jene
»Katastrophe« der vergleichenden Sprachwissenschaft hereinbrach, die
Scnmpr selbst mitherbeiführen half, als das ganze Fundament des indo-
germanischen Vokalismus zusammenstürzte, da hat er mit einer sel-
tenen Vereinigung von kühnem Wagemut und behutsamster Umsicht,
mit umfassendem Überblick über das Ganze und mit treuester Ver-
senkung in das Kleine und Einzelne den Neubau an erster Stelle ge-
leitet und mit herber, bisweilen allzu herber Strenge die Mitarbeiter
am Bau zu solider Arbeit angehalten. Durch diesen Umschwung
der Wissenschaft kam das Altindische, das bisher auch in Scamipts
Studien den Vorrang behauptet hatte, in das Hintertreffen und das
Griechische mit seinem ursprünglicheren Vokalismus trat in den Vorder-
grund. Die Bibel der Hellenen ward auch die Grundlage der Sprach-
vergleichung. So war es noch nicht, als ich bald nach Borrs Tode
als erster Schüler zu den Füßen von Jouasses Schmipr sitzen durfte.
Aber immer deutlicher erkannte und predigte er es seinen Schülern,
daß ohne gründlichste Kenntnis der wichtigeren Einzelsprachen alle
Mühe vergebens sei.
Dies fiel bei den Jüngern auf empfänglichen Boden. Hieraus er-
wuchsen Ihre (Quaestiones epicae, ein Werk ganz Schmiprscher Art,
kühn vordringend und zugleich vorsichtig, eine unerschöpfliche Fund-
grube der Belehrung für Linguisten wie Philologen, da Sie beiden Seiten
der Behandlung gleichmäßig gerecht zu werden verstanden haben.
Jetzt überreichen Sie beim Eintritt in die Akademie ein zweites,
noch gewichtigeres Werk Zur Geschichte lateinischer Eigennamen, das
Ergebnis langjähriger, entsagungsvollster Arbeit, das Sie auf italischem
Sprachgebiet nicht minder umfassend und nicht minder kühn vorwärts
strebend zeigt als Ihr erstes Homer gewidmetes Buch. Ihr neues Werk
ist ein bedeutungsvoller Versuch von der Vertiefung in die Sprache
aus die Geschichte Roms und Italiens aufzuhellen, ein Beweis, daß
Sie als Sprachforscher sich vor allen Dingen als Historiker fühlen.
Weitab weisen Sie die willkürliche Grenzregulierung, welche die eigent-
liche Historie wie mit einem Pfahlgraben vor dem Einbruch der Lin-
guisten und Philologen schützen will. Nein, Sprachwissenschaft und
Antrittsreden und Erwiderungen. 1021
Philologie sind auch da, wo sie nur mit der Sprache selbst zu ar-
beiten haben, vor allem historische Wissenschaften. Nur in der ge-
schiehtlichen Entwickelung enthüllen sich die immanenten Gesetze der
Sprache und der darunter verborgenen Volksseele. So betrachtet ist
Sprachen- und Literaturgeschichte nur ein Teil der Gesamtentwickelung
des Menschengeistes, die zu verstehen die Aufgabe der walıren Historie
ist. Es gibt Epochen, wo die Menschen schweigen und die Steine reden.
Es gibt aber auch andere, wo die Steine und die Vasen und die son-
stigen Kulturerzeugnisse stumm bleiben, und die Geschichtsforschung
vor einem Rätsel steht, solange -es nicht gelingt, die Menschen zum
Reden zu bringen. So steht es mit der sogenannten mykenischen
Zeit. Möchte es Ihrer soeben an den Italikern bewährten Forschung
gefallen und gelingen, die alten, bisher stummen Namen von Hellas
erklingen zu lassen und dadurch die immer verworrener werdende
Geschichte der vorhomerischen Kultur aufzuhellen. Hier winkt Ihrer
Forschung, die ja die Liebe zu den Griechen noch eben betont hat,
ein hohes Ziel.
Doch sei es, daß Sie diese onomatologischen Forschungen fort-
setzen, sei es, daß Sie andere, vielleicht noch dringendere Aufgaben
zu lösen sich anschicken, die Akademie wird sich freuen, wenn Sie
ihr die Früchte Ihrer Arbeit darbieten. Denn sie kennt den Baum,
der sie hervorbringt, und den Gärtner, der ihn pilanzte.
Sodann sprach Hr. Braspr:
Indem die Akademie zum ersten Male einem Vertreter der eng-
lischen Philologie die Pforten erschließt, wendet sie diesem noch jun-
gen Fache eine Anerkennung zu, für die zu danken mir eine freudige
Pflicht ist. Obwohl ein Landsmann aus Heidelberg, den der dreißig-
jährige Krieg nach Oxford vertrieb, zur sprachvergleichenden Auf-
hellung des Englischen den Weg zeigte — ich meine den Polyhistor
Junsus —, und obwohl JAkoB Grımm in seiner deutschen Grammatik
dem Angelsächsischen den gebührenden Platz einräumte, ist das eng-
lische Studium in unserem Vaterlande doch erst seit einem halben
Jahrhundert zu wissenschaftlicher Selbständigkeit gelangt. Ja, die Ver-
bindung linguistischer mit literarischer Forschung, die wir Philologie
nennen, trat erst in unserer Zeit durch ren Brink in die Erscheinung,
den es mich drängt, an dieser Stätte sogleich mit Verehrung zu nennen.
Durch die Wahl in die von Lrisnız geschaffene Akademie vollendet
sich jetzt die Einbürgerung der Disziplin in unser Gelehrtensystem.
Da meine Lernjahre noch in die Zeit fielen, in der das anglisti-
sche Universitätsstudium nicht ausgebildet war, hatte ich mit klassi-
Sitzungsberichte 1904. 86
1022 Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
scher und deutscher Philologie anzufangen, bin aber heute froh, daß
ich diesen Umweg machen mußte. Vielleicht wären mir in meiner tiroli-
schen Heimatstadt die Hindernisse zu groß erschienen, wäre mir nicht
an Avorr Pıcuter ein väterlicher Freund befreiend und bereichernd
zur Seite gestanden. In Wien lernte ich durch Hemzer, was alt-
germanische Philologie bedeutet, und gewann durch ScHiprer eine Vor-
stellung von den vielen lockenden Aufgaben, die auf anglistischem Ge-
biete noch zu lösen wären. An der hiesigen Hochschule hatte ich
das Glück, drei Männer vereinigt zu finden, die auf eine nie dage-
wesene Weise die germanistische Gelehrsamkeit umspannten: MürLEn-
HOFF war nicht bloß ein Kenner, sondern eine Verkörperung des alten
Reckenwesens; Zurırza gab exakteste Schulung im Altenglischen;
Wirserm Scherer endlich dehnte mit bewundernswerter Energie die
deutsche Philologie, die er von den sprachgeschichtlichen Grundfragen
an beherrschte, bis zu den Dichtern des Tages herab aus und wurde
mir besonders dadurch vorbildlich für die eigenen Unternehmungen
auf englischem Gebiete. Nach seinem Beispiel vertiefte ich mich zu-
nächst in die ältere Sprachperiode, durch die kritische Ausgabe einer
mittelenglischen Romanze, und ging dann zu einem Problem der neueren
Literatur über, zu dem Einfluß, den unsere deutschen Klassiker auf
die englischen Romantiker ausübten, woraus eine Monographie über
S. T. Coleridge erwuchs. Für Paurs Grundriß versuchte ich es, die
Denkmäler von der normannischen Eroberung bis zur Reformation nach
Dialekten zu ordnen und ihre literarische Entwicklung zu skizzieren,
sowie eine Geschiehte der englischen Volkspoesie zu geben. In der
Erkenntnis, daß alle Fäden des Faches bei Shakespeare zusammen-
laufen und durch ihn das meiste Interesse erlangen, wandte ich mich
hierauf für ein Jahrzehnt fast ausschließlich ihm zu, entwarf ein po-
puläres Bild seiner Persönlichkeit, veröffentlichte unzugängliche dra-
matische Vorstufen, ging auch seinen Beziehungen zum Altertum und
seinen Theaterverhältnissen nach, um seine künstlerischen Schaffens-
bedingungen etwas mehr aufzuklären. Der gewöhnlichen Gefahr, über
der Mannigfaltigkeit der behandelten Fragen die Genauigkeit der Aus-
führung leiden zu lassen, bin ich dabei nicht entgangen. Um so er-
wünschter war es mir, im Kreise der Deutschen Shakespeare -Gesell-
schaft Unterstützung und Mitarbeit zu finden. Wird auch die individuelle
Leistung immer die wertvollste bleiben, so macht doch das stete Wachs-
tum aller Wissenschaften, woneben die Kraft der Menschen nicht wächst,
eine Mehrheit von Helfern mehr als jemals notwendig. Darum hoffe
ich, daß die englische Philologie erst recht durch die Fühlungnahme
mit der großen Arbeitsorganisation der Akademie praktische Förderung
gewinnen wird.
Antrittsreden und Erwiderungen. 1025
Noch eine Erwägung möchte ich bei dieser Gelegenheit ausspre-
chen. Wenn jetzt breitere Massen und lateinunkundige Universitäts-
hörer sich zu den englischen Studien herandrängen, so ist dies nicht
ohne Gefahr für die Tiefe der Forschung. Und doch sind viele Prin-
zipien der Sprach- und Literaturgeschichte am besten in den modernen
Philologien aufzuhellen, wo man die Sprache noch hört und die Autoren
unmittelbar beobachten kann. Daß der Anglist vor lauter Sprechübungen
und Realien und ähnlichen gewiß nützlichen Dingen nicht aufzuhören
hat, Philologe zu sein, konnte durch nichts kräftiger betont werden
als durch seine Aufnahme in die Akademie. Solch moralischer Unter-
stützung in kritischer Zeit gilt mein wärmster Dank.
Hrn. Branpr antwortete wiederum Hr. Dieıs:
Die Akademie begrüßt in Ihnen, Hr. Branpr, nicht nur den Ge-
lehrten reicher Frucht und reicherer Hoffnung, von dessen Wissen
und Kraft sie vielseitige Förderung ihrer Bestrebungen erwartet, son-
dern auch vor allem den Vertreter des Faches, das allzulange in un-
serer Mitte unvertreten war. Denn die englische Philologie hat sich
in den letzten Jahrzehnten mehr durch deutsche als durch heimische
Forscherarbeit so reich und so mannigfach entwickelt, daß sie jetzt
zumal, wo sich der germanische Kreis innerhalb unserer Akademie
abrundet, nicht länger ohne Schaden fehlen darf. Wenn es in der
Natur der modernen Entwickelung liegt, die antiken, vordem allein
wissenschaftlich gepflegten Sprachen in den Hintergrund zu drängen
und die neuen Kulturen mit gesteigerter Aufmerksamkeit zu betrach-
ten, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß England unter den
modernen Völkern für uns jetzt die wichtigste Stelle einnimmt. Wie
die altenglische Literatur zu dem nur allzu kärglichen Schatz alt-
germanischer Sangeskunst bei weitem mehr und wertvolleres bei-
steuerte als davon in Deutschland selbst erhalten ist, so hat Englands
durch die Renaissance befruchtete Poesie und Philosophie unter allen
Völkern Europas den allerbedeutendsten Einfluß auf Deutschland aus-
geübt. Welche ungeheure Anregung ging von SHAKESPEARE und seinen
Genossen aus, die mitsamt der englischen Volkspoesie das wirksamste
Ferment der Erneuerung unserer eigenen Dichtkunst bilden; welche Um-
wälzung der Wissenschaft knüpft sich an die Namen Bacon, Newron und
BentLeY, die nicht etwa darum so bedeutend wirkten, weil sie alles-
überragende Genies waren (unser Leıssız konnte als einziger den dreien
zugleich die Spitze bieten), sondern deshalb, weil diese englischen
Forscher nicht allein standen, weil sie eine Nation hinter sich hatten,
die sie verstand! So ist von hier aus der moderne poetische Stil
86*
1024 Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
und die moderne wissenschaftliche Anschauung über Europa ausge-
strömt, und weder unsere klassische Poesie noch unsere klassische
Philosophie ist ohne die großen Engländer des 17. und 18. Jahr-
hunderts denkbar oder verständlich.
Seitdem ist Deutschland in den Stand gesetzt worden, was es
dem Inselvolke direkt oder indirekt verdankt, in gleichwertigen Lei-
stungen zurückzuzahlen, und es kämpft jetzt mit den beiden großen
westlichen Kulturnationen unter annähernd gleichen Bedingungen um
den Preis. Aber je heftiger sich dieser friedliche Wettkampf auf allen
Gebieten entwickelt, um so nötiger ist es, die Stärken der Rivalen
und ihre Waffen kennen zu lernen, um so wichtiger ist es aber auch,
in die Tiefe zu graben und die gemeinsamen Wurzeln zu untersuchen,
aus denen dieser Sproß germanischer Abkunft emporgewachsen und
in insularer Abgeschlossenheit zu einer durchaus eigenartigen Bildung
gelangt ist.
Diese Bildung erstreckt sich jetzt soweit das britische Banner
weht, d.h. über die ganze Welt. Das unvergleichliche Kolonisations-
geschick dieser Weltkaufleute hat überallbin über die Erde englische
Sitte und Sprache verbreitet, und in ihrer ehemaligen Kolonie jen-
seits des Ozeans, die seitdem selbständig entwickelt und zu unge-
ahnter Bedeutung emporgediehen ist, hat dieselbe Sprache und Kultur
einen neuen Siegeslauf angetreten, dessen Ziel und Ende abzustecken
niemand sich vermessen wird.
So verdient auch diese neueste amerikanische Phase der eng-
lischen Entwickelung die größte Aufmerksamkeit, zumal dieses jugend-
lich aufstrebende Volk immer mehr auch zum Wettbewerb um geistige
Güter mit den europäischen Kulturnationen in die Schranken tritt und
mit großem Sinn und großen Mitteln die Wissenschaft zu fördern ent-
schlossen ist.
Diesen neuen, nach seiner geschichtlichen wie geographischen Aus-
dehnung fast unübersehbaren, für die moderne Welt, besonders aber
für Deutschland in erster Reihe bedeutungsvollen Kreis der englischen
Kultur und Literatur in den Zusammenhang unserer akademischen
Fächer einzuordnen und der jungen Wissenschaft durch Strenge der
Methode und Bedeutung der Ergebnisse Ansehen unter ihren älteren
Geschwistern zu verschaffen, das ist die dankbare, aber nicht leichte
Aufgabe ihres ersten Vertreters, als welchen wir Sie, Hr. Branpr, den
um alle Epochen und Richtungen der Anglistik gleichmäßig bemühten
und dureh vielseitige Leistungen erprobten Gelehrten, willkommen heißen.
Preisaufgaben. 1025
Hierauf hielt Hr. Hırscurerp eine Gedächtnissrede auf TmEopDor
Monnsen.
Schliesslich erfolgte die Mittheilung des Preisausschreibens aus
dem Erzer' schen Legat für 1909, der Preisaufgabe der CnArRLOTTEN-
Stiftung für 1905, der Preisvergebung der Dırz-Stiftung 1904,
der Preisausschreibung der Graf Lousar-Stiftung für 1906 und des
E. Geruarn-Stipendiums für 1905.
Preisausschreiben aus dem Errer’schen Legat.
In der Leigsız-Sitzung des Jahres 1895 (30. Juni) hat die Aka-
demie folgende, bereits am 30. Juni 1892 gestellte Preisaufgabe, jedoch
in abgeänderter Form, von Neuem ausgeschrieben:
»Es soll eine neue Methode zur Bestimmung der Solarconstante an-
gegeben, oder eine der bekannten Methoden soweit verbessert werden,
dass in den zu verschiedenen Zeiten des Jahres angestellten Beobach-
tungen der Eintluss der veränderlichen Entfernung zwischen Sonne und
Erde unzweideutig erkennbar ist.
Die gewählte Methode soll durch ausreichende, mindestens drei
Perihelien und drei Aphelien umfassende Beobachtungsreihen geprüft
werden. «
Es ist auch diesmal keine Bewerbungsschrift eingelaufen, und die
Akademie zieht die Aufgabe nunmehr zurück.
Sie schreibt dagegen folgende neue Preisaufgabe aus:
»Die Akademie verlangt Untersuchungen über die unsern Süss-
wasserfischen schädlichen Myxosporidien. Es ist alles, was von der
Entwicklung dieser Parasiten bekannt ist, übersichtlich zusammenzu-
stellen und mindestens bei einer Species der vollständige Zeugungs-
kreis experimentell zu ermitteln.«
Der ausgesetzte Preis beträgt viertausend Mark.
Die Bewerbungsschriften können in deutscher, lateinischer, franzö-
sischer, englischer oder italiänischer Sprache abgefasst sein. Schriften,
die in störender Weise unleserlich geschrieben sind, können durch
Beschluss der zuständigen ÜUlasse von der Bewerbung ausgeschlossen
werden.
Jede Bewerbungsschrift ist mit einem Spruchwort zu bezeichnen,
und dieses auf einem beizufügenden versiegelten, innerlich den Namen
und die Adresse des Verfassers angebenden Zettel äusserlich zu wie-
derholen. Schriften, welche den Namen des Verfassers nennen oder
deutlich ergeben, werden von der Bewerbung ausgeschlossen. Zurück-
ziehung einer eingelieferten Preisschrift ist nicht gestattet.
1026 Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
Die Bewerbungsschriften sind bis zum 31. December 1909 im
Bureau der Akademie, Berlin W. 35, Potsdamerstrasse 120, einzuliefern.
Die Verkündigung des Urtheils erfolgt in der Leienız-Sitzung des Jah-
res IQIO.
Sämmtliche bei der Akademie zum Behuf der Preisbewerbung
eingegangene Arbeiten nebst den dazu gehörigen Zetteln werden ein
Jahr lang von dem Tage der Urtheilsverkündigung ab von der Aka-
demie für die Verfasser aufbewahrt. Nach Ablauf der bezeichneten
Frist steht es der Akademie frei, die nicht abgeforderten Schriften
und Zettel zu vernichten.
Preisaufgabe der UHARrLoTTen - Stiftung 1904.
Nach dem Statut der von Frau ÜHARLoTTE STIEPEL geb. Freiin
von HorrrGARTEN errichteten CHARLOTTEN-Stiftung für Philologie wird
am heutigen Tage eine neue Aufgabe von der ständigen Commission
der Akademie gestellt:
»Als erste Vorarbeit zu einer kritischen Ausgabe der Biogra-
phien Plutarch’s soll die Geschichte und Überlieferung derselben
vom Alterthum ab so weit verfolgt werden, dass die Bildung
der einzelnen Sammlungen und die Zuverlässigkeit des Textes
so weit kenntlich wird, um zu bestimmen, welche Handschriften
vornehmlich zu vergleichen sind. Es genügt, wenn das für
die einzelnen Gruppen an Stichproben gezeigt wird.
Ausser dem gedruckten Materiale, das in Ausgaben, Einzel-
schriften und Katalogen vorliegt, hat Hr. Stadtschulrath Dr.
MicnArzıs den von ihm zusammengebrachten Apparat freund-
lich zur Verfügung gestellt. Er kann auf dem Lesezimmer der
Königlichen Bibliothek benutzt werden.«
Die Stiftung der Frau UnArLoTTE STIEPEL geb. Freiin von Horrr-
GARTEN ist zur Förderung junger, dem Deutschen Reiche angehöriger
Philologen bestimmt, welche die Universitätsstudien vollendet und den
philologischen Doctorgrad erlangt oder die Prüfung für das höhere
Schulamt bestanden haben, aber zur Zeit ihrer Bewerbung noch ohne
feste Anstellung sind. Privatdocenten an Universitäten sind von der
Bewerbung nicht ausgeschlossen. Die Arbeiten der Bewerber sind bis
zum I. März 1905 an die Akademie einzusenden. Sie sind mit einem
Denkspruch zu versehen; in einem versiegelten, mit demselben Spruche
bezeichneten Umschlage ist der Name des Verfassers anzugeben und der
Nachweis zu liefern, dass die statutenmässigen Voraussetzungen bei dem
Bewerber zutreflen. Schriften, welehe den Namen des Verfassers nennen
oder deutlich ergeben, werden von der Bewerbung ausgeschlossen.
Preisaufgaben. 1027
In der öffentlichen Sitzung am Leinız- Tage 1905 ertheilt die
Akademie dem Verfasser der des Preises würdig erkannten Arbeit
das Stipendium. Dasselbe besteht in dem Genusse der Jahreszinsen
(1050 Mark) des Stiftungscapitals von 30000 Mark auf «die Dauer von
vier Jahren.
Preis der Dirz-Stifiung.
Der Vorstand der Dırz-Stiftung hat beschlossen, den aus der Stif-
tung im Jahre 1904 zu vergebenden Preis im Betrage von 1800 Mark
Hrn. Dr. Enır Levy, ausserordentlichem Professor der romanischen Philo-
logie an der Universität Freiburg in Baden, für die ersten vier Bände
des von ihm verfassten »Provenzalischen Supplement-Wörterbuches«,
Leipzig 1894— 1904, zuzuerkennen.
Preisausschreibung aus der Graf Lovzar- Stiftung.
Die Akademie wird am Leissız-Tage im Juli 1906 aus der Graf
Lousar-Stiftung einen Preis von 3000 Mark an diejenige gedruckte
Schrift aus dem Gebiet der praecolumbischen Alterthumskunde von
ganz America (Nord-, Central- und Südamerica) zu ertheilen haben,
welche unter den ihr eingesandten oder ihr anderweitig bekannt
gewordenen als die beste sich erweist. Sie setzt demgemäss den
ı. Januar 1906 als den Termin fest, bis zu welchem Bewerbungs-
schriften an sie eingesandt und in Berlin eingetroffen sein müssen.
Statutenmässig dürfen nur solche Schriften praemiirt werden, welche
innerhalb der letzten zehn Jahre erschienen sind. Als Schriftsprache
wird die deutsche und die holländische zugelassen.
Stipendium der Epvard GERHARD- Stiftung.
Das Envarn GErHARD-Stipendium war in der Leissiz-Sitzung des
Jahres 1903 (2. Juli) mit dem Betrage von 4800 Mark ausgeschrieben.
Drei Bewerbungen sind rechtzeitig eingegangen, indess hat die Aka-
demie keiner derselben Folge geben können. Das Stipendium wird
daher von Neuem ausgeschrieben, und zwar nunmehr mit der Summe
von 7200 Mark. Bewerbungen sind vor dem ı. Januar 1905 der Aka-
demie einzureichen.
Nach $ 4 des Statuts der Stiftung ist zur Bewerbung erforderlich:
1. Nachweis der Reichsangehörigkeit des Bewerbers;
2. Angabe eines von dem Petenten beabsichtigten durch Reisen be-
dingten archaeologischen Planes, wobei der Kreis der archaeo-
logischen Wissenschaft in demselben Sinn verstanden und an-
zuwenden ist, wie dies bei dem von dem Testator begründeten
1028
Öffentliche Sitzung vom 30. Juni 1904.
Archaeologischen Institut geschieht. Die Angabe des Planes muss
verbunden sein mit einem ungefähren sowohl die Reisegelder
wie die weiteren Ausführungsarbeiten einschliessenden Kosten-
anschlag. Falls der Petent für die Publication der von ihm be-
absichtigten Arbeiten Zuschuss erforderlich erachtet, so hat er
den voraussichtlichen Betrag in den Kostenanschlag aufzuneh-
men, eventuell nach ungefährem Überschlag dafür eine ange-
messene Summe in denselben einzustellen.
Gesuche, die auf die Modalitäten und die Kosten der Veröffent-
lichung der beabsichtigten Forschungen nicht eingehen, bleiben un-
Oo oO [o' fo} ’
berücksichtigt. Ferner hat der Petent sich in seinem Gesuch zu ver-
pflichten:
Ir
vor dem 31. December des auf das Jahr der Verleihung fol-
genden Jahres über den Stand der betreffenden Arbeit sowie
nach Abschluss der Arbeit über deren Verlauf und Ergebniss
an die Akademie zu berichten;
falls er während des Genusses des Stipendiums an einem der
Palilientage (21. April) in Rom verweilen sollte, in der öffent-
lichen Sitzung des deutschen Instituts, sofern dies gewünscht
wird, einen auf sein Unternehmen bezüglichen Vortrag zu halten;
. jede durch dieses Stipendium geförderte Publication auf dem
Titel zu bezeichnen als herausgegeben mit Beihülfe des Enuarn
GERHARD-Stipendiums der Königlichen Akademie der Wissen-
schaften;
drei Exemplare jeder derartigen Publication der Akademie ein-
zureichen.
Ausgegeben am 7. Juli.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei,
VERZEICHNISS DER »WISSENSCHAFTLICHEN MITTHEILUNGEN«
zu St.I und HM.
Seite
Dirrury: Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts. . . . . . 2
REScHENOoReeT Theorie: den radigactiven Erscheinungen; #. „1%, u. an. ne 37
G.Kremw: Bericht über Untersuchungen der sogenannten »Gneisse« und der metamorphen Schiefer-
BORIEHORGEITSETIESEINEIEEA IDEEN Pa Eee We a a dr 46
Abhandlungen der Akademie.
Bbnandiunrengansetemn Jalına, LAG er mes DAE e
Darans ze uhysikalısche, Abhandlungen. un a 3 82 2. en nr Mill
5 Mathematische Abhandlungen . ee he 7 rim DO
» Philosophische und historische Abhandlungen Ana. > Kl SE RE FA
BDnandiunpenzausı demyJahres1902 22 SE EEE eek cl 3350
Daraus: Physikalische Abhandlungen . ae > ehe, LO
. Philosophische und historische Abhandlungen ns £ » 10,—
Einzelne Abhandlungen aus den Jahren 1902 und 1903.
Dünmnter: Gedächtnissrede auf PAuL Scuerrer-BoicHorst . . . ste ah ee Be et MAL
Scamipt: Gedächtnissrede auf Karr WeınnorLn . ur
Zimmer: Gedächtnissrede auf JoBAnnes SchmiDr wa
Scaurze: Caulophacus arcticus (Anmauer HANSER) und Calycosoma gracile 'F.E. Son. n. n. Sp. 5 » 2.
Braxco: Das vulcanische Vorries und seine Beziehungen zum vulcanischen Riese bei Nördlingen - 5.50
Coxze: Die Kleinfunde aus Pergamon » 3.50
Burpach: Bericht über Forschungen zum Ursprung der neuhochdeutschen Schriftsprache und des
deutschen Humanismus . . Ba art Br 2 a WeThe. REN ARTE)
WALDEvER: Gedächtnissrede auf ODER "Near Vase Se Ar ah Se re. 3 ee 2.
€. Rune und F. Pascnsn: Über die Strahlung des ae im ee Felde... AM. 3.—
H. Scuärer: Ein Bruchstück altägyptischer Annalen . . Br. n Een N)
W.Krause: Ossa Leibniti . . Seh N
M. Sauter und R. Heysons: Die Variationen bei Artemia salina Lxaca und ihre Abhängigkeit
von äusseren Einflüssen . . - REN ÄD ner ae sl
H. Vırcnow: Über Tenon’schen Raunı und Tenon’sche Kapsel ; N er
N. GAiuroy:_ Über den Einfluss farbigen Lichts auf die Färbung lebender Oscillarien NN
WW. STIEDA: Über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter . . » 2,50
H. Grönxroos: Die Musculi biceps brachii und latissimo - eondyloideus bei. der Affengattung Hylobates
' im Vergleich mit den entsprechenden Gebilden der Anthropoiden und des Menschen . . - 5.50
H. Kayser: Die Bogenspectren von Yttrium und Ytterbium . . r 1.—
W. Friepenssure: Das Königlich Preussische Historische Institut in "Rom in den dreizehn "ersten
ANETTE N) ge U I EEE ET WER
GRTZERA Pb erFamoneunter®Byzantinem' unde Osmanens a. u ee
Sitzungsberichte der Akademie.
Preis der einzelnen Jahrgänge, 1882—1903 . . . .. ee ee Mr
Daraus besonders zusammengestellt:
Mathematische und Naturwissenschaftliche Mittheilungen. 1882—1897. Preis des Jahrganges. . AM. 8.—
Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften.
Im Auftrage der Akademie bearbeitet von Anorr Harnack.
Drei Bände. — Berlin 1900. — A. 60.—
Die Zweihundertjahrfeier der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften
am 19. und 20. März 1900.
Berlin 1900. V. u. 171 S., 6 Taf. 4. 6.—
Sonderabdrücke aus den Sitzungsberichten. II. Halbjahr 1903.
Pısc#er: die Inschrift von Paderiyä .
O. Franke und Pıscher: Kaschgar und "die Kharosthi”
Branco: Die Gries-Breccien des Vorrieses als von ya unabhängige, früheste Stadien embr, yo-
naler Vulcanbildung SEE . . 2
Branco: Zur Spaltenfrage der Vuleane. .
Vanrren: über die Rede des Lysias in Plato’s Phaedrus .
Monusen: eine Inschrift aus Baalbek
H. von Sopen: Bericht über die in der Kubbet in Damaskus gefundenen Handschriftenfragmente .
Harnack: Forschungen auf dem Gebiete der alten grusinischen und armenischen Litteratur
von HEFNER-ALTENECK: über die unmittelbare Beeinflussung von Bed nen durch äussere
Kräfte . B . : Find Bro
A. Dansexgere: der Monte 'Ferru in Sardinien. I
von Rıchtuoren: geomorphologische Studien aus Ostasien. IV
vox Rıchtuoren: geomorphologische Studien aus Ostasien. V
O. Lener: zwei neue Bruchstücke aus Ulpians Disputationen ask Taf. III und am) -
O. Venske: zur Theorie derjenigen Raumcurven, bei welchen die erste Krümmung eine beschene
Function der Bogenlänge ist 6
Mürter-Brestau: zur Theorie der Windverbände eiserner Brücken (hierzu Taf. v. :
Toster: Bruchstücke altfranzösischer Dichane aus den in der Kubbet in Damaskus gefundenen
Handschriften
Scuorrky: über die Aner’schen Functionen von drei Veränderlichen
Frogenıus: über einen Fundamentalsatz der Gruppentheorie
M. BaAver: vorläufiger Bericht über weitere Untersuchungen im niederhessischen Basaltgebiet .
van’ Horr und F. Farur: Untersuchungen über die Bildungsverhältnisse der ozeanischen Salzab-
lagerungen. XXXII. Das Auftreten der Kalksalze Anhydrit, Glauberit, en und
Polyhalit bei 25°
Warsgure: über die Ozonisirung des Sauerstoffs durch stille elektrische Entladungen . -
Arraur W. Gray: über Ozonisirung durch stille elektrische an in dem Sırmens’schen
Ozonapparat . .
Sonorrkr: über die Azer’schen Functionen von drei Veränderlichen. (Fortsetzung.) .
O. Lexer: zwei neue Bruchstücke aus Ulpians Disputationen. (Nachtrag) .
Munk: über die Folgen des Sensibilitätsverlustes 35 Extremität für deren Motilität .
J. HırschBerG: über das älteste arabische Lehrbuch der Augenheilkunde .
F. RıcuArz und R. Scaeser: über Analogien zwischen Radioactivität und dem Verhalten des Ozons
Sc#woLzer: Classenkämpfe und Classenherrschaft
Sonderabdrücke aus den Sitzungsberichten. I. Halbjahr 1904.
Dirreey: die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts
R. Schenek: Theorie der radioactiven Erscheinungen .
G. Krems: Bericht über Untersuchungen der sogenannten » Gneisse.« und der metamorphen Schiefer-
gesteine der Tessiner Alpen Be
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u DER »WISSENSCHAFTLICHEN MITTHEILUNGEN«
PN zu St. II.
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Coxze: Hermes Propylaios (hierzu Ta.J) . . . . a 6T
Tu. Wixaanp: Dritter vorläufiger Bericht über die von en Kangliche n AR een Ausgra-
h bungen. DENE Tee es NEE SOME 72
Din, und A. Renm: eh rfrasnente 5 aus "Milet lern Tat. m. RR I ae SEO Anlhcl ae er 2
3 Br & Abhandlungen der Akademie.
Fe Abanhngn BIO BREIEHTTOR OO S Aue ran. mer 2 ae en N a ER RN
Daraus: Physikalische Abhandlungen! 2.0. 0 2 wu. nr IL
% a ; - Mathematische Abhandlungen . . 5 EA ne Te 0)
BR -» Philosophische und historische Abiehdluneen EN EN a re NR
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' Daraus: Physikalische Abhandlungen . en ee MI
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Be Einzelne Abhandlungen aus den Jahren 1902 und 1903.
er - Dünmter: Gedächtnissrede auf Paur EL IBOICHORSTER TEE FR a RT RE HART!
E Scanipr: Gedächtnissrede auf Karı Wemnoro . l
Zusmer: Gedächtnissrede auf Josannes Schmipr 1.—
RANCO: Das vulcanische Vorries und seine Beziehungen zum vulcanischen Riese bei Nördlingen
. Conze: Die Kleinfunde aus Pergamon
Ei - Ehen Bericht über Forschungen zum Ursprung der neuhochdeutschen Schriftsprache und des
Sonurze: Caulophacus arcticus (Arsaver Hansen) und Calycosoma gracile 'F.E. Son. n. 1. sp. a
2a deutschen Humanismus . . GR eh I ERER Lu Yar, Een Fl EARTH)
= Aupever: Gedächtnissrede auf Runorr Vırmow . 2 © oo oo DD nn nn II In I
3 ei, und F. Pascnxx: Über die Strahlung des Quecksilbers im Ber ächen Felde . 2... AM 3.—
RB. ‚ScHärer: Ein Bruchstück altägyptischer Annalen “ . » . 2 2 2 2 m 2 nn en 2. = 350
_ W. Krause: Ossa Leibnitü . . . - 1—
_M. Sauter und R. Hevsoss: Die Variationen bei Artemia salina Lxacn und ihre Abhängigkeit
von äusseren Einflüssen . Et a a BE
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N. GAmurov:_ Über den Einfluss farbigen Lichts auf die Färbung lebender Öscillarien m 1850
MW. Stiepa: Über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter » 2.50
I. Grönroos: Die Musculi biceps brachii und latissimo-condyloideus bei der Affengattung Hylobates
im Vergleich mit den entsprechenden Gebilden der Anthropoiden und des Menschen . . - 5.50
F H.Kavser: Die Bogenspecetren von Yttrium und Ytterbium . . - 1—
'W. Frievenssung: Das Königlich Preussische Historische Institut in "Rom in den dreizehn ersten
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Br Ze Sitzungsberichte der Akademie.
Be a einzelnen Jahrgänge, 1882-1903 . . ... Pers A. A
FE Daraus besonders zusammengestellt:
Mathematische und Naturwissenschaftliche Mittheilungen. 1882—1897. Preis des Jahrganges. . M. 8.—
Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften.
Im Auftrage der Akademie bearbeitet von Aporr Harnack.
Drei Bände. — Berlin 1900. — #. 60.—
en Zweihundertjahrfeier der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften
am 19. und 20. März 1900.
Berlin 1900. V. u. 171 S., 6 Taf. AM. 6—
Sonderabdrücke aus den Sitzungsberichten. II. Halbjahr 1903.
Pıscrer: die Inschrift von Paderiyä . .
O. Franke und Pıscue: Kaschgar und die Kharosthi” »
Braxco: Die Gries-Breceien des Vorrieses als von at unabhängige, früheste Stadien embryo-
naler Vulcanbildung £ RT ee
Branco: Zur Spaltenfrage der Vulcane . ; ED a ee EN ER
VaAnzen: über die Rede des Lysias in Plato’s Phaedrus .
Monnusex: eine Inschrift aus Baalbek
H. von Sopen: Bericht über die in der Kubbet in Damaskus gefundenen Handschriftenfragmente .
Harnack: Forschungen auf dem Gebiete der alten grusinischen und armenischen Litteratur
von HEFNER-ÄLTENECK: über die unmittelbare a von Eee en durch äussere
Kräfte . DE : E SE:
A. DAnNENBERG: der Monte Ferru in Sardinien. I.
vox Rıcntuoren: geomorphologische Studien aus Ostasien. IV
von Rıc#tuoren: geomorphologische Studien aus Ostasien. V }
O. Leser: zwei neue Bruchstücke aus Ulpians Disputationen (hierzu Taf. III und IV) ae:
O. Vexske: zur Theorie derjenigen Raumeurven, bei welchen die erste Krümmung eine gegebene
Function der Bogenlänge ist 3
Mürter-Brestau: zur Theorie der Windverbände eiserner "Brücken (hierzu Tat. pe!
Toster: Bruchstücke altfranzösischer Dichte aus den in der Kubbet in Damaskus gefundenen
Handschriften Bi: NR
Scnuortky: über die Aer schen Functionen von drei V eränderlichen
Frosenius: über einen Fundamentalsatz der Gruppentheorie e
M. Bauer: vorläufiger Bericht über weitere Untersuchungen im niederhessischen Basaltgebiet .
van’r Horr und F. Farur: Untersuchungen über die Bildungsverhältnisse der ozeanischen Salzab-
lagerungen. NXXIN. Das Auftreten der Kalksalze Anhydrit, Glauberit, ARE und
Polyhalit bei 25° ;
Warsure: über die Ozonisirung des Sauerstoffs durch stille elektrische Entladungen .
Arruur W. Gray: über Ozonisirung durch stille elektrische ae in dem Sırmens’schen
ÖOzonapparat . 1 SE
Scuorrky: über die Aner’ schen Funetionen von drei Veränderlichen. (Fortsetzung.) ne
O. Leser: zwei neue Bruchstücke aus Ulpians Disputationen. (Nachtrag.). .
Muxk: über die Folgen des Sensibilitätsverlustes ® Extremität für deren Motilität .
J. Hırscupere: über das älteste arabische Lehrbuch der Augenheilkunde .
F. Rıcaarz und R. Scuexer: über Analogien zwischen Radioactivität und dem Verhalten des Ozons
Scruorter: Classenkämpfe und Olassenherrschaft
Sonderabdrücke aus den Sitzungsberichten. I. Halbjahr 1904.
Dirruey: die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts . . . .
R. Sceexer: Theorie der radioaetiven Erscheinungen .
G. Kremn: Bericht über Untersuchungen der sogenannten »Gneisse« und der metamorphen Schiefer-
gesteine der Tessiner Alpen . .
Ta. Wıesasp: Dritter vorläufiger Bericht über die von den "Königlichen Museen begonnenen Aus-
grabungen in Milet : Be Dh: E .
Diers und A. Rem: Parapegmenfragmente aus Milet .
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3838| 383 38
VERZEICHNISS DER »WISSENSCHAFTLICHEN MITTHEILUNGEN«
zu St. IV und V.
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_ Krri: Die Meteoritensammlung der ne. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am
21. Januar 1904 SEN: FRE RE TLA
£ F. Braux: Der Hertz’sche Eee im Gebiete er sichtbaren. Slanluae a end
Hannack: Über einige Worte Jesu, die nicht in den kanonischen Evangelien stehen, nebst einem An-
hang über die krsprunplichat.@estalt des; Väter Unserse # :7 Swen re er 170
E-, ae der Akademie.
E Abhandlungen aus dem Jahre 1901. . . . N Ele or Ma Bee RE Kr A
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Bi - Mathematische Abhandlungen . . ee a ee 53)
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= Daraus: Physikalische Abhandlungen . . EEE REST. Ada Ken
& » Philosophische und historische Abhandlungen A ee N
R Einzelne Abhandlungen aus den Jahren 1902 und 1903.
Dümmter: Gedächtnissrede auf Paun ScherreR-BoIcHorst . . » . 2 2 m nenne nnd L—
Scauiot: Gedächtnissrede auf Kar Werınuorn . Se
Zimmer: Gedächtnissrede auf Jonannes ScHmiDT En En
ScautzE: Caulophacus arctieus (ArsAauer Hansen) und Calycosoma gracile 'F.E. Son. n. 1. sp. i » 2.—
Branco: Das vulcanische Vorries und seine Beziehungen zum vuleanischen Riese bei Nördlingen » 5.50
Coxze: Die Kleinfunde aus Pergamon » 3.50
- Burpacn: Bericht über Forschungen zum Ursprung der neuhochdeutschen Se 'hriftsprache und des
deutschen Humanismus . . BEE N A Rn TEN NE NE a er 0
Warpever: Gedächtnissrede auf Runorr Viremow. - » oo m nn... a ae
C. Runge und F. Pascuxn: Über die Strahlung des Quecksilbers im magnetischen Felde . . . A. 3:
H.Sc#ärer: Ein Bruchstück altägyptischer TÄLER LTE a er
- _ W.Kerause: Ossa Leibniti . . . » 1
M. Saster und R. Heysoss: Die Variationen bei Artemia "salina Lracu und ihre Abhängigkeit
von äusseren Einflüssen . » 2.50
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N. Gaipuxov:_ Über den Einfluss farbigen Lichts auf die Färbung lebender Öseillarien n» 3.50
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Mathematische und Naturwissenschaftliche Mittheilungen. 1882—1897. Preis des Jahrgangs. . AM. 8—
Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften.
Im Auftrage der Akademie bearbeitet von Anpour Harnack.
Drei Bände. — Berlin 1900, — A. 60.—
Die Zweihundertjahrfeier der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften
am 19. und 20. März 1900.
Berlin 1900. V. u. 171 S., 6 Taf. M. 6.—
Sonderabdrücke aus den Sitzungsberichten. Il. Halbjahr 1903.
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Branco: Zur Spaltenfrage der Vulcane. .
Vanren: über die Rede des Lysias in Plato’s Phaedrus .
Monnusen: eine Inschrift aus Baalbek
H. vos Sopen: Bericht über die in der Kubbet in Damaskus gefundenen Handschriftenfragmente .
Harnack: Forschungen auf dem Gebiete der alten grusinischen und armenischen Litteratur
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A. Dansennere: der Monte Ferru in ‚ Sardinien. I .
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O. Lexer: zwei neue Bruchstücke aus Ulpians Disputationen (hierzu Taf. III und IV)
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Scnorrky: über die Azer’schen Functionen von drei Veränderlichen
Frosesius: über einen Fundamentalsatz der Gruppentheorie
M. Bauer: vorläufiger Bericht über weitere Untersuchungen im niederhessischen Basaltgebiet .
van’t Horr und F. Farur: Untersuchungen über die Bildungsverhältnisse der ozeanischen Salzab-
lagerungen. XXXII. Das Auftreten der Kalksalze A Glauberit, en und
Polyhalit bei 25°
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Özonapparat . .
Sonorrkr: über die Assr’schen Functionen von drei Veränderlichen. (Fortsetzung.) .
O. Lexet: zwei neue Bruchstücke aus Ulpians Disputationen. (Nachtrag.). .
Munk: über die Folgen des Sensibilitätsverlustes de Extremität für Me Motilität .
J. Hırscagere: über das älteste arabische Lelrbuch der Augenheilkunde .
F. Rıcsarz und R. Scaexer: über Analogien zwischen Radioaetivität und dem Verhalten des Ozons
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R. Scuenex: Theorie der radioactiven Erscheinungen .
G. Kremm: Bericht über Untersuchungen der sogenannten »Gneisse« und der metamorphen Schiefer-
gesteine der Tessiner Alpen
Tu. WıesAnp: Dritter vorläufiger Bericht über die von den Königlichen Museen begonnenen Aus-
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21. Januar 1904
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Harnack: über einige Worte Jesu, die nicht in den kanonischen Evangelien stehen, Se einem
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R. Heymons: die flügelförmigen Organe (Lateralorgane) der Solifugen und ihre Bedeutung .
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J. Bernstein und A. Tscuermax: über das thermische Verhalten des elektrischen Organs von Torpedo
Dirruey: die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts. (Fortsetzung)
F. W. K. Mürzer: Handschriften- Reste in Estrangelo-Schrift aus Turfan, Chinesisch-Turkistan .
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am 19. und 20. März 1900.
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J. Hırscagers: über das älteste arabische Lehrbuch der Augenheilkunde . .
F. Rıcsarz und R. Schenek: über Analogien zwischen Radioactivität und dem Verhalten des Ozons
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Sonderabdrücke aus den Sitzungsberichten. I. Halbjahr 1904.
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G. Krems: Bericht über Untersuchungen der an »Gneisse. und der metamorphen Schiefer-
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SchmoLLer: Classenkämpfe und Classenherrschaft
Sonderabdrücke aus den Sitzungsberichten. I. Halbjahr 1904.
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Dirrnev: die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts . . . .
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G. Kremm: Bericht über Untersuchungen der Br »Gneisse« und der metamorphen Schiefer-
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Ta. Wıesann: Dritter vorläufiger Bericht über die von den "Königlichen Museen begonnenen Aus-
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Dirreev: die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts. (Fortsetzung)
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Daraus besonders zusammengestellt: .
2 Mathematische und Naturwissenschaftliche Mittheilungen. 1882—1897. Preis des Jahrganges. . M. 3.—
Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften.
Dt Be Auftrage ‚der Akademie bearbeitet von ApoLr Harnack.
} Drei Bände. — Berlin 1900. — M. 60.—
\ reihundertjahrfeier der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften
am 19. und 20. März 1900.
Berlin 1900. V. u. 171 S., 6 Taf. A. 6.—
Sonderabdrücke aus den Sitzungsberichten. II. Halbjahr 1903.
A. Dasxnengers: der Monte Ferm in Sardinien. I . a ER ee NE N ER
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O. Lexer: zwei neue Bruchstücke aus Ulpians (Nachtrag.). : De ade
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J. Hırscngere: über das älteste arabische Lehrbuch der Augenheilkunde .
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G. Krems: Bericht über Untersuchungen der sogenannten »Gneisse« und der inetamorphen Schiefer-
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Frosenıus: über einen Fundamentalsatz der Gruppentheorie
M. BaAver: vorläufiger Bericht über weitere Untersuchungen im niederhessischen Basaltgebiet .
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Sonderabdrücke aus den Sitzungsberichten. I. Halbjahr 1904.
Dirreey: die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts . . . .
R. Sceenecx: Theorie der radioactiven Erscheinungen .
G. Krems: Bericht über Untersuchungen der »Gneisse« und der metamorphen Schiefer-
gesteine der Tessiner Alpen .
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Tu. Arsrecht: neue Bestimmung des geographischen Längenunterschiedes Potsdam—Greenwich .
J. BERNSTEIN und A. TscheruAar: über das thermische Verhalten des elektrischen Organs von Torpedo
Dirtnev: die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts. (Fortsetzung)
F.W.K. Möürter: Handschriften- Reste in Estrangelo- Schrift aus Turfan, Chinesisch-Turkistan .
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Scaortky: über die Arer’schen Funetionen von drei Veränderlichen. (Fortsetzung) .
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C. F. Geiser: Beitrag zur Lehre von den Minimalflächen
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Sitzungsberichte der Akademie.
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Han Auftrage der Akademie bearbeitet von Avorr Harnack.
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am 19. und 20. März 1900.
Berlin 1900.” V; u. 176 8,6 Taf 6—
Sonderabdrücke aus den Sitzungsberichten. I. Halbjahr 1903.
Scuorrky: über die Aser’schen Functionen von drei Veränderlichen
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F. Rıczarz und R. Scuenek: über Analogien zwischen Radioactivität und dem Verhalten des Ozons
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Sonderabdrücke aus den Sitzungsberichten. I. Halbjahr 1904.
Dirrsey: die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts . .. .
R. Scaexck: Theorie der radioactiven Erscheinungen .
G. Kreum: Bericht über Untersuchungen der rege »Gneisse« und der metamorphen” Schiefer-
gesteine der Tessiner Alpen . .
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Harnack: über einige Worte Jesu, die nicht in den kanonischen Evangelien stehen, nebst einem
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J. Bernstein und A. Tscnermar: über das thermische Verhalten des elektrischen Organs von Torpedo
Dirrery: die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts. (Fortsetzung)
F.W.K. Mürrer: Handschriften- Reste in Estrangelo-Schrift aus Turfan, Chinesisch-Turkistan .
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Salzablagerungen. XXXVI. Die Mineralcombinationen (Paragenesen) von 25° bis 83° .
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C. F. Geiser: Beitrag zur Lehre von den Minimalflächen . . afkaret
Fıscner und F. Wreve: über die Verbrennungswärme einiger organischer Verbindungen
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R. Scuzxck: Theorie der radioactiven Erscheinungen . .
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Harnack: der Brief des britischen Königs Lucius an den Papst Eleutherus .
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Im Auftrage der Akademie bearbeitet von Avorr Harnack.
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; am 19. und 20. März 1900.
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am 19. und 20. März 1900.
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Sonderabdrücke aus den Sitzungsberichten. I. Halbjahr 1904.
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