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Sitzungsberichte
der
philosophisch -philologischen
und der
historischen Klasse
der
K. B. Akademie der Wissenschaften
zu JVLünchen
Jahrgang 1916
München 1916
Verlag der. Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
in Kommission des 6. Franz'schen Verlags (J. Roth)
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AS
182.
Akademische Buchdruckerei von F. Straub in München.
Inhaltsübersicht.
Seite
I. Sitzungsberichte .... 5—18
Darin Titel und Inhaltsangaben folgender in diesem Bande
nicht gedruckter Abhandlungen:
M. Doeberl: Über Bayern und das sogenannte preußische
Unionsprojekt vom Jahre 1849 5
H. Jacobi: Bhavisatta - Kaha von Dhanaväla. Eine Jaina- Le-
gende in Apabhramsa 7—9
E. Petzet: Jakob Burckhardts Verhältnis zu Paul Heyse . 9
A. Sandberge r: Über einen Brief von Antonie Brentano an
J. M. Sailer in Landshut . 11
F. Muncker: Anschauungen über den englischen Staat und
das englische Volk in der deutschen Literatur der letzten
vier Jahrhunderte 12—13
L. Seh er man: Über bengalische Gedächtnispiähle des Mün-
chener Ethnographischen Museums und verwandte völker-
kundliche Materialien 14 — 15
F. Boll: Antike Beobachtung farbiger Sterne .... 15 — 16
H. Wölfflin: Das Perikopenbuch Heinrich IT. in München . 17
II. Verzeichnis der im Jahre 1916 eingelaufenen Drnckschriften 19-43
III. Abhandlungen.
1. H. Prutz: Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland 1 — 54
2. C. Robert: Archäologische Miszellen 1—20
3. A. Rahm: Griechische Windrosen 1—104
4. P. Lehmann: Mittelalterliche Handschriften des K. B. Na-
tionalmuseums zu München ...... 1—66
5. H. Fischer: Über Gottfried von Straßburg . . . 1—36
6. K. Vossler: Peire Cardinal ein Satiriker aus dem Zeitalter
der Albigenserkriege ....... 1 195
Sitzungsberichte
der philosophisch-philologischen und der
historischen Klasse
der KönigHch Bayerischen Akademie der Wissenschaften
191G.
Vorsitzender Klassensekretär Herr Kuhn,
Sitzung am 15. Januar.
Herr Doeberl sprach, ausgehend von den heutigen Bestre-
bungen nach einem Ausbau des Bundesverhältnisses zwischen
dem deutschen Reiche und der österreichisch -ungarischen
Monarchie, über Bayern und das sogenannte preußische Unions-
projekt vom Jahre 1849.
Der Vortrag wird in den Denkschriften gedruckt werden.
Sitzung am 5. Februar.
Herr Peutz sprach über
den Kampf um die Leibeigenschaft in Livland.
Ausgehend von des einst der bayrischen Akademie ange-
hörigen Grafen Franz Gabriel von Bray 1817 erschienenem
„Essai critique sur l'histoire de la Livonie", einem in seinem
geschichtlichen Teil verdienstvollen, in der Schilderung der
derzeitigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse aber ein-
seitigen Werk, und einer für die Beurteilung der in Frage
kommenden Kulturverhältnisse unentbehrlichen Übersicht über
die Zusammensetzung der gegenwärtigen Bevölkerung Livlands,
in der 200000 Deutsche nicht weniger als 2 MilHonen Letten
und Esten und etwa 250000 Russen, Juden, Polen, Littauern
und Schweden gegenüberstehen, zeigte er die Unhaltbarkeit
SiUgsb. d. philos.-philol. u. d. bist. Kl Jahrg. 1916. (j
6 Sitzung am 5. Februar.
der seit dem 18. Jahrhundert offiziell verbreiteten Meinung,
die Leibeigenschaft sei gleich von den deutschen Eroberern
eingeführt vi^orden. Sie ist vielmehr erst, während die ein-
gebornen Bauern zunächst frei und persönlich rechtsfähig
blieben, mit der Ausbildung des Lehnswesens und der zuneh-
menden Ohnmacht der Landesherren mißbräuchlicher Weise
eingerissen und dann 1552 durch den Beschluß des Landtags
von Bernau als zu Recht bestehend anerkannt worden, der die
Auslieferung geflüchteter Bauern an den Herrn jedem zur Pflicht
machte. Bei dem Übergang unter polnische Herrschaft 1561
wurde diese Bestimmung durch den Freibrief König Sigis-
mund II. August ausdrücklich anerkannt und damit die Bauern-
schaft endgültig der Freiheit beraubt. Die Bemühungen der
schwedischen Regierung um Besserung der Lage der Bauern,
die gleich mit der Erwerbung Livlands durch Schweden ein-
setzten, blieben schließlich erfolglos und trugen w^esentlich dazu
bei, die herrschenden Stände zum Abfall von Schweden und
zur Anerkennung der russischen Herrschaft zu bewegen, bei
welcher die bereits in Kraft getretenen bauernfreundlichen Be-
stimmungen ausdrücklich rückgängig gemacht wurden. Unter
dem Einfluß der entsprechenden russischen Zustände wurde die
Leibeigenschaft systematisch bis in die letzten Konsequenzen
ausgebildet, und die Reformversuche der russischen Regierung,
namentlich Katharinas IL auf dem Landtag von 1765, schei-
terten an dem hartherzigen Widerstand der Grundherren, wie
auch die wohlmeinenden Bemühungen einzelner aufgeklärter
Männer, wie des Freiherrn von Schoulz-Ascheraden und des
beredten Anwalts der Letten G. H. Merkel zunächst erfolglos
blieben. Erst unter dem Zwange der durch die Kriege zu
Anfang des 19. Jahrhunderts herbeigeführten wirtschaftlichen
Notlage und um drohende strengere Eingrifib der Regierung
abzuwenden beschloß der Adel von Estland 1816 die Auf-
hebung der Leibeigenschaft und die Regelung des Verhältnisses
zwischen Gutsherrn und Bauern durch Kontrakte, welchem
Beispiel zunächst Kurland und 1818 aus den gleichen Motiven
Livland folgte.
Sitzung am 4. März.
Der Vorsitzende Klassensekretär legte vor eine für die
Denkschriften bestimmte Arbeit des korrespondierenden Mit-
gliedes Prof. Dr. H. Jacobi in Bonn:
Bhavisatta-Kaha von Dhanaväla. Eine Jaina-
Legende in Apabhramsa.
Die Arbeit besteht aus drei Teilen: Abhandlung, Text
und Glossar. In der Abhandlung berichtet der Herausgeber
zunächst darüber, wie er im März 1914 in Ahmedabad in den
Besitz von zwei Handschriften gelangte, welche die ersten bis
jetzt aufgefundenen Apabhramsa- Werke enthalten. Das erste
Werk ist die jetzt zur Herausgabe vorgelegte Bhavisatta-Kaha,
das zweite ein viel umfangreicheres episches Gedicht: das
Neniinäthacaritra des Svetämbara-Mönches Haribhadra, verfaßt
in Anahilla-Pätaka (Patau) 1159 n. Chr. Die Sprache dieses
Werkes steht auf einer jüngeren Entwicklungsstufe als die des
zuerstgenannten. — Der Verfasser der nicht datierten Bhavisatta-
Kaha ist ein Digambara-Laie namens Dhanavä;la (Dhanapäla,
nicht identisch mit dem gleichnamigen Verfasser der Päiya-
Lacchi und anderer Werke), der aus inneren Gründen wahr-
scheinlich ins 10. oder 11. Jahrh. zu setzen ist. Die Geschichte
von Bhavisyadatta soll zur Verherrlichung eines bestimmten
Gelübdes, des Pancami-vrata, dienen; jedoch ist dieser religiöse
Zweck nur äußerlich mit dem allerdings in gleicher Absicht
oft von Digambaras und Svetämbaras behandelten Stoffe ver-
bunden. Dieser stellt sich uns vielmehr als ein nicht spezifisch
jainistischer, sondern wahrscheinlich allgemein indischerMärchen-
stoff dar, der zu einem Roman oder romantischem Epos aus-
gestaltet und dann weiter fortgesponnen wurde, endlich noch
durch Hinzufügung von Erzählungen über die früheren und
späteren Geburten der Hauptpersonen die für Jaina-Legenden
geforderte erschöpfende Vollständigkeit erhielt. — Nach der
Analyse des Textes untersucht der Herausgeber Wesen und
Stellung des Apabhrarnsa und erkennt in ihm eine Abart des
8 Sitzung am 4. März.
literarischen Präkrits, worin die grammatischen Formen des
Präkrits durch solche aus den Volkssprachen ersetzt wurden.
So entstand neben dem Präkrit als Literatursprache der Höher-
gebildeten der Apabhramsa als eine auch weniger Gebildeten
verständliche Dichtersprache. Ohne selbst eine Volkssprache zu
sein, gibt uns doch der Apabhramsa wichtige Aufschlüsse über
deii Zustand der indoarischen Volkssprachen um die Mitte des
ersten Jahrtausends n. Chr. Der Name Apabhrarnäa, mit welchem
Worte ursprünglich vulgäre, d. h. aus der Sprache des Volkes
stammende Sprachformen als fehlerhaft in der Hochsprache
bezeichnet wurden, weist darauf hin, daß vulgäre Formen auch
im literarischen Präkrit als Sprachverstöße galten. Sie finden
sich in ziemlicher Anzahl in dem ältesten Präkrit-Kävya, dem
Paumacariya, fehlen aber in den klassischen Präkrit-Gedichten.
Die prinzipielle Zulassung vulgärer grammatischer Formen,
apabhraipsas, in ein popularisiertes Präkrit war es wahr-
scheinlich, was diesem selbst nach seinem kennzeichnenden
Merkmal den Namen Apabhramsa verschaffte. Die ältesten
Zeugnisse kennen den Apabhramsa nur als eine Dichtersprache;
zuerst um 1150 n. Chr. wird dieser Name auch auf die eigent-
lichen Volkssprachen (die gewöhnlich desabhäsä genannt werden),
und zwar sowohl arische wie dravidische, übertragen.
In dem folgenden Abschnitt handelt der Herausgeber
über die Orthographie des Apabhrarnsa speziell seiner Hand-
schrift, und gibt dann einen Abriß der Grammatik des Apa-
bhramsa in der Bhavisatta-Kaha in steter Vergleichung mit
dem Apabhramsa der Grammatiker, von dem jener manche
teils dialektische teils auf fortgeschrittener Sprachentwicklung
beruhende Abweichungen aufweist.
Den Schluß der Abhandlung bilden Untersuchungen über
Metrik und Reim in dem vorliegenden Text. Die Metrik des
ApabhraipSa wird zwar im Präkrta-Pingala (etwa 15. Jahrh.)
gelehrt, aber seine Angaben sind durchaus unzulänglich gegen-
über der reichen und eigenartig entwickelten Verskunst
Dhai^avälas, deren Gesetze mit voller Sicherheit festgestellt
werden können.
Sitzung am 4. März. 9
Der Text ist in Umschrift mit Trennung der Kompositions-
glieder gegeben in möglichst einheitlicher, die Schreibweise der
Handschrift aber nicht verdunkelnder Orthographie. Das Glossar
verzeichnet alle Wörter des Textes mit ihren Sanskrit-Proto-
typen bzw. mit Bedeutungsangabe, wo sie sich nach den
Präkrit-Lexikographen oder sonstwie feststellen ließ.
Herr Petzet hielt einen Vortrag:
Jakob Burckhardts Verhältnis zu Paul Heyse. ^
Beider persönliche Freundschaft war begründet auf ihren
gemeinsamen Beziehungen zu dem Kunsthistoriker Franz Kugler
und seinem Hause und wurde befestigt durch wiederholte Be-
suche des jungen Heyse in Basel und durch einen gemeinsamen
Aufenthalt in Rom (1853). Sie erhielt aber ihren dauernden
Bestand durch die Übereinstimmung der beiden in ihren künst-
lerischen Grundanschauungen und ihre gleichmäßige Liebe zu
Italien, der freilich im Alter einige Ernüchterung und Ent-
täuschung nicht erspart blieb. Dafür liefert ihr Briefwechsel,
der von 1849 — 1864 sehr lebhaft war und dann mit einigen
Pausen bis 1890 reicht, viele Belege bei der Besprechung einer
großen Anzahl von Werken Heyses wie Burckhardts. Als Ge-
samteindruck ergibt sich daraus, daß Paul Heyse die erste
Quelle und Gewähr für Burckhardts überragende und dauernde
Wirkung in dessen künstlerischer Gestaltungskraft erblickte,
während Jakob Burckhardt den Freund schon frühe treffend
historisch in die Reihe jener reinen Künstlertypen einordnete,
als deren höchste Vertreter ihm Rafael und Goethe galten.
Die Arbeit soll in der Muncker-Festschrift der Gesellschaft
Münchener Germanisten gedruckt werden.
10
Sitzung am 6. Mai.
Herr Rehm sprach über
Griechische Windrosen.
Das Problem, das die einschlägige Überlieferung bietet,
ist ein doppeltes: es betrifft sowohl die Anordnung der Winde
am Horizont als die Verwendung der Windrose zur Orientie-
rung; die Frage nach den Windnamen in den Hauptsystemen
hat nur untergeordnete Bedeutung. Die Orientierung geht
nicht von den Winden, sondern von der Sonne aus und hier
wieder von den Örtern des Aufgangs und Untergangs; Norden
wird anfänglich durch den Großen, später den Kleinen Bären
bestimmt, nur für den Süden verwendet schon Homer allein
den Notos. Der Fortschritt über diesen primitiven Zustand
hinaus wird der Einführung des Gnomon verdankt, der es er-
möglichte, die Mittagslinie festzustellen ; bald lieferte auch der
TiöXog, die Sonnenuhr, acht Punkte am Horizont. Es zeigt
sich, daß diese Errungenschaften der ionischen Physiker in sehr
mannigfacher Weise für die Verbesserungen der homerischen
Windrose mit ihren vier sehr unbestimmt lokalisierten Kar-
dinalwinden ausgenützt worden sind: in der Schrift Tiegl äegeov
zur genaueren Abgrenzung der Hauptwinde, in der Vorlage
der Schrift Tiegl eßdojuddcjov und in dem einen der Wind-
systeme, die Aristoteles kontaminiert hat, zur Ausstattung der
Windrose mit acht Namen. Das zweite der aristotelischen
Systeme beruht auf der Teilung nicht des Horizont-, sondern
des Meridiankreises, die dann auf den Horizont übertragen wird.
Dieses wunderliche Prinzip läßt sich in der geographischen
Literatur bis auf Ptolemaios' Geographie herab verfolgen. Es
hat zur Einführung des Zwölfwindesystems geführt, das zuerst
bei Timosthenes von Rhodos vollständig vorliegt; bleibt dessen
Horizontteilung auch zweifelhaft, so hat er doch nicht als
theoretischer Neuerer zu gelten. Eratosthenes hat für sein
System zwar einfach die Namen herübergenommen, die in der
Vorlage von Tiegl eßdojuddcov vorliegen, aber in der Theorie
hat er den entscheidenden Schritt der Teilung des Horizonts
Sitzung am 6. Mal. 1 1
in acht gleiche Bögen gemacht. Poseidonios hat beide Wind-
systeme eingehend behandelt, im eigenen Gebrauch scheint er
die zwölfstrichige Rose bevorzugt zu haben. — Anhangsweise
wird noch die Grundlage des pseudoaristotelischen Exzerptes
ävejucDv d'EOEig xal JiQoorjyogiai analysiert.
Die Abhandlung wird in den Sitzungsberichten erscheinen.
Herr Sandberger berichtet in Fortsetzung seiner Beethoven-
studien über einen im Bischöfl. Archiv zu liegensburg befind-
lichen Brief von Antonie Brentano an J. M. Sailer in Landshut,
der über die Absicht Beethovens, seinen Neffen Karl 1819
der Obhut Sailers zu übergeben, weiter aufklärt. Antonie Bren-
tanovermittelt zwischen ihren beiden Freunden, schildert in Kürze
die durch Karls sittenlose Mutter verschuldete Sachlage und
charakterisiert Beethoven in prächtiger Weise. Der Aufsatz
erscheint im nächstfälligen Jahrbuch der Musikbibliothek Peters.
Herr Crusius legte vor eine Arbeit des korrespondierenden
Mitgliedes Karl Robert:
Archäologische Miszellen.
Seit der Auffindung einer (von Premerstein trefflich er-
gänzten) Inschrift wird die Kleobis-Biton Legende bei Hero-
dot meist als geschichtlich angesehen. Robert sucht die Ver-
mutung zu begründen, daß Kleobis und Biton Delpher waren,
die dort den Kult einer mütterlichen Göttin einführten (rdv
Mardga edyayov). Der zweite wurde dann mit dem gleich-
namigen Argiver identifiziert, dessen Statue, mit einem Stier
auf den Schultern, auf dem dortigen Markte stand. So bildete
sich die von Herodot berichtete Legende.
Das Urbild der Chimaira wird in dem weiblichen Dämon
mit Ziegenkopf vermutet, der auf kretischen Siegelabdrücken
dargestellt ist.
Die Bezeichnung Polos für den weiblichen Kopfputz der
Griechen wird als unberechtigt nachgewiesen. Sie geht auf
die symbolische Deutung eines Pindar-Kommentators zurück,
der den Ausdruck Tvxv ffegenohg mißverstanden hatte.
12
Sitzung am 3. Juni.
Herr Muncker hielt einen für die Sitzungsberichte be-
stimmten Vortrag:
Anschauungen über den englischen Staat und
das englische Volk in der deutschen Literatur
der letzten vier Jahrhunderte.
Im 16. Jahrhundert liegt den deutschen Schriftstellern im
allgemeinen England noch zu fern, als da(3 sie sich ernster
um die dortigen Verhältnisse bekümmert hätten. Die unmittel-
baren Einwirkungen der englischen Literatur auf die deutsche
beginnen erst zu Ende dieses Jahrhunderts. Wenn schon be-
trächtlich früher Erasmus begeistertes Lob über König Hein-
rich VHI. und seinen Hof äußerte und Luther denselben König
auf das heftigste bekämpfte, so sah jener in Heinrich fast nur
den Förderer humanistischer Gelehrsamkeit, dieser den (ur-
sprünglichen) Verteidiger der katholisch -kirchlichen Lehre.
Einseitig offenbarte sich in diesen Urteilen die wissenschaft-
liche und die religiöse Geistesrichtung beider Männer; über
das englische Volk sprachen sie sich nicht aus.
Hundert Jahre später regte die große englische Rebellion
und namentlich die Hinrichtung König Karls L (1649) auch
unsere deutschen Dichter mächtig auf. Der, welcher die eng-
lischen Ereignisse in nächster Nähe miterlebte, Weckherlin,
hielt mit der eignen Meinung vorsichtig zurück. Gryphius aber
und Zesen, Hofmannswaldau, Lohenstein und Happel erklärten
sich gemäß ihrer Überzeugung von dem göttlichen Recht und
der persönlichen Unverletzlichkeit des Herrschers meist leiden-
schaftlich für Karl L und gegen den Königsmord, aber nicht
gegen das englische Volk, das ihnen in seiner Mehrheit sogar
als königstreu, aber verführt und unterdrückt durch Cromwell
und seine Partei galt. Kühler urteilte über den König nur
Lohenstein, über das englische Volk namentlich Happel.
Im 18. Jahrhundert wuchs der Einfluß der englischen Lite-
ratur auf die deutsche ungemein. Die Begeisterung für Eng-
Sitzung am 3. Juni. 13
lands Dichter führte denn auch bald zu schwärmerischer Ver-
ehrung Englands überhaupt, so besonders bei dem jungen Klop-
stock und seinen Anhängern, hernach wieder im Zeitalter des
Sturms und Drangs. Der ältere Klopstock aber wandte sich,
erschreckt durch die zunehmende Anglomanie, entschieden feind-
lich gegen das einst vergötterte Volk, während Moser, Sturz
und Lichtenberg ruhigere und klarere Anschauungen über Eng-
land auf Grund eigner Reisen dahin verbreiteten. Um die-
selbe Zeit brachte Schröder zuerst den Engländer als Lust-
spielfigur auf die deutsche Bühne, auf der er, mehr und mehr
ins Possenhafte sich entwickelnd, ziemlich bis zur Gegenwart
als dankbare Rolle geblieben ist.
Die literarische Vorliebe für die Engländer, die vielfach
auch noch für unsere Klassiker maßgebend war, wurde im
Anfang des 19. Jahrhunderts durch das vaterländische Empfin-
den abgelöst, das in England den Bundesgenossen im Kampf
gegen Napoleon erblickte, den unbesiegten, somit jeder Be-
wunderung würdigen Feind des Weltherrschers. Eine wirk-
liche Kenntnis des englischen Landes und Volkes verrieten erst
(seit 1830) die ausführlichen, sachlichen, liebevoll -gerechten
Reiseberichte des Fürsten Fückler- Muskau. Das politische
Leben Englands, das sie nur flüchtig streiften, schilderte gleich-
zeitig Heine genauer im Sinn der freiheitlichen Bestrebungen
jener Jahre. Seine Anschauungen klangen bald stärker bald
schwächer in den nun immer häufiger werdenden Äußerungen
deutscher Dichter über England bis auf die neueste Zeit nach.
Herr Rehm machte in Ergänzung des von ihm am 6. Mai
gehaltenen Vortrages Mitteilung von einer Windscheibe aus
Rom, die, heute verschollen, in Paciaudis Monumenta Pelo-
ponnesia veröffentlicht ist. Sie schafft endgültig Klarheit über
das Windsystem des Timosthenes. Eine Besprechung des Stückes
wird in die angekündigte Abhandlung eingefügt werden.
14
Sitzung am 1. Juli.
Herr Scherman sprach
über bengalische Ged acht nisp fahle des München er
Ethnographischen Museums und verwandte
völkerkundliche Materialien.
Unter den indischen Beständen des hiesigen Museums be-
findet sich eine Reihe unproportionierter, schmaler und hoher
Holzschnitzereien, die auf den ersten Blick von allem abstechen,
was man an indischer Technik zu werten gewohnt ist. Es sind
6 Pfähle, die nach der Aufschrift in Bengalen Berchokath —
jedenfalls mit , Holzturm' zu übersetzen — genannt werden und
an den Ufern des Ganges und anderen heiligen Plätzen Auf-
stellung fanden.
Fünf dieser Schnitzereien stammen von Lamarepicquot,
einem französischen Naturforscher, der während der Jahre 1821
— 23 und 1826 — 29 sich in Indien aufgehalten hat. Die Aus-
beute dieser und anderer überseeischer Reisen hat König Lud-
wig I. im Jahre 1841 für 27000 bayerische Gulden angekauft.
Das 6. (unvollkommene) Stück haben die Brüder Schlagintweit
von ihren indischen Reisen 1854 — 58 nach Europa gebracht.
Parallelen zu diesem Münchener Besitz sind in deutschen Museen
höchst selten zu finden (2 Pfähle hat Berlin, 1 Wien). Am
meisten bietet ein kleines französisches Provinzialmuseum in
Douai. Auf Meldung des Vortragenden über diesen Tatbestand
hat Kronprinz Rupprecht im Herbst 1915 Photographien der
dortigen Stücke mit den vorhandenen Inventarangaben — ein
Denkpfosten gilt dort als aus dem Kongo stammend ! — gnädigst
zur Verfügung gestellt.
Wenn auch diese Gedächtnispfosten in Einzelheiten siva-
itischen und vis^uitischen Kult verraten, so entsprechen doch
die Monumente als Ganzes genommen nicht dem Wesen des
Hinduismus. Es scheint, daß die ethnologische Erklärung eher
von der Seite der Aboriginer-Stämme Hinterindiens zu erwarten
ist, bei deren Totenkult Stein- und Holzdenkmäler eine weit
Sitzung am 1. Juli. 15
größere Rolle spielen. Diesen Bräuchen stehen einige vorder-
indische nahe und zwar gerade bei solchen Stämmen, von denen
wir schon wissen, daß sie sprachlich mit den eben genannten
Völkerschaften Hinterindiens in Verbindung zu setzen sind.
Der Vortrag wird in den Denkschriften erscheinen.
Herr Crusius legte vor eine für die Denkschriften bestimmte
Abhandlung des korrespondierenden Mitgliedes Franz Boll in
Heidelberg :
Antike Beobachtung farbiger Sterne. Mit einem
Beitrag von Carl Bezold.
So hohen Wert die abschließende Darstellung der Ergeb-
nisse der antiken Astronomie im Almagest des Ptolemaios für
uns besitzt, so ist mit ihr doch zugleich der durch die übrigen
Quellen nicht genügend ausgeglichene Nachteil einseitiger Aus-
wahl des Stoifes gegeben. Hier treten einerseits die babylo-
nischen Keilinschriften, andererseits aber die erst in den letzten
20 Jahren wieder ernstlicher erforschte und aus zahllosen Hand-
schriften ans Licht gebrachte Tradition der griechischen Astro-
logie ergänzend ein, die auch für die Geschichte der antiken
Wissenschaft, vor allem der aus astrologischem Interesse
im Orient noch mehr als in Griechenland gepflegten beob-
achtenden Astronomie ein ungemein reiches Material liefert.
Ein bisher unbeachtetes Kapitel der Tetrabiblos des Ptolemaios,
das nachweislich auf babylonischen Quellen beruht, erhält seinen
Sinn und seine besondere Bedeutung durch die Erkenntnis, daß
hier in freilich nicht sofort verständlicher Form eine Fülle
von vielfach erstaunlich richtigen Farbenbeobachtungen für
die Fixsterne im Tierkreis und am nördlichen und südlichen
Himmel überliefert ist. Eine große Anzahl verwandter Nach-
richten, vor allem in griechischer, aber auch in babylonischer
Sprache, ergänzt das Bild dieser merkwürdigen antiken Vor-
stufe eines erst neuerdings wieder systematisch gepflegten Teiles
der Himmelskunde. Die letzte Absicht bei diesen Beobach-
tungen war rein astrologisch: man suchte die Wirkung dieser
16 Sitzung am 1. Juli.
Fixsterne zu erkennen, aber man mußte zu diesem Zweck vor-
her ihre »Mischung*, d. h. ihre besondere Zusammensetzung
wissen, und man glaubte diese aus den Farben entnehmen
zu können. Durch den Nachweis dieser naiven Vorwegnahme
eines in der Spektralanalyse mit wissenschaftlichen Mitteln durch-
geführten Prinzips wird zugleich von einem nicht geringen Teil
der antiken Astrologie der Anschein spielerischer Willkür ge-
nommen und in ihr der Versuch zu einer primitiven Kosmo-
physik erkannt, die sich allerdings noch durchaus in religiöse
Formen kleidet. Es wird mit jenen griechischen Texten zu-
gleich ein neuer Prüfstein für die bisher vollzogenen und hier
neu bestätigten Identifizierungen babylonischer Sternbilder und
Sterne gewonnen ; die schon seit 40 Jahren bekannte, aber mit
den bisherigen Mitteln nicht zu erklärende Liste der Lumaschi-
und Tikpi-Sterne wird durch ihre neue Einreihung unmittel-
bar erschlossen. Im Schlußkapitel werden die in Betracht
kommenden Angaben der babylonisch-assyrischen Keilschrift-
texte zusammengestellt.
Herr Vollmer legte eine Arbeit von Dr. Paul Lehmann vor :
Mitteilungen über die mittelalterlichen Hand-
schriften desK.B. Nationalmuseums inMünchen.
Sie wird in den Sitzungsberichten erscheinen.
17
Sitzung am 4. November.
Herr Muncker legte eine Abhandlung des korrespondieren-
den Mitglieds Hermann Fischer in Tübingen über
Gottfried von Straßburg
vor. Der Verfasser prüft noch einmal die gesamte bisherige
Forschung über Gottfrieds Herkunft, Stand, Bildung und dich-
terische Werke und führt sie selbständig weiter. Er gelangt
zu dem Wahrscheinlichkeitsbeweis, daß der Dichter des „Tristan"
zunächst eine theologisch-gelehrte Bildung, wohl an einer geist-
lichen Schule in Straßburg, erhalten habe und dann erst mit
der ritterlich-weltlichen Literatur und der französischen Sprache,
vielleicht auf einer Reise nach Paris, gründlich bekannt ge-
worden sei. Er sucht Gottfried unter den Geistlichen oder den
nicht ritterbürtigen Ministerialen des Bistums Straßburg und
nimmt mit Hermann Kurz an, daß wahrscheinlich doch auch
der von Franz Pfeiffer ihm abgesprochene Lobgesang auf die
Jungfrau Maria sein Werk sei, jedoch schon seiner Jugendzeit
vor dem „Tristan" angehöre.
Die Abhandlung wird in den Sitzungsberichten gedruckt
werden.
Herr Wölfflin sprach über eine Reichenauer Handschrift
vom Anfang des XL Jahrhunderts,
das Perikopenbuch Heinrich H. in München
(Clm. 4452 = Cim. 57).
In der scheinbaren Erstarrung der Form, die man hier gerade
gegenüber den nächst vorangehenden Handschriften der Schule
immer als Verfall empfunden hat, läßt sich ein ganz bestimmter
Formwille nachweisen, der der Großartigkeit nicht entbehrt und
durch gewisse Gebahrungen des modernen Expressionismus uns
besonders verständlich werden kann. Es wurde versucht, den
Stil der Handschrift allseitig zu bestimmen. Auf den gleichen
Meister muß wohl die Apokalypse in Bamberg (A. H. 42) zurück-
geführt werden, eine Arbeit, die durch ihre künstlerische Bedeu-
tung alle übrigen Leistungen der Schule weit hinter sich läßt.
18
Sitzung am 2. Dezember.
Herr Vossleb berichtete über seine
Untersuchungen der Gedichte des Trobadors,
Peire Cardinal aus Le Puy,
von denen er mehrere Proben in Übersetzung gab. Ein Teil
der Sirventes Cardinais ist unter dem Eindruck der Ereignisse
des Albigenserkriegs (1209 — 1229) entstanden und weist Spuren
der damaligen Bemühungen um Vertiefung des religiösen und
sittlichen Bewußtseins auf. Ohne den Sekten der Albigenser
und der Waldenser angehört zu haben sympathisiert der Dichter,
der offenbar katholischer Geistlicher war, in mancher Hinsicht
mit ihnen. Kein anderer Trobador hat wie er die Stimmungen
Motive und Stilformen der mittellateinischen religiösen und
satirischen Klerikerdichtung in die altprovenzalische Lyrik ein-
geführt und in ähnlich geistvoller Art, bald pathetisch bald
witzig, die weltliche mit der kirchlichen Kunst seiner Zeit
vereinigt.
19
Verzeichnis der im Jahre 1916 eingelaufenen Drucicschriften.
Die Gesellscbaften und Institute, mit welchen unsere Akademie in Tauschverkehr steht,
werden gebeten, nachstehendes Verzeichnis als Empfangsbestätigung zu betrachten.
Aachen. Geschichtsverein:
Zeitschrift, Bd. 37, 1915.
— K. Kroat.-slavon. -dalmatinisches Landesarchiv:
Vjestnik, Bd. 17, Heft 3/4; Bd. 18, Heft 1.
— Kroat. Naturwissenschaftliche Gesellschaft:
Glasnik, Bd. 27, No. 3/4; Bd. 28, No. 1-4.
AUegheny. Observatory:
Publications, vol. III, No. 19-23.
Amsterdam. K. Academie van Wetenschappen:
— — Verhandelingen, afd. Natuurkunde, I. sectie, deel XII, 1, 2.
— — Verslagen en vergaderingen, deel 24, No. 1, 2.
Verhandelingen, afd. Letterkunde, Nieuwe Reeks, deel XVI,
3-5; deel XVIII, 6; deel XIX, 1.
Jaarboek 1915.
Prijsvers 1916.
— K. N. aardrijkskundig Genootschap:
Tijdschrift, deel 33, No. 1, 2, 3b, 4-6; deel 34, No. 1.
— Wiskundig Genootschap (Societe de mathemat.):
— — Nieuw archief, 2. Reeks, deel 11, stuk 1—4; deel 12, stuk 1.
Wiskundige opgaven, deel 11, stuk 7; deel 12, stuk 1 — 3.
— — Revue des publications mathem., tom. 22, partie 2; tom. 23,
partie 1, 2; tom. 24, partie 1, 2.
— Zoologisch Genootschap:
Bijdragen, tom. 20, 2.
Annaberg. Verein für Geschichte:
Mitteilungen, Heft 14/15.
Aschafifenburg. K. Humanistisches Gymnasium:
Jahresbericht 1915/16 und Programm von Straub.
Augsburg. Historischer Verein:
Zeitschrift, 42. Jahrg., 1916.
Sitzgsb. d. philos.-philol. u. d. bist. Kl. Jahrg. 1916, ^
20 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
Baltimore. Johns Hopkins University:
Bulletin of the Johns Hopkins Hospital, No. 299—301.
Bamberg. K. Altes Gymnasium:
Jahresbericht 1915/16 mit Programm von Klaiber.
— K. Neues Gymnasium:
Jahresbericht 1915/16.
— K. Lehrerbildungsanstalt:
42. Jahresbericht, 1915/16.
— Historischer Verein:
Jahresbericht 73, 1915/16.
Barcelona. R. Academia de Ciencias y Artes:
Boletin, vol. 3, No. 6, 7.
Memorias, vol. 11, No. 24—30; vol. 12, No. 1, 2, 4, 11-17.
Festschrift zum 150 jährigen Bestand, 1915.
Basel. Naturforschende Gesellschaft:
Verhandlungen, Bd. 27.
— Universität:
— — Schriften der Universität aus dem Jahre 1916 in 4^ und 8®.
Bastia. Societe des sciences historiques et naturelles:
Bulletin, fasc. 331—333.
Batavia. R. Magnetical and Meteorological Observatory:
— — Observations, raade at secondary stations. Regenfall, Text und
Atlas, 1914.
Regenwaarnemingen, vol. 35, No. 2; vol. 36, No. 2.
Seismological, Bulletin 1916, No. 4, 5.
— Kon. Natuurkundige Vereenigung in Nederlandsch-Indie:
Tijdschrift, deel 73.
Bayreuth. K. Humanistisches Gymnasium:
— — Jahresbericht 1915/16 mit Programm.
Bergzabern. K. Progymnasium:
Jahresbericht 1915/16.
Berkeley. University of California:
Bulletin, third Serie, vol. V, No. 1, 2.
Publications, Semitic Philologie, vol. 6, No. 1, 2 (1-321).
Berlin. K. Preuß. Akademie der Wissenschaften:
,,, „ r Philos.-histor. Klasse, 1915, 7, 8; 1916, 1—4.
— - Abhandlungen | pj^y^ikal.-math. Klasse, 1916, 1.
Sitzungsberichte 1915, 41—53; 1916, 1—40.
— — Corpus inscriptionum Latinarum, vol. XIII, 4.
— Archiv der Mathematik und Physik:
Archiv, Bd. 24, Nr. 4; Bd. 25, Nr. 1—3.
— K. Bibliothek:
Jahresbericht 1915/16.
Verzeichnis der eingelaufenen Druckscliriften, 21
Berlin. Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft:
Geschäftsbericht 1915/16.
— Deutsche Chemische Gesellschaft:
Berichte, 48. Jahrg., Nr. 18; 49. Jahrg., Nr. 2—17; 50. Jahrg., Nr. 1.
— Deutsche Geologische Gesellschaft:
Abhandlungen, Bd. 67, Heft 3, 4; Bd. 68, Heft 1, 2.
Monatsberichte 1915, Nr. 8-12; 1916, Nr. 1-3.
— Medizinische Gesellschaft:
Verhandlungen, Bd. 46, 1916.
— Deutsche Physikalische Gesellschaft:
Die Fortschritte der Physik, 70. Jahrg., 1914, 1—3.
Verhandlungen, Jahrg. 18, Nr. 1—23.
— Physiologische Gesellschaft:
— — Verhandlungen, Jahrg. 40, 1915.
— Redaktion des „Jahrbuch über die Fortschritte der Mathe-
matik*:
Jahrbuch, Bd. 44, Heft 1.
— Kais. Deutsches Archäologisches Institut (röm. Abteilung
s. unter Rom):
Jahrbuch, Bd. 30, Heft 4; Bd. 31, Heft 1/2 u. Bibliographie, 1915.
Antike Denkmäler, Bd. 3, Heft 3, 1916.
— Kaiser Wilhelms-Institut für physikalische Chemie und
Elektrochemie:
2. und 3. Jahresbericht 1913/14 und 1914/15.
Abhandlungen, Bd. 2 und 3.
— K. Meteorologisches Institut:
Veröffentlichungen, Nr. 289— 291.
— Preuß. Geologische Landesanstalt:
Abhandlungen, N. F., Heft 55, III a, 64, 65, 69, 79, 80, 82.
— — Jahrbuch, Bd. 33, II, 3; Bd. 34, II, 3; Bd. 35, I, 2, 3; II, 1, 2;
Bd. 36, I, 1, 2.
— — Beiträge zur geolog. Erforschung der deutschen Schutzgebiete,
Heft 8—12.
Montanstatistik des deutschen Reiches, B. 1915, Text u. Atlas.
— Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums:
34. Bericht.
Schriften, Bd. 4, Heft 3/4; Bd. 5, Heft 1—3.
— K. Astronomisches Recheninstitut:
Berliner Astronomisches Jahrbuch für 1918.
Kleine Planeten, Jahrg. 1917.
— K. Sternwarte:
Veröifentlichungen, Bd. 2, Heft 1.
h*
22 Verzeiclanis der eingelaufenen Druckschriften.
Berlin. Verein zur Beförderung des Gartenbaues in den preuß.
Staaten:
Gartenflora, Jahrg. 1916, Nr. 1-24, 1.
— Verein für Geschichte der Mark Brandenburg:
Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte,
Bd. 28, 2. Hälfte; Bd. 29, 1. Hälfte.
— Verein für die Geschichte Berlins:
Mitteilungen 1916, Nr. 1-3, 5—13.
— Zeitschrift für Instrumentenkunde:
— — Zeitschrift, 36. Jahrg., Nr. 1-12.
— Zentralstelle für Balneologie:
Veröffentlichungen, Bd. III, Heft 1, 2.
Bern. Schweizerische Naturforschende Gesellschaft:
Actes de la 97. Session, tom. 1, 2.
— Allg. Geschichtsforschende Gesellschaft der Schweiz:
Quellen zur Schweizer Geschichte, N. F., Bd. 3, Abt. 3, 1.
Jahrbuch, Bd. 41.
— Historischer Verein des Kantons Bern:
Archiv, Bd. 23, 1.
— üniversitätskanzlei:
Schriften der Universität, 1914/15 und 1915/16.
Beuron. Bibliothek der Erzabtei:
Verkade Cenninis, Handbüchlein der Kunst, Jahr 1916.
Bistritz. Deutsches Gewerbelehrlingsinstitut:
Jahresbericht 40.
Boston. American Urological Association:
Transactions, vol. 9, 1915.
— Museum of Fine Arts:
Bulletin, No. 80, 81, 83, 84.
Bremen. Meteorologisches Observatorium:
Jahrbuch, 26. Jahrg., 1915.
Breslau. Schlesische Gesellschaft für Vaterländische Kultur:
92. Jahresbericht 1914, I, II.
— Technische Hochschule:
Personalverzeichnis, S.-S. 1916; W.-S. 1916/17.
Bromberg. Stadtbibliothek:
Jahresbericht 1913/14, 1915.
Jahresbericht 13 und 14 der deutschen Gesellschaft.
Mitteilungen der Stadtbibliothek, Jahrg. 7, Nr. 5—12; Jahrg. 8,
Nr. 1-4.
— Kaiser Wilhelms-Institut für Landwirtschaft:
Jahresbericht 1914.
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 23
Brunn. Mährisches Landesniuseum:
— — Casopis, Navzatil 1916.
— Verein für die Geschichte Mährens und Schlesiens:
Zeitschrift, 20. Jahrg., Heft 1/2, 3/4.
Budapest. Ungarische Ethnographische Gesellschaft:
Ethnographia, Jahrg. 26, Heft 4-6; Jahrg. 27, Heft 1-5.
— Ungarische volkswirtschaftliche Gesellschaft:
Közgazdasägi Szemle, Bd. 55, Heft 1-5; Bd. 56, Heft 1 - 6.
Bibliographie 1913, März bis Dez.; 1914, Jan.— Dez.
— Ungarisches Nationalmuseum:
Ertesitöje, XVI. Jahrg., 1—4.
— K. Ungarische Geologische Reichsänstalt:
Földtani Közlöny, Bd. 43, Heft 10-12; Bd. 44, Heft 1-12; Bd. 45,
Heft 4—12.
Jahrbuch, Bd. 22, Nr. 3-5; Bd. 23, Nr. 1—6.
Mitteilungen aus dem Jahrbuch, Bd. 21, Nr. 4-9; Bd. 22, Nr. 1
bis 4 und 6; Bd. 23, Nr. 1, 3, 5, 6.
Sektionsblatt, Zone 12, Kol. 17 und 29; Zone 13, Kol. 17 und 18;
Zone 26/27, Kol. 25.
Jahresbericht 1913, Nr. 1, 2; 1914, Nr. 1, 2.
— K. Ungarische Ornithologische Zentrale:
Aquila 22, 1915.
Buitenzorg (Java). Departement van landbouw:
Mededeelingen van de afdeeling voor planten ziekten, No. 18.
— — Mededeelingen voor thee, No. 37—40.
— — Mededeelingen uit den kulturtuin, No. 4, 5.
Bukarest. Academia Rom an ä:
Bulletin de la section scientifique de l'Academie Roumaine 1915/16,
No. 7—10.
Bulletin de la section historique, annee 3, No. 2.
— Redaktion „L'Independance Albanaise":
Annee II, No. 15-23.
— Societe des Scißnces:
Bulletin, anul 24, No. 5/6.
Burghausen. K. Humanistisches Gymnasium:
— — Jahresbericht 1915/16.
Cambridge (Mass.). Tufts College (Mass.):
Studies, vol. 4, No. 1, 2.
Circulars, No. 189, 190, 4P.
Annual Report, No. 69, 70.
Chicago. The Open Court:
The Open Court, No. 715—718, 724, 725.
24 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
t
Chicago. The Open Court:
The Monist, vol. XXVI, No. 1, 3.
— Oberlin College Library (Ornitholog. Club):
The Wilson Bulletin, vol. 26, No. 92, 93; vol. 28, No. 2.
— John Cr'erar Library:
21*^ Report for the year 1915.
— Field Museum of Natural History:
Publications, No. 184, 185.
— University Library:
The astrophysical Journal, vol. 43, No. 1 — 5; vol. 44, No. 1.
Chur. Historisch-antiquarische Gesellschaft für Graubünden:
45. Jahresbericht, 1915.
Gincinnati. Society of Natural History:
Journal, vol. 21, No. 4.
— University:
University Studies, vol. 10, No. 1.
Claremont. Pomona College:
Journal of entomology, vol. 7, No. 4.
Cleveland. Archaeological Institute of America:
American Journal of Archaeology, vol. 19, No. 4; vol. 20, No. 2, 3.
Colmar. Naturhistorische Gesellschaft:
— — Mitteilungen, N. F., Bd. 13, 1914/15.
Danzig. Westpreußischer Geschichtsverein:
Mitteilungen, Jahrg. 15, Nr. 1—4.
Zeitschrift, Heft 56.
— Naturforschende Gesellschaft:
— — Schriften, Bd. XIV, Heft 2.
— Technische Hochschule:
Schriften des Jahres 1915/16.
Personal Verzeichnis S.-S. 1915; S.-S. 1916.
— Westpreußischer Botanisch-zoologischer Verein:
Bericht 38.
Darmstadt. Firma E. Merck:
Jahresbericht 39, 1915.
— Historischer Verein für das Großherzogtum Hessen:
Archiv für hessische Geschichte, N. F., Bd. 10, Heft 1-3; Bd. 11,
Heft 1.
Quartalblätter, 5. Bd., Nr. 13-18.
Davos. Meteorologische Station:
Wetterkarten 1915, Nr. 12; 1916, Nr. 1-12.
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 25
Dessau. Verein für Anhaltische Geschichte:
Mitteilungen, N. F., Heft 3.
Dillingen. Historischer Verein:
Archiv für die Geschichte des Hochstifts Augsburg, Bd. 3, Ab-
teilung II, Register, 3. u. 4. Lief.; 5. Bd., 1. u. 2. Lief.
— K. Lyzeum:
Jahresbericht 1915/16.
Dresden. K. Sächsischer Altertumsverein:
— — Neues Archiv für sächsische Geschichte, Bd. 36 u. 37.
Jahresbericht 1915.
— K. Sächsische Landes-Wetterwarte:
Deutsches meteorologisches Jahrbuch, Bd. 30, 1912, Nr. 2; Bd. 31,
1913, Nr. 1.
Dekaden-Monatsberichte 1914, Jahrg. 17.
— Flora, K. Sachs. Gesellschaft für Botanik und Gartenbau:
Jahrg. 18/19.
— Redaktion des Journals für praktische Chemie:
Journal 1916, Nr. 1-17.
— Verein für die Geschichte Dresdens:
Dresdener Geschichtsblätter, Bd. 24, 1, 2; Bd. 25, 1—4. Register
zu Bd. 22-25.
Dürkheim. Pollichia:
Mitteilungen, Nr. 29, 1916.
— Progymnasium:
Jahresbericht 1915/16.
Einbeck. Verein für Geschichte und Altertümer:
10. Jahresbericht 1913-15,
Eisenach. Karl Friedrich-Gynjnasium:
Jahresbericht für 1915/16.
Emden. Naturforschende Gesellschaft:
— — 99. und 100. Jahresbericht.
Festschrift 1814—1914.
— Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Alter-
tümer:
Jahrbuch, Bd. 19, 1 und Register zu Bd. 1 — 18.
Upstalsboom-Blätter, Jahrg. 5, No. 1—5; Jahrg. 6, No. 1—6.
Erfurt. Verein für Geschichte und Altertumskunde von Erfurt:
Mitteilungen, Heft 36 und 37.
Erlangen. K. Humanistisches Gymnasium:
— - Jahresbericht 1915/16.
26 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
Frankfurt a. M. Senckenbergische Naturforschende Gesell-
schaft:
— — Abhandlungen, Bd. 36, 2.
— Physikalischer Verein:
Jahresbericht 1914/15 und 1915/16.
Frankfurt a. 0. Naturwissenschaftlicher Verein für den Regie-
rungsbezirk Frankfurt a. 0.:
Helios, Bd. 28.
Preiburg i. Br. Naturforschende Gesellschaft:
Berichte, Bd. 21, Heft 2.
— Universität:
Schriften aus dem Jahre 1916.
— Kirchengeschichtlicher Verein:
Diözesanarchiv, Bd. 42 und 44.
Priedrichshafen. Verein zur Geschichte des Bodensees:
Schriften, Heft 45, 1916.
Ftlrth. K. Humanistisches Gymnasium:
Jahresbericht 1915/16.
Genf. Conservatoire et jardin botanique:
Annuaire 18/19.
— Redaktion des , Journal de chimie physique":
Journal, tom. XIV, No. 1—3.
— Societe d'histoire et d'archeologie:
Bulletin, tom. 4, livr. 2.
Memoires in 8^ vol. 33, No. 3.
Memoires et documents, tom. 4, 1915.
— Societe de physique et d'histoire naturelle:
^ — Memoires, vol. 38, fasc. 4, 5.
— — Compte rendu des seances 32, 1915.
— Observatoire:
Resümee m^teorolog. de Tannee 1914.
Observations des fortifications de St. Maurice 1914.
— Universität:
— — Theses 1913/14, 1914/15.
Giessen. Gesellschaft für Natur- und Heilkundfe:
Bericht, N. F., medizinische Abteilung, Bd. 9 u. 10; N. F., natur-
wissenschaftliche Abteilung, Bd. 6.
Göttingen. K. Gesellschaft der Wissenschaften:
Göttingische Gelehrte Anzeigen 1916, Nr. 1 — 12.
Abhandlungen, N. F.: a) Philol.-histor. Klasse, Bd. 16, Nr. 1;
b) Mathem.-phys. Klasse, Bd. 10, Heft 2—4.
Nachrichten: a) Philol.-hist. Klasse, 1915, Heft 3 und Beiheft;
1916, Heft 1-5 und Beiheft; b) Math.-phys. Klasse, 1915, Heft 2
und 3; 1916, Heft 1; c) Geschäftliche Mitteilungen, 1916, Heft 1.
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 27
Graz. Universität:
Verzeichnis der Vorlesungen im S.-S. 1916, W.-S. 1916/17.
— — Verzeichnis der akademischen Behörden etc., 1916/17.
— Historischer Verein für Steiermark:
Zeitschrift, Jahrg. 13, 1-4; 14, 1—4; 15, 1-4.
Greifswald. Naturwissenschaftlicher Verein:
Mitteilungen, Jahrg. 45, 1913.
Grimma. Fürsten- und Landesschule:
Jahresbericht 1915/16, 4«.
Groningen. Niederländ. botanische Gesellschaft:
— — Recueil, vol. XI, 1—4.
Archief 1914.
Grünstadt. K. Progymnasium:
Jahresbericht 1915/16.
Guben. Gesellschaft für Anthropologie und Altertumskunde:
Niederlausitzer Mitteilungen, Bd. 13, Heft 1—4.
Gunzenhausen. K. Realschule:
Jahresbericht 1913, 1915/16.
Haag. K. Instituut yoor de Taal-, Land- en Volkenkunde van
Nederlandsch-Indie:
Bijdragen, VIL Reeks, deel 71, afl. 3/4; deel 72, afl. 1-4.
Haarlem. Hollandsche Maatschappy der Wetenschappen:
Archives neerlandaises des sciences exactes et naturelles, ser. III B,
tom. 3, livr. 1.
Hall. Historischer Verein für das Württemberg. Franken:
Württemberg. Franken, N. F., Heft 11, 1915.
Halle. K. Leopoldinisch-Karolinische Deutsche Akademie der
Naturforscher:
Nova Acta, Bd. 100 und 101.
Leopoldina, Heft 52, No. 1—12.
— Deutsche Morgenländische Gesellschaft:
Zeitschrift, Bd. 70,' Heft 1-4.
Abhandlungen, Bd. 13, Heft 2, 3.
— Universität:
Verzeichnis der Vorlesungen, S.-S. 1916; W.-S. 1916/17.
— Thüringisch-Sächsischer Verein für Erforschung des vater-
ländischen Altertums:
Jahresbericht 1895/96, 1914/15.
— — Zeitschrift für Geschichte und Kunst, Bd. 5, Heft 1, 2.
— Naturwissenschaftlicher Verein für Sachsen u. Thüringen:
Zeitschrift für Naturwissenschaften, Bd. 85, Nr. 1—6; Bd. 86, Nr. 1.
28 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
Hamburg. Stadtbibliothek: '
Jahrbuch der wissenschaftlichen Anstalten Hamburgs, Jahrg. 32,
1914, Beiheft 1—9.
Staatshaushaltsberechnung 1914, 49.
Entwurf des hamburgischen Staatsbudgets für 1916, 4®.
Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft 1915, 4^.
— Mathematische Gesellschaft:
Mitteilungen, Bd. V, Heft 5.
— Deutsche Seewarte:
Annalen der Hydrographie, Jahrg. 44, Nr. 1 — 12.
Ergebnisse der meteorologischen Beobachtungen, Jahrg. 37.
— Verein für Hamburgische Geschichte:
— — Mitteilungen, 35. Jahrg., 1915.
— Naturwissenschaftlicher Verein:
Verhandlungen, HI, 23, 1915.
— Verein für naturwissenschaftl. Unterhaltung:
Verhandlungen, Bd. 15, 1910—13.
Hannover. Verein für Geschichte der Stadt Hannover:
Hannoverische Geschichtsblätter, 19. Jahrg., Heft 1—4.
— Historischer Verein für Niedersachsen:
Zeitschrift, Jahrg. 1914, Heft 1—4; Jahrg. 1915, Heft 1—4.
Heidelberg. Akademie der Wissenschaften:
Sitzungsberichte: a) philol.-histor. Klasse, 1916, No. 1 — 11, 14;
b) mathem.-naturw. Klasse, 1914, B, Nr. 1; 1915, A, Nr. 14; 1916,
A, Nr. 1-11, B, Nr. 2-5.
— — Jahresheft 1915.
— Reichs-Limes-Kommission:
Der obergermanisch-rätische Limes des Römerreiches, Lief. 42.
— Sternwarte:
VeröflFentlichungen des Astronomischen Instituts, Bd. 7, Nr. 6.
— Universität:
Schriften der Universität aus dem Jahre 1916 in 49 und 8^.
Gothein, Krieg und Wirtschaft.
Bauer, Vorgeschichte der Union in Baden, Jahrg. 19, Heft 2.
— Historisch-philosophischer Verein:
— — Neue Heidelberger Jahrbücher, Jahrg. 19, Heft 2.
— Naturhistorisch-medizinischer Verein:
Verhandlungen, Bd. 13, Heft 2.
Hermannstadt. Verein für siebenbürgische Landeskunde:
Festschrift 1914.
Hildburghausen. Verein für Sachsen-Meiningische Geschichte:
Verhandlungen und Mitteilungen, Bd. 64, 1—6.
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 29
Igl6. Ungarischer Karpathen-Verein:
— — Jahrbuch, 43. Jahrg., 1916.
Ingolstadt. Historischer Verein:
Sammelblatt, Heft 35.
Ithaca. Journal of Physical Chemistry:
The Journal, vol. 18, No. 7—9.
Jassy. Societe des medecins et naturalistes:
Bulletin, annee 29, 1—12; ann^e 30, 1—4.
Jena. Medizinisch-naturwissenschaftliche Gesellschaft:
Jenaische Zeitschrift für Naturwissenschaft, Bd. 54, Heft 1, 2.
— Verlag der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift:
Wochenschrift 1916, Nr. 1—52.
Karlsruhe. Badische Historische Kommission:
Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, N. F., Bd. 31,
Heft 1-4.
Windelband, Verwaltung etc. 1917.
— Zentralbureau für Meteorologie und Hydrographie:
— — Jahresbericht für die Jahre 1914 und 1915.
— Naturwissenschaftlicher Verein:
Verhandlungen, Bd. 26, 1912-16.
Kassel. Verein für hessische Geschichte und Landeskunde:
Zeitschrift, Bd. 49, 1915.
Mitteilungen 1914/15.
— Verein für Naturkunde:
— — Abhandlungen und Bericht, 54.
Kaufbeuren. Verein „Heimat*:
r Deutsche Gaue, Heft 321-340, Sonderheft 96.
Kempten. K. Humanistisches Gymnasium:
Jahresbericht 1915/16.
Kiel. Gesellschaft für schleswig-holsteinische Geschichte:
Zeitschrift, Bd. 45, 1915 und Register zu Bd. 31-40.
Quellen und Forschungen, Bd. 3.
— Naturwissenschaftlicher Verein für Schleswig-Holstein:
Schriften, Bd. 16, Heft 2.
Köln. Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde:
35. Jahresbericht, 1915.
Konstantinopel. Institut d'histoire Ottomane:
Revue historique 1910, No. 33, 34.
Kopenhagen. K.Akademie der Wissenschaften:
Ö versigt 1915, No. 5, 6; 1916, No. 1—3.
30 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
Kopenhagen. K.Akademie der Wissenschaften:
— — Memoires, Section des sciences, ser. 7, tom. 12, No. 7; ser. 8, tom. 1,
No. 3, tom. 2, No. 1—3, 5.
Gertz, Aggesen 1916.
— Botanisk Haves Bibliothek:
Arbejder, No. 76-78.
— Carlsberg-Laboratorium:
Comptes rendus des travaux, vol. 11, No. 5.
— Conseil permanent international pour l'exploration de
la mer:
— — Rapports et proces verbaux, vol. 22, 23.
— Kommissionen for Havunders0gelser:
Hausen-Ostenfeld, De Dansk farvantes Plankton i aarene 1898
bis 1901. Kob. 1916.
Jacobsen, De internat. Havunders0gelser. Kob. 1916.
Middelelser, Serie Fiskeri, Bd. Y, 1 und 2.
— Observatorium:
Publikationer og mindre meddelelser frä, No. 23 — 25.
— Dänische biologische Station:
Report No. 22.
— Studiengesellschaft für soziale Folgen des Krieges:
No. 1.
Krakau. Historische Gesellschaft:
Biblioteka, No. 51.
— Numismatische Gesellschaft:
Wiadomosci 1916, No. 1—12.
Laibach. Musealverein für Krain:
Carniola, Bd. 7, No. 1—3.
Landau (Pfalz). K. Humanistisches Gymnasium:
Jahresbericht 1915/16.
Landsberg a. L. K.Realschule:
38. Jahresbericht 1915/16.
Landshut. Historischer Verein:
— — Verhandlungen, Bd. 52.
La Plata. Universidad Nacional:
Contribucion al estudio de las ciencias, Serie fisica, vol. 1, entr. 5.
Lausanne. Societe Vaudoise des sciences naturelles:
Bulletin, No. 187—190.
Leiden. s'Rijks Herbarium:
Mededeelingen, No. 21 — 27.
— Maatschappij der Nederlandsche Letterkunde:
Handelingen en Mededeelingen 1914/15.
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 31
Leiden. Maatschappij der Nederlandsche Letterkunde:
— — Levensberichten 1914/15.
— Redaktion des .Museum":
— — Museum, maandblad voor philologie en geschiedenis, Jahrg. 23,
No. 5—12; Jahrg. 24, No. 1—4.
— Redaktion der .Mnemosyne":
Mnemosyne, N. S., Bd. 44, No. 2-4; B 1. 45, No. 1.
Leipzig. Redaktion der Beiblätter zu den Annalen der Physik:
Beiblätter, 1915, Nr. 24; 1916, Nr. 1—20.
— K. Gesellschaft der Wissenschaften:
Abhandlungen der philol.-hist. Klasse, Bd. 33, Nr. 1—3; Bd. 34,
Nr. 1, 2.
— — Abhandlungen der math.-phys. Klasse, Bd. 34, Nr. 1, 2; Bd. 35,
Nr. 1, 2.
Berichte über die Verhandlungen der philol.-hist. Klasse, Bd. 67,
Nr. 3; Bd. 68, Nr. 1-4.
Berichte über die Verhandlungen der math.-phys. Klasse, Bd. 67,
Nr. 3, 4; Bd. 68, Nr. 1, 2.
— Fürstlich Jablonowskische Gesellschaft:
— — Jahresbericht 1916.
— Thomasschule:
Bericht 1915/16.
Lemberg. K. K. Franzens-Universität:
— — Programm der Vorlesungen 1916/17.
Lindenberg. K. Preuß. Aeronautisches Observatorium:
Ergebnisse der Arbeiten, Bd. 10 und 11.
Linz. Museum Francisco-Carolinum:
74. Jahresbericht.
Lohr. K. Humanistisches Gymnasium:
Jahresbericht 1915/16 mit Programm.
Ludwigshafen a. Rh. K. Oberrealschule:
— — Jahresbericht 1914/15 und 1915/16 und Programm.
Lund. Redaktion von „Botaniska Notiser":
Notiser, 1916, No. 1—6.
— Kulturhist. förening och Museum:
Redogßjrelse for 1915/16.
— Filologiska föreningen:
Spragliga uppsatser 4.
— Universität:
Acta, N. Ser., aft. I, 10, 1914; 11, 1915; aft. II, 10, 1914; 11, 1915.
Bibelforskaren 1915, 1—6.
— — Arskrift, Kyrkohistorisk, Jahrg. 16, 1915.
32 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
Madrid. R. Academia de la historia:
Boleh'n, tom. 6S, No. 1, 4—6; tom. 69, No. 1, 2, 5.
Mainz. Altertumsverein:
Mainzer Zeitschrift, Jahrg. 10, 1915.
Mannheim. Altertumsverein:
Mannheimer Geschichtsblätter, 17. Jahrg., 1916, Nr. 1 — 12.
Marbach. Schwäbischer Schillerverein:
Rechenschaftsbericht 19, 1914/15; 20, 1915/16.
Marburg. Gesellschaft zur Beförderung der gesamten Natur-
wissenschaft:
Sitzungsberichte 1915, 1866, 2, 1869—1886, 1889—95.
Marnheim (Pfalz). Realanstalt am Donnersberg:
Jahresbericht 1915/16.
Meiningen. Henneberg, altertumsforsch. Verein:
Neue Beiträge, Jahrg. 27.
Meissen. Fürsten- und Landesschule St. Afra:
— — Jahresbericht für das Jahr 1915/16, 4^.
Metten. K. Gymnasium:
Jahresbericht 1915/16 mit Programm von Geiger.
Minneapolis. University of Minnesota Library:
Agricultur Experimental Studies. Bulletin, No. 135-137.
Mount Hamilton (California). Lick Observatory:
Bulletin, vol. VII, No. 276, 281—287 und Titel und Register zu
Nr. 207—242 und 243—277.
München. Statistisches Amt:
Hygiene und soziale Fürsorge in München (Einzelschriften, Nr. 12).
— K. Hydrotechnisches Bureau:
Flußnivellement 1915.
Wassermessungen, Donaugebiet 1911—15.
, Rhein-, Elbe- und Wesergebiet 1911-15.
Abhandlungen: Häuser, Wolkenbruch in Augsburg.
n Specht, Regenfälle in Bayern.
— K. Ludwigs-Gymnasium:
Jahresbericht 1915/16.
— K. Luitpold-Gymnasium:
Jahresbericht 1915/16 und Programm.
— K. Theresien-Gymnasium:
Jahresbericht 1915/16 mit Programm von Greger.
— K. Wilhelms-Gymnasium:
Jahresbericht 1915/16.
— K. Witteisbacher Gymnasium:
Jahresbericht 1915/16.
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 33
München. K. Realgymnasium:
52. Jahresbericht, 1915/16 und Beilage.
— K. Technische Hochschule:
Programm lür das Studienjahr 1916/17.
Personalstand im S.-S. 1916.
— Metropolitan-Kapitel München-Freising:
— — Schematismus der Geistlichkeit für das Jahr 1915/16.
— — Amtsblatt der Erzdiözese München und Freising 1916 mit Register.
— K. Luitpold-Kreisoberrealschule:
9. Jahresbericht 1915/16 mit Beilage.
— K. Gisela-Kreisrealschule:
12. Jahresbericht 1915/16.
— K. Maria Theresia Kreisrealschule:
— — 17. Jahresbericht 1915/16.
— K. Universität:
— — Personalstand, S.-S. 1916 und W.-S. 1916/17.
Schriften aus dem Jahre 1915/16 in 4^ und 8^.
Verzeichnis der Vorlesungen, S.-S. 1916 und W.-S. 1916/17.
— Arztlicher Verein:
Sitzungsberichte, Bd. 25, 1915.
— Historischer Verein von Oberbajern in München:
Oberbayerisches Archiv, Bd. 60, Heft 2.
Altbayerische Monatschrift, Jahrg. 13, Heft 3.
— Verein zur Gründung eines Mädchengymnasiums:
21. Jahresbericht 1915/16.
— K. Meteorologische Zentralstation:
— — Übersicht über die Witterungsverhältnisse im Königreich Bayern
1915, Nr. 12; 1916, Nr. 1—11.
— — Veröffentlichungen: Deutsches meteorologisches Jahrbuch (Bayern)
für 1914.
Münster. Westfäl. Provinzialverein für Wissenschaft u. Kunst:
Jahresbericht 43, 1914/15.
— Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens:
— — Zeitschrift für vaterländische Geschichte, Bd. 73, 2.
Neapel. Stazione zoologica:
Mitteilungen, Bd. 22, Heft 11, 12.
Neuchätel. Societe Neuchäteloise de geographie:
Bulletin, tom. 25, 1916.
New Haven. Yale University Library:
Yale Review, N. S., vol. 5, No. 4; vol. 6, No. 1.
New York. American Museum of Natural History:
Journal, vol. 15, No. 8; vol. 16, No. 1, 3—6.
34 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
New York. Botanical Garden Library:
Bulletin, vol. 8, No. 34.
— American Geographical Society:
Geographical Review, vol. 1, No. 1 — 4 und 6; vol. 2, No. 1—5.
— American Mathematical Society:
Bulletin, No. 244—250.
— — Transactions, vol. 17, No. 1—3.
— Zoological Society:
Zoologica, vol. 1, No. 12 — 14; vol. 2, No. 5.
Nürnberg. Naturhistorische Gesellschaft:
Abhandlungen, Bd. 19, No. 4.
Jahresbericht 1912-15.
— K. Altes Gymnasium:
Jahresbericht 1915/16 mit Beilage.
— K. Neues Gymnasium:
Jahresbericht 1915/16 mit Programm.
— Germanisches Nationalmuseum:
Anzeiger 1915, Nr. 1—4.
0-Gyalla (Ungarn). Astrophysikalisches Observatorium:
Kleinere Veröffentlichungen, Nr. 2—5, 7, 10, 11, 13, 14.
Thage von Konkoly. — L. Terkan.
Osnabrück. Verein für Geschichte und Landeskunde:
— — Mitteilungen, Bd. 39, 1916.
Paderborn. Verein für Geschichte und Altertumskunde West-
falens:
Zeitschrift, Bd. 73, 1.
Paris. Redaction „La paix par le droit":
La paix, annee25, No. 21—24; annee 26, No. 3-6, 12—15, 17—22.
Pasing. K. Progymnasium:
6. Jahresbericht 1915/16.
Passan. K. Lyzeum:
Jahresbericht 1915/16.
Philadelphia. Pennsylvania Museum and School of industrial
art:
Bulletin No. 53, 55, 56.
Report 40, 1916.
— Histcrical Society of Pennsylvania:
The Pennsylvania Magazine of History, vol. 37, No. 156—160.
Plauen. Altertumsverein:
Mitteilungen, 26. Jahresschrift, 1916.
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 35
Plauen. Gymnasium:
27. Jahresbericht, 1915/16.
Pola. Hydrographisches Amt der K. K. Kriegsmarine:
Veröffentlichungen, Nr. 37.
Posen. Historische Gesellschaft:
Zeitschrift, Jahrg- 29, Heft 2.
— — Historische Monatsblätter, Jahrg. 16, Nr. 1—12.
Warschauer Geschichte der Provinz Posen, 1914.
Potsdam. Geodätisches Institut:
Veröffentlichungen, N. F., Nr. 64—69.
— Zentralbureau der internationalen Erdmessung:
Veröffentlichungen, Nr. 29, 30.
Prag. K. Böhmische Gesellschaft der Wissenschaften:
Sitzungsberichte der philos.-hist. Klasse, 1915; der math.-naturwiss.
Klasse, 1915.
— Deutscher naturwissenschaftlich-medizinischer Verein
für Böhmen „Lotos":
Lotos, Naturwissenschaftliche Zeitschrift, Bd. 63, Nr. 1 — 10.
Abhandlungen, Bd. IV, Heft 1, 2.
— — Naturwissenschaftliche Schriften, Nr. 1.
— Cechoslavisches Museum:
Narodpisny Vestnik öeskoslovansky, Bd. 11, Nr. 1 — 3.
— K. K. Sternwarte:
Magnetische und meteorologische Beobachtungen, Jahrg. 75, 1914;
Jahrg. 76, 1915.
— Verein böhmischer Mathematiker:
— — Casopis, Rocnik 43, eislo 1—5; Rocnik 44, cislo 1 — 5; Rocnfk 45,
cislo 1—3.
Sbornik, cislo 13, 1915.
— Deutsche Karl Ferdinands-Universität:
Ordnung der Vorlesungen, S.-S. 1916; W.-S. 1916/17.
Personalstand 1914/15 und 1915/16.
Inauguration des Rektors 1915/16.
Regensburg. K. Neues Gymnasium:
Jahresbericht für 1915/16 und Programm von Patin.
— Historischer Verein:
Verhandlungen, Bd. 66.
Rio de Janeiro. Biblioteca nacional:
Annaes, vol. 31—34, 1909—12.
Relatorio 1908-14.
Calogeras. — A. Tavares de Lyra. — Poesias de Euaristo Ferreira
da Veiga, 1915.
Sitzgsb. d. philos.-philol. u. d. bist. Kl. Jahrg. 1916. ^ C
36 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
Rom. Accademia Pontificia de' Nuovi Lincei:
Atti, anno 68, sessione 2—7; anno 69, sessione 1-7.
Memorie, serie II, vol. 1, 1915.
— Kaiserl. Deutsches Archäologisches Institut:
Mitteilungen, Bd. 30, Nr. 1—4 und Tafeln.
— Specola Vaticana:
— — Publicazioni, vol. 8, 1916.
Rosenheim. Gymnasium:
Jahresberichte für 1915/16.
Rostock. Universität:
Schriften aus den Jahren 1914/15 und 1915/16 in 49 und 8^.
Saargemünd. Gymnasium mit Realabteilung:
45. Jahresbericht, 1915/16.
Salzburg. K. K. Staatsgymnasium:
Programm für das Jahr 1915/16.
— Gesellschaft für Salzburgische Landeskunde:
Mitteilungen 56, 1916.
Sarajevo. Landesmuseum:
Glasnik 27, 1915, Nr. 3, 4.
Schleusingen. Hennebergischer Geschichtsverein:
— — Schriften Nr. 3—9.
Schweinfnrt. K. Realschule:
Jahresbericht 1915/16.
Schwerin. Verein für mecklenburgische Geschichte:
Jahrbücher und Jahresberichte, Jahrg. 80.
Sofia. Societe archeologique Bulgare:
— — Bulletin, vol. 4, 1914; vol. 5, 1915.
Spalato. K. K. Archäologisches Museum:
Bulletino di archaeologia e storia Dalmata, vol. 35, 1912, No. 1—12.
Speier. Historischer Verein der Pfalz:
Mitteilungen, Bd. 36.
Stade. Verein für Geschichte und Altertümer etc.:
Stader Archiv, N. F., Heft 6, 1916.
Stavanger. Museum:
— — Aarshefte for 1915, vol. 26.
Stettin. Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Alter-
tumskunde:
Baltische Studien, N. F., Bd. 19, 1916.
Monatsblätter 1915, Nr. 1 — 12.
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 37
Stockholm. K. Akademie der Wissenschaften:
Handlingar, Bd. 51, No. 1-11; Bd. 53, No. 1— 5; Bd. 55, No. 1-6.
Arkiv för Zoologi, Bd. 9, No. 3, 4; Bd. 10, No. 1-3.
Arkiv för Kemi, Bd. 6, No. 1—3.
Arkiv för Botanik, Bd. 14, No. 2, 3.
Arkiv för Matematik, astronomie och fysik, Bd. 10, No. 4; Bd. 11,
No. 1-3.
Meddelanden frän Nobel-Institut, Bd. 3, No. 3.
Arsbök for är 1915 und 1916.
— — Meteorologiska Jakttagelser i Sverige, vol. 56.
Astronomiska Jakttagelser i Sverige, Bd. 10, No. 3, 4.
— — Berzelius Bref II, 2.
— — Dahlgren, Personförteckningar 1739 — 1915.
Lefnadsteckningar V, 1.
— K. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademie:
Fornvännen, Argangen 10, 1915.
— K. Landtbruks-Akademie:
Handlingar och tidskrift, Bd. 55, 1916, No. 1—8.
— K. Bibliothek:
— — Akzessionskatalog 30, 1915.
— Entomologiska föreningen:
Tidskrift, Jahrg. 37, 1916, No. 1—4.
— Geologiska Föreningens:
— — Förhandlingar, Bd. 38, No. 1—7.
— Nationalekonomiska föreningen:
Förhandlingar 1915.
— Schwedische Gesellschaft für Anthropologie und Geo-
graphie:
Ymer, Jahrg. 35, Heft 4; Jahrg. 36, Heft 1—3.
— Nordiska Museet:
— — Fataburen 1915, Heft 1—4.
— Reichsarchiv:
Meddelanden, N. F., I, No. 36-41; II, No. 5.
Svenska Ricks ädets protokoll, Bd. 14, 1650.
— Forstliche Versuchsanstalt:
Meddelanden, Heft 12, 1915.
Strassburg. K. Hauptstation für Erdbebenforschung:
Seismometrische Aufzeichnungen 1914, Nr. 17— 51; 1915, Nr. 1—23;
1916, Nr. 1-24.
— Wissenschaftliche Gesellschaft:
Schriften 25-29.
38 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
Strassburg. Internationale Kommission für wissenschaftliche
Luftschiffahrt:
1912, Heft 10-12.
— Universitätsbibliothek:
Schriften 1914/15.
Straubing. Gymnasium:
Jahresbericht 1915/16 und Programm.
— Historischer Verein:
Jahresbericht 18, 1915.
Stuttgart. K. Landesbibliothek:
Fischer, Schwäbisches Wörterbuch, Lief. 52, 53.
— Württemberg. Kommission für Landesgeschichte:
Vierteljahreshefte für Landesgeschichte, N. F., Jahrg. 24, Heft 3/4;
Jahrg. 25.
— — Württemberger Geschichtsquellen, Bd. 19.
— K. Württembergisches Statistisches Landesamt:
Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde,
Jahrg. 1915, Heft 2.
— K. Württembergisches Geh. Haus- und Staatsarchiv:
Urkunden und Akten, I. Abteil., 1, 1, 1916.
Tokyo. Mathematico-Physical Society:
Proceedings, 2<i ser., vol. 8, No. 9—11, 13—17, 20.
Tromsö. Museum:
Aarshefter 37, 1914.
Aarsberetning for 1914.
Tübingen. Universität:
— — Uni versitäts- Schriften 14.
Upsala. K.Universität:
Linnö-Skrifter, Afd. II, 1.
— — Eranos, Acta philol. Suecana, vol. 14, fasc. 3/4.
— Meteorologisches Observatorium der Universität:
Bulletin mensol., vol. 40, 1914; vol. 47, 1915.
Utrecht. Historisch Genootschap:
Bijdragen en mededeelingen, deel 36. Regeis 1915.
Werken, ser. III, No. 34-36.
— Provincial Utrechtsch Genootschap:
Aanteekeningen 1916.
— Institut Royal Meteorologique des Pays-Bas:
Annuaire 1914, A, B.
Mededeelingen en Verhandelingen, No. 20.
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 39
Utrecht. Institut Royal Meteorologique des Pays-Bas:
Overzicht, Jahrg. 12, No. 12; Jahrg. 13, No. 1—12.
— - Onweders 1913, deel 34.
Publicacion No. 108.
— Obseryatoire astronomique:
— — Recherches, vol. 6, 1916.
— Physiol. Laborat. d. Hoogeschool:
Onderzoekingen, vol. V, No. 17.
Washington. U. S. Department of Agriculture:
Yearbook 1915.
— — Journal of the agricultural Researche, vol. 5, No. 11 — 22, 25, 26;
vol. 6, No. 2, 3, 5-8, 10—16, 18, 19, 21—26; vol. 7, No. 1 — 10.
— Department of Commerce:
— — Special publications No. 35.
— Bureau of American Ethnology:
Bulletin No. 57, 58, 62.
— Bureau of railway economics:
Bulletin No. 85-87, 89, 92-94, 96.
— Smithsonian Institution:
Annual Report 1913 und 1914.
— U. S. Naval Observatory:
— — Annual Report for 1914 und 1915.
Weihenstephan. A. Akademie für Landwirtschaft und Brauerei:
— — Bericht 1915/16.
Weimar. Thüring. botanischer Verein:
Mitteilungen, N. F., Heft 33.
Wernigerode. Harzverein für Geschichte:
Zeitschrift, Jahrg. 48, Heft 1—3; Jahrg. 49, Heft 1, 2.
Wien. Kaiserl. Akademie der Wissenschaften:
Sitzungsberichte: a) der philos.-histor. Klasse, Bd. 179, Abh. 2
u. 6; Bd. 180, Abh. 2-5; Bd. 181, Abh. 1 u. 5; Bd. 182, Abh. 1;
b) der math.-naturwiss. Klasse, Bd. 124, Abt. I, Abh. 5—7; Abt. IIa,
Abh. 5— 10; Abt. IIb, Abh. 5— 10; Bd. 125, Abt. I, Abh. 1—4 u.
8—10; Abt. IIa, Abh. 1—6; Abt. IIb, Abh. 1-5.
Denkschriften der philos.-histor. Klasse, Bd. 57, 58 u. 59*; math.-
naturwiss. Klasse, Bd. 91.
Anzeiger (math.-naturwiss. Klasse) 1916, Nr. 1 — 27.
Almanach 1915, 65. Bd.
Archiv für österreichische Geschichte, Bd. 105, 1. Hälfte.
— K. K. Gesellschaft der Ärzte:
-■ Wiener Klinische Wochenschrift 1916, Nr. 1^52,
40 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
Wien. Zoologisch-botanische Gesells(?haft:
Verhandlungen, Bd. 66, Nr. 1-5.
Abhandlungen, Bd. 9, Nr. 2.
— K. K. Naturhistorisches Hofmuseum:
— — Annalen, Bd. 29, Nr. 3/4; Bd. 30, Nr. 1/2.
— Israelitisch-theologische Lehranstalt:
Jahresbericht 23.
— K. K. Geologische Reichsanstalt:
Verhandlungen 1915, Nr. 15-18; 1916, Nr. 1—12.
Jahrbuch, Bd. 64, Heft 4; Bd. 65, Heft 1—4.
Geologische Karte, Lief. 12, 1913; Lief. 13, 1914 und Erläuterungen
Nr. 29a, 114, 115a, 117a, 126a.
Wiesbaden. Verein für Nassauische Altertumskunde:
Annalen, Bd. 43, 1914 und 1915.
Mitteilungen, Jahrg. 18 und 19.
— Verein für Naturkunde:
— — Jahrbücher, Jahrg. 68.
Wolfenbüttel. Geschichtsverein für das Herzogtum Braun-
schweig:
— — Jahrbuch, 14. Jahrg.
Braunschweigisches Magazin, Bd. 21, 4®.
Wtlrzburg. Physikalisch-medizinische Gesellschaft:
Sitzungsberichte, 1915, Nr. 1 — 5.
Verhandlungen, N. F., Bd. 44, Heft 1, 2.
— K. Altes Gymnasium:
Jahresbericht 1915/16 mit Programm von Widder,
— K. Neues Gymnasium:
Jahresbericht 1915/16 mit Programm.
— K. Universität:
Verzeichnis der Vorlesungen, S.-S. 1916.
Personalstand W.-S. 1915/16 und 1916/17, S.-S. 1916.
— Historischer Verein:
Archiv, Bd. 57.
Jahresbericht für 1914.
Wansiedel. K. Realschule:
Jahresbericht 1915/16.
Zürich. Naturforschende Gesellschaft:
Viertel Jahresschrift, Jahrg. 60, Heft 3/4; Jahrg. 61, Heft 1/2.
Neujahrsblatt 118.
— Schweizerische Geodätische Kommission:
Astronomisch-geodätische Arbeiten, Bd. 15, 1916,
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 41
Zürich. Schweizerische Geologische Kommission:
— — Beiträge zur geologischen Karte der Schweiz, N. F., Lief. 44 und
46, 1, 2 mit Erläuterungen Nr. 18.
— Schweizerisches Landesmuseum:
Anzeiger für Schweizerische Altertumskunde, N. F., Bd. 17, Nr. 4;
Bd. 18, Nr. 1-3.
24. Jahresbericht, 1915.
— Bibliothek des Eidgenössischen Polytechnikums:
Dissertationen 1916.
Programm, S.-S. 1916, W.-S. 1916/17.
— Schweizerische meteorologische Zentralanstalt:
Annalen, 51. Jahrg., 1914.
Zweibrücken. K. Humanistisches Gymnasium:
Jahresbericht 1915/16 mit Programm.
Geschenke von Privatpersonen, öeschäftsürmen und Redaktionen:
Abreu, J. Capistrano de:
— rä-txa hu-ni-ku-i^ Rio de Janeiro 1914.
Adamkiewicz, Albert:
— Abrechnung u. Entlarvung (S.-A. aus ,Der Forscher"). Hannover 1916.
Albert, E.:
— 40 Jahre Reproduktionstechnik, 1856—1916. München 1916.
Bees, Nikos A. in Berlin -Wilmersdorf:
— Verzeichnis der griechischen Handschriften des peloponnesischen
Klosters Mega Spilaeon, Bd. 1. Leipzig 1915.
— Ein angebliches Autograph des Kaisers Nikephoros Phokas. Leipzig
1916.
Berger, Emil:
— Zur Geschichte eines optischen Instrumentes, eine soziologische
Studie. Bern 1916.
Böhlau, Weimar:
— Zeitschrift für Rechtsgeschichte (3 Abteilungen), Bd. 37, 1916.
Fauth, Ph., Landstuhl:
— 25 Jahre Planetenforschung, beobachtungstechnische Erfahrungen
und Ergebnisse. Kaiserslautern 1916.
Götz, Optische Anstalt Berlin-Friedenau :
— Die totale Sonnenfinsternis vom 21. August 1914.
42 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften,
Habich, Gg.:
— Die deutschen Medailleure des 16. Jahrhunderts. Halle 1916.
'EXXrjvo^ivrjfAOiv, Niog:
— Bd. 10.
Mehlis, C:
— Neuzeitliche Ruinen im Pfälzerwalde.
— Die geologische Bezirkssammlung zu Neustadt a. H.
— Gewitterstraße und Sturmflut.
— Grenzstein von der „Schmalstraße" bei Neustadt a. H.
— Die Felskluft am Studerbildkopf.
— Zur Wiligartisburg.
— Zu den vorgeschichtlichen Eisenbarren.
Mörikofer, Walter:
— Klimatische Normalwerte für Basel. Basel 1916.
Moravek, Gottlieb:
— Allgemeine Beweise der Gültigkeit des letzten Fermatschen Satzes.
München, Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie:
— Jahrbuch für das 15. und 16. Schuljahr.
Mönchen, Gesellschaft Münchener Germanisten:
— Abhandlungen zur deutschen Literaturgeschichte. Franz Muncker
zum 60. Geburtstag dargebracht. München 1916.
Neudegger, Max:
— Zum Weltkrieg 1914 — 16. Geschichts- und kulturpolitische Be-
trachtungen. München 1916.
Ross, Herm.:
— Die Pflanzengallen Bayerns u. der angrenzenden Gebiete. Jena 1916.
Rüdin, Ernst:
— ' Studien über Vererbung und Entstehung geistiger Störungen.
Berlin 1916. (Aus Neurologie und Psychiatrie, Heft 12.)
Ruths, Gh.:
— Neue Relationen im Sonnensysteme und Universum.
Holba, Stefan, Budapest:
— Eine neue Bahn in das Reich der Algebra (Fermatscher Satz).
Je cht, Görlitz:
— Oberlausitzer Hussitenkrieg, 2 Bde. Görlitz 1911 und 1916.
— Quellen zur Geschichte der Stadt Görlitz bis 1600. Görlitz 1909.
Illeck, Joseph:
— Richtig gestellte Theorie der Schwingungen gespannter Saiten.
KuU, J. V., München:
— Preisverhältnisse seltener Münzen und Schaustücke des Hauses
Witteisbach in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 4d
Kuli, J. V., München:
— Die Wappenbilder des Gesamthauses Witteisbach, insbesondere
auf Münzen der pfälzischen Linie.
Legat, Maurice:
— Bibliographie du calcul des variations depuis les origines jusqu'
ä 1850.
Leipzig, Deutsche Bücherei:
— Denkschrift zur Einweihung der Deutschen Bücherei 191G.
Liebermann, F.:
— Die Gesetze der Angelsachen, 3. Bd. Halle 1916.
Loeb, James:
— Die Terrakotten der Sammlung Loeb, herausgegeben von Joh.
Sieveking, 1. Bd. München 1916.
Luschin von Ebengreuth, Wien:
— Österreichs Anfänge in der Adria. Vortrag, 1916.
Serkowski, St.:
— Über den Einfluß gewisser physikal.- chemischer Faktoren auf Prä-
zipitation und Agglutination (S.-A.).
Teubner, B. G., Leipzig:
— Encyclopedie des sciences mathematiques, tome V, vol. 1, fasc. 1;
tome II, vol. 4, fasc. 2; tome IV, vol. 2, fasc. 2; tome II, vol. 6,
fasc. 2; tome VI, vol. 2, fasc. 1.
— Enzyklopädie des Islam, Lief. 22 (1916).
— Enzyklopädie der mathemat. Wissenschaften, Bd. II, 1, Heft 9;
Bd. V, 3, Heft 1.
Voigt, Andreas:
— Die Teilbarkeit der Potenzsummen und Fermatscher Satz (S.-A.).
Wahrmund, Ludwig:
— Quellen zur Geschichte des römisch -kanonischen Prozesses im
Mittelalter, Bd. 3, Heft 1. Innsbruck 1916.
Wetterhoff, F.:
— Finnland im Lichte des Weltkriegs. Berlin 1916.
Zeitschrift für Assyriologie, Bd. 30, Heft 3 und 4.
Zeller, Joseph:
— Das Prämonstratenserstift Adelberg 1178 — 1476.
— Beiträge zur Geschichte der Melker Reform im Bistum Augsburg.
M
/
Sitzungsberichte
der
Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Philosophisch-philologische und historische Klasse
Jahrgang 1916, 1. Abhandlung
//A 1'^-^
Der Kampf um die Leibeigenschaft
in Livland
von
Hang Pratz
Vorgetragen am 5. Februar 1916
^#
München 1916
Verlag der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
in Kommission des G. Franz'schen Verlags (J. Roth)
/
Sitzungsberichte
der
Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Philosophisch-philologische und historische Klasse
Jahrgang 1916, 1. Abhandlung
Der Kampf um die Leibeigenschaft
in Livland
von
Hans Prutz
Vorgetragen am 5. Februar 1916
München 1916
Verlag der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
in Kommission des G. Franz'schen Verlags (J. Roth)
Nahezu hundert Jahre sind verflossen, seit — im Jahr 1817 —
Franz Gabriel Graf von Bray, der Vater des bekannten
bayerischen Ministers Grafen Otto von Bray (gest. 1899), seinen
„Essai critique sur l'histoire de la Livonie suivi d'un
tableau de l'etat actuel de cette province" veröffentlichte.
Bekanntlich als jüngerer Sohn einer aus Ronen stammen-
den und dann in Amiens heimisch gewordenen Adelsfamilie in
erstgenannter Stadt am 27. September 1765 geboren,^) war
der junge Chevalier nach Empfang einer offenbar ungewöhn-
lich gründlichen und vielseitigen Bildung bestimmt, in den
Reihen der Malteserritter eine standesgemäße Versorgung zu
suchen. Durch den Dienst als Page in dem Hause der auver-
gnatischen Ordenszunge zu Lyon vorbereitet, ging er 1783
nach Malta. Der Zustand hoffnungslosen Verfalls und arger
sittlicher Verkommenheit, in dem der hochstrebende Jüngling
die einst so gefeierte Genossenschaft fand, bereitete ihm eine
tiefe Enttäuschung, die noch gesteigert wurde durch die Er-
fahrung, die er 1784 als Teilnehmer an einer „Karawane"
der Ordensflotte gegen Algier zu machen hatte. Der einzige
Gewinn, den er aus dem mehrjährigen Aufenthalt in La Valetta
schließlich mit heimnahm, war die intime persönliche Ver-
bindung mit dem Ordensmeister, dem Fürsten Emanuel de
Rohan-Paluc, der dem reichbegabten, strebsamen und leistungs-
fähigen Jüngling besonders wohlwollende Teilnahme erwies und
bis an sein Ende (1797) bewahrte. Sein Glück in dem Orden
zu suchen gab Bray danach auf: nach Frankreich zurück-
gekehrt, fand er in dem auswärtigen diplomatischen Dienst
1) Vgl. AUg. Deutsche Biographie, Bd. 55, S. 680-81 und „Aus dem
Leben eines Diplomaten alter Schule", Leipzig 1901.
1*
4 1. Abhandlung: Hans t*rutz
Verwendung, indem er der Gesandtschaft bei dem Reichstag
zu Regensburg beigegeben wurde, eine Stellung, die wohl be-
sonders geeignet war, ihn mit den verzwickten Verhältnissen
des dem Untergang entgegen siechenden Deutschen Reiches
bekannt zu machen, zugleich aber auch die Kräfte erkennen
zu lassen, die sich bei dem bevorstehenden Zusammenbruch
zu behaupten und Trägerinnen neuer politischer Bildungen zu
werden berufen waren. Auch knüpfte Bray dort über den
amtlichen Kreis hinaus, auf den er zunächst angewiesen war,
angenehme und anregende persönliche Verbindungen an, die
den Regensburger Aufenthalt überdauerten, wie er denn auch
in der Folge für die alte Reichsstadt eine besondere Vorliebe
bewahrt zu haben scheint, zumal er inzwischen infolge der
Revolution als Emigrant vaterlandslos geworden war. Eine
entscheidende Wendung in seinem Leben bewirkte die Teil-
nahme an der Gesandtschaft, welche dem als Großmeister an
die Spitze seines Ordens getretenen Kaiser Paul von Rußland
die Obedienzerklärung der bayerischen Malteser überbrachte.
Sie führte ihn zum ersten Mal nach Petersburg und lenkte die
Aufmerksamkeit seines Landsmannes, des leitenden bayerischen
Ministers Grafen Monfcgelas, auf ihn, der sich beeilte, eine
so vielversprechende Kraft für den Dienst des aufstrebenden
Staates zu gewinnen. Es ist bekannt, in wie hohem Maße
Bray als Gesandter Bayerns in Berlin, Petersburg, Paris und
Wien die auf ihn gesetzten Hoffnungen erfüllt hat. Dabei
arbeitete er, von seltener geistiger Beweglichkeit, scharfem
Blick und lebendiger Teilnahme auch für weitab liegende Dinge,
unausgesetzt an seiner Bildung fort.
Eindrücke der Jugend dürften es gewesen sein, die ihn
dabei eine gewisse realistische Richtung verfolgen ließen. Durch
den Vater, der während seines Aufenthalts in Nantes benach-
bartes Heideland urbar zu machen unternommen hatte, scheint
früh in ihm ein besonderes Interesse für die Landwirtschaft
erweckt worden zu sein: ihm entsprang und diente zugleich
die rege Beschäftigung mit der Nationalökonomie und den
Naturwissenschaften, insbesondere der Geologie und Zoologie,
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland. 5
vor allem aber der Botanik. Noch als Gesandter in Berlin
(1801 — 8) hat Brav nach dem Zeugnis des 1842 verstorbenen
Erlanger Professors der Staatswissenschaften J. P. Harb bei
diesem „auf ein Kollegium subskribiert."^) Von seinen selb-
ständigen und die Wissenschaft mannigfach fördernden bota-
nischen Studien hat die ^Königlich bayerische botanische Gesell-
schaft zu Regensburg*, zu deren Begründern und eifrigsten
Mitgliedern er gehörte und der er später als Präsident vor-
stand, vielfachen Gewinn gehabt. Um botanische Beobach-
tungen handelte es sich auch in dem nach Brajs Tod zu Ehren
seines Andenkens von der Gesellschaft 1833 veröffentlichten
Schriftchen „Weiland Seiner Exzellenz des Hochgeborenen Grafen
Gabriel von Bray . . . Wissenschaftliches Vermächtnis", worin
eine „Lettre ä la societe botanique de Ratisbonne" abgedruckt
ist, in der Bray über die botanischen Beobachtungen Bericht
erstattete, die er auf einer im Frühjahr 1831 unternommenen
Exkursion in das Salzkammergut und nach Salzburg gemacht
hatte. Ihr folgt die Beschreibung der feierlichen Sitzung der
Gesellschaft, in der diese am 24. Oktober 1832 das Andenken
ilires Präsidenten in besonders nachdrücklicher Weise geehrt
hatte. Beigegeben ist ein wohlgelungenes Bildnis desselben.
Auch die bayerische Akademie der Wissenschaften, der Bray
seit 1808 als Ehrenmitglied angehörte, erkannte seine wissen-
schaftlichen Verdienste durch eine akademische Gedächtnisrede
an, die der Botaniker K. F. Ph. von Martins (1794—1868)
hielt und die 1835 in Regensburg im Druck erschien.
Der erste größere literarische Versuch, mit dem Bray in
die Öffentlichkeit getreten war — ohne Nennung seines Namens
zwar, aber unter der durchsichtigen Chiffre eines „Chevalier
D. B., Conseiller intime d'Etat de S. M. le roi de Baviere"
— war das 1807 in Berlin erschienene Büchlein „Voyage
aux salines de Salzbourg et de Reichenhall et dans
une partie de Tyrol et de la Haute-Baviere", von dem
1) Nekrolog Weiland S. Exz. der Hochgeborene Franz Gabriel de Bray.
Von J. P. Harb, Erlangen 1834.
6 1. Abhandlung: Hans Prutz
*
er 1822 in Paris eine zweite, reich mit Ansichten geschmückte
Ausgabe erscheinen lassen konnte. Durchblättert man heute
diesen erstaunlich nüchternen Bericht über eine in Gesellschaft
Montgelas' unternommene Reise, in dem die Schilderung der
besuchten Gebiete trotz dem Eindruck ihrer landschaftlichen
Schönheit kaum einmal einen höheren Flug zu nehmen ver-
sucht, so mutet es freilich sonderbar an, die uns allen so wohl-
bekannten und lieben, heute allsommerlich von vielen Tausen-
den froh genießender Wanderer besuchten Berge, Täler und
Seen Oberbayerns und des Berchtesgadener und Salzburger
Landes, deren Namen dem Franzosen gelegentlich Schwierig-
keiten bereiteten und wunderlich entstellt erscheinen, gewisser-
maßen als ein bisher unbekanntes und erst neu entdecktes Ge-
biet geschildert zu finden. Andrerseits überrascht und erfreut
aber auch der sichere Blick, die gute Beobachtung und das
gesunde Urteil des Verfassers, der namentlich die wirtschaft-
lichen Verhältnisse in den Kreis seiner Betrachtungen zieht
und bei der Einschätzung von Land und Leuten sorgsam in
Rechnung stellt. Daß dabei Versehen und Irrtümer vorkom-
men und gelegentlich wunderliche Mißverständnisse mit unter-
laufen, kann nicht überraschen und tut der Verdienstlichkeit
der Studie für eine Zeit keinen Abbruch, wo eine derartige
Betrachtungsweise überhaupt noch neu war und gewisse dafür
eigentlich unentbehrliche Voraussetzungen noch fehlten. Daß
bei Bray diese vorhanden waren und er, wo ihm die Möglich-
keit zu gründlichen Studien geboten war, auch an eine größere
Aufgabe dieser Art sich mit Aussicht auf Erfolg wagen durfte,
zeigt der „Essai critique sur Fhistoire de la Livonie
suivi d'un tableau de Fetat actuel de cette province. Par
C. D. B., Membre de l'Academie royale des sciences de Munich,
President de la societe botanique de Ratisbonne" (3 Bände,
Dorpat 1817). Der darin zusammengetragene reiche Stoff ist
so verteilt, daß die beiden ersten Bände, als „Partie premiere"
zusammengehörig, in sechs Kapiteln die Geschichte Livlands
bis zum Frieden von Nystädt (1721) behandeln, unter sorg-
samer Benutzung der reichen älteren Literatur, die er auch in
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland. 7
der Einleitung zusammenstellt und im Allgemeinen kritisch
würdigt, wie auch die den einzelnen Abschnitten beigefügten
Anmerkungen und Beilagen dem Streben des Verfassers nach
geschichtlicher Wahrheit das beste Zeugnis ausstellen. Daß
diesem unter den für eine derartige Arbeit damals gegebenen
Bedingungen noch immer ziemlich enge Grenzen gezogen blieben,
braucht freilich kaum besonders bemerkt zu werden. Die dar-
aus entspringenden Mängel werden auch nicht ausgeglichen
durch die Vertrautheit des Verfassers mit Land und Leuten,
die sich vielfach in erfreulicher Weise bemerkbar macht. Denn
abgesehen von den mancherlei persönlichen Verbindungen, die
er als bayerischer Gesandter am russischen Hof für seine Studien
nutzbar machen konnte und deren Spuren man vielfach be-
gegnet, war Bray mit dem Lande durch ein besonderes Band
noch enger verknüpft und an dessen Gedeihen interessiert und
dadurch veranlaßt und in den Stand gesetzt, in manche sonst
wenig bekannte und selten beleuchtete Verhältnisse einen tie-
feren Blick zu tun: noch als bayerischer Gesandter in Berlin,
welchen Posten er 1801 — 8 bekleidete, hatte Bray, nachdem
er die bisher äußerlich noch festgehaltene Verbindung mit dem
Malteserorden gelöst hatte, indem er sich von seinem Gelübde
entbinden ließ, 1805 die Tochter eines dort lebenden livlän-
dischen Edelmanns, des Erbherrn auf Wolmarshof und Koken-
hausen, Freiherrn von Löwenstern, geheiratet und war so einem
der seit der schwedischen Zeit im Lande heimischen reich be-
güterten Adelsbäuser verwandtschaftlich verbunden. Wieder-
holter längerer Aufenthalt auf den Besitzungen seines Schwieger-
vaters, von denen das Ordensschloß Kokenhausen in der Landes-
geschichte eine hervorragende Rolle gespielt hatte, machte ihn
mit Land und Leuten genauer bekannt und ließ ihn nament-
lich für die Eigenart des lettischen Volks, wie sie sich in
Sprache, Lied und Brauch trotz allem Elend lebensvoll offen-
barte, Interesse und Verständnis gewinnen: die Abschnitte, in
denen er von diesen, auch dort zu Lande sonst wenig beach-
teten Dingen eingehend handelt, sind mit unverkennbarer Vor-
liebe ausgeführt. Umsomehr könnte es überraschen, daß Bray
8 1. Abhandlung: Hans Prutz
darauf verzichtet, von der Lage der lettischen Bauern ein ge-
naueres Bild zu geben, zumal doch gerade in den Jahren, in
denen sein Werk entstand, auf diesem Gebiet lebhafte Be-
wegung herrschte und die Bauernfrage Gegenstand erregter
Erörterungen war, die bei der mit einer schweren Krisis dro-
henden wirtschaftlichen Notlage des Adels und dem Drängen
der Regierung auf endliche Besserung der unhaltbar gewor-
denen Zustände zu rascher Entscheidung nötigten. Es ist für
Bray charakteristisch, daß er dieser Vorgänge, der durch sie
veranlaßten Kämpfe und der ihnen entspringenden Hoffnungen
und Befürchtungen überhaupt kaum Erwähnung tut, so daß
der Unkundige glauben möchte, es handle sich um ganz feste,
nicht mehr in unruhigem und beunruhigendem Fluß befind-
liche Vorgänge. Doch mag man zweifeln, ob er, der seine
Informationen natürlich dem Kreise der adeligen Großgrund-
besitzer, der Standes- und Interessengenossen des Herrn von
Löwenstern, verdankte, von diesen Dingen recht eingehende
Kenntnis hatte und nicht vielmehr auf solche Autorität hin
die Zustände als allgemein so beschaffen schilderte, wie sie
nach jener Herren Ansicht normaler Weise beschaffen sein
sollten, wie diese sie daher als zu Recht bestehend anerkannt
und geschildert zu sehen wünschten. Freilich war ja an der
bestehenden Ordnung ernstlich Kritik zu üben, ihre schweren
Mängel aufzudecken und Vorschläge zu deren Abstellung zu
machen in einem Buche kaum möglich, das von einem am
russischen Hof beglaubigten fremden Gesandten dem Kaiser
Alexander selbst ehrerbietigst gewidmet war, gewidmet in der
verehrungsvollen Bewunderung, mit der damals auch weite
Kreise Westeuropas gerade diesen Herrscher als die Verkör-
perung aller fürstlichen Vollkommenheit zu umschmeicheln
pflegten. Wenn Bray dabei beteuert, sich der Wahrheit, wie
diese ja auch der Kaiser liebe, befleißigt zu haben, so wird
ihm das für den geschichtlichen Teil seiner Arbeit vollauf
zugestanden werden müssen : dieselbe bezeichnet gegenüber den
früheren Versuchen, Livlands Geschichte darzustellen, einen
bedeutenden Fortschritt und ist in dieser Hinsicht mit Unrecht
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland. 9
allzu früh in Vergessenheit geraten. Auch hat sie das für
jene Zeit nicht gering anzuschlagende Verdienst, die eigen-
artige Natur des Landes gründlich geschildert und als bedin-
gende und bestimmende Grundlage für seine geschichtliche Ent-
wicklung zuerst recht zur Geltung gebracht zu haben : gerade
diese Art der Betrachtung entsprach des Verfassers realistisch
gerichteter Geistesart. Wo es aber tiefer zu graben, Ver-
irrungen und Mißbräuche aufzudecken und die zu ihrer Besei-
tigung gemachten Versuche recht zu würdigen und ihnen zu
kräftigerer Wirkung zu verhelfen gilt, da macht sich, möchte
man sagen, nicht bloß der Diplomat, sondern auch der Mann
des alten Regime geltend, dessen Denken zwar von der Auf-
klärung berührt ist, der sich aber der geschichtlich überkom-
menen traurigen Wirklichkeit gegenüber mit einer wohlwol-
lenden, seine humane Gesinnung bezeugenden Phrase begnügt
und damit genug getan zu haben meint. Wohl weist er be-
dauernd darauf hin, wie infolge des großen Umfangs der Pfarr-
sjirengel, der den Pastoren den regelmäßigen Besuch entlegner
Gemeinden unmöglich macht und daher zwischen ihnen und
den ihrer Obhut Befohlenen ein innigeres Verhältnis nicht auf-
kommen läßt, auch die Schule wenig leistet, so daß der Bil-
dungsstand der Letten ein bedauerlich niedriger bleibt, diese
insbesondere nicht Deutsch lernen und dadurch von der zur
allmählichen Verschmelzung mit den Deutschen unentbehrlichen
Lebensgemeinschaft mit diesen fern gehalten werden.^) Auch
wirft er zwar die elegische Frage auf, ob der Bauer in Liv-
land wohl glücklich zu nennen sei, begnügt sich aber mit der
das Wesen der Sache umgehenden Antwort, unmöglich könne
eine Nation glücklich sein, die weder Freiheit noch Eigentum
habe, fügt dann jedoch beschönigend die Bemerkung hinzu,
unter einem edeldenkenden und wohltätigen Herrn werde in
den fruchtbaren Teilen des Landes ein fleißiger Bauer, nament-
lich wenn er daneben ein Handwerk betreibe, immerhin zu
Wohlstand gelangen, ja sogar reich werden können : dann ge-
\
1) III, S. 125.
10 1. Abhandlung; Hans Prutz
nieße wenigstens der physische Mensch das damit verbundene
Wohlbehagen, doch schließe dieses sozusagen passive Glück
das Nachdenken aus. Denn der unfreie Mensch, der über
seinen Zustand nachdenke, könne nur unglücklich sein. Das
ist immerhin deutlich genug gesprochen und läßt keinen Zweifel
über das Urteil, das Bray sich in der Stille über die Lage der
Bauern in Livland gebildet hatte. Es läuft ungefähr auf das-
selbe hinaus, wenn er ein anderes Mal die deutschen Guts-
herren in Livland nach Lebensweise, Haushalt und Wirtschafts-
betrieb mit den Plantagenbesitzern auf den Inseln der neuen
Welt vergleicht. Er ist eben auch hier Diplomat und zieht
vor zu schweigen oder nur anzudeuten, wo er, sprach er seine
Meinung rückhaltlos aus, Anstoß erregt und Leute, denen er
Rücksicht schuldig zu sein glaubte, verletzt oder bloßgestellt
haben würde. Dazu stimmt auch das Stillschweigen, das er
über die so großes Aufsehen erregenden und Kämpfe veran-
lassenden Reformbestrebungen beobachtet, wie sie durch von
Schoultz-Ascheraden angeregt und auf dem Landtag von
1765 verhandelt worden waren. Fast noch auffallender aber
ist seine scheinbare Unbekanntschaft mit G. H. Merkels 1796
erschienenem und weit über die Grenzen Livlands hinaus ge-
waltiges Aufsehen machendem Buch über die Letten, das noch
1800 in zweiter Auflage erschienen war. Die Ignorierung
dieses für den von ihm behandelten Gegenstand so epoche-
machenden Buches geht so weit, daß er später in der Skizze
von den literarischen Leistungen Livlands^) Merkel zwar nennt
als den bedeutendsten neueren Schriftsteller, aber nur seine
„Briefe an ein Frauenzimmer über die wichtigsten Produkte
der schönen Literatur in Deutschland" (Berlin 1800 — Ol) und
seine „Briefe über einige der wichtigsten Städte des nördlichen
Deutschland" (Berlin 1800) anführt und die ihrer Zeit so großes
Aufsehen erregende Hauptschrift nicht zu kennen scheint, son-
dern Merkels ganze sonstige überaus mannigfaltige literarische
und publizistische Wirksamkeit mit der Bemerkung abtut, seine
1) III, S. 230.
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland. 1 1
Arbeiten seien in Deutschland bekannt und als geistreich und
originell geschätzt. Daß ihm das Buch wirklich unbekannt
geblieben sei, ist bei einem Autor undenkbar, der die seinen
Gegenstand betreffende Literatur in so ungewöhnlichem Maße
beherrscht und verständnisvoll verwertet. Zu erklären aber
ist die scheinbare Unkenntnis nur durch die Annahme, daß
Bray entweder die Stellung geteilt habe, die der livländische
Adel in jenen kritischen Jahren in der Agrar- und Bauern-
frage einnahm, also die bisher bestehende Ordnung gebilligt
und erhalten zu sehen gewünscht habe oder aus begreiflicher
Rücksicht, um Verwandten und Gastfreunden nicht zu nahe
zu treten und vielleicht Schaden zu stiften, geflissentlich ver-
mieden habe, in den die Zeit bewegenden wirtschaftlichen und
sozialen Kämpfen offen Partei zu nehmen. Letzteres ist das
Wahrscheinlichere, wenn man sich der Wendung erinnert, mit
der er um die Beantwortung der Frage herumgeht, ob der
lettische Bauer glücklich sein könne, indem er kurz auf dessen
Unfreiheit als unüberwindliches Hindernis für das Aufkommen
des Glücksgefühls hinweist. Dafür spricht auch das ergreifende
Bild, das er weiterhin von dem mühseligen und freudlosen
Dasein der in harter Arbeit mit einer kargen Natur um das
Leben ringenden Letten mit Sachkenntnis und Liebe entwirft.
Wohl erkennt er gelegentlich an, daß die Lage der Bauern
neuerdings in mancher Hinsicht verbessert sei, hält aber doch
nicht zurück mit der Forderung, daß da noch viel mehr ge-
schehen müsse. „Die Knechtschaft der Bauern, sagt er am
Schluß des Abschnitts über die Großgrundbesitzer,^) bei deren
Erörterung er wieder auf den Kern der Frage nicht eingeht,
sondern sich mit der Besprechung von Äußerlichkeiten begnügt,
die Knechtschaft der Bauern und der sich daraus ergebende
Mangel an moralischer Kultur derselben und die Gleichförmig-
keit des Besitzes und seiner Benutzung breiten über das ganze
Land einen Schleier melancholischen Leidens und nehmen ihm
den Eindruck des Lebens und der Bewegung, der dem Anblick
1) IlL S. 155.
12 1. Abhandlung: Hans Prutz
4
freier Länder einen besonderen Reiz verleiht, in denen ver-
schiedene Berufsarten sich betätigen, falls nicht eine allzu
strenge Natur sie zur Unfruchtbarkeit verurteilt." „So erfreut
sich Livland, fährt er dann fort mit einer Anspielung auf die
in Vorbereitung befindlichen Reformen, einer merklichen Bes-
serung in Bezug auf die Lage der Bauern, und diese sind vom
Adel selbst herbeigeführt und geregelt durch die Erlasse des
ruhmvollsten der Kaiser" — eine Vorstellung, die, so weit sie
noch immer verbreitet ist, den Tatsachen doch nicht entspricht
und endlich aufgegeben werden muß. Jedenfalls war mit
dem bisher Geschehenen auch Bray noch nicht genug getan.
„Hoffen wir, so schließt er den Abschnitt, daß man eines Tages
von beiden Seiten noch weitergehen wird und daß nicht bloß
die Freiheit der Personen, sondern auch die der Sachen und
des Handels den Provinzen zu dem höchst erreichbaren Grad
des Glücks verhelfen."
Gerade hundert Jahre sind vergangen, seit der vielseitig
gebildete, weltkundige und menschenfreundliche bayerische Dip-
lomat sein Werk über Livland verfaßte und damit für die
Mehrzahl seiner Leser ein bisher so gut wie unbekanntes Ge-
biet in seinem eigenartigen Leben erschloß. Voll aufrichtiger
Teilnahme für das ihm lieb gewordene Land hat er von dem
damaligen Zustand desselben wohl ein im Ganzen und Großen
der Wirklichkeit entsprechendes Bild gegeben, aber die Farben
doch nur dünn und matt aufgetragen und insbesondere ver-
mieden, durch unabgeschwächte Wiedergabe der mit dem dürf-
tigen Licht so kraß kontrastierenden dunkeln Schatten dasselbe
zu wahrhaft plastischer Wirkung zu erheben. Die Zeichnung
entbehrt der kraftvollen, festen und im Notfall harten Linien,
deren es hier zur Wiedergabe einer unerfreulichen Wirklich-
keit bedurft hätte. Dieser entspricht auch nicht die künstlich
abgepaßte Perspektive, die den Wert der einzelnen Erschei-
nungen für das Ganze zum Teil arg verschiebt. Das Buch,
verdienstlich an sich, leidet eben unter der Abhängigkeit des
Verfassers von der Tradition, welche in dem nun einmal herr-
schenden und vor allem auf Behauptung der Herrschaft be^
\
Der Kampf um die Leibeigenscliaft in Livland. 13
dachten Kreisen in Bezug auf den Ursprung und das durch
diesen bedingte Wesen der damals bestehenden Ordnung seit
langem gepflegt wurde: diese gibt es wieder und kommt trotz
den dem Verfasser zuweilen aufsteigenden Zweifeln über schwäch-
liche Versuche zu ihrer kritischen Prüfung nicht hinaus. Selbst
als zuverlässige Quelle für die Kenntnis Livlands und seiner
Zustände zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnte das Buch
Brays auch zur Zeit seines Erscheinens kaum anerkannt wer-
den, sondern nur als eine die vorhandenen Gegensätze mög-
lichst zu verhüllen und die obwaltenden Schwierigkeiten mög-
lichst zu umgehen bestrebte Wiedergabe des Bildes, das der
altangesessene Adel von seinem Lande, dessen Vergangenheit
und damaligen Zuständen allgemein angenommen zu sehen
wünschte. Heute kann es nur noch ein literarhistorisches In-
teresse beanspruchen : auch für eine Betrachtung der weiteren
Entwicklung Livlands im 19. Jahrhundert bietet es infolge der
möglichst beschönigenden Darstellung, die es von den damaligen
Zuständen gibt, keine genügende Grundlage.
Wechselnde Schicksale hat Livland seitdem durchgemacht,
obgleich die wesentlichste Grundlage seiner allgemeinen poli-
tischen Stellung keinen so durchgreifenden Wandel erfuhr, wie
er ihm nach Zerfall des livländischen Bundesstaates durch den
Übergang erst unter polnische, dann unter schwedische und
schließlich unter russische Herrschaft beschieden war. Um so
bewegter jedoch durch schwer auszugleichende Gegensätze im
Innern und diesen entspringende heftige Konflikte verlief seine
Geschichte, namentlich seit das eroberungslustige Moskowiter-
tum die deutsche Kultur, die auch von offizieller russischer
Seite bisher als überlegen anerkannt und dankbar zum Besten
des Gesamtstaats nutzbar gemacht worden war, planmäßig zu
bekämpfen begann, um durch systematische Russifizierung ihre
Träger zur Verleugnung ihrer Vergangenheit zu nötigen. Sind
diese in der Abwehr solcher Vergewaltigung ihres Deutsch-
tums lebhafter denn je zuvor bewußt ge'vvorden, so haben sie
doch gerade dabei von neuem erkennen müssen, wie viel nach
dieser Seite hin von früheren Generationen versäumt und nun
14 1. Abhandlung: Hans Pnitz
unter den denkbar schwierigsten Umständen nachzuholen war,
weil der breit und tief fundierte Rückhalt fehlte, wie ihn in
solcher Lage auch einem seines Rechts und seiner Pflicht be-
wußten Volkstum nur ein seit Generationen mit seinem Boden
verwachsener Bauernstand gewähren kann, der in stolzer Treue
den von den Vätern ererbten Acker bebaut. Daß es an einem
solchen fehlte, während die Zukunft des Landes doch nur mit
seiner Hilfe gerettet werden konnte, haben die nächstinteres-
sierten Kreise endlich eingesehen. Auch in diesem Falle ist
die richtige Erkenntnis des Übels der Anfang der Besserung:
sie weist weiter den Weg, der verfolgt werden muß, wenn das
von den Vorfahren Versäumte von deren späten Enkeln nach-
geholt und damit das kostbare Erbe für die Zukunft erhalten
werden soll. Dazu ist freilich vor allem nötig, daß man mit
den Vorurteilen offen und ehrlich breche, das früher Gefehlte
nicht spitzfindig zu rechtfertigen und zu beschönigen und die
daraus erwachsenen Mißstände nicht als normal und berechtigt
darzustellen bemüht sei, sondern der unverhüllten Wahrheit,
so unerfreulich und zuweilen belastend sie gelegentlich sein
mag, mutig in das Gesicht zu sehen lerne.
L
Die Einseitigkeit der deutschen Kulturarbeit in Livland und
die Beschränktheit ihres Erfolges.
Wenn Livland gelegentlich kurzweg als ein deutsches Land
bezeichnet wird, so liegt dafür in seinen ethnographischen Ver-
hältnissen jedenfalls kein Grund vor. Denn von den rund
2^/a Millionen Einwohnern, die es zu Beginn des gegenwärtigen
Krieges zählte, entfallen nur 200000 auf die Deutschen : diese
machen also noch nicht den zwölften Teil der Gesamtbevöl-
kerung aus und nehmen der Zahl nach erst den dritten Platz
in dem absonderlichen Völkergemisch ein, welches das viel
umstrittene Land gewissermaßen als Niederschlag seiner wechsel-
vollen Geschichte aufweist.
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland. 15
Denn von der finnischen Urbevölkerung hat sich nur ein
unbedeutender Rest bis heute erhalten in den etwa 3000 Köpfe
zählenden Liven am Kap DomesnUs und in dem benachbarten
Küstenstrich. Auch die 900000 Esten, die fast ganz Estland,
den größten Teil der Inseln und den Norden von Livland be-
wohnen, sich aber auch in Ingermanland und im Pleskowschen
angesiedelt und an der Wolga und im Kaukasus Kolonien ge-
gründet haben, können nicht als Nachkommen der ältesten
Bevölkerung finnisch-ungrischer Rasse in Anspruch genommen
werden, da sie früh mit germanischen, namentlich schwedischen
Elementen stark durchsetzt sind, also ein germanisch-finnisches
Mischvolk darstellen. Äußerlich meist unscheinbar, zeichnen die
Esten sich aus durch ungewöhnliche Körperkraft, sind arbeit-
sam, mäßig und pflichttreu, dabei von kühler Überlegung und
zäher Ausdauer, Eigenschaften, die sie besonders als Seefahrer
und Ackerbauer daheim und in der Fremde betätigen. In alle
dem stehen ihnen die Letten nach, die in einer Stärke von
1100000 — nach anderen Angaben sogar 1400000 — nahezu
die Hälfte der Bevölkerung Livlands ausmachen. Die livische
Urbevölkerung verdrängend, sind von Südosten her die Stämme
der Letogallen, der Selen und Semgallen eingewandert: das
aus ihrer Vermischung entstandene Volk der Letten hat heute
den Südosten Livlands und den größten Teil von Kurland inne.
Ihre Sprache ist der litauischen und der altpreußischen am
nächsten verwandt. Meist bekennen sie sich zur evangelischen
Lehre, die gleich bei ihrer Begründung im Lande feste Wurzel
schlug; auch von den im letzten Drittel des vorigen Jahr-
hunderts zum Übertritt zur russischen Staatskirche Verleiteten
sind die meisten zu ihrem väterlichen Glauben zurückgekehrt.
Im Gegensatz zu dem Esten eignet dem Letten eine gewisse
unruhige Beweglichkeit: er ist leicht entzündlich und dann
wohl zu hitzigen Taten hingerissen, so wie es zu sein pflegt,
wenn einem Volk durch die Ungunst des Schicksals versagt
blieb, sich auszuleben und einen Platz an der Sonne zu ge-
winnen. Wird doch selbst von deutscher Seite nicht bestritten,
daß die Letten, seit ihnen im letzten Menschenalter freiere
16 1. Abhancllung: Hans Prutz
Bewegung gewährt wurde, sich, und zwar nicht nur wirtschaft-
lich, in einer Weise gehoben haben, daß manche in ihnen bereits
eine Gefahr für das baltische Deutschtum sehen wollen, nament-
lich so lange sie eine von deutschfeindlichen Tendenzen erfüllte
Regierung begünstigt. Stehen doch den 1100000 Letten und
den 900000 Esten nur 200000 Deutsche gegenüber — eine
überraschend geringe Zahl, wenn man bedenkt, daß es sich
um ein Gebiet handelt, in das die Vorfahren derselben vor
mehr als 750 Jahren den Weg gefunden haben und diesen
dann immer neue Scharen von deutschen Kaufleuten und Kolo-
nisten gefolgt sind. Überraschend, um nicht zu sagen er-
schreckend klein erscheint die Zahl der Deutschen in Livland
gegenüber den sonst dort noch vertretenen nationalen Gruppen.
Da sind zunächst die Russen mit 128000 Köpfen, meist Mili-
tärs und Beamte, aber auch Kaufleute, Kleinhändler und Krä-
mer und bei den Bauern ein- und ausgehende Kommissionäre.
Der Kopfzahl nach folgen dann die Juden mit 45000: sie
sitzen am dichtesten in Kurland und da begreiflicherweise
namentlich in Riga. Ihre Vorfahren sind, wie schon ihr leicht
verständlicher, dem niederrheinischen nahe verwandter Dialekt
erkennen läßt, dereinst aus Nordwest-Deutschland eingewandert.
Als Kleinhändler, Gewerbetreibende und Handwerker sind sie für
das wirtschaftliche Leben des Landes von großer Wichtigkeit.
Ferner leben in Livland 36 000 Polen, davon nicht weniger als
16000 allein in Riga, teils Gutsbesitzer, teils Beamte, teils
Händler. Der gemeinsame Gegensatz zu den Russen schloß
hier ein feindliches Verhältnis zu den Deutschen aus. Eigen-
tümlich abgeschlossen stehen die 23000 Littauer da, die sich
im Gegensatz zu ihren evangelischen Stammesgenossen in dem
benachbarten Preußen zur katholischen Kirche bekennen. End-
lich haben sich auf den Inseln und an einzelnen Küstenpunkten
noch 7000 Schweden erhalten, die meist dem Ackerbau und
der Viehzucht leben, aber auch als Seefahrer, Lotsen und See-
hundsjäger bewährt sind.
Wenn demnach hier nach mehr als sieben Jahrhunderten
seit Beginn der deutschen Kolonisation die Deutschen mit nur
Der Kampf um die Lcibeigenscliaft In Livland. 1 7
200000 Köpfen 2200000 Angehörigen anderer Völkerstänime
oder, sieht man von den Russen, Polen, Schweden und Juden
als später hinzugezogenen Fremdlingen ab, doch 2003000 Ver-
tretern der einst vorgefundenen „undeutschen" Bevölkerung
gegenüberstehen, so beweist das, daß die Kulturarbeit der Kolo-
nisation hier nicht den Erfolg gehabt hat, den wir anderwärts
von ihr erreicht zu sehen gewohnt sind. Sollte daran wirk-
lich nur, wie man gemeint hat, die verhältnismäßige Entlegen-
heit des Landes schuld sein und die dadurch veranlagte Schwäche
des Zuzugs aus dem Mutterland? Sollten nicht vielmehr nicht
bloß die Methode, nach der die Kolonisation betrieben wurde,
sondern auch das Ziel, das sie zunächst erstrebte, von der
Methode und dem Ziel wesentlich verschieden gewesen sein,
die derartige Unternehmungen sonst beherrscht haben? Ander-
wärts ist deren Verlauf doch ein wesentlich anderer und das
Ergebnis auch zahlenmäßig weit beträchtlicher gewesen. Um
von der größten und folgenreichsten kolonisatorischen Leistung
der Deutschen, der Germanisierung der slavischen Lande im
Osten von Main, Saale und Elbe zu schweigen: — man denke
nur an das Ordensland Preußen, das zu vergleichen besonders
nahe liegt, weil nicht bloß die für den Verlauf gegebenen
Bedingungen, sondern auch die Form und die Mittel dieselben
waren. Das Ordensland Preußen aber ist früh durch, und durch
deutsch geworden, und auch die Reste seiner ursprünglichen
Bevölkerung sind, selbst wo sie ihre Sprache bewahrten, im
Denken und Fühlen ganz deutsch geworden. Denn das im
westlichen Teil aufgekommene Polentum ist weit späteren Ur-
sprungs. Wenn man aber, um das ungewöhnlich oberflächliche
Ergebnis der deutschen Kolonisation in jenen baltischen Landen
zu erklären und zu beschönigen, wohl bemerkt hat, die Ge-
schichte lehre, „daß kleine Minderheiten die Reinheit und die
Vorherrschaft ihrer Rasse nur erhalten können, wenn sie von
der gewaltsamen Entnationalisierung der unterworfenen Völker-
schaften absehen, wie die Schweden in Finnland, die Italiener
in Dalmatien und die Engländer in Indien getan haben," so
liegt darin doch mittelbar das Eingeständnis, daß Livland so
Sitzgsb. d. philos.-philol. u. d. bist. Kl. Jahrg. 1916, 1. Abb. 2
lÖ 1. Abhandlung: flans frutz
wenig ein deutsches Land geworden ist, wie Finnland ein
schwedisches, Dalmatien ein italienisches und Indien ein eng-
lisches. Vielmehr haben genau so, wie die Schweden in Finn-
land und die Venetianer in Dalmatien geherrscht haben und
die Engländer in Indien noch herrschen, als Eroberer, die eine
Verschmelzung mit den Unterworfenen zu einer neuen Volks-
einheit als ihren Interessen widerstreitend absichtlich vermieden,
die Deutschen in Livland sich zu den Letten und Esten immer
nur als die zu gebieten und Gehorsam zu heischen berechtigten
Herren gestellt und danach die wirtschaftliche Organisation und
die gesellschaftliche Gliederung der Gesamtbevölkeruug geregelt:
immer noch stehen wie vor Jahrhunderten Letten und Esten
als einer trotz ihrer numerischen Überlegenheit untergeordneten
Klasse die Deutschen gegenüber — der grundbesitzende Adel,
die Geistlichkeit und die Stadtbürger, im Besitz einer auf Bil-
dung und Sondervorrechten beruhenden und schon um ihres
Alters willen als unantastbar geltenden Macht. Nicht mit Un-
recht erklären selbst ihre Lobredner gewisse Züge im Charakter
der baltischen Deutschen daraus, data dieselben von jeher ein
„Herrenvolk" gewesen seien.
Das ist natürlich als Lob gemeint, bezeichnet aber doch
zugleich eine Schwäche oder Einseitigkeit, die sich in der Ge-
schichte des Landes verhängnisvoll geltend gemacht hat. Immer
Herr zu sein und zu gebieten ist keinem Volke beschieden, und
wenn ein Volk, dem durch besondere Umstände dennoch eine
Zeit lang zu herrschen beschieden war, infolge dessen meint, zu
herrschen sei überhaupt sein Beruf und sein angestammtes
Recht, und sich demgemäß einrichtet, so schadet es sich selbst
am meisten. Denn es vergißt nur allzu leicht die Pflicht des
Dienstes gegen die ihm befohlenen fremden Interessen. Auch
bleibt die Vergeltung nicht aus, vielmehr lehrt die Geschichte,
daß solche „Herrenvölker" schließlich doch ihren Meister finden
und dann doppelt hart getroffen werden, weil gerade die, bei
denen sie nun Rückhalt und Hülfe zu suchen gehabt hätten, von
ihnen bisher planmäßig niedergehalten wurden und keine Lust
zeigen, sich für ihre Herren besondern Gefahren auszusetzen.
Der Kampf um die Leibeigenscliaft in Livland. 19
Das ist, in großen Zügen, das Schicksal der Deutschen
Livlands gewesen. Die in der Geschichte waltende Gerechtig-
keit, welche die Sünden der Väter noch an späten Generationen
heimsucht, hat auch das Unrecht, das die deutschen Eroberer
Livlands an ihren neuen Untertanen begangen haben und das
ihre Nachkommen in trotzigem „Herrensinn" als angebliches
Recht bewahrt sehen wollten, noch an der letzteren Enkeln
und Urenkeln vergolten. Die Schatten seiner Vergangenheit
lagern dunkel auf Livlands Gegenwart und hindern den er-
sehnten Ausblick in eine lichtere Zukunft. Wie diese sich
auch immer gestalten mag, eine ernste Sorge wird mit in sie
hinüber genommen werden, das schwer lastende Erbe einer
irrungsreichen Zeit, dessen Bann zu brechen es selbstloser und
opferfreudiger sozialer und wirtschaftlicher Arbeit bedürfen
wird, zumal die bisher dazu gemachten Anfänge die überkom-
menen Gegensätze nur noch verschärft und gewissermaßen ver-
giftet haben.
In dem „ Herrengefühl ", das man ihnen nachrühmt und
sie selbst als berechtigte Eigentümlichkeit mit einem gewissen
Stolz zur Schau tragen, sind die livländischen Deutschen Gene-
rationen hindurch noch bestärkt worden durch das Bewußtsein,
dem Staate, dem ihr Land schließlich eingefügt wurde, als
Träger einer höheren Kultur besonders nützlich geworden und
noch unentbehrlich zu sein. Hat man übertreibend doch sogar
gemeint, „die Summe der intellektuellen und sittlichen Kräfte
der Balten habe bis in die neueste Zeit das eigentliche mora-
lische, militärische und administrative Rückgrat des russischen
Staates gebildet."^) Gewiß ist, daß die Balten an dem Ausbau
und dem Aufsteigen des russischen Staates hervorragenden An-
teil gehabt haben. In der Reihe der russischen Feldherren,
Minister, Diplomaten und hohen Beamten erscheinen immer
^) Nach der bei Seh meid 1er, Das russische Reich unter Kaiser
Alexander IL, S. 151 mitgeteilten Angabe eines Russen betrug 1871 die
Zahl der Balten im russischen Heer unter den Gemeinen 2^/o, den Sub-
alternoffizieren 24 ^'/o, den Stabsoffizieren bS^jo, den Generalen aber nicht
weniger als 74®/o.
2*
20 1. Abhandlung: Sans Prutz
wieder die Namen von Geschlechtern, deren Ahnherrn mit den
deutschen Eroberern ins Land kamen und die dort bereits im
14. und 15. Jahrhundert eine hervorragende Rolle spielten:
man denke nur an die Biron, Budberg, Lieven, Nesselrode,
Fahlen, Rennenkampf, Sievers, Stackeiberg, Vietinghoff, Wolff
und andere. Daß alle diese Männer dazu selbst in gewissem
Maße zu Russen wurden, sich ihrer baltischen, deutschen Eigen-
art mehr oder minder entäußerten, war natürlich. Auf diesem
Wege aber mußte doch allmählich ein gutes Stück Russen-
tum in die betreffenden Kreise kommen und von da aus auch
weiterhin wirken. Der „Herrensinn" ist durch den Glanz und
Schimmer des russischen Beamtentums sicherlich nicht zu be-
scheidenerem Auftreten gewöhnt worden, vielmehr werden diese
Herren, was in Rußland galt, auch in der Praxis ihrer Heimat
geltend gemacht haben. Nicht russifiziert wurden sie, ge-
wöhnten sich aber doch, Menschen und Zustände sozusagen
mit russischen Augen zu sehen und mit russischem Maße zu
messen, wie das bei den Angehörigen von Stämmen geschieht,
die an der Grenze zweier Kulturgebiete stehen und sich auf
beiden zu betätigen gewohnt sind. Man schließt daraus wohl
auf deren besondere Bildsamkeit, während darin vielmehr ein
Beweis einer gewissen Unfertigkeit und das Bedürfnis nach
einem festen Halt gesehen werden kann. Denn nicht bloß
Rußland gegenüber haben die Balten diese „Zweischlächtig-
keit" bewiesen: auch in den Diensten Polens, Schwedens, Öster-
reichs und Deutschlands sind viele von ihnen vermöge dieser
Stammesanlage in die Höhe gekommen, lange bevor ihnen
die Sympathien zur Seite standen, welche das Schicksal ihrer
Heimat ihnen allerwärts erweckte. Insbesondere galt bis in
die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts den Söhnen des bal-
tischen Adels der Heerdienst als die einzige recht standes-
gemäße Laufbahn, und Balten waren in den Heeren aller
europäischen Staaten vertreten so gut wie Schweizer und El-
sässer, — wie sogar noch heutigen Tages Söhne baltischer
Edelleute in den Reihen der Kosakenoffiziere zu finden sind.
Daß diese baltischen „ Herren", wenn sie in Rußland zu
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland. 21
hohen Stellungen gelangen wollten, ihr Deutschtum nicht allzu
stark betonten, sondern Russen sein wollten, ist begreiflich:
das war doch nur die selbstverständliche Gegenleistung für die
ihnen eingeräumte bevorzugte Stellung und die unerläßliche
Bedingung für deren Behauptung. Aber es darf im Hinblick
auf spätere Vorgänge doch nicht verschwiegen werden, daß
sie in dieser Hinsicht gelegentlich gefährlich weit gingen.
Wenn sie sich unter den damaligen Verhältnissen als Unter-
tanen des Zaren wohl fühlten und ihre Freude über das ihnen
damit beschiedene Glück zuweilen auch amtlich in begeisterten
Worten zum Ausdruck brachten, so wird ihnen das Niemand
verdenken. Wenn sie aber im Interesse der russische Dienste
suchenden jüngeren Generation für die leichtere Erlernung und
damit die Verbreitung der russischen Sprache in ihrer Heimat
Propaganda machten, so war das ein verhängnisvoller Fehler,
durch den man den künftigen Vorkämpfern der ßussifizierung
eine gefährliche Waffe in die Hand gab.
In einer Vorstellung, die sie am 28. März 1839 an Niko-
laus I. richtete, um Schutz zu erbitten gegen willkürliche
Neuerungen im Gebiet des höheren Schulwesens und Verletzung
der Rechte der Universität Dorpat durch den Minister der
Volksauf klärung, beteuerte die livländische Ritterschaft zunächst
feierlich, daß sie „unverbrüchlich bei ihrem obersten Grund-
satz verharre, ihre treue Gesinnung an den Tag zu legen, und
gerade darin ihre heiligste Pflicht zu üben und das Wesent-
lichste ihrer Vorrechte zu finden," und erklärte dann, sie sei
überzeugt von der Nützlichkeit und unter Umständen Unent-
behrlichkeit der — für den künftigen Geistlichen und Lehrer
in den Ostseeprovinzen unnötigen — Kenntnis der russischen
Sprache für andere Kreise, und erbat zur Befriedigung des da
vorliegenden Bedürfnisses die Entsendung möglichst zahlreicher
tüchtiger Lehrer des Russischen in das Land.^) Zur besseren
^) Das merkwürdige Aktenstück, das, bisher unbeachtet, auf spätere
Vorgänge ein neues Licht fallen läßt, ist gedruckt in „Fünfzig Jahre rus-
sischer Verwaltung in den baltischen Provinzen" (Leipzig 1883), S. 31—34.
22 1. Abhandlung: Hans Prutz
Begründung dieser Bitte aber hieß es am Schluß der von dem
livländischen Adelsraarschall Baron von Brüningk unterzeich-
neten Eingabe gar, „die Bewohner der Ostseeprovinzen fühlten
täglich dringender die Notwendigkeit, um ihres eigenen Besten
willen sich mit der russischen Sprache vertraut zu machen":
insbesondere werde daher „die Ritterschaft auch in dieser Be-
ziehung ihren gewohnten Eifer nicht verleugnen, den wohl-
tätigen kaiserlichen Absichten zu entsprechen auch ohne die
von dem Minister beliebten Zwangsmaßregeln. " Die Ritter-
schaft erbittet deren Aufhebung, spricht aber den dringenden
Wunsch aus, „daß durch vermehrte Anstellung tüchtiger rus-
sischer Sprachlehrer die Möglichkeit zur Erlernung der rus-
sischen Sprache nicht nur erweitert, sondern allgemein gemacht
werde," zumal auch auf der Universität Dorpat zum Bedauern
der Ostseeprovinzen selbst das Studium der russischen Sprache
nicht ausreichend gepflegt werde : man empfinde tief den Nach-
teil, der den Balten dadurch in allen Verhältnissen der staats-
bürgerlichen Wirksamkeit erwachse. „Indessen habe dieser
Unkenntnis der russischen Sprache keineswegs törichte Ver-
kennung ihres eigenen Besten oder die Abneigung, sich die
russische Sprache zu eigen zu machen, zu Grunde gelegen,
sondern lediglich die Unmöglichkeit, sie zu erlernen und die
noch jetzt andauernde Unzulänglichkeit der betreffenden Unter-
richtsmittel."
Der berühmte „Herrensinn" offenbart sich hier höchstens
insofern, als die Herren, in deren Namen gesprochen wird,
wieder in ihrer von Alters her überkommenen Ausschließlich-
keit sich vornehm abgrenzen auch gegen die übrigen Deutschen
des Landes, indem sie zwar für sich die Kenntnis der russi-
schen Sprache als wünschenswert zugeben, aber nachdrücklich
betonen, daß sie für die Kreise überflüssig sei, aus denen die
Geistlichen und Lehrer hervorgehen, diese also gewissermaßen
als Deutsche zweiter Klasse hinstellen. Von den Letten und
Esten aber ist überhaupt nicht die Rede. Wurden diese da-
mals doch geflissentlich vor der Kenntnis auch des Deutschen
bewahrt: sie hätte sie aufklären, zu größeren Ansprüchen ver-
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland. 23
anlassen und so mit ihrem Lose unzufrieden machen können.
Soll doch damals der lettische Bauer sogar Züchtigung zu
fürchten gehabt haben, wenn er Deutsch lernte oder sich der
deutschen Sprache bediente!
Und das führt nun wieder auf den Punkt zurück, in dem
die baltischen Deutschen schwer gefehlt und Generationen hin-
durch verblendet eine Schuld auf sich geladen haben, die auch
in der jetzt vielleicht nahen „Schicksalsstunde" verhängnisvoll
werden kann, dadurch, daß sie immer nur Eroberer gewesen
sind und immer nur, wie in dem ersten Stadium ihrer Fest-
setzung an der Ostsee, Herren der besiegten Völker haben sein
wollen, statt zu diesen als Bringer einer neueren, höheren
Kultur herabzusteigen und sich mit ihnen zu wirklicher Lebens-
gemeinschaft zu verbinden. Je unbefangener und gründlicher
man die Entwickelung der Verhältnisse in Livland prüft, um
so rückhaltloser wird man das harte Urteil als zutreffend an-
erkennen, das ein Mann wie Julius Eckardt, ein treuer Sohn
seiner baltischen Heimat und ein tapferer Verteidiger ihrer
gefährdeten Rechte, aber auch ein gründlicher Kenner ihrer
Geschichte, bei der Schilderung des Zustandes der Auflösung-
gefällt hat, die zu Ende des 15. Jahrhunderts über den eigen-
artigen Bundesstaat hereingebrochen war, zu dem sich die
deutsche Kolonie an der Ostsee entwickelt hatte: „in dem
törichten stolzen Bewußtsein, daß auf lettischer Erde der Be-
griff „Deutscher" und „Herr" identisch seien, hatte man die
Germanisation der Ureinwohner unterlassen, diese in ihrer Bar-
barei gelassen und auf die tiefste Stufe des menschlichen Da-
seins herabgedrückt." ^)
Es ist leider nicht zu bestreiten, daß in diesen Worten
auch bereits das traurige Ergebnis der baltischen Geschichte
nach der Seite gezogen ist, welche für die Entwickelung des
Landes auch in neuerer Zeit besonders entscheidend werden
sollte und dieselbe nachwirkend bis auf den heutigen Tag be-
stimmt hat.
*) Julius Eckardt, Die baltischen Provinzen Rußlands (Leipz. 1868), S. 7.
24 1. Abhandlung: Hans Prutz
IL
Die Entstehung der Leibeigenschaft und ihre Legalisierung.
Einen verhängnisvollen Wendepunkt in Livlands sozialer
und wirtschaftlicher Entwickelung bezeichnet das Jahr 1552.
Der zu Pernau versammelte Landtag beschloß auf Grund der
Klagen „gemeiner Ritterschaft", hinfort solle „jeder Stand
und Stadt dieser Lande, woher der oder die auch seien, immer
dem anderen seinen Bauern auf Erfordern unweigerlich aus-
liefern". Damit wurde ein allmählich eingebürgerter, aber
bisher nicht als zu Recht bestehend anerkannter Brauch zum
Landesgesetz erhoben. Die im Laufe der Zeit eingerissene
„Schollenpflichtigkeit" der Bauern wurde ausdrücklich pro-
klamiert und damit die große Masse der ländlichen Bevölkerung
einem Zustand der Unfreiheit überantwortet, für den — so
sehr man das späterhin durch spitzfindige Distinktionen weg-
zuleugnen versucht hat — die Bezeichnung „Leibeigenschaft"
die allein richtige ist. Denn wie 1552, so benutzten die
Grundherren auch in der Folge die ihnen zustehende gesetz-
geberische Befugnis, um sich die gewonnene Machtstellung
auch weiterhin zu sichern.
Denn die Schollenhörigkeit der ländlichen Bevölkerung
ist nicht, wie man auf Grund wiederholter, seit dem 18. Jahr-
hundert von den interessierten Kreisen in amtlichen Akten-
stücken aufgestellter Behauptungen gemeint hat, gleich von den
deutschen Eroberern eingeführt worden.^) Hatte doch die
Kirche bei Erteilung und Erneuerung der segnenden Vollmacht
zur gewaltsamen Bekehrung der Bewohner jener Gegenden
dem Deutschen Orden ausdrücklich zur Pflicht gemacht, die
persönliche Freiheit der Unterworfenen nicht anzutasten.^)
^) Vgl. Otto Müller, Die livländische Agrargesetzgebung. Disser-
tation, Halle 1902.
2) S. die Bullen Gregors IX. vom 5. Mai 1227 und vom 8. und 9. März
1238 im Liv-, Esth- und Kurland. Urkundenbuch I, n. 93 (S. 127), n. 157
(S. 202) und n. 158 (S. 203). Vgl. auch die Urkunden ebendas. n. 103
und 124 (S. 135 und 160) sowie Innozenz' IV. Bulle vom 5. September 1245,
ebend. n. 186 (S. 244).
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland. 2o
Auch die entsprechenden kaiserlichen Privilegien geboten aus-
drücklich die Wahrung der persönlichen Freiheit der Neu-
bekehrten, ^) die nach einem solchen Kaiser Friedrichs IL für
das Christentum gewonnen, aber unfrei geworden, viel übler
daran sein würden, als wenn sie Heiden, aber freie Leute
geblieben wären. Daher ist denn auch von Unfreiheit der
besiegten Esten, Letten und Kuren in dem ersten Jahrhundert
der Ordensherrschaft nicht die Rede: ihr verfallen als „Drellen"
die Kriegsgefangenen, die Eingeborenen, die durch Aufstände
Strafe verwirkt hatten, und gelegentlich Freie wegen begangenen
Verbrechens durch richterlichen Spruch. Die große Masse der
ländlichen Bevölkerung geriet in Unfreiheit erst allmählich
infolge der steten Steigerung der ihr auferlegten Dienste und
Leistungen von Seiten des Landesherrn sowohl wie der von
diesem mit Grundbesitz ausgestatteten Lehnsleute, die so den
Ertrag der Güter, um deren Bewirtschaftung sie sich gewöhnlich
wenig kümmerten, zu steigern suchten. Unterworfen, aber
persönlich frei zahlten damals Letten, Esten und Kuren der
Kirche den Zehnten und zinsten dem Landesherrn, dem sie
außerdem zum Heerdienst und Burgenbau verpflichtet waren.
Das änderte sich mit dem wachsenden Einfluß des Lehns-
wesens, das zwischen dem Landesherrn und dem Bauer des
ersteren Vasallen als Zwischeninstanz einschob, die nach oben
immer unabhängiger, nach unten immer unumschränkter wurden.
Noch aber blieb der Bauer, mochte er auch von dem Grund-
herrn schwer belastet werden, persönlich frei, konnte über seine
fahrende Habe beliebig verfügen und durfte sich auch ander-
wärts niederlassen. Das änderte sich aber, seit die Eroberung
vollendet war und der deutsche Edelmann meist als Landwirt
auf seinem Lehen saß: da gewöhnte man sich den Bauer als
zu dem Gut gehörig anzusehen. Diese Vorstellung bürgerte
sich um so leichter und fester ein, als es einen freien Bauern-
stand im Lande eigentlich nie gegeben hatte, weil höchstens
einmal einzelne Einheimische ausnahmsweise die Gunst erfuhren
1) Ebendas. n. 112 (S. 148).
26 1. Abhandlung: Hans Prutz
nach preußischem Vorbild^) mit Land belehnt zu werden, wie
das zuweilen in Kurland geschah. Natürlich aber wurde die
abschüssige Bahn um so schneller durchmessen und die Un-
freiheit der Bauern da um so konsequenter durchgeführt, wo
die durch die Reformation noch beförderte Schwächung der
Staatsautorität den adeligen Grundherrn vollends freie Hand
gab. Das geschah am wenigsten in Kurland, wo der Orden
sich als Landesherr behauptete und seine Lehnsleute in Ab-
hänffiffkeit hielt, während diese in Livland kraft der ihnen
vom Landesherrn, dem Orden und dem Erzbischof von Riga
gemachten Zugeständnisse ganz an deren Stelle traten und von
den Bauern Dienste und Leistungen beanspruchten, zu denen
sie eigentlich nur jenen gegenüber verpflichtet waren. Dort
hatte daher der Bauer schließlich nicht blos das zu leisten,
was der Herr, auf dessen Land er saß, als solcher von ihm zu
fordern hatte, sondern sah sich auch den größten Teil von
dem aufgebürdet, was dieser seinem Lehnsherrn zu leisten
hatte. Übte dieser ihm gegenüber doch auch das staatliche
Recht, insbesondere die Gerichtsbarkeit, selbst in Kriminal-
fällen. Damit war der Bauer völlig in die Hand des Herrn
gegeben. Um sich diesem Druck, den abzuwehren es sonst
kein Mittel gab, zu entziehen, flüchteten die Bauern vielfach
in einen anderen Gutsbezirk oder in eine benachbarte Stadt.
Für diese bestand eine Auslieferungspflicht ursprünglich nicht,
außer wenn der betreffende Herr dem entlaufenen Bauern
gegenüber besondere privatrechtliche Ansprüche geltend machen
konnte. Aber schon im 15. Jahrhundert kam die Verpflichtung
zur Auslieferung solcher Flüchtlinge immer mehr zur An-
erkennung. Die Vorstellung von der Grundhörigkeit des Bauern
wurde dadurch verstärkt. Landesgesetzlich sanktioniert aber
wurde sie doch erst durch den Beschluß des Pernauer Landtags
von 1552. Ihn durchzuführen schlössen die Landesherren
nicht blos mit den eigenen Vasallen, sondern auch unter-
einander und mit den übrigen Vasallen Verträge, durch die
1) Vgl. K. Lohmeyer, Geschichte Ost- und Westpreußens P, S, 193.
Der Iviimpf um die Leibeigenschaft in Livkind. 27
sie sich gegenseitig zur Auslieferung „verstrichener" Bauern
verpflichteten. Der neue Rechtszustand wurde dann bei dem
Übergang Livlands unter polnische Herrschaft durch das Pri-
vileg Sigismund IL August vom 28. November 1561 als für
alle Zukunft geltend bestätigt durch Gutheißung des Pernauer
Landtagrezesses. ^) Auch sprach das königliche Privileg nach
dem Vorbild des in Estland von der dänischen Zeit her gelten-
den Rechts den Gutsherren ausdrücklich die Gerichtsbarkeit
über die Bauern zu.^) Das war ein Stück des Preises, um
den die livländischen Herren ihre Freiheit an Polen verkauften.
Gerade auf diesem Gebiet erwiesen sich dieselben als nur allzu
gelehrige Schüler der polnischen Herren: wie diese mit ihnen,
so verfuhren sie mit den ihnen ausgelieferten Letten und Esten.
Unbarmherzig zogen sie die Konsequenzen aus der nun zur
Anerkennung gebrachten Schollenhörigkeit der Bauern, so daß
diese nun rasch zu wirklicher Leibeigenschaft wurde.
Jedenfalls entsprach es der Wahrheit nicht, wenn in dem
Privileg Sigismund H. Augusts die Verpflichtung eines jeden,
einen sein Grundstück betretenden flüchtigen Bauern seinem
Herrn auszuliefern, es „sei denn, daß er durch unanfechtbare
Urkunden oder einwandfreie Zeugen nachweisen könnte, der-
selbe sei ihm von seinem rechtmäßigen Herrn zu eigen über-
lassen", als überkommene Sitte und dem alten Brauch Livlands
entsprechend bezeichnet wurde. Aber es schafi'te der Willkür
der adeligen Herren vollends freie Bahn: als angeblich altem
Brauch entsprechend wurden Neuerungen eingeführt, welche
die Lage der Bauern immer mehr verschlechterten. So griff
die Fiktion Platz, der Bauer sei schlechterdings Zubehör des
Grund und Bodens, ebenso gut wie die darauf stehenden
Bäume, die darauf befindlichen Felder, Wiesen usw., und könne
daher ebenso wie diese mit ihm veräußert, verkauft oder ver-
pfändet werden. Natürlich aber konnte der Herr in einem
^) S. den 22. Artikel in dem Druck bei Schirren, Die Kapitu-
lationen der livländischen Ritter- und Landschaft und der Stadt Riga
vom 4. Juli 1710 nebst ihren Konfirmationen (Dorpat 1865), S. 20-21.
2) Ebend. Art. 26.
28 1. Abhandlung: Hans Prutz
solchen Fall dann auch den einen od'er anderen Bauer sich
vorbehalten, von dem Verkauf ausnehmen und im Haus als
Dienstboten verwenden. Dann aber gehörte der Bauer nicht
mehr mit dem Boden zusammen, auf dem er saß, sondern war
eine Sache, mochte ihm auch noch persönliche Rechtsfähigkeit
insofern verbleiben, als er fahrende Habe zu eigen erwerben
konnte und auch am Baueracker ein Nutzungsrecht hatte.
So war die Leibeigenschaft gegen Ende des 16. Jahr-
hunderts völlig durchgeführt. An der Art aber, wie sie ge-
handhabt wurde, nahmen bald doch selbst einsichtige Polen
Anstoß und versuchten eine Besserung herbeizuführen. Schon
1586 ließ König Stefan Bathory den livländischen Adeligen
eine mildere Beh-andlung ihrer Bauern empfehlen: diese lehnten
sie ab mit dem Hinweis auf die großen Aufwendungen, die
sie für das materielle Wohl ihrer Bauern machten. Gleich
vergeblich blieb desselben Königs Versuch zur Abschaffung
der Prügelstrafe. Doch wurde schließlich nach der Prüfung
der betreffenden Besitztitel durch eine königliche Kommission
den Grundherren wenigstens verboten, ihren Bauern neue
Lasten aufzulegen, diesen auch erlaubt, den Überschuß ihrer
landwirtschaftlichen Erzeugnisse zu eigenem Vorteil zu ver-
kaufen. Auch als Herzog Karl von Södermanland 1603 bei
den infolge der schwedisch-polnischen Erbstreitigkeiten mit
ihm geführten Verhandlungen wegen Übernahme der Herrschaft
forderte, den Bauern solle Freizügigkeit gewährt werden, stieß
er bei den livländischen Kommissaren auf eine entschiedene
Ablehnung. ^)
HL
Die schwedische Agrappeform und ihp schliessliches Scheitcpn.
Man mag das Verfahren des deutschen Adels gegen die
lettischen und estnischen Bauern einigermaßen entschuldigen
mit der wirtschaftlichen Notlage, in die er selbst durch die
Kriege geriet, die bald nach der Begründung der polnischen
*) Ygl. von Trans eh e-Roseneck, Gutsbesitzer und Bauer in
Livland im 17. und 18. Jahrhundert (Straßburg 1890), S. 30,
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland. 29
Herrschaft ausbrachen und, lange Jahre wütend, das Land auf
weite Strecken in eine Einöde verwandelten. Um so höher
ist die Einsicht und die Tatkraft anzuschlagen, mit der die
Regierung Schwedens, an das Livland 1621 kam, das an-
gerichtete Unheil gut zu machen suchte. In Schweden wußte
man den Wert eines freien Bauernstandes zu schätzen als der
sichersten Grundlage eines nationalen Staates. Nur ließ sich,
was in den Jahrhunderten versäumt war, nicht so leicht nach-
holen: um so eifriger bemühte sich die menschenfreundliche
und aufgeklärte Regierung eines Gustav Adolf, wenigstens die
ärgsten Mißstände sofort abzustellen. Dazu den Bauer auch
geistig zu wecken und sittlich zu heben, nahm sich der König
zunächst der tief darniederliegenden Volksbildung kräftig an
durch die Gründung von Schulen und die Pflege des kirch-
lichen Lebens bei Letten und Esten. Gerade da war bisher
wenig geschehen, so stolz Adel und Stadtbürger auf ihr evan-
gelisches Bekenntnis waren als auf ein wesentliches Stück
ihrer bevorzugten Stellung. Erst die schwedische Herrschaft
machte den Letten die Bibel in ihrer eigenen Sprache zu-
gänglich: 1685 erschien das Neue Testament und 1689 die
ganze Heilige Schrift in lettischer Übertragung. Gustav Adolfs
Absichten auf diesem Gebiet gingen freilich wohl noch weiter:
machte er doch die höheren Schulen auch den Letten und
Esten zugänglich, und sicher hat er die Universität Dorpat
nicht allein für die wenigen Deutschen in den baltischen
Landen gegründet.
Entschlossen nahm Gustav Adolf, sobald Livland, das
1621 tatsächlich in seine Gewalt gekommen war, durch den
Stillstand von Altmark im September 1623 förmlich an ihn
abgetreten war, auch die Agrarfrage in die Hand. Im März
1630 befahl er die Vornahme einer Abschätzung der von den
Gutsherren ihren Bauern ausgeteilten Ländereien, zur Gewin-
nung einer sicheren Grundlage für die Festsetzung nicht bloß
der bäuerlichen Leistungen, sondern auch derjenigen der Herren
an den Staat, denen sich diese vielfach entzogen hatten. Zweck
und Ziel der damit eingeleiteten Agrarreform kennzeichnete
30 1. Abhandlung: Hans Prutz
deutlich ein Erlaß vom Februar 1630, der die Gerichtsbarkeit
über die Bauern sowohl in bürgerlichen wie in strafrechtlichen
Fällen den Adligen entzog und den Bauern das Recht \erlieh,
sowohl gegen den Herrn wie gegen den Pächter bei dem
Hofgericht zu klagen. Damit wurde die Macht der Guts-
herren an der Wurzel gefaßt. Ritterschaft und Landschaft
— diese letztere umfaßte den Adel jüngeren Ursprungs, der
von dem alten „immatrikulierten" Adel streng als minder-
wertig zurückgestoßen wurde, und die bürgerlichen Gutsbesitzer,
da die Bürgerlichen vom Gütererwerb nicht dauernd hatten
ausgeschlossen bleiben können, sondern wenigstens zum pfand-
weisen hatten zugelassen werden müssen — haben die bauern-
freundlichen Reformbestrebungen in Livland nicht bekämpft:
die furchtbaren Kriege der letzten Jahrzehnte hatten ihre
Kräfte völlig erschöpft. In Estland dagegen war der Wider-
stand stärker, konnte aber den Gang der Dinge nicht auf-
halten. Jedenfalls aber war es nicht blos für Schweden,
sondern auch für seine baltischen Provinzen ein Verhängnis,
daß Gustav Adolf so früh dahingehen mußte, da erst das
Regiment seiner Tochter Christine und dann, nach dem kurzen
Zwischenspiel der vielversprechenden Herrschaft des kraftvollen
Karl X. Gustav, die langjährige Unmündigkeit Karls XL den
reaktionären Tendenzen des Adels wieder zur Herrschaft ver-
halfen. Auch das Schicksal der Agrarreform Gustav Adolfs
war damit besiegelt: sie blieb unausgeführt oder wurde, so-
weit sie bereits durchgeführt war, wieder rückgängig gemacht.
Umso heftiger erneuerte sich der Konflikt, als die Monarchie
sich wieder aufraffte, das in der Zeit der Schwäche ihr Ent-
rissene zurückforderte und in Verbindung damit auch die
wieder in die alte Ordnung verfallenen agrarischen Zustände
Livlands gründlich zu bessern unternahm.
Wie in Schweden, so hatte die Verschleuderung der Do-
mänen auch in Livland der Krone auf die Dauer unentbehrliche
Einnahmequellen entzogen. Zudem hatten viele Lehngüter
den Charakter als solche abgestreift und wurden als erbliche
Besitzungen behandelt. Nicht blos der Krone ursprünglich
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland. 31
zustehende Dienste und Leistungen waren infolge dessen in
Vergessenheit geraten, sondern es waren auch die auf diesen
Gütern sitzenden Bauern aus der Verbindung mit der Krone
gelöst, des ihnen durch Gustav Adolf gewährleisteten staatlichen
Schutzes beraubt und der Willkür der Herren wieder preis-
gegeben. Die dadurch herbeigeführte Notlage, welche immer
wieder erneuerte Kriege noch steigerten, konnte es ent-
schuldigen, wenn schließlich Karl XL ein ursprünglich nur für
Schweden geltendes Gesetz auch auf Livland anwandte: die
Art aber, wie er dabei vorging, mußte allgemein erbittern,
ließ auch die dabei mitwirkenden guten Absichten völlig ver-
kennen und gereichte der Sache der Bauern, die wenigstens
mittelbar hatte gefördert werden sollen, erst recht zum Schaden.
In Schweden schon durch den Reichstag zu Norrköping
1604 im Prinzip beschlossen, war die Einziehung der der Krone
entfremdeten und in Privatbesitz übergegangenen Domänen
doch erst gegen Ende der Regierung der Königin Christine
in Angriff genommen, infolge der aufs höchste gestiegenen
Geldnot: eine besondere „Reduktionskommission" leitete sie,
stieß jedoch bald auf den Widerstand des Adels, der während
der Unmündigkeit Karls XL die Sache dann zum Stillstand
brachte. Um so energischer, ja gewalttätiger kam der junge
König, zur Regierung gelangt, darauf zurück: durch ihn wurde
die Reduktion, eine durch die Verhältnisse gebotene und ent-
schuldbare außerordentliche Maßregel, zu einer planmäßigen
Ausraubung des Adels, dem all das abgenommen werden sollte,
was er zum Nachteil der Krone an sich gebracht hatte. Wurde
sie konsequent durchgeführt, so war die Macht des Adels
gebrochen, und insofern verhieß sie allerdings auch den liv-
ländischen Bauern Gewinn. Rechtswidrig war es schon, wenn
der schwedische Reichstag 1678 die Reduktion wie für Schwedens
deutsche Provinzen, so auch für Livland beschloß, da diese
ihm verfassungsmäßig gar nicht unterstanden. Einmütig er-
hob sich der Adel daccegen, einmütiof faßten noch 1678 Ritter-
Schaft und Landschaft, d. h. die adeligen Gutsbesitzer — die
Städte kamen nur so weit in Betracht, als sie ländlichen
32 1. Abhandlung: Hans Prutz •
Besitz hatten — den bezeichnenden Beschluß, „daß die durch
die Kriegsläufte erschütterten alten Gewohnheiten wieder ge-
halten und kein Landrat gewählt werden sollte, der nicht
schriftlich sich verbände, über alle von Königen und Herrschern
erhaltenen Privilegien steif und fest zu halten." Das bedeutete
die Ablehnung jeder Reform auch der bäuerlichen Verhältnisse
als im Widerspruch stehend mit den Privilegien, insbesondere
dem Sigismund IL Augusts von Polen. Aber so wenig wie
dieser Beschluß halfen weitere Proteste: der Sieg des Ab-
solutismus war zunächst vollständig. Gestützt auf die im
Lande liegenden schwedischen Truppen leistete die mit der
Durchführung der Reduktion beauftragte Kommission so gründ-
liche Arbeit, daß nicht w^eniger als fünf Sechstel des gesamten
Grund und Bodens dem Privatbesitz entzogen und der Krone
zugewiesen wurden.
Nicht blos die Macht des Adels war dadurch gebrochen,
er war wirtschaftlich ruiniert, und man begreift seine Er-
bitterung. Nur verblendete sie ihn zum Teil so völlig, daß
er hinfort mehr oder minder offen auf die Lösung von Schweden
hinarbeitete und dabei nach Hilfe von Polen oder Rußland
ausschaute.
Was an der Reduktion trotz ihrer Gewalttätigkeit be-
rechtigt und gut war, ließen die Herren nicht gelten: es nahm
sie vielmehr erst recht dagegen ein. Sie eröffnete die Mög-
lichkeit zu einer Besserung der bäuerlichen Verhältnisse. Diese
wurde denn auch in Angriff genommen, und so weit sie durch-
geführt und dann gegen den erneuten Ansturm der siegreichen
Adelsreaktion behauptet werden konnte, bedeutete sie gegen
den bisherigen Zustand immerhin einen erfreulichen Fortschritt
und bot eine brauchbare Grundlage für späteren weiteren
Ausbau. Von der Masse der für sie eingezogenen Güter konnte
die Krone natürlich nur einen kleinen Teil selbst bewirt-
schaften, weitaus der größte mußte durch Verpachtung nutz-
bar gemacht werden. Dazu bedurfte es einer genauen Ver-
messung und Feststellung der Ertragsfähigkeit der Ländereien.
Nachdem diese 1683 — 87 erfolgt war, begann die „General-
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland. 33
revisions- und Hufenegalisierungskomniission" ilire Arbeit. Der
„Haken", nach dem dabei altem Brauch gemäß gerechnet
wurde, bedeutete ursprünglich den Hakenpflug, dann ein Stück
Land, das mit einem solchen und einem Pferd ein Mann im
Lauf des Jahres bearbeiten konnte, und weiter dessen Ertrag
in Geld ausgedrückt. Mit Rücksicht auf den Zustand des
durch den Krieg verwüsteten und streckenweise entvölkerten
Landes legte die Kommission der Abschätzung der Güter nicht
die Qualität des Bodens zu Grunde, sondern die Zahl der dar-
auf sitzenden Bauern und das Maß der Dienste und Leistungen,
zu denen sie verpflichtet waren. So führte die Reduktion zu
einer zwar beschränkten, aber immerhin segensreich wirkenden
und dankbar empfundenen Agrarreform. Wurde diese zunächst
auch nur auf den Domänen durchgeführt, so kam die dort
ins Leben gerufene neue Ordnung doch auch den Bauern auf
den Gütern von Privaten zu sjute. Denn deren Leistungsfähicr-
keifc wurde ebenfalls durch Einschätzung der Ertragsmöglich-
keit der ihnen angewiesenen Acker, Wiesen usw. nach bestimm-
ten Bonitätsklassen sachkundig festgestellt und so einer Über-
lastung vorgebeugt. Die ermittelten Leistungen wurden, in Geld
umgerechnet, in die „Wackenbücher" eingetragen. Zudem ver-
bot das damals erlassene Reglement den Domänenpächtern aus-
drücklich, von den Bauern andere Leistungen zu fordern als
die im Wackenbuch verzeichneten. Auch sollte kein Bauer
von seiner Hufe verdrängt werden dürfen. Ferner wurde die
Strafgewalt des Pächters wesentlich beschränkt: insbesondere
sollten, wo der Pächter durch Schuld eines Bauern geschädigt
zu sein behauptete, Bauern als Rechtsfinder urteilen. Dem
Pächter blieb demnach nur eine beschränkte Hauszucht: er
konnte den Bauer wegen Nachlässigkeit mit Ruten — „höch-
stens" 36! — streichen lassen. Endlich sollte der Bauer gegen
den Pächter bei dem Statthalter klagen dürfen, der in „ökono-
mischen Quästionen" selbst entscheiden, andere an das Land-
gericht verweisen sollte.
Galten diese Bestimmungen zunächst auch nur für die
Bauern auf den Domänen, so hätten sie sicherlich, da damals
Sitzgsb. d. philos.-philol. u. d. bist. Kl. Jahrg. 1 91 6, 1 . Abli. , 3
34 1. Abhandlung: Hans Prutz
volle fünf Sechstel des Landes Domanialbesitz waren, schließlich
doch der überwältigenden Mehrheit der Bauern zugute kommen
müssen, wenn sie plangemäß zur Geltung gekommen und fest ein-
gebürgert worden wären. Das aber hinderte die verhängnisvolle
Wendung, die das Schicksal Livlands damals nahm: der große
nordische Krieg brachte demselben neue Heimsuchungen und
einen Notstand, der auch die für die Belastung der Bauern ge-
zogenen Grenzen einzuhalten unmöglich machte, weiterhin aber
eine steigende Verbitterung des durch die Reduktion schwer ge-
schädigten Adels und endlich die Zettelungen, die zur Unter-
werfung unter russische Herrschaft führten. Diese vollzog
die Kapitulation, welche das hart bedrängte Riga und im Namen
der Ritterschaft 150 Adelige, die ebenfalls in die Stadt geflohen
waren, am 4. Juli 1710 mit dem russischen General schlössen.
Die Berechtigung der letzteren, im Namen der Ritterschaft zu
sprechen und zu paktieren, war zum mindesten sehr zweifelhaft.
Denn infolge des um die Reduktion entbrannten Konflikts hatte
die schwedische Regierung 1694 die ständische Verfassung auf-
gehoben, so daß es rechtlich eine Vertretung der Ritterschaft
nicht mehr gab. Bloß um sich ihrer zur Erlangung von Be-
willigungen an Geld und Lieferungen als Werkzeug zu bedienen,
hatte der Riga verteidigende schwedische General die in die
Stadt geflüchteten Adeligen auf eigene Hand als Vertreter der
Ritterschaft anerkannt. Die Kapitulation wurde dennoch durch
den Frieden von Njstädt vom 30. August 1721 anerkannt. In
dessen elftem Artikel wurde unter Bezugnahme auf einen bereits
ein Einlenken verheißenden Erlaß Karls XH. vom 10. April 1700
der Widerruf der Reduktion ausdrücklich zugesagt: jeder, der
nachweisen würde, daß er durch dieselbe zu Unrecht um seinen
Grundbesitz gekommen, sollte diesen zurückerhalten. Den
Gutsherren wurden die alten Rechte zurückgegeben und für alle
Zeit verbürgt, die ihnen Sigismund II. August 1561 zugestanden
hatte. Damit war das Schicksal der Bauern entschieden: die
von der schwedischen Regierung eingeführten Neuerungen
konnten fallen gelassen und durch den alten Brauch ersetzt
werden. Nur gewisse als besonders praktisch bewährte Außer-
Der ICampf um die Lcibeigenscliaft in Livland. oO
lichkeiten blieben bestehen, welche die Übung der gutsherrlichen
Rechte in dem alten Umfang nicht hinderten. Die bauern-
freundliche schwedische Herrschaft erschien dem Adel nur als
eine glücklich abgetane Episode, die das altgewohnte Willkür-
regiment unliebsam unterbrochen hatte, und er beeilte sich,
genau da anzuknüpfen und fortzufahren, wo ihm vorübergehend
Halt geboten worden war. Von Seiten der russischen Regie-
rung war er dabei nicht bloß der größten Nachsicht, sondern
wirksamster Förderung gewiß: hatte Peter der Große doch
schon 1720 eine Kommission eingesetzt, welche die Beseitigung
der durch die Reduktion herbeigeführten Änderungen durch-
führen sollte. Ebenso ließ man die Adeligen, welche auf den
durch die Reduktion zu Domänen gewordenen Gütern als Pächter
blieben, ungehindert in betreff der Leistungen der zugehörigen
Bauern all die Rechte ausüben, die vor der Reduktion deren
Herren zugestanden hatten.
IV.
Russische Reformversuche und ihr Scheitern an der Opposition
des liviändischen Adels.
Rücksichtslose Selbstsucht und verknöcherter Eigennutz
kennzeichnen die Adelsherrschaft, der Livland nach dem Ny-
städter Frieden verfiel und bis in die zweite Hälfte des 18. Jahr-
hunderts preisgegeben blieb. Jedes Mittel war den Herren
recht, um die durch den Pakt mit den Russen gewonnene
Stellung auszubauen und zu befestigen. Dazu blieben nicht
bloß die Städte, nach wie vor die eigentlichen Trägerinnen des
Deutschtums als einer stetig fortwirkenden Kulturmacht, von
dem Einfluß auf die Landesangelegenheiten ausgeschlossen, son-
dern wurden auch die Reihen des Adels selbst gegen den Zu-
gang neuer, noch nicht blind in den Standesvorurteilen be-
fangener Elemente möglichst abgesperrt. Peinlich unterschied
man innerhalb der 300 Familien, welche der Ritterschaft an-
gehörten, als besonders angesehen die 52, deren Vorfahren be-
reits zur Zeit der Bischöfe und des Ordens im Lande gesessen
-3*
36 1. Abhandlung: Hans Prutz
hatten : zu ihnen gehörten die Tiesenhausen, Rosen, Krüdener,
Völkersam, Engelhardt, Bock, Buddenbrock u. a. Ihnen zu-
nächst standen im Range die 14 Familien, welche zur Zeit der
polnischen Herrschaft eingewandert oder geadelt waren, wie
die Ritter, Knorring, Gersdorff. Dann folgten die unter schwe-
discher Herrschaft angesiedelten schwedischen oder geadelten
deutschen Häuser, wie die Schoultz, Löwenstern, Igelström u. a.
Den Schluß in der Rangordnung bildeten die erst unter rus-
sischer Herrschaft zugezogenen oder nobilitierten, wie die Mün-
nich, Camphausen, Transehe usw.: sie zählten 1721 42 Familien.^)
Dazu blieb die Erwerbung adeliger Güter, selbst die nur pfand-
weise, zunächst allen denjenigen, die nicht dem engen Kreise
der schon in der Ordenszeit in das Land gekommenen Familien
angehörten, versagt, und als das schlielslich aus wirtschaft-
lichen Gründen nicht mehr durchführbar war, mußten die zum
Erwerb von Rittergütern zugelassenen Sprößlinge erst später
eingewanderter Geschlechter als „Non-indigenae", als Adelige
zweiter Klasse darauf verzichten, in die Matrikel^) eingetragen
zu werden. Gleich eifersüchtig wachten die Altadeligen über
die Beobachtung der ihnen bei der Unterwerfung unter Ruß-
land zugesicherten Rechte, namentlich wo deren Verletzung
ihnen die glücklich wiedergewonnene Freiheit der Bewegung
nach unten zu kürzen drohte. Niemand wird ihnen einen Vor-
wurf daraus machen, daß sie die überlegene Bildung und höhere
Geisteskultur, über die sie verfügten, in den Dienst ihrer neuen
Herren stellten und sich um die Entwickelung Rußlands große
Verdienste erwarben: doch hat sie das nicht gehindert, sich
in anderen Dingen als gelehrige Schüler oder beflissene Nach-
ahmer der Russen zu erweisen. Daß sie das namentlich in
Bezug auf die agrarischen und bäuerlichen Verhältnisse taten,
sollte zum Verhängnis für ihre Heimat werden und wird sich,
so steht zu fürchten, als solches auch in der großen Krisis
unserer Tage geltend machen.
^) Vgl. Bray, Essai critique sur 1' histoire de la Livonie IIT, S. 91.
2) Die Matrikel von 1747 teilt Bray a. a. 0., III, S. 379 ff. mit.
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland. 37
Daß russische Verhältnisse und russische Anschauungen
gerade auf diesem Gebiet Einfluß gewannen, war nur natürlich.
Der livländische Adel erwies sich ihm um so zugänglicher, je
lästiger er die Schranken empfand, welche die schwedische
Gesetzgebung ihm gesetzt hatte. Es genügte ihm nicht, die
durch diese beseitigten alten Rechte wieder zu gewinnen, viel-
mehr benutzte er die Gunst der Umstände, um nach russischem
Vorbild noch größere zu erwerben. Der russische Gutsherr
hatte unumschränkte Gewalt über seine Bauern, konnte sie
auch ohne Land verkaufen, als Kolonisten nach Sibirien schicken
und zur Zwangsarbeit vergeben; er hatte die Kriminaljustiz
über sie und konnte auf jede Art von Strafe erkennen außer
auf den Tod. Nun galten zwar die russischen Gesetze in Liv-
land nicht : wer aber sollte den Grundherrn hindern, sich doch
danach zu richten? Damit erreichte die Leibeigenschaft in
Livland ihren Höhepunkt und gab die ländliche Bevölkerung
unerhörter Bedrückung preis. Um aber den so geschaffenen
Zustand als berechtigt und auch in Zukunft nicht anfechtbar
zu erweisen, verbreitete man die Meinung, die Leibeigenschaft
sei eine altehrwürdige Institution und gleich von den Eroberern
als Basis des ganzen wirtschaftlichen Systems eingeführt worden.
Ein in seiner Art klassisches Denkmal für den baltischen
„Herrensinn" jener Tage ist die sogenannte „Rosen sehe
Deklaration", eine Denkschrift, welche 1739 der damalige
„residierende" (d. h. zur Führung der Geschäfte in der Landes-
hauptstadt vervveilende) Landrat von Rosen verfaßt hat als
Antwort auf eine Anfrage des Reichsministeriums über das
Verhältnis der Gutsherren zu den Bauern.^) „Die Bauern, so
wird darin ausgeführt, sind als Leibeigene zu den Gütern ge-
schlagen und mit diesen „vergeben und verlehnt" worden und
seitdem in „einer gänzlichen Leibeigenschaft geblieben und als
leibeigen und als glebae adscripti von einer Erbherrschaft auf
die andere vererbet, kaufs- oder sonst kontraktweise transfe-
rieret, cedieret und jure domini vindicieret worden." Das
^) V. Transehe-Roseneck, a. a. 0., S.^146 S.
38 1. Abhandlung; Hans Prutz
Dominium des Gutsherrn, heißt es weiter, erstreckte sich auch
auf das Vermögen des Erbbauern; auch sei dieses Recht der
Ritterschaft nie eingeschränkt worden, wohl aber habe die-
selbe den Bauern freiwillig ein Recht an ihrem erworbenen
Vermögen zugestanden „zur Aufmunterung des Fleißes". Die
Bemessung der Leistungen der Erbbauern sei allein Sache der
Ritterschaft und daher unabhängig von den „Wackenbüchern",
die nur den Zweck hätten, die Einnahmen der Krone sicher zu
stellen. Dazu stimmte die weitere Behauptung, die der Ritter-
schaft zustehende Gerichtsbarkeit umfasse auch das Recht über
Leben und Tod, doch habe sich dieselbe dessen zu Gunsten
der Krone begeben. Dagegen stehe ihr eine unbeschränkte
Hauszucht zu, während der Bauer ein Recht zur Klage gegen
den Herrn niemals gehabt habe. Nach alledem konnte es
dann freilich als Beweis edelmütiger Selbstbeschränkung gelten,
wenn schließlich bemerkt wurde, es liege ja allerdings im wirt-
schaftlichen Interesse des einzelnen Erbherrn, daß er seine
Gewalt über die Bauern mit Mäßigung gebrauche, wie die
Ritterschaft ja auch bemüht sei, das Recht der Hauszucht
und der Festsetzung der Leistungen so zu gebrauchen, daß
die Interessen der Krone nicht geschädigt würden.
Wenn der amtlich bestellte Wortführer der livländischen
Ritterschaft in einer dienstlichen Denkschrift an die ihm vor-
gesetzte Behörde über die Rechte der Grundherren den Bauern
gegenüber eine derartige Auskunft gab, welche die doch noch
in aller Gedächtnis fortlebende schwedische Gesetzgebung völlig
ignorierte, um die Ordnung, welche die Herren im Gegensatz
zu jener eingeführt hatten, als die ursprüngliche und allein
berechtigte darzustellen, so kann man schon daraus auf die
von ihnen geübte Praxis schließen. Jetzt erst kam die Leib-
eigenschaft in ihrer härtesten und unmenschlichsten Form zur
Durchführung. Der Bauer war wirklich zu einer Sache herab-
gedrückt: der Gutsherr konnte ihn nach Belieben von seinem
Lande trennen, auf ein anderes Stück Land versetzen oder
unter seine Dienstboten aufnehmen, aber ebensogut auch ver-
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Jiivknd. 39
kaufen, vertauschen und verschenken.^) Ihn sittlich und gei-
stig zu heben, hatte er vollends kein Interesse, und auch sein
wirtschaftliches Gedeihen zu fördern brauchte er sich nur so
weit angelegen sein zu lassen, als es sein eigener Vorteil er-
heischte. Von irgend einem Recht des Bauern an dem von
ihm im Schweiß seines Angesichts bebauten Land war nicht
die Rede mehr. Schutzlos war er rücksichtsloser Ausbeutung
preisgegeben. War es da zu verwundern, daß viele in der
Flucht aus dem Lande Rettung suchten, mochten sie auch
ihren dürftigen Hausrat im Stich lassen müssen? Wer konnte,
ging über die Düna, wo das Herzogtum Kurland unter den
Nachkommen Gotthard Kettlers die Möglichkeit menschenwür-
digeren Daseins bot. Um so starrer hielt der livländische Adel
seinen Standpunkt fest, und als endlich die russische Regie-
rung daran Anstoß nahm und auf Reformen drang, setzte er
ihr noch 1765 kurz angebunden die Erklärung entgegen: „die
Bauern sind servi in dem weitesten Umfang des römischen
Rechts, soweit es mit der christlichen Religion zusammen be-
stehen kann."
Um so größer war das Verdienst des Mannes, der gegen
das von seinen Standesgenossen verübte Unrecht aufzutreten
wagte und nicht bloß Vorschläge zur Abstellung desselben
machte, sondern selbst mit gutem Beispiel voranging und
zeigte, wie wenigstens die ärgsten Mißstände abgestellt werden
könnten.
Freiherr Karl Friedrich Schoultz von Ascheraden
(1720 — 82), in jungen Jahren Soldat, dann als Landrat und
Deputierter der Ritterschaft in der ständischen Verwaltung
bewährt,^) bewilligte auf eigene Hand seinen Bauern gewisse
Erleichterungen. Er wollte nicht die Leibeigenschaft auf-
^) V. Transehe-Roseneck, a. a. 0., S. 156, wo auch Beispiele
dafür angeführt sind.
2) Vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, 32, S. 419; Merkel, Die
Letten usw., S. 129 fF. und namentlich Julius Eckardt, Die baltischen
Provinzen Rußlands, S. 148 ff. und Otto Müller, Die livländische Agrar-
verfassung, S. 17 ff.
40 1. Abhcandlung: Hans Prutz
heben, sondern nur die niemals förmlich aufgehobene, aber
mißbräuchlicher Weise außer Wirksamkeit gesetzte persönliche
Rechtsfähigkeit der Bauern herstellen. Er verzichtete auf das
Recht, sie zu verkaufen oder zu verschenken und ihnen neue
Lasten aufzulegen, erkannte an, daß, was sie erwarben, ihr
volles Eigentum sei und bleibe und daß sie gegen Mißhand-
lung zu gerichtlicher Klage berechtigt seien. Die Entrüstung
seiner Standesgenossen über solche Neuerungen steigerte er
noch dadurch, daß er diese Bestimmungen in lettischer Sprache
drucken ließ und den Bauern in die Hand gab, ja dieses
„ Ascheradensche Bauernrecht" 1764 zur Nachahmung
veröffentlichte.
Ob das die russische Regierung veranlaßte, sich auch ihrer-
seits der Bauern anzunehmen, oder ob diese durch den noch
immer tief darnieder liegenden Wohlstand der wichtigsten Pro-
vinz vorzugehen veranlaßt wurde, muß dahingestellt bleiben :
gewiß ist, daß beides im Kreise der adeligen Gutsbesitzer leiden-
schaftliche Erregung hervorrief und erbitterte Kämpfe ver-
anlaßte, in denen die adeligen Herren schließlich einen zwar
vollständigen, aber nicht eben rühmlichen Sieg davontrugen.
Dem im Frühjahr 1765 zusammentretenden Landtag machte
die Regierung durch den Generalgouverneur Grafen Browne
unter Bezugnahme auf vielfache Klagen, welche der Kaiserin
Katharina bei ihrem Besuch in der Provinz zu Ohren gekom-
men waren, Vorschläge zur Abstellung der dringendsten Be-
schwerden. Sie liefen im wesentlichen auf die Bestimmungen
des „Ascheradenschen Bauernrechts* hinaus, namentlich die
Anerkennung des Eigentumsrechts des Bauern an dem von ihm
„mit seinem Blut und Schweiß Erarbeiteten." Als unerträg-
lich wurde gerügt, daß die Leistungen der Bauern ganz unbe-
stimmt seien und von den Herren beliebig gesteigert werden
könnten. Weiter handelte es sich um den häufigen Mißbrauch
des Strafrechts durch die Herren, der „mit christlichem Emp-
finden unvereinbar" sei. Deshalb sollte zunächst das Eigen-
tumsrecht der Bauern an dem von ihnen erworbenen Hausrat
anerkannt und dann ein bestimmtes Maß für ihre Leistungen
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland. 41
im Verhältnis zu dem von ihnen bebauten Boden festgesetzt
werden. Diese Vorschläge entfesselten auf dem Landtag einen
Sturm der Entrüstung, der noch stieg, als von Schoultz-Asche-
raden sein „Bauernrecht" vorlegte und dessen Bestätigung und
den Erlaß entsprechender Bestimmungen für das ganze Land
forderte, indem er an dem Verhalten seiner Standesgenossen
gegen die Bauern eine vernichtende Kritik übte und eindring-
lichst zu rechtzeitigem Einlenken mahnte, da sonst die Regie-
rung einzuschreiten genötigt sein würde, die nicht dulden könne,
daß „die einmal retablierten Rechte der Menschheit annean-
siert würden und sozusagen aus Menschen wieder Vieh ge-
macht würde." Lärmend erhob sich die Versammlung gegen
den freimütigen Redner und zeigte nicht übel Lust, über ihn
herzufallen und ihn zum Fenster hinauszuwerfen. Einstimmig
lehnte sie die Anträge der Regierung ab und erklärte, „die
jetzige Leibeigenschaft sei nicht eine Barbarei, sondern in dem
natürlichen Genius der Nation begründet und könne sehr wohl
mit der Humanität bestehen." Um die Verbreitung des „Asche-
radenschen Bauernrechts " zu verhindern, wurden möglichst alle
Exemplare desselben aufgekauft und sorgsam verwahrt. Sicher-
lich aber war es nicht der Genius der deutschen, sondern der
russischen Nation, den die Herren für sich anriefen. Das
bewies die Erklärung, mit der sie die Propositionen der Regie-
rung schließlich verwarfen: darin hielten sie die Leibeigen-
schaft „nach dem durch die christliche Religion gemilderten
römischen Recht" fest aus praktischen und sachlichen Gründen,
benutzten aber die Gelegenheit, auch den von ihnen nicht für
voll angesehenen jüngeren Adelsgeschlechtern einen Hieb zu
versetzen durch die Bemerkung, wenn in der Behandlung der
Bauern Härten vorkämen, so läge die Schuld bei den „Non-
indigenae", die gegen die alten Privilegien zum Erwerb von
Rittergütern zugelassen seien. ^) So durfte Graf Browne froh
sein, einige wenige, freilich mehr formale als sachliche Zuge-
ständnisse zu erwirken, welche in dem Landtagsrezeß vom
1) Eckardt, a. a. 0., S. 150—52.
42 1. Abhandlung: Hans Prutz
12. April noch dazu so verklausuliert gefaßt wurden, daß gründ-
liche Reformen auch für die Zukunft ausgeschlossen blieben.
„Obgleich alles, hieß es da, was der Bauer hat, Eigentum des
Herrn ist, soll doch das von ihm erworbene Vieh, Geld und
Getreide, sobald er dem Herrn nichts mehr schuldig ist, sein
Eigentum sein, jedoch für den Fall der Veräußerung dem Herrn
das Verkaufsrecht zustehen." Die Leistungen sollten nicht er-
höht werden: wer aber wachte darüber und schritt ein, wenn
es doch geschah? Denn schroff wahrten die Herren ihren prin-
zipiellen Standpunkt und stellten das Wenige, was sie nach-
gaben, dar als freies Geschenk ihrer Gnade, aus dem weitere
Folgerungen nicht gezogen werden dürften. Obgleich die Erb-
herren, erklärten sie, völlig berechtigt seien, ihre Leute zu
allen Arbeiten zu gebrauchen, deren sie benötigt seien, solle
doch demnächst bekannt gemacht werden, wie viel sie haben
wollen: ein etwaiges Mehr solle später anderweitig beschafft
werden. Für den Fall der Nichterfüllung dieser Zusage wurde
den Bauern das Recht zu gerichtlicher Klage eingeräumt.
Im wesentlichen also endete der Landtag von 1765 mit
dem Siege der Adelsreaktion, und indem diese die den Bauern
verheißenen geringen Erleichterungen als aus Gnade gewährte
Ausnahmen von der Regel darstellte, das diese bestimmende
Prinzip also für dadurch nicht berührt, sondern unverändert
fort geltend proklamierte, stärkte sie ihre Stellung für die
Zukunft, insofern dadurch die bestehende Agrarordnung im
übrigen als zu Recht bestehend anerkannt wurde. Damit war
allerdings auch klar geworden, daß die Bauern von den deut-
schen Herren nichts zu hoffen hatten. Blieb doch gleich das
ihnen zugestandene Klagerecht illusorisch infolge der Schikanen,
die seine Übung eo gut wie unmöglich machten. Doch suchten
die Gutsherren wenigstens gröbere Ausschreitungen, deren Be-
kanntwerden böses Blut machen konnte, im Interesse des Stan-
des durch gegenseitige Kontrolle zu verhindern : wer einen
Bauer auf offenem Markt verkaufte, sollte 200 Taler Strafe
zahlen — ihn unter der Hand zu verkaufen stand jedem frei.
Dieser Haltung der Herren gegenüber erscheint die russisch^
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland. 43
Regierung mit ihren mehrfach erneuten Versuchen zur Besse-
rung der Lage der Bauern als Vertreterin der Menschlichkeit
und des Fortschritts. Wenn bei deren Abwehr die Gutsbesitzer
ihrer hartherzig ablehnenden Haltung durch stolzes Pochen
auf das Vorrecht ihrer altüberkommenen deutschen Kultur ein
Mäntelchen umzuhängen suchten, so setzten sie damit das kost-
bare Erbe ihrer Väter doch bedenklich herab. Schon aber
nahte die Zeit, wo die Unhaltbarkeit dieses Standpunktes klar
werden und vielen seiner Verteidiger die Einsicht aufgehen
sollte, auf ihm beharren, heiße sich selbst zu Grunde richten.
V.
Der Einfluss der Aufklärung und die Reformen zu Anfang
des 19. Jahrhunderts.
Die Versuche der russischen Regierung, die Lage der liv-
ländischen Bauern gründlich zu bessern, waren an dem Wider-
stand der „Herren" gescheitert. Da in deren Händen aber
auch die Durchführung der wenigen ihnen abgedrungenen Zu-
geständnisse lag, so war von einer solchen kaum die Rede.
Das „Ascheradener Bauernrecht" ruhte als bibliographische
Rarität in den ritterschaftlichen Kanzleien. Aber die Vorgänge
von 1765 wirkten nach, zumal die Ritterschaft durch rück-
sichtslose Ausnutzung ihres Sieges die Unzufriedenheit stei-
gerte, nicht bloß bei dem Stadtbürgertum, das sich von dem
Erwerb ländlichen Grundbesitzes ausgeschlossen sah, sondern
auch bei dem „nicht-indigenen" Adel, z. B. durch die 1783
vollzogene Verwandelung aller bisherigen Lehen in Allode.*)
Dazu kam der wachsende Einfluß der aus Westeuropa herüber-
wirkenden Aufklärung: ihre zahlreichen Anhänger konnten
nur mit Beschämung das menschenunwürdige Dasein beob-
achten, zu dem sie die große Masse der ländlichen Bevölke-
rung verurteilt sahen. So mehrten sich im letzten Drittel des
18. Jahrhunderts die Anzeichen eines nahenden Umschwungs,
"") Erinnerungen meines Großvaters (Leipzig 1883), S. 82.
44 1. Abhandlung: Hans Prutz
und schließlich fand sich auch der tapfere Mann, der die er-
schreckende Wirklichkeit zu allgemeiner Kenntnis brachte und
im Namen der Menschlichkeit Abhilfe verlangte.
Im Jahre 1797 veröffentlichte Garlieb Helvrig Merkel
(1769 — 1850) sein Buch über „Die Letten vornehmlich in
Livland zu Ende des philosophischen Jahrhunderts,
ein Beitrag zur Länder- und Völkerkunde," das er be-
zeichnender Weise dem Grafen Repnin widmete, dem General-
gouverneur von Livland, der sich ebenso wie sein Vorgänger
Browne mehrfach, aber auch vergeblich zu Gunsten der Bauern
bemüht hatte — eine flammende Anklageschrift nicht bloß
gegen die „Großherren", sondern auch gegen die protestan-
tischen Geistlichen des Landes, die er mit verantwortlich machte
für das geistige und vielfach auch moralische Verkommen der
lettischen Bevölkerung. Sohn eines voltairianisch aufgeklärten
livländischen Pastors, frühreif, vielseitig, aber nicht methodisch
gebildet und daher sich leicht zersplitternd, hatte Merkel die
Beamtenlaufbahn bald wieder aufgegeben und, wie von Jugend
auf daheim, so als Hauslehrer auf dem Lande, die einschlägigen
Verhältnisse gründlich kennen gelernt. Das Bild, das er von
ihnen entwarf, mußte geradezu abschreckend wirken, zumal
mancher dadurch zuerst erfuhr, was für Unmenschlichkeiten
da noch im Schwange waren. Daß sein Bericht im wesent-
lichen der Wahrheit entsprach, ist nicht zu bezweifeln, zumal
er sich nicht selten auf zuverlässige Gewährsmänner beruft.
Das Buch wurde schon dadurch epochemachend, daß es zum
ersten Mal scharf das Problem bezeichnete, von dessen Lösung
die Zukunft Livlands abhing.
Merkel hatte nicht so Unrecht, wenn er gleich Eingangs
ironisch bemerkte: „Nach der Stellung der „Großherren" ge-
hört die ganze Lage des Letten, ihre Allgewalt über ihn und
die gewöhnliche Handhabung derselben zur bestmöglichen Ord-
nung der Dinge: sie selbst befinden sich wohl dabei." Die
Haltung des Adels gegenüber den Reformversuchen der Regie-
rung hatte das schlagend erwiesen, und mit Merkel mußte
jeder Patriot wünschen, das sonst drohende Unheil abzuwenden,
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland. 45
indem der Adel seinen empörenden „Unge rechtsamen" freiwillig
entsagte. Deshalb habe er es unternommen, die Lage der
Letten unparteiisch zu schildern und Adel und Geistlichkeit
einen Spiegel vorzuhalten, der sie vor ihren eigenen Zügen
erschrecken machen werde. Auch die Aufmerksamkeit der
Regierung habe er auf die Verhältnisse lenken wollen, damit
dem Lande gewaltsame Erschütterungen erspart blieben. „Denn
die russischen Bajonette allein schützen bis jetzt den deutschen
Despotismus in Livland". In knappen Zügen zeigt Merkel dann,
wie dieser das Volk der Letten nicht bloß unentwickelt ge-
lassen, sondern heruntergebracht habe, wie bei allen den tief-
greifenden politischen Wandlungen, die das Land erst zur pol-
nischen, dann zur schwedischen und schließlich zur russischen
Provinz gemacht, immer nur von den wenigen deutschen Herren
die Rede gewesen, der Masse der diesen schon der Zahl nach
weit überlegenen Letten und Esten aber auch nicht mit einem
Worte gedacht wurde. Erst unter dem „milden und glück-
lichen Szepter Rußlands" sei die Willkür des Adels einge-
schränkt worden : — eigentliche Rechte aber besitze der Bauer
noch immer nicht, „wohl aber endlich wieder Selbstgefühl ge-
nug, um das Bedürfnis nach solchen zu fühlen." Denn „stupid
und nervenlos tappt der große Haufe durch das Leben und
kennt kein anderes Glück, als sich bei unzerfetztem Rücken
mit Spreubrod sättigen zu können, keinen Mut als den, zum
„Großherrn" aufzusehen, keine Weisheit, als unertappt zu steh-
len; nur Sonntags sinnlos trunkenes Vieh zu sein, gilt ihm
für Tugend, für Ehre, nicht gepeitscht zu werden." Die Groß-
herren aber sehen in jeder Verordnung zu Gunsten der Letten
eine Bedrohung ihres Eigentums. Ist es auch arg übertrieben,
w^enn Merkel meint, „die meisten Grundherren glaubten ihren
Bauern gegenüber das Recht des Schlächters gegenüber seiner
Herde zu haben", so wird doch das Bild, das er von der Be-
lastung der Bauern mit Diensten und Leistungen aller Art ent-
wirft, für seine Zeit sicher zutreflFen. Hat ihm doch, wie er
berichtet, ein alter Bauer auf die Frage, was er denn eigent-
lich zu leisten verpflichtet sei, geantwortet: „Was Gott zuläßt
46 1. Abhandlung: Hans Prutz
und dem gnädigen Herrn gefällt". Nun aber fange man doch
endlich an, der Sache auch in weiteren Kreisen Interesse zuzu-
wenden und sogar darüber zu schreiben. Der Adel freilich,
wenn man auch da gelegentlich aufgeklärte menschenfreund-
liche Reden höre, sträube sich noch immer gegen jede Ände-
rung als ihn selbst wirtschaftlich schädigend und erkläre, der
Lette eigne sich nicht für ein besseres Los. Deshalb fordert
Merkel für diesen vor allem Bildung und Freiheit: wie sie
ihm gegeben werden sollen, gibt er freilich nicht näher an.
Denn die von ihm vorgeschlagene Errichtung von Bauern-
gerichten, deren Spruch der Herr nur mildern können sollte,
setzte doch den Zustand der Bauern voraus, den es erst zu
schaffen galt, und auch die von ihm empfohlene Erteilung des
Rechts, sich freizukaufen, hätte dem Bauern nichts genützt:
die Hauptschwierigkeit lag eben in den wirtschaftlichen Ver-
hältnissen.
So eindringlich, ja gelegentlich heftig die Sprache war,
die Merkel als begeisterter Anwalt der Letten gegen die „Groß-
herren" führte, im ganzen bleibt sie doch sachlich und enthält
sich über das Ziel hinausschießenden Schmähens und Scheltens.
Hat der Eindruck, den er damit machte, ihn berauscht oder
hat er, um auf weitere Kreise wirken zu können und von ihnen
aus den Kampf in die Menge zu tragen, es für nötig gehalten,
einen noch leidenschaftlicher agitatorischen Ton anzuschlagen —
1798 veröffentlichte er in Berlin die beiden ersten Bände eines
Werkes „Die Vorzeit Lieflands. Ein Denkmahl des
Pfaffen- und Rittergeistes", das, durch die Leidenschaft-
lichkeit der Darstellung und den völligen Mangel an unbe-
fangenem Verständnis für eigenartige geschichtliche Erschei-
nungen gekennzeichnet, höchstens das Gegenteil der damit be-
absichtigten Wirkung hervorrufen und den Autor und die von
ihm verfochtene Sache kompromittieren konnte. In dieser bis
zum Ende seiner Selbständigkeit reichenden volkstümlichen Ge-
schichte Livlands macht sich der flachste Aufklärungsfanatis-
mus in fast abschreckender Weise breit, schlimmer noch, als
der doch schon recht bedenkliche Titel erwarten läßt. In den
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland. 47
seiner Darstellung zu Grunde gelegten allgemeinen Sätzen, die
philosophisch sein sollen, wird sein Meister Rousseau noch über-
trumpft, wie es da z. B. I, S. 46 heißt: „Alles ist gut, wie es
aus den Händen der Natur kommt, und alles verderben die
Menschen." Die Glaubensboten, die das Evangelium nach Liv-
land brachten, und die Uitter, die ihm zum Siege verhalfen,
trieben nach ihm I, S. 38 „das Gaukelspiel der Bekehrung"
und waren nach I, S. IV „nichts als Räuber, die unter dem
Vorwand der Religion ins Land fielen." Er freut sich II, S. 31
des Untergangs des Schwertordens, „aber aus dem Blut des
Ungeheuers ging ein noch mächtigeres hervor". Iwan der
Grausame hat sich nach seiner Meinung II, S. 491 ein Ver-
dienst um die Menschheit erworben „durch die Zerstörung eines
Staates, der hoffentlich der einzige seiner Art bleibt. Denn
gewisser wahnsinniger Verirrungen sind die Menschen, wie der
Blattern, nur einmal fähig. Diejenige, deren Geschichte wir
durchgegangen sind, ließ ein scheußliches Denkmal zurück,
die livländische Großherrschaft. " Dazu stimmt es dann frei-
lich, wenn Merkel Livland am besten unter dem Bilde des
schlangenumwundenen Laokoon dargestellt meinte (I, S. 29) und
von dem Adel I, S. IV das kühne Bild braucht, er „trone
stolz auf den Schultern des Bauernstandes, wie die Luchskatze
auf dem Nacken des erhaschten Pflugstiers." Wenn er dann
gar seinen Lesern die Fabel auftischte, Erzbischof Albert von
Bremen habe für das durch ihn kolonisierte Livland ein „ Bauern-
recht" erlassen und die zu seiner Zeit geltenden harten Be-
stimmungen bereits in diesem enthalten sein läßt, so verläßt
er den Boden geschichtlich beglaubigter Überlieferung doch
vollkommen und konnte von sachkundigen Lesern kaum noch
ernst genommen werden.
Wohl wäre der Erfolg von Merkels Lettenbuch nicht so
groß gewesen, hätte nicht auch in den Reihen der „Groß-
herren" die Bauernfrage gelegentlich eine andere Beurteilung
als bisher gefunden: in der jüngeren Generation ließen manche
die 1765 mit Entrüstung abgewiesenen Reform vorschlage der
Regierung als berechtigt gelten und waren bereit, zu ihrer
48 1. Abbandlung: Hans Prutz
Durchführung die Hand zu bieten. Namentlich unter den in
Deutschland gebildeten und von dem Geist des „philosophischen
Jahrhunderts" angeregten Livländern fand Merkel zahlreiche
Jünger. So konnte er nicht bloß sein Buch im Jahre 1800
in zweiter Auflage erscheinen lassen, sondern erlebte schließ-
lich auch noch die Genugtuung, ihm angesichts der teihveisen
Verwirklichung seiner Ideen 1820 eine Fortsetzung folgen lassen
zu können „DiefreienLiven undEsten, eine Erinnerungs-
schrift zu dem am 6. Januar 1820 in Riga gefeierten
Freiheitsfest", wie seine Verdienste denn auch von Kaiser
Alexander I. durch die Verleihung einer Pension anerkannt
wurden, die er bis zu seinem 1850 in seiner Heimat erfolgten
Tod genossen hat.
Den Weg freilich, der dem aufgeklärten Menschenfreund
vorgeschwebt haben mochte, hat die Entwicklung der Bauern-
frage in Livland nicht eingeschlagen. Nicht die Mahnungen
im Idealen wurzelnder Humanität, sondern die sich unwider-
stehlich durchsetzende wirtschaftliche Notwendigkeit und der
sich dieser endlich beugende Trieb der Selbsterhaltung halfen
den Männern schließlich zum Siege, die nach dem Vorgang
von Schoultz- Ascheradens und Merkels ihre Heimat endlich
von dem Bann befreien wollten, der als trauriges Erbe auf ihr
lastete — einem Reinhold Johann Ludwig Samson von
Himmelstierna (geb. 1788), der schon als Leipziger Student
mit gleichgesinnten Landsleuten für Merkels Ideen schwärmte,
und Leberecht Friedrich von Sievers, der auf diesem Ge-
biete demnächst eine hervorragende Rolle spielte. Den mäch-
tigsten Förderer aber fanden diese Bestrebungen in Kaiser
Alexander L, der in der Erlösung der Bauern aus der Knecht-
schaft seine vornehmste Aufgabe sah. Die unvermeidlichen
wirtschaftlichen Folgen derselben aber drohten den ohnehin
schon tief darnieder liegenden Wohlstand des Landes vollends
zu Grunde zu richten und namentlich den Adel zu ruinieren,
während der geistige und sittliche Zustand der Bauern zweifeln
ließ, ob sie von der Freiheit den rechten Gebrauch zu machen
fähig sein würden, zumal hier die öffentlich rechtlichen Normen
\
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland. 49
fehlten, welche eben damals die Bauernemanzipation sowohl in
Preuüeu wie in den deutschen Provinzen Schwedens sich hatten
glatt vollziehen lassen. In dieser Verlegenheit griff man auf
die zum Stillstand gebrachte schwedische Agrarreform zurück,
indem man die dafür begonnene Neuvermessung und Abschätzung
aller Ländereien wieder aufnahm, dabei nun aber auch die
außerordentlichen Leistungen mit einschätzte. Nur was in den
danach anzufertigenden neuen „Wackenbüchern" verzeichnet
war, sollte der Bauer danach in Zukunft zu leisten haben.
Die so entstandene Bauernordnung von 1804 enthielt
demnach eigentlich nichts Neues, sondern dehnte nur die einst
von der schwedischen Regierung für die Domänenbauern ge-
troffenen Verfügungen auf alle Privatgüter aus. Infolgedessen
aber sahen sich die Gutsherren durch die genaue Begrenzung
der von den Bauern zu fordernden Leistungen im Wirtschafts-
betrieb vielfach gehindert und daher den Ertrag ihrer Güter
sinken. Kriegsnot und Mißernten kamen dazu. Das ergab eine
schwere wirtschaftliche Krisis. Akut wurde sie zuerst in Est-
land, wo die Bauernordnung von 1804 eingeführt war, aber
ohne vorherige Neuvermessung des Landes. Daher verfügte
die Regierung dort im Sommer 1809 eine solche unter gleich-
zeitiger Vorlegung bauernfreundlicher „neuer Regeln". Auf
dem Landtag von 1810 ging es infolgedessen lebhaft her: denn
nicht die Bauernordnung, sondern die Zeitverhältnisse, behaup-
teten die Grundherren, verschuldeten den Notstand, und erst
auf eine ungnädige Zurechtweisung von Petersburg her gingen
sie an die Beratung der Vorlage, die abzuwenden sie sich so-
gar bereit zeigten, auf die von den Bauern bisher entrichtete
Kornabgabe zu verzichten. Doch genügte das jetzt nicht mehr,
und schon wurde in der Debatte die Aufhebung der Leibeigen-
schaft als der einzige Ausweg gestreift, auf dem man aus diesen
Schwierigkeiten herauszukommen hoffen dürfte. Die Regierung
aber befahl die Ausarbeitung eines ihren Vorschlägen ent-
sprechenden Reglements: dabei stand nun zu befürchten, daß
diese in unrechte Hände kommen oder sich lange hinziehen
und die Krisis unheilvoll verlängern könnte, was für die est-
Sitzgsb. d. philos.-philol. u. d. bist. Kl. Jahrg. 1916, 1. Abb. 4
50 1. Abhandlung: Hans Prutz
nische Ritterschaft und ihre Gläubiger leiclit zu einer Kata-
strophe führen konnte. In dieser Notlage kam man auf die
in der Debatte bereits gestreifte Aufhebung der Leibeigen-
schaft zurück als das einfachste und radikalste Mittel und zu-
gleich das kleinere von den zwei Übeln, zwischen denen man
zu wählen hatte. Hatte doch bereits die Bauernordnung von
1804 vielfach Gutsherren und Bauern genötigt, sich über An-
sprüche und Leistungen auf dem Wege des Vertrags zu ver-
ständigen: warum sollte das nicht auch von den übrigen ge-
schehen können? Der Landtag von 1811 stellte allgemeine
Normen dafür fest und beschloß, eine darauf beruhende Bauern-
ordnung ausarbeiten zu lassen. Aber erst im März 1816 war
das Gesetz fertig, das in Estland den Bauern die Freiheit, den
Gutsherren aber das unbeschränkte Eigentum an Grund und
Boden gewährte.
Es entspricht also nicht den geschichtlichen Tatsachen,
wenn behauptet wird, die Befreiung der Bauern in Estland sei
der freien Entschließung der aufgeklärten und menschenfreund-
lichen Grundherren entsprungen. Vielmehr bewilligte die est-
nische Ritterschaft sie nur, um noch unangenehmere Maß-
nahmen der Regierung abzuwenden, die sonst sicher gewesen
wären und bei denen sie noch übler zu fahren fürchten mußte.
Für die Entwickelung der baltischen Lande aber bleibt der
Schritt darum nicht weniger epochemachend.
Zunächst nämlich wurde er von der Ritterschaft Kurlands
nachgeahmt, welches, seit 1795 russische Provinz, doch infolge
seiner lange Zeit glücklich bewahrten Selbständigkeit unter
deutschen Fürsten vor ähnlich schlimmen Zuständen bewahrt
geblieben war. In Livland dagegen beharrte die Mehrheit der
Ritterschaft in ihrer ablehnenden Haltung. Auch bereitete
dort die Eigenart der Letten Schwierigkeiten, die in Estland
nicht vorgelegen hatten. Aber durch lebhafte Agitation in
der Presse gewann die Opposition doch allmählich Boden. Auch
hoffte man, die Freiheit werde erhebend und bessernd auf die
Letten wirken. Doch waren bei dem niedrigen Stand auch
der wirtschaftlichen Kultur der Letten Pachtverträge hier zur
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland. 51
Zeit nur möglich auf Grund von Naturallieferungen. Jedenfalls
wurde der nun schon so lange herrschende unklare Zwischen-
zustand schließlich für beide Teile unerträglich und drohte bei
noch längerer Dauer vollends weiteren schweren wirtschaft-
lichen Schaden anzurichten. Ihm ein Ende zu machen, faßte
der Landtag am 23. März 1818 den entscheidenden Beschluß,
unter dem Zwang der Lage zwar einstimmig, aber doch nur
zögernd und voll banger Sorge um das praktische Ergebnis.
Deshalb schob er auch den Beginn der Bauernbefreiung bis
zum Jahre 1823 hinaus, in der Furcht, die Bauern könnten
sonst die Wirtschaften sofort im Stich lassen. Sich in Städten
anzusiedeln, sollte ihnen sogar erst von 1832 an frei stehen
und über die Gestattung der Auswanderung gar noch später
gesetzlich Bestimmung getrofiPen werden. Die befreiten Bauern
sollten von eigenen Vorstehern geleitete Gemeinden bilden, die
für Armen- und Krankenpflege selbst aufzukommen hatten.
Von einer völligen Emanzipation der Bauern war also
auch jetzt nicht die Rede. Dem Gutsherrn verblieb immer
noch Macht genug : seiner Bestätigung bedurfte die Aufnahme
jedes neuen Bauern in die Gemeinde, sie war nötig zur Gültig-
keit der Beschlüsse der Gemeindeversammlung und der Wahl
der Gemeindebeamten. Auf seiner Seite war außerdem die
wirtschaftliche sowohl wie die intellektuelle Überlegenheit, die
er gleich bei dem Abschluß der neuen Pachtkontrakte zu seinem
Vorteil geltend zu machen Gelegenheit hatte. So hing denn
die Durchführung der neuen Ordnung auch jetzt wieder in
jedem einzelnen Falle fast ganz von dem guten Willen des
Herrn ab. Dabei blieb der Gegensatz zwischen dem deutschen
Herrn und dem ihm zu dienen geborenen Letten und wurde
wie früher ausgenutzt: eine Annäherung beider Stämme er-
folgte auch jetzt nicht. Die Bauern aber sahen in dem Er-
reichten zunächst nur ein den deutschen Herren durch die
russische Regierung abgenötigtes Zugeständnis, dem möglichst
bald noch andere und größere folgen müßten. Die Vergangen-
heit war eben nicht auszutilgen : nach wie vor sahen die Letten
in den deutschen Herren nur die Nachkommen der Eroberer,
52 1. Abhandlung: Hans Prutz
y
die ihre Vorfahren unterworfen, ausgebeutet und immer tiefer
und vielfach zu menschenunwürdigem Dasein herabgedrückt
hatten. Voll ererbten Grolls schmeichelten sie sich wohl gar
mit dem Glauben, es stehe ein noch größerer Wandel bevor
und es nahe die Stunde später Vergeltung.
Noch lebte ja ihre Sprache und ließ sie ihres Volkstums
sich um so mehr bewußt werden, als die deutschen Herren sie
von dem Gebrauch der deutschen Herrensprache lange Zeit
möglichst auszuschließen gesucht hatten. So wenig Spielraum
zur Betätigung über seinen nächsten Beruf hinaus dem Letten
auch nach 1823 gewährt war, er genügte doch, um ihn der
ihm mit seinesgleichen gemeinsamen Interessen lebendiger be-
wußt werden und erkennen zu lassen, wie Organisation seine
Kräfte steigern mußte. Daß solche Bestrebungen von russi-
scher Seite gefördert wurden, war selbstverständlich.
Die von Generationen her ererbte feindselige Gesinnung
der Letten gegen die deutschen Gutsherren wurde aber auch
nicht gemildert durch die Zugeständnisse, welche ihnen die
liberalisierende Gesetzgebung unter Alexander H. im Zusammen-
hang mit der Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland ge-
währte. In Estland wurde den Bauern 1856 das von ihnen
bewirtschaftete Land zu bleibendem Besitz zugesprochen unter
Anerkennung des Eigentumsrechts der Gutsherren. In Livland
erfolgte 1860 die Scheidung aller gutsherrlichen Ländereien in
eigentlich gutsherrliche und bäuerliche, welch letztere zwar
Eigentum der Herren blieben, aber ihrer Verfügung entzogen
wurden und allein für die Bauern verwendet werden durften.
In Kurland endlich erhielten die Bauern 1863 das Recht, das
von ihnen bewirtschaftete Land käuflich zu vollem Eigentum
zu erwerben, wenn der Pächter von dem ihm zugestandenen
Vorkaufsrecht keinen Gebrauch machte. Zudem wurde die seit
1840 üblicher gewordene Geldpacht 1863 durch Landtags-
beschluß allgemein eingeführt.^)
^) Vgl. Schmeidler, Das russische Reich unter Kaiser Alexander II.
(Berlin 1878), S. 457-58.
Der Kampf um die Leibeigenschaft in Livland. 53
Dem Ausgleich zwischen Gutsherren und Bauern, Deutschen
und Letten stellten sich inzwischen neue Hindernisse entgegen
durch die zur Zeit der Bauernbefreiung in Rußland einsetzende
junglettische Bewegung.*) Wenn ihr Organisator und Leiter,
der Kurländer Christian Woldemar (geb. 1825), zeitweise Sub-
alternbeamter und dann kaufmännisch tätig, auch keine ganz
einwandfreie Persönlichkeit war, so mußten doch die von ihm
und dem zuerst in Dorpat um ihn gesammelten Kreis aus-
gehenden Schlagworte auf die Letten um so mehr Eindruck
machen, als sie gerade in einer Zeit ertönten, wo die in der
wirtschaftlichen Lage der Bauern eingetretene Besserung die
Möglichkeit bot, bei ihnen auch geistiges Leben zu wecken.
An Anknüpfungspunkten dafür fehlte es ja nicht: noch lebte
mancher Rest eigenartigen alten Volkstums in Sage, Lied und
Brauch, der auch in der Ferne Interesse erweckt und dadurch
in den Augen der Letten selbst an Wert gewonnen hatte.
Noch lebte vor allem die lettische Sprache, wenn auch nur
mit bescheidenster literarischer Betätigung: hatte einst ihr Ge-
brauch den Letten als tief unter dem Deutschen stehend kenn-
zeichnen sollen, so wurde sie jetzt zum nationalen Organ ge-
stempelt und als solches ein wirksames Mittel nationaler Agitation.
Es entstand eine lettische Tagespresse und im Anschluß an sie
eine neue volkstümliche lettische Literatur. Läßt sich auch
zweifeln, ob damit das Vorhandensein eines besonderen lebens-
und entwickelungsfähigen Volkstums erwiesen war:^) unleugbar
war, daß es in Livland noch immer eine den Deutschen an
Zahl mehr als fünffach überlegene Bevölkerung gab, die nicht
deutsch war und nicht deutsch sein wollte, sondern im Gegen-
satz zu dem ihr in der Zeit ihrer jugendlichen Empfänglich-
keit und Bildsamkeit unkluger Weise vorenthaltenen Deutsch-
tum auf ihre durch Jahrhunderte der Knechtschaft bewahrte
^) Vgl. „Die Anfänge der junglettischen Bewegung" in „Fünfzig
Jahre russischer Verwaltung in den baltischen Provinzen" (Leipzig 1883),
S. 243 ff.
2) Vgl. vonDorneth, „Die Letten und ihr Anspruch auf nationale
Selbständigkeit in „Unsere Zeit^ 1884, S. 296 ff.
54 1. Abb. : H. Prutz, D. Kampf um d. Leibeigenschaft in Livland.
Stammesart zurückzugreifen, sich an ihr aufzurichten und zu
neuem Leben zu sammeln gewillt und fähig schien. Nicht ohne
Grund konnten ja die ersten Führer der junglettischen Be-
wegung zur Rechtfertigung und Empfehlung ihres Vorgehens
hinweisen auf die schwere Versäumnis, deren die deutschen
Herren des Landes in dieser Hinsicht sich schuldig gemacht
hatten, und mit hochtönenden Worten die „Befreiung des let-
tischen Volkes aus geistiger Finsternis" als ihr Ziel verkünden.
Eine andere Frage freilich ist es, ob es der Aufgabe, die
es damit übernommen haben will, gewachsen ist oder ob es
schließlich bloß dazu gedient haben wird, die Bedrängnis des
Deutschtums zu steigern und dadurch dem Russentum Vor-
schub zu leisten. Die Zeit liegt noch nicht weit zurück, wo
man den letzteren Ausgang befürchten mußte. Jetzt haben
ungeahnt großartige Ereignisse alle die Voraussetzungen, auf
die sich eine Vermutung über das Ergebnis der junglettischen
Bewegung etwa gründen ließ, so vollkommen gewandelt, daß
für den Fortgang auch der dortigen Entwickelung bisher als
völlig ausgeschlossen angesehene und nicht in Rechnung ge-
zogene Möglichkeiten entscheidend werden können. Neue, große
Aufgaben können dem Deutschtum dort im Nordosten gestellt
sein: mögen seine Vertreter sie so weitherzig und selbstlos
auffassen, wie nötig ist, um die Jahrhunderte genährten und
neuerdings verhängnisvoll verschärften Gegensätze zu mildern
und für die deutsche Kultur die allzu lange versäumte fried-
liche Entfaltung zu ermöglichen.
r«-
Sitzungsberichte
der
Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Philosophisch-philologische und historische Klasse
Jahrgang 1916, 2. Abhandlung
Archäologische Miszellen
Yon
Carl Robert
Vorgelegt am 6. Mai 191G
München 1916
Verlag der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
in Kommission des G. Franz'schen Verlags (J. Roth)
Sitzungsberichte
der
Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Philosophisch-philologische und historische Klasse
Jahrgang 1916, 2. Abhandlung
Archäologische Miszellen
von
Carl Robert
Vorgelegt am 6. Mai 1916
München 1916
Verlag der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
in Kommission des 6. Franz'sclien Verlags (J. Roth)
I
Eleobis und Biton.
Es war eine freudige Überraschung, als es vor sechs Jahren
dem Scharfsinn und der Beharrlichkeit Anton von Premersteins
gelang, die auf die beiden Plinthen der delphischen dvögiävTsg
des Polymedes von Argos verteilte Inschrift zu entziffern und
zu ergänzen und dadurch den abschließenden Beweis für die
Vermutung Homolles zu erbringen, daß die beiden Statuen
dieselben sind, die bei Herodot I 31 als die Bilder des argi-
vischen Brüderpaares Kleobis und Biton erscheinen (Osterr.
Jahresh. XIII, 1910, S. 41 ff.):
A [^KXeoßig xal Bt\xov xäv juardga
B edyayov röi dvyÖL
nolv]fxede<; molee hagysiog
so lautet die Inschrift nach Premersteins Lesung, die nur an
einer einzigen Stelle nicht ganz sicher ist. Statt dvyoi kann
nämlich auch dvioi gelesen werden, und Pomtow, der den Stein
nach Premerstein nachgeprüft hatte, konnte den von diesem
an der Spitze der vorletzten senkrechten Hasta (zwischen v
und o) gesehenen hakenförmigen Ansatz, der den Buchstaben
zu einem Gamma machen würde, nicht erkennen und hielt nur
dvioi für möglich, will aber mit anderer Buchstabenabteilung
To/5' vlol lesen (Arch. Anz. 1911, S. 50, A. 1; Dittenberger,
Syll. P 5). Daß dies nicht angeht, braucht kaum gesagt zu
werden. Denn erstens, wenn in hagyeiog der Hauch graphisch
ausgedrückt ist, müßte er es auch in hvioi sein. Wenn Pomtow
dieser Schwierigkeit durch Hinweis auf die Labyaden-Inschrift
(Dittenberger Syll. IP 438) zu begegnen sucht, wo an einer
einzigen Stelle (Z. 133 = c 9) in hod' o TS'&fjLog der Hauch
'1*
4 2. Abhandlung: Carl Robert
ebenfalls nicht ausgedrückt und davor elidiert ist, so vergißt
er, daß eine Inschrift aus dem Ende des fünften Jahrhunderts
für eine aus der Mitte des sechsten schon an sich wenig be-
w^eisen kann, vollends nicht eine, die wie die Labyaden-Inschrift,
durchweg das ionische Alphabet anwendet und nur aus dialek-
tischen Gründen die Zeichen für den Hauch und das Vau bei-
behält. Zweitens aber könnte in einer Prosainschrift hinter
dem Demonstrativpronomen der Artikel nicht fehlen, es müßte
unbedingt To/<5e xo\ hvioi heißen. So stehen also in der Tat
nur xol Oviol und röi dvyöt (= rcbi I^vywi) zur Entscheidung.
Was für die letztere Lesung spricht, ist schon von Premer-
stein so klar entwickelt worden, daß ich eigentlich seine Argu-
mente nur wiederholen kann. Erstens wäre der Diphthong vi
in OVIOL nicht zu erklären; zweitens wäre ein solcher Zusatz
wie „die beiden" in der knappen lapidaren Fassung ebenso
überflüssig, wie der Zusatz toi dvyöi bedeutsam ist. Endlich
wenn ein Mann wie Premerstein den hakenförmigen Ansatz
an der fraglichen Hasta gesehen hat, so sollte das eigentlich
allein schon ausreichen; aber es kommt hinzu, daß noch ein
anderer ihn gesehen hat, und zwar zu einer Zeit, wo die In-
schrift noch leichter lesbar war, als heute, nämlich Herodot
oder vielmehr der oder die Erfinder der von ihm verwerteten
Novelle; denn auf dieses röi dvyoi gehen doch letztlich die
Herodoteischen Worte: vjiodvvxeg amol vjio ttjv ^evyXrjv zurück.
Den Wortlaut der Inschrift also hat Premerstein, wie ich
glaube, endgültig festgestellt, aber die übrigen nun auftauchen-
den Fragen hat er kaum gestreift, und Pomtow hat sie gar
nicht berührt. Denn was hat es mit der von Herodot er-
zählten Legende in Wahrheit für eine Bewandtnis? Wie und
wo ist sie entstanden? Wer waren Kleobis und Biton in Wirk-
lichkeit? Premerstein scheint die Geschichte im wesentlichen
für historisch zu halten; denn er glaubt es dem Herodot, daß
die Argiver die Stifter der Bildsäulen waren, wovon doch die
Inschrift kein Wort enthält, und fährt dann fort: „Als un-
mittelbaren Anlaß für diese Weihung könnte man allenfalls
vermuten, daß die Argiver in Delphi nachgefragt hatten, ob
Archäologische Miszellen. 5
der Tod der beiden Brüder im Heraion eine Sühne heischende
Entweihung sei, und daß das Orakel dies verneinte. In Delphi
nun, angesichts dieser Bildwerke, wird Herodot die Geschichte
der zwei durch Körperkraft und kindliche Liebe ausgezeich-
neten Jünglinge, die selbstverständlich auf Argos zurückging,
sich haben berichten lassen." Wilamowitz hingegen schreibt
Aristoteles und Athen I, S. 269, Anm. 16: „Auch Kleobis und
Biton hatten in Delphi Statuen, und ihre Geschichte, die auch
einen Zug aus der Sage von Trophonios und Agamedes ent-
hält, stammt wohl aus Delphi oder ist von dort doch dem
Herodot zugekommen." Scheiden wir die Frage nach der Hei-
mat der Novelle zunächst aus, so scheint mir im übrigen der
hier vertretene Standpunkt der einzig richtige. Die Geschichte
ist nicht historisch, sondern lediglich aus den Statuen und ihrer
Inschrift herausgesponnen, wie die des Tellos aus seinem Grab-
mal (Wilamowitz a. a. 0.). Daraus ergibt sich für die Me-
thode der Untersuchung, daß bei der Interpretation der In-
schrift die Erzählung des Herodot vollständig ausgeschaltet
werden muß, um so mehr, als sie sich zum Teil mit der In-
schrift schlecht verträgt. Denn wenn Argiver die Statuen ge-
weiht haben, wie kommt es, daß diese in der Inschrift nicht
als die Stifter genannt sind? Wie kommt es, daß der Dialekt
und das Alphabet nicht argivisch, sondern phokisch sind? Denn
dies hat Premerstein im Verein mit Kretschmer festgestellt,
und Pomtows pure Negation will dem gegenüber wenig be-
sagen. Sehr seltsam wäre auch, hätte sich die Geschichte so
abgespielt, wie Herodot berichtet, daß der Name der Mutter
in der Inschrift nicht genannt ist oder daß sie nicht wenig-
stens als Herapriesterin bezeichnet wird. Und wenn Kleobis
und Biton Argiver waren, warum fehlt hinter ihrem Namen
das Ethnikon, das doch bei dem Künstlernamen steht? Und
warum werden ihre Statuen nach Delphi geweiht, und nicht
ins Heraion von Argos, wo sich doch die Geschichte abge-
spielt haben soll?
Um zu positiven Resultaten zu gelangen, müssen wir von
den Worten edyayov röi dvyöi ausgehen. Wer wird im Alter-
6 2. Abhandlung: Carl Robert
tum auf einem Wagen gefahren? Doch nicht die Priester —
wenigstens wülste ich nicht, wo das sonst bezeugt wäre — son-
dern die Götter oder ihre Bilder. Man denke an die Stiftungs-
legende des Asklepioskultes in Sikyon, Paus. II, 10, 3 (paoi de
ocpioLv e^ 'EmöavQov KOfjLLod-Pjvai tÖv '&s6v enl ^evyovg fjfiio-
vcov ÖQdxovn slxaojLievov, ttjv de äyayovoav NixayoQav elvai
Zixvmviav 'ÄyaoixXeovg /birjreQa, yvvätxa de 'Exerijuov. Und in
dem Bericht über die Stiftung des athenischen Asklepieions
heißt es rjyajyev öevqo Tr]X\_e\fjiaxo[<; IG II 1649, vgl.
A. Körte, Athen. Mitt. XVIII, 1893, S. 249. Und so wird
denn auch die auf einem Wagen gefahrene Mutter der del-
phischen Inschrift nicht die Mutter des Kleobis und Biton sein,
in welchem Falle, wie bereits bemerkt, ihr Name kaum fehlen
könnte, es wird eine göttliche Mutter, eine MdrrjQ sein, welche
wird sich wohl kaum mit völliger Sicherheit bestimmen lassen.
Ein Kult der großen Göttermutter läßt sich für Delphi nicht
belegen. Am nächsten liegt wohl der Gedanke an Leto. Aber
auch Demeter, die nach dem Zeugnis Polemons (bei Athen. X,
p. 416C) in Delphi als ojreQjuovxog verehrt w;ird, kommt in
Betracht.
Kleobis und Biton hätten demnach den Kult einer MaTrjg
in Delphi eingeführt, und wenn hinter ihren Namen das Eth-
nikon fehlt, so erklärt sich das, ebenso wie das phokische
Alphabet und der phokische Dialekt, daraus, daß sie eben
Delpher waren.
Wie aber konnte die Legende aus diesen Delphern Argiver
machen? Von vorne herein ist klar, daß dies nicht in Delphi,
sondern in Argos geschehen ist, und dort wird auch, wie schon
R. Schubert, Geschichte der Könige von Lydien, S. 78 ver-
mutet hat, Herodot die Geschichte gehört haben, bevor er in
Delphi die beiden Statuen sah. Die argivische Heimat des
Künstlers Polymedes, die natürlich für die Heimat der Ge-
ehrten nicht das Geringste beweist, mag bei der Übertragung
mitgewirkt haben, aber der Ausgangspunkt ist sie schwerlich
gewesen. Über diesen kann ich nur eine unsichere Vermutung
äußern, da das Alter des Bildwerks, um das diese sich dreht,
Archäologische Miszellen. 7
nicht feststeht. Auf dem Markte von Argos stand nämlich
die Statue eines anderen Biton, eines Mannes, der einen Stier
auf den Schultern trug; die Lokallegende erzählt, er habe bei
einer Panegyris dieses dem Zeus bestimmte Opfertier von Argos
nach Nemea getragen.^) Ließe sich nachweisen, daia diese
Statue älter war, als die Zeit des Herodot, so läge der Ur-
sprung der Legende klar zu Tage. Denn was konnte für die
Argiver näher liegen, als den Biton von Delphi mit dem Biton
von Argos zu identifizieren? Dann mußte natürlich auch Kleobis
zu einem Argiver, und die göttliche Molxyjq zur Mutter dieses
Brüderpaares werden. Daß diese Brüder ihre Mutter auf einen
Wagen gezogen haben, entnahm man der mißverstandenen In-
schrift, und hier tritt denn auch der Parellismus zu der legen-
darischen Tat des anderen Biton klar zu Tage. Beide Male
handelt es sich um ein Kraftstück, das einer Kulthandlung zu
Liebe ausgeführt wird. Das Motiv, daß die Mutter das hohe
Amt der Priesterin in dem benachbarten Heraion versah, bot
sich ganz von selbst dar, und daß das selige Ende der beiden
dem des Agamedes und Trophonios nachgebildet ist, haben
schon viele beobachtet.
Aber leider ist das Fundament dieser Hypothese unsicher.
Der älteste Zeuge für die Statue des argivischen Biton ist der
von Pausanias als sein Gewährsmann angeführte Lykeas, Ver-
fasser einer poetischen Exegese von Argos, ^) von dem nur fest-
steht, daß er nach dem Tode des Königs Pyrrhos geschrieben
hat, also selbst wenn er, wie wahrscheinlich, der hellenistischen
Periode angehört, ein für unseren Zweck viel zu junger Zeuge.
Anderseits steht aber auch nichts im Wege, den argivischen
Biton bis ins sechste Jahrhundert hinauf zu rücken. Von den
beiden Kraftmenschen, von denen ein ähnliches Bravourstück
^) Pausan. II, 19, 5: ivtav^a xslxai 8s elxoiv Bitcovog, avrjQ
sjil rcöv wfxcov (psQcov ravQOv' d>g 8s Ävxsag sjioiTjasv, ig Nsfisav 'Agysicov
dyövtcov ■&volav xwi Au 6 Bircov v:i6 gcofirjg xs xai toxvog xavgov dga/nsvog
rjvsyHsv.
^) Vgl. Kalkmann, Pausanias der Perieget, S. 145 f. ; Gurlitt, Pau-
sanias, S. 191.
8 2. Abhandlung: Carl Robert
erzählt wird, Milon von Kroton und Pulydamas von Skotussa
gehört wenigstens der erste dieser Zeit an, und aus derselben
Periode besitzen wir das einzige Farallel-Bildwerk zu der Statue
des Biton, den Kalbträger von der Akropolis.
Die von Herodot überlieferte Legende von den frommen
Brüdern ist dann auf dem Markt von Argos in späterer Zeit
durch ein Relief verherrlicht worden (Paus. II, 20, 3), das
Herodot offenbar noch nicht gekannt hat, und in der Kaiser-
zeit haben die Argiver nicht versäumt, sie auf ihre Münzen zu
setzen.^) Auch über das auf diese Legende bezogene Sarkophag-
relief in Venedig^) sei hier ein vorläufiges Wort gestattet, ob-
gleich ich nächstens in anderm Zusammenhang ausführlich
darüber sprechen muß. Diese in jeder Hinsicht unmögliche
Deutung geht auf Lorenz Beger (Spicilegium, p. 146 ss.) zurück,
der das früher in Rom befindliche Relief aus dem Pighianus
kannte und nach diesem publizierte. Aber weder im Pighianus
noch in seiner Vorlage, dem Coburgensis (Fol. 65, Nr. 283,
Matz), ist von einem Wagen das Geringste zu entdecken;
auch sind die Rinder nicht angejocht, sondern schreiten frei
einher, von den beiden Knaben an einem Stricke geführt. Vor
der Frau befindet sich eine Art von Gitter und vor diesem
die Kuppe eines Felsens.^) Erst in Venedig hat man die
Platte, indem man sie vollständig überarbeitete und oben und
unten einen Streifen ansetzte, der Deutung Begers, die man
indeß dort schwerlich aus diesem selbst, sondern aus Mont-
1) Arch. Ztg. XXVII, 1869, Taf. 23, 9.
2) Die besten, aber keineswegs ausreichenden Abbildungen sind die
in den Archäologisch -epigraphischen Mitteilungen aus Österreich VII,
18S3, Taf. III und in der wissenschaftlichen Beilage zum Jahresbericht
über das Joachimsthal. Gymnasium 1909 (Dütschke, Zwei römische Kinder-
sarkophage}. Mit der älteren Abbildung in der Archäolog. Ztg. XXI,
1863, Taf. CLXXII hat es eine eigentümliche Bewandtnis; sie ist näm-
lich nicht, wie im Text S. 17 angegeben wird, nach einer Photographie
gezeichnet, sondern gibt den antiken Teil nach dem Pighianus und nur
die modernen Streifen oben und unten nach der erwähnten Photographie.
3) Vgl. die in der vorigen Anmerkung erwähnte Abbildung in der
Archäolog. Ztg.
Archäologische Miszellen. 9
faucon I, p. 58 s. gekannt haben wird, willkürlich assimiliert.
Man brachte unter dem Gitter ein Rad an, legte den Rindern
ein Joch auf und erreichte dadurch wenigstens so viel, daß
der in der ersten Szene dargestellte Vorgang mit der Erzäh-
lung Herodots eine ganz entfernte Ähnlichkeit erhielt.
Das Urbild der Chimaira.
TiQÖo^e Xecov ojzi^ev Se öqolxcov fieoor] ök ;^«7xa<^a
deivöv anonveiovoa nvQog juevog aWojuevoio.
Wer kennt nicht die berühmten Iliasverse, und wer hätte
sich nicht aus seiner Knabenzeit die Anschauung bewahrt, daß
hier die Chimaira so geschildert wird, wie sie uns in zahl-
reichen Bildwerken, vor allem in der berühmten Bronze von
Arezzo, vor Augen steht? Und doch ist dem nicht so. Mustern
wir alle erhaltenen Darstellungen der Chimaira, von den ältesten
wie den Gemmen des siebenten Jahrhunderts (Furtwängler,
Taf. V, 16, 18) und der argivischen Lekythos (Amer. Journ. IV,
1900, pl. IV) an, der Reihe nach durch, so finden wir nirgends
ein Gebilde, das vorne Löwe, hinten Schlange und in der Mitte
Ziege wäre, sondern wir finden als unwandelbaren Typus eine
Löwin mit Schlangenschwanz, aus deren Rücken ein Ziegen-
kopf hervorwächst. Hat also der Verfasser jener Verse diesen
Typus vor Augen gehabt, so hat er sich mindestens etwas
ungeschickt ausgedrückt. Haben aber umgekehrt die Künstler
die Iliasstelle oder die ihr zu Grunde liegende Volksvorstellung
verbildlichen wollen, so haben sie sich vielleicht aus künst-
lerischen Gründen eine starke Abweichung erlaubt. Jedenfalls
paßt auf diesen bildlichen Typus der Chimaira die vortreffliche
Kritik der Iliasscholien BT Z 181 so als ob sie darauf ge-
münzt wäre : et xb nleov xal ejUJiQoo^iov juegog elxe Xeovrog, edei
avTfjv keovxa >caXe2o&ai. *) f]v ovv ro Jiäv ^ifiaiQa, dcp'' ov xal
(hvojud^ero, xe(paki]v de el^e Xeaivrjg, ovqäv de ÖQdxovTog. Gewiß,
wenn man sie genau nach dem Wortlaut von Z 181 darstellen
wollte, mußte man eine Ziege mit Löwenkopf und Schlangen-
^) Daß auf einem etruskischen Spiegel (V 73) die Chimaira nur als
Löwe gebildet ist, ist wohl nur ein zufälliges Zusammentreffen.
10 2. Abhandlung: Carl Robert
schweif bilden, konnte sich höchstens nach dem Muster der
Kerberos und des Orthos erlauben, den Schlangenteil in den
Kopf auslaufen zu lassen. Also kein dreiköpfiges Wesen, son-
dern eins mit einem oder höchstens zwei Köpfen, unter denen
sich aber ein Ziegenkopf nicht befand. Und so fährt denn
jener Kritiker fort: tolvvv tivq etodyerai ävanveovoa diä rov
aTOjuaTog rov Xeovtog, d. h. er verbindet änoTiveiovoa nicht mit
xifiaiQa in V. 181, sondern mit fj de in V. 180, wozu V. 181
die Apposition bildet. Hätte er Recht, so würde also dem
Verfasser jener Iliasverse ein ganz anderes Bild von der Chi-
maira vorschweben, als wir es aus den Kunstwerken kennen.
Dann schließt der Kritiker mit einem Tadel gegen Hesiod :
'Holodog de fjnarij^rj TQixecpaXov avrrjv eiTicov, ein Tadel, der
nur dann gerechtfertigt wäre, wenn Hesiod die Iliasstelle be-
nutzt hätte. Nun ist allerdings die Stelle durch Interpolation
von Z 181, 182 später verdorben worden, aber die echten von
der Ilias durchaus unabhängigen Verse geben eine durchaus
korr-ekte Schilderung des bildlichen Typus, Theog. 319 ss.:
f] de XijuaiQav erixre nveovoav äjuaijuaxerov tivq,
öeivrjv re jbteydlrjv xe Tiodcoxed re XQaxeQYjv re.
rfjg ö^ fiv rgeXg xecpaXai, juia juev y^agonoTo Xeovrog,
fj de xLiAalgrig, fj 5' öcpiog xQaxeQolo ÖQdxovTog.
Denn daß diese drei Köpfe etwa aus demselben Hals heraus-
gewachsen wären, liegt durchaus nicht in den Worten. Die
Ilias hingegen hat entweder eine andere Vorstellung von der
Chimaira oder sie drückt sich ungeschickt aus. Aber auch
an einem sprachlichen Bedenken fehlt es nicht. V. 181 ist,
wie bereits bemerkt, Apposition zu ?] de in V. 180. Was also
dasteht, heißt eigentlich: „Die Ziege, d. h. nur das Mittelstück
war eine Ziege, das Vorderteil das eines Löwen, das Hinter-
teil das einer Schlange." Wird sich ein Dichter, der sich nicht
in einer Zwangslage befindet, so ausdrücken? Diese Zwangs-
lage wird aber dadurch erzeugt, daß Xi/uaiga sowohl das ganze
Ungeheuer als einen Teil von ihm bezeichnet. Das ginge noch
an, wenn die Ziege das Vorderteil der Mischbildung wäre; so
Archäologische Miszellen. 11
aber ist das Vorderteil ein Löwe und die Ziege sitzt in der
Mitte. Wie kommt man dazu, müssen wir da mit dem Kritiker
fragen, ein solches Gebilde eine Ziege zu nennen und nicht
eine Löwin? Diese Schwierigkeit schwindet, wenn man sich
entschließt, die V. 181, 182 als einen späteren Zusatz aus-
zumerzen. Dann würde die Stelle lauten V. 179 ss.:
jzodnov fjLEv Qa Xi/uaigav äjuatjuaxhr]v exeXevoev
necpvEfxeV r/ ^' a^' e'qv -ßeiov yevog ovo'' dvd'QCOTtcov,
xal rrjv jusv xarejzecpve d^ecbv regdsoot ni^rjoag.
Mir scheint, daß die Darstellung dadurch an Geschlossen-
heit gewinnt. Auch das Mißverhältnis zu der Schilderung der
beiden anderen Abenteuer wird auf diese Weise gemildert.
Der Kampf mit den Solymern wird nämlich mit zwei Versen,
der mit den Amazonen mit einem einzigen abgetan; der Be-
siegung der Chimaira hingegen werden in dem überlieferten
Text 5, nach der Athetese 3 Verse gewidmet.
Eine schwache Spur davon, daß die Verse auch schon von
einem antiken Grammatiker athetiert worden sind, könnte man
in den Scholien Townl. zu U 328, der anderen Iliasstelle, an
der die Chimaira erwähnt wird, zu finden versucht sein. Dort
wird der Mythos rationalistisch erklärt: otl ov jisnXaoiai rd
Tiegl Tfjv Xijuaigav moxiv ejziri'&rjoi did xov iqovov (eine Gene-
ration vor Sarpedon) xal rov '&QeipavTog (Amisodaros). locog
ovv ev alnoXicoL j^ijuagog rgacpelg fjyQico&r]' ovde firjv ereQoqpvrjg
fjv, (hg 'Holodog enXaoev. Warum wird hier nur Hesiod abge-
lehnt, und nicht auch die Verse Z 181, 182, in denen die
Chimaira doch auch als hegocpvijg bezeichnet wird? Hielt der
Autor vielleicht diese Verse für interpoliert? Aber freilich
hätte ihn der Vers Z^ 180 fj (5' a^' erjv d^eiov yevog ovd^ dvO^go)-
mov belehren müssen, daß auch nach der Ilias die Chimaira
keine gewöhnliche Ziege war, und so wollen wir diese Spur
auf sich beruhen lassen.
Der Grund der Interpolation ist klar. Der bildliche Typus
der Chimaira sollte in den Iliastext eingeschmuggelt werden.
Da nun aber bei diesem der der Ziege entlehnte Teil hinter
12 2. Abhandlung: Carl Robert
den beiden übrigen zurücktrat, entstand die Disharmonie, von
der wir die ganze Zeit sprechen. Daß die Verse an sich vor-
trefflich sind, ist natürlich kein Beweis für ihr Alter.
Ist das Erschlossene richtig, so ergibt sich zweierlei.
Erstens das Bild, das sich der Verfasser der Verse Z 179. 180
von der Chimaira machte, war ein anderes als das uns aus
der Kunst bekannte. Zweitens dieser künstlerische Typus ist
unabhängig von dem Chimairamythos entstanden, geschweige
denn, daß dieser Mythos erst aus dem bildlichen Typus ent-
wickelt sein könnte. Um mit dem letzteren zu beginnen, so
haben hier schon Milchhöfer (Anfänge der Kunst 82 f.) und
Furtwängler (ebd. 83 A. 1, Antike Gemmen III S. 72) das
Richtige gesehen. Auf einem aus Kreta stammenden Insel-
stein des Britischen Museums ist ein Löwe dargestellt, hinter
dessen Rücken eine Ziege empor springt. Indem man diese
beiden hier noch getrennten Tierkörper zu einem einzigen ver-
band, entstand jenes Misch wesen , ^) das, zur Erhöhung des
Schreckhaften nach dem Muster des Kerberos noch mit einem
Schlangenschwanz ausgestattet, als Abbild der Chimaira be-
trachtet und verwandt wurde, ähnlich wie die Löwenjungfrau
als Sphinx (Oidipus II, 17 ff.) und der Vogel mit Mädchenkopf
als Sirene (Franz Müller, Odyssee-Illustrationen 32 ff.).
Wie stellt sich aber der Verfasser von Z 179. 180 die
Chimaira vor? Nicht, wie der oben zitierte Scholiast meint,
als Ziege mit Löwenkopf und Schlangenschwanz, denn diese
Bildung ist ja erst aus dem interpolierten V. 181 erschlossen.
Aufschluß gibt vielmehr V. 180:
r/ ^' a^' Uy]v '&eiov yevog ovo'' äv^QCOJicov.
^) Die ähnliche Mischbildung auf einer protokorinthischen Lekythos
Amer. Journ. of Archaeology IV, 1900, pl. V, ein Löwe, aus dessen Rücken
ein bärtiger Männerkopf herauswächst, hat mit der Chimaira schwerlich
etwas zu tun; nicht sowohl weil der ihn bekämpfende Hoplit nicht auf
dem Pegasos sitzt, sondern weil kein Teil des Gebildes der Ziege ent-
nommen und der Menschenkopf männlich ist. Will man eine Deutung
wagen, so könnte man etwa an den „Herakles von Megara" Alkathoos
denken (Dieuchidas Schol. Apoll. I, 519, Paus. I, 41), obgleich in unseren
Archäologische Miszellen. 13
Wie sollte man bei einem Wesen, das aus Teilen verschie-
dener Tiere zusammengesetzt ist, auf den Gedanken kommen,
daß es von Menschen erzeugt sei? Auch der Einwand, daß
es sich lediglich um den polaren Gegensatz handele, ver-
fängt nicht. Einen solchen polaren Gegensatz soll man erst
einmal an einer Stelle der homerischen Gedichte nachweisen.
Und wäre '^hov yevog ovde tzeXmqcov nicht noch in höherem
Grade ein polarer Gegensatz? Nein, wer so schrieb, für den
mußte in der Bildung der Chimaira auch ein menschliches Ele-
ment vorhanden sein, noch mehr dieses menschliche Element
muß sehr stark hervorgetreten sein. Also war das Urbild der
Chimaira eine Mischung von Mensch und Ziege, entweder eine
Ziege mit Menschenkopf nach Analogie der Sphinx und des
Acheloos oder eine Frau mit einem Ziegenhaupt. Da nur diese
zweite Bildung etwas Furcht erweckendes hat, dürfen wir sie
als die wahrscheinlichere ansprechen. Welch große Rolle in
der niinoischen Kunst diese tierköpfigen Dämonen spielen, ist
bekannt, und auf den Siegelabdrücken aus Zakro finden sich
solche beiderlei Geschlechts^) mit Ziegenköpfen und Flügeln.
Ist es dazu zu verwegen, in dem weiblichen Vertreter dieses
Typus das Urbild der Chimaira zu sehen? Dieser ist in die
griechische Heldensage übergegangen, während sein männliches
Gegenstück früh in Vergessenheit geriet.
Die Entwickelung der Chimaira stellt sich somit folgender-
maßen dar. In der kretisch-mykenischen Epoche kannte man
ein dämonisches Wesen mit einem Ziegenkopf, die Chimaira.
Diese Bildung schwebt dem Dichter der Iliasverse Z 179. 180.
183 vor; es wird, wie er uns erzählt, von Bellerophon getötet.
Gleichfalls auf mykenischer Grundlage entwickelt sich ein aus
Löwe, Ziege und Schlange bestehendes Mischwesen, das all-
Quellen nichts davon steht, daß der von ihm getötete kithaironische
Löwe auch einen Menschenkopf hatte.
1) Männlich Journal of hell. stud. XXII, 1902, pl. VIT, 34, 36, 37,
weiblich ebd. 35, 38, 39. Auch der sog. Minotauros Annual of the Brit.
School. VII, p. 133, Fig. 45. Journ. of hell. stud. XXII, 1902, pl. VI, 17
18 scheint mir eher einen Bocks- als einen Stierkopf zu haben.
14 2. Abhandlung: Carl Robert
mählich als Chimaira betrachtet wurde und jenes Urbild ver-
drängte. Diesen neuen Typus beschreibt Hesiod Theog. 319
bis 322, wobei er aber die Iliasstelle insofern benutzt, als er
aus dem Epitheton der Chimaira Z179 ä/uaijbtaxhriv (vgl. Z7329)
Tiveovoav äjuaijuäxerov nvg macht. Je populärer dieser Typus
ward, um so mehr mußte man seine Erwähnung in der Ilias
vermissen. Man fügte also dort die Verse 181, 182 ein, wobei
Hesiods nveovoav äjuaijudxsrov tzvq zu deivdv änoTtveiovoa Jivgog
juevog ai'&o/uevoio umgemodelt wurde. Endlich, aber wahr-
scheinlich in beträchtlich späterer Zeit, wurden dieselben beiden
Verse auch in die Theogonie 323, 324 interpoliert.
Polos.
Für den bald reifen-, bald zylinderförmigen Kopfschmuck
der griechischen Göttinen hat sich in den letzten Jahrzehnten
mehr und mehr die Bezeichnung Polos eingebürgert, für die
vor einem Jahrhundert namentlich Böttiger eingetreten war
(Amalthea III, 157). Die Herkunft und Entwickelung dieses
Kopfschmuckes hat kürzlich Valentin Kurt Müller in seiner
Dissertation: Der Polos, die griechische Götterkrone, Berlin
1915 sorgfältig behandelt, aber die Berechtigung dieser Be-
nennung zu beweisen und ihre Bedeutung zu erklären ist ihm
nicht gelungen. Was zunächst auffallen muß, ist, daß sich
das Wort in diesem Sinne nur bei Pausanias findet. Zwar
haben 0. Jahn und U. von Wilamowitz es auch in der Be-
schreibung, die die Iliasscholien Z 92 von dem troischen Pal-
ladion geben, herstellen wollen, wo ABT ev de xfji xecpaXfji
noXiv haben, während bei Eustathios mXov steht, was Maaß
aufgenommen hat; wie ich glaube, mit Recht. Die pilos-
förmige Helmkappe ist ja sattsam bekannt, und es beweist
zwar nichts, ist aber doch immerhin ein hübsches Zusammen-
treffen, daß auf einer tarentinischen Vasenscherbe im Hallischen
archäologischen Seminar, die den Frevel des Aias an Kassandra
darstellt, das'troische Palladion solchen pilosartigen Helm trägt.
Von den drei Stellen nun, an denen Pausanias das Wort ge-
braucht, ist die eine ein religionsgeschichtlicher Exkurs; natur-
Archäologische Miszellen. 15
gemäß muß man von diesem ausgehen, und es empfiehlt sich,
ihn ganz hierher zu setzen. Anlaß zu ihm gibt dem Verfasser
das alte Kultbild der Tyche zu Pharai IV, 30, 4: jigcoTog de
Q)v olda ETioirjoaxo ev loJg E7ieoiv"Ojui]Qog Tvxrjg juvi^jurjv' etiol-
iqoaTO de ev vjuvayt rcoi eg A^jurjzga äXXag xe rcov ^Qxeavov
'&vyaTEgag xaraQi^/biovjuevog, (bg öjuov Kögrji ttji AijjiirjrQog nai-
Coiev, xal TvxYjv (bg 'Qxeavov xal ravrrjv naiöa ovoav ' xai ovrcog
EXEl Xa E71Y]'
fjfjLEXg fxev judXa näoai äv' IjueQxov Xeijucova,
Äevxmjirj 0atva) xe xal ^HXexxqtj xal 'Idv&i]
Mrjkoßoolg xe Tv^rj xe xal 'Qxvqoy} xaXvxcönig.
jiEQa de edrjXcjoev ovöev exi, d)g 7] '&e6g eoxiv avxrj jueyioxr]
d^ecbv ev xoig dvd^QCOJiivoig JiQayjuaoi xal lo'/vv nage^exai nXei-
oxrjv, ojoTieQ ye ev "IXidÖL enoirjoev 'A'&r]väv juev xal 'Evvco noXe-
fwvvxoDv fjyefJLOviav e'xeiv, "'ÄQxejuiv de yvvaixcbv (hdioiv elvat
(poßEgdv, "'AfpQodixrji Sk xd sgya jueXelv xcbv ydjuwv. dXX^ ovxog
jUEv ovöev äXXo EJioirjOEv ig xrjv Tv^rfV BovnaXog de, vaovg
xe oixodojLt^oao&ai xal ^cbia dvrjg dyad^og nXdoai, Zfjivgvaioig
äyaXjua egya^ö/uevog Tvxrjg Tigonog enoirjoev cbv l'ojuev noXov xe
e'xovoav enl xrJL xecpaXiji xal xfJL exegai ;^£«^t xd xaXovjuevov
AjuaX^eiag xegag vnd '^EXX^vcov. ovxog jiiev im xooovxo idrjXmoe
xfjg ^eov xd egya' fjioe dk xal voxsgov Utvdagog äXXa xe ig
xr]v. Tvx^jv xal di] xal (pegejioXiv dvexdXeoev avxrjv.
Kalkmann führt das alles auf ein mythologisches Hand-
buch zurück, das auch Plutarch in de Rom. fort. 4 benutzt habe
(Pausanias d. Perieget 216 f.). Gurlitt entgegnet mit Recht,
daß die Benutzung eines solchen Handbuchs nicht erwiesen
sei (Pausanias, S. 150 und 188 f.), und in der Tat, wer weiß
nicht, welch große Rolle bei Pausanias Homer spielt, wie er ihm
als höchste und unfehlbare Autorität gilt?^) So führt er ihn
auch hier als ältesten Gewährsmann für die Göttin Tyche an;
aber Homer hat unterlassen, sie zu charakterisieren, von ihrer
Macht und ihrem Wirkungskreis, ihren egya zu sprechen; dies
1) Vgl. Pausanias als Schriftsteller, S. 25 fF. und 103 f.
16 2. Abhandlung: Carl Robert
blieb — und hier setzt offenbar die Benutzung einer schrift-
lichen Quelle ein — dem chiotischen Bildhauer Bupalos vor-
behalten. Dieser hat sie durch Attribute charakterisiert, die
auf ihre egya hinweisen; in der Hand das Segen spendende
Hörn der Amaltheia deutet ihre Macht auf Erden, auf dem
Haupt eine das Himmelsgewölbe symbolisierende Krone ihre
Macht am Himmel an. Hier könnte man nun in der Tat an
eine mythologische oder richtiger religionsgeschichtliche Quelle
denken, und wird unwillkürlich an Apollodor^) erinnert, der
die Hörner des Pan als Sonne und Mond und sein geflecktes
Fell als das Himmelsgewölbe deutete. Aber doch besteht ein
wesentlicher Unterschied: Apollodor erklärt die Bildung des
Gottes selbst, der Gewährsmann des Pausanias ein Kultbild.
So würde man vielleicht geneigt sein, eine exegetische Quelle
anzunehmen, wenn nicht der folgende Satz eine ganz andere
Perspektive eröffnete. Auch Pindar, so versichert Pausanias,
habe der Tyche als Attribut den jcoXog^ das Himmelsgewölbe
gegeben, denn er nenne sie (pegenohg. Diese Erklärung des
Epithetons ist aber notorisch falsch; es bedeutet vielmehr die
den Staat tragende d. h. schützende und behütende, wie es
auch Plutarch de Rom. fort. c. 10, p. 322 richtig aufgefaßt
hat: Tfjv TS Tvxi]v xal ol just'' exeTvov (Numa) e^avjuaoav ßaoi-
XeTg (bg jzQCorojiohv xal xidrjvov xal cpegenoXiv rfjg '"Pcojurjg dA»;-
'&cog xazd ITivöagov.^) Aber wenn es eine Statue der Tyche
gab, die einen jiöXog trug, so erhielt diese falsche Deutung
scheinbar eine Stütze und somit stammt die Darlegung aus
einem Pindarkommentar, oder richtiger gesprochen, aus einer
kommentierten Ausgabe jenes Gedichts, mag es nun, wie man
früher glaubte, ein Hymnos auf Tyche, oder, wie Otto Schröder
annimmt, ein anderes Poem gewesen sein, in dem der Tyche
nebenbei Erwähnung geschah. Aus diesem Gedicht ist nun
*) Das Material jetzt am bequemsten in Wendeis Theokrit-Scho-
lien, p. 28 s.
*^j Vgl. Oppian Hai. I, 197 ßaoiXfja (psgsjiroXtv. Hütten, der in seinem
Dialog Fortuna § 96 die Pausaniasstelle benutzt, macht (psQsnoXov aus
(pSQSJtoXlV.
Archäologische Miszellen. 17
auch das entnommen, was in dem ersten von Homer handeln-
den Teil Pausanias scheinbar aus eigenem Wissen von der
Macht der Tyche sagt: (hg t) 'ßeog eoxiv aih}] jueyiorf] '&ecbv ev
TÖig äv^QCJmvoig ngayfiaoi xal loyhv naqh/Exai JiXelorrjv d. h.
eben die egya, die Pausanias und sein Gewährsmann bei der
Statue des Bupalos durch das Hörn der Amaltheia und den Polos
ausgedrückt glauben; denn das erste Satzglied paraphrasiert den
bei Aristides H, 334 Dind. erhaltenen Vers desselben Pinda-
rischen Gedichts: ev sgyjuaoi (= ev roTg ävd^Qconivoig jigäy-
juaoi) de rixal Tvya, ov o&evog, das zweite die von Pausanias
selbst an späterer Stelle VH 26, 8 ausführlicher zitierten Worte:
MoiQcbv re elvai jLuav Ti]v Tvyrjv xal vjieg rag ädeXtpdg tl loyveiv.
Die Übereinstimmung zwischen Plutarch und Pausanias, soweit
von einer solchen überhaupt die Rede sein kann, erklärt sich
also nicht, wie Kalkmann wollte, aus der Benutzung desselben
mythologischen Handbuchs — aus einem solchen brauchte
doch der Chaironeer seine Pindarkenntnis wahrhaftig nicht zu
schöpfen — sondern daraus, daß beide auf dasselbe Pindarische
Gedicht anspielen, das der eine ohne Kommentar, der andere
in einer kommentierten Ausgabe las.
Aber läßt sich dieser Exkurs über Tyche von dem ganz
gleichartigen über die Chariten IX, 35 trennen ? Sind nicht beide
durch die Erwähnung des Bupalos miteinander verklammert,
und hatte nicht Kalkmann doch recht, wenn er ein mytho-
logisches Handbuch als Quelle annahm? Ich habe das früher
bis zu einem gewissen Grade selbst geglaubt und als drittes
gleichartiges Stück das Aristophanes-Scholion Av. 573 hinzu-
gefügt, wo der Vater des Bupalos, Archermos, als der Künstler
genannt wird, der der Nike zuerst Flügel gegeben haben sollte
(Archäol. Märch. 118 f.). Jetzt glaube ich, daß sich auch für
diese beiden Traktate als Quelle ein Pindar-Kommentar wahr-
scheinlich machen läßt. In dem Abschnitt über die Chariten
ist von Eteokles als dem Stifter ihres orchomenischen Kultes,
von ihrer Zahl und ihren Namen, von ihrer Bekleidung oder
Nacktheit die Rede. Das ganze liest sich wie ein Kommentar
zur XIV. olympischen Ode, und ist es zufällig, daß unsere sehr
Sitzgsb. d. philos.-philol. u. d. bist Kl. Jahrg. 1916, 2. Abb, 2
18 2. Abhandlung: Carl Robert
dürftigen Scholieii zu dieser Ode am Anfang fast dieselben
Worte enthalten, mit denen das Pausanias- Kapitel beginnt?
Scbol. javraig de 'Exeoxlog 6 K7](pioov rov jiOTajuov Jigcbrog
t&voev, a>g (fijoiv 'Hoiodog; Paus. löv de 'Exeoxlea leyovoiv ol
ßoicoTol XcLQioiv äv^Qconojv '&voai tiqöjtov. Als Quelle des
Aristophanes-Schalions kommen nicht nur die Kommentare zu
den Epinikien, sondern, wie der Traktat über Tyche lehrt,
auch die zu anderen Gattungen in Betracht. Immerhin wird
auch in den Epinikien Nike zweimal erwähnt: Nem. V 42
Nixag ev äyxchveooi mtvcov und Isthm. II 26 XQVoeag ev yovva-
oiv TiiTvovra NcKag. Geradezu einladen zu einer Erörterung
der Frage nach der Beflügelung der Nike mußten aber die
Schluiäworte der IX. Pythischen Ode: noXlä de Tzgood'ev nxegä
öe^njo viyMv, wozu unsere Scholien nur trocken bemerken:
jiregd de vlxrjg JieQKpQaoxixcog tyjv vixrjv. In den Aristophanes-
Scholien wird als Gewährsmann Karystios von Pergamon zitiert.
Es mufcs dahin gestellt bleiben, ob dieser von dem Pindar-
Kommentator benutzt worden ist oder ob er selbst der Ver-
fasser des Kommentars war, was man ihm, da er auch über
didaoxaUai und über Sotades geschrieben hat, wohl zutrauen kann.
Sei dem wie ihm wolle, jedenfalls hat dieser Pindar-Kom-
mentator, um seine falsche Erklärung von cpeQenohg zu stützen,
den Kopfschmuck der Tyche des Bupalos für ein Abbild des
Himmelsgewölbes, des noXog^ erklärt. Irgend etwas muß er
also d/)ch mit diesem gemein gehabt haben. Wie aber ein
hoher Zylinder das Himmelsgewölbe versinnbildlichen soll, ist
unerfindlich, selbst wenn sich diese Bedeutung für noXog nach-
weisen ließe, was nicht der Fall ist; denn an den von Kurt
Müller beigebrachten Stellen bedeutet das Wort die Zylinder-
achse, nicht den Zylindermantel.^) Bedeutsam ist nun, daß auch
die beiden andern Statuen, bei denen Pausanias diesen Aus-
druck gebraucht, dem sechsten Jahrhundert angehören; es sind
dies die Aphrodite des Kanachos in Sikyon II, 10, 5 und die
1) Über die von K. Müller gründlich mißverstandene Stelle in Aristo-
phanes' Vögeln V. 179 ss. s. Hermes XL, 1905, S. 479 f.
Archäologische Miszellen. 19
dem Endoios zugeschriebene Athena Polias in Erythrai VII, 5, 9.
Bei Statuen des sechsten Jahrhunderts ist aber die hohe zylinder-
förmige Krone verhältnismäßig selten, der übliche Kopfputz,
namentlich auch bei den Frauenstatuen der Künstler von Chios,
ist die schmale Stephane, die mit Rosetten geschmückt ist.
Diese Rosetten konnte ein religionsgeschichtlicher Sjmboliker
wohl für Sterne und daher die Stephane für ein Abbild des
Himmels halten,^) Man wird einwenden, daß ein schmaler
Streifen noch weniger als ein Zylinder das Himmelsgewölbe
symbolisierien könne, es sei denn daß damit der Wendekreis
gemeint sei, woran aber schwerlich gedacht werden darf. Und
doch empfanden die Alten anders. Auf der bekannten schwarz-
figurigen Vase mit Herakles und Atlas (Journ. of hell, stu-
dies XIII, 1892, pl. III) ist das Himmelsgewölbe gleichfalls als
ein schmaler Streifen dargestellt, der mit Sternen und dem
Halbmond besetzt ist.^) Man wird einwenden, daß hier der
Rest des Himmelsgewölbes als unter dem oberen Ornament-
streifen verschwindend gedacht ist; aber das Wesentliche ist,
daß auf diesem Bildwerk die unteren und die seitlichen Be-
grenzungen gerade Linien bilden. Und wenn dem Apollodor
ein Hörn die Sonne symbolisieren konnte, warum nicht dem
ihm geistesverwandten Pindar- Kommentator ein gerundeter
Streifen das Himmelsgewölbe? Auf die Dekoration kam es
diesem mehr an als auf die Form.
Somit ist 7zö?iog keineswegs ein terminus technicus für
einen bestimmten weiblichen Kopfputz. Ein Grammatiker hat
diesen nur irrtümlicher Weise für ein Symbol des jiokog aus-
gegeben, Tansanias aber in seiner effekthaschenden Weise setzt
das Vergleichsobjekt als Bezeichnung des Gegenstandes selbst
ein und nennt, um mit seiner Gelehrsamkeit zu prunken, auch
in zwei anderen Fällen die rosettengeschmückte Stephane Polos.
Das ist eine Spezialität des Sophisten von Damaskos, die ihm
1) Ähnlich schon Gerhard, Ges. Abh. II, 104 ff.
2) Vgl. auch die dort p. 11 n. 20 von Eugenie Seilers erwähnte
Vase Gazette des Beaux Arts 1890, p. 132.
20 2. Abhandlung: Carl Robert, Archäolog. Miszellen.
nachzumachen andere Schriftsteller zu geschmackvoll waren.
Denn, um ein verwandtes Beispiel aus ganz anderer Sphäre
anzuführen, wenn Kratinos in der OgätTTat (fr. 71 K) von
Perikles sagt rcbideTov im rov xQaviov eycov, so wird man
doch deshalb nicht Odeion als terminus technicus für den
korinthischen Helm gebrauchen. Aus der archäologischen
Terminologie muß also die Bezeichnung Polos, so bequem sie
war, verschwinden.
Sitzungsberichte
der
Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Philosophisch-philologische und historische Klasse
. Jahrgang 1916, 3. Abhandlung
kM-d^^ i-
Griechische Windrosen
von
\
Allbert Rehm
1
Vorgetragen am 6. Mai 1916
München 1916
Verlag der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
in Kommission des G. Franz'schen Verlags (J. Roth)
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Sitzungsberichte
der
Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Philosophisch-philologische und historische Klasse
Jahrgang 1916, 3. Abhandlung
Griechische Windrosen
von
Albert Rehm
Vorgetragen am 6. Mai 1916
München 1916
Verlag der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
in Kommission des G. Franz'schen Verlags (J. Roth)
In zwei Punkten ist die Untersuchung, die ich hier vorlege,
gegenüber der Fassung, die im Mai der Akademie vorgetragen
wurde, verändert: sie ist erweitert um einen Fund, den ich in
der Sitzung des 3. Juni mitteilen konnte und der hier als Zu-
satz zu dem Abschnitt über Timosthenes erscheint, und sie ist
beträchtlich umgestaltet in dem Abschnitt, der die Zeit nach
Timosthenes betrifft. Maßgebend waren hier die Mitteilungen,
die mir Herr Professor Kalbfleisch in Gießen unterm 13. Juni
in entgegenkommender Beantwortung einer brieflichen Anfrage
machte. Sie ergaben mit völliger Sicherheit, daß der pseudo-
galenische Kommentar zu Tregl xv/^cbv aus der Erörterung über
die griechischen Windrosen schlechtweg auszuscheiden hat,
während ich geglaubt hatte, einen kleinen Teil davon als brauch-
bare Überlieferung halten zu können. Damit verändern sich
zwar weder die Hauptergebnisse noch der Aufbau der Unter-
suchung; aber Eratosthenes wird nunmehr in der Geschichte der
griechischen Windrosen wieder eine unbestimmte Größe und die
Untersuchung über Poseidonios muß ganz neu geführt werden.
Wie tief diese neue Erkenntnis, die in Wahrheit der Ver-
zicht auf eine vermeintlich sichere Erkenntnis ist, in die bisher
geltenden Anschauungen eingreift, davon kann man sich leicht
durch einen Blick in die drei letzten Arbeiten überzeugen, die
das Thema Windrosen mit der angemessenen Ausführlichkeit
behandeln: G. Kaibels berühmten Aufsatz „Antike Windrosen"
(Hermes 20 (1885) S. 579 ff.), der die Analyse des Kommentars
zu Tiegl xv^mv zum Hauptgegenstand hat, die Dissertation von
H. Steinmetz „De ventorum descriptionibus apud Graecos JRo-
manosque"- (Göttingen 1907), in welcher Eratosthenes aufs be-
stimmteste als der Schöpfer eines in allem grundsätzlich neuen
1*
4 3. Abhandlung: Albert Rehm
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Systems erscheint, A. Schmekels „Isidorus von Sevilla" (Berlin
1914), wo S. 216 — 245 noch einmal der (von mir auch
schon in der früheren Fassung bekämpfte) Versuch gemacht
wird, das einschlägige Galenkapitel als völlig einheitlich und
in allen Teilen auf Poseidonios zurückgehend zu erweisen.
Es ist jetzt gerechtfertigt, viel mehr, als es Kai bei und
seine Nachfolger taten, auf die älteren Monographien über
das vielbehandelte Thema zurückzugreifen; unter ihnen sind
H. C. Genellis Aufsatz „Über die Windscheiben der Alten"
in F. A. Wolfs Literarischen Analekten II (1820) S. 470 ff.
als erster Versuch, den Gegenstand ernstlich durchzudenken^),
und die materialreichen Arbeiten von K. v. Raum er (Rhein.
Mus. 5 (1837) S. 477 ff.) und F. A. Ukert (Zeitschrift für
Altert.-Wiss. 8 (1841) Nr. 15 — 18) weitaus am wichtigsten^).
Unter den Arbeiten der neueren Zeit haben sich mir die Unter-
suchungen H. Bergers, die über seine ganze „Geschichte der
wissenschaftlichen Erdkunde der Griechen" zerstreut sind, als
die weitaus vorzüglichste Leistung erwiesen, während 0. Gil-
berts umfängliches Kapitel „Windsysteme" in seinen „Mete-
orologischen Theorien des griechischen Altertums" (Leipzig
1907, S. 539 ff.) die eigentlichen Probleme wenig fördert und
von Versuchen zu gewaltsamer Harmonisierung nicht frei ist.
Für mich war der Anlaß, eine zum großen Teil schon vor
zehn Jahren geführte Untersuchung wieder aufzunehmen, die
Überzeugung, daß die Lehre von den Windrosen einerseits von
den physikalischen Windtheorien, mit denen sie bei Steinmetz
verkoppelt ist, gelöst werden, andrerseits aber viel enger, als
bisher geschehen, mit den Methoden der Orientierung in ihrem
ganzen Umfang und ihrer gesamten Verwendung verbunden
*) Lüdickes , Versuch über die Weltgegenden oder über die Ein-
teilung des Horizonts bei Griechen und Römern" (Hindenburgs Archiv
der rein. u. angew. Mathem. IX. Heft (1799) S. 38ff.) ist wertlos und ver-
dient fernerhin v^eder Berücksichtigung noch Erwähnung.
2)Draeger (Philol. 23 (1866) S. 385 ff.) schreibt ohne jede Kenntnis
der Vorarbeiten. Auch seine Arbeit kann ohne Schaden für die Wissen-
schaft der Vergessenheit anheimfallen.
Griechische Windrosen. 5
werden muß. Durch den letztgenannten Umstand ist es be-
dingt, daß die Darstellung streng chronologisch zu verfahren
und mit den ältesten erreichbaren Zuständen einzusetzen hat.
I. Homer und die vorwissenschaftliche Zeit.
Selbst wenn man den neuesten Versuchen, die Zeit der
homerischen Epen stark herabzurücken, nicht alle Berechtigung
abspricht (was ich zu tun geneigt bin), bleibt es natürlich,
daß eine Untersuchung über griechische Windrosen mit Homer
beginnt; hier zuerst haben wir ein reichliches Material. Aber
vielleicht erweist es sich doch als zweckmäßig, einmal ganz
allgemein zu fragen, aus welchen Bedürfnissen überhaupt eine
Windrose entstehen und mit welchen Anhaltspunkten sie ge-
bildet werden konnte. Sobald man sich diese Fragen stellt,
kommt man darauf, daß die Windrose zweierlei bedeutet, ein-
mal die Unterscheidung von Hauptwinden, die, unabhängig
von der Geländegestaltung und von Unterschieden der Qualität
wie Stärke und Feuchtigkeit^), rein nach ihrer Lokalisierung
am Horizont bezeichnet werden, sodann eine Einteilung des
Horizontes für Zwecke der Orientierung. Diese Bedeutung steht
heutzutage im Vordergrund, wenn man von der Windrose redet;
aber es ist nichts weniger als selbstverständlich, daß es immer
so gewesen sein müsse ^). Erst muß irgend ein Punkt des
Horizonts festgelegt sein, wenn wir von Windrichtungen im
Sinne von Himmelsgegenden sprechen wollen; das erfahren
^) Dem antiken Menschen war es offenbar schwer, die Dinge so
rein mathematisch zu betrachten; darum kann sich z. B. Seneca n. qu.
V 16, 5 in tiefsinnigen Betrachtungen darüber ergehen, ob man den
corus wirklich dem argestes gleichsetzen dürfe. Selbst bei Aristoteles
ist das geometrische Prinzip nicht mit voller Selbstverständlichkeit durch-
geführt (vgl. Abschnitt 3 über evQovozog und (poivixiag).
2) Gesichtspunkte, wie ich sie hier verfolge, finde ich etwas mehr
als in den sonstigen Ausführungen über homerische Geographie berück-
sichtigt bei Messedaglia, I venti in Omero (Mera. accad. dei Lincei,
scienze mor., V 7 (1901)), z. B. S. 13, 26 f., 39 f. Nur. ist eben erst noch
zu untersuchen, ob die homerische Windrose eine „vera e propria rosa
di orientazione" ist, wie er ohne weiteres voraussetzt.
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6 8. Abhandlung: Albert Rehm
wir noch heute genau so wie der Mensch der Vorzeit, wenn
wir ohne Kompaß und ohne Karte in unbekannter Gegend
wandern. Da muß uns erst die Sonne oder der Sternhimmel
eine Hauptrichtung geben, ehe wir einen Wind nach seiner
Richtung benennen können. Es soll gewiß nicht geleugnet
werden, daß ein beständiger Wind, wie etwa im Gebiete des
ägäischen Meeres die Etesien, weithin zu annähernd zutreffen-
der Richtungsangabe dienen konnte, auch wenn dem Schiffer
längst der Ausgangshafen, in dem er sich mit andern Mittel zu
orientieren vermochte, außer Sicht gekommen war^), und ebenso
gewiß ist, daß in den nämlichen Breiten der Südwind, wenn
er als Scirocco auftritt, durch seinen Charakter so deutlich
bestimmt ist, daß man sich wohl denken könnte, es möchte
jemand an ihm in sternenloser Nacht ungefähr die Südrichtung
erkennen. Aber das sind Ausnahmefälle, und sie setzen, genau
genommen, doch eine anderweitig schon gewonnene Horizont-
teilung und Lokalisierung der Winde am Horizont voraus.
Demnach ist es eine nichts weniger als selbstverständliche
Substituierung, wenn späterhin bei den Griechen überwiegend
und bei den Römern vielfach die Himmelsrichtungen nicht
nach den Gestirnen, sondern durch Windnamen bezeichnet
werden, und nicht cpvoei, sondern vojucoi geschieht es, daß in
hellenistischer Zeit und noch heute im populären Sprachge-
brauch der griechischen Schiffer eine weitgehende Horizont-
teilung die sämtlichen Abschnitte durch Windnamen bezeichnet.
Die Orientierung an den Sternen konnte an und für sich
sehr früh einsetzen, zumal der Teil des Himmels, von dem sie aus-
geht, der Kreis der nicht untergehenden Sterne, durch ein so
stark auffallendes Sternbild wie den großen Bären ausgezeichnet
ist ; aber der homerische Sprachgebrauch lehrt, daß auch dieses
Orientierungsmittel doch nur in beschränktem Umfang ver-
wendet worden ist^). Das erste Gegebene, wonach der Grieche,
^) So ist es zu verstehen, wenn bei Strabon II 71 C (Richtung
Amisos-Kolchis) und II 119 (Festlegung des Diaphragma) die Winde als
Mittel bezeichnet werden, die Fahrtrichtung zu bestimmen.
2} Es handelt sich um die Stelle e 274—277, wo erzählt wird, wie
Griechische Windrosen. 7
und nicht er allein oder zuerst^), Welfcgegenden unterscheidet,
ist die Sonne. Da ist nun aber nicht, wie man aus einer von
Gilbert (S. 542) wiederholten Äußerung Partschs (in Neu-
mann-Partsch, Physikalische Geographie von Griechenland
Odysseus, dem Rate der Kalypso folgend, die Bärin, die allein nicht teil
hat am Bade im Okeanos, auf seiner Fahrt zum Phäakenlande hin
18 Tage hindurch stets zur Linken behält; deswegen ist aber bei Homer
doch noch nicht aQHiog = Norden. Diese Gleichsetzung kann man, wenn
schon immer noch unsicher genug, so viel ich sehe, zuerst aus einer
Heraklitstelle (fr. 120 Diels, Vorsokr.) herauslesen, die uns noch später
beschäftigen soll (s. u. S. 26); zum mindesten ist dort der große Bär für
eine genaue Orientierung ausgenützt. Daß er bald für die Zwecke der
Schiffahrt durch den kleinen Bären verdrängt wurde, ist sehr glaublich,
wenn auch nicht gerade Thaies, der Phönikerabkömmling, das Sternbild
in Griechenland bekannt gemacht hat, wie Kallimachos fr. 94 (jetzt ver-
vollständigt bei Diels, Vorsokr. III p. V) will. Die Tradition, daß die
Kenntnis des kleinen Bären von den Phönikern herstammt, kennt auch
Arat V. 39. 44; wenn er aber sagt, die Achäer orientierten sich nach dem
großen Bären, die Phöniker nach dem kleinen, so ist das natürlich nur
poetische Einkleidung einer literarischen Überlieferung, die wohl von
Thaies Erfindung gehandelt oder das Problem der einen Arktos bei
Homer (Strab. I p. 3) betroffen haben mag; für seine Zeit gilt der Gegen-
satz griechischer und phönikischer Nautik natürlich längst nicht mehr,
hatte doch Pytheas von Massilia die Stelle des Nordpols schon recht
genau bestimmt (vgl. Hipp, in Arat. p. 30, 8 M.).
^) Ich habe nicht die Absicht, verfüge auch nicht über die Voraus-
setzungen zu selbständiger Forschung, um der Frage durch die ganze
Menschheit hin nachzugehen. Für das Indogermanische zeigen die Namen
für Osten deutlich, daß es sich im oben Besprochenen um eine allgemeine
Erscheinung handelt. Im Germanischen scheinen die Bezeichnungen für
Ost, Süd, West ganz zweifellos vom Sonnenstande genommen zu sein,
während Nord noch nicht sicher gedeutet ist (vgl. Wehrle, Zeitschr. für
deutsche Wortforschung 7 (1905/6) S. 65. Kluge, Etym. Wörterbuch ^
(1914) u. d.W.; wertvoll für die Beurteilung der Entwicklung auch bei den
Griechen ist seine Bemerkung, daß in Oberdeutschland die Bezeichnung
nach den Tageszeiten — Morgen, Mittag usw. — fast ganz an die Stelle
der alten Bezeichnungen der Himmelsgegenden getreten ist; für die
Gebildeten gilt das allerdings nicht). Anders scheinen die Dinge im
babylonischen Kulturkreis zu liegen; Hommel teilt mir mit, dort
seien seit ältester Zeit die Windnamen für die Himmelsrichtungen im
Gebrauch.
8 3. Abhandlung: Albert Rehm
S. 92)^) abnehmen könnte, die Gegend des höchsten Sonnen-
standes, die der Beobachtung den Anstoß gab, — denn ohne
ein Instrument gibt die Beobachtung des kürzesten Schattens
nur ein i-echt unbestimmtes Resultat*) — , sondern die Gegend
des Sonnenauf- und -Untergangs. Das Emporsteigen und Unter-
tauchen der Sonne liefert an jedem klaren Tag wirklich einen
festen Punkt am Horizont*). Ilgog fjco t' fjeXiöv re und jiQog ^6-
(pov — das sind die beiden ursprünglichen Himmelsrichtungen,
die wir bei Homer benützt finden {M 239 s. >i 190—192*),
V 240 s.; 'Hovg oixia xal x^^Q^l >^ol avToXal 'HeXioio ju 3 s.). Die
Bezeichnung für den Süden wird bei Homer gerade nicht von
der Sonne genommen, sondern für sie tritt an der einzigen Stelle,
an der diese Himmelsgegend vorkommt, v 109 — 112, der votog
ein (mit ihm zugleich erscheint sein Gegenwind ßoQeag als
1) (Von den vier Himmelsriclitungen) „waren zwei, die Gegend des
höchsten Sonnenstandes und ihr diametrales Gegenteil, alltäglich un-
mittelbar gegeben".
2) Stellen wie die von Völcker, Über Homerische Geogr. u. Welt-
kunde S. 43 angeführten & 68, IJ 777, ö 400 {i^fiog d' rjeXiog fisoov ovgavov
äfxcpißEßrjxsi) oder wie r) 288 {/uioov ^f-iag) zeigen nur das schlechthin
Selbstverständliche, daß man beobachtet hatte, wie die Sonne am Himmel
auf- und absteigt. Aber es ist kein Zufall, daß diese Erscheinung immer
nur für Zeitbestimmungen verwendet wird ; zur Bestimmung eines Punktes
am Horizont eignet sie sich auf den bloßen Augenschein hin in der Tat
gar nicht, wovon man sich ja an jedem sonnigen Tag überzeugen kann.
^) Diese Beobachtung gestattete es, durch ein ganz primitives Ver-
fahren Bauanlagen nach dem Sonnenaufgang eines bestimmten Tages im
Sonnenjahr zu „orientieren" (Nissen, Orientation I S. 9). Die ein-
schlägige Lehre der Gromatiker s. in Nissens Templum S. 163 ff'.
Orientation I S. 86 ff.
*) Hier nur tjck dem Co<pos entgegengesetzt; die Stelle reicht hin,
um Reißingers Versuch, der Leukas-Ithakahypothese zu liebe alle an-
geführten Stellen nicht von Ost und "West, sondern wie J. H. Voß und
Strabon allgemein von Licht- und Nachtseite, also eher Süd und Nord
zu verstehen (Blätter für das bayer. Gymn.-Schulw. 39 (1903) S. 381 ff.),
als phantastisch zu erweisen, Strabon, der 1 p. 34 und ausführlicher
X p. 45 i, gleichfalls um der Interpretation der homerischen Angaben
über Ithaka willen, Co(pog = ägxxog gesetzt hatte, wird von Reißinger
selbst als Eideshelfer abgelehnt (S. 384). '
Griechische Windrosen. 9
Bezeichnung des Nordens). Wenn man bedenkt, daß jueoajußgir]
als Bezeichnung der Himmelsgegend erst bei Hekataios be-
gegnet (s. Abschnitt 2), so wird man nicht zweifeln, daß es
bis ins V. Jahrhundert hinein kein anderes Wort für Süden
gegeben hat als vozog. Waren erst Ost und West durch die
Sonne bestimmt, so konnte man wohl wagen, Nord und Süd
durch Winde zu bezeichnen.
Über die Winde selbst scheint mir Gilbert S. 539 f. in
allem wesentlichen das Richtige gesagt zu haben. Daran, daß
die vier Kardinalwinde im ganzen Homer auf die vier Him-
melsgegenden verteilt gedacht werden, kann man wirklich nicht
zweifeln; diese Verteilung ergibt sich durch das Vorn und
Hinten, Rechts und Links des Menschen, der Orientierung
sucht, ganz von selbst. Aber daran denkt man allerdings noch
nicht, die Bezirke der Winde unter einander geometrisch ab-
zugrenzen, und man fragt nicht, ob zwei benachbarte Winde
gleichzeitig wehen können oder nicht. Immerhin wird man
im Anschluß an Steinmetz S. 12 f. sagen können, daß die
Odyssee sowohl mit ihren reichlicheren Orientierungsangaben
(die freilich durch den Stoff nahe gelegt sind) als mit ihren
bestimmteren Angaben über Gruppierung der Winde (e 331 s.,
V 109 — 112) jünger anmutet als die Dias.
2. Die ionischen Physiker.
Die bisherigen Ausführungen zeigen, daß Ost und West
für den primitiven Menschen immer noch eher bestimmt waren
als Nord und Süd. Aber die Genauigkeit war freilich sehr
gering ; die Stelle, an der die Sonne auf- oder untergeht, ändert
sich ja von Tag zu Tag. Diese Verschiebung, die sich in den
hier in Betracht kommenden Gegenden über einen Bogen von
mehr als 60^^) erstreckt, den die Sonne zweimal im Jahre
durchmißt, blieb natürlich ebensowenig verborgen wie das
Länger- und Kürzerwerden der Schatten um die Mittagszeit;
^) 61^ 24' beträgt die Differenz für die Breite von Athen nach
Tieles Tafel zu Nissen s Templum (= Orientation II S. 260).
I_
10 3. Abhandlung: Albert Rebm
der Reisende, der den Ost p unkt suchte, konnte mit einiger
Übung die „Morgen- und Abendweite " der Sonne annähernd
abschätzen, — wie wir es wohl noch heutzutage gelegentlich
tun, — aber diese Bestimmung war von Genauigkeit doch
immer weit entfernt. Nur jahrelange Beobachtung am näm-
lichen Ort führte zu genauer „Orientierung". Der entschei-
dende Fortschritt für die Festlegung der Himmelsrichtungen
kam von anderer Seite, durch die Erfindung eines Instrumentes,
welches es gestattete, die Mittagslinie genau zu bestimmen.
Das ist der Gnomon. So einfach die Sache ist, so wenig selbst-
verständlich ist doch ihr Gebrauch; wenn es dafür eines Be-
weises bedürfte, so läge er darin, daß ein Mann, der sich mit
der einschlägigen Literatur so viel beschäftigt hat wie Kai bei,
die Anweisungen Vitruvs über diesen Gegenstand, die von un-
tadeliger Klarheit und Korrektheit sind, vollkommen mißver-
standen und deshalb an ihnen herumkorrigiert hat (Hermes 20
(1885) S. 586 A. 1); auch die kuriose Figur, die Prestel in
seiner Vitruvübersetzung (Zur Kunstgesch. d. Ausl. 96 (1912)
T. II) bietet, läßt eine Klarstellung nicht überflüssig erscheinen.
Die alten Erklärer, Perrault, Marini, bieten übrigens das
Richtige. Das Verfahren ist, — zunächst wieder in der pri-
mitivsten Form dargestellt, — etwa das Folgende : statt daß man
den Sonnenweg am Himmel beobachtet, wo sich ja seine ein-
zelnen Punkte nicht festlegen lassen, beobachtet man den Weg,
den die Schattenspitze eines Stabes zurücklegt. Für die Zwecke,
von denen wir hier handeln, genügte die denkbar einfachste
Vorrichtung, daß der Stab senkrecht auf einer horizontalen,
ebenen Fläche stand. Sollte übrigens, wie ich wegen der
sonstigen Verwendung des Gnomon in meinem Artikel „Horo-
logium" bei Pauly-Wissowa VIII S. 2417 vermutet habe, die
Urform diejenige der „Skaphe* sein, bei welcher die Auffang-
fläche ein Abbild der Himmelskugel, d. h. also eine konkave
Halbkugel, bildet, in deren Zentrum sich die Gnomonspitze
befindet, so ist zwar das Instrument künstlicher und etwas
schwieriger herzustellen, das Verfahren damit aber nicht kom-
plizierter, vielmehr sogar etwas einfacher; man mußte nur
Griechische Windrosen. 11
dafür sorgen, daß der Rand der Halbkugel in die Horizont-
ebene fiel, und man mußte außer dem Zentrum der Kugel
auch noch den Nadirpunkt markieren. Ich rede aber weiter-
hin nur von der Projektion des Schattenweges auf die hori-
zontale Ebene, weil zufällig nur sie uns als Hilfsmittel der
Feststellung des Meridians ausdrücklich bezeugt ist. Der Be-
obachter, der etwa an einem Hochsommertage nach der Sonnen-
wende begann, durch Anzeichnung einer Reihe von Punkten den
Weg des Schattenendes zu ermitteln, fand eine Kurve, konkav
gegen den Gnomonfuß hin ; je mehr sich Tag um Tag mit dem
tiefer werdenden Sonnenstand die Kurve vom Gnomonfuß ent-
fernte, desto flacher wurde sie, bis sie eines Tages in eine
Gerade übergegangen war. Das war der Tag der Gleiche;
wer zufällig an einem solchen Tag beobachtete, der hatte freilich
sogleich Ost- und Westpunkt, mittelbar also auch den Meridian
gefunden ; aber — abgesehen davon, daß die Tage der Gleichen
selbst erst durch den Gnomon einigermaßen genau zu bestim-
men waren, — man mußte doch ein Mittel suchen, welches
das ganze Jahr hindurch an jedem einigermaßen klaren Tag
anwendbar war. Fuhr unser Beobachter mit seinem Tun fort,
so sah er aus der Geraden bald wieder eine Kurve werden,
diesmal aber konvex gegen den Gnomonfuß hin. Kurz, es
entstand vor ihm die Figur, die man im späteren Altertum
speziell Analemma nannte. Sie konnte der Beobachtung der
Wenden und Gleichen dienen, ohne daß man auf ihr die
Mittagslinie oder gar eine Stundenteilung vermerkte. Aber
natürlich war der Meridian leicht aufzufinden; er ist die Ge-
rade, die vom Gnomonfuß aus durch den diesem nächsten
Punkt einer jeden Schattenkurve geht.
Kam es nun aber lediglich darauf an, den Meridian zu be-
stimmen, so bot sich ein viel einfacheres, wiederum für die hohle
ebenso wie für die ebene Sonnenuhr verwendbares Verfahren dar,
welches nichts weiter als die Fähigkeit, mit dem Zirkel umzugehen
und einen Winkel zu halbieren, voraussetzt und an jedem be-
liebigen Tag des Jahres durch ganz wenige Beobachtungen in
recht zuverlässiger Weise zum Ziele führt; beschrieben ist es
12 3. Abhandlung: Albert Rehm
uns bei Vitruv I 6, 6 und I 6, 12. Es ist dort mitgeteilt als
Voraussetzung für die Anfertigung einer Windrose ; vorerst
geht uns aber nur die Anweisung zur Auffindung des Meridians
an, sodaß es zweckmäßiger sein wird, hier nur diesen Teil der
Ausführungen wiederzugeben. Ich tue es, indem ich die beiden,
sachlich ja durchaus identischen Vitruvstellen kombiniere, Vi-
truvs Darlegungen paraphrasiere und die Figur beigebe, die
er selbst beschreibt und auf deren Hinzufügung am Ende des
Buches er hinweist. Vitruv schärft sehr ein, die Auffangebene,
am liebsten eine Marmorplatte, aufs sorgfältigste zu glätten
und horizontal zu verlegen (die Unregelmäßigkeiten, die an
allen mir bekannten Exemplaren ebener Sonnenuhren zu be-
merken sind, gehen wohl auf Mängel in diesem Punkte zurück) ;
daß der (bronzene) Gnomon peinlich genau senkrecht stehen
muß, hebt er nicht eigens hervor; dagegen wird angedeutet,
daß er abnehmbar sein muß (p. 28, 21 reposito gnomone, p. 29, 23
inter angulos octagoni gnomon ponatur). Zunächst merkt man
zu beliebigem Zeitpunkt am Vormittag die Stelle des Schatten-
endes an; wenn Vitruv empfiehlt, es etwa eine Stunde vor
Mittag zu tun, so will er damit nur darauf aufmerksam machen,
daß es zweckmäßig ist, die Beobachtung zu einer Tageszeit
anzustellen, wo der Schatten nicht sehr lang ist. Je länger
und schräger er nämlich wird, desto verschwommener wird die
Schattenspitze, die ohnedies wegen des Flimmerns und des Halb-
schattens nicht sonderlich gut zu beobachten ist^). Ist der
*) Alles hier Einschlägige ist mit gewohnter Klarheit unter di-
daktischem Gesichtspunkt auseinandergesetzt von A. Höfler in seiner
„Didaktik der Himmelskunde und der astron. Geogr." Leipzig-Berlin 1913
S. 139 fF., wo auch weitere Litei-atur angegeben ist. Er empfiehlt schon
für die Zwecke der Schule den Lochgnomon, den das Altertum der lite-
rarischen Überlieferung zufolge noch nicht gekannt hat; um so weniger
durfte in der Darlegung in obigem Text von ihm die Rede sein. Doch
lehren Funde von Sonnenuhren, die den Strahl durch ein Loch einfallen
lassen, daß man im späteren Altertum doch auf die Vorteile dieses Ver-
fahrens aufmerksam geworden ist (vgl. P.-Wiss. VIH S. 2426, 3) ; hat man
etwa auf ähnliche Weise an der auf Tenos gefundenen Sonnenuhr des
Andronikos Kyrrhestes den Teil zu ergänzen, der als Kalender ausge-
Griechische Windrosen.
13
Vormittagspunkt (B in Fig. 1) angemerkt, so nimmt man den
Gnomon weg und beschreibt um die Stelle des Gnomonfußes A
mit dem Radius AB einen Kreis (Vitruv spricht von einem
vollständigen Kreis, weil er eine Windscheibe herstellen will;
Fiff. 1.
l
für unsern Zweck würde ein Kreisbogen in östlicher Richtung
genügen); darnach wird der Gnomon wieder eingesetzt. Als-
bald nähert sich die Schattenspitze dem Gnomonfuß, dann ent-
fernt sie sich allmählich wieder, sodaß sie sich der Kreislinie
gegen Osten zu nähert; nun rnuß man beobachtend abwarten
{expedare, observare sind die Ausdrücke, die einem den Namen
des Instrumentes oxiod'rjgag in die Erinnerung rufen), bis der
staltet war (s. meine Ausführungen bei P.-Wiss. VIII S. 2427, 22), und hier
die Bruchstücke anzufügen, die bisher nicht unterzubringen waren ? Das
Stück mit KYPPHST müßte rechts anpassen, das H ein Rest von aqxrj
sein, links wäre 'Avdgovixov und ojicogag zu ergänzen. Trifft das zu, so
gewinnen wir einen Terminus ante quem für die Erfindung. Doch wage
ich nach dem bisherigen Abbildungsmaterial (am bequemsten IG XII 5,
891) kein abschließendes Urteil. Genau entspricht übrigens der Jahres-
zeitenuhr des Andronikos, wie es scheint, das Exemplar aus Aquileia
bei Kenner, Mitt. d. Centr.-Comm. 1880 S. 3 Fig. 2, dort ganz unge-
nügend behandelt.
14 3. Abhandlung: Albert Rehm
Schatten wieder den Kreisbogen berührt (in C). In diesem
Augenblick ist die Sonne gegen Westen ebensoweit von der
Mittagslinie abgerückt wie sie es vorher gegen Osten war;
um die Mittagslinie zu finden, hat man also nur noch den
Bogen BC zu halbieren. Dies geschieht bei Vitruv in der
üblichen Weise durch Ziehen von zwei Bogen mit gleichen
Radien um B und C, die sich in D schneiden. DFAE ist
dann die Mittagslinie. Ich kann aus Erfahrung versichern,
daß dieses Verfahren zu recht guten Resultaten führt; die
Konstruktion läßt sich ja unendlich oft wiederholen, sodaß sich
die Ergebnisse gegenseitig korrigieren.
Was war nun mit dieser Erfindung für die Orientierung
gewonnen? Ich denke, neben der Genauigkeit, die man, wie
bekannt und noch weiter zu erörtern ist, zunächst gar nicht
so sehr geschätzt zu haben scheint^), die Ubertragbarkeit von
Ort zu Ort. Das klingt uns zunächst verwunderlich, da wir
durch den Kompaß doch ganz anders unabhängig von ört-
lichen Kennmarken sind, sodaß uns angesichts dieser Be-
mühungen der Alten vielleicht sogar zuerst gerade der gegen-
teilige Gedanke kommt, daß nämlich da, wo man die Orien-
tierung am nötigsten hat, auf dem Meere, die Meridianbestim-
mung mit dem omod^rjQag unmöglich ist^). Auch auf dem
Lande mußte eben doch in jedem Falle die ganze Konstruktion
neu gemacht werden. Aber diese Mängel schafi'en die Tat-
sache nicht aus der Welt, daß der Apparat ein großer Fort-
schritt war gegenüber dem früheren Zustand. Der Landwirt
und der Architekt konnten jetzt an jedem Orte mit verhältnis-
mäßig geringem Zeitaufwand die Himmelsrichtungen genau
feststellen. Beide haben im Altertum großes Gewicht auf eine
dem Wachstum der Pflanzen (Verg. Georg. I 50 s. Vitr. I 4, 2.
Colum. III 12. 21. Pallad. I 6, 2. Geop. V 4; vgl. Ukert S.123)
^) Hier genügt ein Hinweis darauf, wie sehr unter römischen Händen
das Verfahren vergröbert ist bei Plin. n. h. XVIII 326 s.
2) So ist denn auch die Anbringung einer Sonnenuhr auf dem
Prachtschiff des Hieron (Athen. V 207 EF) reine Spielerei, soferne es nicht
bestimmt war, in einem Hafen mit sehr stillem Wasser zu liegen.
Griechische Windrosen. 15
und der Gesundheit der Menschen zuträgliche Orientierung
gelegt. Darum macht Plinius n. h. XVIII 326 s. 331 seine
Angaben über die Orientierung im engsten Zusammenhange
mit den Landwirtschaftsregeln und Vitruv gibt die Weisungen,
die wir eben besprochen haben, zu dem Zwecke, eine richtige
Anlage der menschlichen Wohnstätten, zunächst der Straßen
und Plätze der Stadt, zu ermöglichen ; sein ganzes 6. Kapitel
des I. Buches (wie schon I 4) ist ja ein höchst interessanter
Beitrag zur Lehre von der hygienischen Stadtanlage. Auf die
zahlreichen Windpfeiler und Windscheiben aus dem römischen
Altertum, die uns erhalten sind, komme ich später zu sprechen;
in ihrer Gesamtheit sind sie unverächtliche Zeugen für die
Wichtigkeit, die man derartigen Orientierungsmitteln auf dem
Festlande beilegte. Aber nicht erst in der römischen Kaiser-
zeit ist dieser Wert der genauen Orientierung geschätzt worden^);
dafür ist ein vollgültiger Zeuge der Arzt und Hygieniker, der
die Schrift Jiegl degcor vödxcov roiicov verfaßt hat, mit der wir
uns noch weiter eingehend zu beschäftigen haben werden.
Die neu gewonnene Möglichkeit verlässiger Orientierung kam
ferner unmittelbar der neu auftauchenden Wissenschaft der
Geographie, speziell der Kartographie, zu gute. Die Ermittelung
der Mittagslinie und die Idee der Weltkarte gehören zusammen :
der EVQexiqg beider ist nach unserer Überlieferung^) der große
^) Inwieweit Hippodamos von Milet bei seinen Stadtanlagen, —
Peiraieus, Thurioi, — auf die Winde Rücksicht nahm, ist nicht mehr
zu ermitteln. Aus den Wendungen, deren sich Aristoteles Polit. VII 10
p. 1330 b 22 (= Diels, Vorsokr. P n. 27,2) bedient, um die Vorteile der
hippodaraischen Bebauungspläne zu bezeichnen, tjdvg, xQVoi/xog, ist nichts
zu schließen. Eher wird man aus dem Beiwort [xsTEcogoloyog, das Hippo-
damos mehrfach erhält, etwas folgern dürfen, — Neupriene, das so
„hippodamisch" anmutet, entspricht den hygienischen Regeln des V. Jahr-
hunderts schlecht.
2) Stellen bei Diels, Vorsokr. 12.3 n. 2, 1 § 1 (Diogenes). 2 (Suidas).
4 (Eusebios). 6 (Agathemeros, Strabon). Diels nimmt freilich die Favorin
entlehnte Stelle bei Diogenes, soweit sie auf die Gnomonik geht, dem
Anaximander, um sie auf grund der genauen Parallele, die sich Plin.
n. h. II 187 (= Vorsokr. n. 3 A 14 a) findet, auf Anaximenes zu beziehen.
16 3. Abhandlung: Albert Rebm
lonier Anaximander. Darnach wäre also der entscheidende
Schritt zu einer richtigen Windrose in der ersten Hälfte des
VI. Jahrhunderts geschehen, und zwar in lonien.
Ja ich bin geneigt zu vermuten, daß auch die weitere
Entwicklung des Windsystems durch Anaximander oder
doch unter dem Einfluß seiner Forschung erfolgt ist. Ganz
abgesehen von der Art, wie die neuen Namen gebildet sind
(sie weist, wovon noch zu handeln ist, nach lonien), ist augen-
fällig, daß die Fortbildung der Windrose sich aufs engste an
die Errungenschaft des neuen Instrumentes anschließt. Das
Horologion in Halbkugelform liefert durch die Linien, die bei
ihm die Hauptsache sind, die Bögen der Wenden und Gleichen,
eine Horizontteilung, die den genauen Ost- und Westpunkt
und dazu als neue Punkte die Maxima der Morgen- und Abend-
weiten der Sonne an jedem Orte durch einfaches Visieren über
den Rand der Skaphe weg festzustellen gestattet. Da nun die
Windrose bis auf Aristoteles herab und über ihn hinaus eben
diese Punkte benützt, so liegt der Gedanke an Abhängigkeit
Ausscheiden läßt sie sich in der Tat. Aber sollte nicht doch etwas daran
sein, daß man gerade Spuren von licistungen Anaximanders in Lake-
daimon meinte nachweisen zu können? Bei Cic. de div. 1 112 (= Diels P
S. 15, 5) wird berichtet, Anaximander habe die Lakedaimonier vor einem
großen Erdbeben gewarnt. Es hält schwer, auch hier an Namensver-
wechslung zu denken, und so suche ich den Irrtum lieber auf seiten des
Plinius als des Diogenes (vgl. P.-Wiss. VIII S. 2417 f., wo ich die Frage
in anderm Zusammenhang behandelt habe). Aber selbst wenn wir den
Diogenes samt Suidas, der ihn ausschreibt, beiseite lassen, bleibt das
auf anderm Wege zu Theophrast zurückleitende Zeugnis des Eusebios:
ovTOS jcQcÖTog yvcofiovag xarsanevaae jiQog didyvcoaiv rgojicov rs fjXiov xal
XQovcov xal d>Qcov xal lorj/zsQiag, womit der ganze übliche Bereich der
Leistungen des Horologion umschrieben wird. Übrigens fragt es sich
sehr, ob es überhaupt der Mühe wert ist, diese schattenhaften Über-
lieferungen sorgsam gegen einander abzuwägen. Wieviel konnte Theo-
phrast von dieser ältesten Wissenschaftsgeschichte wirklich wissen?
üiid da nach Herodots innerlich durchaus wahrscheinlichem Zeugnis das
Instrument Import aus dem Osten ist, so verschlägt es im Grunde wenig,
ob wir erst den Anaximenes oder gar schon den Thaies damit hantierend
denken. Wichtig ist nur die Bestimmung des Kulturkreises, in dem es
zuerst bei den Griechen auftritt, und darüber besteht kein Zweifel.
Griechische Windrosen. 17
von der Skaphe überaus nahe. Die ebene Projektion der Sonnen-
uhr ließ sich nicht zur Horizontteilung verwenden: darum brachte
man an solchen Uhren gerne einen besonderen Horizontkreis
mit Windrose an (Belege folgen unten) ; aus dem uns vor
Augen liegenden Verfahren dürfen vv^ir wohl au£ das nicht
ausdrücklich bezeugte zurückschließen. Aber ist diese Ge-
scliichtskonstruktion nicht doch übereilt? Auf den Gedanken,
die maximalen Morgen- und Abendweiten zur weiteren Horizont-
teilung zu benützen, konnte man doch auch durch die un-
mittelbare Anschauung der Wirklichkeit kommen ! Gerade
diese vier Punkte sind ja im Gegensatz zu den vier Kardinal-
punkten unmittelbar gegeben. Gewiß; aber auch hier ist
festzuhalten, daß sie zu jederzeit und allerorten brauchbaren
Teilungsmitteln doch erst durch die „ Skaphe " wurden.
Dabei müssen wir uns auch gegenwärtig halten, daß in der
Zeit, als diese Punkte in Aufnahme kamen, ihre Veränderlich-
keit je nach der geographischen Breite noch nicht beobachtet
war; die altionische Geographie arbeitet ja mit dem „festen
Horizont" ^). Für die Frühzeit, von der wir hier reden, waren
also diese Punkte sogar, anders als der Meridian, mit jeder
Sonnenuhr des Skaphetypus, die, sagen wir in Milet, als Ex-
portware gearbeitet war, ohne weiteres übertragbar ; am neuen
Ort mußte man das Instrument lediglich wieder nach dem
Meridian orientieren, um es gebrauchsfertig zu haben. Hatte
sich aber die neue Horizontteilung einmal eingeführt, so war
ihre Anwendung wiederum von dem Horologium unabhängig.
Es genügte ein Instrument einfachster Art, etwa wie es für
seine Zeit und eine andere Teilung Plinius (n. h. XVIII 332)
beschreibt, oder auch jedes Exemplar der „Weltkarte", da
diese ja mit Horizontkreis zu denken ist.
Immerhin möchte ich die neue, scharfe Begrenzung der
Begriffe Osten und Westen nicht als einen rein mechanisch-
technischen Vorgang auffassen. Neu war nur, daß jetzt all-
überall und jederzeit die Grenzen in der Wirklichkeit festge-
1) Berg er, Gesch. d. wiss. Erdk. d. Griechen S. 39.
Sitzgsb. d. philos.-philol. n. d. bist Kl. Jahrg. 1916, 3. Abb.
L
18 3. Abhandlung: Albert Rehm
stellt werden konnten ; ihr Bereich war aber den Begriffen
schon durch die Sprache zugewiesen. Die Grenzen sind ja
sozusagen präformiert durch den Sprachgebrauch und dieser
selbst wieder ist geboren aus der Anschauung des Vorgangs;
pluralisch ist die Bezeichnung schon bei Homer (avTolai /u 4)
und überwiegend pluralisch ist sie im gesamten Sprachgebrauch
der Griechen. Es sind eben die Orter, an denen man im Laufe
des Jahres die Sonne auf- und untergehen sieht; weiter, als
wohin die Sonne kommt, reichen folgerecht die ävaroXai und
dvoEig nicht.
Schon diese Seite der Sache läßt sich an dem Autor tieqI
äegcov illustrieren, der weiterhin unser Führer sein soll ; fast
durch geh ends spricht er von ävaroXal und dvojual oder dvoisg
(p. 35,10. 36,21. 38,15. 17. 20. 39,13. 54,21), nur vereinzelt
von ävaroXij und dvotg'^) (mit xeijjLeQivrj und '^egirij, p. 35, 9.
36, 22. 43, 5). Unser Autor nun benützt die besprochene Hori-
zontteilung zu einem doppelten Zweck: zur Bestimmung der
Himmelsrichtungen am einzelnen Orte und zur geographischen
Orientierung im Großen, auf der Weltkarte; für diese letztere
empfahl sich die Teilung nach den Solstizialpunkten noch durch
eine besondere Zufallsfügung. Die Teilung gab dem Osten
und Westen je nur etwas über 60*^^), dem Norden und Süden
je nahezu 120°; nun aber erstreckte sich die den ionischen
Geographen bekannte Oikumene ost- westlich über ein viel
größeres Gebiet — Mittelmeerbecken und Schwarzes Meer samt
Maiotis — als nordsüdlich; eine Horizontteilung, welche die
Ecken eines langgestreckten Rechtecks fixierte, war also gerade
das, was man brauchte. So erklärt es sich, daß noch Ephoros
diese Teilung beibehalten hat (fr. 38 FHG II p. 243 s., aus
Kosmas, Strab. I p. 34, Ps.-Skymnos v. 170-182. MüUenhoff,
Deutsche Altert. -Kunde I S. 241. Berger, Gesch. d. wiss. Erdk.
*) Den Singular bieten von den Vorsokratikern auch Heraklit und
Empedokles. Den Singular dvoß^ habe ich mir erst aus Aristoteles
(Meteor. II 6 wiederholt) notiert; dort handelt es sich um die dvojui] der
Solstizialtage, sodaß die Mehrzahl überhaupt nicht am Platze wäre.
2) S. 0. S. 9 Anm. 1.
Griechische Windrosen. 19
d. Gr. S. 108 f. 129), nur daß er, wenn man dem Referat
Strabons trauen darf, viel ärger schematisiert als unser Autor ^).
Im ersten Teile der Schrift negl äegcov werden die Morgen-
und Abendweiten, wie schon gesagt, zur Orientierung am ein-
zelnen Ort verwendet; übrigens hängen die beiden sonst so
ganz auseinanderfallenden Hauptabschnitte^) gerade hinsichtlich
^) Dem Autor jisqI dsQcov reicht Asien rechts vom Sonnenaufgang,
d. h. nordwärts (Belege für diese Anschauung s. bei Boll, Sphaera S. 563;
in JisQi dspcov könnte eine Angabe über Rechts und Links von der großen
Lücke c. 12 verschlungen sein) über die dsgcval dvatolal noch beträchtlich
hinaus (c. 13 p. 54 s.), so wie es links ja noch die ganze Südregion mit
Ägypten und Libyen füllt, sodaß es sich im ganzen also über mehr als
zwei Seiten des Rechtecks erstreckt. Bei Ephoros hingegen finden wir
ein Schema, das genau jeder Himmelsgegend ein Hauptvolk zuweist; uns
interessiert davon nur der Satz: jiQ0OTi{}i]ot d\ ozi fist'Ccov tj Aidiojtia aal
■fj Sxvdla' öoxeT ydg, (prjol, x6 rwv Ald'iojicov s'&vog jtaQatEivsiv dji' dvaxo-
Xwv ;^£i;arßn'd)j' [^^XQ'^ dvoficöv, rj Zxvd^ia (5' dvxixsixai xovx(oi. Nach Kosmas
bezeichnet Ephoros jede der vier Himmelsgegenden nach der Sonne,
bzw. dem Nordgestirn, und zugleich nach einem Hauptwind, wobei er
voxog und I^Eq)VQog und dann auffälliger Weise dm-jXioixrjg, aber ßoggäg,
nicht djiagxxiag verwendet; er folgt hierin, nach der Übereinstimmung
mit dem Windeturm zu schließen, attischem Brauch. Aber daß er etwa
nur diese vier Winde anerkannt hätte, ergibt sich aus der Stelle keines-
wegs, und Steinmetz S. 28 durfte auf sie hin nicht behaupten, Ephoros
stimme nicht mit „Hippokrates" überein. Das, worauf es ankommt, die
Begrenzung der vier Horizontbögen, ist identisch, wie schon Berger
festgestellt hat; nannte Ephoros den Ostabschnitt die Gegend :^Q6g x6v
d7tr}hünr}v, so gebrauchte er den Windnamen eben in einem weiteren Sinn;
die Frage, ob er noch andere Winde aus der Ostgegend wehen ließ, ist
also auf grund dieser Stelle weder zu bejahen noch zu verneinen. Ich
hebe den Punkt hervor als Beispiel dafür, wie Steinmetz' vorgefaßte
Meinung von einem tiefen Gegensatz zwischen einer Windtheorie, die
den Winden Bogen und einer andern, die ihnen nur Punkte zuteilen
isoll, seinen Blick getrübt hat; ich komme weiterhin auf diese zwar nicht
fanz unrichtige, aber doch schiefe Auffassung zurück.
2) Das wird von keinem Leser verkannt werden können; fraglich
kann nur sein, ob wir es mit zwei ursprünglich selbständigen Schriften
oder mit einer, die aus zwei sehr selbständigen Teilen besteht, zu tun
haben. Mit Jacoby (Hermes 46 (1911) S. 564 A. 1) entscheide ich mich für
das Letztere, und das nicht allein unter dem oben angegebenen Gesichts-
punkt. Daß beide Teile einem Verfasser gehören, bezweifelt wohl niemand.
2*
20 3. Abhandlung : Albert Rehm
der Orientierungsmittel aufs engste zusammen; wird doch auch
die auf die Orientierung begründete Charakterisierung der ver-
schiedenen Lagen fernerhin ohne weiteres auf die ganze Oiku-
mene übertragen. Im ersten Teile nun braucht der Verfasser
die Himmelsgegenden vor allem um der Unterscheidung der
Windqualitäten willen, nebenbei auch, um die hygienische Be-
deutung der Lage für die Wasserverhältnisse klarzulegen. Da
ist es nun schon längst aufgefallen, daß er darauf verzichtet,
Windnamen zu geben außer ßoqkiqq und voxog'^^, daß er also
trotz Beibehaltung von vier Hauptwinden von dem homerischen
Windsystem mit evQOg und t,e(pvQog absieht ; dafür muß er dann,
da er seine Theorie löblicher Weise nicht, wie es die Schrift-
steller des hippokratischen Corpus sonst fast durchgängig tun^),
auf die zwei Hauptwinde Griechenlands, den Nord- und Süd-
wind, beschränkt, Ersatzausdrücke verwenden ; als solche dienen
ihm weit überwiegend (die Ausnahmen s. in Anmerkung 1 dieser
Seite) die Benennungen der äußersten Morgen- und Abend-
weiten, welche zugleich die Grenzen der vier Kardinalwinde
bezeichnen. Daß er diese Grenzpunkte nicht erfunden hat,
ist, hoffe ich, aus der bisherigen Darlegung klar geworden;
^) Zu vöxog fügt er gelegentlich, als fürchte er einen zu bestimmten
Ausdruck gebraucht zu haben, verallgemeinernd noch hinzu xal xa d^egf^a
Tivsvfxaxa (p. 36, 24); ßogsrjg steht p. 47, 1. 57, 21. 61, 11, vöxog ohne Zu-
satz p. 47, 2. 49,8, dazu kommen adjektivische Wendungen wie /ft^cb»'
ßÖQscog, ^Q ßÖQEiov, voxcov. Immer aber meinen diese Ausdrücke, ob sub-
stantivisch oder adjektivisch, den Wind als physisches Phänomen, nie-
mals die Himmelsrichtung; sie wird außer durch die Wendungen,
die vom Sonnenauf- und -Untergang genommen sind, noch bezeichnet
durch ai aQxxoi, -^(og, für den Süden xa •dsg/j^d (p. 38, 19. 61, 15) dazu ein-
mal Süden und Norden durch xö d-egfiöv, x6 xpvxQov (p. 53, 22). Die Ter-
minologie macht dem Schriftsteller also sichtlich Mühe, aber wenigstens
im Negativen ist er konsequent.
2) Den Verfasser von ^legl ig'^g vovaov, den auch ich mit dem unseres
Buches für identisch halte, trifft der Vorwurf nicht; vgl. c. 13 in. (VIp. 384L.)
. . . fidXioxa xoToc voxioiai {jivev/xaoc), e'jtstxa xoTöi ßoQSioiotv, sjxsixa xoToi
ko 1710 Tai nvBVfiaai. Übrigens erwähnt auch der Autor von Tiegl diaixijg
c. 38 (VI p. 532 L.) nach der ausführlichen Behandlung von ßogeag und voxog
noch kurz die äkXa nvevfxaxa.
Griechische Windrosen. 21
das Gegenteil wird wohl auch von niemand ernstlich behauptet.
So sehr der Arzt im Prooemium den Wert der Astronomie und
Meteorologie für seine Wissenschaft und Praxis verficht, so
wenig zielt er dabei auf die Horizontteilung ; wo er sich zuerst
darüber mit dem Leser verständigt, tut er es mit einem kurzen
Zwischensatz, der die Begriffe selbst voraussetzt. Nun erhebt
sich die Frage: hat wohl auch der Physiker, von dem er die
Begriffe übernommen hat, radikaler als Homer, auf die Ver-
wendung der Windnamen völlig verzichtet sowohl für die
Orientierung wie für die Bezeichnung der Ost- und Westwinde
selbst, oder ist diese merkwürdige Enthaltsamkeit eine Besonder-
heit unseres Autors? Von vornherein spricht das Tasten nach
Ausdrücken für die letztere Alternative^); es lag eben keine
1) Gar nichts ist natürlich für die oben gestellte Frage anzufangen
mit der pluralischen Bezeichnung jtvsvfiara in jteqI dsgcov, auf die Stein-
metz S. 24 f. ein so merkwürdiges Gewicht legt. Schon oben (S. 20 A. 1)
ist aus der Wendung 6 vötog xal xa d'SQf.ia jivevfj.ara gefolgert, daß vöiog
wohl im allgemeinen alle Luftströmungen bezeichnen kann, die von dem
großen Bogen der Südregion kommen, wie ßogstjg die Gesamtheit der
nördlichen Winde, daß aber unser Schriftsteller doch das Bewußtsein
einer engeren, genauerer Orientiermng entsprechenden Geltung des Begriffs
nicht verloren hat. Damit ist indes für die Frage, ob der Verfasser
Neben winde des vörog und ßoQsrjg mit besonderen Namen kannte, nichts
bewiesen. Und was den Nord- und Südwinden recht ist, ist den öst-
lichen und westlichen billig ! Die Erkenntnis, daß die Sonne nicht immer
an der nämlichen Stelle auf- und untergeht, hat die Terminologie in
TisQi asQCov nicht hervorgerufen, denn diese Erkenntnis ist uralt; der Satz
von Steinmetz ^üla re cognita non semper eodem loco solem oriri ab
ortu solis non unus ventus spirare poterat, quoniam ortus multi exstiterunf^ ,
liefert also nicht einmal für Ost- und Westwinde den entscheidenden
Gesichtspunkt, geschweige denn für die von ihm überraschender Weise
in einem Atem mit ihnen genannten ßoQsia jivsvfzaia. Schon hier wirkt
bei Steinmetz das weiterhin für seine Untersuchung verhängnisvolle
Vorurteil, die Zahl der Winde in der griechischen Windrose habe etwas
zu tun mit der physikalischen Windtheorie der Griechen, sie sei ins-
besondere bedingt durch die Anschauung ^directionem (ventorum) ab
incessu solis penäcre'' (S. 30). Gewiß, ,o ißLog xai :jiavsL xal ovvs^ogfiäc
xa Tivsvfiaxa" , wie Aristoteles Meteor. II 5 p. 361 b 14 es ausdrückt und
viele ihm nachgesprochen haben (vgl. Gilbert, Meteorol. Theorien S. 532
22 3. Abhandlung: Albert Rehm
Terminologie vor, die ihm brauchbar schien. Brauchbarkeit
aber dürfen wir hier ohne weiteres gleichsetzen mit Gemein-
verständlichkeit. Nun sind aber doch die homerischen Namen
im populären Sprachgebrauch der Griechen niemals abgekom-
men. Wollte er die Abgrenzung ihrer Bezirke berücksichtigt
wissen, so konnte er es durch eine Bemerkung am Anfang tun
und brauchte dann nicht weiter die umständlichen umschreiben-
den Bezeichnungen zu benützen. So bin ich denn, lange bevor
sich mir die weiteren Kombinationen aufdrängten, die im fol-
genden vorgetragen werden sollen, lange namentlich, bevor die
Schrift Jiegl ißdojuddcov in meinen Gesichtskreis trat, zu der
Annahme gekommen, daß die vier homerischen Windnamen zu
der Zeit, als unser Autor schrieb, nicht mehr eindeutig und
damit nicht mehr gemeinverständlich genug waren, um ihm in
einer Schrift, die für ein sehr allgemeines Publikum bestimmt
war, benutzbar zu scheinen. Die Sache wäre dann einiger-
maßen analog der Bezeichnung der Jahresabschnitte durch
Sternphasen, Äquinoktien und Solstizien statt durch bürger-
liche Daten, zu der man durch den Mangel eines einheitlichen
und ordentlich geregelten Kalenders genötigt war^). So wer-
mit A. 1). Aber das gilt doch nur vom täglichen Vorgang, den der
Grieche in der Nähe der Meeresküste in Zeiten beständigen Witterungs-
charakters Tag um Tag erlebte, wie er uns auf unserer Hochebene im
Alpenvorland bei schönem Sommerwetter vertraut ist; von den xad'ohxol
äve/iioi aber weht ja so gut wie keiner gerade dann, wenn die Sonne in der
Gegend, von wo er kommt, auf- oder untergeht, ganz abgesehen davon, daß
ihr Auftreten gar nicht an die Morgen- oder Abendstunden gebunden ist.
Ein Blick in Aristoteles' Meteorologie (II 6 p. 364 s.) genügt, um jeden
Gedanken an einen Zusammenhang zwischen Tageslauf der Sonne und
Jahreszeitwinden abzulehnen; da weht allein der Euros zur Zeit der
Winterwende, dagegen Kaikias, nicht Apeliotes, um die Frühlingsgleiche,
Lips, nicht Zephyros, um die Herbstgleiche, der Zephyr aber um die
Sommerwende. Auch in die Theorie der Etesien (s. P.-Wiss. VI S. 715),
Gilbert a.a.O. S. 570 f.) spielt der sommerliche Sonnenstand in einer
Weise herein, bei der der Aufgangsort nicht das Wesentliche ist.
^) So hatte nicht allein der Historiker oder der Arzt, der Bücher
schrieb, zu verfahren ; sogar für sein Tagebuch blieb ihm, wenn es dauernd
wertvoll sein sollte, kaum etwas anderes übrig; s. darüber Galen In
Griechische Windrosen. 23
den wir also darauf geführt, daß zu der Zeit, als die Schrift
tzsqI äegcüv entstand, also im V. Jahrhundert, noch während
der Blüte des attischen Reiches, im ionischen Kulturkreise ver-
schiedene Windsysteme sich gegenüberstanden, ohne daß sich
eines kanonische Geltung zu verschaffen vermochte.
Das bestätigen uns denn auch die Zeugnisse durchaus, so
lückenhaft die bisher beigezogenen sein mögen. Zunächst ist
lange festgestellt^), daß die im V. Jahrhundert neu auftretenden
Namen allgemeiner Winde auf lonien als Ursprungsland weisen ;
der änrjXmxrig trägt die Ursprungsmarke in Gestalt der Psilose
an sich^), der xaixiag hat (vgl. meinen Artikel über ihn bei
P.-Wiss.) aller Wahrscheinlichkeit nach seinen Namen vom
Hippocr. Epid. I vol. XVII I p. 15 ss. K. Für die im hippokratischen
Corpus verwendeten Jahrteilungen hat Fredrich, Hippokrat. Unters.
S. 224 ff., Einiges beigebracht; eine zusammenfassende Arbeit darüber er-
^varte ich von einem meiner Schüler. Die Jahrteilungen in den einzelnen
Schriften des hippokratischen Corpus gehen sehr weit auseinander. Um
so beachtenswerter erscheint es mir, daß sich in dieser Hinsicht nur
eine Schrift oder Schriftengruppe neben jisqI olsqcov stellt, die Epidemien
Buch I und III (und V. VII, während die andern Bücher terminologisch
viel ärmer sind). Hier wie dort ist es charakteristisch, daß der Früh-
aufgang der Pleiaden (sonst = Sommersanfang) unberücksichtigt bleibt,
sodaß wir sieben kritische Zeiten erhalten : Sommerwende, Frühaufgang
des Sirius, Frühaufgang des Arktur, Herbstgleiche, Frühuntergang der
Pleiaden, Winterwende, Frühlingsgleiche (Epid. I 13, ferner I 1, 2. III 2.
jiegl dsQcov c. 11. c. 10 p. 49, 17, p. 51, 20). Als Besonderheit in den
Epidemien kommt nur hinzu aus I 2 die Erwähnung der Zeit ^vixa C«'-
(pvQog jivsTv ägxezac, augenscheinlich noch zum Winter gerechnet. Aus
dem nämlichen Kreise werden also beide Schriften stammen; aber auf
dieses Zusammentreffen hin Identität der Verfasser anzunehmen, verbietet
sich — von anderem abgesehen — dadurch, daß der Herbst in :i£qi dsgcov
c. 6, 10, 11 stets ftsTÖJtcoQor, in den Epidemien I. HI aber ebenso aus-
nahmslos (f&ivöjicoQov heißt.
^) Vgl. Steinmetz S. 26. C. Ruehl, De Graecis ventorum nomini-
bus et fabulis quaestiones selectae, Diss. Marburg 1909, S. 36.
^) Beide Namen sind, worauf ich noch zurückkomme, im V. Jahr-
hundert in Attika heimisch geworden, aber sie sind doch eben Import,
sodaß Solmsen, Unters, zur griech. Laut- und Verslehre S. 289 m. E.
djTT]?ucoTi]g nicht zur Erklärung lautlicher Eigentümlichkeiten des Attischen
heranziehen durfte.
24 3. Abhandlung : Albert Rehm
Flusse Kai'kos, ist also von Hause aus der NO, der die Ein-
fahrt zum Golf von Smyrna bestreicht. Sodann : ist der
äTn^Xicorrjg ionisch, so wird es auch der anaQxriag sein; beide
Namen sind nach dem nämlichen Prinzip geschaffene gelehrte
Bildungen, der Wind von der ägmog^ welche die korrekteste
Bezeichnung der Nordrichtung war, und der von der Sonne,
d. h. dem Sonnenaufgang her, — denn Sonne und Osten ge-
hören zusammen (vgl. Nissen, Orientation I S. 21), schon im
homerischen nQog rjco t' fjeXiöv re^).
Wir haben ferner immerhin genug Zeugnisse, um uns
eine Vorstellung davon machen zu können, in wie mannig-
facher Weise sich das Bestreben äußerte, über das noch etwas
formlose homerische System hinauszukommen. Hieher gehört
der Versuch einer radikalen Vereinfachung, der von Poseidonios
bei Strabon (I p. 29) dem Thrasjalkes von Thasos zugeschrieben
wird, einem der aQ^moi cpvoLKoi, dem ich wie Capelle einen
Platz unter den Vorsokratikern erbitten möchte. Die zwei
Winde, die er allein übrig läßt, sind natürlich ßogeag und
voTog^); seine Lehre wird begünstigt durch die griechischen
Windverhältnisse, wie man schon oft hervorgehoben hat; sie
entspricht aber auch der Praxis der griechischen Hygieniker
und Meteorologen. Für die Ärzte war das schon oben S. 20 zu
erwähnen ; dazu kommt das Material aus den Kaiendarien des
V. Jahrhunderts^) und aus der Schrift Jiegl orjjueicov^ die ja in
ihrem Kern gleichfalls der voraristotelischen Naturwissenschaft
1) Kauffmann bei P.-Wiss. I S. 2668 hat gewiß Recht, wenn er
beide Neubenennungen auf das Streben nach größerer Deutlichkeit zurück-
führt; das ist eben ein wissenschaftliches Prinzip.
2) Auch hier wird der Wert von Steinmetz' Arbeit (S. 20. 22)
durch unbegründete Annahmen beeinträchtigt; die Behauptung „puta-
verunt nomina ventorum (Homerica) omnia ficta et ex mythölogia deducta
esse'' und die Vermutung, daß die ionischen Physiker deshalb die home-
rischen Namen gemieden hätten, wird schon durch den tatsächlichen
Befund im hippokratischen Corpus widerlegt.
^) Außer ßoQsag (zu dem auch irrjoiai und ogvi^iac zu stellen sind)
und voTog kommt bei Euktemon nur der ^eq^vgog vor (Stellen bei Manitius'
Geminos Ind. III; Ptolemaios' Phaseis bieten auch nicht mehr).
Griechische Windrosen. 25
angehört^). Wieweit Thrasyalkes sich bemüht hat, die Ver-
einfachung theoretisch zu begründen, ist nicht zu sagen (vgl.
die Vermutungen von Berger S. 127, Steinmetz S. 21 ff.,
Gilbert S. 541 f.)^), auch nicht, ob er bestimmte Grenzen der
zwei Winde feststellte ; immerhin legt der zu seiner Lehre pas-
sende Bericht des Aristoteles Meteor. II 6, 12 p. 364 a 19 Jigoo-
ri^exai de id juev C^cpvQixd rcoi ßoQelcot {ipvxQoreoa ydg did
t6 äno övojbicbv nveiv), vorcoi de rd äjifjXicortxd {^sQ^oxega
ydg Tcbi an ävarolfjg jtveiv) die Vermutung nahe, daß er nach
einer sehr verwunderlichen^) Theorie über die verhältnismäßige
Wärme der westlichen und östlichen Winde verfuhr und die
Grenze nicht genau ostwestlich, sondern von ONO nach WSW
^) Der Gegensatz ßoQQäg — vorog geht durch die ganze Schrift hin-
durch; von andern Winden wird nur der Xirp einmal (§ 20), der Csfpvgog
zweimal (§ 21. 47) erwähnt, das einemal der Wind, das anderemal die
Himmelsgegend, noch dazu beidemal in besonders enger Verbindung
mit dem Norden (die §§ 35 — 37 bleiben hier, als Exzerpt aus Aristoteles,
natürlich außer Betracht).
^) Strabon-Poseidonios setzt sich mit einer Theorie auseinander, die
mit unglaublicher Gewalttätigkeit den Argestes zu einem südlichen Wind,
den Zephyros zu einem nördlichen macht; der Beweggrund ist, wie der
Bericht deutlich zeigt, der Wunsch, die Homerstellen ägysoräo vöxoio
und ßogsrjg xal l^scpvqog, tcü xs Ogrjixrjd^Ev ärjtov, zu erklären. In Konse-
quenz davon ist ebenso gewalttätig der Euros zu einem Nordost-, der
Apeliotes zu einem Südostwind gemacht. Diese Exzesse der Homer-
exegese hat man dem von diesen Exegeten angerufenen Thrasyalkes
natürlich nicht zuzuschreiben; er ist auch nur von jenen ungenannten
Exegeten zum Zeugen aufgerufen für den Satz ovo slvac rovg ävs/novg.
Dagegen spricht viel für die oben verwertete Annahme, daß Aristoteles
an der oben abgedruckten Stelle Meteorologie II 6, p. 364 a 19 (und
wieder Polit. IV 3 p. 1290 a 14. 18) auf Thrasyalkes anspielt. Thrasyalkes
war ja nach dem Zeugnis wiederum von Strabon-Poseidonios (Strab. II
p. 790) dem Aristoteles nicht unbekannt, der seine Theorie der Nilschwelie
angeführt hat (vgl. über Thrasyalkes Capelle N. Jbb. 33 (1914) S. 341 f.
und Hermes 48 (1913) S. 322 A. 1).
^) Wie viel richtiger urteilt der Verfasser von jtsqi dsgcov c. 5 und 6
und nach medizinischer Quelle Vitruv I 4, 1 ! Aber Aristoteles ist (§ 13)
sogar um eine Erklärung für seine falsche Kennzeichnung der Ost- und
Westwinde nicht verlegen, und noch weiter ausgesponnen wird die Theorie
von Olympiodor p. 195, 18 ss. St.
26 3. Abhandlung : Albert Rehm
zog. Ist dies der Fall, so ist weiter klar, daß die Theorie
des Thrasyalkes keineswegs besonders alt zu sein braucht; da
in ihr ganz andere Motive wirken als in der Lehre, welche
die Solstizialpunkte zu wesentlichen Elementen der Horizont-
teilung machte, so kann sie ebensogut früher wie später ent-
standen sein.
Das Gleiche dürfte gelten von der für uns ohnehin nur in
unklaren Umrissen erkennbaren Theorie des Heraklit (wenn sie
überhaupt als Theorie, nicht als bloßes Aper9u anzusprechen ist),
die wieder auf eine Zerlegung des Horizonts in bloß zwei Teile,
aber nunmehr in eine Ost- und Westhälfte mit dem Meridian
als Teiler, hinausläuft: fr. 120 Diels Vorsokr. n. 5 B (= Strab. I
p. 3) fjovg xal ioTzegag TSQ/uaia rj aQXTog xal ävrlov xfjg aQXTOV
ovQog al^Qiov ÄLog^). Darüber, daß die aQTixog hier den Nord-
punkt des Horizonts bezeichnet, ist kein Zweifel^); da man
^) Unsere Stelle fehlt in der Zusammenstellung über ai'^giog bei
Gruppe, Griech. Mythol. u. Rel.-Gesch. S. 1101 A. 1. In Vorsokr. P
(1912) stellt Diels die drei überhaupt denkbaren Bedeutungen von ovgog,
Grenze, Wind, Berg, zur Wahl, nachdem er sich zuerst für Grenze, dann
für Berg entschieden hatte. Für meine mit Berg er S. 79 übereinstim-
mende Auffassung möchte ich geltend machen, 1. daß es durchaus keine
Großtat des Denkens war, zum dsl cpavsQog xvxlog den äsl dq?av^g hinzu-
zufügen, 2. daß Zsvg als Vertreter des qxxog im Gegensatz zum 'Aidi]g,
dem Vertreter des a?c6rog, auch in der heraklitischen Einlage in jisqI
diahrjg c. 5 = Vorsokr. I n. 5 C 1 vorkommt.
2) Aus Heraklit erklärt sich (und, meine ich,- den Heraklit hilft
erklären) der früheste der gelehrten Dichter Arat, den wir schon oben
(S. 6 A. 2) als Benutzer doxographischer Überlieferung kennen gelernt
haben und den hier, wie ich nachträglich sehe, schon Diels, Herakleitos 2,
herangezogen hat. Wenn Arat v. 61 s. vom Kopfe des Drachen sagt:
ri]i viooEzac, ^;^f tisq äxgai [iioyoviai dvoisg xs >iai ävxoXal alXrjXrjt.oiv, eine
S-telle, die eine wahre Crux der antiken Ausleger gewesen ist, so ist es
Heraklitnachahmung, daß er Ost und West sich im Nordpunkt berühren
läßt, und Heraklitkorrektur, daß er den Punkt durch den Kopf des
Drachen statt durch den großen Bären bezeichnet; wie aber Arat bei
seiner Äußerung die untere Kulmination des Drachenkopfes im Sinne
hat, so Heraklit die untere Kulmination des großen Bären. Strabon
interpretiert willkürlich, wenn er den Heraklit mit rj agniog den ganzen
Polarkreis meinen läßt; nur der Berührungspunkt von Polarkreis und
Griechische Windrosen. 27
schon durch dvriov aufgefordert wird, als zweites Tegjua den
Südpunkt zu erwarten, so zweifle ich nicht, daß die frühere
Übersetzung von Diels richtig ist: „Die Grenzen von Morgen
und Abend sind der Bär und gegenüber vom Bären der Grenz-
stein des strahlenden Zeus", d. h. der Punkt, jenseits dessen
sich kein Stück des Himmelsgewölbes mehr aus dem Bereich
der ewigen Nacht erhebt. Auf diejenige Frage, die uns hier
am meisten interessiert, nämlich welches Motiv der Lehre Hera-
klits zugrunde liegt, ist noch viel weniger eine sichere Ant-
wort zu geben als bei Thrasyalkes, der die Tatsachen der
griechischen Windverhältnisse für sich hatte. Spielt etwa die
Horaerexegese herein? Man könnte daran wohl denken, wenn
man Aristarchs Bemerkung im Schol. A zu M 239 neben Hera-
klit hält: on ovo diaoidoeig oldev "OjurjQog xoojuixdg, ävaroXrjv
xai övoiv. Jedenfalls bleibt ganz zweifelhaft, ob man Heraklits
Bemerkung irgend eine weiter tragende Bedeutung auch nur
im Sinne ihres Urhebers beimessen darf; und sicher ist, daß
sie für die Entwicklung der griechischen Theorie und Praxis
der Horizontteilung keine gewonnen hat.
Es liegt in der Natur der Sache, daß die reichere Glie-
derung des Horizonts nicht zu einer Beschränkung, sondern
zur Bereicherung der Windrose geführt hat; schließlich
steht der Verfasser von negl äegcov nicht weniger abseits vom
Strome der Entwicklung als Thrasyalkes. Längst beachtet ist
das Auftreten neuer W^inde der Rose bei Herodot; und zwar ist
hervorzuheben, daß alle bei ihm vorkommenden Winde gelegent-
lich zur Richtungsangabe dienen (wobei er dann fast immer
zum Windnamen noch ävejuog beifügt — Ausnahmen VI 139.
IV 22. 38. n 99. 149, immer ßogerjg und voxog betreffend); dabei
redet er stets so, daß er voraussetzt, der Leser wisse ohne
weiteres, welche Richtung er mit seinen Ausdrücken meine.
Bemerkenswert ist auch, daß er die Himmelsgegenden keines-
wegs ausschließlich mit Windnamen bezeichnet; in mannig-
Horizont ist gemeint, und so wird denn auch auf der Gegenseite der
ovgog ac&Qiov Aiög zu verstehen sein.
k
28 3. Abhandlung: Albert Rehm
4
fachen Variationen des Ausdrucks verwendet er auch die Phäno-
mene des Sonnenlaufs^) (und für den Norden nQoq ägmovl 148,
TZQog aQXTOV III 116, TiQog ägxTOv re xal ßoQeco ävejuov III 102).
Im Anschluß an Ukerts etwas unübersichtliche und von Druck-
versehen nicht freie Sammlung (S. 126) sei hier das Material
nochmals zusammengestellt: Ttoög iojieQrjv I 204. II 99. IV 44.
VII 58 (2 mal), Ttgög ioneQ^glY 17. 33. 38. 40. VII 36, äjid
EOJiEQrjg II 32, TiQog dvojuecov II 33, aTzd eoneQrjg xal fiXiov
dvojLtecov II 31, Jigög dvvovxa fjhov III 114; ngog ttjv fjco II 32. 99.
III 98. IV 22. 35. 40. 99, Jigog fjoj III 99, ngog fjhov ävatü-
Xovxa II 32, JCQog fjco re xal rjkiov ävaxeXXovra I 204. IV 40.
45, TCQog fjO) (re) xal rjXiov ävaroXdg III 98. IV 44. VII 58,
TiQog fjXiov ävLOxovxa III 98. IV 40. 44', ngog jueoajußQirjv IV 33.
99, TZQÖg jueoajußgirjg II 99. III 107, djro jueoajußQirjg I 6, Jigög
jueoa/ußgirjv xs xal voxov ävejuov IV 99 ^), äjtoxXivojUEvrjg jueoajußgirjg
III 114^); endlich einmal auch die genauere Angabe jigög fjXiov
xov x^ijusgivov 1 193. Der Eindruck dieser Fülle ist vor allem,
daß Herodot ohne viel Überlegung den Ausdruck wählt, häuft
und variiert (für das Abwechslungsbestreben sind Stellen wie
II 31—33, III 98. 99, IV 40. 44. 99 recht bezeichnend). Aber
je weniger planvoll die Wendungen hingeschrieben sind, je
weniger man von einem individuellen System reden kann, desto
brauchbarer ist Herodot für uns als Zeuge für das, was gang
und gäbe war. Zu den vier homerischen Winden, von denen
^) Darin hat er einen Vorgänger an Hekataios. In wörtlichen
Zitaten findet sich bei ihm jr^o? ^Xiov ävioxovra (fr. 173. 190. 193), djio
dvoiog (fr. 202, vgl. 72), Jtgdg [xsaafxßQirjg und Jigog fj,soafj,ßQir]v (fr. 78. 135) ;
daneben nur einmal Jigog voxov (fr. 195, vgl. 71. 149. 150). Für den
Norden hat er ngog ßogso} (fr. 67). Die Bezeichnung nach der Tageszeit
:jiQÖg soTtigav (fr. 71) wird nicht sein Ausdruck sein. Für Ost und West
meidet er offenbar die Windnamen, was schwerlich Zufall ist.
^) Vgl. auch rov vötov rj otdoig xal xfjg f^eoafxßQirjg II 26.
^) Das ist eine überkühne Übertragung der für die Zeit passenden
Ausdrucksweise auf den Ort, wie längst bemerkt ist; oder müssen wir
den Ausdruck schlechtweg lässig nennen? Kurz vorher, III 104, hat
ihn Herodot nämlich von der Zeit gebraucht: so mochte er ihm „in der
Feder liegen".
I
Griechische Windrosen. 29
uns der Boreas noch beschäftigen wird, kommen hinzu der Xiip^
der als Nachbar des voiog und wie dieser von Libyen her
wehend II 25 erscheint, und der dTirjXKOTrjg IV 22. 99. 152.
VII 188. Von diesen Stellen ist die wichtigste IV 99, über
die ein Wort zu sagen ist, weil sie bei Steinmetz S. 26 im
Gegensatz zu Berger S. 129 und Gilbert S. 543 A. 1 un-
richtig behandelt scheint. Herodot gibt sich hier die größte
Mühe, dem Leser die Lage des Skythenlandes klar zu machen ;
schließlich muß ihm die Lage von Attika und für westgrie-
chische Leser die iapygische Halbinsel zur Veranschaulichung
dienen. Vorher gibt er die Lagebestimmungen direkt: Ister-
mündung JiQog evQOv ävejbiov, f} aQxair] 2xv§ir} jigög jueoaju-
ßgirjv re xal vorov ävejuov, 'x^eQOOvrioig fj rgi^^er] jigog äjirjhcorrjv
ävsjuov, also von Skythien überhaupt eine Seite Jigög jueoaju-
ßQif]v, eine zweite jigog xtjv rjco. Ist es denkbar, daß an einer
und derselben Stelle Herodot zuerst JiQÖg evgov ävejuov,
dann jigog äTTrjhcjorrjv ävejuov sagt und beidemal das Näm-
liche meint? Besteht aber ein Unterschied, so ist keine Frage,
daß Herodot mit der Richtung Jigög äjirjXicoTrjv ävejuov die
reine Ostrichtung bezeichnen will, mit der Richtung Tigog evgov
ävejuov eine etwas südlich abweichende, sagen wir nur gleich
den Wind, der „von der winterlichen Sonne" — nach Herodots
eigener Ausdrucksweise 1 193 — herweht (vgl. auch P.-Wiss. VI
S. 1312)^). Wie käme er auch zu der letzteren Richtungs-
angabe, wenn ihm nicht die weitergehende Horizontteilung
vertraut wäre? Dann kann man aber auch sogleich weiter
schließen, daß Herodot eine ionische Windrose kennt, die von
jedem der acht bisher gewonnenen Horizontpunkte einen Wind
ausgehen läßt. Daß sein evgog zwischen Ost und Süd seine
Stelle hat, wird vollends klar aus VII 36: die Brücke bei Aby-
dos wird auf der einen Seite vielfach verankert gegen die aus
dem Pontos wehenden Winde, auf der andern evgov re xal vorov
evexa. Der reine Ostwind traf die Brücke nicht seitlich.
1) Mit Herodot scheint Strabon übereinzustimmen, der II 34 schreibt:
'H de Hivcojir) x&t "Ioxqcoi exdtdövri ig -^dkaocav ävxiov xeixai.
I
30 3. Abhandlung: Albert Rehm
Welches, fragen wir zunächst, sind die Namen der vier
neuen Winde? Da will es nun der Zufall, daß gerade nur
ä7ir]ha)Tr]g und Xiip auch bei jüngeren Zeitgenossen des Herodot
belegt sind {änrjXidurjg Eurip. Cycl. 19. Thuc. III 23; Xixp
Demokrit bei Lyd. De mens. p. 78, 15. 79, 16 W. = Vorsokr.
n. 55 B 14,8); dazu kommt dann nur noch xaixiag Aristoph.
Equ. 437, aber das könnte attische Besonderheit sein; endlich
wird man unter die alten Zeugnisse das von Theophr. De vent.
§ 51 als Jiagoijuia aus der Gegend von Knidos und Rhodos
angeführte Distichon einreihen dürfen: Xiyj ävejbiog tq^v juev
vecpeXag, ra^v <5' av&gia tzoisT' aQyeorrji (5' äveßcoi nao' Eneiai
vecpeXr). Aber all das sind doch nur Steinchen zum Mosaik.
So hat man denn die ionische Windrose bisher immer aus
einem sehr viel späteren Zeugen, Aristoteles Meteor. II 6,
rekonstruiert, was man insofern auch tun durfte, als Aristo-
teles durchaus von älteren und zwar ionischen Quellen abhängt;
davon soll noch weiterhin die Rede sein. Für den Wert der
aristotelischen Angaben spricht auch der Umstand, daß er zwar
mehr als acht Ausgangspunkte von Winden am Horizont kennt,
daß sich aber sehr klar die acht gut systematisierten W^inde
von dem jüngeren Zuwachs unterscheiden. Ich glaube aber
doch, wir müssen jetzt, ehe wir uns zu Aristoteles wenden,
einen älteren Zeugen für die Geschichte der Windsysteme aus-
zunützen suchen, der bisher in diesem Zusammenhang nur von
Gilbert (S. 543 A. 1) erwähnt, aber sicher nicht in seiner
Eigenart ausreichend gewürdigt ist, den Autor des rätsel-
reichsten Buches des hippokratischen Corpus, der Schrift neQi
eßdojuddcov^). Besprochen ist das Windsystem, das in Jt. ißd. c. 3
p. 7 vorliegt, am ausführlichsten und, wie ich sogleich sagen
möchte, in der Hauptsache richtig, von Röscher in seiner
1) Ich zitiere im folgenden nach Kapitel- und Seitenzahlen der Aus-
gabe Roschers in Drerups Studien zur Gesch. u. Kultur d. Alter-
tums VI 3/4 (1913), die ich in den Blättern f. d. bayer. Gymn.-Schulw. 51
(1915) S. 352 besprochen habe; für den arabischen Text tritt natürlich
jetzt an Stelle der bei Röscher beigegebenen Bearbeitung Härders die
Ausgabe von G. Bergsträßer im Corp. med. Graec. XI 2, 1 (1914).
Griechische Windrosen. 31
ersten eingehenden Bearbeitung der Schrift (Abb. d. sUchs.
Ges. d. Wiss. 28,5 [1911]) S. 79—84. Zum Glück ist für
unsere Untersuchung lediglich die Liste der Winde selbst von
Wichtigkeit (c. 3, 14)^): djirjXianrjg- exo/uevog ßogerjg' enEiz^
änaQKTiag^' eha ^ecpvgog' juex'' avxov <$' 6 Xi\p' tneira voiog'
EXüi^evog evQog.
1 Diese Form in der arab. Übers. S. 51, ICa Bergstr.; auch Hom m el
erklärt mir seine Herstellung des Wortes für die wahrscheinlichste; äoxxog
der griech. Text (s. Kalbfleisch bei Röscher, Abh. S. 137), was auch
die lat. Übers, mit africus und africanus wiederzuspiegeln scheinen; es
war zunächst APKTOC in den lat. Text herübergenommen worden, wie
ja auch Ups nicht übersetzt ist, griechisches PK ist in lateinisches FR
verlesen worden. Die Ordnung ist hier gestört bei den lat. Übers. —
Abfolge suhsolanus, africanus, septentrio — , der arab. Kommentar bringt
ajiaQHxiag erst als Nachtrag, weil er die vermeintlichen vier Kardinal-
winde vorausgenommen hat.
Es kann jetzt (dies zu bemerken veranlassen die Bedenken
von Boll, N. Jbb. 31 (1913) S. 140 A. 1) wohl kein Zweifel
^) Ich habe mich vergeblich bemüht, mit der Herstellung des Übrigen
einigermaßen sicher weiterzukommen. Mit Heranziehung der arab. Übers,
mag man sich den einleitenden Satz etwa so denken: „Von den Winden
haben sieben ihre bestimmten Örter, woher sie in periodischem Wechsel
wehen, mit unsichtbarer Bewegung, Kraft gewinnend durch das Ein-
ziehen der Luft: äjirjhoixrig usw." Unmittelbar vor aTir^liwxrjg steht: clqxt]
[xsv OPV dvs/Licov [ö'ßsv ovzoi jzeqpvxaoiv (fehlt in der arab. Übers, und sieht
nach einer Marginalnote aus, wie wir sie in den Überschriften Jiegi dvi-
[xcov c. 3, 71£qI mqcöv c. 4 und p. 6, 55 in dl'dicov — vgl. Boll, N. Jbb. 31
(1913), S. 142 A. 3 — vor uns haben)] djxö rov d-sg/uov. Das scheint mir
ein fremdes Einschiebsel, einmal weil diese Worte die Aufzählung der
Winde von dem Einleitungssatze abtrennen, sodann aber auch, weil sie
augenscheinlich die erst bei Aristoteles auftretende Ableitung des Windes
aus der xajivcLörjg dvadvf.uaoig anzudeuten scheinen (vgl. Meteor. II 4, 5,
p. 860 a 12 1^ ÖS ^rjQo. [dvad-v[xiaoig) räiv jivsvfiaTcov dgxv ^"* (pvoig Jidvzcov.
II 4, 8, p. 360 a 25 o ^£ xajivog ■äegf^ov xal ^tjqov. Gilbert S. 522 ff.). Ich
halte es also nicht für richtig, djio rov d'sgfj.ov mit djrT)?u(oxr}g zu ver-
binden, obwohl man auch in diese Verbindung einen Sinn hineininter-
pretieren könnte, etwa daß der djxr^Xicoxrjg zu den ^egfid jirsv/tiaza gehört
(s. 0. S. 25 mit A. 3). — Der Satz, mit dem das Kapitel schließt (aus
dem arab. Text wird dazu aus S. 51, 16''a Bergstr. , diese Winde wehen
das ganze Jahr" zu stellen sein), scheint nur eine Wiederholung von
jiEQiodovg jtoiEVfXEvoL zu sein.
32
3. Abhandlung: Albert Rehm
mehr bestehen, welche Winde im Original genannt waren;
auch zeigt sich, daß der griechische Text die Reihenfolge
völlig richtig gibt. So hat denn Röscher ganz zutreffend
die Windtafel Abh. S. 82 rekonstruiert; er hat auch schon
richtig gesehen, dal3 die Siebenzahl willkürlich erzwungen ist,
indem ein achter Wind weggelassen ist. Ich ergänze ihn in
Fig. 2 mit Röscher und Boll als dgyeoTrjg^) aus Aristoteles,
wobei ich hoffe, daß noch aus späteren Abschnitten dieser
Untersuchung hervorgehen wird, daß kein anderer Name dieses
Nebenwindes des Zephyros für die frühe Zeit in Betracht kommt.
^rAPKT//Vj
iOj_ON
Fig. 2.
Die so vervollständigte Windrose ist ein ganz außer-
ordentlich merkwürdiges Ding: sie ist in den Namen identisch
mit der achtstrichigen Rose hellenistischer Zeit, die man seit
Kaibel auf den Namen des Eratosthenes getauft hat. Wie ist
nun dieser Sachverhalt zu beurteilen? Eine späte Einlage in
7t. eßd. kann das Stück nicht sein; ist es doch das Herzstück
des Windkapitels, auf dem dessen Daseinsberechtigung in der
^) Wie Argestes zum Eigennamen eines Windes geworden ist, hat
m. E. Kauf f mann bei P.-Wiss. II, S. 715 richtig erklärt: „Aus einem
Attribute des Westwindes (Zephyros) ist Argestes Bezeichnung seines
nördlichen Seitenwindes geworden". Auch hier wird gelehrte Neu-
benennung vorliegen.
Griechische Windrosen. 33
Schrift überhaupt beruht. Das ganze n. eßd. aber so spät
anzusetzen, daß es unter dem Einfluß jener hellenistischen
Windrose stehen könnte, wäre schlechtweg phantastisch; so
wenig ich mich der These Roschers anzuschließen vermag,
der n. eßd. in seinem ersten Teil noch immer für das älteste
erhaltene Prosabuch griechischer Sprache erklärt, so sicher
gehört doch die Schrift in die vorsokratische Sphäre ; dies, und
speziell das Vorhandensein pythagoreischer Einflüsse, hat ganz
neuerlich E. Pfister, 2:ToixeTa II S. 30 fi". (auch S. 120), mit
neuen beachtenswerten Einzelzügen belegt; auch in unserem
Windkapitel ahnt man pythagoreischen Einschlag (Gilbert
S. 517; Pfister S. 33 A. 2).
So gewännen wir denn als Vorlage des Hebdomadisten
eine achtstrichige Rose, die jedenfalls geraume Zeit vor dem
Ende des V. Jahrhunderts entstanden sein muß. Ihre Namen
hat der Schöpfer des hellenistischen Achtwindesystems herüber-
genommen; das Prinzip der Horizontteilung muß deswegen
natürlich noch nicht das rein geometrische der späteren Zeit
gewesen sein. Vielmehr hat alles bisher Gesagte wahrschein-
lich machen sollen, daß die vier neuen Punkte die Solstizial-
punkte des Horizonts sind.
Namen und Stellen der acht Winde decken sich hienach mit
dem aristotelischen und dem aus Einzelangaben der Autoren
des V. Jahrhunderts zu erschließenden Schema, — mit einer
nicht unbedenklichen Ausnahme: als Ostwind vom Sommersolstiz
finden wir nicht den doch so echt ionischen (s. o. S. 23) Kai-
kias, sondern den Boreas, der doch noch, bei Aristoteles seine
Stelle als reiner Nordwind behauptet. Ich glaube indes, das
ist kein Grund, an dem bisherigen Ergebnis zu zweifeln. Auf-
fällig ist überhaupt nur, daß der Boreas so weit, bis 30® von
Ost, verschoben ist, nicht daß er seine Stelle hat räumen und
in dieser Richtung ausweichen müssen. Die Verschiebung der
zwei Kardinalwinde Boreas und Euros im Sinne des Uhr-
zeigers ist ja eine altbekannte Sache, und auch nach Motiven
für die Verschiebung hat man längst gefragt (vgl. z. B. Ukert
a. a. 0. S. 132). Sicher scheint mir, daß man es mit einem
Sitzgsb. d. philos.-philol. u. d. bist. Kl. Jahrg. 19 1 6, 3. Abb. 3
L
34 3. Abhandlung: Albert Rehm
einheitlichen Vorgang und mit dem Ergebnis gelehrter, nicht
von vornherein volkstümlicher Betrachtungsweise zu tun hat;
äjiaQXTiag und änrjXiayxrjg sind, wie oben S. 23 f. bemerkt, Neu-
schöpfungen, die den Wind vom Nordpunkt und den vom Ost-
punkt bezeichnen wollen; irgendwie mußten also die alten, all-
gemeineren Bezeichnungen weichen; gänzlich beseitigen wollte
man sie nicht, also mußten diese Winde seitlich verschoben
werden. Das hat am resolutesten der Schöpfer der hier be-
handelten achtstrich igen Rose getan, indem er beide zu Seiten-
winden des reinen Ostwindes machte. Daß dabei der evQog zum
OSO wurde, wird, da Winde aus dieser Richtung für das grie-
chische Gebiet nur eine geringe Rolle spielen^), die sekundäre
Erscheinung sein, während, wie bekannt, nordöstliche Winde
— die Etesien gehören ja auch dazu — in Griechenland ganz
außerordentlich häufig sind^). Hier hatte der populäre Sprach-
gebrauch wohl sicher der gelehrten Theorie schon vorgearbeitet.
Typisch ist dafür eine schon immer berücksichtigte Herodot-
stelle (VII 188 s.): der Wind, der die Perserflotte an der Ost-
küste der Halbinsel Magnesia zwischen Kasthanaie und dem
*) Von den Verhältnissen loniens wäre auszugehen; die einzige ein-
schlägige Beobachtungsreihe, in A. Mommsens Griech, Jahreszeiten
S. 449, bezieht sich auf Smyrna; darnach sind dort 0 und SO zusammen
etwa gleich häufig wie NO allein. Für Athen vgl. die Tabellen A. Momm-
sens, Griech. Jahreszeiten S. 130, und bei Neumann-Partsch, Physik.
Geogr. V. Griechenl. S. 125, für das übrige Griechenland die lehrreichen
Diagramme und Tabellen bei A. Stange, Versuch einer Darstellung
der griech. Windverhältnisse und ihrer Wirkungsweise, Leipziger Diss.
Meißen 1910, S. 13ff., 50 ff., 180 ff. (dazu neuestens für Alexandreia
Hellmann, Sitz.-Ber. Akad. Berlin 1916 S. 336). In den Parapegmen
fehlen östliche Winde bei Ps.-Gem. ganz, Hipparch bei Ptol. Phas. nennt
nur den äjirjhdixrjg (31. VIII. 10. X. 16. I. 25. I. 12. II.), nie den svQog,
nur die Alyvjirioi des Ptol. haben den svQog (9. XI. 15. XL 22. I.) und
den ajiriXi(oxrig (18. IX. 12. IL 17. V.).
2) Vgl. die in der vorigen Anm. genannten Autoren. In Athen ist nach
Neumann-Partsch — mit ziemlich gleichmäßiger Verteilung auf das
Jahr — NO fünfmal so häufig als N. Für das übrige Griechenland gilt das
allerdings nicht in gleichem Maße. Aber interessant ist, daß hier Smyrna
genau so wie Athen steht (N 5,2, N 0 26,5, der weitaus häufigste Wind) !
Griechische Windrosen. 35
Vorgebirge Sepias heimsucht, heißt nach Herodot Hellespontias
bei den Einwohnern jener Gegend und wird von Herodot als
ävEjuog ä7tr]Xi(j0Tr}g bezeichnet, was für einen Wind vom Hel-
lespont in jener Gegend beinahe zutrifft, — für die Athener
aber ist er ihr „Schwiegersohn" Boreas! So erklärt sich in
diesem Falle in der Tat alles aufs einfachste, wenn man nicht
etwa auch Antwort auf die Frage sucht, warum der Schöpfer
des neuen Windsystems nicht wenigstens auch noch den Ze-
phyros verschoben^), sondern hier den nördlichen Nachbar
durch Abspaltung aus dem Kardinalwind gewonnen hat.
Wichtiger als alle Einzelergebnisse und Einzelerklärungen
scheint mir nun aber die Tatsache zu sein, daß wir durch ti.
eßd. ein wohlfundiertes ionisches Windsystem des Y. Jahr-
hunderts bezeugt erhalten. Wenn wir jetzt fragen: warum
hat der Verfasser von neql äegcov nicht dieses System benützt,
so kann man freilich antworten: er hat es vielleicht nicht ge-
kannt; aber wenn wir nun auch Aristoteles als Zeugen für
die ionische Windrose vernehmen, so liegt die Antwort näher:
das eben besprochene Achtwindesystem war nicht das einzige,
es hat einen Konkurrenten gehabt, dem gegenüber es sich
nicht durchsetzen konnte. Dieser Konkurrent war allerdings
nahezu identisch, aber gerade bei den wichtigen nördlichen
Winden bestand eine Differenz; der nördliche Nebenwind des
Apeliotes war in ihm der Kaikias, der Boreas aber war als
allgemeinerer Name des Nordwindes neben dem neuen Apark-
tias erhalten. So stellt sich die Sachlage bei Aristoteles dar^);
die geringere Konsequenz, eine halbe Rückkehr zum home-
rischen System, scheint mir diese Rose als jünger zu charak-
terisieren gegenüber der in ji. eßd. vorausgesetzten. Zu diesen
^) Das ist, nur im Lateinischen, ganz am Ende des Altertums ge-
schehen bei Veget. IV 38; als Äquivalent des ^£(pvQog ist dort ein nach
Analogie von subsolanus = d.-ir]?u(orr]g gebildeter subvespertinus zu finden
und der faconius, ursprünglich — ^ecpvQog, hat nordwärts ausweichen
müssen und ist dem idnv^ gleichgesetzt.
2) Über die entfernte Möglichkeit, daß der Sachverhalt doch etwas
anders war, s. u. S. 45.
I
36 3. Abhandlung: Albert Rehm
zwei ionischen Windrosen kommt nun endlich noch, gleich-
falls aus Aristoteles zu erschließen, eine dritte, noch reichere,
die auf anderen Prinzipien aufgebaut ist. Wer nach Gemein-
verständlichkeit strebte, hatte also wahrlich allen Grund, bei
Angabe der Himmelsgegenden Windnamen zu meiden.
3. Aristoteles.
Mit dem eben Gesagten habe ich das Ergebnis der Ana-
lyse des aristotelischen Windsystems in Meteor. II 6 vorweg
genommen. Längst bin ich überzeugt, daß bei Aristoteles eine
nicht zu rechtfertigende Kontamination zweier Prinzipien der
Horizontteilung vorliegt. Eigentlich hat das schon Olympiodor
gesehen, der in gewohnt breiter Erörterung (p. 185, 8 ss.
187, 15 SS. St.) das aristotelische System entwickelt, wenn er
in der ersten der Aporien, die er aufstellt, auseinandersetzt,
daß der arktische und antarktische Kreis, von denen der erstere
bei Aristoteles in die Erörterung gezogen ist, den Horizont
nur in einem Punkte berühren und somit nur 10 oder vielmehr
nur 8 Punkte des Horizonts statt 12 zur Fixierung von Winden
gegeben sind. Er hilft sich p. 188, 2 ss. aus der Schwierig-
keit auf ganz ähnlichem Wege, wie wir ihn zu beschreiten
haben, aber er läßt freilich unausgesprochen, daß die Horizont-
teilung nach Auf- und Untergangsörtern der Sonne gänzlich
unvereinbar ist mit der zur Gewinnung der vier neuen Punkte
von ihm vorgeschlagenen Projektion des der Horizontebene
parallelen Durchmessers der arktischen Kreise auf den Horizont.
Seine Lösung bringt also keine wirkliche Klarheit. Von den
Neueren ist Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde I S. 257,
dem Richtigen erstaunlich nahe gewesen, indem er sagt, Ari-
stoteles „scheine bei seiner Anordnung eine Planisphäre im
Sinne oder vor Augen gehabt zu haben, auf der der Arcticus
seine festbestimmte Stelle zwischen dem Pole und Wendekreise
einnahm." Aber andrerseits nimmt er zu Unrecht an, bei den
Solstizialpunkten denke Aristoteles an Punkte, die 24^ vom
Ost- und Westpunkt entfernt liegen. Das hat Berger, Gesch.
d. wiss. Erdk. S. 284 richtig gestellt und er hat nach späteren
Griechische Windrosen. 37
Zeugnissen, die uns noch beschäftigen werden, S. 430 f. das
System, das ich für das zweite aristotelische halte, sachlich
richtig, wenn auch mit etwas rätselhaften Worten (ich führe
sie unten S. 59 A. 1 an) charakterisiert. Aber auch er hat aus
dem vielleicht geahnten, aber nicht erkannten Widerspruch bei
Aristoteles nicht die nötigen Folgerungen gezogen. Die letzten
Bearbeiter der aristotelischen Windlehre vollends, — Gilbert
S. 544 ff., Steinmetz S. 35 — , scheinen bei Aristoteles ernst-
liche Schwierigkeiten überhaupt nicht zu sehen.
Aber zweckmäßiger als Polemik gegen die Vorgänger wird
es sein, den ganzen Abschnitt durchzuinterpretieren, wenn dabei
auch im einzelnen kaum Neues herauskommt. Aristoteles
legt seiner Erörterung eine Zeichnung zugrunde, welche die
Anordnung der Winde am Horizont zeigt: yiyqanxai juev ovv
Tov fxäXXov evoijjucog e'xsiv 6 rov öglCoviog xvxXog. Es ist reich-
lich entgegenkommend gegenüber dem Leser, daß Aristoteles
hinzufügt: dio xal oxqoyyvXog. Dann aber fährt er fort: bei
bh voeiv avTov^) rö exsQov sy.TjU7]jua t6 vcp^ ^juajv oixovfisvov
eorai ydg xäxslvo bieXsTv rov aviov tqotiov, d. i. : „Man muß
aber unter dem Horizont, der hier gezeichnet (und in der Zeich-
nung geteilt) ist, den einen, von uns bewohnten Ausschnitt
(aus der Erdkugel) verstehen ; denn auch den andern wird man
auf gleiche Weise teilen können." Die Worte an sich sind
durchaus verständlich; sie beziehen sich auf die Ausführungen
in n 5 (p. 362 a 32 ss.), auf die umständliche Beweisführung,
durch die Aristoteles klar zu machen sucht, daß der Südwind
nur vom nördlichen Wendekreis, nicht vom Südpol herkommt;
er entwickelt dort, daß durch die auf die Erde übertragenen
Parallelkreise des Himmels, arktischen Kreis usw., zwei rjurj-
1) avtov codd. HN, avzov EF. Die Herausgeber schreiben avzov,
was mir völlig- sinnlos scheint; denn um einen Ausschnitt aus dem Hori-
zont handelt es sich unter gar keinen Umständen; auch bewohnen wir
keinen Ausschnitt aus dem Horizont. Übrigens hat auch Alexander avrov
gelesen, da er schreibt (p. 107,2 H.): SsT de vosTv rovxov rov xaxaysyQafi-
[xsvov OQi^ovra fxrj wg 7idof]g xrjg yfjg ögi^ovra, dXX^ (bg xov exT^rj[i.axog rfjg
Y^g TOV xatd rrjv fj^iexEQav oixov/nsvrjv, o ovxsx* dv Sit] xvxXog^
38 3. Abhandlung: AlberJ Rehm
fxaTa oder (p. 362 b 5) extjui^juaTa bewohnbarer Erdoberfläche
hergestellt werden^), — Zonen würden wir mit dem späteren,
^) Es liegt auf der Hand, daß diese Teilung den festen Polarkreis,
der durch den Ekliptikpol beschrieben wird, eigentlich voraussetzt;
es liegt aber ebenso auf der Hand, daß Aristoteles, der vom Polarkreis
als dem dca jiavxog qpavsQog redet, nicht den Polarkreis in unserem Sinne
meint, was Ideler in der Ausgabe I S. 564 fordert, als wäre es selbst-
verständlich; s. dagegen Müllenhof f, Deutsche Altert.-K. I S. 235 A. —
Die Polemik des Poseidonios bei Strabon 11 p. 94 s. ist völlig berechtigt.
Aristoteles und noch Polybios (Strab. II p. 97) begnügen sich eben inkon-
sequenter Weise mit einem sozusagen an den Himmel und von da wieder
auf die Erde zurückprojizierten Polarkreis, der, da er nun einmal zur
Verständigung über einen allgemein gebrauchten, aber wandelbaren Be-
griff dienen sollte, nur konventionell ist; für Aristoteles etwa der Breite
von Athen entsprechend (37^ 58', nach Hipparch (In Arat. p. 28, 27 M.)
aber nur 37®), für Dikaiarch nach Berg er s unsicherer Vermutung (Gesch.
der wiss. Erdk. S. 373) der von Lysimacheia, für Eratosthenes nach
Bergers diesmal einleuchtenden Kombinationen (Fragm. d. Eratosth,
S. 74 A. 4. S. 108 ff.) der von Rhodos, welcher das Verhältnis der drei
Bogen des Meridianquadranten zwischen Äquator, Wendekreis, Polar-
kreis, Pol zu 4:5:6 ergab, sich also durch Einfachheit empfahl und uns
deshalb, wohl vermittelt durch Poseidonios, vielfach bezeugt ist (Gem.
p. 58, 21 SS. 166, 4 ss. Macrob. Somn. Scip. II 6. Manil. 1 566 ss. Hyg. Astr. 1 6.
Achill. Isag. p. 59. 64 M.; eine Spur auch bei Strabon II, p. 113 extr.,
und bei Galen-Oreibasios IX 7, wovon im 6. Abschnitt eingehend zu
handeln sein wird). Wie wenig genau es die populäre Betrachtungs-
weise bei alledem nahm, zeigt Geminos, neben dessen eben verzeichneter
Bestimmung des aQxrixog friedlich p. 44, 9 eine andere steht, die auf eine
Breite von 37® (also Athen) führt und für die ganze xa-d'' rjfxäg otxovfisvr)
gelten soll (s. dazu die inhaltreiche Anmerkung von Manitius S. 258). —
Der populärwissenschaftlich arbeitende Astronom zeichnet auf seinem
Globus einen Polarkreis entsprechend der Breite seines Beobachtungs-
ortes ein (Leontios b. Maaß, Comm. in Ar. rel. p. 565, 24) und dem Ent-
sprechendes bieten auch alle mir bekannten Abbilder von Globen (vgl. die
Zusammenstellung bei Weinhold, Die Astron. in d. ant. Schule, Diss.
München 1912, S. 69 f.). Sowohl der Globus Farnese, an dem sich der Pol-
abstand des oLQxxixog recht genau müßte bestimmen lassen — reichlich
30® sind es gewiß — , wie die Hemisphären des cod. Vat. gr. 1291 (Boll,
Sitz.-Ber. Akad. München 1899 S. 118 ff.) mit etwa 41® zeichnen einen
äQxxiHÖg und avTaQXTixog, der sicherlich als der „arktische Kreis" in griechi-
schen Breiten, nicht als unser Polarkreis gemeint ist; so wird man denn
auch von den Planisphären des cod. Vat. gr. 1087, die ich hier als Fig. 3. 4
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Fig. 3
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40 3. Abhandlung: Albert Rehm
erst seit Autolykos II 5 p. 114, 10 H.^) gebräuchliclien Aus-
druck sagen. Es ist auch logisch und nicht überflüssig, wenn
Aristoteles dem Leser mitteilen will, daß der Horizontkreis,
den er nun mit Winden ausstattet, nur für die nördliche ge-
mäßigte Zone gilt, da man nach früherer Darlegung in der
südlichen alles im Gegensinn anzunehmen hat; aber er durfte
natürlich nicht sagen, daß dieser Kreis die Zone ist oder dar-
stellt oder vertritt — oder wie man sonst dsi voeXv deuten mag.
Hier zeigt sich Aristoteles im Ausdruck doch noch einiger-
maßen gebunden durch die Lehre vom festen Horizont, die ja
in der wunderlichsten Weise auch Meteor. II 1, 14. 15 p. 354 a
durchschlägt^), und durch die Vorstellung des allgemein gül-
tigen Horizontes der runden Erdkarte, über die er sich doch
II 5, 13 p. 362 b 12 lustig macht, während er seine Teilung
I 13, 19 p. 350 b 1 {(fj IIvQ^vrj) ioüv ögog Jtgdg dvofirjv lorj-
jusQivrjv ev xrji KeXnxfji) unbefangen zur Orientierung benützt
hat. Dazu paßt gut, daß Aristoteles, der ja natürlich weiß,
daß sich die Polhöhe bei Ortsveränderung in nördlicher oder
südlicher Richtung ändert (vgl. Uegl ovQavov p. 297 b 34,
abbilde, urteilen müssen, wenn schon hier der Polabstand von 45'' eine
verständnislose Schematisierung zeigt. Der wissenschaftlich arbeitende
Ptolemaios verzichtet auf beide Gattungen dieser Kreise (Synt. Vlll 3);
in der Geogr. VII 6 bietet der Text weder in dem einen noch in dem
anderen Sinne einen Anhalt, während die Abbildung bei Nobbe unsere
Polarkreise gibt. — Für unsere weitere Untersuchung ist bestimmt daran
festzuhalten, daß die Bezeichnung aQXTixog {septentrionalis) allein dem
wandelbaren Polarkreis, dem , arktischen Kreis", zukommt. Bezeichnet
doch Poseidonios bei Strabon II p. 136 (auch p. 95. 114) und bei Kleo-
medes (I 7 p. 68, 20) den , festen Polarkreis" als den Kreis, dessen Be-
wohner s'xovoiv oLQXTixov xov TQOJiixöv , ciuc Ausdruckswcisc , die man
vielleicht schon dem Pytheas zuschreiben darf. Wollte man ihn sonst be-
zeichnen, so stand der späteren Zeit auch die Charakterisierung durch die
Schattenverhältnisse (als Grenze der nsgioxioi) zur Verfügung. Einen ein-
fachen Terminus technicus für ihn gibt es im Altertum überhaupt nicht.
1) Vgl. Berger S. 197 A. 1.
2) Die Stelle war Berg er unerträglich (Fragm. d. Eratosth. S. 63.
Gesch. d. wiss. Erdk. S. 80 A. 1); es ist aber klar, daß sie am oben
behandelten Abschnitt eine starke Stütze hat.
Griechische Windrosen. 41
Meteor. II 7, 3 p. 365 a 29), der also auch wissen müßte, daß
die Solstizialpunkte am Horizont beweglich sind, kein Wort
von diesem Phänomen sagt^). Gab er den festen Horizont auf,
so wäre es konsequent gewesen, auch auf diese Punkte zur
Bestimmung der Winde zu verzichten. Daß er sie beibehielt,
ist ein Zeichen dafür, daß seine Kritik hier nicht auf den
letzten Grund geht. Aber wenn er von einem nördlichen
Horizontkreise redet, dem ein südlicher entspricht, so verrät
das doch die Absicht, den natürlichen, wandelbaren Hori-
zont zugrunde zu legen. — Auf dieser Horizonttafel bringt er
nun zunächst an den jetzt schon so oft behandelten acht Punkten
die Winde l^e(pvQog — äjirj hcoTtjg, ßogeag {6) xai äjiagxTiag
(o add. Steinmetz S. 38) — vozog, xaixtag — Xitp, evgog —
äQyeozrjg (= ölvjujiiag, oxIqwv) an^). Nach dem Gesagten
haben wir die Solstizialpunkte hier als die natürlichen maxi-
malen Morgen- und Abendweiten zu betrachten, also rund 30^
vom 0- und W- Punkt abstehend, nicht 24°, wie es bei dem
(weiterhin ausführlich zu behandelnden) System der Fall wäre,
an das Müllenhoff denkt.
Aristoteles kennt dieses System, aber das Eigentümliche
ist eben, daß er sich ihm nicht anschließt; das dürfen wir
für die östlichen und westlichen Winde um so getroster be-
haupten, als er es sogar da, wo es neue Punkte der Lokali-
sierung liefert, ablehnt, bei den nördlichen und südlichen Winden.
Anders kann man p. 363 b 27 ss. wahrhaftig nicht deuten.
*) Er steht da wohl unbewußt unter dem Einfluß der unmittelbar
vorher bekämpften Theorie von der Herkunft des vörog, die ja eben dem
ionischen Erdbild entspricht. Diese Theorie, ausführlich vertreten in
nsgl öiairrjg c. 38 (VI p. 532 L.), hat Fredrich, Hippokrat. Unters. S. 165,
gestützt auf die Zeugnisse über die Nilschwellentheorie des Anaxagoras
(Dielsl^'3 n. 46 A91. 42,5), überzeugend diesem zugewiesen. Also wird
auch die Windtafel in ihrem Kern auf Anaxagoras zurückgehen.
^) Es ist auffällig, welches Gewicht Aristoteles in diesem Teile der
Darstellung darauf legt, daß die Gegenwinde einander xaiä didfisrgov
entgegenwehen müssen. "Er kannte wohl eine Theorie, welche Euros
und Lips, Kaikias und Argestes als Gegenwinde bezeichnete, wie das
später vorkommt (bei Favorin-Gellius II 22, 12; s. u. Abschnitt 6).
L
42
3. Abhandlung-:
Albert Rehm
Aristoteles setzt dort mit der etwas zufälligen, sogar nur halb-
richtigen Anknüpfung ein : exsqol d'' eloiv (ävejuoi), xad''' ovg
ovK eoTLv evavTia jivevjuara. Man sollte eigentlich erwarten,
daß zuerst die Punkte bestimmt würden, von denen sie aus-
gehen, aber erst nachträglich wird uns gesagt, daß diese Punkte
in der Mitte zwischen Argestes und Aparktias, Aparktias und
Kaikias liegen. Daß Aristoteles durch diesen Ansatz annähernd
ein reguläres Zwölfeck (s. Fig. 5) erhält, hat Genelli S. 469 ff.
erkannt; Berg er, der sich ihm S. 284 anschließt, irrt insofern,
als er die Figur schon den loniern zuschreibt. Nach der hier ge-
gebenen Analyse ist sie gerade die Erfindung des Aristoteles.
Fig. 5.
Nur kann sich dieser wiederum nicht ganz von der Tradition
freimachen. Er ist inkonsequent, wenn er nun doch das Be-
dürfnis fühlt, die neuen Punkte mit ganz anders bestimmten,
die er in Wahrheit gar nicht brauchen kann, in Beziehung zu
setzen. So ist der Satz „"^ Se rov IK didjusTQog ßovXezai juev
xard Tov diä navxbg (paivo^erov, ovx dxQißot de^ eine Schlimm-
Griechische Windrosen. 43
besserung, die sich allein daraus erklären läßt, daß Aristoteles
eine Windtafel kannte, aber sich nicht zu eigen machen wollte,
in der dieser Kreis eben als Teilungsprinzip diente. Das ist
dann aber eine andere, als diejenige, welcher er bei den öst-
lichen und westlichen Winden folgte. Wenn er ihr bei diesen
gefolgt wäre, was hätte ihn denn veranlassen sollen, die Neben-
winde von N und S gerade in die Mitte zwischen dem Pol
und den Solstizialpunkten zu setzen? Eine gleichmäßige Hori-
zontteilung war ja dann damit doch nicht erreicht!
Mit dem natürlichen Horizont verträgt sich die zweite
Windrose durchaus nicht; denn ihn schneidet ja der „immer
sichtbare Kreis" (den „arktischen" nenne ich ihn weiterhin mit
Berg er) nicht, sondern berührt ihn nur, eben im Nordpunkt.
Die neuen Punkte gehören in ein System, in welchem an die
Stelle der maximalen Morgen- und Abend weiten die Abstände
der Wendekreise vom Äquator treten; es stellt also, modern
gesprochen, eine Projektion der Parallelkreise auf den Meridian-
kreis dar oder, um dem Zwecke, dem es dient, näher zu bleiben,
eine Projektion der Parallelkreise auf einen größten Kreis der
Himmels- oder Erdkugel, den man durch Nord- und Südpol
und Ost- und Westpunkt legt. Dieser Kreis wird dann durch
Drehung um den Ost-Westdurchmesser auf die Horizontebene
gelegt.
Das Verfahren der Horizontteilung, wie ich es hier be-
schreibe, ist nun freilich völlig widersinnig. Indes dürfen wir
gewiß nicht annehmen, daß die Projektion von ihrem Urheber
so vollzogen worden ist, wie wir sie eben entwickelt haben,
wenn auch die Vorstellung von einer Drehung des Horizont-
kreises oder des Himmelspoles um die Ost-Westachse den loniern
an und für sich recht nahe liegt, indem bekanntlich Empe-
dokles, Anaxagoras, Diogenes von Apollonia, Leukipp-Demokrit
durch eine solche Bewegung die Tatsache glauben erklären zu
können, daß für uns der Nordpol nicht im Zenith liegt (vgl.
Berg er S. 80). Vielmehr werden wir bei dem Schöpfer der
„Meridianprojektion", wie schon Müllenhoff gesehen hat, die
unklare Vermengung. des Bildes der Erdscheibe und der Erd-
44 3. Abhandlung: Albert Rehm
kugel anzunehmen haben, die bei Aristoteles mehrfach fest-
zustellen war. Die Meridianprojektion ergibt sich unmittel-
bar, wenn man an die Stelle der altionischen Erdscheibe
die planisphärische Darstellung unserer Globushälfte
setzt. Das Unlogische ist dann nur, daß man den Rand
dieser Hemisphäre mit dem Horizont gleichsetzt. Mit aller
Deutlichkeit gibt uns das Verfahren ein Zeuge spätester Zeit
an, Macrobius, Somn. Scip. H 6, 7 (er redet von der Darstellung
der Zonenteilung, die auf der östlichen und westlichen Halb-
kugel gleich ist) : „Modo enim, quia orhem terrarum in piano
pinximus, in piano autem medium exprimere non possumus
sphaeralem tumorerriy mutuati sumus altitudinis intellectum a cir-
culo, qui magis horizon quam meridianus videtur^, d. h. „ich
sollte eigentlich die Teilung am mittleren Meridian anzeichnen,
der am Globus plastisch gegen den Beschauer heraustritt; da
in der Planisphäre dieser als Gerade erscheint, bezeichne ich
die Teilung am Rande, der freilich mehr wie der Hori-
zont als wie der Meridian aussieht". Das schärft dann
Macrobius durch den folgenden Satz ein, den ich hier nicht
wiederzugeben brauche. Und richtig verdrängt bei Macrobius
weiterhin die Vorstellung des Horizonts die des Meridians so
sehr, daß er c. 9, 4 von den sich kreuzenden Ozeanarmen den
einen bezeichnet als denjenigen, qui aequinocüalem, den andern
als den, qui horisontem circulum amhitu suae flexionis imitatur.
In der Geographie ist also das Quidproquo zu Hause. Es
kann entstanden sein, so bald man anfing, die Erde als Kugel
zu betrachten und darzustellen, also lange vor Aristoteles^).
Erfreulich ist, daß sich auch bei diesem eine Spur davon findet,
daß die Projektion mit einer Erdkarte zusammenhängt; denn
bei Anführung der durch sie fixierten Winde bemerkt er c. 6, 9
p. 364 a 2 von dem aus SSO wehenden Winde : ov xaXovoiv
ol tieqI tov xonov exeXvov cpoivixlav. Eben diese Stelle ist
uns ein weiteres Anzeichen dafür, daß bei Aristoteles wirklich
1) Zuerst bei den Pythagoreern (B er g er S. 171 ff. Gilbert S. 282 f.;
das Material und weitergehende Hypothesen bei Röscher, Abh. d. sächs.
Ges. d. Wiss. 28 (1911) S. 71).
Griechische Windrosen. 45
zwei verschiedene, ursprünglich selbständige Windsysteme mehr
nebeneinander gestellt als zusammengearbeitet sind : im zweiten
System erwähnt er den Phoinikias an derselben Stelle, die,
freilich noch nicht geometrisch bestimmt, im ersten den
evQÖvoTOL zugewiesen war, ohne an der zweiten Stelle irgend
auf die erste zurückzuweisen. Der svQovoTog ist sicher im
Meridiansystem nicht vorgekommen, da das System das Schema
für zwölf Winde bietet, aber die Stelle zwischen Xiip und vorog
frei läßt. Hätte sein Autor einen evqovoxoq gekannt oder be-
rücksichtigen wollen, so würde er, dazu bedurfte es wahrlich
keiner Genialität, sicherlich den hßovoTog hinzuerfunden haben.
Es ist aber augenfällig, daß der Autor des Meridiansystems
als Zuwachs nur schon örtlich verbreitete Namen bringen
wollte; (poiviKiag wird, wie schon erwähnt, von Aristoteles
selbst als Lokalname eingeführt, juearjg ist uns als solcher durch
das Fragment ävejucov d'eoeig (das unten ausführlich behandelt
wird) bezeugt, d^gaomag^ das man leider nicht in das so nahe
liegende ^gatxiag abändern darf, ist, gerade weil das Wort
sich so hartnäckig gegen Erklärung sträubt^), sicher auch
Lokalname. Da uns Aristoteles das neue System nur als Er-
gänzung des wahren Horizontsystems vorführt, so können wir
nicht wissen, welche Namen es in seiner hier vermuteten ur-
sprünglichen Selbständigkeit für die acht andern Winde auf-
wies. Die Versuchung liegt nahe, die vorher von Aristoteles
angeführten Doppelbenennungen unter die zwei Systeme auf-
zuteilen, wie es denn beispielsweise angängig wäre, den ßogeag
dem Horizontsystem zu belassen, den äjtaQxriag ins Meridian-
system herüberzunehmen ; aber all das ist viel zu unsicher, als
daß es mehr als Phantasiespiel wäre.
Noch bleibt uns eine Frage, die nicht Aristoteles und
seine Vorlagen, sondern alle ionischen Windsysteme betrifft,
abgesehen von jzeqI äegcov ; daß dieser Schrift das Windsystem
in 71. eßd. und die zwei aristotelischen als eine bei allen
^) Die Vermutung von Maaß, daß es der Wind von Tarasco sei,
zuletzt verfochten von C. Ruehl, De Graecis ventorum nominibus et
fabulis, Diss. Marburg 1909, S. 28, hat viel gegen sich und wenig für sich.
46 3. Abhandlung: Albert Rehm
Verschiedenheiten unter sich doch im ganzen gleichheitliche
Gruppe gegenüberstehen, ist oben schon angedeutet (S. 27. 35 f.);
es sind die Systeme, die auf Vermehrung der Windnamen aus-
gehen. Der Vorzug des Systems in JieQi äegcov ist die scharfe Ab-
grenzung der Winde gegeneinander. Wie steht es nun damit in
der andern Gruppe? Die Frage ist recht alt; schon Genellis
Aufsatz, vor fast hundert Jahren erschienen, hat sie zum Haupt-
thema. Wäre sie nicht an und für sich notwendig zu stellen,
so würde heute die Theorie von Steinmetz nötigen, darauf
einzugehen. „ Ventos ex puncto spirare'' ist für ihn ein wesent-
liches Stück sowohl der aristotelischen Theorie wie derjenigen
des Timosthenes (S. 44. 49. 64). Ich glaube, man kann die
Berichtigung noch heute mit Genellis Worten (S. 475) geben:
„Da Aristoteles die Orte seiner Winde scheinbar auf Punkten
ii achweiset, so könnte man auf den Wahn geraten, er wolle
die Ecken des Polygons (Gen eil i meint das Zwölfeck des
aristotelischen Schemas) als die eigentlichen Orte der Winde
angesehen wissen. Allein einen Spielraum, mußte er ihnen
doch unumgänglich zugestehen, sofern er nicht behaupten
wollte, aus den Zwischenräumen wehe nie ein Wind." Zur
Bestätigung kann auch der aristotelische Sprachgebrauch dienen;
wiederholt redet Aristoteles in II 4 von ßoQeai und votoi, in
c. 4 und 5 von der oixrjoig oder dem zoTiog (und zwar einem
avanenxaixevog)^ woher die ßoQeai kommen, in c. 6, 10 auch
von den ngog ägxtov und Jigög jueof]jußQlav xotiol. So kann
man denn, meine ich, nicht zweifeln, daß Aristoteles und seine
Vorgänger, wenn sie Punkte am Horizont bezeichnen, von
denen her die Winde wehen, doch damit nur die Mittelpunkte
von Horizontbögen meinen. Aber auf die Frage, wie weit nun jeder
solche Bogen reicht, geht man allerdings nicht ein; praktisch
war das auch gar nicht so sehr wichtig, es waren eben doch
acht bis zwölf Hauptrichtungen festgelegt. Dagegen ist bei den
ionischen Systemen klar, daß man unregelmäßige Vielecke er-
hielt, sobald man wirklich Grenzen einzeichnen wollte^): die
1) Es sei auf die „Verbesserungen" des Grundrisses verwiesen, die
Griechische Windrosen. 47
Punkte hatten ja unter einander ungleiche Abstände in der
achtstrichigen Kose wie in der zwölfstrichigen, die durch die
Meridianprojektion gebildet war. Ja sogar bei den annähernd
oder völlig gleichen Abständen der aristotelische Rose (Fig. 5)
kam man ins Gedränge, soferne dort ja nur elf der Punkte
benannt waren.
4. Timosthenes.
Die Beseitigung dieser Unzukömmlichkeiten möchte man
als das leitende Motiv für die Weiterentwicklung der antiken
Windrose betrachten ; so denkt man sich ja auch gemeinhin —
genannt seien nur Berger und Steinmetz — den Fortgang
der Lehre: Timosthenes schafft eine Windrose, die ein regu-
läres Zwölfeck ist, Eratosthenes setzt dafür das reguläre Acht-
eck. Meinungsverschiedenheit bestand dann nur darüber, ob
Timosthenes die Winde lediglich durch Horizontpunkte be-
zeichnete oder jeden Horizontpunkt nur als Mitte eines Kreis-
zwölftes betrachtet wissen wollte, das als Region des einzelnen
Windes gedacht war, also über die Frage, die soeben allge-
mein behandelt ist. Bis vor kurzem habe ich das Problem
ebenso angesehen ; aber wiederholte Nachprüfung der Zeug-
nisse hat mich, was Timosthenes betrifft, zu einer anderen
Anschauung geführt.
Zunächst ist uns von einer Schematisierung der Windrose
durch Timosthenes schlechterdings nichts überliefert. Posei-
donios bei Strabon I 29 nennt Timosthenes nur ganz allgemein
als einen der maßgebenden Schriftsteller über den Gegenstand,
der yvcoQijLtoi negl xama. Dafür kann er schlielBlich einfach
deshalb gelten, weil er das Zwölfwindesystem vollendet hat.
Diese Leistung und nur sie kennen wir durch den einzigen
Bericht über seine Lehre, der bei Agathemeros steht {yecoyg.
{,7iorvji. n § 6. 7. GGM n p. 472 s. = fr. 6 Wagner^). Um
ein unbefangenes Urteil über den Bericht zu gewinnen, sehen
V. Raum er für den Turm der Winde in Athen ausgedacht hat (Rhein.
Mus. 5 (1837) Fig. 3. 4).
1) E. A. Wagner, Die Erdbeschreibung des Timosthenes von Rhodos,
Leipziger Diss. 1888 S. 64.
k
48 3. Abhandlung: Albert Rehm
wir vorerst davon ab, daß von Agathemeros die timosthenische
Windrose aus der achtstrichigen Windrose auf eine Weise
entwickelt wird, als handle es sich nur um eine ziemlich un-
organische Erweiterung dieser Rose durch Einschuh von vier
Winden^). In Wirklichkeit setzt Timosthenes doch überhaupt
nicht die achtstrichige Rose voraus, sondern knüpft unmittel-
bar an die aristotelische an, welche ja „potentiell" zwölfstrichig
war; das lehren schon die Namen, deren Überlieferung bei
Agathemeros durch Plin. n. h. II 119 s. bestätigt wird. Wie
eng der Anschluß an Aristoteles ist, hat Kaibel, Hermes 20
S. 607 f., gezeigt, auf dessen Ausführungen ausdrücklich ver-
wiesen sei. Hier genügt es, zu sagen, daß Timosthenes die
Rose des Aristoteles vervollständigt, indem er den von jenem
sonderbarer Weise nicht eingereihten evQÖvorog als Doppel-
namen des q)oivi^ (so Timosthenes nach dem Zeugnis des Aga-
themeros — zweimal — und Plin. n. h. II 120, vielleicht in
Anlehnung an Idnv^ und U'ip^)) ins System einsetzt und ihm
dann als selbstverständliches Gegenstück den hßövorog westlich
1) Diese Form der Darstellung findet sich auch bei Gellius II 22, 17
und Plinius n. h. II 119. 120. Sie wird, wenn auch durch verschiedene
Mittelsmänner, auf eine Quelle zurückgehen (s. u. den Abschnitt über
Poseidonios).
2) 0oivi^ ist auch in der Vorlage von jtsqI xoojxov p. 394 b 33 voraus-
zusetzen; denn erst hieraus erklärt sich sein singuläres Gegenstück, der
Xißocpoivi^ 1. 34. — Zu Aristoteles hinzugefügt ist bei Timosthenes außer
dem oben Besprochenen in der Region der nördlichen und südlichen
Winde allein der xigxiog, gewiß nach seemännischer Erfahrung. Aber
noch ist zu fragen, welche Namen Timosthenes etwa bei den sechs öst-
lichen und westlichen Winden noch über Aristoteles hinaus angeführt
hat; die Ergänzung aus Agathemeros § 6 ist nicht ganz so selbstver-
ständlich, wie Kaibel die Sache anzusehen scheint. Aber er wird doch
recht haben, wenn er beim Argestes die Bezeichnungen oXv/umag und
(aus loannes Damascenus) Idjiv^ dem Timosthenes zuschreibt. Beides
wird bestätigt durch tzsqI xöofxov (s. u. Abschnitt 6). Sehe ich recht,
so wird das Material für diese Entscheidung etwas vermehrt durch die
noch nicht identifizierten Ptolemaioszitate bei Olympiodor p. 185, 34 und
186 in der Figur. Wir gewinnen daraus Bestätigung für den ßoggäg
als NNO, für svgovorog und für idjiv^ = aQysoxrjg.
Griechische Windrosen. 49
vom voTog beiordnet; selbst sein XevKovoxog, der bei Agathe-
meros voranstehende und im geographischen Teile bevorzugte
Name, stammt aus Aristoteles (Meteor. II 5, 7 p. 362 a 12) und
ist für uns insoferne interessant, als er zeigt, wie Timosthenes
die Aristotelesstelle aufgefaßt hat. Die einzige wesentliche Ab-
weichung, die Verdrängung des jj-eorig durch den vom änaQxziag
getrennten ßogeag, ist nach dem oben S. 33 f. Ausgeführten ohne
weiteres verständlich und gerechtfertigt. Timosthenes steht
dabei wohl eher unter dem Einfluß des populären Sprach-
gebrauchs^) als eines der alten Windsysteme, etwa des auf
der Meridianprojektion beruhenden (s. o. S. 45).
Völlig läßt uns, wie gesagt, die Überlieferung in der
Frage im Stich, wie Timosthenes den Horizont geteilt hat.
Für die einfachste Annahme, diejenige, daß Timosthenes am
aristotelischen System der Teilung nichts geändert hat, spricht
manches; zunächst führt darauf die Darstellung bei Agathe-
meros, aber, wie oben S. 48 A. 1 schon angedeutet ist, man wird
gut tun, darauf nicht allzuviel zu geben ; auch nicht darauf, daß
es bei Agathemeros von Timosthenes schlechtweg heißt ngoon-
delg jueoov änaQKTLOv xal xaixiov ßogeav xzA., also ganz wie
sich Aristoteles ausdrückt. Irre machen konnte den Timo-
sthenes an der aristotelischen Teilung freilich auch einiges : vier
Nebenwinde mit Punkten des Sonnenlaufs zu verbinden und
vier weitere ohne astronomischen Anhalt einzuschieben ist kein
sehr systematisches Verfahren ; daß ferner die Verbindung mit
den Solstizialpunkten keine Berechtigung mehr hatte in einer
Zeit, die mit der Vorstellung vom festen Horizont endgültig
aufgeräumt hatte — zwischen Aristoteles und Timosthenes steht
doch Dikaiarch — , das mußte Timosthenes wohl einsehen,
wenn er in dieser Frage überhaupt kritisch dachte. Der ptole-
^) Die Neigung des Boreas, nach Osten abzuschwenken, tritt auch
in der sonst ganz dem Aristoteles entlehnten (vgl. Kaibel, Hermes 29
(1894) S. 113) Einlage in das pseudotheophrastische Buch jisqI oijfieuov
zu tage, indem dort § 36 der äjiaQxzlag einziger Nordwind bleibt und
neben ihm ßogsag t} fisojjg steht. Ob die Kompilation vor oder nach
Timosthenes fällt, ist nicht zu sagen.
Sitzgsb.d.philos.-philol.u.d. bist. Kl. Jahrg. 1916, 3. Abb. 4
I
50 3. Abhandlung: Albert Rehm
maische Flotfcenkommandant konnte jedenfalls aus Erfahrung
wissen, daß der Bogen, den die Solstizialpunkte mit den Punkten
der Gleichen bilden, in Alexandreia merklich kleiner ist als
im Norden des Agäischen Meeres. Nur wissen wir eben leider
nichts davon, ob er solches Erfahrungswissen oder theoretische
Erwägungen verwertete. Tat er es nicht, so ist darüber kaum
zu streiten, daß sein System, wenn auch ungewollt, im Er-
gebnis auf symmetrische Teilung hinauslief. Für Athen be-
tragen die äußersten Morgen- und Abendweiten 30^42'; das
kommt den 30*^ so nahe, daß niemand, der die bei so gut wie
allen nachgeprüften antiken Sonnenuhren vorkommenden Un-
genauigkeiten kennt, bezweifeln wird, daß diese geringe Dif-
ferenz, wenn sie überhaupt beobachtet war, vernachläßigt
werden konnte, wie schon für Aristoteles o. S. 42 angenommen ist.
Und doch bleiben für mich ein paar Bedenken bestehen.
Wenn Timosthenes eine tatsächlich symmetrische Teilung durch-
geführt hat, warum hat der Schöpfer des Achtwindesystems
eine grundsätzliche Neuerung nötig gefunden ? Sollte nicht
ein anderes Teilungsprinzip, die so handgreiflich unlogische
Meridianprojektion, die Kritik herausgefordert haben? Auf-
fällig ist mir ferner, daß das System des regulären Zwölf-
ecks, bei dem jeder Wind ein Zwölftel des Kreisunifangs zu
eigen hat, erst so merkwürdig spät bezeugt ist. Wir finden
es auf den späten griechisch-römischen Windpfeilern aus Rom
(IG XIV 1308 1)) und Gaeta (IG XIV 906), dann auf der
Riesen-Windtafel von 7 m Durchmesser, die in den Platz vor
dem Tempel des Mercurius Silvius in Dugga^) eingelassen ist.
^) Eine vorzügliche photographische Abbildung des Stückes gibt
P. G. Lais in Pubblicazioni della specola vaticana 4 (1894) T. I.
2) Vgl. Schulten, Arch. Anz. 1906 S. 153, der mir brieflich mit-
teilt, daß er keine Abbildung des Stückes kenne. Aus dem Bull, archeol.
du com. des trav. bist, et scient. 1905 S. IX, das mir Schulten freund-
lich zur Verfügung gestellt hat, teile ich die entscheidenden Worte mit:
,Le dallage presente, au centre, une grande circonference tres soigneuse-
ment pavee de plus de sept metres de diametre. Cette circonference
est divisee en sections egales par de nombreux diametres et sur le pour-
tour sont symetriquement disposes les douze noms des douze vents :
Septentrio etc."
Griechisclie Windrosen.
1
endlich auf der in I G XIV fehlenden Horizontalsonnenuhr aus
Rom, die Fr. Peter in den Atti dell' accad. rom. di archeol. I 2
(1823) ausführlich besprochen und abgebildet hat. Ich gebe
seine Zeichnung hier als Fig. 6. Und den durch Faventins
Lib. artis architect. c. II p. 289, 2 R. bezeugten römischen Zwölf-
windeturm haben wir selbstverständlich auch mit einem regu-
lären Zwölfeck als Grundriß zu denken; war er doch gemacht
„ad exempli Andronici Cyrrestae slmilitudinem" . Auch fehlt die
Theorie zur Praxis nicht. Die Herstellung einer Windtafel
Fiff. 6.
als reguläres Dodekagon schildert der Anonymus (Pseudo-
Agathemeros) GGM II p. 503 s. unter völligem Verzicht auf
Solstizialpunkte und Polarkreise: Norj^evrog yaQ jueyiorov xv-
kXov TieQiexovTog x6 eyvcoojuevov xai e| diajuhgoig elg loa 6(6-
öena diaiQeOevrog, ojoxe ovo töjv ngög oQ^dg dXXijXaig rrjv fikv
4*
I
52 3. Abhandlung: Albert Rehra
y
lorjjueQivrjv noieXod^ai, tyjv de jueorjjußgivijv, rdooovoir im jusv xrJQ
lorjfxeQLvrjg Jigog jukv ralg dvarolaig äjzrjXicoTrjv, Jigög de TOig
övoeoL Cs(pvQOv Kai ndhv im jbiev rfjg jUEorjjußQivrjg ngog äg-
XTOvg djiaQXTiav, Jigög de xrjv jbieorjjußQiav vorov eha djirjhcorov
juev exaregcoi^ev (bg Jigög jueorjjußgiav evQov, Jigog de aQKXovg
xaixiav xrL Den frühesten aller Belege scheint Ptolemaios zu
bieten, von dem Olympiodor ad Aristot. Meteor, p. 188,31 St.
schreibt: "AXkd jurjv ixeTvo dnoQrjxsov, ncög 6 "AgioxoreXrig xovg
dvejuovg ecprjoe yiyveo&ai xaxd xdg xojudg x(hv nagaklriXcov tioXcov
xdg yiyvojuevag vjio xov oQcCovxog, xov doxgovojuov (d. i. Ptole-
maios) Xeyovxog dnb xQtdxovxa /xotgcbv dcpioxaod^ai exa-
oxov ävejuov; Die Stelle scheint in keinem erhaltenen Werk
des Ptolemaios vorzukommen und ich glaube im Folgenden S. 62
zeigen zu können, daß die ihm hier zugeschriebene Teilung
keineswegs kanonische Geltung für die ganze Schriftstellerei
des Ptolemaios beanspruchen darf. Aber da Olympiodor sonst
zuverlässig ist^), so möchte ich sein Zeugnis nicht anfechten,
obwohl man daran denken könnte, er schreibe hier dem Ptole-
maios eine Äußerung zu, die er etwa in Scholien zur Geogra-
phie gefunden haben mochte. Indes, wir gewinnen auch mit
einem echten Zitat aus Ptolemaios nichts für das Aussehen
der zwölfstrichigen Rose im III. Jahrhundert v. Chr. Es bleibt
die Möglichkeit bestehen, daß das reguläre Dodekagon erst dem
regulären Oktagon nachgebildet ist, und das vielleicht in langem
zeitlichem Abstand.
Für Timosthenes aber ist eben deshalb ernstlich an die
andere Alternative, die Verwendung der Meridianprojektion,
zu denken, welche sich als das von den Geographen der hel-
lenistischen Zeit bevorzugte System erweist. Sie wird über-
wiegend ohne Verwendung der Windnamen gebraucht, d. h.
man bezeichnet Himmelsgegenden auf der Erdkarte durch die
vier Hauptrichtungen ägxzog, ecog oder dvaxoXi], jueofjjußgia,
dvoig (bei Polyb. III 36, 6 : dvaxoXai, övoeig, jueorjjbißQia,
1) Für die Zuverlässigkeit von Olympiodors Zitaten spricht es, daß
der von ihm p. 261,34 erwähnte ixirj/nogiog von Heiberg in der Schrift
jisQi avaXrjfifiaxog p. 190 ss. wiedergefunden ist.
Griechische Windrosen. 63
aQxxog) und die vier Zwischenrichtungen, die man nach den
sommerlichen und winterlichen Sonnenauf- und -Untergängen
benennt; diese werden nicht etwa in die Mitte der Quadranten
gesetzt, sondern haften, wie sich wenigstens in einem Falle
deutlich zeigt, an den Wendekreisen. Eine weitergehende
Horizontteilung gibt es bei keinem der im folgenden ange-
führten Autoren: ein zweifellos höchst unvollkommener Zustand.
Das Belegmaterial, das mir zur Verfügung steht ^), stammt fast
ganz aus Strabon, doch haben wir noch genug andere Zeugen,
um nicht an eine Besonderheit seiner Ausdrucksweise denken
zu müssen. Es stellt sich vielmehr heraus, daß er dieser
Terminologie mit eigentümlicher Unsicherheit gegenübersteht.
In der Angabe des Deimachos über die Ausdehnung Indiens
Strab. 11 p. 76 ryjv "Ivdixrjv juera^v xeiod^ai rfjg rs cf&ivoncctQLvfjg
tor]uegiag xal x6i)v tqoticov tcjv xeifjLSQivwv, die dem Strabon
durch Eratosthenes (= fr. III A 9 S. 178 Berger) samt dessen
Kritik zugekommen ist, sind nicht die Horizontpunkte, sondern
Äquator und Wendekreis des Steinbocks gemeint, wie es auch
Strabon nach Eratosthenes richtig darstellt; aber die Notiz ge-
hört hieher, weil von einer solchen Ausdrucksweise nur ein
Schritt ist zur Anwendung der entsprechenden Terminologie
auf die zugehörigen „Horizont "-Punkte. Eratosthenes selbst
hat ihn gemacht. In seinem Bericht über den Entwurf der
Erdkarte des Eratosthenes sagt Strabon zum Eingang (II 67
= Eratosth. fr. III A 2 S. 170 B.) sehr korrekt: xbv rrjg oU
xovjuevfjg nivaxa yQajLijufji xivi öiaigeT di^a äno övoecog in dva-
Tolrjv naQaXlrjXcoi Tfji lor] fxeQivrji ygajujurji, aber wenige
Zeilen darauf redet das Referat (p. 68) so: ex de 'Ajuioov Jigog
xy^v iof]jueQivf]v ävaxoXr]v (pegojuevcoL xxX., und auch eine
Zwischenrichtung finden wir angegeben an einer Stelle, wo
nicht zu zweifeln ist, daß des Eratosthenes eigener Ausdruck
vorliegt (p. 80): xrjv Meoo7ioxajuim> emoxgecpeiv Jigög ;ije<yue^tviyv
ävaxoXrjv xal xrjv jueorj/ußgiav (= fr. III B 25 S. 256 Berger).
1) Ich sehe nachträglich, daß es größtenteils schon von Müllen-
hoff S. 241 A. 3 zusammengestellt ist. Doch beurteile ich Strabon weit
weniger günstig als Müll enh off. •
k
54 3. Abhandlung: Albert Rehm
4
Bei Hipparch ist nur enl lorj/usQivrjv avaxoXYjv und ngog lorj-
jueQiväg ävaroXdg belegt (Strab. II 71. 86) und Strab.II 87 : „jLiera^v
jU£Of]jußQlag xal rfjg ior} fxsQivfjg ävarolfjg'^ ^ sodaß man zweifeln
kann, ob er die Zwischenrichtungen verwendet hat. Dagegen steht
dies völlig fest für Polybios; dessen Ausdrucksweise III 36. 37,
wo er erstmals einen Überblick über die Gliederung der Erd-
teile gibt, und XXXIV 7, 8—10 B.-W. = Strab. II 107, wo
noch einmal die Ausdehnung Europas und Asiens verglichen
wird, ist erfreulich gleichmäßig, sodaß wir uns hier einmal
von der Treue, mit der Strabon die Terminologie der von ihm
behandelten Autoren bewahrt, überzeugen können. Um so ver-
fehlter ist die Kritik, die Strabon an der Darstellung des Poly-
bios glaubt üben zu müssen. Da mir aus dieser ganzen Partie
deutlicher als aus irgend welchen andern Belegen hervorzu-
gehen scheint, daß man die Horizontteilung der Meridianpro-
jektion genau ebenso zur geographischen Orientierung ver-
wendete, wie wir es mit der Windrose tun, so lohnt es sich
wohl, auf die Stellen einzugehen. III 37, 4 wird gesagt, Asien
liege zwischen dem Nil und dem Tanais, rnnreiv de (ovjußeßrjxe)
Tov jisQiexovrog vnb x6 jueia^v dtdorrjjua d^EQivcbv dvaroXcov xal
jueorjjußgiag, und § 5 : Libyen liegt zwischen dem Nil und den
Säulen des Herakles, xov de neQiexovxog nenxcoxev vno xe xtjv
jueorjjußgiav xal xaxä xb owe^eg vnb xäg ^^ijuegirdg övoeig ecog
xfjg lorjjuegivfjg xaxaq)ogäg, rj ninxei xad-^ 'HgaxXeiovg oxrjXag.
Bei Strabon II 107 : xb juev ydg oxöjua xb xaxd oxrjXag (prjolv
6x1 xaxd xrjv lorjjuegtvrjv övoiv eoxiv, o de Tdvaig gel dnb degivfjg
dvaxoXfjg' eXaxxovxai ör] (xb ^rjxog xfjg EvgcoJirjg) xov ovvd/LKpco
(xi]g xe Aißvtjg xal xfjg "Äoirjg) xcbi juexa^v xfjg d'egivfjg dvaxoXfjg
xal xfjg lorjjuegivfjg' xovxo ydg fj 'Aoia TtgoXajußdvei ngbg xijv
lorj/uegivrjv dvaxoXrjv xov Tigbg xdg ägxxovg fjjuixvxXiov. Man
sieht deutlich, was Polybios meint; er denkt sich als Beob-
achter auf der Linie, die von den Säulen des Herakles ost-
wärts gezogen wird, also auf dem „Diaphragma", auf einem
Punkt etwa in der Mitte des Mittelmeeres (vgl. auch Groskurd
zu Strab. II 107, der sich m. E. viel zu sehr von Strabon
abhängig macht). In unserer Terminologie könnte er dann
Griechische Windrosen.
55
etwa sagen: Asien und Lybien reichen von 66^ bis 270^, der
Bogen von 66^ bis 90^ gehört eben noch zu Asien. Die Aus-
drücke ■&eQLval ävaxoXai, x^ijuegival dvoeig beziehen sich also
nicht auf den Rand der Planisphäre, wo in Polybios' Karte
diese Bezeichnungen vielleicht eingetragen waren, sondern
meinen lediglich Winkel zu je 24*^, die für jeden Horizont an
»die 0-W-Linie angetragen gedacht werden, genau wie wir
einen Winkel zu 45*^ antragen, wenn wir von NO usw. reden ^).
Fig. 7 mag das zu allem Überfluß verdeutlichen.
Fig. 7.
^) So gebraucht er denn auch durch das ganze Werk seine Aus-
drücke für die Zwischenrichtungen ganz wie die für die Hauptrichtungen,
beides verbunden I 42,5.6. 111 47,2. XVI 16,5 dann IV 77, 8. V 22, 3.
Eines freilich können wir nicht entscheiden: ob er bei den Zwischen-
richtungen immer an die ursprüngliche Winkelgröße denkt oder ob sie
ihm nicht unter der Hand zu Halbierenden der Quadranten werden;
denn das war in der Terminologie seiner Zeit längst möglich, wie im
nächsten Abschnitt zu zeigen ist. — Von Winden gebraucht er zur Be-
zeichnung einer Zwischenrichtung den Uy) IX 27. 5. X 10, 1.
I
56 8. Abhandlung: Albert Rehm
y
Verstanden hat Strabon von alledem nichts; schon seine
p. 107 anschließende Polemik über die Laufrichtung des Tanais
trifft nicht, was Polybios sagen will, vollends aber geht p. 108
seine Kritik an der Verwendung der 'deQivr] dvaroX^ zur Be-
stimmung der Ausdehnung der Erdteile ganz in die Irre:
6 de ... . xaivöv (tqÖjiov) eiodyei xo „juera^v rfjg xe 'äeQivfjg
ävaxoXfjg xal xrjg lorjjuegivfjg" xjufjjud xi xov ägxxixov fj [xiKVxXiov.,
Tigög de xd dju^xdjixcoxa ovdelg xavooi xal juexQoig XQrjxai xöig
juexajixcoxoig ovde xoig xax'' aXXriv xal äXXrjv oxeoiv Xeyojuevoig
JiQog xd xad^'' avxd xal {xrjv xcbv xoiovxcov Jigög äXXrjXa) dia-
qpogdv^). xd jLiev ovv /btfjxog djuexdjixcoxov xal xad^^ avxd Xeyexai,
dvaxoXrj d^ ior}jueQiv7] xal dvoig, (hg (5' avxcog '&eQivrj xe xal ^ei-
jUEQivr] ov xa'&^ avxijv, dlXd jigög fjiiäg; denn, geht es weiter,
die Aufgangs- und Untergan gsörter verändern sich ja, wenn
wir den Standort wechseln. Weder denkt Polybios genau an
das dgxxixov fjfxixvxXiov noch sind für ihn die Richtpunkte in
ihrem gegenseitigen Verhältnis — darauf kommt es an —
veränderlich 2). Was man dem Polybios zum Vorwurf machen
kann, ist allein, daß er nicht ausdrücklich angibt, wo er seinen
Standpunkt nimmt. Strabons Kritik aber ist um so weniger
angebracht, als er bei den Referaten über Eratosthenes und
Hipparch deren Terminologie unbeanstandet läßt, ja sogar 11 71
von der Fahrtrichtung Amisos-Kolchis selbst die Wendung em
loYjiJLeQLvriv dvaxoXriv gebraucht, die ihm, wie das Folgende zeigt,
Hipparch geliefert hat (vgl. o. S. 54).
Nach Polybios und Hipparch scheint diese Art der Rich-
tungsangabe allerdings abgekommen zu sein^); denn daß sie für
Poseidonios bezeugt sei, glaube ich nicht. Wir lesen frei-
^) Mit diesem Vorschlag will ich die Lücke nur dem Sinne nach
ausfüllen; vgl. II 117 . . nal rag alXag dia(poQag nai rag oxsoeig röäv xfjg
yfjg fiegcöv TiQog äVajld re >cal xä ovQavta.
2) Die Begriffe /nsidjiTcoiog und d/nsrdjtrcorog entnimmt Strabon aus
der poseidonianischen Polemik gegen den konventionellen Polarkreis des
Polybios (Strab. II 95. 97).
^) Sie lebt erst wieder auf bei dem von MüUenhoff angeführten
Marinos bei Ptol. Geogr. I 15, 3 (weitere Belege s. u. S. 62 A. 1).
Griechische Windrosen. 57
lieh bei Plinius n. h. VI 57 (= Pos. fr. 87 FHG III p. 289 b)
über Indien: „Fosidonius ah aesüvo solis ortu ad hibernum exor-
tum metatus est eam, adversam Galliam statuens, quam ah oc-
cidente aesüvo ad occidentem hihernum metahatur, totam a favonio"
etc. Aber für diese geographische Weisheit darf man sicher-
lich nicht den Poseidonios verantwortlich machen^), auf den viel-
mehr nur die weiter folgenden Angaben über das Klima Indiens
zurückzuführen sind. Aus Strabon I 34 (die Stelle ist oben
S. 19 A. 1 angeführt) ergibt sich vielmehr, daß die Angabe auf
Ephoros zurückgeht. Von Poseidonios wissen wir also nicht,
ob er die fraglichen Ausdrücke als Richtungsbezeichnungen
angewandt hat. V^ohl aber hoffe ich in Abschnitt 6 dartun
zu können, daß auch er die „Meridianprojektion" kennt.
Statt der Marken des Sonnenlaufes hat man nun auch,
und zwar in ganz gleicher Anordnung, die Windnamen ver-
wendet. Strabon im IL Buch p. 116 gibt, nachdem er die Aus-
dehnung der oixovjLievf) kritisch besprochen hat, Andeutungen
darüber, wie groß ein Erdglobus von der Art desjenigen des
Krates beschaffen sein müßte, um den verhältnismäßig kleinen
Ausschnitt, den die otxovjuevrj einnimmt, noch in hinlänglicher
Ausdehnung zu zeigen ; dann heißt es bei ihm : Tcbi de jurj
dvvajuevcoi rrjXiHavrrjv rj jurj noXXwi lavTfjg- evöeeozegav (xara-
oxevdoao^ai ocpaTgav) ev emneöcoi xaraygajiTeov tovXolxiotov ejito.
Jiodcbv. diotoei yotQ juixqov, edv dvrl töjv xvxXcüv tcöv xe JiagaX-
XrjXoyv xal töjv /xeorjjußoivcov, olg rd re xXijuara xal rovg dve-
juovg diaoacpovjuev xal rdg dXXag öiacpOQdg xal xdg o^ioeig rcöv
Tfjg yrjg jUEQÖJV TZQog äXXrjXd re xal Ta ovgdvia, ev'&eiag yQdq?a>-
/uev, rajv jukv JiagaXXijXayv jzagaXXijXovg, xcbv de öq'&cüv Tigog
exeivovg OQd^dg, x'^g öiavoiag gaidicog juexacpegeiv dvvajuevrjg xö
vno xrjg öxpecog ev enmeöcoi i^ecoQovjuevov emcpaveiai ox^f^a xal
fieye^og im xyjv neQKpeqfj xe xal ofpaiQixrjv. dvdXoyov de xai
jiegl xojv Xo^öjv xvxXoyv xal ev&eicbv (pajuev. Hinzuzunehmen
ist noch aus p. 120 der z. T. mit denselben Worten gegebene
1) Müllenhoff S. 241 A. 3. S. 358 A. 2 und Boll, Studien über
Claudius Ptolemaeus S. 211, suchen die Stelle für Poseidonios zu retten,
während Berger S. 575 einen Irrtum annimmt.
L
58 3. Abhandlung: Albert Rehm
Hinweis auf den Hauptmeridian und Hauptparallel als die
oTOixda der Konstruktion der oiKovjuevr]; dann ist hier so gut
wie alles erklärbar^). Strabon gibt das Projektionsprinzip an,
welches nach allgemeiner, wenn schon nicht völlig sicherer
Annahme der eratosthenischen Karte zugrunde lag (vgl. Berger,
Die geogr. Fragmente des Eratosthenes S. 118 A. 1. S. 198 ff.).
Die 7iaQdXXr]XoL kol jLieorjjLtßQivoi, olg rd re xXijuaia dtaoacpqvjuev
y.al rag äXXag diacpogag xal rag o^soeig twv rfjg yfjg juegcbv
jiQÖg äXXrjXa, sind die sieben Parallelen und die Meridiane, die
das Netz für die eratosthenische Karte der oixovjuevr] liefern
(darüber ausführlich Berger a. a. 0. S. 187 ff.); aber Strabons
Karte soll ja eine Darstellung der ganzen Erde, dem Globus
entsprechend, sein ; darum sind auch die Parallelen einzutragen,
die das Verhältnis der Erde Jtgdg rd ovQavia betreffen, Äqua-
tor, Wendekreise, arktische Kreise (oder Polarkreise?), die alle
Eratosthenes nicht als solche berücksichtigt hatte. Und was
sollen hier die Winde? Ich kann mir bei ihrer Erwähnung
nichts anderes vorstellen, als daß sie eben mit den letztge-
nannten Parallelkreisen und mit dem Meridian, den man durch
die Mitte der ganzen abgerollten Kugeloberfläche zu legen hat,
zusammengehören. Nun ist klar, daß sie an den Rändern einer
viereckigen Erdkarte aus allem Verhältnis geraten. Man muß
sich, meine ich, als Vorstufe des Bildes, das Strabon entwirft,
eine Darstellung der einen, die Oikumene enthaltenden Hemi-
sphäre denken wie Fig. 7 und 8 oder die oben S. 38 A. 1 be-
sprochenen und abgebildeten Himmelshemisphären. Hier waren
dann am Rande da, wo die Parallelkreise und der mittlere
Meridian den äußeren berührten, die Namen der Winde ein-
getragen. Das ist die Erdkarte, die ich schon für das zweite
aristotelische Windsjstem angenommen habe; bei dieser Wind-
rose ist von Gleichheit der Abstände natürlich keine R«de, weil
^) Mit dem Pluralis Xo^ol xvxloi ist wohl der als breiter Streifen
durch zwei oder drei Kreise bezeichnete Zodiakus gemeint, der nach
Ptol. Geogr. VII 6, 3. 14 auf derartigen Erd- (und Himmels-) karten an-
gegeben wurde. Begriffe der modernen Kartographie, wie sie in Mercators
Projektion eine Rolle spielen (geradlinige Wiedergabe der loxodroraischen
Linien), hat man ja fern zu halten.
Griechische Windrosen. 59
der Quadrant in der eratosthenischen Proportion 4:5:6 (s. o.
S. 38 A. 1) geteilt zu denken ist.
Die aus Strabon nur erschlossene Verbindung der Meridian-
projektion mit der Windrose in hellenistischer Zeit, eine Ver-
bindung, bei der man unter '^egcvi] ävaxoh) usw. nicht mehr
wie in der ionischen Frühzeit an die Morgen- und Abendweiten
zu denken hat, ist uns mehrfach auch direkt überliefert; wenn
die Zeugnisse auch aus späteren Epochen stammen als die bis-
her hier behandelten Autoren, so besteht doch kein Bedenken,
sie zur Bestätigung unserer Schlüsse zu verwenden. Originell
sind ja unsere jüngeren Gewährsmänner noch weniger als
Strabon. Nur in einem Punkte gehen unsere beiden Haupt-
zeugen über das hinaus, was wir bei den Geographen bis zu
Strabon in dem bisherigen Überblick gefunden haben : sie ver-
wenden außer den Wendekreisen auch die beiden arktischen
Kreise; da aber eine Spur davon schon bei Aristoteles festzu-
stellen war, so handelt es sich nicht um eine Neuerung, son-
dern um parallel laufende Entwicklungen. Seneka, den einen
Hauptzeugen, hat schon Berger (Gesch. d. wiss. Erdk. S. 430)
herangeholt und ganz im gleichen Sinne wie ich verwertet;
da indessen Bergers Argumentation wegen ihrer Knapp-
heit und einer gewissen Unklarheit^) von den Späteren nicht
^) Berg er geht zu weit, wenn er Favorin bei Gellius II 22 sowie
Plinius n. h. II 119 ss. als Zeugen anführt; erst auf weitem Umwege ist
zu erschließen, daß sie — dann aber auch alle Späteren — in der Vor-
stellung von der Meridianprojektion befangen waren. Auch den Olym-
piodor, der hier nur Aristoteles paraphrasiert, hätte Berger nicht nennen
dürfen. Dies beiseite gelassen, lautet sein Bericht: „Bei Seneka finden
wir die Übertragung auch des arktischen und antarktischen Kreises auf
die Windscheibe ausgeführt; das kann aber nur geschehen sein, indem
man vom Horizonte ganz absah und sich dafür der Vorstellung einer
ebenen Projektion der durchsichtigen Sphäre in der Stellung, die jener
Horizont gefordert hatte, überließ." Mit dem Relativsatz will er wohl
sagen, daß der arktische Kreis derjenige der jeweils vom Zeichner voraus-
gesetzten Breite ist. Etwas deutlicher ist der Ausdruck, den er an spä-
terer Stelle wählt, wenn er (S. 432) von dem „Umschlag der Vorstellung
vom Horizonte zur projizierten Halbkugel" redet; das kommt dem Aus-
druck nahe, der sich mir oben S. 44 ungesucht ergeben hat.
L
60 3. Abhandlung: Albert Rehm
beachtet worden ist, scheint es mir nicht überflüssig, auch
noch diese Stellen zu besprechen. Der ältere der beiden Haupt-
zeugen ist Seneca. Er hat n. qu. V 16, 3 ss. mit Berufung
auf Varro (vgl. Kaibel, Hermes 20 S. 595 f.) das Zwölfwinde-
system aus dem der vier Kardinalwinde in der Weise ent-
wickelt, daß er jedem Hauptwinde zwei „subpraefecti" gegeben
hat. In c. 17 setzt er ganz von frischem ein, ohne ein Wort
über den Unterschied dessen, was er jetzt bringt, und des vor-
her entwickelten Prinzips zu verlieren, und schreibt: „Qui duo-
decim ventos esse dixerunt, hoc secuti sunt, totidem ventorum esse
quot caeli discrimina. caelum autem dividitur in circulos quinque,
qui per mundi cardines eunt." Es folgt die Aufzählung der
fünf parallelen Kreise, dann: „Ms sextus accedit, qui superiorem
partem mundi ah inferiore secernit"^ — der Horizontkreis; „adi-
ciendus est adhuc meridianus circulus, qui horizonta rectis angulis
secat. ex Ms quidam circuli in transversa currunt et alios inter-
ventu suo scindunt. necesse est autem tot aeris discrimina esse
quot Qiorizontis ? caeli ?) partes : ergo SglCcov sive flniens circulus
quinque illos orhes, quos modo dixi, scindit ^) et efficit decem par-
tes, quinque ah ortu, quinque ah occasu ; meridianus circulus,
qui in horisonta incurrit, regiones duas adicit: sie duodecim aer
discrimina accipit et totidem facit ventos." Alles ist hier in
Ordnung, sobald man an Stelle des Horizontes den Kreis setzt,
der durch die Pole und den Ost- und Westpunkt geht. Hiefür
sei an die oben S. 44 angeführten Stellen aus Macrobius er-
innert; bemerkenswerter Weise vermeidet hier Seneca sogar
die Ausdrücke oriens und occidens solstitialis (wie er vorher statt
aestivus zu sagen beliebt) und Mhernus (wofür er eigentlich
hrumalis sagen sollte).
In abschließender Klarheit endlich liegt dieses System in
Ptolemaios' Geographie vor uns. Im VII. Buch c. 6 gibt dieser
Anweisung zur Herstellung einer Zeichnung, welche eine
*) So die Überlieferung in STZ^. Für den Sinn macht es nichts
aus, ob man dies annimmt oder mit Benützung der Überlieferung in ö
fieri secat den Text anders gestaltet {findi secaf?).
Griechische Windrosen. 61
xQLTicoxr] o(pdiQa jueTo. rfjg olxovjbievrjg darstellen soll^). Natür-
lich hat das Bild, das da auf der Tafel entstehen soll, zum
Urbild Globen, wie man sie tatsächlich im Gebrauch hatte;
dabei ist das Eigentümliche, daß alle Kreise, die der Himmels-
sphäre angehören und die uns denn auch auf den oben S. 38
A. 1 besprochenen Planisphären begegnen, nicht auf dem Globus
aufgetragen werden, so gut sich alle mit Ausnahme der Ekliptik
auf die Erdkugel projizieren lassen^), sondern daß sie als Ringe
um den Globus herumgelegt sind; also eine Erdkugel, in der
durch die xqixoi dargestellten Himmelskugel steckend^). Der
Autor läßt es sich (ähnlich wie in der Anleitung zur Herstel-
lung eines Himmelsglobus Synt. VIII 3) nicht verdrießen, auch
über die Farbengebung zu sprechen (c. 6, 14) und zwar für den
Globus selbst und für die Ringe; dann fährt er fort (§ 15):
ITaQayQayjojuev de xal im tovxcov (rmv xglxov) ev xoXg eni-
xaiQOig TOJioig rag övojuaoiag xal eri im juev rcbv iv xfji yfji
KvxXcov Tovg vTzodsöeiyjLievovg iv Tfji xaxayQaqpfji rfjg oixovjuevijg
(c. 5, 14—16) dgi'&juovg anoicbv re xal cogcov, tieqI de lov
e^co xvxXov rag icov ävejucov JiQoorjyoqiag, axoXovd'Cog
raXg inl Trjg xQixooxfjg ocpaigag nagä xovg ixxeijuevovg
Jievie TiaQaXXrjXovg xal xovg noXovg diaorjjuaoiaig. Auf
diese beigesetzten Windnamen wird dann auch noch c. 7, 4
Bezug genommen : Aiaxe&eixai de xal x6 iyvcoo/xevov xfjg yrjg
^) Ich lasse dahingestellt, inwieweit in der ganzen Partie Ptolemaios
selbst zu uns redet; zu den Bedenken gegen c. 5, 1 und c. 7, die Berger.
Gesch. d. wiss. Erdk. S. 638 A. 1 geltend macht, kommt hinzu, daß die
Anleitung zu dieser Globusprojektion besser in das I. Buch (vgl. c. 22. 23)
einzureihen wäre, sodann, daß die ganze Zeichnung doch nur ein Spiel
und Kunststück ist. Andrerseits schließt Buch VIII gut an das Ende
von VII an. Hienach ist das Wahrscheinlichste, daß der Abschnitt,
Wenn auch zur Weitergabe fremden Gutes, von Ptolemaios selbst einge-
fügt ist. Gut antik ist er jedenfalls, und darauf allein kommt es hier an.
2) Sie fehlen auch in dein Globusentwurf, den Ptolemaios 1 22. 23 gibt.
^) Der besondere, wiederholt stark betonte ,Witz'' bei der vorge-
schlagenen Zeichnung ist, daß der Augenpunkt und die Stellung des Tier-
kreises so gewählt ist, daß keiner der hqIxoi ein Stück der Oikumene
verdeckt ; doch das geht uns hier nicht an.
I
62 3. Abhandlung: Albert Rehm
juegog, cbg Tiegiggeoviog tov "Qxeavov jiir]daju6&€v, äkXä jnovoig
naQaxeijuh'OV toTg ngdg Idnvya xal ^Qaoxiav yeyQajiijusvoig nEQaoi
Tfjg re Aißvrjg xal T^g EvQCOJirjg dxokovi^cog raig xcjv naXaiOTE-
Qcjv loTOQiaig'^). Der e^o) xvxXog ist der Meridiankreis; um ihn
herum sind also die Windnamen an den Schnittpunkten mit
den fünf parallelen Kreisen und an den Polen einzutragen.
1) Welche hs. Gewähr die Windnamen haben, die der Zeichnung
beigeschrieben sind, die sich bei Nobbe S. 188 der Tauchnitzausgabe
finden, vermag ich im Augenblick nicht zu beurteilen. Gegen die Zu-
verlässigkeit dieser Beischriften spricht es, daß dort statt des bei Ptole-
niaios stets genannten laTiv^ (vgl. auch o. S. 48 A. 2) der ägysoi^jg steht.
Im Texte der Geographie kommt außer idjiv^ und dgaoxiag sowie ßoqeag
und voTog noch dq^rjXKozrjg (I 13, 4 aus Marinos) und aq^rjXicozixcoxsQog
(I 11,1. II 1,5) vor, dnaQXTiai (1 9, 1 (aus Diogenes -Marinos). I 4,2),
Xiy) III 8, 2, hßövoTog I 15, 5 (aus Marinos) [IV 5, 23 in Nobbes Index ist
falsches Zitat], endlich svgog I 13, 5 und 8, gleichbedeutend mit dem
vorher nach Marinos gebrauchten x^'-f^^Q'-^^'- dvaroXat; {>eQival und ;ife<-
(xsQivai dvaxoXai gebraucht Ptolemaios selbst II 6, 12. 13, nach Marinos
noch I 13, 5. 15, 3, lorj/neQivt] ävaxoXrj nach Marinos I 13, 7. — In der Syn-
taxis ist überraschender Weise kitp == Westen, also Gegenwind des
äntjhcbxrjg (VIII 4 p. 189—193 Heib. passim; auch schon, worauf mich
Boll hinweist, VII 4 p. 74,12 djio vöxov xal hßog = südwestlich). Eine
sicherlich ungehörige Zutat in den Hss. sind die Windnamen auf der
Tafel, die Ptolemaios Synt. VI 11 p. 538 gibt; das ergibt sich schon aus
dem begleitenden Text. In der Tetrabiblos gibt es vier Hauptrichtungen
mit den Namen ßoQgäg, dqotjhcoxrjg, vöxog und Xixp und vier Zwischen-
richtungen mit Namen ßoQQa(pi]hc6xr]g, voxacprjXioixrjg , Xißovoxog; für die
vierte meidet Ptolemaios ein eigenes Substantiv; sie heißt ßoggäg xal Xiip,
wogegen adjektivisch ßoQQoXißixog gebildet wird (Tetrabibl. I Kap. jieqI
xQiyoivcov, II Kap. 2, p. 39 s. und 58 s. der Ausg. Basel 1553). Ähnlich
Vettius Valens bes. p. 145 Kr. (von Boll, N. Jbb. 31 (1913) S. 141 nicht
ganz richtig interpretiert) und Firmicus II 12 Kr. Dagegen redet Geminos
in dem astrologischen Abschnitt p. 22, 8 M. von l^ecpvQixog. Aixp statt
CecpvQog ist spezifisch ägyptisch (Boeckh, Abh. Akad. Berlin 1820/21,
phil.-hist: Kl. S. 4. 30. Hase im Thesaurus s. v. Xiyj. Deißmann, Bibel-
studien S. 139). Zu den länger bekannten Belegen kommen solche aus
den Zauberpapyri, so aus dem Leydener bei Dieterich, Abraxas S. 178, 16.
197_199 (mehrfach); desgleichen in dem Pariser Zauberpapyrus (Wessely,
Denkschr. Akad. Wien 1888; Stellen im Index). Der ßogoXiyjisol), der bei
den Astrologen fehlt, kommt bei den Zauberern hinzu (Wessely S. 85
1. 1646); vorajirjXidoxTjg ebenda 1. 1647.
Griechische Windrosen. 63
Ausdrücklich wird uns noch gesagt, daß genau das Nämliche
(nur daß natürlich die Namen auf den Meridiankreis selbst
gesetzt zu denken sind) für die plastisch ausgeführte XQixcoTr]
oqpaiQa anzunehmen ist. Auch wird die ganze Sache als so
selbstverständlich behandelt, daß man weiter annehmen muß,
die Anbringung der Windnamen in dieser Art sei etwas ganz
Übliches gewesen.
Es gibt noch einen dritten Zeugen für diese Kombination
der Meridianprojektion mit den Winden in späterer Zeit: Galen
bei Oreibasios IX 7. Da er aber den arktischen Kreis wiederum
beiseite läßt, brauche ich hier nicht näher auf ihn einzugehen,
zumal aus quellenkritischen Gründen eine eingehende Behand-
lung im 6. Abschnitt erfolgen muß.
Und nun kehren wir zurück zu Timostheues ! In welchem
Zusammenhang und zu welchem Zwecke er die Windrose be-
handelt hat, wird ganz klar aus Agathemeros: er spricht als
Geograph. Unmittelbar nach Aufzählung der Winde, die
Timosthenes angeblich zur achtstrichigen Rose hinzugefügt hat,
fährt Agathemeros fort : ^'Ed'vrj de oixeTv ((prjoi) rä negara xar''
ä7if]Xid)T7]v BaxTQiavovg, xax^ evgov 'Ivdovg xxX.^) Da haben wir
also die Winde am ßande einer Karte verzeichnet, wie bei
Ephoros und bei den eben durchgesprochenen Geographen ;
man denkt am liebsten an eine Karte nur der Oikumene, auf
die dann das Schema als etwas schon fest Gewordenes me-
chanisch übertragen ist. Ausgeschlossen ist aber nicht, daß
Timosthenes die ganze Halbkugel gezeichnet hat, wie wir es
für den Vorgänger Strabons (o. S. 58) erschlossen haben, und
es dann dem Benutzer überließ, durch gedachte Parallelen die
1) Es wird die Probe an der Kartenskizze Fig. 8 erleichtern, wenn
ich die Liste hier im vollen Umfang beifüge: Apeliotes — Baktrer;
Euros — Inder ; P h o i n i x — Rotes Meer und (östliches) Äthiopien ; N o t o s
— Äthiopien oberhalb Ägyptens; Leukonotos — Garamanten oberhalb
der Syrten; Lips — westliches Äthiopien oberhalb Mauretaniens; Ze-
phyros — Säulen des Herakles, Anfang Libyens und Europas; Ar-
gestes — Iberien; Thraskias — Kelten und deren Nachbarn; Apark-
^ias — Skythen oberhalb Thrakiens; Bor ras — Pontos, Maiotis, Sar-
matien; Kaikias — Kaspisches Meer und Saker.
I
64
3. Abhandlung: Albert Rehm
Richtungen auf die Oikumene, etwa mit dem Zentrum Rhodos^),
zu übertragen. Ich veranschauliche die Sache durch eine Skizze
Fig. 8 analog Fig. 7. Da zwischen Ephoros und Timosthenes,
wie schon oben bemerkt, nicht allein Aristoteles, sondern auch
Dikaiarch steht, so ist bei Timosthenes völlige Klarheit in
diesen Fragen gewiß vorauszusetzen.
Fior. 8.
Das Ergebnis für Timosthenes ist — um die lange Aus-
einandersetzung abzuschließen — , daß man nicht bestimmt
entscheiden kann, ob ihm das aristotelische oder das Schema
der Meridianprojektion zuzuschreiben ist, wogegen er aller
Wahrscheinlichkeit nach mit der bewußten Durchführung der
Zwölfteilung nichts zu tun hat.
1) Berger hat, Gesch. d. wiss. Erdk. S. 431, den Einfluß Dikaiarchs
auf Timosthenes wahrscheinlich zu machen gesucht. In diesem Fall
wird man bei Timosthenes als Mittelpunkt für den Entwurf einer Karte
der Oikumene am liebsten Rhodos annehmen. Die Angaben über die
Randvölker lassen sich damit so gut vereinbaren wie mit dem von
Berg er empfohlenen Alexandreia.
Grriechische Windrosen. 65
Zusatz. Die vorstehende Erörterung über Timosthenes
ist die unveränderte Wiedergabe der Untersuchung, die ich
am 6. Mai vorgetragen habe. Seitdem bin ich auf ein Denk-
mal gestoßen, das die Entscheidung darüber bringt, welches
System Timosthenes zu gründe gelegt hat. Durch die Be-
merkung von Peter in den Atti delF accad. Rom. I 2 (1823)
S. 41 f. über das „anemoscopo del Boscovich" war ich vor län-
gerer Zeit veranlaßt worden, nach Cellarius' Geographia antiqua
(Rom 1774) zu suchen, die mir aber nicht sogleich zugänglich
war. Auf dem Weg über diese Ausgabe kam ich dann zu der
viel zuverlässigeren ersten Veröffentlichung des „Anemoscopo"
in P. M. Paciaudis Monumenta Peloponnesia I (Rom 1761)
S. 115 ff. Nach der dort S. 117 gegebenen Abbildung, die nur
leider in dem Exemplar der K. Hof- und Staatsbibliothek im
Abdruck nicht ganz sauber herausgekommen ist, gebe ich als
Fig. 9 das, wie es scheint, verschollene kleine Denkmal, das
für uns wie ein neuer Fund ist (ins CIL VI ist es, wie mir
Hülsen auf Anfrage freundlich bestätigt, nicht aufgenommen).
Als ein Unikum, das es heute noch ist, würde es verdienen,
der Vergessenheit entrissen zu werden, auch wenn es nicht im
Augenblick als Schlußstein eines Kombinationenaufbaues „wie
gerufen" käme.
Gefunden ist die marmorne Scheibe nach den Angaben
ihres damaligen Besitzers und ersten Bearbeiters' Paciaudi im
Jahre 1759 „in agro Romano extra portam Capenam secus viam
Appiam^' beim Umgraben eines Weinbergs; Franciscus Alfanus
(der mir nicht weiter bekannt ist) hat sie dem Paciaudi ge-
schenkt. Dieser rühmt mit nicht unberechtigtem Entdecker-
stolz den Fund als höchst merkwürdig und wichtig; er hat
für eine offenbar sehr gute Abbildung Sorge getragen (der
Kupferstecher hat augenscheinlich den Schriftcharakter der
Inschriften gut gewahrt), sodann stammt von ihm die Re-
konstruktion des ganzen Apparates, die immerhin das Wesent-
liche trifft (vgl. die Bemerkungen am Schlüsse dieses Abschnittes),
endlich hat er einen sehr verständigen archäologischen Kom-
mentar beigesteuert und den gelehrten Astronomen Boscovich
Sitzgsb. d. philos.-philol. u. d. bist. KI. Jahrg. 1916, 3. Abb. 6
e^
3. Abhandlung: Albert Rehm
S. J. zu einem brieflichen Gutachten veranlaßt, das er im An-
schluß an seine eigenen Bemerkungen abdruckt; dieses allein
hat in der Ausgabe des Cellarius Aufnahme gefunden, ob-
wohl es die Sache weniger fördert als Paciaudis Beitrag.
Da übrigens keiner der beiden Gelehrten das Unlogische der
angewandten Projektionsart hervorhebt und keiner den Zu-
I5J
Kl'
CO
Griechisclie Windrosen. 67
sammenhang mit Timosthenes' Windrose erkennt^), ist es
überflüssig, sich mit ihren Hypothesen näher auseinander-
zusetzen.
Wertvoll sind ihre Versuche, sich das Fundstück zu er-
klären, für uns eigentlich nur insofern, als sie einen indirekten
Beweis der Echtheit des Stückes liefern. Doch ich denke, über
diesen Punkt dürfen wir ohnedies unbesorgt sein. Ein Fälscher
hätte die Windnamen aus Plinius oder gar aus Agathemeros,
das System aber aus Seneca entnehmen und dabei, worauf
Boscovich nicht gekommen ist, dessen septemtrionaUs als den
(circulus) totus supra terram verstehen müssen statt als den
modernen Polarkreis! Gegen eine Fälschung sprechen auch die
gut antike Schriftform mit ihrem der Kursive nahen Duktus und
die vulgäre Sprachform (zweimal terra statt terram, dazu augen-
scheinliche Verwahrlosung einiger Windnamen). Echt römisch
ist ferner die Orientierung der Schrift auf der Oberfläche in
der Weise, daß der Beschauer nach Süden zu blicken hat, um
die Schrift aufrecht vor sich zu sehen ^). Endlich muten die
Beschädigungen echt antik an.
Der Fund besteht in einer runden Marmorplatte von 2^/2
palmi Romani = 0,655 m im Durchmesser und 8^/4 uncie =
0,095 m Dicke. Die Platte ist in der Mitte quer durchge-
brochen, vielleicht gesprengt durch den Rost des Eisendübels,
der in ein rundes, oben weiteres, nach unten sich ver-
engendes Loch, das durch die ganze Dicke der Platte ging,
eingelassen war. Sonst ist der Erhaltungszustand offenbar gut,
nur ist die obere Kante ringsum bestoßen und an einer Stelle,
zwischen Caecias und Boreas, ein Stück des Randes abge-
1) Den Agathemeros nennt Paciaudi zwar S. 12t, eingesehen hat
er ihn aber oflenbar nicht, wiewohl seine Schrift in Jac. Gronovius'
^^Geographica antiqua längst gut zugänglich war.
I^h 2j Vgl. Nissen, Orientation III S. 265 (Varro LL VII 6. Festus
^^B. 339. 220 u. a. m.). Auch die Aufschrift des M. Antistius Euporus auf
^^Hder Sonnenuhr mit Windscheibe aus Aquileia setzt die nämliche Stel-
^^^ lung des Beschauers voraus (Gregorutti, Bull, dell' inst. 1879 S. 28,
! Kaibel S. 624. Mitt. d. K. K. Zentralkommission, Wien 1880 S. 7 Abb. 7,
hienach hier S. 68 Fig.lO), desgleichen endlich das ioi]^is[qiv]J] o.Fig.öS. 51.
5*
I
3. Abhandlung: Albert Rehm
M--^
Dec
Fig. 10.
splittert. In die horizontale Oberfläche sind sechs Durchmesser
eingegraben, an deren beiden Enden hart am Rande der Platte
je eine runde Einarbeitung angebracht ist. Zu dem als aequi-
noctialis (seil, circulus) bezeichneten Durchmesser sind südlich
und nördlich je zwei Parallelen gezogen, durch Beischriften als
totus infra terra(m), brumalis, sol(s)titialiSj totus supra terra(m) ^)
gekennzeichnet. Zwischen den beiden letzten steht die Inschrift
des Verfertigers: Eutropius feci. Rings um den senkrechten
1) Zum Ausdruck vergleicht Paciaudi gut Gem.
(p. 44, 6. 46, 10 M.) okog vjisq (vjtoj y^v oJioXa/xßavö/zevog.
. Y 2. 9
Griechische Windrosen. 69
Rand sind senkrechte Striche so eingegraben, daß immer in
der Mitte zwischen zweien ein Durchmesser endet. In diesen
abgeteilten Flächen steht je ein Windname: aparcias, trascuas =
trasc(i)as, irgastes foder ergastes?) = arg(e)stes, zephyrus, Ubs,
libonotus, notus, phoenix, eurus, apheli(otes), cae[cias], [horjeas.
Das sind die Windnamen der Rose des Timosthenes;
auch im Referat des Agathemeros steht (poivi^ an erster Stelle,
und Plinius hat diesen Namen im zwölfstrichigen System als
einzigen, während er seine Identität mit dem eugovorog ver-
kannt hat. Auf der Oberfläche aber ist, wie man sieht, und
wie zum Überfluß die Inschriften erklären, die im voraus-
gehenden von mir eingehend erörterte „Meridianprojektion"
eingetragen. (Dabei ist die Schiefe der Ekliptik mit etwa 21^
zu gering angenommen, die Polhöhe mit 48^ viel zu groß für
Rom. Das ist, wie mir Wolters zweifellos richtig bemerkt,
sehr einfach daraus zu erklären, daß der Yerfertiger zur Grund-
lage seiner Konstruktion höchst mechanisch die Teilung des
Meridians in sechs gleiche Teile gemacht hat). Ich zweifle nicht,
daß damit die Frage der Horizontteilung bei Timosthenes ent-
schieden ist und zwar im Sinne der zweiten Alternative (s. o. S. 64).
Noch ein Wort über die Verwendung der Windscheibe !
Selbstverständlich hat man sie sich auf einem Untergestell von
Tisch- bis höchstens Augenhöhe angebracht zu denken. Bei
der Größe des Loches in der Mitte ist es wahrscheinlich, daß
dort auf einer Stange eine Windfahne, etwa ein Triton wie
auf dem athenischen und dem römischen Windeturm, eingefügt
war; so ist ja nach Angabe von Lais auch der o. S. 50 er-
wähnte Windpfeiler in Rom ausgestattet zu denken ; die kleinen
Löcher am Rande können einfache Stäbchen getragen haben,
schwerlich solche kugelförmige Knöpfe, wie sie auf der alten
Abbildung ergänzt sind. Ihr Zweck ist nach dem oben (S. 16)
über die ionische Skaphe Gesagten nicht zweifelhaft: sie ermög-
lichten es, durch Visieren sich in der Umgebung zu orientieren.
Die weitere Geschichte der Windnamen im Zwölfwinde-
systom zu verfolgen, ist nicht meine Absicht. Das einzige in-
I
70 3. Abhandlung : Albert Rehm
teressante Dokument, das hier in Frage kommt, das pseudo-
aristotelische Fragment ävejucov '&eoeig xal nqooriyoQiai, behandle
ich im Anhang ; daneben werden einige Einzelpunkte im 6. Ab-
schnitt berührt werden^).
5. Das hellenistische Achtwindesystem.
Seit Kai bei galt es als ausgemacht, daß die letzte Ent-
wicklungsphase der griechischen Windrosen mit dem Namen
Eratosthenes zu verbinden sei, der im pseudogalenischen Kom-
mentar zu Hipp, negl xvijlojv vol. XVI p.403K. als Gewährsmann
für das neue Achtwindesystem erscheint^). Die Kombination schien
auch der zu starker Selbständigkeit und außerdem zu mathe-
matischen Verfahrungsweisen neigenden Art des Eratosthenes
ausgezeichnet zu entsprechen, und man konnte eine Stütze da-
für in der Notiz bei Achilleus Isag. p. 68, 25 M. finden:
InQay fjLaTevoaxo de jzsqI ävsjucov Tiol ^Egaroo'&evrjg. Jetzt haben
wir zu gestehen, daß wir nicht wissen, was Eratosthenes über
die Winde geschrieben hat, ja man wird nach seinem engen,
zum Vorwurf des Plagiates führenden Abhängigkeitsverhältnis
zu Timosthenes (Marcian. Epit. peripl. Menipp. GGM I p. 566)
ihn eher unter die Vertreter des Zwölfwindesystems einreihen
als unter die des Achtersystems ^). Denn das Zeugnis bei
^) Das sonstige Material (Ps.-Agathemeros GGM II p. 503, Dionysios
von Utika Geop. I 11 B.) stellt Gilbert S. 554 zusammen; dazu kommen
Adamantios und die Windtafel des Nikephoros Blemmydes bei Rose,
Anecd. I p. 35 und Tafel.
2) Auf dieses Windkapitel war Kaibel durch V.Raum er (S. 504. 517)
aufmerksam geworden; Rose hat Anecd. Gr. I (S. 23 f.) einen wichtigen,
von Kaibel übersehenen Beitrag zur Analyse geliefert. Müllen hoff,
der gleichfalls später nicht mehr berücksichtigt worden ist, hatte schon
1870, Deutsche Altert.-K. 1 S. 244 A. 1, erklärt, daß in dem Kommentar
„vielleicht die ganze Anweisung des Eratosthenes, eine Windrose zu
entwerfen, wiederholt" sei.
^) Aus den spärlichen Orientierungsangaben, die von ihm erhalten
sind, wage ich nichts zu folgern (s. o. S. 53). Entschieden wäre die
Frage, wenn in Arrians Anab. V 6, 3 die Nennung des Idjiv^ auf Erato-
sthenes zurückginge (Berger, Geogr. Fragm. d. Er. III B 9 S. 227). Aber
das ist ohne alle Gewähr.
Griechische Windrosen. 71
Ps.-Galen scheidet schlechterdings aus. Der Nachweis, daß
die Beschreibung des Systems bei Ps.-Galen aus Vitruv über-
setzt und der Name des Eratosthenes vom Fälscher aus der
wiederholten, nur leider mit dem System selbst in keinerlei
Zusammenhang stehenden Erwähnung des Eratosthenes bei
Vitr. I 6, 9. 11 hinzukombiniert ist, wird sich im nächsten Ab-
schnitt aus Kalbfleischs Zusammenstellungen ebenso zwin-
gend für andere wie für mich ergeben.
Mit dem Ausscheiden des Zeugnisses des Ps.-Galen wird
das hellenistische Achtersystem wieder anonym; leider wird
zugleich die Zeit seiner Entstehung ganz unsicher ; wir können
nur sagen, daß Hipparch es höchst wahrscheinlich angewendet^),
Andronikos Kyrrhestes in seinem Windeturm es sicher darge-
stellt hat. Aber nichts hindert, anzunehmen, daß es lange vor
diesen Zeugen aufgestellt worden ist. Auch auf naturwissen-
schaftlichem Gebiet haben wir ja die Trümmerhaftigkeit der
Überlieferung aus dem III. Jahrhundert ebenso schmerzlich zu
beklagen wie auf dem der übrigen Literatur und der politischen
Geschichte.
Die Leistung eines selbständigen Denkers und zugleich
eine glückliche Synthese von energischem Fortschrittstreben und
erhaltendem historischem Sinne ist das neue Achtwindesystem
auf alle Fälle, einerlei, wo, wann und von wem es geschaffen
ist. Sein Urheber hat offenbar die Sinnwidrigkeit der üblichen
Horizontteilung stark empfunden (vgl. o. S. 50)^) und deshalb den
^) und zwar in seinem Kalender (in Ptolemaios' Phaseis). Dort
kommen unter seinen Episemasien nur Namen vor, die in das Achter-
system gehören: für 0, S, W nennt er je nur einen Wind {djirjXicozrjs,
voTog, ^ecpvQog), von den nördlichen aber drei, agysoxr^g (30. I. 14. IIL),
djiaQXTcag (21. IV., 17. V., jedesmal als Gegensatz zu vozog), ßogeag; daß
ihm ßoQsag = NO ist, verrät die Bemerkung zum 14. VII. ßogiai agxov-
rat {jivsTv) neben izrjoiat ägxovtai jiveTv zum 18. VII. Die ßogeat sind die
jigödgofxoi der Etesien.
2) Die moderne Forschung kann eigentlich erst jetzt, nach der Wieder-
auffindung der Windscheibe des Tiraosthenes, den Fortschritt voll wür-
digen. Doch sei ausdrücklich hervorgehoben, daß Steinmetz S. 42— 45
zuerst das Wesen der Neuerung gut und klar gewürdigt hat, während
Berger S. 432 es zu verkennen scheint.
72
3. Abhandlung: Albert Rehm
radikalsten Ausweg eingeschlagen: die Verbindung der Horizont-
teilung mit den Sonnenphänomenen ganz zu lösen und an ihre
Stelle eine rein geometrische, einfache, die Regionen der Winde
bestimmt und gleichförmig begrenzende Teilung zu setzen, die
für jeden Ort richtig und für jedermann anwendbar war.
ArAPKT/Ac
y:o±oU
Fig. 11.
über den Tatbestand gibt es diesmal keine Zweifel : die Wind-
tafel ist ein reguläres Achteck oder ein in acht gleiche Teile
zerlegter Kreis, wie ihn Fig. 11 zeigt. Hauptrichtung jedes
Windes und zugehöriger Bogen verhalten sich wie bei Timo-
sthenes. Diesen Sachverhalt zeigen uns übereinstimmend der
Turm der Winde, die Windscheibe von Aquileia (s. o. Fig. 10)^),
die Beschreibung Vitruvs I 6,7. 13, wo von ventorum regiones
und den unter sich gleichen ventorum spatia die Rede ist.
Aber auch das Holzgestell (achtspeichiges Rad), das Plin. n. h.
^) Die Namen sind dort im Sinne des Uhrzeigers verschoben; na-
türlich sollte auster = vorog, septentrio = änagxxiag sein usw.
Griechische Windrosen. 73
XVIII 332 zu Hilfe zu nehmen empfiehlt, beruht auf ganz
dem gleichen Prinzip, obwohl er nicht die Abgrenzung der
Bogen sondern, als für den praktischen Zweck ausreichend,
nur die acht Hauptrichtungen anmerken läßt.
Minder klar ist allerdings die Terminologie der antiken Be-
schreibungen, indem wir mit Verwunderung die Hauptpunkte
der Zwischenwinde doch in der alten Weise als Solstizialpunkte
bezeichnet finden, und das nicht allein bei denjenigen Zeugen,
die das Achtwindesystem dem der zwölf Winde in der Darstellung
vorausschicken (Plin. n. h. II 119, Favorin bei Gellius II 22,
Agathemeros GGM II p. 472), wo man allenfalls von An-
bequemung an die Grundlagen des Zwölfersystems reden könnte,
sondern ebenso da, wo die achtstrichige Rose für sich steht,
wie bei Vitruv I 6 und Plin. n. h. XVIII 333 ss.^); die Über-
lieferung führt also darauf, diese Ausdrucksweise als ursprüng-
lich gelten zu lassen. Nun mag man mit Berger S. 432 sagen:
für jeden Ort der Oikumene fielen ja die Solstizialpunkte in
den Bereich der Bögen des betrefi'enden Windes, da diese von
22^/2^ bis 67^/a^ ihres Quadranten reichen. Aber das scheint
mir eine Spitzfindigkeit; viel eher haben wir in der anfecht-
baren Ausdrucksweise die Wirkung der allmächtigen termino-
logischen Tradition zu erblicken. Ihr Walten erkennen wir
auch in der Benennung der Winde. Es war mir niemals
zweifelhaft, daß wir für das normale Achtersystem die Namen
so zu wählen haben, wie ich sie Fig. 11 gebe. Überlieferungs-
differenzen gibt es nur für den NO und NW. Bezüglich des
NO ist die Sachlage einfach : aquilo bei Vitruv ist die gewöhn-
^) Ich benütze die Gelegenheit, eine Pliniusstelle gegen völlig un-
nötige Änderungsvorschläge zu verteidigen. Kai bei hat S. 591 A. 1
Anstoß genommen an dem Satze Plin. II 124: „molUre eos (aquilones)
creditur solis vapor geminatus ardore sideris". Möllire heißt aber hier
„gelinde", d. h, warm, „machen". Was Plinius meint, zeigt deutlich die
Wiederholung des Gedankens XVIII 335: ,,nec tarnen eiim (m/iiiJoncm)
toto anno in praedictis timeat agricola. mollitur sidere aestate media mii-
tatque nomen — etesias vocatur". Das sidus ist natürlich der Hundsstern.
Nebenbei zeigt diese Stelle unter andern, daß Plinius, als er Buch XVIII
schrieb, sich z. T. an die nämliche Quelle hielt wie in Buch II.
74 3. Abhandlung; Albert Rehm
liehe Übersetzung von ßogeag, Plinius gibt für das Achtwinde-
system II 119 und XVIII 333 direkt boreas'^), und wenn er
XVIII 335 hinzusetzt „nee sum oblitus in hac parte ventum
Graecis poni, quem caecian vocant", so zeigt die verworrene
Fortführung dieser Anmerkung („sed idem Aristoteles, vir im-
mensae subtilitatis, qui id ipsum fecit, rationem convexitatis
mundi reddit, qua contrarius aquilo africo flat"), woher die
Variante stammt; mit unserem System hat also sein caecias
nichts zu tun. So steht denn Agathemeros, der in der acht-
strichigen Rose als NO den Kaikias anführt, allein; es läßt
sich nun, meine ich, wohl verstehen, weshalb er ändert: er
will ja aus der achtstrichigen Rose die zwölfstrichige des Ti-
mosthenes ableiten, in der Boreas als NNO, Kaikias als ONO
festsaßen. Boreas als NO würde ihm also die Verbindung der
beiden Systeme erschwert haben. Wie ungeschickt diese gerät,
wenn man den Boreas in der achtstrichigen Rose beläßt, kann
man aus Plin. n. h. II 119 ersehen, wo der achte Wind (NO)
plötzlich nicht als solcher vom Solstizialpunkt, sondern als
Zwischenwind zwischen septentriones und exortus solstitialis er-
scheint; die angeführte Stelle aus XVIII 335 ist übrigens kaum
etwas anderes als ein abermaliger mißglückter Versuch, in
diesem Punkte Klarheit zu schaffen. Agathemeros hat sich
die Sache also durch eine Ungenauigkeit leichter gemacht.
Schwieriger schienen die Dinge für den NW zu liegen, so
lange Ps.-Galen als vollwertiger Zeuge galt ; denn es war doch
zu merkwürdig, daß er p. 403,10 den Wind xavgog nennt, für
den Vitruv (16,4.13) ebenfalls caurus, daneben corus, gibt^);
^) Auch Favorins achtstrichige Rose nennt als NO den Boreas; sie
ist (mit willkürlichen Änderungen) aus unserer hellenistischen abgeleitet,
also, soweit sie mit den andern Zeugen übereinstimmt, selbst als Zeugnis
zu gebrauchen.
2) Es braucht nicht mehr (gegen Kaibel S. 602) bemerkt zu werden,
daß Vitruv zwar die Namen des Achtwindesysteras anläßlich der Er-
wähnung des Turmes der Winde zuerst anführt, daß er aber ganz andere
Namen gibt, als dort stehen, eben die üblichen lateinischen Übersetzungen
der üblichen Namen aus der achtstrichigen hellenistischen Rose.
Griechische Windrosen. 75
xavQog nimmt denn auch Steinmetz S. 44 auf. Heute brauchen
wir demgegenüber nicht mehr geltend zu machen, daß alle
andern Zeugen äQyeoxrjg bieten (Plin. II 119. XVIII 338, Fa-
vorin, Agathemeros, Hipparch — s. o. S. 71 A. 1); heute liegt
ganz klar zu tage (s. u. S. 76 ff.), daß lediglich dem Ungeschick
des Fälschers jener xavgog verdankt wird, der also den grie-
chischen Lexika fernzubleiben hat, wie er jetzt in ihnen fehlt:
das Wort gehört ausschließlich dem Lateinischen an.
Es ergibt sich also, daß die Namen im hellenistischen
System durchaus mit denen in der Schrift Jiegl eßdojuddcov
(s. o. Fig. 2 S. 32) übereinstimmen. Für Zufall wird das niemand
halten wollen ; der Erfinder des neuen Systems knüpfte also in
der Namengebung bewußt an ein ionisches Muster an, während
er das Teilungsprinzip neu aufgebracht hat.
6. Poseidonios.
Wie beim vorigen Abschnitte haben wir mit Kaibels
Hermesaufsatz zu beginnen. Kaibel hat dort das Windkapitel
im pseudogalenischen Kommentar zu Hippokrates negi xv/jlcjv
(XVI p. 395 — 411 K.) fast ganz auf Poseidonios zurückzuführen
unternommen (S. 610 — 613); nur die mit Gellius übereinstim-
mende Partie p. 406, 8 — 407, 12 verblieb dem Favorin, der
aber als Vermittler des gesamten poseidonianischen Gutes an-
gesehen wurde. Den Kaib eischen Unitarismus hat neuestens
A. Schmekel in seinem „Isidorus von Sevilla" noch über-
trumpft, indem er S. 215-245 (bes. S. 222 A. 2 und 239 A. 2)
schlechthin alles auf Poseidonios' Rechnung zu setzen suchte
und alle Widersprüche hinweginterpretierte. Schon gegen
Kaibel hatte sich begründete Opposition erhoben; insbesondere
hat A. Röhrig in seiner vortrefflichen Dissertation „De P. Ni-
gidio Figulo capita duo" (Leipziger Diss. Coburg 1887) S. 16 ff.
an seiner Hypothese einschneidende Kritik geübt. Ich selbst
hatte sie in Untersuchungen, die z. T. schon vor zehn Jahren
angestellt waren, noch weiter geführt und glaubte schließlich
nur einen kleinen Rest als eigenartig retten und dem Posei-
donios zusprechen zu können.
76 3. Abhandlung: Albert Rehm
Das alles ist jetzt abgetan. Nacli Kalbfleisclis schon oben
S. 3 angeführter Mitteilung bleibt schlechterdings nichts von
der Renaissancefälschung als selbständig, d. h. aus nicht ander-
weitig erhaltenen Schriftstellern stammend, übrig; nicht allein
ist, was mit Gellius übereinstimmt, aus diesem übersetzt (wie
ich vermutet hatte), sondern in der gleichen Weise ist der
Fälscher mit Yitruv verfahren, worauf schon oben S. 74 f. hin-
zuweisen war. Zum Beweise genügt es, die Zusammenstellung
Kalbfleischs^) hier abzudrucken, was ich mit seiner Zu-
stimmung unter Beigabe weniger eigener Bemerkungen tue.
XYI p. 395, 13—396, 5 [Gal.] bist. phil. 20 »)
396, 7—398, 1 Arist. Meteor. II 4 p. 359 b 28—36 1 a 9
398,1—4 Yitr. 16, 2»)
4—12 Arist. Meteor. II 4 p. 361a9— 22
13—399,4 Vitr. 16,3
^) Er hat darüber vorläufige Mitteilungen gemacht in den Sitz.-Ber.
d. Akad. Berlin 1913 S. 115 und 1916 S. 138.
') Ich meine vielmehr, es wird Ps.-Plut. III 7 Diels, Doxogr. p. 374
sein; mit ihm stimmt die Wortfolge xai.ofA,Evcov xal rrjxo/Lievcov und na-
mentlich der Schluß rov dk djio tcöv aQxzcov elvai ßoQsav (ursprünglich hat
es gewiß djiaQxziav geheißen), rov ds 0.716 xtöv voxlcov Xißa wörtlich überein ;
ehat, hat cod. C des Ps.-Plut.; diese Hs. kann der Fälscher nun freilich
nicht benützt haben, da sie (vgl. Diels' Proll. S. 37) erst seit 1688 wieder
zugänglich geworden ist. Aber vielleicht ist eben von hier aus Licht
in das völlig singulär dastehende Anaximeneszitat zu bringen:]^ C ist
interpoliert, die Vorlage des Fälschers kann noch stärker interpoliert
gewesen sein, sodaß das Zitat nicht erst von ihm erfunden zu sein braucht.
Erfunden ist es ja wohl sicherlich; Gilbert, dessen Stärke in seinen
„Meteorol. Theorien" bekanntlich auf der Seite der Analyse der physi-
kalischen Hypothesen liegt, hat die Angabe S. 515 A. 1 und 516 A. 1 unter
mehreren Gesichtspunkten verdächtig, weil nicht zu Anaximenes passend,
gefunden.
3) Die Einsicht, daß die mit Vitruv übereinstimmenden Stellen aus
ihm übersetzt sind und daß Vitruv mehrfach auch zu ganz kurzen Be-
merkungen beigezogen ist, scheint mir neben der Entdeckung der Ent-
lehnungen aus Mäimonides der eigentlich entscheidende Fortschritt zu
sein, den wir, Kalbfleisch verdanken. Gleich an unserer Stelle fällt
es einem wie Schuppen von den Augen, wenn man dies entsetzlich un-
Griechische Windrosen. 77
399, 6—15 Arlst. Meteor. II 5 p. 361 b 14—27
16—400,7 Orib. IX 7 (vol. II p. 294,14—296,1
Daremb.)
400,8—401,7 Orib. IX 9 (vol. II p.298, 9— 300,2) i)
401,7—12 Moses Maim. Aphor. pari VHP)
13—402,5 Orib. IX 12 (vol. II 302,8—304,12)
402, 6-9 Arist. Meteor. II 5 p. 361 b 30 s. 34
13—404,1 Vitr.I6,4.5.10.(Sueton.p.232,7s.R.)3)
404,1—406,8 Vitr. I 6, 12. 13
406, 8-407, 12 Gell. II 22,7—16 (mit e 295 s.)*). 4—6
griechische Griechisch, dem gegenüber das Sprachgefühl auch eines
Kaibel (S. 581. 610 f.) merkwürdig versagt hat, neben Vitruv stellt:
ventus autem est aeris fluens ijzsidt] de o äve/uog eon xvfia qeov
unda cum incerta motus redundan- digog äfxa r^t xfjg xivrjasoig dogcoicoi
tia; nascitur, cum fervor offendit nXeove^lai {\)' xal yivexai, Sxav rj
umorem et impetus factionis (fer- ^soig (!) x6v xv[j,6v (!) svqloxsi xal ^
voris Kießling^ exprimit vim spiritus xfjg C^oscog gv^rj xtjv xov (pvowvxog
flantis (so Kaibel statt flatus oder jivsv/naxog dvvafxtv ix&Xißtjc, ....
flatum).
Man ahnt bei Vitruv, dessen auch im Wortlaut ganz ähnliche Aus-
führung über die aurae I 6, 1 1 zur Interpretation beizuziehen ist, eine
Lehre, die den Wind auf Erwärmung von Feuchtem zurückführt, ein
Satz, der dann durch die vielberufenen aeolipilae experimentell erhärtet
wird. Da mag von ■d'äljieod^ai, d'sg/naiveoß^ai, SsQfiov, vygov in der grie-
chischen Vorlage die Rede gewesen sein, aber an C^oig und vollends
XVfiog zu glauben, wird sich, nachdem einmal der Verdacht rege geworden
ist, nicht leicht mehr jemand entschließen.
^) Orib. p. 299, 8 ist natürlich umzustellen: oi ds djto xsX/ndxcov
xdxioxoc. Der dxdßovlog wird eigene Reminiszenz des Fälschers aus
Horaz sein, vielleicht angeregt durch Gellius II 22, 25.
2) fol. 45 V.: meJior ventis est qui differtur ex mari magno et huic
in honitate proximus est, qui ex montibus defertur, et peior qui ex latrinis,
paludibus vel locis madidis est delatus, et medius inter hos est qui ah
aliis locis defertur.
3) Die xsXfiaxa und D^codi] xcogia werden eher als auf Sueton auf
die angeführten Stellen aus Antyllos und Athenaios zurückgehen.
*) Die Homerverse muß der Fälscher aus eigener Kenntnis eingesetzt
haben; mit seinem aQysoxrjg, ov xal xavQov xivsg ovoßdCovoiv an Stelle
des „caurus, quem solent Graeci dgysaxrjv vocare", bleibt er der Erfindung
von p. 403, 10 treu (s. o. S. 74 f.). Im übrigen verrät sich gerade die
78 3. Abhandlung: Albert Itebm
407,14—408,13 vgl. Arist. Meteor. II 6 p. 363 b 11 —
364 a 41)
408, 13—17 Arist. Meteor. II 6 p. 364 a 20—27
17—409,4 Hippocr.
409,4-17 Arist. Meteor. II 6 p. 364 a 27-b 24
17-410,10 Gal. XVII A p. 655, 10—12. 16—
656, 7 K,
410,10—14 Arist. Meteor. II 6 p. 365 a 6—10
15 vgl. Gell. II 22, 25
16—411,1 Gal. XVII A p. 657, 9—14 K.; vgl.
XVII A p. 387,16-388,7 K.
Soweit der für unsere Analyse wichtige Teil. Das Er-
gebnis kann man sich kaum sauberer wünschen, — es könnte
aber andrerseits gar nicht ungünstiger für die Poseidoniosfrage
sein. Hat sich doch nicht allein Ps.-Galen in ein ganz und gar
wertloses Mosaik aufgelöst; es steht jetzt überhaupt schlimm
mit vermeintlichen Komplexen von Poseidoniosexzerpten : wer
wird jetzt noch mit Kai bei S. 614 anzunehmen bereit sein,
daß „das ganze VI. Kapitel des Vitruv, abgesehen von einigen
gleichgiltigen Zutaten Vitruvs, aus Poseidonios entlehnt" sei ?
In Wahrheit gibt es hier wie gegenüber der gesamten
Physik des großen Rhodiers, der wie ein Prisma die Strahlen
antiker Gelehrsamkeit sammelt, um sie in mannigfacher Brechung
in die dunkleren späteren Zeiten auszustreuen, keinen anderen
Weg der Wiederherstellung, als daß man Einzeldogmata und
— höchstens — kleine Gedankengefüge durch Zusammen-
stellung der Zeugnisse aus denjenigen Autoren, deren Abhängig-
Gelliusstelle besonders handgreiflich als Rückübersetzung durch zwei
völlig singulare technische Ausdrücke für sehr gebräuchliche Begriffe:
6 HVxXog (d) ijiix?.rj&sig loovvuxiog (= aequinoctialis) r} torjfisgtvog und
dvaig TQOTiiHrj (= sostitiaHs), von der Sommersonnenwende gebraucht.
^) Ps.-Gal. p. 408,1 — 3 ddvvarov ydg (paoiv sivai xaxa xooovxov dtdozrjfza
jivsTv xai dvxiJivsTv xovxovg [lovovg xai /ny slvai ällovg dvafxeaov' ojieg slvai
dlrj^kg doxsT ist nicht aus Aristoteles entnommen ; der Gedanke, der die
Verbindung zwischen dem Aristotelesexzerpt und dem Homerzitat her-
stellen soll, ist vielleicht angeregt durch Vitr. I 6, 9.
Griechische Windrosen. 79
keit von Poseidonios feststeht, ihm mit Wahrscheinlichkeit zu-
weist und dann eine immer unsicher bleibende Verifikation
versucht, indem man das Gefundene auf seine innere Einheit-
lichkeit prüft. Ich muß mich bei dieser Arbeit auf das Thema
„Windrosen" beschränken, und darf es, da ja die viel weiter
greifende Aufgabe, des Poseidonios gesamte Windlehre zu re-
konstruieren, bei Capelle in guten Händen ist; doch habe
ich für mich die Zusammenstellung des Ganzen gemacht und
dabei bestätigt gefunden, was längst allgemeine Meinung ist,
daß, soweit es sich um umfänglichere Darlegungen handelt,
jeder der von mir beizuziehenden Autoren auch sonst eine
Menge poseidonianischen Gutes bietet.
Zum Ausgangspunkt können wir übrigens gerade für die
Windrosen eine Stelle nehmen, an der Poseidonios selbst ge-
nannt wird, Strabon I p. 29. Sie ist allerdings in so verschie-
denem Sinne gedeutet worden^), daß sie selber der Interpretation
bedarf; aber ich meine, diese liefert ein sicheres Ergebnis.
Der Zusammenhang, in dem Strabon a. a. 0. den Poseidonios
als Zeugen anführt, ist schon oben S. 25 A.2 besprochen worden.
Gegen die Verdrehtheit, die den t,e(pvQog zu einem n.-w., den
äQyE0T7]g zu einem s.-w. Wind machen will, wendet sich Posei-
donios : (p7]ol de UoosidcDviog /arjöeva ovrcog TzagadeScoxevat rovg
ävEfiovg xcbv yvcoQi/ucov Jiegl ravia, olov 'Agiororekrj, Tijuoo^evr},
Bicova Tov äoTQoloyov alXä röv juev äjib ^eqivcov ävaxoXcbv
xaixiav, TOV de TovTCOi xaid öidjuergov ivavzlov Xißa änb dvoecog
bvxa xeifJLEQivrjg' ndXiv de röv jLiev änb ;^£</^e^<ri)g ävaToXfjg ev-
Qov, xbv ö'' evavTLOv aQyeozrjv' Tovg de fxeoovg äjirjXKorrjV xai
CecpvQov. Das sind, wie Capelle, N. Jbb. 15 S. 545, mit vollem
Rechte betont, einfach die sechs östlichen und westlichen Winde
1) Kaibel S. 611; gegen ihn ausführlich W. Capelle N. Jbb. 15
(1905) S. 542iF. Insbesondere macht Steinmetz S. 58— 62 ein neuer-
liches Eingehen auf die Stelle wünschenswert; auch Gilbert S. 549 A.2
behandelt sie sicher nicht ganz richtig. Schmekel, Isidorus S. 241, irrt,
wenn er hier Polemik gegen Eratosthenes wittert. Ganz wunderlich
geht in die Irre G. D. Ohling, Quaestiones Posidonianae ex Strabone
conlectae. Diss. Göttingen 1908 S. 9 ff.
80 S.Abhandlung: Albert Rehni
des Aristoteles und Timosthenes (und gewiß auch des Bion, von
dessen Windrose wir leider sonst nichts wissen) ; der Zusammen-
hang berechtigt uns durchaus nicht, die Bezeichnungen 'äegiral
avaxoXai usw. etwa in dem ungenauen Sinne zu fassen, in dem
sie bei den Beschreibungen des hellenistischen Achtwindesystem
angewandt werden; der Name xaixiag ist diesem zudem in seiner
Normalgestalt fremd (s. o. S.73 f.; nur Andronikos hat ihn auf dem
speziell die attischen Namen bietenden Windeturm). Wäre das
Zitat hier zu Ende, so müßte man schon auf diese paar Sätze hin
sagen: Poseidonios argumentiert mit dem Zwölfwindesystem.
Noch deutlicher wird das aber durch die auch weiter in in-
direkter Rede gegebene Fortsetzung des Zitates, die Steinmetz
in seiner Polemik gegen Capelle völlig außer acht läßt. Posei-
donios geht nun nämlich daran, seinerseits dieWindbezeichnungen
bei Homer zu erklären : Homer rede von einem övoarjg t,e(pvQog
(yj 200. e 295. ja 289), das sei der ägyeoTi^g, einem Uya jivecov
CecpvQog (d 567), das sei der ^ecpvgog der angeführten Systeme ;
der ägyeoirjg voxog aber {A 306) sei der — XevxovoTog^ auf den
es zutreffe, daß er leichtes Gewölk bilde, das der dvoarjg t,e-
(pvQog mit seinem Stürmen zerstreue. Der ^^evxövorog wird
hiebei, sicherlich doch als Seitenwind, vom Xombg voxog unter-
schieden, der oXeQog ncog eoxiv. So führt, was schon Capelle
S. 544 A. 2 gesehen hat, die Interpretation unserer Stelle und
speziell die Erwähnung des Xevxövoxog darauf, den Poseidonios
mehr als acht Winde unterscheiden zu lassen, d. h. ihn als
Vertreter des Zwölfwindesystems zu betrachten. Dafür, daß
ihm der Name Xevxövoxog geläufig war, gibt es aber, wie mir
scheint, auch einen indirekten Beweis, die Stelle Strab. IV 182,
die sicher poseidonianisches Gut ist (Poseidonios wird darin
auch genannt) ; wenn der vielbesprochene Wind an der Rhone-
mündung ^), der cercim des alten Cato, dort als ein jLieXajbL-
ßoQEiov^) Jirevjua bezeichnet wird, so trägt der preziöse Aus-
druck ganz den Stempel der ovvrj^rjg QYjxoQela des Rhodiers ;
gebildet aber ist das Wort unverkennbar als Gegenstück eben
1) Ygl. Nissen, Ital. Landeskunde I S. 383 f.
2) Imitiert von losephos, Bell. lud. III 9, 3.
Griechische Windrosen. 81
zum kevHovoTog. Spielt aber bei Poseidonios der Xevxovozog diese
Rolle, so steht fest, daß sich Poseidonios dem System des Timo-
sthenes angeschlossen hat: denn nur bei ihm (Agathemeros)
sitzt der Name fest (s. o. S. 49), der bei Aristoteles noch sehr
unbestimmten Sinn hat und später (Sen. n. qu. V 16, 6*)) nur
eben da wieder auftritt, wo Anschluß an Poseidonios oder Timo-
sthenes vorliegt. So urteilt mit Recht auch Capelle S. 545.
Erschöpfend ist die aus Strabon zu gewinnende Antwort
auf die Frage, welches System Poseidonios im praktischen Ge-
brauch gehabt hat, allerdings nicht. Ungewiß bleibt, ob Posei-
donios bei Nennung der Solstizialpunkte an die Morgen- und
Abendweiten oder an die Meridianprojektion denkt. Und da
wir bisher nur Belege aus dem Werk jieqI coxeavov gemustert
haben, so ist es sehr wohl denkbar, daß Poseidonios in der
eingehenderen Darstellung, die wir in seiner Meteorologie an-
zunehmen haben, auch das Achtwindesystem berücksichtigt hat,
wenn er es auch nicht für sich adoptiert^e. Mit diesen beiden
Fragen haben wir uns nun noch zu beschäftigen ; jetzt erst
gewinnt die große Masse der von Poseidonios abhängigen
Autoren für unser Thema Bedeutung.
Ein bisher überhaupt nicht beachtetes Zeugnis für die
Meridianprojektion glaube ich als Beleg für des Poseidonios
Auffassung der Solstizialpunkte und für die Orter, an die er
die Nebenwinde von N und S setzte, in Anspruch nehmen zu
dürfen ; es ist Galen bei Oreibasios IX 7 (vgl. o. S. 38 A. 1 und
S. 63). Ich setze denjenigen Teil des Kapitels^), der aus einer
nicht erhaltenen Schrift Galens stammt (p. 294,14-296,1), hieher;
was folgt (§ 4 — 6), ist aus dem Kommentar zu Epid. III ent-
nommen (vol. XVII A p. 655, 10 SS. K.)^): Evgog jukv äno äva^
^) Die falsche Ansetzung des hvy.orozog als SSO in Dugga und bei
Vegetius IV 38 kann aus Mißverständnis des Seneca hervorgegangen sein.
2) Er kehrt mit wesentlichen, z. T. den Text unverständlich machen-
den Auslassungen bei Ps.-Galen XVI p. 399,16—400,7 wieder (s.o. S. 77).
Da diese „indirekte Überlieferung" für den Text nichts abwirft, berück-
sichtige ich sie nicht weiter.
3) Auch dieses Stück hegt bei Ps.-Galen XVI (p. 409,17-410,10) vor
(s. ö. S. 78\ aber nicht aus Oreibasios, sondern unmittelbar aus dem
echten Galen herübergenommen.
Sitzgsb. d. philos.-philol, u. d. liist Kl. Jahrg. 1 91 6, 3. Abli. 6
82 3. Abhandlung: Albert Rebm
roX'^g TtveT, voxog de änb jueorjjußgiag, xal ^ecpvQog juev djiö
dvojuojv, ßoggäg de änb töjv ägxTcov ovzoi ydq eloi xonoi reo-
oageg aXXtjloig ävnxeljuevoi' Jikdrog de avicöv e^ovrog exdozov
jueya ngooegxovxai riveg äXXai diaq)ogal nvevfxdxcov rov ydg
ögi^ovTog övojua^ojuevov xvxXov (xaXetrai de ovrcog 6 xb (paivo-
juevov xov xoojuov dioglCcov änb xov jur] q)aivojuevov) xjLirjd^evxog
elg e^{ijxovxa)^ juogia, xrjXixovxcov juev eyyioxa xjurjjudxcov eoxiv
öxxct} xb nXdxog xfjg rjXiaxijg ävaxoXrjg, Sojzeg ye xal xb xrjg
dvoecog, elxoot de xal jigooexi dveiv exdxegov^ xcbv XomöJv,
ägxxLxov xe xal Jigooext jueorjjußgivov. et de xal xavia jidXiv avxd
dlxa xexjurjjueva^, xb juegog exdxegov^ eoxai juoigcov^ ta xoiovxcov,
önoiwv 6 ovfjLTiag xvxXog eoxlv e^{rjxovxaY. xejuvojuevov {juev
ovv) di^a^ xov jiXdxovg xfjg jueorjjußgiag, avxbg juev 6 voxog djib
xov xaneivov noXov JiveX' juexa^v de xovxov xal xfjg ävaxoXfjg
xfjg ^eijuegivfjg 6 xaXovjuevog evgövoxog, woneg ye xav xcbi jue-
xa^v xovxov [xe xal] xov jioXov^ xal xfjg j^eijuegivfjg dvoecog 6
Xtßovoxog' vygol xal 'äeg/uol ndvxeg ovxoi xal did xovxo jiXrj-
QCDxixol xfjg xecpaXfjg.
1 £^, an der zweiten Stelle (§2) g' die Hss. Zur Sache s. u. S. 85 mit A. 1.
2 exazsQcov Hss., verb. von Daremberg. ^ so schwerlich zu halten ;
rsTjUTJasrai ? -fisva {votjd'Tjaerai) ? * XoiJtcöv C ^ xe^v'ofievov Sca Hss.;
xEfivofjisvrjg 8ia mit Komma vorher und Punkt hinter fisarjjußQiag Darem-
berg, mir unverständlich. ^ oder [ze xal xov jioXovJ.
Galen wird durch die schließenden Paragraphen des Ka-
pitels und durch das vorangehende Kapitel, in dessen Lemma
er zitiert ist, als Autor erwiesen ; aber aus welcher Schrift der
Abschnitt stammt, ist erst zu ermitteln. Die Frage ist auch
für uns nicht ganz ohne Belang, weil ihre Lösung zum Ver-
ständnis der sonderbar zusammengefügten Auseinandersetzungen
einiges beitragen kann. Sie beginnen mit der Aufzählung
der Hauptwinde sehr elementar (vorher wird man sich einen
Satz denken dürfen ähnlich demjenigen, den der Fälscher des
Kommentars zu Tiegl xviJLmv davorgesetzt hat: elol de xeooageg
ävejuoi (bg xcbv äXXcov xogvcfaToi). Dann folgt die Motivierung
der weiteren Teilung des Horizonts, die an Vitr. I 6, 9 erinnert,
und diese Teilung selbst durch Abtrennung eines Gebietes der
Griechische Winilrosen.
83
ävaioXri und der dvoiq. Damit sind wir in dem uns von Ab-
schnitt 2 dieser Abhandlung her vertrauten Gedankenkreise der
hippokratischen Schrift neQi äeqmv (vgl. o. S. 18fF.). Statt daß
aber die Ost- und Westabschnitte weiter gegliedert und mit
Winden ausgestattet werden, wendet sich der Autor dem nörd-
lichen und südlichen Abschnitt zu, oder vielmehr speziell dem
südlichen. Durch die Mittagslinie halbiert er beide Bögen (Fig. 12),
behandelt aber nur den südlichen ; in ihm wird nicht allein
der voTog nunmehr genau bestimmt, sondern er erhält auch
ZZ
Fig. 12.
zwei Nebenwinde zugeteilt, die mit Namen benannt, aber nur
ungenau lokalisiert werden. Dann werden die drei südlichen
Winde mit deutlicher Wendung zu medizinischer Betrachtungs-
weise charakterisiert. Verständlich ist das alles als Kom-
mentar zu tieqI degcov c. 3. Die allgemeine Übersicht über die
Horizontteilung paßt zu der Stellung des Kapitels am Anfange
der Schrift und zu den einleitenden Bemerkungen darin (p. 35,
8 — 10 K.), die besondere Behandlung der Südwinde zum Haupt-
inhalte des Kapitels, ihre Charakterisierung zu der Kenn-
zeichnung, die sie dort erfahren, im besonderen Galens 7tX7]qcoti-
G*
84 3. Abhandlung: Albert Rebm
xol xfjg xecpaXfjg zu der Bemerkung dort (p. 35, 14), daß die
Menschen, die in einer Stadt mit Südlage wohnen, zag xe(paXäg
vygdg s^ovoi kol (pkey/uaTcodeig. Kurz, der Abschnitt ist mit
beinahe zwingender Wahrscheinlichkeit auf den verlorenen^)
Kommentar Galens zu Jiegl dsgcov zurückzuführen, aus dem
augenscheinlich bei Orib. IX noch beträchtlich mehr erhalten
ist^). Die drei anderen Gruppen von Winden haben wir uns
dann im Kommentar zu jzegl degcov c. 4. 5. 6 entsprechend
behandelt zu denken, nur natürlich viel kürzer.
Damit ist erst die Aufmachung des Kapitelchens erklärt;
uns interessiert aber vielmehr das, was Galen zum Texte von
jiEQi äegcov hinzutut. Daß er von einem jiXdrog rtjg dvaioXfjg
und Ti]g duoecog redet, ist noch vom kommentierten Texte aus
^) Ein elender Rest in lateinischer Übersetzung in Chartiers
Ausg. VI ; darin auch ein Windkapitel, das mit der Überlieferungsraasse,
die uns hier beschäftigt, unverkennbare Beziehungen aufweist: „Ven-
iorum caUdorum frigidorumque quidain sunt principaJes, corpora immu-
tanies, (quidam pccuUares), qui aiit ex elatiöribus locis aut ex lacubus,
maribus stagnisque attoHuntur. Sunt autem {principales) quattuor: ab
Oriente unus, a meridie alter, tertius ab occidente, quartus vero a sep-
tentrionibus spirat; in recto quidem horizonte hi communes existunt.
Peculiares autem, qui aliis ex horizontibus perflant, palam est, quo ex
Joco unusquisque eoruni spiret; atque ex iis alii venti erumpunt inter se
dissidentes" Die Reihenfolge der principales stimmt mit Orib. IX 7
überein. Die Stellen über peculiares s. b. Kai^bel S. 593— 594 (dazu
jcegt xöo/Liov p.394 b 15, Antyllos bei Orib. 1X9, Athenaios bei Orib. IX 12).
Doch lohnt eine nähere Untersuchung vorerst nicht, solange wir von
dem ausführlicheren Kommentar in lateinischer Übersetzung, den Ilberg,
Comment. Ribbeck. S. 343, aus cod. Vat. lat. 1079 erwähnt, nichts
Näheres wissen.
2) Die Frage, was sonst noch aus Orib. IX diesem Kommentar zu-
zuweisen ist, kann hier nicht eingehend erörtert werden. Gut zu ihm
passen würden jedenfalls zwei weitere Abschnitte, die bisher in erhaltenen
Schriften Galens nicht nachgewiesen sind, c. 6, 1—3 und c. 10; der erste
von beiden behandelt die Bedeutung der xoofxixt} d'soig, d. i. der geo-
graphischen Breite (§ 1), sodann der Himmelsgegend, gegen die eine
Ortslage gerichtet ist (§ 2), endlich der besonderen Luftverhältnisse, die
in der Bewässerung und in unterirdischen Ausdünstungen begründet
sind, der zweite betrifft die d'sosig zcöv jiöXeoiv, sig oxi [xeQog sloi rszQafx-
[xsvai xov xöofiov.
Griechische Windrosen. 85
zu verstehen (vgl. o. S. 18). Zutat aus anderer Quelle aber
ist die Art, wie er das Jikdrog von Auf- und Untergang be-
stimmt; es liegt auf der Hand, daß wir es hier mit der Meridian-
projektion in den „eratosthenischen" Verhältnissen zu tun
haben, deren zahlreiche Bezeugungen oben S.38 A. 1 zusammen-
gestellt sind^). Überraschend ist nun, wie es weitergeht. Statt
daß die eratosthenische Proportion vervollständigt und durch
sie den drei südlichen Winden, um die es dem Galen zu tun
ist, ihre Stelle eindeutig bestimmt wird, begnügt sich der
Kommentator für evQovoiog und hßövorog mit einem farblosen
juera^v. Er gibt die Namen aus dem timosthenischen System,
— warum nicht auch die Stellen? Da er schon einmal Vor-
stellungen und Bezeichnungen späterer Zeit einmengt, so wird
man nicht geneigt sein zu glauben, er übe hier Zurückhaltung
mit Rücksicht darauf, daß in tisqI aegcov die Süd- und Nord-
region nicht weiter gegliedert ist. Vielmehr glaube ich schließen
zu müssen : er folgt einem System, das bei sonst engem An-
schluß an Timosthenes die von diesem vertretene Heranziehung
des arktischen und antarktischen Kreises verwarf. Sicherlich
glaubte der Schöpfer dieses Systems, damit zur Horizontglie-
derung des Aristoteles zurückzukehren. In der Tat sagt ja
auch Aristoteles nirgends ausdrücklich, ob seine Solstizialpunkte
24^ oder 30^ vom 0- und W-Punkt entfernt sind, sodaß man
auf Schlüsse angewiesen ist (s. o. S. 41 f.).
Durch diese Erwägung bin ich darauf gekommen, als
Galens Quelle den Poseidonios zu vermuten ; denn die im fol-
genden zu gebende Übersicht über die andern Zeugen wird,
hoffe ich, dartun, daß er einerseits dem Timosthenes, andrerseits
dem Aristoteles sich anschließen will und daß er dem ersteren
gerade in der Verwendung der arktischen Kreise nicht gefolgt
ist. Daß er sie in der Tat nicht verwenden konnte, wenn er
sich nicht selbst untreu werden wollte, das hat schon Stein-
metz S. 64 gezeigt, der doch nicht einmal Anlaß hatte, diesem
^) Geradezu rätselhaft ist, daß Daremberg an dem zweimal über-
lieferten sinnlosen s^ /.logia festhält; zu welchen Konsequenzen das führt,
mag man bei ihm selbst S. 850 nachlesen.
86 3. Abhandlung: Albert Rehm
Punkte besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Aus Strabon
II p. 95 (S. 126, 13 M.) und p. 97 (S. 128, 19 M.) wissen wir,
daß Poseidonios in scharfer Polemik gegen Aristoteles und
Polybios die Übertragung der arktischen Kreise auf die Erde
— dort als Zonengrenzen — abgelehnt hat. Sucht man nach
weiteren Indizien für poseidanianischen Ursprung des Galen-
kapitels, so bietet sich ungesucht die Definition des Horizonts,
die mit Geminos p. 62, UM. fast wörtlich übereinstimmt (öqU
^cov ioTi xvxlog 6 diogiCcov '^juiv t6 re (pavegov xal rb äcpavkg
jUEQog Tov xöojuov)'^). Dagegen wird man den Ausdruck ra-
neivbg noXog dem Poseidonios nicht zuweisen wollen, so oft
auch TaneivoxsQog als „näher dem Horizont" bei Kleomedes
vorkommt. Daß wir unter den Windnamen Xißovoxog statt
XevTiovoTog finden, bedeutet nichts, denn beide Bezeichnungen
gehören dem System des Timosthenes an und finden sich in
den von Poseidonios beeinflußten Schriften (so auch Seh m ekel
S. 236). Wenn Poseidonios, wo wir ihn selbst hören, Xevxo-
voTog bevorzugt, so geschieht es vielleicht deshalb, weil der
Name durch Aristoteles sanktioniert war.
Unter den jetzt zu musternden Schriften gibt es einige,
die dem bisher für Poseidonios in Anspruch genommenen Ma-
terial ungemein nahe stehen, indem sie die vier Hauptwinde
aufzählen und dann sogleich das System der zwölf Winde ent-
wickeln^); weitaus am nächsten ist die Verwandtschaft mit
Tzegl xoojuov (p. 394 b 19 — 395 a 35), wo wir die üblichen
Windnamen aus Timosthenes, z. T. mit den Varianten, die für
1) Ähnlich auch bei dem Anonymus II zu Aiat p. 127, 27 M., während
Achilleus p. 51, 27 M. im Ausdruck stärker abweicht.
2) Nach solchen inneren Gesichtspunkten ordne ich im folgenden das
bekannte Belegmaterial. Weder die Richtung, in der um den Horizont-
kreis herumgegangen wird, noch der Anfangspunkt der Aufzählung noch
endlich die Zusammenfassung in Gruppen zu dreien sind wesentliche Ein-
teilungsprinzipien. In all diesen Punkten ist zwar Übereinstimmung ein
Indizium von Verwandtschaft, Abweichung aber kein Beweis des Gegen-
teils. Das zeigt deutlicher als weitschichtige Erörterungen der Fall des
Joannes Lydos, der in der folgenden Anmerkung besprochen wird.
Griechische Windrosen. 87
diesen selbst auch sonst bezeugt sind (s. o. S. 48 A. 2)^), finden,
dazu die Verwendung der Solstizialpunkte, aber für die Neben-
winde von N und S ein einfaches e^fjg oder juera^v*). Hier
wird man auch' das Exzerpt aus dem (ursprünglichen^)) Achil-
leus einreihen dürfen, auf das Gilbert S. 554 A. 2 aufmerksam
gemacht hat, p. 321, 8 M., mit der Aufzählung der vier yevixoi
ävejuoi (= p. 68, 26, beidemale allerdings äjir^XidoT-qg für die
Ostwinde) und dem Satze: exdoxcoi de rovxcov ovo TtaQaxeivzaij
cbg elvai rovg ndvxag dwdexa. Auf der gleichen Stufe steht
Manilius IV 587 — 594, aber mit boreas und eurus, also sehr
korrekt, dagegen statt 7iaQaxe7o§ai binae medüs e partibus aurae^).
Der vierte Autor dieser Gattung aber, Seneca n. qu.V 16. 17,
^) Der hßoroTog, der sich durch die genaue Analogie zum EVQÖvoxog
empfahl, hat auch hier den Xevxövoxog verdrängt; über Lßoq?ocvi^ s. o.
S. 48 A. 2. — p, 394 b 31 ist xaixlav ein handgreiflicher Fehler für xlgxiov,
die timosthenische Variante, oder xiqxiav, wie derselbe Wind im Frag-
ment ävsjLicov d'EOEig heißt {xsgxiag Theophr. fr. V 62 nach Kai b eis sicherer
Verbesserung S. 606 A. 2). Die selbstverständliche Verbesserung (die
wohl nur einen Überlieferungsfehler, nicht ein Versehen des Autors
richtig stellen würde) ist schon öfters vorgeschlagen worden (Genelli
S. 476, Rose, Aristot. pseudepigr. p. 248), aber sie kann sich, scheint es,
nicht durchsetzen. Und noch verwunderlicher ist, daß das Zusammen-
treffen in dem Fehler, das zwischen tisqI x6o/uov und Joannes Lydos de
mens. IV 119 (p. 157 W.) stattfindet, nicht hingereicht hat, Capelle
(S. 543 A.6) davon zu überzeugen, daß Lydos von ji. x. abhängt, und
das trotz seiner eigenen Zusammenstellungen S. 546 A.6 (s. auch Maaß,
Jahreshefte 9 (1906) S. 140 A. 11); die Abweichungen von ji. x., die sich
bei Lydos finden, kann man wahrhaftig auch der Selbständigkeit eines
Byzantiners zutrauen.
2) Poseidonianisch ist auch die Art, wie in :^.x. die Namen der Kardinal-
winde im Plural immer die betreffende Gruppe repräsentieren, dabei
natürlich svqoc = Ostwinde (wie II 102 svgog); vgl. Strabon I 28 {oi ^e-
(pvQot xal fidXioxa oi agysotai). II 99 {^ecpvQoi). 144 {oi evqoi).
3) Vgl. G. Pasquali, Nachr. Gott. Ges. d. Wiss. 1910 S. 193 ff.,
bes. 218 ff.
*) Die Stelle verrät sich als poseidonianisch auch dadurch, daß sie
die Überleitung zu der mit jieqI xöafiov so sehr übereinstimmenden
Geographie bildet (vgl. über diese Beziehung Fr. Malchin, De auctoribus
quibusdam, qui Posidonii libros meteorologicos adhibuerunt, Diss. Rostock
1893 S. 29 ff.).
88 3. Abhandlung: Albert Rehm
weicht von Poseidonios doch recht stark ab ; denn er entwickelt
die volle Meridianprojektion, die wir dem Poseidonios absprechen
mußten. Die Ursache der Störung ist längst erkannt: sie liegt
in der Benützung des Varro, seiner Ubri navdles oder de ora
maritima^ wie wir (vgl. Reitzen stein, Hermes 20 (1885) S. 523)
mit großer Wahrscheinlichkeit sagen können. Andrerseits steckt
in den Senecakapiteln so gut wie sicher poseidanianisches Gut, so
der Satz „non enim eodem semper loco sol or'itur aut occidit etc."
(16, 3) und die Notiz über lokale Winde und Windnamen
c. 17, 5 (die Parallelen zu beidem bei Kaibel S. 593—595.
616). Der Ausweg, den Kaibel (S. 617), im Banne der Ein-
quellentheorie stehend, eingeschlagen hat, — die Annahme,
Seneca „habe den Varro in seiner Quelle nur zitiert gefunden"
und somit müsse Poseidonios den Varro selbst benützt haben, —
wird schwerlich mehr von jemand für richtig gehalten. Er war
übrigens sogar für Kaibel nicht notwendig, da man im Jahre
1885 schon wußte (vgl. Diels, Doxogr. S. 19), daß Seneca
den Poseidonios unmittelbar entweder überhaupt nicht oder
doch auf weite Strecken hin nicht benützt hat. Wollte man
also um jeden Preis den Seneca zum „Einquellenmann" stempeln,
— womit man ihm nach meiner Kenntnis der n. qu. denn
doch Unrecht tut — , so konnte man wenigstens den Asklepiodot
zum Kontaminator des Varro und Poseidonios machen. Aber
das ist ein müßiges Spiel, da man damit die Kontamination
nur um eine Stufe herabrückt. Die Lösung, die Oder, Ein
angebliches Bruchstück Democrits (Philol. Suppl. VII (1898))
S. 364 A. 184, in seiner scharfsinnigen Widerlegung Kaibels
gibt, wird das Richtige treffen: „Man wird eher glauben, daß
bei Seneca eine Kontamination vorliegt aus Asklepiodot und
Varro, bzw. aus einem lateinischen Autor, wie Papirius Fabianus,
welcher das Varrozitat dem Verfasser der Quaestiones ver-
mittelte." Immerhin zweifle ich nicht, daß Varro selbst das
Zwölfwindesystem in enger Anlehnung an Timosthenes gegeben
hat^). Warum soll er nicht den Timosthenes selbst benützt
*) Ein geschworen war er übrigens auf das System des Timosthenes
Griechische Windrosen. 89
haben? Aber auch wenn man beliebig viele Mittelsmänner
zwischen Timosthenes — Varro— Seneca einschiebt, so gehört
doch jedenfalls Poseidonios nicht zu ihnen ^).
Strabon, Galen, Jteol xoo/uov, Achilleus, Manilius lehren
uns insgesamt den Poseidonios nur als Vertreter der zwölf-
strichigen Rose kennen. Typisch ist dabei immer das Aus-
gehen von den vier Kardinalwinden und der Verzicht auf den
arktischen Kreis als Ort der Nebenwinde von N und S. Diese
beiden Eigentümlichkeiten finden wir nun aber auch bei solchen
Autoren, die mit der Darstellung des Zwölfwindesystems die
des Achtwindesystems verbinden oder doch bei Bevorzugung
des Achtwindesystems Kenntnis beider Systeme verraten.
Hier sind unsere wichtigsten Zeugen Plinius n. h. II 119 s.
und Favorinus bei Gellius II 22, beide unbestrittene Vermittler
poseidonianischer Lehren. Der Wichtigere von beiden scheint
mir Plinius, weil wir bei ihm, sei es auch in der üblichen
Verschnörkelung (die Kai bei irre geführt hat), den Versuch
einer historischen Darstellung finden : Homer hat wie „die
Alten" nur vier Winde; die spätere Zeit machte daraus zwölf,
dann nahm man acht an^). Das ist gar nicht unrichtig gesagt;
man muß nur berücksichtigen, daß Plinius kein anderes Achter-
system kennt als das geometrische der hellenistischen Zeit, das
er — gewiß nicht von sich aus, sondern einer wahrscheinlich
landwirtschaftlichen Quelle folgend — hier und in Buch XVIII
bevorzugt. Plinius verfügt auch sonst über reichliches Material;
den Aristoteles hat er, vgl. XVIII 335, zitiert gefunden, auch
keineswegs; in dem ornithon bei Casinum war die ingeniöse Windrose
im Innern des Gebäudes nach dem Achtersystem eingerichtet (r. r.
III 5, 17).
1) Auf Sueton p. 228 ss. R., bei dem die Art der Horizontteilung
überhaupt nicht erwähnt wird, und Vegetius IV 38 einzugehen ist
kein Anlaß.
2) Diese Interpretation, die gleichmäßig aus dem Text von § 119
und dem interiecerat § 120 folgt, ist gegen Kai bei schon von E. A.
Wagner, Die Erdbeschreibung des Timosthenes von Rhodos, Leipziger
Diss. 1888 S. 45, vertreten worden. Aber auch in diesem Falle hat sich
das Selbstverständliche keineswegs durchgesetzt.
90 3. Abhandlung: Albert Rehm
der meses II 120 und manches in II 126 —129 geht bekanntlich
auf ihn zurück. Ich zweifle nicht, daß Schmekel S. 231 ff.
recht hat, wenn er bei Plinius alles, was nicht italisch ist, auf
Poseidonios zurückführt, wenn auch die Untersuchungsmethode
Schmekels gerade hier sehr anfechtbar ist. Auf Plinius'
persönliches Schuldkonto aber gehört die Art, wie er das
Achtersystem vorträgt und daraus das Zwölfersystem entwickelt
(s. 0. S. 74).
Auch Favorin hat seine Besonderheiten : einmal die Rück-
versetzung des svQog auf den Ostpunkt und die dadurch be-
dingte Ersetzung des evgog als OSO durch den evQovorog^
sodann die jüngst von drei Seiten her aufgehellte ümbiegung
des Begriffes der Gegenwinde^). Für unsere Untersuchung
kommt die Berücksichtigung Homers (§ 16) und der Hinweis
auf das Zwölf windesystem (§ 17) in Betracht, namentlich scheint
mir aber beachtenswert, daß der bei Seneca V 16, 3 wieder-
kehrende Satz (§ 5) „oritur enim sol non indidem semper"
(dazu § 6 „item cadit sol non semper in eiindem locum" und
die vorausgehende prinzipielle Grundlegung der Horizont-
gliederung „exortus et occasus mobilia et varia sunt, meridies
septentrionesque stant et manent") so recht nur zum Achtwinde-
system paßt, dessen Gliederung diese Erwägungen erschöpfend
begründen, während sie für das Zwölfwindesystem nicht ganz
ausreichen. Dies scheint mir ein direkter Fingerzeig dafür zu
sein, daß Poseidonios das Achtwindesystem behandelt hat, und
zwar so, daß er es zuerst darstellte und dann erst das Zwölf-
windesystem daran anschloß. Das ist nun endlich auch das
Verfahren desjenigen Autors, dem wir die Nennung des Ti-
mosthenes verdanken, des Agathemeros (s. o. S. 74). Also wird
auch dessen Darstellung letzten Endes auf Poseidonios zurück-
gehen, wenn hier auch die Kennmarke des Ausgehens von den
1) Kaibels Irrtum, an Vertauschung von ?uip und dQysarrjg zu denken
(S. 592), ist richtig gestellt worden zuerst von Steinmetz S. 54f., dann
von Gilbert S. 556 A. 1, endlich von Schmekel S. 222 f. A. 2. Natürlich
bleibt Gellius' Ausdruck „flare adversus" gleichwohl eine üngenauigkeit,
denn der NW weht eben nicht dem NO „entgegen*.
Griechische Windrosen. 91
Kardinalwinden fehlt. Dafür gibt es ihm gegenüber jetzt eine
andere Art Verifikation: wir wissen nunmehr durch die auf Hand-
werkstradition beruhenderömischeWindscheibe(s. 0. S. 65fF.), daß
er überTimosthenes ungenau berichtet, indem er mit Anlehnung
an den Wortlaut des Aristoteles die Stelle der Zwischenwinde
durch [jLeoov bezeichnet: gerade das wird uns zum Zeichen
dafür, daß seine Darstellung durch Poseidonios vermittelt ist.
Endlich stelle ich, trotzdem die Begründung, die Kaibel
gegeben hat, hinfällig geworden ist, getrost auch Vitruv in
diese Reihe. Fraglich ist nur, wieviel er aus Poseidonios hat.
Niemand wird mehr die Konstruktion der achtstrichigen Rose
als Eigentum des Poseidonios in Anspruch nehmen wollen,
und somit wird Vitruv ein Zeuge von zweifelhaftem Wert für
das Achtwindesystem bei Poseidonios^); aber der Satz von den
alia plura nomina flatusque ventorum e locis aut fluminibus aut
monüum procelUs tracta (I 6,10) ist (s. o. S. 84 A.l) poseidonianisch.
Unverkennbar ist auch die Ähnlichkeit in dem Ausgehen von
den vier Kardinalwinden, und fest steht, daß Vitruv ein Zwölf-
windesystem kennt; in der gräulichen Rose von 24 Winden
(c. 6, 10), die sicherlich sein „geistiges Eigentum" bleibt (zumal
jetzt die Spur bei Ps.-Galen als selbständiges Zeugnis aus-
scheidet), stecken ja alle Winde der Rose des Timosthenes,
darunter auch der Xevxovoxog (vgl. die Skizze bei Kaibel S. 600),
den er immerhin westlich vom auster gedacht haben mag. Wie
aber steht es mit der wiederholten Bezugnahme auf Eratosthenes'
Erdmessung (c. 6, 9. 11), bei der doch die Zweifel an der Richtig-
keit recht deutlich auf Poseidonios weisen?^) Wie die Dinge
1) Insbesondere läßt sich m. E. nicht entscheiden, ob Poseidonios
beim Achtwindesystem überhaupt das neue, geometrische Prinzip, das
seine Besonderheit ausmacht, betont hat. Bei Favorin-Gellius fehlt jede
Andeutung einer solchen Auffassung, aber auch bei Plinius kommt
niemand aus II 119. 120 darauf, daß die von ihm so entschieden ver-
tretene Rose ein reguläres Oktagon ist. Erst aus Buch XVIII wird
das klar.
2) Daß Poseidonios ihr Ergebnis für problematisch hielt, wird man,
meineich, trotz Viedebandt (Klio 14 (19U) S. 207 ff.). festhalten dürfen.
92 3. Abhandlung: Albert Rehm
dastehen, sind sie ja zwecklos und kindisch, wie so vieles, was
Vitruv in seiner fatalen Neigung, nicht bei seinem Leisten zu
bleiben, vorbringt^). Die Bezugnahme ist auch töricht, solange
man nur an die Teilung des natürlichen Horizonts denkt ; aber
die Verwunderung über die geringe Zahl von acht Winden
angesichts der ungeheuren Ausdehnung des Erdumfanges be-
kommt mit einem Schlage Sinn und Zweck, wenn wir an das
Ausgangsmotiv der Meridianprojektion denken, an die Hemi-
sphärenprojektion der Erdkarte mit Windnamen am Rande.
Und ungesucht erinnert uns diese Betrachtungsweise an die
Einführung des Zwölfersystems bei Galen — Oreibasios: nkdrog
de avTcbv (hier twv reoodQoov zojkdv) e^ovrog s>cdozov jueya
jiQooeQxovrat riveg äXlai diaq)OQal Tivevjudzcov. Kurz, der Hin-
weis auf die Erdmessung des Eratosthenes konnte sehr wohl
auch bei Poseidonios den Übergang vom Achter- zum Zwölfer-
system motivieren ; ist doch, wie uns Galen lehrt, auch bei ihm
das Zwölfersystem mit der ursprünglichen Idee der Meridian-
projektion in Zusammenhang gebracht.
Suchen wir die Stücke, die für Poseidonios erschlossen
sind, zu einem Gesamtbilde zu vereinigen, so zeigt ihn uns
dieses, entsprechend der Vorstellung, die wir von dem Rhodier
in andern Fällen — am reichlichsten aus Senecas Naturales
Quaestiones — gewinnen, zwar immerhin als Vertreter einer
bestimmten Theorie, aber doch zugleich als Berichterstatter
über andere Theorien, wobei der historische Gesichtspunkt
vorwaltet. Originell ist er nicht, wenn er sich auch die Frei-
heit zu gewissen Modifikationen der Vorlagen wahrt. Der
Aufbau des Abschnittes über die Windrosen in der Meteorologie
könnte etwa so gewesen sein: Ausgangspunkt Homer mit seinen
vier Kardinalwinden, vielleicht mit Polemik in der Art wie in
Tiegl (bxsavov, wahrscheinlich mit Beifügung von Etymologien;
dann Überblick über die Entwicklung, — erst sei die zwölf-
strichige, dann die achtstrichige Rose gebildet worden ; hier«auf
gleichwohl zunächst Behandlung der (hellenistischen) acht-
^) Sehr hübsch charakterisiert den Vitruv in dieser Richtung Oder
S. 338.
Griechische Windrosen. 93
strichigen Rose, wobei die Veränderlichkeit der Aufgangs- und
Untergangsörter zur Teilung des Horizonts und für die Ter-
minologie benützt wurde; ob das geometrische Prinzip, das
Poseidonios ja kennen mußte, schon weil er Athen kannte,
klar entwickelt war, bleibt zweifelhaft. Kritik an dem Acht-
windesystem mit Berufung auf die Größe des Erdumfangs;
Entwicklung des Meridiansystems in modifizierter Farm mit
Benennung der Winde nach Timosthenes, aber vielleicht mit
reichlicheren Varianten der Namen. Den Schluß bildete wohl
die Behandlung der lomKol ävejuoi. Im ganzen erweist sich
doch Kaibels Charakteristik (S. 603) als zutreffend: „Diese
Quelle hatte nicht eine einzige Windrose mit feststehenden
Namen konstruiert, sondern hatte neben der achtstrichigen
auch die zwölfstrichige, letztere mit Benützung des Aristoteles
und Timosthenes, erwähnt und hatte für die einzelnen Winde
verschiedene zu verschiedenen Zeiten oder in verschiedenen
Gegenden bräuchliche Namen beigebracht." Der Streit Capelle
— Steinmetz — Gilbert wird, so betrachtet, gegenstandslos.
Von der hellenischen Urzeit bis zu derjenigen Epoche der
griechischen Geistesgeschichte, in der allmählich das rezeptive
Element über das produktive die Oberhand gewinnt, hat uns
die Behandlung eines kleinen, an sich kaum wichtigen und von
den Griechen selbst nicht eben wichtig genommenen Gebietes
geführt. Aber ein Stück Geistesgeschichte haben wir hier doch
vor uns; die ionische Lust, „sich zu orientieren", Aristoteles'
Sammel- und Ordnungstalent, die geometrischen Neigungen der
alexandrinischen Zeit kommen darin zur Geltung, aber auch, und
zwar nicht zum Vorteil der Entwicklung, die von der nach-
ionischen Zeit ab als echt griechisch zu betrachtende Bewahrung
der einmal geschaffenen Tradition trotz aller wesenhaften Um-
bildungen, das irrationale Element in der Geschichte der grie-
chischen Wissenschaft.
94 3. Abhandlung: Albert Rebm
Anhang.
Das Fragment ävi/icov d^eaeig.
An und für sich lohnt es sich nicht, dem winzigen und
doch vielbehandelten Fragmente, das in den Hss. den Titel
führt ävejucov d^eoEig xal TzgoorjyoQiai' ix rcbv 'AgtoTOTeXovg negl
orjjuelcov (Rose, Aristot. pseudepigr. p.247, Aristot. fragm. 250 R.
= p. 973 und 1521 B.), neuerdings eine besondere Abhandlung
zu widmen ; aber mir sind so viele Meinungen darüber aus
älterer und neuerer Zeit begegnet, die ich für falsch halten
muß, da& es nötig scheint, einmal zu prüfen, wieviel wir
eigentlich von dem Stücke mit Sicherheit oder doch entschie-
dener Wahrscheinlichkeit aussagen können. Ich fürchte, es
ist sehr wenig, — wenn auch in einem Punkte mehr, als bisher
angenommen.
In den Hss., in denen es bisher aufgetaucht ist — vier
Marciani mit fast identischer Überlieferung — , trägt das Frag-
ment den gleichen Titel; aber eine Gewähr für die Richtigkeit
der Herkunftsangabe liegt in dieser Übereinstimmung schon
um deswillen in keiner Weise, weil das Fragment in unserer
Überlieferung auf das Buch Tzegl orj/xeicov folgt, das von eben
denselben Hss. einhellig dem Aristoteles zugeschrieben wird. Aus
diesem Tatbestand ergibt sich aber nicht allein (was niemand
leugnet), daß das Fragment auf dieses Zeugnis hin so viel oder
so wenig mit Aristoteles in Zusammenhang gebracht werden
darf wie das Buch Tiegl orjjueicov, sondern es folgt auch, daß
es nur nach nüchterner Prüfung von uns mit Tzegl oi^jueicov
verbunden, d. h. als Exzerpt aus einem zu erschließenden
größeren Werke tifql oy]juei(jo7> angesehen werden kann, kurz:
auf den Titel ist in seinen beiden Teilen kein Verlaß, er kann
einfach mechanisch von der vorangehenden Schrift übertragen
sein. Rose hat das Fragment — doch wohl nicht unbeeinflußt
von der Überlieferung — p. 244 für ein Exzerpt aus dem
Griechische Windrosen. 95
nämlichen, von Diog. Laert. V 45 bezeugten angeblich theo-
phrastischen Buche jisqI orj/xeicov erklärt, von dem ein weit
größerer Rest eben das erhaltene Buch neol orjjueicov ist *).
J. Böhme, De Theophrasteis quae feruntur negl orjjueicov ex-
cerptis, Hallenser Diss. Hamburg 1884, S. 51 — 54, M. Heeger,
De Theophrasti qui fertur Tiegl orjjueto)v libro, Diss. Leipzig
1889, S. 56—59, Kaibel (Hermes 20 (1885) S. 606 A. 2,
Steinmetz S. 41 sind ihm gefolgt. Aber nicht weniger als
alles spricht gegen eine solche Beziehung. IIeqI orjjueuov hat
§ 35. 36 die Windtafel des Aristoteles herübergenommen,
äv. '&eo. hat — mit Abweichungen — die des Timosthenes;
doch darauf lege ich aus Gründen, die unten zu entwickeln
sind, kein Gewicht. 'Av. -^eo. teilt eine Menge Etymologien
von Windnamen mit, in einer Schrift über Wetterzeichen haben
solche nichts zu suchen. Der weite geographische Horizont,
den äv. d^so. umspannt, ist ein ganz anderer als derjenige, der
uns in den spärlichen Angaben von negl orjjueicov vorliegt, wo
nur Attika, Makedonien mit seiner nächsten Nachbarschaft
und einmal (§41) der Pontos berücksichtigt wird; wie will
man sich denn diese doch in sich selbst konsequente Be-
schränkung erklären, wenn das ursprüngliche Werk eine solche
Fülle von Windnamen bot ? Waren mit ihnen Windbeobach-
tungen verbunden, so ist rätselhaft, weshalb nichts davon in
Ttegl orjjueicov steht; war das nicht der Fall, — nun, so gehört
die' Sammlung lokaler Windnamen nicht in eine Schrift jzegi
orjjueicov, sondern in eine Tzegl dvejUMv.
So müssen wir denn gestehen : wir können von dem Buche,
aus dem äv. ^eo. exzerpiert ist, nichts wissen, außer was uns
das Fragment selbst sagt. Ich habe schon die drei Bestand-
M Eine Analyse dieses Buches liegt im Entwurf seit vielen
Jahren bei mir; daß sie für die altertümlichen Bestandteile der Kompi-
lation auffällige Beziehungen zu Eukteraon ergibt, habe ich schon in
dem Artikel Euktemon bei P.-Wiss. VI S. 1060 angedeutet, kann aber
den genaueren Nachweis auch hier so im Vorübergehen nicht mitteilen.
Über die Kompilation als Ganzes scheint mir bereits Rose wie so oft
das Richtige in aller Kürze gesagt zu haben (Aristot. pseudepigr. p. 245.
250): Arat und Aristoteles' Meteorologie sind darin ausgeschrieben.
96 3. Abhandlung: Albert Rehni
teile aufgezählt, aus denen es sich zusammensetzt. Der erste
ist eine Windrose, welche die Lokalisierung der zahlreichen
Einzelwinde, die d^eoeig, lieferte ; dazu gehörte eine Zeichnung,
wie wir sie schon bei Aristoteles finden ; den Satz, der auf sie
verweist, durfte Rose in der Ausgabe der Fragmente nicht
weglassen : 'Ynoyeygacpa de ooi xal rag deoeig avrcbv d)g xelvrai
xal nveovoLV, vjioyQaipag rov xrjg yfjg xvxXov^), iva xal tiqo
ocp^aXficjv 001 Ts^cboiv. Die Zeichnung selbst ist nicht er-
halten — leider; denn daß das Schema, wie es der Text bietet,
nicht in Ordnung ist, liegt auf der Hand. Die Sondernamen
sind in 11 statt 12 Rubriken eingereiht, anaQxriag fehlt ^).
Die Frage, wie man sich damit abzufinden hat, beschäftigt
alle Bearbeiter, seitdem Roses Ausweg, in dem Notat h dk
Kavvoyi fxeorjg diesen als zweiten Wind der Rose zu bezeichnen,
als ungangbar erkannt ist. Die Unordnung am Anfang ist
schon dadurch gekennzeichnet, daß unter dem Lemma ßoggäg
auch zu lesen ist: iiveg de avxov ßoggäv oioviai elvai (den
"lövgevg). Am nächsten liegt es, zwischen dem Lemma ßoggäg
und der angeführten Stelle ein neues Lemma änaQxxiag einzu-
schieben, also etwa zu schreiben: änaQxxiag' ovxog ev ^OXßlai
xxX., womit man in das Fragment die nämliche Platz vertauschung
zwischen ßoggäg und änaQxxiag hineinbringt, die in Geop. 111
vorliegt, und den ßogoäg zum reinen Nordwind macht. Das
geht aber nicht an : gleich der erste Lokalwind, der mit dem
ßoggäg gleichgesetzt wird, der üaygevg von Mallos, kann, wie
die Karte lehrt, zur Not in Mallos und auf dem benachbarten
Meere ^) als NNO bezeichnet werden, aber nimmermehr als N.
^) Diese Wendung ist verständlich nach dem oben S. 57 ff. Dar-
gelegten.
'^) Schlechtweg unverständlich ist, wie Gilbert S. 555 A. 1. 583 A.4
dazu kommt, in äv. d'so. die achtstrichige Rose zu finden. Die ersten
sechs Namen sind durch ein folgendes oviog (bei 6 rovxov) deutlich als
Lemmata ausgesondert. Dann wird die Form freier, aber immer ist das
Lemma unverkennbar.
^) Die Lokalbezeichnungen gelten sicherlich nicht allein für das
Land (von dem phrygischen Winde in n. 11 natürlich abgesehen), sondern
mindestens ebensosehr für den Sprachgebrauch der Schiffer des Ortes.
Griechische Windrosen. 97
Es kommt hinzu, daß unter n. 3 ein xaixiag (der Kavviaq) den
Beisatz erhält bv aXXoi ßoQQäv oiovzai elvai, woraus folgt, daß
dem Exzerptor der ßoQgäg als linker Nachbar des xaixiag gilt;
denn die Varianten geben immer den Nachbarn zur Linken an
(n. 4 beim Gr]ßdvag, n. 5 beim Kdgßag), und es wäre ja auch
sehr zu verwundern, wenn bei diesen Schwankungen in der
Identifikation ein Zwischenwind übersprungen würde. Also
bleibt nur der Ausweg, anzunehmen, daß das erste Lemma
äiiagxTiag war, daß aber dieser Abschnitt ausgefallen ist und
dann nachträglich in dem Notat über den 'ISvgevg das be-
ziehungslos gewordene äTtagxTiav durch ein sinnloses ßaggäv
ersetzt worden ist. Die Abfolge djtaQxiiag — ßaggäg für den
Anfang vorausgesetzt, haben wir bis auf einen Punkt das
Schema des Timosthenes in der Form vor uns, die wir bei
späteren Autoren nicht selten finden; Idnv^ hat sich als
Hauptname statt des dgyeoxfjg, der Hauptbezeichnung noch bei
Theophr. de vent. 62, durchgesetzt wie bei Ptolemaios, Vegetius,
in den Geoponika (der Name für Timosthenes ausreichend,
aber nur als Variante bezeugt, s. o. S. 48 A. 2)^), wogegen Xevxo-
voTog statt hßovoTog nicht weiter auffällt (s. o. S. 48. 86 f.)^).
Das fremde Element aber ist der vielberufene ÖQ^ovorog. Das
Wort ist sinnlos, ÖQ'&Qovorog, was Königsmann daraus machen
wollte, ist um nichts besser; evQovorog herzustellen ist wohl
Nur so erklären sich gewisse der Karte nach überraschende Gleich-
setzungen. Kaibel war (Hermes 20 (1885) S. 621 f.) auf dem Wege,
das zu sehen, hat aber mit dem Prinzip doch nicht ganz Ernst gemacht.
Ruehl hat in der S. 45 A. 1 erwähnten Dissertation das Prinzip für
einen Einzelfall klar ausgesprochen S. 17. Meine Auffassung findet eine
Stütze daran, daß der 'Jövgevg (n. 1. 2), der für Olbia selbst natürlich
kein Nordwind sein kann, bei Theophr. de vent. 53 als Wind (und
zwar Landwind) des JJa^cpvXixog x6?.jiog bezeichnet wird.
^) Auf die Differenz ^oaixiag — d'gaaxcag, ist bei der Art der Über-
lieferung nichts zu geben; es entspricht aber der Beobachtung beim
lOLTiv^, daß das jüngere d-gaixiag in äv. d^ea. steht.
2) Völlig verfehlt ist es natürlich, wenn Kaibel (Hermes 20 S. 608)
hier den ?.evx6voTog im aristotelischen Sinne finden will (vgl. Heeger
S. 58 A. 1).
Sitzgsb. d. philos.-philol. u. d. bist. Kl. Jahrg. 1916, 3. Abb. 7
Ö8 3. Abhandlung: Albert Rehm
eine einfache Lösung, aber man fragt sich, wie das korrum-
piert werden konnte. So steckt in der Korruptel vielleicht
doch eine singulare Neubildung^). Überblickt man das ganze
Schema, so ist schlechterdings nichts darin, was für ein ver-
hältnismäßig hohes Alter spricht ; so konnte auch ein Schrift-
steller des ausgehenden Altertums, ja des Mittelalters die Winde
bezeichnen.
Daraus ergibt sich weiter, daß wir die Windrose des Frag-
mentes gar nicht ohne weiteres in dem exzerpierten Werke
voraussetzen dürfen; der Exzerptor kann das ihm geläufige
Schema von sich aus zu gründe gelegt haben; wissen wir doch
durchaus nicht, ob die Lokalwinde im Original so listenförmig
zusammengestellt waren, wie sie das Fragment bietet^). Bei
den meisten Winden bedeutete das Verfahren des Exzerptors
gewiß keine Fälschung der Vorlage (so hei {änagKitag), ßoQgäg,
xaixtag, äjirjXid)Tf]g, svgog, vorog, Xixp, i^ecpvQog\ auch XevKovoxog
ist durch die im anschließenden Text gegebene Etymologie
für die Vorlage gesichert). Aber aus dem Schema als Ganzem
*) Es hat wenig Zweck, daran herumzuraten. Aber als Möglichkeit
darf oQfpvovoxog, das paläographisch höchst einfach wäre, doch genannt
werden : ein Gegenstück zu Xsvxovoxog (und zu Poseidonios' (xeXanßoQsiog) ;
bei Adamantios p. 33, 10 findet sich oqcpvcbdrjg als Bezeichnung der Luft-
beschaffenheit. Sollte der weitere Wortlaut in av. ■&so. dann nicht ge-
wesen sein: rovrov ol [xsv svq6v{otov), ot 8s d/uvsa jiQooayoQsvovoiv?
2) Die Einreihung von Lokalwinden unter mehrere Winde der Rose
wirkt jetzt höchst schwerfällig; es war viel einfacher zu sagen: der
*I6vQevg ist NNO für die Leute von Olbia, N für die von Lyrnateia usw.
Was ursprünglich vom Orjßdvag gesagt war, so daß ihn der Exzerptor
unter n. 3 und 4 anführen konnte, bleibt unklar; was jetzt unter 4 da-
steht, ist Unsinn. Auch ist gar nicht ohne weiteres anzunehmen, daß
im Original jeder Lokalwind genau einem Winde der Rose gleichgesetzt
war; die konsequente Durchführung dieses Prinzips kann Zutat des
Exzerptors sein, der dabei- mancherlei Fehler gemacht haben mag ; die
Zuteilung des rpoivixiag zum evgog z. B. möchte ich am liebsten auf sein
Konto schreiben. Andrerseits ist das Verfahren in dv. d-sa. auch nichts
Singuläres: auch bei Theophr. de vent. 62 geben Winde der Rose das
Ordnungsprinzip ab. Ich will auch nur hervorheben, daß mancherlei
Möglichkeiten für das Original offen bleiben.
Griechische Windrosen. 99
wird man vorsichtiger Weise keine Schlüsse auf Alter und
Herkunft der exzerpierten Schrift ziehen dürfen.
Macht doch der sachliche Inhalt des Stückes durchaus
nicht den Eindruck, als gehörte es später Zeit an. Römisches
fehlt ganz, und die Ungleichmäßigkeit des Materials weist
nicht auf jenen späten Typus von Sammlern, der überallher
alles Mögliche zusammenrafft. Neun Notate von 27 betreffen
die Südküste von Kleinasien und die syrische Küste, und hier
verrät der Autor eine ganz besondere Vertrautheit mit der
Topographie; neun beziehen sich auf Orte im oder am Agäischen
Meer — hier nimmt Lesbos eine Vorzugsstellung ein, während
vom griechischen Festland nur die Megarike erwähnt wird — ;
Pontos, Propontis, inneres Kleinasien sind mit je einer Angabe
vertreten, Kyrene mit zwei, der griechische Westen mit vier,
wenn man reichlich zählt. Daß es sehr viel mehr Lokalnamen
gab, da solche eben allerorten vorkommen, wo eben der Wind
im Alltagsleben eine Rolle spielt, darüber braucht man jetzt kein
Wort mehr zu verlieren, nachdem die Sammlung von C. Ruehl
(s. 0. S. 45 A. 1) vorliegt. Nehmen wir, wie es Voraussetzung jeder
Untersuchung ist, an, daß das Exzerpt ein ungefähr richtiges
Bild des in der Vorlage enthaltenen Materiales gibt, so werden
wir darauf geführt, an einen Schriftsteller zu denken, der in
den vornehmlich berücksichtigten Gegenden heimisch war und
vornehmlich Selbsterkundetes mitteilen wollte. Das schließt
natürlich die Benützung literarischer Quellen nicht aus, wie
denn die Berührung mit Theophr. de ventis auf der Hand
liegt.
Nur darf man nicht meinen, daß wir damit einen Fingerzeig
für die Herkunft des Fragmentes erhalten. Schon Schneider
hat in seiner Theophrastausgabe IV p. 719 die Beziehungen
zwischen dv. 'deo. und de vent. 62 verwertet; aber man muß
doch betonen, daß die Abweichungen sehr erheblich sind.
Gleich der erste Satz in de vent. 62 (den ich übrigens für
verstümmelt halte) ev Zixeliai de xaixiav ov xaXovoiv, äXl'
änrjXiwxYjv hat in äv. '&eo. keine Entsprechung ; der Kdgßag fer-
ner wird hier, in de vent , als phönikischer, dort als kyrcnäiscber
100 3. Abhandlung: Albert Rehm
Name erklärt, hier als änrj^ucorrjg, dort als evQog, und nur
nachträglich wird hinzugefügt: elol de, oi xal ä7ir]ha)Tr]v vojul-
Covoiv elvai; die Namen endlich, die in de vent. dem ägyeoirjg
beigelegt werden {"OXvjumag, Zmqcov — so auch Aristot.
meteor. II 6,7 — , xsgxiag), erscheinen in äv. '&eo. beim §Qaixiag.
Man kann also nur ganz allgemein sagen, hier wie dort werde
verwandtes Material benützt. Nun ist ja der Schlußparagraph
von de vent, äußerst schlecht überliefert und augenscheinlich
selbst als flüchtiges Exzerpt dem Ganzen angehängt, sodaß
man einwenden könnte, in der ursprünglichen Fassung werde
dieser Abschnitt über lokale Bezeichnungen unseim Fragment
äv. '&eo. ähnlicher gewesen sein^). Aber es gibt ja noch eine
Berührungsstelle; an ihr ist der Theophrasttext heil, die Un-
abhängigkeit unseres Fragments von ihm aber womöglich noch
deutlicher: in äv. '&eo. n. 1. 2 hat Meineke zu Steph. Byz.
den "lövQEvg sicher richtig hergestellt; von dem nämlichen
Winde redet Theophrast de vent. 53, wo aus övQig gewiß
auch 'Idvgevg oder mit Meineke "IdvQig zu machen ist. Ein
vergleichender Blick auf beide Stellen zeigt, daß in dv. ^eo.
ein viel reicheres topographisches Material verarbeitet ist.
Ich finde nur eine sachliche Berührung mit peripatetischer
Doktrin, die Wendung in n. 7, wonach der voxog eico xär^
*) Ein schon von Schneider in seinem Theophrast V p. 163 bei-
gezogener Zeuge für das Stück ist Alexander von Aphrodisias zu Aristot.
meteor. p. 108, 21—33 Hayduck. Darnach hätte Theophrast für den
aQyeoirjg auch schon die Bezeichnung lanv^ gekannt, wovon in unserm
Text nichts steht. Etwas reichhaltiger kann dieser also in der Form,
in der er dem Alexander vorlag, gewesen sein; aber schwerlich sah er
wesentlich anders aus; dafür zeugt der Satz bei Alexander : djtr]Xiu>zt]v,
ov QeöcpQaoiog Xsyei jcaga juev ^ixeXiwraig 'EXXtjOJiovxiav y.aXelodai, Jiagä
de ^oi'vi^i Kagßav, BEQsxvvxiav 8s sv IJövrooi. Wahrscheinlich ist die
Angabe über die Sikelioten falsch, denn bei Theophrast ist nach Kaibels
Bemerkung (Hermes 20 S. 606 A. 2) tov Se djitjXucozrjv ^EXXrjonovxiav (xa-
Xovoi) lückenhaft (an Prokonnesos, Teos, Kreta, Euboia, Kyrene kann
nach dv. d'so. n. 4 gedacht werden). Da aber bei Theophrast oi jieqI
HixeXiav vorhergeht, nahm Alexander oi nsQi ZixsXiav auch als Subjekt
zum Folgenden. Er hatte also hier den nämlichen Text wie wir.
Griechische Windrosen. 101
ojußgog ist^). Das entspricht Aristot. meteor. II 3, 27. Theophr.
de vent. § 4. 7. Aber bei der großen Autorität, welche die
Windlehre des Aristoteles bei den Späteren genoß, genügt
diese eine Berührung zwischen dv. 'deo. und Aristoteles — Theo-
phrast noch nicht, um äv. d^eo. als Produkt der peripatetischen
Schule zu erweisen'^).
Mit dem Peripatos hat auch die besondere Vorliebe für
Etymologien nichts zu tun^), die in unserem Fragment hervor-
tritt bei voxog, Xiip, levxövozog, f^ecpvqog, die sich aber im
Original wohl auch bei anderen Winden der Rose geltend ge-
macht haben wird. Das ist nicht peripatetische, sondern
stoische Art; aus den stoischen do^m bei Diels, Doxogr. p. 374
^) Nebenbei bemerkt, gestattet die an sich unklare Wendung den
Schluß, daß im Original auch von der Natur der Winde die Rede war:
abermals ein Anzeichen dafür, daß es eine Schrift tisqI dvsf^cov, nicht
tisqI orjjusicov gewesen ist.
^) Auf die sachliche Erklärung des topographischen Teiles näher
einzugehen, ist hier kein Anlaß. Partsch hat in Neumann-Partsch,
Physik. Geogr. v. Griechenland S. 105— 108 die Angaben großenteils auf
ihren Wert geprüft und so zum Verständnis Wesentliches beigetragen.
Ruehls Augenmerk ist hauptsächlich auf die Windnamen gerichtet.
Zum Topographischen möchte ich nur zwei Bemerkungen machen : der
BdnvQog (n. 4), der mit dem Libanon zusammen die Ebene östlich von
Tripolis in Phoenikien umschließt, muß doch wohl das nämliche Gebirge
sein, das bei Plin. n. h. V 78 Bargylus heißt; an einer der beiden Stellen
muß also der Name verdorben sein. Vielleicht war auch der zwischen
beiden Gebirgen fließende Eleutheros erwähnt (vgl. auch Strab. XVI 753);
nach ihm könnte der Wind norafievg heißen, während, was man jetzt
an der Stelle liest, widersinnig ist (jiveT..sx jisöcov .... Tiago xai jioxa^evg
xaXsTzai). Sodann : der 'OXv/ujitag, der den Leuten von Pyrrha auf Lesbos
Beschwerde macht {ox^sT, n. 12), kann nach seiner Einreihung unter
ß'oaixiag sicherlich kein Scirocco sein, wie Partsch S. 107 vermutet.
Auch er kommt, wie der Text eindeutig sagt, vom pierischen Olymp,
nach dem dieser Wind auch auf Euboia genannt wird; die Karte zeigt,
daß ein Wind von dorther die Einfahrt in die Bucht von Pyrrha sehr
erschweren kann; so wird man auch das so oft vermerkte svoxhTv zu
verstehen haben.
^) Bei Theophrast kenne ich nichts derart; für Aristoteles sei auf
Lersch, Spracbphilos. d. Alten IH S. 33 ff. und Bonitz' Index s. v. Ety-
mologica (mit den Addenda) verwiesen. *
102 3. Abhandlung: Albert Rehm
ergänzt sich die im Exzerpt ausgefallene Etymologie von ^-
cpvQog^ und zum vorog^ der so heißt, weil er e^m xaTOjußQog
ist, läßt sich Gell. II 22, 14 stellen : Graece voxog nominatur,
quoniam est nebulosus atque umectus; vorig enim Graece umor
nominatur, was über Favorin auf Poseidonios zurückgeht.
So hätte denn Poseidonios die größte Anwartschaft, die
Quelle des Fragmentes zu sein; er hat die Winde eingehend
behandelt, hat auch von lokalen Windnamen geredet (Zu-
sammenstellung bei Kaibel, Hermes 20 S. 594 f.; s. o. S. 84 A. 1.
88. 93), hat mindestens eine der in äv. d^eo. vorgetragenen
Etymologien, vorog -vorig (s. o.), vertreten; und wie trefflich
paßt die Bevorzugung des südlichen Kleinasiens und Syriens
zu dem Manne aus Apameia, der auf Rhodos lehrte ! So be-
stechend dieses Zusammentreffen von Kombinationen sich aus-
nimmt, der Schluß wäre, fürchte ich, doch falsch. Man braucht
am Ende kein Gewicht darauf zu legen, daß die aus den an-
dern Zeugen auf Poseidonios zurückzuführenden lokalen Wind-
namen doch recht wenig Berührungen mit dv. d^eo. aufweisen
{carbasus bei Sueton, sciron bei Plinius und Seneca, olympias
bei Plinius, circius bei Seneca und Sueton, — überall noch
dazu mit Differenzen im einzelnen); man könnte ja an Ent-
stellung bei der vielfältigen Entlehnung und Verkürzung
denken. Entscheidend aber ist, daß die Vorlage des Fragm.
äv. '&eo. beträchtlich älter als Poseidonios zu sein scheint.
Eine Zeitmarke glaube ich nämlich unter den topographischen
Angaben gefunden zu haben ^): das pamphylische Olbia wird
(n. 1. 2) von den zahlreichen andern Städten gleichen Namens
durch den Beisatz ?5 xazd Mdyvdov (oder MvyddXrjv, was Ruehl
S. 16 bevorzugt)^) unterschieden; seit etwa der Mitte des
' 1) Es ist mir eine erfreuliche Bestätigung gewesen, als ich die oben
besprochene Stelle von E. Petersen bei Lanckoronski, Städte Pisidiens
und Pamphyliens I, S. 18 A. 4 in ähnlichem Sinne ausgenützt fand.
2) Überliefert ist MvyaXov; beide Änderungen sind paläographisch
leicht. MvyddXr], bzw. MvydaXa ist übrigens so schlecht bezeugt, nur
durch den Stadiasm. m. magni 222 (GGM I p. 489), daß man dort an
Korrupte! aus Mäyvdo? denken könnte. R. Kiepert zu Formae orb.
ant. VIII S. 11 spricht sich allerdings dagegen aus.
Griechische Windrosen.
103
IL Jahrh. liegt aber zwischen Olbia und Magydos oder Myg-
dale die stattliche Gründung Attalos' IL Attaleia (Strabon
XIV 667; vgl. Rüge b. P.-Wiss. II S. 2156); es ist nun
doch außerordentlich unwahrscheinlich, daß Olbia nach einem
kleinen Küstenort benannt worden wäre, wenn zu der Zeit,
als die exzerpierte Schrift entstand, schon die Stadt der Perga-
mener vorhanden gewesen w^äre.
So werden wir also auf einen Autor des III. Jahrh. ge-
führt. Einen Namen kann man nicht nennen ; Eratosthenes
wie Kallimachos scheinen mir durch das Fehlen von Ägypten
ausgeschlossen zu sein. Der geographische Horizont weist
eher auf einen Autor, der an den Küsten des Seleukidenreiches
heimisch war.
Stellenregister.
Agathemeros GGMII 472 s 47 ff. 74. 90 f.
[Agathemeros] GGM II 503
51 f.
Anaxagoras b. Aristot. Meteor. II 6
41,1
Anaximander fr. 1. 2. 4. 6
15,2
Arat V. 39. 44
6,2
V. 61s
26,2
Aristoteles Meteor. II 6 .
36 ff.
[Aristoteles] Jtsgl xoofiov p. 394 s.
fr. 250 R (ävsfzcov Masig)
86 f.
94 ff.
Ephoros fr. 38
18. 19, 1
b. Plin. n. h. VI 57 ?
57
Eratosthenes b. Strab. 11 67. 76. 80
53
b. Ps.-Galen in jt. x^H'^v'i
70 ff.
b. Geminos u. a.
38,1
Favorin b. Gellius noct. Att. 11 22
90
Galen in n. dsgcov b. Orib. IX
63. 81 ff.
[Galen] in jt. xvf^öiv
70. 74. 75 ff.
Hekataios negiodog ytjg .
28,1
Herakleitos fr. 120 .
26
Herodot
27 ff.
IV 99
29
VII 188 s. . . .
34
Hipparch b. Strab. II 71. 86 s.
. 54
b. Ptol.^ Phas. .
71,1
Hippokrates Jt. olsqcov
18 ff.
c. 3-6 .
. 83 f.
c. 13 ...
. 19,1
smö. I. III. .
22,1
104 3. Abhandlung: Albert Rehm, Griechische Windrosen.
[Hippokrates] n. eßö. c. 3 . . . .
30 ff.
Homer « 274 ss.
6,2
H 190 SS. V 109 SS. . . . .
8
Inschriften: IG Xil 5,891
12.1
IG XIV 906. 1308
50
Aquileia
67,2
Dagga
50
Rom (nicht in CIL)
51. 65 ff.
loannes Lydos de mens. IV 119
87,1
Macrobius in somn. Scip. 116,7. 9,4
44
Manilius Astron. IV 587ss
87
Oreibasios iazQ. ovvay. IX 7 .
81 f.
7. 9. 12 .
77
6. 10
84,1
Plinius n. h. II 119 s
89
II 124
73,1
VI 57
57
Polybios in 36. 37. XXXIV 7 . . .
54 f.
Poseidonios b. Ps.-Galen in :7r. xv^ioy? .
75 ff.
b. Plin. n. h. VI 57 .
57
b. Strabon u. a. .
78 ff.
Ptolemaios Geogr. VII 6 .
60 ff.
Synt. VII 4. VIII 4 .
62,1
Tetrabibl
62,1
b. Olympiodor in Aristot. Meteor.
. 52
Seneca n. qu. V 17 . . . . •
. 60
Strabon I 29
24 f. 79 f.
II 67. 76. 80. 107. 108
53 ff.
II 116
. 57 f.
[Theophrast] ti. orjfisicov ....
. 49, 1. 95, 1
Thrasyalkes b. Strabon ....
. 24 f.
Timosthenes fr. 6
. 47 ff. 63 ff.
Varro b. Sen. n. qu. V 16
. 60. 88
Vitruv 16
. 91 f.
I 6, 6. 12
llff.
Zauberpapyri
. 62,1
Inhaltsübersicht.
Seite
Vorbemerkung , . . . . 3
1. Homer und die vorwissenschaftliche Zeit .... 5
2. Die ionischen Physiker 9
3. Aristoteles .36
4. Timosthenes 47
Zusatz 65
5. Das hellenistische Achtwindesystem 70
6. Poseidonios ''^
Anhang (Das Fragment ävifxcov ^soeig) 94
Stellenregister 103
A
Sitzungsberichte
der
Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Philosophisch-philologische und historische Klasse
Jahrgang 1916, 4. Abhandlung
#
Mittelalterliche Handschriften
des K. B. Nationalmuseums zu München
von
Paul Lehmann
Vorgelegt am 1. Juli 1916
München 1916
Verlag der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
in Kommisaion des G. Franz'schen Verlags (J. Roth)
/
Sitzungsberichte
der
Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Philosophisch-philologische und historische Klasse
Jahrgang 1916, 4. Abhandlung
Mittelalterliche Handschriften
des K. B. Nationalmuseums zu München
von
Paul Lehmann
Vorgelegt am 1. Juli 1916
München 1916
Verlag der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
in Kommission des 6. Franz'schen Verlags (J. Roth)
Der Glanz der Handschriftensammlung der K. Bayer. Hof-
und Staatsbibliothek erstrahlt seit langem so stark, daß selbst
die weder an Zahl noch Wert geringen Schätze unserer Uni-
versitätsbibliothek lange Zeit für viele im Schatten gelegen
haben. Weitaus schwächer und seltener aber noch ist der
kleine Handschriftenbestand des K. Bayer. Nationalmuseums
in München beleuchtet . worden. Wohl ist ein Teil davon
in Schaukasten ausgestellt und gewiß von vielen Museums-
besuchern betrachtet worden, jedoch haben nur ganz wenige
Stücke wissenschaftliche Würdigung gefunden. Namentlich
übersah man die nicht ausgestellten, in der Bibliothek selbst
aufbewahrten Bände. Auch meine Kenntnis der Museumshand-
schriften reicht nicht weit zurück. Zur Erklärung und Ent-
schuldigung kann nicht zuletzt der gedruckte Bibliothekskata-
log ^) dienen, der die Handschriften zum Teil nur wenig von
den Drucken abhebt und im höchsten Grade unvollkommene
Beschreibungen gibt, ebenso wie die vorhandenen handschrift-
lichen Kataloge nicht nur veraltet, sondern auch voll Fehler
und Lücken und oft irreführend sind. Ich hoffe darum, mit
meinen Mitteilungen manchem Forscher einen Dienst zu er-
weisen und dem Museumsdirektor Herrn Professor Dr. Halm,
dem Bibliothekskustos Herrn Dr. Jacobs sowie seinen Ver-
tretern Herrn Dr. Muchall und Herrn Kustos Dr. Buchheit
meinen Dank für ihre freundliche Erlaubnis und Erleichterung
meiner Durchsicht der Bände im Frühjahr und Sommer 1916
auf würdige Weise abstatten zu können.
^) Kataloge des bayer. Nationalmuseums in München. I. Bücher-
sammlung, beschrieben von J. A. Mayer, München 1887.
1*
4 P. Lehmann
Freilicli ist es mir, da ich jetzt und in der nächsten Zu-
kunft eher zu viele als zu wenige wissenschaftliche Pflichten
habe, nicht möglich, einen den höchsten Ansprüchen genügen-
den, alles umfassenden Katalog zu liefern. Ich feile meine
Beschreibungen und Erörterungen nicht bis ins Kleinste aus
und gebe, mit der Bitte um Nachsicht, nur in Auswahl das, was
meinen sonstigen Forschungen nahe lag, indem ich mich auf
die lateinischen und einzelne deutsche Handschriften mittelalter-
licher Entstehungszeit und deutscher Herkunft beschränke.
Dabei bleiben — bis auf das Werk des Luthergegners
Augustinus von Alfeld — unberücksichtigt die nachmittelalter-
lichen Manuskripte des Museums, unter denen sich wertvolle
Stamm- und Wappenbücher, Chroniken, Kunstbücher und an-
dere Sachen aus dem 16. — 19. Jahrhundert befinden, ferner von
den mittelalterlichen Stücken die vorzugsweise den Kunsthisto-
riker und den Liturgiker angehenden und von ihnen zum TeiP)
schon herangezogenen Miniaturenhandschriften und -Fragmente,
unberücksichtigt die meisten Codices germanici und einige la-
teinische.
Ein längeres Warten und weiteres Ausdehnen würde viel-
leicht ein Unterlassen der Veröffentlichung herbeiführen, so
die Codices höchstwahrscheinlich noch zu längerer Vergessen-
heit verdammen und der Wissenschaft einige nützliche Ent-
deckungen und Anregungen fürs erste versagen.
Nur kurz erwähnt seien folgende lateinische Manuskripte
mittelalterlichen Ursprungs: Bibl. 3595 {Martini Poloni chro-
nicon, abgeschrieben im 14. Jahrhundert und mit Nachträgen
bis 1390 versehen) und 3602 {Frophetae vet, testamenti atque
novum testamentum, saec. XIV), beide italienischer Herkunft.
Ferner folgende Bände deutscher Herkunft: Bibl. 682 {Passio-
nale novum, saec. XV); 935 {Breviarium, saec. XV, aus der
Bamberger Diözese); 955 {Sermones ettractatus de caritate, pru-
dentia, mmie etc., saec. XV ex.); 1121 {Registra granarii ober-
M Vgl. Berthold Riehl, Studien über Miniaturen niederländischer
Gebetbücher usw.: Abhandl. d. bist. Kl. der K. B. Akad. d. Wiss. XXIV
2 (1907) S. 433 ff.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. ^ationalmuseuois. 5
bayerischer Ortschaften wie Beuerbach, Schwabhausen, Lands-
berg a. L., Geltendorf, Gräflfing, Perchting, Pöcking, Kaufe-
ring u.a., von 1481 — 1532); 3607 (Lexikalisch-encyklopädisches
Gedicht Ligwa materna, tu disce sequencia scripta \ Rezepte
gegen das Verderben des Weines, das Zerfließen der Tinte auf
dem Pergament und für die Zubereitung von Zinnober und
Tinte; Francisci de Monte Leonis (Löwenberg in Schlesien)
Modus dictaminis, u. a., saec. XV); 3632 und 3635 (Burandi
rationale divinorum, saec. XV); 4912 (Biblia pauperum compen-
diosa, saec. XIV).
Die Codices und Bruchstücke mit Texten in deutscher
Sprache werden sicherlich von sachkundigen Mitarbeitern der
Deutschen Kommission bei der K. Preuß. Akademie der Wissen-
schaften in Berlin erledigt werden, wenn sie es nicht bereits
sind. In Betracht kommen außer den unten beschriebenen Bän-
den noch Bibl. 631 (Weissagungen der Sibylle; Predigten;
Streitgedicht zwischen Leib und Seele; Gedicht vom jüngsten
Gericht, zum Teil 1499 von einem Johannes Linck in Bayern
abgeschrieben); 930 (Gebete; Beichtspiegel; 'kurczeler und un-
terweissung was der mensch sull versten hey den dingen die
da geschehen in der mess; Sterbebuch u. a., saec. XV); 933
(Gebetbuch, saec. XV); 952 (Mystisch-asketische Texte, z. B.
Sprüche Meister Eckarts, Pfeiffer I 625; Predigten; Von der
dbloessung unsers herren und von dem grossen herslaid unser
lieben frawen u. a., saec. XV); 946 (Leben der Heiligen Fran-
ciscus und Elisabeth, saec. XV); 1498 (Arzneibuch, saec. XV);
1501 (Traktate über den Kalender, die Sternzeichen, die 4 Ele-
mente u. a.; Arzneibuch; Physiognomie; Rezepte; Gedächtnis-
kunst des Hans Hartlieb, saec. XV); 1512 {Wie ain mensch in
diser seit sein leben mocht schichen; die swelff antiffner, die man
singt über das Magnificat u. a., saec. XV); 1622 (Medizinische
Traktate, saec. XV); 2502 (HistorienbibeP) aus der Werkstatt
^) Dieser Codex untersucht von R. Kautzsch im Zentralblatt für
Bibliothekswesen XII (1895), S. 64 ff. und H. Vollmer, Materialien zur
Bibelgeschichte und religiösen Volkskunde des Mittelalters I (Berlin 1912),
S. 12, 120 f., 125.
6 ♦ P. Lehmann
Diebolt Laubers, saec. XV); 3597 (Gebete^) und Ablässe,
saec. XV ex.); 4439 (Allerlei Fragmente, darunter 16 Blätter
eines mystischen Traktates, saec. XIV / XV, eines über die
Hauptsünden, saec. XV).
Die Mehrzahl der bereits genannten und der im folgenden
beschriebenen Codices ist im 19. Jahrhundert von dem Bam-
berger Kunstgelehrten M. J. von Reider^) gesammelt. Es sind
Reste kirchlich-klösterlicher Bibliotheken und Archive nament-
lich Nordbayerns und helfen außer der Rekonstruktion der
zersprengten Büchersammlungen das mittelalterliche Geistes-
leben nach mancher Seite hin zu veranschaulichen. Neben
Werken der antiken Literatur in zwar unwichtigen Abschriften
stehen Erzeugnisse und Niederschläge der Theologie und der
scholastischen Philosophie des Mittelalters, religiös-asketische
Texte in deutscher und lateinischer Sprache reihen sich an
meist wenig erfreuliche, aber bezeichnende Machwerke des
frühen deutschen Humanismus. Für den Geschichtsforscher
im engeren Sinne bieten unter anderem die Handschriften von
Birklingen, Cadolzburg und Nürnberg neuen Stoff. Es sind in
allen Gruppen keine Seltenheiten ersten Ranges, jedoch viele
Stücke und Aufzeichnungen, die in größerem Maße veröffent-
licht und besprochen zu werden verdienen, als ich es hier tue.
1) Zu Unrecht als Gebetbuch Herzog Wilhelms III. von Bayern
(t 1435) im Museum ausgestellt und besprochen von G. Hager in den
Denkmalen und Erinnerungen des Hauses Witteisbach im Bayer. Na-
tionalmuseum, München 1909, S. 17 und im Führer durch das Bayer.
Nationalmuseum, XI. Amtliche Ausgabe, München 1913, S. 233. Der Band
enthält allerdings Gebete mit der Überschrift Bye nachgeschriben gepett
sindt gemacht nach Cristi gehurd XIIII hundert und in dem XXXI. jar
dem hochgebornen fursten hertzog Bilhalm zic Bayrnn etc., aber es han-
delt sich nicht um das Originalgebetbuch des Fürsten , sondern um ein
wenig schönes Exemplar der ziemlich häufigen Abschriften, wie solche
sowohl die K. Hof- und Staatsbibliothek als auch die Universitäts-Biblio-
thek zu München besitzt. In der Handschrift des Nationalmuseums kom-
men von derselben Hand, die die Gebete für den Herzog schrieb, An-
gaben über 1456—1476 erteilte Ablässe vor.
2) t 5. Februar 1862, vgl. Allg. Deutsche Biographie. XXVII 683 f.
Mittelalterliche Handschriften des K. 13. Nationalrauseums. 7
Da die Museumsverwaltung bisher keine endgiltig erschei-
nende Gruppierung der Handschriften vorgenommen hat, die
Zahl der Bände zu klein, die Mannigfaltigkeit des Inhaltes zu
groß ist, um eine Anordnung meiner Beschreibungen nach
Wissensfächern leicht und empfehlenswert zu machen, folge
ich der mich im besonderen beschäftigenden mittelalterlichen
Herkunft und suche den verschieden gerichteten Forschern durch
ein Register die Auffindung des einzelnen zu erleichtern.
Die fettgedruckten Buchtitel stammen von mir. Ich habe
mich aber oft nach dem Befunde gerichtet und den hand-
schriftlichen Titel auch zuweilen genau übernommen, was dann
stets aus dem INCIPIT ersichtlich ist.
BAMBERG.
Clapissenklostep.
Handschriften in Bamberg, Kgl. Bibl. Liturg. 18, 19, 20,
21, 68(?), 110(?), 178; Patr. 58; Theol. 65(?); Hist. Uß.
N.-M. Bibl. 931.
Chorbuch mit Noten, saec. XV.
N.-M. Bibl. 1179.
Kalendarium necrologicum, 1496 begonnen, bis ans Ende
des 18. Jahrhunderts fortgeführt. Vgl. f. 200^: Als man ge-
zelt hat nach Cristi, unsers lieben herren, gepurt tausent vier-
hundert und sechs und neuntzig iar, ist geschriben worden dytz
puch von dem ersamen brüder Friderich Gerbersdorffer, zw
derselbigen zeit des peichtvatters gesell und prediger, und yn
dem selbigen iar ist dass gepunden worden, das und ander
mer von brüder Conradt Hallerdörffer. Pyttend gott für sy!
Fr. Gerbersdorffer wird auch in einem von Franciscus
Mathie 1498 — 1501 geschriebenen Graduale der Ciarissen, jetzt
Bamberg Kgl. Bibl. Ed. I. 3 (Liturg. 18), genannt. Das Necro-
logium des Franziskanerklosters meldet^) unterm 1. April: 1519
1) Vgl. 36. Ber. über d. Stand u. d. Wirken d. hist. Ver. f. Ober-
franken zu Baniberg im Jahre 1873, Bamberg 1874, S. 25 und 12.
8 P. Lehmann
fr. Fridericus Gerberstorflfer, sacerdos, praedicator et confessor
Clarissarum; unterm 10. Januar: Obiit p. et confr. Cunradus
Hallerdorfer, librorum inligator et amator, anno 1517 etatis
sue circiter octogesimo, sacerdotii vero 59.
N.-M. Bibl. 3751.
Gepreßter Ledereinband saec. XVI. Pap. 15,5 x 10,5 cm.
209 Bll. Sorgfältige kleine Schrift saec. XVI med.
f. 1^ unten saec. XVII: In das beichthauss sanctae Clarae
gehörig Bamberg.
f. 1^ — 208^: Augustinus Alveldianus, Tractatus de regula
s. Clarae.
Titel f. 1^: Regula dive virginis re et nomine Cläre, an
debeat dici evangelica, an pocius supersticiosa, quid horum.
Augustinus 1533 Alveldianus. f. 1^ leer.
INC. f. 2^: Nobili ac generöse comiti, venerabili et reli-
giöse virgini, consecrate Christo, graciose matri domine, do-
mine TJrsule Slickin, amabili abbatisse ordinis dive virginis
Cläre in Egra Augustinus Alveldianus ordinis minorum, ser-
vus Jesu Christi, optat salutem plurimam in virginis filio. Sepe
et multum anhelo. INC. f. 3^: Prefacio in regulam dive Cläre.
Videte, vigilate, orate. EXPL. f. 208^: altissimus paciens red-
ditor est. Eccli. 5. Regi autem seculorum immortali invisibili
soli Deo honor et gloria in secula seculorum. Amen. Augu-
stinus 1534 Alveldianus, Gregorii pape.
Es handelt sich um ein offenbar den Forschern noch nicht
bekanntes Werk des Minoriten Augustinus aus Alfeld (südlich
von Hildesheim), der namentlich als Gegner Martin Luthers
aufgetreten ist. Auch in vorliegender Abhandlung über die
Clarissenregel nimmt er gegen Luther Stellung. Augustins
Biograph Leonhard Lemmens^) erwähnt die Schrift nicht, setzt
überdies den Tod des Minoriten um 1532 an, während dieser
nach der Münchener Handschrift noch 1534 schriftstellerisch
tätig gewesen zu sein scheint.
1) Pater Augustin von Alfeld, Freiburg i. B. 1899 (Erläuterungen
und Ergänzungen zu Janssens Geschichte des deutschen Volkes 1 4).
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 9
Domkipche.
N.-M. Bibl. 2494.
Holzband mit ornamentiertem Lederüberzug, Messing-
beschlägen in der Mitte und den Ecken der Deckel und mit
2 Schließen. Perg. 16 x 22,8 cm. 419 Bll. (alte Zählung
I— CCCCXVI). 2 Spalten, saec. XV med.
f. I* bis auf einen kleinen Fetzen fortgerissen, sichtbar
noch die verstümmelte Angabe saec. XV:
Liber iste oracionalis spectat a|
Sigismundi in ecclesia kathedr |
et supra ambitum ecclesie dicte |
f. 401^ saec. XV: Notandum. Iste liber matutinalis seu
oratorius pertinet et dotatus est perpetuis temporibus ad vi-
cariam sanctorum Andree ap., Wenczeslai et Sigismundi mar-
tirum in ecclesia Bambergensi superius sita in loco olim ca-
pitulari, nunc autem in fraternitate sive sepultura dominorum
etc. dicta.
Matutlnale Bambergense.
Der zum Matutinale gehörige, f. lU — V" stehende Ka-
lender enthält teils bei den Monatstagen, teils irgendwo auf
den Blatträndern einige nicht sehr bedeutende nekrologische
und geschichtliche Einträge saec. XV med. et ex. Ich gebe
etliche, von mir der Zeit nach geordnet, wieder.
f. IUP zum 12. Juli: Anno Domini MCCCLXXXIX in vi-
gilia Margarethe obsedit dominus Lampertus de Brun episcopus
civitatem Bambergensem.
f. IIF zum 3. Juni: Anno Domini MCCCXCIII magna com-
bustio aput institores in Bamberg.
f. IF: Anno Domini MCCCCXXX in vigilia purificacionis
Marie recessit et fugam decrevit omnis plebs in Bamberg, vi-
delicet clerus et layci cum mulieribus pueris et rebus propter
adventum Hussitarum de Bohemia.
f. VP unten: Anno Domini millesimo quadringentesimo
XXXIII in die sanctorum Gervasii et Prothasii martirum con-
10 P. Lehmann
tigit et facta est magna diluvio aquarum ex confluentiis subito
cesis circa et subtus castrum Altenburg, que in impetu fluxe-
runt per vicum in emunitate Bamberg, dictum Rippa, et ex-
tenderunt se et precellerunt in magna altitudine istius platee
ad medietatem aliquarum ianuarum domorum, impleverunt ce-
laria et maculaverunt et oc . . plura destinxerunt et nocu-
menta induxerunt.
f. — zum 28. Juni: Anno Domini MCCCCXXXV dominus
Anthonius de Rotenhan, episcopus Bambergensis, obsedit civi-
tatem Bambergensem.
f. IIl^ unten: Anno Domini MCCCCXL in vigilia Philippi
et Jacobi concussa et contrita est turris in ponte superiori
civitatis Bambergensis ante ortum solis per tempestates et sta-
tim post combusta est domus consularis eidem turri annexa
per fulgoris ignem.
f. IIF zum 5. April: Anno Domini MCCCCXXXX illo die
magna combustio facta est in foro civitatis Bambergensis, que
tunc fuit feria sexta post dominicam Judica.
f. IUP zum 4. September: Anno Domini MCCCC48 com-
busta est domus Jacobs Pecken in der Keslergas mane hora
quarta.
1. c: Anno etc. 49 in die sancti Mauricii, que tunc fuit
secunda feria, combusta est domus dicta zum Esel in Rippa
Bamberge.
? Bischöfliches Archiv.
N.-M. Bibl. 1138.
Statuten des Bischofs Heinricli von B. für seine Bergwerke
in Villach, saec. XV.
BENEDIKTBEUERN.
Benediktinerkloster.
Die meisten Handschriften und Drucke jetzt in München,
K. Hof- und Staatsbibliothek.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 1 1
N.-M. Bibl. 2983.
Catalogus alphabeticus librorum bibliothecae monasterii Be-
nedictoburani, saec. XVIII (nach Fächern geordnet, ohne dieHss.).
BIRKLINGEN^) in Mittelfranken.
Regul. Augustinerchopherrenstift.
Außer der Münchener mir nur eine Handschrift bekannt
in Bamberg, Kgl. Bibl. Patr. 37 (B. V. 29).
N.-M. Bibl. 939.
Holzband mit Schweinslederüberzug und 1 Messingschließe;
auf dem Vorderdeckel eingestempelt C. M. S. (vgl. unten). Pap.
10,5 X 15 cm. 208 BU. saec. XV (zumeist) und (selten) —
was dann stets besonders von mir vermerkt ist — XVI, von
verschiedenen Händen.
f. 2^ saec. XV: Iste libellus est monasterii beate Marie
virginis in Bircklingen ordinis canonicorum regularium^) sancti
Augustini Herbipolensis dyocesis prope castrum Speckfeit. Birk-
linger Herkunft bezeugen ferner die Notizen und Abschriften
auf f. P, 3^ 116^—118^ + 125^ — 127^ 147^ 150 sqq.
Schreiber der Hs. war zu einem großen Teil der Birklinger
Chorherr Balthasar aus Volkach, der im Bande selbst Angaben
über sich für die Jahre 1453 — 1480 macht (vgl. Beilage 1
(S. 20), ferner meine Angaben über f. 110 sqq. und 150^ sqq.
— Nach der fast völligen Zerstörung des Klosters B. im
Bauernkriege 1525 und allmählichen Verödung bis etwa 1540
kam die Hs. nach dem unweit gelegenen Münster-Schwarzach
in Unterfranken, donatus per fratrem Petrum Ran (f. 2^ saec.
XVI med.), der wohl identisch ist mit Petrus Raum monachus
1) Über die Geschichte des Klosters ist wenig geschrieben. Vgl.
Kurze Geschichte des ehem. Klosters Birklingen in der Grafschaft
Gasten : Journal von und für Franken. Y (Nürnberg 1792), S. 550-560;
Ussermann, Episcopatus Wirceburgensis, St. Blasien 1794, p. 483 sq.;
Friedr. Stein, Geschichte der Grafen und Herren zu Castell, Schwein-
furt 1892, S. 141.
2) Bis regularium wohl zur Tilgung schwarz übermalt.
I
12 P. Lehmann
nostrae congregationis im Necrol. Swarzac. ^) und vielleicht ein
ehemaliger Birklinger Chorherr war. Vielleicht von ihm die
Notizen f. 110^: Frater Adamus mecum 1538 in vigilia sancti
Mathei apostoli abiit iterum quarta post versus Swartzach ad
dominum Nicolaum, conscholasticum — alt schulgesellen — ,
cum unis literis ad ipsum missis pro hospicio huius noctis
cum comite Johannae Zislero(?), alias Rütten<auer), parocho in
Bullnheim. Münster-Schwarzacher Herkunftszeugnisse dürften
die Buchstaben C. M. S. auf dem Vorderdeckel sein sowie der
Vermerk oben f. 1^ saec. XVI: 21. liber in registro, signaturae
Q d n a(?) I D 1540 2. Septembris. Die meisten Handschriften
und Drucke von Münster-Schwarzach sind jetzt in Würzburg,
K. Univ.-Bibl.»)
Innenseite des Vorderdeckels: Familiendaten eines Birk-
linger Chorherren, saec. XV ex. INC.: Anno dominice incar-
nacionis MCCCC nonagesimo tercio. EXPL.: Eodem anno soror
mea Margaretha obiit in die sancte Barbare.
f. P: Greschichtliche Notizen des Balthasar aus Volkach
(vgl. Beilage 1).
f. 1^: Unbedeutende Auszüge aus Augustinus u. a. und
Notizen über Pestseuchen u. a.
INC.: Augustinus Qui deseruerit unitatem. EXPL.: et
fuit tunc annus iubileus.
f. 2^"-^: Inhaltsverzeichnis des Bandes.
INC.: Iste libellus est — (vgl. oben S. 11). Item
presens libellus continet originem ordinum religiosorum. EXPL:
Sequitur de constructione monasterii in Bircklingen.
f. 3^"^: (jeschichtliche Aufzeichnungen über Birklingen
(vgl. Beilage 2).
f. 4, 5^ leer.
1) F. X. Wegele, Zur Literatur und Kritik der fränkischen Necro-
logien, Nördlingen 1864, S. 21.
2) Vgl. 0. Handwerker im Zentralblatt für Bibliothekswesen.
XXVI (1909), S. 500.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 13
f. 5^ + 6^^: Abergläubische Wortauslegung (vgl. Beilage 3).
f. 6^: Verse über Maria; Sentenzen aus Aristoteles, Ovid,
Horaz.
INC.: De beata virgine. Fulgida Stella maris. EXPL.:
Fingit equum docilem in tenera cervice magister.
f. 7^—12^: Liste der Ordensgründer und Orden mit kurzer
Beschreibung des Aussehens der Gründer (auf Gemälden etc.)
und der Ordensabzeichen.
INC.: S. Paulus primus heremita et sanctus Anthonius
claruerunt. EXPL.: Honorius papa dimidio anno prius con-
firmavit ordinem predicatorum quam minorum.
f. 12^ leer.
f. 13^ — 14^: Johannes Mathias Tiberinus, Epitaphium Si-
monis, martyris Trid. (= BHL. 7762).
INC.: Epitafium gloriosi pueri Simonis, Tridentini novi
martiris. Sum puer ille Symon quem nuper. EXPL.: Qui
mandunt tepida membra cruenta virum.
f. 14^"-^: Genealogia Christi et Marias nach Matthaeus,
Johannes Chrysostomus, Leonardus de Utino.
INC.: De genealogia Christi et Marie. Matheus primo
capitulo. Liber generacionis Jesu Christi. Ab Adam primo
homine. EXPL. : de hac progenie psalmus dicit. Hec est ge-
neracio querencium Dominum que etc.
f. 15^^ leer.
f. 15^: Excerptum de ordine Carthusiensium.
INC.: Excerptum — . Patres visitatores domorum
ordinis Carthusiensium Tuscie narraverunt. EXPL. : eura tenuit
ipse scivit que sibi manifestavit.
f. 16^—17^: De sancto Johanne Chrysostomo.
INC.: De sancto Johanne Crisostomo. Rumpunt in voces
ocellos frustra gereutes. EXPL.: etate feliciter consumata ad
Dominum migrarunt. Qui est honor et gloria per infinitorum
seculorum secula. Amen. Dann von anderer Hand: Nequaquam
hec de sancto Johanne Crisostomo acta crediderim cum eius
14 P. Lehmann
y
vite hystoria aliter sonet atque a scriptoribus ecclesiasticis se-
cus scribatur, sed potius ab eius emulis videntur conficta.
f. 17^—86^: Johannes Meyer, Chronica brevis ordinis fra-
trum praedicatorum.
f. 17^ INC.: Preambulum exhortatorium in tractatus huius
voluminis. Obsecro eos (vgl. Beilage 4). f. 19^ — 86^: Chro-
nik der Generalmeister des Dominikanerordens bis 1479. f. 19^
INC.: Registrum nominum magistrorum ordinis. f. 20^ INC.:
De sancto Dominico, primo magistro. De primo magistro or-
dinis predicatorum sancto Dominico, qui eundem ordinem in-
stituit. f. 86^ EXPL.: Factusque est ibidem (Ratisbonae) eius-
dem reformacionis primus prior frater Johannes Nigri, magister
in theologia, in vigilia penthecosten eiusdem anni MCCCCLXXV.
Dann Nachtrag: Iste magister Johannes habet tres fratres in
ordine predicatorum carnales, fratrem suum Petrum Nigri, bac-
calarium in theologia et benedoctum in Hebraeo, et alios et
omnes in vita adhuc anno LXXIX. Compleat qui vult.
Obwohl der Verfasser im Titel der Hs. nicht genannt ist,
machen die Vorrede (vgl. Beilage 4), der südwestdeutsche Ein-
schlag der Chronik, die starke Berücksichtigung der wissen-
schaftlich tätigen Dominikaner u. a. klar, daß die Chronik von
dem Dominikaner Johannes Meyer ^) aus Zürich (1422 — 1485)
stammt. Es handelt sich wohl um Meyers lateinische Chronik
der Generalmeister, von der bisher^) nur die 1481 vollendete
deutsche Fassung nachgewiesen war. Während die Vorrede
aus dem Jahre 1470 stammt, reicht die lateinische Chronik bis
1475 bzw. 1479. Der letzte Teil ist also schon eine Erwei-
1) Vgl. insbesondere P. Albert, Johannes Meyer, ein oberdeutscher
Chronist des 15. Jahrhunderts: Zeitschrift für die Geschichte des Ober-
rheins. N. F. XIII (1898), S. 255-263; Zur Lebensgeschichte des Domini-
kanerchronisten Johannes Meyer: a. a. 0. XXI (1906) S. 504—510; B. M.
Reichert, Johannes Meyer 0. P., Buch der Reformacio Predigerordens:
Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens in Deutsch-
land, 2. und 3. Heft (Leipzig 1908 und 1909).
2) Vgl. Albert, Joh. Meyer S. 261 und A. Hauber im Zentralblatt
für Bibliothekswesen. XXXI (1914), S. 357.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 15
terung des ursprünglichen Textes, die aber zum größten Teile
auf Johannes Meyer selbst zurückgehen dürfte. Auch andere
geschichtliche Arbeiten hat er nach der Veröffentlichung fort-
gesetzt. Das ganze Werk, lateinisch und deutsch, verdient
eine Ausgabe, bei der oder vor der natürlich eine quellen-
kritische Behandlung zu geben ist.
f. 87-91 leer.
f. 92^"-^: Zählung und zum Teil Nennung der Päpste,
Kardinäle, Patriarchen, Erzbischöfe, Bischöfe, Doctoren, Refor-
matoren und Märtyrer aus dem Predigerorden, vielleicht von
Johannes Meyer.
INC.: Nota de ordine predicatorum fuerunt summi pon-
tifices duo. EXPL.: Paganus inquisitor.
Johannes Meyer gibt in seinem Werke De viris ill. o.
praed. eine sehr ähnliche Zusammenstellung.
f. 93 leer.
f. 94^ — 97^: De quibusdam viris 111. o. praed. (Johanne
Tauler, David Anglico, Heinrico Seuss, Alberto Magno), von
oder nach Johannes Meyer.
INC. : Johannes dictus Tauler, homo Dei, predicator egre-
gius. EXPL. : claruerit que eius vite meritum demonstrabant.
Soweit Meyers Liber de viris ill. gedruckt ist, zeigen er
und obiger Text vielfache wörtliche Übereinstimmung.*) Es
paßt^) auch der Hinweis f. 97^: De isto doctore Alberto ha-
betur in multis libris maxime in cronicis et in legenda sancti
Thome de Aquino et in libro de illustribus viris de or-
dine predicatorum parte 3. inter episcopos.
f. 97^—104^: Johannes Meyer, De illustribus viris sanctis
ordinis praedicatorum.
INC.: De illustribus viris sanctis de ordine predicatorum.
Ordini predicatorum sacro quem beatus Dominicus — — —
et Omnibus eis nomina vocat. 1 De illustribus viris sanctis de
^) Vgl. F. J. Mone, Quellensammlung der badischen Landesgeschichte.
II 157.
2) Vgl. Mone, Quellensanimlung. IV 13.
I
16 P. Lehmann
ordine predicatorum. Dominicus, institutor ordinis predicatorum,
vir sanctus. EXPL.: ut prior in multis conventibus et lector
in ordine magnificus haberetur.
Nach einer aus Bernard Gui geschöpften kurzen Einlei-
tung kurze Abschnitte über Viri illustres von Dominicus bis
Waltherus de Meisenburg, wahrscheinlich = Joh. Meyer, De
viris ill. Pars I cap. 1—38.^)
f. 105^—106^: Über die 12 Strahlen (duodecim genera
fratrum), die von S. Dominicus ausgingen.
INC.: In libro qui intitulatur De illustribus viris ordinis
predicatorum parte quinta sie scribitur: Leonhardus de ütino.
EXPL.: Sol illuniinans per omnia respexit. Floruit autem hie
venerabilis Leonhardus de Utino temporibus summorum pon-
tificum Eugenii 4. et Nicolai quinti anno Domini MCCCCXLVI.
Auszug aus einem von mir bisher nicht ermittelten Liber
de viris ill. o. praed., der um 1450 oder in der 2. Hälfte des
Jahrhunderts verfaßt wurde, aber anscheinend nicht mit dem
von mir mehrfach angeführten Werke Joh. Meyers identisch
ist. Freilich kann dieser Auszug trotzdem von Meyer herrühren,
»f. 106^ leer.
f. 107^ — 109^: Liste der Pariser Doctoren des Dominikaner-
ordens, von oder nach Johannes Meyer.
INC.: Sequitur de primis sanctis patribus Parisiensibus
doctoribus de ordine fratrum predicatorum. Ordini predicato-
rum sacro — — — . Rolandus Lombardus primus magister.
EXPL.: Item Gwillhelmus de Odone Hie obiit in
vigilia beati Augustini anno Domini MCCLXXXXVIII.
Auszug und gelegentliche Erweiterung einer auf Bernhard
Gui^) zurückführenden Liste bis no. 33 (Gwillhelmus de Odone).
Erwähnungen von Meyers Liber de viris ill. o. praed. finden
sich mehrfach, z. B. f. 107^ bei Rolandus: de quo habetur —
— — in libro de ill. viris o. pred. parte prima numero XU;')
1) Vgl. Mone, Quellensammlung. IV 12.
*) Herausg. von H. Denifle im Archiv für Litteratur- und Kirchen-
geschichte des Mittelalters. II (1886), S. 203 ff.
^) Mone, Quellensammlung. IV 12.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseuma. 17
f. 109^ bei Gwillhelmus de Odone: de quo in libro de ill. viris
o. pred. parte III inter archiepiscopos numero VII.*)
f. 109^ und 110^^: Notizen saec. XVI, vgl. auch oben S. 12.
f. 110^—1 15^ 4- 123^—124^ + 131^ + 132^—138^ (diese
letzten 6V2 Blätter saec. XVI med.): Münster-Schwarzaclier Abts-
Chronik bis zum Jahre 1546.
INC.: De fundacione monasterii Swarzacb. Megingaudus,
dux et nepos Karoli Magni. EXPL. f. 131^: Post illum Mar-
tinus de conventu Nurembergensi de sancto Egidio. EXPL.
f. 138^: protegere ac in unitate conservare longa per secula
cum eorundem successoribus. Amen.
Zumeist wörtlich übereinstimmend mit der etwas ausführ-
licheren Seh warzacher Chronik bei J. P. Ludewig, Scriptores
rerum Germ., vol. II (Frankfurt und Leipzig 1718). Dieser ge-
druckte Text ist wahrscheinlich eine im 16. Jahrhundert an-
gefertigte Erweiterung der in unserem Codex vorliegenden, bis
f. 131^ im 15. Jahrhundert geschriebenen, älteren noch näher
zu untersuchenden Chronik. Unser Schreiber saec. XV hat
nicht in Münster-Schwarzach geschrieben, sondern in Birk-
lingen, seine Schriftzüge begegnen z. B. f. 3^ (vgl. Beilage 2).
Der Verfasser ist vermutlich jener aus Volkach stammende
Birklinger Konventuale Balthasar, der z. B. f. 1^, 150 sqq. ge-
schrieben hat, mit noch größerer Wahrscheinlichkeit jener, von
dem es im Schwarzacher Nekrolog heilst^): P. Balthasar, prior
monasterii Bircklingensis, qui historiam abbatum monasterii
Schwartzacensis scripsit.
f. 116^ -118^ + 125^—127^: Ablassbriefe des Klosters
Birklingen.
INC.: Sequuntur littere indulgenciarum monasterii beate
Marie virginis in Bircklingen ordinis canonicorum regularium
sancti Augustini Herbipolensis dyocesis. Calixtus episcopus
^) Mone, Quellensamralung. IV 13.
2) F. X. Wegele, Zur Literatur und Kritik der fränkischen Necro-
logien S. 16. W.s Bemerkung „Dieses Werk scheint verloren zu sein"
ist nun wohl hinfällig.
Sitzgsb. d, philos.-philol. u. d. bist. Kl, Jahrg. 1916, 4. Abb. 2
I
18 P. Lehmann
servus servorum. EXPL.: assumpcionis, nativitatis, concep-
cionis.
f. 119^— 119^: Benedictio episcopalis.
INC.: Benedictio episcopalis. Omnipotens Deus, qui hunc.
EXPL.: descendat super vos et maneat semper amen.
f. 119^ — 120^: Ista sunt investiganda in recepcione no-
vorum monasteriorum.
INC.: Ista . Primo, an sit provisa. EXPL.: at-
que de libris, clenodiis et debitis, de bonis mobilibus et im-
mobilibus.
f. 120"^ leer.
f. 121^—122^: Formeln für reformierte Angustinerklöster.
INC.: Forma littere incorporacionis domus capitulo gene-
rali. In nomine sancte. EXPL.: apud Carthusienses ostendere
valuerint.
f. 122^—123^: Notizen und Auszüge über den Rosenkranz.
INC.: De rosario. Ego frater Bartholomeus de Comaciis.
EXPL. : rosulas castitatem et sanctitatem virginis significantia.
f. 123^—124^ 125^—127^ vgl. oben S. 17.
f. 128^—130^: Ablassbriefe für Kloster Kirscbgarten.
INC.: Kirssgartten. Landolfus, Dei gracia Wormaciensis
episcopus. EXPL. : quia tunc ecclesiam et claustrum inceperunt
de novo construere.
f. 130^—131^ + 140^-141^ + 142^+144^—148^: Kurze
Bericlite über die Aufnahme einzelner Klöster in die Winds-
heimer Kongregation (Kirscbgarten , Frankental, Hoeningen,
Birklingen — dazu f. 147^ saec. XVI: 1537 computatum facit
75 annos — , Rebdorf, Heidenfeld).
INC. : Reform acio in Kyrssgartten . Anno Domini MCCCCXLIII.
EXPL.: Misere obierunt illi qui se reformacioni opposuerunt.
f. 141^ 142^»^ 143^"-^: Allerlei lateiniscbe und deutsche
Notizen.
INC.: Utrum vite sanctorum sint. EXPL.: So mag er
wol in der zeit furbas gan.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 19
f. 144^—148^ vgl. oben S. 18. — f. 148^ leer.
f. 149^—149^: Fingierter Christusbrief.
INC.: Littera pacis eterne per Jesum Cristum, salvatorem
nostrum, facta. Jesus Nazarenus, rex Judeorum. EXPL.: que
fuit nona eiusdem diei, regni vero nostri anno XXXIII. Ex-
plicit littera composicionis regis regum Christi Jesu cum patre
suo altissimo Deo ac cum creatura bumana diu tribulata.
f. 149^ 4-160^: Epistola Lentuli Romani.
INC.: Epistola Lentuli Romani. Apparuit temporibus istis.
EXPL.: moderatus, speciosus inter filios bominum. Hec ille.
f. 150^—159^: Ausführliclie Liste der in Birklingen ver-
wahrten Reliquien.
INC.: In nomine patris et filii et Spiritus sancti. Amen.
Ego frater Baltbasar Monacbi,^) de civitate Volkacb oriundus,
canonicus regularis indignus, professus in Bircklingen, pro
fratrum maiori devocione excitanda et pro bonore sanctorum
omnium, quorum reliquie apud nos sunt, et in sequentibus no-
tata signavi in speciali presens registrum et in scriptis redegi.
Anno Domini MCCCCLXXX in die sanctorum martirum Cris-
pini et Crispiniani. EXPL.: Dorotbee, Otilie virginis.
f. 160^ vgl. oben. - f. 160^ leer.
f. 16P— 171^ + 173^-208^: Register über die Bücher der
heiligen Brigitte.
INC.: In nomine patris et filii et Spiritus sancti. Amen.
Salve o felix Birgitta. EXPL.: ultimo capitulo octavi libri
58. 163. Deo laus.
f. 172 leer.
f. 208^: Lateinische und deutsche Gebete an Maria.
INC.: Ave preclara raaris stella. EXPL.: in seiner ewigkeit
mit seiner freude belone. Kyrie leison, Cbriste leison, kyrie leison.
Auf dem Pergamentblatt der Innenseite des Hinterdeckels :
Verzeichnis der Altäre in Iphofen.
INC.: In Yppbofen ad sepulchrum Domini. EXPL.: Fran-
cisci, Iberonimi.
1) Balthasar Monachi radiert und darüber N geschrieben.
2*
20 P. Lehmann
Beilage I.
f. 1^ Ego frater Balthasar Monachi de civitate Volkach, ordinis
canonicorum regularium, protunc in Heidenfelt eiusdem ordinis
professus, anno Domini MCCCCLIII electus per prepositum Con-
radum Ditterich de Hirssfelt et seniores in perpetuum rectorem
ecciesie Veiphfelt, regnante gracioso domino episcopo Herbipolensi
Godtfrido Schenck et decano maioris ecciesie Richardo de Maspach.
Anno Domini MCCCCLVIII in die sancti Gregorii pape elec-
tus per prepositum etc. ad preposituram seu inclusorium Hoefelt
prope civitatem Kiezingen.
Anno Domini MCCCCLIX in festo sancti Petri apostoli, ka-
thedra dicta, electus per graciosum dominum Johannem de Grum-
bach, episcopum Herbipolensem, et consiliarios suos in rectorem
beate Marie virginis in Bircklingen, additis mihi certis fratribus
de Heidenfelt et Triffenstein monasteriis.
Anno Domini MCCCCLXI in profesto^) visitacionis beate Ma-
rie Peo dispensante fratres de Kirssgartten, tres presbiteri et unus
subdyaconus, unus conversus et unus donatus, auctoritate domini
Johannis de Grumbach, episcopi Herbipolensis, et nostro consensu
admissi fuerunt et per successum temporis confirmati laudabiliter.
Beilage 2.
f. 2^ Mit zitteriger Hand geschrieben: De constructione monasterii
in Bircklingen.
f. 3R Ab anno incarnacionis Domini nostri Jesu Christi MCCCCLVIII
quarta feria penthecostes suffraganius domini Herbipolensis N. po-
suit primum lapidem pro choro.
Anno Domini MCCCCLXIII chorus testudinatus fuit et con-
secratus dominica proxima post festum exaltacionis sancte crucis
in honorem sancte trinitatis, beate Marie virginis et sancti Jero-
nimi. Dedicacio autem ecciesie translata fuit et in perpetuum cum
solemnitate servatur semper proxima dominica post festum sancti
Michaelis.
Anno Domini MCCCCLXIII in vigilia nativitatis Christi pri-
mo intravimus chorum.
Anno Domini MCCCCLXIII in profesto sancti Kyliani et so-
ciorum eius, patroni meritissimi terra, incepimus primum lapidem
circa altare sanctorum martirum ab extra pro dormitorio ponere.
1) über gestrichenem vigilia.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 21
Anno Domini MCCCCLXVI intrayimus primo dormitorium et
refectorium.
Anno Domini MCCCC octuagesimo in die sanetorum marti-
rum Johannis et Pauli ineepimus primum lapidem ponere pro re-
fectorio magno a stuba scriptorum cum suis attinenciis superius
et inferius, omnia fuerunt completa anno Domini MCCCCLXXXII.
Anno Domini M quingentesimo in profesto sancti Kyliani et f. 3^
sociorum eius totus ambitus fuit testudinatus et completus similiter
cum fenestris preciosissimis. Generosus dominus marchio Fride-
ricus senior dedit pro fenestris in ambitu ceutum et XL florenos.
Anno^) Domini 1506 fuit completa sive perfecta testudo in
ecclesia circa festum pentecostes.
Beilage 3.
Anxietas.^) necis Nazareni abstulit. nobis, iudicium sempi-
ternum. auctoritate. patris. tribulationibus acutissimis.
Annanizapta perit quem morte ledere querit.
Est mala mors capta, dum dicitur 'annanizapta'.
Doctor Gotschalkus, sacre pagine professor et predicator Erf-
fordie, anno Domini MCCCCLVI in quodlibeto in communi audi-
encia dixit, quod quicunque hoc verbum 'annanizapta' omni die
dixerit vel in scripturis viderit, propter eius significacionem et
dignitatem non potest mori repentina morte. Widelicet: Est mala
mors capta, dum dicitur 'annanizapta'. 'Annanizapta' Terbum gre-
cum est und bedeut: Die bitterkeit des todes des von Nazaret,
der neme von uns daz urteil des ewigen verthamniss durch den
gewalt des vaters ummb die allerscherffer vervolgung.
Beilage 4.
Incipit prologus in cronicam brevem ordinis fratrum predi- f. 17^
catorum.
Reverendo patri et fratri Innocencio de Wienna^) ordinis
predicatorum provincie Theutonie, sacre theologie baccalario for-
mato, reformatorum conventuum congregacionis Alemanie generali
vicario primo nostreque religionis reformatorum et zelatori preci-
^) Dieser Eintrag von anderer Hand.
2) Die fett wiedergegebenen Buchstaben in der Hs. unter dem Wort
wiederholt und rot durchstrichen.
3) 1465—1473 Generalvikar der reformierten Konvente der Provinz
Teutonia. Vgl. Quellen und Forschungen zur Geschichte des Domini-
kanerordens in Deutschland. I (1907), S. 39. -
22 P. Lehmann
puo frater Johannes,*) eiusdem ordinis, provincie et con-
gregacionis de domo Basiliensi.
Novo Spiritus sancti dono in hac gloriosa festivitate penthe-
costen habundancius exultare. Si in sacra scriptura commendantur
hü, qui genealogiam Domini per vicos et civitates euntes post
combustionem Hebreorum codicum ab Herode factam studuere col-
ligere, unde et vocantur viri religiosi ac dispothenoe, id est he-
riles vel dominici, qui et Nazarei, non inconsulte curavi sanctorum
patrum primitivorum veteris observancie fratrumque modernorum
nostre reformacionis nove cum laude memorari. Certe non est
perdicio temporis intendere de senioribus et predecessoribus nostris,
sed maxima compunctio, si invenerimus nos non esse tales, ma-
xima consolacio habuisse sodales et concives istos, maxima avi-
sacio, ut studeamus fieri talium sequaces. Cum ergo mutabilitas
f. 18^ ^®c temporum merita et nomina || ex ore ac mentibus hominum
tollit, preterquam quorum gesta scriptorum benefieiis eripiuntur ab
interitu oblivionis, cogitans igitur, ne tarn excellentes patres eorum-
que nomina et gesta gloriosa, qui nos ab inicio in hoc seculo
predicatorum ordine usque ad nostra tempora precesserunt, in ob-
livionem veniant apud posteros, quantum ingenii mei parvitas suf-
ficit, exprimere verbis simplicibus brevius quo possum per modum
et formam cronice intimare curabo, dans occasionem legentibus,
ut et ipsi processu temporis manum apponant, ita ut opus per
eosdem perficiatur gloriosum. Scriptum anno gracie MCCCCLXX
in vigilia penthecostes. (Sequitur registrum.)
Virorum illustrium vitam atque actus simulque doctrinam scri-
bere mos antiquus et consuetudo ecclesiastica est, ut, dum eorum
conversacio atque pietatis fidei a posteris legendo dinoscitur, ad
imitacionem eandam animi excitentur. Ideoque considerans pro-
futurum profectum animarum ratum duxi ea que de antecessoribus
patribus nostri ordinis videlicet predicatorum didici litteris posteris
commendare.
CADOLZBÜRG in Mittelfranken.
Pfarrkirche S. Caeciliae.
N.-M. Bibl. 1122.
Holzband mit gelblicbem Lederüberzug, je 5 Messing-
buckeln vorn und hinten, 1 von ehemals 2 Schließen (aus
Leder und Messing) und 2 Messingstiften für die Schließen.
M = Johannes Meyer,
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 23
Perg. 18 X 26,2 cm. 42 BlI. Schrift in Langzeilen von ver-
schiedenen Händen aus der Zeit von etwa 1440 bis zum Ende
des 15. Jahrhunderts.
Kopial- und Inventarbuch der Pfarrkirche.
f. 1^—2^^: Dicz sind die hernachgeschriben briff, die ver-
czeichent sind und zu der kirchen gehörent sand Cecilie zu
Kadolczburg, alzdan die eygentlich geschriben in dem newen
pergemitpuch hernach geschriben sten etc.
INC.: Dicz sind — — — . Czum ersten ein applasbriff.
EXPL.: Item waz die kirch bucher hab im segerrer.
f. 2^, 3R.V leer.
f. 4^ — 15"^: Abschriften von lateinischen und deutschen Ur-
kunden des 11.— 15. Jahrhunderts.
INC. : üniversis Christi fidelibus, ad quos presentes. EXPL. :
Nach Cristi unsser liben geburt taussent vierhundert und in
dem sechs und vierczigsten iar etc.
f. 16^—21^: Diess sind der kirchen zu Cadolczburg guter.
INC.: Diess sind . Dyese nachgeschriben. EXPIr:
darumb dem gotshawss ein gute genug gescheen ist.
f. 22^—23^ 25"^, 30^ 36^-^, 37^ 40^-42^: Abschriften
von Urkunden des 15. Jahrhunderts.
INC.: Ich Veit vonn Sparneck zu denn zeitten pfarrer.
EXPL.: nach Cristi unnsers hern geburt vierzenhundert und
in dem siben und newnzigsten iar.
f. 24^.^ 25^ leer.
f. 26^—26^: Der toten namen etc. und weige gedechtniz.
INC.: Der toten . Diesse hernachgeschriben ha-
ben yre ewyg gedechtniss hie. EXPL.: Albrecht Sciber, Wil-
helm Schenck. Summa LH.
f. 27^—28^: Diess seind die briff, die der kirchen zu Ca-
dolczburg zugehoren in registers weyse.
INC.: Diess seind — — — . Des ersten ein briflf von
sechs bischoffen. EXPL.: Ein zettel wie Fricz Hanckmantel
Fricz Kleyn die obgenanten wysen den kirchen zu Cadolczburg
und Ammerdorff verkawfft haben.
24 P. Lehmann
y
luxta fontem Acherontis vitulus quidam pastus est,
Non intravit, sed rigavit, queritur quid iuris est.
f. 29« leer.
f. 29^: Dise heriiacligescliribeii gnade und applass, die do
gehören zu der kirclien sand Cecile czu Cadeltzpurg etc.
INC.: Dise hernachgeschriben . Der erste briffe.
EXPL.: und allen dy do piten für gentzlichen.
f. 30» vgl. oben S. 23.
f. 30^: Über die Weihe und die Reliquien der 'Capella zu
der Heide'.
INC.: Capella zu der beide est consecrata. EXPL.: de
lapide, ubi Christus stetit quando celos ascendit.
f. 31^—31^: Was die kirch sand Cecilien kelch hat etc.
INC.: Was die kirch — — — . Item sie hat des ersten
ein grossen kelch. EXPL.: Item noch ist auch darinnen ein
kleyns buchlein, genant das olbuchlein.
f. 31^—32^: Was messgewant die kirch sand Cecilien hat.
INC.: Was messgewant — — — . Item ein rottsammet.
EXPL. : Item ein rot rauhe sammet mit aller zugehorung, kumpt
von herr Wenzel Reyman, pfarrer hy etc.
f. 33» — 33^: Diess sind die bucher, dy in dem segerer sind.
INC.: Diess sind — — — . Item des ersten ein gross
messbuch. EXPL.: Item raras historias de sanctis.
f. 34, 35, 38, 39, 40^ leer.
f. 36, 37, 40—42 vgl. oben S. 23. — Innenseiten des Vor-
der- und Hinterdeckels einige Notizen über Jahrtage u. a.
EBRACH in Oberfranken.
Cistepcienserkloster.
N.-M. Bibl. 940.
Rituale, saec. XY,
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 25
HIMMELKRON in Oberfranken.
Cistepcienserinnenklostep.
N.-M. Bibl. 937.
Breviarium cum kalendario, saec. XIV/XV.
f. I^: gefunden Himmelcron den 14. Julii anno 1074 un-
term Fußboden der Gestühle in der Nonnenkirche, alss selbige
renovirt worden.
ILLSCHWANG in der Oberpfalz.
Pfappei.
N.-M. Bibl. 3803.
Nicolai Lyrani postilla in psalmos; tractatus de sudore vul-
tus; utrum saepe vel raro sit accedendum ad corpus Christi;
saec. XIV et XV.
f. 185^^ rot: Hie liber est Chonradi dicti Grunbover, ple-
bani in Ylswangk, quem comparavit de suis propriis bonis,
cum adhuc esset socius dominorum in Sulczpacb.
INGOLSTADT.
Fpanzlskanepkiostep.
Etwa 20 Handschriften in der K. Hof- und Staatsbiblio-
thek München, eine einzelne in der Nat.-Bibl. Paris Nouv.
acq. lat. 911.
N.-M. Bibl. 929.
Holzband mit rotgefärbtem Lederüberzug. Pap. 14x20,3cm.
166 Bll. Schrift verschiedener Hände saec. XIV. ßesitzer-
vermerk f. 1 oben fortgeschnitten. Die Ingolstädter Herkunft
geht aus der Art des Titelzettels auf dem Einbandrücken und
den Urkunden hervor, mit denen die Innenseiten der beiden
Einbanddeckel verklebt sind.
f. 1^—39"^: Gualtherus Burlaeus, De vita et moribus philo-
sophorum.
INC.: De vita et moribus philosophorum veterum tracta-
turus multa que ab antiquis. EXPL.: Scripsit insuper librum
26 P. Lehmann
de naturalibus questionibus ad Cosdroe, regem Persarum. Dann,
leider mit teilweise radierter Schrift:
Finivi hunc librum, scripsi sine manibus ipsum.
Hoc opus egi, festum sepissime fregi.
Anno Domini <MC>CCLYII in die nativitatis virginis
gloriose
— — — — — teiben consorcia querit habere,
— — — — — oben et se de fraude cavere,
Dem — — — chreiben specialiter arte nitere.
f. 40^—66^ + 7P— 120^: Excerpte aus VinceDZ von Beau-
vais, Cassiamis, Historia Macliometi, Vita Karoli M. etc.
INC.: In primo libro capitulo 9. apologia de apocrifis.
EXPL.: et maiora videntur pericula, dum exercitantur que.
f. 67—70 leer.
f. 120^— 123^: Robertus Holkot, Imagines Fulgentü mo-
ralisatae.
INC.: Refert Fulgencius de ornatu orbis. EXPL.: hanc
vitam iam ducit totus mundus etc. Expliciunt ymagines Ful-
gencii in parte, que sunt Ordinate et moralisate per fratrem
Robertum Holkot. Deo gracias.
f. 123^—125^: Robertus Holkot, Aenigmata Pythagorae et
Aristotelis moralisata.
INC.: De preceptis et enigmatibus Pictagore et omnibus
observanda videlicet: langwor a corde. EXPL.: disperdet te
etc. A quo nos conservet etc. Expliciunt enigmata Aristo-
telis moralisata per Rubertum Holkot.
f. 125^—130^: üicta et castlgationes pMlosophorum.
INC.: Castigaciones Hermetis phylosophi. Nemo sufficit
regraciari Deo. EXPL.: nunc adiuvet te thaurus tuus, quem
tam dilexisti. Et sie fame periit etc.
f. 130^—133^: Sermones.
INC.: <S>i spiritu minimus spiritu et ambulemus, ad Gal. V.
Hie alloquitur apostolus eos qui se assecurantes. EXPL.: su-
spenditur latronum etc. traetatur.
f. 134—140 leer.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 27
f. 141^ — 159^: Compendium etMcum sive morale bonum
excerptum ex libro Aegidii de regimine principum et aliis.^)
INC.: Notanduin, quod regis maiestatem et felicitatem
suarn. EXPL.: ipsos, ut liberent .... ab oppressione eorum etc.
f. 160 + 165^—166^: Themata sermonum und andere be-
langlose Notizen.
f. 161—1651^ leer.
N.-M. Bibl. 935.
Holzband mit braunem gepreßtem Lederüberzug. Auf
dem Vorderdeckel rot umränderter Papierzettel mit der Auf-
schrift saec. XV: CoUectura super loycam; darunter kleiner
Signaturzettel mit dem Buchstaben Q. Im hinteren Deckel
Kettenloch. Pap. 15 x 21,5 cm. 2 + 381 Bll. Geschriebenin
kleinen Zügen mit vielen Abkürzungen von einer Hand saec.
XV ex., zum Teil in 2 Kolumnen.
f. 1^ saec. XVII: Ad bibliothecam patrum franciscanorum
Ingolstadensium.
f. 1—12^ und 12^—13^: Johannes Lilius (oder Lilii) o.
ff. min., Tractatus duo logicales.
Primus tr. INC.: Quoniam inpossibile est secundum phi-
losophum etc. Tractatus huius, summularum loycalium, col-
lector scribitur frater Johannes Lilii ordinis minorum .
Quoniam inpossibile est secundum philosophum, quod aliquis
aliquid. EXPL. : cuius oppositum est assumptum in breviori.
Explicit tractatus primus fratris Johannis Lilii ordinis minorum
et secundus tractatus (incipit). INC. tr. secundus: Quia ig-
norantibus supposiciones. EXPL. : per multas auctoritates phi-
losophi et commentatorum.
Die beiden Traktate des, wie es scheint, sonst unbekannten
Minoriten stehen auch in der unten S. 31 f. zu besprechenden
Görlitzer Handschrift f. 225—235, 237 sqq.; der 2. Traktat
im Monacensis unvollständig.
f. 13^— 18V leer, 19—57 fehlen.
4 Titel der Tabula des Codex.
28 P. Lehmann
f. 58^ — 90^: Porphyrius, Liber isagogarnm, BoetMo inter-
prete, cum commentis.
INC. : Quoniam servus ille qui de talentis . Cum
sit necessarium grizarori. EXPL.: maiora capere valeamus,
in unum laboriose redacta est. Rot unterstrichen: Et sie est
finis, laudetur Dens in trinis. Expliciunt universalia Porphirii
sub anno incarnacionis dominice MCCCCLXXVII dominica post
festum omnium sanctorum et finite sunt post matutinas hora
secunda in conventu Gorliczensi. 0 preciosum lilium conval-
lium, deprecare pro nobis tuum unigenitum filium.
Text und Kommentar wie in der Görlitzer Handschrift
f. 13 — 42, nur anders gestellt.
f. 90^ — 108^: Aristoteles, Parva philosophia moralis cum
commentis.
INC.: Circa inicium huius libri queritur primo, utrum de
virtutibus moralibus sit sciencia. EXPL.: nee frivole ineant
speculantes secum nostram sapienciam terminemus. Amen. Hie
magister describit quintum habitum intellectualem — — — .
Rot gerändert: Et sie est finis, laudetur Dens in trinis. Anno
Domini 1478 sabbato quarte dominice post penthecosten per
me fratrem Ludwicum Stolcz ordinis fratrum minorum, tunc
temporis studens philosophie de provincia superioris Alimonie,
et scripta sunt hec in provincia Saxonie in conventu Gor-
liczensi, et finis est huius operis, videlicet parve philosophie
moralis. Alpha et o, finis et origo. Nos beata virgo Maria
perducat ad paradisi gaudia. Amen.
f. 109 leer.
f. 110^—149^: Aristoteles, Praedicamenta cum commentis.
INC.: Pro iniciali agressu libri predicamentorum Aristo-
telis, quia secundus est veteris loyce — — . Equivoca dicun-
tur, quorum nomen solum commune est. EXPL.: qui consue-
verunt dici, pene omnes enumerati sunt. Hie concludendo li-
brum suum — — — . 0 regina celi, perduc me ad gaudia
poli. Ave Maria. Finitus est textus Aristotelis predicamento-
rum cum commento, anno incarnacionis dominice MCCCLXXVIII
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 29
in die sancti Jacobi apostoli per me fratrem Ludwicum Stolcz,
nacione Bavarus de provincia superioris Alimonie, tunc tempo-
ris studens philosophie provincie Saxonie in custodia Aure-
montis in conventus Gorliczensi, pro quo Deus sit benedictus
in secula. Amen.
Vgl. in der Görlitzer Handschrift f. 43—94.
f. 149^ leer.
f. 150—153 fehlen.
f. 154^ — 176^: Augustinus de Ferrara, Quaestioues super
Isag. Porphyrii.
INC.: Cum sit necessarium etc. Hie agitur de quinque
universalibus secundum intencionem Porphirii et queritur, utrum.
EXPL.: magis ardua ad maiores artifices transmittendo. Rot
unterstrichen: In die sancte Katherine hora 2. post mensam
scripta sunt hee questiones Augustini de Ferraria, sacre theo-
logie doctoris de ordine minorum, per fratrem Ludwicum Pi-
storis ordinis fratrum minorum in inclita civitate Gorliczensi
sub anno incarnacionis dominice 1476 etc. Et est finis, lau-
detur Deus in trinis. Es folgt eine Aufzählung der behandelten
einzelnen Quaestiones.
Vgl. in der Görlitzer Handschrift f. 157^^—172.
f. 177 leer.
f. 178^ — 209^: Augustinus de Ferrara, Quaestiones super
libr. praedicamentorum Aristotelis.
INC. : Circa librum predicamentorum dubitatur primo, utrum
decem sunt predicamenta. EXPL.: sufficit tamen, quod modi
famosiores dicti sunt.
Et sie est finis huius libri et questionum venerabilis ma-
gistri et doctoris Augustini de Ferraria, sacre theologie pro-
fessoris religiositatis et frater minor. Et finite sunt anno Do-
mini MCCCCLXXVIII feria sexta ante dominicam 4. post penthe-
costen per me fratrem Ludwicum Stolcz ordinis fratrum mi-
norum de provincia superioris Alimonie de conventu Monacensi,
tunc temporis studens in provincia Saxonie in conventu Gor-
liczensi. Sit laus conditori, laus summa Deo genitori. Ave
30 P. Lehmann
gemma, rosa Hörens, beata virgo Maria, sis me ubique cu-
stodiens.
Vgl. in der Görlitzer Handschrift f. 172—197.
f. 211^—257^: Aristoteles, Physicorum liber ü. cum com-
mento.
INC. f. 211^: Ad phylosophiam te transfer, si vis esse
sanus, liber, securus, si beatus. Hec verba loco sunt
ipsius Senece ad Lucillum. INC. f. 212^: Natura est princi-
pium et causa movendi et quiescendi. EXPL.: perfecte solum
cognoscitur in vita eterna, quam nobis concedere dignetur Jhe-
sus Christus, Marie filius, in secula seculorum. Amen. Rot
unterstrichen: Et sie est finis, laudetur Deus in trinis. Alpha
et 0, principium et origo. Post prandium hora quasi quarta
per me fratrem L. sancti ordinis Francisci minorum de pro-
vincia superioris Alimonie de custodia Bavarie de conventu
Monacensi, tunc temporis studens philosophie in provincia Sa-
xonie in custodia Auremontis in conventu Gorliczensi in loco
reformato sub patre fratre visitatore Mauricio, magistro libe-
ralium arcium. Nos eterna gaudia perducat feliciter virgo Maria.
f. 258—277 fehlen.
f. 278^—285^: Tractatus super physica Aristotelis.
INC.: <Q>uoniam quidem scire et intelligere contigit circa
omnes substancias. Incipit taliter textus. EXPL. : motum, quo
est numerus etc. Sequitur post hec etc.
f. 286—305 fehlen.
f. 306^ — 329^: Quaestiones philosopMae naturalis.
INC.: Cum secundum doctrinam Aristotilis in plerisque
locis. EXPL. (der Text bricht ohne Schluß ab): sed perfec-
tionem. Item propterea ibidem idem ait, quod illud.
f. 330—357 fehlen.
f. 358^—472^: Antonius Andreae super Aristotelis libros
metapliysicae.
INC.: Girum celi circuivi sola. Eccli. 24. Quia secundum
Aristotilem et communiter. EXPL.: libenti animo emendare,
pro quo Deus gloriosus sit benedictus in secula seculorum.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 31
Anno Domini MCCCCLXXVIII post Invocavit feria quinta
post matutinas. 0 Maria pro nobis deprecare, ut mereamur
aulam celi inhabitare.
f. 473^—478^: Franciscus de Mayronis, De esse et essentia.
INC.: Incipit tractatus de esse et essencia. Ab inicio et
ante secula sum. Eccli 24. Quia non ulla. EXPL.: ut in-
tencio calorum (von bier ab rot unterstrichen) est in ipso igne
et sie est finis, laudetur Deus in trinis. Explicit tractatus de
esse essencie et esse existencie, editus per ingeniosum, illumi-
natum doctorem Franciscum Maronis, scriptus per nie fratrem
Ludwicum Stolcz ordinis fratrum minorum de provincia supe-
rioris Alimonie, tunc temporis studens philosophie provincie
Saxonie in conventu Gorliczensi anno dominice incarnacionis
1478 in vigilia sanctorum martirum Primi et Feliciani. 0
virgo Maria, sis nobis post hanc vitam pia.
f. 478^ leer.
f. 479^ — 487^: Aristoteles, De causis, cum commento Al-
phorabii.
INC.: Omnis causa primaria . Cum ergo removet
causa secunda. EXPL. : acquirere non acquisitum sicut osten-
dimus. Explicit liber de causis suis cum dictis Alvorabii anno
Domini MCCCCLXXVII dominica prima in adventu Domini et
in die sancti Andree apostoli post prandium hora prima. 0
regina celorum, conduc nos ad regna polorum.
f. 487^—490^ leer.
f. 491^—498^: Aufzeiclmuiigen über Redekunst, Briefstil-
kunst u. a.
INC.: Premissus, prescriptus, preconditus. EXPL.: te
igitur valere desidero et, ut alterum me ducas, vehementer
exopto.
f. 499—502 leer.
Abgesehen von ihrem noch des Näheren festzustellenden
textlichen Wert verdient die Handschrift Beachtung als Frucht
des Studiums eines Münchener Minoriten im Görlitzer Franzis-
kanerkloster, das zur Kustodie Goldberg der Ordensprovinz
32 P. Lehmann
Sachsen gehörte. ^) Ein mir freundlichst übersandter Codex der
Milichschen Bibliothek zu Görlitz,^) der dem dortigen Minoriten-
konvente gehört hat, enthält zum Teil dieselben, 1472 — 1476
abgeschriebenen Texte wie der Münchener Band und ist viel-
leicht dessen Vorlage, jedenfalls gleich diesem ein Zeugnis für
den Görlitzer Studienbetrieb. ^)
N.-M. Bibl. 945.
Holzband mit Schweinslederrücken, 1 Schließe; auf dem
Holz des Vorderdeckels Reste der Inhaltsangabe saec. XV ex.
Pap. 16 X 21 cm. 310 BU. Schrift mehrerer Hände saec. XV ex.
(um 1480).
f. 1^ oben durch Papierlücken verstümmelt saec. XVII:
Ad bibliothecam patrum Fran(ciscanorum Ingolstadensium).
f. 1^'^: Lat. Notizen über lateinisclie Vokabeln.
INC.: Utimur utilibus, fruimur celestibus escis. EXPl. :
relabor, iterum labor.
f. 2^: Accessus ad Ciceronis librum de officiis.
INC.: Intentio huius libri est. EXPL.: mores hominum
vidisse et observasse memoriter.
f. 2^'^: Anfang der deutschen Übersetzung von Cicero de
officiis, nach dem Drucke Augsburg 1488 (Hain *5235).
INC.: 0 Marce, sun mein, wie wol du yetz das iar di
kunstlichenn. EXPL.: wan volendet wurd das, das mit ver-
nufft beweiset wirdet.
f. 3^ — 11^: Briefe des Guillermns Fichetus und Johannes
de Lapide sowie Kapitelverzeichnisse zu Cicero de officiis, de
amicitia, de somnio Scipionis, de senectute, abgeschrieben aus dem
Pariser Druck Hain 5252.
1) Vgl. E. Koch, Zweierlei Franziskaner in der Oberlausitz: Neues
Lausitzisches Magazin. XCI (1915), S. 122 ff.
2) Vgl. die kurze ungenügende Beschreibung in E. E. Struves Kata-
log der Milichschen Bibliothek (S. 20, 30, 31, 85, 107), der als Anhang
zum Neuen Lausitzischen Magazin. XLIV— XLVI gedruckt ist.
3) Vgl. über das Görlitzer 'Studium' Scriptores rer. Lusaticarum.
N. F. I (1839), S. 340.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 33
f. 11^^—13^: Gedicht des Erhardus Ventimontanus und Ka-
pitelverzeichnisse zu Cicero, Tusculanarum quaestionum libri V,
abgeschrieben aus der Pariser Ausgabe Hain 5311.
f. 14^—22^: Cicero pro ArcWa poeta mit lateinischen und
deutschen Erklärungen.
f. 22^—24^: Unvollständige Abhandlung De fabulispoetarum.
INC.: Poete enim plures famosi erant, inter quos Virgilius
claruisse fertur. EXPL.: exclusis tarnen erroribus qui sangui-
nem interguntur.
Wohl aus der Renaissance stammend.
f. 24^ — 26^: Feierliche Begrüssung einer Gresandtschaft Phi-
lipps von Burgund durch die Leipziger Universität.
INC.: Arenga quedam facta per d. r. Venerabilis pater
et domine precolende. EXPL.: prestare rex omnium seculorum
eternavit benedictus.
Da von der Universität Löwen als einer bereits bestehen-
den berühmten Hochschule die Rede ist, diese aber erst 1425/26
begründet wurde, und da neben Friedrich dem Streitbaren der
Mitbegründer der Universität Leipzig, Markgraf Wilhelm, als
lebend erwähnt ist, aber bereits am 30. Mai 1425 starb, halte
ich die ziemlich inhaltsleere Rede für eine spätere Stilübung,
bei deren Abfassung die historischen Verhältnisse nicht genau
beachtet wurden.
f. 27^—100^: Cicero de officiis, Abschrift der oben ge-
nannten Pariser Ausgabe mit vielen lateinischen Erklärungen
und einigen deutschen Übersetzungen, so f. 33^ zu lib. I cap. 10
§ 33 (summum ius summa iniuria): gewalt, gelt und gunst,
bricht recht, trew und kunst; f. 40^ unten zu lib. I cap. 21
§71: Via antiqua in Ingolstat; f. 72^ oben zu lib. II cap. 20
§ 69: vorzert unnd vortorben, gespart und gestorben, nach-
beset ist vorzert unnd vortorben, wen gespart und gestorben.
f. 100^—123^: Cicero de senectute ad Atticum, Abschrift
aus der oben genannten Pariser Inkunabel mit Erklärungen.
f. 122^: finit Tulius de senectute in dominica 'Letare' plu-
Sitzgsb. d. philos.-philol. u. d. bist. Kl. Jahrg. 1916, 4. Abb. 3
34 P. Lehmann
viali in tempore utque in papiro; der Text hört gerade mit
dem Blatt auf.
f. 123^ leer.
f. 124^ — 154^: Cicero de amicitia, Abschrift aus der Pa-
riser Inkunabel.
f. 154^—173^: Homerus latinus mit Accessus und Erklä-
rungen.
INC. f. 154^: De hello Troyano Homerus incipit, Yliades
intytulatur. Iram pande mihi.
EXPL. f. 173^: Explicit Homerus de hystoria Troyana in
Ingoldstat anno 1479 in die sancti Andree.
f. 173^ — 174^: De poetria et eins generibus.
INC.: Alphorabius in libro de divisione scientiarum dicit
poetriam ultimam partem. EXPL.: quedam libistice, que fin-
gunt homines cum brutis loqui.
Abhandlung aus der Renaissance; unter anderm Boccaccio
zitiert.
f. 175^ — 177^: Lateinisclie Interpunktionslehre.
INC.: Distinctio quam Greci thesim, Latini posituram di-
cunt. EXPL.: easdemque notas, easdemque figuras observant.
Aus der Renaissance. Eine nähere Untersuchung dieser
wie der anderen mittelalterlichen und humanistischen Traktate
über Interpunktion ist sehr erwünscht.
f. 177^: Bettelbrief des Samuel Karoch.
INC.: Epistola pro statu aliquo. Samuel Karoch
— Johanni de Pinguea — — — atque perpetue salutis ex-
optat prelibamen. EXPL.: sinistra extunc si lubet movere.
Abdruck des Textes unten S. 39 Beilage. Der von W.
Wattenbach und anderen Forschern^) mehrfach behandelte hu-
■^) Zuletzt wohl von L. Bertalot, Humanistische Vorlesungsankün-
digungen usw.: Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unter-
richts. IV (1915) S. 14 ff. und 20. Von B. übersehen zu sein scheint
der wichtige Aufsatz von A. Bömer, Ein unbekanntes Schülergespräch
Samuel Karochs von Lichtenberg: Neue Jahrbücher für das klassische
Altertum usw. VI (1900) S. 465-476.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 35
manistische Wanderlehrer Samuel Karoch aus Lichtenberg*)
bittet hierin einen Bekannten um Vermittlung einer Schul-
lehrerstelle. Der Briefempfänger, ein Leipziger Baccalarius
und Wormser Schulmeister Johann von Bingen, ist wohl eine
Person mit jenem Johannes JDorckheimer de Bingwya, der im
Sommersemester 1454 in Leipzig immatrikuliert, als Johannes
TorgJcener dort 1456 unter die Baccalaren aufgenommen wurde,^)
eine Person auch mit dem in der 2. Hälfte des 15. Jahrhun-
derts erscheinenden^) Meister Hans, derzeit hynderschulmeister
des thumhstifts zu Wormbs,
f. 178^ — 184^: Somnium Scipionis mit Glossen, wohl nach
der oben genannten Pariser Ciceroinkunabel.
f. 184^—185^: Brief Vorwort des Erhard Windsberger zu
einer Epistolographie.
INC.: Omnibus bonarum artium amatoribus benivolis Er-
hardus Ventimontanus S. P. D. Magnorum virorum non solum
ocii. EXPL.: Multo enim liberalius est dare quam accipere.
Valete.
Der Text auch in der ebenfalls zum Teil in Ingolstadt
entstandenen Erlanger Hs. 762 f. 71 erhalten. Erhard Winds-
berger ist berühmt als Freund und Gehilfe der ersten Pariser
Drucker, als erster offiziell angestellter Lehrer der Dichtkunst
an der Universität Ingolstadt.*)
f. 185^ — 197^: Epistolograpliie, vielleicht verfaßt von Er-
hard Windsberger.
INC.: Epistolarum officium, quo potissimum certiores fa-
cimus absentes. EXPL.: non parum sunt consentanee exorna-
ciones. Finis. Finit feliciter.
*) Wohl nicht L. in Oberösterreich, wie Bertalot sagt, sondern in
Oberfranken, wie Wattenbach, Eckstein und Bömer angeben.
2) Vgl. Codex diplomaticus Saxoniae regiae. 2. Hauptteil. Bd. XVI
187, XVII 166.
3) Vgl. H. Boos, Quellen zur Geschichte der Stadt Worms. III
(Berlin 1893), S. 450.
*) Vgl. z. B. G. Bauch, Die Anfönge des Humanismus in Ingolstadt,
München und Leipzig 1901, S. 14 — 24.
3*
36 P. Lehmann
Es kann sich sehr gut um das in dem Briefe f. 184^ — 185^
angekündigte Werk Windsbergers handeln. In der Erlanger
Hs. steht der Brief für sich, die dort später f. 99 sqq. folgende
Epistolographie Brenningers ist anders, wenngleich ähnlich;
das Gemeinsame beruht auf der Abhängigkeit beider von der
gleichen Vorlage.
f. 198^—202^: Grammatellus de artifloiali eloquentia mit
deutschen Glossen.
INC.: Nudiustercius dum gramatellos. EXPL: satores
torrifices, lanifices.
Im Spätmittelalter weitverbreitetes stilistisches Schulbuch,
das mir Dr. L. Bertalot in den Handschriften Berlin lat. qu. 90
(Rose 992), Lambach 291, München lat. 6008, 14644, 18801,
in den Drucken Hain 7849 — 55 u. a. nachgewiesen hat.
f. 202^—203^: Epistola Bernhardt Silvestris super guber-
nacione rei familiaris.
INC.: Epistola — — — . Gracioso ac felici militi Ray-
mundo, domino castri Ambrosii, Bernhardus in senium deduc-
tus salutem. Doceri petisti a nobis. EXPL.: eam perducat
sua dampnabilis senectus. Epistola Bernhardi Silvestris super
gubernacione rei familiaris feliciter explicit.
Gedruckt bei Migne, Patrol. lat. CLXXXH 647-651.
f. 203^: Sentenzen über die Tugenden des Familienlebens u. a.
INC.: Quatuor sunt que per rectorem familie observari
conveniunt. EXPL: qui felicitatis gaudio wllt carere. Hec Ful-
gentius libro mitologiarum.
f. 204^'^: Gregorius Tifernus, Triumphus cupidinis.
INC.: Triumphus cupidinis. Vivebam liber turba tran-
quillus ab omni. EXPL.: Maxima si durus numina vincit
amor. Finis.
Von Dr. L. Bertalot mir als Gedicht des Gregorius Ti-
fernus nachgewiesen, in dessen Opuscula und Carmina vor und
nach 1500 mehrfach gedruckt, handschriftlich z. B. in Florenz
Bibl. Naz. Maghab. VH 1162.
f. 204^: Epistola responsiva Avicenne ad sanctum Augu-
stinum.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 37
INC.: Epistola responsiva — . Apparuisti conpa-
triota. EXPL.: causa sublimis velit exspectabo.
f. 205^^206^: De nobilis ac ogregiae poeticae persuasionis
reoommeiidatioiie.
INC.: Pandite, inquam, poetas divinum literarum genus.
EXPL.: fructum, hortor, exinde deportate. Et tantum de no-
bilis ac egregie poetice perswasionis recomendacione.
Vielleicht mit dem Traktat auf f. 22 sqq. zusammenge-
hörend.
f. 207^: Formula de quodam ex Hildesshemeiisi ad Johan-
nem Talern, suum precordialissimum, ne ad Hildeshemeiisem ac-
cedat, sed Coloniam se transferat.
INC.: Formula — — — . Incipit prosayce. Ingeniöse
docilitatis decore florenti — — — Johanni Tali suo precor-
dialissimo. Sincere caritatis constantia. EXPL.: Caritas ad-
monet respicias. Vale meque tibi semper persuade carissimum.
Johannes Talis, incola Hildeshemensis, tuus precordialissimus.
In dem Brief wird der Niedergang der Hildesheimer Schulen
beklagt, die Blüte des Kölner Unterrichtswesens gepriesen.
Es folgen kurze lexikalisch-stilistische Erörterungen des Briefes.
INC.: Item mars Stella belli. EXPL.: unde est aniraus in sco-
las, volo ad scolas.
f. 207^ leer.
f. 208^—291^: Senecae epistolae ad Lucilium, mit vielen
schulmäßigen Rand- und Interlinearglossen und Schollen, auch
mit deutschen Übersetzungen.
f. 291^—292^: Bettelbrief eines Angehörigen der Univer-
sität Leipzig.
INC.: Ad preclaros, quos celsitudo septiformis circumful-
sit dogmatis alme universitatis Lipzensis studentes. Domini
mei citra terrigenas universos. EXPL.: abscondere pauperta-
tem, et temperantior est, cui sufficit quod habet.
Vielleicht verfaßt von Samuel Karoch,^) der 1466 in ähn-
Vgl. oben S. 34 f.
SS- P. Lehmann
lieber Weise auch die Leipziger Professoren anredete.^) Hier
wie dort ist von 9 Jahren der Not des Bittenden in Leipzig
die Rede.
f. 292^'^: Allerlei Notizen und Auszüge über den Redner
und die Redekunst.
INC.: Unde orator sie debet esse homo bonus. EXPL.:
casibus inferius utitur Cicero.
f. 293^—308^: Kommentar zu Vergils Bucolica.
INC. : Testatur Servius, quoniam solebant in prineipiis auto-
rum. EXPL.: Ite domum. Ite. Hoc est: finem buecolico car-
mini imponite.
f. 309^''^: Notizen über comoedia, tragoedia, satira.
INC. : Nota circum principium poetrie est sciendum. EXPL. :
Quos dolor et sathira, livor eonsumit et ira.
f. 310^: De studente ad beauum.
INC.: De studente ad beanum. Si meritus es salutem re-
cipere deeore peeudis. EXPL.: cum porcis te tumulandum
linquam.
Invektive, die vielleicht von Samuel Karoch stammt^) und
z. B. auch in München lat. 4393 sowie, was mir Dr. L. Ber-
talot mitteilte, in Wien 3502 überliefert ist.
f. 310^'^: Bettelbrief eines Studenten.
INC.: Epistola petitoria ad compatrem. Lumen oculorum
meorum in sentinam languoris. EXPL.: Vale quousque felici
gressu presentis seeuli transieris disturbium. Extunc vade.
Auch ein Musterbrief Karochs?
^) Vgl. Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit. N. F. XXVII
(1880) S. 185 ff.
'^) Vgl, W. Wattenbach in der Zeitschrift für die Geschichte des
Oberrheins. XXVIII (1876) S. 42.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 39
Beilage.
Epistola pro statu aliquo. f, 177 '<
Samuel Karoch oratorie humanitatisquo artis scbolaris Jo-
hanni de Tinguea, arcium Jiberalium baccalaurio Lipsensi, par-
tirium scolarium in Burmatia rectori (S. D. P.) atque perpetue
salutis exoptat prelibamen. ^) Anxietatis provinciam*) huic com-
mendandam esse, qui, haud secus ac de ipsius ageretur interitu,^)
ipsam summo nisu*) retundere inque prosperitatis omen resolvere
curat, omnis humana suadet ratio. Hinc est, fautor mi adaman-
de, quod humanitati tue evolutare festino. Diebus quam paucis
decursis auribus meis intrepuit te salvum, de quo dis habeo gra-
ciam, ecce ioeundum esse scolis quoque partiribus Wurmacensibus
intundere. Percipio insuper te apud singulos tam prelatos, no-
biles, cives quam populäres, non solum in Wurmacensi civitate
consistentes, verum multo magis in ceteris districtibus vicinis ca-
strorum Tidelicet civitatum ne homines autoritate plurimum va-
lere, adeo ut nichil ab ipsis impetrandum difficile tibi obtinen-
dumque videatur esse. Quare te suppliciter hortor atque rogo,
cum tu nictu^) et amictu^) sufficienter (excellenti tuo aspirante
officio) provisus fueris necessariis, me tibi commissum habeas et
apud tibi benevolentes tantopere promoveas, ut et una ego quot-
piam saltim scolarum regiminis adipiscar officium aut quoddam-
libet aliud, quod egestati mee congruat. Eciam humanitatis ars
(quam poesim dicunt), an apud te pollulet vel plus argentum, ex
te scire velim. Quid illic rei sit michi quammox pateris literis
tuis designa et facietenus me prope comtemplaberis'') diem. Nil
restat nunc tibi, ut scribam, nisi ut tu pro meo sicut ego pro tuo
advigiles (precor) comodo. Quod si feceris, noctes plus centum
ducam insomnes, ut ad mensuram tribuam. Novitates, que apud
nos iampridem invalescebant,®) ex tabellione^) percipies. Vale
tantisper quousque dextera tua ubera cuncta complecteris,^^) si-
nistra extunc si lubet movere.
N.-M. Bibl. 1668.
Holzband mit Lederrücken und 2 verstümmelten Messing-
schließen und Kettenloch hinten. Auf dem Vorderdeckel ein
rot eingefaßter Papierzettel mit der Aufschrift saec. XV ex.:
1) darüber von 1. Hand optamen. ^) darüber curam. ^) da-
rüber morte. *) darüber magno labere. ^) darüber ciliis. ^) da-
rüber vestitu. '^) darüber videbis. ^) darüber fieri ineipiebant.
^) darüber nuncio. ^®) darüber palpitaveris.
40 P. Lehmann »
Libri etbicorum, yconomicorum, politicorum , rhethoricorum
Aristotelis; darunter ein Zettel mit einem roten Signaturbuch-
staben (= Q oder 0). Pap. 20,5 x 32 cm. 258 Bll. und
einige — verschieden große — Schaltzettel. Schrift vorwiegend
von einer Hand saec. XV. Schaltzettel I, vor f. 1, saec. XVII:
Ad bibliothecam pp. Franciscanorum Ingolstadensium.
f. 1—77^: Aristo tiles, Ethica mit vielen Glossen.
INC.: <0>mnis ars et omnis doctrina. EXPL.: legibus et
consuetudinibus utens dicamus igitur incipientes. Explicit Ari-
stotelis liber etbicorum.
f. 78^—83^: Aristoteles, Oeconomica mit Glossen.
INC.: (Y>cononiica et politica differunt non simul sicud
domus et civitas. EXPL.: multum ad uxorem suam et filios
et parentes etc.
f. 83^—88^ leer.
f. 89^—1921^: Aristoteles, Politica mit Glossen.
INC.: <Q)uoniam omnem civitatem videmus communitatem.
EXPL.: quod decens. Reliqua huius operis in Greco nondum
inveni etc.
f. 192^ leer.
f. 193^—258: Aristoteles, Rethorica.
INC.: <R>ethorica assecutiva dyalectice est; ambe enim.
EXPL.: oracio sit dixi audistis habetis iudicate. Et sie finit
rethorica Aristotilis a Greco in Latinum.
f. 258^ leer.
N.-M. Bibl. 3716.
Holzband mit ornamentiertem Leberüberzug. Pap. 15,3
X 21,3 cm. 212 Bll. Schrift saec. XV.
f. 2^ saec. XVII: Ad bibliothecam patrum Franciscanorum
Ingolstadensium.
f. 1^ leer bis auf den Eintrag saec. XV: Sancti spiritus
assit nobis gracia, sancti spiritus assit nobis gracia et quasi
luvet nos.
- f. 2^—212^: Alexander de Villa Dei, Doctrinalis pars IL,
cum commento.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 41
INC. f. 2^: Circa inicium secunde partis Allexandri aliqua
breviter notare volo, priuscjuam ad textum procedam. f. 6^
INC.: '<S>ic iubet ordo libri vocum regimen reserari.' Sensus
textus est: ordo premissus. EXPL.: Si tarnen pro tertio ma-
teriale et non substantiam quia substantiam.
f. 105^ am Rande saec. XV: Monacum situatur decem
miliaribus ab Ingolstat.
NÜRNBERG.
Clapissenkloster.^)
Vereinzelte Handschriften in Bamberg, Berlin, Chelten-
ham(?), Gera, Pommersfelden, Stuttgart, Wolfenbüttel.
N.-M. Bibl. 1191.
Pergamentumschlag mit Notentext saec. XV. Perg. 34,5
X 25 cm. 83 BU. Schrift in 2 Spalten von einer kräftigen
Hand um 1500, mit roten Überschriften und einigen roten und
blauen Initialen.
f. 1^—10^: Deutsche Chronik des Franziskaner ordens, viel-
leicht verfaßt von Nikolaus Glaßberger.
INC. rot mit blauer I-Initiale: In nomine sanctissime tri-
nitatis hebt sich hie an ein kleiner ausszug auss der cronica
des heilligen ordens der myndern brüder, und wenn unsser
heilligister vater sanctus Franciscus den orden hat angefangen.
Schwarz mit rotblauer A-Initiale: Anno Domini MCCVI in dem
XIIII. iar des pabstums herrn Innocencii des III. EXPL. : wel-
cher orden sancte Marie Magdalene pey LX iar in disem closter
hie zu Nurberg gewast was — — — . Wie aber, umb was
sach und zu welchen zeiten die Veränderung des ordens in di-
sem gegen wurtigen closter geschehen sey, wirt clerlich er-
scheinen in der cronica, die hernach volgt.
1) G. Pickel, Geschichte des Klaraklosters in Nürnberg: Beiträge
zur bayerischen Kirchengeschichte, hsg. von Th. v. Kolde. XIX (1913)
S. 145—172. Ulrich Schmidt, Das ehemal. Franziskanerkloster in Nürn-
berg, Nürnberg 1913, S. 34 ff. ,
42 * P. Lehmann
Diese bisher unbekannt gebliebene Chronik beginnt mit
dem Ursprung des Franziskanerordens, berücksichtigt im be-
sonderen die Ciarissen bis zur Gründung und Bestätigung des
Clarissenklosters zu Nürnberg 1279/81. Zu Grunde gelegt ist
die Chronica XXIV gener. o. min., diese aber teils gekürzt,
teils erweitert. Vielfach herrscht Übereinstimmung mit der
bekannten Chronik des Nikolaus Glaßberger, der wohl auch
vorliegendes Werk verfaßt hat, vgl. unten.
f. 10^ leer.
f. 11^—83^ (alte Zählung 11—84, f. 77 überschlagen):
Deutsche Chronik der Nürnberger Ciarissen, um 1500 verfaßt
wahrscheinlich von Nikolaus Glaßberger.
INC, rot mit blauer I-Initiale: In nomine Domini hebt hie
an. die cronica der Schwester sanct Clarn ordens zu Nurmberg
— — — . Schwarz mit rotblauer A-Initiale: Anno Domini
MXCII, do auff sant Peters stul sas der allerheilligst vater herr
Urbanus der ander. EXPL.: vor ytlichem X pater noster für den
heilligen vatter pabst und die ganczen heiligen kristlichen kirchen.
Beide Chroniken des Bandes, die bisher unausgenutzt ge-
blieben sind, stammen von ein und demselben Verfasser, der
in engsten Beziehungen zum Nürnberger Clarissenkloster ge-
standen hat, zumal da oft von diesem als „unserm Kloster"
die Rede ist. f. 1 — 10 ist gleichsam die Einleitung zu der in
2 Teile (der 2. Teil beginnt mit der Einführung der Obser-
vanz) geteilten Sonder-Chronik des Nürnberger Konvents. Der
Text des Chronisten stimmt hier wie da häufig wörtlich mit
Glaßbergers Franziskanerchronik überein, gibt aber ortsgeschicht-
lich noch mehr, z. B. vollständige Urkundentexte, die der Be-
achtung empfohlen seien. Da das in den Analecta Francis-
cana^) gedruckte Werk Glaßbergers 1508 verfaßt ist, der Autor
unserer Hs. seine Chronik aber beim Jahre 1500 abgeschlossen
und kaum viel später zusammengestellt hat, muß er entweder
eine frühere Fassung der Chronik Glaßbergers oder dessen —
unveröffentlichte — Vorarbeiten gekannt haben oder Glaß-
1) II (1887).
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 43
berger selbst gewesen sein. Ich halte es bei der Ähnlichkeit
der Darstell ungs weise und der weitgehenden Gleichheit der
Quellen für das Wahrscheinlichste, daß unsere beiden deutschen
Chroniken von Nikolaus Glaßberger selbst abgefaßt sind, der
aus Mähren stammend 1472 in Amberg Minorit wurde, früh-
zeitig Neigung zu ordensgeschichtlichen Forschungen zeigte
und gegen Ende des 15. Jahrhunderts als Beichtvater bei den
Nürnberger Ciarissen wirkte.*)
N.-M. Bibl. 3801.
Holzband mit braunem, ornamentiertem Lederüberzug (wohl
saec. XVI) und 1 von 2 ursprünglichen Schließen. 1 Perg.-
Vorsatzbl. Pap. 15,8 x 21 cm. 230 BIL, vor und hinter denen
je 4 Bll. einer anderen Papiersorte stehen, f. 1 — 230 von
einer sorgfältig schreibenden Hand saec. XV/XVI, mit roten
Überschriften und rotem Text der jeweils erklärten Psalmen-
verse und Hymnen sowie schlichten blauen Initialen, f. A^
saec. XVI in., f. 231^ saec. XVI.
f. A^ oben saec. XVI in. : Das puch gehört zu sanct Clarn
in Nurmberg, ist vatter Stephans selligen ausslegung über dy
non und complet.
f. 1^—113^: Stephan Fridolin, Deutsche Predigten über
die Non.
INC. rot mit blauer I-Initiale: In nomine Domini nostri
Jesu Christi crucifixi hebt an ein andechtige ausslegung des
ymnus und der psalm zu der nonzeit. Schwarz mit blauer
E-Initiale: Es ist zu mercken, so uns unsser lieber herr Jesus
Christus zu nonzeit die allergrosten gutheit hat bewissen.
EXPL.: das ich do deiner grosstettigen maiestat und aller
tiffsten demutikeit mit allen heilligen endloss lob und danck-
perkeit mug singen in secula seculorum. Rot: Immensa gra-
tiarum actio Christo in eternum.
1) Vgl. über ihn außer der oben S. 42 angeführten Literatur K. Eubel
im Historischen Jahrbuch. X (1889) S. 378 ff. und H. Boehmer in der
CoUection d'etudes et de documents sur l'histoire religieuse et litteraire
du moyen-äge. VI (Paris 1908) p. XXV sqq.
44 , P. Lehmann
Text entspricht f. 176—222 der Berliner Hs., vgl. unten.
f. 113^—230^: Stephan Fridolin, Deutsclie Predigten über
die Komplet.
INC. blau: In nomine Domini hebt hie an die ausslegung
der complet. Rot mit blauer W-Initiale: Wenn du an wilt
fahen complet zu sprechen, so soltu vor betrachten .
Schwarz mit blauer I-Initiale: In dem ersten psalm 'Cum in-
vocarem' soltu mit fleiss und andacht betrachten die grossen
angst. EXPL.: das unsser leczte Zuflucht soll sein in unsserm
sterben und unsser ewige frewd in dem himelischen vatterland
in secula seculorum. Amen.
Text entspricht f. 1 — 42 der Berliner Hs., vgl. unten.
f. 230^ und 231^: Bemerkungen über die Predigten und
die vorliegende Abschrift, vgl. Beilage S. 45.
P. Stephan Fridolin (f 17. August 1498), der Verfasser
vorliegender Predigten, ist erst in neuerer Zeit namentlich
durch gute Arbeiten von P. Ulrich Schmidt^) recht bekannt
geworden. Er war spätestens seit 1479 Mitglied des Barfüßer-
klosters in Nürnberg, seit 1481 Lektor dort, von 1482 bis zu
seinem Tode Prediger bei den Nürnberger Ciarissen. Ernst-
haft um die Hebung des religiösen Lebens bemüht und inter-
essiert für die Bestrebungen des Frühhumanismus, betätigte er
sich schriftstellerisch in deutscher Sprache auf homiletischem,
asketischem und historischem Gebiete. Für die bei den Cia-
rissen gehaltenen Predigten über die Prim, Non und Komplet
waren bisher nur 2 Hss. bekannt: 1. Berlin K. Bibl. Ms. germ.
Fol. 1040 (1501 in Söflingen bei Ulm geschrieben); 2. ein Band
in Privatbesitz. Veröffentlicht sind nur die Erklärung des
2. Kompletpsalmes (gedruckt 1514) und namentlich die Primpre-
digten durch P. ü. Schmidt. Dieser stellte mir auch sein übriges
^) P. Stephan Fridolin, ein Franziskanerprediger des ausgehenden
Mittelalters, München 1911: Veröffentlichungen aus dem kirchenhistori-
schen Seminar München. III. Reihe no. 11; Mittelalterliche deutsche
Predigten des Franziskaners P. Stephan Fridolin. 1. Heft, München 1913:
a. a. 0. IV. Reihe no. 1. Vgl. auch N. Paulus in den Historisch-politi-
schen Blättern für das katholische Deutschland. CXIII (1894) S. 465-483.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 45
Material freundlichst zur Verfügung. Die Hs. des National-
museums war ihm wie anderen nicht bekannt. Sie scheint
mir sprachlich und geschichtlich wertvoll zu sein, da sie ja
(vgl. Beilage) zu Nürnberg im Clarissenkloster entstanden ist,
also da wo die Predigten gehalten waren, und sich ausweist
als eine von Margarethe Kressin ^) genommene Kopie der von
Caritas Pirkheimer angefertigten Originalnachschrift.
Beilage.
f. 230^ am Schluß, in roter Schrift mit blauer A-Initiale,
von der Hand der Codexschreiberin:
Alle die diss ym hörn oder lessen, die gedenchen durch gottes
willen des andechtigen, wirdigen, geistlichen vatters Stephan! Fri-
dolini, der uns diss materi in unsser kircben gepredigt hat mit
allem fleiß als ein besuuder grosser liebhaber des heilligen leiden
Xpi, das er uns gern eingetruckt und eingebildet het. Wann er
ein besunder getrewer und worer frewnt und vatter unssers Or-
dens vil iar gewest ist und seliglich verschiden den III. tag nach
Assumpcionis Marie 1499. Requiescat in pace etc.
f. 231^ von anderer Hand, mit rot unterstrichenen Textzeilen:
Aber disse materii hat die wirdig mutter Caritas Pirckhamerin
seligen an der predig auss des obgemelten wirdigen vaters mundt
von wort zu wort angeschriben. Die zu einer abtissin erweit wurd
tausent funfhundter und im dryten iar und starb an der abtey
an der octaf unsser heiligen mutter sant Clarn im XV^ im XXXII
iar, als uns nit zweyfelt selliglichen, die uns nuczlich und trost-
lich ist gewest, auch vil mw, arbeit und angst und not gehabt
hat besunder die Luterischen jar, in den sie für sich und uns
ritterlichen gestritten und mit der hilf gottes bestendiglichen ver-
hart wider alle keczerey pis in ir endt. Got geh ir den ewig
^) Nach f. 231^ unserer Hs. wäre sie 1510 gestorben. Das Nekrologium,
das bei Andreas Würfel, Historische, genealogische und diplomatische
Nachrichten zur Erläuterung der Nürnberger Stadt- und Adelsgeschichte.
II (Nürnberg 17G7) allerdings nicht ganz zuverlässig herausgegeben ist,
gibt (S. 893) 1511 an: Item soror Margareta Kressin, starb den nehsten
tag nach Symon und Jude im XV^ im XI. jar und was im hiligen orden
gewest pey XLIIII jaren und was irs alters bei LV jar und ligt im III.
grab von der stigen im kreuczgang. Auch beim Todesjahr Fridolins
gehen das Nekrologium mit 1498 und unsere Hs. mit 1499 auseinander.
46 P. Lehmann
Ion! Darumb auch das sie die ding gemerckt und geschriben hat,
het ir sunst nit. Und swester Margaretha Kressin — die^) ge-
storbe ist den neschentag nach der heiligen XII poten Symon und
Judas tag im XV*^ und X jar — hat diss puch von ir abgeschri-
ben. Requiescat io sancta pace!
Dominikanerinnenkloster S. Katharinae.
Handschriften jetzt über viele Bibliotheken verstreut, so
in Bamberg, Berlin, Dresden, Karlsruhe, Maihingen, Mainz,
München, Neustadt a. d. Aisch, Nürnberg, Raigern, Rom, Straß-
burg, Würzburg.
N.-M. Bibl. 932.
Holzband mit erneuertem Lederüberzug. Vorn im Deckel
farbiges Königsbild mit der Beischrift saec. XV: Dominus Hen-
ricus rex. Pap. 10,5 x 15 cm. 158 Bll. Schrift aus dem An-
fang des 15. Jahrhunderts.
f. 158^ saec. XV: das puchlein gehört in das closter zu
sant katherinen predigerorden in Nürenwerg.
f. 1^ — 157^: Das Buch des (jehorsams.
INC.: Jhesu Criste mynreichen funff wunden zu lob und
ere noch dem buch der keuschen iunkfrawlichen rainikait hebe
ich an dir zu schreiben das buch der gehorsam noch dem sel-
gen leben Jesu Christi und der seligen Elizabeth und irs
maister Cunradus. EXPL.: und ich aht auch, datz dir aller-
nütz sey die lere und anweisung, des dein du solt in allen
dingen volgen an der stat Götz in Cristo Jhesu Amen, etc.
est finius huius libelli. Dann von anderer, vrenig jüngerer
Hand: Liebew Barbara pitt got deglich für mich, daz er mir
dy drey stuck verleich, do ditz puchlein von sagt, vor meinem
end, alcz ich auch gern für euch will piten. Petrerum 14
anno XXX.
f. 157^ und 158^ leer.
f. 158^: Herkunftsvermerk, vgl. oben.
^) Die Parenthese Nachtrag wohl derselben Hand, am Schluß aber
durch Zeichen zu swester Margaretha gewiesen.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 47
Im Bücherverzeichnis des Klosters saec. XV folgender-
maßen beschrieben: Item ein puch, helt gar schon und nucz
lere von gehorsam. Item das puchlein ist gewest s wester Bar-
bara Werniczerin. *^)
Franzlskanepkiostep.
Vereinzelte Handschriften in Donaueschingen, Nürnberg
und München Üniv.-Bibl.
N.-M. Bibl. 3599.
Holzband mit rot gefärbtem Lederüberzug, 1 Schließe.
Pap. 8 X 10,8 cm. 276 BU. Kleine, abkürzungsreiche Schrift
saec. XV. Ein eigentlicher Herkunfts vermerk fehlt; auf ehe-
malige Zugehörigkeit zu einem Franziskanerkloster weist die
Tatsache, daß f. 132^ und 133^ aus einem auseinandergeschnit-
tenen Schreiben des Tübinger Minoritenguardians Johannes
Alpart von 1470 stammen, auf Nürnberg das Datum von
f. 164^; allerdings ist die Nürnberger Herkunft des ganzen
Bandes nicht sicher.
f. 1 — 3^: Tractatus de Deo et creatura (wohl unvollständig).
INC. : Effectus et operaciones tue atque uni'/erse sensibilis
creature. EXPL.: spiritu decipiat caro et ab exterioribus re-
mo .... etc.
f. 4^ — 74^: Richardus de s. Victore, De archa mystica.
INC. rot: Richard us de archa mistica. Schwarz: Surge,
domine, et requiem tuam tu et archa mystica. EXPL.: ut su-
perius premisimus, ociosi ociosis locuti sumus etc. Finis Ri-
chardi de s. Victore de archa mistica.
f. 75^— 13F: Hugo de Palma o. Cisterc, De theologia my-
stica Hugonis.
INC. rot: Hugo — — — mistica Hugonis. Schwarz:
Vie Sion lugent eo, quod sit — , licet hoc verbum di-
xerit Jereraias. EXPL.: dedicavit totaliter et communiter(?)
suas motibus.
1) Vgl. F. Jostes, Meister JEckhart und seine Jünger, Freiburg
(Schweiz) 1895, S. 156.
48 P. Lehmann
f. 132^ — 148^: Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum.
INC.: Incipit prologus itinerarii mentis ad Deum. In prin-
cipio. Primum principium, a quo cuncte illuminaciones. EXPL.:
dominus Deus in eternum, dicat omnis populus Fiat, fiat. Amen!
Explicit itinerarius mentis in Deum domini fratris Boneventure.
f. 148^ — 164^: Johannes Gerson, De theologia mystica
practica.
INC.: Prologus Gersonis in theologiam misticam practice
conscriptam sub duodecim consideracionibus sive industriis.
Tractantes in leccionibus nostris. EXPL. : exsuperantis omnem
sensum dilectus meus mihi et ego illi etc. Explicit libellus
de mistica theologia practica venerabilis Johannis Gerson, olim
cancellarii ecclesie Parisiensis, editus ab eodem anno Domini
1407 et recensitus sive relectus et probatus ab eo, sicut pro-
pria manu subscripsit in exemplari, quod ad Carthusiam misit
de civitate Lugdunensi anno Domini 1422. ütinam hie esset
ex illo rescriptus sive correctus, dum correxi. Anno Domini
1473 Noremberge.
f. 164^—190^: Johannes Gerson, De theologia mystica spe-
culativa.
INC. rot: Prologus in theologiam misticam magistri Jar-
sonis; prima parte. Schwarz: Penitemini et credite ewangelio.
EXPL.: quibus impeditur, doctissime tradiderunt etc. Finis
tractatus magistri Johannis Jarsonis de mistica theologia spe-
culativa.
f. 191 leer.
f. 193^ — 206^: Johannis Sarraceni translatio Dionysii Areop.
de mystica theologia cum commentis Job. Sarraceni aliorumque.
INC. f. 192^: Incipit prologus in misticam theologiam Jo-
hannis Sarraceni. Ante misticam theologiam. INC. f. 193^:
Conpresbitero Thymotheo Djonisius presbiter. Incipit liber
Dyonisii de mistica theologia. Trinitas supersubstancialis —
. Vercellensis: 0 trinitas supersubstantialis. EXPL.: et
excessus eins ab omnibus et super omnia absolutus etc. Ex-
plicit mistica theologia beati Dyonisii.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 49
f. 206^ — 222^: Thomas Vercellensis, Commentum in mysti-
cam theologiam Dionysii.
INC.: Commentum magistri Thome abbatis Vercellensis
in theol. myst. Dionysii. Trinitas supersubstancialis etc. Du-
plici modo ad Dei cognicionem pervenimus. EXPL.: excessus
Dei absoluti ab omnibus et eminentis super omnia etc. Finis.
f. 223^—240^: Hugo (recte: Robertus) Lincolnieusis, Com-
mentum in myst. theol. Dionysii.
INC.: Trinitas supersubstancialis et superdea et supermi-
stica theologia et secretissima et non iam per speculum et
ymagines. EXPL. : nimirum dictorum defectus a perfectis be-
nevole suppleri. Amen. Explicit commentum Hugonis Linco-
niensis super mistica theologia.
f. 24P— 255^: Hugo de s. Victore, Commentum in myst.
theol. Dionysii a Johanne Scotto translatam.
INC.: Incipit Hugonis de sancto Victore super translacio-
nem Johannis Scoti in misticam theologiam beati Dyonisii cum
textu interlineariter glozato. Quid divina caligo. Cap. 1. Tri-
nitas superessentialis — inspector, id est cognitor et
approbator theosophie. EXPL.: eo sunt ex ipso proinde com-
meancia etc. Explicit commentum Hugonis de sancto Victore
super misticam theologiam.
f. 256^— 26P: Robertus Lincolniensis, Translatio myst.
theol. Dionysii.
INC.: Incipit translacio Linconiensis textus mistice theo-
logie beati Dyonisii. EXPL.: ab omnibus simpliciter absoluti
et ultra universa. Explicit translacio Linconiensis textus mi-
stice theologie.
f. 26P— 262^: Initium commenti in myst. theol. Dionysii.
INC.: Conpresbitero Thymotheo Dyonisius. In nostris ex-
emplaribus Grecis non fuit prescriptum aliquod epygrama.
EXPL.: omnis intellectualis sensum super excellenciam causa.
Sequitur textus capituli I. Dyonisii Areopagite de mistica theo-
logia.
f. 263, 264 leer.
Sitzgsb. d. philos.-philol. u. d, bist. Kl. Jahrg. 1916, 4. Abh. 4
50 P. Lehmann
f. 265^—274^: Augustinus, De cognitione vitae verae.
INC.: Incipit liber de cognicione vere vite per modum
dyalogi, editus a beato Augustino doctore incomparabili. In-
cipit prologus. Sapiencia Dei, que os muti aperuit. EXPL.:
sed Spiritus sanctus columbe corpus condidit. Cui laus et ho-
nor et gloria in secula seculorum. Amen. Explicit Augustinus
de cognicione vere vite.
f. 275, 276 leer.
ÖTTINGEN.
Gräfliche Bibliothek.
Reste der Handschriftensammlung namentlich in Maihingen,
einige Bände in Regensburg, Bibl. Thurn und Taxis.
N.-M. Bibl. 3601.
Holzband mit Schaffellüberzug, auf dem vorn der Ver-
merk saec. XIV/XV: de infantia salvatoris. Perg. 14,7 x 22,3 cm.
107 Ell. Schöne Schrift saec. XIV (1336) mit roten Über-
schriften.
Zur Herkunft vgl. unten.
f. P— 107^: Hugo de Trimberg, Vita Mariae rhythmica
INC. rot: Incipit prologus in vitam dulcissime virginis
Marie, matris Jhesu, filii Dei vi vi, amen. Schwarz mit roter
S-Initiale: Sanctus Epyfanius doctor veritatis. EXPL.: Et igni
sancti spiritus urendum commendemus et maioia scandala ta-
liter vitemus. Rot: Finito libro sit laus et gloria Christo,
Anno Domini millesimo CCCXXXVI scriptus est liber iste,
quem comparavit dominus Chunradus, scriptor dominorum de
Oetingen, scilicet Ludewici et Friderici.
Das vermutlich letzte Werk Hugos von Trimberg (f 1315),
das gereimte lateinische Marienleben, ist zwar in nicht wenigen
— zum Teil noch unbenutzten — Handschriften überliefert
(z. B. Bamberg E. VII 60; Berlin theol. Fol. 209 und 483;
Graz 241, 1133, 1447; Karlsruhe Aug. CCLII, 206; Maihingen?;
München lat. 2651, 3578, 4683, 9546, 9716, 14538, 18361,
18616, 22252, 23449, 26744; Seitenstetten CXLIX; Zürich
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 51
Rhenaug. 173), und wirkte frühzeitig auch auf die deutsche
Literatur des Mittelalters, aber wer die Dichtung verfaßte, ist
bis ins 19. und 20. Jahrhundert fraglich geblieben. Als A.
Vögtlin das Gedicht 1880 herausgab,*) kannte er den Namen
des Autors nicht. Erst F. Leitschuh ^) und insbesondere A.
Jäcklein^) erwiesen Hugo als den Dichter, jedoch ging das
Werk selbst danach gelegentlich*) noch als anonym. Die nicht
mehr zu bezweifelnde Tatsache von Hugos Verfasserschaft er-
hellte bisher einzig und allein aus dem Bambergensis, worin
sich Hugo von Trimberg in einem den anderen Codices feh-
lenden Epilog^) nannte. Diese v^ichtigen Verse stehen auch
in der Hs. des Nationalmuseums und verleihen ihr, abgesehen
von Alter und Herkunft, ansehnlichen Wert.
SCH WARZACH vgl. BIRKLINÖEN.
SPEINSHARD in der Oberpfalz.
Ppämonstpatenserkloster.
N.-M. Bibl. 954.
Obsequiale seu benedictionale secundum ritum dioec. Pri-
singensis, 1489 von Sebaldus Uczmair beendet; deutsche und
lateinische Gebete saec. XV und XVL Laut f. 1« 1602 in
Speinshard für das oberbayerische Prämonstratenserkloster Stein-
gaden gekauft.
STEINGADEN vgl. SPEINSHARD.
1) Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart. CLXXX.
2) Katalog der Handschriften der K. Bibliothek zu Bamberg. I 2
(1897) S. 256 f.
^) Hugo von Trimberg, Verfasser einer Vitae Mariae rhythmica,
Bamberg 1901 (Programm des K, Neuen Gymnasiums zu Bamberg).
*) So bei V. Rose, Verzeichnis der lateinischen Handschriften der
K. Bibliothek in Berlin. II 2 (1903) S. 859, so bei den modernen Bol-
landisten, Bibliotheca hagiographica latina. Suppl. (Brüssel 1911) p. 212.
5) 61 Verse, vgl. Jäcklein S. 31 f.
4*
52 P. Lehmann
TEGERNSEE.
SchafTnerei des Benediktinerklosters.
N.-M. Bibl. 1502.
Kalender, Kocli- und Fischbncli, deutsch-lateinisch, saec. XV/
XVI. Vgl. A. Birlinger, Kalender und Kochbüchlein aus
Tegernsee: Germania, hsg. von F. Pfeiffer, IX (1864) S. 192
— 207; Tegernseer Angel- und Fischbüchlein: Zeitschrift für
deutsches Alterthum. N. F. II (1867) S. 162-179.
TRIEFENSTEIN in ünterfranken.
N.-M. Bibl. 953.
Sermones de tempore et sanctis, saec. XV.
WÜRZBÜRG.
Franziskanerkloster.
Ungefähr 150 mittelalterliche Handschriften im heutigen
Minoritenkloster zu Würzburg, einzelne Bände in Gotha und
in der TJniversitäts-Bibliothek Würzburg.
N.-M. Bibl. 3612.
Holzband mit Schaffellüberzug und erhaltener Kette. Auf
dem Hinterdeckel ein Signatur-B, darunter Pergamentzettel mit
der Aufschrift saec. XV: Tractatus XII et alia pulchra vide
tabulam in principio libri. Pap. 13,5 x 21 cm. 211 Bll. Zwei-
spaltig von verschiedenen Händen saec. XV beschrieben. Her-
kunft erhellt aus den Schlußsätzen des Vorsatzblattes, das ein
altes (saec. XV) Inhaltsverzeichnis des Bandes enthält. INC.:
Tabula. 1. Primo tractatus de creacione. EXPL.: Explicit
tabula tractatuum huius libri et sunt 13 in toto. Collector
huius libri fuit frater Johannes Sinttram, lector et filius con-
ventus Herbipolensis.
f. 1 — 59^^: Articuli 31 de creatione vel reparatlone.
INC.: Postquam superna sapiencia ea, que in ipso. EXPL.
f. 59^^: nos faciat ipse Samaritanus, piissimus Jesus Christus,
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 53
rex angelorum. qui cum patre et spiritu sancto vivit et regnat
in secula seculorum. Amen. Rot: Incipit tabula articulorum
huius tractatus. In primo articulo tractat de hominis forma-
cione. EXPL. f. 59^^: status mundus est perfeccior quam, si
homo non peccasset etc.
f. 59^^ — 7P^: Tractatus de quadruplici homine.
INC.: Gloria et honore coronasti eum — — — . Criso-
stomus inquit super Math. 6. Animalia fecit Deus. EXPL.:
lumen veritatis ministrent. Explicit tractatus de quadruplici
homine.
f. 71RA-VB. Tractatus de homine spirituall.
INC.: Homo spiritualis debet esse compositus ex proprie-
tatibus diversorum animalium. Sed dicit. EXPL.: pregustan-
do in singulis te dilata, sed materiam precedente etc.
f. 72 leer.
f. 73^^—80^^: Marquardus de Lindau, Tractatus de praemio
patriae.
INC. : Incipit tractatus de premio patrie Marquardi de Lyn-
dowia, quondam ministri provincie Argentine fratrum minorum.
Reddet Deus mercedem laborum sanctorum. EXPL.: in mul-
titudine et in requie opulenta usque in sempiternum etc. Ex-
plicit tractatus de premio patrie, bonus et subtilis, scriptus
per manus fratris Johannis Sintram in Argentina. Sequuntur
aliquae de morte predicabilia in die animarum etc.
f. 80^^ — 81^^: Descriptio mortis per tres pMlosophos.
INC.: Descriptio . Querunt philosophy et ma-
gistri, qui convenerunt, ut mortem describerent. EXPL. : dixit
philosophus Aristoteles: Terribilissimum omnium est mors.
f. 81^^—86^^: Marquardus de Lindau (?), Tractatus de no-
bilitate corporis et animae Christi.
INC.: 'Gavisi sunt discipuli viso domino' Jo. 20. Inquit
venerabilis doctor sanctus Bernhardus '0 dulcissime Jhesu'.
EXPL. : non poterant esse ociose etc.
In verschiedenen anderen Codices, z. B. Berlin theol.
F. 157, Marquardus von Lindau zugeschrieben. Vgl. die auch
54 P. Lehmann
in der Handschrift als zusammengehörig bezeichneten Traktate
auf f. 122^ 158 sqq.
f^ 86^^ — 94^^: Marquardus de Lindau, Tractatus de poenis
iuferni.
INC.: Tractatus de penis inferni. Querebant eum inter
cognatos et notos. EXPL.: suffragia iuvare possunt, ideo nee
pro eis orat etc. Est finis tractatus de penis inferni.
Marquardus von Lindau als Verfasser in Berlin theol. F. 157.
f. 95^^ — 106^^: Marquardus de Lindau, Tractatus de nobi-
litate creaturarum.
INC.: Incipit tractatus de nobilitatibus creaturarum. 'Si
congnovisses et tu' Luc. Augustinus dicit *0 anima mirabilis'.
EXPL.: et crescant donorum.
Marquardus von Lindau als Verfasser z. B. in Berlin theol.
F. 157.
f. 106^^-— 12F; Tractatus de perfectione interioris hominis.
INC.: Incipit tractatus de perfeccione interioris hominis.
Rot: De instinctibus. Schwarz: Semen cecidit in terram bo-
nam. EXPL.: quam coronam mereri concedat Christus, qui
sine crimine purus vivit et regnat. Amen. Amen. Explicit
tractatus optimus de perfeccione interioris hominis. Detur pro
pena scriptori pulchra puella.
f. 122^^-^^: Tractatus de nobilitate corporis et animae
Christi.
INC.: 'Gavisi sunt discipuli viso domino', Jo. Inquit doc-
tor sanctus Anshelmus '0 dulcissime Jesu, quando videbo'.
EXPL.: concepit flatu spiritus sanctus, dicit etiam Crisostomus.
Vgl. oben zu f. 81^ sqq.
f. 123^^—133^^: Tractatus de quinque sensibus.
INC. rot: Incipit tractatus de 5 sensibus, quomodo pre-
miabitur in eterna beatitudine. Schwarz: Sed ecce doctor
eximius Hugo de arra anime hoc idem in anima aspiciens.
EXPL.: in eis positis singula affirmat. Explicit tractatus V
sensuum.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 55
f. 133^^ — 144^^: Tractatus super 'Exurgens' et super
'Magniücat'.
INC. rot: Incipit tractatus — — — . 'Exurgens autem
Maria abiit in montana', Luc. 1. Quod virtus quelibet. EXPL.:
de hoc require in tractatu magno 'Exurgens autem Maria etc.'
vel alibi de Maria et illis virtutibus presignatis.
f. 145ßA— i5ivß. Tractatus de patientia Job.
INC. rot: Tractatus — . Schwarz: Per multas tri-
bulaciones oportet nos. EXPL.: in tribulacione fratres salutis
eterne consequitur. Hoc parat nobis qui cum patre et spiritu
sancto vivit et regnat. Amen.
f. 152^^—158: Tractatus de modo loquendi et tacendi.
INC. rot: Tractatus . Schwarz: Inicio et medio
ac fini mei tractatus assit gratia sancti Spiritus. Quoniam in
dicendo multi errant. EXPL.: predicta tibi narrata et ad eterna
gaudia nos faciat pervenire. Amen.
f. 159^^— 160^^: Tractatus de lineamentis et membris Bei
et de motibus animae.
INC. rot: Tractatus . Schwarz: Omnipotens Deus
pater et filius et spiritus sanctus nunc itaque trinus. EXPL.:
ubi dicitur, penitus me fecisse eos scilicet homines.
VgL oben zu f. 81"^ sqq.
f. 161^^—164^^: Franciscus de Mayronis, Tractatus de
articulis fidei.
INC. rot: Franciscus de Maronis de articulis fidei. Schwarz:
Circa articulos fidei est sciendum. EXPL. : de vita eterna, quam
certissime credimus eternam. Amen.
f. 164^^—190^^: Tractatus de decem praeceptis.
INC. rot: Incipit tractatus de X preceptis. Schwarz: Bea-
tus homo, quem tu erudieris. EXPL.: vel indulgeri in parte
vel in toto, quod liberatur, si tria concurrunt.
f. 199^—211 leer.
N.-M. Bibl. 3631.
Holzband mit rotem Lederüberzug und erhaltener Kette.
Auf dem Vorderdeckel Titelzettel saec. XV: Duo boni tractatus
56 P. Lehmann
de confessionibus audiendis; materia bona predicabilis ; de in-
dulgenciis sancti Francisci; item de sacramento multa bona.
Pap. und Perg. 10,8 x 15,4 cm. 174 Bll. (viele andere fehlen
jetzt). Von mehreren Händen saec. XIV und XV.
f. 1^—26^: Tractatus de confessionibus audiendis.
INC. rot: Primus tractatus de confessionibus audiendis.
Schwarz: Ut fratres officium confessionis habentes. EXPL.:
quod se facturum dictus Jo. efficaciter repromisit etc. Datum
anno octavo Kai. Augusti pontificatus nostri anno V. Sit laus
et gloria Christo.
Darunter von derselben Hand wie das Vorige: Anno do-
mini MCCCLXHII in festo pentecostes sollempniter peractum
est capitulum provinciale in Herbipoli per fratrem Albertum
provincialem ^) et in festo assumpcionis beate virginis ante pre-
dictum capitulum intravi in ordinem et eodem anno, quando
intra ordinem (1 Zeile radiert).
f. 26^— 28^: Wiederholung saec. XIV ex. der ersten 3 Blätter
des vorhergehenden Traktats, nachträglich gestrichen.
Verloren ein Tractatus canonum f. 29 — 62 der früheren
Zählung.
f. 29^— 91^ 105—113, 122— 147^ 156—174: Sermones
de tempore et sanctis und Themata sermonum.
INC.: In pasceve. 'Jesu clamans voce magna etc.' Vere
dominus hodie dedit voci sue vocem veritatis. EXPL. f. 174^:
Ovis est reportata a pastore, quia (Text bricht ab).
f. 91^ 92 leer.
f. 93^ — 96^ saec. XV: Tractatus de paenitentia.
INC.: Quicunque falsificavit bullam. EXPL.: per sedem
apostolicam est confirmata.
f. 96^ leer.
f. 97«— 101^: Notata de absolutione.
1) Albert von Marbach 1359—1372 Provinzial der oberdeutschen
Minoritenprovinz, vgl. K. Eubel, Geschichte der oberdeutschen (Straß-
burger) Minoritenprovinz, Würzburg 1886, S. 163 f.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 57
INC.: Nota, quod nullus sacerdos potest absolvere a rai-
nori execracione. EXPL.: hie est remittendus ad curiam etc.
f. 101^ — 104^: Inlialtsverzeicliiiisse des ganzen Bandes und
der einzelnen Predigten saec. XV.
INC. rot: Prima tabula est generalis super tractatus et
sermones istius libri. Schwarz: folio 1 tractatus de confessio-
nibus audiendis. EXPL.: Sequitur folio 159.
f. 141 — 177 der alten Zählung fehlen.
f. 108^ — 113^: Tractatus secundus de confessionibus audi-
endis (unvollständig). INC.: Sit purum, ut nee morari. EXPL.:
nunquam scire desideres. Omne genus.
f. 114^: Lateinische und deutsche Namen der Wochentage
saec. XV.
INC.: Sol Sunntag. EXPL.: Saturnus Samstag.
f. 114^— 119^: Lateinisch-deutscher Tractat De cursu pla-
netarum.
INC.: Moventur autem omnes planete duplici motu etc.
Ein ieclich planet het zwen louf, der erst ist sin natürlicher
louf. EXPL.: daz ist dez planeten hus, der da heizzet Mars.
f. 120« leer.
f. 120^—121«: Abschrift saec. XV der Bulle Clemens IV.
für die Minoriten, 20. Juni 1265 (Potthast, Reg. 19216).
INC.: Clemens papa quartus — — — . Quidam temere
sentientes. EXPL.: se noverit incursurum. Datum Perusii
XII. Kai. Julii pontificatus nostri anno primo. Rot: Bulla
prescripta est in conventu fratrum minor um in Herbipoli, quod
ipsi sunt privileigiati(!) a sede apostolica predicare et etiam
confessiones audire irrequisitis plebanis etc. Eciam volentes
eis confiteri licenciam habent a sede apostolica. Hec frater
Johannes Sinttram, lector vocatus et confrater domus Herbi-
polensis. Anno 1437 in vigilia ascensionis Domini etc.
f. 121^: Do fratre perverse.
INC. rot: Frater perversus. Schwarz: 0 frater velox ad
mensam, tardus ad ecclesiam. EXPL.: religiosum demoniacum
et Christianum antechristum.
58 P. Lehmann
f. 148^—140« leer.
f. 149^ — 154^: Indulgentiae ordinis sancti Francisci.
INC. f. 149"^: Hec est indulgencia ordinis. Nota: Ego
frater Nycolaus, procurator ordinis. EXPL. f. 149^: a sex
Romanis pontificibus XV anni M et CG dies. Numerus secun-
dum alphabetum. A signat — — — , X decem, yclz mille.
INC. f. 150^: De indulgenciis quam impetravit beatus Fran-
ciscus. Cum staret beatus Franciscus apud sanctam Mariam
de Portiuncula. EXPL. f. 154^"^: qui interfuerunt predicte de-
nuncciacioni beati Francisci et episcoporum. Hoc idem testa-
tur dominus papa et multi alii etc.
Beide hier beschriebene Handschriften der Würzburger
Minoriten hängen mit Johann Sintram zusammen, der in ver-
schiedenen Franziskanerklöstern Deutschlands, Frankreichs und
Englands wirkte und „zahlreiche Urkunden seines unermüdeten
Fleißes auf Pergament und Papier" hinterließ, als er 1450 in
Würzburg starb. ^) Von ihm geschriebene Codices, außer den
unbeachtet gebliebenen des Nationalmuseums, befinden sich
noch jetzt im Minoritenkloster zu Würzburg. ^)
Unbestimmtes Würzburger Archiv.
N.-M. Bibl. 1182.
Neuer Pappband mit altem Pergamentüberzug. Pap. 22
X 32,6 cm. 67 Bll. Zweispaltig saec. XV beschrieben.
Von M. J. V. Reider in Würzburg aus der Bibliothek von
Heffner gekauft.
f. 1^—67^^: Lupoldus de Bebenburg, Liber privilegioram
ecclesiae Herbipolensis.
INC. rot: <I>ncipit liber privilegiorum per divos impera-
tores et reges Herbipolensis ecclesie concessorum sub anno Do-
mini MCCCXLVI in Dei nomine inchoatus. (C>um privilegi-
») Vgl. Reuß im Serapeum. VI (1845) S. 165. K. Eubel, Geschichte
der oberdeutschen Minoritenprovinz, S. 35. P. Minges, Geschichte der
Franziskaner in Bayern, München 1896, S. 20.
2) Vgl. H. Haupt in Birlingers Alemannia. XIII (1885) S. 146 f.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums. 59
orum per divos imperatores et reges ecclesiis concessorum iio-
ticia. EXPL.: der geben ist zu Tryer nach Cristi geburt XlIP
darnach in dem vierundfuntzigstem iare an sand Mathias abende,
des heiligen zweifboten, in dem achten iar unserer riebe.
f. 67^ leer.
Original und 2 Kopien dieses Werkes im K. Kreisarchiv
zu Würzburg. ^) Die Münchener Handschrift bisher nicht be-
achtet.
Nachtrag und Berichtigung.
Zu S. 26 Z. 3 f. Beide Zeilen kommen so und ähnlich
auch in anderen Handschriften vor. Vgl. W. Wattenbach,
Das Schriftwesen im Mittelalter, Leipzig 1896, S. 505 und 509,
und K. 0. Meinsma, Middeleeuwsche Bibliotheken, Zutphen
1903, S. 170. Mit Meinsma, der zu dieser Stelle Wattenbach
nicht zitiert, an Schreibkünstler zu denken, die wie der Maler
Cornelis Ketel mit den Zehen arbeiteten, geht doch wohl nicht
an. Wattenbach sieht S. 509 meines Erachtens mit vollem
Recht in jenen beliebten Versen „ein frostiges Spiel mit der
verschiedenen Quantität von manus und manes^. Die guten
Geister fehlten dem Schreiber bei seiner Tätigkeit, nicht die
Hände.
S. 12 Z. 7 lies Johanne statt Johannae.
^) Vgl. Hermann Meyer in den Studien und Darstellungen aus dem
Gebiete der Geschichte hsg. von H. Grauert. VH 1 und 2 (Freiburg i. B.
1908) S. 124 f.
60
P. Lehmann
Register.
Ablaß, Ablaßbriefe S. 6, 17, 18, 24, 58.
Abloessung, Von der — unsers herren
S.S.
Absolutio. Notata de — S. 56.
Accessus ad Ciceronis lib. de officiis
S. 32.
Aegidius de regimine principum. Com-
pendium ex libro S. 27.
Albertus Magnus S. 15.
Alexander de Villa Dei, Doctrinale
S. 40.
Alpart vgl. Johannes.
Alphorabius, Comm. in Aristotelis lib.
de causis S. 31.
Altäre in Yphofen S. 19.
Altenburg in Bamberg S. 10.
Antiffner. Die 12 — , die man singt
über das Magnificat S. 5.
Antonius Andreae super lib. Aristo-
telis metaphys. S. 30.
Antonius de Rotenhan, ep. Bamberg.
S. 10.
Aristoteles.
Aenigmata S. 26.
De causis cum comm. S. 31.
Ethica S. 40.
Metaphysica vgl. Antonius An-
dreae.
Oeconomica S. 40.
Parva philosophia moralis cum
comm. S. 28.
Physica cum comm. S. 30.
Tractatus super phys. S. 30.
Politica S. 40.
Praedicamenta cum comm. S. 28.
Vgl. auch Augustinus deFerrara.
Rethorica S. 40.
Sentenzen aus Ar. S. 13.
Articuli vgl. Creatio.
Arzneibuch S. 5.
Augustinerklöster. Formeln für re-
formierte — S. 18.
Augustinus Alveld., Tractatus de re-
gula S. Clarae S. 8.
Augustinus de Ferrara.
Quaestiones super Aristotelis lib.
praedicamentorum S. 29.
Quaestiones super Porphyrii isa-
gogen S. 29.
Augustinus (Mediolan.).
Auszüge aus — S. 12.
De cognitione vitae verae S. 50.
Avicenna. Epistola resp. ad s. Augu-
stinum S. 36.
Balthasar Monaci aus Volkach, Birk-
linger Chorherr S. 11, 12, 17, 18,
19, 20.
Bamberg S. 7 ff.
Bischöfe:
Antonius de Rotenhan S. 10.
Henricus S. 10.
Lampertus de Brun S. 9.
Blitzschla,g S. 10.
Buchbinder vgl. Conradus Haller-
dorfer.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums,
61
Clarissenkloster S. 7 f.
Domkirche S. 9 f.
Esel, Haus zum — S. 10.
Hussiten vor — S. 9.
Keslergas S. 10.
Matutinale S. 9.
Rippa S. 10.
Schreiber vgl. Friedrich Gerbers-
dörffer.
Überschwemmungen S. 9 f.
Barbara Werniczerin S. 46, 47.
Beichtspiegel S. 5.
Benedictio episcopalis S. 18.
Benedictionale Frising. diocesis S. 51.
Benediktbeuern S. 10 f.
Bergwerke vgl. Villach.
Bernhardus Gui S. 16.
Bernhardus Silvestris, Epistola de
gubernatione rei familiaris S. 36.
Bettelbriefe S. 37, 38.
Beuerbach S. 5.
Biblia.
Prophetae vet. testam. atque nov.
testam. S. 4.
Historienbibel S. 5.
B. pauperum S. 5.
Bibliotheken und Archive, Mittelal-
terliche.
Bamberg S. 7 ff.
Benediktbeuern S. 10 ff.
Birklingen S. 11 ff.
Cadolzburg S. 22 ff.
Ebrach S. 24.
Himmelkron S. 25.
lUschwang S. 25.
Ingolstadt S. 25 ff.
Nürnberg S. 41 ff.
Öttingen S. 50 f.
Speinshard S. 51.
Steingaden S. 51.
Tegernsee S. 52.
Triefenstein S. 52.
Würzburg S. 52 ff.
Birklingen, Augustinerchorherrenstift
S. 11 ff.
Blitzschlag vgl. Bamberg.
Bonaventura, Itinerarium mentis in
Deum S. 48.
Breviarium S. 4, 25.
Briefstilkunst S. 5, 31, 35.
Brigitte. Register über die Bücher
der heil. — S. 19.
Buchbinder vgl. ConradusHallerd orfer.
Bücherverzeichnisse S. 11, 24.
Burlej vgl. Gualtherus.
Cadolzburg S. 22 ff.
Caritas Pirkheimer S. 45.
Caritas. De — S. 4.
Cartusienses. Excerptum de ordine —
S. 13.
Cassianus S. 26.
Catalogus alphab. lib. bibl. mon. Be-
nedictoburani S. 11.
Christus.
Von der abloessung unsers herren
S. 5.
Erdichteter Christusbrief S. 19.
De nobilitate corporis et animae
— S. 54.
Utrum saepe vel raro sit acceden-
dum ad corpus — S. 25.
Genealogie S. 13.
Chorbuch S. 7.
Chroniken S. 4, 14, 14, 17, 41 f.
Cicero.
De amicitia S. 32, 34.
Pro Archia poeta S. 33.
De officiis (Lat. Text, Deutsche
Übersetzung u.Accessus) S.32f.
De senectute S. 32, 33.
Somnium Scipionis S. 32, 35.
Tuscul. quaestionum libri S. 33.
Ciarissen vgl. Bamberg und Nürnberg.
Clemens IV., Bulle für die Minoriten
S. 57.
62
P. Lehmann
Comoedia. De — S. 38.
Confessiones. De — audiendis S. 56,
57.
Conradus (Chonradus, Chunradus, Con-
radt).
— Grünhover, Pfarrer in Illschwang,
Buchschreiber S. 25.
— Hallerdorfer, Bamberger Franzis-
kaner, Buchbinder S. 7, 8.
— , Schreiber der Grafen Ludwig und
Friedrich von Öttingen S. 58.
Creatio. Articuli 31 de — vel repa-
ratione S. 52.
Creatura vgL De Deo.
Cupido. Triumphus — vgl. Gregorius
Tifernus.
David Anglicus S. 15.
Deus. De — et creatura S. 47.
Deutsche Texte S. 5 f., 32, 33, 41-46.
Diebolt Lauber S. 6.
Dionysius Areopagita S. 48 f.
Dominikaner.
Chroniken und Chronikalisches
S. 14 f.
Gelehrtengeschichte S. 15 f.
Dominikanerinnen vgl. Nürnberg.
Durandus, Rationale divinorum S. 5.
Ebrach S. 24.
Eckart. Sprüche Meister — S. 5.
Elemente, Über die 4 — S. 5.
Epistolographie S. 35.
Erhardus Ventimontanus (Windsber-
ger) S. 33, 35.
Exurgens. Tractatus super — S. 55.
Fabulae. De — poetarum S. 33.
Familienleben. Sentenzen über die
Tugenden des — S. 30.
Fichetus vgl. Guilhelmus.
Fischbuch S. 52.
Franciscus de Mayronis.
De articulis fidei S. 55.
De esse et essentia S. 31.
Franciscus de Monte Leonis, Modus
dictaminis S. 5.
Frankenthal S. 18.
Franziskaner.
Chroniken S. 41 f.
Vgl. auch Ablaß (S. 58), Cle-
mens IV., Görlitz, Ingolstadt,
Nürnberg, Würzburg.
Frater perversus. De S. 57.
Freising vgl. Benedictionale.
Friedrich, Markgraf S. 21.
~ GerbersdörfiFer, Franziskaner,
Beichtvater der Bamberger Cia-
rissen, Buchschreiber S. 7 f.
Gebete S. 5, 6, 19.
Gebetbuch angeblich Herzog Wil-
helms III. von Bayern S. 6.
Gedächtniskunst vgl. Hans Hartlieb.
Gehorsam. Buch des — S. 46.
Geltendorf S. 5.
Gericht. Gedicht vom jüngsten —
S. 5.
Gerson vgl. Johannes.
Görlitz, Franziskanerkloster S. 28 ff.
Gotschalcus, prof. et praed. Erfordi-
ensis S. 21.
Gräflfing S. 5.
Grammatellus S. 36.
Granarium. Registra — S. 4 f.
Gregorius Tifernus, Triumphus cupi-
dinis S. 36.
Gualtherus Burlaeus, De vita et mo-
ribus philosophorum S. 25.
Gui, Bernhard vgl. Bernhardus.
Guilhelmus Fichetus S. 32.
Güterregister S. 23.
Hartlieb, Hans. Gedächtniskunst S. 5.
Heide, Kapelle zu der — S. 24.
Heidenfeld S. 18, 20.
Heinrich, Bischof von Bamberg S. 10.
Heinrich, König. Bild — — S. 46.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalrauseuras.
63
Heinrich Seuse S. 15.
Herzleid vo^l. Maria.
Hildesheim, Schulen S. 37,
Himmelkron S. 25.
Hoeningen S. 18.
Hohefeld S. 20.
Holkot vgl. Robertus.
Homerus lat. S. 34.
Homo.
De quadruplici — S. 53.
De — spirituali S. 53.
Horatius S. 13.
Hugo Lincolniensis, Comm. in theol.
myst. Dionysii S. 49.
— de Palma, De theol. myst.- S. 47.
— de Trimberg, Vita Mariae rhyth-
mica S. 50 f.
— de S. Victore, Comm. in theol.
myst. Dionysii S. 49.
Hussiten S. 9.
Jacob Peck in der Keslergas zu Bam-
berg S. 10.
Jahrtage S. 24.
lllschwang S. 25.
Indulgentiae vgl. Ablaß.
Ingolstadt S. 25 ff.
Innocencius de Wienna (Wien) S. 21.
Interpunktionslehren S. 34.
Johannes Alpart, Guardian der Tü-
binger Minoriten S. 47.
— V. Bingen, Schulmeister S. 35, 39.
— Chrysostomus. De — — S. 13.
— Gerson, De theologia mystica
practica S. 48.
— — , De theologia mystica specu-
lativa S. 48.
— de Lapide, Briefe S. 32.
— Lilius, 0. ff. min., Tractatus logi-
cales S. 27.
— Linck, Buchschreiber S. 5.
— Mathias Tiber., Epitaphium Simo-
nis m. Trid. S. 13.
Johannes Meyer, Dominikaner aus
Zürich, Ordensgeschichtliche, ge-
lehrtengeschichtliche Werke
S. 14 ff., 22.
— Nigri S. 14.
— Saracenus, Translatio Dionysii
Areop. de myst. theol. cum comm.
S. 48.
— Scottus S. 49.
— Sintram, süddeutscher Minorit,
Buchschreiber S. 52, 53, 57, 58.
— Taler S. 37.
— Tauler S. 15.
— Zisler, alias Rüttenauer S. 12.
Kaiendarien S. 7, 25, 52.
Kalender. Traktat über den — S. 5.
Karoch vgl. Samuel.
Kaufering S. 5.
Kelche S. 24.
Kirschgarten S. 18, 20.
Kochbuch S. 52.
Kölner ünterrichtswesen S. 37.
Kopialbuch von Cadolzburg S. 23.
Kressin vgl. Margarethe.
Kunstbücher S. 4.
Lampertus de Brun, Bischof von Bam-
berg S. 9.
Landsberg a. L. S. 5.
Lauber vgl. Diebolt.
Leben der Heiligen Franciscus und
Elisabeth S. 5.
Leib und Seele, Streitgedicht zwischen
S. 5.
Leipzig, Universität.
Begrüßungsrede an eine Gesandt-
schaft Philipps von Burgund
S. 33.
Bettelbriefe u. dergl. S. 37 f.
Lentulus, Epistola — Romani S. 19.
Ligwa materna, tu disce sequencia
scripta. Gedicht dieses Anfangs
S. 5.
64
P. Lehmann
Lilius vgl. Johannes.
Linck vgl. Johannes.
Lineamenta. Tractatus de — et mem-
bris Dei et de motibus animae
S. 55.
Loqui. Tractatus de modo — et ta-
cendi S. 55.
Ludovicus Pistoris sive Stolz, in Gör-
litz studierender süddeutscher Mi-
norit, Bücherschreiber S. 28 — 31.
Lupoldus de Bebenburg, Liber privi-
legiorum ecclesiae Herbipolensis
S. 58.
Machometus. Historia — S. 26.
Magnificat, Tractatus super — S. 55.
Vgl. auch Antiffner.
Margarethe Kressin S. 45 f.
Maria.
Gebete an ~ S. 19.
Genealogie — S. 13.
Von dem grossen herzlaid unser
lieben frawen S. 5.
Verse über — S. 13.
Vita — vgl. Hugo de Trimberg.
Marquardus de Lindau.
De nobilitate corporis et animae
Christi S. 53.
De nobilitate creaturarum S. 54.
De poenis inferni S. 54.
De praemio patriae S. 53.
Martinus Polonus, Chronicon S. 4.
Matutinale Bambergense S. 9,
Medizinisches S. 5. Vgl. auch Arznei-
buch, Pestseuchen, Rezepte.
Mensch. Wie ain — in diser zeit
. sein leben mocht schicken S. 5.
Vgl. auch Homo.
Messe. Kurcze 1er und unterweissung,
was der mensch sull versten bey
den dingen, die da geschehen in
der — S. 5.
Meßgewänder S. 24.
Meyer vgl. Johannes M.
Miniaturen S. 4.
Mors. De — S. 4.
München, Franciscanerkloster S. 30.
Münster-Schwarzach S. 11 f., 17.
Musterbriefe S. 38.
Mystische Traktate S. 5 f.
Necrologisches S. 7, 23.
Nicolaus Glaßberger, Chroniken
S. 41 ff.
— de Lyra, Postilla in psalmos S. 25.
Nigri vgl. Johannes und Petrus.
Nürnberg S. 41 ff.
Ciarissen S. 41 ff.
Dotoinikanerinnen S. 46 f.
Franciscaner S. 47 ff.
Obsequiale dioc. Frisingensis S. 51.
öttingen.
Graf Friedrich S. 50.
Graf Ludwig S. 50.
Gräfliche Bibliothek S. 50.
Orden und Ordensgründer. Liste der
S. 13.
Ovidius S. 13.
Paenitentia. Tractatus de — S. 56.
Passionale novum S. 4.
Patientia. Tractatus de — Job S. 55.
Peck vgl. Jacob.
Perfectio. Tractatus de — inferioris
hominis S. 54.
Perchting S. 5.
Pergament S. 5.
Pestseuchen S. 12.
Petrus Nigri S. 14.
Petrus Ran oder Raum S. 11.
Philosophi. Dicta et castigationes —
S. 26.
Physiognomie S. 5.
Pirkheimer vgl. Caritas P.
Planetae. De cursu — S. 57.
Pöcking S. 5.
Mittelalterliche Handschriften des K. B. Nationalmuseums.
65
Poetria. De — et eins generibus
S. 34.
Porphyrius, Liber isagogarum, Bo-
ethio interprete, cum commentis
S. 28. Vgl. auch Augustinus de
Ferrara.
Praecepta. Tractatus de X — S. 55.
Predigten S. 5. Vgl. auch Sermones.
Prudentia. De — S. 4.
Pjthagoras, Aenigmata S. 26.
Quaestiones philosophiae naturalis
S. 30. Vgl. auch Augustinus de
Ferrara.
Quodlibetum S. 21.
Rebdorf S. 18.
Redekunst S. 31, 38.
Redner. Über den — S. 38.
Regula s. Clarae vgl. Augustinus Al-
veldianus.
Reider, M. J. von S. 6.
Reliquien S. 5.
Rezepte S. 5.
Richardus de s. Victore, De archa my-
stica S. 47.
Rippa vgl. Bamberg.
Rituale S. 24.
Robertus Holkot.
Aenigmata Pytbagorae et Aristo-
telis moralisatae S. 26.
Imagines Fulgentii moralisatae
S. 26.
— Lincolniensis , Translatio theolo-
giae mysticae Dionysii Areop. cum
commentis S. 49.
Rosenkranz S. 18.
Rüttenauer vgl. Johannes Zisler.
Samuel Karoch S. 34, 37, 38, 39.
Sitira S. 38.
Schreiber vgl. Balthasar Monaci, Con-
radus Grünhover, Conradus bei den
Grafen Ötting, Diebolt Lauber,
Sitzgsb. d. philos.-pbilol. u. d. bist. Kl. Jahrg.
Friedrich Gerbersdörflfer, Johannes
Linck, Johannes Sintram, Ludo-
vicus Pistoris, Sebaldus Uczmair.
Schreiberverse S. 26, 59.
Schreibstube S. 21.
Schw^abhausen S. 5.
Sebaldus Uczmair S. 51.
Seneca, Epistolae ad Lucilium S. 37.
Sensus. Tractatus de V — S. 54.
Sermones S. 4, 26, 27, 52, 56.
Seuse vgl. Heinricus S.
Sibylle. Weissagungen der — S. 5.
Sintram vgl. Johannes.
Slickin vgl. Ursula.
Speinshard S. 51.
Stammbücher S. 4.
Statuten des Bischofs Heinrich von
Bamberg S. 10.
Steingaden S. 51.
Stephan Fridolin, Deutsche Predigten
S. 43 f.
Sterbebuch S. 5.
Sternzeichen S. 5.
Strahlen, Über die 12 — , die vom
heil. Dominicus ausgingen S. 16.
Studenten.
De studente ad beanum S. 38.
Vgl. auch Bettelbriefe und Sa-
muel Karoch.
Sudor, Tractatus de — vultus S. 25,
Sünden. Über die Haupt — S. 6.
Sulzbach S. 25.
Taler vgl. Johannes.
Tauler vgl. Johannes.
Tegernsee S. 52.
Thomas Vercellensis, Comm. in theo-
logiam mysticam Dionysii Areop.
S. 49.
Tinte S. 5.
Tragoedia S. 38.
Triefenstein S. 20, 52.
Triumphus cupidinis vgl. Gregorius
1 Tifernus.
1916, 4. Abb, 5
ßQ P. Lehmann, Mittelalter!. Handschriften des K. B. Nationalmuseums.
Uczmair vgl. Sebaldus.
Überschwemmungen vgl. Bamberg.
Ventimontanus vgl. Erhard us V.
Vergilius. Kommentar zu — Buco-
lica S. 38.
Villach. Bergwerke in — S. 10.
Vincentius Bellov. S. 26.
Vita Karoli Magni S. 26.
— Mariae vgl. Hugo de Trimberg.
— (deutsch) vgl. Leben.
Vokabeln S. 32.
Urkunden S. 23.
Ursula Slickin S. 8.
Wappenbücher S. 4.
Wein S. 5.
Werniczerin vgl. Barbara.
Wilhelm IlL, Herzog von Bayern.
Gebetbuch S. 6.
Windsberger vgl. Erhardus Venti-
montanus.
Windsheimer Kongregation S. 18.
Wochentage. Latein, und deutsche
Namen der — S. 57.
Würzburg S. 52 ff.
Zinnober S. 5.
Zisler vgl. Johannes Z.
6
Sitzungsberichte
(5er
Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Philosophisch-philologische und historische Klasse
Jahrgang 1916, 5. Abhandlung
#
üeber
Gottfried von Strassburg
von
Hermann Fischer
Vorgelegt am 4. November
1916 \^'-vei^^^iS^
München 1916
Verlag der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
in Kommission des G. Franz'schen Verlags (J. Roth)
Sitzungsberichte
der
Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Philosophisch-philologische und historische Klasse
Jahrgang 1916, 5. Abhandlung
Ueber
Gottfried von Strassburg
von
Hermann Fischer
Vorgelegt am 4. November 1916
München 1916
Verlag der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
in Kommission des G. Franz'schen Verlags (J. Roth)
Es ist im allgemeinen nicht üblich, von Doktorarbeiten
in der Öffentlichkeit viel zu reden; sie haben ihren Zweck
erfüllt, wenn sie als specimina eruditionis gedient und ein
kleineres oder größeres Gebiet befriedigend abgehandelt haben.
Aber es gibt Ausnahmen, und an eine solche möchte ich hier
anknüpfen. Es ist die Tübinger Dissertation von Ulrich Stökle,
„Die theologischen Ausdrücke und Wendungen im Tristan
Gottfrieds von Straßburg" ^). Ich darf sie rühmen, denn ich
habe nicht mehr Anteil daran gehabt, als daß ich den Ver-
fasser auf den Gegenstand hingewiesen habe. Er hat in Tü-
bingen katholische Theologie und Philologie studiert und war
dadurch für ein Thema vorbereitet, das die Kenntnis beider
Disziplinen in nicht ganz geringem Maße fordert. Das Er-
gebnis hat dem entsprochen. Wenn man Stökles Arbeit liest,
so kann man sich eigentlich wundern, daß sie nicht schon
früher gemacht worden ist. Bei den Meisten, zumal in älterer
Zeit, stand dem wohl im Wege, daß man theologische An-
lehnungen und Anschauungen bei dem Dichter des Ehebruchs,
bei dem „Bürgerlichen" und „Pfaffenfeind" nicht suchen zu
dürfen glaubte. Wir werden sehen, wie es mit diesen Dingen
wirklich steht. Aber es sind doch schon einundzwanzig Jahre,
seit Schönbach in seinem Buch über Hartmann von Aue ge-
zeigt hat, wie voll von Theologischem dieser ritterliche Dichter
steckt, und seit er in der leicht sichtbaren Einleitung davor
gewarnt hat, bei der Betrachtung des Mittelalters Geistlich und
Weltlich, Lateinisch und Deutsch als zwei Kreise zu betrachten,
die sich womöglich gar nicht berühren. Freuen wir uns indes.
^) Ulm 1915. Kürzer behandelt: ,G. v. Str., eine literarhistorische
Studie" in den Görres-Blättern 155, 573 if. 663 ff.
1*
I
4 5. Abhandlung: Hermann Fischer
daß diese für jeden mittelalterlichen Dichter notwendigen Unter-
suchungen nun für Gottfried auch gemacht sind. Das Resultat
ist heute nicht mehr so verblüffend, wie es vor zwanzig Jahren
gewesen wäre, aber ausgesprochen war es noch nirgends*):
Gottfried steckt voll von theologischen Wendungen; er kennt
nicht nur die aller Welt geläufigen Zitate aus Bibel, Kirchen-
vätern oder Predigten, sondern auch solche, die nur ein Mann
von klerikaler Schulung kennen konnte ; seine Ausdrücke und
seine Anschauungen — soweit er solche erkennen läßt —
weichen von dem Wege kirchlicher Korrektheit nirgends ab;
ja es wird kaum einer unserer alten Epiker ihm darin gleich-
kommen, soweit nicht geistliche Stoffe von vornherein eine
solche Haltung gefordert haben ^). Daß das alles aus seinem
französischen Original stamme, ist unmöglich^), und die An-
nahme, er hätte einen geistlichen Berater hinter sich gehabt,
ist durch nichts gefordert, ja bei einem Manne von so einheit-
lichem Gepräge fast absurd.
Ein erster Abschnitt handelt von den „theologischen Wen-
dungen und Ausdrücken". Gottfried zeigt sich mit kirch-
lichem Ausdruck und kirchlicher Lehre durchaus wohl ver-
traut. Ein paar Einzelheiten ! Der rätselhafte San Ze 8066
wird gefunden in dem heiligen Etto, der nach den Bollandisten
gallice S. Ze heißt*). Wohl mit Recht schließt Stökle aus dem
^) Doch s. Hoffa, Zs. f. d. Alt. 52, 350: „Die theologische Quisquilien-
frage, welche Frucht eigentlich die Begierde Evas gereizt habe [s. u.j,
verrät nur allzu deutlich den klösterlichen Magister" — wobei freilich
, klösterlich" zu streichen sein wird. Wegen des Magisters siehe später.
2) Ich kann auf meine Übersicht in dem Aufsatz „Über die Ent-
stehung des Nibelungenliedes" (Münchner Sitz.-Ber., phil.-hist. Klasse 1914,
7. Abb.), S. 8 ff. verweisen.
'^) Freilich können wir Gottfrieds Werk mit seiner Vorlage nur für
etwa 100 Verse vergleichen. Aber da es gewiß länger war als jene und
da der ihm allein gehörige literarische Exkurs und der Prolog die näm-
liche Physiognomie zeigen wie alles übrige, so ist im voraus da, wo es
nicht auf den Stoff ankommt, sondern auf seine Behandlung, Gottfrieds
Selbständigkeit das Wahrscheinlichste. Stökle konnte hier ruhig den
Franzosen Bedier und Piquet folgen.
*) AA. S.S., 10. Juli; Stökle S. 24.
Gottfried von Straßburg. 5
Namen und aus der gleichzeitigen Nennung von San Dinise,
daß die Stelle aus Thomas stammt; denn wenn es auch einen
alten Straßburger Bischof Etto gab, so wissen wir doch nicht,
ob man in Straßburg jene Naniensform kannte. Antisten
15309 konnten Bischöfe nur von einem genannt werden, der
solche klerikalen Beziehungen kannte*).
Aus dem zweiten Teil über „Bilder und Vergleiche": Zu
dem Bilde der Fenster für die Augen 8130 mag an den Ge-
brauch dieses Bildes in der Marienliteratur erinnert werden.
Die Gegenüberstellung von Gold und Messing 12611 ff. kann
aus Alanus de Insulis stammen; ebenso das Bild der Nessel
15051 ff. für einen üblen Nachbarn; das des stürmischen Meeres,
das mehrfach vorkommt und zumeist aus Ovid Met. VIII 470 ff.
abgeleitet wird, kann ebensowohl biblisch oder sonst theo-
logisch sein^).
Auch anderes, was gemeinhin als antike Entlehnung ge-
faßt wird, kann aus theologischer Quelle stammen. So gerade
aus Alanus; Gottfrieds Beziehungen zu ihm sind im dritten
Abschnitt behandelt^). Die Schilderung der Minnengrotte
16 693 ff. erinnert mehrfach an die des Hauses der Natur im
Anticlaudianus. Ich greife bei dieser Gelegenheit voraus.
Stökle bespricht später*) die vv. 17 140 ff., nach denen Gott-
fried die fossiure erkannt hat sit minen eilif jären ie, worüber
verschiedene vor ihm nicht allzu richtig geurteilt hatten. Man
darf weder die elf Jahre verallgemeinernd für die Jugend über-
haupt nehmen, noch für die Zeit, mit der Gottfrieds Liebes-
leben begonnen habe. Stökle verweist passend auf Hartmanns
Gregor 1181 ff., wo der Schüler Gregor in seinem elften Jahre
ein guter Grammaticus genannt wird, und denkt an Gottfrieds
Schullektüre : ich weiß von jener Grotte, seit ich in der Schule
davon gelesen habe. Ich halte das für die weitaus beste Deu-
^) Stökle S. 30. Zur selben Seite mag bemerkt werden, daß „Münster"
nicht nur die gewöhnliche mhd. Bezeichnung großer Kirchen, sondern
speziell in Straßburg noch heute allgemeine Bezeichnung für die Kathe-
drale ist, die doch als solche den Namen „Dom" führen könnte.
2) S. 43. 44. 47 f. 3) s. 50 ff. *) S. 98 fP.
6 5. Abhandlung: Hermann Fischer
tung: vor allem, weil durch sie die Stelle jeden Charakter
eines persönlichen Bekenntnisses verliert, was vollkommen zu
Gottfrieds Art paßt. Leider ist über die zeitliche Anordnung
des Schulunterrichts jener Zeit nur wenig bekannt; wenn aber
dem Gregor mit 14 Jahren divinitas gar durchliuhüc ist und
er nachher ein edel legiste wird, so wird er eben die römischen
Dichter mit 11 Jahren schon absolviert haben sollen; ob das
in Wirklichkeit so vorkam oder ob Gottfried nur auf die wohl-
bekannte Stelle seines Meisters Hartmann anspielt und dabei
ähnlich übertreibt, wie wenn heute jemand von einer in Prima
gehabten Lektüre sagen würde : Das habe ich schon als Kon-
firmande gekannt, das kann dahingestellt bleiben. Stökle denkt
bei solcher Lektüre vor allem an Ovid ; sollte es aber auch
für Straßburg richtig sein, daß dieser im zwölften Jahrhundert
noch nicht Schullektüre war^), so kann die Liebesgrotte auch
wo anders herstammen, etwa aus Horaz Od. I 5 oder aus Aen.
IV 165 ff. des vielgelesenen Virgii.
Der vierte Abschnitt^) behandelt „Gottfrieds Originalität
bei Verwendung von theologischen Wendungen". Auch hier
werden verschiedene deutliche Anlehnungen an biblische und
an theologische Stellen nachgewiesen. Ich will nur auf zwei
Dinge eingehen. Vor allem das Gottesurteil mit dem wint-
schaffenen Crist 15 739 f. Darauf ist ja früher die „Pfaff'en-
feindschaft" Gottfrieds gegründet worden. Stökle hat S. 80 — 89
die Sache ausführlich untersucht. Er möchte an dem Kampf
mit Morold zeigen, daß Gottfried nicht an Gottesurteile ge-
glaubt habe, denn Tristan zweifle mehrmals, welches der Aus-
gang sein werde : 6097. 6169 ff. 6777 f. Ich zweifle, ob damit
etwas zu machen ist ; mit demselben Recht könnte aus den oft
bitteren Kämpfen frommer Männer ein Zweifel an der Echt-
heit ihres Glaubens abgeleitet werden. Aber man braucht das
nicht; daß Gottfried nicht an Gottesurteile geglaubt hat, das
^) Geschichte des humanist. Schulwesens in Württemberg, S. 32 ;
daß man in Beziehung auf die ünterrichtsgegenstände wenig heikel war,
8. ebd. S. 138.
2) S. 55 ff.
Gottfried von Straßburg. 7
zeigt der ganze Verlauf der Sache, nicht bloß jenes scharfe
Schlußurteil. Daß Isolde nicht „gelogen" hat, stand in der
Überlieferung fest: sie hat sich nicht für unschuldig erklärt,
sondern nur ihre Bereitwilligkeit kundgetan, sich dem Gottes-
urteil zu unterziehen (15477 ff.), und sie hat (15627 ff.) wahr-
heitsgemäß gesagt, daß außer dem König und dem Pilger
niemand sie im Arm gehabt habe ; also muß sie gewinnen.
Wenn einer diese Folgerung zieht, der weder ein Zögling eines
strengen Instituts noch ein Kriminalstudent ist, so zeigt er
damit ohne weiteres, daß er das Gottesurteil als etwas null
und nichtiges verhöhnen will. Gottfried hat an dem Verlauf
der Sache nichts geändert und uns am Schluß ausdrücklich zu
verstehen gegeben, wie er denkt ^).
Es sind aber zwei Fragen zu beantworten. Erstens: war
der Ausdruck wintschoffen nicht blasphemisch ? Stökle hat, was
die Sache betrifft, richtig bemerkt, daß die Worte nichts an-
deres heißen als : wenn ein derartiges Gottesurteil wirklich ein
Urteil Gottes wäre, so wäre dieser w. alse ein ermel. Man kann
dabei auch das Attribut vil tugenthaft in Betracht ziehen.
Gewiß ist von dem im Volk noch lebenden Begriff auszugehen,
wonach „Tugend" eine nützliche Eigenschaft bezeichnet^):
diese Institution, die angeblich voll von wunderbaren Kräften
sein soll, ist so leer wie ein hohler Ärmel. Den Ausdruck
Crist in solchem Zusammenhang zu gebrauchen, mag dem
zweiten Gebote widersprechen; aber in diesem Punkt war das
Mittelalter sehr tolerant. Häresie ist so etwas nicht, und
der Begriff der Blasphemie scheint jener Zeit kaum bekannt
zu sein^).
^) Die nordische Saga und der Sir Tristrem reflektieren gar nicht,
sondern berichten einfach.
2) Mhd. WB. 3,55. Mundartlich noch heute; s. mein Schwab. WB.
2, 445.
^) Der Katholizismus hat noch viel später eine sehr freie Bewegung
in solchen Dingen verstattet. Man lese, was Sebastian Sailer in seiner
„Schöpfung" geschrieben hat — und er gehörte deni vornehmen Prämon-
stratenser-Orden an, Für das Mittelalter habe ich {Entstehqpg des NiK-L.,
I
8 5. Abhandlung: Hermann Fischer
Bedeutsamer ist die zweite Frage: ist nicht die Verwerfung
des Gottesurteils gegen die kirchliche Anschauung? Es ist
doch ein Bischof dabei beteiligt und wird von Gottfried noch
besonders gerühmt. Die Gottesurteile gehören zu den Dingen,
die die Kirche nicht bloß dulden, sondern auch, um Schlim-
meres zu verhüten, in ihre Obhut nehmen mußte. Sie hat sie
aber nie ausdrücklich gut geheißen ; im Gegenteil : gerade um
1200 haben kirchliche Autoritäten das Gottesurteil öfters als
eine Versuchung Gottes verworfen, und Stökle weist besonders
auf das Schreiben Innocenz III. an den Bischof von Straßburg
hin. Dieses ist freilich erst von 1212 und seine Bedeutung
nicht vollkommen klar, weil wir über den Straßburger Ketzer-
prozeß nur unvollkommen unterrichtet sind. Falls die Tristan-
stelle erst nach jenem Schreiben verfaßt wäre, so ließe sie sich
sehr schön als eine Art halbamtlichen Machwerks verstehen :
die Straßburger Ketzer sind hingerichtet auf Grund eines Gottes-
urteils^), nun kommt ein päpstliches Schreiben gegenteiliger
Tendenz, das den Bischof bloß stellt; was kann ein Hofmann
klügeres tun, als: das Institut als solches verhöhnen, den
Bischof aber als den hinstellen, der eigentlich nichts damit zu
tun hatte und sich nur dem König gefügt hat, der das
glühende Eisen verlangte^)?
S. 9) auf die Vergleichung der Geliebten mit der Jungfrau Maria bei
Heinrich von Morungen hingewiesen (MF. 127, 6 flP.) und auf die noch
stärkere König Philipps mit der Trinität und seiner Gattin mit Mana
in einem Spruch Walthers (19, 5 ff.), der sicher nicht nur vor Fürsten
und Herren, sondern auch vor dem hohen Klerus vorgetragen worden
ist. Irgend etwas von Satire fehlt ja hier völlig, aber Gottfried hat
auch sonst von seinen Lesern ein Verständnis für das verlangt, was
hinter seinen Worten steckt.
^) Das noch dazu in den Umständen mit dem der Isolde Ähnlich-
keit hat: Isolde mußte frei ausgehen, weil sie nicht gelogen hat, und
die Ketzer mußten schuldig erfunden werden, weil sie, um nicht zu
unterliegen, hätten ohne Sünde sein müssen, was doch kein Mensch von
sich sagen kann.
2) j)er Bischof sagt in dem comilje, in dem er als Fürst (15359)
sitzt, nur, man solle Isolde ihre Unschuld dartun lassen (15 354 ff.), dann
(15432 ff.) redet er sie im Auftrag des Königs an und nimmt ihre Ant-
Gottfried von Straßburg. 9
Wenn es demnach ganz verkehrt ist, in der Stelle etwas
von freigeistischer Opposition oder dergl. zu sehen, so ist es —
falls sie überhaupt etwas enthalten sollte, was in kirchlichen
Kreisen hätte anstoßen können — vollends verkehrt, in ihr
einen Beweis dafür zu finden, daß Gottfried kein Kleriker ge-
wesen sein könne. Diese Frage soll uns später beschäftigen.
Hier kann ich bloß das eine sagen: gerade ein — ich v^ill
nicht sagen Kleriker, aber überhaupt ein dem bischöflichen
Hofe verwandter Mann konnte eine solche Stelle weit eher
wagen als ein anderer — wenn es ein Wagnis war. Es ist
mir leid, aber der Satz des trefflichen Bechstein, dem die Er-
klärung Gottfrieds viel verdankt, ist sehr verkehrt: „Die Ge-
lehrsamkeit des Dichters könnte seinen geistlichen Stand ver-
muten lassen, wenn nicht antihierarchische Äußerungen im
Tristan vorkämen, die nur ein Laie tun konnte" ^). Wo sonst
noch eine solche Äußerung stecken soll, möge man mir erst
zeigen.
Gottfrieds Laientum hat man noch aus einer anderen Stelle
schließen wollen. Wo er von dem verbotenen Obst im Paradies
wort entgegen. Hierauf bestimmt der König (15522 ff.) die Probe des
glühenden Eisens. Das Gottesgericht findet dann (15535) ze Karliüne
statt, und zwar im Münster. Der Bischof aber ist von Thamise (15352),
d. h. von Lunders, wo (15313) das Konzil stattgefunden hatte, und es
ist bei dem Gottesurteil selbst von jenem Bischof nicht die Rede. Er
ist (15350 ff.) des Ubes edelich und alt, beidiu grise und ivise, und leinde
sich über sine krucJcen. Wie alt der Bischof von Straßburg (über ihn
später) 1212 war, weiß man leider nicht; immerhin war er schon zehn
Jahre Bischof, was aber bei der großen Jugend, in der Vornehme zu
solchen Pfründen gelangen konnten, wenig zu besagen hat. Wenn er
mit dem Heinricus de Veringeii, der 1181 ff. in bischöflichen Urkunden
erscheint (Straßburger Urkundenbuch 1, Seite 97. 103. 108. 4,G), identisch
ist, so muß er um 1210 doch schon 50 Jahre oder mehr alt gewesen
sein. Das hohe Alter kann aber auch Dekoration zur Erhöhung der
Würdigkeit sein; auch in der nord. Saga heißt es einn aldraär byskop
Kölbing 1,71. Überhaupt ist die nord. Erzählung der Gottfrieds ganz
ähnlich, und es wird vorsichtiger sein, ihm hier nicht zuviel unter-
zuschieben.
^j Allg. Deutsche Biographie 36,503.
10 5. Abhandlung: Hermann Fischer
redet, sagt er 17 947 f.: die pfaffen sagent uns mcere, daz ez
diu vige wcere, Stökle hat^) auch hier die Quelle nachgewiesen;
diese ganz singulare Deutung 2) kann aus Hugo von S, Victor
oder aus Petrus Comestor entlehnt sein. Wenn aber Stökle
meint, die quidam bei beiden Gewährsmännern habe Gottfried,
„selbst wenn er Geistlicher wäre", nicht anders als mit die
pfaffen wiedergeben können, so muß ich widersprechen. Er
konnte wtsen, meister sagen. Wenn er statt dessen pfaffen sagt,
so kann er selbst einer gewesen sein, aber er muß nicht.
Vorerst würde man eher das Gegenteil folgern^).
Stökle hat in einem Schlußwort*) das Ganze zusammen-
gefaßt. Er weist besonders auf die Rolle hin, die die Schule
bei Gottfried spielt^) und neben ihr die Musik, über welche
nachher zu reden sein wird. Wenn nun Gottfried selbst meister
genannt wird, so liege es nahe, in ihm einen Lehrer zu sehen.
Nicht etwa den magister scholarum des Domstifts, denn der
mußte als Kanoniker freiherrlich sein ; wohl aber einen der
neben ihm vorkommenden magistri (secundi, secundarii) — oder
setze ich hinzu : einen Lehrer an einem der zwei andern großen
Stifter in Straßburg, wie denn Stökle selbst darauf hinweist,
daß es am Thomasstift einen magister scholarum gab, der dann
patrizischer Abkunft gewesen sein wird^). Kleriker wäre Gott-
fried in beiden Fällen gewesen.
Hier möchte ich Halt machen und nun den Prozeß
wegen Gottfrieds Persönlichkeit nochmals möglichst vollständig
instruieren. Es ist das lange nicht mehr der Fall gewesen,
obgleich seit 1879 der erste, zum Teil auch der vierte Band
1) S. 89 ff.
2) Begründet wurde sie auf die Schürze aus Feigenblättern Gen. 3,7.
^) Der bestimmte Artikel ist bei einem Geistlichen besonders selt-
sam; die gewöhnliche Meinung bei Theologen und Laien war doch die,
daß die verbotene Frucht ein Apfel gewesen sei. Aber folgern kann
ich auch daraus nichts.
*) S. 102-104.
5) Vgl. besonders die moräliieit 8006 ff., Stökle S. 75 ff.
6) S. u. S. 30.
Gottfried von Straßburg. 11
des Straßburger Urkundenbuchs (ÜB. 1. 4) alles, was mög-
licherweise zu einem Ergebnis führen könnte, dargeboten
hat. Wenn man die biographische, bzw. Einleitungsliteratur
durchmustert^), so sieht man, daß man in keinem wesentlichen
Punkte über den grundlegenden Artikel von Hermann Kurz^)
samt der kleinen Schrift von Karl Schmidt^) hinausgekommen
ist, die dessen Ergebnisse abgelehnt, uns aber damit auf den
Stand des Nichtwissens zurückversetzt hat.
Kurz, der seit seiner glänzenden Übersetzung des Tristan
mit der ganzen Frage wohl vertraut war, aber zugleich von
der gesamten Zeitrichtung nur zu viel antiklerikale Neigungen
geerbt hatte und an die Sache herantrug, wollte unter Benut-
zung eines von Elard Hugo Meyer gemachten Fundes*) in
Gottfried den Godefridus Rodelarius de Argentina erkennen,
der als Zeuge unter einer Urkunde König Philipps vom
18. Juni 1207, ausgestellt in Straßburg, erscheint^). Darin
wäre der rotularius, d.h. der Stadtschreiber, zu sehen ; denn
bei einem bischöflichen Beamten wären Äußerungen wie die
über das Gottesurteil nicht denkbar^). De Ärgenüna bedeute
nicht die Stadt, denn der Dichter des Tristan müsse ein vor-
nehmer Mann gewesen sein, sondern ein Geschlecht derer von
Straßburg: dasselbe, dem auch der Dietrich des Anfangs-
akrostichs angehört habe, der Bruder eines Burkhard und Oheim
eines zweiten Dietrich, der als Burggraf erscheint. Gottfried
sei noch jung in den besten Jahren gestorben.
Schmidt hat dagegen nachgewiesen, daß in genannter ür-
^) R. Bechstein, Allg. D. Biogr. (s. o. S. 9, Anra. 1); dessen Aus-
gabe; Ausg. von W. Golther (Deutsche Nat.-Lit. 4,2,1); R. Heinzel, Z. f.
Österr. Gymn. 19, 533if., jetzt Kleine Schriften S. 18 ff.
-) Zum Leben Gottfrieds von Straßburg, Germania 15, 297 ff. 322 ff,
(1865).
3) Ist Gottfried von Straßburg (der Dichter) Straßburger Stadt-
schreiber gewesen? (1876). •
*) E. H. Meyer, Walther v. d. Vogelweide, S. 5.
5) Jetzt ÜB. 1, 121.
ß) Ich brauche nach dem S. 9 geäußerten über diesen Fehlschluß
nichts mehr zu sagen.
12 5. Abhandlung: Hermann Fischer
künde nicht Bodelarius zu lesen ist, sondern Zidelarius ; ferner,
daß es sich 1200 noch um keinen Stadtschreiber, sondern nur
um einen bischöflichen Beamten handeln, und endlich, daß
weder Gottfried noch Dietrich dem Geschlechte der Straß-
burg angehören könne, der letztere vielmehr der Ritterfamilie
der Stehellin^). Der Zusatz de Ärgenüna bezeichne vielmehr
in einer nicht bischöflichen, sondern kaiserlichen Urkunde
einfach die Stadt.
Damit stand man wieder vor dem Nichts; denn der Ver-
such von J. M. Watterich, zu erweisen, daß Gottfried nicht
durch den Tod — was doch die Zeitgenossen mitteilen — ,.
sondern durch innere Umkehr an der Vollendung des Tristan
verhindert worden, daß er Franziskaner geworden sei und als
solcher den unter seinem Namen gehenden Lobgesang auf die
Jungfrau Maria ^) gedichtet habe, wurde durch Franz Pfeiffers
Kritik aus der Welt geschafft; und die Annahme von Hermann
Kurz, der Lobgesang sei vielmehr ein Jugendwerk Gottfrieds,
ist von ihm nie öffentlich ausgesprochen worden^).
Es wird später nötig sein, auf verschiedene der hier ge-
nannten Namen zurückzukommen. Zunächst einiges allge-
meinere.
Der Tristan ist ein Werk höchst aristokratischer Bildung
und Tendenz. Spezifisch ritterlich ist er nicht, das lehnt er
höflich-ironisch ab*). Um so mehr ist er aristokratisch im
1) Darüber s. u. S. 33 f.
2) ed. Haupt, ZfdA. 4, 513 ff.
äj J. M. Watterich, Gotfried von Straßburg, ein Sänger der Gottes-
minne. 1858; Pfeiffer, Germ. 3, 59 ff. = Freie Forschung 109 ff. Die brief-
liche Vermutung von H. Kurz in einem Brief an Pfeiffer vom 5. Mai 1858
habe ich Anz. 26, 181 f. veröffentlicht. Mehr s. unten.
*] Man hat das ja oft genug hervorgehoben. Ich verweise auf
650Gff.; besonders aber 5054 ff. Wo Tristans Ausbildung geschildert
wird: 2060 ff., ist in 45 Versen von Büchern, Sprachen, Musik, Jagd, in
vier von ritterlichen Übungen die Rede. 4415 ff. werden aus Gregor
1547 ff., 4424 ff. aus Erec stammen. Aber 4587 ff. braucht nicht anti-
ritterlich gemeint zu sein; es ist nur gesagt, solche Dinge wie die
Schwertleite seien von andern schon zur Genüge berichtet.
Gottfried von Straßburg. 13
Sinne feiner Bildung, höfischer Sitte, auch in der Hervorhebung
edler Körperbildung. An seiner Kenntnis nicht nur der antiken
Stoffe, sondern auch an einer gewissen der lateinischen Dichter-
sprache kann nicht gezweifelt werden^), wenn er auch mytho-
logische Schnitzer machen und das eine und andere, wie oben
gesagt, eher aus theologischer als antiker Quelle geschöpft
haben mag. Die ganze aalglatte Gewandtheit des Stils, man
braucht ja nur den Prolog mit dem stammelnden des ungeübten
Wolfram^) zu vergleichen, ist nur denkbar bei längeren und
gründlichen Studien, vielleicht auch vorgängiger Übung in
lateinischer Schriftstellerei. Die Rücksicht auf gute Hofsitte
ist nicht nur gewahrt, wie besonders die große Decenz aller
verfänglichen Stellen zeigt, sondern ganz besonders hervorge-
hoben und gefordert^). Feines Benehmen ist nur bei Hof-
leuten denkbar; ein Kaufmann, oder, wie es auch heißt, ein
werbender man kann sein Kind nicht so schön erzogen haben,
wie Tristan erzogen ist: es muß Ü2 edelem herben gdn^). Aber
vor allem verrät feine Leibesbeschaffenbeit die edle Abstam-
mung. Wenn das bei den höfischen Dichtern gerne betont
ist, so tritt es bei Gottfried in Sache und Ausdruck wohl
stärker hervor, als bei einem andern^).
*) Weiter als das in der geistlichen Schule selbstverständlich er-
lernbare reicht doch manches, besonders Grammatisches. Ich verweise
auf die etymologische Figur und die verwandte Bildung von Verben aus
Substantiven: 39 f. 43 f. 79 f. 125. 175 f. 1650 usw.; ferner auf frouwin
< muUehris 532. 6562. 11652; rosine snone 18080; vieiesch gras 2547;
loupgrüene este 597; spitze sehe 6509 < acies oculorum, visus acutus u. ä.
2) Für die Behauptung absichtlicher Dunkelheit in Nachahmung
einer französischen Quelle fehlt mir noch der Beweis.
») 4569. 4809. 5232. 6820fi'. 7958. Decenz 12161ff. 12596 ff. 12661 ff.
18199 ff.
*) 3282 ff. 4090 ff.
^) Besonders charakteristisch scheint mir das Gewicht, das auf edle
Bildung des Beins und Fußes gelegt wird. "Vgl. neben andern Dichter-
stellen wie Greg. 2914 ff.; Farz. 662,19: Trist. 3339 ff. 6709, noch mehr
diu siniu heiserlichen bein 708. S. a. Heinzel, Kleine Sehr. 37. In solchen
Zügen liegt ein sinnliches Moment aristokratischer Empfindungsweise,
das man bei Modernen, wo doch kein Kanon höfischer Gesellschaft dik-
14 5. Abhandlung: Hermann Fischer
Zur vornehmen Bildung gehört u. a. auch Musik und Jagd.
Daß die Musik in keinem deutschen Epos eine solche Rolle
spielt wie im Tristan, kommt allerdings größtenteils auf die
Rechnung des Stoffes. Auch gehört Musik zur Ausbildung des
Klerikers. Immerhin zeigen mehrere Stellen eine genauere
Kenntnis musikalischer Terminologie, die doch wohl auf eine
dauernde Neigung zu dieser Kunst oder auch auf berufsmäßige
Übung derselben hinweisen muß^).
Weit bedeutsamer sind die Stellen, die von der Jagd
handeln. Ich rede natürlich nicht von der Hirschjagd, bei der
der junge Tristan erscheint; das stammt aus dem Original.
Ebenso der Kauf von Falken bei den Norwegern, wobei nur
die deutschen Vogelnamen 2202 ff. Gottfrieds Eigentum sind.
Die erzählenden Angaben 2693 ff. 3368. 3406 ff. 13104 ff.
13258 f. 14354 ff. 16647 ff. 17248 ff. 17295 ff. mögen aus
Thomas herstammen, wenn auch ihr Wortlaut nicht gewähr-
leistet ist. Aber es bleiben noch genug Stellen, die durch den
Inhalt nicht gegeben waren: 282. 4925. 5316. 11934 ff. 13807;
speziell über Falkenjagd: 6859. 10998. 11989; Vogelfang:
839 ff. 11796 ff. 11908^).
An der Heimat Gottfrieds ist kein Zweifel möglich ; auch
wenn wir die Überlieferung, die ihn „von Straßburg" nennt,
tiert hat, ebenso finden kann und mehr als üblich beachten sollte. Man
denke an die jungen Aristokraten bei Walter Scott, dem doch derber
Humor gar nicht fremd ist ; ähnlich in Heinses Ardinghello, in Hölderlins
Hyperion, in Arndts Schilderung heldenhafter Männer, z. B. Gneisenaus,
während für Tieck eine recht plebejische Behandlung vornehmer Figuren
bezeichnend ist.
1) Wegen der organieren und wanäelieren 4803 f. genügt es, darauf
hinzuweisen, daß sie in dem literarischen Exkurs stehen, also Gottfrieds
volles Eigentum sind. Die Instrumente 3673 ff. mögen vielleicht aus
Thomas stammen, ebenso etwa 7991 ff. Aber 11364 f.: der arme truhsceze
was ir gige und ir rotte ist gewiß Gottfried; wie viel von der Stelle
8062 ff., die oben wegen des San Ze angeführt wurde, auf ihn kommt,
wird unklar bleiben.
2) Das Bild der nahtegalen 4749 ff. ist durch den Namen der Vogel-
weide und die Gewohnheit der Minnesinger allzu natürlich gegeben, als
daß man es hierher stellen dürfte.
Gottfried von Straßburg. 10
grundlos anfechten oder — wovon nachher — auf den oben
genannten Geschlechtsnamen deuten wollten, so weist seine
Sprache dorthin^). Über seine Zeit etwas zu sagen ist miß-
lich, weil hier alle Datierungen der verschiedenen Epen an-
einanderhängen und voneinander abhängen, er selbst aber in
seiner unpersönlichen Art keine jener Anspielungen macht, die
bei andern, wenn auch oft mit geringer Sicherheit, als* An-
haltspunkte benutzt werden. Weder die Erwähnung Hart-
manns als eines Lebenden (was zwar nicht gesagt, aber doch
wohl anzunehmen ist), Reimars als eines Toten, Veldekes als
eines Mannes früherer Zeit, noch der Ruhm Walthers und
Bliggers oder der Tadel Wolframs sagen uns etwas Bestimmtes.
Man kann wegen Rudolfs von Ems nicht über 1220 herunter,
wegen Wolframs nicht über (all er frühestens) 1200 hinauf
gehen; nicht nur Erec und Iwein, was sich wohl von selbst
versteht, auch wohl der Gregor muß älter sein als der Tristan*).
Wenn das S. 8 f. gesagte über die Behandlung des Bischofs bei
dem Gottesurteil richtig wäre, kämen wir für die späteren Teile
des Epos auf 1212 oder kurz hernach, denn viel später hätte
eine solche Offiziosität keinen Sinn mehr; aber ich will jene
Vermutung nicht als tragfähig für größere Lasten verkaufen.
Daran kann man die Frage anreihen : Wie alt war Gott-
fried, als er den Tristan schrieb ? Daß er über ihm gestorben
ist, sagen die Fortsetzer ^); in welchem Alter, sagen sie nicht,
wenn auch gegen Kurz' beweislose Behauptung, er sei in seinen
besten Jahren gestorben*), das argumentum ex silentio nicht
ganz ohne sein dürfte, daß dann doch wohl die Klage über
1) Das durch den Reim gewährleistete gär ist straßburgisch, s.
Zwierzina, ZfdA. 44,lff , ebenso van, mod. fqn. Betrochen von der in der
Asche aufbewahrten Glut 19052 ist wenigstens gut alemannisch. Wegen
des starken Gebrauchs des Französischen s. u. S. 29.
2) S. 0. S. 5. 12.
^) Heinrich von Freiberg 32: das in genunien hat der tot hie von
dirre broeden werlt ; ülr. v. Türh. 44: dt meister Gotfrit ist tot; 16: daz
ime der tot sin lebende tage leider e der zit zebrach, daz er diz buoch
niht vollesprach.
*} Ebenso Heinzel, Kl. Sehr. 57.
16 5. Abhandlung: Hermann Fischer
den frühen Tod nicht fehlen würde. Gottfried sagt nichts
Bestimmtes. So zUec ich ze lebene hin 42 beweist nichts; dala
üfgendiu jugent übermuot fileret 265 f., konnte ein Junger auch
sagen. Lebenserfahrung und Relativismus wie 273 ff. können
Affektation oder aber früh ausgeprägte persönliche Art sein.
Dasselbe wird von Stellen wie 4038 ff. oder 4507 ff. gelten
müssen. Am ehesten wird 12191 ff. auf eine Zeit zu deuten
sein, die den Minnedienst hinter sich hat: Sivie lützel ich in
mtnen tagen des lieben leides habe getragen'^) usw. Aber ich
glaube allerdings, ohne einem, der „Beweise" verlangt, zu-
muten zu wollen, einen solchen darin zu finden: der Dichter
des Tristan war nicht mehr jung. Keine Stelle sagt uns das.
Aber es liegt über dem Gedicht der werltsüeze für mein Emp-
finden so etwas, ich möchte sagen hochsommerliches^) —
herbstliches wäre zuviel — , eine gedämpfte, lächelnde Wehmut,
die ein Jüngerer nicht affektieren kann, sondern die erlebt
sein muß.
Damit sind freilich keine Zahlen gegeben ; auch durch die
wohlbekannte Betrachtung nicht, daß das Mittelalter kurz-
lebiger war als unsere Zeit: die Termine der Akme und des
Klimakteriums haben damit schwerlich etwas zu tun und sind
individuell so sehr verschieden als nur möglich. Man darf
hier nicht unterlassen, auch nach den andern Gottfried zuge-
schriebenen Werken zu fragen. Das Urteil über ihre Echtheit
ist ja sehr verschieden ausgefallen. Keine der kleinen Sachen
kann aber chronologisch von irgendeiner Bedeutung sein. Es
kann sich nur um den bekannten Lobgesang handeln. Der
soll ja nun freilich durch Pfeiffer abgetan sein. Auf Watterich
wird niemand mehr zurückkommen ; die Meinung von Hermann
Kurz muß erwogen werden. Aber nur aus dem Gedichte selbst
1) In imnen iagen verbietet, dahinter den Stand des Klerikers
zu suchen; Verbot der Liebe, sogar der Heirat würde für Träger der
niederen Weihen ohnehin gar nicht zutreffen. Siehe auch unten S. 26.
2) Ich brauche denselben Ausdruck, den ich (m. Beiträge zur Li-
teraturgeschichte Schwabens 2,33) über eine im Alter von 40—50 Jahren
entstandene Gedichtsammlung meines Vaters gebraucht habe.
Gottfried von Straßburgf. 17
und seiner Vergleichung mit dem Tristan heraus ! An und für
sich ist die Verweltlichung eines Mannes, der als geistlicher
Schüler die Gottesmutter besungen hat, genau so denkbar wie
die Bekehrung eines alternden Sünders — oder vielmehr weit
mehr denkbar, d^nn letztere Vorstellung hat, auf Gottfried an-
gewandt, etwas eminent komisches an sich. So kirchlich-korrekt
er sich im Tristan benimmt: eine religiöse Natur ist er nicht ^),
und da er eine geistliche Bildung erhalten hat, so ist ein
Mariengedicht seiner Schülerzeit sehr wohl möglich.
Pfeiffers Kritik, die ohne öffentlichen Widerspruch ge-
blieben ist, richtet sich gegen die Meinung, der Dichter des
Tristan hätte nach diesem den Lobgesang geschrieben. Sie
gründet sich in der Hauptsache auf eine Anzahl von ungenauen
Reimen und metrischen Härten, die dem Tristan fremd sind.
Es ist kein Zweifel, daß die Beweisführung, so wie sie gegen
Watterich gerichtet ist, vollkommen recht hat; keine Bekehrung
der Welt kann den Sinn für künstlerische Form aufheben.
Daß aber diese Unverträglichkeit auch gelte, wenn man mit
Kurz annähme, der Lobgesang sei eine Jugendarbeit: das ist
damit noch lange nicht gesagt. Die Mängel, die Pfeiffer an-
führt, sind kurz diese. Reime von langem Vokal auf kurzen,
m:n, ho, gä, nd im Reim, vorhteiporte 33,4. 8, s:^; Wort-
verkürzungen im Reim: dn\ män\ rein\ klein\ stern'\ har =
her 12,1, hon = houm 92,3; Gen. PL der tagen 6,3; rührende
Reime in Str. 12. 31. 84; tvünneiMnne, während der Tristan
nur tvunne hat; Apo- und Synkope im Vers, besonders häufig
Participia wie brinnde; Betonungen: Ungunst 35,6, unzüht
15,7, ingänc 10,11; ein paar fremdartige Wörter: her 61,12
= Hervorbringung o. ä., florieren 81,4; inhrünstiu herzen hitze
15,4; ach jugendiu jugent, ach jugender muot 87,9; sehr häu-
figer Gebrauch von hernde und Zusammensetzungen.
^) Auch Walther von der Vogelweide ist keine. Seine Kreuzlieder
und sein Leich haben für mein Empfinden etwas durchaus offizielles an
sich, und an der Wirkung des Owc, war sint versicunden hat das na-
türliche Gefühl des Alternden den Löwenanteil — denn religiöse An-
wandlungen fehlen nervös erregbaren, lyrischen Talenten nie; bei
wem sind sie stärker, zum Teil auch schöner, als bei Heine?
Sitzgsb, d. philos.-pliilol. u. d. bist. Kl. Jahrg. 1916, 5. Abb. 2
lö 5. Abhandlung: Hermann Fisclier
Diese Eigenheiten sind nicht alle gleich zu beurteilen.
Bei den unreinen Reimen^) weist Pfeiffer darauf hin, daß sie
zwar nicht im Tristan, aber zum Teil bei andern Alemannen
und besonders in späterer Zeit vorkommen. Aber man findet
sie ebenso bei den allermeisten Dichtern in „Minnesangs Früh-
ling"^) und in den geistlichen Gedichten Nr. 30^ — 50 der „Denk-
mäler". In MF. entbehren, wenn wir die für Gottfried fremd-
sprachlichen Veldeke und Morungen außer Betracht lassen, nur
Bligger von Steinach und Engelhart von Adelnburg solche
Freiheiten ganz : von jenem haben wir zwei Druckseiten, von
diesem eine. In MSD. 30^ ff. ist kein ganz rein reimendes
Gedicht, von ganz kurzen abgesehen. Fragen wir also: was
für geistliche oder weltliche Lyrik in deutscher Sprache konnte
wohl ein junger Mann etwa zwischen 1180 und 1190 zum
Muster nehmen, so lautet die Antwort: nach Ausweis dessen,
was auf uns gekommen ist, so gut wie lauter Gedichte mit
derartigen Reimfreiheiten. Von den rührenden Reimen ist der
zweite beabsichtigt wie die in den Vierreimen des Tristan ; die
zwei andern — ganze zwei unter gegen 500 Reimen — stehen
im zweiten Strophenteil, wo der nämliche Klang viermal er-
scheint. Har ist mundartlich^). Apokopen wie mdri' sind, wie
wir heute sagen können, in den süddeutsehen Mundarten jener
Zeit gewiß schon allgemein gewesen*). Ebenso wird es mit
^) Wozu man einen Fall wie 6, 3 rechnen könnte. Anderes wie auch
hö, nä ist gemein, z. B. bei Reimar und Hartmann zu finden.
2) Ich halte mich an den gedruckten Text (Vogt-); aus den Hand-
schriften heraus bekäme man gewiß mehr, nicht weniger Unregelmäßig-
keiten.
3) Martin-Lienhardt 1,366 „fast allgemein", wenn auch Straßburg
selbst her(d) hat; daß Gottfried aus der Stadt gebürtig war, ist aus
seinem Beinamen nicht notwendig zu folgern; es kann aber auch die
Stadt früher har gehabt haben.
*) Zu dieser Annahme drängen besonders die Ortsnamen, die in
Urkunden sehr alten Datums oft schon in einer der heutigen gleichen
gekürzten Form erscheinen. Die literarische Erhaltung von -e u. dgl.
ist wohl teils Einfluß fremder Muster, teils aus Satzdubletten mit vollerer
und geschwächter Form zu erklären.
Gottfried von Straßburg. lö
den Synkopierungen stehen: die Participia ohne Mittelsilbe,
die Pfeiffer anführt, gehören alle zu starken Verben oder
solchen mit -j, nur minnen hat altes -o-; es genügt aber zu
erinnern, daß in Wörtern der Form X^X, öfters auch X-X?
die Mittelsilbe synkopiert ist, genauer: dats wir heute mit
Doppelformen XX \ und X\ X rechnen, zwischen denen
eine Mundart füglich anders ausgeglichen haben kann als die
übliche mhd. Dichtersprache. Man kann auch umgekehrt volle
Formen und zweisilbige Senkung annehmen ; gegen beides :
alte Kurzformen und zweisilbige Senkung, sind wir heute
toleranter als früher. Die Form hon (C ho^n) kann ja als freier
Reim ou : 6 gedacht sein, obwohl der Lobgesang sonst keine
qualitativ verschiedenen Vokale reimt; sie ist aber, genau ge-
nommen, ganz regelrecht. Künne gehört zu den Wörtern, die
im Tristan fehlen; in der geistlichen Poesie ist es umso häu-
figer, kommt auch bei Hartmann außer dem Iwein vor^).
Anderes sind Ungeschicklichkeiten, auch etwa Kühnheiten, bei
denen man durchaus die Wahl hat, sie einem Anfänger, der
nur Sachen älterer, weniger geglätteter Form vor sich hatte,
oder aber einem Manne roherer Bildung zuzuschreiben.
Solchen Mängeln steht nun anderes gegenüber. Schon
Kurz fand'-^) in dem Lobgesang etwas „TJrgottfriedisches": „das
ganz eigentümliche Spielen und Klingeln hat er ja auch im
Tristan nicht lassen können, und der Lobgesang kam mir mehr
und mehr wie ein kindisches Vorspiel vor." In der Tat wird
auch hier mit Worten sehr stark gespielt und oft in einer
Weise, die ganz an den Tristan erinnert. Ich führe an :
Str. L 3 (mehrfach). 9,7 f. 13. 17. 23. 24. 30. 31. 57,6. 61
(mehrfach). 62. 64 (mehrf.). 67,1.4. 74—77 {minne). 81. 83.
85,9 f. 87,7 f. 89,9-11. 90, 6 ff. 93 (mehrf.). 94. Besonders
erwähne ich die etymologischen Figuren (im weiteren Sinne
des Wortes): 6,9 f. 7,2 f. 12,4 f. 14,5. 15. 18 (mehrf.). 19,1 f.
25,4. 26. 34. 42, 2 f. 50,9 f. 58,11 f. 59. 64, 12 f. 72. 73, 10 f.
1) S. Jänicke, De dicendi usu W. de Eschenbach, S. 23.
2) Anz. 26, 182.
2*
20 5. Abhandlung: Hermann Fischer
84 (mehrf.). 85,9 f. 93,8; die Anaphoren: 15. 28. 35—37.
38-40. 43-53. 55-57. 68-71. 77-81. 84—94. In allem
dem^) wird man an Gottfried erinnert. Besonders bei den
denominativen Verben: der wunne, diu sich tvunnet 25,4 würde
einer, dem man aufgäbe es zu suchen, gewiß im Tristan suchen,
und die oben erwähnte jugendiu jugent erinnert auffallend
daran. Es fehlt auch nicht an Einzelheiten, die man im Tristan
wiederfinden mag, von denen aber keine allzu stark ist^).
Freilich, alles ist roher, härter als im Tristan ; sind beide vom
selben Verfasser, so muß dieser in längerer Schulung an den
großen Mustern des Epos den dolce stil nuovo gelernt haben ^).
Soll das unmöglich sein ? Solche positiven Eigentümlichkeiten
und Neigungen wie die eben angeführten pflegen frühe auf-
zutreten und halten auch den negativen Qualitäten der Glätte
und Stilreinheit stand ; wer, der einige Jahrzehnte die Feder
führt, hat das nicht an sich selbst erfahren ?
Ferner: der Lobgesang steht nebst dem vorausgehenden
Minnelied Diu mt ist wünnecUch und dem nachfolgenden Ge-
dicht von der Armut, alle drei fortlaufend geschrieben, in C
unter Gottfrieds Namen, während ihn B und Haupts K ohne
Überschrift haben*). Nun sagt man freilich, einem berühmten
Mann seien leicht fremde Sachen untergeschoben worden. Aber
wenn das bei Liedern und Sprüchen unter Walthers, bei Epen
unter Wolframs Namen sofort begreiflich ist, so wird es doch
an sich nicht wahrscheinlich sein sollen, daß man dem Tristan-
dichter ein Mariengedicht untergeschoben habe! Außerdem
1) Man kann ja die Anaphoren abziehen, weil sie dem hymnischen
Stil besonders angemessen sind; immer bleiben noch in der vollen Hälfte
aller Strophen solche Spiele.
2) Vgl. wegen 3, 13; Stegen 15,12 mit Trist. 40; das Bild der Jagd
str. 1 ; golt, nilit bJi 29,13 mit dem oben angeführten Gold und Messing.
^) Ist doch schon gesagt worden, eine Kunstvollendung wie die des
Tristan verlange mit Notwendigkeit die Annahme früherer Versuche
desselben Dichters! Das geht gewiß zu weit; um so lieber wird man
das Lob Hartmanns im Tristan 4619 ff. darauf zurückführen, daß G. sich
bewußt war, bei ihm in erster Linie gelernt zu haben.
*) Sie beginnen aber auch anders; s. später.
Gottfried von Straßburg, 21
sagt Konrad von Würzburg in der Goldenen Schmiede 94 ff. :
Ich sit^e ouch niht üf grüenem Tde von süezer rede touives naz,
da wirdecUchen üffe saz von Sträzburc meister Gotfrit . . . der
het an alle vorhte dich gerüemet, vrowe, baz, denne ich ...
Tcünne dich getuon. Pfeiffer läßt das nicht als ein Zeugnis
gelten und weist darauf hin, daß es het, nicht hat heißt. Mag
man nun het als Plusquamperfekt fassen oder hat ändern, was
ich beides für unnötig halte: Pfeiffers Argument zieht nicht.
Er scheint Konrad so zu verstehen : ein Mann höchsten Talents
wäre dieser höchsten Aufgabe gewachsener gewesen als ich,
und ein solcher wäre etwa Gottfried gewesen. Das wäre un-
gefähr, wie wenn Novalis bei seinen Marienliedern gesagt hätte :
der Verfasser des Tasso oder der des Don Carlos hätte sie
besser gemacht^). Vielmehr hat die Stelle nur dann einen
^) Man kann den Passus als eine Nachahmung des literarischen
Exkurses im Tristan ansehen. Aber Konrad hat sonst nichts derartiges,
wo er sich mit andern Dichtern vergliche. Die andere Stelle, wo er von
Gottfried redet, Herzmäre 8 ff., bezieht sich auf diesen nicht als auf den
großen Stilmeister, sondern führt ihn für einen bestimmten Satz als
Autorität an: Des bringet uns gewisheit von Sträzburc meister Gotfrit:
swer üf der wären winne trit wil ebene setzen sinen fuoz, daz er benamen
haaren muoz sagen unde singen von minnecUchen dingen usw., nach Trist.
97 ff.: Ein senelichez mcere daz tribe ein senedaere usw. — Übrigens ist
auch Gottfrieds Exkurs nicht rein literarisch-ästhetisch, sondern hat seine
sachliche Einheit. Er redet nur von Dichtern, die erotische Stoffe be-
handelt haben, und zwar zuerst von Epikern (Wolfram ist doch nur
polemisch herbeigezogen, und auch bei ihm kann man an die großen
Gawan-Episoden denken), dann von Lyrikern. Heinrich von Veldeke hat
das erste Reis geimpft, d. h. den ersten Liebesroman geschrieben ; die
grundlose Meinung, es handle sich hier um die reinen Reime, kann nur
aus ganz falschem Verständnis des Rudolfischen der rehte rime alrerst
began (Alex., MSH. 4,866) geflossen sein; aber rim ist doch mhd.
nicht Homoeoteleuton ! S. jetzt W. Braune, Reim und Vers S. 5 ff .
Immerhin hat jene Deutung Anlaß gegeben, Veldekes Werke in seine
Heimatmundart zurück zu übersetzen. Wie viel die Wissenschaft damit
nach mehr als einer Seite gewonnen hat, brauche ich nicht zu sagen.
Aber daß die Eneit dem Landgrafen Hermann limburgisch überreicht
worden sei (ich finde das nirgends gesagt, aber es sollte dann mindestens
das Gegenteil gesagt sein), das glaube ich nicht. Eilhart von Oberge
22 5. Abhandlung: Hermann Fischer
guten Sinn, wenn Konrad sich auf eine Mariendichtung oder
überhaupt eine geistliche Dichtung Gottfrieds bezieht: der
hätte es noch besser gemacht, denn er hat das durch seinen
Lobgesang bewiesen.
Angesichts dessen sind nur zwei Möglichkeiten. Der Lob-
gesang ist von einem späteren Unbekannten, der, vielleicht
durch die Stelle in der Goldenen Schmiede veranlaßt, ein
Mariengedicht, und zwar in Gottfrieds Manier, dichten wollte
— ob nun die Benennung nach Gottfried bewußte Fälschung
seinerseits oder Werk eines Späteren sein möge — : oder er
ist ein frühes Werk Gottfrieds. Als unmöglich soll die erste
Ansicht nicht bezeichnet werden, aber als unnötig, vielleicht
als unwahrscheinlich. Der Lobgesang ist von einem wirklich
begabten Mann, wie auch Pfeiffer zugibt^): wohl, das soll kein
Beweis sein. Aber etwas anderes läßt mich an einem epi-
gonischen Ursprung zweifeln. Das ist die Überlieferung. Wir
kennen das Gedicht aus drei Handschriften: B C K; von diesen
stehen nur in C 52 Strophen, nur in B 30, nur in K 1, in
und Albrecht von Halberstadt haben nicht niederdeutsch gedichtet, und
Arnold von Lübeck hat Hartmanns Gregor für einen niederdeutschen
Fürsten nicht niederdeutsch, sondern lateinisch übersetzt. Einmal ist
doch, wie die Handschriften zeigen , die Eneit hochdeutsch geworden ;
warum nicht schon in dem für Hermann bestimmten Exemplar? Behaghel
ed. CLXI sagt: „Der Archetypus muß also späteres [lies spätestens] in
die erste Hälfte der 90er Jahre des 12. Jahrhunderts fallen." Ich weiß
nicht einmal, ob Gottfried Veldekes Mundart als tiutische zunge be-
zeichnet hätte; man redet doch sonst im 13. Jahrhundert von flämisch.
^) Fr. F. 139. Wenn er aber sagt: „diese Häufung und unvermittelte
Aneinanderreihung von Bildern und Gleichnissen, diese Wortspiele und
Tändeleien, die nirgends ungehöriger erscheinen als in einem geistlichen
Liede", so mißt er mit modernem Maßstab, nicht mit dem des Mittel-
alters. Man könnte sich wundern, daß das dem Herausgeber Bertholds
und der Mystiker nicht zum Bewußtsein gekommen sein sollte, wenn
nicht der Brief an Kurz (Anz. 26, 180) deutlich zeigte, daß Pfeiffer ebenso
unter dem Druck einer starken antiklerikalen Tendenz stand wie Wat-
terich unter dem einer gegenteiligen. Und wenn Pfeiffer S. 140 den
„herrlichen Leich Walthers" rühmt und von dessen „wahrer Frömmig-
keit und feuriger Innit^^keit" usw. redet, so kann ich nicht mittun.
De guötibus etc.
Gottfried von Straßburg. 23
BC 1, in CK 51), in BCK 5. Pfeiffer hat das in seiner Kritik
nicht erwähnt; er brauchte es nicht zu berücksichtigen, weil
die von ihm gefundenen Mängel sich auf die verschiedenst
bezeugten Strophen ungefähr gleich verteilen. Aber es gibt
zu denken. Möglich, daß alle 94 Strophen dem ursprünglichen
Gedicht angehören, in der von Haupt gewählten oder in einer
anderen Ordnung; möglich auch, daß dazu noch weitere, für
uns verlorene Strophen gehört haben. Möglich aber auch, daß
ein alter Text durch Zudichtungen vermehrt worden ist. Wie
dem nun sein möge, unsere Überlieferung hat eine Vorgeschichte,
vielleicht eine längere ; und das wird doch auch eher für
höheres als für jüngeres Alter sprechen, mindestens aber dafür,
daß man schon frühe das Gedicht hochgeschätzt, am einfachsten :
daß man es schon frühe einem berühmten Meister zugeschrieben
hat. Es würde sich lohnen, den Lobgesang mit der übrigen
Mariendichtung, natürlich auch der lateinischen, einer gründ-
lichen Untersuchung zu unterwerfen. Bis dahin wird der Weg
offen sein, ihn für Gottfriedisch anzusehen.
Es soll nun aber diese Möglichkeit nicht als Grundlage
für weitere biographisch-chronologische Folgerungen dienen.
Es genügt mir, daß, wenn wir den Lobgesang für Gottfrieds
Jugendwerk ansehen, sich an den sonstigen Resultaten in Be-
ziehung auf den Tristan und seinen Dichter nichts ändert.
Gottfried hat eine geistliche Bildung genossen, vielleicht am
Münster, das der Gottesmutter geweiht war; der Lobgesang
enthält nichts Französisches — was freilich nicht im Gegen-
stande liegt — , würde also vor die Aneignung der französischen
Sprache, bzw. vor den vielleicht^) anzunehmenden Pariser Auf-
enthalt fallen ; später fällt die Hinwendung zur weltlichen
Dichtung, vielleicht auch zu einem weltlichen Beruf, und das
Studium Hartmanns. War Gottfried um 1210 — 1215 vierzig
oder fünfzig Jahre alt, so war er frühestens 1160, spätestens
1175 geboren; den Lobgesang könnte er mit 15 — 20 Jahren,
^) Einschließlich str. 23, wo C und K ganz verschiedenen Text haben
2) S. u. S. 29.
24 5. Abhandlung: Hermann Fischer
also zwischen 1175 und 1190 verfaßt haben. Darin läge
nichts Unmögliches.
Sagt uns vielleicht der Tristan selbst noch anderes über
seinen Verfasser? Es ist bei mittelalterlichen Dichtern nicht
ungewöhnlich, daß sie ihre Personen oder die von Gönnern in
irgend einer "Weise versteckt andeuten. Ich habe nach An-
gaben oder Andeutungen von Wappen gesucht, aber nichts
beweisendes gefunden. Gewiß kennt Gottfried Namen und
Regeln der edeln Kunst ^); er nennt gölt und sobel 5036, weiß
also, daß Metall und Farbe aneinander stoßen müssen ; ebenso
bei Tristans Schild, der einen Eber trägt 4940, und zwar von
swarzem sohel alsam ein Jcol 6620 in silherwtsem Feld 6612.
Aber dieses Wappen, d. h. der Eber, stammt gewiß aus Tho-
mas^); jedenfalls führt keine der Familien, an die wir, wie
später zu zeigen sein wird, denken könnten, einen Eber^).
Es bleibt nur das Akrostichon GBIETEEICH im Pro-
log 1. 5. 9. 13. 17. 21. 25. 29. 33. 37*). Daß es sich hier
um einen als Besteller oder anders um das Gedicht verdienten
Gönner Dietrich handeln muß, ist klar ; bei G denkt man wohl
1) Im Vorbeigehen mag darauf hingewiesen sein, daß er Akte von
rechtlicher Bedeutsamkeit eingehend schildert; außer dem Gottesgericht
vgl. 5717 ff. 5871 ff.
2) Vgl. Bedier 1,61, n. 1. 177; Piquet 125, n. 2.
') Der Bischof hatte als Graf von Veringen die Hirschstangen, aber
die Hirschjagd ist ja, s. o., aus der Vorlage.
*) Die folgenden TI — Tristan Isöt gehen die Verfasserfrage nicht
an. Wenn C. v. Kraus, ZfdA. 50, 220 ff. auch weiterhin an den be-
kannten Absätzen im Epos Reste eines Akrostichons herausbringen will,
so kann ich das hier vernachlässigen, weil diese Reste außer Tristan
und Isolde doch nur den ohnehin feststehenden Namen Gottfried ent-
halten sollen. Ich kann ihm übrigens nicht beistimmen; das Akrostichon
muß vollständig sein oder es ist Zufall; wie seltsam auch, daß Gottfried
als Gode-, Dietrich aber in der rein hochdeutschen Form vorkommen soll!
Was das Akrostichon und (wenn man es so nennen darf) Telestichon in
dem von W. Werner, Gott. Nachr., philol.-hist. KL, 1908, S. 457, ver-
öffentlichten Basler Gedicht des 13. Jahrhunderts hier tun soll (ZfdA.
51,374), verstehe ich nicht; es ist ganz vollständig und in strengster
Reihenfolge, von „ Anagramm " keine Spur,
Gottfried von Straßburg. 25
an Gottfried selbst^), wenn man nicht vorzieht, es als Ab-
breviatur von gräfe zu verstehen, wozu, wie wir sehen werden,
vielleicht Anlaß sein könnte^).
Soviel sagt uns Gottfried selbst und seine Fortsetzer.
Weiterhin ist eines sicher : der Tristan ist für einen vornehmen
Empfänger geschrieben, den wir gewifä am Straßburger Hof zu
suchen haben. Daß ein Dichter ohne höheren Auftrag oder
mindestens ohne die sichere Aussicht auf Lohn oder doch Bei-
fall so ein Epos unternommen hätte, kann ich nicht glauben^).
In jenem Dietrich den Empfänger oder Besteller zu sehen,
wird am nächsten liegen. Der Bischof selbst kann es nicht
wohl sein; er wäre wohl, wenn er es gewesen wäre, in ähn-
licher Art statt oder neben Dietrich angebracht worden. Die
Person des Bischofs, unter dem der Tristan verfaßt sein muß,
kann nicht zweifelhaft sein. Es ist Heinrich aus dem schwä-
bischen Grafen geschlechte von Veringen, Bischof 1202 — 1223.
Leider wissen wir über ihn so gut wie nichts charakteristisches*).
^) C. V. Kraus, ZfdA. 50, 222, möchte auch hier genaueres wissen.
„Da Johannes, der Rudolf die Quelle für seinen Wilhelm verschaffte, im
Akrostichon dieses Gedichtes neben Ruodolf erscheint wie im Tristan
Bieterich neben Godefridus, und da R. seine akrostichische Technik von
Gottfried gelernt hat, so war D. der Gönner, aus dessen Händen der
Straßburger Dichter den Thomas empfing." Durchaus möglich; aber die
Prämissen sind unsicher. Darüber, daß Godefridus nicht bezeugt ist,
s. die vorige Anmerkung; ob Rudolf die Akrosticha von Gottfried ge-
lernt hat, steht dahin, es stimmt auch im Wilhelm nicht ganz, denn
dort sind beide Namen vollständig enthalten ; und endlich kann man,
wenn G = Gottfried ist, aus den zwei Namen auch ein etwas anderes
Verhältnis zwischen ihren Trägern folgern.
2) Bechstein, Allg. D. Biogr. 36,502.
^) Ich habe das in meinem S. 4 angeführten Nibelungen-Aufsatz
S. 6 ausgeführt.
*) Stökle, S. 33, nennt ihn „dem Rittertum ergeben"; er führt an,
daß Heinrich dem jungen König Friedrich mit 500 Reisigen entgegen
gezogen und daß er vier Jahre ohne Weihe geblieben sei. Das erstere
beweist bei einem deutschen Reichsfürsten gar nichts. Das zweite aber
bezieht sich nicht etwa auf so lange ausgebliebene Priesterweihe,
sondern darauf, daß H,, weil der Stuhl von Mainz strittig, also sein
26 5. Abhandlung: Hermann Fischer
Aber daß es seinem Hof nicht an weltlicher Pracht gefehlt
habe, ist anzunehmen. Das Domstift war freiherrlich, wovon
nachher. Es wird an Liebhabern für eine Poesie wie die
Gottfrieds dort nicht gefehlt haben.
Für die Person des Dichters folgt nur eins: er muß das
Hofleben gut gekannt haben, muß mit ihm so verwachsen
gewesen sein, daß er als ein dorthin gehöriger erscheinen
konnte^). Wenn er kirchliche Schulung genossen hat, wie
wir sahen, so kann er von Geburt gewesen sein was er wollte;
vom Edeln bis zum gemeinen Unfreien sind hier alle Stufen
denkbar, wenn auch die höheren des Edeln oder des Ministe-
rialen die wahrscheinlicheren sind. Nicht mindere Freiheit
haben wir in bezug auf seinen Beruf. Er kann als Kleriker
ein Werk wie den Tristan sehr wohl verfaßt haben ^); er kann
aber auch im Besitz kirchlicher Schulung weltlichen Beruf
ergriffen haben wie Hartmann von Aue^) oder Eike von Rep-
gow*). Nur mit der früher üblichen Angabe, er sei „bürger-
lich" gewesen, ist gar nichts zu machen; ein Mann, der weder
kirchlicher Vorgesetzter nicht sicher war, so und so lange nicht zum
Bischof ordiniert wurde, besagt also gar nichts. Die Straßburger
(Marbacher) Annalen, die das erzählen, sagen : Hie religiöse vivit cepitque
(fuerras et prelia dcclinare, MG. SS. 17, 89 (170); wonach Königshofen,
Chron. d. d. Städte 9, 648 f. Mit dieser traditionellen Phrase ist nicht
viel gesagt. Heinrichs politische Wandlung von Otto IV. zu Friedrich
geht uns nichts an. Siehe Allg. D. Biogr. 11, 621 f.
1) Vgl. ed. Golther 1, XI.
2) Auch Bechstein an der oben getadelten Stelle Allg. D. Biogr,
36,503, fährt fort: „Im übrigen würde die Behandlung eines Liebes-
romans auch einem Kleriker nicht unangemessen und unerlaubt gewesen
sein*. Wenn Ulrich von Zazikhoven Pleban von Lommis war, kann
man sagen: auch einem Priester.
^) S. das zu Anfang angeführte Buch von Schönbach.
*) Zeumer, Festschrift zu H. Brunners 70. Geburtstag, S. 135 fF.;
desgl. für Gierke 455 ff. Vgl. W. Kothe, Kirchliche Zustände Straßburgs
im 14. Jh., S. 37: ,Die Söhne der vornehmen städtischen Bürger, welche
die geistliche Laufbahn einschlagen wollen, lassen sich gewöhnlich die
Rückkehr zum Laienstande offen. Es herrscht die Gewohnheit,^ nur die
Tonsur oder niederen Weihen zu empfangen".
Gottfried von Straßburg. 27
Kleriker noch Ministeriale oder Ritter noch edel war, konnte
um 1200 unmöglich imstand sein, ein Buch — und vollends
den Tristan — zu schreiben.
Man hat jene negative Angabe darauf gegründet, daß Gott-
fried nie „Herr", wohl aber „Meister" genannt wird. Seine Fort-
setzer, soweit wir sie kennen, nennen ihn meister G. Ulr. v.Türh. 4,
m. G. von Strasburg Heinr. v. Freib. 15 f.; in Rudolfs Wilh.
2185 f. heißt es m. G-es Jcunst von Strasburg, im Alex.^) der
wtse G. von Str.; vielleicht ist nachher auf den Meistertitel
angespielt: Wie ist so gar meisterlich sin Tristan, s. a. nach-
her; in Konrads von Würzburg Goldener Schmiede 97 von
Sträzburc meister Gotfrit, ebenso Herzmäre 9 (s. o.). Hier mag
man nun mit dem Begriff der literarischen Auktorität, des
Meisterdichters, auskommen. Aber auch die Minnesingerhand-
schrift C hat über den ihm zugeschriebenen Lyrika meister
G. V. Str.^). Der Anordnung nach steht er unter den bürger-
lichen, städtischen, geistlichen usw. Dichtern^); seinem Bilde
fehlen die adeligen oder ritterlichen Attribute. Es ist also
kein Zweifel, daß die folgende Zeit ihn „Meister", nicht „Herr"
genannt und ihn außerhalb der Klasse des Rittertums ge-
sucht hat.
Was bedeutet das? Heinrich von Freiberg, der mit dem
Hofe Wenzels IL von Böhmen 1278 — 1305 zusammenhängt,
führt die Bezeichnung „Meister" weiter aus, indem er Gottfrieds
Art nachahmend sagt (16 ff.): Der so mangen snit spehen unde
riehen schöne unde meisterlichen nach durnechtiges meisters siten
Ü2 blüendem sinne hat gesniten und hat so richer rede cleit
disem sinne an geleit usw. Er vergleicht ihn also einem meister-
lichen Schneider, vielleicht kann man im Sinne seiner Zeit schon
sagen: einem Schneidermeister*). Was aber der Meistertitel
1) MSH. 4, 866.
2) A G. V. Str., B keine Überschrift. S. a. oben S. 20.
^) Schulte, Die Standesverhältnisse der Minnesinger, ZfdA. 39,
speziell S. 231.
*) Natürlich meine ich nicht, daß er ihn dafür gehalten habe. Das
Bild des Schneiderns an sich ist auch um 1200 nicht detrektativ;
28 5. Abhandlung: Hermann Irischer
um 1200 bedeutet haben möge, darüber sind verschiedene
Meinungen möglich.
Wir vermissen schmerzlich eine genaue Statistik der
Prädikate „Herr", „Meister", dominus, magister. Sie sollte
einmal gegeben werden auf Grund vor allem der Urkunden,
in historischer und geographischer Ordnung, auch mit Berück-
sichtigung der Frage, welchem Stande der Aussteller jeder
Urkunde angehört hat. So lange wir sie nicht besitzen, haben
wir keinen festen Boden unter den Füßen. Einstweilen habe
ich zusammengestellt, was sich in den Straßburger Urkunden
von 1150 bis 1230 findet. Hier ist dominus erstens gebraucht
für Kleriker, und zwar in Urkunden des Bischofs oder Dom-
kapitels 1155 (1,86). 1182 (1,99). 1185/89 (1,103). 1191
(1,105). 1193 (1,108). 1221 (1,154). 1224 (1,156 f.). 1230
(1,172). 1230 (1,173); in solchen des Thomasstifts 1182(1,98).
1197 (1,111). 1225 (1,157). Zweitens für Weltliche (ich sehe
von Königen ab): d-s Änselmus advocatus Argenünensis, d~s
Otto adv, Maurimonasterii 1155 (1,86; bisch. Urk.); d-s Hein-
ricus de Suhe, d-i Egenonis avuncuU uxoris sue 1185 (1,100);
d'i Egelolfi de UrseUngin ebd.; d-s Conradus de Hadestat 1188
(4,6; bisch. Urk.); dominoWernhero marscalco 1190/1202 (1,119;
städtische Urkunde); d, Theodorico burgravio 1216 (1,130; Urk.
des Domkapitels); domina Hadewigis, uxor quondam d-i Symonis
de Epfiche 1225 (1,156; bisch. Urk.) und eod. (1,157; bisch.
Urk.); d-s Chunradus Leitreche 1225 (1,156; bisch. Urk.);
d-m Burchardum de Truhtersheim , d-am Hedewigam filiam
d-i Bietend de Epfiche 1226 (1,163 f.; städtische Urkunde);
d-i Wernheri marscalci 1229 (1,171; desgl.). Das sind zum Teil
Edle, zum Teil, wie die Amter zeigen, Ministerialen. Diesen
kaum mehr als zwanzig Fällen stehen unendlich viel mehr
andere gegenüber, die ohne dominus sind, von Königen und
Bischöfen abwärts durch alle Stufen von Klerikern und Laien.
s. Trist. 4561 if.; Walther v. d. Vogelw. 7, 3 ff.; Konr. v. Würzb. Troj.
110 ff. Vielleicht folgt Heinrich dem Muster von Rudolfs Alex.: ein
Hchroeter süezer worte MSH. 4, 866. Über das Aufkommen des Meister-
titels für Handwerker s. Schulte a. a. 0. 232. Mhd. WB. 2, 1, 117.
Gottfried von Straßburg. 29
Magister findet sich nur halb so oft. Und zwar m. scholarum
am Domstift 1155 (1,86: dominus Hartbertus m. sch.y schon oben
aufgeführt). 1160 (1,91); am Thomasstift 1182 (1,99). 1197
(1,111: mag. Willehehnus, ecclesie nostre scholasticus) ; am Peters-
stift 1187 (1,102); dagegen m. allein: Älhero m. am Peters-
stift 1155(1,86); m-o Hugone sacerdote de S. Aurelia 1182(1,99);
m-o Fetro, m-o Ingrammo am Domkapitel 1185/89 (1,104);
m. Heinricus de Lutenhach als canonicus Argentinensis 1227
(1,166; bisch. Urk.) und 1229 (1,169; desgl.); dazu in anni-
versario m-i Hermanni 1224/28 (4, 15). Alle sind Geistliche*);
auch hier aber stehen dem schwachen Dutzend weit mehr Fälle
gegenüber, wo kein solcher Titel steht, ohne daß man erkennen
kann, warum.
Gottfrieds Meistertitel wäre ohne weiteres erklärt, wenn
wir annehmen wüiden, er habe sich die Magisterwürde er-
worben. Das könnte er wohl nur in Paris getan haben ; von
einem dortigen Aufenthalt redet er nicht, braucht aber nach
seiner unpersönlichen Art auch nicht davon geredet zu haben.
Möglich wäre es sehr wohl. Außer seinen theologischen Kennt-
nissen^) sei an seine Kenntnis des Französischen erinnert, das
von keinem andern in dieser Ausdehnung verwendet worden
ist ; wenn auch gute Beherrschung jener Sprache in der höheren
Gesellschaft des nur 35 Kilometer von der Sprachgrenze ent-
fernten Straßburg vielleicht schon vor sieben Jahrhunderten
anzunehmen ist^). Wenn Gottfried Magister war, so ist es
verständlich, daß man ihn „Meister" nannte, auch wenn er
sonst mit dem für Kleriker üblichen „Herr" genannt worden
^) Der magisler bürge nsiiim ist beiseite gelassen.
2) Zum Teil, s. o., auch aus französischen Theologen der Zeit.
^) Es ist doch kein Zufall, daß die drei ersten Lyriker, bei denen
sich welsche Form findet, Veldeke, Fenis und Hausen, der Sprachgrenze
nahe zu Haus waren. Eine Spezialuntersuchung über Kenntnis und Ge-
brauch des Französischen im Elsaß vor der Annexion durch Frankreich
wäre eine in jeder Beziehung lohnende Aufgabe; ob freilich eine lös-
bare? Welches Französisch Gottfried braucht, kann Nebensache sein,
so lange wir nicht wissen, welches Französisch in Straßburg bekannt
war. Möge mancher Passus auch aus Thomas stammen : die genaue
30 5. Abhandlung: Hermann Fischer
wäre; denn dann konnte „Meister" mehr sein als „Herr".
Über den Geburtsstand wäre damit noch nichts gesagt^). Unter
den Kanonikern des Domkapitels werden wir ihn trotzdem
nicht zu suchen haben; weniger, weil er nicht „Herr" heißt,
sondern weil er als Freiherr einen andern Ortsnamen als Straß-
burg führen müßte ^). Nehmen wir an, er sei nicht edler Ab-
kunft gewesen, so erklärt sich nicht nur das Fehlen des „Herr",
wenn er Kleriker oder Ministeriale war, leichter, sondern auch,
daß die Ortsbezeichnung „von Str." in der Tradition aufkommen
konnte. Er konnte in diesem Fall mit oder ohne Beinamen
(Familiennamen) genannt und der letztere vergessen werden.
Dann ist es auch erlaubt, wenn sich ein Gottfried mit Bei-
namen darbietet, ihn, wenn alles stimmen sollte, mit dem
Dichter zu identifizieren. Am Thomas- und Petersstift
pflegten die Kanoniker zumeist aus Straßburger Patrizier-
familien zu sein^); es findet sich aber weder an diesen bei-
den noch am Domstift einer seines Namens und seiner Zeit
genannt.
Wo nicht einen Magister, kann „Meister" auch noch
anderes bedeuten. Man kann mit Stökle (s. o.) an einen
Lehrer am Dom oder einem der andern großen Stifte
denken; „Meister" kann ein Singmeister*), ein Lesemeister
sein. Dann haben wir einen Kleriker vor uns. Wem ein
bischöflicher Ministeriale mehr behagt, der könnte an einen
Kenntnis der welschen Sprache bleibt. Ob nicht auch die Kenntnis
des Thomas in Frankreich erworben worden ist? Vgl. die welschen
buoch Trist. 159.
1) Nach Hertz (Übers. S. 535) und Golther (ed. 1, XI) wäre m. auch
für gelehrter Bildung teilhaftige Adliche gebraucht. Wenn Kurz, Germ.
15,208 anführt, daß Tristan 11574. 11658. 11685 w eister hei&t, so gehört
das nicht her; er ist dort schif meist er, wie Kurz selbst bemerkt.
^) Von den »Herren von Straßburg" findet sich in ÜB. 1 fast
nichts; jedenfalls ist kein Gottfried darunter, auch sind sie keine
Freiherren.
3) Kothe, Kirchl. Zustände, S. 5.
*) S. das S. 14 über die Musik gesagte.
Gottfried von Straßburg. 31
Jägermeister denken^). Möglich wird alles das sein, beweis-
bar nichts*).
Es bleibt uns aber noch eine Aufgabe. Ist unter den
Namen, die uns das reichhaltige Straßburger Urkundenbuch
kennen lehrt, vielleicht ein Gottfried, den wir mit unserem
Dichter, oder ein Dietrich, den wir mit dem des Akrostichs
gleichsetzen könnten? Die Hoffnung ist erlaubt; denn allzu
obskure Personen werden beide nicht gewesen sein. Auch waren
ihre Namen in Straßburg nicht häufig^).
l
^) Wegen der Jagd s. S. 14. Wenn, wie mir mein Kollege Säg-
müller sagt, im kanonischen Recht, speziell in den Dekretalen Gregors IX.
von 1234, die Jagd den Geistlichen verboten war, so wurde dieses Verbot
sicher nicht gehalten. In Straßburg finde ich zwar keinen Jägermeister
u. dergl. genannt, aber nach dem ersten Stadtrecht (nach 1129) hatten
die Sattler die Verpflichtung: purgabunt vinabula episcopi, si necesse
fuerit ÜB. 1,475.
2) Kurz, Germ. 15, 215 f., meint, eine Geringschätzung des ritter-
lichen Landadels liege auch darin, daß Gottfried im literarischen Exkurs
die von ihm gerühmten Dichter nicht „Herr" nennt, während Wolfram
das nicht unterläßt; vgl. Piquet 315, n. 1. Die Beobachtung ist richtig,
aber man könnte ebenso gut daraus schließen, G. habe nicht „Herr"
gesagt, weil er selbst einer gewesen, wie heute Adelige einander nur
„Graf, Baron", nicht „Herr Gr., Herr B." anreden. Das Argument wäre
jedoch ebenso schwach wie das gegenteilige; Rud. Wilh. 2173 0". setzt
bald herre, bald nicht.
3) Das ÜB. enthält drei Verzeichnisse der Hausgenossen der Straß-
burger Münze, eines von 1266 (ÜB. 1,485 ff.), eines von 1283 (4, 2,250 ff.)
und eines von 1310 (ebd. 255 ff.). Nach den Ausführungen von Eheberg
(Schmoller, Staats- und sozialwiss. Forschungen 5,5,97—127) waren das
ursprünglich bischöfliche Ministerialen, 1266 sind aber schon zahlreiche
Namen von Straßburger Geschlechtern darunter; die Bevölkerungsschicht
ist also etwa die, die wir für Gottfried und für Dietrich, falls der ein
Straßburger war, anzunehmen haben. 1266 sind 343 Personen genannt,
darunter Johannes 66, Konrad und Koseformen 30, Heinrich 29, Nico-
laus 21, Peter 15; dagegen 4 Dietrich = 1,2 Prozent; 1 Gottfried, 9 Götzo,
.3 Gosselin = (falls alle = Gottfried) 3,8 Prozent. 1283 finden wir 420
Personen, darunter 18 Johannes und Koseformen, 43 Nicolaus, 34 Konrad
tind Koseformen, 23 Heinrich und Koseformen, 23 Peter(mann); dagegen
2 Dietrich + 1 Diether = 0,7 Prozent; 8 Götze, 3 Götzelin, 2 GötteHn
= 3,1 Prozent. 1310 endlich 340 Personen, damnter 102 Johannes u. K.,
32 5. Abhandlung: Hermann Fischer
Nach dem oben gesagten werden wir unsern Dichter nicht
lange nach 1215 mehr erwarten dürfen; wie weit zurück, kann
man zweifeln. Bei Dietrich, der ihn beliebig überlebt haben,
auch jünger als er gewesen sein kann, müssen die Grenzen
weiter gezogen werden.
Ich beginne mit einigen Bemerkungen negativer Art.
Weder ein Dietrich noch ein Gottfried findet sich unter den
Bischöfen, den Archidiakonen, den Vicedomini, den Scholasti-
kern des Münsters ; kein Dietrich am Petersstift ; kein Gottfried
am Andreasstift und unter den cantores am Dom und am
Thomasstift. Ein Presbyter Dietrich am Andreasstift 1169
fällt gewiß zu frühe (ÜB. 1,96), und ob ein Dietherm am
Thomasstift, 1197 — 1220 genannt (1,111. 125. 132. 142. 150)
oder ein Bietherus am Domstift 1199 (1,113) = Dietrich sei,
ist nicht auszumachen. Ein Diethericus de EpMche erscheint
1217 (1,132; Urk. des Thomaskapitels, „affuit quoque" usw.);
wohl derselbe, der 1226 als dominus und Vater einer mann-
baren Tochter Hedwig vorkommt (1,164; städt. Urk.). Drei
Brüder Ludwig, Dietrich und Albert dicti Kagen erscheinen
1218, wie es scheint, als bischöfliche Ministerialen (1,133;
bisch. Urk.); Dietrich und Albert ohne Zusatz 1215 (1,129;
bisch. Urk.). Ein Diethericus de Kunigisheim ist 1220 genannt
(1,148; bisch. Urk.).
Schon 1196 erscheint ein Beodericus als Bruder des Burg-
grafen Burchardus (ÜB. 1,110; kais. Urk.); dieselben wieder
1199: BurJcardus prefedus et Theodericus f rater ejus (1,113;
bisch. Urk.), und wieder werden es dieselben sein, die 1209
als Burchardus scultetus et frater ejus Theodericus ex ordine
ministeralium vorkommen (1,123 ; bisch. Urk.). Dann erscheint
1216 ein dominus Theodoricus burgravius mit zwei Brüdern
Friedrich und Burkhard ac patruo eorum domino Theodorico
(1,130; Urkunde des Domkapitels). Dieser Vatersbruder ist
gewiß kein anderer als der 1196 — 1209 genannte Dietrich.
39 Nicolaus u. K., 19 Konrad u. K., 19 Peter(mann), 15 Heinrich; dagegen
2 Dietrich und 1 Diether = 0,9 Prozent; 6 Götze, 1 Götzelin, 1 Göttelin
= 2,4 Prozent.
Gottfried von Straßburg. 33
Der Burggraf Dietrich erscheint 1216 nochmals: Diethericus
hurcgravius (1,131; bisch. Urk.); dann 1210 als Ministeriale
Bßetericus] hurggravius (145; bisch. Urk.); sodann 1220 drei-
mal (1,146. 149. 151; bisch. Urkk.), einmal (1,149) neben
Dieterico patruo ejusdem; 1224 als praefectus, d.h. Burggraf,
ein solcher ist daneben nicht genannt, unter den Ministerialen
(1,155; bisch. Urk.); zwischen 1224 und 1228 (4,40); endlich
noch 1231 (1,176); im städtischen consilium) und 1233(1,185;
bisch. Urk.).
Daß unter dem Burggrafen immer dieselbe Person zu ver-
stehen sei, ist von vornherein wahrscheinlich. Sein Vater Burk-
hard ist 1209 Schultheiß, wird also damals oder früher zu
diesem höchsten Ministerialamt emporgestiegen sein. Daß Diet-
rich schon 1209 oder früher sein Nachfolger im Burggrafen-
amt geworden sei, ist nicht erweislich, aber möglich, denn ein
anderer Burggraf wird zwischen 1199 und 1216 nicht genannt.
Es wäre also für ihn eine lange, aber durchaus nicht unmög-
liche Amtsdauer anzunehmen^).
Lange vor Burkhard erscheint als Burggraf 1148 — 1162
ein erster Dietrich^). Es ist also nicht unwahrscheinlich, daß
wir hier eine Ministerialenfamilie vor uns haben, in der das
Burggrafenamt sich vererbte, wenn auch gerade nicht vom
Vater auf den Sohn^).
Hermann Kurz wollte*) in dem Dietrich des Akrostichs
den Bruder des Burggrafen Burkhard und Oheim des Burggrafen
Dietrich sehen, was chronologisch durchaus möglich ist; er
wollte auch ihn dem Geschlechte derer von Straßburg zuweisen.
Schmidt hat dagegen ausgeführt^), daß es sich hier vielmehr
um die Straßburger Ritterfamilie der Stehellin handle, in der
^) Die Burggrafen sind ÜB. 1,549 aufgeführt, aber es erheben sich
mancherlei Zweifel. 1226 und 1229 erscheint ein Siglin, 1231 ein Jo-
hannes. Aber von 1216 bis 1224 nur Dietrich.
2) Aber 1154 ein Hugo, 1176. 1182 f. 1193 ein Sifrid. S. die vorige
Anmerkung.
'^) ÜB. 1,86: Sifridus als Bruder des ersten Dietrich 1155.
4) Germ. 15, 218. ^) Schmidt 13 ff.
Sitzgsb. d. philos.-philol. u. d. hist. Kl. Jahrg. 1916, 5. Abb. 3
34 5. Abhandlung : Hermann Fischer
das Burggrafenamt erblich gewesen sei ; sie schrieb sieb später
von Sulzmatt, nachdem das Domstift 1216 dem Burggrafen
Dietrich den dortigen Zehnten verkauft hatte ^). In dieser
Familie kommen in der Tat auch Dietriche vor : 1201 de mini-
steridlibus , . . Btheodericus^) Stehleim (ÜB. 1,115; bisch. Urk.);
1209 Theodericus Stelin (122; bisch. Urk.); 1216 JDiethericus
Stehelinus (1,131; desgl.); 1219 B. Stehellinus als Ministeriale
(1,145; desgl.); 1220 Bietricus Stahelli (1,146; desgl.); 1220
Biethericus Stehellinus zweimal (1,148. 151; desgl.); 1220
Stehellinus Theodericus (1,155; desgl.); 1225 Bietricus Stehelli
(1,156; Urk. von S.Peter); 1225 B. Stehelino (1,162); 1226
Biethericus Stehellinus (1,164; städt. Urk.); zwischen 1224 und
1228 Bietrich Stehellin (4,20). Aber in fünf Urkunden von
1219 — 1225 ist er, wie die Vergleichung mit den über den
Burggrafen Dietrich oben gemachten Angaben zeigen kann,
neben diesem genannt, und ohne daß eine Verwandtschaft
zwischen beiden bezeichnet wäre. Somit muß ich mich be-
gnügen, die Angabe eines der genauesten Kenner Straßbur-
gischer Geschichte wiederzugeben, ohne sie bestätigen oder
widerlegen zu können^).
Wenn wir Gottfrieds Dieterich in einem der urkundlich
bezeugten Träger dieses Namens wiederfinden wollen, so bleibt
uns eine gewisse Auswahl. Am ehesten dürfte die Wahl fallen
auf den Oheim oder den Neffen Dietrich oder aber auf D. Ste-
hellin, die alle der Zeit nach genügen würden. Bischöfliche
Ministerialen sind sie alle; das Burggrafenamt war nach dem
des Schultheißen das höchste ; Interesse für literarische Dinge,
Besitz eines französischen Romans u. dgl. ist bei einem Träger
dieses Amts leicht möglich. Mehr zu wissen ist unmöglich.
Nur wenn wir das G, mit dem der Tristan beginnt, als gräfe
1) ÜB. 1, 130.
') Ist vielleicht DfominusJ Th. zu lesen?
^) Daß das Wappen der Stehellin bei Gottfried nicht vorkommt,
wurde oben S. 24 gesagt; auch irgendein Spiel mit ihrem Namen ist
nicht zu finden.
Gottfried von Straßburg. 35
ergänzen wollten, wäre mit Sicherheit der Burggraf Dietrich
gemeint; aber das ist bloß möglich, nicht erwiesen^).
Einfacher liegt die Sache bei den Gottfrieden. Weder
nach Lebenszeit noch Stand bekannt ist ein Gotefridus, der
der Straßburger Kirche unicuique tmum denarium gestiftet hat^j.
Mehrere, die als Kleriker oder Bürger und Ministerialen
1141 — 1162 vorkommen, fallen zu früh. Chronologisch mög-
lich wäre erst ein frater canonicus Gottfried zu S. Peter, der
1187 genannt wird (1,102). Dann aber der oben angeführte^)
Godefridus Zidelarius de Argentina unter der Straßburger Ur-
kunde König Philipps vom 18. Juni 1207 (1,121). Ferner 1209
als ex ordine militum: Godefridus Cydelare et Hupertus frater
ejus (122; bisch. Urk.); 1216 Gotefrido et Humherto Cidelariis
(1,131; Urk. des Domkapitels*) und 1218 duöbus fratribus Got-
frido Hunberto Zy deleren (1,134; bisch. Urk.). Wenn Schmidt^)
zweifelte, ob Z. Name oder Beruf sei, so beweisen die Ur-
kunden von 1216 und 1218 das erstere. Ob der Gottfried
von 1207 und 1209 derselbe ist mit dem von 1216 und 1218,
wird zweifelhaft bleiben ; es können auch etwa Vater und Sohn
sein^). Daß man einen von ihnen mit dem Canonicus von
1187 zusammennehmen könnte, wäre chronologisch möglich,
sachlich kaum.
^) S. o. S. 25. Ein Burggraf ist gewiß nichts weniger als ein
-„Graf; aber auch in Magdeburg kommt, wie mir Ph. Heck sagt, ein B.
als Gr. genannt vor.
2) Melker .Seelbuch der Straßb. Kirche, ed. Wiegand, Zs. f. d. Gesch.
des Oberrh. 42, 198.
3) S. 11 f.
*) Über den Zehnten von Sulzmatt, s. o.
ö) Schmidt 12 f.
6) Der Bruder Humbert erscheint noch 1220—1233 (1,149. 152. 154.
156. 184), falls es immer derselbe ist. Er hatte 1233 eine Frau Agnes
und eine Schwester Adelheid von Winstein. Ein Humbert ohne Familien-
namen erscheint 1199 und 1215 (1,118. 129) und kann, da dieser Vor-
name in jener Zeit sonst nicht vorkommt, leicht mit ihm identisch sein.
Dann wäre der Gottfried von 1207 — 1218 gewiß auch immer derselbe.
•1240 erscheint ein Dietrich Zidelarius als Vogt von Schwarzach (1, 231 f.),
1262 ein praebendarius Cidelarius ohne Vornamen (1,350).
36 5. Abhandlung: Hermann Fischer, Gottfried von Straßburg.
Soviel ist nun sicher: wenn wir erwarten dürfen, den
Dichter in den Straßburger Urkunden zu finden, so kann es
nur der Gottfried Zeidler von 1207/1209 oder (und?) 1216/1218
sein. Unser Recht zu dieser Erwartung ist freilich nicht
verbrieft; als möglich darf sie aber hingestellt werden.
Wolfram, Hartmann sind durch keine einzige Urkunde be-
zeugt; aber sie haben auch nicht einem großen Hofe ständig
gedient. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht doch dafür,
daß ein hochgebildeter, für den bischöflichen Hof arbeitender
Dichter in den nicht wenigen Namen der auf uns gekommenen
Straßburger Urkunden sich finden werde. So hätten also,
mutatis mutandis, E. H. Meyer und Hermann Kurz vielleicht
doch Recht gehabt? Hübsch wäre es; ob gerade Kurz sehr
erbaut wäre von der Art, wie er nun doch Recht haben könnte,
kann man zweifeln; den Stadtschreiber und die antiklerikale
Tendenz entbehren zu müssen, würde ihm hart fallen. Aber
unsere Auffassung des Mittelalters ist ja in so vielen Punkten
eine total andere, als die der Romantik oder der ihr folgenden
Generation — und, können wir beifügen, eine richtigere.
Sitzungsberichte
der
Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Philosophisch-philologische und historische Klasse
Jahrgang 1916, 6. Abhandlung
#
Peire Cardinal
ein Satiriker
aus dem Zeitalter der Albigenserkriege
von
Karl Vossler
Vorgetragen am 2. Dezember 1916 ^»*- ' • ♦
München 1916
Verlaj? der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
in Kommission des G. Franz'schen Verlags (J. Roth')
Sitzungsberichte
der
Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Philosophisch-philologische und historische Klasse
Jahrgang 1916, 6. Abhandlung
Peire Cardinal
ein Satiriker
aus dem Zeitalter der Albigenserkriege
von
Karl Vossler
Vorgetragen am 2. Dezember 1916
München 1916
Verlag der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften
in Kommission des 6. Fränz'schen Verlags (J. Roth)
1<
III
Vorwort.
Durch 16 Monate Heeresdienst unterbrochen und durch
die Unerreichbarkeit wichtiger ausländischer Quellen gehemmt,
trägt diese Arbeit vielerlei Spuren des großen Krieges, die
ich in absehbarer Zeit zu tilgen nicht hoffen kann. Eine
kritische Ausgabe der Lieder Cardinais ist vor Jahren schon
von Rena Lavaud in Aussicht gestellt, aber noch immer nicht
veröffentlicht worden. So habe ich mich mit den mannigfach
zerstreuten durch den Druck veröffentlichten Texten und Va-
rianten behelfen müssen. Einige Abschriften aus der Hand-
schrift D in Modena habe ich durch die Güte des Kollegen
Giulio Bertoni erhalten. Wertvolle Winke haben mir auch
Alfred Pillet, Emil Levy und Paul Lehmann gegeben.
Ihnen und besonders Herrn Dr. Johann Georg Leimeister
an der Münchener Hof- und Staatsbibliothek bin ich für ihre
bereitwillige Hilfe zu Dank verpflichtet.
Unter den bedeutenderen Trobadors ist Cardinal der am
wenigsten erforschte. Wie lohnend es aber in wissenschaft-
licher und menschlicher Hinsicht ist, sich in seine Lieder und
seine Persönlichkeit zu vertiefen, kann, wie ich hoffe, diese
Skizze zeigen.
IV
Inhalt.
S«ite
Vorwort III
I. Das Minnewesen ....
1
II. Rügedichtung gegen die Großen .
10
III. Der Beruf des Satirikers
28
IV. Frömmigkeit und Kirchlich keit
46
V. Geistlich -weltliches Lebensideal .
72
VI. Albigenserkrieg und Politik
89
VII. Persönliche und versteckte Satire
119
71II. Die Geistlichkeit ....
127
IX. Der Künstler . .
156
Anhang
178
Nachweis der erörterten Lieder .
193
I. Das Minnewesen.
Die Pessimisten sind nicht häufig unter den Trobadors.
Die meisten von ihnen tun als wäre immerzu Sonntag und
Liebesfrühling. Wenn je der Ernst des Lebens sie erfaßt,
wenn sie alt, unglücklich und fromm werden, so pflegen sie
zu verstummen und sich von der Welt zurückzuziehen. Nur
wenige, wie Marcabru z. B. oder wie Bertran von Born, er-
kennen auch die dunkeln, die wilden und kriegerischen Seiten
des Daseins; aber sie haben selbst daran als an einer Würze
des allzu süßen Lebens ihre Freude. Von gelegentlichen Aus-
brüchen des Mißmuts bleiben freilich die bestgelaunten Sänger
nicht frei; herbe und gar grimmige Sirventese sind uns in
stattlicher Anzahl erhalten; aber von Weltschmerz und tieferer
Müdigkeit finde ich die ersten Spuren — wenn man sich von
den Todesseufzern schmachtender Minnediener nicht will täu-
schen lassen — erst bei einem verhältnismäßig späten Troba-
dor, bei Peire Cardinal. Sein ältester Biograph, Miquel de
la Tor, erzählt, daß „er wohl hundert Jahre alt sein mochte
als er starb", so daß der Wurm etwas langsam an ihm genagt
hätte. In der Tat, wenn man der Stimmung seiner Lieder
nachspürt, so findet man eine zögernde, allmähliche Loslösung
von den natürlichen Freuden und Leiden, ein schrittweises Er-
kalten und Ermüden der inneren Teilnahme am menschlichen
Treiben, eine nur langsam erstiegene Lebensferne.
Geboren in der malerischen Stadt Le Puy, in einer Ge-
gend, deren liebliche Romantik durch den Schäferroman des
Honore d'ürfe verherrlicht ist, stammt Peire Cardinal aus ritter-
lichem Geschlecht. „Als er ein Knabe war, brachte der Vater
ihn in die Canorguia major del Puei; dort lernte er schreiben
und übte sich wohl im Lesen und Singen. Und wie er er-
Sitzgsb. d. philos.-philoL u. d. bist. Kl. Jahrg. 1916, 6. Abb. l
2 6. Abhandlung: Karl Vossler
wachsen war, gefiel er sich in der Eitelkeit dieser Welt, denn
er fühlte sich froh, schön und jung und erfand gar schöne
Texte und schöne Gesänge und dichtete Kanzonen, aber nur
wenige. " ^)
Diese Jugenddichtung kann wohl nur in die Jahre vor
Ausbruch des Albingenserkrieges (1209) gesetzt werden. Im
Jahre 1204 ist uns ein Petrus Cardinalis als „scriba" des Grafen
von Toulouse urkundlich bezeugt.^)
Von Trobadors, die zu dem Hofe des Grafen Raimon VI.
von Toulouse (1194 — 1222) in Beziehung standen, sind Rai-
mon de Miraval, Aimeric de Peguilhan, Aimeric de Belenoi,
Ademar lo Negre, Gui de Cavaillon und Gausbert de Puycibot
neben unserem Cardinal zu nennen. Besonders die drei erst-
genannten^) gehören zu den galantesten Sängern der Spätzeit.
An dem alternden Raimon de Miraval konnte Cardinal aus
nächster Nähe beobachten, wie die Minne ihre leichtfertigen
Diener zu Gecken und Narren macht. Dieser Trobador stand
in einem süßlichen Freundschaftsverhältnis zu dem Grafen von
Toulouse, den er seine Aldigard (mon Audiart) zu nennen und
in Liebesangelegenheiten zu beraten pflegte. Alle drei aber
waren Meister des geistreichen Tändeins mit den gekünstelten
Formen und Motiven des höfischen Minnesangs. Wie hätte
in einer solchen Umgebung nicht auch der junge, im Schrift-
tum wohl bewanderte Cardinal dergleichen versuchen sollen?
1) Peire Cardin als si fo de Yeillac, de la ciutat del Puei Nostra
Domna; e fo d'onradas gens de paratge e fo filhs de ca valier e de
domna. E eant era petitz, sos paires lo mes per quanorgue en la quan-
orguia major del Puei; et apres letras, e saup ben lezer e chantar. E
quant fo vengutz en etat d'ome, el s'azautet de la vanetat d'aquest mon,
quar el se sentit gais e bels e joves. E mot trobet de belas razos e de
bels chantz; e fetz cansos, mas paueas. So erzählt Miquel de la Tor.
Hist. generale de Languedoc X, Toulouse 1885, S. 269. Die Fortsetzung
der Vida S. 10 f., Anm.
2) Ygl. Hist. de Languedoc X, S. 370, Anm. 8.
3) Vgl. Hist, de Languedoc VII, S. 441 ff. die Note LVII von P. Meyer,
les Troubadours ä la cour des comtes de Toulouse und P. Andraud, la
vie et l'oeuvre du Troub, Raimon de Miraval, Paris 1902. Bes. S. 33—35.
Peire Cardinal 3
Uns freilich sind nur die bitteren Nachklänge dieser Jugend-
dichtung erhalten. In fünf Gedichten hat er seine Abkehr
vom Minnedienst gesungen.^) Als erstes dieser Gruppe darf
man vielleicht das folgende ansprechen:
Lo segle vei chamiar,
per que ' m lais de chantar,
mais qe per ren que sia,
que silh que solon dar
vei sofraitos istar
e querer tota via.
[Et] eu que soilh m'amia
e mos bras noit e dia
e tinir e baisar,
car non o pois [plus]^) far,
gardas cals es ma via.
Ma vida, so me par,
non pot gaire durar
qu 'en tal istamen sia,
car eu soil chavalchar
e soen vestirs far,
e gran legor n 'avia,
c'ara non sai qe sia
iois ni chans ni amia.
Be • m dei desconertar
per mala senhioria.^)
^) Es sind nach der Zählung in Bartschs Grundriß zur Geschichte
der prov. Literatur, PJlberfeld 1872, die Nummern 335, 6, 7, 11, 35, 50.
^) Hs.: non o ppois far.
^) Karl Appel, der diese zwei Strophen aus der einzigen Hs. J^iL ver-
öffentlicht hat (Poesies prov. ined. tirees des Ms. d'Italie, Paris und Leip-
zig 1898, S. 64 if.), bezweifelt Cardinais Verfasserschaft und hält das Stück
für eine späte Nachahmung von Bertran d'Alamanons Nr. 76, 11, das
seinerseits mit Gui d'Uisel Nr. 194, 16 und Fraire menre Nr. 159, 1 ver-
wandt ist. — Gewifs kommt der Hs. D keine sonderliche Glaubwürdig-
keit zu, wie sich denn auch unter die dort erhaltene Sirventesensamm-
lung Cardinais ein Lied des Bernhard von Ventadorn eingeschlichen hat.
1*
6. Abhandlung: Karl Vossler
Die Welt verändert sich,
drum bin ich müde nun
um jeden Tand zu singen.
Die Freigebigen sind
in offner Armut jetzt
und müssen selber bitten.
Und ich, der ich die Liebste
bei Tag und Nacht zu küssen
in meinen Armen hab —
nun ich es nicht mehr darf,
seht, was ist das ein Leben!
Mein Leben, wie mich dünkt,
kann mir in diesem Stil
nicht lange weitergehen.
Gewohnt zu Rosse ich
und reich zu kleiden mich,
im Überflüsse immer,
seh ich mir nun entschwinden
Lust und Gesang und Liebe
und sollt' getrösten mich
so schlimmen Regimentes!
Vgl. A. Mussafia, Del codice Estense di rime prov. Sitzungsberichte der
k. k. Akademie der Wiss. philos.-histor. Kl. Bd. 55, 1867, S. 400 ff. und
G. Bertoni, La Ms. prov. 1) et son histoire in den Annales du Midi, XIX,
S. 238 ff. Aber die metrischen Gründe Appels überzeugen mich vor allem
deshalb nicht, weil mir das Lied des Bertran d'Alamanon Lo segle m 'es
camiatz alle Kennzeichen einer erweiternden und komplizierenden Nach-
ahmung unseres in Frage stehenden viel einfacheren Stückes zu haben
scheint. Daß in dem strophischen Schema der Reim auf -atz nur des-
halb, weil er in den drei anderen Gedichten vorkommt, ursprünglicher
sein soll als der auf -ar, der nur in dem des Cardinal steht, will mir nicht
einleuchten. Nach Salverda de Grave, Le troubad. B. d'Alamanon, Tou-
louse 1902, S. 41 ff., hätte Bertran sein Sirventes zwischen 1252 und 1262
gedichtet. Wenn unser Stück eine Nachahmung davon wäre, so müßte
es in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden sein und könnte,
wie Appel überzeugend darlegt, dem Cardinal schwerlich mehr zuge-
schrieben werden, denn, nach menschlichem Ermessen kann er es nur
Peire Cardinal ' 5
Er scheint sich dennoch getröstet zu haben. In dem Lied
Ben tenh per fol e per muisart (Nr. 11)^) ist er im Begriff die
Bitterkeit des Verzichtes zu verwinden.
Seine Freundin, sagt er, habe ihn verraten, bleibt aber
so ruhig dabei, daß man zweifeln darf, ob er damals eine ge-
habt hat und nicht viehnehr einen Kasus konstruiert, um die
Sache, die ihm kein Erlebnis mehr war, als grundsätzliche
Frage abzuhandeln. Er kommt zu dem Schluß, daß die echte
Minne auf Gleichheit und Gegenseitigkeit in der Treue wie
in der Leistung beruht.
Qui dona mais que non rete,
ni ama mais autrui de se
chauzis avol partia . .
Wer hingibt mehr als er behält
und andre mehr liebt als sich selbst,
erwählt die schlechte Hälfte.
Froh sich selbst zu gehören und nicht mehr den Launen
einer Kokette ausgeliefert zu sein, kann er nun mit spieleri-
schem Scherz das ganze Minne wesen verlachen. Er parodiert
es in dem Lied Ar mi posc eu laumr d'amor (Nr. 7)^) und
tut als lägen alle galanten Eitelkeiten bergetief unter ihm.
Dabei kann er sich mit Wiederholungen, Häufungen der Worte
und Alliterationen der übertriebensten Art nicht genugtun und
klammert sich an den ohrfälligen närrischen Zierat einer sinn-
lichen Kunst, deren Geist er sich rühmt überwunden zu haben.
als junger Mann, also ungefähr in den ersten Jahren des 13. Jahrhun-
derts gedichtet haben. Dem Inhalte nach schließt sich das Lied, wie
Appel selbst zugeben muß, zwanglos und natürlich an andere ähnliche
Äußerungen Cardinais über die Minne an. Es liegt somit kein stich-
haltiger Grund vor, um D zu mißtrauen und Cardinais Verfasserschaft
zu bezweifeln.
^) Gedruckt bei Raynouard Choix des poes. orig. des troub. III, 436,
Mahn, Werke der Troub. II, 210 und Parn. occit. 306.
2) Gedruckt bei Rayn. Choix III, 438 und Mahn, Werke II, 209 u.
in Bartschs Chrestomathie proven9ale^. Sp. 172 f.
6 "« 6. Abhandlung : Karl Yossler
Man fühlt, daß der Humor noch nicht rein und der Künstler
noch nicht frei ist. Etwas Ahnliches gilt von dem Rügelied
gegen höfische Liebedienerei Aquesta gens quan son en lor
gaie^a (Nr. 6)^), das mit Alliterationen, mit Binnenreim und
Wortspiel gespickt, ein sittliches Ideal von Minne (fina amors)
und höfischem Leben gegen die entartete Wirklichkeit auf-
stellt. Befangen und mißmutig gegen weibliche Buhlerei er-
scheint der Dichter auch in dem groben Couplet noch, mit
dem er dem Hugo de Maensac die Freude am Frauendienst
vergällt.^) Einen höheren Standpunkt aber hat er mit dem
Liede S'ieu fos amatz o ames (Nr. 50)^) erstiegen. Da ich einen
kritischen Text davon nicht zu geben vermag, muß der Leser
sich mit einer sinngemäßen Übersetzung begnügen:
Liebt' ich oder würd' geliebt,
sang' ich wohl von Zeit zu Zeit.
Aber, da es so nicht ist,
wüßt' ich nicht, wovon ich sang'.
Hab ja keinen Grund. —
Doch mir liegt im Sinn:
ich versuch einmal
wie ich singen will,
wann ich eine Liebste hab.
Von der Welt der feinste Buhl
wollt ich meiner Freundin sein.
Wenn sie gleich nicht willig war,
blieb' ich immer doch ihr Knecht.
Schon einmal geliebt
hab ich ja und weiß
^) Vgl. dazu den Anhang I.
2) Siehe P. Meyer, les derniers troub. d. Provence, Biblioth. d. l'ecole
des Chartes, T. V., 6. serie, Paris 1869, S. 274 f. Ebenda S. 475, Anm. 3,
wird eine minnefeindliche Strophe mitgeteilt, die in der Hs. f unter Car-
dinais Name steht, aber ohne Bedeutung ist.
3) Mahn, Gedichte Nr. 1248 und 1249. Das Schema der Reime ist
auf Grund der gedruckten Hss. / und M nicht wiederherzustellen.
Peire Cardinal 7
wie der Liebe Brauch,
wie ich lieben muß,
wenn ich noch einmal es will.
Dem, der Liebe säen wollt'
lohnte sie mit reicher Frucht:
für ein Körnchen gab' sie drei,
mehr als zehn für eine Gunst,
zwanzig für ein Halb,
und aus einem Glück
sprießten hundert auf,
bis ich jubelte:
„Tausendfältig ernt ich nun!" — •
Doch es sinkt der Minnedienst,
weil der Edle drin verliert,
der Gemeine nur gewinnt,
und die hochgepriesne Frau
läßt den Edeln flehn,
schenkt dem Schlechten sich.
Schmeichler wird belohnt,
Edelmann gefoppt,
Drum hab ich kein Frauenlob.
Um eine so lieblich geschwungene Gefühlskurve zwischen
Wunsch und Verzicht, Erinnerung und Entsagung zu ziehen,
muß man im Herzen ein Veteran und in der Phantasie noch
Jüngling sein.
Daß er das letztere geblieben ist, mag das merkwürdige
Spottlied gegen Esteve de Belmon beweisen Un sirventes tra-
metrai per message (Nr. 68), das, wie man es immer datieren
will, zweifellos erst nach 1212 gedichtet wurde. ^) Nachdem
Cardinal Verräterei, Zerstörungswut und Habsucht der Geist-
lichkeit, insbesondere des Esteve aufs Blut gegeißelt hat, macht
er in der Schlußstrophe für seine Person das Geständnis, daß
ihm der Sinn nicht nach Besitz, wohl aber nach den Umar-
Vgl. Anhang IL
8 6. Abhandlung: Karl Vossler
mungen einer unberührten Jungfrau stehe. Buchstäblich oder
gar moralisch^) ist dieser an und für sich wenig charakter-
istische Wunsch kaum zu nehmen. Ich glaube, er gewinnt
seinen tieferen humoristischen Sinn, wenn man bedenkt, wie
der geizige Esteve sich in der Liebe mit einem rothaarigen
alten Weib zu begnügen pflegte.^)
Es scheint, daß Cardinal weniger durch Enttäuschungen
und bittere Erlebnisse als durch Vernunft und Selbstbesinnung
sich langsam, ohne Haß und Gewalt, aus den Netzen des
Minnewesens gelöst hat. Er ist nie, soviel wir wissen, zu
eifernden oder rohen Ausfällen gegen den Frauendienst ver-
schritten, wie Sittenprediger und alte Sünder tun. Wo er die
Minne tadelt, hat er es auf deren Entartung in Buhlerei und
Prostitution abgesehen.^) Im übrigen gelten ihm Liebe und
Fröhlichkeit geradezu als sittliche Mächte.
leu laus e pretz hon' amor drechureira
ab cortes faitz et a bei' esperansa,
non ges amor falsa ni messorgueyra
que • 1 derriers caps repren la comensansa —
, aquel' amors que notz als amoros,
que on mais serf meyns val lo guazardos,
amors que merma on plus si enansa.*)
Ich lobe hoch die gut' und rechte Minne,
die schöner Hoffnung ist und edler Sitte,
doch nicht die falsche, lügnerische Liebe,
deren Beginn dem Ende widerstreitet,
nicht jene, die den Liebenden betrügt,
1) Appel, poes. prov. ined. tirees des mss. d'ltalie, S. 65.
2) Vgl. die 4. Strophe des Sirventes IfEsteve de Belmon m'enueia
(335, 19. Mahn, Gedichte 762 und 763).
3) Vgl. 335, 30 Las amairitz, qui encolpar las vol (Nr. 78 in Appels
prov. Chrestomathie) und 335, 63, Strophe 5 Domneis es melhuratz mot
fort (Rayn. Choix IV, S. 441 f. und Mahn, Werke II, S. 199) und 335, 39,
Strophe 5 (Lexique roman, S. 454 und Mahn, Werke II, S. 228).
4) 335, 24, Strophe 4 (Mahn, Gedichte 1241, 1242).
Peire Cardinal 9
wo langer Dienst den Lohn verkürzt,
nicht jene, die im Wachsen kleiner wird.
Ja, ich finde bei Cardinal sogar — was bisher niemand
meines Wissens, beachtet hat — einen Ansatz zu der mysti-
schen Auffassung Amors als eines religiösen Wesens.
Caritatz es en tan belh estamen,
que Pietatz la resenh e la clau,
Vertatz la vol, Dreitura la congau,
Merces la te, e Patz la vay seguen;
Poders la defen
Sabers l'es amicx
e Bontatz abricx —
sus, el gra aussor
ab lo dieu d'amor,
cuy esperitz armatz ve
ab los huelhs clars de la fe!^)
An einem schönen Ort wohnt Caritas,
von Mitleid ganz beschlossen und umringt,
Wahrheit und Recht besuchen, grüßen sie,
und Gnade steht ihr bei und Friede folgt;
Macht verteidigt sie,
Weisheit ist ihr Freund,
Güte ist ihr Schirm —
Droben in der Höh,
wo den Gott Amor
der gestärkte Geist erblickt,
dem der Glaube klärt das Aug.
Vor diesem allegorischen Hofstaat findet ein Streitgespräch
zwischen Recht und Unrecht (Breite und Tortz) statt, und das
Gedicht schließt mit einer Widmung an edle Liebende:
1) 335, 13. Raynouard, Lex. rom. I, S. 457 und Mahn, Werke IT,
215 f.
10 6. Abhandlung: Karl Vossler
A belh amador
que a belh' amor
a doiiat son cor e se
ai donat m'amor e me.
Feinen Liebenden,
die der feinen Lieb'
ihre Herzen weih'n und sich,
weih' ich meine Lieb und mich. —
Man fühlt sich auf jene geheimnisvolle Kanzone Dantes
hingewiesen, wo, ebenfalls in Gegenwart des Liebesgottes, die
Gerechtigkeit ihre Klage führt: Tre donne intorno dl cor mi
son venute. Amor, dessen übliches Gefolge Cortezia, Largesa,
Jois und Solatz waren, in die christliche Gesellschaft von Cari-
tas, Miserlcordia, Justitia und Fax zu bringen, konnte nur ein
philosophisch und theologisch gebildeter Trobador sich bei-
kommen lassen. Vielleicht ist Cardinal der erste, der es getan
hat. Seit der berühmten ersten Predigt des hl. Bernhard in
festo annunciationis beatae Mariae virginis ist in der mysti-
schen Literatur das Schema des Rechtsstreites vor versammelten
christlichen Tugenden beliebt.^) Die unmittelbare Quelle Cardi-
nais ist mir leider nicht gelungen zu finden.
IL Rügedichtung gegen die Grossen.
Indem Cardinal vom Minnesang sich abwendet, um nur
das Rügelied und die Lehrdichtung noch zu pflegen, gelangt
er in eine Art Mittelstellung zwischen Trobador und Kleriker.
Ob er ausübender Priester war, ob er je den geistlichen Stand,
für den er erzogen worden, verlassen hat, wissen wir nicht.
Äußerlich scheint er am Leben des Hofes, zuerst im Gefolge
Raimunds VI., dann des VII. von Toulouse teilgenommen zu
haben. Sein Biograph erzählt, er habe die besondere Gunst
des Königs Jakob I. von Aragon genossen.^) Da dieser länger
1) Vgl. Giulio Salvador!, Sulla Vita giovanile di Dante, Rom 1906,
S. 175 ff.
2) . . . e fetz mans sirventes, e trobet los molt bels e bons. En los
quals sirventes demostrava molt de bellas razos e de bels exemples, qui
Peire Cardinal 11
als 60 Jahre regiert hat (1213—1276), so ist für eine zeit-
liche Begrenzung der Tätigkeit unseres Dichters wenig damit
anzufangen.
Das Gegebene für Cardinal war es, an die Kunstübung
anderer Trobadors, die sich in der moralischen und persön-
lichen Rügedichtung hervorgetan hatten, anzuknüpfen. Man
sollte erwarten, daß er sich dabei vor allem an diejenigen
hält, die, wie er selbst, halb Trobador, halb Kleriker waren.
Dem ist nun aber nicht so. Marcabru lag ihm zeitlich und
auch, was Stil und Stimmung betrifft, ferne. Einige volkstüm-
liche einfache Strophenformen könnte er ihm entnommen haben, ^)
sowie die längst zum Gemeinplatz gewordene Gegenüberstel-
lung von wahrer und falscher Minne (fina amors und drudaria).
Auch zu Peter von Auvergne steht er in keinem näheren Ver-
hältnis, so sehr die gelehrte und geistliche Richtung dieses
Sängers ihn hätte anziehen müssen.^) Viel stärker und nach-
haltiger läßt er sich von dem junkerhaften Bertran von Born
beeinflussen. Geradezu sklavisch ahmt er ihn nach in dem
Kriegslied Tendatz e traps, alcubas, pabalhos (Nr. 56), das,
obgleich nur lückenhaft überliefert, ziemlich deutlich auf eine
bevorstehende Belagerung von Lectoure hinweist.^) Eine offen-
ben los enten, quar molt castiava la follia d'aquest mon; e los fals cler-
gues reprendia molt, segon que demostron li sieu sirventes. Et anava
per cortz de reis e de gentils barons, menao ab si son joglar que can-
tava SOS sirventes. E molt fo onratz e grazitz per mon seignor lo bon
rei Jacme d' Aragon e per onratz barons. Et ieu maistre Miquel de la
Tor, escrivans, fauc a saber qu'en Peire Cardinais, quan passet d'aqaesta
vida, qu'el avia ben entorn de cent ans. Et ieu sobredig Miquel ai aquestz
sirventes escritz en la ciutat de Nemze. Hist. gen. de Languedoc X,
S. 269.
1) Es handelt sich hauptsächlich um die Stücke 335, 27 und 42.
Im übrigen vgl. F. W. Maus, P. Cardinais Strophenbau in seinem Ver-
hältnis zu dem anderer Troub. Marburger Ausg. u. Abhandl. 1884.
'^) Nur das Reimschema zu 335, 20 scheint dem Peter von Auvergne
(De josta ' h breus jorns e ' Is loncs sers, Nr. VI in Zenkers Ausgabe) ent-
lehnt zu sein.
3) Das Vorbild ist Bertrans Miei sirventes Nr. 26 in Stimmings
kleiner Ausgabe, Halle 1913.
12 6. Abhandlung: Karl Vossler
kundige Nachbildung von Bertrans berühmtem Schlachtgesang
Be'm platz lo gais temps de pascor ist ferner Cardinais Änc
mais tan gen no vi venir pascor (Nr. 4), vorausgesetzt, daß ihm
wirklich die Verfasserschaft zukommt.^) Durch ihren scho-
nungslosen, wilden Hohn erinnern besonders die drei Sirven-
tese, die Cardinal gegen einen gewissen Stephan von Belmon
geschleudert hat (Nr. 19, 65 und 68 [= 22]), an Bertran von
Born. Hier allerdings wird die Nachahmung freier und läßt
sich, wenn man vom Ethos absieht, nur an einigen Äußerlich-
keiten noch erkennen, an Strophenbau und Reim oder an der
herausfordernden Wiederholung des Namens zu Anfang jeder
Strophe.^) Auch in den scharfen Ausfällen gegen die Feinde
der Albigenser klingt hin und wieder der drohende Kriegs-
ton Bertrans noch an.^) — Demgegenüber tritt der mildere
und gebildetere Meister des Sirventes, Girant von Bornelh,
^) Das Lied ist in den Hss. C und F enthalten, von denen die erste
es dem Cardinal, die zweite dem Bernart Arnaut de Moncuc zuweist.
Mögen auch einige stilistische Gesichtspunkte für Cardinal sprechen (vgl.
Maus a. a. 0. S. 61), so könnte doch ebensogut, ja noch eher, F recht
behalten. Das Reimschema scheint einem Lied des Aimeric von Pegul-
han (15) Seih que s'irais ni giierreya ab Amor entlehnt zu sein, das, der
letzten Strophe zufolge, nach der Kaiserkrönung Friedrichs IL (1220) ge-
dichtet ist. Daß der metrisch so wenig erfinderische Cardinal sich das
Schema selbst gezimmert hat, ist ebenso unwahrscheinlich, wie daß er
nach 1220 noch Lust zu Kampfgesängen hatte. Der höchst unchrist-
liche Wunsch
Belh m'es quan vey boyer e pastor
van si marrit qu 'us no sap vas o s'an, . . .
wenn er gleich nur eine Reminiszenz aus Bertran de Born ist, muß im
Munde Cardinais, des Fürsprechers der Armen, aufs höchste befremden.
Viel besser könnten wir ihn bei Bernart Arnaut verstehen, da er in
seinem zweiten Liede: Er quan li rosier uns wiederum als ein kampf-
lustiger und sehr grimmiger Herr erscheint.
2) Man vergleiche Cardinais D'Fsteve de Belmon m'enueia (Mahn,
Ged. 762 und 763) mit Bertrans Rassa, tan er eis e nionta e poia.
^) Cardinais Per fohls tenc Polles e Lomhartz (40, Mahn, Werke II,
S. 194) ist in Strophenbau und Reim nach Bertrans Ges de far sirventes
no ' in tartz gearbeitet. Ausschließlich formal ist der Zusammenhang
zwischen Cardinais Totztemps azir falsedat et engan (57, Mahn, Werke IT,
S. 195) und Bertrans Quaii la novela flors par el verjan.
Peire Cardinal 13
einigermaßen zurück. Vielleicht war er ihm zu schwatzhaft,
zu gutmütig, nicht scharf genug. Eigentümlich mutet es an,
zu sehen, wie Cardinal seine Verhöhnung des Minnedienstes
Ar mi posc eu lauzar d'amor ganz in den Reimen und dem
Silbenmaß von Girauts berühmtem Liebestraum vom gezähmten
Falken (No pos sofrir) gefertigt hat. Sogar die Melodie hat
er übernommen,*) seis aus Bequemlichkeit, seis um sein Vor-
bild zu parodieren. Ein andermal entlehnt er die metrische
Form für ein sarkastisches, versteckt persönliches Straf lied
(L'arcivesques de Narbona Nr. 29) einer braven, ziemlich ein-
tönigen und hausbackenen allgemeinen Moralisation des Giraut
(Tals gen prede' e sermona). Freilich, auf moralischen Gemein-
plätzen begegnen sich die beiden. Man könnte unschwer eine
stattliche Liste von Sprüchen aufstellen, in denen jeder von
ihnen mit etwas anderen, z. T. auch ähnlichen Worten unge-
fähr das gleiche lehrt: nämlich daß mit dem Verfall der ritter-
lichen Minne Freigebigkeit, Fröhlichkeit, Wahrhaftigkeit, Groß-
mut und alles Gute aus der Welt entschwunden und Geiz,
Raub, Trug und Lug zur Herrschaft gelangt seien. ^) Während
aber Cardinal in diesen Mißstand sich tief und tiefer hinein-
wühlt, bis er zu einer pessimistischen und dualistischen Welt-
anschauung kommt, weiß Giraut sich leicht zu trösten und be-
ruhigt sich bei der irdischen Mischung von Licht und Schatten.
Wo jener voll Ironie ist, hat dieser nur gutmütigen Humor.
Ganz und gar nicht nach Cardinais unversöhnlichem Sinn
klingt der Grundsatz des Giraut:
Que no m'azaut de trop sen,
n'en trop foldat no m'enten.
Pero sens, pretz e folia
chascus a sas vetz
1) Beck, Die Melodien der Troub., Straßburg 1908.
2) Wie oft kehren bei Cardinal die Gedanken wieder, die Giraut in
seinen Sirventesen Per solatz revelhar, Tals gen prezich' e sermona und
No' s pot sofrir ma lenga (Nr. 65, 67, 69 bei Kolsen) ausgesprochen hat;
aber die Stimmung, und auf diese kommt es in der Dichtung an , ist nicht
mehr dieselbe.
14 6. Abhandlung: Karl Vossler
qui be ' Is assembla ni * Is tria,
segon mo veiaire.^)
Zuviel Weisheit mag ich nicht,
zuviel Narrheit trag ich nicht,
Weisheit, Tugend, Narrheit haben
jedes seine Zeit,
wenn nian's richtig mischt und scheidet:
so ist meine Meinung.
Gerade damit, daß jedes Ding seine Zeit hat, daß Gut
und Böse in buntem Wechsel durcheinanderlaufen und alle
Werte nur in irdischer Trübung sich verwirklichen, kann Car-
dinal sich nicht abfinden. Zu tief schon hat er spekuliert,
um das Leben noch nehmen zu können, wie es ist. Mit dok-
trinärer Schärfe faßt er es an. Alles zergliedert sich ihm in
Schein und Sein, Wahr und Falsch, Gut und Böse, Wert und
Unwert. Statt der Dinge sieht er deren Begriffe und Ideale
und kann zu der Wirklichkeit kein freundliches Verhältnis
mehr gewinnen. Bald wird die Lust am Abstrahieren ihn un-
glücklich machen.
Zunächst mag es nur ein spielerischer Trieb seines Ver-
standes gewesen sein, was ihn bewog, die üblichen alten The-
mata der Lehrdichtung wieder aufzugreifen; und er mag sich
gefreut haben, wie viel klarer, leichter, eleganter, übersicht-
licher ihm das Räsonieren von der Hand ging, wie viel besser
als Marcabru und Peter von Auvergne er mit Begriffen und
Worten fertig wurde, wie viel schärfer und spitzer als dem
Girant von Bornelh ihm die Antithesen und Parallelen gelangen.
Dieses Bemühen, mit Anmut und Leichtigkeit die Strenge
des Tadels und die Höhe der Sittenlehre vorzutragen, tritt
mehr oder weniger in sämtlichen Liedern Cardinais zutage,
am handgreiflichsten aber in einer Gruppe von Sirventesen,
die ohne fühlbare und nachweisliche Bezugnahme auf bestimmte
Personen und Verhältnisse die durchschnittliche und allgemeine
^) Nr. 49, Strophe 3 in Kolsens Ausgabe.
Peire Cardinal 15
Niederträchtigkeit der weltlichen Gesellschaft, insbesondere der
Großen und Reichen rügt, also das alte seit Marcabru be-
liebte Thema behandelt. Es sind gegen zwanzig Gedichte,
die gewiß nicht alle derselben Zeit angehören, denn in den
einen herrscht noch die Rittermoral vor, während in den an-
deren, offenbar späteren, die Denkart des Geistlichen mehr zur
Geltung kommt.^) Wie dem auch sei, das Bedeutsame liegt
für uns zunächst darin, daß Cardinal sein Auge ganz auf die
Widersprüche, Gegensätze, Paradoxien, Unstimmigkeiten des
menschlichen Treibens einstellt, daß er fast ausschließlich mit
objektiven Kontrasten arbeitet. Die Begriffspaare: Schande
und Ehre, Nehmen und Geben, Reich und Arm, Unrecht und
Recht, Verrat und Treue, Lüge und Wahrheit, Narrheit und
Weisheit, Mißmut und Frohsinn, Hochmut und Bescheidenheit
wird er nicht müde, auf vielerlei Art in Reih' und Glied
zu bringen.
Si tortz fos dretz, ni enians lealesa,
ni tolres dars, ni lagz peccatz merces,
ni amt' honors, ni cobeitatz largesa:
als crois malvatz fora ' 1 segles ben pres. (Nr. 8, Str. 5.)
Oder: Si tolre fos caritatz
e messonguas fosson vers
e si pezars fos plazers
et erguelhs humilitatz
e tortz chauzimens
et enueg essenhamens
e malvolers amistatz:
assatz son de pozestaz
que pogron caber
ab Dieu per aital poder. (Nr. 33, Str. 2.)
E * 1 sen tenon a folhia
e'l dreit tornon en biais. (Nr. 41, Str. 1.)
1) In der Hauptsache sind es die Nummern 2, 3, 8, 17, 18, 20, 24,
32, 33, 34, 36, 38, 39, 41, 45, 46, 49, 57, 61.
16 6. Abhandlung: Karl Vossler
Que dels vicis cuion sian vertut
e del mal ben, so lor es a veiaire.
Que'ls pros son blasman
e'ls malvatz prezan. (Nr. 2, Str. 3.)
.... als toledors
a cui sens par foillia
e blasmes lauzors
e tortz far gaillardia
et anta honors
et enois cortesia
e donars dolors
e tolre doussors
e chans l'autrui plors
e ioi l'autrui feunia
e l'autrui ciamors. (Nr. 38, 2.)
.... barons mesquis,
paubres d'amor e de feunia ricx,
sors en erguelh, en valor deschazetz,
amicx de tort e de Dieu enemicx.
trebalh dels bos e dels layros abricx,
cautz de tortz far, e de caritatz frez,
ricx en raubar, et en donar mendicx.
(Nr. 20, Str. 1 u. 2.)
Hora Dieu temens non aura ia nessieyra,
e * 1 non temens aura greu aondansa,
car l'us es larcx e viu de sa paubreyra,
l'autr'es avars en sa melbor estansa.
que'l gran avers ten son don cossiros,
e'lh bon'amors alegre e ioyos. (Nr. 24, Str. 2 u. 3.)
Assatz es viltatz
de condugz e de blatz,
Peire Cardinal 17
mas d'amor es falensa
e de fagz honratz;
et es petit amatz
hom paubres e coytatz,
e troba bevolensa
lo rics e-1 sobratz. (Nr. 32, Str. 5.)^)
Lo sabers d'aquest segle es foudatz . . .
Qu'eu vei qu'il ric son savis apellatz
e * 1 paubre son fols e caitius clamatz
La riqueza d'est segl'es paubretatz.
(Nr. 34, Str. 1 u. 2.)
Rics bom, quan vai per carreira,
el ha una companeira,
Malvestat, que vai primeira
e mejana e derreira;
e grans Cobeitatz enteira
li fai companhia,
En Tortz porta la senheira
et Orgolhs la guia. (Nr. 45, Str. 2.)
Deissen Valors
e dechai quascun dia,
et Engans sors
e nais e multiplia;
^) Derselbe Gedanke fast in denselben Worten in dem von Appel,
Provenz. Inedita, Leipzig 1890, S. 332, herausgeg. Stück 461, 236, Str.4.
Assas es pel mon grans vieutatz
de rrix maniars e de condut,
ciaras aiguas s'an corregut,
de blatz e de vins s'a viutatz,
mas d'amor a gran faillimen
e de fatz d'onor, veramen,
ez homps paures ven en azir
e decassatz, si ver vol dir.
Ob Cardinal oder einer seiner Nachahmer der Verfasser ist, läßt sich
nicht entscheiden.
Sitzgab. d. philos.-philol. u. d. bist. Kl. Jahrg. 1 9 1 6, 6. Abb. 2
18 6. Abhandlung: Karl yossler
e mor Amors
el mon, e nais Feunia,
et es lauzors
blasmes, e sens folhia. (Nr. 46, Str. 5.)
Que'ls US dechai Lialtatz mantas vetz,
e'ls autres sors Enjans e Malafes. (Nr. 57, Str. 1.)
Die Beispiele ließen sich gewaltig vermehren, wenn wir
in andere Gruppen hinübergreifen und sie aus den gegen die
Minne, gegen die Geistlichkeit, gegen einzelne Personen ge-
richteten Sirventesen, aus den Sermons und Ensenhamens un-
seres Dichters herausholen wollten. Ein Lied unserer Gruppe
aber ist geradezu eine Sammelstelle begrifflicher und sprach-
licher Antithesen und Parallelen (Nr. 49).
Ricx hom que greu ditz vertat e leu men,
e greu vol patz e leu mov ochaizo,
e dona greu e leu vol qu'om li do,
e greu fai be e leu destrui la gen,
e greu es pros e leu es mals als bos,
e greu es francx e leu es orgulhos,
e greu es larcs e leu toi e greu ren,
deu cazer leu d'aut luec en bas estatge.
De tals en sai que pisson a prezen
et al beure rescondo's dins maizo;
et al manjar no queron companho,
et al talhar queron en mais de cen,
et al ostal son caitiu e renos,
et a tort far son ric e poderos;
et al donar son de caitiu prezen,
et al tolre fort(z) e de gran coratge.
Malditz es hom qui ' 1 ben laissa e ' 1 mal pren,
e*l(s) ric(x) an pres enguan e tracio,
et an laissat condug e messio;
et an pres dan e gran destruzimen,
Peire Cardinal 19
et an laissat lays e vers e chansos;
et an pres plaitz e novas e tensos,
et an laissat amor e pretz valen,
et an pres mal voler e far outrage.
Aissi cum son maior an meyns de sen
ab mais de tort et ab meyns de razo,
ab mais de dan teuer, ab meyns de pro,
ab mais d'orguelh, ab meyns de cauzimen.
ab mais de tolr' et ab meyns de bels dos,
ab mais de mais, ab meyns de bels respos,
ab mais d'enueg, ab meyns d'ensenhameu,
ab mais d'enguan, ab meyns de bon coratge.
Ära diguatz, senhor(s), al vostre sen
de dos barons quäl a maior razo,
quan l'us dels dos pot dar e tolre no,
l'autre pot tolr'e dar no pot nien:
ar diran tug que dars val per un dos,
e veyretz los tolre totas sazos;
a que far doncx van emblan ni tolen,
pus lo donars a dos tans d'avantage?
Mos chantars es enueg als enoios
et als plazens plazers, cui platz razos;
tug li dig son enoios e plazen:
so qu'als us platz als autres es salvatge.
Versmaß, Reime und Melodie zu dieser frostigen Morali-
sation hat Cardinal einer galanten Huldigungskanzone des Rai-
mon Jordan (404, 11) entlehnt. Sein Eigen ist weder die
Form noch der Gedankengehalt. Nur in der hartnäckigen
Freude am Unterstreichen und Häufen der Gegensätze liegt die
persönliche Note. Dazu bedient er sich vorzugsweise syntakti-
scher Mittel,^) zuweilen auch des Reims, des Binnenreims^)
1) So in Nr. 21, 66, 31, 6, 12.
2) Binnenreim hat man in Nr. 2, Str. 5, Nr. 6, Str. 4 und 5, Nr. 51.
Durch Reim sind die Antithesen besonders in 36 unterstrichen.
2*
26 6. Abhandlung: Karl Yossler
und der Alliteration.^) An und für sich sind solche Kunst-
griffe nicht neu, wie überhaupt, was das Formale, Akustische
und Musikalische betrifft, Cardinal sehr wenig erfinderisch war.
Unter den 69 Gedichten, die Bartsch als dem Cardinal gehörig
in seinem „Grundriß" aufführt, hat Maus nur etwa neun ge-
funden, deren Strophenbau im besten Falle originell sein könnte.
Inzwischen haben Appel und Ristori drei weitere Entlehnungen
festgestellt.^) Von den drei unter Cardinais Namen erhaltenen
Melodien sind zwei als übernommen erwiesen. Viel eher als
schöpferisch ist Cardinal virtuos in der äußeren Form. Es
fehlt ihm an tiefem Empfinden für sprachliche und melodische
Harmonie. In dieser Hinsicht steht er weit hinter Marcabru,
Bernhard von Ventadorn, Arnaut Daniel, Peirol u. a. zurück.
Man möchte sagen, es fehlt ihm die Andacht zum Laut und
Klang. Wohl kennt er deren Wirkung und weiß sie auszu-
nützen; aber er tut es mit einer Absichtlichkeit, die bald als
Effekthascherei, bald als geriebene Respektlosigkeit und Ironie
gegen die sinnlichen Schönheiten der Dichtkunst und des Ge-
sanges anmutet. Er soll ja auch seine Lieder nicht selbst ge-
sungen, sondern durch einen Spielmann haben vortragen lassen.
Wir haben gesehen wie er ein Spottlied gegen den Frauen-
dienst nach der Melodie eines Liebestraumes gehen ließ; und
immer wieder macht dieser bittere Intellektualist gerade bei
den süßesten Melodikern und Sprachkünstlern, bei Bernhard
von Ventadorn vor allem,^) bei Rudel, Vidal, Faidit, Peirol u. a.
seine Anleihen. Eines seiner grimmigsten und berühmtesten
Straf lieder gegen die Geistlichkeit Taratassa ni voutor (Nr. 55)
hat Strophenbau und Reim von Bernhards Liebeslied Era'm
cosselhatz, senhor, ein Gesang der Menschenverachtung D^un
sirventes faire no'm tuolh (Nr. 17) geht nach Bernhards Can
par la flors josta'l vert folh. Erst in seinen spätesten Dich-
1) Vgl. Martin Scholz, Die Alliteration in der prov. Lyrik, Zeitschr.
für rem. Phil., Bd. 37 (1913), S. 418f.
2) Siehe Appel, Provenz. Inedita, S. 227, Poes. prov. ined. S. 67 und
Beck, Die Melodien der Troub.
3) Vgl. Bern, von Vent. Ausg. Appel, Halle 1915, S. CVIIIff.
Peire Cardinal 21
tungen scheint Cardinal auf diese unreinen, buhlerischen Wir-
kungen verzichtet zu haben. Kaum ein anderer Trobador ist
in den Anforderungen an die Form sich selbst gegenüber so
ungleich gewesen. Bald erscheint er gesucht im höchsten
Grad, bald ebenso nachlässig. Das eine Mal kann er am Reim-
geklingel sich nicht genugtun, ein andermal begnügt er sich
mit unvollkommenem Gleichklang und Assonanz.^) Allerlei
Strophen, von den geklügeltsten bis zu den volkstümlichsten,
hat er versucht.
Von dieser Seite her ist seiner Eigenart schwer beizu-
kommen, denn eher als ein sinnliches war er ein philosophi-
sches Temperament.
Wenn wir zu der oben bezeichneten Gruppe seiner allge-
meinen Rügelieder zurückkehren, so finden wir, seinen Vor-
gängern gegenüber, das Neue vor allem darin, daß er nicht
aus mißmutiger Stimmung oder Laune, nicht aus persönlichem
Ärger, sondern aus sittlichem Haß und moralischem Ethos
schöpft. Es sind keine Temperamentsausbrüche wie bei Mar-
cabru, keine Elegien wie bei Girant von Bornelh mehr. Auch
von plötzlichen Übergängen aus den eigenen Angelegenheiten
zu denen der menschlichen Gesellschaft, wie Vidal sie liebte,
ist wenig mehr zu merken.'*) Der Dichter steht überhalb
der Dinge, ist kühler, klarer, weniger mit sich selbst beschäftigt
und eben darum den allgemeinen Werten, dem Idealen, viel
zugänglicher. All' seine Vorgänger im Rügelied stehen sich
mit ihrer Subjektivität selbst im Licht. Er erst versteht es,
beiseitezutreten, und ist, dank dieser Sachlichkeit, der Meister
einer Satire geworden, die nicht aus wandelbarem Belieben,
sondern aus den Unstimmigkeiten, Mißverhältnissen und Irratio-
nalitäten der menschlichen Welt selbst hervorgeht. Der stummen
*) Z. B. in Nr. 27 marrida : ajuda, tempre : ventre, tremblas : rendas,
esforsas : remordas : deportas, enfrunas : enduras, delieitas : penras und in
dem Lehrgedicht De paraulas es grans mercatz escout : mot.
*) Vgl. meine Studie über Marcabru, Sitzungsberichte der K. B. Aka-
demie der Wissenschaften 1913, 11. Abb. S. 22. Das einzige Gedicht Car-
dinais, bei dem die einheitliche Idee nicht ersichtlich ist, dürfte Nr. 30
Las amairitz sein.
22
Ironie, die den Dingen innewohnt, verhilft er zur Sprache.
Vor ihm war das Sirventes bald Loblied, bald Schmählied,
manchmal beides zugleich. Durch ihn wird es in eine be-
schaulichere Klarheit, in eine Luft, die keineswegs milder, aber
ruhiger, durchsichtiger und schneidender ist, erhoben. Er tritt
nicht als Ankläger und Verteidiger, sondern wesentlich als
Richter, Kritiker und Arzt auf. Er zeigt die tiefsten Schlag-
schatten der Welt, indem er sie mit dem Lichtstrahl der
Ideale trifft.
Zwei Gedanken vor allem, die keineswegs neu, aber doch
in der höfischen Satire nicht die herrschenden waren, bringt
er zur Geltung. Während vor ihm die Trobadors gegen die
allgemeine Habsucht und Unredlichkeit ihrer Zeit die ritter-
liche Freigebigkeit, Freudigkeit und Offenherzigkeit entschwun-
dener Tage auszuspielen pflegten und der traurigen Gegenwart
eine goldene Vergangenheit vorhielten,^) stellt Cardinal die
Spiegel des Todes und des Jenseits auf. Es vollzieht sich bei
ihm der Umschwung von der lebensfreudigen Rittermoral zu
einer überweltlichen Wertung, die dem Hofwesen zwar nicht
feindlich, aber wesentlich strenger gegenübertritt. Wohl for-
dert auch Cardinal noch die Großen und Reichen zum fröhlich
spendenden Genüsse auf, aber selbst bei dieser Ermunterung
schon arbeitet er mit dem Todesgedanken.
Unhöfisch ist und allem Preis abhold,
feindlich dem Lob und guten Ruf bei Hof
der Mensch, der das Geschenk für Sünde hält,
das man dem Spielmann macht, durch den der Ruhm
der Tüchtigen zu schöner Geltung kommt.
Denn Großes hat ein Mensch noch nie vollbracht
ohne Geschenk. Und hat nicht Gott gewollt,
man solle jedem Bettler Gutes tun?
Es weiß der Ärmste und der Reichste nicht,
ob morgen er noch lebend ist. Vielleicht
1) Als typisch dafür galt und gilt das Sirventes des Girant von
Bornelh Ter solatz reveühar.
Peire Cardinal 28
lebt er solang bis er bedürftig wird
und nur zum Arger noch den andern lebt
und ehrlos unter seinen Nachbarn steht.
Denn Zeiten gibt es, wo der Gießbach schwillt,
die Brücke überflutend mit Gewalt —
und dann verläuft das Wasser sich zu nichts.
Ich weiß kein Jahr, daß es nicht Sommer ward
und nicht ein rauher, böser Winter kam —
und so kein Mensch, dem Freude und Geschenk
' geworden ohne Schmerz und bittern Gram,
wenn er's erlebt. — Ein Narr drum, wer nicht eilt,
Edles zu tun solang es ihm vergönnt.
Denn, ist er tot, ich glaub, sein Erbe wird
gerade ihm zulieb sich kaum bemüh'n.^)
Allmählich oder auch plötzlich — man merkt es kaum
und weiß nicht, wie es zugegangen ist — erscheint an Stelle
der höfischen Freuden die Fröhlichkeit in Gott : und damit treten
an Stelle der Großen und Adeligen die kleinen Leute, die Ar-
men, als die wahrhaft weisen, heiteren, tapferen und höfischen
Menschen.
Qu'om non es ges valens per sol sa lansa.^)
„Denn tapfer ist man nicht nur mit der Lanze.**
Que'l grans avers ten son don cossiros
e • Ih bon 'amors alegre e joyos.*)
^) Non es cortes Nr. 39, gedruckt im Lexique roman, S. 453 und bei
Mahn, Werke II, S. 227.
2) Nr. 24 (Mahn, Ged. 1241, 1242).
3) Ebenda. Vgl. noch bes. Nr. 34 (Mahn, Ged. 643, 644).
Lo sabers d'aquest segle es foudatz,
e Dieus dis ho e trobam ho ligen,
et ieu cre ben sos ditz verayamen,
qu'eu vei qu'il ric son savis apellatz
e * 1 paubre son fols e caitius clamatz.
AI ric parec del siecle trespassan
et al Lazer, quäl mes Dieus en soan.
24 6. Abhandlung: Karl Vossler
„Denn Reichtum macht nur Sorge seinem Herrn,
die wahre Lieb' ihn heiter und vergnügt."
Wie der Übergang von der galanten zu der mystischen
Liebe sich ohne gewaltsamen Ruck bei Cardinal vollzieht, so
biegt er auch hier, ohne mit der Denkart des Hofes zu brechen,
die weltliche Wertschätzung in eine mystische hinüber.
Der Sprachgebrauch seiner Zeit an und für sich schon
war geeignet, diesen Gesinnungswandel zu verschleiern und zu
erleichtern. Ähnlich wie das Nordfranzösische kennzeichnet
das Provenzalische des 12. Jahrhunderts sich durch eine starke
Neigung, Vorstellungen und Bezeichnungen der äußeren, objek-
tiven Welt mit inneren, subjektiven, ethischen, zum Teil geradezu
mystischen und lyrischen Bedeutungen zu erfüllen.^) Man denke
an den Bedeutungsspielraum von Wörtern wie ric, corteSy ga-
zardoSj acoindansa, parage u. a.
Dazu kommt die besondere Veranlagung Cardinais zur Be-
schaulichkeit, seine Art das höfische Leben und dessen Formen
mitzumachen, ohne innerlich dabei zu sein, seine Neigung, alles
Tatsächliche aus dem Gesichtspunkt des Ideals zu betrachten.
Stufenweise, von Begriff zu Begriff zieht er sich zurück aus
der Welt der Erscheinungen, um dann mit den Maßstäben
dieser Begriffe bewaffnet wieder in sie hinabzusteigen. Durch
die Verschiedenheit und Beweglichkeit des Maßstabes, der bald
ein höfischer, bald ein ethischer und gar mystischer ist, wird
es ihm möglich, die Menschen abwechslungsweise bei ihrem
Ehrgefühl und Ehrgeiz, bei ihrem Gewissen und Glauben zu
Die Weisheit dieser Welt ist Narretei;
das sagt uns Gott, das liest man in der Schrift;
und ich glaub' seinem Wort wahrhaftiglich.
Wohl preist die Reichen man als weis' und klug
und nennt die Armen schlecht und dumm.
Am reichen Mann und armen Lazarus
ward klar, wen nach dem Tode Gott verwirft.
1) Für das Nordfranzösische habe ich den Nachweis in meiner Ar-
beit „Frankreichs Kultur im Spiegel seiner Sprachentwicklung", Heidel-
berg 1913, S. 87 ff., versucht.
Peire Cardinal 25
packen. Man denke nicht, daß dies ein überlegter Kunstgriff
sei. Cardinal empfindet tatsächlich die menschlichen Schwächen
und Bosheiten bald als etwas Verächtliches und Hassenswertes,
bald als bedauerlich, des Mitgefühles und der Tränen würdig.
Er geißelt und beweint sie; in seinem grausamsten Hohn ist
noch Liebe und Wärme, in seinen beweglichsten Klagen noch
etwas Eisiges und Müdes. Hinter den Tränen lauert der Witz,
und in stiller Hoheit schwebt über den boshaftesten Sarkasmen
der Schmerz. Eines der packendsten Rügelieder, das er gegen
die Herzlosigkeit der Reichen gedichtet hat Qui ve gran maleza
faire (Nr. 45)^), klingt aus in ein Gebet. Andererseits bringt
er es fertig, in den Reimen und im Stil des warmherzigen
Klageliedes, das Bertran von Born auf den Tod des jungen
Königs Heinrich von England (1183) gesungen hatte, einen
höchst künstlichen Planh auf Bösewichter und Verräter zu
dichten, dessen Tränen in Wirklichkeit ein höhnisches und
böses Lachen sind: Äissi com hom planh (Nr. 2).^)
Wie wir den Sohn beklagen oder Vater,
oder den Freund, den uns der Tod entriß,
beweine ich die Überlebenden,
die falschen, tückischen, gemeinen Kerle,
Schurken voller Lug,
gierig, schlechter Art,
Räuber, Diebespack,
Helfer falschen Eids,
Hehler des Verrats,
die der Teufel führt
und sie unterweist
wie die Kinderlein
und sie so berät.
Daß der Herrgott sie verschmäht.
Er weint, weil sie ein so langes Leben haben und nicht
^) Gedruckt in Bartschs Chrestom. prov. Sp. 169 ff.
2) Lex. rora, S. 448 und Mahn, Werke II, S. 211 f.
26 6. Abhandlung: Karl Vossler
gehängt werden; und mit zierlichen Alliterationen und Binnen-
reimen beschließt er seine Klage.
In einem starken, reinen, ungemischten Gefühle aufzu-
gehen, will diesem romantisch und intellektualistisch veran-
lagten Menschen nur selten gelingen. Die Antithese ist die
Form nicht nur seiner Sprache, seiner Kunst, seines begriff-
lichen Denkens; selbst sein Gefühlsleben schwelgt und wuchert
in Gegensätzen und schwächt sich durch überreizte Lebendig-
keit. Als der geborene Ironiker läuft er Gefahr, gleichgültig,
überdrüssig und müde zu werden. Es ist ein schlimmes Zeichen,
wenn ein Dichter über Welt und Menschheit in so kühlen,
zierlichen Worten das Urteil spricht, als gehörte er selbst
nicht dazu.
A fers faitz fai afortir
lo mons selhs qu' j son nascut,
que quan quecx a pron viscut,
quecx quier cum puesca morir
ab tortz far et ab mentir.
Qu'en dos milliers non a dos
qu'ab dreitz dos
vuelhan devenir
sai, on hom dous deu venir.^)
Greulicher Gewohnheit Grund
legt die Welt in ihren Kindern.
Haben herrlich sie gelebt,
suchen sie den Seelentod
in der Sünde, in der Lüge.
Von zweitausend gibt's nicht zwei
welche wohl
durch ihr Wohltun wollten
selig bei den Sanften werden.
Wie unentwirrbar verfilzen sich Menschen Verachtung,
^) Nr. 18, Str. 2, gedruckt im Lexiqüe roman, S. 455 und Mahn,
Werke II, S. 223,
Peire Cardinal 27
Schmerz und literarisches Getändel in dem Lied D^un sirventes
faire no'm tuelh.^)
On plus d'omes vezon mei hueilh
on meins pretz las gens e mais me
et on plus los sec peitz lor vueilh
et on mais los aug meins lor cre
et on plus intr'en lor demor
meins ai de plazer en mon cor.
Que, si poges viure de mon captal
ia non volgra sezer a lor fogal.^)
Je mehr mein Auge Menschen sieht,
veracht' ich sie und schätz' mich selbst,
je mehr ich diene, haß' ich sie,
je mehr sie reden, zweifle ich,
und je vertrauter mir ihr Haus,
je öder wird es mir ums Herz.
Oh, daß ich leben könnt' vom eig'nen Gut,
an ihrem Herde wahrlich saß' ich nicht.
Wohl hört man die Stimme des Herzens, aber es ist auch
Eitelkeit des Verstandes dabei. Gerade in der bisher be-
sprochenen Gruppe von Liedern scheint Cardinal uns oft auf
dem besten Wege zu sein, mit dialektischer Überlegenheit und
selbstgefälliger Reimkunst, mit Wort- und Begriffsspielerei seine
Unlust an der Welt auf virtuosenhafte Weise zu variieren und
den Formalismus des trobar sotil, menut und florit auf die
Spitze zu treiben, wie er, um nur ein Beispiel noch zu nennen,
in dem Gedichte Maint haro ses lei (Nr. 36) ^) getan hat. Hinter
der Munterkeit der Worte fühlt man die Müdigkeit der Seele.
1) Nr. 17. Gedruckt im Lex. rom., S. 437, in Mahn, Werke II, S. 224
und in Studj di fil. rom. IX, S. 511.
2) Greu m'asegra la nueg en lur fogal ist die Lesart bei Raynouard
und Mahn.
3) Gedruckt bei Appel, Prov. inedita, S. 227.
28 6. Abhandlung: Karl Vossler
III. Der Beruf des Satirikers.
Zwei Dinge, scheint mir, haben unseren Dichter aus dieser
Sackgasse seiner Kunst herausgeholt: die erschütternden Er-
eignisse der Albigenserkriege und die eigene Fähigkeit zur
Selbstbescheidung und Sachlichkeit. Cardinal hat das Wichtig-
tun mit der eigenen Persönlichkeit, das die späteren Trobadors
den älteren zuweilen noch nachmachen, abgelegt. In keinem
seiner Gedichte hat er seinen Namen genannt. Von der
Künstlereitelkeit hat er sich befreit. Wohl finden sich noch
einige Anwandlungen oder Reste davon. So wenn er in seinem
Vers vertadier (Nr. 3) sich rühmt, der Erste zu sein, der weib-
liche Wörter in männliche Reime zwängt,*) wenn er im Geleit
zu Nr. 18 die Ungeschicklichkeit der Spielleute seinen Kunst-
werken gegenüber bedauert, oder wenn er mit großartiger Ge-
bärde sagt:
Bei m'es qu'ieu bastis
sirventes faitis
de faisso
bei e ses tot sis
e mot gent assis
en gai so.
Pueis, qui que Taprenda,
enans que'l reprenda,
guarde la razo:
pueis lo don o*l venda,
quan n'aura sazo,
0*1 retraya
lai don traya
anel o cordo
0 de saya —
s'o essaya —
rauba de gordo.
(Nr. 10, Mahn, Ged. 760/61.)
1) Lex. rom., S. 460 f. und Mahn, Werke II, S. 213 f. Daß er, um-
gekehrt, in Nr. 27 männlichen Ausgang als weiblichen Reim verwendet:
delieitas : penras, dürfte eher Nachlässigkeit als Künstelei sein.
Peire Cardinal 29
Bauen will ich Euch
ein vollendet Lied
kunstgerecht,
schön und ohne Fehl,^)
Worte wohlgesetzt
heit'ren Tons.
Jeder, der es höret,
eh' er es bemängelt,
achte auf den Sinn:
schenken, auch verkaufen
mag er's immer dann,
oder singen,
sich verdienen
Ring und Band damit —
vielleicht kriegt er
gar 'nen woll'nen
dicken Rock dafür.^)
Andere Stellen verraten eher ein sittliches als ein künst-
lerisches Selbstbewußtsein.^) Allein, so sehr sich Cardinal zum
Richten, Strafen, Lehren und Predigen berufen weiß, so kennt
er doch die eigene Unzulänglichkeit und fühlt sich Sünder
unter den Sündern.
Si tot non ay joy ni plazer
ni delieg dels bes d'aquest mon,
la razo'm vir'on lo voler
de chantar. Pero no sai don
poirai penre que mi aon
a far sirventes entenden:
^) Sis in ses tot sis kann man als sü Furche, schwerlich als cilh
Wimperhärchen auffassen.
2) Rauba de gordo deute ich als Kleidungsstück eines großen gort,
d. h. eines behäbigen oder eines verfrorenen Menschen.
3) Vgl. das Geleit zu Nr. 9 (Mahn, Ged. 758/59 und Studj di fil. rom.
IX, S. 552), die erste Strophe von Nr. 17 (Lex. rom., S. 437, Mahn, Werke II,
S. 224 und Studj di fil. rom. IX, S. 511), von Nr. 18 (Lex. rom., S. 455,
30 6. Abhandlung: Karl Vossler
tal que no desplass'a la gen,
s'ieu los repren de fällimen,
on tug fallem e no"ns^) gardam del latz
on quascus es pres segon sos peccatz.^)
Hab' ich auch keine Freud' und Lust
noch Spaß an Gütern dieser Welt,
so treibt doch die Vernunft mich an
zum Sänge. Doch ich weiß nicht, wo
ich Mittel finde, daß das Lied
verständlich und willkommen sei
den Leuten, wenn ich tadeln muß
Irrtum und Fehl an ihnen, doch
wir irren all' und meiden nicht das Netz,
das jedem seine eig'ne Sünde strickt.
Ein anderes Lied (Nr. 37), das man ihm mit Unrecht hat
absprechen wollen,^) krönt er mit einem Greständnis, wie es
Mahn, Werke II, S. 223), von Nr. 41 (Rayn. Choix IV, S. 353, Parn. occ.
S. 312, Mahn, Werke II, S. 187), von Nr. 47 (Lex. rom., S. 446, Mahn,
Werke II, S. 231), von Nr. 64 (Appel, Prov. Chrest. Nr. 79) und von
Nr. 38 (Mahn, Ged. 977/78 u. 1243 und Studj di fil. rom. III, S. 669 f.).
1) Korrigiert aus nous in C u. B. *) Nj.. 51, Mahn, Ged. 1251/2.
^) G. Gröber auf Grund handschriftlicher Erwägungen (Die Liederhss.
der Troub. in Roman. Stud. II, Straßburg 1875/77, S. 349). Siehe da-
gegen Maus a. a. 0. S. 38 f. Für Cardinais Verfasserschaft sprechen meh-
rere Gründe: 1. Strophenform und Reim finden sich in Cardinais Nr. 16
wieder und sind von Vidal (364, 4) übernommen. 2. Der Gedanke, daß,
wenn man sich durch Wohlleben das Himmelreich verdienen könnte, die \
christlichen Märtyrer Toren gewesen wären, findet sich ähnlich in Cardi-
nais Nr. 62, Str. 3 und Nr. 33, Str. 2 und in dem Spruch Bona gens, veias \
cal via (461, 55, gedruckt bei Appel, Prov. ined. S. 321), der wahrschein-
lich auch dem Cardinal gehört. 3. Das Bewußtsein, wie schwer und,
wichtig es ist, die eigenen Ermahnungen selbst zu befolgen, entspricht*
ganz der Denkart Cardinais. Vgl. Nr. 42, Str. 1 und 2. 4. Die Wahr-
scheinlichkeit, daß Nr. 37 und 16 nicht nur metrisch, sondern auch in-
haltlich zusammengehören, werden wir in anderem Zusammenhang noch
zu erwägen haben. 5. Der Ausdruck selhs qu'estan confes e peneden kehrt
wörtlich in Nr. 37, Str. 5 und 62, Str. 3 wieder.
Peire Cardinal 31
von den Lippen der Sittenprediger nicht eben häufig kommt.
Nachdem er allen Ständen vom König bis zum Landarbeiter ihre
besonderen Verfehlungen vorgehalten hat, schließt er:
A l'autra gen darai conseilh leal,
si tot no'l sai a mon ops retenir:
que cascus pens de ben far e de dir
de son poder; car plus de bon captal
non porterem escrit en nostre brieu
quan nos irem e rendrem cont a Dieu
ques aurem faig, al ior del iuiamen,
al gran seinhor qui'ns formet de nien.
Qui mi repren mon chantar, no m'es grieu:
s'ieu man far ben, si tot m'en faz pauc ieu,
car, si las gens reinheson ben ni gen,
pois pogron dir: „De foll a hom trag sen." ^)
Den andern allen geb' ich treuen Rat,
obschon ich selbst ihn nicht zu nützen weiß:
daß jeder guter Werk' und Worte sich
nach Kraft befleiß'. Dies ist das beste Pfund,
das man im Briefe mit hinübernimmt,
wann man vor Gottes Stuhl zur Rechenschaft
der eig'nen Werke tritt am Urteilstag
des großen Herrn, der uns aus nichts erschuf.
Ich trags, wenn ihr dies Lied mir tadeln wollt,
weil, was ich selbst nicht leiste, es verlangt;
denn, wenn sich jeder schön und gut betrüg',
so war' ich Narr, ein Quell der Weisheit ihm.^)
1) Mahn, Ged. 975, 976. Die drei letzten Verse lauten in R, ab-
weichend von M:
ca mans fai be si tot pauc men fauc ieu
si que las gens venguan a saluamen
pueis poyran dir que de fol apren hom sen.
2) Jn der zweiten Strophe desselben Liedes heißt es:
e no tenon vertat ni sagramen —
e nos autre em d'aquel meseus sen. *■
32 6. Abhandlung: Karl Vossler
So ernst er im Grund seinen Beruf als Satiriker und Er-
zieher nimmt, so weit ist er doch von Selbstgerechtigkeit und
Aufgeblasenheit entfernt. Er scheut auch nicht, sich gelegent-
lich selbst zu ironisieren. In seinem Lehrgedicht gegen tö-
richte Schwätzer und Kritiker stellt er mit anmutigem Scherz
sich als bezahlten Schwätzer hin.
Mit Reden ist ganz voll die Welt,
und weil zum Reden ich bestellt,
so ziemt sich, daß ich's reichlich üb':
bestellte Zunge wird nicht müd'.^)
Natürlich ist ihm nun auch das Publikum und der Er-
folg seiner Lehre nicht gar so wichtig mehr. Es gibt gute
Zuhörer, meint er, und schlechte.
Der Gute hört, damit er lerne,
der Schlechte aber tadelt gerne. . . .
Und alle beide handeln fein,
denn jeder nimmt, was wirklich sein:
der Gute trägt das gute Wort
nach Haus und läßt das schlechte fort;
das schlechte trägt der Schlechte heim
und läßt das gute gutes sein;
er gleichet einem Müllersieb,
in dem der Auswurf liegen blieb.
Das Feine läßt er all' zerrinnen.
Was will er denn? Schlechtes gewinnen
aus jeder Rede — und ich dächt',
der läßt das Feine ganz mit Recht. —
Geht man die Stellen durch, an denen Cardinal über seinen
Beruf als Satiriker, über Sinn und Wert seiner Rüge, über
sein Verhältnis zu den Gerügten und den Zuhörern sich äußert,
so ergibt sich, alles in allem genommen, eine ebenso gesunde,
vernünftige und sichere als vielseitige, den Gelegenheiten sich
^) Vgl. den provenzalischen Text im Anhang XII.
Peire Cardiiial 33
anpassende Auffassung. Die Wirkung seiner Gedichte zu über-
schätzen läßt er sich niemals hinreißen. Er weiß, daß man
ihn mißversteht und daß er tauben Ohren zu predigen hat;
aber die Schuld liegt nicht an ihm.
A mos ops chant et a mos ops flauiol,
quar hom raas ieu non enten mon lati,
qu'atretam pauc coma d'un rossinhol
entent la gens de mon chantar que's di;
mas ieu non ai lengua friza ni breta
ni sai parlar flamenc ni angevi;
mas Malvestatz, qui los eissalabeta,
lor tolh vezer quez es fals ni es fi.
Ära m'es mals que fols hom s'entremeta
de mon chantar, quar siey fag son porssi.
(Nr. 30, Str. 5.)^)
Zum eig'nen Nutzen sing' und flöt' ich mir.
Denn mein Latein versteht kein Mensch als ich.
So wenig wie von einer Nachtigall
verstehen sie von meinem Sang den Sinn,
obschon ich friesisch nicht noch britisch spreche,
noch flämisch oder anjovinisch kann.
Durch Bosheit aber sind sie so verblendet,^)
Daß sie nicht seh'n, was falsch ist oder gut.
Drum ärgert's mich, wenn sich ein Narr beschäftigt,
der schweinisch sich beträgt, mit meinem Lied.
In einem anderen Gedicht (Nr. 3), das leider schlecht über-
liefert ist,^) nimmt er sich vor einen Vers vertadier zu schaffen,
car nuill cantar non tanh si'apellatz
Vers, si non es vertadier ves totz latz,
wobei die Wortähnlichkeit von ver = wahr und vers = Ge-
') Text, nach Appel, Prov. Chrestom. Nr. 78.
.^) Der Sinn von eissalabeta ist zweifelhaft.
3) Gedruckt im Lex. rom., S. 460 und Mahn, Werke II, 213 f.
Sitzgsb. d. philos.-pbilol. u. d. bist. Kl. Jahrg. 1916, 6. Abb, 3
34 6. Abhandlung: Karl Vossler
dicht ihm bedeutungsvoll wird. Keine prunkhaften Worte
sollen in einem sittlichen Rügelied, wie er es vorhat, stehen.
Nur männliche Reime will er verwenden. Durch solche, nach
unserem Geschmack nur äußerliche, aber von vielen Trobadors
aufrichtig angestrebte Übereinstimmung von Sinn und Vers-
form ^) hofft er, das Nützliche mit dem Schönen und Rühm-
lichen zu verbinden.
Car, per bels motz er sos chantars lauzatz,
e * 1 casticx es fondemenz de peccatz.
Von Wortes Schönheit kommt dem Liede Lob,
und Sünde muß zergehn vor Wortes Schärfe.
Er schmeichelt sich, durch die Macht seiner Verse den
eigennützigen Sinn der reichen Leute zu brechen —
mas cant lo ricx er d'aisso castiatz,
venra N' Artus, sei qu'emportet lo catz.
Der Wortlaut des zweiten Verses ist unverständlich; dem
Sinne nach aber wirft er das ganze Vorhaben über den Haufen.
Denn, heißt es weiter, „den Reichen gelte ich nun wohl als
Schwätzer, und ob ich die Wahrheit sage oder nicht, sie
zeigen keine Besserung. Was ich tatsächlich meine, ist jedem
klar; wenn ich es aber im einzelnen ausführe, so schmähen
sie mich und, wenn ich schweige, so lasse ich mir Ehre und
Lob entgehen". Kurzum, Cardinal glaubt selbst nicht an die
Möglichkeit, den Ernst seiner Ermahnung durch einfache und
kräftige Worte zu sittlichem und künstlerischem Erfolge gleich-
mäßig auswirken zu können. Er weiß, wie schwer es ist, den
Menschen den Pelz zu waschen, ohne sie naß zu machen.
Vielleicht hat er eben darum die Nennung bestimmter
Namen und Tatsachen sich so oft versagt. Nur dort, wo die
Angegriffenen zugleich Gegner und Feinde seiner Gönner und
Schutzherren waren, pflegte er kein Blatt vor den Mund zu
nehmen. Im übrigen hat man bei vielen seiner allgemein
klingenden Klagen, Verhöhnungen und Anschuldigungen den
*) Vgl. meine Abhandlung über Marcabru a. a. 0., S. 63.
Peire Cardinal ^ 85
Eindruck, daß er etwas ganz Bestimmtes gemeint hat.^) Aber
seine äußere Stellung war nicht so unabhängig, vielleicht auch
sein sittlicher Mut nicht so unbedingt, daß er diejenigen, auf
die er zielte, immer hätte treffen können. — Ob der künst-
lerische Wert seiner Satire darunter gelitten hat? Ich glaube
kaum; denn vielfach liegt ihr Reiz gerade in der Verhalten-
heit des Grimms und in der vieldeutigen, aus der Ferne drohen-
den Dunkelheit ihrer Anspielung. Bekanntlich ist die hem-
mungslose und zensurfreie Satire noch selten zu künstlerischer
Höhe gelangt. Die Literarhistoriker freilich, denen weniger an
der Dichtung als am gelehrten Beiwerk liegt, beklagen sich,
daß Cardinal soviel im allgemeinen geblieben und für die
Kenntnis der Zeitverhältnisse so wenig ergiebig sei. Eines
aber sollte man nicht vergessen: nämlich daß Cardinal nicht
bloß aus Furcht und Befangenheit, sondern oft auch aus Scham-
gefühl sich Schweigen auferlegt. Er weiß, daß das Geschäft
des Satirikers nicht nur gefährlich, sondern auch ekelhaft und
unliebsam werden kann:
Non aus dire so que eis auszon far;
mai anc rascas non amet penchenar
ni eis home qui lor dan lur castia.^)
Ich wag' mit Worten nicht, was sie mit Taten.
Dem Grindigen war stets verhaßt der Kamm,^)
und ihnen stets, wer ihre Schande züchtigt.
Bei aller Schärfe hat Cardinal, von einigen wenigen Derb-
heiten (besonders in seinem Estribot) abgesehen, immer den
^) Zur Gewißheit verdichtet sich dieser Eindruck, wenn man die
Gedichte Nr. 5, 9, 44, 53 und 58 liest.
2) Geleit zu Nr. 66 (Rayn. Choix IV, S. 338 und Mahn, Werke II,
S. 182 und Studj di fil. rom. IX, S. 523). Vgl. auch Nr. 60, Str. 3 (Rayn.
Choix IV, S. 359 und Mahn, Werke II, S. 184).
Qui auzes dir quals son li falhimen
que fan en cort selhs qui degron regir
et an jurat de tenir Halmen
dreg a quascun?
^) Dasselbe Bild kehrt in Nr. 42, Str. 7 wieder.
3*
36 . 6. Abhandlung: Karl Vossler
Anstand gewahrt. Es gibt kaum einen mittelalterlichen Sa-
tiriker, der edler und vornehmer wäre in seinem Ton. Vor
allem aber meidet er die Gehässigkeit. Er kann beißend und
schonungslos sein bis zur Grausamkeit, aber nie, soviel wir
sehen, wird er verleumderisch und gemein. Grausamkeit ist
in gewissem Sinne noch eine Form der Liebe, und besonders
in seiner Spätzeit scheint Cardinal sich bemüht zu haben, die
Satire mit christlicher Liebe zu mildern und zu veredeln. Den
Schmeichlern und Schmähern ruft er zu:
Aus tu que dizes lausenjas
e que de mal dir desrenjas?
fols yest, si las gens blastenjas —
si non per castiamen.
Gar si de mal dir t'esforsas,
fas que fols, si be't deportas,
que no*s tanh las Jens remordas,
car peccas y mortalmen.^)
Hörst du, der in Schmeichelreden
und in Schmähwort dich vergissest,
Tor, wenn du die Leute tadelst
anders als zur Besserung.
In Verleumdung sich ergehen,
mag's auch spaßhaft sein, ist närrisch,
bissig sein, ist ungeziemend;
wenn du's tust, so sündigst du.
Fast rührend ist es, wie er in seinem Sermon (Nr. 42)
die angeborene Lust zur Ironie hinunterwürgt.
Hieu ai en cor
que per demor
ni per rire ni per iugar
1) Nr. 27, Str 38 f. (Rayn. Choix IV, S. 452 und Mahn, Werke II,
S. 205).
Peire Cardinal 37
non diga huei
mal ni enuei
de guiza que us deia pezar.
Non dirai ren
mais sol per ben,
sol per vos autres esmendar,
e si US repren
adrechamen,
nom m'o deves a mal tornar.^)
Mir liegt daran,
euch heut' einmal,
weder zum Spaße noch zum Spiel,
kein böses Wort,
kein Ärgernis
zu geben, das euch wurmen könnt'.
Im Guten nur '
Sprech' ich zu euch,
zu eu'rer Besserung allein,
und, tadl' ich euch
wie sich's gehört,
so dürft ihr mir nicht böse sein.
Diese Väterlichkeit ist nun freilich nicht die Regel. Car-
dinal hat nie ein Hehl daraus gemacht, was für eine wilde
Lust es ihm bereitet, das Laster bestraft zu sehen und es zu
züchtigen. Wenn ein Verräter gehängt wird, jubelt er, geht
es ihm gut, so trauert er. Wie fanatisch und unpersönlich
seine Wut, wie uninteressiert und menschlich rücksichtslos seine
Bitterkeit gegen alles Unwahre und Geraeine ist, hat er selbst
gewußt und mehrfach ausgesprochen.
Er dira hom que ieu sui mal mesclius
de las molhers e dels avols espos,
1) Nr. 42, Str. 4 f.
38 6. Abhandlung: Karl Vossler
t
0 qu'ieu die mal, o qu'en sia gilos,
so qu'anc no fui, mas ben sui contrastius
en tot quan puesc, e lur nozi ancse
ab sirventes et ab chans qu'en fauc be.^)
Nun sagen sie, ich sei voll Händelsucht
mit schlechten Ehemännern und mit Frau'n
und schmähe nur und sei wohl neidisch gar.^)
Das war ich nie. Wohl aber bin ich Feind
soviel ich kann und will verfolgen sie
mit Rügelied und Sang nach Herzenslust.
Den künstlich grausamen, oben besprochenen moralischen
Planh beschließt er folgendermaßen:
Ar m'es semblans que mos chans no val guaire,
quar de mal dir Tai ordit e tescut;
mas de mal fuelh non cuelh hom leu hon frut,
ni d'avolVag bon plag non sai retraire.
Dels laitz faitz qu'ilh fan
lor ai die lo dan,
josta la razo,
e delh felh talan
enic die lo cors;
quar greu m'es qu'ieu penha
lur error ni fenha,
ni los an lauzan,
ni'l chant an dauran
mas per aital com seran.
Am Ende ist mein Lied von kleinem Werte,
weil ich aus Schmähung es gewoben hab.
Vom bösen Baum ist aber gute Frucht,
von schlechter Tat gut' Rat kaum zu gewinnen.
1) Geleit zu Nr. 39 (Lex. rom., S. 454 u. Mahn, Werke II, S. 228).
2) Er selbst war unverheiratet, wie aus Nr. 1, Str. 7 (Mahn, Ged.
6 und 1233) hervorgeht.
Peire Cardinal 39
Nur ihr häßlich Tun
hab ich aufgedeckt
wie es sich gehört,
ihrer Übeln Lust
böse Bahn gezeigt;
denn ich mag nicht schminken,
ihren Fehl nicht hehlen,
noch sie gar beloben,
noch mein Lied bemalen
andersfarbig als sie sind.
Diese i^ale Sachlichkeit ist die Stärke und die Schwäche
der Cardinaischen Satire, macht ihren Adel, ihren Schwung,
ihre Gewalt, ihr Pathos und — ihre Donquijoterie aus. Sie
sucht das Laster auf Gipfeln, wo nur selten Menschen wohnen
und wenn sie, wie wir gesehen haben, so wenig Personen und
Tatsachen nennt, so ist nicht nur ihre irdische Befangenheit,
sondern auch ihre Verbohrtheit ins Abstrakte daran schuld.
Mir scheint, daß Cardinal im täglichen und im geselligen Um-
gang ein harmloser gutmütiger Mensch war, ein Alonso Qui-
jano el Bueno, und daß er niemand ein Leides tat. Solange
er die Leute von Angesicht zu Angesicht betrachtete, konnte
er ihnen, glaube ich, nicht böse sein. Aber wehe, wenn sie
ihm ferne rückten und in die fatale Beleuchtung seiner Tugend-
und Lasterbegriffe gerieten! Den schlappen, durchaus unzu-
verlässigen und leichtfertigen Grafen Raimund VI. von Tou-
louse feiert er als einen Vorkämpfer der Tugend gegen fran-
zösische Falschheit (Nr. 25) und Raimund VIL, der, soviel man
weiß, auch kein Heiliger war, wird ihm zur Verkörperung des
ritterlichen Herrscherideals (Nr. 12). Mag man den Löwen-
anteil dieses Lobes auf Rechnung der Untertanenergebenheit,
der Politik und der unvermeidlichen höfischen Schmeichelei
setzen, so bleibt immer noch ein Rest von ehrlicher Überzeu-
gung. Besonders die fünfte Strophe des Sirventes Ben volgra
(Nr. 12) ist mit einer Art „heiliger Einfalt" empfunden.*) Der
^) Als fünfte Strophe meine ich die folgende, in der Hs. M (Mahn,
Ged. 1258) wohl am besten erhaltene:
40 6. Abhandlung: Karl Vossler
Fürst erscheint dem Dichter aitals com eu lo deman vielleicht
nur deshalb, weil er in seiner nächsten Nähe war, so daß Car-
dinal, bei seiner angeborenen Weitsichtigkeit, ihn nur ober-
flächlich kennen lernte. Jener Stephan von Belmon aber,
den er so fürchterlich mitgenommen hat, stand ihm vermut-
lich weniger nahe. Wahrscheinlich hat er zu den Feinden
des Grafen von Toulouse gehört. Denn Cardinal, der in der
Ethik nur weiß und schwarz sieht, hat auch in der Politik
aufs leidenschaftlichste und unbedingteste Partei ergriffen.
Er war naiv genug, die Gregner in bestem Glauben für
die Bösen, die Parteigenossen für die Guten zu lialten. Bald
sieht er in Toulouse nur edle Gesinnung (Nr. 32, Geleit), im
Velay nur Verrat (Nr. 9), in Deutschland nur Ehrlichkeit
(Nr.*61). Gewiß war er als Publizist und Scriba des Grafen
zu dieser Einseitigkeit gezwungen und verpflichtet. Man hat
aber in seinen Liedern keinerlei Anzeichen dafür, daß er den
Zwang als solchen gefühlt hätte, daß es ihm je in den Sinn
gekommen wäre, im feindlichen Lager auch nur ein Körnchen
von Recht, auch nur ein gutes Härchen zu vermuten. Was
die ungebrochene Fähigkeit des Parteiergreifens mit ganzer
Seele betrifft, ist Cardinal ein naives echtes Kind des Zeitalters
der mittelalterlichen Glaubenskriege. Ja, die rohe Verein-
fachung, die ein Kampf wie der Albigenserkrieg in den Ge-
Le coms de Tolosa val tan,
tan fai e tan abria!
Nengun home del mon non blan
per mal ni per feunia.
Aitals es com ieu lo deman:
arditz, alegres e vailhan,
frans de bella paria,
vertadiers, dreitura gardan,
leials e ses bausia,
bels, ben parlan.
Die Lesart von C, wo diese Strophe an dritter Stelle steht, gibt
Mahn, Werke II, S. 240. Bei Rayn. Choix V, 303 fehlt die Strophe. Das
Gedicht ist mit annähernder Sicherheit in das Jahr 1226 zu datieren.
Vgl. Fr. Wittenberg, Die Hohenstaufen im Munde der Troub. Münster,
Diss. 1908, S. 70 f. und unsere Ausführungen weiter unten.
l'eiie Cardinal *»
mütern und Köpfen der Beteiligten anrichten konnte, ist seiner
Sinnesart gewissermaßen zu Hilfe gekommen und günstig ge-
wesen. Denn jetzt erst wird seinem sittlichen Haß eine be-
stimmte Richtung und seiner Satire ein Ziel gewiesen, das er
ins Herz treffen kann. Auf keinen anderen Trobador hat
dieser Krieg so tief und nachhaltig gewirkt. Für Cardinal ist
er das große, nachweislichermaßen einzige dichterische Erlebnis
geworden. Ohne ihn wäre er nicht viel mehr als ein lang-
weilig-witziger Moralisator geblieben. Er, der vor lauter Be-
schaulichkeit und spekulativer Sittlichkeit eine leer laufende
Mühle war, konnte von sich sagen:
Lo jorn qua ieu fui natz
mi fon aitals dons datz
que * m plagues captenensa
d'omes ensenhatz
e • m pezes malvestatz
e faitz desmesuratz;
per qu'ieu port penedensa
dels autrui peccatz,
car mi do marrimen
del autrui fallimen,
e no • m volvi ni * m vire
ni'm mudi leumen
per negun estamen,
qu'ades tort no m'azire;
e'ls malvatz repren
e Mort, car no los pren.^)
Am Tage der Geburt
ward es mir zugeteilt,
daß w^ohlerzog'ner Menschen
Art mir angenehm,
und Bosheit, Übermut
verhaßt mir sollte sein.
1) Nr. 32, Str. 1 (Lex. rom., S. 449: Mahn, Werke II, S. 232 und
Mahn, Ged. 612, 613).
42 6. Abhandlung: Karl Vossler
So trag' ich nun um fremder
Sünde willen Leid
und mach' mir Kümmernis
um andrer Leute Fehl
und kann mich nicht entziehen,
noch die Ruhe mir
verschaffen, daß nicht gleich
ein Unrecht mich empöre.
Fluch den Bösen und
dem Tod, der sie nicht holt.
Jetzt aber bekommt er richtiges, erdgewachsenes Korn zu
mahlen und braucht seine Satire mit Einleitungen und Geleit-
strophen allgemeinen Inhalts nicht erst zu entschuldigen, noch
zu begründen ; und wenn er fortfahrt es zu tun, so ist es eine
alte Gewohnheit, die aus dem Gedanken an die Zeitläufte einen
tieferen, ehrlichen Sinn bekommt. Erst wenn man an die
Religionskriege denkt, die ihn erschüttert haben, ist man ge-
neigt ihm zu glauben was er über die Pflicht, die Notwendig-
keit und sein inneres Bedürfnis zur Satire sagt.
Dreitz a mestier d'aiut!
e qui li * n ditz de no,
en pro dreg a pauc pro.^)
Zu Hilfe! ruft das Recht,
und wer nicht hilft, dem kommt
vom guten Recht kein Gut.
Qui ve gran maleza faire
de mal dir no se deu taire.^)
Siehst du große Bosheit üben,
halte nicht zurück mit Tadel.
1) Geleit zu Nr. 43 (Mahn, Gedichte 979 und 980. Das Geleit fehlt
in M).
2) Nr. 45, Str. 1 (Bartsch, Chrestom. prov. Sp. 169).
Peire Cardinal 43
Ges ieu no*m sui de mal dir castiatz,
quar de mal far la gens non si castia,
quar de mal far deu hom aver feunia,
de feunia deu issir malvatz glatz,
de malvay glat blasmes als encolpatz,
e de colpa pena als mals fachors:
qu' enaissi vay lai on drechura renha,
e quan non es qui la colpa destrenha,
a tot lo meyns le blasmes es ciamors
et als blasmatz anta e deshonors.^)
Des Tadels hab' ich mich noch nicht entwöhnt,
weil sich des Fehls die Leute nicht entwöhnen,
weil ich den Fehl den Leuten will verbittern:
aus Bitternis entstehe dann Geschrei,
und aus Geschrei den Schuldigen der Schimpf,
aus Schuld die Strafe dem, der Böses tat:
so kommt man schließlich auf die rechten Wege,
und sollte auch der Schuld ein Rächer fehlen,
so ist der Tadel wenigstens ein Schrei,
der dem Getroff'nen Schimpf und Schande bringt.
Lairons son ilh, e renhon sobre nos;
doncx ben em folhs et ab pauc d'escien;
pus laires es qui al lairon cossen.
Que farem doncx, si no * ns en val razos?
Cridem lo mal quMlh fan o que fan faire,
si que puesc'on^) conoisser lors peccatz,
e no * s tenga negus asseguratz
si ve desfar son vezi o son fraire.^)
Ein Pack von Dieben ist's, das uns beherrscht,
und wir sind Toren und gedankenlos;
denn Dieb ist, wer den Dieb gewähren läßt.
1) Nr. 26, Str. 1 (Mahn, Ged. 982 und 1239).
*) Korrigiert aus Si quelhs puescon.
3) Nr. 69, Str. 2 (Lex. rom., S. 451 f. und Mahn, Werke II, S. 237).
44 6. Abhandlung: Karl Vossler
Was bleibt zu tun ^ da uns das Recht nicht hilft?
Wir wollen schreien ihre Missetaten,
bis ihre Sünden kund und offenbar,
auf daß in Sicherheit sich keiner wiegt,
wann er den nahen Bruder sieht mißhandeln.
Auch die Tragik dieser Satire, die auf der Seite der Unter-
liegenden kämpft, tritt nun ins Licht. Noch lange, nachdem
das Grlück gegen die Seinen entschieden hat, erhebt Cardinal
die Stimme gegen Unrecht und Trug.
Qu' eras en chan
e totz temps mais en plor.^)
Heut' klingt als Lied
was sonst mein Weinen ist. —
Wir sind nun leider in der mißlichen Lage, die Gelegen-
heiten der Cardinaischen Satiren nur in den seltensten Fällen
Mit einer merkwürdig verzwickten Zierlichkeit wird in Nr. 10, Str. 5
(Mahn, Ged. 760, 761) derselbe Gedanke entwickelt.
Ben tenc per cortes Höfisch ist fürwahr,
aquel qu'en cort es wer bei Hof sogar
quan desfai widersteht
fag quan l'a enpres einem reichen Mann,
US ricx mal apres, der auf Unrecht sann
don tort fay. und 's begeht.
Fort es belha cauza Rühmlich Unternehmen
qui malvestat chauza ist es zu beschämen
ad home savay, schlechter Menschen Tun —
e seih qui la lauza, denket, wie es jenen
quant es soz la lauza, geht, die es beschönen,
pessatz quossi * 1 vay. wann im Grab sie ruh'n.
Qui folhia Wenn wir Gecken
afolhia tüchtig necken,
malvestat dechay wird, was schlecht, verkürzt:
e des via der Gemeine
de la via fehlt dann seine
lo malvays, on chay. alte Bahn und stürzt.
i) Geleit zu Nr. 52 (Rayn. Choix IV, S. 353 u. Mahn, Werke II, S. 187).
I
Peire Cardinal 4S
bestimmen zu können. Ihr Kunstwert gibt natürlich keinerlei
Gewähr, und man wäre schlecht beraten, wenn man alle frostigen
und erkünstelten Lieder vor den Ausbruch des Albigenser-
krieges, alle lebendigen und kraftvoll empfundenen hinter
ihn setzen wollte. Mit einiger Wahrscheinlichkeit läßt sich
nur eines, mit Bestimmtheit kein einziges seiner Gedichte als
vor 1209 entstanden erweisen.^) Wir müssen die zeitliche
Reihenfolge der angeführten Äufaerungen Cardinais über seinen
dichterischen Beruf im unbestimmten lassen. Im psychologi-
schen Verstände aber, soviel ist sicher, finden seine wechseln-
den Ansichten ihre Vollendung und Klärung in seiner religi-
ösen Auffassung. Cardinal hat den Glauben gehabt, im Namen
Gottes, al nom del Seignor dreiturier (Nr. 3), zum Besten der
Menschheit und zu seinem eigenen Seelenheil, die Lieder des
Hohns, der Rüge, der Mahnung anstimmen zu müssen.
Ihesum Christ, nostre Salvaire,
per salvar nasquet de maire,
salut fes e mandet faire,
car sei que la fai Taten.
Aiso es gran cortezia,
qui salva que salvat sia;
qui autre a salut guia
venir deu a salvamen.^)
Jesus Christus, unser Heiland,
ward, zu retten uns, geboren,
heilte uns und hieß uns heilen;
Heil wird dem, der's andern bringt.
Darin liegt die große Güte,
daß, wer rettet, wird gerettet,
daß, wer andre führt zum Heile,
selbst dazu empor sich schwingt.
^) Vgl. Anhang I.
2) Nr. 27, Str. 1 u. 2 (Rayn. Choix IV, S. 446 und Mahn, Werke II,
S. 201). Vgl. auch Str. 17 u. 18 und Nr. 20, Str. 1 (Lex. rom., S. 463
und Mahn, Ged. 1256).
46 6. Abhandlung: Karl Vossler
Geprahlt hat Cardinal mit seiner göttlichen Sendung nie-
mals; aber erst von diesem einfachen Glauben aus wird es
verständlich, wie er mit Lust und Zorn, mit Liebe und Milde,
mit Vertrauen in den künstlerischen und sittlichen Erfolg und
dann wieder mit Zweifeln daran, mit Trauer und Hohn, mit
Weinen und Lachen, heftig und zaghaft seine poetische Geißel
schwingen konnte, ohne je zur Gemeinheit und Verleumdung
sich zu erniedrigen und ohne je im Stolz sich zu überheben.
Seinen Vorgängern in der Satire und den meisten seiner Nach-
folger war dieser Glaube weniger lebendig und gegenwärtig.
IV. Frömmigkeit und Kirchlichkeit.
Cardinal war gottesfürchtig und fromm auf eigene Art.
Als Hermann Reuter mit dem Scharfsinn eines Großinquisi-
tors die „Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter"
schrieb,^) konnte unser Trobador ihm nicht entgehen. Frei-
lich, als Aufklärer und Vorläufer der Reformation im strengen
Verstand des Wortes werden wir ihn heute kaum mehr gelten
lassen. Reuters Auffassung gründet sich in der Hauptsache
auf ein einziges, höchst merkwürdiges Gedicht (Nr. 67).
ün sirventes novel vuelh comensar
que retrairai al jorn del jutjamen
a seih que'm fetz e*m formet de nien.
S'il me cuia de ren ochaizonar
e s'il me vol metr'en la diablia,
ieu li diray: „Senher, merce, no sia!
qu'el mal segle tormentei totz mos ans,
e guardatz mi, si'us plai, dels turmentans."
Tota sa cort farai meravillar
quant auziran lo mieu plaideyamen:
qu'ieu die qu'el fai ves los sieus fallimen
s'il los cuia delir ni enfernar,
^) Berlin, 1875 und 1877.
Peire Cardinal 47
quar qui pert so que guazanhar poiria,
per bon dreg a de viutat carestia,
qu'el deu esser dous e multiplicans
de retener sas armas trespassans. ,
Ja sa porta noii si degra vedar,
que Sayns Peire hi pren trop d'aunimen,
que n'es portiers. Mas que intres rizen
tota arma que lai volgues intrar,
quar nulla cortz non er ja ben complia
que Tuns en plor e que l'autres en ria;
e si tot s'es sobeirans reys poyssans,
si no • ns obre, sera li * n faitz demaiis.
Los diables degra dezeretar
et agra mais d'armas e pus soven,
e*l dezeretz plagra a tota gen,
et elh mezeus pogra s'en perdonar.
Tot per mon grat trastotz los destruiria,
pus tug sabem qu'absolver s'en poiria.
„Belh senher Dieus, siatz dezeretans
dels enemicx enoios e pezans!"
„leu no mi vuelh de vos dezesperar,
ans ai en vos mon bon esperamen
que me vallatz a mon trespassamen.
Per que devetz m'arm' e mon cors salvar,
e vos farai una bella partia:
que ' m tornetz lai don muec lo premier dia,
e que'm siatz de mos tortz perdonans;
qu'ieu no'ls feira, si no fos natz enans.
S'ieu ai sai mal et en yfern ardia,
segon ma fe, tortz e peccatz seria;
qu'ieu vos puesc be esser recastinans,
que per un ben ai de mal mil aitans."
Per merce us prec, dona Santa Maria,
qu'ab vostre filh nos siatz bona guia,
48 6. Abhandlung: Karl Vossler
si que prendatz los paires e * Is enfans
e'ls metatz lay on esta Sanhs Johans.^)
Ein neues Rügelied beginn ich nun,
das sag ich einst am Tage des Gerichts
dem Schöpfer vor, der mich geformt aus nichts.
Will er mir irgendeinen Vorwurf tun
und will er, daß ich zu den Teufeln fahre,
sag ich ihm: „Gnade, Herr, tu's nicht! Bewahre
vor diesen Plackern mich, wenn's Dir gefällt,
hab mich geplagt mein Lebtag auf der Welt."
Mit Staunen soll sein ganzer Hofstaat sehn
wie meine Sache ich vor ihm verfecht.
Ich sag: „Den Seinen tut der Herr nicht recht,
wenn er sie in der Hölle läßt vergehn;
und wer verliert was er gewinnen könnte,
dem geht mit Recht sein Überfluß zu Ende.
Mild soll er sein und Mehrer seiner Scharn
und seine Abgeschiedenen bewahrn.
Es sollt' sein Tor auch nicht verschlossen sein.
Denn so ist's für Sankt Peter eine Schand
Pförtner zu sein. Nein, frischer Hand
dürft' jede Seel', die wollte, mir hinein.
Wie soll das einen echten Hofstaat machen,
wenn einer weint, indes die andern lachen!
Und sei der König noch so groß und hoch —
schließt er uns aus, so murrt man doch.
Enterben sollte er die Teufel gar:
in Scharen kämen ihm die Seelen an
und die Enterbung freute jedermann,
die er sich selbst verzeihen könnt' fürwahr.
1) Ich folge mit einigen Änderungen in der Interpunktion dem
kritischen Text in Crescinis Manualetto provenz. 2. Aufl., Verona-Padua
1905, S. 324 fiF.
Peire Cardinal 49
War' ganz dabei, macht' er sie ganz zunichte
und sprach sich frei nach eigenem Gerichte.
Oh, lieber Herrgott, so zerbrich das Joch
des bösen, "schwer verhafäten Feindes doch.
Doch will ich nicht verzweifeln, Herr, an Dir,
und habe gar die gute Zuversicht,
daß Du mir hilfst in Todes Angesicht.
Erretten mußt Du Leib und Seele mir,
drum hör' den schönen Vorschlag, den ich wage:
Bring' mich zurück zum Anfang meiner Tage,
wo nicht, nun so vergib mir mein Vergeh'n,
denn, war' ich nicht, so war' es nicht gescheh'n.
Auf Erden Plag' und in der Hölle braten,
das wäre meiner Treu' ein Sund' und Schaden,
da darf ich Dir den Vorwurf wohl erheben,
daß auf ein Gut mir tausend Leid gegeben. —
Zur Gnade, heil'ge Jungfrau, laß Dich rühren,
wollest mit deinem Sohn uns gütig führen,
nimm dich der Eltern und der Kinder an
und hebe sie empor zu Sankt Johann.
Freilich, wenn man die humoristischen Töne des Liedes,
die ich mich bemüht habe, in der Übersetzung herauszuarbeiten,
überhört, oder wenn man sich auf die Nachdichtung von Diez^)
verläßt, in der das Schlußgebet fehlt, so kann man mit Her-
mann Reuter zu der Ansicht kommen, „daß hier ein Menschen-
herz voll titanischen Trotzes sich entlade", daß „Gott selbst
gehöhnt und die Welt als das verunglückte Machwerk eines
launenhaften Wesens geschildert werde, welches selbst nicht
weiß, was es will", und daß „das Schicksal des Menschen als
ein grausiges Verhängnis gedacht" sei, „das man nur dadurch
sich mildern könne, daß man den Urheber desselben durch Spott-
reden ärgere".^) Gar so schlimm hat Cardinal es aber nicht
1) Leben und Werke der Troub. S. 463 f.
2j Reuter a. a. 0., 11. Bd., S. 59 ff.
Sitzgsb. d. philos.-philol. u. d. bist. Kl. Jahrg. 1916, 6. Abh.
I
50 6. Abhandlung: Karl Vossler
gemeint. Mit dem lieben Gott zu räsonieren, zu scherzen und
auch ein wenig zu hadern, war in der Dichtung der Troba-
dors nichts Neues mehr. Im Jahre 1194 etwa hat der Mönch
von Montaudon seine spaßige und rasch beliebt gewordene Ten-
zone mit Gott verfaßt: L'autrier fui en paradiSj^) der er bald
eine zweite, derbere folgen ließ: Antra vetz fui a parlamen.
Eine dritte, in der ein übel zugerichteter Raubritter sich mit
dem ewigen Vater zankt, stammt von einem Ungenannten:
Bei segner Deus, s'ieu vos soi enojos,^) und noch mehr von
dieser Art mag es gegeben haben. Hieher gehört wohl auch
eine Einzelstrophe, die in T unter Cardinais Stücken unvoll-
ständig überliefert ist^) und in /" vollständig wiederkehrt, aber
ohne Namen. Sie lautet:
Ben volgra, si far si pogues,
que Dieus agues tot so qu'ieu ay,
e le pensament e Fesmay,
et ieu fos Dieus si con eil es:
qu'ieu li fera segon que'm fay,
e'l rendera segon c'ay pres;
car tut(z) li croy e li malvays
tenon li (l. lo) miels de tots sos bens;
aquilh Ten rendan las merces,
q'ieu non o fas ni o faray,
ni de Dieu non tenc un poges,
mas un'arma que li rendray.*)
*) Otto Klein, Die Dichtungen des Mönchs von Montaudon, Heft 7
der Marburger Ausg. und Abbandl. 1885, S. 30 ff.
2) H. Suchier, Denkmäler provenz. Literatur u. Sprache, Halle 1883,
S. 336 ff. ^) Vgl. Chabaneau, Le Chansonnier prov. T in den Annales
du Midi XII, 1900, S. 194 ff.
*) Text nach P. Meyer, Les derniers troub. 1869, S. 673. Ich stelle
den Text von T nach Mahn, Ged. 1259, daneben.
Ben volria que Dieus agues e ieu fos Dieus si con el es,
sol aitan petit com ieu ai qu'el penria segon c'ai pres
e lo pensamen e l'esmai etz el faria seguon que'm fai.
Man sieht, daß die von Bartsch in seinem Grundriß unter Nr. 461,
52 und 53 aufgeführten Stücke nicht zwei, sondern eines sind.
Peire Cardinal 51
Ich möchte wohl, wenn's möglich war,
daß Gott bekam, was ich bekam:
die Sorgen all' und all' den Gram,
und daß ich Gott war' so wie er.
Dann ging' es ihm wie mir geschah,
ich zahlt' ihm, was mir ward, zurück.
Da immer nur den Schlechten ja
gewährt wird seiner Güter Glück,
so hole er sich dort den Dank
und nicht bei mir für solche Gaben;
mir lieh er keinen Heller blank,
die Seele nur — die mag er haben.
Ob dieses Verschen nun von Cardinal ist, dem es aller-
dings gleichsieht, oder von einem andern — für mehr als
einen Witz wird man es kaum nehmen dürfen. Was aber das
Rügelied Cardinais betrifft, so möchte ich durch die Übertrei-
bungen Reuters mich nicht in den entgegengesetzten Irrtum
treiben lassen. Eine rein literarische Spielerei darin zu er-
blicken, wäre bequem, aber Cardinal ist nicht der Mann, um
völlig harmlos mit den jenseitigen Dingen zu tändeln. Dazu
ist er viel zu schwer, zu tief und nicht gedankenlos genug;
dazu ist auch die Sprache seines Liedes zu nachdrücklich, zu
scharf, zu nackt und nicht launig genug. Wie so oft bei un-
serem Dichter, umschlingen auch hier sich komische mit ernst-
haften Tönen und überlieferte Formen mit seelischen Erleb-
nissen und eigenen bitteren Gedanken. Kein Zweifel, daß der
geistlich gebildete Herr von der Lehre der Katharer oder, wie
sie in seiner Heimat hießen, der Albigenser gehört hatte. In
Toulouse wimmelte es von Albigensern. Graf Raimund VI.
ließ sie gewähren und hatte, ohne ihrer Sekte beizutreten, eine
schlecht verhehlte Neigung für sie. Die höfischen Kreise des
Languedoc, in denen Cardinal sich bewegte, nahmen diesen
Ketzern gegenüber zumeist eine merkwürdig zweideutige Stel-
lung ein. Äußerlich katholisch, im Grunde ihres Herzens
gleichgültig, weltlich oder gar kirchenfeindlich, durch einen
4*
I
52 6. Abhandlung: Karl Vossler
neugierigen lebhaften Verstand zum Spiel mit allen Kühn-
heiten des Zweifeins und Denkens getrieben, stolz auf ihr vor-
nehmes Freidenkertum, liebten sie es mit katharischen, wal-
densischen, jüdischen Lehren zu kokettieren. In Wahrheit
freilich galt ihnen jeder ernste Glaube und jede demütige Ver-
ehrung als eine Eigenart rückständiger Bildung. Insbesondere
ließ ihnen ihr vornehmer, respektloser Individualismus den
Zwang der religiösen Gemeinschaften, kirchlicher sowohl wie
sektiererischer Art, als etwas Unleidliches und nur dem nie-
deren Volke Ziemliches erscheinen.^) Man kann an der reli-
giösen Haltung der südfranzösischen Aristokratie zu Ende des
12. und Anfang des 13. Jahrhunderts schon all die Wider-
sprüche und Schwankungen beobachten, schon jene gedanken-
lose Spaltung und Doppelung des Gewissens zwischen Welt-
lichkeit und Kirchlichkeit, die im Zeitalter der italienischen
Renaissance zu einem allgemeinen Zustand der vornehmen ge-
sellschaftlichen Geistesbildung v^urde. So ungefähr sah die
Zuhörerschaft aus, die dem Rügelied Cardinais Beifall spendete.
Von Cardinal selbst aber wissen wir, wie glühend er die
kirchlichen Anstifter und die weltlichen Vorkämpfer des Kreuz-
zuges gegen die Albigenser gehaßt hat. Wenn er mit ansehen
mußte, wie die schönen Städte und Schlösser seiner Heimat
von habgierigen Frömmlern und irregeleiteten Fanatikern ver-
wüstet und viele Tausende unschuldiger Menschen hinge-
schlachtet wurden, da konnte ihm wohl manchmal, ähnlich
wie den verfolgten Katharern, das irdische Dasein als Hölle
und Fegfeuer und die Welt als das Reich eines bösen Dämons
erscheinen; und wie ein schöner Traum konnte ihm die Hoff-
nung der Katharer auf Rettung und Erlösung der gesamten
sündigen Menschheit am Ende aller Tage verführerisch winken.^)
^) Vgl. A. Luchaire, Innocent III. La Croisade des Albigeois, Paris
1905, S. 32 und H. Reuter a. a. 0. II, S. 41 f.
2) Über die Glaubenslehre der Katharer vgl. die Artikel „Albigeois"
und „Cathares" in Vacant und Mangenet, Dictionn. de theol. cath. Paris
1903 ff., wo man die Quellen und die Literatur verzeichnet findet. Nach-
zutragen ist .Tean Guiraud, Cartulaire de Notre-Dame de Prouille, pre-
Peire Cardinal 53
Als derartige Stimmungen ihn anwandelten, mag der lyrische
Keim zu dem Rügelied gegen Gott in sein Gemüt gefallen
sein. Je mehr dann aber das Motiv ihm ins Bewußtsein trat,
desto stärker mochten die Hemmungen sich geltend machen:
seine Überlegung, seine kirchliche Erziehung, seine literarischen
Erinnerungen, seine trobadormäßigen Gewohnheiten, sein Witz
vor allem erwachten : und die aufrührerische Regung des Her-
zens wurde notdürftig gedämpft und zu einem halb spielmanns-
mäßigen, halb höfischen, scherzhaften Einfall abgekühlt. Aber
die Entgiftung ist nicht zu Ende gediehen, die ketzerische
Anwandlung zwar maskiert, aber nicht beseitigt, die eigene
Bitterkeit im Lachen verhüllt, aber nicht gelöst. So kam ein
Gebilde von forcierter Laune und gezwungenem Witz zustande,
das uns zweideutig anmutet, uns psychologisch und historisch
aufs lebhafteste interessieren, aber künstlerisch nicht ganz be-
friedigen kann. In dieser Weise ungefähr darf man sich die
Entstehung und Bedeutung des Gedichtes vielleicht zurecht-
legen.
Im übrigen liegt titanischer Trotz so wenig wie geist-
reich elnder Leichtsinn in Cardinais Sinnesart. Zwischen seinem
cede d'une etude sur Falbigeisme languedocien au XII^ et XIII ^ s. Paris
1907 und die ausführliche Besprechung des Werkes durch A. Luchaire
im Journal des Savants 1908, S. 17 ff., sowie die Studien von Vidal in
der Revue des quest. hist. 1906 — 1909. Über die Gedanken der Albi-
genser bezüglich der Erlösung der gesamten Menschheit vgl. besonders
Vidal, Revue 1909 (Bd. XLI), S. 395—97. „Omnes finaliter, ad minus in
die judicii, salvabuntur" soll der albigensische Prediger Jacques Autier
gelehrt haben; von einem andern, P. Garcias de Bourguet, wird gar be-
richtet, er habe gesagt: Quod si teneret illum Deum qui de mille ho-
minibus ab eo factis unum salvaret et omnes alios damnaret, ipsum
dirumperet et dilaceraret unguibus et dentibus tanquam perfidum, et
spueret in faciem eius, addens: de gutta cadat ipse! (Möge er die Gicht
kriegen!) Vgl. auch C Schmidt, Hist. et doctrine de la secte des Cath.
ou Albigeois, Paris und Genf 1849, II, S. 47 ff. Im übrigen hat Cardinal
natürlich nicht das Glaubenssystem der Katharer darstellen wollen, son-
dern trägt in durchaus unverbindlicher Weise seine persönlichen Einfälle
und Augenblicks wünsche vor, die in der geistigen Luft seiner Zeit nicht
umhin können, eine albigensische Färbung anzunehmen.
54 6. Abhandlung: Karl^ Vossler
religiösen Glauben und dem der Katharer lassen sich feste Be-
rührungspunkte kaum erweisen. Viel eher konnten diese auf
ihn als er auf sie sich berufen. Man weiß, daß ihre Prediger,
wenn sie die Gemeinde vor der katholischen Geistlichkeit warnen
wollten, das berühmte Rügelied Cardinais zu zitieren pflegten:
Li clerc se fan pastor (Nr. 31) und die dort erwähnte Fabel
vom Wolf in Schafskleidern sich zunutze machten.^) In politi-
scher und ethischer Hinsicht freilich hat Cardinal mit seinen
Sirventesen sich so entschieden für die Sache der verfolgten
Albigenser, genauer für jene der Grafen von Toulouse ein-
gesetzt, daß man ihn neuerdings für den Verfasser des zweiten
Teiles der großen epischen Dichtung über den Albigenser-
kreuzzug gehalten hat.^) Der erste Teil stammt bekanntlich
von Guillaume de Tudele und ist in einem den Albigensern
feindlichen Sinne gehalten. Der zweite, größere und wichtigere
Teil (Vers 2769 — 9578) schließt sich ohne weiteres daran an
und führt die Erzählung in entgegengesetztem, den Albigen-
sern günstigem Sinne von den Ereignissen des Jahres 1212
ab weiter bis zum Beginne der dritten, ebenfalls vergeblichen
Belagerung von Toulouse am 16. Juni 1219. Der französische
Gelehrte C. Fahre glaubt nun, mit Bestimmtheit nachweisen
zu können, daß kein anderer als Cardinal diesen zweiten Teil
gedichtet habe. Den eigentlichen Nachweis freilich ist er bis
jetzt, soviel ich weiß, schuldig geblieben und hat ihn nur in
einem Privatbrief an Joseph Anglade angedeutet. Anglade hat
das Folgende darüber mitgeteilt: „M. C. Fahre croit que c'est
le grand troubadour Peire Cardenal, ce qui, en ce qui con-
cerne le style et le mouvement, n'aurait rien d'etonnant (cf.
Melanges Chabaneau, p. 264). Dans une communication qu'il
a bien voulu me faire, M. Fahre m'ecrit qu'il fonde son hypo-
^) Vgl, J. M. Vidal, Les derniers ministres de Falbigeisme en Lan-
guedoc in der Revue des quest. bist. Nouvelle serie, T. XLI, Paris 1906,
S. 393 f. Der kritische Text des Cardinaischen Sirventes in Appels Prov.
Chrestom. Nr. 76.
2) La Chanson de ]a Croisade contre les Albigeois, herausgeg. von
P. Meyer, zwei Bände, Paris 1875—79.
Peire Cardinal 55
these sur les faits suivants: trois pieces de Peire Cardenal se
retrouvenfc presque litteralement dans le poeme de la Croisade,
une autre est imitee; il s'y trouve plusieurs Souvenirs du Puy;
le style est tres souvent celui de Cardenal, et enfin les parti-
cularites dialectales de la Chanson sont Celles de la langue du
Puy au treizieme siecle. — Ce n'est pas le lieu de discuter
ici cette seduisante Hypothese, mais si eile etait fondee, on ne
serait plus etonne du talent litteraire et de la hauteur de pens^e
qui se revelent dans la seconde partie de la Chanson.'''^) Nach-
dem ich der Sache nachgegangen bin, glaube ich mit Be-
stimmtheit versichern zu können, daß Cardinal nicht der Ver-
fasser ist. Von den drei Liedern, die sich „buchstäblich" im
Epos wiederfinden sollen, keine Spur — es sei denn, daß man
das Wort „buchstäblich" nicht buchstäblich, sondern genia-
lisch nehme. An der Ähnlichkeit der Gesinnung des unge-
nannten Epikers mit unserem Satiriker hat freilich noch nie-
mand gezweifelt. Daß sich daraus ähnliche Wendungen und
Sprüche ergeben, ist bei Dichtern, die sich zeitlich und viel-
leicht auch sprachlich so nahe stehen, nicht weiter wunderbar.
Die Verse 4132—4144 z. B., oder 4328—4335, oder 6482 ff.,
oder 6591 ff., oder 8684 ff. und meinethalben noch einige an-
dere, vereinzelte Stellen könnten zur Not von Cardinal ge-
schrieben sein , aber niemals das Epos als Ganzes. Jeder
Dichter hat, sozusagen überhalb des zeitlich und örtlich be-
dingten allgemeinen Wortschatzes, seine besonderen Lieblings-
wörter, sein individuelles Sprachgut. Wenn nun gerade die
ausgesprochensten Leibwörter des Epos wie gladers, hrutles,
manenjar für manjar, mercadals für mercatz und ganz beson-
ders amarvir bei Cardinal überhaupt nicht vorkommen, so gibt
dies zu denken. Andererseits wird das Wort harrey, das dem
Cardinal so geläufig ist, im Albigenserepos niemals gebraucht,
so oft auch von der Sache selbst die R,ede sein mag. Es wird
dann immer durch harrejamen oder barrejar ersetzt. Neben
den Lieblingswörtern die Lieblingsbegriffe. Ein solcher, der
^) Jos. Anglade, la Bataille de Muret d'apres la Chanson de la Croi-
sade, Toulouse-Paris 1913, S. 15, Anm. 1. *
56 6. Abhandlung: Karl Vossler
wie ein bedeutungsvolles Echo im Epos immer wiederkehrt,
ist parage, womit der Dichter alles Hohe und Adelige im ge-
sellschaftlichen wie im sittlichen Sinne umfaßt. Aber von pa-
rage ist in den Liedern Cardinais, soviel ich sehen konnte,
kein einziges Mal die Rede; und doch hätte die Absicht dieser
Lieder und Lehrgedichte tausend Anlässe geboten, das Wort
im Sinne des Epikers zu gebrauchen.^) Dieser Epiker hat
eine ausgesprochene Neigung und Begabung zum Landschafts-
bild, das er mit militärischen Szenen stimmungsvoll zu beleben
und zu einem Fest für Auge und Ohr zu gestalten weiß. Eine
der glanzvollsten Stellen in seiner Erzählung ist die Ankunft
der Hilfstruppen, die von Marseille her zum Entsatz von Beau-
caire kommen: die Rhone herauf zu Schiff und zu Land.
Per mei Taiga del Rozer cantan li remador;
el primer cap denant so li governador
que atempran las velas, e Ih'arquier e'l nautor;
e li corn e las trompas e ' Is cimbol e * Ih tabor
fan retindir e braire la ribeira e l'albor.
Li escutz e las lansas e la onda qui cor,
e l'azurs e * 1 vermelhs e ' 1 vert am la blancor,
e l'aur fis e l'argens mesclan la resplandor
del solelh e de Taiga, que partig la brumor.
En' Ancelmetz per terra e sei cavalgador
cavalgan ab gran joia ab la clara lugor,
ab SOS cavals cubertz, e denant Tauriflor.
De totas partz escridon Toloza! li milhor,
per Tondrat fil del comte que cobra sa honor,
e intran a Belcaire.^)
i
^) Einmal allerdings, nämlich in der 14. Strophe der Gesta Car
mot home fan vers hätte Cardinal das Wort parage gebraucht, wenn
dieses Gedicht, wie Fahre zu glauben scheint (vgl. Melange Chabaneau,
Roman. Forschungen Bd. 23, S. 263 ff.), tatsächlich von Cardinal wäre-
Daß es aber nicht diesem, sondern einem seiner späten Nachahmer Rai-
mon de Cornet zuzusprechen ist, hat Chabaneau gezeigt. Noulet et Cha-
baneau, Deux mss. prov. du XIV e siecle, Montpellier-Paris 1888, S. 2 u. 141.
2) Vers 44Glff. Ähnliche Prachtbilder findet man Vers 6627 ff. und
Peire Cardinal 57
Vom Rhonestrome her erschallt der Rud'rer Sang
und auf der Schiffe Bug sieht man den Steuermann,
wie er die Segel spannt, Matrosen und Soldat.
Hörner, Trompetenstoß, Zimbeln und Paukenschall
klingt nach dem Ufer hallend im ersten Licht des Tags.
Die Schilde und die Lanzen, der flinken Wellen Glanz
und tiefes Blau und Rot und Grün und weiße Färb'
und pures Gold und Silber vermischen sich zumal
mit Sonn' und Flusses Schimmern, indes der Nebel wallt.
Herr Anselm kommt am Ufer mit seiner Ritterschar
geritten frohgemut im hellen Sonnenstrahl:
die Rosse mit Schabracken, das Banner hoch voran.
Von allen Seiten klingts: Tolosa! kühn und stark,
des Grafen Sohn" zu Ehren, der seine Ehre wahrt.
So zieh'n sie nach Belcaire.
Diese sinnliche Bildhaftigkeit ist Cardinal ganz und gar
versagt. Kein einziges Naturgemälde, keine Landschaft, keine
Farben- und Klangschilderung in seinen Liedern. Wo er
Bilder gebraucht, da werden sie ihm zu Vergleichen, die sich
an den Verstand und das sittliche Gefühl richten, aber unsere
Sinnlichkeit leer lassen. Will er je einmal ein Schlachten-
gemälde entwerfen, so muß er sich an Bertran von Born an-
lehnen und bleibt trotzdem noch blaß.^) Das dichterische
Reich Cardinais ist die unsichtbare Welt der sittlichen und
religiösen Werte, während der Erzähler des Albigenserkrieges
ganz in irdischen Ereignissen und Erscheinungen und in den
einzelnen Persönlichkeiten aufgeht, deren Charaktere er mit
einer Unmittelbarkeit sich bewegen und aussprechen läßt und
mit einer Kunst der Individualisierung darstellt,^) wie sie bei
Cardinal nirgends zu beobachten ist. Cardinal müßte sich, um
5979 ff. Man vergleiche auch das Stimmungsbild nach dem Tode des
Simon von Montfort, Vers 8492 ff. i) Vgl. Lied Nr. 56.
2) Man vergleiche Szenen wie den Abschied Raimunds VI. und dessen
Sohnes vom Papst oder die heuchlerische Rede des Folquet von Marseille
an die Bürger von Toulouse.
I
58 6. Abhandlung: Karl^ Vossler
dieses Epos zu schreiben, einen ganz anderen, primitiveren
Kopf aufgesetzt und ein viel heißeres Blutgemisch eingespritzt
haben, als uns an ihm bekannt ist.
Wenn er aber, aller philologischen und menschlichen
Wahrscheinlichkeit zum Hohne, es dennoch sollte geschrieben
haben, so wäre dies noch lange kein Beweis für seine Zuge-
hörigkeit zum Albigensertum, noch, wie Fahre möchte, zum
Waldensertum. Etwas anderes ist die politische Parteinahme,
etwas anderes das religiöse Bekenntnis. Man weiß wie fast
alle politischen und militärischen Führer der bedrängten Süd-
franzosen, Graf Raimund voran, sich in der Versicherung ihrer
Rechtgläubigkeit gar nicht genug tun konnten und wie sie
bestrebt waren, den ganzen Krieg als einen rein politischen
hinzustellen, bei dem der Kampf gegen die Irrlehre dem heuch-
lerischen Gegner nur als Yorwand diene. Die Worte, die das
Albigenserepos dem Grafen von Comminges in den Mund legt,
sind dem ganzen südfranzösischen Adel und gewiß auch dem
Dichter selbst — wer er nun gewesen sein mag — aus dem
Herzen gesprochen:
E si la Santa Glieiza ni'ls sieus prezicador
nos fan mal ni dampnatge, ja non fassam a lor,
mas preguem Ihesu Christ lo paire redemptor
que denant l'apostoli'ns do tal razonador
que nos ab santa Gleiza aiam patz e amor;
e del mal e del be qu'es entre nos e lor
ne metrem Ihesu Crist sabent e jutjador.^)
Mag auch die heil'ge Kirche und ihrer Prediger Wort
uns unrecht tun und schaden: wir ihnen nicht jedoch.
Wir fleh'n zu Jesu Christ, der aller Gnade Hort,
daß er beim Papst uns solchen Fürsprecher geben woll',
der mit der heil'gen Kirche Versöhnung uns besorg'.
Was zwischen uns und ihnen an Recht und Unrecht schon
geschah, das legen wir vor Christi Richterthron.
J) a. a. 0. Vers 6763 ff.
Peire Cardinal 59
Es ging mit den Irrlehren und Reformbestrebungen von
damals ähnlich wie mit den Modernisten von heute. Nach-
dem sie von der kirchlichen Autorität festfjenaofelt und ver-
dämmt waren, wollte niemand von dem in Bausch und Bogen
ergangenen Bannstrahl sich getroffen wissen. Der Appell von
der kirchlichen Entscheidung an das Gericht Gottes oder an
das eigene Gewissen war der gegebene Ausweg, und noch eher
der Appell von dem mangelhaft unterrichteten an den besser
zu unterrichtenden Heiligen Vater. Diese Ausflucht blieb für
kirchliche Gemüter gerade damals umso gangbarer, als man
sehr wohl wußte, daß Innozenz III. weit entfernt war, mit allen
Maßnahmen eines Arnaut Amalric oder eines Simon von Mont-
fort einverstanden zu sein. Die neueren Forschungen von
Achille Luchaire haben gezeigt, wie dringlich der Papst zur
Milde riet und wie gerne er die rächenden Geister der Recht-
gläubigkeit, die er gerufen hatte, wieder los geworden wäre.^)
Vielleicht hängt es mit dieser Zurückhaltung des dritten
Innozenz zusammen, daß von den vielen und scharfen Aus-
fällen, die Cardinal gegen die katholische Geistlichkeit macl^t,
der Papst das Wenigste abbekommt. Nur im Zusammenhang
mit der allgemeinen Entartung und Verweltlichung wird auch
er, in gewissem Sinne der Vollständigkeit zuliebe, an seine
Pflicht erinnert.
Aus tu que Gleyza governas
e cobeitas e campernas
l'autruy dreg? del tort t'infernas,
si Caritat no * t defen.
Car si a tort escumenjas,
de tu meteis cre que * t venjas,
que no * s tanh las gens destrenjas
mas taut c'a razon cossen.^)
^) Luchaire, Innocent III. La Croisade des Albigeois, Paris 1905.
2) Nr. 27, Str. 29 (Mahn, Werke II, S. 204). Solange kein kritischer
Text dieses Stückes vorliegt, bleibt immer noch der Zweifel übrig, daß
die angeführten Strophen von fremder Hand eingeschoben sind.
60 6. Abhandlung: Karl Yossler
Merke, der du lenkst die Kirche
und begehrlich in die Rechte
andrer greifst, daß in die Hölle
Unrecht führt, wenn Liebe fehlt.
Wider Recht den Bannstrahl schleudernd
, dienst du nur der eig'nen Rache.
Sollst die Menschen nicht be'drängen,
wenn's zur Sache nicht gehört.
Außerdem wird nur in Nr. 16, Str. 4^) noch der Papst
samt seinen Legaten und Kardinälen der allzu großen Nach-
sicht gegen die Reichen und Mächtigen beschuldigt.
L'apostoli * h legat e * 1 cardenal
s'acordon tug et an fag establir
que qui no's pot de trassion esdir,
s'aver non a, fassa * Ih hom lo senhal.
Es haben Papst, Legate, Kardinal'
in Einheit miteinander festgesetzt,
daß wen man des Verrates überführt,
sofern er nichts besitzt, brandmarken soll.
Von dem Kampf zwischen Kaiser und Papst läßt Cardi-
nais Dichtung sich kaum berühren, wie überhaupt die proven-
zalischen Trobadors, im Vergleich mit den deutschen, gerade
in dieser Sache sich nur selten erwärmt haben. ^)
Daß Cardinal sowenig wie den Katharern den Waldensern
angehört hat, glaube ich mit Bestimmtheit versichern zu können.
Gerade in seiner Eigenschaft als Sittenrichter der katholischen
Geistlichkeit mußte ihm viel daran liegen, an seiner eigenen
1) Mahn, Gedichte 983.
'^) Siehe Wilh. Nickel, Sirventes und Spruchdichtung, Heft 63 der
Palästra, Berlin 1907, S. 32 ff. Auch die vulgärsprachliche Dichtung der
Italiener ist hier ziemlich teilnahmslos geblieben. Vgl. meine Unter-
suchung über „Weltgeschichte und Politik in der italienischen Dichtung
vor Dante" in den Studien zur vergleich. Literaturgeschichte, III. Band,
Berlin 1903, S. 129 ff.
Peire Cardinal 61
Rechtgläubigkeit keine Zweifel aufkommen zu lassen. Wenn
er, was er doch so ehrlich und leidenschaftlich angestrebt hat,
Eindruck machen und sittliche Besserung wirken wollte, durfte
er sich dem Verdacht, ein Abtrünniger zu sein, um keinen
Preis aussetzen. So hat er denn auch sein Estribot gegen den
Klerus mit einem ausdrücklichen Bekenntnis zum Katholizis-
mus eröffnet.^) In seinem Sermon ermahnt er die Laien zum
schlichten kirchlichen Gehorsam und warnt sie an den Worten
des Priesters zu deuteln.
Dieus no vol sias toleire,
e vol cregas ton preveire,
qu'el(s) ben que * t mostra deves creire
senes tot corrumpament.'^)
Du sollst den andern nichts entwenden,
du sollst auch deinem Priester glauben
und seiner guten Lehre folgen,
sie nicht entstellen irgendwie.
Die Waldenser verehrten zwar die heilige Jungfrau, aber
beteten nicht zu ihr. Das Ave Maria galt ihnen nur als Gruß,
nicht als Gebet. ^) Von Cardinal dagegen besitzen wir ein
Marienlied: Vera vergena Maria (Nr. 70),*) das nach Form und
Inhalt sich ganz den kathohschen Gepflogenheiten anschließt.
Lobgesang und Gebet zugleich, macht es vor allem durch die
Abwesenheit persönlicher Gedanken einen durchaus kirchlichen
Eindruck. Die fünfte Strophe zeigt den bibelfesten Gottes-
gelehrten :
David en la prophetia
dis, en un salme que fes,
qu'al destre de Dieu sezia,
del rey en la ley promes,
una reyna qu'avia
i) Appel, Prov. Chrestora. Nr. 79. 2) n^.^ 27, Str. 73.
^) Herzog, Die romanischen Waldenser, Halle 1853, S. 193 u. 211.
4) Gedruckt bei Rnyn. Choix IV, 442 und Mahn, Werke H, 199.
62 6. Abhandlung: Karl Vossler
vestirs de var e d'aurfres;
tu yest elha, ses falhia,-
non o pot vedar plaides.
Cardinal weiß also, daß die katholische Kirche den 10. Vers
des 44. Psalms: Astiüt regina a dexteris tuis in vestitu deauratOt
circumdata varietate als einen prophetischen Hinweis auf die
heilige Jungfrau deutet. Solche Bezugnahmen auf alttesta-
mentliche Ankündigungen der Mutter Gottes finden sich auch in
den lateinischen Marienliedern des 12. und 13. Jahrhunderts.^)
Und nicht nur für den Gedankengang, sogar für die äußere
Form des Cardinaischen Gedichtes sind diese lateinischen Marien-
lieder vorbildlich gewesen. Hier dürfte er für seinen Refrain
De patz, si't plai, dona, traita
qu'ab ton filh me sia faita
die Beispiele gefunden haben. Wenigstens ist uns in der pro-
venzalischen Dichtung vor Cardinal keine ähnliche Marien-
Ballade bekannt,^) während in den lateinischen Marienliedern
der zwei- und mehrzeilige Refrain schon seit dem 12. Jahr-
hundert etwas Geläufiges ist. Auf ein Stück besonders möchte
ich hinweisen, das nach Refrain sowohl wie nach Gedanken-
gang dem Cardinaischen Gedichte ziemlich nahe steht.
1. Ave, virgo egregia,
Maria, plena gratia,
orta de stirpe regia,
fac tuum filium
nobis propitium,
ut donet vitae praemium
et coeleste consortium.
^) Vgl. G. M. Dreves, Analecta hymnica medii aevi, Bd. XX, Leip-
zig 1895, z. B. Nr. 188, Str. 10.
2) Höchstens ein lateinisch- pro venzalischer Wechselgesang für das
Weihnachtsfest mit dem Refrain De virgine Maria könnte in Betracht
kommen. Text veröffentlicht von F. Meyer, Anciennes poesies relig. en
langue d'oc in der Bibl. de l'ec. des Chartes, 5^ serie, vol. I. Aus der-.
Pelre Cardinal 63
2. Sancta Maria domina,
excusa nostra crimina
et exaudi praecamina,
fac tu um etc.
5. Per Evam vita perdita
est mundo per te reddita,
Clemens et virgo inclita,
fac tuum etc.
6. Mater Christi piissima,
ejusque dextrae proxima
semper sedens sanctissima,
fac tuum etc.
8. Virgo, sole prefulgida
et plus quam luna splendida
marisque stella lucida,
fac tuum etc.^)
Nicht daß wir hier das unmittelbare Vorbild hätten (denn
in Versbau und Reim bleibt Cardinal bei der trobadormäßigen
Technik), wohl aber kann das lateinische Lied mit einigen
anderen des 12. und 13. Jahrhunderts zusammen^) als ein typi-
scher Vertreter jener kirchlichen Tradition gelten, aus der
Cardinal geschöpft haben muß. Auch die Häufung der Attri-
bute der heiligen Jungfrau und deren Verbindung durch Al-
literation in der Eingangsstrophe Cardinais ist ein echt kirchen-
lateinischer Kunstgriff.^)
selben Hs. (Ms. lat. 1139 der Bibl. nat.) hat Meyer auch den ältesten pro-
venzalischen Mariengesang : 0 Maria Den maire a. a. 0. mitgeteilt.
1) Dreves, a. a. 0. Nr. 232. Die 3., 4. und 7. Strophe habe ich als
weniger charakteristisch ausgelassen.
2) Man vergleiche besonders noch Nr. 186 bei Dreves a. a. 0.
^) Aus der ersten Strophe des Marienliedes von Peire de Corbiac
(Bartsch, Chrestom. prov. Sp. 209) geht hervor, daß lateinische und pro-
venzalische Marienlyrik in engem Zusammenhang standen und daß die
Verwendung der lenga romana eher die Ausnahme als die Regel war.
Häufiger werden die Marienlieder erst nach der Mitte des 13. Jahrhun-
I
64 6. Abhandlung: Karl Vossler
Als Knabe und Jüngling schon mag unser Dichter reich-
lich Gelegenheit gehabt haben, in seiner Heimatstadt solche
Marienlieder singen zu hören; denn die Kirche Notre-Dame in
Le Puy war einer der wichtigsten Ausgangspunkte des Marien-
kultes im Languedoc. Hier hatten sich im 12. Jahrhundert
die sogenannten Capuciati oder Confreres de la Paix als be-
sonders eifrige Anbeter der heiligen Jungfrau organisiert.^)
Für die rechtgläubige Selbstverständlichkeit, mit der Car-
dinal die weltliche Kunst des Trobadors mit dem kirchlichen
Wissen und Denken des Geistlichen erfüllt, kann auch sein Lied
auf das Kreuz Christi Dels quatre caps que a la cros (Nr. 15)*)
Zeugnis ablegen. Strophenbau, Versart und Reime sind einer
bekannten Minnekanzone des Jaufre Rudel (Quand lo rossi-
gndls el foillos) nachgebildet, während das Thema zweifellos
der lateinischen Kirchendichtung entnommen ist. Schon in
dem Hymnar der Abtei zu Moissac aus dem 10. Jahrhundert
wird dieser Gegenstand behandelt,^) und in den folgenden Jahr-
hunderten findet man kaum eine Sammlung von Hymnen, Pro-
sen, Sequenzen, Psalterien und Diktaminas, wo er fehlte. Die
Grundgedanken Cardinais: daß das Todesholz das Holz des
Lebens und der Baum der Erkenntnis sei und das Zeichen
des Schmerzes zugleich das des Sieges, gehören zu den Gemein-
plätzen der lateinischen Dichtung. Etwas seltener begegnet man
der von Cardinal gegebenen Ausdeutung der Form des Kreuzes:
Dels quatre caps que a la cros
ten l'us sus ves lo firmamen,
derts. Unter den 34 „provenz. geistl. Liedern* aus dem Jahre 1254 (Bekker,
Abhandl. der Akad. in Berlin 1842) sind neun der hl. Jungfrau gewidmet.
1) Siehe Alphandery, Les idees morales chez les heterodoxes latins
au debut du XIII e s. Paris 1903 (Bd. 16 der Bibl. de l'ec. des hautes
etudes [Sciences relig.]), S. 17 fF. und A. Luchaire, La societe fran9aise au
temps de Philippe Auguste, Paris 1909, S, 13—20. Anrufung der heiligen
Jungfrau findet sich bei Cardinal auch sonst noch: im Geleit zu Nr. 25,
in der zweitletzten Strophe von Nr. 27, ja sogar im Geleit zu dem oben
besprochenen Rügelied gegen Gott (Nr. 67).
2) Rayn. Choix IV, 444 und Mahn, Werke II, S. 200.
^) Dreves, Analecta hymnica II, Nr. 119.
Peire Cardinal 60
l'autre ves abis qu'es dejos
e l'autre ten ves orien
e l'autre ten ves occiden,
e per aitel entresenha
que Crist 0 a tot en poder.
Doch fehlt es auch dazu nicht an Parallelen. In einer
Sequenz des 12. Jahrhunderts heißt es:
quatuor per crucis cornua
viva pacis hostia —
quatuor per mundi climata
rumpens mortis vincula —
in einer andern:
Ipsa crucis quadra forma
spiritali monstrat norma,
spes ut sursum sit in caelis,
mens profundo sit fidelis,
Caritate dilatetur,
ferat longum, quo probetur.^)
Innozenz III. lehrte in seinen Büchern „Mysteriorum evan-
gelicae legis et sacramenti eucharistiae", daß man das Zeichen
des Kreuzes von oben nach unten zu machen habe, weil Chri-
stus vom Himmel zur Erde gefahren sei, und von rechts nach
links, weil er von den Juden zu den Heiden ging.^) Schon
die Viktoriner brachten die Form des Kreuzes mit der Jakobs-
leiter in Verbindung und deuteten sie mit Hilfe der anschlie-
ßenden Prophezeiung: „dilataberis ad occidentem, et orientem,
et septentrionem, et meridiem" (Genesis, XXVIII, 14).^)
Unser Hinweis auf die kirchenlateinische Literatur will
keineswegs die Möglichkeit ausschließen, daß auch in proven-
zalischer Sprache eine religiöse, wesentlich volkstümliche Dich-
tung bestand, aus deren Formenschatz und Gedankengehalt
1) Anal. hymu. Bd. VIII, Nr. 20 und 21. Vgl. auch Bd. XXXV, die
16. Strophe des Psalteriums Sanctae crucis.
2) Lib. II, cap. 45 (Migne, Patrol. lat. 217, Sp. 824f.).
3) Migne, Patrol. lat. 177, Sp. 386.
Sitz^sb. d. philos.-pbilol. u. d. bist. Kl. Jabrg. 1916, 6. Abb. &
ße
6. Abhandlung: Karl Vossler
Cardinal gelegentlich schöpfen konnte. Ja, die Vermutung
wird sogar zur Wahrscheinlichkeit, wenn man die Schlußverse
jenes langen zweiteiligen Passions- und Beichtgedichtes, das zu
den älteren provenzalischen Proben gehört, mit den Schluß-
versen von Cardinais Reimpredigt zusammenhält.
E prec te per tas piagas
qua de mi merce aias
al teu aveniment.
E prec te per ta crost
e per ta sancta vots
que disit umilment
Quant abellest Eli
e'l cap tenguist ecli
al paire omnipoten,
Que ■ m tolas de senestre
e"m metas al las dextre
al teu sanc jutgament.
E pecat criminal
ni negus autre mal
no'm sia damnament.
Perdona 'm per ta mort
ta ira, don ai tort,
que non posc far emendament.
E per ta resurrexio,
e s'auuis ma oraso,
Deus meus amen,
E pel teu nom mirable,
defen me de diable,
d'efern e del torment;
E met m'e paradis
on om no velesis
ni no mor ni no ment,
Mi e mos bevolent
e mos propris parenz,
totas tas autras gens.
Qu'eu die pater noster pel seu enten-
demen.^)
Cardinal :
Preguem doncx qui * ns apana
e pres per nos carn humana,
que ' ns don far via sertana
com tengam ves lui breumen.
E preguem sa doussa raaire
que'ns enseigne e'ns esclaire
ab son filh et ab son paire
tan per qu'en siam jauzen.
E tug digam en Amen
gratias al seinhor valen,
que el nos gart del tormen
d'enfern orrible e puden.
Amen.
1) P. Meyer, der das Stück veröffentlicht hat (Anciennes poesies
relig. a. a. 0.), meint, daß diese Verse an den Schluß von Cardinais Tara-
tassa ni voutor (Nr. 55) erinnern; doch scheint mir dort die Ähnlichkeit
viel weniger auffallend als hier.
Peire Cardinal 67
Im übrigen ist uns von volkstümlicher religiöser Dichtung
aus den Tagen Cardinais so wenig erhalten, daß ihre Spuren
in den Liedern unseres Trobadors sich mit Bestimmtheit nicht
mehr erweisen lassen. Auch scheint es, daß die katholische
Geistlichkeit die Fühlung mit dem niederen Volke gerade da-
mals etwa in demselben Maße verlor, in dem die Bewegung
der Katharer und Waldenser um sich griff. Vielleicht hat eben
deshalb Cardinal sich bemüht, durch vereinfachte, der trobador-
mäßigen Künstelei und aller persönlichen Pose entkleidete
Dichtungen erbaulicher und belehrender Art die Kluft wieder
zu überbrücken.
Mit dieser volkstümelnden Wendung nähert er sich nun
freilich den Bestrebungen der Waldenser. Seine Stellung zu
ihnen wird man mit einiger Sicherheit nur dann bemessen,
wenn man sich über den merkwürdig schwankenden Gebrauch
des Wortes Vaudes Klarheit verschafft. Die Anhänger des
Petrus Valdus selbst pflegten sich Humiliati oder Pauperes
Lugdunenses zu nennen. Es ist auch „kaum ein Zweifel mög-
lich, daß, wenn die Bewegung innerhalb der Kirche hätte
bleiben können, die Genossen des Waldes, ähnlich wie die älte-
sten Jünger des heiligen Franz, als Gehilfen der römischen Geist-
lichkeit ihre Arbeit am Volk getan hätten."^) Im Jahre 1184
aber wurden sie von Papst Luzius III. zum ersten Male mit
dem Bann belegt, und ihre Gegner haben ihnen den Namen
Waldenser angeheftet,^) den sie selbst nicht gewählt hatten
und immer wieder abzuschütteln sich bemühten. Dies bezeugen
uns unter anderen die folgenden Worte der Nobla Leyczon:
Mas l'escriptura di, e nos o poen veir,
que si n'i a alcun bon que ame e tema Crist,
que non volha maudire, ni jurar, ni mentir,
ni avoutrar, ni aucire, ni penre de Fautrui,
1) Karl Müller, Die Waldenser und ihre einzelnen Gruppen bis zum
Anfang des 14. Jahrhunderts, Gotha 1886, S. 11.
2} Die älteste datierte Urkunde, in der er vorkommt, ist das Edikt
des Königs Alfons von Aragon vom Jahre 1192 (Hahn, Gesch. der Ketzer
im Mittelalter, Stuttgart 1845 ff., Bd. II, S. 703j.
■
ßS 6. Abhandlung: Karl Vossler
ni venjarse de li seo enemis,
ilh di9on qu'es Vaudes e degne de punir.*)
„Die Schrift aber sagt, und wir können es sehen, daß,
wenn es irgendeinen Guten gibt, der Jesum Christum liebt und
fürchtet, der nicht will fluchen, noch schwören, noch lügen,
noch ehebrechen, noch töten, noch den Nächsten berauben,
noch sich an seinen Feinden rächen, sie sagen, er sei ein
Waldenser und würdig Strafe zu leiden." In ganz ähnlichem
Sinne äußert sich nun auch unser Cardinal:
Mas Jacopi apres maniar non queza,
an[z] desputon del vin cals meillers es
et an de plaitz cort establia,
et es Vaudes qui'ls ne desvia.^)
Nach Tische ruh'n die Jakobiner nicht,
nein, streiten, welcher Wein der beste sei,
und setzen einen Weinrat ein,
und wer sie stört, ist ein Vaudes.
Eine gewisse Sympathie für die Waldenser läßt sich in
diesen Versen nicht verkennen, und man sieht, wie die Anti-
pathie gegen das Wohlleben der katholischen Geistlichkeit
dabei im Spiele ist. In der Sittenstrenge lag ja auch die
Stärke und Werbekraft der Waldenser, während sie, was die
Glaubenslehre betraf, sich möglichst auf dem Boden der Kirche
hielten. „Fides, ut ipsi dicunt, una est in ecclesia Romana et
in congregatione Waldensium, licet discrepantia sit in operi-
bus" schreibt der Dominikaner Moneta von Cremona.^) Ja,
1) Ant. De Stefano, La noble le^on des Vaudois du Piemont, texte
critique, introduction et glossaire, Paris 1909, vers 375 flP. (Genfer Dis-
sertation). Die Entstehungszeit der nobla leiczon ist mir auch nach den
Bemühungen De Stefanos, der sie an das Ende des 14. Jahrhunderts legen
möchte, noch immer zweifelhaft.
2) Nr. 1, Str. 2 (Mahn, Ged. 6 und 1233).
^) Adversus Catharos et Waldenses, Rom 1743. S. 405. Ähnlich der
Chronist Pierre de Vaux de Cernay (Recueil des Histor. de France,
XIX, S. 6).
Peire Cardinal 69
die Waldenser haben später im Verein mit den Katholiken
das Katharertum bekämpft.^) Warum sollte nicht auch unser
Cardinal im Kampf um die Reinheit der Sitten ihr Bundes-
genosse gewesen sein? Zu ihrer Sekte brauchte er darum
noch lange nicht zu gehören. Wenn man heutigentags als
Waldenser kurzweg die Mitglieder waldensischer Gemeinden
bezeichnet, so darf man nach den Forschungen von Karl Müler^)
mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß im romanischen Sprach-
gebrauch des Mittelalters der Name lediglich auf die apostoli-
schen Reiseprediger, die sogenannten perfecti bezogen wurde.
Zu Cardinais Zeit verstand man unter Vaudes eine Geheim-
gesellschaft von Wanderpredigern, die, in Nachahmung der
Apostel, all die Vorschriften der Aussendungsrede Christi im
10. Kapitel Matthaei buchstäblich befolgten. Sie zogen, zwei
und zwei, mit hölzernen Sandalen an den Füßen, in einfachen
Wollkleidern und ohne Geld von Ort zu Ort und ließen sich
auf Straßen und freien Plätzen hören. Es waren zumeist
Leute der ärmeren Klassen, Männer und Frauen ohne Unter-
schied. An dem Auftreten der Frauen als Prediger nahmen,
wie man sich denken kann, die Katholiken den größten An-
stoß.^) Und mit diesen bettelnden Männlein und Weiblein auf
Sandalen zusammen sollte Peire Cardinal, der höfische Troba-
dor, sich im Lande herumgetrieben haben? Fahre ahnt wohl
nicht, was er seinem Dichter zumutet, indem er ihn unter die
Waldenser steckt. Er erinnert sich wohl nicht mehr an eines
der bittersten Rügelieder Cardinais L'afar del comte Guio
(Nr. 28)*), wo es in der zweitletzten Strophe heißt:
Encaras sera'l sazo
que'l segle non aura ley
e'l clerc iran a torney
e femnas faran sermo.
*) Siehe Luchaire, im Journal des Savants 1908, S. 17 ff.
2) Die Waldenser, Gotha 1886. ^) Alphandery a. a. 0., S. 125.
*) Mahn, Ged. 1226, 1227 und 972.
I
70 6. Abhandlung: Karl 'Vossler
Nahe sind die Zeiten schon,
wo die Welt sich ganz verkehrt,
zum Turnier der Pfaffe geht
und das Weib die Predigt hält.
Wenn Theorie und Praxis ein und dasselbe wären, dann
freilich könnte Cardinal Waldenser gewesen sein; denn in den
Gedanken berührt er sich vielfach mit ihnen. Wie hätte ihre
schroffe und starre Art seinem doktrinären, begriffsfreudigen
Geiste nicht zusagen sollen? „Den Waldensern fehlte alles
Mystische, sie waren ebenso weit entfernt von der gefühlvollen
Frömmigkeit Bernhards wie von der liebenswürdigen Schwär-
merei des Heiligen von Assisi. Sie waren Moralisten, so schlicht
und gerade, aber auch so starr und unbeugsam, wie die Männer
zu sein pflegen, die vom Idealismus der Pflicht erfüllt sind."^)
Wie ihnen, ist auch unserem Dichter die schlaffe Bußpraxis
und das Ablafäwesen der Kirche verhaßt.
E s'ieu ia vuelh estrangolar romieu,
perdonat m'er, ab que done del mieu.
S'aver non ai, forfach ai pendemen,
e s'ai aver, manh lag tort me defen. (Nr. 16.)^)
Will ich erdrosseln einen Pilgersmann,
vergibt man mir, wenn ich 'ne Schenkung mach'.
Doch, hab' ich nichts, so werd' ich aufgehängt,
und hab' ich was, leist' ich mir manche Sund'.
Waldensisch gedacht könnte auch Cardinais Auffassung
des Meßopfers sein.
Aus tu que cantas las messas
e fas a Dieu tas promessas?
Si no so Sanas tas pessas,
obras a ton dampnamen.
^) A. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands IV, 3. und 4. Auflage.
Leipzig 1913, S. 898.
2) Leider ist dieses wichtige Rügelied nur lückenhaft in der einzigen
Peire Cardinal 71
Sei que fai lo sagrifizi
no*s tanh que 's pes null malvizi,
ni qu'en aquel panh s'afizi,
mas sol el sant sagraraen.*)
Merke, Priester, der die Messe
singt und seinem Gott gelobet,
wenn nicht ehrlich dein Gedank' ist,
schlägt's dir zur Verdammnis aus.
Jenem, der des Opfers waltet,
ziemt es nicht, unrein zu denken
und am Brote nur zu hangen,
sondern ganz am Sakrament.
In seiner Äußerung gegen das unnötige Schwören kann
man ebenfalls einen waldensischen Zug sehen. *
A! greu sera est segl'en l'estamen
que a estat, segon que auzem dir;
que hom era crezutz ses sagramen
ab sol la fe, si la volgues plevir,
e veritatz era sens escondire.^)
Zu jener Schlichtheit, ach! kehrt nimmer wohl
die Welt zurück, von der man uns erzählt.
Man glaubte einem damals ohne Schwur
aufs bloße Wort, wenn man's verbürgte, hin.
Keine Verleugnung griff die Wahrheit an.
Vor allem die Innerlichkeit und der Wert, den Cardinal
auf die Gesinnung und auf die Güte des Wollens legt, im
Gegensatz zu den Äußerlichkeiten des Kultus und der Büß-
I
Hs. C erhalten (Mahn, Ged. 983). Man vergleiche damit die Verse 387 f.
der nobla leyczon. In Appels Chrestom. Nr. 108 sind es die Verse 49 ff.
1) Nr. 27, Str. 21 f. Über die Stellung der Waldenser zum Sakra-
ment der Eucharistie vgl. Herzog a. a. 0., S. 214fF.
2) Nr. 60, Str. 2 (Rayn. Choix IV, S. 359 u. Mahn, Werke II, S. 184).
72 6. Abhandlung: Karl Dossier
praxis, kurz sein ethisches Schwergewicht ist es, was ihn den
Waldensern nahebringt, und nicht nur diesen, sondern all
den verwandten Bestrebungen jener Zeit nach Erneuerung und
Vertiefung des religiösen Lebens. Ebensogut wie an die Armen
von Lyon könnte man an die sogenannten katholischen Armen
denken, die von Innozenz IIL begünstigt wurden, oder an die
Anfänge der dominikanischen und der franziskanischen Bewe-
gungen. Es ist unmöglich und darum müßig, unseren Dichter
dieser oder jener Sekte, diesem oder jenem außerkirchlichen
Glaubensbekenntnis zuweisen zu wollen, denn er war nicht
nur kein extravaganter Dogmatiker, sondern dogmatisch über-
haupt nicht interessiert. Da ihm die kirchliche Lehre eine
Selbstverständlichkeit ist, kommt ihm alles nur darauf an, daß
Ernst mit ihr gemacht werde.
V. Oeistlich-weltliches Lebensideal«
Zunächst sollen die Prediger einmal ihre eigenen Worte
befolgen. In dieser Forderung begegnet sich Cardinal so ziem-
lich mit allen Satirikern seiner Zeit.^)
Predicator
tenc per meillor
cant fai l'obra que manda far,
non fas sellui
que l'obra fui
e als autres vai predicar.
Qui^) en predic
met son afic,
lo fag e*l dig deu aiostar,
car meills lo cre
aquel que • 1 ve
son predic per l'obra mostrar.^)
1) Vgl. z. B. Lommatzsch, Gautier de Coincy als Satiriker, Halle 1913, ■
S. 32 und 38. ^) Korrigiert aus que.
3) Nr. 42, Str. If. (Mahn, Ged. 941).
Peire Cardinal 73
Ich lobe mir
den Prediger,
der auch erfüllt, was er verlangt,
jedoch nicht den,
der uns ermahnt
zum Werk, vor dem er selber bangt.
Wer sich verlegt
aufs Predigen,
passe dem Wort sein Handeln an.
Man glaubt ihm recht
erst, wenn man sieht
wie er im Beispiel geht voran.
Die Geistlichkeit aber, sagt er, sei anderer Meinung.
Ben Volon obediensa
selhs de la clercia,
e Volon ben la crezensa,
sol Tobra no y sia.^)
Den Gehorsam hat man gerne
bei der Klerisei,
auch den Glauben — nur daß ferne
jedes Tun ihm sei!
Mit Frömmigkeit und Beten allein ist nichts getan.
Qui vay Deu pregar
e re no vol far
de ren qu'anc-(elh) dis e ses s'a*),
pauc li deu Dieus dar.^)
Wer sich betend naht
Gott und keine Tat
1) Nr. 25, Str. 5 (Parn. occ, S. 309 und Rayn. Choix IV, S. 340).
2) Dissessa C und M, diessessa J; reimt auf promessa ; ses fasse ich
als senz = Sinn, Absicht.
3) Nr. 38, Geleit (Mahn, Ged. 977, 978 und Studj d i fil. rom. IX
S. 514).
74 6. Abhandlung: Kaiiy Vossler
dem eig'nen Rat läßt folgen
hat bei Gott kein' Gnad'.
Das einzige, was vor Gottes Richterstuhl Geltung behält,
sind unsere Werke.
Non cug qu'a la mort
negus plus enport
aver ni arney,
mas los faitz que fey.^)
Keiner, glaube ich,
nimmt im Tod mit sich
Habe oder Macht,
nur was er vollbracht.
Soviel aber Cardinal auf Betätigung des Glaubens und
Ausführung der göttlichen Gebote hält, so kann man ihn doch
nicht als einen Fürsprecher der Werkheiligkeit betrachten.
Zunächst ist er Satiriker und richtet sein Augenmerk vorzugs-
weise auf die Verfehlungen und Unterlassungen, und dieses
negative Geschäft hat ihn zur Entwicklung einer positiven re-
ligiösen Ethik nicht recht kommen lassen. Einige bemerkens-
werte Ansätze dazu finden sich nur in den zwei Reimpredigten
Nr. 27 und 42. Hier zeigt sich nun freilich, daß er auf
kirchliche Übungen keinen sonderlichen Wert legt.
Perdonas leu,
venzas vos greu,
e non vos cal cheira portar.
Amas amics
et enemics,
e no's cal anar outramar.^)
Vergebet leicht,
rächt euch nicht gleich,
so brauchet ihr kein Hemd aus Haar.
1) Nr. 40, Geleit (Rayn. Choix IV, S. 347 und Parn. occ, S. 311),
2) Nr. 42, Str. 23.
Peire Cardinal 7ü
Liebet den Freund
und auch den Feind,
so braucht ihr keine Meeresfahrt.
Zu Kreuzzügen und Pilgerfahrten hat denn auch Cardinal
niemals, soviel wir wissen, aufgefordert, und das will im
Zeitalter des Kinderkreuzzuges schon viel heißen. Immerhin
rechnet er es den Rittern und der Geisthchkeit zur Schmach,
daß sie das Heilige Grab vergessen und lieber das Land des
Nachbars rauben als das der Sarazenen erobern.^) Ebenso
verlangt er vom Mönch, daß er seine Regel befolge und sein
Gelübde erfülle.*) Jeder Stand hat eben seine besonderen
Pflichten ; daher sind Cardinais Mahnungen in durchaus mittel-
alterlicher Weise noch nach Ständen und Berufsklassen ab-
gestuft.
Per que cascus en sa vida
de Fobra que l'es cobida,
mentre que'l dar tat lo guida,
deuria obrar lialmen.^)
Jeder sollt' in seinem Leben
das, was ihm ist aufgegeben,
ehrlich wirken und erstreben
stets solang das Licht ihn führt.
Hinter dieser kirchlichen und sozialen Ethik aber, deren
Darstellung als einer ziemlich bekannten und herkömmlichen
Sache wir uns schenken dürfen, zeichnen sich, wenn auch erst
schattenhaft, die Umrisse eines allgemein menschlichen und in-
dividualistischen Bekenntnisses ab. Es sind die Anfänge einer
vertieften Gesinnungsethik. Diese nimmt, ähnlich wie bei den
Waldensern und Franziskanern, ihren Schwung aus der Stel-
lung zum Reichtum und Besitz, fordert aber nicht wie jene
den tatsächlichen und völligen Verzicht darauf, nicht die frei-
willige Armut, sondern, was weniger und doch wieder mehr
I
1) Vgl. Nr. 18, Str. 4 und Nr. 51, Str. 5.
2) Nr. 27, Str. 34 f. ^) Nr. 27, Str. 19,
76 6. Abhandlung: Karl Vossler
ist, die innere Freiheit und seelische Loslösung von den Gütern
dieser Welt. Schlicht und schön sind diese Gedanken aus-
geführt in dem folgenden Lied:
Lo sabers d'[aqu]est segle es foudatz,
e Dieus dis o, e trobam o ligen,
et ieu cre ben sos ditz verayamen,
qu'ieu vei qu'il ricx son savis apellatz
e*ls paubres son fols^) e caitius clamatz.
AI ric parec, del siecle trespassan,
et al Lazer, cal raes Dieus en soan.
La riqueza d'est segl'es paubretatz
a sels que l'an conquista malamen:
qu'el en pert Dieu e s'arma eissamen
e re no (i)a pos quez es trespassatz
et es plus fols^) que trichador de datz
que per aver gieta Dieu ab son dan,
ni per honor^) que malamen guazan.^)
Ges paubres hom non deu esser cassatz,
qu'atressi ha sen et entendimen,
com a lo ricx, e razo eissamen,
e trobar n'es de be aconseilhatz,
que si eis son en conseill apellatz,
eis lo(s) daran lial e ses engan,
e qui * Is creira no i pora aver dan.
Mas tant es grans del segle * 1 cobeitatz
que nuls non ve son dan ni no l'enten,
e l'enveia es tan grans de la gen,
d'aver maisons, terras et heretatz.
A guiza d'orb*) si gieton eis baratz,
6 can vezon que'ls baratz van^) montan,
empenhon s'i ades mays adenan.
1) fels C. *) aver I, *) sespan I.
*) a guiszardos I. ^) vai C.
Peire Cardinal 77
Sels qui volran de Dieu esser amatz
aion en si leial entendimen
et ajoston so qu'auron leialmen
e fasson ben als paubres dezairatz,
que'l mandamens nos fo aitals donatz;
e qui non a que don, aia'l talan,
qu'ill voluntatz venra a Dieu denan.
Maire de Dieu, siatz de mi membran
lai on seran iutgat li pauc e*l gran.^)
Die Weisheit dieser Welt ist Narrentand,
das sagt uns Gott, das liest man in der Schrift
und glaub' ich seinem Wort wahrhaftiglich.
Wohl heißt's, der reiche Mann sei voll Verstand,
die Armen werden dumm und schlecht genannt.
Am Lazarus und reichen Mann ward klar,
wer Gott im Jenseits wohlgefällig war.
Zur Armut wird der Reichtum dieser Welt
für jeden, der ihn wider Recht erwirbt,
weil er's mit Gott und seiner Seel' verdirbt
und nichts ihm bleibt, wann ihn der Tod gefällt.
Ein Narr, der's Spiel auf falsche Würfel stellt,
ist klüger noch als wer um Reichtums Trug
und falsche Ehre sich mit Gott zerschlug.
Man weise nie zurück den armen Mann;
er hat nicht weniger Verstand und Witz
und Gründe als der Reiche im Besitz;
iund wohlberat'ne Arme findet man,
sobald man sie zum Rate zieht heran:
dann helfen sie euch ohne Falsch, und treu;
wer ihnen glaubt, der fährt nicht schlecht dabei.
1) Nr. 34 (Mahn, Ged. 643 und 644). Da auf Grund der Mahnschen
Drucke kein einwandfreier Text sich gewinnen läßt, habe ich nur die
wichtigsten Sinnvarianten von 643 = I und 644 = C berücksichtigt.
L
78 6. Abhandlung: Karl Vossler
Allein, so gierig ist die Leidenschaft,
daß keiner sein Verderben mehr erkennt,
und jeder nur voll Habsucht rennt,
auf daß er Erbschaft, Haus und Hof errafft.
Und auf Betrug stürzt man mit blinder Kraft,
und wenn sie seh'n, wie ihr Betrügen glückt,
so sind sie gleich noch tiefer drein verstrickt.
Wer wohlgefällig sein will seinem Gott,
erfülle sein Gemüt mit Redlichkeit
und sammle, was mit Recht ihm zugedeiht,
und lindere der armen Leute Not,
denn so ist uns ergangen das Gebot.
Und wer nichts hat zu geben, sei's gewillt,
der Wille schon vor Gottes Antlitz gilt.
Mutter des Herrn, wollest gedenken mein
am Tag des Spruches über Groß und Klein.
Daß mit dem guten Willen, der vor Gottes Angesicht
Gnade findet, das fromme Herz oder die heilige Gesinnung im
evangelischen Verstände des Wortes gemeint ist, kann nicht
bezweifelt werden. Cardinal mag an das Scherflein der Witwe
gedacht haben oder an die Worte des Apostels Paulus: Si
enim voluntas promta est, secundum id quod habet, accepta est,
non secundum id quod non habet (2. Corinth. VHI, 12).
Gerade von dieser Ethik der heiligen Gesinnung aus ge-
winnt Cardinal aber wieder ein freundliches Verhältnis zu den
weltlichen und höfischen Werten.
Dieus e bona voluntatz
garnis los pros e'ls aders
de vertutz e de sabers
e de Valens faitz honratz
e*ls fai entendens
e cortes e conoyssens
e larx e gent ensenhatz
et amoros e privatz,
Peire Cardinal 79
que puescon plazer
a Luy quan los vol aver.
Et es ben desazi(8)matz ^)
qui no vol valer
sivals ab sol lo voler.*)
Guter Wille, eins mit Gott,
rüstet hoch den braven Mann
aus an Tugead und Verstand
und an Taten ehrenvoll,
macht den Sinn ihm klar,
macht ihn höfisch und erfahr'n,
macht ihn mild, verstiindnisvoll,
liebreich und vertraut, daß wohl
er dem Herrn gefällt,
wann ihn der zu sich bestellt.
Der ist aber ganz bankrott,
der auf sich nichts hält,
dem sogar der Wille fehlt.
Auch hier ist die Güte oder Heiligkeit des Willens im
religiösen Sinne gemeint, nicht etwa, wovon das Mittelalter
noch kaum etwas wußte, dessen Energie im psychologischen
Verstand. Die Kirche hat diesen Willen bald als die tätiofe
Liebe zu Gott und den Menschen bestimmt, bald als den inner-
lichen und die Kraft der Rechtfertigung vor Gott in sich selbst
tragenden Glauben des Einzelnen. Den Gedanken der Recht-
fertigung durch den Glauben finde ich bei Cardinal noch nicht
entwickelt. Unser Dichter bleibt in der Hauptsache, wie auch
Dante noch, auf dem Standpunkt der Liebesethik. ^)
Tot son esfortz
d'arm' e de cors
^) mal aiuratz M, deszazematz /.
2) Nr. 33, Str. 5 und Geleit (Mahn, Ged. 973 u. 974 und Studj di
fil. rom. IX, S. 514f).
^) Vgl. meine Ausführungen über Paulus und Dante. Vossler, Die
göttliche Komödie, Heidelberg 1907, S. 348—365.
I
80 6. Abhandlung: Karl Vossler
deu hom metre en Dieu amar,
pueis am la gen
tot eissamen:
e se garda de son pezar.^)
Eine unverkennbare Erinnerung an das Evangelium Mat-
thaei, XXII, 37 — 39; und, wie im Evangelium, so steht auch
hier unmittelbar daneben der Gedanke an das göttliche Gesetz.
E sabes, cals
es hom lials
e quäl pot per lial anar?
Qui la lei crei
e ten la lei
e segon la lei vol obrar.
Daß diese evangelische Liebe sich vorzugsweise und fast
ausschließlich in der Mildtätigkeit und Freigebigkeit mit Al-
mosen auszuwirken hat, versteht sich bei einem mittelalter-
lichen Moralisten ohne weiteres. Cardinais Forderungen und
Mahnungen richten sich demgemäß am nachdrücklichsten und
häufigsten an die oberen Stände, denn nur diese verfügen über
die materiellen Mittel, um das Gebot der Liebe in die Tat
der Milde umzusetzen. Dem kleinen Mann bleibt für die Aus-
übung seines sittlichen Wollens dabei nur das Gebiet des Ge-
horsams und der Treue noch übrig. So lebhaft Cardinal für
die Armen eintritt, so ist er doch weit entfernt, ihre eigenen
Bemühungen um Verbesserung ihres Loses zu billigen. Es
soll ihnen geholfen werden, aber wenn sie zur Selbsthilfe
schreiten, verhöhnt er sie.
Vilas no solon aver sen
mas de laorar solamen;
aras son vezat e sahen,
s'anplen la pelh,^)
*) Nr. 42, Str. 26. Das son des letzten Verses bezieht sich wohl
gleichermaßen auf Deu und la gen.
2) Raynouard und Mahn lesen: s'an plen la pelh.
Peire Cardinal 81
et a plag, avan sagramen,
queron*) libelh.*)
Die Bauern richten sonst allein
auf Arbeit ihr Verständnis ein,
jetzt aber sind sie klug und fein
und stark im Fressen,
seh'n vor dem Schwur die Akten ein
bei den Prozessen.
Die Eigenart der Cardinaischen Ethik liegt demnach nicht
in dem Inhalt ihrer Forderungen, denn dieser überschreitet
nirgends das weite und hohe Maß der christlichen und kirch-
lichen Lehre; sie liegt eher in dem Nachdruck, der auf das
spezifisch Evangelische dem spezifisch Kirchlichen gegenüber
gelegt wird, und besonders in dem Streben, das evangelische
Lebensideal mit dem höfischen in Einklang zu bringen. Frei-
lich, auch damit steht Cardinal nicht allein. Der Ungenannte,
der im Jahre 1254, also etwa in der Spätzeit unseres Dichters
oder wenig nachher, die 34 religiösen Gedichte der provenzali-
schen Handschrift in Wolfenbüttel verfaßt hat, weist diesem
Streben mit kindlicher Klarheit die Bahn, wenn er sagt:
Mais en vertatz vps die: In Wahrheit sag' ich Euch:
se eil qu'en haut e ric^) Wenn die, die hoch und reich,
volgueson son poder gebrauchten ihre Macht
far e dreitz mantener, zu Recht und hätten acht,
las domnas ses mariz daß sie die Witwen stützten,
et los orfan[s] petiz den kleinen Waisen nützten
et los desconsellatz, und allen, die in Nöten,
de sas granz riehitaz und wenn sie Hilfe böten
als paubres famellos ^ aus ihrem Überfluß
donason per saizons, dem Mann, der hungern muß,
mantengezon driehura, und für das Recht sieh rührten,
et malmezon falsura, die Falschheit überführten,
e feizon sens a ren wenn sie zu allen Dingen
quant pogexon de ben: ihr Bestes wollten bringen:
^) Raynouard und Mahn lesen qu'eron libelh, was keinen Sinn gibt.
2) Nr. 63, Str. 6 (Raynouard Choix IV, S. 442 und Mahn, Werke II,
S. 199). 3) Korrigiert aus erit.
Sitzgsb. d. philos.-philol. ü. d. bist. Kl. Jahrg. 1 9 1 6, 6. Abb. 6
k
82 6. Abhandlung : Karl Yossler
sens del tot delenquir brauchten sie nicht zu meiden
quest mon et sens partir die Welt, sich nicht zu scheiden
pogran en son aver von ihrem Gut und Reich,
estar et remaner sie könnten so zugleich
et quest seigle menar das Zeitliche versehen,
et l'autre gazagnar.^) im Ewigen bestehen.
In einem so ruhigen Licht wie dieser Ungenannte, der
jedenfalls ein Geistlicher war und, wie es scheint, weit von
Reichtum und Hofstaat entfernt, im Elend geschmachtet hat,*)
vermochte Cardinal die Sache nun freilich nicht zu sehen.
Denn ihn ging sie persönlich an. Auch er war Kleriker,
lebte aber an glänzenden Höfen und mußte für sich selbst die
Lösung finden, den Kindern der Welt zu gehören, ja sogar
ihnen angenehm zu sein und doch der Weltlichkeit nicht zu
verfallen. Dem Papste Innozenz HL war die in Südfrankreich
verbreitete Unsitte, daß Geistliche, anstatt in ihren Klöstern
oder Gemeinden zu wirken, sich an Fürstenhöfen um Gunst
und Ansehen bemühten, schon lange ein Dorn im Auge. Er
kannte die kirchlichen und seelischen Gefahren dieses Doppel-
verhältnisses und hat in einem Schreiben vom April 1198 dem l
Erzbischof von Auch seine Mißbilligung folgendermaßen aus-
gedrückt: „Ad audientiam siquidem nostram noveris pervenisse
quod monachi, canonici et alii reguläres in tua provincia con-
stituti, cum deberent potius in claustro juxta regularia consti-
tuta divinis obsequiis vigilare de obedientiis et redditibus, quo-
rum curam gesserunt, pecunia congregata, claustrum abhor-
1) Bekker, Provenz. geistl. Lieder des 13. Jahrhunderts in den Ab-
handlungen der Akademie in Berlin 1842, Nr. 7. Der Text ist, wie man
sieht, einigermaßen verdorben, jedoch dem Sinne nach in der Hauptsache
klar. — Derselbe Text bei E. Levy, Poesies relig. prov. et fran?. Paris 18S7,
S. 49 f. — Die Worte feizon sens a ren quant pogezon de ben deute ich an-
ders als Levy. Wahrscheinlich haben sich hier zwei Konstruktionen ge-
kreuzt, nämlich: erstens feizon sens a ren que pogezon, zweitens feizon de
hen quant pogezon.
2) In einem anderen Gedichte (Nr. 14) sagt er:
et de prizon on ai [ejstaz
XX. ans et plus estres mon graz,
et d'aiquest tormens on son
vos quier, domna, deliuraxon.
t*eire Cardinal 83
rentes, per curias principum et potentum discurrere non verentur,
et muneribus suis illorura sibi gratiam et favorem acquirunt,
ac de eorum familiaritate confisi, in conventu suo graves dis-
sensiones commovent, et caeterorum humilitatem in spiritu ar-
rogantiae contemnentes, mandatis praelatorum suorum inobedi-
entes et contumaces existunt, et contra illorum prohibitionem
saecularium negotiorum sollicitudinibus se immergunt."^)
So schlimm mag es unser Dichter zwar nicht getrieben haben.
Wir wollen annehmen, daß er die höheren Priesterweihen gar
nicht empfangen hatte oder doch wenigstens als Kanonikus
kein „regularis" war und daß in rechtlicher und gesellschaft-
licher Hinsicht ein Zwiespalt zwischen Geistlichkeit und Sä-
kulum für ihn nicht bestanden hat. Der seelische Zwiespalt
war darum nicht weniger vorhanden. Hätte Cardinal ihn nicht
empfunden, wäre dieser ihm nicht ins Herz gegangen, wie hätte
er nur so bewegliche, so grausame und heiße Worte finden
können, um die verweltlichte Gesinnung der Geistlichkeit zu
züchtigen? Sobald seine Satire sich gegen den Klerus wendet,
nimmt sie eine wilde, finstere, glühende Art an. Wir haben
gesehen, wie sie dem Hofwesen, den Reichen, den Großen und
den Galanten des Säkulums gegenüber meist etwas Frostiges,
Spielerisches und Verstandesmäßiges hatte. Hier aber zeigt
sie eine tiefere und blutigere Farbe. Ja, man kann sogar be-
obachten, daß in einigen Liedern, in denen beide Stände zu-
gleich vorgenommen werden, die grimmigere Tonart aus der
geistlichen Satire quillt.^)
Cardinais Lieder über die Minne haben uns gezeigt, wie
er sich eine Zeitlang schmeicheln durfte, dank seinem klaren,
philosophisch gekühlten Temperament, für seine Person wenig-
stens die Lösung gefunden zu haben, und daß es ihm tat-
sächlich gelungen ist, in höfischer Gesellschaft sich wohl und
beliebt zu fühlen und doch eine lächelnde, ironische Erhaben-
heit über die Eitelkeiten der Welt zu bewahren. Es gibt
eine merkwürdige Reimfabel von ihm, deren Text hoffnungslos
1) Migne, Patrol. lat. 214, Sp. 70 f. ^
2) Vgl. die Nummern 37, 47 und 60.
6*
I
84 6. Abhandlung: Karl^Vossler
entstellt und lückenhaft nur in einer Handsclirift *) uns er-
halten ist. Um das Verständnis des Wortlauts habe ich mich
mit der freundlichen Hilfe Emil Levys, leider mit wenig Er-
folg bemüht. Den allgemeinen Sinn aber hoffe ich nicht zu
mißdeuten, wenn ich annehme, daß Cardinal seine neidlose
Höhe über den Freuden und Enttäuschungen des sinnlichen
Weltwesens mit dichterischer Freiheit hier etwa folgender-
maßen hat darstellen wollen.
„Möge der Schöpfer der Welt alle Wackern und Edeln bei
Hofe wie in der Bürgerschaft erlösen! Mich hat er zu ihnen
hergeschickt, um zu erzählen, was ich von einem frohgemuten
braven Könige weiß, der die wahre Ehre pflegt und in Worten
und Taten gute Sitte und Lebensverstand übt. Gemeine und
schlechte Menschen mag er nicht um sich haben; er kann
ihren Anblick nicht ausstehen. Das sieht man an der sinn-
reichen Art, wie er sich gegen sie zu helfen weiß. Habe ichs
doch letzthin selbst mit angesehen, wie er ihrer mehr als
hundert sich vom Hals geschafft (oder kuriert?) hat. Draußen
auf einem offenen Platz hat der König (offenbar mit allerlei
Hokuspokus) eine Salbe herstellen lassen: eine Salbe aus Nebel
und Wind und (zur Würze vermutlich) tat er hinein: Fiedel-
klang und Gesang (vieuladura e lays)^ fröhliche Töne und Käfer-
gezirpe (kurz, allerhand trügerisches Getändel und Geklimper),
Kälbersprung und Weiberlaune, Windgebraus und Lerchen-
wirbel, Nachbarnklatsch, Winkelzüge, Hinterlistigkeiten und
falsche Liebesschwüre, Bachgemurmel, Schäferinnengesang und
Krämertrug, müden Pilgertrab, Kniffe des Würfelspiels, Jagd-
hundsgebell, Fersenweh und Schmerz vom Rückenhieb, Geruch
nach Küche, nach Lendenreißen und Hühnermilch. — Genug
der Arznei! Das Gefäß aber (in dem diese Salbe unserer Täu-
schungen, Illusionen und Narrheiten aufbewahrt wird) ist
aus purem Golde, mit Hyazinth, Rubin, Saphir und Granat
besetzt und funkelt gewaltig. Der Deckel ist aus marmo-
riertem Jaspis mit einem köstlichen und wunderbaren Kar-
funkelknopf darauf; und am Rande des Deckels herum sind
1} B, gedruckt bei Mahn, Gedichte 1245, Nr. 14 bei Bartsch.
Peire Cardinal 85
die sieben Künste der Liebe abgebildet und die musterhaften
Liebhaber: Pyramus und Thisbe, Cliges und Fenisa (?), Flore
und Biancaflor, Tristan und Isolde und viele andere. Und um
all das schlingt sich als Saum das tiefe Meer. Im fernen
Osten ist das Gefäß von Kappadoziern und Griechen gefertigt
worden, und der türkische Sultan hat es letzthin den Franken
zum Geschenk gemacht. Tausend Zentner Silber mag es wert
sein, wenn ich mich nicht täusche. Die Salbe aber ist nun
fertig und wohl geknetet. Mögen alle gut Veranlagten, die
Edeln und Liebreichen, herbeikommen und sich auf unsere
Seite, hierher zu der köstlichen Salbe bemühen: gleich werden
sie ganz dadurch gesunden. Und wer sich schämt, davon Ge-
brauch zu machen, wird es am nächsten Tage schon bereuen.*'^)
Offenbar denkt Cardinal sich seine Salbe homöopathisch.
Mit einem Gebräu aus täuschenden, flüchtigen, windigen Freuden
und Leiden will er seine weltlichen Kranken von allem Schein-
wesen heilen, will sie wahrhaftig, gediegen, standhaft und
getreu bis in den Tod machen, wie Pyramus und Thisbe, Tri-
stan und Isolde waren. Nach dem Grundsatz similia similihus
curantur will er ja auch in seinem Rügelied D' Esteve de Bei-
mon m'enueia^) den Erz Verräter Stephan von Belmon absieden
lassen und aus dessen Säften eine Salbe gewinnen, mit der
man alle anderen Verräter kurieren kann. So bietet er also
in der merkwürdigen Reimfabel, wenn ich deren Bruchstücke
richtig verstanden habe, mit Ironie und Güte, mit Laune und
Gleichmut, als phantastische Quacksalbe zubereitet, uns eine
stille und hohe Lebensweisheit an, die vom Vergnügen sich
nicht locken und vom Schmerz nicht trüben läßt.
Ein anderes, ebenfalls arg entstelltes Lied, wahrscheinlich
^) Die zwei letzten Verse lauten:
E qui vergonh'aura estug l'a l'endema.
Wenn man estug als estuet oder estot (= nordfranzösisch estuet) deuten
darf, so gibt es einen guten Sinn, nämlich: Wer sich schämt, dem ist
schon den Tag darauf die Salbe nötig.
2) Nr. 19, Str. 2 (Mahn, Ged. 762, 763).
86 6. Abhandlung: Karl Vossler
ein Descort,^) zeigt uns den Dichter in hochfliegenden Wün-
schen sich wiegend, vielleicht scherzhaft, vielleicht elegisch.
Mächtig, reich und geehrt möchte er sein wie ein Kaiser,
seine Feinde möchte er erniedrigt sehen, seine Freunde aber
nicht reicher als er selbst ist, damit sie im Hochmut ihn nicht
vergessen. Und wenn er nun weltliche Macht und Reichtümer
in Händen hätte, so wollte er ein Ausbund von Freimut,
Kühnheit, Treue, Liebe und Milde sein, und Gott zu dienen
wäre sein höchster Wille. Kurzum, er wollte zeigen, wie alle
zeitliche Herrlichkeit nur im Dienste der ewigen Gebote ver-
edelt wird und Glück stiften kann. —
Se avetz d'aur una plena ribieyra
e non avetz amor ni acordansa^)
ab Dieu ni ab gent de bona manieyra,
ia non avretz delieg ni benenansa,
que'l grans avers ten son don cossiros
e • 1 bon'amors alegre e ioyos,
que'l ricx s'irais on plus li amors dansa.*) (Nr. 24.)
Und habt ihr Goldes einen vollen Strom
und habt die Liebe nicht und Einigkeit
mit Gott und mit den Menschen guter Art,
so wird euch Freude nie noch Glück zuteil.
Denn Reichtum macht nur Sorge seinem Herrn,
die wahre Lieb' ihn heiter und vergnügt.
Den Reichen wurmt's je mehr die Liebe jubelt.
Über sein persönliches Lebensideal kann man nach all
dem nicht mehr im Zweifel sein. Kein katharischer Welt-
verächter, kein waldensischer Armutsbruder, kein überspannter
Büßer, sondern ein einfacher, frommer Christ ist er gewesen,
dem es an der Furcht vor Gottes Gerechtigkeit so wenig ge-
1) Nr. 59 (Mahn, Ged. 1253 nach T. Der Text in B war mir leider
nicht zugänglich. Die zweite Strophe scheint als cobla esparsa auch
in Y zu stehen, 461, 168 bei Bartsch).
2) acoindansa M, 3) mentre l'amoros dansa M.
Peire Cardinal 87
fehlt hat wie an der Zuversicht auf dessen Versöhnlichkeit
und Gnade.
Pensa't doncx, cant ti sojornas,
don moguis ni en que tornas,
car sobremal t'arm'enfornas
en trebaill et en tormen.
Mas cobreras, si * t castias,
sol dezesperatz no * t sias,
que Dieus ti vol, si*l volias,
et as molt hon partimen.^)
Denke nach auf dieser Erden:
wie du kamst, was du wirst werden —
schrecklich kannst du sonst gefährden
deine SeeF zu Qual und Pein.
Bess're dich, wirst mehr erlangen!
Nur nicht in Verzweiflung bangen!
Wolltest, du — Gott hat Verlangen
auch nach dir, und Glück ist dein.
Die jenseitige Vergeltung spielt in Cardinais sittlichem
Denken noch eine bedeutende Rolle. Dabei ist es für seinen
Rigorismus bezeichnend, daß er niemals und nirgends von dem
Zwischenreich des Fegfeuers spricht. Die Waldenser haben es
geradezu geleugnet. Da die Lehre vom Fegfeuer zwar schon
von Clemens, Origenes, Augustin und Gregor dem Großen vor-
bereitet war, in festen Umrissen aber doch erst durch Thomas
von Aquino (f 1274) dargestellt wurde und zu wichtigeren
dogmatischen Verhandlungen erst auf dem ünionskonzil (1438)
Veranlassung gab, so wäre es sehr voreilig, wenn man aus
Cardinais Stillschweigen irgendwelche Schlüsse gegen seine
Rechtgläubigkeit ziehen wollte. Man bedenke auch, daß sitt-
liche Rüge und Ermahnung, auf die es unserem Dichter vor
allem ankam, in der Hauptsache viel besser und nachdrück-
1) Nr. 27, Str. 66f.
88 6. Abhandlung: Karl Vossler
lieber mit der Drohung der Hölle und der Lockung des Him-
mels arbeiten als mit der gemäßigten Aussicht eines zeitlichen
Fegfeuers. Dazu kommt, daß Cardinal, bei der abstrakten
und philosophischen Neigung seines Geistes und bei der Blässe
seiner Einbildungskraft, weder Lust noch Begabung hatte, die
jenseitigen Reiche mit sinnlicher Anschaulichkeit darzustellen
und auszumalen. „Himmel" und „Hölle" sind ihm keine
Bilder, sondern im Grunde nur Wertbegriffe wie Verdammnis
und Seligkeit. Es ist für seine Verhältnisse schon viel, wenn
er die Hölle einmal als orrible e puden kennzeichnet.
Für mittelalterliche Verhältnisse aber ist das, was Cardi-
nais sittlicher und religiöser Glaube an kirchlichem und dog-
matischem Außenwerk und Formalismus vorweist, außeror-
dentlich wenig. Er gehört zu den innerlichsten Christen seines
Volkes und seiner Zeit. Seine Innerlichkeit aber ist nicht
mystisch und schwärmerisch, hat gar nichts virtuos Gesteigertes,
trägt keinen Heiligenschein, keine Kutte, kein Ketzerhemd, ist
kein frommes Träumen und Spekulieren, sondern fromme Ge-
sinnung unter einem beinahe alltäglichen und bürgerlichen,
zumeist aber höfischen und weltmännischen Gewand.
Dies eben ist seine Eigenart und seine stille Sehnsucht
zugleich: höfisch und christlich in Einem sein, in der Welt
und ihrer Schönheit leben dürfen und ihr doch nicht gehören
müssen. Einem solchen Temperament möchte man eine Zeit
und eine Kultur gönnen, in der die sinnliche Welt nicht bloß
durch minnesingerliche Süßigkeiten, sondern durch die Kunst
der ganzen Antike veredelt wird und wo das religiöse Ge-
wissen nicht bloß von Sektierern sich beunruhigen und von
Fanatikern sich muß pressen lassen, sondern wo große Refor-
matoren es befreien und vertiefen. Wieviel reicher und kühner
hätte Cardinal in den Tagen Luthers und Huttens sein Wesen
entfalten und wieviel gewaltiger auch in der Satire es aus-
wirken können ! Unwillkürlich muß man an jene Tage denken,
wenn man die grimmen Sirventese liest, die er über die
Schmach der Albigenserkriege gesungen hat.
Peire Cardinal S9
VI. Albigenserkrieg und Politik.
Im Sommer des Jahres 1209 brach das Heer der Kreuz-
fahrer, alles auf seinem Wege verwüstend, in Südfrankreich
ein. Am 22. Juli stand es unter den Mauern von Beziers.
Herzöge, Barone und geistliche Fürsten aus Nordfrankreich
führten es an. Sogar der Erzbischof von Bordeaux und der
Bischof aus Cardinais Heimatstadt stießen zum Heer. Beziers,
von Katharern und Katholiken heldenmütig verteidigt, wurde
im Sturm genommen, und viel tausend Menschen, Ketzer und
Rechtgläubige, wurden unterschiedslos hingeschlachtet. Der
junge Schutzherr von Beziers, Vizegraf Raimund Roger IL,
hatte sich indessen mit seinen tapfersten Rittern in Carcas-
sonne zur Verteidigung eingerichtet. Am 1. August begann
die Belagerung dieses zweiten Bollwerks der Albigenser. In der
Hoffnung, sein Volk vor weiterem Unglück zu bewahren, ließ
Raimund sich durch falsche Versprechungen zur Übergabe be-
reden. Man versprach ihm die Freiheit, warf ihn aber, als
man ihn hatte, in das Verlies seiner eigenen Burg in Carcas-
sonne und schaffte ihn meuchlings, vielleicht durch Gift, aus
der Welt (10. November 1209). Mag sein, daß der Anstifter
dieser Scheußlichkeiten der englische Graf von Leicester, Simon
von Montfort, gewesen ist. Wenigstens war er schamlos und
habsüchtig genug, um sich von dem geistlichen Führer des
Kreuzzugs, dem Abt Arnauld Amalric von Citeaux, die Städte
und Länder des verratenen und gemeuchelten Vizegrafen zum
Lehen übertragen zu lassen. Die französischen Großen, der
Herzog von Burgund und die Grafen von Nevers und St. Paul,
hatten sich geweigert, mit so schnödem Erwerb ihre Ehre zu
besudeln. Der von Montfort aber wurde fortan der militärische
und politische Führer dieses brutalen Krieges, von dem er
sich ebensoviel für seine Herrschsucht wie für sein Seelenheil
versprach: ein Fürstentum in Südfrankreich und einen Platz
im Paradies. Gegen ihn, meint Fabre,^) richte sich, zunächst
noch versteckterweise, das folgende Rügelied Cardinais, das
^) Annales du Midi XXI, S. 8, Anmerkung.
I
90 6. Abhandlung: Karl Vossler
demnach das erste wäre, das auf den Albigenserkrieg Bezug
nimmt und Ende des Jahres 1209 gedichtet sein könnte. Leider
kann ich es nur in der metrisch und sprachlich verwahrlosten
Gestalt, in der Raynouard und Mahn es mitgeteilt haben, hier-
herstellen.
L'arcivesques de Narbona
ni'l reis non an tan de sen,
que de malvaisa persona
puescon far home valen.
Dar pot hom aur et argen
e draps e vi et anona;
mas lo belh ensenhamen
a seih a qui Dieus lo dona.
Quar, ab renda gran e bona,
sai ieu un caitiu dolen
que non fai condutz, ni dona
ni somo ni acuelh gen;
mal conquier, e pietz despen ;
e si*l donavatz Bayona,
non despendria'l renden,
si cum valors o faissona.
Valors vol que hom somona
e meta e gast'e prezen;
et a una companhona,
Caritat, que Po cossen;
e lai on Valors s'erapren
6 Caritatz esperona,
Malvestatz es per nien,
quant ab ellas se tensona.
Tals a sus el cap Corona
e porta blanc vestimen,
qu'il voluntatz es fellona,
cum de lop o de serpen,
e qui tolh ni trais ni men
ni auci ni empoizona:
Peire Cardinal * Ol
ad aquo es ben parven
quals volers y abotona.
Ar diran que ieu despona
mon sirventes a la gen,
quais qu'ieu ai lengua bretona,
que negus hom no m'eiiten;
pro m'entendran li entenden,
et a l'autra gen bricona
chantarai dels filhs N' Arsen ^)
e de Bueves d'Antona.
De traitor sobresaben
dezir, que tals lo somona,
que'lh do d'atretal pimen
com elh als autres dona.*)
Der zu Anfang genannte Erzbischof von Narbonne war
damals vermutlich noch Berengar II; mit dem König könnte
Philipp August von Frankreich gemeint sein. Diese beiden
Fürsten suchten, soviel w^ir wissen, auf den Eifer der Kreuz-
fahrer zunächst noch mäßigend zu wirken. Die Deutung und
Datierung Fabres hätte demnach manches für sich, wenn nur
die vierte Strophe nicht wäre. Diese kann sich schwerlich
auf Simon von Montfort beziehen, denn Krone und weißes
Fürstenkleid kommen Kaisern und Königen, aber keinem Grafen
zu.^) Die Schwierigkeit ließe sich zur Not durch die An-
nahme beheben, daß der Dichter eine höhnische Anspielung
*) Wer N'Arsen sein soll, weiß ich nicht. Vielleicht ist N'Aimen
{= Aimon) zu lesen. A. Pillet vermutet Hersent, Isengrins Frau, dahinter
und glaubt, es handle sich dann um jene bekannte Episode des Roman
de Renart, wo die kleinen Wölfe ihrem Vater den Ehebruch Hersents mit
Renart anzeigen. Anspielungen auf das Tierepos sind ja bei Cardinal
nicht selten.
2) Nr. 29 (Lex. rom., S. 438 und Mahn, Werke II, S. 226).
^) „Statt der Krone trugen die übrigen Fürsten einen Hut, den zu-
weilen noch ein Kranz umschlang" (Jakob Grimm, Deutsche Rechtsalter-
tümer, 4. Ausgabe, Leipzig 1899, I. Bd., S. 335). Höchstens eine Zinken-
krone oder eine kranzartige Umwindung der Stirne konnte von bedeu-
I
92 '6. Abhandlung: Karl Vossler
auf Simons ehrgeizige Pläne im Sinne hatte und mit der vierten
Strophe ihn als einen König in spe hinstellen und treffen wollte.
Mit Rücksicht auf die fünfte Strophe, besonders auf die Worte
pro m'entendran li cntenden möchte ich ein solches Versteck-
spiel nicht für völlig ausgeschlossen halten. Natürlicher und
vt^ahrscheinlicher aber bleibt es, an einen Kaiser oder König
zu denken, den ich freilich- mit Sicherheit nicht zu identifi-
zieren vermag. Vielleicht ist König Johann von England
(t 1216) gemeint, der im Jahre 1203 seinen Neffen Artur ver-
räterischerweise gemeuchelt hat. Am Ende kommt man der
Wahrheit am nächsten, wenn man den Schwerpunkt des Liedes
weniger in besonderen politischen und persönlichen Absichten
sieht als in der literarischen Kunstübung, die sich ohne tiefere
Erlebnisse an einem allgemein moralischen Thema betätigen
wollte. Das Vorbild war, wie schon oben erwähnt wurde, das
Sirventes des Girant von Bornelh Tals gen prezicTt e sermona.
Die Reime sind dieselben, das Versmaß könnte, mittelst einiger
Korrekturen, ebenfalls auf das gleiche Schema gebracht werden.
Sogar Gedanke und Stil berühren sich mehrfach. Da in Gi-
rauts Lied das immer wiederkehrende tals, das unserem Car-
dinal wohl noch im Ohre lag, den allgemeinen Sinn von
„mancher* hat, so möchte ich der von A. Pillet in einer brief-
lichen Mitteilung vorgeschlagenen Deutung den Vorzug geben,
Corona mit „Tonsur" übersetzen und auch das weiße Kleid
auf Geistliche oder Mönche, und zwar eher auf den ganzen
Stand als auf eine bestimmte Persönlichkeit beziehen. Damit
würde die obige Datierung hinfällig, und wenn das Lied nach
1212 gedichtet wäre, so hätten wir in dem Erzbischof von
Narbonne den grimmigsten Feind der südfranzösischen Sache,
Arnauld Amalric, zu sehen. Auch der König von Frankreich
wäre von diesem Zeitpunkte ab zu den Feinden zu zählen,
und der ironische Geschmack der ersten Strophe würde noch
bitterer. Man sieht, der Deutungsmöglichkeiten sind so viele,
tenden Männern, welche Vasallen unter sich hatten, getragen werden
(H. Weiß, Kostümkunde, Stuttgart 1862, I, S. 599).
Peire Cardinal 93
daß keine Entscheidnng getroffen werden kann, solange der
Wortlaut des Textes nicht kritisch gesichert ist.
Etwas besser steht es um das Sirventes Vafar del cmnte
Guio (Nr. 28). Die politische und militärische Lage hat sich
geändert. Der Glaubenskrieg wälzt sich auf Toulouse zu, ob-
gleich Graf Raimund, geängstigt durch die Metzeleien von
Beziers und Carcassonne, immer wieder seine Unterwerfung an-
bietet und sich sogar persönlich vor dem Heiligen Vater in
Rom zu rechtfertigen sucht. Der Abt Arnauld und der Graf
Simon arbeiten auf jede Weise an seiner Vernichtung. Ein
neues Heer von Kreuzfahrern wird im Frühjahr 1211 aufge-
boten. Toulouse wird belagert, aber vergeblich. Simon von
Montfort hält sich für den Mißerfolg schadlos, indem er das
umliegende Land verwüstet und die Burgen bricht. Unter der
Führung des Abtes von Clteaux werden Schloß und Kloster
von Casses zerstört und angebliche Ketzer daselbst hingerichtet
(1211).^) Der Graf von Toulouse setzt sich kräftig zur Wehr.
Aber auch Simon von Montfort erhält Verstärkung, , unter an-
derem durch das Heer, das sein Bruder, der Graf Gui von
Montfort, ihm zuführt. Frühling und Sommer des Jahres 1212
gehen die Gewalttätigkeiten weiter. Schloß, Stadt und Kloster
von Saint Antonin de Fredelas werden am 6. Mai von den
Kreuzfahrern eingenommen und geplündert, wobei man selbst
die Mönche nicht verschont.^) Die Stadt Moissac, seit 14. August
belagert, fällt am 8. September.^) Daß bei der Einnahme
auch die dortige Abtei der Plünderung anheimgefallen ist,
geht aus einem Brief des Abtes an Philipp August hervor.
„Postea vero cruce signati omnia dissiparunt, que intus erant
vel extra, ita quod nuUam potestatem habemus ante sublimi-
tatem vestram veniendi, et ideo pietati vestre lacrimabiliter
preces fundimus, ut divine pietatis intuitu domui nostre et
ville subvenire dignemini, quoniam nisi modo subveniatis, de-
solabimur omnino", klagt der geistliche Herr.*) Allenthalben
ij Histoire generale de Languedoc (neue Ausg.) VI, S. 367.
.2) Ebenda, S. 386.
3) P. Meyer, Chanson de la Croisade II, S. 136, Anra. 3 u. 139, Anm. 1.
*) Histoire generale de Languedoc VIII, Sp. 635 f.
I
Ö4 6. Abhandlung: Karl Vossler
sah man Prälaten und Abte zu Roß als Heerführer und Mönche
und Priester als Soldaten. Der Abt von Citeaux selbst, der
fanatische Arnauld, hatte sich im März 1212 mitsamt der
Würde des Erzbischofs von Narbonne den weltlichen und krie-
gerischen Rang eines Herzogs zugelegt. Unter dem Eindruck
dieser und ähnlicher Ereignisse und Zustände dichtet Cardinal
nach Metrum und Reim eines tändelnden Liebesgesanges des
Raimbaut von Vaqueiras,*) ein Rügelied.*)
L'afar del comte Guio
e della guerra del rey
e de Mausac lo barrey
ai ben auzit cossi fo;
mas encaras non aug dire
perque nostre senescalcs,
que tant es pros e cabals,
laissa los morgues aucire.
De San ChafPre'*) ar m'en gic,
car dreitz no i troba abric
ab los laicx ni ab los clers,
aissi'ls encaussa poders.*)
Poders a tout la maizo
de Camalieiras, ses drey;
8*1 monestier de Casey
don Tabbas es en cossire*)
8*1 covens,^) car deslials
los gieta de lurs ostals
ses razon que n^es a dire;
^) Otterra ni plag »o'm so ho (392, 18, gedruckt nach G im Archiv
für das Studium der neueren Sprachen 32, S. 401).
'^) Ich gebe den Text nach C, M und K die bei Mahn, Ged.
972 und 1227 abgedruckt sind, berücksichtige aber nur die wichtigeren]
Sinnvarianten. B hat abweichende Strophenfolge: V., I., IL, III., IV.
^) santafre C san iaufrei M san iacme R. Da& es sich tatsächlich]
um S. Chaffre handelt, wird man bald sehen. *) avers C und M.
*) don son en fort gran cossire M. •) li convers M.
Peire Cardinal 95
qu'anc, pus Santz Chaffres^) moric,
hom tan lag non envazic
lo monestier ni ' 1 dezers.
Guardatz si's a Dieu plazers.
En luec de processio,
iran serrat et estrey,
armat al caut et al frey,
trompan, en luec de trinhon.
Mas feunia^) m'en fai rire,
car la maynada reals
degra ben esser aitals
que'l tolgues aquel martire.
Car qui^) non ten drey del ric,
ia no*l tengna del mendic,
que dreitz non es mais volers,
car l'entorssezis avers.*)
Trabuc(?)ni gran capairo^)
non valran ni lait a pley,**)
ni*l regia Saynt Benezey,
mas ausberc e gambaizo;
e silh que solion dire
las pistolas e * Is missals
trairan peiras reversals,
e lai ont eron sanctire'')
trevaran^) raassas e pic,
e qui anc se revestic,
^) sanctafres C santz iaufrei M sant Chastes B.
2) maluestat B. ^) ni C.
*) can lo cortezis auers M can lo tortoris auers B.
^) Rauba ni gran capiron M, Trabuc e gran gambairon B. Ob tra-
buc ein Kleidungsstück des Geistlichen bezeichnen kann? Vgl. en luoc
d'ausberc fai camis'aredar, en luoc cVehn fai capiron fresar bei Sordello
(Bertoni-Jeanroy, Un duel poetique au XIII e s. Toulouse 1916, S. 17).
6) lait a pley ist mir unverständlich.
'^) on solian lire M on dizol sauteri jR. Sanctire für sanctuari ist
freilich auffallend. ^} troveran M.
I
96 6. Abhandlung: Karl Vossler
esti'armatz et aders,
si vol esser morgues vers.
Encaras sera * 1 sazo
que'l segle non aura ley
e clerc iran a torney
e femnas faran sermo,
et hom non aura que frire,
si non es fort deslials,
e qui er tracher ni fals,
s'er a mayestre assire,
e quan Dieu s'aura amic,
non trobara on si fic.
E si er lo mons aders
que per tot er non-devers.
Nostre clerge solon dire
que raubar autrui ostals
era peccatz criminals,
et il an raubat San Gire!^)
e dizon en lur prezic I
que hom am son enemic, i
mas ar nos mostra vezers
qu'en lor es autre volers.
Von dem Tun des Grafen Veit,^)
von des Königs Aufgebot
und von Moissacs Fall und Not
hört' ich die Begebenheit.
Niemand aber kann mir sagen,
warum unser Seneschalk,
der doch mächtig ist und stark,
Mönche läßt getrost erschlagen.
Von Sankt Theofred seid still,
der das Recht nicht schützen will,
1) sanctire G santgili JB.
2) Gui von Montfort.
Peire Cardinal 97
nicht bei Lai'n noch Geistlichkeit,
die von Kriegsmacht so bedräut.
Kriegsmacht hat in Chamalieres
ohne Recht das Haus besetzt;
übers Kloster von Casses
[fallen wilde Horden her],
dessen Abt und Brüder trauern,
weil sie ein verrät'scher Hund^)
ohne den geringsten Grund
fortjagt aus den eignen Mauern.
Seit Sankt Theofred ist tot,
hat kein solcher Schuft bedroht
die Abtei und sie zerstört.
Seht, ob das nicht Gott empört.
Statt in frommer Prozession
zieh'n sie nun in strammer Schar
waffenstark das ganze Jahr;
statt der Glock' Trompetenton!
Und ich bin so bös und lache,
daß des Königs Kriegerschaft
nicht einmal hat soviel Kraft,
selbst zu tun die schwere Sache.
Ehrt man nicht des Herren Brauch,
wozu den des Bettlers auch?^)
Rechten Sinn gibt's doch nicht mehr,
Habsucht kommt ihm in die Quer.
Priesterrock ^) und Mönchskapuz
und die Regel Benedikts
gelten heutzutaofe nichts.
Panzer nur und Wams sind nutz.
^) Gemeint ist Arnauld Amalric von Citeaiix.
2) Mit d>ey del.ric dürfte hier Pflicht und Recht zugleich gemeint
sein, da unmittelbar vorher von der Wehrhaftigkeit die Rede war.
^) Der provenzalische Text scheint hier verdorben zu sein.
Sitzgsb. d. philos.-pbilol. u. d. bist. Kl. Jahrg. 1916, 6. Abb. 7
I
98 6. Abhandlung: Karl Vossler
Die, die einst zu lesen pflegten
in Episteln und Missal,
wälzen Steine nun zu Tal.^)
Wo sie die Reliquien hegten,
wird mit Keul' und Hack' hantiert.
Und wer je ward investiert,
stelle sich bewaffnet ein,
will ein echter Mönch er sein.
Bald kommts dahin, daß die Welt
allen ihren Brauch verdreht,
zum Turnier der Pfaffe geht
und das Weib die Predigt hält
und daß nichts mehr hat zu beißen,
wer nicht stark ist im Betrug,
daß Verrätern voller Lug
sie den Stuhl des Meisters weisen,
daß wer seinem Gotte dient,
keinen Unterschlupf mehr find't.
So wird alles eingerichtet
auf das Gegenteil der Pflicht.
Uns're Pfaffen han entschieden,
daß der Raub am fremden Herd
uns mit Sündenlohn beschwert:
sie beraubten Sankt Egiden.
Und ihr Wort und Predigt meint,
man soll lieben seinen Feind:
uns belehrt der Augenschein,
daß sie andern Willens sein.
Das Gedicht wird uns noch frischer und gegenständlicher,
wenn wir nach der Geschichte des heiligen Theofred fragen.*)
0 Über peiras re Versals siehe Levy, Supplement-Wörterbuch unter
reversals. Die Steine wurden von den Zinnen der Stadt auf die Sturm-
truppen geworfen.
2) Näheres in den Acta Sanctorum. Bolland. (1853) Octob. VIII,
S. 515-26.
Peire Cardinal 99
Theofredus von Orange, vulgo Saint CliaiFre, war Abt von
Cam^ry, in der unmittelbaren Nähe von "Cardinais Geburtsort.^)
Er lebte zu Anfang des 8. Jahrhunderts und starb, wahr-
scheinlich im Jahre 732, den Märtjrertod. Die Legende er-
zählt, er habe, als die Sarazenen ins Land fielen, das Schicksal
seines Klosters prophetisch geahnt und habe gerade noch recht-
zeitig seine Mönche veranlaßt, sich im Wald zu verbergen.
Er allein blieb zurück und warf sich betend vor dem Altar
des heiligen Petrus nieder. Die Heiden brachen in die Kirche
ein und, da sie nur ihn dort fanden, mißhandelten sie ihn,
fragten ihn nach dem Verbleib der anderen und schlugen ihn,
weil er die Auskunft verweigerte, halb tot. Dann hielten sie,
da gerade ein Festtag für sie war, einen heidnischen Gottes-
dienst ab. Der Abt raffte all seine Kraft zusammen und wet-
terte gegen den Kult der Ungläubigen, bis ein Stein ihm den
Schädel zerbrach. Daraufhin Erdbeben und fürchterliches Ge-
witter, so daß die Kirchenschänder, soweit sie nicht umkamen,
entsetzt davonliefen. Die zurückkehrenden Mönche finden ihren
schwerverwundeten Abt, der nach erbaulichen Worten und
Mahnungen seinen Geist aufgibt. — Von der großen Abtei
dieses heiligen Theofred war nun das Egidius-Kloster in Cha-
malieres bei Le Pay unmittelbar abhängig als eines der ersten
und wichtigsten Priorate. Was Wunder, wenn der Dichter es
dem Schutzheiligen übelnimmt, daß er versäumt hat, die Seinigen
gegen die gewalttätigen Übergriffe der nordfranzösischen Kreuz-
zügler zu sichern.^) Man muß wohl annehmen, daß die Plün-
derung von Chamalieres, von der wir sonst nichts wissen, etwa
zu gleicher Zeit, wie die von Moissac, also im Jahre 1212
1) Camei-y liegt 21 km von Le Puj entfernt.
2) Aus dem von Ulisse Chevalier herausgegebenen Cartulaire de
l'abbaye de St. Chaffre du Monastier, Montbeliard-Paris 1884 (Collection
des Cartul. Dauphinois VIII.) geht hervor, daß in den Jahren 1212 und
1213 Pierre lll. Gaudin Abt zu Camery und Raimond de Mercoeur Prior
zu Chamalieres waren. Im übrigen geschieht der Plünderung von Cha-
malieres durch die Kreuzfahrer dort keine Erwähnung. Unzugänglich
waren mir leider H. Fraisse, Cartularium conventus St' Egidii, Le Puy
1871 und Theilliere, fitudes sur le Cartulaire de Chamalieres, Le Puy 1876.
I
100 6. Abhandlung: Karl Vossler
erfolgt ist. Wer nun mit „unserem Seneschalk" gemeint
ist, der die Ermordung der Mönche hätte verhindern bzw.
gerichtlich ahnden sollen, ist schwer zu sagen. „Seneschall"
hießen im Languedoc sowohl die obersten Heerführer der
großen Lehensfürsten , als auch ihre ersten Gerichts- und
Verwaltungsbeamten, die man im Norden als bailli bezeichnete.
Die Äbte und Bischöfe hatten ebenfalls ihren Seneschall,^) und
es ist nicht auszumachen, ob es sich hier um den Vertreter
des Grafen von Toulouse, um den der geschädigten Abteien
oder, was vielleicht das wahrscheinlichste ist, um den des
Königs von Frankreich handelt. Denn über die maynada real
vor allem beklagt sich der Dichter. Nun hat ja, wie man
weiß, trotz der Einladung des Papstes, Philipp August sich
am Albigenserkreuzzug nicht unmittelbar beteiligt. Zunächst
empfahl er Mäßigung und trat eine Zeitlang sogar für Raimund
von Toulouse ein. Andererseits hat er schon im Mai 1208
den Rittern des Herzogs von Burgund die Erlaubnis zur Be-
teiligung am Kreuzzug erteilt,^) und es ist natürlich, daß in
den Augen eines geborenen Südfranzosen die ganzen Kriegs-
heere der Nordländer als Mannen des Königs galten. Tat-
sächlich betrachtete und behandelte der König den Simon von
Montfort als seinen Beamten und Untergebenen.^)
Zunächst aber, d. h. in den Jahren 1212 bis 1214 nocl
mußte Philipp August seine Kräfte gegen England und Deutschi
land zusammenhalten. König Johann und Kaiser Otto IVJ
hatten sich gegen ihn verbündet. Demgegenüber stützte e|
sich auf den Papst und dessen Günstling, den jungen Friedi
rieh von Hohenstaufen. Wahrscheinlich stammt der Gedankt
Friedrich als deutschen Gegenkönig aufzustellen, von Philip]
August.*) Er hat ihn dem Papste sowohl wie den deutschei
1) Siehe A. Luchaire, Manuel des institutions fran9, Paris 1895
§§ 29, 48, 142, 281, 298.
2) Histoire generale de Languedoc VIII (1879), Nr. 142, Sp. 563 f.
3) A. Luchaire, in Lavisse, Histoire de France III, 1, S. 277.
*) Scheffer-Boichorst, Deutschland und Philipp II. Aug. von Franl
reich, in den Forschungen zur deutschen Geschichte, Band VIII, Göttin^
gen 1868, S. 532f.
Peire Cardinal 101
Fürsten empfohlen, um die mißliebige Macht des Braunschweigers
zu brechen. Im Sommer 1212 macht sich nun Friedrich von
Sizilien aus auf den Weg nach Deutschland. Ende September
reitet der puer Äpuliae, wie ihn die Romanen, bald höhnend,
bald schmeichelnd genannt haben, in Basel ein. Im November
begibt er sich nach Toul und vereinbart sich mit dem fran>
zösischen Thronfolger Ludwig. Französische Sendlinge wirken
mit Geld und mit Worten für ihn in Deutschland, und im
Dezember wird er auf dem Fürstentag zu Frankfurt in Gegen-
wart der päpstlichen Legaten und der französischen Gesandten
zum „römischen König" gewählt und wenige Tage darauf in
Mainz gekrönt (9. Dezember 1212). Damit ist Friedrichs Er-
folg in der Hauptsache schon entschieden. Otto hat nur in
Sachsen und am Niederrhein noch Geltung; alle anderen Länder
und Fürsten Deutschlands haben sich auf die Krönung hin
für Friedrich entschieden.^) Unser Cardinal steht als Süd-
franzose selbstverständlich auf der Seite der Engländer und
des Kaisers und ist ein Gegner der französisch-päpstlich-staufi-
schen Koalition. Wahrscheinlich gegen Ende des Jahres 1212
hat er auf diese großen europäischen Verwicklungen das fol-
gende Lied gedichtet.
Per folhs tenc Polles e Lombartz
e Longobartz et Alamans,
si Volon Frances ni Picartz
a senhors ni a drogomans;
quar murtriers a tort
tenon a deport;
et ieu non laus rey
que non guarde ley.
Et aura * 1 ops bos estandartz
e que fieira mielhs que Rotlans,
e que sapcha mais que Raynartz,
et aia mais que Corbarans;
^) Näheres bei Ed. Winkelmann, Philipp von Schwaben u. Otto IV.
von Braunschweig, II, Leipzig 1878, S. 251 ff., 313, 331 ff.
I
102 6. Abhandlung: Karl Vossler
et tema meins mort
que'l coms de Monfort
qui vol qu'a barrey
lo mons li sopley.
Mas sabetz quals sera sa partz
de las guerras e dels mazans?
Los critz, las paors e * Is reguartz
que aura fagz, e * 1 dol e * 1 dans
seran sieu per sort.
D'aitan lo conort,
qu'ab aital charrey
venra del torney.
Ben petit val tos gieiis ni t'artz,
si pertz l'arma per tos efans;
per Fautruy carbonada t'artz,
e Fautruy repaus t'es afans;
pueys vas a tal port
on cre que quecx port
l'enguan e * 1 trafey
e • Is tortz faitz que fey.
Anc Carles Martel ni Girartz
ni Marsilis ni Aigolans
ni*l rey Gormons ni Yzombartz
non aucizeron homes tans
que n'aion estort
lo valen d'un ort;
ni non lur envey
thezaur ni arney.
Non cug qu'a la mort
negus plus enport
aver ni arney,
mas los faitz que fey.^)
M Nr. 40 (Rayn. Choix IV, S. 345 flp., Parn. occ. S. 310 ff. und Mahn,
Werkeil, S. 194 f.).
Peire Cardinal 103
Verrückt Apulier und Lombard
und Langobard und Alemann,
wenn sie Franzosen und Pikard
zu Herren woll'n und Drogoman.
Denn an Mördern Spaß
finden hieße das.
König, der kein Recht
achtet, gilt mir schlecht.
Ein gutes Banner brauchte man,
und Rolands Stärke reichte nicht,
und Reineke war' noch zu schlicht,
und reich genug kein Corbaran,^)
Montforts Todesmut
war' noch dem zu klein,
der durch Kriegeswut
Herr der Welt möcht' sein.
Und von dem Krieg und Schlachtgebraus,
was glaubt ihr, daß er hat davon?
Das Weh, der Schrecken und der Graus
und all das Elend, ist sein Lohn,
das er uns gebracht.
Mag er mit der Fracht —
des getrost' ich ihn —
aus dem Kampfe zieh'n.
Was hilft dein Kunst dir und Verstand,
wenn für dein Kind du Gott verfehlst,
für and'rer Braten wirst verbrannt,
um and'rer Ruhe dich verquälst?
Schließlich mußt du fort.
Jeden zwingt der Ort,
wo man den Verrat
hinträgt, den man tat.
^) Vielleicht ist der König Corbarant von Oliferne gemeint, der in
den nordfranzösisehen Kreuzzugsepen vorkommt (Nachweise bei Lang-
104 6. Abhandlung: Karl Vossler
y
Kein Karl Martell und kein Girarfc,
Marsilius nicht, noch Agolant,^)
und Gormon nicht, noch Isembart,
soviel dem Tod er Opfer sandt',
hat auch einen Deut
sich damit erbeut't.
Air ihr Herrlichkeit
weckt nicht meinen Neid.
Keiner, glaube ich,
nimmt im Tod mit sich
Habe oder Macht —
nur was er vollbracht.
Schon Diez hat die Gelegenheit, aus der das Lied hervor-
gegangen sein mag, richtig erkannt. Es läßt sich, sagt er,
„füglich auf das Bündnis deuten, das der junge Friedrich,
Herr von Sizilien, mit Philipp August gegen Otto IV. ein-
ging; anstatt Friedrichs werden seine Untertanen, die Apulier,
genannt, und die Lombarden und Deutschen, unter welchen
er eine starke Partei hatte, daneben gestellt; seltsam aber ist
es, daß der Dichter zwischen Lombarden und Longobarden
einen Unterschied macht ".^) Bezeichnend für die Art unseres
Trobadors ist es auch, wie er die besondere politische Lage
alsbald verläßt, um sich zu allgemeinerer Betrachtung zu er-
heben. Man kann daher mit Bestimmtheit gar nicht erkennen,
ob die Mahnungen, die auf die Eingangsstrophe folgen, sich
gegen Philipp August oder nicht vielmehr gegen alle Er-
oberer richten.
Zu Beginn des Jahres 1213 nahm der Sohn des französi-
schen Königs das Kreuz gegen die Albigenser. Der Vater ließ
lois, Table des noms propres . . . compris dans les chansons de geste, Paris
1904), vielleicht der berüchtigte spanische Bandenführer Courbaran, der
im Jahre 1183 bei Milhau gefangen und hingerichtet wurde und dessen
Haupt man nach Le Puy brachte, so daß Cardinal wohl von ihm wissen
konnte. Vgl. Luchaire, La societe fran9. S. 17.
^) Sarazenenfürst aus dem Epos Aspremont,
2) Leben und Werke der Troub. S. 263 ff.
Peire Cardinal Ivü
es, wahrscheinlich um seinen Bischöfen und dem Papst gefällig
zu sein, geschehen, ließ aber dem Gelübde erst zwei Jahre
später, nachdem im Norden, bei Bouvines (Juli 1214) die Koa-
lition besiegt war, die Tat folgen. Jedenfalls konnte der
schwer bedrängte Graf von Toulouse schon seit 1211 nicht
mehr auf Philipp Augusts Hilfe rechnen. Dafür erwuchs ihm
in König Peter II. von Aragon ein Beistand, der aber in der
Schlacht bei Muret am 12. September 1213 von Simon von
Montfort geschlagen wurde und das Leben verlor. Merk-
würdigerweise findet sich über diese Katastrophe kein Wort
in Cardinais Dichtung. Fahre möchte das Klagelied: Assi com
hom planh son filh o son paire, das aber keinerlei greifbare
Anspielung enthält, in die Tage dieser trüben Erfahrungen
setzen.^) Die Vermutung hat insofern etwas für sich, als dieser
Planh, ähnlich wie das eben besprochene Lied, dem Bertran
von Born nachgeahmt ist.
Ansprechend ist auch, wenn gleich nicht völlig sicher,
die von Diez vorgetragene Meinung, daß Cardinal mit seinem
Sirventes Barons es qu'ieti m'esbaudei (Nr. 48) sich auf ein
Ereignis des Frühjahrs 1214 beziehe. „Es betrifft den Fall
eines großen Verräters; der Dichter nennt ihn nicht, wen aber
sollte er anders gemeint haben, als Balduin von Toulouse, der
zu Simon von Montfort übertrat, seinen eigenen Bruder, den
Grafen Raimund, auf das bitterste bekämpfte, endhch in seine
Gewalt geriet und auf seinen Befehl (1214) von einigen Ba-
ronen aufgeknüpft wurde? Auch ist zu erwägen, daß das
Gedicht im Frühling entstanden ist, in welcher Jahreszeit die
Tat geschah." 2)
Razos es qu'ieu m'esbaudey,
e sia jauzens e guays
el temps que fuelh' e flor nays,
et un sirventes despley:
M Romanische Forschungen Bd. 23, S. 263 tf.
2) a. a. 0. S. 457. Das Lied ist gedruckt im Parn. occ. S. 315 f.,
hei Rayn. Choix IV, S. 362 fF., Mahn, Werke II, S. 191 f. und in Studj di
fil. rom. IX, S. 516 f.
I
106 6. Abhandlung: Karl Vossler
quar Lialtatz a vencut
Falsedat, e non a guaire
que ieu ai auzit retraire,
q'uns fortz trachers a perdut
son poder e sa vertut.
Dieus fai e fara e fey,
si com es dous e verays,
dreitz als pros et als savays,
e merce segon lor ley:
quar a la pagua van tut
l'enguanat e Fenguanaire,
si com Abels e son fraire;
que'l traytor seran destrut
e li trahit ben vengut.
Dieu prec que trachors barrey
e los degol e*ls abays
aissi com fes^) los Algays,
quar son de peior trafey;
mas aisso es ben sauput,
pieger es tracher que laire.
Atressi com hom pot faire
de Covers morgue tondut,
fai hom de trachor pendut.
De lops e de fedas vey,
que de las fedas son mays;
e per un austor que nays
son mil perditz, fe qu'us dey:
ad aquo es conogut
que hom murtriers ni raubaire
no platz tant a Dieu lo paire,
ni tan non ama son frut
com fai del pobol menut.
*) fes ist die Lesart von J, während Rayn. und Mahn fos haben.
Peire Cardinal 107
Assatz pot aver arney
e cavals ferrans e bays
e tors e murs e palays
ricx hom, sol que Dieu reney:
doncx ben a lo sen perdut
totz hom a cuy es veiaire
que, tollen Fautrui repaire,
cuge venir a salut,
ni*l don Dieus, quar a tolgut.
Quar Dieus ten son arc tendut
e trai aqui on vol traire,
e fai lo colp que deu faire
a quec, si com a mergut,
segon vizi e vertut.
Füglich darf frohlocken ich,
hochgemut und lustig sein,
jetzt da Blatt und Blut' gedeih'n,
und mein Lied erhebe sich:
Denn gesiegt hat treuer Sinn,
und es hat sich zugetragen,
wie ich neulich hörte sagen,
daß die Kraft und der Gewinn
eines Treulosen sind hin.
Gott ist gütig und ist wahr,
und so übt er Gnad' und Recht,
je nachdem sie gut und schlecht,
allen Menschen immerdar.
Keiner seinem Lohn entgeht,
sei's ein Böser, sei's ein Guter,
so wie Abel und sein Bruder.
Der Verräter untergeht,
der Verrat'ne wird erhöht.
Gebe Gott der Plünd'rung preis,
der Enthauptung, jeder Schmach,
I
108 6. Abhandlung: Karl Vossler
welche die Algais ^) zerbrach,
das noch schlimmere Geschmeiß
der Verräter, 's ist ja klar:
lieber Räuber als Verräter.
Wie man Mönche macht, weiß jeder,
aus Novizen? Scher' ans Haar! —
Strick dem Hals! der Lügner war.
Wenn ich Wolf und Schafe zähl',
sind der Schafe mehr zu seh'n,
und auf einen Falken geh'n
tausend Hühner, ohne Fehl.
Daran, mein' ich, sieht man gut,
wie an Mord- und Raubgesellen
unser Vater nicht die hellen
Freuden hat, noch ihrer Brut
Liebes wie den Kleinen tut.
Kleider kriegt ein Herr die Füll',
falbes und auch graues Roß,
Türme, Mauern und ein Schloß,
wenn er Gott verleugnen w^ill.
Wahrlich des Verstandes bar
ist der Mensch, der sich beredet,
wenn er Nachbars Haus verödet,
böte sich ihm Segen dar,
Gottes Dank dem Diebe gar!
Aber Gott hält straff gespannt,
zielend, treffend, seinen Bogen,
tut den Schuß, den er erwogen,
jedem, wie er ihn befand:
linker oder rechter Hand.
^) Die Algais waren vier berüchtigte Bandenführer spanischer Ab-
kunft, die in Südfrankreich ihr Wesen trieben. Der letzte von ihnen,
Martin Algais, wurde im Jahr 1212 gehängt. Siehe P. Meyer, La Chan-
son de la Croisade II, S. 109 und 5.22, Stimmings kleine Ausgabe des
Bertran de Born, 2. Aufl., S. 182 und H. Carstens, Die Tenzonen aus dem
Peire Cardinal 109
Die grimmige Freude an der Bestrafung des Verräters
erhält eine besondere Würze von Übermut und Bosheit noch
dadurch, dalä Metrum und Reim dieses Liedes einer galanten
Huldigung nachgebildet sind, die gerade das Frühjahr zuvor
der alternde Höfling Raimon von Miraval für die Gräfin Leo-
nore von Toulouse gedichtet hatte,^) so daß in derselben Ton-
art und an demselben Hof, wo die junge Gattin des Grafen
Raimund verherrlicht wurde, nun dessen feindlicher Bruder
verhöhnt wird.
Die schwersten Schläge haben für Graf Raimund die Jahre
1213 bis 1216 gebracht. Alle seine Länder und Städte gingen
ihm verloren. Wenn sich der Papst auf dem lateranischen
Konzil im November 1215 nicht seiner angenommen hätte,
wäre er an den Bettelstab gekommen. Man kann sich denken,
daß unser Trobador keine sonderliche Lust empfand, alle die
Niederlagen, Verluste und Demütigungen seines Gönners im
Liede zu erwähnen. Er zog es vor, den eigenen Mißstand in
dem der ganzen Welt und das eigene Unglück hinter der ge-
samten Bosheit der Menschen verschwinden zu lassen. Nie
sind wir im Tadel der anderen so scharf und in dessen Ver-
allgemeinerung so rasch, als wenn es uns schlecht geht. So
wäre es denn psychologisch nicht unbegreiflich, wenn Cardinal
die meisten oder wenigstens die bittersten seiner abstrakten
Satiren gerade in jenen Jahren gedichtet hätte.
Eine Wendung zum Besseren trat für die Sache des Grafen
von Toulouse erst dadurch ein, daß die Bürger seiner Stadt
sich gegen Simon von Montfort empörten, die eingedrungenen
Kreuzfahrer teils niedermachten, teils verjagten und am 13. Sep-
tember 1217 ihrem angestammten Herrn die Tore öffneten.
Kreise der Trobadors Gui, Eble, Elias und Peire d'Uisel, Königsberger
Diss. 1914, S. 14 und 19 f. und Uc de St. Circ, Ausgabe Jeanroy-Salverda
de Grave, Toulouse 1913, Nr. XXXVII und S. 163. Über das Treiben
solcher Räuberbanden siehe A. Luchaire, La societe fran9. S. 9 ff.
^) Es ist die Kanzone Belh in' es quHeu chant e' m conhdey , heraus-
gegeben und kommentiert von P. Andraud, La vie et l'oeuvre du troub.
R. d. Mir., Paris 1902, S. 152-158.
110 6. Abhandlung: Karl yossler
Simon von Montfort legt sich nun mit großer Heeresmacht
vor die Stadt, und damit beginnt die zweite Belagerung von
Toulouse, die den ganzen Winter 1217 und das Frühjahr 1218
gedauert und dem Simon das Leben gekostet hat. Auf den
Anfang dieser Belagerung hat man das Sirventes unseres Dich-
ters Tendatz e traps, alcuhas, pahalhos (Nr. 56) *) beziehen
wollen, das entstellt und lückenhaft in der einzigen Hs. B
erhalten ist. Daß es sich um die Belagerung einer Stadt an
einem Flußlauf handelt, geht unzweideutig aus dem Wortlaut
hervor. Der dritte Vers der ersten Strophe weist aber, wie
A. Thomas erkannt hat, nicht auf Toulouse, sondern auf Lec-
toure am Flusse Gers hin : ^) iosta Vaigua pres Leitor'als camhos.
Von einer Belagerung dieser Stadt habe ich in der Geschichte
der Albigenserkriege keinerlei Nachricht finden können.^) Pillet
schreibt mir, daß in dem Erbfolgekrieg um die Grafschaft
Armagnac in den vierziger Jahren des 13. Jahrhunderts eine
solche hätte stattfinden können. Damals stand Arnaud Othon IL,
Vizegraf von Lomagne, unterstützt von seinem Vetter Othon
de Batz, gegen Guiraut V. von Armagnac.*) In dem Liede
Cardinais ist nun zwar von einem Coms Gr. von Armalhac
als Angreifer die Rede, auf der Seite der Verteidiger aber,
denen der Dichter den Sieg wünscht, erscheint kein Arnaud
und kein Othon, wohl aber ein Herr Amanieu, ein Herr Gaston
und ein Graf von Foix und auf der Gegenseite, als Hilfstruppen
für Armagnac, die liomes d'Äug, die Mannen von Auch. Da
nun der Wortlaut des Liedes nicht auf eine tatsächliche, son-
dern auf eine noch zu erwartende, in Wirklichkeit vielleicht
gar nicht erfolgte Belagerung hinw^eist, so will mir die Ver-
teilung der Rollen besser auf eine etwaige Kampfhandlung
der Albigenserkriege, als der Armagnac'schen Erbfolgefehde
1) Mahn, Gedichte 517.
^^) Levy, Supplement-Wörterbuch IV, S. VI.
^) Die Lokalgeschichten jener Gegenden sind mir unzugänglich ge-
blieben. Vergebens habe ich mich u. a. um die Archives de la ville de
Lectoure p. p. la Soc. bist, de Gascogne, ed. Druilhet, Paris -Auch 1885
und Cassassoles, Not. bist, sur la ville de Lect., Auch 1839, bemüht.
4) Art de verifier les dates, Paris 1818, Bd. IX, S. 334.
»
Peire Cardinal 111
passen; um so mehr als der Graf von Armagnac dabei nicht
um Besitz, deniers, sondern um pretz und onransa, also offen-
bar nicht in eigener Sache kämpft. Dieser Guiraut wäre dann
nicht der fünfte, sondern der vierte der Grafen von Armagnac,
derselbe, der am 8. Juni 1215 in Montauban dem Simon von
Montfort die Heeresfolge versprochen') und, wie uns durch
eine Urkunde vom 18. Dezember 1217 verbürgt ist, an der
Belagerung von Toulouse sich beteiligt hat.^) Wir wissen auch,
daß Simon ihn schon das Jahr zuvor durch einen Boten gegen
Toulouse aufgerufen hatte. ^) Ihm zur Seite würden die Mannen
des Erzbischofs von Auch, die wie das Albigenserepos berichtet,
ebenfalls vor Toulouse mitgewirkt haben,*) am richtigen Platze
stehen. Im Frühjahr 1219 etwa, als der Kronprinz von Frank-
reich von La Rochelle her gegen Toulouse zog, hätten diese
Streiter sich ihm anschließen oder ihm voraneilen und die Stadt
Lectoure, die auf dem Wege lag, bedrohen können. Zur Ver-
teidigung aber wäre der Graf Raimon Rogier von Foix, der
vorher schon auch den Toulousanern so wirkungsvoll zu Hilfe
gekommen war, ^) um jene Zeit wohl der rechte Mann gewesen.
Der Herr Amanieu könnte jener Amanieu von Bouglon sein,
der im Jahre 1219 auch Marmande gegen die Kreuzfahrer
verteidigen half^), oder jener „hoffnungsvolle junge" Wilhelm
Amanieu, der für Toulouse sowohl wie für Marmande ge-
kämpft hat.'^) Herr Gaston kann zwar nicht der sechste Vize-
graf dieses Namens von Bearn sein, denn dieser war schon
1215 gestorben. Ein sonst nicht weiter bekannter Gaston
wird neben Wilhelm Amanieu im Albigenserepos erwähnt. Die
"Namen Amanieu und Gaston sind freilich in jener Zeit und
Gegend so häufig, daß man sie für eine Datierung des frag-
lichen Liedes in das zweite so gut und so schlecht wie in das
1) Histoire generale de Languedoc VI (1879), S. 463.
2) Ebenda, S. 510.
^) P. Meyer, La chanson de la Croisade, II, S. 312, Anra. 3.
4) Ebenda, I, Vers 6575.
5) Ebenda, Vers 6658 ff. «) Ebenda, Vers 8960.
■^j Ebenda, Vers 6121 und 8961.
I
112 6. Abhandlung: Karl Vossler
fünfte Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts, für den Albigenserkrieg
wie für den Armagnac'schen Erbfolgekrieg gebrauchen kann.
Mir scheint die frühere Datierung auch deshalb wahrschein-
licher, weil man nach den kriegerischen Erfolgen der Albi-
genserpartei in den Jahren 1217, 1218 und 1219 die gehobene
Stimmung und Kampflust des Dichters sich leichter erklären
kann. Ob er in den vierziger Jahren noch Neigung hatte,
die Gedanken und die Reime eines Bertran de Born so sorg-
sam nachzubilden, wie er es hier getan hat,^) darf man be-
zweifeln. Wie dem auch sei, für Cardinais künstlerische Eigen-
art ist das Lied von verschwindender Bedeutung.
Auf die heldenhafte Verteidigung von Toulouse im Jahre
1217 möchte Maus das moralisierende Sirventes Lo giorn que
ieu fui natz (Nr. 32) beziehen,^) doch kann er sich dabei nur
auf eine Geleitstrophe berufen, die nicht einmal in allen Hand-
schriften steht ^) und nichts weiter als eine allgemeine Ver-
herrlichung dieser Stadt besagt. Wie gefährlich es aber ist,
derartige Geleite zur Datierung zu verwenden, hat Appel erst
neulich wieder betont.*)
Klarer und lauter zeugt das Sirventes Falsedatz e desme-
zura (Nr. 25)^) von dem gestärkten Bewußtsein der Partei des
Grafen Raimund.
Kommt vom Lande der Franzosen
Einer, den geladen
Niemand als die Reich' und Großen,
die im Weine baden
heißt es da, und in der folgenden Strophe:
Raimund, Herzog von Narbonne,
Markgraf von Provenze,
^) Das Vorbild ist Bertrans Miei sircentes vuolh far dels reis amdos.
2) Maus, Cardinais Strophenbau, S. 41 f.
3) Sie fehlt z. B. in I (Mahn, Ged. 612).
*) In seiner Ausgabe des Bernart von Ventadorn, Halle 1915. S. XXX.
5) Parn. occ. S. 308 ff., Rayn. Choix IV, S. 338 ff.. Mahn, Werke 11,
S. 192 ff.
Peire Cardinal 113
Eure Tüchtigkeit wie Sonne
in der Welt erglänze.
Ob vom Meere bei Bayonne
hin bis nach Valenze^)
falsch und niedrig Volk auch wohne
rings an Eurer Grenze:
Ihr haltet nieder sie,
fürchtet so wenig wie
Falkenschnabel Hühner scheut,
der Franzosen Trunkenheit.
Schon Diez hat vermutet, daß dieses Lied im Jahre 1219
geschrieben sei. Zwar ist der Kronprinz von Frankreich, der
spätere Ludwig VIII., auch im April 1215 den Kreuzfahrern
zu Hilfe gekommen, aber die Partei Simons hatte ihn damals
nicht geladen. Im Gegenteil, man fürchtete seine Konkurrenz.
Nach Simons Tode aber, als die Belagerung von Toulouse auf-
gehoben werden mußte und Amalrich von Montfort einen immer
schwierigeren Stand gegen Raimund VI. und dessen Sohn hatte,
schickte der Cardinal Legat Bertran den Bischof Folquet von
Toulouse an den französischen Hof, um Hilfe zu suchen, und
Papst Honorius III. wurde im August und September 1218
in demselben Sinne beim König vorstellig. Im Frühjahr 1219
fand sich denn auch der Kronprinz mit großer Heeresmacht
in Südfrankreich ein. Man wird kaum fehl gehen, wenn man
auf diese Zeit etwa das Lied unseres Dichters bezieht.
Freilich hat Ludwig von Frankreich auch später, nach-
dem Raimund VI. im August 1222 und Philipp August im
Juli 1223 gestorben waren, noch einmal die Waffen gegen
die Albigenser erhoben. Seit Ende 1223 verhandelte er mit
dem Papst und den Bischöfen über einen neuen Kreuzzug nach
Südfrankreich. Der kriegerische junge Raimund VII. war im
Begriffe, sein ganzes Herrschaftsgebiet zurückzuerobern, und
Amalrich von Montfort hatte, um ihm erfolgreich zu wider-
stehen, nichts von des Vaters Tatkraft. Kleinmütig trat er
1) Wahrscheinlich ist Valence an der Rhone gemeint.
Sitzgsb. d. pbilos.-philol. u. d. bist. Kl. Jahrg. 1916, 6. Abb. 8
I
114 6. Abhandlung: ttarl Vossler
air seine Ansprüche auf das Gebiet der Grafen von Toulouse
an den König von Frankreich ab. Daraufhin, Ende Mai 1226,
setzte dieser sich mit einem Heer in Bewegung und zog am
linken Rhoneufer, stromabwärts, auf Avignon los, wo er am
7. Juni ankam und sich den Flußübergang erzwingen mußte.
Auch auf diese Sachlage könnte man das obige Sirventes be-
ziehen. Es wäre dann bei derselben Gelegenheit entstanden,
wie das folgende, über dessen Datierung kein Zweifel besteht
(Nr. 12).0
leu volgra, si Dieus o volgues,
acsem cobrat Suria,
e • 1 pros emperaire agues
cobrada Lombardia,
e • 1 Valens coms, ducx e marques
agues sai cobrat Vivares,
qu'enaissi me plairia,
que aitals voluntatz m'a pres
que dels afars volria
so que dregz n'es.
Marseilla, Aires, (et) Avinhos,
tug segon una via,
e Carpentras e Cavaillos
e Valensa e Dia,
Viana, 1 Pupetz e*l Dromos:
aion^) rei lo plus cabalhos
que d'aissi en Turquia
porte^) caussas ni esperos,
que, si bes no ' ilh venia,*)
en bada es pros.
Si cum val mais grans naus en mar
que lings^) ni sagecia,
1) Rayn. Choix V, S. 303, Mahn, Werke II, S. 239 und Mahn, Ge-
dichte 1258. Die Lesart von Mahn, Ged. (= M) ist, was Strophenfolge
und Vollständigkeit betrifft, vorzuziehen. '^) agron Bayn.
^) Que port Rayn. Der vorhergehende Vers fehlt dort.
*) Car si pro no * 1 tenia Bayn. ^) butz M.
Peire Cardinal 115
e val mais leos de singlar
e mais dos que fadia,
val mais lo coms que autre bar,
qu'ab tolr'als fals et als fis dar
sec de valor la via
e pueia en pretz ses davallar,
et a la maestria
de ricx faitz far.
Mir wäre lieb, wenn Gott es wollte,
wir hätten Syrien wieder,
und unser wack'rer Kaiser holte
sich die Lombarden nieder,
und hier zu Land im Vivarais
der edle Graf und Herzog saß.
So möchte mir's behagen,
dieweil im Weltgezänk' mein Sinn
sich immer fühlt getragen
zum Rechte hin.
Marseille und Arles und Avignon
trennen vom Weg sich nie,
Carpentras auch und Cavaillon,
sowie Valence und Die,
und was um Dröme und Poupet wohnt:
geschäh's, daß dort ein König thront',
und war' er höh'ren Mutes
als alle bis zum Türken hin :
und brächte doch nichts Gutes,
man pfiff' auf ihn.
Um wieviel besser ist ein Schiff
auf See als Kahn' und Barken,
des Löwen als des Ebers Griff,
und milde sein als kargen:
soviel ist unser Graf voran
mit „Nimm" und „Gib" vor jedermann,
8*
116 6. Abhandlung: ßarl Vossler
und nach der Höhe schreitet
zur Ehre er und will nicht ruh'n,
Tugend zum Vorbild leitet
sein edles Tun.
Es folgen noch zwei Strophen zum Preis des Grafen Rai-
mund, der weder Pfaffen noch Franzosen, noch sonst etwas
auf der Erde fürchte. Ein Geleit mit einer schmeichelhaften
Deutung des Namens Raimon^) krönt das Gedicht. Seiner
Absicht nach ist es nicht bloß eine Verherrlichung des Grafen,
sondern ein politisches Werbelied, dessen Geschicklichkeit und
kluge Berechnung man bewundern muß, je näher man das
Interessenspiel jener Zeit betrachtet. Es handelt sich hier um
Herrschaftsverhältnisse des arelatischen Reiches.^) Mit Mar-
seille, Arles, Avignon, Carpentras, Cavaillon, Valence, Die,
Vienne, dem Drome-Tal und dem Berge Poupet bezeichnet
Cardinal, schrittweise von Süd nach Nord und Ost gehend,
das ganze linksrhonische Arelat, vergißt aber auch das rechts-
rhonische Stück nicht, die Grafschaft Vivarais. Auf diesem
ganzen Gebiete, das bekanntlich zum Deutschen Reiche ge-
hörte, hatte Kaiser Friedrich II. Interessen, die mit denen des
Grafen von Toulouse vielfach Hand in Hand gingen. Früher,
als Friedrich mit dem französischen König verbündet war, im
Jahre 1212, sahen wir unseren Dichter als treuen Toulousaner
noch unter den Gegnern Friedrichs. Je mehr sich aber, unter
dem Vorwand der Ketzerbekämpfung, die nordfranzösische Herr-
schaft im Süden ausbreitete und das Arelat bedrohte, desto
enger mußten naturgemäß die Grafen von Toulouse, in ihrer
Eigenschaft als Grafen der nördlichen Provence und des Vi-
varais, sich an ihren obersten Lehensherrn, den Deutschen
Kaiser halten. Über den Besitz eroberter Ketzerländer hatte
1) Aus mon = Welt und rai oder raiar = Sonne oder strahlen, her-
vorglänzen (?), wozu das Wortspiel renom — raymon hinzukommt. Solche
Spielereien mit den Namen gepriesener oder gescholtener Persönlich-
keiten gehören zum Trobadorstil. Vgl. W. Nickel, Sirventes- und Spruch-
dichtung, Berlin 1907, S. 43 ff.
2) Siehe R. Sternfeld, Das Verhältnis des Arelats zu Kaiser und
Reich, Berlin 1881, bes. S. 37—71.
Peire Cardinal 117
das lateranisclie Konzil von 1215 bestimmt, daß der Papst ihn
an getreue Katholiken übertrage: „salvo jure domini princi-
palis, dummodo super hoc ipse non praestet obstaculum" —
eine dehnbare Bestimmung, kraft deren die Geistlichkeit tief
in die Rechte des Kaisers und seiner arelatischen Vasallen ein-
greifen konnte. Der vom Kaiser eingesetzte Vizekönig des
Arelates, Wilhelm von Montferrat, war im Jahre 1225 ge-
storben. Auf diese Vakanz scheinen Cardinais Worte über
einen neuen, etwa zu erwartenden König anzuspielen. Zu-
nächst aber führte der Kaiser dort selbst seine Angelegen-
heiten und griflP mit einem Schreiben vom 31. März 1225 zum
erstenmal in die Ereignisse der Albigenserkriege ein. Er ver-
bietet in dieser Urkunde dem Grafen von Toulouse, „Besit-
zungen, die er vom Reiche zu Lehen trage, zum Schaden desselben
zu veräußern und fordert ihn auf, die schon veräußerten wieder
an sich zu bringen".^) Sternfeld meint, man könne über die
Bedeutung dieses Briefes, da er uns so ohne Zusammenhang
erhalten sei, Zweifel hegen. Das Wahrscheinlichste sei aber
doch, daß er dem Grafen, der gegen Frankreich und die Geist-
lichkeit schon allzu nachgiebig gewesen war, den Nacken stei-
fen wollte. Er wollte demnach unter anderem ganz dasselbe
wie unser Dichter, nämlich daß Raimund sich das Vivarais
zurückgewänne. Als nun der König von Frankreich zu den
Waffen griff und, immer durch Reichsgebiet marschierend, sich
gegen Avignon bewegte, standen die von Cardinal genannten
Gegenden und Städte vor der Wahl, sich dem nordischen Er-
oberer zu unterwerfen oder ihm Widerstand zu leisten. Der
Kaiser war fern und zu tatkräftigem Auftreten gegen Ludwig
nicht in der Lage. Li diesem schwierigen Augenblick, wahr-
scheinlich in der Zeit zwischen dem Einmarsch der Franzosen
in das Arelat, Ende Mai 1226 und ihrem Sturm auf Avignon,
Juni bzw. September 1226, mag Cardinal sein Lied gedichtet
haben, um in den bedrohten Gebieten Stimmung zu machen
für die Sache des Grafen von Toulouse, die zugleich als Sache
des Kaisers sich darstellte, so sehr immer Ludwig und der
1) a. a. 0. S. 63.
I
118 6. Abhandlung: Karl Vossler
Papst beteuerten, daß die kaiserliche Oberhoheit durch die
Unternehmungen des Kreuzheeres nicht geschädigt werden
sollte. Zu unserer Datierung stimmen auch die in der ersten
Strophe ausgedrückten Wünsche des Dichters. Er möchte
Syrien, das Heilige Land, wieder erobert sehen, eine begreif-
liche und naheliegende Hoffnung, wenn man bedenkt, daß
Kaiser Friedrich schon seit 1223 Anstalten zu einem Kreuzzug
traf und daß er am 9. November 1225 Isabella von Jerusalem
geheiratet und mit dem Titel eines „Königs von Jerusalem" das
feierliche Versprechen auf sich genommen hatte, der Christen-
heit diese Stadt zurückzugewinnen. Auch der Wunsch, daß
es dem Kaiser gelingen möchte, die Lombardei, die als Ver-
bindung zwischen Italien und dem Arelat so wichtig war, sich
gefügig zu machen, war, angesichts der Tatsache, daß im
März 1226 der Lombardenbund sich erneuert hatte, höchst
zeitgemäß.^)
Durch die Ereignisse aber sind diese Wünsche teils gar
nicht, teils unvollkommen erfüllt worden. Avignon fiel, die
Franzosen siegten, der Krieg zog sich mit mancherlei Wechsel-
fällen noch über zwei Jahre hin, bis er im April 1229 in
einem Frieden seinen Abschluß fand, der den Grafen von Tou-
louse aufs schwerste demütigte und der Selbständigkeit des
Südens den Sarg zimmerte. Zu politischen Vorgängen der
Folgezeit hat Cardinal, soviel wir sehen, seine Stimme nicht
mehr erhoben. Wohl finden sich da und dort in seinen Lie-
dern noch unbestimmte und flüchtige Anspielungen auf Ver-
hältnisse und Ereignisse der späteren Jahre, doch sind sie nicht
derart, daß sie eine annähernd genaue und sichere Datierung
erlaubten.^) Als politischer Satiriker hat Cardinal, soviel wir
sehen, nur in den Jahren der Albigenserkriege sich betätigt,
und selbst hier lag ihm offenbar das Ethische näher am Herzen
als das Politische und Militärische.
1) Maus a. a. 0. S. 85 datiert das fragliche Sirventes etwas ungenau
ins Jahr 1227, Wittenberg, Die Hohenstaufen im Munde der Troubad.,
Münster, Diss, 1908, S. 70f., dagegen richtig ins Frühjahr 1226.
2) Siehe die Anhänge Iff.
Peire Cardinal 119
VII. Persönliche und versteckte Satire.
Das ethische, ideale, überpersönliche Empfinden hat bei
Cardinal selbst dort noch die Führung, wo seine Dichtung
sich gegen ganz bestimmte Persönlichkeiten wendet. Dies
läßt sich an seinen Schmähliedern gegen Esteve de Belmon
beobachten.
Vielleicht hat dieser Herr ihm nie etwas zuleide gretan.
Wann und wieso er ihm vor das poetische Messer kam, wer-
den wir mit Sicherheit kaum erfahren, denn nicht wenig Burgen,
Schlösser oder Städtchen des Namens Belmont und unendliche
Esteves gab es im südlichen Frankreich. Fahre hat in Ur-
kunden des Hauses Polignac aus den Jahren 1226, 28 und 49
einen Esteve de Belmon ausfindig gemacht, der aus Beaumont
an der Dore, in der Gemeinde St. Victor sur Arlane, bei La
Chaise Dieu, etwa 45 km nördlich von Le Puy, stammte, also
ein Landsmann Cardinais und, als geistlicher Herr, sogar sein
Kollege war.^) Gegen diesen — oder auch einen anderen Esteve
hat Cardinal (wenn Fahre recht hat, etwa im vierten Jahr-
zehnt des 13. Jahrhunderts, wahrscheinlich aber schon früher)^)
drei Lieder geschleudert: Nr. 19, Nr. 65 und 68. Fahre möchte
noch ein viertes, nämlich Nr. 9, auf Esteve beziehen. Ich kann
ihm nicht beipflichten; denn, während in den drei anderen
Esteve als ein weithin leuchtendes Beispiel von Verräter er-
scheint, dessen Namen der Dichter gar nicht laut genug in
der Öffentlichkeit ausrufen kann, verschweigt er hier mit wich-
tiger Gebärde die Personalien seines Opfers und munkelt nur,
daß er jemanden kenne und Dinge von ihm wisse, die, wenn
er sich getrauen dürfte, sie auszusagen, diesem jemand den
Ruf eines Verräters fruchten müßten.
Qu'un tal n'a say
que, s'o auzava dire,
I
») Annales du Midi, XXI, S. 5 IF.
2) Siehe Anhang IX.
120 6. Abhandlung: Karl Vossler
per so qu'en say,
for' apellatz trahire.^)
Daß es ein sehr hoher Herr sein muß, der für seinen
Verrat nicht gehenkt, sondern an eine regierende Stelle be-
fördert wurde, deutet die zweite Strophe des Gedichtes an.
Man könnte an Simon von Montfort, an den Abt von Ci-
teaux, an den Bischof Folquet von Toulouse oder sonst eine
mächtige Persönlichkeit denken, deren Rache Cardinal zu
fürchten hatte, aber gewiß nicht an Esteve. Höchstens in
der Schlußstrophe, wo von verräterischen Spielleuten im Ve-
lay und schließlich von der Häufigkeit aller Arten von Ver-
räterei bei Laien und Geistlichkeit in jener Gegend die Rede
ist, mag Cardinal auch an seinen Esteve gedacht haben.
Leider wissen wir nur unvollkommen, was dieser im ein-
zelnen verbrochen hat. Nach des Dichters Vorwürfen zu
schließen, hätte er bei einem Gastmahl einen seiner eigenen
Vorfahren, seinen Paten und einen unschuldigen Knaben,
das Kind seines eigenen Herrn, mitsamt der Dienerschaft, ver-
räterischerweise ermordet. Ein südfranzösischer Atreus! Das
Verbrechen scheint sich in Eynac bei St. Julien-Chapteuil zu-
getragen zu haben. Statt uns den Hergang ordnungsgemäß
zu erzählen, gibt uns der Dichter, wenn wir genau zusehen,
eigentlich nur die sittliche Wertung der Tat. Am reinsten
hat er diesen ethischen Stil in Nr. 65: Un sirventes ai en cor
que comens^) durchgeführt. Durch Vergleich der Esteveschen
Verbrechen mit denen des Judas und des Ganelon, läßt er uns
deren spezifisches Gewicht fühlen und schreitet ihre ethisch-
praktische Tragweite ab, indem er zeigt, wie auf einen Schlag,
tot ah US ferramens, mit ein und denselben Werkzeugen, Un-
schuldige, Märtyrer, Bekenner, Betrüger und Verräter von
Esteve geschaffen wurden. Aber nicht auf die Opfer und
Helfershelfer im einzelnen kommt es dem Dichter an. Man
sieht jene nicht leiden und diese nicht am Werk. Wenn
1) Mahn, Ged. 758, 759 und Studj di fil. rom. IX, Nr. 12, S. 521,
erste Strophe.
2) Kritischer Text in den Annales du Midi a. a. 0., S. 26 ff.
Peire Cardinal 121
in der dritten Strophe der Täter selbst uns handelnd vorge-
führt wird, so geschieht es nicht, um zu erzählen, wie er es
damals angestellt hat, sondern wie er es immer zu machen
pflegt, als ob er die Gewohnheit hätte, jedesmal wenn er bei
Verwandten zu Gaste sitzt, zwischen Vergnügungen und Scher-
zen, plötzlich als improvisierter Verräter quon tradier desuptos^)
vom Tische aufzustehen und unter den Köchen, Pförtnern und
Verwaltern seiner Gastgeber ein Blutbad anzurichten. Mit
anderen Worten: die Gesinnung und Vertrauenswürdigkeit
dieses Menschen, nicht der einmalige Hergang jener Tat will
festgelegt werden. Selbst in der äußeren Erscheinung des
Missetäters tritt nur dessen Charakter zutage. Esteve war
ein beleibter, blühender Herr; aber hinter seinem Umfang
läßt Cardinal uns nur das Böse, die malas humors, und an
seiner gesunden Farbe nur den blühenden Betrugt) sehen.
Großartig und ungeheuerlich, wie jenes schöpferische Ver-
brechen, in dem Kain fortlebt und eine ganze Stufenleiter
ethisch-religiöser Werte, vom Heiligen bis zum Verräter ver-
virirklicht wurde, muß nun auch die Buße sein. Strick und
Gefängnis wären noch eine Ehre. Die Gerechtigkeit ist ratlos.
Indessen tut Esteve Buße auf eigene Art: verleumdet, streitet,
hurt, raubt, hehlt und stiehlt. Cardinal empfiehlt ihm einen
anderen Weg:
Verräter Stephan, willst Du deine Schuld
abbüßen? Sag herunter in Geduld
dem Herrn Kaplan, daß er dein' Sund betrachte,
ein bis zwei Lieder, die ich auf Dich machte.
Man sieht, wie der Hohn, der Haß, die Schadenfreude,
die ganze Erregung dieser Satire durch sittliche Erschütterung
ausgelöst ist. Esteve hat nicht die Interessen und im Grunde
1) Siehe desuptos in Levys Supplement -Wörterbuch, S. 154.
2) Fahre schreibt Str. IV, Vers 1 : Esteve es faitz a for dels aygolens
und übersetzt: Est. est fait ä l'instar des fruits d'eglantier. — aygolenc
ist aber wohl dasselbe Wort wie das rätselhafte aigonenc. Wer die
Früchte des Weißdorns kennt, wird der Deutung Fabres kaum zustimmen.
L
122 6. Abhandlung: Karl Vossler
auch nicht den Geschmack, sondern das Gewissen und den
Glauben Cardinais verletzt.
Ahnliche Beobachtungen sind an dem anderen, der Zeit-
folge nach vielleicht ersten Sirventes gegen Esteve, B'Esteve
de Belmon m'enueia (19),^) weniger leicht und unmittelbar
zu machen, teils weil der Text unsicher und schwer verständ-
lich, teils weil der Stil durch Bertran von Born beeinflußt
ist.^) Immerhin fehlt es auch hier nicht an echt Cardinaischen
Einfällen. Der dichterische Grundgedanke verrät dieselbe
Herkunft. Die Bosheit des Esteve wird ins Übermenschliche
und Phantastische derart gesteigert, daß die Übertreibung er-
haben und komisch zugleich wirkt und das Gedicht den Cha-
rakter eines entsetzlichen Spieles, eines Lachens unter Ge-
wissensschauern annimmt. Durch das ganze Stück hin stellt
der Dichter derb materialistische Bilder dicht neben ethisch-
religiöse Wertbegriffe hin. Esteve ist dicker als ein Mühl-
trichter und ist ein Rostfleck auf der Kirche, lügt wie ein
Spion und versperrt im Kirchenchor den Platz mit seinem
Bauch, hat einen Wasserkopf und einen Buckel und treibt
Unzucht mit einem alten rothaarigen Weib. Niemand wird
um ihn weinen, wenn er gehenkt wird und die Geier ihn
fressen; er aber wird, wann er baumelt, noch seinen Galgen-
brüdern die Stricke und Knebel stehlen; und so stark ist er
im Verrat, daß man einen Absud von ihm nehmen und eine
Salbe gegen Yerräterei aus seinen Säften brauen kann. All
diese Einfälle sind nicht erfunden, um gerade dieses Indivi-
duum zu charakterisieren, sondern um ein Exemplum aufzu-
richten, und nicht allein ihm, dem Esteve, zur Strafe geschieht
es, sondern allen Verrätern zur Warnung, und nicht nur uns,
sondern dem beleidigten Gewissen als solchem zur Genugtuung
und zur Lust.
Das dritte Lied gegen Esteve schwenkt vollends ganz vom
Angriff auf den Einzelnen zur Satire gegen den ganzen Stand,
1) Mahn, Ged. 762, 763 nach G und B.
^) Besonders an Bertrans Bastsa, tan creis e monta e poia scheint
Cardinal sich angelehnt zu haben.
Pelre Cardinal 123
dem dieser angehörte, über und erweitert sich zu einem ethisch-
politischen Zeitgedicht. ^)
In anderen Sirventesen, auf die wir schon oben hinsre-
wiesen haben, ^) zerfließt der persönliche Tadel derart zur all-
gemeinen Moralisation , daß wir die Einzelnen, auf die es ab-
gesehen war, nicht mehr erkennen. Wer will heute noch
erraten, wen Cardinal gemeint hat mit dem lügenhaften mal
terrier (oder trentenier?) in Nr. 5, oder mit dem meineidigen
geistlichen Herrn in Nr. 44, oder mit dem guten Herrn Re
und dem bösen Herrn Cesto d'Amon in Nr. 58, oder mit dem
großen Verräter in Nr. 9?
Es gehört zu der Natur der Cardinaischen Satire, daß
sie nur kurz und rasch, schnellend und pfetzend, wie die
Peitsche eines erfahrenen und kaltblütigen Rosselenkers, aus
den Höhen des Allgemeinen, in denen sie kreist, herabfährt
und trifft, um gleich wieder hoch über den Köpfen der Ge-
züchtigten zu nicken. Ohne recht zu wissen, wo es einge-
schlagen und wem es eigentlich gegolten ,■ fühlen sich alle
bedroht. Schon wann der Meister, halb spielend, halb mahnend,
nur im Winde seine Geißel pfeifen läßt, sitzt ihnen die Angst
im Nacken. Nicht einzeln, sondern meist zu Paaren und
Rotten gespannt, klassen- und herdenweise, liebt es Cardinal
den Feind vor sich herzutreiben. Es liegt ohnedem in der
Art der mittelalterlichen Lehr- und Rügedichtung, daß sie sich
auf ganze Stände , Berufe und Gesellschaftsschichten wirft.
Der persönliche Angriff, die Invektive, ist erst mit dem Indi-
vidualismus der Renaissance zur Mode geworden und hat unter
den Trobadors nur vereinzelte Vorläufer gefunden, von denen
Cardinal mit seinen Esteve-Liedern weder der erste noch der
wichtigste ist. Ihn hat der Stil seiner Zeit und ebensosehr
die eigene Neigung und Begabung auf Klassen- und Partei-
satire angewiesen. Denn in hohem Maße besaß er die Fähig-
keit, das Typische, das Gewohnheits- und Standesmäßige, das
Gemeine des Durchschnitts bei den Menschen zu fassen. Re-
I
») Nr. 68, Mahn, Ged. 1254, 1255, Siehe Anhang IX.
2) S. 34 f.
124 6. Abhandlung: Karl Vossler
geln, Sitten und Bräuche bzw. Unsitten und Mißbräuche, pro-
fessionelle und zünftige Charakterzüge und Unarten, sittliche
Massenerscheinungen, die eher der Analyse als dem schauen-
den Auge zugänglich sind, weiß er anschaulich zu machen
und geradezu stimmungsvoll darzustellen. Was andere Sa-
tiriker des Mittelalters nur langweilig beschreiben und ärger-
lich säuerlich benörgeln, belebt er phantastisch. Ganze Grup-
pen, Kreise, Kasten und Nationalitäten nimmt er nach ihrer
gemeinsamen Denkart, Gesinnung und Willensrichtung zu-
sammen und hüllt sie in ein Halbdunkel, das den künstleri-
schen Reiz der „Anspielung" hat. Der Zauber seines Stiles
liegt oft nur in dem, was er verschweigt: in der Verhalten-
heit seines Grimms, in der Unbestimmtheit seiner Drohung,
im scheuen Vermeiden der angekündigten Enthüllung, im grau-
sam verlängerten Spiel mit dem Opfer — ein Spiel, das freilich
auch zur selbstgefälligen Tändelei und zum bloßen Wort-
geplänkel entarten und alle Wirkung zerstreuen kann. Manch-
mal gleicht er der Katze, die über dem Scherzen sich die Maus
entgehen läßt. Andere Male tötet er mit einem einzigen Griff.
Ein einziger Name, ein konkreter Einzelfall, ein treffender
Vergleich, ein greller Schlagschatten, überraschend angebracht,
fällt dann wie ein Tröpfchen beizender Säure in die matte
Flüssigkeit seiner Moralisationen und Generalisationen und
bringt das Ganze zum Kochen und Gären. Wie nichtssagend
wäre das Sirventes Nr. 9 ohne die persönlichen Anspielungen
in der ersten und letzten Strophe, und Nr. 44 ohne die in
der dritten Strophe. Um so bedauerlicher für uns, daß wir
sie nicht mehr verstehen. Besonders geeignet, unsere Neu-
gier zu wecken ist Nr. 53.^)
So brav sind uns're Nachbarn fein,
so voller Gut' und Menschlichkeit:
wenn Stein zu Brot würd' weit und breit
und alles Wasser wäre Wein,
1) Bartsch, Provenzal. Lesebuch 1855, S. 83, Rayn. Choix IV, S. 360 f,
Parn. occ. S. 319, Mahn, Werke II, S. 189 und Mahn, Ged. 1246, 1247.
feire Cardinal 12o
die Berge Speck und Hühnerklein,
sie schenkten nichts! So sind die Leut'.
Und Leute gibt's, ich sag' nicht wer,
die Schweinen gleich im Gevaudan,
hündisch im Viennois getan,
im Velay glichen ungefähr
der Bulldogg sie; die Wandlung war'
erreicht, nur fehlt der Schweif noch d'ran.
Des Weibes Schwur gilt mir wie Sand,
bin ihrem Eid nicht wohlgesinnt.
Legt ihr, damit sie Wahrheit künd',
'mal einen Pfennig auf die Hand
und für die Lüg' des Hellers Tand:
Der Heller, sag' ich euch, gewinnt.
Und mancher sieht so kindlich drein
und sinnt auf Erbschaft wider Recht ^)
und spricht mit Logik kunstgerecht
und ist voll Gier wie Isegrein,
hat blondes Haar, sein Wuchs ist fein,
im Leib das Herze falsch und schlecht.
Hätt' ich den Witz des Muselmans,
des Christen Glauben, Zucht und Treu',
des Heiden Kniff und Künstelei,
die Kühnheit des Tartarenchans —
wer so begabt ist, glaub' ich, kann's
gegen Kastiliens Lügnerei —
die unrecht tut und lügt dabei
und einzig steht in diesem Glanz.
Was mag sich hinter „Kastiliens Lügnerei", hinter dem
messongier Castella" verstecken? Vielleicht kein Mann, son-
dern das Weib, auf dessen Schwur der Dichter nichts geben
^) Das trebellia oder trebuJia des Textes ist Trebellianus. Siehe
darüber weiter unten.
126 6. Abhandlung: Karl Yossler
will, die Königin-Mutter Blanka von Kastilien? Sie ist es, die
Raimund VlI. den demütigenden Frieden des Jahres 1229 auf-
gezwungen hat. Sie war, selbst in Nordfrankreich, gerade
um jene Zeit, die Zielscheibe satirischer Dichtungen. Der
Dichter Hugues de la Ferte in französischen und die Clercs
der Pariser Universität in lateinischen Versen schmähten sie
und warfen ihr vor, sie schicke Geld nach Spanien, umgebe
ihren Sohn, den jungen Ludwig IX., nur mit Spaniern^) und
treibe Unzucht mit dem päpstlichen Legaten. Der Mensch
mit dem kindlichen Aussehen in der dritten Strophe könnte
dann der junge König sein, der es auf Raimunds VII. Erbe
abgesehen hatte und dessen Äußeres uns durch Bilder und
zeitgenössische Aussagen in der Tat ganz in Cardinais Sinn
geschildert wird: blond, schlank, hochgewachsen, mit einem an-
mutigen, engelgleichen Gesichtsausdruck, mit „Taubenaugen ".^)
Diejenigen aber, die wie Schweine und Hunde in den Land-
schaften Gevaudan, Vienne und Velay gehaust haben und die
der Dichter nicht nennen will, sind vielleicht französische
Truppen, die sich vor 1229 dort noch herumtrieben oder, was
mit Rücksicht auf die Scheu des Dichters sie zu nennen und
in Anbetracht des afaitamen cani, der „hündischen Dressur",
noch wahrscheinlicher ist, die Dominikaner, die Domini canes,
wie man sie später nannte,^) die als Werkzeuge der Inquisi-
tion allerdings fürchterlich im Languedoc gehaust haben. Das
Sirventes könnte demnach etwa um 1233 geschrieben sein,
denii damals war die Inquisition zu einer regelmäßigen Ein-
richtung geworden.*)
Doch air dies ist nur Vermutung. Gegen den Willen
des Dichters, seinen Feind in Dunkel zu hüllen, bleibt die
Forschung machtlos.
I
1) Siehe Elie Berger, Histoire de Blanche de Castille, Paris 1895,
S. 108 f. und 134 f.
2) Ch. V. Langlois, in Lavisse, Histoire de France, III, 2, S. 19.
^,) Über den Hund als Schimpfwort für päpstliche Advokaten und
als Symbol der Dialektik vgl. H. Grauert, Magister Heinrich der Poet,
Abhdlg. der K. B. Akademie der Wiss., philos.-philol. u. bist. Kl. XXVII,
München 1912, S. 180 fF. ^) Histoire de Languedoc VI, 673 f.
Peire Cardinal 127
VIII. Die Geistlichkeit.
Den ungehemmten Schwung seiner Dichtung und zugleich
damit die gröläte Spannweite seines Könnens entfaltet Cardinal
in der allgemeinen Satire gegen die Geistlichkeit und weiterhin
gegen die gesamte Verderbnis des Zeitalters. Die Motive des
Pfaffen- und des Weltspiegels liegen ihm am besten. Hier
haben ihm neben den Trobadors auch die Kleriker und Va-
ganten vorgearbeitet, so daß er nun, fast mühelos, die Er-
rungenschaften beider Traditionen vereinigen kann. Anderer-
seits strömen ihm hier die eigenen Erlebnisse und Empfindungen
so reichlich zu, daß von unselbständiger Nachahmung, sei es
lateinischer, sei es provenzalischer Lehr- und ßügedichtung
kaum mehr die Rede sein kann. Ich habe handgreifliche
Entlehnungen weder da noch dort, wohl aber allerlei An-
klänge finden können. Es mag genügen, durch einige Andeu-
tungen und Belege Cardinais Bekanntschaft mit der satirischen
Lyrik der Kleriker und Vaganten und mit der lateinischen
Schulpoesie überhaupt wahrscheinlich zu machen.
Wir haben es als einen sympathischen und persönlichen
Zug an ihm hervorgehoben, daß er, im Unterschied von dem
herausfordernden Selbstbewußtsein der meisten Trobadors, aus
seiner eigenen Unvollkommenheit kein Hehl macht und sich
gelegentlich selbst in die Reihe der von ihm getadelten Sünder
und Narren einschließt. Beispiele dieser bescheidenen Selbst-
kritik konnte er in der mittellateinischen Dichtung viel zahl-
reicher finden als in der provenzalischen. In dem bekannten
Lied gegen die Simonie, Nr. LXXHI der Carmina Burana, das
dem Thomas Becket (f 1170) zugeschrieben wird, heißt es:
Omnes siquidem sumus rei,
nullus imitator Dei,
nuUus vult portare crucem,
nullus Christum sequi ducem.^)
^) Außer den Carmina Burana siehe auch E. du Meril, Poesies popul.
latines du moyen äge, Paris 1847, S. 177flF. Ähnlich W. Map: Omnes
intendimus ad res illicitas. Thom. Wright, The Latin poems commonly
I
12ö 6. Abhandlung: ICarl Yossler
An die berühmten Selbstankiagen des Archipoeta braucht
kaum erinnert zu werden. Die eigene Blöße nicht zu ver-
hüllen, gehörte geradezu zum Stil dieser Dichter. Ebenso zu-
gänglich waren sie der Forderung, die eigenen Lehren und
Mahnungen selbst zu befolgen, und auch dafür hat Cardinal,
im Unterschied vom Durchschnitt der Trobadors, ein offenes
Ohr. Der dem Walter Map zugeschriebene Rhythmus an den
Papst über die Mißstände der Kirche^) beginnt mit einem Ge-
dankengang, wie man ihn ähnlich bei Cardinal des öfteren findet:
Commendarem bonos mores,
sed virtutis amatores
paucos esse doleo ;
quod si pravos reprehendam,
et eis non condescendam,
bella mihi video.
Tanto viro locuturi
studeamus esse puri,
sed et loqui sobrie;
carum care venerari,
et, ut caro simus cari,
careamus carie.
Decet enirh, et hoc unum
est in primis opportumim,
ut me ipsum judicem.
attributed to W. Mapes, London 1841, S. 167. Im Prolog zu den Epi-
grammen des Priors Godefridus heißt es:
Proposui ludendo quidem garrire aliorum
mores, carpo alios, me quoque carpo simul.
Rubigo invidiae, species invisa cachinni,
omnis abest, ut me, rideo sie alios.
Rideo mecum alios, ne nos male rideat alter;
ne quis nos possit laedere, rideo nos.
Wright, The Anglo-Latin sat. poets II, S. 103.
^) Gedruckt bei Flacius Illyrieus, Varia doctorum piorumque viro-
rum de corrupto Ecelesiae statu poemata, Basel 1556, S. 9f. und mit
besserer Textgestaltung bei Thom. Wright, The Latin poems commonly
attributed to Walter Mapes, London 1841, S. 57 f.
Peire Cardinal 129
Eher den geistlichen als den weltlichen Satirikern eignet
auch der Gedanke, daß man es nicht wagen dürfe, all' die
Sünden und Greueltaten der Menschen , insbesondere der Macht-
haber bei Namen zu nennen.
Inaudita dicerem, si liceret fari
heißt es in dem Sermo Goliae Pontificis ad Praelatos impios.^)
Ein englischer Geistlicher, der in mehr als zwanzig Strophen
das Lasterleben eines Kirchenfürsten verhöhnt hat, beschließt
seinen Gesang:
A me si requiritur:
quis est qui sie dicitur
mendax et mendosus?:
Oblitus sum nominis,
quia nomen hominis
est „obliviosum".^)
Einer der wichtigsten Gemeinplätze, auf denen Cardinal
sich mit der lateinischen Schulpoesie zusammenfindet, ist der
Gedanke, daß durch die sittliche Entartung der Menschheit
alle Werte in ihr Gegenteil verkehrt werden.
Ecce mundus moritur, vitio sepultus;
' Ordo rerum vertitur, cessat Christi cultus,
Exulat justitia, sapiens fit stultus.^)
Die mittellateinische Satire weist auch gerne auf das Ende
der Welt und auf die Vorzeichen des Antichristen als unmit-
telbar bevorstehend hin.
Mundus in interitum vergit his diebus.*)
Oder: Amodo siquidem possum asserere,
quia Antichristus creditur vivere.
1) Flacius Illyricus, S. 150 und Wright, S. 40. Ähnhche Äußerungen
Cardinais sind oben, S. 35 angeführt.
2) W. Meyer aus Speyer, Die Arundel - Sammlung mittelalterlicher
Lieder, Abhandig. der K. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen,
philol.-histor. Kl. (neue Folge), Bd. XI, 2, Berlin 1908, Nr. 25.
3) Flacius Illyricus, S. 238 u. Wright, S. 149. *) Ebenda.
Sitzgsb. d. philos.-philol. u. d. bist. Kl, Jahrg. 1916, 6. Abb. 9
M
13Ö 6. Abhandlung: Karl "Vossler
cum sie Ecclesiae nunc per circuitum
vadant ad dedecus et ad interitum:
Puto quod tempora venerunt ultima,
cum tot ebulliant per mundum scandala , . .
klagt ein Geistlicher im Jahre 1173.^)
Die berühmteste künstlerische Entwicklung dieses Motives
hat man in der Apocalypsis Goliae und in dem Gedichte De
adventu Antichristi.^) Unserem Cardinal müssen solche Ge-
danken wohl vertraut gewesen sein. In seinem Rügelied Un
sirventes vuelh far dels autz glotos (Nr. 69)^) sagt er von der
entarteten Geistlichkeit :
leu cug qu'els son messatge d'Antecrist.
Guardatz si d'els pot ben issir totz mals!
Was Cardinal seinen Standesgenossen nun im einzelnen
vorzuwerfen hatte, brauchte er bei anderen Satirikern gewiß
nicht erst nachzuschlagen. Die Wirklichkeit bot Stoff genug.
Aber der Entschluß, das Erlebte künstlerisch zu gestalten und
zum Teile auch die Art wie dies geschieht, ist doch wohl
durch den Vorgang der lateinischen Satire bedingt. Das Bild
der bewaffneten Geistlichkeit z. B., wie es Cardinal in seinem
Lied über die Zerstörung der Klöster von Moissac , Casses und
Chamalieres entworfen hat, findet sich zwar etwas anders, aber
doch ähnlich in den Carmina Burana (Nr. XVII) wieder:
Episcopi cornuti
conticuere muti,
ad pr^dam sunt parati,
et indecenter coronati;
pro virga ferunt lanceam,
pro infula galeam,
1) du Meril a. a. 0., S. 321. Siehe auch Carm. Burana Nr. LXXXVl
und Fragmenta Burana, hgg. von Meyer aus Speyer, Berlin 1901, S. 27 fJ
2) Verweise bei Gröber, Grundriß der rora. Phil. II, Straßburg 1902J
S. 365.
3) Lex. rom., S. 451 f. und Mahn, Werke II, S. 237 f.
Peire Cardinal 131
clipeum pro stola,
[h^c mortis erit mola,]
loricam pro alba,
[h^c occasio calva,]
pellem pro humerali
pro ritu seculari.
Die Ironie, die hinter dem pro des Lateiners steckt, ist
dieselbe, die Cardinal mit seinem en luec de ausdrückt:
En luec de procesio
iran serrat et estrey,
armat al caut et al frey,
trompan en luec de trinho.
Ein anderes gemeinsames Motiv ist der Priester, der un-
mittelbar vor oder nach dem Gottesdienst sich in Unzucht be-
sudelt. In den Carmina Burana (Nr. LXIV) heißt es:
Tu sacerdos huc responde
cuius manus sunt immunde,
qui frequenter et iocunde
cum uxore dormis, unde
surgens mane missam dicis,
' corpus Christi benedicis,
scire velim causam, quare
sacrosanctum ad altare
statim venis immolare,
virgis dignus vapulare.
Vapulare virgis dignus,
dum amoris tantum pignus
corvus tractas et non cignus,
iam non h^res sed privignus.
Castitate non inbute,
sed immundus corde et cute,
animarum pro salute
missam cantas, o pollute,
plenus sorde, plenus mendis
ad altare manus tendis •
132 6. Abhandlung: Karl Vossler
quod contemnis, quod offeiidis,
concubinam dum ascendis.^)
In der Apocalypsis Goliae:
Post Missam Presbyter relinquens infulam,
in meretriciam descendit insulam^)
im De avaritia et luxuria mundi:
inde lupanaris in sancta reportat odorem^)
und bei Cardinal:
los veiretz del bordelb issir;
cap dreg van al autar servir*)
und:
et en loc de matinas an us ordes trobatz
que iazon ab putanas tro ' 1 solelbs es levatz.*)
Im übrigen ist dieses heikle Motiv von Guilhelm Figueira
in dem Rügelied No'm laissarai per paor nachdrücklicher be-
handelt worden.
Ein satirisches Genrebild, das besonders beliebt war, ist
die schlemmende Geistlichkeit im Refektorium bei Tisch und
beim Trinkgelage. Höchst lebendig und anschaulich wird es
in der Apocalypsis Goliae ausgemalt. Es gibt kaum ein la-
teinisches Gedicht über das Leben der Mönche, wo es fehlte.
Ähnlich führt uns Cardinal in einem seiner farbigsten Rüge-
lieder (Nr. 1) die Jakobiner vor, wie sie nach Tisch über diej
Güte des Weines zanken und zu Gericht sitzen,^) und in seinem]
bekannten Li clerc se fan pastor (Nr. 31) klagt er, daß im
Refektorium reiche und betrügerische Handelsleute (cusos) den]
Ehrenplatz als Tafelgäste einnehmen, während die Armen aus-
geschlossen sind. Zum vollen Genrebild aber hat er solchej
Motive doch nicht entwickelt.
Man wird nicht erwarten, daß wir über das Wohlleben]
der Geistlichkeit, über ihre Vorliebe für „Hühner und Wein",]
1) Carmina Burana Nr. LXIV und Thom. Wright a. a. 0., S. 49.
2) Flacius lUyricus, S. 143 und Thom. Wright a. a. 0., S. 14.
3) Thom. Wright a. a. 0., S. 166. *) Nr. 47, Str. 5.
5) Nr. 64. 6) Text weiter unten.
Peire Cardinal 133
für Pracht, Bequemlichkeit und Putz der Kleidung, über ihre
Habsucht, Simonie, Heuchelei, ihre Wuchergeschäfte und Erb-
schleicherei, ihren Ablaßhandel usw. all' die vielen Ausbrüche
des Hohns und der Klage aus der mittellateinischen und vulgär-
sprachlichen Satire zusammensuchen.^) Das Unternehmen wäre
müßig; denn es läßt sich nicht entscheiden, wieviel im ein-
zelnen die Rügedichtung Cardinais aus eigener Beobachtung
oder aus literarischer Erinnerung geschöpft hat. Kulturge-
schichtlich neue oder wesentliche Züge fügt sie dem Bild, wie
es die zeitgenössische Satire entworfen hat, soviel ich sehen
kann, nicht bei. — Ein Punkt, den ich aus der lateinischen
Schuldichtung bis jetzt nicht hinlänglich belegen konnte, ist
der Vorwurf, daß Geistliche sich weigern, die Leichen armer
Leute zu bestatten. Cardinal klagt:
e renoviers sebelliran
per aver, tant son enginhos,
mas ges lo paupre trachuros
no sera per eis sebellitz,
ni vizitatz ni acullitz,
mas aquelhs de cuy an grans dos.*)
Zwei Verse aus der Saüra communis des Henricus Archidia-
conus sind vielleicht in demselben Sinne zu deuten:
Corpora diripitis, sine respectu, sine jure,
nil vobis ubi mortua sint vel quomodo curae.^)
Wohl aber wissen wir, daß ein Pariser Konzilbeschluß des
Jahres 1208 den Pfarrern verbot, die Leichen verstorbener
Gemeindemitglieder unbeerdigt zu lassen, um Geld von den
Angehörigen zu erpressen.*) Auch Jakob von Vitry erwähnt
in einer Predigt das Beispiel eines Priesters, der eine arme
1) Einige, aber lange nicht alle Belegstellen hat W. Nickel, Sir-
Iventes und Spruchdichtung, S. 65 gesammelt.
' 2) Nr. 54^ Mahn, Ged. 1228, 1229, 1230.
3) Thom. Wright, The Anglo-Latin satirical poets and epigramma-
lists of the twelth Century, London 1872, S. 165.
....................
134 6. Abhandlung: Karl Vossler
Frau nicht beerdigen wollte, solange deren Sohn das Begräbnis-
geld nicht bezahlt hatte. ^)
Aber besser als durch inhaltliche Übereinstimmungen, die
immerhin zufallig sein könnten, wird durch einige formale
Züge die weitgehende Bekanntschaft Cardinais mit der mittel-
lateinischen Schuldichtung gesichert. Bekanntschaft sagt noch
zu wenig. Es handelt sich um wirkliche Vertrautheit. Car-
dinal muß tief und lange in der Luft der geistlichen Schulen
geatmet haben. Denn wie jene, so duften auch seine Dich-
tungen von Schärfe, Witz, Subtilität und Ironie, sind gemischt
aus Ernst und Spott, haben etwas Spielerisches und zugleich
Verdrossenes und Müdes, sind unerbittlich grausam und gleich
wieder treuherzig wie ein Kind, sind verbissen und sprach-
freudig, tändelnd und schwermütig, voll jener Stimmung in-
tellektueller Überlegenheit und intellektuellen Weltschmerzes,
doktrinärer, weltfremder Unschuld und ausgebrannter gleich-
gültiger Unlust. Jene Gemütslage, die unter dem Namen
Acedia in der Seelengeschichte des Mittelalters bekannt ist,
eignet in gleicher Weise einem guten Teil der Cardinaischen
Sirventese wie den lateinischen Satiren seines Zeitalters.^) Car-
dinal ist, glaube ich, der erste, der die Weltverdrossenheit des
Gelehrten aus der Luft der Klöster und Sakristeien in die Ge-
sellschaft der Laien hinausträgt und in den Formen des Troba-
dors zum Ausdruck bringt. Freilich muß man Ohren haben,
um diese Stimmung, die meist nur den Unterton, nicht die
Melodie macht, zu hören.
Ein Griff z. B., der der überlegenen, kritischen Gleich-
gültigkeit des Klerikers besonders gut lag, war die spielerisch-
systematische Beleuchtung oder Beschattung des Weltwesens
^j The exempla . . . from the sermones vulgares of J. de Vitry p. p.
Crane, London 1890, Ex. 197.
2) Über die Wort- und Bedeutungsgeschichte des Begriffes der Acedia
oder Accidia siehe den inhaltsreichen Exkurs in H. Cochin, Le frere de
Petrarque, Paria 1903 (Biblioth. litter. de la renaissance IV), S. 205—221,
sowie Voigts Wiederbelebung des klassischen Altertums, 2. Aufl., Bd. I,
S. 139 ff. und A. Farinelli, La malinconia del Petrarca in der Rivista
d'Italia, Rom 1902, fasc. VIL
Peire Cardinal 135
von zwei Seiten her, die mechanische Alternation von Lob
und Tadel, Ja und Nein; z. B. :
Res odiosa nimis, Si subditur aequus iniquis;
Si sapiens stultis, Res odiosa nimis.
Res odiosa nimis, Facies si marcet honoris;
Si ruit ordo boni, Res odiosa nimis.
Res onerosa nimis, Si torpet regula legis;
Si Vitium crescit. Res onerosa nimis, etc.
Und gleich daneben:
Res statuenda bonis, Si praecipit aequus iniquis;
si sapiens stultis, Res statuenda bonis.
Res statuenda bonis, Facies si splendet honoris;
Si viget ordo boni. Res statuenda bonis.
Res retinenda bonis, Si currit regula legis;
Si Vitium cedit. Res retinenda bonis. ^j
Der Dichter der bekannten Satire gegen die Kirche Vehe-
menü nimium commotus dolore, in dem man wohl mit Unrecht
den Petrus de Yineis zu erkennen geglaubt hat, bedient sich
dieser relativistischen Verteilung von Lob und Tadel mit be-
wußter L'onie. Nachdem er den Klerus nach Herzenslust her-
untergemacht hat, unterbricht er sich:
Sed sicut de vitiis recitavi quaedam,
ita de virtutibus nunc sermonem edam
et ipsos offendere nullo modo credam;
sed per viam mediam, ut decet, incedam.^)
Das folgende Lob ist aber nur scheinbar und dient zur stär-
keren Würze des Hohns. Und nun lese man das merkwürdige
Sirventes qu'es mieg mals e mieg hos, das, obgleich es die Hand-
schrift C einem Guillem de Lemotjas zuweist, nach dem Zeug-
nis der anderen Handschriften (/, K, T, d) und nach Stil und
Gedanke ein echter Cardinal ist.^)
1) Th. Wright, The Anglo-Latin satir. poets, S. 160 f. Ähnlich hat
ein Trobador, der ebenfalls Geistlicher war, der Mönch von Montaudon,
einem Enueg ein Plazer zur Seite gestellt. 0. Klein, Die Dichtungen
des Mönchs von Montaudon, Marburg 1885, S. 51 ff.
2) E. du Meril, Poes. pop. du m. ä., S. 169.
3) Nr. 21. Mahn, Gedichte, 1250 und zwei Strophen davon bei Ray-
I
136 6. Abhandlung: Karl Vossler
Ich will ein Sirventes halb bös', halb gut
versuchen, das einmal was Neues bringt.
Da man doch meist zu Schimpf und Tadel singt
und zuviel Tadel schließlich unrecht tut,
und da ich auch nicht loben mag mit Lüg',
so misch' ich nun mein Lied aus Preis und Rüg'.
Vom Preise soll die Tüchtigkeit gedeih'n,
und Rüge soll die Schlechtigkeit kastei'n.
Drum gilt die ^\i^ für Pfaff und Rittersleut,
von denen man beraubt wird statt beschenkt,
Rüge, weil unser Volk durch sie bedrängt,
und Rüge, weil die Schmach wird nicht gescheut;
und Rüge ihnen, daß sie ohne Maß,
und Rüge, weil sie blind in ihrem Haß,
und Rüge, weil sie sind voll Lüsternheit,
und Rüge ihrer ünbarmherzigkeit.
Den wacker'n Armen aber gilt das Lob,
den Frauen auch, die gute Sitte wahr'n,
und, läßt sie niemand Ehre mehr erfahr'n,
seit Männer eifersüchtig sind und grob,
so halten Frau'n die Ehre immer hoch,
sind gut und höfisch mit den Dienern doch
und bieten einem willig an und gern,
was übrig ließen ihre reichen Herrn.
Verschlechtert ist die Freundschaft in der Welt,
verschlechtert auch sind Lustbarkeit und Sang,
verschlechtert höf'scher Staat und Festesklang,
verschlechtert, weil man nicht mehr sich gesellt;
verschlechtert ist der Jugend Fröhlichkeit,
verschlechtert Minnedienst in Ehrbarkeit,
nouard, Choix V, S. 200. Den Grundgedanken dieses Liedes hat Cardinal
auch in der 4. Strophe des Liedes Tot aissi soi desconselhatz (461, 236)
ausgesprochen. Siehe Appel, Provenz. Inedita aus Pariser Hss., Leipzig
1890, S. 332 f.; ebenso in Nr. 32, Str. 5.
Peire Cardinal 137
verschlechtert ist die Liebe treu und klar
und alles, was von echtem Werte war. —
Verbessert ist die Welt an Baulichkeit,
verbessert auch an Gärten und Gefild,
verbessert darin, daß man selt'ner stiehlt,
verbessert in der Rüstung Zierlichkeit,
verbessert, weil man reich're Kleidung pflegt,
verbessert, was zum Speisetisch man trägt,
verbessert, wenn man reist, ist das Geleit,
der Vorrat auch an Wein und an Getreid.
Dem Grafen, der den echten Wert noch hegt,
in Rodez, sei dies Liedchen vorgelegt,
das sich bescheidet bei der Wirklichkeit.
Der Gesinnung nach ein höfisches Sirventes, aber nach
Technik und Stimmung ein Erzeugnis der geistlichen Schule;
denn diese pedantische Zierlichkeit und dieses schmerzliche
Spiel der L'onie ist nicht die Sache eines Rittergemütes. Gewiß
hatte auch die Technik der Trobadors in der Tenzone eine
Dichtungsgattung ausgebildet, in der die witzelnde und alter-
nierende Beleuchtung der Dinge von zwei Seiten her zu Hause
war. Aber gerade hier zeigt sich der Unterschied: denn die
Form der Tenzone lebt von der Voraussetzung, daß ein und
dasselbe Auge nicht schwarz und weiß zugleich sehen, daß
das „Für" und das „Wider" nicht in einer Brust wohnen
können, sondern daß jedes von ihnen seinen besonderen Ver-
treter heischt. Darum ist die Tenzone, auch die fingierte,
die nur einen einzigen Dichter zum Verfasser hat, ihrem
Wesen nach unlyrisch und stimmungslos, w^ährend das obige
Lied, so kühl es mit seinen begrifflichen Antithesen und Par-
allelen anmuten mag, doch die beschauliche, nachdenkliche
und bittere Stimmung eines in seinem Lächeln verschlossenen
Dialektikers hat.
Cardinal, der geistig gerne allein ist und, auch wenn
er zu anderen spricht, sich auf einsamer Höhe fühlt, scheint
I
138 6. Abhandlung: Karl Vossler
die Tenzone wenig geliebt zu haben. Die Initiative dazu hat
er, soviel wir wissen, niemals ergriffen. Ein einziges Mal hat
er sich von einem Herrn Aimeric über die Vorzüge des „Ja"
gegen das „Nein" in einen müßigen Streit verwickeln lassen.^)
Ein andermal läßt er, wie wir gesehen haben, in Erinnerung
an die geistliche, nicht an die ritterliche Literatur, Recht und
Unrecht vor dem allegorischen Hofstaat Amors gegeneinander
tenzonieren.^) Doch ist dies eher ein joc partit als eine Ten-
zone und, psychologisch betrachtet, ist es weder dies noch
jenes, sondern ein Spiel von Antithesen.
Die große, schon oben von uns beleuchtete Vorliebe Car-
dinais für die Antithese legt uns die Vermutung nahe, daß
zwei seiner Gedichte, die dasselbe Metrum und dieselben Reime
haben, nämlich Nr. 37 und Nr. 16 im Verhältnis der Anti-
these zueinander stehen und zusammengehören, mit anderen
Worten, daß Nr. 16 die ironische Palinodie zu Nr. 37 ist.
Leider ist durch die mangelhafte Überlieferung dieses Ver-
hältnis fast bis zur Unkenntlichkeit verschleiert. Nr. 37, das
ich aus oben erwähnten Gründen^) unserem Dichter nicht ab-
erkennen möchte, spricht in einfacher Form die Absicht aus,
auf einen weiteren Hörerkreis aufklärend zu wirken und zeigt
denn auch in schmucklosen Versen, wie habsüchtig und falsch
alle Stände geworden sind, wie Könige, Grafen, bciilho und
senescal die armen Leute ausbeuten, wie die Geistlichkeit ihnen
nacheifert im Kleiderluxus, wie die Kirchenfürsten das Lehens-
recht mißbrauchen, um ihre Einkünfte zu vergrößern, wie die
schwarzen Mönche, also wohl die Kluniazenser, durch Fressen
und Huren, die weißen Mönche, also wohl die Zisterzienser,
durch Urkundenfälschung (per termes oder bolas a onentir), die
Templer und Hospitaliter durch hochmütiges Auftreten und
die Canonici durch Wuchergeschäfte ihr Seelenheil betrei-
1) Peire del Puei, li trobador gedruckt bei Bartseh, Denkmäler der
provenzal. Literatur, Bd. 39 der Bibl. des literar. Vereins, Stuttgart 1856,
S. 134 ff. und Mahn, Gedichte 1015. Derselbe Gegenstand wird von G. del
Olivier aus Arles in einer Cobla esparsa behandelt. Bartsch a. a. 0., S. 49.
2) Siehe oben, S. 9 f. ^) S. 30, Anm. 3.
Peire Cardinal 139
ben.^) Dann werden Kapellane, Juristen, Wirte, Ärzte, Händler,
Verwalter, Wechsler, Kuriere, Türhüter, Ackerbauer und Ar-
beiter summarisch durchgenommen. Zum Schluß der Hinweis
auf die Rechenschaft am jüngsten Tag und, falls die achte
Strophe nicht apokryph ist, auf je einen vorbildlichen König,
Grafen, Prälaten und Baron. 2) All dem stellt nun, wie mir
scheint, mit dem Liede Nr. 16 De selhs qu'avet^ el sirventes
dich maP) der Dichter eine ironische Verteidigung oder
Entschuldigung jener gewalttätigen und trügerischen Leute
gegenüber, die in Wahrheit natürlich nur den Vorwurf und
den Hohn zu bekräftigen dient. Wenn ich in freier Umschrei-
bung den Sinn des zerrütteten Textes, der offenbar einem Ad-
vocatus Diaboli in den Mund gelegt ist, wiedergeben darf, so
lautet er ungefähr folgendermaßen: „Diejenigen, die Ihr in
Eurem Sirventes getadelt habt, fühlen sich tatsächlich un-
schuldiof und erlauben ihre Pflicht und Gottes Gebot zu er-
füllen. Ihr Benehmen will ich Euch rechtfertigen, und, wären
sie auch völlig im Irrtum, so spricht doch die Sitte der Welt
un^ deren Vorschrift zu ihren Gunsten. Wenn ich z. B. Euer
Haus und Euern Hof seit lange schon besetzt habe, so glaubt
nicht, daß ich es so leicht wieder herausgebe und mich ver-
jagen lasse. Das ist mein recht- und gewohnheitsmäßiger
.Besitz. Und will ich einen Pilgersmann erdrosseln, so kann
ich durch eine Schenkung es mir verzeihen lassen. Habe ich
aber nichts, so habe ich mir den Galgen verdient; habe ich
etwas, so leiste ich mir manchen Übergriff. Der Arme kann
sich so tadellos aufführen als er will, es wird ihn doch nie-
mand achten. Besitz ist mächtiger als Gott und Teufel und
;Wäre es noch hundertmal mehr, wenn der Tod nicht wäre.
! Papst, Legate und Kardinäle haben gemeinsam festgesetzt, daß
wer des Verrates überführt wird, sofern er nichts besitzt, ge-
1) Nicht immer dieselben, aber ähnliche Vorwürfe erhebt Guiot de
*rovins in seiner Bible gegen die einzelnen Orden.
2) Siehe darüber Anhang Y.
3) Nur in C höchst lückenhaft erhalten und gedruckt bei Mahn,
tedichte 983.
140 6. Abhandlung: Karl Vossler
brandmarkt werde — ist er aber vermögend, so muß man ihn
glimpflich behandeln (vielleicht sogar belohnen?) . . . Drum
acht' ich den Christen sowenig wie den Juden und würde ihn
noch weniger achten , wenn ich nicht hoffte , vermöge der Taufe
meine Seele zu retten." Erst im Geleit nimmt der Dichter
wieder selbst und ohne Ironie das Wort:
Caitiva gen, com cujatz que de lieu
poscatz aver lo bon regne de Dieu,
tot jorn peccatz fazen ad escien?
Non 0 crezatz ni aiatz tan pec sen!
Wenn unsere Vermutung richtig ist und dieses Lied als
ironische Palinodie tatsächlich zu Nr. 37 gehört, so kann man
wohl verstehen, wie einige Sammler, irregeführt durch dieses
Spiel, das erste der beiden Stücke dem Cardinal absprechen
konnten.*) Daß die ironische Zustimmung und Entschuldigung,
das ironische Lob u. dgl. ihm durchaus geläufige Formen
sind, beweisen noch andere Stellen, z. B.:
Dieus deu los barons grazir,
quar ves luy son sort e mut!^)
Gott hat wohl die Ritter gern,
weil sie taub und stumm ihm sind.
Oder; Entr'els clergues non truep departimen,
tut son d'un sen, d'un cor e d'un albire,
e siervon Dieu aitan honestamen,
nulh'autra ren non lur pot abellir,
ni es nulhs hom que mal en puesca dire —
mas seih que y es, si doncx no vol mentir,
qu'el cavalguar e ' 1 manjar e * 1 dormir
e'l juec d'amor tenon a gran martire.^)
1) Die Hs. f bringt nach demselben Metrum und denselben Reimen
eine anonyme Cöbla esparsa, die das Thema der ungerechten Verteilung
des Besitzes auf Erden behandelt und formal wie sachlich von Cardinal
beeinflußt sein dürfte. Text bei P. Meyer, Les derniers troub., Paris 1869,
S. 518. 2) Nr. 18, Str. 4.
3) Nr. 60, Str. 4. Rayn. Choix IV, S. 359 f. u. Mahn, Werke II, S. 184.
\
Peire Cardinal 141
Beim Klerus find' ich nirgends Streitigkeit,
sind air ein Herz, ein Hirt und eine Herde
und dienen Gott mit solcher Ehrbarkeit,
und nichts als dieses ist ihr Lust und Fleiß,
und niemand ist, der ihren Ruf nicht ehrte
(außer ein Klerk, der nicht zu lügen weiß).
Was haben sie mit Ritt und Schlaf und Speis'
und mit der Liebe Spiel doch für Beschwerde!
Die letzten Verse erinnern wieder an Ahnliches aus der
lateinischen Satire:
Multa ferunt aspera, multos cruciatus;
hie secretum thalami paucis comitatus
intrat, ibi recubans, cibis crapulatus,
delet vino veteri populi reatus.
Alter majus patitur nomine pro trino:
hiemali tempore, proximus Camino,
vinum forte redolet, ore resupino;
' posses sine poculo satiari vino.*)
Ein andermal stellt Cardinal die Unsitten der Geistlich-
keit, des Rittertums, des Minnedienstes und der Bauern als
Errungenschaften hin.^)
Das Schlechte zu loben, ist aber nur eines der einfachsten
Ausdrucksmittel der Ironie. Als Schüler der lateinischen Sa-
tiriker verfügt Cardinal über viele andere noch. So z. B. die
ironische Verordnung, wie sie im De Mundi cupiditate, das
dem Walter Mapes zugeschrieben wird, zu ausgiebiger Ver-
wendung kommt:
Decretum ergo do pauper pauperibus,
ut si non affici volunt verberibus,
non unquam habeant in janitoribus
uUam fiduciam sine muneribus.
1) Flacius Illyricus a. a. 0., S. 151 und Thom. Wright, The Latin
poems commonly attributed to Walter Mapes, S. 42.
2) Nr. 63, Str. 3—6. Rayn. Choix IV, S. 441 f. u. Mahn, Werke II,
S. 199.
I
142 6. Abhandlung: Karl Vossler
Decretum etiam secundum facio,
cum papa sederit in consistorio,
de quovis divitum tractans negotio,
tunc nulla pauperis detur petitio etc.^)
Ahnlich verfügt Cardinal:
Un decret fauc drechurier
e die: si clergues layc fier,
que fieira lo colp primier,
pus l'Apostolis 0 dis;
e'l laicx feira per entier
lo segon colp e'l derrier,
e pueys sia'n patz e fis.
Pus no*m fauc autre jornal,
farai una decretal:
que qui a moller venal,
que la lays a sos vezis;
e, si la torna en Tostal,
que l'enfant sion leyal,
pus elh los pays e*ls vestis.^)
Besonders gerne läßt er das Verwerfliche glitzern und
leuchten wie einen hoch gefaßten Edelstein und steigert es in
demselben Maße, in dem er es als Minderung empfinden lassen
will. Darum liebt er das stilistische Spiel der Komparative:
Aissi cum son maior,
son ab mens de valor
et ab mais de follor,
et ab mens de ver dir
et ab mais de mentir,
et ab meyns de clercia
et ab mays de falbir,
et ab meyns de paria.^)
1) Thom. Wright a. a. 0., S. 169. 2) ^r. 63.
3) Nr. 31, Str. 3. Appel, Provenz. Chrestom., Nr. 76.
Peire Cardinal 143
Oder: Qu'aissi com son plus aut prelat
an mens de fe e de vertat
e mais d'engan e de mentir,
e mens en pot hom de ben dir,
e mais hi a de falsetat,
e mens hi trob'om d'amistat,
e mais fan de mais us issir.^)
Oder: On plus d'omes vezon miei huelh,
on mens pretz las gens e mais me;
et on plus lo siec, piegz lur vuelh,
et on mais los aug, mens los cre;
et on plus intr'en lor demor,
mens ai de plazer en mon cor.^)
Oder: Aissi cum son maior an meyns de sen
ab mais de tort et ab meyns de razo etc.^)
Oder: Aquel amors que notz als amoros,
, que on mais sers, meyns val lo guazardos,
amors que merma, on plus si enansa.*)
In den geistlichen Schulen, in denen man über Allegorie
und Symbolik der Grammatik, der Konjugation des Zeitworts
und dergleichen tüftelte, hatte man die Ironie des Komparativs
lange erkannt. Ein einziges Beispiel möge genügen.
Magnus maior maximus,
parvus minor minimus:
gradus istos repperi,
per quos gradus comperi,
augeri et conteri
gradus status hominis,
prout datur dignitas,
dignitatum quantitas
quantitasque nominis.
1) Nr. 47, Str. 4. Lex. rom., S. 447 und Mahn, Werke II, S. 231.
2) Nr. 17, Str. 2, siehe oben, S. 27.
3) Nr. 49, Str. 4, siehe oben, S. 19.
*) Nr. 24, Str. 4, Mahn, Ged. 1241, 1242. •
I
144 G. Abhandlung: Karl Vossler
Magni parvus extiti,
parvi magnus meriti,
parvQque sunt grätig
diviti contraria;
cui plus datur hodie,
magis est obnoxius,
quique minus habuit
et minus attribuit,
minus (1. magis?) reddit gratie.^)
Ob Cardinal noch andere stilistisch -syntaktische Kunst-
griffe, wie Antithese und Repetitio, der geistlichen Schule ver-
dankt, ist schwer zu entscheiden. Unsere Kenntnis der raittel-
lateinischen Literatur ist viel zu lückenhaft, als daß wir von
den besonderen Formen und Motiven, die ein Südfranzose jener
Zeit etwa daraus schöpfen konnte, uns ein klares Bild machen
könnten.
Wohl aber darf man annehmen, daß unser Dichter einige
Vergleiche, Bilder, Witze und Namen, sei es aus der Dich-
tung, sei es aus der Gesellschaft der Kleriker gelernt hat.
Hieher gehört vermutlich der Trebellian in dem oben über-
setzten Rügelied gegen „Kastiliens Lügnerei" (Nr. 53): 2)
Tals a lo semblant effanti
que'l sens es de Trebellia.
Offenbar liegt eine dunkle Erinnerung an das Senatus con-
sultum Trebellianum in den Digesten vor, einen im Jahre 56
nach Chr. „Annaeo Seneca et Trebellio Maximo consulibus"
verfaßten Senatsbeschluß, welcher bestimmte, daß nach der
Restitution einer hereditas fideicommissaria die erbschaftlichen
Klagen sowohl für als gegen den Universalfideikommissar ge-
geben werden sollten.^) Wie nun aus dem Konsul Trebellius
ein Trebellianus mit der Bedeutung des typischen Betrügers
1) Carmina Burana Nr. XIV. 2) g^ i24f.
^) Siehe Heumann, Handlexikon zu den Quellen des röm. Rechts,
9. Aufl., Jena 1907, sub voce Trebellianum und Sohm, Institut. 14. Aufl.,
Leipzig 1911, S. 779.
Peire Cardinal 145
in Erbsachen, vielleicht auch der Erbschleicherei geworden ist,
kann man sich wohl denken. Du Gange belegt zwar diese
mittellateinische Bedeutung nicht, ich finde sie aber in einem
satirischen Gedicht „Status mundi subtilissimus", das zur Zeit
des Exiles der Päpste in Avignon entstanden sein dürfte. Es
beginnt: Honesta mundi domina. Die einschlägige Stelle, in
der sich auch das von Cardinal zweimal gebrauchte Motiv der
moralischen Salbe wiederfindet, lautet:
Est enim unguentarius,
conficiens unguenti
emplastra, quibus varius
profectus fit languenti:
qui non ut mercenarius
circumplicat dolenti,
sed velut autor et Dominus
fidelis testamenti.
' Nihil tollens per Falcidiam
vel [per] Trebellianum :
sed ejicit invidiam
et quicquid est profanum . . . etc.^)
Ein echter Klerikerspaß ist zweifellos die Narrensalbe in
Cardinais Fabel Gel que fes tot quant es (Nr. 14), um deren
Deutung wir uns oben bemüht haben. ^) Ein ähnliches Rezept
gibt im „Brunellus" des Nigellus Wireker der weise Galenus
dem Esel, der einen längeren Schwanz haben möchte: Marmor-
fett, Gänsemilch usw. Ich teile den Wortlaut nach der Aus-
gabe von Köln 1499 mit, damit man durch den Vergleich sich
überzeuge, wie unser Trobador dem englischen Magister an
Witz und Erfindung nichts nachgibt, ihn aber an Anstand
weit übertrifft.^)
Recepta Brunelli de apoteca pro medicina caude sumenda.
^) Flac. Illyr. a. a. 0., S. 195. In welcher Hs. Flacius das Gedicht
gefunden hat, habe ich nicht ermitteln können. In dem Verzeichnis der
Initia der Müncbener Staatsbibliothek fehlt es. ^) S. 84 f.
^) Auf ein ähnliches deutsches Rezept in der Zeitschr. für deutsches
Altertum, n. F. III (1870), S. 510f. macht mich P. Lehmann aufmerksam.
Sitzgsb. d. philos.-philol. u. d. bist. Kl. Jahrg. 1916, 6. Abb. 10
I
14:6 6. Abhandlung: Karl "Vossler
Marmoris arvinam, forni septeraplicis umbram,
quod peperit mulo mula subacta suo,
anseris et milvi modicum de lacte recenti,
de luteris^) cursu deque timore lupi,
de canis et leporis septenni federe dragman,
oscula que niso misit alauda suo,
pavonis propria libiam (1. libram) de voce sonora.
Ante tarnen cauda quam sit adepta tibi,^)
de non contexta rubra sine sanguine^) mappa,
nam risus asini tu dabis ipse tibi;
allecis vel apum croceo*) de spermate libram,
de gyroli^) iecore sanguine[m] sine^) pede,
natalis Domini modicum de nocte salubri,
que nimis est longa, iure valebit ad hec;
in reditu de monte Jovis de vertice summo
accipias libras quatuor, asse minus;
alpibus in mediis sancti de nocte Johannis
de nive que cecidit, fac simul inde feras,
serpentisque rubri nee non de cauda colubri
utilis est valde, nee tarnen illud eme!
Hec bene coUecta pariter recentia queque
imponas humeris sarcinulisque tuis.
Auch Cardinais Vorliebe für die Tierfabel, insbesondere
den Isegrim-Zyklus, liegt eher in der geistlichen als in der
ritterlichen Geschmacksrichtung, "^j und gerade der Wolf als
Mönch gehörte in jenen Kreisen zu den verbreitetsten Motiven.^)
^) luter = das Nilpferd. Wright, The Anglo- Latin satir. poets I,
S. 33, liest lucis.
2) Wright: sibi. ^) Wright: flamine.
*) Von mir korrigiert aus crocro.
^) giroli oder gerruli ist eine Fischart, siehe Du Gange s. v. ger-
ruli; Wright: ciruli. ^) Wright: sive.
'^) Siehe Kuno Francke, Zur Geschichte der lateinischen Schulpoesie
des 12. und 13. Jahrhunderts, München 1879, S. 65 f.
^) Siehe die reichlichen Nachweise in Ernst Voigts Ausgabe des
Ysengrimus, Halle 1884, S. 65 f.
Peire Cardinal 147
Das Schönste aber, was Cardinal der lehrhaften mittel-
lateinischen Literatur verdanken dürfte, ist seine Fabel oder
Parabel vom Regen. ^)
War einst 'ne Stadt, ich weiß nicht wo,
dort fiel ein Regen, der war so,
daß allen Leuten, die er netzte,
sich plötzlich der Verstand versetzte.
Alle verrückt, nur einen hat
es nicht getroffen in der Stadt,
weil er an jenem ' Regentag
in einem Hause schlafend lag.
Der stand nun auf, verließ das Haus,
und draußen war der Regen aus,
und wie er unter die Leute trat,
ein jeder schon wie närrisch tat.
, Der ein' im Hemd, nackend der zweit',
ein anderer gen Himmel speit.
Und Steine werfen sie und Scheiter;
einer zerriß die eig'nen Kleider;
der eine stieß, der and're schlug,
einer sich wie ein König trug,
stemmt' in die Hüfte stolz die Faust,
ein and'rer über Bänke saust.
Und Drohung hörte man und Schelten,
und Flüche und Gelächter gällten,
und schwatzten, wußten selbst nicht was,
[drehten einander eine Nas']. —
Und der, der bei Verstände war,
verwunderte sich dessen gar
und merkte wohl: sie sind verrückt,
und schaut nach vorne, schaut zurück,
ob irgendwo ein Kluger war',
und nirgend war kein Kluger mehr.
^
1) Ich übersetze sie nach dem kritischen Text in Appels Provenz.
Chrestom, Nr. 111.
10*
148 6. Abhandlung: Karl Vossler
Wie wunderlich die Welt ihm schien -
sie wundert mehr sich über ihn.
Wie sie so ruhevoll ihn seh'n,
denken sie: dem ist was gescheh'n.
Weil er sich nicht wie sie benimmt,
so glaubt ein jeder nun bestimmt,
daß sie die Klugen sind und Weisen,
er aber wird ein Narr geheißen.
Der ins Genick, der ins Gesicht
haut ihn, daß er das Gleichgewicht
verliert, und stoßen ihn und treten.
Er will sich aus dem Haufen retten
und wird gezerrt, gepufft, gestellt,
springt unter Schlägen auf und fällt;
in Stürzen, Sprüngen greift er aus,
jählings entkommt er in sein Haus,
schmutzig, zerschlagen und halb tot,
froh noch, entwischt zu sein der Not.
Die Fabel will die Welt bedeuten
und was darinnen lebt an Leuten,
und uns're Zeit, das ist die Stadt,
in der es soviel Narren hat.
Doch, was die höchste Weisheit meint:
in Lieb' und Furcht mit Gott vereint,
seine Gebote treulich tun,
der Sinn ist uns verloren nun.
Ein Regen ist bei uns gefallen:
Begehrlichkeit, wovon in allen
Kindern der Welt ein Geist gedeiht
der Hoffart und der Schlechtigkeit.
Und wen der Herr bewahrt davor,
der gilt den andern gleich als Tor
und auf und ab wird er geprellt,
weil er sich nicht wie sie verhält.
Sie halten frommen Sinn für Wahn,
doch wer dem Herrn ist zugetan,
Peire Cardinal 149
erkennt in ihnen bald die Toren,
die ihres Gottes Sinn verloren,
wie sie an ihm den Narren hän,
weil er den Weltsinn abgetan.
Nicht übel würde auf dieses Gedicht jener Titel Stattis
mundi subtilissimus passen, unter dem der oben erwähnte Rhyth-
mus Honesta mundi domina, freilich erst im 14. Jahrhundert, ge-
schrieben wurde. Auch dort ist von allegorischen Städten, von
der ürbs Jerusalem coelica und von Jericho famelica die Rede
und von einem Wanderer, der auf dem Weg von der ersten nach
der zweiten Stadt überfallen, niedergeworfen und beraubt wird.
Und auch dort wird am Schluß die Moral der Fabel entwickelt
— eine ferne Familienähnlichkeit, die immerhin beweisen kann,
daß Cardinais Fabel aus einer ähnlichen Schultradition stammen
dürfte wie jenes lateinische Gedicht. Um die Entdeckung
einer bestimmten Quelle hat man sich bis jetzt vergeblich be-
müht.^) An mittellateinischen Sprichwörtern, die den Grund-
gedanken der Fabel ausdrücken, fehlt es nicht; z. B. :
Heu! modo nummosus mundo solus dominatur,
et sapiens inter fatuos fatuus reputatur.*)
Oder: Credit homo semper quod vivit stultior alter.^)
Oder: Stultus stultitiam semper putat esse sophiam.*)
^) Vittorio Cian, Provenza satirica (la parabola di Pietro Cardenal)
im Fanfulla della Domenica vom 22. Oktober 1905, XXVII, Nr. 43 hat
nichts, was zu brauchen wäre, beigebracht. Jules Coulet, Le troub. Guil-
hem Montanhagol, Toulouse 1898, S. 124 f., schreibt über die Fabel: il
parait bien que P. Cardenal ne l'avait pas inventee. Nous somraes sans
doute en presence d'une legende tres ancienne qui a du se modifier avec
les temps et les pays. M. Roque - Ferrier (Compte rendu des Societes
savantes, Journal officiel du 30 mars 1894) la retrouve dans une ho-
melie de saint Jean Chrysostome et la croit d'origine syriaque. — Ich
habe vergebens die Homilien des griechischen Heiligen und das ganze
Register seiner Werke in Mignes Patrolog. graeca daraufhin durchgesucht.
Auf keinen Fall könnte Chrysostomus die direkte Quelle sein.
2) Jakob Werner, Latein. Sprichwörter u. Sinnsprüche des Mittel-
l^alters, Heidelberg 1912, S. 36, Nr. 8. ^) Ebenda S. 13, Nr. 127.
150 6. Abhandlung: Karl Vossler
Es ist ferner möglich und sogar wahrscheinlich, daß Car-
dinal die Legende von der Bekehrung des Petrus Valdus ge-
kannt hat, etwa so wie das Chronicon anonymi Laudunensis
sie erzählt.*) Petrus Valdus, heißt es dort, habe an Maria
Himmelfahrt Geld unter die Armen geworfen und, als die Mit-
bürger ihn für verrückt hielten, ihnen zugerufen: „0 cives et
amici mei! non enim insanio, sicut vos putatis, sed ultus sum
de his hostibus meis, qui me sibi fecerunt servum; ut semper
plus essem soUicitus de nummo quam de Deo et plus servie-
bam creature quam Creatori. Scio, quod me reprehendunt
plurimi, quod hoc in manifesto feci. Sed propter me ipsum
et propter vos hoc egi; propter me, ut dicant qui me viderint
possidere deinceps pecuniam, me amentem esse; sed et propter
vos . . . ut discatis in Deum spem ponere et non in diviciis
sperare." Woher aber Cardinal das Motiv des Regens ge-
nommen hat, ist mir nicht gelungen zu ermitteln. Vittorio
Cian vermutet, er habe es selbst erfunden, was an und für
sich nicht wahrscheinlich, besonders aber deshalb ausgeschlossen
ist, weil ein anderer Trobador, Montanhagol, dieselbe Parabel,
aber mit völlig veränderter Pointe kennt. In seiner Kanzone
l^on estarai, per ome quem casti erwähnt und kennzeichnet
er sie folgendermaßen:
Mas d'amor tem que'lh si'a far aissi,
per malvastat que vei part pretz prezar,
com al savi fo ja que 's saup triar
de la plueja que'ls autres enfolli,
per que lui sol tenio * Ih fol per fat,
tro qu'en viret son sen ab lur foldat
e anet s'en en Taiga ad enfollir.^)
Doch wenn ich seh', wie hoch man Schlechtes schätzt,
so furcht' ich für die Minne, daß ihr's so
und Sprichw.-Literatur des Mittelalters im 91. Jahresbericht der Schles.
Gesellschaft für vaterl. Kultur, Breslau 1914, S. 34.
1) Monumenta Germaniae SS. XXVI, S. 448.
2) Le troub. Guil. Mont., Ausgabe Coulet, S. 120.
I
Peire Cardinal 151
wie jenem Weisen geht, der heil entfloh
dem Regen, der der Leute Sinn versetzt':
Die Narren hielten ihn, nur ihn für dumm,
bis er zu ihrer Narrheit schwenkte um
und auch hinauslief in die Narrentauf '.
Es muß demnach um die Mitte des 13. Jahrhunderts in den
Kreisen der Trobadors eine noch pessimistischere Fassung der
Parabel im Umlauf gewesen sein; denn Montanhagol hat zwi-
schen 1233 und 1258 gedichtet.
Cardinal aber gibt durch den sachlichen Stil seiner Er-
zählung, durch das Zurückhalten aller persönlichen Gefühls-
töne, selbst in der „Moral", sich den Anschein, jenseits von
Pessimismus und Optimismus zu stehen. Aus der kühlen Höhe
und Klarheit eines weltentrückten Beobachters zeigt er tief
unter sich das menschliche Treiben. Farblos und gleichgültig
erscheint es uns in greller Beleuchtung, nur als phantastische
Bewegung und närrische Gebärde noch, in einer ausgebrannten
und verkohlten Welt, die allem Schuldbewußtsein abgestorben
ist. Der Regen, nicht die Menschen haben es so gewollt. In
diesem ethischen Indifferentismus halten Weinen und Lachen,
Tadel und Lob sich die Wage, ähnlich wie in jenem Sirventes von
der Verschlechterung und Verbesserung der W^elt, ähnlich wie
in dem Lehrgedicht von den Weisen und törichten Zuhörern:
Und alle beide handeln fein,
denn jeder nimmt, was wirklich sein.
Aber wir wissen genau, daß diese Neutralität bei Cardinal
nur einer künstlerischen, keiner sittlichen Stellungnahme ent-
spricht, nur Stimmung, nicht Überzeugung, nur Ironie und
nicht sein Ernst ist. Unter den Goliarden mag es Charaktere
gegeben haben, die von sich sagen konnten:
Similis sum folio
de quo ludunt venti.
Cardinal hat höchstens von ihrer Kunst, schwerlich von ihrer
Lebensführung sich anstecken lassen. Die Acedia gibt seiner
Dichtung nur die Farbe, nicht die Tendenz.
I
152 6. Abhandlung: Karl Vossler
Auch von den gelehrten, philologischen Spässen dieser
Kollegen hat er so gut wie keinen Gebrauch gemacht. Er-
innerungen an das klassische Altertum sind, wenn man von
Namensnennungen wie Pyramus, Thisbe, Alexander absieht,
nirgends nachzuweisen.^) Seiner Bildung nach ist Cardinal
durchaus mittelalterlich und in keiner Weise noch humani-
stisch angehaucht; mittelalterlich nicht bloß dort, wo er volks-
tümliche Töne anschlägt, sondern ebensosehr in seinem kunst-
mäßigen und verkünstelten Zierat, in seinen Antithesen, Par-
allelen, Wiederholungen, Häufungen, Alhterationen. Es ist
wesentlich die Stimmung, das Fühlen und die Anschauungs-
weise, nicht das Wollen noch das Wissen, was Cardinal aus
der geistlichen Schule mitbringt.
Ein Zug besonders, dem er die tiefsten Wirkungen seiner
Dichtung verdankt, muß hier noch hervorgehoben werden: die
Umkehr und Einkehr von den Ausfällen bitterster Satire zur
Fürsprache, zur Innigkeit, zum Gebet. Derartige Stimmungs-
wechsel oder Gefühlskurven lassen sich zwar nicht erlernen,
sondern wollen durchgemacht, zurückgelegt und erlebt sein,
gelingen aber doch nur dem christlich erzogenen, in geist-
licher Herzensbildung gezüchteten Gemüt. Daß es auf Zucht
und Schule beruht, mag man an der oft unvermittelten, einiger-
maßen gedankenlosen Plötzlichkeit erkennen, mit der manche
mittellateinischen Satiriker die Geißel fallen lassen und die
Hände zur Fürbitte falten für den Sünder, den sie soeben ge-
straft haben. ^) Wie von der Satire, so aus dem Scherz heraus
zum Gebet führt sie oft ein rascher Sprung,^) ähnlich wie wir
es an Cardinais Rügelied gegen Gott gesehen haben. Auch
sonst sind bei unserem Dichter solche Übergänge zuweilen
*) Wieweit hier Cardinal hinter anderen Trobadors zurücksteht,
mag man aus den Zitaten bei Birch-Hirschfeld, Über die den provenzal.
Trobadors bekannten epischen Stoffe, Halle 1878, S. 6 — 25, ersehen.
2) Vgl. den Schluß des Sermo Goliae Pontificis ad Praelatos impios,
Flacius a. a. 0., S. 152 und Wright, S. 42.
^) Vgl. den Schluß des Rhythmus in sacerdotalis conjugii favorem
bei Flacius, S. 236 ff.
Peire Cardinal 153
noch hart und machen den Eindruck des Angelernten und
Konventionellen, so in Nr. 3, Nr. 25, Nr. 34. Etwas besser
vorbereitet sind die frommen Wünsche am Schlüsse von Nr. 60.
Zum vollen Einklang aber fließen Sarkasmus und Gebet in
dem berühmten Straf lied Tartarassa ni voutor'^) zusammen.
Langsam sich dehnend und weitend drängen hier, aus der Tiefe
des Hasses selbst, die Gefühle des Mitleids und der Liebe ans
Licht, und doch ist es keine weichliche Zerschmelzung der
Gefühle, weil ihr Umschwung durch die kühlen Gründe des
Witzes und Nachdenkens geleitet wird. Erst nachträglich emp-
findet man als Innigkeit, was sich zunächst ganz nüchtern als
Vernünftigkeit gibt.
Aasgeier und Bussard geh'n
auf der Witterung nach Lud'r
sich'rer nicht als Pfaff und Brud'r
einen Reichen sich erspäh'n;
tun ihm traulich um die Wett;
v^irft dann Krankheit ihn aufs Bett,
zwingt man ihn zur Donation,
und sein Haus wird arm davon.
Dem Franzos und Pfaff gefällt
böse Tat, die ihnen frommt,
weil ja doch zur Macht der Welt
Wuch'rer und Verräter kommt.
Drum von ihrem Lug und Trug
ist die Zeit aus aller Fug;
keinen Orden gibt es mehr,
der nicht brav ihr Schüler war'. —
Weißt du^'auch, was einmal wird
aus der schlecht erworb'nen Hab'?
Kommt ein Räuber unbeirrt,
der nimmt alles ihnen ab.
1) Nr. 55, Kritischer Text in Bartschs Chrestom. prov., Sp. 171 f.
154 6. Abhandlung: Karl Vossler
Ja, der Tod ist's, der sie schlägt,
in vier Ellen Tuch sie trägt
weg zu jener Wohnstatt hin,
wo's nicht fehlt an bös' Gewinn.
Mensch, was bist du für ein Tor,
daß du trotzest dem Gebot,
das der Herr dir gab, dein Gott,
der aus nichts dich rief hervor!
Wer mit ihm in Streit will sein,
fällt beim Schweinemarkt herein.
Des Verräters Judas Lohn
hat er als Entgelt davon.
Gnädiger, wahrhaft'ger Gott,
Herr, tritt für die Sünder ein,
schütze sie vor Höllennot,
rette sie aus schwerer Pein,
und das Joch, in das sie sich
durch ihr' Sund' gespannt, zerbrich,
reiche ihnen deine Hand,
wenn sie sich zu dir bekannt.
So zahlreich und nachhaltig aber die Spuren des satiri-
schen und lehrhaften Klerikergeistes und seiner Ausdrucks-
weise in Cardinais Dichtung sein mögen, im Kampfe der In-
teressen zwischen weltlicher und kirchlicher Macht trennt unser
Trobador mit heiligem Grimme sich von seinen Lehrmeistern
und wettert gegen sie, als ob er nichts in der Welt mit ihnen
gemein hätte. Man sollte nicht meinen, daß jemand anderer
als ein Laie das Rügelied Li clerc se fan pastor oder gar das
folgende^) gedichtet hätte. •
Wer gerne hört ein Scheltgedicht,
gewirkt aus Schmach, durchsetzt mit Leid,
1) Qui volra sirventes auzir. Nr. 47. Lex. rom., S. 446 f. und Mahn,
Werke II, S. 2Blf.
Peire Cardinal 155
der komm' zu mir, ich hab's bereit
und weiß, wie man es webt und flicht,
wie man sich fischt den Bösewicht,
woran man kennt sein' Schlechtigkeit.
Die Wackern lieb' ich allezeit,
die falschen Lügner mag ich nicht.
Die schnöden Pfafi'en seht mir an:
zu ihnen strömt von weit und breit
der Stolz, der Trug, die Lüsternheit;
im Treubruch steh'n sie obenan.
Sie bieten gern uns Ablaß an,
nehmen dafür, was wir erspart.
Ihr eigen Gut liegt wohl verwahrt,
wo's Gott und Mensch nichts helfen kann.
Sie kriegen alles mit der Zeit,
da hilft kein Schutz und kein Verbot;
sie fürchten weder Sund' noch Gott,
in Wort und Tat kein' Häßlichkeit,
Land zu erschleichen stets bereit;
und wird davon manch' Auge feucht,
ihr Herze trachtet unerweicht
nur darnach wie ihr Bauch gedeiht.
Unmöglich, daß man sie bekehr':
je höher nämlich der Prälat,
je wen'ger Glaub' und Treu' er hat
und Lug und Trug um desto mehr;
je tiefer sinket seine Ehr,
je höher steigt sein falscher Rat;
je weniger die Lieb' ihm naht,
je reichlicher bringt Mißbrauch er.
Man hört wie in die Welt hinaus
ihr Bannfluch gegen Räuber schallt —
haben dann sie geraubt, gekrallt:
sieht man aus einem Hurenhaus
I
156 6. Abhandlung: Karl Vossler
erhob'nen Haupt's geradeaus
zu Gott sie gehen zum Altar;
wenn dem der Dienst gefällt, fürwahr,
dann gibt man schlecht Almosen aus.
Durch Kirchenraub und durch Verrat
beherrscht das Pfaffentum die Welt,
hat Könige sich unterstellt,
die herrschen sollten in der Tat.
Da wußte Karl Martell noch Rat,
der war kein Tor wie heut' die Herr'n,
die alles jedem Pfaff gewähr'n,
was ihm beliebt, ob krumm, ob grad.
Laß dich begraben, Ritterschaft,
und daß kein Wort dich künde mehr!
Verhöhnt bist du und ohne Ehr',
kein Toter hat so wenig Kraft,
du wirst geknetet und verpfafft,
der König hebt dein Erbe auf,
und all dein Recht ist Trug und Kauf,
und also seist du abgeschafft!
IX. Der Künstler.
Versuchen wir, zu einem zusammenfassenden Urteil zu
kommen und den Kern von Cardinais Kunst nunmehr zu be-
greifen.
Seine dichterische Tätigkeit liegt in der ersten Hälfte des
13. Jahrhunderts beschlossen. Die datierbaren Lieder weisen
vom Anfang des zweiten bis in das vierte Jahrzehnt, also in eine
Zeit, da die bedeutendsten Schöpfungen der trobadormäßigen
Kunst vorbei waren. Zwar gefällt sich der höfische Minne-
sang noch lange in Wiederholungen und Abwandlungen seiner
Inhalte und Formen, in Cardinal aber wird das Bewußtsein,
daß sie sich erschöpft haben, zum ersten Male klar und le-
bendig. Nicht daß ich die Klagen über den Niedergang der
Peire Cardinal 157
Ritterlichkeit und des Frauendienstes, die längst nichts Neues
mehr sind, als gültige Zeugnisse dafür nehmen wollte. Aber
der mangelnde Ernst diesen Dingen gegenüber, die schwindende
Naivität, die grundlegende Ironie, mit der er, mehr noch als
die Gedanken, die Ausdrucksformen des Minnesangs zu Spiel-
zeug und Firlefanz entwertet, reden eine deutliche Sprache.
Der sittlichen Überzeugung nach war auch Marcabru ein Gegner
des galanten Wesens, aber vor dessen geselligen Formen und
vor dessen Kunst konnte er sich nicht genugtun in Verehrung
und hat sich heiß und zäh um die Meisterschaft des Troba-
dorstils gemüht. Cardinal besitzt und beherrscht von Anfang
an und mühelos diesen Stil und, da er ihn sozusagen aus-
wendig kann, benützt er ihn zwar nicht gedankenlos, aber
schonungs- und maßlos, d. h. virtuosenhaft. Es fehlt ihm,
wie allen Virtuosen, das eigene Schönheitsideal und der tiefere
künstlerische Wille.
Wohl gibt er sich zuweilen den Anschein stilistischer
Rechtgläubigkeit, aber man darf sich nicht täuschen lassen.
Mit seinem Estribot z. B. kündigt er ein neues Gebilde an,
das nach gramatica, d. h. nach der Kunstlehre, geradeso tadellos
sein soll wie nach divinitatj d. h. nach der Gotteslehre. Genau
besehen aber ist gerade hier das Metrum so locker und der
durchgehende, strophisch ungegliederte Reim auf -atz so billig,
daß ein Marcabru oder Daniel über diese angebliche Meister-
leistung die Achsel gezuckt hätten. In den Schlußversen kommt
denn auch der wahre Cardinal zum Vorschein: denn, sagt er,
ist der Vortrag nicht geglückt, so möge die fromme Absicht
mich entschuldigen, und die fromme Absicht war, den Geist-
lichen eins zu versetzen.
An der Erfindung neuer Melodien und Metren scheint ihm
wenig oder nichts gelegen zu sein. Dafür bewegt er sich, selbst
in den künstlichsten Versgebäuden der anderen, mit solcher
Meisterschaft und Sicherheit und beobachtet die Strenge und
Reinheit der Reime so geflissentlich, daß dort, wo unreine Reime
bei ihm auftreten, in den volkstümlichen Stücken vor allem,
eine künstlerische Absicht zugrunde liegen muß. Eine ge-
158 6. Abhandlung: Karl Vossler
nauere Untersuchung seiner Verstechnik ist freilich, solange
wir keine kritische Textausgabe besitzen, aussichtslos.
Inwieweit er nun durch neue Inhalte die alten, an über-
nommene Kunstformen geknüpften Erwartungen bewußtermaiaen
täuscht, also die Wirkung der Parodie erstrebt, und wieweit
er sich's nur bequem machen, d. h. eigene Erfindung sparen
will , muß von Fall zu Fall entschieden werden. Parodistische,
ironische oder satirische Absicht konnten wir mit einiger Wahr-
scheinlichkeit feststellen in den Sirventesen Nr. 7 und 48; viel-
leicht liegt sie auch in Nr. 17, 55 und anderen vor. Jeden-
falls weiß er auch den Verzicht auf eigene Formerfindung zu
künstlerischer Geltung zu bringen, sei es, daß er wie in Nr. 49
mit der nachlässigen, lächelnden Überwindung technischer
Schwierigkeiten kokettiert, oder wie in seinen Fabeln, als volks-
tümelnder Schalk, oder wie in seinen Reimpredigten, als treu-
herziger Mahner allem Formalismus aus dem Wege geht. Mag
er sich mit melodischem und akustischem Zierat überladen,
mag er ihn nur spärlich und schüchtern sich umhängen, er
gilt ihm auf alle Weise nur als Zierat, Würze und Zutat,
aber nie, wie dem Marcabru oder Daniel als konstitutives har-
monisches Schönheitselement. Kurz, er ist kein klassischer
Künstler. Die Probleme der äußeren Formen machen ihm
Spaß, aber weder ernste Schwierigkeit noch tiefere Freude.
Was ihm zu schaffen macht, ihn quält und beseligt, sind
die ethischen Probleme. Nicht daß er sich darüber den
Kopf zerbräche, aber er bearbeitet sie dennoch eher mit dem
Verstände als mit dem Herzen. Er steht nicht spekulativ
und nicht mystisch zu ihnen, bohrt nicht und forscht nicht
und ist auch kein ahnender Seher. Ihn plagen weder grund-
sätzliche Zweifel über Gut und Böse noch eigene Gewissens-
bisse. Er verhält sich wissend, besitzend und lehrhaft, kennt
sich aus, ist mit sich selbst im Reinen und hat nur anderen,
den Irrenden und Bösen, seine Meinung zu sagen. Also die ge-
wöhnliche, schulmäßige, mittelalterliche, dogmatische, trockene
und zur Dichtung am schlechtesten geeignete Stellungnahme!
Gewiß, ein schöpferischer Dichter im großen Stil ist Gar-
Peire Cardinal 159
dinal schon deshalb nicht, weil ihm die große Sehnsucht fehlt.
Er kennt nur die kleine, die jedermann drückt und die man
Unzufriedenheit nennt — diese kleine aber auf eigene, in ihrer
Art großzügige Weise. Es tut ihm weh, buchstäblich und
innerlich weh, die täglichen Gewalttaten, Räubereien, Gemein-
heiten und Lügnereien der Menschen mitansehen zu müssen,
gleichviel ob sie gegen ihn selbst oder andere sich richten.
Über persönlichen Schaden beklagt er sich, soviel man sehen
kann, nirgends. Sein Schmerz ist ethisch und uninteressiert;
in ihm leidet das beleidigte Gewissen, als dessen Stimme er
sich fühlt. Diese unpersönlich persönliche Stimme gibt seinen
Sirventesen und Predigten das lyrische Leben. Wohl sind
seine Gedichte voll lehrhafter Mahnung, voll Tadel und Lob
und reich mit verstandesmäßigem Beweis- und Begriffswerk
durchsetzt, aber all dieses unlyrische Geräte ist nur Mittel
und Werkzeug im Dienste einer Poesie, deren Klang aus dem
ethischen Gewissen kommt.
In den Literaturgeschichten freilich pflegt Cardinal als ein
Künstler der Lehrhaftigkeit und Tendenz zu erscheinen, weil
man eben gewöhnt ist, sich unter Satire und Sirventes ein
gen US rhetoricum, kein genus lyricum zu denken. In der
Hauptsache aber hat er mehr aus innerem Drang, aus eigenem
Mißmut, Zorn und Groll heraus als nach bestimmten Zwecken
hin gesungen. Wir haben zur Genüge erfahren, wie schwer
sich die äußeren Gelegenheiten und die besonderen Zielscheiben
seiner Satiren erkennen lassen und wie leicht die ethische Er-
regung ihn ins Weite führt. Auch ist die spezifisch rednerische
Kraft in ihm verhältnismäßig gering. Zum wirksamen Redner
fehlt ihm die wichtigste Voraussetzung: die Gabe und die Lust
in anderer Leute Sinnesart hinabzutauchen. Was für ein un-
Fgeschickter Lehrer und Mahner er ist, sieht man am besten
[an seinen zwei Reimpredigten.
Die erste, Jesu Crist nostre salvaire (Nr. 27) mit ihren
^78 Strophen, mit ihrem 82mal wiederkehrenden Endreim auf
und ihrem wenigstens ISmaligen Anruf avs tu! „hörst du!"
gefällt sich sichtlich in der Eintönigkeit als einem Stimmungs-
160 6. Abhandlung: Karl Vossler
element. Diese lockere und doch geschlossene, didaktisch gewiß
nicht sehr wirksame, einlullende Umrahmung erlaubt dem Ge-
danken des Redners, sich ohne Ordnung und Aufbau, in weitem,
beliebigem Schweifen, ebenso vielfältig als einstimmig, um das
Grundthema der Erlösung aus den Sünden herzuschlingen.
Man könnte sich das Ganze ohne ersichtliche Störung ver-
kürzt oder verlängert denken, man kann einzelne Strophen,
ja ganze Büschel von Strophen beliebig umstellen, ohne die
Kunstform und die Logik zu schädigen. Die Predigt beginnt
als Verheißung, erhebt sich zur Mahnung, pocht und häm-
mert als Drohung, geht mit beharrlicher Wahllosigkeit, immer
mit derselben Gebärde wieder anklopfend, bei allen Klassen
und Arten von Sündern herum, um schließlich in einem chor-
artigen Gebet sie alle zu beruhigen. Man hat eine Technik,
die nicht rednerisch, sondern wesentlich musikalisch gezügelt
ist, ähnlich etwa wie der Sonnengesang des hl. Franziskus
mit seinem unregelmäßig eintönig wiederkehrenden Laudato
sie, mi signore. Auch dort ist eine bunte, wahllose Mannig-
faltigkeit von Lebensvorstellungen auf eine einzige Gefühlsfarbe
abgestimmt, auch dort könnte man, ohne die Komposition zu
zerstören, kürzen, längen und umstellen; und etwas Ahnliches
gilt für andere franziskanische Dichtungen, wie das Dies irae,
das Stahat mater, das Ave coeleste Ulium. Sie sind alle, wie
unseres Cardinais Predigt, wesentlich lyrisch empfunden und
psalmenartig, genauer: sequenzartig angelegt. Sogar dem Me-
trum nach ist jene Reimpredigt eine Sequenz.
Die zweite Reimpredigt Predicator (Nr* 42) zeigt demgegen-
über einen entschiedenen Versuch zur rednerischen Leistung.
Der Dichter wendet sich an ein bestimmtes Publikum, näm-
lich die Großen und Reichen, die baros. Er gliedert auch seine
Rede ziemlich klar nach Ankündigung (Strophe 1 — 11), War-
nung (11—18), Mahnung, die vom Besonderen allmählich zum
Allgemeineren aufsteigt (18 — 27), und Verheißung (27 — 30).
Sogar zur Captatio benevolentiae macht er einen Anlauf (4 — 7).
Schrittweise entwickelt er einfache, klare, zum Teil tiefe (23)
Gedanken und gibt ihnen kurzen, scharfen Ausdruck. Aber
Peire Cardinal 161
eben mit der Formulierung der Gedanken ist er so sehr be-
schäftigt, daß er die Beweglichkeit und Schmiegsamkeit nicht
mehr aufbringt, deren es bedarf, um zwischen Redner und
Hörer den Wechselstrom des Einverständnisses, die Sympathie,
in Gang zu bringen. Er gibt Grundsätze, Sprüche und Richt-
linien, bleibt aber selbst starr wie ein Wegzeiger am Platze,
doziert anstatt zu überreden und, wenn er für seine Forde-
rungen die Vernunftgründe liefert anstatt der Willensimpulse,
so ist es schon viel. Wie bezeichnend, daß dieser Prediger
durch die bloße abstrakte Güte seiner Absicht, d. h. durch
den Verzicht auf seine angeborene Neigung zu Spott, Hohn
und Ironie, sich die Wirkung zu sichern hofft (4 — 5).
Kurz, die mitteilsamen, verbindlichen und werbenden
Formen der Rede sind ihm versagt. Auch waren sie von der
Kunst der Trobadors nur erst zu den schlimmheiligen Zwecken
minniglicher Verführung und nicht zu sittlicher Seelsorge aus-
gebildet worden.
Umso sicherer handhabt Cardinal das trennende, schnei-
dende und schreckende Wort, das den Menschen auf sich selbst
zurückweist und zu angstvoller Nachdenklichkeit und Einkehr
ins Übersinnliche treibt. Und doch ist er kein Bußprediger
im asketischen oder protestantischen Sinne des Wortes, ob-
wohl er es an reichlichen Ansätzen dazu nicht fehlen läßt.
Er macht sozusagen beim Anfangserfolge schon halt. Es ge-
nügt ihm, im Hörer die bloße Stimmung zur Buße, den rein
beschaulichen Schauder vor der Sünde, eine Art ethischen
Gruseins erzeugt zu haben. Nur jenes Frösteln bringt er uns
bei, das beim Schrei des Gewissens den inneren Menschen
überrieselt, nur die gefühlsmäßigen Begleiterscheinungen, die
von der Vorstellung zerstörter sittlicher Werte ausgehen. Eben
kraft dieser Beschränkung ist er, so ausgedehnt immer die
rednerischen Einschläge und die polemischen Absichten in seiner
Dichtung sein mögen , wesentlich Lyriker.
Er hat nun zwar allerhand Mittel, um einem die morali-
sche Gänsehaut zu machen. Da das instinktiv erstrebte Ziel
aber sich gleichbleibt, so bestimmt es in gewisser Weise auch
Sitzgsb. d. philos.-philol. u. d. bist. Kl. Jahrg. 1 9 1 6, 6. Abh. 1 1
I
162 6. Abhandlung: Karl Vossler
die Grundlinien des künstlerischen Verfahrens. Selbstverständ-
lich muß er mit Gegensätzen arbeiten, denn nur Kontraste
und Disharmonien lösen den Schauer aus. Und da es ein ethi-
scher Schauer sein soll, werden es wesentlich die Unstimmig-
keiten zwischen Sittengesetz und Lebenserfahrung sein müssen,
zwischen der intelligiblen und der empirischen Welt, zwischen
dem jenseitigen Glauben und dem diesseitigen Treiben.
Wie wenig es Cardinal um sinnliche Ausmalung der jen-
seitigen Dinge zu tun ist, haben wir oben gesehen. Für einen
mittelalterlichen Geistlichen hat er eine geradezu auffällige
Scheu vor greifbaren Höllen- und Himmelsbildern. Die jen-
seitige Welt ruht ganz in der inneren Gewißheit bei ihm und
gilt ihm als ein gefühlter und gedachter und eben darum
unmittelbar lebendiger Wert, nicht als ein Gegenstand, der
durch die Aufregung der sinnlichen Anschauung erst belebt
werden müßte. Er hat wie wenige seiner Zeit die absolute
Idealität von „Gut und Böse" erfaßt: denkend und fühlend,
mystisch und aufklärerisch zugleich. Dementsprechend stellt
sie sich in seiner Sprache nur selten als Bild und meistens als
Begriff, d. h. als Name mit pathetischem Klang und Bedeutungs-
akzent dar. Läßt er je einmal die absoluten Werte der Tugen-
den oder Laster auf dem Schauplatz der Erde erscheinen, so
geschieht es nicht in volkstümlichen, engel- oder teufelhaften
Verkörperungen, sondern in einem ebenso feierlichen als farb-
losen Schattenspiel von Allegorien, nicht in vertraulichen, son-
dern in erhabenen und gelehrten Formen, die im Idealen und
Abstrakten wie in verklärender Ferne verschwimmen. Wohl das
beste Beispiel dieser Art hat man in dem liiede Nr. 43.^)
Quais aventura
es aisso d'aquest mon!
que la dreytura
no y troba gua ni pon,
mas Desmezura
hi vai per tot afron^)
1) Mahn, Gedichte 980 u. 979. 2) i ^ai tota afron M (979).
Peire Cardinal 163
e mou rancura
e auci e cofon,
e Mentirs mantas ves
nays hi aitan espes
que Vertatz ni Merces
ni Patz ni Conoyssensa
no y atroba guirensa,
e Poders pren lo ses
lai on Dregz non a ges.
Tortz e Maleza
et Erguelhs yssamen
e Cobeeza
ab trastot son coven^)
e Avareza
an fait acordamen,
cossi Franqueza
gieto d'entre la gen;
e mueyra Caritatz
e Patz e Pietatz;
e Bona Voluntatz^)
en nulh loc remanha,
en valh ni en montanha,
que • 1 fuecx es atizatz
que i a mes Malvestatz.
ÜSW.3)
Soll man die Namen dieser Laster und Tugenden gi'oß oder
klein schreiben? Sind es Begriffe oder Personen? Bald dies,
bald das, und im Grunde beides durcheinander. Der Anschau-
ung wird wenig oder nichts gegeben, und man muß sich die
Wirkung solcher Gesänge auf den mittelalterlichen Hörer als
eine wesentlich pathetische und sonore, erbauliche und er-
hebende denken, wobei Unterweisung und Lehrhaftigkeit zwar
^) per aital covinen M. 2) q gg fois e solatz 31.
3) Ähnliche Partien hat man in Nr. 46, Str. 5; 51, 2; 52, 2; 62, 1
und 2; 33, 1; 25, 1 und in Nr. 13.
11*
I
164 6. Abhandlung: Karl Vossler
nicht fehlen, aber gewiß nicht als so aufdringlich und vor-
herrschend empfunden wurden wie von dem modernen Leser.
Derartige Sirventese stehen der Ode viel näher als dem Lehr-
gedicht oder der Satire. Jede Übersetzung läuft Gefahr, die
lyrische Wirkung zu zerstören und hinter dem Inhalt den
Formgedanken, der doch allein die dichterische Schönheit
macht, erbleichen zu lassen; es sei denn, daß man mehr nach
Ohr, Rhythmus und Gefühl als nach dem Wortsinn übersetzte,
d. h. als deutschgewordener Cardinal geradezu dichtete. Nur
so könnte man dem heutigen Hörer von den Schauern der
Erhabenheit, die wie Wetterleuchten durch das graue Ge-
wölke der verschwimmenden und wogenden Bilder zucken,
eine Ahnung geben.
An und für sich war diese lyrisch - dialektische Stilart
nicht neu. Schon Marcabru hatte sie versucht; aber, wie ich
glaube gezeigt zu haben, ^) mit einer Gequältheit und Dunkel-
heit, die eher den Eindruck der Anstrengung als des schwung-
vollen und ruhigen Schwebens über der irdischen Gemeinheit
hinterläßt. Im Vergleich mit Cardinal haben die odenhaften
Versuche des Marcabru noch etwas Unbeholfenes, Verbissenes
und grimmig Pedantisches.
Cardinal freilich erhebt sich nur vorübergehend, zwar oft
aber kurz, in jene hohen Regionen. Er taucht in die blasse
Lichtwelt der Ideen nur soweit hinauf als nötig ist, um Di-
stanz zu den Gemeinheiten und Narrheiten des allzu bunten
Alltags zu gewinnen. Das eben angeführte Lied dürfte wohl
das einzige sein, das den odenartigen Stil gleichmäßig durch-
hält; im übrigen kann ich ihn nur im Wechsel und meistens
in völliger Mischung mit anderen, sagen wir realistischeren
Tönungen finden. Freilich, in derber Anschauung sich festzu-
saugen ist ebensowenig Cardinais Sache. Wir haben zur Ge-
nüge gesehen, wie wenig Farbe und Schilderung seine Dich-
tung enthält. Das saftigste und satteste Kostüm- und Sitten-
bild, das ich von ihm kenne, ist das Sirventes Äh vot0 ä'angel
^) Der Trobador Marcabru und die Anfänge des gekünstelten Stiles,
Sitzungsberichte 1913, 6. Dezember.
Peire Cardinal 165
(Nr. 1). Dieses freilich bietet der Übersetzung eine viel ge-
fügigere Hand. Leider kann ich den provenzalischen Text
nur in einer provisorischen Form, wie ich sie nach Mahn,
Gedichte der Troubadours Nr. 6 und 1233 (= Hss. / und T)
mir notdürftig gezimmert habe, mitteilen.
Ab votz d'angel, lengu'es perta'n nobleza,
ab motz suptils, plans plus c'obra d'Engles,
ben asetatz, ben digz e ses repreza,
meills escoutatz ses tossir que apres,
ab plans sanglotz mostron la via
de Jesu Crist, cui quecx deuria
teuer, com el la volc per nos teuer;
van prezican com poscam Deu aver.
Religions fon li premieir[a] enpreza
de gent que trieu^) ni bruida non volgues,
mas Jacopi apres maniar non aqueza,
an[z] desputon del vi, cals meillers es,
et an de plait(z) cort establia,
et es Vaudes qui'ls ne desvia.
E los sicretz d'ome volon saber,
per tal que meills si puoscan far temer.*)
Esperitais non es la lur paubreza;
gardan lo lor, prenon so que mieu es.
Per mols gonels testutz de lan'engleza
laisson celitz, car trop aspres lur es,
ni parton ges lur draparia
aissi com Saint Martin fazia,
mai almornas, de c'om sol sostener
la paubra gen, volon totas aver.
Aissi com eis que bev.on la cerveza
e manio'l pan, per Dieu, de pur regres,
e*l bro del gras bueu lur fai gran fereza,
et onchura d'oli non volon ges
^) Der Sinn von trieu ist mir hier nicht klar.
^) car tener I, far temer T.
166 6. Abhandlung: Karl Vossler
ni peis gras, fresc de pescaria,*)
ni broet ni salsa que fria:
per qu'eu consoil qui'n Dieu ha son esper
c'ab lurs condutz passe, qui ' n pot aver.
Si non, con eis mangem la bona freza
e'ls mortairols batutz e ben espes^)
ab gras sabriers de galina pageza
e d'autra part iove ins vert ab bles^)
e vin qui meiller non podia, '^
don plus leu Fransses s'enebria.
S'ap bei viure ni maniar ni iazer
conquerron Dieu, be'l podon conquerrer.
Ab prims vestitz amples ab capa teza
d'estiu, d'un camelin d'envern espes,*)
ab fort caussar, solat a la franceza,
cant fai grant freg, de fin cor marseilhes,
ben ferm liat(z) per maistria
(car mals liars es gran follia!)
van prezican, ab lor soutil saber,
qu'en Dieu servir metan cor et aver.^)
Mit Engeisstimm' und Sprache voller Adel,
mit Worten wie Engländer-Arbeit fein,
mit wohlgesetzten Sprüchen ohne Tadel,
auf die man lauscht und prägt sicb's doch nicht ein,
mit Seufzern zeigen sie die Pfade,
die Jesus ging und die gerade
wie Er für uns, ein jeder sollte zieh'n;
so weist zu Gott uns ihre Predigt hin.
^) peis fr. gr. de p. I.
2) eil mortairol si batut com begues I, ells mortairols grasses e
ben espes T.
3) insnert ab bles I. Zu Ues siehe Levy, Suppl.-Wörterb. s, v. biet.
*) Dun cam. destiu denvern espes I. Dun cam. divern deostiue espes T.
^) In den Hss. folgt noch eine Strophe, aus der hervorgeht, daß
Cardinal ledig war.
Peire Cardinal 167
Die ersten, die ins Klosterleben schieden,
taten's, um Streit zu meiden und Geschrei.^)
Die Jakobiner aber halten Frieden
selbst nicht nach Tisch: welcher der beste sei
der Weine, wird gezankt, verhöret —
„Waldenser!" wer sie dabei störet.
Und um den Menschen fürchterlich zu sein,
drängen sie in Geheimnisse sich ein.
Es ist ihr' Armut nicht die demutvolle;
das Eig'ne wahrend, rauben sie, was fremd.
Mit weichem Rock, gewirkt aus Englands Wolle,
vertauschen gerne sie das rauhe Büßerhemd
und hüten sich vor jenem Handel
des heil'gen Martin mit dem Mantel;
ja, selbst die mildtätigen Gaben, die
den Armen zugedacht sind, wollen sie.
Gerad' wie sie wahrhaftig sich bescheiden
bei sau'rem Bier und purem Kleienbrot
und wie sie fette Ochsensuppen meiden
und Olgeback'nes wie die schwere Not,
wie frische Fische sie verschworen
in allen Brühen, welche schmoren,
so rat' ich jedem, der auf Gott noch baut,
daß er sich ihrer Führung anvertraut.
Wo nicht — laßt essen uns die guten Bohnen,
wie sie, und auch den fetten, dicken Brei,
^B 1) Denselben Gedanken, freilich in ganz anderem Zusammenhang,
^^^at man in Carmina Burana XVI, einem Rhythmus gegen die Herrschaft
der Laienbrüder im Orden von Grandmont (1187). Siehe W. Meyer aus
Speyer, in den Nachrichten der K. Gesellschaft der "Wissenschaften zu
Göttingen, philol.-histor. Klasse 1906, 1. Heft:
Clausa quondam religio
vel ocium secretum,
nunc subiacet obprobrio
per vulgus indiscretum.
I
168 6. Abhandlung: Karl Vossler
das fettste Huhn vom Land laßt uns nicht schonen,
und saft'ge Rüben seien noch dabei!
Vom Weine sei's der beste Tropfe,
der selbst dem Franzmann steigt zu Kopfe!
Wenn guter Lebens-Essens-Schlafens-Brauch
uns Gott gewinnt, so können wir das auch!
Mit feinstem Rock im Sommer weit gekleidet,
bei Frost gefüttert und kamelbehaart,
mit Schuhwerk, je nach Witterung bereitet:
marsilisch Leder oder fränk'sche Art,
am Fuß geschnürt von Meisterhänden
(denn, schlecht geschnürt, könnt' übel enden!):
so geh'n sie predigen mit ihrem Witz:
Gott soll' man weih'n sein Herz und — den Besitz!
Sogar in Prosa müßte dieses Stück noch seine Wirkung
haben, weil es mehr durch das Auge als durch das Ohr und
mehr durch Beobachtung als durch Ahnung zum inneren Men-
schen spricht. Es ist, im Gegensatz zu jener makroskopischen
Ode, mikroskopisch eingestellt.
Aber auch diese Kunstart, die man das sarkastische Genre-
bild nennen könnte, wird von Cardinais Muse in der Regel nur
gestreift, zwar oft und rasch ergriffen, aber alsbald wieder
verlassen. Die natürliche Meisterschaft unseres Dichters ruht
in der Mitte, im Wechsel und mehr noch in der gegenseitigen
Durchdringung des Werthaften mit dem Erfahrungsmäßigen.
Ahnlich wie das sittliche Gewissen selbst es macht, so fühlt
und ahnt er allgegenwärtig im Großen und Ganzen das Böse
und Unartige der Zeitläufte, um es dann plötzlich und über-
raschend zu ertappen und festzunageln im Besonderen, im Ein-
zelnen, im Typischen und auch im Kleinsten noch, wo es
herausschaut und sich verrät, d. h. charakteristisch wird. In
diesem unpersönlichen Sinne ist er Gelegenheitsdichter. Wäh-
rend gehässige und händelsüchtige Satiriker sich ihre Opfer
heranholen oder „kaufen", pflegt Cardinal die seinen im Vor-
beigehen zu erwischen. Er kann streckenweise leeres Stroh
Peire Cardinal 169
dreschen, wo aber eine schnittreife Ähre ihm unter den Flegel
kommt, sitzt der Hieb und spritzen die Körner. Die Aus-
gestaltung und Vollendung des Liedes als Ganzes gelingt ihm
zwar unter günstigen Bedingungen, in der Hauptsache aber
sind es einzelne Strophen und oft nur kurze Wendungen dieser
Lieder, mit denen er die wirksamen Volltreffer erzielt: patheti-
sche oder witzige Schlager oder gar solche, die beides zu-
gleich sind.
Pathos und Witz, zwei Noten, die ihrer seelischen Natur
nach nur kurze Schwingungsdauer haben, weil sie zwischen
dem Erhabenen und dem Gemeinen die straffeste Spannung
voraussetzen , übernehmen die Führung in Cardinais Lyrik und
bedingen die geschwungene Bewegtheit ihrer Linie. Ohne sie
wären diese Lieder nur gereimte Prosa. Das Musikalische an
ihnen ist das Pathetische und das Sarkastische: eine Musik,
die freilich wenig Fülle hat und dem Ohr bald dumpf und
hohl, bald scharf und spitz klingt. Dem Auge erscheint Car-
dinais Lyrik etwa wie Schwarzweißkunst, mit tiefen Schatten,
grellen Lichtern und, was dazwischen liegt, meist grau, lehr-
haft, langweilig, moralisierend getönt. Was man zu sehen
bekommt, sind keine Gemälde, sondern Federzeichnungen, bei
denen die Buntheit durch Bewegtheit ersetzt ist, wie wir es
an der Parabel vom Regen beobachten konnten. Cardinais
Bilder sind im Grunde immer Gleichnisse oder Exempla, keine
Anschauungen, sondern Einfälle. Lauernd und spähend, als
Vorposten des bedrängten Gewissens — niemals geruhsam und
genießend versunken in Betrachtung — steht er zum Leben.
So entdeckt er und denunziert uns eindrucksvolle Gestalten, wie
die des reichen Herrn, der über Land fährt: umgeben, be-
gleitet und geführt von Bosheit, Gier, Unrecht und Stolz, ^)
oder die des großen Lügners, an dem man, ohne ihn anzu-
sehen, wie an einem Rosenstock die falsche Gesinnung riechen
kann,^) oder des anderen, der die Lügen nach einem geregelten
Wirtschaftsplan abwirft wie Zinsen: 100 im Tag, 3000 im
1) Nr. 45, Str. 2. Bartsch, Chrestom. provenzal. Sp. 169.
2) Nr. 5, Str. 2. Mahn, Ged. 214, 1231, 1232.
I
170 6. Abhandlung: Karl Vossler
Monat, 36000 im Jahr,*) oder des Wohlhabenden, der über
alle seelischen Enttäuschungen sich mit Rebhühnern, Wein
und anderen Geschenken der Erde hinwegtröstet, um dann mit
dem Gebetbüchlein in der Hand zu Gott zu seufzen: Was bin
ich ein armer Mensch! Und wenn Gott ihm erwidern wollte,
müßte er sagen: Du lügst.^) Hier wird der beispielmäßige,
lehrhafte, erfundene, hypothetische Untergrund dieser Bilder
handgreiflich. Man erinnert sich, wie selbst die leibhaftige Er-
scheinung des Verräters Esteve de Belmon in Cardinais Augen
die Tragweite eines Exemplums annimmt.^) Ein bemerkens-
werter Sammelplatz solch' pathetisch-witziger Gleichnisse und
Vergleiche ist das Sirventes Totztemps azir fälsedat et engan.^)
Was doch die Reichen zu den Armen mild
und gütig sind — wie Kain zu Abel war!
und auf den Raub ist noch kein Wolf so wild,
aufs Lügen aber keine Dirne gar.
Und schlitztet ihr sie vorn' und hinten auf,
es kam' kein wahres Wort, verlaßt euch drauf,
nur eitel Lüg' aus ihrem Herzen vor,
wie aus dem Quellgrund Wasser will empor.
Hab' manchen Herrn an manchem Platz geseh'n
glänzen so falsch wie Glas an gold'nem Ring,
und wer für echt sie nahm, dem ist gescheh'n,
als ob statt Schafen er sich Wölfe fing;
denn am Gehalte fehlt's und am Gewicht;
wie falsche Münze sind sie hergericht',
die sauber zwar mit Kreuz und Blum' geprägt —
jedoch, schmilzt man sie ein, kein Silber trägt.
Ich mach' vom Morgen- bis zum Abendland
den Menschen einen neuen Handel kund:
1) Nr. 5, Str. 4. Mahn, Ged. 214, 1231, 1232.
2) Nr. 41, Str. 4. Rayn. Choix IV, S. 354, Parn. occ, S. 312 u. Mahn,
Werke IT, S. 188. ^) Siehe oben, S. 120 ff.
*) Nr. 57. Rayn. Choix IV, S. 347, Mahn, Werke II, S. 195, Studj
di fil. rom. III, S. 666 und IX, S. 510.
Peire Cardinal 171
Ein Goldstück jedem Braven in die Hand
für einen Nagel nur von jedem Hund.
Dem Höf sehen geh' ich eine Mark in Gold,
falls der Gemeine mir 'nen Kreuzer zollt;
und dem Wahrhaft'gen geh' ich Gold zu Häuf,
schenkt jeder Lügner mir ein Ei darauf.
Die ganze Redlichkeit der meisten Leut'
schreib' ich auf einen kleinen Lederfleck,
die Hälfte meines Handschuhdaumens breit!
Und alle Wacker'n sättige ich keck
mit einem Kuchen, 's kommt mir nicht d'rauf an,
und, füttert jemand mir die Bösen: dann
könnt ihr zum Essen, wo es euch gefällt,
die Guten rufen aus der weiten Welt.^)
Derartige Gleichnisse und Gleichungen, die den ethischen
Gefühlswert ins Handgreifliche und Quantitative umzurechnen
bestimmt sind, können heute noch als erfinderisch, witzig und
geistvoll empfunden werden. Im Mittelalter, und besonders bei
den Laien, wo das geistreiche Wesen noch nicht so wohlfeil
war, dürften sie geradezu überraschend gewirkt haben. Sie
tragen freilich auch den Keim der Müdigkeit in sich; denn
dem menschlichen Gemüt kann bei der Rationalisierung des
Übernatürlichen, an dem es nun einmal hängt, nicht wohl
werden: selbst dann nicht, wenn, wie hier, das Übernatürliche
ein Böses und dessen Rationalisierung ein guter Witz ist. Das
Glück der Schadenfreude ist unserem Dichter zwar nicht ganz
fremd geblieben; er hat es, wie wir gesehen haben, in einigen
Versen vorübergehend gesungen und konnte, vorübergehend,
auch grausame Töne anschlagen. Im Grunde aber muß er ein
gemütvoller Mensch gewesen sein. Vielleicht hat eigener Notstand,
denn reich oder auch nur wohlhabend ist er sicher nicht gewesen,^)
ihm das Herz zum Mitleid an der allgemeinen Not gelockert.
^) Eine gereimte Übersetzung dieser Strophen findet man auch bei
Diez, Leben und Werke der Troub., S. 462f.
2) Vgl. die oben zitierten Verse Nr. 51, Str. 1, Nr. 17, Str. 2 und
172 6. Abhandlung: Karl Vossler
Er leidet am sittlichen Elend der Welt, vielleicht um so
tiefer und stiller, weil es ihm nicht gegeben ist, die vollen
und warmen Töne zu finden, mit denen gerade in seinen
Tagen die allumfassende und erlösende Liebe durch des heiligen
Franziskus Stimme zu den Menschen gesprochen und gejubelt
hat. Nur mittelbar, nur durch seine Müdigkeit und Unfähig-
keit zur Ereude hindurch kann man in Cardinal das fühlende
Herz erraten. Die Lust an Welt und Leben, die er niemals
als Eiferer geschmäht hat, sondern so gut er eben konnte,
empfahl und lobte, bleibt stumm und verschlossen in seiner
Brust. Ihn haben Schicksal und Anlage bestimmt, daß er den
zügelnden und hemmenden Gewalten des menschlichen Gemütes,
dem bösen Gewissen, seine hohle und scharfe Stimme lieh.
Tan vey lo segle cobeytos,
plen d'avareza e d'enian,
que ges lo paire en l'enfan
no*s pot fizar, nengus^) d'amdos:
per qu'ieu n'estau tant cossiros
que ges non puesc negun ben dir,
si doncx no volia mentir —
per qu'ieu volgra qu'autre mons fos.^)
besonders die erste Strophe des Descort 461, 236, dessen Verfasser wohl
Cardinal sein dürfte. Sie lautet nach Appel, Provenz. Inedita aus Pa-
riser Hss., S. 332:
Tot aissi soi desconsellatz
con l'aucels qu'a som par perdut,
non trop qui'm valha ni m'aiut,
per ren mas car non soi sobratz
que pogues dar a totz cuminalmen.
Adonx sai ieu que'm valgron miei paren,
que es ben vers le proverbis a dir:
qui ren non a, an ab los mortz dormir.
*) nengun C und J^. Der Sinn ist wohl : Der Vater kann dem Kinde
nicht trauen, und keiner von beiden dem anderen, also auch das Kind
dem Vater nicht.
2) Nr. 54, Str. 1. Mahn, Ged. 1228, 1229, 1230 nach C, B und I.
Peire Cardinal 173
Ich seir die Welt so voll und schwer
von Gier und Geiz, so falsch gesinnt,
daß selbst der Vater seinem Kind
nicht traut, und dieses ihm nicht mehr.
Und darob sorg' ich mich so sehr
und weiß kein Wort, das klänge hold,
es sei denn, daß ich lügen wollt'. —
Oh daß die Welt doch anders war'!
Anhang.
I.
Gelänge es, das Eügelied Aquesta gens, quan son en lor
gaie^a'^) zu datieren, so wäre für Cardinais ethische und künst-
lerische Entwicklungsgeschichte viel gewonnen. Die fünfte
Strophe könnte eine Handhabe dazu bieten. Sie lautet:
Que fan l'enfan d'aquella gen engleza,
qu'avan no van guerreiar ab Franzes?
Mal an talan de la terr' engolmeza!
Tiran iran conquistar Gastines!
Ben sai que lai en Normandia
dechai e chai lor senhoria,
car los guarzos^) vezon en patz sezer. —
Antos es tos que^) trop pert per temer.
Man hat hier eine Anspielung auf die spärliche und wir-
kungslose Hilfe sehen wollen, die der englische König Hein-
^) Gedruckt in Raynouards Lexique roman 1, S. 451 und bei Mahn,
Werke II, S. 214 und nach der Hs. J in den Studj di fil. rom. IX, S. 519
Matfre Ermengau hat es in sein Breviari d'Äinor aufgenommen.
^) quarlos I. ^) qui /.
174 6. Abhandlung: Karl Vossler
rieh III. dem Grafen Raimund VII. von Toulouse bei seiner
Auflehnung gegen den König von Frankreich im Jahre 1242
leistete.*) Am 12. Mai 1242 waren die Engländer in Royan
gelandet und näherten sich der Charente bei Taillebourg, so
daß man erwarten durfte, sie würden zunächst in das Angou-
mois vorrücken , um die Franzosen , die über Chinon nach dem
Süden zogen, zu schlagen. Aber König Ludwig kam ihnen
zuvor, war ihnen an Zahl auch weit überlegen und besiegte
sie mühelos am 22. Juli unter den Mauern von Saintes.^) Da
das Gätinais weit nordöstlich vom damaligen Standort des engli-
schen Heeres liegt, so bekämen die Verse
tiran iran conquistar Gastines
einen ironischen, aber höchst gezwungenen Sinn. Im Ernste
kann kein Engländer im Jahre 1242 an eine Eroberung jener
Landschaft gedacht haben, die zwischen Paris und Orleans
im Herzen der französischen Kronländer lag. — Englische Hilfe
hat man in Südfrankreich auch in früheren Jahren oft und
vergeblich erwartet. Auch berechtigt der Wortlaut unserer
Strophe in keiner Weise, auf einen englischen Einmarsch in
Südfrankreich, geschweige denn auf eine bedrängte Lage des
Grafen von Toulouse zu schließen. Der Vers
car los garzos vezon en patz sezer
weist im Gegenteil auf ein völlig untätiges Verhalten der Eng-
länder hin. Das Lied müßte also in der Zeit vor der Lan-
dung, da man die englische Hilfe noch ungeduldig erwartete,
verfaßt sein. Aber, hatte es denn einen Sinn, im Jahre 1241
von englischer Herrschaft in der Normandie noch zu sprechen?
Die Meinung Cardinais ist doch wohl, wenn man seine Worte
^) C. Fabre, ^ßtudes sur P. Cardinal in den Annales du Midi, Tou-
louse 1909, Bd. XXI, S. 25. Jeanroy ist offenbar nicht dieser Meinung,
denn in seiner Untersuchung „le soulevement de 1242 chez les troub."
Annales du Midi, XVI, 1904, S. 311 ff., wird von Cardinal überhaupt
nicht gesprochen.
2) Vgl. Ch. Bemont, La campagne de Poitou, 1242/43, in den An-
nales du Midi, 1893, Bd. V u. Langlois bei Lavisse, Hist. de France III, 2,
S. 53-59.
Peire Cardinal 175
nicht zwängen will, etwa die folgende: Warum rühren die
Engländer sich nicht gegen die Franzosen? Liegt ihnen so-
wenig an der bedrohten Grafschaft Angouleme? Mit ihrem
Zögern werden sie gewiß — und darin liegt Ironie — das Gä-
tinais (das Philipp I. schon am Ausgang des 11. Jahrhunderts
in die französischen Kronländer eingezogen hatte) sich noch
erobern. Indessen ist es bekannt, wie in der Normandie ihre
Herrschaft schwindet und fällt, decJiai e chai, sinkt und stürzt.
Das deutet zweifellos auf einen eben sich vollziehenden Vor-
gang hin. Freilich nannte Heinrich III. von England sich
immerzu Herzog der Normandie. Verloren aber war sie ihm
längst. Seinem Vorgänger schon war sie im Frühsommer des
Jahres 1204 von Philipp August entrissen worden. — Warum
also sollten wir nicht annehmen, daß in unserer Strophe sich
die gespannte Erwartung, die Ungeduld und Enttäuschung
spiegelt, die sich der südfranzösischen Gegner des Königs Phi-
lipp August bemächtigte, als sie sahen wie König Johann sich,
ohne England zu verlassen, von den Nordfranzosen nachein-
ander die Normandie, Anjou und Touraine entreißen ließ und
wie nun auch in Aquitanien der Abfall von England begann.
Im August 1204 zog Philipp August in Poitiers ein, und wahr-
scheinlich noch in demselben Monat huldigte Alix, die Gräfin
von Angouleme, dem siegreichen Eroberer und schloß einen
Vertrag mit ihm.^) Der König von England aber rührte sich
nicht, um seinen Getreuen in Südwestfrankreich gegen die
nordfranzösische Übermacht zu helfen. Erst im Jahre 1206
landete er in La Roch eile und eroberte sich einen Teil von
Poitou zurück, erst nachdem Aimeri de Thouars, Gui und
Savaric de Mauleon sich gegen die Herrschaft Philipp Augusts
erhoben hatten. Cardinal wäre nicht der einzige Trobador, dem
in der Wartezeit zwischen 1204 und 1206 die Geduld riß.
Wir haben von Bertran de Born dem Jüngeren ein Lied, das
unter denselben Umständen und aus ähnlicher Stimmung her-
^) Vgl. P. Boissonnade, Quomodo comites engolismenses erga reges
Angliae et Franciae se gesserint, Pariser These 1893, S. 16 f. Im übrigen
vgl. A. Lnchaire im 3. Band von Lavisse, Hist. de France, S. 127 ff.
176 6. Abhandlung: Karl Vossler
aus gesungen wurde. ^) Damals sah es aus als sollte der König
von England seine Lehenshoheit und all' seine Ansprüche auf
französischem Boden durch Zögern und Furcht, per temer,
verlieren. Damals hatte es einen guten Sinn, den Engländer
nicht nur an die Normandie und das Angoumois zu erinnern,
die im Begriffe waren ihm zu entgehen, sondern auch an das
längst verlorene Gätinais, auf das er als Plantagenet und Graf
von Anjou noch immer Anspruch erheben mußte. — Leider aber
steht der Datierung des Sirventes in das Jahr 1205 ein metri-
sches Bedenken entgegen. Strophenbau und Reim sind nämlich,
wie es scheint, einem „Vers" des Peirol nachgeahmt (M'entencio
ai tot ^en un vers meza, 366, 20), der vielleicht viel später ent-
standen ist. Auf Grund der siebten Strophe wollte Diez ihn
in das Jahr 1210 verlegen.^) Neuerdings ist man sich einig,
daß die Strophe in den Jahren 1219 oder 1220 gedichtet sein
muß.^) Aber, wohlgemerkt, nur diese siebte Strophe. Und
ist deren Datierung wirklich so sicher? Lesen wir:
D'amor mi clam e de nostra marqueza,
mout m'es de greu quar la'ns tolh Vianes,
per lieis es jois mantengutz e guayeza;
gensor domna no cre qu'anc Dieus fezes,
5 ni eu cug tan belha'n sia
ni tan sapcha de cortezia,
qu'a penas pot sos pretz el mon caber,
qu'a totz Jörns creis e no y * s laissa chazer.
Dazu ein Geleit, das in manchen Handschriften fehlt:
Lo vers es fagz, qui Fentendia.
10 En Peirols vol que auzitz sia
1) Quan vei lo temps renovelar. Vgl, Bertran von Born, Ausgabe
Stimming, 2. Aufl. (Roman. Bibliothek), Halle 1913, S. 47 und 146 ff.
2) Diez, Leben und Werke der Troub. 1829, S. 314.
3) Cerrato, Giornale storico della lett. ital. IV, S. 88. 0. Schultz,
Die Briefe des Trob. Raimbaut de Vaqueiras, Halle 1893, S. 114. F. Ber-
gert, Die von den Trobadors genannten oder gefeierten Damen, Halle
1913, S. 91.
Peire Cardinal 177
en Vianes, don pretz no pot chazer,
que'l comtessa li fa ben mantener.^)
Ist es ausgemacht, daß die Comtessa des Geleites auch
die Marquesa der Strophe ist und daß man in beiden keine
andere zu sehen hat als Beatrix , die Tochter des Markgrafen
Wilhelm IV. von Monferrat, die sich im Jahre 1220 mit An-
dreas Delfin von Vienne vermählt hat? Wer will beweisen,
daß nicht zu anderer Zeit eine andere Marqueza, um deren
Gunst sich Peirol bewerben konnte, nach Vienne gezogen ist?
Man könnte zunächst an jene andere Beatrix von Monferrat
denken, die eine Tochter Bonifaz' I. war, oder gar an eine
Schwester von diesem. Die Beziehungen zwischen den Höfen
von Monferrat und Vienne waren nicht auf die eine Heirat
des Jahres 1220 beschränkt.
Doch lasse man immerhin die obige Datierung gelten, so
bleibt doch die Möglichkeit, fast möchte ich sagen, die Wahr-
scheinlichkeit, daß jene siebte Strophe, die in keinerlei ge-
danklichem Zusammenhang mit dem Körper des Liedes steht,
nachträglich ihm beigegeben wurde. Peirol hätte dann seinen
^) Text nach Mahn, Werke II, S. 12. Dazu die Varianten der im
Druck veröffentlichten Hss. A (Studj di fil. rom. III, S. 477 f.), N (Mahn,
Gedichte der Trobadors I, S. 176), V (Archiv für das Studium d. neueren
Sprachen, Bd. 36, S. 435). In der Hs. 3i fehlt diese Strophe, ebenso in
F und Q. Das Geleit fehlt in F, V und Q.
1. mi plane mas de N. e fehlt in V.
2. sont trop iraz car N. me pesa molt car V.
3. e proeza N. e proeza V,
4. plus pros domna non cug N. meillor dona non cre canc hom
uolges F.
5. ni non cre que tan V.
6. sapcha] a9a N. aia F.
7. el mon son pretz F.
8. e creis toitz iorn que non 1. c N. que totz i. er. et dobla nol
1. c. F.
9. qil apren dia M.
10. e peirols uol ben sauputz sia M.
11. don] on M.
12. quell marqeiza loi sap gen m. M.
Sitzgsb. d. philos.-philol. u.d.hist. Kl. Jahrg. 1916, 6. Abb. *12
178 6. Abhandlung: Karl Vossler
verliebten Vers, den er als junger Mann gedichtet hatte und
auf dessen kunstvolle Form er sich offenbar viel zugute tat,
an dem italienischen Hofe wieder hervorgeholt, um ihn, mit
einem Kompliment bereichert, dem Töchterlein seines Gönners
auf dem W^eg nach Südfrankreich voranzuschicken. In der
Tat fehlt in mehreren Handschriften dieses Kompliment, diese
siebte Strophe. Das Lied wäre demnach, als es wieder auf-
geputzt wurde, etwa so alt wie die Braut gewesen, zu deren
Ruhm es zum zweitenmal in die Welt ging. — Wem dieses
Verhältnis unbehaglich ist, der mag sich um einen Mittelweg
bemühen und zusehen, ob Cardinal sein Reimschema nicht doch
bei einem andern als Peirol borgen konnte, bzw. ob er nicht auch
in späteren Jahren noch die englische Trägheit an den Verlust
des Gätinais, der Normandie und des Angoumois zu erinnern und
zum Krieg gegen Nordfrankreich zu ermuntern Veranlassung
hatte. Die politische Lage des Jahres 1213 könnte zur Not in
Betracht kommen. In Flandern und in Südfrankreich wurde da-
mals gekämpft, und auf beiden Schauplätzen standen englische
gegen französische Interessen. König Johann hatte dem Grafen
von Toulouse, der auf der Seite der Albigenser gegen Simon von
Montfort und die Nordfranzosen sich zu wehren hatte, schon für
den Spätsommer 1213 Hilfe versprochen, landete aber erst am
16. Februar des folgenden Jahres in La Roch eile. Auch damals,
im Frühjahr oder Sommer 1213, wäre Cardinal nicht der einzige
Trobador gewesen, den die englische Lässigkeit ärgerte.*) —
So hat man zwischen den Jahren 1205 und 1213 die Wahl.
Der Hinweis auf die Normandie spricht eher für 1205, doch
wäre er acht Jahre später immerhin denkbar.^) Das Rügelied
noch tiefer herabzurücken muß man Bedenken tragen. Es
würden sich dann neben den politischen auch psychologische
Unstimmigkeiten erheben; denn der Cardinal des dritten und
vierten Jahrzehnts hat sich auf Formkünsteleien und Minne-
fragen in der Art des Liedes Aquesta gens, quan son en lor
1) Vgl. Diez, Leben und Werke der Troub., S. 543 f.
2) Den Anspruch, Herzöge der Normandie und Grafen von Anjou
zu sein, haben ja die englischen Könige noch lange erhoben.
Peire Cardinal 179
gaiem schwerlich mehr eingelassen. Freilich, auf sicheren
Boden den Fuß zu setzen, ist uns nicht gelungen. Im Gegen-
teil, je mehr man prüft, desto schwankender wird wieder alles.
IL
Es fehlt nicht an Beweisen dafür, daß Cardinal auch nach
seinem Sirventes vom Frühjahr 1226 {leu volgra, si Dieus o vol-
gues) noch gedichtet hat. Sein berühmtestes Rügelied: Li clerc
se fan pastor^) ist vor Ausbruch offener Feindseligkeiten zwi-
schen Kaiser Friedrich II. und der Kirche nicht denkbar, also
kaum vor Regierungsantritt des Papstes Gregor IX. im März 1227.
Dafür spricht die fünfte Strophe des Liedes.
Ja non aion paor
Alcays ni Almassor
que abbat ni prior
los anon envazir
ni lur terras sazir,
que afans lur seria;
mas sai son en cossir
del mon quossi lur sia,
ni cum En Frederic
gitesson de l'abric;
pero tals l'aramic
qu'anc fort no s'en jauzic.
Es liegt nahe, an die Zeit zu denken, da Friedrich zum
erstenmal vom Papst mit dem Bann belegt, aus dem Heiligen
Lande zurückkehrte. Die Daheimgebliebenen, der französische
Klerus und die Königin-Mutter Blanka von Kastilien, hatten
seine Abwesenheit benutzt, um dem Grafen Raimund VII. von
Toulouse einen schmählichen Frieden, der auch die Rechte des
Kaisers im Arelat verletzte, aufzuzwingen (1229). Derjenige
aber, der den Kaiser „herausgefordert hatte" (tals Varamic)^
nämlich der Papst, sollte der Sache nicht froh werden {no
s^en jauzic), weil Friedrich, sofort nach seiner Rückkehr, sieg-
^) Stück 7G in Appels Provenz. Chrestomathie.
12
I
loO 6. Abhandlung: Karl Vossler
reich in den Kirchenstaat einfiel (1230) und die „ Schlüssel-
soldaten" zu Paaren trieb.
Fahre befürwortet eine spätere Datierung') und möchte
die Worte sai son en cossir . . . cum En Frederic gitesson de
Vdbric auf das Konzil von Lyon beziehen, das im April 1245
zusammentrat, um den Kaiser zu verfluchen und abzusetzen.
Allein, die Erwähnung der Algais als einer noch gei^hrlichen
Räubersippe ist im fünften Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts
kaum mehr verständlich, nachdem der letzte Algai, soviel wir
wissen, schon 1212 erledigt war.^) Man müßte denn annehmen,
daß in der Sprache der Trobadors der Name Algai nachgerade
ein Symbol für alles Bandenwesen geworden war. Die Hand-
schrift Aj die im Veneto hergestellt wurde und das Älcays
offenbar nicht mehr verstand, schreibt dl cair li Älmassor.
Meint sie damit Cairo? Aber einen Almansor hat es in Cairo
nicht gegeben, und es ist zweifellos der spanische Almansor,
der hier spukt. Auch wäre die Form Cair für Cairo, das im
mittelalterlichen Frankreich durchweg noch Babylon hieß,^)
ein äjiai Xsyojusvov, das wir unserem Cardinal nicht zumuten
wollen. Man muß also doch wohl bei Älcays bleiben und sich
mit der Wahrscheinlichkeit begnügen, daß das Gedicht nicht
allzulange nach Ausbruch der Fehde zwischen Kaiser und
Kirche entstanden ist. Dafür sprechen auch, wenn ich mich
nicht täusche, die unverkennbaren Anklänge an Figueiras Sir-
ventes No'm laissarai per paor, das zweifellos noch in die
Zeit der Albigenserkriege gehört, mag man es sich unmittelbar
oder verspätet nach den Leidensjahren der Toulousaner verfaßt
denken.*)
1) Annales du Midi, Bd. 21, Toulouse 1909, S. 25.
2) Siehe oben, S. 108, Anm.
3) Über Cairo siehe C. H. Beckers Artikel Cairo in der Enzyklopä-
die des Islam (1908). Bei Ersch und Gruber finde ich die Bemerkung,
der Name Cairo, lateinisch Cayrum, sei schon im Zeitalter der Kreuz-
züge durch den Einfluß der italienischen Seestädte im Abendland ver-
breitet worden.
*) Siehe E. Levy, G. Figueira, Berliner Diss. 1880, S. 45 f. u. S. 6 f.
Peire Cardinal 181
III.
Auch das trübe Weltbild, das Cardinal in dem Lied Tals
cuia he (Nr. 52)^) entwirft, dürfte erst nach dem Pariser Frieden
von 1229 gezeichnet sein. Die Worte
Tals cuia be
aver filh de s'espoza,
que no y a re
plus que seih de Toloza
bekommen ihren vollen, schwermütigen Sinn erst, wenn man
an die Bedingungen dieses Friedens denkt. Raimund VII., der
ohne männliche Erben war, sollte durch die Heirat seiner
Tochter Jeanne mit einem Bruder des Königs von Frankreich
seinen ganzen Herrschaftsbesitz nach seinem Tode an das Haus
von Frankreich übergehen lassen.
IV.
Soll man in dieselbe Zeit das grimmig gekünstelte Rüge-
lied De sirventes suelh servir (Nr. 18)^) verlegen? Die vierte
Strophe gibt freilich nur eine unsichere Handhabe dafür.
Dieus deu los barons grazir,
quar ves luy son sort e mut,
qu'el luec, on fon rezemut,
no * 1 Volon tan possezir
com l'autruy terra saizir.
E'no cug qu'el reys N Amfos
aitals fos,
quan volc descauzir
Turcs, per Chrestias ayzir.
Der vorbildliche Held, der zwar nicht die Türken, aber,
was für Cardinal wohl dasselbe war, die Sarazenen so entschei-
dend geschlagen hat, daß ein wirkliches aidmen, ein friedlicher
1) Rayn. Choix IV, S. 350, Parn. occ, S. 318, Mahn, Werke II, S. 186.
2) Lex. rom., S. 455 und Mahn, Werke II, S. 223.
182 6. Abhandlung: Karl Vossler
Genuß des eigenen Landbesitzes den Christen daraus erwuchs,
dürfte wohl Alfons VIII. bzw. der Dritte als König von Ka-
stilien sein.^) Am 16. Juli 1212 hat er über die Muselmanen
in der Ebene von Las Navas de Tolosa einen denkwürdigen
Sieg erfochten. Dieser kriegerische und vielgeplagte Sarazenen-
kämpfer, von dem hier offenbar als von einem Toten gesprochen
wird, ist 1214 gestorben. Es liegt nun nahe, anzunehmen,
aber sicher ist es keineswegs, daß solche Erinnerungen un-
serem Dichter etwa in der Zeit vor dem fünften Kreuzzug
(1228) kamen.
V.
Schwierig bleibt die nähere Datierung von Nr. 37 Mon
chantar vueilh retrair al comunal, auch wenn wir die Ver-
fasserfrage nach den Ausführungen auf Seite 30, Anm. 3 und
Seite 138 ff. für entschieden halten wollten. Es kommt für die
Zeitbestimmung zunächst die letzte Strophe in Betracht, die in
den Hss. M, R und a^ (Nr. 266) fehlt und nach Raynouard,
Choix, IV, S. 384, lautet:
De totz los reys ten hom per pus cabal
lo rey 'N Anfos, tan fay bos faitz grazir,
e dels comtes seih de Kodes chauzir
fai sa valor e son pretz natural,
e dels prelatz seih de Memde, qu'el trieu
sec drechamen e despen gen lo sieu,
e dels baros son fraire, tan valen
son tug siey fag e siey captenemen.
Nach Maus, P. Gardinais Strophenbau, S. 41, der die Zeit
zwischen 1227 und 1229 vorschlägt, wäre mit Anfos der König
Alfons IX. von Leon (1188 — 1229) und mit dem Grafen von
Rodez Hugo IV. (1227 — 1275) gemeint. Ich glaube aber nicht,
daß Cardinal von dem König von Leon viel wissen konnte; es
sei denn, daß er aus Peire Vidals Preis dieses Fürsten seine
Kenntnis schöpfte, was nicht ausgeschlossen ist, da auch Me-
1) Vgl. Milä y Fontanals, De los Trovadores en Espana, Barcelona
1861, S. 116 ff.
Peire Cardinal 183
trum und Reim einem Liede Vidals nachgeahmt sind. Im
übrigen sind die Beziehungen der Trobadors zu Alfons IX.
von Leon sehr spärlich.^) Viel wahrscheinlicher und. natür-
licher ist es, daß Cardinal das Musterbild eines Königs in dem
Sieger von Las Navas de Tolosa, jenem berühmten Sarazenen-
kämpfer sah, den er auch in dem eben besprochenen Sirventes
Nr. 18 erwähnt. Wenn dieser schon 1214 gestorben ist, so
tut dies nichts zur Sache, denn in der öffentlichen Meinung —
und nur von dieser ist die Rede — konnte er noch lange nach-
her als vorbildlicher Herrscher leben. — In dem Grafen von
Rodez wird man allerdings Hugo IV. (1227 — 1275) erkennen
dürfen, denselben wohl, dem Cardinal das Sirventes Nr. 21 ge-
widmet hat. Demnach müßte auch dieses erst nach 1227 ge-
dichtet sein. Ja, wahrscheinlich erst nach 1229. Vorher konnte
ein dem Grafen von Toulouse so ergebener Dichter wie unser
Cardinal schwerlich zu einem Grafen von Rodez in freundlicher
Beziehung stehen. Der Vorgänger Hugos IV., Graf Heinrich
von Rodez (1210—1221) hatte nämlich im Jahre 1218 dem
Sohne des Simon von Montfort, dem Erbfeind von Toulouse,
den Lehenseid geschworen. Erst nach dem Friedensschluß des
Jahres 1229 entbindet König Ludwig IX. die Herren des Rou-
ergue vom Lehenseid zu Montfort bzw. zum König von Frank-
reich und gestattet, daß sie nun wieder ihrem alten Herrn,
dem Grafen von Toulouse, den Eid leisten.^) — Der Prälat
von Mende kann kaum ein anderer sein als Etienne IL von
Brioude, der 1223 Bischof in Mende wurde und 1247 gestorben
ist, nachdem er schon einige Jahre vorher sein Amt nieder-
gelegt hatte. Sein Nachfolger Odilon de Mercoeur war ein junger
und, wie es scheint, ziemlich gewalttätiger Herr (1245—1273);
sein Vorgänger, Wilhelm IV. von Peyre (1187 — 1223), lag
^) Milä y Fontanals, De los Trovad. en Espana, S. 153 f. Die auf
den Trobadorbiographien beruhenden Zeugnisse kann man aber als be-
weiskräftig nicht mehr gelten lassen.
2) Siehe M. A. Fr. de Gaujal, ;6tudes bist, sur le Rouergue, 2. Bd.,
Paris 1858, S. 95f. und 102. Unzugänglich war mir Bonnal, Comte et
Comtes de Rodez, Rodez 1885.
184 6. Abhandlung: Karl Vossler
c
fortwährend in Streit mit der Einwohnerschaft von Mende,
wurde 1194 verjagt und durfte nur unter der Bedingung zu-
rückkehren, daß er Reformen einführte. Diese beiden konnten
vor Cardinais Augen schwerlich Gnade finden, während von
Etienne erzählt wird, daß er Sorge trug, die kleinen Leute
auf dem Lande gegen Übergrifi'e der Feudalherren und der
Soldaten in Schutz zu nehmen.^) — Über den Bruder des Bi-
schofs von Mende, der das Vorbild der Barone genannt wird,
habe ich nichts ermitteln können. So bleibt als wichtigster
Anhaltspunkt die mehr als zwanzigjährige Regierungszeit des
Bischofs Etienne IL von Mende.
Die fünfte Strophe mit ihrem Hinweis auf die Minoriten-
brüder:
que menudet no vivon folhamen
oder, nach anderer Lesart:
que'ls menoretz no reinho follamen
stimmt zu der Zeit nach 1223 bzw. 1229 sehr schön, weil es
Minoritenbrüder erst seit 1223 gibt. Im Jahre 1232 haben
die Franziskaner sich in Rodez niedergelassen, und wir wissen?
daß gerade Graf Hugo IV. sie besonders begünstigt hat.^)
Sollte das Lied auf diesen Umstand anspielen, so dürften wir
es in die Jahre nach 1232 setzen.
VI.
Das Sirventes Nr. 44 Qui's vol tal fays cargar wendet
sich im Geleit an einen Belfin en Vianes. Die Grafen des
Viennois haben sich, soviel man weiß, zum erstenmal unter
Guigo IV. (1120-1142) den Titel Delfin zugelegt. Hier kann
es sich wohl nur um den Delfin Andreas handeln, der, als
sein Vater Hugo III., Herzog von Burgund, starb (1192), acht
Jahre alt war. Bis zu seiner Mündigkeit führte die Mutter
Beatrix die Regentschaft. Er selbst ist am 14. März 1237
gestorben und hinterließ als unmündigen Nachfolger seinen
1) Histoire generale de Languedoc IV, S. 392 f. und VII, S. 117 f.
2) de Gaujal ca. a. 0., S. 104.
Peire Cardinal 185
Sohn Guigo VI. Maus a. a. 0., S. 62, wäre nach Maßgabe
dieser Tatsachen, über die man sich in der Grande Encyclo-
pedie sab voce Daupidnc unterrichten kann, zu berichtigen.
VII.
Das Sirventes A tot farai una demanda Nr. 61 mit seinem
Lob der Deutschen:
No cre que ill gens alamanda
seignor tolledor acuella,
ni que mal parta vianda,
ni que per maniar s'esconda,
ni que sia dezeretans,
ni que dezeret los enfans,
ni que condug lai revenda^)
paßt am besten wohl in die Zeit, da der Graf von Toulouse
mit dem Deutschen Kaiser gemeinsame Interessen hatte,*) also
in die Zeit um 1226, in der das Sirventes Nr. 12 Im volgra
si Dieus o vdlgues gedichtet wurde. Mehr als diese Wahr-
scheinlichkeit läßt sich nicht ermitteln.
VIII.
In dem Rügelied Nr. 66 Un sirventes fauc en Itiec de iurar
hat man den ersten Vers der dritten Strophe:
Glot^ emperier non vol vezer son par^)
politisch deuten und auf die Auflehnung des Kaisersohnes
Heinrich VII. gegen seinen Vater Friedrich IL im Jahre 1235
beziehen wollen.*) In diesem Sinne übersetzt auch Brinckmeier:
Ein gier'ger Herrscher seinesgleichen haßt,*)
und Kannegießer:
1) Lex. rom., S. 451 und Mahn, Ged. 314.
2) Siehe oben, S. 114fF.
3) Rayn. Choix IV, S. 337 und Studj di fil. rom. IX, S. 552.
*) Wahrscheinlich hat Fahre, Roman. Forschungen XXIII, S. 264,
diese Stelle im Auge, wenn er sagt: en 1237 Cardinal maudit Henri,
le fils ingrat et revolte de Frederic II.
5) Rügelieder d. Troub. geg. Rom u. die Hierarchie, Halle 1846, S. 25.
I
186 6. Abhandlung: Karl Vossler
Ein gieriger Herr will nachgeahmt nicht sein.^)
Ein glotz em perier ist aber kein gieriger Kaiser, sondern ein
Vielfraß auf einem Birnbaum. Wer die in der fünften Strophe
erwähnten Herren Gostia und Azemar sind, weiß ich nicht.
IX.
Ob Fahre die oben besprochenen Esteve-Lieder richtig da-
tiert hat? Die freilich stark entstellte dritte Strophe des Sir-
ventes Nr. 68 Un sirventes trametrai per messatge läßt mich
zweifeln. Die einschlägigen Verse lauten nach Mahn, Gedichte
1254 und 1255 (= G und R):
aquilh[a] gens fradelha,
que sei clergues o man,
iran
barreiar Tudella
e*l Puey e Monferran.
Eine Plünderung von Tudela in Navarra glaubt Fahre in
den Jahren 1238 und 1239, als König Thibaut daselbst 150
Menschen wegen Ketzerei verbrennen ließ, annehmen zu müssen.^)
Aber ein Ketzergericht ist keine Plünderung, und was ging
unseren Dichter Navarra an? Viel eher dürfte es sich um Tu-
delle im Departement du Gers, arrondissement Auch, canton
Vic-Fezensac handeln, das im Jahre 1212 von den Feinden
der Albigenser tatsächlich geplündert wurde, wie der Chronist
Petrus Vallium Sarnai erzählt:^) „Post paucos autem dies, pro-
peraverunt nostri ad obsidendum quoddam castrum in Albiensi
diocesi, quod dicitur Tudelle, et erat patris Giraldi de Pepios
illius pessimi traditoris. Impugnantes autem nostri castrum
post paucos dies illud ceperunt, et fere omnes in ore gladii
interfecerunt." — Was nun Le Puy betrifft, so liegt es nahe,
an die blutigen Raufereien zu denken, die zwischen dem Bi-
schof Robert de Meung und den Feudalherren der Gegend,
1) Gedichte der Troub., Tübingen 1855, S. 322.
2) Annales du Midi, XXI (1909), S. 23, Anm.
^j Recueil des histor. des Gaules, XIX, S. 58.
Peire Cardinal 187
dem Vizegrafen von Polignac, den Herren von Montlaur und
von Mercoeur, in Stadt und Land während des ganzen zweiten
Jahrzehnts des 13. Jahrhunderts getobt haben und deren wilde
Geschichte erst noch zu schreiben wäre; denn die ebenso blasse
als phantastische Darstellung dieser Ereignisse im vierten Band
der Histoire du Velay von Francisque Mandet (Le Puy 1861)
kann heute nicht mehr genügen. Bischof Robert gehörte zu
den unversöhnlichsten Feinden des Grafen von Toulouse und
zu den grimmigsten Verfolgern der Albigenser. Als er vom
lateranischen Konzil des Jahres 1215 nach Le Puy zurück-
kehrte, soll er erklärt haben — ich zitiere nach Mandet IV,
S. 27 — : „Tout m'est permis, tout m'est impose pour etouffer
jusque dans son germe le monstre qui desole les provinces voi-
sines. " Hinter den Glaubenskämpfen aber standen wirtschaft-
liche und politische Interessen, denn es ging um den Gewinn,
den die Pilgerfahrten nach Notre Dame du Puy abwarfen
und um die weltliche Oberhoheit im Velay. Sollte Esteve
nicht ein Werkzeug des streitbaren Bischofs Robert gewesen
sein, der am 21. Dezember 1219 von einem Ritter, den er ex-
kommuniziert hatte, ermordet wurde? — Montferrand im Arron-
dissement Castelnaudari ist schon in den ersten Jahren der
Albigenserkriege zweimal von den Kreuzfahrern erobert wor-
den. Die erste Belagerung, 1211, wird uns ausführlich im
Albigenserepos (Vers 1641 — 1690) und summarisch in der
Chronik des Petrus Vallium Sarnai (cap. LIV) erzählt. Noch
in demselben Jahre scheint der Graf von Toulouse die Feste
Montferrand zurückgewonnen, im Frühjahre 1212 sie aber
auch schon wieder verloren zu haben. ^)
Wenn nun Cardinal von den Freunden und Werkzeugen
geistlicher Herrschsucht, von der gens fradelha höhnend sagt,
daß es nur eines Winkes der Pfaffen bedürfe, um diese Leute
zum Angriff gegen Tudelle, Le Puy und Montferrand zu treiben,
so hat er dabei Erinnerungen an Ereignisse des Albigenser-
krieges, besonders der Jahre 1211 und 1212 im Sinne, nicht.
1) Chanson de la Croisade, Vers 1988, 2232 und 2360.
188 C. Abhandlung: Karl Vossler
wie Fähre möchte, Ereignisse der Jahre 1238 und 1239. Auch
nach Stil und Stimmung passen die Esteve -Lieder besser in
das zweite als in das vierte Jahrzehnt. Mit Sicherheit freilich
läßt ihre Entstehungszeit sich nicht bestimmen.
X.
Die Tenzone über den Wert von „Ja" und „Nein" : Pdre
del Pud, li tröbador,^) in die sich Cardinal durch einen Herrn
Aimeric hat verwickeln lassen, verdient kaum, daß man um
ihre Datierung sich bemüht. Die Schlußstrophen geben dazu
nur unbestimmte Anhaltspunkte. Cardinal ruft zur Verteidi-
gung des „Ja" den „guten Herrn" Ugo del Baux auf und
überläßt es seinem Gegner, sich für das „Nein" einen Raimon
oder Bertran oder Pero zu wählen, womit er vielleicht nur
landläufige Namen, keine bestimmten Persönlichkeiten geben
wollte. Aimeric erwidert, daß das Schiedsgericht in der Pro-
vence durch Herrn Blacatz gehalten werden soll, worauf Car-
dinal von neuem an Hugo appelliert. Dieser Hugo von Baux
und Vizegraf von Marseille hat 11 73-- 1240, also so lange re-
giert, daß für unsere Zwecke nicht viel mit ihm anzufangen
ist. Wenn Herr Blacatz derselbe ist, den Sordello in seinem
berühmten Sirventes beweint hat und der nicht lange vor 1240
gestorben sein dürfte,^) so gewinnt man damit keinen neuen
Terminus ad quem. Man muß sich also mit der Gewißheit
begnügen, daß das Streitgedicht vor 1240 entstanden ist. Nach
1240, scheint mir, hat Cardinal überhaupt nicht mehr gesungen.
XL
Die Frage, in welcher Weise Cardinais Kunst auf die
weitere Entwicklung der provenzalischen Dichtung gewirkt hat,
ist heute noch nicht spruchreif. Es läßt sich erwarten und ist
an einzelnen Beispielen auch schon nachgewiesen worden, daß
Cardinal auf bürgerliche, geistliche und meistersingerliche Di-
1) Bartsch, Denkmäler der provenzal. Literatur, S. 134 ff. u. Mahn,
Gedichte, 1015.
2) Siehe De Lollis, Vita e Poesie di Sordello, Halle, S. 37 ff., Anm. 1.
Peire Cardinal 189
daktiker der Spätzeit, insbesondere der toulousanischen Schule,
auf Verseschmiede wie Bertran Carbonel und Raimon de Cor-
net einen starken Eindruck gemacht hat. Die Herausgeber
ihrer Sprüche und Lieder, Bartsch, Jeanroy und Chabaneau
haben auf augenfällige Berührungspunkte schon mehrfach hin-
gewiesen.^) Eine Reihe der in Bartschs Grundriß Nr. 461 unter
Anonyma aufgeführten Coblas ist dem Cardinal oder unmittel-
baren Nachahmern Cardinais zuzuschreiben. Es handelt sich
um die Stücke 8, 11, 15, 30, 53, 55, 79, 84, 96, 112, 115,
119, 155, 182, 236, 238, 244. Andere sind Einzelstrophen
aus Cardinais Sirventesen:
461, 25 = 335, 11, Str. 3
461, 46 = 335, 17, Str. 5
461, 71 = 335, 40, Str. 2
461, 99 = 335, 13, Str. 3 ff.
461, 153 = 335, 6, Str. 6
461, 168 = 335, 59, Str. 2
461, 199 = 335, 43, Str. 5 (?)
461, 225 = 335, 53. (??)
Mit Cardinais problematischem Sirventes Nr. 37 bzw. 16
hängt die von P. Meyer, Les derniers troub. (1869), S. 518,
veröffentlichte Cobla
Ges de poder non parton per egual
nach Metrum, Reim und Gedankengang zusammen. Auch die
anderen an jener Stelle herausgegebenen Coblas erinnern an
Cardinais Geistesart.
Bei dem sentenziösen Stile Cardinais ist es natürlich, daß
Matfre Ermengau sich einige Zitate für sein Breviari d'amor
aus unseres Dichters Sirventesen geholt hat, so z. B. aus den
Sirventesen Nr. 6, Nr. 50 und Nr. 54.
Weiterhin diesen verstreuten Spuren nachzugehen, wäre
Sache einer Geschichte der provenzalischen Spruchdichtung.
^) Bartsch, Denkmäler der pro venzal. Literatur, Anmerkungen zu
S. 5 — 26 passim. Jeanroy, Les „Coblas" de Bertr. Carb. in den Annales
du Midi, XXV (1913) und Chabaneau (Noulet), Deux Mss. prov., Mont-
pellier-Paris 1888.
190 6. Abhandlung: Karl Vossler
XII.
Mit Hilfe der Lesarten von D^, die Giulio Bertoni mir
vermittelt hat, kann ich das von Bartsch nach T veröffent-
lichte Lehrgedicht (Denkmäler der provenzalischen Literatur,
S. 139 — 141) in verbesserter Textgestalt geben.
Peire Cardinal.^)
De paraulas es granz mercatz,
et ieu soi de parlar logatz:
per qu'es drech que viutat en fassa,
car lenga logada non lassa.
5 Mas li genz mena aital nauza
c'apenas enguns i repauza:
l'uns conseilla e l'autre clama,
Tuns dis: Seinhor! e l'autre: Dama!
l'uns maldis e l'autre folia,
10 l'uns dis: No sia! l'autre: Si sia!
Can l'uns plora: e l'autre ri,
l'uns quer aigua e l'autre vi,
can l'uns encaussa, l'autre fui,
can l'uns seca: e l'autre brui.
15 E qui parla en aital bruda,
aco es paraula perduda,
e perduda, es eissamen
paraula, cant hom no l'enten.
C'aitan valria mantas ves
20 c'om a las parez o disses.
^) Pere Cardenal B. Die Verfasserschaft Cardinais, die Bartsch
noch bezweifelt hat, darf als gesichert gelten.
1. gran uiltat I). 2. E ensui d. p. loiat D. 3. P ques dreit que uiltat
est falsa D. Per so qu'es T. 4. Que 1. löiada 1). 6. negus ireupaza D,
irrepauza T. 7. siclama D, brama T. 8. l'uns menassa el autre clama T.
9. folleja T. 10. Lautre di nosia, sisia I>, Lautre diz non enaissi vai T.
11. can plora T. 14. sicar J>, si sella T. 20. o fehlt in D, dieises T.
21. Can an gaires homes que son D, Com a ganren de mes que son T.
22. apel lo m. D, aquelz per lo m. T. Der Sinn ist offenbar: Auf wenige.
Peire Cardinal 191
Can n'a gaires d'omes que son,
Cent d'aquelz a per lo mon: ( — 1)
can auran un comte auzit,
ja no sabran que s'aura dit.
25 Et a ben talan de parlar
qui ab aquelz si met contar.
D'autres n'i a que 's fan sennat,
c'an de reprendre voluntat
et an so enpres per aital
30 que, digas ben o digas mal,
enanz ora seras repres —
cais qu'ell es savis e cortes
e gen parlans e sap ganre,
mas negun hom non au ni ve.
35 E mantas ves a mais de sen
le repres c'aquel qui repren.
Tals cuja reprendre autrui
que l'autre pot reprendre lui,
mas en aiso son tucb obrier,
40 que cascuns fa de so mestier.
Homs mals — quar fa sa malvestat
co'l bons, si fazia bontat —
le bons escouta per aprendre: —
e • 1 mals per talen de reprendre.
45 Le bons escouta et enten
per aital bon entendemen,
si auzira moutz ditz de ben,
que aquel apren e reten.
E'l mals homps si met en escout,
50 si auzia dire mal mot.
die sprechen, kommen hundert, die nicht verstehen. 24. com saura dit
D, ditz T. 26. aques met* contar B, aquelz si met parlar T. 28. Can
derepente -D, Can repenre T. 30. diia^ be odiia m. D. 31. avant ora
seres r. X>. Qu'enanz T. 33. Et es p. e. s. ganren T. 34. Mais negus hom
B. Mas denguns homps n. a. ni uen T. 35. Que T. 39. obreit B. 40. Chau-
192 6. Abhandlung: Karl Vossler
Cant la us menan gran gangalia,
e non es ges qu'azir e palia! —
Et aquis dui fan que cortes,
car quascuns pren so que sieu es;
55 que'l bons s'en va ab sos bos motz
e laiss'estar los avols totz,
e*l mals s'en va ab so mot mal,
si ren a bona, non li * n cal,
que semblans es a barutel:
60 reten lo lach e laissa * 1 bei
e laissa en passar la flor.
E que i retenra? la pejor!
De so qu'au dire, ieu enten
qu'el laissara la flor per ben.
t
das fai de somesteir I>, son mestier T. 41. Lo mals can fai D, quan T.
42. fazia korrigiert aus faria D. 43. und 44. fehlen in D. 46. Per aital
bon entendemen D, fehlt in T. AI. Si auzira dir mout de be D, si auzia
mot ditz de ben T. 48. E aquel apren e rete JD. 49. — 50. El mals hom
simet enescolto. Si auzira dire bomot D. 51. E can lau menä D, mena
grangnanguallas T. 52. chazeir en palia X>, quazich e palla T. Vielleicht
ist empacha zu lesen. 54. senes I). 55. ab lobo mot Z>. 56. E laissa istar
laltre tot B. 57. ab lo mot mal D. 58. Escrei abo no lienchal B, E si
res al bon non lin quäl T. 59. Barut el T. 60. Querete ades lodalbel D,
ellaissal ben T. 62. E qui retenra la melior D, E qui rentral la pejor T.
63. dire eenten D, aus dire T 64. p bren D.
Peire Cardinal
193
Nachweis der erörterten Gedichte.
(Die Nummern nach Bartschs Grundriß 335.)
1. Ab votz d'angel
2. Aissi cum hom plaing
3. AI iiom del seignor dreiturier
4. Anc mais tan gen
5. Anc no vi Breto
6. Aquesta gens quan son
7. Ar mi posc eu lauzar
8. A totas partz vei mescl'ab avareza
9. Atressi cum per fargar
10. Bei m'es qu'ieu bastis
11. Ben teing per fol
12. Be volgra, si Deus
13. Caritatz es en tan bei
14. Gel que fe tot
15. Dels quatre caps
16. De cels qu'avetz
17. De sirventes faire
18. De sirventes soill servir
19. D'Esteve de Belmon
20. D'un sirventes far
21. (D'un) sirventes qu'es mieg mals
22. (El mon non a leo) = 68
23. En Peire, per mon chantar bei
24. Eu trazi peitz que si portava
queira
25. Falsedatz e desmezura
26. Ges no me sui de mal dir ca-
stiatz
Sitzgsb. d. philos.-philol. u. d. bist. Kl. Jahrg. 1916, 6.
Besprochen auf Seite:
68, 132, 165
16, 25, 105
28, 33, 38, 45, 153
12, Anm.
35, Anm., 123, 169
6, 173
5, 13
15
35, Anm., 40, 119, 123
28, 44, Anm.
5
39, 114
9
84, 145
64
60, 70, 138 ff.
20, 27, 143
26, 28, 140, 181
12, 85, 119, 122
11, Anm. 16
135 ff., 183
8, 16, 23, 86, 143
39, 73, 112, 153
43
Abb.
13
194
6. Abhandlung: Karl Vossler
27. lezu Crist, nostre salvaire
28. L'afar del comte
29. L'arcivesques de Narbona
30. Las amairitz
31. Li clerc se fan pastor
32. Lo jorn qu'eu fui natz
33. Lo mons es aitals tornatz
34. Lo sabers d'est segle
35. Lo segle vei camjar
36. Maint baro ses lei
37. Mon chantar voill
38. (No cre que mos ditz) = Ja non
vuoil mos digz
39. Non es cortes
40. Per fols tenc Poilles
41. Pos ma boca
42. Predicator
43. Quais aventura
44. Qui's vol tal fais
45. Qui ve gran maleza
46. Qui vol aver
47. Qui volra sirventes
48. Razos es qu'eu m'esbaudei
49. Ries hom que greu ditz
50. S'eu fos amatz
51. Si tot non ay joy
52. Tals cuia be
53. Tan son valen vostre vezi (=
Seigner N'Eble, vostre vezi)
54. Tan vei lo segle
55. Tartarassa ni voutor
56. Tendatz e traps
Besprochen auf Seite:
11, Anm., 21, Anm., 36,
45, 59, 61, 66, 70 f., 75,
87, 159
69, 93, 130 f.
13, 89 ff.
21, Anm., 33
54, 132, 142, 179
17, 40, 41, 112
15, 78 f.
17, 23, Anm., 76, 153
3
27
30, 83, Anm., 138ff., 182
16, 73
22, 37 f.
12, Anm., 74, 101
15, 170
11, Anm., 35, Anm., 36,
72, 74, 79f., 160
42, 162
35, Anm., 123, 184
17, 25, 42, 169
17 f.
83, Anm., 132, 143, 154
105
18, 143
6
29
44, 181
35, Anm., 124 ff., 144
133, 172
20, 66, Anm., 153
11, 110
Peire Cardinal
195
57. Tostemps azir
58. Tostemps vir cuidar
59. Tostemps volgra'm vengues
60. Tot (enaissi) atressi
61. [A] tot farai una demanda
62. Totz lo mons
63. Un decret fauc
64. ün estribot
65. Un sirventes ai en cor
66. Un sirventes fauc
67. Un sirventes novel -
68. Un sirventes trametrai
69. Un sirventes vuelh far
70. Vera vergena Maria
Besprochen auf Seite :
12, Anm., 18, 170
35, Anm.
86
35, Anm., 71, 88, Anm.,
140, 153
40, 185
163, Anm.
80 f., Ulf.
61, 132, 157
12, 119, 120
35, 185
46
7, 12, 119ff., 122, 186
43, 130
61.
Cardinal gehörig sind ferner:
De paraulas es granz mercatz S. 21, Anm., 32, 151, 190
Peire del Puei, li trobador (Tenzone Aimerics mit Cardinal)
S. 138, 188
Una ciutatz fo, no sai cals S. 147 ff.
Vielleicht auch:
Ben volgra si far si pogues S. 50
Tot aissi soi desconselhatz S. 135 f., Anm., 171 f., Anm.
Über die Coblas esparsas siehe Anhang XI.
CIRCU-LAIS ^ ^ON.OGRAPy
AS Akademie der Wissenschaften,
182 Munich. Philosophisch-
M823 Historische Abteilung
1916 Sitzungsberichte
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