Skip to main content

Full text of "Sitzungsberichte - Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Abteilung"

See other formats


W  ■■ 

WM'-',. 

\i\imm  '■  • 

imuU'n'   . 


i  l^-"    , 


t|>ll 


\   5 


m 


pite; 
Eilt 


\ 


p 


.^  ^^^^'  * 


^ 


Sitzungsberichte 


der 


philosophisch -philologischen 

und  der 

historischen  Klasse 


der 


K.  B.  Akademie  der  Wissenschaften 


zu  JVLünchen 


Jahrgang  1916 


München  1916 
Verlag  der.  Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

in  Kommission  des  6.  Franz'schen  Verlags  (J.  Roth) 


V 


AS 
182. 


Akademische  Buchdruckerei  von  F.  Straub  in  München. 


Inhaltsübersicht. 


Seite 

I.  Sitzungsberichte       ....      5—18 

Darin  Titel  und  Inhaltsangaben  folgender  in  diesem  Bande 
nicht  gedruckter  Abhandlungen: 

M.  Doeberl:    Über    Bayern    und    das    sogenannte    preußische 

Unionsprojekt  vom  Jahre  1849 5 

H.  Jacobi:  Bhavisatta - Kaha  von  Dhanaväla.  Eine  Jaina- Le- 
gende in  Apabhramsa 7—9 

E.  Petzet:   Jakob  Burckhardts  Verhältnis  zu   Paul  Heyse         .  9 
A.  Sandberge r:    Über  einen   Brief  von   Antonie  Brentano  an 

J.  M.  Sailer  in  Landshut     . 11 

F.  Muncker:   Anschauungen    über    den   englischen   Staat   und 

das  englische  Volk  in  der  deutschen  Literatur  der  letzten 

vier  Jahrhunderte 12—13 

L.  Seh  er  man:  Über  bengalische  Gedächtnispiähle  des  Mün- 
chener Ethnographischen  Museums  und  verwandte  völker- 
kundliche Materialien 14 — 15 

F.  Boll:    Antike  Beobachtung  farbiger  Sterne    ....  15 — 16 
H.  Wölfflin:    Das  Perikopenbuch  Heinrich  IT.  in  München       .         17 

II.  Verzeichnis  der  im  Jahre  1916  eingelaufenen  Drnckschriften     19-43 

III.  Abhandlungen. 

1.  H.  Prutz:    Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland  1 — 54 

2.  C.  Robert:   Archäologische  Miszellen 1—20 

3.  A.  Rahm:    Griechische  Windrosen 1—104 

4.  P.  Lehmann:    Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Na- 

tionalmuseums zu  München  ......       1—66 

5.  H.  Fischer:   Über  Gottfried  von  Straßburg  .         .         .       1—36 

6.  K.  Vossler:    Peire  Cardinal  ein  Satiriker  aus  dem  Zeitalter 

der  Albigenserkriege  .......     1     195 


Sitzungsberichte 

der  philosophisch-philologischen  und  der 

historischen  Klasse 

der  KönigHch  Bayerischen  Akademie   der  Wissenschaften 

191G. 
Vorsitzender  Klassensekretär  Herr  Kuhn, 


Sitzung  am  15.  Januar. 

Herr  Doeberl  sprach,  ausgehend  von  den  heutigen  Bestre- 
bungen nach  einem  Ausbau  des  Bundesverhältnisses  zwischen 
dem  deutschen  Reiche  und  der  österreichisch -ungarischen 
Monarchie,  über  Bayern  und  das  sogenannte  preußische  Unions- 
projekt vom  Jahre  1849. 

Der  Vortrag  wird  in  den  Denkschriften  gedruckt  werden. 


Sitzung  am  5.  Februar. 

Herr  Peutz  sprach  über 

den  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland. 

Ausgehend  von  des  einst  der  bayrischen  Akademie  ange- 
hörigen  Grafen  Franz  Gabriel  von  Bray  1817  erschienenem 
„Essai  critique  sur  l'histoire  de  la  Livonie",  einem  in  seinem 
geschichtlichen  Teil  verdienstvollen,  in  der  Schilderung  der 
derzeitigen  sozialen  und  wirtschaftlichen  Verhältnisse  aber  ein- 
seitigen Werk,  und  einer  für  die  Beurteilung  der  in  Frage 
kommenden  Kulturverhältnisse  unentbehrlichen  Übersicht  über 
die  Zusammensetzung  der  gegenwärtigen  Bevölkerung  Livlands, 
in  der  200000  Deutsche  nicht  weniger  als  2  MilHonen  Letten 
und  Esten  und  etwa  250000  Russen,  Juden,  Polen,  Littauern 
und   Schweden    gegenüberstehen,    zeigte    er    die  Unhaltbarkeit 

SiUgsb.  d.  philos.-philol.  u.  d.  bist.  Kl  Jahrg.  1916.  (j 


6  Sitzung  am  5.  Februar. 

der  seit   dem   18.  Jahrhundert   offiziell   verbreiteten   Meinung, 
die  Leibeigenschaft   sei    gleich    von    den    deutschen    Eroberern 
eingeführt  vi^orden.     Sie    ist  vielmehr   erst,    während    die    ein- 
gebornen    Bauern    zunächst    frei    und    persönlich    rechtsfähig 
blieben,  mit  der  Ausbildung  des  Lehnswesens  und   der  zuneh- 
menden   Ohnmacht    der    Landesherren    mißbräuchlicher   Weise 
eingerissen  und  dann  1552   durch   den  Beschluß  des  Landtags 
von  Bernau  als  zu  Recht  bestehend  anerkannt  worden,  der  die 
Auslieferung  geflüchteter  Bauern  an  den  Herrn  jedem  zur  Pflicht 
machte.     Bei  dem  Übergang  unter  polnische  Herrschaft  1561 
wurde    diese    Bestimmung    durch    den    Freibrief   König    Sigis- 
mund  II.  August  ausdrücklich  anerkannt  und  damit  die  Bauern- 
schaft endgültig  der  Freiheit  beraubt.     Die  Bemühungen  der 
schwedischen  Regierung  um  Besserung  der  Lage   der  Bauern, 
die  gleich  mit   der  Erwerbung  Livlands   durch  Schweden  ein- 
setzten, blieben  schließlich  erfolglos  und  trugen  w^esentlich  dazu 
bei,    die    herrschenden   Stände   zum  Abfall  von  Schweden    und 
zur  Anerkennung   der  russischen  Herrschaft   zu    bewegen,    bei 
welcher  die  bereits  in  Kraft  getretenen  bauernfreundlichen  Be- 
stimmungen ausdrücklich  rückgängig  gemacht  wurden.    Unter 
dem  Einfluß  der  entsprechenden  russischen  Zustände  wurde  die 
Leibeigenschaft  systematisch   bis   in   die   letzten  Konsequenzen 
ausgebildet,  und  die  Reformversuche  der  russischen  Regierung, 
namentlich  Katharinas  IL   auf  dem  Landtag  von  1765,    schei- 
terten an  dem  hartherzigen  Widerstand   der  Grundherren,  wie 
auch    die   wohlmeinenden   Bemühungen   einzelner   aufgeklärter 
Männer,    wie    des   Freiherrn  von  Schoulz-Ascheraden    und   des 
beredten  Anwalts  der  Letten  G.  H.  Merkel  zunächst  erfolglos 
blieben.     Erst   unter   dem  Zwange    der   durch    die   Kriege   zu 
Anfang  des   19.  Jahrhunderts  herbeigeführten  wirtschaftlichen 
Notlage   und   um   drohende  strengere  Eingrifib   der  Regierung 
abzuwenden    beschloß    der  Adel   von    Estland    1816    die    Auf- 
hebung der  Leibeigenschaft  und  die  Regelung  des  Verhältnisses 
zwischen    Gutsherrn    und    Bauern    durch    Kontrakte,    welchem 
Beispiel  zunächst  Kurland  und  1818  aus  den  gleichen  Motiven 
Livland  folgte. 


Sitzung  am  4.  März. 

Der  Vorsitzende  Klassensekretär  legte  vor  eine  für  die 
Denkschriften  bestimmte  Arbeit  des  korrespondierenden  Mit- 
gliedes Prof.  Dr.  H.  Jacobi  in  Bonn: 

Bhavisatta-Kaha   von    Dhanaväla.     Eine   Jaina- 
Legende  in  Apabhramsa. 

Die  Arbeit  besteht  aus  drei  Teilen:  Abhandlung,  Text 
und  Glossar.  In  der  Abhandlung  berichtet  der  Herausgeber 
zunächst  darüber,  wie  er  im  März  1914  in  Ahmedabad  in  den 
Besitz  von  zwei  Handschriften  gelangte,  welche  die  ersten  bis 
jetzt  aufgefundenen  Apabhramsa- Werke  enthalten.  Das  erste 
Werk  ist  die  jetzt  zur  Herausgabe  vorgelegte  Bhavisatta-Kaha, 
das  zweite  ein  viel  umfangreicheres  episches  Gedicht:  das 
Neniinäthacaritra  des  Svetämbara-Mönches  Haribhadra,  verfaßt 
in  Anahilla-Pätaka  (Patau)  1159  n.  Chr.  Die  Sprache  dieses 
Werkes  steht  auf  einer  jüngeren  Entwicklungsstufe  als  die  des 
zuerstgenannten.  —  Der  Verfasser  der  nicht  datierten  Bhavisatta- 
Kaha  ist  ein  Digambara-Laie  namens  Dhanavä;la  (Dhanapäla, 
nicht  identisch  mit  dem  gleichnamigen  Verfasser  der  Päiya- 
Lacchi  und  anderer  Werke),  der  aus  inneren  Gründen  wahr- 
scheinlich ins  10.  oder  11.  Jahrh.  zu  setzen  ist.  Die  Geschichte 
von  Bhavisyadatta  soll  zur  Verherrlichung  eines  bestimmten 
Gelübdes,  des  Pancami-vrata,  dienen;  jedoch  ist  dieser  religiöse 
Zweck  nur  äußerlich  mit  dem  allerdings  in  gleicher  Absicht 
oft  von  Digambaras  und  Svetämbaras  behandelten  Stoffe  ver- 
bunden. Dieser  stellt  sich  uns  vielmehr  als  ein  nicht  spezifisch 
jainistischer,  sondern  wahrscheinlich  allgemein  indischerMärchen- 
stoff  dar,  der  zu  einem  Roman  oder  romantischem  Epos  aus- 
gestaltet und  dann  weiter  fortgesponnen  wurde,  endlich  noch 
durch  Hinzufügung  von  Erzählungen  über  die  früheren  und 
späteren  Geburten  der  Hauptpersonen  die  für  Jaina-Legenden 
geforderte  erschöpfende  Vollständigkeit  erhielt.  —  Nach  der 
Analyse  des  Textes  untersucht  der  Herausgeber  Wesen  und 
Stellung  des  Apabhrarnsa  und  erkennt  in  ihm  eine  Abart  des 


8  Sitzung  am  4.  März. 

literarischen  Präkrits,  worin  die  grammatischen  Formen  des 
Präkrits  durch  solche  aus  den  Volkssprachen  ersetzt  wurden. 
So  entstand  neben  dem  Präkrit  als  Literatursprache  der  Höher- 
gebildeten der  Apabhramsa  als  eine  auch  weniger  Gebildeten 
verständliche  Dichtersprache.  Ohne  selbst  eine  Volkssprache  zu 
sein,  gibt  uns  doch  der  Apabhramsa  wichtige  Aufschlüsse  über 
deii  Zustand  der  indoarischen  Volkssprachen  um  die  Mitte  des 
ersten  Jahrtausends  n.  Chr.  Der  Name  Apabhrarnäa,  mit  welchem 
Worte  ursprünglich  vulgäre,  d.  h.  aus  der  Sprache  des  Volkes 
stammende  Sprachformen  als  fehlerhaft  in  der  Hochsprache 
bezeichnet  wurden,  weist  darauf  hin,  daß  vulgäre  Formen  auch 
im  literarischen  Präkrit  als  Sprachverstöße  galten.  Sie  finden 
sich  in  ziemlicher  Anzahl  in  dem  ältesten  Präkrit-Kävya,  dem 
Paumacariya,  fehlen  aber  in  den  klassischen  Präkrit-Gedichten. 
Die  prinzipielle  Zulassung  vulgärer  grammatischer  Formen, 
apabhraipsas,  in  ein  popularisiertes  Präkrit  war  es  wahr- 
scheinlich, was  diesem  selbst  nach  seinem  kennzeichnenden 
Merkmal  den  Namen  Apabhramsa  verschaffte.  Die  ältesten 
Zeugnisse  kennen  den  Apabhramsa  nur  als  eine  Dichtersprache; 
zuerst  um  1150  n.  Chr.  wird  dieser  Name  auch  auf  die  eigent- 
lichen Volkssprachen  (die  gewöhnlich  desabhäsä  genannt  werden), 
und  zwar  sowohl  arische  wie  dravidische,  übertragen. 

In  dem  folgenden  Abschnitt  handelt  der  Herausgeber 
über  die  Orthographie  des  Apabhrarnsa  speziell  seiner  Hand- 
schrift, und  gibt  dann  einen  Abriß  der  Grammatik  des  Apa- 
bhramsa in  der  Bhavisatta-Kaha  in  steter  Vergleichung  mit 
dem  Apabhramsa  der  Grammatiker,  von  dem  jener  manche 
teils  dialektische  teils  auf  fortgeschrittener  Sprachentwicklung 
beruhende  Abweichungen  aufweist. 

Den  Schluß  der  Abhandlung  bilden  Untersuchungen  über 
Metrik  und  Reim  in  dem  vorliegenden  Text.  Die  Metrik  des 
ApabhraipSa  wird  zwar  im  Präkrta-Pingala  (etwa  15.  Jahrh.) 
gelehrt,  aber  seine  Angaben  sind  durchaus  unzulänglich  gegen- 
über der  reichen  und  eigenartig  entwickelten  Verskunst 
Dhai^avälas,  deren  Gesetze  mit  voller  Sicherheit  festgestellt 
werden  können. 


Sitzung  am  4.  März.  9 

Der  Text  ist  in  Umschrift  mit  Trennung  der  Kompositions- 
glieder gegeben  in  möglichst  einheitlicher,  die  Schreibweise  der 
Handschrift  aber  nicht  verdunkelnder  Orthographie.  Das  Glossar 
verzeichnet  alle  Wörter  des  Textes  mit  ihren  Sanskrit-Proto- 
typen bzw.  mit  Bedeutungsangabe,  wo  sie  sich  nach  den 
Präkrit-Lexikographen  oder  sonstwie  feststellen  ließ. 

Herr  Petzet  hielt  einen  Vortrag: 
Jakob  Burckhardts  Verhältnis  zu  Paul  Heyse.    ^ 

Beider  persönliche  Freundschaft  war  begründet  auf  ihren 
gemeinsamen  Beziehungen  zu  dem  Kunsthistoriker  Franz  Kugler 
und  seinem  Hause  und  wurde  befestigt  durch  wiederholte  Be- 
suche des  jungen  Heyse  in  Basel  und  durch  einen  gemeinsamen 
Aufenthalt  in  Rom  (1853).  Sie  erhielt  aber  ihren  dauernden 
Bestand  durch  die  Übereinstimmung  der  beiden  in  ihren  künst- 
lerischen Grundanschauungen  und  ihre  gleichmäßige  Liebe  zu 
Italien,  der  freilich  im  Alter  einige  Ernüchterung  und  Ent- 
täuschung nicht  erspart  blieb.  Dafür  liefert  ihr  Briefwechsel, 
der  von  1849 — 1864  sehr  lebhaft  war  und  dann  mit  einigen 
Pausen  bis  1890  reicht,  viele  Belege  bei  der  Besprechung  einer 
großen  Anzahl  von  Werken  Heyses  wie  Burckhardts.  Als  Ge- 
samteindruck ergibt  sich  daraus,  daß  Paul  Heyse  die  erste 
Quelle  und  Gewähr  für  Burckhardts  überragende  und  dauernde 
Wirkung  in  dessen  künstlerischer  Gestaltungskraft  erblickte, 
während  Jakob  Burckhardt  den  Freund  schon  frühe  treffend 
historisch  in  die  Reihe  jener  reinen  Künstlertypen  einordnete, 
als  deren  höchste  Vertreter  ihm  Rafael  und  Goethe  galten. 

Die  Arbeit  soll  in  der  Muncker-Festschrift  der  Gesellschaft 
Münchener  Germanisten  gedruckt  werden. 


10 

Sitzung  am  6.  Mai. 

Herr  Rehm  sprach  über 

Griechische  Windrosen. 

Das  Problem,  das  die  einschlägige  Überlieferung  bietet, 
ist  ein  doppeltes:  es  betrifft  sowohl  die  Anordnung  der  Winde 
am  Horizont  als  die  Verwendung  der  Windrose  zur  Orientie- 
rung; die  Frage  nach  den  Windnamen  in  den  Hauptsystemen 
hat  nur  untergeordnete  Bedeutung.  Die  Orientierung  geht 
nicht  von  den  Winden,  sondern  von  der  Sonne  aus  und  hier 
wieder  von  den  Örtern  des  Aufgangs  und  Untergangs;  Norden 
wird  anfänglich  durch  den  Großen,  später  den  Kleinen  Bären 
bestimmt,  nur  für  den  Süden  verwendet  schon  Homer  allein 
den  Notos.  Der  Fortschritt  über  diesen  primitiven  Zustand 
hinaus  wird  der  Einführung  des  Gnomon  verdankt,  der  es  er- 
möglichte, die  Mittagslinie  festzustellen ;  bald  lieferte  auch  der 
TiöXog,  die  Sonnenuhr,  acht  Punkte  am  Horizont.  Es  zeigt 
sich,  daß  diese  Errungenschaften  der  ionischen  Physiker  in  sehr 
mannigfacher  Weise  für  die  Verbesserungen  der  homerischen 
Windrose  mit  ihren  vier  sehr  unbestimmt  lokalisierten  Kar- 
dinalwinden ausgenützt  worden  sind:  in  der  Schrift  Tiegl  äegeov 
zur  genaueren  Abgrenzung  der  Hauptwinde,  in  der  Vorlage 
der  Schrift  Tiegl  eßdojuddcjov  und  in  dem  einen  der  Wind- 
systeme, die  Aristoteles  kontaminiert  hat,  zur  Ausstattung  der 
Windrose  mit  acht  Namen.  Das  zweite  der  aristotelischen 
Systeme  beruht  auf  der  Teilung  nicht  des  Horizont-,  sondern 
des  Meridiankreises,  die  dann  auf  den  Horizont  übertragen  wird. 
Dieses  wunderliche  Prinzip  läßt  sich  in  der  geographischen 
Literatur  bis  auf  Ptolemaios'  Geographie  herab  verfolgen.  Es 
hat  zur  Einführung  des  Zwölfwindesystems  geführt,  das  zuerst 
bei  Timosthenes  von  Rhodos  vollständig  vorliegt;  bleibt  dessen 
Horizontteilung  auch  zweifelhaft,  so  hat  er  doch  nicht  als 
theoretischer  Neuerer  zu  gelten.  Eratosthenes  hat  für  sein 
System  zwar  einfach  die  Namen  herübergenommen,  die  in  der 
Vorlage  von  Tiegl  eßdojuddcov  vorliegen,  aber  in  der  Theorie 
hat  er   den   entscheidenden  Schritt  der  Teilung   des  Horizonts 


Sitzung  am  6.  Mal.  1 1 

in  acht  gleiche  Bögen  gemacht.  Poseidonios  hat  beide  Wind- 
systeme eingehend  behandelt,  im  eigenen  Gebrauch  scheint  er 
die  zwölfstrichige  Rose  bevorzugt  zu  haben.  —  Anhangsweise 
wird  noch  die  Grundlage  des  pseudoaristotelischen  Exzerptes 
ävejucDv  d'EOEig  xal  JiQoorjyogiai  analysiert. 

Die  Abhandlung  wird  in  den  Sitzungsberichten  erscheinen. 

Herr  Sandberger  berichtet  in  Fortsetzung  seiner  Beethoven- 
studien über  einen  im  Bischöfl.  Archiv  zu  liegensburg  befind- 
lichen Brief  von  Antonie  Brentano  an  J.  M.  Sailer  in  Landshut, 
der  über  die  Absicht  Beethovens,  seinen  Neffen  Karl  1819 
der  Obhut  Sailers  zu  übergeben,  weiter  aufklärt.  Antonie  Bren- 
tanovermittelt zwischen  ihren  beiden  Freunden,  schildert  in  Kürze 
die  durch  Karls  sittenlose  Mutter  verschuldete  Sachlage  und 
charakterisiert  Beethoven  in  prächtiger  Weise.  Der  Aufsatz 
erscheint  im  nächstfälligen  Jahrbuch  der  Musikbibliothek  Peters. 

Herr  Crusius  legte  vor  eine  Arbeit  des  korrespondierenden 
Mitgliedes  Karl  Robert: 

Archäologische  Miszellen. 

Seit  der  Auffindung  einer  (von  Premerstein  trefflich  er- 
gänzten) Inschrift  wird  die  Kleobis-Biton  Legende  bei  Hero- 
dot  meist  als  geschichtlich  angesehen.  Robert  sucht  die  Ver- 
mutung zu  begründen,  daß  Kleobis  und  Biton  Delpher  waren, 
die  dort  den  Kult  einer  mütterlichen  Göttin  einführten  (rdv 
Mardga  edyayov).  Der  zweite  wurde  dann  mit  dem  gleich- 
namigen Argiver  identifiziert,  dessen  Statue,  mit  einem  Stier 
auf  den  Schultern,  auf  dem  dortigen  Markte  stand.  So  bildete 
sich  die  von  Herodot  berichtete  Legende. 

Das  Urbild  der  Chimaira  wird  in  dem  weiblichen  Dämon 
mit  Ziegenkopf  vermutet,  der  auf  kretischen  Siegelabdrücken 
dargestellt  ist. 

Die  Bezeichnung  Polos  für  den  weiblichen  Kopfputz  der 
Griechen  wird  als  unberechtigt  nachgewiesen.  Sie  geht  auf 
die  symbolische  Deutung  eines  Pindar-Kommentators  zurück, 
der  den   Ausdruck  Tvxv  ffegenohg  mißverstanden  hatte. 


12 


Sitzung  am  3.  Juni. 


Herr  Muncker  hielt  einen  für  die  Sitzungsberichte  be- 
stimmten Vortrag: 

Anschauungen  über  den  englischen  Staat  und 
das  englische  Volk  in  der  deutschen  Literatur 
der  letzten  vier  Jahrhunderte. 

Im  16.  Jahrhundert  liegt  den  deutschen  Schriftstellern  im 
allgemeinen  England  noch  zu  fern,  als  da(3  sie  sich  ernster 
um  die  dortigen  Verhältnisse  bekümmert  hätten.  Die  unmittel- 
baren Einwirkungen  der  englischen  Literatur  auf  die  deutsche 
beginnen  erst  zu  Ende  dieses  Jahrhunderts.  Wenn  schon  be- 
trächtlich früher  Erasmus  begeistertes  Lob  über  König  Hein- 
rich VHI.  und  seinen  Hof  äußerte  und  Luther  denselben  König 
auf  das  heftigste  bekämpfte,  so  sah  jener  in  Heinrich  fast  nur 
den  Förderer  humanistischer  Gelehrsamkeit,  dieser  den  (ur- 
sprünglichen) Verteidiger  der  katholisch -kirchlichen  Lehre. 
Einseitig  offenbarte  sich  in  diesen  Urteilen  die  wissenschaft- 
liche und  die  religiöse  Geistesrichtung  beider  Männer;  über 
das  englische  Volk  sprachen  sie  sich  nicht  aus. 

Hundert  Jahre  später  regte  die  große  englische  Rebellion 
und  namentlich  die  Hinrichtung  König  Karls  L  (1649)  auch 
unsere  deutschen  Dichter  mächtig  auf.  Der,  welcher  die  eng- 
lischen Ereignisse  in  nächster  Nähe  miterlebte,  Weckherlin, 
hielt  mit  der  eignen  Meinung  vorsichtig  zurück.  Gryphius  aber 
und  Zesen,  Hofmannswaldau,  Lohenstein  und  Happel  erklärten 
sich  gemäß  ihrer  Überzeugung  von  dem  göttlichen  Recht  und 
der  persönlichen  Unverletzlichkeit  des  Herrschers  meist  leiden- 
schaftlich für  Karl  L  und  gegen  den  Königsmord,  aber  nicht 
gegen  das  englische  Volk,  das  ihnen  in  seiner  Mehrheit  sogar 
als  königstreu,  aber  verführt  und  unterdrückt  durch  Cromwell 
und  seine  Partei  galt.  Kühler  urteilte  über  den  König  nur 
Lohenstein,  über  das  englische  Volk  namentlich  Happel. 

Im  18.  Jahrhundert  wuchs  der  Einfluß  der  englischen  Lite- 
ratur auf  die  deutsche  ungemein.     Die  Begeisterung  für  Eng- 


Sitzung  am  3.  Juni.  13 

lands  Dichter  führte  denn  auch  bald  zu  schwärmerischer  Ver- 
ehrung Englands  überhaupt,  so  besonders  bei  dem  jungen  Klop- 
stock  und  seinen  Anhängern,  hernach  wieder  im  Zeitalter  des 
Sturms  und  Drangs.  Der  ältere  Klopstock  aber  wandte  sich, 
erschreckt  durch  die  zunehmende  Anglomanie,  entschieden  feind- 
lich gegen  das  einst  vergötterte  Volk,  während  Moser,  Sturz 
und  Lichtenberg  ruhigere  und  klarere  Anschauungen  über  Eng- 
land auf  Grund  eigner  Reisen  dahin  verbreiteten.  Um  die- 
selbe Zeit  brachte  Schröder  zuerst  den  Engländer  als  Lust- 
spielfigur auf  die  deutsche  Bühne,  auf  der  er,  mehr  und  mehr 
ins  Possenhafte  sich  entwickelnd,  ziemlich  bis  zur  Gegenwart 
als  dankbare  Rolle  geblieben  ist. 

Die  literarische  Vorliebe  für  die  Engländer,  die  vielfach 
auch  noch  für  unsere  Klassiker  maßgebend  war,  wurde  im 
Anfang  des  19.  Jahrhunderts  durch  das  vaterländische  Empfin- 
den abgelöst,  das  in  England  den  Bundesgenossen  im  Kampf 
gegen  Napoleon  erblickte,  den  unbesiegten,  somit  jeder  Be- 
wunderung würdigen  Feind  des  Weltherrschers.  Eine  wirk- 
liche Kenntnis  des  englischen  Landes  und  Volkes  verrieten  erst 
(seit  1830)  die  ausführlichen,  sachlichen,  liebevoll -gerechten 
Reiseberichte  des  Fürsten  Fückler- Muskau.  Das  politische 
Leben  Englands,  das  sie  nur  flüchtig  streiften,  schilderte  gleich- 
zeitig Heine  genauer  im  Sinn  der  freiheitlichen  Bestrebungen 
jener  Jahre.  Seine  Anschauungen  klangen  bald  stärker  bald 
schwächer  in  den  nun  immer  häufiger  werdenden  Äußerungen 
deutscher  Dichter  über  England  bis  auf  die  neueste  Zeit  nach. 

Herr  Rehm  machte  in  Ergänzung  des  von  ihm  am  6.  Mai 
gehaltenen  Vortrages  Mitteilung  von  einer  Windscheibe  aus 
Rom,  die,  heute  verschollen,  in  Paciaudis  Monumenta  Pelo- 
ponnesia  veröffentlicht  ist.  Sie  schafft  endgültig  Klarheit  über 
das  Windsystem  des  Timosthenes.  Eine  Besprechung  des  Stückes 
wird  in  die  angekündigte  Abhandlung  eingefügt  werden. 


14 


Sitzung  am  1.  Juli. 

Herr  Scherman  sprach 

über  bengalische  Ged  acht  nisp  fahle  des  München  er 
Ethnographischen  Museums  und  verwandte 
völkerkundliche  Materialien. 

Unter  den  indischen  Beständen  des  hiesigen  Museums  be- 
findet sich  eine  Reihe  unproportionierter,  schmaler  und  hoher 
Holzschnitzereien,  die  auf  den  ersten  Blick  von  allem  abstechen, 
was  man  an  indischer  Technik  zu  werten  gewohnt  ist.  Es  sind 
6  Pfähle,  die  nach  der  Aufschrift  in  Bengalen  Berchokath  — 
jedenfalls  mit  , Holzturm'  zu  übersetzen  —  genannt  werden  und 
an  den  Ufern  des  Ganges  und  anderen  heiligen  Plätzen  Auf- 
stellung fanden. 

Fünf  dieser  Schnitzereien  stammen  von  Lamarepicquot, 
einem  französischen  Naturforscher,  der  während  der  Jahre  1821 
— 23  und  1826 — 29  sich  in  Indien  aufgehalten  hat.  Die  Aus- 
beute dieser  und  anderer  überseeischer  Reisen  hat  König  Lud- 
wig I.  im  Jahre  1841  für  27000  bayerische  Gulden  angekauft. 
Das  6.  (unvollkommene)  Stück  haben  die  Brüder  Schlagintweit 
von  ihren  indischen  Reisen  1854 — 58  nach  Europa  gebracht. 
Parallelen  zu  diesem  Münchener  Besitz  sind  in  deutschen  Museen 
höchst  selten  zu  finden  (2  Pfähle  hat  Berlin,  1  Wien).  Am 
meisten  bietet  ein  kleines  französisches  Provinzialmuseum  in 
Douai.  Auf  Meldung  des  Vortragenden  über  diesen  Tatbestand 
hat  Kronprinz  Rupprecht  im  Herbst  1915  Photographien  der 
dortigen  Stücke  mit  den  vorhandenen  Inventarangaben  —  ein 
Denkpfosten  gilt  dort  als  aus  dem  Kongo  stammend !  —  gnädigst 
zur  Verfügung  gestellt. 

Wenn  auch  diese  Gedächtnispfosten  in  Einzelheiten  siva- 
itischen  und  vis^uitischen  Kult  verraten,  so  entsprechen  doch 
die  Monumente  als  Ganzes  genommen  nicht  dem  Wesen  des 
Hinduismus.  Es  scheint,  daß  die  ethnologische  Erklärung  eher 
von  der  Seite  der  Aboriginer-Stämme  Hinterindiens  zu  erwarten 
ist,  bei  deren  Totenkult  Stein-  und  Holzdenkmäler  eine  weit 


Sitzung  am  1.  Juli.  15 

größere  Rolle  spielen.     Diesen  Bräuchen  stehen  einige  vorder- 
indische nahe  und  zwar  gerade  bei  solchen  Stämmen,  von  denen 
wir  schon  wissen,  daß  sie  sprachlich  mit  den  eben  genannten 
Völkerschaften  Hinterindiens  in  Verbindung  zu  setzen  sind. 
Der  Vortrag  wird  in  den  Denkschriften  erscheinen. 

Herr  Crusius  legte  vor  eine  für  die  Denkschriften  bestimmte 
Abhandlung  des  korrespondierenden  Mitgliedes  Franz  Boll  in 
Heidelberg : 

Antike   Beobachtung  farbiger  Sterne.     Mit   einem 
Beitrag  von  Carl  Bezold. 

So  hohen  Wert  die  abschließende  Darstellung  der  Ergeb- 
nisse der  antiken  Astronomie  im  Almagest  des  Ptolemaios  für 
uns  besitzt,  so  ist  mit  ihr  doch  zugleich  der  durch  die  übrigen 
Quellen  nicht  genügend  ausgeglichene  Nachteil  einseitiger  Aus- 
wahl des  Stoifes  gegeben.  Hier  treten  einerseits  die  babylo- 
nischen Keilinschriften,  andererseits  aber  die  erst  in  den  letzten 
20  Jahren  wieder  ernstlicher  erforschte  und  aus  zahllosen  Hand- 
schriften ans  Licht  gebrachte  Tradition  der  griechischen  Astro- 
logie ergänzend  ein,  die  auch  für  die  Geschichte  der  antiken 
Wissenschaft,  vor  allem  der  aus  astrologischem  Interesse 
im  Orient  noch  mehr  als  in  Griechenland  gepflegten  beob- 
achtenden Astronomie  ein  ungemein  reiches  Material  liefert. 
Ein  bisher  unbeachtetes  Kapitel  der  Tetrabiblos  des  Ptolemaios, 
das  nachweislich  auf  babylonischen  Quellen  beruht,  erhält  seinen 
Sinn  und  seine  besondere  Bedeutung  durch  die  Erkenntnis,  daß 
hier  in  freilich  nicht  sofort  verständlicher  Form  eine  Fülle 
von  vielfach  erstaunlich  richtigen  Farbenbeobachtungen  für 
die  Fixsterne  im  Tierkreis  und  am  nördlichen  und  südlichen 
Himmel  überliefert  ist.  Eine  große  Anzahl  verwandter  Nach- 
richten, vor  allem  in  griechischer,  aber  auch  in  babylonischer 
Sprache,  ergänzt  das  Bild  dieser  merkwürdigen  antiken  Vor- 
stufe eines  erst  neuerdings  wieder  systematisch  gepflegten  Teiles 
der  Himmelskunde.  Die  letzte  Absicht  bei  diesen  Beobach- 
tungen war  rein  astrologisch:  man  suchte  die  Wirkung  dieser 


16  Sitzung  am  1.  Juli. 

Fixsterne  zu  erkennen,  aber  man  mußte  zu  diesem  Zweck  vor- 
her ihre  »Mischung*,  d.  h.  ihre  besondere  Zusammensetzung 
wissen,  und  man  glaubte  diese  aus  den  Farben  entnehmen 
zu  können.  Durch  den  Nachweis  dieser  naiven  Vorwegnahme 
eines  in  der  Spektralanalyse  mit  wissenschaftlichen  Mitteln  durch- 
geführten Prinzips  wird  zugleich  von  einem  nicht  geringen  Teil 
der  antiken  Astrologie  der  Anschein  spielerischer  Willkür  ge- 
nommen und  in  ihr  der  Versuch  zu  einer  primitiven  Kosmo- 
physik  erkannt,  die  sich  allerdings  noch  durchaus  in  religiöse 
Formen  kleidet.  Es  wird  mit  jenen  griechischen  Texten  zu- 
gleich ein  neuer  Prüfstein  für  die  bisher  vollzogenen  und  hier 
neu  bestätigten  Identifizierungen  babylonischer  Sternbilder  und 
Sterne  gewonnen ;  die  schon  seit  40  Jahren  bekannte,  aber  mit 
den  bisherigen  Mitteln  nicht  zu  erklärende  Liste  der  Lumaschi- 
und  Tikpi-Sterne  wird  durch  ihre  neue  Einreihung  unmittel- 
bar erschlossen.  Im  Schlußkapitel  werden  die  in  Betracht 
kommenden  Angaben  der  babylonisch-assyrischen  Keilschrift- 
texte zusammengestellt. 

Herr  Vollmer  legte  eine  Arbeit  von  Dr.  Paul  Lehmann  vor : 

Mitteilungen   über   die   mittelalterlichen    Hand- 
schriften desK.B. Nationalmuseums  inMünchen. 

Sie  wird  in  den  Sitzungsberichten  erscheinen. 


17 

Sitzung  am  4.  November. 

Herr  Muncker  legte  eine  Abhandlung  des  korrespondieren- 
den Mitglieds  Hermann  Fischer  in  Tübingen  über 

Gottfried  von  Straßburg 
vor.  Der  Verfasser  prüft  noch  einmal  die  gesamte  bisherige 
Forschung  über  Gottfrieds  Herkunft,  Stand,  Bildung  und  dich- 
terische Werke  und  führt  sie  selbständig  weiter.  Er  gelangt 
zu  dem  Wahrscheinlichkeitsbeweis,  daß  der  Dichter  des  „Tristan" 
zunächst  eine  theologisch-gelehrte  Bildung,  wohl  an  einer  geist- 
lichen Schule  in  Straßburg,  erhalten  habe  und  dann  erst  mit 
der  ritterlich-weltlichen  Literatur  und  der  französischen  Sprache, 
vielleicht  auf  einer  Reise  nach  Paris,  gründlich  bekannt  ge- 
worden sei.  Er  sucht  Gottfried  unter  den  Geistlichen  oder  den 
nicht  ritterbürtigen  Ministerialen  des  Bistums  Straßburg  und 
nimmt  mit  Hermann  Kurz  an,  daß  wahrscheinlich  doch  auch 
der  von  Franz  Pfeiffer  ihm  abgesprochene  Lobgesang  auf  die 
Jungfrau  Maria  sein  Werk  sei,  jedoch  schon  seiner  Jugendzeit 
vor  dem  „Tristan"   angehöre. 

Die  Abhandlung  wird   in   den  Sitzungsberichten  gedruckt 
werden. 

Herr  Wölfflin  sprach  über  eine  Reichenauer  Handschrift 
vom  Anfang  des  XL  Jahrhunderts, 

das  Perikopenbuch  Heinrich  H.  in  München 
(Clm.  4452  =  Cim.  57). 
In  der  scheinbaren  Erstarrung  der  Form,  die  man  hier  gerade 
gegenüber  den  nächst  vorangehenden  Handschriften  der  Schule 
immer  als  Verfall  empfunden  hat,  läßt  sich  ein  ganz  bestimmter 
Formwille  nachweisen,  der  der  Großartigkeit  nicht  entbehrt  und 
durch  gewisse  Gebahrungen  des  modernen  Expressionismus  uns 
besonders  verständlich  werden  kann.  Es  wurde  versucht,  den 
Stil  der  Handschrift  allseitig  zu  bestimmen.  Auf  den  gleichen 
Meister  muß  wohl  die  Apokalypse  in  Bamberg  (A.  H.  42)  zurück- 
geführt werden,  eine  Arbeit,  die  durch  ihre  künstlerische  Bedeu- 
tung alle  übrigen  Leistungen  der  Schule  weit  hinter  sich  läßt. 


18 


Sitzung  am  2.  Dezember. 

Herr  Vossleb  berichtete  über  seine 

Untersuchungen    der    Gedichte    des    Trobadors, 
Peire  Cardinal  aus  Le  Puy, 

von  denen  er  mehrere  Proben  in  Übersetzung  gab.  Ein  Teil 
der  Sirventes  Cardinais  ist  unter  dem  Eindruck  der  Ereignisse 
des  Albigenserkriegs  (1209 — 1229)  entstanden  und  weist  Spuren 
der  damaligen  Bemühungen  um  Vertiefung  des  religiösen  und 
sittlichen  Bewußtseins  auf.  Ohne  den  Sekten  der  Albigenser 
und  der  Waldenser  angehört  zu  haben  sympathisiert  der  Dichter, 
der  offenbar  katholischer  Geistlicher  war,  in  mancher  Hinsicht 
mit  ihnen.  Kein  anderer  Trobador  hat  wie  er  die  Stimmungen 
Motive  und  Stilformen  der  mittellateinischen  religiösen  und 
satirischen  Klerikerdichtung  in  die  altprovenzalische  Lyrik  ein- 
geführt und  in  ähnlich  geistvoller  Art,  bald  pathetisch  bald 
witzig,  die  weltliche  mit  der  kirchlichen  Kunst  seiner  Zeit 
vereinigt. 


19 


Verzeichnis  der  im  Jahre  1916  eingelaufenen  Drucicschriften. 


Die  Gesellscbaften  und  Institute,   mit  welchen  unsere  Akademie   in  Tauschverkehr  steht, 
werden  gebeten,  nachstehendes  Verzeichnis  als  Empfangsbestätigung  zu  betrachten. 


Aachen.  Geschichtsverein: 
Zeitschrift,  Bd.  37,  1915. 

—  K.  Kroat.-slavon. -dalmatinisches  Landesarchiv: 
Vjestnik,  Bd.  17,  Heft  3/4;  Bd.  18,  Heft  1. 

—  Kroat.  Naturwissenschaftliche  Gesellschaft: 
Glasnik,  Bd.  27,  No.  3/4;  Bd.  28,  No.  1-4. 

AUegheny.  Observatory: 

Publications,  vol.  III,  No.  19-23. 

Amsterdam.  K.  Academie  van  Wetenschappen: 

—  —  Verhandelingen,  afd.  Natuurkunde,  I.  sectie,  deel  XII,  1,  2. 

—  —  Verslagen  en  vergaderingen,  deel  24,  No.  1,  2. 

Verhandelingen,    afd.    Letterkunde,    Nieuwe   Reeks,    deel   XVI, 

3-5;  deel  XVIII,  6;  deel  XIX,  1. 

Jaarboek  1915. 

Prijsvers  1916. 

—  K.  N.  aardrijkskundig  Genootschap: 

Tijdschrift,  deel  33,  No.  1,  2,  3b,  4-6;  deel  34,  No.  1. 

—  Wiskundig  Genootschap  (Societe  de  mathemat.): 

—  —  Nieuw  archief,  2.  Reeks,  deel  11,  stuk  1—4;  deel  12,  stuk  1. 
Wiskundige  opgaven,  deel  11,  stuk  7;  deel  12,  stuk  1 — 3. 

—  —  Revue   des   publications    mathem.,    tom.  22,    partie  2;    tom.  23, 

partie  1,  2;  tom.  24,  partie  1,  2. 

—  Zoologisch  Genootschap: 
Bijdragen,  tom.  20,  2. 

Annaberg.  Verein  für  Geschichte: 

Mitteilungen,  Heft  14/15. 

Aschafifenburg.  K.  Humanistisches  Gymnasium: 

Jahresbericht  1915/16  und  Programm  von  Straub. 

Augsburg.  Historischer  Verein: 

Zeitschrift,  42.  Jahrg.,  1916. 

Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  u.  d.  bist.  Kl.  Jahrg.  1916,  ^ 


20  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Baltimore.  Johns  Hopkins  University: 

Bulletin  of  the  Johns  Hopkins  Hospital,  No.  299—301. 

Bamberg.  K.  Altes  Gymnasium: 

Jahresbericht  1915/16  mit  Programm  von  Klaiber. 

—  K.  Neues  Gymnasium: 
Jahresbericht  1915/16. 

—  K.  Lehrerbildungsanstalt: 
42.  Jahresbericht,  1915/16. 

—  Historischer  Verein: 
Jahresbericht  73,  1915/16. 

Barcelona.   R.  Academia  de  Ciencias  y  Artes: 

Boletin,  vol.  3,  No.  6,  7. 

Memorias,  vol.  11,  No.  24—30;  vol.  12,  No.  1,  2,  4,  11-17. 

Festschrift  zum  150 jährigen  Bestand,  1915. 

Basel.  Naturforschende  Gesellschaft: 

Verhandlungen,  Bd.  27. 

—  Universität: 

—  —  Schriften  der  Universität  aus  dem  Jahre  1916  in  4^  und  8®. 
Bastia.  Societe  des  sciences  historiques  et  naturelles: 

Bulletin,  fasc.  331—333. 

Batavia.   R.  Magnetical  and  Meteorological  Observatory: 

—  —  Observations,   raade  at  secondary  stations.   Regenfall,    Text  und 

Atlas,  1914. 

Regenwaarnemingen,  vol.  35,  No.  2;  vol.  36,  No.  2. 

Seismological,  Bulletin  1916,  No.  4,  5. 

—  Kon.  Natuurkundige  Vereenigung  in  Nederlandsch-Indie: 
Tijdschrift,  deel  73. 

Bayreuth.   K.  Humanistisches  Gymnasium: 

—  —  Jahresbericht  1915/16  mit  Programm. 
Bergzabern.   K.  Progymnasium: 

Jahresbericht  1915/16. 

Berkeley.  University  of  California: 

Bulletin,  third  Serie,  vol.  V,  No.  1,  2. 

Publications,  Semitic  Philologie,  vol.  6,  No.  1,  2  (1-321). 

Berlin.  K.  Preuß.  Akademie  der  Wissenschaften: 

,,,       „  r  Philos.-histor.  Klasse,  1915,  7,  8;  1916,  1—4. 

—  -  Abhandlungen  |  pj^y^ikal.-math.  Klasse,  1916,  1. 
Sitzungsberichte  1915,  41—53;  1916,  1—40. 

—  —  Corpus  inscriptionum  Latinarum,  vol.  XIII,  4. 

—  Archiv  der  Mathematik  und  Physik: 
Archiv,  Bd.  24,  Nr.  4;  Bd.  25,  Nr.  1—3. 

—  K.  Bibliothek: 

Jahresbericht  1915/16. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckscliriften,  21 

Berlin.  Allgemeine  Elektrizitäts-Gesellschaft: 
Geschäftsbericht  1915/16. 

—  Deutsche  Chemische  Gesellschaft: 

Berichte,  48.  Jahrg.,  Nr.  18;  49.  Jahrg.,  Nr.  2—17;  50.  Jahrg.,  Nr.  1. 

—  Deutsche  Geologische  Gesellschaft: 

Abhandlungen,  Bd.  67,  Heft  3,  4;  Bd.  68,  Heft  1,  2. 

Monatsberichte  1915,  Nr.  8-12;  1916,  Nr.  1-3. 

—  Medizinische  Gesellschaft: 
Verhandlungen,  Bd.  46,  1916. 

—  Deutsche  Physikalische  Gesellschaft: 

Die  Fortschritte  der  Physik,  70.  Jahrg.,  1914,  1—3. 

Verhandlungen,  Jahrg.  18,  Nr.  1—23. 

—  Physiologische  Gesellschaft: 

—  —  Verhandlungen,  Jahrg.  40,  1915. 

—  Redaktion  des  „Jahrbuch  über  die  Fortschritte  der  Mathe- 

matik*: 
Jahrbuch,  Bd.  44,  Heft  1. 

—  Kais.    Deutsches   Archäologisches   Institut    (röm.    Abteilung 

s.  unter  Rom): 

Jahrbuch,  Bd.  30,  Heft  4;  Bd.  31,  Heft  1/2  u.  Bibliographie,  1915. 

Antike  Denkmäler,  Bd.  3,  Heft  3,  1916. 

—  Kaiser  Wilhelms-Institut   für  physikalische  Chemie   und 

Elektrochemie: 

2.  und  3.  Jahresbericht  1913/14  und  1914/15. 

Abhandlungen,  Bd.  2  und  3. 

—  K.  Meteorologisches  Institut: 
Veröffentlichungen,  Nr.  289— 291. 

—  Preuß.  Geologische  Landesanstalt: 

Abhandlungen,  N.  F.,  Heft  55,  III  a,  64,  65,  69,  79,  80,  82. 

—  —  Jahrbuch,   Bd.  33,  II,  3;   Bd.  34,  II,  3;    Bd.  35,   I,  2,  3;    II,  1,  2; 

Bd.  36,  I,  1,  2. 

—  —  Beiträge   zur  geolog.  Erforschung  der  deutschen   Schutzgebiete, 

Heft  8—12. 
Montanstatistik  des  deutschen  Reiches,  B.  1915,  Text  u.  Atlas. 

—  Lehranstalt  für  die  Wissenschaft  des  Judentums: 
34.  Bericht. 

Schriften,  Bd.  4,  Heft  3/4;  Bd.  5,  Heft  1—3. 

—  K.  Astronomisches  Recheninstitut: 

Berliner  Astronomisches  Jahrbuch  für  1918. 

Kleine  Planeten,  Jahrg.  1917. 

—  K.  Sternwarte: 

Veröifentlichungen,  Bd.  2,  Heft  1. 

h* 


22  Verzeiclanis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Berlin.  Verein  zur  Beförderung  des  Gartenbaues  in  den  preuß. 
Staaten: 
Gartenflora,  Jahrg.  1916,  Nr.  1-24,  1. 

—  Verein  für  Geschichte  der  Mark  Brandenburg: 

Forschungen  zur  brandenburgischen  und  preußischen  Geschichte, 

Bd.  28,  2.  Hälfte;  Bd.  29,  1.  Hälfte. 

—  Verein  für  die  Geschichte  Berlins: 
Mitteilungen  1916,  Nr.  1-3,  5—13. 

—  Zeitschrift  für  Instrumentenkunde: 

—  —  Zeitschrift,  36.  Jahrg.,  Nr.  1-12. 

—  Zentralstelle  für  Balneologie: 
Veröffentlichungen,  Bd.  III,  Heft  1,  2. 

Bern.  Schweizerische  Naturforschende  Gesellschaft: 
Actes  de  la  97.  Session,  tom.  1,  2. 

—  Allg.  Geschichtsforschende  Gesellschaft  der  Schweiz: 

Quellen  zur  Schweizer  Geschichte,  N.  F.,  Bd.  3,  Abt.  3,  1. 

Jahrbuch,  Bd.  41. 

—  Historischer  Verein  des  Kantons  Bern: 
Archiv,  Bd.  23,  1. 

—  üniversitätskanzlei: 

Schriften  der  Universität,  1914/15  und  1915/16. 

Beuron.  Bibliothek  der  Erzabtei: 

Verkade  Cenninis,  Handbüchlein  der  Kunst,  Jahr  1916. 

Bistritz.  Deutsches  Gewerbelehrlingsinstitut: 

Jahresbericht  40. 

Boston.  American  Urological  Association: 

Transactions,  vol.  9,  1915. 

—  Museum  of  Fine  Arts: 
Bulletin,  No.  80,  81,  83,  84. 

Bremen.  Meteorologisches  Observatorium: 

Jahrbuch,  26.  Jahrg.,  1915. 

Breslau.  Schlesische  Gesellschaft  für  Vaterländische  Kultur: 

92.  Jahresbericht  1914,  I,  II. 

—  Technische  Hochschule: 

Personalverzeichnis,  S.-S.  1916;  W.-S.  1916/17. 

Bromberg.  Stadtbibliothek: 

Jahresbericht  1913/14,  1915. 

Jahresbericht  13  und  14  der  deutschen  Gesellschaft. 

Mitteilungen  der  Stadtbibliothek,  Jahrg.  7,  Nr.  5—12;   Jahrg.  8, 

Nr.  1-4. 

—  Kaiser  Wilhelms-Institut  für  Landwirtschaft: 
Jahresbericht  1914. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  23 

Brunn.  Mährisches  Landesniuseum: 

—  —  Casopis,  Navzatil  1916. 

—  Verein  für  die  Geschichte  Mährens  und  Schlesiens: 
Zeitschrift,  20.  Jahrg.,  Heft  1/2,  3/4. 

Budapest.  Ungarische  Ethnographische  Gesellschaft: 
Ethnographia,  Jahrg.  26,  Heft  4-6;  Jahrg.  27,  Heft  1-5. 

—  Ungarische  volkswirtschaftliche  Gesellschaft: 

Közgazdasägi  Szemle,  Bd.  55,  Heft  1-5;  Bd.  56,  Heft  1  -  6. 

Bibliographie  1913,  März  bis  Dez.;  1914,  Jan.— Dez. 

—  Ungarisches  Nationalmuseum: 
Ertesitöje,  XVI.  Jahrg.,  1—4. 

—  K.  Ungarische  Geologische  Reichsänstalt: 

Földtani  Közlöny,  Bd.  43,  Heft  10-12;  Bd.  44,  Heft  1-12;  Bd.  45, 

Heft  4—12. 

Jahrbuch,  Bd.  22,  Nr.  3-5;  Bd.  23,  Nr.  1—6. 

Mitteilungen  aus  dem  Jahrbuch,   Bd.  21,  Nr.  4-9;  Bd.  22,  Nr.  1 

bis  4  und  6;  Bd.  23,  Nr.  1,  3,  5,  6. 
Sektionsblatt,  Zone  12,  Kol.  17  und  29;  Zone  13,  Kol.  17  und  18; 

Zone  26/27,  Kol.  25. 
Jahresbericht  1913,  Nr.  1,  2;  1914,  Nr.  1,  2. 

—  K.  Ungarische  Ornithologische  Zentrale: 
Aquila  22,   1915. 

Buitenzorg  (Java).  Departement  van  landbouw: 
Mededeelingen  van  de  afdeeling  voor  planten  ziekten,  No.  18. 

—  —  Mededeelingen  voor  thee,  No.  37—40. 

—  —  Mededeelingen  uit  den  kulturtuin,  No.  4,  5. 
Bukarest.  Academia  Rom  an  ä: 

Bulletin  de  la  section  scientifique  de  l'Academie  Roumaine  1915/16, 

No.  7—10. 
Bulletin  de  la  section  historique,  annee  3,  No.  2. 

—  Redaktion  „L'Independance  Albanaise": 
Annee  II,  No.  15-23. 

—  Societe  des  Scißnces: 
Bulletin,  anul  24,  No.  5/6. 

Burghausen.   K.  Humanistisches  Gymnasium: 

—  —  Jahresbericht  1915/16. 

Cambridge  (Mass.).  Tufts  College  (Mass.): 

Studies,  vol.  4,  No.  1,  2. 

Circulars,  No.  189,  190,  4P. 

Annual  Report,  No.  69,  70. 

Chicago.  The  Open  Court: 

The  Open  Court,  No.  715—718,  724,  725. 


24  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

t 
Chicago.  The  Open  Court: 

The  Monist,  vol.  XXVI,  No.  1,  3. 

—  Oberlin  College  Library  (Ornitholog.  Club): 

The  Wilson  Bulletin,  vol.  26,  No.  92,  93;  vol.  28,  No.  2. 

—  John  Cr'erar  Library: 

21*^  Report  for  the  year  1915. 

—  Field  Museum  of  Natural  History: 
Publications,  No.  184,  185. 

—  University  Library: 

The  astrophysical  Journal,  vol.  43,  No.  1 — 5;  vol.  44,  No.  1. 

Chur.  Historisch-antiquarische  Gesellschaft  für  Graubünden: 

45.  Jahresbericht,  1915. 

Gincinnati.  Society  of  Natural  History: 

Journal,  vol.  21,  No.  4. 

—  University: 

University  Studies,  vol.  10,  No.  1. 

Claremont.  Pomona  College: 

Journal  of  entomology,  vol.  7,  No.  4. 

Cleveland.  Archaeological  Institute  of  America: 

American  Journal  of  Archaeology,  vol.  19,  No.  4;  vol.  20,  No.  2,  3. 

Colmar.  Naturhistorische  Gesellschaft: 

—  —  Mitteilungen,  N.  F.,  Bd.  13,  1914/15. 

Danzig.  Westpreußischer  Geschichtsverein: 

Mitteilungen,  Jahrg.  15,  Nr.  1—4. 

Zeitschrift,  Heft  56. 

—  Naturforschende  Gesellschaft: 

—  —  Schriften,  Bd.  XIV,  Heft  2. 

—  Technische  Hochschule: 
Schriften  des  Jahres  1915/16. 

Personal  Verzeichnis  S.-S.  1915;  S.-S.  1916. 

—  Westpreußischer  Botanisch-zoologischer  Verein: 
Bericht  38. 

Darmstadt.  Firma  E.  Merck: 
Jahresbericht  39,  1915. 

—  Historischer  Verein  für  das  Großherzogtum  Hessen: 
Archiv  für  hessische  Geschichte,  N.  F.,  Bd.  10,  Heft  1-3;  Bd.  11, 

Heft  1. 

Quartalblätter,  5.  Bd.,  Nr.  13-18. 

Davos.  Meteorologische  Station: 
Wetterkarten  1915,  Nr.  12;  1916,  Nr.  1-12. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  25 

Dessau.  Verein  für  Anhaltische  Geschichte: 

Mitteilungen,  N.  F.,  Heft  3. 

Dillingen.  Historischer  Verein: 

Archiv  für  die  Geschichte   des  Hochstifts  Augsburg,   Bd.  3,  Ab- 
teilung II,  Register,  3.  u.  4.  Lief.;  5.  Bd.,  1.  u.  2.  Lief. 

—  K.  Lyzeum: 

Jahresbericht   1915/16. 

Dresden.   K.  Sächsischer  Altertumsverein: 

—  —  Neues  Archiv  für  sächsische  Geschichte,  Bd.  36  u.  37. 
Jahresbericht  1915. 

—  K.  Sächsische  Landes-Wetterwarte: 

Deutsches  meteorologisches  Jahrbuch,  Bd.  30,  1912,  Nr.  2;  Bd.  31, 

1913,  Nr.  1. 
Dekaden-Monatsberichte  1914,  Jahrg.  17. 

—  Flora,  K.  Sachs.  Gesellschaft  für  Botanik  und  Gartenbau: 
Jahrg.  18/19. 

—  Redaktion  des  Journals  für  praktische  Chemie: 
Journal  1916,  Nr.  1-17. 

—  Verein  für  die  Geschichte  Dresdens: 

Dresdener  Geschichtsblätter,  Bd.  24,  1,  2;  Bd.  25,  1—4.    Register 

zu  Bd.  22-25. 
Dürkheim.  Pollichia: 
Mitteilungen,  Nr.  29,  1916. 

—  Progymnasium: 
Jahresbericht  1915/16. 

Einbeck.  Verein  für  Geschichte  und  Altertümer: 

10.  Jahresbericht  1913-15, 

Eisenach.  Karl  Friedrich-Gynjnasium: 

Jahresbericht  für  1915/16. 

Emden.  Naturforschende  Gesellschaft: 

—  —  99.  und  100.  Jahresbericht. 
Festschrift  1814—1914. 

—  Gesellschaft  für  bildende  Kunst  und  vaterländische  Alter- 

tümer: 

Jahrbuch,  Bd.  19,  1  und  Register  zu  Bd.  1  —  18. 

Upstalsboom-Blätter,  Jahrg.  5,  No.  1—5;  Jahrg.  6,  No.  1—6. 

Erfurt.  Verein  für  Geschichte  und  Altertumskunde  von  Erfurt: 

Mitteilungen,  Heft  36  und  37. 

Erlangen.   K.  Humanistisches  Gymnasium: 

—  -  Jahresbericht  1915/16. 


26  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Frankfurt  a.  M.  Senckenbergische   Naturforschende  Gesell- 
schaft: 

—  —  Abhandlungen,  Bd.  36,  2. 

—  Physikalischer  Verein: 

Jahresbericht  1914/15  und  1915/16. 

Frankfurt  a.  0.  Naturwissenschaftlicher  Verein  für  den  Regie- 
rungsbezirk Frankfurt  a.  0.: 

Helios,  Bd.  28. 

Preiburg  i.  Br.  Naturforschende  Gesellschaft: 

Berichte,  Bd.  21,  Heft  2. 

—  Universität: 

Schriften  aus  dem  Jahre  1916. 

—  Kirchengeschichtlicher  Verein: 
Diözesanarchiv,  Bd.  42  und  44. 

Priedrichshafen.  Verein  zur  Geschichte  des  Bodensees: 

Schriften,  Heft  45,  1916. 

Ftlrth.  K.  Humanistisches  Gymnasium: 

Jahresbericht  1915/16. 

Genf.  Conservatoire  et  jardin  botanique: 
Annuaire  18/19. 

—  Redaktion  des  , Journal  de  chimie  physique": 
Journal,  tom.  XIV,  No.  1—3. 

—  Societe  d'histoire  et  d'archeologie: 
Bulletin,  tom.  4,  livr.  2. 

Memoires  in  8^  vol.  33,  No.  3. 

Memoires  et  documents,  tom.  4,  1915. 

—  Societe  de  physique  et  d'histoire  naturelle: 
^  —  Memoires,  vol.  38,  fasc.  4,  5. 

—  —  Compte  rendu  des  seances  32,  1915. 

—  Observatoire: 

Resümee  m^teorolog.  de  Tannee  1914. 

Observations  des  fortifications  de  St.  Maurice  1914. 

—  Universität: 

—  —  Theses  1913/14,  1914/15. 

Giessen.  Gesellschaft  für  Natur-  und  Heilkundfe: 

Bericht,  N.  F.,  medizinische  Abteilung,  Bd.  9  u.  10;  N.  F.,  natur- 
wissenschaftliche Abteilung,  Bd.  6. 
Göttingen.  K.  Gesellschaft  der  Wissenschaften: 

Göttingische  Gelehrte  Anzeigen  1916,  Nr.  1 — 12. 

Abhandlungen,    N.  F.:   a)   Philol.-histor.  Klasse,   Bd.  16,   Nr.  1; 

b)  Mathem.-phys.  Klasse,  Bd.  10,  Heft  2—4. 

Nachrichten:   a)  Philol.-hist.  Klasse,    1915,   Heft  3  und  Beiheft; 

1916,  Heft  1-5  und  Beiheft;  b)  Math.-phys.  Klasse,  1915,  Heft  2 
und  3;  1916,  Heft  1;  c)  Geschäftliche  Mitteilungen,  1916,  Heft  1. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  27 

Graz.  Universität: 
Verzeichnis  der  Vorlesungen  im  S.-S.  1916,  W.-S.  1916/17. 

—  —  Verzeichnis  der  akademischen  Behörden  etc.,  1916/17. 

—  Historischer  Verein  für  Steiermark: 

Zeitschrift,  Jahrg.  13,  1-4;  14,  1—4;  15,  1-4. 

Greifswald.  Naturwissenschaftlicher  Verein: 

Mitteilungen,  Jahrg.  45,  1913. 

Grimma.  Fürsten-  und  Landesschule: 

Jahresbericht  1915/16,  4«. 

Groningen.  Niederländ.  botanische  Gesellschaft: 

—  —  Recueil,  vol.  XI,  1—4. 
Archief  1914. 

Grünstadt.  K.  Progymnasium: 

Jahresbericht  1915/16. 

Guben.  Gesellschaft  für  Anthropologie  und  Altertumskunde: 

Niederlausitzer  Mitteilungen,  Bd.  13,  Heft  1—4. 

Gunzenhausen.  K.  Realschule: 

Jahresbericht  1913,  1915/16. 

Haag.   K.  Instituut  yoor  de  Taal-,  Land-  en  Volkenkunde  van 
Nederlandsch-Indie: 

Bijdragen,  VIL  Reeks,  deel  71,  afl.  3/4;  deel  72,  afl.  1-4. 

Haarlem.  Hollandsche  Maatschappy  der  Wetenschappen: 

Archives  neerlandaises  des  sciences  exactes  et  naturelles,  ser.  III B, 

tom.  3,  livr.  1. 
Hall.  Historischer  Verein  für  das  Württemberg.  Franken: 

Württemberg.  Franken,  N.  F.,  Heft  11,  1915. 

Halle.  K.  Leopoldinisch-Karolinische  Deutsche  Akademie  der 
Naturforscher: 

Nova  Acta,  Bd.  100  und  101. 

Leopoldina,  Heft  52,  No.  1—12. 

—  Deutsche  Morgenländische  Gesellschaft: 
Zeitschrift,  Bd.  70,'  Heft  1-4. 

Abhandlungen,  Bd.  13,  Heft  2,  3. 

—  Universität: 

Verzeichnis  der  Vorlesungen,  S.-S.  1916;  W.-S.  1916/17. 

—  Thüringisch-Sächsischer  Verein  für  Erforschung  des  vater- 

ländischen Altertums: 
Jahresbericht  1895/96,  1914/15. 

—  —  Zeitschrift  für  Geschichte  und  Kunst,  Bd.  5,  Heft  1,  2. 

—  Naturwissenschaftlicher  Verein  für  Sachsen  u.  Thüringen: 
Zeitschrift  für  Naturwissenschaften,  Bd.  85,  Nr.  1—6;  Bd.  86,  Nr.  1. 


28  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Hamburg.  Stadtbibliothek:  ' 

Jahrbuch  der  wissenschaftlichen  Anstalten  Hamburgs,  Jahrg.  32, 

1914,  Beiheft  1—9. 

Staatshaushaltsberechnung  1914,  49. 

Entwurf  des  hamburgischen  Staatsbudgets  für  1916,  4®. 

Verhandlungen  zwischen  Senat  und  Bürgerschaft  1915,  4^. 

—  Mathematische  Gesellschaft: 
Mitteilungen,  Bd.  V,  Heft  5. 

—  Deutsche  Seewarte: 

Annalen  der  Hydrographie,  Jahrg.  44,  Nr.  1 — 12. 

Ergebnisse  der  meteorologischen  Beobachtungen,  Jahrg.  37. 

—  Verein  für  Hamburgische  Geschichte: 

—  —  Mitteilungen,  35.  Jahrg.,  1915. 

—  Naturwissenschaftlicher  Verein: 
Verhandlungen,  HI,  23,  1915. 

—  Verein  für  naturwissenschaftl.  Unterhaltung: 
Verhandlungen,  Bd.  15,  1910—13. 

Hannover.  Verein  für  Geschichte  der  Stadt  Hannover: 
Hannoverische  Geschichtsblätter,  19.  Jahrg.,   Heft  1—4. 

—  Historischer  Verein  für  Niedersachsen: 

Zeitschrift,  Jahrg.  1914,  Heft  1—4;  Jahrg.  1915,  Heft  1—4. 

Heidelberg.  Akademie  der  Wissenschaften: 
Sitzungsberichte:   a)  philol.-histor.  Klasse,    1916,   No.  1  —  11,  14; 

b)  mathem.-naturw.  Klasse,  1914,  B,  Nr.  1;  1915,  A,  Nr.  14;  1916, 

A,  Nr.  1-11,  B,  Nr.  2-5. 

—  —  Jahresheft  1915. 

—  Reichs-Limes-Kommission: 

Der  obergermanisch-rätische  Limes  des  Römerreiches,  Lief.  42. 

—  Sternwarte: 

VeröflFentlichungen  des  Astronomischen  Instituts,  Bd.  7,  Nr.  6. 

—  Universität: 

Schriften  der  Universität  aus  dem  Jahre  1916  in  49  und  8^. 

Gothein,  Krieg  und  Wirtschaft. 

Bauer,  Vorgeschichte  der  Union  in  Baden,  Jahrg.  19,  Heft  2. 

—  Historisch-philosophischer  Verein: 

—  —  Neue  Heidelberger  Jahrbücher,  Jahrg.  19,  Heft  2. 

—  Naturhistorisch-medizinischer  Verein: 
Verhandlungen,  Bd.  13,  Heft  2. 

Hermannstadt.  Verein  für  siebenbürgische  Landeskunde: 
Festschrift  1914. 

Hildburghausen.  Verein  für  Sachsen-Meiningische  Geschichte: 
Verhandlungen  und  Mitteilungen,  Bd.  64,  1—6. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  29 

Igl6.  Ungarischer  Karpathen-Verein: 

—  —  Jahrbuch,  43.  Jahrg.,  1916. 
Ingolstadt.  Historischer  Verein: 

Sammelblatt,  Heft  35. 

Ithaca.  Journal  of  Physical  Chemistry: 
The  Journal,  vol.  18,  No.  7—9. 

Jassy.  Societe  des  medecins  et  naturalistes: 

Bulletin,  annee  29,  1—12;  ann^e  30,  1—4. 

Jena.  Medizinisch-naturwissenschaftliche  Gesellschaft: 

Jenaische  Zeitschrift  für  Naturwissenschaft,  Bd.  54,  Heft  1,  2. 

—  Verlag  der  Naturwissenschaftlichen  Wochenschrift: 
Wochenschrift  1916,  Nr.  1—52. 

Karlsruhe.  Badische  Historische  Kommission: 

Zeitschrift    für    die   Geschichte    des   Oberrheins,   N.  F.,    Bd.  31, 

Heft  1-4. 
Windelband,  Verwaltung  etc.  1917. 

—  Zentralbureau  für  Meteorologie  und  Hydrographie: 

—  —  Jahresbericht  für  die  Jahre  1914  und  1915. 

—  Naturwissenschaftlicher  Verein: 
Verhandlungen,  Bd.  26,  1912-16. 

Kassel.  Verein  für  hessische  Geschichte  und  Landeskunde: 

Zeitschrift,  Bd.  49,  1915. 

Mitteilungen  1914/15. 

—  Verein  für  Naturkunde: 

—  —  Abhandlungen  und  Bericht,  54. 
Kaufbeuren.  Verein  „Heimat*: 

r  Deutsche  Gaue,  Heft  321-340,  Sonderheft  96. 

Kempten.  K.  Humanistisches  Gymnasium: 

Jahresbericht  1915/16. 

Kiel.  Gesellschaft  für  schleswig-holsteinische  Geschichte: 

Zeitschrift,  Bd.  45,  1915  und  Register  zu  Bd.  31-40. 

Quellen  und  Forschungen,  Bd.  3. 

—  Naturwissenschaftlicher  Verein  für  Schleswig-Holstein: 
Schriften,  Bd.  16,  Heft  2. 

Köln.  Gesellschaft  für  rheinische  Geschichtskunde: 

35.  Jahresbericht,  1915. 

Konstantinopel.  Institut  d'histoire  Ottomane: 

Revue  historique  1910,  No.  33,  34. 

Kopenhagen.  K.Akademie  der  Wissenschaften: 

Ö versigt  1915,  No.  5,  6;  1916,  No.  1—3. 


30  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Kopenhagen.  K.Akademie  der  Wissenschaften: 

—  —  Memoires,  Section  des  sciences,  ser.  7,  tom.  12,  No.  7;  ser.  8,  tom.  1, 

No.  3,  tom.  2,  No.  1—3,  5. 
Gertz,  Aggesen  1916. 

—  Botanisk  Haves  Bibliothek: 
Arbejder,  No.  76-78. 

—  Carlsberg-Laboratorium: 

Comptes  rendus  des  travaux,  vol.  11,  No.  5. 

—  Conseil   permanent   international   pour   l'exploration   de 

la  mer: 

—  —  Rapports  et  proces  verbaux,  vol.  22,  23. 

—  Kommissionen  for  Havunders0gelser: 

Hausen-Ostenfeld,   De  Dansk  farvantes  Plankton   i  aarene  1898 

bis  1901.   Kob.  1916. 

Jacobsen,  De  internat.  Havunders0gelser.    Kob.  1916. 

Middelelser,  Serie  Fiskeri,  Bd.  Y,  1  und  2. 

—  Observatorium: 

Publikationer  og  mindre  meddelelser  frä,  No.  23 — 25. 

—  Dänische  biologische  Station: 
Report  No.  22. 

—  Studiengesellschaft  für  soziale  Folgen  des  Krieges: 
No.  1. 

Krakau.  Historische  Gesellschaft: 
Biblioteka,  No.  51. 

—  Numismatische  Gesellschaft: 
Wiadomosci  1916,  No.  1—12. 

Laibach.  Musealverein  für  Krain: 

Carniola,  Bd.  7,  No.  1—3. 

Landau  (Pfalz).   K.  Humanistisches  Gymnasium: 

Jahresbericht  1915/16. 

Landsberg  a.  L.  K.Realschule: 

38.  Jahresbericht  1915/16. 

Landshut.  Historischer  Verein: 

—  —  Verhandlungen,  Bd.  52. 

La  Plata.  Universidad  Nacional: 

Contribucion  al  estudio  de  las  ciencias,  Serie  fisica,  vol.  1,  entr.  5. 

Lausanne.  Societe  Vaudoise  des  sciences  naturelles: 

Bulletin,  No.  187—190. 

Leiden.  s'Rijks  Herbarium: 

Mededeelingen,  No.  21 — 27. 

—  Maatschappij  der  Nederlandsche  Letterkunde: 
Handelingen  en  Mededeelingen  1914/15. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  31 

Leiden.  Maatschappij  der  Nederlandsche  Letterkunde: 

—  —  Levensberichten  1914/15. 

—  Redaktion  des  .Museum": 

—  —  Museum,   maandblad  voor  philologie  en  geschiedenis,  Jahrg.  23, 

No.  5—12;  Jahrg.  24,  No.  1—4. 

—  Redaktion  der  .Mnemosyne": 

Mnemosyne,  N.  S.,  Bd.  44,  No.  2-4;  B  1.  45,  No.  1. 

Leipzig.  Redaktion  der  Beiblätter  zu  den  Annalen  der  Physik: 
Beiblätter,  1915,  Nr.  24;  1916,  Nr.  1—20. 

—  K.  Gesellschaft  der  Wissenschaften: 

Abhandlungen  der  philol.-hist.  Klasse,   Bd.  33,  Nr.  1—3;  Bd.  34, 

Nr.  1,  2. 

—  —  Abhandlungen  der  math.-phys.  Klasse,  Bd.  34,   Nr.  1,  2;   Bd.  35, 

Nr.  1,  2. 
Berichte  über  die  Verhandlungen  der  philol.-hist.  Klasse,  Bd.  67, 

Nr.  3;  Bd.  68,  Nr.  1-4. 
Berichte  über  die  Verhandlungen  der  math.-phys.  Klasse,  Bd.  67, 

Nr.  3,  4;  Bd.  68,  Nr.  1,  2. 

—  Fürstlich  Jablonowskische  Gesellschaft: 

—  —  Jahresbericht  1916. 

—  Thomasschule: 
Bericht  1915/16. 

Lemberg.  K.  K.  Franzens-Universität: 

—  —  Programm  der  Vorlesungen  1916/17. 

Lindenberg.   K.  Preuß.  Aeronautisches  Observatorium: 

Ergebnisse  der  Arbeiten,  Bd.  10  und  11. 

Linz.  Museum  Francisco-Carolinum: 

74.  Jahresbericht. 

Lohr.  K.  Humanistisches  Gymnasium: 

Jahresbericht  1915/16  mit  Programm. 

Ludwigshafen  a.  Rh.  K.  Oberrealschule: 

—  —  Jahresbericht  1914/15  und  1915/16  und  Programm. 
Lund.  Redaktion  von  „Botaniska  Notiser": 

Notiser,  1916,  No.  1—6. 

—  Kulturhist.  förening  och  Museum: 
Redogßjrelse  for  1915/16. 

—  Filologiska  föreningen: 
Spragliga  uppsatser  4. 

—  Universität: 

Acta,  N.  Ser.,  aft.  I,  10,  1914;  11,  1915;  aft.  II,  10,  1914;  11,  1915. 

Bibelforskaren  1915,  1—6. 

—  —  Arskrift,  Kyrkohistorisk,  Jahrg.  16,  1915. 


32  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Madrid.  R.  Academia  de  la  historia: 

Boleh'n,  tom.  6S,  No.  1,  4—6;  tom.  69,  No.  1,  2,  5. 

Mainz.  Altertumsverein: 

Mainzer  Zeitschrift,  Jahrg.  10,  1915. 

Mannheim.  Altertumsverein: 

Mannheimer  Geschichtsblätter,  17.  Jahrg.,  1916,  Nr.  1  —  12. 

Marbach.  Schwäbischer  Schillerverein: 

Rechenschaftsbericht  19,  1914/15;  20,  1915/16. 

Marburg.  Gesellschaft  zur  Beförderung   der  gesamten  Natur- 
wissenschaft: 

Sitzungsberichte  1915,  1866,  2,  1869—1886,  1889—95. 

Marnheim  (Pfalz).  Realanstalt  am  Donnersberg: 

Jahresbericht  1915/16. 

Meiningen.  Henneberg,  altertumsforsch.  Verein: 

Neue  Beiträge,  Jahrg.  27. 

Meissen.  Fürsten-  und  Landesschule  St.  Afra: 

—  —  Jahresbericht  für  das  Jahr  1915/16,  4^. 
Metten.  K.  Gymnasium: 

Jahresbericht  1915/16  mit  Programm  von  Geiger. 

Minneapolis.  University  of  Minnesota  Library: 

Agricultur  Experimental  Studies.     Bulletin,  No.  135-137. 

Mount  Hamilton  (California).  Lick  Observatory: 

Bulletin,  vol.  VII,  No.  276,  281—287  und  Titel  und  Register  zu 

Nr.  207—242  und  243—277. 
München.  Statistisches  Amt: 

Hygiene  und  soziale  Fürsorge  in  München  (Einzelschriften,  Nr.  12). 

—  K.  Hydrotechnisches  Bureau: 
Flußnivellement  1915. 

Wassermessungen,  Donaugebiet  1911—15. 

,  Rhein-,  Elbe-  und  Wesergebiet  1911-15. 

Abhandlungen:  Häuser,  Wolkenbruch  in  Augsburg. 

n  Specht,  Regenfälle  in  Bayern. 

—  K.  Ludwigs-Gymnasium: 
Jahresbericht  1915/16. 

—  K.  Luitpold-Gymnasium: 

Jahresbericht  1915/16  und  Programm. 

—  K.  Theresien-Gymnasium: 

Jahresbericht  1915/16  mit  Programm  von  Greger. 

—  K.  Wilhelms-Gymnasium: 
Jahresbericht  1915/16. 

—  K.  Witteisbacher  Gymnasium: 
Jahresbericht  1915/16. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  33 

München.    K.  Realgymnasium: 
52.  Jahresbericht,  1915/16  und  Beilage. 

—  K.  Technische  Hochschule: 

Programm  lür  das  Studienjahr  1916/17. 

Personalstand  im  S.-S.  1916. 

—  Metropolitan-Kapitel  München-Freising: 

—  —  Schematismus  der  Geistlichkeit  für  das  Jahr  1915/16. 

—  —  Amtsblatt  der  Erzdiözese  München  und  Freising  1916  mit  Register. 

—  K.  Luitpold-Kreisoberrealschule: 
9.  Jahresbericht  1915/16  mit  Beilage. 

—  K.  Gisela-Kreisrealschule: 
12.  Jahresbericht  1915/16. 

—  K.  Maria  Theresia  Kreisrealschule: 

—  —  17.  Jahresbericht  1915/16. 

—  K.  Universität: 

—  —  Personalstand,  S.-S.  1916  und  W.-S.  1916/17. 
Schriften  aus  dem  Jahre  1915/16  in  4^  und  8^. 

Verzeichnis  der  Vorlesungen,  S.-S.  1916  und  W.-S.  1916/17. 

—  Arztlicher  Verein: 

Sitzungsberichte,  Bd.  25,  1915. 

—  Historischer  Verein  von  Oberbajern  in  München: 
Oberbayerisches  Archiv,  Bd.  60,  Heft  2. 

Altbayerische  Monatschrift,  Jahrg.  13,  Heft  3. 

—  Verein  zur  Gründung  eines  Mädchengymnasiums: 
21.  Jahresbericht  1915/16. 

—  K.  Meteorologische  Zentralstation: 

—  —  Übersicht  über  die  Witterungsverhältnisse  im  Königreich  Bayern 

1915,  Nr.  12;  1916,  Nr.  1—11. 

—  —  Veröffentlichungen:  Deutsches  meteorologisches  Jahrbuch  (Bayern) 

für  1914. 
Münster.  Westfäl.  Provinzialverein  für  Wissenschaft  u.  Kunst: 
Jahresbericht  43,  1914/15. 

—  Verein  für  Geschichte  und  Altertumskunde  Westfalens: 

—  —  Zeitschrift  für  vaterländische  Geschichte,  Bd.  73,  2. 

Neapel.  Stazione  zoologica: 

Mitteilungen,  Bd.  22,  Heft  11,  12. 

Neuchätel.  Societe  Neuchäteloise  de  geographie: 

Bulletin,  tom.  25,  1916. 

New  Haven.  Yale  University  Library: 

Yale  Review,  N.  S.,  vol.  5,  No.  4;  vol.  6,  No.  1. 

New  York.  American  Museum  of  Natural  History: 

Journal,  vol.  15,  No.  8;  vol.  16,  No.  1,  3—6. 


34  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

New  York.  Botanical  Garden  Library: 
Bulletin,  vol.  8,  No.  34. 

—  American  Geographical  Society: 

Geographical  Review,  vol.  1,  No.  1 — 4  und  6;  vol.  2,  No.  1—5. 

—  American  Mathematical  Society: 
Bulletin,  No.  244—250. 

—  —  Transactions,  vol.  17,  No.  1—3. 

—  Zoological  Society: 

Zoologica,  vol.  1,  No.  12  —  14;  vol.  2,  No.  5. 

Nürnberg.  Naturhistorische  Gesellschaft: 

Abhandlungen,  Bd.  19,  No.  4. 

Jahresbericht  1912-15. 

—  K.  Altes  Gymnasium: 

Jahresbericht  1915/16  mit  Beilage. 

—  K.  Neues  Gymnasium: 

Jahresbericht  1915/16  mit  Programm. 

—  Germanisches  Nationalmuseum: 
Anzeiger  1915,  Nr.  1—4. 

0-Gyalla  (Ungarn).   Astrophysikalisches  Observatorium: 

Kleinere  Veröffentlichungen,  Nr.  2—5,  7,  10,  11,  13,  14. 

Thage  von  Konkoly.  —  L.  Terkan. 

Osnabrück.  Verein  für  Geschichte  und  Landeskunde: 

—  —  Mitteilungen,  Bd.  39,  1916. 

Paderborn.  Verein  für  Geschichte  und  Altertumskunde  West- 
falens: 

Zeitschrift,  Bd.  73,  1. 

Paris.  Redaction  „La  paix  par  le  droit": 

La  paix,  annee25,  No.  21—24;  annee  26,  No.  3-6,  12—15,  17—22. 

Pasing.  K.  Progymnasium: 

6.  Jahresbericht  1915/16. 

Passan.  K.  Lyzeum: 

Jahresbericht  1915/16. 

Philadelphia.   Pennsylvania  Museum  and   School  of  industrial 
art: 

Bulletin  No.  53,  55,  56. 

Report  40,  1916. 

—  Histcrical  Society  of  Pennsylvania: 

The  Pennsylvania  Magazine  of  History,  vol.  37,  No.  156—160. 

Plauen.  Altertumsverein: 
Mitteilungen,  26.  Jahresschrift,  1916. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  35 

Plauen.  Gymnasium: 

27.  Jahresbericht,  1915/16. 

Pola.  Hydrographisches  Amt  der  K.  K.  Kriegsmarine: 

Veröffentlichungen,  Nr.  37. 

Posen.  Historische  Gesellschaft: 

Zeitschrift,  Jahrg-  29,  Heft  2. 

—  —  Historische  Monatsblätter,  Jahrg.  16,  Nr.  1—12. 
Warschauer  Geschichte  der  Provinz  Posen,  1914. 

Potsdam.  Geodätisches  Institut: 
Veröffentlichungen,  N.  F.,  Nr.  64—69. 

—  Zentralbureau  der  internationalen  Erdmessung: 
Veröffentlichungen,  Nr.  29,  30. 

Prag.   K.  Böhmische  Gesellschaft  der  Wissenschaften: 

Sitzungsberichte  der  philos.-hist.  Klasse,  1915;  der  math.-naturwiss. 

Klasse,  1915. 

—  Deutscher    naturwissenschaftlich-medizinischer  Verein 

für  Böhmen  „Lotos": 

Lotos,  Naturwissenschaftliche  Zeitschrift,  Bd.  63,  Nr.  1 — 10. 

Abhandlungen,  Bd.  IV,  Heft  1,  2. 

—  —  Naturwissenschaftliche  Schriften,  Nr.  1. 

—  Cechoslavisches  Museum: 

Narodpisny  Vestnik  öeskoslovansky,  Bd.  11,  Nr.  1 — 3. 

—  K.  K.  Sternwarte: 

Magnetische  und  meteorologische  Beobachtungen,  Jahrg.  75,  1914; 

Jahrg.  76,  1915. 

—  Verein  böhmischer  Mathematiker: 

—  —  Casopis,  Rocnik  43,  eislo  1—5;  Rocnik  44,  cislo  1 — 5;  Rocnfk  45, 

cislo  1—3. 
Sbornik,  cislo  13,  1915. 

—  Deutsche  Karl  Ferdinands-Universität: 

Ordnung  der  Vorlesungen,  S.-S.  1916;  W.-S.  1916/17. 

Personalstand  1914/15  und  1915/16. 

Inauguration  des  Rektors  1915/16. 

Regensburg.   K.  Neues  Gymnasium: 
Jahresbericht  für  1915/16  und  Programm  von  Patin. 

—  Historischer  Verein: 
Verhandlungen,  Bd.  66. 

Rio  de  Janeiro.  Biblioteca  nacional: 

Annaes,  vol.  31—34,   1909—12. 

Relatorio  1908-14. 

Calogeras.  —  A.  Tavares  de  Lyra.  —  Poesias  de  Euaristo  Ferreira 

da  Veiga,  1915. 

Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  u.  d.  bist.  Kl.  Jahrg.  1916.  ^  C 


36  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Rom.  Accademia  Pontificia  de'  Nuovi  Lincei: 

Atti,  anno  68,  sessione  2—7;  anno  69,  sessione  1-7. 

Memorie,  serie  II,  vol.  1,  1915. 

—  Kaiserl.  Deutsches  Archäologisches  Institut: 
Mitteilungen,  Bd.  30,  Nr.  1—4  und  Tafeln. 

—  Specola  Vaticana: 

—  —  Publicazioni,  vol.  8,  1916. 
Rosenheim.  Gymnasium: 

Jahresberichte  für  1915/16. 

Rostock.  Universität: 
Schriften  aus  den  Jahren  1914/15  und  1915/16  in  49  und  8^. 

Saargemünd.  Gymnasium  mit  Realabteilung: 

45.  Jahresbericht,  1915/16. 

Salzburg.  K.  K.  Staatsgymnasium: 

Programm  für  das  Jahr  1915/16. 

—  Gesellschaft  für  Salzburgische  Landeskunde: 
Mitteilungen  56,  1916. 

Sarajevo.  Landesmuseum: 

Glasnik  27,  1915,  Nr.  3,  4. 

Schleusingen.  Hennebergischer  Geschichtsverein: 

—  —  Schriften  Nr.  3—9. 
Schweinfnrt.  K.  Realschule: 

Jahresbericht  1915/16. 

Schwerin.  Verein  für  mecklenburgische  Geschichte: 

Jahrbücher  und  Jahresberichte,  Jahrg.  80. 

Sofia.  Societe  archeologique  Bulgare: 

—  —  Bulletin,  vol.  4,  1914;  vol.  5,  1915. 
Spalato.  K.  K.  Archäologisches  Museum: 

Bulletino  di  archaeologia  e  storia  Dalmata,  vol.  35,  1912,  No.  1—12. 

Speier.  Historischer  Verein  der  Pfalz: 

Mitteilungen,  Bd.  36. 

Stade.  Verein  für  Geschichte  und  Altertümer  etc.: 

Stader  Archiv,  N.  F.,  Heft  6,  1916. 

Stavanger.  Museum: 

—  —  Aarshefte  for  1915,  vol.  26. 

Stettin.  Gesellschaft  für  Pommersche  Geschichte  und  Alter- 
tumskunde: 

Baltische  Studien,  N.  F.,  Bd.  19,  1916. 

Monatsblätter  1915,  Nr.  1  —  12. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  37 

Stockholm.   K.  Akademie  der  Wissenschaften: 

Handlingar,  Bd.  51,  No.  1-11;  Bd.  53,  No.  1— 5;  Bd.  55,  No.  1-6. 

Arkiv  för  Zoologi,  Bd.  9,  No.  3,  4;  Bd.  10,  No.  1-3. 

Arkiv  för  Kemi,  Bd.  6,  No.  1—3. 

Arkiv  för  Botanik,  Bd.  14,  No.  2,  3. 

Arkiv  för  Matematik,  astronomie  och  fysik,  Bd.  10,  No.  4;  Bd.  11, 

No.  1-3. 

Meddelanden  frän  Nobel-Institut,  Bd.  3,  No.  3. 

Arsbök  for  är  1915  und  1916. 

—  —  Meteorologiska  Jakttagelser  i  Sverige,  vol.  56. 
Astronomiska  Jakttagelser  i  Sverige,  Bd.  10,  No.  3,  4. 

—  —  Berzelius  Bref  II,  2. 

—  —  Dahlgren,  Personförteckningar  1739 — 1915. 
Lefnadsteckningar  V,  1. 

—  K.  Vitterhets  Historie  och  Antikvitets  Akademie: 
Fornvännen,  Argangen  10,  1915. 

—  K.  Landtbruks-Akademie: 

Handlingar  och  tidskrift,  Bd.  55,  1916,  No.  1—8. 

—  K.  Bibliothek: 

—  —  Akzessionskatalog  30,  1915. 

—  Entomologiska  föreningen: 
Tidskrift,  Jahrg.  37,  1916,  No.  1—4. 

—  Geologiska  Föreningens: 

—  —  Förhandlingar,  Bd.  38,  No.  1—7. 

—  Nationalekonomiska  föreningen: 
Förhandlingar  1915. 

—  Schwedische   Gesellschaft   für  Anthropologie   und   Geo- 

graphie: 
Ymer,  Jahrg.  35,  Heft  4;  Jahrg.  36,  Heft  1—3. 

—  Nordiska  Museet: 

—  —  Fataburen  1915,  Heft  1—4. 

—  Reichsarchiv: 

Meddelanden,  N.  F.,  I,  No.  36-41;  II,  No.  5. 

Svenska  Ricks  ädets  protokoll,  Bd.  14,  1650. 

—  Forstliche  Versuchsanstalt: 
Meddelanden,  Heft  12,  1915. 

Strassburg.  K.  Hauptstation  für  Erdbebenforschung: 

Seismometrische  Aufzeichnungen  1914,  Nr.  17— 51;  1915,  Nr.  1—23; 

1916,  Nr.  1-24. 

—  Wissenschaftliche  Gesellschaft: 
Schriften  25-29. 


38  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Strassburg.  Internationale  Kommission  für  wissenschaftliche 
Luftschiffahrt: 
1912,  Heft  10-12. 

—  Universitätsbibliothek: 
Schriften  1914/15. 

Straubing.  Gymnasium: 
Jahresbericht  1915/16  und  Programm. 

—  Historischer  Verein: 
Jahresbericht  18,  1915. 

Stuttgart.  K.  Landesbibliothek: 
Fischer,  Schwäbisches  Wörterbuch,  Lief.  52,  53. 

—  Württemberg.  Kommission  für  Landesgeschichte: 

Vierteljahreshefte  für  Landesgeschichte,  N.  F.,  Jahrg.  24,  Heft  3/4; 

Jahrg.  25. 

—  —  Württemberger  Geschichtsquellen,  Bd.  19. 

—  K.  Württembergisches  Statistisches  Landesamt: 

Württembergische   Jahrbücher   für   Statistik    und   Landeskunde, 

Jahrg.  1915,  Heft  2. 

—  K.  Württembergisches  Geh.  Haus-  und  Staatsarchiv: 
Urkunden  und  Akten,  I.  Abteil.,  1,  1,  1916. 

Tokyo.  Mathematico-Physical  Society: 
Proceedings,  2<i  ser.,  vol.  8,  No.  9—11,  13—17,  20. 

Tromsö.  Museum: 

Aarshefter  37,  1914. 

Aarsberetning  for  1914. 

Tübingen.  Universität: 

—  —  Uni  versitäts- Schriften  14. 

Upsala.  K.Universität: 
Linnö-Skrifter,  Afd.  II,  1. 

—  —  Eranos,  Acta  philol.  Suecana,  vol.  14,  fasc.  3/4. 

—  Meteorologisches  Observatorium  der  Universität: 
Bulletin  mensol.,  vol.  40,  1914;  vol.  47,  1915. 

Utrecht.  Historisch  Genootschap: 

Bijdragen  en  mededeelingen,  deel  36.    Regeis  1915. 

Werken,  ser.  III,  No.  34-36. 

—  Provincial  Utrechtsch  Genootschap: 
Aanteekeningen  1916. 

—  Institut  Royal  Meteorologique  des  Pays-Bas: 
Annuaire  1914,  A,  B. 

Mededeelingen  en  Verhandelingen,  No.  20. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  39 

Utrecht.  Institut  Royal  Meteorologique  des  Pays-Bas: 
Overzicht,  Jahrg.  12,  No.  12;  Jahrg.  13,  No.  1—12. 

—  -  Onweders  1913,  deel  34. 
Publicacion  No.  108. 

—  Obseryatoire  astronomique: 

—  —  Recherches,  vol.  6,  1916. 

—  Physiol.  Laborat.  d.  Hoogeschool: 
Onderzoekingen,  vol.  V,  No.  17. 

Washington.  U.  S.  Department  of  Agriculture: 
Yearbook  1915. 

—  —  Journal  of  the  agricultural  Researche,  vol.  5,  No.  11  —  22,  25,  26; 

vol.  6,  No.  2,  3,  5-8,  10—16,  18,  19,  21—26;    vol.  7,   No.  1  —  10. 

—  Department  of  Commerce: 

—  —  Special  publications  No.  35. 

—  Bureau  of  American  Ethnology: 
Bulletin  No.  57,  58,  62. 

—  Bureau  of  railway  economics: 
Bulletin  No.  85-87,  89,  92-94,  96. 

—  Smithsonian  Institution: 
Annual  Report  1913  und  1914. 

—  U.  S.  Naval  Observatory: 

—  —  Annual  Report  for  1914  und  1915. 

Weihenstephan.  A.  Akademie  für  Landwirtschaft  und  Brauerei: 

—  —  Bericht  1915/16. 

Weimar.  Thüring.  botanischer  Verein: 

Mitteilungen,  N.  F.,  Heft  33. 

Wernigerode.  Harzverein  für  Geschichte: 

Zeitschrift,  Jahrg.  48,  Heft  1—3;  Jahrg.  49,  Heft  1,  2. 

Wien.  Kaiserl.  Akademie  der  Wissenschaften: 

Sitzungsberichte:   a)  der  philos.-histor.  Klasse,  Bd.  179,   Abh.  2 

u.  6;  Bd.  180,  Abh.  2-5;  Bd.  181,  Abh.  1  u.  5;  Bd.  182,  Abh.  1; 
b)  der  math.-naturwiss.  Klasse,  Bd.  124,  Abt.  I,  Abh.  5—7;  Abt.  IIa, 
Abh.  5— 10;  Abt.  IIb,  Abh.  5— 10;  Bd.  125,  Abt.  I,  Abh.  1—4  u. 
8—10;  Abt.  IIa,  Abh.  1—6;  Abt.  IIb,  Abh.  1-5. 
Denkschriften  der  philos.-histor.  Klasse,  Bd.  57,  58  u.  59*;  math.- 
naturwiss.  Klasse,  Bd.  91. 

Anzeiger  (math.-naturwiss.  Klasse)  1916,  Nr.  1 — 27. 

Almanach  1915,  65.  Bd. 

Archiv  für  österreichische  Geschichte,  Bd.  105,  1.  Hälfte. 

—  K.  K.  Gesellschaft  der  Ärzte: 

-■ Wiener  Klinische  Wochenschrift  1916,  Nr.  1^52, 


40  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Wien.  Zoologisch-botanische  Gesells(?haft: 

Verhandlungen,  Bd.  66,  Nr.  1-5. 

Abhandlungen,  Bd.  9,  Nr.  2. 

—  K.  K.  Naturhistorisches  Hofmuseum: 

—  —  Annalen,  Bd.  29,  Nr.  3/4;  Bd.  30,  Nr.  1/2. 

—  Israelitisch-theologische  Lehranstalt: 
Jahresbericht  23. 

—  K.  K.  Geologische  Reichsanstalt: 

Verhandlungen  1915,  Nr.  15-18;  1916,  Nr.  1—12. 

Jahrbuch,  Bd.  64,  Heft  4;  Bd.  65,  Heft  1—4. 

Geologische  Karte,  Lief.  12,  1913;  Lief.  13,  1914  und  Erläuterungen 

Nr.  29a,  114,  115a,  117a,  126a. 
Wiesbaden.  Verein  für  Nassauische  Altertumskunde: 

Annalen,  Bd.  43,  1914  und  1915. 

Mitteilungen,  Jahrg.  18  und  19. 

—  Verein  für  Naturkunde: 

—  —  Jahrbücher,  Jahrg.  68. 

Wolfenbüttel.    Geschichtsverein    für    das   Herzogtum   Braun- 
schweig: 

—  —  Jahrbuch,  14.  Jahrg. 

Braunschweigisches  Magazin,  Bd.  21,  4®. 

Wtlrzburg.  Physikalisch-medizinische  Gesellschaft: 

Sitzungsberichte,  1915,  Nr.  1 — 5. 

Verhandlungen,  N.  F.,  Bd.  44,  Heft  1,  2. 

—  K.  Altes  Gymnasium: 

Jahresbericht  1915/16  mit  Programm  von  Widder, 

—  K.  Neues  Gymnasium: 

Jahresbericht  1915/16  mit  Programm. 

—  K.  Universität: 

Verzeichnis  der  Vorlesungen,  S.-S.  1916. 

Personalstand  W.-S.  1915/16  und  1916/17,  S.-S.  1916. 

—  Historischer  Verein: 
Archiv,  Bd.  57. 

Jahresbericht  für  1914. 

Wansiedel.   K.  Realschule: 
Jahresbericht  1915/16. 

Zürich.  Naturforschende  Gesellschaft: 

Viertel  Jahresschrift,  Jahrg.  60,  Heft  3/4;  Jahrg.  61,  Heft  1/2. 

Neujahrsblatt  118. 

—  Schweizerische  Geodätische  Kommission: 
Astronomisch-geodätische  Arbeiten,  Bd.  15,  1916, 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  41 

Zürich.  Schweizerische  Geologische  Kommission: 

—  —  Beiträge  zur  geologischen  Karte  der  Schweiz,  N.  F.,  Lief.  44  und 

46,  1,  2  mit  Erläuterungen  Nr.  18. 

—  Schweizerisches  Landesmuseum: 

Anzeiger  für  Schweizerische  Altertumskunde,  N.  F.,  Bd.  17,  Nr.  4; 

Bd.  18,  Nr.  1-3. 
24.  Jahresbericht,  1915. 

—  Bibliothek  des  Eidgenössischen  Polytechnikums: 
Dissertationen  1916. 

Programm,  S.-S.  1916,  W.-S.  1916/17. 

—  Schweizerische  meteorologische  Zentralanstalt: 
Annalen,  51.  Jahrg.,  1914. 

Zweibrücken.  K.  Humanistisches  Gymnasium: 
Jahresbericht  1915/16  mit  Programm. 


Geschenke  von  Privatpersonen,  öeschäftsürmen  und  Redaktionen: 

Abreu,  J.  Capistrano  de: 

—  rä-txa  hu-ni-ku-i^     Rio  de  Janeiro  1914. 
Adamkiewicz,  Albert: 

—  Abrechnung  u.  Entlarvung  (S.-A.  aus  ,Der  Forscher").  Hannover  1916. 

Albert,  E.: 

—  40  Jahre  Reproduktionstechnik,  1856—1916.     München  1916. 
Bees,  Nikos  A.  in  Berlin -Wilmersdorf: 

—  Verzeichnis    der  griechischen  Handschriften   des  peloponnesischen 
Klosters  Mega  Spilaeon,  Bd.  1.     Leipzig  1915. 

—  Ein  angebliches  Autograph  des  Kaisers  Nikephoros  Phokas.    Leipzig 
1916. 

Berger,  Emil: 

—  Zur  Geschichte  eines   optischen  Instrumentes,   eine  soziologische 
Studie.     Bern  1916. 

Böhlau,  Weimar: 

—  Zeitschrift  für  Rechtsgeschichte  (3  Abteilungen),  Bd.  37,  1916. 
Fauth,  Ph.,  Landstuhl: 

—  25  Jahre  Planetenforschung,  beobachtungstechnische  Erfahrungen 
und  Ergebnisse.     Kaiserslautern  1916. 

Götz,  Optische  Anstalt  Berlin-Friedenau : 

—  Die  totale  Sonnenfinsternis  vom  21.  August  1914. 


42  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften, 

Habich,  Gg.: 

—  Die  deutschen  Medailleure  des  16.  Jahrhunderts.     Halle  1916. 

'EXXrjvo^ivrjfAOiv,  Niog: 

—  Bd.  10. 
Mehlis,  C: 

—  Neuzeitliche  Ruinen  im  Pfälzerwalde. 

—  Die  geologische  Bezirkssammlung  zu  Neustadt  a.  H. 

—  Gewitterstraße  und  Sturmflut. 

—  Grenzstein  von  der  „Schmalstraße"  bei  Neustadt  a.  H. 

—  Die  Felskluft  am  Studerbildkopf. 

—  Zur  Wiligartisburg. 

—  Zu  den  vorgeschichtlichen  Eisenbarren. 
Mörikofer,  Walter: 

—  Klimatische  Normalwerte  für  Basel.     Basel  1916. 
Moravek,  Gottlieb: 

—  Allgemeine  Beweise  der  Gültigkeit  des  letzten  Fermatschen  Satzes. 

München,  Lehr-  und  Versuchsanstalt  für  Photographie: 

—  Jahrbuch  für  das  15.  und  16.  Schuljahr. 
Mönchen,  Gesellschaft  Münchener  Germanisten: 

—  Abhandlungen  zur  deutschen  Literaturgeschichte.    Franz  Muncker 
zum  60.  Geburtstag  dargebracht.     München  1916. 

Neudegger,  Max: 

—  Zum  Weltkrieg  1914 — 16.     Geschichts-   und  kulturpolitische  Be- 
trachtungen.   München  1916. 

Ross,  Herm.: 

—  Die  Pflanzengallen  Bayerns  u.  der  angrenzenden  Gebiete.    Jena  1916. 
Rüdin,  Ernst: 

— '     Studien    über  Vererbung    und    Entstehung    geistiger    Störungen. 
Berlin  1916.     (Aus  Neurologie  und  Psychiatrie,  Heft  12.) 
Ruths,  Gh.: 

—  Neue  Relationen  im  Sonnensysteme  und  Universum. 
Holba,  Stefan,  Budapest: 

—  Eine  neue  Bahn  in  das  Reich  der  Algebra  (Fermatscher  Satz). 
Je  cht,  Görlitz: 

—  Oberlausitzer  Hussitenkrieg,  2  Bde.     Görlitz  1911  und  1916. 

—  Quellen  zur  Geschichte  der  Stadt  Görlitz  bis  1600.     Görlitz  1909. 
Illeck,  Joseph: 

—  Richtig  gestellte  Theorie  der  Schwingungen  gespannter  Saiten. 
KuU,  J.  V.,  München: 

—  Preisverhältnisse   seltener  Münzen   und   Schaustücke   des   Hauses 
Witteisbach  in  der  1.  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  4d 

Kuli,  J.  V.,  München: 

—  Die  Wappenbilder  des  Gesamthauses  Witteisbach,  insbesondere 
auf  Münzen  der  pfälzischen  Linie. 

Legat,  Maurice: 

—  Bibliographie  du  calcul  des  variations  depuis  les  origines  jusqu' 
ä  1850. 

Leipzig,  Deutsche  Bücherei: 

—  Denkschrift  zur  Einweihung  der  Deutschen  Bücherei  191G. 

Liebermann,  F.: 

—  Die  Gesetze  der  Angelsachen,  3.  Bd.     Halle  1916. 
Loeb,  James: 

—  Die  Terrakotten  der  Sammlung  Loeb,  herausgegeben  von  Joh. 
Sieveking,  1.  Bd.     München  1916. 

Luschin  von  Ebengreuth,  Wien: 

—  Österreichs  Anfänge  in  der  Adria.    Vortrag,  1916. 

Serkowski,  St.: 

—  Über  den  Einfluß  gewisser  physikal.- chemischer  Faktoren  auf  Prä- 
zipitation und  Agglutination  (S.-A.). 

Teubner,  B.  G.,  Leipzig: 

—  Encyclopedie  des  sciences  mathematiques,  tome  V,  vol.  1,  fasc.  1; 
tome  II,  vol.  4,  fasc.  2;  tome  IV,  vol.  2,  fasc.  2;  tome  II,  vol.  6, 
fasc.  2;  tome  VI,  vol.  2,  fasc.  1. 

—  Enzyklopädie  des  Islam,  Lief.  22  (1916). 

—  Enzyklopädie  der  mathemat.  Wissenschaften,  Bd.  II,  1,  Heft  9; 
Bd.  V,  3,  Heft  1. 

Voigt,  Andreas: 

—  Die  Teilbarkeit  der  Potenzsummen  und  Fermatscher  Satz  (S.-A.). 

Wahrmund,  Ludwig: 

—  Quellen  zur  Geschichte  des  römisch -kanonischen  Prozesses  im 
Mittelalter,  Bd.  3,  Heft  1.     Innsbruck  1916. 

Wetterhoff,  F.: 

—  Finnland  im  Lichte  des  Weltkriegs.     Berlin  1916. 

Zeitschrift  für  Assyriologie,  Bd.  30,  Heft  3  und  4. 
Zeller,  Joseph: 

—  Das  Prämonstratenserstift  Adelberg  1178  —  1476. 

—  Beiträge  zur  Geschichte  der  Melker  Reform  im  Bistum  Augsburg. 


M 


/ 


Sitzungsberichte 

der 

Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

Philosophisch-philologische  und  historische  Klasse 

Jahrgang  1916,  1.  Abhandlung 

//A  1'^-^ 

Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft 
in  Livland 


von 


Hang  Pratz 


Vorgetragen  am  5.  Februar  1916 


^# 


München  1916 

Verlag  der  Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

in  Kommission  des  G.  Franz'schen  Verlags  (J.  Roth) 


/ 


Sitzungsberichte 

der 

Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

Philosophisch-philologische  und  historische  Klasse 

Jahrgang  1916,   1.  Abhandlung 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft 
in  Livland 


von 


Hans  Prutz 


Vorgetragen  am  5.  Februar  1916 


München  1916 

Verlag  der  Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

in  Kommission  des  G.  Franz'schen  Verlags  (J.  Roth) 


Nahezu  hundert  Jahre  sind  verflossen,  seit  —  im  Jahr  1817  — 
Franz  Gabriel  Graf  von  Bray,  der  Vater  des  bekannten 
bayerischen  Ministers  Grafen  Otto  von  Bray  (gest.  1899),  seinen 
„Essai  critique  sur  l'histoire  de  la  Livonie  suivi  d'un 
tableau  de  l'etat  actuel  de  cette  province"  veröffentlichte. 

Bekanntlich  als  jüngerer  Sohn  einer  aus  Ronen  stammen- 
den und  dann  in  Amiens  heimisch  gewordenen  Adelsfamilie  in 
erstgenannter  Stadt  am  27.  September  1765  geboren,^)  war 
der  junge  Chevalier  nach  Empfang  einer  offenbar  ungewöhn- 
lich gründlichen  und  vielseitigen  Bildung  bestimmt,  in  den 
Reihen  der  Malteserritter  eine  standesgemäße  Versorgung  zu 
suchen.  Durch  den  Dienst  als  Page  in  dem  Hause  der  auver- 
gnatischen  Ordenszunge  zu  Lyon  vorbereitet,  ging  er  1783 
nach  Malta.  Der  Zustand  hoffnungslosen  Verfalls  und  arger 
sittlicher  Verkommenheit,  in  dem  der  hochstrebende  Jüngling 
die  einst  so  gefeierte  Genossenschaft  fand,  bereitete  ihm  eine 
tiefe  Enttäuschung,  die  noch  gesteigert  wurde  durch  die  Er- 
fahrung, die  er  1784  als  Teilnehmer  an  einer  „Karawane" 
der  Ordensflotte  gegen  Algier  zu  machen  hatte.  Der  einzige 
Gewinn,  den  er  aus  dem  mehrjährigen  Aufenthalt  in  La  Valetta 
schließlich  mit  heimnahm,  war  die  intime  persönliche  Ver- 
bindung mit  dem  Ordensmeister,  dem  Fürsten  Emanuel  de 
Rohan-Paluc,  der  dem  reichbegabten,  strebsamen  und  leistungs- 
fähigen Jüngling  besonders  wohlwollende  Teilnahme  erwies  und 
bis  an  sein  Ende  (1797)  bewahrte.  Sein  Glück  in  dem  Orden 
zu  suchen  gab  Bray  danach  auf:  nach  Frankreich  zurück- 
gekehrt,  fand   er   in    dem    auswärtigen    diplomatischen  Dienst 


1)  Vgl.  AUg.  Deutsche  Biographie,  Bd.  55,  S.  680-81  und  „Aus  dem 
Leben  eines  Diplomaten  alter  Schule",  Leipzig  1901. 

1* 


4  1.  Abhandlung:  Hans  t*rutz 

Verwendung,  indem  er  der  Gesandtschaft  bei  dem  Reichstag 
zu  Regensburg  beigegeben  wurde,  eine  Stellung,  die  wohl  be- 
sonders geeignet  war,  ihn  mit  den  verzwickten  Verhältnissen 
des  dem  Untergang  entgegen  siechenden  Deutschen  Reiches 
bekannt  zu  machen,  zugleich  aber  auch  die  Kräfte  erkennen 
zu  lassen,  die  sich  bei  dem  bevorstehenden  Zusammenbruch 
zu  behaupten  und  Trägerinnen  neuer  politischer  Bildungen  zu 
werden  berufen  waren.  Auch  knüpfte  Bray  dort  über  den 
amtlichen  Kreis  hinaus,  auf  den  er  zunächst  angewiesen  war, 
angenehme  und  anregende  persönliche  Verbindungen  an,  die 
den  Regensburger  Aufenthalt  überdauerten,  wie  er  denn  auch 
in  der  Folge  für  die  alte  Reichsstadt  eine  besondere  Vorliebe 
bewahrt  zu  haben  scheint,  zumal  er  inzwischen  infolge  der 
Revolution  als  Emigrant  vaterlandslos  geworden  war.  Eine 
entscheidende  Wendung  in  seinem  Leben  bewirkte  die  Teil- 
nahme an  der  Gesandtschaft,  welche  dem  als  Großmeister  an 
die  Spitze  seines  Ordens  getretenen  Kaiser  Paul  von  Rußland 
die  Obedienzerklärung  der  bayerischen  Malteser  überbrachte. 
Sie  führte  ihn  zum  ersten  Mal  nach  Petersburg  und  lenkte  die 
Aufmerksamkeit  seines  Landsmannes,  des  leitenden  bayerischen 
Ministers  Grafen  Monfcgelas,  auf  ihn,  der  sich  beeilte,  eine 
so  vielversprechende  Kraft  für  den  Dienst  des  aufstrebenden 
Staates  zu  gewinnen.  Es  ist  bekannt,  in  wie  hohem  Maße 
Bray  als  Gesandter  Bayerns  in  Berlin,  Petersburg,  Paris  und 
Wien  die  auf  ihn  gesetzten  Hoffnungen  erfüllt  hat.  Dabei 
arbeitete  er,  von  seltener  geistiger  Beweglichkeit,  scharfem 
Blick  und  lebendiger  Teilnahme  auch  für  weitab  liegende  Dinge, 
unausgesetzt  an  seiner  Bildung  fort. 

Eindrücke  der  Jugend  dürften  es  gewesen  sein,  die  ihn 
dabei  eine  gewisse  realistische  Richtung  verfolgen  ließen.  Durch 
den  Vater,  der  während  seines  Aufenthalts  in  Nantes  benach- 
bartes Heideland  urbar  zu  machen  unternommen  hatte,  scheint 
früh  in  ihm  ein  besonderes  Interesse  für  die  Landwirtschaft 
erweckt  worden  zu  sein:  ihm  entsprang  und  diente  zugleich 
die  rege  Beschäftigung  mit  der  Nationalökonomie  und  den 
Naturwissenschaften,   insbesondere   der  Geologie   und  Zoologie, 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland.  5 

vor  allem  aber  der  Botanik.  Noch  als  Gesandter  in  Berlin 
(1801 — 8)  hat  Brav  nach  dem  Zeugnis  des  1842  verstorbenen 
Erlanger  Professors  der  Staatswissenschaften  J.  P.  Harb  bei 
diesem  „auf  ein  Kollegium  subskribiert."^)  Von  seinen  selb- 
ständigen und  die  Wissenschaft  mannigfach  fördernden  bota- 
nischen Studien  hat  die  ^Königlich  bayerische  botanische  Gesell- 
schaft zu  Regensburg*,  zu  deren  Begründern  und  eifrigsten 
Mitgliedern  er  gehörte  und  der  er  später  als  Präsident  vor- 
stand, vielfachen  Gewinn  gehabt.  Um  botanische  Beobach- 
tungen handelte  es  sich  auch  in  dem  nach  Brajs  Tod  zu  Ehren 
seines  Andenkens  von  der  Gesellschaft  1833  veröffentlichten 
Schriftchen  „Weiland  Seiner  Exzellenz  des  Hochgeborenen  Grafen 
Gabriel  von  Bray  .  .  .  Wissenschaftliches  Vermächtnis",  worin 
eine  „Lettre  ä  la  societe  botanique  de  Ratisbonne"  abgedruckt 
ist,  in  der  Bray  über  die  botanischen  Beobachtungen  Bericht 
erstattete,  die  er  auf  einer  im  Frühjahr  1831  unternommenen 
Exkursion  in  das  Salzkammergut  und  nach  Salzburg  gemacht 
hatte.  Ihr  folgt  die  Beschreibung  der  feierlichen  Sitzung  der 
Gesellschaft,  in  der  diese  am  24.  Oktober  1832  das  Andenken 
ilires  Präsidenten  in  besonders  nachdrücklicher  Weise  geehrt 
hatte.    Beigegeben    ist   ein   wohlgelungenes   Bildnis    desselben. 

Auch  die  bayerische  Akademie  der  Wissenschaften,  der  Bray 
seit  1808  als  Ehrenmitglied  angehörte,  erkannte  seine  wissen- 
schaftlichen Verdienste  durch  eine  akademische  Gedächtnisrede 
an,  die  der  Botaniker  K.  F.  Ph.  von  Martins  (1794—1868) 
hielt  und  die  1835  in  Regensburg  im  Druck  erschien. 

Der  erste  größere  literarische  Versuch,  mit  dem  Bray  in 
die  Öffentlichkeit  getreten  war  —  ohne  Nennung  seines  Namens 
zwar,  aber  unter  der  durchsichtigen  Chiffre  eines  „Chevalier 
D.  B.,  Conseiller  intime  d'Etat  de  S.  M.  le  roi  de  Baviere" 
—  war  das  1807  in  Berlin  erschienene  Büchlein  „Voyage 
aux  salines  de  Salzbourg  et  de  Reichenhall  et  dans 
une  partie  de  Tyrol  et  de  la  Haute-Baviere",   von  dem 


1)  Nekrolog  Weiland  S.  Exz.  der  Hochgeborene  Franz  Gabriel  de  Bray. 
Von  J.  P.  Harb,  Erlangen  1834. 


6  1.  Abhandlung:  Hans  Prutz 

* 
er  1822  in  Paris  eine  zweite,  reich  mit  Ansichten  geschmückte 
Ausgabe  erscheinen  lassen  konnte.  Durchblättert  man  heute 
diesen  erstaunlich  nüchternen  Bericht  über  eine  in  Gesellschaft 
Montgelas'  unternommene  Reise,  in  dem  die  Schilderung  der 
besuchten  Gebiete  trotz  dem  Eindruck  ihrer  landschaftlichen 
Schönheit  kaum  einmal  einen  höheren  Flug  zu  nehmen  ver- 
sucht, so  mutet  es  freilich  sonderbar  an,  die  uns  allen  so  wohl- 
bekannten und  lieben,  heute  allsommerlich  von  vielen  Tausen- 
den froh  genießender  Wanderer  besuchten  Berge,  Täler  und 
Seen  Oberbayerns  und  des  Berchtesgadener  und  Salzburger 
Landes,  deren  Namen  dem  Franzosen  gelegentlich  Schwierig- 
keiten bereiteten  und  wunderlich  entstellt  erscheinen,  gewisser- 
maßen als  ein  bisher  unbekanntes  und  erst  neu  entdecktes  Ge- 
biet geschildert  zu  finden.  Andrerseits  überrascht  und  erfreut 
aber  auch  der  sichere  Blick,  die  gute  Beobachtung  und  das 
gesunde  Urteil  des  Verfassers,  der  namentlich  die  wirtschaft- 
lichen Verhältnisse  in  den  Kreis  seiner  Betrachtungen  zieht 
und  bei  der  Einschätzung  von  Land  und  Leuten  sorgsam  in 
Rechnung  stellt.  Daß  dabei  Versehen  und  Irrtümer  vorkom- 
men und  gelegentlich  wunderliche  Mißverständnisse  mit  unter- 
laufen, kann  nicht  überraschen  und  tut  der  Verdienstlichkeit 
der  Studie  für  eine  Zeit  keinen  Abbruch,  wo  eine  derartige 
Betrachtungsweise  überhaupt  noch  neu  war  und  gewisse  dafür 
eigentlich  unentbehrliche  Voraussetzungen  noch  fehlten.  Daß 
bei  Bray  diese  vorhanden  waren  und  er,  wo  ihm  die  Möglich- 
keit zu  gründlichen  Studien  geboten  war,  auch  an  eine  größere 
Aufgabe  dieser  Art  sich  mit  Aussicht  auf  Erfolg  wagen  durfte, 
zeigt  der  „Essai  critique  sur  Fhistoire  de  la  Livonie 
suivi  d'un  tableau  de  Fetat  actuel  de  cette  province.  Par 
C.  D.  B.,  Membre  de  l'Academie  royale  des  sciences  de  Munich, 
President  de  la  societe  botanique  de  Ratisbonne"  (3  Bände, 
Dorpat  1817).  Der  darin  zusammengetragene  reiche  Stoff  ist 
so  verteilt,  daß  die  beiden  ersten  Bände,  als  „Partie  premiere" 
zusammengehörig,  in  sechs  Kapiteln  die  Geschichte  Livlands 
bis  zum  Frieden  von  Nystädt  (1721)  behandeln,  unter  sorg- 
samer Benutzung  der  reichen  älteren  Literatur,  die  er  auch  in 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland.  7 

der  Einleitung  zusammenstellt  und  im  Allgemeinen  kritisch 
würdigt,  wie  auch  die  den  einzelnen  Abschnitten  beigefügten 
Anmerkungen  und  Beilagen  dem  Streben  des  Verfassers  nach 
geschichtlicher  Wahrheit  das  beste  Zeugnis  ausstellen.  Daß 
diesem  unter  den  für  eine  derartige  Arbeit  damals  gegebenen 
Bedingungen  noch  immer  ziemlich  enge  Grenzen  gezogen  blieben, 
braucht  freilich  kaum  besonders  bemerkt  zu  werden.  Die  dar- 
aus entspringenden  Mängel  werden  auch  nicht  ausgeglichen 
durch  die  Vertrautheit  des  Verfassers  mit  Land  und  Leuten, 
die  sich  vielfach  in  erfreulicher  Weise  bemerkbar  macht.  Denn 
abgesehen  von  den  mancherlei  persönlichen  Verbindungen,  die 
er  als  bayerischer  Gesandter  am  russischen  Hof  für  seine  Studien 
nutzbar  machen  konnte  und  deren  Spuren  man  vielfach  be- 
gegnet, war  Bray  mit  dem  Lande  durch  ein  besonderes  Band 
noch  enger  verknüpft  und  an  dessen  Gedeihen  interessiert  und 
dadurch  veranlaßt  und  in  den  Stand  gesetzt,  in  manche  sonst 
wenig  bekannte  und  selten  beleuchtete  Verhältnisse  einen  tie- 
feren Blick  zu  tun:  noch  als  bayerischer  Gesandter  in  Berlin, 
welchen  Posten  er  1801 — 8  bekleidete,  hatte  Bray,  nachdem 
er  die  bisher  äußerlich  noch  festgehaltene  Verbindung  mit  dem 
Malteserorden  gelöst  hatte,  indem  er  sich  von  seinem  Gelübde 
entbinden  ließ,  1805  die  Tochter  eines  dort  lebenden  livlän- 
dischen  Edelmanns,  des  Erbherrn  auf  Wolmarshof  und  Koken- 
hausen, Freiherrn  von  Löwenstern,  geheiratet  und  war  so  einem 
der  seit  der  schwedischen  Zeit  im  Lande  heimischen  reich  be- 
güterten Adelsbäuser  verwandtschaftlich  verbunden.  Wieder- 
holter längerer  Aufenthalt  auf  den  Besitzungen  seines  Schwieger- 
vaters, von  denen  das  Ordensschloß  Kokenhausen  in  der  Landes- 
geschichte eine  hervorragende  Rolle  gespielt  hatte,  machte  ihn 
mit  Land  und  Leuten  genauer  bekannt  und  ließ  ihn  nament- 
lich für  die  Eigenart  des  lettischen  Volks,  wie  sie  sich  in 
Sprache,  Lied  und  Brauch  trotz  allem  Elend  lebensvoll  offen- 
barte, Interesse  und  Verständnis  gewinnen:  die  Abschnitte,  in 
denen  er  von  diesen,  auch  dort  zu  Lande  sonst  wenig  beach- 
teten Dingen  eingehend  handelt,  sind  mit  unverkennbarer  Vor- 
liebe ausgeführt.    Umsomehr  könnte  es  überraschen,  daß  Bray 


8  1.  Abhandlung:  Hans  Prutz 

darauf  verzichtet,  von  der  Lage  der  lettischen  Bauern  ein  ge- 
naueres Bild  zu  geben,  zumal  doch  gerade  in  den  Jahren,  in 
denen  sein  Werk  entstand,  auf  diesem  Gebiet  lebhafte  Be- 
wegung herrschte  und  die  Bauernfrage  Gegenstand  erregter 
Erörterungen  war,  die  bei  der  mit  einer  schweren  Krisis  dro- 
henden wirtschaftlichen  Notlage  des  Adels  und  dem  Drängen 
der  Regierung  auf  endliche  Besserung  der  unhaltbar  gewor- 
denen Zustände  zu  rascher  Entscheidung  nötigten.  Es  ist  für 
Bray  charakteristisch,  daß  er  dieser  Vorgänge,  der  durch  sie 
veranlaßten  Kämpfe  und  der  ihnen  entspringenden  Hoffnungen 
und  Befürchtungen  überhaupt  kaum  Erwähnung  tut,  so  daß 
der  Unkundige  glauben  möchte,  es  handle  sich  um  ganz  feste, 
nicht  mehr  in  unruhigem  und  beunruhigendem  Fluß  befind- 
liche Vorgänge.  Doch  mag  man  zweifeln,  ob  er,  der  seine 
Informationen  natürlich  dem  Kreise  der  adeligen  Großgrund- 
besitzer, der  Standes-  und  Interessengenossen  des  Herrn  von 
Löwenstern,  verdankte,  von  diesen  Dingen  recht  eingehende 
Kenntnis  hatte  und  nicht  vielmehr  auf  solche  Autorität  hin 
die  Zustände  als  allgemein  so  beschaffen  schilderte,  wie  sie 
nach  jener  Herren  Ansicht  normaler  Weise  beschaffen  sein 
sollten,  wie  diese  sie  daher  als  zu  Recht  bestehend  anerkannt 
und  geschildert  zu  sehen  wünschten.  Freilich  war  ja  an  der 
bestehenden  Ordnung  ernstlich  Kritik  zu  üben,  ihre  schweren 
Mängel  aufzudecken  und  Vorschläge  zu  deren  Abstellung  zu 
machen  in  einem  Buche  kaum  möglich,  das  von  einem  am 
russischen  Hof  beglaubigten  fremden  Gesandten  dem  Kaiser 
Alexander  selbst  ehrerbietigst  gewidmet  war,  gewidmet  in  der 
verehrungsvollen  Bewunderung,  mit  der  damals  auch  weite 
Kreise  Westeuropas  gerade  diesen  Herrscher  als  die  Verkör- 
perung aller  fürstlichen  Vollkommenheit  zu  umschmeicheln 
pflegten.  Wenn  Bray  dabei  beteuert,  sich  der  Wahrheit,  wie 
diese  ja  auch  der  Kaiser  liebe,  befleißigt  zu  haben,  so  wird 
ihm  das  für  den  geschichtlichen  Teil  seiner  Arbeit  vollauf 
zugestanden  werden  müssen :  dieselbe  bezeichnet  gegenüber  den 
früheren  Versuchen,  Livlands  Geschichte  darzustellen,  einen 
bedeutenden  Fortschritt  und  ist  in  dieser  Hinsicht  mit  Unrecht 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland.  9 

allzu  früh  in  Vergessenheit  geraten.  Auch  hat  sie  das  für 
jene  Zeit  nicht  gering  anzuschlagende  Verdienst,  die  eigen- 
artige Natur  des  Landes  gründlich  geschildert  und  als  bedin- 
gende und  bestimmende  Grundlage  für  seine  geschichtliche  Ent- 
wicklung zuerst  recht  zur  Geltung  gebracht  zu  haben :  gerade 
diese  Art  der  Betrachtung  entsprach  des  Verfassers  realistisch 
gerichteter  Geistesart.  Wo  es  aber  tiefer  zu  graben,  Ver- 
irrungen  und  Mißbräuche  aufzudecken  und  die  zu  ihrer  Besei- 
tigung gemachten  Versuche  recht  zu  würdigen  und  ihnen  zu 
kräftigerer  Wirkung  zu  verhelfen  gilt,  da  macht  sich,  möchte 
man  sagen,  nicht  bloß  der  Diplomat,  sondern  auch  der  Mann 
des  alten  Regime  geltend,  dessen  Denken  zwar  von  der  Auf- 
klärung berührt  ist,  der  sich  aber  der  geschichtlich  überkom- 
menen traurigen  Wirklichkeit  gegenüber  mit  einer  wohlwol- 
lenden, seine  humane  Gesinnung  bezeugenden  Phrase  begnügt 
und  damit  genug  getan  zu  haben  meint.  Wohl  weist  er  be- 
dauernd darauf  hin,  wie  infolge  des  großen  Umfangs  der  Pfarr- 
sjirengel,  der  den  Pastoren  den  regelmäßigen  Besuch  entlegner 
Gemeinden  unmöglich  macht  und  daher  zwischen  ihnen  und 
den  ihrer  Obhut  Befohlenen  ein  innigeres  Verhältnis  nicht  auf- 
kommen läßt,  auch  die  Schule  wenig  leistet,  so  daß  der  Bil- 
dungsstand der  Letten  ein  bedauerlich  niedriger  bleibt,  diese 
insbesondere  nicht  Deutsch  lernen  und  dadurch  von  der  zur 
allmählichen  Verschmelzung  mit  den  Deutschen  unentbehrlichen 
Lebensgemeinschaft  mit  diesen  fern  gehalten  werden.^)  Auch 
wirft  er  zwar  die  elegische  Frage  auf,  ob  der  Bauer  in  Liv- 
land wohl  glücklich  zu  nennen  sei,  begnügt  sich  aber  mit  der 
das  Wesen  der  Sache  umgehenden  Antwort,  unmöglich  könne 
eine  Nation  glücklich  sein,  die  weder  Freiheit  noch  Eigentum 
habe,  fügt  dann  jedoch  beschönigend  die  Bemerkung  hinzu, 
unter  einem  edeldenkenden  und  wohltätigen  Herrn  werde  in 
den  fruchtbaren  Teilen  des  Landes  ein  fleißiger  Bauer,  nament- 
lich wenn  er  daneben  ein  Handwerk  betreibe,  immerhin  zu 
Wohlstand  gelangen,  ja  sogar  reich  werden  können :  dann  ge- 


\ 


1)  III,  S.  125. 


10  1.  Abhandlung;  Hans  Prutz 

nieße  wenigstens  der  physische  Mensch  das  damit  verbundene 
Wohlbehagen,  doch  schließe  dieses  sozusagen  passive  Glück 
das  Nachdenken  aus.  Denn  der  unfreie  Mensch,  der  über 
seinen  Zustand  nachdenke,  könne  nur  unglücklich  sein.  Das 
ist  immerhin  deutlich  genug  gesprochen  und  läßt  keinen  Zweifel 
über  das  Urteil,  das  Bray  sich  in  der  Stille  über  die  Lage  der 
Bauern  in  Livland  gebildet  hatte.  Es  läuft  ungefähr  auf  das- 
selbe hinaus,  wenn  er  ein  anderes  Mal  die  deutschen  Guts- 
herren in  Livland  nach  Lebensweise,  Haushalt  und  Wirtschafts- 
betrieb mit  den  Plantagenbesitzern  auf  den  Inseln  der  neuen 
Welt  vergleicht.  Er  ist  eben  auch  hier  Diplomat  und  zieht 
vor  zu  schweigen  oder  nur  anzudeuten,  wo  er,  sprach  er  seine 
Meinung  rückhaltlos  aus,  Anstoß  erregt  und  Leute,  denen  er 
Rücksicht  schuldig  zu  sein  glaubte,  verletzt  oder  bloßgestellt 
haben  würde.  Dazu  stimmt  auch  das  Stillschweigen,  das  er 
über  die  so  großes  Aufsehen  erregenden  und  Kämpfe  veran- 
lassenden Reformbestrebungen  beobachtet,  wie  sie  durch  von 
Schoultz-Ascheraden  angeregt  und  auf  dem  Landtag  von 
1765  verhandelt  worden  waren.  Fast  noch  auffallender  aber 
ist  seine  scheinbare  Unbekanntschaft  mit  G.  H.  Merkels  1796 
erschienenem  und  weit  über  die  Grenzen  Livlands  hinaus  ge- 
waltiges Aufsehen  machendem  Buch  über  die  Letten,  das  noch 
1800  in  zweiter  Auflage  erschienen  war.  Die  Ignorierung 
dieses  für  den  von  ihm  behandelten  Gegenstand  so  epoche- 
machenden Buches  geht  so  weit,  daß  er  später  in  der  Skizze 
von  den  literarischen  Leistungen  Livlands^)  Merkel  zwar  nennt 
als  den  bedeutendsten  neueren  Schriftsteller,  aber  nur  seine 
„Briefe  an  ein  Frauenzimmer  über  die  wichtigsten  Produkte 
der  schönen  Literatur  in  Deutschland"  (Berlin  1800 — Ol)  und 
seine  „Briefe  über  einige  der  wichtigsten  Städte  des  nördlichen 
Deutschland"  (Berlin  1800)  anführt  und  die  ihrer  Zeit  so  großes 
Aufsehen  erregende  Hauptschrift  nicht  zu  kennen  scheint,  son- 
dern Merkels  ganze  sonstige  überaus  mannigfaltige  literarische 
und  publizistische  Wirksamkeit  mit  der  Bemerkung  abtut,  seine 


1)  III,  S.  230. 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland.  1 1 

Arbeiten  seien  in  Deutschland  bekannt  und  als  geistreich  und 
originell  geschätzt.  Daß  ihm  das  Buch  wirklich  unbekannt 
geblieben  sei,  ist  bei  einem  Autor  undenkbar,  der  die  seinen 
Gegenstand  betreffende  Literatur  in  so  ungewöhnlichem  Maße 
beherrscht  und  verständnisvoll  verwertet.  Zu  erklären  aber 
ist  die  scheinbare  Unkenntnis  nur  durch  die  Annahme,  daß 
Bray  entweder  die  Stellung  geteilt  habe,  die  der  livländische 
Adel  in  jenen  kritischen  Jahren  in  der  Agrar-  und  Bauern- 
frage einnahm,  also  die  bisher  bestehende  Ordnung  gebilligt 
und  erhalten  zu  sehen  gewünscht  habe  oder  aus  begreiflicher 
Rücksicht,  um  Verwandten  und  Gastfreunden  nicht  zu  nahe 
zu  treten  und  vielleicht  Schaden  zu  stiften,  geflissentlich  ver- 
mieden habe,  in  den  die  Zeit  bewegenden  wirtschaftlichen  und 
sozialen  Kämpfen  offen  Partei  zu  nehmen.  Letzteres  ist  das 
Wahrscheinlichere,  wenn  man  sich  der  Wendung  erinnert,  mit 
der  er  um  die  Beantwortung  der  Frage  herumgeht,  ob  der 
lettische  Bauer  glücklich  sein  könne,  indem  er  kurz  auf  dessen 
Unfreiheit  als  unüberwindliches  Hindernis  für  das  Aufkommen 
des  Glücksgefühls  hinweist.  Dafür  spricht  auch  das  ergreifende 
Bild,  das  er  weiterhin  von  dem  mühseligen  und  freudlosen 
Dasein  der  in  harter  Arbeit  mit  einer  kargen  Natur  um  das 
Leben  ringenden  Letten  mit  Sachkenntnis  und  Liebe  entwirft. 
Wohl  erkennt  er  gelegentlich  an,  daß  die  Lage  der  Bauern 
neuerdings  in  mancher  Hinsicht  verbessert  sei,  hält  aber  doch 
nicht  zurück  mit  der  Forderung,  daß  da  noch  viel  mehr  ge- 
schehen müsse.  „Die  Knechtschaft  der  Bauern,  sagt  er  am 
Schluß  des  Abschnitts  über  die  Großgrundbesitzer,^)  bei  deren 
Erörterung  er  wieder  auf  den  Kern  der  Frage  nicht  eingeht, 
sondern  sich  mit  der  Besprechung  von  Äußerlichkeiten  begnügt, 
die  Knechtschaft  der  Bauern  und  der  sich  daraus  ergebende 
Mangel  an  moralischer  Kultur  derselben  und  die  Gleichförmig- 
keit des  Besitzes  und  seiner  Benutzung  breiten  über  das  ganze 
Land  einen  Schleier  melancholischen  Leidens  und  nehmen  ihm 
den  Eindruck  des  Lebens  und  der  Bewegung,  der  dem  Anblick 

1)  IlL  S.  155. 


12  1.  Abhandlung:  Hans  Prutz 

4 

freier  Länder  einen  besonderen  Reiz  verleiht,  in  denen  ver- 
schiedene Berufsarten  sich  betätigen,  falls  nicht  eine  allzu 
strenge  Natur  sie  zur  Unfruchtbarkeit  verurteilt."  „So  erfreut 
sich  Livland,  fährt  er  dann  fort  mit  einer  Anspielung  auf  die 
in  Vorbereitung  befindlichen  Reformen,  einer  merklichen  Bes- 
serung in  Bezug  auf  die  Lage  der  Bauern,  und  diese  sind  vom 
Adel  selbst  herbeigeführt  und  geregelt  durch  die  Erlasse  des 
ruhmvollsten  der  Kaiser"  —  eine  Vorstellung,  die,  so  weit  sie 
noch  immer  verbreitet  ist,  den  Tatsachen  doch  nicht  entspricht 
und  endlich  aufgegeben  werden  muß.  Jedenfalls  war  mit 
dem  bisher  Geschehenen  auch  Bray  noch  nicht  genug  getan. 
„Hoffen  wir,  so  schließt  er  den  Abschnitt,  daß  man  eines  Tages 
von  beiden  Seiten  noch  weitergehen  wird  und  daß  nicht  bloß 
die  Freiheit  der  Personen,  sondern  auch  die  der  Sachen  und 
des  Handels  den  Provinzen  zu  dem  höchst  erreichbaren  Grad 
des  Glücks  verhelfen." 

Gerade  hundert  Jahre  sind  vergangen,  seit  der  vielseitig 
gebildete,  weltkundige  und  menschenfreundliche  bayerische  Dip- 
lomat sein  Werk  über  Livland  verfaßte  und  damit  für  die 
Mehrzahl  seiner  Leser  ein  bisher  so  gut  wie  unbekanntes  Ge- 
biet in  seinem  eigenartigen  Leben  erschloß.  Voll  aufrichtiger 
Teilnahme  für  das  ihm  lieb  gewordene  Land  hat  er  von  dem 
damaligen  Zustand  desselben  wohl  ein  im  Ganzen  und  Großen 
der  Wirklichkeit  entsprechendes  Bild  gegeben,  aber  die  Farben 
doch  nur  dünn  und  matt  aufgetragen  und  insbesondere  ver- 
mieden, durch  unabgeschwächte  Wiedergabe  der  mit  dem  dürf- 
tigen Licht  so  kraß  kontrastierenden  dunkeln  Schatten  dasselbe 
zu  wahrhaft  plastischer  Wirkung  zu  erheben.  Die  Zeichnung 
entbehrt  der  kraftvollen,  festen  und  im  Notfall  harten  Linien, 
deren  es  hier  zur  Wiedergabe  einer  unerfreulichen  Wirklich- 
keit bedurft  hätte.  Dieser  entspricht  auch  nicht  die  künstlich 
abgepaßte  Perspektive,  die  den  Wert  der  einzelnen  Erschei- 
nungen für  das  Ganze  zum  Teil  arg  verschiebt.  Das  Buch, 
verdienstlich  an  sich,  leidet  eben  unter  der  Abhängigkeit  des 
Verfassers  von  der  Tradition,  welche  in  dem  nun  einmal  herr- 
schenden  und   vor  allem  auf  Behauptung   der  Herrschaft  be^ 


\ 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenscliaft  in  Livland.  13 

dachten  Kreisen  in  Bezug  auf  den  Ursprung  und  das  durch 
diesen  bedingte  Wesen  der  damals  bestehenden  Ordnung  seit 
langem  gepflegt  wurde:  diese  gibt  es  wieder  und  kommt  trotz 
den  dem  Verfasser  zuweilen  aufsteigenden  Zweifeln  über  schwäch- 
liche Versuche  zu  ihrer  kritischen  Prüfung  nicht  hinaus.  Selbst 
als  zuverlässige  Quelle  für  die  Kenntnis  Livlands  und  seiner 
Zustände  zu  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  konnte  das  Buch 
Brays  auch  zur  Zeit  seines  Erscheinens  kaum  anerkannt  wer- 
den, sondern  nur  als  eine  die  vorhandenen  Gegensätze  mög- 
lichst zu  verhüllen  und  die  obwaltenden  Schwierigkeiten  mög- 
lichst zu  umgehen  bestrebte  Wiedergabe  des  Bildes,  das  der 
altangesessene  Adel  von  seinem  Lande,  dessen  Vergangenheit 
und  damaligen  Zuständen  allgemein  angenommen  zu  sehen 
wünschte.  Heute  kann  es  nur  noch  ein  literarhistorisches  In- 
teresse beanspruchen :  auch  für  eine  Betrachtung  der  weiteren 
Entwicklung  Livlands  im  19.  Jahrhundert  bietet  es  infolge  der 
möglichst  beschönigenden  Darstellung,  die  es  von  den  damaligen 
Zuständen  gibt,  keine  genügende  Grundlage. 

Wechselnde  Schicksale  hat  Livland  seitdem  durchgemacht, 
obgleich  die  wesentlichste  Grundlage  seiner  allgemeinen  poli- 
tischen Stellung  keinen  so  durchgreifenden  Wandel  erfuhr,  wie 
er  ihm  nach  Zerfall  des  livländischen  Bundesstaates  durch  den 
Übergang  erst  unter  polnische,  dann  unter  schwedische  und 
schließlich  unter  russische  Herrschaft  beschieden  war.  Um  so 
bewegter  jedoch  durch  schwer  auszugleichende  Gegensätze  im 
Innern  und  diesen  entspringende  heftige  Konflikte  verlief  seine 
Geschichte,  namentlich  seit  das  eroberungslustige  Moskowiter- 
tum  die  deutsche  Kultur,  die  auch  von  offizieller  russischer 
Seite  bisher  als  überlegen  anerkannt  und  dankbar  zum  Besten 
des  Gesamtstaats  nutzbar  gemacht  worden  war,  planmäßig  zu 
bekämpfen  begann,  um  durch  systematische  Russifizierung  ihre 
Träger  zur  Verleugnung  ihrer  Vergangenheit  zu  nötigen.  Sind 
diese  in  der  Abwehr  solcher  Vergewaltigung  ihres  Deutsch- 
tums lebhafter  denn  je  zuvor  bewußt  ge'vvorden,  so  haben  sie 
doch  gerade  dabei  von  neuem  erkennen  müssen,  wie  viel  nach 
dieser  Seite  hin  von  früheren  Generationen  versäumt  und  nun 


14  1.  Abhandlung:  Hans  Pnitz 

unter  den  denkbar  schwierigsten  Umständen  nachzuholen  war, 
weil  der  breit  und  tief  fundierte  Rückhalt  fehlte,  wie  ihn  in 
solcher  Lage  auch  einem  seines  Rechts  und  seiner  Pflicht  be- 
wußten Volkstum  nur  ein  seit  Generationen  mit  seinem  Boden 
verwachsener  Bauernstand  gewähren  kann,  der  in  stolzer  Treue 
den  von  den  Vätern  ererbten  Acker  bebaut.  Daß  es  an  einem 
solchen  fehlte,  während  die  Zukunft  des  Landes  doch  nur  mit 
seiner  Hilfe  gerettet  werden  konnte,  haben  die  nächstinteres- 
sierten Kreise  endlich  eingesehen.  Auch  in  diesem  Falle  ist 
die  richtige  Erkenntnis  des  Übels  der  Anfang  der  Besserung: 
sie  weist  weiter  den  Weg,  der  verfolgt  werden  muß,  wenn  das 
von  den  Vorfahren  Versäumte  von  deren  späten  Enkeln  nach- 
geholt und  damit  das  kostbare  Erbe  für  die  Zukunft  erhalten 
werden  soll.  Dazu  ist  freilich  vor  allem  nötig,  daß  man  mit 
den  Vorurteilen  offen  und  ehrlich  breche,  das  früher  Gefehlte 
nicht  spitzfindig  zu  rechtfertigen  und  zu  beschönigen  und  die 
daraus  erwachsenen  Mißstände  nicht  als  normal  und  berechtigt 
darzustellen  bemüht  sei,  sondern  der  unverhüllten  Wahrheit, 
so  unerfreulich  und  zuweilen  belastend  sie  gelegentlich  sein 
mag,  mutig  in  das  Gesicht  zu  sehen  lerne. 


L 

Die  Einseitigkeit  der  deutschen  Kulturarbeit  in  Livland  und 

die  Beschränktheit  ihres  Erfolges. 

Wenn  Livland  gelegentlich  kurzweg  als  ein  deutsches  Land 
bezeichnet  wird,  so  liegt  dafür  in  seinen  ethnographischen  Ver- 
hältnissen jedenfalls  kein  Grund  vor.  Denn  von  den  rund 
2^/a  Millionen  Einwohnern,  die  es  zu  Beginn  des  gegenwärtigen 
Krieges  zählte,  entfallen  nur  200000  auf  die  Deutschen :  diese 
machen  also  noch  nicht  den  zwölften  Teil  der  Gesamtbevöl- 
kerung aus  und  nehmen  der  Zahl  nach  erst  den  dritten  Platz 
in  dem  absonderlichen  Völkergemisch  ein,  welches  das  viel 
umstrittene  Land  gewissermaßen  als  Niederschlag  seiner  wechsel- 
vollen Geschichte  aufweist. 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland.  15 

Denn  von  der  finnischen  Urbevölkerung  hat  sich  nur  ein 
unbedeutender  Rest  bis  heute  erhalten  in  den  etwa  3000  Köpfe 
zählenden  Liven  am  Kap  DomesnUs  und  in  dem  benachbarten 
Küstenstrich.  Auch  die  900000  Esten,  die  fast  ganz  Estland, 
den  größten  Teil  der  Inseln  und  den  Norden  von  Livland  be- 
wohnen, sich  aber  auch  in  Ingermanland  und  im  Pleskowschen 
angesiedelt  und  an  der  Wolga  und  im  Kaukasus  Kolonien  ge- 
gründet haben,  können  nicht  als  Nachkommen  der  ältesten 
Bevölkerung  finnisch-ungrischer  Rasse  in  Anspruch  genommen 
werden,  da  sie  früh  mit  germanischen,  namentlich  schwedischen 
Elementen  stark  durchsetzt  sind,  also  ein  germanisch-finnisches 
Mischvolk  darstellen.  Äußerlich  meist  unscheinbar,  zeichnen  die 
Esten  sich  aus  durch  ungewöhnliche  Körperkraft,  sind  arbeit- 
sam, mäßig  und  pflichttreu,  dabei  von  kühler  Überlegung  und 
zäher  Ausdauer,  Eigenschaften,  die  sie  besonders  als  Seefahrer 
und  Ackerbauer  daheim  und  in  der  Fremde  betätigen.  In  alle 
dem  stehen  ihnen  die  Letten  nach,  die  in  einer  Stärke  von 
1100000  —  nach  anderen  Angaben  sogar  1400000  —  nahezu 
die  Hälfte  der  Bevölkerung  Livlands  ausmachen.  Die  livische 
Urbevölkerung  verdrängend,  sind  von  Südosten  her  die  Stämme 
der  Letogallen,  der  Selen  und  Semgallen  eingewandert:  das 
aus  ihrer  Vermischung  entstandene  Volk  der  Letten  hat  heute 
den  Südosten  Livlands  und  den  größten  Teil  von  Kurland  inne. 
Ihre  Sprache  ist  der  litauischen  und  der  altpreußischen  am 
nächsten  verwandt.  Meist  bekennen  sie  sich  zur  evangelischen 
Lehre,  die  gleich  bei  ihrer  Begründung  im  Lande  feste  Wurzel 
schlug;  auch  von  den  im  letzten  Drittel  des  vorigen  Jahr- 
hunderts zum  Übertritt  zur  russischen  Staatskirche  Verleiteten 
sind  die  meisten  zu  ihrem  väterlichen  Glauben  zurückgekehrt. 
Im  Gegensatz  zu  dem  Esten  eignet  dem  Letten  eine  gewisse 
unruhige  Beweglichkeit:  er  ist  leicht  entzündlich  und  dann 
wohl  zu  hitzigen  Taten  hingerissen,  so  wie  es  zu  sein  pflegt, 
wenn  einem  Volk  durch  die  Ungunst  des  Schicksals  versagt 
blieb,  sich  auszuleben  und  einen  Platz  an  der  Sonne  zu  ge- 
winnen. Wird  doch  selbst  von  deutscher  Seite  nicht  bestritten, 
daß   die  Letten,    seit   ihnen   im   letzten   Menschenalter   freiere 


16  1.  Abhancllung:  Hans  Prutz 

Bewegung  gewährt  wurde,  sich,  und  zwar  nicht  nur  wirtschaft- 
lich, in  einer  Weise  gehoben  haben,  daß  manche  in  ihnen  bereits 
eine  Gefahr  für  das  baltische  Deutschtum  sehen  wollen,  nament- 
lich so  lange  sie  eine  von  deutschfeindlichen  Tendenzen  erfüllte 
Regierung  begünstigt.  Stehen  doch  den  1100000  Letten  und 
den  900000  Esten  nur  200000  Deutsche  gegenüber  —  eine 
überraschend  geringe  Zahl,  wenn  man  bedenkt,  daß  es  sich 
um  ein  Gebiet  handelt,  in  das  die  Vorfahren  derselben  vor 
mehr  als  750  Jahren  den  Weg  gefunden  haben  und  diesen 
dann  immer  neue  Scharen  von  deutschen  Kaufleuten  und  Kolo- 
nisten gefolgt  sind.  Überraschend,  um  nicht  zu  sagen  er- 
schreckend klein  erscheint  die  Zahl  der  Deutschen  in  Livland 
gegenüber  den  sonst  dort  noch  vertretenen  nationalen  Gruppen. 
Da  sind  zunächst  die  Russen  mit  128000  Köpfen,  meist  Mili- 
tärs und  Beamte,  aber  auch  Kaufleute,  Kleinhändler  und  Krä- 
mer und  bei  den  Bauern  ein-  und  ausgehende  Kommissionäre. 
Der  Kopfzahl  nach  folgen  dann  die  Juden  mit  45000:  sie 
sitzen  am  dichtesten  in  Kurland  und  da  begreiflicherweise 
namentlich  in  Riga.  Ihre  Vorfahren  sind,  wie  schon  ihr  leicht 
verständlicher,  dem  niederrheinischen  nahe  verwandter  Dialekt 
erkennen  läßt,  dereinst  aus  Nordwest-Deutschland  eingewandert. 
Als  Kleinhändler,  Gewerbetreibende  und  Handwerker  sind  sie  für 
das  wirtschaftliche  Leben  des  Landes  von  großer  Wichtigkeit. 
Ferner  leben  in  Livland  36  000  Polen,  davon  nicht  weniger  als 
16000  allein  in  Riga,  teils  Gutsbesitzer,  teils  Beamte,  teils 
Händler.  Der  gemeinsame  Gegensatz  zu  den  Russen  schloß 
hier  ein  feindliches  Verhältnis  zu  den  Deutschen  aus.  Eigen- 
tümlich abgeschlossen  stehen  die  23000  Littauer  da,  die  sich 
im  Gegensatz  zu  ihren  evangelischen  Stammesgenossen  in  dem 
benachbarten  Preußen  zur  katholischen  Kirche  bekennen.  End- 
lich haben  sich  auf  den  Inseln  und  an  einzelnen  Küstenpunkten 
noch  7000  Schweden  erhalten,  die  meist  dem  Ackerbau  und 
der  Viehzucht  leben,  aber  auch  als  Seefahrer,  Lotsen  und  See- 
hundsjäger bewährt  sind. 

Wenn  demnach  hier  nach  mehr  als  sieben  Jahrhunderten 
seit  Beginn  der  deutschen  Kolonisation  die  Deutschen  mit  nur 


Der  Kampf  um  die  Lcibeigenscliaft  In  Livland.  1 7 

200000  Köpfen  2200000  Angehörigen  anderer  Völkerstänime 
oder,  sieht  man  von  den  Russen,  Polen,  Schweden  und  Juden 
als  später  hinzugezogenen  Fremdlingen  ab,  doch  2003000  Ver- 
tretern der  einst  vorgefundenen  „undeutschen"  Bevölkerung 
gegenüberstehen,  so  beweist  das,  daß  die  Kulturarbeit  der  Kolo- 
nisation hier  nicht  den  Erfolg  gehabt  hat,  den  wir  anderwärts 
von  ihr  erreicht  zu  sehen  gewohnt  sind.  Sollte  daran  wirk- 
lich nur,  wie  man  gemeint  hat,  die  verhältnismäßige  Entlegen- 
heit des  Landes  schuld  sein  und  die  dadurch  veranlagte  Schwäche 
des  Zuzugs  aus  dem  Mutterland?  Sollten  nicht  vielmehr  nicht 
bloß  die  Methode,  nach  der  die  Kolonisation  betrieben  wurde, 
sondern  auch  das  Ziel,  das  sie  zunächst  erstrebte,  von  der 
Methode  und  dem  Ziel  wesentlich  verschieden  gewesen  sein, 
die  derartige  Unternehmungen  sonst  beherrscht  haben?  Ander- 
wärts ist  deren  Verlauf  doch  ein  wesentlich  anderer  und  das 
Ergebnis  auch  zahlenmäßig  weit  beträchtlicher  gewesen.  Um 
von  der  größten  und  folgenreichsten  kolonisatorischen  Leistung 
der  Deutschen,  der  Germanisierung  der  slavischen  Lande  im 
Osten  von  Main,  Saale  und  Elbe  zu  schweigen:  —  man  denke 
nur  an  das  Ordensland  Preußen,  das  zu  vergleichen  besonders 
nahe  liegt,  weil  nicht  bloß  die  für  den  Verlauf  gegebenen 
Bedingungen,  sondern  auch  die  Form  und  die  Mittel  dieselben 
waren.  Das  Ordensland  Preußen  aber  ist  früh  durch,  und  durch 
deutsch  geworden,  und  auch  die  Reste  seiner  ursprünglichen 
Bevölkerung  sind,  selbst  wo  sie  ihre  Sprache  bewahrten,  im 
Denken  und  Fühlen  ganz  deutsch  geworden.  Denn  das  im 
westlichen  Teil  aufgekommene  Polentum  ist  weit  späteren  Ur- 
sprungs. Wenn  man  aber,  um  das  ungewöhnlich  oberflächliche 
Ergebnis  der  deutschen  Kolonisation  in  jenen  baltischen  Landen 
zu  erklären  und  zu  beschönigen,  wohl  bemerkt  hat,  die  Ge- 
schichte lehre,  „daß  kleine  Minderheiten  die  Reinheit  und  die 
Vorherrschaft  ihrer  Rasse  nur  erhalten  können,  wenn  sie  von 
der  gewaltsamen  Entnationalisierung  der  unterworfenen  Völker- 
schaften absehen,  wie  die  Schweden  in  Finnland,  die  Italiener 
in  Dalmatien  und  die  Engländer  in  Indien  getan  haben,"  so 
liegt  darin  doch   mittelbar  das  Eingeständnis,   daß  Livland    so 

Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  u.  d.  bist.  Kl.  Jahrg.  1916,  1.  Abb.  2 


lÖ  1.  Abhandlung:  flans  frutz 

wenig  ein  deutsches  Land  geworden  ist,  wie  Finnland  ein 
schwedisches,  Dalmatien  ein  italienisches  und  Indien  ein  eng- 
lisches. Vielmehr  haben  genau  so,  wie  die  Schweden  in  Finn- 
land und  die  Venetianer  in  Dalmatien  geherrscht  haben  und 
die  Engländer  in  Indien  noch  herrschen,  als  Eroberer,  die  eine 
Verschmelzung  mit  den  Unterworfenen  zu  einer  neuen  Volks- 
einheit als  ihren  Interessen  widerstreitend  absichtlich  vermieden, 
die  Deutschen  in  Livland  sich  zu  den  Letten  und  Esten  immer 
nur  als  die  zu  gebieten  und  Gehorsam  zu  heischen  berechtigten 
Herren  gestellt  und  danach  die  wirtschaftliche  Organisation  und 
die  gesellschaftliche  Gliederung  der  Gesamtbevölkeruug  geregelt: 
immer  noch  stehen  wie  vor  Jahrhunderten  Letten  und  Esten 
als  einer  trotz  ihrer  numerischen  Überlegenheit  untergeordneten 
Klasse  die  Deutschen  gegenüber  —  der  grundbesitzende  Adel, 
die  Geistlichkeit  und  die  Stadtbürger,  im  Besitz  einer  auf  Bil- 
dung und  Sondervorrechten  beruhenden  und  schon  um  ihres 
Alters  willen  als  unantastbar  geltenden  Macht.  Nicht  mit  Un- 
recht erklären  selbst  ihre  Lobredner  gewisse  Züge  im  Charakter 
der  baltischen  Deutschen  daraus,  data  dieselben  von  jeher  ein 
„Herrenvolk"  gewesen  seien. 

Das  ist  natürlich  als  Lob  gemeint,  bezeichnet  aber  doch 
zugleich  eine  Schwäche  oder  Einseitigkeit,  die  sich  in  der  Ge- 
schichte des  Landes  verhängnisvoll  geltend  gemacht  hat.  Immer 
Herr  zu  sein  und  zu  gebieten  ist  keinem  Volke  beschieden,  und 
wenn  ein  Volk,  dem  durch  besondere  Umstände  dennoch  eine 
Zeit  lang  zu  herrschen  beschieden  war,  infolge  dessen  meint,  zu 
herrschen  sei  überhaupt  sein  Beruf  und  sein  angestammtes 
Recht,  und  sich  demgemäß  einrichtet,  so  schadet  es  sich  selbst 
am  meisten.  Denn  es  vergißt  nur  allzu  leicht  die  Pflicht  des 
Dienstes  gegen  die  ihm  befohlenen  fremden  Interessen.  Auch 
bleibt  die  Vergeltung  nicht  aus,  vielmehr  lehrt  die  Geschichte, 
daß  solche  „Herrenvölker"  schließlich  doch  ihren  Meister  finden 
und  dann  doppelt  hart  getroffen  werden,  weil  gerade  die,  bei 
denen  sie  nun  Rückhalt  und  Hülfe  zu  suchen  gehabt  hätten,  von 
ihnen  bisher  planmäßig  niedergehalten  wurden  und  keine  Lust 
zeigen,  sich  für  ihre  Herren   besondern  Gefahren  auszusetzen. 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenscliaft  in  Livland.  19 

Das  ist,  in  großen  Zügen,  das  Schicksal  der  Deutschen 
Livlands  gewesen.  Die  in  der  Geschichte  waltende  Gerechtig- 
keit, welche  die  Sünden  der  Väter  noch  an  späten  Generationen 
heimsucht,  hat  auch  das  Unrecht,  das  die  deutschen  Eroberer 
Livlands  an  ihren  neuen  Untertanen  begangen  haben  und  das 
ihre  Nachkommen  in  trotzigem  „Herrensinn"  als  angebliches 
Recht  bewahrt  sehen  wollten,  noch  an  der  letzteren  Enkeln 
und  Urenkeln  vergolten.  Die  Schatten  seiner  Vergangenheit 
lagern  dunkel  auf  Livlands  Gegenwart  und  hindern  den  er- 
sehnten Ausblick  in  eine  lichtere  Zukunft.  Wie  diese  sich 
auch  immer  gestalten  mag,  eine  ernste  Sorge  wird  mit  in  sie 
hinüber  genommen  werden,  das  schwer  lastende  Erbe  einer 
irrungsreichen  Zeit,  dessen  Bann  zu  brechen  es  selbstloser  und 
opferfreudiger  sozialer  und  wirtschaftlicher  Arbeit  bedürfen 
wird,  zumal  die  bisher  dazu  gemachten  Anfänge  die  überkom- 
menen Gegensätze  nur  noch  verschärft  und  gewissermaßen  ver- 
giftet haben. 

In  dem  „ Herrengefühl ",  das  man  ihnen  nachrühmt  und 
sie  selbst  als  berechtigte  Eigentümlichkeit  mit  einem  gewissen 
Stolz  zur  Schau  tragen,  sind  die  livländischen  Deutschen  Gene- 
rationen hindurch  noch  bestärkt  worden  durch  das  Bewußtsein, 
dem  Staate,  dem  ihr  Land  schließlich  eingefügt  wurde,  als 
Träger  einer  höheren  Kultur  besonders  nützlich  geworden  und 
noch  unentbehrlich  zu  sein.  Hat  man  übertreibend  doch  sogar 
gemeint,  „die  Summe  der  intellektuellen  und  sittlichen  Kräfte 
der  Balten  habe  bis  in  die  neueste  Zeit  das  eigentliche  mora- 
lische, militärische  und  administrative  Rückgrat  des  russischen 
Staates  gebildet."^)  Gewiß  ist,  daß  die  Balten  an  dem  Ausbau 
und  dem  Aufsteigen  des  russischen  Staates  hervorragenden  An- 
teil gehabt  haben.  In  der  Reihe  der  russischen  Feldherren, 
Minister,   Diplomaten    und   hohen   Beamten    erscheinen    immer 


^)  Nach  der  bei  Seh  meid  1er,  Das  russische  Reich  unter  Kaiser 
Alexander  IL,  S.  151  mitgeteilten  Angabe  eines  Russen  betrug  1871  die 
Zahl  der  Balten  im  russischen  Heer  unter  den  Gemeinen  2^/o,  den  Sub- 
alternoffizieren 24 ^'/o,  den  Stabsoffizieren  bS^jo,  den  Generalen  aber  nicht 
weniger  als  74®/o. 

2* 


20  1.  Abhandlung:  Sans  Prutz 

wieder  die  Namen  von  Geschlechtern,  deren  Ahnherrn  mit  den 
deutschen  Eroberern  ins  Land  kamen  und  die  dort  bereits  im 
14.  und  15.  Jahrhundert  eine  hervorragende  Rolle  spielten: 
man  denke  nur  an  die  Biron,  Budberg,  Lieven,  Nesselrode, 
Fahlen,  Rennenkampf,  Sievers,  Stackeiberg,  Vietinghoff,  Wolff 
und  andere.  Daß  alle  diese  Männer  dazu  selbst  in  gewissem 
Maße  zu  Russen  wurden,  sich  ihrer  baltischen,  deutschen  Eigen- 
art mehr  oder  minder  entäußerten,  war  natürlich.  Auf  diesem 
Wege  aber  mußte  doch  allmählich  ein  gutes  Stück  Russen- 
tum  in  die  betreffenden  Kreise  kommen  und  von  da  aus  auch 
weiterhin  wirken.  Der  „Herrensinn"  ist  durch  den  Glanz  und 
Schimmer  des  russischen  Beamtentums  sicherlich  nicht  zu  be- 
scheidenerem Auftreten  gewöhnt  worden,  vielmehr  werden  diese 
Herren,  was  in  Rußland  galt,  auch  in  der  Praxis  ihrer  Heimat 
geltend  gemacht  haben.  Nicht  russifiziert  wurden  sie,  ge- 
wöhnten sich  aber  doch,  Menschen  und  Zustände  sozusagen 
mit  russischen  Augen  zu  sehen  und  mit  russischem  Maße  zu 
messen,  wie  das  bei  den  Angehörigen  von  Stämmen  geschieht, 
die  an  der  Grenze  zweier  Kulturgebiete  stehen  und  sich  auf 
beiden  zu  betätigen  gewohnt  sind.  Man  schließt  daraus  wohl 
auf  deren  besondere  Bildsamkeit,  während  darin  vielmehr  ein 
Beweis  einer  gewissen  Unfertigkeit  und  das  Bedürfnis  nach 
einem  festen  Halt  gesehen  werden  kann.  Denn  nicht  bloß 
Rußland  gegenüber  haben  die  Balten  diese  „Zweischlächtig- 
keit"  bewiesen:  auch  in  den  Diensten  Polens,  Schwedens,  Öster- 
reichs und  Deutschlands  sind  viele  von  ihnen  vermöge  dieser 
Stammesanlage  in  die  Höhe  gekommen,  lange  bevor  ihnen 
die  Sympathien  zur  Seite  standen,  welche  das  Schicksal  ihrer 
Heimat  ihnen  allerwärts  erweckte.  Insbesondere  galt  bis  in 
die  zweite  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  den  Söhnen  des  bal- 
tischen Adels  der  Heerdienst  als  die  einzige  recht  standes- 
gemäße Laufbahn,  und  Balten  waren  in  den  Heeren  aller 
europäischen  Staaten  vertreten  so  gut  wie  Schweizer  und  El- 
sässer,  —  wie  sogar  noch  heutigen  Tages  Söhne  baltischer 
Edelleute  in  den  Reihen  der  Kosakenoffiziere  zu  finden  sind. 
Daß  diese   baltischen  „ Herren",   wenn  sie  in  Rußland  zu 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland.  21 

hohen  Stellungen  gelangen  wollten,  ihr  Deutschtum  nicht  allzu 
stark  betonten,  sondern  Russen  sein  wollten,  ist  begreiflich: 
das  war  doch  nur  die  selbstverständliche  Gegenleistung  für  die 
ihnen  eingeräumte  bevorzugte  Stellung  und  die  unerläßliche 
Bedingung  für  deren  Behauptung.  Aber  es  darf  im  Hinblick 
auf  spätere  Vorgänge  doch  nicht  verschwiegen  werden,  daß 
sie  in  dieser  Hinsicht  gelegentlich  gefährlich  weit  gingen. 
Wenn  sie  sich  unter  den  damaligen  Verhältnissen  als  Unter- 
tanen des  Zaren  wohl  fühlten  und  ihre  Freude  über  das  ihnen 
damit  beschiedene  Glück  zuweilen  auch  amtlich  in  begeisterten 
Worten  zum  Ausdruck  brachten,  so  wird  ihnen  das  Niemand 
verdenken.  Wenn  sie  aber  im  Interesse  der  russische  Dienste 
suchenden  jüngeren  Generation  für  die  leichtere  Erlernung  und 
damit  die  Verbreitung  der  russischen  Sprache  in  ihrer  Heimat 
Propaganda  machten,  so  war  das  ein  verhängnisvoller  Fehler, 
durch  den  man  den  künftigen  Vorkämpfern  der  ßussifizierung 
eine  gefährliche  Waffe  in  die  Hand  gab. 

In  einer  Vorstellung,  die  sie  am  28.  März  1839  an  Niko- 
laus I.  richtete,  um  Schutz  zu  erbitten  gegen  willkürliche 
Neuerungen  im  Gebiet  des  höheren  Schulwesens  und  Verletzung 
der  Rechte  der  Universität  Dorpat  durch  den  Minister  der 
Volksauf klärung,  beteuerte  die  livländische  Ritterschaft  zunächst 
feierlich,  daß  sie  „unverbrüchlich  bei  ihrem  obersten  Grund- 
satz verharre,  ihre  treue  Gesinnung  an  den  Tag  zu  legen,  und 
gerade  darin  ihre  heiligste  Pflicht  zu  üben  und  das  Wesent- 
lichste ihrer  Vorrechte  zu  finden,"  und  erklärte  dann,  sie  sei 
überzeugt  von  der  Nützlichkeit  und  unter  Umständen  Unent- 
behrlichkeit  der  —  für  den  künftigen  Geistlichen  und  Lehrer 
in  den  Ostseeprovinzen  unnötigen  —  Kenntnis  der  russischen 
Sprache  für  andere  Kreise,  und  erbat  zur  Befriedigung  des  da 
vorliegenden  Bedürfnisses  die  Entsendung  möglichst  zahlreicher 
tüchtiger  Lehrer  des  Russischen  in  das  Land.^)     Zur  besseren 


^)  Das  merkwürdige  Aktenstück,  das,  bisher  unbeachtet,  auf  spätere 
Vorgänge  ein  neues  Licht  fallen  läßt,  ist  gedruckt  in  „Fünfzig  Jahre  rus- 
sischer Verwaltung  in  den  baltischen  Provinzen"  (Leipzig  1883),  S.  31—34. 


22  1.  Abhandlung:  Hans  Prutz 

Begründung  dieser  Bitte  aber  hieß  es  am  Schluß  der  von  dem 
livländischen  Adelsraarschall  Baron  von  Brüningk  unterzeich- 
neten Eingabe  gar,  „die  Bewohner  der  Ostseeprovinzen  fühlten 
täglich  dringender  die  Notwendigkeit,  um  ihres  eigenen  Besten 
willen  sich  mit  der  russischen  Sprache  vertraut  zu  machen": 
insbesondere  werde  daher  „die  Ritterschaft  auch  in  dieser  Be- 
ziehung ihren  gewohnten  Eifer  nicht  verleugnen,  den  wohl- 
tätigen kaiserlichen  Absichten  zu  entsprechen  auch  ohne  die 
von  dem  Minister  beliebten  Zwangsmaßregeln. "  Die  Ritter- 
schaft erbittet  deren  Aufhebung,  spricht  aber  den  dringenden 
Wunsch  aus,  „daß  durch  vermehrte  Anstellung  tüchtiger  rus- 
sischer Sprachlehrer  die  Möglichkeit  zur  Erlernung  der  rus- 
sischen Sprache  nicht  nur  erweitert,  sondern  allgemein  gemacht 
werde,"  zumal  auch  auf  der  Universität  Dorpat  zum  Bedauern 
der  Ostseeprovinzen  selbst  das  Studium  der  russischen  Sprache 
nicht  ausreichend  gepflegt  werde :  man  empfinde  tief  den  Nach- 
teil, der  den  Balten  dadurch  in  allen  Verhältnissen  der  staats- 
bürgerlichen Wirksamkeit  erwachse.  „Indessen  habe  dieser 
Unkenntnis  der  russischen  Sprache  keineswegs  törichte  Ver- 
kennung ihres  eigenen  Besten  oder  die  Abneigung,  sich  die 
russische  Sprache  zu  eigen  zu  machen,  zu  Grunde  gelegen, 
sondern  lediglich  die  Unmöglichkeit,  sie  zu  erlernen  und  die 
noch  jetzt  andauernde  Unzulänglichkeit  der  betreffenden  Unter- 
richtsmittel." 

Der  berühmte  „Herrensinn"  offenbart  sich  hier  höchstens 
insofern,  als  die  Herren,  in  deren  Namen  gesprochen  wird, 
wieder  in  ihrer  von  Alters  her  überkommenen  Ausschließlich- 
keit sich  vornehm  abgrenzen  auch  gegen  die  übrigen  Deutschen 
des  Landes,  indem  sie  zwar  für  sich  die  Kenntnis  der  russi- 
schen Sprache  als  wünschenswert  zugeben,  aber  nachdrücklich 
betonen,  daß  sie  für  die  Kreise  überflüssig  sei,  aus  denen  die 
Geistlichen  und  Lehrer  hervorgehen,  diese  also  gewissermaßen 
als  Deutsche  zweiter  Klasse  hinstellen.  Von  den  Letten  und 
Esten  aber  ist  überhaupt  nicht  die  Rede.  Wurden  diese  da- 
mals doch  geflissentlich  vor  der  Kenntnis  auch  des  Deutschen 
bewahrt:  sie  hätte  sie  aufklären,  zu  größeren  Ansprüchen  ver- 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland.  23 

anlassen  und  so  mit  ihrem  Lose  unzufrieden  machen  können. 
Soll  doch  damals  der  lettische  Bauer  sogar  Züchtigung  zu 
fürchten  gehabt  haben,  wenn  er  Deutsch  lernte  oder  sich  der 
deutschen  Sprache  bediente! 

Und  das  führt  nun  wieder  auf  den  Punkt  zurück,  in  dem 
die  baltischen  Deutschen  schwer  gefehlt  und  Generationen  hin- 
durch verblendet  eine  Schuld  auf  sich  geladen  haben,  die  auch 
in  der  jetzt  vielleicht  nahen  „Schicksalsstunde"  verhängnisvoll 
werden  kann,  dadurch,  daß  sie  immer  nur  Eroberer  gewesen 
sind  und  immer  nur,  wie  in  dem  ersten  Stadium  ihrer  Fest- 
setzung an  der  Ostsee,  Herren  der  besiegten  Völker  haben  sein 
wollen,  statt  zu  diesen  als  Bringer  einer  neueren,  höheren 
Kultur  herabzusteigen  und  sich  mit  ihnen  zu  wirklicher  Lebens- 
gemeinschaft zu  verbinden.  Je  unbefangener  und  gründlicher 
man  die  Entwickelung  der  Verhältnisse  in  Livland  prüft,  um 
so  rückhaltloser  wird  man  das  harte  Urteil  als  zutreffend  an- 
erkennen, das  ein  Mann  wie  Julius  Eckardt,  ein  treuer  Sohn 
seiner  baltischen  Heimat  und  ein  tapferer  Verteidiger  ihrer 
gefährdeten  Rechte,  aber  auch  ein  gründlicher  Kenner  ihrer 
Geschichte,  bei  der  Schilderung  des  Zustandes  der  Auflösung- 
gefällt  hat,  die  zu  Ende  des  15.  Jahrhunderts  über  den  eigen- 
artigen Bundesstaat  hereingebrochen  war,  zu  dem  sich  die 
deutsche  Kolonie  an  der  Ostsee  entwickelt  hatte:  „in  dem 
törichten  stolzen  Bewußtsein,  daß  auf  lettischer  Erde  der  Be- 
griff „Deutscher"  und  „Herr"  identisch  seien,  hatte  man  die 
Germanisation  der  Ureinwohner  unterlassen,  diese  in  ihrer  Bar- 
barei gelassen  und  auf  die  tiefste  Stufe  des  menschlichen  Da- 
seins herabgedrückt."  ^) 

Es  ist  leider  nicht  zu  bestreiten,  daß  in  diesen  Worten 
auch  bereits  das  traurige  Ergebnis  der  baltischen  Geschichte 
nach  der  Seite  gezogen  ist,  welche  für  die  Entwickelung  des 
Landes  auch  in  neuerer  Zeit  besonders  entscheidend  werden 
sollte  und  dieselbe  nachwirkend  bis  auf  den  heutigen  Tag  be- 
stimmt hat. 


*)  Julius  Eckardt,  Die  baltischen  Provinzen  Rußlands  (Leipz.  1868),  S.  7. 


24  1.  Abhandlung:  Hans  Prutz 

IL 
Die  Entstehung  der  Leibeigenschaft  und  ihre  Legalisierung. 

Einen  verhängnisvollen  Wendepunkt  in  Livlands  sozialer 
und  wirtschaftlicher  Entwickelung  bezeichnet  das  Jahr  1552. 
Der  zu  Pernau  versammelte  Landtag  beschloß  auf  Grund  der 
Klagen  „gemeiner  Ritterschaft",  hinfort  solle  „jeder  Stand 
und  Stadt  dieser  Lande,  woher  der  oder  die  auch  seien,  immer 
dem  anderen  seinen  Bauern  auf  Erfordern  unweigerlich  aus- 
liefern". Damit  wurde  ein  allmählich  eingebürgerter,  aber 
bisher  nicht  als  zu  Recht  bestehend  anerkannter  Brauch  zum 
Landesgesetz  erhoben.  Die  im  Laufe  der  Zeit  eingerissene 
„Schollenpflichtigkeit"  der  Bauern  wurde  ausdrücklich  pro- 
klamiert und  damit  die  große  Masse  der  ländlichen  Bevölkerung 
einem  Zustand  der  Unfreiheit  überantwortet,  für  den  —  so 
sehr  man  das  späterhin  durch  spitzfindige  Distinktionen  weg- 
zuleugnen versucht  hat  —  die  Bezeichnung  „Leibeigenschaft" 
die  allein  richtige  ist.  Denn  wie  1552,  so  benutzten  die 
Grundherren  auch  in  der  Folge  die  ihnen  zustehende  gesetz- 
geberische Befugnis,  um  sich  die  gewonnene  Machtstellung 
auch  weiterhin  zu  sichern. 

Denn  die  Schollenhörigkeit  der  ländlichen  Bevölkerung 
ist  nicht,  wie  man  auf  Grund  wiederholter,  seit  dem  18.  Jahr- 
hundert von  den  interessierten  Kreisen  in  amtlichen  Akten- 
stücken aufgestellter  Behauptungen  gemeint  hat,  gleich  von  den 
deutschen  Eroberern  eingeführt  worden.^)  Hatte  doch  die 
Kirche  bei  Erteilung  und  Erneuerung  der  segnenden  Vollmacht 
zur  gewaltsamen  Bekehrung  der  Bewohner  jener  Gegenden 
dem  Deutschen  Orden  ausdrücklich  zur  Pflicht  gemacht,  die 
persönliche    Freiheit    der    Unterworfenen    nicht    anzutasten.^) 

^)  Vgl.  Otto  Müller,  Die  livländische  Agrargesetzgebung.  Disser- 
tation, Halle  1902. 

2)  S.  die  Bullen  Gregors  IX.  vom  5.  Mai  1227  und  vom  8.  und  9.  März 
1238  im  Liv-,  Esth-  und  Kurland.  Urkundenbuch  I,  n.  93  (S.  127),  n.  157 
(S.  202)  und  n.  158  (S.  203).  Vgl.  auch  die  Urkunden  ebendas.  n.  103 
und  124  (S.  135  und  160)  sowie  Innozenz'  IV.  Bulle  vom  5.  September  1245, 
ebend.  n.  186  (S.  244). 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland.  2o 

Auch  die  entsprechenden  kaiserlichen  Privilegien  geboten  aus- 
drücklich die  Wahrung  der  persönlichen  Freiheit  der  Neu- 
bekehrten, ^)  die  nach  einem  solchen  Kaiser  Friedrichs  IL  für 
das  Christentum  gewonnen,  aber  unfrei  geworden,  viel  übler 
daran  sein  würden,  als  wenn  sie  Heiden,  aber  freie  Leute 
geblieben  wären.  Daher  ist  denn  auch  von  Unfreiheit  der 
besiegten  Esten,  Letten  und  Kuren  in  dem  ersten  Jahrhundert 
der  Ordensherrschaft  nicht  die  Rede:  ihr  verfallen  als  „Drellen" 
die  Kriegsgefangenen,  die  Eingeborenen,  die  durch  Aufstände 
Strafe  verwirkt  hatten,  und  gelegentlich  Freie  wegen  begangenen 
Verbrechens  durch  richterlichen  Spruch.  Die  große  Masse  der 
ländlichen  Bevölkerung  geriet  in  Unfreiheit  erst  allmählich 
infolge  der  steten  Steigerung  der  ihr  auferlegten  Dienste  und 
Leistungen  von  Seiten  des  Landesherrn  sowohl  wie  der  von 
diesem  mit  Grundbesitz  ausgestatteten  Lehnsleute,  die  so  den 
Ertrag  der  Güter,  um  deren  Bewirtschaftung  sie  sich  gewöhnlich 
wenig  kümmerten,  zu  steigern  suchten.  Unterworfen,  aber 
persönlich  frei  zahlten  damals  Letten,  Esten  und  Kuren  der 
Kirche  den  Zehnten  und  zinsten  dem  Landesherrn,  dem  sie 
außerdem  zum  Heerdienst  und  Burgenbau  verpflichtet  waren. 
Das  änderte  sich  mit  dem  wachsenden  Einfluß  des  Lehns- 
wesens, das  zwischen  dem  Landesherrn  und  dem  Bauer  des 
ersteren  Vasallen  als  Zwischeninstanz  einschob,  die  nach  oben 
immer  unabhängiger,  nach  unten  immer  unumschränkter  wurden. 
Noch  aber  blieb  der  Bauer,  mochte  er  auch  von  dem  Grund- 
herrn schwer  belastet  werden,  persönlich  frei,  konnte  über  seine 
fahrende  Habe  beliebig  verfügen  und  durfte  sich  auch  ander- 
wärts niederlassen.  Das  änderte  sich  aber,  seit  die  Eroberung 
vollendet  war  und  der  deutsche  Edelmann  meist  als  Landwirt 
auf  seinem  Lehen  saß:  da  gewöhnte  man  sich  den  Bauer  als 
zu  dem  Gut  gehörig  anzusehen.  Diese  Vorstellung  bürgerte 
sich  um  so  leichter  und  fester  ein,  als  es  einen  freien  Bauern- 
stand im  Lande  eigentlich  nie  gegeben  hatte,  weil  höchstens 
einmal  einzelne  Einheimische  ausnahmsweise  die  Gunst  erfuhren 


1)  Ebendas.  n.  112  (S.  148). 


26  1.  Abhandlung:  Hans  Prutz 

nach  preußischem  Vorbild^)  mit  Land  belehnt  zu  werden,  wie 
das  zuweilen  in  Kurland  geschah.  Natürlich  aber  wurde  die 
abschüssige  Bahn  um  so  schneller  durchmessen  und  die  Un- 
freiheit der  Bauern  da  um  so  konsequenter  durchgeführt,  wo 
die  durch  die  Reformation  noch  beförderte  Schwächung  der 
Staatsautorität  den  adeligen  Grundherrn  vollends  freie  Hand 
gab.  Das  geschah  am  wenigsten  in  Kurland,  wo  der  Orden 
sich  als  Landesherr  behauptete  und  seine  Lehnsleute  in  Ab- 
hänffiffkeit  hielt,  während  diese  in  Livland  kraft  der  ihnen 
vom  Landesherrn,  dem  Orden  und  dem  Erzbischof  von  Riga 
gemachten  Zugeständnisse  ganz  an  deren  Stelle  traten  und  von 
den  Bauern  Dienste  und  Leistungen  beanspruchten,  zu  denen 
sie  eigentlich  nur  jenen  gegenüber  verpflichtet  waren.  Dort 
hatte  daher  der  Bauer  schließlich  nicht  blos  das  zu  leisten, 
was  der  Herr,  auf  dessen  Land  er  saß,  als  solcher  von  ihm  zu 
fordern  hatte,  sondern  sah  sich  auch  den  größten  Teil  von 
dem  aufgebürdet,  was  dieser  seinem  Lehnsherrn  zu  leisten 
hatte.  Übte  dieser  ihm  gegenüber  doch  auch  das  staatliche 
Recht,  insbesondere  die  Gerichtsbarkeit,  selbst  in  Kriminal- 
fällen. Damit  war  der  Bauer  völlig  in  die  Hand  des  Herrn 
gegeben.  Um  sich  diesem  Druck,  den  abzuwehren  es  sonst 
kein  Mittel  gab,  zu  entziehen,  flüchteten  die  Bauern  vielfach 
in  einen  anderen  Gutsbezirk  oder  in  eine  benachbarte  Stadt. 
Für  diese  bestand  eine  Auslieferungspflicht  ursprünglich  nicht, 
außer  wenn  der  betreffende  Herr  dem  entlaufenen  Bauern 
gegenüber  besondere  privatrechtliche  Ansprüche  geltend  machen 
konnte.  Aber  schon  im  15.  Jahrhundert  kam  die  Verpflichtung 
zur  Auslieferung  solcher  Flüchtlinge  immer  mehr  zur  An- 
erkennung. Die  Vorstellung  von  der  Grundhörigkeit  des  Bauern 
wurde  dadurch  verstärkt.  Landesgesetzlich  sanktioniert  aber 
wurde  sie  doch  erst  durch  den  Beschluß  des  Pernauer  Landtags 
von  1552.  Ihn  durchzuführen  schlössen  die  Landesherren 
nicht  blos  mit  den  eigenen  Vasallen,  sondern  auch  unter- 
einander und    mit    den    übrigen  Vasallen  Verträge,   durch  die 


1)  Vgl.  K.  Lohmeyer,  Geschichte  Ost-  und  Westpreußens  P,  S,  193. 


Der  Iviimpf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livkind.  27 

sie  sich  gegenseitig  zur  Auslieferung  „verstrichener"  Bauern 
verpflichteten.  Der  neue  Rechtszustand  wurde  dann  bei  dem 
Übergang  Livlands  unter  polnische  Herrschaft  durch  das  Pri- 
vileg Sigismund  IL  August  vom  28.  November  1561  als  für 
alle  Zukunft  geltend  bestätigt  durch  Gutheißung  des  Pernauer 
Landtagrezesses.  ^)  Auch  sprach  das  königliche  Privileg  nach 
dem  Vorbild  des  in  Estland  von  der  dänischen  Zeit  her  gelten- 
den Rechts  den  Gutsherren  ausdrücklich  die  Gerichtsbarkeit 
über  die  Bauern  zu.^)  Das  war  ein  Stück  des  Preises,  um 
den  die  livländischen  Herren  ihre  Freiheit  an  Polen  verkauften. 
Gerade  auf  diesem  Gebiet  erwiesen  sich  dieselben  als  nur  allzu 
gelehrige  Schüler  der  polnischen  Herren:  wie  diese  mit  ihnen, 
so  verfuhren  sie  mit  den  ihnen  ausgelieferten  Letten  und  Esten. 
Unbarmherzig  zogen  sie  die  Konsequenzen  aus  der  nun  zur 
Anerkennung  gebrachten  Schollenhörigkeit  der  Bauern,  so  daß 
diese  nun  rasch  zu  wirklicher  Leibeigenschaft  wurde. 

Jedenfalls  entsprach  es  der  Wahrheit  nicht,  wenn  in  dem 
Privileg  Sigismund  H.  Augusts  die  Verpflichtung  eines  jeden, 
einen  sein  Grundstück  betretenden  flüchtigen  Bauern  seinem 
Herrn  auszuliefern,  es  „sei  denn,  daß  er  durch  unanfechtbare 
Urkunden  oder  einwandfreie  Zeugen  nachweisen  könnte,  der- 
selbe sei  ihm  von  seinem  rechtmäßigen  Herrn  zu  eigen  über- 
lassen", als  überkommene  Sitte  und  dem  alten  Brauch  Livlands 
entsprechend  bezeichnet  wurde.  Aber  es  schafi'te  der  Willkür 
der  adeligen  Herren  vollends  freie  Bahn:  als  angeblich  altem 
Brauch  entsprechend  wurden  Neuerungen  eingeführt,  welche 
die  Lage  der  Bauern  immer  mehr  verschlechterten.  So  griff 
die  Fiktion  Platz,  der  Bauer  sei  schlechterdings  Zubehör  des 
Grund  und  Bodens,  ebenso  gut  wie  die  darauf  stehenden 
Bäume,  die  darauf  befindlichen  Felder,  Wiesen  usw.,  und  könne 
daher  ebenso  wie  diese  mit  ihm  veräußert,  verkauft  oder  ver- 
pfändet  werden.      Natürlich    aber    konnte    der   Herr  in   einem 


^)  S.  den  22.  Artikel  in  dem  Druck  bei  Schirren,  Die  Kapitu- 
lationen der  livländischen  Ritter-  und  Landschaft  und  der  Stadt  Riga 
vom  4.  Juli  1710   nebst   ihren   Konfirmationen  (Dorpat  1865),    S.  20-21. 

2)  Ebend.  Art.  26. 


28  1.  Abhandlung:  Hans  Prutz 

solchen  Fall  dann  auch  den  einen  od'er  anderen  Bauer  sich 
vorbehalten,  von  dem  Verkauf  ausnehmen  und  im  Haus  als 
Dienstboten  verwenden.  Dann  aber  gehörte  der  Bauer  nicht 
mehr  mit  dem  Boden  zusammen,  auf  dem  er  saß,  sondern  war 
eine  Sache,  mochte  ihm  auch  noch  persönliche  Rechtsfähigkeit 
insofern  verbleiben,  als  er  fahrende  Habe  zu  eigen  erwerben 
konnte  und  auch  am  Baueracker  ein  Nutzungsrecht  hatte. 

So  war  die  Leibeigenschaft  gegen  Ende  des  16.  Jahr- 
hunderts völlig  durchgeführt.  An  der  Art  aber,  wie  sie  ge- 
handhabt wurde,  nahmen  bald  doch  selbst  einsichtige  Polen 
Anstoß  und  versuchten  eine  Besserung  herbeizuführen.  Schon 
1586  ließ  König  Stefan  Bathory  den  livländischen  Adeligen 
eine  mildere  Beh-andlung  ihrer  Bauern  empfehlen:  diese  lehnten 
sie  ab  mit  dem  Hinweis  auf  die  großen  Aufwendungen,  die 
sie  für  das  materielle  Wohl  ihrer  Bauern  machten.  Gleich 
vergeblich  blieb  desselben  Königs  Versuch  zur  Abschaffung 
der  Prügelstrafe.  Doch  wurde  schließlich  nach  der  Prüfung 
der  betreffenden  Besitztitel  durch  eine  königliche  Kommission 
den  Grundherren  wenigstens  verboten,  ihren  Bauern  neue 
Lasten  aufzulegen,  diesen  auch  erlaubt,  den  Überschuß  ihrer 
landwirtschaftlichen  Erzeugnisse  zu  eigenem  Vorteil  zu  ver- 
kaufen. Auch  als  Herzog  Karl  von  Södermanland  1603  bei 
den  infolge  der  schwedisch-polnischen  Erbstreitigkeiten  mit 
ihm  geführten  Verhandlungen  wegen  Übernahme  der  Herrschaft 
forderte,  den  Bauern  solle  Freizügigkeit  gewährt  werden,  stieß 
er  bei  den  livländischen  Kommissaren  auf  eine  entschiedene 
Ablehnung.  ^) 

HL 
Die  schwedische  Agrappeform  und  ihp  schliessliches  Scheitcpn. 

Man  mag  das  Verfahren  des  deutschen  Adels  gegen  die 
lettischen  und  estnischen  Bauern  einigermaßen  entschuldigen 
mit  der  wirtschaftlichen  Notlage,  in  die  er  selbst  durch  die 
Kriege  geriet,   die   bald   nach  der  Begründung  der  polnischen 

*)  Ygl.  von  Trans  eh  e-Roseneck,  Gutsbesitzer  und  Bauer  in 
Livland  im  17.  und  18.  Jahrhundert  (Straßburg  1890),  S.  30, 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland.  29 

Herrschaft  ausbrachen  und,  lange  Jahre  wütend,  das  Land  auf 
weite  Strecken  in  eine  Einöde  verwandelten.  Um  so  höher 
ist  die  Einsicht  und  die  Tatkraft  anzuschlagen,  mit  der  die 
Regierung  Schwedens,  an  das  Livland  1621  kam,  das  an- 
gerichtete Unheil  gut  zu  machen  suchte.  In  Schweden  wußte 
man  den  Wert  eines  freien  Bauernstandes  zu  schätzen  als  der 
sichersten  Grundlage  eines  nationalen  Staates.  Nur  ließ  sich, 
was  in  den  Jahrhunderten  versäumt  war,  nicht  so  leicht  nach- 
holen: um  so  eifriger  bemühte  sich  die  menschenfreundliche 
und  aufgeklärte  Regierung  eines  Gustav  Adolf,  wenigstens  die 
ärgsten  Mißstände  sofort  abzustellen.  Dazu  den  Bauer  auch 
geistig  zu  wecken  und  sittlich  zu  heben,  nahm  sich  der  König 
zunächst  der  tief  darniederliegenden  Volksbildung  kräftig  an 
durch  die  Gründung  von  Schulen  und  die  Pflege  des  kirch- 
lichen Lebens  bei  Letten  und  Esten.  Gerade  da  war  bisher 
wenig  geschehen,  so  stolz  Adel  und  Stadtbürger  auf  ihr  evan- 
gelisches Bekenntnis  waren  als  auf  ein  wesentliches  Stück 
ihrer  bevorzugten  Stellung.  Erst  die  schwedische  Herrschaft 
machte  den  Letten  die  Bibel  in  ihrer  eigenen  Sprache  zu- 
gänglich: 1685  erschien  das  Neue  Testament  und  1689  die 
ganze  Heilige  Schrift  in  lettischer  Übertragung.  Gustav  Adolfs 
Absichten  auf  diesem  Gebiet  gingen  freilich  wohl  noch  weiter: 
machte  er  doch  die  höheren  Schulen  auch  den  Letten  und 
Esten  zugänglich,  und  sicher  hat  er  die  Universität  Dorpat 
nicht  allein  für  die  wenigen  Deutschen  in  den  baltischen 
Landen  gegründet. 

Entschlossen  nahm  Gustav  Adolf,  sobald  Livland,  das 
1621  tatsächlich  in  seine  Gewalt  gekommen  war,  durch  den 
Stillstand  von  Altmark  im  September  1623  förmlich  an  ihn 
abgetreten  war,  auch  die  Agrarfrage  in  die  Hand.  Im  März 
1630  befahl  er  die  Vornahme  einer  Abschätzung  der  von  den 
Gutsherren  ihren  Bauern  ausgeteilten  Ländereien,  zur  Gewin- 
nung einer  sicheren  Grundlage  für  die  Festsetzung  nicht  bloß 
der  bäuerlichen  Leistungen,  sondern  auch  derjenigen  der  Herren 
an  den  Staat,  denen  sich  diese  vielfach  entzogen  hatten.  Zweck 
und   Ziel   der   damit   eingeleiteten    Agrarreform  kennzeichnete 


30  1.  Abhandlung:  Hans  Prutz 

deutlich  ein  Erlaß  vom  Februar  1630,  der  die  Gerichtsbarkeit 
über  die  Bauern  sowohl  in  bürgerlichen  wie  in  strafrechtlichen 
Fällen  den  Adligen  entzog  und  den  Bauern  das  Recht  \erlieh, 
sowohl  gegen  den  Herrn  wie  gegen  den  Pächter  bei  dem 
Hofgericht  zu  klagen.  Damit  wurde  die  Macht  der  Guts- 
herren an  der  Wurzel  gefaßt.  Ritterschaft  und  Landschaft 
—  diese  letztere  umfaßte  den  Adel  jüngeren  Ursprungs,  der 
von  dem  alten  „immatrikulierten"  Adel  streng  als  minder- 
wertig zurückgestoßen  wurde,  und  die  bürgerlichen  Gutsbesitzer, 
da  die  Bürgerlichen  vom  Gütererwerb  nicht  dauernd  hatten 
ausgeschlossen  bleiben  können,  sondern  wenigstens  zum  pfand- 
weisen hatten  zugelassen  werden  müssen  —  haben  die  bauern- 
freundlichen  Reformbestrebungen  in  Livland  nicht  bekämpft: 
die  furchtbaren  Kriege  der  letzten  Jahrzehnte  hatten  ihre 
Kräfte  völlig  erschöpft.  In  Estland  dagegen  war  der  Wider- 
stand stärker,  konnte  aber  den  Gang  der  Dinge  nicht  auf- 
halten. Jedenfalls  aber  war  es  nicht  blos  für  Schweden, 
sondern  auch  für  seine  baltischen  Provinzen  ein  Verhängnis, 
daß  Gustav  Adolf  so  früh  dahingehen  mußte,  da  erst  das 
Regiment  seiner  Tochter  Christine  und  dann,  nach  dem  kurzen 
Zwischenspiel  der  vielversprechenden  Herrschaft  des  kraftvollen 
Karl  X.  Gustav,  die  langjährige  Unmündigkeit  Karls  XL  den 
reaktionären  Tendenzen  des  Adels  wieder  zur  Herrschaft  ver- 
halfen. Auch  das  Schicksal  der  Agrarreform  Gustav  Adolfs 
war  damit  besiegelt:  sie  blieb  unausgeführt  oder  wurde,  so- 
weit sie  bereits  durchgeführt  war,  wieder  rückgängig  gemacht. 
Umso  heftiger  erneuerte  sich  der  Konflikt,  als  die  Monarchie 
sich  wieder  aufraffte,  das  in  der  Zeit  der  Schwäche  ihr  Ent- 
rissene zurückforderte  und  in  Verbindung  damit  auch  die 
wieder  in  die  alte  Ordnung  verfallenen  agrarischen  Zustände 
Livlands  gründlich  zu  bessern  unternahm. 

Wie  in  Schweden,  so  hatte  die  Verschleuderung  der  Do- 
mänen auch  in  Livland  der  Krone  auf  die  Dauer  unentbehrliche 
Einnahmequellen  entzogen.  Zudem  hatten  viele  Lehngüter 
den  Charakter  als  solche  abgestreift  und  wurden  als  erbliche 
Besitzungen    behandelt.     Nicht   blos   der   Krone   ursprünglich 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland.  31 

zustehende  Dienste  und  Leistungen  waren  infolge  dessen  in 
Vergessenheit  geraten,  sondern  es  waren  auch  die  auf  diesen 
Gütern  sitzenden  Bauern  aus  der  Verbindung  mit  der  Krone 
gelöst,  des  ihnen  durch  Gustav  Adolf  gewährleisteten  staatlichen 
Schutzes  beraubt  und  der  Willkür  der  Herren  wieder  preis- 
gegeben. Die  dadurch  herbeigeführte  Notlage,  welche  immer 
wieder  erneuerte  Kriege  noch  steigerten,  konnte  es  ent- 
schuldigen, wenn  schließlich  Karl  XL  ein  ursprünglich  nur  für 
Schweden  geltendes  Gesetz  auch  auf  Livland  anwandte:  die 
Art  aber,  wie  er  dabei  vorging,  mußte  allgemein  erbittern, 
ließ  auch  die  dabei  mitwirkenden  guten  Absichten  völlig  ver- 
kennen und  gereichte  der  Sache  der  Bauern,  die  wenigstens 
mittelbar  hatte  gefördert  werden  sollen,  erst  recht  zum  Schaden. 
In  Schweden  schon  durch  den  Reichstag  zu  Norrköping 
1604  im  Prinzip  beschlossen,  war  die  Einziehung  der  der  Krone 
entfremdeten  und  in  Privatbesitz  übergegangenen  Domänen 
doch  erst  gegen  Ende  der  Regierung  der  Königin  Christine 
in  Angriff  genommen,  infolge  der  aufs  höchste  gestiegenen 
Geldnot:  eine  besondere  „Reduktionskommission"  leitete  sie, 
stieß  jedoch  bald  auf  den  Widerstand  des  Adels,  der  während 
der  Unmündigkeit  Karls  XL  die  Sache  dann  zum  Stillstand 
brachte.  Um  so  energischer,  ja  gewalttätiger  kam  der  junge 
König,  zur  Regierung  gelangt,  darauf  zurück:  durch  ihn  wurde 
die  Reduktion,  eine  durch  die  Verhältnisse  gebotene  und  ent- 
schuldbare außerordentliche  Maßregel,  zu  einer  planmäßigen 
Ausraubung  des  Adels,  dem  all  das  abgenommen  werden  sollte, 
was  er  zum  Nachteil  der  Krone  an  sich  gebracht  hatte.  Wurde 
sie  konsequent  durchgeführt,  so  war  die  Macht  des  Adels 
gebrochen,  und  insofern  verhieß  sie  allerdings  auch  den  liv- 
ländischen  Bauern  Gewinn.  Rechtswidrig  war  es  schon,  wenn 
der  schwedische  Reichstag  1678  die  Reduktion  wie  für  Schwedens 
deutsche  Provinzen,  so  auch  für  Livland  beschloß,  da  diese 
ihm  verfassungsmäßig  gar  nicht  unterstanden.  Einmütig  er- 
hob sich  der  Adel  daccegen,  einmütiof  faßten  noch  1678  Ritter- 
Schaft  und  Landschaft,  d.  h.  die  adeligen  Gutsbesitzer  —  die 
Städte    kamen    nur    so    weit   in   Betracht,    als   sie    ländlichen 


32  1.  Abhandlung:  Hans  Prutz  • 

Besitz  hatten  —  den  bezeichnenden  Beschluß,  „daß  die  durch 
die  Kriegsläufte  erschütterten  alten  Gewohnheiten  wieder  ge- 
halten und  kein  Landrat  gewählt  werden  sollte,  der  nicht 
schriftlich  sich  verbände,  über  alle  von  Königen  und  Herrschern 
erhaltenen  Privilegien  steif  und  fest  zu  halten."  Das  bedeutete 
die  Ablehnung  jeder  Reform  auch  der  bäuerlichen  Verhältnisse 
als  im  Widerspruch  stehend  mit  den  Privilegien,  insbesondere 
dem  Sigismund  IL  Augusts  von  Polen.  Aber  so  wenig  wie 
dieser  Beschluß  halfen  weitere  Proteste:  der  Sieg  des  Ab- 
solutismus war  zunächst  vollständig.  Gestützt  auf  die  im 
Lande  liegenden  schwedischen  Truppen  leistete  die  mit  der 
Durchführung  der  Reduktion  beauftragte  Kommission  so  gründ- 
liche Arbeit,  daß  nicht  w^eniger  als  fünf  Sechstel  des  gesamten 
Grund  und  Bodens  dem  Privatbesitz  entzogen  und  der  Krone 
zugewiesen  wurden. 

Nicht  blos  die  Macht  des  Adels  war  dadurch  gebrochen, 
er  war  wirtschaftlich  ruiniert,  und  man  begreift  seine  Er- 
bitterung. Nur  verblendete  sie  ihn  zum  Teil  so  völlig,  daß 
er  hinfort  mehr  oder  minder  offen  auf  die  Lösung  von  Schweden 
hinarbeitete  und  dabei  nach  Hilfe  von  Polen  oder  Rußland 
ausschaute. 

Was  an  der  Reduktion  trotz  ihrer  Gewalttätigkeit  be- 
rechtigt und  gut  war,  ließen  die  Herren  nicht  gelten:  es  nahm 
sie  vielmehr  erst  recht  dagegen  ein.  Sie  eröffnete  die  Mög- 
lichkeit zu  einer  Besserung  der  bäuerlichen  Verhältnisse.  Diese 
wurde  denn  auch  in  Angriff  genommen,  und  so  weit  sie  durch- 
geführt und  dann  gegen  den  erneuten  Ansturm  der  siegreichen 
Adelsreaktion  behauptet  werden  konnte,  bedeutete  sie  gegen 
den  bisherigen  Zustand  immerhin  einen  erfreulichen  Fortschritt 
und  bot  eine  brauchbare  Grundlage  für  späteren  weiteren 
Ausbau.  Von  der  Masse  der  für  sie  eingezogenen  Güter  konnte 
die  Krone  natürlich  nur  einen  kleinen  Teil  selbst  bewirt- 
schaften, weitaus  der  größte  mußte  durch  Verpachtung  nutz- 
bar gemacht  werden.  Dazu  bedurfte  es  einer  genauen  Ver- 
messung und  Feststellung  der  Ertragsfähigkeit  der  Ländereien. 
Nachdem   diese  1683 — 87   erfolgt  war,   begann   die   „General- 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland.  33 

revisions-  und  Hufenegalisierungskomniission"  ilire  Arbeit.  Der 
„Haken",  nach  dem  dabei  altem  Brauch  gemäß  gerechnet 
wurde,  bedeutete  ursprünglich  den  Hakenpflug,  dann  ein  Stück 
Land,  das  mit  einem  solchen  und  einem  Pferd  ein  Mann  im 
Lauf  des  Jahres  bearbeiten  konnte,  und  weiter  dessen  Ertrag 
in  Geld  ausgedrückt.  Mit  Rücksicht  auf  den  Zustand  des 
durch  den  Krieg  verwüsteten  und  streckenweise  entvölkerten 
Landes  legte  die  Kommission  der  Abschätzung  der  Güter  nicht 
die  Qualität  des  Bodens  zu  Grunde,  sondern  die  Zahl  der  dar- 
auf sitzenden  Bauern  und  das  Maß  der  Dienste  und  Leistungen, 
zu  denen  sie  verpflichtet  waren.  So  führte  die  Reduktion  zu 
einer  zwar  beschränkten,  aber  immerhin  segensreich  wirkenden 
und  dankbar  empfundenen  Agrarreform.  Wurde  diese  zunächst 
auch  nur  auf  den  Domänen  durchgeführt,  so  kam  die  dort 
ins  Leben  gerufene  neue  Ordnung  doch  auch  den  Bauern  auf 
den  Gütern  von  Privaten  zu  sjute.  Denn  deren  Leistungsfähicr- 
keifc  wurde  ebenfalls  durch  Einschätzung  der  Ertragsmöglich- 
keit der  ihnen  angewiesenen  Acker,  Wiesen  usw.  nach  bestimm- 
ten Bonitätsklassen  sachkundig  festgestellt  und  so  einer  Über- 
lastung vorgebeugt.  Die  ermittelten  Leistungen  wurden,  in  Geld 
umgerechnet,  in  die  „Wackenbücher"  eingetragen.  Zudem  ver- 
bot das  damals  erlassene  Reglement  den  Domänenpächtern  aus- 
drücklich, von  den  Bauern  andere  Leistungen  zu  fordern  als 
die  im  Wackenbuch  verzeichneten.  Auch  sollte  kein  Bauer 
von  seiner  Hufe  verdrängt  werden  dürfen.  Ferner  wurde  die 
Strafgewalt  des  Pächters  wesentlich  beschränkt:  insbesondere 
sollten,  wo  der  Pächter  durch  Schuld  eines  Bauern  geschädigt 
zu  sein  behauptete,  Bauern  als  Rechtsfinder  urteilen.  Dem 
Pächter  blieb  demnach  nur  eine  beschränkte  Hauszucht:  er 
konnte  den  Bauer  wegen  Nachlässigkeit  mit  Ruten  —  „höch- 
stens" 36!  — streichen  lassen.  Endlich  sollte  der  Bauer  gegen 
den  Pächter  bei  dem  Statthalter  klagen  dürfen,  der  in  „ökono- 
mischen Quästionen"  selbst  entscheiden,  andere  an  das  Land- 
gericht verweisen  sollte. 

Galten    diese   Bestimmungen    zunächst    auch    nur   für    die 
Bauern  auf  den  Domänen,   so  hätten  sie  sicherlich,  da  damals 

Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  u.  d.  bist.  Kl.  Jahrg.  1 91 6,  1 .  Abli.  ,         3 


34  1.  Abhandlung:  Hans  Prutz 

volle  fünf  Sechstel  des  Landes  Domanialbesitz  waren,  schließlich 
doch  der  überwältigenden  Mehrheit  der  Bauern  zugute  kommen 
müssen,  wenn  sie  plangemäß  zur  Geltung  gekommen  und  fest  ein- 
gebürgert worden  wären.  Das  aber  hinderte  die  verhängnisvolle 
Wendung,  die  das  Schicksal  Livlands  damals  nahm:  der  große 
nordische  Krieg  brachte  demselben  neue  Heimsuchungen  und 
einen  Notstand,  der  auch  die  für  die  Belastung  der  Bauern  ge- 
zogenen Grenzen  einzuhalten  unmöglich  machte,  weiterhin  aber 
eine  steigende  Verbitterung  des  durch  die  Reduktion  schwer  ge- 
schädigten Adels  und  endlich  die  Zettelungen,  die  zur  Unter- 
werfung unter  russische  Herrschaft  führten.  Diese  vollzog 
die  Kapitulation,  welche  das  hart  bedrängte  Riga  und  im  Namen 
der  Ritterschaft  150  Adelige,  die  ebenfalls  in  die  Stadt  geflohen 
waren,  am  4.  Juli  1710  mit  dem  russischen  General  schlössen. 
Die  Berechtigung  der  letzteren,  im  Namen  der  Ritterschaft  zu 
sprechen  und  zu  paktieren,  war  zum  mindesten  sehr  zweifelhaft. 
Denn  infolge  des  um  die  Reduktion  entbrannten  Konflikts  hatte 
die  schwedische  Regierung  1694  die  ständische  Verfassung  auf- 
gehoben, so  daß  es  rechtlich  eine  Vertretung  der  Ritterschaft 
nicht  mehr  gab.  Bloß  um  sich  ihrer  zur  Erlangung  von  Be- 
willigungen an  Geld  und  Lieferungen  als  Werkzeug  zu  bedienen, 
hatte  der  Riga  verteidigende  schwedische  General  die  in  die 
Stadt  geflüchteten  Adeligen  auf  eigene  Hand  als  Vertreter  der 
Ritterschaft  anerkannt.  Die  Kapitulation  wurde  dennoch  durch 
den  Frieden  von  Njstädt  vom  30.  August  1721  anerkannt.  In 
dessen  elftem  Artikel  wurde  unter  Bezugnahme  auf  einen  bereits 
ein  Einlenken  verheißenden  Erlaß  Karls  XH.  vom  10.  April  1700 
der  Widerruf  der  Reduktion  ausdrücklich  zugesagt:  jeder,  der 
nachweisen  würde,  daß  er  durch  dieselbe  zu  Unrecht  um  seinen 
Grundbesitz  gekommen,  sollte  diesen  zurückerhalten.  Den 
Gutsherren  wurden  die  alten  Rechte  zurückgegeben  und  für  alle 
Zeit  verbürgt,  die  ihnen  Sigismund  II.  August  1561  zugestanden 
hatte.  Damit  war  das  Schicksal  der  Bauern  entschieden:  die 
von  der  schwedischen  Regierung  eingeführten  Neuerungen 
konnten  fallen  gelassen  und  durch  den  alten  Brauch  ersetzt 
werden.     Nur  gewisse  als  besonders  praktisch  bewährte  Außer- 


Der  ICampf  um  die  Lcibeigenscliaft  in  Livland.  oO 

lichkeiten  blieben  bestehen,  welche  die  Übung  der  gutsherrlichen 
Rechte  in  dem  alten  Umfang  nicht  hinderten.  Die  bauern- 
freundliche  schwedische  Herrschaft  erschien  dem  Adel  nur  als 
eine  glücklich  abgetane  Episode,  die  das  altgewohnte  Willkür- 
regiment unliebsam  unterbrochen  hatte,  und  er  beeilte  sich, 
genau  da  anzuknüpfen  und  fortzufahren,  wo  ihm  vorübergehend 
Halt  geboten  worden  war.  Von  Seiten  der  russischen  Regie- 
rung war  er  dabei  nicht  bloß  der  größten  Nachsicht,  sondern 
wirksamster  Förderung  gewiß:  hatte  Peter  der  Große  doch 
schon  1720  eine  Kommission  eingesetzt,  welche  die  Beseitigung 
der  durch  die  Reduktion  herbeigeführten  Änderungen  durch- 
führen sollte.  Ebenso  ließ  man  die  Adeligen,  welche  auf  den 
durch  die  Reduktion  zu  Domänen  gewordenen  Gütern  als  Pächter 
blieben,  ungehindert  in  betreff  der  Leistungen  der  zugehörigen 
Bauern  all  die  Rechte  ausüben,  die  vor  der  Reduktion  deren 
Herren  zugestanden  hatten. 

IV. 

Russische  Reformversuche   und   ihr  Scheitern  an  der  Opposition 
des  liviändischen  Adels. 

Rücksichtslose  Selbstsucht  und  verknöcherter  Eigennutz 
kennzeichnen  die  Adelsherrschaft,  der  Livland  nach  dem  Ny- 
städter  Frieden  verfiel  und  bis  in  die  zweite  Hälfte  des  18.  Jahr- 
hunderts preisgegeben  blieb.  Jedes  Mittel  war  den  Herren 
recht,  um  die  durch  den  Pakt  mit  den  Russen  gewonnene 
Stellung  auszubauen  und  zu  befestigen.  Dazu  blieben  nicht 
bloß  die  Städte,  nach  wie  vor  die  eigentlichen  Trägerinnen  des 
Deutschtums  als  einer  stetig  fortwirkenden  Kulturmacht,  von 
dem  Einfluß  auf  die  Landesangelegenheiten  ausgeschlossen,  son- 
dern wurden  auch  die  Reihen  des  Adels  selbst  gegen  den  Zu- 
gang neuer,  noch  nicht  blind  in  den  Standesvorurteilen  be- 
fangener Elemente  möglichst  abgesperrt.  Peinlich  unterschied 
man  innerhalb  der  300  Familien,  welche  der  Ritterschaft  an- 
gehörten, als  besonders  angesehen  die  52,  deren  Vorfahren  be- 
reits zur  Zeit  der  Bischöfe  und  des  Ordens  im  Lande  gesessen 

-3* 


36  1.  Abhandlung:  Hans  Prutz 

hatten :  zu  ihnen  gehörten  die  Tiesenhausen,  Rosen,  Krüdener, 
Völkersam,  Engelhardt,  Bock,  Buddenbrock  u.  a.  Ihnen  zu- 
nächst standen  im  Range  die  14  Familien,  welche  zur  Zeit  der 
polnischen  Herrschaft  eingewandert  oder  geadelt  waren,  wie 
die  Ritter,  Knorring,  Gersdorff.  Dann  folgten  die  unter  schwe- 
discher Herrschaft  angesiedelten  schwedischen  oder  geadelten 
deutschen  Häuser,  wie  die  Schoultz,  Löwenstern,  Igelström  u.  a. 
Den  Schluß  in  der  Rangordnung  bildeten  die  erst  unter  rus- 
sischer Herrschaft  zugezogenen  oder  nobilitierten,  wie  die  Mün- 
nich,  Camphausen,  Transehe  usw.:  sie  zählten  1721  42  Familien.^) 
Dazu  blieb  die  Erwerbung  adeliger  Güter,  selbst  die  nur  pfand- 
weise, zunächst  allen  denjenigen,  die  nicht  dem  engen  Kreise 
der  schon  in  der  Ordenszeit  in  das  Land  gekommenen  Familien 
angehörten,  versagt,  und  als  das  schlielslich  aus  wirtschaft- 
lichen Gründen  nicht  mehr  durchführbar  war,  mußten  die  zum 
Erwerb  von  Rittergütern  zugelassenen  Sprößlinge  erst  später 
eingewanderter  Geschlechter  als  „Non-indigenae",  als  Adelige 
zweiter  Klasse  darauf  verzichten,  in  die  Matrikel^)  eingetragen 
zu  werden.  Gleich  eifersüchtig  wachten  die  Altadeligen  über 
die  Beobachtung  der  ihnen  bei  der  Unterwerfung  unter  Ruß- 
land zugesicherten  Rechte,  namentlich  wo  deren  Verletzung 
ihnen  die  glücklich  wiedergewonnene  Freiheit  der  Bewegung 
nach  unten  zu  kürzen  drohte.  Niemand  wird  ihnen  einen  Vor- 
wurf daraus  machen,  daß  sie  die  überlegene  Bildung  und  höhere 
Geisteskultur,  über  die  sie  verfügten,  in  den  Dienst  ihrer  neuen 
Herren  stellten  und  sich  um  die  Entwickelung  Rußlands  große 
Verdienste  erwarben:  doch  hat  sie  das  nicht  gehindert,  sich 
in  anderen  Dingen  als  gelehrige  Schüler  oder  beflissene  Nach- 
ahmer der  Russen  zu  erweisen.  Daß  sie  das  namentlich  in 
Bezug  auf  die  agrarischen  und  bäuerlichen  Verhältnisse  taten, 
sollte  zum  Verhängnis  für  ihre  Heimat  werden  und  wird  sich, 
so  steht  zu  fürchten,  als  solches  auch  in  der  großen  Krisis 
unserer  Tage  geltend  machen. 


^)  Vgl.  Bray,   Essai  critique  sur  1' histoire  de  la  Livonie  IIT,   S.  91. 
2)  Die  Matrikel  von  1747  teilt  Bray  a.  a.  0.,  III,  S.  379  ff.  mit. 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland.  37 

Daß  russische  Verhältnisse  und  russische  Anschauungen 
gerade  auf  diesem  Gebiet  Einfluß  gewannen,  war  nur  natürlich. 
Der  livländische  Adel  erwies  sich  ihm  um  so  zugänglicher,  je 
lästiger  er  die  Schranken  empfand,  welche  die  schwedische 
Gesetzgebung  ihm  gesetzt  hatte.  Es  genügte  ihm  nicht,  die 
durch  diese  beseitigten  alten  Rechte  wieder  zu  gewinnen,  viel- 
mehr benutzte  er  die  Gunst  der  Umstände,  um  nach  russischem 
Vorbild  noch  größere  zu  erwerben.  Der  russische  Gutsherr 
hatte  unumschränkte  Gewalt  über  seine  Bauern,  konnte  sie 
auch  ohne  Land  verkaufen,  als  Kolonisten  nach  Sibirien  schicken 
und  zur  Zwangsarbeit  vergeben;  er  hatte  die  Kriminaljustiz 
über  sie  und  konnte  auf  jede  Art  von  Strafe  erkennen  außer 
auf  den  Tod.  Nun  galten  zwar  die  russischen  Gesetze  in  Liv- 
land nicht :  wer  aber  sollte  den  Grundherrn  hindern,  sich  doch 
danach  zu  richten?  Damit  erreichte  die  Leibeigenschaft  in 
Livland  ihren  Höhepunkt  und  gab  die  ländliche  Bevölkerung 
unerhörter  Bedrückung  preis.  Um  aber  den  so  geschaffenen 
Zustand  als  berechtigt  und  auch  in  Zukunft  nicht  anfechtbar 
zu  erweisen,  verbreitete  man  die  Meinung,  die  Leibeigenschaft 
sei  eine  altehrwürdige  Institution  und  gleich  von  den  Eroberern 
als  Basis  des  ganzen  wirtschaftlichen  Systems  eingeführt  worden. 
Ein  in  seiner  Art  klassisches  Denkmal  für  den  baltischen 
„Herrensinn"  jener  Tage  ist  die  sogenannte  „Rosen sehe 
Deklaration",  eine  Denkschrift,  welche  1739  der  damalige 
„residierende"  (d.  h.  zur  Führung  der  Geschäfte  in  der  Landes- 
hauptstadt vervveilende)  Landrat  von  Rosen  verfaßt  hat  als 
Antwort  auf  eine  Anfrage  des  Reichsministeriums  über  das 
Verhältnis  der  Gutsherren  zu  den  Bauern.^)  „Die  Bauern,  so 
wird  darin  ausgeführt,  sind  als  Leibeigene  zu  den  Gütern  ge- 
schlagen und  mit  diesen  „vergeben  und  verlehnt"  worden  und 
seitdem  in  „einer  gänzlichen  Leibeigenschaft  geblieben  und  als 
leibeigen  und  als  glebae  adscripti  von  einer  Erbherrschaft  auf 
die  andere  vererbet,  kaufs-  oder  sonst  kontraktweise  transfe- 
rieret,   cedieret    und   jure    domini    vindicieret    worden."     Das 


^)  V.  Transehe-Roseneck,  a.  a.  0.,  S.^146  S. 


38  1.  Abhandlung;  Hans  Prutz 

Dominium  des  Gutsherrn,  heißt  es  weiter,  erstreckte  sich  auch 
auf  das  Vermögen  des  Erbbauern;  auch  sei  dieses  Recht  der 
Ritterschaft  nie  eingeschränkt  worden,  wohl  aber  habe  die- 
selbe den  Bauern  freiwillig  ein  Recht  an  ihrem  erworbenen 
Vermögen  zugestanden  „zur  Aufmunterung  des  Fleißes".  Die 
Bemessung  der  Leistungen  der  Erbbauern  sei  allein  Sache  der 
Ritterschaft  und  daher  unabhängig  von  den  „Wackenbüchern", 
die  nur  den  Zweck  hätten,  die  Einnahmen  der  Krone  sicher  zu 
stellen.  Dazu  stimmte  die  weitere  Behauptung,  die  der  Ritter- 
schaft zustehende  Gerichtsbarkeit  umfasse  auch  das  Recht  über 
Leben  und  Tod,  doch  habe  sich  dieselbe  dessen  zu  Gunsten 
der  Krone  begeben.  Dagegen  stehe  ihr  eine  unbeschränkte 
Hauszucht  zu,  während  der  Bauer  ein  Recht  zur  Klage  gegen 
den  Herrn  niemals  gehabt  habe.  Nach  alledem  konnte  es 
dann  freilich  als  Beweis  edelmütiger  Selbstbeschränkung  gelten, 
wenn  schließlich  bemerkt  wurde,  es  liege  ja  allerdings  im  wirt- 
schaftlichen Interesse  des  einzelnen  Erbherrn,  daß  er  seine 
Gewalt  über  die  Bauern  mit  Mäßigung  gebrauche,  wie  die 
Ritterschaft  ja  auch  bemüht  sei,  das  Recht  der  Hauszucht 
und  der  Festsetzung  der  Leistungen  so  zu  gebrauchen,  daß 
die  Interessen  der  Krone  nicht  geschädigt  würden. 

Wenn  der  amtlich  bestellte  Wortführer  der  livländischen 
Ritterschaft  in  einer  dienstlichen  Denkschrift  an  die  ihm  vor- 
gesetzte Behörde  über  die  Rechte  der  Grundherren  den  Bauern 
gegenüber  eine  derartige  Auskunft  gab,  welche  die  doch  noch 
in  aller  Gedächtnis  fortlebende  schwedische  Gesetzgebung  völlig 
ignorierte,  um  die  Ordnung,  welche  die  Herren  im  Gegensatz 
zu  jener  eingeführt  hatten,  als  die  ursprüngliche  und  allein 
berechtigte  darzustellen,  so  kann  man  schon  daraus  auf  die 
von  ihnen  geübte  Praxis  schließen.  Jetzt  erst  kam  die  Leib- 
eigenschaft in  ihrer  härtesten  und  unmenschlichsten  Form  zur 
Durchführung.  Der  Bauer  war  wirklich  zu  einer  Sache  herab- 
gedrückt: der  Gutsherr  konnte  ihn  nach  Belieben  von  seinem 
Lande  trennen,  auf  ein  anderes  Stück  Land  versetzen  oder 
unter  seine  Dienstboten  aufnehmen,   aber  ebensogut  auch  ver- 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Jiivknd.  39 

kaufen,  vertauschen  und  verschenken.^)  Ihn  sittlich  und  gei- 
stig zu  heben,  hatte  er  vollends  kein  Interesse,  und  auch  sein 
wirtschaftliches  Gedeihen  zu  fördern  brauchte  er  sich  nur  so 
weit  angelegen  sein  zu  lassen,  als  es  sein  eigener  Vorteil  er- 
heischte. Von  irgend  einem  Recht  des  Bauern  an  dem  von 
ihm  im  Schweiß  seines  Angesichts  bebauten  Land  war  nicht 
die  Rede  mehr.  Schutzlos  war  er  rücksichtsloser  Ausbeutung 
preisgegeben.  War  es  da  zu  verwundern,  daß  viele  in  der 
Flucht  aus  dem  Lande  Rettung  suchten,  mochten  sie  auch 
ihren  dürftigen  Hausrat  im  Stich  lassen  müssen?  Wer  konnte, 
ging  über  die  Düna,  wo  das  Herzogtum  Kurland  unter  den 
Nachkommen  Gotthard  Kettlers  die  Möglichkeit  menschenwür- 
digeren Daseins  bot.  Um  so  starrer  hielt  der  livländische  Adel 
seinen  Standpunkt  fest,  und  als  endlich  die  russische  Regie- 
rung daran  Anstoß  nahm  und  auf  Reformen  drang,  setzte  er 
ihr  noch  1765  kurz  angebunden  die  Erklärung  entgegen:  „die 
Bauern  sind  servi  in  dem  weitesten  Umfang  des  römischen 
Rechts,  soweit  es  mit  der  christlichen  Religion  zusammen  be- 
stehen kann." 

Um  so  größer  war  das  Verdienst  des  Mannes,  der  gegen 
das  von  seinen  Standesgenossen  verübte  Unrecht  aufzutreten 
wagte  und  nicht  bloß  Vorschläge  zur  Abstellung  desselben 
machte,  sondern  selbst  mit  gutem  Beispiel  voranging  und 
zeigte,  wie  wenigstens  die  ärgsten  Mißstände  abgestellt  werden 
könnten. 

Freiherr  Karl  Friedrich  Schoultz  von  Ascheraden 
(1720 — 82),  in  jungen  Jahren  Soldat,  dann  als  Landrat  und 
Deputierter  der  Ritterschaft  in  der  ständischen  Verwaltung 
bewährt,^)  bewilligte  auf  eigene  Hand  seinen  Bauern  gewisse 
Erleichterungen.      Er    wollte    nicht    die    Leibeigenschaft    auf- 


^)  V.  Transehe-Roseneck,  a.  a.  0.,  S.  156,  wo  auch  Beispiele 
dafür  angeführt  sind. 

2)  Vgl.  Allgemeine  Deutsche  Biographie,  32,  S.  419;  Merkel,  Die 
Letten  usw.,  S.  129  fF.  und  namentlich  Julius  Eckardt,  Die  baltischen 
Provinzen  Rußlands,  S.  148  ff.  und  Otto  Müller,  Die  livländische  Agrar- 
verfassung,  S.  17  ff. 


40  1.  Abhcandlung:  Hans  Prutz 

heben,  sondern  nur  die  niemals  förmlich  aufgehobene,  aber 
mißbräuchlicher  Weise  außer  Wirksamkeit  gesetzte  persönliche 
Rechtsfähigkeit  der  Bauern  herstellen.  Er  verzichtete  auf  das 
Recht,  sie  zu  verkaufen  oder  zu  verschenken  und  ihnen  neue 
Lasten  aufzulegen,  erkannte  an,  daß,  was  sie  erwarben,  ihr 
volles  Eigentum  sei  und  bleibe  und  daß  sie  gegen  Mißhand- 
lung zu  gerichtlicher  Klage  berechtigt  seien.  Die  Entrüstung 
seiner  Standesgenossen  über  solche  Neuerungen  steigerte  er 
noch  dadurch,  daß  er  diese  Bestimmungen  in  lettischer  Sprache 
drucken  ließ  und  den  Bauern  in  die  Hand  gab,  ja  dieses 
„  Ascheradensche  Bauernrecht"  1764  zur  Nachahmung 
veröffentlichte. 

Ob  das  die  russische  Regierung  veranlaßte,  sich  auch  ihrer- 
seits der  Bauern  anzunehmen,  oder  ob  diese  durch  den  noch 
immer  tief  darnieder  liegenden  Wohlstand  der  wichtigsten  Pro- 
vinz vorzugehen  veranlaßt  wurde,  muß  dahingestellt  bleiben : 
gewiß  ist,  daß  beides  im  Kreise  der  adeligen  Gutsbesitzer  leiden- 
schaftliche Erregung  hervorrief  und  erbitterte  Kämpfe  ver- 
anlaßte, in  denen  die  adeligen  Herren  schließlich  einen  zwar 
vollständigen,   aber  nicht   eben    rühmlichen  Sieg  davontrugen. 

Dem  im  Frühjahr  1765  zusammentretenden  Landtag  machte 
die  Regierung  durch  den  Generalgouverneur  Grafen  Browne 
unter  Bezugnahme  auf  vielfache  Klagen,  welche  der  Kaiserin 
Katharina  bei  ihrem  Besuch  in  der  Provinz  zu  Ohren  gekom- 
men waren,  Vorschläge  zur  Abstellung  der  dringendsten  Be- 
schwerden. Sie  liefen  im  wesentlichen  auf  die  Bestimmungen 
des  „Ascheradenschen  Bauernrechts*  hinaus,  namentlich  die 
Anerkennung  des  Eigentumsrechts  des  Bauern  an  dem  von  ihm 
„mit  seinem  Blut  und  Schweiß  Erarbeiteten."  Als  unerträg- 
lich wurde  gerügt,  daß  die  Leistungen  der  Bauern  ganz  unbe- 
stimmt seien  und  von  den  Herren  beliebig  gesteigert  werden 
könnten.  Weiter  handelte  es  sich  um  den  häufigen  Mißbrauch 
des  Strafrechts  durch  die  Herren,  der  „mit  christlichem  Emp- 
finden unvereinbar"  sei.  Deshalb  sollte  zunächst  das  Eigen- 
tumsrecht der  Bauern  an  dem  von  ihnen  erworbenen  Hausrat 
anerkannt  und   dann  ein  bestimmtes  Maß  für  ihre  Leistungen 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland.  41 

im  Verhältnis  zu  dem  von  ihnen  bebauten  Boden  festgesetzt 
werden.  Diese  Vorschläge  entfesselten  auf  dem  Landtag  einen 
Sturm  der  Entrüstung,  der  noch  stieg,  als  von  Schoultz-Asche- 
raden  sein  „Bauernrecht"  vorlegte  und  dessen  Bestätigung  und 
den  Erlaß  entsprechender  Bestimmungen  für  das  ganze  Land 
forderte,  indem  er  an  dem  Verhalten  seiner  Standesgenossen 
gegen  die  Bauern  eine  vernichtende  Kritik  übte  und  eindring- 
lichst zu  rechtzeitigem  Einlenken  mahnte,  da  sonst  die  Regie- 
rung einzuschreiten  genötigt  sein  würde,  die  nicht  dulden  könne, 
daß  „die  einmal  retablierten  Rechte  der  Menschheit  annean- 
siert  würden  und  sozusagen  aus  Menschen  wieder  Vieh  ge- 
macht würde."  Lärmend  erhob  sich  die  Versammlung  gegen 
den  freimütigen  Redner  und  zeigte  nicht  übel  Lust,  über  ihn 
herzufallen  und  ihn  zum  Fenster  hinauszuwerfen.  Einstimmig 
lehnte  sie  die  Anträge  der  Regierung  ab  und  erklärte,  „die 
jetzige  Leibeigenschaft  sei  nicht  eine  Barbarei,  sondern  in  dem 
natürlichen  Genius  der  Nation  begründet  und  könne  sehr  wohl 
mit  der  Humanität  bestehen."  Um  die  Verbreitung  des  „Asche- 
radenschen  Bauernrechts "  zu  verhindern,  wurden  möglichst  alle 
Exemplare  desselben  aufgekauft  und  sorgsam  verwahrt.  Sicher- 
lich aber  war  es  nicht  der  Genius  der  deutschen,  sondern  der 
russischen  Nation,  den  die  Herren  für  sich  anriefen.  Das 
bewies  die  Erklärung,  mit  der  sie  die  Propositionen  der  Regie- 
rung schließlich  verwarfen:  darin  hielten  sie  die  Leibeigen- 
schaft „nach  dem  durch  die  christliche  Religion  gemilderten 
römischen  Recht"  fest  aus  praktischen  und  sachlichen  Gründen, 
benutzten  aber  die  Gelegenheit,  auch  den  von  ihnen  nicht  für 
voll  angesehenen  jüngeren  Adelsgeschlechtern  einen  Hieb  zu 
versetzen  durch  die  Bemerkung,  wenn  in  der  Behandlung  der 
Bauern  Härten  vorkämen,  so  läge  die  Schuld  bei  den  „Non- 
indigenae",  die  gegen  die  alten  Privilegien  zum  Erwerb  von 
Rittergütern  zugelassen  seien.  ^)  So  durfte  Graf  Browne  froh 
sein,  einige  wenige,  freilich  mehr  formale  als  sachliche  Zuge- 
ständnisse   zu    erwirken,    welche    in    dem   Landtagsrezeß    vom 


1)  Eckardt,  a.  a.  0.,  S.  150—52. 


42  1.  Abhandlung:  Hans  Prutz 

12.  April  noch  dazu  so  verklausuliert  gefaßt  wurden,  daß  gründ- 
liche Reformen  auch  für  die  Zukunft  ausgeschlossen  blieben. 
„Obgleich  alles,  hieß  es  da,  was  der  Bauer  hat,  Eigentum  des 
Herrn  ist,  soll  doch  das  von  ihm  erworbene  Vieh,  Geld  und 
Getreide,  sobald  er  dem  Herrn  nichts  mehr  schuldig  ist,  sein 
Eigentum  sein,  jedoch  für  den  Fall  der  Veräußerung  dem  Herrn 
das  Verkaufsrecht  zustehen."  Die  Leistungen  sollten  nicht  er- 
höht werden:  wer  aber  wachte  darüber  und  schritt  ein,  wenn 
es  doch  geschah?  Denn  schroff  wahrten  die  Herren  ihren  prin- 
zipiellen Standpunkt  und  stellten  das  Wenige,  was  sie  nach- 
gaben, dar  als  freies  Geschenk  ihrer  Gnade,  aus  dem  weitere 
Folgerungen  nicht  gezogen  werden  dürften.  Obgleich  die  Erb- 
herren, erklärten  sie,  völlig  berechtigt  seien,  ihre  Leute  zu 
allen  Arbeiten  zu  gebrauchen,  deren  sie  benötigt  seien,  solle 
doch  demnächst  bekannt  gemacht  werden,  wie  viel  sie  haben 
wollen:  ein  etwaiges  Mehr  solle  später  anderweitig  beschafft 
werden.  Für  den  Fall  der  Nichterfüllung  dieser  Zusage  wurde 
den  Bauern  das  Recht  zu  gerichtlicher  Klage  eingeräumt. 

Im  wesentlichen  also  endete  der  Landtag  von  1765  mit 
dem  Siege  der  Adelsreaktion,  und  indem  diese  die  den  Bauern 
verheißenen  geringen  Erleichterungen  als  aus  Gnade  gewährte 
Ausnahmen  von  der  Regel  darstellte,  das  diese  bestimmende 
Prinzip  also  für  dadurch  nicht  berührt,  sondern  unverändert 
fort  geltend  proklamierte,  stärkte  sie  ihre  Stellung  für  die 
Zukunft,  insofern  dadurch  die  bestehende  Agrarordnung  im 
übrigen  als  zu  Recht  bestehend  anerkannt  wurde.  Damit  war 
allerdings  auch  klar  geworden,  daß  die  Bauern  von  den  deut- 
schen Herren  nichts  zu  hoffen  hatten.  Blieb  doch  gleich  das 
ihnen  zugestandene  Klagerecht  illusorisch  infolge  der  Schikanen, 
die  seine  Übung  eo  gut  wie  unmöglich  machten.  Doch  suchten 
die  Gutsherren  wenigstens  gröbere  Ausschreitungen,  deren  Be- 
kanntwerden böses  Blut  machen  konnte,  im  Interesse  des  Stan- 
des durch  gegenseitige  Kontrolle  zu  verhindern :  wer  einen 
Bauer  auf  offenem  Markt  verkaufte,  sollte  200  Taler  Strafe 
zahlen  —  ihn  unter  der  Hand  zu  verkaufen  stand  jedem  frei. 
Dieser  Haltung  der  Herren  gegenüber  erscheint  die  russisch^ 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland.  43 

Regierung  mit  ihren  mehrfach  erneuten  Versuchen  zur  Besse- 
rung der  Lage  der  Bauern  als  Vertreterin  der  Menschlichkeit 
und  des  Fortschritts.  Wenn  bei  deren  Abwehr  die  Gutsbesitzer 
ihrer  hartherzig  ablehnenden  Haltung  durch  stolzes  Pochen 
auf  das  Vorrecht  ihrer  altüberkommenen  deutschen  Kultur  ein 
Mäntelchen  umzuhängen  suchten,  so  setzten  sie  damit  das  kost- 
bare Erbe  ihrer  Väter  doch  bedenklich  herab.  Schon  aber 
nahte  die  Zeit,  wo  die  Unhaltbarkeit  dieses  Standpunktes  klar 
werden  und  vielen  seiner  Verteidiger  die  Einsicht  aufgehen 
sollte,  auf  ihm  beharren,  heiße  sich  selbst  zu  Grunde  richten. 


V. 

Der  Einfluss  der  Aufklärung  und  die  Reformen  zu  Anfang 
des  19.  Jahrhunderts. 

Die  Versuche  der  russischen  Regierung,  die  Lage  der  liv- 
ländischen  Bauern  gründlich  zu  bessern,  waren  an  dem  Wider- 
stand der  „Herren"  gescheitert.  Da  in  deren  Händen  aber 
auch  die  Durchführung  der  wenigen  ihnen  abgedrungenen  Zu- 
geständnisse lag,  so  war  von  einer  solchen  kaum  die  Rede. 
Das  „Ascheradener  Bauernrecht"  ruhte  als  bibliographische 
Rarität  in  den  ritterschaftlichen  Kanzleien.  Aber  die  Vorgänge 
von  1765  wirkten  nach,  zumal  die  Ritterschaft  durch  rück- 
sichtslose Ausnutzung  ihres  Sieges  die  Unzufriedenheit  stei- 
gerte, nicht  bloß  bei  dem  Stadtbürgertum,  das  sich  von  dem 
Erwerb  ländlichen  Grundbesitzes  ausgeschlossen  sah,  sondern 
auch  bei  dem  „nicht-indigenen"  Adel,  z.  B.  durch  die  1783 
vollzogene  Verwandelung  aller  bisherigen  Lehen  in  Allode.*) 
Dazu  kam  der  wachsende  Einfluß  der  aus  Westeuropa  herüber- 
wirkenden Aufklärung:  ihre  zahlreichen  Anhänger  konnten 
nur  mit  Beschämung  das  menschenunwürdige  Dasein  beob- 
achten, zu  dem  sie  die  große  Masse  der  ländlichen  Bevölke- 
rung verurteilt  sahen.  So  mehrten  sich  im  letzten  Drittel  des 
18.  Jahrhunderts  die  Anzeichen   eines   nahenden  Umschwungs, 

"")  Erinnerungen  meines  Großvaters  (Leipzig  1883),  S.  82. 


44  1.  Abhandlung:  Hans  Prutz 

und  schließlich  fand  sich  auch  der  tapfere  Mann,  der  die  er- 
schreckende Wirklichkeit  zu  allgemeiner  Kenntnis  brachte  und 
im  Namen  der  Menschlichkeit  Abhilfe  verlangte. 

Im  Jahre  1797  veröffentlichte  Garlieb  Helvrig  Merkel 
(1769 — 1850)  sein  Buch  über  „Die  Letten  vornehmlich  in 
Livland  zu  Ende  des  philosophischen  Jahrhunderts, 
ein  Beitrag  zur  Länder-  und  Völkerkunde,"  das  er  be- 
zeichnender Weise  dem  Grafen  Repnin  widmete,  dem  General- 
gouverneur von  Livland,  der  sich  ebenso  wie  sein  Vorgänger 
Browne  mehrfach,  aber  auch  vergeblich  zu  Gunsten  der  Bauern 
bemüht  hatte  —  eine  flammende  Anklageschrift  nicht  bloß 
gegen  die  „Großherren",  sondern  auch  gegen  die  protestan- 
tischen Geistlichen  des  Landes,  die  er  mit  verantwortlich  machte 
für  das  geistige  und  vielfach  auch  moralische  Verkommen  der 
lettischen  Bevölkerung.  Sohn  eines  voltairianisch  aufgeklärten 
livländischen  Pastors,  frühreif,  vielseitig,  aber  nicht  methodisch 
gebildet  und  daher  sich  leicht  zersplitternd,  hatte  Merkel  die 
Beamtenlaufbahn  bald  wieder  aufgegeben  und,  wie  von  Jugend 
auf  daheim,  so  als  Hauslehrer  auf  dem  Lande,  die  einschlägigen 
Verhältnisse  gründlich  kennen  gelernt.  Das  Bild,  das  er  von 
ihnen  entwarf,  mußte  geradezu  abschreckend  wirken,  zumal 
mancher  dadurch  zuerst  erfuhr,  was  für  Unmenschlichkeiten 
da  noch  im  Schwange  waren.  Daß  sein  Bericht  im  wesent- 
lichen der  Wahrheit  entsprach,  ist  nicht  zu  bezweifeln,  zumal 
er  sich  nicht  selten  auf  zuverlässige  Gewährsmänner  beruft. 
Das  Buch  wurde  schon  dadurch  epochemachend,  daß  es  zum 
ersten  Mal  scharf  das  Problem  bezeichnete,  von  dessen  Lösung 
die  Zukunft  Livlands  abhing. 

Merkel  hatte  nicht  so  Unrecht,  wenn  er  gleich  Eingangs 
ironisch  bemerkte:  „Nach  der  Stellung  der  „Großherren"  ge- 
hört die  ganze  Lage  des  Letten,  ihre  Allgewalt  über  ihn  und 
die  gewöhnliche  Handhabung  derselben  zur  bestmöglichen  Ord- 
nung der  Dinge:  sie  selbst  befinden  sich  wohl  dabei."  Die 
Haltung  des  Adels  gegenüber  den  Reformversuchen  der  Regie- 
rung hatte  das  schlagend  erwiesen,  und  mit  Merkel  mußte 
jeder  Patriot  wünschen,  das  sonst  drohende  Unheil  abzuwenden, 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland.  45 

indem  der  Adel  seinen  empörenden  „Unge rechtsamen"  freiwillig 
entsagte.  Deshalb  habe  er  es  unternommen,  die  Lage  der 
Letten  unparteiisch  zu  schildern  und  Adel  und  Geistlichkeit 
einen  Spiegel  vorzuhalten,  der  sie  vor  ihren  eigenen  Zügen 
erschrecken  machen  werde.  Auch  die  Aufmerksamkeit  der 
Regierung  habe  er  auf  die  Verhältnisse  lenken  wollen,  damit 
dem  Lande  gewaltsame  Erschütterungen  erspart  blieben.  „Denn 
die  russischen  Bajonette  allein  schützen  bis  jetzt  den  deutschen 
Despotismus  in  Livland".  In  knappen  Zügen  zeigt  Merkel  dann, 
wie  dieser  das  Volk  der  Letten  nicht  bloß  unentwickelt  ge- 
lassen, sondern  heruntergebracht  habe,  wie  bei  allen  den  tief- 
greifenden politischen  Wandlungen,  die  das  Land  erst  zur  pol- 
nischen, dann  zur  schwedischen  und  schließlich  zur  russischen 
Provinz  gemacht,  immer  nur  von  den  wenigen  deutschen  Herren 
die  Rede  gewesen,  der  Masse  der  diesen  schon  der  Zahl  nach 
weit  überlegenen  Letten  und  Esten  aber  auch  nicht  mit  einem 
Worte  gedacht  wurde.  Erst  unter  dem  „milden  und  glück- 
lichen Szepter  Rußlands"  sei  die  Willkür  des  Adels  einge- 
schränkt worden :  —  eigentliche  Rechte  aber  besitze  der  Bauer 
noch  immer  nicht,  „wohl  aber  endlich  wieder  Selbstgefühl  ge- 
nug, um  das  Bedürfnis  nach  solchen  zu  fühlen."  Denn  „stupid 
und  nervenlos  tappt  der  große  Haufe  durch  das  Leben  und 
kennt  kein  anderes  Glück,  als  sich  bei  unzerfetztem  Rücken 
mit  Spreubrod  sättigen  zu  können,  keinen  Mut  als  den,  zum 
„Großherrn"  aufzusehen,  keine  Weisheit,  als  unertappt  zu  steh- 
len; nur  Sonntags  sinnlos  trunkenes  Vieh  zu  sein,  gilt  ihm 
für  Tugend,  für  Ehre,  nicht  gepeitscht  zu  werden."  Die  Groß- 
herren aber  sehen  in  jeder  Verordnung  zu  Gunsten  der  Letten 
eine  Bedrohung  ihres  Eigentums.  Ist  es  auch  arg  übertrieben, 
w^enn  Merkel  meint,  „die  meisten  Grundherren  glaubten  ihren 
Bauern  gegenüber  das  Recht  des  Schlächters  gegenüber  seiner 
Herde  zu  haben",  so  wird  doch  das  Bild,  das  er  von  der  Be- 
lastung der  Bauern  mit  Diensten  und  Leistungen  aller  Art  ent- 
wirft, für  seine  Zeit  sicher  zutreflFen.  Hat  ihm  doch,  wie  er 
berichtet,  ein  alter  Bauer  auf  die  Frage,  was  er  denn  eigent- 
lich zu  leisten  verpflichtet  sei,  geantwortet:  „Was  Gott  zuläßt 


46  1.  Abhandlung:  Hans  Prutz 

und  dem  gnädigen  Herrn  gefällt".  Nun  aber  fange  man  doch 
endlich  an,  der  Sache  auch  in  weiteren  Kreisen  Interesse  zuzu- 
wenden und  sogar  darüber  zu  schreiben.  Der  Adel  freilich, 
wenn  man  auch  da  gelegentlich  aufgeklärte  menschenfreund- 
liche Reden  höre,  sträube  sich  noch  immer  gegen  jede  Ände- 
rung als  ihn  selbst  wirtschaftlich  schädigend  und  erkläre,  der 
Lette  eigne  sich  nicht  für  ein  besseres  Los.  Deshalb  fordert 
Merkel  für  diesen  vor  allem  Bildung  und  Freiheit:  wie  sie 
ihm  gegeben  werden  sollen,  gibt  er  freilich  nicht  näher  an. 
Denn  die  von  ihm  vorgeschlagene  Errichtung  von  Bauern- 
gerichten, deren  Spruch  der  Herr  nur  mildern  können  sollte, 
setzte  doch  den  Zustand  der  Bauern  voraus,  den  es  erst  zu 
schaffen  galt,  und  auch  die  von  ihm  empfohlene  Erteilung  des 
Rechts,  sich  freizukaufen,  hätte  dem  Bauern  nichts  genützt: 
die  Hauptschwierigkeit  lag  eben  in  den  wirtschaftlichen  Ver- 
hältnissen. 

So  eindringlich,  ja  gelegentlich  heftig  die  Sprache  war, 
die  Merkel  als  begeisterter  Anwalt  der  Letten  gegen  die  „Groß- 
herren" führte,  im  ganzen  bleibt  sie  doch  sachlich  und  enthält 
sich  über  das  Ziel  hinausschießenden  Schmähens  und  Scheltens. 
Hat  der  Eindruck,  den  er  damit  machte,  ihn  berauscht  oder 
hat  er,  um  auf  weitere  Kreise  wirken  zu  können  und  von  ihnen 
aus  den  Kampf  in  die  Menge  zu  tragen,  es  für  nötig  gehalten, 
einen  noch  leidenschaftlicher  agitatorischen  Ton  anzuschlagen  — 
1798  veröffentlichte  er  in  Berlin  die  beiden  ersten  Bände  eines 
Werkes  „Die  Vorzeit  Lieflands.  Ein  Denkmahl  des 
Pfaffen-  und  Rittergeistes",  das,  durch  die  Leidenschaft- 
lichkeit der  Darstellung  und  den  völligen  Mangel  an  unbe- 
fangenem Verständnis  für  eigenartige  geschichtliche  Erschei- 
nungen gekennzeichnet,  höchstens  das  Gegenteil  der  damit  be- 
absichtigten Wirkung  hervorrufen  und  den  Autor  und  die  von 
ihm  verfochtene  Sache  kompromittieren  konnte.  In  dieser  bis 
zum  Ende  seiner  Selbständigkeit  reichenden  volkstümlichen  Ge- 
schichte Livlands  macht  sich  der  flachste  Aufklärungsfanatis- 
mus in  fast  abschreckender  Weise  breit,  schlimmer  noch,  als 
der  doch  schon  recht  bedenkliche  Titel  erwarten  läßt.    In  den 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland.  47 

seiner  Darstellung  zu  Grunde  gelegten  allgemeinen  Sätzen,  die 
philosophisch  sein  sollen,  wird  sein  Meister  Rousseau  noch  über- 
trumpft, wie  es  da  z.  B.  I,  S.  46  heißt:  „Alles  ist  gut,  wie  es 
aus  den  Händen  der  Natur  kommt,  und  alles  verderben  die 
Menschen."  Die  Glaubensboten,  die  das  Evangelium  nach  Liv- 
land brachten,  und  die  Uitter,  die  ihm  zum  Siege  verhalfen, 
trieben  nach  ihm  I,  S.  38  „das  Gaukelspiel  der  Bekehrung" 
und  waren  nach  I,  S.  IV  „nichts  als  Räuber,  die  unter  dem 
Vorwand  der  Religion  ins  Land  fielen."  Er  freut  sich  II,  S.  31 
des  Untergangs  des  Schwertordens,  „aber  aus  dem  Blut  des 
Ungeheuers  ging  ein  noch  mächtigeres  hervor".  Iwan  der 
Grausame  hat  sich  nach  seiner  Meinung  II,  S.  491  ein  Ver- 
dienst um  die  Menschheit  erworben  „durch  die  Zerstörung  eines 
Staates,  der  hoffentlich  der  einzige  seiner  Art  bleibt.  Denn 
gewisser  wahnsinniger  Verirrungen  sind  die  Menschen,  wie  der 
Blattern,  nur  einmal  fähig.  Diejenige,  deren  Geschichte  wir 
durchgegangen  sind,  ließ  ein  scheußliches  Denkmal  zurück, 
die  livländische  Großherrschaft. "  Dazu  stimmt  es  dann  frei- 
lich, wenn  Merkel  Livland  am  besten  unter  dem  Bilde  des 
schlangenumwundenen  Laokoon  dargestellt  meinte  (I,  S.  29)  und 
von  dem  Adel  I,  S.  IV  das  kühne  Bild  braucht,  er  „trone 
stolz  auf  den  Schultern  des  Bauernstandes,  wie  die  Luchskatze 
auf  dem  Nacken  des  erhaschten  Pflugstiers."  Wenn  er  dann 
gar  seinen  Lesern  die  Fabel  auftischte,  Erzbischof  Albert  von 
Bremen  habe  für  das  durch  ihn  kolonisierte  Livland  ein  „ Bauern- 
recht"  erlassen  und  die  zu  seiner  Zeit  geltenden  harten  Be- 
stimmungen bereits  in  diesem  enthalten  sein  läßt,  so  verläßt 
er  den  Boden  geschichtlich  beglaubigter  Überlieferung  doch 
vollkommen  und  konnte  von  sachkundigen  Lesern  kaum  noch 
ernst  genommen  werden. 

Wohl  wäre  der  Erfolg  von  Merkels  Lettenbuch  nicht  so 
groß  gewesen,  hätte  nicht  auch  in  den  Reihen  der  „Groß- 
herren" die  Bauernfrage  gelegentlich  eine  andere  Beurteilung 
als  bisher  gefunden:  in  der  jüngeren  Generation  ließen  manche 
die  1765  mit  Entrüstung  abgewiesenen  Reform  vorschlage  der 
Regierung   als   berechtigt  gelten    und   waren   bereit,   zu   ihrer 


48  1.  Abbandlung:  Hans  Prutz 

Durchführung  die  Hand  zu  bieten.  Namentlich  unter  den  in 
Deutschland  gebildeten  und  von  dem  Geist  des  „philosophischen 
Jahrhunderts"  angeregten  Livländern  fand  Merkel  zahlreiche 
Jünger.  So  konnte  er  nicht  bloß  sein  Buch  im  Jahre  1800 
in  zweiter  Auflage  erscheinen  lassen,  sondern  erlebte  schließ- 
lich auch  noch  die  Genugtuung,  ihm  angesichts  der  teihveisen 
Verwirklichung  seiner  Ideen  1820  eine  Fortsetzung  folgen  lassen 
zu  können  „DiefreienLiven  undEsten,  eine  Erinnerungs- 
schrift zu  dem  am  6.  Januar  1820  in  Riga  gefeierten 
Freiheitsfest",  wie  seine  Verdienste  denn  auch  von  Kaiser 
Alexander  I.  durch  die  Verleihung  einer  Pension  anerkannt 
wurden,  die  er  bis  zu  seinem  1850  in  seiner  Heimat  erfolgten 
Tod  genossen  hat. 

Den  Weg  freilich,  der  dem  aufgeklärten  Menschenfreund 
vorgeschwebt  haben  mochte,  hat  die  Entwicklung  der  Bauern- 
frage in  Livland  nicht  eingeschlagen.  Nicht  die  Mahnungen 
im  Idealen  wurzelnder  Humanität,  sondern  die  sich  unwider- 
stehlich durchsetzende  wirtschaftliche  Notwendigkeit  und  der 
sich  dieser  endlich  beugende  Trieb  der  Selbsterhaltung  halfen 
den  Männern  schließlich  zum  Siege,  die  nach  dem  Vorgang 
von  Schoultz- Ascheradens  und  Merkels  ihre  Heimat  endlich 
von  dem  Bann  befreien  wollten,  der  als  trauriges  Erbe  auf  ihr 
lastete  —  einem  Reinhold  Johann  Ludwig  Samson  von 
Himmelstierna  (geb.  1788),  der  schon  als  Leipziger  Student 
mit  gleichgesinnten  Landsleuten  für  Merkels  Ideen  schwärmte, 
und  Leberecht  Friedrich  von  Sievers,  der  auf  diesem  Ge- 
biete demnächst  eine  hervorragende  Rolle  spielte.  Den  mäch- 
tigsten Förderer  aber  fanden  diese  Bestrebungen  in  Kaiser 
Alexander  L,  der  in  der  Erlösung  der  Bauern  aus  der  Knecht- 
schaft seine  vornehmste  Aufgabe  sah.  Die  unvermeidlichen 
wirtschaftlichen  Folgen  derselben  aber  drohten  den  ohnehin 
schon  tief  darnieder  liegenden  Wohlstand  des  Landes  vollends 
zu  Grunde  zu  richten  und  namentlich  den  Adel  zu  ruinieren, 
während  der  geistige  und  sittliche  Zustand  der  Bauern  zweifeln 
ließ,  ob  sie  von  der  Freiheit  den  rechten  Gebrauch  zu  machen 
fähig  sein  würden,  zumal  hier  die  öffentlich  rechtlichen  Normen 


\ 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland.  49 

fehlten,  welche  eben  damals  die  Bauernemanzipation  sowohl  in 
Preuüeu  wie  in  den  deutschen  Provinzen  Schwedens  sich  hatten 
glatt  vollziehen  lassen.  In  dieser  Verlegenheit  griff  man  auf 
die  zum  Stillstand  gebrachte  schwedische  Agrarreform  zurück, 
indem  man  die  dafür  begonnene  Neuvermessung  und  Abschätzung 
aller  Ländereien  wieder  aufnahm,  dabei  nun  aber  auch  die 
außerordentlichen  Leistungen  mit  einschätzte.  Nur  was  in  den 
danach  anzufertigenden  neuen  „Wackenbüchern"  verzeichnet 
war,  sollte  der  Bauer  danach  in  Zukunft  zu  leisten  haben. 

Die  so  entstandene  Bauernordnung  von  1804  enthielt 
demnach  eigentlich  nichts  Neues,  sondern  dehnte  nur  die  einst 
von  der  schwedischen  Regierung  für  die  Domänenbauern  ge- 
troffenen Verfügungen  auf  alle  Privatgüter  aus.  Infolgedessen 
aber  sahen  sich  die  Gutsherren  durch  die  genaue  Begrenzung 
der  von  den  Bauern  zu  fordernden  Leistungen  im  Wirtschafts- 
betrieb vielfach  gehindert  und  daher  den  Ertrag  ihrer  Güter 
sinken.  Kriegsnot  und  Mißernten  kamen  dazu.  Das  ergab  eine 
schwere  wirtschaftliche  Krisis.  Akut  wurde  sie  zuerst  in  Est- 
land, wo  die  Bauernordnung  von  1804  eingeführt  war,  aber 
ohne  vorherige  Neuvermessung  des  Landes.  Daher  verfügte 
die  Regierung  dort  im  Sommer  1809  eine  solche  unter  gleich- 
zeitiger Vorlegung  bauernfreundlicher  „neuer  Regeln".  Auf 
dem  Landtag  von  1810  ging  es  infolgedessen  lebhaft  her:  denn 
nicht  die  Bauernordnung,  sondern  die  Zeitverhältnisse,  behaup- 
teten die  Grundherren,  verschuldeten  den  Notstand,  und  erst 
auf  eine  ungnädige  Zurechtweisung  von  Petersburg  her  gingen 
sie  an  die  Beratung  der  Vorlage,  die  abzuwenden  sie  sich  so- 
gar bereit  zeigten,  auf  die  von  den  Bauern  bisher  entrichtete 
Kornabgabe  zu  verzichten.  Doch  genügte  das  jetzt  nicht  mehr, 
und  schon  wurde  in  der  Debatte  die  Aufhebung  der  Leibeigen- 
schaft als  der  einzige  Ausweg  gestreift,  auf  dem  man  aus  diesen 
Schwierigkeiten  herauszukommen  hoffen  dürfte.  Die  Regierung 
aber  befahl  die  Ausarbeitung  eines  ihren  Vorschlägen  ent- 
sprechenden Reglements:  dabei  stand  nun  zu  befürchten,  daß 
diese  in  unrechte  Hände  kommen  oder  sich  lange  hinziehen 
und  die  Krisis  unheilvoll  verlängern   könnte,   was  für  die  est- 

Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  u.  d.  bist.  Kl.  Jahrg.  1916, 1.  Abb.  4 


50  1.  Abhandlung:  Hans  Prutz 

nische  Ritterschaft  und  ihre  Gläubiger  leiclit  zu  einer  Kata- 
strophe führen  konnte.  In  dieser  Notlage  kam  man  auf  die 
in  der  Debatte  bereits  gestreifte  Aufhebung  der  Leibeigen- 
schaft zurück  als  das  einfachste  und  radikalste  Mittel  und  zu- 
gleich das  kleinere  von  den  zwei  Übeln,  zwischen  denen  man 
zu  wählen  hatte.  Hatte  doch  bereits  die  Bauernordnung  von 
1804  vielfach  Gutsherren  und  Bauern  genötigt,  sich  über  An- 
sprüche und  Leistungen  auf  dem  Wege  des  Vertrags  zu  ver- 
ständigen: warum  sollte  das  nicht  auch  von  den  übrigen  ge- 
schehen können?  Der  Landtag  von  1811  stellte  allgemeine 
Normen  dafür  fest  und  beschloß,  eine  darauf  beruhende  Bauern- 
ordnung ausarbeiten  zu  lassen.  Aber  erst  im  März  1816  war 
das  Gesetz  fertig,  das  in  Estland  den  Bauern  die  Freiheit,  den 
Gutsherren  aber  das  unbeschränkte  Eigentum  an  Grund  und 
Boden  gewährte. 

Es  entspricht  also  nicht  den  geschichtlichen  Tatsachen, 
wenn  behauptet  wird,  die  Befreiung  der  Bauern  in  Estland  sei 
der  freien  Entschließung  der  aufgeklärten  und  menschenfreund- 
lichen Grundherren  entsprungen.  Vielmehr  bewilligte  die  est- 
nische Ritterschaft  sie  nur,  um  noch  unangenehmere  Maß- 
nahmen der  Regierung  abzuwenden,  die  sonst  sicher  gewesen 
wären  und  bei  denen  sie  noch  übler  zu  fahren  fürchten  mußte. 
Für  die  Entwickelung  der  baltischen  Lande  aber  bleibt  der 
Schritt  darum  nicht  weniger  epochemachend. 

Zunächst  nämlich  wurde  er  von  der  Ritterschaft  Kurlands 
nachgeahmt,  welches,  seit  1795  russische  Provinz,  doch  infolge 
seiner  lange  Zeit  glücklich  bewahrten  Selbständigkeit  unter 
deutschen  Fürsten  vor  ähnlich  schlimmen  Zuständen  bewahrt 
geblieben  war.  In  Livland  dagegen  beharrte  die  Mehrheit  der 
Ritterschaft  in  ihrer  ablehnenden  Haltung.  Auch  bereitete 
dort  die  Eigenart  der  Letten  Schwierigkeiten,  die  in  Estland 
nicht  vorgelegen  hatten.  Aber  durch  lebhafte  Agitation  in 
der  Presse  gewann  die  Opposition  doch  allmählich  Boden.  Auch 
hoffte  man,  die  Freiheit  werde  erhebend  und  bessernd  auf  die 
Letten  wirken.  Doch  waren  bei  dem  niedrigen  Stand  auch 
der  wirtschaftlichen  Kultur  der  Letten  Pachtverträge  hier  zur 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland.  51 

Zeit  nur  möglich  auf  Grund  von  Naturallieferungen.  Jedenfalls 
wurde  der  nun  schon  so  lange  herrschende  unklare  Zwischen- 
zustand schließlich  für  beide  Teile  unerträglich  und  drohte  bei 
noch  längerer  Dauer  vollends  weiteren  schweren  wirtschaft- 
lichen Schaden  anzurichten.  Ihm  ein  Ende  zu  machen,  faßte 
der  Landtag  am  23.  März  1818  den  entscheidenden  Beschluß, 
unter  dem  Zwang  der  Lage  zwar  einstimmig,  aber  doch  nur 
zögernd  und  voll  banger  Sorge  um  das  praktische  Ergebnis. 
Deshalb  schob  er  auch  den  Beginn  der  Bauernbefreiung  bis 
zum  Jahre  1823  hinaus,  in  der  Furcht,  die  Bauern  könnten 
sonst  die  Wirtschaften  sofort  im  Stich  lassen.  Sich  in  Städten 
anzusiedeln,  sollte  ihnen  sogar  erst  von  1832  an  frei  stehen 
und  über  die  Gestattung  der  Auswanderung  gar  noch  später 
gesetzlich  Bestimmung  getrofiPen  werden.  Die  befreiten  Bauern 
sollten  von  eigenen  Vorstehern  geleitete  Gemeinden  bilden,  die 
für  Armen-  und  Krankenpflege  selbst  aufzukommen  hatten. 

Von  einer  völligen  Emanzipation  der  Bauern  war  also 
auch  jetzt  nicht  die  Rede.  Dem  Gutsherrn  verblieb  immer 
noch  Macht  genug :  seiner  Bestätigung  bedurfte  die  Aufnahme 
jedes  neuen  Bauern  in  die  Gemeinde,  sie  war  nötig  zur  Gültig- 
keit der  Beschlüsse  der  Gemeindeversammlung  und  der  Wahl 
der  Gemeindebeamten.  Auf  seiner  Seite  war  außerdem  die 
wirtschaftliche  sowohl  wie  die  intellektuelle  Überlegenheit,  die 
er  gleich  bei  dem  Abschluß  der  neuen  Pachtkontrakte  zu  seinem 
Vorteil  geltend  zu  machen  Gelegenheit  hatte.  So  hing  denn 
die  Durchführung  der  neuen  Ordnung  auch  jetzt  wieder  in 
jedem  einzelnen  Falle  fast  ganz  von  dem  guten  Willen  des 
Herrn  ab.  Dabei  blieb  der  Gegensatz  zwischen  dem  deutschen 
Herrn  und  dem  ihm  zu  dienen  geborenen  Letten  und  wurde 
wie  früher  ausgenutzt:  eine  Annäherung  beider  Stämme  er- 
folgte auch  jetzt  nicht.  Die  Bauern  aber  sahen  in  dem  Er- 
reichten zunächst  nur  ein  den  deutschen  Herren  durch  die 
russische  Regierung  abgenötigtes  Zugeständnis,  dem  möglichst 
bald  noch  andere  und  größere  folgen  müßten.  Die  Vergangen- 
heit war  eben  nicht  auszutilgen :  nach  wie  vor  sahen  die  Letten 
in  den  deutschen  Herren  nur  die  Nachkommen   der  Eroberer, 


52  1.  Abhandlung:  Hans  Prutz 

y 

die  ihre  Vorfahren  unterworfen,  ausgebeutet  und  immer  tiefer 
und  vielfach  zu  menschenunwürdigem  Dasein  herabgedrückt 
hatten.  Voll  ererbten  Grolls  schmeichelten  sie  sich  wohl  gar 
mit  dem  Glauben,  es  stehe  ein  noch  größerer  Wandel  bevor 
und  es  nahe  die  Stunde  später  Vergeltung. 

Noch  lebte  ja  ihre  Sprache  und  ließ  sie  ihres  Volkstums 
sich  um  so  mehr  bewußt  werden,  als  die  deutschen  Herren  sie 
von  dem  Gebrauch  der  deutschen  Herrensprache  lange  Zeit 
möglichst  auszuschließen  gesucht  hatten.  So  wenig  Spielraum 
zur  Betätigung  über  seinen  nächsten  Beruf  hinaus  dem  Letten 
auch  nach  1823  gewährt  war,  er  genügte  doch,  um  ihn  der 
ihm  mit  seinesgleichen  gemeinsamen  Interessen  lebendiger  be- 
wußt werden  und  erkennen  zu  lassen,  wie  Organisation  seine 
Kräfte  steigern  mußte.  Daß  solche  Bestrebungen  von  russi- 
scher Seite  gefördert  wurden,  war  selbstverständlich. 

Die  von  Generationen  her  ererbte  feindselige  Gesinnung 
der  Letten  gegen  die  deutschen  Gutsherren  wurde  aber  auch 
nicht  gemildert  durch  die  Zugeständnisse,  welche  ihnen  die 
liberalisierende  Gesetzgebung  unter  Alexander  H.  im  Zusammen- 
hang mit  der  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  in  Rußland  ge- 
währte. In  Estland  wurde  den  Bauern  1856  das  von  ihnen 
bewirtschaftete  Land  zu  bleibendem  Besitz  zugesprochen  unter 
Anerkennung  des  Eigentumsrechts  der  Gutsherren.  In  Livland 
erfolgte  1860  die  Scheidung  aller  gutsherrlichen  Ländereien  in 
eigentlich  gutsherrliche  und  bäuerliche,  welch  letztere  zwar 
Eigentum  der  Herren  blieben,  aber  ihrer  Verfügung  entzogen 
wurden  und  allein  für  die  Bauern  verwendet  werden  durften. 
In  Kurland  endlich  erhielten  die  Bauern  1863  das  Recht,  das 
von  ihnen  bewirtschaftete  Land  käuflich  zu  vollem  Eigentum 
zu  erwerben,  wenn  der  Pächter  von  dem  ihm  zugestandenen 
Vorkaufsrecht  keinen  Gebrauch  machte.  Zudem  wurde  die  seit 
1840  üblicher  gewordene  Geldpacht  1863  durch  Landtags- 
beschluß allgemein  eingeführt.^) 


^)  Vgl.  Schmeidler,  Das  russische  Reich  unter  Kaiser  Alexander  II. 
(Berlin  1878),  S.  457-58. 


Der  Kampf  um  die  Leibeigenschaft  in  Livland.  53 

Dem  Ausgleich  zwischen  Gutsherren  und  Bauern,  Deutschen 
und  Letten  stellten  sich  inzwischen  neue  Hindernisse  entgegen 
durch  die  zur  Zeit  der  Bauernbefreiung  in  Rußland  einsetzende 
junglettische  Bewegung.*)  Wenn  ihr  Organisator  und  Leiter, 
der  Kurländer  Christian  Woldemar  (geb.  1825),  zeitweise  Sub- 
alternbeamter und  dann  kaufmännisch  tätig,  auch  keine  ganz 
einwandfreie  Persönlichkeit  war,  so  mußten  doch  die  von  ihm 
und  dem  zuerst  in  Dorpat  um  ihn  gesammelten  Kreis  aus- 
gehenden Schlagworte  auf  die  Letten  um  so  mehr  Eindruck 
machen,  als  sie  gerade  in  einer  Zeit  ertönten,  wo  die  in  der 
wirtschaftlichen  Lage  der  Bauern  eingetretene  Besserung  die 
Möglichkeit  bot,  bei  ihnen  auch  geistiges  Leben  zu  wecken. 
An  Anknüpfungspunkten  dafür  fehlte  es  ja  nicht:  noch  lebte 
mancher  Rest  eigenartigen  alten  Volkstums  in  Sage,  Lied  und 
Brauch,  der  auch  in  der  Ferne  Interesse  erweckt  und  dadurch 
in  den  Augen  der  Letten  selbst  an  Wert  gewonnen  hatte. 
Noch  lebte  vor  allem  die  lettische  Sprache,  wenn  auch  nur 
mit  bescheidenster  literarischer  Betätigung:  hatte  einst  ihr  Ge- 
brauch den  Letten  als  tief  unter  dem  Deutschen  stehend  kenn- 
zeichnen sollen,  so  wurde  sie  jetzt  zum  nationalen  Organ  ge- 
stempelt und  als  solches  ein  wirksames  Mittel  nationaler  Agitation. 
Es  entstand  eine  lettische  Tagespresse  und  im  Anschluß  an  sie 
eine  neue  volkstümliche  lettische  Literatur.  Läßt  sich  auch 
zweifeln,  ob  damit  das  Vorhandensein  eines  besonderen  lebens- 
und  entwickelungsfähigen  Volkstums  erwiesen  war:^)  unleugbar 
war,  daß  es  in  Livland  noch  immer  eine  den  Deutschen  an 
Zahl  mehr  als  fünffach  überlegene  Bevölkerung  gab,  die  nicht 
deutsch  war  und  nicht  deutsch  sein  wollte,  sondern  im  Gegen- 
satz zu  dem  ihr  in  der  Zeit  ihrer  jugendlichen  Empfänglich- 
keit und  Bildsamkeit  unkluger  Weise  vorenthaltenen  Deutsch- 
tum  auf  ihre   durch  Jahrhunderte   der  Knechtschaft   bewahrte 


^)  Vgl.  „Die  Anfänge  der  junglettischen  Bewegung"  in  „Fünfzig 
Jahre  russischer  Verwaltung  in  den  baltischen  Provinzen"  (Leipzig  1883), 
S.  243  ff. 

2)  Vgl.  vonDorneth,  „Die  Letten  und  ihr  Anspruch  auf  nationale 
Selbständigkeit  in  „Unsere  Zeit^  1884,  S.  296  ff. 


54       1.  Abb. :  H.  Prutz,  D.  Kampf  um  d.  Leibeigenschaft  in  Livland. 

Stammesart  zurückzugreifen,  sich  an  ihr  aufzurichten  und  zu 
neuem  Leben  zu  sammeln  gewillt  und  fähig  schien.  Nicht  ohne 
Grund  konnten  ja  die  ersten  Führer  der  junglettischen  Be- 
wegung zur  Rechtfertigung  und  Empfehlung  ihres  Vorgehens 
hinweisen  auf  die  schwere  Versäumnis,  deren  die  deutschen 
Herren  des  Landes  in  dieser  Hinsicht  sich  schuldig  gemacht 
hatten,  und  mit  hochtönenden  Worten  die  „Befreiung  des  let- 
tischen Volkes  aus  geistiger  Finsternis"  als  ihr  Ziel  verkünden. 
Eine  andere  Frage  freilich  ist  es,  ob  es  der  Aufgabe,  die 
es  damit  übernommen  haben  will,  gewachsen  ist  oder  ob  es 
schließlich  bloß  dazu  gedient  haben  wird,  die  Bedrängnis  des 
Deutschtums  zu  steigern  und  dadurch  dem  Russentum  Vor- 
schub zu  leisten.  Die  Zeit  liegt  noch  nicht  weit  zurück,  wo 
man  den  letzteren  Ausgang  befürchten  mußte.  Jetzt  haben 
ungeahnt  großartige  Ereignisse  alle  die  Voraussetzungen,  auf 
die  sich  eine  Vermutung  über  das  Ergebnis  der  junglettischen 
Bewegung  etwa  gründen  ließ,  so  vollkommen  gewandelt,  daß 
für  den  Fortgang  auch  der  dortigen  Entwickelung  bisher  als 
völlig  ausgeschlossen  angesehene  und  nicht  in  Rechnung  ge- 
zogene Möglichkeiten  entscheidend  werden  können.  Neue,  große 
Aufgaben  können  dem  Deutschtum  dort  im  Nordosten  gestellt 
sein:  mögen  seine  Vertreter  sie  so  weitherzig  und  selbstlos 
auffassen,  wie  nötig  ist,  um  die  Jahrhunderte  genährten  und 
neuerdings  verhängnisvoll  verschärften  Gegensätze  zu  mildern 
und  für  die  deutsche  Kultur  die  allzu  lange  versäumte  fried- 
liche Entfaltung  zu  ermöglichen. 


r«- 


Sitzungsberichte 

der 

Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

Philosophisch-philologische  und  historische  Klasse 

Jahrgang  1916,  2.  Abhandlung 


Archäologische  Miszellen 


Yon 


Carl  Robert 


Vorgelegt  am  6.  Mai  191G 


München  1916 
Verlag  der  Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

in  Kommission  des  G.  Franz'schen  Verlags  (J.  Roth) 


Sitzungsberichte 

der 

Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

Philosophisch-philologische  und  historische  Klasse 

Jahrgang  1916,  2.  Abhandlung 


Archäologische  Miszellen 


von 


Carl  Robert 


Vorgelegt  am   6.  Mai  1916 


München   1916 
Verlag  der  Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

in  Kommission  des  6.  Franz'sclien  Verlags  (J.  Roth) 


I 


Eleobis  und  Biton. 

Es  war  eine  freudige  Überraschung,  als  es  vor  sechs  Jahren 
dem  Scharfsinn  und  der  Beharrlichkeit  Anton  von  Premersteins 
gelang,  die  auf  die  beiden  Plinthen  der  delphischen  dvögiävTsg 
des  Polymedes  von  Argos  verteilte  Inschrift  zu  entziffern  und 
zu  ergänzen  und  dadurch  den  abschließenden  Beweis  für  die 
Vermutung  Homolles  zu  erbringen,  daß  die  beiden  Statuen 
dieselben  sind,  die  bei  Herodot  I  31  als  die  Bilder  des  argi- 
vischen  Brüderpaares  Kleobis  und  Biton  erscheinen  (Osterr. 
Jahresh.  XIII,  1910,  S.  41  ff.): 

A  [^KXeoßig  xal  Bt\xov  xäv  juardga 
B  edyayov  röi  dvyÖL 

nolv]fxede<;  molee  hagysiog 

so  lautet  die  Inschrift  nach  Premersteins  Lesung,  die  nur  an 
einer  einzigen  Stelle  nicht  ganz  sicher  ist.  Statt  dvyoi  kann 
nämlich  auch  dvioi  gelesen  werden,  und  Pomtow,  der  den  Stein 
nach  Premerstein  nachgeprüft  hatte,  konnte  den  von  diesem 
an  der  Spitze  der  vorletzten  senkrechten  Hasta  (zwischen  v 
und  o)  gesehenen  hakenförmigen  Ansatz,  der  den  Buchstaben 
zu  einem  Gamma  machen  würde,  nicht  erkennen  und  hielt  nur 
dvioi  für  möglich,  will  aber  mit  anderer  Buchstabenabteilung 
To/5'  vlol  lesen  (Arch.  Anz.  1911,  S.  50,  A.  1;  Dittenberger, 
Syll.  P  5).  Daß  dies  nicht  angeht,  braucht  kaum  gesagt  zu 
werden.  Denn  erstens,  wenn  in  hagyeiog  der  Hauch  graphisch 
ausgedrückt  ist,  müßte  er  es  auch  in  hvioi  sein.  Wenn  Pomtow 
dieser  Schwierigkeit  durch  Hinweis  auf  die  Labyaden-Inschrift 
(Dittenberger  Syll.  IP  438)  zu  begegnen  sucht,  wo  an  einer 
einzigen    Stelle   (Z.  133  =  c  9)    in    hod'  o    TS'&fjLog   der  Hauch 

'1* 


4  2.  Abhandlung:  Carl  Robert 

ebenfalls  nicht  ausgedrückt  und  davor  elidiert  ist,  so  vergißt 
er,  daß  eine  Inschrift  aus  dem  Ende  des  fünften  Jahrhunderts 
für  eine  aus  der  Mitte  des  sechsten  schon  an  sich  wenig  be- 
w^eisen  kann,  vollends  nicht  eine,  die  wie  die  Labyaden-Inschrift, 
durchweg  das  ionische  Alphabet  anwendet  und  nur  aus  dialek- 
tischen Gründen  die  Zeichen  für  den  Hauch  und  das  Vau  bei- 
behält. Zweitens  aber  könnte  in  einer  Prosainschrift  hinter 
dem  Demonstrativpronomen  der  Artikel  nicht  fehlen,  es  müßte 
unbedingt  To/<5e  xo\  hvioi  heißen.  So  stehen  also  in  der  Tat 
nur  xol  Oviol  und  röi  dvyöt  (=  rcbi  I^vywi)  zur  Entscheidung. 
Was  für  die  letztere  Lesung  spricht,  ist  schon  von  Premer- 
stein  so  klar  entwickelt  worden,  daß  ich  eigentlich  seine  Argu- 
mente nur  wiederholen  kann.  Erstens  wäre  der  Diphthong  vi 
in  OVIOL  nicht  zu  erklären;  zweitens  wäre  ein  solcher  Zusatz 
wie  „die  beiden"  in  der  knappen  lapidaren  Fassung  ebenso 
überflüssig,  wie  der  Zusatz  toi  dvyöi  bedeutsam  ist.  Endlich 
wenn  ein  Mann  wie  Premerstein  den  hakenförmigen  Ansatz 
an  der  fraglichen  Hasta  gesehen  hat,  so  sollte  das  eigentlich 
allein  schon  ausreichen;  aber  es  kommt  hinzu,  daß  noch  ein 
anderer  ihn  gesehen  hat,  und  zwar  zu  einer  Zeit,  wo  die  In- 
schrift noch  leichter  lesbar  war,  als  heute,  nämlich  Herodot 
oder  vielmehr  der  oder  die  Erfinder  der  von  ihm  verwerteten 
Novelle;  denn  auf  dieses  röi  dvyoi  gehen  doch  letztlich  die 
Herodoteischen  Worte:  vjiodvvxeg  amol  vjio  ttjv  ^evyXrjv  zurück. 
Den  Wortlaut  der  Inschrift  also  hat  Premerstein,  wie  ich 
glaube,  endgültig  festgestellt,  aber  die  übrigen  nun  auftauchen- 
den Fragen  hat  er  kaum  gestreift,  und  Pomtow  hat  sie  gar 
nicht  berührt.  Denn  was  hat  es  mit  der  von  Herodot  er- 
zählten Legende  in  Wahrheit  für  eine  Bewandtnis?  Wie  und 
wo  ist  sie  entstanden?  Wer  waren  Kleobis  und  Biton  in  Wirk- 
lichkeit? Premerstein  scheint  die  Geschichte  im  wesentlichen 
für  historisch  zu  halten;  denn  er  glaubt  es  dem  Herodot,  daß 
die  Argiver  die  Stifter  der  Bildsäulen  waren,  wovon  doch  die 
Inschrift  kein  Wort  enthält,  und  fährt  dann  fort:  „Als  un- 
mittelbaren Anlaß  für  diese  Weihung  könnte  man  allenfalls 
vermuten,   daß  die  Argiver  in  Delphi   nachgefragt   hatten,   ob 


Archäologische  Miszellen.  5 

der  Tod  der  beiden  Brüder  im  Heraion  eine  Sühne  heischende 
Entweihung  sei,  und  daß  das  Orakel  dies  verneinte.  In  Delphi 
nun,  angesichts  dieser  Bildwerke,  wird  Herodot  die  Geschichte 
der  zwei  durch  Körperkraft  und  kindliche  Liebe  ausgezeich- 
neten Jünglinge,  die  selbstverständlich  auf  Argos  zurückging, 
sich  haben  berichten  lassen."  Wilamowitz  hingegen  schreibt 
Aristoteles  und  Athen  I,  S.  269,  Anm.  16:  „Auch  Kleobis  und 
Biton  hatten  in  Delphi  Statuen,  und  ihre  Geschichte,  die  auch 
einen  Zug  aus  der  Sage  von  Trophonios  und  Agamedes  ent- 
hält, stammt  wohl  aus  Delphi  oder  ist  von  dort  doch  dem 
Herodot  zugekommen."  Scheiden  wir  die  Frage  nach  der  Hei- 
mat der  Novelle  zunächst  aus,  so  scheint  mir  im  übrigen  der 
hier  vertretene  Standpunkt  der  einzig  richtige.  Die  Geschichte 
ist  nicht  historisch,  sondern  lediglich  aus  den  Statuen  und  ihrer 
Inschrift  herausgesponnen,  wie  die  des  Tellos  aus  seinem  Grab- 
mal (Wilamowitz  a.  a.  0.).  Daraus  ergibt  sich  für  die  Me- 
thode der  Untersuchung,  daß  bei  der  Interpretation  der  In- 
schrift die  Erzählung  des  Herodot  vollständig  ausgeschaltet 
werden  muß,  um  so  mehr,  als  sie  sich  zum  Teil  mit  der  In- 
schrift schlecht  verträgt.  Denn  wenn  Argiver  die  Statuen  ge- 
weiht haben,  wie  kommt  es,  daß  diese  in  der  Inschrift  nicht 
als  die  Stifter  genannt  sind?  Wie  kommt  es,  daß  der  Dialekt 
und  das  Alphabet  nicht  argivisch,  sondern  phokisch  sind?  Denn 
dies  hat  Premerstein  im  Verein  mit  Kretschmer  festgestellt, 
und  Pomtows  pure  Negation  will  dem  gegenüber  wenig  be- 
sagen. Sehr  seltsam  wäre  auch,  hätte  sich  die  Geschichte  so 
abgespielt,  wie  Herodot  berichtet,  daß  der  Name  der  Mutter 
in  der  Inschrift  nicht  genannt  ist  oder  daß  sie  nicht  wenig- 
stens als  Herapriesterin  bezeichnet  wird.  Und  wenn  Kleobis 
und  Biton  Argiver  waren,  warum  fehlt  hinter  ihrem  Namen 
das  Ethnikon,  das  doch  bei  dem  Künstlernamen  steht?  Und 
warum  werden  ihre  Statuen  nach  Delphi  geweiht,  und  nicht 
ins  Heraion  von  Argos,  wo  sich  doch  die  Geschichte  abge- 
spielt haben  soll? 

Um  zu  positiven  Resultaten  zu  gelangen,  müssen  wir  von 
den  Worten  edyayov  röi  dvyöi  ausgehen.    Wer  wird  im  Alter- 


6  2.  Abhandlung:  Carl  Robert 

tum  auf  einem  Wagen  gefahren?  Doch  nicht  die  Priester  — 
wenigstens  wülste  ich  nicht,  wo  das  sonst  bezeugt  wäre  —  son- 
dern die  Götter  oder  ihre  Bilder.  Man  denke  an  die  Stiftungs- 
legende des  Asklepioskultes  in  Sikyon,  Paus.  II,  10,  3  (paoi  de 
ocpioLv  e^  'EmöavQov  KOfjLLod-Pjvai  tÖv  '&s6v  enl  ^evyovg  fjfiio- 
vcov  ÖQdxovn  slxaojLievov,  ttjv  de  äyayovoav  NixayoQav  elvai 
Zixvmviav  'ÄyaoixXeovg  /birjreQa,  yvvätxa  de  'Exerijuov.  Und  in 
dem  Bericht    über   die  Stiftung    des   athenischen   Asklepieions 

heißt    es  rjyajyev  öevqo Tr]X\_e\fjiaxo[<;  IG  II  1649,   vgl. 

A.  Körte,  Athen.  Mitt.  XVIII,  1893,  S.  249.  Und  so  wird 
denn  auch  die  auf  einem  Wagen  gefahrene  Mutter  der  del- 
phischen Inschrift  nicht  die  Mutter  des  Kleobis  und  Biton  sein, 
in  welchem  Falle,  wie  bereits  bemerkt,  ihr  Name  kaum  fehlen 
könnte,  es  wird  eine  göttliche  Mutter,  eine  MdrrjQ  sein,  welche 
wird  sich  wohl  kaum  mit  völliger  Sicherheit  bestimmen  lassen. 
Ein  Kult  der  großen  Göttermutter  läßt  sich  für  Delphi  nicht 
belegen.  Am  nächsten  liegt  wohl  der  Gedanke  an  Leto.  Aber 
auch  Demeter,  die  nach  dem  Zeugnis  Polemons  (bei  Athen.  X, 
p.  416C)  in  Delphi  als  ojreQjuovxog  verehrt  w;ird,  kommt  in 
Betracht. 

Kleobis  und  Biton  hätten  demnach  den  Kult  einer  MaTrjg 
in  Delphi  eingeführt,  und  wenn  hinter  ihren  Namen  das  Eth- 
nikon  fehlt,  so  erklärt  sich  das,  ebenso  wie  das  phokische 
Alphabet  und  der  phokische  Dialekt,  daraus,  daß  sie  eben 
Delpher  waren. 

Wie  aber  konnte  die  Legende  aus  diesen  Delphern  Argiver 
machen?  Von  vorne  herein  ist  klar,  daß  dies  nicht  in  Delphi, 
sondern  in  Argos  geschehen  ist,  und  dort  wird  auch,  wie  schon 
R.  Schubert,  Geschichte  der  Könige  von  Lydien,  S.  78  ver- 
mutet hat,  Herodot  die  Geschichte  gehört  haben,  bevor  er  in 
Delphi  die  beiden  Statuen  sah.  Die  argivische  Heimat  des 
Künstlers  Polymedes,  die  natürlich  für  die  Heimat  der  Ge- 
ehrten nicht  das  Geringste  beweist,  mag  bei  der  Übertragung 
mitgewirkt  haben,  aber  der  Ausgangspunkt  ist  sie  schwerlich 
gewesen.  Über  diesen  kann  ich  nur  eine  unsichere  Vermutung 
äußern,  da  das  Alter  des  Bildwerks,   um  das  diese  sich  dreht, 


Archäologische  Miszellen.  7 

nicht  feststeht.  Auf  dem  Markte  von  Argos  stand  nämlich 
die  Statue  eines  anderen  Biton,  eines  Mannes,  der  einen  Stier 
auf  den  Schultern  trug;  die  Lokallegende  erzählt,  er  habe  bei 
einer  Panegyris  dieses  dem  Zeus  bestimmte  Opfertier  von  Argos 
nach  Nemea  getragen.^)  Ließe  sich  nachweisen,  daia  diese 
Statue  älter  war,  als  die  Zeit  des  Herodot,  so  läge  der  Ur- 
sprung der  Legende  klar  zu  Tage.  Denn  was  konnte  für  die 
Argiver  näher  liegen,  als  den  Biton  von  Delphi  mit  dem  Biton 
von  Argos  zu  identifizieren?  Dann  mußte  natürlich  auch  Kleobis 
zu  einem  Argiver,  und  die  göttliche  Molxyjq  zur  Mutter  dieses 
Brüderpaares  werden.  Daß  diese  Brüder  ihre  Mutter  auf  einen 
Wagen  gezogen  haben,  entnahm  man  der  mißverstandenen  In- 
schrift, und  hier  tritt  denn  auch  der  Parellismus  zu  der  legen- 
darischen Tat  des  anderen  Biton  klar  zu  Tage.  Beide  Male 
handelt  es  sich  um  ein  Kraftstück,  das  einer  Kulthandlung  zu 
Liebe  ausgeführt  wird.  Das  Motiv,  daß  die  Mutter  das  hohe 
Amt  der  Priesterin  in  dem  benachbarten  Heraion  versah,  bot 
sich  ganz  von  selbst  dar,  und  daß  das  selige  Ende  der  beiden 
dem  des  Agamedes  und  Trophonios  nachgebildet  ist,  haben 
schon  viele  beobachtet. 

Aber  leider  ist  das  Fundament  dieser  Hypothese  unsicher. 
Der  älteste  Zeuge  für  die  Statue  des  argivischen  Biton  ist  der 
von  Pausanias  als  sein  Gewährsmann  angeführte  Lykeas,  Ver- 
fasser einer  poetischen  Exegese  von  Argos,  ^)  von  dem  nur  fest- 
steht, daß  er  nach  dem  Tode  des  Königs  Pyrrhos  geschrieben 
hat,  also  selbst  wenn  er,  wie  wahrscheinlich,  der  hellenistischen 
Periode  angehört,  ein  für  unseren  Zweck  viel  zu  junger  Zeuge. 
Anderseits  steht  aber  auch  nichts  im  Wege,  den  argivischen 
Biton  bis  ins  sechste  Jahrhundert  hinauf  zu  rücken.  Von  den 
beiden  Kraftmenschen,   von  denen   ein   ähnliches  Bravourstück 


^)  Pausan.  II,  19,  5:  ivtav^a xslxai  8s  elxoiv  Bitcovog,  avrjQ 

sjil  rcöv  wfxcov  (psQcov  ravQOv'  d>g  8s  Ävxsag  sjioiTjasv,  ig  Nsfisav  'Agysicov 
dyövtcov  ■&volav  xwi  Au  6  Bircov  v:i6  gcofirjg  xs  xai  toxvog  xavgov  dga/nsvog 
rjvsyHsv. 

^)  Vgl.  Kalkmann,  Pausanias  der  Perieget,  S.  145  f. ;  Gurlitt,  Pau- 
sanias, S.  191. 


8  2.  Abhandlung:  Carl  Robert 

erzählt  wird,  Milon  von  Kroton  und  Pulydamas  von  Skotussa 
gehört  wenigstens  der  erste  dieser  Zeit  an,  und  aus  derselben 
Periode  besitzen  wir  das  einzige  Farallel-Bildwerk  zu  der  Statue 
des  Biton,  den  Kalbträger  von  der  Akropolis. 

Die  von  Herodot  überlieferte  Legende  von  den  frommen 
Brüdern  ist  dann  auf  dem  Markt  von  Argos  in  späterer  Zeit 
durch  ein  Relief  verherrlicht  worden  (Paus.  II,  20,  3),  das 
Herodot  offenbar  noch  nicht  gekannt  hat,  und  in  der  Kaiser- 
zeit haben  die  Argiver  nicht  versäumt,  sie  auf  ihre  Münzen  zu 
setzen.^)  Auch  über  das  auf  diese  Legende  bezogene  Sarkophag- 
relief in  Venedig^)  sei  hier  ein  vorläufiges  Wort  gestattet,  ob- 
gleich ich  nächstens  in  anderm  Zusammenhang  ausführlich 
darüber  sprechen  muß.  Diese  in  jeder  Hinsicht  unmögliche 
Deutung  geht  auf  Lorenz  Beger  (Spicilegium,  p.  146  ss.)  zurück, 
der  das  früher  in  Rom  befindliche  Relief  aus  dem  Pighianus 
kannte  und  nach  diesem  publizierte.  Aber  weder  im  Pighianus 
noch  in  seiner  Vorlage,  dem  Coburgensis  (Fol.  65,  Nr.  283, 
Matz),  ist  von  einem  Wagen  das  Geringste  zu  entdecken; 
auch  sind  die  Rinder  nicht  angejocht,  sondern  schreiten  frei 
einher,  von  den  beiden  Knaben  an  einem  Stricke  geführt.  Vor 
der  Frau  befindet  sich  eine  Art  von  Gitter  und  vor  diesem 
die  Kuppe  eines  Felsens.^)  Erst  in  Venedig  hat  man  die 
Platte,  indem  man  sie  vollständig  überarbeitete  und  oben  und 
unten  einen  Streifen  ansetzte,  der  Deutung  Begers,  die  man 
indeß    dort  schwerlich   aus  diesem   selbst,    sondern    aus  Mont- 


1)  Arch.  Ztg.  XXVII,  1869,  Taf.  23,  9. 

2)  Die  besten,  aber  keineswegs  ausreichenden  Abbildungen  sind  die 
in  den  Archäologisch -epigraphischen  Mitteilungen  aus  Österreich  VII, 
18S3,  Taf.  III  und  in  der  wissenschaftlichen  Beilage  zum  Jahresbericht 
über  das  Joachimsthal.  Gymnasium  1909  (Dütschke,  Zwei  römische  Kinder- 
sarkophage}. Mit  der  älteren  Abbildung  in  der  Archäolog.  Ztg.  XXI, 
1863,  Taf.  CLXXII  hat  es  eine  eigentümliche  Bewandtnis;  sie  ist  näm- 
lich nicht,  wie  im  Text  S.  17  angegeben  wird,  nach  einer  Photographie 
gezeichnet,  sondern  gibt  den  antiken  Teil  nach  dem  Pighianus  und  nur 
die  modernen  Streifen  oben  und  unten  nach  der  erwähnten  Photographie. 

3)  Vgl.  die  in  der  vorigen  Anmerkung  erwähnte  Abbildung  in  der 
Archäolog.  Ztg. 


Archäologische  Miszellen.  9 

faucon  I,  p.  58  s.  gekannt  haben  wird,  willkürlich  assimiliert. 
Man  brachte  unter  dem  Gitter  ein  Rad  an,  legte  den  Rindern 
ein  Joch  auf  und  erreichte  dadurch  wenigstens  so  viel,  daß 
der  in  der  ersten  Szene  dargestellte  Vorgang  mit  der  Erzäh- 
lung Herodots  eine  ganz  entfernte  Ähnlichkeit  erhielt. 

Das  Urbild  der  Chimaira. 

TiQÖo^e  Xecov  ojzi^ev  Se  öqolxcov  fieoor]  ök  ;^«7xa<^a 
deivöv  anonveiovoa  nvQog  juevog  aWojuevoio. 
Wer  kennt  nicht  die  berühmten  Iliasverse,  und  wer  hätte 
sich  nicht  aus  seiner  Knabenzeit  die  Anschauung  bewahrt,  daß 
hier  die  Chimaira  so  geschildert  wird,  wie  sie  uns  in  zahl- 
reichen Bildwerken,  vor  allem  in  der  berühmten  Bronze  von 
Arezzo,  vor  Augen  steht?  Und  doch  ist  dem  nicht  so.  Mustern 
wir  alle  erhaltenen  Darstellungen  der  Chimaira,  von  den  ältesten 
wie  den  Gemmen  des  siebenten  Jahrhunderts  (Furtwängler, 
Taf.  V,  16,  18)  und  der  argivischen  Lekythos  (Amer.  Journ.  IV, 
1900,  pl.  IV)  an,  der  Reihe  nach  durch,  so  finden  wir  nirgends 
ein  Gebilde,  das  vorne  Löwe,  hinten  Schlange  und  in  der  Mitte 
Ziege  wäre,  sondern  wir  finden  als  unwandelbaren  Typus  eine 
Löwin  mit  Schlangenschwanz,  aus  deren  Rücken  ein  Ziegen- 
kopf hervorwächst.  Hat  also  der  Verfasser  jener  Verse  diesen 
Typus  vor  Augen  gehabt,  so  hat  er  sich  mindestens  etwas 
ungeschickt  ausgedrückt.  Haben  aber  umgekehrt  die  Künstler 
die  Iliasstelle  oder  die  ihr  zu  Grunde  liegende  Volksvorstellung 
verbildlichen  wollen,  so  haben  sie  sich  vielleicht  aus  künst- 
lerischen Gründen  eine  starke  Abweichung  erlaubt.  Jedenfalls 
paßt  auf  diesen  bildlichen  Typus  der  Chimaira  die  vortreffliche 
Kritik  der  Iliasscholien  BT  Z  181  so  als  ob  sie  darauf  ge- 
münzt wäre :  et  xb  nleov  xal  ejUJiQoo^iov  juegog  elxe  Xeovrog,  edei 
avTfjv  keovxa  >caXe2o&ai.  *)  f]v  ovv  ro  Jiäv  ^ifiaiQa,  dcp''  ov  xal 
(hvojud^ero,  xe(paki]v  de  el^e  Xeaivrjg,  ovqäv  de  ÖQdxovTog.  Gewiß, 
wenn  man  sie  genau  nach  dem  Wortlaut  von  Z  181  darstellen 
wollte,  mußte  man  eine  Ziege  mit  Löwenkopf  und  Schlangen- 

^)  Daß  auf  einem  etruskischen  Spiegel  (V  73)  die  Chimaira  nur  als 
Löwe  gebildet  ist,  ist  wohl  nur  ein  zufälliges  Zusammentreffen. 


10  2.  Abhandlung:  Carl  Robert 

schweif  bilden,  konnte  sich  höchstens  nach  dem  Muster  der 
Kerberos  und  des  Orthos  erlauben,  den  Schlangenteil  in  den 
Kopf  auslaufen  zu  lassen.  Also  kein  dreiköpfiges  Wesen,  son- 
dern eins  mit  einem  oder  höchstens  zwei  Köpfen,  unter  denen 
sich  aber  ein  Ziegenkopf  nicht  befand.  Und  so  fährt  denn 
jener  Kritiker  fort:  tolvvv  tivq  etodyerai  ävanveovoa  diä  rov 
aTOjuaTog  rov  Xeovtog,  d.  h.  er  verbindet  änoTiveiovoa  nicht  mit 
xifiaiQa  in  V.  181,  sondern  mit  fj  de  in  V.  180,  wozu  V.  181 
die  Apposition  bildet.  Hätte  er  Recht,  so  würde  also  dem 
Verfasser  jener  Iliasverse  ein  ganz  anderes  Bild  von  der  Chi- 
maira  vorschweben,  als  wir  es  aus  den  Kunstwerken  kennen. 
Dann  schließt  der  Kritiker  mit  einem  Tadel  gegen  Hesiod : 
'Holodog  de  fjnarij^rj  TQixecpaXov  avrrjv  eiTicov,  ein  Tadel,  der 
nur  dann  gerechtfertigt  wäre,  wenn  Hesiod  die  Iliasstelle  be- 
nutzt hätte.  Nun  ist  allerdings  die  Stelle  durch  Interpolation 
von  Z  181,  182  später  verdorben  worden,  aber  die  echten  von 
der  Ilias  durchaus  unabhängigen  Verse  geben  eine  durchaus 
korr-ekte  Schilderung  des  bildlichen  Typus,  Theog.  319  ss.: 

f]  de  XijuaiQav  erixre  nveovoav  äjuaijuaxerov  tivq, 
öeivrjv  re  jbteydlrjv  xe  Tiodcoxed  re  XQaxeQYjv  re. 
rfjg  ö^  fiv  rgeXg  xecpaXai,  juia  juev  y^agonoTo  Xeovrog, 
fj  de  xLiAalgrig,  fj  5'  öcpiog  xQaxeQolo  ÖQdxovTog. 

Denn  daß  diese  drei  Köpfe  etwa  aus  demselben  Hals  heraus- 
gewachsen wären,  liegt  durchaus  nicht  in  den  Worten.  Die 
Ilias  hingegen  hat  entweder  eine  andere  Vorstellung  von  der 
Chimaira  oder  sie  drückt  sich  ungeschickt  aus.  Aber  auch 
an  einem  sprachlichen  Bedenken  fehlt  es  nicht.  V.  181  ist, 
wie  bereits  bemerkt,  Apposition  zu  ?]  de  in  V.  180.  Was  also 
dasteht,  heißt  eigentlich:  „Die  Ziege,  d.  h.  nur  das  Mittelstück 
war  eine  Ziege,  das  Vorderteil  das  eines  Löwen,  das  Hinter- 
teil das  einer  Schlange."  Wird  sich  ein  Dichter,  der  sich  nicht 
in  einer  Zwangslage  befindet,  so  ausdrücken?  Diese  Zwangs- 
lage wird  aber  dadurch  erzeugt,  daß  Xi/uaiga  sowohl  das  ganze 
Ungeheuer  als  einen  Teil  von  ihm  bezeichnet.  Das  ginge  noch 
an,   wenn  die  Ziege  das  Vorderteil  der  Mischbildung  wäre;   so 


Archäologische  Miszellen.  11 

aber  ist  das  Vorderteil  ein  Löwe  und  die  Ziege  sitzt  in  der 
Mitte.  Wie  kommt  man  dazu,  müssen  wir  da  mit  dem  Kritiker 
fragen,  ein  solches  Gebilde  eine  Ziege  zu  nennen  und  nicht 
eine  Löwin?  Diese  Schwierigkeit  schwindet,  wenn  man  sich 
entschließt,  die  V.  181,  182  als  einen  späteren  Zusatz  aus- 
zumerzen.    Dann  würde  die  Stelle  lauten  V.  179  ss.: 

jzodnov  fjLEv  Qa  Xi/uaigav  äjuatjuaxhr]v  exeXevoev 
necpvEfxeV  r/   ^'  a^'  e'qv  -ßeiov  yevog  ovo''  dvd'QCOTtcov, 
xal  rrjv  jusv  xarejzecpve  d^ecbv  regdsoot  ni^rjoag. 

Mir  scheint,  daß  die  Darstellung  dadurch  an  Geschlossen- 
heit gewinnt.  Auch  das  Mißverhältnis  zu  der  Schilderung  der 
beiden  anderen  Abenteuer  wird  auf  diese  Weise  gemildert. 
Der  Kampf  mit  den  Solymern  wird  nämlich  mit  zwei  Versen, 
der  mit  den  Amazonen  mit  einem  einzigen  abgetan;  der  Be- 
siegung der  Chimaira  hingegen  werden  in  dem  überlieferten 
Text  5,  nach  der  Athetese  3  Verse  gewidmet. 

Eine  schwache  Spur  davon,  daß  die  Verse  auch  schon  von 
einem  antiken  Grammatiker  athetiert  worden  sind,  könnte  man 
in  den  Scholien  Townl.  zu  U  328,  der  anderen  Iliasstelle,  an 
der  die  Chimaira  erwähnt  wird,  zu  finden  versucht  sein.  Dort 
wird  der  Mythos  rationalistisch  erklärt:  otl  ov  jisnXaoiai  rd 
Tiegl  Tfjv  Xijuaigav  moxiv  ejziri'&rjoi  did  xov  iqovov  (eine  Gene- 
ration vor  Sarpedon)  xal  rov  '&QeipavTog  (Amisodaros).  locog 
ovv  ev  alnoXicoL  j^ijuagog  rgacpelg  fjyQico&r]'  ovde  firjv  ereQoqpvrjg 
fjv,  (hg  'Holodog  enXaoev.  Warum  wird  hier  nur  Hesiod  abge- 
lehnt, und  nicht  auch  die  Verse  Z  181,  182,  in  denen  die 
Chimaira  doch  auch  als  hegocpvijg  bezeichnet  wird?  Hielt  der 
Autor  vielleicht  diese  Verse  für  interpoliert?  Aber  freilich 
hätte  ihn  der  Vers  Z^  180  fj  (5'  a^'  erjv  d^eiov  yevog  ovd^  dvO^go)- 
mov  belehren  müssen,  daß  auch  nach  der  Ilias  die  Chimaira 
keine  gewöhnliche  Ziege  war,  und  so  wollen  wir  diese  Spur 
auf  sich   beruhen  lassen. 

Der  Grund  der  Interpolation  ist  klar.  Der  bildliche  Typus 
der  Chimaira  sollte  in  den  Iliastext  eingeschmuggelt  werden. 
Da  nun   aber  bei  diesem    der  der  Ziege  entlehnte  Teil   hinter 


12  2.  Abhandlung:  Carl  Robert 

den  beiden  übrigen  zurücktrat,  entstand  die  Disharmonie,  von 
der  wir  die  ganze  Zeit  sprechen.  Daß  die  Verse  an  sich  vor- 
trefflich sind,  ist  natürlich  kein  Beweis  für  ihr  Alter. 

Ist  das  Erschlossene  richtig,  so  ergibt  sich  zweierlei. 
Erstens  das  Bild,  das  sich  der  Verfasser  der  Verse  Z  179.  180 
von  der  Chimaira  machte,  war  ein  anderes  als  das  uns  aus 
der  Kunst  bekannte.  Zweitens  dieser  künstlerische  Typus  ist 
unabhängig  von  dem  Chimairamythos  entstanden,  geschweige 
denn,  daß  dieser  Mythos  erst  aus  dem  bildlichen  Typus  ent- 
wickelt sein  könnte.  Um  mit  dem  letzteren  zu  beginnen,  so 
haben  hier  schon  Milchhöfer  (Anfänge  der  Kunst  82  f.)  und 
Furtwängler  (ebd.  83  A.  1,  Antike  Gemmen  III  S.  72)  das 
Richtige  gesehen.  Auf  einem  aus  Kreta  stammenden  Insel- 
stein des  Britischen  Museums  ist  ein  Löwe  dargestellt,  hinter 
dessen  Rücken  eine  Ziege  empor  springt.  Indem  man  diese 
beiden  hier  noch  getrennten  Tierkörper  zu  einem  einzigen  ver- 
band, entstand  jenes  Misch wesen , ^)  das,  zur  Erhöhung  des 
Schreckhaften  nach  dem  Muster  des  Kerberos  noch  mit  einem 
Schlangenschwanz  ausgestattet,  als  Abbild  der  Chimaira  be- 
trachtet und  verwandt  wurde,  ähnlich  wie  die  Löwenjungfrau 
als  Sphinx  (Oidipus  II,  17  ff.)  und  der  Vogel  mit  Mädchenkopf 
als  Sirene  (Franz  Müller,  Odyssee-Illustrationen  32  ff.). 

Wie  stellt  sich  aber  der  Verfasser  von  Z  179.  180  die 
Chimaira  vor?  Nicht,  wie  der  oben  zitierte  Scholiast  meint, 
als  Ziege  mit  Löwenkopf  und  Schlangenschwanz,  denn  diese 
Bildung  ist  ja  erst  aus  dem  interpolierten  V.  181  erschlossen. 
Aufschluß  gibt  vielmehr  V.  180: 

r/  ^'  a^'  Uy]v  '&eiov  yevog  ovo''  äv^QCOJicov. 


^)  Die  ähnliche  Mischbildung  auf  einer  protokorinthischen  Lekythos 
Amer.  Journ.  of  Archaeology  IV,  1900,  pl.  V,  ein  Löwe,  aus  dessen  Rücken 
ein  bärtiger  Männerkopf  herauswächst,  hat  mit  der  Chimaira  schwerlich 
etwas  zu  tun;  nicht  sowohl  weil  der  ihn  bekämpfende  Hoplit  nicht  auf 
dem  Pegasos  sitzt,  sondern  weil  kein  Teil  des  Gebildes  der  Ziege  ent- 
nommen und  der  Menschenkopf  männlich  ist.  Will  man  eine  Deutung 
wagen,  so  könnte  man  etwa  an  den  „Herakles  von  Megara"  Alkathoos 
denken  (Dieuchidas  Schol.  Apoll.  I,  519,  Paus.  I,  41),  obgleich  in  unseren 


Archäologische  Miszellen.  13 

Wie  sollte  man  bei  einem  Wesen,  das  aus  Teilen  verschie- 
dener Tiere  zusammengesetzt  ist,  auf  den  Gedanken  kommen, 
daß  es  von  Menschen  erzeugt  sei?  Auch  der  Einwand,  daß 
es  sich  lediglich  um  den  polaren  Gegensatz  handele,  ver- 
fängt nicht.  Einen  solchen  polaren  Gegensatz  soll  man  erst 
einmal  an  einer  Stelle  der  homerischen  Gedichte  nachweisen. 
Und  wäre  '^hov  yevog  ovde  tzeXmqcov  nicht  noch  in  höherem 
Grade  ein  polarer  Gegensatz?  Nein,  wer  so  schrieb,  für  den 
mußte  in  der  Bildung  der  Chimaira  auch  ein  menschliches  Ele- 
ment vorhanden  sein,  noch  mehr  dieses  menschliche  Element 
muß  sehr  stark  hervorgetreten  sein.  Also  war  das  Urbild  der 
Chimaira  eine  Mischung  von  Mensch  und  Ziege,  entweder  eine 
Ziege  mit  Menschenkopf  nach  Analogie  der  Sphinx  und  des 
Acheloos  oder  eine  Frau  mit  einem  Ziegenhaupt.  Da  nur  diese 
zweite  Bildung  etwas  Furcht  erweckendes  hat,  dürfen  wir  sie 
als  die  wahrscheinlichere  ansprechen.  Welch  große  Rolle  in 
der  niinoischen  Kunst  diese  tierköpfigen  Dämonen  spielen,  ist 
bekannt,  und  auf  den  Siegelabdrücken  aus  Zakro  finden  sich 
solche  beiderlei  Geschlechts^)  mit  Ziegenköpfen  und  Flügeln. 
Ist  es  dazu  zu  verwegen,  in  dem  weiblichen  Vertreter  dieses 
Typus  das  Urbild  der  Chimaira  zu  sehen?  Dieser  ist  in  die 
griechische  Heldensage  übergegangen,  während  sein  männliches 
Gegenstück  früh  in  Vergessenheit  geriet. 

Die  Entwickelung  der  Chimaira  stellt  sich  somit  folgender- 
maßen dar.  In  der  kretisch-mykenischen  Epoche  kannte  man 
ein  dämonisches  Wesen  mit  einem  Ziegenkopf,  die  Chimaira. 
Diese  Bildung  schwebt  dem  Dichter  der  Iliasverse  Z  179.  180. 
183  vor;  es  wird,  wie  er  uns  erzählt,  von  Bellerophon  getötet. 
Gleichfalls  auf  mykenischer  Grundlage  entwickelt  sich  ein  aus 
Löwe,   Ziege   und  Schlange    bestehendes  Mischwesen,   das  all- 


Quellen   nichts  davon    steht,   daß   der  von   ihm    getötete   kithaironische 
Löwe  auch  einen  Menschenkopf  hatte. 

1)  Männlich  Journal  of  hell.  stud.  XXII,  1902,  pl.  VIT,  34,  36,  37, 
weiblich  ebd.  35,  38,  39.  Auch  der  sog.  Minotauros  Annual  of  the  Brit. 
School.  VII,  p.  133,  Fig.  45.  Journ.  of  hell.  stud.  XXII,  1902,  pl.  VI,  17 
18  scheint  mir  eher  einen  Bocks-  als  einen  Stierkopf  zu  haben. 


14  2.  Abhandlung:  Carl  Robert 

mählich  als  Chimaira  betrachtet  wurde  und  jenes  Urbild  ver- 
drängte. Diesen  neuen  Typus  beschreibt  Hesiod  Theog.  319 
bis  322,  wobei  er  aber  die  Iliasstelle  insofern  benutzt,  als  er 
aus  dem  Epitheton  der  Chimaira  Z179  ä/uaijbtaxhriv  (vgl.  Z7329) 
Tiveovoav  äjuaijuäxerov  nvg  macht.  Je  populärer  dieser  Typus 
ward,  um  so  mehr  mußte  man  seine  Erwähnung  in  der  Ilias 
vermissen.  Man  fügte  also  dort  die  Verse  181,  182  ein,  wobei 
Hesiods  nveovoav  äjuaijudxsrov  tzvq  zu  deivdv  änoTtveiovoa  Jivgog 
juevog  ai'&o/uevoio  umgemodelt  wurde.  Endlich,  aber  wahr- 
scheinlich in  beträchtlich  späterer  Zeit,  wurden  dieselben  beiden 
Verse  auch  in  die  Theogonie  323,  324  interpoliert. 

Polos. 

Für  den  bald  reifen-,  bald  zylinderförmigen  Kopfschmuck 
der  griechischen  Göttinen  hat  sich  in  den  letzten  Jahrzehnten 
mehr  und  mehr  die  Bezeichnung  Polos  eingebürgert,  für  die 
vor  einem  Jahrhundert  namentlich  Böttiger  eingetreten  war 
(Amalthea  III,  157).  Die  Herkunft  und  Entwickelung  dieses 
Kopfschmuckes  hat  kürzlich  Valentin  Kurt  Müller  in  seiner 
Dissertation:  Der  Polos,  die  griechische  Götterkrone,  Berlin 
1915  sorgfältig  behandelt,  aber  die  Berechtigung  dieser  Be- 
nennung zu  beweisen  und  ihre  Bedeutung  zu  erklären  ist  ihm 
nicht  gelungen.  Was  zunächst  auffallen  muß,  ist,  daß  sich 
das  Wort  in  diesem  Sinne  nur  bei  Pausanias  findet.  Zwar 
haben  0.  Jahn  und  U.  von  Wilamowitz  es  auch  in  der  Be- 
schreibung, die  die  Iliasscholien  Z  92  von  dem  troischen  Pal- 
ladion geben,  herstellen  wollen,  wo  ABT  ev  de  xfji  xecpaXfji 
noXiv  haben,  während  bei  Eustathios  mXov  steht,  was  Maaß 
aufgenommen  hat;  wie  ich  glaube,  mit  Recht.  Die  pilos- 
förmige  Helmkappe  ist  ja  sattsam  bekannt,  und  es  beweist 
zwar  nichts,  ist  aber  doch  immerhin  ein  hübsches  Zusammen- 
treffen, daß  auf  einer  tarentinischen  Vasenscherbe  im  Hallischen 
archäologischen  Seminar,  die  den  Frevel  des  Aias  an  Kassandra 
darstellt,  das'troische  Palladion  solchen  pilosartigen  Helm  trägt. 
Von  den  drei  Stellen  nun,  an  denen  Pausanias  das  Wort  ge- 
braucht, ist  die  eine  ein  religionsgeschichtlicher  Exkurs;  natur- 


Archäologische  Miszellen.  15 

gemäß  muß  man  von  diesem  ausgehen,  und  es  empfiehlt  sich, 
ihn  ganz  hierher  zu  setzen.  Anlaß  zu  ihm  gibt  dem  Verfasser 
das  alte  Kultbild  der  Tyche  zu  Pharai  IV,  30,  4:  jigcoTog  de 
Q)v  olda  ETioirjoaxo  ev  loJg  E7ieoiv"Ojui]Qog  Tvxrjg  juvi^jurjv'  etiol- 
iqoaTO  de  ev  vjuvayt  rcoi  eg  A^jurjzga  äXXag  xe  rcov  ^Qxeavov 
'&vyaTEgag  xaraQi^/biovjuevog,  (bg  öjuov  Kögrji  ttji  AijjiirjrQog  nai- 
Coiev,  xal  TvxYjv  (bg  'Qxeavov  xal  ravrrjv  naiöa  ovoav '  xai  ovrcog 

EXEl    Xa    E71Y]' 

fjfjLEXg  fxev  judXa  näoai  äv'  IjueQxov  Xeijucova, 
Äevxmjirj    0atva)  xe  xal  ^HXexxqtj  xal  'Idv&i] 
Mrjkoßoolg  xe   Tv^rj  xe  xal  'Qxvqoy}  xaXvxcönig. 

jiEQa  de  edrjXcjoev  ovöev  exi,  d)g  7]  '&e6g  eoxiv  avxrj  jueyioxr] 
d^ecbv  ev  xoig  dvd^QCOJiivoig  JiQayjuaoi  xal  lo'/vv  nage^exai  nXei- 
oxrjv,  ojoTieQ  ye  ev  "IXidÖL  enoirjoev  'A'&r]väv  juev  xal  'Evvco  noXe- 
fwvvxoDv  fjyefJLOviav  e'xeiv,  "'ÄQxejuiv  de  yvvaixcbv  (hdioiv  elvat 
(poßEgdv,  "'AfpQodixrji  Sk  xd  sgya  jueXelv  xcbv  ydjuwv.  dXX^  ovxog 
jUEv  ovöev  äXXo  EJioirjOEv  ig  xrjv  Tv^rfV  BovnaXog  de,  vaovg 
xe  oixodojLt^oao&ai  xal  ^cbia  dvrjg  dyad^og  nXdoai,  Zfjivgvaioig 
äyaXjua  egya^ö/uevog  Tvxrjg  Tigonog  enoirjoev  cbv  l'ojuev  noXov  xe 
e'xovoav  enl  xrJL  xecpaXiji  xal  xfJL  exegai  ;^£«^t  xd  xaXovjuevov 
AjuaX^eiag  xegag  vnd  '^EXX^vcov.  ovxog  jiiev  im  xooovxo  idrjXmoe 
xfjg  ^eov  xd  egya'  fjioe  dk  xal  voxsgov  Utvdagog  äXXa  xe  ig 
xr]v.  Tvx^jv  xal  di]  xal  (pegejioXiv  dvexdXeoev  avxrjv. 

Kalkmann  führt  das  alles  auf  ein  mythologisches  Hand- 
buch zurück,  das  auch  Plutarch  in  de  Rom.  fort.  4  benutzt  habe 
(Pausanias  d.  Perieget  216  f.).  Gurlitt  entgegnet  mit  Recht, 
daß  die  Benutzung  eines  solchen  Handbuchs  nicht  erwiesen 
sei  (Pausanias,  S.  150  und  188  f.),  und  in  der  Tat,  wer  weiß 
nicht,  welch  große  Rolle  bei  Pausanias  Homer  spielt,  wie  er  ihm 
als  höchste  und  unfehlbare  Autorität  gilt?^)  So  führt  er  ihn 
auch  hier  als  ältesten  Gewährsmann  für  die  Göttin  Tyche  an; 
aber  Homer  hat  unterlassen,  sie  zu  charakterisieren,  von  ihrer 
Macht  und  ihrem  Wirkungskreis,  ihren  egya  zu  sprechen;  dies 


1)  Vgl.  Pausanias  als  Schriftsteller,  S.  25  fF.  und  103  f. 


16  2.  Abhandlung:  Carl  Robert 

blieb  —  und  hier  setzt  offenbar  die  Benutzung  einer  schrift- 
lichen Quelle  ein  —  dem  chiotischen  Bildhauer  Bupalos  vor- 
behalten. Dieser  hat  sie  durch  Attribute  charakterisiert,  die 
auf  ihre  egya  hinweisen;  in  der  Hand  das  Segen  spendende 
Hörn  der  Amaltheia  deutet  ihre  Macht  auf  Erden,  auf  dem 
Haupt  eine  das  Himmelsgewölbe  symbolisierende  Krone  ihre 
Macht  am  Himmel  an.  Hier  könnte  man  nun  in  der  Tat  an 
eine  mythologische  oder  richtiger  religionsgeschichtliche  Quelle 
denken,  und  wird  unwillkürlich  an  Apollodor^)  erinnert,  der 
die  Hörner  des  Pan  als  Sonne  und  Mond  und  sein  geflecktes 
Fell  als  das  Himmelsgewölbe  deutete.  Aber  doch  besteht  ein 
wesentlicher  Unterschied:  Apollodor  erklärt  die  Bildung  des 
Gottes  selbst,  der  Gewährsmann  des  Pausanias  ein  Kultbild. 
So  würde  man  vielleicht  geneigt  sein,  eine  exegetische  Quelle 
anzunehmen,  wenn  nicht  der  folgende  Satz  eine  ganz  andere 
Perspektive  eröffnete.  Auch  Pindar,  so  versichert  Pausanias, 
habe  der  Tyche  als  Attribut  den  jcoXog^  das  Himmelsgewölbe 
gegeben,  denn  er  nenne  sie  (pegenohg.  Diese  Erklärung  des 
Epithetons  ist  aber  notorisch  falsch;  es  bedeutet  vielmehr  die 
den  Staat  tragende  d.  h.  schützende  und  behütende,  wie  es 
auch  Plutarch  de  Rom.  fort.  c.  10,  p.  322  richtig  aufgefaßt 
hat:  Tfjv  TS  Tvxi]v  xal  ol  just''  exeTvov  (Numa)  e^avjuaoav  ßaoi- 
XeTg  (bg  jzQCorojiohv  xal  xidrjvov  xal  cpegenoXiv  rfjg  '"Pcojurjg  dA»;- 
'&cog  xazd  ITivöagov.^)  Aber  wenn  es  eine  Statue  der  Tyche 
gab,  die  einen  jiöXog  trug,  so  erhielt  diese  falsche  Deutung 
scheinbar  eine  Stütze  und  somit  stammt  die  Darlegung  aus 
einem  Pindarkommentar,  oder  richtiger  gesprochen,  aus  einer 
kommentierten  Ausgabe  jenes  Gedichts,  mag  es  nun,  wie  man 
früher  glaubte,  ein  Hymnos  auf  Tyche,  oder,  wie  Otto  Schröder 
annimmt,  ein  anderes  Poem  gewesen  sein,  in  dem  der  Tyche 
nebenbei  Erwähnung   geschah.     Aus   diesem   Gedicht   ist   nun 


*)  Das  Material  jetzt  am  bequemsten  in  Wendeis  Theokrit-Scho- 
lien,  p.  28  s. 

*^j  Vgl.  Oppian  Hai.  I,  197  ßaoiXfja  (psgsjiroXtv.  Hütten,  der  in  seinem 
Dialog  Fortuna  §  96  die  Pausaniasstelle  benutzt,   macht  (psQsnoXov  aus 

(pSQSJtoXlV. 


Archäologische  Miszellen.  17 

auch  das  entnommen,  was  in  dem  ersten  von  Homer  handeln- 
den Teil  Pausanias  scheinbar  aus  eigenem  Wissen  von  der 
Macht  der  Tyche  sagt:  (hg  t)  'ßeog  eoxiv  aih}]  jueyiorf]  '&ecbv  ev 
TÖig  äv^QCJmvoig  ngayfiaoi  xal  loyhv  naqh/Exai  JiXelorrjv  d.  h. 
eben  die  egya,  die  Pausanias  und  sein  Gewährsmann  bei  der 
Statue  des  Bupalos  durch  das  Hörn  der  Amaltheia  und  den  Polos 
ausgedrückt  glauben;  denn  das  erste  Satzglied  paraphrasiert  den 
bei  Aristides  H,  334  Dind.  erhaltenen  Vers  desselben  Pinda- 
rischen Gedichts:  ev  sgyjuaoi  (=  ev  roTg  ävd^Qconivoig  jigäy- 
juaoi)  de  rixal  Tvya,  ov  o&evog,  das  zweite  die  von  Pausanias 
selbst  an  späterer  Stelle  VH  26,  8  ausführlicher  zitierten  Worte: 
MoiQcbv  re  elvai  jLuav  Ti]v  Tvyrjv  xal  vjieg  rag  ädeXtpdg  tl  loyveiv. 
Die  Übereinstimmung  zwischen  Plutarch  und  Pausanias,  soweit 
von  einer  solchen  überhaupt  die  Rede  sein  kann,  erklärt  sich 
also  nicht,  wie  Kalkmann  wollte,  aus  der  Benutzung  desselben 
mythologischen  Handbuchs  —  aus  einem  solchen  brauchte 
doch  der  Chaironeer  seine  Pindarkenntnis  wahrhaftig  nicht  zu 
schöpfen  —  sondern  daraus,  daß  beide  auf  dasselbe  Pindarische 
Gedicht  anspielen,  das  der  eine  ohne  Kommentar,  der  andere 
in  einer  kommentierten  Ausgabe  las. 

Aber  läßt  sich  dieser  Exkurs  über  Tyche  von  dem  ganz 
gleichartigen  über  die  Chariten  IX,  35  trennen  ?  Sind  nicht  beide 
durch  die  Erwähnung  des  Bupalos  miteinander  verklammert, 
und  hatte  nicht  Kalkmann  doch  recht,  wenn  er  ein  mytho- 
logisches Handbuch  als  Quelle  annahm?  Ich  habe  das  früher 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  selbst  geglaubt  und  als  drittes 
gleichartiges  Stück  das  Aristophanes-Scholion  Av.  573  hinzu- 
gefügt, wo  der  Vater  des  Bupalos,  Archermos,  als  der  Künstler 
genannt  wird,  der  der  Nike  zuerst  Flügel  gegeben  haben  sollte 
(Archäol.  Märch.  118  f.).  Jetzt  glaube  ich,  daß  sich  auch  für 
diese  beiden  Traktate  als  Quelle  ein  Pindar-Kommentar  wahr- 
scheinlich machen  läßt.  In  dem  Abschnitt  über  die  Chariten 
ist  von  Eteokles  als  dem  Stifter  ihres  orchomenischen  Kultes, 
von  ihrer  Zahl  und  ihren  Namen,  von  ihrer  Bekleidung  oder 
Nacktheit  die  Rede.  Das  ganze  liest  sich  wie  ein  Kommentar 
zur  XIV.  olympischen  Ode,  und  ist  es  zufällig,  daß  unsere  sehr 

Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  u.  d.  bist  Kl.  Jahrg.  1916,  2.  Abb,  2 


18  2.  Abhandlung:  Carl  Robert 

dürftigen  Scholieii  zu  dieser  Ode  am  Anfang  fast  dieselben 
Worte  enthalten,  mit  denen  das  Pausanias- Kapitel  beginnt? 
Scbol.  javraig  de  'Exeoxlog  6  K7](pioov  rov  jiOTajuov  Jigcbrog 
t&voev,  a>g  (fijoiv  'Hoiodog;  Paus.  löv  de  'Exeoxlea  leyovoiv  ol 
ßoicoTol  XcLQioiv  äv^Qconojv  '&voai  tiqöjtov.  Als  Quelle  des 
Aristophanes-Schalions  kommen  nicht  nur  die  Kommentare  zu 
den  Epinikien,  sondern,  wie  der  Traktat  über  Tyche  lehrt, 
auch  die  zu  anderen  Gattungen  in  Betracht.  Immerhin  wird 
auch  in  den  Epinikien  Nike  zweimal  erwähnt:  Nem.  V  42 
Nixag  ev  äyxchveooi  mtvcov  und  Isthm.  II  26  XQVoeag  ev  yovva- 
oiv  TiiTvovra  NcKag.  Geradezu  einladen  zu  einer  Erörterung 
der  Frage  nach  der  Beflügelung  der  Nike  mußten  aber  die 
Schluiäworte  der  IX.  Pythischen  Ode:  noXlä  de  Tzgood'ev  nxegä 
öe^njo  viyMv,  wozu  unsere  Scholien  nur  trocken  bemerken: 
jiregd  de  vlxrjg  JieQKpQaoxixcog  tyjv  vixrjv.  In  den  Aristophanes- 
Scholien  wird  als  Gewährsmann  Karystios  von  Pergamon  zitiert. 
Es  mufcs  dahin  gestellt  bleiben,  ob  dieser  von  dem  Pindar- 
Kommentator  benutzt  worden  ist  oder  ob  er  selbst  der  Ver- 
fasser des  Kommentars  war,  was  man  ihm,  da  er  auch  über 
didaoxaUai  und  über  Sotades  geschrieben  hat,  wohl  zutrauen  kann. 
Sei  dem  wie  ihm  wolle,  jedenfalls  hat  dieser  Pindar-Kom- 
mentator,  um  seine  falsche  Erklärung  von  cpeQenohg  zu  stützen, 
den  Kopfschmuck  der  Tyche  des  Bupalos  für  ein  Abbild  des 
Himmelsgewölbes,  des  noXog^  erklärt.  Irgend  etwas  muß  er 
also  d/)ch  mit  diesem  gemein  gehabt  haben.  Wie  aber  ein 
hoher  Zylinder  das  Himmelsgewölbe  versinnbildlichen  soll,  ist 
unerfindlich,  selbst  wenn  sich  diese  Bedeutung  für  noXog  nach- 
weisen ließe,  was  nicht  der  Fall  ist;  denn  an  den  von  Kurt 
Müller  beigebrachten  Stellen  bedeutet  das  Wort  die  Zylinder- 
achse, nicht  den  Zylindermantel.^)  Bedeutsam  ist  nun,  daß  auch 
die  beiden  andern  Statuen,  bei  denen  Pausanias  diesen  Aus- 
druck gebraucht,  dem  sechsten  Jahrhundert  angehören;  es  sind 
dies  die  Aphrodite  des  Kanachos  in  Sikyon  II,   10,  5   und  die 


1)  Über  die  von  K.  Müller  gründlich  mißverstandene  Stelle  in  Aristo- 
phanes'  Vögeln  V.  179  ss.  s.  Hermes  XL,  1905,  S.  479  f. 


Archäologische  Miszellen.  19 

dem  Endoios  zugeschriebene  Athena  Polias  in  Erythrai  VII,  5,  9. 
Bei  Statuen  des  sechsten  Jahrhunderts  ist  aber  die  hohe  zylinder- 
förmige Krone  verhältnismäßig  selten,  der  übliche  Kopfputz, 
namentlich  auch  bei  den  Frauenstatuen  der  Künstler  von  Chios, 
ist  die  schmale  Stephane,  die  mit  Rosetten  geschmückt  ist. 
Diese  Rosetten  konnte  ein  religionsgeschichtlicher  Sjmboliker 
wohl  für  Sterne  und  daher  die  Stephane  für  ein  Abbild  des 
Himmels  halten,^)  Man  wird  einwenden,  daß  ein  schmaler 
Streifen  noch  weniger  als  ein  Zylinder  das  Himmelsgewölbe 
symbolisierien  könne,  es  sei  denn  daß  damit  der  Wendekreis 
gemeint  sei,  woran  aber  schwerlich  gedacht  werden  darf.  Und 
doch  empfanden  die  Alten  anders.  Auf  der  bekannten  schwarz- 
figurigen  Vase  mit  Herakles  und  Atlas  (Journ.  of  hell,  stu- 
dies  XIII,  1892,  pl.  III)  ist  das  Himmelsgewölbe  gleichfalls  als 
ein  schmaler  Streifen  dargestellt,  der  mit  Sternen  und  dem 
Halbmond  besetzt  ist.^)  Man  wird  einwenden,  daß  hier  der 
Rest  des  Himmelsgewölbes  als  unter  dem  oberen  Ornament- 
streifen verschwindend  gedacht  ist;  aber  das  Wesentliche  ist, 
daß  auf  diesem  Bildwerk  die  unteren  und  die  seitlichen  Be- 
grenzungen gerade  Linien  bilden.  Und  wenn  dem  Apollodor 
ein  Hörn  die  Sonne  symbolisieren  konnte,  warum  nicht  dem 
ihm  geistesverwandten  Pindar- Kommentator  ein  gerundeter 
Streifen  das  Himmelsgewölbe?  Auf  die  Dekoration  kam  es 
diesem  mehr  an  als  auf  die  Form. 

Somit  ist  7zö?iog  keineswegs  ein  terminus  technicus  für 
einen  bestimmten  weiblichen  Kopfputz.  Ein  Grammatiker  hat 
diesen  nur  irrtümlicher  Weise  für  ein  Symbol  des  jiokog  aus- 
gegeben, Tansanias  aber  in  seiner  effekthaschenden  Weise  setzt 
das  Vergleichsobjekt  als  Bezeichnung  des  Gegenstandes  selbst 
ein  und  nennt,  um  mit  seiner  Gelehrsamkeit  zu  prunken,  auch 
in  zwei  anderen  Fällen  die  rosettengeschmückte  Stephane  Polos. 
Das  ist  eine  Spezialität  des  Sophisten  von  Damaskos,  die  ihm 


1)  Ähnlich  schon  Gerhard,  Ges.  Abh.  II,  104  ff. 

2)  Vgl.    auch  die   dort   p.  11    n.  20   von   Eugenie  Seilers   erwähnte 
Vase  Gazette  des  Beaux  Arts  1890,  p.  132. 


20  2.  Abhandlung:  Carl  Robert,  Archäolog.  Miszellen. 

nachzumachen  andere  Schriftsteller  zu  geschmackvoll  waren. 
Denn,  um  ein  verwandtes  Beispiel  aus  ganz  anderer  Sphäre 
anzuführen,  wenn  Kratinos  in  der  OgätTTat  (fr.  71  K)  von 
Perikles  sagt  rcbideTov  im  rov  xQaviov  eycov,  so  wird  man 
doch  deshalb  nicht  Odeion  als  terminus  technicus  für  den 
korinthischen  Helm  gebrauchen.  Aus  der  archäologischen 
Terminologie  muß  also  die  Bezeichnung  Polos,  so  bequem  sie 
war,  verschwinden. 


Sitzungsberichte 

der 

Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 
Philosophisch-philologische  und  historische  Klasse 
.      Jahrgang  1916,  3.  Abhandlung 

kM-d^^  i- 


Griechische  Windrosen 


von 

\ 

Allbert  Rehm 

1 

Vorgetragen  am  6.  Mai  1916 


München  1916 

Verlag  der  Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

in  Kommission  des  G.  Franz'schen  Verlags  (J.  Roth) 


l 


Sitzungsberichte 

der 

Königlich   Bayerischen   Akademie   der    Wissenschaften 

Philosophisch-philologische  und  historische  Klasse 

Jahrgang  1916,  3.  Abhandlung 


Griechische  Windrosen 


von 


Albert  Rehm 


Vorgetragen  am  6.  Mai   1916 


München  1916 

Verlag  der  Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

in  Kommission  des  G.  Franz'schen  Verlags  (J.  Roth) 


In  zwei  Punkten  ist  die  Untersuchung,  die  ich  hier  vorlege, 
gegenüber  der  Fassung,  die  im  Mai  der  Akademie  vorgetragen 
wurde,  verändert:  sie  ist  erweitert  um  einen  Fund,  den  ich  in 
der  Sitzung  des  3.  Juni  mitteilen  konnte  und  der  hier  als  Zu- 
satz zu  dem  Abschnitt  über  Timosthenes  erscheint,  und  sie  ist 
beträchtlich  umgestaltet  in  dem  Abschnitt,  der  die  Zeit  nach 
Timosthenes  betrifft.  Maßgebend  waren  hier  die  Mitteilungen, 
die  mir  Herr  Professor  Kalbfleisch  in  Gießen  unterm  13.  Juni 
in  entgegenkommender  Beantwortung  einer  brieflichen  Anfrage 
machte.  Sie  ergaben  mit  völliger  Sicherheit,  daß  der  pseudo- 
galenische  Kommentar  zu  Tregl  xv/^cbv  aus  der  Erörterung  über 
die  griechischen  Windrosen  schlechtweg  auszuscheiden  hat, 
während  ich  geglaubt  hatte,  einen  kleinen  Teil  davon  als  brauch- 
bare Überlieferung  halten  zu  können.  Damit  verändern  sich 
zwar  weder  die  Hauptergebnisse  noch  der  Aufbau  der  Unter- 
suchung; aber  Eratosthenes  wird  nunmehr  in  der  Geschichte  der 
griechischen  Windrosen  wieder  eine  unbestimmte  Größe  und  die 
Untersuchung  über  Poseidonios  muß  ganz  neu  geführt  werden. 

Wie  tief  diese  neue  Erkenntnis,  die  in  Wahrheit  der  Ver- 
zicht auf  eine  vermeintlich  sichere  Erkenntnis  ist,  in  die  bisher 
geltenden  Anschauungen  eingreift,  davon  kann  man  sich  leicht 
durch  einen  Blick  in  die  drei  letzten  Arbeiten  überzeugen,  die 
das  Thema  Windrosen  mit  der  angemessenen  Ausführlichkeit 
behandeln:  G.  Kaibels  berühmten  Aufsatz  „Antike  Windrosen" 
(Hermes  20  (1885)  S.  579  ff.),  der  die  Analyse  des  Kommentars 
zu  Tiegl  xv^mv  zum  Hauptgegenstand  hat,  die  Dissertation  von 
H.  Steinmetz  „De  ventorum  descriptionibus  apud  Graecos  JRo- 
manosque"-  (Göttingen  1907),  in  welcher  Eratosthenes  aufs  be- 
stimmteste als  der  Schöpfer  eines  in  allem  grundsätzlich  neuen 

1* 


4  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

t 
Systems  erscheint,  A.  Schmekels  „Isidorus  von  Sevilla"  (Berlin 

1914),    wo    S.  216 — 245    noch    einmal  der    (von    mir    auch 

schon  in   der  früheren  Fassung  bekämpfte)  Versuch   gemacht 

wird,  das  einschlägige  Galenkapitel   als  völlig  einheitlich    und 

in  allen  Teilen  auf  Poseidonios  zurückgehend  zu  erweisen. 

Es  ist  jetzt  gerechtfertigt,  viel  mehr,  als  es  Kai  bei  und 
seine  Nachfolger  taten,  auf  die  älteren  Monographien  über 
das  vielbehandelte  Thema  zurückzugreifen;  unter  ihnen  sind 
H.  C.  Genellis  Aufsatz  „Über  die  Windscheiben  der  Alten" 
in  F.  A.  Wolfs  Literarischen  Analekten  II  (1820)  S.  470  ff. 
als  erster  Versuch,  den  Gegenstand  ernstlich  durchzudenken^), 
und  die  materialreichen  Arbeiten  von  K.  v.  Raum  er  (Rhein. 
Mus.  5  (1837)  S.  477  ff.)  und  F.  A.  Ukert  (Zeitschrift  für 
Altert.-Wiss.  8  (1841)  Nr.  15 — 18)  weitaus  am  wichtigsten^). 
Unter  den  Arbeiten  der  neueren  Zeit  haben  sich  mir  die  Unter- 
suchungen H.  Bergers,  die  über  seine  ganze  „Geschichte  der 
wissenschaftlichen  Erdkunde  der  Griechen"  zerstreut  sind,  als 
die  weitaus  vorzüglichste  Leistung  erwiesen,  während  0.  Gil- 
berts umfängliches  Kapitel  „Windsysteme"  in  seinen  „Mete- 
orologischen Theorien  des  griechischen  Altertums"  (Leipzig 
1907,  S.  539  ff.)  die  eigentlichen  Probleme  wenig  fördert  und 
von  Versuchen  zu   gewaltsamer  Harmonisierung  nicht  frei  ist. 

Für  mich  war  der  Anlaß,  eine  zum  großen  Teil  schon  vor 
zehn  Jahren  geführte  Untersuchung  wieder  aufzunehmen,  die 
Überzeugung,  daß  die  Lehre  von  den  Windrosen  einerseits  von 
den  physikalischen  Windtheorien,  mit  denen  sie  bei  Steinmetz 
verkoppelt  ist,  gelöst  werden,  andrerseits  aber  viel  enger,  als 
bisher  geschehen,  mit  den  Methoden  der  Orientierung  in  ihrem 
ganzen  Umfang   und   ihrer   gesamten  Verwendung    verbunden 


*)  Lüdickes  , Versuch  über  die  Weltgegenden  oder  über  die  Ein- 
teilung des  Horizonts  bei  Griechen  und  Römern"  (Hindenburgs  Archiv 
der  rein.  u.  angew.  Mathem.  IX.  Heft  (1799)  S.  38ff.)  ist  wertlos  und  ver- 
dient fernerhin  v^eder  Berücksichtigung  noch  Erwähnung. 

2)Draeger  (Philol.  23  (1866)  S.  385  ff.)  schreibt  ohne  jede  Kenntnis 
der  Vorarbeiten.  Auch  seine  Arbeit  kann  ohne  Schaden  für  die  Wissen- 
schaft der  Vergessenheit  anheimfallen. 


Griechische  Windrosen.  5 

werden  muß.  Durch  den  letztgenannten  Umstand  ist  es  be- 
dingt, daß  die  Darstellung  streng  chronologisch  zu  verfahren 
und  mit   den   ältesten  erreichbaren  Zuständen  einzusetzen  hat. 

I.   Homer  und  die  vorwissenschaftliche  Zeit. 

Selbst  wenn  man  den  neuesten  Versuchen,  die  Zeit  der 
homerischen  Epen  stark  herabzurücken,  nicht  alle  Berechtigung 
abspricht  (was  ich  zu  tun  geneigt  bin),  bleibt  es  natürlich, 
daß  eine  Untersuchung  über  griechische  Windrosen  mit  Homer 
beginnt;  hier  zuerst  haben  wir  ein  reichliches  Material.  Aber 
vielleicht  erweist  es  sich  doch  als  zweckmäßig,  einmal  ganz 
allgemein  zu  fragen,  aus  welchen  Bedürfnissen  überhaupt  eine 
Windrose  entstehen  und  mit  welchen  Anhaltspunkten  sie  ge- 
bildet werden  konnte.  Sobald  man  sich  diese  Fragen  stellt, 
kommt  man  darauf,  daß  die  Windrose  zweierlei  bedeutet,  ein- 
mal die  Unterscheidung  von  Hauptwinden,  die,  unabhängig 
von  der  Geländegestaltung  und  von  Unterschieden  der  Qualität 
wie  Stärke  und  Feuchtigkeit^),  rein  nach  ihrer  Lokalisierung 
am  Horizont  bezeichnet  werden,  sodann  eine  Einteilung  des 
Horizontes  für  Zwecke  der  Orientierung.  Diese  Bedeutung  steht 
heutzutage  im  Vordergrund,  wenn  man  von  der  Windrose  redet; 
aber  es  ist  nichts  weniger  als  selbstverständlich,  daß  es  immer 
so  gewesen  sein  müsse  ^).  Erst  muß  irgend  ein  Punkt  des 
Horizonts  festgelegt  sein,  wenn  wir  von  Windrichtungen  im 
Sinne   von   Himmelsgegenden    sprechen    wollen;    das    erfahren 

^)  Dem  antiken  Menschen  war  es  offenbar  schwer,  die  Dinge  so 
rein  mathematisch  zu  betrachten;  darum  kann  sich  z.  B.  Seneca  n.  qu. 
V  16,  5  in  tiefsinnigen  Betrachtungen  darüber  ergehen,  ob  man  den 
corus  wirklich  dem  argestes  gleichsetzen  dürfe.  Selbst  bei  Aristoteles 
ist  das  geometrische  Prinzip  nicht  mit  voller  Selbstverständlichkeit  durch- 
geführt (vgl.  Abschnitt  3  über  evQovozog  und  (poivixiag). 

2)  Gesichtspunkte,  wie  ich  sie  hier  verfolge,  finde  ich  etwas  mehr 
als  in  den  sonstigen  Ausführungen  über  homerische  Geographie  berück- 
sichtigt bei  Messedaglia,  I  venti  in  Omero  (Mera.  accad.  dei  Lincei, 
scienze  mor.,  V  7  (1901)),  z.  B.  S.  13,  26  f.,  39  f.  Nur.  ist  eben  erst  noch 
zu  untersuchen,  ob  die  homerische  Windrose  eine  „vera  e  propria  rosa 
di  orientazione"  ist,  wie  er  ohne  weiteres  voraussetzt. 


L 


6  8.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

wir  noch  heute  genau  so  wie  der  Mensch  der  Vorzeit,  wenn 
wir  ohne  Kompaß  und  ohne  Karte  in  unbekannter  Gegend 
wandern.  Da  muß  uns  erst  die  Sonne  oder  der  Sternhimmel 
eine  Hauptrichtung  geben,  ehe  wir  einen  Wind  nach  seiner 
Richtung  benennen  können.  Es  soll  gewiß  nicht  geleugnet 
werden,  daß  ein  beständiger  Wind,  wie  etwa  im  Gebiete  des 
ägäischen  Meeres  die  Etesien,  weithin  zu  annähernd  zutreffen- 
der Richtungsangabe  dienen  konnte,  auch  wenn  dem  Schiffer 
längst  der  Ausgangshafen,  in  dem  er  sich  mit  andern  Mittel  zu 
orientieren  vermochte,  außer  Sicht  gekommen  war^),  und  ebenso 
gewiß  ist,  daß  in  den  nämlichen  Breiten  der  Südwind,  wenn 
er  als  Scirocco  auftritt,  durch  seinen  Charakter  so  deutlich 
bestimmt  ist,  daß  man  sich  wohl  denken  könnte,  es  möchte 
jemand  an  ihm  in  sternenloser  Nacht  ungefähr  die  Südrichtung 
erkennen.  Aber  das  sind  Ausnahmefälle,  und  sie  setzen,  genau 
genommen,  doch  eine  anderweitig  schon  gewonnene  Horizont- 
teilung und  Lokalisierung  der  Winde  am  Horizont  voraus. 
Demnach  ist  es  eine  nichts  weniger  als  selbstverständliche 
Substituierung,  wenn  späterhin  bei  den  Griechen  überwiegend 
und  bei  den  Römern  vielfach  die  Himmelsrichtungen  nicht 
nach  den  Gestirnen,  sondern  durch  Windnamen  bezeichnet 
werden,  und  nicht  cpvoei,  sondern  vojucoi  geschieht  es,  daß  in 
hellenistischer  Zeit  und  noch  heute  im  populären  Sprachge- 
brauch der  griechischen  Schiffer  eine  weitgehende  Horizont- 
teilung die  sämtlichen  Abschnitte  durch  Windnamen  bezeichnet. 
Die  Orientierung  an  den  Sternen  konnte  an  und  für  sich 
sehr  früh  einsetzen,  zumal  der  Teil  des  Himmels,  von  dem  sie  aus- 
geht, der  Kreis  der  nicht  untergehenden  Sterne,  durch  ein  so 
stark  auffallendes  Sternbild  wie  den  großen  Bären  ausgezeichnet 
ist ;  aber  der  homerische  Sprachgebrauch  lehrt,  daß  auch  dieses 
Orientierungsmittel  doch  nur  in  beschränktem  Umfang  ver- 
wendet worden  ist^).    Das  erste  Gegebene,  wonach  der  Grieche, 


^)  So  ist  es  zu  verstehen,  wenn  bei  Strabon  II  71  C  (Richtung 
Amisos-Kolchis)  und  II  119  (Festlegung  des  Diaphragma)  die  Winde  als 
Mittel  bezeichnet  werden,  die  Fahrtrichtung  zu  bestimmen. 

2}  Es  handelt  sich  um  die  Stelle  e  274—277,  wo  erzählt  wird,  wie 


Griechische  Windrosen.  7 

und  nicht  er  allein  oder  zuerst^),  Welfcgegenden  unterscheidet, 
ist  die  Sonne.  Da  ist  nun  aber  nicht,  wie  man  aus  einer  von 
Gilbert  (S.  542)  wiederholten  Äußerung  Partschs  (in  Neu- 
mann-Partsch,    Physikalische  Geographie   von   Griechenland 


Odysseus,  dem  Rate  der  Kalypso  folgend,  die  Bärin,  die  allein  nicht  teil 
hat  am  Bade  im  Okeanos,  auf  seiner  Fahrt  zum  Phäakenlande  hin 
18  Tage  hindurch  stets  zur  Linken  behält;  deswegen  ist  aber  bei  Homer 
doch  noch  nicht  aQHiog  =  Norden.  Diese  Gleichsetzung  kann  man,  wenn 
schon  immer  noch  unsicher  genug,  so  viel  ich  sehe,  zuerst  aus  einer 
Heraklitstelle  (fr.  120  Diels,  Vorsokr.)  herauslesen,  die  uns  noch  später 
beschäftigen  soll  (s.  u.  S.  26);  zum  mindesten  ist  dort  der  große  Bär  für 
eine  genaue  Orientierung  ausgenützt.  Daß  er  bald  für  die  Zwecke  der 
Schiffahrt  durch  den  kleinen  Bären  verdrängt  wurde,  ist  sehr  glaublich, 
wenn  auch  nicht  gerade  Thaies,  der  Phönikerabkömmling,  das  Sternbild 
in  Griechenland  bekannt  gemacht  hat,  wie  Kallimachos  fr.  94  (jetzt  ver- 
vollständigt bei  Diels,  Vorsokr.  III  p.  V)  will.  Die  Tradition,  daß  die 
Kenntnis  des  kleinen  Bären  von  den  Phönikern  herstammt,  kennt  auch 
Arat  V.  39.  44;  wenn  er  aber  sagt,  die  Achäer  orientierten  sich  nach  dem 
großen  Bären,  die  Phöniker  nach  dem  kleinen,  so  ist  das  natürlich  nur 
poetische  Einkleidung  einer  literarischen  Überlieferung,  die  wohl  von 
Thaies  Erfindung  gehandelt  oder  das  Problem  der  einen  Arktos  bei 
Homer  (Strab.  I  p.  3)  betroffen  haben  mag;  für  seine  Zeit  gilt  der  Gegen- 
satz griechischer  und  phönikischer  Nautik  natürlich  längst  nicht  mehr, 
hatte  doch  Pytheas  von  Massilia  die  Stelle  des  Nordpols  schon  recht 
genau  bestimmt  (vgl.  Hipp,  in  Arat.  p.  30,  8  M.). 

^)  Ich  habe  nicht  die  Absicht,  verfüge  auch  nicht  über  die  Voraus- 
setzungen zu  selbständiger  Forschung,  um  der  Frage  durch  die  ganze 
Menschheit  hin  nachzugehen.  Für  das  Indogermanische  zeigen  die  Namen 
für  Osten  deutlich,  daß  es  sich  im  oben  Besprochenen  um  eine  allgemeine 
Erscheinung  handelt.  Im  Germanischen  scheinen  die  Bezeichnungen  für 
Ost,  Süd,  West  ganz  zweifellos  vom  Sonnenstande  genommen  zu  sein, 
während  Nord  noch  nicht  sicher  gedeutet  ist  (vgl.  Wehrle,  Zeitschr.  für 
deutsche  Wortforschung  7  (1905/6)  S.  65.  Kluge,  Etym.  Wörterbuch  ^ 
(1914)  u.  d.W.;  wertvoll  für  die  Beurteilung  der  Entwicklung  auch  bei  den 
Griechen  ist  seine  Bemerkung,  daß  in  Oberdeutschland  die  Bezeichnung 
nach  den  Tageszeiten  —  Morgen,  Mittag  usw.  —  fast  ganz  an  die  Stelle 
der  alten  Bezeichnungen  der  Himmelsgegenden  getreten  ist;  für  die 
Gebildeten  gilt  das  allerdings  nicht).  Anders  scheinen  die  Dinge  im 
babylonischen  Kulturkreis  zu  liegen;  Hommel  teilt  mir  mit,  dort 
seien  seit  ältester  Zeit  die  Windnamen  für  die  Himmelsrichtungen  im 
Gebrauch. 


8  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

S.  92)^)  abnehmen  könnte,  die  Gegend  des  höchsten  Sonnen- 
standes, die  der  Beobachtung  den  Anstoß  gab,  —  denn  ohne 
ein  Instrument  gibt  die  Beobachtung  des  kürzesten  Schattens 
nur  ein  i-echt  unbestimmtes  Resultat*)  — ,  sondern  die  Gegend 
des  Sonnenauf-  und  -Untergangs.  Das  Emporsteigen  und  Unter- 
tauchen der  Sonne  liefert  an  jedem  klaren  Tag  wirklich  einen 
festen  Punkt  am  Horizont*).  Ilgog  fjco  t'  fjeXiöv  re  und  jiQog  ^6- 
(pov  —  das  sind  die  beiden  ursprünglichen  Himmelsrichtungen, 
die  wir  bei  Homer  benützt  finden  {M  239  s.  >i  190—192*), 
V  240  s.;  'Hovg  oixia  xal  x^^Q^l  >^ol  avToXal  'HeXioio  ju  3  s.).  Die 
Bezeichnung  für  den  Süden  wird  bei  Homer  gerade  nicht  von 
der  Sonne  genommen,  sondern  für  sie  tritt  an  der  einzigen  Stelle, 
an  der  diese  Himmelsgegend  vorkommt,  v  109 — 112,  der  votog 
ein    (mit   ihm   zugleich   erscheint   sein    Gegenwind   ßoQeag   als 


1)  (Von  den  vier  Himmelsriclitungen)  „waren  zwei,  die  Gegend  des 
höchsten  Sonnenstandes  und  ihr  diametrales  Gegenteil,  alltäglich  un- 
mittelbar gegeben". 

2)  Stellen  wie  die  von  Völcker,  Über  Homerische  Geogr.  u.  Welt- 
kunde S.  43  angeführten  &  68,  IJ  777,  ö  400  {i^fiog  d'  rjeXiog  fisoov  ovgavov 
äfxcpißEßrjxsi)  oder  wie  r)  288  {/uioov  ^f-iag)  zeigen  nur  das  schlechthin 
Selbstverständliche,  daß  man  beobachtet  hatte,  wie  die  Sonne  am  Himmel 
auf-  und  absteigt.  Aber  es  ist  kein  Zufall,  daß  diese  Erscheinung  immer 
nur  für  Zeitbestimmungen  verwendet  wird ;  zur  Bestimmung  eines  Punktes 
am  Horizont  eignet  sie  sich  auf  den  bloßen  Augenschein  hin  in  der  Tat 
gar  nicht,  wovon  man  sich  ja  an  jedem  sonnigen  Tag  überzeugen  kann. 

^)  Diese  Beobachtung  gestattete  es,  durch  ein  ganz  primitives  Ver- 
fahren Bauanlagen  nach  dem  Sonnenaufgang  eines  bestimmten  Tages  im 
Sonnenjahr  zu  „orientieren"  (Nissen,  Orientation  I  S.  9).  Die  ein- 
schlägige Lehre  der  Gromatiker  s.  in  Nissens  Templum  S.  163  ff'. 
Orientation  I  S.  86  ff. 

*)  Hier  nur  tjck  dem  Co<pos  entgegengesetzt;  die  Stelle  reicht  hin, 
um  Reißingers  Versuch,  der  Leukas-Ithakahypothese  zu  liebe  alle  an- 
geführten Stellen  nicht  von  Ost  und  "West,  sondern  wie  J.  H.  Voß  und 
Strabon  allgemein  von  Licht-  und  Nachtseite,  also  eher  Süd  und  Nord 
zu  verstehen  (Blätter  für  das  bayer.  Gymn.-Schulw.  39  (1903)  S.  381  ff.), 
als  phantastisch  zu  erweisen,  Strabon,  der  1  p.  34  und  ausführlicher 
X  p.  45  i,  gleichfalls  um  der  Interpretation  der  homerischen  Angaben 
über  Ithaka  willen,  Co(pog  =  ägxxog  gesetzt  hatte,  wird  von  Reißinger 
selbst  als  Eideshelfer  abgelehnt  (S.  384).  ' 


Griechische  Windrosen.  9 

Bezeichnung  des  Nordens).  Wenn  man  bedenkt,  daß  jueoajußgir] 
als  Bezeichnung  der  Himmelsgegend  erst  bei  Hekataios  be- 
gegnet (s.  Abschnitt  2),  so  wird  man  nicht  zweifeln,  daß  es 
bis  ins  V.  Jahrhundert  hinein  kein  anderes  Wort  für  Süden 
gegeben  hat  als  vozog.  Waren  erst  Ost  und  West  durch  die 
Sonne  bestimmt,  so  konnte  man  wohl  wagen,  Nord  und  Süd 
durch  Winde  zu  bezeichnen. 

Über  die  Winde  selbst  scheint  mir  Gilbert  S.  539  f.  in 
allem  wesentlichen  das  Richtige  gesagt  zu  haben.  Daran,  daß 
die  vier  Kardinalwinde  im  ganzen  Homer  auf  die  vier  Him- 
melsgegenden verteilt  gedacht  werden,  kann  man  wirklich  nicht 
zweifeln;  diese  Verteilung  ergibt  sich  durch  das  Vorn  und 
Hinten,  Rechts  und  Links  des  Menschen,  der  Orientierung 
sucht,  ganz  von  selbst.  Aber  daran  denkt  man  allerdings  noch 
nicht,  die  Bezirke  der  Winde  unter  einander  geometrisch  ab- 
zugrenzen, und  man  fragt  nicht,  ob  zwei  benachbarte  Winde 
gleichzeitig  wehen  können  oder  nicht.  Immerhin  wird  man 
im  Anschluß  an  Steinmetz  S.  12  f.  sagen  können,  daß  die 
Odyssee  sowohl  mit  ihren  reichlicheren  Orientierungsangaben 
(die  freilich  durch  den  Stoff  nahe  gelegt  sind)  als  mit  ihren 
bestimmteren  Angaben  über  Gruppierung  der  Winde  (e  331  s., 
V  109 — 112)  jünger  anmutet  als  die  Dias. 

2.   Die  ionischen  Physiker. 

Die  bisherigen  Ausführungen  zeigen,  daß  Ost  und  West 
für  den  primitiven  Menschen  immer  noch  eher  bestimmt  waren 
als  Nord  und  Süd.  Aber  die  Genauigkeit  war  freilich  sehr 
gering ;  die  Stelle,  an  der  die  Sonne  auf-  oder  untergeht,  ändert 
sich  ja  von  Tag  zu  Tag.  Diese  Verschiebung,  die  sich  in  den 
hier  in  Betracht  kommenden  Gegenden  über  einen  Bogen  von 
mehr  als  60^^)  erstreckt,  den  die  Sonne  zweimal  im  Jahre 
durchmißt,  blieb  natürlich  ebensowenig  verborgen  wie  das 
Länger-  und  Kürzerwerden    der  Schatten   um   die  Mittagszeit; 


^)   61^  24'    beträgt   die   Differenz   für  die   Breite   von  Athen   nach 
Tieles  Tafel  zu  Nissen s  Templum  (=  Orientation  II  S.  260). 


I_ 


10  3.  Abhandlung:  Albert  Rebm 

der  Reisende,  der  den  Ost p unkt  suchte,  konnte  mit  einiger 
Übung  die  „Morgen-  und  Abendweite "  der  Sonne  annähernd 
abschätzen,  —  wie  wir  es  wohl  noch  heutzutage  gelegentlich 
tun,  —  aber  diese  Bestimmung  war  von  Genauigkeit  doch 
immer  weit  entfernt.  Nur  jahrelange  Beobachtung  am  näm- 
lichen Ort  führte  zu  genauer  „Orientierung".  Der  entschei- 
dende Fortschritt  für  die  Festlegung  der  Himmelsrichtungen 
kam  von  anderer  Seite,  durch  die  Erfindung  eines  Instrumentes, 
welches  es  gestattete,  die  Mittagslinie  genau  zu  bestimmen. 
Das  ist  der  Gnomon.  So  einfach  die  Sache  ist,  so  wenig  selbst- 
verständlich ist  doch  ihr  Gebrauch;  wenn  es  dafür  eines  Be- 
weises bedürfte,  so  läge  er  darin,  daß  ein  Mann,  der  sich  mit 
der  einschlägigen  Literatur  so  viel  beschäftigt  hat  wie  Kai  bei, 
die  Anweisungen  Vitruvs  über  diesen  Gegenstand,  die  von  un- 
tadeliger Klarheit  und  Korrektheit  sind,  vollkommen  mißver- 
standen und  deshalb  an  ihnen  herumkorrigiert  hat  (Hermes  20 
(1885)  S.  586  A.  1);  auch  die  kuriose  Figur,  die  Prestel  in 
seiner  Vitruvübersetzung  (Zur  Kunstgesch.  d.  Ausl.  96  (1912) 
T.  II)  bietet,  läßt  eine  Klarstellung  nicht  überflüssig  erscheinen. 
Die  alten  Erklärer,  Perrault,  Marini,  bieten  übrigens  das 
Richtige.  Das  Verfahren  ist,  —  zunächst  wieder  in  der  pri- 
mitivsten Form  dargestellt,  —  etwa  das  Folgende :  statt  daß  man 
den  Sonnenweg  am  Himmel  beobachtet,  wo  sich  ja  seine  ein- 
zelnen Punkte  nicht  festlegen  lassen,  beobachtet  man  den  Weg, 
den  die  Schattenspitze  eines  Stabes  zurücklegt.  Für  die  Zwecke, 
von  denen  wir  hier  handeln,  genügte  die  denkbar  einfachste 
Vorrichtung,  daß  der  Stab  senkrecht  auf  einer  horizontalen, 
ebenen  Fläche  stand.  Sollte  übrigens,  wie  ich  wegen  der 
sonstigen  Verwendung  des  Gnomon  in  meinem  Artikel  „Horo- 
logium"  bei  Pauly-Wissowa  VIII  S.  2417  vermutet  habe,  die 
Urform  diejenige  der  „Skaphe*  sein,  bei  welcher  die  Auffang- 
fläche ein  Abbild  der  Himmelskugel,  d.  h.  also  eine  konkave 
Halbkugel,  bildet,  in  deren  Zentrum  sich  die  Gnomonspitze 
befindet,  so  ist  zwar  das  Instrument  künstlicher  und  etwas 
schwieriger  herzustellen,  das  Verfahren  damit  aber  nicht  kom- 
plizierter,   vielmehr   sogar    etwas    einfacher;    man    mußte    nur 


Griechische  Windrosen.  11 

dafür  sorgen,  daß  der  Rand  der  Halbkugel  in  die  Horizont- 
ebene fiel,  und  man  mußte  außer  dem  Zentrum  der  Kugel 
auch  noch  den  Nadirpunkt  markieren.  Ich  rede  aber  weiter- 
hin nur  von  der  Projektion  des  Schattenweges  auf  die  hori- 
zontale Ebene,  weil  zufällig  nur  sie  uns  als  Hilfsmittel  der 
Feststellung  des  Meridians  ausdrücklich  bezeugt  ist.  Der  Be- 
obachter, der  etwa  an  einem  Hochsommertage  nach  der  Sonnen- 
wende begann,  durch  Anzeichnung  einer  Reihe  von  Punkten  den 
Weg  des  Schattenendes  zu  ermitteln,  fand  eine  Kurve,  konkav 
gegen  den  Gnomonfuß  hin ;  je  mehr  sich  Tag  um  Tag  mit  dem 
tiefer  werdenden  Sonnenstand  die  Kurve  vom  Gnomonfuß  ent- 
fernte, desto  flacher  wurde  sie,  bis  sie  eines  Tages  in  eine 
Gerade  übergegangen  war.  Das  war  der  Tag  der  Gleiche; 
wer  zufällig  an  einem  solchen  Tag  beobachtete,  der  hatte  freilich 
sogleich  Ost-  und  Westpunkt,  mittelbar  also  auch  den  Meridian 
gefunden ;  aber  —  abgesehen  davon,  daß  die  Tage  der  Gleichen 
selbst  erst  durch  den  Gnomon  einigermaßen  genau  zu  bestim- 
men waren,  —  man  mußte  doch  ein  Mittel  suchen,  welches 
das  ganze  Jahr  hindurch  an  jedem  einigermaßen  klaren  Tag 
anwendbar  war.  Fuhr  unser  Beobachter  mit  seinem  Tun  fort, 
so  sah  er  aus  der  Geraden  bald  wieder  eine  Kurve  werden, 
diesmal  aber  konvex  gegen  den  Gnomonfuß  hin.  Kurz,  es 
entstand  vor  ihm  die  Figur,  die  man  im  späteren  Altertum 
speziell  Analemma  nannte.  Sie  konnte  der  Beobachtung  der 
Wenden  und  Gleichen  dienen,  ohne  daß  man  auf  ihr  die 
Mittagslinie  oder  gar  eine  Stundenteilung  vermerkte.  Aber 
natürlich  war  der  Meridian  leicht  aufzufinden;  er  ist  die  Ge- 
rade, die  vom  Gnomonfuß  aus  durch  den  diesem  nächsten 
Punkt  einer  jeden  Schattenkurve  geht. 

Kam  es  nun  aber  lediglich  darauf  an,  den  Meridian  zu  be- 
stimmen, so  bot  sich  ein  viel  einfacheres,  wiederum  für  die  hohle 
ebenso  wie  für  die  ebene  Sonnenuhr  verwendbares  Verfahren  dar, 
welches  nichts  weiter  als  die  Fähigkeit,  mit  dem  Zirkel  umzugehen 
und  einen  Winkel  zu  halbieren,  voraussetzt  und  an  jedem  be- 
liebigen Tag  des  Jahres  durch  ganz  wenige  Beobachtungen  in 
recht  zuverlässiger  Weise  zum  Ziele  führt;    beschrieben  ist  es 


12  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

uns  bei  Vitruv  I  6,  6  und  I  6,  12.  Es  ist  dort  mitgeteilt  als 
Voraussetzung  für  die  Anfertigung  einer  Windrose ;  vorerst 
geht  uns  aber  nur  die  Anweisung  zur  Auffindung  des  Meridians 
an,  sodaß  es  zweckmäßiger  sein  wird,  hier  nur  diesen  Teil  der 
Ausführungen  wiederzugeben.  Ich  tue  es,  indem  ich  die  beiden, 
sachlich  ja  durchaus  identischen  Vitruvstellen  kombiniere,  Vi- 
truvs  Darlegungen  paraphrasiere  und  die  Figur  beigebe,  die 
er  selbst  beschreibt  und  auf  deren  Hinzufügung  am  Ende  des 
Buches  er  hinweist.  Vitruv  schärft  sehr  ein,  die  Auffangebene, 
am  liebsten  eine  Marmorplatte,  aufs  sorgfältigste  zu  glätten 
und  horizontal  zu  verlegen  (die  Unregelmäßigkeiten,  die  an 
allen  mir  bekannten  Exemplaren  ebener  Sonnenuhren  zu  be- 
merken sind,  gehen  wohl  auf  Mängel  in  diesem  Punkte  zurück) ; 
daß  der  (bronzene)  Gnomon  peinlich  genau  senkrecht  stehen 
muß,  hebt  er  nicht  eigens  hervor;  dagegen  wird  angedeutet, 
daß  er  abnehmbar  sein  muß  (p.  28,  21  reposito  gnomone,  p.  29,  23 
inter  angulos  octagoni  gnomon  ponatur).  Zunächst  merkt  man 
zu  beliebigem  Zeitpunkt  am  Vormittag  die  Stelle  des  Schatten- 
endes an;  wenn  Vitruv  empfiehlt,  es  etwa  eine  Stunde  vor 
Mittag  zu  tun,  so  will  er  damit  nur  darauf  aufmerksam  machen, 
daß  es  zweckmäßig  ist,  die  Beobachtung  zu  einer  Tageszeit 
anzustellen,  wo  der  Schatten  nicht  sehr  lang  ist.  Je  länger 
und  schräger  er  nämlich  wird,  desto  verschwommener  wird  die 
Schattenspitze,  die  ohnedies  wegen  des  Flimmerns  und  des  Halb- 
schattens  nicht  sonderlich   gut   zu   beobachten    ist^).     Ist  der 


*)  Alles  hier  Einschlägige  ist  mit  gewohnter  Klarheit  unter  di- 
daktischem Gesichtspunkt  auseinandergesetzt  von  A.  Höfler  in  seiner 
„Didaktik  der  Himmelskunde  und  der  astron.  Geogr."  Leipzig-Berlin  1913 
S.  139  fF.,  wo  auch  weitere  Litei-atur  angegeben  ist.  Er  empfiehlt  schon 
für  die  Zwecke  der  Schule  den  Lochgnomon,  den  das  Altertum  der  lite- 
rarischen Überlieferung  zufolge  noch  nicht  gekannt  hat;  um  so  weniger 
durfte  in  der  Darlegung  in  obigem  Text  von  ihm  die  Rede  sein.  Doch 
lehren  Funde  von  Sonnenuhren,  die  den  Strahl  durch  ein  Loch  einfallen 
lassen,  daß  man  im  späteren  Altertum  doch  auf  die  Vorteile  dieses  Ver- 
fahrens aufmerksam  geworden  ist  (vgl.  P.-Wiss.  VIH  S.  2426,  3) ;  hat  man 
etwa  auf  ähnliche  Weise  an  der  auf  Tenos  gefundenen  Sonnenuhr  des 
Andronikos  Kyrrhestes   den  Teil  zu  ergänzen,    der   als   Kalender  ausge- 


Griechische  Windrosen. 


13 


Vormittagspunkt  (B  in  Fig.  1)  angemerkt,  so  nimmt  man  den 
Gnomon  weg  und  beschreibt  um  die  Stelle  des  Gnomonfußes  A 
mit  dem  Radius  AB  einen  Kreis  (Vitruv  spricht  von  einem 
vollständigen  Kreis,    weil  er  eine  Windscheibe  herstellen  will; 


Fiff.  1. 


l 


für  unsern  Zweck  würde  ein  Kreisbogen  in  östlicher  Richtung 
genügen);  darnach  wird  der  Gnomon  wieder  eingesetzt.  Als- 
bald nähert  sich  die  Schattenspitze  dem  Gnomonfuß,  dann  ent- 
fernt sie  sich  allmählich  wieder,  sodaß  sie  sich  der  Kreislinie 
gegen  Osten  zu  nähert;  nun  rnuß  man  beobachtend  abwarten 
{expedare,  observare  sind  die  Ausdrücke,  die  einem  den  Namen 
des  Instrumentes  oxiod'rjgag  in  die  Erinnerung  rufen),    bis  der 


staltet  war  (s.  meine  Ausführungen  bei  P.-Wiss.  VIII  S.  2427,  22),  und  hier 
die  Bruchstücke  anzufügen,  die  bisher  nicht  unterzubringen  waren  ?  Das 
Stück  mit  KYPPHST  müßte  rechts  anpassen,  das  H  ein  Rest  von  aqxrj 
sein,  links  wäre  'Avdgovixov  und  ojicogag  zu  ergänzen.  Trifft  das  zu,  so 
gewinnen  wir  einen  Terminus  ante  quem  für  die  Erfindung.  Doch  wage 
ich  nach  dem  bisherigen  Abbildungsmaterial  (am  bequemsten  IG  XII  5, 
891)  kein  abschließendes  Urteil.  Genau  entspricht  übrigens  der  Jahres- 
zeitenuhr des  Andronikos,  wie  es  scheint,  das  Exemplar  aus  Aquileia 
bei  Kenner,  Mitt.  d.  Centr.-Comm.  1880  S.  3  Fig.  2,  dort  ganz  unge- 
nügend behandelt. 


14  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

Schatten  wieder  den  Kreisbogen  berührt  (in  C).  In  diesem 
Augenblick  ist  die  Sonne  gegen  Westen  ebensoweit  von  der 
Mittagslinie  abgerückt  wie  sie  es  vorher  gegen  Osten  war; 
um  die  Mittagslinie  zu  finden,  hat  man  also  nur  noch  den 
Bogen  BC  zu  halbieren.  Dies  geschieht  bei  Vitruv  in  der 
üblichen  Weise  durch  Ziehen  von  zwei  Bogen  mit  gleichen 
Radien  um  B  und  C,  die  sich  in  D  schneiden.  DFAE  ist 
dann  die  Mittagslinie.  Ich  kann  aus  Erfahrung  versichern, 
daß  dieses  Verfahren  zu  recht  guten  Resultaten  führt;  die 
Konstruktion  läßt  sich  ja  unendlich  oft  wiederholen,  sodaß  sich 
die  Ergebnisse  gegenseitig  korrigieren. 

Was  war  nun  mit  dieser  Erfindung  für  die  Orientierung 
gewonnen?  Ich  denke,  neben  der  Genauigkeit,  die  man,  wie 
bekannt  und  noch  weiter  zu  erörtern  ist,  zunächst  gar  nicht 
so  sehr  geschätzt  zu  haben  scheint^),  die  Ubertragbarkeit  von 
Ort  zu  Ort.  Das  klingt  uns  zunächst  verwunderlich,  da  wir 
durch  den  Kompaß  doch  ganz  anders  unabhängig  von  ört- 
lichen Kennmarken  sind,  sodaß  uns  angesichts  dieser  Be- 
mühungen der  Alten  vielleicht  sogar  zuerst  gerade  der  gegen- 
teilige Gedanke  kommt,  daß  nämlich  da,  wo  man  die  Orien- 
tierung am  nötigsten  hat,  auf  dem  Meere,  die  Meridianbestim- 
mung mit  dem  omod^rjQag  unmöglich  ist^).  Auch  auf  dem 
Lande  mußte  eben  doch  in  jedem  Falle  die  ganze  Konstruktion 
neu  gemacht  werden.  Aber  diese  Mängel  schafi'en  die  Tat- 
sache nicht  aus  der  Welt,  daß  der  Apparat  ein  großer  Fort- 
schritt war  gegenüber  dem  früheren  Zustand.  Der  Landwirt 
und  der  Architekt  konnten  jetzt  an  jedem  Orte  mit  verhältnis- 
mäßig geringem  Zeitaufwand  die  Himmelsrichtungen  genau 
feststellen.  Beide  haben  im  Altertum  großes  Gewicht  auf  eine 
dem  Wachstum  der  Pflanzen  (Verg.  Georg.  I  50  s.  Vitr.  I  4,  2. 
Colum.  III  12.  21.  Pallad.  I  6,  2.  Geop.  V  4;  vgl.  Ukert  S.123) 


^)  Hier  genügt  ein  Hinweis  darauf,  wie  sehr  unter  römischen  Händen 
das  Verfahren  vergröbert  ist  bei  Plin.  n.  h.  XVIII  326  s. 

2)  So  ist  denn  auch  die  Anbringung  einer  Sonnenuhr  auf  dem 
Prachtschiff  des  Hieron  (Athen.  V  207  EF)  reine  Spielerei,  soferne  es  nicht 
bestimmt  war,  in  einem  Hafen  mit  sehr  stillem  Wasser  zu  liegen. 


Griechische  Windrosen.  15 

und  der  Gesundheit  der  Menschen  zuträgliche  Orientierung 
gelegt.  Darum  macht  Plinius  n.  h.  XVIII  326  s.  331  seine 
Angaben  über  die  Orientierung  im  engsten  Zusammenhange 
mit  den  Landwirtschaftsregeln  und  Vitruv  gibt  die  Weisungen, 
die  wir  eben  besprochen  haben,  zu  dem  Zwecke,  eine  richtige 
Anlage  der  menschlichen  Wohnstätten,  zunächst  der  Straßen 
und  Plätze  der  Stadt,  zu  ermöglichen ;  sein  ganzes  6.  Kapitel 
des  I.  Buches  (wie  schon  I  4)  ist  ja  ein  höchst  interessanter 
Beitrag  zur  Lehre  von  der  hygienischen  Stadtanlage.  Auf  die 
zahlreichen  Windpfeiler  und  Windscheiben  aus  dem  römischen 
Altertum,  die  uns  erhalten  sind,  komme  ich  später  zu  sprechen; 
in  ihrer  Gesamtheit  sind  sie  unverächtliche  Zeugen  für  die 
Wichtigkeit,  die  man  derartigen  Orientierungsmitteln  auf  dem 
Festlande  beilegte.  Aber  nicht  erst  in  der  römischen  Kaiser- 
zeit ist  dieser  Wert  der  genauen  Orientierung  geschätzt  worden^); 
dafür  ist  ein  vollgültiger  Zeuge  der  Arzt  und  Hygieniker,  der 
die  Schrift  Jiegl  degcor  vödxcov  roiicov  verfaßt  hat,  mit  der  wir 
uns  noch  weiter  eingehend  zu  beschäftigen  haben  werden. 
Die  neu  gewonnene  Möglichkeit  verlässiger  Orientierung  kam 
ferner  unmittelbar  der  neu  auftauchenden  Wissenschaft  der 
Geographie,  speziell  der  Kartographie,  zu  gute.  Die  Ermittelung 
der  Mittagslinie  und  die  Idee  der  Weltkarte  gehören  zusammen : 
der  EVQexiqg  beider  ist  nach  unserer  Überlieferung^)  der  große 


^)  Inwieweit  Hippodamos  von  Milet  bei  seinen  Stadtanlagen,  — 
Peiraieus,  Thurioi,  —  auf  die  Winde  Rücksicht  nahm,  ist  nicht  mehr 
zu  ermitteln.  Aus  den  Wendungen,  deren  sich  Aristoteles  Polit.  VII  10 
p.  1330  b  22  (=  Diels,  Vorsokr.  P  n.  27,2)  bedient,  um  die  Vorteile  der 
hippodaraischen  Bebauungspläne  zu  bezeichnen,  tjdvg,  xQVoi/xog,  ist  nichts 
zu  schließen.  Eher  wird  man  aus  dem  Beiwort  [xsTEcogoloyog,  das  Hippo- 
damos mehrfach  erhält,  etwas  folgern  dürfen,  —  Neupriene,  das  so 
„hippodamisch"  anmutet,  entspricht  den  hygienischen  Regeln  des  V.  Jahr- 
hunderts schlecht. 

2)  Stellen  bei  Diels,  Vorsokr.  12.3  n.  2,  1  §  1  (Diogenes).  2  (Suidas). 
4  (Eusebios).  6  (Agathemeros,  Strabon).  Diels  nimmt  freilich  die  Favorin 
entlehnte  Stelle  bei  Diogenes,  soweit  sie  auf  die  Gnomonik  geht,  dem 
Anaximander,  um  sie  auf  grund  der  genauen  Parallele,  die  sich  Plin. 
n.  h.  II  187  (=  Vorsokr.  n.  3  A  14  a)  findet,  auf  Anaximenes  zu  beziehen. 


16  3.  Abhandlung:  Albert  Rebm 

lonier  Anaximander.  Darnach  wäre  also  der  entscheidende 
Schritt  zu  einer  richtigen  Windrose  in  der  ersten  Hälfte  des 
VI.  Jahrhunderts  geschehen,  und  zwar  in  lonien. 

Ja  ich  bin  geneigt  zu  vermuten,  daß  auch  die  weitere 
Entwicklung  des  Windsystems  durch  Anaximander  oder 
doch  unter  dem  Einfluß  seiner  Forschung  erfolgt  ist.  Ganz 
abgesehen  von  der  Art,  wie  die  neuen  Namen  gebildet  sind 
(sie  weist,  wovon  noch  zu  handeln  ist,  nach  lonien),  ist  augen- 
fällig, daß  die  Fortbildung  der  Windrose  sich  aufs  engste  an 
die  Errungenschaft  des  neuen  Instrumentes  anschließt.  Das 
Horologion  in  Halbkugelform  liefert  durch  die  Linien,  die  bei 
ihm  die  Hauptsache  sind,  die  Bögen  der  Wenden  und  Gleichen, 
eine  Horizontteilung,  die  den  genauen  Ost-  und  Westpunkt 
und  dazu  als  neue  Punkte  die  Maxima  der  Morgen-  und  Abend- 
weiten der  Sonne  an  jedem  Orte  durch  einfaches  Visieren  über 
den  Rand  der  Skaphe  weg  festzustellen  gestattet.  Da  nun  die 
Windrose  bis  auf  Aristoteles  herab  und  über  ihn  hinaus  eben 
diese  Punkte  benützt,  so  liegt  der  Gedanke  an  Abhängigkeit 


Ausscheiden  läßt  sie  sich  in  der  Tat.  Aber  sollte  nicht  doch  etwas  daran 
sein,  daß  man  gerade  Spuren  von  licistungen  Anaximanders  in  Lake- 
daimon  meinte  nachweisen  zu  können?  Bei  Cic.  de  div.  1  112  (=  Diels  P 
S.  15,  5)  wird  berichtet,  Anaximander  habe  die  Lakedaimonier  vor  einem 
großen  Erdbeben  gewarnt.  Es  hält  schwer,  auch  hier  an  Namensver- 
wechslung zu  denken,  und  so  suche  ich  den  Irrtum  lieber  auf  seiten  des 
Plinius  als  des  Diogenes  (vgl.  P.-Wiss.  VIII  S.  2417  f.,  wo  ich  die  Frage 
in  anderm  Zusammenhang  behandelt  habe).  Aber  selbst  wenn  wir  den 
Diogenes  samt  Suidas,  der  ihn  ausschreibt,  beiseite  lassen,  bleibt  das 
auf  anderm  Wege  zu  Theophrast  zurückleitende  Zeugnis  des  Eusebios: 
ovTOS  jcQcÖTog  yvcofiovag  xarsanevaae  jiQog  didyvcoaiv  rgojicov  rs  fjXiov  xal 
XQovcov  xal  d>Qcov  xal  lorj/zsQiag,  womit  der  ganze  übliche  Bereich  der 
Leistungen  des  Horologion  umschrieben  wird.  Übrigens  fragt  es  sich 
sehr,  ob  es  überhaupt  der  Mühe  wert  ist,  diese  schattenhaften  Über- 
lieferungen sorgsam  gegen  einander  abzuwägen.  Wieviel  konnte  Theo- 
phrast von  dieser  ältesten  Wissenschaftsgeschichte  wirklich  wissen? 
üiid  da  nach  Herodots  innerlich  durchaus  wahrscheinlichem  Zeugnis  das 
Instrument  Import  aus  dem  Osten  ist,  so  verschlägt  es  im  Grunde  wenig, 
ob  wir  erst  den  Anaximenes  oder  gar  schon  den  Thaies  damit  hantierend 
denken.  Wichtig  ist  nur  die  Bestimmung  des  Kulturkreises,  in  dem  es 
zuerst  bei  den  Griechen  auftritt,  und  darüber  besteht  kein  Zweifel. 


Griechische  Windrosen.  17 

von  der  Skaphe  überaus  nahe.  Die  ebene  Projektion  der  Sonnen- 
uhr ließ  sich  nicht  zur  Horizontteilung  verwenden:  darum  brachte 
man  an  solchen  Uhren  gerne  einen  besonderen  Horizontkreis 
mit  Windrose  an  (Belege  folgen  unten) ;  aus  dem  uns  vor 
Augen  liegenden  Verfahren  dürfen  vv^ir  wohl  au£  das  nicht 
ausdrücklich  bezeugte  zurückschließen.  Aber  ist  diese  Ge- 
scliichtskonstruktion  nicht  doch  übereilt?  Auf  den  Gedanken, 
die  maximalen  Morgen-  und  Abendweiten  zur  weiteren  Horizont- 
teilung zu  benützen,  konnte  man  doch  auch  durch  die  un- 
mittelbare Anschauung  der  Wirklichkeit  kommen !  Gerade 
diese  vier  Punkte  sind  ja  im  Gegensatz  zu  den  vier  Kardinal- 
punkten unmittelbar  gegeben.  Gewiß;  aber  auch  hier  ist 
festzuhalten,  daß  sie  zu  jederzeit  und  allerorten  brauchbaren 
Teilungsmitteln  doch  erst  durch  die  „  Skaphe "  wurden. 
Dabei  müssen  wir  uns  auch  gegenwärtig  halten,  daß  in  der 
Zeit,  als  diese  Punkte  in  Aufnahme  kamen,  ihre  Veränderlich- 
keit je  nach  der  geographischen  Breite  noch  nicht  beobachtet 
war;  die  altionische  Geographie  arbeitet  ja  mit  dem  „festen 
Horizont"  ^).  Für  die  Frühzeit,  von  der  wir  hier  reden,  waren 
also  diese  Punkte  sogar,  anders  als  der  Meridian,  mit  jeder 
Sonnenuhr  des  Skaphetypus,  die,  sagen  wir  in  Milet,  als  Ex- 
portware gearbeitet  war,  ohne  weiteres  übertragbar ;  am  neuen 
Ort  mußte  man  das  Instrument  lediglich  wieder  nach  dem 
Meridian  orientieren,  um  es  gebrauchsfertig  zu  haben.  Hatte 
sich  aber  die  neue  Horizontteilung  einmal  eingeführt,  so  war 
ihre  Anwendung  wiederum  von  dem  Horologium  unabhängig. 
Es  genügte  ein  Instrument  einfachster  Art,  etwa  wie  es  für 
seine  Zeit  und  eine  andere  Teilung  Plinius  (n.  h.  XVIII  332) 
beschreibt,  oder  auch  jedes  Exemplar  der  „Weltkarte",  da 
diese  ja  mit  Horizontkreis  zu  denken  ist. 

Immerhin  möchte  ich  die  neue,  scharfe  Begrenzung  der 
Begriffe  Osten  und  Westen  nicht  als  einen  rein  mechanisch- 
technischen Vorgang  auffassen.  Neu  war  nur,  daß  jetzt  all- 
überall und  jederzeit  die  Grenzen   in   der  Wirklichkeit  festge- 


1)  Berg  er,  Gesch.  d.  wiss.  Erdk.  d.  Griechen  S.  39. 

Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  n.  d.  bist  Kl.  Jahrg.  1916,  3.  Abb. 


L 


18  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

stellt  werden  konnten ;  ihr  Bereich  war  aber  den  Begriffen 
schon  durch  die  Sprache  zugewiesen.  Die  Grenzen  sind  ja 
sozusagen  präformiert  durch  den  Sprachgebrauch  und  dieser 
selbst  wieder  ist  geboren  aus  der  Anschauung  des  Vorgangs; 
pluralisch  ist  die  Bezeichnung  schon  bei  Homer  (avTolai  /u  4) 
und  überwiegend  pluralisch  ist  sie  im  gesamten  Sprachgebrauch 
der  Griechen.  Es  sind  eben  die  Orter,  an  denen  man  im  Laufe 
des  Jahres  die  Sonne  auf-  und  untergehen  sieht;  weiter,  als 
wohin  die  Sonne  kommt,  reichen  folgerecht  die  ävaroXai  und 
dvoEig  nicht. 

Schon  diese  Seite  der  Sache  läßt  sich  an  dem  Autor  tieqI 
äegcov  illustrieren,  der  weiterhin  unser  Führer  sein  soll ;  fast 
durch  geh  ends  spricht  er  von  ävaroXal  und  dvojual  oder  dvoisg 
(p.  35,10.  36,21.  38,15.  17.  20.  39,13.  54,21),  nur  vereinzelt 
von  ävaroXij  und  dvotg'^)  (mit  xeijjLeQivrj  und  '^egirij,  p.  35,  9. 
36,  22.  43,  5).  Unser  Autor  nun  benützt  die  besprochene  Hori- 
zontteilung zu  einem  doppelten  Zweck:  zur  Bestimmung  der 
Himmelsrichtungen  am  einzelnen  Orte  und  zur  geographischen 
Orientierung  im  Großen,  auf  der  Weltkarte;  für  diese  letztere 
empfahl  sich  die  Teilung  nach  den  Solstizialpunkten  noch  durch 
eine  besondere  Zufallsfügung.  Die  Teilung  gab  dem  Osten 
und  Westen  je  nur  etwas  über  60*^^),  dem  Norden  und  Süden 
je  nahezu  120°;  nun  aber  erstreckte  sich  die  den  ionischen 
Geographen  bekannte  Oikumene  ost- westlich  über  ein  viel 
größeres  Gebiet  —  Mittelmeerbecken  und  Schwarzes  Meer  samt 
Maiotis  —  als  nordsüdlich;  eine  Horizontteilung,  welche  die 
Ecken  eines  langgestreckten  Rechtecks  fixierte,  war  also  gerade 
das,  was  man  brauchte.  So  erklärt  es  sich,  daß  noch  Ephoros 
diese  Teilung  beibehalten  hat  (fr.  38  FHG  II  p.  243  s.,  aus 
Kosmas,  Strab.  I  p.  34,  Ps.-Skymnos  v.  170-182.  MüUenhoff, 
Deutsche  Altert. -Kunde  I  S.  241.  Berger,  Gesch.  d.  wiss.  Erdk. 


*)  Den  Singular  bieten  von  den  Vorsokratikern  auch  Heraklit  und 
Empedokles.  Den  Singular  dvoß^  habe  ich  mir  erst  aus  Aristoteles 
(Meteor.  II  6  wiederholt)  notiert;  dort  handelt  es  sich  um  die  dvojui]  der 
Solstizialtage,  sodaß  die  Mehrzahl  überhaupt  nicht  am  Platze  wäre. 

2)  S.  0.  S.  9  Anm.  1. 


Griechische  Windrosen.  19 

d.  Gr.  S.  108  f.  129),  nur  daß  er,  wenn  man  dem  Referat 
Strabons  trauen  darf,  viel  ärger  schematisiert  als  unser  Autor  ^). 
Im  ersten  Teile  der  Schrift  negl  äegcov  werden  die  Morgen- 
und  Abendweiten,  wie  schon  gesagt,  zur  Orientierung  am  ein- 
zelnen Ort  verwendet;  übrigens  hängen  die  beiden  sonst  so 
ganz  auseinanderfallenden  Hauptabschnitte^)  gerade  hinsichtlich 


^)  Dem  Autor  jisqI  dsQcov  reicht  Asien  rechts  vom  Sonnenaufgang, 
d.  h.  nordwärts  (Belege  für  diese  Anschauung  s.  bei  Boll,  Sphaera  S.  563; 
in  JisQi  dspcov  könnte  eine  Angabe  über  Rechts  und  Links  von  der  großen 
Lücke  c.  12  verschlungen  sein)  über  die  dsgcval  dvatolal  noch  beträchtlich 
hinaus  (c.  13  p.  54  s.),  so  wie  es  links  ja  noch  die  ganze  Südregion  mit 
Ägypten  und  Libyen  füllt,  sodaß  es  sich  im  ganzen  also  über  mehr  als 
zwei  Seiten  des  Rechtecks  erstreckt.  Bei  Ephoros  hingegen  finden  wir 
ein  Schema,  das  genau  jeder  Himmelsgegend  ein  Hauptvolk  zuweist;  uns 
interessiert  davon  nur  der  Satz:  jiQ0OTi{}i]ot  d\  ozi  fist'Ccov  tj  Aidiojtia  aal 
■fj  Sxvdla'  öoxeT  ydg,  (prjol,  x6  rwv  Ald'iojicov  s'&vog  jtaQatEivsiv  dji'  dvaxo- 
Xwv  ;^£i;arßn'd)j'  [^^XQ'^  dvoficöv,  rj  Zxvd^ia  (5'  dvxixsixai  xovx(oi.  Nach  Kosmas 
bezeichnet  Ephoros  jede  der  vier  Himmelsgegenden  nach  der  Sonne, 
bzw.  dem  Nordgestirn,  und  zugleich  nach  einem  Hauptwind,  wobei  er 
voxog  und  I^Eq)VQog  und  dann  auffälliger  Weise  dm-jXioixrjg,  aber  ßoggäg, 
nicht  djiagxxiag  verwendet;  er  folgt  hierin,  nach  der  Übereinstimmung 
mit  dem  Windeturm  zu  schließen,  attischem  Brauch.  Aber  daß  er  etwa 
nur  diese  vier  Winde  anerkannt  hätte,  ergibt  sich  aus  der  Stelle  keines- 
wegs, und  Steinmetz  S.  28  durfte  auf  sie  hin  nicht  behaupten,  Ephoros 
stimme  nicht  mit  „Hippokrates"  überein.  Das,  worauf  es  ankommt,  die 
Begrenzung  der  vier  Horizontbögen,  ist  identisch,  wie  schon  Berger 
festgestellt  hat;  nannte  Ephoros  den  Ostabschnitt  die  Gegend  :^Q6g  x6v 
d7tr}hünr}v,  so  gebrauchte  er  den  Windnamen  eben  in  einem  weiteren  Sinn; 
die  Frage,  ob  er  noch  andere  Winde  aus  der  Ostgegend  wehen  ließ,  ist 
also  auf  grund  dieser  Stelle  weder  zu  bejahen  noch  zu  verneinen.  Ich 
hebe  den  Punkt  hervor  als  Beispiel  dafür,  wie  Steinmetz'  vorgefaßte 
Meinung  von  einem  tiefen  Gegensatz  zwischen  einer  Windtheorie,  die 
den  Winden  Bogen  und  einer  andern,  die  ihnen  nur  Punkte  zuteilen 
isoll,  seinen  Blick  getrübt  hat;  ich  komme  weiterhin  auf  diese  zwar  nicht 
fanz  unrichtige,  aber  doch  schiefe  Auffassung  zurück. 

2)  Das  wird  von  keinem  Leser  verkannt  werden  können;  fraglich 
kann  nur  sein,  ob  wir  es  mit  zwei  ursprünglich  selbständigen  Schriften 
oder  mit  einer,  die  aus  zwei  sehr  selbständigen  Teilen  besteht,  zu  tun 
haben.  Mit  Jacoby  (Hermes  46  (1911)  S.  564  A.  1)  entscheide  ich  mich  für 
das  Letztere,  und  das  nicht  allein  unter  dem  oben  angegebenen  Gesichts- 
punkt.   Daß  beide  Teile  einem  Verfasser  gehören,  bezweifelt  wohl  niemand. 

2* 


20  3.  Abhandlung :  Albert  Rehm 

der  Orientierungsmittel  aufs  engste  zusammen;  wird  doch  auch 
die  auf  die  Orientierung  begründete  Charakterisierung  der  ver- 
schiedenen Lagen  fernerhin  ohne  weiteres  auf  die  ganze  Oiku- 
mene  übertragen.  Im  ersten  Teile  nun  braucht  der  Verfasser 
die  Himmelsgegenden  vor  allem  um  der  Unterscheidung  der 
Windqualitäten  willen,  nebenbei  auch,  um  die  hygienische  Be- 
deutung der  Lage  für  die  Wasserverhältnisse  klarzulegen.  Da 
ist  es  nun  schon  längst  aufgefallen,  daß  er  darauf  verzichtet, 
Windnamen  zu  geben  außer  ßoqkiqq  und  voxog'^^,  daß  er  also 
trotz  Beibehaltung  von  vier  Hauptwinden  von  dem  homerischen 
Windsystem  mit  evQOg  und  t,e(pvQog  absieht ;  dafür  muß  er  dann, 
da  er  seine  Theorie  löblicher  Weise  nicht,  wie  es  die  Schrift- 
steller des  hippokratischen  Corpus  sonst  fast  durchgängig  tun^), 
auf  die  zwei  Hauptwinde  Griechenlands,  den  Nord-  und  Süd- 
wind, beschränkt,  Ersatzausdrücke  verwenden ;  als  solche  dienen 
ihm  weit  überwiegend  (die  Ausnahmen  s.  in  Anmerkung  1  dieser 
Seite)  die  Benennungen  der  äußersten  Morgen-  und  Abend- 
weiten, welche  zugleich  die  Grenzen  der  vier  Kardinalwinde 
bezeichnen.  Daß  er  diese  Grenzpunkte  nicht  erfunden  hat, 
ist,   hoffe   ich,    aus    der   bisherigen  Darlegung  klar  geworden; 


^)  Zu  vöxog  fügt  er  gelegentlich,  als  fürchte  er  einen  zu  bestimmten 
Ausdruck  gebraucht  zu  haben,  verallgemeinernd  noch  hinzu  xal  xa  d^egf^a 
Tivsvfxaxa  (p.  36,  24);  ßogsrjg  steht  p.  47,  1.  57,  21.  61,  11,  vöxog  ohne  Zu- 
satz p.  47,  2.  49,8,  dazu  kommen  adjektivische  Wendungen  wie  /ft^cb»' 
ßÖQscog,  ^Q  ßÖQEiov,  voxcov.  Immer  aber  meinen  diese  Ausdrücke,  ob  sub- 
stantivisch oder  adjektivisch,  den  Wind  als  physisches  Phänomen,  nie- 
mals die  Himmelsrichtung;  sie  wird  außer  durch  die  Wendungen, 
die  vom  Sonnenauf-  und  -Untergang  genommen  sind,  noch  bezeichnet 
durch  ai  aQxxoi,  -^(og,  für  den  Süden  xa  •dsg/j^d  (p.  38,  19.  61,  15)  dazu  ein- 
mal Süden  und  Norden  durch  xö  d-egfiöv,  x6  xpvxQov  (p.  53,  22).  Die  Ter- 
minologie macht  dem  Schriftsteller  also  sichtlich  Mühe,  aber  wenigstens 
im  Negativen  ist  er  konsequent. 

2)  Den  Verfasser  von  ^legl  ig'^g  vovaov,  den  auch  ich  mit  dem  unseres 
Buches  für  identisch  halte,  trifft  der  Vorwurf  nicht;  vgl.  c.  13  in.  (VIp.  384L.) 
.  .  .  fidXioxa  xoToc  voxioiai  {jivev/xaoc),  e'jtstxa  xoTöi  ßoQSioiotv,  sjxsixa  xoToi 
ko  1710 Tai  nvBVfiaai.  Übrigens  erwähnt  auch  der  Autor  von  Tiegl  diaixijg 
c.  38  (VI  p.  532  L.)  nach  der  ausführlichen  Behandlung  von  ßogeag  und  voxog 
noch  kurz  die  äkXa  nvevfxaxa. 


Griechische  Windrosen.  21 

das  Gegenteil  wird  wohl  auch  von  niemand  ernstlich  behauptet. 
So  sehr  der  Arzt  im  Prooemium  den  Wert  der  Astronomie  und 
Meteorologie  für  seine  Wissenschaft  und  Praxis  verficht,  so 
wenig  zielt  er  dabei  auf  die  Horizontteilung ;  wo  er  sich  zuerst 
darüber  mit  dem  Leser  verständigt,  tut  er  es  mit  einem  kurzen 
Zwischensatz,  der  die  Begriffe  selbst  voraussetzt.  Nun  erhebt 
sich  die  Frage:  hat  wohl  auch  der  Physiker,  von  dem  er  die 
Begriffe  übernommen  hat,  radikaler  als  Homer,  auf  die  Ver- 
wendung der  Windnamen  völlig  verzichtet  sowohl  für  die 
Orientierung  wie  für  die  Bezeichnung  der  Ost-  und  Westwinde 
selbst,  oder  ist  diese  merkwürdige  Enthaltsamkeit  eine  Besonder- 
heit unseres  Autors?  Von  vornherein  spricht  das  Tasten  nach 
Ausdrücken  für  die    letztere  Alternative^);    es  lag  eben  keine 


1)  Gar  nichts  ist  natürlich  für  die  oben  gestellte  Frage  anzufangen 
mit  der  pluralischen  Bezeichnung  jtvsvfiara  in  jteqI  dsgcov,  auf  die  Stein- 
metz S.  24  f.  ein  so  merkwürdiges  Gewicht  legt.  Schon  oben  (S.  20  A.  1) 
ist  aus  der  Wendung  6  vötog  xal  xa  d'SQf.ia  jivevfj.ara  gefolgert,  daß  vöiog 
wohl  im  allgemeinen  alle  Luftströmungen  bezeichnen  kann,  die  von  dem 
großen  Bogen  der  Südregion  kommen,  wie  ßogstjg  die  Gesamtheit  der 
nördlichen  Winde,  daß  aber  unser  Schriftsteller  doch  das  Bewußtsein 
einer  engeren,  genauerer  Orientiermng  entsprechenden  Geltung  des  Begriffs 
nicht  verloren  hat.  Damit  ist  indes  für  die  Frage,  ob  der  Verfasser 
Neben  winde  des  vörog  und  ßoQsrjg  mit  besonderen  Namen  kannte,  nichts 
bewiesen.  Und  was  den  Nord-  und  Südwinden  recht  ist,  ist  den  öst- 
lichen und  westlichen  billig !  Die  Erkenntnis,  daß  die  Sonne  nicht  immer 
an  der  nämlichen  Stelle  auf-  und  untergeht,  hat  die  Terminologie  in 
TisQi  asQCov  nicht  hervorgerufen,  denn  diese  Erkenntnis  ist  uralt;  der  Satz 
von  Steinmetz  ^üla  re  cognita  non  semper  eodem  loco  solem  oriri  ab 
ortu  solis  non  unus  ventus  spirare  poterat,  quoniam  ortus  multi  exstiterunf^ , 
liefert  also  nicht  einmal  für  Ost-  und  Westwinde  den  entscheidenden 
Gesichtspunkt,  geschweige  denn  für  die  von  ihm  überraschender  Weise 
in  einem  Atem  mit  ihnen  genannten  ßoQsia  jivsvfzaia.  Schon  hier  wirkt 
bei  Steinmetz  das  weiterhin  für  seine  Untersuchung  verhängnisvolle 
Vorurteil,  die  Zahl  der  Winde  in  der  griechischen  Windrose  habe  etwas 
zu  tun  mit  der  physikalischen  Windtheorie  der  Griechen,  sie  sei  ins- 
besondere bedingt  durch  die  Anschauung  ^directionem  (ventorum)  ab 
incessu  solis  penäcre''  (S.  30).  Gewiß,  ,o  ißLog  xai  :jiavsL  xal  ovvs^ogfiäc 
xa  Tivsvfiaxa" ,  wie  Aristoteles  Meteor.  II  5  p.  361  b  14  es  ausdrückt  und 
viele  ihm  nachgesprochen  haben  (vgl.  Gilbert,  Meteorol.  Theorien  S.  532 


22  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

Terminologie  vor,  die  ihm  brauchbar  schien.  Brauchbarkeit 
aber  dürfen  wir  hier  ohne  weiteres  gleichsetzen  mit  Gemein- 
verständlichkeit. Nun  sind  aber  doch  die  homerischen  Namen 
im  populären  Sprachgebrauch  der  Griechen  niemals  abgekom- 
men. Wollte  er  die  Abgrenzung  ihrer  Bezirke  berücksichtigt 
wissen,  so  konnte  er  es  durch  eine  Bemerkung  am  Anfang  tun 
und  brauchte  dann  nicht  weiter  die  umständlichen  umschreiben- 
den Bezeichnungen  zu  benützen.  So  bin  ich  denn,  lange  bevor 
sich  mir  die  weiteren  Kombinationen  aufdrängten,  die  im  fol- 
genden vorgetragen  werden  sollen,  lange  namentlich,  bevor  die 
Schrift  Jiegl  ißdojuddcov  in  meinen  Gesichtskreis  trat,  zu  der 
Annahme  gekommen,  daß  die  vier  homerischen  Windnamen  zu 
der  Zeit,  als  unser  Autor  schrieb,  nicht  mehr  eindeutig  und 
damit  nicht  mehr  gemeinverständlich  genug  waren,  um  ihm  in 
einer  Schrift,  die  für  ein  sehr  allgemeines  Publikum  bestimmt 
war,  benutzbar  zu  scheinen.  Die  Sache  wäre  dann  einiger- 
maßen analog  der  Bezeichnung  der  Jahresabschnitte  durch 
Sternphasen,  Äquinoktien  und  Solstizien  statt  durch  bürger- 
liche Daten,  zu  der  man  durch  den  Mangel  eines  einheitlichen 
und  ordentlich  geregelten  Kalenders  genötigt  war^).     So  wer- 


mit  A.  1).  Aber  das  gilt  doch  nur  vom  täglichen  Vorgang,  den  der 
Grieche  in  der  Nähe  der  Meeresküste  in  Zeiten  beständigen  Witterungs- 
charakters Tag  um  Tag  erlebte,  wie  er  uns  auf  unserer  Hochebene  im 
Alpenvorland  bei  schönem  Sommerwetter  vertraut  ist;  von  den  xad'ohxol 
äve/iioi  aber  weht  ja  so  gut  wie  keiner  gerade  dann,  wenn  die  Sonne  in  der 
Gegend,  von  wo  er  kommt,  auf-  oder  untergeht,  ganz  abgesehen  davon,  daß 
ihr  Auftreten  gar  nicht  an  die  Morgen-  oder  Abendstunden  gebunden  ist. 
Ein  Blick  in  Aristoteles'  Meteorologie  (II  6  p.  364  s.)  genügt,  um  jeden 
Gedanken  an  einen  Zusammenhang  zwischen  Tageslauf  der  Sonne  und 
Jahreszeitwinden  abzulehnen;  da  weht  allein  der  Euros  zur  Zeit  der 
Winterwende,  dagegen  Kaikias,  nicht  Apeliotes,  um  die  Frühlingsgleiche, 
Lips,  nicht  Zephyros,  um  die  Herbstgleiche,  der  Zephyr  aber  um  die 
Sommerwende.  Auch  in  die  Theorie  der  Etesien  (s.  P.-Wiss.  VI  S.  715), 
Gilbert  a.a.O.  S.  570  f.)  spielt  der  sommerliche  Sonnenstand  in  einer 
Weise  herein,  bei  der  der  Aufgangsort  nicht  das  Wesentliche  ist. 

^)  So  hatte  nicht  allein  der  Historiker  oder  der  Arzt,  der  Bücher 
schrieb,  zu  verfahren ;  sogar  für  sein  Tagebuch  blieb  ihm,  wenn  es  dauernd 
wertvoll   sein  sollte,   kaum   etwas  anderes  übrig;   s.  darüber  Galen  In 


Griechische  Windrosen.  23 

den  wir  also  darauf  geführt,  daß  zu  der  Zeit,  als  die  Schrift 
tzsqI  äegcüv  entstand,  also  im  V.  Jahrhundert,  noch  während 
der  Blüte  des  attischen  Reiches,  im  ionischen  Kulturkreise  ver- 
schiedene Windsysteme  sich  gegenüberstanden,  ohne  daß  sich 
eines  kanonische  Geltung  zu  verschaffen  vermochte. 

Das  bestätigen  uns  denn  auch  die  Zeugnisse  durchaus,  so 
lückenhaft  die  bisher  beigezogenen  sein  mögen.  Zunächst  ist 
lange  festgestellt^),  daß  die  im  V.  Jahrhundert  neu  auftretenden 
Namen  allgemeiner  Winde  auf  lonien  als  Ursprungsland  weisen ; 
der  änrjXmxrig  trägt  die  Ursprungsmarke  in  Gestalt  der  Psilose 
an  sich^),  der  xaixiag  hat  (vgl.  meinen  Artikel  über  ihn  bei 
P.-Wiss.)    aller  Wahrscheinlichkeit    nach    seinen    Namen    vom 


Hippocr.  Epid.  I  vol.  XVII  I  p.  15  ss.  K.  Für  die  im  hippokratischen 
Corpus  verwendeten  Jahrteilungen  hat  Fredrich,  Hippokrat.  Unters. 
S.  224  ff.,  Einiges  beigebracht;  eine  zusammenfassende  Arbeit  darüber  er- 
^varte  ich  von  einem  meiner  Schüler.  Die  Jahrteilungen  in  den  einzelnen 
Schriften  des  hippokratischen  Corpus  gehen  sehr  weit  auseinander.  Um 
so  beachtenswerter  erscheint  es  mir,  daß  sich  in  dieser  Hinsicht  nur 
eine  Schrift  oder  Schriftengruppe  neben  jisqI  olsqcov  stellt,  die  Epidemien 
Buch  I  und  III  (und  V.  VII,  während  die  andern  Bücher  terminologisch 
viel  ärmer  sind).  Hier  wie  dort  ist  es  charakteristisch,  daß  der  Früh- 
aufgang der  Pleiaden  (sonst  =  Sommersanfang)  unberücksichtigt  bleibt, 
sodaß  wir  sieben  kritische  Zeiten  erhalten :  Sommerwende,  Frühaufgang 
des  Sirius,  Frühaufgang  des  Arktur,  Herbstgleiche,  Frühuntergang  der 
Pleiaden,  Winterwende,  Frühlingsgleiche  (Epid.  I  13,  ferner  I  1,  2.  III  2. 
jiegl  dsQcov  c.  11.  c.  10  p.  49,  17,  p.  51,  20).  Als  Besonderheit  in  den 
Epidemien  kommt  nur  hinzu  aus  I  2  die  Erwähnung  der  Zeit  ^vixa  C«'- 
(pvQog  jivsTv  ägxezac,  augenscheinlich  noch  zum  Winter  gerechnet.  Aus 
dem  nämlichen  Kreise  werden  also  beide  Schriften  stammen;  aber  auf 
dieses  Zusammentreffen  hin  Identität  der  Verfasser  anzunehmen,  verbietet 
sich  —  von  anderem  abgesehen  —  dadurch,  daß  der  Herbst  in  :i£qi  dsgcov 
c.  6,  10,  11  stets  ftsTÖJtcoQor,  in  den  Epidemien  I.  HI  aber  ebenso  aus- 
nahmslos (f&ivöjicoQov  heißt. 

^)  Vgl.  Steinmetz  S.  26.  C.  Ruehl,  De  Graecis  ventorum  nomini- 
bus  et  fabulis  quaestiones  selectae,  Diss.  Marburg  1909,  S.  36. 

^)  Beide  Namen  sind,  worauf  ich  noch  zurückkomme,  im  V.  Jahr- 
hundert in  Attika  heimisch  geworden,  aber  sie  sind  doch  eben  Import, 
sodaß  Solmsen,  Unters,  zur  griech.  Laut-  und  Verslehre  S.  289  m.  E. 
djTT]?ucoTi]g  nicht  zur  Erklärung  lautlicher  Eigentümlichkeiten  des  Attischen 
heranziehen  durfte. 


24  3.  Abhandlung :  Albert  Rehm 

Flusse  Kai'kos,  ist  also  von  Hause  aus  der  NO,  der  die  Ein- 
fahrt zum  Golf  von  Smyrna  bestreicht.  Sodann :  ist  der 
äTn^Xicorrjg  ionisch,  so  wird  es  auch  der  anaQxriag  sein;  beide 
Namen  sind  nach  dem  nämlichen  Prinzip  geschaffene  gelehrte 
Bildungen,  der  Wind  von  der  ägmog^  welche  die  korrekteste 
Bezeichnung  der  Nordrichtung  war,  und  der  von  der  Sonne, 
d.  h.  dem  Sonnenaufgang  her,  —  denn  Sonne  und  Osten  ge- 
hören zusammen  (vgl.  Nissen,  Orientation  I  S.  21),  schon  im 
homerischen  nQog  rjco  t'  fjeXiöv  re^). 

Wir  haben  ferner  immerhin  genug  Zeugnisse,  um  uns 
eine  Vorstellung  davon  machen  zu  können,  in  wie  mannig- 
facher Weise  sich  das  Bestreben  äußerte,  über  das  noch  etwas 
formlose  homerische  System  hinauszukommen.  Hieher  gehört 
der  Versuch  einer  radikalen  Vereinfachung,  der  von  Poseidonios 
bei  Strabon  (I  p.  29)  dem  Thrasjalkes  von  Thasos  zugeschrieben 
wird,  einem  der  aQ^moi  cpvoLKoi,  dem  ich  wie  Capelle  einen 
Platz  unter  den  Vorsokratikern  erbitten  möchte.  Die  zwei 
Winde,  die  er  allein  übrig  läßt,  sind  natürlich  ßogeag  und 
voTog^);  seine  Lehre  wird  begünstigt  durch  die  griechischen 
Windverhältnisse,  wie  man  schon  oft  hervorgehoben  hat;  sie 
entspricht  aber  auch  der  Praxis  der  griechischen  Hygieniker 
und  Meteorologen.  Für  die  Ärzte  war  das  schon  oben  S.  20  zu 
erwähnen ;  dazu  kommt  das  Material  aus  den  Kaiendarien  des 
V.  Jahrhunderts^)  und  aus  der  Schrift  Jiegl  orjjueicov^  die  ja  in 
ihrem  Kern  gleichfalls  der  voraristotelischen  Naturwissenschaft 


1)  Kauffmann  bei  P.-Wiss.  I  S.  2668  hat  gewiß  Recht,  wenn  er 
beide  Neubenennungen  auf  das  Streben  nach  größerer  Deutlichkeit  zurück- 
führt; das  ist  eben  ein  wissenschaftliches  Prinzip. 

2)  Auch  hier  wird  der  Wert  von  Steinmetz'  Arbeit  (S.  20.  22) 
durch  unbegründete  Annahmen  beeinträchtigt;  die  Behauptung  „puta- 
verunt  nomina  ventorum  (Homerica)  omnia  ficta  et  ex  mythölogia  deducta 
esse''  und  die  Vermutung,  daß  die  ionischen  Physiker  deshalb  die  home- 
rischen Namen  gemieden  hätten,  wird  schon  durch  den  tatsächlichen 
Befund  im  hippokratischen  Corpus  widerlegt. 

^)  Außer  ßoQsag  (zu  dem  auch  irrjoiai  und  ogvi^iac  zu  stellen  sind) 
und  voTog  kommt  bei  Euktemon  nur  der  ^eq^vgog  vor  (Stellen  bei  Manitius' 
Geminos  Ind.  III;  Ptolemaios'  Phaseis  bieten  auch  nicht  mehr). 


Griechische  Windrosen.  25 

angehört^).  Wieweit  Thrasyalkes  sich  bemüht  hat,  die  Ver- 
einfachung theoretisch  zu  begründen,  ist  nicht  zu  sagen  (vgl. 
die  Vermutungen  von  Berger  S.  127,  Steinmetz  S.  21  ff., 
Gilbert  S.  541  f.)^),  auch  nicht,  ob  er  bestimmte  Grenzen  der 
zwei  Winde  feststellte ;  immerhin  legt  der  zu  seiner  Lehre  pas- 
sende Bericht  des  Aristoteles  Meteor.  II  6,  12  p.  364  a  19  Jigoo- 
ri^exai  de  id  juev  C^cpvQixd  rcoi  ßoQelcot  {ipvxQoreoa  ydg  did 
t6  äno  övojbicbv  nveiv),  vorcoi  de  rd  äjifjXicortxd  {^sQ^oxega 
ydg  Tcbi  an  ävarolfjg  jtveiv)  die  Vermutung  nahe,  daß  er  nach 
einer  sehr  verwunderlichen^)  Theorie  über  die  verhältnismäßige 
Wärme  der  westlichen  und  östlichen  Winde  verfuhr  und  die 
Grenze  nicht  genau  ostwestlich,  sondern  von  ONO  nach  WSW 


^)  Der  Gegensatz  ßoQQäg — vorog  geht  durch  die  ganze  Schrift  hin- 
durch; von  andern  Winden  wird  nur  der  Xirp  einmal  (§  20),  der  Csfpvgog 
zweimal  (§  21.  47)  erwähnt,  das  einemal  der  Wind,  das  anderemal  die 
Himmelsgegend,  noch  dazu  beidemal  in  besonders  enger  Verbindung 
mit  dem  Norden  (die  §§  35 — 37  bleiben  hier,  als  Exzerpt  aus  Aristoteles, 
natürlich  außer  Betracht). 

^)  Strabon-Poseidonios  setzt  sich  mit  einer  Theorie  auseinander,  die 
mit  unglaublicher  Gewalttätigkeit  den  Argestes  zu  einem  südlichen  Wind, 
den  Zephyros  zu  einem  nördlichen  macht;  der  Beweggrund  ist,  wie  der 
Bericht  deutlich  zeigt,  der  Wunsch,  die  Homerstellen  ägysoräo  vöxoio 
und  ßogsrjg  xal  l^scpvqog,  tcü  xs  Ogrjixrjd^Ev  ärjtov,  zu  erklären.  In  Konse- 
quenz davon  ist  ebenso  gewalttätig  der  Euros  zu  einem  Nordost-,  der 
Apeliotes  zu  einem  Südostwind  gemacht.  Diese  Exzesse  der  Homer- 
exegese hat  man  dem  von  diesen  Exegeten  angerufenen  Thrasyalkes 
natürlich  nicht  zuzuschreiben;  er  ist  auch  nur  von  jenen  ungenannten 
Exegeten  zum  Zeugen  aufgerufen  für  den  Satz  ovo  slvac  rovg  ävs/novg. 
Dagegen  spricht  viel  für  die  oben  verwertete  Annahme,  daß  Aristoteles 
an  der  oben  abgedruckten  Stelle  Meteorologie  II  6,  p.  364  a  19  (und 
wieder  Polit.  IV  3  p.  1290  a  14.  18)  auf  Thrasyalkes  anspielt.  Thrasyalkes 
war  ja  nach  dem  Zeugnis  wiederum  von  Strabon-Poseidonios  (Strab.  II 
p.  790)  dem  Aristoteles  nicht  unbekannt,  der  seine  Theorie  der  Nilschwelie 
angeführt  hat  (vgl.  über  Thrasyalkes  Capelle  N.  Jbb.  33  (1914)  S.  341  f. 
und  Hermes  48  (1913)  S.  322  A.  1). 

^)  Wie  viel  richtiger  urteilt  der  Verfasser  von  jtsqi  dsgcov  c.  5  und  6 
und  nach  medizinischer  Quelle  Vitruv  I  4, 1 !  Aber  Aristoteles  ist  (§  13) 
sogar  um  eine  Erklärung  für  seine  falsche  Kennzeichnung  der  Ost-  und 
Westwinde  nicht  verlegen,  und  noch  weiter  ausgesponnen  wird  die  Theorie 
von  Olympiodor  p.  195,  18  ss.  St. 


26  3.  Abhandlung :  Albert  Rehm 

zog.  Ist  dies  der  Fall,  so  ist  weiter  klar,  daß  die  Theorie 
des  Thrasyalkes  keineswegs  besonders  alt  zu  sein  braucht;  da 
in  ihr  ganz  andere  Motive  wirken  als  in  der  Lehre,  welche 
die  Solstizialpunkte  zu  wesentlichen  Elementen  der  Horizont- 
teilung machte,  so  kann  sie  ebensogut  früher  wie  später  ent- 
standen sein. 

Das  Gleiche  dürfte  gelten  von  der  für  uns  ohnehin  nur  in 
unklaren  Umrissen  erkennbaren  Theorie  des  Heraklit  (wenn  sie 
überhaupt  als  Theorie,  nicht  als  bloßes  Aper9u  anzusprechen  ist), 
die  wieder  auf  eine  Zerlegung  des  Horizonts  in  bloß  zwei  Teile, 
aber  nunmehr  in  eine  Ost-  und  Westhälfte  mit  dem  Meridian 
als  Teiler,  hinausläuft:  fr.  120  Diels  Vorsokr.  n.  5  B  (=  Strab.  I 
p.  3)  fjovg  xal  ioTzegag  TSQ/uaia  rj  aQXTog  xal  ävrlov  xfjg  aQXTOV 
ovQog  al^Qiov  ÄLog^).  Darüber,  daß  die  aQTixog  hier  den  Nord- 
punkt  des  Horizonts   bezeichnet,    ist   kein  Zweifel^);    da    man 


^)  Unsere  Stelle  fehlt  in  der  Zusammenstellung  über  ai'^giog  bei 
Gruppe,  Griech.  Mythol.  u.  Rel.-Gesch.  S.  1101  A.  1.  In  Vorsokr.  P 
(1912)  stellt  Diels  die  drei  überhaupt  denkbaren  Bedeutungen  von  ovgog, 
Grenze,  Wind,  Berg,  zur  Wahl,  nachdem  er  sich  zuerst  für  Grenze,  dann 
für  Berg  entschieden  hatte.  Für  meine  mit  Berg  er  S.  79  übereinstim- 
mende Auffassung  möchte  ich  geltend  machen,  1.  daß  es  durchaus  keine 
Großtat  des  Denkens  war,  zum  dsl  cpavsQog  xvxlog  den  äsl  dq?av^g  hinzu- 
zufügen, 2.  daß  Zsvg  als  Vertreter  des  qxxog  im  Gegensatz  zum  'Aidi]g, 
dem  Vertreter  des  a?c6rog,  auch  in  der  heraklitischen  Einlage  in  jisqI 
diahrjg  c.  5  =  Vorsokr.  I  n.  5  C  1  vorkommt. 

2)  Aus  Heraklit  erklärt  sich  (und,  meine  ich,-  den  Heraklit  hilft 
erklären)  der  früheste  der  gelehrten  Dichter  Arat,  den  wir  schon  oben 
(S.  6  A.  2)  als  Benutzer  doxographischer  Überlieferung  kennen  gelernt 
haben  und  den  hier,  wie  ich  nachträglich  sehe,  schon  Diels,  Herakleitos 2, 
herangezogen  hat.  Wenn  Arat  v.  61  s.  vom  Kopfe  des  Drachen  sagt: 
ri]i  viooEzac,  ^;^f  tisq  äxgai  [iioyoviai  dvoisg  xs  >iai  ävxoXal  alXrjXrjt.oiv,  eine 
S-telle,  die  eine  wahre  Crux  der  antiken  Ausleger  gewesen  ist,  so  ist  es 
Heraklitnachahmung,  daß  er  Ost  und  West  sich  im  Nordpunkt  berühren 
läßt,  und  Heraklitkorrektur,  daß  er  den  Punkt  durch  den  Kopf  des 
Drachen  statt  durch  den  großen  Bären  bezeichnet;  wie  aber  Arat  bei 
seiner  Äußerung  die  untere  Kulmination  des  Drachenkopfes  im  Sinne 
hat,  so  Heraklit  die  untere  Kulmination  des  großen  Bären.  Strabon 
interpretiert  willkürlich,  wenn  er  den  Heraklit  mit  rj  agniog  den  ganzen 
Polarkreis  meinen   läßt;   nur   der   Berührungspunkt  von  Polarkreis  und 


Griechische  Windrosen.  27 

schon  durch  dvriov  aufgefordert  wird,  als  zweites  Tegjua  den 
Südpunkt  zu  erwarten,  so  zweifle  ich  nicht,  daß  die  frühere 
Übersetzung  von  Diels  richtig  ist:  „Die  Grenzen  von  Morgen 
und  Abend  sind  der  Bär  und  gegenüber  vom  Bären  der  Grenz- 
stein des  strahlenden  Zeus",  d.  h.  der  Punkt,  jenseits  dessen 
sich  kein  Stück  des  Himmelsgewölbes  mehr  aus  dem  Bereich 
der  ewigen  Nacht  erhebt.  Auf  diejenige  Frage,  die  uns  hier 
am  meisten  interessiert,  nämlich  welches  Motiv  der  Lehre  Hera- 
klits  zugrunde  liegt,  ist  noch  viel  weniger  eine  sichere  Ant- 
wort zu  geben  als  bei  Thrasyalkes,  der  die  Tatsachen  der 
griechischen  Windverhältnisse  für  sich  hatte.  Spielt  etwa  die 
Horaerexegese  herein?  Man  könnte  daran  wohl  denken,  wenn 
man  Aristarchs  Bemerkung  im  Schol.  A  zu  M  239  neben  Hera- 
klit  hält:  on  ovo  diaoidoeig  oldev  "OjurjQog  xoojuixdg,  ävaroXrjv 
xai  övoiv.  Jedenfalls  bleibt  ganz  zweifelhaft,  ob  man  Heraklits 
Bemerkung  irgend  eine  weiter  tragende  Bedeutung  auch  nur 
im  Sinne  ihres  Urhebers  beimessen  darf;  und  sicher  ist,  daß 
sie  für  die  Entwicklung  der  griechischen  Theorie  und  Praxis 
der  Horizontteilung  keine  gewonnen  hat. 

Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  daß  die  reichere  Glie- 
derung des  Horizonts  nicht  zu  einer  Beschränkung,  sondern 
zur  Bereicherung  der  Windrose  geführt  hat;  schließlich 
steht  der  Verfasser  von  negl  äegcov  nicht  weniger  abseits  vom 
Strome  der  Entwicklung  als  Thrasyalkes.  Längst  beachtet  ist 
das  Auftreten  neuer  W^inde  der  Rose  bei  Herodot;  und  zwar  ist 
hervorzuheben,  daß  alle  bei  ihm  vorkommenden  Winde  gelegent- 
lich zur  Richtungsangabe  dienen  (wobei  er  dann  fast  immer 
zum  Windnamen  noch  ävejuog  beifügt  —  Ausnahmen  VI  139. 
IV  22.  38.  n  99.  149,  immer  ßogerjg  und  voxog  betreffend);  dabei 
redet  er  stets  so,  daß  er  voraussetzt,  der  Leser  wisse  ohne 
weiteres,  welche  Richtung  er  mit  seinen  Ausdrücken  meine. 
Bemerkenswert  ist  auch,  daß  er  die  Himmelsgegenden  keines- 
wegs   ausschließlich   mit  Windnamen   bezeichnet;   in   mannig- 


Horizont  ist  gemeint,   und  so  wird  denn  auch   auf  der  Gegenseite   der 
ovgog  ac&Qiov  Aiög  zu  verstehen  sein. 


k 


28  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

4 

fachen  Variationen  des  Ausdrucks  verwendet  er  auch  die  Phäno- 
mene des  Sonnenlaufs^)  (und  für  den  Norden  nQoq  ägmovl  148, 
TZQog  aQXTOV  III  116,  TiQog  ägxTOv  re  xal  ßoQeco  ävejuov  III  102). 
Im  Anschluß  an  Ukerts  etwas  unübersichtliche  und  von  Druck- 
versehen nicht  freie  Sammlung  (S.  126)  sei  hier  das  Material 
nochmals  zusammengestellt:  Ttoög  iojieQrjv  I  204.  II  99.  IV  44. 
VII  58  (2  mal),  Ttgög  ioneQ^glY  17.  33.  38.  40.  VII  36,  äjid 
EOJiEQrjg  II  32,  TiQog  dvojuecov  II  33,  aTzd  eoneQrjg  xal  fiXiov 
dvojLtecov  II  31,  Jigög  dvvovxa  fjhov  III 114;  ngog  ttjv  fjco  II  32.  99. 
III  98.  IV  22.  35.  40.  99,  Jigog  fjoj  III  99,  ngog  fjhov  ävatü- 
Xovxa  II  32,  JCQog  fjco  re  xal  rjkiov  ävaxeXXovra  I  204.  IV  40. 
45,  TCQog  fjO)  (re)  xal  rjXiov  ävaroXdg  III  98.  IV  44.  VII  58, 
TiQog  fjXiov  ävLOxovxa  III  98.  IV  40.  44',  ngog  jueoajußQirjv  IV  33. 
99,  TZQÖg  jueoajußgirjg  II  99.  III  107,  djro  jueoajußQirjg  I  6,  Jigög 
jueoa/ußgirjv  xs  xal  voxov  ävejuov  IV  99  ^),  äjtoxXivojUEvrjg  jueoajußgirjg 
III  114^);  endlich  einmal  auch  die  genauere  Angabe  jigög  fjXiov 
xov  x^ijusgivov  1  193.  Der  Eindruck  dieser  Fülle  ist  vor  allem, 
daß  Herodot  ohne  viel  Überlegung  den  Ausdruck  wählt,  häuft 
und  variiert  (für  das  Abwechslungsbestreben  sind  Stellen  wie 
II  31—33,  III  98.  99,  IV  40.  44.  99  recht  bezeichnend).  Aber 
je  weniger  planvoll  die  Wendungen  hingeschrieben  sind,  je 
weniger  man  von  einem  individuellen  System  reden  kann,  desto 
brauchbarer  ist  Herodot  für  uns  als  Zeuge  für  das,  was  gang 
und  gäbe  war.     Zu  den  vier  homerischen  Winden,  von  denen 


^)  Darin  hat  er  einen  Vorgänger  an  Hekataios.  In  wörtlichen 
Zitaten  findet  sich  bei  ihm  jr^o?  ^Xiov  ävioxovra  (fr.  173.  190.  193),  djio 
dvoiog  (fr.  202,  vgl.  72),  Jtgdg  [xsaafxßQirjg  und  Jigog  fj,soafj,ßQir]v  (fr.  78.  135) ; 
daneben  nur  einmal  Jigog  voxov  (fr.  195,  vgl.  71.  149.  150).  Für  den 
Norden  hat  er  ngog  ßogso}  (fr.  67).  Die  Bezeichnung  nach  der  Tageszeit 
:jiQÖg  soTtigav  (fr.  71)  wird  nicht  sein  Ausdruck  sein.  Für  Ost  und  West 
meidet  er  offenbar  die  Windnamen,  was  schwerlich  Zufall  ist. 

^)  Vgl.  auch  rov  vötov  rj  otdoig  xal  xfjg  f^eoafxßQirjg  II  26. 

^)  Das  ist  eine  überkühne  Übertragung  der  für  die  Zeit  passenden 
Ausdrucksweise  auf  den  Ort,  wie  längst  bemerkt  ist;  oder  müssen  wir 
den  Ausdruck  schlechtweg  lässig  nennen?  Kurz  vorher,  III  104,  hat 
ihn  Herodot  nämlich  von  der  Zeit  gebraucht:  so  mochte  er  ihm  „in  der 
Feder  liegen". 


I 


Griechische  Windrosen.  29 

uns  der  Boreas  noch  beschäftigen  wird,  kommen  hinzu  der  Xiip^ 
der  als  Nachbar  des  voiog  und  wie  dieser  von  Libyen  her 
wehend  II  25  erscheint,  und  der  dTirjXKOTrjg  IV  22.  99.  152. 
VII  188.  Von  diesen  Stellen  ist  die  wichtigste  IV  99,  über 
die  ein  Wort  zu  sagen  ist,  weil  sie  bei  Steinmetz  S.  26  im 
Gegensatz  zu  Berger  S.  129  und  Gilbert  S.  543  A.  1  un- 
richtig behandelt  scheint.  Herodot  gibt  sich  hier  die  größte 
Mühe,  dem  Leser  die  Lage  des  Skythenlandes  klar  zu  machen ; 
schließlich  muß  ihm  die  Lage  von  Attika  und  für  westgrie- 
chische Leser  die  iapygische  Halbinsel  zur  Veranschaulichung 
dienen.  Vorher  gibt  er  die  Lagebestimmungen  direkt:  Ister- 
mündung JiQog  evQOv  ävejbiov,  f}  aQxair]  2xv§ir}  jigög  jueoaju- 
ßgirjv  re  xal  vorov  ävejuov,  'x^eQOOvrioig  fj  rgi^^er]  jigog  äjirjhcorrjv 
ävsjuov,  also  von  Skythien  überhaupt  eine  Seite  Jigög  jueoaju- 
ßQif]v,  eine  zweite  jigog  xtjv  rjco.  Ist  es  denkbar,  daß  an  einer 
und  derselben  Stelle  Herodot  zuerst  JiQÖg  evgov  ävejuov, 
dann  jigog  äTTrjhcjorrjv  ävejuov  sagt  und  beidemal  das  Näm- 
liche meint?  Besteht  aber  ein  Unterschied,  so  ist  keine  Frage, 
daß  Herodot  mit  der  Richtung  Jigög  äjirjXicoTrjv  ävejuov  die 
reine  Ostrichtung  bezeichnen  will,  mit  der  Richtung  Tigog  evgov 
ävejuov  eine  etwas  südlich  abweichende,  sagen  wir  nur  gleich 
den  Wind,  der  „von  der  winterlichen  Sonne"  —  nach  Herodots 
eigener  Ausdrucksweise  1 193  —  herweht  (vgl.  auch  P.-Wiss.  VI 
S.  1312)^).  Wie  käme  er  auch  zu  der  letzteren  Richtungs- 
angabe, wenn  ihm  nicht  die  weitergehende  Horizontteilung 
vertraut  wäre?  Dann  kann  man  aber  auch  sogleich  weiter 
schließen,  daß  Herodot  eine  ionische  Windrose  kennt,  die  von 
jedem  der  acht  bisher  gewonnenen  Horizontpunkte  einen  Wind 
ausgehen  läßt.  Daß  sein  evgog  zwischen  Ost  und  Süd  seine 
Stelle  hat,  wird  vollends  klar  aus  VII  36:  die  Brücke  bei  Aby- 
dos  wird  auf  der  einen  Seite  vielfach  verankert  gegen  die  aus 
dem  Pontos  wehenden  Winde,  auf  der  andern  evgov  re  xal  vorov 
evexa.    Der  reine  Ostwind  traf  die  Brücke  nicht  seitlich. 


1)  Mit  Herodot  scheint  Strabon  übereinzustimmen,  der  II  34  schreibt: 
'H  de  Hivcojir)  x&t  "Ioxqcoi  exdtdövri  ig  -^dkaocav  ävxiov  xeixai. 


I 


30  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

Welches,  fragen  wir  zunächst,  sind  die  Namen  der  vier 
neuen  Winde?  Da  will  es  nun  der  Zufall,  daß  gerade  nur 
ä7ir]ha)Tr]g  und  Xiip  auch  bei  jüngeren  Zeitgenossen  des  Herodot 
belegt  sind  {änrjXidurjg  Eurip.  Cycl.  19.  Thuc.  III  23;  Xixp 
Demokrit  bei  Lyd.  De  mens.  p.  78,  15.  79,  16  W.  =  Vorsokr. 
n.  55  B  14,8);  dazu  kommt  dann  nur  noch  xaixiag  Aristoph. 
Equ.  437,  aber  das  könnte  attische  Besonderheit  sein;  endlich 
wird  man  unter  die  alten  Zeugnisse  das  von  Theophr.  De  vent. 
§  51  als  Jiagoijuia  aus  der  Gegend  von  Knidos  und  Rhodos 
angeführte  Distichon  einreihen  dürfen:  Xiyj  ävejbiog  tq^v  juev 
vecpeXag,  ra^v  <5'  av&gia  tzoisT'  aQyeorrji  (5'  äveßcoi  nao'  Eneiai 
vecpeXr).  Aber  all  das  sind  doch  nur  Steinchen  zum  Mosaik. 
So  hat  man  denn  die  ionische  Windrose  bisher  immer  aus 
einem  sehr  viel  späteren  Zeugen,  Aristoteles  Meteor.  II  6, 
rekonstruiert,  was  man  insofern  auch  tun  durfte,  als  Aristo- 
teles durchaus  von  älteren  und  zwar  ionischen  Quellen  abhängt; 
davon  soll  noch  weiterhin  die  Rede  sein.  Für  den  Wert  der 
aristotelischen  Angaben  spricht  auch  der  Umstand,  daß  er  zwar 
mehr  als  acht  Ausgangspunkte  von  Winden  am  Horizont  kennt, 
daß  sich  aber  sehr  klar  die  acht  gut  systematisierten  W^inde 
von  dem  jüngeren  Zuwachs  unterscheiden.  Ich  glaube  aber 
doch,  wir  müssen  jetzt,  ehe  wir  uns  zu  Aristoteles  wenden, 
einen  älteren  Zeugen  für  die  Geschichte  der  Windsysteme  aus- 
zunützen suchen,  der  bisher  in  diesem  Zusammenhang  nur  von 
Gilbert  (S.  543  A.  1)  erwähnt,  aber  sicher  nicht  in  seiner 
Eigenart  ausreichend  gewürdigt  ist,  den  Autor  des  rätsel- 
reichsten Buches  des  hippokratischen  Corpus,  der  Schrift  neQi 
eßdojuddcov^).  Besprochen  ist  das  Windsystem,  das  in  Jt.  ißd.  c.  3 
p.  7  vorliegt,  am  ausführlichsten  und,  wie  ich  sogleich  sagen 
möchte,    in    der  Hauptsache   richtig,    von   Röscher   in   seiner 


1)  Ich  zitiere  im  folgenden  nach  Kapitel-  und  Seitenzahlen  der  Aus- 
gabe Roschers  in  Drerups  Studien  zur  Gesch.  u.  Kultur  d.  Alter- 
tums VI  3/4  (1913),  die  ich  in  den  Blättern  f.  d.  bayer.  Gymn.-Schulw.  51 
(1915)  S.  352  besprochen  habe;  für  den  arabischen  Text  tritt  natürlich 
jetzt  an  Stelle  der  bei  Röscher  beigegebenen  Bearbeitung  Härders  die 
Ausgabe  von  G.  Bergsträßer  im  Corp.  med.  Graec.  XI  2,  1  (1914). 


Griechische  Windrosen.  31 

ersten  eingehenden  Bearbeitung  der  Schrift  (Abb.  d.  sUchs. 
Ges.  d.  Wiss.  28,5  [1911])  S.  79—84.  Zum  Glück  ist  für 
unsere  Untersuchung  lediglich  die  Liste  der  Winde  selbst  von 
Wichtigkeit  (c.  3,  14)^):  djirjXianrjg-  exo/uevog  ßogerjg'  enEiz^ 
änaQKTiag^'  eha  ^ecpvgog'  juex''  avxov  <$'  6  Xi\p'  tneira  voiog' 
EXüi^evog  evQog. 

1  Diese  Form  in  der  arab.  Übers.  S.  51,  ICa  Bergstr.;  auch  Hom  m  el 
erklärt  mir  seine  Herstellung  des  Wortes  für  die  wahrscheinlichste;  äoxxog 
der  griech.  Text  (s.  Kalbfleisch  bei  Röscher,  Abh.  S.  137),  was  auch 
die  lat.  Übers,  mit  africus  und  africanus  wiederzuspiegeln  scheinen;  es 
war  zunächst  APKTOC  in  den  lat.  Text  herübergenommen  worden,  wie 
ja  auch  Ups  nicht  übersetzt  ist,  griechisches  PK  ist  in  lateinisches  FR 
verlesen  worden.  Die  Ordnung  ist  hier  gestört  bei  den  lat.  Übers.  — 
Abfolge  suhsolanus,  africanus,  septentrio  — ,  der  arab.  Kommentar  bringt 
ajiaQHxiag  erst  als  Nachtrag,  weil  er  die  vermeintlichen  vier  Kardinal- 
winde vorausgenommen  hat. 

Es  kann  jetzt  (dies  zu  bemerken  veranlassen  die  Bedenken 
von  Boll,  N.  Jbb.  31  (1913)  S.  140  A.  1)  wohl  kein  Zweifel 

^)  Ich  habe  mich  vergeblich  bemüht,  mit  der  Herstellung  des  Übrigen 
einigermaßen  sicher  weiterzukommen.  Mit  Heranziehung  der  arab.  Übers, 
mag  man  sich  den  einleitenden  Satz  etwa  so  denken:  „Von  den  Winden 
haben  sieben  ihre  bestimmten  Örter,  woher  sie  in  periodischem  Wechsel 
wehen,  mit  unsichtbarer  Bewegung,  Kraft  gewinnend  durch  das  Ein- 
ziehen der  Luft:  äjirjhoixrig  usw."  Unmittelbar  vor  aTir^liwxrjg  steht:  clqxt] 
[xsv  OPV  dvs/Licov  [ö'ßsv  ovzoi  jzeqpvxaoiv  (fehlt  in  der  arab.  Übers,  und  sieht 
nach  einer  Marginalnote  aus,  wie  wir  sie  in  den  Überschriften  Jiegi  dvi- 
[xcov  c.  3,  71£qI  mqcöv  c.  4  und  p.  6,  55  in  dl'dicov  —  vgl.  Boll,  N.  Jbb.  31 
(1913),  S.  142  A.  3  —  vor  uns  haben)]  djxö  rov  d-sg/uov.  Das  scheint  mir 
ein  fremdes  Einschiebsel,  einmal  weil  diese  Worte  die  Aufzählung  der 
Winde  von  dem  Einleitungssatze  abtrennen,  sodann  aber  auch,  weil  sie 
augenscheinlich  die  erst  bei  Aristoteles  auftretende  Ableitung  des  Windes 
aus  der  xajivcLörjg  dvadvf.uaoig  anzudeuten  scheinen  (vgl.  Meteor.  II  4,  5, 
p.  860  a  12  1^  ÖS  ^rjQo.  [dvad-v[xiaoig)  räiv  jivsvfiaTcov  dgxv  ^"*  (pvoig  Jidvzcov. 
II  4,  8,  p.  360  a  25  o  ^£  xajivog  ■äegf^ov  xal  ^tjqov.  Gilbert  S.  522  ff.).  Ich 
halte  es  also  nicht  für  richtig,  djio  rov  d'sgfj.ov  mit  djrT)?u(oxr}g  zu  ver- 
binden, obwohl  man  auch  in  diese  Verbindung  einen  Sinn  hineininter- 
pretieren könnte,  etwa  daß  der  djxr^Xicoxrjg  zu  den  ^egfid  jirsv/tiaza  gehört 
(s.  0.  S.  25  mit  A.  3).  —  Der  Satz,  mit  dem  das  Kapitel  schließt  (aus 
dem  arab.  Text  wird  dazu  aus  S.  51,  16''a  Bergstr.  , diese  Winde  wehen 
das  ganze  Jahr"  zu  stellen  sein),  scheint  nur  eine  Wiederholung  von 
jiEQiodovg  jtoiEVfXEvoL  zu  sein. 


32 


3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 


mehr  bestehen,  welche  Winde  im  Original  genannt  waren; 
auch  zeigt  sich,  daß  der  griechische  Text  die  Reihenfolge 
völlig  richtig  gibt.  So  hat  denn  Röscher  ganz  zutreffend 
die  Windtafel  Abh.  S.  82  rekonstruiert;  er  hat  auch  schon 
richtig  gesehen,  dal3  die  Siebenzahl  willkürlich  erzwungen  ist, 
indem  ein  achter  Wind  weggelassen  ist.  Ich  ergänze  ihn  in 
Fig.  2  mit  Röscher  und  Boll  als  dgyeoTrjg^)  aus  Aristoteles, 
wobei  ich  hoffe,  daß  noch  aus  späteren  Abschnitten  dieser 
Untersuchung  hervorgehen  wird,  daß  kein  anderer  Name  dieses 
Nebenwindes  des  Zephyros  für  die  frühe  Zeit  in  Betracht  kommt. 


^rAPKT//Vj 


iOj_ON 


Fig.  2. 


Die  so  vervollständigte  Windrose  ist  ein  ganz  außer- 
ordentlich merkwürdiges  Ding:  sie  ist  in  den  Namen  identisch 
mit  der  achtstrichigen  Rose  hellenistischer  Zeit,  die  man  seit 
Kaibel  auf  den  Namen  des  Eratosthenes  getauft  hat.  Wie  ist 
nun  dieser  Sachverhalt  zu  beurteilen?  Eine  späte  Einlage  in 
7t.  eßd.  kann  das  Stück  nicht  sein;  ist  es  doch  das  Herzstück 
des  Windkapitels,  auf  dem  dessen  Daseinsberechtigung  in  der 

^)  Wie  Argestes  zum  Eigennamen  eines  Windes  geworden  ist,  hat 
m.  E.  Kauf f mann  bei  P.-Wiss.  II,  S.  715  richtig  erklärt:  „Aus  einem 
Attribute  des  Westwindes  (Zephyros)  ist  Argestes  Bezeichnung  seines 
nördlichen  Seitenwindes  geworden".  Auch  hier  wird  gelehrte  Neu- 
benennung  vorliegen. 


Griechische  Windrosen.  33 

Schrift  überhaupt  beruht.  Das  ganze  n.  eßd.  aber  so  spät 
anzusetzen,  daß  es  unter  dem  Einfluß  jener  hellenistischen 
Windrose  stehen  könnte,  wäre  schlechtweg  phantastisch;  so 
wenig  ich  mich  der  These  Roschers  anzuschließen  vermag, 
der  n.  eßd.  in  seinem  ersten  Teil  noch  immer  für  das  älteste 
erhaltene  Prosabuch  griechischer  Sprache  erklärt,  so  sicher 
gehört  doch  die  Schrift  in  die  vorsokratische  Sphäre ;  dies,  und 
speziell  das  Vorhandensein  pythagoreischer  Einflüsse,  hat  ganz 
neuerlich  E.  Pfister,  2:ToixeTa  II  S.  30  fi".  (auch  S.  120),  mit 
neuen  beachtenswerten  Einzelzügen  belegt;  auch  in  unserem 
Windkapitel  ahnt  man  pythagoreischen  Einschlag  (Gilbert 
S.  517;   Pfister  S.  33  A.  2). 

So  gewännen  wir  denn  als  Vorlage  des  Hebdomadisten 
eine  achtstrichige  Rose,  die  jedenfalls  geraume  Zeit  vor  dem 
Ende  des  V.  Jahrhunderts  entstanden  sein  muß.  Ihre  Namen 
hat  der  Schöpfer  des  hellenistischen  Achtwindesystems  herüber- 
genommen; das  Prinzip  der  Horizontteilung  muß  deswegen 
natürlich  noch  nicht  das  rein  geometrische  der  späteren  Zeit 
gewesen  sein.  Vielmehr  hat  alles  bisher  Gesagte  wahrschein- 
lich machen  sollen,  daß  die  vier  neuen  Punkte  die  Solstizial- 
punkte  des  Horizonts  sind. 

Namen  und  Stellen  der  acht  Winde  decken  sich  hienach  mit 
dem  aristotelischen  und  dem  aus  Einzelangaben  der  Autoren 
des  V.  Jahrhunderts  zu  erschließenden  Schema,  —  mit  einer 
nicht  unbedenklichen  Ausnahme:  als  Ostwind  vom  Sommersolstiz 
finden  wir  nicht  den  doch  so  echt  ionischen  (s.  o.  S.  23)  Kai- 
kias,  sondern  den  Boreas,  der  doch  noch,  bei  Aristoteles  seine 
Stelle  als  reiner  Nordwind  behauptet.  Ich  glaube  indes,  das 
ist  kein  Grund,  an  dem  bisherigen  Ergebnis  zu  zweifeln.  Auf- 
fällig ist  überhaupt  nur,  daß  der  Boreas  so  weit,  bis  30®  von 
Ost,  verschoben  ist,  nicht  daß  er  seine  Stelle  hat  räumen  und 
in  dieser  Richtung  ausweichen  müssen.  Die  Verschiebung  der 
zwei  Kardinalwinde  Boreas  und  Euros  im  Sinne  des  Uhr- 
zeigers ist  ja  eine  altbekannte  Sache,  und  auch  nach  Motiven 
für  die  Verschiebung  hat  man  längst  gefragt  (vgl.  z.  B.  Ukert 
a.  a.  0.    S.  132).     Sicher  scheint  mir,   daß  man  es  mit  einem 

Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  u.  d.  bist.  Kl.  Jahrg.  19 1 6,  3.  Abb.  3 


L 


34  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

einheitlichen  Vorgang  und  mit  dem  Ergebnis  gelehrter,  nicht 
von  vornherein  volkstümlicher  Betrachtungsweise  zu  tun  hat; 
äjiaQXTiag  und  änrjXiayxrjg  sind,  wie  oben  S.  23  f.  bemerkt,  Neu- 
schöpfungen, die  den  Wind  vom  Nordpunkt  und  den  vom  Ost- 
punkt bezeichnen  wollen;  irgendwie  mußten  also  die  alten,  all- 
gemeineren Bezeichnungen  weichen;  gänzlich  beseitigen  wollte 
man  sie  nicht,  also  mußten  diese  Winde  seitlich  verschoben 
werden.  Das  hat  am  resolutesten  der  Schöpfer  der  hier  be- 
handelten achtstrich  igen  Rose  getan,  indem  er  beide  zu  Seiten- 
winden des  reinen  Ostwindes  machte.  Daß  dabei  der  evQog  zum 
OSO  wurde,  wird,  da  Winde  aus  dieser  Richtung  für  das  grie- 
chische Gebiet  nur  eine  geringe  Rolle  spielen^),  die  sekundäre 
Erscheinung  sein,  während,  wie  bekannt,  nordöstliche  Winde 
—  die  Etesien  gehören  ja  auch  dazu  —  in  Griechenland  ganz 
außerordentlich  häufig  sind^).  Hier  hatte  der  populäre  Sprach- 
gebrauch wohl  sicher  der  gelehrten  Theorie  schon  vorgearbeitet. 
Typisch  ist  dafür  eine  schon  immer  berücksichtigte  Herodot- 
stelle  (VII  188  s.):  der  Wind,  der  die  Perserflotte  an  der  Ost- 
küste  der  Halbinsel  Magnesia  zwischen  Kasthanaie    und    dem 


*)  Von  den  Verhältnissen  loniens  wäre  auszugehen;  die  einzige  ein- 
schlägige Beobachtungsreihe,  in  A.  Mommsens  Griech,  Jahreszeiten 
S.  449,  bezieht  sich  auf  Smyrna;  darnach  sind  dort  0  und  SO  zusammen 
etwa  gleich  häufig  wie  NO  allein.  Für  Athen  vgl.  die  Tabellen  A.  Momm- 
sens, Griech.  Jahreszeiten  S.  130,  und  bei  Neumann-Partsch,  Physik. 
Geogr.  V.  Griechenl.  S.  125,  für  das  übrige  Griechenland  die  lehrreichen 
Diagramme  und  Tabellen  bei  A.  Stange,  Versuch  einer  Darstellung 
der  griech.  Windverhältnisse  und  ihrer  Wirkungsweise,  Leipziger  Diss. 
Meißen  1910,  S.  13ff.,  50  ff.,  180  ff.  (dazu  neuestens  für  Alexandreia 
Hellmann,  Sitz.-Ber.  Akad.  Berlin  1916  S.  336).  In  den  Parapegmen 
fehlen  östliche  Winde  bei  Ps.-Gem.  ganz,  Hipparch  bei  Ptol.  Phas.  nennt 
nur  den  äjirjhdixrjg  (31.  VIII.  10.  X.  16.  I.  25.  I.  12.  II.),  nie  den  svQog, 
nur  die  Alyvjirioi  des  Ptol.  haben  den  svQog  (9.  XI.  15.  XL  22.  I.)  und 
den  ajiriXi(oxrig  (18.  IX.  12.  IL  17.  V.). 

2)  Vgl.  die  in  der  vorigen  Anm.  genannten  Autoren.  In  Athen  ist  nach 
Neumann-Partsch  —  mit  ziemlich  gleichmäßiger  Verteilung  auf  das 
Jahr  —  NO  fünfmal  so  häufig  als  N.  Für  das  übrige  Griechenland  gilt  das 
allerdings  nicht  in  gleichem  Maße.  Aber  interessant  ist,  daß  hier  Smyrna 
genau  so  wie  Athen  steht  (N  5,2,  N  0  26,5,  der  weitaus  häufigste  Wind) ! 


Griechische  Windrosen.  35 

Vorgebirge  Sepias  heimsucht,  heißt  nach  Herodot  Hellespontias 
bei  den  Einwohnern  jener  Gegend  und  wird  von  Herodot  als 
ävEjuog  ä7tr]Xi(j0Tr}g  bezeichnet,  was  für  einen  Wind  vom  Hel- 
lespont  in  jener  Gegend  beinahe  zutrifft,  —  für  die  Athener 
aber  ist  er  ihr  „Schwiegersohn"  Boreas!  So  erklärt  sich  in 
diesem  Falle  in  der  Tat  alles  aufs  einfachste,  wenn  man  nicht 
etwa  auch  Antwort  auf  die  Frage  sucht,  warum  der  Schöpfer 
des  neuen  Windsystems  nicht  wenigstens  auch  noch  den  Ze- 
phyros  verschoben^),  sondern  hier  den  nördlichen  Nachbar 
durch  Abspaltung  aus  dem  Kardinalwind  gewonnen  hat. 

Wichtiger  als  alle  Einzelergebnisse  und  Einzelerklärungen 
scheint  mir  nun  aber  die  Tatsache  zu  sein,  daß  wir  durch  ti. 
eßd.  ein  wohlfundiertes  ionisches  Windsystem  des  Y.  Jahr- 
hunderts bezeugt  erhalten.  Wenn  wir  jetzt  fragen:  warum 
hat  der  Verfasser  von  neql  äegcov  nicht  dieses  System  benützt, 
so  kann  man  freilich  antworten:  er  hat  es  vielleicht  nicht  ge- 
kannt; aber  wenn  wir  nun  auch  Aristoteles  als  Zeugen  für 
die  ionische  Windrose  vernehmen,  so  liegt  die  Antwort  näher: 
das  eben  besprochene  Achtwindesystem  war  nicht  das  einzige, 
es  hat  einen  Konkurrenten  gehabt,  dem  gegenüber  es  sich 
nicht  durchsetzen  konnte.  Dieser  Konkurrent  war  allerdings 
nahezu  identisch,  aber  gerade  bei  den  wichtigen  nördlichen 
Winden  bestand  eine  Differenz;  der  nördliche  Nebenwind  des 
Apeliotes  war  in  ihm  der  Kaikias,  der  Boreas  aber  war  als 
allgemeinerer  Name  des  Nordwindes  neben  dem  neuen  Apark- 
tias  erhalten.  So  stellt  sich  die  Sachlage  bei  Aristoteles  dar^); 
die  geringere  Konsequenz,  eine  halbe  Rückkehr  zum  home- 
rischen System,  scheint  mir  diese  Rose  als  jünger  zu  charak- 
terisieren gegenüber  der  in  ji.  eßd.  vorausgesetzten.    Zu  diesen 


^)  Das  ist,  nur  im  Lateinischen,  ganz  am  Ende  des  Altertums  ge- 
schehen bei  Veget.  IV  38;  als  Äquivalent  des  ^£(pvQog  ist  dort  ein  nach 
Analogie  von  subsolanus  =  d.-ir]?u(orr]g  gebildeter  subvespertinus  zu  finden 
und  der  faconius,  ursprünglich  —  ^ecpvQog,  hat  nordwärts  ausweichen 
müssen  und  ist  dem  idnv^  gleichgesetzt. 

2)  Über  die  entfernte  Möglichkeit,  daß  der  Sachverhalt  doch  etwas 
anders  war,  s.  u.  S.  45. 


I 


36  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

zwei  ionischen  Windrosen  kommt  nun  endlich  noch,  gleich- 
falls aus  Aristoteles  zu  erschließen,  eine  dritte,  noch  reichere, 
die  auf  anderen  Prinzipien  aufgebaut  ist.  Wer  nach  Gemein- 
verständlichkeit strebte,  hatte  also  wahrlich  allen  Grund,  bei 
Angabe  der  Himmelsgegenden  Windnamen  zu  meiden. 

3.   Aristoteles. 

Mit  dem  eben  Gesagten  habe  ich  das  Ergebnis  der  Ana- 
lyse des  aristotelischen  Windsystems  in  Meteor.  II  6  vorweg 
genommen.  Längst  bin  ich  überzeugt,  daß  bei  Aristoteles  eine 
nicht  zu  rechtfertigende  Kontamination  zweier  Prinzipien  der 
Horizontteilung  vorliegt.  Eigentlich  hat  das  schon  Olympiodor 
gesehen,  der  in  gewohnt  breiter  Erörterung  (p.  185,  8  ss. 
187,  15  SS.  St.)  das  aristotelische  System  entwickelt,  wenn  er 
in  der  ersten  der  Aporien,  die  er  aufstellt,  auseinandersetzt, 
daß  der  arktische  und  antarktische  Kreis,  von  denen  der  erstere 
bei  Aristoteles  in  die  Erörterung  gezogen  ist,  den  Horizont 
nur  in  einem  Punkte  berühren  und  somit  nur  10  oder  vielmehr 
nur  8  Punkte  des  Horizonts  statt  12  zur  Fixierung  von  Winden 
gegeben  sind.  Er  hilft  sich  p.  188,  2  ss.  aus  der  Schwierig- 
keit auf  ganz  ähnlichem  Wege,  wie  wir  ihn  zu  beschreiten 
haben,  aber  er  läßt  freilich  unausgesprochen,  daß  die  Horizont- 
teilung nach  Auf-  und  Untergangsörtern  der  Sonne  gänzlich 
unvereinbar  ist  mit  der  zur  Gewinnung  der  vier  neuen  Punkte 
von  ihm  vorgeschlagenen  Projektion  des  der  Horizontebene 
parallelen  Durchmessers  der  arktischen  Kreise  auf  den  Horizont. 
Seine  Lösung  bringt  also  keine  wirkliche  Klarheit.  Von  den 
Neueren  ist  Müllenhoff,  Deutsche  Altertumskunde  I  S.  257, 
dem  Richtigen  erstaunlich  nahe  gewesen,  indem  er  sagt,  Ari- 
stoteles „scheine  bei  seiner  Anordnung  eine  Planisphäre  im 
Sinne  oder  vor  Augen  gehabt  zu  haben,  auf  der  der  Arcticus 
seine  festbestimmte  Stelle  zwischen  dem  Pole  und  Wendekreise 
einnahm."  Aber  andrerseits  nimmt  er  zu  Unrecht  an,  bei  den 
Solstizialpunkten  denke  Aristoteles  an  Punkte,  die  24^  vom 
Ost-  und  Westpunkt  entfernt  liegen.  Das  hat  Berger,  Gesch. 
d.  wiss.  Erdk.  S.  284  richtig  gestellt  und  er  hat  nach  späteren 


Griechische  Windrosen.  37 

Zeugnissen,  die  uns  noch  beschäftigen  werden,  S.  430  f.  das 
System,  das  ich  für  das  zweite  aristotelische  halte,  sachlich 
richtig,  wenn  auch  mit  etwas  rätselhaften  Worten  (ich  führe 
sie  unten  S.  59  A.  1  an)  charakterisiert.  Aber  auch  er  hat  aus 
dem  vielleicht  geahnten,  aber  nicht  erkannten  Widerspruch  bei 
Aristoteles  nicht  die  nötigen  Folgerungen  gezogen.  Die  letzten 
Bearbeiter  der  aristotelischen  Windlehre  vollends,  —  Gilbert 
S.  544  ff.,  Steinmetz  S.  35  — ,  scheinen  bei  Aristoteles  ernst- 
liche Schwierigkeiten  überhaupt  nicht  zu  sehen. 

Aber  zweckmäßiger  als  Polemik  gegen  die  Vorgänger  wird 
es  sein,  den  ganzen  Abschnitt  durchzuinterpretieren,  wenn  dabei 
auch  im  einzelnen  kaum  Neues  herauskommt.  Aristoteles 
legt  seiner  Erörterung  eine  Zeichnung  zugrunde,  welche  die 
Anordnung  der  Winde  am  Horizont  zeigt:  yiyqanxai  juev  ovv 
Tov  fxäXXov  evoijjucog  e'xsiv  6  rov  öglCoviog  xvxXog.  Es  ist  reich- 
lich entgegenkommend  gegenüber  dem  Leser,  daß  Aristoteles 
hinzufügt:  dio  xal  oxqoyyvXog.  Dann  aber  fährt  er  fort:  bei 
bh  voeiv  avTov^)  rö  exsQov  sy.TjU7]jua  t6  vcp^  ^juajv  oixovfisvov 
eorai  ydg  xäxslvo  bieXsTv  rov  aviov  tqotiov,  d.  i. :  „Man  muß 
aber  unter  dem  Horizont,  der  hier  gezeichnet  (und  in  der  Zeich- 
nung geteilt)  ist,  den  einen,  von  uns  bewohnten  Ausschnitt 
(aus  der  Erdkugel)  verstehen ;  denn  auch  den  andern  wird  man 
auf  gleiche  Weise  teilen  können."  Die  Worte  an  sich  sind 
durchaus  verständlich;  sie  beziehen  sich  auf  die  Ausführungen 
in  n  5  (p.  362  a  32  ss.),  auf  die  umständliche  Beweisführung, 
durch  die  Aristoteles  klar  zu  machen  sucht,  daß  der  Südwind 
nur  vom  nördlichen  Wendekreis,  nicht  vom  Südpol  herkommt; 
er  entwickelt  dort,  daß  durch  die  auf  die  Erde  übertragenen 
Parallelkreise  des  Himmels,   arktischen  Kreis  usw.,    zwei  rjurj- 


1)  avtov  codd.  HN,  avzov  EF.  Die  Herausgeber  schreiben  avzov, 
was  mir  völlig-  sinnlos  scheint;  denn  um  einen  Ausschnitt  aus  dem  Hori- 
zont handelt  es  sich  unter  gar  keinen  Umständen;  auch  bewohnen  wir 
keinen  Ausschnitt  aus  dem  Horizont.  Übrigens  hat  auch  Alexander  avrov 
gelesen,  da  er  schreibt  (p.  107,2  H.):  SsT  de  vosTv  rovxov  rov  xaxaysyQafi- 
[xsvov  OQi^ovra  fxrj  wg  7idof]g  xrjg  yfjg  ögi^ovra,  dXX^  (bg  xov  exT^rj[i.axog  rfjg 
Y^g  TOV  xatd  rrjv  fj^iexEQav  oixov/nsvrjv,  o  ovxsx*  dv  Sit]  xvxXog^ 


38  3.  Abhandlung:  AlberJ  Rehm 

fxaTa   oder  (p.  362  b  5)   extjui^juaTa    bewohnbarer  Erdoberfläche 
hergestellt  werden^),  —  Zonen  würden  wir  mit  dem  späteren, 


^)  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  diese  Teilung  den  festen  Polarkreis, 
der  durch  den  Ekliptikpol  beschrieben  wird,  eigentlich  voraussetzt; 
es  liegt  aber  ebenso  auf  der  Hand,  daß  Aristoteles,  der  vom  Polarkreis 
als  dem  dca  jiavxog  qpavsQog  redet,  nicht  den  Polarkreis  in  unserem  Sinne 
meint,  was  Ideler  in  der  Ausgabe  I  S.  564  fordert,  als  wäre  es  selbst- 
verständlich; s.  dagegen  Müllenhof f,  Deutsche  Altert.-K.  I  S.  235  A.  — 
Die  Polemik  des  Poseidonios  bei  Strabon  11  p.  94  s.  ist  völlig  berechtigt. 
Aristoteles  und  noch  Polybios  (Strab.  II  p.  97)  begnügen  sich  eben  inkon- 
sequenter Weise  mit  einem  sozusagen  an  den  Himmel  und  von  da  wieder 
auf  die  Erde  zurückprojizierten  Polarkreis,  der,  da  er  nun  einmal  zur 
Verständigung  über  einen  allgemein  gebrauchten,  aber  wandelbaren  Be- 
griff dienen  sollte,  nur  konventionell  ist;  für  Aristoteles  etwa  der  Breite 
von  Athen  entsprechend  (37^  58',  nach  Hipparch  (In  Arat.  p.  28,  27  M.) 
aber  nur  37®),  für  Dikaiarch  nach  Berg  er  s  unsicherer  Vermutung  (Gesch. 
der  wiss.  Erdk.  S.  373)  der  von  Lysimacheia,  für  Eratosthenes  nach 
Bergers  diesmal  einleuchtenden  Kombinationen  (Fragm.  d.  Eratosth, 
S.  74  A.  4.  S.  108  ff.)  der  von  Rhodos,  welcher  das  Verhältnis  der  drei 
Bogen  des  Meridianquadranten  zwischen  Äquator,  Wendekreis,  Polar- 
kreis, Pol  zu  4:5:6  ergab,  sich  also  durch  Einfachheit  empfahl  und  uns 
deshalb,  wohl  vermittelt  durch  Poseidonios,  vielfach  bezeugt  ist  (Gem. 
p.  58, 21  SS.  166, 4  ss.  Macrob.  Somn.  Scip.  II  6.  Manil.  1  566  ss.  Hyg.  Astr.  1 6. 
Achill.  Isag.  p.  59.  64  M.;  eine  Spur  auch  bei  Strabon  II,  p.  113  extr., 
und  bei  Galen-Oreibasios  IX  7,  wovon  im  6.  Abschnitt  eingehend  zu 
handeln  sein  wird).  Wie  wenig  genau  es  die  populäre  Betrachtungs- 
weise bei  alledem  nahm,  zeigt  Geminos,  neben  dessen  eben  verzeichneter 
Bestimmung  des  aQxrixog  friedlich  p.  44,  9  eine  andere  steht,  die  auf  eine 
Breite  von  37®  (also  Athen)  führt  und  für  die  ganze  xa-d''  rjfxäg  otxovfisvr) 
gelten  soll  (s.  dazu  die  inhaltreiche  Anmerkung  von  Manitius  S.  258).  — 
Der  populärwissenschaftlich  arbeitende  Astronom  zeichnet  auf  seinem 
Globus  einen  Polarkreis  entsprechend  der  Breite  seines  Beobachtungs- 
ortes ein  (Leontios  b.  Maaß,  Comm.  in  Ar.  rel.  p.  565,  24)  und  dem  Ent- 
sprechendes bieten  auch  alle  mir  bekannten  Abbilder  von  Globen  (vgl.  die 
Zusammenstellung  bei  Weinhold,  Die  Astron.  in  d.  ant.  Schule,  Diss. 
München  1912,  S.  69  f.).  Sowohl  der  Globus  Farnese,  an  dem  sich  der  Pol- 
abstand des  oLQxxixog  recht  genau  müßte  bestimmen  lassen  —  reichlich 
30®  sind  es  gewiß  — ,  wie  die  Hemisphären  des  cod.  Vat.  gr.  1291  (Boll, 
Sitz.-Ber.  Akad.  München  1899  S.  118  ff.)  mit  etwa  41®  zeichnen  einen 
äQxxiHÖg  und  avTaQXTixog,  der  sicherlich  als  der  „arktische  Kreis"  in  griechi- 
schen Breiten,  nicht  als  unser  Polarkreis  gemeint  ist;  so  wird  man  denn 
auch  von  den  Planisphären  des  cod.  Vat.  gr.  1087,  die  ich  hier  als  Fig.  3.  4 


<r 


7^' 

"^ 

;•)      ^' 

r) 

f^ 

^     %: 

4 

Fig.  3 

f 


40  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

erst  seit  Autolykos  II  5  p.  114,  10  H.^)  gebräuchliclien  Aus- 
druck sagen.  Es  ist  auch  logisch  und  nicht  überflüssig,  wenn 
Aristoteles  dem  Leser  mitteilen  will,  daß  der  Horizontkreis, 
den  er  nun  mit  Winden  ausstattet,  nur  für  die  nördliche  ge- 
mäßigte Zone  gilt,  da  man  nach  früherer  Darlegung  in  der 
südlichen  alles  im  Gegensinn  anzunehmen  hat;  aber  er  durfte 
natürlich  nicht  sagen,  daß  dieser  Kreis  die  Zone  ist  oder  dar- 
stellt oder  vertritt  —  oder  wie  man  sonst  dsi  voeXv  deuten  mag. 
Hier  zeigt  sich  Aristoteles  im  Ausdruck  doch  noch  einiger- 
maßen gebunden  durch  die  Lehre  vom  festen  Horizont,  die  ja 
in  der  wunderlichsten  Weise  auch  Meteor.  II  1,  14. 15  p.  354  a 
durchschlägt^),  und  durch  die  Vorstellung  des  allgemein  gül- 
tigen Horizontes  der  runden  Erdkarte,  über  die  er  sich  doch 
II  5,  13  p.  362  b  12  lustig  macht,  während  er  seine  Teilung 
I  13,  19  p.  350  b  1  {(fj  IIvQ^vrj)  ioüv  ögog  Jtgdg  dvofirjv  lorj- 
jusQivrjv  ev  xrji  KeXnxfji)  unbefangen  zur  Orientierung  benützt 
hat.  Dazu  paßt  gut,  daß  Aristoteles,  der  ja  natürlich  weiß, 
daß  sich  die  Polhöhe  bei  Ortsveränderung  in  nördlicher  oder 
südlicher    Richtung    ändert    (vgl.    Uegl    ovQavov    p.  297  b  34, 


abbilde,  urteilen  müssen,  wenn  schon  hier  der  Polabstand  von  45''  eine 
verständnislose  Schematisierung  zeigt.  Der  wissenschaftlich  arbeitende 
Ptolemaios  verzichtet  auf  beide  Gattungen  dieser  Kreise  (Synt.  Vlll  3); 
in  der  Geogr.  VII  6  bietet  der  Text  weder  in  dem  einen  noch  in  dem 
anderen  Sinne  einen  Anhalt,  während  die  Abbildung  bei  Nobbe  unsere 
Polarkreise  gibt.  —  Für  unsere  weitere  Untersuchung  ist  bestimmt  daran 
festzuhalten,  daß  die  Bezeichnung  aQXTixog  {septentrionalis)  allein  dem 
wandelbaren  Polarkreis,  dem  , arktischen  Kreis",  zukommt.  Bezeichnet 
doch  Poseidonios  bei  Strabon  II  p.  136  (auch  p.  95.  114)  und  bei  Kleo- 
medes  (I  7  p.  68,  20)  den  , festen  Polarkreis"  als  den  Kreis,  dessen  Be- 
wohner s'xovoiv  oLQXTixov  xov  TQOJiixöv ,  ciuc  Ausdruckswcisc ,  die  man 
vielleicht  schon  dem  Pytheas  zuschreiben  darf.  Wollte  man  ihn  sonst  be- 
zeichnen, so  stand  der  späteren  Zeit  auch  die  Charakterisierung  durch  die 
Schattenverhältnisse  (als  Grenze  der  nsgioxioi)  zur  Verfügung.  Einen  ein- 
fachen Terminus  technicus  für  ihn  gibt  es  im  Altertum  überhaupt  nicht. 

1)  Vgl.  Berger  S.  197  A.  1. 

2)  Die  Stelle  war  Berg  er  unerträglich  (Fragm.  d.  Eratosth.  S.  63. 
Gesch.  d.  wiss.  Erdk.  S.  80  A.  1);  es  ist  aber  klar,  daß  sie  am  oben 
behandelten  Abschnitt  eine  starke  Stütze  hat. 


Griechische  Windrosen.  41 

Meteor.  II  7,  3  p.  365  a  29),  der  also  auch  wissen  müßte,  daß 
die  Solstizialpunkte  am  Horizont  beweglich  sind,  kein  Wort 
von  diesem  Phänomen  sagt^).  Gab  er  den  festen  Horizont  auf, 
so  wäre  es  konsequent  gewesen,  auch  auf  diese  Punkte  zur 
Bestimmung  der  Winde  zu  verzichten.  Daß  er  sie  beibehielt, 
ist  ein  Zeichen  dafür,  daß  seine  Kritik  hier  nicht  auf  den 
letzten  Grund  geht.  Aber  wenn  er  von  einem  nördlichen 
Horizontkreise  redet,  dem  ein  südlicher  entspricht,  so  verrät 
das  doch  die  Absicht,  den  natürlichen,  wandelbaren  Hori- 
zont zugrunde  zu  legen.  —  Auf  dieser  Horizonttafel  bringt  er 
nun  zunächst  an  den  jetzt  schon  so  oft  behandelten  acht  Punkten 
die  Winde  l^e(pvQog  —  äjirj hcoTtjg,  ßogeag  {6)  xai  äjiagxTiag 
(o  add.  Steinmetz  S.  38)  —  vozog,  xaixtag  —  Xitp,  evgog  — 
äQyeozrjg  (=  ölvjujiiag,  oxIqwv)  an^).  Nach  dem  Gesagten 
haben  wir  die  Solstizialpunkte  hier  als  die  natürlichen  maxi- 
malen Morgen-  und  Abendweiten  zu  betrachten,  also  rund  30^ 
vom  0-  und  W- Punkt  abstehend,  nicht  24°,  wie  es  bei  dem 
(weiterhin  ausführlich  zu  behandelnden)  System  der  Fall  wäre, 
an  das  Müllenhoff  denkt. 

Aristoteles  kennt  dieses  System,  aber  das  Eigentümliche 
ist  eben,  daß  er  sich  ihm  nicht  anschließt;  das  dürfen  wir 
für  die  östlichen  und  westlichen  Winde  um  so  getroster  be- 
haupten, als  er  es  sogar  da,  wo  es  neue  Punkte  der  Lokali- 
sierung liefert,  ablehnt,  bei  den  nördlichen  und  südlichen  Winden. 
Anders    kann    man    p.  363  b  27  ss.    wahrhaftig    nicht    deuten. 

*)  Er  steht  da  wohl  unbewußt  unter  dem  Einfluß  der  unmittelbar 
vorher  bekämpften  Theorie  von  der  Herkunft  des  vörog,  die  ja  eben  dem 
ionischen  Erdbild  entspricht.  Diese  Theorie,  ausführlich  vertreten  in 
nsgl  öiairrjg  c.  38  (VI  p.  532  L.),  hat  Fredrich,  Hippokrat.  Unters.  S.  165, 
gestützt  auf  die  Zeugnisse  über  die  Nilschwellentheorie  des  Anaxagoras 
(Dielsl^'3  n.  46  A91.  42,5),  überzeugend  diesem  zugewiesen.  Also  wird 
auch  die  Windtafel  in  ihrem  Kern  auf  Anaxagoras  zurückgehen. 

^)  Es  ist  auffällig,  welches  Gewicht  Aristoteles  in  diesem  Teile  der 
Darstellung  darauf  legt,  daß  die  Gegenwinde  einander  xaiä  didfisrgov 
entgegenwehen  müssen.  "Er  kannte  wohl  eine  Theorie,  welche  Euros 
und  Lips,  Kaikias  und  Argestes  als  Gegenwinde  bezeichnete,  wie  das 
später  vorkommt  (bei  Favorin-Gellius  II  22,  12;  s.  u.  Abschnitt  6). 


L 


42 


3.  Abhandlung-: 


Albert  Rehm 


Aristoteles  setzt  dort  mit  der  etwas  zufälligen,  sogar  nur  halb- 
richtigen Anknüpfung  ein :  exsqol  d''  eloiv  (ävejuoi),  xad'''  ovg 
ovK  eoTLv  evavTia  jivevjuara.  Man  sollte  eigentlich  erwarten, 
daß  zuerst  die  Punkte  bestimmt  würden,  von  denen  sie  aus- 
gehen, aber  erst  nachträglich  wird  uns  gesagt,  daß  diese  Punkte 
in  der  Mitte  zwischen  Argestes  und  Aparktias,  Aparktias  und 
Kaikias  liegen.  Daß  Aristoteles  durch  diesen  Ansatz  annähernd 
ein  reguläres  Zwölfeck  (s.  Fig.  5)  erhält,  hat  Genelli  S.  469  ff. 
erkannt;  Berg  er,  der  sich  ihm  S.  284  anschließt,  irrt  insofern, 
als  er  die  Figur  schon  den  loniern  zuschreibt.  Nach  der  hier  ge- 
gebenen Analyse  ist  sie  gerade  die  Erfindung  des  Aristoteles. 


Fig.  5. 

Nur  kann  sich  dieser  wiederum  nicht  ganz  von  der  Tradition 
freimachen.  Er  ist  inkonsequent,  wenn  er  nun  doch  das  Be- 
dürfnis fühlt,  die  neuen  Punkte  mit  ganz  anders  bestimmten, 
die  er  in  Wahrheit  gar  nicht  brauchen  kann,  in  Beziehung  zu 
setzen.  So  ist  der  Satz  „"^  Se  rov  IK  didjusTQog  ßovXezai  juev 
xard  Tov  diä  navxbg  (paivo^erov,  ovx  dxQißot  de^  eine  Schlimm- 


Griechische  Windrosen.  43 

besserung,  die  sich  allein  daraus  erklären  läßt,  daß  Aristoteles 
eine  Windtafel  kannte,  aber  sich  nicht  zu  eigen  machen  wollte, 
in  der  dieser  Kreis  eben  als  Teilungsprinzip  diente.  Das  ist 
dann  aber  eine  andere,  als  diejenige,  welcher  er  bei  den  öst- 
lichen und  westlichen  Winden  folgte.  Wenn  er  ihr  bei  diesen 
gefolgt  wäre,  was  hätte  ihn  denn  veranlassen  sollen,  die  Neben- 
winde von  N  und  S  gerade  in  die  Mitte  zwischen  dem  Pol 
und  den  Solstizialpunkten  zu  setzen?  Eine  gleichmäßige  Hori- 
zontteilung war  ja  dann  damit  doch  nicht  erreicht! 

Mit  dem  natürlichen  Horizont  verträgt  sich  die  zweite 
Windrose  durchaus  nicht;  denn  ihn  schneidet  ja  der  „immer 
sichtbare  Kreis"  (den  „arktischen"  nenne  ich  ihn  weiterhin  mit 
Berg  er)  nicht,  sondern  berührt  ihn  nur,  eben  im  Nordpunkt. 
Die  neuen  Punkte  gehören  in  ein  System,  in  welchem  an  die 
Stelle  der  maximalen  Morgen-  und  Abend  weiten  die  Abstände 
der  Wendekreise  vom  Äquator  treten;  es  stellt  also,  modern 
gesprochen,  eine  Projektion  der  Parallelkreise  auf  den  Meridian- 
kreis dar  oder,  um  dem  Zwecke,  dem  es  dient,  näher  zu  bleiben, 
eine  Projektion  der  Parallelkreise  auf  einen  größten  Kreis  der 
Himmels-  oder  Erdkugel,  den  man  durch  Nord-  und  Südpol 
und  Ost-  und  Westpunkt  legt.  Dieser  Kreis  wird  dann  durch 
Drehung  um  den  Ost-Westdurchmesser  auf  die  Horizontebene 
gelegt. 

Das  Verfahren  der  Horizontteilung,  wie  ich  es  hier  be- 
schreibe, ist  nun  freilich  völlig  widersinnig.  Indes  dürfen  wir 
gewiß  nicht  annehmen,  daß  die  Projektion  von  ihrem  Urheber 
so  vollzogen  worden  ist,  wie  wir  sie  eben  entwickelt  haben, 
wenn  auch  die  Vorstellung  von  einer  Drehung  des  Horizont- 
kreises oder  des  Himmelspoles  um  die  Ost-Westachse  den  loniern 
an  und  für  sich  recht  nahe  liegt,  indem  bekanntlich  Empe- 
dokles,  Anaxagoras,  Diogenes  von  Apollonia,  Leukipp-Demokrit 
durch  eine  solche  Bewegung  die  Tatsache  glauben  erklären  zu 
können,  daß  für  uns  der  Nordpol  nicht  im  Zenith  liegt  (vgl. 
Berg  er  S.  80).  Vielmehr  werden  wir  bei  dem  Schöpfer  der 
„Meridianprojektion",  wie  schon  Müllenhoff  gesehen  hat,  die 
unklare  Vermengung.  des  Bildes  der  Erdscheibe  und  der  Erd- 


44  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

kugel  anzunehmen  haben,  die  bei  Aristoteles  mehrfach  fest- 
zustellen war.  Die  Meridianprojektion  ergibt  sich  unmittel- 
bar, wenn  man  an  die  Stelle  der  altionischen  Erdscheibe 
die  planisphärische  Darstellung  unserer  Globushälfte 
setzt.  Das  Unlogische  ist  dann  nur,  daß  man  den  Rand 
dieser  Hemisphäre  mit  dem  Horizont  gleichsetzt.  Mit  aller 
Deutlichkeit  gibt  uns  das  Verfahren  ein  Zeuge  spätester  Zeit 
an,  Macrobius,  Somn.  Scip.  H  6,  7  (er  redet  von  der  Darstellung 
der  Zonenteilung,  die  auf  der  östlichen  und  westlichen  Halb- 
kugel gleich  ist) :  „Modo  enim,  quia  orhem  terrarum  in  piano 
pinximus,  in  piano  autem  medium  exprimere  non  possumus 
sphaeralem  tumorerriy  mutuati  sumus  altitudinis  intellectum  a  cir- 
culo,  qui  magis  horizon  quam  meridianus  videtur^,  d.  h.  „ich 
sollte  eigentlich  die  Teilung  am  mittleren  Meridian  anzeichnen, 
der  am  Globus  plastisch  gegen  den  Beschauer  heraustritt;  da 
in  der  Planisphäre  dieser  als  Gerade  erscheint,  bezeichne  ich 
die  Teilung  am  Rande,  der  freilich  mehr  wie  der  Hori- 
zont als  wie  der  Meridian  aussieht".  Das  schärft  dann 
Macrobius  durch  den  folgenden  Satz  ein,  den  ich  hier  nicht 
wiederzugeben  brauche.  Und  richtig  verdrängt  bei  Macrobius 
weiterhin  die  Vorstellung  des  Horizonts  die  des  Meridians  so 
sehr,  daß  er  c.  9,  4  von  den  sich  kreuzenden  Ozeanarmen  den 
einen  bezeichnet  als  denjenigen,  qui  aequinocüalem,  den  andern 
als  den,  qui  horisontem  circulum  amhitu  suae  flexionis  imitatur. 
In  der  Geographie  ist  also  das  Quidproquo  zu  Hause.  Es 
kann  entstanden  sein,  so  bald  man  anfing,  die  Erde  als  Kugel 
zu  betrachten  und  darzustellen,  also  lange  vor  Aristoteles^). 
Erfreulich  ist,  daß  sich  auch  bei  diesem  eine  Spur  davon  findet, 
daß  die  Projektion  mit  einer  Erdkarte  zusammenhängt;  denn 
bei  Anführung  der  durch  sie  fixierten  Winde  bemerkt  er  c.  6,  9 
p.  364  a  2  von  dem  aus  SSO  wehenden  Winde :  ov  xaXovoiv 
ol  tieqI  tov  xonov  exeXvov  cpoivixlav.  Eben  diese  Stelle  ist 
uns  ein  weiteres  Anzeichen  dafür,  daß  bei  Aristoteles  wirklich 


1)  Zuerst  bei  den  Pythagoreern  (B er g er  S.  171  ff.  Gilbert  S.  282 f.; 
das  Material  und  weitergehende  Hypothesen  bei  Röscher,  Abh.  d.  sächs. 
Ges.  d.  Wiss.  28  (1911)  S.  71). 


Griechische  Windrosen.  45 

zwei  verschiedene,  ursprünglich  selbständige  Windsysteme  mehr 
nebeneinander  gestellt  als  zusammengearbeitet  sind :  im  zweiten 
System  erwähnt  er  den  Phoinikias  an  derselben  Stelle,  die, 
freilich  noch  nicht  geometrisch  bestimmt,  im  ersten  den 
evQÖvoTOL  zugewiesen  war,  ohne  an  der  zweiten  Stelle  irgend 
auf  die  erste  zurückzuweisen.  Der  svQovoTog  ist  sicher  im 
Meridiansystem  nicht  vorgekommen,  da  das  System  das  Schema 
für  zwölf  Winde  bietet,  aber  die  Stelle  zwischen  Xiip  und  vorog 
frei  läßt.  Hätte  sein  Autor  einen  evqovoxoq  gekannt  oder  be- 
rücksichtigen wollen,  so  würde  er,  dazu  bedurfte  es  wahrlich 
keiner  Genialität,  sicherlich  den  hßovoTog  hinzuerfunden  haben. 
Es  ist  aber  augenfällig,  daß  der  Autor  des  Meridiansystems 
als  Zuwachs  nur  schon  örtlich  verbreitete  Namen  bringen 
wollte;  (poiviKiag  wird,  wie  schon  erwähnt,  von  Aristoteles 
selbst  als  Lokalname  eingeführt,  juearjg  ist  uns  als  solcher  durch 
das  Fragment  ävejucov  d'eoeig  (das  unten  ausführlich  behandelt 
wird)  bezeugt,  d^gaomag^  das  man  leider  nicht  in  das  so  nahe 
liegende  ^gatxiag  abändern  darf,  ist,  gerade  weil  das  Wort 
sich  so  hartnäckig  gegen  Erklärung  sträubt^),  sicher  auch 
Lokalname.  Da  uns  Aristoteles  das  neue  System  nur  als  Er- 
gänzung des  wahren  Horizontsystems  vorführt,  so  können  wir 
nicht  wissen,  welche  Namen  es  in  seiner  hier  vermuteten  ur- 
sprünglichen Selbständigkeit  für  die  acht  andern  Winde  auf- 
wies. Die  Versuchung  liegt  nahe,  die  vorher  von  Aristoteles 
angeführten  Doppelbenennungen  unter  die  zwei  Systeme  auf- 
zuteilen, wie  es  denn  beispielsweise  angängig  wäre,  den  ßogeag 
dem  Horizontsystem  zu  belassen,  den  äjtaQxriag  ins  Meridian- 
system herüberzunehmen ;  aber  all  das  ist  viel  zu  unsicher,  als 
daß  es  mehr  als  Phantasiespiel  wäre. 

Noch  bleibt  uns  eine  Frage,  die  nicht  Aristoteles  und 
seine  Vorlagen,  sondern  alle  ionischen  Windsysteme  betrifft, 
abgesehen  von  jzeqI  äegcov ;  daß  dieser  Schrift  das  Windsystem 
in   71.  eßd.   und    die    zwei    aristotelischen    als    eine    bei    allen 


^)  Die  Vermutung  von  Maaß,  daß  es  der  Wind  von  Tarasco  sei, 
zuletzt  verfochten  von  C.  Ruehl,  De  Graecis  ventorum  nominibus  et 
fabulis,   Diss.  Marburg  1909,  S.  28,  hat  viel  gegen  sich  und  wenig  für  sich. 


46  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

Verschiedenheiten  unter  sich  doch  im  ganzen  gleichheitliche 
Gruppe  gegenüberstehen,  ist  oben  schon  angedeutet  (S.  27.  35  f.); 
es  sind  die  Systeme,  die  auf  Vermehrung  der  Windnamen  aus- 
gehen. Der  Vorzug  des  Systems  in  JieQi  äegcov  ist  die  scharfe  Ab- 
grenzung der  Winde  gegeneinander.  Wie  steht  es  nun  damit  in 
der  andern  Gruppe?  Die  Frage  ist  recht  alt;  schon  Genellis 
Aufsatz,  vor  fast  hundert  Jahren  erschienen,  hat  sie  zum  Haupt- 
thema. Wäre  sie  nicht  an  und  für  sich  notwendig  zu  stellen, 
so  würde  heute  die  Theorie  von  Steinmetz  nötigen,  darauf 
einzugehen.  „  Ventos  ex  puncto  spirare''  ist  für  ihn  ein  wesent- 
liches Stück  sowohl  der  aristotelischen  Theorie  wie  derjenigen 
des  Timosthenes  (S.  44.  49.  64).  Ich  glaube,  man  kann  die 
Berichtigung  noch  heute  mit  Genellis  Worten  (S.  475)  geben: 
„Da  Aristoteles  die  Orte  seiner  Winde  scheinbar  auf  Punkten 
ii achweiset,  so  könnte  man  auf  den  Wahn  geraten,  er  wolle 
die  Ecken  des  Polygons  (Gen eil i  meint  das  Zwölfeck  des 
aristotelischen  Schemas)  als  die  eigentlichen  Orte  der  Winde 
angesehen  wissen.  Allein  einen  Spielraum,  mußte  er  ihnen 
doch  unumgänglich  zugestehen,  sofern  er  nicht  behaupten 
wollte,  aus  den  Zwischenräumen  wehe  nie  ein  Wind."  Zur 
Bestätigung  kann  auch  der  aristotelische  Sprachgebrauch  dienen; 
wiederholt  redet  Aristoteles  in  II  4  von  ßoQeai  und  votoi,  in 
c.  4  und  5  von  der  oixrjoig  oder  dem  zoTiog  (und  zwar  einem 
avanenxaixevog)^  woher  die  ßoQeai  kommen,  in  c.  6,  10  auch 
von  den  ngog  ägxtov  und  Jigög  jueof]jußQlav  xotiol.  So  kann 
man  denn,  meine  ich,  nicht  zweifeln,  daß  Aristoteles  und  seine 
Vorgänger,  wenn  sie  Punkte  am  Horizont  bezeichnen,  von 
denen  her  die  Winde  wehen,  doch  damit  nur  die  Mittelpunkte 
von  Horizontbögen  meinen.  Aber  auf  die  Frage,  wie  weit  nun  jeder 
solche  Bogen  reicht,  geht  man  allerdings  nicht  ein;  praktisch 
war  das  auch  gar  nicht  so  sehr  wichtig,  es  waren  eben  doch 
acht  bis  zwölf  Hauptrichtungen  festgelegt.  Dagegen  ist  bei  den 
ionischen  Systemen  klar,  daß  man  unregelmäßige  Vielecke  er- 
hielt,  sobald   man  wirklich  Grenzen  einzeichnen  wollte^):    die 


1)  Es  sei  auf  die  „Verbesserungen"   des  Grundrisses  verwiesen,   die 


Griechische  Windrosen.  47 

Punkte  hatten  ja  unter  einander  ungleiche  Abstände  in  der 
achtstrichigen  Kose  wie  in  der  zwölfstrichigen,  die  durch  die 
Meridianprojektion  gebildet  war.  Ja  sogar  bei  den  annähernd 
oder  völlig  gleichen  Abständen  der  aristotelische  Rose  (Fig.  5) 
kam  man  ins  Gedränge,  soferne  dort  ja  nur  elf  der  Punkte 
benannt  waren. 

4.   Timosthenes. 

Die  Beseitigung  dieser  Unzukömmlichkeiten  möchte  man 
als  das  leitende  Motiv  für  die  Weiterentwicklung  der  antiken 
Windrose  betrachten ;  so  denkt  man  sich  ja  auch  gemeinhin  — 
genannt  seien  nur  Berger  und  Steinmetz  —  den  Fortgang 
der  Lehre:  Timosthenes  schafft  eine  Windrose,  die  ein  regu- 
läres Zwölfeck  ist,  Eratosthenes  setzt  dafür  das  reguläre  Acht- 
eck. Meinungsverschiedenheit  bestand  dann  nur  darüber,  ob 
Timosthenes  die  Winde  lediglich  durch  Horizontpunkte  be- 
zeichnete oder  jeden  Horizontpunkt  nur  als  Mitte  eines  Kreis- 
zwölftes  betrachtet  wissen  wollte,  das  als  Region  des  einzelnen 
Windes  gedacht  war,  also  über  die  Frage,  die  soeben  allge- 
mein behandelt  ist.  Bis  vor  kurzem  habe  ich  das  Problem 
ebenso  angesehen ;  aber  wiederholte  Nachprüfung  der  Zeug- 
nisse hat  mich,  was  Timosthenes  betrifft,  zu  einer  anderen 
Anschauung  geführt. 

Zunächst  ist  uns  von  einer  Schematisierung  der  Windrose 
durch  Timosthenes  schlechterdings  nichts  überliefert.  Posei- 
donios  bei  Strabon  I  29  nennt  Timosthenes  nur  ganz  allgemein 
als  einen  der  maßgebenden  Schriftsteller  über  den  Gegenstand, 
der  yvcoQijLtoi  negl  xama.  Dafür  kann  er  schlielBlich  einfach 
deshalb  gelten,  weil  er  das  Zwölfwindesystem  vollendet  hat. 
Diese  Leistung  und  nur  sie  kennen  wir  durch  den  einzigen 
Bericht  über  seine  Lehre,  der  bei  Agathemeros  steht  {yecoyg. 
{,7iorvji.  n  §  6.  7.  GGM  n  p.  472  s.  =  fr.  6  Wagner^).  Um 
ein  unbefangenes  Urteil  über  den  Bericht  zu  gewinnen,  sehen 


V.  Raum  er  für  den  Turm  der  Winde  in  Athen  ausgedacht  hat  (Rhein. 
Mus.  5  (1837)  Fig.  3.  4). 

1)  E.  A.  Wagner,  Die  Erdbeschreibung  des  Timosthenes  von  Rhodos, 
Leipziger  Diss.  1888  S.  64. 


k 


48  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

wir  vorerst  davon  ab,  daß  von  Agathemeros  die  timosthenische 
Windrose  aus  der  achtstrichigen  Windrose  auf  eine  Weise 
entwickelt  wird,  als  handle  es  sich  nur  um  eine  ziemlich  un- 
organische Erweiterung  dieser  Rose  durch  Einschuh  von  vier 
Winden^).  In  Wirklichkeit  setzt  Timosthenes  doch  überhaupt 
nicht  die  achtstrichige  Rose  voraus,  sondern  knüpft  unmittel- 
bar an  die  aristotelische  an,  welche  ja  „potentiell"  zwölfstrichig 
war;  das  lehren  schon  die  Namen,  deren  Überlieferung  bei 
Agathemeros  durch  Plin.  n.  h.  II  119  s.  bestätigt  wird.  Wie 
eng  der  Anschluß  an  Aristoteles  ist,  hat  Kaibel,  Hermes  20 
S.  607  f.,  gezeigt,  auf  dessen  Ausführungen  ausdrücklich  ver- 
wiesen sei.  Hier  genügt  es,  zu  sagen,  daß  Timosthenes  die 
Rose  des  Aristoteles  vervollständigt,  indem  er  den  von  jenem 
sonderbarer  Weise  nicht  eingereihten  evQÖvorog  als  Doppel- 
namen des  q)oivi^  (so  Timosthenes  nach  dem  Zeugnis  des  Aga- 
themeros —  zweimal  —  und  Plin.  n.  h.  II  120,  vielleicht  in 
Anlehnung  an  Idnv^  und  U'ip^))  ins  System  einsetzt  und  ihm 
dann  als  selbstverständliches  Gegenstück  den  hßövorog  westlich 


1)  Diese  Form  der  Darstellung  findet  sich  auch  bei  Gellius  II  22, 17 
und  Plinius  n.  h.  II  119.  120.  Sie  wird,  wenn  auch  durch  verschiedene 
Mittelsmänner,  auf  eine  Quelle  zurückgehen  (s.  u.  den  Abschnitt  über 
Poseidonios). 

2)  0oivi^  ist  auch  in  der  Vorlage  von  jtsqI  xoojxov  p.  394  b  33  voraus- 
zusetzen; denn  erst  hieraus  erklärt  sich  sein  singuläres  Gegenstück,  der 
Xißocpoivi^  1.  34.  —  Zu  Aristoteles  hinzugefügt  ist  bei  Timosthenes  außer 
dem  oben  Besprochenen  in  der  Region  der  nördlichen  und  südlichen 
Winde  allein  der  xigxiog,  gewiß  nach  seemännischer  Erfahrung.  Aber 
noch  ist  zu  fragen,  welche  Namen  Timosthenes  etwa  bei  den  sechs  öst- 
lichen und  westlichen  Winden  noch  über  Aristoteles  hinaus  angeführt 
hat;  die  Ergänzung  aus  Agathemeros  §  6  ist  nicht  ganz  so  selbstver- 
ständlich, wie  Kaibel  die  Sache  anzusehen  scheint.  Aber  er  wird  doch 
recht  haben,  wenn  er  beim  Argestes  die  Bezeichnungen  oXv/umag  und 
(aus  loannes  Damascenus)  Idjiv^  dem  Timosthenes  zuschreibt.  Beides 
wird  bestätigt  durch  tzsqI  xöofxov  (s.  u.  Abschnitt  6).  Sehe  ich  recht, 
so  wird  das  Material  für  diese  Entscheidung  etwas  vermehrt  durch  die 
noch  nicht  identifizierten  Ptolemaioszitate  bei  Olympiodor  p.  185,  34  und 
186  in  der  Figur.  Wir  gewinnen  daraus  Bestätigung  für  den  ßoggäg 
als  NNO,  für  svgovorog  und  für  idjiv^  =  aQysoxrjg. 


Griechische  Windrosen.  49 

vom  voTog  beiordnet;  selbst  sein  XevKovoxog,  der  bei  Agathe- 
meros  voranstehende  und  im  geographischen  Teile  bevorzugte 
Name,  stammt  aus  Aristoteles  (Meteor.  II  5,  7  p.  362  a  12)  und 
ist  für  uns  insoferne  interessant,  als  er  zeigt,  wie  Timosthenes 
die  Aristotelesstelle  aufgefaßt  hat.  Die  einzige  wesentliche  Ab- 
weichung, die  Verdrängung  des  jj-eorig  durch  den  vom  änaQxziag 
getrennten  ßogeag,  ist  nach  dem  oben  S.  33  f.  Ausgeführten  ohne 
weiteres  verständlich  und  gerechtfertigt.  Timosthenes  steht 
dabei  wohl  eher  unter  dem  Einfluß  des  populären  Sprach- 
gebrauchs^) als  eines  der  alten  Windsysteme,  etwa  des  auf 
der  Meridianprojektion  beruhenden  (s.  o.  S.  45). 

Völlig  läßt  uns,  wie  gesagt,  die  Überlieferung  in  der 
Frage  im  Stich,  wie  Timosthenes  den  Horizont  geteilt  hat. 
Für  die  einfachste  Annahme,  diejenige,  daß  Timosthenes  am 
aristotelischen  System  der  Teilung  nichts  geändert  hat,  spricht 
manches;  zunächst  führt  darauf  die  Darstellung  bei  Agathe- 
meros,  aber,  wie  oben  S.  48  A.  1  schon  angedeutet  ist,  man  wird 
gut  tun,  darauf  nicht  allzuviel  zu  geben  ;  auch  nicht  darauf,  daß 
es  bei  Agathemeros  von  Timosthenes  schlechtweg  heißt  ngoon- 
delg  jueoov  änaQKTLOv  xal  xaixiov  ßogeav  xzA.,  also  ganz  wie 
sich  Aristoteles  ausdrückt.  Irre  machen  konnte  den  Timo- 
sthenes an  der  aristotelischen  Teilung  freilich  auch  einiges  :  vier 
Nebenwinde  mit  Punkten  des  Sonnenlaufs  zu  verbinden  und 
vier  weitere  ohne  astronomischen  Anhalt  einzuschieben  ist  kein 
sehr  systematisches  Verfahren ;  daß  ferner  die  Verbindung  mit 
den  Solstizialpunkten  keine  Berechtigung  mehr  hatte  in  einer 
Zeit,  die  mit  der  Vorstellung  vom  festen  Horizont  endgültig 
aufgeräumt  hatte  —  zwischen  Aristoteles  und  Timosthenes  steht 
doch  Dikaiarch  — ,  das  mußte  Timosthenes  wohl  einsehen, 
wenn  er  in  dieser  Frage  überhaupt  kritisch  dachte.   Der  ptole- 

^)  Die  Neigung  des  Boreas,  nach  Osten  abzuschwenken,  tritt  auch 
in  der  sonst  ganz  dem  Aristoteles  entlehnten  (vgl.  Kaibel,  Hermes  29 
(1894)  S.  113)  Einlage  in  das  pseudotheophrastische  Buch  jisqI  oijfieuov 
zu  tage,  indem  dort  §  36  der  äjiaQxzlag  einziger  Nordwind  bleibt  und 
neben  ihm  ßogsag  t}  fisojjg  steht.  Ob  die  Kompilation  vor  oder  nach 
Timosthenes  fällt,  ist  nicht  zu  sagen. 
Sitzgsb.d.philos.-philol.u.d.  bist.  Kl.  Jahrg.  1916,  3.  Abb.  4 


I 


50  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

maische  Flotfcenkommandant  konnte  jedenfalls  aus  Erfahrung 
wissen,  daß  der  Bogen,  den  die  Solstizialpunkte  mit  den  Punkten 
der  Gleichen  bilden,  in  Alexandreia  merklich  kleiner  ist  als 
im  Norden  des  Agäischen  Meeres.  Nur  wissen  wir  eben  leider 
nichts  davon,  ob  er  solches  Erfahrungswissen  oder  theoretische 
Erwägungen  verwertete.  Tat  er  es  nicht,  so  ist  darüber  kaum 
zu  streiten,  daß  sein  System,  wenn  auch  ungewollt,  im  Er- 
gebnis auf  symmetrische  Teilung  hinauslief.  Für  Athen  be- 
tragen die  äußersten  Morgen-  und  Abendweiten  30^42';  das 
kommt  den  30*^  so  nahe,  daß  niemand,  der  die  bei  so  gut  wie 
allen  nachgeprüften  antiken  Sonnenuhren  vorkommenden  Un- 
genauigkeiten  kennt,  bezweifeln  wird,  daß  diese  geringe  Dif- 
ferenz, wenn  sie  überhaupt  beobachtet  war,  vernachläßigt 
werden  konnte,  wie  schon  für  Aristoteles  o.  S.  42  angenommen  ist. 
Und  doch  bleiben  für  mich  ein  paar  Bedenken  bestehen. 
Wenn  Timosthenes  eine  tatsächlich  symmetrische  Teilung  durch- 
geführt hat,  warum  hat  der  Schöpfer  des  Achtwindesystems 
eine  grundsätzliche  Neuerung  nötig  gefunden  ?  Sollte  nicht 
ein  anderes  Teilungsprinzip,  die  so  handgreiflich  unlogische 
Meridianprojektion,  die  Kritik  herausgefordert  haben?  Auf- 
fällig ist  mir  ferner,  daß  das  System  des  regulären  Zwölf- 
ecks, bei  dem  jeder  Wind  ein  Zwölftel  des  Kreisunifangs  zu 
eigen  hat,  erst  so  merkwürdig  spät  bezeugt  ist.  Wir  finden 
es  auf  den  späten  griechisch-römischen  Windpfeilern  aus  Rom 
(IG  XIV  1308 1))  und  Gaeta  (IG  XIV  906),  dann  auf  der 
Riesen-Windtafel  von  7  m  Durchmesser,  die  in  den  Platz  vor 
dem  Tempel  des  Mercurius  Silvius  in  Dugga^)  eingelassen  ist. 


^)  Eine  vorzügliche  photographische  Abbildung  des  Stückes  gibt 
P.  G.  Lais  in  Pubblicazioni  della  specola  vaticana  4  (1894)  T.  I. 

2)  Vgl.  Schulten,  Arch.  Anz.  1906  S.  153,  der  mir  brieflich  mit- 
teilt, daß  er  keine  Abbildung  des  Stückes  kenne.  Aus  dem  Bull,  archeol. 
du  com.  des  trav.  bist,  et  scient.  1905  S.  IX,  das  mir  Schulten  freund- 
lich zur  Verfügung  gestellt  hat,  teile  ich  die  entscheidenden  Worte  mit: 
,Le  dallage  presente,  au  centre,  une  grande  circonference  tres  soigneuse- 
ment  pavee  de  plus  de  sept  metres  de  diametre.  Cette  circonference 
est  divisee  en  sections  egales  par  de  nombreux  diametres  et  sur  le  pour- 
tour  sont  symetriquement  disposes  les  douze  noms  des  douze  vents : 
Septentrio  etc." 


Griechisclie  Windrosen. 


1 


endlich  auf  der  in  I G  XIV  fehlenden  Horizontalsonnenuhr  aus 
Rom,  die  Fr.  Peter  in  den  Atti  dell'  accad.  rom.  di  archeol.  I  2 
(1823)  ausführlich  besprochen  und  abgebildet  hat.  Ich  gebe 
seine  Zeichnung  hier  als  Fig.  6.  Und  den  durch  Faventins 
Lib.  artis  architect.  c.  II  p.  289,  2  R.  bezeugten  römischen  Zwölf- 
windeturm haben  wir  selbstverständlich  auch  mit  einem  regu- 
lären Zwölfeck  als  Grundriß  zu  denken;  war  er  doch  gemacht 
„ad  exempli  Andronici  Cyrrestae  slmilitudinem" .  Auch  fehlt  die 
Theorie   zur    Praxis    nicht.     Die    Herstellung   einer  Windtafel 


Fiff.  6. 


als  reguläres  Dodekagon  schildert  der  Anonymus  (Pseudo- 
Agathemeros)  GGM  II  p.  503  s.  unter  völligem  Verzicht  auf 
Solstizialpunkte  und  Polarkreise:  Norj^evrog  yaQ  jueyiorov  xv- 
kXov  TieQiexovTog  x6  eyvcoojuevov  xai  e|  diajuhgoig  elg  loa  6(6- 
öena  diaiQeOevrog,  ojoxe  ovo  töjv  ngög  oQ^dg  dXXijXaig  rrjv  fikv 

4* 


I 


52  3.  Abhandlung:  Albert  Rehra 

y 

lorjjueQivrjv  noieXod^ai,  tyjv  de  jueorjjußgivijv,  rdooovoir  im  jusv  xrJQ 
lorjfxeQLvrjg  Jigog  jukv  ralg  dvarolaig  äjzrjXicoTrjv,  Jigög  de  TOig 
övoeoL  Cs(pvQOv  Kai  ndhv  im  jbiev  rfjg  jUEorjjußQivrjg  ngog  äg- 
XTOvg  djiaQXTiav,  Jigög  de  xrjv  jbieorjjußQiav  vorov  eha  djirjhcorov 
juev  exaregcoi^ev  (bg  Jigög  jueorjjußgiav  evQov,  Jigog  de  aQKXovg 
xaixiav  xrL  Den  frühesten  aller  Belege  scheint  Ptolemaios  zu 
bieten,  von  dem  Olympiodor  ad  Aristot.  Meteor,  p.  188,31  St. 
schreibt:  "AXkd  jurjv  ixeTvo  dnoQrjxsov,  ncög  6  "AgioxoreXrig  xovg 
dvejuovg  ecprjoe  yiyveo&ai  xaxd  xdg  xojudg  x(hv  nagaklriXcov  tioXcov 
xdg  yiyvojuevag  vjio  xov  oQcCovxog,  xov  doxgovojuov  (d.  i.  Ptole- 
maios) Xeyovxog  dnb  xQtdxovxa  /xotgcbv  dcpioxaod^ai  exa- 
oxov  ävejuov;  Die  Stelle  scheint  in  keinem  erhaltenen  Werk 
des  Ptolemaios  vorzukommen  und  ich  glaube  im  Folgenden  S.  62 
zeigen  zu  können,  daß  die  ihm  hier  zugeschriebene  Teilung 
keineswegs  kanonische  Geltung  für  die  ganze  Schriftstellerei 
des  Ptolemaios  beanspruchen  darf.  Aber  da  Olympiodor  sonst 
zuverlässig  ist^),  so  möchte  ich  sein  Zeugnis  nicht  anfechten, 
obwohl  man  daran  denken  könnte,  er  schreibe  hier  dem  Ptole- 
maios eine  Äußerung  zu,  die  er  etwa  in  Scholien  zur  Geogra- 
phie gefunden  haben  mochte.  Indes,  wir  gewinnen  auch  mit 
einem  echten  Zitat  aus  Ptolemaios  nichts  für  das  Aussehen 
der  zwölfstrichigen  Rose  im  III.  Jahrhundert  v.  Chr.  Es  bleibt 
die  Möglichkeit  bestehen,  daß  das  reguläre  Dodekagon  erst  dem 
regulären  Oktagon  nachgebildet  ist,  und  das  vielleicht  in  langem 
zeitlichem  Abstand. 

Für  Timosthenes  aber  ist  eben  deshalb  ernstlich  an  die 
andere  Alternative,  die  Verwendung  der  Meridianprojektion, 
zu  denken,  welche  sich  als  das  von  den  Geographen  der  hel- 
lenistischen Zeit  bevorzugte  System  erweist.  Sie  wird  über- 
wiegend ohne  Verwendung  der  Windnamen  gebraucht,  d.  h. 
man  bezeichnet  Himmelsgegenden  auf  der  Erdkarte  durch  die 
vier  Hauptrichtungen  ägxzog,  ecog  oder  dvaxoXi],  jueofjjußgia, 
dvoig    (bei    Polyb.    III    36,  6  :     dvaxoXai,    övoeig,    jueorjjbißQia, 


1)  Für  die  Zuverlässigkeit  von  Olympiodors  Zitaten  spricht  es,  daß 
der  von  ihm  p.  261,34  erwähnte  ixirj/nogiog  von  Heiberg  in  der  Schrift 
jisQi  avaXrjfifiaxog  p.  190  ss.  wiedergefunden  ist. 


Griechische  Windrosen.  63 

aQxxog)  und  die  vier  Zwischenrichtungen,  die  man  nach  den 
sommerlichen  und  winterlichen  Sonnenauf-  und  -Untergängen 
benennt;  diese  werden  nicht  etwa  in  die  Mitte  der  Quadranten 
gesetzt,  sondern  haften,  wie  sich  wenigstens  in  einem  Falle 
deutlich  zeigt,  an  den  Wendekreisen.  Eine  weitergehende 
Horizontteilung  gibt  es  bei  keinem  der  im  folgenden  ange- 
führten Autoren:  ein  zweifellos  höchst  unvollkommener  Zustand. 
Das  Belegmaterial,  das  mir  zur  Verfügung  steht ^),  stammt  fast 
ganz  aus  Strabon,  doch  haben  wir  noch  genug  andere  Zeugen, 
um  nicht  an  eine  Besonderheit  seiner  Ausdrucksweise  denken 
zu  müssen.  Es  stellt  sich  vielmehr  heraus,  daß  er  dieser 
Terminologie  mit  eigentümlicher  Unsicherheit  gegenübersteht. 
In  der  Angabe  des  Deimachos  über  die  Ausdehnung  Indiens 
Strab.  11  p.  76  ryjv  "Ivdixrjv  juera^v  xeiod^ai  rfjg  rs  cf&ivoncctQLvfjg 
tor]uegiag  xal  x6i)v  tqoticov  tcjv  xeifjLSQivwv,  die  dem  Strabon 
durch  Eratosthenes  (=  fr.  III  A  9  S.  178  Berger)  samt  dessen 
Kritik  zugekommen  ist,  sind  nicht  die  Horizontpunkte,  sondern 
Äquator  und  Wendekreis  des  Steinbocks  gemeint,  wie  es  auch 
Strabon  nach  Eratosthenes  richtig  darstellt;  aber  die  Notiz  ge- 
hört hieher,  weil  von  einer  solchen  Ausdrucksweise  nur  ein 
Schritt  ist  zur  Anwendung  der  entsprechenden  Terminologie 
auf  die  zugehörigen  „Horizont "-Punkte.  Eratosthenes  selbst 
hat  ihn  gemacht.  In  seinem  Bericht  über  den  Entwurf  der 
Erdkarte  des  Eratosthenes  sagt  Strabon  zum  Eingang  (II  67 
=  Eratosth.  fr.  III  A  2  S.  170  B.)  sehr  korrekt:  xbv  rrjg  oU 
xovjuevfjg  nivaxa  yQajLijufji  xivi  öiaigeT  di^a  äno  övoecog  in  dva- 
Tolrjv  naQaXlrjXcoi  Tfji  lor] fxeQivrji  ygajujurji,  aber  wenige 
Zeilen  darauf  redet  das  Referat  (p.  68)  so:  ex  de  'Ajuioov  Jigog 
xy^v  iof]jueQivf]v  ävaxoXr]v  (pegojuevcoL  xxX.,  und  auch  eine 
Zwischenrichtung  finden  wir  angegeben  an  einer  Stelle,  wo 
nicht  zu  zweifeln  ist,  daß  des  Eratosthenes  eigener  Ausdruck 
vorliegt  (p.  80):  xrjv  Meoo7ioxajuim>  emoxgecpeiv  Jigög  ;ije<yue^tviyv 
ävaxoXrjv  xal  xrjv  jueorj/ußgiav   (=  fr.  III  B  25  S.  256   Berger). 


1)  Ich  sehe  nachträglich,  daß  es  größtenteils  schon  von  Müllen- 
hoff  S.  241  A.  3  zusammengestellt  ist.  Doch  beurteile  ich  Strabon  weit 
weniger  günstig  als  Müll enh off.  • 


k 


54  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

4 

Bei  Hipparch  ist  nur  enl  lorj/usQivrjv  avaxoXYjv  und  ngog  lorj- 
jueQiväg  ävaroXdg  belegt  (Strab.  II  71. 86)  und  Strab.II  87 :  „jLiera^v 
jU£Of]jußQlag  xal  rfjg  ior} fxsQivfjg  ävarolfjg'^ ^  sodaß  man  zweifeln 
kann,  ob  er  die  Zwischenrichtungen  verwendet  hat.  Dagegen  steht 
dies  völlig  fest  für  Polybios;  dessen  Ausdrucksweise  III  36.  37, 
wo  er  erstmals  einen  Überblick  über  die  Gliederung  der  Erd- 
teile gibt,  und  XXXIV  7,  8—10  B.-W.  =  Strab.  II  107,  wo 
noch  einmal  die  Ausdehnung  Europas  und  Asiens  verglichen 
wird,  ist  erfreulich  gleichmäßig,  sodaß  wir  uns  hier  einmal 
von  der  Treue,  mit  der  Strabon  die  Terminologie  der  von  ihm 
behandelten  Autoren  bewahrt,  überzeugen  können.  Um  so  ver- 
fehlter ist  die  Kritik,  die  Strabon  an  der  Darstellung  des  Poly- 
bios glaubt  üben  zu  müssen.  Da  mir  aus  dieser  ganzen  Partie 
deutlicher  als  aus  irgend  welchen  andern  Belegen  hervorzu- 
gehen scheint,  daß  man  die  Horizontteilung  der  Meridianpro- 
jektion genau  ebenso  zur  geographischen  Orientierung  ver- 
wendete, wie  wir  es  mit  der  Windrose  tun,  so  lohnt  es  sich 
wohl,  auf  die  Stellen  einzugehen.  III  37,  4  wird  gesagt,  Asien 
liege  zwischen  dem  Nil  und  dem  Tanais,  rnnreiv  de  (ovjußeßrjxe) 
Tov  jisQiexovrog  vnb  x6  jueia^v  dtdorrjjua  d^EQivcbv  dvaroXcov  xal 
jueorjjußgiag,  und  §  5 :  Libyen  liegt  zwischen  dem  Nil  und  den 
Säulen  des  Herakles,  xov  de  neQiexovxog  nenxcoxev  vno  xe  xtjv 
jueorjjußgiav  xal  xaxä  xb  owe^eg  vnb  xäg  ^^ijuegirdg  övoeig  ecog 
xfjg  lorjjuegivfjg  xaxaq)ogäg,  rj  ninxei  xad-^  'HgaxXeiovg  oxrjXag. 
Bei  Strabon  II  107  :  xb  juev  ydg  oxöjua  xb  xaxd  oxrjXag  (prjolv 
6x1  xaxd  xrjv  lorjjuegtvrjv  övoiv  eoxiv,  o  de  Tdvaig  gel  dnb  degivfjg 
dvaxoXfjg'  eXaxxovxai  ör]  (xb  ^rjxog  xfjg  EvgcoJirjg)  xov  ovvd/LKpco 
(xi]g  xe  Aißvtjg  xal  xfjg  "Äoirjg)  xcbi  juexa^v  xfjg  d'egivfjg  dvaxoXfjg 
xal  xfjg  lorjjuegivfjg'  xovxo  ydg  fj  'Aoia  TtgoXajußdvei  ngbg  xijv 
lorj/uegivrjv  dvaxoXrjv  xov  Tigbg  xdg  ägxxovg  fjjuixvxXiov.  Man 
sieht  deutlich,  was  Polybios  meint;  er  denkt  sich  als  Beob- 
achter auf  der  Linie,  die  von  den  Säulen  des  Herakles  ost- 
wärts gezogen  wird,  also  auf  dem  „Diaphragma",  auf  einem 
Punkt  etwa  in  der  Mitte  des  Mittelmeeres  (vgl.  auch  Groskurd 
zu  Strab.  II  107,  der  sich  m.  E.  viel  zu  sehr  von  Strabon 
abhängig    macht).     In    unserer   Terminologie    könnte   er   dann 


Griechische  Windrosen. 


55 


etwa  sagen:  Asien  und  Lybien  reichen  von  66^  bis  270^,  der 
Bogen  von  66^  bis  90^  gehört  eben  noch  zu  Asien.  Die  Aus- 
drücke ■&eQLval  ävaxoXai,  x^ijuegival  dvoeig  beziehen  sich  also 
nicht  auf  den  Rand  der  Planisphäre,  wo  in  Polybios'  Karte 
diese  Bezeichnungen  vielleicht  eingetragen  waren,  sondern 
meinen  lediglich  Winkel  zu  je  24*^,  die  für  jeden  Horizont  an 
»die  0-W-Linie  angetragen  gedacht  werden,  genau  wie  wir 
einen  Winkel  zu  45*^  antragen,  wenn  wir  von  NO  usw.  reden  ^). 
Fig.  7   mag  das  zu  allem  Überfluß  verdeutlichen. 


Fig.  7. 


^)  So  gebraucht  er  denn  auch  durch  das  ganze  Werk  seine  Aus- 
drücke für  die  Zwischenrichtungen  ganz  wie  die  für  die  Hauptrichtungen, 
beides  verbunden  I  42,5.6.  111  47,2.  XVI  16,5  dann  IV  77,  8.  V  22,  3. 
Eines  freilich  können  wir  nicht  entscheiden:  ob  er  bei  den  Zwischen- 
richtungen immer  an  die  ursprüngliche  Winkelgröße  denkt  oder  ob  sie 
ihm  nicht  unter  der  Hand  zu  Halbierenden  der  Quadranten  werden; 
denn  das  war  in  der  Terminologie  seiner  Zeit  längst  möglich,  wie  im 
nächsten  Abschnitt  zu  zeigen  ist.  —  Von  Winden  gebraucht  er  zur  Be- 
zeichnung einer  Zwischenrichtung  den  Uy)  IX  27.  5.  X  10,  1. 


I 


56  8.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

y 

Verstanden  hat  Strabon  von  alledem  nichts;  schon  seine 
p.  107  anschließende  Polemik  über  die  Laufrichtung  des  Tanais 
trifft  nicht,  was  Polybios  sagen  will,  vollends  aber  geht  p.  108 
seine  Kritik  an  der  Verwendung  der  'deQivr]  dvaroX^  zur  Be- 
stimmung der  Ausdehnung  der  Erdteile  ganz  in  die  Irre: 
6  de  ...  .  xaivöv  (tqÖjiov)  eiodyei  xo  „juera^v  rfjg  xe  'äeQivfjg 
ävaxoXfjg  xal  xrjg  lorjjuegivfjg"  xjufjjud  xi  xov  ägxxixov  fj [xiKVxXiov., 
Tigög  de  xd  dju^xdjixcoxa  ovdelg  xavooi  xal  juexQoig  XQrjxai  xöig 
juexajixcoxoig  ovde  xoig  xax''  aXXriv  xal  äXXrjv  oxeoiv  Xeyojuevoig 
JiQog  xd  xad^''  avxd  xal  {xrjv  xcbv  xoiovxcov  Jigög  äXXrjXa)  dia- 
qpogdv^).  xd  jLiev  ovv  /btfjxog  djuexdjixcoxov  xal  xad^^  avxd  Xeyexai, 
dvaxoXrj  d^  ior}jueQiv7]  xal  dvoig,  (hg  (5'  avxcog  '&eQivrj  xe  xal  ^ei- 
jUEQivr]  ov  xa'&^  avxijv,  dlXd  jigög  fjiiäg;  denn,  geht  es  weiter, 
die  Aufgangs-  und  Untergan gsörter  verändern  sich  ja,  wenn 
wir  den  Standort  wechseln.  Weder  denkt  Polybios  genau  an 
das  dgxxixov  fjfxixvxXiov  noch  sind  für  ihn  die  Richtpunkte  in 
ihrem  gegenseitigen  Verhältnis  —  darauf  kommt  es  an  — 
veränderlich 2).  Was  man  dem  Polybios  zum  Vorwurf  machen 
kann,  ist  allein,  daß  er  nicht  ausdrücklich  angibt,  wo  er  seinen 
Standpunkt  nimmt.  Strabons  Kritik  aber  ist  um  so  weniger 
angebracht,  als  er  bei  den  Referaten  über  Eratosthenes  und 
Hipparch  deren  Terminologie  unbeanstandet  läßt,  ja  sogar  11  71 
von  der  Fahrtrichtung  Amisos-Kolchis  selbst  die  Wendung  em 
loYjiJLeQLvriv  dvaxoXriv  gebraucht,  die  ihm,  wie  das  Folgende  zeigt, 
Hipparch  geliefert  hat  (vgl.  o.  S.  54). 

Nach  Polybios  und  Hipparch  scheint  diese  Art  der  Rich- 
tungsangabe allerdings  abgekommen  zu  sein^);  denn  daß  sie  für 
Poseidonios  bezeugt  sei,   glaube   ich  nicht.    Wir  lesen  frei- 


^)  Mit  diesem  Vorschlag  will  ich  die  Lücke  nur  dem  Sinne  nach 
ausfüllen;  vgl.  II  117  .  .  nal  rag  alXag  dia(poQag  nai  rag  oxsoeig  röäv  xfjg 
yfjg  fiegcöv  TiQog  äVajld  re  >cal  xä  ovQavta. 

2)  Die  Begriffe  /nsidjiTcoiog  und  d/nsrdjtrcorog  entnimmt  Strabon  aus 
der  poseidonianischen  Polemik  gegen  den  konventionellen  Polarkreis  des 
Polybios  (Strab.  II  95.  97). 

^)  Sie  lebt  erst  wieder  auf  bei  dem  von  MüUenhoff  angeführten 
Marinos  bei  Ptol.  Geogr.  I  15,  3  (weitere  Belege  s.  u.  S.  62  A.  1). 


Griechische  Windrosen.  57 

lieh  bei  Plinius  n.  h.  VI  57  (=  Pos.  fr.  87  FHG  III  p.  289  b) 
über  Indien:  „Fosidonius  ah  aesüvo  solis  ortu  ad  hibernum  exor- 
tum  metatus  est  eam,  adversam  Galliam  statuens,  quam  ah  oc- 
cidente  aesüvo  ad  occidentem  hihernum  metahatur,  totam  a  favonio" 
etc.  Aber  für  diese  geographische  Weisheit  darf  man  sicher- 
lich nicht  den  Poseidonios  verantwortlich  machen^),  auf  den  viel- 
mehr nur  die  weiter  folgenden  Angaben  über  das  Klima  Indiens 
zurückzuführen  sind.  Aus  Strabon  I  34  (die  Stelle  ist  oben 
S.  19  A.  1  angeführt)  ergibt  sich  vielmehr,  daß  die  Angabe  auf 
Ephoros  zurückgeht.  Von  Poseidonios  wissen  wir  also  nicht, 
ob  er  die  fraglichen  Ausdrücke  als  Richtungsbezeichnungen 
angewandt  hat.  V^ohl  aber  hoffe  ich  in  Abschnitt  6  dartun 
zu  können,  daß  auch  er  die  „Meridianprojektion"  kennt. 

Statt  der  Marken  des  Sonnenlaufes  hat  man  nun  auch, 
und  zwar  in  ganz  gleicher  Anordnung,  die  Windnamen  ver- 
wendet. Strabon  im  IL  Buch  p.  116  gibt,  nachdem  er  die  Aus- 
dehnung der  oixovjLievf)  kritisch  besprochen  hat,  Andeutungen 
darüber,  wie  groß  ein  Erdglobus  von  der  Art  desjenigen  des 
Krates  beschaffen  sein  müßte,  um  den  verhältnismäßig  kleinen 
Ausschnitt,  den  die  otxovjuevrj  einnimmt,  noch  in  hinlänglicher 
Ausdehnung  zu  zeigen ;  dann  heißt  es  bei  ihm :  Tcbi  de  jurj 
dvvajuevcoi  rrjXiHavrrjv  rj  jurj  noXXwi  lavTfjg-  evöeeozegav  (xara- 
oxevdoao^ai  ocpaTgav)  ev  emneöcoi  xaraygajiTeov  tovXolxiotov  ejito. 
Jiodcbv.  diotoei  yotQ  juixqov,  edv  dvrl  töjv  xvxXcüv  tcöv  xe  JiagaX- 
XrjXoyv  xal  töjv  /xeorjjußoivcov,  olg  rd  re  xXijuara  xal  rovg  dve- 
juovg  diaoacpovjuev  xal  rdg  dXXag  öiacpOQdg  xal  xdg  o^ioeig  rcöv 
Tfjg  yrjg  jUEQÖJV  TZQog  äXXrjXd  re  xal  Ta  ovgdvia,  ev'&eiag  yQdq?a>- 
/uev,  rajv  jukv  JiagaXXijXayv  jzagaXXijXovg,  xcbv  de  öq'&cüv  Tigog 
exeivovg  OQd^dg,  x'^g  öiavoiag  gaidicog  juexacpegeiv  dvvajuevrjg  xö 
vno  xrjg  öxpecog  ev  enmeöcoi  i^ecoQovjuevov  emcpaveiai  ox^f^a  xal 
fieye^og  im  xyjv  neQKpeqfj  xe  xal  ofpaiQixrjv.  dvdXoyov  de  xai 
jiegl  xojv  Xo^öjv  xvxXoyv  xal  ev&eicbv  (pajuev.  Hinzuzunehmen 
ist  noch  aus  p.  120  der  z.  T.  mit  denselben  Worten  gegebene 


1)  Müllenhoff  S.  241  A.  3.  S.  358  A.  2  und  Boll,  Studien  über 
Claudius  Ptolemaeus  S.  211,  suchen  die  Stelle  für  Poseidonios  zu  retten, 
während  Berger  S.  575  einen  Irrtum  annimmt. 


L 


58  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

Hinweis  auf  den  Hauptmeridian  und  Hauptparallel  als  die 
oTOixda  der  Konstruktion  der  oiKovjuevr];  dann  ist  hier  so  gut 
wie  alles  erklärbar^).  Strabon  gibt  das  Projektionsprinzip  an, 
welches  nach  allgemeiner,  wenn  schon  nicht  völlig  sicherer 
Annahme  der  eratosthenischen  Karte  zugrunde  lag  (vgl.  Berger, 
Die  geogr.  Fragmente  des  Eratosthenes  S.  118  A.  1.  S.  198  ff.). 
Die  7iaQdXXr]XoL  kol  jLieorjjLtßQivoi,  olg  rd  re  xXijuaia  dtaoacpqvjuev 
y.al  rag  äXXag  diacpogag  xal  rag  o^soeig  twv  rfjg  yfjg  juegcbv 
jiQÖg  äXXrjXa,  sind  die  sieben  Parallelen  und  die  Meridiane,  die 
das  Netz  für  die  eratosthenische  Karte  der  oixovjuevr]  liefern 
(darüber  ausführlich  Berger  a.  a.  0.  S.  187  ff.);  aber  Strabons 
Karte  soll  ja  eine  Darstellung  der  ganzen  Erde,  dem  Globus 
entsprechend,  sein ;  darum  sind  auch  die  Parallelen  einzutragen, 
die  das  Verhältnis  der  Erde  Jtgdg  rd  ovQavia  betreffen,  Äqua- 
tor, Wendekreise,  arktische  Kreise  (oder  Polarkreise?),  die  alle 
Eratosthenes  nicht  als  solche  berücksichtigt  hatte.  Und  was 
sollen  hier  die  Winde?  Ich  kann  mir  bei  ihrer  Erwähnung 
nichts  anderes  vorstellen,  als  daß  sie  eben  mit  den  letztge- 
nannten Parallelkreisen  und  mit  dem  Meridian,  den  man  durch 
die  Mitte  der  ganzen  abgerollten  Kugeloberfläche  zu  legen  hat, 
zusammengehören.  Nun  ist  klar,  daß  sie  an  den  Rändern  einer 
viereckigen  Erdkarte  aus  allem  Verhältnis  geraten.  Man  muß 
sich,  meine  ich,  als  Vorstufe  des  Bildes,  das  Strabon  entwirft, 
eine  Darstellung  der  einen,  die  Oikumene  enthaltenden  Hemi- 
sphäre denken  wie  Fig.  7  und  8  oder  die  oben  S.  38  A.  1  be- 
sprochenen und  abgebildeten  Himmelshemisphären.  Hier  waren 
dann  am  Rande  da,  wo  die  Parallelkreise  und  der  mittlere 
Meridian  den  äußeren  berührten,  die  Namen  der  Winde  ein- 
getragen. Das  ist  die  Erdkarte,  die  ich  schon  für  das  zweite 
aristotelische  Windsjstem  angenommen  habe;  bei  dieser  Wind- 
rose ist  von  Gleichheit  der  Abstände  natürlich  keine  R«de,  weil 


^)  Mit  dem  Pluralis  Xo^ol  xvxloi  ist  wohl  der  als  breiter  Streifen 
durch  zwei  oder  drei  Kreise  bezeichnete  Zodiakus  gemeint,  der  nach 
Ptol.  Geogr.  VII  6,  3.  14  auf  derartigen  Erd-  (und  Himmels-) karten  an- 
gegeben wurde.  Begriffe  der  modernen  Kartographie,  wie  sie  in  Mercators 
Projektion  eine  Rolle  spielen  (geradlinige  Wiedergabe  der  loxodroraischen 
Linien),  hat  man  ja  fern  zu  halten. 


Griechische  Windrosen.  59 

der  Quadrant  in  der  eratosthenischen  Proportion  4:5:6  (s.  o. 
S.  38  A.  1)  geteilt  zu  denken  ist. 

Die  aus  Strabon  nur  erschlossene  Verbindung  der  Meridian- 
projektion mit  der  Windrose  in  hellenistischer  Zeit,  eine  Ver- 
bindung, bei  der  man  unter  '^egcvi]  ävaxoh)  usw.  nicht  mehr 
wie  in  der  ionischen  Frühzeit  an  die  Morgen-  und  Abendweiten 
zu  denken  hat,  ist  uns  mehrfach  auch  direkt  überliefert;  wenn 
die  Zeugnisse  auch  aus  späteren  Epochen  stammen  als  die  bis- 
her hier  behandelten  Autoren,  so  besteht  doch  kein  Bedenken, 
sie  zur  Bestätigung  unserer  Schlüsse  zu  verwenden.  Originell 
sind  ja  unsere  jüngeren  Gewährsmänner  noch  weniger  als 
Strabon.  Nur  in  einem  Punkte  gehen  unsere  beiden  Haupt- 
zeugen über  das  hinaus,  was  wir  bei  den  Geographen  bis  zu 
Strabon  in  dem  bisherigen  Überblick  gefunden  haben :  sie  ver- 
wenden außer  den  Wendekreisen  auch  die  beiden  arktischen 
Kreise;  da  aber  eine  Spur  davon  schon  bei  Aristoteles  festzu- 
stellen war,  so  handelt  es  sich  nicht  um  eine  Neuerung,  son- 
dern um  parallel  laufende  Entwicklungen.  Seneka,  den  einen 
Hauptzeugen,  hat  schon  Berger  (Gesch.  d.  wiss.  Erdk.  S.  430) 
herangeholt  und  ganz  im  gleichen  Sinne  wie  ich  verwertet; 
da  indessen  Bergers  Argumentation  wegen  ihrer  Knapp- 
heit und  einer  gewissen  Unklarheit^)  von   den  Späteren  nicht 


^)  Berg  er  geht  zu  weit,  wenn  er  Favorin  bei  Gellius  II  22  sowie 
Plinius  n.  h.  II  119  ss.  als  Zeugen  anführt;  erst  auf  weitem  Umwege  ist 
zu  erschließen,  daß  sie  —  dann  aber  auch  alle  Späteren  —  in  der  Vor- 
stellung von  der  Meridianprojektion  befangen  waren.  Auch  den  Olym- 
piodor,  der  hier  nur  Aristoteles  paraphrasiert,  hätte  Berger  nicht  nennen 
dürfen.  Dies  beiseite  gelassen,  lautet  sein  Bericht:  „Bei  Seneka  finden 
wir  die  Übertragung  auch  des  arktischen  und  antarktischen  Kreises  auf 
die  Windscheibe  ausgeführt;  das  kann  aber  nur  geschehen  sein,  indem 
man  vom  Horizonte  ganz  absah  und  sich  dafür  der  Vorstellung  einer 
ebenen  Projektion  der  durchsichtigen  Sphäre  in  der  Stellung,  die  jener 
Horizont  gefordert  hatte,  überließ."  Mit  dem  Relativsatz  will  er  wohl 
sagen,  daß  der  arktische  Kreis  derjenige  der  jeweils  vom  Zeichner  voraus- 
gesetzten Breite  ist.  Etwas  deutlicher  ist  der  Ausdruck,  den  er  an  spä- 
terer Stelle  wählt,  wenn  er  (S.  432)  von  dem  „Umschlag  der  Vorstellung 
vom  Horizonte  zur  projizierten  Halbkugel"  redet;  das  kommt  dem  Aus- 
druck nahe,  der  sich  mir  oben  S.  44  ungesucht  ergeben  hat. 


L 


60  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

beachtet  worden  ist,  scheint  es  mir  nicht  überflüssig,  auch 
noch  diese  Stellen  zu  besprechen.  Der  ältere  der  beiden  Haupt- 
zeugen ist  Seneca.  Er  hat  n.  qu.  V  16,  3  ss.  mit  Berufung 
auf  Varro  (vgl.  Kaibel,  Hermes  20  S.  595  f.)  das  Zwölfwinde- 
system aus  dem  der  vier  Kardinalwinde  in  der  Weise  ent- 
wickelt, daß  er  jedem  Hauptwinde  zwei  „subpraefecti"  gegeben 
hat.  In  c.  17  setzt  er  ganz  von  frischem  ein,  ohne  ein  Wort 
über  den  Unterschied  dessen,  was  er  jetzt  bringt,  und  des  vor- 
her entwickelten  Prinzips  zu  verlieren,  und  schreibt:  „Qui  duo- 
decim  ventos  esse  dixerunt,  hoc  secuti  sunt,  totidem  ventorum  esse 
quot  caeli  discrimina.  caelum  autem  dividitur  in  circulos  quinque, 
qui  per  mundi  cardines  eunt."  Es  folgt  die  Aufzählung  der 
fünf  parallelen  Kreise,  dann:  „Ms  sextus  accedit,  qui  superiorem 
partem  mundi  ah  inferiore  secernit"^  —  der  Horizontkreis;  „adi- 
ciendus  est  adhuc  meridianus  circulus,  qui  horizonta  rectis  angulis 
secat.  ex  Ms  quidam  circuli  in  transversa  currunt  et  alios  inter- 
ventu  suo  scindunt.  necesse  est  autem  tot  aeris  discrimina  esse 
quot  Qiorizontis  ?  caeli  ?)  partes :  ergo  SglCcov  sive  flniens  circulus 
quinque  illos  orhes,  quos  modo  dixi,  scindit  ^)  et  efficit  decem  par- 
tes, quinque  ah  ortu,  quinque  ah  occasu ;  meridianus  circulus, 
qui  in  horisonta  incurrit,  regiones  duas  adicit:  sie  duodecim  aer 
discrimina  accipit  et  totidem  facit  ventos."  Alles  ist  hier  in 
Ordnung,  sobald  man  an  Stelle  des  Horizontes  den  Kreis  setzt, 
der  durch  die  Pole  und  den  Ost-  und  Westpunkt  geht.  Hiefür 
sei  an  die  oben  S.  44  angeführten  Stellen  aus  Macrobius  er- 
innert; bemerkenswerter  Weise  vermeidet  hier  Seneca  sogar 
die  Ausdrücke  oriens  und  occidens  solstitialis  (wie  er  vorher  statt 
aestivus  zu  sagen  beliebt)  und  Mhernus  (wofür  er  eigentlich 
hrumalis  sagen  sollte). 

In  abschließender  Klarheit  endlich  liegt  dieses  System  in 
Ptolemaios'  Geographie  vor  uns.  Im  VII.  Buch  c.  6  gibt  dieser 
Anweisung    zur    Herstellung    einer    Zeichnung,     welche    eine 


*)  So  die  Überlieferung  in  STZ^.  Für  den  Sinn  macht  es  nichts 
aus,  ob  man  dies  annimmt  oder  mit  Benützung  der  Überlieferung  in  ö 
fieri  secat  den  Text  anders  gestaltet  {findi  secaf?). 


Griechische  Windrosen.  61 

xQLTicoxr]  o(pdiQa  jueTo.  rfjg  olxovjbievrjg  darstellen  soll^).  Natür- 
lich hat  das  Bild,  das  da  auf  der  Tafel  entstehen  soll,  zum 
Urbild  Globen,  wie  man  sie  tatsächlich  im  Gebrauch  hatte; 
dabei  ist  das  Eigentümliche,  daß  alle  Kreise,  die  der  Himmels- 
sphäre angehören  und  die  uns  denn  auch  auf  den  oben  S.  38 
A.  1  besprochenen  Planisphären  begegnen,  nicht  auf  dem  Globus 
aufgetragen  werden,  so  gut  sich  alle  mit  Ausnahme  der  Ekliptik 
auf  die  Erdkugel  projizieren  lassen^),  sondern  daß  sie  als  Ringe 
um  den  Globus  herumgelegt  sind;  also  eine  Erdkugel,  in  der 
durch  die  xqixoi  dargestellten  Himmelskugel  steckend^).  Der 
Autor  läßt  es  sich  (ähnlich  wie  in  der  Anleitung  zur  Herstel- 
lung eines  Himmelsglobus  Synt.  VIII  3)  nicht  verdrießen,  auch 
über  die  Farbengebung  zu  sprechen  (c.  6,  14)  und  zwar  für  den 
Globus  selbst  und  für  die  Ringe;  dann  fährt  er  fort  (§  15): 
ITaQayQayjojuev  de  xal  im  tovxcov  (rmv  xglxov)  ev  xoXg  eni- 
xaiQOig  TOJioig  rag  övojuaoiag  xal  eri  im  juev  rcbv  iv  xfji  yfji 
KvxXcov  Tovg  vTzodsöeiyjLievovg  iv  Tfji  xaxayQaqpfji  rfjg  oixovjuevijg 
(c.  5,  14—16)  dgi'&juovg  anoicbv  re  xal  cogcov,  tieqI  de  lov 
e^co  xvxXov  rag  icov  ävejucov  JiQoorjyoqiag,  axoXovd'Cog 
raXg  inl  Trjg  xQixooxfjg  ocpaigag  nagä  xovg  ixxeijuevovg 
Jievie  TiaQaXXrjXovg  xal  xovg  noXovg  diaorjjuaoiaig.  Auf 
diese  beigesetzten  Windnamen  wird  dann  auch  noch  c.  7, 4 
Bezug    genommen :    Aiaxe&eixai   de  xal  x6   iyvcoo/xevov  xfjg  yrjg 


^)  Ich  lasse  dahingestellt,  inwieweit  in  der  ganzen  Partie  Ptolemaios 
selbst  zu  uns  redet;  zu  den  Bedenken  gegen  c.  5,  1  und  c.  7,  die  Berger. 
Gesch.  d.  wiss.  Erdk.  S.  638  A.  1  geltend  macht,  kommt  hinzu,  daß  die 
Anleitung  zu  dieser  Globusprojektion  besser  in  das  I.  Buch  (vgl.  c.  22.  23) 
einzureihen  wäre,  sodann,  daß  die  ganze  Zeichnung  doch  nur  ein  Spiel 
und  Kunststück  ist.  Andrerseits  schließt  Buch  VIII  gut  an  das  Ende 
von  VII  an.  Hienach  ist  das  Wahrscheinlichste,  daß  der  Abschnitt, 
Wenn  auch  zur  Weitergabe  fremden  Gutes,  von  Ptolemaios  selbst  einge- 
fügt ist.    Gut  antik  ist  er  jedenfalls,  und  darauf  allein  kommt  es  hier  an. 

2)  Sie  fehlen  auch  in  dein  Globusentwurf,  den  Ptolemaios  1 22. 23  gibt. 

^)  Der  besondere,  wiederholt  stark  betonte  ,Witz''  bei  der  vorge- 
schlagenen Zeichnung  ist,  daß  der  Augenpunkt  und  die  Stellung  des  Tier- 
kreises so  gewählt  ist,  daß  keiner  der  hqIxoi  ein  Stück  der  Oikumene 
verdeckt ;  doch  das  geht  uns  hier  nicht  an. 


I 


62  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

juegog,  cbg  Tiegiggeoviog  tov  "Qxeavov  jiir]daju6&€v,  äkXä  jnovoig 
naQaxeijuh'OV  toTg  ngdg  Idnvya  xal  ^Qaoxiav  yeyQajiijusvoig  nEQaoi 
Tfjg  re  Aißvrjg  xal  T^g  EvQCOJirjg  dxokovi^cog  raig  xcjv  naXaiOTE- 
Qcjv  loTOQiaig'^).  Der  e^o)  xvxXog  ist  der  Meridiankreis;  um  ihn 
herum  sind  also  die  Windnamen  an  den  Schnittpunkten  mit 
den    fünf   parallelen  Kreisen    und    an    den  Polen    einzutragen. 


1)  Welche  hs.  Gewähr  die  Windnamen  haben,  die  der  Zeichnung 
beigeschrieben  sind,  die  sich  bei  Nobbe  S.  188  der  Tauchnitzausgabe 
finden,  vermag  ich  im  Augenblick  nicht  zu  beurteilen.  Gegen  die  Zu- 
verlässigkeit dieser  Beischriften  spricht  es,  daß  dort  statt  des  bei  Ptole- 
niaios  stets  genannten  laTiv^  (vgl.  auch  o.  S.  48  A.  2)  der  ägysoi^jg  steht. 
Im  Texte  der  Geographie  kommt  außer  idjiv^  und  dgaoxiag  sowie  ßoqeag 
und  voTog  noch  dq^rjXKozrjg  (I  13,  4  aus  Marinos)  und  aq^rjXicozixcoxsQog 
(I  11,1.  II  1,5)  vor,  dnaQXTiai  (1  9,  1  (aus  Diogenes -Marinos).  I  4,2), 
Xiy)  III  8,  2,  hßövoTog  I  15,  5  (aus  Marinos)  [IV  5,  23  in  Nobbes  Index  ist 
falsches  Zitat],  endlich  svgog  I  13,  5  und  8,  gleichbedeutend  mit  dem 
vorher  nach  Marinos  gebrauchten  x^'-f^^Q'-^^'-  dvaroXat;  {>eQival  und  ;ife<- 
(xsQivai  dvaxoXai  gebraucht  Ptolemaios  selbst  II  6, 12.  13,  nach  Marinos 
noch  I  13,  5.  15,  3,  lorj/neQivt]  ävaxoXrj  nach  Marinos  I  13,  7.  —  In  der  Syn- 
taxis  ist  überraschender  Weise  kitp  ==  Westen,  also  Gegenwind  des 
äntjhcbxrjg  (VIII  4  p.  189—193  Heib.  passim;  auch  schon,  worauf  mich 
Boll  hinweist,  VII  4  p.  74,12  djio  vöxov  xal  hßog  =  südwestlich).  Eine 
sicherlich  ungehörige  Zutat  in  den  Hss.  sind  die  Windnamen  auf  der 
Tafel,  die  Ptolemaios  Synt.  VI  11  p.  538  gibt;  das  ergibt  sich  schon  aus 
dem  begleitenden  Text.  In  der  Tetrabiblos  gibt  es  vier  Hauptrichtungen 
mit  den  Namen  ßoQgäg,  dqotjhcoxrjg,  vöxog  und  Xixp  und  vier  Zwischen- 
richtungen mit  Namen  ßoQQa(pi]hc6xr]g,  voxacprjXioixrjg ,  Xißovoxog;  für  die 
vierte  meidet  Ptolemaios  ein  eigenes  Substantiv;  sie  heißt  ßoggäg  xal  Xiip, 
wogegen  adjektivisch  ßoQQoXißixog  gebildet  wird  (Tetrabibl.  I  Kap.  jieqI 
xQiyoivcov,  II  Kap.  2,  p.  39  s.  und  58  s.  der  Ausg.  Basel  1553).  Ähnlich 
Vettius  Valens  bes.  p.  145  Kr.  (von  Boll,  N.  Jbb.  31  (1913)  S.  141  nicht 
ganz  richtig  interpretiert)  und  Firmicus  II  12  Kr.  Dagegen  redet  Geminos 
in  dem  astrologischen  Abschnitt  p.  22,  8  M.  von  l^ecpvQixog.  Aixp  statt 
CecpvQog  ist  spezifisch  ägyptisch  (Boeckh,  Abh.  Akad.  Berlin  1820/21, 
phil.-hist:  Kl.  S.  4.  30.  Hase  im  Thesaurus  s.  v.  Xiyj.  Deißmann,  Bibel- 
studien S.  139).  Zu  den  länger  bekannten  Belegen  kommen  solche  aus 
den  Zauberpapyri,  so  aus  dem  Leydener  bei  Dieterich,  Abraxas  S.  178, 16. 
197_199  (mehrfach);  desgleichen  in  dem  Pariser  Zauberpapyrus  (Wessely, 
Denkschr.  Akad.  Wien  1888;  Stellen  im  Index).  Der  ßogoXiyjisol),  der  bei 
den  Astrologen  fehlt,  kommt  bei  den  Zauberern  hinzu  (Wessely  S.  85 
1.  1646);   vorajirjXidoxTjg  ebenda  1.  1647. 


Griechische  Windrosen.  63 

Ausdrücklich  wird  uns  noch  gesagt,  daß  genau  das  Nämliche 
(nur  daß  natürlich  die  Namen  auf  den  Meridiankreis  selbst 
gesetzt  zu  denken  sind)  für  die  plastisch  ausgeführte  XQixcoTr] 
oqpaiQa  anzunehmen  ist.  Auch  wird  die  ganze  Sache  als  so 
selbstverständlich  behandelt,  daß  man  weiter  annehmen  muß, 
die  Anbringung  der  Windnamen  in  dieser  Art  sei  etwas  ganz 
Übliches  gewesen. 

Es  gibt  noch  einen  dritten  Zeugen  für  diese  Kombination 
der  Meridianprojektion  mit  den  Winden  in  späterer  Zeit:  Galen 
bei  Oreibasios  IX  7.  Da  er  aber  den  arktischen  Kreis  wiederum 
beiseite  läßt,  brauche  ich  hier  nicht  näher  auf  ihn  einzugehen, 
zumal  aus  quellenkritischen  Gründen  eine  eingehende  Behand- 
lung im  6.  Abschnitt  erfolgen  muß. 

Und  nun  kehren  wir  zurück  zu  Timostheues !  In  welchem 
Zusammenhang  und  zu  welchem  Zwecke  er  die  Windrose  be- 
handelt hat,  wird  ganz  klar  aus  Agathemeros:  er  spricht  als 
Geograph.  Unmittelbar  nach  Aufzählung  der  Winde,  die 
Timosthenes  angeblich  zur  achtstrichigen  Rose  hinzugefügt  hat, 
fährt  Agathemeros  fort :  ^'Ed'vrj  de  oixeTv  ((prjoi)  rä  negara  xar'' 
ä7if]Xid)T7]v  BaxTQiavovg,  xax^  evgov  'Ivdovg  xxX.^)  Da  haben  wir 
also  die  Winde  am  ßande  einer  Karte  verzeichnet,  wie  bei 
Ephoros  und  bei  den  eben  durchgesprochenen  Geographen ; 
man  denkt  am  liebsten  an  eine  Karte  nur  der  Oikumene,  auf 
die  dann  das  Schema  als  etwas  schon  fest  Gewordenes  me- 
chanisch übertragen  ist.  Ausgeschlossen  ist  aber  nicht,  daß 
Timosthenes  die  ganze  Halbkugel  gezeichnet  hat,  wie  wir  es 
für  den  Vorgänger  Strabons  (o.  S.  58)  erschlossen  haben,  und 
es  dann  dem  Benutzer  überließ,  durch  gedachte  Parallelen  die 


1)  Es  wird  die  Probe  an  der  Kartenskizze  Fig.  8  erleichtern,  wenn 
ich  die  Liste  hier  im  vollen  Umfang  beifüge:  Apeliotes  —  Baktrer; 
Euros  —  Inder ;  P  h  o  i  n  i  x  —  Rotes  Meer  und  (östliches)  Äthiopien ;  N  o  t  o  s 
—  Äthiopien  oberhalb  Ägyptens;  Leukonotos  —  Garamanten  oberhalb 
der  Syrten;  Lips  —  westliches  Äthiopien  oberhalb  Mauretaniens;  Ze- 
phyros  —  Säulen  des  Herakles,  Anfang  Libyens  und  Europas;  Ar- 
gestes  —  Iberien;  Thraskias  —  Kelten  und  deren  Nachbarn;  Apark- 
^ias  —  Skythen  oberhalb  Thrakiens;  Bor  ras  —  Pontos,  Maiotis,  Sar- 
matien;   Kaikias  —  Kaspisches  Meer  und  Saker. 


I 


64 


3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 


Richtungen  auf  die  Oikumene,  etwa  mit  dem  Zentrum  Rhodos^), 
zu  übertragen.  Ich  veranschauliche  die  Sache  durch  eine  Skizze 
Fig.  8  analog  Fig.  7.  Da  zwischen  Ephoros  und  Timosthenes, 
wie  schon  oben  bemerkt,  nicht  allein  Aristoteles,  sondern  auch 
Dikaiarch  steht,  so  ist  bei  Timosthenes  völlige  Klarheit  in 
diesen  Fragen  gewiß  vorauszusetzen. 


Fior.  8. 


Das  Ergebnis  für  Timosthenes  ist  —  um  die  lange  Aus- 
einandersetzung abzuschließen  — ,  daß  man  nicht  bestimmt 
entscheiden  kann,  ob  ihm  das  aristotelische  oder  das  Schema 
der  Meridianprojektion  zuzuschreiben  ist,  wogegen  er  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  mit  der  bewußten  Durchführung  der 
Zwölfteilung  nichts  zu  tun  hat. 

1)  Berger  hat,  Gesch.  d.  wiss.  Erdk.  S.  431,  den  Einfluß  Dikaiarchs 
auf  Timosthenes  wahrscheinlich  zu  machen  gesucht.  In  diesem  Fall 
wird  man  bei  Timosthenes  als  Mittelpunkt  für  den  Entwurf  einer  Karte 
der  Oikumene  am  liebsten  Rhodos  annehmen.  Die  Angaben  über  die 
Randvölker  lassen  sich  damit  so  gut  vereinbaren  wie  mit  dem  von 
Berg  er  empfohlenen  Alexandreia. 


Grriechische  Windrosen.  65 

Zusatz.  Die  vorstehende  Erörterung  über  Timosthenes 
ist  die  unveränderte  Wiedergabe  der  Untersuchung,  die  ich 
am  6.  Mai  vorgetragen  habe.  Seitdem  bin  ich  auf  ein  Denk- 
mal gestoßen,  das  die  Entscheidung  darüber  bringt,  welches 
System  Timosthenes  zu  gründe  gelegt  hat.  Durch  die  Be- 
merkung von  Peter  in  den  Atti  delF  accad.  Rom.  I  2  (1823) 
S.  41  f.  über  das  „anemoscopo  del  Boscovich"  war  ich  vor  län- 
gerer Zeit  veranlaßt  worden,  nach  Cellarius'  Geographia  antiqua 
(Rom  1774)  zu  suchen,  die  mir  aber  nicht  sogleich  zugänglich 
war.  Auf  dem  Weg  über  diese  Ausgabe  kam  ich  dann  zu  der 
viel  zuverlässigeren  ersten  Veröffentlichung  des  „Anemoscopo" 
in  P.  M.  Paciaudis  Monumenta  Peloponnesia  I  (Rom  1761) 
S.  115  ff.  Nach  der  dort  S.  117  gegebenen  Abbildung,  die  nur 
leider  in  dem  Exemplar  der  K.  Hof-  und  Staatsbibliothek  im 
Abdruck  nicht  ganz  sauber  herausgekommen  ist,  gebe  ich  als 
Fig.  9  das,  wie  es  scheint,  verschollene  kleine  Denkmal,  das 
für  uns  wie  ein  neuer  Fund  ist  (ins  CIL  VI  ist  es,  wie  mir 
Hülsen  auf  Anfrage  freundlich  bestätigt,  nicht  aufgenommen). 
Als  ein  Unikum,  das  es  heute  noch  ist,  würde  es  verdienen, 
der  Vergessenheit  entrissen  zu  werden,  auch  wenn  es  nicht  im 
Augenblick  als  Schlußstein  eines  Kombinationenaufbaues  „wie 
gerufen"  käme. 

Gefunden  ist  die  marmorne  Scheibe  nach  den  Angaben 
ihres  damaligen  Besitzers  und  ersten  Bearbeiters'  Paciaudi  im 
Jahre  1759  „in  agro  Romano  extra  portam  Capenam  secus  viam 
Appiam^'  beim  Umgraben  eines  Weinbergs;  Franciscus  Alfanus 
(der  mir  nicht  weiter  bekannt  ist)  hat  sie  dem  Paciaudi  ge- 
schenkt. Dieser  rühmt  mit  nicht  unberechtigtem  Entdecker- 
stolz den  Fund  als  höchst  merkwürdig  und  wichtig;  er  hat 
für  eine  offenbar  sehr  gute  Abbildung  Sorge  getragen  (der 
Kupferstecher  hat  augenscheinlich  den  Schriftcharakter  der 
Inschriften  gut  gewahrt),  sodann  stammt  von  ihm  die  Re- 
konstruktion des  ganzen  Apparates,  die  immerhin  das  Wesent- 
liche trifft  (vgl.  die  Bemerkungen  am  Schlüsse  dieses  Abschnittes), 
endlich  hat  er  einen  sehr  verständigen  archäologischen  Kom- 
mentar beigesteuert  und  den  gelehrten  Astronomen  Boscovich 

Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  u.  d.  bist.  KI.  Jahrg.  1916,  3.  Abb.  6 


e^ 


3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 


S.  J.  zu  einem  brieflichen  Gutachten  veranlaßt,  das  er  im  An- 
schluß an  seine  eigenen  Bemerkungen  abdruckt;  dieses  allein 
hat  in  der  Ausgabe  des  Cellarius  Aufnahme  gefunden,  ob- 
wohl es  die  Sache  weniger  fördert  als  Paciaudis  Beitrag. 
Da  übrigens  keiner  der  beiden  Gelehrten  das  Unlogische  der 
angewandten   Projektionsart   hervorhebt    und   keiner    den    Zu- 


I5J 
Kl' 

CO 


Griechisclie  Windrosen.  67 

sammenhang  mit  Timosthenes'  Windrose  erkennt^),  ist  es 
überflüssig,  sich  mit  ihren  Hypothesen  näher  auseinander- 
zusetzen. 

Wertvoll  sind  ihre  Versuche,  sich  das  Fundstück  zu  er- 
klären, für  uns  eigentlich  nur  insofern,  als  sie  einen  indirekten 
Beweis  der  Echtheit  des  Stückes  liefern.  Doch  ich  denke,  über 
diesen  Punkt  dürfen  wir  ohnedies  unbesorgt  sein.  Ein  Fälscher 
hätte  die  Windnamen  aus  Plinius  oder  gar  aus  Agathemeros, 
das  System  aber  aus  Seneca  entnehmen  und  dabei,  worauf 
Boscovich  nicht  gekommen  ist,  dessen  septemtrionaUs  als  den 
(circulus)  totus  supra  terram  verstehen  müssen  statt  als  den 
modernen  Polarkreis!  Gegen  eine  Fälschung  sprechen  auch  die 
gut  antike  Schriftform  mit  ihrem  der  Kursive  nahen  Duktus  und 
die  vulgäre  Sprachform  (zweimal  terra  statt  terram,  dazu  augen- 
scheinliche Verwahrlosung  einiger  Windnamen).  Echt  römisch 
ist  ferner  die  Orientierung  der  Schrift  auf  der  Oberfläche  in 
der  Weise,  daß  der  Beschauer  nach  Süden  zu  blicken  hat,  um 
die  Schrift  aufrecht  vor  sich  zu  sehen  ^).  Endlich  muten  die 
Beschädigungen  echt  antik  an. 

Der  Fund  besteht  in  einer  runden  Marmorplatte  von  2^/2 
palmi  Romani  =  0,655  m  im  Durchmesser  und  8^/4  uncie  = 
0,095  m  Dicke.  Die  Platte  ist  in  der  Mitte  quer  durchge- 
brochen, vielleicht  gesprengt  durch  den  Rost  des  Eisendübels, 
der  in  ein  rundes,  oben  weiteres,  nach  unten  sich  ver- 
engendes Loch,  das  durch  die  ganze  Dicke  der  Platte  ging, 
eingelassen  war.  Sonst  ist  der  Erhaltungszustand  offenbar  gut, 
nur  ist  die  obere  Kante  ringsum  bestoßen  und  an  einer  Stelle, 
zwischen    Caecias    und    Boreas,    ein    Stück    des    Randes    abge- 


1)  Den  Agathemeros  nennt  Paciaudi  zwar  S.  12t,  eingesehen  hat 
er  ihn  aber  oflenbar  nicht,   wiewohl  seine   Schrift  in  Jac.  Gronovius' 
^^Geographica  antiqua  längst  gut  zugänglich  war. 

I^h  2j  Vgl.  Nissen,  Orientation  III  S.  265  (Varro  LL  VII  6.  Festus 
^^B.  339.  220  u.  a.  m.).  Auch  die  Aufschrift  des  M.  Antistius  Euporus  auf 
^^Hder  Sonnenuhr  mit  Windscheibe  aus  Aquileia  setzt  die  nämliche  Stel- 
^^^  lung  des  Beschauers  voraus  (Gregorutti,  Bull,  dell'  inst.  1879  S.  28, 
!  Kaibel  S.  624.  Mitt.  d.  K.  K.  Zentralkommission,  Wien  1880  S.  7  Abb. 7, 
hienach  hier  S.  68  Fig.lO),  desgleichen  endlich  das  ioi]^is[qiv]J]  o.Fig.öS.  51. 

5* 


I 


3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 


M--^ 


Dec 


Fig.  10. 


splittert.  In  die  horizontale  Oberfläche  sind  sechs  Durchmesser 
eingegraben,  an  deren  beiden  Enden  hart  am  Rande  der  Platte 
je  eine  runde  Einarbeitung  angebracht  ist.  Zu  dem  als  aequi- 
noctialis  (seil,  circulus)  bezeichneten  Durchmesser  sind  südlich 
und  nördlich  je  zwei  Parallelen  gezogen,  durch  Beischriften  als 
totus  infra  terra(m),  brumalis,  sol(s)titialiSj  totus  supra  terra(m)  ^) 
gekennzeichnet.  Zwischen  den  beiden  letzten  steht  die  Inschrift 
des  Verfertigers:    Eutropius  feci.     Rings   um   den   senkrechten 


1)    Zum   Ausdruck    vergleicht   Paciaudi   gut    Gem. 
(p.  44,  6.  46,  10  M.)  okog  vjisq  (vjtoj  y^v  oJioXa/xßavö/zevog. 


.  Y  2.  9 


Griechische  Windrosen.  69 

Rand  sind  senkrechte  Striche  so  eingegraben,  daß  immer  in 
der  Mitte  zwischen  zweien  ein  Durchmesser  endet.  In  diesen 
abgeteilten  Flächen  steht  je  ein  Windname:  aparcias,  trascuas  = 
trasc(i)as,  irgastes  foder  ergastes?)  =  arg(e)stes,  zephyrus,  Ubs, 
libonotus,  notus,  phoenix,  eurus,  apheli(otes),  cae[cias],  [horjeas. 

Das  sind  die  Windnamen  der  Rose  des  Timosthenes; 
auch  im  Referat  des  Agathemeros  steht  (poivi^  an  erster  Stelle, 
und  Plinius  hat  diesen  Namen  im  zwölfstrichigen  System  als 
einzigen,  während  er  seine  Identität  mit  dem  eugovorog  ver- 
kannt hat.  Auf  der  Oberfläche  aber  ist,  wie  man  sieht,  und 
wie  zum  Überfluß  die  Inschriften  erklären,  die  im  voraus- 
gehenden von  mir  eingehend  erörterte  „Meridianprojektion" 
eingetragen.  (Dabei  ist  die  Schiefe  der  Ekliptik  mit  etwa  21^ 
zu  gering  angenommen,  die  Polhöhe  mit  48^  viel  zu  groß  für 
Rom.  Das  ist,  wie  mir  Wolters  zweifellos  richtig  bemerkt, 
sehr  einfach  daraus  zu  erklären,  daß  der  Yerfertiger  zur  Grund- 
lage seiner  Konstruktion  höchst  mechanisch  die  Teilung  des 
Meridians  in  sechs  gleiche  Teile  gemacht  hat).  Ich  zweifle  nicht, 
daß  damit  die  Frage  der  Horizontteilung  bei  Timosthenes  ent- 
schieden ist  und  zwar  im  Sinne  der  zweiten  Alternative  (s.  o.  S.  64). 

Noch  ein  Wort  über  die  Verwendung  der  Windscheibe ! 
Selbstverständlich  hat  man  sie  sich  auf  einem  Untergestell  von 
Tisch-  bis  höchstens  Augenhöhe  angebracht  zu  denken.  Bei 
der  Größe  des  Loches  in  der  Mitte  ist  es  wahrscheinlich,  daß 
dort  auf  einer  Stange  eine  Windfahne,  etwa  ein  Triton  wie 
auf  dem  athenischen  und  dem  römischen  Windeturm,  eingefügt 
war;  so  ist  ja  nach  Angabe  von  Lais  auch  der  o.  S.  50  er- 
wähnte Windpfeiler  in  Rom  ausgestattet  zu  denken ;  die  kleinen 
Löcher  am  Rande  können  einfache  Stäbchen  getragen  haben, 
schwerlich  solche  kugelförmige  Knöpfe,  wie  sie  auf  der  alten 
Abbildung  ergänzt  sind.  Ihr  Zweck  ist  nach  dem  oben  (S.  16) 
über  die  ionische  Skaphe  Gesagten  nicht  zweifelhaft:  sie  ermög- 
lichten es,  durch  Visieren  sich  in  der  Umgebung  zu  orientieren. 

Die  weitere  Geschichte  der  Windnamen  im  Zwölfwinde- 
systom  zu  verfolgen,  ist  nicht  meine  Absicht.    Das  einzige  in- 


I 


70  3.  Abhandlung :  Albert  Rehm 

teressante  Dokument,  das  hier  in  Frage  kommt,  das  pseudo- 
aristotelische Fragment  ävejucov  '&eoeig  xal  nqooriyoQiai,  behandle 
ich  im  Anhang ;  daneben  werden  einige  Einzelpunkte  im  6.  Ab- 
schnitt berührt  werden^). 

5.  Das  hellenistische  Achtwindesystem. 

Seit  Kai  bei  galt  es  als  ausgemacht,  daß  die  letzte  Ent- 
wicklungsphase der  griechischen  Windrosen  mit  dem  Namen 
Eratosthenes  zu  verbinden  sei,  der  im  pseudogalenischen  Kom- 
mentar zu  Hipp,  negl  xvijlojv  vol.  XVI  p.403K.  als  Gewährsmann 
für  das  neue  Achtwindesystem  erscheint^).  Die  Kombination  schien 
auch  der  zu  starker  Selbständigkeit  und  außerdem  zu  mathe- 
matischen Verfahrungsweisen  neigenden  Art  des  Eratosthenes 
ausgezeichnet  zu  entsprechen,  und  man  konnte  eine  Stütze  da- 
für in  der  Notiz  bei  Achilleus  Isag.  p.  68,  25  M.  finden: 
InQay fjLaTevoaxo  de  jzsqI  ävsjucov  Tiol  ^Egaroo'&evrjg.  Jetzt  haben 
wir  zu  gestehen,  daß  wir  nicht  wissen,  was  Eratosthenes  über 
die  Winde  geschrieben  hat,  ja  man  wird  nach  seinem  engen, 
zum  Vorwurf  des  Plagiates  führenden  Abhängigkeitsverhältnis 
zu  Timosthenes  (Marcian.  Epit.  peripl.  Menipp.  GGM  I  p.  566) 
ihn  eher  unter  die  Vertreter  des  Zwölfwindesystems  einreihen 
als    unter    die    des    Achtersystems  ^).      Denn    das    Zeugnis   bei 


^)  Das  sonstige  Material  (Ps.-Agathemeros  GGM  II  p.  503,  Dionysios 
von  Utika  Geop.  I  11  B.)  stellt  Gilbert  S.  554  zusammen;  dazu  kommen 
Adamantios  und  die  Windtafel  des  Nikephoros  Blemmydes  bei  Rose, 
Anecd.  I  p.  35  und  Tafel. 

2)  Auf  dieses  Windkapitel  war  Kaibel  durch  V.Raum  er  (S.  504.  517) 
aufmerksam  geworden;  Rose  hat  Anecd.  Gr.  I  (S.  23  f.)  einen  wichtigen, 
von  Kaibel  übersehenen  Beitrag  zur  Analyse  geliefert.  Müllen  hoff, 
der  gleichfalls  später  nicht  mehr  berücksichtigt  worden  ist,  hatte  schon 
1870,  Deutsche  Altert.-K.  1  S.  244  A.  1,  erklärt,  daß  in  dem  Kommentar 
„vielleicht  die  ganze  Anweisung  des  Eratosthenes,  eine  Windrose  zu 
entwerfen,  wiederholt"  sei. 

^)  Aus  den  spärlichen  Orientierungsangaben,  die  von  ihm  erhalten 
sind,  wage  ich  nichts  zu  folgern  (s.  o.  S.  53).  Entschieden  wäre  die 
Frage,  wenn  in  Arrians  Anab.  V  6,  3  die  Nennung  des  Idjiv^  auf  Erato- 
sthenes zurückginge  (Berger,  Geogr.  Fragm.  d.  Er.  III  B  9  S.  227).  Aber 
das  ist  ohne  alle  Gewähr. 


Griechische  Windrosen.  71 

Ps.-Galen  scheidet  schlechterdings  aus.  Der  Nachweis,  daß 
die  Beschreibung  des  Systems  bei  Ps.-Galen  aus  Vitruv  über- 
setzt und  der  Name  des  Eratosthenes  vom  Fälscher  aus  der 
wiederholten,  nur  leider  mit  dem  System  selbst  in  keinerlei 
Zusammenhang  stehenden  Erwähnung  des  Eratosthenes  bei 
Vitr.  I  6,  9.  11  hinzukombiniert  ist,  wird  sich  im  nächsten  Ab- 
schnitt aus  Kalbfleischs  Zusammenstellungen  ebenso  zwin- 
gend für  andere  wie  für  mich  ergeben. 

Mit  dem  Ausscheiden  des  Zeugnisses  des  Ps.-Galen  wird 
das  hellenistische  Achtersystem  wieder  anonym;  leider  wird 
zugleich  die  Zeit  seiner  Entstehung  ganz  unsicher ;  wir  können 
nur  sagen,  daß  Hipparch  es  höchst  wahrscheinlich  angewendet^), 
Andronikos  Kyrrhestes  in  seinem  Windeturm  es  sicher  darge- 
stellt hat.  Aber  nichts  hindert,  anzunehmen,  daß  es  lange  vor 
diesen  Zeugen  aufgestellt  worden  ist.  Auch  auf  naturwissen- 
schaftlichem Gebiet  haben  wir  ja  die  Trümmerhaftigkeit  der 
Überlieferung  aus  dem  III.  Jahrhundert  ebenso  schmerzlich  zu 
beklagen  wie  auf  dem  der  übrigen  Literatur  und  der  politischen 
Geschichte. 

Die  Leistung  eines  selbständigen  Denkers  und  zugleich 
eine  glückliche  Synthese  von  energischem  Fortschrittstreben  und 
erhaltendem  historischem  Sinne  ist  das  neue  Achtwindesystem 
auf  alle  Fälle,  einerlei,  wo,  wann  und  von  wem  es  geschaffen 
ist.  Sein  Urheber  hat  offenbar  die  Sinnwidrigkeit  der  üblichen 
Horizontteilung  stark  empfunden  (vgl.  o.  S.  50)^)  und  deshalb  den 

^)  und  zwar  in  seinem  Kalender  (in  Ptolemaios'  Phaseis).  Dort 
kommen  unter  seinen  Episemasien  nur  Namen  vor,  die  in  das  Achter- 
system gehören:  für  0,  S,  W  nennt  er  je  nur  einen  Wind  {djirjXicozrjs, 
voTog,  ^ecpvQog),  von  den  nördlichen  aber  drei,  agysoxr^g  (30.  I.  14.  IIL), 
djiaQXTcag  (21.  IV.,  17.  V.,  jedesmal  als  Gegensatz  zu  vozog),  ßogeag;  daß 
ihm  ßoQsag  =  NO  ist,  verrät  die  Bemerkung  zum  14.  VII.  ßogiai  agxov- 
rat  {jivsTv)  neben  izrjoiat  ägxovtai  jiveTv  zum  18.  VII.  Die  ßogeat  sind  die 
jigödgofxoi  der  Etesien. 

2)  Die  moderne  Forschung  kann  eigentlich  erst  jetzt,  nach  der  Wieder- 
auffindung der  Windscheibe  des  Tiraosthenes,  den  Fortschritt  voll  wür- 
digen. Doch  sei  ausdrücklich  hervorgehoben,  daß  Steinmetz  S.  42— 45 
zuerst  das  Wesen  der  Neuerung  gut  und  klar  gewürdigt  hat,  während 
Berger  S.  432  es  zu  verkennen  scheint. 


72 


3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 


radikalsten  Ausweg  eingeschlagen:  die  Verbindung  der  Horizont- 
teilung mit  den  Sonnenphänomenen  ganz  zu  lösen  und  an  ihre 
Stelle  eine  rein  geometrische,  einfache,  die  Regionen  der  Winde 
bestimmt  und  gleichförmig  begrenzende  Teilung  zu  setzen,  die 
für   jeden    Ort    richtig    und    für   jedermann    anwendbar    war. 


ArAPKT/Ac 


y:o±oU 


Fig.  11. 


über  den  Tatbestand  gibt  es  diesmal  keine  Zweifel :  die  Wind- 
tafel ist  ein  reguläres  Achteck  oder  ein  in  acht  gleiche  Teile 
zerlegter  Kreis,  wie  ihn  Fig.  11  zeigt.  Hauptrichtung  jedes 
Windes  und  zugehöriger  Bogen  verhalten  sich  wie  bei  Timo- 
sthenes.  Diesen  Sachverhalt  zeigen  uns  übereinstimmend  der 
Turm  der  Winde,  die  Windscheibe  von  Aquileia  (s.  o.  Fig.  10)^), 
die  Beschreibung  Vitruvs  I  6,7.  13,  wo  von  ventorum  regiones 
und  den  unter  sich  gleichen  ventorum  spatia  die  Rede  ist. 
Aber  auch  das  Holzgestell  (achtspeichiges  Rad),  das  Plin.  n.  h. 


^)  Die  Namen  sind  dort  im  Sinne  des  Uhrzeigers  verschoben;  na- 
türlich sollte  auster  =  vorog,  septentrio  =  änagxxiag  sein  usw. 


Griechische  Windrosen.  73 

XVIII  332  zu  Hilfe  zu  nehmen  empfiehlt,  beruht  auf  ganz 
dem  gleichen  Prinzip,  obwohl  er  nicht  die  Abgrenzung  der 
Bogen  sondern,  als  für  den  praktischen  Zweck  ausreichend, 
nur  die  acht  Hauptrichtungen  anmerken  läßt. 

Minder  klar  ist  allerdings  die  Terminologie  der  antiken  Be- 
schreibungen, indem  wir  mit  Verwunderung  die  Hauptpunkte 
der  Zwischenwinde  doch  in  der  alten  Weise  als  Solstizialpunkte 
bezeichnet  finden,  und  das  nicht  allein  bei  denjenigen  Zeugen, 
die  das  Achtwindesystem  dem  der  zwölf  Winde  in  der  Darstellung 
vorausschicken  (Plin.  n.  h.  II  119,  Favorin  bei  Gellius  II  22, 
Agathemeros  GGM  II  p.  472),  wo  man  allenfalls  von  An- 
bequemung an  die  Grundlagen  des  Zwölfersystems  reden  könnte, 
sondern  ebenso  da,  wo  die  achtstrichige  Rose  für  sich  steht, 
wie  bei  Vitruv  I  6  und  Plin.  n.  h.  XVIII  333  ss.^);  die  Über- 
lieferung führt  also  darauf,  diese  Ausdrucksweise  als  ursprüng- 
lich gelten  zu  lassen.  Nun  mag  man  mit  Berger  S.  432  sagen: 
für  jeden  Ort  der  Oikumene  fielen  ja  die  Solstizialpunkte  in 
den  Bereich  der  Bögen  des  betrefi'enden  Windes,  da  diese  von 
22^/2^  bis  67^/a^  ihres  Quadranten  reichen.  Aber  das  scheint 
mir  eine  Spitzfindigkeit;  viel  eher  haben  wir  in  der  anfecht- 
baren Ausdrucksweise  die  Wirkung  der  allmächtigen  termino- 
logischen Tradition  zu  erblicken.  Ihr  Walten  erkennen  wir 
auch  in  der  Benennung  der  Winde.  Es  war  mir  niemals 
zweifelhaft,  daß  wir  für  das  normale  Achtersystem  die  Namen 
so  zu  wählen  haben,  wie  ich  sie  Fig.  11  gebe.  Überlieferungs- 
differenzen  gibt  es  nur  für  den  NO  und  NW.  Bezüglich  des 
NO  ist  die  Sachlage  einfach :  aquilo  bei  Vitruv  ist  die  gewöhn- 

^)  Ich  benütze  die  Gelegenheit,  eine  Pliniusstelle  gegen  völlig  un- 
nötige Änderungsvorschläge  zu  verteidigen.  Kai  bei  hat  S.  591  A.  1 
Anstoß  genommen  an  dem  Satze  Plin.  II  124:  „molUre  eos  (aquilones) 
creditur  solis  vapor  geminatus  ardore  sideris".  Möllire  heißt  aber  hier 
„gelinde",  d.  h,  warm,  „machen".  Was  Plinius  meint,  zeigt  deutlich  die 
Wiederholung  des  Gedankens  XVIII  335:  ,,nec  tarnen  eiim  (m/iiiJoncm) 
toto  anno  in  praedictis  timeat  agricola.  mollitur  sidere  aestate  media  mii- 
tatque  nomen  —  etesias  vocatur".  Das  sidus  ist  natürlich  der  Hundsstern. 
Nebenbei  zeigt  diese  Stelle  unter  andern,  daß  Plinius,  als  er  Buch  XVIII 
schrieb,  sich  z.  T.  an  die  nämliche  Quelle  hielt  wie  in  Buch  II. 


74  3.  Abhandlung;  Albert  Rehm 

liehe  Übersetzung  von  ßogeag,  Plinius  gibt  für  das  Achtwinde- 
system II  119  und  XVIII  333  direkt  boreas'^),  und  wenn  er 
XVIII  335  hinzusetzt  „nee  sum  oblitus  in  hac  parte  ventum 
Graecis  poni,  quem  caecian  vocant",  so  zeigt  die  verworrene 
Fortführung  dieser  Anmerkung  („sed  idem  Aristoteles,  vir  im- 
mensae  subtilitatis,  qui  id  ipsum  fecit,  rationem  convexitatis 
mundi  reddit,  qua  contrarius  aquilo  africo  flat"),  woher  die 
Variante  stammt;  mit  unserem  System  hat  also  sein  caecias 
nichts  zu  tun.  So  steht  denn  Agathemeros,  der  in  der  acht- 
strichigen  Rose  als  NO  den  Kaikias  anführt,  allein;  es  läßt 
sich  nun,  meine  ich,  wohl  verstehen,  weshalb  er  ändert:  er 
will  ja  aus  der  achtstrichigen  Rose  die  zwölfstrichige  des  Ti- 
mosthenes  ableiten,  in  der  Boreas  als  NNO,  Kaikias  als  ONO 
festsaßen.  Boreas  als  NO  würde  ihm  also  die  Verbindung  der 
beiden  Systeme  erschwert  haben.  Wie  ungeschickt  diese  gerät, 
wenn  man  den  Boreas  in  der  achtstrichigen  Rose  beläßt,  kann 
man  aus  Plin.  n.  h.  II  119  ersehen,  wo  der  achte  Wind  (NO) 
plötzlich  nicht  als  solcher  vom  Solstizialpunkt,  sondern  als 
Zwischenwind  zwischen  septentriones  und  exortus  solstitialis  er- 
scheint; die  angeführte  Stelle  aus  XVIII  335  ist  übrigens  kaum 
etwas  anderes  als  ein  abermaliger  mißglückter  Versuch,  in 
diesem  Punkte  Klarheit  zu  schaffen.  Agathemeros  hat  sich 
die  Sache  also  durch  eine  Ungenauigkeit  leichter  gemacht. 

Schwieriger  schienen  die  Dinge  für  den  NW  zu  liegen,  so 
lange  Ps.-Galen  als  vollwertiger  Zeuge  galt ;  denn  es  war  doch 
zu  merkwürdig,  daß  er  p.  403,10  den  Wind  xavgog  nennt,  für 
den  Vitruv  (16,4.13)  ebenfalls  caurus,  daneben  corus,  gibt^); 


^)  Auch  Favorins  achtstrichige  Rose  nennt  als  NO  den  Boreas;  sie 
ist  (mit  willkürlichen  Änderungen)  aus  unserer  hellenistischen  abgeleitet, 
also,  soweit  sie  mit  den  andern  Zeugen  übereinstimmt,  selbst  als  Zeugnis 
zu  gebrauchen. 

2)  Es  braucht  nicht  mehr  (gegen  Kaibel  S.  602)  bemerkt  zu  werden, 
daß  Vitruv  zwar  die  Namen  des  Achtwindesysteras  anläßlich  der  Er- 
wähnung des  Turmes  der  Winde  zuerst  anführt,  daß  er  aber  ganz  andere 
Namen  gibt,  als  dort  stehen,  eben  die  üblichen  lateinischen  Übersetzungen 
der  üblichen  Namen  aus  der  achtstrichigen  hellenistischen  Rose. 


Griechische  Windrosen.  75 

xavQog  nimmt  denn  auch  Steinmetz  S.  44  auf.  Heute  brauchen 
wir  demgegenüber  nicht  mehr  geltend  zu  machen,  daß  alle 
andern  Zeugen  äQyeoxrjg  bieten  (Plin.  II  119.  XVIII  338,  Fa- 
vorin,  Agathemeros,  Hipparch  —  s.  o.  S.  71  A.  1);  heute  liegt 
ganz  klar  zu  tage  (s.  u.  S.  76  ff.),  daß  lediglich  dem  Ungeschick 
des  Fälschers  jener  xavgog  verdankt  wird,  der  also  den  grie- 
chischen Lexika  fernzubleiben  hat,  wie  er  jetzt  in  ihnen  fehlt: 
das  Wort  gehört  ausschließlich  dem  Lateinischen  an. 

Es  ergibt  sich  also,  daß  die  Namen  im  hellenistischen 
System  durchaus  mit  denen  in  der  Schrift  Jiegl  eßdojuddcov 
(s.  o.  Fig.  2  S.  32)  übereinstimmen.  Für  Zufall  wird  das  niemand 
halten  wollen ;  der  Erfinder  des  neuen  Systems  knüpfte  also  in 
der  Namengebung  bewußt  an  ein  ionisches  Muster  an,  während 
er  das  Teilungsprinzip  neu  aufgebracht  hat. 

6.   Poseidonios. 

Wie  beim  vorigen  Abschnitte  haben  wir  mit  Kaibels 
Hermesaufsatz  zu  beginnen.  Kaibel  hat  dort  das  Windkapitel 
im  pseudogalenischen  Kommentar  zu  Hippokrates  negi  xv/jlcjv 
(XVI  p.  395 — 411  K.)  fast  ganz  auf  Poseidonios  zurückzuführen 
unternommen  (S.  610 — 613);  nur  die  mit  Gellius  übereinstim- 
mende Partie  p.  406,  8 — 407, 12  verblieb  dem  Favorin,  der 
aber  als  Vermittler  des  gesamten  poseidonianischen  Gutes  an- 
gesehen wurde.  Den  Kaib eischen  Unitarismus  hat  neuestens 
A.  Schmekel  in  seinem  „Isidorus  von  Sevilla"  noch  über- 
trumpft, indem  er  S.  215-245  (bes.  S.  222  A.  2  und  239  A.  2) 
schlechthin  alles  auf  Poseidonios'  Rechnung  zu  setzen  suchte 
und  alle  Widersprüche  hinweginterpretierte.  Schon  gegen 
Kaibel  hatte  sich  begründete  Opposition  erhoben;  insbesondere 
hat  A.  Röhrig  in  seiner  vortrefflichen  Dissertation  „De  P.  Ni- 
gidio  Figulo  capita  duo"  (Leipziger  Diss.  Coburg  1887)  S.  16  ff. 
an  seiner  Hypothese  einschneidende  Kritik  geübt.  Ich  selbst 
hatte  sie  in  Untersuchungen,  die  z.  T.  schon  vor  zehn  Jahren 
angestellt  waren,  noch  weiter  geführt  und  glaubte  schließlich 
nur  einen  kleinen  Rest  als  eigenartig  retten  und  dem  Posei- 
donios zusprechen  zu  können. 


76  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

Das  alles  ist  jetzt  abgetan.  Nacli  Kalbfleisclis  schon  oben 
S.  3  angeführter  Mitteilung  bleibt  schlechterdings  nichts  von 
der  Renaissancefälschung  als  selbständig,  d.  h.  aus  nicht  ander- 
weitig erhaltenen  Schriftstellern  stammend,  übrig;  nicht  allein 
ist,  was  mit  Gellius  übereinstimmt,  aus  diesem  übersetzt  (wie 
ich  vermutet  hatte),  sondern  in  der  gleichen  Weise  ist  der 
Fälscher  mit  Yitruv  verfahren,  worauf  schon  oben  S.  74  f.  hin- 
zuweisen war.  Zum  Beweise  genügt  es,  die  Zusammenstellung 
Kalbfleischs^)  hier  abzudrucken,  was  ich  mit  seiner  Zu- 
stimmung unter  Beigabe  weniger  eigener  Bemerkungen  tue. 

XYI  p.  395, 13—396,  5  [Gal.]  bist.  phil.  20 ») 

396, 7—398, 1    Arist.  Meteor.  II 4  p.  359  b  28—36 1  a  9 
398,1—4  Yitr.  16,  2») 

4—12         Arist.  Meteor.  II  4  p.  361a9— 22 

13—399,4  Vitr.  16,3 


^)  Er  hat  darüber  vorläufige  Mitteilungen  gemacht  in  den  Sitz.-Ber. 
d.  Akad.  Berlin  1913  S.  115  und  1916  S.  138. 

')  Ich  meine  vielmehr,  es  wird  Ps.-Plut.  III  7  Diels,  Doxogr.  p.  374 
sein;  mit  ihm  stimmt  die  Wortfolge  xai.ofA,Evcov  xal  rrjxo/Lievcov  und  na- 
mentlich der  Schluß  rov  dk  djio  tcöv  aQxzcov  elvai  ßoQsav  (ursprünglich  hat 
es  gewiß  djiaQxziav  geheißen),  rov  ds  0.716  xtöv  voxlcov  Xißa  wörtlich  überein ; 
ehat,  hat  cod.  C  des  Ps.-Plut.;  diese  Hs.  kann  der  Fälscher  nun  freilich 
nicht  benützt  haben,  da  sie  (vgl.  Diels'  Proll.  S.  37)  erst  seit  1688  wieder 
zugänglich  geworden  ist.  Aber  vielleicht  ist  eben  von  hier  aus  Licht 
in  das  völlig  singulär  dastehende  Anaximeneszitat  zu  bringen:]^  C  ist 
interpoliert,  die  Vorlage  des  Fälschers  kann  noch  stärker  interpoliert 
gewesen  sein,  sodaß  das  Zitat  nicht  erst  von  ihm  erfunden  zu  sein  braucht. 
Erfunden  ist  es  ja  wohl  sicherlich;  Gilbert,  dessen  Stärke  in  seinen 
„Meteorol.  Theorien"  bekanntlich  auf  der  Seite  der  Analyse  der  physi- 
kalischen Hypothesen  liegt,  hat  die  Angabe  S.  515  A.  1  und  516  A.  1  unter 
mehreren  Gesichtspunkten  verdächtig,  weil  nicht  zu  Anaximenes  passend, 
gefunden. 

3)  Die  Einsicht,  daß  die  mit  Vitruv  übereinstimmenden  Stellen  aus 
ihm  übersetzt  sind  und  daß  Vitruv  mehrfach  auch  zu  ganz  kurzen  Be- 
merkungen beigezogen  ist,  scheint  mir  neben  der  Entdeckung  der  Ent- 
lehnungen aus  Mäimonides  der  eigentlich  entscheidende  Fortschritt  zu 
sein,  den  wir, Kalbfleisch  verdanken.  Gleich  an  unserer  Stelle  fällt 
es  einem  wie  Schuppen  von  den  Augen,  wenn  man  dies  entsetzlich  un- 


Griechische  Windrosen.  77 

399, 6—15  Arlst.  Meteor.  II  5  p.  361  b  14—27 

16—400,7  Orib.  IX  7  (vol.  II  p.  294,14—296,1 
Daremb.) 

400,8—401,7  Orib.  IX  9  (vol.  II  p.298,  9— 300,2)  i) 

401,7—12  Moses  Maim.  Aphor.  pari  VHP) 

13—402,5  Orib.  IX  12   (vol.  II  302,8—304,12) 

402,  6-9  Arist.  Meteor.  II  5  p.  361  b  30  s.  34 

13—404,1  Vitr.I6,4.5.10.(Sueton.p.232,7s.R.)3) 

404,1—406,8  Vitr.  I  6,  12.   13 

406, 8-407, 12  Gell.  II  22,7—16  (mit  e  295  s.)*).  4—6 


griechische   Griechisch,    dem    gegenüber   das    Sprachgefühl   auch    eines 
Kaibel  (S.  581.  610 f.)  merkwürdig  versagt  hat,  neben  Vitruv  stellt: 

ventus    autem    est    aeris   fluens  ijzsidt]  de  o  äve/uog  eon  xvfia  qeov 

unda  cum  incerta  motus  redundan-  digog  äfxa  r^t  xfjg  xivrjasoig  dogcoicoi 
tia;  nascitur,  cum  fervor  offendit  nXeove^lai  {\)'  xal  yivexai,  Sxav  rj 
umorem  et  impetus  factionis  (fer-  ^soig  (!)  x6v  xv[j,6v  (!)  svqloxsi  xal  ^ 
voris  Kießling^  exprimit  vim  spiritus  xfjg  C^oscog  gv^rj  xtjv  xov  (pvowvxog 
flantis  (so  Kaibel  statt  flatus  oder  jivsv/naxog  dvvafxtv  ix&Xißtjc,  .... 
flatum). 

Man  ahnt  bei  Vitruv,  dessen  auch  im  Wortlaut  ganz  ähnliche  Aus- 
führung über  die  aurae  I  6, 1 1  zur  Interpretation  beizuziehen  ist,  eine 
Lehre,  die  den  Wind  auf  Erwärmung  von  Feuchtem  zurückführt,  ein 
Satz,  der  dann  durch  die  vielberufenen  aeolipilae  experimentell  erhärtet 
wird.  Da  mag  von  ■d'äljieod^ai,  d'sg/naiveoß^ai,  SsQfiov,  vygov  in  der  grie- 
chischen Vorlage  die  Rede  gewesen  sein,  aber  an  C^oig  und  vollends 
XVfiog  zu  glauben,  wird  sich,  nachdem  einmal  der  Verdacht  rege  geworden 
ist,  nicht  leicht  mehr  jemand  entschließen. 

^)  Orib.  p.  299,  8  ist  natürlich  umzustellen:  oi  ds  djto  xsX/ndxcov 
xdxioxoc.  Der  dxdßovlog  wird  eigene  Reminiszenz  des  Fälschers  aus 
Horaz  sein,  vielleicht  angeregt  durch  Gellius  II  22,  25. 

2)  fol.  45  V.:  meJior  ventis  est  qui  differtur  ex  mari  magno  et  huic 
in  honitate  proximus  est,  qui  ex  montibus  defertur,  et  peior  qui  ex  latrinis, 
paludibus  vel  locis  madidis  est  delatus,  et  medius  inter  hos  est  qui  ah 
aliis  locis  defertur. 

3)  Die  xsXfiaxa  und  D^codi]  xcogia  werden  eher  als  auf  Sueton  auf 
die  angeführten  Stellen  aus  Antyllos  und  Athenaios  zurückgehen. 

*)  Die  Homerverse  muß  der  Fälscher  aus  eigener  Kenntnis  eingesetzt 
haben;  mit  seinem  aQysoxrjg,  ov  xal  xavQov  xivsg  ovoßdCovoiv  an  Stelle 
des  „caurus,  quem  solent  Graeci  dgysaxrjv  vocare",  bleibt  er  der  Erfindung 
von  p.  403, 10   treu   (s.  o.  S.  74  f.).     Im  übrigen  verrät  sich  gerade  die 


78  3.  Abhandlung:  Albert  Itebm 

407,14—408,13  vgl.  Arist.  Meteor.  II  6  p.  363  b  11  — 

364  a  41) 
408, 13—17  Arist.  Meteor.  II  6  p.  364  a  20—27 

17—409,4    Hippocr. 
409,4-17  Arist.  Meteor.  II  6  p.  364  a  27-b  24 

17-410,10  Gal.  XVII  A  p.  655,  10—12.   16— 
656,  7  K, 
410,10—14  Arist.  Meteor.  II  6  p.  365  a  6—10 

15  vgl.  Gell.  II  22,  25 

16—411,1    Gal.  XVII A  p.  657,  9—14  K.;  vgl. 
XVII A  p.  387,16-388,7  K. 

Soweit  der  für  unsere  Analyse  wichtige  Teil.  Das  Er- 
gebnis kann  man  sich  kaum  sauberer  wünschen,  —  es  könnte 
aber  andrerseits  gar  nicht  ungünstiger  für  die  Poseidoniosfrage 
sein.  Hat  sich  doch  nicht  allein  Ps.-Galen  in  ein  ganz  und  gar 
wertloses  Mosaik  aufgelöst;  es  steht  jetzt  überhaupt  schlimm 
mit  vermeintlichen  Komplexen  von  Poseidoniosexzerpten :  wer 
wird  jetzt  noch  mit  Kai  bei  S.  614  anzunehmen  bereit  sein, 
daß  „das  ganze  VI.  Kapitel  des  Vitruv,  abgesehen  von  einigen 
gleichgiltigen  Zutaten  Vitruvs,  aus  Poseidonios  entlehnt"  sei  ? 

In  Wahrheit  gibt  es  hier  wie  gegenüber  der  gesamten 
Physik  des  großen  Rhodiers,  der  wie  ein  Prisma  die  Strahlen 
antiker  Gelehrsamkeit  sammelt,  um  sie  in  mannigfacher  Brechung 
in  die  dunkleren  späteren  Zeiten  auszustreuen,  keinen  anderen 
Weg  der  Wiederherstellung,  als  daß  man  Einzeldogmata  und 
—  höchstens  —  kleine  Gedankengefüge  durch  Zusammen- 
stellung der  Zeugnisse  aus  denjenigen  Autoren,  deren  Abhängig- 


Gelliusstelle  besonders  handgreiflich  als  Rückübersetzung  durch  zwei 
völlig  singulare  technische  Ausdrücke  für  sehr  gebräuchliche  Begriffe: 
6  HVxXog  (d)  ijiix?.rj&sig  loovvuxiog  (=  aequinoctialis)  r}  torjfisgtvog  und 
dvaig  TQOTiiHrj  (=  sostitiaHs),  von  der  Sommersonnenwende  gebraucht. 
^)  Ps.-Gal.  p.  408,1 — 3  ddvvarov  ydg  (paoiv  sivai  xaxa  xooovxov  dtdozrjfza 
jivsTv  xai  dvxiJivsTv  xovxovg  [lovovg  xai  /ny  slvai  ällovg  dvafxeaov'  ojieg  slvai 
dlrj^kg  doxsT  ist  nicht  aus  Aristoteles  entnommen ;  der  Gedanke,  der  die 
Verbindung  zwischen  dem  Aristotelesexzerpt  und  dem  Homerzitat  her- 
stellen soll,  ist  vielleicht  angeregt  durch  Vitr.  I  6,  9. 


Griechische  Windrosen.  79 

keit  von  Poseidonios  feststeht,  ihm  mit  Wahrscheinlichkeit  zu- 
weist und  dann  eine  immer  unsicher  bleibende  Verifikation 
versucht,  indem  man  das  Gefundene  auf  seine  innere  Einheit- 
lichkeit prüft.  Ich  muß  mich  bei  dieser  Arbeit  auf  das  Thema 
„Windrosen"  beschränken,  und  darf  es,  da  ja  die  viel  weiter 
greifende  Aufgabe,  des  Poseidonios  gesamte  Windlehre  zu  re- 
konstruieren, bei  Capelle  in  guten  Händen  ist;  doch  habe 
ich  für  mich  die  Zusammenstellung  des  Ganzen  gemacht  und 
dabei  bestätigt  gefunden,  was  längst  allgemeine  Meinung  ist, 
daß,  soweit  es  sich  um  umfänglichere  Darlegungen  handelt, 
jeder  der  von  mir  beizuziehenden  Autoren  auch  sonst  eine 
Menge  poseidonianischen  Gutes  bietet. 

Zum  Ausgangspunkt  können  wir  übrigens  gerade  für  die 
Windrosen  eine  Stelle  nehmen,  an  der  Poseidonios  selbst  ge- 
nannt wird,  Strabon  I  p.  29.  Sie  ist  allerdings  in  so  verschie- 
denem Sinne  gedeutet  worden^),  daß  sie  selber  der  Interpretation 
bedarf;  aber  ich  meine,  diese  liefert  ein  sicheres  Ergebnis. 
Der  Zusammenhang,  in  dem  Strabon  a.  a.  0.  den  Poseidonios 
als  Zeugen  anführt,  ist  schon  oben  S.  25  A.2  besprochen  worden. 
Gegen  die  Verdrehtheit,  die  den  t,e(pvQog  zu  einem  n.-w.,  den 
äQyE0T7]g  zu  einem  s.-w.  Wind  machen  will,  wendet  sich  Posei- 
donios :  (p7]ol  de  UoosidcDviog  /arjöeva  ovrcog  TzagadeScoxevat  rovg 
ävEfiovg  xcbv  yvcoQi/ucov  Jiegl  ravia,  olov  'Agiororekrj,  Tijuoo^evr}, 
Bicova  Tov  äoTQoloyov  alXä  röv  juev  äjib  ^eqivcov  ävaxoXcbv 
xaixiav,  TOV  de  TovTCOi  xaid  öidjuergov  ivavzlov  Xißa  änb  dvoecog 
bvxa  xeifJLEQivrjg'  ndXiv  de  röv  jLiev  änb  ;^£</^e^<ri)g  ävaToXfjg  ev- 
Qov,  xbv  ö''  evavTLOv  aQyeozrjv'  Tovg  de  fxeoovg  äjirjXKorrjV  xai 
CecpvQov.  Das  sind,  wie  Capelle,  N.  Jbb.  15  S.  545,  mit  vollem 
Rechte  betont,  einfach  die  sechs  östlichen  und  westlichen  Winde 


1)  Kaibel  S.  611;  gegen  ihn  ausführlich  W.  Capelle  N.  Jbb.  15 
(1905)  S.  542iF.  Insbesondere  macht  Steinmetz  S.  58— 62  ein  neuer- 
liches Eingehen  auf  die  Stelle  wünschenswert;  auch  Gilbert  S.  549  A.2 
behandelt  sie  sicher  nicht  ganz  richtig.  Schmekel,  Isidorus  S.  241,  irrt, 
wenn  er  hier  Polemik  gegen  Eratosthenes  wittert.  Ganz  wunderlich 
geht  in  die  Irre  G.  D.  Ohling,  Quaestiones  Posidonianae  ex  Strabone 
conlectae.    Diss.  Göttingen  1908  S.  9  ff. 


80  S.Abhandlung:  Albert  Rehni 

des  Aristoteles  und  Timosthenes  (und  gewiß  auch  des  Bion,  von 
dessen  Windrose  wir  leider  sonst  nichts  wissen) ;  der  Zusammen- 
hang berechtigt  uns  durchaus  nicht,  die  Bezeichnungen  'äegiral 
avaxoXai  usw.  etwa  in  dem  ungenauen  Sinne  zu  fassen,  in  dem 
sie  bei  den  Beschreibungen  des  hellenistischen  Achtwindesystem 
angewandt  werden;  der  Name  xaixiag  ist  diesem  zudem  in  seiner 
Normalgestalt  fremd  (s.  o.  S.73  f.;  nur  Andronikos  hat  ihn  auf  dem 
speziell  die  attischen  Namen  bietenden  Windeturm).  Wäre  das 
Zitat  hier  zu  Ende,  so  müßte  man  schon  auf  diese  paar  Sätze  hin 
sagen:  Poseidonios  argumentiert  mit  dem  Zwölfwindesystem. 
Noch  deutlicher  wird  das  aber  durch  die  auch  weiter  in  in- 
direkter Rede  gegebene  Fortsetzung  des  Zitates,  die  Steinmetz 
in  seiner  Polemik  gegen  Capelle  völlig  außer  acht  läßt.  Posei- 
donios geht  nun  nämlich  daran,  seinerseits  dieWindbezeichnungen 
bei  Homer  zu  erklären :  Homer  rede  von  einem  övoarjg  t,e(pvQog 
(yj  200.  e  295.  ja  289),  das  sei  der  ägyeoTi^g,  einem  Uya  jivecov 
CecpvQog  (d  567),  das  sei  der  ^ecpvgog  der  angeführten  Systeme ; 
der  ägyeoirjg  voxog  aber  {A  306)  sei  der  —  XevxovoTog^  auf  den 
es  zutreffe,  daß  er  leichtes  Gewölk  bilde,  das  der  dvoarjg  t,e- 
(pvQog  mit  seinem  Stürmen  zerstreue.  Der  ^^evxövorog  wird 
hiebei,  sicherlich  doch  als  Seitenwind,  vom  Xombg  voxog  unter- 
schieden, der  oXeQog  ncog  eoxiv.  So  führt,  was  schon  Capelle 
S.  544  A.  2  gesehen  hat,  die  Interpretation  unserer  Stelle  und 
speziell  die  Erwähnung  des  Xevxövoxog  darauf,  den  Poseidonios 
mehr  als  acht  Winde  unterscheiden  zu  lassen,  d.  h.  ihn  als 
Vertreter  des  Zwölfwindesystems  zu  betrachten.  Dafür,  daß 
ihm  der  Name  Xevxövoxog  geläufig  war,  gibt  es  aber,  wie  mir 
scheint,  auch  einen  indirekten  Beweis,  die  Stelle  Strab.  IV  182, 
die  sicher  poseidonianisches  Gut  ist  (Poseidonios  wird  darin 
auch  genannt) ;  wenn  der  vielbesprochene  Wind  an  der  Rhone- 
mündung ^),  der  cercim  des  alten  Cato,  dort  als  ein  jLieXajbL- 
ßoQEiov^)  Jirevjua  bezeichnet  wird,  so  trägt  der  preziöse  Aus- 
druck ganz  den  Stempel  der  ovvrj^rjg  QYjxoQela  des  Rhodiers ; 
gebildet  aber  ist  das  Wort  unverkennbar  als  Gegenstück  eben 

1)  Ygl.  Nissen,  Ital.  Landeskunde  I  S.  383  f. 

2)  Imitiert  von  losephos,  Bell.  lud.  III  9,  3. 


Griechische  Windrosen.  81 

zum  kevHovoTog.  Spielt  aber  bei  Poseidonios  der  Xevxovozog  diese 
Rolle,  so  steht  fest,  daß  sich  Poseidonios  dem  System  des  Timo- 
sthenes  angeschlossen  hat:  denn  nur  bei  ihm  (Agathemeros) 
sitzt  der  Name  fest  (s.  o.  S.  49),  der  bei  Aristoteles  noch  sehr 
unbestimmten  Sinn  hat  und  später  (Sen.  n.  qu.  V  16,  6*))  nur 
eben  da  wieder  auftritt,  wo  Anschluß  an  Poseidonios  oder  Timo- 
sthenes  vorliegt.     So  urteilt  mit  Recht  auch  Capelle  S.  545. 

Erschöpfend  ist  die  aus  Strabon  zu  gewinnende  Antwort 
auf  die  Frage,  welches  System  Poseidonios  im  praktischen  Ge- 
brauch gehabt  hat,  allerdings  nicht.  Ungewiß  bleibt,  ob  Posei- 
donios bei  Nennung  der  Solstizialpunkte  an  die  Morgen-  und 
Abendweiten  oder  an  die  Meridianprojektion  denkt.  Und  da 
wir  bisher  nur  Belege  aus  dem  Werk  jieqI  coxeavov  gemustert 
haben,  so  ist  es  sehr  wohl  denkbar,  daß  Poseidonios  in  der 
eingehenderen  Darstellung,  die  wir  in  seiner  Meteorologie  an- 
zunehmen haben,  auch  das  Achtwindesystem  berücksichtigt  hat, 
wenn  er  es  auch  nicht  für  sich  adoptiert^e.  Mit  diesen  beiden 
Fragen  haben  wir  uns  nun  noch  zu  beschäftigen ;  jetzt  erst 
gewinnt  die  große  Masse  der  von  Poseidonios  abhängigen 
Autoren  für  unser  Thema  Bedeutung. 

Ein  bisher  überhaupt  nicht  beachtetes  Zeugnis  für  die 
Meridianprojektion  glaube  ich  als  Beleg  für  des  Poseidonios 
Auffassung  der  Solstizialpunkte  und  für  die  Orter,  an  die  er 
die  Nebenwinde  von  N  und  S  setzte,  in  Anspruch  nehmen  zu 
dürfen ;  es  ist  Galen  bei  Oreibasios  IX  7  (vgl.  o.  S.  38  A.  1  und 
S.  63).  Ich  setze  denjenigen  Teil  des  Kapitels^),  der  aus  einer 
nicht  erhaltenen  Schrift  Galens  stammt  (p.  294,14-296,1),  hieher; 
was  folgt  (§  4 — 6),  ist  aus  dem  Kommentar  zu  Epid.  III  ent- 
nommen (vol.  XVII  A  p.  655, 10  SS.  K.)^):  Evgog  jukv  äno  äva^ 

^)  Die  falsche  Ansetzung  des  hvy.orozog  als  SSO  in  Dugga  und  bei 
Vegetius  IV  38  kann  aus  Mißverständnis  des  Seneca  hervorgegangen  sein. 

2)  Er  kehrt  mit  wesentlichen,  z.  T.  den  Text  unverständlich  machen- 
den Auslassungen  bei  Ps.-Galen  XVI  p.  399,16—400,7  wieder  (s.o.  S. 77). 
Da  diese  „indirekte  Überlieferung"  für  den  Text  nichts  abwirft,  berück- 
sichtige ich  sie  nicht  weiter. 

3)  Auch  dieses  Stück  hegt  bei  Ps.-Galen  XVI  (p.  409,17-410,10)  vor 
(s.  ö.  S.  78\  aber  nicht  aus  Oreibasios,  sondern  unmittelbar  aus  dem 
echten  Galen  herübergenommen. 

Sitzgsb.  d.  philos.-philol,  u.  d.  liist  Kl.  Jahrg.  1 91 6,  3.  Abli.  6 


82  3.  Abhandlung:  Albert  Rebm 

roX'^g  TtveT,  voxog  de  änb  jueorjjußgiag,  xal  ^ecpvQog  juev  djiö 
dvojuojv,  ßoggäg  de  änb  töjv  ägxTcov  ovzoi  ydq  eloi  xonoi  reo- 
oageg  aXXtjloig  ävnxeljuevoi'  Jikdrog  de  avicöv  e^ovrog  exdozov 
jueya  ngooegxovxai  riveg  äXXai  diaq)ogal  nvevfxdxcov  rov  ydg 
ögi^ovTog  övojua^ojuevov  xvxXov  (xaXetrai  de  ovrcog  6  xb  (paivo- 
juevov  xov  xoojuov  dioglCcov  änb  xov  jur]  q)aivojuevov)  xjLirjd^evxog 
elg  e^{ijxovxa)^  juogia,  xrjXixovxcov  juev  eyyioxa  xjurjjudxcov  eoxiv 
öxxct}  xb  nXdxog  xfjg  rjXiaxijg  ävaxoXrjg,  Sojzeg  ye  xal  xb  xrjg 
dvoecog,  elxoot  de  xal  jigooexi  dveiv  exdxegov^  xcbv  XomöJv, 
ägxxLxov  xe  xal  Jigooext  jueorjjußgivov.  et  de  xal  xavia  jidXiv  avxd 
dlxa  xexjurjjueva^,  xb  juegog  exdxegov^  eoxai  juoigcov^  ta  xoiovxcov, 
önoiwv  6  ovfjLTiag  xvxXog  eoxlv  e^{rjxovxaY.  xejuvojuevov  {juev 
ovv)  di^a^  xov  jiXdxovg  xfjg  jueorjjußgiag,  avxbg  juev  6  voxog  djib 
xov  xaneivov  noXov  JiveX'  juexa^v  de  xovxov  xal  xfjg  ävaxoXfjg 
xfjg  ^eijuegivfjg  6  xaXovjuevog  evgövoxog,  woneg  ye  xav  xcbi  jue- 
xa^v  xovxov  [xe  xal]  xov  jioXov^  xal  xfjg  j^eijuegivfjg  dvoecog  6 
Xtßovoxog'  vygol  xal  'äeg/uol  ndvxeg  ovxoi  xal  did  xovxo  jiXrj- 
QCDxixol  xfjg  xecpaXfjg. 

1  £^,  an  der  zweiten  Stelle  (§2)  g'  die  Hss.  Zur  Sache  s.  u.  S.  85  mit  A.  1. 
2  exazsQcov  Hss.,   verb.  von  Daremberg.  ^  so  schwerlich  zu  halten ; 

rsTjUTJasrai  ?  -fisva  {votjd'Tjaerai)  ?  *  XoiJtcöv  C  ^  xe^v'ofievov  Sca  Hss.; 

xEfivofjisvrjg  8ia  mit  Komma  vorher  und  Punkt  hinter  fisarjjußQiag  Darem- 
berg, mir  unverständlich.  ^  oder  [ze  xal  xov  jioXovJ. 

Galen  wird  durch  die  schließenden  Paragraphen  des  Ka- 
pitels und  durch  das  vorangehende  Kapitel,  in  dessen  Lemma 
er  zitiert  ist,  als  Autor  erwiesen ;  aber  aus  welcher  Schrift  der 
Abschnitt  stammt,  ist  erst  zu  ermitteln.  Die  Frage  ist  auch 
für  uns  nicht  ganz  ohne  Belang,  weil  ihre  Lösung  zum  Ver- 
ständnis der  sonderbar  zusammengefügten  Auseinandersetzungen 
einiges  beitragen  kann.  Sie  beginnen  mit  der  Aufzählung 
der  Hauptwinde  sehr  elementar  (vorher  wird  man  sich  einen 
Satz  denken  dürfen  ähnlich  demjenigen,  den  der  Fälscher  des 
Kommentars  zu  Tiegl  xviJLmv  davorgesetzt  hat:  elol  de  xeooageg 
ävejuoi  (bg  xcbv  äXXcov  xogvcfaToi).  Dann  folgt  die  Motivierung 
der  weiteren  Teilung  des  Horizonts,  die  an  Vitr.  I  6,  9  erinnert, 
und  diese  Teilung  selbst  durch  Abtrennung  eines  Gebietes  der 


Griechische  Winilrosen. 


83 


ävaioXri  und  der  dvoiq.  Damit  sind  wir  in  dem  uns  von  Ab- 
schnitt 2  dieser  Abhandlung  her  vertrauten  Gedankenkreise  der 
hippokratischen  Schrift  neQi  äeqmv  (vgl.  o.  S.  18fF.).  Statt  daß 
aber  die  Ost-  und  Westabschnitte  weiter  gegliedert  und  mit 
Winden  ausgestattet  werden,  wendet  sich  der  Autor  dem  nörd- 
lichen und  südlichen  Abschnitt  zu,  oder  vielmehr  speziell  dem 
südlichen.  Durch  die  Mittagslinie  halbiert  er  beide  Bögen  (Fig.  12), 
behandelt  aber  nur  den  südlichen ;  in  ihm  wird  nicht  allein 
der   voTog    nunmehr    genau    bestimmt,    sondern   er  erhält  auch 


ZZ 


Fig.  12. 


zwei  Nebenwinde  zugeteilt,  die  mit  Namen  benannt,  aber  nur 
ungenau  lokalisiert  werden.  Dann  werden  die  drei  südlichen 
Winde  mit  deutlicher  Wendung  zu  medizinischer  Betrachtungs- 
weise charakterisiert.  Verständlich  ist  das  alles  als  Kom- 
mentar zu  tieqI  degcov  c.  3.  Die  allgemeine  Übersicht  über  die 
Horizontteilung  paßt  zu  der  Stellung  des  Kapitels  am  Anfange 
der  Schrift  und  zu  den  einleitenden  Bemerkungen  darin  (p.  35, 
8 — 10  K.),  die  besondere  Behandlung  der  Südwinde  zum  Haupt- 
inhalte des  Kapitels,  ihre  Charakterisierung  zu  der  Kenn- 
zeichnung, die  sie  dort  erfahren,  im  besonderen  Galens  7tX7]qcoti- 

G* 


84  3.  Abhandlung:  Albert  Rebm 

xol  xfjg  xecpaXfjg  zu  der  Bemerkung  dort  (p.  35,  14),  daß  die 
Menschen,  die  in  einer  Stadt  mit  Südlage  wohnen,  zag  xe(paXäg 
vygdg  s^ovoi  kol  (pkey/uaTcodeig.  Kurz,  der  Abschnitt  ist  mit 
beinahe  zwingender  Wahrscheinlichkeit  auf  den  verlorenen^) 
Kommentar  Galens  zu  Jiegl  dsgcov  zurückzuführen,  aus  dem 
augenscheinlich  bei  Orib.  IX  noch  beträchtlich  mehr  erhalten 
ist^).  Die  drei  anderen  Gruppen  von  Winden  haben  wir  uns 
dann  im  Kommentar  zu  jzegl  degcov  c.  4.  5.  6  entsprechend 
behandelt  zu  denken,  nur  natürlich  viel  kürzer. 

Damit  ist  erst  die  Aufmachung  des  Kapitelchens  erklärt; 
uns  interessiert  aber  vielmehr  das,  was  Galen  zum  Texte  von 
jiEQi  äegcov  hinzutut.  Daß  er  von  einem  jiXdrog  rtjg  dvaioXfjg 
und  Ti]g  duoecog  redet,  ist  noch  vom  kommentierten  Texte  aus 


^)  Ein  elender  Rest  in  lateinischer  Übersetzung  in  Chartiers 
Ausg.  VI ;  darin  auch  ein  Windkapitel,  das  mit  der  Überlieferungsraasse, 
die  uns  hier  beschäftigt,  unverkennbare  Beziehungen  aufweist:  „Ven- 
iorum  caUdorum  frigidorumque  quidain  sunt  principaJes,  corpora  immu- 
tanies,  (quidam  pccuUares),  qui  aiit  ex  elatiöribus  locis  aut  ex  lacubus, 
maribus  stagnisque  attoHuntur.  Sunt  autem  {principales)  quattuor:  ab 
Oriente  unus,  a  meridie  alter,  tertius  ab  occidente,  quartus  vero  a  sep- 
tentrionibus  spirat;  in  recto  quidem  horizonte  hi  communes  existunt. 
Peculiares  autem,  qui  aliis  ex  horizontibus  perflant,  palam  est,  quo  ex 
Joco  unusquisque  eoruni  spiret;  atque  ex  iis  alii  venti  erumpunt  inter  se 
dissidentes"  Die  Reihenfolge  der  principales  stimmt  mit  Orib.  IX  7 
überein.  Die  Stellen  über  peculiares  s.  b.  Kai^bel  S.  593— 594  (dazu 
jcegt  xöo/Liov  p.394  b  15,  Antyllos  bei  Orib.  1X9,  Athenaios  bei  Orib.  IX  12). 
Doch  lohnt  eine  nähere  Untersuchung  vorerst  nicht,  solange  wir  von 
dem  ausführlicheren  Kommentar  in  lateinischer  Übersetzung,  den  Ilberg, 
Comment.  Ribbeck.  S.  343,  aus  cod.  Vat.  lat.  1079  erwähnt,  nichts 
Näheres  wissen. 

2)  Die  Frage,  was  sonst  noch  aus  Orib.  IX  diesem  Kommentar  zu- 
zuweisen ist,  kann  hier  nicht  eingehend  erörtert  werden.  Gut  zu  ihm 
passen  würden  jedenfalls  zwei  weitere  Abschnitte,  die  bisher  in  erhaltenen 
Schriften  Galens  nicht  nachgewiesen  sind,  c.  6,  1—3  und  c.  10;  der  erste 
von  beiden  behandelt  die  Bedeutung  der  xoofxixt}  d'soig,  d.  i.  der  geo- 
graphischen Breite  (§  1),  sodann  der  Himmelsgegend,  gegen  die  eine 
Ortslage  gerichtet  ist  (§  2),  endlich  der  besonderen  Luftverhältnisse,  die 
in  der  Bewässerung  und  in  unterirdischen  Ausdünstungen  begründet 
sind,  der  zweite  betrifft  die  d'sosig  zcöv  jiöXeoiv,  sig  oxi  [xeQog  sloi  rszQafx- 
[xsvai  xov  xöofiov. 


Griechische  Windrosen.  85 

zu  verstehen  (vgl.  o.  S.  18).  Zutat  aus  anderer  Quelle  aber 
ist  die  Art,  wie  er  das  Jikdrog  von  Auf-  und  Untergang  be- 
stimmt; es  liegt  auf  der  Hand,  daß  wir  es  hier  mit  der  Meridian- 
projektion in  den  „eratosthenischen"  Verhältnissen  zu  tun 
haben,  deren  zahlreiche  Bezeugungen  oben  S.38  A.  1  zusammen- 
gestellt sind^).  Überraschend  ist  nun,  wie  es  weitergeht.  Statt 
daß  die  eratosthenische  Proportion  vervollständigt  und  durch 
sie  den  drei  südlichen  Winden,  um  die  es  dem  Galen  zu  tun 
ist,  ihre  Stelle  eindeutig  bestimmt  wird,  begnügt  sich  der 
Kommentator  für  evQovoiog  und  hßövorog  mit  einem  farblosen 
juera^v.  Er  gibt  die  Namen  aus  dem  timosthenischen  System, 
—  warum  nicht  auch  die  Stellen?  Da  er  schon  einmal  Vor- 
stellungen und  Bezeichnungen  späterer  Zeit  einmengt,  so  wird 
man  nicht  geneigt  sein  zu  glauben,  er  übe  hier  Zurückhaltung 
mit  Rücksicht  darauf,  daß  in  tisqI  aegcov  die  Süd-  und  Nord- 
region nicht  weiter  gegliedert  ist.  Vielmehr  glaube  ich  schließen 
zu  müssen :  er  folgt  einem  System,  das  bei  sonst  engem  An- 
schluß an  Timosthenes  die  von  diesem  vertretene  Heranziehung 
des  arktischen  und  antarktischen  Kreises  verwarf.  Sicherlich 
glaubte  der  Schöpfer  dieses  Systems,  damit  zur  Horizontglie- 
derung des  Aristoteles  zurückzukehren.  In  der  Tat  sagt  ja 
auch  Aristoteles  nirgends  ausdrücklich,  ob  seine  Solstizialpunkte 
24^  oder  30^  vom  0-  und  W-Punkt  entfernt  sind,  sodaß  man 
auf  Schlüsse  angewiesen  ist  (s.  o.  S.  41  f.). 

Durch  diese  Erwägung  bin  ich  darauf  gekommen,  als 
Galens  Quelle  den  Poseidonios  zu  vermuten ;  denn  die  im  fol- 
genden zu  gebende  Übersicht  über  die  andern  Zeugen  wird, 
hoffe  ich,  dartun,  daß  er  einerseits  dem  Timosthenes,  andrerseits 
dem  Aristoteles  sich  anschließen  will  und  daß  er  dem  ersteren 
gerade  in  der  Verwendung  der  arktischen  Kreise  nicht  gefolgt 
ist.  Daß  er  sie  in  der  Tat  nicht  verwenden  konnte,  wenn  er 
sich  nicht  selbst  untreu  werden  wollte,  das  hat  schon  Stein- 
metz S.  64  gezeigt,  der  doch  nicht  einmal  Anlaß  hatte,  diesem 

^)  Geradezu  rätselhaft  ist,  daß  Daremberg  an  dem  zweimal  über- 
lieferten sinnlosen  s^  /.logia  festhält;  zu  welchen  Konsequenzen  das  führt, 
mag  man  bei  ihm  selbst  S.  850  nachlesen. 


86  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

Punkte  besondere  Aufmerksamkeit  zuzuwenden.  Aus  Strabon 
II  p.  95  (S.  126,  13  M.)  und  p.  97  (S.  128,  19  M.)  wissen  wir, 
daß  Poseidonios  in  scharfer  Polemik  gegen  Aristoteles  und 
Polybios  die  Übertragung  der  arktischen  Kreise  auf  die  Erde 
—  dort  als  Zonengrenzen  —  abgelehnt  hat.  Sucht  man  nach 
weiteren  Indizien  für  poseidanianischen  Ursprung  des  Galen- 
kapitels, so  bietet  sich  ungesucht  die  Definition  des  Horizonts, 
die  mit  Geminos  p.  62,  UM.  fast  wörtlich  übereinstimmt  (öqU 
^cov  ioTi  xvxlog  6  diogiCcov  '^juiv  t6  re  (pavegov  xal  rb  äcpavkg 
jUEQog  Tov  xöojuov)'^).  Dagegen  wird  man  den  Ausdruck  ra- 
neivbg  noXog  dem  Poseidonios  nicht  zuweisen  wollen,  so  oft 
auch  TaneivoxsQog  als  „näher  dem  Horizont"  bei  Kleomedes 
vorkommt.  Daß  wir  unter  den  Windnamen  Xißovoxog  statt 
XevTiovoTog  finden,  bedeutet  nichts,  denn  beide  Bezeichnungen 
gehören  dem  System  des  Timosthenes  an  und  finden  sich  in 
den  von  Poseidonios  beeinflußten  Schriften  (so  auch  Seh m ekel 
S.  236).  Wenn  Poseidonios,  wo  wir  ihn  selbst  hören,  Xevxo- 
voTog  bevorzugt,  so  geschieht  es  vielleicht  deshalb,  weil  der 
Name  durch  Aristoteles  sanktioniert  war. 

Unter  den  jetzt  zu  musternden  Schriften  gibt  es  einige, 
die  dem  bisher  für  Poseidonios  in  Anspruch  genommenen  Ma- 
terial ungemein  nahe  stehen,  indem  sie  die  vier  Hauptwinde 
aufzählen  und  dann  sogleich  das  System  der  zwölf  Winde  ent- 
wickeln^); weitaus  am  nächsten  ist  die  Verwandtschaft  mit 
Tzegl  xoojuov  (p.  394  b  19 — 395  a  35),  wo  wir  die  üblichen 
Windnamen  aus  Timosthenes,  z.  T.  mit  den  Varianten,  die  für 


1)  Ähnlich  auch  bei  dem  Anonymus  II  zu  Aiat  p.  127,  27  M.,  während 
Achilleus  p.  51,  27  M.  im  Ausdruck  stärker  abweicht. 

2)  Nach  solchen  inneren  Gesichtspunkten  ordne  ich  im  folgenden  das 
bekannte  Belegmaterial.  Weder  die  Richtung,  in  der  um  den  Horizont- 
kreis herumgegangen  wird,  noch  der  Anfangspunkt  der  Aufzählung  noch 
endlich  die  Zusammenfassung  in  Gruppen  zu  dreien  sind  wesentliche  Ein- 
teilungsprinzipien. In  all  diesen  Punkten  ist  zwar  Übereinstimmung  ein 
Indizium  von  Verwandtschaft,  Abweichung  aber  kein  Beweis  des  Gegen- 
teils. Das  zeigt  deutlicher  als  weitschichtige  Erörterungen  der  Fall  des 
Joannes  Lydos,  der  in  der  folgenden  Anmerkung  besprochen  wird. 


Griechische  Windrosen.  87 

diesen  selbst  auch  sonst  bezeugt  sind  (s.  o.  S.  48  A.  2)^),  finden, 
dazu  die  Verwendung  der  Solstizialpunkte,  aber  für  die  Neben- 
winde von  N  und  S  ein  einfaches  e^fjg  oder  juera^v*).  Hier 
wird  man  auch'  das  Exzerpt  aus  dem  (ursprünglichen^))  Achil- 
leus  einreihen  dürfen,  auf  das  Gilbert  S.  554  A.  2  aufmerksam 
gemacht  hat,  p.  321,  8  M.,  mit  der  Aufzählung  der  vier  yevixoi 
ävejuoi  (=  p.  68,  26,  beidemale  allerdings  äjir^XidoT-qg  für  die 
Ostwinde)  und  dem  Satze:  exdoxcoi  de  rovxcov  ovo  TtaQaxeivzaij 
cbg  elvai  rovg  ndvxag  dwdexa.  Auf  der  gleichen  Stufe  steht 
Manilius  IV  587 — 594,  aber  mit  boreas  und  eurus,  also  sehr 
korrekt,  dagegen  statt  7iaQaxe7o§ai  binae  medüs  e partibus  aurae^). 
Der  vierte  Autor  dieser  Gattung  aber,  Seneca  n.  qu.V  16.  17, 


^)  Der  hßoroTog,  der  sich  durch  die  genaue  Analogie  zum  EVQÖvoxog 
empfahl,  hat  auch  hier  den  Xevxövoxog  verdrängt;  über  Lßoq?ocvi^  s.  o. 
S.  48  A.  2.  —  p,  394  b  31  ist  xaixlav  ein  handgreiflicher  Fehler  für  xlgxiov, 
die  timosthenische  Variante,  oder  xiqxiav,  wie  derselbe  Wind  im  Frag- 
ment ävsjLicov  d'EOEig  heißt  {xsgxiag  Theophr.  fr.  V  62  nach  Kai b eis  sicherer 
Verbesserung  S.  606  A.  2).  Die  selbstverständliche  Verbesserung  (die 
wohl  nur  einen  Überlieferungsfehler,  nicht  ein  Versehen  des  Autors 
richtig  stellen  würde)  ist  schon  öfters  vorgeschlagen  worden  (Genelli 
S.  476,  Rose,  Aristot.  pseudepigr.  p.  248),  aber  sie  kann  sich,  scheint  es, 
nicht  durchsetzen.  Und  noch  verwunderlicher  ist,  daß  das  Zusammen- 
treffen in  dem  Fehler,  das  zwischen  tisqI  x6o/uov  und  Joannes  Lydos  de 
mens.  IV  119  (p.  157  W.)  stattfindet,  nicht  hingereicht  hat,  Capelle 
(S.  543  A.6)  davon  zu  überzeugen,  daß  Lydos  von  ji.  x.  abhängt,  und 
das  trotz  seiner  eigenen  Zusammenstellungen  S.  546  A.6  (s.  auch  Maaß, 
Jahreshefte  9  (1906)  S.  140  A.  11);  die  Abweichungen  von  ji.  x.,  die  sich 
bei  Lydos  finden,  kann  man  wahrhaftig  auch  der  Selbständigkeit  eines 
Byzantiners  zutrauen. 

2)  Poseidonianisch  ist  auch  die  Art,  wie  in  :^.x.  die  Namen  der  Kardinal- 
winde im  Plural  immer  die  betreffende  Gruppe  repräsentieren,  dabei 
natürlich  svqoc  =  Ostwinde  (wie  II  102  svgog);  vgl.  Strabon  I  28  {oi  ^e- 
(pvQot  xal  fidXioxa  oi  agysotai).     II  99  {^ecpvQoi).     144  {oi  evqoi). 

3)  Vgl.  G.  Pasquali,  Nachr.  Gott.  Ges.  d.  Wiss.  1910  S.  193  ff., 
bes.  218  ff. 

*)  Die  Stelle  verrät  sich  als  poseidonianisch  auch  dadurch,  daß  sie 
die  Überleitung  zu  der  mit  jieqI  xöafiov  so  sehr  übereinstimmenden 
Geographie  bildet  (vgl.  über  diese  Beziehung  Fr.  Malchin,  De  auctoribus 
quibusdam,  qui  Posidonii  libros  meteorologicos  adhibuerunt,  Diss.  Rostock 
1893  S.  29  ff.). 


88  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

weicht  von  Poseidonios  doch  recht  stark  ab ;  denn  er  entwickelt 
die  volle  Meridianprojektion,  die  wir  dem  Poseidonios  absprechen 
mußten.  Die  Ursache  der  Störung  ist  längst  erkannt:  sie  liegt 
in  der  Benützung  des  Varro,  seiner  Ubri  navdles  oder  de  ora 
maritima^  wie  wir  (vgl.  Reitzen stein,  Hermes  20  (1885)  S.  523) 
mit  großer  Wahrscheinlichkeit  sagen  können.  Andrerseits  steckt 
in  den  Senecakapiteln  so  gut  wie  sicher  poseidanianisches  Gut,  so 
der  Satz  „non  enim  eodem  semper  loco  sol  or'itur  aut  occidit  etc." 
(16,  3)  und  die  Notiz  über  lokale  Winde  und  Windnamen 
c.  17, 5  (die  Parallelen  zu  beidem  bei  Kaibel  S.  593—595. 
616).  Der  Ausweg,  den  Kaibel  (S.  617),  im  Banne  der  Ein- 
quellentheorie stehend,  eingeschlagen  hat,  —  die  Annahme, 
Seneca  „habe  den  Varro  in  seiner  Quelle  nur  zitiert  gefunden" 
und  somit  müsse  Poseidonios  den  Varro  selbst  benützt  haben,  — 
wird  schwerlich  mehr  von  jemand  für  richtig  gehalten.  Er  war 
übrigens  sogar  für  Kaibel  nicht  notwendig,  da  man  im  Jahre 
1885  schon  wußte  (vgl.  Diels,  Doxogr.  S.  19),  daß  Seneca 
den  Poseidonios  unmittelbar  entweder  überhaupt  nicht  oder 
doch  auf  weite  Strecken  hin  nicht  benützt  hat.  Wollte  man 
also  um  jeden  Preis  den  Seneca  zum  „Einquellenmann"  stempeln, 
—  womit  man  ihm  nach  meiner  Kenntnis  der  n.  qu.  denn 
doch  Unrecht  tut  — ,  so  konnte  man  wenigstens  den  Asklepiodot 
zum  Kontaminator  des  Varro  und  Poseidonios  machen.  Aber 
das  ist  ein  müßiges  Spiel,  da  man  damit  die  Kontamination 
nur  um  eine  Stufe  herabrückt.  Die  Lösung,  die  Oder,  Ein 
angebliches  Bruchstück  Democrits  (Philol.  Suppl.  VII  (1898)) 
S.  364  A.  184,  in  seiner  scharfsinnigen  Widerlegung  Kaibels 
gibt,  wird  das  Richtige  treffen:  „Man  wird  eher  glauben,  daß 
bei  Seneca  eine  Kontamination  vorliegt  aus  Asklepiodot  und 
Varro,  bzw.  aus  einem  lateinischen  Autor,  wie  Papirius  Fabianus, 
welcher  das  Varrozitat  dem  Verfasser  der  Quaestiones  ver- 
mittelte." Immerhin  zweifle  ich  nicht,  daß  Varro  selbst  das 
Zwölfwindesystem  in  enger  Anlehnung  an  Timosthenes  gegeben 
hat^).    Warum  soll  er  nicht  den  Timosthenes  selbst  benützt 


*)  Ein  geschworen  war  er  übrigens  auf  das  System  des  Timosthenes 


Griechische  Windrosen.  89 

haben?  Aber  auch  wenn  man  beliebig  viele  Mittelsmänner 
zwischen  Timosthenes — Varro— Seneca  einschiebt,  so  gehört 
doch  jedenfalls  Poseidonios  nicht  zu  ihnen  ^). 

Strabon,  Galen,  Jteol  xoo/uov,  Achilleus,  Manilius  lehren 
uns  insgesamt  den  Poseidonios  nur  als  Vertreter  der  zwölf- 
strichigen  Rose  kennen.  Typisch  ist  dabei  immer  das  Aus- 
gehen von  den  vier  Kardinalwinden  und  der  Verzicht  auf  den 
arktischen  Kreis  als  Ort  der  Nebenwinde  von  N  und  S.  Diese 
beiden  Eigentümlichkeiten  finden  wir  nun  aber  auch  bei  solchen 
Autoren,  die  mit  der  Darstellung  des  Zwölfwindesystems  die 
des  Achtwindesystems  verbinden  oder  doch  bei  Bevorzugung 
des  Achtwindesystems  Kenntnis  beider  Systeme  verraten. 

Hier  sind  unsere  wichtigsten  Zeugen  Plinius  n.  h.  II  119  s. 
und  Favorinus  bei  Gellius  II  22,  beide  unbestrittene  Vermittler 
poseidonianischer  Lehren.  Der  Wichtigere  von  beiden  scheint 
mir  Plinius,  weil  wir  bei  ihm,  sei  es  auch  in  der  üblichen 
Verschnörkelung  (die  Kai  bei  irre  geführt  hat),  den  Versuch 
einer  historischen  Darstellung  finden :  Homer  hat  wie  „die 
Alten"  nur  vier  Winde;  die  spätere  Zeit  machte  daraus  zwölf, 
dann  nahm  man  acht  an^).  Das  ist  gar  nicht  unrichtig  gesagt; 
man  muß  nur  berücksichtigen,  daß  Plinius  kein  anderes  Achter- 
system kennt  als  das  geometrische  der  hellenistischen  Zeit,  das 
er  —  gewiß  nicht  von  sich  aus,  sondern  einer  wahrscheinlich 
landwirtschaftlichen  Quelle  folgend  —  hier  und  in  Buch  XVIII 
bevorzugt.  Plinius  verfügt  auch  sonst  über  reichliches  Material; 
den  Aristoteles  hat  er,   vgl.  XVIII  335,  zitiert  gefunden,  auch 

keineswegs;  in  dem  ornithon  bei  Casinum  war  die  ingeniöse  Windrose 
im  Innern  des  Gebäudes  nach  dem  Achtersystem  eingerichtet  (r.  r. 
III  5,  17). 

1)  Auf  Sueton  p.  228  ss.  R.,  bei  dem  die  Art  der  Horizontteilung 
überhaupt  nicht  erwähnt  wird,  und  Vegetius  IV  38  einzugehen  ist 
kein  Anlaß. 

2)  Diese  Interpretation,  die  gleichmäßig  aus  dem  Text  von  §  119 
und  dem  interiecerat  §  120  folgt,  ist  gegen  Kai  bei  schon  von  E.  A. 
Wagner,  Die  Erdbeschreibung  des  Timosthenes  von  Rhodos,  Leipziger 
Diss.  1888  S.  45,  vertreten  worden.  Aber  auch  in  diesem  Falle  hat  sich 
das  Selbstverständliche  keineswegs  durchgesetzt. 


90  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

der  meses  II  120  und  manches  in  II  126  —129  geht  bekanntlich 
auf  ihn  zurück.  Ich  zweifle  nicht,  daß  Schmekel  S.  231  ff. 
recht  hat,  wenn  er  bei  Plinius  alles,  was  nicht  italisch  ist,  auf 
Poseidonios  zurückführt,  wenn  auch  die  Untersuchungsmethode 
Schmekels  gerade  hier  sehr  anfechtbar  ist.  Auf  Plinius' 
persönliches  Schuldkonto  aber  gehört  die  Art,  wie  er  das 
Achtersystem  vorträgt  und  daraus  das  Zwölfersystem  entwickelt 
(s.  0.  S.  74). 

Auch  Favorin  hat  seine  Besonderheiten :  einmal  die  Rück- 
versetzung des  svQog  auf  den  Ostpunkt  und  die  dadurch  be- 
dingte Ersetzung  des  evgog  als  OSO  durch  den  evQovorog^ 
sodann  die  jüngst  von  drei  Seiten  her  aufgehellte  ümbiegung 
des  Begriffes  der  Gegenwinde^).  Für  unsere  Untersuchung 
kommt  die  Berücksichtigung  Homers  (§  16)  und  der  Hinweis 
auf  das  Zwölf windesystem  (§  17)  in  Betracht,  namentlich  scheint 
mir  aber  beachtenswert,  daß  der  bei  Seneca  V  16,  3  wieder- 
kehrende Satz  (§  5)  „oritur  enim  sol  non  indidem  semper" 
(dazu  §  6  „item  cadit  sol  non  semper  in  eiindem  locum"  und 
die  vorausgehende  prinzipielle  Grundlegung  der  Horizont- 
gliederung „exortus  et  occasus  mobilia  et  varia  sunt,  meridies 
septentrionesque  stant  et  manent")  so  recht  nur  zum  Achtwinde- 
system paßt,  dessen  Gliederung  diese  Erwägungen  erschöpfend 
begründen,  während  sie  für  das  Zwölfwindesystem  nicht  ganz 
ausreichen.  Dies  scheint  mir  ein  direkter  Fingerzeig  dafür  zu 
sein,  daß  Poseidonios  das  Achtwindesystem  behandelt  hat,  und 
zwar  so,  daß  er  es  zuerst  darstellte  und  dann  erst  das  Zwölf- 
windesystem daran  anschloß.  Das  ist  nun  endlich  auch  das 
Verfahren  desjenigen  Autors,  dem  wir  die  Nennung  des  Ti- 
mosthenes  verdanken,  des  Agathemeros  (s.  o.  S.  74).  Also  wird 
auch  dessen  Darstellung  letzten  Endes  auf  Poseidonios  zurück- 
gehen, wenn  hier  auch  die  Kennmarke  des  Ausgehens  von  den 


1)  Kaibels  Irrtum,  an  Vertauschung  von  ?uip  und  dQysarrjg  zu  denken 
(S.  592),  ist  richtig  gestellt  worden  zuerst  von  Steinmetz  S.  54f.,  dann 
von  Gilbert  S.  556  A.  1,  endlich  von  Schmekel  S.  222  f.  A.  2.  Natürlich 
bleibt  Gellius'  Ausdruck  „flare  adversus"  gleichwohl  eine  üngenauigkeit, 
denn  der  NW  weht  eben  nicht  dem  NO  „entgegen*. 


Griechische  Windrosen.  91 

Kardinalwinden  fehlt.  Dafür  gibt  es  ihm  gegenüber  jetzt  eine 
andere  Art  Verifikation:  wir  wissen  nunmehr  durch  die  auf  Hand- 
werkstradition beruhenderömischeWindscheibe(s.  0.  S.  65fF.),  daß 
er  überTimosthenes  ungenau  berichtet,  indem  er  mit  Anlehnung 
an  den  Wortlaut  des  Aristoteles  die  Stelle  der  Zwischenwinde 
durch  [jLeoov  bezeichnet:  gerade  das  wird  uns  zum  Zeichen 
dafür,  daß  seine  Darstellung  durch  Poseidonios  vermittelt  ist. 
Endlich  stelle  ich,  trotzdem  die  Begründung,  die  Kaibel 
gegeben  hat,  hinfällig  geworden  ist,  getrost  auch  Vitruv  in 
diese  Reihe.  Fraglich  ist  nur,  wieviel  er  aus  Poseidonios  hat. 
Niemand  wird  mehr  die  Konstruktion  der  achtstrichigen  Rose 
als  Eigentum  des  Poseidonios  in  Anspruch  nehmen  wollen, 
und  somit  wird  Vitruv  ein  Zeuge  von  zweifelhaftem  Wert  für 
das  Achtwindesystem  bei  Poseidonios^);  aber  der  Satz  von  den 
alia  plura  nomina  flatusque  ventorum  e  locis  aut  fluminibus  aut 
monüum  procelUs  tracta  (I  6,10)  ist  (s.  o.  S.  84  A.l)  poseidonianisch. 
Unverkennbar  ist  auch  die  Ähnlichkeit  in  dem  Ausgehen  von 
den  vier  Kardinalwinden,  und  fest  steht,  daß  Vitruv  ein  Zwölf- 
windesystem kennt;  in  der  gräulichen  Rose  von  24  Winden 
(c.  6,  10),  die  sicherlich  sein  „geistiges  Eigentum"  bleibt  (zumal 
jetzt  die  Spur  bei  Ps.-Galen  als  selbständiges  Zeugnis  aus- 
scheidet), stecken  ja  alle  Winde  der  Rose  des  Timosthenes, 
darunter  auch  der  Xevxovoxog  (vgl.  die  Skizze  bei  Kaibel  S.  600), 
den  er  immerhin  westlich  vom  auster  gedacht  haben  mag.  Wie 
aber  steht  es  mit  der  wiederholten  Bezugnahme  auf  Eratosthenes' 
Erdmessung  (c.  6,  9.  11),  bei  der  doch  die  Zweifel  an  der  Richtig- 
keit recht  deutlich  auf  Poseidonios  weisen?^)    Wie  die  Dinge 


1)  Insbesondere  läßt  sich  m.  E.  nicht  entscheiden,  ob  Poseidonios 
beim  Achtwindesystem  überhaupt  das  neue,  geometrische  Prinzip,  das 
seine  Besonderheit  ausmacht,  betont  hat.  Bei  Favorin-Gellius  fehlt  jede 
Andeutung  einer  solchen  Auffassung,  aber  auch  bei  Plinius  kommt 
niemand  aus  II  119.  120  darauf,  daß  die  von  ihm  so  entschieden  ver- 
tretene Rose  ein  reguläres  Oktagon  ist.  Erst  aus  Buch  XVIII  wird 
das  klar. 

2)  Daß  Poseidonios  ihr  Ergebnis  für  problematisch  hielt,  wird  man, 
meineich,  trotz  Viedebandt  (Klio  14  (19U)  S.  207  ff.). festhalten  dürfen. 


92  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

dastehen,  sind  sie  ja  zwecklos  und  kindisch,  wie  so  vieles,  was 
Vitruv  in  seiner  fatalen  Neigung,  nicht  bei  seinem  Leisten  zu 
bleiben,  vorbringt^).  Die  Bezugnahme  ist  auch  töricht,  solange 
man  nur  an  die  Teilung  des  natürlichen  Horizonts  denkt ;  aber 
die  Verwunderung  über  die  geringe  Zahl  von  acht  Winden 
angesichts  der  ungeheuren  Ausdehnung  des  Erdumfanges  be- 
kommt mit  einem  Schlage  Sinn  und  Zweck,  wenn  wir  an  das 
Ausgangsmotiv  der  Meridianprojektion  denken,  an  die  Hemi- 
sphärenprojektion der  Erdkarte  mit  Windnamen  am  Rande. 
Und  ungesucht  erinnert  uns  diese  Betrachtungsweise  an  die 
Einführung  des  Zwölfersystems  bei  Galen — Oreibasios:  nkdrog 
de  avTcbv  (hier  twv  reoodQoov  zojkdv)  e^ovrog  s>cdozov  jueya 
jiQooeQxovrat  riveg  äXlai  diaq)OQal  Tivevjudzcov.  Kurz,  der  Hin- 
weis auf  die  Erdmessung  des  Eratosthenes  konnte  sehr  wohl 
auch  bei  Poseidonios  den  Übergang  vom  Achter-  zum  Zwölfer- 
system motivieren ;  ist  doch,  wie  uns  Galen  lehrt,  auch  bei  ihm 
das  Zwölfersystem  mit  der  ursprünglichen  Idee  der  Meridian- 
projektion in  Zusammenhang  gebracht. 

Suchen  wir  die  Stücke,  die  für  Poseidonios  erschlossen 
sind,  zu  einem  Gesamtbilde  zu  vereinigen,  so  zeigt  ihn  uns 
dieses,  entsprechend  der  Vorstellung,  die  wir  von  dem  Rhodier 
in  andern  Fällen  —  am  reichlichsten  aus  Senecas  Naturales 
Quaestiones  —  gewinnen,  zwar  immerhin  als  Vertreter  einer 
bestimmten  Theorie,  aber  doch  zugleich  als  Berichterstatter 
über  andere  Theorien,  wobei  der  historische  Gesichtspunkt 
vorwaltet.  Originell  ist  er  nicht,  wenn  er  sich  auch  die  Frei- 
heit zu  gewissen  Modifikationen  der  Vorlagen  wahrt.  Der 
Aufbau  des  Abschnittes  über  die  Windrosen  in  der  Meteorologie 
könnte  etwa  so  gewesen  sein:  Ausgangspunkt  Homer  mit  seinen 
vier  Kardinalwinden,  vielleicht  mit  Polemik  in  der  Art  wie  in 
Tiegl  (bxsavov,  wahrscheinlich  mit  Beifügung  von  Etymologien; 
dann  Überblick  über  die  Entwicklung,  —  erst  sei  die  zwölf- 
strichige,  dann  die  achtstrichige  Rose  gebildet  worden ;  hier«auf 
gleichwohl    zunächst    Behandlung    der    (hellenistischen)    acht- 

^)  Sehr  hübsch  charakterisiert  den  Vitruv  in  dieser  Richtung  Oder 
S.  338. 


Griechische  Windrosen.  93 

strichigen  Rose,  wobei  die  Veränderlichkeit  der  Aufgangs-  und 
Untergangsörter  zur  Teilung  des  Horizonts  und  für  die  Ter- 
minologie benützt  wurde;  ob  das  geometrische  Prinzip,  das 
Poseidonios  ja  kennen  mußte,  schon  weil  er  Athen  kannte, 
klar  entwickelt  war,  bleibt  zweifelhaft.  Kritik  an  dem  Acht- 
windesystem mit  Berufung  auf  die  Größe  des  Erdumfangs; 
Entwicklung  des  Meridiansystems  in  modifizierter  Farm  mit 
Benennung  der  Winde  nach  Timosthenes,  aber  vielleicht  mit 
reichlicheren  Varianten  der  Namen.  Den  Schluß  bildete  wohl 
die  Behandlung  der  lomKol  ävejuoi.  Im  ganzen  erweist  sich 
doch  Kaibels  Charakteristik  (S.  603)  als  zutreffend:  „Diese 
Quelle  hatte  nicht  eine  einzige  Windrose  mit  feststehenden 
Namen  konstruiert,  sondern  hatte  neben  der  achtstrichigen 
auch  die  zwölfstrichige,  letztere  mit  Benützung  des  Aristoteles 
und  Timosthenes,  erwähnt  und  hatte  für  die  einzelnen  Winde 
verschiedene  zu  verschiedenen  Zeiten  oder  in  verschiedenen 
Gegenden  bräuchliche  Namen  beigebracht."  Der  Streit  Capelle 
—  Steinmetz  —  Gilbert  wird,   so   betrachtet,   gegenstandslos. 


Von  der  hellenischen  Urzeit  bis  zu  derjenigen  Epoche  der 
griechischen  Geistesgeschichte,  in  der  allmählich  das  rezeptive 
Element  über  das  produktive  die  Oberhand  gewinnt,  hat  uns 
die  Behandlung  eines  kleinen,  an  sich  kaum  wichtigen  und  von 
den  Griechen  selbst  nicht  eben  wichtig  genommenen  Gebietes 
geführt.  Aber  ein  Stück  Geistesgeschichte  haben  wir  hier  doch 
vor  uns;  die  ionische  Lust,  „sich  zu  orientieren",  Aristoteles' 
Sammel-  und  Ordnungstalent,  die  geometrischen  Neigungen  der 
alexandrinischen  Zeit  kommen  darin  zur  Geltung,  aber  auch,  und 
zwar  nicht  zum  Vorteil  der  Entwicklung,  die  von  der  nach- 
ionischen Zeit  ab  als  echt  griechisch  zu  betrachtende  Bewahrung 
der  einmal  geschaffenen  Tradition  trotz  aller  wesenhaften  Um- 
bildungen, das  irrationale  Element  in  der  Geschichte  der  grie- 
chischen Wissenschaft. 


94  3.  Abhandlung:  Albert  Rebm 

Anhang. 

Das  Fragment  ävi/icov  d^eaeig. 

An  und  für  sich  lohnt  es  sich  nicht,  dem  winzigen  und 
doch  vielbehandelten  Fragmente,  das  in  den  Hss.  den  Titel 
führt  ävejucov  d^eoEig  xal  TzgoorjyoQiai'  ix  rcbv  'AgtoTOTeXovg  negl 
orjjuelcov  (Rose,  Aristot.  pseudepigr.  p.247,  Aristot.  fragm.  250  R. 
=  p.  973  und  1521  B.),  neuerdings  eine  besondere  Abhandlung 
zu  widmen ;  aber  mir  sind  so  viele  Meinungen  darüber  aus 
älterer  und  neuerer  Zeit  begegnet,  die  ich  für  falsch  halten 
muß,  da&  es  nötig  scheint,  einmal  zu  prüfen,  wieviel  wir 
eigentlich  von  dem  Stücke  mit  Sicherheit  oder  doch  entschie- 
dener Wahrscheinlichkeit  aussagen  können.  Ich  fürchte,  es 
ist  sehr  wenig,  —  wenn  auch  in  einem  Punkte  mehr,  als  bisher 
angenommen. 

In  den  Hss.,  in  denen  es  bisher  aufgetaucht  ist  —  vier 
Marciani  mit  fast  identischer  Überlieferung  — ,  trägt  das  Frag- 
ment den  gleichen  Titel;  aber  eine  Gewähr  für  die  Richtigkeit 
der  Herkunftsangabe  liegt  in  dieser  Übereinstimmung  schon 
um  deswillen  in  keiner  Weise,  weil  das  Fragment  in  unserer 
Überlieferung  auf  das  Buch  Tzegl  orj/xeicov  folgt,  das  von  eben 
denselben  Hss.  einhellig  dem  Aristoteles  zugeschrieben  wird.  Aus 
diesem  Tatbestand  ergibt  sich  aber  nicht  allein  (was  niemand 
leugnet),  daß  das  Fragment  auf  dieses  Zeugnis  hin  so  viel  oder 
so  wenig  mit  Aristoteles  in  Zusammenhang  gebracht  werden 
darf  wie  das  Buch  Tiegl  orjjueicov,  sondern  es  folgt  auch,  daß 
es  nur  nach  nüchterner  Prüfung  von  uns  mit  Tzegl  oi^jueicov 
verbunden,  d.  h.  als  Exzerpt  aus  einem  zu  erschließenden 
größeren  Werke  tifql  oy]juei(jo7>  angesehen  werden  kann,  kurz: 
auf  den  Titel  ist  in  seinen  beiden  Teilen  kein  Verlaß,  er  kann 
einfach  mechanisch  von  der  vorangehenden  Schrift  übertragen 
sein.  Rose  hat  das  Fragment  —  doch  wohl  nicht  unbeeinflußt 
von    der  Überlieferung  —    p.  244    für    ein  Exzerpt    aus    dem 


Griechische  Windrosen.  95 

nämlichen,  von  Diog.  Laert.  V  45  bezeugten  angeblich  theo- 
phrastischen  Buche  jisqI  orj/xeicov  erklärt,  von  dem  ein  weit 
größerer  Rest  eben  das  erhaltene  Buch  neol  orjjueicov  ist  *). 
J.  Böhme,  De  Theophrasteis  quae  feruntur  negl  orjjueicov  ex- 
cerptis,  Hallenser  Diss.  Hamburg  1884,  S.  51 — 54,  M.  Heeger, 
De  Theophrasti  qui  fertur  Tiegl  orjjueto)v  libro,  Diss.  Leipzig 
1889,  S.  56—59,  Kaibel  (Hermes  20  (1885)  S.  606  A.  2, 
Steinmetz  S.  41  sind  ihm  gefolgt.  Aber  nicht  weniger  als 
alles  spricht  gegen  eine  solche  Beziehung.  IIeqI  orjjueuov  hat 
§  35.  36  die  Windtafel  des  Aristoteles  herübergenommen, 
äv.  '&eo.  hat  —  mit  Abweichungen  —  die  des  Timosthenes; 
doch  darauf  lege  ich  aus  Gründen,  die  unten  zu  entwickeln 
sind,  kein  Gewicht.  'Av.  -^eo.  teilt  eine  Menge  Etymologien 
von  Windnamen  mit,  in  einer  Schrift  über  Wetterzeichen  haben 
solche  nichts  zu  suchen.  Der  weite  geographische  Horizont, 
den  äv.  d^so.  umspannt,  ist  ein  ganz  anderer  als  derjenige,  der 
uns  in  den  spärlichen  Angaben  von  negl  orjjueicov  vorliegt,  wo 
nur  Attika,  Makedonien  mit  seiner  nächsten  Nachbarschaft 
und  einmal  (§41)  der  Pontos  berücksichtigt  wird;  wie  will 
man  sich  denn  diese  doch  in  sich  selbst  konsequente  Be- 
schränkung erklären,  wenn  das  ursprüngliche  Werk  eine  solche 
Fülle  von  Windnamen  bot  ?  Waren  mit  ihnen  Windbeobach- 
tungen verbunden,  so  ist  rätselhaft,  weshalb  nichts  davon  in 
Ttegl  orjjueicov  steht;  war  das  nicht  der  Fall,  —  nun,  so  gehört 
die'  Sammlung  lokaler  Windnamen  nicht  in  eine  Schrift  jzegi 
orjjueicov,  sondern  in  eine  Tzegl  dvejUMv. 

So  müssen  wir  denn  gestehen :  wir  können  von  dem  Buche, 
aus  dem  äv.  ^eo.  exzerpiert  ist,  nichts  wissen,  außer  was  uns 
das  Fragment  selbst  sagt.     Ich   habe  schon   die  drei  Bestand- 

M  Eine  Analyse  dieses  Buches  liegt  im  Entwurf  seit  vielen 
Jahren  bei  mir;  daß  sie  für  die  altertümlichen  Bestandteile  der  Kompi- 
lation auffällige  Beziehungen  zu  Eukteraon  ergibt,  habe  ich  schon  in 
dem  Artikel  Euktemon  bei  P.-Wiss.  VI  S.  1060  angedeutet,  kann  aber 
den  genaueren  Nachweis  auch  hier  so  im  Vorübergehen  nicht  mitteilen. 
Über  die  Kompilation  als  Ganzes  scheint  mir  bereits  Rose  wie  so  oft 
das  Richtige  in  aller  Kürze  gesagt  zu  haben  (Aristot.  pseudepigr.  p.  245. 
250):  Arat  und  Aristoteles'  Meteorologie  sind  darin  ausgeschrieben. 


96  3.  Abhandlung:  Albert  Rehni 

teile  aufgezählt,  aus  denen  es  sich  zusammensetzt.  Der  erste 
ist  eine  Windrose,  welche  die  Lokalisierung  der  zahlreichen 
Einzelwinde,  die  d^eoeig,  lieferte ;  dazu  gehörte  eine  Zeichnung, 
wie  wir  sie  schon  bei  Aristoteles  finden ;  den  Satz,  der  auf  sie 
verweist,  durfte  Rose  in  der  Ausgabe  der  Fragmente  nicht 
weglassen :  'Ynoyeygacpa  de  ooi  xal  rag  deoeig  avrcbv  d)g  xelvrai 
xal  nveovoLV,  vjioyQaipag  rov  xrjg  yfjg  xvxXov^),  iva  xal  tiqo 
ocp^aXficjv  001  Ts^cboiv.  Die  Zeichnung  selbst  ist  nicht  er- 
halten —  leider;  denn  daß  das  Schema,  wie  es  der  Text  bietet, 
nicht  in  Ordnung  ist,  liegt  auf  der  Hand.  Die  Sondernamen 
sind  in  11  statt  12  Rubriken  eingereiht,  anaQxriag  fehlt ^). 
Die  Frage,  wie  man  sich  damit  abzufinden  hat,  beschäftigt 
alle  Bearbeiter,  seitdem  Roses  Ausweg,  in  dem  Notat  h  dk 
Kavvoyi  fxeorjg  diesen  als  zweiten  Wind  der  Rose  zu  bezeichnen, 
als  ungangbar  erkannt  ist.  Die  Unordnung  am  Anfang  ist 
schon  dadurch  gekennzeichnet,  daß  unter  dem  Lemma  ßoggäg 
auch  zu  lesen  ist:  iiveg  de  avxov  ßoggäv  oioviai  elvai  (den 
"lövgevg).  Am  nächsten  liegt  es,  zwischen  dem  Lemma  ßoggäg 
und  der  angeführten  Stelle  ein  neues  Lemma  änaQxxiag  einzu- 
schieben, also  etwa  zu  schreiben:  änaQxxiag'  ovxog  ev  ^OXßlai 
xxX.,  womit  man  in  das  Fragment  die  nämliche  Platz  vertauschung 
zwischen  ßoggäg  und  änaQxxiag  hineinbringt,  die  in  Geop.  111 
vorliegt,  und  den  ßogoäg  zum  reinen  Nordwind  macht.  Das 
geht  aber  nicht  an :  gleich  der  erste  Lokalwind,  der  mit  dem 
ßoggäg  gleichgesetzt  wird,  der  üaygevg  von  Mallos,  kann,  wie 
die  Karte  lehrt,  zur  Not  in  Mallos  und  auf  dem  benachbarten 
Meere  ^)  als  NNO  bezeichnet  werden,  aber  nimmermehr  als  N. 


^)  Diese  Wendung  ist  verständlich  nach  dem  oben  S.  57  ff.  Dar- 
gelegten. 

'^)  Schlechtweg  unverständlich  ist,  wie  Gilbert  S.  555  A.  1.  583  A.4 
dazu  kommt,  in  äv.  d'so.  die  achtstrichige  Rose  zu  finden.  Die  ersten 
sechs  Namen  sind  durch  ein  folgendes  oviog  (bei  6  rovxov)  deutlich  als 
Lemmata  ausgesondert.  Dann  wird  die  Form  freier,  aber  immer  ist  das 
Lemma  unverkennbar. 

^)  Die  Lokalbezeichnungen  gelten  sicherlich  nicht  allein  für  das 
Land  (von  dem  phrygischen  Winde  in  n.  11  natürlich  abgesehen),  sondern 
mindestens  ebensosehr  für   den  Sprachgebrauch   der  Schiffer  des  Ortes. 


Griechische  Windrosen.  97 

Es  kommt  hinzu,  daß  unter  n.  3  ein  xaixiag  (der  Kavviaq)  den 
Beisatz  erhält  bv  aXXoi  ßoQQäv  oiovzai  elvai,  woraus  folgt,  daß 
dem  Exzerptor  der  ßoQgäg  als  linker  Nachbar  des  xaixiag  gilt; 
denn  die  Varianten  geben  immer  den  Nachbarn  zur  Linken  an 
(n.  4  beim  Gr]ßdvag,  n.  5  beim  Kdgßag),  und  es  wäre  ja  auch 
sehr  zu  verwundern,  wenn  bei  diesen  Schwankungen  in  der 
Identifikation  ein  Zwischenwind  übersprungen  würde.  Also 
bleibt  nur  der  Ausweg,  anzunehmen,  daß  das  erste  Lemma 
äiiagxTiag  war,  daß  aber  dieser  Abschnitt  ausgefallen  ist  und 
dann  nachträglich  in  dem  Notat  über  den  'ISvgevg  das  be- 
ziehungslos gewordene  äTtagxTiav  durch  ein  sinnloses  ßaggäv 
ersetzt  worden  ist.  Die  Abfolge  djtaQxiiag — ßaggäg  für  den 
Anfang  vorausgesetzt,  haben  wir  bis  auf  einen  Punkt  das 
Schema  des  Timosthenes  in  der  Form  vor  uns,  die  wir  bei 
späteren  Autoren  nicht  selten  finden;  Idnv^  hat  sich  als 
Hauptname  statt  des  dgyeoxfjg,  der  Hauptbezeichnung  noch  bei 
Theophr.  de  vent.  62,  durchgesetzt  wie  bei  Ptolemaios,  Vegetius, 
in  den  Geoponika  (der  Name  für  Timosthenes  ausreichend, 
aber  nur  als  Variante  bezeugt,  s.  o.  S.  48  A.  2)^),  wogegen  Xevxo- 
voTog  statt  hßovoTog  nicht  weiter  auffällt  (s.  o.  S.  48.  86  f.)^). 
Das  fremde  Element  aber  ist  der  vielberufene  ÖQ^ovorog.  Das 
Wort  ist  sinnlos,  ÖQ'&Qovorog,  was  Königsmann  daraus  machen 
wollte,    ist  um  nichts  besser;    evQovorog   herzustellen    ist  wohl 

Nur  so  erklären  sich  gewisse  der  Karte  nach  überraschende  Gleich- 
setzungen. Kaibel  war  (Hermes  20  (1885)  S.  621  f.)  auf  dem  Wege, 
das  zu  sehen,  hat  aber  mit  dem  Prinzip  doch  nicht  ganz  Ernst  gemacht. 
Ruehl  hat  in  der  S.  45  A.  1  erwähnten  Dissertation  das  Prinzip  für 
einen  Einzelfall  klar  ausgesprochen  S.  17.  Meine  Auffassung  findet  eine 
Stütze  daran,  daß  der  'Jövgevg  (n.  1.  2),  der  für  Olbia  selbst  natürlich 
kein  Nordwind  sein  kann,  bei  Theophr.  de  vent.  53  als  Wind  (und 
zwar  Landwind)  des  JJa^cpvXixog  x6?.jiog  bezeichnet  wird. 

^)  Auf  die  Differenz  ^oaixiag — d'gaaxcag,  ist  bei  der  Art  der  Über- 
lieferung nichts  zu  geben;  es  entspricht  aber  der  Beobachtung  beim 
lOLTiv^,  daß  das  jüngere  d-gaixiag  in  äv.  d^ea.  steht. 

2)  Völlig  verfehlt  ist  es  natürlich,  wenn  Kaibel  (Hermes  20  S. 608) 
hier  den  ?.evx6voTog  im  aristotelischen  Sinne  finden  will  (vgl.  Heeger 
S.  58  A.  1). 

Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  u.  d.  bist.  Kl.  Jahrg.  1916,  3.  Abb.  7 


Ö8  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

eine  einfache  Lösung,  aber  man  fragt  sich,  wie  das  korrum- 
piert werden  konnte.  So  steckt  in  der  Korruptel  vielleicht 
doch  eine  singulare  Neubildung^).  Überblickt  man  das  ganze 
Schema,  so  ist  schlechterdings  nichts  darin,  was  für  ein  ver- 
hältnismäßig hohes  Alter  spricht ;  so  konnte  auch  ein  Schrift- 
steller des  ausgehenden  Altertums,  ja  des  Mittelalters  die  Winde 
bezeichnen. 

Daraus  ergibt  sich  weiter,  daß  wir  die  Windrose  des  Frag- 
mentes gar  nicht  ohne  weiteres  in  dem  exzerpierten  Werke 
voraussetzen  dürfen;  der  Exzerptor  kann  das  ihm  geläufige 
Schema  von  sich  aus  zu  gründe  gelegt  haben;  wissen  wir  doch 
durchaus  nicht,  ob  die  Lokalwinde  im  Original  so  listenförmig 
zusammengestellt  waren,  wie  sie  das  Fragment  bietet^).  Bei 
den  meisten  Winden  bedeutete  das  Verfahren  des  Exzerptors 
gewiß  keine  Fälschung  der  Vorlage  (so  hei  {änagKitag),  ßoQgäg, 
xaixtag,  äjirjXid)Tf]g,  svgog,  vorog,  Xixp,  i^ecpvQog\  auch  XevKovoxog 
ist  durch  die  im  anschließenden  Text  gegebene  Etymologie 
für  die  Vorlage  gesichert).    Aber  aus  dem  Schema  als  Ganzem 


*)  Es  hat  wenig  Zweck,  daran  herumzuraten.  Aber  als  Möglichkeit 
darf  oQfpvovoxog,  das  paläographisch  höchst  einfach  wäre,  doch  genannt 
werden :  ein  Gegenstück  zu  Xsvxovoxog  (und  zu  Poseidonios'  (xeXanßoQsiog) ; 
bei  Adamantios  p.  33, 10  findet  sich  oqcpvcbdrjg  als  Bezeichnung  der  Luft- 
beschaffenheit. Sollte  der  weitere  Wortlaut  in  av.  ■&so.  dann  nicht  ge- 
wesen sein:  rovrov  ol  [xsv  svq6v{otov),  ot  8s  d/uvsa  jiQooayoQsvovoiv? 

2)  Die  Einreihung  von  Lokalwinden  unter  mehrere  Winde  der  Rose 
wirkt  jetzt  höchst  schwerfällig;  es  war  viel  einfacher  zu  sagen:  der 
*I6vQevg  ist  NNO  für  die  Leute  von  Olbia,  N  für  die  von  Lyrnateia  usw. 
Was  ursprünglich  vom  Orjßdvag  gesagt  war,  so  daß  ihn  der  Exzerptor 
unter  n.  3  und  4  anführen  konnte,  bleibt  unklar;  was  jetzt  unter  4  da- 
steht, ist  Unsinn.  Auch  ist  gar  nicht  ohne  weiteres  anzunehmen,  daß 
im  Original  jeder  Lokalwind  genau  einem  Winde  der  Rose  gleichgesetzt 
war;  die  konsequente  Durchführung  dieses  Prinzips  kann  Zutat  des 
Exzerptors  sein,  der  dabei-  mancherlei  Fehler  gemacht  haben  mag ;  die 
Zuteilung  des  rpoivixiag  zum  evgog  z.  B.  möchte  ich  am  liebsten  auf  sein 
Konto  schreiben.  Andrerseits  ist  das  Verfahren  in  dv.  d-sa.  auch  nichts 
Singuläres:  auch  bei  Theophr.  de  vent.  62  geben  Winde  der  Rose  das 
Ordnungsprinzip  ab.  Ich  will  auch  nur  hervorheben,  daß  mancherlei 
Möglichkeiten  für  das  Original  offen  bleiben. 


Griechische  Windrosen.  99 

wird  man  vorsichtiger  Weise  keine  Schlüsse  auf  Alter  und 
Herkunft  der  exzerpierten  Schrift  ziehen  dürfen. 

Macht  doch  der  sachliche  Inhalt  des  Stückes  durchaus 
nicht  den  Eindruck,  als  gehörte  es  später  Zeit  an.  Römisches 
fehlt  ganz,  und  die  Ungleichmäßigkeit  des  Materials  weist 
nicht  auf  jenen  späten  Typus  von  Sammlern,  der  überallher 
alles  Mögliche  zusammenrafft.  Neun  Notate  von  27  betreffen 
die  Südküste  von  Kleinasien  und  die  syrische  Küste,  und  hier 
verrät  der  Autor  eine  ganz  besondere  Vertrautheit  mit  der 
Topographie;  neun  beziehen  sich  auf  Orte  im  oder  am  Agäischen 
Meer  —  hier  nimmt  Lesbos  eine  Vorzugsstellung  ein,  während 
vom  griechischen  Festland  nur  die  Megarike  erwähnt  wird  — ; 
Pontos,  Propontis,  inneres  Kleinasien  sind  mit  je  einer  Angabe 
vertreten,  Kyrene  mit  zwei,  der  griechische  Westen  mit  vier, 
wenn  man  reichlich  zählt.  Daß  es  sehr  viel  mehr  Lokalnamen 
gab,  da  solche  eben  allerorten  vorkommen,  wo  eben  der  Wind 
im  Alltagsleben  eine  Rolle  spielt,  darüber  braucht  man  jetzt  kein 
Wort  mehr  zu  verlieren,  nachdem  die  Sammlung  von  C.  Ruehl 
(s.  0.  S.  45  A.  1)  vorliegt.  Nehmen  wir,  wie  es  Voraussetzung  jeder 
Untersuchung  ist,  an,  daß  das  Exzerpt  ein  ungefähr  richtiges 
Bild  des  in  der  Vorlage  enthaltenen  Materiales  gibt,  so  werden 
wir  darauf  geführt,  an  einen  Schriftsteller  zu  denken,  der  in 
den  vornehmlich  berücksichtigten  Gegenden  heimisch  war  und 
vornehmlich  Selbsterkundetes  mitteilen  wollte.  Das  schließt 
natürlich  die  Benützung  literarischer  Quellen  nicht  aus,  wie 
denn  die  Berührung  mit  Theophr.  de  ventis  auf  der  Hand 
liegt. 

Nur  darf  man  nicht  meinen,  daß  wir  damit  einen  Fingerzeig 
für  die  Herkunft  des  Fragmentes  erhalten.  Schon  Schneider 
hat  in  seiner  Theophrastausgabe  IV  p.  719  die  Beziehungen 
zwischen  dv.  'deo.  und  de  vent.  62  verwertet;  aber  man  muß 
doch  betonen,  daß  die  Abweichungen  sehr  erheblich  sind. 
Gleich  der  erste  Satz  in  de  vent.  62  (den  ich  übrigens  für 
verstümmelt  halte)  ev  Zixeliai  de  xaixiav  ov  xaXovoiv,  äXl' 
änrjXiwxYjv  hat  in  äv.  '&eo.  keine  Entsprechung ;  der  Kdgßag  fer- 
ner wird  hier,  in  de  vent ,  als  phönikischer,  dort  als  kyrcnäiscber 


100  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

Name  erklärt,  hier  als  änrj^ucorrjg,  dort  als  evQog,  und  nur 
nachträglich  wird  hinzugefügt:  elol  de,  oi  xal  ä7ir]ha)Tr]v  vojul- 
Covoiv  elvai;  die  Namen  endlich,  die  in  de  vent.  dem  ägyeoirjg 
beigelegt  werden  {"OXvjumag,  Zmqcov  —  so  auch  Aristot. 
meteor.  II  6,7  — ,  xsgxiag),  erscheinen  in  äv.  '&eo.  beim  §Qaixiag. 
Man  kann  also  nur  ganz  allgemein  sagen,  hier  wie  dort  werde 
verwandtes  Material  benützt.  Nun  ist  ja  der  Schlußparagraph 
von  de  vent,  äußerst  schlecht  überliefert  und  augenscheinlich 
selbst  als  flüchtiges  Exzerpt  dem  Ganzen  angehängt,  sodaß 
man  einwenden  könnte,  in  der  ursprünglichen  Fassung  werde 
dieser  Abschnitt  über  lokale  Bezeichnungen  unseim  Fragment 
äv.  '&eo.  ähnlicher  gewesen  sein^).  Aber  es  gibt  ja  noch  eine 
Berührungsstelle;  an  ihr  ist  der  Theophrasttext  heil,  die  Un- 
abhängigkeit unseres  Fragments  von  ihm  aber  womöglich  noch 
deutlicher:  in  äv.  '&eo.  n.  1.  2  hat  Meineke  zu  Steph.  Byz. 
den  "lövQEvg  sicher  richtig  hergestellt;  von  dem  nämlichen 
Winde  redet  Theophrast  de  vent.  53,  wo  aus  övQig  gewiß 
auch  'Idvgevg  oder  mit  Meineke  "IdvQig  zu  machen  ist.  Ein 
vergleichender  Blick  auf  beide  Stellen  zeigt,  daß  in  dv.  ^eo. 
ein  viel  reicheres  topographisches  Material  verarbeitet  ist. 
Ich  finde  nur  eine  sachliche  Berührung  mit  peripatetischer 
Doktrin,    die   Wendung   in    n.  7,    wonach    der    voxog  eico  xär^ 


*)  Ein  schon  von  Schneider  in  seinem  Theophrast  V  p.  163  bei- 
gezogener Zeuge  für  das  Stück  ist  Alexander  von  Aphrodisias  zu  Aristot. 
meteor.  p.  108, 21—33  Hayduck.  Darnach  hätte  Theophrast  für  den 
aQyeoirjg  auch  schon  die  Bezeichnung  lanv^  gekannt,  wovon  in  unserm 
Text  nichts  steht.  Etwas  reichhaltiger  kann  dieser  also  in  der  Form, 
in  der  er  dem  Alexander  vorlag,  gewesen  sein;  aber  schwerlich  sah  er 
wesentlich  anders  aus;  dafür  zeugt  der  Satz  bei  Alexander :  djtr]Xiu>zt]v, 
ov  QeöcpQaoiog  Xsyei  jcaga  juev  ^ixeXiwraig  'EXXtjOJiovxiav  y.aXelodai,  Jiagä 
de  ^oi'vi^i  Kagßav,  BEQsxvvxiav  8s  sv  IJövrooi.  Wahrscheinlich  ist  die 
Angabe  über  die  Sikelioten  falsch,  denn  bei  Theophrast  ist  nach  Kaibels 
Bemerkung  (Hermes  20  S.  606  A.  2)  tov  Se  djitjXucozrjv  ^EXXrjonovxiav  (xa- 
Xovoi)  lückenhaft  (an  Prokonnesos,  Teos,  Kreta,  Euboia,  Kyrene  kann 
nach  dv.  d'so.  n.  4  gedacht  werden).  Da  aber  bei  Theophrast  oi  jieqI 
HixeXiav  vorhergeht,  nahm  Alexander  oi  nsQi  ZixsXiav  auch  als  Subjekt 
zum  Folgenden.     Er  hatte  also  hier  den  nämlichen  Text  wie  wir. 


Griechische  Windrosen.  101 

ojußgog  ist^).  Das  entspricht  Aristot.  meteor.  II  3,  27.  Theophr. 
de  vent.  §  4.  7.  Aber  bei  der  großen  Autorität,  welche  die 
Windlehre  des  Aristoteles  bei  den  Späteren  genoß,  genügt 
diese  eine  Berührung  zwischen  dv.  'deo.  und  Aristoteles — Theo- 
phrast  noch  nicht,  um  äv.  d^eo.  als  Produkt  der  peripatetischen 
Schule  zu  erweisen'^). 

Mit  dem  Peripatos  hat  auch  die  besondere  Vorliebe  für 
Etymologien  nichts  zu  tun^),  die  in  unserem  Fragment  hervor- 
tritt bei  voxog,  Xiip,  levxövozog,  f^ecpvqog,  die  sich  aber  im 
Original  wohl  auch  bei  anderen  Winden  der  Rose  geltend  ge- 
macht haben  wird.  Das  ist  nicht  peripatetische,  sondern 
stoische  Art;  aus  den  stoischen  do^m  bei  Diels,  Doxogr.  p.  374 


^)  Nebenbei  bemerkt,  gestattet  die  an  sich  unklare  Wendung  den 
Schluß,  daß  im  Original  auch  von  der  Natur  der  Winde  die  Rede  war: 
abermals  ein  Anzeichen  dafür,  daß  es  eine  Schrift  tisqI  dvsf^cov,  nicht 
tisqI  orjjusicov  gewesen  ist. 

^)  Auf  die  sachliche  Erklärung  des  topographischen  Teiles  näher 
einzugehen,  ist  hier  kein  Anlaß.  Partsch  hat  in  Neumann-Partsch, 
Physik.  Geogr.  v.  Griechenland  S.  105— 108  die  Angaben  großenteils  auf 
ihren  Wert  geprüft  und  so  zum  Verständnis  Wesentliches  beigetragen. 
Ruehls  Augenmerk  ist  hauptsächlich  auf  die  Windnamen  gerichtet. 
Zum  Topographischen  möchte  ich  nur  zwei  Bemerkungen  machen :  der 
BdnvQog  (n.  4),  der  mit  dem  Libanon  zusammen  die  Ebene  östlich  von 
Tripolis  in  Phoenikien  umschließt,  muß  doch  wohl  das  nämliche  Gebirge 
sein,  das  bei  Plin.  n.  h.  V  78  Bargylus  heißt;  an  einer  der  beiden  Stellen 
muß  also  der  Name  verdorben  sein.  Vielleicht  war  auch  der  zwischen 
beiden  Gebirgen  fließende  Eleutheros  erwähnt  (vgl.  auch  Strab.  XVI  753); 
nach  ihm  könnte  der  Wind  norafievg  heißen,  während,  was  man  jetzt 
an  der  Stelle  liest,  widersinnig  ist  (jiveT..sx  jisöcov  ....  Tiago  xai  jioxa^evg 
xaXsTzai).  Sodann :  der  'OXv/ujitag,  der  den  Leuten  von  Pyrrha  auf  Lesbos 
Beschwerde  macht  {ox^sT,  n.  12),  kann  nach  seiner  Einreihung  unter 
ß'oaixiag  sicherlich  kein  Scirocco  sein,  wie  Partsch  S.  107  vermutet. 
Auch  er  kommt,  wie  der  Text  eindeutig  sagt,  vom  pierischen  Olymp, 
nach  dem  dieser  Wind  auch  auf  Euboia  genannt  wird;  die  Karte  zeigt, 
daß  ein  Wind  von  dorther  die  Einfahrt  in  die  Bucht  von  Pyrrha  sehr 
erschweren  kann;  so  wird  man  auch  das  so  oft  vermerkte  svoxhTv  zu 
verstehen  haben. 

^)  Bei  Theophrast  kenne  ich  nichts  derart;  für  Aristoteles  sei  auf 
Lersch,  Spracbphilos.  d.  Alten  IH  S.  33  ff.  und  Bonitz'  Index  s.  v.  Ety- 
mologica  (mit  den  Addenda)  verwiesen.  * 


102  3.  Abhandlung:  Albert  Rehm 

ergänzt  sich  die  im  Exzerpt  ausgefallene  Etymologie  von  ^- 
cpvQog^  und  zum  vorog^  der  so  heißt,  weil  er  e^m  xaTOjußQog 
ist,  läßt  sich  Gell.  II  22,  14  stellen :  Graece  voxog  nominatur, 
quoniam  est  nebulosus  atque  umectus;  vorig  enim  Graece  umor 
nominatur,  was  über  Favorin  auf  Poseidonios  zurückgeht. 

So  hätte  denn  Poseidonios  die  größte  Anwartschaft,  die 
Quelle  des  Fragmentes  zu  sein;  er  hat  die  Winde  eingehend 
behandelt,  hat  auch  von  lokalen  Windnamen  geredet  (Zu- 
sammenstellung bei  Kaibel,  Hermes  20  S.  594 f.;  s.  o.  S.  84  A.  1. 
88.  93),  hat  mindestens  eine  der  in  äv.  d^eo.  vorgetragenen 
Etymologien,  vorog -vorig  (s.  o.),  vertreten;  und  wie  trefflich 
paßt  die  Bevorzugung  des  südlichen  Kleinasiens  und  Syriens 
zu  dem  Manne  aus  Apameia,  der  auf  Rhodos  lehrte !  So  be- 
stechend dieses  Zusammentreffen  von  Kombinationen  sich  aus- 
nimmt, der  Schluß  wäre,  fürchte  ich,  doch  falsch.  Man  braucht 
am  Ende  kein  Gewicht  darauf  zu  legen,  daß  die  aus  den  an- 
dern Zeugen  auf  Poseidonios  zurückzuführenden  lokalen  Wind- 
namen doch  recht  wenig  Berührungen  mit  dv.  d^eo.  aufweisen 
{carbasus  bei  Sueton,  sciron  bei  Plinius  und  Seneca,  olympias 
bei  Plinius,  circius  bei  Seneca  und  Sueton,  —  überall  noch 
dazu  mit  Differenzen  im  einzelnen);  man  könnte  ja  an  Ent- 
stellung bei  der  vielfältigen  Entlehnung  und  Verkürzung 
denken.  Entscheidend  aber  ist,  daß  die  Vorlage  des  Fragm. 
äv.  '&eo.  beträchtlich  älter  als  Poseidonios  zu  sein  scheint. 
Eine  Zeitmarke  glaube  ich  nämlich  unter  den  topographischen 
Angaben  gefunden  zu  haben  ^):  das  pamphylische  Olbia  wird 
(n.  1.  2)  von  den  zahlreichen  andern  Städten  gleichen  Namens 
durch  den  Beisatz  ?5  xazd  Mdyvdov  (oder  MvyddXrjv,  was  Ruehl 
S.  16    bevorzugt)^)    unterschieden;    seit    etwa    der    Mitte    des 

'  1)  Es  ist  mir  eine  erfreuliche  Bestätigung  gewesen,  als  ich  die  oben 
besprochene  Stelle  von  E.  Petersen  bei  Lanckoronski,  Städte  Pisidiens 
und  Pamphyliens  I,  S.  18  A.  4  in  ähnlichem  Sinne  ausgenützt  fand. 

2)  Überliefert  ist  MvyaXov;  beide  Änderungen  sind  paläographisch 
leicht.  MvyddXr],  bzw.  MvydaXa  ist  übrigens  so  schlecht  bezeugt,  nur 
durch  den  Stadiasm.  m.  magni  222  (GGM  I  p.  489),  daß  man  dort  an 
Korrupte!  aus  Mäyvdo?  denken  könnte.  R.  Kiepert  zu  Formae  orb. 
ant.  VIII  S.  11  spricht  sich  allerdings  dagegen  aus. 


Griechische  Windrosen. 


103 


IL  Jahrh.  liegt  aber  zwischen  Olbia  und  Magydos  oder  Myg- 
dale  die  stattliche  Gründung  Attalos'  IL  Attaleia  (Strabon 
XIV  667;  vgl.  Rüge  b.  P.-Wiss.  II  S.  2156);  es  ist  nun 
doch  außerordentlich  unwahrscheinlich,  daß  Olbia  nach  einem 
kleinen  Küstenort  benannt  worden  wäre,  wenn  zu  der  Zeit, 
als  die  exzerpierte  Schrift  entstand,  schon  die  Stadt  der  Perga- 
mener  vorhanden  gewesen  w^äre. 

So  werden  wir  also  auf  einen  Autor  des  III.  Jahrh.  ge- 
führt. Einen  Namen  kann  man  nicht  nennen ;  Eratosthenes 
wie  Kallimachos  scheinen  mir  durch  das  Fehlen  von  Ägypten 
ausgeschlossen  zu  sein.  Der  geographische  Horizont  weist 
eher  auf  einen  Autor,  der  an  den  Küsten  des  Seleukidenreiches 
heimisch  war. 


Stellenregister. 

Agathemeros  GGMII  472  s 47 ff.  74.  90 f. 

[Agathemeros]  GGM  II  503 

51  f. 

Anaxagoras  b.  Aristot.  Meteor.  II  6 

41,1 

Anaximander  fr.  1.  2.  4.  6 

15,2 

Arat  V.  39.  44 

6,2 

V.  61s 

26,2 

Aristoteles  Meteor.  II  6     . 

36  ff. 

[Aristoteles]  Jtsgl  xoofiov  p.  394  s. 

fr.  250  R  (ävsfzcov  Masig) 

86  f. 

94  ff. 

Ephoros  fr.  38 

18.  19,  1 

b.  Plin.  n.  h.  VI  57  ? 

57 

Eratosthenes  b.  Strab.  11  67.  76.  80 

53 

b.  Ps.-Galen  in  jt.  x^H'^v'i 

70  ff. 

b.  Geminos  u.  a. 

38,1 

Favorin  b.  Gellius  noct.  Att.  11  22 

90 

Galen  in  n.  dsgcov  b.  Orib.  IX 

63.  81  ff. 

[Galen]  in  jt.  xvf^öiv 

70.  74.  75  ff. 

Hekataios  negiodog  ytjg       . 

28,1 

Herakleitos  fr.  120      . 

26 

Herodot 

27  ff. 

IV  99 

29 

VII  188  s.      .         .         . 

34 

Hipparch  b.  Strab.  II  71.  86  s. 

.       54 

b.  Ptol.^  Phas.     . 

71,1 

Hippokrates  Jt.  olsqcov 

18  ff. 

c.  3-6      . 

.      83  f. 

c.  13          ... 

.       19,1 

smö.  I.  III.    . 

22,1 

104         3.  Abhandlung:  Albert  Rehm,  Griechische  Windrosen. 


[Hippokrates]  n.  eßö.  c.  3            .         .         .         . 

30  ff. 

Homer  «  274  ss. 

6,2 

H  190  SS.    V  109  SS.            .         .         .         . 

8 

Inschriften:  IG  Xil  5,891 

12.1 

IG  XIV  906.  1308 

50 

Aquileia 

67,2 

Dagga 

50 

Rom  (nicht  in  CIL) 

51.  65  ff. 

loannes  Lydos  de  mens.  IV  119 

87,1 

Macrobius  in  somn.  Scip.  116,7.  9,4 

44 

Manilius  Astron.  IV  587ss 

87 

Oreibasios  iazQ.  ovvay.  IX  7       . 

81  f. 

7.  9.  12    . 

77 

6.  10 

84,1 

Plinius  n.  h.  II  119  s 

89 

II  124 

73,1 

VI  57 

57 

Polybios  in  36.  37.  XXXIV  7    .         .        . 

54  f. 

Poseidonios  b.  Ps.-Galen  in  :7r.  xv^ioy?     . 

75  ff. 

b.  Plin.  n.  h.  VI  57       . 

57 

b.  Strabon  u.  a.     . 

78  ff. 

Ptolemaios  Geogr.  VII  6     . 

60  ff. 

Synt.  VII  4.  VIII  4  . 

62,1 

Tetrabibl 

62,1 

b.  Olympiodor  in  Aristot.  Meteor. 

.      52 

Seneca  n.  qu.  V  17   .         .         .         .         • 

.      60 

Strabon  I  29       

24  f.  79  f. 

II  67.  76.  80.  107.  108 

53  ff. 

II  116 

.       57  f. 

[Theophrast]  ti.  orjfisicov      .... 

.      49, 1.  95,  1 

Thrasyalkes  b.  Strabon      .... 

.       24  f. 

Timosthenes  fr.  6 

.       47  ff.  63  ff. 

Varro  b.  Sen.  n.  qu.  V  16 

.       60.  88 

Vitruv  16 

.       91  f. 

I  6,  6.  12 

llff. 

Zauberpapyri 

.       62,1 

Inhaltsübersicht. 

Seite 
Vorbemerkung ,         .         .        .         .  3 

1.  Homer  und  die  vorwissenschaftliche  Zeit        ....  5 

2.  Die  ionischen  Physiker  9 

3.  Aristoteles .36 

4.  Timosthenes 47 

Zusatz 65 

5.  Das  hellenistische  Achtwindesystem 70 

6.  Poseidonios ''^ 

Anhang  (Das  Fragment  ävifxcov  ^soeig) 94 

Stellenregister 103 


A 


Sitzungsberichte 

der 

Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

Philosophisch-philologische  und  historische  Klasse 

Jahrgang  1916,  4.  Abhandlung 


# 


Mittelalterliche  Handschriften 
des  K.  B.  Nationalmuseums  zu  München 


von 


Paul  Lehmann 


Vorgelegt  am   1.  Juli   1916 


München  1916 

Verlag  der  Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

in  Kommisaion  des  G.  Franz'schen  Verlags  (J.  Roth) 


/ 


Sitzungsberichte 

der 

Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

Philosophisch-philologische  und  historische  Klasse 

Jahrgang  1916,  4.  Abhandlung 


Mittelalterliche  Handschriften 
des  K.  B.  Nationalmuseums  zu  München 


von 


Paul  Lehmann 


Vorgelegt  am   1.  Juli   1916 


München  1916 
Verlag  der  Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

in  Kommission  des  6.  Franz'schen  Verlags  (J.  Roth) 


Der  Glanz  der  Handschriftensammlung  der  K.  Bayer.  Hof- 
und  Staatsbibliothek  erstrahlt  seit  langem  so  stark,  daß  selbst 
die  weder  an  Zahl  noch  Wert  geringen  Schätze  unserer  Uni- 
versitätsbibliothek lange  Zeit  für  viele  im  Schatten  gelegen 
haben.  Weitaus  schwächer  und  seltener  aber  noch  ist  der 
kleine  Handschriftenbestand  des  K.  Bayer.  Nationalmuseums 
in  München  beleuchtet .  worden.  Wohl  ist  ein  Teil  davon 
in  Schaukasten  ausgestellt  und  gewiß  von  vielen  Museums- 
besuchern betrachtet  worden,  jedoch  haben  nur  ganz  wenige 
Stücke  wissenschaftliche  Würdigung  gefunden.  Namentlich 
übersah  man  die  nicht  ausgestellten,  in  der  Bibliothek  selbst 
aufbewahrten  Bände.  Auch  meine  Kenntnis  der  Museumshand- 
schriften reicht  nicht  weit  zurück.  Zur  Erklärung  und  Ent- 
schuldigung kann  nicht  zuletzt  der  gedruckte  Bibliothekskata- 
log ^)  dienen,  der  die  Handschriften  zum  Teil  nur  wenig  von 
den  Drucken  abhebt  und  im  höchsten  Grade  unvollkommene 
Beschreibungen  gibt,  ebenso  wie  die  vorhandenen  handschrift- 
lichen Kataloge  nicht  nur  veraltet,  sondern  auch  voll  Fehler 
und  Lücken  und  oft  irreführend  sind.  Ich  hoffe  darum,  mit 
meinen  Mitteilungen  manchem  Forscher  einen  Dienst  zu  er- 
weisen und  dem  Museumsdirektor  Herrn  Professor  Dr.  Halm, 
dem  Bibliothekskustos  Herrn  Dr.  Jacobs  sowie  seinen  Ver- 
tretern Herrn  Dr.  Muchall  und  Herrn  Kustos  Dr.  Buchheit 
meinen  Dank  für  ihre  freundliche  Erlaubnis  und  Erleichterung 
meiner  Durchsicht  der  Bände  im  Frühjahr  und  Sommer  1916 
auf  würdige  Weise  abstatten  zu  können. 


^)  Kataloge   des   bayer.  Nationalmuseums  in  München.     I.  Bücher- 
sammlung, beschrieben  von  J.  A.  Mayer,  München  1887. 

1* 


4  P.  Lehmann 

Freilicli  ist  es  mir,  da  ich  jetzt  und  in  der  nächsten  Zu- 
kunft eher  zu  viele  als  zu  wenige  wissenschaftliche  Pflichten 
habe,  nicht  möglich,  einen  den  höchsten  Ansprüchen  genügen- 
den, alles  umfassenden  Katalog  zu  liefern.  Ich  feile  meine 
Beschreibungen  und  Erörterungen  nicht  bis  ins  Kleinste  aus 
und  gebe,  mit  der  Bitte  um  Nachsicht,  nur  in  Auswahl  das,  was 
meinen  sonstigen  Forschungen  nahe  lag,  indem  ich  mich  auf 
die  lateinischen  und  einzelne  deutsche  Handschriften  mittelalter- 
licher Entstehungszeit  und  deutscher  Herkunft  beschränke. 

Dabei  bleiben  —  bis  auf  das  Werk  des  Luthergegners 
Augustinus  von  Alfeld  —  unberücksichtigt  die  nachmittelalter- 
lichen Manuskripte  des  Museums,  unter  denen  sich  wertvolle 
Stamm-  und  Wappenbücher,  Chroniken,  Kunstbücher  und  an- 
dere Sachen  aus  dem  16.  — 19.  Jahrhundert  befinden,  ferner  von 
den  mittelalterlichen  Stücken  die  vorzugsweise  den  Kunsthisto- 
riker und  den  Liturgiker  angehenden  und  von  ihnen  zum  TeiP) 
schon  herangezogenen  Miniaturenhandschriften  und  -Fragmente, 
unberücksichtigt  die  meisten  Codices  germanici  und  einige  la- 
teinische. 

Ein  längeres  Warten  und  weiteres  Ausdehnen  würde  viel- 
leicht ein  Unterlassen  der  Veröffentlichung  herbeiführen,  so 
die  Codices  höchstwahrscheinlich  noch  zu  längerer  Vergessen- 
heit verdammen  und  der  Wissenschaft  einige  nützliche  Ent- 
deckungen und  Anregungen  fürs  erste  versagen. 

Nur  kurz  erwähnt  seien  folgende  lateinische  Manuskripte 
mittelalterlichen  Ursprungs:  Bibl.  3595  {Martini  Poloni  chro- 
nicon,  abgeschrieben  im  14.  Jahrhundert  und  mit  Nachträgen 
bis  1390  versehen)  und  3602  {Frophetae  vet,  testamenti  atque 
novum  testamentum,  saec.  XIV),  beide  italienischer  Herkunft. 
Ferner  folgende  Bände  deutscher  Herkunft:  Bibl.  682  {Passio- 
nale novum,  saec.  XV);  935  {Breviarium,  saec.  XV,  aus  der 
Bamberger  Diözese);  955  {Sermones  ettractatus  de  caritate,  pru- 
dentia,  mmie  etc.,  saec.  XV  ex.);  1121  {Registra  granarii  ober- 

M  Vgl.  Berthold  Riehl,  Studien  über  Miniaturen  niederländischer 
Gebetbücher  usw.:  Abhandl.  d.  bist.  Kl.  der  K.  B.  Akad.  d.  Wiss.  XXIV 
2  (1907)  S.  433  ff. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  ^ationalmuseuois.  5 

bayerischer  Ortschaften  wie  Beuerbach,  Schwabhausen,  Lands- 
berg a.  L.,  Geltendorf,  Gräflfing,  Perchting,  Pöcking,  Kaufe- 
ring u.a.,  von  1481 — 1532);  3607  (Lexikalisch-encyklopädisches 
Gedicht  Ligwa  materna,  tu  disce  sequencia  scripta  \  Rezepte 
gegen  das  Verderben  des  Weines,  das  Zerfließen  der  Tinte  auf 
dem  Pergament  und  für  die  Zubereitung  von  Zinnober  und 
Tinte;  Francisci  de  Monte  Leonis  (Löwenberg  in  Schlesien) 
Modus  dictaminis,  u.  a.,  saec.  XV);  3632  und  3635  (Burandi 
rationale  divinorum,  saec.  XV);  4912  (Biblia  pauperum  compen- 
diosa,  saec.  XIV). 

Die  Codices  und  Bruchstücke  mit  Texten  in  deutscher 
Sprache  werden  sicherlich  von  sachkundigen  Mitarbeitern  der 
Deutschen  Kommission  bei  der  K.  Preuß.  Akademie  der  Wissen- 
schaften in  Berlin  erledigt  werden,  wenn  sie  es  nicht  bereits 
sind.  In  Betracht  kommen  außer  den  unten  beschriebenen  Bän- 
den noch  Bibl.  631  (Weissagungen  der  Sibylle;  Predigten; 
Streitgedicht  zwischen  Leib  und  Seele;  Gedicht  vom  jüngsten 
Gericht,  zum  Teil  1499  von  einem  Johannes  Linck  in  Bayern 
abgeschrieben);  930  (Gebete;  Beichtspiegel;  'kurczeler  und  un- 
terweissung  was  der  mensch  sull  versten  hey  den  dingen  die 
da  geschehen  in  der  mess;  Sterbebuch  u.  a.,  saec.  XV);  933 
(Gebetbuch,  saec.  XV);  952  (Mystisch-asketische  Texte,  z.  B. 
Sprüche  Meister  Eckarts,  Pfeiffer  I  625;  Predigten;  Von  der 
dbloessung  unsers  herren  und  von  dem  grossen  herslaid  unser 
lieben  frawen  u.  a.,  saec.  XV);  946  (Leben  der  Heiligen  Fran- 
ciscus  und  Elisabeth,  saec.  XV);  1498  (Arzneibuch,  saec.  XV); 
1501  (Traktate  über  den  Kalender,  die  Sternzeichen,  die  4  Ele- 
mente u.  a.;  Arzneibuch;  Physiognomie;  Rezepte;  Gedächtnis- 
kunst des  Hans  Hartlieb,  saec.  XV);  1512  {Wie  ain  mensch  in 
diser  seit  sein  leben  mocht  schichen;  die  swelff  antiffner,  die  man 
singt  über  das  Magnificat  u.  a.,  saec.  XV);  1622  (Medizinische 
Traktate,  saec.  XV);  2502  (HistorienbibeP)  aus  der  Werkstatt 

^)  Dieser  Codex  untersucht  von  R.  Kautzsch  im  Zentralblatt  für 
Bibliothekswesen  XII  (1895),  S.  64  ff.  und  H.  Vollmer,  Materialien  zur 
Bibelgeschichte  und  religiösen  Volkskunde  des  Mittelalters  I  (Berlin  1912), 
S.  12,  120  f.,  125. 


6  ♦  P.  Lehmann 

Diebolt  Laubers,  saec.  XV);  3597  (Gebete^)  und  Ablässe, 
saec.  XV  ex.);  4439  (Allerlei  Fragmente,  darunter  16  Blätter 
eines  mystischen  Traktates,  saec.  XIV / XV,  eines  über  die 
Hauptsünden,  saec.  XV). 

Die  Mehrzahl  der  bereits  genannten  und  der  im  folgenden 
beschriebenen  Codices  ist  im  19.  Jahrhundert  von  dem  Bam- 
berger Kunstgelehrten  M.  J.  von  Reider^)  gesammelt.  Es  sind 
Reste  kirchlich-klösterlicher  Bibliotheken  und  Archive  nament- 
lich Nordbayerns  und  helfen  außer  der  Rekonstruktion  der 
zersprengten  Büchersammlungen  das  mittelalterliche  Geistes- 
leben nach  mancher  Seite  hin  zu  veranschaulichen.  Neben 
Werken  der  antiken  Literatur  in  zwar  unwichtigen  Abschriften 
stehen  Erzeugnisse  und  Niederschläge  der  Theologie  und  der 
scholastischen  Philosophie  des  Mittelalters,  religiös-asketische 
Texte  in  deutscher  und  lateinischer  Sprache  reihen  sich  an 
meist  wenig  erfreuliche,  aber  bezeichnende  Machwerke  des 
frühen  deutschen  Humanismus.  Für  den  Geschichtsforscher 
im  engeren  Sinne  bieten  unter  anderem  die  Handschriften  von 
Birklingen,  Cadolzburg  und  Nürnberg  neuen  Stoff.  Es  sind  in 
allen  Gruppen  keine  Seltenheiten  ersten  Ranges,  jedoch  viele 
Stücke  und  Aufzeichnungen,  die  in  größerem  Maße  veröffent- 
licht und  besprochen  zu  werden  verdienen,  als  ich  es  hier  tue. 


1)  Zu  Unrecht  als  Gebetbuch  Herzog  Wilhelms  III.  von  Bayern 
(t  1435)  im  Museum  ausgestellt  und  besprochen  von  G.  Hager  in  den 
Denkmalen  und  Erinnerungen  des  Hauses  Witteisbach  im  Bayer.  Na- 
tionalmuseum, München  1909,  S.  17  und  im  Führer  durch  das  Bayer. 
Nationalmuseum,  XI.  Amtliche  Ausgabe,  München  1913,  S.  233.  Der  Band 
enthält  allerdings  Gebete  mit  der  Überschrift  Bye  nachgeschriben  gepett 
sindt  gemacht  nach  Cristi  gehurd  XIIII  hundert  und  in  dem  XXXI.  jar 
dem  hochgebornen  fursten  hertzog  Bilhalm  zic  Bayrnn  etc.,  aber  es  han- 
delt sich  nicht  um  das  Originalgebetbuch  des  Fürsten ,  sondern  um  ein 
wenig  schönes  Exemplar  der  ziemlich  häufigen  Abschriften,  wie  solche 
sowohl  die  K.  Hof-  und  Staatsbibliothek  als  auch  die  Universitäts-Biblio- 
thek zu  München  besitzt.  In  der  Handschrift  des  Nationalmuseums  kom- 
men von  derselben  Hand,  die  die  Gebete  für  den  Herzog  schrieb,  An- 
gaben über  1456—1476  erteilte  Ablässe  vor. 

2)  t  5.  Februar  1862,  vgl.  Allg.  Deutsche  Biographie.  XXVII  683  f. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  13.  Nationalrauseums.  7 

Da  die  Museumsverwaltung  bisher  keine  endgiltig  erschei- 
nende Gruppierung  der  Handschriften  vorgenommen  hat,  die 
Zahl  der  Bände  zu  klein,  die  Mannigfaltigkeit  des  Inhaltes  zu 
groß  ist,  um  eine  Anordnung  meiner  Beschreibungen  nach 
Wissensfächern  leicht  und  empfehlenswert  zu  machen,  folge 
ich  der  mich  im  besonderen  beschäftigenden  mittelalterlichen 
Herkunft  und  suche  den  verschieden  gerichteten  Forschern  durch 
ein  Register  die  Auffindung  des  einzelnen  zu  erleichtern. 

Die  fettgedruckten  Buchtitel  stammen  von  mir.  Ich  habe 
mich  aber  oft  nach  dem  Befunde  gerichtet  und  den  hand- 
schriftlichen Titel  auch  zuweilen  genau  übernommen,  was  dann 
stets  aus  dem  INCIPIT  ersichtlich  ist. 

BAMBERG. 

Clapissenklostep. 

Handschriften  in  Bamberg,  Kgl.  Bibl.  Liturg.  18,  19,  20, 
21,  68(?),  110(?),  178;  Patr.  58;  Theol.  65(?);  Hist.  Uß. 

N.-M.  Bibl.  931. 

Chorbuch  mit  Noten,  saec.  XV. 
N.-M.  Bibl.  1179. 

Kalendarium  necrologicum,  1496  begonnen,  bis  ans  Ende 
des  18.  Jahrhunderts  fortgeführt.  Vgl.  f.  200^:  Als  man  ge- 
zelt  hat  nach  Cristi,  unsers  lieben  herren,  gepurt  tausent  vier- 
hundert und  sechs  und  neuntzig  iar,  ist  geschriben  worden  dytz 
puch  von  dem  ersamen  brüder  Friderich  Gerbersdorffer,  zw 
derselbigen  zeit  des  peichtvatters  gesell  und  prediger,  und  yn 
dem  selbigen  iar  ist  dass  gepunden  worden,  das  und  ander 
mer    von   brüder  Conradt  Hallerdörffer.     Pyttend   gott  für  sy! 

Fr.  Gerbersdorffer  wird  auch  in  einem  von  Franciscus 
Mathie  1498 — 1501  geschriebenen  Graduale  der  Ciarissen,  jetzt 
Bamberg  Kgl.  Bibl.  Ed.  I.  3  (Liturg.  18),  genannt.  Das  Necro- 
logium  des  Franziskanerklosters  meldet^)  unterm  1.  April:  1519 


1)  Vgl.  36.  Ber.   über  d.  Stand  u.  d.  Wirken  d.  hist.  Ver.  f.  Ober- 
franken zu  Baniberg  im  Jahre  1873,  Bamberg  1874,  S.  25  und  12. 


8  P.  Lehmann 

fr.  Fridericus  Gerberstorflfer,  sacerdos,  praedicator  et  confessor 
Clarissarum;  unterm  10.  Januar:  Obiit  p.  et  confr.  Cunradus 
Hallerdorfer,  librorum  inligator  et  amator,  anno  1517  etatis 
sue  circiter  octogesimo,  sacerdotii  vero  59. 

N.-M.  Bibl.  3751. 

Gepreßter  Ledereinband  saec.  XVI.  Pap.  15,5  x  10,5  cm. 
209  Bll.    Sorgfältige  kleine  Schrift  saec.  XVI  med. 

f.  1^  unten  saec.  XVII:  In  das  beichthauss  sanctae  Clarae 
gehörig  Bamberg. 

f.  1^ — 208^:  Augustinus  Alveldianus,  Tractatus  de  regula 
s.  Clarae. 

Titel  f.  1^:  Regula  dive  virginis  re  et  nomine  Cläre,  an 
debeat  dici  evangelica,  an  pocius  supersticiosa,  quid  horum. 
Augustinus  1533  Alveldianus.     f.  1^  leer. 

INC.  f.  2^:  Nobili  ac  generöse  comiti,  venerabili  et  reli- 
giöse virgini,  consecrate  Christo,  graciose  matri  domine,  do- 
mine TJrsule  Slickin,  amabili  abbatisse  ordinis  dive  virginis 
Cläre  in  Egra  Augustinus  Alveldianus  ordinis  minorum,  ser- 
vus  Jesu  Christi,  optat  salutem  plurimam  in  virginis  filio.  Sepe 
et  multum  anhelo.  INC.  f.  3^:  Prefacio  in  regulam  dive  Cläre. 
Videte,  vigilate,  orate.  EXPL.  f.  208^:  altissimus  paciens  red- 
ditor  est.  Eccli.  5.  Regi  autem  seculorum  immortali  invisibili 
soli  Deo  honor  et  gloria  in  secula  seculorum.  Amen.  Augu- 
stinus 1534  Alveldianus,  Gregorii  pape. 

Es  handelt  sich  um  ein  offenbar  den  Forschern  noch  nicht 
bekanntes  Werk  des  Minoriten  Augustinus  aus  Alfeld  (südlich 
von  Hildesheim),  der  namentlich  als  Gegner  Martin  Luthers 
aufgetreten  ist.  Auch  in  vorliegender  Abhandlung  über  die 
Clarissenregel  nimmt  er  gegen  Luther  Stellung.  Augustins 
Biograph  Leonhard  Lemmens^)  erwähnt  die  Schrift  nicht,  setzt 
überdies  den  Tod  des  Minoriten  um  1532  an,  während  dieser 
nach  der  Münchener  Handschrift  noch  1534  schriftstellerisch 
tätig  gewesen  zu  sein  scheint. 


1)  Pater  Augustin   von  Alfeld,   Freiburg  i.  B.  1899   (Erläuterungen 
und  Ergänzungen  zu  Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes  1  4). 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.  9 

Domkipche. 
N.-M.  Bibl.  2494. 

Holzband  mit  ornamentiertem  Lederüberzug,  Messing- 
beschlägen in  der  Mitte  und  den  Ecken  der  Deckel  und  mit 
2  Schließen.  Perg.  16  x  22,8  cm.  419  Bll.  (alte  Zählung 
I— CCCCXVI).    2  Spalten,    saec.  XV  med. 

f.  I*  bis  auf  einen  kleinen  Fetzen  fortgerissen,  sichtbar 
noch  die  verstümmelte  Angabe  saec.  XV: 

Liber  iste  oracionalis  spectat  a| 

Sigismundi  in  ecclesia  kathedr  | 

et  supra  ambitum  ecclesie  dicte  | 
f.  401^  saec.  XV:  Notandum.  Iste  liber  matutinalis  seu 
oratorius  pertinet  et  dotatus  est  perpetuis  temporibus  ad  vi- 
cariam  sanctorum  Andree  ap.,  Wenczeslai  et  Sigismundi  mar- 
tirum  in  ecclesia  Bambergensi  superius  sita  in  loco  olim  ca- 
pitulari,  nunc  autem  in  fraternitate  sive  sepultura  dominorum 
etc.  dicta. 

Matutlnale  Bambergense. 

Der  zum  Matutinale  gehörige,  f.  lU — V"  stehende  Ka- 
lender enthält  teils  bei  den  Monatstagen,  teils  irgendwo  auf 
den  Blatträndern  einige  nicht  sehr  bedeutende  nekrologische 
und  geschichtliche  Einträge  saec.  XV  med.  et  ex.  Ich  gebe 
etliche,  von  mir  der  Zeit  nach  geordnet,  wieder. 

f.  IUP  zum  12.  Juli:  Anno  Domini  MCCCLXXXIX  in  vi- 
gilia  Margarethe  obsedit  dominus  Lampertus  de  Brun  episcopus 
civitatem  Bambergensem. 

f.  IIF  zum  3.  Juni:  Anno  Domini  MCCCXCIII  magna  com- 
bustio  aput  institores  in  Bamberg. 

f.  IF:  Anno  Domini  MCCCCXXX  in  vigilia  purificacionis 
Marie  recessit  et  fugam  decrevit  omnis  plebs  in  Bamberg,  vi- 
delicet  clerus  et  layci  cum  mulieribus  pueris  et  rebus  propter 
adventum  Hussitarum  de  Bohemia. 

f.  VP  unten:  Anno  Domini  millesimo  quadringentesimo 
XXXIII  in  die  sanctorum  Gervasii  et  Prothasii  martirum  con- 


10  P.  Lehmann 

tigit  et  facta  est  magna  diluvio  aquarum  ex  confluentiis  subito 
cesis  circa  et  subtus  castrum  Altenburg,  que  in  impetu  fluxe- 
runt  per  vicum  in  emunitate  Bamberg,  dictum  Rippa,  et  ex- 
tenderunt  se  et  precellerunt  in  magna  altitudine  istius  platee 
ad  medietatem  aliquarum  ianuarum  domorum,  impleverunt  ce- 
laria  et  maculaverunt  et  oc  .  .  plura  destinxerunt  et  nocu- 
menta  induxerunt. 

f.  —  zum  28.  Juni:  Anno  Domini  MCCCCXXXV  dominus 
Anthonius  de  Rotenhan,  episcopus  Bambergensis,  obsedit  civi- 
tatem  Bambergensem. 

f.  IIl^  unten:  Anno  Domini  MCCCCXL  in  vigilia  Philippi 
et  Jacobi  concussa  et  contrita  est  turris  in  ponte  superiori 
civitatis  Bambergensis  ante  ortum  solis  per  tempestates  et  sta- 
tim  post  combusta  est  domus  consularis  eidem  turri  annexa 
per  fulgoris  ignem. 

f.  IIF  zum  5.  April:  Anno  Domini  MCCCCXXXX  illo  die 
magna  combustio  facta  est  in  foro  civitatis  Bambergensis,  que 
tunc  fuit  feria  sexta  post  dominicam  Judica. 

f.  IUP  zum  4.  September:  Anno  Domini  MCCCC48  com- 
busta est  domus  Jacobs  Pecken  in  der  Keslergas  mane  hora 
quarta. 

1.  c:  Anno  etc.  49  in  die  sancti  Mauricii,  que  tunc  fuit 
secunda  feria,  combusta  est  domus  dicta  zum  Esel  in  Rippa 
Bamberge. 

?  Bischöfliches  Archiv. 

N.-M.  Bibl.  1138. 

Statuten  des  Bischofs  Heinricli  von  B.  für  seine  Bergwerke 
in  Villach,  saec.  XV. 

BENEDIKTBEUERN. 

Benediktinerkloster. 

Die  meisten  Handschriften  und  Drucke  jetzt  in  München, 
K.  Hof-  und  Staatsbibliothek. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.         1 1 

N.-M.  Bibl.  2983. 
Catalogus  alphabeticus  librorum  bibliothecae  monasterii  Be- 
nedictoburani,  saec.  XVIII  (nach  Fächern  geordnet,  ohne  dieHss.). 

BIRKLINGEN^)  in  Mittelfranken. 

Regul.  Augustinerchopherrenstift. 

Außer  der  Münchener  mir  nur  eine  Handschrift  bekannt 
in  Bamberg,  Kgl.  Bibl.  Patr.  37  (B.  V.  29). 

N.-M.  Bibl.  939. 

Holzband  mit  Schweinslederüberzug  und  1  Messingschließe; 
auf  dem  Vorderdeckel  eingestempelt  C.  M.  S.  (vgl.  unten).  Pap. 
10,5  X  15  cm.  208  BU.  saec.  XV  (zumeist)  und  (selten)  — 
was  dann  stets  besonders  von  mir  vermerkt  ist  —  XVI,  von 
verschiedenen  Händen. 

f.  2^  saec.  XV:  Iste  libellus  est  monasterii  beate  Marie 
virginis  in  Bircklingen  ordinis  canonicorum  regularium^)  sancti 
Augustini  Herbipolensis  dyocesis  prope  castrum  Speckfeit.  Birk- 
linger  Herkunft  bezeugen  ferner  die  Notizen  und  Abschriften 
auf  f.  P,  3^  116^—118^  +  125^  — 127^  147^  150  sqq. 
Schreiber  der  Hs.  war  zu  einem  großen  Teil  der  Birklinger 
Chorherr  Balthasar  aus  Volkach,  der  im  Bande  selbst  Angaben 
über  sich  für  die  Jahre  1453 — 1480  macht  (vgl.  Beilage  1 
(S.  20),  ferner  meine  Angaben  über  f.  110  sqq.  und  150^  sqq. 
—  Nach  der  fast  völligen  Zerstörung  des  Klosters  B.  im 
Bauernkriege  1525  und  allmählichen  Verödung  bis  etwa  1540 
kam  die  Hs.  nach  dem  unweit  gelegenen  Münster-Schwarzach 
in  Unterfranken,  donatus  per  fratrem  Petrum  Ran  (f.  2^  saec. 
XVI  med.),  der  wohl  identisch  ist  mit  Petrus  Raum  monachus 


1)  Über  die  Geschichte  des  Klosters  ist  wenig  geschrieben.  Vgl. 
Kurze  Geschichte  des  ehem.  Klosters  Birklingen  in  der  Grafschaft 
Gasten :  Journal  von  und  für  Franken.  Y  (Nürnberg  1792),  S.  550-560; 
Ussermann,  Episcopatus  Wirceburgensis,  St.  Blasien  1794,  p.  483  sq.; 
Friedr.  Stein,  Geschichte  der  Grafen  und  Herren  zu  Castell,  Schwein- 
furt 1892,  S.  141. 

2)  Bis  regularium  wohl  zur  Tilgung  schwarz  übermalt. 


I 


12  P.  Lehmann 

nostrae  congregationis  im  Necrol.  Swarzac.  ^)  und  vielleicht  ein 
ehemaliger  Birklinger  Chorherr  war.  Vielleicht  von  ihm  die 
Notizen  f.  110^:  Frater  Adamus  mecum  1538  in  vigilia  sancti 
Mathei  apostoli  abiit  iterum  quarta  post  versus  Swartzach  ad 
dominum  Nicolaum,  conscholasticum  —  alt  schulgesellen  — , 
cum  unis  literis  ad  ipsum  missis  pro  hospicio  huius  noctis 
cum  comite  Johannae  Zislero(?),  alias  Rütten<auer),  parocho  in 
Bullnheim.  Münster-Schwarzacher  Herkunftszeugnisse  dürften 
die  Buchstaben  C.  M.  S.  auf  dem  Vorderdeckel  sein  sowie  der 
Vermerk  oben  f.  1^  saec.  XVI:  21.  liber  in  registro,  signaturae 
Q  d  n  a(?)  I  D  1540  2.  Septembris.  Die  meisten  Handschriften 
und  Drucke  von  Münster-Schwarzach  sind  jetzt  in  Würzburg, 
K.  Univ.-Bibl.») 

Innenseite  des  Vorderdeckels:  Familiendaten  eines  Birk- 
linger Chorherren,  saec.  XV  ex.  INC.:  Anno  dominice  incar- 
nacionis  MCCCC  nonagesimo  tercio.  EXPL.:  Eodem  anno  soror 
mea  Margaretha  obiit  in  die  sancte  Barbare. 

f.  P:  Greschichtliche  Notizen  des  Balthasar  aus  Volkach 
(vgl.  Beilage  1). 

f.  1^:  Unbedeutende  Auszüge  aus  Augustinus  u.  a.  und 
Notizen  über  Pestseuchen  u.  a. 

INC.:  Augustinus  Qui  deseruerit  unitatem.  EXPL.:  et 
fuit  tunc  annus  iubileus. 

f.  2^"-^:  Inhaltsverzeichnis  des  Bandes. 

INC.:  Iste  libellus  est —  (vgl.  oben  S.  11).     Item 

presens  libellus  continet  originem  ordinum  religiosorum.  EXPL: 
Sequitur  de  constructione  monasterii  in  Bircklingen. 

f.  3^"^:  (jeschichtliche  Aufzeichnungen  über  Birklingen 
(vgl.  Beilage  2). 

f.  4,  5^  leer. 


1)  F.  X.  Wegele,  Zur  Literatur  und  Kritik  der  fränkischen  Necro- 
logien,  Nördlingen  1864,  S.  21. 

2)  Vgl.   0.   Handwerker   im    Zentralblatt   für   Bibliothekswesen. 
XXVI  (1909),  S.  500. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.         13 

f.  5^  +  6^^:  Abergläubische  Wortauslegung  (vgl.  Beilage  3). 

f.  6^:  Verse  über  Maria;  Sentenzen  aus  Aristoteles,  Ovid, 
Horaz. 

INC.:  De  beata  virgine.  Fulgida  Stella  maris.  EXPL.: 
Fingit  equum  docilem  in  tenera  cervice  magister. 

f.  7^—12^:  Liste  der  Ordensgründer  und  Orden  mit  kurzer 
Beschreibung  des  Aussehens  der  Gründer  (auf  Gemälden  etc.) 
und  der  Ordensabzeichen. 

INC.:  S.  Paulus  primus  heremita  et  sanctus  Anthonius 
claruerunt.  EXPL.:  Honorius  papa  dimidio  anno  prius  con- 
firmavit  ordinem  predicatorum  quam  minorum. 

f.  12^  leer. 

f.  13^ — 14^:  Johannes  Mathias  Tiberinus,  Epitaphium  Si- 
monis, martyris  Trid.  (=  BHL.  7762). 

INC.:  Epitafium  gloriosi  pueri  Simonis,  Tridentini  novi 
martiris.  Sum  puer  ille  Symon  quem  nuper.  EXPL.:  Qui 
mandunt  tepida  membra  cruenta  virum. 

f.  14^"-^:  Genealogia  Christi  et  Marias  nach  Matthaeus, 
Johannes  Chrysostomus,  Leonardus  de  Utino. 

INC.:  De  genealogia  Christi  et  Marie.  Matheus  primo 
capitulo.  Liber  generacionis  Jesu  Christi.  Ab  Adam  primo 
homine.  EXPL. :  de  hac  progenie  psalmus  dicit.  Hec  est  ge- 
neracio  querencium  Dominum  que  etc. 

f.  15^^  leer. 

f.  15^:  Excerptum  de  ordine  Carthusiensium. 

INC.:    Excerptum — .    Patres  visitatores  domorum 

ordinis  Carthusiensium  Tuscie  narraverunt.  EXPL. :  eura  tenuit 
ipse  scivit  que  sibi  manifestavit. 

f.  16^—17^:  De  sancto  Johanne  Chrysostomo. 

INC.:  De  sancto  Johanne  Crisostomo.  Rumpunt  in  voces 
ocellos  frustra  gereutes.  EXPL.:  etate  feliciter  consumata  ad 
Dominum  migrarunt.  Qui  est  honor  et  gloria  per  infinitorum 
seculorum  secula.  Amen.  Dann  von  anderer  Hand:  Nequaquam 
hec   de   sancto  Johanne  Crisostomo   acta  crediderim   cum   eius 


14  P.  Lehmann 

y 

vite  hystoria  aliter  sonet  atque  a  scriptoribus  ecclesiasticis  se- 
cus  scribatur,  sed  potius  ab  eius  emulis  videntur  conficta. 

f.  17^—86^:  Johannes  Meyer,  Chronica  brevis  ordinis  fra- 
trum  praedicatorum. 

f.  17^  INC.:  Preambulum  exhortatorium  in  tractatus  huius 
voluminis.  Obsecro  eos  (vgl.  Beilage  4).  f.  19^ — 86^:  Chro- 
nik der  Generalmeister  des  Dominikanerordens  bis  1479.  f.  19^ 
INC.:  Registrum  nominum  magistrorum  ordinis.  f.  20^  INC.: 
De  sancto  Dominico,  primo  magistro.  De  primo  magistro  or- 
dinis predicatorum  sancto  Dominico,  qui  eundem  ordinem  in- 
stituit.  f.  86^  EXPL.:  Factusque  est  ibidem  (Ratisbonae)  eius- 
dem  reformacionis  primus  prior  frater  Johannes  Nigri,  magister 
in  theologia,  in  vigilia  penthecosten  eiusdem  anni  MCCCCLXXV. 
Dann  Nachtrag:  Iste  magister  Johannes  habet  tres  fratres  in 
ordine  predicatorum  carnales,  fratrem  suum  Petrum  Nigri,  bac- 
calarium  in  theologia  et  benedoctum  in  Hebraeo,  et  alios  et 
omnes  in  vita  adhuc  anno  LXXIX.     Compleat  qui  vult. 

Obwohl  der  Verfasser  im  Titel  der  Hs.  nicht  genannt  ist, 
machen  die  Vorrede  (vgl.  Beilage  4),  der  südwestdeutsche  Ein- 
schlag der  Chronik,  die  starke  Berücksichtigung  der  wissen- 
schaftlich tätigen  Dominikaner  u.  a.  klar,  daß  die  Chronik  von 
dem  Dominikaner  Johannes  Meyer  ^)  aus  Zürich  (1422 — 1485) 
stammt.  Es  handelt  sich  wohl  um  Meyers  lateinische  Chronik 
der  Generalmeister,  von  der  bisher^)  nur  die  1481  vollendete 
deutsche  Fassung  nachgewiesen  war.  Während  die  Vorrede 
aus  dem  Jahre  1470  stammt,  reicht  die  lateinische  Chronik  bis 
1475  bzw.  1479.     Der  letzte  Teil  ist  also  schon  eine  Erwei- 


1)  Vgl.  insbesondere  P.  Albert,  Johannes  Meyer,  ein  oberdeutscher 
Chronist  des  15.  Jahrhunderts:  Zeitschrift  für  die  Geschichte  des  Ober- 
rheins. N.  F.  XIII  (1898),  S.  255-263;  Zur  Lebensgeschichte  des  Domini- 
kanerchronisten Johannes  Meyer:  a.  a.  0.  XXI  (1906)  S.  504—510;  B.  M. 
Reichert,  Johannes  Meyer  0.  P.,  Buch  der  Reformacio  Predigerordens: 
Quellen  und  Forschungen  zur  Geschichte  des  Dominikanerordens  in  Deutsch- 
land, 2.  und  3.  Heft  (Leipzig  1908  und  1909). 

2)  Vgl.  Albert,  Joh.  Meyer  S.  261  und  A.  Hauber  im  Zentralblatt 
für  Bibliothekswesen.    XXXI  (1914),  S.  357. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.         15 

terung  des  ursprünglichen  Textes,  die  aber  zum  größten  Teile 
auf  Johannes  Meyer  selbst  zurückgehen  dürfte.  Auch  andere 
geschichtliche  Arbeiten  hat  er  nach  der  Veröffentlichung  fort- 
gesetzt. Das  ganze  Werk,  lateinisch  und  deutsch,  verdient 
eine  Ausgabe,  bei  der  oder  vor  der  natürlich  eine  quellen- 
kritische Behandlung  zu  geben  ist. 

f.  87-91  leer. 

f.  92^"-^:  Zählung  und  zum  Teil  Nennung  der  Päpste, 
Kardinäle,  Patriarchen,  Erzbischöfe,  Bischöfe,  Doctoren,  Refor- 
matoren und  Märtyrer  aus  dem  Predigerorden,  vielleicht  von 
Johannes  Meyer. 

INC.:  Nota  de  ordine  predicatorum  fuerunt  summi  pon- 
tifices  duo.     EXPL.:  Paganus  inquisitor. 

Johannes  Meyer  gibt  in  seinem  Werke  De  viris  ill.  o. 
praed.  eine  sehr  ähnliche  Zusammenstellung. 

f.  93  leer. 

f.  94^ — 97^:  De  quibusdam  viris  111.  o.  praed.  (Johanne 
Tauler,  David  Anglico,  Heinrico  Seuss,  Alberto  Magno),  von 
oder  nach  Johannes  Meyer. 

INC. :  Johannes  dictus  Tauler,  homo  Dei,  predicator  egre- 
gius.     EXPL. :  claruerit  que  eius  vite  meritum  demonstrabant. 

Soweit  Meyers  Liber  de  viris  ill.  gedruckt  ist,  zeigen  er 
und  obiger  Text  vielfache  wörtliche  Übereinstimmung.*)  Es 
paßt^)  auch  der  Hinweis  f.  97^:  De  isto  doctore  Alberto  ha- 
betur in  multis  libris  maxime  in  cronicis  et  in  legenda  sancti 
Thome  de  Aquino  et  in  libro  de  illustribus  viris  de  or- 
dine predicatorum  parte  3.  inter  episcopos. 

f.  97^—104^:  Johannes  Meyer,  De  illustribus  viris  sanctis 
ordinis  praedicatorum. 

INC.:  De  illustribus  viris  sanctis  de  ordine  predicatorum. 
Ordini  predicatorum  sacro  quem  beatus  Dominicus  —  —  — 
et    Omnibus  eis  nomina  vocat.   1   De  illustribus  viris  sanctis  de 


^)  Vgl.  F.  J.  Mone,  Quellensammlung  der  badischen  Landesgeschichte. 
II  157. 

2)  Vgl.  Mone,  Quellensanimlung.    IV  13. 


I 


16  P.  Lehmann 

ordine  predicatorum.  Dominicus,  institutor  ordinis  predicatorum, 
vir  sanctus.  EXPL.:  ut  prior  in  multis  conventibus  et  lector 
in  ordine  magnificus  haberetur. 

Nach  einer  aus  Bernard  Gui  geschöpften  kurzen  Einlei- 
tung kurze  Abschnitte  über  Viri  illustres  von  Dominicus  bis 
Waltherus  de  Meisenburg,  wahrscheinlich  =  Joh.  Meyer,  De 
viris  ill.  Pars  I  cap.  1—38.^) 

f.  105^—106^:  Über  die  12  Strahlen  (duodecim  genera 
fratrum),  die  von  S.  Dominicus  ausgingen. 

INC.:  In  libro  qui  intitulatur  De  illustribus  viris  ordinis 
predicatorum  parte  quinta  sie  scribitur:  Leonhardus  de  ütino. 
EXPL.:  Sol  illuniinans  per  omnia  respexit.  Floruit  autem  hie 
venerabilis  Leonhardus  de  Utino  temporibus  summorum  pon- 
tificum  Eugenii  4.  et  Nicolai  quinti  anno  Domini  MCCCCXLVI. 

Auszug  aus  einem  von  mir  bisher  nicht  ermittelten  Liber 
de  viris  ill.  o.  praed.,  der  um  1450  oder  in  der  2.  Hälfte  des 
Jahrhunderts  verfaßt  wurde,  aber  anscheinend  nicht  mit  dem 
von  mir  mehrfach  angeführten  Werke  Joh.  Meyers  identisch 
ist.  Freilich  kann  dieser  Auszug  trotzdem  von  Meyer  herrühren, 
»f.  106^  leer. 

f.  107^ — 109^:  Liste  der  Pariser  Doctoren  des  Dominikaner- 
ordens, von  oder  nach  Johannes  Meyer. 

INC.:  Sequitur  de  primis  sanctis  patribus  Parisiensibus 
doctoribus  de  ordine  fratrum  predicatorum.  Ordini  predicato- 
rum  sacro  —  —  — .    Rolandus  Lombardus   primus   magister. 

EXPL.:    Item  Gwillhelmus  de  Odone Hie  obiit  in 

vigilia  beati  Augustini  anno  Domini  MCCLXXXXVIII. 

Auszug  und  gelegentliche  Erweiterung  einer  auf  Bernhard 
Gui^)  zurückführenden  Liste  bis  no.  33  (Gwillhelmus  de  Odone). 
Erwähnungen  von  Meyers  Liber  de  viris  ill.  o.  praed.  finden 
sich  mehrfach,  z.  B.  f.  107^  bei  Rolandus:  de  quo  habetur  — 
—  —  in  libro  de  ill.  viris  o.  pred.  parte  prima  numero  XU;') 

1)  Vgl.  Mone,  Quellensammlung.   IV  12. 

*)  Herausg.  von  H.  Denifle  im  Archiv  für  Litteratur-  und  Kirchen- 
geschichte des  Mittelalters.    II  (1886),  S.  203  ff. 
^)  Mone,  Quellensammlung.    IV  12. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseuma.        17 

f.  109^  bei  Gwillhelmus  de  Odone:  de  quo  in  libro  de  ill.  viris 
o.  pred.  parte  III  inter  archiepiscopos  numero  VII.*) 

f.  109^  und  110^^:  Notizen  saec.  XVI,  vgl.  auch  oben  S.  12. 

f.  110^—1 15^  4-  123^—124^  +  131^  +  132^—138^  (diese 
letzten  6V2  Blätter  saec.  XVI  med.):  Münster-Schwarzaclier  Abts- 
Chronik  bis  zum  Jahre  1546. 

INC.:  De  fundacione  monasterii  Swarzacb.  Megingaudus, 
dux  et  nepos  Karoli  Magni.  EXPL.  f.  131^:  Post  illum  Mar- 
tinus  de  conventu  Nurembergensi  de  sancto  Egidio.  EXPL. 
f.  138^:  protegere  ac  in  unitate  conservare  longa  per  secula 
cum  eorundem  successoribus.    Amen. 

Zumeist  wörtlich  übereinstimmend  mit  der  etwas  ausführ- 
licheren Seh  warzacher  Chronik  bei  J.  P.  Ludewig,  Scriptores 
rerum  Germ.,  vol.  II  (Frankfurt  und  Leipzig  1718).  Dieser  ge- 
druckte Text  ist  wahrscheinlich  eine  im  16.  Jahrhundert  an- 
gefertigte Erweiterung  der  in  unserem  Codex  vorliegenden,  bis 
f.  131^  im  15.  Jahrhundert  geschriebenen,  älteren  noch  näher 
zu  untersuchenden  Chronik.  Unser  Schreiber  saec.  XV  hat 
nicht  in  Münster-Schwarzach  geschrieben,  sondern  in  Birk- 
lingen,  seine  Schriftzüge  begegnen  z.  B.  f.  3^  (vgl.  Beilage  2). 
Der  Verfasser  ist  vermutlich  jener  aus  Volkach  stammende 
Birklinger  Konventuale  Balthasar,  der  z.  B.  f.  1^,  150  sqq.  ge- 
schrieben hat,  mit  noch  größerer  Wahrscheinlichkeit  jener,  von 
dem  es  im  Schwarzacher  Nekrolog  heilst^):  P.  Balthasar,  prior 
monasterii  Bircklingensis,  qui  historiam  abbatum  monasterii 
Schwartzacensis  scripsit. 

f.  116^ -118^  +  125^—127^:  Ablassbriefe  des  Klosters 
Birklingen. 

INC.:  Sequuntur  littere  indulgenciarum  monasterii  beate 
Marie  virginis  in  Bircklingen  ordinis  canonicorum  regularium 
sancti    Augustini    Herbipolensis    dyocesis.      Calixtus    episcopus 


^)  Mone,  Quellensamralung.    IV  13. 

2)  F.  X.  Wegele,  Zur  Literatur  und  Kritik  der  fränkischen  Necro- 
logien  S.  16.  W.s  Bemerkung  „Dieses  Werk  scheint  verloren  zu  sein" 
ist  nun  wohl  hinfällig. 

Sitzgsb.  d,  philos.-philol.  u.  d.  bist.  Kl,  Jahrg.  1916,  4.  Abb.  2 


I 


18  P.  Lehmann 

servus  servorum.  EXPL.:  assumpcionis,  nativitatis,  concep- 
cionis. 

f.  119^— 119^:  Benedictio  episcopalis. 

INC.:  Benedictio  episcopalis.  Omnipotens  Deus,  qui  hunc. 
EXPL.:  descendat  super  vos  et  maneat  semper  amen. 

f.  119^ — 120^:  Ista  sunt  investiganda  in  recepcione  no- 
vorum  monasteriorum. 

INC.:  Ista .    Primo,  an  sit  provisa.    EXPL.:  at- 

que  de  libris,  clenodiis  et  debitis,  de  bonis  mobilibus  et  im- 
mobilibus. 

f.  120"^  leer. 

f.  121^—122^:  Formeln  für  reformierte  Angustinerklöster. 

INC.:  Forma  littere  incorporacionis  domus  capitulo  gene- 
rali. In  nomine  sancte.  EXPL.:  apud  Carthusienses  ostendere 
valuerint. 

f.  122^—123^:  Notizen  und  Auszüge  über  den  Rosenkranz. 

INC.:  De  rosario.  Ego  frater  Bartholomeus  de  Comaciis. 
EXPL. :  rosulas  castitatem  et  sanctitatem  virginis  significantia. 

f.  123^—124^  125^—127^  vgl.  oben  S.  17. 

f.  128^—130^:  Ablassbriefe  für  Kloster  Kirscbgarten. 

INC.:  Kirssgartten.  Landolfus,  Dei  gracia  Wormaciensis 
episcopus.  EXPL. :  quia  tunc  ecclesiam  et  claustrum  inceperunt 
de  novo  construere. 

f.  130^—131^  +  140^-141^  +  142^+144^—148^:  Kurze 
Bericlite  über  die  Aufnahme  einzelner  Klöster  in  die  Winds- 
heimer  Kongregation  (Kirscbgarten ,  Frankental,  Hoeningen, 
Birklingen  —  dazu  f.  147^  saec.  XVI:  1537  computatum  facit 
75  annos  — ,  Rebdorf,  Heidenfeld). 

INC. :  Reform  acio  in  Kyrssgartten .  Anno  Domini  MCCCCXLIII. 
EXPL.:   Misere  obierunt  illi   qui  se  reformacioni  opposuerunt. 

f.  141^  142^»^  143^"-^:  Allerlei  lateiniscbe  und  deutsche 
Notizen. 

INC.:  Utrum  vite  sanctorum  sint.  EXPL.:  So  mag  er 
wol  in  der  zeit  furbas  gan. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.         19 

f.  144^—148^  vgl.  oben  S.  18.  —  f.  148^  leer. 

f.  149^—149^:  Fingierter  Christusbrief. 

INC.:  Littera  pacis  eterne  per  Jesum  Cristum,  salvatorem 
nostrum,  facta.  Jesus  Nazarenus,  rex  Judeorum.  EXPL.:  que 
fuit  nona  eiusdem  diei,  regni  vero  nostri  anno  XXXIII.  Ex- 
plicit  littera  composicionis  regis  regum  Christi  Jesu  cum  patre 
suo  altissimo  Deo  ac  cum  creatura  bumana  diu  tribulata. 

f.  149^  4-160^:  Epistola  Lentuli  Romani. 

INC.:  Epistola  Lentuli  Romani.  Apparuit  temporibus  istis. 
EXPL.:   moderatus,   speciosus  inter  filios  bominum.     Hec  ille. 

f.  150^—159^:  Ausführliclie  Liste  der  in  Birklingen  ver- 
wahrten Reliquien. 

INC.:  In  nomine  patris  et  filii  et  Spiritus  sancti.  Amen. 
Ego  frater  Baltbasar  Monacbi,^)  de  civitate  Volkacb  oriundus, 
canonicus  regularis  indignus,  professus  in  Bircklingen,  pro 
fratrum  maiori  devocione  excitanda  et  pro  bonore  sanctorum 
omnium,  quorum  reliquie  apud  nos  sunt,  et  in  sequentibus  no- 
tata  signavi  in  speciali  presens  registrum  et  in  scriptis  redegi. 
Anno  Domini  MCCCCLXXX  in  die  sanctorum  martirum  Cris- 
pini  et  Crispiniani.     EXPL.:  Dorotbee,  Otilie  virginis. 

f.  160^  vgl.  oben.   -  f.  160^  leer. 

f.  16P— 171^  +  173^-208^:  Register  über  die  Bücher  der 
heiligen  Brigitte. 

INC.:  In  nomine  patris  et  filii  et  Spiritus  sancti.  Amen. 
Salve  o  felix  Birgitta.  EXPL.:  ultimo  capitulo  octavi  libri 
58.  163.     Deo  laus. 

f.  172  leer. 

f.  208^:  Lateinische  und  deutsche  Gebete  an  Maria. 

INC.:  Ave  preclara  raaris  stella.  EXPL.:  in  seiner  ewigkeit 
mit  seiner  freude  belone.  Kyrie  leison,  Cbriste  leison,  kyrie  leison. 

Auf  dem  Pergamentblatt  der  Innenseite  des  Hinterdeckels : 
Verzeichnis  der  Altäre  in  Iphofen. 

INC.:  In  Yppbofen  ad  sepulchrum  Domini.  EXPL.:  Fran- 
cisci,  Iberonimi. 


1)  Balthasar  Monachi  radiert  und  darüber  N  geschrieben. 

2* 


20  P.  Lehmann 


Beilage  I. 


f.  1^  Ego    frater   Balthasar    Monachi    de    civitate  Volkach,    ordinis 

canonicorum  regularium,  protunc  in  Heidenfelt  eiusdem  ordinis 
professus,  anno  Domini  MCCCCLIII  electus  per  prepositum  Con- 
radum  Ditterich  de  Hirssfelt  et  seniores  in  perpetuum  rectorem 
ecciesie  Veiphfelt,  regnante  gracioso  domino  episcopo  Herbipolensi 
Godtfrido  Schenck  et  decano  maioris  ecciesie  Richardo  de  Maspach. 

Anno  Domini  MCCCCLVIII  in  die  sancti  Gregorii  pape  elec- 
tus per  prepositum  etc.  ad  preposituram  seu  inclusorium  Hoefelt 
prope  civitatem  Kiezingen. 

Anno  Domini  MCCCCLIX  in  festo  sancti  Petri  apostoli,  ka- 
thedra  dicta,  electus  per  graciosum  dominum  Johannem  de  Grum- 
bach,  episcopum  Herbipolensem,  et  consiliarios  suos  in  rectorem 
beate  Marie  virginis  in  Bircklingen,  additis  mihi  certis  fratribus 
de  Heidenfelt  et  Triffenstein   monasteriis. 

Anno  Domini  MCCCCLXI  in  profesto^)  visitacionis  beate  Ma- 
rie Peo  dispensante  fratres  de  Kirssgartten,  tres  presbiteri  et  unus 
subdyaconus,  unus  conversus  et  unus  donatus,  auctoritate  domini 
Johannis  de  Grumbach,  episcopi  Herbipolensis,  et  nostro  consensu 
admissi  fuerunt  et  per  successum  temporis  confirmati  laudabiliter. 

Beilage  2. 

f.  2^  Mit  zitteriger  Hand  geschrieben:  De  constructione  monasterii 

in  Bircklingen. 
f.  3R  Ab  anno  incarnacionis  Domini  nostri  Jesu  Christi  MCCCCLVIII 

quarta  feria  penthecostes  suffraganius  domini  Herbipolensis  N.  po- 
suit  primum   lapidem  pro  choro. 

Anno  Domini  MCCCCLXIII  chorus  testudinatus  fuit  et  con- 
secratus  dominica  proxima  post  festum  exaltacionis  sancte  crucis 
in  honorem  sancte  trinitatis,  beate  Marie  virginis  et  sancti  Jero- 
nimi.  Dedicacio  autem  ecciesie  translata  fuit  et  in  perpetuum  cum 
solemnitate  servatur  semper  proxima  dominica  post  festum  sancti 
Michaelis. 

Anno  Domini  MCCCCLXIII  in  vigilia  nativitatis  Christi  pri- 
mo  intravimus  chorum. 

Anno  Domini  MCCCCLXIII  in  profesto  sancti  Kyliani  et  so- 
ciorum  eius,  patroni  meritissimi  terra,  incepimus  primum  lapidem 
circa   altare    sanctorum  martirum   ab  extra  pro  dormitorio  ponere. 


1)  über  gestrichenem  vigilia. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.        21 

Anno  Domini  MCCCCLXVI  intrayimus  primo  dormitorium  et 
refectorium. 

Anno  Domini  MCCCC  octuagesimo  in  die  sanetorum  marti- 
rum  Johannis  et  Pauli  ineepimus  primum  lapidem  ponere  pro  re- 
fectorio  magno  a  stuba  scriptorum  cum  suis  attinenciis  superius 
et  inferius,  omnia  fuerunt  completa  anno  Domini  MCCCCLXXXII. 

Anno  Domini  M  quingentesimo    in   profesto  sancti  Kyliani    et  f.  3^ 
sociorum   eius  totus  ambitus  fuit  testudinatus  et  completus  similiter 
cum    fenestris    preciosissimis.      Generosus  dominus    marchio  Fride- 
ricus  senior  dedit  pro  fenestris  in   ambitu  ceutum  et  XL  florenos. 

Anno^)  Domini  1506  fuit  completa  sive  perfecta  testudo  in 
ecclesia  circa  festum  pentecostes. 

Beilage  3. 

Anxietas.^)  necis  Nazareni  abstulit.  nobis,  iudicium  sempi- 
ternum.   auctoritate.   patris.  tribulationibus  acutissimis. 

Annanizapta  perit  quem  morte  ledere  querit. 

Est  mala  mors  capta,   dum  dicitur  'annanizapta'. 

Doctor  Gotschalkus,  sacre  pagine  professor  et  predicator  Erf- 
fordie,  anno  Domini  MCCCCLVI  in  quodlibeto  in  communi  audi- 
encia  dixit,  quod  quicunque  hoc  verbum  'annanizapta'  omni  die 
dixerit  vel  in  scripturis  viderit,  propter  eius  significacionem  et 
dignitatem  non  potest  mori  repentina  morte.  Widelicet:  Est  mala 
mors  capta,  dum  dicitur  'annanizapta'.  'Annanizapta'  Terbum  gre- 
cum  est  und  bedeut:  Die  bitterkeit  des  todes  des  von  Nazaret, 
der  neme  von  uns  daz  urteil  des  ewigen  verthamniss  durch  den 
gewalt  des  vaters  ummb  die  allerscherffer  vervolgung. 

Beilage  4. 

Incipit   prologus   in   cronicam   brevem    ordinis   fratrum   predi-  f.  17^ 
catorum. 

Reverendo  patri  et  fratri  Innocencio  de  Wienna^)  ordinis 
predicatorum  provincie  Theutonie,  sacre  theologie  baccalario  for- 
mato,  reformatorum  conventuum  congregacionis  Alemanie  generali 
vicario   primo   nostreque  religionis  reformatorum   et  zelatori  preci- 


^)  Dieser  Eintrag  von  anderer  Hand. 

2)  Die  fett  wiedergegebenen  Buchstaben  in  der  Hs.  unter  dem  Wort 
wiederholt  und  rot  durchstrichen. 

3)  1465—1473  Generalvikar  der  reformierten  Konvente  der  Provinz 
Teutonia.  Vgl.  Quellen  und  Forschungen  zur  Geschichte  des  Domini- 
kanerordens in  Deutschland.    I  (1907),  S.  39.  - 


22  P.  Lehmann 

puo  frater  Johannes,*)  eiusdem  ordinis,  provincie  et  con- 
gregacionis  de  domo  Basiliensi. 

Novo  Spiritus  sancti  dono  in  hac  gloriosa  festivitate  penthe- 
costen  habundancius  exultare.  Si  in  sacra  scriptura  commendantur 
hü,  qui  genealogiam  Domini  per  vicos  et  civitates  euntes  post 
combustionem  Hebreorum  codicum  ab  Herode  factam  studuere  col- 
ligere,  unde  et  vocantur  viri  religiosi  ac  dispothenoe,  id  est  he- 
riles  vel  dominici,  qui  et  Nazarei,  non  inconsulte  curavi  sanctorum 
patrum  primitivorum  veteris  observancie  fratrumque  modernorum 
nostre  reformacionis  nove  cum  laude  memorari.  Certe  non  est 
perdicio  temporis  intendere  de  senioribus  et  predecessoribus  nostris, 
sed  maxima  compunctio,  si  invenerimus  nos  non  esse  tales,  ma- 
xima  consolacio  habuisse  sodales  et  concives  istos,  maxima  avi- 
sacio,  ut  studeamus  fieri  talium  sequaces.  Cum  ergo  mutabilitas 
f.  18^  ^®c  temporum  merita  et  nomina  ||  ex  ore  ac  mentibus  hominum 
tollit,  preterquam  quorum  gesta  scriptorum  benefieiis  eripiuntur  ab 
interitu  oblivionis,  cogitans  igitur,  ne  tarn  excellentes  patres  eorum- 
que  nomina  et  gesta  gloriosa,  qui  nos  ab  inicio  in  hoc  seculo 
predicatorum  ordine  usque  ad  nostra  tempora  precesserunt,  in  ob- 
livionem  veniant  apud  posteros,  quantum  ingenii  mei  parvitas  suf- 
ficit,  exprimere  verbis  simplicibus  brevius  quo  possum  per  modum 
et  formam  cronice  intimare  curabo,  dans  occasionem  legentibus, 
ut  et  ipsi  processu  temporis  manum  apponant,  ita  ut  opus  per 
eosdem  perficiatur  gloriosum.  Scriptum  anno  gracie  MCCCCLXX 
in  vigilia  penthecostes.    (Sequitur  registrum.) 

Virorum  illustrium  vitam  atque  actus  simulque  doctrinam  scri- 
bere  mos  antiquus  et  consuetudo  ecclesiastica  est,  ut,  dum  eorum 
conversacio  atque  pietatis  fidei  a  posteris  legendo  dinoscitur,  ad 
imitacionem  eandam  animi  excitentur.  Ideoque  considerans  pro- 
futurum  profectum  animarum  ratum  duxi  ea  que  de  antecessoribus 
patribus  nostri  ordinis  videlicet  predicatorum  didici  litteris  posteris 
commendare. 


CADOLZBÜRG  in  Mittelfranken. 
Pfarrkirche  S.  Caeciliae. 
N.-M.  Bibl.  1122. 

Holzband  mit  gelblicbem  Lederüberzug,  je  5  Messing- 
buckeln vorn  und  hinten,  1  von  ehemals  2  Schließen  (aus 
Leder   und  Messing)   und   2  Messingstiften   für   die  Schließen. 


M  =  Johannes  Meyer, 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.         23 

Perg.  18  X  26,2  cm.  42  BlI.  Schrift  in  Langzeilen  von  ver- 
schiedenen Händen  aus  der  Zeit  von  etwa  1440  bis  zum  Ende 
des  15.  Jahrhunderts. 

Kopial-  und  Inventarbuch  der  Pfarrkirche. 

f.  1^—2^^:  Dicz  sind  die  hernachgeschriben  briff,  die  ver- 
czeichent  sind  und  zu  der  kirchen  gehörent  sand  Cecilie  zu 
Kadolczburg,  alzdan  die  eygentlich  geschriben  in  dem  newen 
pergemitpuch  hernach  geschriben  sten  etc. 

INC.:  Dicz  sind  —  —  — .  Czum  ersten  ein  applasbriff. 
EXPL.:  Item  waz  die  kirch  bucher  hab  im  segerrer. 

f.  2^,  3R.V  leer. 

f.  4^ — 15"^:  Abschriften  von  lateinischen  und  deutschen  Ur- 
kunden des  11.— 15.  Jahrhunderts. 

INC. :  üniversis  Christi  fidelibus,  ad  quos  presentes.  EXPL. : 
Nach  Cristi  unsser  liben  geburt  taussent  vierhundert  und  in 
dem  sechs  und  vierczigsten  iar  etc. 

f.  16^—21^:  Diess  sind  der  kirchen  zu  Cadolczburg  guter. 

INC.:  Diess  sind .    Dyese  nachgeschriben.    EXPIr: 

darumb  dem  gotshawss  ein  gute  genug  gescheen  ist. 

f.  22^—23^  25"^,  30^  36^-^,  37^  40^-42^:  Abschriften 
von  Urkunden  des  15.  Jahrhunderts. 

INC.:  Ich  Veit  vonn  Sparneck  zu  denn  zeitten  pfarrer. 
EXPL.:  nach  Cristi  unnsers  hern  geburt  vierzenhundert  und 
in  dem  siben  und  newnzigsten  iar. 

f.  24^.^  25^  leer. 

f.  26^—26^:  Der  toten  namen  etc.  und  weige  gedechtniz. 

INC.:  Der  toten .  Diesse  hernachgeschriben  ha- 
ben yre  ewyg  gedechtniss  hie.  EXPL.:  Albrecht  Sciber,  Wil- 
helm Schenck.     Summa  LH. 

f.  27^—28^:  Diess  seind  die  briff,  die  der  kirchen  zu  Ca- 
dolczburg zugehoren  in  registers  weyse. 

INC.:  Diess  seind  —  —  — .  Des  ersten  ein  briflf  von 
sechs  bischoffen.  EXPL.:  Ein  zettel  wie  Fricz  Hanckmantel 
Fricz  Kleyn  die  obgenanten  wysen  den  kirchen  zu  Cadolczburg 
und  Ammerdorff  verkawfft  haben. 


24  P.  Lehmann 

y 

luxta  fontem  Acherontis  vitulus  quidam  pastus  est, 
Non  intravit,  sed  rigavit,  queritur  quid  iuris  est. 

f.  29«  leer. 

f.  29^:  Dise  heriiacligescliribeii  gnade  und  applass,  die  do 
gehören  zu  der  kirclien  sand  Cecile  czu  Cadeltzpurg  etc. 

INC.:  Dise  hernachgeschriben .    Der  erste  briffe. 

EXPL.:  und  allen  dy  do  piten  für  gentzlichen. 

f.  30»  vgl.  oben  S.  23. 

f.  30^:  Über  die  Weihe  und  die  Reliquien  der  'Capella  zu 
der  Heide'. 

INC.:  Capella  zu  der  beide  est  consecrata.  EXPL.:  de 
lapide,  ubi  Christus  stetit  quando  celos  ascendit. 

f.  31^—31^:   Was  die  kirch  sand  Cecilien  kelch  hat  etc. 

INC.:  Was  die  kirch  —  —  — .  Item  sie  hat  des  ersten 
ein  grossen  kelch.  EXPL.:  Item  noch  ist  auch  darinnen  ein 
kleyns  buchlein,  genant  das  olbuchlein. 

f.  31^—32^:  Was  messgewant  die  kirch  sand  Cecilien  hat. 

INC.:  Was  messgewant  —  —  — .  Item  ein  rottsammet. 
EXPL. :  Item  ein  rot  rauhe  sammet  mit  aller  zugehorung,  kumpt 
von  herr  Wenzel  Reyman,  pfarrer  hy  etc. 

f.  33» — 33^:  Diess  sind  die  bucher,  dy  in  dem  segerer  sind. 

INC.:  Diess  sind  —  —  — .  Item  des  ersten  ein  gross 
messbuch.     EXPL.:  Item  raras  historias  de  sanctis. 

f.  34,  35,  38,  39,  40^  leer. 

f.  36,  37,  40—42  vgl.  oben  S.  23.  —  Innenseiten  des  Vor- 
der- und  Hinterdeckels  einige  Notizen  über  Jahrtage  u.  a. 

EBRACH  in  Oberfranken. 
Cistepcienserkloster. 
N.-M.  Bibl.  940. 
Rituale,  saec.  XY, 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.        25 

HIMMELKRON  in  Oberfranken. 

Cistepcienserinnenklostep. 

N.-M.  Bibl.  937. 

Breviarium  cum  kalendario,  saec.  XIV/XV. 

f.  I^:  gefunden  Himmelcron  den  14.  Julii  anno  1074  un- 
term Fußboden  der  Gestühle  in  der  Nonnenkirche,  alss  selbige 
renovirt  worden. 

ILLSCHWANG  in  der  Oberpfalz. 

Pfappei. 
N.-M.  Bibl.  3803. 
Nicolai  Lyrani  postilla  in  psalmos;  tractatus  de  sudore  vul- 
tus;  utrum  saepe  vel  raro   sit  accedendum  ad  corpus  Christi; 
saec.  XIV  et  XV. 

f.  185^^  rot:  Hie  liber  est  Chonradi  dicti  Grunbover,  ple- 
bani  in  Ylswangk,  quem  comparavit  de  suis  propriis  bonis, 
cum  adhuc  esset  socius  dominorum  in  Sulczpacb. 

INGOLSTADT. 
Fpanzlskanepkiostep. 

Etwa  20  Handschriften  in  der  K.  Hof-  und  Staatsbiblio- 
thek  München,    eine    einzelne   in    der   Nat.-Bibl.   Paris  Nouv. 
acq.  lat.  911. 
N.-M.  Bibl.  929. 

Holzband  mit  rotgefärbtem  Lederüberzug.  Pap.  14x20,3cm. 
166  Bll.  Schrift  verschiedener  Hände  saec.  XIV.  ßesitzer- 
vermerk  f.  1  oben  fortgeschnitten.  Die  Ingolstädter  Herkunft 
geht  aus  der  Art  des  Titelzettels  auf  dem  Einbandrücken  und 
den  Urkunden  hervor,  mit  denen  die  Innenseiten  der  beiden 
Einbanddeckel  verklebt  sind. 

f.  1^—39"^:  Gualtherus  Burlaeus,  De  vita  et  moribus  philo- 
sophorum. 

INC.:  De  vita  et  moribus  philosophorum  veterum  tracta- 
turus  multa  que  ab  antiquis.    EXPL.:  Scripsit  insuper  librum 


26  P.  Lehmann 

de  naturalibus  questionibus  ad  Cosdroe,  regem  Persarum.    Dann, 
leider  mit  teilweise  radierter  Schrift: 

Finivi  hunc  librum,  scripsi  sine  manibus  ipsum. 

Hoc  opus  egi,  festum  sepissime  fregi. 

Anno  Domini  <MC>CCLYII  in  die  nativitatis  virginis 

gloriose 

—  —  —  —  — teiben  consorcia  querit  habere, 

—  —  —  —  — oben  et  se  de  fraude  cavere, 
Dem  —  —  — chreiben  specialiter  arte  nitere. 

f.  40^—66^  +  7P— 120^:  Excerpte  aus  VinceDZ  von  Beau- 
vais,  Cassiamis,  Historia  Macliometi,  Vita  Karoli  M.  etc. 

INC.:  In  primo  libro  capitulo  9.  apologia  de  apocrifis. 
EXPL.:  et  maiora  videntur  pericula,  dum  exercitantur  que. 

f.  67—70  leer. 

f.  120^— 123^:  Robertus  Holkot,  Imagines  Fulgentü  mo- 
ralisatae. 

INC.:  Refert  Fulgencius  de  ornatu  orbis.  EXPL.:  hanc 
vitam  iam  ducit  totus  mundus  etc.  Expliciunt  ymagines  Ful- 
gencii  in  parte,  que  sunt  Ordinate  et  moralisate  per  fratrem 
Robertum  Holkot.     Deo  gracias. 

f.  123^—125^:  Robertus  Holkot,  Aenigmata  Pythagorae  et 
Aristotelis  moralisata. 

INC.:  De  preceptis  et  enigmatibus  Pictagore  et  omnibus 
observanda  videlicet:  langwor  a  corde.  EXPL.:  disperdet  te 
etc.  A  quo  nos  conservet  etc.  Expliciunt  enigmata  Aristo- 
telis moralisata  per  Rubertum  Holkot. 

f.  125^—130^:  üicta  et  castlgationes  pMlosophorum. 

INC.:  Castigaciones  Hermetis  phylosophi.  Nemo  sufficit 
regraciari  Deo.  EXPL.:  nunc  adiuvet  te  thaurus  tuus,  quem 
tam  dilexisti.     Et  sie  fame  periit  etc. 

f.  130^—133^:  Sermones. 

INC.:  <S>i  spiritu  minimus  spiritu  et  ambulemus,  ad  Gal.  V. 
Hie  alloquitur  apostolus  eos  qui  se  assecurantes.  EXPL.:  su- 
spenditur  latronum  etc.  traetatur. 

f.  134—140  leer. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.        27 

f.  141^ — 159^:  Compendium  etMcum  sive  morale  bonum 
excerptum  ex  libro  Aegidii  de  regimine  principum  et  aliis.^) 

INC.:  Notanduin,  quod  regis  maiestatem  et  felicitatem 
suarn.    EXPL.:  ipsos,  ut  liberent ....  ab  oppressione  eorum  etc. 

f.  160  +  165^—166^:  Themata  sermonum  und  andere  be- 
langlose Notizen. 

f.  161—1651^  leer. 

N.-M.  Bibl.  935. 

Holzband  mit  braunem  gepreßtem  Lederüberzug.  Auf 
dem  Vorderdeckel  rot  umränderter  Papierzettel  mit  der  Auf- 
schrift saec.  XV:  CoUectura  super  loycam;  darunter  kleiner 
Signaturzettel  mit  dem  Buchstaben  Q.  Im  hinteren  Deckel 
Kettenloch.  Pap.  15  x  21,5  cm.  2  +  381  Bll.  Geschriebenin 
kleinen  Zügen  mit  vielen  Abkürzungen  von  einer  Hand  saec. 
XV  ex.,  zum  Teil  in  2  Kolumnen. 

f.  1^  saec.  XVII:  Ad  bibliothecam  patrum  franciscanorum 
Ingolstadensium. 

f.  1—12^  und  12^—13^:  Johannes  Lilius  (oder  Lilii)  o. 
ff.  min.,  Tractatus  duo  logicales. 

Primus  tr.  INC.:  Quoniam  inpossibile  est  secundum  phi- 
losophum  etc.     Tractatus  huius,    summularum  loycalium,    col- 

lector  scribitur  frater  Johannes  Lilii  ordinis  minorum . 

Quoniam  inpossibile  est  secundum  philosophum,  quod  aliquis 
aliquid.  EXPL. :  cuius  oppositum  est  assumptum  in  breviori. 
Explicit  tractatus  primus  fratris  Johannis  Lilii  ordinis  minorum 
et  secundus  tractatus  (incipit).  INC.  tr.  secundus:  Quia  ig- 
norantibus  supposiciones.  EXPL. :  per  multas  auctoritates  phi- 
losophi  et  commentatorum. 

Die  beiden  Traktate  des,  wie  es  scheint,  sonst  unbekannten 
Minoriten  stehen  auch  in  der  unten  S.  31  f.  zu  besprechenden 
Görlitzer  Handschrift  f.  225—235,  237  sqq.;  der  2.  Traktat 
im  Monacensis  unvollständig. 

f.  13^— 18V  leer,  19—57  fehlen. 


4  Titel  der  Tabula  des  Codex. 


28  P.  Lehmann 

f.  58^ — 90^:  Porphyrius,  Liber  isagogarnm,  BoetMo  inter- 
prete,  cum  commentis. 

INC. :  Quoniam  servus  ille  qui  de  talentis .    Cum 

sit  necessarium  grizarori.  EXPL.:  maiora  capere  valeamus, 
in  unum  laboriose  redacta  est.  Rot  unterstrichen:  Et  sie  est 
finis,  laudetur  Dens  in  trinis.  Expliciunt  universalia  Porphirii 
sub  anno  incarnacionis  dominice  MCCCCLXXVII  dominica  post 
festum  omnium  sanctorum  et  finite  sunt  post  matutinas  hora 
secunda  in  conventu  Gorliczensi.  0  preciosum  lilium  conval- 
lium,  deprecare  pro  nobis  tuum  unigenitum  filium. 

Text  und  Kommentar  wie  in  der  Görlitzer  Handschrift 
f.  13 — 42,  nur  anders  gestellt. 

f.  90^ — 108^:  Aristoteles,  Parva  philosophia  moralis  cum 
commentis. 

INC.:  Circa  inicium  huius  libri  queritur  primo,  utrum  de 
virtutibus  moralibus  sit  sciencia.  EXPL.:  nee  frivole  ineant 
speculantes  secum  nostram  sapienciam  terminemus.  Amen.  Hie 
magister  describit  quintum  habitum  intellectualem  —  —  — . 
Rot  gerändert:  Et  sie  est  finis,  laudetur  Dens  in  trinis.  Anno 
Domini  1478  sabbato  quarte  dominice  post  penthecosten  per 
me  fratrem  Ludwicum  Stolcz  ordinis  fratrum  minorum,  tunc 
temporis  studens  philosophie  de  provincia  superioris  Alimonie, 
et  scripta  sunt  hec  in  provincia  Saxonie  in  conventu  Gor- 
liczensi, et  finis  est  huius  operis,  videlicet  parve  philosophie 
moralis.  Alpha  et  o,  finis  et  origo.  Nos  beata  virgo  Maria 
perducat  ad  paradisi  gaudia.    Amen. 

f.  109  leer. 

f.  110^—149^:   Aristoteles,  Praedicamenta  cum  commentis. 

INC.:  Pro  iniciali  agressu  libri  predicamentorum  Aristo- 
telis,  quia  secundus  est  veteris  loyce  —  — .  Equivoca  dicun- 
tur,  quorum  nomen  solum  commune  est.  EXPL.:  qui  consue- 
verunt  dici,  pene  omnes  enumerati  sunt.  Hie  concludendo  li- 
brum  suum  —  —  — .  0  regina  celi,  perduc  me  ad  gaudia 
poli.  Ave  Maria.  Finitus  est  textus  Aristotelis  predicamento- 
rum cum  commento,  anno  incarnacionis  dominice  MCCCLXXVIII 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.         29 

in  die  sancti  Jacobi  apostoli  per  me  fratrem  Ludwicum  Stolcz, 
nacione  Bavarus  de  provincia  superioris  Alimonie,  tunc  tempo- 
ris  studens  philosophie  provincie  Saxonie  in  custodia  Aure- 
montis  in  conventus  Gorliczensi,  pro  quo  Deus  sit  benedictus 
in  secula.    Amen. 

Vgl.  in  der  Görlitzer  Handschrift  f.  43—94. 

f.  149^  leer. 

f.  150—153  fehlen. 

f.  154^ — 176^:  Augustinus  de  Ferrara,  Quaestioues  super 
Isag.  Porphyrii. 

INC.:  Cum  sit  necessarium  etc.  Hie  agitur  de  quinque 
universalibus  secundum  intencionem  Porphirii  et  queritur,  utrum. 
EXPL.:  magis  ardua  ad  maiores  artifices  transmittendo.  Rot 
unterstrichen:  In  die  sancte  Katherine  hora  2.  post  mensam 
scripta  sunt  hee  questiones  Augustini  de  Ferraria,  sacre  theo- 
logie  doctoris  de  ordine  minorum,  per  fratrem  Ludwicum  Pi- 
storis  ordinis  fratrum  minorum  in  inclita  civitate  Gorliczensi 
sub  anno  incarnacionis  dominice  1476  etc.  Et  est  finis,  lau- 
detur  Deus  in  trinis.  Es  folgt  eine  Aufzählung  der  behandelten 
einzelnen  Quaestiones. 

Vgl.  in  der  Görlitzer  Handschrift  f.  157^^—172. 

f.  177  leer. 

f.  178^ — 209^:  Augustinus  de  Ferrara,  Quaestiones  super 
libr.  praedicamentorum  Aristotelis. 

INC. :  Circa  librum  predicamentorum  dubitatur  primo,  utrum 
decem  sunt  predicamenta.  EXPL.:  sufficit  tamen,  quod  modi 
famosiores  dicti  sunt. 

Et  sie  est  finis  huius  libri  et  questionum  venerabilis  ma- 
gistri  et  doctoris  Augustini  de  Ferraria,  sacre  theologie  pro- 
fessoris  religiositatis  et  frater  minor.  Et  finite  sunt  anno  Do- 
mini MCCCCLXXVIII  feria  sexta  ante  dominicam  4.  post  penthe- 
costen  per  me  fratrem  Ludwicum  Stolcz  ordinis  fratrum  mi- 
norum de  provincia  superioris  Alimonie  de  conventu  Monacensi, 
tunc  temporis  studens  in  provincia  Saxonie  in  conventu  Gor- 
liczensi.    Sit  laus   conditori,    laus   summa   Deo   genitori.     Ave 


30  P.  Lehmann 

gemma,  rosa  Hörens,  beata  virgo  Maria,  sis  me  ubique  cu- 
stodiens. 

Vgl.  in  der  Görlitzer  Handschrift  f.  172—197. 

f.  211^—257^:  Aristoteles,  Physicorum  liber  ü.  cum  com- 
mento. 

INC.  f.  211^:    Ad   phylosophiam  te  transfer,    si   vis  esse 

sanus,  liber,  securus,  si  beatus.     Hec  verba  loco sunt 

ipsius  Senece  ad  Lucillum.  INC.  f.  212^:  Natura  est  princi- 
pium  et  causa  movendi  et  quiescendi.  EXPL.:  perfecte  solum 
cognoscitur  in  vita  eterna,  quam  nobis  concedere  dignetur  Jhe- 
sus  Christus,  Marie  filius,  in  secula  seculorum.  Amen.  Rot 
unterstrichen:  Et  sie  est  finis,  laudetur  Deus  in  trinis.  Alpha 
et  0,  principium  et  origo.  Post  prandium  hora  quasi  quarta 
per  me  fratrem  L.  sancti  ordinis  Francisci  minorum  de  pro- 
vincia  superioris  Alimonie  de  custodia  Bavarie  de  conventu 
Monacensi,  tunc  temporis  studens  philosophie  in  provincia  Sa- 
xonie  in  custodia  Auremontis  in  conventu  Gorliczensi  in  loco 
reformato  sub  patre  fratre  visitatore  Mauricio,  magistro  libe- 
ralium  arcium.    Nos  eterna  gaudia  perducat  feliciter  virgo  Maria. 

f.  258—277  fehlen. 

f.  278^—285^:  Tractatus  super  physica  Aristotelis. 

INC.:  <Q>uoniam  quidem  scire  et  intelligere  contigit  circa 
omnes  substancias.  Incipit  taliter  textus.  EXPL. :  motum,  quo 
est  numerus  etc.     Sequitur  post  hec  etc. 

f.  286—305  fehlen. 

f.  306^  —  329^:  Quaestiones  philosopMae  naturalis. 

INC.:  Cum  secundum  doctrinam  Aristotilis  in  plerisque 
locis.  EXPL.  (der  Text  bricht  ohne  Schluß  ab):  sed  perfec- 
tionem.     Item  propterea  ibidem  idem  ait,  quod  illud. 

f.  330—357  fehlen. 

f.  358^—472^:  Antonius  Andreae  super  Aristotelis  libros 
metapliysicae. 

INC.:  Girum  celi  circuivi  sola.  Eccli.  24.  Quia  secundum 
Aristotilem  et  communiter.  EXPL.:  libenti  animo  emendare, 
pro  quo  Deus  gloriosus  sit  benedictus  in  secula  seculorum. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.         31 

Anno  Domini  MCCCCLXXVIII  post  Invocavit  feria  quinta 
post  matutinas.  0  Maria  pro  nobis  deprecare,  ut  mereamur 
aulam  celi  inhabitare. 

f.  473^—478^:  Franciscus  de  Mayronis,  De  esse  et  essentia. 

INC.:  Incipit  tractatus  de  esse  et  essencia.  Ab  inicio  et 
ante  secula  sum.  Eccli  24.  Quia  non  ulla.  EXPL.:  ut  in- 
tencio  calorum  (von  bier  ab  rot  unterstrichen)  est  in  ipso  igne 
et  sie  est  finis,  laudetur  Deus  in  trinis.  Explicit  tractatus  de 
esse  essencie  et  esse  existencie,  editus  per  ingeniosum,  illumi- 
natum  doctorem  Franciscum  Maronis,  scriptus  per  nie  fratrem 
Ludwicum  Stolcz  ordinis  fratrum  minorum  de  provincia  supe- 
rioris  Alimonie,  tunc  temporis  studens  philosophie  provincie 
Saxonie  in  conventu  Gorliczensi  anno  dominice  incarnacionis 
1478  in  vigilia  sanctorum  martirum  Primi  et  Feliciani.  0 
virgo  Maria,  sis  nobis  post  hanc  vitam  pia. 

f.  478^  leer. 

f.  479^ — 487^:  Aristoteles,  De  causis,  cum  commento  Al- 
phorabii. 

INC.:  Omnis  causa  primaria .    Cum  ergo  removet 

causa  secunda.  EXPL. :  acquirere  non  acquisitum  sicut  osten- 
dimus.  Explicit  liber  de  causis  suis  cum  dictis  Alvorabii  anno 
Domini  MCCCCLXXVII  dominica  prima  in  adventu  Domini  et 
in  die  sancti  Andree  apostoli  post  prandium  hora  prima.  0 
regina  celorum,  conduc  nos  ad  regna  polorum. 

f.  487^—490^  leer. 

f.  491^—498^:  Aufzeiclmuiigen  über  Redekunst,  Briefstil- 
kunst u.  a. 

INC.:  Premissus,  prescriptus,  preconditus.  EXPL.:  te 
igitur  valere  desidero  et,  ut  alterum  me  ducas,  vehementer 
exopto. 

f.  499—502  leer. 

Abgesehen  von  ihrem  noch  des  Näheren  festzustellenden 
textlichen  Wert  verdient  die  Handschrift  Beachtung  als  Frucht 
des  Studiums  eines  Münchener  Minoriten  im  Görlitzer  Franzis- 
kanerkloster,   das    zur   Kustodie   Goldberg   der    Ordensprovinz 


32  P.  Lehmann 

Sachsen  gehörte.  ^)  Ein  mir  freundlichst  übersandter  Codex  der 
Milichschen  Bibliothek  zu  Görlitz,^)  der  dem  dortigen  Minoriten- 
konvente  gehört  hat,  enthält  zum  Teil  dieselben,  1472 — 1476 
abgeschriebenen  Texte  wie  der  Münchener  Band  und  ist  viel- 
leicht dessen  Vorlage,  jedenfalls  gleich  diesem  ein  Zeugnis  für 
den  Görlitzer  Studienbetrieb.  ^) 

N.-M.  Bibl.  945. 

Holzband  mit  Schweinslederrücken,  1  Schließe;  auf  dem 
Holz  des  Vorderdeckels  Reste  der  Inhaltsangabe  saec.  XV  ex. 
Pap.  16  X  21  cm.  310  BU.  Schrift  mehrerer  Hände  saec.  XV  ex. 
(um  1480). 

f.  1^  oben  durch  Papierlücken  verstümmelt  saec.  XVII: 
Ad  bibliothecam  patrum  Fran(ciscanorum  Ingolstadensium). 

f.  1^'^:  Lat.  Notizen  über  lateinisclie  Vokabeln. 

INC.:  Utimur  utilibus,  fruimur  celestibus  escis.  EXPl. : 
relabor,  iterum  labor. 

f.  2^:  Accessus  ad  Ciceronis  librum  de  officiis. 

INC.:  Intentio  huius  libri  est.  EXPL.:  mores  hominum 
vidisse  et  observasse  memoriter. 

f.  2^'^:  Anfang  der  deutschen  Übersetzung  von  Cicero  de 
officiis,  nach  dem  Drucke  Augsburg  1488  (Hain  *5235). 

INC.:  0  Marce,  sun  mein,  wie  wol  du  yetz  das  iar  di 
kunstlichenn.  EXPL.:  wan  volendet  wurd  das,  das  mit  ver- 
nufft  beweiset  wirdet. 

f.  3^ — 11^:  Briefe  des  Guillermns  Fichetus  und  Johannes 
de  Lapide  sowie  Kapitelverzeichnisse  zu  Cicero  de  officiis,  de 
amicitia,  de  somnio  Scipionis,  de  senectute,  abgeschrieben  aus  dem 
Pariser  Druck  Hain  5252. 


1)  Vgl.  E.  Koch,  Zweierlei  Franziskaner  in  der  Oberlausitz:  Neues 
Lausitzisches  Magazin.     XCI  (1915),  S.  122  ff. 

2)  Vgl.  die  kurze  ungenügende  Beschreibung  in  E.  E.  Struves  Kata- 
log der  Milichschen  Bibliothek  (S.  20,  30,  31,  85,  107),  der  als  Anhang 
zum  Neuen  Lausitzischen  Magazin.    XLIV— XLVI  gedruckt  ist. 

3)  Vgl.  über  das  Görlitzer  'Studium'  Scriptores  rer.  Lusaticarum. 
N.  F.  I  (1839),  S.  340. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.         33 

f.  11^^—13^:  Gedicht  des  Erhardus  Ventimontanus  und  Ka- 
pitelverzeichnisse  zu  Cicero,  Tusculanarum  quaestionum  libri  V, 
abgeschrieben  aus  der  Pariser  Ausgabe  Hain  5311. 

f.  14^—22^:  Cicero  pro  ArcWa  poeta  mit  lateinischen  und 
deutschen  Erklärungen. 

f.  22^—24^:  Unvollständige  Abhandlung  De  fabulispoetarum. 

INC.:  Poete  enim  plures  famosi  erant,  inter  quos  Virgilius 
claruisse  fertur.  EXPL.:  exclusis  tarnen  erroribus  qui  sangui- 
nem  interguntur. 

Wohl  aus  der  Renaissance  stammend. 

f.  24^ — 26^:  Feierliche  Begrüssung  einer  Gresandtschaft  Phi- 
lipps von  Burgund  durch  die  Leipziger  Universität. 

INC.:  Arenga  quedam  facta  per  d.  r.  Venerabilis  pater 
et  domine  precolende.  EXPL.:  prestare  rex  omnium  seculorum 
eternavit  benedictus. 

Da  von  der  Universität  Löwen  als  einer  bereits  bestehen- 
den berühmten  Hochschule  die  Rede  ist,  diese  aber  erst  1425/26 
begründet  wurde,  und  da  neben  Friedrich  dem  Streitbaren  der 
Mitbegründer  der  Universität  Leipzig,  Markgraf  Wilhelm,  als 
lebend  erwähnt  ist,  aber  bereits  am  30.  Mai  1425  starb,  halte 
ich  die  ziemlich  inhaltsleere  Rede  für  eine  spätere  Stilübung, 
bei  deren  Abfassung  die  historischen  Verhältnisse  nicht  genau 
beachtet  wurden. 

f.  27^—100^:  Cicero  de  officiis,  Abschrift  der  oben  ge- 
nannten Pariser  Ausgabe  mit  vielen  lateinischen  Erklärungen 
und  einigen  deutschen  Übersetzungen,  so  f.  33^  zu  lib.  I  cap.  10 
§  33  (summum  ius  summa  iniuria):  gewalt,  gelt  und  gunst, 
bricht  recht,  trew  und  kunst;  f.  40^  unten  zu  lib.  I  cap.  21 
§71:  Via  antiqua  in  Ingolstat;  f.  72^  oben  zu  lib.  II  cap.  20 
§  69:  vorzert  unnd  vortorben,  gespart  und  gestorben,  nach- 
beset  ist  vorzert  unnd  vortorben,    wen  gespart  und  gestorben. 

f.  100^—123^:  Cicero  de  senectute  ad  Atticum,  Abschrift 
aus   der   oben   genannten  Pariser  Inkunabel   mit  Erklärungen. 

f.  122^:  finit  Tulius  de  senectute  in  dominica  'Letare'  plu- 

Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  u.  d.  bist.  Kl.  Jahrg.  1916, 4.  Abb.  3 


34  P.  Lehmann 

viali  in  tempore  utque  in  papiro;  der  Text  hört  gerade  mit 
dem  Blatt  auf. 

f.  123^  leer. 

f.  124^ — 154^:  Cicero  de  amicitia,  Abschrift  aus  der  Pa- 
riser Inkunabel. 

f.  154^—173^:  Homerus  latinus  mit  Accessus  und  Erklä- 
rungen. 

INC.  f.  154^:  De  hello  Troyano  Homerus  incipit,  Yliades 
intytulatur.     Iram  pande  mihi. 

EXPL.  f.  173^:  Explicit  Homerus  de  hystoria  Troyana  in 
Ingoldstat  anno  1479  in  die  sancti  Andree. 

f.  173^ — 174^:  De  poetria  et  eins  generibus. 

INC.:  Alphorabius  in  libro  de  divisione  scientiarum  dicit 
poetriam  ultimam  partem.  EXPL.:  quedam  libistice,  que  fin- 
gunt  homines  cum  brutis  loqui. 

Abhandlung  aus  der  Renaissance;  unter  anderm  Boccaccio 
zitiert. 

f.  175^ — 177^:  Lateinisclie  Interpunktionslehre. 

INC.:  Distinctio  quam  Greci  thesim,  Latini  posituram  di- 
cunt.     EXPL.:  easdemque  notas,  easdemque  figuras  observant. 

Aus  der  Renaissance.  Eine  nähere  Untersuchung  dieser 
wie  der  anderen  mittelalterlichen  und  humanistischen  Traktate 
über  Interpunktion  ist  sehr  erwünscht. 

f.  177^:  Bettelbrief  des  Samuel  Karoch. 

INC.:   Epistola  pro  statu   aliquo.     Samuel  Karoch 

—  Johanni  de  Pinguea  —  —  —  atque  perpetue  salutis  ex- 
optat  prelibamen.     EXPL.:  sinistra  extunc  si  lubet  movere. 

Abdruck  des  Textes  unten  S.  39  Beilage.  Der  von  W. 
Wattenbach  und  anderen  Forschern^)  mehrfach  behandelte  hu- 


■^)  Zuletzt  wohl  von  L.  Bertalot,  Humanistische  Vorlesungsankün- 
digungen usw.:  Zeitschrift  für  Geschichte  der  Erziehung  und  des  Unter- 
richts. IV  (1915)  S.  14  ff.  und  20.  Von  B.  übersehen  zu  sein  scheint 
der  wichtige  Aufsatz  von  A.  Bömer,  Ein  unbekanntes  Schülergespräch 
Samuel  Karochs  von  Lichtenberg:  Neue  Jahrbücher  für  das  klassische 
Altertum  usw.    VI  (1900)  S.  465-476. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.         35 

manistische  Wanderlehrer  Samuel  Karoch  aus  Lichtenberg*) 
bittet  hierin  einen  Bekannten  um  Vermittlung  einer  Schul- 
lehrerstelle. Der  Briefempfänger,  ein  Leipziger  Baccalarius 
und  Wormser  Schulmeister  Johann  von  Bingen,  ist  wohl  eine 
Person  mit  jenem  Johannes  JDorckheimer  de  Bingwya,  der  im 
Sommersemester  1454  in  Leipzig  immatrikuliert,  als  Johannes 
TorgJcener  dort  1456  unter  die  Baccalaren  aufgenommen  wurde,^) 
eine  Person  auch  mit  dem  in  der  2.  Hälfte  des  15.  Jahrhun- 
derts erscheinenden^)  Meister  Hans,  derzeit  hynderschulmeister 
des  thumhstifts  zu  Wormbs, 

f.  178^ — 184^:  Somnium  Scipionis  mit  Glossen,  wohl  nach 
der  oben  genannten  Pariser  Ciceroinkunabel. 

f.  184^—185^:  Brief  Vorwort  des  Erhard  Windsberger  zu 
einer  Epistolographie. 

INC.:  Omnibus  bonarum  artium  amatoribus  benivolis  Er- 
hardus  Ventimontanus  S.  P.  D.  Magnorum  virorum  non  solum 
ocii.  EXPL.:  Multo  enim  liberalius  est  dare  quam  accipere. 
Valete. 

Der  Text  auch  in  der  ebenfalls  zum  Teil  in  Ingolstadt 
entstandenen  Erlanger  Hs.  762  f.  71  erhalten.  Erhard  Winds- 
berger ist  berühmt  als  Freund  und  Gehilfe  der  ersten  Pariser 
Drucker,  als  erster  offiziell  angestellter  Lehrer  der  Dichtkunst 
an  der  Universität  Ingolstadt.*) 

f.  185^ — 197^:  Epistolograpliie,  vielleicht  verfaßt  von  Er- 
hard Windsberger. 

INC.:  Epistolarum  officium,  quo  potissimum  certiores  fa- 
cimus  absentes.  EXPL.:  non  parum  sunt  consentanee  exorna- 
ciones.     Finis.     Finit  feliciter. 


*)  Wohl  nicht  L.  in  Oberösterreich,   wie  Bertalot  sagt,   sondern  in 
Oberfranken,  wie  Wattenbach,  Eckstein  und  Bömer  angeben. 

2)  Vgl.  Codex  diplomaticus  Saxoniae  regiae.    2.  Hauptteil.    Bd.  XVI 
187,  XVII  166. 

3)  Vgl.   H.  Boos,    Quellen   zur   Geschichte   der   Stadt   Worms.     III 
(Berlin  1893),  S.  450. 

*)  Vgl.  z.  B.  G.  Bauch,  Die  Anfönge  des  Humanismus  in  Ingolstadt, 
München  und  Leipzig  1901,  S.  14  —  24. 

3* 


36  P.  Lehmann 

Es  kann  sich  sehr  gut  um  das  in  dem  Briefe  f.  184^ — 185^ 
angekündigte  Werk  Windsbergers  handeln.  In  der  Erlanger 
Hs.  steht  der  Brief  für  sich,  die  dort  später  f.  99  sqq.  folgende 
Epistolographie  Brenningers  ist  anders,  wenngleich  ähnlich; 
das  Gemeinsame  beruht  auf  der  Abhängigkeit  beider  von  der 
gleichen  Vorlage. 

f.  198^—202^:  Grammatellus  de  artifloiali  eloquentia  mit 
deutschen  Glossen. 

INC.:  Nudiustercius  dum  gramatellos.  EXPL:  satores 
torrifices,  lanifices. 

Im  Spätmittelalter  weitverbreitetes  stilistisches  Schulbuch, 
das  mir  Dr.  L.  Bertalot  in  den  Handschriften  Berlin  lat.  qu.  90 
(Rose  992),  Lambach  291,  München  lat.  6008,  14644,  18801, 
in  den  Drucken  Hain  7849 — 55  u.  a.  nachgewiesen  hat. 

f.  202^—203^:  Epistola  Bernhardt  Silvestris  super  guber- 
nacione  rei  familiaris. 

INC.:  Epistola  —  —  — .  Gracioso  ac  felici  militi  Ray- 
mundo,  domino  castri  Ambrosii,  Bernhardus  in  senium  deduc- 
tus  salutem.  Doceri  petisti  a  nobis.  EXPL.:  eam  perducat 
sua  dampnabilis  senectus.  Epistola  Bernhardi  Silvestris  super 
gubernacione  rei  familiaris  feliciter  explicit. 

Gedruckt  bei  Migne,  Patrol.  lat.  CLXXXH  647-651. 

f.  203^:  Sentenzen  über  die  Tugenden  des  Familienlebens  u.  a. 

INC.:  Quatuor  sunt  que  per  rectorem  familie  observari 
conveniunt.  EXPL:  qui  felicitatis  gaudio  wllt  carere.  Hec  Ful- 
gentius  libro  mitologiarum. 

f.  204^'^:  Gregorius  Tifernus,  Triumphus  cupidinis. 

INC.:  Triumphus  cupidinis.  Vivebam  liber  turba  tran- 
quillus  ab  omni.  EXPL.:  Maxima  si  durus  numina  vincit 
amor.     Finis. 

Von  Dr.  L.  Bertalot  mir  als  Gedicht  des  Gregorius  Ti- 
fernus nachgewiesen,  in  dessen  Opuscula  und  Carmina  vor  und 
nach  1500  mehrfach  gedruckt,  handschriftlich  z.  B.  in  Florenz 
Bibl.  Naz.  Maghab.  VH  1162. 

f.  204^:  Epistola  responsiva  Avicenne  ad  sanctum  Augu- 
stinum. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.        37 

INC.:    Epistola  responsiva — .     Apparuisti  conpa- 

triota.     EXPL.:  causa  sublimis  velit  exspectabo. 

f.  205^^206^:  De  nobilis  ac  ogregiae  poeticae  persuasionis 
reoommeiidatioiie. 

INC.:  Pandite,  inquam,  poetas  divinum  literarum  genus. 
EXPL.:  fructum,  hortor,  exinde  deportate.  Et  tantum  de  no- 
bilis ac  egregie  poetice  perswasionis  recomendacione. 

Vielleicht  mit  dem  Traktat  auf  f.  22  sqq.  zusammenge- 
hörend. 

f.  207^:  Formula  de  quodam  ex  Hildesshemeiisi  ad  Johan- 
nem  Talern,  suum  precordialissimum,  ne  ad  Hildeshemeiisem  ac- 
cedat,  sed  Coloniam  se  transferat. 

INC.:  Formula  —  —  — .  Incipit  prosayce.  Ingeniöse 
docilitatis  decore  florenti  —  —  —  Johanni  Tali  suo  precor- 
dialissimo.  Sincere  caritatis  constantia.  EXPL.:  Caritas  ad- 
monet  respicias.  Vale  meque  tibi  semper  persuade  carissimum. 
Johannes  Talis,   incola  Hildeshemensis,   tuus  precordialissimus. 

In  dem  Brief  wird  der  Niedergang  der  Hildesheimer  Schulen 
beklagt,  die  Blüte  des  Kölner  Unterrichtswesens  gepriesen. 
Es  folgen  kurze  lexikalisch-stilistische  Erörterungen  des  Briefes. 
INC.:  Item  mars  Stella  belli.  EXPL.:  unde  est  aniraus  in  sco- 
las,  volo  ad  scolas. 

f.  207^  leer. 

f.  208^—291^:  Senecae  epistolae  ad  Lucilium,  mit  vielen 
schulmäßigen  Rand-  und  Interlinearglossen  und  Schollen,  auch 
mit  deutschen  Übersetzungen. 

f.  291^—292^:  Bettelbrief  eines  Angehörigen  der  Univer- 
sität Leipzig. 

INC.:  Ad  preclaros,  quos  celsitudo  septiformis  circumful- 
sit  dogmatis  alme  universitatis  Lipzensis  studentes.  Domini 
mei  citra  terrigenas  universos.  EXPL.:  abscondere  pauperta- 
tem,  et  temperantior  est,  cui  sufficit  quod  habet. 

Vielleicht  verfaßt  von  Samuel  Karoch,^)  der  1466  in  ähn- 


Vgl.  oben  S.  34  f. 


SS-  P.  Lehmann 

lieber  Weise  auch  die  Leipziger  Professoren  anredete.^)  Hier 
wie  dort  ist  von  9  Jahren  der  Not  des  Bittenden  in  Leipzig 
die  Rede. 

f.  292^'^:  Allerlei  Notizen  und  Auszüge  über  den  Redner 
und  die  Redekunst. 

INC.:  Unde  orator  sie  debet  esse  homo  bonus.  EXPL.: 
casibus  inferius  utitur  Cicero. 

f.  293^—308^:  Kommentar  zu  Vergils  Bucolica. 

INC. :  Testatur  Servius,  quoniam  solebant  in  prineipiis  auto- 
rum.  EXPL.:  Ite  domum.  Ite.  Hoc  est:  finem  buecolico  car- 
mini  imponite. 

f.  309^''^:  Notizen  über  comoedia,  tragoedia,  satira. 

INC. :  Nota  circum  principium  poetrie  est  sciendum.  EXPL. : 
Quos  dolor  et  sathira,  livor  eonsumit  et  ira. 

f.  310^:  De  studente  ad  beauum. 

INC.:  De  studente  ad  beanum.  Si  meritus  es  salutem  re- 
cipere  deeore  peeudis.  EXPL.:  cum  porcis  te  tumulandum 
linquam. 

Invektive,  die  vielleicht  von  Samuel  Karoch  stammt^)  und 
z.  B.  auch  in  München  lat.  4393  sowie,  was  mir  Dr.  L.  Ber- 
talot  mitteilte,  in  Wien  3502  überliefert  ist. 

f.  310^'^:  Bettelbrief  eines  Studenten. 

INC.:  Epistola  petitoria  ad  compatrem.  Lumen  oculorum 
meorum  in  sentinam  languoris.  EXPL.:  Vale  quousque  felici 
gressu  presentis  seeuli  transieris  disturbium.    Extunc  vade. 

Auch  ein  Musterbrief  Karochs? 


^)  Vgl.  Anzeiger  für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit.  N.  F.  XXVII 
(1880)  S.  185  ff. 

'^)  Vgl,  W.  Wattenbach  in  der  Zeitschrift  für  die  Geschichte  des 
Oberrheins.     XXVIII  (1876)  S.  42. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.        39 

Beilage. 

Epistola  pro  statu  aliquo.  f,  177 '< 

Samuel  Karoch  oratorie  humanitatisquo  artis  scbolaris  Jo- 
hanni  de  Tinguea,  arcium  Jiberalium  baccalaurio  Lipsensi,  par- 
tirium  scolarium  in  Burmatia  rectori  (S.  D.  P.)  atque  perpetue 
salutis  exoptat  prelibamen.  ^)  Anxietatis  provinciam*)  huic  com- 
mendandam  esse,  qui,  haud  secus  ac  de  ipsius  ageretur  interitu,^) 
ipsam  summo  nisu*)  retundere  inque  prosperitatis  omen  resolvere 
curat,  omnis  humana  suadet  ratio.  Hinc  est,  fautor  mi  adaman- 
de,  quod  humanitati  tue  evolutare  festino.  Diebus  quam  paucis 
decursis  auribus  meis  intrepuit  te  salvum,  de  quo  dis  habeo  gra- 
ciam,  ecce  ioeundum  esse  scolis  quoque  partiribus  Wurmacensibus 
intundere.  Percipio  insuper  te  apud  singulos  tam  prelatos,  no- 
biles,  cives  quam  populäres,  non  solum  in  Wurmacensi  civitate 
consistentes,  verum  multo  magis  in  ceteris  districtibus  vicinis  ca- 
strorum  Tidelicet  civitatum  ne  homines  autoritate  plurimum  va- 
lere,  adeo  ut  nichil  ab  ipsis  impetrandum  difficile  tibi  obtinen- 
dumque  videatur  esse.  Quare  te  suppliciter  hortor  atque  rogo, 
cum  tu  nictu^)  et  amictu^)  sufficienter  (excellenti  tuo  aspirante 
officio)  provisus  fueris  necessariis,  me  tibi  commissum  habeas  et 
apud  tibi  benevolentes  tantopere  promoveas,  ut  et  una  ego  quot- 
piam  saltim  scolarum  regiminis  adipiscar  officium  aut  quoddam- 
libet  aliud,  quod  egestati  mee  congruat.  Eciam  humanitatis  ars 
(quam  poesim  dicunt),  an  apud  te  pollulet  vel  plus  argentum,  ex 
te  scire  velim.  Quid  illic  rei  sit  michi  quammox  pateris  literis 
tuis  designa  et  facietenus  me  prope  comtemplaberis'')  diem.  Nil 
restat  nunc  tibi,  ut  scribam,  nisi  ut  tu  pro  meo  sicut  ego  pro  tuo 
advigiles  (precor)  comodo.  Quod  si  feceris,  noctes  plus  centum 
ducam  insomnes,  ut  ad  mensuram  tribuam.  Novitates,  que  apud 
nos  iampridem  invalescebant,®)  ex  tabellione^)  percipies.  Vale 
tantisper  quousque  dextera  tua  ubera  cuncta  complecteris,^^)  si- 
nistra  extunc  si  lubet  movere. 

N.-M.  Bibl.  1668. 

Holzband  mit  Lederrücken  und  2  verstümmelten  Messing- 
schließen und  Kettenloch  hinten.  Auf  dem  Vorderdeckel  ein 
rot  eingefaßter  Papierzettel    mit   der  Aufschrift   saec.  XV  ex.: 


1)  darüber  von  1.  Hand  optamen.  ^)  darüber  curam.  ^)  da- 

rüber morte.  *)  darüber  magno  labere.  ^)  darüber  ciliis.  ^)  da- 
rüber vestitu.  '^)  darüber  videbis.  ^)  darüber  fieri  ineipiebant. 
^)  darüber  nuncio.             ^®)  darüber  palpitaveris. 


40  P.  Lehmann  » 

Libri  etbicorum,  yconomicorum,  politicorum ,  rhethoricorum 
Aristotelis;  darunter  ein  Zettel  mit  einem  roten  Signaturbuch- 
staben (=  Q  oder  0).  Pap.  20,5  x  32  cm.  258  Bll.  und 
einige  —  verschieden  große  —  Schaltzettel.  Schrift  vorwiegend 
von  einer  Hand  saec.  XV.  Schaltzettel  I,  vor  f.  1,  saec.  XVII: 
Ad  bibliothecam  pp.  Franciscanorum  Ingolstadensium. 

f.  1—77^:  Aristo tiles,  Ethica  mit  vielen  Glossen. 

INC.:  <0>mnis  ars  et  omnis  doctrina.  EXPL.:  legibus  et 
consuetudinibus  utens  dicamus  igitur  incipientes.  Explicit  Ari- 
stotelis liber  etbicorum. 

f.  78^—83^:  Aristoteles,  Oeconomica  mit  Glossen. 

INC.:  (Y>cononiica  et  politica  differunt  non  simul  sicud 
domus  et  civitas.  EXPL.:  multum  ad  uxorem  suam  et  filios 
et  parentes  etc. 

f.  83^—88^  leer. 

f.  89^—1921^:  Aristoteles,  Politica  mit  Glossen. 

INC.:  <Q)uoniam  omnem  civitatem  videmus  communitatem. 
EXPL.:  quod  decens.  Reliqua  huius  operis  in  Greco  nondum 
inveni  etc. 

f.  192^  leer. 

f.  193^—258:  Aristoteles,  Rethorica. 

INC.:  <R>ethorica  assecutiva  dyalectice  est;  ambe  enim. 
EXPL.:  oracio  sit  dixi  audistis  habetis  iudicate.  Et  sie  finit 
rethorica  Aristotilis  a  Greco  in  Latinum. 

f.  258^  leer. 

N.-M.  Bibl.  3716. 

Holzband  mit  ornamentiertem  Leberüberzug.  Pap.  15,3 
X  21,3  cm.     212  Bll.     Schrift  saec.  XV. 

f.  2^  saec.  XVII:  Ad  bibliothecam  patrum  Franciscanorum 
Ingolstadensium. 

f.  1^  leer  bis  auf  den  Eintrag  saec.  XV:  Sancti  spiritus 
assit  nobis  gracia,  sancti  spiritus  assit  nobis  gracia  et  quasi 
luvet  nos. 

-   f.  2^—212^:  Alexander  de  Villa  Dei,  Doctrinalis  pars  IL, 
cum  commento. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.        41 

INC.  f.  2^:  Circa  inicium  secunde  partis  Allexandri  aliqua 
breviter  notare  volo,  priuscjuam  ad  textum  procedam.  f.  6^ 
INC.:  '<S>ic  iubet  ordo  libri  vocum  regimen  reserari.'  Sensus 
textus  est:  ordo  premissus.  EXPL.:  Si  tarnen  pro  tertio  ma- 
teriale  et  non  substantiam  quia  substantiam. 

f.  105^  am  Rande  saec.  XV:  Monacum  situatur  decem 
miliaribus  ab  Ingolstat. 

NÜRNBERG. 

Clapissenkloster.^) 

Vereinzelte  Handschriften  in  Bamberg,  Berlin,  Chelten- 
ham(?),  Gera,  Pommersfelden,  Stuttgart,  Wolfenbüttel. 

N.-M.  Bibl.  1191. 

Pergamentumschlag  mit  Notentext  saec.  XV.  Perg.  34,5 
X  25  cm.  83  BU.  Schrift  in  2  Spalten  von  einer  kräftigen 
Hand  um  1500,  mit  roten  Überschriften  und  einigen  roten  und 
blauen  Initialen. 

f.  1^—10^:  Deutsche  Chronik  des  Franziskaner ordens,  viel- 
leicht verfaßt  von  Nikolaus  Glaßberger. 

INC.  rot  mit  blauer  I-Initiale:  In  nomine  sanctissime  tri- 
nitatis  hebt  sich  hie  an  ein  kleiner  ausszug  auss  der  cronica 
des  heilligen  ordens  der  myndern  brüder,  und  wenn  unsser 
heilligister  vater  sanctus  Franciscus  den  orden  hat  angefangen. 
Schwarz  mit  rotblauer  A-Initiale:  Anno  Domini  MCCVI  in  dem 
XIIII.  iar  des  pabstums  herrn  Innocencii  des  III.  EXPL. :  wel- 
cher orden  sancte  Marie  Magdalene  pey  LX  iar  in  disem  closter 
hie  zu  Nurberg  gewast  was  —  —  — .  Wie  aber,  umb  was 
sach  und  zu  welchen  zeiten  die  Veränderung  des  ordens  in  di- 
sem gegen wurtigen  closter  geschehen  sey,  wirt  clerlich  er- 
scheinen in  der  cronica,  die  hernach  volgt. 


1)  G.  Pickel,  Geschichte  des  Klaraklosters  in  Nürnberg:  Beiträge 
zur  bayerischen  Kirchengeschichte,  hsg.  von  Th.  v.  Kolde.  XIX  (1913) 
S.  145—172.  Ulrich  Schmidt,  Das  ehemal.  Franziskanerkloster  in  Nürn- 
berg, Nürnberg  1913,  S.  34  ff.  , 


42  *  P.  Lehmann 

Diese  bisher  unbekannt  gebliebene  Chronik  beginnt  mit 
dem  Ursprung  des  Franziskanerordens,  berücksichtigt  im  be- 
sonderen die  Ciarissen  bis  zur  Gründung  und  Bestätigung  des 
Clarissenklosters  zu  Nürnberg  1279/81.  Zu  Grunde  gelegt  ist 
die  Chronica  XXIV  gener.  o.  min.,  diese  aber  teils  gekürzt, 
teils  erweitert.  Vielfach  herrscht  Übereinstimmung  mit  der 
bekannten  Chronik  des  Nikolaus  Glaßberger,  der  wohl  auch 
vorliegendes  Werk  verfaßt  hat,  vgl.  unten. 

f.  10^  leer. 

f.  11^—83^  (alte  Zählung  11—84,  f.  77  überschlagen): 
Deutsche  Chronik  der  Nürnberger  Ciarissen,  um  1500  verfaßt 
wahrscheinlich  von  Nikolaus  Glaßberger. 

INC,  rot  mit  blauer  I-Initiale:  In  nomine  Domini  hebt  hie 
an.  die  cronica  der  Schwester  sanct  Clarn  ordens  zu  Nurmberg 
—  —  — .  Schwarz  mit  rotblauer  A-Initiale:  Anno  Domini 
MXCII,  do  auff  sant  Peters  stul  sas  der  allerheilligst  vater  herr 
Urbanus  der  ander.  EXPL.:  vor  ytlichem  X  pater  noster  für  den 
heilligen  vatter  pabst  und  die  ganczen  heiligen  kristlichen  kirchen. 

Beide  Chroniken  des  Bandes,  die  bisher  unausgenutzt  ge- 
blieben sind,  stammen  von  ein  und  demselben  Verfasser,  der 
in  engsten  Beziehungen  zum  Nürnberger  Clarissenkloster  ge- 
standen hat,  zumal  da  oft  von  diesem  als  „unserm  Kloster" 
die  Rede  ist.  f.  1 — 10  ist  gleichsam  die  Einleitung  zu  der  in 
2  Teile  (der  2.  Teil  beginnt  mit  der  Einführung  der  Obser- 
vanz) geteilten  Sonder-Chronik  des  Nürnberger  Konvents.  Der 
Text  des  Chronisten  stimmt  hier  wie  da  häufig  wörtlich  mit 
Glaßbergers  Franziskanerchronik  überein,  gibt  aber  ortsgeschicht- 
lich noch  mehr,  z.  B.  vollständige  Urkundentexte,  die  der  Be- 
achtung empfohlen  seien.  Da  das  in  den  Analecta  Francis- 
cana^)  gedruckte  Werk  Glaßbergers  1508  verfaßt  ist,  der  Autor 
unserer  Hs.  seine  Chronik  aber  beim  Jahre  1500  abgeschlossen 
und  kaum  viel  später  zusammengestellt  hat,  muß  er  entweder 
eine  frühere  Fassung  der  Chronik  Glaßbergers  oder  dessen  — 
unveröffentlichte    —    Vorarbeiten    gekannt   haben   oder    Glaß- 


1)  II  (1887). 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.         43 

berger  selbst  gewesen  sein.  Ich  halte  es  bei  der  Ähnlichkeit 
der  Darstell ungs weise  und  der  weitgehenden  Gleichheit  der 
Quellen  für  das  Wahrscheinlichste,  daß  unsere  beiden  deutschen 
Chroniken  von  Nikolaus  Glaßberger  selbst  abgefaßt  sind,  der 
aus  Mähren  stammend  1472  in  Amberg  Minorit  wurde,  früh- 
zeitig Neigung  zu  ordensgeschichtlichen  Forschungen  zeigte 
und  gegen  Ende  des  15.  Jahrhunderts  als  Beichtvater  bei  den 
Nürnberger  Ciarissen  wirkte.*) 

N.-M.  Bibl.  3801. 

Holzband  mit  braunem,  ornamentiertem  Lederüberzug  (wohl 
saec.  XVI)  und  1  von  2  ursprünglichen  Schließen.  1  Perg.- 
Vorsatzbl.  Pap.  15,8  x  21  cm.  230  BIL,  vor  und  hinter  denen 
je  4  Bll.  einer  anderen  Papiersorte  stehen,  f.  1 — 230  von 
einer  sorgfältig  schreibenden  Hand  saec.  XV/XVI,  mit  roten 
Überschriften  und  rotem  Text  der  jeweils  erklärten  Psalmen- 
verse und  Hymnen  sowie  schlichten  blauen  Initialen,  f.  A^ 
saec.  XVI  in.,  f.  231^  saec.  XVI. 

f.  A^  oben  saec.  XVI  in. :  Das  puch  gehört  zu  sanct  Clarn 
in  Nurmberg,  ist  vatter  Stephans  selligen  ausslegung  über  dy 
non  und  complet. 

f.  1^—113^:  Stephan  Fridolin,  Deutsche  Predigten  über 
die  Non. 

INC.  rot  mit  blauer  I-Initiale:  In  nomine  Domini  nostri 
Jesu  Christi  crucifixi  hebt  an  ein  andechtige  ausslegung  des 
ymnus  und  der  psalm  zu  der  nonzeit.  Schwarz  mit  blauer 
E-Initiale:  Es  ist  zu  mercken,  so  uns  unsser  lieber  herr  Jesus 
Christus  zu  nonzeit  die  allergrosten  gutheit  hat  bewissen. 
EXPL.:  das  ich  do  deiner  grosstettigen  maiestat  und  aller 
tiffsten  demutikeit  mit  allen  heilligen  endloss  lob  und  danck- 
perkeit  mug  singen  in  secula  seculorum.  Rot:  Immensa  gra- 
tiarum  actio  Christo  in  eternum. 


1)  Vgl.  über  ihn  außer  der  oben  S.  42  angeführten  Literatur  K.  Eubel 
im  Historischen  Jahrbuch.  X  (1889)  S.  378  ff.  und  H.  Boehmer  in  der 
CoUection  d'etudes  et  de  documents  sur  l'histoire  religieuse  et  litteraire 
du  moyen-äge.    VI  (Paris  1908)  p.  XXV  sqq. 


44  ,  P.  Lehmann 

Text  entspricht  f.  176—222  der  Berliner  Hs.,  vgl.  unten. 

f.  113^—230^:  Stephan  Fridolin,  Deutsclie  Predigten  über 
die  Komplet. 

INC.  blau:  In  nomine  Domini  hebt  hie  an  die  ausslegung 
der    complet.     Rot   mit    blauer  W-Initiale:    Wenn  du  an  wilt 

fahen  complet  zu  sprechen,  so  soltu  vor  betrachten . 

Schwarz  mit  blauer  I-Initiale:  In  dem  ersten  psalm  'Cum  in- 
vocarem'  soltu  mit  fleiss  und  andacht  betrachten  die  grossen 
angst.  EXPL.:  das  unsser  leczte  Zuflucht  soll  sein  in  unsserm 
sterben  und  unsser  ewige  frewd  in  dem  himelischen  vatterland 
in  secula  seculorum.    Amen. 

Text  entspricht  f.  1 — 42  der  Berliner  Hs.,  vgl.  unten. 

f.  230^  und  231^:  Bemerkungen  über  die  Predigten  und 
die  vorliegende  Abschrift,  vgl.  Beilage  S.  45. 

P.  Stephan  Fridolin  (f  17.  August  1498),  der  Verfasser 
vorliegender  Predigten,  ist  erst  in  neuerer  Zeit  namentlich 
durch  gute  Arbeiten  von  P.  Ulrich  Schmidt^)  recht  bekannt 
geworden.  Er  war  spätestens  seit  1479  Mitglied  des  Barfüßer- 
klosters in  Nürnberg,  seit  1481  Lektor  dort,  von  1482  bis  zu 
seinem  Tode  Prediger  bei  den  Nürnberger  Ciarissen.  Ernst- 
haft um  die  Hebung  des  religiösen  Lebens  bemüht  und  inter- 
essiert für  die  Bestrebungen  des  Frühhumanismus,  betätigte  er 
sich  schriftstellerisch  in  deutscher  Sprache  auf  homiletischem, 
asketischem  und  historischem  Gebiete.  Für  die  bei  den  Cia- 
rissen gehaltenen  Predigten  über  die  Prim,  Non  und  Komplet 
waren  bisher  nur  2  Hss.  bekannt:  1.  Berlin  K.  Bibl.  Ms.  germ. 
Fol.  1040  (1501  in  Söflingen  bei  Ulm  geschrieben);  2.  ein  Band 
in  Privatbesitz.  Veröffentlicht  sind  nur  die  Erklärung  des 
2.  Kompletpsalmes  (gedruckt  1514)  und  namentlich  die  Primpre- 
digten durch  P.  ü.  Schmidt.   Dieser  stellte  mir  auch  sein  übriges 


^)  P.  Stephan  Fridolin,  ein  Franziskanerprediger  des  ausgehenden 
Mittelalters,  München  1911:  Veröffentlichungen  aus  dem  kirchenhistori- 
schen Seminar  München.  III.  Reihe  no.  11;  Mittelalterliche  deutsche 
Predigten  des  Franziskaners  P.  Stephan  Fridolin.  1.  Heft,  München  1913: 
a.  a.  0.  IV.  Reihe  no.  1.  Vgl.  auch  N.  Paulus  in  den  Historisch-politi- 
schen Blättern  für  das  katholische  Deutschland.  CXIII  (1894)  S.  465-483. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.        45 

Material  freundlichst  zur  Verfügung.  Die  Hs.  des  National- 
museums war  ihm  wie  anderen  nicht  bekannt.  Sie  scheint 
mir  sprachlich  und  geschichtlich  wertvoll  zu  sein,  da  sie  ja 
(vgl.  Beilage)  zu  Nürnberg  im  Clarissenkloster  entstanden  ist, 
also  da  wo  die  Predigten  gehalten  waren,  und  sich  ausweist 
als  eine  von  Margarethe  Kressin  ^)  genommene  Kopie  der  von 
Caritas  Pirkheimer  angefertigten  Originalnachschrift. 

Beilage. 

f.  230^  am  Schluß,  in  roter  Schrift  mit  blauer  A-Initiale, 
von  der  Hand  der  Codexschreiberin: 

Alle  die  diss  ym  hörn  oder  lessen,  die  gedenchen  durch  gottes 
willen  des  andechtigen,  wirdigen,  geistlichen  vatters  Stephan!  Fri- 
dolini,  der  uns  diss  materi  in  unsser  kircben  gepredigt  hat  mit 
allem  fleiß  als  ein  besuuder  grosser  liebhaber  des  heilligen  leiden 
Xpi,  das  er  uns  gern  eingetruckt  und  eingebildet  het.  Wann  er 
ein  besunder  getrewer  und  worer  frewnt  und  vatter  unssers  Or- 
dens vil  iar  gewest  ist  und  seliglich  verschiden  den  III.  tag  nach 
Assumpcionis  Marie   1499.     Requiescat  in  pace  etc. 

f.  231^  von  anderer  Hand,  mit  rot  unterstrichenen  Textzeilen: 
Aber  disse  materii  hat  die  wirdig  mutter  Caritas  Pirckhamerin 
seligen  an  der  predig  auss  des  obgemelten  wirdigen  vaters  mundt 
von  wort  zu  wort  angeschriben.  Die  zu  einer  abtissin  erweit  wurd 
tausent  funfhundter  und  im  dryten  iar  und  starb  an  der  abtey 
an  der  octaf  unsser  heiligen  mutter  sant  Clarn  im  XV^  im  XXXII 
iar,  als  uns  nit  zweyfelt  selliglichen,  die  uns  nuczlich  und  trost- 
lich ist  gewest,  auch  vil  mw,  arbeit  und  angst  und  not  gehabt 
hat  besunder  die  Luterischen  jar,  in  den  sie  für  sich  und  uns 
ritterlichen  gestritten  und  mit  der  hilf  gottes  bestendiglichen  ver- 
hart   wider   alle    keczerey    pis   in   ir   endt.      Got   geh  ir  den  ewig 


^)  Nach  f.  231^  unserer  Hs.  wäre  sie  1510  gestorben.  Das  Nekrologium, 
das  bei  Andreas  Würfel,  Historische,  genealogische  und  diplomatische 
Nachrichten  zur  Erläuterung  der  Nürnberger  Stadt-  und  Adelsgeschichte. 
II  (Nürnberg  17G7)  allerdings  nicht  ganz  zuverlässig  herausgegeben  ist, 
gibt  (S.  893)  1511  an:  Item  soror  Margareta  Kressin,  starb  den  nehsten 
tag  nach  Symon  und  Jude  im  XV^  im  XI.  jar  und  was  im  hiligen  orden 
gewest  pey  XLIIII  jaren  und  was  irs  alters  bei  LV  jar  und  ligt  im  III. 
grab  von  der  stigen  im  kreuczgang.  Auch  beim  Todesjahr  Fridolins 
gehen  das  Nekrologium  mit  1498  und  unsere  Hs.  mit  1499  auseinander. 


46  P.  Lehmann 

Ion!  Darumb  auch  das  sie  die  ding  gemerckt  und  geschriben  hat, 
het  ir  sunst  nit.  Und  swester  Margaretha  Kressin  —  die^)  ge- 
storbe  ist  den  neschentag  nach  der  heiligen  XII  poten  Symon  und 
Judas  tag  im  XV*^  und  X  jar  —  hat  diss  puch  von  ir  abgeschri- 
ben.     Requiescat  io  sancta  pace! 

Dominikanerinnenkloster  S.  Katharinae. 

Handschriften  jetzt  über  viele  Bibliotheken  verstreut,  so 
in  Bamberg,  Berlin,  Dresden,  Karlsruhe,  Maihingen,  Mainz, 
München,  Neustadt  a.  d.  Aisch,  Nürnberg,  Raigern,  Rom,  Straß- 
burg, Würzburg. 

N.-M.  Bibl.  932. 

Holzband  mit  erneuertem  Lederüberzug.  Vorn  im  Deckel 
farbiges  Königsbild  mit  der  Beischrift  saec.  XV:  Dominus  Hen- 
ricus  rex.  Pap.  10,5  x  15  cm.  158  Bll.  Schrift  aus  dem  An- 
fang des  15.  Jahrhunderts. 

f.  158^  saec.  XV:  das  puchlein  gehört  in  das  closter  zu 
sant  katherinen  predigerorden  in  Nürenwerg. 

f.  1^ — 157^:  Das  Buch  des  (jehorsams. 

INC.:  Jhesu  Criste  mynreichen  funff  wunden  zu  lob  und 
ere  noch  dem  buch  der  keuschen  iunkfrawlichen  rainikait  hebe 
ich  an  dir  zu  schreiben  das  buch  der  gehorsam  noch  dem  sel- 
gen  leben  Jesu  Christi  und  der  seligen  Elizabeth  und  irs 
maister  Cunradus.  EXPL.:  und  ich  aht  auch,  datz  dir  aller- 
nütz sey  die  lere  und  anweisung,  des  dein  du  solt  in  allen 
dingen  volgen  an  der  stat  Götz  in  Cristo  Jhesu  Amen,  etc. 
est  finius  huius  libelli.  Dann  von  anderer,  vrenig  jüngerer 
Hand:  Liebew  Barbara  pitt  got  deglich  für  mich,  daz  er  mir 
dy  drey  stuck  verleich,  do  ditz  puchlein  von  sagt,  vor  meinem 
end,  alcz  ich  auch  gern  für  euch  will  piten.  Petrerum  14 
anno  XXX. 

f.  157^  und  158^  leer. 

f.  158^:  Herkunftsvermerk,  vgl.  oben. 


^)  Die  Parenthese  Nachtrag  wohl  derselben  Hand,  am  Schluß  aber 
durch  Zeichen  zu  swester  Margaretha  gewiesen. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.        47 

Im  Bücherverzeichnis  des  Klosters  saec.  XV  folgender- 
maßen beschrieben:  Item  ein  puch,  helt  gar  schon  und  nucz 
lere  von  gehorsam.  Item  das  puchlein  ist  gewest  s wester  Bar- 
bara Werniczerin.  *^) 

Franzlskanepkiostep. 

Vereinzelte  Handschriften  in  Donaueschingen,  Nürnberg 
und  München  Üniv.-Bibl. 

N.-M.  Bibl.  3599. 

Holzband  mit  rot  gefärbtem  Lederüberzug,  1  Schließe. 
Pap.  8  X  10,8  cm.  276  BU.  Kleine,  abkürzungsreiche  Schrift 
saec.  XV.  Ein  eigentlicher  Herkunfts vermerk  fehlt;  auf  ehe- 
malige Zugehörigkeit  zu  einem  Franziskanerkloster  weist  die 
Tatsache,  daß  f.  132^  und  133^  aus  einem  auseinandergeschnit- 
tenen Schreiben  des  Tübinger  Minoritenguardians  Johannes 
Alpart  von  1470  stammen,  auf  Nürnberg  das  Datum  von 
f.  164^;  allerdings  ist  die  Nürnberger  Herkunft  des  ganzen 
Bandes  nicht  sicher. 

f.  1 — 3^:  Tractatus  de  Deo  et  creatura  (wohl  unvollständig). 

INC. :  Effectus  et  operaciones  tue  atque  uni'/erse  sensibilis 
creature.  EXPL.:  spiritu  decipiat  caro  et  ab  exterioribus  re- 
mo  ....  etc. 

f.  4^ — 74^:  Richardus  de  s.  Victore,  De  archa  mystica. 

INC.  rot:  Richard us  de  archa  mistica.  Schwarz:  Surge, 
domine,  et  requiem  tuam  tu  et  archa  mystica.  EXPL.:  ut  su- 
perius  premisimus,  ociosi  ociosis  locuti  sumus  etc.  Finis  Ri- 
chardi  de  s.  Victore  de  archa  mistica. 

f.  75^— 13F:  Hugo  de  Palma  o.  Cisterc,  De  theologia  my- 
stica Hugonis. 

INC.   rot:    Hugo   —  —   —   mistica   Hugonis.     Schwarz: 

Vie  Sion  lugent  eo,    quod  sit  — ,  licet  hoc  verbum  di- 

xerit  Jereraias.  EXPL.:  dedicavit  totaliter  et  communiter(?) 
suas  motibus. 


1)  Vgl.   F.    Jostes,    Meister  JEckhart    und    seine   Jünger,    Freiburg 
(Schweiz)  1895,  S.  156. 


48  P.  Lehmann 

f.  132^ — 148^:  Bonaventura,  Itinerarium  mentis  in  Deum. 

INC.:  Incipit  prologus  itinerarii  mentis  ad  Deum.  In  prin- 
cipio.  Primum  principium,  a  quo  cuncte  illuminaciones.  EXPL.: 
dominus  Deus  in  eternum,  dicat  omnis  populus  Fiat,  fiat.  Amen! 
Explicit  itinerarius  mentis  in  Deum  domini  fratris  Boneventure. 

f.  148^ — 164^:  Johannes  Gerson,  De  theologia  mystica 
practica. 

INC.:  Prologus  Gersonis  in  theologiam  misticam  practice 
conscriptam  sub  duodecim  consideracionibus  sive  industriis. 
Tractantes  in  leccionibus  nostris.  EXPL. :  exsuperantis  omnem 
sensum  dilectus  meus  mihi  et  ego  illi  etc.  Explicit  libellus 
de  mistica  theologia  practica  venerabilis  Johannis  Gerson,  olim 
cancellarii  ecclesie  Parisiensis,  editus  ab  eodem  anno  Domini 
1407  et  recensitus  sive  relectus  et  probatus  ab  eo,  sicut  pro- 
pria  manu  subscripsit  in  exemplari,  quod  ad  Carthusiam  misit 
de  civitate  Lugdunensi  anno  Domini  1422.  ütinam  hie  esset 
ex  illo  rescriptus  sive  correctus,  dum  correxi.  Anno  Domini 
1473  Noremberge. 

f.  164^—190^:  Johannes  Gerson,  De  theologia  mystica  spe- 
culativa. 

INC.  rot:  Prologus  in  theologiam  misticam  magistri  Jar- 
sonis;  prima  parte.  Schwarz:  Penitemini  et  credite  ewangelio. 
EXPL.:  quibus  impeditur,  doctissime  tradiderunt  etc.  Finis 
tractatus  magistri  Johannis  Jarsonis  de  mistica  theologia  spe- 
culativa. 

f.  191  leer. 

f.  193^ — 206^:  Johannis  Sarraceni  translatio  Dionysii  Areop. 
de  mystica  theologia  cum  commentis  Job.  Sarraceni  aliorumque. 

INC.  f.  192^:  Incipit  prologus  in  misticam  theologiam  Jo- 
hannis Sarraceni.  Ante  misticam  theologiam.  INC.  f.  193^: 
Conpresbitero  Thymotheo  Djonisius  presbiter.  Incipit  liber 
Dyonisii    de   mistica  theologia.     Trinitas  supersubstancialis  — 

.    Vercellensis:  0  trinitas  supersubstantialis.     EXPL.:  et 

excessus  eins  ab  omnibus  et  super  omnia  absolutus  etc.  Ex- 
plicit mistica  theologia  beati  Dyonisii. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.         49 

f.  206^ — 222^:  Thomas  Vercellensis,  Commentum  in  mysti- 
cam  theologiam  Dionysii. 

INC.:  Commentum  magistri  Thome  abbatis  Vercellensis 
in  theol.  myst.  Dionysii.  Trinitas  supersubstancialis  etc.  Du- 
plici  modo  ad  Dei  cognicionem  pervenimus.  EXPL.:  excessus 
Dei  absoluti  ab  omnibus  et  eminentis  super  omnia  etc.    Finis. 

f.  223^—240^:  Hugo  (recte:  Robertus)  Lincolnieusis,  Com- 
mentum in  myst.  theol.  Dionysii. 

INC.:  Trinitas  supersubstancialis  et  superdea  et  supermi- 
stica  theologia  et  secretissima  et  non  iam  per  speculum  et 
ymagines.  EXPL. :  nimirum  dictorum  defectus  a  perfectis  be- 
nevole  suppleri.  Amen.  Explicit  commentum  Hugonis  Linco- 
niensis  super  mistica  theologia. 

f.  24P— 255^:  Hugo  de  s.  Victore,  Commentum  in  myst. 
theol.  Dionysii  a  Johanne  Scotto  translatam. 

INC.:  Incipit  Hugonis  de  sancto  Victore  super  translacio- 
nem  Johannis  Scoti  in  misticam  theologiam  beati  Dyonisii  cum 
textu  interlineariter  glozato.  Quid  divina  caligo.  Cap.  1.  Tri- 
nitas  superessentialis  — inspector,    id   est   cognitor   et 

approbator  theosophie.  EXPL.:  eo  sunt  ex  ipso  proinde  com- 
meancia  etc.  Explicit  commentum  Hugonis  de  sancto  Victore 
super  misticam  theologiam. 

f.  256^— 26P:  Robertus  Lincolniensis,  Translatio  myst. 
theol.  Dionysii. 

INC.:  Incipit  translacio  Linconiensis  textus  mistice  theo- 
logie  beati  Dyonisii.  EXPL.:  ab  omnibus  simpliciter  absoluti 
et  ultra  universa.  Explicit  translacio  Linconiensis  textus  mi- 
stice theologie. 

f.  26P— 262^:  Initium  commenti  in  myst.  theol.  Dionysii. 

INC.:  Conpresbitero  Thymotheo  Dyonisius.  In  nostris  ex- 
emplaribus  Grecis  non  fuit  prescriptum  aliquod  epygrama. 
EXPL.:  omnis  intellectualis  sensum  super  excellenciam  causa. 
Sequitur  textus  capituli  I.  Dyonisii  Areopagite  de  mistica  theo- 
logia. 

f.  263,  264  leer. 

Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  u.  d,  bist.  Kl.  Jahrg.  1916,  4.  Abh.  4 


50  P.  Lehmann 

f.  265^—274^:  Augustinus,  De  cognitione  vitae  verae. 

INC.:  Incipit  liber  de  cognicione  vere  vite  per  modum 
dyalogi,  editus  a  beato  Augustino  doctore  incomparabili.  In- 
cipit prologus.  Sapiencia  Dei,  que  os  muti  aperuit.  EXPL.: 
sed  Spiritus  sanctus  columbe  corpus  condidit.  Cui  laus  et  ho- 
nor  et  gloria  in  secula  seculorum.  Amen.  Explicit  Augustinus 
de  cognicione  vere  vite. 

f.  275,  276  leer. 

ÖTTINGEN. 

Gräfliche  Bibliothek. 

Reste  der  Handschriftensammlung  namentlich  in  Maihingen, 
einige  Bände  in  Regensburg,  Bibl.  Thurn  und  Taxis. 

N.-M.  Bibl.  3601. 

Holzband  mit  Schaffellüberzug,  auf  dem  vorn  der  Ver- 
merk saec.  XIV/XV:  de  infantia  salvatoris.  Perg.  14,7  x  22,3  cm. 
107  Ell.  Schöne  Schrift  saec.  XIV  (1336)  mit  roten  Über- 
schriften. 

Zur  Herkunft  vgl.  unten. 

f.  P— 107^:   Hugo  de  Trimberg,  Vita  Mariae  rhythmica 

INC.  rot:  Incipit  prologus  in  vitam  dulcissime  virginis 
Marie,  matris  Jhesu,  filii  Dei  vi  vi,  amen.  Schwarz  mit  roter 
S-Initiale:  Sanctus  Epyfanius  doctor  veritatis.  EXPL.:  Et  igni 
sancti  spiritus  urendum  commendemus  et  maioia  scandala  ta- 
liter  vitemus.     Rot:  Finito  libro  sit  laus  et  gloria  Christo, 

Anno  Domini  millesimo  CCCXXXVI  scriptus  est  liber  iste, 
quem  comparavit  dominus  Chunradus,  scriptor  dominorum  de 
Oetingen,  scilicet  Ludewici  et  Friderici. 

Das  vermutlich  letzte  Werk  Hugos  von  Trimberg  (f  1315), 
das  gereimte  lateinische  Marienleben,  ist  zwar  in  nicht  wenigen 
—  zum  Teil  noch  unbenutzten  —  Handschriften  überliefert 
(z.  B.  Bamberg  E.  VII  60;  Berlin  theol.  Fol.  209  und  483; 
Graz  241,  1133,  1447;  Karlsruhe  Aug.  CCLII,  206;  Maihingen?; 
München  lat.  2651,  3578,  4683,  9546,  9716,  14538,  18361, 
18616,    22252,    23449,    26744;    Seitenstetten   CXLIX;    Zürich 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.       51 

Rhenaug.  173),  und  wirkte  frühzeitig  auch  auf  die  deutsche 
Literatur  des  Mittelalters,  aber  wer  die  Dichtung  verfaßte,  ist 
bis  ins  19.  und  20.  Jahrhundert  fraglich  geblieben.  Als  A. 
Vögtlin  das  Gedicht  1880  herausgab,*)  kannte  er  den  Namen 
des  Autors  nicht.  Erst  F.  Leitschuh  ^)  und  insbesondere  A. 
Jäcklein^)  erwiesen  Hugo  als  den  Dichter,  jedoch  ging  das 
Werk  selbst  danach  gelegentlich*)  noch  als  anonym.  Die  nicht 
mehr  zu  bezweifelnde  Tatsache  von  Hugos  Verfasserschaft  er- 
hellte bisher  einzig  und  allein  aus  dem  Bambergensis,  worin 
sich  Hugo  von  Trimberg  in  einem  den  anderen  Codices  feh- 
lenden Epilog^)  nannte.  Diese  v^ichtigen  Verse  stehen  auch 
in  der  Hs.  des  Nationalmuseums  und  verleihen  ihr,  abgesehen 
von  Alter  und  Herkunft,  ansehnlichen  Wert. 

SCH WARZACH  vgl.  BIRKLINÖEN. 

SPEINSHARD  in  der  Oberpfalz. 
Ppämonstpatenserkloster. 

N.-M.  Bibl.  954. 
Obsequiale  seu  benedictionale  secundum  ritum  dioec.  Pri- 
singensis,  1489  von  Sebaldus  Uczmair  beendet;  deutsche  und 
lateinische  Gebete  saec.  XV  und  XVL  Laut  f.  1«  1602  in 
Speinshard  für  das  oberbayerische  Prämonstratenserkloster  Stein- 
gaden  gekauft. 

STEINGADEN  vgl.  SPEINSHARD. 


1)  Bibliothek  des  literarischen  Vereins  in  Stuttgart.    CLXXX. 

2)  Katalog  der  Handschriften  der  K.  Bibliothek  zu  Bamberg.  I  2 
(1897)  S.  256  f. 

^)  Hugo  von  Trimberg,  Verfasser  einer  Vitae  Mariae  rhythmica, 
Bamberg  1901  (Programm  des  K,  Neuen  Gymnasiums  zu  Bamberg). 

*)  So  bei  V.  Rose,  Verzeichnis  der  lateinischen  Handschriften  der 
K.  Bibliothek  in  Berlin.  II  2  (1903)  S.  859,  so  bei  den  modernen  Bol- 
landisten,  Bibliotheca  hagiographica  latina.    Suppl.  (Brüssel  1911)  p.  212. 

5)  61  Verse,  vgl.  Jäcklein  S.  31  f. 

4* 


52  P.  Lehmann 

TEGERNSEE. 

SchafTnerei  des  Benediktinerklosters. 

N.-M.  Bibl.  1502. 

Kalender,  Kocli-  und  Fischbncli,  deutsch-lateinisch,  saec.  XV/ 
XVI.  Vgl.  A.  Birlinger,  Kalender  und  Kochbüchlein  aus 
Tegernsee:  Germania,  hsg.  von  F.  Pfeiffer,  IX  (1864)  S.  192 
— 207;  Tegernseer  Angel-  und  Fischbüchlein:  Zeitschrift  für 
deutsches  Alterthum.    N.  F.  II  (1867)  S.  162-179. 

TRIEFENSTEIN  in  ünterfranken. 

N.-M.  Bibl.  953. 
Sermones  de  tempore  et  sanctis,  saec.  XV. 

WÜRZBÜRG. 
Franziskanerkloster. 

Ungefähr  150  mittelalterliche  Handschriften  im  heutigen 
Minoritenkloster  zu  Würzburg,  einzelne  Bände  in  Gotha  und 
in  der  TJniversitäts-Bibliothek  Würzburg. 

N.-M.  Bibl.  3612. 

Holzband  mit  Schaffellüberzug  und  erhaltener  Kette.  Auf 
dem  Hinterdeckel  ein  Signatur-B,  darunter  Pergamentzettel  mit 
der  Aufschrift  saec.  XV:  Tractatus  XII  et  alia  pulchra  vide 
tabulam  in  principio  libri.  Pap.  13,5  x  21  cm.  211  Bll.  Zwei- 
spaltig von  verschiedenen  Händen  saec.  XV  beschrieben.  Her- 
kunft erhellt  aus  den  Schlußsätzen  des  Vorsatzblattes,  das  ein 
altes  (saec.  XV)  Inhaltsverzeichnis  des  Bandes  enthält.  INC.: 
Tabula.  1.  Primo  tractatus  de  creacione.  EXPL.:  Explicit 
tabula  tractatuum  huius  libri  et  sunt  13  in  toto.  Collector 
huius  libri  fuit  frater  Johannes  Sinttram,  lector  et  filius  con- 
ventus  Herbipolensis. 

f.  1 — 59^^:  Articuli  31  de  creatione  vel  reparatlone. 

INC.:  Postquam  superna  sapiencia  ea,  que  in  ipso.  EXPL. 
f.  59^^:   nos  faciat  ipse  Samaritanus,  piissimus  Jesus  Christus, 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.        53 

rex  angelorum.  qui  cum  patre  et  spiritu  sancto  vivit  et  regnat 
in  secula  seculorum.  Amen.  Rot:  Incipit  tabula  articulorum 
huius  tractatus.  In  primo  articulo  tractat  de  hominis  forma- 
cione.  EXPL.  f.  59^^:  status  mundus  est  perfeccior  quam,  si 
homo  non  peccasset  etc. 

f.  59^^ — 7P^:  Tractatus  de  quadruplici  homine. 

INC.:  Gloria  et  honore  coronasti  eum  —  —  — .  Criso- 
stomus  inquit  super  Math.  6.  Animalia  fecit  Deus.  EXPL.: 
lumen  veritatis  ministrent.  Explicit  tractatus  de  quadruplici 
homine. 

f.  71RA-VB.  Tractatus  de  homine  spirituall. 

INC.:  Homo  spiritualis  debet  esse  compositus  ex  proprie- 
tatibus  diversorum  animalium.  Sed  dicit.  EXPL.:  pregustan- 
do  in  singulis  te  dilata,  sed  materiam  precedente  etc. 

f.  72  leer. 

f.  73^^—80^^:  Marquardus  de  Lindau,  Tractatus  de  praemio 
patriae. 

INC. :  Incipit  tractatus  de  premio  patrie  Marquardi  de  Lyn- 
dowia,  quondam  ministri  provincie  Argentine  fratrum  minorum. 
Reddet  Deus  mercedem  laborum  sanctorum.  EXPL.:  in  mul- 
titudine  et  in  requie  opulenta  usque  in  sempiternum  etc.  Ex- 
plicit tractatus  de  premio  patrie,  bonus  et  subtilis,  scriptus 
per  manus  fratris  Johannis  Sintram  in  Argentina.  Sequuntur 
aliquae  de  morte  predicabilia  in  die  animarum  etc. 

f.  80^^ — 81^^:  Descriptio  mortis  per  tres  pMlosophos. 

INC.:    Descriptio .     Querunt  philosophy  et  ma- 

gistri,  qui  convenerunt,  ut  mortem  describerent.  EXPL. :  dixit 
philosophus  Aristoteles:  Terribilissimum  omnium  est  mors. 

f.  81^^—86^^:  Marquardus  de  Lindau (?),  Tractatus  de  no- 
bilitate  corporis  et  animae  Christi. 

INC.:  'Gavisi  sunt  discipuli  viso  domino'  Jo.  20.  Inquit 
venerabilis  doctor  sanctus  Bernhardus  '0  dulcissime  Jhesu'. 
EXPL. :  non  poterant  esse  ociose  etc. 

In  verschiedenen  anderen  Codices,  z.  B.  Berlin  theol. 
F.  157,  Marquardus  von  Lindau  zugeschrieben.    Vgl.  die  auch 


54  P.  Lehmann 

in  der  Handschrift  als  zusammengehörig  bezeichneten  Traktate 
auf  f.  122^    158  sqq. 

f^  86^^ — 94^^:  Marquardus  de  Lindau,  Tractatus  de  poenis 
iuferni. 

INC.:  Tractatus  de  penis  inferni.  Querebant  eum  inter 
cognatos  et  notos.  EXPL.:  suffragia  iuvare  possunt,  ideo  nee 
pro  eis  orat  etc.     Est  finis  tractatus  de  penis  inferni. 

Marquardus  von  Lindau  als  Verfasser  in  Berlin  theol.  F.  157. 

f.  95^^ — 106^^:  Marquardus  de  Lindau,  Tractatus  de  nobi- 
litate  creaturarum. 

INC.:  Incipit  tractatus  de  nobilitatibus  creaturarum.  'Si 
congnovisses  et  tu'  Luc.  Augustinus  dicit  *0  anima  mirabilis'. 
EXPL.:  et  crescant  donorum. 

Marquardus  von  Lindau  als  Verfasser  z.  B.  in  Berlin  theol. 
F.  157. 

f.  106^^-— 12F;  Tractatus  de  perfectione  interioris  hominis. 

INC.:  Incipit  tractatus  de  perfeccione  interioris  hominis. 
Rot:  De  instinctibus.  Schwarz:  Semen  cecidit  in  terram  bo- 
nam.  EXPL.:  quam  coronam  mereri  concedat  Christus,  qui 
sine  crimine  purus  vivit  et  regnat.  Amen.  Amen.  Explicit 
tractatus  optimus  de  perfeccione  interioris  hominis.  Detur  pro 
pena  scriptori  pulchra  puella. 

f.  122^^-^^:  Tractatus  de  nobilitate  corporis  et  animae 
Christi. 

INC.:  'Gavisi  sunt  discipuli  viso  domino',  Jo.  Inquit  doc- 
tor  sanctus  Anshelmus  '0  dulcissime  Jesu,  quando  videbo'. 
EXPL.:  concepit  flatu  spiritus  sanctus,  dicit  etiam  Crisostomus. 

Vgl.  oben  zu  f.  81^  sqq. 

f.  123^^—133^^:  Tractatus  de  quinque  sensibus. 

INC.  rot:  Incipit  tractatus  de  5  sensibus,  quomodo  pre- 
miabitur  in  eterna  beatitudine.  Schwarz:  Sed  ecce  doctor 
eximius  Hugo  de  arra  anime  hoc  idem  in  anima  aspiciens. 
EXPL.:  in  eis  positis  singula  affirmat.  Explicit  tractatus  V 
sensuum. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.        55 

f.  133^^ — 144^^:  Tractatus  super  'Exurgens'  et  super 
'Magniücat'. 

INC.  rot:  Incipit  tractatus  —  —  — .  'Exurgens  autem 
Maria  abiit  in  montana',  Luc.  1.  Quod  virtus  quelibet.  EXPL.: 
de  hoc  require  in  tractatu  magno  'Exurgens  autem  Maria  etc.' 
vel  alibi  de  Maria  et  illis  virtutibus  presignatis. 

f.  145ßA— i5ivß.  Tractatus  de  patientia  Job. 

INC.  rot:  Tractatus  — .     Schwarz:  Per  multas  tri- 

bulaciones  oportet  nos.  EXPL.:  in  tribulacione  fratres  salutis 
eterne  consequitur.  Hoc  parat  nobis  qui  cum  patre  et  spiritu 
sancto  vivit  et  regnat.    Amen. 

f.  152^^—158:  Tractatus  de  modo  loquendi  et  tacendi. 

INC.  rot:  Tractatus .     Schwarz:  Inicio  et  medio 

ac  fini  mei  tractatus  assit  gratia  sancti  Spiritus.  Quoniam  in 
dicendo  multi  errant.  EXPL.:  predicta  tibi  narrata  et  ad  eterna 
gaudia  nos  faciat  pervenire.    Amen. 

f.  159^^— 160^^:  Tractatus  de  lineamentis  et  membris  Bei 
et  de  motibus  animae. 

INC.  rot:  Tractatus .    Schwarz:  Omnipotens  Deus 

pater  et  filius  et  spiritus  sanctus  nunc  itaque  trinus.  EXPL.: 
ubi  dicitur,  penitus  me  fecisse  eos  scilicet  homines. 

VgL  oben  zu  f.  81"^  sqq. 

f.  161^^—164^^:  Franciscus  de  Mayronis,  Tractatus  de 
articulis  fidei. 

INC.  rot:  Franciscus  de  Maronis  de  articulis  fidei.  Schwarz: 
Circa  articulos  fidei  est  sciendum.  EXPL. :  de  vita  eterna,  quam 
certissime  credimus  eternam.    Amen. 

f.  164^^—190^^:  Tractatus  de  decem  praeceptis. 

INC.  rot:  Incipit  tractatus  de  X  preceptis.  Schwarz:  Bea- 
tus  homo,  quem  tu  erudieris.  EXPL.:  vel  indulgeri  in  parte 
vel  in  toto,  quod  liberatur,  si  tria  concurrunt. 

f.  199^—211  leer. 

N.-M.  Bibl.  3631. 

Holzband  mit  rotem  Lederüberzug  und  erhaltener  Kette. 
Auf  dem  Vorderdeckel  Titelzettel  saec.  XV:  Duo  boni  tractatus 


56  P.  Lehmann 

de  confessionibus  audiendis;  materia  bona  predicabilis ;  de  in- 
dulgenciis  sancti  Francisci;  item  de  sacramento  multa  bona. 
Pap.  und  Perg.  10,8  x  15,4  cm.  174  Bll.  (viele  andere  fehlen 
jetzt).     Von  mehreren  Händen  saec.  XIV  und  XV. 

f.  1^—26^:  Tractatus  de  confessionibus  audiendis. 

INC.  rot:  Primus  tractatus  de  confessionibus  audiendis. 
Schwarz:  Ut  fratres  officium  confessionis  habentes.  EXPL.: 
quod  se  facturum  dictus  Jo.  efficaciter  repromisit  etc.  Datum 
anno  octavo  Kai.  Augusti  pontificatus  nostri  anno  V.  Sit  laus 
et  gloria  Christo. 

Darunter  von  derselben  Hand  wie  das  Vorige:  Anno  do- 
mini  MCCCLXHII  in  festo  pentecostes  sollempniter  peractum 
est  capitulum  provinciale  in  Herbipoli  per  fratrem  Albertum 
provincialem  ^)  et  in  festo  assumpcionis  beate  virginis  ante  pre- 
dictum  capitulum  intravi  in  ordinem  et  eodem  anno,  quando 
intra  ordinem (1  Zeile  radiert). 

f.  26^— 28^:  Wiederholung  saec.  XIV  ex.  der  ersten  3  Blätter 
des  vorhergehenden  Traktats,  nachträglich  gestrichen. 

Verloren  ein  Tractatus  canonum  f.  29 — 62  der  früheren 
Zählung. 

f.  29^— 91^  105—113,  122— 147^  156—174:  Sermones 
de  tempore  et  sanctis  und  Themata  sermonum. 

INC.:  In  pasceve.  'Jesu  clamans  voce  magna  etc.'  Vere 
dominus  hodie  dedit  voci  sue  vocem  veritatis.  EXPL.  f.  174^: 
Ovis  est  reportata  a  pastore,  quia  (Text  bricht  ab). 

f.  91^  92  leer. 

f.  93^ — 96^  saec.  XV:  Tractatus  de  paenitentia. 

INC.:  Quicunque  falsificavit  bullam.  EXPL.:  per  sedem 
apostolicam  est  confirmata. 

f.  96^  leer. 

f.  97«— 101^:  Notata  de  absolutione. 


1)  Albert  von  Marbach  1359—1372  Provinzial  der  oberdeutschen 
Minoritenprovinz,  vgl.  K.  Eubel,  Geschichte  der  oberdeutschen  (Straß- 
burger) Minoritenprovinz,  Würzburg  1886,  S.  163  f. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.        57 

INC.:  Nota,  quod  nullus  sacerdos  potest  absolvere  a  rai- 
nori  execracione.     EXPL.:  hie  est  remittendus  ad  curiam  etc. 

f.  101^ — 104^:  Inlialtsverzeicliiiisse  des  ganzen  Bandes  und 
der  einzelnen  Predigten  saec.  XV. 

INC.  rot:  Prima  tabula  est  generalis  super  tractatus  et 
sermones  istius  libri.  Schwarz:  folio  1  tractatus  de  confessio- 
nibus  audiendis.     EXPL.:  Sequitur  folio  159. 

f.  141  —  177  der  alten  Zählung  fehlen. 

f.  108^ — 113^:  Tractatus  secundus  de  confessionibus  audi- 
endis (unvollständig).  INC.:  Sit  purum,  ut  nee  morari.  EXPL.: 
nunquam  scire  desideres.     Omne  genus. 

f.  114^:  Lateinische  und  deutsche  Namen  der  Wochentage 
saec.  XV. 

INC.:  Sol  Sunntag.     EXPL.:  Saturnus  Samstag. 

f.  114^— 119^:  Lateinisch-deutscher  Tractat  De  cursu  pla- 
netarum. 

INC.:  Moventur  autem  omnes  planete  duplici  motu  etc. 
Ein  ieclich  planet  het  zwen  louf,  der  erst  ist  sin  natürlicher 
louf.     EXPL.:  daz  ist  dez  planeten  hus,  der  da  heizzet  Mars. 

f.  120«  leer. 

f.  120^—121«:  Abschrift  saec.  XV  der  Bulle  Clemens  IV. 
für  die  Minoriten,  20.  Juni  1265  (Potthast,  Reg.  19216). 

INC.:  Clemens  papa  quartus  —  —  — .  Quidam  temere 
sentientes.  EXPL.:  se  noverit  incursurum.  Datum  Perusii 
XII.  Kai.  Julii  pontificatus  nostri  anno  primo.  Rot:  Bulla 
prescripta  est  in  conventu  fratrum  minor  um  in  Herbipoli,  quod 
ipsi  sunt  privileigiati(!)  a  sede  apostolica  predicare  et  etiam 
confessiones  audire  irrequisitis  plebanis  etc.  Eciam  volentes 
eis  confiteri  licenciam  habent  a  sede  apostolica.  Hec  frater 
Johannes  Sinttram,  lector  vocatus  et  confrater  domus  Herbi- 
polensis.     Anno  1437  in  vigilia  ascensionis  Domini  etc. 

f.  121^:  Do  fratre  perverse. 

INC.  rot:  Frater  perversus.  Schwarz:  0  frater  velox  ad 
mensam,  tardus  ad  ecclesiam.  EXPL.:  religiosum  demoniacum 
et  Christianum  antechristum. 


58  P.  Lehmann 

f.  148^—140«  leer. 

f.  149^  —  154^:  Indulgentiae  ordinis  sancti  Francisci. 

INC.  f.  149"^:  Hec  est  indulgencia  ordinis.  Nota:  Ego 
frater  Nycolaus,  procurator  ordinis.  EXPL.  f.  149^:  a  sex 
Romanis  pontificibus  XV  anni  M  et  CG  dies.  Numerus  secun- 
dum  alphabetum.  A  signat  —  —  — ,  X  decem,  yclz  mille. 
INC.  f.  150^:  De  indulgenciis  quam  impetravit  beatus  Fran- 
ciscus.  Cum  staret  beatus  Franciscus  apud  sanctam  Mariam 
de  Portiuncula.  EXPL.  f.  154^"^:  qui  interfuerunt  predicte  de- 
nuncciacioni  beati  Francisci  et  episcoporum.  Hoc  idem  testa- 
tur  dominus  papa  et  multi  alii  etc. 

Beide  hier  beschriebene  Handschriften  der  Würzburger 
Minoriten  hängen  mit  Johann  Sintram  zusammen,  der  in  ver- 
schiedenen Franziskanerklöstern  Deutschlands,  Frankreichs  und 
Englands  wirkte  und  „zahlreiche  Urkunden  seines  unermüdeten 
Fleißes  auf  Pergament  und  Papier"  hinterließ,  als  er  1450  in 
Würzburg  starb.  ^)  Von  ihm  geschriebene  Codices,  außer  den 
unbeachtet  gebliebenen  des  Nationalmuseums,  befinden  sich 
noch  jetzt  im  Minoritenkloster  zu  Würzburg.  ^) 

Unbestimmtes  Würzburger  Archiv. 

N.-M.  Bibl.  1182. 

Neuer  Pappband  mit  altem  Pergamentüberzug.  Pap.  22 
X  32,6  cm.     67  Bll.     Zweispaltig  saec.  XV  beschrieben. 

Von  M.  J.  V.  Reider  in  Würzburg  aus  der  Bibliothek  von 
Heffner  gekauft. 

f.  1^—67^^:  Lupoldus  de  Bebenburg,  Liber  privilegioram 
ecclesiae  Herbipolensis. 

INC.  rot:  <I>ncipit  liber  privilegiorum  per  divos  impera- 
tores  et  reges  Herbipolensis  ecclesie  concessorum  sub  anno  Do- 
mini MCCCXLVI  in  Dei  nomine  inchoatus.     (C>um   privilegi- 


»)  Vgl.  Reuß  im  Serapeum.  VI  (1845)  S.  165.  K.  Eubel,  Geschichte 
der  oberdeutschen  Minoritenprovinz,  S.  35.  P.  Minges,  Geschichte  der 
Franziskaner  in  Bayern,  München  1896,  S.  20. 

2)  Vgl.  H.  Haupt  in  Birlingers  Alemannia.    XIII  (1885)  S.  146  f. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums.        59 

orum  per  divos  imperatores  et  reges  ecclesiis  concessorum  iio- 
ticia.  EXPL.:  der  geben  ist  zu  Tryer  nach  Cristi  geburt  XlIP 
darnach  in  dem  vierundfuntzigstem  iare  an  sand  Mathias  abende, 
des  heiligen  zweifboten,  in  dem  achten  iar  unserer  riebe. 

f.  67^  leer. 

Original  und  2  Kopien  dieses  Werkes  im  K.  Kreisarchiv 
zu  Würzburg.  ^)  Die  Münchener  Handschrift  bisher  nicht  be- 
achtet. 

Nachtrag  und  Berichtigung. 

Zu  S.  26  Z.  3  f.  Beide  Zeilen  kommen  so  und  ähnlich 
auch  in  anderen  Handschriften  vor.  Vgl.  W.  Wattenbach, 
Das  Schriftwesen  im  Mittelalter,  Leipzig  1896,  S.  505  und  509, 
und  K.  0.  Meinsma,  Middeleeuwsche  Bibliotheken,  Zutphen 
1903,  S.  170.  Mit  Meinsma,  der  zu  dieser  Stelle  Wattenbach 
nicht  zitiert,  an  Schreibkünstler  zu  denken,  die  wie  der  Maler 
Cornelis  Ketel  mit  den  Zehen  arbeiteten,  geht  doch  wohl  nicht 
an.  Wattenbach  sieht  S.  509  meines  Erachtens  mit  vollem 
Recht  in  jenen  beliebten  Versen  „ein  frostiges  Spiel  mit  der 
verschiedenen  Quantität  von  manus  und  manes^.  Die  guten 
Geister  fehlten  dem  Schreiber  bei  seiner  Tätigkeit,  nicht  die 
Hände. 

S.  12  Z.  7  lies  Johanne  statt  Johannae. 


^)  Vgl.  Hermann  Meyer  in  den  Studien  und  Darstellungen  aus  dem 
Gebiete  der  Geschichte  hsg.  von  H.  Grauert.  VH  1  und  2  (Freiburg  i.  B. 
1908)  S.  124  f. 


60 


P.  Lehmann 


Register. 


Ablaß,  Ablaßbriefe  S.  6,  17, 18,  24,  58. 
Abloessung,  Von  der  —  unsers  herren 

S.S. 
Absolutio.     Notata  de  —  S.  56. 
Accessus  ad  Ciceronis  lib.  de  officiis 

S.  32. 
Aegidius  de  regimine  principum.  Com- 

pendium  ex  libro S.  27. 

Albertus  Magnus  S.  15. 

Alexander  de  Villa  Dei,  Doctrinale 

S.  40. 
Alpart  vgl.  Johannes. 
Alphorabius,  Comm.  in  Aristotelis  lib. 

de  causis  S.  31. 
Altäre  in  Yphofen  S.  19. 
Altenburg  in  Bamberg  S.  10. 
Antiffner.   Die  12  — ,  die  man  singt 

über  das  Magnificat  S.  5. 
Antonius  Andreae  super  lib.  Aristo- 
telis metaphys.  S.  30. 
Antonius  de  Rotenhan,  ep.  Bamberg. 

S.  10. 
Aristoteles. 

Aenigmata  S.  26. 

De  causis  cum  comm.  S.  31. 

Ethica  S.  40. 

Metaphysica    vgl.    Antonius   An- 
dreae. 

Oeconomica  S.  40. 

Parva    philosophia    moralis    cum 
comm.  S.  28. 

Physica  cum  comm.  S.  30. 
Tractatus  super  phys.  S.  30. 


Politica  S.  40. 

Praedicamenta  cum  comm.  S.  28. 
Vgl.  auch  Augustinus  deFerrara. 

Rethorica  S.  40. 

Sentenzen  aus  Ar.  S.  13. 
Articuli  vgl.  Creatio. 
Arzneibuch  S.  5. 

Augustinerklöster.    Formeln  für  re- 
formierte —  S.  18. 
Augustinus  Alveld.,  Tractatus  de  re- 

gula  S.  Clarae  S.  8. 
Augustinus  de  Ferrara. 

Quaestiones  super  Aristotelis  lib. 
praedicamentorum  S.  29. 

Quaestiones  super  Porphyrii  isa- 
gogen  S.  29. 
Augustinus  (Mediolan.). 

Auszüge  aus  —  S.  12. 

De  cognitione  vitae  verae  S.  50. 
Avicenna.   Epistola  resp.  ad  s.  Augu- 

stinum  S.  36. 

Balthasar  Monaci  aus  Volkach,  Birk- 

linger  Chorherr  S.  11,  12,  17,  18, 

19,  20. 
Bamberg  S.  7  ff. 

Bischöfe: 

Antonius  de  Rotenhan  S.  10. 
Henricus  S.  10. 
Lampertus  de  Brun  S.  9. 

Blitzschla,g  S.  10. 

Buchbinder  vgl.  Conradus  Haller- 
dorfer. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums, 


61 


Clarissenkloster  S.  7  f. 

Domkirche  S.  9  f. 

Esel,  Haus  zum  —  S.  10. 

Hussiten  vor  —  S.  9. 

Keslergas  S.  10. 

Matutinale  S.  9. 

Rippa  S.  10. 

Schreiber  vgl.  Friedrich  Gerbers- 
dörffer. 

Überschwemmungen  S.  9  f. 
Barbara  Werniczerin  S.  46,  47. 
Beichtspiegel  S.  5. 
Benedictio  episcopalis  S.  18. 
Benedictionale  Frising.  diocesis  S.  51. 
Benediktbeuern  S.  10  f. 
Bergwerke  vgl.  Villach. 
Bernhardus  Gui  S.  16. 
Bernhardus    Silvestris,    Epistola    de 

gubernatione  rei  familiaris  S.  36. 
Bettelbriefe  S.  37,  38. 
Beuerbach  S.  5. 
Biblia. 

Prophetae  vet.  testam.  atque  nov. 
testam.  S.  4. 

Historienbibel  S.  5. 

B.  pauperum  S.  5. 
Bibliotheken  und  Archive,   Mittelal- 
terliche. 

Bamberg  S.  7  ff. 

Benediktbeuern  S.  10  ff. 

Birklingen  S.  11  ff. 

Cadolzburg  S.  22  ff. 

Ebrach  S.  24. 

Himmelkron  S.  25. 

lUschwang  S.  25. 

Ingolstadt  S.  25  ff. 

Nürnberg  S.  41  ff. 

Öttingen  S.  50  f. 

Speinshard  S.  51. 

Steingaden  S.  51. 

Tegernsee  S.  52. 

Triefenstein  S.  52. 

Würzburg  S.  52  ff. 


Birklingen,  Augustinerchorherrenstift 

S.  11  ff. 
Blitzschlag  vgl.  Bamberg. 
Bonaventura,   Itinerarium  mentis  in 

Deum  S.  48. 
Breviarium  S.  4,  25. 
Briefstilkunst  S.  5,  31,  35. 
Brigitte.     Register  über  die  Bücher 

der  heil.  —  S.  19. 
Buchbinder  vgl. ConradusHallerd orfer. 
Bücherverzeichnisse  S.  11,  24. 
Burlej  vgl.  Gualtherus. 

Cadolzburg  S.  22  ff. 
Caritas  Pirkheimer  S.  45. 
Caritas.     De  —  S.  4. 
Cartusienses.  Excerptum  de  ordine  — 

S.  13. 
Cassianus  S.  26. 
Catalogus  alphab.  lib.  bibl.  mon.  Be- 

nedictoburani  S.  11. 
Christus. 

Von  der  abloessung  unsers  herren 
S.  5. 

Erdichteter  Christusbrief  S.  19. 

De  nobilitate  corporis  et  animae 
—  S.  54. 

Utrum  saepe  vel  raro  sit  acceden- 
dum  ad  corpus  —  S.  25. 

Genealogie  S.  13. 
Chorbuch  S.  7. 

Chroniken  S.  4,  14,  14,  17,  41  f. 
Cicero. 

De  amicitia  S.  32,  34. 

Pro  Archia  poeta  S.  33. 

De   officiis  (Lat.  Text,   Deutsche 
Übersetzung u.Accessus)  S.32f. 

De  senectute  S.  32,  33. 

Somnium  Scipionis  S.  32,  35. 

Tuscul.  quaestionum  libri  S.  33. 
Ciarissen  vgl.  Bamberg  und  Nürnberg. 
Clemens  IV.,  Bulle  für  die  Minoriten 

S.  57. 


62 


P.  Lehmann 


Comoedia.     De  —  S.  38. 
Confessiones.    De  —  audiendis  S.  56, 

57. 
Conradus  (Chonradus,  Chunradus,  Con- 

radt). 

—  Grünhover,  Pfarrer  in  Illschwang, 
Buchschreiber  S.  25. 

—  Hallerdorfer,  Bamberger  Franzis- 
kaner, Buchbinder  S.  7,  8. 

— ,  Schreiber  der  Grafen  Ludwig  und 
Friedrich  von  Öttingen  S.  58. 

Creatio.  Articuli  31  de  —  vel  repa- 
ratione  S.  52. 

Creatura  vgL  De  Deo. 

Cupido.  Triumphus  —  vgl.  Gregorius 
Tifernus. 

David  Anglicus  S.  15. 

Deus.    De  —  et  creatura  S.  47. 

Deutsche  Texte  S.  5  f.,  32,  33,  41-46. 

Diebolt  Lauber  S.  6. 

Dionysius  Areopagita  S.  48  f. 

Dominikaner. 

Chroniken    und     Chronikalisches 
S.  14  f. 

Gelehrtengeschichte  S.  15  f. 
Dominikanerinnen  vgl.  Nürnberg. 
Durandus,  Rationale  divinorum  S.  5. 

Ebrach  S.  24. 

Eckart.     Sprüche  Meister  —  S.  5. 

Elemente,  Über  die  4  —  S.  5. 

Epistolographie  S.  35. 

Erhardus  Ventimontanus  (Windsber- 

ger)  S.  33,  35. 
Exurgens.    Tractatus  super  —  S.  55. 

Fabulae.     De  —  poetarum  S.  33. 
Familienleben.     Sentenzen  über  die 

Tugenden  des  —  S.  30. 
Fichetus  vgl.  Guilhelmus. 
Fischbuch  S.  52. 
Franciscus  de  Mayronis. 

De  articulis  fidei  S.  55. 


De  esse  et  essentia  S.  31. 

Franciscus  de  Monte  Leonis,  Modus 
dictaminis  S.  5. 

Frankenthal  S.  18. 

Franziskaner. 

Chroniken  S.  41  f. 
Vgl.    auch    Ablaß    (S.   58),    Cle- 
mens IV.,   Görlitz,  Ingolstadt, 
Nürnberg,  Würzburg. 

Frater  perversus.     De S.  57. 

Freising  vgl.  Benedictionale. 

Friedrich,  Markgraf  S.  21. 

~  GerbersdörfiFer,     Franziskaner, 
Beichtvater  der  Bamberger  Cia- 
rissen, Buchschreiber  S.  7  f. 

Gebete  S.  5,  6,  19. 

Gebetbuch  angeblich  Herzog  Wil- 
helms III.  von  Bayern  S.  6. 

Gedächtniskunst  vgl.  Hans  Hartlieb. 

Gehorsam.     Buch  des  —  S.  46. 

Geltendorf  S.  5. 

Gericht.  Gedicht  vom  jüngsten  — 
S.  5. 

Gerson  vgl.  Johannes. 

Görlitz,  Franziskanerkloster  S.  28  ff. 

Gotschalcus,  prof.  et  praed.  Erfordi- 
ensis  S.  21. 

Gräflfing  S.  5. 

Grammatellus  S.  36. 

Granarium.     Registra  —  S.  4  f. 

Gregorius  Tifernus,  Triumphus  cupi- 
dinis  S.  36. 

Gualtherus  Burlaeus,  De  vita  et  mo- 
ribus  philosophorum  S.  25. 

Gui,  Bernhard  vgl.  Bernhardus. 

Guilhelmus  Fichetus  S.  32. 

Güterregister  S.  23. 

Hartlieb,  Hans.  Gedächtniskunst  S.  5. 
Heide,  Kapelle  zu  der  —  S.  24. 
Heidenfeld  S.  18,  20. 
Heinrich,  Bischof  von  Bamberg  S.  10. 
Heinrich,  König.     Bild  —  —  S.  46. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalrauseuras. 


63 


Heinrich  Seuse  S.  15. 
Herzleid  vo^l.  Maria. 
Hildesheim,  Schulen  S.  37, 
Himmelkron  S.  25. 
Hoeningen  S.  18. 
Hohefeld  S.  20. 
Holkot  vgl.  Robertus. 
Homerus  lat.  S.  34. 
Homo. 

De  quadruplici  —  S.  53. 

De  —  spirituali  S.  53. 
Horatius  S.  13. 
Hugo  Lincolniensis,  Comm.  in  theol. 

myst.  Dionysii  S.  49. 

—  de  Palma,  De  theol.  myst.- S.  47. 

—  de  Trimberg,  Vita  Mariae  rhyth- 
mica  S.  50  f. 

—  de  S.  Victore,  Comm.  in  theol. 
myst.  Dionysii  S.  49. 

Hussiten  S.  9. 

Jacob  Peck  in  der  Keslergas  zu  Bam- 
berg S.  10. 

Jahrtage  S.  24. 

lllschwang  S.  25. 

Indulgentiae  vgl.  Ablaß. 

Ingolstadt  S.  25  ff. 

Innocencius  de  Wienna  (Wien)  S.  21. 

Interpunktionslehren  S.  34. 

Johannes  Alpart,  Guardian  der  Tü- 
binger Minoriten  S.  47. 

—  V.  Bingen,  Schulmeister  S.  35,  39. 

—  Chrysostomus.     De  —  —  S.  13. 

—  Gerson,  De  theologia  mystica 
practica  S.  48. 

—  — ,  De  theologia  mystica  specu- 
lativa  S.  48. 

—  de  Lapide,  Briefe  S.  32. 

—  Lilius,  0.  ff.  min.,  Tractatus  logi- 
cales  S.  27. 

—  Linck,  Buchschreiber  S.  5. 

—  Mathias  Tiber.,  Epitaphium  Simo- 
nis m.  Trid.  S.  13. 


Johannes    Meyer,    Dominikaner   aus 
Zürich,  Ordensgeschichtliche,  ge- 
lehrtengeschichtliche  Werke 
S.  14  ff.,  22. 

—  Nigri  S.  14. 

—  Saracenus,  Translatio  Dionysii 
Areop.  de  myst.  theol.  cum  comm. 
S.  48. 

—  Scottus  S.  49. 

—  Sintram,  süddeutscher  Minorit, 
Buchschreiber  S.  52,  53,  57,  58. 

—  Taler  S.  37. 

—  Tauler  S.  15. 

—  Zisler,  alias  Rüttenauer  S.  12. 

Kaiendarien  S.  7,  25,  52. 

Kalender.    Traktat  über  den  —  S.  5. 

Karoch  vgl.  Samuel. 

Kaufering  S.  5. 

Kelche  S.  24. 

Kirschgarten  S.  18,  20. 

Kochbuch  S.  52. 

Kölner  ünterrichtswesen  S.  37. 

Kopialbuch  von  Cadolzburg  S.  23. 

Kressin  vgl.  Margarethe. 

Kunstbücher  S.  4. 

Lampertus  de  Brun,  Bischof  von  Bam- 
berg S.  9. 
Landsberg  a.  L.  S.  5. 
Lauber  vgl.  Diebolt. 
Leben   der  Heiligen   Franciscus  und 

Elisabeth  S.  5. 
Leib  und  Seele,  Streitgedicht  zwischen 

S.  5. 

Leipzig,  Universität. 

Begrüßungsrede  an  eine  Gesandt- 
schaft Philipps  von  Burgund 
S.  33. 

Bettelbriefe  u.  dergl.  S.  37  f. 
Lentulus,  Epistola  —  Romani  S.  19. 
Ligwa  materna,   tu   disce  sequencia 

scripta.     Gedicht  dieses  Anfangs 

S.  5. 


64 


P.  Lehmann 


Lilius  vgl.  Johannes. 

Linck  vgl.  Johannes. 

Lineamenta.  Tractatus  de  —  et  mem- 
bris  Dei  et  de  motibus  animae 
S.  55. 

Loqui.  Tractatus  de  modo  —  et  ta- 
cendi  S.  55. 

Ludovicus  Pistoris  sive  Stolz,  in  Gör- 
litz studierender  süddeutscher  Mi- 
norit,  Bücherschreiber   S.  28 — 31. 

Lupoldus  de  Bebenburg,  Liber  privi- 
legiorum  ecclesiae  Herbipolensis 
S.  58. 

Machometus.     Historia  —  S.  26. 
Magnificat,  Tractatus  super  —  S.  55. 

Vgl.  auch  Antiffner. 
Margarethe  Kressin  S.  45  f. 
Maria. 

Gebete  an  ~  S.  19. 

Genealogie  —  S.  13. 

Von   dem  grossen  herzlaid  unser 
lieben  frawen  S.  5. 

Verse  über  —  S.  13. 

Vita  —   vgl.  Hugo  de  Trimberg. 
Marquardus  de  Lindau. 

De  nobilitate  corporis  et  animae 
Christi  S.  53. 

De  nobilitate  creaturarum  S.  54. 

De  poenis  inferni  S.  54. 

De  praemio  patriae  S.  53. 
Martinus  Polonus,  Chronicon  S.  4. 
Matutinale  Bambergense  S.  9, 
Medizinisches  S.  5.  Vgl.  auch  Arznei- 
buch, Pestseuchen,  Rezepte. 
Mensch.     Wie   ain   —  in   diser  zeit 
.     sein  leben  mocht  schicken   S.  5. 

Vgl.  auch  Homo. 
Messe.  Kurcze  1er  und  unterweissung, 

was  der  mensch  sull  versten  bey 

den  dingen,  die  da  geschehen  in 

der  —  S.  5. 
Meßgewänder  S.  24. 
Meyer  vgl.  Johannes  M. 


Miniaturen  S.  4. 

Mors.     De  —  S.  4. 

München,  Franciscanerkloster  S.  30. 

Münster-Schwarzach  S.  11  f.,  17. 

Musterbriefe  S.  38. 

Mystische  Traktate  S.  5  f. 

Necrologisches  S.  7,  23. 

Nicolaus    Glaßberger,     Chroniken 

S.  41  ff. 
—  de  Lyra,  Postilla  in  psalmos  S.  25. 
Nigri  vgl.  Johannes  und  Petrus. 
Nürnberg  S.  41  ff. 

Ciarissen  S.  41  ff. 

Dotoinikanerinnen  S.  46  f. 

Franciscaner  S.  47  ff. 

Obsequiale  dioc.  Frisingensis  S.  51. 
öttingen. 

Graf  Friedrich  S.  50. 

Graf  Ludwig  S.  50. 

Gräfliche  Bibliothek  S.  50. 
Orden  und  Ordensgründer.    Liste  der 

S.  13. 

Ovidius  S.  13. 

Paenitentia.     Tractatus  de  —  S.  56. 

Passionale  novum  S.  4. 

Patientia.    Tractatus  de  —  Job  S.  55. 

Peck  vgl.  Jacob. 

Perfectio.    Tractatus  de  —  inferioris 

hominis  S.  54. 
Perchting  S.  5. 
Pergament  S.  5. 
Pestseuchen  S.  12. 
Petrus  Nigri  S.  14. 
Petrus  Ran  oder  Raum  S.  11. 
Philosophi.    Dicta  et  castigationes  — 

S.  26. 
Physiognomie  S.  5. 
Pirkheimer  vgl.  Caritas  P. 
Planetae.     De  cursu  —  S.  57. 
Pöcking  S.  5. 


Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums. 


65 


Poetria.     De    —    et    eins    generibus 

S.  34. 
Porphyrius,   Liber   isagogarum,   Bo- 

ethio  interprete,  cum  commentis 

S.  28.     Vgl.  auch  Augustinus  de 

Ferrara. 
Praecepta.    Tractatus  de  X  —  S.  55. 
Predigten  S.  5.    Vgl.  auch  Sermones. 
Prudentia.    De  —  S.  4. 
Pjthagoras,  Aenigmata  S.  26. 

Quaestiones  philosophiae  naturalis 
S.  30.  Vgl.  auch  Augustinus  de 
Ferrara. 

Quodlibetum  S.  21. 

Rebdorf  S.  18. 
Redekunst  S.  31,  38. 
Redner.     Über  den  —  S.  38. 
Regula  s.  Clarae  vgl.  Augustinus  Al- 

veldianus. 
Reider,  M.  J.  von  S.  6. 
Reliquien  S.  5. 
Rezepte  S.  5. 
Richardus  de  s.  Victore,  De  archa  my- 

stica  S.  47. 
Rippa  vgl.  Bamberg. 
Rituale  S.  24. 
Robertus  Holkot. 

Aenigmata  Pytbagorae  et  Aristo- 
telis  moralisatae  S.  26. 

Imagines    Fulgentii    moralisatae 
S.  26. 
—  Lincolniensis ,   Translatio  theolo- 

giae  mysticae  Dionysii  Areop.  cum 

commentis  S.  49. 
Rosenkranz  S.  18. 
Rüttenauer  vgl.  Johannes  Zisler. 

Samuel  Karoch  S.  34,  37,  38,  39. 
Sitira  S.  38. 

Schreiber  vgl.  Balthasar  Monaci,  Con- 
radus  Grünhover,  Conradus  bei  den 
Grafen    Ötting,    Diebolt  Lauber, 
Sitzgsb.  d.  philos.-pbilol.  u.  d.  bist.  Kl.  Jahrg. 


Friedrich  Gerbersdörflfer,  Johannes 

Linck,  Johannes  Sintram,  Ludo- 

vicus  Pistoris,  Sebaldus  Uczmair. 
Schreiberverse  S.  26,  59. 
Schreibstube  S.  21. 
Schw^abhausen  S.  5. 
Sebaldus  Uczmair  S.  51. 
Seneca,  Epistolae  ad  Lucilium  S.  37. 
Sensus.     Tractatus  de  V  —  S.  54. 
Sermones  S.  4,  26,  27,  52,  56. 
Seuse  vgl.  Heinricus  S. 
Sibylle.     Weissagungen  der  —  S.  5. 
Sintram  vgl.  Johannes. 
Slickin  vgl.  Ursula. 
Speinshard  S.  51. 
Stammbücher  S.  4. 
Statuten  des  Bischofs  Heinrich  von 

Bamberg  S.  10. 
Steingaden  S.  51. 
Stephan  Fridolin,  Deutsche  Predigten 

S.  43  f. 
Sterbebuch  S.  5. 
Sternzeichen  S.  5. 
Strahlen,   Über  die  12  — ,    die  vom 

heil.  Dominicus  ausgingen   S.  16. 
Studenten. 

De    studente    ad   beanum    S.   38. 
Vgl.  auch  Bettelbriefe  und  Sa- 
muel Karoch. 
Sudor,    Tractatus  de  —  vultus  S.  25, 
Sünden.     Über  die  Haupt —  S.  6. 
Sulzbach  S.  25. 

Taler  vgl.  Johannes. 
Tauler  vgl.  Johannes. 
Tegernsee  S.  52. 

Thomas  Vercellensis,  Comm.  in  theo- 
logiam  mysticam  Dionysii  Areop. 
S.  49. 
Tinte  S.  5. 
Tragoedia  S.  38. 
Triefenstein  S.  20,  52. 
Triumphus  cupidinis   vgl.  Gregorius 
1         Tifernus. 

1916, 4.  Abb,  5 


ßQ       P.  Lehmann,  Mittelalter!.  Handschriften  des  K.  B.  Nationalmuseums. 


Uczmair  vgl.  Sebaldus. 
Überschwemmungen  vgl.  Bamberg. 
Ventimontanus  vgl.  Erhard us  V. 
Vergilius.     Kommentar  zu  —  Buco- 

lica  S.  38. 
Villach.     Bergwerke  in  —  S.  10. 
Vincentius  Bellov.  S.  26. 
Vita  Karoli  Magni  S.  26. 

—  Mariae  vgl.  Hugo  de  Trimberg. 

—  (deutsch)  vgl.  Leben. 
Vokabeln  S.  32. 
Urkunden  S.  23. 
Ursula  Slickin  S.  8. 


Wappenbücher  S.  4. 

Wein  S.  5. 

Werniczerin  vgl.  Barbara. 

Wilhelm  IlL,  Herzog  von  Bayern. 
Gebetbuch  S.  6. 

Windsberger  vgl.  Erhardus  Venti- 
montanus. 

Windsheimer  Kongregation  S.  18. 

Wochentage.  Latein,  und  deutsche 
Namen  der  —  S.  57. 

Würzburg  S.  52  ff. 

Zinnober  S.  5. 

Zisler  vgl.  Johannes  Z. 


6 


Sitzungsberichte 

(5er 

Königlich   Bayerischen   Akademie   der    Wissenschaften 

Philosophisch-philologische  und  historische  Klasse 

Jahrgang  1916,  5.  Abhandlung 


# 


üeber 


Gottfried  von  Strassburg 


von 


Hermann  Fischer 


Vorgelegt  am  4.  November 


1916  \^'-vei^^^iS^ 


München  1916 

Verlag  der  Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

in  Kommission  des  G.  Franz'schen  Verlags  (J.  Roth) 


Sitzungsberichte 

der 

Königlich   Bayerischen   Akademie   der    Wissenschaften 

Philosophisch-philologische  und  historische  Klasse 

Jahrgang  1916,  5.  Abhandlung 


Ueber 

Gottfried  von  Strassburg 


von 


Hermann  Fischer 


Vorgelegt  am  4.  November   1916 


München  1916 

Verlag  der  Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

in  Kommission  des  G.  Franz'schen  Verlags  (J.  Roth) 


Es  ist  im  allgemeinen  nicht  üblich,  von  Doktorarbeiten 
in  der  Öffentlichkeit  viel  zu  reden;  sie  haben  ihren  Zweck 
erfüllt,  wenn  sie  als  specimina  eruditionis  gedient  und  ein 
kleineres  oder  größeres  Gebiet  befriedigend  abgehandelt  haben. 
Aber  es  gibt  Ausnahmen,  und  an  eine  solche  möchte  ich  hier 
anknüpfen.  Es  ist  die  Tübinger  Dissertation  von  Ulrich  Stökle, 
„Die  theologischen  Ausdrücke  und  Wendungen  im  Tristan 
Gottfrieds  von  Straßburg"  ^).  Ich  darf  sie  rühmen,  denn  ich 
habe  nicht  mehr  Anteil  daran  gehabt,  als  daß  ich  den  Ver- 
fasser auf  den  Gegenstand  hingewiesen  habe.  Er  hat  in  Tü- 
bingen katholische  Theologie  und  Philologie  studiert  und  war 
dadurch  für  ein  Thema  vorbereitet,  das  die  Kenntnis  beider 
Disziplinen  in  nicht  ganz  geringem  Maße  fordert.  Das  Er- 
gebnis hat  dem  entsprochen.  Wenn  man  Stökles  Arbeit  liest, 
so  kann  man  sich  eigentlich  wundern,  daß  sie  nicht  schon 
früher  gemacht  worden  ist.  Bei  den  Meisten,  zumal  in  älterer 
Zeit,  stand  dem  wohl  im  Wege,  daß  man  theologische  An- 
lehnungen und  Anschauungen  bei  dem  Dichter  des  Ehebruchs, 
bei  dem  „Bürgerlichen"  und  „Pfaffenfeind"  nicht  suchen  zu 
dürfen  glaubte.  Wir  werden  sehen,  wie  es  mit  diesen  Dingen 
wirklich  steht.  Aber  es  sind  doch  schon  einundzwanzig  Jahre, 
seit  Schönbach  in  seinem  Buch  über  Hartmann  von  Aue  ge- 
zeigt hat,  wie  voll  von  Theologischem  dieser  ritterliche  Dichter 
steckt,  und  seit  er  in  der  leicht  sichtbaren  Einleitung  davor 
gewarnt  hat,  bei  der  Betrachtung  des  Mittelalters  Geistlich  und 
Weltlich,  Lateinisch  und  Deutsch  als  zwei  Kreise  zu  betrachten, 
die  sich  womöglich  gar  nicht  berühren.    Freuen  wir  uns  indes. 


^)  Ulm  1915.    Kürzer  behandelt:  ,G.  v.  Str.,  eine  literarhistorische 
Studie"  in  den  Görres-Blättern  155,  573  if.  663  ff. 

1* 


I 


4  5.  Abhandlung:  Hermann  Fischer 

daß  diese  für  jeden  mittelalterlichen  Dichter  notwendigen  Unter- 
suchungen nun  für  Gottfried  auch  gemacht  sind.  Das  Resultat 
ist  heute  nicht  mehr  so  verblüffend,  wie  es  vor  zwanzig  Jahren 
gewesen  wäre,  aber  ausgesprochen  war  es  noch  nirgends*): 
Gottfried  steckt  voll  von  theologischen  Wendungen;  er  kennt 
nicht  nur  die  aller  Welt  geläufigen  Zitate  aus  Bibel,  Kirchen- 
vätern oder  Predigten,  sondern  auch  solche,  die  nur  ein  Mann 
von  klerikaler  Schulung  kennen  konnte ;  seine  Ausdrücke  und 
seine  Anschauungen  —  soweit  er  solche  erkennen  läßt  — 
weichen  von  dem  Wege  kirchlicher  Korrektheit  nirgends  ab; 
ja  es  wird  kaum  einer  unserer  alten  Epiker  ihm  darin  gleich- 
kommen, soweit  nicht  geistliche  Stoffe  von  vornherein  eine 
solche  Haltung  gefordert  haben  ^).  Daß  das  alles  aus  seinem 
französischen  Original  stamme,  ist  unmöglich^),  und  die  An- 
nahme, er  hätte  einen  geistlichen  Berater  hinter  sich  gehabt, 
ist  durch  nichts  gefordert,  ja  bei  einem  Manne  von  so  einheit- 
lichem Gepräge  fast  absurd. 

Ein  erster  Abschnitt  handelt  von  den  „theologischen  Wen- 
dungen und  Ausdrücken".  Gottfried  zeigt  sich  mit  kirch- 
lichem Ausdruck  und  kirchlicher  Lehre  durchaus  wohl  ver- 
traut. Ein  paar  Einzelheiten !  Der  rätselhafte  San  Ze  8066 
wird  gefunden  in  dem  heiligen  Etto,  der  nach  den  Bollandisten 
gallice  S.  Ze  heißt*).    Wohl  mit  Recht  schließt  Stökle  aus  dem 

^)  Doch  s.  Hoffa,  Zs.  f.  d.  Alt.  52,  350:  „Die  theologische  Quisquilien- 
frage,  welche  Frucht  eigentlich  die  Begierde  Evas  gereizt  habe  [s.  u.j, 
verrät  nur  allzu  deutlich  den  klösterlichen  Magister"  —  wobei  freilich 
, klösterlich"  zu  streichen  sein  wird.    Wegen  des  Magisters  siehe  später. 

2)  Ich  kann  auf  meine  Übersicht  in  dem  Aufsatz  „Über  die  Ent- 
stehung des  Nibelungenliedes"  (Münchner  Sitz.-Ber.,  phil.-hist.  Klasse  1914, 
7.  Abb.),  S.  8  ff.  verweisen. 

'^)  Freilich  können  wir  Gottfrieds  Werk  mit  seiner  Vorlage  nur  für 
etwa  100  Verse  vergleichen.  Aber  da  es  gewiß  länger  war  als  jene  und 
da  der  ihm  allein  gehörige  literarische  Exkurs  und  der  Prolog  die  näm- 
liche Physiognomie  zeigen  wie  alles  übrige,  so  ist  im  voraus  da,  wo  es 
nicht  auf  den  Stoff  ankommt,  sondern  auf  seine  Behandlung,  Gottfrieds 
Selbständigkeit  das  Wahrscheinlichste.  Stökle  konnte  hier  ruhig  den 
Franzosen  Bedier  und  Piquet  folgen. 

*)  AA.  S.S.,  10.  Juli;  Stökle  S.  24. 


Gottfried  von  Straßburg.  5 

Namen  und  aus  der  gleichzeitigen  Nennung  von  San  Dinise, 
daß  die  Stelle  aus  Thomas  stammt;  denn  wenn  es  auch  einen 
alten  Straßburger  Bischof  Etto  gab,  so  wissen  wir  doch  nicht, 
ob  man  in  Straßburg  jene  Naniensform  kannte.  Antisten 
15309  konnten  Bischöfe  nur  von  einem  genannt  werden,  der 
solche  klerikalen  Beziehungen  kannte*). 

Aus  dem  zweiten  Teil  über  „Bilder  und  Vergleiche":  Zu 
dem  Bilde  der  Fenster  für  die  Augen  8130  mag  an  den  Ge- 
brauch dieses  Bildes  in  der  Marienliteratur  erinnert  werden. 
Die  Gegenüberstellung  von  Gold  und  Messing  12611  ff.  kann 
aus  Alanus  de  Insulis  stammen;  ebenso  das  Bild  der  Nessel 
15051  ff.  für  einen  üblen  Nachbarn;  das  des  stürmischen  Meeres, 
das  mehrfach  vorkommt  und  zumeist  aus  Ovid  Met.  VIII  470  ff. 
abgeleitet  wird,  kann  ebensowohl  biblisch  oder  sonst  theo- 
logisch sein^). 

Auch  anderes,  was  gemeinhin  als  antike  Entlehnung  ge- 
faßt wird,  kann  aus  theologischer  Quelle  stammen.  So  gerade 
aus  Alanus;  Gottfrieds  Beziehungen  zu  ihm  sind  im  dritten 
Abschnitt  behandelt^).  Die  Schilderung  der  Minnengrotte 
16  693  ff.  erinnert  mehrfach  an  die  des  Hauses  der  Natur  im 
Anticlaudianus.  Ich  greife  bei  dieser  Gelegenheit  voraus. 
Stökle  bespricht  später*)  die  vv.  17 140  ff.,  nach  denen  Gott- 
fried die  fossiure  erkannt  hat  sit  minen  eilif  jären  ie,  worüber 
verschiedene  vor  ihm  nicht  allzu  richtig  geurteilt  hatten.  Man 
darf  weder  die  elf  Jahre  verallgemeinernd  für  die  Jugend  über- 
haupt nehmen,  noch  für  die  Zeit,  mit  der  Gottfrieds  Liebes- 
leben begonnen  habe.  Stökle  verweist  passend  auf  Hartmanns 
Gregor  1181  ff.,  wo  der  Schüler  Gregor  in  seinem  elften  Jahre 
ein  guter  Grammaticus  genannt  wird,  und  denkt  an  Gottfrieds 
Schullektüre :  ich  weiß  von  jener  Grotte,  seit  ich  in  der  Schule 
davon  gelesen  habe.    Ich  halte  das  für  die  weitaus  beste  Deu- 


^)  Stökle  S.  30.  Zur  selben  Seite  mag  bemerkt  werden,  daß  „Münster" 
nicht  nur  die  gewöhnliche  mhd.  Bezeichnung  großer  Kirchen,  sondern 
speziell  in  Straßburg  noch  heute  allgemeine  Bezeichnung  für  die  Kathe- 
drale ist,  die  doch  als  solche  den  Namen  „Dom"  führen  könnte. 

2)  S.  43.  44.  47  f.  3)  s.  50  ff.  *)  S.  98  fP. 


6  5.  Abhandlung:  Hermann  Fischer 

tung:  vor  allem,  weil  durch  sie  die  Stelle  jeden  Charakter 
eines  persönlichen  Bekenntnisses  verliert,  was  vollkommen  zu 
Gottfrieds  Art  paßt.  Leider  ist  über  die  zeitliche  Anordnung 
des  Schulunterrichts  jener  Zeit  nur  wenig  bekannt;  wenn  aber 
dem  Gregor  mit  14  Jahren  divinitas  gar  durchliuhüc  ist  und 
er  nachher  ein  edel  legiste  wird,  so  wird  er  eben  die  römischen 
Dichter  mit  11  Jahren  schon  absolviert  haben  sollen;  ob  das 
in  Wirklichkeit  so  vorkam  oder  ob  Gottfried  nur  auf  die  wohl- 
bekannte Stelle  seines  Meisters  Hartmann  anspielt  und  dabei 
ähnlich  übertreibt,  wie  wenn  heute  jemand  von  einer  in  Prima 
gehabten  Lektüre  sagen  würde :  Das  habe  ich  schon  als  Kon- 
firmande  gekannt,  das  kann  dahingestellt  bleiben.  Stökle  denkt 
bei  solcher  Lektüre  vor  allem  an  Ovid ;  sollte  es  aber  auch 
für  Straßburg  richtig  sein,  daß  dieser  im  zwölften  Jahrhundert 
noch  nicht  Schullektüre  war^),  so  kann  die  Liebesgrotte  auch 
wo  anders  herstammen,  etwa  aus  Horaz  Od.  I  5  oder  aus  Aen. 
IV  165  ff.  des  vielgelesenen  Virgii. 

Der  vierte  Abschnitt^)  behandelt  „Gottfrieds  Originalität 
bei  Verwendung  von  theologischen  Wendungen".  Auch  hier 
werden  verschiedene  deutliche  Anlehnungen  an  biblische  und 
an  theologische  Stellen  nachgewiesen.  Ich  will  nur  auf  zwei 
Dinge  eingehen.  Vor  allem  das  Gottesurteil  mit  dem  wint- 
schaffenen  Crist  15 739  f.  Darauf  ist  ja  früher  die  „Pfaff'en- 
feindschaft"  Gottfrieds  gegründet  worden.  Stökle  hat  S.  80  —  89 
die  Sache  ausführlich  untersucht.  Er  möchte  an  dem  Kampf 
mit  Morold  zeigen,  daß  Gottfried  nicht  an  Gottesurteile  ge- 
glaubt habe,  denn  Tristan  zweifle  mehrmals,  welches  der  Aus- 
gang sein  werde :  6097.  6169  ff.  6777  f.  Ich  zweifle,  ob  damit 
etwas  zu  machen  ist ;  mit  demselben  Recht  könnte  aus  den  oft 
bitteren  Kämpfen  frommer  Männer  ein  Zweifel  an  der  Echt- 
heit ihres  Glaubens  abgeleitet  werden.  Aber  man  braucht  das 
nicht;    daß  Gottfried  nicht  an  Gottesurteile  geglaubt  hat,    das 

^)  Geschichte  des  humanist.  Schulwesens  in  Württemberg,  S.  32 ; 
daß  man  in  Beziehung  auf  die  ünterrichtsgegenstände  wenig  heikel  war, 
8.  ebd.  S.  138. 

2)  S.  55  ff. 


Gottfried  von  Straßburg.  7 

zeigt  der  ganze  Verlauf  der  Sache,  nicht  bloß  jenes  scharfe 
Schlußurteil.  Daß  Isolde  nicht  „gelogen"  hat,  stand  in  der 
Überlieferung  fest:  sie  hat  sich  nicht  für  unschuldig  erklärt, 
sondern  nur  ihre  Bereitwilligkeit  kundgetan,  sich  dem  Gottes- 
urteil zu  unterziehen  (15477  ff.),  und  sie  hat  (15627  ff.)  wahr- 
heitsgemäß gesagt,  daß  außer  dem  König  und  dem  Pilger 
niemand  sie  im  Arm  gehabt  habe ;  also  muß  sie  gewinnen. 
Wenn  einer  diese  Folgerung  zieht,  der  weder  ein  Zögling  eines 
strengen  Instituts  noch  ein  Kriminalstudent  ist,  so  zeigt  er 
damit  ohne  weiteres,  daß  er  das  Gottesurteil  als  etwas  null 
und  nichtiges  verhöhnen  will.  Gottfried  hat  an  dem  Verlauf 
der  Sache  nichts  geändert  und  uns  am  Schluß  ausdrücklich  zu 
verstehen  gegeben,  wie  er  denkt  ^). 

Es  sind  aber  zwei  Fragen  zu  beantworten.  Erstens:  war 
der  Ausdruck  wintschoffen  nicht  blasphemisch  ?  Stökle  hat,  was 
die  Sache  betrifft,  richtig  bemerkt,  daß  die  Worte  nichts  an- 
deres heißen  als :  wenn  ein  derartiges  Gottesurteil  wirklich  ein 
Urteil  Gottes  wäre,  so  wäre  dieser  w.  alse  ein  ermel.  Man  kann 
dabei  auch  das  Attribut  vil  tugenthaft  in  Betracht  ziehen. 
Gewiß  ist  von  dem  im  Volk  noch  lebenden  Begriff  auszugehen, 
wonach  „Tugend"  eine  nützliche  Eigenschaft  bezeichnet^): 
diese  Institution,  die  angeblich  voll  von  wunderbaren  Kräften 
sein  soll,  ist  so  leer  wie  ein  hohler  Ärmel.  Den  Ausdruck 
Crist  in  solchem  Zusammenhang  zu  gebrauchen,  mag  dem 
zweiten  Gebote  widersprechen;  aber  in  diesem  Punkt  war  das 
Mittelalter  sehr  tolerant.  Häresie  ist  so  etwas  nicht,  und 
der  Begriff  der  Blasphemie  scheint  jener  Zeit  kaum  bekannt 
zu  sein^). 


^)  Die  nordische  Saga  und  der  Sir  Tristrem  reflektieren  gar  nicht, 
sondern  berichten  einfach. 

2)  Mhd.  WB.  3,55.  Mundartlich  noch  heute;  s.  mein  Schwab.  WB. 
2,  445. 

^)  Der  Katholizismus  hat  noch  viel  später  eine  sehr  freie  Bewegung 
in  solchen  Dingen  verstattet.  Man  lese,  was  Sebastian  Sailer  in  seiner 
„Schöpfung"  geschrieben  hat  —  und  er  gehörte  deni  vornehmen  Prämon- 
stratenser-Orden  an,   Für  das  Mittelalter  habe  ich  {Entstehqpg  des  NiK-L., 


I 


8  5.  Abhandlung:  Hermann  Fischer 

Bedeutsamer  ist  die  zweite  Frage:  ist  nicht  die  Verwerfung 
des  Gottesurteils  gegen  die  kirchliche  Anschauung?  Es  ist 
doch  ein  Bischof  dabei  beteiligt  und  wird  von  Gottfried  noch 
besonders  gerühmt.  Die  Gottesurteile  gehören  zu  den  Dingen, 
die  die  Kirche  nicht  bloß  dulden,  sondern  auch,  um  Schlim- 
meres zu  verhüten,  in  ihre  Obhut  nehmen  mußte.  Sie  hat  sie 
aber  nie  ausdrücklich  gut  geheißen ;  im  Gegenteil :  gerade  um 
1200  haben  kirchliche  Autoritäten  das  Gottesurteil  öfters  als 
eine  Versuchung  Gottes  verworfen,  und  Stökle  weist  besonders 
auf  das  Schreiben  Innocenz  III.  an  den  Bischof  von  Straßburg 
hin.  Dieses  ist  freilich  erst  von  1212  und  seine  Bedeutung 
nicht  vollkommen  klar,  weil  wir  über  den  Straßburger  Ketzer- 
prozeß nur  unvollkommen  unterrichtet  sind.  Falls  die  Tristan- 
stelle erst  nach  jenem  Schreiben  verfaßt  wäre,  so  ließe  sie  sich 
sehr  schön  als  eine  Art  halbamtlichen  Machwerks  verstehen : 
die  Straßburger  Ketzer  sind  hingerichtet  auf  Grund  eines  Gottes- 
urteils^), nun  kommt  ein  päpstliches  Schreiben  gegenteiliger 
Tendenz,  das  den  Bischof  bloß  stellt;  was  kann  ein  Hofmann 
klügeres  tun,  als:  das  Institut  als  solches  verhöhnen,  den 
Bischof  aber  als  den  hinstellen,  der  eigentlich  nichts  damit  zu 
tun  hatte  und  sich  nur  dem  König  gefügt  hat,  der  das 
glühende  Eisen  verlangte^)? 


S.  9)  auf  die  Vergleichung  der  Geliebten  mit  der  Jungfrau  Maria  bei 
Heinrich  von  Morungen  hingewiesen  (MF.  127, 6  flP.)  und  auf  die  noch 
stärkere  König  Philipps  mit  der  Trinität  und  seiner  Gattin  mit  Mana 
in  einem  Spruch  Walthers  (19, 5  ff.),  der  sicher  nicht  nur  vor  Fürsten 
und  Herren,  sondern  auch  vor  dem  hohen  Klerus  vorgetragen  worden 
ist.  Irgend  etwas  von  Satire  fehlt  ja  hier  völlig,  aber  Gottfried  hat 
auch  sonst  von  seinen  Lesern  ein  Verständnis  für  das  verlangt,  was 
hinter  seinen  Worten  steckt. 

^)  Das  noch  dazu  in  den  Umständen  mit  dem  der  Isolde  Ähnlich- 
keit hat:  Isolde  mußte  frei  ausgehen,  weil  sie  nicht  gelogen  hat,  und 
die  Ketzer  mußten  schuldig  erfunden  werden,  weil  sie,  um  nicht  zu 
unterliegen,  hätten  ohne  Sünde  sein  müssen,  was  doch  kein  Mensch  von 
sich  sagen  kann. 

2)  j)er  Bischof  sagt  in  dem  comilje,  in  dem  er  als  Fürst  (15359) 
sitzt,  nur,  man  solle  Isolde  ihre  Unschuld  dartun  lassen  (15  354  ff.),  dann 
(15432  ff.)  redet  er  sie  im  Auftrag  des  Königs  an  und  nimmt  ihre  Ant- 


Gottfried  von  Straßburg.  9 

Wenn  es  demnach  ganz  verkehrt  ist,  in  der  Stelle  etwas 
von  freigeistischer  Opposition  oder  dergl.  zu  sehen,  so  ist  es  — 
falls  sie  überhaupt  etwas  enthalten  sollte,  was  in  kirchlichen 
Kreisen  hätte  anstoßen  können  —  vollends  verkehrt,  in  ihr 
einen  Beweis  dafür  zu  finden,  daß  Gottfried  kein  Kleriker  ge- 
wesen sein  könne.  Diese  Frage  soll  uns  später  beschäftigen. 
Hier  kann  ich  bloß  das  eine  sagen:  gerade  ein  —  ich  v^ill 
nicht  sagen  Kleriker,  aber  überhaupt  ein  dem  bischöflichen 
Hofe  verwandter  Mann  konnte  eine  solche  Stelle  weit  eher 
wagen  als  ein  anderer  —  wenn  es  ein  Wagnis  war.  Es  ist 
mir  leid,  aber  der  Satz  des  trefflichen  Bechstein,  dem  die  Er- 
klärung Gottfrieds  viel  verdankt,  ist  sehr  verkehrt:  „Die  Ge- 
lehrsamkeit des  Dichters  könnte  seinen  geistlichen  Stand  ver- 
muten lassen,  wenn  nicht  antihierarchische  Äußerungen  im 
Tristan  vorkämen,  die  nur  ein  Laie  tun  konnte"  ^).  Wo  sonst 
noch  eine  solche  Äußerung  stecken  soll,  möge  man  mir  erst 
zeigen. 

Gottfrieds  Laientum  hat  man  noch  aus  einer  anderen  Stelle 
schließen  wollen.    Wo  er  von  dem  verbotenen  Obst  im  Paradies 


wort  entgegen.  Hierauf  bestimmt  der  König  (15522  ff.)  die  Probe  des 
glühenden  Eisens.  Das  Gottesgericht  findet  dann  (15535)  ze  Karliüne 
statt,  und  zwar  im  Münster.  Der  Bischof  aber  ist  von  Thamise  (15352), 
d.  h.  von  Lunders,  wo  (15313)  das  Konzil  stattgefunden  hatte,  und  es 
ist  bei  dem  Gottesurteil  selbst  von  jenem  Bischof  nicht  die  Rede.  Er 
ist  (15350  ff.)  des  Ubes  edelich  und  alt,  beidiu  grise  und  ivise,  und  leinde 
sich  über  sine  krucJcen.  Wie  alt  der  Bischof  von  Straßburg  (über  ihn 
später)  1212  war,  weiß  man  leider  nicht;  immerhin  war  er  schon  zehn 
Jahre  Bischof,  was  aber  bei  der  großen  Jugend,  in  der  Vornehme  zu 
solchen  Pfründen  gelangen  konnten,  wenig  zu  besagen  hat.  Wenn  er 
mit  dem  Heinricus  de  Veringeii,  der  1181  ff.  in  bischöflichen  Urkunden 
erscheint  (Straßburger  Urkundenbuch  1,  Seite  97.  103.  108.  4,G),  identisch 
ist,  so  muß  er  um  1210  doch  schon  50  Jahre  oder  mehr  alt  gewesen 
sein.  Das  hohe  Alter  kann  aber  auch  Dekoration  zur  Erhöhung  der 
Würdigkeit  sein;  auch  in  der  nord.  Saga  heißt  es  einn  aldraär  byskop 
Kölbing  1,71.  Überhaupt  ist  die  nord.  Erzählung  der  Gottfrieds  ganz 
ähnlich,  und  es  wird  vorsichtiger  sein,  ihm  hier  nicht  zuviel  unter- 
zuschieben. 

^j  Allg.  Deutsche  Biographie  36,503. 


10  5.  Abhandlung:  Hermann  Fischer 

redet,  sagt  er  17  947  f.:  die  pfaffen  sagent  uns  mcere,  daz  ez 
diu  vige  wcere,  Stökle  hat^)  auch  hier  die  Quelle  nachgewiesen; 
diese  ganz  singulare  Deutung 2)  kann  aus  Hugo  von  S,  Victor 
oder  aus  Petrus  Comestor  entlehnt  sein.  Wenn  aber  Stökle 
meint,  die  quidam  bei  beiden  Gewährsmännern  habe  Gottfried, 
„selbst  wenn  er  Geistlicher  wäre",  nicht  anders  als  mit  die 
pfaffen  wiedergeben  können,  so  muß  ich  widersprechen.  Er 
konnte  wtsen,  meister  sagen.  Wenn  er  statt  dessen  pfaffen  sagt, 
so  kann  er  selbst  einer  gewesen  sein,  aber  er  muß  nicht. 
Vorerst  würde  man  eher  das  Gegenteil  folgern^). 

Stökle  hat  in  einem  Schlußwort*)  das  Ganze  zusammen- 
gefaßt. Er  weist  besonders  auf  die  Rolle  hin,  die  die  Schule 
bei  Gottfried  spielt^)  und  neben  ihr  die  Musik,  über  welche 
nachher  zu  reden  sein  wird.  Wenn  nun  Gottfried  selbst  meister 
genannt  wird,  so  liege  es  nahe,  in  ihm  einen  Lehrer  zu  sehen. 
Nicht  etwa  den  magister  scholarum  des  Domstifts,  denn  der 
mußte  als  Kanoniker  freiherrlich  sein ;  wohl  aber  einen  der 
neben  ihm  vorkommenden  magistri  (secundi,  secundarii)  —  oder 
setze  ich  hinzu :  einen  Lehrer  an  einem  der  zwei  andern  großen 
Stifter  in  Straßburg,  wie  denn  Stökle  selbst  darauf  hinweist, 
daß  es  am  Thomasstift  einen  magister  scholarum  gab,  der  dann 
patrizischer  Abkunft  gewesen  sein  wird^).  Kleriker  wäre  Gott- 
fried in  beiden  Fällen  gewesen. 

Hier  möchte  ich  Halt  machen  und  nun  den  Prozeß 
wegen  Gottfrieds  Persönlichkeit  nochmals  möglichst  vollständig 
instruieren.  Es  ist  das  lange  nicht  mehr  der  Fall  gewesen, 
obgleich  seit  1879   der  erste,   zum  Teil  auch  der  vierte  Band 


1)  S.  89  ff. 

2)  Begründet  wurde  sie  auf  die  Schürze  aus  Feigenblättern  Gen.  3,7. 

^)  Der  bestimmte  Artikel  ist  bei  einem  Geistlichen  besonders  selt- 
sam; die  gewöhnliche  Meinung  bei  Theologen  und  Laien  war  doch  die, 
daß  die  verbotene  Frucht  ein  Apfel  gewesen  sei.  Aber  folgern  kann 
ich  auch  daraus  nichts. 

*)  S.  102-104. 

5)  Vgl.  besonders  die  moräliieit  8006  ff.,  Stökle  S.  75  ff. 

6)  S.  u.  S.  30. 


Gottfried  von  Straßburg.  11 

des  Straßburger  Urkundenbuchs  (ÜB.  1.  4)  alles,  was  mög- 
licherweise zu  einem  Ergebnis  führen  könnte,  dargeboten 
hat.  Wenn  man  die  biographische,  bzw.  Einleitungsliteratur 
durchmustert^),  so  sieht  man,  daß  man  in  keinem  wesentlichen 
Punkte  über  den  grundlegenden  Artikel  von  Hermann  Kurz^) 
samt  der  kleinen  Schrift  von  Karl  Schmidt^)  hinausgekommen 
ist,  die  dessen  Ergebnisse  abgelehnt,  uns  aber  damit  auf  den 
Stand  des  Nichtwissens  zurückversetzt  hat. 

Kurz,  der  seit  seiner  glänzenden  Übersetzung  des  Tristan 
mit  der  ganzen  Frage  wohl  vertraut  war,  aber  zugleich  von 
der  gesamten  Zeitrichtung  nur  zu  viel  antiklerikale  Neigungen 
geerbt  hatte  und  an  die  Sache  herantrug,  wollte  unter  Benut- 
zung eines  von  Elard  Hugo  Meyer  gemachten  Fundes*)  in 
Gottfried  den  Godefridus  Rodelarius  de  Argentina  erkennen, 
der  als  Zeuge  unter  einer  Urkunde  König  Philipps  vom 
18.  Juni  1207,  ausgestellt  in  Straßburg,  erscheint^).  Darin 
wäre  der  rotularius,  d.h.  der  Stadtschreiber,  zu  sehen ;  denn 
bei  einem  bischöflichen  Beamten  wären  Äußerungen  wie  die 
über  das  Gottesurteil  nicht  denkbar^).  De  Ärgenüna  bedeute 
nicht  die  Stadt,  denn  der  Dichter  des  Tristan  müsse  ein  vor- 
nehmer Mann  gewesen  sein,  sondern  ein  Geschlecht  derer  von 
Straßburg:  dasselbe,  dem  auch  der  Dietrich  des  Anfangs- 
akrostichs  angehört  habe,  der  Bruder  eines  Burkhard  und  Oheim 
eines  zweiten  Dietrich,  der  als  Burggraf  erscheint.  Gottfried 
sei  noch  jung  in  den  besten  Jahren  gestorben. 

Schmidt  hat  dagegen  nachgewiesen,  daß  in  genannter  ür- 


^)  R.  Bechstein,  Allg.  D.  Biogr.  (s.  o.  S.  9,  Anra.  1);  dessen  Aus- 
gabe; Ausg.  von  W.  Golther  (Deutsche  Nat.-Lit.  4,2,1);  R.  Heinzel,  Z.  f. 
Österr.  Gymn.  19,  533if.,  jetzt  Kleine  Schriften  S.  18  ff. 

-)  Zum  Leben  Gottfrieds  von  Straßburg,  Germania  15,  297  ff.  322  ff, 
(1865). 

3)  Ist  Gottfried  von  Straßburg  (der  Dichter)  Straßburger  Stadt- 
schreiber gewesen?  (1876).  • 

*)  E.  H.  Meyer,  Walther  v.  d.  Vogelweide,  S.  5. 

5)  Jetzt  ÜB.  1,  121. 

ß)  Ich  brauche  nach  dem  S.  9  geäußerten  über  diesen  Fehlschluß 
nichts  mehr  zu  sagen. 


12  5.  Abhandlung:  Hermann  Fischer 

künde  nicht  Bodelarius  zu  lesen  ist,  sondern  Zidelarius ;  ferner, 
daß  es  sich  1200  noch  um  keinen  Stadtschreiber,  sondern  nur 
um  einen  bischöflichen  Beamten  handeln,  und  endlich,  daß 
weder  Gottfried  noch  Dietrich  dem  Geschlechte  der  Straß- 
burg angehören  könne,  der  letztere  vielmehr  der  Ritterfamilie 
der  Stehellin^).  Der  Zusatz  de  Ärgenüna  bezeichne  vielmehr 
in  einer  nicht  bischöflichen,  sondern  kaiserlichen  Urkunde 
einfach  die  Stadt. 

Damit  stand  man  wieder  vor  dem  Nichts;  denn  der  Ver- 
such von  J.  M.  Watterich,  zu  erweisen,  daß  Gottfried  nicht 
durch  den  Tod  —  was  doch  die  Zeitgenossen  mitteilen  — ,. 
sondern  durch  innere  Umkehr  an  der  Vollendung  des  Tristan 
verhindert  worden,  daß  er  Franziskaner  geworden  sei  und  als 
solcher  den  unter  seinem  Namen  gehenden  Lobgesang  auf  die 
Jungfrau  Maria  ^)  gedichtet  habe,  wurde  durch  Franz  Pfeiffers 
Kritik  aus  der  Welt  geschafft;  und  die  Annahme  von  Hermann 
Kurz,  der  Lobgesang  sei  vielmehr  ein  Jugendwerk  Gottfrieds, 
ist  von  ihm  nie  öffentlich  ausgesprochen  worden^). 

Es  wird  später  nötig  sein,  auf  verschiedene  der  hier  ge- 
nannten Namen  zurückzukommen.  Zunächst  einiges  allge- 
meinere. 

Der  Tristan  ist  ein  Werk  höchst  aristokratischer  Bildung 
und  Tendenz.  Spezifisch  ritterlich  ist  er  nicht,  das  lehnt  er 
höflich-ironisch    ab*).     Um  so  mehr   ist   er   aristokratisch   im 


1)  Darüber  s.  u.  S.  33  f. 

2)  ed.  Haupt,  ZfdA.  4,  513  ff. 

äj  J.  M.  Watterich,  Gotfried  von  Straßburg,  ein  Sänger  der  Gottes- 
minne. 1858;  Pfeiffer,  Germ.  3,  59  ff.  =  Freie  Forschung  109  ff.  Die  brief- 
liche Vermutung  von  H.  Kurz  in  einem  Brief  an  Pfeiffer  vom  5.  Mai  1858 
habe  ich  Anz.  26, 181  f.  veröffentlicht.     Mehr  s.  unten. 

*]  Man  hat  das  ja  oft  genug  hervorgehoben.  Ich  verweise  auf 
650Gff.;  besonders  aber  5054  ff.  Wo  Tristans  Ausbildung  geschildert 
wird:  2060  ff.,  ist  in  45  Versen  von  Büchern,  Sprachen,  Musik,  Jagd,  in 
vier  von  ritterlichen  Übungen  die  Rede.  4415  ff.  werden  aus  Gregor 
1547  ff.,  4424  ff.  aus  Erec  stammen.  Aber  4587  ff.  braucht  nicht  anti- 
ritterlich gemeint  zu  sein;  es  ist  nur  gesagt,  solche  Dinge  wie  die 
Schwertleite  seien  von  andern  schon  zur  Genüge  berichtet. 


Gottfried  von  Straßburg.  13 

Sinne  feiner  Bildung,  höfischer  Sitte,  auch  in  der  Hervorhebung 
edler  Körperbildung.  An  seiner  Kenntnis  nicht  nur  der  antiken 
Stoffe,  sondern  auch  an  einer  gewissen  der  lateinischen  Dichter- 
sprache kann  nicht  gezweifelt  werden^),  wenn  er  auch  mytho- 
logische Schnitzer  machen  und  das  eine  und  andere,  wie  oben 
gesagt,  eher  aus  theologischer  als  antiker  Quelle  geschöpft 
haben  mag.  Die  ganze  aalglatte  Gewandtheit  des  Stils,  man 
braucht  ja  nur  den  Prolog  mit  dem  stammelnden  des  ungeübten 
Wolfram^)  zu  vergleichen,  ist  nur  denkbar  bei  längeren  und 
gründlichen  Studien,  vielleicht  auch  vorgängiger  Übung  in 
lateinischer  Schriftstellerei.  Die  Rücksicht  auf  gute  Hofsitte 
ist  nicht  nur  gewahrt,  wie  besonders  die  große  Decenz  aller 
verfänglichen  Stellen  zeigt,  sondern  ganz  besonders  hervorge- 
hoben und  gefordert^).  Feines  Benehmen  ist  nur  bei  Hof- 
leuten denkbar;  ein  Kaufmann,  oder,  wie  es  auch  heißt,  ein 
werbender  man  kann  sein  Kind  nicht  so  schön  erzogen  haben, 
wie  Tristan  erzogen  ist:  es  muß  Ü2  edelem  herben  gdn^).  Aber 
vor  allem  verrät  feine  Leibesbeschaffenbeit  die  edle  Abstam- 
mung. Wenn  das  bei  den  höfischen  Dichtern  gerne  betont 
ist,  so  tritt  es  bei  Gottfried  in  Sache  und  Ausdruck  wohl 
stärker  hervor,    als   bei  einem  andern^). 


*)  Weiter  als  das  in  der  geistlichen  Schule  selbstverständlich  er- 
lernbare reicht  doch  manches,  besonders  Grammatisches.  Ich  verweise 
auf  die  etymologische  Figur  und  die  verwandte  Bildung  von  Verben  aus 
Substantiven:  39  f.  43  f.  79  f.  125.  175  f.  1650  usw.;  ferner  auf  frouwin 
<  muUehris  532.  6562.  11652;  rosine  snone  18080;  vieiesch  gras  2547; 
loupgrüene  este  597;  spitze  sehe  6509  <  acies  oculorum,  visus  acutus  u.  ä. 

2)  Für  die  Behauptung  absichtlicher  Dunkelheit  in  Nachahmung 
einer  französischen  Quelle  fehlt  mir  noch  der  Beweis. 

»)  4569.  4809.  5232.  6820fi'.  7958.  Decenz  12161ff.  12596  ff.  12661  ff. 
18199  ff. 

*)  3282  ff.  4090  ff. 

^)  Besonders  charakteristisch  scheint  mir  das  Gewicht,  das  auf  edle 
Bildung  des  Beins  und  Fußes  gelegt  wird.  "Vgl.  neben  andern  Dichter- 
stellen wie  Greg.  2914  ff.;  Farz.  662,19:  Trist.  3339  ff.  6709,  noch  mehr 
diu  siniu  heiserlichen  bein  708.  S.  a.  Heinzel,  Kleine  Sehr.  37.  In  solchen 
Zügen  liegt  ein  sinnliches  Moment  aristokratischer  Empfindungsweise, 
das  man  bei  Modernen,  wo  doch  kein  Kanon  höfischer  Gesellschaft  dik- 


14  5.  Abhandlung:  Hermann  Fischer 

Zur  vornehmen  Bildung  gehört  u.  a.  auch  Musik  und  Jagd. 
Daß  die  Musik  in  keinem  deutschen  Epos  eine  solche  Rolle 
spielt  wie  im  Tristan,  kommt  allerdings  größtenteils  auf  die 
Rechnung  des  Stoffes.  Auch  gehört  Musik  zur  Ausbildung  des 
Klerikers.  Immerhin  zeigen  mehrere  Stellen  eine  genauere 
Kenntnis  musikalischer  Terminologie,  die  doch  wohl  auf  eine 
dauernde  Neigung  zu  dieser  Kunst  oder  auch  auf  berufsmäßige 
Übung  derselben  hinweisen  muß^). 

Weit  bedeutsamer  sind  die  Stellen,  die  von  der  Jagd 
handeln.  Ich  rede  natürlich  nicht  von  der  Hirschjagd,  bei  der 
der  junge  Tristan  erscheint;  das  stammt  aus  dem  Original. 
Ebenso  der  Kauf  von  Falken  bei  den  Norwegern,  wobei  nur 
die  deutschen  Vogelnamen  2202  ff.  Gottfrieds  Eigentum  sind. 
Die  erzählenden  Angaben  2693  ff.  3368.  3406  ff.  13104  ff. 
13258  f.  14354  ff.  16647  ff.  17248  ff.  17295  ff.  mögen  aus 
Thomas  herstammen,  wenn  auch  ihr  Wortlaut  nicht  gewähr- 
leistet ist.  Aber  es  bleiben  noch  genug  Stellen,  die  durch  den 
Inhalt  nicht  gegeben  waren:  282.  4925.  5316.  11934 ff.  13807; 
speziell  über  Falkenjagd:  6859.  10998.  11989;  Vogelfang: 
839  ff.  11796  ff.  11908^). 

An  der  Heimat  Gottfrieds  ist  kein  Zweifel  möglich ;  auch 
wenn  wir  die  Überlieferung,    die   ihn    „von  Straßburg"  nennt, 

tiert  hat,  ebenso  finden  kann  und  mehr  als  üblich  beachten  sollte.  Man 
denke  an  die  jungen  Aristokraten  bei  Walter  Scott,  dem  doch  derber 
Humor  gar  nicht  fremd  ist ;  ähnlich  in  Heinses  Ardinghello,  in  Hölderlins 
Hyperion,  in  Arndts  Schilderung  heldenhafter  Männer,  z.  B.  Gneisenaus, 
während  für  Tieck  eine  recht  plebejische  Behandlung  vornehmer  Figuren 
bezeichnend  ist. 

1)  Wegen  der  organieren  und  wanäelieren  4803  f.  genügt  es,  darauf 
hinzuweisen,  daß  sie  in  dem  literarischen  Exkurs  stehen,  also  Gottfrieds 
volles  Eigentum  sind.  Die  Instrumente  3673  ff.  mögen  vielleicht  aus 
Thomas  stammen,  ebenso  etwa  7991  ff.  Aber  11364  f.:  der  arme  truhsceze 
was  ir  gige  und  ir  rotte  ist  gewiß  Gottfried;  wie  viel  von  der  Stelle 
8062  ff.,  die  oben  wegen  des  San  Ze  angeführt  wurde,  auf  ihn  kommt, 
wird  unklar  bleiben. 

2)  Das  Bild  der  nahtegalen  4749  ff.  ist  durch  den  Namen  der  Vogel- 
weide und  die  Gewohnheit  der  Minnesinger  allzu  natürlich  gegeben,  als 
daß  man  es  hierher  stellen  dürfte. 


Gottfried  von  Straßburg.  10 

grundlos  anfechten  oder  —  wovon  nachher  —  auf  den  oben 
genannten  Geschlechtsnamen  deuten  wollten,  so  weist  seine 
Sprache  dorthin^).  Über  seine  Zeit  etwas  zu  sagen  ist  miß- 
lich, weil  hier  alle  Datierungen  der  verschiedenen  Epen  an- 
einanderhängen  und  voneinander  abhängen,  er  selbst  aber  in 
seiner  unpersönlichen  Art  keine  jener  Anspielungen  macht,  die 
bei  andern,  wenn  auch  oft  mit  geringer  Sicherheit,  als*  An- 
haltspunkte benutzt  werden.  Weder  die  Erwähnung  Hart- 
manns als  eines  Lebenden  (was  zwar  nicht  gesagt,  aber  doch 
wohl  anzunehmen  ist),  Reimars  als  eines  Toten,  Veldekes  als 
eines  Mannes  früherer  Zeit,  noch  der  Ruhm  Walthers  und 
Bliggers  oder  der  Tadel  Wolframs  sagen  uns  etwas  Bestimmtes. 
Man  kann  wegen  Rudolfs  von  Ems  nicht  über  1220  herunter, 
wegen  Wolframs  nicht  über  (all  er  frühestens)  1200  hinauf 
gehen;  nicht  nur  Erec  und  Iwein,  was  sich  wohl  von  selbst 
versteht,  auch  wohl  der  Gregor  muß  älter  sein  als  der  Tristan*). 
Wenn  das  S.  8  f.  gesagte  über  die  Behandlung  des  Bischofs  bei 
dem  Gottesurteil  richtig  wäre,  kämen  wir  für  die  späteren  Teile 
des  Epos  auf  1212  oder  kurz  hernach,  denn  viel  später  hätte 
eine  solche  Offiziosität  keinen  Sinn  mehr;  aber  ich  will  jene 
Vermutung  nicht  als  tragfähig  für  größere  Lasten  verkaufen. 
Daran  kann  man  die  Frage  anreihen :  Wie  alt  war  Gott- 
fried, als  er  den  Tristan  schrieb  ?  Daß  er  über  ihm  gestorben 
ist,  sagen  die  Fortsetzer  ^);  in  welchem  Alter,  sagen  sie  nicht, 
wenn  auch  gegen  Kurz'  beweislose  Behauptung,  er  sei  in  seinen 
besten  Jahren  gestorben*),  das  argumentum  ex  silentio  nicht 
ganz  ohne  sein  dürfte,    daß   dann    doch   wohl  die  Klage   über 


1)  Das  durch  den  Reim  gewährleistete  gär  ist  straßburgisch,  s. 
Zwierzina,  ZfdA.  44,lff ,  ebenso  van,  mod.  fqn.  Betrochen  von  der  in  der 
Asche  aufbewahrten  Glut  19052  ist  wenigstens  gut  alemannisch.  Wegen 
des  starken  Gebrauchs  des  Französischen  s.  u.  S.  29. 

2)  S.  0.  S.  5.  12. 

^)  Heinrich  von  Freiberg  32:  das  in  genunien  hat  der  tot  hie  von 
dirre  broeden  werlt ;  ülr.  v.  Türh.  44:  dt  meister  Gotfrit  ist  tot;  16:  daz 
ime  der  tot  sin  lebende  tage  leider  e  der  zit  zebrach,  daz  er  diz  buoch 
niht  vollesprach. 

*}  Ebenso  Heinzel,  Kl.  Sehr.  57. 


16  5.  Abhandlung:  Hermann  Fischer 

den  frühen  Tod  nicht  fehlen  würde.  Gottfried  sagt  nichts 
Bestimmtes.  So  zUec  ich  ze  lebene  hin  42  beweist  nichts;  dala 
üfgendiu  jugent  übermuot  fileret  265  f.,  konnte  ein  Junger  auch 
sagen.  Lebenserfahrung  und  Relativismus  wie  273  ff.  können 
Affektation  oder  aber  früh  ausgeprägte  persönliche  Art  sein. 
Dasselbe  wird  von  Stellen  wie  4038  ff.  oder  4507  ff.  gelten 
müssen.  Am  ehesten  wird  12191  ff.  auf  eine  Zeit  zu  deuten 
sein,  die  den  Minnedienst  hinter  sich  hat:  Sivie  lützel  ich  in 
mtnen  tagen  des  lieben  leides  habe  getragen'^)  usw.  Aber  ich 
glaube  allerdings,  ohne  einem,  der  „Beweise"  verlangt,  zu- 
muten zu  wollen,  einen  solchen  darin  zu  finden:  der  Dichter 
des  Tristan  war  nicht  mehr  jung.  Keine  Stelle  sagt  uns  das. 
Aber  es  liegt  über  dem  Gedicht  der  werltsüeze  für  mein  Emp- 
finden so  etwas,  ich  möchte  sagen  hochsommerliches^)  — 
herbstliches  wäre  zuviel  — ,  eine  gedämpfte,  lächelnde  Wehmut, 
die  ein  Jüngerer  nicht  affektieren  kann,  sondern  die  erlebt 
sein  muß. 

Damit  sind  freilich  keine  Zahlen  gegeben ;  auch  durch  die 
wohlbekannte  Betrachtung  nicht,  daß  das  Mittelalter  kurz- 
lebiger war  als  unsere  Zeit:  die  Termine  der  Akme  und  des 
Klimakteriums  haben  damit  schwerlich  etwas  zu  tun  und  sind 
individuell  so  sehr  verschieden  als  nur  möglich.  Man  darf 
hier  nicht  unterlassen,  auch  nach  den  andern  Gottfried  zuge- 
schriebenen Werken  zu  fragen.  Das  Urteil  über  ihre  Echtheit 
ist  ja  sehr  verschieden  ausgefallen.  Keine  der  kleinen  Sachen 
kann  aber  chronologisch  von  irgendeiner  Bedeutung  sein.  Es 
kann  sich  nur  um  den  bekannten  Lobgesang  handeln.  Der 
soll  ja  nun  freilich  durch  Pfeiffer  abgetan  sein.  Auf  Watterich 
wird  niemand  mehr  zurückkommen ;  die  Meinung  von  Hermann 
Kurz  muß  erwogen  werden.    Aber  nur  aus  dem  Gedichte  selbst 


1)  In  imnen  iagen  verbietet,  dahinter  den  Stand  des  Klerikers 
zu  suchen;  Verbot  der  Liebe,  sogar  der  Heirat  würde  für  Träger  der 
niederen  Weihen  ohnehin  gar  nicht  zutreffen.     Siehe  auch  unten  S.  26. 

2)  Ich  brauche  denselben  Ausdruck,  den  ich  (m.  Beiträge  zur  Li- 
teraturgeschichte Schwabens  2,33)  über  eine  im  Alter  von  40—50  Jahren 
entstandene  Gedichtsammlung  meines  Vaters  gebraucht  habe. 


Gottfried  von  Straßburgf.  17 

und  seiner  Vergleichung  mit  dem  Tristan  heraus !  An  und  für 
sich  ist  die  Verweltlichung  eines  Mannes,  der  als  geistlicher 
Schüler  die  Gottesmutter  besungen  hat,  genau  so  denkbar  wie 
die  Bekehrung  eines  alternden  Sünders  —  oder  vielmehr  weit 
mehr  denkbar,  d^nn  letztere  Vorstellung  hat,  auf  Gottfried  an- 
gewandt, etwas  eminent  komisches  an  sich.  So  kirchlich-korrekt 
er  sich  im  Tristan  benimmt:  eine  religiöse  Natur  ist  er  nicht ^), 
und  da  er  eine  geistliche  Bildung  erhalten  hat,  so  ist  ein 
Mariengedicht  seiner  Schülerzeit  sehr  wohl  möglich. 

Pfeiffers  Kritik,  die  ohne  öffentlichen  Widerspruch  ge- 
blieben ist,  richtet  sich  gegen  die  Meinung,  der  Dichter  des 
Tristan  hätte  nach  diesem  den  Lobgesang  geschrieben.  Sie 
gründet  sich  in  der  Hauptsache  auf  eine  Anzahl  von  ungenauen 
Reimen  und  metrischen  Härten,  die  dem  Tristan  fremd  sind. 
Es  ist  kein  Zweifel,  daß  die  Beweisführung,  so  wie  sie  gegen 
Watterich  gerichtet  ist,  vollkommen  recht  hat;  keine  Bekehrung 
der  Welt  kann  den  Sinn  für  künstlerische  Form  aufheben. 
Daß  aber  diese  Unverträglichkeit  auch  gelte,  wenn  man  mit 
Kurz  annähme,  der  Lobgesang  sei  eine  Jugendarbeit:  das  ist 
damit  noch  lange  nicht  gesagt.  Die  Mängel,  die  Pfeiffer  an- 
führt, sind  kurz  diese.  Reime  von  langem  Vokal  auf  kurzen, 
m:n,  ho,  gä,  nd  im  Reim,  vorhteiporte  33,4.  8,  s:^;  Wort- 
verkürzungen im  Reim:  dn\  män\  rein\  klein\  stern'\  har  = 
her  12,1,  hon  =  houm  92,3;  Gen.  PL  der  tagen  6,3;  rührende 
Reime  in  Str.  12.  31.  84;  tvünneiMnne,  während  der  Tristan 
nur  tvunne  hat;  Apo-  und  Synkope  im  Vers,  besonders  häufig 
Participia  wie  brinnde;  Betonungen:  Ungunst  35,6,  unzüht 
15,7,  ingänc  10,11;  ein  paar  fremdartige  Wörter:  her  61,12 
=  Hervorbringung  o.  ä.,  florieren  81,4;  inhrünstiu  herzen  hitze 
15,4;  ach  jugendiu  jugent,  ach  jugender  muot  87,9;  sehr  häu- 
figer Gebrauch  von  hernde  und  Zusammensetzungen. 

^)  Auch  Walther  von  der  Vogelweide  ist  keine.  Seine  Kreuzlieder 
und  sein  Leich  haben  für  mein  Empfinden  etwas  durchaus  offizielles  an 
sich,  und  an  der  Wirkung  des  Owc,  war  sint  versicunden  hat  das  na- 
türliche Gefühl  des  Alternden  den  Löwenanteil  —  denn  religiöse  An- 
wandlungen fehlen  nervös  erregbaren,  lyrischen  Talenten  nie;  bei 
wem  sind  sie  stärker,  zum  Teil  auch  schöner,  als  bei  Heine? 
Sitzgsb,  d.  philos.-pliilol.  u.  d.  bist.  Kl.  Jahrg.  1916,  5.  Abb.  2 


lö  5.  Abhandlung:  Hermann  Fisclier 

Diese  Eigenheiten  sind  nicht  alle  gleich  zu  beurteilen. 
Bei  den  unreinen  Reimen^)  weist  Pfeiffer  darauf  hin,  daß  sie 
zwar  nicht  im  Tristan,  aber  zum  Teil  bei  andern  Alemannen 
und  besonders  in  späterer  Zeit  vorkommen.  Aber  man  findet 
sie  ebenso  bei  den  allermeisten  Dichtern  in  „Minnesangs  Früh- 
ling"^) und  in  den  geistlichen  Gedichten  Nr.  30^ — 50  der  „Denk- 
mäler". In  MF.  entbehren,  wenn  wir  die  für  Gottfried  fremd- 
sprachlichen Veldeke  und  Morungen  außer  Betracht  lassen,  nur 
Bligger  von  Steinach  und  Engelhart  von  Adelnburg  solche 
Freiheiten  ganz :  von  jenem  haben  wir  zwei  Druckseiten,  von 
diesem  eine.  In  MSD.  30^  ff.  ist  kein  ganz  rein  reimendes 
Gedicht,  von  ganz  kurzen  abgesehen.  Fragen  wir  also:  was 
für  geistliche  oder  weltliche  Lyrik  in  deutscher  Sprache  konnte 
wohl  ein  junger  Mann  etwa  zwischen  1180  und  1190  zum 
Muster  nehmen,  so  lautet  die  Antwort:  nach  Ausweis  dessen, 
was  auf  uns  gekommen  ist,  so  gut  wie  lauter  Gedichte  mit 
derartigen  Reimfreiheiten.  Von  den  rührenden  Reimen  ist  der 
zweite  beabsichtigt  wie  die  in  den  Vierreimen  des  Tristan ;  die 
zwei  andern  —  ganze  zwei  unter  gegen  500  Reimen  —  stehen 
im  zweiten  Strophenteil,  wo  der  nämliche  Klang  viermal  er- 
scheint. Har  ist  mundartlich^).  Apokopen  wie  mdri'  sind,  wie 
wir  heute  sagen  können,  in  den  süddeutsehen  Mundarten  jener 
Zeit   gewiß   schon   allgemein    gewesen*).     Ebenso  wird  es  mit 


^)  Wozu  man  einen  Fall  wie  6, 3  rechnen  könnte.  Anderes  wie  auch 
hö,  nä  ist  gemein,  z.  B.  bei  Reimar  und  Hartmann  zu  finden. 

2)  Ich  halte  mich  an  den  gedruckten  Text  (Vogt-);  aus  den  Hand- 
schriften heraus  bekäme  man  gewiß  mehr,  nicht  weniger  Unregelmäßig- 
keiten. 

3)  Martin-Lienhardt  1,366  „fast  allgemein",  wenn  auch  Straßburg 
selbst  her(d)  hat;  daß  Gottfried  aus  der  Stadt  gebürtig  war,  ist  aus 
seinem  Beinamen  nicht  notwendig  zu  folgern;  es  kann  aber  auch  die 
Stadt  früher  har  gehabt  haben. 

*)  Zu  dieser  Annahme  drängen  besonders  die  Ortsnamen,  die  in 
Urkunden  sehr  alten  Datums  oft  schon  in  einer  der  heutigen  gleichen 
gekürzten  Form  erscheinen.  Die  literarische  Erhaltung  von  -e  u.  dgl. 
ist  wohl  teils  Einfluß  fremder  Muster,  teils  aus  Satzdubletten  mit  vollerer 
und  geschwächter  Form  zu  erklären. 


Gottfried  von  Straßburg.  lö 

den  Synkopierungen  stehen:  die  Participia  ohne  Mittelsilbe, 
die  Pfeiffer  anführt,  gehören  alle  zu  starken  Verben  oder 
solchen  mit  -j,  nur  minnen  hat  altes  -o-;  es  genügt  aber  zu 
erinnern,  daß  in  Wörtern  der  Form  X^X,  öfters  auch  X-X? 
die  Mittelsilbe  synkopiert  ist,  genauer:  dats  wir  heute  mit 
Doppelformen  XX \  und  X\  X  rechnen,  zwischen  denen 
eine  Mundart  füglich  anders  ausgeglichen  haben  kann  als  die 
übliche  mhd.  Dichtersprache.  Man  kann  auch  umgekehrt  volle 
Formen  und  zweisilbige  Senkung  annehmen ;  gegen  beides : 
alte  Kurzformen  und  zweisilbige  Senkung,  sind  wir  heute 
toleranter  als  früher.  Die  Form  hon  (C  ho^n)  kann  ja  als  freier 
Reim  ou :  6  gedacht  sein,  obwohl  der  Lobgesang  sonst  keine 
qualitativ  verschiedenen  Vokale  reimt;  sie  ist  aber,  genau  ge- 
nommen, ganz  regelrecht.  Künne  gehört  zu  den  Wörtern,  die 
im  Tristan  fehlen;  in  der  geistlichen  Poesie  ist  es  umso  häu- 
figer, kommt  auch  bei  Hartmann  außer  dem  Iwein  vor^). 
Anderes  sind  Ungeschicklichkeiten,  auch  etwa  Kühnheiten,  bei 
denen  man  durchaus  die  Wahl  hat,  sie  einem  Anfänger,  der 
nur  Sachen  älterer,  weniger  geglätteter  Form  vor  sich  hatte, 
oder  aber  einem  Manne  roherer  Bildung  zuzuschreiben. 

Solchen  Mängeln  steht  nun  anderes  gegenüber.  Schon 
Kurz  fand'-^)  in  dem  Lobgesang  etwas  „TJrgottfriedisches":  „das 
ganz  eigentümliche  Spielen  und  Klingeln  hat  er  ja  auch  im 
Tristan  nicht  lassen  können,  und  der  Lobgesang  kam  mir  mehr 
und  mehr  wie  ein  kindisches  Vorspiel  vor."  In  der  Tat  wird 
auch  hier  mit  Worten  sehr  stark  gespielt  und  oft  in  einer 
Weise,  die  ganz  an  den  Tristan  erinnert.  Ich  führe  an : 
Str.  L  3  (mehrfach).  9,7  f.  13.  17.  23.  24.  30.  31.  57,6.  61 
(mehrfach).  62.  64  (mehrf.).  67,1.4.  74—77  {minne).  81.  83. 
85,9  f.  87,7  f.  89,9-11.  90,  6  ff.  93  (mehrf.).  94.  Besonders 
erwähne  ich  die  etymologischen  Figuren  (im  weiteren  Sinne 
des  Wortes):  6,9  f.  7,2  f.  12,4  f.  14,5.  15.  18  (mehrf.).  19,1  f. 
25,4.  26.  34.  42, 2  f.  50,9  f.  58,11  f.   59.  64, 12  f.  72.  73, 10  f. 


1)  S.  Jänicke,  De  dicendi  usu  W.  de  Eschenbach,  S.  23. 

2)  Anz.  26,  182. 

2* 


20  5.  Abhandlung:  Hermann  Fischer 

84  (mehrf.).  85,9  f.  93,8;  die  Anaphoren:  15.  28.  35—37. 
38-40.  43-53.  55-57.  68-71.  77-81.  84—94.  In  allem 
dem^)  wird  man  an  Gottfried  erinnert.  Besonders  bei  den 
denominativen  Verben:  der  wunne,  diu  sich  tvunnet  25,4  würde 
einer,  dem  man  aufgäbe  es  zu  suchen,  gewiß  im  Tristan  suchen, 
und  die  oben  erwähnte  jugendiu  jugent  erinnert  auffallend 
daran.  Es  fehlt  auch  nicht  an  Einzelheiten,  die  man  im  Tristan 
wiederfinden  mag,  von  denen  aber  keine  allzu  stark  ist^). 
Freilich,  alles  ist  roher,  härter  als  im  Tristan ;  sind  beide  vom 
selben  Verfasser,  so  muß  dieser  in  längerer  Schulung  an  den 
großen  Mustern  des  Epos  den  dolce  stil  nuovo  gelernt  haben  ^). 
Soll  das  unmöglich  sein  ?  Solche  positiven  Eigentümlichkeiten 
und  Neigungen  wie  die  eben  angeführten  pflegen  frühe  auf- 
zutreten und  halten  auch  den  negativen  Qualitäten  der  Glätte 
und  Stilreinheit  stand ;  wer,  der  einige  Jahrzehnte  die  Feder 
führt,  hat  das  nicht  an  sich  selbst  erfahren  ? 

Ferner:  der  Lobgesang  steht  nebst  dem  vorausgehenden 
Minnelied  Diu  mt  ist  wünnecUch  und  dem  nachfolgenden  Ge- 
dicht von  der  Armut,  alle  drei  fortlaufend  geschrieben,  in  C 
unter  Gottfrieds  Namen,  während  ihn  B  und  Haupts  K  ohne 
Überschrift  haben*).  Nun  sagt  man  freilich,  einem  berühmten 
Mann  seien  leicht  fremde  Sachen  untergeschoben  worden.  Aber 
wenn  das  bei  Liedern  und  Sprüchen  unter  Walthers,  bei  Epen 
unter  Wolframs  Namen  sofort  begreiflich  ist,  so  wird  es  doch 
an  sich  nicht  wahrscheinlich  sein  sollen,  daß  man  dem  Tristan- 
dichter   ein    Mariengedicht    untergeschoben    habe!     Außerdem 


1)  Man  kann  ja  die  Anaphoren  abziehen,  weil  sie  dem  hymnischen 
Stil  besonders  angemessen  sind;  immer  bleiben  noch  in  der  vollen  Hälfte 
aller  Strophen  solche  Spiele. 

2)  Vgl.  wegen  3,  13;  Stegen  15,12  mit  Trist.  40;  das  Bild  der  Jagd 
str.  1 ;  golt,  nilit  bJi  29,13  mit  dem  oben  angeführten  Gold  und  Messing. 

^)  Ist  doch  schon  gesagt  worden,  eine  Kunstvollendung  wie  die  des 
Tristan  verlange  mit  Notwendigkeit  die  Annahme  früherer  Versuche 
desselben  Dichters!  Das  geht  gewiß  zu  weit;  um  so  lieber  wird  man 
das  Lob  Hartmanns  im  Tristan  4619  ff.  darauf  zurückführen,  daß  G.  sich 
bewußt  war,  bei  ihm  in  erster  Linie  gelernt  zu  haben. 

*)  Sie  beginnen  aber  auch  anders;   s.  später. 


Gottfried  von  Straßburg,  21 

sagt  Konrad  von  Würzburg  in  der  Goldenen  Schmiede  94  ff. : 
Ich  sit^e  ouch  niht  üf  grüenem  Tde  von  süezer  rede  touives  naz, 
da  wirdecUchen  üffe  saz  von  Sträzburc  meister  Gotfrit  .  .  .  der 
het  an  alle  vorhte  dich  gerüemet,  vrowe,  baz,  denne  ich  ... 
Tcünne  dich  getuon.  Pfeiffer  läßt  das  nicht  als  ein  Zeugnis 
gelten  und  weist  darauf  hin,  daß  es  het,  nicht  hat  heißt.  Mag 
man  nun  het  als  Plusquamperfekt  fassen  oder  hat  ändern,  was 
ich  beides  für  unnötig  halte:  Pfeiffers  Argument  zieht  nicht. 
Er  scheint  Konrad  so  zu  verstehen :  ein  Mann  höchsten  Talents 
wäre  dieser  höchsten  Aufgabe  gewachsener  gewesen  als  ich, 
und  ein  solcher  wäre  etwa  Gottfried  gewesen.  Das  wäre  un- 
gefähr, wie  wenn  Novalis  bei  seinen  Marienliedern  gesagt  hätte : 
der  Verfasser  des  Tasso  oder  der  des  Don  Carlos  hätte  sie 
besser   gemacht^).     Vielmehr  hat   die    Stelle    nur   dann    einen 


^)  Man  kann  den  Passus  als  eine  Nachahmung  des  literarischen 
Exkurses  im  Tristan  ansehen.  Aber  Konrad  hat  sonst  nichts  derartiges, 
wo  er  sich  mit  andern  Dichtern  vergliche.  Die  andere  Stelle,  wo  er  von 
Gottfried  redet,  Herzmäre  8  ff.,  bezieht  sich  auf  diesen  nicht  als  auf  den 
großen  Stilmeister,  sondern  führt  ihn  für  einen  bestimmten  Satz  als 
Autorität  an:  Des  bringet  uns  gewisheit  von  Sträzburc  meister  Gotfrit: 
swer  üf  der  wären  winne  trit  wil  ebene  setzen  sinen  fuoz,  daz  er  benamen 
haaren  muoz  sagen  unde  singen  von  minnecUchen  dingen  usw.,  nach  Trist. 
97 ff.:  Ein  senelichez  mcere  daz  tribe  ein  senedaere  usw.  —  Übrigens  ist 
auch  Gottfrieds  Exkurs  nicht  rein  literarisch-ästhetisch,  sondern  hat  seine 
sachliche  Einheit.  Er  redet  nur  von  Dichtern,  die  erotische  Stoffe  be- 
handelt haben,  und  zwar  zuerst  von  Epikern  (Wolfram  ist  doch  nur 
polemisch  herbeigezogen,  und  auch  bei  ihm  kann  man  an  die  großen 
Gawan-Episoden  denken),  dann  von  Lyrikern.  Heinrich  von  Veldeke  hat 
das  erste  Reis  geimpft,  d.  h.  den  ersten  Liebesroman  geschrieben ;  die 
grundlose  Meinung,  es  handle  sich  hier  um  die  reinen  Reime,  kann  nur 
aus  ganz  falschem  Verständnis  des  Rudolfischen  der  rehte  rime  alrerst 
began  (Alex.,  MSH.  4,866)  geflossen  sein;  aber  rim  ist  doch  mhd. 
nicht  Homoeoteleuton !  S.  jetzt  W.  Braune,  Reim  und  Vers  S.  5  ff . 
Immerhin  hat  jene  Deutung  Anlaß  gegeben,  Veldekes  Werke  in  seine 
Heimatmundart  zurück  zu  übersetzen.  Wie  viel  die  Wissenschaft  damit 
nach  mehr  als  einer  Seite  gewonnen  hat,  brauche  ich  nicht  zu  sagen. 
Aber  daß  die  Eneit  dem  Landgrafen  Hermann  limburgisch  überreicht 
worden  sei  (ich  finde  das  nirgends  gesagt,  aber  es  sollte  dann  mindestens 
das  Gegenteil  gesagt  sein),    das   glaube   ich   nicht.     Eilhart  von  Oberge 


22  5.  Abhandlung:  Hermann  Fischer 

guten  Sinn,  wenn  Konrad  sich  auf  eine  Mariendichtung  oder 
überhaupt  eine  geistliche  Dichtung  Gottfrieds  bezieht:  der 
hätte  es  noch  besser  gemacht,  denn  er  hat  das  durch  seinen 
Lobgesang  bewiesen. 

Angesichts  dessen  sind  nur  zwei  Möglichkeiten.  Der  Lob- 
gesang ist  von  einem  späteren  Unbekannten,  der,  vielleicht 
durch  die  Stelle  in  der  Goldenen  Schmiede  veranlaßt,  ein 
Mariengedicht,  und  zwar  in  Gottfrieds  Manier,  dichten  wollte 
—  ob  nun  die  Benennung  nach  Gottfried  bewußte  Fälschung 
seinerseits  oder  Werk  eines  Späteren  sein  möge  — :  oder  er 
ist  ein  frühes  Werk  Gottfrieds.  Als  unmöglich  soll  die  erste 
Ansicht  nicht  bezeichnet  werden,  aber  als  unnötig,  vielleicht 
als  unwahrscheinlich.  Der  Lobgesang  ist  von  einem  wirklich 
begabten  Mann,  wie  auch  Pfeiffer  zugibt^):  wohl,  das  soll  kein 
Beweis  sein.  Aber  etwas  anderes  läßt  mich  an  einem  epi- 
gonischen Ursprung  zweifeln.  Das  ist  die  Überlieferung.  Wir 
kennen  das  Gedicht  aus  drei  Handschriften:  B  C  K;  von  diesen 
stehen  nur  in  C    52  Strophen,    nur  in  B    30,    nur  in  K  1,  in 

und  Albrecht  von  Halberstadt  haben  nicht  niederdeutsch  gedichtet,  und 
Arnold  von  Lübeck  hat  Hartmanns  Gregor  für  einen  niederdeutschen 
Fürsten  nicht  niederdeutsch,  sondern  lateinisch  übersetzt.  Einmal  ist 
doch,  wie  die  Handschriften  zeigen ,  die  Eneit  hochdeutsch  geworden ; 
warum  nicht  schon  in  dem  für  Hermann  bestimmten  Exemplar?  Behaghel 
ed.  CLXI  sagt:  „Der  Archetypus  muß  also  späteres  [lies  spätestens]  in 
die  erste  Hälfte  der  90er  Jahre  des  12.  Jahrhunderts  fallen."  Ich  weiß 
nicht  einmal,  ob  Gottfried  Veldekes  Mundart  als  tiutische  zunge  be- 
zeichnet hätte;  man  redet  doch  sonst  im  13.  Jahrhundert  von  flämisch. 
^)  Fr.  F.  139.  Wenn  er  aber  sagt:  „diese  Häufung  und  unvermittelte 
Aneinanderreihung  von  Bildern  und  Gleichnissen,  diese  Wortspiele  und 
Tändeleien,  die  nirgends  ungehöriger  erscheinen  als  in  einem  geistlichen 
Liede",  so  mißt  er  mit  modernem  Maßstab,  nicht  mit  dem  des  Mittel- 
alters. Man  könnte  sich  wundern,  daß  das  dem  Herausgeber  Bertholds 
und  der  Mystiker  nicht  zum  Bewußtsein  gekommen  sein  sollte,  wenn 
nicht  der  Brief  an  Kurz  (Anz.  26, 180)  deutlich  zeigte,  daß  Pfeiffer  ebenso 
unter  dem  Druck  einer  starken  antiklerikalen  Tendenz  stand  wie  Wat- 
terich unter  dem  einer  gegenteiligen.  Und  wenn  Pfeiffer  S.  140  den 
„herrlichen  Leich  Walthers"  rühmt  und  von  dessen  „wahrer  Frömmig- 
keit und  feuriger  Innit^^keit"  usw.  redet,  so  kann  ich  nicht  mittun. 
De  guötibus  etc. 


Gottfried  von  Straßburg.  23 

BC  1,  in  CK  51),  in  BCK  5.  Pfeiffer  hat  das  in  seiner  Kritik 
nicht  erwähnt;  er  brauchte  es  nicht  zu  berücksichtigen,  weil 
die  von  ihm  gefundenen  Mängel  sich  auf  die  verschiedenst 
bezeugten  Strophen  ungefähr  gleich  verteilen.  Aber  es  gibt 
zu  denken.  Möglich,  daß  alle  94  Strophen  dem  ursprünglichen 
Gedicht  angehören,  in  der  von  Haupt  gewählten  oder  in  einer 
anderen  Ordnung;  möglich  auch,  daß  dazu  noch  weitere,  für 
uns  verlorene  Strophen  gehört  haben.  Möglich  aber  auch,  daß 
ein  alter  Text  durch  Zudichtungen  vermehrt  worden  ist.  Wie 
dem  nun  sein  möge,  unsere  Überlieferung  hat  eine  Vorgeschichte, 
vielleicht  eine  längere ;  und  das  wird  doch  auch  eher  für 
höheres  als  für  jüngeres  Alter  sprechen,  mindestens  aber  dafür, 
daß  man  schon  frühe  das  Gedicht  hochgeschätzt,  am  einfachsten : 
daß  man  es  schon  frühe  einem  berühmten  Meister  zugeschrieben 
hat.  Es  würde  sich  lohnen,  den  Lobgesang  mit  der  übrigen 
Mariendichtung,  natürlich  auch  der  lateinischen,  einer  gründ- 
lichen Untersuchung  zu  unterwerfen.  Bis  dahin  wird  der  Weg 
offen  sein,  ihn  für  Gottfriedisch  anzusehen. 

Es  soll  nun  aber  diese  Möglichkeit  nicht  als  Grundlage 
für  weitere  biographisch-chronologische  Folgerungen  dienen. 
Es  genügt  mir,  daß,  wenn  wir  den  Lobgesang  für  Gottfrieds 
Jugendwerk  ansehen,  sich  an  den  sonstigen  Resultaten  in  Be- 
ziehung auf  den  Tristan  und  seinen  Dichter  nichts  ändert. 
Gottfried  hat  eine  geistliche  Bildung  genossen,  vielleicht  am 
Münster,  das  der  Gottesmutter  geweiht  war;  der  Lobgesang 
enthält  nichts  Französisches  —  was  freilich  nicht  im  Gegen- 
stande liegt  — ,  würde  also  vor  die  Aneignung  der  französischen 
Sprache,  bzw.  vor  den  vielleicht^)  anzunehmenden  Pariser  Auf- 
enthalt fallen ;  später  fällt  die  Hinwendung  zur  weltlichen 
Dichtung,  vielleicht  auch  zu  einem  weltlichen  Beruf,  und  das 
Studium  Hartmanns.  War  Gottfried  um  1210 — 1215  vierzig 
oder  fünfzig  Jahre  alt,  so  war  er  frühestens  1160,  spätestens 
1175  geboren;   den  Lobgesang  könnte  er  mit  15 — 20  Jahren, 


^)  Einschließlich  str.  23,  wo  C  und  K  ganz  verschiedenen  Text  haben 
2)  S.  u.  S.  29. 


24  5.  Abhandlung:  Hermann  Fischer 

also  zwischen  1175  und  1190  verfaßt  haben.  Darin  läge 
nichts  Unmögliches. 

Sagt  uns  vielleicht  der  Tristan  selbst  noch  anderes  über 
seinen  Verfasser?  Es  ist  bei  mittelalterlichen  Dichtern  nicht 
ungewöhnlich,  daß  sie  ihre  Personen  oder  die  von  Gönnern  in 
irgend  einer  "Weise  versteckt  andeuten.  Ich  habe  nach  An- 
gaben oder  Andeutungen  von  Wappen  gesucht,  aber  nichts 
beweisendes  gefunden.  Gewiß  kennt  Gottfried  Namen  und 
Regeln  der  edeln  Kunst ^);  er  nennt  gölt  und  sobel  5036,  weiß 
also,  daß  Metall  und  Farbe  aneinander  stoßen  müssen ;  ebenso 
bei  Tristans  Schild,  der  einen  Eber  trägt  4940,  und  zwar  von 
swarzem  sohel  alsam  ein  Jcol  6620  in  silherwtsem  Feld  6612. 
Aber  dieses  Wappen,  d.  h.  der  Eber,  stammt  gewiß  aus  Tho- 
mas^); jedenfalls  führt  keine  der  Familien,  an  die  wir,  wie 
später  zu  zeigen  sein  wird,  denken  könnten,  einen  Eber^). 

Es  bleibt  nur  das  Akrostichon  GBIETEEICH  im  Pro- 
log 1.  5.  9.  13.  17.  21.  25.  29.  33.  37*).  Daß  es  sich  hier 
um  einen  als  Besteller  oder  anders  um  das  Gedicht  verdienten 
Gönner  Dietrich  handeln  muß,  ist  klar ;  bei  G  denkt  man  wohl 


1)  Im  Vorbeigehen  mag  darauf  hingewiesen  sein,  daß  er  Akte  von 
rechtlicher  Bedeutsamkeit  eingehend  schildert;  außer  dem  Gottesgericht 
vgl.  5717  ff.  5871  ff. 

2)  Vgl.  Bedier  1,61,  n.  1.  177;  Piquet  125,  n.  2. 

')  Der  Bischof  hatte  als  Graf  von  Veringen  die  Hirschstangen,  aber 
die  Hirschjagd  ist  ja,  s.  o.,  aus  der  Vorlage. 

*)  Die  folgenden  TI  —  Tristan  Isöt  gehen  die  Verfasserfrage  nicht 
an.  Wenn  C.  v.  Kraus,  ZfdA.  50, 220  ff.  auch  weiterhin  an  den  be- 
kannten Absätzen  im  Epos  Reste  eines  Akrostichons  herausbringen  will, 
so  kann  ich  das  hier  vernachlässigen,  weil  diese  Reste  außer  Tristan 
und  Isolde  doch  nur  den  ohnehin  feststehenden  Namen  Gottfried  ent- 
halten sollen.  Ich  kann  ihm  übrigens  nicht  beistimmen;  das  Akrostichon 
muß  vollständig  sein  oder  es  ist  Zufall;  wie  seltsam  auch,  daß  Gottfried 
als  Gode-,  Dietrich  aber  in  der  rein  hochdeutschen  Form  vorkommen  soll! 
Was  das  Akrostichon  und  (wenn  man  es  so  nennen  darf)  Telestichon  in 
dem  von  W.  Werner,  Gott.  Nachr.,  philol.-hist.  KL,  1908,  S.  457,  ver- 
öffentlichten Basler  Gedicht  des  13.  Jahrhunderts  hier  tun  soll  (ZfdA. 
51,374),  verstehe  ich  nicht;  es  ist  ganz  vollständig  und  in  strengster 
Reihenfolge,  von  „ Anagramm "  keine  Spur, 


Gottfried  von  Straßburg.  25 

an  Gottfried  selbst^),  wenn  man  nicht  vorzieht,  es  als  Ab- 
breviatur von  gräfe  zu  verstehen,  wozu,  wie  wir  sehen  werden, 
vielleicht  Anlaß  sein  könnte^). 

Soviel  sagt  uns  Gottfried  selbst  und  seine  Fortsetzer. 
Weiterhin  ist  eines  sicher :  der  Tristan  ist  für  einen  vornehmen 
Empfänger  geschrieben,  den  wir  gewifä  am  Straßburger  Hof  zu 
suchen  haben.  Daß  ein  Dichter  ohne  höheren  Auftrag  oder 
mindestens  ohne  die  sichere  Aussicht  auf  Lohn  oder  doch  Bei- 
fall so  ein  Epos  unternommen  hätte,  kann  ich  nicht  glauben^). 
In  jenem  Dietrich  den  Empfänger  oder  Besteller  zu  sehen, 
wird  am  nächsten  liegen.  Der  Bischof  selbst  kann  es  nicht 
wohl  sein;  er  wäre  wohl,  wenn  er  es  gewesen  wäre,  in  ähn- 
licher Art  statt  oder  neben  Dietrich  angebracht  worden.  Die 
Person  des  Bischofs,  unter  dem  der  Tristan  verfaßt  sein  muß, 
kann  nicht  zweifelhaft  sein.  Es  ist  Heinrich  aus  dem  schwä- 
bischen Grafen  geschlechte  von  Veringen,  Bischof  1202 — 1223. 
Leider  wissen  wir  über  ihn  so  gut  wie  nichts  charakteristisches*). 


^)  C.  V.  Kraus,  ZfdA.  50,  222,  möchte  auch  hier  genaueres  wissen. 
„Da  Johannes,  der  Rudolf  die  Quelle  für  seinen  Wilhelm  verschaffte,  im 
Akrostichon  dieses  Gedichtes  neben  Ruodolf  erscheint  wie  im  Tristan 
Bieterich  neben  Godefridus,  und  da  R.  seine  akrostichische  Technik  von 
Gottfried  gelernt  hat,  so  war  D.  der  Gönner,  aus  dessen  Händen  der 
Straßburger  Dichter  den  Thomas  empfing."  Durchaus  möglich;  aber  die 
Prämissen  sind  unsicher.  Darüber,  daß  Godefridus  nicht  bezeugt  ist, 
s.  die  vorige  Anmerkung;  ob  Rudolf  die  Akrosticha  von  Gottfried  ge- 
lernt hat,  steht  dahin,  es  stimmt  auch  im  Wilhelm  nicht  ganz,  denn 
dort  sind  beide  Namen  vollständig  enthalten ;  und  endlich  kann  man, 
wenn  G  =  Gottfried  ist,  aus  den  zwei  Namen  auch  ein  etwas  anderes 
Verhältnis  zwischen  ihren  Trägern  folgern. 

2)  Bechstein,  Allg.  D.  Biogr.  36,502. 

^)  Ich  habe  das  in  meinem  S.  4  angeführten  Nibelungen-Aufsatz 
S.  6  ausgeführt. 

*)  Stökle,  S.  33,  nennt  ihn  „dem  Rittertum  ergeben";  er  führt  an, 
daß  Heinrich  dem  jungen  König  Friedrich  mit  500  Reisigen  entgegen 
gezogen  und  daß  er  vier  Jahre  ohne  Weihe  geblieben  sei.  Das  erstere 
beweist  bei  einem  deutschen  Reichsfürsten  gar  nichts.  Das  zweite  aber 
bezieht  sich  nicht  etwa  auf  so  lange  ausgebliebene  Priesterweihe, 
sondern   darauf,    daß  H,,    weil  der  Stuhl   von  Mainz   strittig,    also   sein 


26  5.  Abhandlung:  Hermann  Fischer 

Aber  daß  es  seinem  Hof  nicht  an  weltlicher  Pracht  gefehlt 
habe,  ist  anzunehmen.  Das  Domstift  war  freiherrlich,  wovon 
nachher.  Es  wird  an  Liebhabern  für  eine  Poesie  wie  die 
Gottfrieds  dort  nicht  gefehlt  haben. 

Für  die  Person  des  Dichters  folgt  nur  eins:  er  muß  das 
Hofleben  gut  gekannt  haben,  muß  mit  ihm  so  verwachsen 
gewesen  sein,  daß  er  als  ein  dorthin  gehöriger  erscheinen 
konnte^).  Wenn  er  kirchliche  Schulung  genossen  hat,  wie 
wir  sahen,  so  kann  er  von  Geburt  gewesen  sein  was  er  wollte; 
vom  Edeln  bis  zum  gemeinen  Unfreien  sind  hier  alle  Stufen 
denkbar,  wenn  auch  die  höheren  des  Edeln  oder  des  Ministe- 
rialen die  wahrscheinlicheren  sind.  Nicht  mindere  Freiheit 
haben  wir  in  bezug  auf  seinen  Beruf.  Er  kann  als  Kleriker 
ein  Werk  wie  den  Tristan  sehr  wohl  verfaßt  haben  ^);  er  kann 
aber  auch  im  Besitz  kirchlicher  Schulung  weltlichen  Beruf 
ergriffen  haben  wie  Hartmann  von  Aue^)  oder  Eike  von  Rep- 
gow*).  Nur  mit  der  früher  üblichen  Angabe,  er  sei  „bürger- 
lich" gewesen,  ist  gar  nichts  zu  machen;  ein  Mann,  der  weder 


kirchlicher  Vorgesetzter  nicht  sicher  war,  so  und  so  lange  nicht  zum 
Bischof  ordiniert  wurde,  besagt  also  gar  nichts.  Die  Straßburger 
(Marbacher)  Annalen,  die  das  erzählen,  sagen :  Hie  religiöse  vivit  cepitque 
(fuerras  et  prelia  dcclinare,  MG.  SS.  17,  89  (170);  wonach  Königshofen, 
Chron.  d.  d.  Städte  9,  648  f.  Mit  dieser  traditionellen  Phrase  ist  nicht 
viel  gesagt.  Heinrichs  politische  Wandlung  von  Otto  IV.  zu  Friedrich 
geht  uns  nichts  an.     Siehe  Allg.  D.  Biogr.  11,  621  f. 

1)  Vgl.  ed.  Golther  1,  XI. 

2)  Auch  Bechstein  an  der  oben  getadelten  Stelle  Allg.  D.  Biogr, 
36,503,  fährt  fort:  „Im  übrigen  würde  die  Behandlung  eines  Liebes- 
romans auch  einem  Kleriker  nicht  unangemessen  und  unerlaubt  gewesen 
sein*.  Wenn  Ulrich  von  Zazikhoven  Pleban  von  Lommis  war,  kann 
man  sagen:  auch  einem  Priester. 

^)  S.  das  zu  Anfang  angeführte  Buch  von  Schönbach. 

*)  Zeumer,  Festschrift  zu  H.  Brunners  70.  Geburtstag,  S.  135  fF.; 
desgl.  für  Gierke  455  ff.  Vgl.  W.  Kothe,  Kirchliche  Zustände  Straßburgs 
im  14.  Jh.,  S.  37:  ,Die  Söhne  der  vornehmen  städtischen  Bürger,  welche 
die  geistliche  Laufbahn  einschlagen  wollen,  lassen  sich  gewöhnlich  die 
Rückkehr  zum  Laienstande  offen.  Es  herrscht  die  Gewohnheit,^  nur  die 
Tonsur  oder  niederen  Weihen  zu  empfangen". 


Gottfried  von  Straßburg.  27 

Kleriker  noch  Ministeriale  oder  Ritter  noch  edel  war,  konnte 
um  1200  unmöglich  imstand  sein,  ein  Buch  —  und  vollends 
den  Tristan  —  zu  schreiben. 

Man  hat  jene  negative  Angabe  darauf  gegründet,  daß  Gott- 
fried nie  „Herr",  wohl  aber  „Meister"  genannt  wird.  Seine  Fort- 
setzer, soweit  wir  sie  kennen,  nennen  ihn  meister  G.  Ulr.  v.Türh.  4, 
m.  G.  von  Strasburg  Heinr.  v.  Freib.  15  f.;  in  Rudolfs  Wilh. 
2185  f.  heißt  es  m.  G-es  Jcunst  von  Strasburg,  im  Alex.^)  der 
wtse  G.  von  Str.;  vielleicht  ist  nachher  auf  den  Meistertitel 
angespielt:  Wie  ist  so  gar  meisterlich  sin  Tristan,  s.  a.  nach- 
her; in  Konrads  von  Würzburg  Goldener  Schmiede  97  von 
Sträzburc  meister  Gotfrit,  ebenso  Herzmäre  9  (s.  o.).  Hier  mag 
man  nun  mit  dem  Begriff  der  literarischen  Auktorität,  des 
Meisterdichters,  auskommen.  Aber  auch  die  Minnesingerhand- 
schrift C  hat  über  den  ihm  zugeschriebenen  Lyrika  meister 
G.  V.  Str.^).  Der  Anordnung  nach  steht  er  unter  den  bürger- 
lichen, städtischen,  geistlichen  usw.  Dichtern^);  seinem  Bilde 
fehlen  die  adeligen  oder  ritterlichen  Attribute.  Es  ist  also 
kein  Zweifel,  daß  die  folgende  Zeit  ihn  „Meister",  nicht  „Herr" 
genannt  und  ihn  außerhalb  der  Klasse  des  Rittertums  ge- 
sucht hat. 

Was  bedeutet  das?  Heinrich  von  Freiberg,  der  mit  dem 
Hofe  Wenzels  IL  von  Böhmen  1278  — 1305  zusammenhängt, 
führt  die  Bezeichnung  „Meister"  weiter  aus,  indem  er  Gottfrieds 
Art  nachahmend  sagt  (16  ff.):  Der  so  mangen  snit  spehen  unde 
riehen  schöne  unde  meisterlichen  nach  durnechtiges  meisters  siten 
Ü2  blüendem  sinne  hat  gesniten  und  hat  so  richer  rede  cleit 
disem  sinne  an  geleit  usw.  Er  vergleicht  ihn  also  einem  meister- 
lichen Schneider,  vielleicht  kann  man  im  Sinne  seiner  Zeit  schon 
sagen:    einem  Schneidermeister*).     Was   aber   der   Meistertitel 


1)  MSH.  4,  866. 

2)  A  G.  V.  Str.,  B  keine  Überschrift.     S.  a.  oben  S.  20. 

^)  Schulte,  Die  Standesverhältnisse  der  Minnesinger,  ZfdA.  39, 
speziell  S.  231. 

*)  Natürlich  meine  ich  nicht,  daß  er  ihn  dafür  gehalten  habe.  Das 
Bild    des    Schneiderns    an    sich    ist    auch    um    1200    nicht    detrektativ; 


28  5.  Abhandlung:  Hermann  Irischer 

um    1200    bedeutet    haben    möge,    darüber    sind    verschiedene 
Meinungen  möglich. 

Wir  vermissen  schmerzlich  eine  genaue  Statistik  der 
Prädikate  „Herr",  „Meister",  dominus,  magister.  Sie  sollte 
einmal  gegeben  werden  auf  Grund  vor  allem  der  Urkunden, 
in  historischer  und  geographischer  Ordnung,  auch  mit  Berück- 
sichtigung der  Frage,  welchem  Stande  der  Aussteller  jeder 
Urkunde  angehört  hat.  So  lange  wir  sie  nicht  besitzen,  haben 
wir  keinen  festen  Boden  unter  den  Füßen.  Einstweilen  habe 
ich  zusammengestellt,  was  sich  in  den  Straßburger  Urkunden 
von  1150  bis  1230  findet.  Hier  ist  dominus  erstens  gebraucht 
für  Kleriker,  und  zwar  in  Urkunden  des  Bischofs  oder  Dom- 
kapitels 1155  (1,86).  1182  (1,99).  1185/89  (1,103).  1191 
(1,105).  1193  (1,108).  1221  (1,154).  1224  (1,156  f.).  1230 
(1,172).  1230  (1,173);  in  solchen  des  Thomasstifts  1182(1,98). 
1197  (1,111).  1225  (1,157).  Zweitens  für  Weltliche  (ich  sehe 
von  Königen  ab):  d-s  Änselmus  advocatus  Argenünensis,  d~s 
Otto  adv,  Maurimonasterii  1155  (1,86;  bisch.  Urk.);  d-s  Hein- 
ricus  de  Suhe,  d-i  Egenonis  avuncuU  uxoris  sue  1185  (1,100); 
d'i  Egelolfi  de  UrseUngin  ebd.;  d-s  Conradus  de  Hadestat  1188 
(4,6;  bisch. Urk.);  dominoWernhero  marscalco  1190/1202  (1,119; 
städtische  Urkunde);  d,  Theodorico  burgravio  1216  (1,130;  Urk. 
des  Domkapitels);  domina  Hadewigis,  uxor  quondam  d-i  Symonis 
de  Epfiche  1225  (1,156;  bisch.  Urk.)  und  eod.  (1,157;  bisch. 
Urk.);  d-s  Chunradus  Leitreche  1225  (1,156;  bisch.  Urk.); 
d-m  Burchardum  de  Truhtersheim ,  d-am  Hedewigam  filiam 
d-i  Bietend  de  Epfiche  1226  (1,163  f.;  städtische  Urkunde); 
d-i  Wernheri  marscalci  1229  (1,171;  desgl.).  Das  sind  zum  Teil 
Edle,  zum  Teil,  wie  die  Amter  zeigen,  Ministerialen.  Diesen 
kaum  mehr  als  zwanzig  Fällen  stehen  unendlich  viel  mehr 
andere  gegenüber,  die  ohne  dominus  sind,  von  Königen  und 
Bischöfen  abwärts  durch  alle  Stufen  von  Klerikern  und  Laien. 


s.  Trist.  4561  if.;  Walther  v.  d.  Vogelw.  7,  3  ff.;  Konr.  v.  Würzb.  Troj. 
110  ff.  Vielleicht  folgt  Heinrich  dem  Muster  von  Rudolfs  Alex.:  ein 
Hchroeter  süezer  worte  MSH.  4,  866.  Über  das  Aufkommen  des  Meister- 
titels für  Handwerker  s.  Schulte  a.  a.  0.  232.    Mhd.  WB.  2, 1,  117. 


Gottfried  von  Straßburg.  29 

Magister  findet  sich  nur  halb  so  oft.  Und  zwar  m.  scholarum 
am  Domstift  1155  (1,86:  dominus  Hartbertus  m.  sch.y  schon  oben 
aufgeführt).  1160  (1,91);  am  Thomasstift  1182  (1,99).  1197 
(1,111:  mag.  Willehehnus,  ecclesie  nostre  scholasticus) ;  am  Peters- 
stift 1187  (1,102);  dagegen  m.  allein:  Älhero  m.  am  Peters- 
stift 1155(1,86);  m-o  Hugone  sacerdote  de  S.  Aurelia  1182(1,99); 
m-o  Fetro,  m-o  Ingrammo  am  Domkapitel  1185/89  (1,104); 
m.  Heinricus  de  Lutenhach  als  canonicus  Argentinensis  1227 
(1,166;  bisch.  Urk.)  und  1229  (1,169;  desgl.);  dazu  in  anni- 
versario  m-i  Hermanni  1224/28  (4,  15).  Alle  sind  Geistliche*); 
auch  hier  aber  stehen  dem  schwachen  Dutzend  weit  mehr  Fälle 
gegenüber,  wo  kein  solcher  Titel  steht,  ohne  daß  man  erkennen 
kann,  warum. 

Gottfrieds  Meistertitel  wäre  ohne  weiteres  erklärt,  wenn 
wir  annehmen  wüiden,  er  habe  sich  die  Magisterwürde  er- 
worben. Das  könnte  er  wohl  nur  in  Paris  getan  haben ;  von 
einem  dortigen  Aufenthalt  redet  er  nicht,  braucht  aber  nach 
seiner  unpersönlichen  Art  auch  nicht  davon  geredet  zu  haben. 
Möglich  wäre  es  sehr  wohl.  Außer  seinen  theologischen  Kennt- 
nissen^) sei  an  seine  Kenntnis  des  Französischen  erinnert,  das 
von  keinem  andern  in  dieser  Ausdehnung  verwendet  worden 
ist ;  wenn  auch  gute  Beherrschung  jener  Sprache  in  der  höheren 
Gesellschaft  des  nur  35  Kilometer  von  der  Sprachgrenze  ent- 
fernten Straßburg  vielleicht  schon  vor  sieben  Jahrhunderten 
anzunehmen  ist^).  Wenn  Gottfried  Magister  war,  so  ist  es 
verständlich,  daß  man  ihn  „Meister"  nannte,  auch  wenn  er 
sonst  mit  dem   für  Kleriker   üblichen   „Herr"    genannt  worden 


^)  Der  magisler  bürge nsiiim  ist  beiseite  gelassen. 

2)  Zum  Teil,  s.  o.,  auch  aus  französischen  Theologen  der  Zeit. 

^)  Es  ist  doch  kein  Zufall,  daß  die  drei  ersten  Lyriker,  bei  denen 
sich  welsche  Form  findet,  Veldeke,  Fenis  und  Hausen,  der  Sprachgrenze 
nahe  zu  Haus  waren.  Eine  Spezialuntersuchung  über  Kenntnis  und  Ge- 
brauch des  Französischen  im  Elsaß  vor  der  Annexion  durch  Frankreich 
wäre  eine  in  jeder  Beziehung  lohnende  Aufgabe;  ob  freilich  eine  lös- 
bare? Welches  Französisch  Gottfried  braucht,  kann  Nebensache  sein, 
so  lange  wir  nicht  wissen,  welches  Französisch  in  Straßburg  bekannt 
war.     Möge    mancher  Passus   auch   aus   Thomas   stammen :    die    genaue 


30  5.  Abhandlung:  Hermann  Fischer 

wäre;  denn  dann  konnte  „Meister"  mehr  sein  als  „Herr". 
Über  den  Geburtsstand  wäre  damit  noch  nichts  gesagt^).  Unter 
den  Kanonikern  des  Domkapitels  werden  wir  ihn  trotzdem 
nicht  zu  suchen  haben;  weniger,  weil  er  nicht  „Herr"  heißt, 
sondern  weil  er  als  Freiherr  einen  andern  Ortsnamen  als  Straß- 
burg führen  müßte ^).  Nehmen  wir  an,  er  sei  nicht  edler  Ab- 
kunft gewesen,  so  erklärt  sich  nicht  nur  das  Fehlen  des  „Herr", 
wenn  er  Kleriker  oder  Ministeriale  war,  leichter,  sondern  auch, 
daß  die  Ortsbezeichnung  „von  Str."  in  der  Tradition  aufkommen 
konnte.  Er  konnte  in  diesem  Fall  mit  oder  ohne  Beinamen 
(Familiennamen)  genannt  und  der  letztere  vergessen  werden. 
Dann  ist  es  auch  erlaubt,  wenn  sich  ein  Gottfried  mit  Bei- 
namen darbietet,  ihn,  wenn  alles  stimmen  sollte,  mit  dem 
Dichter  zu  identifizieren.  Am  Thomas-  und  Petersstift 
pflegten  die  Kanoniker  zumeist  aus  Straßburger  Patrizier- 
familien zu  sein^);  es  findet  sich  aber  weder  an  diesen  bei- 
den noch  am  Domstift  einer  seines  Namens  und  seiner  Zeit 
genannt. 

Wo  nicht  einen  Magister,  kann  „Meister"  auch  noch 
anderes  bedeuten.  Man  kann  mit  Stökle  (s.  o.)  an  einen 
Lehrer  am  Dom  oder  einem  der  andern  großen  Stifte 
denken;  „Meister"  kann  ein  Singmeister*),  ein  Lesemeister 
sein.  Dann  haben  wir  einen  Kleriker  vor  uns.  Wem  ein 
bischöflicher  Ministeriale   mehr   behagt,    der   könnte  an   einen 


Kenntnis  der  welschen  Sprache  bleibt.  Ob  nicht  auch  die  Kenntnis 
des  Thomas  in  Frankreich  erworben  worden  ist?  Vgl.  die  welschen 
buoch  Trist.  159. 

1)  Nach  Hertz  (Übers.  S.  535)  und  Golther  (ed.  1,  XI)  wäre  m.  auch 
für  gelehrter  Bildung  teilhaftige  Adliche  gebraucht.  Wenn  Kurz,  Germ. 
15,208  anführt,  daß  Tristan  11574.  11658.  11685  w eister  hei&t,  so  gehört 
das  nicht  her;  er  ist  dort  schif meist  er,  wie  Kurz  selbst  bemerkt. 

^)  Von  den  »Herren  von  Straßburg"  findet  sich  in  ÜB.  1  fast 
nichts;  jedenfalls  ist  kein  Gottfried  darunter,  auch  sind  sie  keine 
Freiherren. 

3)  Kothe,  Kirchl.  Zustände,  S.  5. 

*)  S.  das  S.  14  über  die  Musik  gesagte. 


Gottfried  von  Straßburg.  31 

Jägermeister  denken^).     Möglich  wird  alles   das  sein,   beweis- 
bar nichts*). 

Es  bleibt  uns  aber  noch  eine  Aufgabe.  Ist  unter  den 
Namen,  die  uns  das  reichhaltige  Straßburger  Urkundenbuch 
kennen  lehrt,  vielleicht  ein  Gottfried,  den  wir  mit  unserem 
Dichter,  oder  ein  Dietrich,  den  wir  mit  dem  des  Akrostichs 
gleichsetzen  könnten?  Die  Hoffnung  ist  erlaubt;  denn  allzu 
obskure  Personen  werden  beide  nicht  gewesen  sein.  Auch  waren 
ihre  Namen  in  Straßburg  nicht  häufig^). 


l 


^)  Wegen  der  Jagd  s.  S.  14.  Wenn,  wie  mir  mein  Kollege  Säg- 
müller sagt,  im  kanonischen  Recht,  speziell  in  den  Dekretalen  Gregors  IX. 
von  1234,  die  Jagd  den  Geistlichen  verboten  war,  so  wurde  dieses  Verbot 
sicher  nicht  gehalten.  In  Straßburg  finde  ich  zwar  keinen  Jägermeister 
u.  dergl.  genannt,  aber  nach  dem  ersten  Stadtrecht  (nach  1129)  hatten 
die  Sattler  die  Verpflichtung:  purgabunt  vinabula  episcopi,  si  necesse 
fuerit  ÜB.  1,475. 

2)  Kurz,  Germ.  15, 215  f.,  meint,  eine  Geringschätzung  des  ritter- 
lichen Landadels  liege  auch  darin,  daß  Gottfried  im  literarischen  Exkurs 
die  von  ihm  gerühmten  Dichter  nicht  „Herr"  nennt,  während  Wolfram 
das  nicht  unterläßt;  vgl.  Piquet  315,  n.  1.  Die  Beobachtung  ist  richtig, 
aber  man  könnte  ebenso  gut  daraus  schließen,  G.  habe  nicht  „Herr" 
gesagt,  weil  er  selbst  einer  gewesen,  wie  heute  Adelige  einander  nur 
„Graf,  Baron",  nicht  „Herr  Gr.,  Herr  B."  anreden.  Das  Argument  wäre 
jedoch  ebenso  schwach  wie  das  gegenteilige;  Rud.  Wilh.  2173  0".  setzt 
bald  herre,  bald  nicht. 

3)  Das  ÜB.  enthält  drei  Verzeichnisse  der  Hausgenossen  der  Straß- 
burger Münze,  eines  von  1266  (ÜB.  1,485  ff.),  eines  von  1283  (4, 2,250  ff.) 
und  eines  von  1310  (ebd.  255  ff.).  Nach  den  Ausführungen  von  Eheberg 
(Schmoller,  Staats-  und  sozialwiss.  Forschungen  5,5,97—127)  waren  das 
ursprünglich  bischöfliche  Ministerialen,  1266  sind  aber  schon  zahlreiche 
Namen  von  Straßburger  Geschlechtern  darunter;  die  Bevölkerungsschicht 
ist  also  etwa  die,  die  wir  für  Gottfried  und  für  Dietrich,  falls  der  ein 
Straßburger  war,  anzunehmen  haben.  1266  sind  343  Personen  genannt, 
darunter  Johannes  66,  Konrad  und  Koseformen  30,  Heinrich  29,  Nico- 
laus 21,  Peter  15;  dagegen  4  Dietrich  =  1,2  Prozent;  1  Gottfried,  9  Götzo, 
.3  Gosselin  =  (falls  alle  =  Gottfried)  3,8  Prozent.  1283  finden  wir  420 
Personen,  darunter  18  Johannes  und  Koseformen,  43  Nicolaus,  34  Konrad 
tind  Koseformen,  23  Heinrich  und  Koseformen,  23  Peter(mann);  dagegen 
2  Dietrich  +  1  Diether  =  0,7  Prozent;  8  Götze,  3  Götzelin,  2  GötteHn 
=  3,1  Prozent.     1310  endlich  340  Personen,  damnter  102  Johannes  u.  K., 


32  5.  Abhandlung:  Hermann  Fischer 

Nach  dem  oben  gesagten  werden  wir  unsern  Dichter  nicht 
lange  nach  1215  mehr  erwarten  dürfen;  wie  weit  zurück,  kann 
man  zweifeln.  Bei  Dietrich,  der  ihn  beliebig  überlebt  haben, 
auch  jünger  als  er  gewesen  sein  kann,  müssen  die  Grenzen 
weiter  gezogen  werden. 

Ich  beginne  mit  einigen  Bemerkungen  negativer  Art. 
Weder  ein  Dietrich  noch  ein  Gottfried  findet  sich  unter  den 
Bischöfen,  den  Archidiakonen,  den  Vicedomini,  den  Scholasti- 
kern des  Münsters ;  kein  Dietrich  am  Petersstift ;  kein  Gottfried 
am  Andreasstift  und  unter  den  cantores  am  Dom  und  am 
Thomasstift.  Ein  Presbyter  Dietrich  am  Andreasstift  1169 
fällt  gewiß  zu  frühe  (ÜB.  1,96),  und  ob  ein  Dietherm  am 
Thomasstift,  1197  — 1220  genannt  (1,111.  125.  132.  142.  150) 
oder  ein  Bietherus  am  Domstift  1199  (1,113)  =  Dietrich  sei, 
ist  nicht  auszumachen.  Ein  Diethericus  de  EpMche  erscheint 
1217  (1,132;  Urk.  des  Thomaskapitels,  „affuit  quoque"  usw.); 
wohl  derselbe,  der  1226  als  dominus  und  Vater  einer  mann- 
baren Tochter  Hedwig  vorkommt  (1,164;  städt.  Urk.).  Drei 
Brüder  Ludwig,  Dietrich  und  Albert  dicti  Kagen  erscheinen 
1218,  wie  es  scheint,  als  bischöfliche  Ministerialen  (1,133; 
bisch.  Urk.);  Dietrich  und  Albert  ohne  Zusatz  1215  (1,129; 
bisch.  Urk.).  Ein  Diethericus  de  Kunigisheim  ist  1220  genannt 
(1,148;  bisch.  Urk.). 

Schon  1196  erscheint  ein  Beodericus  als  Bruder  des  Burg- 
grafen Burchardus  (ÜB.  1,110;  kais.  Urk.);  dieselben  wieder 
1199:  BurJcardus  prefedus  et  Theodericus  f rater  ejus  (1,113; 
bisch.  Urk.),  und  wieder  werden  es  dieselben  sein,  die  1209 
als  Burchardus  scultetus  et  frater  ejus  Theodericus  ex  ordine 
ministeralium  vorkommen  (1,123 ;  bisch.  Urk.).  Dann  erscheint 
1216  ein  dominus  Theodoricus  burgravius  mit  zwei  Brüdern 
Friedrich  und  Burkhard  ac  patruo  eorum  domino  Theodorico 
(1,130;  Urkunde  des  Domkapitels).  Dieser  Vatersbruder  ist 
gewiß   kein    anderer    als   der    1196 — 1209   genannte    Dietrich. 


39  Nicolaus  u.  K.,  19  Konrad  u.  K.,  19  Peter(mann),  15  Heinrich;  dagegen 
2  Dietrich  und  1  Diether  =  0,9  Prozent;  6  Götze,  1  Götzelin,  1  Göttelin 
=  2,4  Prozent. 


Gottfried  von  Straßburg.  33 

Der  Burggraf  Dietrich  erscheint  1216  nochmals:  Diethericus 
hurcgravius  (1,131;  bisch.  Urk.);  dann  1210  als  Ministeriale 
Bßetericus]  hurggravius  (145;  bisch.  Urk.);  sodann  1220  drei- 
mal (1,146.  149.  151;  bisch.  Urkk.),  einmal  (1,149)  neben 
Dieterico  patruo  ejusdem;  1224  als  praefectus,  d.h.  Burggraf, 
ein  solcher  ist  daneben  nicht  genannt,  unter  den  Ministerialen 
(1,155;  bisch.  Urk.);  zwischen  1224  und  1228  (4,40);  endlich 
noch  1231  (1,176);  im  städtischen  consilium)  und  1233(1,185; 
bisch.  Urk.). 

Daß  unter  dem  Burggrafen  immer  dieselbe  Person  zu  ver- 
stehen sei,  ist  von  vornherein  wahrscheinlich.  Sein  Vater  Burk- 
hard ist  1209  Schultheiß,  wird  also  damals  oder  früher  zu 
diesem  höchsten  Ministerialamt  emporgestiegen  sein.  Daß  Diet- 
rich schon  1209  oder  früher  sein  Nachfolger  im  Burggrafen- 
amt geworden  sei,  ist  nicht  erweislich,  aber  möglich,  denn  ein 
anderer  Burggraf  wird  zwischen  1199  und  1216  nicht  genannt. 
Es  wäre  also  für  ihn  eine  lange,  aber  durchaus  nicht  unmög- 
liche Amtsdauer  anzunehmen^). 

Lange  vor  Burkhard  erscheint  als  Burggraf  1148 — 1162 
ein  erster  Dietrich^).  Es  ist  also  nicht  unwahrscheinlich,  daß 
wir  hier  eine  Ministerialenfamilie  vor  uns  haben,  in  der  das 
Burggrafenamt  sich  vererbte,  wenn  auch  gerade  nicht  vom 
Vater  auf  den  Sohn^). 

Hermann  Kurz  wollte*)  in  dem  Dietrich  des  Akrostichs 
den  Bruder  des  Burggrafen  Burkhard  und  Oheim  des  Burggrafen 
Dietrich  sehen,  was  chronologisch  durchaus  möglich  ist;  er 
wollte  auch  ihn  dem  Geschlechte  derer  von  Straßburg  zuweisen. 
Schmidt  hat  dagegen  ausgeführt^),  daß  es  sich  hier  vielmehr 
um  die  Straßburger  Ritterfamilie  der  Stehellin  handle,   in  der 


^)  Die  Burggrafen  sind  ÜB.  1,549  aufgeführt,  aber  es  erheben  sich 
mancherlei  Zweifel.  1226  und  1229  erscheint  ein  Siglin,  1231  ein  Jo- 
hannes.    Aber  von  1216  bis  1224  nur  Dietrich. 

2)  Aber  1154  ein  Hugo,  1176.  1182  f.  1193  ein  Sifrid.  S.  die  vorige 
Anmerkung. 

'^)  ÜB.  1,86:  Sifridus  als  Bruder  des  ersten  Dietrich  1155. 

4)  Germ.  15,  218.  ^)  Schmidt  13  ff. 

Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  u.  d.  hist.  Kl.  Jahrg.  1916, 5.  Abb.  3 


34  5.  Abhandlung :  Hermann  Fischer 

das  Burggrafenamt  erblich  gewesen  sei ;  sie  schrieb  sieb  später 
von  Sulzmatt,  nachdem  das  Domstift  1216  dem  Burggrafen 
Dietrich  den  dortigen  Zehnten  verkauft  hatte  ^).  In  dieser 
Familie  kommen  in  der  Tat  auch  Dietriche  vor :  1201  de  mini- 
steridlibus  ,  .  .  Btheodericus^)  Stehleim  (ÜB.  1,115;  bisch.  Urk.); 
1209  Theodericus  Stelin  (122;  bisch.  Urk.);  1216  JDiethericus 
Stehelinus  (1,131;  desgl.);  1219  B.  Stehellinus  als  Ministeriale 
(1,145;  desgl.);  1220  Bietricus  Stahelli  (1,146;  desgl.);  1220 
Biethericus  Stehellinus  zweimal  (1,148.  151;  desgl.);  1220 
Stehellinus  Theodericus  (1,155;  desgl.);  1225  Bietricus  Stehelli 
(1,156;  Urk.  von  S.Peter);  1225  B.  Stehelino  (1,162);  1226 
Biethericus  Stehellinus  (1,164;  städt.  Urk.);  zwischen  1224  und 
1228  Bietrich  Stehellin  (4,20).  Aber  in  fünf  Urkunden  von 
1219 — 1225  ist  er,  wie  die  Vergleichung  mit  den  über  den 
Burggrafen  Dietrich  oben  gemachten  Angaben  zeigen  kann, 
neben  diesem  genannt,  und  ohne  daß  eine  Verwandtschaft 
zwischen  beiden  bezeichnet  wäre.  Somit  muß  ich  mich  be- 
gnügen, die  Angabe  eines  der  genauesten  Kenner  Straßbur- 
gischer  Geschichte  wiederzugeben,  ohne  sie  bestätigen  oder 
widerlegen  zu  können^). 

Wenn  wir  Gottfrieds  Dieterich  in  einem  der  urkundlich 
bezeugten  Träger  dieses  Namens  wiederfinden  wollen,  so  bleibt 
uns  eine  gewisse  Auswahl.  Am  ehesten  dürfte  die  Wahl  fallen 
auf  den  Oheim  oder  den  Neffen  Dietrich  oder  aber  auf  D.  Ste- 
hellin, die  alle  der  Zeit  nach  genügen  würden.  Bischöfliche 
Ministerialen  sind  sie  alle;  das  Burggrafenamt  war  nach  dem 
des  Schultheißen  das  höchste ;  Interesse  für  literarische  Dinge, 
Besitz  eines  französischen  Romans  u.  dgl.  ist  bei  einem  Träger 
dieses  Amts  leicht  möglich.  Mehr  zu  wissen  ist  unmöglich. 
Nur  wenn  wir  das  G,  mit  dem  der  Tristan  beginnt,  als  gräfe 


1)  ÜB.  1, 130. 

')  Ist  vielleicht  DfominusJ  Th.  zu  lesen? 

^)  Daß  das  Wappen  der  Stehellin  bei  Gottfried  nicht  vorkommt, 
wurde  oben  S.  24  gesagt;  auch  irgendein  Spiel  mit  ihrem  Namen  ist 
nicht  zu  finden. 


Gottfried  von  Straßburg.  35 

ergänzen  wollten,    wäre   mit  Sicherheit  der  Burggraf  Dietrich 
gemeint;  aber  das  ist  bloß  möglich,  nicht  erwiesen^). 

Einfacher  liegt  die  Sache  bei  den  Gottfrieden.  Weder 
nach  Lebenszeit  noch  Stand  bekannt  ist  ein  Gotefridus,  der 
der  Straßburger  Kirche  unicuique  tmum  denarium  gestiftet  hat^j. 
Mehrere,  die  als  Kleriker  oder  Bürger  und  Ministerialen 
1141 — 1162  vorkommen,  fallen  zu  früh.  Chronologisch  mög- 
lich wäre  erst  ein  frater  canonicus  Gottfried  zu  S.  Peter,  der 
1187  genannt  wird  (1,102).  Dann  aber  der  oben  angeführte^) 
Godefridus  Zidelarius  de  Argentina  unter  der  Straßburger  Ur- 
kunde König  Philipps  vom  18.  Juni  1207  (1,121).  Ferner  1209 
als  ex  ordine  militum:  Godefridus  Cydelare  et  Hupertus  frater 
ejus  (122;  bisch.  Urk.);  1216  Gotefrido  et  Humherto  Cidelariis 
(1,131;  Urk.  des  Domkapitels*)  und  1218  duöbus  fratribus  Got- 
frido  Hunberto  Zy deleren  (1,134;  bisch.  Urk.).  Wenn  Schmidt^) 
zweifelte,  ob  Z.  Name  oder  Beruf  sei,  so  beweisen  die  Ur- 
kunden von  1216  und  1218  das  erstere.  Ob  der  Gottfried 
von  1207  und  1209  derselbe  ist  mit  dem  von  1216  und  1218, 
wird  zweifelhaft  bleiben ;  es  können  auch  etwa  Vater  und  Sohn 
sein^).  Daß  man  einen  von  ihnen  mit  dem  Canonicus  von 
1187  zusammennehmen  könnte,  wäre  chronologisch  möglich, 
sachlich  kaum. 


^)  S.  o.  S.  25.  Ein  Burggraf  ist  gewiß  nichts  weniger  als  ein 
-„Graf;  aber  auch  in  Magdeburg  kommt,  wie  mir  Ph.  Heck  sagt,  ein  B. 
als  Gr.  genannt  vor. 

2)  Melker  .Seelbuch  der  Straßb.  Kirche,  ed.  Wiegand,  Zs.  f.  d.  Gesch. 
des  Oberrh.  42, 198. 

3)  S.  11  f. 

*)  Über  den  Zehnten  von  Sulzmatt,  s.  o. 

ö)  Schmidt  12  f. 

6)  Der  Bruder  Humbert  erscheint  noch  1220—1233  (1,149.  152.  154. 
156.  184),  falls  es  immer  derselbe  ist.  Er  hatte  1233  eine  Frau  Agnes 
und  eine  Schwester  Adelheid  von  Winstein.  Ein  Humbert  ohne  Familien- 
namen erscheint  1199  und  1215  (1,118.  129)  und  kann,  da  dieser  Vor- 
name in  jener  Zeit  sonst  nicht  vorkommt,  leicht  mit  ihm  identisch  sein. 
Dann  wäre  der  Gottfried  von  1207 — 1218  gewiß  auch  immer  derselbe. 
•1240  erscheint  ein  Dietrich  Zidelarius  als  Vogt  von  Schwarzach  (1,  231  f.), 
1262  ein  praebendarius  Cidelarius  ohne  Vornamen  (1,350). 


36        5.  Abhandlung:  Hermann  Fischer,  Gottfried  von  Straßburg. 

Soviel  ist  nun  sicher:  wenn  wir  erwarten  dürfen,  den 
Dichter  in  den  Straßburger  Urkunden  zu  finden,  so  kann  es 
nur  der  Gottfried  Zeidler  von  1207/1209  oder  (und?)  1216/1218 
sein.  Unser  Recht  zu  dieser  Erwartung  ist  freilich  nicht 
verbrieft;  als  möglich  darf  sie  aber  hingestellt  werden. 
Wolfram,  Hartmann  sind  durch  keine  einzige  Urkunde  be- 
zeugt; aber  sie  haben  auch  nicht  einem  großen  Hofe  ständig 
gedient.  Eine  gewisse  Wahrscheinlichkeit  spricht  doch  dafür, 
daß  ein  hochgebildeter,  für  den  bischöflichen  Hof  arbeitender 
Dichter  in  den  nicht  wenigen  Namen  der  auf  uns  gekommenen 
Straßburger  Urkunden  sich  finden  werde.  So  hätten  also, 
mutatis  mutandis,  E.  H.  Meyer  und  Hermann  Kurz  vielleicht 
doch  Recht  gehabt?  Hübsch  wäre  es;  ob  gerade  Kurz  sehr 
erbaut  wäre  von  der  Art,  wie  er  nun  doch  Recht  haben  könnte, 
kann  man  zweifeln;  den  Stadtschreiber  und  die  antiklerikale 
Tendenz  entbehren  zu  müssen,  würde  ihm  hart  fallen.  Aber 
unsere  Auffassung  des  Mittelalters  ist  ja  in  so  vielen  Punkten 
eine  total  andere,  als  die  der  Romantik  oder  der  ihr  folgenden 
Generation  —  und,  können  wir  beifügen,  eine  richtigere. 


Sitzungsberichte 

der 

Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

Philosophisch-philologische  und  historische  Klasse 

Jahrgang  1916,  6.  Abhandlung 


# 


Peire  Cardinal 

ein  Satiriker 
aus  dem  Zeitalter  der  Albigenserkriege 


von 


Karl  Vossler 


Vorgetragen  am  2.  Dezember  1916     ^»*- '  •  ♦ 


München  1916 

Verlaj?  der  Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

in  Kommission  des  G.  Franz'schen  Verlags  (J.  Roth') 


Sitzungsberichte 

der 

Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

Philosophisch-philologische  und  historische  Klasse 

Jahrgang  1916,  6.  Abhandlung 


Peire  Cardinal 

ein  Satiriker 
aus  dem  Zeitalter  der  Albigenserkriege 

von 

Karl  Vossler 

Vorgetragen  am  2.  Dezember  1916 


München  1916 
Verlag  der  Königlich  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften 

in  Kommission  des  6.  Fränz'schen  Verlags  (J.  Roth) 


1< 


III 


Vorwort. 

Durch  16  Monate  Heeresdienst  unterbrochen  und  durch 
die  Unerreichbarkeit  wichtiger  ausländischer  Quellen  gehemmt, 
trägt  diese  Arbeit  vielerlei  Spuren  des  großen  Krieges,  die 
ich  in  absehbarer  Zeit  zu  tilgen  nicht  hoffen  kann.  Eine 
kritische  Ausgabe  der  Lieder  Cardinais  ist  vor  Jahren  schon 
von  Rena  Lavaud  in  Aussicht  gestellt,  aber  noch  immer  nicht 
veröffentlicht  worden.  So  habe  ich  mich  mit  den  mannigfach 
zerstreuten  durch  den  Druck  veröffentlichten  Texten  und  Va- 
rianten behelfen  müssen.  Einige  Abschriften  aus  der  Hand- 
schrift D  in  Modena  habe  ich  durch  die  Güte  des  Kollegen 
Giulio  Bertoni  erhalten.  Wertvolle  Winke  haben  mir  auch 
Alfred  Pillet,  Emil  Levy  und  Paul  Lehmann  gegeben. 
Ihnen  und  besonders  Herrn  Dr.  Johann  Georg  Leimeister 
an  der  Münchener  Hof-  und  Staatsbibliothek  bin  ich  für  ihre 
bereitwillige  Hilfe  zu  Dank  verpflichtet. 

Unter  den  bedeutenderen  Trobadors  ist  Cardinal  der  am 
wenigsten  erforschte.  Wie  lohnend  es  aber  in  wissenschaft- 
licher und  menschlicher  Hinsicht  ist,  sich  in  seine  Lieder  und 
seine  Persönlichkeit  zu  vertiefen,  kann,  wie  ich  hoffe,  diese 
Skizze  zeigen. 


IV 


Inhalt. 

S«ite 

Vorwort            III 

I.  Das  Minnewesen      .... 

1 

II.  Rügedichtung  gegen  die  Großen   . 

10 

III.  Der  Beruf  des  Satirikers 

28 

IV.  Frömmigkeit  und  Kirchlich keit 

46 

V.  Geistlich -weltliches  Lebensideal     . 

72 

VI.  Albigenserkrieg  und  Politik 

89 

VII.  Persönliche  und  versteckte  Satire 

119 

71II.  Die  Geistlichkeit     .... 

127 

IX.  Der  Künstler  .        . 

156 

Anhang    

178 

Nachweis  der  erörterten  Lieder      . 

193 

I.  Das  Minnewesen. 

Die  Pessimisten  sind  nicht  häufig  unter  den  Trobadors. 
Die  meisten  von  ihnen  tun  als  wäre  immerzu  Sonntag  und 
Liebesfrühling.  Wenn  je  der  Ernst  des  Lebens  sie  erfaßt, 
wenn  sie  alt,  unglücklich  und  fromm  werden,  so  pflegen  sie 
zu  verstummen  und  sich  von  der  Welt  zurückzuziehen.  Nur 
wenige,  wie  Marcabru  z.  B.  oder  wie  Bertran  von  Born,  er- 
kennen auch  die  dunkeln,  die  wilden  und  kriegerischen  Seiten 
des  Daseins;  aber  sie  haben  selbst  daran  als  an  einer  Würze 
des  allzu  süßen  Lebens  ihre  Freude.  Von  gelegentlichen  Aus- 
brüchen des  Mißmuts  bleiben  freilich  die  bestgelaunten  Sänger 
nicht  frei;  herbe  und  gar  grimmige  Sirventese  sind  uns  in 
stattlicher  Anzahl  erhalten;  aber  von  Weltschmerz  und  tieferer 
Müdigkeit  finde  ich  die  ersten  Spuren  —  wenn  man  sich  von 
den  Todesseufzern  schmachtender  Minnediener  nicht  will  täu- 
schen lassen  —  erst  bei  einem  verhältnismäßig  späten  Troba- 
dor,  bei  Peire  Cardinal.  Sein  ältester  Biograph,  Miquel  de 
la  Tor,  erzählt,  daß  „er  wohl  hundert  Jahre  alt  sein  mochte 
als  er  starb",  so  daß  der  Wurm  etwas  langsam  an  ihm  genagt 
hätte.  In  der  Tat,  wenn  man  der  Stimmung  seiner  Lieder 
nachspürt,  so  findet  man  eine  zögernde,  allmähliche  Loslösung 
von  den  natürlichen  Freuden  und  Leiden,  ein  schrittweises  Er- 
kalten und  Ermüden  der  inneren  Teilnahme  am  menschlichen 
Treiben,  eine  nur  langsam  erstiegene  Lebensferne. 

Geboren  in  der  malerischen  Stadt  Le  Puy,  in  einer  Ge- 
gend, deren  liebliche  Romantik  durch  den  Schäferroman  des 
Honore  d'ürfe  verherrlicht  ist,  stammt  Peire  Cardinal  aus  ritter- 
lichem Geschlecht.  „Als  er  ein  Knabe  war,  brachte  der  Vater 
ihn  in  die  Canorguia  major  del  Puei;  dort  lernte  er  schreiben 
und   übte  sich   wohl  im  Lesen   und  Singen.     Und  wie  er  er- 

Sitzgsb.  d.  philos.-philoL  u.  d.  bist.  Kl.  Jahrg.  1916,  6.  Abb.  l 


2  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

wachsen  war,  gefiel  er  sich  in  der  Eitelkeit  dieser  Welt,  denn 
er  fühlte  sich  froh,  schön  und  jung  und  erfand  gar  schöne 
Texte  und  schöne  Gesänge  und  dichtete  Kanzonen,  aber  nur 
wenige. "  ^) 

Diese  Jugenddichtung  kann  wohl  nur  in  die  Jahre  vor 
Ausbruch  des  Albingenserkrieges  (1209)  gesetzt  werden.  Im 
Jahre  1204  ist  uns  ein  Petrus  Cardinalis  als  „scriba"  des  Grafen 
von  Toulouse  urkundlich  bezeugt.^) 

Von  Trobadors,  die  zu  dem  Hofe  des  Grafen  Raimon  VI. 
von  Toulouse  (1194 — 1222)  in  Beziehung  standen,  sind  Rai- 
mon de  Miraval,  Aimeric  de  Peguilhan,  Aimeric  de  Belenoi, 
Ademar  lo  Negre,  Gui  de  Cavaillon  und  Gausbert  de  Puycibot 
neben  unserem  Cardinal  zu  nennen.  Besonders  die  drei  erst- 
genannten^) gehören  zu  den  galantesten  Sängern  der  Spätzeit. 
An  dem  alternden  Raimon  de  Miraval  konnte  Cardinal  aus 
nächster  Nähe  beobachten,  wie  die  Minne  ihre  leichtfertigen 
Diener  zu  Gecken  und  Narren  macht.  Dieser  Trobador  stand 
in  einem  süßlichen  Freundschaftsverhältnis  zu  dem  Grafen  von 
Toulouse,  den  er  seine  Aldigard  (mon  Audiart)  zu  nennen  und 
in  Liebesangelegenheiten  zu  beraten  pflegte.  Alle  drei  aber 
waren  Meister  des  geistreichen  Tändeins  mit  den  gekünstelten 
Formen  und  Motiven  des  höfischen  Minnesangs.  Wie  hätte 
in  einer  solchen  Umgebung  nicht  auch  der  junge,  im  Schrift- 
tum wohl  bewanderte  Cardinal   dergleichen   versuchen  sollen? 


1)  Peire  Cardin  als  si  fo  de  Yeillac,  de  la  ciutat  del  Puei  Nostra 
Domna;  e  fo  d'onradas  gens  de  paratge  e  fo  filhs  de  ca valier  e  de 
domna.  E  eant  era  petitz,  sos  paires  lo  mes  per  quanorgue  en  la  quan- 
orguia  major  del  Puei;  et  apres  letras,  e  saup  ben  lezer  e  chantar.  E 
quant  fo  vengutz  en  etat  d'ome,  el  s'azautet  de  la  vanetat  d'aquest  mon, 
quar  el  se  sentit  gais  e  bels  e  joves.  E  mot  trobet  de  belas  razos  e  de 
bels  chantz;  e  fetz  cansos,  mas  paueas.  So  erzählt  Miquel  de  la  Tor. 
Hist.  generale  de  Languedoc  X,  Toulouse  1885,  S.  269.  Die  Fortsetzung 
der  Vida  S.  10  f.,  Anm. 

2)  Ygl.  Hist.  de  Languedoc  X,  S.  370,  Anm.  8. 

3)  Vgl.  Hist,  de  Languedoc  VII,  S.  441  ff.  die  Note  LVII  von  P.  Meyer, 
les  Troubadours  ä  la  cour  des  comtes  de  Toulouse  und  P.  Andraud,  la 
vie  et  l'oeuvre  du  Troub,  Raimon  de  Miraval,  Paris  1902.    Bes.  S.  33—35. 


Peire  Cardinal  3 

Uns  freilich  sind  nur  die  bitteren  Nachklänge  dieser  Jugend- 
dichtung erhalten.  In  fünf  Gedichten  hat  er  seine  Abkehr 
vom  Minnedienst  gesungen.^)  Als  erstes  dieser  Gruppe  darf 
man  vielleicht  das  folgende  ansprechen: 

Lo  segle  vei  chamiar, 

per  que '  m  lais  de  chantar, 

mais  qe  per  ren  que  sia, 

que  silh  que  solon  dar 

vei  sofraitos  istar 

e  querer  tota  via. 

[Et]  eu  que  soilh  m'amia 

e  mos  bras  noit  e  dia 

e  tinir  e  baisar, 

car   non  o  pois  [plus]^)   far, 

gardas  cals  es  ma  via. 

Ma  vida,  so  me  par, 
non  pot  gaire  durar 
qu  'en  tal  istamen  sia, 
car  eu  soil  chavalchar 
e  soen  vestirs  far, 
e  gran  legor  n  'avia, 
c'ara  non  sai  qe  sia 
iois  ni  chans  ni  amia. 
Be  •  m  dei  desconertar 
per  mala  senhioria.^) 


^)  Es  sind  nach  der  Zählung  in  Bartschs  Grundriß  zur  Geschichte 
der  prov.  Literatur,  PJlberfeld  1872,  die  Nummern  335,  6,  7,  11,  35,  50. 

^)  Hs.:  non  o  ppois  far. 

^)  Karl  Appel,  der  diese  zwei  Strophen  aus  der  einzigen  Hs.  J^iL  ver- 
öffentlicht hat  (Poesies  prov.  ined.  tirees  des  Ms.  d'Italie,  Paris  und  Leip- 
zig 1898,  S.  64  if.),  bezweifelt  Cardinais  Verfasserschaft  und  hält  das  Stück 
für  eine  späte  Nachahmung  von  Bertran  d'Alamanons  Nr.  76,  11,  das 
seinerseits  mit  Gui  d'Uisel  Nr.  194,  16  und  Fraire  menre  Nr.  159,  1  ver- 
wandt ist.  —  Gewifs  kommt  der  Hs.  D  keine  sonderliche  Glaubwürdig- 
keit zu,  wie  sich  denn  auch  unter  die  dort  erhaltene  Sirventesensamm- 
lung  Cardinais  ein  Lied  des  Bernhard  von  Ventadorn  eingeschlichen  hat. 

1* 


6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Die  Welt  verändert  sich, 
drum  bin  ich  müde  nun 
um  jeden  Tand  zu  singen. 
Die  Freigebigen  sind 
in  offner  Armut  jetzt 
und  müssen  selber  bitten. 
Und  ich,  der  ich  die  Liebste 
bei  Tag  und  Nacht  zu  küssen 
in  meinen  Armen  hab  — 
nun  ich  es  nicht  mehr  darf, 
seht,  was  ist  das  ein  Leben! 

Mein  Leben,   wie  mich  dünkt, 
kann  mir  in  diesem  Stil 
nicht  lange  weitergehen. 
Gewohnt  zu  Rosse  ich 
und  reich  zu  kleiden  mich, 
im  Überflüsse  immer, 
seh  ich  mir  nun  entschwinden 
Lust  und  Gesang  und  Liebe 
und  sollt'  getrösten  mich 
so  schlimmen  Regimentes! 


Vgl.  A.  Mussafia,  Del  codice  Estense  di  rime  prov.  Sitzungsberichte  der 
k.  k.  Akademie  der  Wiss.  philos.-histor.  Kl.  Bd.  55,  1867,  S.  400 ff.  und 
G.  Bertoni,  La  Ms.  prov.  1)  et  son  histoire  in  den  Annales  du  Midi,  XIX, 
S.  238  ff.  Aber  die  metrischen  Gründe  Appels  überzeugen  mich  vor  allem 
deshalb  nicht,  weil  mir  das  Lied  des  Bertran  d'Alamanon  Lo  segle  m  'es 
camiatz  alle  Kennzeichen  einer  erweiternden  und  komplizierenden  Nach- 
ahmung unseres  in  Frage  stehenden  viel  einfacheren  Stückes  zu  haben 
scheint.  Daß  in  dem  strophischen  Schema  der  Reim  auf  -atz  nur  des- 
halb, weil  er  in  den  drei  anderen  Gedichten  vorkommt,  ursprünglicher 
sein  soll  als  der  auf  -ar,  der  nur  in  dem  des  Cardinal  steht,  will  mir  nicht 
einleuchten.  Nach  Salverda  de  Grave,  Le  troubad.  B.  d'Alamanon,  Tou- 
louse 1902,  S.  41  ff.,  hätte  Bertran  sein  Sirventes  zwischen  1252  und  1262 
gedichtet.  Wenn  unser  Stück  eine  Nachahmung  davon  wäre,  so  müßte 
es  in  der  zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  entstanden  sein  und  könnte, 
wie  Appel  überzeugend  darlegt,  dem  Cardinal  schwerlich  mehr  zuge- 
schrieben werden,  denn,   nach  menschlichem  Ermessen  kann  er  es  nur 


Peire  Cardinal  '  5 

Er  scheint  sich  dennoch  getröstet  zu  haben.  In  dem  Lied 
Ben  tenh  per  fol  e  per  muisart  (Nr.  11)^)  ist  er  im  Begriff  die 
Bitterkeit  des  Verzichtes  zu  verwinden. 

Seine  Freundin,  sagt  er,  habe  ihn  verraten,  bleibt  aber 
so  ruhig  dabei,  daß  man  zweifeln  darf,  ob  er  damals  eine  ge- 
habt hat  und  nicht  viehnehr  einen  Kasus  konstruiert,  um  die 
Sache,  die  ihm  kein  Erlebnis  mehr  war,  als  grundsätzliche 
Frage  abzuhandeln.  Er  kommt  zu  dem  Schluß,  daß  die  echte 
Minne  auf  Gleichheit  und  Gegenseitigkeit  in  der  Treue  wie 
in  der  Leistung  beruht. 

Qui  dona  mais  que  non  rete, 
ni  ama  mais  autrui  de  se 
chauzis  avol  partia  .  . 

Wer  hingibt  mehr  als  er  behält 
und  andre  mehr  liebt  als  sich  selbst, 
erwählt  die  schlechte  Hälfte. 

Froh  sich  selbst  zu  gehören  und  nicht  mehr  den  Launen 
einer  Kokette  ausgeliefert  zu  sein,  kann  er  nun  mit  spieleri- 
schem Scherz  das  ganze  Minne wesen  verlachen.  Er  parodiert 
es  in  dem  Lied  Ar  mi  posc  eu  laumr  d'amor  (Nr.  7)^)  und 
tut  als  lägen  alle  galanten  Eitelkeiten  bergetief  unter  ihm. 
Dabei  kann  er  sich  mit  Wiederholungen,  Häufungen  der  Worte 
und  Alliterationen  der  übertriebensten  Art  nicht  genugtun  und 
klammert  sich  an  den  ohrfälligen  närrischen  Zierat  einer  sinn- 
lichen Kunst,  deren  Geist  er  sich  rühmt  überwunden  zu  haben. 


als  junger  Mann,  also  ungefähr  in  den  ersten  Jahren  des  13.  Jahrhun- 
derts gedichtet  haben.  Dem  Inhalte  nach  schließt  sich  das  Lied,  wie 
Appel  selbst  zugeben  muß,  zwanglos  und  natürlich  an  andere  ähnliche 
Äußerungen  Cardinais  über  die  Minne  an.  Es  liegt  somit  kein  stich- 
haltiger Grund  vor,  um  D  zu  mißtrauen  und  Cardinais  Verfasserschaft 
zu  bezweifeln. 

^)  Gedruckt  bei  Raynouard  Choix  des  poes.  orig.  des  troub.  III,  436, 
Mahn,  Werke  der  Troub.  II,  210  und  Parn.  occit.  306. 

2)  Gedruckt  bei  Rayn.  Choix  III,  438  und  Mahn,  Werke  II,  209  u. 
in  Bartschs  Chrestomathie  proven9ale^.    Sp.  172  f. 


6  "«  6.  Abhandlung :  Karl  Yossler 

Man  fühlt,  daß  der  Humor  noch  nicht  rein  und  der  Künstler 
noch  nicht  frei  ist.  Etwas  Ahnliches  gilt  von  dem  Rügelied 
gegen  höfische  Liebedienerei  Aquesta  gens  quan  son  en  lor 
gaie^a  (Nr.  6)^),  das  mit  Alliterationen,  mit  Binnenreim  und 
Wortspiel  gespickt,  ein  sittliches  Ideal  von  Minne  (fina  amors) 
und  höfischem  Leben  gegen  die  entartete  Wirklichkeit  auf- 
stellt. Befangen  und  mißmutig  gegen  weibliche  Buhlerei  er- 
scheint der  Dichter  auch  in  dem  groben  Couplet  noch,  mit 
dem  er  dem  Hugo  de  Maensac  die  Freude  am  Frauendienst 
vergällt.^)  Einen  höheren  Standpunkt  aber  hat  er  mit  dem 
Liede  S'ieu  fos  amatz  o  ames  (Nr.  50)^)  erstiegen.  Da  ich  einen 
kritischen  Text  davon  nicht  zu  geben  vermag,  muß  der  Leser 
sich  mit  einer  sinngemäßen  Übersetzung  begnügen: 

Liebt'  ich  oder  würd'  geliebt, 
sang'  ich  wohl  von  Zeit  zu  Zeit. 
Aber,  da  es  so  nicht  ist, 
wüßt'  ich  nicht,  wovon  ich  sang'. 

Hab  ja  keinen  Grund.  — 

Doch  mir  liegt  im  Sinn: 

ich  versuch  einmal 

wie  ich  singen  will, 
wann  ich  eine  Liebste  hab. 

Von  der  Welt  der  feinste  Buhl 
wollt  ich  meiner  Freundin  sein. 
Wenn  sie  gleich  nicht  willig  war, 
blieb'  ich   immer  doch  ihr  Knecht. 

Schon  einmal  geliebt 

hab  ich  ja  und  weiß 


^)  Vgl.  dazu  den  Anhang  I. 

2)  Siehe  P.  Meyer,  les  derniers  troub.  d.  Provence,  Biblioth.  d.  l'ecole 
des  Chartes,  T.  V.,  6.  serie,  Paris  1869,  S.  274  f.  Ebenda  S.  475,  Anm.  3, 
wird  eine  minnefeindliche  Strophe  mitgeteilt,  die  in  der  Hs.  f  unter  Car- 
dinais Name  steht,  aber  ohne  Bedeutung  ist. 

3)  Mahn,  Gedichte  Nr.  1248  und  1249.  Das  Schema  der  Reime  ist 
auf  Grund  der  gedruckten  Hss.  /  und  M  nicht  wiederherzustellen. 


Peire  Cardinal  7 

wie  der  Liebe  Brauch, 
wie  ich  lieben  muß, 
wenn  ich  noch  einmal  es  will. 

Dem,  der  Liebe  säen  wollt' 
lohnte  sie  mit  reicher  Frucht: 
für  ein  Körnchen  gab'  sie  drei, 
mehr  als  zehn  für  eine  Gunst, 

zwanzig  für  ein  Halb, 

und  aus  einem  Glück 

sprießten  hundert  auf, 

bis  ich  jubelte: 
„Tausendfältig  ernt  ich  nun!"  — • 

Doch  es  sinkt  der  Minnedienst, 
weil  der  Edle  drin  verliert, 
der  Gemeine  nur  gewinnt, 
und  die  hochgepriesne  Frau 

läßt  den  Edeln  flehn, 

schenkt  dem  Schlechten  sich. 

Schmeichler  wird  belohnt, 

Edelmann  gefoppt, 
Drum  hab  ich  kein  Frauenlob. 

Um  eine  so  lieblich  geschwungene  Gefühlskurve  zwischen 
Wunsch  und  Verzicht,  Erinnerung  und  Entsagung  zu  ziehen, 
muß  man  im  Herzen  ein  Veteran  und  in  der  Phantasie  noch 
Jüngling  sein. 

Daß  er  das  letztere  geblieben  ist,  mag  das  merkwürdige 
Spottlied  gegen  Esteve  de  Belmon  beweisen  Un  sirventes  tra- 
metrai  per  message  (Nr.  68),  das,  wie  man  es  immer  datieren 
will,  zweifellos  erst  nach  1212  gedichtet  wurde. ^)  Nachdem 
Cardinal  Verräterei,  Zerstörungswut  und  Habsucht  der  Geist- 
lichkeit, insbesondere  des  Esteve  aufs  Blut  gegeißelt  hat,  macht 
er  in  der  Schlußstrophe  für  seine  Person  das  Geständnis,  daß 
ihm   der  Sinn   nicht  nach  Besitz,  wohl  aber  nach  den  Umar- 


Vgl.  Anhang  IL 


8  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

mungen  einer  unberührten  Jungfrau  stehe.  Buchstäblich  oder 
gar  moralisch^)  ist  dieser  an  und  für  sich  wenig  charakter- 
istische Wunsch  kaum  zu  nehmen.  Ich  glaube,  er  gewinnt 
seinen  tieferen  humoristischen  Sinn,  wenn  man  bedenkt,  wie 
der  geizige  Esteve  sich  in  der  Liebe  mit  einem  rothaarigen 
alten  Weib  zu  begnügen  pflegte.^) 

Es  scheint,  daß  Cardinal  weniger  durch  Enttäuschungen 
und  bittere  Erlebnisse  als  durch  Vernunft  und  Selbstbesinnung 
sich  langsam,  ohne  Haß  und  Gewalt,  aus  den  Netzen  des 
Minnewesens  gelöst  hat.  Er  ist  nie,  soviel  wir  wissen,  zu 
eifernden  oder  rohen  Ausfällen  gegen  den  Frauendienst  ver- 
schritten,  wie  Sittenprediger  und  alte  Sünder  tun.  Wo  er  die 
Minne  tadelt,  hat  er  es  auf  deren  Entartung  in  Buhlerei  und 
Prostitution  abgesehen.^)  Im  übrigen  gelten  ihm  Liebe  und 
Fröhlichkeit  geradezu  als  sittliche  Mächte. 

leu  laus  e  pretz  hon'  amor  drechureira 
ab  cortes  faitz  et  a  bei'  esperansa, 
non  ges  amor  falsa  ni  messorgueyra 
que  •  1   derriers   caps  repren  la  comensansa  — 
,  aquel'  amors  que  notz  als  amoros, 
que  on  mais  serf  meyns  val  lo  guazardos, 
amors  que  merma  on  plus  si  enansa.*) 

Ich  lobe  hoch  die  gut'  und  rechte  Minne, 
die  schöner  Hoffnung  ist  und  edler  Sitte, 
doch  nicht  die  falsche,  lügnerische  Liebe, 
deren  Beginn  dem  Ende  widerstreitet, 
nicht  jene,  die  den  Liebenden  betrügt, 


1)  Appel,  poes.  prov.  ined.  tirees  des  mss.  d'ltalie,  S.  65. 

2)  Vgl.  die  4.  Strophe  des  Sirventes  IfEsteve  de  Belmon  m'enueia 
(335,  19.    Mahn,  Gedichte  762  und  763). 

3)  Vgl.  335,  30  Las  amairitz,  qui  encolpar  las  vol  (Nr.  78  in  Appels 
prov.  Chrestomathie)  und  335,  63,  Strophe  5  Domneis  es  melhuratz  mot 
fort  (Rayn.  Choix  IV,  S.  441  f.  und  Mahn,  Werke  II,  S.  199)  und  335,  39, 
Strophe  5  (Lexique  roman,  S.  454  und  Mahn,  Werke  II,  S.  228). 

4)  335,  24,  Strophe  4  (Mahn,  Gedichte  1241,  1242). 


Peire  Cardinal  9 

wo  langer  Dienst  den  Lohn  verkürzt, 
nicht  jene,  die  im  Wachsen  kleiner  wird. 

Ja,  ich  finde  bei  Cardinal  sogar  —  was  bisher  niemand 
meines  Wissens,  beachtet  hat  —  einen  Ansatz  zu  der  mysti- 
schen Auffassung  Amors  als  eines  religiösen  Wesens. 

Caritatz  es  en  tan  belh  estamen, 
que  Pietatz  la  resenh  e  la  clau, 
Vertatz  la  vol,  Dreitura  la  congau, 
Merces  la  te,  e  Patz  la  vay  seguen; 

Poders  la  defen 

Sabers  l'es  amicx 

e  Bontatz  abricx  — 

sus,  el  gra  aussor 

ab  lo  dieu  d'amor, 
cuy  esperitz  armatz  ve 
ab  los  huelhs  clars  de  la  fe!^) 

An  einem  schönen  Ort  wohnt  Caritas, 
von  Mitleid  ganz  beschlossen  und  umringt, 
Wahrheit  und  Recht  besuchen,  grüßen  sie, 
und  Gnade  steht  ihr  bei  und  Friede  folgt; 

Macht  verteidigt  sie, 

Weisheit  ist  ihr  Freund, 

Güte  ist  ihr  Schirm  — 

Droben  in  der  Höh, 

wo  den  Gott  Amor 
der  gestärkte  Geist  erblickt, 
dem  der  Glaube  klärt  das  Aug. 

Vor  diesem  allegorischen  Hofstaat  findet  ein  Streitgespräch 
zwischen  Recht  und  Unrecht  (Breite  und  Tortz)  statt,  und  das 
Gedicht  schließt  mit  einer  Widmung  an  edle  Liebende: 


1)  335,  13.    Raynouard,  Lex.  rom.  I,  S.  457  und  Mahn,  Werke  IT, 
215  f. 


10  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

A  belh  amador 

que  a  belh'  amor 
a  doiiat  son  cor  e  se 
ai  donat  m'amor  e  me. 

Feinen  Liebenden, 

die  der  feinen  Lieb' 
ihre  Herzen  weih'n  und  sich, 
weih'  ich  meine  Lieb  und  mich.   — 

Man  fühlt  sich  auf  jene  geheimnisvolle  Kanzone  Dantes 
hingewiesen,  wo,  ebenfalls  in  Gegenwart  des  Liebesgottes,  die 
Gerechtigkeit  ihre  Klage  führt:  Tre  donne  intorno  dl  cor  mi 
son  venute.  Amor,  dessen  übliches  Gefolge  Cortezia,  Largesa, 
Jois  und  Solatz  waren,  in  die  christliche  Gesellschaft  von  Cari- 
tas, Miserlcordia,  Justitia  und  Fax  zu  bringen,  konnte  nur  ein 
philosophisch  und  theologisch  gebildeter  Trobador  sich  bei- 
kommen lassen.  Vielleicht  ist  Cardinal  der  erste,  der  es  getan 
hat.  Seit  der  berühmten  ersten  Predigt  des  hl.  Bernhard  in 
festo  annunciationis  beatae  Mariae  virginis  ist  in  der  mysti- 
schen Literatur  das  Schema  des  Rechtsstreites  vor  versammelten 
christlichen  Tugenden  beliebt.^)  Die  unmittelbare  Quelle  Cardi- 
nais ist  mir  leider  nicht  gelungen  zu  finden. 

IL  Rügedichtung  gegen  die  Grossen. 

Indem  Cardinal  vom  Minnesang  sich  abwendet,  um  nur 
das  Rügelied  und  die  Lehrdichtung  noch  zu  pflegen,  gelangt 
er  in  eine  Art  Mittelstellung  zwischen  Trobador  und  Kleriker. 
Ob  er  ausübender  Priester  war,  ob  er  je  den  geistlichen  Stand, 
für  den  er  erzogen  worden,  verlassen  hat,  wissen  wir  nicht. 
Äußerlich  scheint  er  am  Leben  des  Hofes,  zuerst  im  Gefolge 
Raimunds  VI.,  dann  des  VII.  von  Toulouse  teilgenommen  zu 
haben.  Sein  Biograph  erzählt,  er  habe  die  besondere  Gunst 
des  Königs  Jakob  I.  von  Aragon  genossen.^)    Da  dieser  länger 

1)  Vgl.  Giulio  Salvador!,  Sulla  Vita  giovanile  di  Dante,  Rom  1906, 
S.  175  ff. 

2)  .  .  .  e  fetz  mans  sirventes,  e  trobet  los  molt  bels  e  bons.  En  los 
quals  sirventes  demostrava  molt  de  bellas  razos  e  de  bels  exemples,  qui 


Peire  Cardinal  11 

als  60  Jahre  regiert  hat  (1213—1276),  so  ist  für  eine  zeit- 
liche Begrenzung  der  Tätigkeit  unseres  Dichters  wenig  damit 
anzufangen. 

Das  Gegebene  für  Cardinal  war  es,  an  die  Kunstübung 
anderer  Trobadors,  die  sich  in  der  moralischen  und  persön- 
lichen Rügedichtung  hervorgetan  hatten,  anzuknüpfen.  Man 
sollte  erwarten,  daß  er  sich  dabei  vor  allem  an  diejenigen 
hält,  die,  wie  er  selbst,  halb  Trobador,  halb  Kleriker  waren. 
Dem  ist  nun  aber  nicht  so.  Marcabru  lag  ihm  zeitlich  und 
auch,  was  Stil  und  Stimmung  betrifft,  ferne.  Einige  volkstüm- 
liche einfache  Strophenformen  könnte  er  ihm  entnommen  haben, ^) 
sowie  die  längst  zum  Gemeinplatz  gewordene  Gegenüberstel- 
lung von  wahrer  und  falscher  Minne  (fina  amors  und  drudaria). 
Auch  zu  Peter  von  Auvergne  steht  er  in  keinem  näheren  Ver- 
hältnis, so  sehr  die  gelehrte  und  geistliche  Richtung  dieses 
Sängers  ihn  hätte  anziehen  müssen.^)  Viel  stärker  und  nach- 
haltiger läßt  er  sich  von  dem  junkerhaften  Bertran  von  Born 
beeinflussen.  Geradezu  sklavisch  ahmt  er  ihn  nach  in  dem 
Kriegslied  Tendatz  e  traps,  alcubas,  pabalhos  (Nr.  56),  das, 
obgleich  nur  lückenhaft  überliefert,  ziemlich  deutlich  auf  eine 
bevorstehende  Belagerung  von  Lectoure  hinweist.^)    Eine  offen- 


ben  los  enten,  quar  molt  castiava  la  follia  d'aquest  mon;  e  los  fals  cler- 
gues  reprendia  molt,  segon  que  demostron  li  sieu  sirventes.  Et  anava 
per  cortz  de  reis  e  de  gentils  barons,  menao  ab  si  son  joglar  que  can- 
tava  SOS  sirventes.  E  molt  fo  onratz  e  grazitz  per  mon  seignor  lo  bon 
rei  Jacme  d' Aragon  e  per  onratz  barons.  Et  ieu  maistre  Miquel  de  la 
Tor,  escrivans,  fauc  a  saber  qu'en  Peire  Cardinais,  quan  passet  d'aqaesta 
vida,  qu'el  avia  ben  entorn  de  cent  ans.  Et  ieu  sobredig  Miquel  ai  aquestz 
sirventes  escritz  en  la  ciutat  de  Nemze.  Hist.  gen.  de  Languedoc  X, 
S.  269. 

1)  Es  handelt  sich  hauptsächlich  um  die  Stücke  335,  27  und  42. 
Im  übrigen  vgl.  F.  W.  Maus,  P.  Cardinais  Strophenbau  in  seinem  Ver- 
hältnis zu  dem  anderer  Troub.    Marburger  Ausg.  u.  Abhandl.  1884. 

'^)  Nur  das  Reimschema  zu  335,  20  scheint  dem  Peter  von  Auvergne 
(De  josta  '  h  breus  jorns  e  '  Is  loncs  sers,  Nr.  VI  in  Zenkers  Ausgabe)  ent- 
lehnt zu  sein. 

3)  Das  Vorbild  ist  Bertrans  Miei  sirventes  Nr.  26  in  Stimmings 
kleiner  Ausgabe,  Halle  1913. 


12  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

kundige  Nachbildung  von  Bertrans  berühmtem  Schlachtgesang 
Be'm  platz  lo  gais  temps  de  pascor  ist  ferner  Cardinais  Änc 
mais  tan  gen  no  vi  venir  pascor  (Nr.  4),  vorausgesetzt,  daß  ihm 
wirklich  die  Verfasserschaft  zukommt.^)  Durch  ihren  scho- 
nungslosen, wilden  Hohn  erinnern  besonders  die  drei  Sirven- 
tese,  die  Cardinal  gegen  einen  gewissen  Stephan  von  Belmon 
geschleudert  hat  (Nr.  19,  65  und  68  [=  22]),  an  Bertran  von 
Born.  Hier  allerdings  wird  die  Nachahmung  freier  und  läßt 
sich,  wenn  man  vom  Ethos  absieht,  nur  an  einigen  Äußerlich- 
keiten noch  erkennen,  an  Strophenbau  und  Reim  oder  an  der 
herausfordernden  Wiederholung  des  Namens  zu  Anfang  jeder 
Strophe.^)  Auch  in  den  scharfen  Ausfällen  gegen  die  Feinde 
der  Albigenser  klingt  hin  und  wieder  der  drohende  Kriegs- 
ton Bertrans  noch  an.^)  —  Demgegenüber  tritt  der  mildere 
und    gebildetere   Meister   des    Sirventes,   Girant   von  Bornelh, 

^)  Das  Lied  ist  in  den  Hss.  C  und  F  enthalten,  von  denen  die  erste 
es  dem  Cardinal,  die  zweite  dem  Bernart  Arnaut  de  Moncuc  zuweist. 
Mögen  auch  einige  stilistische  Gesichtspunkte  für  Cardinal  sprechen  (vgl. 
Maus  a.  a.  0.  S.  61),  so  könnte  doch  ebensogut,  ja  noch  eher,  F  recht 
behalten.  Das  Reimschema  scheint  einem  Lied  des  Aimeric  von  Pegul- 
han  (15)  Seih  que  s'irais  ni  giierreya  ab  Amor  entlehnt  zu  sein,  das,  der 
letzten  Strophe  zufolge,  nach  der  Kaiserkrönung  Friedrichs  IL  (1220)  ge- 
dichtet ist.  Daß  der  metrisch  so  wenig  erfinderische  Cardinal  sich  das 
Schema  selbst  gezimmert  hat,  ist  ebenso  unwahrscheinlich,  wie  daß  er 
nach  1220  noch  Lust  zu  Kampfgesängen  hatte.  Der  höchst  unchrist- 
liche Wunsch 

Belh  m'es  quan  vey  boyer  e  pastor 
van  si  marrit  qu  'us  no  sap  vas  o  s'an,  .  .  . 
wenn  er  gleich  nur  eine  Reminiszenz  aus  Bertran  de  Born  ist,  muß  im 
Munde  Cardinais,  des  Fürsprechers  der  Armen,  aufs  höchste  befremden. 
Viel  besser  könnten  wir  ihn  bei  Bernart  Arnaut  verstehen,  da  er  in 
seinem  zweiten  Liede:  Er  quan  li  rosier  uns  wiederum  als  ein  kampf- 
lustiger und  sehr  grimmiger  Herr  erscheint. 

2)  Man  vergleiche  Cardinais  D'Fsteve  de  Belmon  m'enueia  (Mahn, 
Ged.  762  und  763)  mit  Bertrans  Rassa,  tan  er  eis  e  nionta  e  poia. 

^)  Cardinais  Per  fohls  tenc  Polles  e  Lomhartz  (40,  Mahn,  Werke  II, 
S.  194)  ist  in  Strophenbau  und  Reim  nach  Bertrans  Ges  de  far  sirventes 
no '  in  tartz  gearbeitet.  Ausschließlich  formal  ist  der  Zusammenhang 
zwischen  Cardinais  Totztemps  azir  falsedat  et  engan  (57,  Mahn,  Werke  IT, 
S.  195)  und  Bertrans  Quaii  la  novela  flors  par  el  verjan. 


Peire  Cardinal  13 

einigermaßen  zurück.  Vielleicht  war  er  ihm  zu  schwatzhaft, 
zu  gutmütig,  nicht  scharf  genug.  Eigentümlich  mutet  es  an, 
zu  sehen,  wie  Cardinal  seine  Verhöhnung  des  Minnedienstes 
Ar  mi  posc  eu  lauzar  d'amor  ganz  in  den  Reimen  und  dem 
Silbenmaß  von  Girauts  berühmtem  Liebestraum  vom  gezähmten 
Falken  (No  pos  sofrir)  gefertigt  hat.  Sogar  die  Melodie  hat 
er  übernommen,*)  seis  aus  Bequemlichkeit,  seis  um  sein  Vor- 
bild zu  parodieren.  Ein  andermal  entlehnt  er  die  metrische 
Form  für  ein  sarkastisches,  versteckt  persönliches  Straf lied 
(L'arcivesques  de  Narbona  Nr.  29)  einer  braven,  ziemlich  ein- 
tönigen und  hausbackenen  allgemeinen  Moralisation  des  Giraut 
(Tals  gen  prede'  e  sermona).  Freilich,  auf  moralischen  Gemein- 
plätzen begegnen  sich  die  beiden.  Man  könnte  unschwer  eine 
stattliche  Liste  von  Sprüchen  aufstellen,  in  denen  jeder  von 
ihnen  mit  etwas  anderen,  z.  T.  auch  ähnlichen  Worten  unge- 
fähr das  gleiche  lehrt:  nämlich  daß  mit  dem  Verfall  der  ritter- 
lichen Minne  Freigebigkeit,  Fröhlichkeit,  Wahrhaftigkeit,  Groß- 
mut und  alles  Gute  aus  der  Welt  entschwunden  und  Geiz, 
Raub,  Trug  und  Lug  zur  Herrschaft  gelangt  seien. ^)  Während 
aber  Cardinal  in  diesen  Mißstand  sich  tief  und  tiefer  hinein- 
wühlt, bis  er  zu  einer  pessimistischen  und  dualistischen  Welt- 
anschauung kommt,  weiß  Giraut  sich  leicht  zu  trösten  und  be- 
ruhigt sich  bei  der  irdischen  Mischung  von  Licht  und  Schatten. 
Wo  jener  voll  Ironie  ist,  hat  dieser  nur  gutmütigen  Humor. 
Ganz  und  gar  nicht  nach  Cardinais  unversöhnlichem  Sinn 
klingt  der  Grundsatz  des  Giraut: 

Que  no  m'azaut  de  trop  sen, 
n'en  trop  foldat  no  m'enten. 
Pero  sens,  pretz  e  folia 
chascus  a  sas  vetz 


1)  Beck,  Die  Melodien  der  Troub.,  Straßburg  1908. 

2)  Wie  oft  kehren  bei  Cardinal  die  Gedanken  wieder,  die  Giraut  in 
seinen  Sirventesen  Per  solatz  revelhar,  Tals  gen  prezich'  e  sermona  und 
No'  s  pot  sofrir  ma  lenga  (Nr.  65,  67,  69  bei  Kolsen)  ausgesprochen  hat; 
aber  die  Stimmung,  und  auf  diese  kommt  es  in  der  Dichtung  an ,  ist  nicht 
mehr  dieselbe. 


14  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

qui  be '  Is  assembla  ni  *  Is  tria, 
segon  mo  veiaire.^) 

Zuviel  Weisheit  mag  ich  nicht, 
zuviel  Narrheit  trag  ich  nicht, 
Weisheit,  Tugend,  Narrheit  haben 

jedes  seine  Zeit, 
wenn  nian's  richtig  mischt  und  scheidet: 

so  ist  meine  Meinung. 

Gerade  damit,  daß  jedes  Ding  seine  Zeit  hat,  daß  Gut 
und  Böse  in  buntem  Wechsel  durcheinanderlaufen  und  alle 
Werte  nur  in  irdischer  Trübung  sich  verwirklichen,  kann  Car- 
dinal sich  nicht  abfinden.  Zu  tief  schon  hat  er  spekuliert, 
um  das  Leben  noch  nehmen  zu  können,  wie  es  ist.  Mit  dok- 
trinärer Schärfe  faßt  er  es  an.  Alles  zergliedert  sich  ihm  in 
Schein  und  Sein,  Wahr  und  Falsch,  Gut  und  Böse,  Wert  und 
Unwert.  Statt  der  Dinge  sieht  er  deren  Begriffe  und  Ideale 
und  kann  zu  der  Wirklichkeit  kein  freundliches  Verhältnis 
mehr  gewinnen.  Bald  wird  die  Lust  am  Abstrahieren  ihn  un- 
glücklich machen. 

Zunächst  mag  es  nur  ein  spielerischer  Trieb  seines  Ver- 
standes gewesen  sein,  was  ihn  bewog,  die  üblichen  alten  The- 
mata der  Lehrdichtung  wieder  aufzugreifen;  und  er  mag  sich 
gefreut  haben,  wie  viel  klarer,  leichter,  eleganter,  übersicht- 
licher ihm  das  Räsonieren  von  der  Hand  ging,  wie  viel  besser 
als  Marcabru  und  Peter  von  Auvergne  er  mit  Begriffen  und 
Worten  fertig  wurde,  wie  viel  schärfer  und  spitzer  als  dem 
Girant  von  Bornelh  ihm  die  Antithesen  und  Parallelen  gelangen. 

Dieses  Bemühen,  mit  Anmut  und  Leichtigkeit  die  Strenge 
des  Tadels  und  die  Höhe  der  Sittenlehre  vorzutragen,  tritt 
mehr  oder  weniger  in  sämtlichen  Liedern  Cardinais  zutage, 
am  handgreiflichsten  aber  in  einer  Gruppe  von  Sirventesen, 
die  ohne  fühlbare  und  nachweisliche  Bezugnahme  auf  bestimmte 
Personen  und  Verhältnisse  die  durchschnittliche  und  allgemeine 

^)  Nr.  49,  Strophe  3  in  Kolsens  Ausgabe. 


Peire  Cardinal  15 

Niederträchtigkeit  der  weltlichen  Gesellschaft,  insbesondere  der 
Großen  und  Reichen  rügt,  also  das  alte  seit  Marcabru  be- 
liebte Thema  behandelt.  Es  sind  gegen  zwanzig  Gedichte, 
die  gewiß  nicht  alle  derselben  Zeit  angehören,  denn  in  den 
einen  herrscht  noch  die  Rittermoral  vor,  während  in  den  an- 
deren, offenbar  späteren,  die  Denkart  des  Geistlichen  mehr  zur 
Geltung  kommt.^)  Wie  dem  auch  sei,  das  Bedeutsame  liegt 
für  uns  zunächst  darin,  daß  Cardinal  sein  Auge  ganz  auf  die 
Widersprüche,  Gegensätze,  Paradoxien,  Unstimmigkeiten  des 
menschlichen  Treibens  einstellt,  daß  er  fast  ausschließlich  mit 
objektiven  Kontrasten  arbeitet.  Die  Begriffspaare:  Schande 
und  Ehre,  Nehmen  und  Geben,  Reich  und  Arm,  Unrecht  und 
Recht,  Verrat  und  Treue,  Lüge  und  Wahrheit,  Narrheit  und 
Weisheit,  Mißmut  und  Frohsinn,  Hochmut  und  Bescheidenheit 
wird  er  nicht  müde,  auf  vielerlei  Art  in  Reih'  und  Glied 
zu   bringen. 

Si  tortz  fos  dretz,  ni  enians  lealesa, 

ni  tolres  dars,  ni  lagz  peccatz  merces, 

ni  amt'  honors,  ni  cobeitatz  largesa: 

als  crois  malvatz  fora '  1  segles  ben  pres.    (Nr.  8,  Str.  5.) 

Oder:  Si  tolre  fos  caritatz 

e  messonguas  fosson  vers 
e  si  pezars  fos  plazers 
et  erguelhs  humilitatz 

e  tortz  chauzimens 
et  enueg  essenhamens 
e  malvolers  amistatz: 
assatz  son  de  pozestaz 
que  pogron  caber 
ab  Dieu  per  aital  poder.    (Nr.  33,  Str.  2.) 

E  *  1  sen  tenon  a  folhia 

e'l  dreit  tornon  en  biais.    (Nr.  41,  Str.  1.) 


1)  In  der  Hauptsache  sind  es  die  Nummern  2,  3,  8,  17,  18,  20,  24, 
32,  33,  34,  36,  38,  39,  41,  45,  46,  49,  57,  61. 


16  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Que  dels  vicis  cuion  sian  vertut 

e  del  mal  ben,  so  lor  es  a  veiaire. 
Que'ls  pros  son  blasman 
e'ls  malvatz  prezan.    (Nr.  2,  Str.  3.) 

....  als  toledors 
a  cui  sens  par  foillia 

e  blasmes  lauzors 
e  tortz  far  gaillardia 

et  anta  honors 
et  enois  cortesia 

e  donars  dolors 

e  tolre  doussors 

e  chans  l'autrui  plors 
e  ioi  l'autrui  feunia 

e  l'autrui  ciamors.    (Nr.  38,  2.) 

....  barons  mesquis, 
paubres  d'amor  e  de  feunia  ricx, 
sors  en  erguelh,  en  valor  deschazetz, 
amicx  de  tort  e  de  Dieu  enemicx. 

trebalh  dels  bos  e  dels  layros  abricx, 
cautz  de  tortz  far,  e  de  caritatz  frez, 
ricx  en  raubar,  et  en  donar  mendicx. 

(Nr.  20,  Str.  1  u.  2.) 

Hora  Dieu  temens  non  aura  ia  nessieyra, 
e  *  1  non  temens  aura  greu  aondansa, 
car  l'us  es  larcx  e  viu  de  sa  paubreyra, 
l'autr'es  avars  en  sa  melbor  estansa. 


que'l  gran  avers  ten  son  don  cossiros, 

e'lh  bon'amors  alegre  e  ioyos.  (Nr.  24,  Str.  2  u.  3.) 


Assatz  es  viltatz 
de  condugz  e  de  blatz, 


Peire  Cardinal  17 

mas  d'amor  es  falensa 

e  de  fagz  honratz; 
et  es  petit  amatz 
hom  paubres  e  coytatz, 
e  troba  bevolensa 

lo  rics  e-1  sobratz.    (Nr.  32,  Str.  5.)^) 

Lo  sabers  d'aquest  segle  es  foudatz   .  .  . 
Qu'eu  vei  qu'il  ric  son  savis  apellatz 
e  *  1  paubre  son  fols  e  caitius  clamatz 

La  riqueza  d'est  segl'es  paubretatz. 

(Nr.  34,  Str.  1  u.  2.) 
Rics  bom,  quan  vai  per  carreira, 
el  ha  una  companeira, 
Malvestat,  que  vai  primeira 
e  mejana  e  derreira; 
e  grans  Cobeitatz  enteira 

li  fai  companhia, 
En  Tortz  porta  la  senheira 

et  Orgolhs  la  guia.    (Nr.  45,  Str.  2.) 

Deissen  Valors 
e  dechai  quascun  dia, 

et  Engans  sors 
e  nais  e  multiplia; 


^)  Derselbe  Gedanke  fast  in  denselben  Worten  in  dem  von  Appel, 
Provenz.  Inedita,  Leipzig  1890,  S.  332,  herausgeg.  Stück  461,  236,  Str.4. 

Assas  es  pel  mon  grans  vieutatz 

de  rrix  maniars  e  de  condut, 

ciaras  aiguas  s'an  corregut, 

de  blatz  e  de  vins  s'a  viutatz, 

mas  d'amor  a  gran  faillimen 

e  de  fatz  d'onor,  veramen, 

ez  homps  paures  ven  en  azir 

e  decassatz,  si  ver  vol  dir. 
Ob  Cardinal   oder  einer  seiner  Nachahmer  der  Verfasser  ist,   läßt  sich 
nicht  entscheiden. 

Sitzgab.  d.  philos.-philol.  u.  d.  bist.  Kl.  Jahrg.  1 9 1 6,  6.  Abb.  2 


18  6.  Abhandlung:  Karl  yossler 

e  mor  Amors 
el  mon,  e  nais  Feunia, 

et  es  lauzors 
blasmes,  e  sens  folhia.    (Nr.  46,  Str.  5.) 

Que'ls  US  dechai  Lialtatz  mantas  vetz, 

e'ls  autres  sors  Enjans  e  Malafes.    (Nr.  57,  Str.  1.) 

Die  Beispiele  ließen  sich  gewaltig  vermehren,  wenn  wir 
in  andere  Gruppen  hinübergreifen  und  sie  aus  den  gegen  die 
Minne,  gegen  die  Geistlichkeit,  gegen  einzelne  Personen  ge- 
richteten Sirventesen,  aus  den  Sermons  und  Ensenhamens  un- 
seres Dichters  herausholen  wollten.  Ein  Lied  unserer  Gruppe 
aber  ist  geradezu  eine  Sammelstelle  begrifflicher  und  sprach- 
licher Antithesen  und  Parallelen  (Nr.  49). 

Ricx  hom  que  greu  ditz  vertat  e  leu  men, 
e  greu  vol  patz  e  leu  mov  ochaizo, 
e  dona  greu  e  leu  vol  qu'om  li  do, 
e  greu  fai  be  e  leu  destrui  la  gen, 
e  greu  es  pros  e  leu  es  mals  als  bos, 
e  greu  es  francx  e  leu  es  orgulhos, 
e  greu  es  larcs  e  leu  toi  e  greu  ren, 
deu  cazer  leu  d'aut  luec  en  bas  estatge. 

De  tals  en  sai  que  pisson  a  prezen 
et  al  beure  rescondo's  dins  maizo; 
et  al  manjar  no  queron  companho, 
et  al  talhar  queron  en  mais  de  cen, 
et  al  ostal  son  caitiu  e  renos, 
et  a  tort  far  son  ric  e  poderos; 
et  al  donar  son  de  caitiu  prezen, 
et  al  tolre  fort(z)  e  de  gran  coratge. 

Malditz   es   hom   qui '  1  ben  laissa  e '  1  mal  pren, 

e*l(s)  ric(x)  an  pres  enguan  e  tracio, 

et  an  laissat  condug  e  messio; 

et  an  pres  dan  e  gran  destruzimen, 


Peire  Cardinal  19 

et  an  laissat  lays  e  vers  e  chansos; 
et  an  pres  plaitz  e  novas  e  tensos, 
et  an  laissat  amor  e  pretz  valen, 
et  an  pres  mal  voler  e  far  outrage. 

Aissi  cum  son  maior  an  meyns  de  sen 
ab  mais  de  tort  et  ab  meyns  de  razo, 
ab  mais  de  dan  teuer,  ab  meyns  de  pro, 
ab  mais  d'orguelh,  ab  meyns  de  cauzimen. 
ab  mais  de  tolr'  et  ab  meyns  de  bels  dos, 
ab  mais  de  mais,  ab  meyns  de  bels  respos, 
ab  mais  d'enueg,  ab  meyns  d'ensenhameu, 
ab  mais  d'enguan,  ab  meyns  de  bon  coratge. 

Ära  diguatz,  senhor(s),  al  vostre  sen 
de  dos  barons  quäl  a  maior  razo, 
quan  l'us  dels  dos  pot  dar  e  tolre  no, 
l'autre  pot  tolr'e  dar  no  pot  nien: 
ar  diran  tug  que  dars  val  per  un  dos, 
e  veyretz  los  tolre  totas  sazos; 
a  que  far  doncx  van  emblan  ni  tolen, 
pus  lo  donars  a  dos  tans  d'avantage? 

Mos  chantars  es  enueg  als  enoios 

et  als  plazens  plazers,  cui  platz  razos; 

tug  li  dig  son  enoios  e  plazen: 

so  qu'als  us  platz  als  autres  es  salvatge. 

Versmaß,  Reime  und  Melodie  zu  dieser  frostigen  Morali- 
sation  hat  Cardinal  einer  galanten  Huldigungskanzone  des  Rai- 
mon  Jordan  (404,  11)  entlehnt.  Sein  Eigen  ist  weder  die 
Form  noch  der  Gedankengehalt.  Nur  in  der  hartnäckigen 
Freude  am  Unterstreichen  und  Häufen  der  Gegensätze  liegt  die 
persönliche  Note.  Dazu  bedient  er  sich  vorzugsweise  syntakti- 
scher Mittel,^)  zuweilen    auch    des  Reims,    des   Binnenreims^) 


1)  So  in  Nr.  21,  66,  31,  6,  12. 

2)  Binnenreim  hat  man  in  Nr.  2,  Str.  5,  Nr.  6,  Str.  4  und  5,  Nr.  51. 
Durch  Reim  sind  die  Antithesen  besonders  in  36  unterstrichen. 

2* 


26  6.  Abhandlung:  Karl  Yossler 

und  der  Alliteration.^)  An  und  für  sich  sind  solche  Kunst- 
griffe nicht  neu,  wie  überhaupt,  was  das  Formale,  Akustische 
und  Musikalische  betrifft,  Cardinal  sehr  wenig  erfinderisch  war. 
Unter  den  69  Gedichten,  die  Bartsch  als  dem  Cardinal  gehörig 
in  seinem  „Grundriß"  aufführt,  hat  Maus  nur  etwa  neun  ge- 
funden, deren  Strophenbau  im  besten  Falle  originell  sein  könnte. 
Inzwischen  haben  Appel  und  Ristori  drei  weitere  Entlehnungen 
festgestellt.^)  Von  den  drei  unter  Cardinais  Namen  erhaltenen 
Melodien  sind  zwei  als  übernommen  erwiesen.  Viel  eher  als 
schöpferisch  ist  Cardinal  virtuos  in  der  äußeren  Form.  Es 
fehlt  ihm  an  tiefem  Empfinden  für  sprachliche  und  melodische 
Harmonie.  In  dieser  Hinsicht  steht  er  weit  hinter  Marcabru, 
Bernhard  von  Ventadorn,  Arnaut  Daniel,  Peirol  u.  a.  zurück. 
Man  möchte  sagen,  es  fehlt  ihm  die  Andacht  zum  Laut  und 
Klang.  Wohl  kennt  er  deren  Wirkung  und  weiß  sie  auszu- 
nützen; aber  er  tut  es  mit  einer  Absichtlichkeit,  die  bald  als 
Effekthascherei,  bald  als  geriebene  Respektlosigkeit  und  Ironie 
gegen  die  sinnlichen  Schönheiten  der  Dichtkunst  und  des  Ge- 
sanges anmutet.  Er  soll  ja  auch  seine  Lieder  nicht  selbst  ge- 
sungen, sondern  durch  einen  Spielmann  haben  vortragen  lassen. 
Wir  haben  gesehen  wie  er  ein  Spottlied  gegen  den  Frauen- 
dienst nach  der  Melodie  eines  Liebestraumes  gehen  ließ;  und 
immer  wieder  macht  dieser  bittere  Intellektualist  gerade  bei 
den  süßesten  Melodikern  und  Sprachkünstlern,  bei  Bernhard 
von  Ventadorn  vor  allem,^)  bei  Rudel,  Vidal,  Faidit,  Peirol  u.  a. 
seine  Anleihen.  Eines  seiner  grimmigsten  und  berühmtesten 
Straf lieder  gegen  die  Geistlichkeit  Taratassa  ni  voutor  (Nr.  55) 
hat  Strophenbau  und  Reim  von  Bernhards  Liebeslied  Era'm 
cosselhatz,  senhor,  ein  Gesang  der  Menschenverachtung  D^un 
sirventes  faire  no'm  tuolh  (Nr.  17)  geht  nach  Bernhards  Can 
par  la  flors  josta'l  vert  folh.     Erst  in  seinen  spätesten  Dich- 


1)  Vgl.  Martin  Scholz,  Die  Alliteration  in  der  prov.  Lyrik,  Zeitschr. 
für  rem.  Phil.,  Bd.  37  (1913),  S.  418f. 

2)  Siehe  Appel,  Provenz.  Inedita,  S.  227,  Poes.  prov.  ined.  S.  67  und 
Beck,  Die  Melodien  der  Troub. 

3)  Vgl.  Bern,  von  Vent.  Ausg.  Appel,  Halle  1915,  S.  CVIIIff. 


Peire  Cardinal  21 

tungen  scheint  Cardinal  auf  diese  unreinen,  buhlerischen  Wir- 
kungen verzichtet  zu  haben.  Kaum  ein  anderer  Trobador  ist 
in  den  Anforderungen  an  die  Form  sich  selbst  gegenüber  so 
ungleich  gewesen.  Bald  erscheint  er  gesucht  im  höchsten 
Grad,  bald  ebenso  nachlässig.  Das  eine  Mal  kann  er  am  Reim- 
geklingel sich  nicht  genugtun,  ein  andermal  begnügt  er  sich 
mit  unvollkommenem  Gleichklang  und  Assonanz.^)  Allerlei 
Strophen,  von  den  geklügeltsten  bis  zu  den  volkstümlichsten, 
hat  er  versucht. 

Von  dieser  Seite  her  ist  seiner  Eigenart  schwer  beizu- 
kommen, denn  eher  als  ein  sinnliches  war  er  ein  philosophi- 
sches Temperament. 

Wenn  wir  zu  der  oben  bezeichneten  Gruppe  seiner  allge- 
meinen Rügelieder  zurückkehren,  so  finden  wir,  seinen  Vor- 
gängern gegenüber,  das  Neue  vor  allem  darin,  daß  er  nicht 
aus  mißmutiger  Stimmung  oder  Laune,  nicht  aus  persönlichem 
Ärger,  sondern  aus  sittlichem  Haß  und  moralischem  Ethos 
schöpft.  Es  sind  keine  Temperamentsausbrüche  wie  bei  Mar- 
cabru,  keine  Elegien  wie  bei  Girant  von  Bornelh  mehr.  Auch 
von  plötzlichen  Übergängen  aus  den  eigenen  Angelegenheiten 
zu  denen  der  menschlichen  Gesellschaft,  wie  Vidal  sie  liebte, 
ist  wenig  mehr  zu  merken.'*)  Der  Dichter  steht  überhalb 
der  Dinge,  ist  kühler,  klarer,  weniger  mit  sich  selbst  beschäftigt 
und  eben  darum  den  allgemeinen  Werten,  dem  Idealen,  viel 
zugänglicher.  All'  seine  Vorgänger  im  Rügelied  stehen  sich 
mit  ihrer  Subjektivität  selbst  im  Licht.  Er  erst  versteht  es, 
beiseitezutreten,  und  ist,  dank  dieser  Sachlichkeit,  der  Meister 
einer  Satire  geworden,  die  nicht  aus  wandelbarem  Belieben, 
sondern  aus  den  Unstimmigkeiten,  Mißverhältnissen  und  Irratio- 
nalitäten der  menschlichen  Welt  selbst  hervorgeht.   Der  stummen 

*)  Z.  B.  in  Nr.  27  marrida  :  ajuda,  tempre  :  ventre,  tremblas  :  rendas, 
esforsas  :  remordas  :  deportas,  enfrunas  :  enduras,  delieitas  :  penras  und  in 
dem  Lehrgedicht  De  paraulas  es  grans  mercatz  escout :  mot. 

*)  Vgl.  meine  Studie  über  Marcabru,  Sitzungsberichte  der  K.  B.  Aka- 
demie der  Wissenschaften  1913,  11.  Abb.  S.  22.  Das  einzige  Gedicht  Car- 
dinais, bei  dem  die  einheitliche  Idee  nicht  ersichtlich  ist,  dürfte  Nr.  30 
Las  amairitz  sein. 


22 

Ironie,  die  den  Dingen  innewohnt,  verhilft  er  zur  Sprache. 
Vor  ihm  war  das  Sirventes  bald  Loblied,  bald  Schmählied, 
manchmal  beides  zugleich.  Durch  ihn  wird  es  in  eine  be- 
schaulichere Klarheit,  in  eine  Luft,  die  keineswegs  milder,  aber 
ruhiger,  durchsichtiger  und  schneidender  ist,  erhoben.  Er  tritt 
nicht  als  Ankläger  und  Verteidiger,  sondern  wesentlich  als 
Richter,  Kritiker  und  Arzt  auf.  Er  zeigt  die  tiefsten  Schlag- 
schatten der  Welt,  indem  er  sie  mit  dem  Lichtstrahl  der 
Ideale  trifft. 

Zwei  Gedanken  vor  allem,  die  keineswegs  neu,  aber  doch 
in  der  höfischen  Satire  nicht  die  herrschenden  waren,  bringt 
er  zur  Geltung.  Während  vor  ihm  die  Trobadors  gegen  die 
allgemeine  Habsucht  und  Unredlichkeit  ihrer  Zeit  die  ritter- 
liche Freigebigkeit,  Freudigkeit  und  Offenherzigkeit  entschwun- 
dener Tage  auszuspielen  pflegten  und  der  traurigen  Gegenwart 
eine  goldene  Vergangenheit  vorhielten,^)  stellt  Cardinal  die 
Spiegel  des  Todes  und  des  Jenseits  auf.  Es  vollzieht  sich  bei 
ihm  der  Umschwung  von  der  lebensfreudigen  Rittermoral  zu 
einer  überweltlichen  Wertung,  die  dem  Hofwesen  zwar  nicht 
feindlich,  aber  wesentlich  strenger  gegenübertritt.  Wohl  for- 
dert auch  Cardinal  noch  die  Großen  und  Reichen  zum  fröhlich 
spendenden  Genüsse  auf,  aber  selbst  bei  dieser  Ermunterung 
schon  arbeitet  er  mit  dem  Todesgedanken. 

Unhöfisch  ist  und  allem  Preis  abhold, 

feindlich  dem  Lob  und  guten  Ruf  bei  Hof 

der  Mensch,  der  das  Geschenk  für  Sünde  hält, 

das  man  dem  Spielmann  macht,  durch  den  der  Ruhm 

der  Tüchtigen  zu  schöner  Geltung  kommt. 

Denn  Großes  hat  ein  Mensch  noch  nie  vollbracht 

ohne  Geschenk.    Und  hat  nicht  Gott  gewollt, 

man  solle  jedem  Bettler  Gutes  tun? 

Es  weiß  der  Ärmste  und  der  Reichste  nicht, 
ob  morgen  er  noch  lebend  ist.    Vielleicht 


1)  Als  typisch   dafür  galt   und   gilt  das  Sirventes  des  Girant  von 
Bornelh  Ter  solatz  reveühar. 


Peire  Cardinal  28 

lebt  er  solang  bis  er  bedürftig  wird 

und  nur  zum  Arger  noch  den  andern  lebt 

und  ehrlos  unter  seinen  Nachbarn  steht. 

Denn  Zeiten  gibt  es,  wo  der  Gießbach  schwillt, 

die  Brücke  überflutend  mit  Gewalt  — 

und  dann  verläuft  das  Wasser  sich  zu  nichts. 

Ich  weiß  kein  Jahr,  daß  es  nicht  Sommer  ward 
und  nicht  ein  rauher,  böser  Winter  kam  — 
und  so  kein  Mensch,  dem  Freude  und  Geschenk 
'     geworden  ohne  Schmerz  und  bittern  Gram, 

wenn  er's  erlebt.  —  Ein  Narr  drum,  wer  nicht  eilt, 
Edles  zu  tun  solang  es  ihm  vergönnt. 
Denn,  ist  er  tot,  ich  glaub,  sein  Erbe  wird 
gerade  ihm  zulieb  sich  kaum  bemüh'n.^) 

Allmählich  oder  auch  plötzlich  —  man  merkt  es  kaum 
und  weiß  nicht,  wie  es  zugegangen  ist  —  erscheint  an  Stelle 
der  höfischen  Freuden  die  Fröhlichkeit  in  Gott :  und  damit  treten 
an  Stelle  der  Großen  und  Adeligen  die  kleinen  Leute,  die  Ar- 
men, als  die  wahrhaft  weisen,  heiteren,  tapferen  und  höfischen 
Menschen. 

Qu'om  non  es  ges  valens  per  sol  sa  lansa.^) 
„Denn  tapfer  ist  man  nicht  nur  mit  der  Lanze.** 

Que'l  grans  avers  ten  son  don  cossiros 
e  •  Ih  bon  'amors  alegre  e  joyos.*) 

^)  Non  es  cortes  Nr.  39,  gedruckt  im  Lexique  roman,  S.  453  und  bei 
Mahn,  Werke  II,  S.  227. 

2)  Nr.  24  (Mahn,  Ged.  1241,  1242). 

3)  Ebenda.    Vgl.  noch  bes.  Nr.  34  (Mahn,  Ged.  643,  644). 

Lo  sabers  d'aquest  segle  es  foudatz, 
e  Dieus  dis  ho  e  trobam  ho  ligen, 
et  ieu  cre  ben  sos  ditz  verayamen, 
qu'eu  vei  qu'il  ric  son  savis  apellatz 
e  *  1  paubre  son  fols  e  caitius  clamatz. 
AI  ric  parec  del  siecle  trespassan 
et  al  Lazer,  quäl  mes  Dieus  en  soan. 


24  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

„Denn  Reichtum  macht  nur  Sorge  seinem  Herrn, 
die  wahre  Lieb'  ihn  heiter  und  vergnügt." 

Wie  der  Übergang  von  der  galanten  zu  der  mystischen 
Liebe  sich  ohne  gewaltsamen  Ruck  bei  Cardinal  vollzieht,  so 
biegt  er  auch  hier,  ohne  mit  der  Denkart  des  Hofes  zu  brechen, 
die  weltliche  Wertschätzung  in  eine  mystische  hinüber. 

Der  Sprachgebrauch  seiner  Zeit  an  und  für  sich  schon 
war  geeignet,  diesen  Gesinnungswandel  zu  verschleiern  und  zu 
erleichtern.  Ähnlich  wie  das  Nordfranzösische  kennzeichnet 
das  Provenzalische  des  12.  Jahrhunderts  sich  durch  eine  starke 
Neigung,  Vorstellungen  und  Bezeichnungen  der  äußeren,  objek- 
tiven Welt  mit  inneren,  subjektiven,  ethischen,  zum  Teil  geradezu 
mystischen  und  lyrischen  Bedeutungen  zu  erfüllen.^)  Man  denke 
an  den  Bedeutungsspielraum  von  Wörtern  wie  ric,  corteSy  ga- 
zardoSj  acoindansa,  parage  u.  a. 

Dazu  kommt  die  besondere  Veranlagung  Cardinais  zur  Be- 
schaulichkeit, seine  Art  das  höfische  Leben  und  dessen  Formen 
mitzumachen,  ohne  innerlich  dabei  zu  sein,  seine  Neigung,  alles 
Tatsächliche  aus  dem  Gesichtspunkt  des  Ideals  zu  betrachten. 
Stufenweise,  von  Begriff  zu  Begriff  zieht  er  sich  zurück  aus 
der  Welt  der  Erscheinungen,  um  dann  mit  den  Maßstäben 
dieser  Begriffe  bewaffnet  wieder  in  sie  hinabzusteigen.  Durch 
die  Verschiedenheit  und  Beweglichkeit  des  Maßstabes,  der  bald 
ein  höfischer,  bald  ein  ethischer  und  gar  mystischer  ist,  wird 
es  ihm  möglich,  die  Menschen  abwechslungsweise  bei  ihrem 
Ehrgefühl   und  Ehrgeiz,  bei   ihrem  Gewissen   und  Glauben  zu 


Die  Weisheit  dieser  Welt  ist  Narretei; 

das  sagt  uns  Gott,  das  liest  man  in  der  Schrift; 

und  ich  glaub'  seinem  Wort  wahrhaftiglich. 

Wohl  preist  die  Reichen  man  als  weis'  und  klug 

und  nennt  die  Armen  schlecht  und  dumm. 

Am  reichen  Mann  und  armen  Lazarus 

ward  klar,  wen  nach  dem  Tode  Gott  verwirft. 

1)  Für  das  Nordfranzösische  habe  ich  den  Nachweis  in  meiner  Ar- 
beit „Frankreichs  Kultur  im  Spiegel  seiner  Sprachentwicklung",  Heidel- 
berg 1913,  S.  87  ff.,  versucht. 


Peire  Cardinal  25 

packen.  Man  denke  nicht,  daß  dies  ein  überlegter  Kunstgriff 
sei.  Cardinal  empfindet  tatsächlich  die  menschlichen  Schwächen 
und  Bosheiten  bald  als  etwas  Verächtliches  und  Hassenswertes, 
bald  als  bedauerlich,  des  Mitgefühles  und  der  Tränen  würdig. 
Er  geißelt  und  beweint  sie;  in  seinem  grausamsten  Hohn  ist 
noch  Liebe  und  Wärme,  in  seinen  beweglichsten  Klagen  noch 
etwas  Eisiges  und  Müdes.  Hinter  den  Tränen  lauert  der  Witz, 
und  in  stiller  Hoheit  schwebt  über  den  boshaftesten  Sarkasmen 
der  Schmerz.  Eines  der  packendsten  Rügelieder,  das  er  gegen 
die  Herzlosigkeit  der  Reichen  gedichtet  hat  Qui  ve  gran  maleza 
faire  (Nr.  45)^),  klingt  aus  in  ein  Gebet.  Andererseits  bringt 
er  es  fertig,  in  den  Reimen  und  im  Stil  des  warmherzigen 
Klageliedes,  das  Bertran  von  Born  auf  den  Tod  des  jungen 
Königs  Heinrich  von  England  (1183)  gesungen  hatte,  einen 
höchst  künstlichen  Planh  auf  Bösewichter  und  Verräter  zu 
dichten,  dessen  Tränen  in  Wirklichkeit  ein  höhnisches  und 
böses  Lachen  sind:  Äissi  com  hom  planh  (Nr.  2).^) 

Wie  wir  den  Sohn  beklagen  oder  Vater, 
oder  den  Freund,  den  uns  der  Tod  entriß, 
beweine  ich  die  Überlebenden, 
die  falschen,  tückischen,  gemeinen  Kerle, 

Schurken  voller  Lug, 

gierig,  schlechter  Art, 

Räuber,  Diebespack, 

Helfer  falschen  Eids, 

Hehler  des  Verrats, 

die  der  Teufel  führt 

und  sie  unterweist 

wie  die  Kinderlein 

und  sie  so  berät. 
Daß  der  Herrgott  sie  verschmäht. 

Er  weint,  weil  sie  ein  so  langes  Leben  haben  und  nicht 


^)  Gedruckt  in  Bartschs  Chrestom.  prov.  Sp.  169  ff. 
2)  Lex.  rora,  S.  448  und  Mahn,  Werke  II,  S.  211  f. 


26  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

gehängt  werden;  und  mit  zierlichen  Alliterationen  und  Binnen- 
reimen beschließt  er  seine  Klage. 

In  einem  starken,  reinen,  ungemischten  Gefühle  aufzu- 
gehen, will  diesem  romantisch  und  intellektualistisch  veran- 
lagten Menschen  nur  selten  gelingen.  Die  Antithese  ist  die 
Form  nicht  nur  seiner  Sprache,  seiner  Kunst,  seines  begriff- 
lichen Denkens;  selbst  sein  Gefühlsleben  schwelgt  und  wuchert 
in  Gegensätzen  und  schwächt  sich  durch  überreizte  Lebendig- 
keit. Als  der  geborene  Ironiker  läuft  er  Gefahr,  gleichgültig, 
überdrüssig  und  müde  zu  werden.  Es  ist  ein  schlimmes  Zeichen, 
wenn  ein  Dichter  über  Welt  und  Menschheit  in  so  kühlen, 
zierlichen  Worten  das  Urteil  spricht,  als  gehörte  er  selbst 
nicht  dazu. 

A  fers  faitz  fai  afortir 
lo  mons  selhs  qu'  j  son  nascut, 
que  quan  quecx  a  pron  viscut, 
quecx  quier  cum  puesca  morir 
ab  tortz  far  et  ab  mentir. 
Qu'en  dos  milliers  non  a  dos 
qu'ab  dreitz  dos 
vuelhan  devenir 
sai,  on  hom  dous  deu  venir.^) 

Greulicher  Gewohnheit  Grund 
legt  die  Welt  in  ihren  Kindern. 
Haben  herrlich  sie  gelebt, 
suchen  sie  den  Seelentod 
in  der  Sünde,  in  der  Lüge. 
Von  zweitausend  gibt's  nicht  zwei 
welche  wohl 
durch  ihr  Wohltun  wollten 
selig  bei  den  Sanften  werden. 

Wie     unentwirrbar    verfilzen    sich    Menschen  Verachtung, 


^)  Nr.  18,  Str.  2,   gedruckt  im   Lexiqüe  roman,  S.  455  und   Mahn, 
Werke  II,  S.  223, 


Peire  Cardinal  27 

Schmerz  und  literarisches  Getändel  in  dem  Lied  D^un  sirventes 
faire  no'm  tuelh.^) 

On  plus  d'omes  vezon  mei  hueilh 

on  meins  pretz  las  gens  e  mais  me 

et  on  plus  los  sec  peitz  lor  vueilh 

et  on  mais  los  aug  meins  lor  cre 

et  on  plus  intr'en  lor  demor 

meins  ai  de  plazer  en  mon  cor. 
Que,  si  poges  viure  de  mon  captal 
ia  non  volgra  sezer  a  lor  fogal.^) 

Je  mehr  mein  Auge  Menschen  sieht, 

veracht'  ich  sie  und  schätz'  mich  selbst, 

je  mehr  ich  diene,  haß'  ich  sie, 

je  mehr  sie  reden,  zweifle  ich, 

und  je  vertrauter  mir  ihr  Haus, 

je  öder  wird  es  mir  ums  Herz. 
Oh,  daß  ich  leben  könnt'  vom  eig'nen  Gut, 
an  ihrem  Herde  wahrlich  saß'  ich  nicht. 

Wohl  hört  man  die  Stimme  des  Herzens,  aber  es  ist  auch 
Eitelkeit  des  Verstandes  dabei.  Gerade  in  der  bisher  be- 
sprochenen Gruppe  von  Liedern  scheint  Cardinal  uns  oft  auf 
dem  besten  Wege  zu  sein,  mit  dialektischer  Überlegenheit  und 
selbstgefälliger  Reimkunst,  mit  Wort-  und  Begriffsspielerei  seine 
Unlust  an  der  Welt  auf  virtuosenhafte  Weise  zu  variieren  und 
den  Formalismus  des  trobar  sotil,  menut  und  florit  auf  die 
Spitze  zu  treiben,  wie  er,  um  nur  ein  Beispiel  noch  zu  nennen, 
in  dem  Gedichte  Maint  haro  ses  lei  (Nr.  36)  ^)  getan  hat.  Hinter 
der  Munterkeit  der  Worte  fühlt  man  die  Müdigkeit  der  Seele. 


1)  Nr.  17.  Gedruckt  im  Lex.  rom.,  S.  437,  in  Mahn,  Werke  II,  S.  224 
und  in  Studj  di  fil.  rom.  IX,  S.  511. 

2)  Greu  m'asegra  la  nueg  en  lur  fogal  ist  die  Lesart  bei  Raynouard 
und  Mahn. 

3)  Gedruckt  bei  Appel,  Prov.  inedita,  S.  227. 


28  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

III.  Der  Beruf  des  Satirikers. 

Zwei  Dinge,  scheint  mir,  haben  unseren  Dichter  aus  dieser 
Sackgasse  seiner  Kunst  herausgeholt:  die  erschütternden  Er- 
eignisse der  Albigenserkriege  und  die  eigene  Fähigkeit  zur 
Selbstbescheidung  und  Sachlichkeit.  Cardinal  hat  das  Wichtig- 
tun mit  der  eigenen  Persönlichkeit,  das  die  späteren  Trobadors 
den  älteren  zuweilen  noch  nachmachen,  abgelegt.  In  keinem 
seiner  Gedichte  hat  er  seinen  Namen  genannt.  Von  der 
Künstlereitelkeit  hat  er  sich  befreit.  Wohl  finden  sich  noch 
einige  Anwandlungen  oder  Reste  davon.  So  wenn  er  in  seinem 
Vers  vertadier  (Nr.  3)  sich  rühmt,  der  Erste  zu  sein,  der  weib- 
liche Wörter  in  männliche  Reime  zwängt,*)  wenn  er  im  Geleit 
zu  Nr.  18  die  Ungeschicklichkeit  der  Spielleute  seinen  Kunst- 
werken gegenüber  bedauert,  oder  wenn  er  mit  großartiger  Ge- 
bärde sagt: 

Bei  m'es  qu'ieu  bastis 

sirventes  faitis 

de  faisso 
bei  e  ses  tot  sis 
e  mot  gent  assis 

en  gai  so. 
Pueis,  qui  que  Taprenda, 
enans  que'l  reprenda, 
guarde  la  razo: 
pueis  lo  don  o*l  venda, 
quan  n'aura  sazo, 

0*1  retraya 

lai  don  traya 
anel  o  cordo 

0  de  saya  — 

s'o  essaya  — 
rauba  de  gordo. 

(Nr.  10,  Mahn,  Ged.  760/61.) 

1)  Lex.  rom.,  S.  460 f.  und  Mahn,  Werke  II,  S.  213 f.  Daß  er,  um- 
gekehrt, in  Nr.  27  männlichen  Ausgang  als  weiblichen  Reim  verwendet: 
delieitas :  penras,  dürfte  eher  Nachlässigkeit  als  Künstelei  sein. 


Peire  Cardinal  29 

Bauen  will  ich  Euch 
ein  vollendet  Lied 

kunstgerecht, 
schön  und  ohne  Fehl,^) 
Worte  wohlgesetzt 

heit'ren  Tons. 
Jeder,  der  es  höret, 
eh'  er  es  bemängelt, 
achte  auf  den  Sinn: 
schenken,  auch  verkaufen 
mag  er's  immer  dann, 

oder  singen, 

sich  verdienen 
Ring  und  Band  damit  — 

vielleicht  kriegt  er 

gar  'nen  woll'nen 
dicken  Rock  dafür.^) 

Andere  Stellen  verraten  eher  ein  sittliches  als  ein  künst- 
lerisches Selbstbewußtsein.^)  Allein,  so  sehr  sich  Cardinal  zum 
Richten,  Strafen,  Lehren  und  Predigen  berufen  weiß,  so  kennt 
er  doch  die  eigene  Unzulänglichkeit  und  fühlt  sich  Sünder 
unter  den  Sündern. 

Si  tot  non  ay  joy  ni  plazer 

ni  delieg  dels  bes  d'aquest  mon, 

la  razo'm  vir'on  lo  voler 

de  chantar.     Pero  no  sai  don 

poirai  penre  que  mi  aon 

a  far  sirventes  entenden: 


^)  Sis  in  ses  tot  sis  kann  man  als  sü  Furche,  schwerlich  als  cilh 
Wimperhärchen  auffassen. 

2)  Rauba  de  gordo  deute  ich  als  Kleidungsstück  eines  großen  gort, 
d.  h.  eines  behäbigen  oder  eines  verfrorenen  Menschen. 

3)  Vgl.  das  Geleit  zu  Nr.  9  (Mahn,  Ged.  758/59  und  Studj  di  fil.  rom. 
IX,  S.  552),  die  erste  Strophe  von  Nr.  17  (Lex.  rom.,  S.  437,  Mahn,  Werke  II, 
S.  224  und  Studj  di   fil.  rom.  IX,  S.  511),  von  Nr.  18  (Lex.  rom.,  S.  455, 


30  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

tal  que  no  desplass'a  la  gen, 

s'ieu  los  repren  de  fällimen, 
on  tug  fallem  e  no"ns^)  gardam  del  latz 
on  quascus  es  pres  segon  sos  peccatz.^) 

Hab'  ich  auch  keine  Freud'  und  Lust 
noch  Spaß  an  Gütern  dieser  Welt, 
so  treibt  doch  die  Vernunft  mich  an 
zum  Sänge.     Doch  ich  weiß  nicht,  wo 
ich  Mittel  finde,  daß  das  Lied 
verständlich  und  willkommen  sei 
den  Leuten,  wenn  ich  tadeln  muß 
Irrtum  und  Fehl  an  ihnen,  doch 
wir  irren  all'  und  meiden  nicht  das  Netz, 
das  jedem  seine  eig'ne  Sünde  strickt. 

Ein  anderes  Lied  (Nr.  37),  das  man  ihm  mit  Unrecht  hat 
absprechen    wollen,^)   krönt   er   mit   einem  Greständnis,   wie  es 


Mahn,  Werke  II,  S.  223),  von  Nr.  41  (Rayn.  Choix  IV,  S.  353,  Parn.  occ. 
S.  312,  Mahn,  Werke  II,  S.  187),  von  Nr.  47  (Lex.  rom.,  S.  446,  Mahn, 
Werke  II,  S.  231),  von  Nr.  64  (Appel,  Prov.  Chrest.  Nr.  79)  und  von 
Nr.  38  (Mahn,  Ged.  977/78  u.  1243  und  Studj  di  fil.  rom.  III,  S.  669  f.). 

1)  Korrigiert  aus  nous  in  C  u.  B.  *)  Nj..  51,  Mahn,  Ged.  1251/2. 

^)  G.  Gröber  auf  Grund  handschriftlicher  Erwägungen  (Die  Liederhss. 
der  Troub.  in  Roman.  Stud.  II,  Straßburg  1875/77,  S.  349).  Siehe  da- 
gegen Maus  a.  a.  0.  S.  38  f.  Für  Cardinais  Verfasserschaft  sprechen  meh- 
rere Gründe:  1.  Strophenform  und  Reim  finden  sich  in  Cardinais  Nr.  16 
wieder  und  sind  von  Vidal  (364,  4)  übernommen.  2.  Der  Gedanke,  daß, 
wenn  man  sich  durch  Wohlleben  das  Himmelreich  verdienen  könnte,  die  \ 
christlichen  Märtyrer  Toren  gewesen  wären,  findet  sich  ähnlich  in  Cardi- 
nais Nr.  62,  Str.  3  und  Nr.  33,  Str.  2  und  in  dem  Spruch  Bona  gens,  veias  \ 
cal  via  (461,  55,  gedruckt  bei  Appel,  Prov.  ined.  S.  321),  der  wahrschein- 
lich auch  dem  Cardinal  gehört.  3.  Das  Bewußtsein,  wie  schwer  und, 
wichtig  es  ist,  die  eigenen  Ermahnungen  selbst  zu  befolgen,  entspricht* 
ganz  der  Denkart  Cardinais.  Vgl.  Nr.  42,  Str.  1  und  2.  4.  Die  Wahr- 
scheinlichkeit, daß  Nr.  37  und  16  nicht  nur  metrisch,  sondern  auch  in- 
haltlich zusammengehören,  werden  wir  in  anderem  Zusammenhang  noch 
zu  erwägen  haben.  5.  Der  Ausdruck  selhs  qu'estan  confes  e  peneden  kehrt 
wörtlich  in  Nr.  37,  Str.  5  und  62,  Str.  3  wieder. 


Peire  Cardinal  31 

von  den  Lippen  der  Sittenprediger  nicht  eben  häufig  kommt. 
Nachdem  er  allen  Ständen  vom  König  bis  zum  Landarbeiter  ihre 
besonderen  Verfehlungen  vorgehalten  hat,  schließt  er: 

A  l'autra  gen  darai  conseilh  leal, 
si  tot  no'l  sai  a  mon  ops  retenir: 
que  cascus  pens  de  ben  far  e  de  dir 
de  son  poder;  car  plus  de  bon  captal 
non  porterem  escrit  en  nostre  brieu 
quan  nos  irem  e  rendrem  cont  a  Dieu 
ques  aurem  faig,  al  ior  del  iuiamen, 
al  gran  seinhor  qui'ns  formet  de  nien. 

Qui  mi  repren  mon  chantar,  no  m'es  grieu: 
s'ieu  man  far  ben,  si  tot  m'en  faz  pauc  ieu, 
car,  si  las  gens  reinheson  ben  ni  gen, 
pois  pogron  dir:  „De  foll  a  hom  trag  sen."  ^) 

Den  andern  allen  geb'  ich  treuen  Rat, 

obschon  ich  selbst  ihn  nicht  zu  nützen  weiß: 

daß  jeder  guter  Werk'  und  Worte  sich 

nach  Kraft  befleiß'.     Dies  ist  das  beste  Pfund, 

das  man  im  Briefe  mit  hinübernimmt, 

wann  man  vor  Gottes  Stuhl  zur  Rechenschaft 

der  eig'nen  Werke  tritt  am  Urteilstag 

des  großen  Herrn,  der  uns  aus  nichts  erschuf. 

Ich  trags,  wenn  ihr  dies  Lied  mir  tadeln  wollt, 
weil,  was  ich  selbst  nicht  leiste,  es  verlangt; 
denn,  wenn  sich  jeder  schön  und  gut  betrüg', 
so  war'  ich  Narr,  ein  Quell  der  Weisheit  ihm.^) 


1)  Mahn,  Ged.  975,  976.     Die  drei   letzten  Verse  lauten  in  R,  ab- 
weichend von  M: 

ca  mans  fai  be  si  tot  pauc  men  fauc  ieu 

si  que  las  gens  venguan  a  saluamen 

pueis  poyran  dir  que  de  fol  apren  hom  sen. 

2)  Jn  der  zweiten  Strophe  desselben  Liedes  heißt  es: 

e  no  tenon  vertat  ni  sagramen  — 

e  nos  autre  em  d'aquel  meseus  sen.         *■ 


32  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

So  ernst  er  im  Grund  seinen  Beruf  als  Satiriker  und  Er- 
zieher nimmt,  so  weit  ist  er  doch  von  Selbstgerechtigkeit  und 
Aufgeblasenheit  entfernt.  Er  scheut  auch  nicht,  sich  gelegent- 
lich selbst  zu  ironisieren.  In  seinem  Lehrgedicht  gegen  tö- 
richte Schwätzer  und  Kritiker  stellt  er  mit  anmutigem  Scherz 
sich  als  bezahlten  Schwätzer  hin. 

Mit  Reden  ist  ganz  voll  die  Welt, 
und  weil  zum  Reden  ich  bestellt, 
so  ziemt  sich,  daß  ich's  reichlich  üb': 
bestellte  Zunge  wird  nicht  müd'.^) 

Natürlich  ist  ihm  nun  auch  das  Publikum  und  der  Er- 
folg seiner  Lehre  nicht  gar  so  wichtig  mehr.  Es  gibt  gute 
Zuhörer,  meint  er,  und  schlechte. 

Der  Gute  hört,  damit  er  lerne, 

der  Schlechte  aber  tadelt  gerne.   .  .  . 

Und  alle  beide  handeln  fein, 

denn  jeder  nimmt,  was  wirklich  sein: 

der  Gute  trägt  das  gute  Wort 

nach  Haus  und  läßt  das  schlechte  fort; 

das  schlechte  trägt  der  Schlechte  heim 

und  läßt  das  gute  gutes  sein; 

er  gleichet  einem  Müllersieb, 

in  dem  der  Auswurf  liegen  blieb. 

Das  Feine  läßt  er  all'  zerrinnen. 

Was  will  er  denn?     Schlechtes  gewinnen 

aus  jeder  Rede  —  und  ich  dächt', 

der  läßt  das  Feine  ganz  mit  Recht.  — 

Geht  man  die  Stellen  durch,  an  denen  Cardinal  über  seinen 
Beruf  als  Satiriker,  über  Sinn  und  Wert  seiner  Rüge,  über 
sein  Verhältnis  zu  den  Gerügten  und  den  Zuhörern  sich  äußert, 
so  ergibt  sich,  alles  in  allem  genommen,  eine  ebenso  gesunde, 
vernünftige  und  sichere  als  vielseitige,  den  Gelegenheiten  sich 

^)  Vgl.  den  provenzalischen  Text  im  Anhang  XII. 


Peire  Cardiiial  33 

anpassende  Auffassung.  Die  Wirkung  seiner  Gedichte  zu  über- 
schätzen läßt  er  sich  niemals  hinreißen.  Er  weiß,  daß  man 
ihn  mißversteht  und  daß  er  tauben  Ohren  zu  predigen  hat; 
aber  die  Schuld  liegt  nicht  an  ihm. 

A  mos  ops  chant  et  a  mos  ops  flauiol, 
quar  hom  raas  ieu  non  enten  mon  lati, 
qu'atretam  pauc  coma  d'un  rossinhol 
entent  la  gens  de  mon  chantar  que's  di; 
mas  ieu  non  ai  lengua  friza  ni  breta 
ni  sai  parlar  flamenc  ni  angevi; 
mas  Malvestatz,  qui  los  eissalabeta, 
lor  tolh  vezer  quez  es  fals  ni  es  fi. 

Ära  m'es  mals  que  fols  hom  s'entremeta 
de  mon  chantar,  quar  siey  fag  son  porssi. 

(Nr.  30,  Str.  5.)^) 
Zum  eig'nen  Nutzen  sing'  und  flöt'  ich  mir. 
Denn  mein  Latein  versteht  kein  Mensch  als  ich. 
So  wenig  wie  von  einer  Nachtigall 
verstehen  sie  von  meinem  Sang  den  Sinn, 
obschon  ich  friesisch  nicht  noch  britisch  spreche, 
noch  flämisch  oder  anjovinisch  kann. 
Durch  Bosheit  aber  sind  sie  so  verblendet,^) 
Daß  sie  nicht  seh'n,  was  falsch  ist  oder  gut. 

Drum  ärgert's  mich,  wenn  sich  ein  Narr  beschäftigt, 
der  schweinisch  sich  beträgt,  mit  meinem  Lied. 

In  einem  anderen  Gedicht  (Nr.  3),  das  leider  schlecht  über- 
liefert ist,^)  nimmt  er  sich  vor  einen  Vers  vertadier  zu  schaffen, 

car  nuill  cantar  non  tanh  si'apellatz 
Vers,  si  non  es  vertadier  ves  totz  latz, 

wobei  die  Wortähnlichkeit   von  ver  =  wahr  und   vers  =  Ge- 


')  Text,  nach  Appel,  Prov.  Chrestom.  Nr.  78. 
.^)  Der  Sinn  von  eissalabeta  ist  zweifelhaft. 
3)  Gedruckt  im  Lex.  rom.,  S.  460  und  Mahn,  Werke  II,  213  f. 

Sitzgsb.  d.  philos.-pbilol.  u.  d.  bist.  Kl.  Jahrg.  1916,  6.  Abb,  3 


34  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

dicht  ihm  bedeutungsvoll  wird.  Keine  prunkhaften  Worte 
sollen  in  einem  sittlichen  Rügelied,  wie  er  es  vorhat,  stehen. 
Nur  männliche  Reime  will  er  verwenden.  Durch  solche,  nach 
unserem  Geschmack  nur  äußerliche,  aber  von  vielen  Trobadors 
aufrichtig  angestrebte  Übereinstimmung  von  Sinn  und  Vers- 
form ^)  hofft  er,  das  Nützliche  mit  dem  Schönen  und  Rühm- 
lichen zu  verbinden. 

Car,  per  bels  motz  er  sos  chantars  lauzatz, 
e  *  1  casticx  es  fondemenz  de  peccatz. 

Von  Wortes  Schönheit  kommt  dem  Liede  Lob, 
und  Sünde  muß  zergehn  vor  Wortes  Schärfe. 

Er  schmeichelt  sich,  durch  die  Macht  seiner  Verse  den 
eigennützigen  Sinn  der  reichen  Leute  zu  brechen  — 

mas  cant  lo  ricx  er  d'aisso  castiatz, 
venra  N' Artus,  sei  qu'emportet  lo  catz. 

Der  Wortlaut  des  zweiten  Verses  ist  unverständlich;  dem 
Sinne  nach  aber  wirft  er  das  ganze  Vorhaben  über  den  Haufen. 
Denn,  heißt  es  weiter,  „den  Reichen  gelte  ich  nun  wohl  als 
Schwätzer,  und  ob  ich  die  Wahrheit  sage  oder  nicht,  sie 
zeigen  keine  Besserung.  Was  ich  tatsächlich  meine,  ist  jedem 
klar;  wenn  ich  es  aber  im  einzelnen  ausführe,  so  schmähen 
sie  mich  und,  wenn  ich  schweige,  so  lasse  ich  mir  Ehre  und 
Lob  entgehen".  Kurzum,  Cardinal  glaubt  selbst  nicht  an  die 
Möglichkeit,  den  Ernst  seiner  Ermahnung  durch  einfache  und 
kräftige  Worte  zu  sittlichem  und  künstlerischem  Erfolge  gleich- 
mäßig auswirken  zu  können.  Er  weiß,  wie  schwer  es  ist,  den 
Menschen  den  Pelz  zu  waschen,  ohne  sie  naß  zu  machen. 

Vielleicht  hat  er  eben  darum  die  Nennung  bestimmter 
Namen  und  Tatsachen  sich  so  oft  versagt.  Nur  dort,  wo  die 
Angegriffenen  zugleich  Gegner  und  Feinde  seiner  Gönner  und 
Schutzherren  waren,  pflegte  er  kein  Blatt  vor  den  Mund  zu 
nehmen.  Im  übrigen  hat  man  bei  vielen  seiner  allgemein 
klingenden  Klagen,  Verhöhnungen   und  Anschuldigungen   den 

*)  Vgl.  meine  Abhandlung  über  Marcabru  a.  a.  0.,  S.  63. 


Peire  Cardinal  ^  85 

Eindruck,  daß  er  etwas  ganz  Bestimmtes  gemeint  hat.^)  Aber 
seine  äußere  Stellung  war  nicht  so  unabhängig,  vielleicht  auch 
sein  sittlicher  Mut  nicht  so  unbedingt,  daß  er  diejenigen,  auf 
die  er  zielte,  immer  hätte  treffen  können.  —  Ob  der  künst- 
lerische Wert  seiner  Satire  darunter  gelitten  hat?  Ich  glaube 
kaum;  denn  vielfach  liegt  ihr  Reiz  gerade  in  der  Verhalten- 
heit des  Grimms  und  in  der  vieldeutigen,  aus  der  Ferne  drohen- 
den Dunkelheit  ihrer  Anspielung.  Bekanntlich  ist  die  hem- 
mungslose und  zensurfreie  Satire  noch  selten  zu  künstlerischer 
Höhe  gelangt.  Die  Literarhistoriker  freilich,  denen  weniger  an 
der  Dichtung  als  am  gelehrten  Beiwerk  liegt,  beklagen  sich, 
daß  Cardinal  soviel  im  allgemeinen  geblieben  und  für  die 
Kenntnis  der  Zeitverhältnisse  so  wenig  ergiebig  sei.  Eines 
aber  sollte  man  nicht  vergessen:  nämlich  daß  Cardinal  nicht 
bloß  aus  Furcht  und  Befangenheit,  sondern  oft  auch  aus  Scham- 
gefühl sich  Schweigen  auferlegt.  Er  weiß,  daß  das  Geschäft 
des  Satirikers  nicht  nur  gefährlich,  sondern  auch  ekelhaft  und 
unliebsam  werden  kann: 

Non  aus  dire  so  que  eis  auszon  far; 
mai  anc  rascas  non  amet  penchenar 
ni  eis  home  qui  lor  dan  lur  castia.^) 

Ich  wag'  mit  Worten  nicht,  was  sie  mit  Taten. 
Dem  Grindigen  war  stets  verhaßt  der  Kamm,^) 
und  ihnen  stets,  wer  ihre  Schande  züchtigt. 

Bei  aller  Schärfe  hat  Cardinal,  von  einigen  wenigen  Derb- 
heiten  (besonders   in   seinem  Estribot)   abgesehen,    immer  den 

^)  Zur  Gewißheit  verdichtet  sich  dieser  Eindruck,  wenn  man  die 
Gedichte  Nr.  5,  9,  44,  53  und  58  liest. 

2)  Geleit  zu  Nr.  66  (Rayn.  Choix  IV,  S.  338  und  Mahn,  Werke  II, 
S.  182  und  Studj  di  fil.  rom.  IX,  S.  523).  Vgl.  auch  Nr.  60,  Str.  3  (Rayn. 
Choix  IV,  S.  359  und  Mahn,  Werke  II,  S.  184). 

Qui  auzes  dir  quals  son  li  falhimen 
que  fan  en  cort  selhs  qui  degron  regir 
et  an  jurat  de  tenir  Halmen 
dreg  a  quascun? 
^)  Dasselbe  Bild  kehrt  in  Nr.  42,  Str.  7  wieder. 

3* 


36  .  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Anstand  gewahrt.  Es  gibt  kaum  einen  mittelalterlichen  Sa- 
tiriker, der  edler  und  vornehmer  wäre  in  seinem  Ton.  Vor 
allem  aber  meidet  er  die  Gehässigkeit.  Er  kann  beißend  und 
schonungslos  sein  bis  zur  Grausamkeit,  aber  nie,  soviel  wir 
sehen,  wird  er  verleumderisch  und  gemein.  Grausamkeit  ist 
in  gewissem  Sinne  noch  eine  Form  der  Liebe,  und  besonders 
in  seiner  Spätzeit  scheint  Cardinal  sich  bemüht  zu  haben,  die 
Satire  mit  christlicher  Liebe  zu  mildern  und  zu  veredeln.  Den 
Schmeichlern  und  Schmähern  ruft  er  zu: 

Aus  tu  que  dizes  lausenjas 
e  que  de  mal  dir  desrenjas? 
fols  yest,  si  las  gens  blastenjas  — 
si  non  per  castiamen. 

Gar  si  de  mal  dir  t'esforsas, 
fas  que  fols,  si  be't  deportas, 
que  no*s  tanh  las  Jens  remordas, 
car  peccas  y  mortalmen.^) 

Hörst  du,  der  in  Schmeichelreden 
und  in  Schmähwort  dich  vergissest, 
Tor,  wenn  du  die  Leute  tadelst 
anders  als  zur  Besserung. 

In  Verleumdung  sich  ergehen, 
mag's  auch  spaßhaft  sein,  ist  närrisch, 
bissig  sein,  ist  ungeziemend; 
wenn  du's  tust,  so  sündigst  du. 

Fast  rührend  ist  es,   wie  er  in   seinem  Sermon   (Nr.  42) 
die  angeborene  Lust  zur  Ironie  hinunterwürgt. 

Hieu  ai  en  cor 

que  per  demor 

ni  per  rire  ni  per  iugar 


1)  Nr.  27,  Str  38  f.  (Rayn.  Choix  IV,   S.  452   und  Mahn,  Werke  II, 
S.  205). 


Peire  Cardinal  37 

non  diga  huei 
mal  ni  enuei 
de  guiza  que  us  deia  pezar. 

Non  dirai  ren 

mais  sol  per  ben, 
sol  per  vos  autres  esmendar, 

e  si  US  repren 

adrechamen, 
nom  m'o  deves  a  mal  tornar.^) 

Mir  liegt  daran, 

euch  heut'  einmal, 
weder  zum  Spaße  noch  zum  Spiel, 

kein  böses  Wort, 

kein  Ärgernis 
zu  geben,  das  euch  wurmen  könnt'. 

Im  Guten  nur  ' 

Sprech'  ich  zu  euch, 
zu  eu'rer  Besserung  allein, 

und,  tadl'  ich  euch 

wie  sich's  gehört, 
so  dürft  ihr  mir  nicht  böse  sein. 

Diese  Väterlichkeit  ist  nun  freilich  nicht  die  Regel.  Car- 
dinal hat  nie  ein  Hehl  daraus  gemacht,  was  für  eine  wilde 
Lust  es  ihm  bereitet,  das  Laster  bestraft  zu  sehen  und  es  zu 
züchtigen.  Wenn  ein  Verräter  gehängt  wird,  jubelt  er,  geht 
es  ihm  gut,  so  trauert  er.  Wie  fanatisch  und  unpersönlich 
seine  Wut,  wie  uninteressiert  und  menschlich  rücksichtslos  seine 
Bitterkeit  gegen  alles  Unwahre  und  Geraeine  ist,  hat  er  selbst 
gewußt  und  mehrfach  ausgesprochen. 

Er  dira  hom  que  ieu  sui  mal  mesclius 
de  las  molhers  e  dels  avols  espos, 


1)  Nr.  42,  Str.  4  f. 


38  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

t 

0  qu'ieu  die  mal,  o  qu'en  sia  gilos, 

so  qu'anc  no  fui,  mas  ben  sui  contrastius 

en  tot  quan  puesc,  e  lur  nozi  ancse 

ab  sirventes  et  ab  chans  qu'en  fauc  be.^) 

Nun  sagen  sie,  ich  sei  voll  Händelsucht 
mit  schlechten  Ehemännern  und  mit  Frau'n 
und  schmähe  nur  und  sei  wohl  neidisch  gar.^) 
Das  war  ich  nie.     Wohl  aber  bin  ich  Feind 
soviel  ich  kann  und  will  verfolgen  sie 
mit  Rügelied  und  Sang  nach  Herzenslust. 

Den  künstlich  grausamen,  oben  besprochenen  moralischen 
Planh  beschließt  er  folgendermaßen: 

Ar  m'es  semblans  que  mos  chans  no  val  guaire, 
quar  de  mal  dir  Tai  ordit  e  tescut; 
mas  de  mal  fuelh  non  cuelh  hom  leu  hon  frut, 
ni  d'avolVag  bon  plag  non  sai  retraire. 

Dels  laitz  faitz  qu'ilh    fan 

lor  ai  die  lo  dan, 

josta  la  razo, 

e  delh  felh  talan 

enic  die  lo  cors; 

quar  greu  m'es  qu'ieu  penha 

lur  error  ni  fenha, 

ni  los  an  lauzan, 

ni'l  chant  an  dauran 
mas  per  aital  com  seran. 

Am  Ende  ist  mein  Lied  von  kleinem  Werte, 
weil  ich  aus  Schmähung  es  gewoben  hab. 
Vom  bösen  Baum  ist  aber  gute  Frucht, 
von  schlechter  Tat  gut'  Rat  kaum  zu  gewinnen. 


1)  Geleit  zu  Nr.  39  (Lex.  rom.,  S.  454  u.  Mahn,  Werke  II,  S.  228). 

2)  Er   selbst   war   unverheiratet,  wie  aus  Nr.  1,  Str.  7  (Mahn,  Ged. 
6  und  1233)  hervorgeht. 


Peire  Cardinal  39 

Nur  ihr  häßlich  Tun 
hab  ich  aufgedeckt 
wie  es  sich  gehört, 
ihrer  Übeln  Lust 
böse  Bahn  gezeigt; 
denn  ich  mag  nicht  schminken, 
ihren  Fehl  nicht  hehlen, 
noch  sie  gar  beloben, 
noch  mein  Lied  bemalen 
andersfarbig  als  sie  sind. 

Diese  i^ale  Sachlichkeit  ist  die  Stärke  und  die  Schwäche 
der  Cardinaischen  Satire,  macht  ihren  Adel,  ihren  Schwung, 
ihre  Gewalt,  ihr  Pathos  und  —  ihre  Donquijoterie  aus.  Sie 
sucht  das  Laster  auf  Gipfeln,  wo  nur  selten  Menschen  wohnen 
und  wenn  sie,  wie  wir  gesehen  haben,  so  wenig  Personen  und 
Tatsachen  nennt,  so  ist  nicht  nur  ihre  irdische  Befangenheit, 
sondern  auch  ihre  Verbohrtheit  ins  Abstrakte  daran  schuld. 
Mir  scheint,  daß  Cardinal  im  täglichen  und  im  geselligen  Um- 
gang ein  harmloser  gutmütiger  Mensch  war,  ein  Alonso  Qui- 
jano  el  Bueno,  und  daß  er  niemand  ein  Leides  tat.  Solange 
er  die  Leute  von  Angesicht  zu  Angesicht  betrachtete,  konnte 
er  ihnen,  glaube  ich,  nicht  böse  sein.  Aber  wehe,  wenn  sie 
ihm  ferne  rückten  und  in  die  fatale  Beleuchtung  seiner  Tugend- 
und  Lasterbegriffe  gerieten!  Den  schlappen,  durchaus  unzu- 
verlässigen und  leichtfertigen  Grafen  Raimund  VI.  von  Tou- 
louse feiert  er  als  einen  Vorkämpfer  der  Tugend  gegen  fran- 
zösische Falschheit  (Nr.  25)  und  Raimund  VIL,  der,  soviel  man 
weiß,  auch  kein  Heiliger  war,  wird  ihm  zur  Verkörperung  des 
ritterlichen  Herrscherideals  (Nr.  12).  Mag  man  den  Löwen- 
anteil dieses  Lobes  auf  Rechnung  der  Untertanenergebenheit, 
der  Politik  und  der  unvermeidlichen  höfischen  Schmeichelei 
setzen,  so  bleibt  immer  noch  ein  Rest  von  ehrlicher  Überzeu- 
gung. Besonders  die  fünfte  Strophe  des  Sirventes  Ben  volgra 
(Nr.  12)  ist  mit  einer  Art  „heiliger  Einfalt"  empfunden.*)     Der 

^)  Als  fünfte  Strophe  meine  ich  die  folgende,  in  der  Hs.  M  (Mahn, 
Ged.  1258)  wohl  am  besten  erhaltene: 


40  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Fürst  erscheint  dem  Dichter  aitals  com  eu  lo  deman  vielleicht 
nur  deshalb,  weil  er  in  seiner  nächsten  Nähe  war,  so  daß  Car- 
dinal, bei  seiner  angeborenen  Weitsichtigkeit,  ihn  nur  ober- 
flächlich kennen  lernte.  Jener  Stephan  von  Belmon  aber, 
den  er  so  fürchterlich  mitgenommen  hat,  stand  ihm  vermut- 
lich weniger  nahe.  Wahrscheinlich  hat  er  zu  den  Feinden 
des  Grafen  von  Toulouse  gehört.  Denn  Cardinal,  der  in  der 
Ethik  nur  weiß  und  schwarz  sieht,  hat  auch  in  der  Politik 
aufs  leidenschaftlichste  und  unbedingteste  Partei  ergriffen. 

Er  war  naiv  genug,  die  Gregner  in  bestem  Glauben  für 
die  Bösen,  die  Parteigenossen  für  die  Guten  zu  lialten.  Bald 
sieht  er  in  Toulouse  nur  edle  Gesinnung  (Nr.  32,  Geleit),  im 
Velay  nur  Verrat  (Nr.  9),  in  Deutschland  nur  Ehrlichkeit 
(Nr.*61).  Gewiß  war  er  als  Publizist  und  Scriba  des  Grafen 
zu  dieser  Einseitigkeit  gezwungen  und  verpflichtet.  Man  hat 
aber  in  seinen  Liedern  keinerlei  Anzeichen  dafür,  daß  er  den 
Zwang  als  solchen  gefühlt  hätte,  daß  es  ihm  je  in  den  Sinn 
gekommen  wäre,  im  feindlichen  Lager  auch  nur  ein  Körnchen 
von  Recht,  auch  nur  ein  gutes  Härchen  zu  vermuten.  Was 
die  ungebrochene  Fähigkeit  des  Parteiergreifens  mit  ganzer 
Seele  betrifft,  ist  Cardinal  ein  naives  echtes  Kind  des  Zeitalters 
der  mittelalterlichen  Glaubenskriege.  Ja,  die  rohe  Verein- 
fachung, die  ein  Kampf  wie   der  Albigenserkrieg   in    den   Ge- 


Le  coms  de  Tolosa  val  tan, 

tan  fai  e  tan  abria! 
Nengun  home  del  mon  non  blan 

per  mal  ni  per  feunia. 
Aitals  es  com  ieu  lo  deman: 
arditz,  alegres  e  vailhan, 

frans  de  bella  paria, 
vertadiers,  dreitura  gardan, 
leials  e  ses  bausia, 
bels,  ben  parlan. 
Die  Lesart  von  C,  wo  diese  Strophe  an  dritter  Stelle   steht,   gibt 
Mahn,  Werke  II,  S.  240.    Bei  Rayn.  Choix  V,  303  fehlt  die  Strophe.    Das 
Gedicht   ist   mit   annähernder  Sicherheit  in  das  Jahr  1226   zu  datieren. 
Vgl.  Fr.  Wittenberg,  Die  Hohenstaufen  im  Munde  der  Troub.  Münster, 
Diss.  1908,  S.  70  f.  und  unsere  Ausführungen  weiter  unten. 


l'eiie  Cardinal  *» 

mütern  und  Köpfen  der  Beteiligten  anrichten  konnte,  ist  seiner 
Sinnesart  gewissermaßen  zu  Hilfe  gekommen  und  günstig  ge- 
wesen. Denn  jetzt  erst  wird  seinem  sittlichen  Haß  eine  be- 
stimmte Richtung  und  seiner  Satire  ein  Ziel  gewiesen,  das  er 
ins  Herz  treffen  kann.  Auf  keinen  anderen  Trobador  hat 
dieser  Krieg  so  tief  und  nachhaltig  gewirkt.  Für  Cardinal  ist 
er  das  große,  nachweislichermaßen  einzige  dichterische  Erlebnis 
geworden.  Ohne  ihn  wäre  er  nicht  viel  mehr  als  ein  lang- 
weilig-witziger Moralisator  geblieben.  Er,  der  vor  lauter  Be- 
schaulichkeit und  spekulativer  Sittlichkeit  eine  leer  laufende 
Mühle  war,  konnte  von  sich  sagen: 

Lo  jorn  qua  ieu  fui  natz 
mi  fon  aitals  dons  datz 
que  *  m  plagues  captenensa 

d'omes  ensenhatz 
e  •  m  pezes  malvestatz 
e  faitz  desmesuratz; 
per  qu'ieu  port  penedensa 

dels  autrui  peccatz, 
car  mi  do  marrimen 
del  autrui  fallimen, 
e  no  •  m  volvi  ni  *  m  vire 

ni'm  mudi  leumen 
per  negun  estamen, 
qu'ades  tort  no  m'azire; 

e'ls  malvatz  repren 
e  Mort,  car  no  los  pren.^) 

Am  Tage  der  Geburt 

ward  es  mir  zugeteilt, 

daß  w^ohlerzog'ner  Menschen 

Art  mir  angenehm, 
und  Bosheit,  Übermut 
verhaßt  mir  sollte  sein. 


1)  Nr.  32,   Str.  1    (Lex.  rom.,   S.  449:  Mahn,  Werke  II,  S.  232  und 
Mahn,  Ged.  612,  613). 


42  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

So  trag'  ich  nun  um  fremder 

Sünde  willen  Leid 
und  mach'  mir  Kümmernis 
um  andrer  Leute  Fehl 
und  kann  mich  nicht  entziehen, 

noch  die  Ruhe  mir 
verschaffen,  daß  nicht  gleich 
ein  Unrecht  mich  empöre. 

Fluch  den  Bösen  und 
dem  Tod,  der  sie  nicht  holt. 

Jetzt  aber  bekommt  er  richtiges,  erdgewachsenes  Korn  zu 
mahlen  und  braucht  seine  Satire  mit  Einleitungen  und  Geleit- 
strophen allgemeinen  Inhalts  nicht  erst  zu  entschuldigen,  noch 
zu  begründen ;  und  wenn  er  fortfahrt  es  zu  tun,  so  ist  es  eine 
alte  Gewohnheit,  die  aus  dem  Gedanken  an  die  Zeitläufte  einen 
tieferen,  ehrlichen  Sinn  bekommt.  Erst  wenn  man  an  die 
Religionskriege  denkt,  die  ihn  erschüttert  haben,  ist  man  ge- 
neigt ihm  zu  glauben  was  er  über  die  Pflicht,  die  Notwendig- 
keit und  sein  inneres  Bedürfnis  zur  Satire  sagt. 

Dreitz  a  mestier  d'aiut! 
e  qui  li  *  n  ditz  de  no, 
en  pro  dreg  a  pauc  pro.^) 

Zu  Hilfe!  ruft  das  Recht, 

und  wer  nicht  hilft,  dem  kommt 

vom  guten  Recht  kein  Gut. 

Qui  ve  gran  maleza  faire 
de  mal  dir  no  se  deu  taire.^) 

Siehst  du  große  Bosheit  üben, 
halte  nicht  zurück  mit  Tadel. 

1)  Geleit  zu  Nr.  43  (Mahn,  Gedichte  979  und  980.  Das  Geleit  fehlt 
in  M). 

2)  Nr.  45,  Str.  1  (Bartsch,  Chrestom.  prov.  Sp.  169). 


Peire  Cardinal  43 

Ges  ieu  no*m  sui  de  mal  dir  castiatz, 
quar  de  mal  far  la  gens  non  si  castia, 
quar  de  mal  far  deu  hom  aver  feunia, 
de  feunia  deu  issir  malvatz  glatz, 
de  malvay  glat  blasmes  als  encolpatz, 
e  de  colpa  pena  als  mals  fachors: 
qu'  enaissi  vay  lai  on  drechura  renha, 
e  quan  non  es  qui  la  colpa  destrenha, 
a  tot  lo  meyns  le  blasmes  es  ciamors 
et  als  blasmatz  anta  e  deshonors.^) 

Des  Tadels  hab'  ich  mich  noch  nicht  entwöhnt, 

weil  sich  des  Fehls  die  Leute  nicht  entwöhnen, 

weil  ich  den  Fehl  den  Leuten  will  verbittern: 

aus  Bitternis  entstehe  dann  Geschrei, 

und  aus  Geschrei  den  Schuldigen  der  Schimpf, 

aus  Schuld  die  Strafe  dem,   der  Böses  tat: 

so  kommt  man  schließlich  auf  die  rechten  Wege, 

und  sollte  auch  der  Schuld  ein  Rächer  fehlen, 

so  ist  der  Tadel  wenigstens  ein  Schrei, 

der  dem  Getroff'nen  Schimpf  und  Schande  bringt. 

Lairons  son  ilh,  e  renhon  sobre  nos; 

doncx  ben  em  folhs  et  ab  pauc  d'escien; 

pus  laires  es  qui  al  lairon  cossen. 

Que  farem  doncx,  si  no  *  ns  en  val  razos? 

Cridem  lo  mal  quMlh  fan  o  que  fan  faire, 

si  que  puesc'on^)  conoisser  lors  peccatz, 

e  no  *  s  tenga  negus  asseguratz 

si  ve  desfar  son  vezi  o  son  fraire.^) 

Ein  Pack  von  Dieben  ist's,  das  uns  beherrscht, 

und  wir  sind  Toren  und  gedankenlos; 

denn  Dieb  ist,  wer  den  Dieb  gewähren  läßt. 


1)  Nr.  26,  Str.  1  (Mahn,  Ged.  982  und  1239). 

*)  Korrigiert  aus  Si  quelhs  puescon. 

3)  Nr.  69,  Str.  2  (Lex.  rom.,  S.  451  f.  und  Mahn,  Werke  II,  S.  237). 


44  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Was  bleibt  zu  tun ^  da  uns  das  Recht  nicht  hilft? 
Wir  wollen  schreien  ihre  Missetaten, 
bis  ihre  Sünden  kund  und  offenbar, 
auf  daß  in  Sicherheit  sich  keiner  wiegt, 
wann  er  den  nahen  Bruder  sieht  mißhandeln. 

Auch  die  Tragik  dieser  Satire,  die  auf  der  Seite  der  Unter- 
liegenden kämpft,  tritt  nun  ins  Licht.  Noch  lange,  nachdem 
das  Grlück  gegen  die  Seinen  entschieden  hat,  erhebt  Cardinal 
die  Stimme  gegen  Unrecht  und  Trug. 

Qu'  eras  en  chan 
e  totz  temps  mais  en  plor.^) 

Heut'  klingt  als  Lied 
was  sonst  mein  Weinen  ist.  — 

Wir  sind  nun  leider  in  der  mißlichen  Lage,  die  Gelegen- 
heiten der  Cardinaischen  Satiren  nur  in  den  seltensten  Fällen 


Mit   einer   merkwürdig   verzwickten   Zierlichkeit   wird  in   Nr.  10,  Str.  5 
(Mahn,  Ged.  760,  761)  derselbe  Gedanke  entwickelt. 

Ben  tenc  per  cortes  Höfisch  ist  fürwahr, 

aquel  qu'en  cort  es  wer  bei  Hof  sogar 

quan  desfai  widersteht 

fag  quan  l'a  enpres  einem  reichen  Mann, 

US  ricx  mal  apres,  der  auf  Unrecht  sann 

don  tort  fay.  und  's  begeht. 

Fort  es  belha  cauza  Rühmlich  Unternehmen 

qui  malvestat  chauza  ist  es  zu  beschämen 

ad  home  savay,  schlechter  Menschen  Tun  — 

e  seih  qui  la  lauza,  denket,  wie  es  jenen 

quant  es  soz  la  lauza,  geht,  die  es  beschönen, 

pessatz  quossi  *  1  vay.  wann  im  Grab  sie  ruh'n. 
Qui  folhia  Wenn  wir  Gecken 

afolhia  tüchtig  necken, 

malvestat  dechay  wird,  was  schlecht,  verkürzt: 
e  des  via  der  Gemeine 

de  la  via  fehlt  dann  seine 

lo  malvays,  on  chay.  alte  Bahn  und  stürzt. 

i)  Geleit  zu  Nr.  52  (Rayn.  Choix  IV,  S.  353  u.  Mahn,  Werke  II,  S.  187). 


I 


Peire  Cardinal  4S 

bestimmen  zu  können.  Ihr  Kunstwert  gibt  natürlich  keinerlei 
Gewähr,  und  man  wäre  schlecht  beraten,  wenn  man  alle  frostigen 
und  erkünstelten  Lieder  vor  den  Ausbruch  des  Albigenser- 
krieges,  alle  lebendigen  und  kraftvoll  empfundenen  hinter 
ihn  setzen  wollte.  Mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  läßt  sich 
nur  eines,  mit  Bestimmtheit  kein  einziges  seiner  Gedichte  als 
vor  1209  entstanden  erweisen.^)  Wir  müssen  die  zeitliche 
Reihenfolge  der  angeführten  Äufaerungen  Cardinais  über  seinen 
dichterischen  Beruf  im  unbestimmten  lassen.  Im  psychologi- 
schen Verstände  aber,  soviel  ist  sicher,  finden  seine  wechseln- 
den Ansichten  ihre  Vollendung  und  Klärung  in  seiner  religi- 
ösen Auffassung.  Cardinal  hat  den  Glauben  gehabt,  im  Namen 
Gottes,  al  nom  del  Seignor  dreiturier  (Nr.  3),  zum  Besten  der 
Menschheit  und  zu  seinem  eigenen  Seelenheil,  die  Lieder  des 
Hohns,  der  Rüge,  der  Mahnung  anstimmen  zu  müssen. 

Ihesum  Christ,  nostre  Salvaire, 
per  salvar  nasquet  de  maire, 
salut  fes  e  mandet  faire, 
car  sei  que  la  fai  Taten. 
Aiso  es  gran  cortezia, 
qui  salva  que  salvat  sia; 
qui  autre  a  salut  guia 
venir  deu  a   salvamen.^) 

Jesus  Christus,  unser  Heiland, 
ward,  zu  retten  uns,  geboren, 
heilte  uns  und  hieß  uns  heilen; 
Heil  wird  dem,  der's  andern  bringt. 
Darin  liegt  die  große  Güte, 
daß,  wer  rettet,  wird  gerettet, 
daß,  wer  andre  führt  zum  Heile, 
selbst  dazu  empor  sich  schwingt. 


^)  Vgl.  Anhang  I. 

2)  Nr.  27,  Str.  1  u.  2  (Rayn.  Choix  IV,  S.  446  und  Mahn,  Werke  II, 
S.  201).  Vgl.  auch  Str.  17  u.  18  und  Nr.  20,  Str.  1  (Lex.  rom.,  S.  463 
und  Mahn,  Ged.  1256). 


46  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Geprahlt  hat  Cardinal  mit  seiner  göttlichen  Sendung  nie- 
mals; aber  erst  von  diesem  einfachen  Glauben  aus  wird  es 
verständlich,  wie  er  mit  Lust  und  Zorn,  mit  Liebe  und  Milde, 
mit  Vertrauen  in  den  künstlerischen  und  sittlichen  Erfolg  und 
dann  wieder  mit  Zweifeln  daran,  mit  Trauer  und  Hohn,  mit 
Weinen  und  Lachen,  heftig  und  zaghaft  seine  poetische  Geißel 
schwingen  konnte,  ohne  je  zur  Gemeinheit  und  Verleumdung 
sich  zu  erniedrigen  und  ohne  je  im  Stolz  sich  zu  überheben. 
Seinen  Vorgängern  in  der  Satire  und  den  meisten  seiner  Nach- 
folger war  dieser  Glaube   weniger  lebendig  und   gegenwärtig. 

IV.  Frömmigkeit  und  Kirchlichkeit. 

Cardinal  war  gottesfürchtig  und  fromm  auf  eigene  Art. 
Als  Hermann  Reuter  mit  dem  Scharfsinn  eines  Großinquisi- 
tors die  „Geschichte  der  religiösen  Aufklärung  im  Mittelalter" 
schrieb,^)  konnte  unser  Trobador  ihm  nicht  entgehen.  Frei- 
lich, als  Aufklärer  und  Vorläufer  der  Reformation  im  strengen 
Verstand  des  Wortes  werden  wir  ihn  heute  kaum  mehr  gelten 
lassen.  Reuters  Auffassung  gründet  sich  in  der  Hauptsache 
auf  ein  einziges,  höchst  merkwürdiges  Gedicht  (Nr.  67). 

ün  sirventes  novel  vuelh  comensar 

que  retrairai  al  jorn  del  jutjamen 

a  seih  que'm  fetz  e*m  formet  de  nien. 

S'il  me  cuia  de  ren  ochaizonar 

e  s'il  me  vol  metr'en  la  diablia, 

ieu  li  diray:   „Senher,  merce,  no  sia! 

qu'el  mal  segle  tormentei  totz  mos  ans, 

e  guardatz  mi,  si'us  plai,  dels  turmentans." 

Tota  sa  cort  farai  meravillar 
quant  auziran  lo  mieu  plaideyamen: 
qu'ieu  die  qu'el  fai  ves  los  sieus  fallimen 
s'il  los  cuia  delir  ni  enfernar, 


^)  Berlin,  1875  und  1877. 


Peire  Cardinal  47 

quar  qui  pert  so  que  guazanhar  poiria, 

per  bon  dreg  a  de  viutat  carestia, 

qu'el  deu  esser  dous  e  multiplicans 

de  retener  sas  armas  trespassans.  , 

Ja  sa  porta  noii  si  degra  vedar, 
que  Sayns  Peire  hi  pren  trop  d'aunimen, 
que  n'es  portiers.     Mas  que  intres  rizen 
tota  arma  que  lai  volgues  intrar, 
quar  nulla  cortz  non  er  ja  ben  complia 
que  Tuns  en  plor  e  que  l'autres  en  ria; 
e  si  tot  s'es  sobeirans  reys  poyssans, 
si  no  •  ns  obre,  sera  li  *  n  faitz  demaiis. 

Los  diables  degra  dezeretar 

et  agra  mais  d'armas  e  pus  soven, 

e*l  dezeretz  plagra  a  tota  gen, 

et  elh  mezeus  pogra  s'en  perdonar. 

Tot  per  mon  grat  trastotz  los  destruiria, 

pus  tug  sabem  qu'absolver  s'en  poiria. 

„Belh  senher  Dieus,  siatz  dezeretans 

dels  enemicx  enoios  e  pezans!" 

„leu  no  mi  vuelh  de  vos  dezesperar, 

ans  ai  en  vos  mon  bon   esperamen 

que  me  vallatz  a  mon  trespassamen. 

Per  que  devetz  m'arm'  e  mon  cors  salvar, 

e  vos  farai  una  bella  partia: 

que '  m  tornetz  lai  don  muec  lo  premier  dia, 

e  que'm  siatz  de  mos  tortz  perdonans; 

qu'ieu  no'ls  feira,  si  no  fos  natz  enans. 

S'ieu  ai  sai  mal  et  en  yfern  ardia, 
segon  ma  fe,  tortz  e  peccatz  seria; 
qu'ieu  vos  puesc  be  esser  recastinans, 
que  per  un  ben  ai  de  mal  mil  aitans." 

Per  merce  us  prec,  dona  Santa  Maria, 
qu'ab  vostre  filh  nos  siatz  bona  guia, 


48  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

si  que  prendatz  los  paires  e  *  Is  enfans 
e'ls  metatz  lay  on  esta  Sanhs  Johans.^) 

Ein  neues  Rügelied  beginn  ich  nun, 

das  sag  ich  einst  am  Tage  des  Gerichts 

dem  Schöpfer  vor,  der  mich  geformt  aus  nichts. 

Will  er  mir  irgendeinen  Vorwurf  tun 

und  will  er,  daß  ich  zu  den  Teufeln  fahre, 

sag  ich  ihm:  „Gnade,  Herr,  tu's  nicht!   Bewahre 

vor  diesen  Plackern  mich,  wenn's  Dir  gefällt, 

hab  mich  geplagt  mein  Lebtag  auf  der  Welt." 

Mit  Staunen  soll  sein  ganzer  Hofstaat  sehn 
wie  meine  Sache  ich  vor  ihm  verfecht. 
Ich  sag:  „Den  Seinen  tut  der  Herr  nicht  recht, 
wenn  er  sie  in  der  Hölle  läßt  vergehn; 
und  wer  verliert  was  er  gewinnen  könnte, 
dem  geht  mit  Recht  sein  Überfluß  zu  Ende. 
Mild  soll  er  sein  und  Mehrer  seiner  Scharn 
und  seine  Abgeschiedenen  bewahrn. 

Es  sollt'  sein  Tor  auch  nicht  verschlossen  sein. 
Denn  so  ist's  für  Sankt  Peter  eine  Schand 
Pförtner  zu  sein.     Nein,  frischer  Hand 
dürft'  jede  Seel',  die  wollte,  mir  hinein. 
Wie  soll  das  einen  echten  Hofstaat  machen, 
wenn  einer  weint,  indes  die  andern  lachen! 
Und  sei  der  König  noch  so  groß  und  hoch  — 
schließt  er  uns  aus,  so  murrt  man  doch. 

Enterben  sollte  er  die  Teufel  gar: 

in  Scharen  kämen  ihm  die  Seelen  an 

und  die  Enterbung  freute  jedermann, 

die  er  sich  selbst  verzeihen  könnt'  fürwahr. 


1)  Ich  folge  mit  einigen  Änderungen  in  der  Interpunktion  dem 
kritischen  Text  in  Crescinis  Manualetto  provenz.  2.  Aufl.,  Verona-Padua 
1905,  S.  324  fiF. 


Peire  Cardinal  49 

War'  ganz  dabei,  macht'  er  sie  ganz  zunichte 
und  sprach  sich  frei  nach  eigenem  Gerichte. 
Oh,  lieber  Herrgott,  so  zerbrich  das  Joch 
des  bösen, "schwer  verhafäten  Feindes  doch. 

Doch  will  ich  nicht  verzweifeln,  Herr,  an  Dir, 
und  habe  gar  die  gute  Zuversicht, 
daß  Du  mir  hilfst  in  Todes  Angesicht. 
Erretten  mußt  Du  Leib  und  Seele  mir, 
drum  hör'  den  schönen  Vorschlag,  den  ich  wage: 
Bring'  mich  zurück  zum  Anfang  meiner  Tage, 
wo  nicht,  nun  so  vergib  mir  mein  Vergeh'n, 
denn,  war'  ich  nicht,  so  war'  es  nicht  gescheh'n. 

Auf  Erden  Plag'  und  in  der  Hölle  braten, 
das  wäre  meiner  Treu'  ein  Sund'  und  Schaden, 
da  darf  ich  Dir  den  Vorwurf  wohl  erheben, 
daß  auf  ein  Gut  mir  tausend  Leid  gegeben.   — 

Zur  Gnade,  heil'ge  Jungfrau,  laß  Dich  rühren, 
wollest  mit  deinem  Sohn  uns  gütig  führen, 
nimm  dich  der  Eltern  und  der  Kinder  an 
und  hebe  sie  empor  zu  Sankt  Johann. 

Freilich,  wenn  man  die  humoristischen  Töne  des  Liedes, 
die  ich  mich  bemüht  habe,  in  der  Übersetzung  herauszuarbeiten, 
überhört,  oder  wenn  man  sich  auf  die  Nachdichtung  von  Diez^) 
verläßt,  in  der  das  Schlußgebet  fehlt,  so  kann  man  mit  Her- 
mann Reuter  zu  der  Ansicht  kommen,  „daß  hier  ein  Menschen- 
herz voll  titanischen  Trotzes  sich  entlade",  daß  „Gott  selbst 
gehöhnt  und  die  Welt  als  das  verunglückte  Machwerk  eines 
launenhaften  Wesens  geschildert  werde,  welches  selbst  nicht 
weiß,  was  es  will",  und  daß  „das  Schicksal  des  Menschen  als 
ein  grausiges  Verhängnis  gedacht"  sei,  „das  man  nur  dadurch 
sich  mildern  könne,  daß  man  den  Urheber  desselben  durch  Spott- 
reden ärgere".^)     Gar  so  schlimm  hat  Cardinal   es   aber   nicht 


1)  Leben  und  Werke  der  Troub.  S.  463  f. 
2j  Reuter  a.  a.  0.,  11.  Bd.,  S.  59  ff. 

Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  u.  d.  bist.  Kl.  Jahrg.  1916, 6.  Abh. 


I 


50  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

gemeint.  Mit  dem  lieben  Gott  zu  räsonieren,  zu  scherzen  und 
auch  ein  wenig  zu  hadern,  war  in  der  Dichtung  der  Troba- 
dors  nichts  Neues  mehr.  Im  Jahre  1194  etwa  hat  der  Mönch 
von  Montaudon  seine  spaßige  und  rasch  beliebt  gewordene  Ten- 
zone  mit  Gott  verfaßt:  L'autrier  fui  en  paradiSj^)  der  er  bald 
eine  zweite,  derbere  folgen  ließ:  Antra  vetz  fui  a  parlamen. 
Eine  dritte,  in  der  ein  übel  zugerichteter  Raubritter  sich  mit 
dem  ewigen  Vater  zankt,  stammt  von  einem  Ungenannten: 
Bei  segner  Deus,  s'ieu  vos  soi  enojos,^)  und  noch  mehr  von 
dieser  Art  mag  es  gegeben  haben.  Hieher  gehört  wohl  auch 
eine  Einzelstrophe,  die  in  T  unter  Cardinais  Stücken  unvoll- 
ständig überliefert  ist^)  und  in  /"  vollständig  wiederkehrt,  aber 
ohne  Namen.     Sie  lautet: 

Ben  volgra,  si  far  si  pogues, 

que  Dieus  agues  tot  so  qu'ieu  ay, 

e  le  pensament  e  Fesmay, 

et  ieu  fos  Dieus  si  con  eil  es: 

qu'ieu  li  fera  segon  que'm  fay, 

e'l  rendera  segon  c'ay  pres; 

car  tut(z)  li  croy  e  li  malvays 

tenon  li  (l.  lo)  miels  de  tots  sos  bens; 

aquilh  Ten  rendan  las  merces, 

q'ieu  non  o  fas  ni  o  faray, 

ni  de  Dieu  non  tenc  un  poges, 

mas  un'arma  que  li  rendray.*) 


*)  Otto  Klein,  Die  Dichtungen  des  Mönchs  von  Montaudon,  Heft  7 
der  Marburger  Ausg.  und  Abbandl.  1885,  S.  30  ff. 

2)  H.  Suchier,  Denkmäler  provenz.  Literatur  u.  Sprache,  Halle  1883, 
S.  336  ff.  ^)  Vgl.  Chabaneau,  Le  Chansonnier  prov.  T  in  den  Annales 

du  Midi  XII,  1900,  S.  194  ff. 

*)  Text  nach  P.  Meyer,  Les  derniers  troub.  1869,  S.  673.    Ich  stelle 
den  Text  von  T  nach  Mahn,  Ged.  1259,  daneben. 

Ben  volria  que  Dieus  agues  e  ieu  fos  Dieus  si  con  el  es, 

sol  aitan  petit  com  ieu  ai  qu'el  penria  segon  c'ai  pres 

e  lo  pensamen  e  l'esmai  etz  el  faria  seguon  que'm  fai. 

Man  sieht,  daß  die  von  Bartsch  in  seinem  Grundriß  unter  Nr.  461, 
52  und  53  aufgeführten  Stücke  nicht  zwei,  sondern  eines  sind. 


Peire  Cardinal  51 

Ich  möchte  wohl,  wenn's  möglich  war, 
daß  Gott  bekam,   was  ich  bekam: 
die  Sorgen  all'  und  all'  den  Gram, 
und  daß  ich  Gott  war'  so  wie  er. 
Dann  ging'  es  ihm  wie  mir  geschah, 
ich   zahlt'   ihm,  was   mir  ward,  zurück. 
Da  immer  nur  den  Schlechten  ja 
gewährt  wird   seiner  Güter  Glück, 
so  hole  er  sich  dort  den  Dank 
und  nicht  bei  mir  für  solche  Gaben; 
mir  lieh  er  keinen  Heller  blank, 
die  Seele  nur  —  die  mag  er  haben. 

Ob  dieses  Verschen  nun  von  Cardinal  ist,  dem  es  aller- 
dings gleichsieht,  oder  von  einem  andern  —  für  mehr  als 
einen  Witz  wird  man  es  kaum  nehmen  dürfen.  Was  aber  das 
Rügelied  Cardinais  betrifft,  so  möchte  ich  durch  die  Übertrei- 
bungen Reuters  mich  nicht  in  den  entgegengesetzten  Irrtum 
treiben  lassen.  Eine  rein  literarische  Spielerei  darin  zu  er- 
blicken, wäre  bequem,  aber  Cardinal  ist  nicht  der  Mann,  um 
völlig  harmlos  mit  den  jenseitigen  Dingen  zu  tändeln.  Dazu 
ist  er  viel  zu  schwer,  zu  tief  und  nicht  gedankenlos  genug; 
dazu  ist  auch  die  Sprache  seines  Liedes  zu  nachdrücklich,  zu 
scharf,  zu  nackt  und  nicht  launig  genug.  Wie  so  oft  bei  un- 
serem Dichter,  umschlingen  auch  hier  sich  komische  mit  ernst- 
haften Tönen  und  überlieferte  Formen  mit  seelischen  Erleb- 
nissen und  eigenen  bitteren  Gedanken.  Kein  Zweifel,  daß  der 
geistlich  gebildete  Herr  von  der  Lehre  der  Katharer  oder,  wie 
sie  in  seiner  Heimat  hießen,  der  Albigenser  gehört  hatte.  In 
Toulouse  wimmelte  es  von  Albigensern.  Graf  Raimund  VI. 
ließ  sie  gewähren  und  hatte,  ohne  ihrer  Sekte  beizutreten,  eine 
schlecht  verhehlte  Neigung  für  sie.  Die  höfischen  Kreise  des 
Languedoc,  in  denen  Cardinal  sich  bewegte,  nahmen  diesen 
Ketzern  gegenüber  zumeist  eine  merkwürdig  zweideutige  Stel- 
lung ein.  Äußerlich  katholisch,  im  Grunde  ihres  Herzens 
gleichgültig,  weltlich   oder   gar   kirchenfeindlich,   durch    einen 

4* 


I 


52  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

neugierigen  lebhaften  Verstand  zum  Spiel  mit  allen  Kühn- 
heiten des  Zweifeins  und  Denkens  getrieben,  stolz  auf  ihr  vor- 
nehmes Freidenkertum,  liebten  sie  es  mit  katharischen,  wal- 
densischen,  jüdischen  Lehren  zu  kokettieren.  In  Wahrheit 
freilich  galt  ihnen  jeder  ernste  Glaube  und  jede  demütige  Ver- 
ehrung als  eine  Eigenart  rückständiger  Bildung.  Insbesondere 
ließ  ihnen  ihr  vornehmer,  respektloser  Individualismus  den 
Zwang  der  religiösen  Gemeinschaften,  kirchlicher  sowohl  wie 
sektiererischer  Art,  als  etwas  Unleidliches  und  nur  dem  nie- 
deren Volke  Ziemliches  erscheinen.^)  Man  kann  an  der  reli- 
giösen Haltung  der  südfranzösischen  Aristokratie  zu  Ende  des 
12.  und  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  schon  all  die  Wider- 
sprüche und  Schwankungen  beobachten,  schon  jene  gedanken- 
lose Spaltung  und  Doppelung  des  Gewissens  zwischen  Welt- 
lichkeit und  Kirchlichkeit,  die  im  Zeitalter  der  italienischen 
Renaissance  zu  einem  allgemeinen  Zustand  der  vornehmen  ge- 
sellschaftlichen Geistesbildung  v^urde.  So  ungefähr  sah  die 
Zuhörerschaft  aus,  die  dem  Rügelied  Cardinais  Beifall  spendete. 
Von  Cardinal  selbst  aber  wissen  wir,  wie  glühend  er  die 
kirchlichen  Anstifter  und  die  weltlichen  Vorkämpfer  des  Kreuz- 
zuges gegen  die  Albigenser  gehaßt  hat.  Wenn  er  mit  ansehen 
mußte,  wie  die  schönen  Städte  und  Schlösser  seiner  Heimat 
von  habgierigen  Frömmlern  und  irregeleiteten  Fanatikern  ver- 
wüstet und  viele  Tausende  unschuldiger  Menschen  hinge- 
schlachtet wurden,  da  konnte  ihm  wohl  manchmal,  ähnlich 
wie  den  verfolgten  Katharern,  das  irdische  Dasein  als  Hölle 
und  Fegfeuer  und  die  Welt  als  das  Reich  eines  bösen  Dämons 
erscheinen;  und  wie  ein  schöner  Traum  konnte  ihm  die  Hoff- 
nung der  Katharer  auf  Rettung  und  Erlösung  der  gesamten 
sündigen  Menschheit  am  Ende  aller  Tage  verführerisch  winken.^) 


^)  Vgl.  A.  Luchaire,  Innocent  III.  La  Croisade  des  Albigeois,  Paris 
1905,  S.  32  und  H.  Reuter  a.  a.  0.  II,  S.  41  f. 

2)  Über  die  Glaubenslehre  der  Katharer  vgl.  die  Artikel  „Albigeois" 
und  „Cathares"  in  Vacant  und  Mangenet,  Dictionn.  de  theol.  cath.  Paris 
1903  ff.,  wo  man  die  Quellen  und  die  Literatur  verzeichnet  findet.  Nach- 
zutragen  ist  .Tean  Guiraud,  Cartulaire  de  Notre-Dame  de  Prouille,  pre- 


Peire  Cardinal  53 

Als  derartige  Stimmungen  ihn  anwandelten,  mag  der  lyrische 
Keim  zu  dem  Rügelied  gegen  Gott  in  sein  Gemüt  gefallen 
sein.  Je  mehr  dann  aber  das  Motiv  ihm  ins  Bewußtsein  trat, 
desto  stärker  mochten  die  Hemmungen  sich  geltend  machen: 
seine  Überlegung,  seine  kirchliche  Erziehung,  seine  literarischen 
Erinnerungen,  seine  trobadormäßigen  Gewohnheiten,  sein  Witz 
vor  allem  erwachten :  und  die  aufrührerische  Regung  des  Her- 
zens wurde  notdürftig  gedämpft  und  zu  einem  halb  spielmanns- 
mäßigen,  halb  höfischen,  scherzhaften  Einfall  abgekühlt.  Aber 
die  Entgiftung  ist  nicht  zu  Ende  gediehen,  die  ketzerische 
Anwandlung  zwar  maskiert,  aber  nicht  beseitigt,  die  eigene 
Bitterkeit  im  Lachen  verhüllt,  aber  nicht  gelöst.  So  kam  ein 
Gebilde  von  forcierter  Laune  und  gezwungenem  Witz  zustande, 
das  uns  zweideutig  anmutet,  uns  psychologisch  und  historisch 
aufs  lebhafteste  interessieren,  aber  künstlerisch  nicht  ganz  be- 
friedigen kann.  In  dieser  Weise  ungefähr  darf  man  sich  die 
Entstehung  und  Bedeutung  des  Gedichtes  vielleicht  zurecht- 
legen. 

Im   übrigen   liegt   titanischer  Trotz  so    wenig  wie   geist- 
reich elnder  Leichtsinn  in  Cardinais  Sinnesart.    Zwischen  seinem 

cede  d'une  etude  sur  Falbigeisme  languedocien  au  XII^  et  XIII ^  s.  Paris 
1907  und  die  ausführliche  Besprechung  des  Werkes  durch  A.  Luchaire 
im  Journal  des  Savants  1908,  S.  17  ff.,  sowie  die  Studien  von  Vidal  in 
der  Revue  des  quest.  hist.  1906  —  1909.  Über  die  Gedanken  der  Albi- 
genser  bezüglich  der  Erlösung  der  gesamten  Menschheit  vgl.  besonders 
Vidal,  Revue  1909  (Bd.  XLI),  S.  395—97.  „Omnes  finaliter,  ad  minus  in 
die  judicii,  salvabuntur"  soll  der  albigensische  Prediger  Jacques  Autier 
gelehrt  haben;  von  einem  andern,  P.  Garcias  de  Bourguet,  wird  gar  be- 
richtet, er  habe  gesagt:  Quod  si  teneret  illum  Deum  qui  de  mille  ho- 
minibus  ab  eo  factis  unum  salvaret  et  omnes  alios  damnaret,  ipsum 
dirumperet  et  dilaceraret  unguibus  et  dentibus  tanquam  perfidum,  et 
spueret  in  faciem  eius,  addens:  de  gutta  cadat  ipse!  (Möge  er  die  Gicht 
kriegen!)  Vgl.  auch  C  Schmidt,  Hist.  et  doctrine  de  la  secte  des  Cath. 
ou  Albigeois,  Paris  und  Genf  1849,  II,  S.  47  ff.  Im  übrigen  hat  Cardinal 
natürlich  nicht  das  Glaubenssystem  der  Katharer  darstellen  wollen,  son- 
dern trägt  in  durchaus  unverbindlicher  Weise  seine  persönlichen  Einfälle 
und  Augenblicks  wünsche  vor,  die  in  der  geistigen  Luft  seiner  Zeit  nicht 
umhin  können,  eine  albigensische  Färbung  anzunehmen. 


54  6.  Abhandlung:  Karl^ Vossler 

religiösen  Glauben  und  dem  der  Katharer  lassen  sich  feste  Be- 
rührungspunkte kaum  erweisen.  Viel  eher  konnten  diese  auf 
ihn  als  er  auf  sie  sich  berufen.  Man  weiß,  daß  ihre  Prediger, 
wenn  sie  die  Gemeinde  vor  der  katholischen  Geistlichkeit  warnen 
wollten,  das  berühmte  Rügelied  Cardinais  zu  zitieren  pflegten: 
Li  clerc  se  fan  pastor  (Nr.  31)  und  die  dort  erwähnte  Fabel 
vom  Wolf  in  Schafskleidern  sich  zunutze  machten.^)  In  politi- 
scher und  ethischer  Hinsicht  freilich  hat  Cardinal  mit  seinen 
Sirventesen  sich  so  entschieden  für  die  Sache  der  verfolgten 
Albigenser,  genauer  für  jene  der  Grafen  von  Toulouse  ein- 
gesetzt, daß  man  ihn  neuerdings  für  den  Verfasser  des  zweiten 
Teiles  der  großen  epischen  Dichtung  über  den  Albigenser- 
kreuzzug  gehalten  hat.^)  Der  erste  Teil  stammt  bekanntlich 
von  Guillaume  de  Tudele  und  ist  in  einem  den  Albigensern 
feindlichen  Sinne  gehalten.  Der  zweite,  größere  und  wichtigere 
Teil  (Vers  2769 — 9578)  schließt  sich  ohne  weiteres  daran  an 
und  führt  die  Erzählung  in  entgegengesetztem,  den  Albigen- 
sern günstigem  Sinne  von  den  Ereignissen  des  Jahres  1212 
ab  weiter  bis  zum  Beginne  der  dritten,  ebenfalls  vergeblichen 
Belagerung  von  Toulouse  am  16.  Juni  1219.  Der  französische 
Gelehrte  C.  Fahre  glaubt  nun,  mit  Bestimmtheit  nachweisen 
zu  können,  daß  kein  anderer  als  Cardinal  diesen  zweiten  Teil 
gedichtet  habe.  Den  eigentlichen  Nachweis  freilich  ist  er  bis 
jetzt,  soviel  ich  weiß,  schuldig  geblieben  und  hat  ihn  nur  in 
einem  Privatbrief  an  Joseph  Anglade  angedeutet.  Anglade  hat 
das  Folgende  darüber  mitgeteilt:  „M.  C.  Fahre  croit  que  c'est 
le  grand  troubadour  Peire  Cardenal,  ce  qui,  en  ce  qui  con- 
cerne  le  style  et  le  mouvement,  n'aurait  rien  d'etonnant  (cf. 
Melanges  Chabaneau,  p.  264).  Dans  une  communication  qu'il 
a  bien  voulu  me  faire,  M.  Fahre  m'ecrit  qu'il  fonde  son  hypo- 


^)  Vgl,  J.  M.  Vidal,  Les  derniers  ministres  de  Falbigeisme  en  Lan- 
guedoc  in  der  Revue  des  quest.  bist.  Nouvelle  serie,  T.  XLI,  Paris  1906, 
S.  393  f.  Der  kritische  Text  des  Cardinaischen  Sirventes  in  Appels  Prov. 
Chrestom.  Nr.  76. 

2)  La  Chanson  de  ]a  Croisade  contre  les  Albigeois,  herausgeg.  von 
P.  Meyer,  zwei  Bände,  Paris  1875—79. 


Peire  Cardinal  55 

these  sur  les  faits  suivants:  trois  pieces  de  Peire  Cardenal  se 
retrouvenfc  presque  litteralement  dans  le  poeme  de  la  Croisade, 
une  autre  est  imitee;  il  s'y  trouve  plusieurs  Souvenirs  du  Puy; 
le  style  est  tres  souvent  celui  de  Cardenal,  et  enfin  les  parti- 
cularites  dialectales  de  la  Chanson  sont  Celles  de  la  langue  du 
Puy  au  treizieme  siecle.  —  Ce  n'est  pas  le  lieu  de  discuter 
ici  cette  seduisante  Hypothese,  mais  si  eile  etait  fondee,  on  ne 
serait  plus  etonne  du  talent  litteraire  et  de  la  hauteur  de  pens^e 
qui  se  revelent  dans  la  seconde  partie  de  la  Chanson.'''^)  Nach- 
dem ich  der  Sache  nachgegangen  bin,  glaube  ich  mit  Be- 
stimmtheit versichern  zu  können,  daß  Cardinal  nicht  der  Ver- 
fasser ist.  Von  den  drei  Liedern,  die  sich  „buchstäblich"  im 
Epos  wiederfinden  sollen,  keine  Spur  —  es  sei  denn,  daß  man 
das  Wort  „buchstäblich"  nicht  buchstäblich,  sondern  genia- 
lisch nehme.  An  der  Ähnlichkeit  der  Gesinnung  des  unge- 
nannten Epikers  mit  unserem  Satiriker  hat  freilich  noch  nie- 
mand gezweifelt.  Daß  sich  daraus  ähnliche  Wendungen  und 
Sprüche  ergeben,  ist  bei  Dichtern,  die  sich  zeitlich  und  viel- 
leicht auch  sprachlich  so  nahe  stehen,  nicht  weiter  wunderbar. 
Die  Verse  4132—4144  z.  B.,  oder  4328—4335,  oder  6482  ff., 
oder  6591  ff.,  oder  8684  ff.  und  meinethalben  noch  einige  an- 
dere, vereinzelte  Stellen  könnten  zur  Not  von  Cardinal  ge- 
schrieben sein ,  aber  niemals  das  Epos  als  Ganzes.  Jeder 
Dichter  hat,  sozusagen  überhalb  des  zeitlich  und  örtlich  be- 
dingten allgemeinen  Wortschatzes,  seine  besonderen  Lieblings- 
wörter, sein  individuelles  Sprachgut.  Wenn  nun  gerade  die 
ausgesprochensten  Leibwörter  des  Epos  wie  gladers,  hrutles, 
manenjar  für  manjar,  mercadals  für  mercatz  und  ganz  beson- 
ders amarvir  bei  Cardinal  überhaupt  nicht  vorkommen,  so  gibt 
dies  zu  denken.  Andererseits  wird  das  Wort  harrey,  das  dem 
Cardinal  so  geläufig  ist,  im  Albigenserepos  niemals  gebraucht, 
so  oft  auch  von  der  Sache  selbst  die  R,ede  sein  mag.  Es  wird 
dann  immer  durch  harrejamen  oder  barrejar  ersetzt.  Neben 
den   Lieblingswörtern   die  Lieblingsbegriffe.     Ein  solcher,   der 

^)  Jos.  Anglade,  la  Bataille  de  Muret  d'apres  la  Chanson  de  la  Croi- 
sade, Toulouse-Paris  1913,  S.  15,  Anm.  1.  * 


56  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

wie  ein  bedeutungsvolles  Echo  im  Epos  immer  wiederkehrt, 
ist  parage,  womit  der  Dichter  alles  Hohe  und  Adelige  im  ge- 
sellschaftlichen wie  im  sittlichen  Sinne  umfaßt.  Aber  von  pa- 
rage ist  in  den  Liedern  Cardinais,  soviel  ich  sehen  konnte, 
kein  einziges  Mal  die  Rede;  und  doch  hätte  die  Absicht  dieser 
Lieder  und  Lehrgedichte  tausend  Anlässe  geboten,  das  Wort 
im  Sinne  des  Epikers  zu  gebrauchen.^)  Dieser  Epiker  hat 
eine  ausgesprochene  Neigung  und  Begabung  zum  Landschafts- 
bild, das  er  mit  militärischen  Szenen  stimmungsvoll  zu  beleben 
und  zu  einem  Fest  für  Auge  und  Ohr  zu  gestalten  weiß.  Eine 
der  glanzvollsten  Stellen  in  seiner  Erzählung  ist  die  Ankunft 
der  Hilfstruppen,  die  von  Marseille  her  zum  Entsatz  von  Beau- 
caire  kommen:  die  Rhone  herauf  zu  Schiff  und  zu  Land. 

Per  mei  Taiga  del  Rozer  cantan  li  remador; 
el  primer  cap  denant  so  li  governador 
que  atempran  las  velas,  e  Ih'arquier  e'l  nautor; 
e  li  corn  e  las  trompas  e '  Is  cimbol  e  *  Ih  tabor 
fan  retindir  e  braire  la  ribeira  e  l'albor. 
Li  escutz  e  las  lansas  e  la  onda  qui  cor, 
e  l'azurs  e  *  1  vermelhs  e '  1  vert  am  la  blancor, 
e  l'aur  fis  e  l'argens  mesclan  la  resplandor 
del  solelh  e  de  Taiga,  que  partig  la  brumor. 
En'  Ancelmetz  per  terra  e  sei  cavalgador 
cavalgan  ab  gran  joia  ab  la  clara  lugor, 
ab  SOS  cavals  cubertz,  e  denant  Tauriflor. 
De  totas  partz  escridon  Toloza!  li  milhor, 
per  Tondrat  fil  del  comte  que  cobra  sa  honor, 
e  intran  a  Belcaire.^) 


i 


^)  Einmal  allerdings,  nämlich  in  der  14.  Strophe  der  Gesta  Car 
mot  home  fan  vers  hätte  Cardinal  das  Wort  parage  gebraucht,  wenn 
dieses  Gedicht,  wie  Fahre  zu  glauben  scheint  (vgl.  Melange  Chabaneau, 
Roman.  Forschungen  Bd.  23,  S.  263 ff.),  tatsächlich  von  Cardinal  wäre- 
Daß  es  aber  nicht  diesem,  sondern  einem  seiner  späten  Nachahmer  Rai- 
mon  de  Cornet  zuzusprechen  ist,  hat  Chabaneau  gezeigt.  Noulet  et  Cha- 
baneau, Deux  mss.  prov.  du  XIV  e  siecle,  Montpellier-Paris  1888,  S.  2  u.  141. 

2)  Vers  44Glff.    Ähnliche  Prachtbilder  findet  man  Vers  6627  ff.  und 


Peire  Cardinal  57 

Vom  Rhonestrome  her  erschallt  der  Rud'rer  Sang 
und  auf  der  Schiffe  Bug  sieht  man  den  Steuermann, 
wie  er  die  Segel  spannt,  Matrosen  und  Soldat. 
Hörner,  Trompetenstoß,  Zimbeln  und  Paukenschall 
klingt  nach  dem  Ufer  hallend  im  ersten  Licht  des  Tags. 
Die  Schilde  und  die  Lanzen,  der  flinken  Wellen  Glanz 
und  tiefes  Blau  und  Rot  und  Grün  und  weiße  Färb' 
und  pures  Gold  und  Silber  vermischen  sich  zumal 
mit  Sonn'  und  Flusses  Schimmern,  indes  der  Nebel  wallt. 
Herr  Anselm  kommt  am  Ufer  mit  seiner  Ritterschar 
geritten  frohgemut  im  hellen  Sonnenstrahl: 
die  Rosse  mit  Schabracken,  das  Banner  hoch  voran. 
Von  allen  Seiten  klingts:  Tolosa!  kühn  und  stark, 
des  Grafen  Sohn"  zu  Ehren,  der  seine  Ehre  wahrt. 
So  zieh'n  sie  nach  Belcaire. 

Diese  sinnliche  Bildhaftigkeit  ist  Cardinal  ganz  und  gar 
versagt.  Kein  einziges  Naturgemälde,  keine  Landschaft,  keine 
Farben-  und  Klangschilderung  in  seinen  Liedern.  Wo  er 
Bilder  gebraucht,  da  werden  sie  ihm  zu  Vergleichen,  die  sich 
an  den  Verstand  und  das  sittliche  Gefühl  richten,  aber  unsere 
Sinnlichkeit  leer  lassen.  Will  er  je  einmal  ein  Schlachten- 
gemälde entwerfen,  so  muß  er  sich  an  Bertran  von  Born  an- 
lehnen und  bleibt  trotzdem  noch  blaß.^)  Das  dichterische 
Reich  Cardinais  ist  die  unsichtbare  Welt  der  sittlichen  und 
religiösen  Werte,  während  der  Erzähler  des  Albigenserkrieges 
ganz  in  irdischen  Ereignissen  und  Erscheinungen  und  in  den 
einzelnen  Persönlichkeiten  aufgeht,  deren  Charaktere  er  mit 
einer  Unmittelbarkeit  sich  bewegen  und  aussprechen  läßt  und 
mit  einer  Kunst  der  Individualisierung  darstellt,^)  wie  sie  bei 
Cardinal  nirgends  zu  beobachten  ist.    Cardinal  müßte  sich,  um 


5979  ff.    Man   vergleiche   auch   das   Stimmungsbild   nach   dem  Tode  des 
Simon  von  Montfort,  Vers  8492  ff.  i)  Vgl.  Lied  Nr.  56. 

2)  Man  vergleiche  Szenen  wie  den  Abschied  Raimunds  VI.  und  dessen 
Sohnes  vom  Papst  oder  die  heuchlerische  Rede  des  Folquet  von  Marseille 
an  die  Bürger  von  Toulouse. 


I 


58  6.  Abhandlung:  Karl^  Vossler 

dieses  Epos  zu  schreiben,  einen  ganz  anderen,  primitiveren 
Kopf  aufgesetzt  und  ein  viel  heißeres  Blutgemisch  eingespritzt 
haben,  als  uns  an  ihm  bekannt  ist. 

Wenn  er  aber,  aller  philologischen  und  menschlichen 
Wahrscheinlichkeit  zum  Hohne,  es  dennoch  sollte  geschrieben 
haben,  so  wäre  dies  noch  lange  kein  Beweis  für  seine  Zuge- 
hörigkeit zum  Albigensertum,  noch,  wie  Fahre  möchte,  zum 
Waldensertum.  Etwas  anderes  ist  die  politische  Parteinahme, 
etwas  anderes  das  religiöse  Bekenntnis.  Man  weiß  wie  fast 
alle  politischen  und  militärischen  Führer  der  bedrängten  Süd- 
franzosen, Graf  Raimund  voran,  sich  in  der  Versicherung  ihrer 
Rechtgläubigkeit  gar  nicht  genug  tun  konnten  und  wie  sie 
bestrebt  waren,  den  ganzen  Krieg  als  einen  rein  politischen 
hinzustellen,  bei  dem  der  Kampf  gegen  die  Irrlehre  dem  heuch- 
lerischen Gegner  nur  als  Yorwand  diene.  Die  Worte,  die  das 
Albigenserepos  dem  Grafen  von  Comminges  in  den  Mund  legt, 
sind  dem  ganzen  südfranzösischen  Adel  und  gewiß  auch  dem 
Dichter  selbst  —  wer  er  nun  gewesen  sein  mag  —  aus  dem 
Herzen  gesprochen: 

E  si  la  Santa  Glieiza  ni'ls  sieus  prezicador 
nos  fan  mal  ni  dampnatge,  ja  non  fassam  a  lor, 
mas  preguem  Ihesu  Christ  lo  paire  redemptor 
que  denant  l'apostoli'ns  do  tal  razonador 
que  nos  ab  santa  Gleiza  aiam  patz  e  amor; 
e  del  mal  e  del  be  qu'es  entre  nos  e  lor 
ne  metrem  Ihesu  Crist  sabent  e  jutjador.^) 

Mag  auch  die  heil'ge  Kirche  und  ihrer  Prediger  Wort 
uns  unrecht  tun  und  schaden:  wir  ihnen  nicht  jedoch. 
Wir  fleh'n  zu  Jesu  Christ,  der  aller  Gnade  Hort, 
daß  er  beim  Papst  uns  solchen  Fürsprecher  geben  woll', 
der  mit  der  heil'gen  Kirche  Versöhnung  uns  besorg'. 
Was  zwischen  uns  und  ihnen  an  Recht  und  Unrecht  schon 
geschah,  das  legen  wir  vor  Christi  Richterthron. 


J)  a.  a.  0.  Vers  6763  ff. 


Peire  Cardinal  59 

Es  ging  mit  den  Irrlehren  und  Reformbestrebungen  von 
damals  ähnlich  wie  mit  den  Modernisten  von  heute.  Nach- 
dem sie  von  der  kirchlichen  Autorität  festfjenaofelt  und  ver- 
dämmt  waren,  wollte  niemand  von  dem  in  Bausch  und  Bogen 
ergangenen  Bannstrahl  sich  getroffen  wissen.  Der  Appell  von 
der  kirchlichen  Entscheidung  an  das  Gericht  Gottes  oder  an 
das  eigene  Gewissen  war  der  gegebene  Ausweg,  und  noch  eher 
der  Appell  von  dem  mangelhaft  unterrichteten  an  den  besser 
zu  unterrichtenden  Heiligen  Vater.  Diese  Ausflucht  blieb  für 
kirchliche  Gemüter  gerade  damals  umso  gangbarer,  als  man 
sehr  wohl  wußte,  daß  Innozenz  III.  weit  entfernt  war,  mit  allen 
Maßnahmen  eines  Arnaut  Amalric  oder  eines  Simon  von  Mont- 
fort  einverstanden  zu  sein.  Die  neueren  Forschungen  von 
Achille  Luchaire  haben  gezeigt,  wie  dringlich  der  Papst  zur 
Milde  riet  und  wie  gerne  er  die  rächenden  Geister  der  Recht- 
gläubigkeit, die  er  gerufen  hatte,  wieder  los  geworden  wäre.^) 

Vielleicht  hängt  es  mit  dieser  Zurückhaltung  des  dritten 
Innozenz  zusammen,  daß  von  den  vielen  und  scharfen  Aus- 
fällen, die  Cardinal  gegen  die  katholische  Geistlichkeit  macl^t, 
der  Papst  das  Wenigste  abbekommt.  Nur  im  Zusammenhang 
mit  der  allgemeinen  Entartung  und  Verweltlichung  wird  auch 
er,  in  gewissem  Sinne  der  Vollständigkeit  zuliebe,  an  seine 
Pflicht  erinnert. 

Aus  tu  que  Gleyza  governas 
e  cobeitas  e  campernas 
l'autruy  dreg?  del  tort  t'infernas, 
si  Caritat  no  *  t  defen. 

Car  si  a  tort  escumenjas, 
de  tu  meteis  cre  que  *  t  venjas, 
que  no  *  s  tanh  las  gens  destrenjas 
mas  taut  c'a  razon  cossen.^) 


^)  Luchaire,  Innocent  III.  La  Croisade  des  Albigeois,  Paris  1905. 

2)  Nr.  27,  Str.  29  (Mahn,  Werke  II,  S.  204).  Solange  kein  kritischer 
Text  dieses  Stückes  vorliegt,  bleibt  immer  noch  der  Zweifel  übrig,  daß 
die  angeführten  Strophen  von  fremder  Hand  eingeschoben  sind. 


60  6.  Abhandlung:  Karl  Yossler 

Merke,  der  du  lenkst  die  Kirche 
und  begehrlich  in  die  Rechte 
andrer  greifst,  daß  in  die  Hölle 
Unrecht  führt,  wenn  Liebe  fehlt. 

Wider  Recht  den  Bannstrahl  schleudernd 
,  dienst  du  nur  der  eig'nen  Rache. 

Sollst  die  Menschen  nicht  be'drängen, 
wenn's  zur  Sache  nicht  gehört. 

Außerdem  wird  nur  in  Nr.  16,  Str.  4^)  noch  der  Papst 
samt  seinen  Legaten  und  Kardinälen  der  allzu  großen  Nach- 
sicht gegen  die  Reichen  und  Mächtigen  beschuldigt. 

L'apostoli  *  h  legat  e  *  1  cardenal 
s'acordon  tug  et  an  fag  establir 
que  qui  no's  pot  de  trassion   esdir, 
s'aver  non  a,  fassa  *  Ih  hom  lo  senhal. 

Es  haben  Papst,  Legate,  Kardinal' 
in  Einheit  miteinander  festgesetzt, 
daß  wen  man  des  Verrates  überführt, 
sofern  er  nichts  besitzt,  brandmarken  soll. 

Von  dem  Kampf  zwischen  Kaiser  und  Papst  läßt  Cardi- 
nais Dichtung  sich  kaum  berühren,  wie  überhaupt  die  proven- 
zalischen  Trobadors,  im  Vergleich  mit  den  deutschen,  gerade 
in  dieser  Sache  sich  nur  selten  erwärmt  haben. ^) 

Daß  Cardinal  sowenig  wie  den  Katharern  den  Waldensern 
angehört  hat,  glaube  ich  mit  Bestimmtheit  versichern  zu  können. 
Gerade  in  seiner  Eigenschaft  als  Sittenrichter  der  katholischen 
Geistlichkeit  mußte   ihm   viel   daran   liegen,  an  seiner  eigenen 

1)  Mahn,  Gedichte  983. 

'^)  Siehe  Wilh.  Nickel,  Sirventes  und  Spruchdichtung,  Heft  63  der 
Palästra,  Berlin  1907,  S.  32  ff.  Auch  die  vulgärsprachliche  Dichtung  der 
Italiener  ist  hier  ziemlich  teilnahmslos  geblieben.  Vgl.  meine  Unter- 
suchung über  „Weltgeschichte  und  Politik  in  der  italienischen  Dichtung 
vor  Dante"  in  den  Studien  zur  vergleich.  Literaturgeschichte,  III.  Band, 
Berlin  1903,  S.  129  ff. 


Peire  Cardinal  61 

Rechtgläubigkeit  keine  Zweifel  aufkommen  zu  lassen.  Wenn 
er,  was  er  doch  so  ehrlich  und  leidenschaftlich  angestrebt  hat, 
Eindruck  machen  und  sittliche  Besserung  wirken  wollte,  durfte 
er  sich  dem  Verdacht,  ein  Abtrünniger  zu  sein,  um  keinen 
Preis  aussetzen.  So  hat  er  denn  auch  sein  Estribot  gegen  den 
Klerus  mit  einem  ausdrücklichen  Bekenntnis  zum  Katholizis- 
mus eröffnet.^)  In  seinem  Sermon  ermahnt  er  die  Laien  zum 
schlichten  kirchlichen  Gehorsam  und  warnt  sie  an  den  Worten 
des  Priesters  zu  deuteln. 

Dieus  no  vol  sias  toleire, 

e  vol  cregas  ton  preveire, 

qu'el(s)  ben  que  *  t  mostra  deves  creire 

senes  tot  corrumpament.'^) 

Du  sollst  den  andern  nichts  entwenden, 
du  sollst  auch  deinem  Priester  glauben 
und  seiner  guten  Lehre  folgen, 
sie  nicht  entstellen  irgendwie. 

Die  Waldenser  verehrten  zwar  die  heilige  Jungfrau,  aber 
beteten  nicht  zu  ihr.  Das  Ave  Maria  galt  ihnen  nur  als  Gruß, 
nicht  als  Gebet. ^)  Von  Cardinal  dagegen  besitzen  wir  ein 
Marienlied:  Vera  vergena  Maria  (Nr.  70),*)  das  nach  Form  und 
Inhalt  sich  ganz  den  kathohschen  Gepflogenheiten  anschließt. 
Lobgesang  und  Gebet  zugleich,  macht  es  vor  allem  durch  die 
Abwesenheit  persönlicher  Gedanken  einen  durchaus  kirchlichen 
Eindruck.  Die  fünfte  Strophe  zeigt  den  bibelfesten  Gottes- 
gelehrten : 

David  en  la  prophetia 

dis,  en  un  salme  que  fes, 

qu'al  destre  de  Dieu  sezia, 

del  rey  en  la  ley  promes, 

una  reyna  qu'avia 

i)  Appel,  Prov.  Chrestora.  Nr.  79.  2)  n^.^  27,  Str.  73. 

^)  Herzog,  Die  romanischen  Waldenser,  Halle  1853,  S.  193  u.  211. 

4)  Gedruckt  bei  Rnyn.  Choix  IV,  442  und  Mahn,  Werke  H,  199. 


62  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

vestirs  de  var  e  d'aurfres; 
tu  yest  elha,  ses  falhia,- 
non  o  pot  vedar  plaides. 

Cardinal  weiß  also,  daß  die  katholische  Kirche  den  10.  Vers 
des  44.  Psalms:  Astiüt  regina  a  dexteris  tuis  in  vestitu  deauratOt 
circumdata  varietate  als  einen  prophetischen  Hinweis  auf  die 
heilige  Jungfrau  deutet.  Solche  Bezugnahmen  auf  alttesta- 
mentliche  Ankündigungen  der  Mutter  Gottes  finden  sich  auch  in 
den  lateinischen  Marienliedern  des  12.  und  13.  Jahrhunderts.^) 
Und  nicht  nur  für  den  Gedankengang,  sogar  für  die  äußere 
Form  des  Cardinaischen  Gedichtes  sind  diese  lateinischen  Marien- 
lieder vorbildlich  gewesen.     Hier  dürfte  er  für  seinen  Refrain 

De  patz,  si't  plai,  dona,  traita 
qu'ab  ton  filh  me  sia  faita 

die  Beispiele  gefunden  haben.  Wenigstens  ist  uns  in  der  pro- 
venzalischen  Dichtung  vor  Cardinal  keine  ähnliche  Marien- 
Ballade  bekannt,^)  während  in  den  lateinischen  Marienliedern 
der  zwei-  und  mehrzeilige  Refrain  schon  seit  dem  12.  Jahr- 
hundert etwas  Geläufiges  ist.  Auf  ein  Stück  besonders  möchte 
ich  hinweisen,  das  nach  Refrain  sowohl  wie  nach  Gedanken- 
gang dem  Cardinaischen  Gedichte  ziemlich  nahe  steht. 

1.  Ave,  virgo  egregia, 
Maria,  plena  gratia, 
orta  de  stirpe  regia, 

fac  tuum  filium 

nobis  propitium, 

ut  donet  vitae  praemium 

et  coeleste  consortium. 


^)  Vgl.  G.  M.  Dreves,  Analecta  hymnica  medii  aevi,  Bd.  XX,  Leip- 
zig 1895,  z.  B.  Nr.  188,  Str.  10. 

2)  Höchstens  ein  lateinisch- pro venzalischer  Wechselgesang  für  das 
Weihnachtsfest  mit  dem  Refrain  De  virgine  Maria  könnte  in  Betracht 
kommen.  Text  veröffentlicht  von  F.  Meyer,  Anciennes  poesies  relig.  en 
langue  d'oc  in   der  Bibl.  de  l'ec.  des  Chartes,  5^  serie,  vol.  I.     Aus  der-. 


Pelre  Cardinal  63 

2.  Sancta  Maria  domina, 
excusa  nostra  crimina 
et  exaudi  praecamina, 
fac  tu  um  etc. 

5.  Per  Evam  vita  perdita 
est  mundo  per  te  reddita, 
Clemens  et  virgo  inclita, 

fac  tuum  etc. 

6.  Mater  Christi  piissima, 
ejusque  dextrae  proxima 
semper  sedens  sanctissima, 

fac  tuum  etc. 

8.  Virgo,  sole  prefulgida 

et  plus  quam  luna  splendida 
marisque  stella  lucida, 
fac  tuum  etc.^) 

Nicht  daß  wir  hier  das  unmittelbare  Vorbild  hätten  (denn 
in  Versbau  und  Reim  bleibt  Cardinal  bei  der  trobadormäßigen 
Technik),  wohl  aber  kann  das  lateinische  Lied  mit  einigen 
anderen  des  12.  und  13.  Jahrhunderts  zusammen^)  als  ein  typi- 
scher Vertreter  jener  kirchlichen  Tradition  gelten,  aus  der 
Cardinal  geschöpft  haben  muß.  Auch  die  Häufung  der  Attri- 
bute der  heiligen  Jungfrau  und  deren  Verbindung  durch  Al- 
literation in  der  Eingangsstrophe  Cardinais  ist  ein  echt  kirchen- 
lateinischer Kunstgriff.^) 

selben  Hs.  (Ms.  lat.  1139  der  Bibl.  nat.)  hat  Meyer  auch  den  ältesten  pro- 
venzalischen  Mariengesang :  0  Maria  Den  maire  a.  a.  0.  mitgeteilt. 

1)  Dreves,  a.  a.  0.  Nr.  232.  Die  3.,  4.  und  7.  Strophe  habe  ich  als 
weniger  charakteristisch  ausgelassen. 

2)  Man  vergleiche  besonders  noch  Nr.  186  bei  Dreves  a.  a.  0. 

^)  Aus  der  ersten  Strophe  des  Marienliedes  von  Peire  de  Corbiac 
(Bartsch,  Chrestom.  prov.  Sp.  209)  geht  hervor,  daß  lateinische  und  pro- 
venzalische  Marienlyrik  in  engem  Zusammenhang  standen  und  daß  die 
Verwendung  der  lenga  romana  eher  die  Ausnahme  als  die  Regel  war. 
Häufiger  werden   die  Marienlieder  erst  nach  der  Mitte  des  13.  Jahrhun- 


I 


64  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Als  Knabe  und  Jüngling  schon  mag  unser  Dichter  reich- 
lich Gelegenheit  gehabt  haben,  in  seiner  Heimatstadt  solche 
Marienlieder  singen  zu  hören;  denn  die  Kirche  Notre-Dame  in 
Le  Puy  war  einer  der  wichtigsten  Ausgangspunkte  des  Marien- 
kultes im  Languedoc.  Hier  hatten  sich  im  12.  Jahrhundert 
die  sogenannten  Capuciati  oder  Confreres  de  la  Paix  als  be- 
sonders eifrige  Anbeter  der  heiligen  Jungfrau  organisiert.^) 

Für  die  rechtgläubige  Selbstverständlichkeit,  mit  der  Car- 
dinal die  weltliche  Kunst  des  Trobadors  mit  dem  kirchlichen 
Wissen  und  Denken  des  Geistlichen  erfüllt,  kann  auch  sein  Lied 
auf  das  Kreuz  Christi  Dels  quatre  caps  que  a  la  cros  (Nr.  15)*) 
Zeugnis  ablegen.  Strophenbau,  Versart  und  Reime  sind  einer 
bekannten  Minnekanzone  des  Jaufre  Rudel  (Quand  lo  rossi- 
gndls  el  foillos)  nachgebildet,  während  das  Thema  zweifellos 
der  lateinischen  Kirchendichtung  entnommen  ist.  Schon  in 
dem  Hymnar  der  Abtei  zu  Moissac  aus  dem  10.  Jahrhundert 
wird  dieser  Gegenstand  behandelt,^)  und  in  den  folgenden  Jahr- 
hunderten findet  man  kaum  eine  Sammlung  von  Hymnen,  Pro- 
sen, Sequenzen,  Psalterien  und  Diktaminas,  wo  er  fehlte.  Die 
Grundgedanken  Cardinais:  daß  das  Todesholz  das  Holz  des 
Lebens  und  der  Baum  der  Erkenntnis  sei  und  das  Zeichen 
des  Schmerzes  zugleich  das  des  Sieges,  gehören  zu  den  Gemein- 
plätzen der  lateinischen  Dichtung.  Etwas  seltener  begegnet  man 
der  von  Cardinal  gegebenen  Ausdeutung  der  Form  des  Kreuzes: 

Dels  quatre  caps  que  a  la  cros 
ten  l'us  sus  ves  lo  firmamen, 


derts.   Unter  den  34  „provenz.  geistl.  Liedern*  aus  dem  Jahre  1254  (Bekker, 
Abhandl.  der  Akad.  in  Berlin  1842)  sind  neun  der  hl.  Jungfrau  gewidmet. 

1)  Siehe  Alphandery,  Les  idees  morales  chez  les  heterodoxes  latins 
au  debut  du  XIII  e  s.  Paris  1903  (Bd.  16  der  Bibl.  de  l'ec.  des  hautes 
etudes  [Sciences  relig.]),  S.  17  fF.  und  A.  Luchaire,  La  societe  fran9aise  au 
temps  de  Philippe  Auguste,  Paris  1909,  S,  13—20.  Anrufung  der  heiligen 
Jungfrau  findet  sich  bei  Cardinal  auch  sonst  noch:  im  Geleit  zu  Nr.  25, 
in  der  zweitletzten  Strophe  von  Nr.  27,  ja  sogar  im  Geleit  zu  dem  oben 
besprochenen  Rügelied  gegen  Gott  (Nr.  67). 

2)  Rayn.  Choix  IV,  444  und  Mahn,  Werke  II,  S.  200. 
^)  Dreves,  Analecta  hymnica  II,  Nr.  119. 


Peire  Cardinal  60 

l'autre  ves  abis  qu'es  dejos 
e  l'autre  ten  ves  orien 
e  l'autre  ten  ves  occiden, 

e  per  aitel  entresenha 
que  Crist  0  a  tot  en  poder. 

Doch  fehlt  es  auch  dazu  nicht  an  Parallelen.  In  einer 
Sequenz  des  12.  Jahrhunderts  heißt  es: 

quatuor  per  crucis  cornua 
viva  pacis  hostia  — 
quatuor  per  mundi  climata 

rumpens  mortis  vincula  — 
in  einer  andern: 

Ipsa  crucis  quadra  forma 
spiritali  monstrat  norma, 
spes  ut  sursum  sit  in  caelis, 
mens  profundo  sit  fidelis, 

Caritate  dilatetur, 
ferat  longum,  quo  probetur.^) 

Innozenz  III.  lehrte  in  seinen  Büchern  „Mysteriorum  evan- 
gelicae  legis  et  sacramenti  eucharistiae",  daß  man  das  Zeichen 
des  Kreuzes  von  oben  nach  unten  zu  machen  habe,  weil  Chri- 
stus vom  Himmel  zur  Erde  gefahren  sei,  und  von  rechts  nach 
links,  weil  er  von  den  Juden  zu  den  Heiden  ging.^)  Schon 
die  Viktoriner  brachten  die  Form  des  Kreuzes  mit  der  Jakobs- 
leiter in  Verbindung  und  deuteten  sie  mit  Hilfe  der  anschlie- 
ßenden Prophezeiung:  „dilataberis  ad  occidentem,  et  orientem, 
et  septentrionem,  et  meridiem"  (Genesis,  XXVIII,  14).^) 

Unser  Hinweis  auf  die  kirchenlateinische  Literatur  will 
keineswegs  die  Möglichkeit  ausschließen,  daß  auch  in  proven- 
zalischer  Sprache  eine  religiöse,  wesentlich  volkstümliche  Dich- 
tung  bestand,    aus   deren    Formenschatz    und    Gedankengehalt 

1)  Anal.  hymu.  Bd.  VIII,  Nr.  20  und  21.  Vgl.  auch  Bd.  XXXV,  die 
16.  Strophe  des  Psalteriums  Sanctae  crucis. 

2)  Lib.  II,  cap.  45  (Migne,  Patrol.  lat.  217,  Sp.  824f.). 

3)  Migne,  Patrol.  lat.  177,  Sp.  386. 

Sitz^sb.  d.  philos.-pbilol.  u.  d.  bist.  Kl.  Jabrg.  1916,  6.  Abb.  & 


ße 


6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 


Cardinal  gelegentlich  schöpfen  konnte.  Ja,  die  Vermutung 
wird  sogar  zur  Wahrscheinlichkeit,  wenn  man  die  Schlußverse 
jenes  langen  zweiteiligen  Passions-  und  Beichtgedichtes,  das  zu 
den  älteren  provenzalischen  Proben  gehört,  mit  den  Schluß- 
versen von  Cardinais  Reimpredigt  zusammenhält. 


E  prec  te  per  tas  piagas 

qua  de  mi  merce  aias 

al  teu  aveniment. 

E  prec  te  per  ta  crost 

e  per  ta  sancta  vots 

que  disit  umilment 

Quant  abellest  Eli 

e'l  cap  tenguist  ecli 

al  paire  omnipoten, 

Que  ■  m  tolas  de  senestre 

e"m  metas  al  las  dextre 

al  teu  sanc  jutgament. 

E  pecat  criminal 

ni  negus  autre  mal 

no'm  sia  damnament. 

Perdona 'm  per  ta  mort 

ta  ira,  don  ai  tort, 
que  non  posc  far  emendament. 

E  per  ta  resurrexio, 

e  s'auuis  ma  oraso, 

Deus  meus  amen, 

E  pel  teu  nom  mirable, 

defen  me  de  diable, 

d'efern  e  del  torment; 

E  met  m'e  paradis 

on  om  no  velesis 

ni  no  mor  ni  no  ment, 

Mi  e  mos  bevolent 

e  mos  propris  parenz, 

totas  tas  autras  gens. 
Qu'eu  die  pater  noster  pel  seu  enten- 

demen.^) 


Cardinal : 
Preguem  doncx  qui  *  ns  apana 
e  pres  per  nos  carn  humana, 
que '  ns  don  far  via  sertana 
com  tengam  ves  lui  breumen. 


E  preguem  sa  doussa  raaire 
que'ns  enseigne  e'ns  esclaire 
ab  son  filh  et  ab  son  paire 
tan  per  qu'en  siam  jauzen. 


E  tug  digam  en  Amen 
gratias  al  seinhor  valen, 
que  el  nos  gart  del  tormen 
d'enfern  orrible  e  puden. 
Amen. 


1)  P.  Meyer,  der  das  Stück  veröffentlicht  hat  (Anciennes  poesies 
relig.  a.  a.  0.),  meint,  daß  diese  Verse  an  den  Schluß  von  Cardinais  Tara- 
tassa  ni  voutor  (Nr.  55)  erinnern;  doch  scheint  mir  dort  die  Ähnlichkeit 
viel  weniger  auffallend  als  hier. 


Peire  Cardinal  67 

Im  übrigen  ist  uns  von  volkstümlicher  religiöser  Dichtung 
aus  den  Tagen  Cardinais  so  wenig  erhalten,  daß  ihre  Spuren 
in  den  Liedern  unseres  Trobadors  sich  mit  Bestimmtheit  nicht 
mehr  erweisen  lassen.  Auch  scheint  es,  daß  die  katholische 
Geistlichkeit  die  Fühlung  mit  dem  niederen  Volke  gerade  da- 
mals etwa  in  demselben  Maße  verlor,  in  dem  die  Bewegung 
der  Katharer  und  Waldenser  um  sich  griff.  Vielleicht  hat  eben 
deshalb  Cardinal  sich  bemüht,  durch  vereinfachte,  der  trobador- 
mäßigen  Künstelei  und  aller  persönlichen  Pose  entkleidete 
Dichtungen  erbaulicher  und  belehrender  Art  die  Kluft  wieder 
zu  überbrücken. 

Mit  dieser  volkstümelnden  Wendung  nähert  er  sich  nun 
freilich  den  Bestrebungen  der  Waldenser.  Seine  Stellung  zu 
ihnen  wird  man  mit  einiger  Sicherheit  nur  dann  bemessen, 
wenn  man  sich  über  den  merkwürdig  schwankenden  Gebrauch 
des  Wortes  Vaudes  Klarheit  verschafft.  Die  Anhänger  des 
Petrus  Valdus  selbst  pflegten  sich  Humiliati  oder  Pauperes 
Lugdunenses  zu  nennen.  Es  ist  auch  „kaum  ein  Zweifel  mög- 
lich, daß,  wenn  die  Bewegung  innerhalb  der  Kirche  hätte 
bleiben  können,  die  Genossen  des  Waldes,  ähnlich  wie  die  älte- 
sten Jünger  des  heiligen  Franz,  als  Gehilfen  der  römischen  Geist- 
lichkeit ihre  Arbeit  am  Volk  getan  hätten."^)  Im  Jahre  1184 
aber  wurden  sie  von  Papst  Luzius  III.  zum  ersten  Male  mit 
dem  Bann  belegt,  und  ihre  Gegner  haben  ihnen  den  Namen 
Waldenser  angeheftet,^)  den  sie  selbst  nicht  gewählt  hatten 
und  immer  wieder  abzuschütteln  sich  bemühten.  Dies  bezeugen 
uns  unter  anderen  die  folgenden  Worte  der  Nobla  Leyczon: 

Mas  l'escriptura  di,  e  nos  o  poen  veir, 
que  si  n'i  a  alcun  bon  que  ame  e  tema  Crist, 
que  non  volha  maudire,  ni  jurar,  ni  mentir, 
ni  avoutrar,  ni  aucire,  ni  penre  de  Fautrui, 


1)  Karl  Müller,  Die  Waldenser  und  ihre  einzelnen  Gruppen  bis  zum 
Anfang  des  14.  Jahrhunderts,  Gotha  1886,  S.  11. 

2}  Die  älteste  datierte  Urkunde,  in  der  er  vorkommt,  ist  das  Edikt 
des  Königs  Alfons  von  Aragon  vom  Jahre  1192  (Hahn,  Gesch.  der  Ketzer 
im  Mittelalter,  Stuttgart  1845  ff.,  Bd.  II,  S.  703j. 


■ 


ßS  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

ni  venjarse  de  li  seo  enemis, 

ilh  di9on  qu'es  Vaudes  e  degne  de  punir.*) 

„Die  Schrift  aber  sagt,  und  wir  können  es  sehen,  daß, 
wenn  es  irgendeinen  Guten  gibt,  der  Jesum  Christum  liebt  und 
fürchtet,  der  nicht  will  fluchen,  noch  schwören,  noch  lügen, 
noch  ehebrechen,  noch  töten,  noch  den  Nächsten  berauben, 
noch  sich  an  seinen  Feinden  rächen,  sie  sagen,  er  sei  ein 
Waldenser  und  würdig  Strafe  zu  leiden."  In  ganz  ähnlichem 
Sinne  äußert  sich  nun  auch  unser  Cardinal: 

Mas  Jacopi  apres  maniar  non  queza, 
an[z]  desputon  del  vin  cals  meillers  es 

et  an  de  plaitz  cort  establia, 

et  es  Vaudes  qui'ls  ne  desvia.^) 

Nach  Tische  ruh'n  die  Jakobiner  nicht, 
nein,  streiten,  welcher  Wein  der  beste  sei, 
und  setzen  einen  Weinrat  ein, 
und  wer  sie  stört,  ist  ein  Vaudes. 

Eine  gewisse  Sympathie  für  die  Waldenser  läßt  sich  in 
diesen  Versen  nicht  verkennen,  und  man  sieht,  wie  die  Anti- 
pathie gegen  das  Wohlleben  der  katholischen  Geistlichkeit 
dabei  im  Spiele  ist.  In  der  Sittenstrenge  lag  ja  auch  die 
Stärke  und  Werbekraft  der  Waldenser,  während  sie,  was  die 
Glaubenslehre  betraf,  sich  möglichst  auf  dem  Boden  der  Kirche 
hielten.  „Fides,  ut  ipsi  dicunt,  una  est  in  ecclesia  Romana  et 
in  congregatione  Waldensium,  licet  discrepantia  sit  in  operi- 
bus"    schreibt   der   Dominikaner   Moneta  von   Cremona.^)     Ja, 

1)  Ant.  De  Stefano,  La  noble  le^on  des  Vaudois  du  Piemont,  texte 
critique,  introduction  et  glossaire,  Paris  1909,  vers  375  flP.  (Genfer  Dis- 
sertation). Die  Entstehungszeit  der  nobla  leiczon  ist  mir  auch  nach  den 
Bemühungen  De  Stefanos,  der  sie  an  das  Ende  des  14.  Jahrhunderts  legen 
möchte,  noch  immer  zweifelhaft. 

2)  Nr.  1,  Str.  2  (Mahn,  Ged.  6  und  1233). 

^)  Adversus  Catharos  et  Waldenses,  Rom  1743.  S.  405.  Ähnlich  der 
Chronist  Pierre  de  Vaux  de  Cernay  (Recueil  des  Histor.  de  France, 
XIX,  S.  6). 


Peire  Cardinal  69 

die  Waldenser  haben  später  im  Verein  mit  den  Katholiken 
das  Katharertum  bekämpft.^)  Warum  sollte  nicht  auch  unser 
Cardinal  im  Kampf  um  die  Reinheit  der  Sitten  ihr  Bundes- 
genosse gewesen  sein?  Zu  ihrer  Sekte  brauchte  er  darum 
noch  lange  nicht  zu  gehören.  Wenn  man  heutigentags  als 
Waldenser  kurzweg  die  Mitglieder  waldensischer  Gemeinden 
bezeichnet,  so  darf  man  nach  den  Forschungen  von  Karl  Müler^) 
mit  ziemlicher  Sicherheit  annehmen,  daß  im  romanischen  Sprach- 
gebrauch des  Mittelalters  der  Name  lediglich  auf  die  apostoli- 
schen Reiseprediger,  die  sogenannten  perfecti  bezogen  wurde. 
Zu  Cardinais  Zeit  verstand  man  unter  Vaudes  eine  Geheim- 
gesellschaft von  Wanderpredigern,  die,  in  Nachahmung  der 
Apostel,  all  die  Vorschriften  der  Aussendungsrede  Christi  im 
10.  Kapitel  Matthaei  buchstäblich  befolgten.  Sie  zogen,  zwei 
und  zwei,  mit  hölzernen  Sandalen  an  den  Füßen,  in  einfachen 
Wollkleidern  und  ohne  Geld  von  Ort  zu  Ort  und  ließen  sich 
auf  Straßen  und  freien  Plätzen  hören.  Es  waren  zumeist 
Leute  der  ärmeren  Klassen,  Männer  und  Frauen  ohne  Unter- 
schied. An  dem  Auftreten  der  Frauen  als  Prediger  nahmen, 
wie  man  sich  denken  kann,  die  Katholiken  den  größten  An- 
stoß.^) Und  mit  diesen  bettelnden  Männlein  und  Weiblein  auf 
Sandalen  zusammen  sollte  Peire  Cardinal,  der  höfische  Troba- 
dor,  sich  im  Lande  herumgetrieben  haben?  Fahre  ahnt  wohl 
nicht,  was  er  seinem  Dichter  zumutet,  indem  er  ihn  unter  die 
Waldenser  steckt.  Er  erinnert  sich  wohl  nicht  mehr  an  eines 
der  bittersten  Rügelieder  Cardinais  L'afar  del  comte  Guio 
(Nr.  28)*),  wo  es  in  der  zweitletzten  Strophe  heißt: 

Encaras  sera'l  sazo 
que'l  segle  non  aura  ley 
e'l  clerc  iran  a  torney 
e  femnas  faran  sermo. 


*)  Siehe  Luchaire,  im  Journal  des  Savants  1908,  S.  17  ff. 

2)  Die  Waldenser,  Gotha  1886.  ^)  Alphandery  a.  a.  0.,  S.  125. 

*)  Mahn,  Ged.  1226,  1227  und  972. 


I 


70  6.  Abhandlung:  Karl 'Vossler 

Nahe  sind  die  Zeiten  schon, 
wo  die  Welt  sich  ganz  verkehrt, 
zum  Turnier  der  Pfaffe  geht 
und  das  Weib  die  Predigt  hält. 

Wenn  Theorie  und  Praxis  ein  und  dasselbe  wären,  dann 
freilich  könnte  Cardinal  Waldenser  gewesen  sein;  denn  in  den 
Gedanken  berührt  er  sich  vielfach  mit  ihnen.  Wie  hätte  ihre 
schroffe  und  starre  Art  seinem  doktrinären,  begriffsfreudigen 
Geiste  nicht  zusagen  sollen?  „Den  Waldensern  fehlte  alles 
Mystische,  sie  waren  ebenso  weit  entfernt  von  der  gefühlvollen 
Frömmigkeit  Bernhards  wie  von  der  liebenswürdigen  Schwär- 
merei des  Heiligen  von  Assisi.  Sie  waren  Moralisten,  so  schlicht 
und  gerade,  aber  auch  so  starr  und  unbeugsam,  wie  die  Männer 
zu  sein  pflegen,  die  vom  Idealismus  der  Pflicht  erfüllt  sind."^) 
Wie  ihnen,  ist  auch  unserem  Dichter  die  schlaffe  Bußpraxis 
und  das  Ablafäwesen  der  Kirche  verhaßt. 

E  s'ieu  ia  vuelh  estrangolar  romieu, 

perdonat  m'er,  ab  que  done  del  mieu. 

S'aver  non  ai,  forfach  ai  pendemen, 

e  s'ai  aver,  manh  lag  tort  me  defen.    (Nr.  16.)^) 

Will  ich  erdrosseln  einen  Pilgersmann, 
vergibt  man  mir,  wenn  ich  'ne  Schenkung  mach'. 
Doch,  hab'  ich  nichts,  so  werd'  ich  aufgehängt, 
und  hab'  ich  was,  leist'  ich  mir  manche  Sund'. 

Waldensisch  gedacht  könnte  auch  Cardinais  Auffassung 
des  Meßopfers  sein. 

Aus  tu  que  cantas  las   messas 
e  fas  a  Dieu  tas  promessas? 
Si  no  so  Sanas  tas  pessas, 
obras  a  ton  dampnamen. 

^)  A.  Hauck,  Kirchengeschichte  Deutschlands  IV,  3.  und  4.  Auflage. 
Leipzig  1913,  S.  898. 

2)  Leider  ist  dieses  wichtige  Rügelied  nur  lückenhaft  in  der  einzigen 


Peire  Cardinal  71 

Sei  que  fai  lo  sagrifizi 
no*s  tanh  que 's  pes  null  malvizi, 
ni  qu'en  aquel  panh  s'afizi, 
mas  sol  el  sant  sagraraen.*) 

Merke,  Priester,  der  die  Messe 
singt  und  seinem  Gott  gelobet, 
wenn  nicht  ehrlich  dein  Gedank'  ist, 
schlägt's  dir  zur  Verdammnis  aus. 

Jenem,  der  des  Opfers  waltet, 
ziemt  es  nicht,  unrein  zu  denken 
und  am  Brote  nur  zu  hangen, 
sondern  ganz  am  Sakrament. 

In  seiner  Äußerung  gegen  das  unnötige  Schwören  kann 
man  ebenfalls  einen  waldensischen  Zug  sehen.  * 

A!  greu  sera  est  segl'en  l'estamen 
que  a  estat,  segon  que  auzem  dir; 
que  hom  era  crezutz  ses  sagramen 
ab  sol  la  fe,  si  la  volgues  plevir, 
e  veritatz  era  sens  escondire.^) 

Zu  jener  Schlichtheit,  ach!  kehrt  nimmer  wohl 
die  Welt  zurück,  von  der  man  uns  erzählt. 
Man  glaubte  einem  damals  ohne  Schwur 
aufs  bloße  Wort,  wenn  man's  verbürgte,  hin. 
Keine  Verleugnung  griff  die  Wahrheit  an. 

Vor  allem  die  Innerlichkeit  und  der  Wert,  den  Cardinal 
auf  die  Gesinnung  und  auf  die  Güte  des  Wollens  legt,  im 
Gegensatz    zu    den  Äußerlichkeiten   des  Kultus   und   der  Büß- 


I 


Hs.  C  erhalten  (Mahn,  Ged.  983).     Man  vergleiche  damit  die  Verse  387  f. 
der  nobla  leyczon.     In  Appels  Chrestom.  Nr.  108  sind  es  die  Verse  49  ff. 

1)  Nr.  27,  Str.  21  f.    Über  die  Stellung  der  Waldenser  zum   Sakra- 
ment der  Eucharistie  vgl.  Herzog  a.  a.  0.,  S.  214fF. 

2)  Nr.  60,  Str.  2  (Rayn.  Choix  IV,  S.  359  u.  Mahn,  Werke  II,  S.  184). 


72  6.  Abhandlung:  Karl  Dossier 

praxis,  kurz  sein  ethisches  Schwergewicht  ist  es,  was  ihn  den 
Waldensern  nahebringt,  und  nicht  nur  diesen,  sondern  all 
den  verwandten  Bestrebungen  jener  Zeit  nach  Erneuerung  und 
Vertiefung  des  religiösen  Lebens.  Ebensogut  wie  an  die  Armen 
von  Lyon  könnte  man  an  die  sogenannten  katholischen  Armen 
denken,  die  von  Innozenz  IIL  begünstigt  wurden,  oder  an  die 
Anfänge  der  dominikanischen  und  der  franziskanischen  Bewe- 
gungen. Es  ist  unmöglich  und  darum  müßig,  unseren  Dichter 
dieser  oder  jener  Sekte,  diesem  oder  jenem  außerkirchlichen 
Glaubensbekenntnis  zuweisen  zu  wollen,  denn  er  war  nicht 
nur  kein  extravaganter  Dogmatiker,  sondern  dogmatisch  über- 
haupt nicht  interessiert.  Da  ihm  die  kirchliche  Lehre  eine 
Selbstverständlichkeit  ist,  kommt  ihm  alles  nur  darauf  an,  daß 
Ernst  mit  ihr  gemacht  werde. 

V.  Oeistlich-weltliches  Lebensideal« 

Zunächst  sollen  die  Prediger  einmal  ihre  eigenen  Worte 
befolgen.  In  dieser  Forderung  begegnet  sich  Cardinal  so  ziem- 
lich mit  allen  Satirikern  seiner  Zeit.^) 

Predicator 

tenc  per  meillor 

cant  fai  l'obra  que  manda  far, 

non  fas  sellui 

que  l'obra  fui 

e  als  autres  vai  predicar. 

Qui^)  en  predic 

met  son  afic, 

lo  fag  e*l  dig  deu  aiostar, 

car  meills  lo  cre 

aquel  que  •  1  ve 

son  predic  per  l'obra  mostrar.^) 


1)  Vgl.  z.  B.  Lommatzsch,  Gautier  de  Coincy  als  Satiriker,  Halle  1913,  ■ 
S.  32  und  38.  ^)  Korrigiert  aus  que. 

3)  Nr.  42,  Str.  If.  (Mahn,  Ged.  941). 


Peire  Cardinal  73 

Ich  lobe  mir 

den  Prediger, 

der  auch  erfüllt,  was  er  verlangt, 

jedoch  nicht  den, 

der  uns  ermahnt 

zum  Werk,  vor  dem  er  selber  bangt. 

Wer  sich  verlegt 

aufs  Predigen, 

passe  dem  Wort  sein  Handeln  an. 

Man  glaubt  ihm  recht 

erst,  wenn  man  sieht 

wie  er  im  Beispiel  geht  voran. 

Die  Geistlichkeit  aber,  sagt   er,   sei  anderer  Meinung. 

Ben  Volon  obediensa 

selhs  de  la  clercia, 
e  Volon  ben  la  crezensa, 

sol  Tobra  no  y  sia.^) 

Den  Gehorsam  hat  man  gerne 

bei  der  Klerisei, 
auch  den  Glauben  —  nur  daß  ferne 

jedes  Tun  ihm  sei! 

Mit  Frömmigkeit  und  Beten  allein  ist  nichts  getan. 

Qui  vay  Deu  pregar 
e  re  no  vol  far 
de  ren  qu'anc-(elh)  dis  e  ses  s'a*), 
pauc  li  deu  Dieus  dar.^) 

Wer  sich  betend  naht 
Gott  und  keine  Tat 


1)  Nr.  25,  Str.  5  (Parn.  occ,  S.  309  und  Rayn.  Choix  IV,  S.  340). 

2)  Dissessa  C  und  M,  diessessa  J;  reimt  auf  promessa ;  ses  fasse  ich 
als  senz  =  Sinn,  Absicht. 

3)  Nr.  38,    Geleit  (Mahn,   Ged.  977,  978  und  Studj  d  i  fil.  rom.  IX 
S.  514). 


74  6.  Abhandlung:  Kaiiy Vossler 

dem  eig'nen  Rat  läßt  folgen 
hat  bei  Gott  kein'  Gnad'. 

Das  einzige,  was  vor  Gottes  Richterstuhl  Geltung  behält, 
sind  unsere  Werke. 

Non  cug  qu'a  la  mort 
negus  plus  enport 
aver  ni  arney, 
mas  los  faitz  que  fey.^) 

Keiner,  glaube  ich, 
nimmt  im  Tod  mit  sich 
Habe  oder  Macht, 
nur  was  er  vollbracht. 

Soviel  aber  Cardinal  auf  Betätigung  des  Glaubens  und 
Ausführung  der  göttlichen  Gebote  hält,  so  kann  man  ihn  doch 
nicht  als  einen  Fürsprecher  der  Werkheiligkeit  betrachten. 
Zunächst  ist  er  Satiriker  und  richtet  sein  Augenmerk  vorzugs- 
weise auf  die  Verfehlungen  und  Unterlassungen,  und  dieses 
negative  Geschäft  hat  ihn  zur  Entwicklung  einer  positiven  re- 
ligiösen Ethik  nicht  recht  kommen  lassen.  Einige  bemerkens- 
werte Ansätze  dazu  finden  sich  nur  in  den  zwei  Reimpredigten 
Nr.  27  und  42.  Hier  zeigt  sich  nun  freilich,  daß  er  auf 
kirchliche  Übungen  keinen   sonderlichen  Wert  legt. 

Perdonas  leu, 

venzas  vos  greu, 

e  non  vos  cal  cheira  portar. 

Amas  amics 

et  enemics, 

e  no's  cal  anar  outramar.^) 

Vergebet  leicht, 

rächt  euch  nicht  gleich, 

so  brauchet  ihr  kein  Hemd  aus  Haar. 


1)  Nr.  40,  Geleit  (Rayn.  Choix  IV,  S.  347  und  Parn.  occ,  S.  311), 

2)  Nr.  42,  Str.  23. 


Peire  Cardinal  7ü 

Liebet  den  Freund 

und  auch  den  Feind, 

so  braucht  ihr  keine  Meeresfahrt. 

Zu  Kreuzzügen  und  Pilgerfahrten  hat  denn  auch  Cardinal 
niemals,  soviel  wir  wissen,  aufgefordert,  und  das  will  im 
Zeitalter  des  Kinderkreuzzuges  schon  viel  heißen.  Immerhin 
rechnet  er  es  den  Rittern  und  der  Geisthchkeit  zur  Schmach, 
daß  sie  das  Heilige  Grab  vergessen  und  lieber  das  Land  des 
Nachbars  rauben  als  das  der  Sarazenen  erobern.^)  Ebenso 
verlangt  er  vom  Mönch,  daß  er  seine  Regel  befolge  und  sein 
Gelübde  erfülle.*)  Jeder  Stand  hat  eben  seine  besonderen 
Pflichten ;  daher  sind  Cardinais  Mahnungen  in  durchaus  mittel- 
alterlicher Weise  noch  nach  Ständen  und  Berufsklassen  ab- 
gestuft. 

Per  que  cascus  en  sa  vida 

de  Fobra  que  l'es  cobida, 

mentre  que'l  dar  tat  lo  guida, 

deuria  obrar  lialmen.^) 

Jeder  sollt'  in  seinem  Leben 
das,  was  ihm  ist  aufgegeben, 
ehrlich  wirken  und  erstreben 
stets  solang  das  Licht  ihn  führt. 

Hinter  dieser  kirchlichen  und  sozialen  Ethik  aber,  deren 
Darstellung  als  einer  ziemlich  bekannten  und  herkömmlichen 
Sache  wir  uns  schenken  dürfen,  zeichnen  sich,  wenn  auch  erst 
schattenhaft,  die  Umrisse  eines  allgemein  menschlichen  und  in- 
dividualistischen Bekenntnisses  ab.  Es  sind  die  Anfänge  einer 
vertieften  Gesinnungsethik.  Diese  nimmt,  ähnlich  wie  bei  den 
Waldensern  und  Franziskanern,  ihren  Schwung  aus  der  Stel- 
lung zum  Reichtum  und  Besitz,  fordert  aber  nicht  wie  jene 
den  tatsächlichen  und  völligen  Verzicht  darauf,  nicht  die  frei- 
willige Armut,  sondern,  was   weniger  und   doch  wieder  mehr 


I 


1)  Vgl.  Nr.  18,  Str.  4  und  Nr.  51,  Str.  5. 

2)  Nr.  27,  Str.  34  f.  ^)  Nr.  27,  Str.  19, 


76  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

ist,  die  innere  Freiheit  und  seelische  Loslösung  von  den  Gütern 
dieser  Welt.  Schlicht  und  schön  sind  diese  Gedanken  aus- 
geführt in  dem  folgenden  Lied: 

Lo  sabers  d'[aqu]est  segle  es  foudatz, 
e  Dieus  dis  o,  e  trobam  o  ligen, 
et  ieu  cre  ben  sos  ditz  verayamen, 
qu'ieu  vei  qu'il  ricx  son  savis  apellatz 
e*ls  paubres  son  fols^)  e  caitius  clamatz. 
AI  ric  parec,  del  siecle  trespassan, 
et  al  Lazer,  cal  raes  Dieus  en  soan. 

La  riqueza  d'est  segl'es  paubretatz 
a  sels  que  l'an  conquista  malamen: 
qu'el  en  pert  Dieu  e  s'arma  eissamen 
e  re  no  (i)a  pos  quez  es  trespassatz 
et  es  plus  fols^)  que  trichador  de  datz 
que  per  aver  gieta  Dieu  ab  son  dan, 
ni  per  honor^)  que  malamen  guazan.^) 

Ges  paubres  hom  non  deu  esser  cassatz, 

qu'atressi  ha  sen  et  entendimen, 

com  a  lo  ricx,  e  razo  eissamen, 

e  trobar  n'es  de  be  aconseilhatz, 

que  si  eis  son  en  conseill  apellatz, 

eis  lo(s)  daran  lial  e  ses  engan, 

e  qui  *  Is  creira  no  i  pora  aver  dan. 

Mas  tant  es  grans  del  segle  *  1  cobeitatz 
que  nuls  non  ve  son  dan  ni  no  l'enten, 
e  l'enveia  es  tan  grans  de  la  gen, 
d'aver  maisons,  terras  et  heretatz. 
A  guiza  d'orb*)  si  gieton  eis  baratz, 
6  can  vezon  que'ls  baratz  van^)  montan, 
empenhon  s'i  ades  mays  adenan. 


1)  fels  C.         *)  aver  I,         *)  sespan  I. 
*)  a  guiszardos  I.  ^)  vai  C. 


Peire  Cardinal  77 

Sels  qui  volran  de  Dieu  esser  amatz 
aion  en  si  leial  entendimen 
et  ajoston  so  qu'auron  leialmen 
e  fasson  ben  als  paubres  dezairatz, 
que'l  mandamens  nos  fo  aitals  donatz; 
e  qui  non  a  que  don,  aia'l  talan, 
qu'ill  voluntatz  venra  a  Dieu  denan. 

Maire  de  Dieu,  siatz  de  mi  membran 
lai  on  seran  iutgat  li  pauc  e*l  gran.^) 

Die  Weisheit  dieser  Welt  ist  Narrentand, 
das  sagt  uns  Gott,  das  liest  man  in  der  Schrift 
und  glaub'  ich  seinem  Wort  wahrhaftiglich. 
Wohl  heißt's,  der  reiche  Mann  sei  voll  Verstand, 
die  Armen  werden  dumm  und  schlecht  genannt. 
Am  Lazarus  und  reichen  Mann  ward  klar, 
wer  Gott  im  Jenseits  wohlgefällig  war. 

Zur  Armut  wird  der  Reichtum  dieser  Welt 
für  jeden,  der  ihn  wider  Recht  erwirbt, 
weil  er's  mit  Gott  und  seiner  Seel'  verdirbt 
und  nichts  ihm  bleibt,  wann  ihn  der  Tod  gefällt. 
Ein  Narr,  der's  Spiel  auf  falsche  Würfel  stellt, 
ist  klüger  noch  als  wer  um  Reichtums  Trug 
und  falsche  Ehre  sich  mit  Gott  zerschlug. 

Man  weise  nie  zurück  den  armen  Mann; 
er  hat  nicht  weniger  Verstand  und  Witz 
und  Gründe  als  der  Reiche  im  Besitz; 

iund  wohlberat'ne  Arme  findet  man, 
sobald  man  sie  zum  Rate  zieht  heran: 
dann  helfen  sie  euch  ohne  Falsch,  und  treu; 
wer  ihnen  glaubt,  der  fährt  nicht  schlecht  dabei. 
1)  Nr.  34  (Mahn,  Ged.  643  und  644).     Da  auf  Grund  der  Mahnschen 
Drucke  kein  einwandfreier  Text  sich  gewinnen  läßt,  habe  ich  nur  die 
wichtigsten  Sinnvarianten  von  643  =  I  und  644  =  C  berücksichtigt. 
L 


78  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Allein,  so  gierig  ist  die  Leidenschaft, 

daß  keiner  sein  Verderben  mehr  erkennt, 

und  jeder  nur  voll  Habsucht  rennt, 

auf  daß  er  Erbschaft,  Haus  und  Hof  errafft. 

Und  auf  Betrug  stürzt  man  mit  blinder  Kraft, 

und  wenn  sie  seh'n,  wie  ihr  Betrügen  glückt, 

so  sind  sie  gleich  noch  tiefer  drein  verstrickt. 

Wer  wohlgefällig  sein  will  seinem  Gott, 

erfülle  sein  Gemüt  mit  Redlichkeit 

und  sammle,  was  mit  Recht  ihm  zugedeiht, 

und  lindere  der  armen  Leute  Not, 

denn  so  ist  uns  ergangen  das  Gebot. 

Und  wer  nichts  hat  zu  geben,  sei's  gewillt, 

der  Wille  schon  vor  Gottes  Antlitz  gilt. 

Mutter  des  Herrn,  wollest  gedenken  mein 
am  Tag  des  Spruches  über  Groß  und  Klein. 

Daß  mit  dem  guten  Willen,  der  vor  Gottes  Angesicht 
Gnade  findet,  das  fromme  Herz  oder  die  heilige  Gesinnung  im 
evangelischen  Verstände  des  Wortes  gemeint  ist,  kann  nicht 
bezweifelt  werden.  Cardinal  mag  an  das  Scherflein  der  Witwe 
gedacht  haben  oder  an  die  Worte  des  Apostels  Paulus:  Si 
enim  voluntas  promta  est,  secundum  id  quod  habet,  accepta  est, 
non  secundum  id  quod  non  habet  (2.  Corinth.  VHI,  12). 

Gerade  von  dieser  Ethik  der  heiligen  Gesinnung  aus  ge- 
winnt Cardinal  aber  wieder  ein  freundliches  Verhältnis  zu  den 
weltlichen  und  höfischen  Werten. 

Dieus  e  bona  voluntatz 
garnis  los  pros  e'ls  aders 
de  vertutz  e  de  sabers 
e  de  Valens  faitz  honratz 

e*ls  fai  entendens 
e  cortes  e  conoyssens 
e  larx  e  gent  ensenhatz 
et  amoros  e  privatz, 


Peire  Cardinal  79 

que  puescon  plazer 
a  Luy  quan  los  vol  aver. 

Et  es  ben  desazi(8)matz  ^) 

qui  no  vol  valer 
sivals  ab  sol  lo  voler.*) 

Guter  Wille,  eins  mit  Gott, 
rüstet  hoch  den  braven  Mann 
aus  an  Tugead  und  Verstand 
und  an  Taten  ehrenvoll, 

macht  den  Sinn  ihm  klar, 
macht  ihn  höfisch  und  erfahr'n, 
macht  ihn  mild,  verstiindnisvoll, 
liebreich  und  vertraut,  daß  wohl 

er  dem  Herrn  gefällt, 
wann  ihn  der  zu  sich   bestellt. 

Der  ist  aber  ganz  bankrott, 

der  auf  sich  nichts  hält, 
dem  sogar  der  Wille  fehlt. 

Auch  hier  ist  die  Güte  oder  Heiligkeit  des  Willens  im 
religiösen  Sinne  gemeint,  nicht  etwa,  wovon  das  Mittelalter 
noch  kaum  etwas  wußte,  dessen  Energie  im  psychologischen 
Verstand.  Die  Kirche  hat  diesen  Willen  bald  als  die  tätiofe 
Liebe  zu  Gott  und  den  Menschen  bestimmt,  bald  als  den  inner- 
lichen und  die  Kraft  der  Rechtfertigung  vor  Gott  in  sich  selbst 
tragenden  Glauben  des  Einzelnen.  Den  Gedanken  der  Recht- 
fertigung durch  den  Glauben  finde  ich  bei  Cardinal  noch  nicht 
entwickelt.  Unser  Dichter  bleibt  in  der  Hauptsache,  wie  auch 
Dante  noch,  auf  dem  Standpunkt  der  Liebesethik. ^) 

Tot  son  esfortz 
d'arm'  e  de  cors 


^)  mal  aiuratz  M,  deszazematz  /. 

2)  Nr.  33,  Str.  5  und  Geleit  (Mahn,  Ged.  973  u.  974  und  Studj  di 
fil.  rom.  IX,  S.  514f). 

^)  Vgl.  meine  Ausführungen  über  Paulus  und  Dante.  Vossler,  Die 
göttliche  Komödie,  Heidelberg  1907,  S.  348—365. 


I 


80  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

deu  hom  metre  en  Dieu  amar, 

pueis  am  la  gen 

tot  eissamen: 

e  se  garda  de  son  pezar.^) 

Eine  unverkennbare  Erinnerung  an  das  Evangelium  Mat- 
thaei,  XXII,  37 — 39;  und,  wie  im  Evangelium,  so  steht  auch 
hier  unmittelbar  daneben  der  Gedanke  an  das  göttliche  Gesetz. 

E  sabes,  cals 

es  hom  lials 

e  quäl  pot  per  lial   anar? 

Qui  la  lei  crei 

e  ten  la  lei 

e  segon  la  lei  vol  obrar. 

Daß  diese  evangelische  Liebe  sich  vorzugsweise  und  fast 
ausschließlich  in  der  Mildtätigkeit  und  Freigebigkeit  mit  Al- 
mosen auszuwirken  hat,  versteht  sich  bei  einem  mittelalter- 
lichen Moralisten  ohne  weiteres.  Cardinais  Forderungen  und 
Mahnungen  richten  sich  demgemäß  am  nachdrücklichsten  und 
häufigsten  an  die  oberen  Stände,  denn  nur  diese  verfügen  über 
die  materiellen  Mittel,  um  das  Gebot  der  Liebe  in  die  Tat 
der  Milde  umzusetzen.  Dem  kleinen  Mann  bleibt  für  die  Aus- 
übung seines  sittlichen  Wollens  dabei  nur  das  Gebiet  des  Ge- 
horsams und  der  Treue  noch  übrig.  So  lebhaft  Cardinal  für 
die  Armen  eintritt,  so  ist  er  doch  weit  entfernt,  ihre  eigenen 
Bemühungen  um  Verbesserung  ihres  Loses  zu  billigen.  Es 
soll  ihnen  geholfen  werden,  aber  wenn  sie  zur  Selbsthilfe 
schreiten,  verhöhnt  er  sie. 

Vilas  no  solon  aver  sen 
mas  de  laorar  solamen; 
aras  son  vezat  e  sahen, 
s'anplen  la  pelh,^) 


*)  Nr.  42,   Str.  26.    Das  son  des  letzten  Verses  bezieht  sich  wohl 
gleichermaßen  auf  Deu  und  la  gen. 

2)  Raynouard  und  Mahn  lesen:  s'an  plen  la  pelh. 


Peire  Cardinal  81 

et  a  plag,  avan  sagramen, 
queron*)  libelh.*) 

Die  Bauern  richten  sonst  allein 
auf  Arbeit  ihr  Verständnis  ein, 
jetzt  aber  sind  sie  klug  und  fein 

und  stark  im  Fressen, 
seh'n  vor  dem  Schwur  die  Akten  ein 

bei  den  Prozessen. 

Die  Eigenart  der  Cardinaischen  Ethik  liegt  demnach  nicht 
in  dem  Inhalt  ihrer  Forderungen,  denn  dieser  überschreitet 
nirgends  das  weite  und  hohe  Maß  der  christlichen  und  kirch- 
lichen Lehre;  sie  liegt  eher  in  dem  Nachdruck,  der  auf  das 
spezifisch  Evangelische  dem  spezifisch  Kirchlichen  gegenüber 
gelegt  wird,  und  besonders  in  dem  Streben,  das  evangelische 
Lebensideal  mit  dem  höfischen  in  Einklang  zu  bringen.  Frei- 
lich, auch  damit  steht  Cardinal  nicht  allein.  Der  Ungenannte, 
der  im  Jahre  1254,  also  etwa  in  der  Spätzeit  unseres  Dichters 
oder  wenig  nachher,  die  34  religiösen  Gedichte  der  provenzali- 
schen  Handschrift  in  Wolfenbüttel  verfaßt  hat,  weist  diesem 
Streben  mit  kindlicher  Klarheit  die  Bahn,  wenn  er  sagt: 

Mais  en  vertatz  vps  die:  In  Wahrheit  sag'  ich  Euch: 

se  eil  qu'en  haut  e  ric^)  Wenn  die,  die  hoch  und  reich, 

volgueson  son  poder  gebrauchten  ihre  Macht 

far  e  dreitz  mantener,  zu  Recht  und  hätten  acht, 

las  domnas  ses  mariz  daß  sie  die  Witwen  stützten, 

et  los  orfan[s]  petiz  den  kleinen  Waisen  nützten 

et  los  desconsellatz,  und  allen,  die  in  Nöten, 

de  sas  granz  riehitaz  und  wenn  sie  Hilfe  böten 

als  paubres  famellos         ^  aus  ihrem  Überfluß 

donason  per  saizons,  dem  Mann,  der  hungern  muß, 

mantengezon  driehura,  und  für  das  Recht  sieh  rührten, 

et  malmezon  falsura,  die  Falschheit  überführten, 

e  feizon  sens  a  ren  wenn  sie  zu  allen  Dingen 

quant  pogexon  de  ben:  ihr  Bestes  wollten  bringen: 


^)  Raynouard  und  Mahn  lesen  qu'eron  libelh,  was  keinen  Sinn  gibt. 
2)  Nr.  63,  Str.  6  (Raynouard  Choix  IV,  S.  442  und  Mahn,  Werke  II, 
S.  199).  3)  Korrigiert  aus  erit. 

Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  ü.  d.  bist.  Kl.  Jahrg.  1 9 1 6, 6.  Abb.  6 


k 


82  6.  Abhandlung :  Karl  Yossler 

sens  del  tot  delenquir  brauchten  sie  nicht  zu  meiden 

quest  mon  et  sens  partir  die  Welt,  sich  nicht  zu  scheiden 

pogran  en  son  aver  von  ihrem  Gut  und  Reich, 

estar  et  remaner  sie  könnten  so  zugleich 

et  quest  seigle  menar  das  Zeitliche  versehen, 

et  l'autre  gazagnar.^)  im  Ewigen  bestehen. 

In  einem  so  ruhigen  Licht  wie  dieser  Ungenannte,  der 
jedenfalls  ein  Geistlicher  war  und,  wie  es  scheint,  weit  von 
Reichtum  und  Hofstaat  entfernt,  im  Elend  geschmachtet  hat,*) 
vermochte  Cardinal  die  Sache  nun  freilich  nicht  zu  sehen. 
Denn  ihn  ging  sie  persönlich  an.  Auch  er  war  Kleriker, 
lebte  aber  an  glänzenden  Höfen  und  mußte  für  sich  selbst  die 
Lösung  finden,  den  Kindern  der  Welt  zu  gehören,  ja  sogar 
ihnen  angenehm  zu  sein  und  doch  der  Weltlichkeit  nicht  zu 
verfallen.  Dem  Papste  Innozenz  HL  war  die  in  Südfrankreich 
verbreitete  Unsitte,  daß  Geistliche,  anstatt  in  ihren  Klöstern 
oder  Gemeinden  zu  wirken,  sich  an  Fürstenhöfen  um  Gunst 
und  Ansehen  bemühten,  schon  lange  ein  Dorn  im  Auge.  Er 
kannte  die  kirchlichen  und  seelischen  Gefahren  dieses  Doppel- 
verhältnisses und  hat  in  einem  Schreiben  vom  April  1198  dem  l 
Erzbischof  von  Auch  seine  Mißbilligung  folgendermaßen  aus- 
gedrückt: „Ad  audientiam  siquidem  nostram  noveris  pervenisse 
quod  monachi,  canonici  et  alii  reguläres  in  tua  provincia  con- 
stituti,  cum  deberent  potius  in  claustro  juxta  regularia  consti- 
tuta  divinis  obsequiis  vigilare  de  obedientiis  et  redditibus,  quo- 
rum    curam  gesserunt,    pecunia   congregata,   claustrum  abhor- 

1)  Bekker,  Provenz.  geistl.  Lieder  des  13.  Jahrhunderts  in  den  Ab- 
handlungen der  Akademie  in  Berlin  1842,  Nr.  7.  Der  Text  ist,  wie  man 
sieht,  einigermaßen  verdorben,  jedoch  dem  Sinne  nach  in  der  Hauptsache 
klar.  —  Derselbe  Text  bei  E.  Levy,  Poesies  relig.  prov.  et  fran?.  Paris  18S7, 
S.  49  f.  —  Die  Worte  feizon  sens  a  ren  quant  pogezon  de  ben  deute  ich  an- 
ders als  Levy.  Wahrscheinlich  haben  sich  hier  zwei  Konstruktionen  ge- 
kreuzt, nämlich:  erstens  feizon  sens  a  ren  que  pogezon,  zweitens  feizon  de 
hen  quant  pogezon. 

2)  In  einem  anderen  Gedichte  (Nr.  14)  sagt  er: 

et  de  prizon  on  ai  [ejstaz 
XX.  ans  et  plus  estres  mon  graz, 
et  d'aiquest  tormens  on  son 
vos  quier,  domna,  deliuraxon. 


t*eire  Cardinal  83 

rentes,  per  curias  principum  et  potentum  discurrere  non  verentur, 
et  muneribus  suis  illorura  sibi  gratiam  et  favorem  acquirunt, 
ac  de  eorum  familiaritate  confisi,  in  conventu  suo  graves  dis- 
sensiones  commovent,  et  caeterorum  humilitatem  in  spiritu  ar- 
rogantiae  contemnentes,  mandatis  praelatorum  suorum  inobedi- 
entes  et  contumaces  existunt,  et  contra  illorum  prohibitionem 
saecularium  negotiorum  sollicitudinibus  se  immergunt."^) 

So  schlimm  mag  es  unser  Dichter  zwar  nicht  getrieben  haben. 
Wir  wollen  annehmen,  daß  er  die  höheren  Priesterweihen  gar 
nicht  empfangen  hatte  oder  doch  wenigstens  als  Kanonikus 
kein  „regularis"  war  und  daß  in  rechtlicher  und  gesellschaft- 
licher Hinsicht  ein  Zwiespalt  zwischen  Geistlichkeit  und  Sä- 
kulum  für  ihn  nicht  bestanden  hat.  Der  seelische  Zwiespalt 
war  darum  nicht  weniger  vorhanden.  Hätte  Cardinal  ihn  nicht 
empfunden,  wäre  dieser  ihm  nicht  ins  Herz  gegangen,  wie  hätte 
er  nur  so  bewegliche,  so  grausame  und  heiße  Worte  finden 
können,  um  die  verweltlichte  Gesinnung  der  Geistlichkeit  zu 
züchtigen?  Sobald  seine  Satire  sich  gegen  den  Klerus  wendet, 
nimmt  sie  eine  wilde,  finstere,  glühende  Art  an.  Wir  haben 
gesehen,  wie  sie  dem  Hofwesen,  den  Reichen,  den  Großen  und 
den  Galanten  des  Säkulums  gegenüber  meist  etwas  Frostiges, 
Spielerisches  und  Verstandesmäßiges  hatte.  Hier  aber  zeigt 
sie  eine  tiefere  und  blutigere  Farbe.  Ja,  man  kann  sogar  be- 
obachten, daß  in  einigen  Liedern,  in  denen  beide  Stände  zu- 
gleich vorgenommen  werden,  die  grimmigere  Tonart  aus  der 
geistlichen  Satire   quillt.^) 

Cardinais  Lieder  über  die  Minne  haben  uns  gezeigt,  wie 
er  sich  eine  Zeitlang  schmeicheln  durfte,  dank  seinem  klaren, 
philosophisch  gekühlten  Temperament,  für  seine  Person  wenig- 
stens die  Lösung  gefunden  zu  haben,  und  daß  es  ihm  tat- 
sächlich gelungen  ist,  in  höfischer  Gesellschaft  sich  wohl  und 
beliebt  zu  fühlen  und  doch  eine  lächelnde,  ironische  Erhaben- 
heit über  die  Eitelkeiten  der  Welt  zu  bewahren.  Es  gibt 
eine  merkwürdige  Reimfabel  von  ihm,  deren  Text  hoffnungslos 


1)  Migne,  Patrol.  lat.  214,  Sp.  70 f.  ^ 

2)  Vgl.  die  Nummern  37,  47  und  60. 

6* 


I 


84  6.  Abhandlung:  Karl^Vossler 

entstellt  und  lückenhaft  nur  in  einer  Handsclirift *)  uns  er- 
halten ist.  Um  das  Verständnis  des  Wortlauts  habe  ich  mich 
mit  der  freundlichen  Hilfe  Emil  Levys,  leider  mit  wenig  Er- 
folg bemüht.  Den  allgemeinen  Sinn  aber  hoffe  ich  nicht  zu 
mißdeuten,  wenn  ich  annehme,  daß  Cardinal  seine  neidlose 
Höhe  über  den  Freuden  und  Enttäuschungen  des  sinnlichen 
Weltwesens  mit  dichterischer  Freiheit  hier  etwa  folgender- 
maßen hat  darstellen  wollen. 

„Möge  der  Schöpfer  der  Welt  alle  Wackern  und  Edeln  bei 
Hofe  wie  in  der  Bürgerschaft  erlösen!  Mich  hat  er  zu  ihnen 
hergeschickt,  um  zu  erzählen,  was  ich  von  einem  frohgemuten 
braven  Könige  weiß,  der  die  wahre  Ehre  pflegt  und  in  Worten 
und  Taten  gute  Sitte  und  Lebensverstand  übt.  Gemeine  und 
schlechte  Menschen  mag  er  nicht  um  sich  haben;  er  kann 
ihren  Anblick  nicht  ausstehen.  Das  sieht  man  an  der  sinn- 
reichen Art,  wie  er  sich  gegen  sie  zu  helfen  weiß.  Habe  ichs 
doch  letzthin  selbst  mit  angesehen,  wie  er  ihrer  mehr  als 
hundert  sich  vom  Hals  geschafft  (oder  kuriert?)  hat.  Draußen 
auf  einem  offenen  Platz  hat  der  König  (offenbar  mit  allerlei 
Hokuspokus)  eine  Salbe  herstellen  lassen:  eine  Salbe  aus  Nebel 
und  Wind  und  (zur  Würze  vermutlich)  tat  er  hinein:  Fiedel- 
klang und  Gesang  (vieuladura  e  lays)^  fröhliche  Töne  und  Käfer- 
gezirpe  (kurz,  allerhand  trügerisches  Getändel  und  Geklimper), 
Kälbersprung  und  Weiberlaune,  Windgebraus  und  Lerchen- 
wirbel, Nachbarnklatsch,  Winkelzüge,  Hinterlistigkeiten  und 
falsche  Liebesschwüre,  Bachgemurmel,  Schäferinnengesang  und 
Krämertrug,  müden  Pilgertrab,  Kniffe  des  Würfelspiels,  Jagd- 
hundsgebell, Fersenweh  und  Schmerz  vom  Rückenhieb,  Geruch 
nach  Küche,  nach  Lendenreißen  und  Hühnermilch.  —  Genug 
der  Arznei!  Das  Gefäß  aber  (in  dem  diese  Salbe  unserer  Täu- 
schungen, Illusionen  und  Narrheiten  aufbewahrt  wird)  ist 
aus  purem  Golde,  mit  Hyazinth,  Rubin,  Saphir  und  Granat 
besetzt  und  funkelt  gewaltig.  Der  Deckel  ist  aus  marmo- 
riertem Jaspis  mit  einem  köstlichen  und  wunderbaren  Kar- 
funkelknopf darauf;   und    am  Rande    des  Deckels  herum  sind 


1}  B,  gedruckt  bei  Mahn,  Gedichte  1245,  Nr.  14  bei  Bartsch. 


Peire  Cardinal  85 

die  sieben  Künste  der  Liebe  abgebildet  und  die  musterhaften 
Liebhaber:  Pyramus  und  Thisbe,  Cliges  und  Fenisa  (?),  Flore 
und  Biancaflor,  Tristan  und  Isolde  und  viele  andere.  Und  um 
all  das  schlingt  sich  als  Saum  das  tiefe  Meer.  Im  fernen 
Osten  ist  das  Gefäß  von  Kappadoziern  und  Griechen  gefertigt 
worden,  und  der  türkische  Sultan  hat  es  letzthin  den  Franken 
zum  Geschenk  gemacht.  Tausend  Zentner  Silber  mag  es  wert 
sein,  wenn  ich  mich  nicht  täusche.  Die  Salbe  aber  ist  nun 
fertig  und  wohl  geknetet.  Mögen  alle  gut  Veranlagten,  die 
Edeln  und  Liebreichen,  herbeikommen  und  sich  auf  unsere 
Seite,  hierher  zu  der  köstlichen  Salbe  bemühen:  gleich  werden 
sie  ganz  dadurch  gesunden.  Und  wer  sich  schämt,  davon  Ge- 
brauch zu  machen,  wird  es  am  nächsten  Tage  schon  bereuen.*'^) 

Offenbar  denkt  Cardinal  sich  seine  Salbe  homöopathisch. 
Mit  einem  Gebräu  aus  täuschenden,  flüchtigen,  windigen  Freuden 
und  Leiden  will  er  seine  weltlichen  Kranken  von  allem  Schein- 
wesen heilen,  will  sie  wahrhaftig,  gediegen,  standhaft  und 
getreu  bis  in  den  Tod  machen,  wie  Pyramus  und  Thisbe,  Tri- 
stan und  Isolde  waren.  Nach  dem  Grundsatz  similia  similihus 
curantur  will  er  ja  auch  in  seinem  Rügelied  D'  Esteve  de  Bei- 
mon  m'enueia^)  den  Erz  Verräter  Stephan  von  Belmon  absieden 
lassen  und  aus  dessen  Säften  eine  Salbe  gewinnen,  mit  der 
man  alle  anderen  Verräter  kurieren  kann.  So  bietet  er  also 
in  der  merkwürdigen  Reimfabel,  wenn  ich  deren  Bruchstücke 
richtig  verstanden  habe,  mit  Ironie  und  Güte,  mit  Laune  und 
Gleichmut,  als  phantastische  Quacksalbe  zubereitet,  uns  eine 
stille  und  hohe  Lebensweisheit  an,  die  vom  Vergnügen  sich 
nicht  locken  und  vom  Schmerz  nicht  trüben  läßt. 

Ein  anderes,  ebenfalls  arg  entstelltes  Lied,  wahrscheinlich 


^)  Die  zwei  letzten  Verse  lauten: 

E  qui  vergonh'aura  estug  l'a  l'endema. 

Wenn  man  estug  als  estuet  oder  estot  (=  nordfranzösisch  estuet)  deuten 
darf,  so  gibt  es  einen  guten  Sinn,  nämlich:  Wer  sich  schämt,  dem  ist 
schon  den  Tag  darauf  die  Salbe  nötig. 

2)  Nr.  19,  Str.  2  (Mahn,  Ged.  762,  763). 


86  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

ein  Descort,^)  zeigt  uns  den  Dichter  in  hochfliegenden  Wün- 
schen sich  wiegend,  vielleicht  scherzhaft,  vielleicht  elegisch. 
Mächtig,  reich  und  geehrt  möchte  er  sein  wie  ein  Kaiser, 
seine  Feinde  möchte  er  erniedrigt  sehen,  seine  Freunde  aber 
nicht  reicher  als  er  selbst  ist,  damit  sie  im  Hochmut  ihn  nicht 
vergessen.  Und  wenn  er  nun  weltliche  Macht  und  Reichtümer 
in  Händen  hätte,  so  wollte  er  ein  Ausbund  von  Freimut, 
Kühnheit,  Treue,  Liebe  und  Milde  sein,  und  Gott  zu  dienen 
wäre  sein  höchster  Wille.  Kurzum,  er  wollte  zeigen,  wie  alle 
zeitliche  Herrlichkeit  nur  im  Dienste  der  ewigen  Gebote  ver- 
edelt wird  und  Glück  stiften  kann.  — 

Se  avetz  d'aur  una  plena  ribieyra 

e  non  avetz  amor  ni  acordansa^) 

ab  Dieu  ni  ab  gent  de  bona  manieyra, 

ia  non  avretz  delieg  ni  benenansa, 

que'l  grans  avers  ten  son  don  cossiros 

e  •  1  bon'amors  alegre  e  ioyos, 

que'l  ricx  s'irais  on  plus  li  amors  dansa.*)    (Nr.  24.) 

Und  habt  ihr  Goldes  einen  vollen  Strom 

und  habt  die  Liebe  nicht  und  Einigkeit 

mit  Gott  und  mit  den  Menschen  guter  Art, 

so  wird  euch  Freude  nie  noch  Glück  zuteil. 

Denn  Reichtum  macht  nur  Sorge  seinem  Herrn, 

die  wahre  Lieb'  ihn  heiter  und  vergnügt. 

Den  Reichen  wurmt's  je  mehr  die  Liebe  jubelt. 

Über  sein  persönliches  Lebensideal  kann  man  nach  all 
dem  nicht  mehr  im  Zweifel  sein.  Kein  katharischer  Welt- 
verächter, kein  waldensischer  Armutsbruder,  kein  überspannter 
Büßer,  sondern  ein  einfacher,  frommer  Christ  ist  er  gewesen, 
dem  es  an  der  Furcht  vor  Gottes  Gerechtigkeit  so  wenig  ge- 

1)  Nr.  59  (Mahn,  Ged.  1253  nach  T.  Der  Text  in  B  war  mir  leider 
nicht  zugänglich.  Die  zweite  Strophe  scheint  als  cobla  esparsa  auch 
in  Y  zu  stehen,  461,  168  bei  Bartsch). 

2)  acoindansa  M,  3)  mentre  l'amoros  dansa  M. 


Peire  Cardinal  87 

fehlt   hat   wie   an    der   Zuversicht   auf  dessen  Versöhnlichkeit 
und  Gnade. 

Pensa't  doncx,  cant  ti  sojornas, 
don  moguis  ni  en  que  tornas, 
car  sobremal  t'arm'enfornas 
en  trebaill  et  en  tormen. 

Mas  cobreras,  si  *  t  castias, 
sol  dezesperatz  no  *  t  sias, 
que  Dieus  ti  vol,  si*l  volias, 
et  as  molt  hon  partimen.^) 

Denke  nach  auf  dieser  Erden: 
wie  du  kamst,  was  du  wirst  werden  — 
schrecklich  kannst  du  sonst  gefährden 
deine  SeeF  zu  Qual  und  Pein. 

Bess're  dich,  wirst  mehr  erlangen! 
Nur  nicht  in  Verzweiflung  bangen! 
Wolltest,  du  —  Gott  hat  Verlangen 
auch  nach  dir,  und  Glück  ist  dein. 

Die  jenseitige  Vergeltung  spielt  in  Cardinais  sittlichem 
Denken  noch  eine  bedeutende  Rolle.  Dabei  ist  es  für  seinen 
Rigorismus  bezeichnend,  daß  er  niemals  und  nirgends  von  dem 
Zwischenreich  des  Fegfeuers  spricht.  Die  Waldenser  haben  es 
geradezu  geleugnet.  Da  die  Lehre  vom  Fegfeuer  zwar  schon 
von  Clemens,  Origenes,  Augustin  und  Gregor  dem  Großen  vor- 
bereitet war,  in  festen  Umrissen  aber  doch  erst  durch  Thomas 
von  Aquino  (f  1274)  dargestellt  wurde  und  zu  wichtigeren 
dogmatischen  Verhandlungen  erst  auf  dem  ünionskonzil  (1438) 
Veranlassung  gab,  so  wäre  es  sehr  voreilig,  wenn  man  aus 
Cardinais  Stillschweigen  irgendwelche  Schlüsse  gegen  seine 
Rechtgläubigkeit  ziehen  wollte.  Man  bedenke  auch,  daß  sitt- 
liche Rüge  und  Ermahnung,  auf  die  es  unserem  Dichter  vor 
allem   ankam,   in   der  Hauptsache   viel  besser  und  nachdrück- 


1)  Nr.  27,  Str.  66f. 


88  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

lieber  mit  der  Drohung  der  Hölle  und  der  Lockung  des  Him- 
mels arbeiten  als  mit  der  gemäßigten  Aussicht  eines  zeitlichen 
Fegfeuers.  Dazu  kommt,  daß  Cardinal,  bei  der  abstrakten 
und  philosophischen  Neigung  seines  Geistes  und  bei  der  Blässe 
seiner  Einbildungskraft,  weder  Lust  noch  Begabung  hatte,  die 
jenseitigen  Reiche  mit  sinnlicher  Anschaulichkeit  darzustellen 
und  auszumalen.  „Himmel"  und  „Hölle"  sind  ihm  keine 
Bilder,  sondern  im  Grunde  nur  Wertbegriffe  wie  Verdammnis 
und  Seligkeit.  Es  ist  für  seine  Verhältnisse  schon  viel,  wenn 
er  die  Hölle  einmal  als  orrible  e  puden  kennzeichnet. 

Für  mittelalterliche  Verhältnisse  aber  ist  das,  was  Cardi- 
nais sittlicher  und  religiöser  Glaube  an  kirchlichem  und  dog- 
matischem Außenwerk  und  Formalismus  vorweist,  außeror- 
dentlich wenig.  Er  gehört  zu  den  innerlichsten  Christen  seines 
Volkes  und  seiner  Zeit.  Seine  Innerlichkeit  aber  ist  nicht 
mystisch  und  schwärmerisch,  hat  gar  nichts  virtuos  Gesteigertes, 
trägt  keinen  Heiligenschein,  keine  Kutte,  kein  Ketzerhemd,  ist 
kein  frommes  Träumen  und  Spekulieren,  sondern  fromme  Ge- 
sinnung unter  einem  beinahe  alltäglichen  und  bürgerlichen, 
zumeist  aber  höfischen  und  weltmännischen  Gewand. 

Dies  eben  ist  seine  Eigenart  und  seine  stille  Sehnsucht 
zugleich:  höfisch  und  christlich  in  Einem  sein,  in  der  Welt 
und  ihrer  Schönheit  leben  dürfen  und  ihr  doch  nicht  gehören 
müssen.  Einem  solchen  Temperament  möchte  man  eine  Zeit 
und  eine  Kultur  gönnen,  in  der  die  sinnliche  Welt  nicht  bloß 
durch  minnesingerliche  Süßigkeiten,  sondern  durch  die  Kunst 
der  ganzen  Antike  veredelt  wird  und  wo  das  religiöse  Ge- 
wissen nicht  bloß  von  Sektierern  sich  beunruhigen  und  von 
Fanatikern  sich  muß  pressen  lassen,  sondern  wo  große  Refor- 
matoren es  befreien  und  vertiefen.  Wieviel  reicher  und  kühner 
hätte  Cardinal  in  den  Tagen  Luthers  und  Huttens  sein  Wesen 
entfalten  und  wieviel  gewaltiger  auch  in  der  Satire  es  aus- 
wirken können !  Unwillkürlich  muß  man  an  jene  Tage  denken, 
wenn  man  die  grimmen  Sirventese  liest,  die  er  über  die 
Schmach  der  Albigenserkriege  gesungen  hat. 


Peire  Cardinal  S9 

VI.  Albigenserkrieg  und  Politik. 

Im  Sommer  des  Jahres  1209  brach  das  Heer  der  Kreuz- 
fahrer, alles  auf  seinem  Wege  verwüstend,  in  Südfrankreich 
ein.  Am  22.  Juli  stand  es  unter  den  Mauern  von  Beziers. 
Herzöge,  Barone  und  geistliche  Fürsten  aus  Nordfrankreich 
führten  es  an.  Sogar  der  Erzbischof  von  Bordeaux  und  der 
Bischof  aus  Cardinais  Heimatstadt  stießen  zum  Heer.  Beziers, 
von  Katharern  und  Katholiken  heldenmütig  verteidigt,  wurde 
im  Sturm  genommen,  und  viel  tausend  Menschen,  Ketzer  und 
Rechtgläubige,  wurden  unterschiedslos  hingeschlachtet.  Der 
junge  Schutzherr  von  Beziers,  Vizegraf  Raimund  Roger  IL, 
hatte  sich  indessen  mit  seinen  tapfersten  Rittern  in  Carcas- 
sonne  zur  Verteidigung  eingerichtet.  Am  1.  August  begann 
die  Belagerung  dieses  zweiten  Bollwerks  der  Albigenser.  In  der 
Hoffnung,  sein  Volk  vor  weiterem  Unglück  zu  bewahren,  ließ 
Raimund  sich  durch  falsche  Versprechungen  zur  Übergabe  be- 
reden. Man  versprach  ihm  die  Freiheit,  warf  ihn  aber,  als 
man  ihn  hatte,  in  das  Verlies  seiner  eigenen  Burg  in  Carcas- 
sonne  und  schaffte  ihn  meuchlings,  vielleicht  durch  Gift,  aus 
der  Welt  (10.  November  1209).  Mag  sein,  daß  der  Anstifter 
dieser  Scheußlichkeiten  der  englische  Graf  von  Leicester,  Simon 
von  Montfort,  gewesen  ist.  Wenigstens  war  er  schamlos  und 
habsüchtig  genug,  um  sich  von  dem  geistlichen  Führer  des 
Kreuzzugs,  dem  Abt  Arnauld  Amalric  von  Citeaux,  die  Städte 
und  Länder  des  verratenen  und  gemeuchelten  Vizegrafen  zum 
Lehen  übertragen  zu  lassen.  Die  französischen  Großen,  der 
Herzog  von  Burgund  und  die  Grafen  von  Nevers  und  St.  Paul, 
hatten  sich  geweigert,  mit  so  schnödem  Erwerb  ihre  Ehre  zu 
besudeln.  Der  von  Montfort  aber  wurde  fortan  der  militärische 
und  politische  Führer  dieses  brutalen  Krieges,  von  dem  er 
sich  ebensoviel  für  seine  Herrschsucht  wie  für  sein  Seelenheil 
versprach:  ein  Fürstentum  in  Südfrankreich  und  einen  Platz 
im  Paradies.  Gegen  ihn,  meint  Fabre,^)  richte  sich,  zunächst 
noch   versteckterweise,    das    folgende   Rügelied   Cardinais,    das 


^)  Annales  du  Midi  XXI,  S.  8,  Anmerkung. 


I 


90  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

demnach  das  erste  wäre,  das  auf  den  Albigenserkrieg  Bezug 
nimmt  und  Ende  des  Jahres  1209  gedichtet  sein  könnte.  Leider 
kann  ich  es  nur  in  der  metrisch  und  sprachlich  verwahrlosten 
Gestalt,  in  der  Raynouard  und  Mahn  es  mitgeteilt  haben,  hier- 
herstellen. 

L'arcivesques  de  Narbona 

ni'l  reis  non  an  tan  de  sen, 
que  de  malvaisa  persona 
puescon  far  home  valen. 
Dar  pot  hom  aur  et  argen 
e  draps  e  vi  et  anona; 
mas  lo  belh  ensenhamen 
a  seih  a  qui  Dieus  lo  dona. 

Quar,  ab  renda  gran  e  bona, 
sai  ieu  un  caitiu  dolen 
que  non  fai  condutz,  ni  dona 
ni  somo  ni  acuelh  gen; 
mal  conquier,  e  pietz  despen ; 
e  si*l  donavatz  Bayona, 
non  despendria'l  renden, 
si  cum  valors  o  faissona. 

Valors  vol  que  hom  somona 
e  meta  e  gast'e  prezen; 
et  a  una  companhona, 
Caritat,  que  Po  cossen; 
e  lai  on  Valors  s'erapren 
6  Caritatz  esperona, 
Malvestatz  es  per  nien, 
quant  ab  ellas  se  tensona. 

Tals  a  sus  el  cap  Corona 
e  porta  blanc  vestimen, 
qu'il  voluntatz  es  fellona, 
cum  de  lop  o  de  serpen, 
e  qui  tolh  ni  trais  ni  men 
ni  auci  ni  empoizona: 


Peire  Cardinal  *  Ol 

ad  aquo  es  ben  parven 
quals  volers  y  abotona. 

Ar  diran  que  ieu  despona 
mon  sirventes  a  la  gen, 
quais  qu'ieu  ai  lengua  bretona, 
que  negus  hom  no  m'eiiten; 
pro  m'entendran  li  entenden, 
et  a  l'autra  gen  bricona 
chantarai  dels  filhs  N' Arsen  ^) 
e  de  Bueves  d'Antona. 

De  traitor  sobresaben 
dezir,  que  tals  lo  somona, 
que'lh  do  d'atretal  pimen 
com  elh  als  autres  dona.*) 

Der  zu  Anfang  genannte  Erzbischof  von  Narbonne  war 
damals  vermutlich  noch  Berengar  II;  mit  dem  König  könnte 
Philipp  August  von  Frankreich  gemeint  sein.  Diese  beiden 
Fürsten  suchten,  soviel  w^ir  wissen,  auf  den  Eifer  der  Kreuz- 
fahrer zunächst  noch  mäßigend  zu  wirken.  Die  Deutung  und 
Datierung  Fabres  hätte  demnach  manches  für  sich,  wenn  nur 
die  vierte  Strophe  nicht  wäre.  Diese  kann  sich  schwerlich 
auf  Simon  von  Montfort  beziehen,  denn  Krone  und  weißes 
Fürstenkleid  kommen  Kaisern  und  Königen,  aber  keinem  Grafen 
zu.^)  Die  Schwierigkeit  ließe  sich  zur  Not  durch  die  An- 
nahme  beheben,   daß  der  Dichter  eine  höhnische  Anspielung 

*)  Wer  N'Arsen  sein  soll,  weiß  ich  nicht.  Vielleicht  ist  N'Aimen 
{=  Aimon)  zu  lesen.  A.  Pillet  vermutet  Hersent,  Isengrins  Frau,  dahinter 
und  glaubt,  es  handle  sich  dann  um  jene  bekannte  Episode  des  Roman 
de  Renart,  wo  die  kleinen  Wölfe  ihrem  Vater  den  Ehebruch  Hersents  mit 
Renart  anzeigen.  Anspielungen  auf  das  Tierepos  sind  ja  bei  Cardinal 
nicht  selten. 

2)  Nr.  29  (Lex.  rom.,  S.  438  und  Mahn,  Werke  II,  S.  226). 

^)  „Statt  der  Krone  trugen  die  übrigen  Fürsten  einen  Hut,  den  zu- 
weilen noch  ein  Kranz  umschlang"  (Jakob  Grimm,  Deutsche  Rechtsalter- 
tümer, 4.  Ausgabe,  Leipzig  1899,  I.  Bd.,  S.  335).  Höchstens  eine  Zinken- 
krone oder  eine  kranzartige  Umwindung  der  Stirne  konnte  von  bedeu- 


I 


92  '6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

auf  Simons  ehrgeizige  Pläne  im  Sinne  hatte  und  mit  der  vierten 
Strophe  ihn  als  einen  König  in  spe  hinstellen  und  treffen  wollte. 
Mit  Rücksicht  auf  die  fünfte  Strophe,  besonders  auf  die  Worte 
pro  m'entendran  li  cntenden  möchte  ich  ein  solches  Versteck- 
spiel nicht  für  völlig  ausgeschlossen  halten.  Natürlicher  und 
vt^ahrscheinlicher  aber  bleibt  es,  an  einen  Kaiser  oder  König 
zu  denken,  den  ich  freilich-  mit  Sicherheit  nicht  zu  identifi- 
zieren vermag.  Vielleicht  ist  König  Johann  von  England 
(t  1216)  gemeint,  der  im  Jahre  1203  seinen  Neffen  Artur  ver- 
räterischerweise gemeuchelt  hat.  Am  Ende  kommt  man  der 
Wahrheit  am  nächsten,  wenn  man  den  Schwerpunkt  des  Liedes 
weniger  in  besonderen  politischen  und  persönlichen  Absichten 
sieht  als  in  der  literarischen  Kunstübung,  die  sich  ohne  tiefere 
Erlebnisse  an  einem  allgemein  moralischen  Thema  betätigen 
wollte.  Das  Vorbild  war,  wie  schon  oben  erwähnt  wurde,  das 
Sirventes  des  Girant  von  Bornelh  Tals  gen  prezicTt  e  sermona. 
Die  Reime  sind  dieselben,  das  Versmaß  könnte,  mittelst  einiger 
Korrekturen,  ebenfalls  auf  das  gleiche  Schema  gebracht  werden. 
Sogar  Gedanke  und  Stil  berühren  sich  mehrfach.  Da  in  Gi- 
rauts  Lied  das  immer  wiederkehrende  tals,  das  unserem  Car- 
dinal wohl  noch  im  Ohre  lag,  den  allgemeinen  Sinn  von 
„mancher*  hat,  so  möchte  ich  der  von  A.  Pillet  in  einer  brief- 
lichen Mitteilung  vorgeschlagenen  Deutung  den  Vorzug  geben, 
Corona  mit  „Tonsur"  übersetzen  und  auch  das  weiße  Kleid 
auf  Geistliche  oder  Mönche,  und  zwar  eher  auf  den  ganzen 
Stand  als  auf  eine  bestimmte  Persönlichkeit  beziehen.  Damit 
würde  die  obige  Datierung  hinfällig,  und  wenn  das  Lied  nach 
1212  gedichtet  wäre,  so  hätten  wir  in  dem  Erzbischof  von 
Narbonne  den  grimmigsten  Feind  der  südfranzösischen  Sache, 
Arnauld  Amalric,  zu  sehen.  Auch  der  König  von  Frankreich 
wäre  von  diesem  Zeitpunkte  ab  zu  den  Feinden  zu  zählen, 
und  der  ironische  Geschmack  der  ersten  Strophe  würde  noch 
bitterer.     Man  sieht,  der  Deutungsmöglichkeiten  sind  so  viele, 


tenden  Männern,   welche  Vasallen   unter  sich  hatten,  getragen  werden 
(H.  Weiß,  Kostümkunde,  Stuttgart  1862,  I,  S.  599). 


Peire  Cardinal  93 

daß   keine  Entscheidnng   getroffen   werden    kann,   solange  der 
Wortlaut  des  Textes  nicht  kritisch  gesichert  ist. 

Etwas  besser  steht  es  um  das  Sirventes  Vafar  del  cmnte 
Guio  (Nr.  28).  Die  politische  und  militärische  Lage  hat  sich 
geändert.  Der  Glaubenskrieg  wälzt  sich  auf  Toulouse  zu,  ob- 
gleich Graf  Raimund,  geängstigt  durch  die  Metzeleien  von 
Beziers  und  Carcassonne,  immer  wieder  seine  Unterwerfung  an- 
bietet und  sich  sogar  persönlich  vor  dem  Heiligen  Vater  in 
Rom  zu  rechtfertigen  sucht.  Der  Abt  Arnauld  und  der  Graf 
Simon  arbeiten  auf  jede  Weise  an  seiner  Vernichtung.  Ein 
neues  Heer  von  Kreuzfahrern  wird  im  Frühjahr  1211  aufge- 
boten. Toulouse  wird  belagert,  aber  vergeblich.  Simon  von 
Montfort  hält  sich  für  den  Mißerfolg  schadlos,  indem  er  das 
umliegende  Land  verwüstet  und  die  Burgen  bricht.  Unter  der 
Führung  des  Abtes  von  Clteaux  werden  Schloß  und  Kloster 
von  Casses  zerstört  und  angebliche  Ketzer  daselbst  hingerichtet 
(1211).^)  Der  Graf  von  Toulouse  setzt  sich  kräftig  zur  Wehr. 
Aber  auch  Simon  von  Montfort  erhält  Verstärkung, ,  unter  an- 
derem durch  das  Heer,  das  sein  Bruder,  der  Graf  Gui  von 
Montfort,  ihm  zuführt.  Frühling  und  Sommer  des  Jahres  1212 
gehen  die  Gewalttätigkeiten  weiter.  Schloß,  Stadt  und  Kloster 
von  Saint  Antonin  de  Fredelas  werden  am  6.  Mai  von  den 
Kreuzfahrern  eingenommen  und  geplündert,  wobei  man  selbst 
die  Mönche  nicht  verschont.^)  Die  Stadt  Moissac,  seit  14.  August 
belagert,  fällt  am  8.  September.^)  Daß  bei  der  Einnahme 
auch  die  dortige  Abtei  der  Plünderung  anheimgefallen  ist, 
geht  aus  einem  Brief  des  Abtes  an  Philipp  August  hervor. 
„Postea  vero  cruce  signati  omnia  dissiparunt,  que  intus  erant 
vel  extra,  ita  quod  nuUam  potestatem  habemus  ante  sublimi- 
tatem  vestram  veniendi,  et  ideo  pietati  vestre  lacrimabiliter 
preces  fundimus,  ut  divine  pietatis  intuitu  domui  nostre  et 
ville  subvenire  dignemini,  quoniam  nisi  modo  subveniatis,  de- 
solabimur  omnino",  klagt  der  geistliche  Herr.*)     Allenthalben 

ij  Histoire  generale  de  Languedoc  (neue  Ausg.)  VI,  S.  367. 
.2)  Ebenda,  S.  386. 

3)  P.  Meyer,  Chanson  de  la  Croisade  II,  S.  136,  Anra.  3  u.  139,  Anm.  1. 
*)  Histoire  generale  de  Languedoc  VIII,  Sp.  635  f. 


I 


Ö4  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

sah  man  Prälaten  und  Abte  zu  Roß  als  Heerführer  und  Mönche 
und  Priester  als  Soldaten.  Der  Abt  von  Citeaux  selbst,  der 
fanatische  Arnauld,  hatte  sich  im  März  1212  mitsamt  der 
Würde  des  Erzbischofs  von  Narbonne  den  weltlichen  und  krie- 
gerischen Rang  eines  Herzogs  zugelegt.  Unter  dem  Eindruck 
dieser  und  ähnlicher  Ereignisse  und  Zustände  dichtet  Cardinal 
nach  Metrum  und  Reim  eines  tändelnden  Liebesgesanges  des 
Raimbaut  von  Vaqueiras,*)  ein  Rügelied.*) 

L'afar  del  comte  Guio 
e  della  guerra  del  rey 
e  de  Mausac  lo  barrey 
ai  ben  auzit  cossi  fo; 
mas  encaras  non  aug  dire 
perque  nostre  senescalcs, 
que  tant  es  pros  e  cabals, 
laissa  los  morgues  aucire. 
De  San  ChafPre'*)  ar  m'en  gic, 
car  dreitz  no  i  troba  abric 
ab  los  laicx  ni  ab  los  clers, 
aissi'ls  encaussa  poders.*) 

Poders  a  tout  la  maizo 
de  Camalieiras,  ses  drey; 
8*1  monestier  de  Casey 


don  Tabbas  es  en  cossire*) 
8*1  covens,^)  car  deslials 
los  gieta  de  lurs  ostals 
ses  razon  que  n^es  a  dire; 


^)  Otterra  ni  plag  »o'm  so  ho  (392,  18,  gedruckt  nach  G  im  Archiv 
für  das  Studium  der  neueren  Sprachen  32,  S.  401). 

'^)  Ich  gebe  den  Text  nach  C,  M  und  K  die  bei  Mahn,  Ged. 
972  und  1227  abgedruckt  sind,  berücksichtige  aber  nur  die  wichtigeren] 
Sinnvarianten.    B  hat  abweichende  Strophenfolge:  V.,  I.,  IL,  III.,  IV. 

^)  santafre  C  san  iaufrei  M  san  iacme  R.    Da&  es  sich  tatsächlich] 
um  S.  Chaffre  handelt,  wird  man  bald  sehen.  *)  avers  C  und  M. 

*)  don  son  en  fort  gran  cossire  M.  •)  li  convers  M. 


Peire  Cardinal  95 

qu'anc,  pus  Santz  Chaffres^)  moric, 
hom  tan  lag  non  envazic 
lo  monestier  ni '  1  dezers. 
Guardatz  si's  a  Dieu  plazers. 

En  luec  de  processio, 
iran  serrat  et  estrey, 
armat  al  caut  et  al  frey, 
trompan,  en  luec  de  trinhon. 
Mas  feunia^)  m'en  fai  rire, 
car  la  maynada  reals 
degra  ben  esser  aitals 
que'l  tolgues  aquel  martire. 
Car  qui^)  non  ten  drey  del  ric, 
ia  no*l  tengna  del  mendic, 
que  dreitz  non  es  mais  volers, 
car  l'entorssezis  avers.*) 

Trabuc(?)ni  gran  capairo^) 
non  valran  ni  lait  a  pley,**) 
ni*l  regia  Saynt  Benezey, 
mas  ausberc  e  gambaizo; 
e  silh  que  solion  dire 
las  pistolas  e  *  Is  missals 
trairan  peiras  reversals, 
e  lai  ont  eron  sanctire'') 
trevaran^)  raassas  e  pic, 
e  qui  anc  se  revestic, 


^)  sanctafres  C  santz  iaufrei  M  sant  Chastes  B. 

2)  maluestat  B.  ^)  ni  C. 

*)  can  lo  cortezis  auers  M  can  lo  tortoris  auers  B. 

^)  Rauba  ni  gran  capiron  M,  Trabuc  e  gran  gambairon  B.  Ob  tra- 
buc  ein  Kleidungsstück  des  Geistlichen  bezeichnen  kann?  Vgl.  en  luoc 
d'ausberc  fai  camis'aredar,  en  luoc  cVehn  fai  capiron  fresar  bei  Sordello 
(Bertoni-Jeanroy,  Un  duel  poetique  au  XIII  e  s.  Toulouse  1916,  S.  17). 

6)  lait  a  pley  ist  mir  unverständlich. 

'^)  on  solian  lire  M  on  dizol  sauteri  jR.  Sanctire  für  sanctuari  ist 
freilich  auffallend.  ^}  troveran  M. 


I 


96  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

esti'armatz  et  aders, 

si  vol  esser  morgues  vers. 

Encaras  sera  *  1  sazo 
que'l  segle  non  aura  ley 
e  clerc  iran  a  torney 
e  femnas  faran  sermo, 
et  hom  non  aura  que  frire, 
si  non  es  fort  deslials, 
e  qui  er  tracher  ni  fals, 
s'er  a  mayestre  assire, 
e  quan  Dieu  s'aura  amic, 
non  trobara  on  si  fic. 
E  si  er  lo  mons  aders 
que  per  tot  er  non-devers. 

Nostre  clerge  solon  dire 

que  raubar  autrui  ostals 

era  peccatz  criminals, 

et  il  an  raubat  San  Gire!^) 

e  dizon  en  lur  prezic  I 

que  hom  am  son  enemic,  i 

mas  ar  nos  mostra  vezers 

qu'en  lor  es  autre  volers. 

Von  dem  Tun  des  Grafen  Veit,^) 

von  des  Königs  Aufgebot 

und  von  Moissacs  Fall  und  Not 

hört'  ich  die  Begebenheit. 

Niemand  aber  kann  mir  sagen, 

warum  unser  Seneschalk, 

der  doch  mächtig  ist  und  stark, 

Mönche  läßt  getrost  erschlagen. 

Von  Sankt  Theofred  seid  still, 

der  das  Recht  nicht  schützen  will, 


1)  sanctire  G  santgili  JB. 

2)  Gui  von  Montfort. 


Peire  Cardinal  97 

nicht  bei  Lai'n  noch  Geistlichkeit, 
die  von  Kriegsmacht  so  bedräut. 

Kriegsmacht  hat  in  Chamalieres 
ohne  Recht  das  Haus  besetzt; 
übers  Kloster  von  Casses 
[fallen  wilde  Horden  her], 
dessen  Abt  und  Brüder  trauern, 
weil  sie  ein  verrät'scher  Hund^) 
ohne  den  geringsten  Grund 
fortjagt  aus  den  eignen  Mauern. 
Seit  Sankt  Theofred  ist  tot, 
hat  kein  solcher  Schuft  bedroht 
die  Abtei  und  sie  zerstört. 
Seht,  ob  das  nicht  Gott  empört. 

Statt  in  frommer  Prozession 
zieh'n  sie  nun  in  strammer  Schar 
waffenstark  das  ganze  Jahr; 
statt  der  Glock'  Trompetenton! 
Und  ich  bin  so  bös  und  lache, 
daß  des  Königs  Kriegerschaft 
nicht  einmal  hat  soviel  Kraft, 
selbst  zu  tun  die  schwere  Sache. 
Ehrt  man  nicht  des  Herren  Brauch, 
wozu  den  des  Bettlers  auch?^) 
Rechten  Sinn  gibt's  doch  nicht  mehr, 
Habsucht  kommt  ihm  in  die  Quer. 

Priesterrock  ^)  und  Mönchskapuz 
und  die  Regel  Benedikts 
gelten  heutzutaofe  nichts. 
Panzer  nur  und  Wams  sind  nutz. 


^)  Gemeint  ist  Arnauld  Amalric  von  Citeaiix. 

2)  Mit  d>ey  del.ric  dürfte  hier  Pflicht  und  Recht  zugleich  gemeint 
sein,  da  unmittelbar  vorher  von  der  Wehrhaftigkeit  die  Rede  war. 
^)  Der  provenzalische  Text  scheint  hier  verdorben  zu  sein. 
Sitzgsb.  d.  philos.-pbilol.  u.  d.  bist.  Kl.  Jahrg.  1916,  6.  Abb.  7 


I 


98  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Die,  die  einst  zu  lesen  pflegten 

in  Episteln  und  Missal, 

wälzen  Steine  nun  zu  Tal.^) 

Wo  sie  die  Reliquien  hegten, 

wird  mit  Keul'  und  Hack'  hantiert. 

Und  wer  je  ward  investiert, 

stelle  sich  bewaffnet  ein, 

will  ein  echter  Mönch  er  sein. 

Bald  kommts  dahin,  daß  die  Welt 
allen  ihren  Brauch  verdreht, 
zum  Turnier  der  Pfaffe  geht 
und  das  Weib  die  Predigt  hält 
und  daß  nichts  mehr  hat  zu  beißen, 
wer  nicht  stark  ist  im  Betrug, 
daß  Verrätern  voller  Lug 
sie  den  Stuhl  des  Meisters  weisen, 
daß  wer  seinem  Gotte  dient, 
keinen  Unterschlupf  mehr  find't. 
So  wird  alles  eingerichtet 
auf  das  Gegenteil  der  Pflicht. 

Uns're  Pfaffen  han  entschieden, 
daß  der  Raub  am  fremden  Herd 
uns  mit  Sündenlohn  beschwert: 
sie  beraubten  Sankt  Egiden. 
Und  ihr  Wort  und  Predigt  meint, 
man  soll  lieben  seinen  Feind: 
uns  belehrt  der  Augenschein, 
daß  sie  andern  Willens  sein. 

Das  Gedicht  wird  uns  noch  frischer  und  gegenständlicher, 
wenn  wir  nach  der  Geschichte  des  heiligen  Theofred  fragen.*) 

0  Über  peiras  re Versals  siehe  Levy,  Supplement-Wörterbuch  unter 
reversals.  Die  Steine  wurden  von  den  Zinnen  der  Stadt  auf  die  Sturm- 
truppen geworfen. 

2)  Näheres  in  den  Acta  Sanctorum.  Bolland.  (1853)  Octob.  VIII, 
S.  515-26. 


Peire  Cardinal  99 

Theofredus  von  Orange,  vulgo  Saint  CliaiFre,  war  Abt  von 
Cam^ry,  in  der  unmittelbaren  Nähe  von  "Cardinais  Geburtsort.^) 
Er  lebte  zu  Anfang  des  8.  Jahrhunderts  und  starb,  wahr- 
scheinlich im  Jahre  732,  den  Märtjrertod.  Die  Legende  er- 
zählt, er  habe,  als  die  Sarazenen  ins  Land  fielen,  das  Schicksal 
seines  Klosters  prophetisch  geahnt  und  habe  gerade  noch  recht- 
zeitig seine  Mönche  veranlaßt,  sich  im  Wald  zu  verbergen. 
Er  allein  blieb  zurück  und  warf  sich  betend  vor  dem  Altar 
des  heiligen  Petrus  nieder.  Die  Heiden  brachen  in  die  Kirche 
ein  und,  da  sie  nur  ihn  dort  fanden,  mißhandelten  sie  ihn, 
fragten  ihn  nach  dem  Verbleib  der  anderen  und  schlugen  ihn, 
weil  er  die  Auskunft  verweigerte,  halb  tot.  Dann  hielten  sie, 
da  gerade  ein  Festtag  für  sie  war,  einen  heidnischen  Gottes- 
dienst ab.  Der  Abt  raffte  all  seine  Kraft  zusammen  und  wet- 
terte gegen  den  Kult  der  Ungläubigen,  bis  ein  Stein  ihm  den 
Schädel  zerbrach.  Daraufhin  Erdbeben  und  fürchterliches  Ge- 
witter, so  daß  die  Kirchenschänder,  soweit  sie  nicht  umkamen, 
entsetzt  davonliefen.  Die  zurückkehrenden  Mönche  finden  ihren 
schwerverwundeten  Abt,  der  nach  erbaulichen  Worten  und 
Mahnungen  seinen  Geist  aufgibt.  —  Von  der  großen  Abtei 
dieses  heiligen  Theofred  war  nun  das  Egidius-Kloster  in  Cha- 
malieres  bei  Le  Pay  unmittelbar  abhängig  als  eines  der  ersten 
und  wichtigsten  Priorate.  Was  Wunder,  wenn  der  Dichter  es 
dem  Schutzheiligen  übelnimmt,  daß  er  versäumt  hat,  die  Seinigen 
gegen  die  gewalttätigen  Übergriffe  der  nordfranzösischen  Kreuz- 
zügler  zu  sichern.^)  Man  muß  wohl  annehmen,  daß  die  Plün- 
derung von  Chamalieres,  von  der  wir  sonst  nichts  wissen,  etwa 
zu  gleicher  Zeit,    wie   die    von  Moissac,    also   im   Jahre   1212 

1)  Camei-y  liegt  21  km  von  Le  Puj  entfernt. 

2)  Aus  dem  von  Ulisse  Chevalier  herausgegebenen  Cartulaire  de 
l'abbaye  de  St.  Chaffre  du  Monastier,  Montbeliard-Paris  1884  (Collection 
des  Cartul.  Dauphinois  VIII.)  geht  hervor,  daß  in  den  Jahren  1212  und 
1213  Pierre  lll.  Gaudin  Abt  zu  Camery  und  Raimond  de  Mercoeur  Prior 
zu  Chamalieres  waren.  Im  übrigen  geschieht  der  Plünderung  von  Cha- 
malieres durch  die  Kreuzfahrer  dort  keine  Erwähnung.  Unzugänglich 
waren  mir  leider  H.  Fraisse,  Cartularium  conventus  St'  Egidii,  Le  Puy 
1871  und  Theilliere,  fitudes  sur  le  Cartulaire  de  Chamalieres,  Le  Puy  1876. 


I 


100  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

erfolgt  ist.  Wer  nun  mit  „unserem  Seneschalk"  gemeint 
ist,  der  die  Ermordung  der  Mönche  hätte  verhindern  bzw. 
gerichtlich  ahnden  sollen,  ist  schwer  zu  sagen.  „Seneschall" 
hießen  im  Languedoc  sowohl  die  obersten  Heerführer  der 
großen  Lehensfürsten ,  als  auch  ihre  ersten  Gerichts-  und 
Verwaltungsbeamten,  die  man  im  Norden  als  bailli  bezeichnete. 
Die  Äbte  und  Bischöfe  hatten  ebenfalls  ihren  Seneschall,^)  und 
es  ist  nicht  auszumachen,  ob  es  sich  hier  um  den  Vertreter 
des  Grafen  von  Toulouse,  um  den  der  geschädigten  Abteien 
oder,  was  vielleicht  das  wahrscheinlichste  ist,  um  den  des 
Königs  von  Frankreich  handelt.  Denn  über  die  maynada  real 
vor  allem  beklagt  sich  der  Dichter.  Nun  hat  ja,  wie  man 
weiß,  trotz  der  Einladung  des  Papstes,  Philipp  August  sich 
am  Albigenserkreuzzug  nicht  unmittelbar  beteiligt.  Zunächst 
empfahl  er  Mäßigung  und  trat  eine  Zeitlang  sogar  für  Raimund 
von  Toulouse  ein.  Andererseits  hat  er  schon  im  Mai  1208 
den  Rittern  des  Herzogs  von  Burgund  die  Erlaubnis  zur  Be- 
teiligung am  Kreuzzug  erteilt,^)  und  es  ist  natürlich,  daß  in 
den  Augen  eines  geborenen  Südfranzosen  die  ganzen  Kriegs- 
heere der  Nordländer  als  Mannen  des  Königs  galten.  Tat- 
sächlich betrachtete  und  behandelte  der  König  den  Simon  von 
Montfort  als  seinen  Beamten  und  Untergebenen.^) 

Zunächst  aber,  d.  h.  in  den  Jahren  1212  bis  1214  nocl 
mußte  Philipp  August  seine  Kräfte  gegen  England  und  Deutschi 
land  zusammenhalten.  König  Johann  und  Kaiser  Otto  IVJ 
hatten  sich  gegen  ihn  verbündet.  Demgegenüber  stützte  e| 
sich  auf  den  Papst  und  dessen  Günstling,  den  jungen  Friedi 
rieh  von  Hohenstaufen.  Wahrscheinlich  stammt  der  Gedankt 
Friedrich  als  deutschen  Gegenkönig  aufzustellen,  von  Philip] 
August.*)     Er  hat  ihn  dem  Papste  sowohl  wie  den  deutschei 

1)  Siehe  A.  Luchaire,   Manuel   des  institutions   fran9,     Paris  1895 
§§  29,  48,  142,  281,  298. 

2)  Histoire  generale  de  Languedoc  VIII  (1879),  Nr.  142,  Sp.  563  f. 

3)  A.  Luchaire,  in  Lavisse,  Histoire  de  France  III,  1,  S.  277. 
*)  Scheffer-Boichorst,  Deutschland  und  Philipp  II.  Aug.  von  Franl 

reich,  in  den  Forschungen  zur  deutschen  Geschichte,  Band  VIII,  Göttin^ 
gen  1868,  S.  532f. 


Peire  Cardinal  101 

Fürsten  empfohlen,  um  die  mißliebige  Macht  des  Braunschweigers 
zu  brechen.  Im  Sommer  1212  macht  sich  nun  Friedrich  von 
Sizilien  aus  auf  den  Weg  nach  Deutschland.  Ende  September 
reitet  der  puer  Äpuliae,  wie  ihn  die  Romanen,  bald  höhnend, 
bald  schmeichelnd  genannt  haben,  in  Basel  ein.  Im  November 
begibt  er  sich  nach  Toul  und  vereinbart  sich  mit  dem  fran> 
zösischen  Thronfolger  Ludwig.  Französische  Sendlinge  wirken 
mit  Geld  und  mit  Worten  für  ihn  in  Deutschland,  und  im 
Dezember  wird  er  auf  dem  Fürstentag  zu  Frankfurt  in  Gegen- 
wart der  päpstlichen  Legaten  und  der  französischen  Gesandten 
zum  „römischen  König"  gewählt  und  wenige  Tage  darauf  in 
Mainz  gekrönt  (9.  Dezember  1212).  Damit  ist  Friedrichs  Er- 
folg in  der  Hauptsache  schon  entschieden.  Otto  hat  nur  in 
Sachsen  und  am  Niederrhein  noch  Geltung;  alle  anderen  Länder 
und  Fürsten  Deutschlands  haben  sich  auf  die  Krönung  hin 
für  Friedrich  entschieden.^)  Unser  Cardinal  steht  als  Süd- 
franzose selbstverständlich  auf  der  Seite  der  Engländer  und 
des  Kaisers  und  ist  ein  Gegner  der  französisch-päpstlich-staufi- 
schen  Koalition.  Wahrscheinlich  gegen  Ende  des  Jahres  1212 
hat  er  auf  diese  großen  europäischen  Verwicklungen  das  fol- 
gende Lied  gedichtet. 

Per  folhs  tenc   Polles   e  Lombartz 
e  Longobartz  et  Alamans, 
si  Volon  Frances  ni  Picartz 
a  senhors  ni  a  drogomans; 

quar  murtriers  a  tort 

tenon  a  deport; 

et  ieu  non  laus  rey 

que  non  guarde  ley. 

Et  aura  *  1  ops  bos  estandartz 
e  que  fieira  mielhs  que  Rotlans, 
e  que  sapcha  mais  que  Raynartz, 
et  aia  mais  que  Corbarans; 


^)  Näheres  bei  Ed.  Winkelmann,  Philipp  von  Schwaben  u.  Otto  IV. 
von  Braunschweig,  II,  Leipzig  1878,  S.  251  ff.,  313,  331  ff. 


I 


102  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

et  tema  meins  mort 
que'l  coms  de  Monfort 
qui  vol  qu'a  barrey 
lo  mons  li  sopley. 

Mas  sabetz  quals  sera  sa  partz 
de  las  guerras  e  dels  mazans? 
Los  critz,  las  paors  e  *  Is  reguartz 
que  aura  fagz,  e  *  1  dol  e  *  1  dans 
seran  sieu  per  sort. 
D'aitan  lo  conort, 
qu'ab  aital  charrey 
venra  del  torney. 

Ben  petit  val  tos  gieiis  ni  t'artz, 
si  pertz  l'arma  per  tos  efans; 
per  Fautruy  carbonada  t'artz, 
e  Fautruy  repaus  t'es  afans; 
pueys  vas  a  tal  port 
on  cre  que  quecx  port 
l'enguan  e  *  1  trafey 
e  •  Is  tortz  faitz  que  fey. 

Anc  Carles  Martel  ni  Girartz 
ni  Marsilis  ni  Aigolans 
ni*l  rey  Gormons  ni  Yzombartz 
non  aucizeron  homes  tans 
que  n'aion  estort 
lo  valen  d'un  ort; 
ni  non  lur  envey 
thezaur  ni  arney. 

Non  cug  qu'a  la  mort 
negus  plus  enport 
aver  ni  arney, 
mas  los  faitz  que  fey.^) 


M  Nr.  40  (Rayn.  Choix  IV,  S.  345 flp.,  Parn.  occ.  S.  310  ff.  und  Mahn, 
Werkeil,  S.  194 f.). 


Peire  Cardinal  103 

Verrückt  Apulier  und  Lombard 
und  Langobard  und  Alemann, 
wenn  sie  Franzosen  und  Pikard 
zu  Herren  woll'n  und  Drogoman. 

Denn  an  Mördern  Spaß 

finden  hieße  das. 

König,  der  kein  Recht 

achtet,  gilt  mir  schlecht. 

Ein  gutes  Banner  brauchte  man, 
und  Rolands  Stärke  reichte  nicht, 
und  Reineke  war'  noch  zu  schlicht, 
und  reich  genug  kein  Corbaran,^) 

Montforts  Todesmut 

war'  noch  dem  zu  klein, 

der  durch  Kriegeswut 

Herr  der  Welt  möcht'  sein. 

Und  von  dem  Krieg  und  Schlachtgebraus, 
was  glaubt  ihr,  daß  er  hat  davon? 
Das  Weh,  der  Schrecken  und  der  Graus 
und  all  das  Elend,  ist  sein  Lohn, 

das  er  uns  gebracht. 

Mag  er  mit  der  Fracht  — 

des  getrost'  ich  ihn  — 

aus  dem  Kampfe  zieh'n. 

Was  hilft  dein  Kunst  dir  und  Verstand, 
wenn  für  dein  Kind  du  Gott  verfehlst, 
für  and'rer  Braten  wirst  verbrannt, 
um  and'rer  Ruhe  dich  verquälst? 

Schließlich  mußt  du  fort. 

Jeden  zwingt  der  Ort, 

wo  man  den  Verrat 

hinträgt,  den  man  tat. 


^)  Vielleicht  ist  der  König  Corbarant  von  Oliferne  gemeint,  der  in 
den  nordfranzösisehen   Kreuzzugsepen    vorkommt  (Nachweise  bei  Lang- 


104  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

y 

Kein  Karl  Martell  und  kein  Girarfc, 
Marsilius  nicht,  noch  Agolant,^) 
und  Gormon  nicht,  noch  Isembart, 
soviel  dem  Tod  er  Opfer  sandt', 

hat  auch  einen  Deut 

sich  damit  erbeut't. 

Air  ihr  Herrlichkeit 

weckt  nicht  meinen  Neid. 

Keiner,  glaube  ich, 
nimmt  im  Tod  mit  sich 
Habe  oder  Macht  — 
nur  was  er  vollbracht. 

Schon  Diez  hat  die  Gelegenheit,  aus  der  das  Lied  hervor- 
gegangen sein  mag,  richtig  erkannt.  Es  läßt  sich,  sagt  er, 
„füglich  auf  das  Bündnis  deuten,  das  der  junge  Friedrich, 
Herr  von  Sizilien,  mit  Philipp  August  gegen  Otto  IV.  ein- 
ging; anstatt  Friedrichs  werden  seine  Untertanen,  die  Apulier, 
genannt,  und  die  Lombarden  und  Deutschen,  unter  welchen 
er  eine  starke  Partei  hatte,  daneben  gestellt;  seltsam  aber  ist 
es,  daß  der  Dichter  zwischen  Lombarden  und  Longobarden 
einen  Unterschied  macht ".^)  Bezeichnend  für  die  Art  unseres 
Trobadors  ist  es  auch,  wie  er  die  besondere  politische  Lage 
alsbald  verläßt,  um  sich  zu  allgemeinerer  Betrachtung  zu  er- 
heben. Man  kann  daher  mit  Bestimmtheit  gar  nicht  erkennen, 
ob  die  Mahnungen,  die  auf  die  Eingangsstrophe  folgen,  sich 
gegen  Philipp  August  oder  nicht  vielmehr  gegen  alle  Er- 
oberer richten. 

Zu  Beginn  des  Jahres  1213  nahm  der  Sohn  des  französi- 
schen Königs  das  Kreuz  gegen  die  Albigenser.    Der  Vater  ließ 

lois,  Table  des  noms  propres  .  .  .  compris  dans  les  chansons  de  geste,  Paris 
1904),  vielleicht  der  berüchtigte  spanische  Bandenführer  Courbaran,  der 
im  Jahre  1183  bei  Milhau  gefangen  und  hingerichtet  wurde  und  dessen 
Haupt  man  nach  Le  Puy  brachte,  so  daß  Cardinal  wohl  von  ihm  wissen 
konnte.    Vgl.  Luchaire,  La  societe  fran9.  S.  17. 

^)  Sarazenenfürst  aus  dem  Epos  Aspremont, 

2)  Leben  und  Werke  der  Troub.  S.  263  ff. 


Peire  Cardinal  Ivü 

es,  wahrscheinlich  um  seinen  Bischöfen  und  dem  Papst  gefällig 
zu  sein,  geschehen,  ließ  aber  dem  Gelübde  erst  zwei  Jahre 
später,  nachdem  im  Norden,  bei  Bouvines  (Juli  1214)  die  Koa- 
lition besiegt  war,  die  Tat  folgen.  Jedenfalls  konnte  der 
schwer  bedrängte  Graf  von  Toulouse  schon  seit  1211  nicht 
mehr  auf  Philipp  Augusts  Hilfe  rechnen.  Dafür  erwuchs  ihm 
in  König  Peter  II.  von  Aragon  ein  Beistand,  der  aber  in  der 
Schlacht  bei  Muret  am  12.  September  1213  von  Simon  von 
Montfort  geschlagen  wurde  und  das  Leben  verlor.  Merk- 
würdigerweise findet  sich  über  diese  Katastrophe  kein  Wort 
in  Cardinais  Dichtung.  Fahre  möchte  das  Klagelied:  Assi  com 
hom  planh  son  filh  o  son  paire,  das  aber  keinerlei  greifbare 
Anspielung  enthält,  in  die  Tage  dieser  trüben  Erfahrungen 
setzen.^)  Die  Vermutung  hat  insofern  etwas  für  sich,  als  dieser 
Planh,  ähnlich  wie  das  eben  besprochene  Lied,  dem  Bertran 
von  Born  nachgeahmt  ist. 

Ansprechend  ist  auch,  wenn  gleich  nicht  völlig  sicher, 
die  von  Diez  vorgetragene  Meinung,  daß  Cardinal  mit  seinem 
Sirventes  Barons  es  qu'ieti  m'esbaudei  (Nr.  48)  sich  auf  ein 
Ereignis  des  Frühjahrs  1214  beziehe.  „Es  betrifft  den  Fall 
eines  großen  Verräters;  der  Dichter  nennt  ihn  nicht,  wen  aber 
sollte  er  anders  gemeint  haben,  als  Balduin  von  Toulouse,  der 
zu  Simon  von  Montfort  übertrat,  seinen  eigenen  Bruder,  den 
Grafen  Raimund,  auf  das  bitterste  bekämpfte,  endhch  in  seine 
Gewalt  geriet  und  auf  seinen  Befehl  (1214)  von  einigen  Ba- 
ronen aufgeknüpft  wurde?  Auch  ist  zu  erwägen,  daß  das 
Gedicht  im  Frühling  entstanden  ist,  in  welcher  Jahreszeit  die 
Tat  geschah."  2) 

Razos  es  qu'ieu  m'esbaudey, 
e  sia  jauzens  e  guays 
el  temps  que  fuelh'  e  flor  nays, 
et  un  sirventes  despley: 

M  Romanische  Forschungen  Bd.  23,  S.  263  tf. 

2)  a.  a.  0.  S.  457.  Das  Lied  ist  gedruckt  im  Parn.  occ.  S.  315  f., 
hei  Rayn.  Choix  IV,  S.  362  fF.,  Mahn,  Werke  II,  S.  191  f.  und  in  Studj  di 
fil.  rom.  IX,  S.  516 f. 


I 


106  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

quar  Lialtatz  a  vencut 
Falsedat,  e  non  a  guaire 
que  ieu  ai  auzit  retraire, 
q'uns  fortz  trachers  a  perdut 
son  poder  e  sa  vertut. 

Dieus  fai  e  fara  e  fey, 
si  com  es  dous  e  verays, 
dreitz  als  pros  et  als  savays, 
e  merce  segon  lor  ley: 
quar  a  la  pagua  van  tut 
l'enguanat  e  Fenguanaire, 
si  com  Abels  e  son  fraire; 
que'l  traytor  seran  destrut 
e  li  trahit  ben  vengut. 

Dieu  prec  que  trachors  barrey 
e  los  degol  e*ls  abays 
aissi  com  fes^)  los  Algays, 
quar  son  de  peior  trafey; 
mas  aisso  es  ben  sauput, 
pieger  es  tracher  que  laire. 
Atressi  com  hom  pot  faire 
de  Covers  morgue  tondut, 
fai  hom  de  trachor  pendut. 

De  lops  e  de  fedas  vey, 
que  de  las  fedas  son  mays; 
e  per  un  austor  que  nays 
son  mil  perditz,  fe  qu'us  dey: 
ad  aquo  es  conogut 
que  hom  murtriers  ni  raubaire 
no  platz  tant  a  Dieu  lo  paire, 
ni  tan  non  ama  son  frut 
com  fai  del  pobol  menut. 


*)  fes  ist  die  Lesart  von  J,  während  Rayn.  und  Mahn  fos  haben. 


Peire  Cardinal  107 


Assatz  pot  aver  arney 

e  cavals  ferrans  e  bays 

e  tors  e  murs  e  palays 

ricx  hom,  sol  que  Dieu  reney: 

doncx  ben  a  lo  sen  perdut 

totz  hom  a  cuy  es  veiaire 

que,  tollen  Fautrui  repaire, 

cuge  venir  a  salut, 

ni*l  don  Dieus,  quar  a  tolgut. 

Quar  Dieus  ten  son  arc  tendut 
e  trai  aqui  on  vol  traire, 
e  fai  lo  colp  que  deu  faire 
a  quec,  si  com  a  mergut, 
segon  vizi  e  vertut. 

Füglich  darf  frohlocken  ich, 
hochgemut  und  lustig  sein, 
jetzt  da  Blatt  und  Blut'  gedeih'n, 
und  mein  Lied  erhebe  sich: 
Denn  gesiegt  hat  treuer  Sinn, 
und  es  hat  sich  zugetragen, 
wie  ich  neulich  hörte  sagen, 
daß  die  Kraft  und  der  Gewinn 
eines  Treulosen  sind  hin. 

Gott  ist  gütig  und  ist  wahr, 
und  so  übt  er  Gnad'  und  Recht, 
je  nachdem  sie  gut  und  schlecht, 
allen  Menschen  immerdar. 
Keiner  seinem  Lohn  entgeht, 
sei's  ein  Böser,  sei's  ein  Guter, 
so  wie  Abel  und  sein  Bruder. 
Der  Verräter  untergeht, 
der  Verrat'ne  wird  erhöht. 

Gebe  Gott  der  Plünd'rung  preis, 
der  Enthauptung,  jeder  Schmach, 


I 


108  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

welche  die  Algais ^)  zerbrach, 

das  noch  schlimmere  Geschmeiß 

der  Verräter,     's  ist  ja  klar: 

lieber  Räuber  als  Verräter. 

Wie  man  Mönche  macht,  weiß  jeder, 

aus  Novizen?     Scher'  ans  Haar!  — 

Strick  dem  Hals!  der  Lügner  war. 

Wenn   ich  Wolf  und   Schafe  zähl', 
sind  der  Schafe  mehr  zu  seh'n, 
und  auf  einen  Falken  geh'n 
tausend  Hühner,  ohne  Fehl. 
Daran,  mein'  ich,  sieht  man  gut, 
wie  an  Mord-  und  Raubgesellen 
unser  Vater  nicht  die  hellen 
Freuden  hat,  noch  ihrer  Brut 
Liebes  wie  den  Kleinen  tut. 

Kleider  kriegt  ein  Herr  die  Füll', 
falbes  und  auch  graues  Roß, 
Türme,  Mauern  und  ein  Schloß, 
wenn  er  Gott  verleugnen  w^ill. 
Wahrlich  des  Verstandes  bar 
ist  der  Mensch,  der  sich  beredet, 
wenn  er  Nachbars  Haus  verödet, 
böte  sich  ihm  Segen  dar, 
Gottes  Dank  dem  Diebe  gar! 

Aber  Gott  hält  straff  gespannt, 
zielend,  treffend,  seinen  Bogen, 
tut  den  Schuß,  den  er  erwogen, 
jedem,  wie  er  ihn  befand: 
linker  oder  rechter  Hand. 


^)  Die  Algais  waren  vier  berüchtigte  Bandenführer  spanischer  Ab- 
kunft, die  in  Südfrankreich  ihr  Wesen  trieben.  Der  letzte  von  ihnen, 
Martin  Algais,  wurde  im  Jahr  1212  gehängt.  Siehe  P.  Meyer,  La  Chan- 
son de  la  Croisade  II,  S.  109  und  5.22,  Stimmings  kleine  Ausgabe  des 
Bertran  de  Born,  2.  Aufl.,  S.  182  und  H.  Carstens,  Die  Tenzonen  aus  dem 


Peire  Cardinal  109 

Die  grimmige  Freude  an  der  Bestrafung  des  Verräters 
erhält  eine  besondere  Würze  von  Übermut  und  Bosheit  noch 
dadurch,  dalä  Metrum  und  Reim  dieses  Liedes  einer  galanten 
Huldigung  nachgebildet  sind,  die  gerade  das  Frühjahr  zuvor 
der  alternde  Höfling  Raimon  von  Miraval  für  die  Gräfin  Leo- 
nore  von  Toulouse  gedichtet  hatte,^)  so  daß  in  derselben  Ton- 
art und  an  demselben  Hof,  wo  die  junge  Gattin  des  Grafen 
Raimund  verherrlicht  wurde,  nun  dessen  feindlicher  Bruder 
verhöhnt  wird. 

Die  schwersten  Schläge  haben  für  Graf  Raimund  die  Jahre 
1213  bis  1216  gebracht.  Alle  seine  Länder  und  Städte  gingen 
ihm  verloren.  Wenn  sich  der  Papst  auf  dem  lateranischen 
Konzil  im  November  1215  nicht  seiner  angenommen  hätte, 
wäre  er  an  den  Bettelstab  gekommen.  Man  kann  sich  denken, 
daß  unser  Trobador  keine  sonderliche  Lust  empfand,  alle  die 
Niederlagen,  Verluste  und  Demütigungen  seines  Gönners  im 
Liede  zu  erwähnen.  Er  zog  es  vor,  den  eigenen  Mißstand  in 
dem  der  ganzen  Welt  und  das  eigene  Unglück  hinter  der  ge- 
samten Bosheit  der  Menschen  verschwinden  zu  lassen.  Nie 
sind  wir  im  Tadel  der  anderen  so  scharf  und  in  dessen  Ver- 
allgemeinerung so  rasch,  als  wenn  es  uns  schlecht  geht.  So 
wäre  es  denn  psychologisch  nicht  unbegreiflich,  wenn  Cardinal 
die  meisten  oder  wenigstens  die  bittersten  seiner  abstrakten 
Satiren  gerade  in  jenen  Jahren  gedichtet  hätte. 

Eine  Wendung  zum  Besseren  trat  für  die  Sache  des  Grafen 
von  Toulouse  erst  dadurch  ein,  daß  die  Bürger  seiner  Stadt 
sich  gegen  Simon  von  Montfort  empörten,  die  eingedrungenen 
Kreuzfahrer  teils  niedermachten,  teils  verjagten  und  am  13.  Sep- 
tember   1217    ihrem   angestammten   Herrn    die   Tore   öffneten. 


Kreise  der  Trobadors  Gui,  Eble,  Elias  und  Peire  d'Uisel,  Königsberger 
Diss.  1914,  S.  14  und  19  f.  und  Uc  de  St.  Circ,  Ausgabe  Jeanroy-Salverda 
de  Grave,  Toulouse  1913,  Nr.  XXXVII  und  S.  163.  Über  das  Treiben 
solcher  Räuberbanden  siehe  A.  Luchaire,  La  societe  fran9.  S.  9 ff. 

^)  Es  ist  die  Kanzone  Belh  in' es  quHeu  chant  e'  m  conhdey ,  heraus- 
gegeben und  kommentiert  von  P.  Andraud,  La  vie  et  l'oeuvre  du  troub. 
R.  d.  Mir.,  Paris  1902,  S.  152-158. 


110  6.  Abhandlung:  Karl  yossler 

Simon  von  Montfort  legt  sich  nun  mit  großer  Heeresmacht 
vor  die  Stadt,  und  damit  beginnt  die  zweite  Belagerung  von 
Toulouse,  die  den  ganzen  Winter  1217  und  das  Frühjahr  1218 
gedauert  und  dem  Simon  das  Leben  gekostet  hat.  Auf  den 
Anfang  dieser  Belagerung  hat  man  das  Sirventes  unseres  Dich- 
ters Tendatz  e  traps,  alcuhas,  pahalhos  (Nr.  56)  *)  beziehen 
wollen,  das  entstellt  und  lückenhaft  in  der  einzigen  Hs.  B 
erhalten  ist.  Daß  es  sich  um  die  Belagerung  einer  Stadt  an 
einem  Flußlauf  handelt,  geht  unzweideutig  aus  dem  Wortlaut 
hervor.  Der  dritte  Vers  der  ersten  Strophe  weist  aber,  wie 
A.  Thomas  erkannt  hat,  nicht  auf  Toulouse,  sondern  auf  Lec- 
toure  am  Flusse  Gers  hin :  ^)  iosta  Vaigua  pres  Leitor'als  camhos. 
Von  einer  Belagerung  dieser  Stadt  habe  ich  in  der  Geschichte 
der  Albigenserkriege  keinerlei  Nachricht  finden  können.^)  Pillet 
schreibt  mir,  daß  in  dem  Erbfolgekrieg  um  die  Grafschaft 
Armagnac  in  den  vierziger  Jahren  des  13.  Jahrhunderts  eine 
solche  hätte  stattfinden  können.  Damals  stand  Arnaud  Othon  IL, 
Vizegraf  von  Lomagne,  unterstützt  von  seinem  Vetter  Othon 
de  Batz,  gegen  Guiraut  V.  von  Armagnac.*)  In  dem  Liede 
Cardinais  ist  nun  zwar  von  einem  Coms  Gr.  von  Armalhac 
als  Angreifer  die  Rede,  auf  der  Seite  der  Verteidiger  aber, 
denen  der  Dichter  den  Sieg  wünscht,  erscheint  kein  Arnaud 
und  kein  Othon,  wohl  aber  ein  Herr  Amanieu,  ein  Herr  Gaston 
und  ein  Graf  von  Foix  und  auf  der  Gegenseite,  als  Hilfstruppen 
für  Armagnac,  die  liomes  d'Äug,  die  Mannen  von  Auch.  Da 
nun  der  Wortlaut  des  Liedes  nicht  auf  eine  tatsächliche,  son- 
dern auf  eine  noch  zu  erwartende,  in  Wirklichkeit  vielleicht 
gar  nicht  erfolgte  Belagerung  hinw^eist,  so  will  mir  die  Ver- 
teilung der  Rollen  besser  auf  eine  etwaige  Kampfhandlung 
der   Albigenserkriege,    als    der   Armagnac'schen  Erbfolgefehde 

1)  Mahn,  Gedichte  517. 

^^)  Levy,  Supplement-Wörterbuch  IV,  S.  VI. 

^)  Die  Lokalgeschichten  jener  Gegenden  sind  mir  unzugänglich  ge- 
blieben. Vergebens  habe  ich  mich  u.  a.  um  die  Archives  de  la  ville  de 
Lectoure  p.  p.  la  Soc.  bist,  de  Gascogne,  ed.  Druilhet,  Paris -Auch  1885 
und  Cassassoles,  Not.  bist,  sur  la  ville  de  Lect.,  Auch  1839,  bemüht. 

4)  Art  de  verifier  les  dates,  Paris  1818,  Bd.  IX,  S.  334. 


» 


Peire  Cardinal  111 

passen;  um  so  mehr  als  der  Graf  von  Armagnac  dabei  nicht 
um  Besitz,  deniers,  sondern  um  pretz  und  onransa,  also  offen- 
bar nicht  in  eigener  Sache  kämpft.  Dieser  Guiraut  wäre  dann 
nicht  der  fünfte,  sondern  der  vierte  der  Grafen  von  Armagnac, 
derselbe,  der  am  8.  Juni  1215  in  Montauban  dem  Simon  von 
Montfort  die  Heeresfolge  versprochen')  und,  wie  uns  durch 
eine  Urkunde  vom  18.  Dezember  1217  verbürgt  ist,  an  der 
Belagerung  von  Toulouse  sich  beteiligt  hat.^)  Wir  wissen  auch, 
daß  Simon  ihn  schon  das  Jahr  zuvor  durch  einen  Boten  gegen 
Toulouse  aufgerufen  hatte. ^)  Ihm  zur  Seite  würden  die  Mannen 
des  Erzbischofs  von  Auch,  die  wie  das  Albigenserepos  berichtet, 
ebenfalls  vor  Toulouse  mitgewirkt  haben,*)  am  richtigen  Platze 
stehen.  Im  Frühjahr  1219  etwa,  als  der  Kronprinz  von  Frank- 
reich von  La  Rochelle  her  gegen  Toulouse  zog,  hätten  diese 
Streiter  sich  ihm  anschließen  oder  ihm  voraneilen  und  die  Stadt 
Lectoure,  die  auf  dem  Wege  lag,  bedrohen  können.  Zur  Ver- 
teidigung aber  wäre  der  Graf  Raimon  Rogier  von  Foix,  der 
vorher  schon  auch  den  Toulousanern  so  wirkungsvoll  zu  Hilfe 
gekommen  war, ^)  um  jene  Zeit  wohl  der  rechte  Mann  gewesen. 
Der  Herr  Amanieu  könnte  jener  Amanieu  von  Bouglon  sein, 
der  im  Jahre  1219  auch  Marmande  gegen  die  Kreuzfahrer 
verteidigen  half^),  oder  jener  „hoffnungsvolle  junge"  Wilhelm 
Amanieu,  der  für  Toulouse  sowohl  wie  für  Marmande  ge- 
kämpft hat.'^)  Herr  Gaston  kann  zwar  nicht  der  sechste  Vize- 
graf dieses  Namens  von  Bearn  sein,  denn  dieser  war  schon 
1215  gestorben.  Ein  sonst  nicht  weiter  bekannter  Gaston 
wird  neben  Wilhelm  Amanieu  im  Albigenserepos  erwähnt.  Die 
"Namen  Amanieu  und  Gaston  sind  freilich  in  jener  Zeit  und 
Gegend  so  häufig,  daß  man  sie  für  eine  Datierung  des  frag- 
lichen Liedes  in  das  zweite  so  gut  und  so  schlecht  wie  in  das 


1)  Histoire  generale  de  Languedoc  VI  (1879),  S.  463. 

2)  Ebenda,  S.  510. 

^)  P.  Meyer,  La  chanson  de  la  Croisade,  II,  S.  312,  Anra.  3. 

4)  Ebenda,  I,  Vers  6575. 

5)  Ebenda,    Vers  6658  ff.  «)  Ebenda,  Vers  8960. 
■^j  Ebenda,  Vers  6121  und  8961. 


I 


112  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

fünfte  Jahrzehnt  des  13.  Jahrhunderts,  für  den  Albigenserkrieg 
wie  für  den  Armagnac'schen  Erbfolgekrieg  gebrauchen  kann. 
Mir  scheint  die  frühere  Datierung  auch  deshalb  wahrschein- 
licher, weil  man  nach  den  kriegerischen  Erfolgen  der  Albi- 
genserpartei  in  den  Jahren  1217,  1218  und  1219  die  gehobene 
Stimmung  und  Kampflust  des  Dichters  sich  leichter  erklären 
kann.  Ob  er  in  den  vierziger  Jahren  noch  Neigung  hatte, 
die  Gedanken  und  die  Reime  eines  Bertran  de  Born  so  sorg- 
sam nachzubilden,  wie  er  es  hier  getan  hat,^)  darf  man  be- 
zweifeln. Wie  dem  auch  sei,  für  Cardinais  künstlerische  Eigen- 
art ist  das  Lied  von  verschwindender  Bedeutung. 

Auf  die  heldenhafte  Verteidigung  von  Toulouse  im  Jahre 
1217  möchte  Maus  das  moralisierende  Sirventes  Lo  giorn  que 
ieu  fui  natz  (Nr.  32)  beziehen,^)  doch  kann  er  sich  dabei  nur 
auf  eine  Geleitstrophe  berufen,  die  nicht  einmal  in  allen  Hand- 
schriften steht  ^)  und  nichts  weiter  als  eine  allgemeine  Ver- 
herrlichung dieser  Stadt  besagt.  Wie  gefährlich  es  aber  ist, 
derartige  Geleite  zur  Datierung  zu  verwenden,  hat  Appel  erst 
neulich  wieder  betont.*) 

Klarer  und  lauter  zeugt  das  Sirventes  Falsedatz  e  desme- 
zura  (Nr.  25)^)  von  dem  gestärkten  Bewußtsein  der  Partei  des 
Grafen  Raimund. 

Kommt  vom  Lande  der  Franzosen 

Einer,  den  geladen 
Niemand  als  die  Reich'  und  Großen, 
die  im  Weine  baden 

heißt  es  da,  und  in  der  folgenden  Strophe: 

Raimund,  Herzog  von  Narbonne, 
Markgraf  von  Provenze, 


^)  Das  Vorbild  ist  Bertrans  Miei  sircentes  vuolh  far  dels  reis  amdos. 

2)  Maus,   Cardinais  Strophenbau,  S.  41  f. 

3)  Sie  fehlt  z.  B.  in  I  (Mahn,  Ged.  612). 

*)  In  seiner  Ausgabe  des  Bernart  von  Ventadorn,  Halle  1915.  S.  XXX. 
5)  Parn.  occ.  S.  308  ff.,  Rayn.  Choix  IV,  S.  338 ff..  Mahn,  Werke  11, 
S.  192  ff. 


Peire  Cardinal  113 

Eure  Tüchtigkeit  wie  Sonne 

in  der  Welt  erglänze. 
Ob  vom  Meere  bei  Bayonne 

hin  bis  nach  Valenze^) 
falsch  und  niedrig  Volk  auch  wohne 

rings  an  Eurer  Grenze: 

Ihr  haltet  nieder  sie, 

fürchtet  so  wenig  wie 
Falkenschnabel  Hühner  scheut, 
der  Franzosen  Trunkenheit. 

Schon  Diez  hat  vermutet,  daß  dieses  Lied  im  Jahre  1219 
geschrieben  sei.  Zwar  ist  der  Kronprinz  von  Frankreich,  der 
spätere  Ludwig  VIII.,  auch  im  April  1215  den  Kreuzfahrern 
zu  Hilfe  gekommen,  aber  die  Partei  Simons  hatte  ihn  damals 
nicht  geladen.  Im  Gegenteil,  man  fürchtete  seine  Konkurrenz. 
Nach  Simons  Tode  aber,  als  die  Belagerung  von  Toulouse  auf- 
gehoben werden  mußte  und  Amalrich  von  Montfort  einen  immer 
schwierigeren  Stand  gegen  Raimund  VI.  und  dessen  Sohn  hatte, 
schickte  der  Cardinal  Legat  Bertran  den  Bischof  Folquet  von 
Toulouse  an  den  französischen  Hof,  um  Hilfe  zu  suchen,  und 
Papst  Honorius  III.  wurde  im  August  und  September  1218 
in  demselben  Sinne  beim  König  vorstellig.  Im  Frühjahr  1219 
fand  sich  denn  auch  der  Kronprinz  mit  großer  Heeresmacht 
in  Südfrankreich  ein.  Man  wird  kaum  fehl  gehen,  wenn  man 
auf  diese  Zeit  etwa  das  Lied  unseres  Dichters  bezieht. 

Freilich  hat  Ludwig  von  Frankreich  auch  später,  nach- 
dem Raimund  VI.  im  August  1222  und  Philipp  August  im 
Juli  1223  gestorben  waren,  noch  einmal  die  Waffen  gegen 
die  Albigenser  erhoben.  Seit  Ende  1223  verhandelte  er  mit 
dem  Papst  und  den  Bischöfen  über  einen  neuen  Kreuzzug  nach 
Südfrankreich.  Der  kriegerische  junge  Raimund  VII.  war  im 
Begriffe,  sein  ganzes  Herrschaftsgebiet  zurückzuerobern,  und 
Amalrich  von  Montfort  hatte,  um  ihm  erfolgreich  zu  wider- 
stehen,  nichts  von   des  Vaters   Tatkraft.     Kleinmütig   trat   er 


1)  Wahrscheinlich  ist  Valence  an  der  Rhone  gemeint. 

Sitzgsb.  d.  pbilos.-philol.  u.  d.  bist.  Kl.  Jahrg.  1916, 6.  Abb.  8 


I 


114  6.  Abhandlung:  ttarl  Vossler 

air  seine  Ansprüche  auf  das  Gebiet  der  Grafen  von  Toulouse 
an  den  König  von  Frankreich  ab.  Daraufhin,  Ende  Mai  1226, 
setzte  dieser  sich  mit  einem  Heer  in  Bewegung  und  zog  am 
linken  Rhoneufer,  stromabwärts,  auf  Avignon  los,  wo  er  am 
7.  Juni  ankam  und  sich  den  Flußübergang  erzwingen  mußte. 
Auch  auf  diese  Sachlage  könnte  man  das  obige  Sirventes  be- 
ziehen. Es  wäre  dann  bei  derselben  Gelegenheit  entstanden, 
wie  das  folgende,  über  dessen  Datierung  kein  Zweifel  besteht 

(Nr.  12).0 

leu  volgra,  si  Dieus  o  volgues, 

acsem  cobrat  Suria, 
e  •  1  pros  emperaire  agues 

cobrada  Lombardia, 
e  •  1  Valens  coms,  ducx  e  marques 
agues  sai  cobrat  Vivares, 

qu'enaissi  me  plairia, 
que  aitals  voluntatz  m'a  pres 

que  dels  afars  volria 
so  que  dregz  n'es. 

Marseilla,  Aires,  (et)  Avinhos, 

tug  segon  una  via, 
e  Carpentras  e  Cavaillos 

e  Valensa  e  Dia, 
Viana,  1  Pupetz  e*l  Dromos: 
aion^)  rei  lo  plus  cabalhos 

que  d'aissi  en  Turquia 
porte^)  caussas  ni  esperos, 

que,  si  bes  no '  ilh  venia,*) 
en  bada  es  pros. 

Si  cum  val  mais  grans  naus  en  mar 
que  lings^)  ni  sagecia, 

1)  Rayn.  Choix  V,  S.  303,  Mahn,  Werke  II,  S.  239  und  Mahn,  Ge- 
dichte 1258.  Die  Lesart  von  Mahn,  Ged.  (=  M)  ist,  was  Strophenfolge 
und  Vollständigkeit  betrifft,  vorzuziehen.  '^)  agron  Bayn. 

^)  Que  port  Rayn.    Der  vorhergehende  Vers  fehlt  dort. 

*)  Car  si  pro  no  *  1  tenia  Bayn.  ^)  butz  M. 


Peire  Cardinal  115 

e  val  mais  leos  de  singlar 

e  mais  dos  que  fadia, 
val  mais  lo  coms  que  autre  bar, 
qu'ab  tolr'als  fals  et  als  fis  dar 

sec  de  valor  la  via 
e  pueia  en  pretz  ses  davallar, 

et  a  la  maestria 
de  ricx  faitz  far. 

Mir  wäre  lieb,  wenn  Gott  es  wollte, 

wir  hätten  Syrien  wieder, 
und  unser  wack'rer  Kaiser  holte 

sich  die  Lombarden  nieder, 
und  hier  zu  Land  im  Vivarais 
der  edle  Graf  und  Herzog  saß. 

So  möchte  mir's  behagen, 
dieweil  im  Weltgezänk'  mein  Sinn 

sich  immer  fühlt  getragen 
zum  Rechte  hin. 

Marseille  und  Arles  und  Avignon 

trennen  vom  Weg  sich  nie, 
Carpentras  auch  und  Cavaillon, 

sowie  Valence  und  Die, 
und  was  um  Dröme  und  Poupet  wohnt: 
geschäh's,  daß  dort  ein  König  thront', 

und  war'  er  höh'ren  Mutes 
als  alle  bis  zum  Türken  hin : 

und  brächte  doch  nichts  Gutes, 
man  pfiff'  auf  ihn. 

Um  wieviel  besser  ist  ein  Schiff 

auf  See  als  Kahn'  und  Barken, 
des  Löwen  als  des  Ebers  Griff, 

und  milde  sein  als  kargen: 
soviel  ist  unser  Graf  voran 
mit  „Nimm"    und  „Gib"    vor  jedermann, 

8* 


116  6.  Abhandlung:  ßarl  Vossler 

und  nach  der  Höhe  schreitet 
zur  Ehre  er  und  will  nicht  ruh'n, 
Tugend  zum  Vorbild  leitet 
sein  edles  Tun. 

Es  folgen  noch  zwei  Strophen  zum  Preis  des  Grafen  Rai- 
mund, der  weder  Pfaffen  noch  Franzosen,  noch  sonst  etwas 
auf  der  Erde  fürchte.  Ein  Geleit  mit  einer  schmeichelhaften 
Deutung  des  Namens  Raimon^)  krönt  das  Gedicht.  Seiner 
Absicht  nach  ist  es  nicht  bloß  eine  Verherrlichung  des  Grafen, 
sondern  ein  politisches  Werbelied,  dessen  Geschicklichkeit  und 
kluge  Berechnung  man  bewundern  muß,  je  näher  man  das 
Interessenspiel  jener  Zeit  betrachtet.  Es  handelt  sich  hier  um 
Herrschaftsverhältnisse  des  arelatischen  Reiches.^)  Mit  Mar- 
seille, Arles,  Avignon,  Carpentras,  Cavaillon,  Valence,  Die, 
Vienne,  dem  Drome-Tal  und  dem  Berge  Poupet  bezeichnet 
Cardinal,  schrittweise  von  Süd  nach  Nord  und  Ost  gehend, 
das  ganze  linksrhonische  Arelat,  vergißt  aber  auch  das  rechts- 
rhonische  Stück  nicht,  die  Grafschaft  Vivarais.  Auf  diesem 
ganzen  Gebiete,  das  bekanntlich  zum  Deutschen  Reiche  ge- 
hörte, hatte  Kaiser  Friedrich  II.  Interessen,  die  mit  denen  des 
Grafen  von  Toulouse  vielfach  Hand  in  Hand  gingen.  Früher, 
als  Friedrich  mit  dem  französischen  König  verbündet  war,  im 
Jahre  1212,  sahen  wir  unseren  Dichter  als  treuen  Toulousaner 
noch  unter  den  Gegnern  Friedrichs.  Je  mehr  sich  aber,  unter 
dem  Vorwand  der  Ketzerbekämpfung,  die  nordfranzösische  Herr- 
schaft im  Süden  ausbreitete  und  das  Arelat  bedrohte,  desto 
enger  mußten  naturgemäß  die  Grafen  von  Toulouse,  in  ihrer 
Eigenschaft  als  Grafen  der  nördlichen  Provence  und  des  Vi- 
varais, sich  an  ihren  obersten  Lehensherrn,  den  Deutschen 
Kaiser  halten.    Über  den  Besitz   eroberter  Ketzerländer   hatte 


1)  Aus  mon  =  Welt  und  rai  oder  raiar  =  Sonne  oder  strahlen,  her- 
vorglänzen (?),  wozu  das  Wortspiel  renom  — raymon  hinzukommt.  Solche 
Spielereien  mit  den  Namen  gepriesener  oder  gescholtener  Persönlich- 
keiten gehören  zum  Trobadorstil.  Vgl.  W.  Nickel,  Sirventes-  und  Spruch- 
dichtung, Berlin  1907,  S.  43  ff. 

2)  Siehe  R.  Sternfeld,  Das  Verhältnis  des  Arelats  zu  Kaiser  und 
Reich,  Berlin  1881,  bes.  S.  37—71. 


Peire  Cardinal  117 

das  lateranisclie  Konzil  von  1215  bestimmt,  daß  der  Papst  ihn 
an  getreue  Katholiken  übertrage:  „salvo  jure  domini  princi- 
palis,  dummodo  super  hoc  ipse  non  praestet  obstaculum"  — 
eine  dehnbare  Bestimmung,  kraft  deren  die  Geistlichkeit  tief 
in  die  Rechte  des  Kaisers  und  seiner  arelatischen  Vasallen  ein- 
greifen konnte.  Der  vom  Kaiser  eingesetzte  Vizekönig  des 
Arelates,  Wilhelm  von  Montferrat,  war  im  Jahre  1225  ge- 
storben. Auf  diese  Vakanz  scheinen  Cardinais  Worte  über 
einen  neuen,  etwa  zu  erwartenden  König  anzuspielen.  Zu- 
nächst aber  führte  der  Kaiser  dort  selbst  seine  Angelegen- 
heiten und  griflP  mit  einem  Schreiben  vom  31.  März  1225  zum 
erstenmal  in  die  Ereignisse  der  Albigenserkriege  ein.  Er  ver- 
bietet in  dieser  Urkunde  dem  Grafen  von  Toulouse,  „Besit- 
zungen, die  er  vom  Reiche  zu  Lehen  trage,  zum  Schaden  desselben 
zu  veräußern  und  fordert  ihn  auf,  die  schon  veräußerten  wieder 
an  sich  zu  bringen".^)  Sternfeld  meint,  man  könne  über  die 
Bedeutung  dieses  Briefes,  da  er  uns  so  ohne  Zusammenhang 
erhalten  sei,  Zweifel  hegen.  Das  Wahrscheinlichste  sei  aber 
doch,  daß  er  dem  Grafen,  der  gegen  Frankreich  und  die  Geist- 
lichkeit schon  allzu  nachgiebig  gewesen  war,  den  Nacken  stei- 
fen wollte.  Er  wollte  demnach  unter  anderem  ganz  dasselbe 
wie  unser  Dichter,  nämlich  daß  Raimund  sich  das  Vivarais 
zurückgewänne.  Als  nun  der  König  von  Frankreich  zu  den 
Waffen  griff  und,  immer  durch  Reichsgebiet  marschierend,  sich 
gegen  Avignon  bewegte,  standen  die  von  Cardinal  genannten 
Gegenden  und  Städte  vor  der  Wahl,  sich  dem  nordischen  Er- 
oberer zu  unterwerfen  oder  ihm  Widerstand  zu  leisten.  Der 
Kaiser  war  fern  und  zu  tatkräftigem  Auftreten  gegen  Ludwig 
nicht  in  der  Lage.  Li  diesem  schwierigen  Augenblick,  wahr- 
scheinlich in  der  Zeit  zwischen  dem  Einmarsch  der  Franzosen 
in  das  Arelat,  Ende  Mai  1226  und  ihrem  Sturm  auf  Avignon, 
Juni  bzw.  September  1226,  mag  Cardinal  sein  Lied  gedichtet 
haben,  um  in  den  bedrohten  Gebieten  Stimmung  zu  machen 
für  die  Sache  des  Grafen  von  Toulouse,  die  zugleich  als  Sache 
des  Kaisers   sich   darstellte,  so   sehr   immer  Ludwig   und    der 


1)  a.  a.  0.  S.  63. 


I 


118  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Papst  beteuerten,  daß  die  kaiserliche  Oberhoheit  durch  die 
Unternehmungen  des  Kreuzheeres  nicht  geschädigt  werden 
sollte.  Zu  unserer  Datierung  stimmen  auch  die  in  der  ersten 
Strophe  ausgedrückten  Wünsche  des  Dichters.  Er  möchte 
Syrien,  das  Heilige  Land,  wieder  erobert  sehen,  eine  begreif- 
liche und  naheliegende  Hoffnung,  wenn  man  bedenkt,  daß 
Kaiser  Friedrich  schon  seit  1223  Anstalten  zu  einem  Kreuzzug 
traf  und  daß  er  am  9.  November  1225  Isabella  von  Jerusalem 
geheiratet  und  mit  dem  Titel  eines  „Königs  von  Jerusalem"  das 
feierliche  Versprechen  auf  sich  genommen  hatte,  der  Christen- 
heit diese  Stadt  zurückzugewinnen.  Auch  der  Wunsch,  daß 
es  dem  Kaiser  gelingen  möchte,  die  Lombardei,  die  als  Ver- 
bindung zwischen  Italien  und  dem  Arelat  so  wichtig  war,  sich 
gefügig  zu  machen,  war,  angesichts  der  Tatsache,  daß  im 
März  1226  der  Lombardenbund  sich  erneuert  hatte,  höchst 
zeitgemäß.^) 

Durch  die  Ereignisse  aber  sind  diese  Wünsche  teils  gar 
nicht,  teils  unvollkommen  erfüllt  worden.  Avignon  fiel,  die 
Franzosen  siegten,  der  Krieg  zog  sich  mit  mancherlei  Wechsel- 
fällen noch  über  zwei  Jahre  hin,  bis  er  im  April  1229  in 
einem  Frieden  seinen  Abschluß  fand,  der  den  Grafen  von  Tou- 
louse aufs  schwerste  demütigte  und  der  Selbständigkeit  des 
Südens  den  Sarg  zimmerte.  Zu  politischen  Vorgängen  der 
Folgezeit  hat  Cardinal,  soviel  wir  sehen,  seine  Stimme  nicht 
mehr  erhoben.  Wohl  finden  sich  da  und  dort  in  seinen  Lie- 
dern noch  unbestimmte  und  flüchtige  Anspielungen  auf  Ver- 
hältnisse und  Ereignisse  der  späteren  Jahre,  doch  sind  sie  nicht 
derart,  daß  sie  eine  annähernd  genaue  und  sichere  Datierung 
erlaubten.^)  Als  politischer  Satiriker  hat  Cardinal,  soviel  wir 
sehen,  nur  in  den  Jahren  der  Albigenserkriege  sich  betätigt, 
und  selbst  hier  lag  ihm  offenbar  das  Ethische  näher  am  Herzen 
als  das  Politische  und  Militärische. 


1)  Maus  a.  a.  0.  S.  85  datiert  das  fragliche  Sirventes  etwas  ungenau 
ins  Jahr  1227,  Wittenberg,  Die  Hohenstaufen  im  Munde  der  Troubad., 
Münster,  Diss,  1908,  S.  70f.,  dagegen  richtig  ins  Frühjahr  1226. 

2)  Siehe  die  Anhänge  Iff. 


Peire  Cardinal  119 


VII.  Persönliche  und  versteckte  Satire. 

Das  ethische,  ideale,  überpersönliche  Empfinden  hat  bei 
Cardinal  selbst  dort  noch  die  Führung,  wo  seine  Dichtung 
sich  gegen  ganz  bestimmte  Persönlichkeiten  wendet.  Dies 
läßt  sich  an  seinen  Schmähliedern  gegen  Esteve  de  Belmon 
beobachten. 

Vielleicht  hat  dieser  Herr  ihm  nie  etwas  zuleide  gretan. 
Wann  und  wieso  er  ihm  vor  das  poetische  Messer  kam,  wer- 
den wir  mit  Sicherheit  kaum  erfahren,  denn  nicht  wenig  Burgen, 
Schlösser  oder  Städtchen  des  Namens  Belmont  und  unendliche 
Esteves  gab  es  im  südlichen  Frankreich.  Fahre  hat  in  Ur- 
kunden des  Hauses  Polignac  aus  den  Jahren  1226,  28  und  49 
einen  Esteve  de  Belmon  ausfindig  gemacht,  der  aus  Beaumont 
an  der  Dore,  in  der  Gemeinde  St.  Victor  sur  Arlane,  bei  La 
Chaise  Dieu,  etwa  45  km  nördlich  von  Le  Puy,  stammte,  also 
ein  Landsmann  Cardinais  und,  als  geistlicher  Herr,  sogar  sein 
Kollege  war.^)  Gegen  diesen  —  oder  auch  einen  anderen  Esteve 
hat  Cardinal  (wenn  Fahre  recht  hat,  etwa  im  vierten  Jahr- 
zehnt des  13.  Jahrhunderts,  wahrscheinlich  aber  schon  früher)^) 
drei  Lieder  geschleudert:  Nr.  19,  Nr.  65  und  68.  Fahre  möchte 
noch  ein  viertes,  nämlich  Nr.  9,  auf  Esteve  beziehen.  Ich  kann 
ihm  nicht  beipflichten;  denn,  während  in  den  drei  anderen 
Esteve  als  ein  weithin  leuchtendes  Beispiel  von  Verräter  er- 
scheint, dessen  Namen  der  Dichter  gar  nicht  laut  genug  in 
der  Öffentlichkeit  ausrufen  kann,  verschweigt  er  hier  mit  wich- 
tiger Gebärde  die  Personalien  seines  Opfers  und  munkelt  nur, 
daß  er  jemanden  kenne  und  Dinge  von  ihm  wisse,  die,  wenn 
er  sich  getrauen  dürfte,  sie  auszusagen,  diesem  jemand  den 
Ruf  eines  Verräters  fruchten  müßten. 

Qu'un  tal  n'a  say 
que,  s'o  auzava  dire, 


I 


»)  Annales  du  Midi,  XXI,  S.  5  IF. 
2)  Siehe  Anhang  IX. 


120  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

per  so  qu'en  say, 
for'  apellatz  trahire.^) 

Daß  es  ein  sehr  hoher  Herr  sein  muß,  der  für  seinen 
Verrat  nicht  gehenkt,  sondern  an  eine  regierende  Stelle  be- 
fördert wurde,  deutet  die  zweite  Strophe  des  Gedichtes  an. 
Man  könnte  an  Simon  von  Montfort,  an  den  Abt  von  Ci- 
teaux,  an  den  Bischof  Folquet  von  Toulouse  oder  sonst  eine 
mächtige  Persönlichkeit  denken,  deren  Rache  Cardinal  zu 
fürchten  hatte,  aber  gewiß  nicht  an  Esteve.  Höchstens  in 
der  Schlußstrophe,  wo  von  verräterischen  Spielleuten  im  Ve- 
lay  und  schließlich  von  der  Häufigkeit  aller  Arten  von  Ver- 
räterei bei  Laien  und  Geistlichkeit  in  jener  Gegend  die  Rede 
ist,  mag  Cardinal  auch  an  seinen  Esteve  gedacht  haben. 

Leider  wissen  wir  nur  unvollkommen,  was  dieser  im  ein- 
zelnen verbrochen  hat.  Nach  des  Dichters  Vorwürfen  zu 
schließen,  hätte  er  bei  einem  Gastmahl  einen  seiner  eigenen 
Vorfahren,  seinen  Paten  und  einen  unschuldigen  Knaben, 
das  Kind  seines  eigenen  Herrn,  mitsamt  der  Dienerschaft,  ver- 
räterischerweise ermordet.  Ein  südfranzösischer  Atreus!  Das 
Verbrechen  scheint  sich  in  Eynac  bei  St.  Julien-Chapteuil  zu- 
getragen zu  haben.  Statt  uns  den  Hergang  ordnungsgemäß 
zu  erzählen,  gibt  uns  der  Dichter,  wenn  wir  genau  zusehen, 
eigentlich  nur  die  sittliche  Wertung  der  Tat.  Am  reinsten 
hat  er  diesen  ethischen  Stil  in  Nr.  65:  Un  sirventes  ai  en  cor 
que  comens^)  durchgeführt.  Durch  Vergleich  der  Esteveschen 
Verbrechen  mit  denen  des  Judas  und  des  Ganelon,  läßt  er  uns 
deren  spezifisches  Gewicht  fühlen  und  schreitet  ihre  ethisch- 
praktische Tragweite  ab,  indem  er  zeigt,  wie  auf  einen  Schlag, 
tot  ah  US  ferramens,  mit  ein  und  denselben  Werkzeugen,  Un- 
schuldige, Märtyrer,  Bekenner,  Betrüger  und  Verräter  von 
Esteve  geschaffen  wurden.  Aber  nicht  auf  die  Opfer  und 
Helfershelfer  im  einzelnen  kommt  es  dem  Dichter  an.  Man 
sieht   jene   nicht    leiden    und    diese    nicht   am  Werk.      Wenn 


1)  Mahn,   Ged.  758,  759  und  Studj  di  fil.  rom.  IX,   Nr.  12,  S.  521, 
erste  Strophe. 

2)  Kritischer  Text  in  den  Annales  du  Midi  a.  a.  0.,  S.  26 ff. 


Peire  Cardinal  121 

in  der  dritten  Strophe  der  Täter  selbst  uns  handelnd  vorge- 
führt wird,  so  geschieht  es  nicht,  um  zu  erzählen,  wie  er  es 
damals  angestellt  hat,  sondern  wie  er  es  immer  zu  machen 
pflegt,  als  ob  er  die  Gewohnheit  hätte,  jedesmal  wenn  er  bei 
Verwandten  zu  Gaste  sitzt,  zwischen  Vergnügungen  und  Scher- 
zen, plötzlich  als  improvisierter  Verräter  quon  tradier  desuptos^) 
vom  Tische  aufzustehen  und  unter  den  Köchen,  Pförtnern  und 
Verwaltern  seiner  Gastgeber  ein  Blutbad  anzurichten.  Mit 
anderen  Worten:  die  Gesinnung  und  Vertrauenswürdigkeit 
dieses  Menschen,  nicht  der  einmalige  Hergang  jener  Tat  will 
festgelegt  werden.  Selbst  in  der  äußeren  Erscheinung  des 
Missetäters  tritt  nur  dessen  Charakter  zutage.  Esteve  war 
ein  beleibter,  blühender  Herr;  aber  hinter  seinem  Umfang 
läßt  Cardinal  uns  nur  das  Böse,  die  malas  humors,  und  an 
seiner  gesunden  Farbe  nur  den  blühenden  Betrugt)  sehen. 
Großartig  und  ungeheuerlich,  wie  jenes  schöpferische  Ver- 
brechen, in  dem  Kain  fortlebt  und  eine  ganze  Stufenleiter 
ethisch-religiöser  Werte,  vom  Heiligen  bis  zum  Verräter  ver- 
virirklicht  wurde,  muß  nun  auch  die  Buße  sein.  Strick  und 
Gefängnis  wären  noch  eine  Ehre.  Die  Gerechtigkeit  ist  ratlos. 
Indessen  tut  Esteve  Buße  auf  eigene  Art:  verleumdet,  streitet, 
hurt,  raubt,  hehlt  und  stiehlt.  Cardinal  empfiehlt  ihm  einen 
anderen  Weg: 

Verräter  Stephan,  willst  Du  deine  Schuld 
abbüßen?     Sag  herunter  in  Geduld 
dem  Herrn  Kaplan,  daß  er  dein'  Sund  betrachte, 
ein  bis  zwei  Lieder,  die  ich  auf  Dich  machte. 

Man  sieht,  wie  der  Hohn,  der  Haß,  die  Schadenfreude, 
die  ganze  Erregung  dieser  Satire  durch  sittliche  Erschütterung 
ausgelöst  ist.    Esteve  hat  nicht  die  Interessen  und  im  Grunde 


1)  Siehe  desuptos  in  Levys  Supplement -Wörterbuch,  S.  154. 

2)  Fahre  schreibt  Str.  IV,  Vers  1 :  Esteve  es  faitz  a  for  dels  aygolens 
und  übersetzt:  Est.  est  fait  ä  l'instar  des  fruits  d'eglantier.  —  aygolenc 
ist  aber  wohl  dasselbe  Wort  wie  das  rätselhafte  aigonenc.  Wer  die 
Früchte  des  Weißdorns  kennt,  wird  der  Deutung  Fabres  kaum  zustimmen. 


L 


122  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

auch  nicht  den  Geschmack,  sondern  das  Gewissen  und  den 
Glauben  Cardinais  verletzt. 

Ahnliche  Beobachtungen  sind  an  dem  anderen,  der  Zeit- 
folge nach  vielleicht  ersten  Sirventes  gegen  Esteve,  B'Esteve 
de  Belmon  m'enueia  (19),^)  weniger  leicht  und  unmittelbar 
zu  machen,  teils  weil  der  Text  unsicher  und  schwer  verständ- 
lich, teils  weil  der  Stil  durch  Bertran  von  Born  beeinflußt 
ist.^)  Immerhin  fehlt  es  auch  hier  nicht  an  echt  Cardinaischen 
Einfällen.  Der  dichterische  Grundgedanke  verrät  dieselbe 
Herkunft.  Die  Bosheit  des  Esteve  wird  ins  Übermenschliche 
und  Phantastische  derart  gesteigert,  daß  die  Übertreibung  er- 
haben und  komisch  zugleich  wirkt  und  das  Gedicht  den  Cha- 
rakter eines  entsetzlichen  Spieles,  eines  Lachens  unter  Ge- 
wissensschauern annimmt.  Durch  das  ganze  Stück  hin  stellt 
der  Dichter  derb  materialistische  Bilder  dicht  neben  ethisch- 
religiöse Wertbegriffe  hin.  Esteve  ist  dicker  als  ein  Mühl- 
trichter und  ist  ein  Rostfleck  auf  der  Kirche,  lügt  wie  ein 
Spion  und  versperrt  im  Kirchenchor  den  Platz  mit  seinem 
Bauch,  hat  einen  Wasserkopf  und  einen  Buckel  und  treibt 
Unzucht  mit  einem  alten  rothaarigen  Weib.  Niemand  wird 
um  ihn  weinen,  wenn  er  gehenkt  wird  und  die  Geier  ihn 
fressen;  er  aber  wird,  wann  er  baumelt,  noch  seinen  Galgen- 
brüdern die  Stricke  und  Knebel  stehlen;  und  so  stark  ist  er 
im  Verrat,  daß  man  einen  Absud  von  ihm  nehmen  und  eine 
Salbe  gegen  Yerräterei  aus  seinen  Säften  brauen  kann.  All 
diese  Einfälle  sind  nicht  erfunden,  um  gerade  dieses  Indivi- 
duum zu  charakterisieren,  sondern  um  ein  Exemplum  aufzu- 
richten, und  nicht  allein  ihm,  dem  Esteve,  zur  Strafe  geschieht 
es,  sondern  allen  Verrätern  zur  Warnung,  und  nicht  nur  uns, 
sondern  dem  beleidigten  Gewissen  als  solchem  zur  Genugtuung 
und  zur  Lust. 

Das  dritte  Lied  gegen  Esteve  schwenkt  vollends  ganz  vom 
Angriff  auf  den  Einzelnen  zur  Satire  gegen  den  ganzen  Stand, 


1)  Mahn,  Ged.  762,  763  nach  G  und  B. 

^)  Besonders  an  Bertrans  Bastsa,  tan  creis  e  monta  e  poia  scheint 
Cardinal  sich  angelehnt  zu  haben. 


Pelre  Cardinal  123 

dem  dieser  angehörte,  über  und  erweitert  sich  zu  einem  ethisch- 
politischen Zeitgedicht. ^) 

In  anderen  Sirventesen,  auf  die  wir  schon  oben  hinsre- 
wiesen  haben, ^)  zerfließt  der  persönliche  Tadel  derart  zur  all- 
gemeinen Moralisation ,  daß  wir  die  Einzelnen,  auf  die  es  ab- 
gesehen war,  nicht  mehr  erkennen.  Wer  will  heute  noch 
erraten,  wen  Cardinal  gemeint  hat  mit  dem  lügenhaften  mal 
terrier  (oder  trentenier?)  in  Nr.  5,  oder  mit  dem  meineidigen 
geistlichen  Herrn  in  Nr.  44,  oder  mit  dem  guten  Herrn  Re 
und  dem  bösen  Herrn  Cesto  d'Amon  in  Nr.  58,  oder  mit  dem 
großen  Verräter  in  Nr.  9? 

Es  gehört  zu  der  Natur  der  Cardinaischen  Satire,  daß 
sie  nur  kurz  und  rasch,  schnellend  und  pfetzend,  wie  die 
Peitsche  eines  erfahrenen  und  kaltblütigen  Rosselenkers,  aus 
den  Höhen  des  Allgemeinen,  in  denen  sie  kreist,  herabfährt 
und  trifft,  um  gleich  wieder  hoch  über  den  Köpfen  der  Ge- 
züchtigten zu  nicken.  Ohne  recht  zu  wissen,  wo  es  einge- 
schlagen und  wem  es  eigentlich  gegolten  ,■  fühlen  sich  alle 
bedroht.  Schon  wann  der  Meister,  halb  spielend,  halb  mahnend, 
nur  im  Winde  seine  Geißel  pfeifen  läßt,  sitzt  ihnen  die  Angst 
im  Nacken.  Nicht  einzeln,  sondern  meist  zu  Paaren  und 
Rotten  gespannt,  klassen-  und  herdenweise,  liebt  es  Cardinal 
den  Feind  vor  sich  herzutreiben.  Es  liegt  ohnedem  in  der 
Art  der  mittelalterlichen  Lehr-  und  Rügedichtung,  daß  sie  sich 
auf  ganze  Stände ,  Berufe  und  Gesellschaftsschichten  wirft. 
Der  persönliche  Angriff,  die  Invektive,  ist  erst  mit  dem  Indi- 
vidualismus der  Renaissance  zur  Mode  geworden  und  hat  unter 
den  Trobadors  nur  vereinzelte  Vorläufer  gefunden,  von  denen 
Cardinal  mit  seinen  Esteve-Liedern  weder  der  erste  noch  der 
wichtigste  ist.  Ihn  hat  der  Stil  seiner  Zeit  und  ebensosehr 
die  eigene  Neigung  und  Begabung  auf  Klassen-  und  Partei- 
satire angewiesen.  Denn  in  hohem  Maße  besaß  er  die  Fähig- 
keit, das  Typische,  das  Gewohnheits-  und  Standesmäßige,  das 
Gemeine  des  Durchschnitts  bei  den  Menschen  zu  fassen.     Re- 


I 


»)  Nr.  68,  Mahn,  Ged.  1254,  1255,     Siehe  Anhang  IX. 
2)  S.  34  f. 


124  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

geln,  Sitten  und  Bräuche  bzw.  Unsitten  und  Mißbräuche,  pro- 
fessionelle und  zünftige  Charakterzüge  und  Unarten,  sittliche 
Massenerscheinungen,  die  eher  der  Analyse  als  dem  schauen- 
den Auge  zugänglich  sind,  weiß  er  anschaulich  zu  machen 
und  geradezu  stimmungsvoll  darzustellen.  Was  andere  Sa- 
tiriker des  Mittelalters  nur  langweilig  beschreiben  und  ärger- 
lich säuerlich  benörgeln,  belebt  er  phantastisch.  Ganze  Grup- 
pen, Kreise,  Kasten  und  Nationalitäten  nimmt  er  nach  ihrer 
gemeinsamen  Denkart,  Gesinnung  und  Willensrichtung  zu- 
sammen und  hüllt  sie  in  ein  Halbdunkel,  das  den  künstleri- 
schen Reiz  der  „Anspielung"  hat.  Der  Zauber  seines  Stiles 
liegt  oft  nur  in  dem,  was  er  verschweigt:  in  der  Verhalten- 
heit seines  Grimms,  in  der  Unbestimmtheit  seiner  Drohung, 
im  scheuen  Vermeiden  der  angekündigten  Enthüllung,  im  grau- 
sam verlängerten  Spiel  mit  dem  Opfer  —  ein  Spiel,  das  freilich 
auch  zur  selbstgefälligen  Tändelei  und  zum  bloßen  Wort- 
geplänkel entarten  und  alle  Wirkung  zerstreuen  kann.  Manch- 
mal gleicht  er  der  Katze,  die  über  dem  Scherzen  sich  die  Maus 
entgehen  läßt.  Andere  Male  tötet  er  mit  einem  einzigen  Griff. 
Ein  einziger  Name,  ein  konkreter  Einzelfall,  ein  treffender 
Vergleich,  ein  greller  Schlagschatten,  überraschend  angebracht, 
fällt  dann  wie  ein  Tröpfchen  beizender  Säure  in  die  matte 
Flüssigkeit  seiner  Moralisationen  und  Generalisationen  und 
bringt  das  Ganze  zum  Kochen  und  Gären.  Wie  nichtssagend 
wäre  das  Sirventes  Nr.  9  ohne  die  persönlichen  Anspielungen 
in  der  ersten  und  letzten  Strophe,  und  Nr.  44  ohne  die  in 
der  dritten  Strophe.  Um  so  bedauerlicher  für  uns,  daß  wir 
sie  nicht  mehr  verstehen.  Besonders  geeignet,  unsere  Neu- 
gier zu  wecken  ist  Nr.  53.^) 

So  brav  sind  uns're  Nachbarn  fein, 
so  voller  Gut'  und  Menschlichkeit: 
wenn  Stein  zu  Brot  würd'  weit  und   breit 
und  alles  Wasser  wäre  Wein, 


1)  Bartsch,  Provenzal.  Lesebuch  1855,  S.  83,  Rayn.  Choix  IV,  S.  360  f, 
Parn.  occ.  S.  319,  Mahn,  Werke  II,  S.  189  und  Mahn,  Ged.  1246,  1247. 


feire  Cardinal  12o 

die  Berge  Speck  und  Hühnerklein, 

sie  schenkten  nichts!     So  sind  die  Leut'. 

Und  Leute  gibt's,  ich  sag'  nicht  wer, 

die  Schweinen  gleich  im  Gevaudan, 

hündisch  im  Viennois  getan, 

im  Velay  glichen   ungefähr 

der  Bulldogg  sie;  die  Wandlung  war' 

erreicht,  nur  fehlt  der  Schweif  noch  d'ran. 

Des  Weibes  Schwur  gilt  mir  wie  Sand, 
bin  ihrem  Eid  nicht  wohlgesinnt. 
Legt  ihr,  damit  sie  Wahrheit  künd', 
'mal  einen  Pfennig  auf  die  Hand 
und  für  die  Lüg'  des  Hellers  Tand: 
Der  Heller,  sag'  ich  euch,  gewinnt. 

Und  mancher  sieht  so  kindlich  drein 
und  sinnt  auf  Erbschaft  wider  Recht  ^) 
und  spricht  mit  Logik  kunstgerecht 
und  ist  voll  Gier  wie  Isegrein, 
hat  blondes  Haar,  sein  Wuchs  ist  fein, 
im  Leib  das  Herze  falsch  und  schlecht. 

Hätt'  ich  den  Witz  des  Muselmans, 
des  Christen  Glauben,  Zucht  und  Treu', 
des  Heiden  Kniff  und  Künstelei, 
die  Kühnheit  des  Tartarenchans  — 
wer  so  begabt  ist,  glaub'  ich,  kann's 
gegen  Kastiliens  Lügnerei  — 

die  unrecht  tut  und  lügt  dabei 
und  einzig  steht  in  diesem  Glanz. 

Was   mag  sich   hinter  „Kastiliens  Lügnerei",  hinter   dem 
messongier  Castella"   verstecken?    Vielleicht  kein  Mann,  son- 
dern   das  Weib,  auf  dessen  Schwur  der  Dichter   nichts   geben 


^)  Das  trebellia  oder   trebuJia  des  Textes   ist  Trebellianus.     Siehe 
darüber  weiter  unten. 


126  6.  Abhandlung:  Karl  Yossler 

will,  die  Königin-Mutter  Blanka  von  Kastilien?  Sie  ist  es,  die 
Raimund  VlI.  den  demütigenden  Frieden  des  Jahres  1229  auf- 
gezwungen hat.  Sie  war,  selbst  in  Nordfrankreich,  gerade 
um  jene  Zeit,  die  Zielscheibe  satirischer  Dichtungen.  Der 
Dichter  Hugues  de  la  Ferte  in  französischen  und  die  Clercs 
der  Pariser  Universität  in  lateinischen  Versen  schmähten  sie 
und  warfen  ihr  vor,  sie  schicke  Geld  nach  Spanien,  umgebe 
ihren  Sohn,  den  jungen  Ludwig  IX.,  nur  mit  Spaniern^)  und 
treibe  Unzucht  mit  dem  päpstlichen  Legaten.  Der  Mensch 
mit  dem  kindlichen  Aussehen  in  der  dritten  Strophe  könnte 
dann  der  junge  König  sein,  der  es  auf  Raimunds  VII.  Erbe 
abgesehen  hatte  und  dessen  Äußeres  uns  durch  Bilder  und 
zeitgenössische  Aussagen  in  der  Tat  ganz  in  Cardinais  Sinn 
geschildert  wird:  blond,  schlank,  hochgewachsen,  mit  einem  an- 
mutigen, engelgleichen  Gesichtsausdruck,  mit  „Taubenaugen ".^) 
Diejenigen  aber,  die  wie  Schweine  und  Hunde  in  den  Land- 
schaften Gevaudan,  Vienne  und  Velay  gehaust  haben  und  die 
der  Dichter  nicht  nennen  will,  sind  vielleicht  französische 
Truppen,  die  sich  vor  1229  dort  noch  herumtrieben  oder,  was 
mit  Rücksicht  auf  die  Scheu  des  Dichters  sie  zu  nennen  und 
in  Anbetracht  des  afaitamen  cani,  der  „hündischen  Dressur", 
noch  wahrscheinlicher  ist,  die  Dominikaner,  die  Domini  canes, 
wie  man  sie  später  nannte,^)  die  als  Werkzeuge  der  Inquisi- 
tion allerdings  fürchterlich  im  Languedoc  gehaust  haben.  Das 
Sirventes  könnte  demnach  etwa  um  1233  geschrieben  sein, 
denii  damals  war  die  Inquisition  zu  einer  regelmäßigen  Ein- 
richtung geworden.*) 

Doch  air  dies  ist  nur  Vermutung.  Gegen  den  Willen 
des  Dichters,  seinen  Feind  in  Dunkel  zu  hüllen,  bleibt  die 
Forschung  machtlos. 


I 


1)  Siehe  Elie  Berger,  Histoire  de  Blanche  de  Castille,  Paris  1895, 
S.  108  f.  und  134  f. 

2)  Ch.  V.  Langlois,  in  Lavisse,  Histoire  de  France,  III,  2,  S.  19. 

^,)  Über  den  Hund  als  Schimpfwort  für  päpstliche  Advokaten  und 
als  Symbol  der  Dialektik  vgl.  H.  Grauert,  Magister  Heinrich  der  Poet, 
Abhdlg.  der  K.  B.  Akademie  der  Wiss.,  philos.-philol.  u.  bist.  Kl.  XXVII, 
München  1912,  S.  180  fF.  ^)  Histoire  de  Languedoc  VI,  673  f. 


Peire  Cardinal  127 

VIII.  Die  Geistlichkeit. 

Den  ungehemmten  Schwung  seiner  Dichtung  und  zugleich 
damit  die  gröläte  Spannweite  seines  Könnens  entfaltet  Cardinal 
in  der  allgemeinen  Satire  gegen  die  Geistlichkeit  und  weiterhin 
gegen  die  gesamte  Verderbnis  des  Zeitalters.  Die  Motive  des 
Pfaffen-  und  des  Weltspiegels  liegen  ihm  am  besten.  Hier 
haben  ihm  neben  den  Trobadors  auch  die  Kleriker  und  Va- 
ganten vorgearbeitet,  so  daß  er  nun,  fast  mühelos,  die  Er- 
rungenschaften beider  Traditionen  vereinigen  kann.  Anderer- 
seits strömen  ihm  hier  die  eigenen  Erlebnisse  und  Empfindungen 
so  reichlich  zu,  daß  von  unselbständiger  Nachahmung,  sei  es 
lateinischer,  sei  es  provenzalischer  Lehr-  und  ßügedichtung 
kaum  mehr  die  Rede  sein  kann.  Ich  habe  handgreifliche 
Entlehnungen  weder  da  noch  dort,  wohl  aber  allerlei  An- 
klänge finden  können.  Es  mag  genügen,  durch  einige  Andeu- 
tungen und  Belege  Cardinais  Bekanntschaft  mit  der  satirischen 
Lyrik  der  Kleriker  und  Vaganten  und  mit  der  lateinischen 
Schulpoesie  überhaupt  wahrscheinlich  zu  machen. 

Wir  haben  es  als  einen  sympathischen  und  persönlichen 
Zug  an  ihm  hervorgehoben,  daß  er,  im  Unterschied  von  dem 
herausfordernden  Selbstbewußtsein  der  meisten  Trobadors,  aus 
seiner  eigenen  Unvollkommenheit  kein  Hehl  macht  und  sich 
gelegentlich  selbst  in  die  Reihe  der  von  ihm  getadelten  Sünder 
und  Narren  einschließt.  Beispiele  dieser  bescheidenen  Selbst- 
kritik konnte  er  in  der  mittellateinischen  Dichtung  viel  zahl- 
reicher finden  als  in  der  provenzalischen.  In  dem  bekannten 
Lied  gegen  die  Simonie,  Nr.  LXXHI  der  Carmina  Burana,  das 
dem  Thomas  Becket  (f  1170)  zugeschrieben  wird,  heißt  es: 

Omnes  siquidem  sumus  rei, 
nullus  imitator  Dei, 
nuUus  vult  portare  crucem, 
nullus  Christum  sequi  ducem.^) 


^)  Außer  den  Carmina  Burana  siehe  auch  E.  du  Meril,  Poesies  popul. 
latines  du  moyen  äge,  Paris  1847,  S.  177flF.  Ähnlich  W.  Map:  Omnes 
intendimus  ad  res  illicitas.  Thom.  Wright,  The  Latin  poems  commonly 


I 


12ö  6.  Abhandlung:  ICarl  Yossler 

An  die  berühmten  Selbstankiagen  des  Archipoeta  braucht 
kaum  erinnert  zu  werden.  Die  eigene  Blöße  nicht  zu  ver- 
hüllen, gehörte  geradezu  zum  Stil  dieser  Dichter.  Ebenso  zu- 
gänglich waren  sie  der  Forderung,  die  eigenen  Lehren  und 
Mahnungen  selbst  zu  befolgen,  und  auch  dafür  hat  Cardinal, 
im  Unterschied  vom  Durchschnitt  der  Trobadors,  ein  offenes 
Ohr.  Der  dem  Walter  Map  zugeschriebene  Rhythmus  an  den 
Papst  über  die  Mißstände  der  Kirche^)  beginnt  mit  einem  Ge- 
dankengang, wie  man  ihn  ähnlich  bei  Cardinal  des  öfteren  findet: 

Commendarem  bonos  mores, 
sed  virtutis  amatores 

paucos  esse  doleo ; 
quod  si  pravos  reprehendam, 
et  eis  non  condescendam, 

bella  mihi  video. 


Tanto  viro  locuturi 
studeamus  esse  puri, 

sed  et  loqui  sobrie; 
carum  care  venerari, 
et,  ut  caro  simus  cari, 

careamus  carie. 

Decet  enirh,  et  hoc  unum 

est  in  primis  opportumim, 

ut  me  ipsum  judicem. 


attributed  to  W.  Mapes,  London  1841,  S.  167.     Im  Prolog  zu  den  Epi- 
grammen des  Priors  Godefridus  heißt  es: 

Proposui  ludendo  quidem  garrire  aliorum 

mores,  carpo  alios,  me  quoque  carpo  simul. 
Rubigo  invidiae,  species  invisa  cachinni, 

omnis  abest,  ut  me,  rideo  sie  alios. 
Rideo  mecum  alios,  ne  nos  male  rideat  alter; 
ne  quis  nos  possit  laedere,  rideo  nos. 
Wright,  The  Anglo-Latin  sat.  poets  II,  S.  103. 

^)  Gedruckt  bei  Flacius  Illyrieus,  Varia  doctorum  piorumque  viro- 
rum  de  corrupto  Ecelesiae  statu  poemata,  Basel  1556,  S.  9f.  und  mit 
besserer  Textgestaltung  bei  Thom.  Wright,  The  Latin  poems  commonly 
attributed  to  Walter  Mapes,  London  1841,  S.  57 f. 


Peire  Cardinal  129 

Eher  den  geistlichen  als  den  weltlichen  Satirikern  eignet 
auch  der  Gedanke,  daß  man  es  nicht  wagen  dürfe,  all'  die 
Sünden  und  Greueltaten  der  Menschen ,  insbesondere  der  Macht- 
haber bei  Namen  zu  nennen. 

Inaudita  dicerem,  si  liceret  fari 
heißt  es  in  dem  Sermo  Goliae  Pontificis  ad  Praelatos  impios.^) 
Ein   englischer  Geistlicher,  der  in  mehr  als  zwanzig  Strophen 
das  Lasterleben  eines  Kirchenfürsten  verhöhnt  hat,   beschließt 
seinen  Gesang: 

A  me  si  requiritur: 
quis   est   qui  sie  dicitur 

mendax  et  mendosus?: 
Oblitus  sum  nominis, 
quia  nomen  hominis 
est  „obliviosum".^) 

Einer  der  wichtigsten  Gemeinplätze,  auf  denen  Cardinal 
sich  mit  der  lateinischen  Schulpoesie  zusammenfindet,  ist  der 
Gedanke,  daß  durch  die  sittliche  Entartung  der  Menschheit 
alle  Werte  in  ihr  Gegenteil  verkehrt  werden. 

Ecce  mundus  moritur,  vitio  sepultus; 
'  Ordo  rerum  vertitur,  cessat  Christi  cultus, 

Exulat  justitia,  sapiens  fit  stultus.^) 

Die  mittellateinische  Satire  weist  auch  gerne  auf  das  Ende 
der  Welt  und  auf  die  Vorzeichen  des  Antichristen  als  unmit- 
telbar bevorstehend  hin. 

Mundus  in  interitum  vergit  his  diebus.*) 

Oder:     Amodo  siquidem  possum  asserere, 
quia  Antichristus  creditur  vivere. 


1)  Flacius  Illyricus,  S.  150  und  Wright,  S.  40.  Ähnhche  Äußerungen 
Cardinais  sind  oben,  S.  35  angeführt. 

2)  W.  Meyer  aus  Speyer,  Die  Arundel -  Sammlung  mittelalterlicher 
Lieder,  Abhandig.  der  K.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Göttingen, 
philol.-histor.  Kl.  (neue  Folge),  Bd.  XI,  2,  Berlin  1908,  Nr.  25. 

3)  Flacius  Illyricus,  S.  238  u.  Wright,  S.  149.  *)  Ebenda. 
Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  u.  d.  bist.  Kl,  Jahrg.  1916,  6.  Abb.  9 


M 


13Ö  6.  Abhandlung:  Karl  "Vossler 

cum  sie  Ecclesiae  nunc  per  circuitum 
vadant  ad  dedecus  et  ad  interitum: 
Puto  quod  tempora  venerunt  ultima, 
cum  tot  ebulliant  per  mundum  scandala  ,  .  . 
klagt  ein  Geistlicher  im  Jahre  1173.^) 

Die  berühmteste  künstlerische  Entwicklung  dieses  Motives 
hat  man  in  der  Apocalypsis  Goliae  und  in  dem  Gedichte  De 
adventu  Antichristi.^)  Unserem  Cardinal  müssen  solche  Ge- 
danken wohl  vertraut  gewesen  sein.  In  seinem  Rügelied  Un 
sirventes  vuelh  far  dels  autz  glotos  (Nr.  69)^)  sagt  er  von  der 
entarteten  Geistlichkeit : 

leu  cug  qu'els  son  messatge  d'Antecrist. 
Guardatz  si  d'els  pot  ben  issir  totz   mals! 

Was  Cardinal  seinen  Standesgenossen  nun  im  einzelnen 
vorzuwerfen  hatte,  brauchte  er  bei  anderen  Satirikern  gewiß 
nicht  erst  nachzuschlagen.  Die  Wirklichkeit  bot  Stoff  genug. 
Aber  der  Entschluß,  das  Erlebte  künstlerisch  zu  gestalten  und 
zum  Teile  auch  die  Art  wie  dies  geschieht,  ist  doch  wohl 
durch  den  Vorgang  der  lateinischen  Satire  bedingt.  Das  Bild 
der  bewaffneten  Geistlichkeit  z.  B.,  wie  es  Cardinal  in  seinem 
Lied  über  die  Zerstörung  der  Klöster  von  Moissac ,  Casses  und 
Chamalieres  entworfen  hat,  findet  sich  zwar  etwas  anders,  aber 
doch  ähnlich  in  den  Carmina  Burana  (Nr.  XVII)  wieder: 

Episcopi  cornuti 
conticuere  muti, 
ad  pr^dam  sunt  parati, 
et  indecenter  coronati; 
pro  virga  ferunt  lanceam, 
pro  infula  galeam, 


1)  du  Meril  a.  a.  0.,  S.  321.    Siehe  auch  Carm.  Burana  Nr.  LXXXVl 
und  Fragmenta  Burana,  hgg.  von  Meyer  aus  Speyer,  Berlin  1901,  S.  27  fJ 

2)  Verweise  bei  Gröber,  Grundriß  der  rora.  Phil.  II,  Straßburg  1902J 
S.  365. 

3)  Lex.  rom.,  S.  451  f.  und  Mahn,  Werke  II,  S.  237  f. 


Peire  Cardinal  131 

clipeum  pro  stola, 
[h^c  mortis  erit  mola,] 
loricam  pro  alba, 
[h^c  occasio  calva,] 
pellem  pro  humerali 
pro  ritu  seculari. 

Die  Ironie,  die  hinter  dem  pro  des  Lateiners  steckt,  ist 
dieselbe,  die  Cardinal  mit  seinem  en  luec  de  ausdrückt: 

En  luec  de  procesio 
iran  serrat  et  estrey, 
armat  al  caut  et  al  frey, 
trompan  en  luec  de  trinho. 

Ein  anderes  gemeinsames  Motiv  ist  der  Priester,  der  un- 
mittelbar vor  oder  nach  dem  Gottesdienst  sich  in  Unzucht  be- 
sudelt.    In  den  Carmina  Burana  (Nr.  LXIV)  heißt  es: 

Tu  sacerdos  huc  responde 

cuius  manus  sunt  immunde, 

qui  frequenter  et  iocunde 

cum  uxore  dormis,  unde 

surgens  mane  missam  dicis, 
'  corpus  Christi  benedicis, 

scire  velim  causam,  quare 

sacrosanctum  ad  altare 

statim  venis  immolare, 

virgis  dignus  vapulare. 

Vapulare  virgis  dignus, 

dum  amoris  tantum  pignus 

corvus  tractas  et  non  cignus, 

iam  non  h^res  sed  privignus. 

Castitate  non  inbute, 

sed  immundus  corde  et  cute, 

animarum  pro  salute 

missam  cantas,  o  pollute, 

plenus  sorde,  plenus  mendis 

ad  altare  manus  tendis  • 


132  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

quod  contemnis,  quod  offeiidis, 
concubinam  dum  ascendis.^) 

In  der  Apocalypsis  Goliae: 

Post  Missam  Presbyter  relinquens  infulam, 
in  meretriciam  descendit  insulam^) 

im  De  avaritia  et  luxuria  mundi: 

inde  lupanaris  in  sancta  reportat  odorem^) 
und  bei  Cardinal: 

los  veiretz  del  bordelb  issir; 
cap  dreg  van  al  autar  servir*) 
und: 

et  en  loc  de  matinas  an  us  ordes  trobatz 

que  iazon  ab  putanas  tro '  1  solelbs  es  levatz.*) 

Im  übrigen  ist  dieses  heikle  Motiv  von  Guilhelm  Figueira 
in  dem  Rügelied  No'm  laissarai  per  paor  nachdrücklicher  be- 
handelt worden. 

Ein  satirisches  Genrebild,  das  besonders  beliebt  war,  ist 
die  schlemmende  Geistlichkeit  im  Refektorium  bei  Tisch  und 
beim  Trinkgelage.  Höchst  lebendig  und  anschaulich  wird  es 
in  der  Apocalypsis  Goliae  ausgemalt.  Es  gibt  kaum  ein  la- 
teinisches Gedicht  über  das  Leben  der  Mönche,  wo  es  fehlte. 
Ähnlich  führt  uns  Cardinal  in  einem  seiner  farbigsten  Rüge- 
lieder (Nr.  1)  die  Jakobiner  vor,  wie  sie  nach  Tisch  über  diej 
Güte  des  Weines  zanken  und  zu  Gericht  sitzen,^)  und  in  seinem] 
bekannten  Li  clerc  se  fan  pastor  (Nr.  31)  klagt  er,  daß  im 
Refektorium  reiche  und  betrügerische  Handelsleute  (cusos)  den] 
Ehrenplatz  als  Tafelgäste  einnehmen,  während  die  Armen  aus- 
geschlossen sind.  Zum  vollen  Genrebild  aber  hat  er  solchej 
Motive  doch  nicht  entwickelt. 

Man  wird  nicht  erwarten,  daß  wir  über  das  Wohlleben] 
der  Geistlichkeit,  über  ihre  Vorliebe  für  „Hühner  und  Wein",] 

1)  Carmina  Burana  Nr.  LXIV  und  Thom.  Wright  a.  a.  0.,  S.  49. 

2)  Flacius  lUyricus,  S.  143  und  Thom.  Wright  a.  a.  0.,  S.  14. 

3)  Thom.  Wright  a.  a.  0.,  S.  166.  *)  Nr.  47,  Str.  5. 
5)  Nr.  64.          6)  Text  weiter  unten. 


Peire  Cardinal  133 

für  Pracht,  Bequemlichkeit  und  Putz  der  Kleidung,  über  ihre 
Habsucht,  Simonie,  Heuchelei,  ihre  Wuchergeschäfte  und  Erb- 
schleicherei, ihren  Ablaßhandel  usw.  all'  die  vielen  Ausbrüche 
des  Hohns  und  der  Klage  aus  der  mittellateinischen  und  vulgär- 
sprachlichen Satire  zusammensuchen.^)  Das  Unternehmen  wäre 
müßig;  denn  es  läßt  sich  nicht  entscheiden,  wieviel  im  ein- 
zelnen die  Rügedichtung  Cardinais  aus  eigener  Beobachtung 
oder  aus  literarischer  Erinnerung  geschöpft  hat.  Kulturge- 
schichtlich neue  oder  wesentliche  Züge  fügt  sie  dem  Bild,  wie 
es  die  zeitgenössische  Satire  entworfen  hat,  soviel  ich  sehen 
kann,  nicht  bei.  —  Ein  Punkt,  den  ich  aus  der  lateinischen 
Schuldichtung  bis  jetzt  nicht  hinlänglich  belegen  konnte,  ist 
der  Vorwurf,  daß  Geistliche  sich  weigern,  die  Leichen  armer 
Leute  zu  bestatten.     Cardinal  klagt: 

e  renoviers  sebelliran 

per  aver,  tant  son  enginhos, 

mas  ges  lo  paupre  trachuros 

no  sera  per  eis  sebellitz, 

ni  vizitatz  ni  acullitz, 

mas  aquelhs  de  cuy  an  grans  dos.*) 

Zwei  Verse  aus  der  Saüra  communis  des  Henricus  Archidia- 
conus  sind  vielleicht  in  demselben  Sinne  zu  deuten: 

Corpora  diripitis,  sine  respectu,  sine  jure, 

nil  vobis  ubi  mortua  sint  vel  quomodo  curae.^) 

Wohl  aber  wissen  wir,  daß  ein  Pariser  Konzilbeschluß  des 
Jahres  1208  den  Pfarrern  verbot,  die  Leichen  verstorbener 
Gemeindemitglieder  unbeerdigt  zu  lassen,  um  Geld  von  den 
Angehörigen  zu  erpressen.*)  Auch  Jakob  von  Vitry  erwähnt 
in    einer  Predigt   das   Beispiel  eines  Priesters,   der  eine   arme 


1)  Einige,  aber   lange  nicht  alle  Belegstellen  hat  W.  Nickel,  Sir- 

Iventes  und  Spruchdichtung,  S.  65  gesammelt. 
'         2)  Nr.  54^  Mahn,  Ged.  1228,  1229,  1230. 
3)  Thom.  Wright,  The  Anglo-Latin  satirical  poets  and  epigramma- 
lists  of  the  twelth  Century,  London  1872,  S.  165. 
.................... 


134  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Frau  nicht  beerdigen  wollte,  solange  deren  Sohn  das  Begräbnis- 
geld nicht  bezahlt  hatte. ^) 

Aber  besser  als  durch  inhaltliche  Übereinstimmungen,  die 
immerhin  zufallig  sein  könnten,  wird  durch  einige  formale 
Züge  die  weitgehende  Bekanntschaft  Cardinais  mit  der  mittel- 
lateinischen Schuldichtung  gesichert.  Bekanntschaft  sagt  noch 
zu  wenig.  Es  handelt  sich  um  wirkliche  Vertrautheit.  Car- 
dinal muß  tief  und  lange  in  der  Luft  der  geistlichen  Schulen 
geatmet  haben.  Denn  wie  jene,  so  duften  auch  seine  Dich- 
tungen von  Schärfe,  Witz,  Subtilität  und  Ironie,  sind  gemischt 
aus  Ernst  und  Spott,  haben  etwas  Spielerisches  und  zugleich 
Verdrossenes  und  Müdes,  sind  unerbittlich  grausam  und  gleich 
wieder  treuherzig  wie  ein  Kind,  sind  verbissen  und  sprach- 
freudig, tändelnd  und  schwermütig,  voll  jener  Stimmung  in- 
tellektueller Überlegenheit  und  intellektuellen  Weltschmerzes, 
doktrinärer,  weltfremder  Unschuld  und  ausgebrannter  gleich- 
gültiger Unlust.  Jene  Gemütslage,  die  unter  dem  Namen 
Acedia  in  der  Seelengeschichte  des  Mittelalters  bekannt  ist, 
eignet  in  gleicher  Weise  einem  guten  Teil  der  Cardinaischen 
Sirventese  wie  den  lateinischen  Satiren  seines  Zeitalters.^)  Car- 
dinal ist,  glaube  ich,  der  erste,  der  die  Weltverdrossenheit  des 
Gelehrten  aus  der  Luft  der  Klöster  und  Sakristeien  in  die  Ge- 
sellschaft der  Laien  hinausträgt  und  in  den  Formen  des  Troba- 
dors  zum  Ausdruck  bringt.  Freilich  muß  man  Ohren  haben, 
um  diese  Stimmung,  die  meist  nur  den  Unterton,  nicht  die 
Melodie  macht,  zu  hören. 

Ein  Griff  z.  B.,  der  der  überlegenen,  kritischen  Gleich- 
gültigkeit des  Klerikers  besonders  gut  lag,  war  die  spielerisch- 
systematische Beleuchtung    oder  Beschattung    des    Weltwesens 


^j  The  exempla  .  .  .  from  the  sermones  vulgares  of  J.  de  Vitry  p.  p. 
Crane,  London  1890,  Ex.  197. 

2)  Über  die  Wort-  und  Bedeutungsgeschichte  des  Begriffes  der  Acedia 
oder  Accidia  siehe  den  inhaltsreichen  Exkurs  in  H.  Cochin,  Le  frere  de 
Petrarque,  Paria  1903  (Biblioth.  litter.  de  la  renaissance  IV),  S.  205—221, 
sowie  Voigts  Wiederbelebung  des  klassischen  Altertums,  2.  Aufl.,  Bd.  I, 
S.  139  ff.  und  A.  Farinelli,  La  malinconia  del  Petrarca  in  der  Rivista 
d'Italia,  Rom  1902,  fasc.  VIL 


Peire  Cardinal  135 

von  zwei  Seiten  her,  die  mechanische  Alternation  von  Lob 
und  Tadel,  Ja  und  Nein;  z.  B. : 

Res  odiosa  nimis,  Si  subditur  aequus  iniquis; 

Si  sapiens  stultis,  Res  odiosa  nimis. 

Res  odiosa  nimis,  Facies  si  marcet  honoris; 

Si  ruit  ordo  boni,  Res  odiosa  nimis. 

Res  onerosa  nimis,  Si  torpet  regula  legis; 

Si  Vitium  crescit.  Res  onerosa  nimis,   etc. 

Und  gleich  daneben: 

Res  statuenda  bonis,  Si  praecipit  aequus  iniquis; 

si  sapiens  stultis,  Res  statuenda  bonis. 

Res  statuenda  bonis,  Facies  si  splendet  honoris; 

Si  viget  ordo  boni.  Res  statuenda  bonis. 

Res  retinenda  bonis,  Si  currit  regula  legis; 

Si  Vitium  cedit.  Res  retinenda  bonis. ^j 

Der  Dichter  der  bekannten  Satire  gegen  die  Kirche  Vehe- 
menü  nimium  commotus  dolore,  in  dem  man  wohl  mit  Unrecht 
den  Petrus  de  Yineis  zu  erkennen  geglaubt  hat,  bedient  sich 
dieser  relativistischen  Verteilung  von  Lob  und  Tadel  mit  be- 
wußter L'onie.  Nachdem  er  den  Klerus  nach  Herzenslust  her- 
untergemacht hat,  unterbricht  er  sich: 

Sed  sicut  de  vitiis  recitavi  quaedam, 
ita  de  virtutibus  nunc  sermonem  edam 
et  ipsos  offendere  nullo  modo  credam; 
sed  per  viam  mediam,  ut  decet,  incedam.^) 

Das  folgende  Lob  ist  aber  nur  scheinbar  und  dient  zur  stär- 
keren Würze  des  Hohns.  Und  nun  lese  man  das  merkwürdige 
Sirventes  qu'es  mieg  mals  e  mieg  hos,  das,  obgleich  es  die  Hand- 
schrift C  einem  Guillem  de  Lemotjas  zuweist,  nach  dem  Zeug- 
nis  der  anderen  Handschriften  (/,  K,  T,  d)  und  nach  Stil  und 
Gedanke  ein  echter  Cardinal  ist.^) 


1)  Th.  Wright,  The  Anglo-Latin  satir.  poets,  S.  160  f.  Ähnlich  hat 
ein  Trobador,  der  ebenfalls  Geistlicher  war,  der  Mönch  von  Montaudon, 
einem  Enueg  ein  Plazer  zur  Seite  gestellt.  0.  Klein,  Die  Dichtungen 
des  Mönchs  von  Montaudon,  Marburg  1885,  S.  51  ff. 

2)  E.  du  Meril,  Poes.  pop.  du  m.  ä.,  S.  169. 

3)  Nr.  21.    Mahn,  Gedichte,  1250  und  zwei  Strophen  davon  bei  Ray- 


I 


136  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Ich  will  ein  Sirventes  halb  bös',  halb  gut 

versuchen,  das  einmal  was  Neues  bringt. 

Da  man  doch  meist  zu  Schimpf  und  Tadel  singt 

und  zuviel  Tadel  schließlich  unrecht  tut, 

und  da  ich  auch  nicht  loben  mag  mit  Lüg', 

so  misch'  ich  nun  mein  Lied  aus  Preis  und  Rüg'. 

Vom  Preise  soll  die  Tüchtigkeit  gedeih'n, 

und  Rüge  soll  die  Schlechtigkeit  kastei'n. 

Drum  gilt  die  ^\i^  für  Pfaff  und  Rittersleut, 
von  denen  man  beraubt  wird  statt  beschenkt, 
Rüge,  weil  unser  Volk  durch  sie  bedrängt, 
und  Rüge,  weil  die  Schmach  wird  nicht  gescheut; 
und  Rüge  ihnen,  daß  sie  ohne  Maß, 
und  Rüge,  weil  sie  blind  in  ihrem  Haß, 
und  Rüge,  weil  sie  sind  voll  Lüsternheit, 
und  Rüge  ihrer  ünbarmherzigkeit. 

Den  wacker'n  Armen  aber  gilt  das  Lob, 
den  Frauen  auch,  die  gute  Sitte  wahr'n, 
und,  läßt  sie  niemand  Ehre  mehr  erfahr'n, 
seit  Männer  eifersüchtig  sind  und  grob, 
so  halten  Frau'n  die  Ehre  immer  hoch, 
sind  gut  und  höfisch  mit  den  Dienern  doch 
und  bieten  einem  willig  an  und  gern, 
was  übrig  ließen  ihre  reichen  Herrn. 

Verschlechtert  ist  die  Freundschaft  in  der  Welt, 
verschlechtert  auch  sind  Lustbarkeit  und  Sang, 
verschlechtert  höf'scher  Staat  und  Festesklang, 
verschlechtert,  weil  man  nicht  mehr  sich  gesellt; 
verschlechtert  ist  der  Jugend  Fröhlichkeit, 
verschlechtert  Minnedienst  in  Ehrbarkeit, 


nouard,  Choix  V,  S.  200.  Den  Grundgedanken  dieses  Liedes  hat  Cardinal 
auch  in  der  4.  Strophe  des  Liedes  Tot  aissi  soi  desconselhatz  (461,  236) 
ausgesprochen.  Siehe  Appel,  Provenz.  Inedita  aus  Pariser  Hss.,  Leipzig 
1890,  S.  332 f.;  ebenso  in  Nr.  32,  Str.  5. 


Peire  Cardinal  137 

verschlechtert  ist  die  Liebe  treu  und  klar 
und  alles,  was  von  echtem  Werte  war.  — 

Verbessert  ist  die  Welt  an  Baulichkeit, 
verbessert  auch  an  Gärten  und  Gefild, 
verbessert  darin,  daß  man  selt'ner  stiehlt, 
verbessert  in  der  Rüstung  Zierlichkeit, 
verbessert,  weil  man  reich're  Kleidung  pflegt, 
verbessert,  was  zum  Speisetisch  man  trägt, 
verbessert,  wenn  man  reist,  ist  das  Geleit, 
der  Vorrat  auch  an  Wein  und  an  Getreid. 

Dem  Grafen,  der  den  echten  Wert  noch  hegt, 
in  Rodez,  sei  dies  Liedchen  vorgelegt, 
das  sich  bescheidet  bei  der  Wirklichkeit. 

Der  Gesinnung  nach  ein  höfisches  Sirventes,  aber  nach 
Technik  und  Stimmung  ein  Erzeugnis  der  geistlichen  Schule; 
denn  diese  pedantische  Zierlichkeit  und  dieses  schmerzliche 
Spiel  der  L'onie  ist  nicht  die  Sache  eines  Rittergemütes.  Gewiß 
hatte  auch  die  Technik  der  Trobadors  in  der  Tenzone  eine 
Dichtungsgattung  ausgebildet,  in  der  die  witzelnde  und  alter- 
nierende Beleuchtung  der  Dinge  von  zwei  Seiten  her  zu  Hause 
war.  Aber  gerade  hier  zeigt  sich  der  Unterschied:  denn  die 
Form  der  Tenzone  lebt  von  der  Voraussetzung,  daß  ein  und 
dasselbe  Auge  nicht  schwarz  und  weiß  zugleich  sehen,  daß 
das  „Für"  und  das  „Wider"  nicht  in  einer  Brust  wohnen 
können,  sondern  daß  jedes  von  ihnen  seinen  besonderen  Ver- 
treter heischt.  Darum  ist  die  Tenzone,  auch  die  fingierte, 
die  nur  einen  einzigen  Dichter  zum  Verfasser  hat,  ihrem 
Wesen  nach  unlyrisch  und  stimmungslos,  w^ährend  das  obige 
Lied,  so  kühl  es  mit  seinen  begrifflichen  Antithesen  und  Par- 
allelen anmuten  mag,  doch  die  beschauliche,  nachdenkliche 
und  bittere  Stimmung  eines  in  seinem  Lächeln  verschlossenen 
Dialektikers  hat. 

Cardinal,  der  geistig  gerne  allein  ist  und,  auch  wenn 
er  zu   anderen   spricht,  sich  auf  einsamer  Höhe  fühlt,  scheint 


I 


138  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

die  Tenzone  wenig  geliebt  zu  haben.  Die  Initiative  dazu  hat 
er,  soviel  wir  wissen,  niemals  ergriffen.  Ein  einziges  Mal  hat 
er  sich  von  einem  Herrn  Aimeric  über  die  Vorzüge  des  „Ja" 
gegen  das  „Nein"  in  einen  müßigen  Streit  verwickeln  lassen.^) 
Ein  andermal  läßt  er,  wie  wir  gesehen  haben,  in  Erinnerung 
an  die  geistliche,  nicht  an  die  ritterliche  Literatur,  Recht  und 
Unrecht  vor  dem  allegorischen  Hofstaat  Amors  gegeneinander 
tenzonieren.^)  Doch  ist  dies  eher  ein  joc  partit  als  eine  Ten- 
zone und,  psychologisch  betrachtet,  ist  es  weder  dies  noch 
jenes,  sondern  ein  Spiel  von  Antithesen. 

Die  große,  schon  oben  von  uns  beleuchtete  Vorliebe  Car- 
dinais für  die  Antithese  legt  uns  die  Vermutung  nahe,  daß 
zwei  seiner  Gedichte,  die  dasselbe  Metrum  und  dieselben  Reime 
haben,  nämlich  Nr.  37  und  Nr.  16  im  Verhältnis  der  Anti- 
these zueinander  stehen  und  zusammengehören,  mit  anderen 
Worten,  daß  Nr.  16  die  ironische  Palinodie  zu  Nr.  37  ist. 
Leider  ist  durch  die  mangelhafte  Überlieferung  dieses  Ver- 
hältnis fast  bis  zur  Unkenntlichkeit  verschleiert.  Nr.  37,  das 
ich  aus  oben  erwähnten  Gründen^)  unserem  Dichter  nicht  ab- 
erkennen möchte,  spricht  in  einfacher  Form  die  Absicht  aus, 
auf  einen  weiteren  Hörerkreis  aufklärend  zu  wirken  und  zeigt 
denn  auch  in  schmucklosen  Versen,  wie  habsüchtig  und  falsch 
alle  Stände  geworden  sind,  wie  Könige,  Grafen,  bciilho  und 
senescal  die  armen  Leute  ausbeuten,  wie  die  Geistlichkeit  ihnen 
nacheifert  im  Kleiderluxus,  wie  die  Kirchenfürsten  das  Lehens- 
recht mißbrauchen,  um  ihre  Einkünfte  zu  vergrößern,  wie  die 
schwarzen  Mönche,  also  wohl  die  Kluniazenser,  durch  Fressen 
und  Huren,  die  weißen  Mönche,  also  wohl  die  Zisterzienser, 
durch  Urkundenfälschung  (per  termes  oder  bolas  a  onentir),  die 
Templer  und  Hospitaliter  durch  hochmütiges  Auftreten  und 
die    Canonici    durch    Wuchergeschäfte    ihr    Seelenheil    betrei- 


1)  Peire  del  Puei,  li  trobador  gedruckt  bei  Bartseh,  Denkmäler  der 
provenzal.  Literatur,  Bd.  39  der  Bibl.  des  literar.  Vereins,  Stuttgart  1856, 
S.  134  ff.  und  Mahn,  Gedichte  1015.  Derselbe  Gegenstand  wird  von  G.  del 
Olivier  aus  Arles  in  einer  Cobla  esparsa  behandelt.    Bartsch  a.  a.  0.,  S.  49. 

2)  Siehe  oben,  S.  9  f.  ^)  S.  30,  Anm.  3. 


Peire  Cardinal  139 

ben.^)  Dann  werden  Kapellane,  Juristen,  Wirte,  Ärzte,  Händler, 
Verwalter,  Wechsler,  Kuriere,  Türhüter,  Ackerbauer  und  Ar- 
beiter summarisch  durchgenommen.  Zum  Schluß  der  Hinweis 
auf  die  Rechenschaft  am  jüngsten  Tag  und,  falls  die  achte 
Strophe  nicht  apokryph  ist,  auf  je  einen  vorbildlichen  König, 
Grafen,  Prälaten  und  Baron. 2)  All  dem  stellt  nun,  wie  mir 
scheint,  mit  dem  Liede  Nr.  16  De  selhs  qu'avet^  el  sirventes 
dich  maP)  der  Dichter  eine  ironische  Verteidigung  oder 
Entschuldigung  jener  gewalttätigen  und  trügerischen  Leute 
gegenüber,  die  in  Wahrheit  natürlich  nur  den  Vorwurf  und 
den  Hohn  zu  bekräftigen  dient.  Wenn  ich  in  freier  Umschrei- 
bung den  Sinn  des  zerrütteten  Textes,  der  offenbar  einem  Ad- 
vocatus  Diaboli  in  den  Mund  gelegt  ist,  wiedergeben  darf,  so 
lautet  er  ungefähr  folgendermaßen:  „Diejenigen,  die  Ihr  in 
Eurem  Sirventes  getadelt  habt,  fühlen  sich  tatsächlich  un- 
schuldiof  und  erlauben  ihre  Pflicht  und  Gottes  Gebot  zu  er- 
füllen.  Ihr  Benehmen  will  ich  Euch  rechtfertigen,  und,  wären 
sie  auch  völlig  im  Irrtum,  so  spricht  doch  die  Sitte  der  Welt 
un^  deren  Vorschrift  zu  ihren  Gunsten.  Wenn  ich  z.  B.  Euer 
Haus  und  Euern  Hof  seit  lange  schon  besetzt  habe,  so  glaubt 
nicht,  daß  ich  es  so  leicht  wieder  herausgebe  und  mich  ver- 
jagen lasse.  Das  ist  mein  recht-  und  gewohnheitsmäßiger 
.Besitz.  Und  will  ich  einen  Pilgersmann  erdrosseln,  so  kann 
ich  durch  eine  Schenkung  es  mir  verzeihen  lassen.  Habe  ich 
aber  nichts,  so  habe  ich  mir  den  Galgen  verdient;  habe  ich 
etwas,  so  leiste  ich  mir  manchen  Übergriff.  Der  Arme  kann 
sich  so  tadellos  aufführen  als  er  will,  es  wird  ihn  doch  nie- 
mand achten.  Besitz  ist  mächtiger  als  Gott  und  Teufel  und 
;Wäre  es  noch  hundertmal  mehr,  wenn  der  Tod  nicht  wäre. 
!  Papst,  Legate  und  Kardinäle  haben  gemeinsam  festgesetzt,  daß 
wer  des  Verrates  überführt  wird,  sofern  er  nichts  besitzt,  ge- 


1)  Nicht  immer  dieselben,  aber  ähnliche  Vorwürfe  erhebt  Guiot  de 
*rovins  in  seiner  Bible  gegen  die  einzelnen  Orden. 

2)  Siehe  darüber  Anhang  Y. 

3)  Nur  in   C  höchst  lückenhaft  erhalten   und  gedruckt  bei  Mahn, 
tedichte  983. 


140  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

brandmarkt  werde  —  ist  er  aber  vermögend,  so  muß  man  ihn 
glimpflich  behandeln  (vielleicht  sogar  belohnen?)  .  .  .  Drum 
acht'  ich  den  Christen  sowenig  wie  den  Juden  und  würde  ihn 
noch  weniger  achten ,  wenn  ich  nicht  hoffte ,  vermöge  der  Taufe 
meine  Seele  zu  retten."  Erst  im  Geleit  nimmt  der  Dichter 
wieder  selbst  und  ohne  Ironie  das  Wort: 

Caitiva  gen,  com  cujatz  que  de  lieu 
poscatz  aver  lo  bon  regne  de  Dieu, 
tot  jorn  peccatz  fazen  ad  escien? 
Non  0  crezatz  ni  aiatz  tan  pec  sen! 

Wenn  unsere  Vermutung  richtig  ist  und  dieses  Lied  als 
ironische  Palinodie  tatsächlich  zu  Nr.  37  gehört,  so  kann  man 
wohl  verstehen,  wie  einige  Sammler,  irregeführt  durch  dieses 
Spiel,  das  erste  der  beiden  Stücke  dem  Cardinal  absprechen 
konnten.*)  Daß  die  ironische  Zustimmung  und  Entschuldigung, 
das  ironische  Lob  u.  dgl.  ihm  durchaus  geläufige  Formen 
sind,  beweisen  noch  andere  Stellen,  z.  B.: 

Dieus  deu  los  barons  grazir, 
quar  ves  luy  son  sort  e  mut!^) 

Gott  hat  wohl  die  Ritter  gern, 
weil  sie  taub  und  stumm  ihm  sind. 

Oder;  Entr'els  clergues  non  truep  departimen, 
tut  son  d'un  sen,  d'un  cor  e  d'un  albire, 
e  siervon  Dieu  aitan  honestamen, 
nulh'autra  ren  non  lur  pot  abellir, 
ni  es  nulhs  hom  que  mal  en  puesca  dire  — 
mas  seih  que  y  es,  si  doncx  no  vol  mentir, 
qu'el  cavalguar  e '  1  manjar  e  *  1  dormir 
e'l  juec  d'amor  tenon  a  gran  martire.^) 


1)  Die  Hs.  f  bringt  nach  demselben  Metrum  und  denselben  Reimen 
eine  anonyme  Cöbla  esparsa,  die  das  Thema  der  ungerechten  Verteilung 
des  Besitzes  auf  Erden  behandelt  und  formal  wie  sachlich  von  Cardinal 
beeinflußt  sein  dürfte.  Text  bei  P.  Meyer,  Les  derniers  troub.,  Paris  1869, 
S.  518.  2)  Nr.  18,  Str.  4. 

3)  Nr.  60,  Str.  4.    Rayn.  Choix  IV,  S.  359  f.  u.  Mahn,  Werke  II,  S.  184. 


\ 


Peire  Cardinal  141 

Beim  Klerus  find'  ich  nirgends  Streitigkeit, 
sind  air  ein  Herz,  ein  Hirt  und  eine  Herde 
und  dienen  Gott  mit  solcher  Ehrbarkeit, 
und  nichts  als  dieses  ist  ihr  Lust  und  Fleiß, 
und  niemand  ist,  der  ihren  Ruf  nicht  ehrte 
(außer  ein  Klerk,  der  nicht  zu  lügen  weiß). 
Was  haben  sie  mit  Ritt  und  Schlaf  und  Speis' 
und  mit  der  Liebe  Spiel  doch  für  Beschwerde! 

Die  letzten  Verse  erinnern  wieder  an  Ahnliches  aus  der 
lateinischen  Satire: 

Multa  ferunt  aspera,  multos  cruciatus; 

hie  secretum  thalami  paucis  comitatus 

intrat,  ibi  recubans,  cibis  crapulatus, 

delet  vino  veteri  populi  reatus. 
Alter  majus  patitur  nomine  pro  trino: 

hiemali  tempore,  proximus  Camino, 

vinum  forte  redolet,  ore  resupino; 
'  posses  sine  poculo  satiari  vino.*) 

Ein  andermal  stellt  Cardinal  die  Unsitten  der  Geistlich- 
keit, des  Rittertums,  des  Minnedienstes  und  der  Bauern  als 
Errungenschaften  hin.^) 

Das  Schlechte  zu  loben,  ist  aber  nur  eines  der  einfachsten 
Ausdrucksmittel  der  Ironie.  Als  Schüler  der  lateinischen  Sa- 
tiriker verfügt  Cardinal  über  viele  andere  noch.  So  z.  B.  die 
ironische  Verordnung,  wie  sie  im  De  Mundi  cupiditate,  das 
dem  Walter  Mapes  zugeschrieben  wird,  zu  ausgiebiger  Ver- 
wendung kommt: 

Decretum  ergo  do  pauper  pauperibus, 
ut  si  non  affici  volunt  verberibus, 
non  unquam  habeant  in  janitoribus 
uUam  fiduciam  sine  muneribus. 


1)  Flacius  Illyricus  a.  a.  0.,  S.  151   und  Thom.  Wright,   The  Latin 
poems  commonly  attributed  to  Walter  Mapes,  S.  42. 

2)  Nr.  63,  Str.  3—6.    Rayn.  Choix  IV,  S.  441  f.  u.  Mahn,  Werke  II, 
S.  199. 


I 


142  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Decretum  etiam  secundum  facio, 
cum  papa  sederit  in  consistorio, 
de  quovis  divitum  tractans  negotio, 
tunc  nulla  pauperis  detur  petitio  etc.^) 

Ahnlich  verfügt  Cardinal: 

Un  decret  fauc  drechurier 
e  die:  si  clergues  layc  fier, 
que  fieira  lo  colp  primier, 
pus  l'Apostolis  0  dis; 
e'l  laicx  feira  per  entier 
lo  segon  colp  e'l  derrier, 
e  pueys  sia'n  patz  e  fis. 

Pus  no*m  fauc  autre  jornal, 

farai  una  decretal: 

que  qui  a  moller  venal, 

que  la  lays  a  sos  vezis; 

e,  si  la  torna  en  Tostal, 

que  l'enfant  sion  leyal, 

pus  elh  los  pays  e*ls  vestis.^) 

Besonders  gerne  läßt  er  das  Verwerfliche  glitzern  und 
leuchten  wie  einen  hoch  gefaßten  Edelstein  und  steigert  es  in 
demselben  Maße,  in  dem  er  es  als  Minderung  empfinden  lassen 
will.     Darum  liebt   er  das   stilistische  Spiel   der  Komparative: 

Aissi  cum  son  maior, 
son  ab  mens  de  valor 
et  ab  mais  de  follor, 
et  ab  mens  de  ver  dir 
et  ab  mais  de  mentir, 
et  ab  meyns  de  clercia 
et  ab  mays  de  falbir, 
et  ab  meyns  de  paria.^) 


1)  Thom.  Wright  a.  a.  0.,  S.  169.  2)  ^r.  63. 

3)  Nr.  31,  Str.  3.  Appel,  Provenz.  Chrestom.,  Nr.  76. 


Peire  Cardinal  143 

Oder:   Qu'aissi  com  son  plus  aut  prelat 
an  mens  de  fe  e  de  vertat 
e  mais  d'engan  e  de  mentir, 
e  mens  en  pot  hom  de  ben  dir, 
e  mais  hi  a  de  falsetat, 
e  mens  hi  trob'om  d'amistat, 
e  mais  fan  de  mais  us   issir.^) 

Oder:   On  plus  d'omes  vezon  miei  huelh, 
on  mens  pretz  las  gens  e  mais  me; 
et  on  plus  lo  siec,  piegz  lur  vuelh, 
et  on  mais  los  aug,  mens  los  cre; 
et  on  plus  intr'en  lor  demor, 
mens  ai  de  plazer  en  mon  cor.^) 

Oder:   Aissi  cum  son  maior  an  meyns  de  sen 

ab  mais  de  tort  et  ab  meyns  de  razo  etc.^) 

Oder:   Aquel  amors  que  notz  als  amoros, 
,  que  on  mais  sers,  meyns  val  lo  guazardos, 

amors  que  merma,  on  plus  si  enansa.*) 

In  den  geistlichen  Schulen,  in  denen  man  über  Allegorie 
und  Symbolik  der  Grammatik,  der  Konjugation  des  Zeitworts 
und  dergleichen  tüftelte,  hatte  man  die  Ironie  des  Komparativs 
lange  erkannt.     Ein  einziges  Beispiel  möge  genügen. 

Magnus  maior  maximus, 
parvus  minor  minimus: 
gradus  istos  repperi, 
per  quos  gradus  comperi, 
augeri  et  conteri 
gradus  status  hominis, 
prout  datur  dignitas, 
dignitatum  quantitas 
quantitasque   nominis. 

1)  Nr.  47,  Str.  4.    Lex.  rom.,  S.  447  und  Mahn,  Werke  II,  S.  231. 

2)  Nr.  17,  Str.  2,  siehe  oben,  S.  27. 

3)  Nr.  49,  Str.  4,  siehe  oben,  S.  19. 

*)  Nr.  24,  Str.  4,  Mahn,  Ged.  1241,  1242.  • 


I 


144  G.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Magni  parvus  extiti, 

parvi  magnus  meriti, 

parvQque  sunt  grätig 

diviti  contraria; 

cui  plus  datur  hodie, 

magis  est  obnoxius, 

quique  minus  habuit 

et  minus  attribuit, 

minus  (1.  magis?)  reddit  gratie.^) 

Ob  Cardinal  noch  andere  stilistisch -syntaktische  Kunst- 
griffe, wie  Antithese  und  Repetitio,  der  geistlichen  Schule  ver- 
dankt, ist  schwer  zu  entscheiden.  Unsere  Kenntnis  der  raittel- 
lateinischen  Literatur  ist  viel  zu  lückenhaft,  als  daß  wir  von 
den  besonderen  Formen  und  Motiven,  die  ein  Südfranzose  jener 
Zeit  etwa  daraus  schöpfen  konnte,  uns  ein  klares  Bild  machen 
könnten. 

Wohl  aber  darf  man  annehmen,  daß  unser  Dichter  einige 
Vergleiche,  Bilder,  Witze  und  Namen,  sei  es  aus  der  Dich- 
tung, sei  es  aus  der  Gesellschaft  der  Kleriker  gelernt  hat. 
Hieher  gehört  vermutlich  der  Trebellian  in  dem  oben  über- 
setzten Rügelied  gegen  „Kastiliens  Lügnerei"  (Nr.  53):  2) 

Tals  a  lo  semblant  effanti 
que'l  sens  es  de  Trebellia. 

Offenbar  liegt  eine  dunkle  Erinnerung  an  das  Senatus  con- 
sultum  Trebellianum  in  den  Digesten  vor,  einen  im  Jahre  56 
nach  Chr.  „Annaeo  Seneca  et  Trebellio  Maximo  consulibus" 
verfaßten  Senatsbeschluß,  welcher  bestimmte,  daß  nach  der 
Restitution  einer  hereditas  fideicommissaria  die  erbschaftlichen 
Klagen  sowohl  für  als  gegen  den  Universalfideikommissar  ge- 
geben werden  sollten.^)  Wie  nun  aus  dem  Konsul  Trebellius 
ein  Trebellianus   mit  der  Bedeutung  des   typischen   Betrügers 

1)  Carmina  Burana  Nr.  XIV.  2)  g^  i24f. 

^)  Siehe  Heumann,  Handlexikon  zu  den  Quellen  des  röm.  Rechts, 
9.  Aufl.,  Jena  1907,  sub  voce  Trebellianum  und  Sohm,  Institut.  14.  Aufl., 
Leipzig  1911,  S.  779. 


Peire  Cardinal  145 

in  Erbsachen,  vielleicht  auch  der  Erbschleicherei  geworden  ist, 
kann  man  sich  wohl  denken.  Du  Gange  belegt  zwar  diese 
mittellateinische  Bedeutung  nicht,  ich  finde  sie  aber  in  einem 
satirischen  Gedicht  „Status  mundi  subtilissimus",  das  zur  Zeit 
des  Exiles  der  Päpste  in  Avignon  entstanden  sein  dürfte.  Es 
beginnt:  Honesta  mundi  domina.  Die  einschlägige  Stelle,  in 
der  sich  auch  das  von  Cardinal  zweimal  gebrauchte  Motiv  der 
moralischen  Salbe  wiederfindet,  lautet: 

Est  enim  unguentarius, 

conficiens  unguenti 

emplastra,  quibus  varius 

profectus  fit  languenti: 

qui  non  ut  mercenarius 

circumplicat  dolenti, 

sed  velut  autor  et  Dominus 

fidelis  testamenti. 

'  Nihil  tollens  per  Falcidiam 

vel  [per]  Trebellianum : 

sed  ejicit  invidiam 

et  quicquid  est  profanum  .  .  .  etc.^) 
Ein  echter  Klerikerspaß  ist  zweifellos  die  Narrensalbe  in 
Cardinais  Fabel  Gel  que  fes  tot  quant  es  (Nr.  14),  um  deren 
Deutung  wir  uns  oben  bemüht  haben. ^)  Ein  ähnliches  Rezept 
gibt  im  „Brunellus"  des  Nigellus  Wireker  der  weise  Galenus 
dem  Esel,  der  einen  längeren  Schwanz  haben  möchte:  Marmor- 
fett, Gänsemilch  usw.  Ich  teile  den  Wortlaut  nach  der  Aus- 
gabe von  Köln  1499  mit,  damit  man  durch  den  Vergleich  sich 
überzeuge,  wie  unser  Trobador  dem  englischen  Magister  an 
Witz  und  Erfindung  nichts  nachgibt,  ihn  aber  an  Anstand 
weit  übertrifft.^) 

Recepta  Brunelli  de  apoteca  pro  medicina  caude  sumenda. 

^)  Flac.  Illyr.  a.  a.  0.,  S.  195.  In  welcher  Hs.  Flacius  das  Gedicht 
gefunden  hat,  habe  ich  nicht  ermitteln  können.  In  dem  Verzeichnis  der 
Initia  der  Müncbener  Staatsbibliothek  fehlt  es.  ^)  S.  84  f. 

^)  Auf  ein  ähnliches  deutsches  Rezept  in  der  Zeitschr.  für  deutsches 
Altertum,  n.  F.  III  (1870),  S.  510f.  macht  mich  P.  Lehmann  aufmerksam. 
Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  u.  d.  bist.  Kl.  Jahrg.  1916,  6.  Abb.  10 


I 


14:6  6.  Abhandlung:  Karl  "Vossler 

Marmoris  arvinam,  forni  septeraplicis  umbram, 

quod  peperit  mulo  mula  subacta  suo, 
anseris  et  milvi  modicum  de  lacte  recenti, 

de  luteris^)  cursu  deque  timore  lupi, 
de  canis  et  leporis  septenni  federe  dragman, 

oscula  que  niso  misit  alauda  suo, 
pavonis  propria  libiam   (1.  libram)  de  voce  sonora. 

Ante  tarnen  cauda  quam  sit  adepta  tibi,^) 
de  non  contexta  rubra  sine  sanguine^)  mappa, 

nam  risus  asini  tu  dabis  ipse  tibi; 
allecis  vel  apum  croceo*)  de  spermate  libram, 

de  gyroli^)  iecore  sanguine[m]  sine^)  pede, 
natalis  Domini  modicum  de  nocte  salubri, 

que  nimis  est  longa,  iure  valebit  ad  hec; 
in  reditu  de  monte  Jovis  de  vertice  summo 

accipias  libras  quatuor,  asse  minus; 
alpibus  in  mediis  sancti  de  nocte  Johannis 

de  nive  que  cecidit,  fac  simul  inde  feras, 
serpentisque  rubri  nee  non  de  cauda  colubri 

utilis  est  valde,  nee  tarnen  illud  eme! 
Hec  bene  coUecta  pariter  recentia  queque 

imponas  humeris  sarcinulisque  tuis. 

Auch  Cardinais  Vorliebe  für  die  Tierfabel,  insbesondere 
den  Isegrim-Zyklus,  liegt  eher  in  der  geistlichen  als  in  der 
ritterlichen  Geschmacksrichtung, "^j  und  gerade  der  Wolf  als 
Mönch  gehörte  in  jenen  Kreisen  zu  den  verbreitetsten  Motiven.^) 


^)  luter  =  das  Nilpferd.  Wright,  The  Anglo- Latin  satir.  poets  I, 
S.  33,  liest  lucis. 

2)  Wright:  sibi.  ^)  Wright:  flamine. 

*)  Von  mir  korrigiert  aus  crocro. 

^)  giroli  oder  gerruli  ist  eine  Fischart,  siehe  Du  Gange  s.  v.  ger- 
ruli;  Wright:  ciruli.  ^)  Wright:  sive. 

'^)  Siehe  Kuno  Francke,  Zur  Geschichte  der  lateinischen  Schulpoesie 
des  12.  und  13.  Jahrhunderts,  München  1879,  S.  65  f. 

^)  Siehe  die  reichlichen  Nachweise  in  Ernst  Voigts  Ausgabe  des 
Ysengrimus,  Halle  1884,  S.  65  f. 


Peire  Cardinal  147 

Das  Schönste  aber,  was  Cardinal  der  lehrhaften  mittel- 
lateinischen Literatur  verdanken  dürfte,  ist  seine  Fabel  oder 
Parabel  vom  Regen. ^) 

War  einst  'ne  Stadt,  ich  weiß  nicht  wo, 
dort  fiel  ein  Regen,  der  war  so, 
daß  allen  Leuten,  die  er  netzte, 
sich  plötzlich  der  Verstand  versetzte. 
Alle  verrückt,  nur  einen  hat 
es  nicht  getroffen  in  der  Stadt, 
weil  er  an  jenem '  Regentag 
in  einem  Hause  schlafend  lag. 
Der  stand  nun  auf,  verließ  das  Haus, 
und  draußen  war  der  Regen  aus, 
und  wie  er  unter  die  Leute  trat, 
ein  jeder  schon  wie  närrisch  tat. 
,  Der  ein'  im  Hemd,  nackend  der  zweit', 

ein  anderer  gen  Himmel  speit. 
Und  Steine  werfen  sie  und  Scheiter; 
einer  zerriß  die  eig'nen  Kleider; 
der  eine  stieß,  der  and're  schlug, 
einer  sich  wie  ein  König  trug, 
stemmt'  in  die  Hüfte  stolz  die  Faust, 
ein  and'rer  über  Bänke  saust. 
Und  Drohung  hörte  man  und  Schelten, 
und  Flüche  und  Gelächter  gällten, 
und  schwatzten,  wußten  selbst  nicht  was, 
[drehten  einander  eine  Nas'].  — 
Und  der,  der  bei  Verstände  war, 
verwunderte  sich  dessen  gar 
und  merkte  wohl:  sie  sind  verrückt, 
und  schaut  nach  vorne,  schaut  zurück, 
ob  irgendwo  ein  Kluger  war', 
und  nirgend  war  kein  Kluger  mehr. 


^ 


1)  Ich  übersetze  sie  nach  dem  kritischen  Text  in  Appels  Provenz. 
Chrestom,  Nr.  111. 

10* 


148  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Wie  wunderlich  die  Welt  ihm  schien  - 
sie  wundert  mehr  sich  über  ihn. 
Wie  sie  so  ruhevoll  ihn  seh'n, 
denken  sie:  dem  ist  was  gescheh'n. 
Weil  er  sich  nicht  wie  sie  benimmt, 
so  glaubt  ein  jeder  nun  bestimmt, 
daß  sie  die  Klugen  sind  und  Weisen, 
er  aber  wird  ein  Narr  geheißen. 
Der  ins  Genick,  der  ins  Gesicht 
haut  ihn,  daß  er  das  Gleichgewicht 
verliert,  und  stoßen  ihn  und  treten. 
Er  will  sich  aus  dem  Haufen  retten 
und  wird  gezerrt,  gepufft,  gestellt, 
springt  unter  Schlägen  auf  und  fällt; 
in  Stürzen,  Sprüngen  greift  er  aus, 
jählings  entkommt  er  in  sein  Haus, 
schmutzig,  zerschlagen  und  halb  tot, 
froh  noch,  entwischt  zu  sein  der  Not. 

Die  Fabel  will  die  Welt  bedeuten 
und  was  darinnen  lebt  an  Leuten, 
und  uns're  Zeit,  das  ist  die  Stadt, 
in  der  es  soviel  Narren  hat. 
Doch,  was  die  höchste  Weisheit  meint: 
in  Lieb'  und  Furcht  mit  Gott  vereint, 
seine  Gebote  treulich  tun, 
der  Sinn  ist  uns  verloren  nun. 
Ein  Regen  ist  bei  uns  gefallen: 
Begehrlichkeit,  wovon  in  allen 
Kindern  der  Welt  ein  Geist  gedeiht 
der  Hoffart  und  der  Schlechtigkeit. 
Und  wen  der  Herr  bewahrt  davor, 
der  gilt  den  andern  gleich  als  Tor 
und  auf  und  ab  wird  er  geprellt, 
weil  er  sich  nicht  wie  sie  verhält. 
Sie  halten  frommen  Sinn  für  Wahn, 
doch  wer  dem  Herrn  ist  zugetan, 


Peire  Cardinal  149 

erkennt  in  ihnen  bald  die  Toren, 
die  ihres  Gottes  Sinn  verloren, 
wie  sie  an  ihm  den  Narren  hän, 
weil  er  den  Weltsinn  abgetan. 

Nicht  übel  würde  auf  dieses  Gedicht  jener  Titel  Stattis 
mundi  subtilissimus  passen,  unter  dem  der  oben  erwähnte  Rhyth- 
mus Honesta  mundi  domina,  freilich  erst  im  14.  Jahrhundert,  ge- 
schrieben wurde.  Auch  dort  ist  von  allegorischen  Städten,  von 
der  ürbs  Jerusalem  coelica  und  von  Jericho  famelica  die  Rede 
und  von  einem  Wanderer,  der  auf  dem  Weg  von  der  ersten  nach 
der  zweiten  Stadt  überfallen,  niedergeworfen  und  beraubt  wird. 
Und  auch  dort  wird  am  Schluß  die  Moral  der  Fabel  entwickelt 
—  eine  ferne  Familienähnlichkeit,  die  immerhin  beweisen  kann, 
daß  Cardinais  Fabel  aus  einer  ähnlichen  Schultradition  stammen 
dürfte  wie  jenes  lateinische  Gedicht.  Um  die  Entdeckung 
einer  bestimmten  Quelle  hat  man  sich  bis  jetzt  vergeblich  be- 
müht.^) An  mittellateinischen  Sprichwörtern,  die  den  Grund- 
gedanken der  Fabel  ausdrücken,  fehlt  es  nicht;  z.  B. : 

Heu!  modo  nummosus  mundo  solus  dominatur, 
et  sapiens  inter  fatuos  fatuus  reputatur.*) 

Oder:   Credit  homo  semper  quod  vivit  stultior  alter.^) 
Oder:   Stultus  stultitiam  semper  putat  esse  sophiam.*) 

^)  Vittorio  Cian,  Provenza  satirica  (la  parabola  di  Pietro  Cardenal) 
im  Fanfulla  della  Domenica  vom  22.  Oktober  1905,  XXVII,  Nr.  43  hat 
nichts,  was  zu  brauchen  wäre,  beigebracht.  Jules  Coulet,  Le  troub.  Guil- 
hem  Montanhagol,  Toulouse  1898,  S.  124 f.,  schreibt  über  die  Fabel:  il 
parait  bien  que  P.  Cardenal  ne  l'avait  pas  inventee.  Nous  somraes  sans 
doute  en  presence  d'une  legende  tres  ancienne  qui  a  du  se  modifier  avec 
les  temps  et  les  pays.  M.  Roque  -  Ferrier  (Compte  rendu  des  Societes 
savantes,  Journal  officiel  du  30  mars  1894)  la  retrouve  dans  une  ho- 
melie  de  saint  Jean  Chrysostome  et  la  croit  d'origine  syriaque.  —  Ich 
habe  vergebens  die  Homilien  des  griechischen  Heiligen  und  das  ganze 
Register  seiner  Werke  in  Mignes  Patrolog.  graeca  daraufhin  durchgesucht. 
Auf  keinen  Fall  könnte  Chrysostomus  die  direkte  Quelle  sein. 

2)  Jakob  Werner,  Latein.  Sprichwörter  u.  Sinnsprüche  des  Mittel- 
l^alters,  Heidelberg  1912,  S.  36,  Nr.  8.  ^)  Ebenda  S.  13,  Nr.  127. 


150  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Es  ist  ferner  möglich  und  sogar  wahrscheinlich,  daß  Car- 
dinal die  Legende  von  der  Bekehrung  des  Petrus  Valdus  ge- 
kannt hat,  etwa  so  wie  das  Chronicon  anonymi  Laudunensis 
sie  erzählt.*)  Petrus  Valdus,  heißt  es  dort,  habe  an  Maria 
Himmelfahrt  Geld  unter  die  Armen  geworfen  und,  als  die  Mit- 
bürger ihn  für  verrückt  hielten,  ihnen  zugerufen:  „0  cives  et 
amici  mei!  non  enim  insanio,  sicut  vos  putatis,  sed  ultus  sum 
de  his  hostibus  meis,  qui  me  sibi  fecerunt  servum;  ut  semper 
plus  essem  soUicitus  de  nummo  quam  de  Deo  et  plus  servie- 
bam  creature  quam  Creatori.  Scio,  quod  me  reprehendunt 
plurimi,  quod  hoc  in  manifesto  feci.  Sed  propter  me  ipsum 
et  propter  vos  hoc  egi;  propter  me,  ut  dicant  qui  me  viderint 
possidere  deinceps  pecuniam,  me  amentem  esse;  sed  et  propter 
vos  .  .  .  ut  discatis  in  Deum  spem  ponere  et  non  in  diviciis 
sperare."  Woher  aber  Cardinal  das  Motiv  des  Regens  ge- 
nommen hat,  ist  mir  nicht  gelungen  zu  ermitteln.  Vittorio 
Cian  vermutet,  er  habe  es  selbst  erfunden,  was  an  und  für 
sich  nicht  wahrscheinlich,  besonders  aber  deshalb  ausgeschlossen 
ist,  weil  ein  anderer  Trobador,  Montanhagol,  dieselbe  Parabel, 
aber  mit  völlig  veränderter  Pointe  kennt.  In  seiner  Kanzone 
l^on  estarai,  per  ome  quem  casti  erwähnt  und  kennzeichnet 
er  sie  folgendermaßen: 

Mas  d'amor  tem  que'lh  si'a  far  aissi, 
per  malvastat  que  vei  part  pretz  prezar, 
com  al  savi  fo  ja  que 's  saup  triar 
de  la  plueja  que'ls  autres  enfolli, 
per  que  lui  sol  tenio  *  Ih  fol  per  fat, 
tro  qu'en  viret  son  sen  ab  lur  foldat 
e  anet  s'en  en  Taiga  ad  enfollir.^) 

Doch  wenn  ich  seh',  wie  hoch  man  Schlechtes  schätzt, 
so  furcht'  ich  für  die  Minne,  daß  ihr's  so 


und  Sprichw.-Literatur  des  Mittelalters  im  91.  Jahresbericht  der  Schles. 
Gesellschaft  für  vaterl.  Kultur,  Breslau  1914,  S.  34. 

1)  Monumenta  Germaniae  SS.  XXVI,  S.  448. 

2)  Le  troub.  Guil.  Mont.,  Ausgabe  Coulet,  S.  120. 


I 


Peire  Cardinal  151 

wie  jenem  Weisen  geht,  der  heil  entfloh 
dem  Regen,  der  der  Leute  Sinn  versetzt': 
Die  Narren  hielten  ihn,  nur  ihn  für  dumm, 
bis  er  zu  ihrer  Narrheit  schwenkte  um 
und  auch  hinauslief  in  die  Narrentauf '. 

Es  muß  demnach  um  die  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  in  den 
Kreisen  der  Trobadors  eine  noch  pessimistischere  Fassung  der 
Parabel  im  Umlauf  gewesen  sein;  denn  Montanhagol  hat  zwi- 
schen 1233  und  1258  gedichtet. 

Cardinal  aber  gibt  durch  den  sachlichen  Stil  seiner  Er- 
zählung, durch  das  Zurückhalten  aller  persönlichen  Gefühls- 
töne, selbst  in  der  „Moral",  sich  den  Anschein,  jenseits  von 
Pessimismus  und  Optimismus  zu  stehen.  Aus  der  kühlen  Höhe 
und  Klarheit  eines  weltentrückten  Beobachters  zeigt  er  tief 
unter  sich  das  menschliche  Treiben.  Farblos  und  gleichgültig 
erscheint  es  uns  in  greller  Beleuchtung,  nur  als  phantastische 
Bewegung  und  närrische  Gebärde  noch,  in  einer  ausgebrannten 
und  verkohlten  Welt,  die  allem  Schuldbewußtsein  abgestorben 
ist.  Der  Regen,  nicht  die  Menschen  haben  es  so  gewollt.  In 
diesem  ethischen  Indifferentismus  halten  Weinen  und  Lachen, 
Tadel  und  Lob  sich  die  Wage,  ähnlich  wie  in  jenem  Sirventes  von 
der  Verschlechterung  und  Verbesserung  der  W^elt,  ähnlich  wie 
in  dem  Lehrgedicht  von  den  Weisen  und  törichten  Zuhörern: 

Und  alle  beide  handeln  fein, 

denn  jeder  nimmt,  was  wirklich  sein. 

Aber  wir  wissen  genau,  daß  diese  Neutralität  bei  Cardinal 
nur  einer  künstlerischen,  keiner  sittlichen  Stellungnahme  ent- 
spricht, nur  Stimmung,  nicht  Überzeugung,  nur  Ironie  und 
nicht  sein  Ernst  ist.  Unter  den  Goliarden  mag  es  Charaktere 
gegeben  haben,  die  von  sich  sagen  konnten: 

Similis  sum  folio 

de  quo  ludunt  venti. 
Cardinal  hat  höchstens  von  ihrer  Kunst,  schwerlich  von  ihrer 
Lebensführung  sich   anstecken  lassen.    Die  Acedia  gibt  seiner 
Dichtung  nur  die  Farbe,  nicht  die  Tendenz. 


I 


152  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Auch  von  den  gelehrten,  philologischen  Spässen  dieser 
Kollegen  hat  er  so  gut  wie  keinen  Gebrauch  gemacht.  Er- 
innerungen an  das  klassische  Altertum  sind,  wenn  man  von 
Namensnennungen  wie  Pyramus,  Thisbe,  Alexander  absieht, 
nirgends  nachzuweisen.^)  Seiner  Bildung  nach  ist  Cardinal 
durchaus  mittelalterlich  und  in  keiner  Weise  noch  humani- 
stisch angehaucht;  mittelalterlich  nicht  bloß  dort,  wo  er  volks- 
tümliche Töne  anschlägt,  sondern  ebensosehr  in  seinem  kunst- 
mäßigen und  verkünstelten  Zierat,  in  seinen  Antithesen,  Par- 
allelen, Wiederholungen,  Häufungen,  Alhterationen.  Es  ist 
wesentlich  die  Stimmung,  das  Fühlen  und  die  Anschauungs- 
weise, nicht  das  Wollen  noch  das  Wissen,  was  Cardinal  aus 
der  geistlichen  Schule  mitbringt. 

Ein  Zug  besonders,  dem  er  die  tiefsten  Wirkungen  seiner 
Dichtung  verdankt,  muß  hier  noch  hervorgehoben  werden:  die 
Umkehr  und  Einkehr  von  den  Ausfällen  bitterster  Satire  zur 
Fürsprache,  zur  Innigkeit,  zum  Gebet.  Derartige  Stimmungs- 
wechsel oder  Gefühlskurven  lassen  sich  zwar  nicht  erlernen, 
sondern  wollen  durchgemacht,  zurückgelegt  und  erlebt  sein, 
gelingen  aber  doch  nur  dem  christlich  erzogenen,  in  geist- 
licher Herzensbildung  gezüchteten  Gemüt.  Daß  es  auf  Zucht 
und  Schule  beruht,  mag  man  an  der  oft  unvermittelten,  einiger- 
maßen gedankenlosen  Plötzlichkeit  erkennen,  mit  der  manche 
mittellateinischen  Satiriker  die  Geißel  fallen  lassen  und  die 
Hände  zur  Fürbitte  falten  für  den  Sünder,  den  sie  soeben  ge- 
straft haben. ^)  Wie  von  der  Satire,  so  aus  dem  Scherz  heraus 
zum  Gebet  führt  sie  oft  ein  rascher  Sprung,^)  ähnlich  wie  wir 
es  an  Cardinais  Rügelied  gegen  Gott  gesehen  haben.  Auch 
sonst  sind   bei    unserem   Dichter    solche  Übergänge    zuweilen 


*)  Wieweit  hier  Cardinal  hinter  anderen  Trobadors  zurücksteht, 
mag  man  aus  den  Zitaten  bei  Birch-Hirschfeld,  Über  die  den  provenzal. 
Trobadors  bekannten  epischen  Stoffe,  Halle  1878,  S.  6 — 25,  ersehen. 

2)  Vgl.  den  Schluß  des  Sermo  Goliae  Pontificis  ad  Praelatos  impios, 
Flacius  a.  a.  0.,  S.  152  und  Wright,  S.  42. 

^)  Vgl.  den  Schluß  des  Rhythmus  in  sacerdotalis  conjugii  favorem 
bei  Flacius,  S.  236  ff. 


Peire  Cardinal  153 

noch  hart  und  machen  den  Eindruck  des  Angelernten  und 
Konventionellen,  so  in  Nr.  3,  Nr.  25,  Nr.  34.  Etwas  besser 
vorbereitet  sind  die  frommen  Wünsche  am  Schlüsse  von  Nr.  60. 
Zum  vollen  Einklang  aber  fließen  Sarkasmus  und  Gebet  in 
dem  berühmten  Straf lied  Tartarassa  ni  voutor'^)  zusammen. 
Langsam  sich  dehnend  und  weitend  drängen  hier,  aus  der  Tiefe 
des  Hasses  selbst,  die  Gefühle  des  Mitleids  und  der  Liebe  ans 
Licht,  und  doch  ist  es  keine  weichliche  Zerschmelzung  der 
Gefühle,  weil  ihr  Umschwung  durch  die  kühlen  Gründe  des 
Witzes  und  Nachdenkens  geleitet  wird.  Erst  nachträglich  emp- 
findet man  als  Innigkeit,  was  sich  zunächst  ganz  nüchtern  als 
Vernünftigkeit  gibt. 

Aasgeier  und  Bussard  geh'n 
auf  der  Witterung  nach  Lud'r 
sich'rer  nicht  als  Pfaff  und  Brud'r 
einen  Reichen  sich  erspäh'n; 
tun  ihm  traulich  um  die  Wett; 
v^irft  dann  Krankheit  ihn  aufs  Bett, 
zwingt  man  ihn  zur  Donation, 
und  sein  Haus  wird  arm  davon. 

Dem  Franzos  und  Pfaff  gefällt 
böse  Tat,  die  ihnen  frommt, 
weil  ja  doch  zur  Macht  der  Welt 
Wuch'rer  und  Verräter  kommt. 
Drum  von  ihrem  Lug  und  Trug 
ist  die  Zeit  aus  aller  Fug; 
keinen  Orden  gibt  es  mehr, 
der  nicht  brav  ihr  Schüler  war'.  — 

Weißt  du^'auch,  was  einmal  wird 
aus  der  schlecht  erworb'nen  Hab'? 
Kommt  ein  Räuber  unbeirrt, 
der  nimmt  alles  ihnen  ab. 


1)  Nr.  55,  Kritischer  Text  in  Bartschs  Chrestom.  prov.,  Sp.  171  f. 


154  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Ja,  der  Tod  ist's,  der  sie  schlägt, 
in  vier  Ellen  Tuch  sie  trägt 
weg  zu  jener  Wohnstatt  hin, 
wo's  nicht  fehlt  an  bös'  Gewinn. 

Mensch,  was  bist  du  für  ein  Tor, 
daß  du  trotzest  dem  Gebot, 
das  der  Herr  dir  gab,  dein  Gott, 
der  aus  nichts  dich  rief  hervor! 
Wer  mit  ihm  in  Streit  will  sein, 
fällt  beim  Schweinemarkt  herein. 
Des  Verräters  Judas  Lohn 
hat  er  als  Entgelt  davon. 

Gnädiger,  wahrhaft'ger  Gott, 
Herr,  tritt  für  die  Sünder  ein, 
schütze  sie  vor  Höllennot, 
rette  sie  aus  schwerer  Pein, 
und  das  Joch,  in  das  sie  sich 
durch  ihr'  Sund'  gespannt,  zerbrich, 
reiche  ihnen  deine  Hand, 
wenn  sie  sich  zu  dir  bekannt. 

So  zahlreich  und  nachhaltig  aber  die  Spuren  des  satiri- 
schen und  lehrhaften  Klerikergeistes  und  seiner  Ausdrucks- 
weise in  Cardinais  Dichtung  sein  mögen,  im  Kampfe  der  In- 
teressen zwischen  weltlicher  und  kirchlicher  Macht  trennt  unser 
Trobador  mit  heiligem  Grimme  sich  von  seinen  Lehrmeistern 
und  wettert  gegen  sie,  als  ob  er  nichts  in  der  Welt  mit  ihnen 
gemein  hätte.  Man  sollte  nicht  meinen,  daß  jemand  anderer 
als  ein  Laie  das  Rügelied  Li  clerc  se  fan  pastor  oder  gar  das 
folgende^)  gedichtet  hätte.  • 

Wer  gerne  hört  ein  Scheltgedicht, 
gewirkt  aus  Schmach,  durchsetzt  mit  Leid, 


1)  Qui  volra  sirventes  auzir.  Nr.  47.    Lex.  rom.,  S.  446  f.  und  Mahn, 
Werke  II,  S.  2Blf. 


Peire  Cardinal  155 

der  komm'  zu  mir,  ich  hab's  bereit 
und  weiß,  wie  man  es  webt  und  flicht, 
wie  man  sich  fischt  den  Bösewicht, 
woran  man  kennt  sein'  Schlechtigkeit. 
Die  Wackern  lieb'  ich  allezeit, 
die  falschen  Lügner  mag  ich  nicht. 

Die  schnöden  Pfafi'en  seht  mir  an: 

zu  ihnen  strömt  von  weit  und  breit 

der  Stolz,  der  Trug,  die  Lüsternheit; 

im  Treubruch  steh'n  sie  obenan. 

Sie  bieten  gern  uns  Ablaß  an, 

nehmen  dafür,  was  wir  erspart. 

Ihr  eigen  Gut  liegt  wohl  verwahrt, 

wo's  Gott  und  Mensch  nichts  helfen  kann. 

Sie  kriegen  alles  mit  der  Zeit, 

da  hilft  kein  Schutz  und  kein  Verbot; 

sie  fürchten  weder  Sund'  noch  Gott, 

in  Wort  und  Tat  kein'  Häßlichkeit, 

Land  zu  erschleichen  stets  bereit; 

und  wird  davon  manch'  Auge  feucht, 

ihr  Herze  trachtet  unerweicht 

nur  darnach  wie  ihr  Bauch  gedeiht. 

Unmöglich,  daß  man  sie  bekehr': 

je  höher  nämlich  der  Prälat, 

je  wen'ger  Glaub'  und  Treu'  er  hat 

und  Lug  und  Trug  um  desto  mehr; 

je  tiefer  sinket  seine  Ehr, 

je  höher  steigt  sein  falscher  Rat; 

je  weniger  die  Lieb'  ihm  naht, 

je  reichlicher  bringt  Mißbrauch  er. 

Man  hört  wie  in  die  Welt  hinaus 
ihr  Bannfluch  gegen  Räuber  schallt  — 
haben  dann  sie  geraubt,  gekrallt: 
sieht  man  aus  einem  Hurenhaus 


I 


156  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

erhob'nen  Haupt's  geradeaus 
zu  Gott  sie  gehen  zum  Altar; 
wenn  dem  der  Dienst  gefällt,  fürwahr, 
dann  gibt  man  schlecht  Almosen  aus. 

Durch  Kirchenraub  und  durch  Verrat 

beherrscht  das  Pfaffentum  die  Welt, 

hat  Könige  sich  unterstellt, 

die  herrschen  sollten  in  der  Tat. 

Da  wußte  Karl  Martell  noch  Rat, 

der  war  kein  Tor  wie  heut'  die  Herr'n, 

die  alles  jedem  Pfaff  gewähr'n, 

was  ihm  beliebt,  ob  krumm,  ob  grad. 

Laß  dich  begraben,  Ritterschaft, 

und  daß  kein  Wort  dich  künde  mehr! 

Verhöhnt  bist  du  und  ohne  Ehr', 

kein  Toter  hat  so  wenig  Kraft, 

du  wirst  geknetet  und  verpfafft, 

der  König  hebt  dein  Erbe  auf, 

und  all  dein  Recht  ist  Trug  und  Kauf, 

und  also  seist  du  abgeschafft! 

IX.  Der  Künstler. 

Versuchen  wir,  zu  einem  zusammenfassenden  Urteil  zu 
kommen  und  den  Kern  von  Cardinais  Kunst  nunmehr  zu  be- 
greifen. 

Seine  dichterische  Tätigkeit  liegt  in  der  ersten  Hälfte  des 
13.  Jahrhunderts  beschlossen.  Die  datierbaren  Lieder  weisen 
vom  Anfang  des  zweiten  bis  in  das  vierte  Jahrzehnt,  also  in  eine 
Zeit,  da  die  bedeutendsten  Schöpfungen  der  trobadormäßigen 
Kunst  vorbei  waren.  Zwar  gefällt  sich  der  höfische  Minne- 
sang noch  lange  in  Wiederholungen  und  Abwandlungen  seiner 
Inhalte  und  Formen,  in  Cardinal  aber  wird  das  Bewußtsein, 
daß  sie  sich  erschöpft  haben,  zum  ersten  Male  klar  und  le- 
bendig.    Nicht  daß  ich  die  Klagen  über  den  Niedergang  der 


Peire  Cardinal  157 

Ritterlichkeit  und  des  Frauendienstes,  die  längst  nichts  Neues 
mehr  sind,  als  gültige  Zeugnisse  dafür  nehmen  wollte.  Aber 
der  mangelnde  Ernst  diesen  Dingen  gegenüber,  die  schwindende 
Naivität,  die  grundlegende  Ironie,  mit  der  er,  mehr  noch  als 
die  Gedanken,  die  Ausdrucksformen  des  Minnesangs  zu  Spiel- 
zeug und  Firlefanz  entwertet,  reden  eine  deutliche  Sprache. 
Der  sittlichen  Überzeugung  nach  war  auch  Marcabru  ein  Gegner 
des  galanten  Wesens,  aber  vor  dessen  geselligen  Formen  und 
vor  dessen  Kunst  konnte  er  sich  nicht  genugtun  in  Verehrung 
und  hat  sich  heiß  und  zäh  um  die  Meisterschaft  des  Troba- 
dorstils  gemüht.  Cardinal  besitzt  und  beherrscht  von  Anfang 
an  und  mühelos  diesen  Stil  und,  da  er  ihn  sozusagen  aus- 
wendig kann,  benützt  er  ihn  zwar  nicht  gedankenlos,  aber 
schonungs-  und  maßlos,  d.  h.  virtuosenhaft.  Es  fehlt  ihm, 
wie  allen  Virtuosen,  das  eigene  Schönheitsideal  und  der  tiefere 
künstlerische  Wille. 

Wohl  gibt  er  sich  zuweilen  den  Anschein  stilistischer 
Rechtgläubigkeit,  aber  man  darf  sich  nicht  täuschen  lassen. 
Mit  seinem  Estribot  z.  B.  kündigt  er  ein  neues  Gebilde  an, 
das  nach  gramatica,  d.  h.  nach  der  Kunstlehre,  geradeso  tadellos 
sein  soll  wie  nach  divinitatj  d.  h.  nach  der  Gotteslehre.  Genau 
besehen  aber  ist  gerade  hier  das  Metrum  so  locker  und  der 
durchgehende,  strophisch  ungegliederte  Reim  auf  -atz  so  billig, 
daß  ein  Marcabru  oder  Daniel  über  diese  angebliche  Meister- 
leistung die  Achsel  gezuckt  hätten.  In  den  Schlußversen  kommt 
denn  auch  der  wahre  Cardinal  zum  Vorschein:  denn,  sagt  er, 
ist  der  Vortrag  nicht  geglückt,  so  möge  die  fromme  Absicht 
mich  entschuldigen,  und  die  fromme  Absicht  war,  den  Geist- 
lichen eins  zu  versetzen. 

An  der  Erfindung  neuer  Melodien  und  Metren  scheint  ihm 
wenig  oder  nichts  gelegen  zu  sein.  Dafür  bewegt  er  sich,  selbst 
in  den  künstlichsten  Versgebäuden  der  anderen,  mit  solcher 
Meisterschaft  und  Sicherheit  und  beobachtet  die  Strenge  und 
Reinheit  der  Reime  so  geflissentlich,  daß  dort,  wo  unreine  Reime 
bei  ihm  auftreten,  in  den  volkstümlichen  Stücken  vor  allem, 
eine    künstlerische    Absicht   zugrunde   liegen   muß.     Eine   ge- 


158  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

nauere  Untersuchung  seiner  Verstechnik  ist  freilich,  solange 
wir  keine  kritische  Textausgabe  besitzen,  aussichtslos. 

Inwieweit  er  nun  durch  neue  Inhalte  die  alten,  an  über- 
nommene Kunstformen  geknüpften  Erwartungen  bewußtermaiaen 
täuscht,  also  die  Wirkung  der  Parodie  erstrebt,  und  wieweit 
er  sich's  nur  bequem  machen,  d.  h.  eigene  Erfindung  sparen 
will ,  muß  von  Fall  zu  Fall  entschieden  werden.  Parodistische, 
ironische  oder  satirische  Absicht  konnten  wir  mit  einiger  Wahr- 
scheinlichkeit feststellen  in  den  Sirventesen  Nr.  7  und  48;  viel- 
leicht liegt  sie  auch  in  Nr.  17,  55  und  anderen  vor.  Jeden- 
falls weiß  er  auch  den  Verzicht  auf  eigene  Formerfindung  zu 
künstlerischer  Geltung  zu  bringen,  sei  es,  daß  er  wie  in  Nr.  49 
mit  der  nachlässigen,  lächelnden  Überwindung  technischer 
Schwierigkeiten  kokettiert,  oder  wie  in  seinen  Fabeln,  als  volks- 
tümelnder  Schalk,  oder  wie  in  seinen  Reimpredigten,  als  treu- 
herziger Mahner  allem  Formalismus  aus  dem  Wege  geht.  Mag 
er  sich  mit  melodischem  und  akustischem  Zierat  überladen, 
mag  er  ihn  nur  spärlich  und  schüchtern  sich  umhängen,  er 
gilt  ihm  auf  alle  Weise  nur  als  Zierat,  Würze  und  Zutat, 
aber  nie,  wie  dem  Marcabru  oder  Daniel  als  konstitutives  har- 
monisches Schönheitselement.  Kurz,  er  ist  kein  klassischer 
Künstler.  Die  Probleme  der  äußeren  Formen  machen  ihm 
Spaß,  aber  weder  ernste  Schwierigkeit  noch  tiefere  Freude. 

Was  ihm  zu  schaffen  macht,  ihn  quält  und  beseligt,  sind 
die  ethischen  Probleme.  Nicht  daß  er  sich  darüber  den 
Kopf  zerbräche,  aber  er  bearbeitet  sie  dennoch  eher  mit  dem 
Verstände  als  mit  dem  Herzen.  Er  steht  nicht  spekulativ 
und  nicht  mystisch  zu  ihnen,  bohrt  nicht  und  forscht  nicht 
und  ist  auch  kein  ahnender  Seher.  Ihn  plagen  weder  grund- 
sätzliche Zweifel  über  Gut  und  Böse  noch  eigene  Gewissens- 
bisse. Er  verhält  sich  wissend,  besitzend  und  lehrhaft,  kennt 
sich  aus,  ist  mit  sich  selbst  im  Reinen  und  hat  nur  anderen, 
den  Irrenden  und  Bösen,  seine  Meinung  zu  sagen.  Also  die  ge- 
wöhnliche, schulmäßige,  mittelalterliche,  dogmatische,  trockene 
und  zur  Dichtung  am  schlechtesten  geeignete  Stellungnahme! 

Gewiß,  ein  schöpferischer  Dichter  im  großen  Stil  ist  Gar- 


Peire  Cardinal  159 

dinal  schon  deshalb  nicht,  weil  ihm  die  große  Sehnsucht  fehlt. 
Er  kennt  nur  die  kleine,  die  jedermann  drückt  und  die  man 
Unzufriedenheit  nennt  —  diese  kleine  aber  auf  eigene,  in  ihrer 
Art  großzügige  Weise.  Es  tut  ihm  weh,  buchstäblich  und 
innerlich  weh,  die  täglichen  Gewalttaten,  Räubereien,  Gemein- 
heiten und  Lügnereien  der  Menschen  mitansehen  zu  müssen, 
gleichviel  ob  sie  gegen  ihn  selbst  oder  andere  sich  richten. 
Über  persönlichen  Schaden  beklagt  er  sich,  soviel  man  sehen 
kann,  nirgends.  Sein  Schmerz  ist  ethisch  und  uninteressiert; 
in  ihm  leidet  das  beleidigte  Gewissen,  als  dessen  Stimme  er 
sich  fühlt.  Diese  unpersönlich  persönliche  Stimme  gibt  seinen 
Sirventesen  und  Predigten  das  lyrische  Leben.  Wohl  sind 
seine  Gedichte  voll  lehrhafter  Mahnung,  voll  Tadel  und  Lob 
und  reich  mit  verstandesmäßigem  Beweis-  und  Begriffswerk 
durchsetzt,  aber  all  dieses  unlyrische  Geräte  ist  nur  Mittel 
und  Werkzeug  im  Dienste  einer  Poesie,  deren  Klang  aus  dem 
ethischen  Gewissen  kommt. 

In  den  Literaturgeschichten  freilich  pflegt  Cardinal  als  ein 
Künstler  der  Lehrhaftigkeit  und  Tendenz  zu  erscheinen,  weil 
man  eben  gewöhnt  ist,  sich  unter  Satire  und  Sirventes  ein 
gen  US  rhetoricum,  kein  genus  lyricum  zu  denken.  In  der 
Hauptsache  aber  hat  er  mehr  aus  innerem  Drang,  aus  eigenem 
Mißmut,  Zorn  und  Groll  heraus  als  nach  bestimmten  Zwecken 
hin  gesungen.  Wir  haben  zur  Genüge  erfahren,  wie  schwer 
sich  die  äußeren  Gelegenheiten  und  die  besonderen  Zielscheiben 
seiner  Satiren  erkennen  lassen  und  wie  leicht  die  ethische  Er- 
regung ihn  ins  Weite  führt.  Auch  ist  die  spezifisch  rednerische 
Kraft  in  ihm  verhältnismäßig  gering.  Zum  wirksamen  Redner 
fehlt  ihm  die  wichtigste  Voraussetzung:  die  Gabe  und  die  Lust 
in  anderer  Leute  Sinnesart  hinabzutauchen.  Was  für  ein  un- 
Fgeschickter  Lehrer  und  Mahner  er  ist,  sieht  man  am  besten 
[an  seinen  zwei  Reimpredigten. 

Die   erste,   Jesu   Crist  nostre  salvaire  (Nr.  27)   mit  ihren 
^78  Strophen,   mit   ihrem  82mal  wiederkehrenden  Endreim  auf 
und  ihrem  wenigstens  ISmaligen  Anruf  avs  tu!  „hörst  du!" 
gefällt  sich  sichtlich  in  der  Eintönigkeit  als  einem  Stimmungs- 


160  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

element.  Diese  lockere  und  doch  geschlossene,  didaktisch  gewiß 
nicht  sehr  wirksame,  einlullende  Umrahmung  erlaubt  dem  Ge- 
danken des  Redners,  sich  ohne  Ordnung  und  Aufbau,  in  weitem, 
beliebigem  Schweifen,  ebenso  vielfältig  als  einstimmig,  um  das 
Grundthema  der  Erlösung  aus  den  Sünden  herzuschlingen. 
Man  könnte  sich  das  Ganze  ohne  ersichtliche  Störung  ver- 
kürzt oder  verlängert  denken,  man  kann  einzelne  Strophen, 
ja  ganze  Büschel  von  Strophen  beliebig  umstellen,  ohne  die 
Kunstform  und  die  Logik  zu  schädigen.  Die  Predigt  beginnt 
als  Verheißung,  erhebt  sich  zur  Mahnung,  pocht  und  häm- 
mert als  Drohung,  geht  mit  beharrlicher  Wahllosigkeit,  immer 
mit  derselben  Gebärde  wieder  anklopfend,  bei  allen  Klassen 
und  Arten  von  Sündern  herum,  um  schließlich  in  einem  chor- 
artigen Gebet  sie  alle  zu  beruhigen.  Man  hat  eine  Technik, 
die  nicht  rednerisch,  sondern  wesentlich  musikalisch  gezügelt 
ist,  ähnlich  etwa  wie  der  Sonnengesang  des  hl.  Franziskus 
mit  seinem  unregelmäßig  eintönig  wiederkehrenden  Laudato 
sie,  mi  signore.  Auch  dort  ist  eine  bunte,  wahllose  Mannig- 
faltigkeit von  Lebensvorstellungen  auf  eine  einzige  Gefühlsfarbe 
abgestimmt,  auch  dort  könnte  man,  ohne  die  Komposition  zu 
zerstören,  kürzen,  längen  und  umstellen;  und  etwas  Ahnliches 
gilt  für  andere  franziskanische  Dichtungen,  wie  das  Dies  irae, 
das  Stahat  mater,  das  Ave  coeleste  Ulium.  Sie  sind  alle,  wie 
unseres  Cardinais  Predigt,  wesentlich  lyrisch  empfunden  und 
psalmenartig,  genauer:  sequenzartig  angelegt.  Sogar  dem  Me- 
trum nach  ist  jene  Reimpredigt  eine  Sequenz. 

Die  zweite  Reimpredigt  Predicator  (Nr*  42)  zeigt  demgegen- 
über einen  entschiedenen  Versuch  zur  rednerischen  Leistung. 
Der  Dichter  wendet  sich  an  ein  bestimmtes  Publikum,  näm- 
lich die  Großen  und  Reichen,  die  baros.  Er  gliedert  auch  seine 
Rede  ziemlich  klar  nach  Ankündigung  (Strophe  1 — 11),  War- 
nung (11—18),  Mahnung,  die  vom  Besonderen  allmählich  zum 
Allgemeineren  aufsteigt  (18 — 27),  und  Verheißung  (27 — 30). 
Sogar  zur  Captatio  benevolentiae  macht  er  einen  Anlauf  (4 — 7). 
Schrittweise  entwickelt  er  einfache,  klare,  zum  Teil  tiefe  (23) 
Gedanken   und  gibt  ihnen  kurzen,   scharfen   Ausdruck.     Aber 


Peire  Cardinal  161 

eben  mit  der  Formulierung  der  Gedanken  ist  er  so  sehr  be- 
schäftigt, daß  er  die  Beweglichkeit  und  Schmiegsamkeit  nicht 
mehr  aufbringt,  deren  es  bedarf,  um  zwischen  Redner  und 
Hörer  den  Wechselstrom  des  Einverständnisses,  die  Sympathie, 
in  Gang  zu  bringen.  Er  gibt  Grundsätze,  Sprüche  und  Richt- 
linien, bleibt  aber  selbst  starr  wie  ein  Wegzeiger  am  Platze, 
doziert  anstatt  zu  überreden  und,  wenn  er  für  seine  Forde- 
rungen die  Vernunftgründe  liefert  anstatt  der  Willensimpulse, 
so  ist  es  schon  viel.  Wie  bezeichnend,  daß  dieser  Prediger 
durch  die  bloße  abstrakte  Güte  seiner  Absicht,  d.  h.  durch 
den  Verzicht  auf  seine  angeborene  Neigung  zu  Spott,  Hohn 
und  Ironie,  sich  die  Wirkung  zu  sichern  hofft  (4 — 5). 

Kurz,  die  mitteilsamen,  verbindlichen  und  werbenden 
Formen  der  Rede  sind  ihm  versagt.  Auch  waren  sie  von  der 
Kunst  der  Trobadors  nur  erst  zu  den  schlimmheiligen  Zwecken 
minniglicher  Verführung  und  nicht  zu  sittlicher  Seelsorge  aus- 
gebildet worden. 

Umso  sicherer  handhabt  Cardinal  das  trennende,  schnei- 
dende und  schreckende  Wort,  das  den  Menschen  auf  sich  selbst 
zurückweist  und  zu  angstvoller  Nachdenklichkeit  und  Einkehr 
ins  Übersinnliche  treibt.  Und  doch  ist  er  kein  Bußprediger 
im  asketischen  oder  protestantischen  Sinne  des  Wortes,  ob- 
wohl er  es  an  reichlichen  Ansätzen  dazu  nicht  fehlen  läßt. 
Er  macht  sozusagen  beim  Anfangserfolge  schon  halt.  Es  ge- 
nügt ihm,  im  Hörer  die  bloße  Stimmung  zur  Buße,  den  rein 
beschaulichen  Schauder  vor  der  Sünde,  eine  Art  ethischen 
Gruseins  erzeugt  zu  haben.  Nur  jenes  Frösteln  bringt  er  uns 
bei,  das  beim  Schrei  des  Gewissens  den  inneren  Menschen 
überrieselt,  nur  die  gefühlsmäßigen  Begleiterscheinungen,  die 
von  der  Vorstellung  zerstörter  sittlicher  Werte  ausgehen.  Eben 
kraft  dieser  Beschränkung  ist  er,  so  ausgedehnt  immer  die 
rednerischen  Einschläge  und  die  polemischen  Absichten  in  seiner 
Dichtung  sein  mögen ,  wesentlich  Lyriker. 

Er  hat  nun  zwar  allerhand  Mittel,  um  einem  die  morali- 
sche Gänsehaut  zu  machen.  Da  das  instinktiv  erstrebte  Ziel 
aber  sich  gleichbleibt,  so  bestimmt  es  in  gewisser  Weise  auch 

Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  u.  d.  bist.  Kl.  Jahrg.  1 9 1 6, 6.  Abh.  1 1 


I 


162  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

die  Grundlinien  des  künstlerischen  Verfahrens.  Selbstverständ- 
lich muß  er  mit  Gegensätzen  arbeiten,  denn  nur  Kontraste 
und  Disharmonien  lösen  den  Schauer  aus.  Und  da  es  ein  ethi- 
scher Schauer  sein  soll,  werden  es  wesentlich  die  Unstimmig- 
keiten zwischen  Sittengesetz  und  Lebenserfahrung  sein  müssen, 
zwischen  der  intelligiblen  und  der  empirischen  Welt,  zwischen 
dem  jenseitigen  Glauben  und  dem  diesseitigen  Treiben. 

Wie  wenig  es  Cardinal  um  sinnliche  Ausmalung  der  jen- 
seitigen Dinge  zu  tun  ist,  haben  wir  oben  gesehen.  Für  einen 
mittelalterlichen  Geistlichen  hat  er  eine  geradezu  auffällige 
Scheu  vor  greifbaren  Höllen-  und  Himmelsbildern.  Die  jen- 
seitige Welt  ruht  ganz  in  der  inneren  Gewißheit  bei  ihm  und 
gilt  ihm  als  ein  gefühlter  und  gedachter  und  eben  darum 
unmittelbar  lebendiger  Wert,  nicht  als  ein  Gegenstand,  der 
durch  die  Aufregung  der  sinnlichen  Anschauung  erst  belebt 
werden  müßte.  Er  hat  wie  wenige  seiner  Zeit  die  absolute 
Idealität  von  „Gut  und  Böse"  erfaßt:  denkend  und  fühlend, 
mystisch  und  aufklärerisch  zugleich.  Dementsprechend  stellt 
sie  sich  in  seiner  Sprache  nur  selten  als  Bild  und  meistens  als 
Begriff,  d.  h.  als  Name  mit  pathetischem  Klang  und  Bedeutungs- 
akzent dar.  Läßt  er  je  einmal  die  absoluten  Werte  der  Tugen- 
den oder  Laster  auf  dem  Schauplatz  der  Erde  erscheinen,  so 
geschieht  es  nicht  in  volkstümlichen,  engel-  oder  teufelhaften 
Verkörperungen,  sondern  in  einem  ebenso  feierlichen  als  farb- 
losen Schattenspiel  von  Allegorien,  nicht  in  vertraulichen,  son- 
dern in  erhabenen  und  gelehrten  Formen,  die  im  Idealen  und 
Abstrakten  wie  in  verklärender  Ferne  verschwimmen.  Wohl  das 
beste  Beispiel  dieser  Art  hat  man  in  dem  liiede  Nr.  43.^) 

Quais  aventura 
es  aisso  d'aquest  mon! 

que  la  dreytura 
no  y  troba  gua  ni  pon, 

mas  Desmezura 
hi  vai  per  tot  afron^) 


1)  Mahn,  Gedichte  980  u.  979.  2)  i  ^ai  tota  afron  M  (979). 


Peire  Cardinal  163 

e  mou  rancura 
e  auci  e  cofon, 
e  Mentirs  mantas  ves 
nays  hi  aitan  espes 
que  Vertatz  ni  Merces 
ni  Patz  ni  Conoyssensa 
no  y  atroba  guirensa, 
e  Poders  pren  lo  ses 
lai  on  Dregz  non  a  ges. 

Tortz  e  Maleza 
et  Erguelhs  yssamen 

e  Cobeeza 
ab  trastot  son  coven^) 

e  Avareza 
an  fait  acordamen, 

cossi  Franqueza 
gieto  d'entre  la  gen; 
e  mueyra  Caritatz 
e  Patz  e  Pietatz; 
e  Bona  Voluntatz^) 
en  nulh  loc  remanha, 
en  valh  ni  en  montanha, 
que  •  1  fuecx  es  atizatz 
que  i  a  mes  Malvestatz. 

ÜSW.3) 

Soll  man  die  Namen  dieser  Laster  und  Tugenden  gi'oß  oder 
klein  schreiben?  Sind  es  Begriffe  oder  Personen?  Bald  dies, 
bald  das,  und  im  Grunde  beides  durcheinander.  Der  Anschau- 
ung wird  wenig  oder  nichts  gegeben,  und  man  muß  sich  die 
Wirkung  solcher  Gesänge  auf  den  mittelalterlichen  Hörer  als 
eine  wesentlich  pathetische  und  sonore,  erbauliche  und  er- 
hebende denken,  wobei  Unterweisung  und  Lehrhaftigkeit  zwar 


^)  per  aital  covinen  M.  2)  q  gg  fois  e  solatz  31. 

3)  Ähnliche  Partien  hat  man  in  Nr.  46,  Str.  5;  51,  2;   52,  2;  62,  1 
und  2;  33,  1;  25,  1  und  in  Nr.  13. 

11* 


I 


164  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

nicht  fehlen,  aber  gewiß  nicht  als  so  aufdringlich  und  vor- 
herrschend empfunden  wurden  wie  von  dem  modernen  Leser. 
Derartige  Sirventese  stehen  der  Ode  viel  näher  als  dem  Lehr- 
gedicht oder  der  Satire.  Jede  Übersetzung  läuft  Gefahr,  die 
lyrische  Wirkung  zu  zerstören  und  hinter  dem  Inhalt  den 
Formgedanken,  der  doch  allein  die  dichterische  Schönheit 
macht,  erbleichen  zu  lassen;  es  sei  denn,  daß  man  mehr  nach 
Ohr,  Rhythmus  und  Gefühl  als  nach  dem  Wortsinn  übersetzte, 
d.  h.  als  deutschgewordener  Cardinal  geradezu  dichtete.  Nur 
so  könnte  man  dem  heutigen  Hörer  von  den  Schauern  der 
Erhabenheit,  die  wie  Wetterleuchten  durch  das  graue  Ge- 
wölke der  verschwimmenden  und  wogenden  Bilder  zucken, 
eine  Ahnung  geben. 

An  und  für  sich  war  diese  lyrisch  -  dialektische  Stilart 
nicht  neu.  Schon  Marcabru  hatte  sie  versucht;  aber,  wie  ich 
glaube  gezeigt  zu  haben, ^)  mit  einer  Gequältheit  und  Dunkel- 
heit, die  eher  den  Eindruck  der  Anstrengung  als  des  schwung- 
vollen und  ruhigen  Schwebens  über  der  irdischen  Gemeinheit 
hinterläßt.  Im  Vergleich  mit  Cardinal  haben  die  odenhaften 
Versuche  des  Marcabru  noch  etwas  Unbeholfenes,  Verbissenes 
und  grimmig  Pedantisches. 

Cardinal  freilich  erhebt  sich  nur  vorübergehend,  zwar  oft 
aber  kurz,  in  jene  hohen  Regionen.  Er  taucht  in  die  blasse 
Lichtwelt  der  Ideen  nur  soweit  hinauf  als  nötig  ist,  um  Di- 
stanz zu  den  Gemeinheiten  und  Narrheiten  des  allzu  bunten 
Alltags  zu  gewinnen.  Das  eben  angeführte  Lied  dürfte  wohl 
das  einzige  sein,  das  den  odenartigen  Stil  gleichmäßig  durch- 
hält; im  übrigen  kann  ich  ihn  nur  im  Wechsel  und  meistens 
in  völliger  Mischung  mit  anderen,  sagen  wir  realistischeren 
Tönungen  finden.  Freilich,  in  derber  Anschauung  sich  festzu- 
saugen ist  ebensowenig  Cardinais  Sache.  Wir  haben  zur  Ge- 
nüge gesehen,  wie  wenig  Farbe  und  Schilderung  seine  Dich- 
tung enthält.  Das  saftigste  und  satteste  Kostüm-  und  Sitten- 
bild, das  ich  von  ihm  kenne,  ist  das  Sirventes  Äh  vot0  ä'angel 

^)  Der  Trobador  Marcabru  und  die  Anfänge  des  gekünstelten  Stiles, 
Sitzungsberichte  1913,  6.  Dezember. 


Peire  Cardinal  165 

(Nr.  1).  Dieses  freilich  bietet  der  Übersetzung  eine  viel  ge- 
fügigere Hand.  Leider  kann  ich  den  provenzalischen  Text 
nur  in  einer  provisorischen  Form,  wie  ich  sie  nach  Mahn, 
Gedichte  der  Troubadours  Nr.  6  und  1233  (=  Hss.  /  und  T) 
mir  notdürftig  gezimmert  habe,  mitteilen. 

Ab  votz  d'angel,  lengu'es  perta'n  nobleza, 
ab  motz  suptils,  plans  plus  c'obra   d'Engles, 
ben  asetatz,  ben  digz  e  ses  repreza, 
meills  escoutatz  ses  tossir  que  apres, 

ab  plans  sanglotz  mostron  la  via 

de  Jesu  Crist,  cui  quecx  deuria 
teuer,  com  el  la  volc  per  nos  teuer; 
van  prezican  com  poscam  Deu  aver. 

Religions  fon  li  premieir[a]  enpreza 
de  gent  que  trieu^)  ni  bruida  non  volgues, 
mas  Jacopi  apres  maniar  non  aqueza, 
an[z]  desputon  del  vi,  cals  meillers  es, 

et  an  de  plait(z)  cort  establia, 

et  es  Vaudes  qui'ls  ne  desvia. 
E  los  sicretz  d'ome  volon  saber, 
per  tal  que  meills  si  puoscan  far  temer.*) 

Esperitais  non  es  la  lur  paubreza; 
gardan  lo  lor,  prenon  so  que  mieu  es. 
Per  mols  gonels  testutz  de  lan'engleza 
laisson  celitz,  car  trop  aspres  lur  es, 

ni  parton  ges  lur  draparia 

aissi  com  Saint  Martin  fazia, 
mai  almornas,  de  c'om  sol  sostener 
la  paubra  gen,  volon  totas  aver. 

Aissi  com  eis  que  bev.on  la  cerveza 
e  manio'l  pan,  per  Dieu,  de  pur  regres, 
e*l  bro  del  gras  bueu  lur  fai  gran  fereza, 
et  onchura  d'oli  non  volon  ges 


^)  Der  Sinn  von  trieu  ist  mir  hier  nicht  klar. 
^)  car  tener  I,  far  temer  T. 


166  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

ni  peis  gras,  fresc  de  pescaria,*) 

ni  broet  ni  salsa  que  fria: 
per  qu'eu  consoil  qui'n  Dieu  ha  son  esper 
c'ab  lurs  condutz  passe,  qui '  n  pot  aver. 

Si  non,  con  eis  mangem  la  bona  freza 
e'ls  mortairols  batutz  e  ben  espes^) 
ab  gras  sabriers  de  galina  pageza 
e  d'autra  part  iove  ins  vert  ab  bles^) 
e  vin  qui  meiller  non  podia,  '^ 

don  plus  leu  Fransses  s'enebria. 
S'ap  bei  viure  ni  maniar  ni  iazer 
conquerron  Dieu,  be'l  podon  conquerrer. 

Ab  prims  vestitz  amples  ab  capa  teza 
d'estiu,  d'un  camelin  d'envern  espes,*) 
ab  fort  caussar,  solat  a  la  franceza, 
cant  fai  grant  freg,  de  fin  cor  marseilhes, 
ben  ferm  liat(z)  per  maistria 
(car  mals  liars  es  gran  follia!) 
van  prezican,  ab  lor  soutil  saber, 
qu'en  Dieu  servir  metan  cor  et  aver.^) 

Mit  Engeisstimm'  und  Sprache  voller  Adel, 

mit  Worten  wie  Engländer-Arbeit  fein, 

mit  wohlgesetzten  Sprüchen  ohne  Tadel, 

auf  die  man  lauscht  und  prägt  sicb's  doch  nicht  ein, 

mit  Seufzern  zeigen  sie  die  Pfade, 

die  Jesus  ging  und  die  gerade 
wie  Er  für  uns,  ein  jeder  sollte  zieh'n; 
so  weist  zu  Gott  uns  ihre  Predigt  hin. 


^)  peis  fr.  gr.  de  p.  I. 

2)  eil  mortairol  si  batut  com  begues  I,  ells   mortairols  grasses  e 
ben  espes  T. 

3)  insnert  ab  bles  I.  Zu  Ues  siehe  Levy,  Suppl.-Wörterb.  s,  v.  biet. 
*)  Dun  cam.  destiu  denvern  espes  I.  Dun  cam.  divern  deostiue  espes  T. 
^)  In   den  Hss.  folgt  noch  eine  Strophe,  aus  der  hervorgeht,   daß 

Cardinal  ledig  war. 


Peire  Cardinal  167 

Die  ersten,  die  ins  Klosterleben  schieden, 
taten's,  um  Streit  zu  meiden  und  Geschrei.^) 
Die  Jakobiner  aber  halten  Frieden 
selbst  nicht  nach  Tisch:  welcher  der  beste  sei 

der  Weine,  wird  gezankt,  verhöret  — 

„Waldenser!"   wer  sie  dabei  störet. 
Und  um  den  Menschen  fürchterlich  zu  sein, 
drängen  sie  in  Geheimnisse  sich  ein. 

Es  ist  ihr'  Armut  nicht  die  demutvolle; 

das  Eig'ne  wahrend,  rauben  sie,  was  fremd. 

Mit  weichem  Rock,  gewirkt  aus  Englands  Wolle, 

vertauschen  gerne  sie  das  rauhe  Büßerhemd 
und  hüten  sich  vor  jenem  Handel 
des  heil'gen  Martin  mit  dem  Mantel; 

ja,  selbst  die  mildtätigen  Gaben,  die 

den  Armen  zugedacht  sind,  wollen  sie. 

Gerad'  wie  sie  wahrhaftig  sich  bescheiden 
bei  sau'rem  Bier  und  purem  Kleienbrot 
und  wie  sie  fette  Ochsensuppen  meiden 
und  Olgeback'nes  wie  die  schwere  Not, 

wie  frische  Fische  sie  verschworen 

in  allen  Brühen,  welche  schmoren, 
so  rat'  ich  jedem,  der  auf  Gott  noch  baut, 
daß  er  sich  ihrer  Führung  anvertraut. 


Wo  nicht  —  laßt  essen  uns  die  guten  Bohnen, 
wie  sie,  und  auch  den  fetten,  dicken  Brei, 


^B         1)  Denselben  Gedanken,  freilich  in  ganz  anderem  Zusammenhang, 
^^^at  man  in  Carmina  Burana  XVI,  einem  Rhythmus  gegen  die  Herrschaft 
der  Laienbrüder  im  Orden  von  Grandmont  (1187).     Siehe  W.  Meyer  aus 
Speyer,   in  den  Nachrichten   der  K.  Gesellschaft  der  "Wissenschaften  zu 
Göttingen,  philol.-histor.  Klasse  1906,  1.  Heft: 
Clausa  quondam  religio 
vel  ocium  secretum, 
nunc  subiacet  obprobrio 
per  vulgus  indiscretum. 


I 


168  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

das  fettste  Huhn  vom  Land  laßt  uns  nicht  schonen, 

und  saft'ge  Rüben  seien  noch  dabei! 

Vom  Weine  sei's  der  beste  Tropfe, 

der  selbst  dem  Franzmann  steigt  zu  Kopfe! 

Wenn  guter  Lebens-Essens-Schlafens-Brauch 

uns  Gott  gewinnt,  so  können  wir  das  auch! 

Mit  feinstem  Rock  im  Sommer  weit  gekleidet, 
bei  Frost  gefüttert  und  kamelbehaart, 
mit  Schuhwerk,  je  nach  Witterung  bereitet: 
marsilisch  Leder  oder  fränk'sche  Art, 

am  Fuß  geschnürt  von  Meisterhänden 
(denn,  schlecht  geschnürt,  könnt'  übel  enden!): 
so  geh'n  sie  predigen  mit  ihrem  Witz: 
Gott  soll'  man  weih'n  sein  Herz  und  —  den  Besitz! 

Sogar  in  Prosa  müßte  dieses  Stück  noch  seine  Wirkung 
haben,  weil  es  mehr  durch  das  Auge  als  durch  das  Ohr  und 
mehr  durch  Beobachtung  als  durch  Ahnung  zum  inneren  Men- 
schen spricht.  Es  ist,  im  Gegensatz  zu  jener  makroskopischen 
Ode,  mikroskopisch  eingestellt. 

Aber  auch  diese  Kunstart,  die  man  das  sarkastische  Genre- 
bild nennen  könnte,  wird  von  Cardinais  Muse  in  der  Regel  nur 
gestreift,  zwar  oft  und  rasch  ergriffen,  aber  alsbald  wieder 
verlassen.  Die  natürliche  Meisterschaft  unseres  Dichters  ruht 
in  der  Mitte,  im  Wechsel  und  mehr  noch  in  der  gegenseitigen 
Durchdringung  des  Werthaften  mit  dem  Erfahrungsmäßigen. 
Ahnlich  wie  das  sittliche  Gewissen  selbst  es  macht,  so  fühlt 
und  ahnt  er  allgegenwärtig  im  Großen  und  Ganzen  das  Böse 
und  Unartige  der  Zeitläufte,  um  es  dann  plötzlich  und  über- 
raschend zu  ertappen  und  festzunageln  im  Besonderen,  im  Ein- 
zelnen, im  Typischen  und  auch  im  Kleinsten  noch,  wo  es 
herausschaut  und  sich  verrät,  d.  h.  charakteristisch  wird.  In 
diesem  unpersönlichen  Sinne  ist  er  Gelegenheitsdichter.  Wäh- 
rend gehässige  und  händelsüchtige  Satiriker  sich  ihre  Opfer 
heranholen  oder  „kaufen",  pflegt  Cardinal  die  seinen  im  Vor- 
beigehen  zu   erwischen.     Er   kann   streckenweise  leeres  Stroh 


Peire  Cardinal  169 

dreschen,  wo  aber  eine  schnittreife  Ähre  ihm  unter  den  Flegel 
kommt,  sitzt  der  Hieb  und  spritzen  die  Körner.  Die  Aus- 
gestaltung und  Vollendung  des  Liedes  als  Ganzes  gelingt  ihm 
zwar  unter  günstigen  Bedingungen,  in  der  Hauptsache  aber 
sind  es  einzelne  Strophen  und  oft  nur  kurze  Wendungen  dieser 
Lieder,  mit  denen  er  die  wirksamen  Volltreffer  erzielt:  patheti- 
sche oder  witzige  Schlager  oder  gar  solche,  die  beides  zu- 
gleich sind. 

Pathos  und  Witz,  zwei  Noten,  die  ihrer  seelischen  Natur 
nach  nur  kurze  Schwingungsdauer  haben,  weil  sie  zwischen 
dem  Erhabenen  und  dem  Gemeinen  die  straffeste  Spannung 
voraussetzen ,  übernehmen  die  Führung  in  Cardinais  Lyrik  und 
bedingen  die  geschwungene  Bewegtheit  ihrer  Linie.  Ohne  sie 
wären  diese  Lieder  nur  gereimte  Prosa.  Das  Musikalische  an 
ihnen  ist  das  Pathetische  und  das  Sarkastische:  eine  Musik, 
die  freilich  wenig  Fülle  hat  und  dem  Ohr  bald  dumpf  und 
hohl,  bald  scharf  und  spitz  klingt.  Dem  Auge  erscheint  Car- 
dinais Lyrik  etwa  wie  Schwarzweißkunst,  mit  tiefen  Schatten, 
grellen  Lichtern  und,  was  dazwischen  liegt,  meist  grau,  lehr- 
haft, langweilig,  moralisierend  getönt.  Was  man  zu  sehen 
bekommt,  sind  keine  Gemälde,  sondern  Federzeichnungen,  bei 
denen  die  Buntheit  durch  Bewegtheit  ersetzt  ist,  wie  wir  es 
an  der  Parabel  vom  Regen  beobachten  konnten.  Cardinais 
Bilder  sind  im  Grunde  immer  Gleichnisse  oder  Exempla,  keine 
Anschauungen,  sondern  Einfälle.  Lauernd  und  spähend,  als 
Vorposten  des  bedrängten  Gewissens  —  niemals  geruhsam  und 
genießend  versunken  in  Betrachtung  —  steht  er  zum  Leben. 
So  entdeckt  er  und  denunziert  uns  eindrucksvolle  Gestalten,  wie 
die  des  reichen  Herrn,  der  über  Land  fährt:  umgeben,  be- 
gleitet und  geführt  von  Bosheit,  Gier,  Unrecht  und  Stolz, ^) 
oder  die  des  großen  Lügners,  an  dem  man,  ohne  ihn  anzu- 
sehen, wie  an  einem  Rosenstock  die  falsche  Gesinnung  riechen 
kann,^)  oder  des  anderen,  der  die  Lügen  nach  einem  geregelten 
Wirtschaftsplan    abwirft    wie   Zinsen:   100    im   Tag,   3000   im 

1)  Nr.  45,  Str.  2.    Bartsch,  Chrestom.  provenzal.  Sp.  169. 

2)  Nr.  5,  Str.  2.    Mahn,  Ged.  214,  1231,  1232. 


I 


170  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Monat,  36000  im  Jahr,*)  oder  des  Wohlhabenden,  der  über 
alle  seelischen  Enttäuschungen  sich  mit  Rebhühnern,  Wein 
und  anderen  Geschenken  der  Erde  hinwegtröstet,  um  dann  mit 
dem  Gebetbüchlein  in  der  Hand  zu  Gott  zu  seufzen:  Was  bin 
ich  ein  armer  Mensch!  Und  wenn  Gott  ihm  erwidern  wollte, 
müßte  er  sagen:  Du  lügst.^)  Hier  wird  der  beispielmäßige, 
lehrhafte,  erfundene,  hypothetische  Untergrund  dieser  Bilder 
handgreiflich.  Man  erinnert  sich,  wie  selbst  die  leibhaftige  Er- 
scheinung des  Verräters  Esteve  de  Belmon  in  Cardinais  Augen 
die  Tragweite  eines  Exemplums  annimmt.^)  Ein  bemerkens- 
werter Sammelplatz  solch'  pathetisch-witziger  Gleichnisse  und 
Vergleiche  ist  das  Sirventes  Totztemps  azir  fälsedat  et  engan.^) 

Was  doch  die  Reichen  zu  den  Armen  mild 

und  gütig  sind  —  wie  Kain  zu  Abel  war! 

und  auf  den  Raub  ist  noch  kein  Wolf  so  wild, 

aufs  Lügen  aber  keine  Dirne  gar. 

Und  schlitztet  ihr  sie  vorn'  und  hinten  auf, 

es  kam'  kein  wahres  Wort,  verlaßt  euch  drauf, 

nur  eitel  Lüg'  aus  ihrem  Herzen  vor, 

wie  aus  dem  Quellgrund  Wasser  will  empor. 

Hab'  manchen  Herrn  an  manchem  Platz  geseh'n 
glänzen  so  falsch  wie  Glas  an  gold'nem  Ring, 
und  wer  für  echt  sie  nahm,  dem  ist  gescheh'n, 
als  ob  statt  Schafen  er  sich  Wölfe  fing; 
denn  am  Gehalte  fehlt's  und  am  Gewicht; 
wie  falsche  Münze  sind  sie  hergericht', 
die  sauber  zwar  mit  Kreuz  und  Blum'  geprägt  — 
jedoch,  schmilzt  man  sie  ein,  kein  Silber  trägt. 

Ich  mach'  vom  Morgen-  bis  zum  Abendland 
den  Menschen  einen  neuen  Handel  kund: 


1)  Nr.  5,  Str.  4.    Mahn,  Ged.  214,  1231,  1232. 

2)  Nr.  41,  Str.  4.   Rayn.  Choix  IV,  S.  354,  Parn.  occ,  S.  312  u.  Mahn, 
Werke  IT,  S.  188.  ^)  Siehe  oben,  S.  120  ff. 

*)  Nr.  57.    Rayn.  Choix  IV,  S.  347,  Mahn,  Werke  II,  S.  195,  Studj 
di  fil.  rom.  III,  S.  666  und  IX,  S.  510. 


Peire  Cardinal  171 

Ein  Goldstück  jedem  Braven  in  die  Hand 
für  einen  Nagel  nur  von  jedem  Hund. 
Dem  Höf sehen  geh'  ich  eine  Mark  in  Gold, 
falls  der  Gemeine  mir  'nen  Kreuzer  zollt; 
und  dem  Wahrhaft'gen  geh'  ich  Gold  zu  Häuf, 
schenkt  jeder  Lügner  mir  ein  Ei  darauf. 

Die  ganze  Redlichkeit  der  meisten  Leut' 
schreib'  ich  auf  einen  kleinen  Lederfleck, 
die  Hälfte  meines  Handschuhdaumens  breit! 
Und  alle  Wacker'n  sättige  ich  keck 
mit  einem  Kuchen,    's  kommt  mir  nicht  d'rauf  an, 
und,  füttert  jemand  mir  die  Bösen:  dann 
könnt  ihr  zum  Essen,  wo  es  euch  gefällt, 
die  Guten  rufen  aus  der  weiten  Welt.^) 

Derartige  Gleichnisse  und  Gleichungen,  die  den  ethischen 
Gefühlswert  ins  Handgreifliche  und  Quantitative  umzurechnen 
bestimmt  sind,  können  heute  noch  als  erfinderisch,  witzig  und 
geistvoll  empfunden  werden.  Im  Mittelalter,  und  besonders  bei 
den  Laien,  wo  das  geistreiche  Wesen  noch  nicht  so  wohlfeil 
war,  dürften  sie  geradezu  überraschend  gewirkt  haben.  Sie 
tragen  freilich  auch  den  Keim  der  Müdigkeit  in  sich;  denn 
dem  menschlichen  Gemüt  kann  bei  der  Rationalisierung  des 
Übernatürlichen,  an  dem  es  nun  einmal  hängt,  nicht  wohl 
werden:  selbst  dann  nicht,  wenn,  wie  hier,  das  Übernatürliche 
ein  Böses  und  dessen  Rationalisierung  ein  guter  Witz  ist.  Das 
Glück  der  Schadenfreude  ist  unserem  Dichter  zwar  nicht  ganz 
fremd  geblieben;  er  hat  es,  wie  wir  gesehen  haben,  in  einigen 
Versen  vorübergehend  gesungen  und  konnte,  vorübergehend, 
auch  grausame  Töne  anschlagen.  Im  Grunde  aber  muß  er  ein 
gemütvoller  Mensch  gewesen  sein.  Vielleicht  hat  eigener  Notstand, 
denn  reich  oder  auch  nur  wohlhabend  ist  er  sicher  nicht  gewesen,^) 
ihm   das  Herz  zum  Mitleid  an  der  allgemeinen  Not  gelockert. 


^)  Eine  gereimte  Übersetzung  dieser  Strophen  findet  man  auch  bei 
Diez,  Leben  und  Werke  der  Troub.,  S.  462f. 

2)  Vgl.  die   oben  zitierten  Verse  Nr.  51,  Str.  1,  Nr.  17,  Str.  2  und 


172  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Er  leidet  am  sittlichen  Elend  der  Welt,  vielleicht  um  so 
tiefer  und  stiller,  weil  es  ihm  nicht  gegeben  ist,  die  vollen 
und  warmen  Töne  zu  finden,  mit  denen  gerade  in  seinen 
Tagen  die  allumfassende  und  erlösende  Liebe  durch  des  heiligen 
Franziskus  Stimme  zu  den  Menschen  gesprochen  und  gejubelt 
hat.  Nur  mittelbar,  nur  durch  seine  Müdigkeit  und  Unfähig- 
keit zur  Ereude  hindurch  kann  man  in  Cardinal  das  fühlende 
Herz  erraten.  Die  Lust  an  Welt  und  Leben,  die  er  niemals 
als  Eiferer  geschmäht  hat,  sondern  so  gut  er  eben  konnte, 
empfahl  und  lobte,  bleibt  stumm  und  verschlossen  in  seiner 
Brust.  Ihn  haben  Schicksal  und  Anlage  bestimmt,  daß  er  den 
zügelnden  und  hemmenden  Gewalten  des  menschlichen  Gemütes, 
dem  bösen  Gewissen,  seine  hohle  und  scharfe  Stimme  lieh. 

Tan  vey  lo  segle  cobeytos, 

plen  d'avareza  e  d'enian, 

que  ges  lo  paire  en  l'enfan 

no*s  pot  fizar,  nengus^)  d'amdos: 

per  qu'ieu  n'estau  tant  cossiros 

que  ges  non  puesc  negun  ben  dir, 

si  doncx  no  volia  mentir  — 

per  qu'ieu  volgra  qu'autre  mons  fos.^) 


besonders  die  erste  Strophe  des  Descort  461,  236,  dessen  Verfasser  wohl 
Cardinal  sein  dürfte.  Sie  lautet  nach  Appel,  Provenz.  Inedita  aus  Pa- 
riser Hss.,  S.  332: 

Tot  aissi  soi  desconsellatz 
con  l'aucels  qu'a  som  par  perdut, 
non  trop  qui'm  valha  ni  m'aiut, 
per  ren  mas  car  non  soi  sobratz 
que  pogues  dar  a  totz  cuminalmen. 
Adonx  sai  ieu  que'm  valgron  miei  paren, 
que  es  ben  vers  le  proverbis  a  dir: 
qui  ren  non  a,  an  ab  los  mortz  dormir. 

*)  nengun  C  und  J^.  Der  Sinn  ist  wohl :  Der  Vater  kann  dem  Kinde 
nicht  trauen,  und  keiner  von  beiden  dem  anderen,  also  auch  das  Kind 
dem  Vater  nicht. 

2)  Nr.  54,  Str.  1.    Mahn,  Ged.  1228,  1229,  1230  nach  C,  B  und  I. 


Peire  Cardinal  173 


Ich  seir  die  Welt  so  voll  und  schwer 
von  Gier  und  Geiz,  so  falsch  gesinnt, 
daß  selbst  der  Vater  seinem  Kind 
nicht  traut,  und  dieses  ihm  nicht  mehr. 
Und  darob  sorg'  ich  mich  so  sehr 
und  weiß  kein  Wort,  das  klänge  hold, 
es  sei  denn,  daß  ich  lügen  wollt'.  — 
Oh  daß  die  Welt  doch  anders  war'! 


Anhang. 

I. 

Gelänge  es,  das  Eügelied  Aquesta  gens,  quan  son  en  lor 
gaie^a'^)  zu  datieren,  so  wäre  für  Cardinais  ethische  und  künst- 
lerische Entwicklungsgeschichte  viel  gewonnen.  Die  fünfte 
Strophe  könnte  eine  Handhabe  dazu  bieten.     Sie  lautet: 

Que  fan  l'enfan  d'aquella  gen  engleza, 
qu'avan  no  van  guerreiar  ab  Franzes? 
Mal  an  talan  de  la  terr'  engolmeza! 
Tiran  iran  conquistar  Gastines! 

Ben  sai  que  lai  en  Normandia 

dechai  e  chai  lor  senhoria, 
car  los   guarzos^)   vezon  en  patz  sezer.   — 
Antos  es  tos  que^)  trop  pert  per  temer. 

Man  hat  hier  eine  Anspielung  auf  die  spärliche  und  wir- 
kungslose Hilfe  sehen   wollen,   die  der  englische  König  Hein- 

^)  Gedruckt  in  Raynouards  Lexique  roman  1,  S.  451  und  bei  Mahn, 
Werke  II,  S.  214  und  nach  der  Hs.  J  in  den  Studj  di  fil.  rom.  IX,  S.  519 
Matfre  Ermengau  hat  es  in  sein  Breviari  d'Äinor  aufgenommen. 

^)  quarlos  I.  ^)  qui  /. 


174  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

rieh  III.  dem  Grafen  Raimund  VII.  von  Toulouse  bei  seiner 
Auflehnung  gegen  den  König  von  Frankreich  im  Jahre  1242 
leistete.*)  Am  12.  Mai  1242  waren  die  Engländer  in  Royan 
gelandet  und  näherten  sich  der  Charente  bei  Taillebourg,  so 
daß  man  erwarten  durfte,  sie  würden  zunächst  in  das  Angou- 
mois  vorrücken ,  um  die  Franzosen ,  die  über  Chinon  nach  dem 
Süden  zogen,  zu  schlagen.  Aber  König  Ludwig  kam  ihnen 
zuvor,  war  ihnen  an  Zahl  auch  weit  überlegen  und  besiegte 
sie  mühelos  am  22.  Juli  unter  den  Mauern  von  Saintes.^)  Da 
das  Gätinais  weit  nordöstlich  vom  damaligen  Standort  des  engli- 
schen Heeres  liegt,  so  bekämen  die  Verse 

tiran  iran  conquistar  Gastines 
einen  ironischen,  aber  höchst  gezwungenen  Sinn.  Im  Ernste 
kann  kein  Engländer  im  Jahre  1242  an  eine  Eroberung  jener 
Landschaft  gedacht  haben,  die  zwischen  Paris  und  Orleans 
im  Herzen  der  französischen  Kronländer  lag.  —  Englische  Hilfe 
hat  man  in  Südfrankreich  auch  in  früheren  Jahren  oft  und 
vergeblich  erwartet.  Auch  berechtigt  der  Wortlaut  unserer 
Strophe  in  keiner  Weise,  auf  einen  englischen  Einmarsch  in 
Südfrankreich,  geschweige  denn  auf  eine  bedrängte  Lage  des 
Grafen  von  Toulouse  zu  schließen.     Der  Vers 

car  los  garzos  vezon  en  patz  sezer 
weist  im  Gegenteil  auf  ein  völlig  untätiges  Verhalten  der  Eng- 
länder hin.  Das  Lied  müßte  also  in  der  Zeit  vor  der  Lan- 
dung, da  man  die  englische  Hilfe  noch  ungeduldig  erwartete, 
verfaßt  sein.  Aber,  hatte  es  denn  einen  Sinn,  im  Jahre  1241 
von  englischer  Herrschaft  in  der  Normandie  noch  zu  sprechen? 
Die  Meinung  Cardinais  ist  doch  wohl,  wenn  man  seine  Worte 


^)  C.  Fabre,  ^ßtudes  sur  P.  Cardinal  in  den  Annales  du  Midi,  Tou- 
louse 1909,  Bd.  XXI,  S.  25.  Jeanroy  ist  offenbar  nicht  dieser  Meinung, 
denn  in  seiner  Untersuchung  „le  soulevement  de  1242  chez  les  troub." 
Annales  du  Midi,  XVI,  1904,  S.  311  ff.,  wird  von  Cardinal  überhaupt 
nicht  gesprochen. 

2)  Vgl.  Ch.  Bemont,  La  campagne  de  Poitou,  1242/43,  in  den  An- 
nales du  Midi,  1893,  Bd.  V  u.  Langlois  bei  Lavisse,  Hist.  de  France  III,  2, 
S.  53-59. 


Peire  Cardinal  175 

nicht  zwängen  will,  etwa  die  folgende:  Warum  rühren  die 
Engländer  sich  nicht  gegen  die  Franzosen?  Liegt  ihnen  so- 
wenig an  der  bedrohten  Grafschaft  Angouleme?  Mit  ihrem 
Zögern  werden  sie  gewiß  —  und  darin  liegt  Ironie  —  das  Gä- 
tinais  (das  Philipp  I.  schon  am  Ausgang  des  11.  Jahrhunderts 
in  die  französischen  Kronländer  eingezogen  hatte)  sich  noch 
erobern.  Indessen  ist  es  bekannt,  wie  in  der  Normandie  ihre 
Herrschaft  schwindet  und  fällt,  decJiai  e  chai,  sinkt  und  stürzt. 
Das  deutet  zweifellos  auf  einen  eben  sich  vollziehenden  Vor- 
gang hin.  Freilich  nannte  Heinrich  III.  von  England  sich 
immerzu  Herzog  der  Normandie.  Verloren  aber  war  sie  ihm 
längst.  Seinem  Vorgänger  schon  war  sie  im  Frühsommer  des 
Jahres  1204  von  Philipp  August  entrissen  worden.  —  Warum 
also  sollten  wir  nicht  annehmen,  daß  in  unserer  Strophe  sich 
die  gespannte  Erwartung,  die  Ungeduld  und  Enttäuschung 
spiegelt,  die  sich  der  südfranzösischen  Gegner  des  Königs  Phi- 
lipp August  bemächtigte,  als  sie  sahen  wie  König  Johann  sich, 
ohne  England  zu  verlassen,  von  den  Nordfranzosen  nachein- 
ander die  Normandie,  Anjou  und  Touraine  entreißen  ließ  und 
wie  nun  auch  in  Aquitanien  der  Abfall  von  England  begann. 
Im  August  1204  zog  Philipp  August  in  Poitiers  ein,  und  wahr- 
scheinlich noch  in  demselben  Monat  huldigte  Alix,  die  Gräfin 
von  Angouleme,  dem  siegreichen  Eroberer  und  schloß  einen 
Vertrag  mit  ihm.^)  Der  König  von  England  aber  rührte  sich 
nicht,  um  seinen  Getreuen  in  Südwestfrankreich  gegen  die 
nordfranzösische  Übermacht  zu  helfen.  Erst  im  Jahre  1206 
landete  er  in  La  Roch  eile  und  eroberte  sich  einen  Teil  von 
Poitou  zurück,  erst  nachdem  Aimeri  de  Thouars,  Gui  und 
Savaric  de  Mauleon  sich  gegen  die  Herrschaft  Philipp  Augusts 
erhoben  hatten.  Cardinal  wäre  nicht  der  einzige  Trobador,  dem 
in  der  Wartezeit  zwischen  1204  und  1206  die  Geduld  riß. 
Wir  haben  von  Bertran  de  Born  dem  Jüngeren  ein  Lied,  das 
unter  denselben  Umständen  und  aus  ähnlicher  Stimmung  her- 


^)  Vgl.  P.  Boissonnade,  Quomodo  comites  engolismenses  erga  reges 
Angliae  et  Franciae  se  gesserint,  Pariser  These  1893,  S.  16  f.  Im  übrigen 
vgl.  A.  Lnchaire  im  3.  Band  von  Lavisse,  Hist.  de  France,  S.  127 ff. 


176  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

aus  gesungen  wurde.  ^)  Damals  sah  es  aus  als  sollte  der  König 
von  England  seine  Lehenshoheit  und  all'  seine  Ansprüche  auf 
französischem  Boden  durch  Zögern  und  Furcht,  per  temer, 
verlieren.  Damals  hatte  es  einen  guten  Sinn,  den  Engländer 
nicht  nur  an  die  Normandie  und  das  Angoumois  zu  erinnern, 
die  im  Begriffe  waren  ihm  zu  entgehen,  sondern  auch  an  das 
längst  verlorene  Gätinais,  auf  das  er  als  Plantagenet  und  Graf 
von  Anjou  noch  immer  Anspruch  erheben  mußte.  —  Leider  aber 
steht  der  Datierung  des  Sirventes  in  das  Jahr  1205  ein  metri- 
sches Bedenken  entgegen.  Strophenbau  und  Reim  sind  nämlich, 
wie  es  scheint,  einem  „Vers"  des  Peirol  nachgeahmt  (M'entencio 
ai  tot  ^en  un  vers  meza,  366,  20),  der  vielleicht  viel  später  ent- 
standen ist.  Auf  Grund  der  siebten  Strophe  wollte  Diez  ihn 
in  das  Jahr  1210  verlegen.^)  Neuerdings  ist  man  sich  einig, 
daß  die  Strophe  in  den  Jahren  1219  oder  1220  gedichtet  sein 
muß.^)  Aber,  wohlgemerkt,  nur  diese  siebte  Strophe.  Und 
ist  deren  Datierung  wirklich  so  sicher?     Lesen  wir: 

D'amor  mi  clam  e  de  nostra  marqueza, 
mout  m'es  de  greu  quar  la'ns  tolh  Vianes, 
per  lieis  es  jois  mantengutz  e  guayeza; 
gensor  domna  no  cre  qu'anc  Dieus  fezes, 
5  ni  eu  cug  tan  belha'n  sia 

ni  tan  sapcha  de  cortezia, 
qu'a  penas  pot  sos  pretz  el  mon  caber, 
qu'a  totz  Jörns  creis  e  no  y  *  s  laissa  chazer. 

Dazu  ein  Geleit,  das  in  manchen  Handschriften  fehlt: 

Lo  vers  es  fagz,  qui  Fentendia. 
10  En  Peirols  vol  que  auzitz  sia 


1)  Quan  vei  lo  temps  renovelar.  Vgl,  Bertran  von  Born,  Ausgabe 
Stimming,  2.  Aufl.  (Roman.  Bibliothek),  Halle  1913,  S.  47  und  146 ff. 

2)  Diez,  Leben  und  Werke  der  Troub.  1829,  S.  314. 

3)  Cerrato,  Giornale  storico  della  lett.  ital.  IV,  S.  88.  0.  Schultz, 
Die  Briefe  des  Trob.  Raimbaut  de  Vaqueiras,  Halle  1893,  S.  114.  F.  Ber- 
gert,  Die  von  den  Trobadors  genannten  oder  gefeierten  Damen,  Halle 
1913,  S.  91. 


Peire  Cardinal  177 

en  Vianes,  don  pretz  no  pot  chazer, 
que'l  comtessa  li  fa  ben  mantener.^) 

Ist  es  ausgemacht,  daß  die  Comtessa  des  Geleites  auch 
die  Marquesa  der  Strophe  ist  und  daß  man  in  beiden  keine 
andere  zu  sehen  hat  als  Beatrix ,  die  Tochter  des  Markgrafen 
Wilhelm  IV.  von  Monferrat,  die  sich  im  Jahre  1220  mit  An- 
dreas Delfin  von  Vienne  vermählt  hat?  Wer  will  beweisen, 
daß  nicht  zu  anderer  Zeit  eine  andere  Marqueza,  um  deren 
Gunst  sich  Peirol  bewerben  konnte,  nach  Vienne  gezogen  ist? 
Man  könnte  zunächst  an  jene  andere  Beatrix  von  Monferrat 
denken,  die  eine  Tochter  Bonifaz'  I.  war,  oder  gar  an  eine 
Schwester  von  diesem.  Die  Beziehungen  zwischen  den  Höfen 
von  Monferrat  und  Vienne  waren  nicht  auf  die  eine  Heirat 
des  Jahres  1220  beschränkt. 

Doch  lasse  man  immerhin  die  obige  Datierung  gelten,  so 
bleibt  doch  die  Möglichkeit,  fast  möchte  ich  sagen,  die  Wahr- 
scheinlichkeit, daß  jene  siebte  Strophe,  die  in  keinerlei  ge- 
danklichem Zusammenhang  mit  dem  Körper  des  Liedes  steht, 
nachträglich  ihm  beigegeben  wurde.     Peirol  hätte  dann  seinen 

^)  Text  nach  Mahn,  Werke  II,  S.  12.  Dazu  die  Varianten  der  im 
Druck  veröffentlichten  Hss.  A  (Studj  di  fil.  rom.  III,  S.  477 f.),  N  (Mahn, 
Gedichte  der  Trobadors  I,  S.  176),  V  (Archiv  für  das  Studium  d.  neueren 
Sprachen,  Bd.  36,  S.  435).  In  der  Hs.  3i  fehlt  diese  Strophe,  ebenso  in 
F  und  Q.    Das  Geleit  fehlt  in  F,  V  und  Q. 

1.  mi  plane  mas  de  N.    e  fehlt  in  V. 

2.  sont  trop  iraz  car  N.    me  pesa  molt  car  V. 

3.  e  proeza  N.    e  proeza  V, 

4.  plus  pros  domna  non  cug  N.    meillor  dona  non  cre   canc  hom 
uolges  F. 

5.  ni  non  cre  que  tan  V. 

6.  sapcha]  a9a  N.    aia  F. 

7.  el  mon  son  pretz  F. 

8.  e  creis  toitz  iorn  que  non  1.  c  N.     que  totz  i.  er.  et  dobla  nol 
1.  c.  F. 

9.  qil  apren  dia  M. 

10.  e  peirols  uol  ben  sauputz  sia  M. 

11.  don]  on  M. 

12.  quell  marqeiza  loi  sap  gen  m.  M. 

Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  u.d.hist.  Kl.  Jahrg.  1916,  6.  Abb.  *12 


178  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

verliebten  Vers,  den  er  als  junger  Mann  gedichtet  hatte  und 
auf  dessen  kunstvolle  Form  er  sich  offenbar  viel  zugute  tat, 
an  dem  italienischen  Hofe  wieder  hervorgeholt,  um  ihn,  mit 
einem  Kompliment  bereichert,  dem  Töchterlein  seines  Gönners 
auf  dem  W^eg  nach  Südfrankreich  voranzuschicken.  In  der 
Tat  fehlt  in  mehreren  Handschriften  dieses  Kompliment,  diese 
siebte  Strophe.  Das  Lied  wäre  demnach,  als  es  wieder  auf- 
geputzt wurde,  etwa  so  alt  wie  die  Braut  gewesen,  zu  deren 
Ruhm  es  zum  zweitenmal  in  die  Welt  ging.  —  Wem  dieses 
Verhältnis  unbehaglich  ist,  der  mag  sich  um  einen  Mittelweg 
bemühen  und  zusehen,  ob  Cardinal  sein  Reimschema  nicht  doch 
bei  einem  andern  als  Peirol  borgen  konnte,  bzw.  ob  er  nicht  auch 
in  späteren  Jahren  noch  die  englische  Trägheit  an  den  Verlust 
des  Gätinais,  der  Normandie  und  des  Angoumois  zu  erinnern  und 
zum  Krieg  gegen  Nordfrankreich  zu  ermuntern  Veranlassung 
hatte.  Die  politische  Lage  des  Jahres  1213  könnte  zur  Not  in 
Betracht  kommen.  In  Flandern  und  in  Südfrankreich  wurde  da- 
mals gekämpft,  und  auf  beiden  Schauplätzen  standen  englische 
gegen  französische  Interessen.  König  Johann  hatte  dem  Grafen 
von  Toulouse,  der  auf  der  Seite  der  Albigenser  gegen  Simon  von 
Montfort  und  die  Nordfranzosen  sich  zu  wehren  hatte,  schon  für 
den  Spätsommer  1213  Hilfe  versprochen,  landete  aber  erst  am 
16.  Februar  des  folgenden  Jahres  in  La  Roch  eile.  Auch  damals, 
im  Frühjahr  oder  Sommer  1213,  wäre  Cardinal  nicht  der  einzige 
Trobador  gewesen,  den  die  englische  Lässigkeit  ärgerte.*)  — 
So  hat  man  zwischen  den  Jahren  1205  und  1213  die  Wahl. 
Der  Hinweis  auf  die  Normandie  spricht  eher  für  1205,  doch 
wäre  er  acht  Jahre  später  immerhin  denkbar.^)  Das  Rügelied 
noch  tiefer  herabzurücken  muß  man  Bedenken  tragen.  Es 
würden  sich  dann  neben  den  politischen  auch  psychologische 
Unstimmigkeiten  erheben;  denn  der  Cardinal  des  dritten  und 
vierten  Jahrzehnts  hat  sich  auf  Formkünsteleien  und  Minne- 
fragen in   der  Art  des  Liedes  Aquesta  gens,   quan  son  en   lor 

1)  Vgl.  Diez,  Leben  und  Werke  der  Troub.,  S.  543  f. 

2)  Den  Anspruch,  Herzöge   der  Normandie  und  Grafen  von  Anjou 
zu   sein,  haben  ja  die  englischen  Könige  noch  lange  erhoben. 


Peire  Cardinal  179 

gaiem  schwerlich  mehr  eingelassen.  Freilich,  auf  sicheren 
Boden  den  Fuß  zu  setzen,  ist  uns  nicht  gelungen.  Im  Gegen- 
teil, je  mehr  man  prüft,   desto  schwankender  wird  wieder  alles. 

IL 
Es  fehlt  nicht  an  Beweisen  dafür,  daß  Cardinal  auch  nach 
seinem  Sirventes  vom  Frühjahr  1226  {leu  volgra,  si  Dieus  o  vol- 
gues)  noch  gedichtet  hat.  Sein  berühmtestes  Rügelied:  Li  clerc 
se  fan  pastor^)  ist  vor  Ausbruch  offener  Feindseligkeiten  zwi- 
schen Kaiser  Friedrich  II.  und  der  Kirche  nicht  denkbar,  also 
kaum  vor  Regierungsantritt  des  Papstes  Gregor  IX.  im  März  1227. 
Dafür  spricht  die  fünfte  Strophe  des  Liedes. 

Ja  non  aion  paor 
Alcays  ni  Almassor 
que  abbat  ni  prior 
los  anon  envazir 
ni  lur  terras  sazir, 
que  afans  lur  seria; 
mas  sai  son  en  cossir 
del  mon  quossi  lur  sia, 
ni  cum  En  Frederic 
gitesson  de  l'abric; 
pero  tals  l'aramic 
qu'anc  fort  no  s'en  jauzic. 

Es  liegt  nahe,  an  die  Zeit  zu  denken,  da  Friedrich  zum 
erstenmal  vom  Papst  mit  dem  Bann  belegt,  aus  dem  Heiligen 
Lande  zurückkehrte.  Die  Daheimgebliebenen,  der  französische 
Klerus  und  die  Königin-Mutter  Blanka  von  Kastilien,  hatten 
seine  Abwesenheit  benutzt,  um  dem  Grafen  Raimund  VII.  von 
Toulouse  einen  schmählichen  Frieden,  der  auch  die  Rechte  des 
Kaisers  im  Arelat  verletzte,  aufzuzwingen  (1229).  Derjenige 
aber,  der  den  Kaiser  „herausgefordert  hatte"  (tals  Varamic)^ 
nämlich  der  Papst,  sollte  der  Sache  nicht  froh  werden  {no 
s^en  jauzic),  weil  Friedrich,  sofort  nach  seiner  Rückkehr,  sieg- 


^)  Stück  7G  in  Appels  Provenz.  Chrestomathie. 

12 


I 


loO  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

reich   in   den  Kirchenstaat   einfiel  (1230)  und  die  „  Schlüssel- 
soldaten"  zu  Paaren  trieb. 

Fahre  befürwortet  eine  spätere  Datierung')  und  möchte 
die  Worte  sai  son  en  cossir  .  .  .  cum  En  Frederic  gitesson  de 
Vdbric  auf  das  Konzil  von  Lyon  beziehen,  das  im  April  1245 
zusammentrat,  um  den  Kaiser  zu  verfluchen  und  abzusetzen. 
Allein,  die  Erwähnung  der  Algais  als  einer  noch  gei^hrlichen 
Räubersippe  ist  im  fünften  Jahrzehnt  des  13.  Jahrhunderts 
kaum  mehr  verständlich,  nachdem  der  letzte  Algai,  soviel  wir 
wissen,  schon  1212  erledigt  war.^)  Man  müßte  denn  annehmen, 
daß  in  der  Sprache  der  Trobadors  der  Name  Algai  nachgerade 
ein  Symbol  für  alles  Bandenwesen  geworden  war.  Die  Hand- 
schrift Aj  die  im  Veneto  hergestellt  wurde  und  das  Älcays 
offenbar  nicht  mehr  verstand,  schreibt  dl  cair  li  Älmassor. 
Meint  sie  damit  Cairo?  Aber  einen  Almansor  hat  es  in  Cairo 
nicht  gegeben,  und  es  ist  zweifellos  der  spanische  Almansor, 
der  hier  spukt.  Auch  wäre  die  Form  Cair  für  Cairo,  das  im 
mittelalterlichen  Frankreich  durchweg  noch  Babylon  hieß,^) 
ein  äjiai  Xsyojusvov,  das  wir  unserem  Cardinal  nicht  zumuten 
wollen.  Man  muß  also  doch  wohl  bei  Älcays  bleiben  und  sich 
mit  der  Wahrscheinlichkeit  begnügen,  daß  das  Gedicht  nicht 
allzulange  nach  Ausbruch  der  Fehde  zwischen  Kaiser  und 
Kirche  entstanden  ist.  Dafür  sprechen  auch,  wenn  ich  mich 
nicht  täusche,  die  unverkennbaren  Anklänge  an  Figueiras  Sir- 
ventes  No'm  laissarai  per  paor,  das  zweifellos  noch  in  die 
Zeit  der  Albigenserkriege  gehört,  mag  man  es  sich  unmittelbar 
oder  verspätet  nach  den  Leidensjahren  der  Toulousaner  verfaßt 
denken.*) 


1)  Annales  du  Midi,  Bd.  21,  Toulouse  1909,  S.  25. 

2)  Siehe  oben,  S.  108,  Anm. 

3)  Über  Cairo  siehe  C.  H.  Beckers  Artikel  Cairo  in  der  Enzyklopä- 
die des  Islam  (1908).  Bei  Ersch  und  Gruber  finde  ich  die  Bemerkung, 
der  Name  Cairo,  lateinisch  Cayrum,  sei  schon  im  Zeitalter  der  Kreuz- 
züge durch  den  Einfluß  der  italienischen  Seestädte  im  Abendland  ver- 
breitet worden. 

*)  Siehe  E.  Levy,  G.  Figueira,  Berliner  Diss.  1880,  S.  45  f.  u.  S.  6  f. 


Peire  Cardinal  181 

III. 

Auch  das  trübe  Weltbild,  das  Cardinal  in  dem  Lied  Tals 
cuia  he  (Nr.  52)^)  entwirft,  dürfte  erst  nach  dem  Pariser  Frieden 
von  1229  gezeichnet  sein.     Die  Worte 

Tals  cuia  be 
aver  filh  de  s'espoza, 

que  no  y  a  re 
plus  que  seih  de  Toloza 

bekommen  ihren  vollen,  schwermütigen  Sinn  erst,  wenn  man 
an  die  Bedingungen  dieses  Friedens  denkt.  Raimund  VII.,  der 
ohne  männliche  Erben  war,  sollte  durch  die  Heirat  seiner 
Tochter  Jeanne  mit  einem  Bruder  des  Königs  von  Frankreich 
seinen  ganzen  Herrschaftsbesitz  nach  seinem  Tode  an  das  Haus 
von  Frankreich  übergehen  lassen. 

IV. 

Soll  man  in  dieselbe  Zeit  das  grimmig  gekünstelte  Rüge- 
lied De  sirventes  suelh  servir  (Nr.  18)^)  verlegen?  Die  vierte 
Strophe  gibt  freilich  nur  eine  unsichere  Handhabe  dafür. 

Dieus  deu  los  barons  grazir, 
quar  ves  luy  son  sort  e  mut, 
qu'el  luec,  on  fon  rezemut, 
no  *  1  Volon  tan  possezir 
com  l'autruy  terra  saizir. 
E'no  cug  qu'el  reys  N  Amfos 
aitals  fos, 
quan  volc  descauzir 
Turcs,  per  Chrestias  ayzir. 

Der  vorbildliche  Held,  der  zwar  nicht  die  Türken,  aber, 
was  für  Cardinal  wohl  dasselbe  war,  die  Sarazenen  so  entschei- 
dend geschlagen  hat,  daß  ein  wirkliches  aidmen,  ein  friedlicher 


1)  Rayn.  Choix  IV,  S.  350,  Parn.  occ,  S.  318,  Mahn,  Werke  II,  S.  186. 

2)  Lex.  rom.,  S.  455  und  Mahn,  Werke  II,  S.  223. 


182  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Genuß  des  eigenen  Landbesitzes  den  Christen  daraus  erwuchs, 
dürfte  wohl  Alfons  VIII.  bzw.  der  Dritte  als  König  von  Ka- 
stilien  sein.^)  Am  16.  Juli  1212  hat  er  über  die  Muselmanen 
in  der  Ebene  von  Las  Navas  de  Tolosa  einen  denkwürdigen 
Sieg  erfochten.  Dieser  kriegerische  und  vielgeplagte  Sarazenen- 
kämpfer, von  dem  hier  offenbar  als  von  einem  Toten  gesprochen 
wird,  ist  1214  gestorben.  Es  liegt  nun  nahe,  anzunehmen, 
aber  sicher  ist  es  keineswegs,  daß  solche  Erinnerungen  un- 
serem Dichter  etwa  in  der  Zeit  vor  dem  fünften  Kreuzzug 
(1228)  kamen. 

V. 

Schwierig  bleibt  die  nähere  Datierung  von  Nr.  37  Mon 
chantar  vueilh  retrair  al  comunal,  auch  wenn  wir  die  Ver- 
fasserfrage nach  den  Ausführungen  auf  Seite  30,  Anm.  3  und 
Seite  138  ff.  für  entschieden  halten  wollten.  Es  kommt  für  die 
Zeitbestimmung  zunächst  die  letzte  Strophe  in  Betracht,  die  in 
den  Hss.  M,  R  und  a^  (Nr.  266)  fehlt  und  nach  Raynouard, 
Choix,  IV,  S.  384,  lautet: 

De  totz  los  reys  ten  hom  per  pus  cabal 
lo  rey  'N  Anfos,  tan  fay  bos  faitz  grazir, 
e  dels  comtes  seih  de  Kodes  chauzir 
fai  sa  valor  e  son  pretz  natural, 
e  dels  prelatz  seih  de  Memde,  qu'el  trieu 
sec  drechamen  e  despen  gen  lo  sieu, 
e  dels  baros  son  fraire,  tan  valen 
son  tug  siey  fag  e  siey  captenemen. 

Nach  Maus,  P.  Gardinais  Strophenbau,  S.  41,  der  die  Zeit 
zwischen  1227  und  1229  vorschlägt,  wäre  mit  Anfos  der  König 
Alfons  IX.  von  Leon  (1188  —  1229)  und  mit  dem  Grafen  von 
Rodez  Hugo  IV.  (1227  —  1275)  gemeint.  Ich  glaube  aber  nicht, 
daß  Cardinal  von  dem  König  von  Leon  viel  wissen  konnte;  es 
sei  denn,  daß  er  aus  Peire  Vidals  Preis  dieses  Fürsten  seine 
Kenntnis  schöpfte,  was  nicht  ausgeschlossen  ist,  da  auch  Me- 

1)  Vgl.  Milä  y  Fontanals,  De  los  Trovadores  en  Espana,  Barcelona 
1861,  S.  116  ff. 


Peire  Cardinal  183 

trum  und  Reim  einem  Liede  Vidals  nachgeahmt  sind.  Im 
übrigen  sind  die  Beziehungen  der  Trobadors  zu  Alfons  IX. 
von  Leon  sehr  spärlich.^)  Viel  wahrscheinlicher  und.  natür- 
licher ist  es,  daß  Cardinal  das  Musterbild  eines  Königs  in  dem 
Sieger  von  Las  Navas  de  Tolosa,  jenem  berühmten  Sarazenen- 
kämpfer sah,  den  er  auch  in  dem  eben  besprochenen  Sirventes 
Nr.  18  erwähnt.  Wenn  dieser  schon  1214  gestorben  ist,  so 
tut  dies  nichts  zur  Sache,  denn  in  der  öffentlichen  Meinung  — 
und  nur  von  dieser  ist  die  Rede  —  konnte  er  noch  lange  nach- 
her als  vorbildlicher  Herrscher  leben.  —  In  dem  Grafen  von 
Rodez  wird  man  allerdings  Hugo  IV.  (1227 — 1275)  erkennen 
dürfen,  denselben  wohl,  dem  Cardinal  das  Sirventes  Nr.  21  ge- 
widmet hat.  Demnach  müßte  auch  dieses  erst  nach  1227  ge- 
dichtet sein.  Ja,  wahrscheinlich  erst  nach  1229.  Vorher  konnte 
ein  dem  Grafen  von  Toulouse  so  ergebener  Dichter  wie  unser 
Cardinal  schwerlich  zu  einem  Grafen  von  Rodez  in  freundlicher 
Beziehung  stehen.  Der  Vorgänger  Hugos  IV.,  Graf  Heinrich 
von  Rodez  (1210—1221)  hatte  nämlich  im  Jahre  1218  dem 
Sohne  des  Simon  von  Montfort,  dem  Erbfeind  von  Toulouse, 
den  Lehenseid  geschworen.  Erst  nach  dem  Friedensschluß  des 
Jahres  1229  entbindet  König  Ludwig  IX.  die  Herren  des  Rou- 
ergue  vom  Lehenseid  zu  Montfort  bzw.  zum  König  von  Frank- 
reich und  gestattet,  daß  sie  nun  wieder  ihrem  alten  Herrn, 
dem  Grafen  von  Toulouse,  den  Eid  leisten.^)  —  Der  Prälat 
von  Mende  kann  kaum  ein  anderer  sein  als  Etienne  IL  von 
Brioude,  der  1223  Bischof  in  Mende  wurde  und  1247  gestorben 
ist,  nachdem  er  schon  einige  Jahre  vorher  sein  Amt  nieder- 
gelegt hatte.  Sein  Nachfolger  Odilon  de  Mercoeur  war  ein  junger 
und,  wie  es  scheint,  ziemlich  gewalttätiger  Herr  (1245—1273); 
sein  Vorgänger,    Wilhelm  IV.    von    Peyre    (1187  —  1223),    lag 


^)  Milä  y  Fontanals,  De  los  Trovad.  en  Espana,  S.  153 f.  Die  auf 
den  Trobadorbiographien  beruhenden  Zeugnisse  kann  man  aber  als  be- 
weiskräftig nicht  mehr  gelten  lassen. 

2)  Siehe  M.  A.  Fr.  de  Gaujal,  ;6tudes  bist,  sur  le  Rouergue,  2.  Bd., 
Paris  1858,  S.  95f.  und  102.  Unzugänglich  war  mir  Bonnal,  Comte  et 
Comtes  de  Rodez,  Rodez  1885. 


184  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

c 

fortwährend  in  Streit  mit  der  Einwohnerschaft  von  Mende, 
wurde  1194  verjagt  und  durfte  nur  unter  der  Bedingung  zu- 
rückkehren, daß  er  Reformen  einführte.  Diese  beiden  konnten 
vor  Cardinais  Augen  schwerlich  Gnade  finden,  während  von 
Etienne  erzählt  wird,  daß  er  Sorge  trug,  die  kleinen  Leute 
auf  dem  Lande  gegen  Übergrifi'e  der  Feudalherren  und  der 
Soldaten  in  Schutz  zu  nehmen.^)  —  Über  den  Bruder  des  Bi- 
schofs von  Mende,  der  das  Vorbild  der  Barone  genannt  wird, 
habe  ich  nichts  ermitteln  können.  So  bleibt  als  wichtigster 
Anhaltspunkt  die  mehr  als  zwanzigjährige  Regierungszeit  des 
Bischofs  Etienne  IL  von  Mende. 

Die  fünfte  Strophe  mit  ihrem  Hinweis  auf  die  Minoriten- 
brüder: 

que  menudet  no  vivon  folhamen 

oder,  nach  anderer  Lesart: 

que'ls  menoretz  no  reinho  follamen 
stimmt  zu  der  Zeit  nach  1223  bzw.  1229  sehr  schön,  weil  es 
Minoritenbrüder  erst  seit  1223  gibt.  Im  Jahre  1232  haben 
die  Franziskaner  sich  in  Rodez  niedergelassen,  und  wir  wissen? 
daß  gerade  Graf  Hugo  IV.  sie  besonders  begünstigt  hat.^) 
Sollte  das  Lied  auf  diesen  Umstand  anspielen,  so  dürften  wir 
es  in  die  Jahre  nach  1232  setzen. 

VI. 

Das  Sirventes  Nr.  44  Qui's  vol  tal  fays  cargar  wendet 
sich  im  Geleit  an  einen  Belfin  en  Vianes.  Die  Grafen  des 
Viennois  haben  sich,  soviel  man  weiß,  zum  erstenmal  unter 
Guigo  IV.  (1120-1142)  den  Titel  Delfin  zugelegt.  Hier  kann 
es  sich  wohl  nur  um  den  Delfin  Andreas  handeln,  der,  als 
sein  Vater  Hugo  III.,  Herzog  von  Burgund,  starb  (1192),  acht 
Jahre  alt  war.  Bis  zu  seiner  Mündigkeit  führte  die  Mutter 
Beatrix  die  Regentschaft.  Er  selbst  ist  am  14.  März  1237 
gestorben    und    hinterließ    als   unmündigen   Nachfolger   seinen 


1)  Histoire  generale  de  Languedoc  IV,  S.  392  f.  und  VII,  S.  117  f. 

2)  de  Gaujal  ca.  a.  0.,  S.  104. 


Peire  Cardinal  185 

Sohn  Guigo  VI.  Maus  a.  a.  0.,  S.  62,  wäre  nach  Maßgabe 
dieser  Tatsachen,  über  die  man  sich  in  der  Grande  Encyclo- 
pedie  sab  voce  Daupidnc  unterrichten  kann,  zu  berichtigen. 

VII. 

Das  Sirventes  A  tot  farai  una  demanda  Nr.  61  mit  seinem 
Lob  der  Deutschen: 

No  cre  que  ill  gens  alamanda 

seignor  tolledor  acuella, 

ni  que  mal  parta  vianda, 

ni  que  per  maniar  s'esconda, 

ni  que  sia  dezeretans, 

ni  que  dezeret  los  enfans, 

ni  que  condug  lai  revenda^) 
paßt  am  besten  wohl  in  die  Zeit,  da  der  Graf  von  Toulouse 
mit  dem  Deutschen  Kaiser  gemeinsame  Interessen  hatte,*)  also 
in  die  Zeit  um  1226,  in  der  das  Sirventes  Nr.  12  Im  volgra 
si  Dieus  o  vdlgues  gedichtet  wurde.  Mehr  als  diese  Wahr- 
scheinlichkeit läßt  sich  nicht  ermitteln. 

VIII. 

In  dem  Rügelied  Nr.  66  Un  sirventes  fauc  en  Itiec  de  iurar 
hat  man  den  ersten  Vers  der  dritten  Strophe: 
Glot^  emperier  non  vol  vezer  son  par^) 
politisch    deuten    und    auf    die   Auflehnung    des   Kaisersohnes 
Heinrich  VII.  gegen  seinen  Vater  Friedrich  IL  im  Jahre  1235 
beziehen  wollen.*)    In  diesem  Sinne  übersetzt  auch  Brinckmeier: 

Ein  gier'ger  Herrscher  seinesgleichen  haßt,*) 
und  Kannegießer: 

1)  Lex.  rom.,  S.  451  und  Mahn,  Ged.  314. 

2)  Siehe  oben,  S.  114fF. 

3)  Rayn.  Choix  IV,  S.  337  und  Studj  di  fil.  rom.  IX,  S.  552. 

*)  Wahrscheinlich  hat  Fahre,  Roman.  Forschungen  XXIII,  S.  264, 
diese  Stelle  im  Auge,  wenn  er  sagt:  en  1237  Cardinal  maudit  Henri, 
le  fils  ingrat  et  revolte  de  Frederic  II. 

5)  Rügelieder  d.  Troub.  geg.  Rom  u.  die  Hierarchie,  Halle  1846,  S.  25. 


I 


186  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Ein  gieriger  Herr  will  nachgeahmt  nicht  sein.^) 

Ein  glotz  em  perier  ist  aber  kein  gieriger  Kaiser,  sondern  ein 
Vielfraß  auf  einem  Birnbaum.  Wer  die  in  der  fünften  Strophe 
erwähnten  Herren  Gostia  und  Azemar  sind,  weiß  ich  nicht. 

IX. 

Ob  Fahre  die  oben  besprochenen  Esteve-Lieder  richtig  da- 
tiert hat?  Die  freilich  stark  entstellte  dritte  Strophe  des  Sir- 
ventes  Nr.  68  Un  sirventes  trametrai  per  messatge  läßt  mich 
zweifeln.  Die  einschlägigen  Verse  lauten  nach  Mahn,  Gedichte 
1254  und  1255  (=  G  und  R): 

aquilh[a]  gens  fradelha, 

que  sei  clergues  o  man, 

iran 

barreiar  Tudella 

e*l  Puey  e  Monferran. 

Eine  Plünderung  von  Tudela  in  Navarra  glaubt  Fahre  in 
den  Jahren  1238  und  1239,  als  König  Thibaut  daselbst  150 
Menschen  wegen  Ketzerei  verbrennen  ließ,  annehmen  zu  müssen.^) 
Aber  ein  Ketzergericht  ist  keine  Plünderung,  und  was  ging 
unseren  Dichter  Navarra  an?  Viel  eher  dürfte  es  sich  um  Tu- 
delle  im  Departement  du  Gers,  arrondissement  Auch,  canton 
Vic-Fezensac  handeln,  das  im  Jahre  1212  von  den  Feinden 
der  Albigenser  tatsächlich  geplündert  wurde,  wie  der  Chronist 
Petrus  Vallium  Sarnai  erzählt:^)  „Post  paucos  autem  dies,  pro- 
peraverunt  nostri  ad  obsidendum  quoddam  castrum  in  Albiensi 
diocesi,  quod  dicitur  Tudelle,  et  erat  patris  Giraldi  de  Pepios 
illius  pessimi  traditoris.  Impugnantes  autem  nostri  castrum 
post  paucos  dies  illud  ceperunt,  et  fere  omnes  in  ore  gladii 
interfecerunt."  —  Was  nun  Le  Puy  betrifft,  so  liegt  es  nahe, 
an  die  blutigen  Raufereien  zu  denken,  die  zwischen  dem  Bi- 
schof Robert    de  Meung   und    den   Feudalherren    der  Gegend, 

1)  Gedichte  der  Troub.,  Tübingen  1855,  S.  322. 

2)  Annales  du  Midi,  XXI  (1909),  S.  23,  Anm. 
^j  Recueil  des  histor.  des  Gaules,  XIX,  S.  58. 


Peire  Cardinal  187 

dem  Vizegrafen  von  Polignac,  den  Herren  von  Montlaur  und 
von  Mercoeur,  in  Stadt  und  Land  während  des  ganzen  zweiten 
Jahrzehnts  des  13.  Jahrhunderts  getobt  haben  und  deren  wilde 
Geschichte  erst  noch  zu  schreiben  wäre;  denn  die  ebenso  blasse 
als  phantastische  Darstellung  dieser  Ereignisse  im  vierten  Band 
der  Histoire  du  Velay  von  Francisque  Mandet  (Le  Puy  1861) 
kann  heute  nicht  mehr  genügen.  Bischof  Robert  gehörte  zu 
den  unversöhnlichsten  Feinden  des  Grafen  von  Toulouse  und 
zu  den  grimmigsten  Verfolgern  der  Albigenser.  Als  er  vom 
lateranischen  Konzil  des  Jahres  1215  nach  Le  Puy  zurück- 
kehrte, soll  er  erklärt  haben  —  ich  zitiere  nach  Mandet  IV, 
S.  27  — :  „Tout  m'est  permis,  tout  m'est  impose  pour  etouffer 
jusque  dans  son  germe  le  monstre  qui  desole  les  provinces  voi- 
sines. "  Hinter  den  Glaubenskämpfen  aber  standen  wirtschaft- 
liche und  politische  Interessen,  denn  es  ging  um  den  Gewinn, 
den  die  Pilgerfahrten  nach  Notre  Dame  du  Puy  abwarfen 
und  um  die  weltliche  Oberhoheit  im  Velay.  Sollte  Esteve 
nicht  ein  Werkzeug  des  streitbaren  Bischofs  Robert  gewesen 
sein,  der  am  21.  Dezember  1219  von  einem  Ritter,  den  er  ex- 
kommuniziert hatte,  ermordet  wurde?  —  Montferrand  im  Arron- 
dissement  Castelnaudari  ist  schon  in  den  ersten  Jahren  der 
Albigenserkriege  zweimal  von  den  Kreuzfahrern  erobert  wor- 
den. Die  erste  Belagerung,  1211,  wird  uns  ausführlich  im 
Albigenserepos  (Vers  1641  —  1690)  und  summarisch  in  der 
Chronik  des  Petrus  Vallium  Sarnai  (cap.  LIV)  erzählt.  Noch 
in  demselben  Jahre  scheint  der  Graf  von  Toulouse  die  Feste 
Montferrand  zurückgewonnen,  im  Frühjahre  1212  sie  aber 
auch  schon  wieder  verloren  zu  haben. ^) 

Wenn  nun  Cardinal  von  den  Freunden  und  Werkzeugen 
geistlicher  Herrschsucht,  von  der  gens  fradelha  höhnend  sagt, 
daß  es  nur  eines  Winkes  der  Pfaffen  bedürfe,  um  diese  Leute 
zum  Angriff  gegen  Tudelle,  Le  Puy  und  Montferrand  zu  treiben, 
so  hat  er  dabei  Erinnerungen  an  Ereignisse  des  Albigenser- 
krieges,  besonders  der  Jahre  1211  und  1212  im  Sinne,  nicht. 


1)  Chanson  de  la  Croisade,  Vers  1988,  2232  und  2360. 


188  C.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

wie  Fähre  möchte,  Ereignisse  der  Jahre  1238  und  1239.  Auch 
nach  Stil  und  Stimmung  passen  die  Esteve -Lieder  besser  in 
das  zweite  als  in  das  vierte  Jahrzehnt.  Mit  Sicherheit  freilich 
läßt  ihre  Entstehungszeit  sich  nicht  bestimmen. 

X. 

Die  Tenzone  über  den  Wert  von  „Ja"  und  „Nein" :  Pdre 
del  Pud,  li  tröbador,^)  in  die  sich  Cardinal  durch  einen  Herrn 
Aimeric  hat  verwickeln  lassen,  verdient  kaum,  daß  man  um 
ihre  Datierung  sich  bemüht.  Die  Schlußstrophen  geben  dazu 
nur  unbestimmte  Anhaltspunkte.  Cardinal  ruft  zur  Verteidi- 
gung des  „Ja"  den  „guten  Herrn"  Ugo  del  Baux  auf  und 
überläßt  es  seinem  Gegner,  sich  für  das  „Nein"  einen  Raimon 
oder  Bertran  oder  Pero  zu  wählen,  womit  er  vielleicht  nur 
landläufige  Namen,  keine  bestimmten  Persönlichkeiten  geben 
wollte.  Aimeric  erwidert,  daß  das  Schiedsgericht  in  der  Pro- 
vence durch  Herrn  Blacatz  gehalten  werden  soll,  worauf  Car- 
dinal von  neuem  an  Hugo  appelliert.  Dieser  Hugo  von  Baux 
und  Vizegraf  von  Marseille  hat  11 73-- 1240,  also  so  lange  re- 
giert, daß  für  unsere  Zwecke  nicht  viel  mit  ihm  anzufangen 
ist.  Wenn  Herr  Blacatz  derselbe  ist,  den  Sordello  in  seinem 
berühmten  Sirventes  beweint  hat  und  der  nicht  lange  vor  1240 
gestorben  sein  dürfte,^)  so  gewinnt  man  damit  keinen  neuen 
Terminus  ad  quem.  Man  muß  sich  also  mit  der  Gewißheit 
begnügen,  daß  das  Streitgedicht  vor  1240  entstanden  ist.  Nach 
1240,  scheint  mir,  hat  Cardinal  überhaupt  nicht  mehr  gesungen. 

XL 

Die  Frage,  in  welcher  Weise  Cardinais  Kunst  auf  die 
weitere  Entwicklung  der  provenzalischen  Dichtung  gewirkt  hat, 
ist  heute  noch  nicht  spruchreif.  Es  läßt  sich  erwarten  und  ist 
an  einzelnen  Beispielen  auch  schon  nachgewiesen  worden,  daß 
Cardinal  auf  bürgerliche,  geistliche  und  meistersingerliche  Di- 

1)  Bartsch,  Denkmäler  der  provenzal.  Literatur,  S.  134 ff.  u.  Mahn, 
Gedichte,  1015. 

2)  Siehe  De  Lollis,  Vita  e  Poesie  di  Sordello,  Halle,  S.  37 ff.,  Anm.  1. 


Peire  Cardinal  189 

daktiker  der  Spätzeit,  insbesondere  der  toulousanischen  Schule, 
auf  Verseschmiede  wie  Bertran  Carbonel  und  Raimon  de  Cor- 
net  einen  starken  Eindruck  gemacht  hat.  Die  Herausgeber 
ihrer  Sprüche  und  Lieder,  Bartsch,  Jeanroy  und  Chabaneau 
haben  auf  augenfällige  Berührungspunkte  schon  mehrfach  hin- 
gewiesen.^) Eine  Reihe  der  in  Bartschs  Grundriß  Nr.  461  unter 
Anonyma  aufgeführten  Coblas  ist  dem  Cardinal  oder  unmittel- 
baren Nachahmern  Cardinais  zuzuschreiben.  Es  handelt  sich 
um  die  Stücke  8,  11,  15,  30,  53,  55,  79,  84,  96,  112,  115, 
119,  155,  182,  236,  238,  244.  Andere  sind  Einzelstrophen 
aus  Cardinais  Sirventesen: 

461,    25  =  335,  11,  Str.  3 

461,    46  =  335,  17,  Str.  5 

461,    71  =  335,  40,  Str.  2 

461,    99  =  335,  13,  Str.  3  ff. 

461,  153  =  335,    6,  Str.  6 

461,  168  =  335,  59,  Str.  2 

461,  199  =  335,  43,  Str.  5  (?) 

461,  225  =  335,  53.  (??) 
Mit  Cardinais   problematischem  Sirventes  Nr.  37  bzw.  16 
hängt   die   von  P.  Meyer,  Les   derniers  troub.  (1869),  S.  518, 
veröffentlichte  Cobla 

Ges  de  poder  non  parton  per  egual 
nach  Metrum,  Reim  und  Gedankengang  zusammen.     Auch  die 
anderen   an  jener  Stelle  herausgegebenen  Coblas  erinnern   an 
Cardinais  Geistesart. 

Bei  dem  sentenziösen  Stile  Cardinais  ist  es  natürlich,  daß 
Matfre  Ermengau  sich  einige  Zitate  für  sein  Breviari  d'amor 
aus  unseres  Dichters  Sirventesen  geholt  hat,  so  z.  B.  aus  den 
Sirventesen  Nr.  6,  Nr.  50  und  Nr.  54. 

Weiterhin  diesen  verstreuten  Spuren  nachzugehen,  wäre 
Sache  einer  Geschichte  der  provenzalischen  Spruchdichtung. 

^)  Bartsch,  Denkmäler  der  pro venzal.  Literatur,  Anmerkungen  zu 
S.  5  —  26  passim.  Jeanroy,  Les  „Coblas"  de  Bertr.  Carb.  in  den  Annales 
du  Midi,  XXV  (1913)  und  Chabaneau  (Noulet),  Deux  Mss.  prov.,  Mont- 
pellier-Paris 1888. 


190  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

XII. 

Mit  Hilfe  der  Lesarten  von  D^,  die  Giulio  Bertoni  mir 
vermittelt  hat,  kann  ich  das  von  Bartsch  nach  T  veröffent- 
lichte Lehrgedicht  (Denkmäler  der  provenzalischen  Literatur, 
S.  139 — 141)  in  verbesserter  Textgestalt  geben. 

Peire  Cardinal.^) 

De  paraulas  es  granz  mercatz, 

et  ieu  soi  de  parlar  logatz: 

per  qu'es  drech  que  viutat  en  fassa, 

car  lenga  logada  non  lassa. 
5     Mas  li  genz  mena  aital  nauza 

c'apenas  enguns  i  repauza: 

l'uns  conseilla  e  l'autre  clama, 

Tuns  dis:  Seinhor!  e  l'autre:  Dama! 

l'uns  maldis  e  l'autre  folia, 
10     l'uns  dis:  No  sia!  l'autre:  Si  sia! 

Can  l'uns  plora:  e  l'autre  ri, 

l'uns  quer  aigua  e  l'autre  vi, 

can  l'uns  encaussa,  l'autre  fui, 

can  l'uns  seca:  e  l'autre  brui. 
15     E  qui  parla  en  aital  bruda, 

aco  es  paraula  perduda, 

e  perduda,  es  eissamen 

paraula,  cant  hom  no  l'enten. 

C'aitan  valria  mantas  ves 
20     c'om  a  las  parez  o  disses. 


^)  Pere  Cardenal  B.  Die  Verfasserschaft  Cardinais,  die  Bartsch 
noch  bezweifelt  hat,  darf  als  gesichert  gelten. 

1.  gran  uiltat  I).  2.  E  ensui  d.  p.  loiat  D.  3.  P  ques  dreit  que  uiltat 
est  falsa  D.  Per  so  qu'es  T.  4.  Que  1.  löiada  1).  6.  negus  ireupaza  D, 
irrepauza  T.  7.  siclama  D,  brama  T.  8.  l'uns  menassa  el  autre  clama  T. 
9.  folleja  T.  10.  Lautre  di  nosia,  sisia  I>,  Lautre  diz  non  enaissi  vai  T. 
11.  can   plora  T.    14.  sicar  J>,   si   sella  T.    20.  o   fehlt  in  D,   dieises  T. 

21.  Can  an  gaires  homes  que  son  D,  Com  a  ganren  de  mes  que  son  T. 

22.  apel  lo  m.  D,  aquelz  per  lo  m.  T.    Der  Sinn  ist  offenbar:  Auf  wenige. 


Peire  Cardinal  191 


Can  n'a  gaires  d'omes  que  son, 
Cent  d'aquelz  a  per  lo  mon:  ( —  1) 
can  auran  un  comte  auzit, 
ja  no  sabran  que  s'aura  dit. 

25     Et  a  ben  talan  de  parlar 
qui  ab  aquelz  si  met  contar. 
D'autres  n'i  a  que 's  fan  sennat, 
c'an  de  reprendre  voluntat 
et  an  so  enpres  per  aital 

30     que,  digas  ben  o  digas  mal, 
enanz  ora  seras  repres  — 
cais  qu'ell  es  savis  e  cortes 
e  gen  parlans  e  sap  ganre, 
mas  negun  hom  non  au  ni  ve. 

35     E  mantas  ves  a  mais  de  sen 
le  repres  c'aquel  qui  repren. 
Tals  cuja  reprendre  autrui 
que  l'autre  pot  reprendre  lui, 
mas  en  aiso  son  tucb  obrier, 

40     que  cascuns  fa  de  so  mestier. 

Homs  mals  —  quar  fa  sa  malvestat 
co'l  bons,  si  fazia  bontat  — 
le  bons  escouta  per  aprendre:  — 
e  •  1  mals  per  talen  de  reprendre. 

45     Le  bons  escouta  et  enten 
per  aital  bon  entendemen, 
si  auzira  moutz  ditz  de  ben, 
que  aquel  apren  e  reten. 
E'l  mals  homps  si  met  en  escout, 

50     si  auzia  dire  mal  mot. 


die  sprechen,  kommen  hundert,  die  nicht  verstehen.  24.  com  saura  dit 
D,  ditz  T.  26.  aques  met*  contar  B,  aquelz  si  met  parlar  T.  28.  Can 
derepente  -D,  Can  repenre  T.  30.  diia^  be  odiia  m.  D.  31.  avant  ora 
seres  r.  X>.  Qu'enanz  T.  33.  Et  es  p.  e.  s.  ganren  T.  34.  Mais  negus  hom 
B.  Mas  denguns  homps  n.  a.  ni  uen  T.   35.  Que  T.  39.  obreit  B.  40.  Chau- 


192  6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 

Cant  la  us  menan  gran  gangalia, 

e  non  es  ges  qu'azir  e  palia!  — 

Et  aquis  dui  fan  que  cortes, 

car  quascuns  pren  so  que  sieu  es; 
55     que'l  bons  s'en  va  ab  sos  bos  motz 

e  laiss'estar  los  avols  totz, 

e*l  mals  s'en  va  ab  so  mot  mal, 

si  ren  a  bona,  non  li  *  n  cal, 

que  semblans  es  a  barutel: 
60     reten  lo  lach  e  laissa  *  1  bei 

e  laissa  en  passar  la  flor. 

E  que  i  retenra?  la  pejor! 

De  so  qu'au  dire,  ieu  enten 

qu'el  laissara  la  flor  per  ben. 

t 
das  fai  de  somesteir  I>,  son  mestier  T.  41.  Lo  mals  can  fai  D,  quan  T. 
42.  fazia  korrigiert  aus  faria  D.  43.  und  44.  fehlen  in  D.  46.  Per  aital 
bon  entendemen  D,  fehlt  in  T.  AI.  Si  auzira  dir  mout  de  be  D,  si  auzia 
mot  ditz  de  ben  T.  48.  E  aquel  apren  e  rete  JD.  49. — 50.  El  mals  hom 
simet  enescolto.  Si  auzira  dire  bomot  D.  51.  E  can  lau  menä  D,  mena 
grangnanguallas  T.  52.  chazeir  en  palia  X>,  quazich  e  palla  T.  Vielleicht 
ist  empacha  zu  lesen.  54.  senes  I).  55.  ab  lobo  mot  Z>.  56.  E  laissa  istar 
laltre  tot  B.  57.  ab  lo  mot  mal  D.  58.  Escrei  abo  no  lienchal  B,  E  si 
res  al  bon  non  lin  quäl  T.  59.  Barut  el  T.  60.  Querete  ades  lodalbel  D, 
ellaissal  ben  T.  62.  E  qui  retenra  la  melior  D,  E  qui  rentral  la  pejor  T. 
63.  dire  eenten  D,  aus  dire  T    64.  p  bren  D. 


Peire  Cardinal 


193 


Nachweis  der  erörterten  Gedichte. 

(Die   Nummern   nach   Bartschs    Grundriß  335.) 


1.  Ab  votz  d'angel 

2.  Aissi  cum  hom  plaing 

3.  AI  iiom  del  seignor  dreiturier 

4.  Anc  mais  tan  gen 

5.  Anc  no  vi  Breto 

6.  Aquesta  gens  quan  son 

7.  Ar  mi  posc  eu  lauzar 

8.  A  totas  partz  vei  mescl'ab  avareza 

9.  Atressi  cum  per  fargar 

10.  Bei  m'es  qu'ieu  bastis 

11.  Ben  teing  per  fol 

12.  Be  volgra,  si  Deus 

13.  Caritatz  es  en  tan  bei 

14.  Gel  que  fe  tot 

15.  Dels  quatre  caps 

16.  De  cels  qu'avetz 

17.  De  sirventes  faire 

18.  De  sirventes  soill  servir 

19.  D'Esteve  de  Belmon 

20.  D'un  sirventes  far 

21.  (D'un)  sirventes  qu'es  mieg  mals 

22.  (El  mon  non  a  leo)  =  68 

23.  En  Peire,  per  mon  chantar  bei 

24.  Eu   trazi   peitz  que   si  portava 
queira 

25.  Falsedatz  e  desmezura 

26.  Ges   no   me   sui   de   mal  dir  ca- 
stiatz 

Sitzgsb.  d.  philos.-philol.  u.  d.  bist.  Kl.  Jahrg.  1916,  6. 


Besprochen  auf  Seite: 
68,  132,  165 
16,  25,  105 
28,  33,  38,  45,  153 
12,  Anm. 

35,  Anm.,  123,  169 
6,  173 
5,  13 
15 

35,  Anm.,  40,  119,  123 
28,  44,  Anm. 
5 

39,  114 
9 

84,  145 
64 

60,  70,  138  ff. 
20,  27,  143 
26,  28,  140,  181 
12,  85,  119,  122 
11,  Anm.  16 
135  ff.,  183 


8,  16,  23,  86,  143 
39,  73,  112,  153 


43 

Abb. 


13 


194 


6.  Abhandlung:  Karl  Vossler 


27.  lezu  Crist,  nostre  salvaire 


28.  L'afar  del  comte 

29.  L'arcivesques  de  Narbona 

30.  Las  amairitz 

31.  Li  clerc  se  fan  pastor 

32.  Lo  jorn  qu'eu  fui  natz 

33.  Lo  mons  es  aitals  tornatz 

34.  Lo  sabers  d'est  segle 

35.  Lo  segle  vei  camjar 

36.  Maint  baro  ses  lei 

37.  Mon  chantar  voill 

38.  (No  cre  que  mos  ditz)  =  Ja  non 
vuoil  mos  digz 

39.  Non  es  cortes 

40.  Per  fols  tenc  Poilles 

41.  Pos  ma  boca 

42.  Predicator 

43.  Quais  aventura 

44.  Qui's  vol  tal  fais 

45.  Qui  ve  gran  maleza 

46.  Qui  vol  aver 

47.  Qui  volra  sirventes 

48.  Razos  es  qu'eu  m'esbaudei 

49.  Ries  hom  que  greu  ditz 

50.  S'eu  fos  amatz 

51.  Si  tot  non  ay  joy 

52.  Tals  cuia  be 

53.  Tan  son   valen  vostre  vezi  (= 
Seigner  N'Eble,  vostre  vezi) 

54.  Tan  vei  lo  segle 

55.  Tartarassa  ni  voutor 

56.  Tendatz  e  traps 


Besprochen  auf  Seite: 

11,  Anm.,  21,  Anm.,  36, 
45,  59,  61,  66,  70  f.,  75, 
87,  159 

69,  93,  130  f. 
13,  89  ff. 

21,  Anm.,  33 

54,  132,  142,  179 
17,  40,  41,  112 

15,  78  f. 

17,  23,  Anm.,  76,  153 

3 

27 

30,  83,  Anm.,  138ff.,  182 

16,  73 

22,  37  f. 

12,  Anm.,  74,  101 
15,  170 

11,  Anm.,  35,  Anm.,  36, 
72,  74,  79f.,  160 
42,  162 
35,  Anm.,  123,  184 

17,  25,  42,  169 
17  f. 

83,  Anm.,  132,  143,  154 
105 

18,  143 
6 

29 

44,  181 

35,  Anm.,  124  ff.,  144 
133,  172 

20,  66,  Anm.,  153 
11,  110 


Peire  Cardinal 


195 


57.  Tostemps  azir 

58.  Tostemps  vir  cuidar 

59.  Tostemps  volgra'm  vengues 

60.  Tot  (enaissi)  atressi 

61.  [A]  tot  farai  una  demanda 

62.  Totz  lo  mons 

63.  Un  decret  fauc 

64.  ün  estribot 

65.  Un  sirventes  ai  en  cor 

66.  Un  sirventes  fauc 

67.  Un  sirventes  novel   - 

68.  Un  sirventes  trametrai 

69.  Un  sirventes  vuelh  far 

70.  Vera  vergena  Maria 


Besprochen  auf  Seite : 
12,  Anm.,   18,   170 
35,  Anm. 
86 

35,  Anm.,  71,  88,  Anm., 
140,  153 
40,  185 
163,  Anm. 
80 f.,  Ulf. 
61,  132,  157 
12,  119,  120 
35,  185 
46 

7,  12,  119ff.,  122,  186 
43,  130 
61. 


Cardinal  gehörig  sind  ferner: 

De  paraulas  es  granz  mercatz     S.  21,  Anm.,  32,   151,   190 
Peire   del   Puei,   li   trobador   (Tenzone   Aimerics  mit   Cardinal) 

S.  138,  188 
Una  ciutatz  fo,  no  sai  cals     S.  147  ff. 

Vielleicht  auch: 

Ben  volgra  si  far  si  pogues     S.  50 

Tot  aissi  soi  desconselhatz     S.  135  f.,  Anm.,   171  f.,  Anm. 


Über  die  Coblas  esparsas  siehe  Anhang  XI. 


CIRCU-LAIS  ^  ^ON.OGRAPy 


AS  Akademie  der  Wissenschaften, 

182  Munich.     Philosophisch- 

M823  Historische  Abteilung 
1916  Sitzungsberichte 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POCKET 

UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


q^QM^ 


AS 


,^H 


.  'iH.!.!' 


i  I:'    ' 


r     >       t    ,SS'^    i»  Ist 


;  j 


s  » ' ' 


i 


ni. 


S '..;  -. 


' .:  'K  \P