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SITZUNGSBERICHTE 


DER  KAISERLICHEN 


1K1DE1I1E  DER  WISSENSCHAFTEN. 


PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE  CLASSE. 


NEUNZEHNTER  BAND. 


WIEN. 

AUS  DER  K.  K.  HOF-  UND  STAATSDRUCKEREI. 

IN  COMMISSION   BEI  W.   BRAUMILLER,   BUCHHÄNDLER  DES  K.  K.  HOFES  UND  DER 
K.  AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN. 

1856. 


SITZUNGSBERICHTE 


DER 


PHILOSOPHISCH-HISTORISCHEN  CL4SSE 


DER  KAISERLICHEN 


AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN. 

NEUNZEHNTER   RAND. 

Jahrgang  1856.   Heft  I  und  IL 


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WIEN. 

AUS  DER  K.  K.  HOF-  UND  STAATSDRUCKEREI. 

IN  COMMISSION  BEI  W.  BRAUMÜLLER  .  BUCHHÄNDLER  DES  K.   K.   HOFES  UND   DER 
K.   AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN. 

1856. 


As 


-2o 


INHALT. 


Seite 

Sitzung  vom  2.  Jänner  1856. 

Firnhaber,    Die    Mission    des   Freiherrn    von    Sassinet,    österreichischen 

Agenten  in  Rom,  im  Jahre  1701 3 

Sitzung  vom  9.  Jänner  1856. 

Miklosich,  Üher  die  Sprache  der  Bulgaren  in  SiebenMirgen 30 

Sitzung  vom  16.  Jänner  1856. 

Bergmann,  Pflege  der  Numismatik   in  Österreich    im    XVIII.  Jahrhundert 

mit  besonderem  Hinblick  auf  das  k.  k.  Münz-  und  Medaillen-Cabinet       31 

Sitzung  vom  30.  Jänner  1856. 

Boiler,  Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums 109 

Weitenweber,  Beiträge  zur  Literärgeschichte  Böhmens 12.0 

Verzeichniss  der  eingegangenen  Druckschriften 157 

Sitzung  vom  13.  Februar  1856. 

Chmel,  Über  den  zweiten  Bericht  an  S.  E.  den  Herrn  Minister  des  Innern, 

über  die  Literatur  im  österreichischen  Kaiserstaate  im  Jahre  1854    .     163 

Sitzung  vom  20.  Februar  1856. 

Scherzer ,  Über  die  handschriftlichen  Werke  des  Padre  Francisco  Ximenez 

in  der  Universitäts-Bibliothek  zu  Guatemala 166 

Stögmann,  Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich 187 

Boller,  Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums  (Fort- 
setzung)   ~ol 

Verzeichniss  der  eingegangenen  Druckschriften 319 


SITZUNGSBERICHTE 


DER 


KAISERLICHEN  AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN. 


PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE   CL ASSE. 


XIX.  BAND.  I.  HEFT. 


JAHRGANG  1856.  —  JÄNNER. 


's 


SITZUNG  VOM  2.  JÄNNER  1856. 


Gelesen: 


Die  Mission   des  Freiherrn   von  Sassinet,   österreichischem 
Agenten  in  Rom ,  im  Jahre  1701. 

Von  dem  c.  M. ,  Herrn  Friedrich  Firnhaber. 

Die  k.  Bibliothek  in  Paris  besitzt  unter  ihren  Handschriften  ein 
Actenstück  welches  eine  wichtige  Ergänzung  zur  Geschichte  der 
österreichischen  Politik  in  Italien  am  Anfange  des  18.  Jahrhunderts 
bildet,  jenem  Zeiträume  welcher  als  Beginn  des  spanischen  Succes- 
sionskrieges  einen  der  folgenreichsten  Abschnitte  der  Geschichte  des 
Hauses  Habsburg  und  der  Gestaltung  des  österreichischen  Staates  bildet. 
Das  berührte  Actenstück  ist  angeführt  in:  Ant.  Marsand,  i  manoscritti 
della  regia  biblioteca  parigina.  Parigi  1835,  2  vol.  in  4°,  und  zwar 
im  1.  Bande  pag.  390,  Nr.  10090.  5.  und  führt  den  Titel:  „Istru- 
zione  secreta  dell'  imperatore  Leopoldo  al  consigliere  aulico  di  Sassi- 
net." Freiherr  von  Sassinet  oder  Chassinet,  der  mit  dieser  Mission  an 
den  päpstlichen  Hof  betraut  war,  wurde  später  nach  dem  Fehlschlagen 
des  Aufstandes  in  Neapel  zu  Gunsten  des  Erzherzogs  Karl,  nach- 
maligen Kaisers  Karl  VI.,  in  welchem  Aufstande  er  sich  an  die  Spitze 
gestellt  hatte,  im  Jahre  1701  von  den  Franzosen  gefangen,  nach 
Frankreich  abgeführt  und  in  der  Bastille  festgesetzt.  Mit  ihm  kamen 
so  auch  wahrscheinlich  seine  Papiere  nach  Paris.  Über  das  Ende 
dieses  Mannes  herrscht  mythisches  Dunkel.  Bei  meinen  Studien  über 
die  Geschichte  der  pragmatischen  Sanction  fiel  mir  auch  die  Notiz 


4-  Friedrich  Firnhaber. 

über  dieses  wichtige  Actenstück  in  die  Hände,  und  ich  war  so  glück- 
lich, mir  eine  ziemlich  genaue  Copie  desselben  verschaffen  zu  können. 
Ich  theile  sie  in  den  folgenden  Zeilen  in  ihrem  ganzen  Umfange  mit 
und  erlaube  mir  nur,  einige  auf  den  Gegenstand  der  Unterhandlung 
Sassinef  s  bezügliche  Andeutungen  für  dio  geneigten  Leser  voran- 
zuschicken. 


Am  1.  November  1700  war  die  spanische  Linie  des  Hauses 
Habsburg  mit  König  Karl  II.  zu  Ende  gegangen.  Das  natürliche  Erb- 
recht der  österreichischen  Linie  war  durch  das  durch  französischen 
Einfluss  geschaffene  Testament  des  Verewigten ,  kraft  dessen  der 
Herzog  von  Anjou,  Enkel  Ludwigs  XIV.,  zum  Erben  der  spanischen 
Monarchie  eingesetzt  wurde,  aufs  Bitterste  verletzt.  Diese  Rechts- 
verletzung war  so  in  die  Augen  fallend,  dass  König  Ludwig  XIV.  selbst 
anfangs  wenigstens  sich  überrascht  stellte,  und  erst  nach  einiger  Zeit 
die  Annahme  für  seinen  Enkel  erklärte. 

Kaiser  Leopold  I.,  der  natürliche  Erbe  Spaniens,  der  weder  dem 
ersten  noch  dem  zweiten  Theilungsprojecte  über  die  spanische  Monar- 
chie seine  Zustimmung  gegeben  hatte,  leider  zum  Unglück  für  den 
Besitz  seines  Hauses,  sondern  unbedingt  an  seinem  guten  Rechte  des 
ungeschmälerten  Besitzes  der  ganzen  spanischen  Monarchie  fest- 
hielt, verwarf  natürlich  auch  das  Testament  feierlich.  Unterhandlungen 
zeigten  sich  als  unzureichend,  sie  waren  auch  bei  den  ausgesproche- 
nen Verhältnissen  unmöglich;  es  blieb  keine  andere  Entscheidung 
als  das  Schwert,  und  diesen  Weg  zu  betreten  scheute  sich  Kaiser 
Leopold  keinen  Augenblick.  Die  Rüstungen  Österreichs  begannen 
unverzüglich,  und  wieder,  wie  seit  Jahrhunderten,  war  Italien  der 
erste  Tummelplatz  der  Waffen  der  beiden  feindlichen  Mächte  Habs- 
burg und  Bourbon. 

Die  zwei  wichtigen  und  reichen  Appertinenzen  der  spanischen 
Monarchie,  Mailand,  dann  das  Königreich  beider  Sicilien  (für  Österreich 
um  so  wichtiger,  als  sie  seinem  Staatencomplex  die  nächsten,  seiner 
Entwickelung  die  gelegensten  waren),  bildeten  den  ersten  Gegenstand 
des  Kampfes.  Wir  werden  in  diesen  Zeilen  auch  nur  diese  Phase  des 
Successionskrieges  ins  Auge  fassen,  da  wir  zur  Erläuterung  unseres 
erwähnten  Actenstückes  nur  die  Kämpfe  um  Mailand  und  Sicilien 
näher  zu  beleuchten  haben. 


Die  Mission  des  Freiherru  von  Sassinet.  Q 

Mailand,  Neapel  und  Sicilien,  Rom,  Sardinien,  Venedig  sind  die 
Hauptpuncte  des  Gemäldes. 

Die  ersten  beiden  zu  erringen,  die  Hilfe  und  Zustimmung  oder 
wenigstens  die  Neutralität  der  anderen,  der  mächtigsten  Staaten  der 
italienischen  Halbinsel  zu  erlangen,  war  das  Ziel  der  militärischen 
und  diplomatischen  Operationen. 

Mailand  zu  besetzen,  war  die  erste  Sorge  des  Kaisers.  Der 
spanische  Generalgouverneur  in  Mailand,  Prinz  Lothringen  Vaude- 
mont  wurde  aufgefordert,  kaiserliche  Truppen  in  Mailand  aufzuneh- 
men, —  er  weigerte  sich  der  friedlichen  Aufforderung  und  erklärte 
sich  sogleich  für  den  Herzog  von  Anjou,  Philipp  V.  von  Spanien,  — 
trotz  der  dem  Kaiser  günstigen  Stimmung  des  Volkes  und  des  Militärs 
in  Mailand.  Schon  der  erste  Punct  der  Forderungen  Österreichs 
musste  also  erkämpft  werden,  und  noch  im  Jahre  1700  wurde  dies- 
falls der  Beschluss  gefasst,  eine  Armee  von  19.000  Mann  zu  Fuss 
und  10.000  Pferden  unter  Prinz  Eugen  von  Savoyen  über  venetiani- 
sches  Gebiet  durch  Trient  und  Roveredo  in  Italien  einrücken  zu 
lassen.  Mailand  musste  in  den  Besitz  Österreichs  kommen,  es  war 
die  erste  Bedingung,  die  Brücke  zur  Erwerbung  des  Königreichs 
beider  Sicilien.  In  Mailand  Herr  zu  sein,  und  die  Zustimmung  des 
Papstes,  als  dazwischen  liegender  italienischer  Grossmacht  und  aner- 
kannten Lehensherrn  von  Neapel,  zu  gewinnen,  waren  nothwendige 
Bedingungen  des  weitern  günstigen  Erfolges.  Für  das  erste,  den 
militärischen  Theil,  sollte  der  grosse  Eugen,  für  das  zweite,  diploma- 
tische Unterhandlungen  sorgen. 

Auf  dem  römischen  Stuhle  sass  Clemens XI.  Älbani,  geboren  1649, 
gewählt  am  23.,  gekrönt  am  30.  November  1700  unmittelbar  nach  dem 
Tode  des  Königs  von  Spanien ,  hatte  er  unter  allen  Einflüssen  dieser 
ganz  Europa  erschütternden  Begebenheit  seinen  Thron  bestiegen. 

Jung  an  Jahren  für  seine  hohe  Würde,  neu  als  Fürst  eines  mäch- 
tigen Staates,  war  es  natürlich,  dass  jede  Partei  alle  Mittel  anwendete, 
ihn  für  ihre  Sache  zu  gewinnen.  Eben  die  Neuheit  seiner  Stellung  be- 
wog  ihn  aber,  sich  fürs  Erste  nicht  auszusprechen,  und  die  Neutralität 
für  wünschenswerth  zu  halten,  die  jedoch  bald  einem  geheimen  Hin- 
neigen und  endlich  einer  ausgesprochenen  Sympathie  für  Frankreich 
Platz  machte. 

Für  Österreich  schien  wenigstens  im  Anfange  die  Persönlich- 
keit des  neuen  Papstes  eine  Garantie  zu  sein,  dass  seine  Rechte  in 


6  Friedrich  Firnhaber. 

Italien  gewahrt  werden  würden.  Clemens  XI.  gehörte  keiner  ent- 
schiedenen Partei  an,  war  sogar  als  Cardinal  unter  den  Österreich 
angenehmen  Candidaten,  und  unter  Einflüss  der  österreichisch 
gesinnten  Cardinäle  Grimani,  Medici,  Lamberg  und  Cautelmi  gewählt. 
Er  selbst  spricht  dies  in  seinem  ersten  Schreiben  an  den  Kaiser 
aus,  man  konnte  ihn  sonach  als  einen  Mann  betrachten,  dessen  Wahl, 
wenn  auch  nicht  gewünscht,  doch  wenigstens  durch  die  von  Öster- 
reich erzwungene  Ausschliessung  anderer  missliebiger  Candidaten 
erfolgt  war. 

Am  28.  December  1700  erliess  der  Kaiser  ein  Schreiben  an  den 
neuen  Papst,  worin  er  dessen  Notificationsschreiben  über  seinen 
Regierungsantritt  beantwortet.  Es  ist  erwähnenswerth,  und  spricht 
noch  immer  für  die  günstige  Sachlage,  dass  der  Kaiser  in  diesem 
Schreiben,  von  der  gewöhnlichen  Form  strenger  Curialschreiben 
abgehend,  sich  mehr  in  vertrauten  Ausdrücken  bewegt,  und  am 
Schlüsse  beifügt:  considerare  la  mia  attentione  per  meritarmi  la  bene- 
dictione  et  assistenza  della  medesima,  mentre  non  hebbi  mai  maggi- 
ore  obbligatione  di  animo,  che  di  continuare  la  pace  e  la  tranquillitä 

del  christianismo -.        sperando  pero  dalla  sua 

equanimitä,  che  come  giusto  pote  non  sia  per  disapprovare  che  io 
procuri  di  mantenere  le  giuste  ragioni  e  dritti  dell'  imperio  e  della 
mia  casa,  come  ne  corre  un  preciso  obbligo,  ma  piuttosto  per  por- 
germi  il  suo  paterno  aiuto  e  per  dare  benigno  orecchio  a  quanto  da 
mia  parte  sopra  questo  ed  altri  particolari  li  verra  esposto  dal  conte 
di  Lambergh  mio  ambasiatore. 

Der  österreichische  Gesandte  in  Rom,  Graf  Lamberg,  hatte  also 
bereits  seine  Instructionen,  um  bei  dem  neuen  Oberhaupte  der  Christen- 
heit Österreichs  Rechte  zu  wahren ,  und  denselben  für  dieses  zu 
gewinnen. 

Graf  Lamberg  war  ebenfalls  neu  in  seiner  Würde.  Nach  der 
Abberufung  des  Grafen  Martiniz,  der  den  Gesandtschaftsposten  bis  zum 
Jahre  1700  versehen,  aber  plötzlich,  wie  es  scheint,  in  Ungnade 
gefallen  war,  übernahm  Graf  Lamberg  mit  Anfang  des  Jahres  1700 
seine  Stelle.  Wir  kennen  die  Motive  der  Abberufung  des  Grafen 
Martiniz  nicht,  müssen  uns  aber  ebenfalls  wie  die  österreichisch 
gesinnte  Partei  in  Rom  wundern ,  dass  der  kaiserliche  Hof  einen 
solchen  Schritt  in  so  bewegter  Zeit  gethan  und  einen  des  Platzes  und 
der  Verhältnisse  so  kundigen  Mann  wie  Graf  Martiniz  bei  den   im 


Die  Mission  des  Freiherrn  von  Sassinet. 


Anfange  des  Jahres  1700  zu  erwartenden  wichtigen  Zeitereignissen, 
durch  einen  neuen,  und  ehen  darum  weniger  unterrichteten  Botschafter 
ersetzt  habe.  Man  sprach  in  Rom  offen  seine  Unzufriedenheit  darüber 
aus,  und  äusserte  sich  dahin,  dass  der  kaiserliche  Hof  damit  nur  dem 
französischen  Interesse  in  die  Hände  arbeite,  da  der  Einfluss  der 
Gesandten  der  Grossmächte  bei  der  Wahl  eines  neuen  Papstes, 
welche  bei  dem  Alter  und  der  Kränklichkeit  Innocenz  XII.  zu  vermu- 
then  war,  von  unermesslichem  Einflüsse  sei.  Die  Stimmung  gegen 
Lamberg  war  eine  allgemein  ungünstige,  ja  in  der  ersten  Zeit  legte 
man  ihm  sogar  zu  grossen  Eifer  für  die  Förderung  der  Angelegen- 
heiten seiner  Familie  durch  Betreibung  der  Wahl  seines  Verwandten 
des  Grafen  Philipp  Lamberg,  Bischofs  von  Passau,  zum  Cardinal  bei. 
ZurCharakterisirung  des  Mannes  fügen  wir  noch  Folgendes  bei:  Leo- 
pold Graf  Lamberg ,  von  der  Ottenstein'schen  oder  Lamberg-Sprin- 
zenstein'sehen  Linie,  Sohn  des  Grafen  Johann  Franz  und  der  Freiinn 
Marie  Constanze  von  Questenberg  war  am  13.  Mai  1654  geboren, 
Erbland-Stallmeister  in  Krain  und  in  der  windischen  Mark,  Ritter  des 
goldenen  Vliesses,  kais.  wirklicher  geheimer  Rath,  Kämmerer  und  seit 
1690  kais.  Minister  auf  dem  Reichstage  zu  Regensburg,  im  Jahre 
1703—1705  Botschafter  in  Rom,  starb  in  Wien  am  28.  Juni  1706. 
Er  war  vermählt  mit  Katharina  Eleonora  Gräfinn  von  Sprinzenstein, 
durch  seine  Gemahlinn  kam  das  reiche  Sprinzenstein'sche  Majorat  an 
sein  Haus :  die  Herrschaften  und  Städte  Waidhofen ,  Drosendorf, 
Weichhartschlag,  Theya,  Thumritz,  Pyrrha  u.  s.  w.  Er  war  bekannt 
durch  seine  bis  zur  Verschwendung  geartete  Pracht.  So  erschien  er 
auch  in  Rom  (s.  Theatrum  Europaeum).  Er  hatte  21  Personen  von 
gutem  Adel  in  seinem  Gefolge,  bei  seinem  Einzüge  in  Rom  sollen  an 
den  Gala  wägen  alle  Beschläge,  die  Reifen  der  Räder,  sogar  die 
Hufeisen  der  Pferde  von  gegossenem  und  geschlagenem  Silber,  statt 
Eisen,  gewesen  sein,  jede  Galalivree  der  zahlreichen  Dienerschaft, 
über  tausend  Gulden  gekostet  haben.  Der  ganz  von  gediegenem  Sil- 
ber verfertigte  Hausaltar  den  er  bei  dieser  Gesandtschaft  mit  sich 
führte,  das  ganze  Leiden  Christi  darstellend,  ist  (nach  Wisgrill, 
Schauplatz)  noch  in  derSchlosskirche  zu  Kranichberg  zu  sehen.  Sein 
erstes  Auftreten  und  seine  Stellung  gegen  den  früheren  Botschafter 
Grafen  Martiniz  war,  allen  Andeutungen  nach,  ein  feindliches,  so  zwar, 
dass  letzterer  der  nach  Lamberg's  Ankunft  in  Rom  daselbst  verblieb, 
darauf  bestand,  der  kaiserliehe  Hof  möge  durch  ein  eigenes  Schreiben 


3  p  r  i  e  d  r  i «  h  F.  i  r  n  h  a  b  e  r. 

anerkennen,  dass  er  seinen  Posten  tüchtig  und  zur  Zufriedenheit 
verwaltet  habe,  welchem  Ansuchen  endlich  auch,  nachdem  Graf  Lam- 
berg  durch  manche  Umstände  gezwungen,  sich  mit  ihm  verständigt 
zu  haben  scheint,  willfahrt  wurde.  Nach  dieser  Abschweifung  über 
den  Vertreter  der  Politik  Österreichs  in  Rom  kommen  wir  auf  unsern 
Gegenstand  zurück. 

Zur  rechtlichen  Darlegung  der  Ansprüche  Österreichs  erliess 
Kaiser  Leopold  unterm  29.  Jänner  1701  ein  zweites  Schreiben  an  den 
päpstlichen  Hof,  ein  rein  diplomatisches  Actenstück,  worin  er  die 
Rechte  des  Hauses  Habsburg  auf  die  ganze  spanische  Monarchie  aus- 
einandersetzte ,  gegen  die  Relehnung  des  Herzogs  von  Anjou  mit 
Neapel  protestirte,  und  selbst  um  die  Belehnung  ansuchte.  In  dieser 
Form  hielt  sich  also  der  Kaiser  streng  auf  dem  Wege  des  Rechtes, 
indem  er  die  Rechte  des  römischen  Stuhles  auf  Neapel  anerkannte 
und  von  diesem  letztern  die  Entscheidung  verlangte. 

Dieser  Schritt  hatte  den  gewünschten  Erfolg  nicht.  Der  h.  Vater 
entschuldigte  sich  mit  dem  Bestreben  die  Neutralität  aufrecht  erhal- 
ten zu  wollen,  bot  sich  aber  zugleich  zum  Friedensvermittler  mit 
Frankreich  an.  Kaiser  Leopold  nahm  diesen  Antrag  an,  und  erwiederte 
durch  seinen  Gesandten  und  den  apostolischen  Nuntius,  er  unterwerfe 
sich  gerne  der  Vermittlung  des  h.  Vaters  zur  Herstellung  einer  Aus- 
gleichung, und  werde  bis  dahin  keine  Truppen  nach  Italien  schicken, 
unter  der  Bedingung  jedoch  ,  dass  die  Franzosen  und  Spanier  sich 
gleichfalls  jedes  aggressiven  Schrittes  enthielten.  Die  schon  eingerück- 
ten Truppen  sollten  Befehl  zum  Rückmarsch  erhalten ,  der  Papst  soll 
Neapel  und  Sicilien  als  päpstliches  Lehen,  dann  Mailand  und  Belgien 
als  Lehen  des  h.  römischen  Reiches  einstweilen  übernehmen  und  bis 
zur  Entscheidung  sequestriren. 

So  rechtsliebend  und  billig  diese  Vorschläge  waren ,  fanden  sie 
doch  (und  dies  war  vorauszusehen)  von  französischer  Seite  Wider- 
spruch. Ludwig  XIV.  der  in  ihnen,  obgleich  sie  sich  nur  auf  die 
Nebenländer  Spaniens  bezogen,  doch  schon  ein  Nachgeben  in  der 
Hauptsache  erblickte,  da  in  Spanien  selbst  Philipp  von  Anjou  bereits 
als  König  anerkannt  war,  auch  der  damalige  General -Gouverneur 
der  Niederlande,  der  Kurfürst  von  Baiern,  sich  Philipp  V.  anschloss 
und  Anfangs  Februar  1701  bereits  französische  Truppen  die  belgischen 
Festungen  besetzten,  ein  Gleiches  der  Gouverneur  von  Mailand,  der 
Herzog  von  Lothringen- Vaudemont  (wie  bereits  erwähnt),  dann  der 


Die  Mission  des  Freiherrn  von  Sassinet.  il 

Vicekönig  von  Neapel  in  Aussicht  stellten  —  alle  Aussichten  für  Frank- 
reich also  günstig  waren  —  Ludwig  XIV.  verwarf  jede  Vermittlung, 
höchstens  sollte  Italien  ganz  neutral  bleiben,  —  der  Kampf  sollte  in 
Spanien  ausgekämpft  werden,  dem  Sieger  dann  auch  die  italienischen 
Besitzungen  zufallen;  —  eine  Idee,  durch  deren  Annahme  der  gege- 
benen Sachlage  nach  Kaiser  Leopold  sich  selbst  von  jeder  Parcelle 
der  spanischen  Erbschaft  ausgeschlossen  hätte. 

Dass  man  auch  kaiserlicherseits  wenig  von  der  Vermittlung  des 
Papstes  erwartete,  und  nur  aus  Achtung  für  ihn  seinen  Antrag  annahm, 
ist  daraus  ersichtlich,  dass  Cardinal  Lamherg  welcher  in  Venedig 
wegen  eines  Bündnisses  unterhandelte,  sich  dahin  äusserte:  Die 
Vermittlung  des  Papstes  scheine  ihm  wenig  erspriesslich,  wegen 
dessen  politischer  Schwäche.  Sollte  es  aber  dabin  kommen,  dass 
die  streitigen  Provinzen  sequestrirt  würden,  so  sei  die  erste  und 
vornehmste  Bedingung,  dass  sich  die  Franzosen  aus  dem  Mailän- 
dischen  zurückzögen. 

Keiner  von  allen  diesen  Vorschlägen  kam  zur  Ausführung.  Es 
blieb  also  Österreich  zur  Wahrung  seines  Rechtes  nur  der  Weg  der 
Gewalt,  den  man  zu  betreten  bereits  angefangen.  Ludwig  XIV.  sucbte 
den  Papst  und  die  übrigen  italienischen  Fürsten  zu  einem  Bündnisse 
zu  vereinigen  und  den  Kaiser  ganz  von  Italien  auszuschliessen,  was 
ihm  aber  zum  Glücke  Österreichs  nicht  gelang.  Obwohl  man  aus  dem 
Gratulationsschreiben  des  Papstes  an  den  Herzog  von  Anjou  zur  Erlan- 
gung der  spanischen  Krone  entnehmen  kann ,  wie  sehr  er  sich  schon 
auf  die  französische  Seite  neigte,  und  wie  wenig  von  ihm  für  Öster- 
reich zu  hoffen  war,  obwohl  die^  eine  Factum  strenge  genommen 
schon  hinreichend  gewesen  wäre,  ihn  selbst  als  Feind  Österreichs  zu 
erkennen,  so  lähmte  er  die  Schritte  der  letztern  Macht  doch  immer 
dadurch,  dass  er  sich  äusserlich  strenge  neutral  erklärte  und  so 
behandelt  sein  wollte.  Er  anerkannte  Philipp  V.-  als  König,  weigerte 
sich  aber  als  neutrale  italienische  Macht,  ihm  die  Investitur  über  Nea- 
pel zu  verleihen,  oder  auch  nur  Hoffnung  dazu  zu  machen,  obgleich 
er  ihm  durch  die  Anerkennung  den  grössten  moralischen  Vorschub  zur 
Erreichung  seiner  Zwecke  auch  in  Italien  gab.  Er  zeigte  seine  Par- 
teilichkeit für  ihn  so  offen,  dass  er  die  goldene  Rose  welche  alljährlich 
vom  Papste  geweiht  und  jenem  Fürsten  verehrt  wird,  welchem  er  im 
Augenblicke  die  grösste  Zuneigung  bezeugen  will,  dem  neuen  Könige 
von  Spanien  bestimmte.  Freilich  unterblieb  die  wirkliche  Ausführung 


10  Fried  rieh  Firnhaber. 

dieses  Gnadenactes,  allein  nur  auf  die  energischen  Vorstellungen  des 
österreichischen  Botschafters. 

Trotz  dieser  ausgesprochenen  Zeichen  von  Sympathie  für  Frank- 
reich Hess  sich  Clemens  doch,  wie  gesagt,  durchaus  nicht  herbei, 
bezüglich  Neapels  eine  Entscheidung  zuthun.  Franzosen  und  Spanier 
versuchten  alle  Mittel  und  Wege,  ihn  zu  erweichen,  ihn  zu  einem 
Bündnisse  zu  bewegen  oder  die  Belehnung  zu  erlangen,  und  so  zu 
erreichen,  dass  er  der  bereits  ausgesprochenen  Anerkennung  Philipp's 
hinsichtlich  der  in  Besitz  genommenen  Theile  den  Schlussstein  rück- 
sichtlich  Italiens  einfüge,  „der  König  von  Spanien  wolle  sich  per- 
sönlich nach  Born  begeben,  um  dort  die  Lehen  zu  empfangen,  und 
auf  solche  Art  aufs  Feierlichste  die  Oberherrlichkeit  des  Papstes 
anerkennen,  er  wolle  eine  Provinz  Neapels  an  den  Kirchenstaat 
abtreten,  in  kirchlichen  Angelegenheiten  dem  Papste  besondere 
Bechte  einräumen,  ja  persönliche  Vortheile  für  die  Familie  Albani 
wurden  in  Aussicht  gestellt  und  versprochen,"  wie  Polidori,  der 
Biograph  Clemens  XL,  in  seinem  Werke  erzählt. 

Alle  diese  Bemühungen  wirkten  nichts  auf  den  Papst,  eben  so 
wenig  als  alle  Anträge  des  Grafen  Lamberg  von  Seite  des  Kaisers 
für  seinen  Sohn,  den  Erzherzog  Karl.  Die  Demonstration  des  gedach- 
ten österreichischen  Gesandten,  an  seinem  Palaste  in  Born  neben  dem 
kaiserlichen  Wappen  das  k.  spanische  befestigen  zu  lassen,  machte 
keinen  Eindruck,  man  Hess  ihn  gewähren  und  machte  von  päpstlicher 
Seite  keinen  Einspruch  dagegen. 

Während  dieser  fortdauernden,  Schachzügen  gleichen  Verhand- 
lungen und  Unterhandlungen  beider  Theile  setzte  der  Kaiser  seine 
Büstungen  fort,  die  Truppen  rückten  endlich  in  Italien  ein.  Wir 
wollen  hier  durchaus  in  keine  Details  der  militärischen  Vorgänge  uns 
einlassen,  der  Feldzug  in  Italien  im  Jahre  1701  ist  vielfach  beschrie- 
ben und  dargestellt  von  den  verschiedenen  Biographen  Leopold's  L, 
Joseph's  I.  und  Karl's  VI.,  so  wie  in  anderen  Werken,  am  ausführ- 
lichsten in  dem  neuen  Werke  von  Pelet  in  der  grossen  Samm- 
lung: Collection  de  documents  inedits  sur  l'histoire  de  France  etc. 
I.  serie :  Memoires  militaires  relatifs  ä  la  succession  d'Espagne  sous 
Louis  XIV.  etc.  Paris  imp.  roy.  183o,  tom  I,  p.  189  ff. 

Neben  den  militärischen  Fortschritten  und  dem  politischen 
Treiben  in  Born  wurde  nicht  minder  in  den  übrigen  Theilen  Italiens 
gearbeitet.    Venedig,  die  alte,  doch  noch  immer  mächtige  Bepublik 


Die  Mission  des  Freiherrn  von  Sassinet.  1  1 

war  der  Zielpimct  der  Bestrebungen  des  Grafen  und  Cardinais  Johann 
Philipp  vonLamberg,  um  sie  für  Österreich  Zugewinnen,  und  sich  ihren 
Beistand  zu  sichern.  Ihm  entgegenarbeitete  von  französischer  Seite  der 
Cardinal  Cesar  d'Estrees;  —  beide  unterhandelten  geheim  mit  dem  dazu 
von  der  Bepublik  ausersehenen  Mitgliede  des  grossen  Bathes,  Bene- 
detto  Capello,  beide  ohne  Erfolg;  denn  auch  Venedig  wollte  durch- 
aus für  neutral  gelten  und  kein  Bündniss  eingehen.  Der  einzige 
Gewinn  für  Österreich  war  der,  dass  die  Bepublik  sich  dem  Durch- 
zuge der  österreichischen  Truppen  der  ihr  Gebiet  berühren  musste, 
nicht  hindernd  in  den  Weg  zu  stellen  versprach,  sondern  nur  jede 
Verletzung  ihres  Gebietes  und  ihrer  Unterthanen  hintangehalten 
wissen  wollte. 

Der  Herzog  vonMantua,  Ferdinand  Gonzaga,  erklärte  sich  gleich- 
falls neutral,  Hess  sich  jedoch  schon  in  Venedig  mit  d'Estrees  in 
geheime  Unterhandlungen  ein.  Um  ihn  als  Lehensmann  des  deutschen 
Beiches  in  Treue  zu  erhalten,  sollten  der  Papst  und  Venedig  seine 
Staaten  mit  neutralen  Truppen  besetzen.  Bevor  jedoch  dieser  Be- 
schluss  zur  Ausführung  kam,  hatte  Herzog  Ferdinand,  durch  franzö- 
sisches Gold  gewonnen,  seine  Hauptstadt  den  Franzosen  nach  dem 
Vorspiele  einer  scheinbaren  Belagerung  übergeben.  General  Tesse 
setzte  sich  in  den  Besitz  von  Mantua,  der  Kaiser  erklärte  den  Herzog 
in  die  Beichsacht.  Der  Herzog  von  Parma  blieb  bei  der  erklärten 
Neutralität,  Modena  erklärte  sich  für  den  Kaiser. 

Der  Herzog  von  Sardinien,  nachdem  er  längere  Zeit  sich  mit 
Ausflüchten  hingezogen  hatte,  sprach  sich  offen  für  Frankreich  aus, 
und  wurde  durch  die  Aussicht  auf  die  Verbindung  seiner  zweiten 
Tochter  M.  Luisa  mit  Philipp  von  Anjou  noch  fester  an  dasselbe 
gebunden,  als  er  es  bereits  durch  die  Heirath  seiner  ältesten  Tochter 
mit  der  altern  Linie  der  Bourbons  war. 

So  standen  die  Verhältnisse  in  Italien  im  Frühjahre  1701.  Die 
meisten  italienischen  Fürsten  halb  oder  ganz  für  Frankreich,  und 
von  diesem  wieder  gegen  Österreich  unterstützt.  Österreich  hatte 
nur  Aussicht  auf  sein  Waffenglück.  Ausserdem  fand  es  Unterstützung 
in  den  Sympathien  der  Bevölkerung  und  hegte  noch  immer  die  Hoff- 
nung, den  Papst  hinsichtlich  Neapels  zu  einem  günstigen  Ausspruche 
zu  bewegen. 

Nachdem  Kaiser  Leopold,  wie  schon  erwähnt,  gegen  das  Testa- 
ment KarPs  II.  protestirt  und  diese  Protestationen  nicht  nur  an  die 


12  Friedrich  Firnhaber. 

Höfe,  sondern  auch  im  Volke  verbreitet  hatte,  erliess  er  Autrufe  an  die 
Unterthanen  von  Mailand,  Neapel,  Sardinien  und  Sicilien.  Er  erinnerte 
sie  an  ihre  Pflichten  gegen  Kaiser  und  Reich,  er  rief  ihnen  die  vielen 
von  Österreich  erwiesenen  Wohlthaten  ins  Gedüchtniss  zurück, 
und  versprach  ihnen  Aufrechthaltung  aller  Privilegien  und  Freiheiten. 
Um  in  diesem  Sinne  weiter  auf  das  Volk  zu  wirken,  schickte  er  den 
Grafen  Castelbarco,  einen  Verwandten  des  Marchese  Visconti,  von 
den  Mailändern  geliebt  und  einflussreich,  nach  Mailand.  Doch  weder 
dieser  noch  sein  Freund  Marchese  Pagani,  ein  gleich  treuer  Anhän- 
ger Kaiser  Leopold's,  vermochten  trotz  der  Stimmung  des  Volkes  für 
Österreich  gegen  den  aufmerksamen  Vaudemont  eine  günstigere 
Stellung  zu  erreichen.  Ohne  Resultat  kehrte  Castelbarco  nach  Wien 
zurück. 

Stärker  und  kräftiger  war  des  Kaisers  Anhang  in  Neapel.    Die 
kaiserlich   gesinnte  Partei  bereitete   eine  Umwälzung  vor,   die  zur 
Vertreibung  der  Franzosen  führen   sollte.    Sie  wollten  Neapel  als 
freien  Staat  erklären,  mit  dem  Rechte  sich  einen  neuen  Regenten  zu 
wählen.     Der  neu   zu  wählende  sollte  der  Erzherzog  Karl,   Sohn 
Kaiser  Leopold's,  sein.  Offen  wurde  diese  Ansicht  ausgebreitet,  um  An- 
hänger zu  gewinnen,  so  dass  sich  selbst  eine  literarische  Controverse 
entspann,  bezüglich  der  Rechte  des  päpstlichen  Stuhles  auf  Neapel 
und  deren  Verletzung  durch  eine  solche  Theorie.  Flugschriften  und 
Abhandlungen  erschienen,  ohne  wie  natürlich  eine  oder  die  andere 
Partei  zu  überzeugen,  gleichsam  als  ein  Vorspiel,  um  die  Plane  des 
mit  der  französischen  Herrschaft  unzufriedenen  Adels  zu  verdecken, 
die  Meinungen  zu  sondiren,  zu  prüfen  und  Zeit  zu  gewinnen.  Mar- 
chese Cesar  delVasto  e  di  Pescara,  ein  treuer  Anhänger  Österreichs 
war  es,  den  man  zur  Anknüpfung  der  Verhandlungen  mit  dem  kaiser- 
lichen Hofe  ausersah,  und  ihn  im  Namen  des  neapolitanischen  Adels 
an  Kaiser  Leopold  sendete,  um  ihn  aufzufordern,  die  Zuneigung  der 
Revölkerung  zu  benützen  und  die  Bewegung  zu  unterstützen.   Zweck 
war,  wie  gesagt,  Vertreibung  der  Franzosen  aus  Neapel,  Erwählung 
des  Prinzen  Karl  zum  Vicekönig,  Bedingungen:  Sitz  seiner  Residenz 
im  Lande,  Aufrechthaltung  der  Rechte  und  Privilegien  u.  s.  w.  Der 
Kaiser  wies   den  Antrag  nicht  zurück,    Hess  sich  aber  offen  nicht 
weiter  in  die  Sache  ein,   als  dass  er  zwei  Militärs,   den  Giovanni 
Carafl'a   Conte  di  Policastro   und  Carlo  Sangro  Marchese  di  Santo 
Luzito  nach  Rom  sendete,  um  von  da  aus  die  Verbindung  mit  dem 


Die  Mission  des  Freiherrn  von  Sassinet.  1  ',) 

neapolitanischen  Adel  zu  unterhalten.  Es  scheint,  dass  der  öster- 
reichische Botschafter  Graf  Lamberg  wenig,  der  treu  ergebene  Car- 
dinal Grimani  mehr  in  das  Geheimniss  eingeweiht  waren.  In  inniger 
Verbindung  mit  den  zwei  genannten  Officieren  standen  die  Brüder 
Marchese  Girolamo  und  Giuseppe  Capece  in  Rom;  —  ein  lebhafter 
Verkehr  zwischen  Rom,  Neapel  und  Wien  war  die  nächste  Folge 
dieses  Schrittes.  Unbegreiflicher  Weise  flössten  diese  Vorgänge 
dem  Gouverneur  von  Neapel,  dem  Herzoge  von  Medina  Celi,  nicht 
den  geringsten  Argwohn  ein,  wenigstens  im  Anfange  der  Bewegung 
ergriff  er  keine  Gegenmassregeln,  während  dessen  der  Papst,  höchst 
wahrscheinlich  besser  unterrichtet  oder  vorsichtiger,  so  strenge  war, 
dass  er,  wie  Botta  erzählt,  den  Priester  Rivarola  von  Genua  und 
den  Kleriker  Volpini  wegen  ihrer  Reden  und  satyrischen  Schriften 
hinrichten  liess. 

In  dieser  Zeit  tritt  eine  neue  wichtige  Persönlichkeit  auf  den 
Schauplatz.  Botta  sagt  in  seiner  Geschichte  von  Italien,  p.  202 : 
„Capece  (welcher  zur  Betreibung  der  Angelegenheiten  von  Rom 
nach  Wien  geschickt  worden  war)  bekam  von  da  aus  zum  Begleiter 
den  Baron  Sassinet,  einen  gebornen  Burgunder,  in  österreichischen 
Diensten,  welcher  zur  Förderung  des  Unternehmens  dienen  sollte." 
Diese  Angabe  so  wie  die  Nachrichten  über  die  Wirksamkeit  des 
genannten  Agenten  sind  nicht  richtig.  Aus  der  ganzen  Sachlage 
einerseits,  so  wie  aus  der  geheimen  Instruction  Sassinet's  scheint 
Folgendes  hervorzugehen.  Kaiser  Leopold  dem  alles  daran  gelegen 
sein  musste,  den  Papst  zu  gewinnen ,  ihn  wenigstens  in  Bezug  auf 
die  zu  erwartenden  Vorgänge  in  Neapel  nicht  feindlich  gegen  sich  zu 
haben,  hatte  den  Entschluss  gefasst,  dieserwegen  einen  eigenen 
geheimen  Unterhändler  nach  Rom  zu  schicken,  der  den  Papst  für 
Österreich  stimmen  und  zugleich  in  Verbindung  mit  Neapel  stehen 
sollte.  Seinen  officiellen  Vertreter,  den  Grafen  Lamberg,  benutzte  er 
nicht  dazu,  um  im  Falle  des  Misslingens  der  Unternehmung  ihn  nicht 
zu  compromittiren ,  vielleicht  auch,  weil  er  des  Terrains  nicht  so 
kundig  war  und  auch  bisher  beim  Papste  kein  definitives  Resultat 
erzielt  hatte.  Dieser  Agent,  eben  wegen  seiner  Geschicklichkeit  und 
seiner  Erfahrung  in  italienischen  Angelegenheiten  dazu  erkoren,  war 
der  erwähnte  Baron  Sassinet  dessen  geheime  Instruction,  wie  im 
Anfange  erwähnt,  in  der  königlichen  Bibliothek  in  Paris  sich  befin- 
det.   Dieses  Actenstück  hat  eine  um  so  grössere  Bedeutung ,  als  in 


14  Friedrieh  Firnhaber. 

demselben  Hindeutungen  auf  die  Vorgänge  in  Neapel  sich  befinden,  die 
Ideen  des  Kaisers  ganz  beleuchtet  werden,  und  der  Empfänger  der- 
selben—  ebenSassinet  —  nachdem  er  keinen  Erfolg  bei  dem  h.  Vater 
erwirkt  hatte,  später  bei  dem  wirklich  erfolgten  Aufstände  in  Neapel 
eine  hervorragende  Rolle  spielte,  und  dort  ein  tragisches  Ende  nahm. 

Wir  wissen  wenig  über  die  Persönlichkeit  des  Mannes  der  eine 
so  wichtige  und  zugleich  so  gefahrvolle  Mission  übernahm.  Franz 
Freiherr  von  Sassinet  „consigliere  della  nostra  camera  aulica", 
wie  ihn  die  Instruction  nennt,  von  Geburt  ein  Burgunder  (ßotta  202) 
nach  Targe  histoire  II,  p.  60,  in  der  Franche  Comte  geboren,  frü- 
her Secretär  des  k.  Botschafters  in  Rom,  des  Fürsten  Anton  Florian 
von  Lichtenstein.  Dies  ist  alles,  was  bis  zum  Zeitpuncte  seines 
gegenwärtigen  Auftretens  bekannt  ist  *)•  Die  kaiserlichen  Minister, 
die  Grafen  Harrach  und  Mansfeld  und  Fürst  Lichtenstein,  sein  frü- 
herer Chef,  wählten  ihn  als  besonders  tauglich  zu  diesem  Unterneh- 
men (Targe  1.  c). 

Der  Inhalt  seiner  Instruction  geht  im  Allgemeinen  dahin,  den 
Papst  zu  bewegen,  aus  seiner  Neutralität  herauszutreten,  und  ihn  zu 
einem  Bündnisse  mit  Österreich  zu  vermögen,  die  Nachtheile  ausein- 
anderzusetzen ,  die  sein  Hinneigen  zu  den  Franzosen  für  Rom  und 
ganz  Italien  mit  sich  bringen,  und  die  Investitur  mit  Neapel  als  päpst- 
lichem Lehen,  oder  wenigstens  seine  Zustimmung,  wenn 


i)  Ein  Manuscript  der  k.  Bibliothek  in  Paris  737,  Suppl.,  woraus  Gay  Ne'gociations 
etc.  p.  30  einiges  mittheilt,  sagt  über  Sassinet:  Cet  agent,  d'une  naissance  assez 
obscure  du  comte  de  Bourgogne  ,  fut  conduit  des  le  berceau  par  ses  parents  en 
Allemao-ne,  qui  s' y  refugierent  pour  s'y  mettre  a  couvert  des  poursuites  de  la 
justice.  11  passa  sa  jeunesse  partie  dans  le  pays  et  partie  de  Flandre,  ou  il  eut  le 
bonheur  d'  avoir  de  1'  emploi  et  de  s'  eu  etre  acquitte  d'une  maniere  a  faire 
esperer  beaucoup  de  lui  dans  la  suite.  II  devint  apres  secretaire  d'ambassade  et 
servit  ä  Rome  en  cette  qualite  sous  le  prince  de  Lichtenstein.  Ce  fut  par  ces 
differents  degres  qu'  il  acquit  la  connaissance  des  interets  des  princes,  des  moeurs 
et  des  usages  des  cours  de  1'  Europe ,  et  principalement  de  la  fine  politique  de 
celles  d' Italic 

Gay  fügt  hier  bei:  Uue  fortune  relativement  aussi  brillant  pour  un  personnage 
aussi  obscur  n' avait  au  fond  rien  etonnant  quand  on  songe  que  son  oncle,  le 
celebre  baron  de  Isola  avait  commence  par  etre  cuisinier.  Dieser  Baron  Francois 
dell'  Isola ,  dessen  Neffe  Sassinet  sein  soll ,  ist  derselbe  welcher  in  österreichi- 
schen Diensten  schon  unter  Ferdinand  III.  verwendet,  sich  bis  zum  Gesandten  in 
Spanien  aufschwang ,  und  gleich  geschickt  als  Diplomat  wie  als  politischer 
Schriftsteller,  endlich  das  Baronat  erlangte,  und  nur  durch  seinen  frühzeitigen 
Tod  (1674  zu  Wien)  an  noch  höherem  Steigen  verhindert  wurde. 


Die  Mission  des  Freiherrn  von  Sassinet.  1  5 

Österreich  sich  in  den  factischen  Besitz  gesetzt 
haben  würde,  zu  erlangen. 

Der  letztere  Beisatz  deutet  auf  die  beabsichtigte  Bewegung  in 
Neapel.  Man  wünschte,  wenn  diese  gelänge,  des  Papstes  sicher  zu 
sein,  dass  er  die  Sache  als  fait  aceompli  ansehe. 

Baron  Sassinet,  als  früherer  Secretär  der  österreichischen 
Gesandtschaft  in  Born,  muss  als  solcher  bedeutende  Fähigkeit  bewiesen 
haben,  weil  die  Instruction  ausdrücklich  sagte,  man  wähle  ihn  zu 
dieser  Mission,  um  den  Grafen  Lamberg  der  keine  so  erprobte  Er- 
fahrung an  dein  dortigen  Hof  besitze ,  zu  unterstützen,  ohne  jedoch 
auszuschliessen,  dass  er  selbstständig  auf  seine  Zwecke  hinarbeite. — 
Oder  wollte  man  ihn  dadurch  nur  aufmuntern? —  vielleicht  den  Grafen 
Lamberg  absichtlich  in  Unwissenheit  seiner  Verhandlungen  mit  dem 
h.  Vater  lassen?  „actio  assistiate  al  dito  ambasiatore,  informandolo 
nelle  congionture  dello  stile  e  modo  di  trattare  di  quella  corte,  della 
quäle  vi  supponiamo  informatissimo  per  la  lunga  prattica,  che  avete 
della  medesima"  (sagt  die  Instruction  im  Eingange). 

Die  Artikel  1,  2,  3  enthalten  allgemeine  Andeutungen;  die  Arti- 
kel 4,  5,  6  und  7  berühren  ausführlich  das  Verhältniss  zum  Papste; 
8,  9,  10  und  11  die  Verbindungen  mit  Neapel. 

Die  Artikel  1  und  2  werden  nach  den  bisher  gegebenen  Andeu- 
tungen klar  werden,  sie  berühren  Sassinet's  Stellung  zu  Graf  Lam- 
berg und  Cardinal  Grimani.  Er  soll  dem  Grafen  den  öffentlichen 
Zweck  seiner  Mission,  die  Erlangung  der  Belehnung  kundgeben,  und 
denselben  nach  und  nach  aufklären  über  das  was  ihm  (Lamberg) 
für  den  Fall  einer  ausserordentlichen  Mission  bereits  aufgetragen  ist. 
Lamberg  hatte  also  schon  seine  Instructionen,  wir  werden  aber  doch 
nicht  irren,  wenn  wir,  gestützt  auf  die  Fassung  dieses  ersten  Artikels, 
unsere  oben  ausgesprochene  Meinung  wiederholen,  dass  man  Grafen 
Lamberg  über  die  eigentliche  Bestimmung  Sassinet's  in  Unkenntniss 
liess.  Die  zwar  durch  nichts  erwiesene  Angabe  von  Targe  1.  c,  dass 
Baron  Sassinet  allein  es  war,  dem  das  Ministerium  die  ganze  Sache 
anvertraute,  ihm  die  geheimsten  Instructionen  mitgab  und  ihm  die 
Geldmittel  anvertraute,  um  die  neapolitanische  Verschwörung  zu 
unterstützen,  ihn  in  Allem  an  den  Cardinal  Grimani  weisend,  scheint 
wenigstens  bezüglich  des  Grafen  Lamberg  der  Wahrheit  nahezukom- 
men, wenn  auch  der  Österreich  feindliche  Schriftsteller  in  Sassi- 
net nur  den  Agenten  der  neapolitanischen  Bevolution  darstellt.  Dem 


16  Friedrich  Fi  rn  Im  bor. 

Verhältnisse  zu  gedachten  Cardinale  ist  Artikel  2  der  Instruction 
gewidmet.  Auch  ihn  soll  Sassinet  nach  und  nach  einweihen,  seine 
Rathschläge  sollen  strenge  befolgt  werden,  doch  so,  dass  Graf  Lam- 
berg  sich  dessen  nicht  versehe  und  das  gute  Einvernehmen  mit  Gri- 
mani  nicht  gestört  werde;  ja  Sassinet  soll  weder  im  Hause  des  Einen 
noch  des  Andern  wohnen,  um  jede  Eifersucht  zu  vermeiden. 

Artikel  4  verbreitet  sich  weitläufig  über  Sassinet's  Hauptaufgabe 
welche  bisher  ganz  unbekannt  war,  das  Project,  den  Papst  zu  einer 
Allianz  mit  Österreich  zu  vermögen.  Schon  oft  in  vergangenen  Zeiten 
seien  solche  Verbindungen  dieser  beiden  Mächte  gegen  die  Franzosen 
da  gewesen,  freilich  sei  es  jetzt  um  so  schwieriger,  da  die  Franzosen  in 
Italien  so  mächtig  seien,  aber  eben  dies  müsse  für  den  päpstlichen 
Stuhl  ein  noch  wichtigeres  Motiv  sein,  gegen  sie  zu  wirken.  Es  wird 
hingewiesen  auf  den  zunehmenden  Übermuth  der  Franzosen,  vor  dem 
selbst  der  päpstliche  Stuhl  nicht  sicher  sei.  Sassinet  soll  den  Papst 
intimidiren  durch  die  Aussicht  auf  ein  Bündniss  des  Kaisers  mit  Eng- 
land und  den  Generalstaaten,  ihn  aber  doch  wieder  beruhigen,  dass 
wenn  dies  stattfinden  sollte,  der  Kaiser  jeden  Schaden  von  Italien 
fern  halten  wolle. 

Artikel  5  ist  ganz  der  für  Österreich  so  wichtigen  Frage  über 
die  Zugestehung  der  Investitur  mit  Neapel  gewidmet.  Es  werden  die 
Gründe  auseinandergesetzt,  welche  Österreich  für  sich  in  Anspruch 
nimmt  und  sich  auf  die  erste  Investitursbulle  Clemens  IV.  bezogen. 
Sassinet  könne  diesfalls  dem  heiligen  Vater  die  vortheilhaftesten  An- 
träge machen,  mit  ausdrücklicher  Hindeutung,  dass  es  nicht  leere 
Versprechungen  sein  würden,  wie  man  es  von  Frankreich  gewohnt 
ist,  das  weder  einen  Frieden  noch  ein  Bündniss ,  noch  irgend  eine 
andere  Convention  halte,  wie  ja  selbst  im  gegenwärtigen  Anlasse  z. 
B.  der  Herzog  von  Anjou,  sein  Vater  und  Grossvater  das  angebliche 
Testament  Karl's  II.  angenommen  haben;  doch  komme  auch  von  dieser 
Erklärung  und  über  diese  Verfügung  nichts  zur  Ausführung,  ja  es 
werde  ihr  entgegen  gehandelt,  trotz  der  natürlichen  und  rechtlichen 
Verpflichtung  welche  man  sich  doch  durch  die  Annahme  auflegte. 

Der  Vorwand,  sagt  Artikel  6,  den  Frankreich  zur  Beschönigung 
seiner  Absichten  vorbringt,  ist  der,  glauben  zu  machen,  dass  der  Her- 
zog von  Anjou  als  König  von  Spanien  unabhängig  und  ohne  irgend 
eine  Verbindung  mit  Frankreich  sein  werde,  dieses  und  seine  Streit- 
macht werden    nur   als  Hilfsmacht  bezeichnet ,   während   doch  klar 


Die  Mission  des  Freiherrn  von  Sassinet.  1  7 

sei,  dass  der  König  von  Frankreich  auch  Herr  in  Spanien  sein  wolle 
und  werde,  einen  Minister  in  Madrid  haben  werde,  der  seinen  Neffen 
überwache,  die  Stellen  mit  Franzosen  besetzen  werde,  wie  man  jetzt 
schon  durch  die  Verleihung  des  obersten  Marine-Commando  von  Spa- 
nien an  den  Grafen  d'Estrees  gesehen  habe.  Alle  Minister  hätten 
diesem  einen  zu  gehorchen,  er  müsse  alle  Ausfertigungen  gutheissen, 
man  könne  also  auch  ein  Bündniss  mit  der  Türkei  früher  erwarten, 
als  man  denke.  Der  Zweck  sei  also  klar  für  den  Augenblick,  die  Zu- 
kunft mache  eine  totale  Vereinigung  in  der  Succession  der  Kronen 
von  Spanien  und  Frankreich  weder  unmöglich  noch  unwahrscheinlich. 

Artikel  VII.  Da  es  sich  ereignen  könnte,  dass  ein  Aufstand  in 
Neapel  oder  Sicilien  zu  Gunsten  des  Erzherzogs  Karl  stattfinde, 
oder  dass  der  Kaiser  sich  bewogen  finden  könnte,  eine  Dirigirung 
seiner  Streitmacht  gegen  Neapel  zu  veranlassen,  so  sei  der  Papst  für 
diesen  Fall  zu  bewegen,  dass  er  erstens  den  Durchzug  durch  Fer- 
rara  und  Bologna  gestatte,  damit  die  Truppen  Neapel  erreichen 
könnten,  zweitens  aber  sei  dahin  zu  wirken,  dass  er  nicht  schon  frü- 
her gegen  ein  derlei  Ereigniss  (per  tal  operatione)  missgestimmt 
würde,  und  es  als  einen  Eingriff  in  seine  lehensherrlichen  Bechte 
ansehe.  Die  Instruction  verbreitet  sich  hier  weitläufig  über  die  Schritte 
die  man  schon  gethan,  um  den  Papst  zu  vermögen,  die  Begierung 
von  Neapel  und  Sicilien  als  Lehensherr  bis  zur  Austragung  des  Strei- 
tes an  sich  zu  nehmen,  was  aber  leider  nicht  geschehen  sei,  sondern 
im  Gegentheile  hätte  man  sie  im  unrechtlichen  Besitze  des  einen 
Bewerbers  gelassen,  welcher  nun  die  Einkünfte  gegen  den  Kaiser 
und  sein  Becht  verwende.  Jetzt  sei  der  Moment  da,  wo  die  dortigen 
Unterthanen,  der  Gerechtigkeit  während  der  langen  Herrschaft  Öster- 
reichs und  des  sanften  und  guten  Begiments  sich  erinnernd,  des  letz- 
tern Hilfe  ansprächen,  diese  könne  ihnen  der  Kaiser  nicht  versagen, 
ohne  ihre  Liebe  zu  verscherzen,  und  sich  für  immer  unmöglich  zu 
machen ,  oder  Ursache  eines  noch  schlimmem  Ausganges  zu  sein. 
Liesse  sich  der  Papst  von  all'  diesen  so  starken  Gründen  nicht 
bewegen,  so  sei  als  letztes  Auskunftsmittel  Folgendes  vorzuschlagen: 
Wenn  Erzherzog  Karl  zum  Könige  Neapels  vom  Volke  proclamirt 
wird,  so  soll  ihm  der  ruhige  Besitz  im  Namen  des  heiligen  Stuh- 
les garantirt  werden. 

Artikel  VIII  erwähnt  die  Verbreitung  einer  Flugschrift  in  Born, 
Neapel,  Mailand  u.  s.  w. 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XIX.  Bd.  I.  Hft.  2 


18  Friedrich  Firnhaber. 

Artikel  IX  berührt  die  beabsichtigte  Erhebung  des  neapolitani- 
schen Adels.  Sassinet  wird  an  D.  Carlo  di  Sangro  gewiesen,  welcher 
sich  in  Rom  seit  April  aufhält  um  die  Verbindungen  mit  den  Neapo- 
litanern zu  unterhalten.  Mit  Sangro  ist  D.  Giuseppe  Capece  Bruder 
desMarchese  von  Soffrano,  alle  Drei  gut  gesinnte  vollkommen  verläss- 
liche Leute.  Von  ihnen  wird  Sassinet  über  den  gegenwärtigen  Stand- 
punct  des  Unternehmens  in  Kenntniss  gesetzt  werden ,  so  wie  durch 
Mittheilung'  dessen  was  der  Kaiser  an  Graf  Lamberg  schreiben  wird. 
Er  soll  sich  alles  dies  gegenwärtig  halten,  und  allen  Eifer  und  Auf- 
merksamkeit anwenden ,  um  die  Neapolitaner  einig  und  im  Zutrauen 
auf  die  kaiserliche  Gnade  zu  erhalten. 

Artikel  X  und  XI  enthalten  kurze  Aufträge,  mit  den  Fürsten  von 
Belvedere  und  dem  Agenten  des  Erzbischofs  von  Neapel  zu  verkehren 
und  auf  seiner  Hinreise  mit  dem  Prinzen  Eugen  von  Savoyen  über  die 
allfällig  nöthigen  militärischen  Massregeln  sich  zu  besprechen. 

So  viel  über  den  Inhalt  dieser  so  wichtigen ,  mit  dem  Datum 
30.  Juni  1701  versehenen  Schrift. 

Da  uns  weitere  Quellen  über  die  wirklich  erfolgten  Unterhand- 
lungen Sassinefs  am  päpstlichen  Hofe  mangeln,  so  können  wir  nur  aus 
den  Begebenheiten  Schlüsse  über  den  Erfolg  derselben  ziehen. 

Unmittelbar  vor  oder  nach  dem  Zusammentreffen  Sassinefs  mit 
dem  Prinzen  Eugen  erfolgte  im  Juli  der  Einmarsch  der  kaiserlichen 
Truppen  in  Ferrara,  in  der  Absicht,  wenn  Sassinet  beim  Papste 
erfolgreich  wirke ,  der  erwarteten  Erhebung  in  Neapel  zu  Hilfe 
zu  eilen.  Doch  der  päpstliche  Hof  erhob  darüber  die  bittersten 
Beschwerden  die  sich  darin  concentrirten,  Prinz  Eugen  habe  zwar 
um  die  Erlaubniss  zum  Durchzuge  gebeten,  sei  aber,  ohne  die  Ant- 
wort abzuwarten,  fortmarschirt.  Der  Papst  zeigte  sich  so  entrüstet, 
dass  er  Truppen  zusammenziehen  Hess ,  um  die  Österreicher  mit 
Gewalt  zurückzudrängen.  Prinz  Eugen  wollte  nicht  das  Äusserste 
wagen ;  —  in  Hoffnung  auf  die  Wirksamkeit  Sassinefs  zog  er  sich 
freiwillig  zurück. 

Ende  Juli  treffen  wir  den  Baron  Sassinet  in  Rom.  Graf  Lamberg 
stellte  ihn  dem  Papste  als  Geschäftsträger  des  Erzherzogs  Karl  vor, 
entschuldigte  sich  zugleich  über  den  Einmarsch  der  österreichischen 
Truppen,  und  soll  sogar,  wie  Buder  erzählt,  um  Erlaubniss  zur 
Beziehung  der  Winterquartiere  im  römischen  Gebiete  und  ein  Dar- 
lehen von  500,000  Thaler  angesucht  haben,  zwei  höchst  unwahr- 


Die  Mission  des  Freiherni  von   Sassinet.  1  9 

scheinliche  Forderungen  welche  auch  beide  vom  h.  Vater  abgeschla- 
gen wurden. 

Von  da  an  beginnt  nun  die  Wirksamkeit  Sassinet's :  dass  er  nichts 
erreichte,  beweisen  die  Folgen ,  ja  dass  sein  Geschäft  so  weit  fehl- 
schlug, dass  er  nicht  einmal  den  Papst  günstig  stimmen  konnte,  zeigt, 
dass  letzterer  gerade  in  dieser  Zeit  fünf  spanische  Bisthümer  auf 
Nomination  des  Herzogs  von  Anjou  präconisirte.  Prinz  Eugen  wartete 
vergeblich  auf  die  Erlaubniss  zum  Vorrücken. 

Mittlerweile  hatten  die  Bewegungen  in  Neapel  ihren  ungestörten 
Fortgang.  Die  Häupter  des  neapolitanischen  Adels  bewaffneten  ihre 
Unterthanen,  warben  Truppen  an,  selbst  auf  römischem  Gebiete,  such- 
ten ihren  Anhang  unter  der  grossen  Masse  zu  verstärken,  gegen  Ende 
des  Monats  September  sollte  der  Moment  des  Losbrechens  sein. 
Neben  den  hervorragendsten  Gliedern  der  Adelspartei,  dem  Herzog 
Grimaldi,  Caraffa,  Sangro,  Capece  u.  s.  w.  war  Cardinal  Grimani  ein 
thätiges  Werkzeug  des  Unternehmens.  Verbindungen  im  ganzen 
Königreiche,  in  Sicilien  und  in  Rom  waren  eingeleitet,  Aussicht  auf 
günstigen  Erfolg  vorhanden,  wenn  Sassinet  nur  Einiges  in  Rom  errei- 
chen konnte.  Er  erreichte  nichts ,  und  begab  sich  nach  dem  Fehl- 
schlagen seiner  Mission  nach  Neapel.  Hier  soll  er  mit  Capece  in  der 
Vorstadt  de  la  vita  bei  einem  Schneider  gewohnt  haben.  Je  näher 
der  beabsichtigte  Zeitpunct  rückte ,  desto  weniger  konnten  natürlich 
die  Vorbereitungen  verborgen  bleiben.  Auch  der  so  arglose  Gouver- 
neur von  Neapel  wurde  endlich  aufmerksam,  er  erhielt  deutliche 
Anzeigen  über  die  bevorstehenden  Ereignisse,  und  ergriff  seine  Mass- 
regeln. Er  konnte  dies  um  so  leichter,  als  der  päpstliche  Hof  auf 
seiner  Seite  und  von  Aussen  nichts  zu  fürchten  war.  Die  Unterneh- 
mung war  also,  nach  dem  Misslingen  der  Unterhandlungen  Sassinet's 
in  Rom,  misslungen,  bevor  sie  zum  Anfang  kam,  da  selbst  für  den 
Fall  eines  günstigen  Erfolges  für  Österreich  im  ersten  Augenblicke, 
Österreichs  Hilfe  zu  ferne  war,  um  das  günstige  Resultat  zu  unter- 
stützen und  aufrecht  zu  erhalten.  Die  ganze  grosse  politische  Bewe- 
gung, durch  die  Wahl  des  Volkes  dem  Erzherzoge  Karl  den  Thron 
von  Neapel  zu  sichern,  sank  durch  die  Macht  der  Umstände  und 
schlechte  Massregeln  zu  einem  bedeutungslosen  Strassenkrawall 
herab.  Alles  misslang  endlich,  als  der  Ausbruch  aus  Furcht  vor  den 
Gegenmassregeln  des  Gouverneurs  beschleunigt  wurde.  Er  erfolgte 
am  22.  September  zwecklos  und  resultatlos  und  erreichte  in  zwei 

2*      • 


20  Friedrich  Firnhaber. 

Tagen  sein  unblutiges  Ende.  Eine  detaillirte  Darstellung  der  Vor- 
gänge dieser  Tage  liegt  ausser  dem  Bereiche  dieser  Zeilen,  wir  wol- 
len die  Ereignisse  nur  so  weit  verfolgen,  insofern  sie  den  Baron  Sas- 
sinet  betreffen. 

Die  Macht  der  Franzosen  war  durch  den  Besitz  und  die  günstige 
Stimmung  der  Nachbarstaaten  schon  so  erstarkt,  die  Gegenmassregeln 
gegen  die  Neapolitaner  dadurch  so  erleichtert,  dass  die  Neigung  der 
Bevölkerung  für  Österreich  weder  Gelegenheit,  noch  bei  der  wenigen 
Aussicht  auf  günstigen  Erfolg  hinlängliche  Kraft  hatte,  sich  geltend 
zu  machen. 

Überraschenderweise  treffen  wir  jedoch  an  der  Spitze  des  Auf- 
standes den  Baron  Sassinet  persönlich.  Mehrere  gleichzeitige  Berichte, 
welche  Charles  Gay  in  seinen  Negociations  mittheilt,  geben  an,  dass  die 
Verschwörung  hauptsächlich  sein  Werk  war,  dass  er  die  Verbindungen 
im  ganzen  Königreiche  unterhielt,  ja  endlich  beim  Ausbruche  sich 
selbst  an  die  Spitze  gestellt  habe.  Die  Strassen  durchreitend,  hinter 
sich  eine  grosse  Menschenmenge,  proclamirte  er  die  Wahl  des  Erz- 
herzogs Karl  zum  Vicekönig  von  Neapel.  Er  hoffte  noch  Alles  von  der 
Sympathie  der  Bevölkerung,  und  trug  desshalb  das  Bild  des  Erz- 
herzogs im  Triumphe  vor  sich  her.  Doch  vergebens.  Die  Volksbewe- 
gung wurde  unterdrückt,  Sassinet  und  Sangro  gefangen  genommen, 
und  allen  weiteren  Bemühungen  auf  das  Volk  zu  wirken  dadurch  die 
Spitze  abgebrochen,  dass  die  Sieger  keine  Strenge  zeigten,  sondern 
allgemeine  Amnestie  kundmachten.  Schon  am  23.  wurde  dieselbe  für 
die  Bewohner  der  Stadt  kundgemacht,  am  25.  erschien  die  zweite 
für  das  ganze  Königreich.  Ausgenommen  davon  waren  nur  der  prin- 
cipe di  Marchia,  der  duca  di  Telese  Grimaldi,  duca  de  la  Castelluccia 
Spinelli,  Matizia  Caraffa,  Tiberio  Caraffa,  Giuseppe  Capece,  und  jene 
welche  bei  dem  Ausbruche  in  die  Hände  der  französischen  Truppen 
gefallen  waren.  In  der  Beihe  dieser  Letzteren  waren  Sangro  und 
Sassinet.  Sangro  wurde  am  11.  October  enthauptet,  Sassinet  an  Bord 
einer  Galeere  gebracht  und  nach  Frankreich  geführt,  wo  er  in  der 
Bastille  festgesetzt  wurde.  Von  da  an  erlischt  jede  Spur  über  seine 
spätere  Lebenszeit. 

Seine  wahnsinnige  Idee,  sich  selbst  zum  Mittelpunct  eines  Auf- 
standes zu  machen,  und  sich  bei  dem  Ausbruche  an  die  Spitze  zu 
stellen,  lässt  sich,  abgesehen  von  der  ganz  anders  projectirten  Bewe- 
gung die  auf   rechtlicher  Basis   beruhte,    und   bei  der  offenbaren 


Die  Mission  des  Freilierrn  von  Sassinct.  C  1 

Unmöglichkeit  einen  Erfolg  zu  erzielen,  nur  damit  erklären,  dass  er 
nach  dem  Fehlschlagen  seiner  Mission  in  Rom,  durch  die  Ausführung 
eines  kühnen  Streiches  in  Neapel  auf  eigene  Faust  sein  Glück  zu 
gründen  hoffte.  Gelang  der  Streich,  so  musste  ihm  der  Kaiser  dank- 
bar sein,  wenn  auch  seine  Handlungen  in  Neapel  mehr  das  Gepräge 
der  Unternehmung  eines  kühnen  Abenteurers  als  eines  kaiserlichen 
Abgesandten  trugen. 


Benutzte   Quellen. 

Carlo  Botta,  Storia  d'Italia  continuata  da  quella  del  Guicciardini 
sino  al  1789.  tomo  VII.  Parigi,  Baudry  1832.  Enthält  den 
ganzen  Verlauf  der  Vorgänge  in  Italien ,  ist  aber  ganz  in 
italienisch-französischem  Geiste  geschrieben. 

Targe,  histoire  de  Tavenement  de  la  maison  de  Bourbon  au  tröne 
d'Espagne,  Paris,  Saillant  1772,  2  vol.  8°. 

Limiers,  histoire  deSuede  sous  le  regne  de  Charles  XII.  Amsterdam, 
Jansons  1721,  6  vol. 

Theatrum  Europaeum  ad  ann.  1700  et  1701.  Enthält  manche 
brauchbare  Details. 

Pelet  Memoircs  militaires  relatifs  ä  la  succession  d'Espagne.  Paris 
1835.  In  der  Collection  des  documents  inedits  etc. 

Gay,  Charles  Negociations  relatives  ä  Tetablissement  de  la  maison 
de  Bourbon  sur  le  tröne  des  deux  Siciles.  Paris,  Allouard  et 
Kaeppelin  1853,  1  vol.  8°.  Ein  gutes  mit  Original-Quellen  ver- 
sehenes Buch,  aber  ganz  in  Österreich  feindlichem  Sinne. 

Polidori,  de  vita  et  rebus  gestis  Clementis  Undecimi  pontif.  max. 
lib.  sex.  Urbini  MDCCXXVII.  Fantauzzi  fol.  1  vol. 

Clementis  XI.  pont.  max.  Opera  omnia  in  quibus  continentur  I.  Eius 
orationes  consistoriales.  II.  Homiliae.  III.Epistolae  et  brevia  selec- 
tiora.  IV.  Bullarium  seeundum  exempla  romana  fideliter  repetita. 
Accedit  vita  Clementis  a  praesule  quodam  romano  perscripta. 
Francfurti,  Weidmann  1729  fol. 

Buder,  Leben  und  Thaten  des  klugen  und  berühmten  Papstes 
Clementis  des  Eilfften.  Aus  guten  Nachrichten  mit  einer  grossen 
Anzahl  von  dessen  Bullen,  Breven  und  Reden  auch  andern  actis 
publicis  beschrieben  etc.  in  3  Theilen.  Frankfurt.  Härtung  1720, 
3  vol.  8°. 


22  Friedrich  Firnhaber. 

Braun,  Leben  Seiner  Majestät  Caroli  III.,  Königs  in  Spanien  und 
der  Indien  etc.  worinnen  zugleich  mit  enthalten,  was  der  spani- 
schen Successionssache  und  des  daraus  entstandenen  Krieges 
halber  .  .  .  vorgefallen,  etc.  etc.  Leipzig  Grossen V  Erben  und 
Braun  1708.  3  vol.  8°.  Enthält  die  meisten  auf  Rom  und  Neapel 
bezüglichen  Staatsschriften. 

Herchenhahn,  Geschichte  der  Regierung  Kaiser  Joseph's  des  Ersten 
u.  s.  \v.  Leipzig  1786.  Crusius  2  vol.  8°. 

Zschackwitz,  Leben  Josephi  I.  Leipzig  1712,  8°. 

„       Caroli  VI.  Frankfurt  1723,  8°. 

Rinck,  Leben  Joseph's.  Cöln  1712.  2  vol.  8°  und  alle  übrigen  Bio- 
graphen Karl's  VI.  und  Joseph's  I. 


Beilagen. 

Instruzione  secreta  delP  imperatore  Leopoldo  al 
consigliere  aulico  di  Sciassinet. 

(Mss.  de  la  bibliotheque  royale  de  Paris  n.  10090.  5.  pag.  390.) 

Leopoldo  per  la  gracia  di  Dio  imperatore  de  Romani  instruzzione 
secreta  per  il  nostro  e  fidel  diletto  Francesco  di  Sciassinet  consigliere 
della  nostra  camera  aulica. 

II  fine  della  nostra  missione  si  restringe  ad  assistere  nella  Corte 
di  Roma,  ove  senza  carattere  dovete  aceudire  al  nostro  ministro 
ambasciatore  conte  di  Lambergh,  del  quäle  se  bene  habbiamo  tutta  la 
sodisfattione ,  che  tocca  in  quanto  alla  sua  fede  e  zelo  verso  il  nostro 
seruitio,  non  havendo  egli  tuttavia  sperimentata  notitia  di  quella  corte, 
che  tanto  abbonda  di  raggiri  et  artificij,  habbiamo  stimato  conueniente 
alli  nostri  imperiali  interessi  di  mandarvi  colä  sotto  altro  pretesto, 
che  dovrete  publicare  tacendo  sempre  il  vero  motivo  della  mossa, 
accio  assistiate  al  ditto  ambasciatore,  informandolo  nelle  congiunture 
dello  stile  e  modo  di  trattare  di  quella  corte,  della  quäle  vi  supponiamo 
informatissimo  per  la  lunga  prattica  che  havete  della  medesima,  sugge- 
riservandosi  di  mutare  o  variare  in  tutto,  o  in  parte  il  suo  contenuto 
secondo  le  contingenze  de  casi,  di  che  vi  daremo  di  tempo  in  tempo 
gli  ordini  necessarij. 

I.  In  esser  giunto  dourete  subito  portarui  dal  sud°  ambasciatore, 
esponenclogli  il  motivo  publico  della  vostra  missione,  consegnandoli 


Die  Mission  des  Freiherrn  von  Sassinet.  23 

la  nostra  imperial  carta,  e  poi  in  altra  congiuntura  ä  poco  ä  poco  ui 
andarete  spiegando  seco  in  cio,  che  coli'  occasione  della  vostra  uenuta 
gl1  habbiamo  ordinato,  che  come  prattico  di  quella  corte,  doue  per 
tanti  anni  ci  hauete  seruito,  assisterete  a  quanto  uorrä  imporui  detto 
ambasciatore  toccante  il  nostro  seruitio  obedendo  i  suoi  ordini,  et 
eseguendu  le  sue  eommissioni. 

II.  Lo  stesso  dourete  pratticare  col  Cardinale  Grimani  conse- 
gnandogli  pure  la  nostra  carta,  ma  tirando  sempre  le  uostre  lineetutte 
al  punto  di  mantenere  la  buona  corrispondenza  dell'  ambasciatore  col 
Cardinale,  il  quäle  come  Italiano  accorto  e  prattico  delle  corti  puö 
illuminare  Tambasciatore,  onde  senza  che  questi  s'accorga,  che  noi 
desidcriamo  una  stretta  dipendenza  da  i  consigli  di  detto  Cardinale  la 
sostenga  con  tutta  suauita  euitando  ogni  diffidenza,  che  potesse  appren- 
dere  V  ambasciatore  se  mai  sapesse  detto  nostro  desiderio. 

III.  Per  scanzare  ogni  gelosia  dourete  astenerui  d'habitare  in  casa 
d'  uno  o  delT  altro  nel  tempo  della  uostra  permanenza  in  quella  cittä. 

IV.  Lo  stato  presente  delle  cose  del  mondo  rentle  pendenti  in 
Roma  alcuni  affari  di  somma  importanza  al  nostro  imperial  seruitio.  II 
puntö  e  d'  attraere  dalla  nostra  parte  il  Papa  in  alcuna  alleanza  per 
le  graui  emergenze  dltalia  e  benche  ciö  non  sarebbe  nouita  per 
essersi  altre  uolte  ueduta  tal  unione  de  Papi  con  la  nostra  augustissima 
casa  per  cacciar  i  Francesi,  ora  che  questi  si  sono  resi  potenti  e  formi- 
dabili  alla  corte  di  Roma  rende  piü  difficultosa,  che  in  altri  tempi 
Tunione,  che  si  desidera,  benche  dourebbe  esser  questo  stesso  motiuo 
piü  efficace  ä  persuaderla,  mentre  se  la  detta  corte  si  e  opposta  al 
disegno  de'  Francesi  di  por  piede  in  Italia  quando  erano  meno  potenti 
con  maggior  uigore  dourebbe  procurarlo,  quando  son  piü  forti,  ed  in 
particolare  dopo  Tesperienza  di  questi  ultimi  anni  che  si  e  fatta  si 
orgogliosa  quella  Corona,  che  ha  preteso  distruggere  Tautorita  della 
Santa  sede,  e  render  il  papa  come  im  suo  capellano.  Ad  ogni  modo  il 
timor  della  uiolenza  delle  sue  forze  fa  molto  languide  le  operationi  di 
quella  corte,  e  l'esempio  della  repubblica  di  Venezia ,  che  tuttauia  si 
rendo  al  nostro  ministro  quanto  vi  parra  necessario  per  la  vostra 
condotta  del  gravissimo  negotio  dell1  acquisto  de  legni  di  Napoli,  e 
diSicilia,  che  e  Toggetto  principale  della  nostra  cesarea  intentione 
in  haver  risoluto  d'  inviare  la  vostra  persona  sola,  percio  vi  si 
danno  le  seguenti  instruzzioni,  secondo  le  quali  dovrete  regolarvi, 
mantiene  in  neutralita  attrahe  anche  Tanimo  del  Pape  a  seguirla  in 


24-  Friedrich  Firnhaber. 

questo  punto.  Pure  se  mai  l'insolenza  francese  nella  strauaganza  delle 
operationi  e  delle  domande  irritasse  la  corte  di  Roma  non  deue  trascu- 
rarsi  tale  o  simile  occasione  per  replicare  a  tempo  le  istanze  per  la 
lega  desiderata.  Intanto  si  deue  ponderare  con  lei  non  hauer  noi  sin' 
ora  conchiusa  lega  con  gl"  Inglesi  eOlandesi  e  benclie  e  probabilepossa 
seguire  procureremo  in  tal  caso,  in  quauto  si  poträ  tenerli  lontano  dalle 
soste  d1  Italia,  ma  quando  uedremo  che  il  Papa,  il  quäle  dourebbe  darci 
el  primo  e  piü  potente  aiuto  non  ci  assiste,  sarä  preciso  procurarlo  da 
chi  Toflerisce,  e  puo  eseguirlo  con  molto  nostro  uantaggio,  e  ci  dis- 
piacerebbe  all'ora ,  se  mai  i  nemici  della  santa  sede  ponessero  alcun 
piede  in  Italia;  ma  1' urgente  necessitä  et  il  motiuo  della  natural  difesa, 
si  come  ci  giustifica  auanti  Dio  et  il  mondo  cosi  rifonderä  il  male  delle 
conseguenze  sopra  chi  potendo  ajutarci  con  uantaggio  della  Santa 
chiesa,  s'astiene  di  farlo.  Tutto  cio  deue  discorrersi  fuori  de  termini 
di  alcun  impegno  e  solo  in  quelli  di  ponderatione  accio  a  nulla  noi 
restiamo  obligati,  ed  insieme  serua  di  stimolo  al  Papa  per  la  risoluzi- 
one  che  si  desidera. 

V.  L'  altro  puuto  principale  e  quello  delP  inuestitura  domandata 
dal  regno  di  Napoli  che  sta  tuttauia  pendente  delle  decisione  del  Papa 
et  dal  parere  della  congregazione  destinata.  Questo  conuiene  senza 
intermissione  sollicitarlo,  non  solo  per  hauerne  la  determinazione  che 
speriamo  favorevole,  ma  ancho  perche  nel  caso  di  differirsi  la  delibe- 
ratione,  siccome  sino  al  uedersi  l'esito  delle  cose,  che  sono  in  Italia, 
le  nostre  istanze  continuamente  portate  daranno  giustificatione  alle 
resolutioni  future.  Le  nostre  ragioni  sono  cosi  chiare  come  si  uede 
ne'  scritti  mandati  a  Roma  e  le  piü  forti  sono  appoggiate  su  la  bolla 
della  prima  inuestitura,  che  diede  Papa  Clemente  IV.  su  le  quati  si 
sono  fondate  le  altre  seguenti,  onde  si  deue  procurare  un  esatta  pon- 
deratione di  esse  aiutandoci  coi  loro  confessori,  parenti  ed  amici  e 
promettendo  al  Papa  le  Offerte  piü  uantaggiose  per  la  santa  sede, 
dicendoli  che  questa  non  saranno  come  quelle  o  fatte  e  da  farsi  dalla 
Francia,  quali  comprenderanno  gran  cose,  perche  si  sa,  che  non  ui  e 
intentione  d'  osseruarle,  non  essendosi  ancora  ueduto,  che  quella  Corona 
doppo  il  presente  regnante  habbia  eseguito  cio,  che  ha  promesso  ne  in 
capitulationi  di  pace,  ne  di  lega,  ne  in  qualsiuoglia  conuentione;  anzi 
nella  soggetta  materia  di  che  si  tratta,  hauendo  il  duca  d'  Angio  con  i 
suoi  padre  et  avo  accettato  il  supposto  testamento  del  defonto  re  Carlo  II. 
si  osserua  son  scandalo  universale,  che  niuna  delle  parti  di  quella 


Die  Mission  des  Freilierrn  von  Sassinet.  2  b 

pretesa  dispositione  sin'ora  si  eseguisce,  aiizi  ad  essa  si  eontrauiene, 
ogni  gionio  scordati  dell1  obligatione  naturale,  e  civile  alla  quäle  coli1 
accettatione  si  sono  sottoposti.  II  contenuto  delle  Offerte,  che  faremo, 
si  sta  maturando  con  piena  ritlessione,  ma  non  si  presenterä  se  prima 
non  siamo  sicuri  dell'  intentione  pontiiicia  di  concedere  Tinvestitura. 

VI.  E  perche  il  pretesto  di  che  si  vale  la  Francia  per  colorire  i 
suoi  fini,  si  riduce  ä  far  credere,  che  il  Duca  d'Angiö  sarä  il  re  di 
Spagna  indipeudeiite,  e  con  Tantica  separatione  dagli  interessi  della 
Francia  le  di  cui  armi  sono  chiamate  auxiliarie  a  quelle  di  Spagna 
quantunque  da  tutti  si  conosca  esser  questa  una  delie  solite  arti  per 
ingannare,  si  vede  con  euidente  dimostratione  essere  il  fine  di  ren- 
dersi  cosi  arhitro  il  re  della  monarehia  di  Spagna,  come  e  di  quella 
di  Francia,  lo  stare  assistente  a  Madrid  un  suo  ministro  per  regolatore 
di  suo  nipote,  i  posti  che  si  prouedono  ne  Francesi,  anche  de  piü 
gelosi  per  gli  Spagnuoli  come  e  stato  V  ultimo  di  tenente  generale 
dell'  armi  maritime  di  Spagna  conferito  al  conte  d'Estrees.  Grordini 
dati  a  tutti  li  ministri  di  ohedire  incessamente  a  quelli  del  primo  e  fra 
essi  ue  ne  sono  alcuni  dati  al  ambasciatore  di  sottoscrivere  tutte  le 
leggi,  che  inuiasse  a  firmar  detto  re  senz'  altra  participatione,  onde 
potressimo  ueder  fermata  alcunä  lega  col  Turco,  quando  meno  si  pensa. 
Queste  e  tante  altre  dimostrationi  fan  chiaro  et  incontrastabile  il 
fine,  che  si  pretende  nel  tempo  presente,  lasciando  al  futuro  eiö  che 
possa  succedere  dall'  inoorporatione  totale  in  termine  di  successione 
della  corona  di  Spagna  con  quella  di  Francia. 

VII.  Potrebbe  intanto  accader  alcun  accidente  di  seditione  in 
Napoli,  o  Sicilia,  o  di  acclamatione  del  nostro  dilettissimo  figlio  Tarci- 
duca  Carlo  per  re  di  quei  regni,  o  pure  per  precedenti  ragioneuoli 
motiui  ci  risoluessimo  di  ordinäre  qualche  distaccamento  delle  nostre 
truppe  che  sono  in  Italia  per  incaminarle  a  Napoli,  il  che  si  renderebbe 
preciso  dall'  auenimento  delle  due  primi  casi;  allora  dourebbe  trattarsi 
col  Papa,  non  solo  per  il  passo  di  Ferrara  e  Bologna  a  fine  di  poter 
per  quella  uia  entrar  in  regno  per  le  parti  di  Abruzzo,  ma  a  fine 
ancora  che  antecedentamente  per  le  suggestioni  de  nostri  nemici  non 
s'irritasse  per  tal  operatioue,  che  li  medesimi  farebbero  apparire,  per 
poco  rispettosa  e  pregiudiciale  al  decoro  della  santa  sede  nel  tempo 
della  pendenza  della  domandata  inuestitura,  all'ora  per  farli  apparir 
questa,  quäl  ella  e,  e  liberarla  da  somiglianti  calunnie,  sarebbe  neces- 
sario  di  ponderar  al  Papa,   come   doppo  la  morte  del  Re  Carlo  II. 


20  Friedrich  Firnhaber. 

puhlicatosi  il  supposto  testamcnto  alla  notitia  di  questo,  e  di  esser 
asceso  alla  dignitä  pontificia  soggetto  da  noi  tanto  stimato  per  la 
di  cui  esaltacione  habbiamo  cooperato  con  tutti  i  mezzi  possibili 
immediatamente  alla  prima  insinuatione  che  ci  fece  Sua  Santita  del 
desiderio  della  pace,  ci  meteressimo  intieramente  alla  di  lui  delibe- 
ratione  riponendo  tutti  i  nostri  imperiali  interessi  nelle  sue  paterne 
mani,  e  ci  rassegniassimo  nell'  istesso  tempo,  che  in  conformitä 
degli  esempi  pratticati  in  simili  casi  da  altri  sommi  pontefici  si  con- 
tentasse  di  auocar  a  se  il  gouerno  de  suoi  regni  di  Napoli  e  Sicilia, 
come  per  giustizia  deue  fare  il  signore  diretto  de  feudi  ad  ogni  giudi- 
tio  de  priuati  pendente  la  decisione  della  controuersia  de  beni, 
che  si  litigano,  it  che  non  solo  sarebbe  stato  secondo  il  tenor  di  tutte 
le  leggi  raa  ancora  mezzo  efficace  per  ottener  quella  pace  e  concor- 
dia  tanto  dal  Papa  desiderata.  Non  solo  ciö  non  si  e  potuto  ottenere, 
ma  di  piü  all1  istesso  tempo  quei  legni  sono  stati  occupati  dall'  ingiusto 
possesso  del  Duca  d'Angio,  et  i  tributi  di  quei  popoli  si  applicano 
contro  le  nostre  armi  et  all'oppositioni  delle  nostre  chiare  ragioni, 
adesso  che  la  materia  e  in  stato,  nel  quäle  quei  del  Regno  di  Napoli 
informati  della  guistitia  e  ben  afFetti  alla  nostra  augustissima  casa,  il 
di  cui  dominio  per  200  anni  e  stato  loro  tanto  soaue  e  grato,  si  solle- 
citano  ad  assisterli  colle  nostri  armi,  non  potiamo  piü  dilatar  l'ese- 
cutione,  perche  uedendosi  altrimenti  destituiti  dal  nostro  aiuto,  si 
darebbero  alla  disperatione,  prorompendo  in  atti  fieri,  et  altre  uolte 
pratticati  da  quella  natione,  e  quando  ben  si  astenessero  da  simili 
attentati,  perderebbero  affatto  l'amore  del  nostro  dominio,  $  cui  sono 
sottoposti,  rendendo  con  un  tal  effetto  quasi  impossibile  in  altro  tempo 
Timpresa,  si  che  siamo  per  ogni  uerso  obligati  ad  assistergli  pronta- 
mente.  Che  se  poi  a  uista  di  ragioni  si  forti  il  Papa  non  ci  dasse  il 
possesso,  che  si  domanda  con  espressa  o  tacita  concessione  all' ora 
per  ultimo  mezzo  termine  si  li  potrebbe  proporre  il  seguente,  cioe : 
Quando  rimanga  acclamato  il  sudetto  arciduca  nostro  figlio  per  re  di 
quei  regno ,  il  pacifico  possesso  dello  stesso  si  dichiarerä  con  scrit- 
tura  e  cautela  sufficiente ,  di  tenersi  da  questo  dominio  in  nome  delia 
Santa  Sede,  che  ne  ha  il  diretto,  ä  fine  colla  total  sentenza  di  dare 
l'inuestitura  senza  perö  pregiudicio  di  tutte  le  nostre  imperiali 
ragioni,  considerando  noi  che  simil  offerta  non  puö  pregiudicarci. 
Primo,  perche  seguita  l'acclamatione  di  quei  populi  rimane  dal 
medesimo  atto  de  popoli  1 'acclamato  arciduca  Carlo  eletto  per  legittimo 


Die  Mission  des  Freiherrn  von  Sassinet.  2  T 

re  di  quel  Regno  senza  dipendenza  dal  preditto  testamento  del 
re  di  Spagna,  ne  dall'  inuestitura  del  padron  dirctto,  ma  solo  dallo 
uolontä  di  quelli  sudditi  ne  quali  pone  la  legge  primaria  delle  gcnti 
tal  facoltä.  Secondo,  perche  stimiamo,  che  non  hauremo  necessita 
proporre  tale  speditione,  mentre  quando  le  cose  si  riducono  ä  tale 
stato,  non  tardarebbe  il  papa  a  dar  Tinvestitura  a  nostro  beneficio  ma 
se  uolesse  mantenersi  nella  pratticata  sospensione  non  ostante  i  riferiti 
espedienti  e  ragioni,  che  si  propongono,  ui  saranno  dei  mezzi  che 
Iddio  ci  ha  dato,  quali  restaranno  sempre  piü  giustificati  dalla  prece- 
denza  di  tali  Offerte. 

VIII.  Conuerrä  che  portiate  con  uoi  la  seconda  parte  ultimamente 
scritta  dal  Tellier  (?)  lorenese  a  fauore  delle  nostre  ragioni,  condu- 
cendo  il  maggior  numero  che  si  poträ  dei  ditti  libri  cosi  in  Francese, 
come  in  Italiano,  accio  si  uadano  spargendo  in  Roma,  rimettendone 
a  Napoli,  Sicilia  e  Milano  la  maggior  quantitä  possibile  essendo  un" 
opera  assai  ben  compilata. 

IX.  Rimane  adesso  il  discorrersi  d1  un  altro  punto  di  non  minor 
irnportanza  che  pur  deuesi  maneggiare  in  Roma.  Si  ritroua  cola 
D.  Carlo  di  Sangro  inuiatoui  sin  dal  mese  di  Aprile,  per  mantener  et 
auanzar  la  buona  dispositione  degl'  animi  de  Napolitani,  che  sono  a 
noi  ben  affetti,  e  ä  D.  Carlo  di  Sangro  aggiunto  un  caualiere  chiamato 
D.  Giuseppe  Capece  fratello  del  Marcliese  di  Soffrano,  e  di  tutti  due 
questi  due  ultimi  habbiamo  intiera  sodisfattione,  come  pur  del  primo. 
Lo  stato  oue  ci  ritrouiamo  sin'  ora  per  i  passi  dati  lo  sentirete  dai 
medesimi,  e  uene  rendera  totalmente  informato  la  copia,  che  ui  si 
darä  di  quanto  in  tal  proposito  scriveremo  al  nostro  ambasciatore,  che 
non  replichiamo.  Tenete  dunque  presente  il  suo  contenuto  e  secondo 
esso  ui  dourete  regolare.  V1  incarichiamo  perö  in  questo  di  star  con 
tutta  uigilanza,  perche  niuno  dei  detti  soggetti  s'  ingelosisca  dell'  altro, 
mantonendoli  tutti  concordi  e  sicuri  della  nostra  gratia,  e  lo  stesso 
dourete  pratticare  cogl'altri  loro  dipendenti,  se  mai  hauesse  occasione 
di  trattarli,  ricordandoui,  che  la  nazione  Napolitana  e  delicatissima 
in  simili  puntigli,  onde  ci  uuole  tutta  V  accortezza  in  tenerli  lontani 
da  ogni  sospetto,  in  che  potessero  incorrere  nell1  attribuirsi  da  noi  la 
buona  direttione  degl'  affari  e  la  felicitä  del  successo  (se  Dio  la  per- 
mettera)  piu  ad  uno,  ehe  all'  altro. 

X.  Starete  con  gran  riguardo  nel  trattar  col  principe  di  Belvedere, 
che  e  in  Roma  in  habito  di  prete  perche  ci  e  assai  sospetta  la  sua 


Z  S  F  r  i  e  d  r  i  c  h  F  i  r  n  h  a  b  e  r. 

fede,  et  anche  coli'  agente  del  Cardinale  Cautelmi  Arciuescouo  di 
Napoli,  la  di  cui  casa  ha  dato  segni  troppo  euidenti,  e  manifesti  della 
sua  inclinatione  uerso  la  Francia. 

XL  Doppo  la  precedenza  de  sudetti  auertimenti  u'  incarichiamo. 
che  nell'andar  ä  Roma  ui  abbocchiate  col  principe  Eugenio  di  Sauoia 
comandante  Generale  del  nostro  esercito,  il  quäle  informarete  dello 
stato  in  che  sono  le  cose  quando  stimi  tempo  et  opportunitä  di  pratti- 
car  il  distaccamento  di  alcune  delle  nostre  truppe  per  incaminarle  in 
quel  regno  per  la  uia  d'  Abruzzo,  che  numero  gli  parerä  a  proposito 
di  porter  staccare  e  la  forma  di  poterla  eseguire,  di  che  ci  renderete 
informati  prima  di  partire  da  lui,  accio  possiamo  pontualmente  preue- 
nir  il  modo  per  tal  impresa  et  accordarlo  coli'  istessi  signori  Napoli- 
tani,  che  sono  in  Roma,  e  suoi  adherenti,  ed  intanto  ui  assicuriamo 
della  nostra  beneuolenza  e  gratia. 

Vienna  30  Giugno  1701. 

Leopoldus.  (Loco  sigilli.) 

(Lettera  di  S.  S.  demente  XI.  al  im  per  atore  Leopoldo  I.) 

Clemens  Papa  XI. 

Charissime  in  Christo  tili  noster,  salutem  et  apostolicam  benedic- 
tionem.  Sapendo  noi  quanto  graui  sollicitudini  porti  seco  il  supremo 
pontificato  non  habbiamo  lasciato  opera  intentata  per  distorre  il  sacro 
collegio  de'  cardinali  dal  pensare  alla  nostra  ellettione  supplicando 
neu'  istesso  tempo  con  calde  e  profuse  lacrime  il  signore  a  liberarci 
da  un  si  graue  peso ;  ma  havendo  la  diuina  prouidenza  per  i  suoi 
imperscrutabili  giudizj  non  solo  indurato  gli  animi  degli  elettori,  ren- 
dendoli  sordi  alle  nostre  preghiere,  ma  di  piu  anche  mosso  il  generoso 
cuore  di  S.  M.  a  desiderare  che  una  dignitä  tanto  superiore  alle 
nostre  forze  uenisse  appoggiata  alla  nostra  debolezza  siccome  hanno 
con  sovrabbondanti  finezze  mostrato  li Cardinali  di  LamberghiMedici  e 
Grimani  assieme  col  conte  di  Lamberghi  suo  ambasciatore  non  lascia- 
mo  di  raccomandarci  al  sommo  datore  de  lumi,  perche  rischiarando  la 
nostra  mente  ci  dia  uigore  di  potere  adequatamente  sodisfare  alle 
nostre  parti  e  nel  dimostrare  alla  M.  V.  il  nostro  piü  sincero,  e  uiuo 
riconoscimento  bramiamo  con  tutto  ardore,  che  alla  felicita  del  nostro 
Apostolato  conspirino  si  consigli  di  pace  e  di  zelo  per  la  santa 
religione  negli  animi  de  imperatori  cattolici,  o  poi  che  ben  conosciamo, 
per  le  tante  proue  che  V.  M.  ha  sempre  dati  alla  sua  insigne  pietä  quäl 


Die  Mission  des  Freiherrn  von  Sassinet.  <C«J 

premura  clla  habbia  per  il  bene  e  quiete  della  christianita  tutta,  e  quäl 
interesse  giustamente  prenda  non  meno  per  li  uantaggi  e  propagazi- 
one  della  fede  ortodossa  (di  cui  e  dignissimo  defensore)  die  per  il 
mantenimento  de  dritti  ecclesiastici  pregbiamo  il  cielo,  che  costodisea 
lungamente  la  M.  V.  che  da  noi  uiene  stimata  comc  un  ualidissimo 
mezzo  ad  esaltare  la  diuina  gloria  nei  presenti  tempi  e  confidiamo 
habbia  a  godere  del  modo  con  cui  indrizzeremo  tutte  le  nostre  questi- 
oni  a  promuoverla.  A  questi  sensi  siamo  persuasi  che  V.  M.  verrä 
facilmente  indotta  dal  proprio  zelo,  e  (lalle  dimostrationi  efficaci,  che 
saremo  pronti  a  manifestarli  di  una  paterna  tenerissima  aftezione,  onde 
bramosi  di  dargliene  proue  nella  occasioni  che  ci  si  presenteranno 
benediciamo  per  fine  con  particolarissima  cordialitä  la  M.  V.  con 
tutta  la  sua  augustissima  casa.  Datum  Romae  apud  S.  Petrum  die 
nostrae  consecrationis  SO.Novembris  1700.  Suscepti  a  nobis  aposto- 
latus  officii  anno  primo. 

(Risposta  dell'  imperatore  Leopoldo  I.  alla  lettera 
di  S.   S.  demente  XL) 

Beatissimo  padre. 

La  gloria-  di  maggiore  di  V.  S.  nella  sua  felicissima  esaltatione 
al  pontiflcato  deriua  nel  concetto  universale  dalle  istesse  sue  sublimi 
ed  apostoiiche  uirtu,  le  quali  non  solo  incitarono  un  ardente  desiderio 
di  cooperarci  per  quanto  poteuo,  ma  in  tutto  il  sacro  collegio,  tanta 
ostinatione  e  concorde  uolontä  di  prouedere,  non  ostante  le  pie  reni- 
tenze  di  V.  B.  la  chiesa  di  Dio  di  cosi  buon  pastore  tanto  necessario 
nelle  occorenti  emergenze.  Io  ringratio  la  diuina  prouienza  di  questo 
fortunato  successo,  da  cui  me  ne  deriua  una  somma  consolatione  ed 
insiemelaSantita  V.  delle  sue  paterne  aflettuose  espressioni  fattemi  con 
la  lettera  di  proprio  pugno  dell'  ultimo  scorso,  dalla  quäle  concepisco, 
certissima  fiducia  che  sia  per  conseruar  sempre  in  particolare  riguardo 
la  mia  figliale  osseruanza  et  obbedienza  uerso  la  sede  apostolica  con- 
siderare  la  mia  attentione  per  meritarmi  la  benedictione  et  assistenza 
della  medesima  mentre  non  hebbi  mai  maggiore  obbligatione  di  animo, 
che  di  continuare  la  pace  e  la  tranquillita  del  Cristianismo  come  farö 
ancora  per  secondare  le  sante  intentioni  di  V.  Beatitudine  sperando 
pero  dalla  sua  equanimita  che  come  giusto  pote  non  sia  per  disap- 
prouare  che  io  procuri  di  mantenere  le  giuste  ragioni  e  dritti  dell 
imperio  e  della  mia  casa,  comene  corre  un  preciso  obbligo,  ma  piutosto 


oO  Franz  Mi  kl  o  sich.  Über  die  Sprache  der  Bulgare». 

per  porgermi  il  suo  paterno  aiuto,  e  per  dare  benigno  orechio  a 
quanto  da  mia  parte  sopra  questo  ed  altri  particolari  li  uerra  esposto 
dal  conte  di  Lambergh  mio  ambassiatore  e  mentre  prego  la  diuina 
bonta  che  come  ci  e  stata  propizia  in  beneficarci  eon  un  suo  tanto 
degno  vicario  cosi  la  sia  in  conseruarcelo  sano,  et  incolume  chiedo  per 
me  et  i  miei  figli  e  nipoti  dalla  S.  V.  continuate  beneditioni  e  resto 
Vienna  28.  Dicembre  1700. 

ubedientissimo  figlio 
Leopoldo. 


SITZUNG  VOM  9.  JÄNNER   1856. 


Das  wirkliche  Mitglied,  Herr  Professor  Franz  Miklosich, 
legte  eine  Abhandlung  über  die  Sprache  der  Bulgaren  in  Siebenbür- 
gen vor.  Dieselbe  umfasst:  1)  eine  Einleitung,  in  welcher  die  leider 
dürftigen  Notizen  über  die  bulgarische  Ansiedelung  von  Cserged  bei 
Blasendorf  zusammengestellt  werden ;  2)  den  Text  eines  für  die 
Csergeder  Bulgaren  bestimmten  Katechismus  welchen  der  Verfasser 
der  Güte  des  als  Sprachforscher  auch  in  weiteren  Kreisen  bekannten 
Blasendorfer  Domherrn  Timotheus  Cipariu  verdankt.  Die  Bulgaren 
von  Cserged  welche,  ungeachtet  sie  vol*  einigen  Decennien  ihre  Sprache 
mit  der  ihrer  Nachbarn,  der  Bomanen,  vertauscht  haben  ,  von  diesen 
auch  jetzt  noch  Schiai  (Slawen)  genannt  werden,  bekennen  sich  zum 
Protestantismus  und  der  Katechismus  war  wahrscheinlich  für  einen 
Deutschen  bestimmt,  dessen  geistlicher  Beruf  ihm  einige  Kenntnisse 
der  bulgarischen  Sprache  nothwendig  machte;  3)  Verzeichniss  und 
Erklärung  der  in  dem  Text  des  Katechismus  vorkommenden  Wörter, 
von  denen  ein  nicht  unbedeutender  Theil  aus  dem  Bomanischen  und 
mittelbar  aus  dem  Magyarischen  entlehnt  ist;  4)  Bemerkungen  zur 
Grammatik  des  Denkmals  welches  für  die  Linguistik  dadurch  ein 
Interesse  hat,  dass  es  die  einzige  Quelle  ist ,  aus  welcher  einige 
Kenntniss  der  Sprache  der  Bulgaren  in  Siebenbürgen  geschöpft  wer- 
den kann  und  dadurch,  dass  die  Sprache  desselben  geeignet  ist,  über 
einen  Punct  der  altslovenischen  Lautlehre,  nämlich  die  Nasalität 
zweier  Vocale,  Licht  zu  verbreiten. 


Joseph  Bergmann.    Pflege  der  Numismatik  iu  Österreich.  Ol 


SITZUNG   VOM   16.  JÄNNER   1850. 


Gelesen : 

Pflege  der  Numismatik  in  Osterreich  im  XVIII.  Jahrhundert 
mit  besonderem  Hinblick  auf  das  k.  k.  Münz-  und  Medaitten- 

Cabinet. 

Mit  erläuternden  Anmerkungen 
von  dem   w.  M.,   Herrn  Joseph   Bergmann. 

„Si  quid  uovisti   rcctius  istis, 
Caudidus  imperti ;  si  nou,  his  utere  mecuui." 

Horat. 

Erste  Abtheilung. 

Von  Heraus  bis  auf  Eckhel  (1709—1774). 

Meine  Untersuchungen  über  K.  Karl'sVI.  Medaillen-  undAntiqui- 
täten-Inspector  Karl  Gustav  H  erfeus  und  das  lebhafte  Interesse 
das  ich  als  Beamter  des  k.  k.  Münz-  und  Antiken-Cabinetes  an  ihm 
nehme,  führten  mich  auf  den  Gedanken,  den  weitern  Gang  der  Fort- 
bildung und  des  Wachsthums  dieses  grossartigen  Institutes  das  ganze 
XVIII.  Jahrhundert  hindurch  bis  zu  Eckhel's  Hintritte  (-{•  1798)  zu  ver- 
folgen und  nicht  allein  die  an  demselben  thätig  wirkenden  Männer, 
sondern  auch  jene  welche  das  Feld  der  Numismatik  in  Österreich 
ruhmvoll  bebauten,  nachzuweisen  und  vorzuführen,  wie  auch  beson- 
ders jene  Zeit  von  fast  vier  Jahrzehnten  (von  1730  — 1767),  während 
welcher  dasselbe  dadurch,  dass  es  keine  eigene  selbstständige  Ver- 
waltung hatte,  in  Dunkel  gebullt  ist,  in  etwas  aufzuhellen.  Mühsam 
war  das  Unternehmen  ,  desshalb  aber  um  so  einladender  ,  weil  aus 
diesem  so  eben  erwähnten  langen  Zeiträume  der  unselbststän- 
digen  Verwaltung  dem  dermaligen  k.  k.  Münz-  und  Antiken-Cabinete 


32  Joseph  Bergmann. 

alle  Acten  fehlen.  Diese  amtlichen  Quellen  in  demselben  beginnen 
erst  mit  dem  Jahre  1774  wieder  zu  tliessen  und  fliessen  bis  zum 
Anfange  des  neuen  Jahrhunderts  sehr  spärlich,  zumal  der  beschei- 
dene Eckhel  seine  einfachen  Geschäfte  einfach  führte  und  aller  Viel- 
schreiberei abhold  war,  sie  betreffen  zum  grössten  Theile  Rechnungen 
und  Dienstsachen.  Ich  war  demnach  zur  Erreichung  meines  festge- 
steckten Zieles  genöthigt,  das  vielfach  zerstreute  Material  theils  in 
den  Vorreden  numismatischer  Werke  jener  Zeit,  theils  in  alten  Hof- 
Schematismen,  theils  im  ehemaligen  k.  k.  Hofkammer-Archive,  theils 
bei  Privaten  aufzusuchen,  zu  sammeln  und  zu  verarbeiten. 

Ich  lege  die  gewonnenen  Resultate  in  biogr aphisch-histo- 
rischer  Form  und  möglichst  in  chronologischer  Folge 
zur  Erinnerung  an  den  grössten  Numismatiker  Eckhel,  dessen 
Geburtstag  (13.  Jänner)  die  numismatische  Gesellschaft  in  Berlin 
alljährlich  feiert,  hier  nieder  mit  dem  freundlichen  Ersuchen,  kundi- 
gere Männer  des  Faches  mögen  weiteres  Material  zu  einer  umfassen- 
den Geschichte  der  alten  und  neuen  Numismatik  in  Österreich  und 
des  k.  k.  Münz-  und  Antiken-Cabinets  sammeln,  wozu  diese  Zeilen  als 
geringer  Beitrag  dienen  sollen. 

Zwölf  Männer  werde  ich  in  dieser  1.  Abtheilung  dem  geneigten 
Leser  vorführen,  von  denen  neun  Priester  und  zwar  fünf  aus  dem 
gelehrten  Orden  der  Gesellschaft  Jesu  waren,  die  übrigen  drei  dem 
Laienstande  und  dem  Auslande,  Frankreich  und  Schweden,  ihrer 
Geburt  nach  angehörten. 

I.  Karl  Gustav  Heraus.  —  Ich  beginne  mit  dem  Auftreten  dieses 
Schweden  der  in  unserm  Österreich  in  der  Numismatik  die  Bahn 
öffnete,  und  fasse  mich  über  ihn  kurz,  indem  ich  bei  Ver- 
öffentlichung seiner  Correspondenz  mit  Leibniz  und  Anderen,  wie 
auch  in  dessen  Historia  metallica  seu  numismatica  Austriaca  in  den 
Sitzungsberichten  (der  philosophisch  -  historischen  Classe  1854, 
Bd.  XIII,  S.40— 61  und  539— 625,  dann  Bd.  XVI.  S.  132— 168)  sein 
Leben  zu  beleuchten  versucht  und  ihm  in  meinen  Medaillen  auf 
berühmte  und  ausgezeichnete  Männer  des  österreichischen  Kaiser- 
staates im  II.  Bande  Nr.  XCI  einen  eigenen  Artikel  gewidmet  habe. 

Unter  K.  Joseph's  I.  Begierung  schien  hier  ein  schöner  Morgen 
für  Münz-  und  Alterthumskunde  anzubrechen.  Er  berief  zu  diesem 
Ende  den  gelehrten,  in  seinem  Fache  eines  ausgebreiteten  Rufes  sich 
erfreuenden  Herseus  im  J.  1709  vom  fürstlich  Schwarzburgischen 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  DO 

Hofe  nach  Wien.  Nach  zwei  Jahren  am  17.  April  1711  starb  dieser 
Herrscher  an  den  Blattern  in  seinem  33.  Lebensjahre.  Herseus  trat 
nun  in  die  Dienste  seines  Bruders  und  Nachfolgers  K.  Karl's  VI.,  der 
schon  als  Prinz  sich  viel  mit  Münzen  beschäftigte  und  auf  seinem 
Zuge  nach  und  in  Spanien  (in  ipsa  expeditione  Iberica)  zu  edler 
Unterhaltung  sogar  ein  kleines  Münz-Cabinet,  das  spanische 
genannt,  mit  sich  führte.  Unser  kaiserlicher  Medaillen-  und  Antiqui- 
täten-Inspector  hatte  die  Aufgabe  aus  den  Medaillen  und  Münzen 
welche  theils  in  der  Schatzkammer,  ferner  da  und  dort  in  eisernen 
Kästchen  und  Trüheln,  hölzernen  Schachteln,  sammtenen  Beuteln, 
Leinwandsäckchen  unbeachtet  und  ungewürdigt  verborgen  lagen, 
theils  von  Sr.  kaiserlichen  und  katholischen  Majestät  selbst  verwahrt 
wurden,  ein  grosses  einheitliches  Cabinet  und  zwar  ein 
antikes  und  modernes  zu  schaffen.  Zu  weiterer  Bereicherung 
desselben  reiste  Heraus  im  Spätsommer  1713  nach  Ambras  in  Tirol 
und  brachte  von  da  über  1200  auserlesene  Stücke.  Vielgeschäftig 
wurden  von  ihm  Münzen  und  Medaillen  nicht  nur  in  Wien  angekauft 
und  eingetauscht,  sondern  kamen  auch  aus  dem  Auslande,  aus  Augs- 
burg, der  Schweiz  und  Italien,  besonders  durch  die  kaiserlichen 
Gesandten  Marquis  Hercules  Joseph  Ludwig  dePrie1)  und  durch 
dessen  Nachfolger  Johann  Wenzel  Grafen  von  G alias  (s.  Anm.  II) 
aus  Rom,  dann  aus  Ferrara,  Sicilien  u.  s.  w.  grosse  Sendungen ,  vor- 
züglich von  alten  italienischen  Medaillen,  woher  der  Reichthum  an 
derlei  Stücken  im  k.  k.  Cabinet  sich  erklärt.  Bei  einer  jährlichen 
Dotation  von  4000  Gulden  und  bei  der  umsichtsvollen  Thätigkeit  die 
Heraus  auf  seinem  Felde  entwickelte ,  wuchs  das  kaiserliche  Institut 
in  wenigen  Jahren  (von  1713—1720)  schnell  zu  einer  schönen 
Blüthe  heran,  bald  aber  gerieth  der  frische  Trieb,  wie  es  scheint, 
durch  die  Schuld  des  mit  der  Pflege  betrauten  unsteten  Gärtners  in 
Stockung,  indem  er  vom  Bergwerks-Dämon  von  seiner  geraden  und 
sichern  Bahn  in  Wien  auf  einen  gefährlichen  Abweg  in  die  rauhe  Veitsch 
im  obersteierischen  Gebirge  sich  verlocken  liess,  der  sein  Vermögen 
verschlang  und  seine  Lebenskraft  brach.  Sein  letztes,  mir  bekanntes 
Schreiben  ist  aus  Veitsch  vom  30.  September  1725  und  er  scheint 
bald,  bis  jetzt  unbekannt  wo ,  von   dieser  Erde  geschieden  zu   sein. 


*)  Kürzere  Notizen  und  Citate    setze  ich  hier  unten  ;   längere  Anmerkungen  s.  am 
Ende,  su  die  üher  Prie  sub  I. 
Sitzb.  d.  phil.-hist.  CI.  XIX.  Bd.  I.  Hfl.  3 


34  Joseph  Bergmann. 

Über  seine  numismatischen,  epigraphischen  und  poetischen  Lei- 
stungen s.  meine  vorerwähnten  Mittheilungen  in  den  Sitzungsberich- 
ten der  kais.  Akademie  und  Nr.  XCI  meines  Medaillenwerkes.  Seine 
Arbeiten  geben  ihm  das  schönste  Zeugniss  über  vielseitige  Kennt- 
nisse, gründliche  Gelehrsamkeit  und  regen  Fleiss ;  seine  Entwürfe 
zu  den  Medaillen  K.  Karl's  VI.  zeigen  Geschmack  und  sinnreiche 
Einfachheit  gegenüber  denen  aus  der  Zeit  der  Kaiser  Leopold  I. 
und  Joseph  I. 

Heraus  der  sich  eines  grossen  Vertrauens  und  Ansehens  am 
kaiserlichen  Hofe  zu  erfreuen  hatte,  später  aber  in  Allerhöchstdes- 
sen  Ungnade  gefallen  war ,  übergab  zu  wiederholten  Malen  dem 
Schatzmeister  Heinrich  Uwens  (f  1730)  in  einem  Buche  Abzeich- 
nungen und  Abdrücke  von  goldenen  und  silbernen  Münzen  zur  Con- 
trole  statt  des  Inventariums  im  J.  1721,  dann  am  21.  und  24.  Mai  1722 
auch  Cameen  und  andere  Gegenstände  die  ihm  anvertraut  waren. 
Sollte  nicht  einiges  Misstrauen  von  Seite  des  Hofes  gegen  den  Con- 
servator  diese  Übergabe  hervorgerufen  haben  ? 

II.  Nach  Heraus  ward,  wie  Schlager1)  meldet,  im  J.  1727 
der  Abbate  Johann  Baptist  Banaglia  als  Medaillen-  und  Antiquitäten- 
Inspector  mit  der  Besoldung  von  1500  Gulden,  die  auch  sein  Vor- 
gänger bezogen  hatte,  angestellt,  und  im  k.  k.  Staats-  und  Standes- 
kalender auf  das  J.  1 729  lesen  wir  im  angehängten  Hof-Schematis- 
mus bei  dem  k.  k.  Oberstkämmerer-Stabe,  S.XX  :  „Antiquitäten- und 
Medaillen-Inspector  Hr.  Johann  Baptist  Panagia".  Derselbe  wird  in 
Herrgotts  Numotheca  I.  Praefat.  §.  XV.  im  J.  1729  Panacia  aus 
Calabrien,  als  der  letzte  Inspector  des  Cabinets  K.  Karl's  VI. 
genannt,  das  damals  10,794  moderne  Münzen  und  Medaillen  zählte 2). 
Banaglia,  Panagia  oder  Panacia  sind  unstreitig  Namen  derselben 
einen  Person,  was  auch  der  gleiche  Taufname  bestätigt,  die  beiden 
letztern  scheinen  zeitüblich  griechisirt  zu  sein.  Er  starb  am  20.  März 
1730  in  Wien3).  Im  vorerwähnten  Staats-  und  Standeskalender  aufs 


1)  Schlager*s  Materialien  zur  österr.  Kunstgeschichte,  in  dem  von  der  histor.  Com- 
mission  der  kais.  Akad.  herausgegebenen  Archive,  Bd.  V,  696  und  710. 

2)  U  1 1  i  m  u  s ,  cui  numophylacii  cura  commissa  fuit,  Johannes  Baptista  PANACIA 
erat,   natione  Ca  lab  er. 

3)  Im  wienerischen  Diarium  vom  J.  1730,  Kr.  23  heisst  es  in  der  Sterbeliste:  Der 
Wohl-Ehrw.  in  Gott  Geistlicher  Herr  Johann  Baptist  Bannagia  ,  kaiserl.  Anti- 
quitäten- und  Medaillen-Inspector,  in  dem  Hillebrandischen  Haus  am  Kohl-Mark  (sie), 
alt  38  Jahr. 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  35 

J.  1731  heisst  es  im  Anhange  S.  XX:  »Antiquitäten-  und  Medaillen- 
Inspector-Vaeat".  Somit  war  in  diesem  Jahre  diese  Stelle  noch 
erledigt  und  unbesetzt.  Eben  so  lautet  es  in  dem  für  1739.  So  fehlt  in 
den  folgenden  gleichen  Kalendern  für  die  Jahre  1748,  1752,  1763 
und  1765,  in  denen  der  jeweilige  Schatzmeister,  Galerie-Inspector  und 
Andere  bei  dem  k.  k.  Oberstkämmerer-Stabe,  dem  sie  alle  unterstan- 
den und  ihre  Nachfolger  noch  unterstehen,  namentlich  aufgeführt 
sind  ,  die  Rubrik  „Antiquitäten-  und  MedaiHeu-Inspector"  gänzlich 
und  taucht  erst  im  J.  1767  *)  neben  den  anderen  k.  k.  Instituten 
S.  441  als:  „Münz-  und  Medaillen -Cabinet-Director  —  Hr.  Valentin 
Jameray  Duval"  neu  auf,  wie  wir  unten  zeigen  werden. 

Bevor  wir  in  Bezug  auf  die  Per  so  neu  die  bei  dem  k.  k.Münz- 
und  Medaillenschatze  später  angestellt,  oder  auf  dein  Felde  der 
Numismatik  mit  lohnendem  Erfolge  thätig  waren,  weiter  gehen, 
müssen  wir  des  betrügerischen  Ankaufs  einer  ganzen  Sammlung  in 
Rom  erwähnen,  der  n  acli  Heraus'  Verwaltung  gemacht  wurde.  Der 
Kaiser,  voll  unablässigen  Eifers  sein  ausgezeichnetes  Cabinet  zu 
vermehren,  Hess  von  den  Carthäusern  in  Rom  das  reiche  Münzcabi- 
net  das  ihr  verstorbener  Procuratore  generale,  Pater  de  Roche- 
fort, mit  grösster  Mühe  gesammelt  und  zu  dessen  Herausgabe 
Kupferplatten  angefertigt  hatte,  im  vollen  Vertrauen  auf  das  einge- 
schickte Verzeichniss  um  eine  grosse  Summe  Geldes  ankaufen  und  ord- 
nete Anton  Daniel  B  e  r  t  o  1  i  (S.  37)  zur  Überbringung  nach  Wien 
dahin  ab.  Leider  war  er  so  unbehutsam,  daselbst  sich  überreden 
zu  lassen  die  Kupferplatten  zum  Abdrucke  einiger  Exemplare  ohne 
Vorwissen  seiner  Vorgesetzten  zu  erlauben.  Hiezu  druckte  man  den 
Titel :  „Numismata  aerea  maximi  moduli  primique  duodecim  Augusti 
ex  auro,  dudum  Romae  in  Coenobio  Carthusiae  nunc  Viennae  Austriae 
in  gaza  Caesarea"  ohne  Angabe  des  Ortes  und  des  Jahres,  in  Folio 
(Anm.  III).  Als  die  Sammlung  nach  Wien  gekommen  war,  untersuchte 
der  gelehrte  Pius  Nicolaus  Gare  11  i ,  des  Kaisers  Leibarzt  und  Hof- 
bibliotheks-Präfect,  mit  dem  kaiserlichen  Antiquario  (wohl  Panagia) 
nicht  allein  die  Münzen  ,  unter  denen  sie  über  200  falsche,  wobei 
viele  Medaillons  waren,  fanden,  sondern  auch  die  zu  Rom  abgedruck- 
ten Kupferplatten,  die  so  voll  grosser  Fehler  besonders  in  den 
Umschriften  waren,  dass   man  diese  fehlerhaften  so  viel  möglich  zu 


x)  Leider  konnte  ich  nirgends  den  Hof-Schematismus  von   176o*  auffinden. 

3* 


36  Joseph  Bergmann. 

unterdrücken  sich  bemühte,  wesshalb  Abdrücke  dieses  Werkes  zu 
den  grössten  Seltenheiten  gehören.  Garelli  schrieb  darüber  am 
30.  April  1729  einen  Brief  an  Abbe  Bignon  ,  Bibliothekar  K.  Lud- 
wig's  XV.,  der  im  Journal  des  Scavans.  Tom.  LXXXIX.  Sept.  1729, 
pag.  132  gedruckt  und  später  vonErasmus  Froelich  im  zweiten  Theile 
des  Cimelium  Vindobonense  in  lateinischer  Sprache  wieder  heraus- 
gegeben wurde.  Froelich  und  Eckhel  säuberten  später  mit  schärferer 
Kritik  noch  mehr  diesen  Augiasstall. 

Ausser  diesem  römischen  Cabinete  kaufte  der  Kaiser  noch  die 
ansehnliche  Sammlung  antiker  Münzen  vom  Grafen  Karl  Joseph 
von  Paar  (IV)  und  Hess  sie  mit  seinem  kaiserlichen  Schatze  in  einem 
der  neuerbauten  Hofbibliothek  nahen  Gemache  vereinen,  und  ver- 
diente mit  vollstem  Bechte  die  Huldigung,  die  Heraus  auf  einer  Me- 
daille mit  der  Inschrift:  OB  SEBVATAM  PBISC1  NOSTBIQ.ue  TEM- 
POBIS  MEMOBIAM  HERCVLI  MVSARVM  (s.  dessen  Inscriptiones 
edit.  1721,  pag.  47)  seinem  Gebieter  dargebracht  hat. 

Die  Vorgänge  die  des  frühern  Lieblings  Heraus  Ungnade  her- 
beiführten, und  der  allzu  theuere  Ankauf  der  Münzsammlung  in  Rom 
mochten  nicht  wenig  beitragen,  den  Kaiser  seinem  Münzcabinet  immer 
mehr  und  mehr  abgeneigt  zu  machen,  so  dass  er,  wie  ich  oben 
erwähnte,  nach  Banaglia's  oder  Panagia's  Tode  die  erledigte  Stelle 
eines  Antiquitäten-  und  Medaillen-Inspectors  gar  nicht  mehr  besetzte. 
Der  Zeitgenosse  Johann  '  Basil  Küchelbecker  erwähnt  in : 
Allerneueste  Nachricht  vom  Römisch-Kais.  Hofe  etc.  Hannover  1732. 
auf  S.  925  vom  kaiserlichen  Münz-  und  Medaillen-Cabinet : 
„dass  es  unstreitig  eines  von  den  stärksten  ist,  so  man  zu  dieser  Zeit 
in  Europa  findet.  Allein  wir  müssen  bekennen,  dass  wir  dazu  vor 
diessmal  nicht  vermögend,  aus  Ursache,  weil  dieses  unvergleichliche 
Cabinet,  so  auf  der  Burg  in  denen  Käyserlichen  Zimmern 
stehet,  vorjetzo  niemand  ge  zeiget  wird.  Unterdessen  können 
wir  von  hörensagen  so  viel  berichten,  dass  in  solchen  nicht  nur  viele 
antique  Müntzen,  e.  g.  Nummi  Graeci,  Ebraici,  Romani  etc.  anzu- 
treffen, sondern  dass  von  solchen  auch  die  Suite  und  die  Ordnung 
meistentheils  vollkommen  zu  sehen.  Es  sind  e.  g.  die  Numi  Consu- 
lares ;  die  Käyser  sowohl  in  Gold  als  Silber  und  Kupfer  etc.  nach 
der  Reihe  allda  zu  finden,  und  überdies  wird  nicht  leicht  ein  rarer 
Nummus  existiren,  welchen  man  allhier  nicht  haben  sollte.  Von 
modernen  Münzen  und  Medaillen  findet  man  ebenfalls  daselbst 


E'flege  der  Numismatik  in  Österreich.  3  i 

einen  starken  Vorrath,  und  der  über  solches  bestellte  Kaiserl.  Anti- 
quitäten- und  Medaillen-Inspector  ,  Herr  Johann  Baptist  Pana- 
gi  a  (der  schon  1730  gestorben,  was  Herr  Küchelbecker,  Syndicus 
zu  St.  Annaberg  in  Sachsen,  nicht  wusste)  erhält  solches  in  der 
schönsten  Ordnung,  welcher  dem  Publico  die  grösste  Gefälligkeit 
erweisen  könnte,  wenn  er  mit  allergnädigster  Käyserl.  Erlaubniss  eine 
Beschreibung  davon  ans  Licht  geben  wollte." 

Nach  demselben  Küchelbecker  hatte  auch  die  k.  k.  Hofbi- 
bliothek damals  noch  eine  Münzsammlung,  indem  es  S.  712, 
§.  5  heisst:  Nebst  denen  vielen  und  unvergleichlichen  Büchern,  Avie 
auch  denen  raresten  Manuscriptis,  sind  auch  allhier  noch  sehr 
viel  rare  und  curiose  Sachen  zu  sehen.  Denn  man  verwahret  allhier, 
nebst  vielen  An  tiqui täten  und  Curiositäten ,  auch  einen  ziemlich 
starken  Vorrath  von  alten  und  raren  Münzen  sowohl  von  Gold 
und  Silber  als  auch  von  Ertz  und  andern  Metallen ,  welche  in  einer 
schönen  Ordnung  rangiret  zu  sehen  und  in  einer  guten  Suite  zu  fin- 
den sind. 

Ob  der  Hofbibliotheks-PräfectGarelli(f  1739)  oder  der  Schatz- 
meister Nicolaus  Hilling,  oder  wer  sonst  nach  Panagia\s  Tode  die 
Oberaufsicht  oder  Verwaltung  vom  J.  1730  an  führte,  vermag  ich 
nicht  anzugeben. 

Nun  wollen  wir  die  auf  Herseus  (I)  folgenden  schriftstelle- 
rischen Pfleger  der  Münzkunde  in  Wien,  die  noch  der 
Regierungszeit  K.  Karl's  VI.  (f  1740)  und  dem  gelehrten  Orden 
der  Gesellschaft  Jesu  angehören,  dem  Leser  vorführen,  nämlich: 
Granelli,  Edschlager  und  G r u e b e r. 

Wir  kennen  am  kaiserlichen  Hofe  zu  jener  Zeit  ausser  vielen 
hohen  italienischen  Cavalieren  und  Geschäftsmännern  mehrere  ausge- 
zeichnete Gelehrte  aus  diesem  Lande,  von  denen  die  hervorragend- 
sten sind:  Johann  Baptist  Garelli  aus  Bologna,  schon  K.  Leo- 
polde wie  auch  K.  Karl's  VI.  Leibarzt  (f  1732)  und  dessen  grössern, 
gereisten  und  gelehrten  Sohn  Pius  Nicolaus,  kais.  Protomedicus 
und  Hofbibliolheks-Präfecten  (f  21.  Juli  1739),  dessen  einziger 
schwächlicher  und  kränkelnder  Sohn  Johann  Baptist  Hannibal 
in  seinem  Testamente  vom  22.  October  1740  seine  ererbte  kostbare 
(die  Garellisch  e,  nachher  im  Theresianum  aufgestellte)  Biblio- 
thek dem  Vaterlande  vermachte  und  am  15.  September  1741  im 
22.  Lebensjahre  starb;  ferner  Anton  Daniel  Bertoli  aus  Udine, 


38  Joseph  Bergmann. 

Designatore  di  Camera  K.  Karl's  VI.,  nach  des  Florentiners  Fabricio 
von  Cerrini  Tode  (f  1.  Dec.  1730)  Galerie-Inspector  und  Zeichen- 
lehrer der  Erzherzogin!),  nachherigen  Kaiserinn  Maria  Theresia,  1744; 
der  Neapolitaner  Dr.  A 1  e  x  a  n  d  e  r  R  i  c  c  a  r  d  i ,  Fiscal  bei  dem  Con- 
sejo  de  Espana,  des  Jüngern  Garelli  Mitpräfect  der  kaiserlichen 
Hofbibliothek  (f  1726),  durch  den  Panagia  aus  Calabrien  in  kais. 
Dienste  gekommen  sein  mag;  der  Venetianer  Apostolo  Zeno, 
gleichfalls  auch  Numismatiker,  der  seine  reiche,  10.778  Stücke  grie- 
chische und  römische  Münzen  zählende  Sammlung  durch  Froelich's 
Vermittelung  am  28.  September  1747  dem  Stifte  St.  Florian  um 
20.000  Gulden  verkaufte,  endlich  der  Hofmathematicus  und  Astronom 
Johann  Jacob  Marinoni  aus  Udine ,  dann  Oberingenieur  der 
k.k. Ingenieur-Akademie  (f  11.  Jänner  1755)  nebst  Anderen.  — Die- 
sen ist  anzureihen: 

III.  Rarl  Granelli,  am  21.  Februar  1671  zu  Mailand  geboren, 
kam  mit  16  Jahren  in  den  Orden  der  Jesuiten  nach  Österreich, 
beschäftigte  sich  mit  der  Geschichte  und  Topographie  der  österrei- 
chisch-deutschen Erblande  und  schrieb  seine  anonyme:  Germania 
Aus  tr  i  a  c  a  seu  Topographia  omnium  Germaniae  provinciarum  Augustae 
domui  hereditario  jure  subjectarum  studio  et  labore  cujusdam  Socie- 
tatis  Jesu  sacerdotis  etc.  Viennae  1701,  in  fol.  mit  acht  Landkarten 
der  einzelnen  Landschaften.  Dieser  Band  erschien  im  J.  1752  in 
Quarto  abermal,  aber  ohne  diese  Karten  und  zum  dritten  Male  mit 
vielen  Verbesserungen  und  Zusätzen  bei  Gelegenheit  der  feierlichen 
Disputation  des  Freiherrn  Moriz  von  Brabeck,  Zöglings  des  k.  k. 
Theresianums,  in  sehr  schöner  Ausgabe  bei  Trattnern  im  J.  1759  in 
4t0  ohne  Karten.  Granelli  war  Doctor  der  heiligen  Schrift  und  lehrte 
an  der  hiesigen  Universität  Philosophie  und  Theologie,  ferner  war  er 
der  verwitweten  Kaiserinn  Amalia  Beichtvater,  dann  in  der  Mathema- 
tik, Geschichte  und  M  ü  n  z  k  u  n  d  e  F  r  o  e  1  i  c  h's  L  e  h  r  e  r.  Er  sammelte 
mit  grosser  Sorgfalt  antike,  besonders  griechische  Münzen,  die  er  wie 
auch  seinen  mit  Anmerkungen  versehenen  handschriftlichen  Katalog  sei- 
ner wohlgeordneten  Sammlung  sammt  einer  gewählten  numismatischen 
Handbibliothek  dem  Jesuiten-Collegium  in  Wien  hinterliess.  Später  kam 
die  Sammlung  ins  neugegründete  Theresianum  und  ward  nach  Auf- 
hebung des  Ordens  (1773)  dem  k.  k.  Münz-Cabinet  einverleibt.  Er 
starb  im  Collegium  zu  Wien  am  3.  März  1739.  Die  Angabe  die 
ich  irgendwo  las,   dass  P.  Granelli  noch  auf  dem  Sterbebette  des 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  39 

stärkenden  Trostes  sich  erfreute  seine  mühevolle  Schöpfung  in  den 
Händen  EckhePs  zu  sehen,  ist  eine  leere  Phrase,  da  dieser  damals 
ein  zweijähriges  Kind  war.  In  der  Collectio  Scriptorum  Societatis 
Jesu.  Tom.  I.  Scriptores  Provinciae  Austriacae.  Viennae  1755, 
S.  105  sind  seine  Werke  genannt:  über  Numismatik  hat  er  nichts 
geschrieben. 

IV.  Christian  Edschlager  (auch  Etschlager  nicht  aber 
Ekschlager),  im  Jahre  1699  zu  Wien  geboren,  trat  1717  in  den 
Orden  der  Gesellschaft  Jesu,  verlegte  ausser  seinen  ßerufsstudien  sich 
mit  vollem  Eifer  auf  Sprachen,  besonders  die  griechische  und  hebräi- 
sche, und  war  fast  aller  europäischen  Sprachen  kundig.  In  den  Neben- 
stunden beschäftigte  ihn  —  vielleicht  auf  des  gereiften  Mitbruders 
Granelli  Anregung — vorzüglich  die  Münzkunde.  Seine  poetische  Ader 
führte  den  Jüngling  auf  die  Bahn  welche  Ceva,  Giannettasius,  Rapinus, 
Vaniere  etc.  auf  ihrem  Gebiete  betreten  haben,  die  Numismatik  in 
einem  Lehrgedichte  zu  besingen.  Im  Jahre  1724  erschien  das- 
selbe in  Gratz  unter  dem  Titel:  Synopsis  Rei  Nummariae  Veterum : 
Mein  Exemplar  in  12mo,  dem  leider  der  Titel  wie  auch  die  Angabe  der 
Seitenzahlen  fehlen,  enthält  auf  52  von  mir  gezählten  Seiten  1452 
Hexameter  in  XXI  Abschnitten  mit  nachstehenden  Aufschriften: 
I.  Nummaria.  II.  Gazophylacium.  III.  Nomina  Nummorum.  IV.  Aetas 
Nummorum.  V.  Origo  nummorum  et  metalli  varietas.  VI.  Aurum. 
VII.Argentum.  VIII.  Aes.  IX.  Divisio  Nummorum.  X.  Magnitudo  Num- 
morum. XI.  Nummi  maximi.  XII.  Pars  adversa  Nummorum,  et  series. 
XIII.  Pars  aversa  Nummorum.  XIV.  Ordo  Nummorum.  XV7.  Voces  et 
literae.XVI.  Delectus  Nummorum.  XVII.  Color  Nummorum.  XVIII.  Men- 
dae  Nummorum.  XIX.  Minora  ornamenta  Nummorum.  XX.  Fraudes,  et 
Nummi  falsi  (der  längste  Artikel  von  320  Versen).  XXI.  Paraenesis. 
Zum  Schlüsse  folgt:  Synopsis  Rei  Nummariae  explicandis  versibus 
necessaria ,  die  LX.  Monita  oder  Erläuterungen  mit  43  Abbildungen 
auf  vier  Kupfertafeln  enthält.  Dieses  Gedicht  erfreute  sich  einer  so 
günstigen  Aufnahme ,  dass  kurz  nach  dessen  Erscheinen  ein  reicher 
und  gelehrter  Engländer  den  Verfasser  brieflich  bat,  eine  umfassen- 
dere Lehre  über  diesen  Stoff  auf  seine  Kosten  ßerauszugeben.  Da  die 
erste  Auflage  bald  eine  grosse  Seltenheit  geworden  war,  Hess  der 
Jesuit  Karl  Klein  dieses  Gedicht  in:  Analecta  poetica  provinciae 
Austriae  Societatis  Jesu,  etc.,  und  zwar  in  Analectorum  Epiconim 
parte  I.  Viennae  1755,  in  8V0,   pag.  444—500  und  die  Monita  von 


4-0  Joseph  Bergmann. 

S.  501 — 540  mit  den  vorerwähnten  Abbildungen  auf  vier  Tafeln 
abermals  abdrucken. 

Vom  Seeleneifer  getrieben  widmete  P.  Edschlager  sich  dem 
apostolischen  Amte  der  Mission  durch  vier  Jahre  in  und  um  Konstan- 
tinopel und  auf  den  griechischen  Inseln,  sammelte  sorgfältig  grie- 
chische Münzen  die  er  zeitweise  seinem  Ordensbruder  P.  Granelli 
zusandte,  nicht  minder  alte  Inschriften  für  seinen  Freund  Erasmus 
Froelich,  dem  er  auch  die  Inschrift  auf  dem  pannonisch-norischen, 
nun  im  k.  k.  Münz-  und  Antiken- Cabinete  verwahrten  Bronce-Gewichte, 
das  bei  Ruschtschuk  in  der  Donau  von  Fischern  gefunden  wurde,  Über- 
mächte. Malfei  theilte  im  J.  1734  diese  Inschrift  jedoch  mit  fehler- 
haften Umrissen  mit.  S.  Prof.  Daniel  Schimkos  verdienstliche  Ab- 
handlung: Über  ein  pannonisch-norisches  Gewicht  in  den  Sitzungs- 
berichten der  kais.  Akademie  der  Wissenschaften,  Bd.  XI.  Abtheil.  2, 
S.  606—631,  besonders  621. 

Pater  Edschlager  lebte  nach  seiner  Rückkehr  aus  dem  Orient 
zu  Stadt  Steyer,  erfüllte  bei  grassirender  Krankheit  treu  die  Pflichten 
des  Priesters  und  starb  daselbst  am  2.  März  1742. 

V.  Leopold  Grueber  zu  Rohrbach  in  Osterreich  am  12.  Novem- 
ber 1696  geboren,  trat  früh  in  den  Jesuiten-Orden,  lehrte  im  Colle- 
gium  zu  Wien  Poesie  und  Rhetorik,  ward  Doctor  der  Gottesgelehrt- 
heit, versah  verschiedene  Ämter   im  Orden  inner-  und    ausserhalb 

k 

Wiens,  war  nach  dem  Staats-  und  Standeskalender  für  1748  Supe- 
rior  zu  Traunkirchen  und  starb  zu  Gratz  1773.  Ausser  einigen  reli- 
giösen und  moralischen  Schriften  schrieb  er:  Numi  Augustorum 
Caroli  VI.  et  Elisabethae  Christinae.  Viennae  Austriae  cusi  breviter 
descripti  et  explanati.  Viennae  Schwendiman.  1726,  8T0.  Cf.  Col- 
lectioScriptorum  Societ.  Jesu,  Tom.  I.  p.  111.  Leider  war  ich  bisher 
nicht  so  glücklich  diese  Schrift  Grueber's  irgendwo  aufzufinden  und 
deren  Inhalt  einzusehen,  ob  und  wie  sehr  er  Heraeus'  Publicationen 
benützt  hat. 

Noch  eines  vaterländischen  Gelehrten  auf  dem  Gebiete  der 
Numismatik  müssen  wir  gedenken,  bevor  wir  zu  den  beiden  Vorder- 
österreichern Marquard  Herrgott  und  Rüsten  Heer  übergehen. 
Dieser  ist 

VI.  Chrvsostonms  Hanthaler,  am  14.  Jänner  1690  zu  Marenbach 
bei  Ried  im  damals  baierischen  Innviertel  geboren,  erhielt  in  der 
h.  Taufe  den  Namen  Johann.     Er  studirte  unter  sehr  drückenden 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  4  I 

Verhältnissen  zuSalzburg,  graduirte  daselbst  aus  der  Philosophie  und 
wollte  ins  dortige  Stift  St.  Peter  eintreten.  Abgewiesen  wandte  er 
sich  zur  Rechtswissenschaft  und  musste,  wie  einst  der  grosse  Erasmus 
von  Rotterdam,  theils  als  Corrector  in  einer  Buchdruckerei,  theils 
durch  Correpetitionen  aus  der  Mathematik  und  Physik  und  als  Gelegen- 
heitsdichter seinen  Lebensunterhalt  mühsam  erwerben.  Nun  ging  Han- 
thaler nach  Wien  um  nach  vollendeten  Rechtsstudien  sich  der  Theo- 
logie zu  widmen.  Durch  einen  Herrn  von  Metzburg  dem  1716 
gewählten  Abte  Chrysostomus  Wieser  zu  Lilien  fei d  empfoh- 
len, trat  er  in  dieses  Gotteshaus  ein ,  legte  nach  seinem  Noviziat  am 
15.  August  1717  seine  Gelübde  ab,  nahm  seines  würdigen  Abtes 
Namen  Chrysostomus  an,  und  las  am  2.  April  1718  die  erste  Messe. 
Seine  priesterlichen  Eigenschaften  und  wissenschaftlichen  Kenntnisse 
machten  ihn  bald  zu  verschiedenen  Klosterämtern  verwendbar.  Er 
war  durch  vierzehn  Jahre  Novizenmeister ,  da  er  ein  vorzügliches 
Talent  zur  Heranbildung  hoffnungsvoller  Jünglinge  für  die  Wissen- 
schaften und  für  die  Seelsorge  besass,  und  als  Bibliothekar  ordnete 
er  den  Bücherschatz  und  verfasste  einen  Katalog,  darauf  bekleidete 
er  die  Stelle  eines  Subpriors  und  Administrators  am  Annaberg  und 
widmete  sich  nach  der  Bückkehr  in  sein  Kloster  ganz  den  Wissen- 
schaften, besonders  dem  Studium  der  altern  österreichischen 
Geschichte,  wozu  ihm  sein  genannter  Abt  (f  1747)  vollkommene 
Müsse  gewährte  und  das  Archiv  reichliche  Quellen  bot.  Die  Münz- 
sammlung des  Stiftes,  welche  seine  numismatischen  Werke  veran- 
lasste, ging  bei  dessen  Aufhebung  (25.  März  1789)  unter.  Abbe 
Neu  mann  hat  das  Verdienst  die  Kupferplatten  von  Hanthaler's 
Fortsetzung  seiner  „  Fasti  Campililienses"  die  mit  dem  Küchen- 
geräthe  und  Kupfergeschirre  auf  den  Trödelmarkt  gerathen  waren, 
durch  deren  Ankauf  um  72  Gulden  vom  Untergang  gerettet  zu 
haben.  Sie  kamen  durch  des  Freiherrn  v.  Hormavr  Vermitteluner 
an  den  Abt  Ladislaus  zurück,  wodurch  die  weitere  Ausgabe  veran- 
lasst wurde. 

Bekannt  sind  seine  Fasti  Campililienses.  Linz  1730—  1745 
in  4t0  und  dessen  Nachlass,  den  der  vormalige  Abt,  nachherige  Er- 
lauer Erzbischof  Ladislaus  v.  Pyrker  in  Wien  1818  in  zwei  Folio- 
Bänden  herausgegeben  hat.  Ausser  Anderem  schrieb  er  ein  Verzeich- 
niss  bisher  bekannter  Alt-  und  Neuer ,  Merckwürdiger  Wienerischer 
Schau-,  Denk-   und  Lauf- Müntzen.   Linz  1745   in  4t0 .     Die  achte 


4<s!  Joseph  Bergmann. 

Abtheilung  enthält  nach  Heraeus  „Müntzen  unter  Kayser  Karl  dem 
Sechsten  und  Glorreichen",  S.  56,  und  die  Medaillen  nach  demselben 
Vorgänger;  die  neunte  und  letzte  die  Münzen,  vornämlich  Denkmünzen 
aus  den  ersten  Regierungsjahren  der  Kaiserinn  M.  Theresia  bis  zur 
Vermählung  ihrer  Schwester  der  Erzherzoginn  M.  Anna  mit  ihrem 
Schwager  dem  Herzog  Karl  von  Lothringen,  am  7.  Jänner  1744. 
Schon  am  16.  December  desselben  Jahres  starb  sie  als  Statthal- 
terinn  der  Niederlande  zu  Brüssel  in  Folge  einer  todtgebornen  Prin- 
cessinn.  Ein  anderer  von  ihm  handschriftlich  hinterlassener  Theil 
enthält  die  Münzen,  Bilder  und  Sigille  der  hochadeligen  Personen, 
Fürsten,  Grafen  und  Freiherren;  ferner  ein  dritter  die  Münzen,  Bilder 
und  Sigille  der  adeligen  und  ritterlichen  Personen,  der  Gelehrten, 
Städte  und  Märkte.  Nach  seinem  Tode  (f  2.  September  1754) 
erschienen  dessen:  Exercitationes  faciles  de  numis  veterum  pro  Tyro- 
nibus.  Tom.  II,  Vindobonae  et  Pragae.  1756  in  4t0  cum  figg.  Diese 
Übungen  sind  in  die  Form  von  Dialogen  eingekleidet.  Seine  volumi- 
nösen, gedruckten  und  ungedruckten  Werke,  wie  auch  die  Notizen 
über  sein  Leben  s.  in  der  kirchlichen  Topographie  Österreichs.  Wien 
1825,  Bd.  VI,  den  Ambros  Becziczka,  nachheriger  Abt  von  Lilien- 
feld, verfasste,  S.  216  und  306;  dann  in  Barons  von  Hormayr  Archiv, 
1816,  S.  637. 

Die  dem  Erzhause  Österreich  stets  treu  ergebenen  Vor  lande 
waren  die  Mutter  vieler  ausgezeichneter  Männer  in  Kirche,  Staat  und 
Wissenschaft.  Unter  den  zahlreichen  Reichsstiftern  und  Klöstern 
derselben  ragte  im  vorigen  Jahrhundert  in  der  Pflege  der  Wissen- 
schaft dieBenedictiner-AbteiSt.  Blasien  auf  dem  Schwarzwalde  vor 
Allen  hervor.  Deren  Abt  Franz  II.  erwarb  1747  den  Titel  eines  Für- 
sten des  h.  römischen  Beichs  für  sich  und  seine  Nachfolger.  Dieses 
Gotteshaus  besass  ein  wohl  geordnetes  Archiv,  eine  reiche  Biblio- 
thek besonders  im  historischen  Fache,  die  im  Brande  1768  grössten- 
teils verbrannte.  Mit  ihr  war  ein  ansehnliches  Mün  z-C abinet  ver- 
eint, das  bei  jenem  Brande  einen  starken  Vorrath  von  Bracteaten 
verlor,  und  eine  eigene  Druckerei,  deren  Ertrag  für  die  Bereicherung 
der  Bibliothek  verwendet  wurde.  In  diesem  Musensitze  lebten  und 
wirkten  Martin  Gerbert,  Aemilian  Ussermann,  Franz  Kreutter,  Ambro- 
sius  Eichhorn,  Trudpert  Neugart,  Berthold  Rottler  etc.,  wie  auch 
unsere  beiden  Numismatiker  Mar  quard  Herrgott  und  Rüsten 
Heer. 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  4o 

VII.  Franz  Jacob  Herrgott,  am  9.  October  1694  zu  Freiburg 
in  Breisgau  geboren,  erhielt  seine  Erziehung  im  Stifte  St.  Blasien, 
ward  daselbst  1715  Profess  mit  dem  Namen  Marquard,  und 
am  17.  December  1718  Priester.  Sein  Abt  schickte  den  hoffnungs- 
vollen jungen  Mann  zu  weiterer  Ausbildung  nach  Paris  zu  den 
gelehrten  Benedictinern  zu  St.  Germain,  denen  die  Wissenschaft  die 
weltbekannten  classischen  Werke  verdankt.  Er  brachte  die  Überzeu- 
gung von  der  Notwendigkeit  gründlicher  Quellenforschung,  den 
Trieb  ausdauernder  freimüthiger  Forschung  und  Gewandtheit  im 
Umgange  mit  Menschen  aus  Frankreich  mit  sich  zurück.  Abt  Franz  II. 
ernannte  ihn  zu  seinem  Hofcaplan,  später  zum  Bibliothekar  und  Gross- 
kellner. Bei  allen  seinen  Geschäften  widmete  er  seine  Müsse,  umfas- 
sende Sammlungen  zu  einem  ausführlichen  Werke  über  vaterländische 
Kirchengeschichte  anzulegen.  Nun  wurde  er  nach  Wien  geschickt, 
wo  er  als  Deputirter  der  breisgauischen  Stände  von  1728  bis  1748 
durch  volle  zwanzig  Jahre  deren  Angelegenheiten  am  kaiserlichen 
Hofe  vertrat.  Hier  an  den  reichen  Quellen  fasste  er  den  Gedanken 
seiner  habsburgischen  Stammsgeschichte.  Bekannt  sind  die  Genea- 
logia  Augustae  Domus  Austriacae  und  die  Monumenta,  von  denen  noch 
der  erste  Band  während  seines  Aufenthaltes  in  Wien  erschien.  Zwei 
Sommer  hindurch  besuchte  er  das  k.  k.  Münz-  undMedaillen-Cabinet 
und  sammelte  mit  aller  Mühe  und  bedeutenden  Unkosten,  wo  er  nur 
konnte,  österreichische  Münzen,  im  Laufe  von  zwölf  Jahren  über  ein- 
hundert Stücke.  Er  verkehrte  hier  mit  dem  gelehrten  Freiherrn  Buol, 
der  eine  auserlesene  Münzsammlung  und  eine  in  der  Numismatik 
erfahrene  Frau  hatte  (V.),  dessgleichen  mit  dem  Freiherrn  von  Stein 
aus  Schwaben,  einem  grossen  Münzenfreunde,  ferner  mit  de  France, 
Erasmus  Froelich,  den  er  „Eruditionis  laude  florentissimus"  nennt. 
Sicherlich  kannte  er  noch  Panaciaoder  Banagia,  den  er  den 
letzten  Medaillen-Inspector  K.  Karl's  VI.  nennt.  Herrgott's  Numotheca 
ist  ein  Werk,  zu  dem  die  meisten  Studien  hier  in  Wien  gemacht 
wurden.  Als  er  mit  dem  Titel  eines  kaiserlichen  Bathes  und  Histo- 
riographen  in  sein  Stift  zurückgekehrt  war,  erhielt  er  die  Prop- 
stei  Krotzingen,  die  ihm  Müsse  genug  gönnte  seine  Arbeiten 
fortzusetzen.  In  den  Jahren  1752  und  1753  gab  er  mit  seinem  Mit- 
bruder P.  Büsten  Heer  heraus:  Numotheca  Principum  Austriae 
ex  gazis  Aulae  Caesareae  potissimum  instructa  et  aliunde  aucta  etc. 
Vol.  II.  Friburgi.  —  Seine  Münzen  zeichnete  und  ätzte  in   Kupfer 


44  Joseph  Bergmann. 

grösstenteils  Peter  Mayer  aus  St.  ßlasien,  den  er  über  zwölf 
Jahre  in  seinem  Solde  hatte.  Im  Jahre  1760  erschien  der  letzte 
Band  dieser  kostbaren  Monnmenta.  Zwei  Jahre  später  an  seinem 
Geburtstage  den  9.  October  1762  starb  er  auf  seinem  Tusculum 
Krotzingen,  wo  er  ruht  *)• 

VIII.  Weniger  bekannt  ist  das  stillere  Leben  von  Rasten  Heer. 
Er  war  im  Canton  Aargau  zu  Klingnau,  wo  St.  Blasien  eine  Propstei 
besass,  am  19.  April  1715  geboren,  legte  am  15.  November  1733 
Profess  im  Stifte  ab,  ward  erst  Bibliothekar  und  Vorstand  des 
dortigen  Münz-Cabinets,  als  welcher  er  wesentlichen  Antheil 
an  Herrgott's  vorerwähnter  Numotheca  nahm.  Wir  finden  ihn  jedoch 
auch  ausserhalb  des  Stiftes  in  der  Seelsorge  und  in  der  Administration. 
Nach  Herrn  Professors  Fi  ekler  in  Mannheim  dankenswerthenMit- 
theilungen  war  er  in  Krotzingen  im  October  1755,  dann  im  März 
bis  November  1762,  ferner  im  September  1763  zuNöggersweil 
auf  dem  Schwarzwald,  wo  er  sich  im  October  1765  noch  befand; 
endlich  zuBondorf.  —  Nach  Herrgott's  Hintritt  wünschte  und  glaubte 
Heer  die  Monumenta  Domus  Austriacae  in  Krotzingen  ruhig  vollenden 
zu  dürfen ;  zu  seinem  Leidwesen  aber  erhielt  er  von  St.  Blasien  aus 
die  Weisung  am  19.  November  1762  dorthin  zurückzukehren  3). 
Man  bestimmte  ihn  sofort  zum  Pfarrer  in  Nöggersweil,  wo  er  am 
1.  December  1762  aufzog.  Die  Fortsetzung  der  Monumenta  gab  er 
aber  nicht  auf,  obwohl  ihn  diese  Ortsveränderung  sehr  derangirt 
hatte.  Er  arbeitete  im  März  1764  an  der  Vollendung  der  Tapho- 
graphia  Principum  Austriae  und  hoffte  sie  bis  zum  Sommer 
1765  unter  die  Presse  geben  zu  können,  was  auch  der  Fall  war; 
denn  im  October  d.  J.  war  der  Druck  zu  St.  Blasien  im  vollen  Gange. 
Gerbert  vollendete  und  gab  sie  1772  heraus.  Er  sagt  in  der  Prae- 
fatio    pag.    XXXI :    Sed    iam    ante    decem   annos  immortuus   labori 


*)  Vgl.  Prof.  Fickler's  in  Mannheim  inhaltreichen  Aufsatz:  Zwei  hahsburgische  Denk- 
mäler und  zwei  habsbnrgische  Geschichtsschreiber  P.  Herrgott  und  P.  Kopp  in 
den  österr.  Blättern  für  Literatur  und  Kunst.  Wien  9.  Oct.  (N.  41)  1854,  S.  267. 

2)  Am  18.  Nov.  schrieb  er  an  Lamey,  Bibliothekar  zu  Strassburg:  „Hie  literis  apnd 
nos  honor,  tantum  praefertur  utile  honesto ,  so  redet  man  in  Freiburg,  so  redet 
man  hier  und  aller  Orten."  Mit  diesem  wie  mit  Schöpft  in  stand  er  in  gelehr- 
tem und  vertrautem  Briefwechsel,  wie  er  denn  unter  Anderem  an  erstem  schrieb : 
„Intellexi,  quam  anxius  tarn  Tu,  quam  summe  venerandus  patronus  Tuus,  iramo  et 
mens,  dominus  Schöpflinus,  meä  de  vaJetudine  fueritis.  —  E  Crozinga  die 
XXH.  Martii  1762. 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  4o 

(P.  Marquardus),  P.  RUSTENO  HEER,  quo  vivus  socio  usus  fuerat  in 
amplissimo  hoc  monumentorum  Aus  triac  orum  opere,  reliquit  elu- 
cubrandum  opus.  In  quo  dum  esset  ille,  et  iam  haec  Tapographia 
sub  prelo  sudaret  San-BIasiano  —  ecce  anno  1768  repentino  incen- 
dio  apparatus  omnis  periit:  ipseque  P.  HEER  sequenti  anno  fatis 
cessit,  sicque  ambo  prius  sepulcro  sunt  illati,  quam  opus  hoc  in  lucein 
prodierit  etc.  Als  nach  Herrgott's  Tode  Heer  zum  Rathe  und  Histo- 
riographen  Sr.  k.  k.  Majestät  ernannt  worden  war,  bot  in  Folge 
dessen  der  Fürstabt  ihm  einen  Ehrenposten  an,  den  er  wegen  Trans- 
portirung  der  Bibliothek,  Handschriften  etc.  bis  zur  Vollendung  des 
Druckes  sich  verbat.  Dieser  Posten  war  wahrscheinlich  die  Admini- 
strators-Stelle zu  Bondorf,  in  der  wir  P.  Heer  nun  fortan  finden. 

Das  Diarium  Monasterii  S.  Petri  des  Abt  Philipp  meldet  beim 
1.  Februar  1769:  Invisunt  me  D.  Hiller,  synd.  equestr.  Ordin.,  Dom. 
de  Camuzi  et  de  Zwerger,  et  Pat.  Rustenus  Heer  Sanblasianus 
supremus  curator  Bondorfensis.  Und  beim  ersten  April  desselben 
Jahres:  Hodie  Bondorfii  obiit  A.R.  P.  Rustenus  Heer,  monachus 
San-Blasianus,  qui  prosequi  et  complere  debuisset  opus  P,  Marquardi 
p.  m.  „Monumenta  Austriaca"  inscriptum,  sed  forte  necdum 
finivit.  Aet.  ann.  54.  R.  I.  P. 

Von  ihm  ist  auch  die  Schrift:  Anonymus  Murensis  (Abbas  Fri- 
dolinus  Kopp)  denudatus  et  ad  locum  suum  restitutus  s.  Acta  fun- 
dationis  monasterii  Murensis  denuo  examinata.  Friburgi  1756,  fol. 

Während  Hanthaler  und  die  beiden  St.  Blasianer,  dann  der 
Jesuit  Froelich  als  Private  im  Laufe  des  IV.  und  V.  (1730—1750) 
Jahrzehents  mit  Geschichte  und  Numismatik  sich  beschäftigten, 
geschah  zu  dieser  Zeit  in  letzterm  Fache  von  Seite  des  Hofes  durch 
Publication  nichts.  Kaiser  Karl  VI.  Hess  die  nach  Panagia's  Tode 
erledigte  Stelle  eines  Antiquitäten-  und  Medaillen-Inspectors,  wie  die 
Hof-Schematismen  dieser  Jahre  zeigen,  bis  zu  seines  Lebens  Ende 
(20.  October  1740)  unbesetzt.  Seine  grosse  Tochter  hatte  bei  dem 
stürmevollen  Antritte  ihrer  segensreichen  Regierung  für  wichtigere 
Dinge  zu  sorgen.  Erst  als  die  wilden  Wogen  des  österreichischen 
Erbfolgekrieges  und  der  beiden  schlesischen  Kriege  auf  ein  Jahr- 
zehent  zur  Ruhe  sich  gelegt  hatten,  konnte  sie  auf  die  Künste  des 
Friedens  Bedacht  nehmen.  Ihr  Geist  belebte  die  Monarchie  mit  neuer 
Kraft.  Sie  ordnete  die  Finanzen,  das  Heer  und  die  wichtigeren 
Zweige  der  Administration,  hierin  war  Maria  Theresia  gross.    Die 


t^O  Joseph  Ber gm a  11  u. 

Zeit  forderte  neue  Schöpfungen,  und  diese  forderten  tüchtige  Männer 
welche  die  weise  Regentinn,  wie  der  Erfolg  zeigt,  fand  und  glücklich 
wählte.  Sie  gründete  auf  der  Stätte,  —  der  Favorite  —  in  der  ihr 
Vater  die  Augen  geschlossen,  im  Jahre  1746  die  adelige  Ritter-Aka- 
demie, das  nach  ihr  genannte  Theresianum,  baute  1750  das 
prächtige  Universitätsgebäude  und  besetzte  die  Hochschule  mit  aus- 
gezeichneten Lehrern  aus  dem  In-  und  Auslande,  Gerhard  van  Swie- 
ten  erhob  das  medicinische  Studium  zu  europäischem  Rufe,  im  Jahre 

1752  stiftete  sie  als  wahre  Mater  castrorum  die  berühmte  Militär- 
Akademie  zu  Wiener-Neustadt  und  die  Ingenieur-Akademie  in  Wien, 

1753  die  orientalische  Akademie,  die  einzige  ihrer  Art  in  Europa, 
die  Mutter  ausgezeichneter  Geschäftsmänner  für  den  Orient  und 
Pflegerinn  orientalischer  Gelehrsamkeit,  sie  schuf  das  geheime  Haus-, 
Hof-  und  Staatsarchiv;  ferner  errichtete  sie  eine  Graveur-  und 
Bossirschule  zur  Förderung  der  Münzprägung,  eine  Zeichner-  und 
Kupferstecher -Akademie  unter  dem  Protectorate  des  Fürsten  von 
Kaunitz.  So  geschah  auch  Vieles  in  den  Provinzen. 

Nun  gebot  es  die  Zeit,  auch  für  die  k.  k.  Hof- Institute  zu 
sorgen.  An  die  Stelle  des  1739  verstorbenen  Hofbibliotheks-Prä- 
fecten  Garelli  trat  1745  der  Kaiserinn  erster  Leibarzt  van  Swieten, 
das  verwaiste  M ü n z-  und  Medaillen-C abinet  bedurfte  vorzüglich 
erneuter  Aufmerksamkeit  und  Pflege,  die  ihm  bald  im  vollsten  Masse 
zu  Theil  werden  sollte. 

Maria  Theresia's  Gemahl,  Franz  Stephan,  letztregierender 
Herzog  von  Lothringen,  ward  kraft  des  Wiener  Friedens  vom  3.  Octo- 
ber  1735  nach  dem  Ableben  Johann  Gasto's  von  Medicis  (f  9.  Juli 
1737)  Grossherzog  von  Toscana,  und  am  13.  September  1745  in 
Frankfurt  zum  römisch-deutschen  Kaiser  erwählt  und  den  4.  October 
als  Franz  I.  mit  KaiTs  des  Grossen  Krone  gekrönt.  Kaiser  Franz  I. 
hatte  bekanntlich  eine  grosse  Vorliebe  für  Physik,  Chemie  und 
Botanik ,  und  stand  seiner  kais.  Gernahlinn  bei  Vervollkommnung 
und  Einführung  so  mancher  herrlichen  Schöpfung  rathend  und  mit- 
schaffend zur  Seite.  Er  ist  der  Schöpfer  des  grossartigen  Naturalien- 
Cabinets.  Er  kaufte  im  J.  1748  die  in  ganz  Europa  berühmte  Mine- 
ralien-Sammlung des  Chevalier  Jean  deBaillou,  der  vordem  in  des 
Grossherzogs  Johann  Gasto  Diensten  gestanden  ist.  Baillou  kam  nach 
Wien  und  ward  der  erste  Director  des  Hof-Naturaliencabinetes  Kaiser 
Franzens  I.  mit  der  Erblichkeit  auf  seine  männlichen  Nachkommen.  Er 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich  47 

starb  am  24.  November  1758,  ihm  folgte  sein  Sohn  Johann  Balthasar 
seit  1766  Freiherr  von  Baillou,  und  nach  dessen  am  23.  Februar  1802 
erfolgtem  Tode  entsagte  sein  Sohn  Joseph  Johann  diesem  erblichen 
Amte  (s.  Anm.  VI). 

Nicht  mindere  Liebe  hatte  der  Kaiser  zur  Numismatik ,  legte 
mit  kaiserlichen  Mitteln  in  möglichster  Reichhaltigkeit  das  moderne 
Münz-  und  Medaillen-Cabin  et  an,  berief  im  nämlichen  Jahre 
1748  seinen  Bibliothekar  Duval  aus  Florenz  und  betraute  ihn  mit 
der  Obsorge  über  diese  seine  Sammlung,  dem  später  nach  dem 
Hof-Schematismus  von  1769  Johann  Verot  als  Custos  (Garde  du 
Cabinet)  und  Karl  Schreiber  als  Adjunct  untergeordnet  waren. 
Der  Kaiser  unterliess  jedoch  keine  Gelegenheit,  auch  das  Cabinet 
der  alten  Münzen  und  geschnittenen  Steine  zu  bereichern. 

Wir  kommen  nun  zur  fast  vierzigjährigen  Epoche (1748 — 1786) 
der  französischen  und  auch  französisch  schreibenden 
Beamten  am  kaiserlichen  modernen  Münz-  und  Medaillen-Cabinete, 
wie  auch  die  aus  dieser  Zeit  herrührenden  Acquisitions- Journale, 
Kataloge  und  Münzzettel  in  dieser  Partie  zeigen. 

Zum  geschichtlichen  Abrisse  der  literarischen  Pflege  der 
Numismatik,  sowohl  der  antiken  als  der  modernen,  in  unserm  Oster- 
reich zurückkehrend,  wollen  wir  den  oben  erwähnten  Männern  jene 
vier  anreihen,  welche  vom  J.  1748  bis  177o  werkthätigen  Antheil 
an  derselben  nahmen,  nämlich  de  France,  die  theoretisch  und 
praktisch  gebildeten  Numismatiker  Duval,  dann  Froelich  und 
Khell,  die  beiden  Vorläufer  Eckhel's. 

IX.  Joseph  de  France,  um  das  Jahr  1691  angeblich  zu  Besaueon 
geboren,  kam  als  junger  Handelsmann  nach  Wien.  Es  gelang  ihm  in 
Hofdienste  einzutreten  und  sich  in  denselben  emporzuheben.  Zum 
ersten  Male  begegnet  er  uns  im  J.  1736  in  einer  ansehnlichen  Stel- 
lung. Als  nämlich  Joseph  von  Salazar,  kaiserlicher  Hofkammer- 
Rath,  Hof-Schatz-  und  Kammerzahlmeister  der  verwitweten  Kaiserinn 
Wilhelmine  Amalia  wegen  seines  hohen  Alters  mit  Ende  des  genann- 
ten Jahres  in  Ruhe  treten  sollte,  wurde  laut  Decretes  vom  13.  Decem- 
ber  an  dessen  Stelle  Jos  eph  Angelo  de  France,  bisher  gewe- 
sener Vice-  künftighin  als  wir  kl  ich  er  Hof- Seh  atz-  und  Kam- 
in er  Zahlmeister  der  erwähnten  Kaiserinn  ernannt  und  hatte  mit 
dem  Anfange  des  neuen  Jahres  1737  seinen  Dienst  anzutreten.  Am 
4.  Mai  1740  verlieh  K.  Karl  VI.  ihm  aufsein  Anlangen  in  gnädigster 


4o  Joseph  Bergmann. 

Erwägung  seiner  rühmlichen  Eigenschaften  und  seiner  Ihrer  Majestät 
der  verwitweten  Kaiserinn  geleisteten  treuen  und  erspriesslichen 
Dienste,  besonders  aber  in  Consideratiou  des  von  besagter  Kaiserinn 
eingelegten  Vorworts  den  Titel  eines  schlesischenKammer- 
rathes,  den  auch  der  kaiserliche  Schatzmeister  Heinrich  Uwens 
(f  28.  Februar  1730)  geführt  hatte.  De  France  hatte  sich  in  das 
Vertrauen  des  allerhöchsten  Hofes  gesetzt  und  besass,  wenn  ihm 
auch  höhere  Studien  abgehen  mochten,  Geschick  und  Geschmack, 
die  k.  k.  Schatzkammer  einzurichten.  Nach  den  Acten  im 
Archive  der  k.  k.  Hofkammer  (des  dermaligen  Finanzministeriums), 
dem  diese  Angaben  entnommen  sind,  ward  1748  von  der  Kaiserinn 
Maria  Theresia  ihm  für  die  bis  dahin  geleistete  und  weiter  zu  lei- 
stende Besorgung  der  Schatzkammer  und  Galerie  freigestellt,  einen 
hiezu  nöthigen  Charakter  selbst  zu  verlangen  und  in  Vorschlag  zu 
bringen.  Er  bat  um  den  Charakter  eines  General-Directors 
der  k.  k.  Schatzkammern  und  Galerien  und  zugleich,  weil 
dieses  als  ein  neues  Officium  keinen  Rang  oder  Vorzug  gebe,  um  den 
Titel  eines  wirklichen  Hofkammer-Rathes.  Am  2.  August  1748, 
also  in  dem  Jahre,  in  dem  Chevalier  de  Baillou  und  Duval  nach  Wien 
berufen  wurden,  ernannte  die  Kaiserinn  allergnädigst  unsern  de 
France  zum  G  eneral  -  D  irector  der  k.  k.  Schatzkammern 
und  Galerien  in  allen  ihren  Erblanden,  mit  dem  Titel  eines  Hof- 
kämm  er-Rathes  und  dem  Beisatze,  dass  der  ihm  conferirte  Cha- 
rakter in  seinen  bereits  aufhabenden  (sie)  k.  polnischen  und  chur- 
sächsischen  Diensten  ihm  nicht  hinderlich  sein  und  er  auch  von 
Niemandem  als  von  dem  zeitlichen  Oberstkämmerer  (damals 
Johann  Joseph  Graf  von  Khevenhüller)  einige  Dependenz  haben 
solle.  —  Als  der  Grosssultan  Mahmud  I.  den  Chaddi  Mustafa  Effendi 
im  Sommer  1748  nach  Wien  sandte,  um  dem  K.  Franz  1.  seine 
Glückwünsche  zu  dessen  Kaiserkrönung  darzubringen,  gedachte  die 
Kaiserinn  auch  ihrerseits  dem  Sultan  durch  den  kaiserlichen  Resi- 
denten und  nachherigen  ersten  bleibenden  Internuntius  zu  Konstan- 
tinopel, Heinrich  Freiherrn  von  Penkler,  ein  Geschenk  im  Werthe 
von  20.000  Gulden  überreichen  zu  lassen.  Diese  Summe  liess  sie 
dem  de  France  „gewesten  Kays.  Amalischen  Kammer-Zahlmaister," 
zur  Beischaffung  dieser  Präsente  bei  der  Hofkammer  gegen  Quittung 
und  Verrechnung  am  22.  und  29.  August  anweisen.  Sie  beschloss 
auch  dem  Chaddi  Effendi  spätestens  am  20.  September  die  Abschieds- 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  49 


"6 


Audienz  und  Geschenke  zu  ertheilen,  um  durch  dessen  baldige  Ab- 
reise das  Ärarium  von  den  vielen  Unkosten  zu  entledigen.  Der  mit 
Quittungen  belegten  Rechnung  de  France's,  die  unter  dem  2.  Juni 
1749  ganz  richtig  befunden  wurde,  liegt  auch  das  specificirte  Ver- 
zeichniss  dieser  Geschenke  bei,  worunter  eine  reparirte  mathema- 
tische Uhr  aus  seiner  Sammlung  zu  108  fl.  IS  kr.  erwähnt  ist.  (Vgl. 
über  diese  türkische  Gesandtschaft  Baron  v.  Hammers  Geschichte 
des  osmanischen  Reiches.  Pesth  1836,  Bd.  IV,  437  ff.) 

Am  3.  Februar  1749  erstand  er  in  einer  Versteigerung  das 
Haus  Nr.  1073  in  der  Kärntnerstrasse  und  erwirkte  zur  taxfreien 
Besitzfähigkeit  desselben  den  Titel  eines  wirklichen  Hofkammer- 
Rathes  (VII).  Er  war  ein  reicher  Mann  von  feingebildetem  Geschmack 
und  thätigem  Sammlerfleisse,  was  uns  sein  Museum  lehrt;  Avelchen 
Grad  von  literarischen  Kenntnissen  oder  von  Gelehrsamkeit  aber  er 
besass,  vermögen  wir  nicht  zu  bestimmen,  da  er  nirgends  als  Schrift- 
steller erscheint.  Sicherlich  war  er  ein  tüchtiger  praktischer  Ge- 
schäftsmann, welcher  die  Oberaufsicht  über  das  k.  k.  Münz- 
C abinet  J)  hatte  und  die  Obsorge  der  Herausgabe  des  k.  k.  Cime- 
liums  übernahm,  zumal  Duval  seinem  ganzen  Wesen  nach  die  erfor- 
derliche Geschäftsgewandtheit  nach  Aussen  nicht  haben  mochte. 
De  France  starb  in  einem  Alter  von  siebenzig  Jahren  vor  seiner 
Gemahlinn,  geb.  Smitmer,  kinderlos  an  der  Brustwassersucht  am  25. 
(nicht  28.)  Februar  1761  nach  dem  Grabmonument  zu  St.  Stephan, 
wo  er  ruht. 

Er  hinterliess  eine  überaus  reiche  Sammlung  von  antiken 
Münzen,  Gemmen,  bronzenen  Statuetten,  Gefässen  und  verschiedenen 
Anticaglien,  von  der  ein  Katalog  unter  dem  Titel :  „Musei  Franciani 
descriptio,  Lipsiae  1781"  gedruckt  wurde.  Die  Herausgabe  des 
I.  Theiles  ,  der  die  Münzen  und  Gemmen  enthält,  besorgte  der 
gelehrte  Friedrich  Wolfgang  Reizius,  die  Beschreibung  der  Mün- 
zen ist  aber  unsers  Eckhel's  Arbeit,  die  des  II.  Theiles  Georg  Hein- 
rich Martini's.  Die  Münzen  kaufte  das  Hunter'sche  Museum  in 
England,  die  Cameen  die  russische  Kaiserinn  Katharina  IL,  die  Siegel, 
Statuetten,  Werkzeuge,  Anticaglien  das  k.  k.  Antiken-Cabinet  in  Wien 
im  J.  1808,  so  auch  das  oben  Seite  40  erwähnte  antike  Bronze- 


*)  S.  das  neu  eröffnete  Münz-Cabinet  von  Dr.  Johann  Friedlich  Joachim.    Nürnberg 

1761,  4.,  Vorwort  S.  8. 
Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XIX.  Bd.  I.  Hft.  4 


Ol)  Joseph  Bergmann. 

Gewicht  das  Herr  Professor  Schimko  für  ein  pannonisch-norisches 
erklärt  hat. 

Wir  kommen  nun  zu  einem  sehr  merkwürdigen  Manne  der  aus 
einer  armen  Hütte  der  Champagne  hervorging  und  nach  schwer  ver- 
lebter Jugend  spät  sich  zum  tüchtigen  Gelehrten  ausbildete,  als 
Bibliothekar  zu  Florenz  und  später  als  Vorstand  des  k.  k.  Münz- 
Cabinetes  in  Wien  die  vollste  Gunst  des  Kaisers  Franz  I.  genoss  und 
an  dessen  glänzendem  Hofe  bei  seiner  Natureinfachheit  verblieb,  zu 
—  Duval.  Der  hier  mitgetheilte  Abriss  seines  interessanten  Lebens, 
der  besonders  seine  Stellung  am  genannten  k.  k.  Institute  im  Auge 
hält,  ist  seiner  ausführlichen  Biographie  von  F.  A.  v.  Koch,  die 
zum  Theile  auf  dessen  eigenen  Aufzeichnungen  beruht,  seinen  Briefen 
und  den  alten  Hofivammerarchivs-Acten  entnommen. 

X.  Valentin  Jamerai  Duval,  Sohn  eines  kinderreichen  und  armen 
Taglöhners,  im  Dörfchen  Artonay  in  der  Champagne  geboren,  hütete 
nach  dessen  frühem  Tode  die  Truthühner  eines  Bauers  und  lernte 
etwas   lesen,   musste   aber,   weil   er  aus   knabenhaftem  Muthwillen 
einen   Truthahn   mit   einem  rothen  Tuchlappen  todt  gehetzt  hatte, 
diesen   Dienst    verlassen.     Dienstlos    und    aus   seinem   Geburtsorte 
gestossen  und  dazu  noch  von  den  Blattern  befallen,  irrte  er  im  Jahre 
1709  auf  offenem  Felde  umher  und  fand  bei  einem  armen  Schäfer 
Aufnahme  und  nur  die  sorgsame  Pflege  eines  benachbarten  Pfarrers 
mit  Hilfe  seiner  guten  Natur  retteten  ihn  vom  sichern  Untergange. 
Weiter  diente  er  durch  2  Jahre  einem  andern  Schäfer  zu  Clezantaine, 
und  ein  Zufall  führte  den  vierzehnjährigen  Knaben  der  dieses  Lebens 
müde  war,  zur  Einsiedelei  la  Rochette  am  Fusse  derVogesen.  Er  half 
dem  Bruder  Palemon  in  seinen  Arbeiten  und  lernte  etwas  schreiben 
und  rechnen.    Er  strebte  demselben  im  beschaulichen  Leben  ähnlich 
zu  werden.   Besonders  entflammte  einige  religiöse  Leetüre  in  dem 
sechzehnjährigen  Einsiedler  eine  heilige  Begeisterung.    Doch  bald 
bändigte  er  seine  stürmische  Phantasie  und  gewöhnte  seinen  Geist 
nach  und  nach  zu  angestrengterem  Denken  und  gewann  Geschmack 
am  Lesen.    Von  da  kam  der  junge  Klausner  im  J.  1713  zu  vier 
unwissenden  Eremiten  in  St.  Anna  bei  Luneville,  hütete  ihre  sechs 
Kühe  und  bildete  sich  durch  das  Lesen  einiger  Bücher.  Mit  unglaub- 
lichem Muthe  bekriegte  er  die  Vögel  und  das  Wild  des  Waldes  und 
verschaffte   sich  durch  deren  Erlös  eine  kleine  Bibliothek,  schritt 
rastlos   in   seiner  Selbstbildung   fort    und    erzwang    sich   von    den 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  O  1 

Eremiten  sogar  täglich  zwei  Freistunden  zum  Studiren.  Die  ehrliche 
Zurückgabe  eines  gefundenen  Petschafts  an  seinen  Eigenthümer,  den 
inLuneville  wohnenden  Engländer  Forster,  brachte  ihm  zwei  Louisd'or 
und  später  manchen  Thaler,  Avenn  der  Natursohn  ihn  in  der  Stadt 
besuchte.  Der  gebildete  Mann  nahm  Einfluss  auf  die  Wahl  seiner 
Bücher  und  Landkarten.  So  brachte  der  Junge  400  Bände  des  ver- 
schiedensten Inhalts  zusammen ,  indem  er  sich  jeden  andern  noch 
so  kleinen  Genuss  versagte. 

Als  Duval  am  13.  Mai  1717  unter  einem  Baume,  um  sich  seine 
kleine  Herde,  in  seinen  Forschungen  vertieft  und  von  Landkarten  um- 
geben sass,  fand  ihn  der  Graf  von  Vidampier e,  Hofmeister    der 
jungen  Herzoge  von  Lothringen,  Leopold  Clemens'  (f  1723)  und  Franz 
Stephan's,  des  nachmaligen  Kaisers,    die  zufällig  in  dieser  Gegend 
jagten.  Von  dem  Wissen  des  gelehrten  Sonderlings,  seinem  gesunden 
Verstände  und  seiner  Geistesgegenwart  aufs  Angenehmste  überrascht, 
entschlossen  sich  der  Graf  und  Baron  von  Pfütschner,  der  Herzoge 
zweiter  Erzieher  der  um  Duval's  Heranbildung  und  später  um  dessen 
Hauswesen   in  Wien  das  grösste   Verdienst  hatte ,    demselben  im 
Jesuiten-Collegium  zu  Pont-ä-Mousson  einen  geregelten  Unterricht 
angedeihen   zu  lassen.    Zwei  und  zwanzigjährig  schied  er  von  den 
Eremiten  nach  vierjährigem  Aufenthalte  mit  Thränen,  kam  an  den 
Hof  des  Herzogs  Leopold  (f  1729)  nach  Luneville  und  von  da  auf 
dessen   Kosten   ins  genannte  Collegium,  wo  er  sich  besonders  der 
Geschichte,  Geographie  und  den  Altertbiimern  rastlos  widmete  und 
in  anderthalb  Jahren  Biesenfortschritte  machte.   Zu  Ende  des  folgen- 
den Jahres  1718  nahm  ihn  der  Herzog  mit  nach  Paris,   wo  eine 
neue  wundervolle  Welt  vor  seinen  erstaunten  Augen  auftauchte,  und 
kehrte  über  Belgien  und  Holland  mit  seinem  hohen  Gönner  zu  Ende 
des  Jahres  1719  nach  Luneville  zurück.  Im  Jahre  1729  ernannte  ihn 
trotz   seines  Sträubens  der  Herzog  zu  seinem  Bibliothekar  und 
zum  Professor  der  Geschichte  an  der  Akademie  zu  Luneville, 
wo  er  bis  zum  März  1737  lehrte. 

Als  Lothringen  1735  für  Toscana  an  den  polnischen  Exkönig 
Stanislaus  Leszinski  und  eventuell  an  Frankreich  abgetreten  wurde, 
ging  Duval  mit  der  ihm  anvertrauten  Bibliothek  im  J.  1737  nach 
Florenz  und  kam  von  da  am  letzten  December  1743  zum  ersten 
Mal  nach  Wien,  um  seinem  Grossherzoge  Franz  I.  seine  Aufwar- 
tung zu  machen.  Während  seines  hiesigen  Aufenthaltes  erhielt  er 

4* 


öC  JosephBergmann. 

am  allerhöchsten  Hofe  den  Auftrag  sowohl  die  antiken  als  modernen 
Münzen  auf  Tafeln  zu  bringen.    Aus  diesem  ersieht  man,  dass  der 
Münzsammlung    wieder    einige    Aufmerksamkeit    zugewendet    und 
Franz   I.    zu  dieser  Zeit  zur  Anlegung    eines  eigenen  Cabinetes 
von  modernen  Münzen  angeregt  wurde,  das  bei  seinen  kaiserlichen 
Mitteln  in  etlichen  Jahren  zu  seltenem  Reichthum  heranwuchs.  Duval 
erbat  sich,  dass  von  den  XXVI  Kupferplatten  die  von  Herseus'  The- 
saurus numismatum  recentiorum   Caroli    VI.  etc.  damals  vorhanden 
waren,  einige  Abzüge  gemacht  wurden,  wie  uns  Marquard  Herrgott 
in  der  Vorrede  §.  XVIII  seiner  Numotheea  berichtet.    Im   folgen- 
den Paragraphe   wird    die    Ordnung    dieser   Herseus'schen    Platten 
angegeben.  Die  andern  XXXVII  Platten  waren,  wahrscheinlich   als 
Herseus  in  des  Kaisers  Ungnade  gefallen,  in  die  Hände  des   provi- 
sorischen Hofmarschalls  Franz  Jakob  Anton  Grafen  von  Brandis  und 
nach  dessen  Tode  (1746)    in   einer  Kiste    durch    dessen   Tochter 
M.  Juditha  zu  den  Augustinern  gerathen.    De  France  im  J.  1756 
im  Gespräche  mit  der  Gräfinn  zufällig  auf  diese  geheimnissvolle  Kiste 
geführt,  untersuchte  sie  und  erkannte  die  so  lang  vermissten  Kupfer- 
platten des  unglücklichen  Herseus.    (S.    meine  Mittheilung  in   den 
Sitzungsberichten   der   kais.  Akademie.   Bd.    XIII,   548 — 551.)  — 
Nach  fast  neunmonatlichem  Aufenthalte  verliess  Duval  am  23.  Sep- 
tember 1744  Wien  und  kam  am  15.  October  wieder  zu  seiner  Biblio- 
thek  an  den  Arno  zurück,  machte  —  wahrscheinlich  auf  höhere  Ver- 
anlassung zu  weiterer  archäologischer  Ausbildung —  Reisen  nach  Rom 
und  Neapel.  In  Rom  weckte  die  Betrachtung  der  Trümmer  des  Welt- 
reiches seine  frühere  Liebe  zur  Geschichte  und  zu    den  Altertliü- 
mern  von  Neuem,  und  Numismatik,  worin  er  schon  in  Lothringen 
Unterricht  ertheilt  hatte,  wurde  nun  eine  seiner  Lieblingsbeschäf- 
tigungen, die  in  ihm  die   Lust  erregte  eine  Sammlung  alter  Mün- 
zen anzulegen. 

Als  K.  Franz  I.  eine  Sammlung  von  den  verschiedensten  in  allen 
Erdtheilen  gangbaren  Geldsorten,  wie  auch  von  Medaillen,  kurz  ein 
modernes  Münz-Cabinet  anlegte,  berief  er  seinen  Liebling 
Duval  im  J.  1748  bleibend  nach  Wien,  um  ihm  die  Aufsicht  nicht, 
allein  über  sein  neues,  sondern  auch  (wie  aus  Allem  erhellet)  über 
das  alte,  von  K.  Karl  VI.  und  seinen  Ahnen  herstammende  Münz- 
Cabinet,  das  wir  nach  diesem  Kaiser  der  in  der  ersten  Hälfte 
seiner   Regierung   so   viel   für   dasselbe    gethan    hat,   füglich    das 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  53 

Karolinische  (Numophylacium  Carolino-Austriacum)  nennen  können, 
anzuvertrauen,  zumal  in  den  Hof-Schematismen  dieser  Zeit  nirgends 
ein  eigener  Aufseher  oder  Beamter  für  das  Münz-  oder  Antiquitäten- 
Cabinet  erwähnt  wird ,  das  doch  unter  der  Aufsicht  und  Überwa- 
chung eines  Fachmannes  stehen  musste.  Duval  wohnte  in  der  kaiser- 
lichen Burg  und  für  seine  wenigen  Bedürfnisse  wurde  von  seinem 
alten  Gönner  und  Freunde,  Sr.  Excellenz  dem  geheimen  Bathe  Baron 
von  Pfütschner,  bei  dem  er  speiste,  aufs  Beste  gesorgt.  Mehrmals 
in  der  Woche  kam  er  zum  Kaiser,  um  mit  demselben  gemeinschaftlich 
die  Münzen  auszuscheiden  und  die  Gefache  zu  ordnen  (Anm.  VIII). 
Hier  wollen  wir  noch  bemerken,  dass  Duval,  als  er  1751  des  zehnjäh- 
rigen Erzherzogs,  nachherigen  Kaisers  Joseph  II.  Unter  lehr  er 
(sous-precepteur)  werden  sollte,  diesen  so  ehrenvollen  Antrag  mit 
seltener  Bescheidenheit  ablehnte,  indem  er  wegen  des  Verlustes 
seiner  Schneidezähne  den  Mangel  seiner  Organe  und  die  Undeut- 
lichkeit  seiner  Aussprache  vorschützte  und  sagte,  dass  die  zu  einem 
guten  Erzieher  erforderlichen  Eigenschaften  ihm  fehlen.  Nichtsdesto- 
weniger verblieb  er  im  ungetrübten  Besitze  des  Wohlwollens  Ihrer 
kaiserlichen  Majestäten. 

Duval  der  im  Mai  1748  nach  Wien  gekommen  war,  arbei- 
tete seinem  Charakter  gemäss  unablässig  in  der  ihm  anvertrauten 
Münzsammlung,  und  zwar,  wie  es  scheint,  sowohl  in  der  alten 
Karolinischen  als  auch  in  der  neuen ,  die  K.  Franz  I.  angelegt  hat. 
Zeugen  dessen  sind  die  Publicationen,  an  denen  er  einen  Hauptantheil 
hatte,  wie  wir  nachher  hören  werden.  Zeugen  dessen  sind  drei  Folio- 
bände eines  beschreibenden  Verzeichnisses  von  Münzen  persischer 
Könige  der  Arsaciden,  die  im  Jänner  1752  dann  im  Mai  1756  vom 
Kaiser  gekauft  wurden.  Sie  sind  von  Missionären,  einem  Carmeliter 
und  Dominicaner,  in  jenen  Ländern  gesammelt  worden,  Dessgleichen 
von  den  Münzen  ihrer  Nachfolger,  der  Chalifen,  der  Dynastie  der 
Fatimiden,  Almoraviden,  der  Herren  von  Bassora,  der  türkischen 
Kaiser,  des  Grossmoguls,  der  Könige  von  Armenien,  der  neupersi- 
schen Könige,  der  Buchara,  China,  Japan,  Indien,  Goa,  Madras,  Ma- 
labar,  Pondichery,  Thibet  etc.  ,  endlich  von  Münzen  der  europäi- 
schen Colonien  in  Amerika,  als  englisch-amerikanischen,  spanisch- 
amerikanischen, französisch-amerikanischen,  portugiesisch-amerikani- 
schen mit  Abbildungen  in  Kupfer,  die  eingeklebt  sind.  Diese  anhal- 
tenden  Arbeiten  aber  hatten  seine   Gesundheit   zerstört,   die  eine 


54  .Toseph  Bergmann. 

Herstellung  erheischte.  Er  trat  zu  diesem  Ende  am  24.  April  1752  eine 
Reise  nach  Frankreich  an  und  verkehrte  in  Paris  vorzüglich  mit  Abbe 
Langlet  du  Fresnoy,  du  Fresne  d'Aubigny,  Abbe  Barthelemy,  Herrn  de 
Boze,  Duclos,  Frau  v.  Grafigny  etc.,  deren  Umgang  ihn  am  meisten 
ansprach.   Diese  Reise  heiterte  ihn  sehr  auf,    wie  seine  Briefe  an 
Fräulein  von  Guttenberg  zeigen.    Auf  dem  Rückwege  besuchte  ei- 
sernen Geburtsort  Artonay,  wo  er  die  aelterliche  Hütte  kaufte  und  an 
deren  Stelle  ein  steinernes  Haus  bauen  liess,  das  er  der   Gemeinde 
mit  der  Bestimmung  als  Wohnung  für  den  Ortsschullehrer  schenkte; 
ferner  liess  er  1759  die  ärmliche  Wohnung  des  Klausners,  bei   dem 
er  etwas  schreiben  und  rechnen  gelernt  hatte ,  in  erneuerter  Gestalt 
von  Grund  aus  herstellen.  Nach  Wien  zurückgekehrt  begann  er  seine 
alte  Lebensweise,  indem  er  seine  Zeit  den  Büchern  und  Münzen  wid- 
mete und  in  einem  kleinen  Kreise  theurer  Freunde  sich    bewegte. 
Besonders  hohe  Verehrung  zollte   er   dem  vorerwähnten   Fräulein 
Josepha  von   Guttenberg,  (IX)  das  im  Staats-  und  Standes- 
Kalender  für  1748,  S.  388,  Kammerdienerinn  der  Kaiserinn  Maria 
Theresia  genannt  wird,  und  mit  dem  er,  wenn  es  im  Gefolge  ihrer 
Majestät  von  Wien  abwesend  war,  in  fleissigem  Briefwechsel  stand ; 
ferner  führte  er  mit  dem  russischen  Hoffräulein  Anastasie  Soko- 
loff,  das  er  1762  bei  dessen  Durchreise  durch  Wien  in  einer  Loge 
des  Hoftheaters  kennen  gelernt  hatte,  eine  lebhafte  Correspondenz. 
Durch  dasselbe  übersandte  ihm  die  Kaiserinn  Katharina  II.  wieder- 
holt  Zeichen  ihrer  besondern  Wertschätzung,  so  eine  Kette  mit 
einer  anhängenden  Medaille  in  Gold ,   eine   Suite  russischer  Silber- 
medaillen, seltene  Bücher  und  kostbare  Pelze.  Briefe  beider  Fräu- 
lein sind  unter  den  CXXXV  Briefen  etc.  in  den  in  St.  Petersburg 
1784  in  zwei  Theilen  gedruckten  Oeuvres  de  Valentin  Jamerai  Duval 
enthalten. 

Auf  Befehl  Ihrer  Majestät  der  Kaiserinn  machte  der  71jährige 
Duval  mit  dem  Abbe  Johann  Mar cy(X)  vom  21.  Juni  bis  13.  Juli 
1766  eine  Reise  durch  Steiermark,  Kärnten  und  das  Pusterthal  nach 
Innsbruck,  wo  der  Statthalter  beide  mit  aller  Aufmerksamkeit 
empfing  und  in  der  Burg  einlogirte.  Tiefste  Wehmuth  ergriff  den 
dankbaren  Natursohn  hier,  wo  sein  kaiserlicher  Gönner  am 
18.  August  1765  das  Leben  ausgehaucht  hatte.  Dieser  Besuch 
setzte  den  dortigen  alten  Burgpfleger  v.  Kiep  ach  (XI)  in  grosse, 
drollige  Unruhe,  der  den  andern  Tag  sie  nach  dem  Schlosse  Ambras 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  55 

führte,  wo  sie  die  Rüstungs-,  Kunst-  und  Wunderkammern  besichtigten 
und  dann  speisten.  Nachdem  sie  die  folgenden  Tage  die  Franciscaner- 
Hofkirche  mit  dem  Cenotaph  des  K.  Maximilian  I.  und  den  meister- 
haften Arbeiten  Alexander's  Collin,  die  Universität  (XII)  und  ihren 
grossen  Saal  mit  den  zwei  grossen  Globen  und  den  gezeichneten  Blät- 
tern der  Landkarte  Tirols  von  dem  schlichten  genialen  Landmanne 
Peter  Anich  gesehen  und  bewundert,  dann  auch  die  Salinen  zu  Hall 
und  die  Abtei  Witten  in  Begleitung  des  Statthalters  besucht  hatten, 
fuhren  sie  am  9.  Juli  von  Hall  auf  dem  Inn  der  Donau  zu  gegen  Linz 
und  Wien,  wie  uns  Duval's  Beschreibung  dieser  Reise  an  Fräulein  von 
Guttenberg  im  Briefe  CXXVT  berichtet. 

Dies  war  die  letzte  grössere  Reise  Duval's.  Hochgeachtet  und 
geehrt  vom  kaiserlichen  Hofe  blieb  er  ein  einfacher  Sohn  der  Natur, 
still,  bescheiden  und  arbeitsam  bis  zu  seinem  Tode  am  3.  November 
1775.  Im  Sterbebuch  der  k.  k.  Hofburgpfarre  steht  eingeschrieben: 
„Duval  Valentin  Jamerai,  Bibliothekar  und  Antiquar  Sr.  königl. 
Hoheit  des  Grossherzogs  in  Florenz  und  Ober-Director  der  k.  k.  Me- 
daillen-Cabinete  starb  am  3.  November  1775  im  81.  Jahre  seines 
Alters,  und  wurde  in  der  Hofgruft  begraben.  Hat  die  h.  Sterbsa- 
cramente  empfangen."  Er  war  ein  Freund  ungeschminkter  Wahrheit 
und  überaus  wohlthätig.  Dieser  ausserordentliche  Mann  der  seine 
Bedürfnisse  stets  auf  das  Notwendigste  beschränkte,  hatte  ein  Herz 
voll  des  Mitleids  mit  dem  Weh  des  Nächsten.  Er  half  wo  er  konnte. 
In  seinem  Testamente  vermachte  er  ein  Capital  von  12.250  Gulden 
zu  dem  Ende,  dass  die  hievon  entfallenden  Interessen  nach  dem  Tode 
der  Legatarien  dreien  armen  Mädchen  zu  einer  Aussteuer  vertheilt 
werden.  Das  Präsentationsrecht  hiezu  haben  die  niederösterreichi- 
schen Landrechte.  S.  Anton  v.  Geusau's  Geschichte  der  Stiftungen, 
Erziehungs-  und  Unterrichts-Anstalten  in  Wien.  Wien  1803,  S.  482. 
Have  anima  candidissima! 

XI.  Erasmns  Froelich.  Aus  der  Mitte  des  Ordens  der  den  Hof- 
Antiquar  Heraus  wegen  der  gewandten,  classischen  Latinität  in 
seinen  Inschriften  mit  Scheelsucht  angesehen  haben  soll,  bildete 
zur  Zeit,  als  der  Unglückliche  ins  Grab  stieg,  im  Stillen  ein  Mann 
sich  aus,  der  auf  dem  Felde  der  Numismatik  sehr  viel  hoffen  liess 
und  die  Hoffnungen  in  vollem  Maasse  erfüllte  — -Erasmus  Froe- 
lich. Am  2.  October  1700  zu  Gratz  geboren,  trat  mit  16  Jahren 
in  den  Orden  der  Gesellschaft   Jesu  und  ragte  bald  durch  Talent 


56  Joseph  Bergmann. 

und  Fleiss  unter  den  jüngeren  Mitgliedern  desselben   in  Österreich 
hervor,  lehrte  nach  zurückgelegten  philosophischen  Studien  anfangs 
an  dem  Gymnasium  zu  Klagenfurt,  ward  dann  an  die  Wiener  Uni- 
versität berufen  um  die  Mathematik  zu  lehren ,  die  er  öffentlich  und 
privatim  mit  Meisterschaft   vortrug.      Hier   weckte   sein  Mitbruder 
Edschlager  (S.39)  zuerst  den  schlummernden  Funken  für  Numis- 
matik, der  später  zur  Leuchte  werden  sollte.    Froelich  widmete 
seine  Müsse  diesem  Studium.  Er  stand  mit  diesem  gelehrten,  poly- 
glotten Freunde,    mochte   dieser    zu  Galata  oder  irgendwo  in  den 
österreichischen  Landen  weilen,  bis  zu  dessen  allzufrühem  Hinschei- 
den (1742)  in  ununterbrochenem  Briefwechsel   der,  wie  sein  Bio- 
graph Khell  sagt,  (damals)  noch  vorhanden  und  fast  auf  jeder  Seite 
von  Münzen  und  Inschriften  voll  ist.  Froelich  fand  nach  dessen  Tode 
ein  Verzeichniss  von  mehr  als   siebzig  Inschriften  ,  die  überschick- 
ten Münzen  kamen  mit  der  Granellischen  Sammlung  ins  Theresiauum. 
Im  fast  täglichen  Umgange  mit  P.  Grane  11  i  wurde  diese  Lust  und 
Liebe  gesteigert  und  seine  Fortschritte  in  der  Numismatik  so  erfolg- 
reich ,  dass  er  seinen  gelehrten  Lehrer  schon  bei  dessen  Lebzeiten 
weit  übertraf,  ihm  aber  stets  den  schuldigsten  Dank  zollte.  Er  bildete 
in  diesem  seinemLieblingsfache,  wie  in  der  Geschichte,  ohne  welche 
die  Numismatik  todt  ist,  allmählich  sich  zu  jener  Beife  aus,  die  ihm 
eine  ausgezeichnete  Stelle  unter  den  Numismatikern  und  Geschichts- 
forschern seiner  Zeit  in  Österreich  anweist.  Sein  literarischer  Erst- 
ling zur  Feier  einer  akademischen  Promotion  im  J.  1733  geschrieben 
führt  den  Titel:  Utilitas  Bei  Numariae  veteris  coinpendio  proposita. 
Accedit  Appendicula  ad  numos  Coloniarum  per  Cl.  Vaillantium  editos. 
E  Cimelio  Vindobonensi  cujusdam  e  Societate  Jesu  (seil.  Caroli  Gra- 
nellii).     Excudi  curavit  Johannes   Adamus   Schmidius,  Bibliopola 
Noribergensis,  in  8V0 ,  nebst  einer  Kupfertafel  mit  27  Münzen. 

Als  die  Kaiserinn  Maria  Theresia  auf  der  Stelle  der  alten  k.  k. 
Favorite,  dem  gewöhnlichen  Sommerpalaste  des  allerhöchsten 
Hofes,  in  dem  ihr  Vater  am  20.  October  1740  gestorben  war,  im 
J.  1746  die  nach  ihr  genannte  Bitterakademie  gebaut  hatte  *)>  über- 
gab sie  derselben  1748  die  Garellische  Bibliothek  und  setzte  ihr  den 
gelehrten  Froelich  als  Bibliothekar  vor,   dem   daselbst  seit    1746 


*)  Bei  der  Ausgrabung  des  Grundes  soll  man  alte  Münzen  vom  K.  Alexander  Severus 
mit  der  Aufschrift  „SPES  PVBLICA"  gefunden  haben. 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  1)7 

zugleich  das  Lehramt  der  Geschichte,  der  Alterthümer,  Diplomatik, 
Wappenkunde  und  der  griechischen  Sprache  anvertraut  war.  Er 
überbrachte  aus  dem  Professhause  (bei  St.  Anna)  des  Ordens  die 
G ran e  11  i sehe  Münzsammlung  dahin,  welche  die  Jesuiten 
diesem  adeligen  Collegium  als  völliges  Eigenthum  überlassen 
hatten. 

Als  die  Kaiserinn  den  Katalog  ihres  wahrhaft  kaiserlichen 
Cabinetes  antiker  Münzen  (Cimelii  Carolino-Austriaci)  ans  Licht 
stellen  lassen  wollte,  wurden  unter  de  France's  Oberleitung  Duval 
und  Froelich,  dann  als  Duval  im  J.  1752  nach  Frankreich  reiste, 
auch  Khell  zur  Ausfertigung  desselben  verwendet  und  sie  lösten 
vereint  diese  schöne  Aufgabe  zu  vollster  Zufriedenheit  beider  Majestä- 
ten. Froelich  hatte  vermöge  seiner  historischen  Kenntnisse  sicher- 
lich nicht  den  unbedeutendsten  Antheil  an  diesem  sie  Alle  ehrenden 
Werke.  Öfters  besuchte  sie  der  Kaiser  bei  ihrer  Arbeit  und  wusste 
durch  seine  theilnehmende  Gegenwart  ihre  Bemühungen  zu  lohnen. 
Auch  Hess  er,  wenn  er  von  der  Last  der  Staatsgeschäfte  ausruhend 
mit  der  Durchsicht  schwieriger  und  theuer  gekaufter  mittelalter- 
licher Münzen  sich  beschäftigte,  manchmal  unsern  Froelich  rufen, 
besonders  als  er  im  Jahre  1752  eine  grosse  Anzahl  part bischer 
Münzen  (S.  53)  erhalten  hatte,  und  fand  an  seinem  angenehmen  und 
lehrreichen  Vortrage  über  dieselben  Vergnügen.  Nicht  minder  ehrte 
die  Kaiserinn  den  Pater  Froelich  und  nannte  ihn  einen  grossen 
Mann.  Sie  Hess  alle  Tripletten  ihres  Miinz-Cabinetes,  die  in  fünf 
geräumigen  Kisten  verwahrt  lagen  und  beinahe  volle  und  reiche 
Serien  jeglicher  Grösse  sowohl  in  Silber  als  Bronze  bildeten,  ihm 
einhändigen.  Segensreich  wirkte  er  auf  Kopf  und  Herz  des  jungen 
Adels  im  Theresianum  und  ermunterte  ihn  durch  Lehre  und  Bei- 
spiel zum  Fleisse.  Er  ward  im  In-  und  Auslande  hoch  geehrt  und 
in  seinem  Fache  durch  vielen  Briefwechsel  zu  Rathe  gezogen. 
An  zehn  Jahre  litt  er  an  Steinschmerzen,  so  dass  am  7.  October 
1756  eine  gefährliche  Operation  in  Gegenwart  van  Swieten's  vor- 
genommen werden  musste.  Er  genas,  widmete  mit  neuem  Muthe  sich 
seinem  Amte,  um  den  7.  Juli  1758  an  einem  hitzigen  Seitenstech- 
iieber  zu  sterben. 

Froelich's  numismatische,  historische  (die  dunkle  Partien 
österreichischer  und  innerösterreichischer  Geschichte  des  Mittel- 
alters behandeln)  und  mathematische  Arbeiten,  fünf  und  zwanzig  an 


Oö  Joseph  B  ergmann. 

der  Zahl,  sind  durch  kritischen  Scharfblick,  Klarheit  und  redlichen 
Wahrheitssinn  ausgezeichnet. 

Sein  Ordensbruder  Khell,  zugleich  sein  Schüler  in  der  Numis- 
matik und  Nachfolger  an  der  Garellischen  Bibliothek,  gab:  Erasmi 
Froelich  e  S.  I.  de  Familia  Vaballathi  numis  inlustrata  opusculum 
postumum.  Vindobonae  1762  in  4t0  heraus  und  setzte  in  dem  voran- 
geschickten „Elogium  P.  Erasmi  Froelich"  von  S.  7 — 27  sei- 
nem Lehrer  ein  Denkmal  der  Dankbarkeit,  dem  obige  biographische 
Notizen  hauptsächlich  entnommen  sind  J)- 

XII.  Joseph  Khell  von  Khellbnrg.  —  Nach  den  Reichsadels- 
Acten  erhalten  am  14.  Februar  1585  die  Gebrüder  Michael,  Melchior 
und  Wolfgang  Khell  einen  Wappenbrief;  ferner  am  7.  März  1657 
Johann  Georg  und  Georg  Khell  den  Adeiststand  mit  dem  Prädicate 
Khell  bürg,  und  Wappenbesserung  durch  jenes  des  ausgestor- 
benen Geschlechtes  der  Übelbacher.  Im  Innern  der  Pfarrkirche  zu 
Gmunden  copirte  ich  im  J.  1850  die  Grabschrift:  Joh.  Wilh.  Khell 
v.  Khellbürg,  gewester  Registrator,  Salz-  und  Einnehmer- Ambts 
Gegenhandler  zu  Gmunden,  f  16.  März  1712  im  66.  Jahre.  Zwei 
Wappen.  —  Darunter  die  seiner  Ehefrau :  Maria  Helena,  geb.  Helm- 
bergerin  von  Weiterstorf,  f  12.  Juni  1725,  alt  75  Jahre. 

Nach  Mittheilungen  aus  dem  Taufbuche  zu  Linz  wurde  dem 
Herrn  Wolfgang  Wilhelm  Keel  (sie)  von  Kellnburg  und  seiner 
Hausfrau  Anna  Regina  am  15.  August  1714  der  Sohn  Joseph  Xaver 
Wilhelm  daselbst  geboren.  Im  J.  1729  trat  er  in  den  Orden  der 
Jesuiten,  lehrte  durch  vier  Jahre  in  den  unteren  Schulen  zu  Klagen- 
furt, machte  zu  Wien  die  philosophischen  und  theologischen  Studien. 
Er  lehrte  erstlich  in  seiner  Vaterstadt,  dann  in  der  Theresianischen 
Ritterakademie  Philosophie  und  war  einer  der  ersten  in  unserem  Lande, 
der  sich  von  Aristoteles  zuCartesius  wandte,  darauf  durch  sechs  Jahre 
an  der  Universität  die  griechische  und  hebräische  Sprache,  erklärte 
drei  Jahre  die  heilige  Schrift  und  ward  Doctor  der  Theologie  und 
kehrte  wieder  ins  Theresianum  zurück.  Hier  übernahm  er  nach 
Froelich's  Tode  (1758)  die  Aufsicht  über  die  Bibliothek,  lehrte 
zugleich  durch  zwei  Jahre    Geschichte    und    dann   bis    an    seines 


*)  Lebensgeschichte  weiland  Herrn  Erasmus  Froelich  etc.,  übersetzt  von  Samuel 
Wilhelm  Oetter  im  neueröffneten  Münz-Cabinete.  Nürnberg  1773,  Bd.  IV.  Anhang 
Nr.  201—220. 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  59 

Lebens  Ende  Numismatik  und  Alterthumskunde,  auch  finden  wir  ihn 
daselbst  als  Professor  der  Experimental-Physik.  Mit  Froelich's  Stelle 
erbte  er  auch  dessen  Briefwechsel  und  vermehrte  ihn  mit  ausgezeich- 
neten Gelehrten  seines  Faches  in  Deutschland,  Frankreich,  Italien 
und  Spanien,  machte  gern  Reisen,  so  nach  Venedig  zum  Marchese 
Savorgnani,  nach  Schwetzingen,  wo  er  den  Kurfürsten  Karl  Theodor 
von  der  Pfalz  besuchte.  Auch  machte  er  kleine  Reisen  durch  die 
inländischen  Stifter  und  suchte  allenthalben  Geschmack  und  Liebe  für 
die  Münzkunde  zu  wecken  und  rege  zu  machen.  Er  war  Mitarbeiter 
an  dem  Kataloge  der  antiken  Münzen,  besonders  als  Duval  im  J.  1752 
nach  Frankreich  reiste.  Er  starb  an  wiederholten  Schlaganfällen  am 
4.  November  1772,  wahrscheinlich  in  der  Nacht  auf  den  5.,  indem 
das  Wienerische  Diarium  von  1772  Nr.  91  berichtet:  „Am  S.Novem- 
ber starb  der  wohlerwürdige  P.  Joseph  Kh eil  S.  J.  im  Theresia- 
num  auf  der  Wieden,  alt  58  Jahre."  Das  Verzeichniss  seiner 
numismatischen,  theologischen  und  physicalischen  Arbeiten  s.  in  der 
österreichischen  National-Encyklopädie.  Wien  1837,  Bd.  VI,  509  und 
einen  Theil  derselben  in  Michael  Denis'  Merkwürdigkeiten  der  k.  k. 
Garellischen  Bibliothek.  Bd.  I,  dann  S.  20  ff.  Dieser  charakterisirt  ihn 
daselbst  S.  15:  „Khell  gab  Froelichen  sowohl  an  Gründlichkeit  als 
Ausdehnung  der  Kenntnisse  wenig  nach;  er  begriff  aber  und  arbei- 
tete langsamer.  Sein  Umgang  war  etwas  steif  und  trocken;  doch 
besass  er  dabei  das  redlichste  deutsche  Herz  das  aller  Verstellung 
ganz  unfähig  war."  Sein  Nachfolger  an  der  Garellischen  Bibliothek 
war  Michael  Denis,  und  seine  vorzüglichsten  Schüler  Joseph 
Eckhel  und  der  hoffnungsvolle  Graf  Alois  Cristiani,  Zögling  der 
k.  k.  Theresianischen  Ritter-Akademie. 

Nachdem  wir  die  gelehrten  Numismatiker  Duval,  Froelich 
und  Khell  näher  kennen  gelernt  haben,  wollen  wir  zu  den  k.  k. 
Münzschätzen  zurückkehren.  Es  gab  damals  drei  Münzsamm- 
lungen des  kaiserlichen  Hofes,  A.  die  im  k.  k.  Schlosse  Ambras 
(NumophylaciumAmbrasianum  s.  Ambrasiense)  ;  B.  das  alte  öster- 
reichische, von  K.  Ferdinand  I.  herstammende  und  von  K.Karl  VI. 
beträchtlich  vermehrte  Haus-Cabinet  (Numophylacium  Carolino- 
Austriacum);  C.  das  moderne  Münz-  und  Medaillen-Cabinet 
K.  Franzens  I.  (Numophylacium  Imperatoris  Francisci  I). 

A.  Die  durch  Erzherzog  Ferdinand  von  Tirol  (reg.  von 
1 564  —  1 595)  gestiftete  k.  k.  Ambraser  Sammlung  hatte  einen 


bO  Joseph  Bergmann. 

grossen  Reichthum  an  alten  Münzen.  Doctor  Eduard  Freiherr  von 
Sacken  gibt  in  seiner  ausführlichen  und  quellensichern  Beschrei- 
bung der  genannten  Sammlung,  Wien  1855,  Bd.  I,  41  auf  Grund- 
lage des  alten  Inventariums  vom  J.  1596  im  XV.  Kasten  der  damali- 
gen Kunstkammer,  in  dem  die  Münzsammlung  verschlossen  war ,  an : 
1400  Silbermünzen,  660  mittelalterliche,  440  antike  Goldmünzen; 
ferner  die  Kästchen  mit  geschnittenen  Steinen  über  1800  Stücke 
nebst  allerlei  Kleinodien  und  Seltenheiten.  Dies  sind  wohl  nur  die 
im  XV.  Kasten  eingelegten,  inventirten  Stücke,  ausserdem  gab  es 
sicherlich  noch  eine  ungleich  bedeutendere  Anzahl  derselben,  wenn 
auch  von  geringerem  Werthe.  Von  Medaillen  ist  hier  gar  keine 
Rede,  der  Verfasser  des  Inventariums  verstand,  wie  aus  Allem  ersicht- 
lich ist,  unter  Münzen  auch  die  Medaillen. 

Dieses  bestätigt  uns  auch  Heraus'  Journal  (im  k.  k.  Münz-Cabi- 
nete)  S.  113,  das  eine  specificirte  Angabe  von  schönen  Medaillen 
aus  dem  kunstreichen  XVI.  Jahrhundert  nachweist,  die  aus  Ambras 
an  das  k.  k.  Münz-Cabinet  in  Wien  gekommen  und  wovon  mehrere  in 
meinem  Medaillenwerke,  wie  von  Margaretha  von  Firmian,  Gemahlinn 
Kaspars  I.  von  Freundsberg,  und  von  ihrem  Schwager  Balthasar  von 
Freundsberg,  Taf.  VII,  Nr.  26  und  28  abgebildet  sind.  Wir  nennen 
noch  beispielsweise  :  Christoph  Adler,  Hieronymus  Apfelbeck  von  1532, 
Michael  Berger  von  1523,  Wenzel  Beyer,  Anna  Brandstetterin,  Arnold 
vo"n  Brück,  Isabella  von  Chiallant,  Asmus  Gebhart,  Margaretha  Gwand- 
schneiderin,  Georg  Herman,  Georg  Loxan,  Wolfgang  Graf  von  Mont- 
fort-Rothenfels,  den  Typographen  Johann  Petrejus,  Matthias  Praun, 
Franz  von  Sickingen  etc.  etc.;  ferner  die  Gräfinnen  Margaretha, 
Ursula  und  Amalia  von  Solms  und  viele  Andere.  So  viel  wir  wissen 
wurde  während  der  Zeit  (1623—1665),  als  die  jüngere  erzherzog- 
liche Linie  in  Tirol  regierte,  die  Münzsammlung  in  Ambras,  mit 
etwaiger  Ausnahme  der  von  den  Landesfürsten  zu  Hall  geprägten 
Stücke,  nicht  vermehrt. 

Der  französische  Arzt  und  Tourist  Karl  Patin  der  zugleich 
Numismatiker  war  und  in  den  Jahren  1669  und  1672  Ambras 
besuchte,  fallt  über  das  Schloss,  dessen  Schätze  und  besonders  auch 
über  die  dortige  Münzsammlung  ein  sehr  günstiges  Urtheil,  und 
sagt:  „Es  gibt  dort  eine  Reihe  antiker  Goldmünzen  von  Julius  Caesar 
bis  auf  Kaiser  Heraklius  (f  641);  sie  ist  sowohl  an  Zahl  als  an 
Schönheit  die  vollkommenste,  die  ich  gesehen  habe.   Es  befindet  sich 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  0  1 

daselbst  eine  andere  Suite  von  Consular-  und  Kaisermünzen,  und 
eine  unzählige  Menge  von  Silbermünzen,  doch  die  bronzenen  sind  bei 
weitem  die  allerkostbarsten.  Wenn  Seine  Majestät  der  Kaiser  diese 
unvergleichlichen  Stücke  mit  seiner  Sammlung  in  Wien  vereinigte, 
würden  sein  und  das  königliche  Cabinet  zu  Paris  die  ersten  sein."  — 
Leider  missbrauchte  Patin  das  allzu  grosse  Vertrauen  des  allzu  nach- 
sichtigen Aufsehers  und  Hess  genügsame  Merkmale  seines  Besuches 
sowohl  in  Ambras  als  in  anderen  Sammlungen  zurück,  die  anderwärts 
ihre  Abnehmer  fanden  *). 

Der  kaiserliche  Münzen-  und  Antiquitäten-Inspector  Herseus, 
war  im  Spätsommer  und  Herbste  1713  in  Ambras3)  und  brachte  von 
da  ins  Wiener  Cabinet  88  goldene  Medaillen,  an  silbernen  Doublet- 
ten  und  einigen  anderen  911  Stücke  ,  an  Erz  224,  zusammen  1233 
Stücke.  Zugleich  verzeichnete  er  in  möglichster  Eile  Münzen  der 
Sammlung  während  seiner  Anwesenheit.  Es  verwahrt  nämlich  die 
mehrgenannte  Sammlung  noch  einen  handschriftlichen  Katalog  Nr. 
275.  B.  des  Supplement-Inventariums  mit  den  Worten  :  „In  hoc  Cata- 
logo  (quem  intra  triduum  fuisse  absolutum  norunt  praesentes) 
errorum  ubi  forte  occurrunt,  veniam  sperat  memoria  omni  morä  et 
librorum  apparatu  destituta."  Leider  ohne  Datum  und  Unterschrift  in 
Folio.  Es  sind  darin,  wie  bei  solcher  Eilfertigkeit  begreiflich  ganz 
kurz  aber  in  sehr  schöner  Handschrift  verzeichnet  die  Goldmünzen 
der  römischen  Kaiser,  dann  die  Consular-  oder  Familienmünzen  in 
Silber,  die  Kaisermünzen  in  Silber,  endlich  die  Münzen  in  Klein-  und 
Grossbronze,  zusammen  3355  Stücke. 

Vom  Reisenden  Jobann  Georg  Key  ssler,  der  am  8.  Juni 
1729  in  Ambras  war,  lernen  wir  aus  dessen  „Neueste  Reise  durch 
Deutschland,  Böhmen  etc."  Hannover  1751,  Bd.  I,  30  die  damalige 
innere  Einrichtung  der  Münzsammlung  kennen,  indem  er  sagt : 

„Im  VI.  Schranke  der  Kunstkammer  zeigen  sich  verschiedene 
Schreibtische,  so  mit  alten  Münzen  angefüllt  sind.  Ferner  S.  31  : 
Sechs  grosse  in  schwarzen  Sammt  gebundene  und  mit  Silber  beschlagene 


1)  Quatre  Relations  historiques ,  par  Charles  Patin,  Medecin  de  Paris.  A  ßasle. 
M.  DCC.  LXXI1I.  p.  91.  Das  Nähere  üher  diesen  Touristen  hat  mein  hochverehrter 
Herr  Collega  Johann  Gabriel  Sei  dl  mit  erläuternden  Anmerkungen  in  der  Austria 
für  das  J.  1848,  S.  107—131  raitgetheilt. 

2)  S.  mein  e  Anmerkung  zu  Heraeus'  zweitem  Briefe  ddo.  Innsbruck  2.  October  1713  an 
Leibniz  in  Wien,  in  den  Sitzungsberichten  derkais.  Akademie  d.  Wiss.  Bd.  XVI,  S.  140. 


62  Joseph  Bergmann. 

Folianten  enthalten  eine  treffliche  Sammlung  von  Münzen  der  alten 
römischen  Kaiser,  wie  sie  in  der  Zeitordnung  auf  einander  folgen. 
Die  Blätter  dieser  Bücher  sind  von  dünnem  Holze,  worinnen  die 
Münzen  reihenweise  also  eingefasset  sind,  dass  man  beide  Seiten 
durch  das  blosse  Umwenden  des  Blattes  bequemlich  betrachten  kann. 
Der  gelehrte  He  rseu  s  hat  dieses  Werk  in  Ordnung  gebracht,  ein 
Mann  von  vielen  Wissenschaften,  der  aber  zuletzt  in  Ungnade  gekom- 
men, weil  man  seine  Treue  in  Ansehung  der  ihm  anvertrauten  Mün- 
zen in  Zweifel  gezogen.  Nächst  diesen  ist  ein  Vorrath  von  alten 
goldenen  Münzen,  dreizehn  Pfund  schwer,  vorhanden,  worunter 
auch  ein  Otto  *),  nach  dessen  kupfernem  nummo  aber  man  allhier  ver- 
geblich fraget.  Es  würde  ein  eigener  Mann  erfordert  werden,  wenn 
dieser  einzige  Schrank,  in  weichem  noch  sechs  und  dreissig  tau- 
send (!  ?)  silberne  alte  Münzen  liegen,  in  Ordnung  gebracht  werden 
sollte,  ohne  zu  gedenken  der  vielen  tausend  kupfernen  Stücke,  so  in 
etlichen  Kisten  unordentlich  unter  einander  liegen.  Aus  besagtem 
Schranke  zeigt  man  auch  eine  goldene  Medaille,  die  der  Baron  Pfen- 
niger, churpfälzischer  Oberjägermeister,  in  Gegenwart  des  Kaisers  (!) 
aus  Blei  in  Gold  verwandelt  hat  (XIII)." 

Dann  weiter:  „Noch  ist  hier  zu  sehen  ein  Originalsilbe  r- 
ling3)  aus  der  Zahl  derjenigen  welche  Judas  zum  Lohne  seiner 
Verrätherei  empfangen.  Man  zeigt  dergleichen  zween  auch  zu  Hall, 
zwo  Stunden  von  Innsbruck,  und  andere  an  andern  Orten." 

Der  Band  268  des  Supplement-Inventariums  der  k.  k.  Ambraser 
Sammlung  enthält  im  Anhange  eine  kurze  Anzeige  des  Inhaltes  von 
XX  Kästen,  mit  der  Notiz  an  der  Stirne  :  „Geschr.(ieben)  nach 
1750.  (Doch  vor  des  altern  Primisser's  Eintreten  in  den  Dienst  zu 
Ambras.)  Der  Inhalt  in  Bezug  auf  den  VI.  Kasten  stimmt  mit  Keyss- 
ler's  Angabe  überein  und  lautet  S.  6  in  kürzerer  Fassung:  „VI.  oder 
Münzkasten:  Drei  sehr  kostbare  Kästlein  oder  Cabinets:  Das  erste 
von  Ebenholz  mit  kleinen  messing- vergoldeten   Bildnissen  geziert: 


t)  Über  die  falschen  Bronzemünzen  vom  römischen  Kaiser  Otho,  s.  Eckhel  Doc- 
trina  numorum  veterum.  Vol.  VI,  302  seq.  —  Kaiser  Ferdinand  III.,  sein  Bruder  der 
edle  Erzherzog'  Leopold  Wilhelm  und  die  Küniginn  Christina  von  Schweden  such- 
ten solche  zu  erlangen.  Der  Streit  über  die  Echtheit  dieser  Münzen  veranlasste 
den  genannten  Erzherzog  durch  Heinrich  Thomas  Chifflet  eine  Abhandlung  „de 
Othonibus  aereis"  verfassen  zu  lassen. 

2)  Das  k.  k.  Münz-Cabinet  verwahrt  drei  echte  Sikel  oder  Silberlinge. 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  6  3 

darinnen  sind  in  verschiedenen  Lädlein  bei  1123  goldene  Medail- 
len, wiegen  zusammen  beiläufig  23  Mark,  unter  denen  auch  einige 
neuere  merkwürdige  Münzstücke,  als  Rosenobles,  sogenannte  goldene 
Salvadors,  vier  Sickel  oder  jüdische  Silberling,  das  Goldstück  von  dem 
pfälzischen  Oberjägermeister  Karl  Freiherr  Pfenniger  anno  1716  zu 
Innsbruck  mittelst  öffentlich  unternommener  alchymischer  Operation 
aus  Blei  verfertiget  etc.  etc."  Ferner  S.  7  und  8:  „Der  dritte 
grössere  Schrank-Kasten  mit  vielen  Säulen  von  Marmel  gleich 
einem  Gebäu  gezieret,  soll  den  berühmten  Tempel  Dianae  zu  Epheso 
vorstellen  und  durch  Erzherzog  Ferdinand  von  einem  Grafen  von 
Montfort  um  eine  Herrschaft,  die  bei  24.000  (sie)  jährlicher  Ein- 
künften getragen,  wie  man  vorgibt,  erkauft  worden  sein.  Er  hat 
150  kleine  Schublädlein  und  darinnen  eine  grosse  Zahl  Cameen 
oder  eingeschnittener  Steine  etc. etc.  etc.;  dann  der  Ring  des  ersten 
gothischen  Königs  mit  der  Aufschrift  „Alaricus  rex",  welcher  dermals 
im  k.  k.  Münz-  und  Antiken-Cabinete  verwahrt  wird.  „Endlich  steht 
da  ein  niederer  viereckiger  Kasten  gleich  einem  Tisch ,  voll  mit 
alten  Medaillen,  von  denen  darin  und  anderswo  zusammen  bei 
36.000  Stück  sein  sollen." 

Dieser  Graf  ist  kein  anderer  als  U 1  r  i  c  b  der  letzte  von  M  o  n  t- 
fort-Tettnang  und  Rothenfels,  der  österreichischer  Landes- 
hauptmann für  Vorderösterreich  war  und  am  16.  April  1574  starb. 
Die  Medaille  auf  diesen  münzberechtigten  Reichsgrafen  habe  ich  in 
meinem  Medaillenwerk,  Bd.  II,  Taf.  XIX,  Nr.  92  mit  einem  Abrisse 
seines  Lebens  mitgetheilt.  Nach  v.  Vanottfs  Geschichte  der  Grafen 
von  Montfort,  S.  156  hatte  derselbe  ein  Münz-,  Kunst-  und  Rari- 
täten-Cabinet,  in  jenem,  wenn  man  die  verschiedenen  Partien 
zusammenzählt,  an  sechsthalbtausend  antike  Münzen,  dann  über  2000 
silberne  Blechpfennige,  d.  i.  Bracteaten.  Auch  besass  er  22  Hefen 
(Geschirre),  so  in  der  Erde  gefunden  worden  (XIV).  Von  den  Erben 
—  er  hinterliess  von  seiner  S.  60  genannten  Ursula,  gebornen  Gräfinn 
von  Solms-Lich,  nur  zwei  Töchter,  deren  jüngere  Barbara  mit  Anton 
von  Fugger  von  Kirchberg,  des  Erzherzogs  Kämmerer,  vermählt 
war  —  kaufte  dieser  eine  Sammlung  geschnittener  Steine,  nach  dem 
ältesten  Inventarium  an  2000  Stücke,  jedoch  ohne  Beschreibung  der 
Vorstellungen,  um  einen  sehr  bedeutenden  Preis  *).  Die  zwei  ehernen 


x)  Vgl.  Prim  isser,  S.  247;  Baron  v.  Sacken,  II.  165;  meine  Medaillen,  II.  IUI. 


64  Joseph  Bergman  n. 

Bruchstücke  eines  römischen  Edictes  de  lege  agraria,  welche  nun  das 
k.  k.  Antiken -Cabinet  verwahrt,  dürften  —  wie  ich  aus  einer  münd- 
lichen Mittheilung  des  gelehrten  Herrn  Professors  Theodor  Mommsen 
schliesse  —  von  einem  Grafen  von  Montfort ,  nämlich  von  daher  in 
des  Erzherzogs  Sammlung  gekommen  sein  *)• 

Der  Erzherzog  der  für  alles  Schöne  empfänglichen  Sinn  hatte, 
sorgte  für  gute  und  schöne  Münze.  Reichlichen  Bergsegen  gaben  die 
Silbergruben  des  Landes  während  der  ersten  Hälfte  seiner  Regie- 
rung, später  waren  sie  minder  ergiebig.  Häutig  findet  man  noch  des- 
sen Thaler  von  gutem  Schrott  und  Korn ,  83  verschiedene  Stücke 
verwahrt  das  k.  k.  Münz-Cabinet  und  nur  drei  Guldenstücke  die  sehr 
selten  sind.  Er  schickte  im  J.  1584  zwölf  Münzer  mit  allem  Zugehör 
von  Hall,  wohin  Erzherzog  Sigmund  die  Münzstätte  von  Meran  im 
J.  1450  übertragen  hatte,  seinem  Vetter  K.  Philipp  IL,  um  in  Sego- 
via  die  spanische  Münze  zu  reformiren.  Das  tirolische  Münz-  und 
Bergwesen  hatte  damals  noch  europäischen  Ruf. 

Die  k.  k.  Ambraser-Sammlung  verwahrt  sub  272  des  Supple- 
ment-Inventars ein  von  des  altern  Primisser's  Hand  gut  geschriebenes 
Verzeichniss  ohne  Jahreszahl  doch  nach  1779,  indem  derselbe 
Eckhel's  in  diesem  Jahre  erschienenen  Catalogus  musei  caesarei 
Vindobonensis  numorum  veterum  citirt,  mit  dem  Titel:  „Catalogus 
nummorum  veterum,  quae  in  Museo  Caesareo  Ambra siensi 
asservantur;"  ferner  sub  N.  275:  „Catalogus  numorum  in  Numophy- 
acio  Ambrasiensi  adservatorum,  continens  1)  numos  familiarum; 
2)  numos  Imperatorum  et  Caesarum  aureos:  3)  numos  Imperatorum 
argenteos;  4)  numos  aureos  et  argenteos  supra  numerum  adservatos." 
Eckhel,  der  im  Jahre  1784  auf  allerhöchsten  Befehl  nach  Ambras 
geschickt  wurde,  brachte  von  da  die  geschnittenen  Steine  nebst  dem 
Reste  der  dort  verwahrten  Münzen. 

B.  Wir  glauben  keinen  Tadel  zu  verdienen,  wenn  wir  einen 
kurzen  historischen  Abriss  über  das  allmähliche  Entstehen  des 
alten  österreichischen  Haus-Cabin  e  tes  (Numophylacium 
Carolino-Austriacum)  voranschicken.  ■ —  Ohne  Zweifel  nahm  Kaiser 
Maximilian  I.  wie  an  Allem,  so  auch  an  der  Münze  lebhaften  thätigen 
Antheil.  Schon  als  Prinz  ging  er,  wie  der  Weisskunig  CapitelXXXV, 


1)  Diese  Bruchstücke  sind  in  Johann  Primisser:  Kurze  Nachrieht  von  dem  k.  k. 
Raiitaten-Cabinet  zu  Ambras  etc.  Innsbruck,  1777  im  Anhange  abgebildet. 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  65 

S.  81  meldet,  „gar  oft  in  seins  vaters  Muntz  vnd  erkundiget  sich 
gar  wol  alles  grunts.  Er  was  in  der  Muntz  gar  kunstreich,  dann  Er 
betrachtet  selbs  die  Nutzbarkeit,  die  Ihme  daraus  kumen  möcht,  vnd 
in  seiner  Regirung  hat  dieser  kunig  die  allerpest  Muntz  von 
Silber  vnd  gold  schlagen  lassen  über  alle  ander  kunig,  vnd  kain 
kunig  hat  Ime  geleichen  mugen  mit  seiner  Muntz,  das  ist  allain 
kummeh  aus  seiner  kunst  vnd  erfarung.  Derselb  Jung  kunig  hat 
auch  in  seinen  kunigreichen  alle  pöse  und  frembde  Muntz  abgethan 
vnd  vertilgt,  vnd  an  vil  Ennden  Newe  guete  Muntz  aufrichten  vnd 
schlagen  lassen  etc.  Vnd  insonderhait  hat  Er  grosse  Muntz  schla- 
gen lassen,  Nemlichen  aus  gold  dermassn  guldin,  dass  etlich  zwen, 
etlich  fünf,  etlich  zehen,  etlich  funfzehen,  etlich  zwantzig  guldin, 
vnd  aus  dem  Silber  solich  pfening,  das  etlich  ein  ort  ains  Guldin, 
etlich  ainen  halben  guldin,  etlich  einen  guldin,  etlich  vier  guldin 
gewegen  haben,  was  kuniglich  vnd  erlich  gemuet  hat  dieser  kunig  in 
allen  seinen  Sachen  gehabt,  das  sich  dann  auch  in  seiner  hochen 
und  gueten  Muntz  erschinen  vnd  geoffenbart  hat."  Wohl  bekannt 
und  von  den  Sammlern  sehr  gesucht  sind  dieses  Fürsten  grössere 
und  kleinere  Münzen  die  er  in  Gold  und  Silber  schlagen  liess. 
Sollte  derselbe,  von  dem  wir  auch  so  schöne  Medaillen  besitzen, 
nicht  auch  Münzen  und  Medaillen  anderer  Fürsten  und  Reichsstände 
von  ausgezeichneter  Arbeit,  von  denen  einige  als  Erstlinge  (incuna- 
bula)  der  Medaillenkunst  die  damals  in  Italien  und  Deutschland  mit 
der  Plastik  und  Holzschneidekunst  aufzuleben  begann,  noch  in  seine 
Regierungszeit  fallen,  gesammelt  und  aufbewahrt  haben,  die  dann 
auf  seine  Enkel  und  Erben  übergingen?  Leider  haben  sich  hierüber 
keine  näheren  Notizen  erhalten.  Wahrscheinlich  dürfte  der  gelehrte 
Cuspinian  der  des  Kaisers  Commentator  rerum  antiquarum  genannt 
wird ,  gleich  Willibald  Pirkheimern  in  Nürnberg  sich  mit  der  alten 
Numismatik  beschäftigt  haben. 

Der  Wiener  Hof  besass  schon  unter  K.  Ferdinand  I.  eine  für  jene 
Zeit,  in  der  man  derlei  Denkmäler  mit  Liebe  zu  sammeln  anfing,  nicht 
unbedeutende  Sammlung  alter  Münzen,  indem  dieser  Fürst  sie  zuerst 
seinem  Kammerdiener  und  Burggrafen  (Cubiculario  suo  et  Castellano 
Viennensi)  Leopold  Heipergcr  und  später  seinem  gelehrten  Leibarzte 
und  Bibliothekar,  dem  bekannten  Doctor  Wolfgang Lazios 1)  anvertraute. 

l)  Lazius'    Porträt   von  Hanns  Sebald  Lautensack   und   dessen  Gedenkstein  bei 
St.  Peter  in  Wien,  wie  auch  neue  Beiträge  über  denselben  vom  k.  k.  Couservator 
Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XIX.  Bd.  I.  Hft.  5 


(3()  Joseph  B  ergmann. 

Dieses  folgere  ich  daraus,  dass  jener  nach  Dr.  Dudik's  jüngst  erschie- 
nener Anzeige  eines  Katalogs  der  Münzen  K.  Ferdinand^  I.  *)  die 
Sammlung  Seiner  königlichen  Majestät  ordnete  oder  ordnen  liess 
(Anmerkung  XV),  dieser,  nämlich  Lazius,  herkömmlich  Numophylacii 
Imperatorii  conditor  genannt  wird.  Bekanntlich  wurde,  abgesehen 
von  der  ungrischen  und  böhmischen  Königskrone,  Ferdinand  I.  am 
5.  Jänner  1531  zu  Cöln  zum  römischen  Könige  gewählt,  dann  am 
11.  zu  Aachen  gekrönt,  und  folgte  seinem  Bruder  Karl  V.  der  am 
3.  August  1556  der  Kaiserwürde  entsagt  hatte,  in  derselben.  Er 
nannte  sich  Electus  Romanorum  Imperator  am  14.  Mai  1558  zum 
ersten  Mal  auf  Münzen  und  zwar  auf  einem  Thaler.  S.  Madai's  Thaler- 
Cabinet  Nr.  2408  und  v.  Schulthess-Rechberg  Bd.  I,  Nr.  127.  — 
Der  Antheil  der  jedem  an  der  Überwachung  oder  am  Ordnen  der 
Sammlung  (zu  gleicher  Zeit  oder  nach  einander?)  gebührt,  wird  sich 
nicht  mehr  ermitteln  lassen ;  wir  dürfen  jedoch  ohne  Fehlgriff  den 
grossem  Letzterem  zuweisen.  Jener  mochte  als  Schatzmeister  die 
strenge  Verwahrung  gehabt,  dieser  als  Gelehrter  die  Bestimmung 
und  Beschreibung  oder  die  Oberaufsicht  über  die  Arbeiten,  wenn  sie 
ja  von  jemand  Anderem  und  nicht  von  ihm  allein  verrichtet  wurden, 
übernommen  oder  geleitet  haben.  Wenn  auch  eine  grosse  Masse 
ungesonderter  und  ungeordneter  Münzen  vorhanden  war,  so  fällt 
doch  die  Riesenzahl  von  700,000  Stücken  (bei  v.  Khautz,  S.  170) 
als  die  lächerlichste  Übertreibung  auf  ein  geringes  Maass  zusammen. 
Lazius,  der  Vorstand  dieses  Cabinetes,  war  auch  Schriftsteller  in 
diesem  Fache  und  gab  in  Wien  1558  Commentariorum  veterum 
Numismatum  etc.  specimen  exile  in  16  Bogen  in  Folio  heraus.  Er 
musste,  wie  er  klagt,  aus  Mangel  an  Künstlern  in  Wien  seine  Münzen, 
Schaupfenninge  selbst  zeichnen,  stechen  oder  in  Holz  schneiden. 

Bald  nach  dessen  Tode  (f  1565)  finden  wir  den  Mantuaner 
Jakob  S  t  r  a  d  a  von  B  o  s  s  b  e r  g  3),  der  auf  seinen  vielen  Beisen  eine 
reichhaltige  Sammlung  von  Münzen,  Medaillen,  Gemmen, 
und  anderen  Antiquitäten  angelegt  hatte,  bei  K.  Maximilian  II.  als 


Albert  Camesina  s.  in:  Berichte  des  Alterthums-  Vereins  zu  Wien  ,  Bd.  I,  1854, 
S.  8  ff.,  und  wir  fügen  bei,  dass  er  von  K.  Ferdinand  I.  ddo.  Prag-  am  9.  Januar  1544 
ein  Priv  ilegium  de  imprimendis  libris  erhielt. 

1)  Dr.  Beda  D  udik's  Iter  Romanum,  Wien  1855,  Bd.  I,  S.  224,  s.  Anm.  XVI. 

2)  Über  dieses  Prädicat  s.  Anm.  XVI. 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  07 

kaiserlichen  Antiquarius,  in  welcher  Dienstleistung  ihn  mit  jähr- 
lichen einhundert  Gulden  K.  Rudolf  II.  beliess.  In  Wien  besass  er 
1585  ein  Haus.  Von  seinen  überaus  netten  Abzeichnungen  von  alten 
griechischen  und  römischen  Münzen  verwahrt  die  k.  k.  Hof-Biblio- 
thek dreizehn  Bände.  Stets  von  seinen  Fürsten  ausgezeichnet,  starb 
er  zu  Prag  am  6.  September  1588.  —  Ihm  folgte  als  Erbe  sowohl  der 
antiquarischen  Kenntnisse,  als  der  gesammelten  Schätze  sein  Sohn 
Ottavio  Strada  von  Rossberg,  der  sich  K.  Rudolfs  Hofcavalier 
(Nobilis  aulicus)  und  Antiquarius,  wie  auch  Civis  Romanus  nennt 
und  in  ähnlicher  Kunstweise  wie  sein  Vater  arbeitete.  Dessen  gleich- 
namiger Sohn  Ottavio  der  Jüngere  gab  nach  seines  Vaters  Tode 
(f  vor  1615)  dessen  Werk:  „De  vitis  Imperatorum  et  Caesarum  Roma- 
norum   a  Julio  Caesare  primo  Monarcho  (sie)  usque  ad  Dominum 

Nostrum  Imperatorem  Matthiam  unicum  effigiebus  et  symbolis 
etc.  Francofurti  ad  Moenum  1615",  in  Folio  mit  531  Bildnissen  heraus. 
Ottavio  I.  hinterliess  auch  Handzeichnungen  in  Medaillenform  von 
Sinnbildern  vornehmer  Personen  unter  dem  Titel:  „Simbola  Roma- 
norum Pontificum,  Cardinalium,  Magnorum  Ducum,  Ducum,  Principum, 
Marchionum,  Archiepiscoporum,  Episcoporum,  Comitum  totius  Regni 
ltaliae  et  Germaniae,  atque  aliorum  Illustrium  omnium  nationum  Viro- 
rum.  Per  Octavium  de  Strada  Mantuanum,  S.  Caes.  Mtis.  Nobi- 
lem  Aulicum,  Civem  Romanum  et  Antiquarium."  In  Folio  mit  einem 
alphabetischen  Register  in  der  k.  k.  Ambraser  Sammlung  Nr.  88. 

Die  beiden  älteren  Strada  haben  durch  Bekanntmachung  ihrer 
mühsam  und  mit  grossen  Unkosten  gesammelten  Schätze,  wenn  die- 
selben auch  ohne  gehörige  Unterscheidung,  Ordnung  und  Erklärung 
vom  Standpuncte  ihrer  Zeit  herausgegeben  sind,  um  das  Aufleben 
der  Numismatik  und  Alterthumskunde  sich  grosse  Verdienste  erwor- 
ben. 

Während  des  dreissigjährigen  Krieges  welcher  unser  deutsches 
Vaterland  zerfleischte  und  erschöpfte,  war  keine  Müsse,  derlei  Samm- 
lungen zu  vermehren,  und  wir  vermissen  aus  diesen  wildbewegten  Jahr- 
zehenten alle  Kunde  über  den  Stand  der  kaiserlichen  Münzen-  und 
Antiquitäten-Sammlung  in  Wien.  Die  feindlichen  Schicksale  welche 
die  Rudolfinischen  Schätze  und  Sammlungen  in  Prag  in  jener  Epoche 
betroffen  haben,  sind  bekannt.  Um  das  Jahr  1655  berief  K.  Ferdi- 
nand III.  den  wegen  seiner  Kenntnisse  in  der  antiken  Numismatik 
angerühinten  Jesuiten  Simon  Wagnereck  (XVII)  nach  Wien  und 

5* 


O  O  Joseph  Bergmann. 

gab  ihm  den  Auftrag,  die  antiken  Münzen  in  eine  gelehrte,  wissen- 
schaftliche Ordnung  (eruditum  ordinem)  zu  bringen  und  zu  be- 
schreiben *). 

Da  wir  so  viel  als  nichts  über  die  numismatisch-archäologi- 
schen wie  auch  über  andere  literarische  Bestrebungen  aus  dieser  Zeit 
in  Österreich,  die  wie  eine  unfruchtbare  Steppe  vor  uns  liegt,  wissen, 
so  wollen  wir,  wenn  auch  Weniges  in  unserem  Fache  hier  beibringen. 
Einem  Kataloge  2)  in  der  k.  k.  Hofbibliothek  entnehmen  wir  die  Worte: 
„Augustissimus  Imperator  Ferdinandus  III.  in  animo  habuit  nummos 
antiquos  (quorum  numerus  iam  anno  1655  ultra  quatuordecim 
millia  asceudebat)  studio  et  opera  Simonis  Wagnerecci  Suevi 
Historici  tarn  hieroglyphice  quam  historice  resolvere  et  explanare. 
Quod  opus  coeptum  et  ad  quintum  usque  tomum  perductum  fuit,  sicuti 
ego  illud,  favore  dicti  Wagnerecci,  manibus  evolvi  3).    Attamen  insi- 
diatrix  mors  interveniens  huic  glorioso  coepto  interstitium  posuit." 
Wagnereck  starb  am  16.  März  1657  und  ihm  folgte  nach  siebenzehn 
Tagen   der  Kaiser,   indem   er  nach  kurzer  Krankheit  am  2.  April 
verschied. 

In  demselben  Kataloge  S.  254  lesen  wir  in  der  Beschreibung  einer 
Papier-Handschrift:  „Continentur  eo  Godefridi  Wendelini  4) 
Canonici  Tornacensis  et  R.  P.  Simo  nis  Wangner  eck  e  Socie- 
tate  Jesu  interpretationes  Lapidis  Carchedonii  litteris  graecis 
longe  plurimis  exarati  ex  Thesauro  rei  Antiquariae  Serenissimi  Archi- 
ducis  Leopoldi  Guglielmi  Gubernatoris  Belgii  deprompti,  at  in  aes 
incisi  A.  MDCLX.  Utrasque  has  interpretationes  obtulit  Wagnereck 
Divo  Ferdinando  III.  Rom.  Imp.  Calend.  Jan.  A.  MDCLVI.  Equidem 
Wendelinus  existimavit,    esse  gemmam  Basilidianam  seu  Abraxeam." 


1)  Petri  Lambeeii  Commentarii  de  Biblioth.  Caes.  Vindobon.  Edit.  altera.  1766. 
Tom.  I,  724. 

2)  Catalogus  Manuscript.  Codic.  latin.  histor.  profan,  a  N.  CXLII— CCCXX11.  fol.  254  b 
(ad  codic.  Nr.  CCXLVII1). 

3)  na  Lambeck  erst  im  J.  1663  in  die  Hofbibliothek  eintrat,  so  sind  diese  Worte  von  der 
Hand  eines  Mannes  (vielleicht  seines  Vorgängers  Mauchter)  geschrieben,  der  mit 
Wagnereck  in  persönlichen]  Verkehre  stand. 

4)  Gottfried  Wend  e  1  i  n  ,  1580  im  Lüttichischen  geboren,  war  ein  Rechtsgelehrter  und 
ausgezeichneter  Mathematiker,  von  seinen  Zeitgenossen  der  P  t  o  1  em  ae  us  genannt, 
lebte  in  Rom,  dann  zu  Marseille,  lehrte  Gassendi,  ward  dann  Advocat  zu  Paris, 
darauf  Pfarrer  an  verschiedenen  Orten  in  den  Niederlanden  und  endlich  Canonicus  zu 
Tournay. 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  69 

Anderer  Meinung  war  Wagnereck,  der  Verfasser  dieses  Kataloges 
aber  stimmt  jenem  bei.  In  eben  demselben  sind  mehrere  Manuscripte 
angezeigt,  die  man  dem  mehr  erwähnten  Jesuiten  zuschreibt.  Hievon 
nach  genauer  Durchsicht  ein  anderes  Mal. 

Auf  K.  Ferdinand's  III.  Befehl  wurde  —  nach  obiger  Andeutung 
von  Wagnereck  —  ein  System  der  alten  Numismatik  entworfen,  nach 
dem  alle  Münzen,  griechische  und  römische  gemischt,  alphabetisch 
geordnet  werden  sollten.  Der  Codex  Mscpt.  bist,  profan.  N.  CCXLVIII 
mit  dem  Titel:  „Idea  universalis  de  nummis  veterum",  enthält  die 
Idea  literae  A  auf  112  Folioblättern,  worauf  alle  dem  Verfasser 
bekannten  griechischen  und  römischen  Münzen,  deren  Name  mit  A 
anfängt,  mit  lateinischen  Aufschriften  ohne  weitere  Erklärung  von 
Nr.  1  ABDERA  bis  Nr.  507  AXYRITANI  *)  siue  Achyritani  (!  falsch) 
mit  einem  Schiffe  und  einem  Delphin  auf  der  Kehrseite,  nach  einander 
gereibt  und  sämmtliche  Stücke  mit  der  Feder  und  schwerfälliger 
Hand  roth  gezeichnet  sind. 

K.  Ferdinand's  III.  Sohn  und  Nachfolger  K.  Leopold  I.,  ein 
gründlicher  Kenner  der  lateinischen  Sprache  a),  war  gleichfalls  ein 
grosser  Freund  von  Münzen  und  Alterthümern  und  beschäftigte  sich 
häufig  in  seinen  Erholungsstunden  nach  der  Tafel  mit  derlei  Denk- 
mälern. Das  Münz-Cabinet  zählte  im  J.  1663  in  Gold  596,  in  Silber 
9997,  in  Bronze  5347,  zusammen  15,940  Stücke. 

Nun  trat  im  J.  1663  der  gelehrte  Hamburger  Peter  Lambeck, 
welcher  in  Leyden,  Paris,  Toulouse,  Rom  etc.  studirt  und  sich  aus- 
gebildet hatte,  als  Präfect  in  die  kaiserliche  Hofbibliothek  ein  und 
brachte  auf  allerhöchsten  Befehl  nach  dem  Tode  des  Erzherzogs 
Sigmund  Franz,  mit  dem  am  25.  Juni  die  jüngere  tirolische  Linie 
erlosch,  von  Ambras  sämmtliche  Handschriften,  559  Stücke  an 
der  Zahl,  und  1489  gedruckte  Bände  nach  Wien,  wo  sie  der 
kais.  Bibliothek  einverleibt  wurden  3).  —  Der  Codex  histor.  profan. 
Nr.  CCLXI  enthält  den  Entwurf  seiner  Rechnung  die  er  Sr.  Majestät 


i)  Die  mit  AX-  anfangenden  Namen  auf  den  Münzen  sind  nach  denen  von  AX-  gesetzt, 
da  der  Schreiber  hier  der  Ordnung  des  griechischen  Alphabetes  folgte. 

2)  Bekanntlich  sind  die  lateinischen  Inschriften  auf  einigen  Denksäulen  in  Wien  von 
K.  Leopold  I.  verfasst.  Als  man  ihn  bei  der  grossen  Theuerung  in  einer  Bittschrift 
mit  dem  Chronostichon  „ConCeDe  paneM"  um  Abhilfe  bat,  signirte  er  sie  mit 
„ConCeDaM". 

3)  Lambecii  Commentar.  Biblioth.  Caesar.  Lib.  II,  pag.  51. 


70  Joseph  Bergmann. 

über  die  von  ihm  vom  2.  bis  6.  Mai  1668  nach  dem  alten  Carnuntum 
unternommene  Reise  (iter  Carnuntinum)  legt,  auf  der  er  bedacht  war, 
die  kais.  Antiquitäten- Sammlung  zu  vermehren,  woraus  erhellet,  dass 
diese  wie  die  Münzen  ihm  unterstanden.  Er  kaufte  einen  alten  gol- 
denen Ring  um  IS  fl.,  einen  alten  silbernen  Ring,  item  29  alte  sil- 
berne Münzen,  90  gute  alte  kupferne,  105  geringere  und  fast  unkenn- 
bare  alte  kupferne  Münzen,  zusammen  224  Stücke,  und  gab  für  alte 
Steine  mit  Inschriften  30  Gulden;  ferner  machte  er  vom  17.  bis 
20.  August  desselben  Jahres  eine  zweite  Reise  dahin,  mit  einem 
Schreiber  und  dem  Maler  Thomas  Georg  Müller,  welcher  den 
alten  Triumphbogen  und  die  umliegende  Landschaft  zeichnete.  Dieser 
bekam  für  seine  Zeichnung  und  deren  Ausarbeitung  8  Gulden.  Lam- 
beck  kaufte  13  alte  heidnische  Numismata  und  gab  den  Bauern 
die  ihm  Nachricht  gebracht  hatten,  zur  Belohnung  und  Ermun- 
terung Trinkgeld.  Am  21.  und  22.  August  Hess  er  durch  seinen 
Schreiber  Johannes  eine  alte  römische  Inscription  von  Petronell 
abholen. 

Auch  bringt  er  in  seine  Rechnung  ddo.  1.  October  1668  „für 
zwei  alte  Statuen  zu  Rom  und  Salzburg  i),  welche  für  des  Antin oi 
Bildnuss  gehalten  werden,  beide  zusammen  auf  einer  kupfernen  Tafel 
in  Folio,  für  das  Kupfer  an  sich  selbst,  wie  auch  für  dasselbe  zu 
schleifen,  poliren  und  stechen  15  Gulden."  —  Diese  kleinen  Züge 
geben  uns  einen  Beleg  für  die  erTolgreiche  Thätigkeit  des  vielseitigen 
Lambeck  auch  auf  diesem  Felde.  Die  Rechnung  wurde  Sr.  Majestät 
dem  Kaiser  gelegt,  der  solche  Ausgaben  aus  seiner  Privatschatulle 
bezahlte,  so  wie  auch,  wie  aus  Allem  erhellet,  noch  ein  Jahrhundert 
hinfort  bis  um  1767  ein  eigener  Status  von  Cabinets-Beamten  orga- 
nisirt  wurde. 


i)  Dieser  angebliche  Anti  nous  ist  abgebildet  mit  der  Bip  ennis,  die  er  damals  in  der 
Linken  hatte,  in  L  a  m  b  e  cii  Comment.  Lib.  II,  379.  Diese  grosse  Bronzestatue  ward 
1502  nach  dem  gelehrten  Reisenden  Stephan  Venandus  Pighius  in  seinem  Hercules 
Prodicius,  Coloniae  1609,  p.  146J,  der  sie  im  September  1574  zu  Salzburg,  wohin 
sie  durch  den  Cardinal  Matthäus  Lang  gekommen  war,  gesehen  hatte,  von  einem 
ackernden  Bauern  auf  dem  St.  Helenaberg  bei  St.  Veit  in  Kärnten,  nach  Andern  auf  den 
Trümmern  von  Virunum  gefunden.  Sie  wurde  1806  nach  Wien  gebracht  und  steht  im 
untern  k.  k.  Belvedere.  Herr  Director  Arneth  hält  diese  Statue  für  einen  Germa- 
nicus  (?).  S.  dessen  Beschreibung  der  zum  k.k.  Münz-  und  Antiken-Cabinete  gehöri- 
gen Statuen,  Büsten,  Reliefs  etc.  Wien  1856,  S.  24,  Nr.  155. 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  7  1 

Der  französische  Tourist  Karl  Patin  (s.  oben  S.  60),  der  seine 
Relationen  über  die  beiden  Besuche  Wiens  im  August  1669  und  im 
J.  1 673  niederschrieb,  ertheil  t  das  schönste  Lob  den  kaiserlichen  Samm- 
lungen, von  denen  er  besonders  der  Bibliothek  und  dein  Münz-Cabi- 
net  alle  Aufmerksamkeit  widmet.  Auf  Seite  12  erwähnt  er  der  dort 
verwahrten  2200  Silbermünzen  von  der  römischen  Kaiserinn  Sabina 
(f  138),  alle  mit  der  Rückseite  „VENERI  GENITRICI",  sämmtlichecht 
antik,  von  schönem  Gepräge  und  guter  Erhaltung.  Diese  mochten  von 
einem  einzigen  Funde  herkommen,  dann  zum  Theile  im  Laufe  der  Zeit 
als  Doubletten  zum  Tausche  für  fehlende  Stücke  verwendet  worden 
sein.  Vorzüglich  interessirten  ihn  Jakob  Strada's  Zeichnungen  die 
er  unvergleichlich  und  unterrichtend  nennt.  Er  war  über  die  Ehre, 
Sr.  kaiserlichen  Majestät  persönlich  seine  Ehrfurcht  bezeugen  zu 
können,  hoch  erfreut  und  lobt  Allerhöchstderen  Herablassung  und 
Herzensgüte.  Eines  Tages  hatte  er  das  Glück  Zeuge  zu  sein,  wie 
Seine  Majestät  selbst  die  Bildergallerie  und  das  Cabinet  der  antiken 
Münzen  besuchte.  Vierthalb  Stunden  hindurch  sah  er  hier  nach 
S.  18  den  römischen  Kaiser  im  Verkehr  mit  seinen  durchlauchtigsten 
Ahnen  und  fügt  bei,  dass  man  dies  anderwärts  nicht  sehen  könnte. 
Grosses  Lob  zollt  er  ferner  der  umfassenden  Gelehrsamkeit  und 
seltenen  Gefälligkeit  des  Bibliothekars  Lambecius  den  er 
während  seines  zweiten  Aufenthaltes  durch  drei  Monate  fleissig 
besuchte. 

Im  Jahre  1669  war,  wie  wir  aus  Patin's  erster  Relation  S.  7 
ersehen,  noch  eine  zweite  Hofsammlung  in  Wien,  nämlich  die 
des  1662  verstorbenen  Erzherzogs  Leopold  Wilhelm.  Dieser 
kunstliebende  Fürst  hatte  während  seiner  Statthalterschaft  in  den 
spanischen  Niederlanden  (von  1647 — 1656)  eine  kostbare  Gemälde- 
Gallerie  von  1500  (?)  Stücken  angelegt,  die  somit  damals  mit  der  des 
Kaisers  welcher  jene  von  seinem  edlen  Oheim  geerbt  hatte,  noch 
nicht  vereinigt  war.  Das  nämliche  Cabinet  enthielt  auch  an  300  (?) 
antike  Statuen  von  Marmor  und  Bronze,  wie  auch  eine  Serie  von 
800  verschiedenartigen  antiken  Goldmünzen,  ausgezeichnet 
eben  so  sehr  durch  die  Seltenheit  und  Merkwürdigkeit  des  Gepräges 
als  durch  ihren  innern  Metallwerth;  ausserdem  eine  gewaltige  Masse 
von  griechischen,  dann  Consular-  und  Kaisermünzen,  wie  auch  andere 
in  Gross-  und  Mittelbronze.  Patin  besass  hiervon  einen  genauen 
Katalog  der  durch  seine  Reichhaltigkeit  überrascht. 


72  Joseph  Bergmann. 

Im  J.  1672  vermehrte  K.  Leopold  I.  sein  Cabinet  das  gesondert 
in  der  kaiserliehen  Bibliothek  stand,  um  226  Stücke  die  aus  Thomas 
Lansius'  *)  Münzsammlung  herstammten. 

Wir  wollen  in  dieses  Detail  näher  eingehen,  indem  es  uns  einen 
genaueren  Bericht  über  diesen  Ankauf  darbietet  und  zugleich  einen 
Einblick  in  die  Behandlung  der  alten  Numismatik  in  jener  Zeit  ge- 
währt. 

Der  vorher  genannte  Codex  histor.  profan.  Nr.  CCLXI  in  Folio 
enthält  die  Original-Quittung  von  Seite  der  Helena  Sophia  Hartun- 
gin  Wittib  für  die  alten  Münzen  des  Thomse  Lansii,  welche  vor 
diesem  dem  Hartungischen  Glückshafen  (also  einer  Lotterie)  einver- 
leibt gewesen,  über  1800  Gulden,  die  sie  baar  und  in  Einer  Summe  von 
Sr.  kaiserl.  Majestät  wirklichem  Bathe,  Historiographo  und  Hofbiblio- 
thecario  Peter  Lambeck  wohl  empfangen  hat.  Wien  den  12.  Juli  1672. 
Es  waren,  wie  uns  die  Rückseite  des  Titelblattes  anzeigt,  „Numismata 
aurea  24,  N.  argentea  1100  et  aerea  1092,  in  Summa  2216,"  und 
unter  den  bronzenen  245  unlesbare  Stücke.    Dann  steht:  Addenda 
Thesauro   Caesareo.    Ex   consularibus  juxta  seriem  Ursini  ä  Patino 
editam.    Es  waren,  wie  es  scheint,  lauter  römische  Münzen.    Darauf 
folgen  fünf  Blätter,  auf  deren  jedem  je  vier  Stücke  in  fünf  Reihen,  d.  i. 
20  Namen  von  Kaisermünzen,  aus  graugelblichem  Papier  münzförmig 
in  Guldengrösse  geschnitten,  beschrieben  und  eingeklebt  sind,  somit 
100  Stücke,  auf  dem  sechsten  und  letzten  Blatte  sind  nur  acht  derlei 
Zettelchen  aufgeklebt,  demnach  im  Ganzen  108  Stücke.    Jedes  Zet- 
telchen oder  Blättchen  ist  durch  einen  Querstrich  halbirt,  oberhalb  des 
Striches  liest  man  auf  der  ersten  Münze  in  Uncialen:  „AGRIPPA", 
unterhalb  desselben  in  3  Zeilen:  „Neptunus  cum  delphino  et  tridente"; 
auf  der  zweiten  „ALEXANDER  SEV."erus,  unten  „Providentia  Augusti 
de  annona  typus",  die  letzte  Münze  ist  beschrieben:  „VITELLIUS", 
unten:    „Martis  victoris  typus".  Dann  folgen  von  S.  38—40  Münzen 
von  kleinerem  Module,  1.82  an  der  Zahl  in  gleicher  alphabetischer 
nicht  chronologischer  Ordnung,   anfangend  mit  „L.  AELIUS — Feli- 
citatis  stantis  typus"  und  schliessend  mit  „VOLUSIANUS  —  Con- 
cordiae  sedentis  typus."  Nach  Kollar,  welcher  die  zweite  Ausgabe 


*)  Aus  Thomas  Lansius,  den  ich  anfänglich  seinem  Namen  nach  für  einen  Italiener 
gehalten  habe,  ist  ein  Sohn  Österreichs  und  Professor  zu  Tübingen 
geworden.  S.  Anmerkung  XVIII. 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  73 

von  Lambecii  Commentar  besorgte,  wurden  laut  Bd.  I,  622  im  J.  1752 
auf  Befehl  der  Kaiserinn  Maria  Theresia  die  selteneren  und  werth- 
volleren  Stücke  von  den  Ordnern  des  Cirnelii  Austriaca,  nämlich  von 
Duval  und  Froelich,  der  kaiserlichen  Münzsammlung  einverleibt. 

Unter  den  vornehmen  Hofcavalieren  nennt  Patin  in  seiner  ersten 
Relation  S.  26  besonders  den  Grafen  (Paul  Sixt  II.)  von  Trautson, 
welcher  in  seinem  Cabinete  allerlei  Seltenheiten,  Bücher,  antike  und 
moderne  Münzen,  Gemälde,  Agathe,  Markasite,  indische  Rari- 
täten und  dergleichen  besitzt,  und  fügt  nicht  mit  Unrecht  bei,  dass 
sein  Grossvater  (Paul  Sixt  I.,  und  wir  setzen  bei,  auch  sein  Urgross- 
vater  Johann  II.)  ein  Liebling  K.  Rudolfs  II.  gewesen  sei,  der  dessen 
Lust  zum  Sammeln  geweckt  haben  mochte.  —  Bei  anderer  Gelegen- 
heit wollen  wir  die  Münzsammlungen  von  Privaten  in  Wien 
vom  XVI.  bis  in  die  Mitte  des  XIX.  Jahrhunderts  zu  beleuchten  ver- 
suchen. 

K.  Leopold's  I.  älterer  Sohn  und  Nachfolger  K.  Joseph  I.  gedachte 
diese  zerstreuten  Glieder  in  ein  Ganzes,  in  einen  Körper  zu  bringen, 
zu  welchem  Zwecke  er,  wie  ich  oben  S.  32  andeutete,  im  J.  1709 
den  gelehrten  und  praktischen  Numismatiker  Herseus  an  seinen  Hof 
berief. 

Über  Heraeus  der  sechzehn  Jahre  lang  seinem  Amte  in  Wien 
vorstand,  und  seine  wissenschaftlichen  Leistungen  verweisen  wir  auf 
S.  32.  Nach  dessen  Abtreten  folgte  um  1727  Panagia  der  aber 
schon  im  dritten  Monate  1730  starb  und  wegen  Kürze  der  Zeit  für 
die  Wissenschaft,  so  viel  uns  bekannt  ist,  nichts  leistete.  Diese  lag 
von  Seite  der  alten  österreichischen  Haussammlung,  mit  Ausnahme 
dessen  was  P.  Herrgott  zu  seiner  Numotheca  benützte,  bis  zur  Mitte 
des  Jahrhunderts  gänzlich  brach,  um  welche  Zeit  eine  neue,  frucht- 
bringende Thätigkeit  in  derselben  begann. 

Auf  der  Kaiserinn  Maria  Theresia  Befehl  wurde  diese  ihre 
ererbte  Münzsammlung  welche  in  einem  Gemache  der  k.  k.  Hof- 
bibliothek verwahrt  wurde,  unter  den  Auspicien  Sr.  Excellenz  des 
Herrn  Oberstkämmerers  Johann  Joseph  Grafen  von  Khevenhüller 
und  unter  des  praktischen  General -Schatzmeisters  de  France 
Obsorge  im  Laufe  von  drei  Jahren  geordnet  und  classificirt.  Mit  der 
Ausführung  der  mühsamen  Arbeit  waren  gemeinsam  betraut:  Duval 
und  Froelich,  dann  ward  an  Duval's  Stelle,  als  er  (nach  S.  54)  im 
Jahre  1752   eine  längere   Reise   nach   Frankreich   und  Lothringen 


74  Joseph  Bergmann. 

machte,  zur  Vollendung  des  Werkes  der  Jesuit  Khell,  damals  Pro- 
fessor der  Philosophie  und  Experimentalphysik  im  Theresianum,  bei- 
gezogen. Das  Resultat  der  vereinten  geistigen  Kräfte  dieser  Männer 
deren  Lebens -Notizen  wir  vorausgeschickt  haben,  erschien  unter 
dem  Titel :  Nwnismata  Cimelii  Äastriaci  Yindobonensis,  quorum  rariora 
iconismis,  cetera  Catalogis  exhibita  jussu  Mariae  Theresiae 
lmperatricis  et  Reginae  Augustae.  Vindobonae  typis  et  sumptibus 
Thomae  Trattnern  1755  in  Fol.  Der  I.  Theil  enthält  25,  der  II.  112 
Kupfertafeln.  Das  Motto  aus  Claudian.  in  I.  consulat.  Stiliconis 
libr.  II,  9 — 1 1  weiset  auf  den  frühern  ungeordneten  Zustand  dieses 
Cabinets  hin: 

Prima  chaos  dementia  solvit, 
Congeriem  miserata  rudern,  vultuque  sereno 
Diseussis  tenebris  in  lucem  saecula  f u d it. 

Die  gleichfalls  lateinische  Widmung  lautet  auf  beide  Majestäten,  den 
Kaiser  und  die  Kaiserinn,  und  ist  allein  mit  „Josephus  de 
France",  der  sich,  wie  es  scheint,  den  Löwentheil  zuzueignen 
wusste,  unterzeichnet.  Dieses  Blatt  ist  gezeichnet  und  gestochen  von 
dem  bekannten  Salomon  Kleiner  aus  Augsburg. 

Da  Froelich  kränkelte  und  schon  im  J.  1758  starb,  Duval  und 
de  France,  so  lange  er  lebte  (f  1761),  mit  der  Herausgabe  der 
modernen  Monnoies  en  or  et»en  argent  (1756,  1759  und  1769) 
beschäftigt  waren,  lag  das  Feld  der  alten  Numismatik  durch  zwanzig 
Jahre  bis  zum  Erscheinen  von  Eckhel's  erstem  numismatischen  Werke 
im  Jahre  1775  abermals  unbebaut,  mit  Ausnahme  dessen  was  P.Joseph 
Khell  bei  Gelegenheit  feierlicher  Disputationen  im  Theresianum 
veröffentlichte.  Dessen  Arbeiten  sind  in  Michael  Denis1  Merkwür- 
digkeiten der  k.  k.  Garellischen  Bibliothek,  Wien  1780,  Bd.  I,  von 
S.  19 — 26  angezeigt.  Nur  müssen  wir  noch  Khell's  zweier  Briefe  an 
den  Hofkriegsrath  und  Truchsess  Johann  Joseph  Ritter  von  Hauern  *) 
„de  duobus  numisaeneis"  Numophylacii  Haueriani,  Vindobonae  1761, 
in  4to,  erwähnen,  welche  zwei  Münzen,  nämlich  vom  Kaiser  De  eins 
und  von  der  Mutter  des  Kaisers  Vespasian,  Flavia  Vespasia  Polla, 
betreffen.    Letztere  Münze   erklärte  Khell  für  falsch  (womit  auch 


!)  Die   Münzsammlung  wurde  noch  bei  seinen  Lebzeiten  an  einen  Grafen  von  Erpach 
verkauft. 


Pflege  der  Numismatik  in  Osterreich.  (  O 

Eckhel  in  seiner  Doctrina  numorum  veterum  V.  349  übereinstimmt) 
und  rief  eine  scharfe  Schutzschrift  (Dissertatio  apologetica)  für  deren 
Echtheit  von  einem  H.  Numophilus  x)  in  18  Bogen  im  J.  1766  hervor, 
der  eine  noch  schärfere  Entgegnung  und  Widerlegung  von  Khell's 
Seite  folgte.  Diese  beiden  Briefe  Khell's  wurden  im  J.  1766  cum 
praefatione  apologetica  bei  Thomas  von  Trattnern  wieder  gedruckt. 

Endlich  gedenken  wir  noch  eines  jungen,  viel  versprechenden, 
aber  früh  dahin  geschiedenen  Zöglings  der  k.  k.  Theresianischen 
Ritter- Akademie,  des  italienischen  Grafen  Alois  Cristiani,  welcher 
nach  Eckhel  der  beste  Schüler  Khelfs  genannt  wird  (XIX).  Von  ihm 
können  wir  hier  anführen :  u)  Thesauri  Britannici  Pars  I.  ex  Italico 
Nie.  Fr.  Haym  2).  Interprete  Aloysio  Com.  Cristiani,  apud  Schulz, 
4to,  mit  30  Kupfertafeln,  bei  Gelegenheit  seiner  eigenen  Disputation 
im  J.  1762;  der  II.  Theil  mit  41  Tafeln  wurde  von  Khell  edirt. 
b)  Adpendicula  ad  Numismata  Graeca  Populorum  et  Urbium  a  Jac. 
Gesnero  tabulis  aeneis  repraesentata.  Opera  et  studio  Aloysii 
Comitis  Cristiani,  apud  Schulz,  4to.  Unter  Khell's  Anleitung 
1762.  Auch  erschien  von  demselben  unter  Denis*  Anleitung  ein 
deutsches  Gedieht:  „Der  Sommertag,  in  vier  poetischen  Betrach- 
tungen," bei  Trattnern  1763,  in  8vo.  Allzufrüh  verstarb  dieser  viel- 
versprechende Jüngling. 

C.  Neben  der  antiken  Numismatik  bedurfte  auch  die  moderne 
sorgfältiger  Pflege.  Ihr  grosser  Gönner  und  Förderer  war  Kaiser 
Franz  I.,  der  sein  neu  angelegtes  Cabinet  mit  den  Münzen  selbst 
der  entlegensten  Welttheile  zu  bereichern  suchte.  Schon  ein  Jahr 
nach  dem  Erscheinen  des  vorerwähnten  Cimelium  Vindobonense 
folgte  die  erste  Ausgabe  der  modernen  Silber  münzen  unter 
dem  Titel:  "flonnoies  en  Argent,  qui  composent  une  des  diflerentes 
parties  du  Cabinet  de  S.  M.  LT EMPEBELR,  depuis  les  plus  grandes 
pieces   jusqu'au   florin    inclusivement.     Vienne   chez  Jean   Thomas 


*)  Dieser  ist  der  Weltpriester  Joseph  Monsperger.  S.  Gelehrter  Anzeiger,  V.  Stück 
vom  J.  1766,  den  dritten  Mai,  Nr.  36.  —  Dieser  Streit  über  die  Münze  der  Vespasia 
Polla  mag-  sehr  heftig'  gewesen  sein,  da  das  Exemplar  im  kais.  Caliinete,  in  dem  die 
Schriften  pro  und  contra  gesammelt  sind,  auf  dem  Schildchen  die  Aufschrift  „Bellum 
Pollanum"  trägt. 

2)  Franz  Nikolaus  Haym  war  in  Italien  geboren,  in  der  Musik  und  Numismatik  vorzüg- 
lich erfahren,  hielt  sich  in  England  auf,  gab  1719  und  1720  Tesoro  Britannico  in  II  Voll, 
in  4to  zu  London  heraus,  wo  er  am  11.  August  1729  starb. 


/  6  Joseph  Bergmann. 

Trattner,  MDCCLVI,  Royalfolio,  in  2  Bänden,  wovon  der  erste  614, 
der  zweite  561  von  Duval's  Hand  geschriebene  Seitenzahlen  enthält. 
Diese  erste  Ausgabe  ist  so  voluminös  geworden,  weil  grösstenteils 
nur  eine  Seite  und  diese,  wenn  ich  mich  so  klar  ausdrücken  darf, 
nur  halbbrüchig,  d.  h.  nur  in  einer  Spalte  herab  in  der  Regel  bedruckt 
ist,  indem  die  andere  zu  Ergänzungen  und  Nachträgen  leer  gelassen 
wurde.  Diese  Ausgabe  scheint  in  wenigen  Exemplaren  ausgegeben 
worden  zu  sein,  daher  sie  ausserordentlich  selten  ist.  Sie  fehlt  dem 
Bücherschatze  des  k.  k.  Münzen-Cabinetes.  Das  erstgenannte  Exemplar, 
in  das  Duval  eigenhändig  seine  Ergänzungen,  Nachträge  u.  s.  w.  ein- 
trug, verwahrt  die  k.  k.  Hofbibliothek. 

Drei  Jahre  später  erschienen:  Monnoies  en  Or,  qui  composent 
une  des  differentes  parties  du  Cabinet  de  S.  M.  L'  EMPEREUR,  depuis 
les  plus  grandes  pieces  jusqu'aux  plus  petites.  Vienne,  chez  Jean 
Thomas  Trattner,  MDCCLIX,  Royalfolio,  315  Seiten.  Dazu  kam: 
Supplement  au  Catalogue  des  Monnoies  en  Or,  qui  composent  une  des 
differentes  parties  du  Cabinet  IMPERIAL  depuis  les  plus  grandes 
pieces  jusqu'aux  plus  petites.  A  Vienne,  chez  Jean  Thomas  de  Tratt- 
nern. MDCCLX1X.  Royalfolio.  98  Seiten. 

In  demselben  Jahre  noch  erschien  die  zweite  Ausgabe  des  Kata- 
Ioges  der  Silbermünzen:  Catalogue  des  Monnoies  en  Argent,  qui  com- 
posent une  des  differentes  parties  du  CABINET  IMPERIAL  depuis 
les  plus  grandes  pieces  jusqu'au  Florin  inclusivement.  Nouvelle  edi- 
tion  corrigee  et  considerablement  augmentee.  A  Vienne,  chez  Jean 
Thomas  de  Trattnern.  MDCCLXIX.  561  Seiten.  Endlich:  Supple- 
ment au  Catalogue  des  Monnoies  en  Argent  etc.  etc.  A  Vienne,  chez 
le  meme.  MÜCCLXX.  27  Seiten. 

Die  Ausgaben  von  den  Jahren  1756  und  1759  aus  der  Samm- 
lung Seiner  Majestät  des  Kaisers  wurden,  wie  uns  schon  die  fran- 
zösischen Titel  an  der  Stirne  des  Werkes  lehren,  von  französisch- 
schreibenden Männern,  hauptsächlich  von  Duval  und  die  späteren 
Ausgaben  wohl  auch  mit  Beihilfe  Verot's,  den  Duval  vielleicht  bei 
seiner  Reise  nach  Frankreich  für  das  k.  k.  Institut  gewonnen  haben 
mag,  unter  Oberleitung  de  France's  der  erst  1761  starb,  noch  bei 
des  Kaisers  Lebzeiten  veröffentlicht;  bezeichnend  ist  daher  der  Aus- 
druck du  Cabinet  de  S.  M.  l'Empereur.  Als  nach  seinem  Hin- 
scheiden (f  1765)  sein  modernes  Cabinet  mit  dem  antiken  Haus- 
Cabinet  der  Kaiserinn  in  einem  Locale  vereint  worden  war,  schrieb 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  i  ( 

der  Herausgeber  der  Ausgaben   von  1769  und   1770  ganz  ricbtig 
du  Cabinet  Imperial. 

Dieses  Werk  ist  um  so  seltener  und  kostbarer,  da  dasselbe  nie 
in  den  Buchhandel  kam ,  sondern  nur  durch  die  Munificenz  Ihrer 
Majestäten  als  Geschenk  verehrt  wurde.  Es  zeigte  welchen  Antheil 
das  allerhöchste  Kaiserpaar  an  diesen  langjährigen  und  kostspieligen 
Arbeiten  genommen  hat.  Das  Äussere  dieser  beiden  Kataloge  die 
man  als  ein  Ganzes  oder  auch  als  zwei  verschiedene  Werke  betrach- 
ten kann,  ist  durch  Schönheit  der  Lettern,  Grösse  des  Formates, 
Stärke  des  Papiers  und  Feinheit  des  Kupferstiches  prachtvoll,  kai- 
serlich ausgestattet.  In  bedeutend  geringerem  Werthe  dagegen  steht 
der  wissenschaftliche  Theil.  Dem  oder  den  ungenannten  Her- 
ausgeber oder  Herausgebern  gebührt  nur  das  Verdienst  der  Classi- 
fication der  Suiten,  die  nach  der  Natur  der  Sache  in  beiden  Kata- 
logen dieselbe  ist.  Das  Schema  ist:  a)  Münzen  der  geistlichen 
Fürsten  nach  ihren  absteigenden  Rangstufen  ,  als  der  Päpste,  Kur- 
fürsten (nur  im  Kataloge  der  Silbermünzen) ,  Erzbischöfe ,  Bischöfe, 
Äbte  und  Capitel  wie  auch  der  Ordens-Grossmeister  in  alphabetischer 
Ordnung,  natürlich  in  französischer  Benennung;  b)  Münzen  der 
weltlichen  Fürsten  und  Herren,  nämlich  der  Kaiser,  Könige,  Kur- 
und  Reichsfürsten,  Grafen,  gleichfalls  alphabetisch  geordnet;  c)  Mün- 
zen der  Republiken  und  Städte1). 

Eine  sorgfältige  und  genaue  Beschreibung  die  doch  so  nahe 
lag,  wird  gänzlich  vermisst.  Konnte  sie  nicht  wie  imCimelium  Vindo- 
bonense  (S.  74)  mit  steter  Hinweisung  auf  die  betreffende  Abbildung 
vorangeschickt  werden?  Es  bedurfte  allerdings  zu  diesem  Zwecke 
nicht  des  geschichtlichen  Textes ,  wie  ihn  die  beiden  gelehrten 
St.  Blasianer  in  ihrer  Numotheca  Principum  Austriae  aus  ihrem  Füll- 
horne  schütteten.  Die  nackte  Angabe  des  Namens  des  Münzherrn, 
der  Republik  oder  Stadt,  des  Geburts-  oder  Sterbejahres  des  Münz- 
herrn etc.  genügt  nicht.  An  Bild,  Legende  oder  Inschrift  wird  gar 
nicht  gedacht,  dessgleichen  nicht  an  Gewicht  und  innern  Werth  und 
Seltenheit,  ob  im  Zweifel  das  Stück  eine  Münze  oder  Medaille ,  ein 
einfacher  oder  doppelter,  halber  oder  2/3  Thaler  sei,  welches   Detail 


*)  Vgl.  über  die  Einrichtung  des  k.  k.  Cabinetes  Prof.  Joachim 's  neueröffnetes 
Miinz-Cabinel.  Nürnberg  1701.  Tbl.  I,  Vorrede  S.  5 — 7.  Benjamin  Lengnich's 
Nachrichten    zur    Bücher-    und     Münzkunde.    Danzig    1780.  8.  Tbl.  I,  227— V.ri. 


78  Joseph  Bergmann. 

die  Brauchbarkeit  eines  Werkes  erhöht.  Ferner  fehlt  jegliche  Be- 
zeichnung mit  Numern ,  um  bei  etwaigem  Citate  bestimmt  auf  ein 
Stück  hinweisen  zu  können.  Vergebens  sucht  man  ein  Vorwort 
oder  eine  Einleitung,  vergebens  irgend  ein  Register.  Viel- 
leicht wurden  die  Stücke  aus  dem  Grunde  nicht  numerirt,  weil 
jede  Münze  auf  einer  eigenen  Kupferplatte  abgebildet  und  ein- 
gedruckt ist,  so  dass  man  bei  einer  wiederholten  Ausgabe  die 
Platten  der  neu  hinzu  gekommenen  Stücke  allenthalben  an  Ort  und 
Stelle  bequem  einschieben  kann.  In  diesem  Betracht  wäre  ja  durch 
Unterabtheilungen  mit  a,  b,  c  zum  Numer  gesetzt  leicht  zu  helfen 
gewesen  und  man  hätte  zudem  daraus  leicht  den  neuen  Zuwachs 
ersehen.  Das  Material  zu  einem  beschreibenden  Texte  findet  man 
in  den  von  Duval's  Hand  geschriebenen  französischen  Katalogen 
des  k.  k.  Münz-Cabinets,  das  zu  einer  neuen  Ausgabe  benützt  werden 
konnte.  Die  Kupferplatten  zu  den  beiden  Werken  sind  noch 
im  k.  k.  Institute  verwahrt.  Von  einer  neuen  Ausgabe,  der  dritten 
der  Monnoies  en  Argent,  die  in  Angriff  genommen  wurde,  wollen 
wir  später  reden. 

Nach  des  Kaisers  Hintritte  verdoppelte  M.  Theresia  ihre  Sorg- 
falt für  die  von  ihm  hinterlassenen  Sammlungen.  Sie  setzte  den  jedes- 
maligen Ob  erstkämm  er  e  r  zum  ober  sten  Di  rector  aller  kai- 
serlichen  Sammlungen  ein,  welche  Würde  der  seit  1763  in  den 
Reichsfürstenstand  erhobene  Johann  Jo  seph  von  Kheven  hüller 
nur  noch  kurze  Zeit  bekleidete.  Nach  demselben  stand  denselben  von 
1765  bis  1770  Anton  Altgraf  von  Salm-Reiffers  ch  eid  vor. 
Unter  dessen Oberdirectorate  wurden  die  beiden  verschiedenen 
Münzsammlungen  zu  einem  Ganzen  in  einem  Locale  vereinigt 
und  zugleich  mit  dem  Naturalien-  und  dem  damaligen  mechanisch- 
physicalischen  Cabinete  in  die  neuerbauten  Säle  am  Augustiner- 
gange überbracht,  wo  noch  heut1  zu  Tage  das  k.  k.  Münz-  und 
Antiken-,  wie  auch  das  Mineralien-Cabinet  in  bester  Ordnung  aufge- 
stellt sind.  Vor  dem  Haupteingange  Hess  die  Kaiserinn  ein  marmornes 
Portal  mit  aus  Bronze  verfertigten  numismatischen ,  mathematischen, 
astronomischen  und  physicalischen  Emblemen  auf  beiden  Seiten  und 
über  der  Thüre  des  verewigten  Stifters  Büste  gleichfalls  aus  Bronze, 
aufstellen  mit  der  passenden  Aufschrift: 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  79 

NATURAE.  MIRANDA.  ET.  ARTIS. 

QUAE.  UNA.  CUM. 

OMNIÜM.  FERE.  POPULORUM.  MONETIS. 

D.  FRANCISCUS.  ROM.  IMP.  P.  F.  AUG. 

URIQUE.  TERRARUM.  CONLEGIT. 

IOSEPUÜS.  II.  ET.  M.  THERESIA.  AUGG. 

PURLICAE.  UTILITATI.  ET.  MEMORIAE. 

PARENTIS.  OPT.  ET.  CONIUGIS.  AMANTISS. 

ADIECTO.  VETERUM.  NUM.  AVITO.  THESAURO. 

HEIC. 
SACRA.  ESSE    IUSSERUNT.  MDCCLXV. 

Dieses  Portal  ist  neben  dem  Titelblatte  der  Monnoies  en  Argent 
vom  J.  1769,  von  Salomon  Kleiner  gestochen,  mit  der  ganzen 
Inschrift  dargestellt;  die  Inschrift  und  die  Embleme  auf  beiden 
Seiten  sind,  als  man  den  Gang  wölben  musste,  weggenommen  worden. 
Nun  wird  auch  der  Status  der  B  e  a  m  t  e  n  dieser  drei  Hof- 
anstalten organisirt.  In  dem  Staats-  und  Standes-Kalender  für  das 
J.  1765  ist  hievon  noch  keine  Rede,  weil  dieser  wohl  schon  im 
,T.  1764  gedruckt  wurde.  Der  vom  J.  1766  ist  nirgends  aufzuünden, 
und  in  dem  auf  das  folgende  Jahr  1767  lesen  wir  auf  Seite  440  : 

„Naturalien-Cabinet-Director. 

Hr.  Ludwig  de  Baillou." 

Seite  441.  „Münz-  und  Medaillen-Cab  inet-Director. 

Hr.  V  a  1  e  n  t  i  n  J  a  m  e  r  a  y  D  u  v  a  1. 

Schreiber  allda.  Hr.  Johann  Verot." 

„Des  physikalischen  Cabinets  *)  -Director. 

Hr.  Johann  Marcy,  Domherr  zu  Leitmeriz  und  Canonicus 

zu  Soignies  3)." 
Im  Kalender  für  1769,  S.  452  ist  Dtival  desselben  Cabinets 
Director,  dann  heisst  es  weiter:  „Garde  du  Cabinet  der  Münz 
und  Medaillen:  Hr.  Johann  Verot.  Adjimct:  Hr.  Carl  Schrei- 
ber." So  lauten  auch  die  Angaben  von  den  Jahrgängen  1770 
und  1771. 


i)  Der  gleichzeitige  Weiskern  (f  30.  Dec.  1768)  nennt  es  in  seiner  Beschreibung 
der  k.  k.  Hauptstadt  Wien  etc  Wien  1770,  Th.  III,  67  das  mechanisch- 
physicalischeKunst-C  abinet  und  auch  den  Abbe  Johann  IIa  r  c  y  etc.  dessen 
Vorstand. 

2)  Soignies  ist  ein  Stadtehen  in  der  ehemaligen  Grafschaft  Hennegau ,  drei  Meilen 
von  Mons,  in  welcher  Gegend  Marcy  geboren  sein  mag. 


80  Joseph  Bergmann. 

Im  J.  1774  lesen  wir  folgenden  Status  auf  S.  492.  Oberstkäm- 
merer :  Heinrich  Fürst  von  Auersperg  etc.  Oberstkämmereramts- 
Secretär:  Hr.  Joseph  Andreas  Thoss.  —  S.  494: 

„Münz-  und  Medaill  en-Cabinets-Director  es. 

Hr.  Valentin  Jameray  Duval. 

Hr.  Ignatz  (sie)  Eckel. 

Garde  du  Cabinet:  Hr.  Johann  Verot. 

Adjunct:  Hr.  Carl  Schreiber." 

S.  47.  „Ober-Münz- und  Medaillen-Graveur. 

Hr.  Anton  Wiedemann. 

Im  k.  k.  Hof-Schematismus  für  das  J.  1776  nach  Dinars  Tode 

(f  3.  November  1775)  finden  wir  auf  S.  349: 

„Münz-  und  M  e  d  a  i  1 1  e  n  -  C  a  b  i  n  e  t. 
Hr.  Johann  Verot,  Director  der  modernen  Münzen, 

log.  in  der  Burg. 
Adjunct:  Hr.  Karl  Schreiber,  log.  auf  der  Wieden. 

Director  der  Antiquitäten  —  Münzen  (sie). 
Hr.  Joseph  Eckel,  Weltpriester,  log.  in  der  Burg." 
Wir  sind  nun  zur  Periode  gekommen,  in  der  Eckhel  als  der 
letzte  der  fünf  numismatischen  Jesuiten  Österreichs  und  Schöpfer 
des  wissenschaftlichen  Systems  der  antiken  Numismatik  ins  k.  k. 
Münz-Cabinet  eingetreten  ist.  Da  mir  noch  mehrere  bisher  unbekannte 
Details  über  seine  Familie  und  sein  Leben  aus  sicherer  Quelle  in 
Aussicht  gestellt  sind,  werde  ich  —  wie  ich  hoffe  bald  —  dieselben 
zugleich  mit  dem  Schlüsse  dieser  Abhandlung  als  zweite  Abtheilung 
den  Freunden  der  vaterländischen  Gelehrtengeschichte  und  der 
Numismatik  in  diesen  Blättern  vorlegen. 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  ö  1 


Anmerkungen. 

I.  S.  33.  Tarinctti  Marchese  de  Pri6.  —  Das  piemontesische  Ge- 
schlecht der  Marchesi  de  Prie  ist  von  dem  altadeligen  französi- 
schen de  Prie  wohl  zu  unterscheiden.  Hercules  Joseph  Ludwig 
Turinetti,  des  h.  römischen  Reichs  Marchese  de  Prie,  und 
Pancaglier,  Graf  von  Pisein  und  Castiglione,  war  anfangs  General- 
Commissarius  bei  der  kaiserlichen  Armee  in  Italien,  dann  K.  Joseph'sl. 
Botschafter  am  päpstlichen  Hofe  und  führte  nach  dessen  Tode  den 
Titel  eines  Agenten  der  Kaiserinn-Mutter  Eleonora  als  Interims-Regen- 
tinn  der  österreichischen  Königreiche  und  Lande.  Kaiser  Karl  VI. 
ernannte  ihn  am  25.  November  171 1  zu  Innsbruck  zum  geheimen  Rathe 
und  bestätigte  ihn  als  Botschafter  am  päpstlichen  Hofe ,  als  welcher 
er  am  7.  September  1712  die  feierliche  Audienz  bei  Sr.  Heiligkeit 
dem  Papste  Clemens  XI.  halte.  Im  J.  1714  wurde  er  vom  Grafen 
Johann  Wenzel  von  G  all  a  s  von  diesem  Posten  abgelöst  und  kam  als 
kais.  Vice-General-Gouverneur  in  die  österreichischen  Niederlande. 
Er  betheiligte  sich  bei  der  Errichtung  der  ostendischen  Handels- 
Compagnie  die  K.  Karl  VI.  ddo.  Wien  am  19.  Dec.  1722  sanctionirte, 
und  soll  nach  der  europäischen  Fama  vom  J.  1723,  Tbl.  268,  S.  328 
und  336  die  Summe  von  150.000  Gulden  subscribirt  haben.  Er  machte 
ein  grosses  Haus  und  ihm  wurden,  bevor  er  im  Mai  1725  von  Brüs- 
sei  abreiste,  eine  Forderung  von  112.000  Gulden  und  darüber  noch 
eine  Summe  von  40.000  Gulden  zu  den  Reisekosten  bezahlt.  Sein 
Nachfolger  war  Graf  Da  un  bis  die  durchlauchtigste  Gouvernante, 
die  Erzherzoginn  Elisabeth,  des  Kaisers  Schwester,  ankam.  Er  hatte 
Feinde  und  Neider  deren  Verleumdungen  er  zu  Schanden  machte. 
Er  war  ferner  nach  den  Reichsadels-Acten  am  8.  August  1716  Grand 
von  Spanien,  kais.  wirklicher  geheimer  Rath,  Ritter  des  Ordens 
deir  Annonciada  und  starb  am  13.  Jänner  1726  in  Wien  im  72. 
Jahre  seines  Alters,  am  selben  Tage  als  General  Graf  von  Bonneval 
seines  Arrestes  auf  dem  Spielberg  entlassen  wurde.  Sein  Leichnam 
wurde  nach  seiner  Anordnung  in  aller  Stille  in  der  St.  Michaels 
Pfarrkirche  beigesetzt.     Wir  wollen  hier  näher  in  dessen  Familien- 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  CK  XIX.  Bd.  I.  Hf  t.  Ü 


$  %  J  o  s  e  |>  h  B  e  r  g  in  a  ii  n. 

und  Vermögensverhältnisse  eingehen,  da  sein  Haus  in  der  Stadt  Wien 
später  an  de  France  käuflich  gelangte.    Nach  dem  magistratischen 
Grundbuche  kaufte  der  genannte  Graf  Tu  r  i n e tt i  Marehese  de  P  r  i  e, 
kais.  Commissarius  und  Plenipotentiarius  in  Italien  etc.,  am  22.  Sep- 
tember  1704  das  ehemals  sogenannte  Hasenhaus   in    der   Kärntner- 
strasse  Nr.    1073  und  ward   am  20.    März    1706    an    die   Gewähr 
geschrieben.      Den    12.   April    1708    wurde    er    in    den    nieder- 
österreichischen   Herrenstand    aufgenommen    und    1709    introducirt. 
Ihn  dessen  Porträt  in  der  europäischen  Fama  zum  Th.  111  abgebil- 
det ist,  beerbten  laut  des  am  12.    Februar  1726    publicirten  Testa- 
ments seine  beiden  Söhne  Johann   Anton   und  Karl.     Das  Haus 
kam  an  den  altern  Sohn,  musste  aber  seiner  Schulden  halben  verstei- 
gert werden.    Bei  der  dritten  Lieitation  am  3.  Februar  1749  erstand 
dasselbe  mit  ausgelöschtem  Lichte1)  um  36.000 Gulden  de  France. 
So  weit  das  Grundbuch.  Nach  dem  Wissgrill'scheu  Manuscripte  erbte 
der  ältere  Sohn  noch  Fridau-Rabenstein  in  Steiermark  und  die  Güter 
in  Krain  (Pisein  oder  Pisino)  und  Hungarn,  der  jüngere  Karl  Ferdi- 
nand jene  in  Piemont  und  Neapel.   Nach  Küchelbecker  vom  J.  1732, 
S.  817  heisst  es:  Von  den  auf  der  Wieden  befindlichen  Palästen 
sind  folgende  remarquable,  nämlich  des  Fürsten  von  Lobkowitz  Haus 
und  Garten,  des  Marquis  de  Prie,  des  Grafen  Konrad  von  Star- 
heinbers  etc.  —  Von  der  Witwe  und  den  Söhnen  de  Prie's  erwähnt 
uns  noch  die   vorerwähnte  Fama  vom  J.  1726,  S.  230:  Der  Kaiser 
setzte  seiner  Witwe  nicht  allein   einen  jährlichen  Gehalt   von   9000 
Gulden  aus,  sondern  befahl   auch  eine  Rechnung  derjenigen  Summe 
zu  überreichen,  welche  ihr  verstorbener  Gemahl  von  der  Zeit  an,  da 
derselbe  kaiserlicher  Ambassadeur  in  Rom  gewesen,  bis   an   seineu 
Tod  vorgeschossen,  damit  ihr  dieselben  wieder  ersetzt  werden  möch- 
ten. Ferner  haben  Seine  Majestät  dem  ältesten  Sohne  des   Marquis, 
dem  Herzog  von  Esquilache,  das  Fürstenthum  welches  sein  Vater  im 
Königreiche  Neapel  besessen  und  jährlich  18.000  Gulden  einbringen 
soll,  für  ihn  und  seine  Erben  überlassen. 

II.  zu  S.  33.  —  Johann  Wenzel  Graf  von  Dallas,  des  waf- 
fenberühmten  General  -  Lieutenants  Mathias  Grafen   von  G.  Enkel, 


')  Die  Zwischenzeit  zwischen  den  verschiedenen  Anhoten    und  dem   letzten  Meistbote 
und  Zuschlagen    an 
wieder  angezündet. 


und  Zuschlagen    an  den  Meistbieter  wurde  das    Licht  ausgelöscht  und    dann 


Pflege  der  Numismatik   in  Österreich.  83 

ward  kaiserlicher  Gesandter  am  englischen  Hofe,  von  wo  er  am 
31.  Jänner  1712  nach  Wien  zurückkam.  Darauf  war  er  der  Erzher- 
zogina M.  Elisabeth  Obersthofmeister,  dann  nach  de  Prie  Botschafter 
am  römischen  Hofe,  als  weicherer  den  13.  Mai  1714  seine  feierliche 
Audienz  hatte,  endlich  ward  er  Vicekönig  und  General  -Capitän  des 
Königreichs  Neapel,  wo  er  am  4.  Juli  1719  den  prachtvollsten  Ein- 
zug hielt,  aber  schon  den  25.  desselben  Monats  starb.  Mit  seinem 
Sohne  Philipp  Joseph  erlosch  am  23.  Mai  1757  dieses  südtiro- 
lische  und  in  Böhmen  heimisch  gewordene  Geschlecht.  Er  setzte  auf 
den  Fall,  wenn  seine  Gemahlinn  Anna  Francisca,  Graiinn  von  Colonna- 
Vels  sich  zum  zweiten  Male  verehelichte,  oder  wenn  sie  stürbe  (f  6.  April 
1759),  den  altern  Sohn  seines  Schwagers  Johann  Christoph  Frei- 
herrn  von  Clam  als  Universalerben  ein.  Die  Kaiserinn Maria  Theresia 
bestätigte  am  29.  August  1768  (nicht  1778)  dieses  Testament  und 
erlaubte  dieser  Familie  den  Grafenstand  mit  dem  Namen  Clam- 
G alias  anzunehmen. 

III.  zu  S.  35.  —  Oben  auf  dem  Titelblatte  innerhalb  zweier 
grosser  Lorberzweige  lesen  wir:  Aureinummi  XII  Caesarum  qui  inter 
eximiae  raritatis  numismata  aliorum  Impp.  servantur  Bomae  in  Museo 
BB.   PP.   fartusianorum.    Im  Felde   sind  zwölf  Münzen   der  ersten 
römischen  Kaiser  in  Kupfer  gestochen,   darunter  stehen  die  Namen 
dieser  Kaiser  und  eine  ganz  dürftige  Beschreibung  von  deren  Münzen. 
Unten  in  der  Ecke  :  G  aietanus  Piccinu  s  incidit.  Fü  e  ssl  i  in  sei- 
nem Künstler-Lexikon  spricht  ganz  recht,  wenn  er  diese  Abbildungen 
von  Münzen  ohne  alle  Angabe  des  Ortes  und  Jahres  in  diese  oder  kurz 
vorhergegangene  Zeit  setzt,  was  Nagler  Bd.  XI,  270  in  Frage  stellt. 
Das  im  k.  k.  Münz-Cabinete  verwahrte  schöne  Exemplar  enthält  ausser 
dem  so    eben  erwähnten  Titelblatte    LXXXVIII  Tafeln,  auf  deren 
jeder  in  der  Begel  mit  grosser  Baumverschwendung  nur  zwei  Münzen 
oder  Medaillons,  manchmal  auch  nur  Eine,  nämlich   Vorder-   und 
Bückseite  ohne  irgend  ein  beigefügtes  Wort  abgebildet  sind. 

IV.  S.  36.  —  Ob  diese  Sammlung  bei  des  Grafen  Lebzeiten  oder 
nach  dessen  Tode  gekauft  wurde,  vermag  ich  nicht  anzugeben. 
Rarl  Joseph  Beichsgraf  von  Paar,  im  J.  1654  geboren,  war  kais.  wirk- 
licher geheimer  Bath  und  Kämmerer,  oberster  Beichs-Hof-  und  der 
kais.  Erbkönigreiche  und  Lande  General-Erbpostmeister  und  hat  den 
Kaisern  Leopold  und  Joseph  I.  grosse  Dienste  geleistet.  DemK.  Karl  VI. 
ging  er  bei  dessen  Ankunft  in  Oberitalien   entgegen,   begleitete  ihn 

6~ 


84  Joseph  Bergmann. 

zur  Krönung  (22.  Dec.  1711)  nach  Frankfurt  und  ward  dafür  1712 
Ritter  des  goldenen  Vliesses.  Er  starb  am  12.  Mai  1725  zu  Wien. 
Er  hatte  von  seiner  Gemahlinn  Renata  Gräfinn  von  Sternberg  viele 
Kinder.  Sein  Sohn  Johann  Adam  war  damals  Reichshofrath. 

V.  S.  43. —  Anton  Franz  Freiherr  von  Buol,  ein  Sohn  Johann 
Georg1  s  Edlen,  seit  18.  November  1718  Reichsfreiherrn  von  Buol, 
K.  Joseph'sl.  gewesenen  Informators  und  nachherigen  Hofrathes  etc., 
ward  bald  nach  seines  Vaters  Tode  (fl727)  wirklicher  Hofrath  und 
geheimer  Referendarius,  dann  1761  Vice-Statthalter  der  niederöster- 
reichischen Regierung  und  Ritter  des  k.  ungrischen  St.  Stephans- 
Ordens.  Er  war  ein  sehr  gelehrter  Mann  der  eine  auserlesene  Biblio- 
thek von  12.000  Banden  und  sehr  seltene  Manuscripte  besass.  Er 
starb  am  30.  Mai  1767.  Seine  erste  Gemahlinn  war  M.  Eleonora  von 
Gleiffheim,  die  zweite  war  M.  Anna  Theresia  Freiinn  von 
Kirchnern,  Tochter  Michael  Achazens  Freiherrn  von  Kirchnern, 
vormaligen  Reichshofrathes  etc.,  die  im  J.  1777  starb. 

VI.  S.  47.  Über  die  Familie  von  Baillou.  —  Diese  altadelige  bis 
ins  XIII.    Jahrhundert   hinaufreichende  Familie    von  Raillou,  die 
tüchtige  Männer  in  ihrem  Stammbaume  zählt,  war  auch  in  Frankreich 
sesshaft.  Sebastian  de  Baillou  diente  als  Intendant  der  französischen 
Armee  unter  dem  Marschall  Crenaud,  trat  hernach  in  die  Dienste  des 
Prinzen  von  Lothringen  -  Vaud.emont  und  vermählte  sich  1683  mit 
Margaretha  de  Gonet.  Deren  Sohn   Jean  de  Baillou,  im  J.    1686 
wahrscheinlich  in  Lothringen  geboren,   ward    mit  den  Pagen  des 
genannten  Prinzen  erzogen  und  vorzüglich  in  der  Mathematik  und  den 
verwandten  Wissenschaften,  wie  auch  in  der  Reit-  und  Fechtkunst 
unterrichtet  und  setzte  seine  Studien  unter  dem  Obersten  du  Wiwier, 
einem  Verwandten  der  Familie,  eifrig  fort.  Nach  dessen  Tode  bildete 
er  rastlos  in  Paris  sich  weiter  aus  und  ward  in  des  Herzogs  Fran- 
cesco von  Parma  Dienste  berufen.     Der  Herzog  ernannte  ihn  am 
6.  October  1725  zum  General-Commissär  der  Artillerie   und    Ge- 
neral-Ingenieur.   Nach  Jenes  Hinscheiden  (f   26.   Februar   1727) 
bestätigte  dessen  Bruder  und  Nachfolger  Herzog  Antonio  ihn  in  sei- 
nen Stellen  und  ernannte  ihn  den  25.  September  1728  noch  zum 
General-Intendanten  sämmtlicher  herzoglicher  Gebäude  und  Güter, 
ferner  am  22.  November  1729  zum  General- Oberintendanten  aller 
Bergwerke  und  Fabriken  für  Parma  und  Piacenza.    Nach  Antonio's, 
des  Letzten  aus  dem  Hause  Farnese,  Tode  (-J-20.  Jänner  1731)  trat 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  85 

Chevalier  de  ßaillou  in  die  Dienste  Johann  Gasto's,  des  letzten 
Mediceers,  der  ihn  am  9.  Juli  1735  zum  Director  der  berühmten 
mediceischen  Galerie,  dann  1736  zum  General-Director  aller  Festun- 
gen, Gebäude  und  Bergwerke  in  Toscana  ernannte. 

Nach  Johann  Gasto's  Tode  (-J-  1737)  bekleidete  er  unter  dem 
neuen  Grossherzoge  Franz  Stephan  dieselben  Würden.  Chevalier 
de  Baillou  war  ein  ausgezeichneter  Mathematiker  und  Physiker,  und 
hatte  am  Hofe  zu  Parma  zur  Erholung  seines  Fürsten  und  des  höhern 
Adels  Vorlesungen  überExperimental-Physik  gehalten,  war  erfinderisch 
in  der  Chemie,  Optik  und  Mechanik,  die  k.  französische  Akademie 
hatte  ihn  zu  ihrem  Mitgliede  ernannt,  auch  war  er  Ritter  des  goldenen 
Sporns  und  im  J.  1735  Ritter  des  Constantinischen  Georg-Ordens 
von  Parma.  Seine  Mineralien-Sammlung  galt  als  die  erste  in  Europa, 
über  die  das  seltene  Buch:  Description  abregee  du  fameux  C  ab  in  et 
de  Mr.  le  Chevalier  de  Baillou,  pour  servir  ä  Thistoire 
naturelle  des  pierres  precieuses,  metaux,  mineraux,  et  autres  fossiles. 
Par  Joannon  de  S.  Laurent.  A  Lucques,  MDCCXLVI,  in  4t0  156 
pag.,  worin  nur  ein  Theil  dieser  grossen  Sammlung  enthalten  ist. 
Kaiser  Franz  kaufte  diese  Sammlung  und  machte  1748  den  Chevalier 
de  Baillou  zum  ersten  Director  des  neugegründeten  Hof- 
Naturalien-Cabinets  und  ernannte  am  25.  October  1753  ihn 
zum  Oberstlieutenant  in  der  Artillerie.  Er  starb  am  24.  Novem- 
ber 1758,  in  der  obern  Breunerstrasse  Nr.  1137.  Mit  seiner  Gemah- 
linn  Marchesa  Margarita  Monti  della  Scrivia  aus  Piemont  erzeugte 
er  ausser  sieben  Töchtern  die  zwei  Söhne  Joseph  und  Johann  Lud- 
wig Balthasar.  Joseph  war  im  J.  1766  Artillerie-Oberst,  Comman- 
dant  en  Chef  des  Artillerie-  und  Ingenieur  -  Corps  und  General- 
Director  der  militärischen  Arehitectur  und  Fortification  im  Grossher- 
zogthum  Toscana,  und  ist  mit  seiner  Gemahlinn  Petronilla  de  Ruyz, 
mit  der  er  sich  am  8.  September  1757  verehelichte,  der  Stifter  der 
toscanischen  Linie  der  Freiherren  von  Baillou. 

Johann  Ludwig  Balthasar  von  Baillou,  am  19.  August  1731 
zu  Parma  geboren,  folgte  seinem  Vater  in  der  Würde  eines  Directors 
des  k.  k.  Hof-Naturalien-Cabinets ,  wurde  mit  seinem  Bruder  Joseph 
wegen  der  Verdienste  ihres  Vaters  und  in  Anbetracht  ihres  uralten 
Adels  von  K.  Joseph  II.  am  9.  April  1766  in  den  Reichs  fr  ei- 
ner renstand  erhoben.  Am  2.  December  1782  erhielt  er  das  Incolat 
in  Böhmen,  Mähren  und  Schlesien,   kaufte  am  4.   Jänner  1799  die 


ÖÖ  Joseph  Bergmann. 

Herrschaft  Hustopetsch  im  Prerauer  Kreise  in  Mähren,  vermählte 
sich  am  14.  Mai  1771  mit  der  Freiinn  Anna  von  NefFzern  und  starb 
am  23.  Februar  1802  in  Wien  auf  der  Freiung  Nr.  143  im 
71.  Jahre. 

Sein  Sohn  Joseph  Johann  Freiherr  von  Baillou  ,  am 
27.  October  1775  in  Wien  geboren,  war  Edelknabe  und  fungirte  als 
solcher  bei  K.  Franzens  Krönung  in  Frankfurt  1792,  ward  erst  Officier 
bei  Savoyen-Dragoner,  widmete  sich  dann  der  Ökonomie  und  entsagte 
nach  des  Vaters  Tode  der  in  der  Familie  erblichen  Würde  eines 
k.  k.  Hof-Naturalien-Cabinets-Dir ectors.  Im  Jahre  1809 
diente  er  als  wirklicher  Hauptmann  beim  zweiten  Prerauer  Landwehr  - 
Bataillon.  Er  erzeugte  mit  seiner  Gemahlinn  M.  Antonia  Gräfinn 
von  S  obeck  (f  1829)  21  Kinder,  von  denen  zehn  am  Leben  blie- 
ben. Das  Weitere  über  diese  Familie  s.  im  „Gothaischen  Almanach 
der  deutschen  Freiherren  für  das  J.  18o4"  als  die  einzig  richtigen 
Angaben,  da  die  früheren  nicht  richtig   sind. 

Man  möge  uns  diese  Weitläufigkeit  zu  gut  halten,  indem  wir 
das  Andenken  an  Jean  de  Baillou,  einen  zu  seiner  Zeit  berühm- 
ten und  um  das  Entstehen  des  k.  k.  Hof-Naturalien-Cabinets  hochver- 
dienten Edelmann,  dessen  Namen  aber  unverdienter  Weise  bei- 
nahe verschollen  ist,  bei  der  jetzigen  Generation  wieder  auffrischen 
wollen,  zumal  uns  ganz  zuverlässliche  Quellen,  theils  von  Seite 
eines  Verwandten *)  dieses  nun  im  Freiherrenstande  blühenden 
Geschlechtes,  theils  im  Beichsadels-Archive  zu  Gebote  standen. 

Anmerkung.  Zur  nähern  Kenntniss  der  damaligen  Beamten 
am  k.  k.  Hof-Naturalien-Cabinete  fügen  wir  hier  an  den  Stand  nach 
dem  Hof-  und  Staats-Schematismus  vom  J.  1789,  S.  393.  Director: 
Hr.  L  ud  wig  Freiherr  von  Baill  on,  Adjunct:  Hr.  Abbe  Andreas 
Stitz  (sie).  Custos:  Hr.  Johann  Baptist  Megerle,  nachher  seit  dem 
30.  November  1803  mit  demPrädicat  von  Mühlfeld.  Später  wird  Abbe 
Stütz  zweiter  und  nach  des  Baron  von  Baillou  Ableben  alleiniger 
Director  bis  zu  seinem  Tode  am  11.  Februar  1806. 

VII.  S.49.  De  France's  Hans  und  Porträt.  —  Nachdem  de  France 
laut  Anmerkung  I.  das  dem  Marchese  Johann  Anton  de  Pri  e  gehörige 


')  Die  ausführlichen  Notizen  über  diese  Familie  verdanke  ich  dem  k.  k.  Rittmeister 
Karl  Blöchling-er  von  Bannholz,  der  seit  26.  October  1845  mit,  I  sähe  IIa  Freiinn 
von  Baillou  vermählt  ist. 


Pllege  der  Numismatik  in  Österreich.  ö  i 

Haus  in  der  Kärntnerstrasse  Nr.  1073  um  30.000  Gulden  in  der  Ver- 
steigerung erstanden  hatte,  wollte  er  sich  an  die  Gewähr  schreiben 
lassen.  Da  er  aber  als  Titularrath  nicht  die  Fähigkeit  hatte  ohne 
Zahlung  der  auf  ihn  entfallenden  Taxe  von  608  Gulden  zum  Besitze 
zugelassen  zu  werden,  so  erwirkte  er  den  Rang  eines  wirklichen 
k.  k.  Kammerrath.es,  als  welcher  er  die  zum  Besitze  eines  bürgerli- 
chen Hauses  erforderliche  privilegirte  Eigenschaft  hatte.  Die  Kaiserinn 
M.  Theresia  ernannte  auf  seine  Bitte  ihn  zum  wirklichen  Hofkammer- 
rathe  laut  der  Verständigung  vom  13.  April  1749.  Er  wurde  nun  am 
22.  Mai  an  die  Gewähr  geschrieben  und  wird  in  den  bezüglichen  Acten- 
stücken  wirklicher  k.  k.  Hofkammerrath ,  General-Director  der 
k.  k.  Schatzkammer  und  Galerien,  wie  auch  k.  polnischer  und  kur- 
sächsischer wirklicher  Provinzialrath  genannt.  Am  17.  Mai  desselben 
Jahres  stellte  er  den  von  seiner  Hand  unterzeichneten  und  mit  seinem 
Siegel  besiegelten  Revers  aus ,  sein  Haus  nur  einem  Bürgerrechts- 
fähigen zu  verkaufen.  Nach  seinem  kinderlosen  Tode  kam  am 
27.  Juni  1761  seine  Witwe  Francisca  Smitmer,  verwitwete  de 
Rotta  an  die  Gewähr,  dann  seit  26.  August  1760  deren  Tochter 
erster  Ehe  M.  Anna,  Witwe  des  Freiherrn  Hermann  Lorenz  von 
Cannegiesser,  darauf  den  15.  September  1780  deren  Tochter 
Katharina,  vermählte  Freiinn  von  Hess,  welche  hochbetagt  am 
4.  September  1848  starb.  Der  Sohn  ihrer  gleichnamigen  Tochter 
Katharina  (f  1812)  und  des  Freiherrn  Hermann  von  Diller,  k.  k. 
Hofrathes  und  Kanzlei-Directors  des  k.  k.  Hofmarschallamtes  (f  30. 
Nov.  1832),  Hermann  Freiherr  von  Di  11  er  wurde  am  o.  März  1850 
an  die  Gewähr  geschrieben. 

Die  Privatbibliothek  Sr.  k.  k.  apostolischen  Majestät  besitzt  de 
France's  Brustbild  en  face  in  Kleinfolio  in  geschabter  Manier  mit 
der  Umschrift:  IOSEPHO  DE  FRANCE  MDCCLV,  innerhalb  einer 
ovalen  Umrahmung,  an  deren  unterem  Rande  zu  lesen :  „Martin,  de 
Meytens  pinxit  Eff.  (igiem)",  und  „J.  G.  Haid  sculpsit."  Man  erblickt 
de  France  vor  einem  Schranke  mitMünzen  und  Gemmen  ;  unter  dem- 
selben dessen  Wappen,  nämlich  sechs  Querbalken  die  in  Gold  und 
schwarz  wechseln,  so  dass  auf  den  drei  goldenen  je  drei ,  zwei  und 
eine  Lilie  abnehmend  prangen.  Links  (vom  Bilde  aus)  gewahrt  man 
ägyptische  Antiquitäten  und  drei  antike  Münzen,  daneben  den  Rücken 
eines  Foliobandes  mit  der  Aufschrift:  „Cimelium  —  Cses.  Reg.  — 
Austriac.     Vindobon.",   die    sämmtlich    auf   einem    Tische    ruhen; 


88  Joseph  Bergmann. 

darunter  ist  auf  einem  länglichen  Vierecke  gezeichnet  der  Grundriss 
und  die  Einth  eilung  seiner  Wohnung,  vorne  sein  Museum  mit  den 
Namen  der  Gemächer:  Museum.  Technoteca  (sie).  Triclinium.  Con- 
clave  ex  vasis  murrhinis  vulgo  Porcelain,  rückwärts  seine  Zimmer 
sammt  den  Dienstboten-Zimmern  und  der  Küche.  Seitwärts  rechts 
unten:  Sal.  Kleiner  delineavit  Vindobonae,  wahrscheinlich  zeich- 
nete er  die  Nebensachen,  da  das  Porträt  selbst  in  der  Schabmanier 
ausgeführt  ist.  Ganz  unten  liest  man  in  sechs  Hexametern  die  Wid- 
mung : 

„His  numos  forulis  auro,  argentoque  vetustos 
gemmarumque  gregem  caelatum  condidit  idem, 
descriptas  qui  pone  aedes,  ne  digna  deessent 
templa  Deum  signis,  priscique  cohortibus  aevi; 
Neve  Vienna  tibi  soli  servirot,  in  orbem 
Austriacos  hie  suasit  opes  diffundere  libro. 

Devot:  J.  K.  E.  F. 
Diese  Chiffern   bezeichnen  wohl:  Josephus  Khell,  Erasmus 
Froelich. 

Anmerkung.  Nach  den  Reichsadels-Acten  wurde  Chri- 
stoph de  France  aus  Lissabon  von  K.  Karl  V.,  ddo.  Brüssel  am 
31.  August  1531  in  den  Adelstand  erhoben.  Sein  Wappen  war  ein 
Greif.  —  Raynutius  de  France  erhielt  von  K.  Rudolf  II.  ddo. 
Prag  am  12.  Juni  1585  den  Ritterstand  nur  für  seine  Person.  Leider 
ist  in  den  betreffenden  Acten  kein  Wappen  zu  finden.  Derselbe  war 
k.  spanischer  Provinzialrath  in  Flandern  und  war  mit  Christoph 
Assonleville  Herrn  von  Haulteville,  belgischem  Staatsrathe  und 
Schatzmeister  des  Ordens  des  goldenen  Vliesses,  nach  Prag  gekom- 
men, wo  im  Namen  des  Grossmeisters  K.  Philipp's  II.  der  Erzherzog 
Ferdinand  von  Tirol,  schon  seit  1559  Ritter  des  Ordens,  dessen 
Insignien  seinen  Neffen,  dem  K.  Rudolf  II.  und  Erzherzog  Ernest, 
ferner  seinem  Rruder  dem  Erzherzog  Karl  von  Steiermark,  dann 
Wilhelmen  von  Rosenberg  und  Leonharden  IV.  Freiherrn  von  Har- 
rach verlieh.  S.  meine  Mittheilungen  nach  einer  bildlichen  Darstel- 
hing  dieser  Feierlichkeit  in  der  k.  k.  Ambraser  Sammlung  in  den 
Wiener  Jahrbüchern  der  Literatur  1830,  Bd.  LI,  im  Anzeigeblatte 
S.  2—12. 

VIII.  zu  S.  53.  —  Gemälde   das  K.   Franz  I.   im   Kreise 
der  gelehrten  Directoren  der  vier  wissenschaftlichen  Hof- 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  öS) 

Institute  darstellt.  —  Die  Wand  zwischen  den  beiden  Fenstern  des 
letzten  Zimmers  des  k.  k.  Mineralien-Cabinets  ziert  ein  grosses  Öl- 
gemälde von  den  Künstlern  Mesmer  und  Kohl1)-  Auf  demselben  sieht 
man  denKaiser,  den  erlauchten  Gründer  des  kaiserlichen  Naturalien- 
wie  auch  des  modernen  Münz-  und  physicalischen  Cabinets,  in  ganzer 
Figur  und  in  Lebensgrösse  an  einem  Mosaiktische  sitzend  und  eine 
Smaragdstufe  in  der  Hand  haltend;  Seiner  Majestät  gegenüber  steht 
in  geistlichem  Gewände  Abbe  Johann  Marcy,  Director  des  physica- 
lisch-mathematischen  Cabinets,  zu  dessen  Füssen  ein  Globus  ruht, 
auf  den  Tisch  zeigend;  hinter  des  Kaisers  Stuhle  steht  mit  einem 
aufgeschlagenen  Buche  Gerhard  van  Swieten,  Präfect  der  kaiser- 
lichen Hofbibliothek;  links  neben  ihm  in  blauer,  rothausgeschlagener 
Artillerie  -  Uniform,  goldbetresster  Weste  und  mit  der  Feldbinde 
umgürtet,  hält  der  Director  des  Naturalien-Cabinets  Chevalier  de 
Baillou  einen  Flussspath  in  seinen  Händen,  endlich  seitwärts  des 
Tisches  durch  den  Saal  dem  Kaiser  zuschreitend  Duval,  eine 
Schublade  mit  Goldmünzen  in  beiden  Händen  haltend.  Die  beiden 
Letzteren,  weil  sie  tiefer  im  Hintergrunde  gruppirt  werden  mussten, 
sind  in  etwas  kleinerer  Gestalt  gehalten.  —  Das  Porträt  des  Kaisers 
gilt  als  das  bestgelungene,  wesshalb  es  für  den  Kaisersaal  zu  Frank- 
furt copirt  wurde.  Wenn  dieses  Gemälde  bei  Lebzeiten  aller  dieser 
Männer  verfertigt  wurde,  so  fällt  es  in  die  Zeit  von  1753  bis  1758, 
indem  in  jenem  Jahre  de  Baillou  k.k.  Oberstlieutenant  in  der  Artillerie 
wurde  und  in  diesem  Jahre  starb  und  die  Anderen  länger  lebten. 

IX.  S.  54.  Fräulein  Josepha  von  Gattenberg.  —  Die  von  Gutten- 
berg  haben  in  Wirtemberg  ein  adeliges  Gütchen  zu  Guttenberg 
besessen  und  sich  davon  geschrieben,  dasselbe  aber  in  den  früheren 
Kriegsläuften  verloren.  Schon  von  K.  Rudolf  IL  wurden  sie  am  26.  Juni 
1603  wegen  ihrer  dem  h.  römischen  Reiche  geleisteten  Dienste 
sowohl  in  des  Reichs  als  seiner  Erblande  rittermässigen  Adelsstand 
erhoben.  So  erwarb  sich  Johann  Lorenz  Trunk  —  dies  ist 
der  Familienname  —  als  gewester  Ältester  des  innern  Rathes  und 


l)  Franz  Mesmer  oder  Messmer,  geboren  zu  Antholz  im  Pusterlhale,  war  ein 
Schüler  Martin's  von  Meylens  und  einer  der  besten  Porträtmaler  seiner  Zeit.  Er 
war  kais.  Hofmaler,  17G7  Mitglied  der  k.  k.  Akademie  und  starb  1774.  Er  malte 
gewöhnlich  nur  die  Köpfe,  das  andere  Jakob  Kohl,  mit  dem  Mesmer  zu  diesem 
Zwecke  sich  verbunden  hatte. 


9 U  Joseph  Bergmann. 

bischöflich  Freisingischer  Hofmeister  ')  bei  der  Belagerung  Wiens  im 
J.  1683,  in  welcher  derselbe  gegen  den  Erbfeind  die  gefährlichsten 
Posten  vertheidiget  und  eine  tödtliche  Wunde  empfangen  hat,  sich 
vorzügliche  Verdienste,  ferner  bewährte  dessen  Sohn  Johann 
Lorenz  als  Stadtgerichts-Beisitzer,  dann  Stadtraths-Verwaudter 
und  Hof-  und  Soldaten-Quartiers-Commissär  seine  ausnehmende  Ge- 
schicklichkeit. In  Anbetracht  dieser  von  Beiden  geleisteten  Dienste 
erhielt  dieser  von  K.  Joseph  I.  am  16.  Jänner  1708  die  Bestäti- 
gung des  Adelsstandes  mit  dem  früher  geführten  Wappen  und  dem 
Ehrenworte  von  Guttenberg.  Später  bekam  er  auch  das  Stadt- 
richteramt zur  Belohnung  von  1708 — 1712,  derselbe  war  auch  von 
1712 — 1716  Bürgermeister  von  Wien.  Wahrscheinlich  dessen 
Enkel,  dem  Josephv.  Guttenberg,  k.  k.  Hof-Commissionsrathe  und 
Depositenamts-Administrator,  verlieh  die  Kaiserinn  M.  Theresia  am 
15.  Jänner  1773  den  Ritters  t  an  d  für  ihn  und  seine  ehelichen 
Nachkommen.  Ob  Fräulein  Josepha  von  G.  dessen  Tante  oder 
Schwester  war,  vermag  ich  nicht  zu  bestimmen.  Etliche  Briefe 
Duval's  an  dasselbe,  die  er  auf  seiner  Reise  nach  Frankreich  1752 
schrieb,  dessgleichen  die  Antworten  auf  dieselben  haben  sich  erhalten, 
besonders  ausführlich  ist  der  Bericht  über  seine  Reise  nach  Tirol  im 
J.  1766  in  Oeuvres  de  Val.  Jam.  Duval.  Tom.  II,  Lettre  CXXVI,  pag. 
238 — 257.  Interessanter  ist  der  Briefwechsel  mit  dem  russischen 
Hoffräulein  Sokoloff.  Einige  Mal  unterschreibt  er  sich  an  dieses 
„Fanden  berger  d'Austrasie" ,  und  spricht  beide  zu  Anfange  der 
Briefe  gewöhnlich  mit  den  Worten  an:  Aimable  Bibi,  wie  er  auch 
gewöhnlich  alle  geistreichen  Fräulein  für  die  er  Interesse  hatte,  nennt, 
vielleicht  weil  Fräulein  von  Guttenberg  Josepha  —  Pepi  —  hiess. 
X.  S.  54.  a)  Der  berühmte  TVlathematicus  Herr  Abbe  Johann  Marcy, 
ein  geborner  Niederländer,  war  Domherr  zu  Leitmeritz  und  Soignies, 
Präses  und  Director  der  Physik  und  Mathesis  an  der  hiesigen  Univer- 
sität, wie  auch  der  jungen  Erzherzoge  Lehrer  in  diesen  Fächern,  dann 
später  Kanzler  der  Universität  zu  Löwen  ,  wahrscheinlich  um  1772, 


')  Auf  der  Stelle  des  alten,  vielwinkeligen  Freisingerhofes,  dessen  Entstehen 
durch  Bischof  Otto  von  Freisingen,  einen  Sohn  des  h.  Markgrafen  Leo- 
pold IV.  von  Österreich,  auf  1140  angegeben  wird,  baute  der  Hofbtiehdrueker 
von  Trattnern  zwischen  1773 — 1778  den  nach  ihm  genannten  grossen  T  r  a  1 1- 
nerh o  f. 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  9  I 

da  wir  im  k.  k.  Staats-  und  Standes-Schematismus  für  1773,  S.  477 
Joseph  Nagel  als  Director  des  k.  k.  physicalischen  Cabinets  lesen, 
der  zugleich  des  Studii  Physici  et  Mathematici  Präses  und  Director 
war.  Wann  Marcy  gestorben,  vermag  ich  nicht  anzugeben.  —  Marcy 
war,  wie  aus  Allem  erhellet,  ein  tüchtiger,  hochgeachteter  Mann.  Laut 
eines  kaiserlichen  Befehls  vom  19.  September  17G2  war  er  zu  Be- 
ratungen über  Wasser  b  a  uteri  beizuziehen,  so  kraft  der  Hand- 
billete  vom  10.  October  und  5.  November  1762  bei  derlei  Bauten  am 
Bhein  und  bei  Altbreisach;  ferner  zur  Commission  zur  Nutzbar- 
machung der  Wiener-Neu  städter  Heide1);  laut  Befehls  vom 
23.  Juni  und  7.  September  1763  hatten  er  und  der  Commerzienrath 
Stegner  hiezu  den  Plan  zu  entwerfen.  Beide  und  der  k.  k.  Oberst- 
lieutenant Brequin  erstatteten  am31.  März  1764 wegen  einer  Mappe 
dieser  Heide  Bericht.  Ein  allerhöchstes  Handbillet  vom  13.  März 
1764  befiehlt,  dass  der  mit  der  Begier ungs-Commission  zu  Neustadt 
gewesene  Abbe  Marcy  wie  ein  Hofrath  zu  tractiren  sei  und  man 
daher  ihm  die  Liefergelder  (Diäten)  von  dem  Tage  seines  dortigen 
Aufenthaltes  an,  wie  dem  Stegner  aus  der  Cassa  extraordinario  zu 
verabfolgen  habe  (nach  dem  k.  k.  Hofkammer-  oder  dermaligen 
Finanzministeriums-Archive).  Dessen  Bildniss  s.  auf  dem  Gemälde 
K.  Franz  I.  mit  den  Vorständen  der  vier  Hof-Institute,  vgl.  S.  89. 

b)  Abbe  Marcy's  Medaille  auf  Duval.  —  Marcy  Hess  im 
J.  1755  zu  Ehren  seines  Freundes  nachstehend  beschriebene  Medaille 
prägen  welche  dessen  Büste  von  der  rechten  Seite  darstellt,  wie  sie 
ein  der  Loge,  in  der  Duval  sass,  naher  Zeichner  mit  kunstgeübter 
Hand  gezeichnet  hat.  Av.  VALENT.  DV.  VAL.  IMP.  eratoris  AVG.  usti 
ANTIQ.  uarius  B1BL.  iothecae  FLOB.  entinae  PBAEF.  ectus.  Dessen 
kräftiges  Br  us  tbild  von  der  rechten  Seite,  mit  scharfem  aber  gut- 
müthigem  Ausdrucke  im  Gesichte  mit  Perrücke   und   leichtem   Um- 


l)  Maria  Theresia  gründete  auf  ihre  Kosten  auf  dieser  Heide  im  .1.  1703  ein  neues 
Pfarrdorf  und  besetzte  es  mit  Tirolern,  um  den  Versuch  von  Urbarmachung  des 
Steinfeldes  zu  unterstützen.  Den  Grundstein  der  neuen  Pfarrkirche  zum  h eiliges 
Kreuz  sollte  am  29.  September  1767  die  Erzherzoginn  M.  Josepha,  Braut  Fer- 
dinande IV.,  Königs  heider  Sicilien,  legen,  welchen  Tag  auch  die  hierauf  bezügliche 
Medaille  angibt.  Da  sie  aber  von  den  Blattern  in  Schönbrunn  befallen  wurde 
(an  denen  sie  am  Namenstage  ihrer  Mutter  den  15.  October  starb),  legten  ihre 
Schwestern  Maria  Anna,  die  Nu  m  i  s  m  a  t  iker  inn,  und  Maria  Amalia  denselben  am 
4.  October. 


92  Joseph  Bergmann. 

würfe.  Rev.  PAVIT  ET  ADMETI  TAVROS  FORMOSVS  APOLLO, 
nachTibulI  Buch  II,  Eleg.  III,  V.  11.  In  einer  baumbewachsenen  Land- 
schaft mit  einer  Einsiedelei  steht  bei  einem  Baume  ein  Hirt,  seinen 
Stab  an  die  linke  Schulter  gelehnt ,  der  einen  Atlas  (das  Theatrum 
Geographiae  veteris  von  George  Hornius)  in  den  Händen  vor  sich 
hält  und  zu  dessen  Füssen  eine  Landkarte  und  sein  Hut  liegt.  Vor  ihm 
stehen  zwei  Herren,  der  Graf  Vidampiere  und  Baron  von  Pf  üts  ch- 
ner,  neben  diesen  ihre  Zöglinge  die  beiden  Prinzen  von  Lothringen, 
Leopol  d  Clemens  von  zehn  und  FranzStephan  von  neunthalb 
Jahren,  rückwärts  deren  Gefolge  und  die  Equipage  im  Hintergrunde. 
Gross  e  dieser  Medaille,  die  das  Andenken  an  das  Auffinden  des 
erwachsenen  Duval  erhalten  soll,  2  Zoll  5  Linien  im  Wiener  Maasse; 
Gewicht:  o1/^  Loth  in  Silber;  Originalguss,  geschnitten  und  abge- 
bildet in  Prof.  Joachim's  neu  eröffnetem  Münz-Cabinete.  Nürn- 
berg 1761,  Bd.  I,  Taf.  XXI,  B.  zu  S.  215,  gestochen  von  Johann 
Sebastian  Leitner,  dann  die  Rückseite  als  Vignette  in  Oeuvres  de 
Valentin  Jamerai  Duval.  Tom  II.  Sein  Porträt  en  face  ist  auch  dem 
Titelblatte  des  I.  Theiles  vorgesetzt.  Dass  Marcy  diese  Medaille 
verfertigen  Hess,  bestätigt  dasselbe  Werk  S.  23. 

XI.  S.  54.  —  Herr  von  Kiepach  und  das  Porträt  der  Erz- 
herzoginn  Clandia  Felicitas.  —  Die  Kiep  ach  oder  Küepach  sind 
von  gutem  tirolischen  Adel.  Christoph  von  Küepach  zu  Ried, 
Zimmerlehen  und  Haselburg  erhält  im  J.  1548  die  tirolische  Land- 
mannschaft, dann  am  29.  Juli  1552  den  rittermässigen  Adelsstand 
nebst  Wappenbesserung;  dessgleichen  am  1.  Jänner  1562  auch  für 
seines  Brudes  hinterlassene  Söhne  und  Töchter.  —  Der  kindische 
alte  Kiepach  dessen  Namen  Duval  stets  Quib ach  schreibt,  zeigte 
unter  schallendem  Lachen  den  Herren  ganz  besonders  das  Porträt 
derKaiserinn  Claudia  Felicitas,  einer  berühmten  Schönheit  ihrer 
Zeit.  Sie  ist  die  Tochter  des  Erzherzogs  Ferdinand  Karl  von  Tirol 
(f  1662)  und  der  Prinzessinn  Anna  von  Medicis,  die  am  30.  Mai 
1652  zu  Innsbruck  geboren  war.  Der  französische  Arzt  und  Tou- 
rist Karl  Patin  (S.  60),  der  zu  Weihnachten  1672  das  zweite  Mal  in 
Innsbruck  war,  sagt  von  derselben1):  J'y  vis  cette  Archi-Duchesse 


l)  Quatre    Relations   historiques    par    Charles    Patin,    Medecin    de    Paris.  A    Basle. 
M.  D.  C.  LXXIII,  p.  303. 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  93 

qu'on  pretendoit  estre  accordee  avec  S.  A.  R.  d'Angleterre  J) :  On  ne 
scauroit  s'imaginer  plus  de  beautez,  de  grace  et  de  majeste.  La 
Venus  de  Zeuxis  qui  avoit  occupe  le  plus  grand  Peintre  du  monde 
n'en  avoit  pas  d'avantages :  C'estoit  pourtant  l'abrege  ou  pour  mieux 
dire  la  copie  de  ce  qu'il  y  avoit  de  beau  chez  les  Grecques,  qui 
eorame  Vous  scavez,  Monseigneur  (Antoine  Ulric,  Duc  de  Brunsvic 
et  de  Lunebourg),  avoyent  la  reputation  d'estre  les  plus  belies 
du  monde.  Ce  que  j'ay  oüy  dire  de  son  esprit  est  encor  au  des- 
sus  de  ce  que  j'ay  vu,  mais  je  ne  me  tiens  pas  assez  fort  pour  Vous 
en  exprimer  ce  qu'il  en  faut  penser.  En  esorivant  cecy  je  viens 
d'aprendre  la  mort  de  rimperatrice :  Si  ce  n'estoit  pas  estre  trop 
hardy  de  vouloir  marier  l'Empereur,  jelemarierois  ä  cette  Princesse  : 
Tout  est  desia  d'aceord  dans  mon  esprit;  que  scait-on  si  cela  n'arri- 
vera  pas  reellement,  ce  ne  seroit  pas  la  premiere  fois  que  Y  imagi- 
nation  auroit  este  secondee  du  succez :  Imaginatio  generat  casum, 
disent  les  Physiciens,  et  je  prendrois  grand  plaisir  que  cela  arrivast, 
tant  pour  la  consolation  de  TEmpereur,  que  pour  le  bien  de  l'Em- 
pire."  Des  K.  Leopold  I.  erste  Gemahlinn  Margaretha  Theresia,  K.  Phi- 
lipp's  IV.  von  Spanien  Tochter,  war  am  12.  März  1673  ohne  Hinter- 
lassung eines  männlichen  Erben  gestorben  und  der  Kaiser  —  damals 
der  einzige  männliche  Habsburger  deutscher  Linie  —  vermählte 
am  15.  October  desselben  Jahres  sich  mit  seiner  tirolischen  Base 
die  aber  nach  der  Geburt  zweier  noch  vor  ihr  gestorbener  Prin- 
zessinnen am  8. — 9.  April  1676  an  der  Auszehrung  verschied  und  zu 
Wien  in  der  Dominicaner-Kirche  ruht.  Der  verwitwete  Kaiser  schenkte 
ihr  Hochzeitskleid  dessen  Stickerei  die  höchste  Kunst  verriet!) ,  und 
die  beiden  mit  Diamanten  besetzten  Trauringe  der  Kirche  zu  Maria 
Hiezing  bei  Schönbrunn  und  schrieb  mit  eigener  Hand  in  fünfzehn 
Zeilen  Worte  der  Widmung  bei,  deren  letzte  ein  Chronostichon  bilden 

und  lauten: IX  Aprilis  Anno  qVo  CLaVDIa  IMperatrIX  ple  obllt. 

Der  Kaiser  war  ein  ausgezeichneter  Kenner  des  Latein  und  Meister 
in  derlei  Arbeiten.  Vgl.  S.  69,  Anm.  2.  —  Zwei  Porträte  dieser 
schönen  Prinzessinn  verwahrt  die  k.  k.  Ambraser  Sammlung  unter 


*)  Diese  königliche  Huheit  von  England  war  wohl  der  naehherige  König  Jakob  II., 
der  am  10;  April  1671  von  Anna  Nyde  Witwer  geworden  war  und  sieh  dann  am 
23.  November  1673  mit  der  fünfzehnjährigen  Heraoginn  M.  Beatrix  Eleonora  von 
Modeua  vermählte. 


«7 tt  .Iose|ih  Bergmann. 

Nr.  28  und  29.  —  In  derselben  Kirche  zu  Hiezing  vermählte  sich 
K.  Leopold's  jüngerer  Sohn  Karl  (VI)  am  23.  April  1708  durch  Pro- 
curation  mit  der  Herzoginn  Elisabetha  Christina  von  Braunschweig. 
XII.  S.  55.  Duval's  und  Abbe  Marcy's  Besuch  der  llniver- 
sitäts- Bibliothek  in  Innsbruck  und  des  Letztern  Theilnahme 
an  der  Herausgabe  von  Peter  Anich's  Karte  von  Tirol.  — 
Die  Stelle  über  diesen  Besuch  in  dieser  Bibliothek  im  Briefe 
Duval's  (Tom  II.  249)  an  Fräulein  von  Guttenberg  lautet:  „Com- 
ment,  en  admirant  la  vaste  et  süperbe  salle  de  l'Universite ,  et 
les  deux  grands  globes  qui  en  fönt  l'ornement,  de  raerae 
que  T  ample  carte  manuscrite  du  Tyrol,  et  les  divers 
instruments  qui  ont  servi  ä  la  tracer,  un  venerable  profes- 
seur  Jesuite  nous  apprit  que  les  globes,  la  carte  et  les  instru- 
ments etoient  l'ouvrage  d'un  simple  paysan  ä  chapeau  verd  et 
pointu,  d'un  homme  sans  ayeux,  sans  titre,  sans  etudes  classiques, 
et  d'une  physionomie  des  plus  vulgaires,  et  comment,  M.  l'Abbe 
Marcy ,  bon  juge  en  fait  de  talents ,  etonne  d'un  tel  phenomene, 
ambitionna  le  portrait  de  cet  homme  extraordinaire ,  lequel  en 
effet  Iui  a  ete  envoye  mais  avec  la  triste  nouvelle  que  le  digne 
objet  du  portrait  n'existoit  plus  etc."  —  Dieser  Natursohn  war  der 
bekannte  Peter  An  ich,  zu  Oberperfus  unweit  Innsbruck  1723 
geboren,  der  wie  Duval  die  Herde  hütete  und  erst  im  28.  Lebens- 
jahre durch  den  Jesuiten  Jgnaz  von  Weinhart J)  Arithmetik,  theo- 
retische und  praktische  Geometrie,  Mechanik  und  Astronomie  gründ- 
lich lernte  und  sich  zum  Schönschreiber,  geschickten  Zeichner,  Map- 
pirer  und  Mechaniker  ausbildete.  Bald  verfiel  er  auf  den  Gedanken 
einen  Erd-  und  einen  Himmels-Globus,  wie  auch  verschiedene  mathe- 
matische Instrumente  zu  verfertigen.  Die  Verfertigung  der  genannten 
beiden  Globen  fällt  in  die  Jahre  1756—1758.  Er  erhielt  den 
ehrenvollen  Auftrag  eine  Karte  von  ganz  Tirol  zu  entwerfen  und  zu 
zeichnen,  dem  er  aufs  Fleissigste  nachkam.  Als  der  kaiserliche  Hof 
bei  der  feierlichen  Vermählung  des  Grossherzogs  Peter  Leopold  mit 
der  Infantum  M.  Louise  von  Spanien  im  August  1765  zu  Innsbruck 


*)  Dieser  gelehrte  Jesuit  welcher  die  beiden  Reisenden  durch  den  Bibliotheksaal 
geleitete,  war  ein  ausgezeichneter  Lehrer  in  Physik,  Mathematik  und  Mechanik,  der 
durch  die  uneigennützigste  Herauhildung  Anich's,  wie  auch  zum  Theile  Hueber's  alles 
Lobes  würdig  ist.  Er  starb  hochbetagt  am  22.  Mai   1787. 


Wiege  der  Numismatik  in  Österreich.  95 

war,  sollten  Anich's  meisterhafte  Arbeiten  demselben  vorgelegt  wer- 
den. Leider  waltete  ein  eigener  Unstern  über  der  Arbeit,  indem  der 
Stich  von  drei  Blättern  theils  in  Augsburg,  theils  in  Wien  von  ver- 
schiedenen Künstlern  somit  ungleich  ausgeführt  war  und  daher  die 
Abdrücke  gar  nicht  vorgelegt  werden  konnten.  Seihst  Anich  dessen 
Werke  damals  als  eine  der  vorzüglichsten  Merkwürdigkeiten  Inns- 
brucks galten,  konnte  den  Majestäten  nicht  vorgestellt  werden,  da  er 
in  Folge  eines  sich  hei  den  Vermessungen  in  der  sumpfigen  Gegend 
zwischen  Bozen  und  Leifers  zugezogenen  hitzigen  Gallenfiehers 
krank  lag.  Wenn  er  sich  auch  wieder  etwas  erholte  und  eine  goldene 
Ehrenmedaille  sammt  einem  jährlichen  Gnadengehalt  von  200  Gulden 
sein  Gefühl  hoben,  so  war  doch  seine  Lebenskraft  gebrochen.  Er 
starb  unverehelicht  wie  Duval,  sieben  Wochen  nachdem  die  beiden 
Reisenden  Tyrol  verlassen  hatten,  am  1.  September  1766  im  44.  Jahre 
seines  Alters.  Die  grossmüthigeKaiserinn  gab  seiner  Schwester  einen 
lebenslänglichen  Gnadengehalt. 

Als  die  grosse  Karte  Tirols  durch  Anich's  Neffen  und  Schüler 
Blasius  H  ueber  (-J-  1814)  vollendet  und  rein  gezeichnet  war,  wurde 
sie  in  Wien  von  Johann  Ernst  Mansfeld1)  in  Kupfer  gestochen. 
Die  Aufsicht  und  Leitung  bei  deren  Stiche  übernahm  Abbe  Marcy,  da 
Freiherr  von  Sperges  seiner  vielen  Geschäfte  wegen  sich  derselben 
nicht  unterziehen  konnte.  Den  bezüglichen  Befehl  vom  13.  April 
1768  fand  ich  im  ehemaligen  k.  k.  Hofkammer-Archiv.  Marcy  schloss 
am  2S.  Mai  desselben  Jahres  mit  Mansfeld  den  Contract  der  mit 
1500  Gulden  genehmigt  wurde,  und  schaffte  Holländer  Papier  zu 
den  Abdrücken  herbei.  Die  Karte  erschien  1774.  Auf  Marcy's  im 
J.  1771  gemachten  Vorschlag  verfertigte  Hueber  noch  eine  Über- 
sichtskarte von  den  zwanzig  grossen  Blättern  unter  dem  Titel  „Atlas 
Tirolensis.  Diese  Karten  der  beiden  tirolischen  Bauern  gehörten 
zu  den  besten  ihrer  Zeit  in  Europa.  —  Die  Hebemaschine  die  der 
Tischlermeister  Ja uf er  in  Innsbruck  erfunden  hatte,  wurde  nach 
einem  Actenstücke  in  der  k.  k.  Hofkammer  zur  Begutachtung  zuge- 
theilt  dem  Abbe  Marcy,  dem  Architekten  Pakassy  und  den  Herren 
Joseph  Walcher,  einem  gelehrten  Exjesuiten,  und  Joseph  Nagel. 


Min  Nagler's  Künstler-Lexikon,  in  dem  Bd.  VIII,  254  Mansfeld's  Arbeiten  genannt 
sind,  werden  diese  Landkarten  nicht  erwähnt.  Dessen  Sohn  Johann  Georg  war 
Kupferstecher  am  k.  k.  Münz-  und  Antiken-Cahinete  und  starb  ISIS. 


96  Joseph  Bergmann. 

XIII.  S.  62.  Über  Baron  von  Pfenninge^  alchymistische  Medaille- 
Kaiser  Karl  VI.  war  zu  dieser  Zeit  nicht  in  Tirol,  sondern  im  Novem- 
ber 1711  auf  seiner  Reise  aus  Spanien  zu  seiner  Krönung  in  Frank- 
furt. —  Beschreibung  dieser  Medaille  welche  das  k.  k.  Münz-  und 
Antiken-Cabinet  in  Wien  verwahrt. 

Vorderseite:  AUREA  PROGENIES  PLUMBO  PROGNATA 
PARENTE1).  Saturn  auf  Wolken  thronend,  auf  deren  einer 
sein  Zeichen  h  zu  sehen  ist,  mit  der  Sense  in  der  Rechten  und 
der  Sanduhr  in  der  Linken,  dessen  Haupt  aber  prangt  als  glänzende 
Sonne,  als  —  Gold. 

Rückseite,  in  achtzehn  Zeilen  die  Worte: 

METAMORPHOSIS 

CHYMICA 

SATURNI  IN  SOLEM. 

ID  EST. 

PLUMBI  IN  AURÜM. 

SPECTATA  OENIPONTI. 

31  DECEMBRIS  MDCCXVI. 

PROCURANTE.  SERENISSIMO 

CAROLO  PHILIPPO 

COMITE  PALATINO  RHENI 

S.  R:  I:  ARCHIDAPIFERO  ET  ELECTORE 

BAVARIAE.  IVLIAE.  CLIVIAE. 

ETMONTIUM  DUCE. 

TYROLIS  GUBERNATORE  ETc  ETc 

ATQUE  IN  HAC  MONETA 

AD  PERENNEM  MEMORIAM 

ARCI  AMBROS  ET 

POSTERITATI  DONATA. 

Grösse:  2  Zoll  2  Linien  im  Wiener  Maasse;  Gewicht:  lö1/^ 
Ducaten. 

Karl  Philipp,  Pfalzgraf  von  der  Neuburger  Linie  wurde  nach 
seines  kinderlosen  Bruders  Johann  Wilhelm's  Tode  (f  8.  Juni  1716) 
Kurfürst  von  der  Pfalz.  —  Professor  Schmieder  setzt  in  seiner 
Geschichte  der  Alchemie,  Halle  1832,  S.  40,  diese  Medaille  und 
den  Vorgang  der  Transmutation  des  Bleies  in  Gold  irrig  in  die  Zeit 
K.  Ferdinande  III.  und  weiset  auf  Keyssler's  Reisen  hin. 


!)  Zur  Vollendung'  des  Distichons  fügen  wir  hei:   Hoc  si  quis  credit,  plumheus  inge- 
nio  est. 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  97 

XIV.  S.  63.  Gräflich  Montfortische  Antiquitäten-Samm- 
lung. —  Herr  Oberbibliothekar  v.  Stalin  in  Stuttgart  antwortete 
mir  auf  meine  den  antiquarischen  Nachlass  dieses  Grafen  betreffende 
Anfrage  Folgendes:  „Graf  Ulrich  von  Montfort  war  allerdings  ein 
grosser  Antiquitäten-  und  Curiositäten-Liebhaber,  sammelte  auch  sonst 
Exotica  und  Artefacta.  Die  handschriftliche  Chronik  des  Grafen  von 
Montfort  ist  von  mir  aus  der  Verlassenschaft  des  verstorbenen  Hofraths 
von  Gock  für  die  königliche  öffentliche  Bibliothek  gekauft  worden. 
Sie  trägt  jetzt  die  Numer:  Mscr.  histor.  in  fol.  Nr.  318  und  enthält 
Bl.  269—275  inclusive:  Verzeichnuss  Weyland  Ulrich  Graffen 
von  Montfort  seeligen  verlassen  sachen  von  Antiquitäten  und 
anderen,  so  in  die  Kunstkammer  gehörig".  Hieraus  ergibt  sich, 
dass  aus  demselben  von  Vanotti  nur  einige  Zeilen  Excerpte 
abdrucken  Hess. 

XV.  S.  66.  Katalog  der  Münzen  des  römischen  Königs  Ferdi- 
nand I.  und  über  Leopold  Heiperger.  —  Diesen  schön  geschriebenen 
Katalog  von  70  Blättern  in  Querfolio  verwahrt  die  Bibliothek  der 
Exköniginn  Christina  von  Schweden  in  Born  mit  dem  Titel :  „Catalogus 
numismatum  antiquorum  et  modernorum  in  aula  Imperatoria  servato- 
rum.  Sign.  N.  661."  Leider  ohne  Jahreszahl.  Er  besteht  aus  drei 
Theilen  oder  Abtheilungen,  von  denen  der  I.  und  II.  die  Münzsamm- 
lung und  der  III.  ein  Verzeichniss  der  Geburts-  und  Sterbetage  der 
fünfzehn  Kinder  *)  K.  Ferdinand  I.  enthält.  Die  Aufschrift  des  I. 
Theiles  lautet:  Catalogus  Bomanorum  Consulum  ab  urbe  condita 
omnium,  quorum  memoria  apud  authores  reperitur,  ordine  litera- 
rum  digestus,  quo  facilius  cum  numismatum  inscriptionibus  con- 
ferri  possint.  Eorum  tarnen  quia  major  pars  ad  posteros  non  per- 
venit,  additi  sunt  numeri  tabulae  et  ordinis,  sicut  per  forulos  sin- 
gulos  digesta  serenissima  regia  Maiestas  Bomanorum  per 
Cubicularium  suum  etCastellanum  Viennensem  Leopoldum 
Heiperger  3)  componi  et  ab  interitu  vindicari  commisit.  Da  hier  im 
Contexte  Ferdinand  königliche  Majestät  genannt  wird  und  oben 
in  den  Worten  der   später    und   zuletzt    geschriebenen    Aufschrift 


')  Die  Namen,  Geburtsorte  und  Tage  dieser  Kinder  sind  auch  in  K.  Ferdinande  1. 
Gebetbuche  (Nr.  123)  in  der  k.  k.  Ambraser  Sammlung  eingeschrieben.  S.  m  ein  e 
Mittheilung  in  Ridler's  österr.  Archiv.  Wien   1831.  S.  531  ff. 

2)  In  Dudik's  Iter  Romanum  1.  224,  unrichtig  G es  pe  rge r  gedruckt,  wofür  ich  Hei- 
perger setzte. 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XIX.  Bd.  I.  Hft.  7 


98  Joseph  Bergmann. 

vom  kaiserlichen  Hofe  die  Redeist,  so  dürfte  die  Vollendung 
dieses  Kataloges  um  das  J.  1556  fallen. 

Nach  dessen  Einteilung  führt  die  I.Rubrik  die  Aufschrift :  Annus 
ab  urbe  condita  ,  die  II.  nomina  Consulam  in  alphabetischer  Ord- 
nung, die  III.  Fo(rulus);  die  IV.  enthält  den  Nume  rus  der  Münze. 
Im  Ganzen  sind  hier  etwa  99  Consularmünzen  verzeichnet,  die  damals 
in  diesem  Cabinete  waren.    Die  zweite  Abtheilung  (fol.  45)   hat  die 
Aufschrift:  „Sequuntur  nomina  Romanorum  Imperatoruni"  cum  brevi 
elogio  vitiorum  aut  virtutum  quibus  excelluerunt,  simul  cum  adnota- 
tione  annorum  imperii  et  obitus  et  ipso  mortis  genere.    Quorum  fere 
omnium  numismata  apud  serenissimam  Romanorum  majestatem  super- 
sunt,  atque  in  scriniis  ad  hoc  confectis  disposita,  atque  in  ordinem 
per  tabulas,  seu  folia  lignea  redacta  sunt  prout  in  dictis  scriniis 
clare  apparet."   Bei  vielen    sind  auch  die  Gemahlinnen  angegeben. 
Die  I.  Rubrik  ist  bezeichnet:  Forulus  (Lade),  die II.  Numerus,  die  III. 
Stirps  et  nomen,  die  IV.  Annus,  dann  Epitheton,  ferner  imperii  tem- 
pus,  aetas  und  endlich  obitus.    Bis  auf  Karl   den  Grossen,   den  der 
Verfasser  nach  Michaeli,  von  Konstantinopel  setzt,  sind  die  Numern 
der  Münzen  angegeben,  eine  sehr  reiche  Sammlung.  Fortgesetzt  ist 
die  Reihe  bis  auf  K.  Karl  V.,  zu  dessen  Lebzeiten  der  Katalog  ange- 
legt wurde.  Ungern  vermissen  wir  eine  Probe  der  Beschreibung  von 
der  einen  und  andern  Münze.  < 

Leopold  Heiperger,  Heyperger  auch  Heu  berger  entstammt 
einem  tirolischen  Geschlechte  aus  Hall ,  von  dem  ein  Zweig  sich  in 
Wien  niederliess.  Er  war  erst  des  römischen  Königs  Ferdinand  I. 
Kammerdiener  (cubicularius) ,  später  Hof-Zahl-  und  Schatzmeister 
und  Burggraf  in  Wien,  und  in  letzteren  Eigenschaften  wohl  ein  natür- 
licher Verwahrer  der  Münzen  seines  Fürsten  und  Herrn.  Er  war 
auch  wie  seine  Ahnen  in  Tirol,  ein  vermöglicher  Mann  und  besass 
das  Haus  zum  goldenen  Hirschen  am  alten  Fleischmarkt  an  der 
Stelle,  wo  dermals  des  Herrn  Vizepräsidenten  von  Karajan  neuerbau- 
tes Haus  Nr.  728  steht.  Ausserdem  hatte  Heiperger  einen  Hofaus- 
stand an  1000  Gulden  Gnadengeld,  das  nach  einer  Aufzeichnung  im 
k.  k.  Hofkammer-Archiv  im  Juli  1556  noch  vor  Ausgang  desselben 
Jahres  zu  zahlen  war.  Im  December  1556  ward  befohlen  die  Provi- 
sion von  jährlichen  100  Gulden  auf  dreizehn  Jahre  nach  seinem 
Tode  zu  erstrecken;  dann  im  August  1558  wird  angeordnet,  dass 
man  ihm  in  einem  Jahre  und  in  zwei  Fristen  400  Thaler  Gnadengeld 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  99 

reiche;  darauf  im  November,  dass  man  200  Gulden  Provision  und 
Gnadengeld  dem  Leopold  Heiperger  auf  die  Mauth  in  Linz  anweise, 
welche  Überweisung  von  100  Gulden  Gnadengeld  vom  Hof-Zahlmei- 
steramte auf  die  Mauth  in  Linz  erfolgte.  Im  Jänner  1560  heisst  es, 
man  soll  die  ihm  jetzo  bewilligten  200  Gulden  in  zwei  Fristen  bezah- 
len. Dieses  kleine  Detail  gibt  einen  Einblick  in  die  Geldverhältnisse 
jener  geldarmen  Zeit.  Im  März  1560  wird  verwilliget,  durch  drei 
Jahre  jedes  Jahr  150  Gulden  rheinisch,  von  seinem  Abgang  an 
gerechnet,  dessen  Hausfrau  und  den  Erben  (nämlich  dem  Sohne 
Karl  und  den  verehelichten  Töchtern  Judith  und  Anna)  reichen 
zulassen.  Somit  ist  das  bisher  angenommene  Sterbejahr  1557  in  1560 
zu  verändern.  Wolfgang  Lazius  der  in  dessen  Nähe  sein  Haus,  den 
sogenannten  Dr.  Latzenhof,  wo  nun  ein  neues  Haus  gebaut  wird, 
bewohnte,  sagt  von  Heiperger  als  Münzsammler:  Lupoldus, 
Ferdinando  Caesari  ä  Cubiculis,  ingentem  ac  admirandum  vetustatis 
thesaurum  collegit,  consulum  Rom.  Imperatorum  ceterorumque  vetu- 
stiorum  principum  numismalis  magno  labore  conquisitis  et  a  nobis  in 
ordinem  digestis"  V.  Lazii  Rerum  Viennensium  Commentarii. 
Basileae  1546,  pag.  146.  Wenn  demnach  Heiperger  nicht  seine  eigene 
Sammlung  ordnen  konnte,  wie  sollte  er  die  seines  Gebieters  ordnen,  er 
war,  wie  gesagt,  als  Schatzmeister  und  Burggraf  nur  deren  Verwahrer. 

Eine  Medaille  auf  ihn  und  seine  Hausfrau  Elisabetha  Fern- 
b  ergerinn  von  Egenberg  verwahrt  das  k.  k.  Münz-Cabinet,  die  in 
meinen  Medaillen  Bd.  I,  Tab.  IV,  Nr.  18  abgebildet  und  S.  44  f. 
erläutert  ist.  Eine  andere  auf  ihn  allein,  auf  welcher  er  ausdrücklich 
der  römisch-königlichen  Majestät  Kammerdiener  genannt  wird, 
besitzt  aus  der  Sammlung  des  k.  k.  F.  M.  L.  vonHayeck  seit  1836  das 
fürstlich  Fürstenbergische  Münz-Cabinet  zu  Heiligenberg. 

XVI.  S.  66.  —  Jacob  Strada,  erhielt  am  27.  December  1598  die 
Adelsbestätigung  und  Wappenbesserung  und  sein  Sohn  Ottavioden 
18.  Mai  1598  die  Bestätigung  des  seinem  Vater  vom  K.  Maximilian  II. 
verliehenen  Adels  und  Wappens  ,  wie  auch  die  Besserung  des  letz- 
teren durch  Vereinigung  mit  jenem  seiner  Mutter  Ottilia,  gebornen 
von  Rossberg  aus  Franken  (nach  den  Reichsadels -Acten).  — 
Nach  Angabe  der  europ.  Farm:  für  1712.  S.  484  finden  wir  in 
K.  Karl's  VI.  Hofstaate  „Johann  Peter  Strada,  Graf  von  Nedabilitz, 
königl.  Staathalter  in  Böhmen."  Ob  dieser  ein  Abkömmling  der  Strada 
von  Rossberg  ist,  vermag  ich  nicht  zu  bestimmen. 

7* 


100  Joseph  Bergmann. 

XVII.  S.  67.  Simon  Wagnereck,  war  nicht  in  Schwaben,  sondern 
zu  München  im  J.  1605  geboren,  durch  neun  Jahre  Professor  der 
Beredtsamkeit  und  im  Griechischen  und  Lateinischen  wohl  unterrich- 
tet. Auch  befasste  er  sich  mit  dem  Lesen  und  Erklären  von  Inschrift- 
steinen, Nach  P.  Sotwel  beleuchtete  er  die  römischen  Münzen  der 
kurfürstlichen  Sammlung,  bevor  er  seinem  Rufe  nach  Wien  folgte. 
Cf.  Bibliotheque  des  Ecrivains  de  la  Compagnie  de  Jesus,  par  Augu- 
stin et  Alois  de  Back  er.  Liege  1855,  Premiere  serie,  p.  782,  wo 
seine  theologischen  Werke  angezeigt  sind.  —  Über  den  derselben 
baierischen  Familie  entsprossenen  Adepten,  den  sogenannten  Baron 
von  Wagner  eck,  der  sich  1680  in  Prag,  dann  in  Ischl,  Waizen- 
kirchen,  1682  zu  Brunn,  dann  1683  zu  Wien  aufhielt  und  im  selben 
Jahre  zu  Enns  starb,  s.  Dr.  Schmieder's  Geschichte  derAlehemie, 
Halle  1832,  S.  439  f.  und  601. 

XVIII.  zu  S.72.  Thomas  Lansius  wurde  am  16.  Februar  1577  im 
Markte  Berg  in  Oberösterreich  geboren.  Sein  Vater  Leonhard beklei- 
dete die  Richtersstelle  daselbst  und  scheint  überhaupt  ein  angesehe- 
ner Mann  gewesen  zu  sein.  Der  junge  Lansius  erhielt  seine  erste 
wissenschaftliche  Bildung  auf  dem  Gymnasium  zu  Linz,  in  welches 
er  im  vierzehnten  Jahre  eintrat ,  und  das  er  schon  im  sechzehnten 
verliess,  um  die  Universität  zu  beziehen.  Er  wählte,  da  er  wie  es 
scheint  von  Haus  aus  der  protestantischen  Kirche  angehörig  war,  eine 
protestantische  Universität  suchte,  Tübingen.  Wann  er  nach  Tübingen 
gekommen,  konnte  ich  nicht  genau  auffinden,  da  seine  Gedächtniss- 
redner das  Jahr  und  den  Tag  nicht  angeben  und  in  der  Matrikel  der 
Universität,  die  ich  vom  J.  1590  bis  1598  durchgesehen  habe,  sein 
Name  nicht  vorkommt.  Er  studirte  zunächst  Philosophie  und  Philolo- 
gie und  scheint  sich,  wie  seine  Leichenreden  melden,  durch  Talent 
und  Eifer  sehr  ausgezeichnet  zu  haben.  Im  November  1596  schrieb 
er  eine  Dissertation  de  rerum  naturalium  principiis,  und  vertheidigte 
zum  Behufe  der  Erlangung  der  Magisterwürde  eine  andere  logischen 
Inhalts  „de  praedicabilibus"  unter  dem  Präsidium  des  Professors  Zieg- 
ler „peculiari  cum  plausu."  Er  setzte  seine  philosophischen  Studien 
noch  fort,  verband  aber  damit  das  Studium  der  Rechtswissenschaft, 
und  im  Jänner  1598  trug  er  seinen  Namen  in  die  Matrikel  der  juri- 
dischen Facultät  ein.  Kurz  darauf  begab  er  sich  wegen  des  Todes 
seines  Vaters  in  die  Heimat,  kehrte  aber  nach  drei  Monaten  nach 
Tübingen   zurück,   ging  hierauf  einige  Zeit  nach  Marburg,   kam  von 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  101 

dort  auf  die  Messe  nach  Frankfurt  am  Main,  wo  er  die  Bekanntschaft 
eines  jungen  reichen  Österreichers  Abraham  Hölzel 1)  machte,  der  im 
Begriffe  war  eine  grössere  Reise  durch  Europa  zu  machen.  Er  bot 
sich  ihm  zum  Führer  und  Begleiter  an  und  brachte  nun  mehrere 
Jahre  auf  Reisen  durch  Frankreich,  die  Niederlande,  England,  Ita- 
lien, Ungern  uud  Deutschland  zu.  In  Paris  hielt  er  sich  längere  Zeit 
auf.  Nach  seiner  Rückkehr  erschien  er  wieder  in  Tübingen,  um  dort 
die  Würde  eines  Doctors  der  Rechte  zu  erlangen  und  sich  häuslich 
niederzulassen.  Er  wurde  am  3.  December  1604  von  Johann  Harp- 
precht  zum  Doctor  der  Rechte  creirt  und  an  demselben  Tag  mit 
Susanna  Schnepf,  einer  Tochter  des  Professors  der  Theologie 
Theodor  Schnepf,  getraut.  Bei  der  Universität  scheint  er  zunächst 
keine  Wirksamkeit  gehabt  zu  haben,  wir  finden  wenigstens  nicht, 
dass  er  Vorlesungen  gehalten  hätte.  Einige  Jahre  später  am  13.  Mai 
1606  wurde  er  von  dem  Herzog  Friedrich  zum  Professor  der 
Geschichte,  Politik  und  Beredtsamkeit  an  dem  Collegium  illustre 
(einer  von  der  Universität  unabhängigen  Bildungsanstalt  für  den 
Adel)  ernannt.  In  dieser  Stellung  blieb  er  bis  zu  seinem  Tode  (am 
22.  December  1657)  und  war  während  dieser  Zeit  nicht  nur  der 
Hauptlehrer,  sondern  auch  der  Leiter  und  Berather  der  Anstalt.  Zu- 
gleich war  er  bei  drei  Herzogen  herzoglicher  Bath  und  zwar  nicht 
blos  mit  Rang  und  Titel,  sondern  auch  mit  nicht  unerheblichem  Ein- 
fluss,  besonders  in  Universitäts- Angelegenheiten.  Wir  finden  ihn 
öfters  unter  den  vom  Herzog  bestellten  Visitatoren  der  Universität. 
Die  Leichenpredigt  rühmt  ihn  als  einen  grossen  Patronen  der  Uni- 
versität. 

Seine   oben   genannte  erste  Frau  starb  nach  siebzehnjähriger 
kinderloser  Ehe,   drei  Jahre  hernach  heirathete  er  Anna  Maria 


!)  Die  Hölzl  oder  Ilölzel  gehören  ursprünglich  dem  tirolischen  Adel  an.  Johann 
Ritter  erhält  1472  die  Landmannschaft  in  Tirol.  Ein  späterer  Johann  erfreute 
sich  der  Bewilligung  sich  künftig  Hölzl  von  Sternstein  zu  nennen.  Am 
12.  Jänner  1583  erhalten  Johann,  Christoph,  Kaspar  und  Wolfgang, 
wahrscheinlich  Gehrüder  oder  Vetter,  den  Adelstand.  Hanns  Hölzl  von  Stern- 
stein war  ein  sehr  thätiger  und  umsichtiger  Gewerke  von  Krumau ,  Hatiborzitz 
und  Budweis  und  machte  1584  verschiedene  Vorschläge  bei  dem  Budweiser  Berg- 
baue zu  einigen  Ersparnissen,  zu  Errichtung  von  Naturalmagazinen  für  die  Bergleute, 
wie  es  in  Tirol  und  Salzburg  gebräuchlich  war.  Er  legte  in  Budweis  eine  Sammlung 
der  edelsten  Erzstufen,  d.  i.  eine  Min  er  ali  en-Samml  ung  an,  worüber  er  von  der 
Bergwerks-Commissiou  beloht  wurde.  Da  das  reiche  Geschlecht  noch  bis  auf  den 
heutigen  Tag  fortblüht,  dürfte  L  a  n s  i  u  s  mit  einem  seiner  Söhne  Ueisen  gemacht  haben. 


102 


Joseph  Bergmann. 


Ca s per,  eine  Tochter  des  damaligen  Bürgermeisters  von  Tübingen, 
Rudolf  Casper.  Diese  gebar  ihm  eine  einzige  Tochter  welche  im 
Jahre  1646  den  berühmten  Juristen  Wolfgang  Adam  Lauterbach  hei- 
rathete,  zehn  Kinder  bekam  und  den  16.  September  1662  starb. 
Über  seine  Personalien  erschienen  folgende  Schriften  : 

1.  Die  Leichenpredigt  auf  Thomas  Lansius  von  Joseph  Demm- 
ler,  Professor  der  Theologie  zu  Tübingen.  Tübingen  1658. 

2.  Panegyricus  memoriae  ac  honori  Thom.   Lansii  dictus  publice 
a  Christoph.  Caldenbach.  Tubingae  1658. 

3.  Thomae  Lansii  cineres  seu  oratio  de  vita  ejus  beatoque  excessu. 
Habita  Tubingae  in  illustri  collegio  a  Magno  Hesenta  lero. 
1658.  —  Diese  Schrift  enthält  am  meisten  biographisches  Ma- 
terial. Hesenthaler  war  auch  Professor  am  Collegium  illustre. 
Diese  Mittheilung  verdanken  wir  durch  des  gefeierten  Doctors 

Uhl and  gütige  Vermittelung  dem  Herrn  Bibliothekar  Kl üp fei 
der  die  Geschichte  der  Universität  Tübingen  1849  herausgegeben 
hat,  und  zollen  beiden  schuldigen  Dank.  Derselben  wollen  wir  noch 
folgende  Notiz  die  sich  auf  Lansius  als  Gelehrten  und  als  Numis- 
matiker bezieht,  hier  als  an  rechter  Stelle  anfügen. 

Lansius  erwarb  sich  bei  seinen  Zeitgenossen,  besonders  durch 
seine  Consultatio  de  principatu  inter  provincias  Europae,  die  zu 
Tübingen  mehrmals  und  zuletzt  im  J.  1655  in  8V0  gedruckt  und 
sogar  auf  königlichen  Befehl  ms  Englische  übersetzt  wurde,  einen 
bedeutenden  Namen  und  war  vom  Kaiser  und  den  Reichsfürsten  häutig 
zu  Rathe  gezogen,  ja  er  erhielt  vom  K.  Ferdinand  III.  eine  goldene 
Medaille  mit  dessen  Bildniss.  Auch  sammelte  er  eine  grosse  Anzahl 
der  ältesten  Münzen  und  suchte  diesen  Schatz  stets  zu  mehren. 
Der  genannte  Kaiser  berief  ihn  mit  diesem  Münzschatz  an  seinen 
Hof,  da  er  aber  die  Reise  nicht  unternehmen  konnte ,  überschickte 
er  denselben  nach  Wien,  leider  starb  der  Kaiser  nach  gar  kurzer 
Krankheit  am  2.  April  1657.  Noch  am  Schlüsse  des  nämlichen  Jah- 
res folgte  ihm  Lansius  ins  Grab.  S.  Elogium  Thomae  Lansii  auc- 
tore  B.  Theophilo  Spizelio  Augustano  in:  J.  G.  Schelhornii 
Amoenitates  literariae.  Francofurti  et  Lipsiae.  Tom.  VI.  587 — 594. 

XIX.  S.  75.  Die  alte  Familie  Beltrame  Cristiani  ist  im  Mailändi- 
schen heimisch,  von  der  auch  Einige  nach  Genua  übersiedelten. 
Petrus  Julius  Beltrame  ward  an  K.  Heinrich  VIII.  von  England  im  J. 
1538  zur  Zeit  seines  Abfalles  vom  katholischen  Glauben  abgeordnet. 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  1  0  O 

Don  Beltrame  Cristiani  diente  erst  in  der  Justiz  und  war  Oberlichter 
in  Parma,  später  verwaltete  er  im  kaiserlichen  und  königlich  sardini- 
schen Namen  das  Herzogthum  Modena  und  war  Gubernator  von 
Parma.  Die  Kaiserinn  M.  Theresia  erhob  ihn  am  31.  Juli  1743  in  den 
Grafenstand  nach  dem  Rechte  der  Erstgeburt  seiner  ehelichen  männ- 
lichen Nachkommen  für  die  Herzogthümer  Parma  und  Piacenza  (nach  den 
Reichsadels-Acten)  j).  Später  ernannte  diesen  vielfach  verwendbaren 
Mann  die  Kaiserinn  zum  Präsidenten  des  Finanzwesens  ihrer  Erbstaa- 
ten in  Italien  mit  dem  Titel  eines  Kanzlers,  in  welcher  Stelle  er  am 
10.  Juli  1758  zu  Mailand  starb.  Kurz  vor  seinem  Hinscheiden  erhielt 
er  von  der  Monarchinn  ein  eigenhändiges  Schreiben,  worin  sie  ihn 
ersuchte,  mit  Hintansetzung  aller  Geschäfte  nur  für  die  Wieder- 
herstellung seiner  Gesundheit  zu  sorgen  und  sich  ihr  und  dem  Staate 
zu  erhalten.  „Seid  —  schloss  sie  ihr  Schreiben  —  übrigens  unbe- 
sorgt wegen  Euerer  Kinder.  Sie  sollen  in  jedem  Falle  eine  Mutter  an 
mir  finden ,  welche  mehr  für  sie  thun  wird,  als  der  zärtlichste  Vater 
wünschen  kann." 

Der  Graf  hinterliess  in  Beziehung  auf  seine  Stellung  und 
geführte  gute  Wirthschaft  ein  sehr  mittelmässiges  Vermögen ;  aber 
die  grosse  Kaiserinn  hielt  reichlich  ihre  gnädige  Zusage.  Wir  finden 
zwei  junge  Grafen  Franz  und  Alois  Cristiani,  wohl  dessen  Söhne, 
im  k.k.  Theresianum.  Beide  Jünglinge  interessirten  mich  um  so  mehr, 
da  Graf  Alois  als  Zwillingsgestirn  Eckhefs  am  numismatischen  Hori- 
zonte aufzugehen  schien  (S.  59).  Um  Näheres  über  ihn  zu  erfahren, 
wandte  ich  mich  an  Herrn  Dr.  Heinrich  Demel,  Director  der  genann- 
ten k.  k.  Ritter-Akademie,  der  mir  sagte,  dass  die  Jesuiten  bei  Auf- 
hebung ihres  Ordens  alle  Schriften  und  Kataloge  mit  sich  genommen 
haben.  Der  gelehrte  Froelich  veröffentlichte  1756  bei  der  feierlichen 
Disputation  der  Grafen  Johann  Fekete  und  Franz  Cristiani  seine: 
Diplomataria  sacra  Ducatus  Styriae.  IL  Partes  apud  Trattnern  2). 
Graf  Alois  wollte  in  Erinnerung  an  sein  schönes  Vaterland  und  sei- 
nen Vater3)   eine    Beschreibung   der   Umgegend  von  Mailand   mit 


1)  Bei  der  Drucklegung  dieses  Bogens  fand  ich  einige  nähere  Notizen  üher  den  Gra- 
fen Cristiani  in  Kaltenbäck's  Österreich.  Zeitschrift.  Wien  1836,  S.  104,  auf 
die  ich  verweise. 

2)  Denis'  Merkwürdigkeiten  der  Garellischen  Bibliothek.  Wien   1780,  Bd.  I,  19. 

3)  In  der  Vorrede  zu  seinem  Thesaurus  Britannicus  sagt  er  :  —  quo  nie  trahehat  et  patria 
optimi,  qui  pro  Augusta  hac  in  provincia  p  lena  cum  potestate  fuit,  rccordatio. 


104  Joseph  Bergmann. 

historischen  Anmerkungen  herausgeben ,  stand  aber,  da  diese  Arbeit 
bei  seinen  Studien  zu  umfangreich  und  zeitraubend  war,  hievon  ab 
und  wandte  sich  zu  numismatischen  Lucubrationen. 

Anhang. 

Johann  Baptist  Primisser  als  Schüler  D u  v a Ts ,  und  des  Letz- 
tern Zeugniss,  wie  auch  über  Alois  Primisser. 

Jobann  Baptist  Primisser  am  23.  August  1739  zu  Prad 
in  der  Nähe  des  Orteies  geboren,  machte  unter  der  Leitung  sei- 
nes altern  Bruders  Cassian J)  die  Gymnasial-  und  philosophischen 
Studien  zu  Innsbruck,  ward  Hofmeister  im  gräflich  von  KünigPsehen 
Hause  und  trat  1765  von  den  juridischen  Studien  als  Haus- 
secretär  in  die  Dienste  des  obersten  böhmischen  und  österrei- 
chischen ersten  Kanzlers  Rudolf  Grafen  von  Chotek,  der 
sich  in  Innsbruck  befand,  und  reiste  in  jener  Eigenschaft  mit 
ihm  nach  Wien.  Als  der  damalige  Scblosshauptmann  von  Ambras  und 
Burgpfleger  zu  Innsbruck,  Herr  v.  Kiep  ach  (S.  54),  seines  Alters 
wegen  seinem  Dienste  nicht  mehr  recht  vorstehen  konnte  ,  erhielt 
Primisser  vom  Gubernial-Präsidenten  aus  Innsbruck  die  Aufmunterung 
sich  um  die  erstere  Stelle  zu  bewerben,  indem  man  sie  von 
der  Burgpflege  trennen  und  einem  wissenschaftlich  gebildeten  Manne 
übergeben  wolle.  Diesem  Winke  gehorchte  Primisser  und  erhielt 
1768  die  Anwartschaft  auf  dieselbe.  Nun  benützte  er  alle  Zeit, 
die  ihm  von  seinem  Secretärsdienste  übrig  blieb,  zu  der  hiezu  erfor- 
derlichen Ausbildung  und  besuchte  das  k.  k.  Münz-  und  Medaillen- 
Cabinet  das  Duval's  Direction  unterstand.  Im  November  desselben 
Jahres  begleitete  er  des  Kanzlers  vielversprechenden  Neffen,  Johann 
Rudolf  Grafen  Chotek,  den  nachherigen  Finanz-,  dann  Staats-  und 
Conferenz-Minister  (f  1824),  auf  dessen  Reise  über  Innsbruck  nach 
Mailand,  Florenz,  Rom,  Neapel  etc.  und  kehrte  durch  Frankreich,  mit 
vielen  und  neuen  Kenntnissen  bereichert,  im  September  1770  nach 
Wien  zurück. 


')Ca  ssian  war  Capitular  und  Archivar  zu  Stams,  ordnete  die  dortige  Bibliothek  und 
wurde  der  Geschichtsschreiber  seines  Stiftes.  Er  starb  allzufrüh  am  19.  December 
1771.  An  ihn  schrieb  sein  Bruder  interessante  Briefe,  besonders  über  Roms  Alterthü- 
mer ,  Staatsverfassung,  deren  Mängel,  Kunstsachen,  etc.,  die  leider  nicht  mehr 
vollständig  in  Stams  vorhanden  sind. 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  105 

Als  den  edlen  Kanzler  im  J.  1771  eine  tödtliche  Krankheit  befiel, 
empfahl  er  der  Kaiserin!)  M.  Theresia  die  huldvoll  ihn  persönlich 
besuchte,  alle  Jene  die  er  gern  belohnt  wissen  wollte,  ihrer  Gnade, 
und  unter  diesen  besonders  Primisser.  Der  Graf  starb  am  7.  Juli 
und  bald  betheilte  sie  Primissern  mit  einer  jährlichen  Pension.  Da 
der  betagte  Herr  von  Kiepach  seinem  Dienste  im  Schlosse  Ambras 
nicht  mehr  vorstehen  konnte,  erhielt  Primisser  im  Jänner  1772 
die  wirkliche  Anstellung,  ging  nach  Innsbruck  ,  übernahm  die 
Verwaltung  des  Schlosses  Ambras  und  des  dortigen  Raritäten- 
Cabinets  und  ordnete  dasselbe,  das  im  Laufe  der  Zeit  in  grosse 
Unordnung  gerathen  war.  Er  gab  „kurze  Nachrichten  von  dem  k.  k. 
Raritäten-Cabinete  zu  Ambras  in  Tirol.  Innsbruck  bei  Wagner 
1777  in  8T0"  heraus,  ward  1783  auch  Professor  der  griechischen 
Sprache  wie  auch  Bibliothekar  zu  Innsbruck,  und  kam  im  Septem- 
ber 1806  mit  dem  Cabinete  nach  Wien.  Hier  begann  er  nach  den 
Kriegsjahren  die  neue  Aufstellung  im  untern  k.  k.  Belvedere,  und 
ward  beim  Lesen  der  Bibel  vom  Schlagflusse  gerührt  am  8.  Fe- 
bruar 1815.  Seine  begonnene  Arbeit  setzte  fort  und  vollendete  des- 
sen einziger  trefflicher  Sohn  Alois,  dem  wir  die  mustergiltige 
„Beschreibung  der  k.  k.  Ambraser  Sammlung.  Wien  1819" 
nach  ihrer  damaligen  Aufstellung  verdanken.  Im  Jahre  1822  verehe- 
lichte er  sich  mit  Fräulein  Julie  Mih es,  Tochter  des  k.  preussischen 
Bergrathes  Melchior  M.  aus  Breslau  (f  11.  Oct.  1827  in  Wien), 
einer  ausgezeichneten  Malerinn,  deren  Leistungen  man  in  Nagler's 
Künstler-Lexikon,  Bd.  IX,  285  nachsehe.  Bald  begann  er  zu  kränkeln 
und  starb  am  25.  Juni  1828  im  32.  Jahre  seines  edlen  und  thätigen 
Lebens  ander  Luftröhrenschwindsucht,  der  Letzte  dieser  tirolischen 
Familie.  Nach  dessen  Tode  ging  die  kinderlose  Witwe  zugleich  mit 
ihrer  Schwester  am  1.  November  1827  ins  Kloster  der  Salesianerinnen 
am  Rennwege  in  Wien,  legte  am21.  April  1829  das  feierliche  Gelübde 
ab,  und  nahm  den  Namen  Maria  de  Chantal  an.  Sie  war  eine  erwünschte 
Lehrerinn  im  Zeichnen  und  in  mehreren  anderen  Fächern  in  dem 
dortigen  Fräulein -Institute,  auch  vom  Jahre  1843 — 1849  Ober  in  n 
und  starb  am  Zehrfieber  den  16.  Jänner  1855  in  einem  Alter  von 
69  Jahren. 

Als  Numismatik  er  schrieb  Primisser :  „Das  älteste  öster- 
reichische und  Wiener  Münzwesen  bis  in  die  Zeiten  Fer- 
dinand^ I.   mit  zwei  Münztafeln ,  gedruckt  in  des  Freiherrn   von 


{06  Joseph  Bergmann. 

Hormayr  Geschichte  von  Wien.  Bd.  III,  209  ff.,  und  Berichtigung  eines 
numismatischen  Irrthums  im  Hesperus.  Archiv  1821,  S.  364.  Umfang- 
reichsind seine  handschriftlichen  Kataloge  im  k.k.Münz-  und  Antiken- 
Cabinete.  Als  der  Director  von  Steinbüchel  und  der  erste  Custos, 
der  dermalige  Director  Arneth,  im  J.  1818  von  Wien  abwesend 
waren,  hielt  Primisser  inhaltreiche  Vorlesungen  über  Numismatik 
voll  Klarheit  und  Präcision,  die  dem  Schreiber  dieser  Zeilen,  seinem 
dankbaren  Schüler,  der  damals  sich  nicht  träumen  Hess,  dass  er 
ihm   zehn  Jahre  später  im  Amte  folgen  sollte,  stets  unvergesslich 

bleiben *). 

Nach  dieser  längern  Einleitung  mit  näherem  Detail  über  die 
beiden  Primisser  wird  der  nachstehende  Extractus  Protocolli  der  böh- 
mischen und  österreichischen  Hofkanzlei  de  datis  25.  und  26.  Martii 
1768  an  die  k.  k.  Hofkammer  bezüglich  der  Pri  miss  er'schen 
Anwartschaft  auf  die  Schlosshauptmann schaft  zu  Ambras 
und  des  Zeugnisses  von  Duval  für  Primisser  im  Zusammenhange 
völlig  erklärt.  Er  lautet  in  etwas  verbesserter  Orthographie  und  Inter- 
punction  wörtlich  wie  folgt:  Das  Tirolische  Gubernium  erstattet 
unterm  8.  März  seinen  Bericht  über  zwei  beigeschlossene  Memorialien: 
lo.  des  Hof-Burg-Pflegers  und  Schlosshauptmanns  zu 
Amras  Karl  Maximilian  v.  Kiepach  3),  ihm  in  beiden  Officiis 
seinen  Sohn  Karl  Johann  cum  spe  successionis  zu  adjungiren, 
dann  2do  des  Johann  Primisser  um  die  A  n  w  artsc  haft  auf 
die  S c hl o  ssh au ptman  n stelle  zu  Amras.  Der  Sohn  des  alten 
von  Kiepach  habe  die  langjährigen  Dienste  seines  Vaters  für  sich,  sei 
auch  von  einem  guten  Studio  und  sittsamer  Aufführung,  und  dürfte 
daher,  besonders  nachdem  dessen  Vater  dieErlaubniss  ertheilt  worden, 
einen  seiner  Söhne  in  Vorschlag  zu  bringen,  allerdings  einer  Conside- 
ration  würdig  sein,  da  jedoch  andererseits  der  Johann  Primisser  sowohl 
dem  allgemeinen  Bufe  nach,  als  auch  dem  beigebrachten  Zeugniss  zu 
Folge  die  zur  Verwaltung  eines  so  wichtigen  Antiquitäten-,  Münz-  und 
Naturalienschatzes,  wie  jener  auf  dem  Schloss  Amras  ist,  erforder- 
lichen Wissenschaften  welche  dem  jungen  von  Kiepach  ermangeln, 


1)  Über  die  fünf  gelehrten  Primisser  s.  meine  Mittheilung-  in  der  österreichischen 
National-Encyklopädie,  Bd.  IV,  292  f.  und  über  Alois  Primisser  und  dessen 
wissenschaftliche  Leistungen  besonders  in  den  Blattern  für  Literatur  und  Kunst  zu 
Kaltenbäck's  Österreich.  Zeitschrift  etc.   Wien  1837,  Nr.  99  und  im  Tiroler  Boten  1839 

2)  Die  von  Küepach  oder  Kiepach  s.  oben  S.  92. 


Pflege  der  Numismatik  in  Österreich.  107 

in  vorzüglichem  Grade  besitze,  könnten  beide  Officia  eines  Hof-Burg- 
Pflegers  und  eines  Schlosshauptmanns  zu  Amras  ganz  füglich  wiederum 
getrennet  werden.  Das  Gubernium  erachtet,  dass  dem  jungen  von 
Kiepach  die  Anwartschaft  auf  das  Hof-Burg-Pflegeramt,  dem  Johann 
Primisser  aber  jene  auf  die  Schlosshauptmannschaft  zu  Amras  ver- 
liehen werden  könne.  Übrigens  habe  vorhin  ein  Hof-Burg-Pfleger  an 
Salario  709  fl.  und  ein  Schlosshauptmann  zu  Amras  474  fl.  genossen. 
Es  scheine  aber  des  Letzteren  Besoldung  dem  Decoro  officii  und 
dessen  Wichtigkeit  allerdings  nicht  angemessen  zu  sein. 

Die  Amrasisehe  Sammlung  von  Münzen,  Antiquitäten,  auch  theils 
Naturalien  ist  in  ganz  Europa  bekannt  und  wird  von  allen  Fremden 
besucht,  wie  solches  mehrere  gedruckte  Beisebeschreibimgen  nebst 
dem  Vorwurf  enthalten,  dass  eine  so  wichtige  Sammlung  von  Leuten 
besorgt  werde ,  welche  nicht  die  geringste  Kenntniss  der  schönen 
Wissenschaften  besitzen  und  sich  durch  ihre  ungereimten  mündlichen 
Erklärungen  lächerlich  machen,  dadurch  aber  dem  Lande  selbst 
Schande  und  Vorwürfe  der  tiefsten  Unwissenheit  zuziehen,  da  doch 
ein  geschickter  Vorsteher,  besonders  wenn  solcher  im  Stande  wäre, 
den  unter  seiner  Aufsicht  habenden  (sie)  Schatz  durch  Schriften  dem 
Publico  bekannt  zu  machen,  zur  Ausbreitung  der  Wissenschaften 
nützliche  Dienste  leisten  könnte.  Allzubekannt  ist,  dass  der  jetzige 
Schlosshauptmann  von  Kiepach  kaum  lateinisch  lesen  kann,  viel  weni- 
ger sich  im  Stande  befindet,  die  gemeinste  römische  oder  griechische 
Münze  nur  zu  benennen,  und  dass  solcher  durch  seine  fabelhaften 
Erzählungen  bei  allen  Fremden  Lachen  und  zugleich  Argerniss 
erwecket  *)•    Dessen   Sohn  mag   ein  ganz  guter  Student  sein  und 


!)  Vor  vielen  Jahren  erzählte  mir  ein  alter  Tiroler  Edelmann,  der  in  seiner  Jugend 
bei  der  Erzherzoginn  Elisabeth,  Schwester  K.  Joseph's  II.,  in  Innsbruck  Edel- 
knabegewesen war,  ganz  drollige  Dinge  aus  dieser  v.  KiepachischenZeit.  Unter  Ande- 
rem zeigte  von  Kiepach  dem  genannten  Kaiser  bei  einem  Besuche  des  Schlosses  den 
Strick  des  Judas  als  eine  Hauptcuriosität,  den  der  Kaiser,  um  der  Lächerlichkeit 
ein  Ende  zu  machen,  sogleich  von  seinem  Begleiter  wegnehmen  liess.  Keyssler, 
der  zu  Anfang  Juni  1729  Ambras  besah,  sagt  in  „Neueste  Reisen  durch  Deutschland, 
Böhmen  etc.,  Hannover  1751,  Thl.  I,  28:  In  Ambras  ist  in  einer  Schachtel  ein  Stück 
des  Stricks,  woran  Judas  sich  erhenkt  haben  soll.  Dabei  war  ein  Zeugniss  von 
Sebastian  Schertel  (dessen  Rüstung  die  Sammlung  dermals  sub  Nr.  84  ver- 
wahrt) ,  dass  er  denselben  bei  der  Überrumpelung  Roms  unter  Karl  Herzog  von 
Bourbon  1327  in  einer  Kirche  erbeutet  habe.  Er  spricht  von  lächerlichen  Foppereien 
von  Seite  des  ihn  zeigenden  Schlosshauptmanns.  Vielleicht  war  Herr  von  Kiepach 
schon  damals  daselbst  angestellt.  —  So  hat  denn  auch  der  Strick  von  J  udas  seine 
Geschichte ! 


108  Joseph  Bergmann.    Pflege  der  Numismatik  in  Österreich. 

seine  Institutiones  und  Pandecten  ganz  fleissig  gehört  haben,  allein 
hiedurch  wird  man  kein  Antiquarius  und  Münzenkenner.  Dahingegen 
gibtDuval,  Director  des  kais.  kön.  Medaillen-Cabinetes,  dem  Johann 
Primisser  das  Zeugniss,  dass  er  eine  ausnehmende  Fähigkeit  zu  dieser 
Wissenschaft  zeige,  die  hierzu  nöthigen  Sprachen  besitze  und  die 
Schriftsteller  welche  von  Münzen  und  Alterthümern  handeln,  fleissig 
lese,  folglich  alle  Hoffnung  von  sich  gebe,  ein  geschickter  Vorsteher 
einer  dergleichen  Sammlung  zu  werden. 

Man  wäre  daher  von  Seite  der  böhmisch-österreichischen  Hof- 
kanzlei mit  dem  Gubernio  einverstanden,  dass  zwar  dem  jungen 
v.  Kiepach  zur  Consolation  seines  alten  Vaters  die  Anwartschaft  auf 
die  Hof-Burg-Pflegerstelle,  jene  auf  den  Schlosshauptmanns-Dienst 
aber  dem  Johann  Primisser  verliehen  werden  könnte.  Anbelangend 
die  Besoldung  dieses  Letzteren  wird  es  sich  seinerzeit  zeigen,  ob 
derselbe  nicht  mit  dem  vormaligen  Salario  auslangen  könne,  besonders 
da  kein  Reisender  ist,  welcher  nicht  für  die  mit  Zeigung  habende 
(sie)  Mühe  einem  jeweiligen  Schlosshauptmanne  eine  kleine  Ergetz- 
lichkeit  zurücklässt,  solches  auch  gar  gerne  thut,  wenn  er  durch 
etliche  Stunden  eine  angenehme  und  lehrreiche  Unterhaltung  genossen 
hat.  (Der  schleppende  Schluss  lautet:) 

Mit  welcher  diesseitigen  Wohlmeinung  demnach  gegenwärtiger 
Bericht  an  Eine  löbliche  kais.  auch  kais.  königl.  Hofkammer  per 
Extractum  Protocolli  zu  begleiten  und  sich  derselben  Wohlmeinung 
zu  erbitten  sein  wird,  damit  demnächst  der  gemeinschaftliche  aller- 
unterthänigste  Vortrag  (au  die  Kaiserinn  Maria  Theresia)  erstattet 
werden  könne.  —  Die  Hofkammer  ddo.  5.  April  war  hiermit  gänzlich 
einverstanden  und  fügte  bei,  dass  man,  was  dasSalarium  des  zweiten 
Postens  betrifft,  denselben  zu  seiner  Zeit  mit  einer  proportionirten 
Besoldung  zu  versehen  allergnädigst  geneigt  sein  werde. 


Boller.  Vergleichende  Analyse  <les  magyarischen  Verbums.  109 


SITZUNG  VOM  30.  JÄNNER  1856. 


Vorgelegt: 

Vergleichende  Analyse  des  magyarischen   Verbums. 

Von  dem  c.  M.,  Hrn.  Prof.  Boller. 

Das  Magyarische  besitzt  eine  Anzahl  mehr  minder  zweckmässiger 
praktischer  Grammatiken,  hat  aber,  bis  jetzt  wenigstens,  noch  keine 
wissenschaftliche  Bearbeitung  gefunden.  Vorliegender  Aufsatz  macht 
nicht  darauf  Anspruch,  in  dem  behandelten  Theile  diese  Lücke  aus- 
zufüllen, sondern  hat  blos  den  Zweck,  Materialien  dafür  zu  liefern. 

Die  Wurzel. 

Um  das  Wesen  des  Verbal- Ausdruckes  richtig  beurtheilen  zu 
können,  ist  eine  klare  Einsicht  in  den  Bau  der  Sprache  überhaupt 
nothwendig.  Diese  kann,  da  die  Formen  unter  denen  der  mensch- 
liche Geist  seine  Anschauungen  und  Begriffe,  in  gegenseitigem  Ein- 
verständniss  zwischen  Sprechenden  und  Hörenden,  lautlich  ausgeprägt 
hat,  in  den  einzelnen  Sprachen  gegeben  sind,  nur  auf  dem  Wege  der 
Erfahrung  und  speciell  der  Zergliederung  und  Vergleichung  der  Zei- 
chen mit  dem  Bezeichneten  sowohl  als  unter  einander  selbst,  gewon- 
nen werden.  Betrachtet  man  nun  die  Summe  der  in  einer  Sprache 
vorhandenen  Begriffszeichen,  so  zerfallen  diese  zunächst  in  zwei 
Beihen,  von  denen  die  eine  blos  die  räumliche  Beziehung  des  Bezeich- 
neten zu  dem  wahrnehmenden  Subjecte,  ohne  Bücksicht  auf  die  sinn- 
fälligen Eigenschaften  der  Substanz,  angibt,  die  aridere  hingegen  die 
Objecte  gerade  durch  letztere  bezeichnet.  Die  Begriffszeichen  der 
zweiten  Gattung  ordnen  sich  in  Gruppen  die  einzeln  eben  so  einen 
lautlichen  Mittelpunct  besitzen,  wie  ihr  begrifflicher  Inhalt  auf  eine 


110 


B  o  1 1  e  r. 


gemeinsame  Anschauung  zurückgeht.  Die  Wörter  äll-ok,  all- 6, 
all -äs,  äll-adalom,  äll-omäs,  äll-omäny,  äll-väny  etc.,  sto, 
sta-ns,  sta-tio,  sta-tus,  sta-men,  sta-tua  etc.  haben  die  Sylbe 
all,  sta  gemein,  wie  die  durch  sie  dargestellten  Begriffe  insgesammt 
sich  aus  der  Anschauung  des  „Erscheinens  in  aufrechter 
Stellung"  entwickelt  haben.  All  und  sta  sind  die  Stamm-  oder 
primitive  Wurzel  dieser  Wörter  und  „in  aufrechter  Stellung 
sich  befinden"  das  gemeinsame  Merkmal  der  durch  sie  ausge- 
drückten Begriffe.  Die  Verschiedenheit  dieser  Begriffe  unter  sich 
wird  also  durch  die  Endungen  -ok,  -ö,  -äs,  -odalom,  -omäs,  -omäny, 

-väny, o,  -ns,  -tis,  -tus,  -men,  -tua,  und  zwar  jeder  einzeln  durch 

die  entsprechende  Form  der  letzteren,  bedingt.  Da  jene  Begriffe  die 
Verhältnisse  angeben,  in  denen  die  Erscheinung  zu  den  in  ihren 
Bereich  fallenden  Objecten  steht,  diese  Verhältnisse  aber  bei  den  ver- 
schiedenen Erscheinungen  constant  bleiben  (yA:g  =  J(gens);  — 
YB:g  =  Ä; —  V  A:g  = /(nstrument),  VB:g'  =  T  etc.),  so  wer- 
den jene  Endungen  zu  Exponenten  der  letzteren  und  folglich  der 
diesen  entsprechenden  Begriffe,  so  dass  diese  mit  der  Kenntniss  der 
Wurzel  und  ihres  Exponenten  gegeben  und  erklärt  sind. 

Man  pflegt  diese  unmittelbar  auf  die  Erscheinung 
bezogenen  Begriffs-Bildner,  des  letzteren  Umstandes  wegen 
Würz  el suffixe  zu  nennen'  im  Gegensatze  zu  den  Spross- 
bildnern  welche  Verhältnisse  fertiger  Begriffe  zu  anderen 
bezeichnen. 

Eine  grosse  Anzahl  der  einfachen  Begriffe  zeigt  bei  der  Analyse 
des  entsprechenden  lautlichen  Ausdruckes  zwar  das  dem  Verhältniss 
zukommende  Wurzelsuffix,  dieses  tritt  aber  an  die  aus  der  Verglei- 
chung  der  zusammengehörigen  Wörter  abgezogene  Wurzel  nicht 
unmittelbar,  indem  zwischen  beide  ein  drittes  Element  sich  einschob. 
Untersucht  man  die  Bedeutung  der  so  gebildeten  Wörter,  so  zeigt 
sich,  dass  jenes  Zwischenglied,  ohne  den  Werth  des  Suffixes  zu 
berühren,  die  Bedeutung  der  Wurzel  modificirt  und  näher  bestimmt. 
So  bezeichnet  „Setzer"  vermöge  des  Suffixes  den  Wirkenden, 
aber  nicht,  der  Bedeutung  der  Stammwurzel  gemäss  „der  sitzt", 
sondern  mit  Angabe  des  Causalverhältnisses  „der  sitzen  macht". 
Man  kann  diese  Mittelglieder  Wurzelexponenten  nennen,  die 
so  modificirfen  Wurzeln  aber  als  secundäre  bezeichnen  und  diese 
Benennung  auch  da  gebrauchen,  wo  die  Stammwurzel  selbstständig 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums. 

nicht  mehr  nachweisbar  ist,  sobald  der  Wurzelexponent  gegen  die 
Primitivität  spricht. 

Eine  dritte  Reihe  von  Bildungen  mittelst  der  Wurzelsuffixe  end- 
lich fügt  diese,  meist  unter  Vermittlung  eines  besonderen  Wurzel- 
exponenten, an  eine  bereits  fertige  Wortform.  So  ist  regna-tor  von 
regna(-re)  gebildet,  welches  selbst  auf  die  Stammwurzel  reg  zurück- 
geht; remenyl  stammt  von  remeny,  einem  Verbalnomen  von  der  nicht 
mehr  nachweisbaren  Stammwurzel  (e)r.  Diese  Gattung  Wurzeln 
pflegt  man  nach  ihrer  Grundlage  denominative  zu  nennen. 

Demnach  kann  man  sich  den  Hergang  bei  der  Sprachbildung  in 
folgender  Weise  denken. 

Indem  der  Geist  den  durch  die  unmittelbare  sinnliche  Anregung 
hervorgerufenen  Eindruck  festzuhalten  strebte,  um  sie  dem  Geiste 
wieder  vorzustellen,  schuf  er  ein  Lautbild  das  Erscheinendes  und 
Erscheinung,  Substanz  und  Accidenz  gleichmässig  bezeichnete  — 
die  Wurzel  *).  Da  den  verschiedenen  Eindrücken  verschiedene  Laut- 
bilder entsprechen,  wurden  diese,  auf  die  in  den  Kreis  der  Erschei- 
nung fallenden  Objecte  bezogen,  zu  Unterscheidungszeichen  der  letz- 
teren. Diese  Unterscheidung  wurde  ergänzt  durch  die  Beobachtung, 
dass  die  Objecte  zu  der  Erscheinung  in  bestimmten,  stets  wiederkeh- 
renden Verhältnissen  als  Wirkendes,  Gewirktes,  Werkzeug,  Ort  der 
Wirkung  etc.  stehen,  welche  sich  durch  constante  Exponenten  bezeich- 
nen Hessen,  die  übrigens,  wo  die  Beziehung  entweder  an  sich  oder  in 
Folge  anderweitiger  Bestimmung  keinem  Zweifel  unterliegt,  auch  fort- 
blieben und  dann  ideell  ergänzt  werden.  Durch  beides  nun  —  das 
der  besonderen  Erscheinung  entsprechende  Lautbild  und  den  dasVer- 
hältniss  der  Substanz  zu  der  Erscheinung  anzeigenden  Exponenten 
—  gewann  die  Sprache  positive  Erkennungszeichen  (nomina, 
von  nosco)  für  die  Objecte.    An  Inhalt  gewannen  diese  BegrifFs- 


')  Obgleich  die  Grammatik  welche  analytisch  verfahren  muss ,  zum  Begriffe  der 
Wurzel  nur  durch  Äbstraction  gelangt  und  daher  von  ihrer  Realität  absieht,  ja  diese 
zum  Tbeil  bestreitet,  unterliegt  es  dennoch  keinem  Zweifel,  dass  dieselbe  einst  selbst- 
ständig im  Gebrauch  gewesen.  Beleg  dafür  ist  der  Umstand,  dass  die  Wurzel  nicht 
blos  in  den  einsylbigen,  sowie  in  den  ural-altaischen  Sprachen,  sondern  selbst  im  San- 
skrit, und  gerade  in  dessen  ältester  Form,  dem  Vedendialekte  häufigundin  allen 
den  verschiedenen  Bedeutungen,  für  welche  besondere  Suffixe 
vorhanden  sind,  gebraucht  wird.  In  der  noch  unentwickelten  Bedeutung 
liegt  auch  die  Veranlassung  zu  dem  unfruchtbaren  Streite  über  die  Priorität  der  Nomi- 
nal- oder  Vrerbalwurzel. 


112  Boller. 

zeichen,  indem  die  Erscheinung  nach  Caus  alität,  notwendi- 
ger oder  zufälliger  Verbindung  mit  ihren  materiellen 
Trägern,  E  ntwickelung,  Dauer,  Wiederh  olung,  Inten- 
sität, Richtung,  Zahl  und  Wechselbeziehung  der  wir- 
kenden oder  von  der  Wirkung  getr  offen  en  Obj  ecte  etc. 
näher  bestimmt  wurde  (secundäre  Wurzel).  Insbesondere  aber  kam 
der  Sprache  zu  diesem  Zwecke  der  Umstand  zu  statten,  dass  jene 
Begriffszeichen ,  obgleich  nur  aus  der  zumeist  charakteristischen 
Erscheinung  entwickelt,  dennoch  die  Ganzbegriffe  der  concreten 
Objecte  selbst  vorstellen,  folglich  an  die  Stelle  der  Wurzel  gesetzt, 
auch  alle  an  dem  Concretum  haftenden  Merkmale  repräsentiren  und 
in  den  neu  zu  bildenden  Begriff  übertragen  (Denominativ- Wurzel). 

Zwischen  der  Erscheinung  und  ihrem  Lautbilde 
besteht  kein  noth wendiger  Zusammenhang,  wenigstens 
lässt  sich  ein  solcher  überhaupt  nur  in  sehr  vereinzelten  Fällen  nach- 
weisen. Auch  spricht  die  thatsächliche  Verschiedenheit  der  Wurzeln 
in  den  verschiedenen  Sprachstämmen,  ungeachtet  sich  dieselben  auf 
ein  und  dieselbe  Erscheinung  beziehen,  gegen  denselben.  Dies  gilt 
in  noch  höherem  Grade  von  den  Verhältnissexponenten.  Diese  unter- 
scheiden sich  an  Zahl,  Materie  (Pronominalstamm,  Wurzel,  Nomen)  und 
Gebrauch,  ja  selbst  die  Verhältnisse  welche  durch  sie  dargestellt 
werden,  variiren,  sogar  innerhalb  derselben  Sprache  nach  zeitlichen 
Abständen,  namentlich  bestehen  in  der  ältesten  Periode  Exponenten 
allgemeinerer  Geltung  neben  besonderen,  welche  nur  ein  einzelnes 
der  durch  erstere  vertretenen  Verhältnisse  darstellen. 

Hieraus  folgt  1.  dass  die  Form  der  Sprache  nicht  durch  die 
äussere  Erscheinung  bedingt  wird;  2.  dass  die  Bildung  derselben 
eine  allmähliche  war,  und  dass  3.  die  allgemeinen  Denkgesetze,  wenn 
auch  bei  der  Begriffsbildung  vorzugsweise  thätig,  doch  die  Verschie- 
denheit der  Sprachen  nicht  ausreichend  erklären.  Für  diese  müssen 
vielmehr  die  Klarheit  der  Anschauung,  die  Lebendigkeit  der  Form 
gebenden  Phantasie  und  die  auf  der  Organisation  des  Sprachappa- 
rates beruhende  Vorliebe  für  bestimmte  Laute  einerseits,  andererseits 
der  Standpunct,  von  welchem  aus  der  Geist  die  Verhältnisse  der 
Objecte  zu  den  Erscheinungen  betrachtet  *) ,  so  wie  die  Schärfe, 


*)  So  besitzt  das  Tagalische  eine  Ausdrucksweise,  in  welcher  das  Verbum  finitum  als 
Nomen  loci  und  das  Object  als  davon  abhängiger  Genitiv  erscheint;  in  einer  andern  ist 
ersteres  durch  ein  Nomen  instrumenti  ersetzt.  Vgl.  Humboldt,  über  die  Kawisprache. 


Vergleichende  Analyse  des  rnag-yarisehen  Verbuins.  113 

womit  er  die  verschiedenen  Verhältnisse  scheidet  —  also  solche 
Momente  welche  in  der  Individualität  des  sprachhildenden  Subjectes, 
d.  i.  Volksstammes,  ihren  Grund  haben,  in  Anspruch  genommen  wer- 
den. Die  Sprachforschung  bestätigt  daher  auch  ihrerseits  denSchluss, 
den  die  Naturgeschichte  aus  den  morphologischen  und  physiologi- 
schen Verhältnissen  auf  Stammeseinheit  gezogen:  Völker,  deren 
Sprache  für  die  Erscheinung  gleiche  Lautbilder 
gebraucht,  die  Verhältnisse  von  demselben  Stand- 
puncte'aus  auffasst  und  zu  deren  Bezeichnung  sich 
derselben  Exponenten  bedient,  waren  zur  Zeit  der 
Sprachbildung  noch  eins,  und  eine  ihren  Sprachen 
gemeinsame  Form  ist  erklärt,  wenn  es  auch  nur  in 
einer  derselben  gelingt,  sie  bis  zu  ihrem  Ursprünge 
zu  verfolgen.  Die  Erfahrung  lehrt  nämlich,  dass  der  Lautinhalt 
der  Sprache  einem  fortwährenden  Umwandlungs-Processe  unter 
gleichzeitiger  Substanzminderung  unterliegt,  und  zwar  um  so  mehr, 
je  mehr  die  Sprache  sich  von  ihrem  Ausgangspuncte  entfernt, 
die  Idee  welche  in  den  Formen  Ausdruck  fand,  dem  Bewusst- 
sein  entschwand  und  letztere  zu  blos  conventioneilen  Begriffs- 
zeichen herabsanken.  Wer  vermöchte  die  Bedeutung  vom  franz. 
äme,  pere,  aoüt  aus  den  Elementen  zu  entwickeln?  Dennoch  wird 
Niemand  zweifeln,  dass  sie  wie  ihre  lateinischen  Vorgänger  anima, 
pater,  augustus  erklärt  werden  müssen.  Die  Giltigkeit  der  für  die 
lateinischen  Wörter  gegebenen  Erklärung  auch  für  die  französischen 
hängt  von  der  Überzeugung  ab,  dass  diese  aus  jenen  hervorgegangen. 
Wie  die  Identität  beider  Formen,  trotz  des  grossen  lautlichen  Abstan- 
des,  hier  keinem  Zweifel  unterliegt,  da  der  Zusammenhang  historisch 
gesichert;  so  ist  überhaupt  die  Lautverschiedenheit  an  sich,  wenn 
sie  anders  aus  den  in  der  Natur  des  Sprachorgans  begründeten  und 
in  ihren  Ergebnissen  historisch  nachweisbaren  Entwickelungsge- 
setzen  der  Laute  erklärt  werden  kann,  kein  Hinderniss,  äusserlich 
fern  liegende  aber  gleichbedeutende  Begriffszeichen  auf  dieselbe 
Quelle  zurückzuführen. 

Nach  dieser  Abschweifung  auf  das  Gebiet  der  Sprachentwicke- 
lungsgeschichte  kehren  wir  zum  Magyarischen  zurück. 

Die  Grammatiker  und  Lexicographen  welche  sich  bis  zur  Auf- 
stellung der  Wurzel  versteigen,  nehmen  diese  als  synonym  mit  dem 
Verbalstamme  und  gehen  bei  der  Analyse  überhaupt  nicht  weiter  als 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XIX.  Bd.  I.  Hit.  8 


114 


Boller. 


auf  die  einfachste  vorliegende  Form  des  letzteren  zurück.  In  Folge 
dieser  Verwechslung  vermengen  sie  die  Stammwurzel  mit  ihren  Ent- 
wicklungen, der  secundären  und  Denominativwurzel  überall,  wo 
ihnen  erstere  nicht  unmittelbar  vorliegt.  Ihre  Wurzeln  tragen  daher 
ein  sehr  verschiedenartiges  Gepräge.  Am  häufigsten  sind  sie  ein- 
sylbig  und  aus  einem  kurzen  oder  langen  Vocale  bestehend,  dem  ein 
einfacher  Consonant  vortreten  kann  und  regelmässig  ein  einfacher 
oder  Doppelconsonant  folgt  (nur  die  langen  Vocale  i,  6,  ö,  ü,  ü 
kommen  im  Auslaute  der  Wurzel  vor);  nicht  selten  aber  wird  auch 
eine  zweisylbige  Wurzel  aufgeführt.  Von  den  einfachen  Consonanten 
kann  jeder  auf  die  Wurzel  schliessen,  die  Gruppen  enthalten  entweder 
eine  Verdoppelung  {gg,  11,  rr),  eine  Liquida  (7,  n,  f)  oder  einen 
Zischlaut  mit  einem  Dental  oder  Guttural,  seltener  mit  einem  Labial, 
einem  Zischlaute  oder  einer  Liquida  verbunden. 

Schon  mit  den  Mitteln  welche  die  Sprache  selbst  bietet,  lässt 
sich  ein  grosser  Theil  der  angeblichen  Wurzeln  weiter  verfolgen; 
so  erweisen  sich  die  Auslaute  d,  t,  g,  l,  r,  z,  ng  als  Wurzelexponen- 
ten, deren  Geltung  sich  im  Bewusstsein  der  Sprache  noch  erhalten 
hat,  -m-1,  än-1,  -eny-1  etc.  sind  Denominativbildungen,  die  Verdop- 
pelungen 11,  rr  etc.  Assimulationen  aus  l-\-g  {Je),  r-\-g. 

Nimmt  man  aber  noch  die  verwandten  Sprachen  zu  Hilfe,  so 
gelingt  die  Analyse  noch  viel  weiter  bis  zu  einem  überraschend 
einfachen  Stammlaute,  der  sich  auf  den  ersten  Blick  als  Erzeugniss 
des  unmittelbar  sinnlichen  Eindruckes  kund  gibt:  Die  (nicht  weiter 
zerlegbare)  Elementar  form  der  Wurzel  enthält  einen 
kurzen  Vocal,  dem  meist  ein  einfacher  Consonant 
vorausgeht  und  in  der  Regel  ein  Guttural,  seltener 
ein  Labial  (die  Ursprünglichkeit  der  wenigen  bis  jetzt  nicht  zer- 
legbaren Wurzeln  mit  einem  Zischlaut,  einer  Liquida  oder  einem 
Dental  am  Ende  mag  vor  der  Hand  dahingestellt  bleiben)  folgt.  Dem- 
nach müssen  1.  alle  langen  Vocale  (und  Diphthonge)  einen  besonderen 
Erklärungsgrund  erhalten,  2.  die  anlautenden  Consonanten  in  vielen 
Fällen  verschwunden ,  3.  die  auslautenden  Gutturale  und  Labiale 
entweder  fortgefallen  oder  in  andere  Laute  umgesetzt  sein,  und 
4.  alle  übrigen  im  Auslaute  der  Wurzel  befindlichen  Consonanten 
als  Wurzelexponenten  betrachtet  werden. 

Was  nun  den  langen  Vocal  betrifft,  der  sich  in  einer  Anzahl 
magyarischer  WTurzeln  findet,  so  lehrt  die  Vergleiehung,  dass  er  regel- 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums.  1  1  «3 

massig  aus  der  Verschmelzung  zweier  zusammenstossendeu  einfachen 
Vocale  hervorgegangen.  Dieses  Zusammentreffen  kann  auf  doppeltem 
Wege  herbeigeführt  werden.  Entweder  fällt  ein  Consonant  der  zwei 
Vocale  trennt,  heraus,  so  dass  letztere  nun  an  einander  rücken,  oder 
ein  dem  Vocal  vor-  oder  nachtretender  Halhvocal  (j,  v),  sei  dieser 
nun  primitiv,  Vorschlag,  oder  was  erfahrungsmässig  meist  der  Fall, 
Vertreter  eines  Gutturals  oder  Dentals,  geht  in  den  Vocal  über.  Im 
ersteren  Falle  können  jede  beliebigen  zwei  Vocale  zusammentreffen, 
im  zweiten  ist  der  eine  der  beiden  zusammentretenden  Vocale  stets  i 
oder  u.  In  ersterem  Falle  behauptet  der  zweite  Vocal  das  Vorrecht, 
im  zweiten  der  primitive. 

Ich  habe  in  folgender  Zusammenstellung  versucht,  den  Nach- 
weis für  jeden  einzelnen  Fall  zu  liefern,  der  Kürze  wegen  beziehe 
ich  mich  auf  die  in  dem  Aufsatze  „zur  magyarischen  Etymologie" 
behandelten  Wörter. 

Äg  „Ast".    Mongolisch  $  (salaghan)  l),  jakutisch  cajiä,  ostja- 

kisch  jägal 2),  syrj.  jägart  „Ast",  Suomi  oksa  etc. 

Ägy  „Bett",  entweder  türkisch  jtl.  (jataq)  3),  syrj.  volj, 
voljpasj,  wotjakisch  vales,  Suomi  vuote,  mordvinisch  jatsamo  (Ev. 
Übers.),  Mandzu  %  (na^an)  etc.  oder  türkisch  jlijj»  (düsäk,  Ta- 
pete, Aufgebreitetes),  ostjakisch  TycaK,  mongolisch  $  (debisger)*) 

i 

„Decke,  Teppich,  Lager,  Matratze"  etc. 

Ägy-ek  „Lende",    Mandzu   $    (fa^i)  5)  l'.aine,    commen- 

cement  de  la  cuisse,  türkisch  Jl^\  (ouilouq)6) ha n che,  jaku- 
tisch yJiJiyK  7)  „Schenkel". 
Agyu  „Kanone  "  für  algyu. 


»)  Sitzungsb.  Band  XVII,  p.  60,  s  v.  szölö.  2)  Castren,  Ostj.  Gramm,  p.  83,  a. 
3)  Sitzungsb.  p.  316,  391,  s.  v.  ägy.  4)  Schmidt,  Lex.  p.  273,  c.  5)  Amyot, 
Dict.  Tart.  Manisch.  III,  p.  138.  6)  Kieffer  et  B.  I,  p.  146,  a.  7)  B  öhtl  ingk, 
Lex.  p.  45,  b. 

8* 


116  Boller. 

Äj-ul  „  o  h  n  m  ä  c  h  t i  g  w  e  r  d  e  n  " ,  türkisch  J^Sy   jllS^j  (bufial- 

maq)  *)  „etre  suffoque,  se  pämer,  tomber  en  syncope", 
jakutisch  yij a)  „in  Ohnmacht  fallen". 

AI  „falsch",  wotjakisch  aldalo  „betrügen",  türkisch  Jclxl\ 

(aldatmaq)  id.,  jakutisch  a^ac  3)  „  I  r  r  t  h  u  m  «  etc.  Suomi  peija 
„täuschen,  hintergehen",  peto-llinen  „betrügerisch,  be- 
trüg 1  i  c  h  " ,  lappisch  bsetto-las  4)  „  f  a  1  s  c h  ",  wotjakisch  pöjalo  5) 
„betrügen",  verführen"  (vgl.  das  Denominativ  ä-m-it 
„täuschen,  bethören,   verblenden"),  mongolisch  V 

(mege)  6)    „Betrug,  Heuchelei",  Mandäu  JT"  (ei-t-ereku)  7) 


„hypocrite,  trompeur,    qui  ment". 

Äld  „segnen"  —  äld-oz  „opfern  "  ,  wotjakisch  wös  8) 
„Opfer",  wös'jato  „beten;  segnen",  Suomi  palvele  „ver- 
ehren, anbeten"  (vgl. das  slavische  Eajn.BaH'B  „statua"), türkisch 

>IL*  (tapmaq) 9)  „adorare,  co lere",  mongolisch  J,  (taki^o)  10) 

4 

„opfern,  Ehre  an thun,  verehren",  tscheremissisch  tsokl  (Ev. 
Übers.)  „verehren,  anbeten",  jakutisch  ajigä  u)  „segnen", 
Mandzu  ^    (algin)  13)  „bonn,e  reputaton,  louange,  estime", 

syrjänisch  osk(a)  13)  „laudo". 

Äldozik  „untergehen  (von  der  Sonne)",  tscheremissisch 
val(e)14)  descendo,  demergor,  vaz  (vaaz)14)  labor,  elabor, 
vazalma  (Ev.  Übers.)  „Untergang  der  Sonne",  mordvinisch 
valg(a)  (Ev.  Übers.)  herabsteigen,  fallen  von,  (ci)  valgomo 
(Sonnen-)  Untergang. 


i)  Kieffer  et  B.I.  p.  244,  b.  •)  Böhtlingk,  Lex.  p.  41.  b.  3)  Sitzungsber. 
Band  XVII.  p.  220,  s.  v.  al.  4)  S  t  oc  kfleth  ,  Norsk-Lapp.  Ordbog.  p.  143,  b.  5)  Wie- 
demann,  Wotj.  Gramm,  p.  394,  a.  6)  Schmidt,  Lex.  p.  214,  b.  7)  A  in  y  o  t,  Dict. 
Tart.  Mantch.  I,  p.  123.  8)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  339,  b.  9)  Böhtlingk, 
Lex.  p.  91,  b.  10)  Schmidt,  Lex.  p.  230,  a.  ")  Sitzungsb.  Band.  XVII,  p.  220,  s. 
v.  äld:  12)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.  84.  13)  Castren,  Gramm.  Syrj.  p.  150,  b. 
14J    Castren,    Gramm.  Tscheremiss.  p.  74,   a. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verhums.  117 

All  „stehen",  tscheremissisch  salg,   mongolisch  "3    (diok- 


S0X°)  0  e*c* 

All  „Kinn",  wotjakisch  anglen ,  ostjakisch  ajj  eH 2) ,   jakutisch 

cämä3),  mongolisch^  (sana)4)  „Kinnlade",  comanisch  sagac3), 
tatarisch  jlsCU-   (dzafiaq)  3)  =  türkisch  jl£T  (janaq)  &)  =  _*J^| 

(ijjak)  =  jlH  (enek)  „Backen"  =  ostjakisch  JianjiaK  «J    „Kiefer", 

finnmärkisch -lappisch   oalo-dafte  7)  ,    schwedisch -lappisch  olol  8), 
ololm  =  Suomi  leukaluu  „Kinnbein". 

All-at    „Thier",    wotjakisch    pudo  9),   tscheremissisch  vol- 
jek10),  Mandiu  £  (ul^a)  11).  Mongolisch  Jj  (ada-ghusun)12)  .„ein 


Thier,  ein  Wesen  des  Thierreichs ",  1  (amin)13)  „Lehen". 

Letztere  Form  zeigt,  dass  für  die  Wurzel  nur  a  in  Anspruch  ge- 
nommen werden  darf.  Das  weiche  Suomi  eläin  zeigt  gleiche  Ent- 
wicklung. 

Äl-om    „Traum",    wotjakisch  wöt 14) ,    wotam    „Traum", 
Mandiu    &    (tolgin)  15). 

Al-tal    „durch"  =  wotjakisch  polti 16)    „durch",   mon- 


golisch ; 


(toghol^o,    doghol^o)  17)    „durch  etwas  hindurch 


-  j 


gehen    oder    durchwandern;    vollenden,   bis    ans    Ende 
gelangen  ". 


!)  Schmidt,  Lex.  p.  17,  c;  Sitzungsb.  p.  221,  s.  v.  all.  2)Castre'n,  Ostj. 
Gramm,  p.  97,  a.  3)  Böhtlingk,  Lex.  p.  158,  b.  4)  Schmidt,  Lex.  p.  352,  a. 
5)  Böhtlingk,  Gramm.  §.  177.  6)  Castren,  Ostj.  Gramm,  p.  87,  a.  7)  Stockfleth 
Norsk-Lappisk  Ordbog,  p.  342,  b.  8)  Gyarmathi,  Affinit.  linq.  hung.  p.  9t.  9)  Wie- 
demann,  Wotj.  Gramm,  p.  324,  b.  10)  Castren,  Gramm.  Tseherem.  p.  74,  b. 
P)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.  269.  la)  Schmidt,  Lex.  p.  17,  c.  13)  Ebendas. 
p.  9,  c.  14)  Wied emann,  Wotj.  Gramm,  p.  339,  b.  *5)Amyot,  Dict.Tart.Mantch.il, 
p.  274.      16)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  324,  a.      *7)  Schmidt,  Lex.  p.  249,  c. 


118  Boller. 

Almel,  amul  =  bamul  (bäval,  bävaszkodik)  „staunen", 
jakisch  paj-mo1)    „sich  wundern",  Mandzu   4"   (faidzun 

1 


wot- 
j"   (faidzuma)  2) 

i 

odige",  tscheremissisch  potikä 3)  „prodigium  ".    S.  unten. 
Angy   „Brudersfrau",  wotjakisch  kenak  4). 

Ar  „Preis",  türkisch    cl  (äghyr)  5)  etc. 

Ar  „ Flu th",  Mandzu  4   (furgin)  6)  „flux  de  mer,  maree", 

mongolisch  3  (ujer)  7)  „das  Steigen  des  Wassers,  der  hohe 
% 


serstand,  die  Überschwemmung". 
Ar-mar 


0 


Wassersianu,   uie  uuerscnweii         n  g  ~ . 

Ar-many   „Cabale",  türkisch    z*j\  (azmaq)  8)  „s'e garer, 

etreseduit",   mongolisch  fj    (argha)  9)    „List,    Betrug"  = 
Mandzu  y   (argha)10)  „stratageme,  artifice",  v  (jarkijame)  11 

i  ä 

„tenter   quelq'un,    le  seduire;   penser    aux   moyens  d 
seduire  quelqu'u  n  ". 

Ar-ny,  ar-nyek  „Schatten",  Suomi  varjo,  wotjakisch  vuzer  12), 
syrjänisch  vudzär  1S). 

Ar-ok  „Graben",  wotjakisch  gudzo  **)  „graben  ",  jakuti; 
xac15)  „graben,  hervorgraben,  aushöhlen",  türkisch  l 
(qazmaq)  16)  „creuser,  fouiller." 

Ar  - 1    „schaden",   türkisch    jjl    (jazyq)  17)     „dorn- 
mage,  perte  causee",  mongolisch  a*  (^okira^o)  ls)  „schaden, 


*)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  321,  b.  2)Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  III, 
p.  141.  3)  Castren,  Gramm.  Tscher.  p.  69,  a.  4)  Wiedeinann,  Wotj.  Gramm, 
p.  309,  b.  5)  Sitzungsb.  Bd.  XVII,  p.  317,  s.  v.  ar.  6)  Aray  o  t,  Dict.  Tart.  Mantel).  III, 
p.208.  7)  Schmidt,  Lex.  p.  76,b.  8)  Kieffer  et  B.  I,  p.  27,  b.  »)  Schm  id  t,  Lex.  '. 
p.l6,a.  i°)  Amyot,  Dict.Tart.  Mantch.  I,  p.53.  ")  Ebendas.  II,  p.  556.  ^Wiede- 
mann, Wotj.  Gramm,  p.  340,  a.  13)  Castren,  Gramm.  Syrj.  p.  164,  b.  14 )  W  i  e  d  e- 
mann,  Wotj.  Gramm,  p.  305,  b.  l5)  B  ö  htling-k,  Lex.  p.84.  1G)  K  ieff  er  et  B.  II, 
p.418,b.     17)  Ebendas.  p.  1248,  b.     ™)    Schmidt,  Lex.  p.  165,  a. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums.  IIa 

Schaden   thun,   verderben",    <f  (xoor'aX°)  0     «schaden, 


Verderben  bringen,  schlimme  Absichten  haben". 

Äs    „graben,  aufwühlen"  s.  är-ok.     Das  mongolische  "f 

(ghau)  2)   „Grube,  Graben  "  zeigt,  dass  r  und  s  secundär  sind. 
Äs-it  „gähnen",  syrjänisch  odsala3)   „oscitor",  wotjakisch 

wusylo  4)  „gähnen",  mongolisch  <£  (ebsijekü)  *),  id.  türkisch  jj^j 


(es-nemek)  6)  „bäiller". 

Ä-tok  „Fluch",  Mandzu  4 


(firume)  7)  faire  des  impre- 


-ri 


cations  contre  quelqu'un,  luisouhaiter  au  mal,  türkisch 
J^\  (il-endz)  8)  „  malediction,  impr  ecation",  welche  die 
weichen    Formen    zu    dem   harten    mongolischen    f    XarÜaX°  9) 


1 


„fluchen,  schimpfen",  wotjakisch  kargalo,  Suomi  kiro,  id.  ver- 
halten. Tok  ist  Suffix  wie  inti-tok.  Wahrscheinlich  ist  vor  dem- 
selben r,  wie  in  e-nek,  ausgefallen  und  ätok  demnach  mit  kär-omol 
gleichen  Ursprungs. 

Äzik  „n  a  s  s    werden",    lappisch  gasta  -det,  Suomi  kastu 
„feucht,  nass   werden",   kasta   „befeuchten,   benetzen, 

wässern",  türkisch  ^il   (i'ach)  10)   „humidite;  humide,  hu- 

mecte". 


l)  Schmidt,  Lex.  p.  190,  b.  a)  Ebendas.  p.  190,  b.  3)Castren,  Gramm. 
Syrj.  p.  150,  a.  4)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  340,  a.  5)  Schmidt,  Lex. 
p.  25,  a.  6)Kiefferet  B.  I,  p.  42,  a.  7)  Amyot,  Diet.  Tait.  Mantch.  III,  p.  179. 
8)  Kieffer  et  ß.  I,  p.  160,  a.  9)  Schmidt,  Lex.  p.  140,  b.  10)  Kieffer  et  B.  II, 
1250,  a. 


1  Z  0  Dr.  Wilhelm  W  e  i  t  e  n  w  e  b  e  r. 


Beiträge  zur  Liter  arge  schichte  Böhmens. 
Von  Hrn.  Dr.  Wilhelm  Rudolph  Weitenweber  in  Prag. 

VORWORT. 

Seit  einer  längern  Reihe  von  Jahren  habe  ich  mir  unter  Anderm 
einen  ganz  kleinen  Hilfszweig  des  historischen  Wissens  zur  speciellen 
Aufgabe  meines  Forschens  gestellt  —  in  der  Überzeugung,  dass 
hieraus  zur  Aufhellung  und  theilweisen  Förderung  der  betreffenden 
Wissenszweige,  wenigstens  mittelbar,  ein  nicht  unwesentlicher  Vor- 
theil  erwachsen  könne;  ich  meine  die  Biographik  der  vaterlän- 
dischen Ärzte  und  Naturforscher.  Bereits  sind,  als  Ergebnisse  dieser 
meiner  Studien,  zu  verschiedenen  Zeiten  und  an  verschiedenen  Orten 
gerade  ein  Viertelhundert  von  solchen  mehr  oder  weniger  ausgeführten 
Lebensskizzen  veröffentlicht  worden. 

So  schilderte  ich  bisher  namentlich:  I.  Johann  Ritter  De 
Carro(in  Glaser's  Ost  und  West.  Prag  1841,  Nr.  9,  besonders 
abgedruckt,  Carlsbad  1843,  in^8.;  in  Sachs'  medic.  Unterhaltungs- 
magazin, Berlin  1843).  —  2.  Vincenz  Julius  Edler  v.  Kromb- 
holz  (in  der  Vierteljahrschrift  für  prakt.  Heilkunde,  Prag  1844, 1.  Bd.; 
besonders  abgedruckt,  Prag  1845  —  Sachs'  medic.  Unterhaltungs- 
magazin,  Berlin  1845  —  in  der  Zeitschrift  Lotos  1852,  Juni).  — 
3.  Karl  Wilhelm  Kahlert  (in  der  Prager  med.  Viertelj.  1845, 
VI.  Bd.).  —  4.  Johann  Pöschmann  (ebendaselbst).  —  5.  Joseph 
Engel  (in  der  med.  Viertelj.  VII.  Bd.).  —  6.  Joseph  Müller  und 
Franz  Kottnauer  (ebendaselbst). —  7.  Jobann  Theobald 
Held  (Jubelschrift  u.  s.  w.  Prag  1847,  34  Seiten  in  gr.  8.  mit  dessen 
Porträt).  —  8.  Joseph  C.  Ed.  Hos  er  (Rückblicke  auf  das  Leben 
u.  s.  w.  Prag  1848,  VIII  und  83  Seiten.  Auszugsweise  in  den  Abhandl. 
der  königl.  böhm.  Gesellschaft  der  Wiss.  Prag.  1850,  V.Folge,  6. Bd.) 
—  in  der  Prager  med.  Viertelj.  1849,  XXI.  Band  —  in  Lotos,  Jahrg. 
1852,  December).  —  9.  Isaak  Jeitteles  (Jubelfestschrift  u.  s.  w. 
Prag  1850,  27  Seiten  in  8.).—  10.  Joseph  D  ia  ubalik  (Zur 
Erinnerung  an  u.  s.  w.  Prag  1851,  19  Seiten  in  8.).  —  11.  Johann 


Beiträge  zur  Lilerärgescliielite  Böhmens.  121 

Christian  Mik an  (in  der  Prager  med.  Viertelj.  1845,  VII.  Band; 
inLotos,  Jahrg.  1852,  März).  —  12.  Balthasar  Preiss  (in  Lotos, 
Jahrg.1852,  August). —  13.  Joseph  Steinmann  (ebendaselbst, 
April).—  14.  FranzWilhelm  Sieb  er  (ebendaselbst,  Mai).—  15. 
Kaspar  Graf  von  Sternberg  (ebendaselbst,  September;  böhmisch 
in  Purkyne's  und  Krejcfs  Zeitschrift  Ziva,  Jahrg.  1853,  Nr.  6,  7  und 
9).  —  16.  Ignaz  Friedrich  Tausch  (in  Lotos,  1852,  October 
undNovember — inFlora  oder  botanische  Zeitung,  Begensburg  1852, 
Nr. 48).—  17.  Johann  Emanuel  Pohl  (in  Lotos,  III.  Jahrg.  1853, 
Januar).  —  18. Wenzel  Benno  Seidl  (ebendas.,  September).  — 
19.  Joseph  August  Corda  (in  den  Abhandl.  der  k.  böhm.  Ges. 
d.  Wiss.,  V.  Folge,  7.  Band;  —  Denkschrift  u.  s.  w.  Prag  1852,  38 
Seiten  in  gr.  4.  —  in  der  Prager  med.  Viertelj.  1853,  XL.  Band  — 
in  Lotos,  IV.  Jahrg.  1854,  Januar  —  französisch  in  J.  de  Carro's 
Almanach  de  Carlsbad,  Armee  1 854,  p.  1 57  —  böhmisch  in  Ziva,  1 853). 

—  20.Thaddäus  Hänke  (inLotos,  1853 —böhm.  in  Ziva,  1853). 

—  21.  Johann  Swatopl.  Presl  (in  den  Abhandl.  der  k.  böhm. 
Ges.  der  Wiss.,  V.  Folge,  8.  Band  —  Denkschrift  u.  s.  w.  1854  — 
böhmisch  in  Purkyne's  und  Krejcfs  Zeitschrift  Ziva,  1853,  Nr.  1).  — 
22.  Karl  Bofiwoj  Presl  (Denkschrift  u.  s.w.  ebendaselbst  — 
böhmisch  in  Ziva,  1853,  Nr.  2  und  3).' —  23.  Franz  Amhros  Beuss 
(in  Lotos,  IV.  Jahrg.  1854,  Juni). —  24.  Anton  Bitter  v.  Jungmann 
(in  der  Prager  med.  Viertelj.  1854,  XLIV,  Band  —  böhm.  in  Ziva, 
1854,Nr.l2).  —  25. Franz  Adam  Petrina  (für  die  Abhandl.  der 

v 

kön.  böhm.  Ges.  der  Wiss.,  V.  Folge,  9.  Band  —  böhmisch  in  Ziva, 
1855,  Nr.  10). 

Freilich  muss  ich  hier  im  Allgemeinen  zugestehen,  dass  es  sich 
in  den  sämmtlichen  so  eben  aufgezählten  Mittheilungen  über  gelehrte 
Zeitgenossen,  dem  Zwecke  von  Nekrologen  gemäss,  vielmehr  um 
bemerkenswerthe  Personalnachrichten  als  um  Thatsachen  handelte; 
glaube  aber  andererseits  dennoch,  dass  diese  Aufsätze  als  eben  so 
viele,  wenn  auch  nur  kleine  Bausteine  zu  einem  —  wir  wollen  hoffen, 
in  nicht  gar  zu  ferner  Zukunft  aufzuführenden  —  Gebäude  einer  Ge- 
lehrtengeschichte Österreichs,  und  insbesondere  Böhmens,  betrachtet 
werden  können. 

In  den  vorliegenden  Blättern  beabsichtige  ich  in  das  XVII.  Jahr- 
hundert zurückzugehen  und  will  namentlich  versuchen,  zwei  Zier- 
den der  Prager  Hochschule  aus  jener  Zeit,  die  Professoren  an   der 


1  2  ä  Dr.  Wilhelm  Weitenweber. 

medicinischen  Facultät:  Johann  Marcus  Marci  und  Johann 
Wenzel  Dobrzensky  etwas  ausführlicher  zu  schildern.  Nebenbei 
dürfte  diese  Abhandlung  auch  so  manchen  nicht  uninteressanten  Ein- 
blick in  die  damaligen  akademischen  Verhältnisse  Prags  gewähren ; 
möü'e  sie  demnach  von  dem  betreffenden  Leserkreise  mit  freundlicher 
Nachsicht  aufgenommen  werden. 

Prag,  am  29.  October  1855. 


I.  Johann  Harens  Harri  von  Grönland. 

In  einer  der  letzten  Sitzungen  der  philosophischen  Classe  der 
königl.  böhmischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften  in  Prag  hat  Herr ' 
Prof.  Robert  Zimmermann  bei  Gelegenheit  der  anziehenden 
Schilderung  eines  in  der  fürstl.  Fürstenberg, sehen  Bibliothek  in  Prag 
aufbewahrten  rechtsphilosophischen  Manuscriptes  (Libellus  de  hominis 
convenientia)  welches  den  Grafen  Franz  Joseph  v.  Hoditz  zum 
Verfasser  hat,  einen  kurzen  geschichtlichen  Überblick  der  philoso- 
phischen Bestrebungen  in  Böhmen  und  Prag  insbesondere  gegeben. 
Unter  den  gelehrten  Böhmen, 'die  in  der  ersten  Hälfte  des  XVII.  Jahr- 
hunderts neben  den  anderen  Wissenszweigen  auch  das  Studium  der 
Philosophie  mit  Eifer  und  Erfolg  betrieben,  führte  der  Vortragende 
auch  den,  nach  Göthe's  literar-historisch  wohl  nicht  begründetem 
Ausdrucke  „in  Deutschland  sonst  gar  nicht  genannten  und  bekannten" 
Marcus  Marci  auf.  Ich  will,  um  letztern  Ausdruck  thatsächlich  zu 
berichtigen,  hier  nur  einen  Bohuslav  Bai  bin,  J.W.  Dobrzensky, 
Daniel  Morhof,  Adauct  Voigt  und  Martin  Pelzel  nennen, 
welche  Schriftsteller  schon  lange  vor  Göthe's  Zeiten  in  ihren  vielver- 
breiteten Schriften  mehrmals  des  Marci  rühmliche  Erwähnung  thun. 

Hat  nun  gleich  erst  in  neuester  Zeit  der,  mittlerweile  leider  ver- 
storbene geschätzte  Gelehrte  Guhrauer  in  Breslau  (im  XXI.  Bande, 
Heft  2  der  Zeitschrift  für  Philosophie  und  philos.  Kritik.  Halle  1852) 
eine  gründlich  würdigende  Abhandlung  über  unsern  Landsmann  und 
dessen  philosophische  Schriften  veröffentlicht,  so  dürfte  es,  meines 
Erachtens,  auch  in  gegenwärtiger  hochgeehrter  Versammlung  noch 
immer  am  rechten  Orte  sein,  über  diesen  als  Philosoph,  Physiker  und 


Beitrüge  zur  Literärg'eschichte  Böhmens.  1  Co 

Arzt  gleich  beachtenswerthen   Mann  einige  ausführlichere  Mitthei- 
lungen zu  machen. 

Aus  der  vollständigen  Aufzählung  und  theihveisen  Auseinander- 
setzung seiner  ebenso  zahlreichen  als  mannigfaltigen  Werke  von 
grösserem  und  geringerem  Umfange  wird  es  leicht  ersichtlich  werden, 
dass  Marcus  Marci  nicht  nur  in  der  besondern  Literärgeschichte 
Böhmens,  sondern  auch  in  der  allgemeinen  nicht  einen  der  letzten 
Plätze  verdiene.  Doch  sei  es  mir  vorher  gestattet,  nach  den  mir  zu 
Gebote  gestandenen  literarischen  Quellen  einen  gedrängten  Abriss 
seines  Lebens-  und  Bildungsganges,  sowie  seiner  für  Wissenschaft 
und  Vaterland  höchst  erspriesslichen  Leistungen  vorauszuschicken. 

J  o  h  a  n  n  e  s  M  a  r  c  u  s  (oder  vielleicht  ursprünglich  Marek  ?)  hatte  in 
einem  ziemlich  unbedeutenden  Landstädtchen,  dem  an  der  Grenze  Böh- 
mens gegen  Mähren  gelegenen  Landskron,  das  Licht  der  Welt  erblickt, 
war  daselbst  am  13.  Juni  1595  geboren,  in  welchem  Jahre  der  ge- 
lehrte M.  Marcus  Bydzovinus  a  Florentino  zum  wiederholten 
Male  die  Würde  des  Bector  Magnificus  an  der  Prager  Carolinischen 
Akademie  bekleidete.  Über  seine  ersten  Jugendverhältnisse  erfahren 
wir  nur,  dass  er  von  der  zartesten  Kindheit  an  schwächlich  und 
kränklich  gewesen,  namentlich  mehrere  Jahre  hindurch  an  einem 
hartnäckigen  skrofulösen  Augenübel  leidend  gewesen  sei ;  daher  war 
es  gekommen,  dass  der  kleine  Johannes  bei  seinen  übrigens  ausge- 
zeichneten Geistesgaben  und  seinem  sehr  regen  Wissenstriebe  gar 
gern  in  die  Schule  des  Ortes  ging,  dort  aber  mit,  der  Lichtscheu 
wegen,  grösstenteils  geschlossenen  oder  verbundenen  Augen  sitzend, 
weder  zu  lesen  noch  zu  schreiben  vermochte,  sondern  beinahe  den 
ganzen  Unterricht  blos  auf  dem  Wege  des  Aufhorchens  und  Memorirens 
gemessen  konnte.  Hierauf  wurde  der  Knabe  schon  frühzeitig  behufs 
der  humanistischen  Studien  von  seinen  Eltern  auf  das  benachbarte  Gym- 
nasium zu  Neuhaus  geschickt,  dessen  Einrichtung  damals  —  wie  dies 
nach  des  gelehrten  Bibliothekars  Baphael  Ungar's  Zeugniss  bei 
den  meisten  böhmischen  Gymnasien  in  jener  Zeitperiode  ungeachtet 
der  bedauerlichen  politischen  und  kirchlichen  Wirren  der  Fall  war  — 
auf  einer  früher  nicht  gekannten  Stufe  der  Vollkommenheit  stand. 
Nachdem  der  talentvolle  Jüngling  überdies  am  Olmützer  Gymnasium 
sich  ziemlich  gediegene  Kenntnisse  in  der  damals  so  sehr  in  Schwung 
gehenden  Dialektik,  wie  nicht  minder  in  der  classischen  Literatur  der 
Griechen  und  Römer  angeeignet  hatte,  bezog  er,  vom  Fürsten  Zdenko 


124  Dr.  Wilhelm  Weitenweber. 

Adalbert  Lobkowic  auf  edle  Mäcenatenweise  unterstützt,  die 
utraquistische  Akademie  zu  Prag ,  um  sich  hier  zur  Zeit,  als  der  be- 
rühmte kaiserl.  Hofmathematieus  (=  Astronom)  Johann  Kepler 
die  sogenannten  Rudolfinisehen  Tafeln  zu  verbessern  berufen  war  — 
mit  gleichem  Eifer  auf  Physik  zu  verlegen. 

Sodann  wandte  sich  Marcus  zu  dem  gleichzeitigen  Studium 
de,.  —  was  man  schon  damals  ganz  richtig  einsah  —  sich  wechselseitig 
voraussetzenden  und  ergänzenden  Naturwissenschaften  und  Medicin. 
Wie  förderlich  aber  diese  innige  Verschmelzung  und  Durchdringung 
der  eben  genannten  Realfächer  mit  der  Philosophie  (Pansophie  jener 
Zeit) seiner  gelehrten  Bildung  sowohl,  als  der  gründlichen  praktischen 
Befähigung  gewesen,  bewahrheitete  sich  unwiderleglich  an  Marci's 
weiterem  individuellen  Lebensgange;  man  verstand  nämlich  damals 
unter  dem  Ausdrucke  Philosophie  die  Gesammtheit  der  menschlichen 
Erkenntniss. 

Für  einen  Beweis  seines  angebornen  Talents  und  ungewöhnlich 
ausdauernden  Fleisses  kann  es  ferner  gelten,  dass  M.  M.  während 
seines  Aufenthaltes  in  Prag  als  Student  sich  eine  solide  Kenntniss 
der  lateinischen  und  griechischen,  sowie  später  der  arabischen  und 
hebräischen  Sprache,  wie  nicht  minder  unter  den  neueren  Idiomen 
nebst  der  deutschen  und  böhmischen  auch  noch  der  spanischen,  fran- 
zösischen und  italienischen  Sprache  eigen  gemacht.  Was  die  Natur- 
wissenschaften betrifft,  hatte  M.  insbesondere  die  Botanik  und  Heil- 
mittellehre aus  den  trefflichen  Schriften  des  damals  höchst  berühmten 
P.  A.  Matthioli,  die  Anatomie  aber  wahrscheinlich  von  dem  über 
seine  Zeiten  hervorragenden  Jessenius  selbst  gelernt.  Binnen 
wenigen  Jahren  hatte  er  nicht  nur  den  philosophischen  Magistergrad 
erlangt,  sondern  wurde  auch  im  Jahre  1 625,  also  in  seinem  30.  Lebens- 
jahre zum  Doctor  der  Medicin  (s.  unten  seine  Inauguraldissertation) 
promovirt;  es  war  dies  zur  selben  Zeit,  als  der  um  das  Schulwesen 
hochverdiente  Arnos  Comenius  sich  bei  dem  edlen  böhmischen 
Herrn  Georg  von  Sadowa  im  Riesengebirge  aufhielt. 

Nur  seinem  alsbald  anerkannten  praktisch-ärztlichen  Talent  und 
seiner  ebenso  vielseitigen  und  tiefen  Gelehrsamkeit  hatte  es  Marcus 
zu  verdanken,  dass  er  einerseits  im  allgemeinen  Rufe  eines  der  gelehr- 
testen Physiker  und  Philosophen  seines  Vaterlandes  stand,  anderer- 
seits binnen  Kurzem  einer  der  gesuchtesten,  weil  glücklichsten  Ärzte 
Prags  ward. 


Beiträge  zur  Literargescliichte  Böhmens.  14u 

Für  Marci's  klare  Naturauffassung,  für  seine  geläuterte  Einsicht 
in  das  leider  auch  noch  heute  zum  grössern  Theile  räthselhafte  Wesen 
der  Krankheiten  —  natürlich  abgesehen  von  der,  in  der  ersten  Hälfte 
des  XVII.  Jahrhunderts  herrschenden  mystischen  Einkleidung  der  Heil- 
kunst —  gibt  auch  der  Umstand  einen  factischen  Beleg  ab,  dass  man 
allgemein  in  Prag  seinem  Verfahren  am  Krankenbette  nachrühmte: 
Dr.  Marcus  wisse  vermöge  fleissiger  und  genauester  Beobachtung 
des  Wirkungsvermögens  der  natürlichen  Körper  auf  den  mensch- 
lichen Organismus  seine  Kranken  ohne  grosse  Auslagen  durch  die 
einfachsten,  leicht  zu  bereitenden,  ja  meistentheils  durch  sogenannte 
Hausmittel  wiederherzustellen  (Simplex  veri  sigillum).  Auf  gleiche 
Weise  schildert  ihn  sein  jüngerer  ärztlicher  Zeitgenosse,  Johann 
Wenzel  Dobrzensky  (in  dessen  Gelegenheitsschrift:  Lachryma 
nondum  arescens  etc.  Pragse  1684):  „Festinabat  ille  lente;  etiam 
dum  properaret  Cunctator,  properans  dum  cunctaretur.  Natur«  do- 
minus, quia  servus,  minister  non  magister  eruendam  naturam,  non 
obruendam  decuit,  manudueendam  non  raptandam.  In  curandis  morbis 
felix  maluit  esse  quam  fortunatus,  exspectando  volens  potius  negligere 
quam  properando  occidere."  —  Wahrlich  ein  Zeugniss  der  bedeu- 
tungsvollsten Anerkennung,  ein  Triumph  den  selbst  heutzutage,  nach 
mehr  denn 200 Jahren  des  so  sehr  gerühmten,  riesigen  wissenschaft- 
lichen Fortschrittes,  nur  wenige  Priester  Äsculaps  beanspruchen 
dürfen;  eine  Anerkennung  welche  das  Ansehen  Marci's  in  unseren 
Augen  um  ein  Bedeutendes  zu  lieben  im  Stande  ist.  Es  beweist 
nämlich  diese  Thatsache,  wie  Marcus  als  wahrhaft  philosophischer 
Arzt,  auf  Grundlage  einer  gesunden  Theorie  und  von  richtigem  Tacte 
getragen,  den  mitunter  naturwidrigen  pharmakodynamischen  und 
therapeutisch -pathologischen  Systemen  seiner,  ja  selbst  späterer 
Zeiten  mit  dem  herrlichsten  Erfolge  vorausgeeilt  war.  So  sehr  aber 
auch  Dr.  Marcus  sich  mit  den  Geheimnissen  der  Natur  bekannter 
zu  machen,  die  Finsterniss,  mit  welcher  der  Aberglaube  und  Vorur- 
theile  verschiedener  Art  zu  seinen  Zeiten  die  Naturwissenschaften 
noch  umhüllten,  zu  durchbrechen  und  eine  neue  Bahn  einzuschlagen 
suchte,  die  ihn  seiner  Meinung  nach  sicher  zu  der  „Wahrheit"  führen 
sollte,  —  so  konnte  er  dennoch  nicht  vermeiden ,  dass  er  öfters  auf 
wunderliche  Ansichten  gerieth  und  das  Schicksal  aller  Derer  die 
neue  Systeme  aufbauen  wollen,  erfuhr,  d.  i.  zuweilen  die  abenteuer- 
lichsten Sätze  aufzustellen  und  zu  vertheidigen. 


l^O  Dr.  Wilhelm  Weitenweber. 

In  Würdigung  der  oben  angeführten  ausgezeichneten  Eigen- 
schaften geschah  es  auch,  dass  die  gerade  damals  erledigt  gewordene 
Stelle  eines Physicus  des  Königreiches  Böhmen  dem  Dr.  Maren s  ver- 
liehen wurde;  auch  dürfte  derselbe  nicht  lange  darnach  —  wie  die 
Materialien  zur  Verfassung  einer  Geschichte  der  Prager  medicinischen 
Facultät  ausweisen  —  beiläufig  um  das  Jahr  1626,  unter,  den  Univer- 
sitätsstudien  keineswegs  holden  Umständen,  zum  Professor  extra- 
ordinarius  an  der  Carolinischen  Akademie  ernannt  worden  sein.  Dieses 
letztere  Amt  bekleidete  Marcus,  statutenmässig  sodann  in  die  Reihe 
der  ordentlichen  Professoren  vorrückend,  bei  all  seiner  anhaltenden 
Schwächlichkeit,  bei  der  die  Kräfte  aufreibenden  ausgebreiteten 
Privatpraxis,  durch  beinahe  volle  vierzig  Jahre. 

In  beiden  Richtungen,  als  gelehrter  Lehrer  und  erfahrener 
Praktiker,  hatte  sich  Marcus  das  ehrende  Vertrauen  der  Regierung 
bei  Gelegenheit  der  im  Verlaufe  jener  Jahre  angestrebten  Reform- 
versuche  im  höhern  Studienwesen,  sowie  anderntheils  von  Seiten 
der  Prager  Bevölkerung  am  Krankenbette,  in  seltenem  Ma^se  erworben 
und  selbes  sich  bis  an  sein  spätes  Lebensende  unwandelbar  erhalten. 
Die  mannigfachen  Drangsale  der  damals  schon  so  viele  Jahre  beinahe 
unausgesetzt  wüthenden  Kriegsfurie,  namentlich  die  in  Prag  während 
der  14wöchentlichen  harten  Belagerung  durch  die  Schweden  herr- 
schende Pestseuche  boten  unserm  Marcus  eine  leider  nur  zu  reich- 
liche Gelegenheit,  sein  von  edler  Humanität  erfülltes  Wirken  in  das 
hellste  Licht  zu  stellen.  Er  leistete  nämlich  nicht  nur  in  den  eigens 
errichteten  Nothspitälern  unermüdlich  ärztliche  Dienste  *),  sondern 
hatte  auch  von  Facultäts-  und  Magistrats  wegen  den  Auftrag,  die 
öffentlichen  Sanitäts-Massregeln  anzuordnen  und  zu  leiten.   So  war 


*)  Hier  mag  auch  eine  Episode  aus  dem  Lehen  unsers  Marci  ein  Plätzchen  finden.  Als  im 
Jahre  1648  das  schwedische  Heer  Prag'  belagerte,  ereignete  es  sich,  dass  die  Gemah- 
liun  des  schwedischen  Anführers  v.  Wittenberg  in  dem  nahe  gelegenen  Königssaal 
(Zhraslava)  schwer  erkrankte.  Da  der  Ruf  des  berühmten  Prager  Arztes  auch  in  das 
feindliche  Lager  gedrungen  war,  erbat  sich  der  genannte  General  kaiserlicherseits  die  | 
Erlaubniss,  dass  er  die  persönliche  Hilfeleistung  des  Dr.  Marci  in  Anspruch  nehmen 
könnte.  Sie  ward  ihm  gewährt  und  M.  in  dem  eigenen  vierspännigen  Wagen  des  feind- 
lichen Feldherrn  dahin  abgeholt.  Als  nach  abgethaner  Visite  der  Arzt  in  dem  schwedi- 
schen Wagen  am  jenseitigen  Moldauufer  wieder  gegen  Prag  zurückfuhr,  vermuthete 
die  Wyssehrader  Besatzung,  es  befinde  sich  wohl  der  schwedische  General  in  dem 
Wagen,  und  schoss  mit  Kanonen  auf  letztern;  wobei  sogar  ein  Pferd  der  Bespannung 
getödtet  worden  sein  soll ,  Marcus  aber  glücklicherweise  mit  dem  blossen  Schre- 
cken davon  kam. 


Beiträge  zur  Literärgeschichte  Böhmens.  147 

unter  Anderem  Marci  wahrscheinlicherWei.se  der  Verfasser  des,  mit- 
telst Decrets  vom  4.  December  1646  von  der  k.  k.  höhmischen  Statt- 
halterei  in  böhmischer  Sprache  herausgegebenen,  an  die  Stadthaupt- 
männer der  drei  Prager  Städte  gerichteten  Pestreglements,  sowie  der 
noch  ausführlichem  Instruction  vom  19.  Juli  1649. 

Gleichzeitig  hatte  sich  Marcus,  trotz  seiner  mehrerwähnten 
lebenslänglichen  Kränklichkeit  (in  phthisin  lapsus)  rastlos  der  Pflege 
der  friedlichen  Musen  gewidmet.  Er  machte  sich  —  wie  wir  später 
sehen  werden  —  als  fruchtbarer  Schriftsteller  auf  dem  Gebiete  der 
Philosophie  und  der  Physik  auf  eine  rühmliche  Weise  bemerkbar 
und  hatte  sogar  unter  Anderem  auch  in  seinem  Hause  eine  eigene 
Sternwarte  eingerichtet.  Doch  wollen  wir  schon  hier  einräumen,  dass 
Dr.  Marcus  ebenso,  wie  selbst  der  grosse  Kepler,  an  der  Krankheit 
seiner  Zeit  gelitten  habe,  welche  mehr  dem  Blendenden  und 
Mystischen,  als  dem  Einfachen  und  Klaren,  mehr  dem  Wunderbaren 
als  dem  Wahren  nachstrebte,  wo  man  Poesie  der  Wissenschaften  für 
Philosophie  hielt. 

Unterm  27.  März  1631  hatte  Se.  Majestät  Ferdinand  III.  mit- 
telst eines  Hofdecrets  dem  Professor  Johann  Marcus  Marci  „in 
Anbetracht  seiner  langjährigen  Dienstleistung  als  ältesten  Professor 
in  facultate  medica  600  Gulden  jährliche  Besoldung  dergestalt  be- 
willigt, dass  ihm  von  Zeit  der  geschehenen  Separation  der  Universität 
bis  zur  anderweitigen  allergnädigsten  Resolution,  und  so  lange  er 
hier  rühmlich  profitiren  würde,  solche  600  Gulden  jährlich  gereicht 
und  gegeben  werden  sollen."  —  Im  Jahre  16o5  suchte  Marcus 
neuerdings  um  eine  Gehaltserhöhung  und  um  den  Titel  eines  „Pro- 
fessoris  supraordinarii"  an. 

Das  betreffende  Majestätsgesuch  lautet:  Mächtigster  und  unbe- 
siegtester Kaiser!  Huldvollster  Herr,  Herr!  Es  ist  Sitte,  diejenigen, 
die  an  irgend  einer  Universität  in  vieljährigem  Vortrage  ergrauten, 
nicht  nur  der  Last  des  ordentlichen  Vortrags  zu  entheben  mit  Bei- 
fügung des  Titels  eines  Professoris  supraordinarii,  sondern  auch  als 
Belohnung  der  geleisteten  Dienste  —  auf  dass  sie  die  Beschwerden 
des  Alters  minder  fühlen  und  Andere  durch  solche  Hoffnung  zur  Aus- 
dauer im  Lehramte  angereizt  werden  —  ihre  Besoldung  zu  erhöhen. 
Da  ich  nun  über  30  Jahre  an  dieser  k.  k.  Prager  Universität  nicht 
fruchtlos,  wie  ich  hoffe,  Professor  bin,  indem  ich  solche  zu  Mitpro- 
fessoren habe,    die  einst  meine  Schüler  waren,  von    denen  andere 


128 


Dr.  Wilhelm   Weiten  web  er. 


sowohl  in  diesem  Erb-Königreiche  Euer  Majestät,  als  anderwärts  mit 
glücklichem  Erfolge  die  Heilkunst  ausüben,  anderer  meiner  Leistungen 
zu  geschweigen;  so  glaube  ich  nichts  meinen  Verdiensten  Unzu- 
kömmliches  zu  begehren,  wenn  ich,  dieselbe  Gnade  mir  huldreichst 
erweisen  zu  wollen,  bitte.  Doch  ist  mir  weder  Müssiggang ,  noch 
gänzliche  Enthebung  von  den  Vorträgen  Vorsatz :  sondern  damit  das 
reiflicher  von  mir  Durchdachte  leichter  ans  Licht  treten  und  die 
Frucht  meiner  Studien  auch  an  Andere  gelangen  könne;  so  möge  es 
mir  nicht  zum  Nachtheil  gereichen,  wenn  ich  mich  aus  diesen  Rück- 
sichten manchmal  davon  entferne,  indem  dieser  Abgang  leicht  von 
dem  Extraordinario  ersetzt  werden  kann.  Auch  bitte  ich  nicht  dess- 
halb  um  Erhöhung  des  Gehaltes,  dass  mir  etwas  zuwachse,  sondern 
damit,  wenn  Andern  der  Gehalt  erhöht  wird,  der  meinige  nicht 
geschmälert  werde.  Denn  da  die  (Universitäts-)  Einkünfte  geringer 
sind,  als  dass  daraus  Allen  genügt  werden  kann,  so  muss  notwen- 
diger Weise  mir  so  viel  abgehen,  als  einem  Andern  zuwächst.  Ich 
bitte  also  unterthänigst,  damit  Euer  kais.  Majestät  mir  den  Titel  eines 
Professoris  supraordinarii,  mit  der  Zulage  von  wenigstens  einem  Drittel 
meines  Gehaltes  nach  der  jetzigen  Bemessung,  huldvollst  zu  verleihen 
geruhen.  Da  es  aber  billig  ist,  dass  zwischen  Jenen  welche  durch 
30  Jahre,  und  Jene  die  durch  4  Jahre  die  Professur  bekleiden,  einiger 
Unterschied  stattfinde  *) ,  so  lebe  ich  der  Hoffnung ,  dass  dieses  mein 
untertänigstes  und  billiges  Ansuchen  die  huldreichste  Entscheidung 
erhalten  werde.  Eurer  kais.  Majestät  unterthänigster  und  unterwer- 
fenster 

Prag,  25.  Juni  1625. 

Johann  Marcus  M  a  r  c  i. 

Über  vorstehendes  Gesuch  äusserte  sich  der  Präger  akademische 
Senat  in  seinem  a.  h.  Orts  abverlangten  gutachtlichen  Berichte  ddo. 
6.December  dess.  Jahres  dahin:  dass  der  Titel  „Professor  supraordina- 
rius",  welcher  zugleich  exemptionem  ab  ordinariislectionibus  mitbrin- 
gen will,  bei  hiesiger  und  andern  Universitäten  nicht  allein  fremd  und 
unbekannt  sei,  sondern  auch  den  ordinariis  Professoribus  und  anderen 


*)  Diese  etwas  spitzige  Bemerkung'  bezieht  sich  auf  den  Umstand ,  dass  gleichzeitig-  auch 
Professor  Franchimont  um  die  Erhöhung-  seines  Gehaltes  von  400  fl.  auf  600  fl. 
jährlich  eingeschritten  ist.  W. 


Beiträge  zur  Literürgeschiehte  Böhmens.  129 

interessirten  Pupillen  sehr  nachtheilig  fallen  würde,  indem  des  Supra- 
ordinarii  ordinariae  Iectiones  durch  einen  Extraordinarius  —  welcher 
aus  der  Ursache  vielleicht  eben  ex  communi  wollte  besoldet  sein  — 
suppliret  und  versehen,  und  dergestalt  den  Ordinariis  ihre  Salaria 
welche  ohnedies  anjetzo  gering,  auch  hei  diesen  Friedenszeiten  kaum 
den  dritten  Theileinkommen,  nothwendig  geschmälert  werden  müssten. 
Zudem  erscheine  keine  andere  Ursache,  warum  Herr  Marci  a  lectio- 
nihus  ordinariis  exempt  sein  wollte,  als  etwa  seine  profunda  cogitata 
et  privatas  hicubrationes  (welche  aber  die  Professur  gar  nichts  an- 
gehen) in  Tag  zu  geben.  Nun  lassen  eben  in  anderen  Universitäten 
die  Professoren  gleich  integra  volumiua  ausgehen,  welche  doch 
derentwegen  a  lectionibus  publicis  keineswegs  überhoben  werden. 
Nicht  weniger  ist  fremd,  dass  man,  indem  man  begehrt  a  legendo  et 
laboreexemt  zu  sein,  dennoch  die  Besoldung  ad  tertiam  usque  partem 
(folglich,  wie  oben  angeführt,  von  600  Gulden,  welche  Marcus 
schon  als  Senior  und  Professor  primarius  hat,  auf  900  Gulden)  ver- 
bessert haben  will,  was  ohne  merklichen  Schaden  -und  Nachtheil  der 
Andern  nicht  geschehen  kann ;  sintemalen  so  viel  ihme,  Herrn  Marco, 
diesfalls  accrescirte,  den  Andern  nothwendig  decresciren  müsste;  es 
wäre  denn,  dass  er  extraordinaria  und  den  Andern  unpräjudicirliche 
Media,  solche  seine  Merita  zu  remuneriren,  Ihrer  Majestät  vorschlagen 
thäte." 

Leider  hatte  in  den  letzten  10  Jahren  seines  Lebens  die  Ge- 
brechlichkeit des  Marci  einen  solchen  Grad  erreicht,  dass  sie  ihn 
zur  Fortführung  seines  Lehramtes  als  Professor  primarius  praxeos 
grossentheils  unfähig  machte.  Dass  eine  vieljährige,  doch  unentgelt- 
liche Substitution  durch  den  ausserordentlichen  Professor  Sebastian 
Christ.  Zeidler  nöthig  wurde,  erhellt  aus  folgenden  Actenstücken 
welche  ich  hier  als  Charakterbild  der  damaligen  akademischen  Ver- 
hältnisse in  extenso  mittheilen  will,  wie  selbe  mir  in  meiner  Stellung 
als  Facultäts-Historiograph  zugänglich  sind : 

I.  Wir  Rector  und  Magistratus  academicus  Carolo-Ferdinandi- 
scher  Universität  zu  Prag;  hiemit  Urkunden  und  bekennen,  demnach 
Uns,  der  löblichen  Pragerischen  Universität  Rectori  MagniGco, 
Decanis,  Senioribus  et  Professoribus  der  Edle  und  Hochgelehrte 
Herr  Sebastian us  Christianus  Zeidler,  Medicinae  Doctor,  zu 
erkennen  geben,  wasmassen  Er  schon  14  Jahr  bei  hiesiger  Univer- 
sität die   extraordinari  Professor  ohne  sondere  Recompens,  mit  Zu- 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XIX.  Bd.  I.  Hft.  9 


130  Dr.  Wilhelm  Weitenweber. 

Setzung  des  Seinigen  versehen  hätte,  und  diesem  nach  darüber  eine 
schriftliche  Attestation  begehrt.  Als  haben  Wir  solches  sein  bitt- 
liches  Begehren  nicht  verweigern  können  noch  sollen,  sondern  zeugen 
und  attestiren  nach  Unserer  selbsteigenen  Wissenschaft  hiemit,  dass 
denen,  wie  Eingangs  gemeldet,  in  der  Wahrheit  also  und  nicht  anders 
seie  und  desswegen  in  allen  vorfallenden  Occasionen  (wiewohl  an- 
jetzo  nichts  vaciret,  sondern  wann  ins  künftige  sich  einige  Vacanz 
der  Professur  ereignen  sollte)  Er  in  facultate  medica  bei  hiesiger 
Universität  vor  Allen  andern  promovirt  zu  werden,  und  dem  löblichen 
Gebrauch  nach  die  Succession  zu  haben  sich  meritirt  gemacht 
habe.  Urkund  dessen  haben  Wir  gegenwärtige  Attestation  unter  der 
Universität  Insiegel  ausfertigen  lassen.  So  geschehen  Prag  am 
28.  Januarii  1665. 

II.  (Kaiserliches  Schreiben  an  Ihre  Excell.  und  Gnaden,  die 
königl.  Herren  Statthalter  in  Prag.)  Liebe  Getreue!  Aus  Eurem  ge- 
horsamen Schreiben  vom  11.  Februarii  jüngsthin  haben  Wir  mit 
mehreren  gnädigst  verstanden,  was  gestalt  und  aus  welchen  Ursachen 
Uns  Ihr  den  Sebastian  Christ.  Zeidler,  Med.  Doctorn,  damit 
Er  in  das  Doctoris  Marci  ordinari  Professurstelle  succediren  und 
Ihme  unterdessen,  bis  zur  erfolgenden  Vacanz  der  titulus  ordinarii 
Professoris  gegeben  werden  möchte,  intercedendo  recommandiren 
thut.  Sintemalen  wir  dann  um  der  angezogenen  Verdienst  und  recom- 
mandation  willen  gnädigst  kein  Bedenken  tragen,  dass  Er  Doctor 
Zeidler  in  obbesagten  Doctoris  Marci  Professur  zu  seiner  Zeit 
wirklich  succediren  möge.  Jedoch  weilen  Wir  ob  malam  consequen- 
tiam  Ihme  hierauf  eine  Expectanz  zu  ertheilen  Bedenken  tragen :  Als 
werdet  Ihr  Ihme  (wie  hiemit  unser  gnädigster  Befehl)  dahin  zu 
bescheiden  haben,  dass  Er  sich  bis  zu  erfolgender  Vacanz  gedulden 
solle,  Wir  wollten  alsdann  darauf  schon  gnädigst  bedacht  sein,  dass 
Er  hiezu  vor  Andern  promovirt  werde.  Hieran  vollzieht  Ihr  gehor- 
samst Unsern  gnädigsten  Willen  und  Meinung.  Geben  Wien  den 
15.  Aprilis  anno  1665. 

Leopold. 
Joan.  Hartwigius  Comes  de  Nostiz 
Ris  Biae  S.  Cancellarius. 

III.  Allerdurchlauchtigster,  Allergnädigster   Herr  Herr !   Euer 
Majestät!    Wir  allergehorsamst  unterthänigst  nicht  vorhalten,  was 


Beiträge  zur  Literärgeschiehte  Böhmens.  131 

Gestalt  bei  dero  allhiesiger  kays.  und  künigl.  Carolo-Ferdinandeischen 
Universität  zu  Prag  durch  den  erfolgten  tödlichen  Hintritt  Joannis 
Marci  von  Cronlandt,  Med.  Doctoris,  eines  ordinarii  Professoris 
Stelle  facultatis  medieae  vacirend  worden  sein,  zu  dergleichen  Erset- 
zung Euer  kays.  Majestät  den  ordinem  successionis  observiret  und 
beobachtet  zu  werden,  allergnädigst  gewählet  nach  Inhalt  Dero  dies- 
falls hiebevor  ergangenen  kaiserlichen  Resolution.  Weiln  dann,  Aller- 
gnädigster  Kayser,  König  und  Herr !  die  nachfolgende  Professores  in 
Facultate  medica  anjetzo  diese  sind,  als  nämlichen!  der  erste  Nico- 
laus Franchimontvon  Frankenfeldt,  anjetzo  Rector  Magnifi- 
cus,  der  andere  aber  Jacobus  Forberger,  beide  Medicinae  Doc- 
tores  und  lange  Jahre  her  nach  einander  geweste  Professores  ordinarii, 
die  sich  daher  in  ordine  succedendi  der  angezogenen  Allergnädigsten 
kays.  Resolution  allergehorsamst  halten,  und  sich  bey  dem  darob 
acquirirten  Jure  zu  schützen  allerunterthänigst  bitten,  Sebast. 
Christ.  Z eidler  aber  Medicinae  Doctor,  der  bishero  Institutionum 
Professuram  extraordinariam,  weiln  der  Dr.  Marci  zu  dieser  Zeit 
impotens  gewesen,  versehen  und  pro  ordinaria  zu  erfolgender Vacanz 
allbereits  von  Euerer  kays.  Majestät  die  allergnädigste  Vertröstung 
hat.  Als  gelanget  an  Euer  kays.  Majestät  hiemit  unser  gehorsamstes 
unterthänigstes  Bitten  ,  die  geruhen  nicht  allein  die  vorhergehende 
Professores  ordinarios,  Doct.  Franchimont  und  Doct.  Forber- 
ger, bei  dem  allergnädigst  resolvirten  Jure  succedendi  allergnädigst 
zu  schützen,  sondern  auch  dem  Doct.  Zeidler  die  verbleibende 
Vacantiam  Institutionum  Professoris  ordinarii  allergnädigst  wirklich 
zu  conferiren.  Zu  ihrer  kays.  Majestät  beharrlicher  kayserlichen 
und  königlichen  Gnaden  uns  Allergehorsamst  unterthänigst  empfeh- 
lend Euerer  kays.  Majestät  Allergehorsamst  unterthänigste  Rector. 
Decani  und  Professores  Facultatis  medieae  in  der  Carolo-Ferdinan- 
deischen Universität  zu  Prag. 

Prag  am  16.  April  1667. 

Johann  Georg  Scholtz  von  Schollenberg. 

IV.  (Zeidler's  Majestätsgesucb.)  Allergnädigster  Herr  Herr! 
Euer  kays.  königl.  Majestät  geruhen  hiebei  kommend  allergnädigst 
zu  ersehen,  wasmassen  der  Prager  Universität,  allda  ich  in  Facultate 
medica  die  extraordinari  Professur  nunmehr  in  die  16  Jahr,  und 
ordinari  lectiones   anstatt   des  Doctoris  Marci  über  10  Jahr,  ohne 

9  " 


J32  Dr.  Wilhelm  Weitenweber. 

einiges  Salario  mit  Zusetzimg  des  Meinigen  mühsam  suppliret,  zur 
ordinari  Professur  Ihren  Calculum  auf  mich  gegeben,  auch  von  Eurer 
kays.  und  königl.  Majestät  inhalts  Lit.  B.  (s.  oben  II.)  dahin  aller- 
gnädigst  sincerirt  bin,  dass  auf  erfolgende  Vacanz  ich  dazu  vor 
Anderen  promovirt  werden  solle.  Demnach  nun  der  allmächtige  Gott 
jüngster  Tage  vermeldeten  Doctorem  Mar  cum  durch  den  zeitlichen 
Tod  von  dieser  Welt  abgefordert,  und  hierdurch  eine  ordinari  Pro- 
fessurstelle vacirend  worden;  Als  ist  an  Euer  kays.  und  königl. 
Majestät  mein  allerunterthänigst  gehorsamstes  Bitten,  die  geruhen 
in  allergnädigster  Erwägung  meiner  nunmehr  in  die  16  Jahr  in  extra- 
ordinari  Professur  ohne  einiges  Salario  zugesetzter  Treuherziger 
Mühe,  mir  obvermeldt  allergnädigst  sincerirtermassen  die  vacirende 
ordinari  Professur  vor  Anderen  zu  conferiren  und  mich  hiezu  behö- 
riger Massen  neben  anlaufender  Besoldung  installiren  zu  lassen.  Wie 
ich  mich  nun  darüber  Ihrer  allergnädigster  gewährigster  Resolution 
allerunterthänigst  gehorsamst  getröste,  also  diese  kays.  Gnad  mit 
allerunterthänigster  Treu  und  Fleiss  unaussetzlich  zu  verdienen  mir 
angelegen  halten  werde.  Eurer  kays.  und  königl.  Majestät  Allerunter- 
thänigst gehorsamster 

Sebastianus  Christianus  Zeidler 
Med.  Doctor. 

« 

Doch  kehren  wir  nach  dieser  wohl  etwas  ungebührlich  längern 
und  der  Zeitfolge  vorgreifenden  Abschweifung,  welche  uns  übrigens 
einen  tiefern  Einblick  in  die  Verhältnisse  des  damaligen  medicinischen 
Lehrkörpers  in  Prag  gestattet,  wieder  zu  unsermDr.  Marcus  zurück. 

Ich  habe  oben  erwähnt,  Marci  habe  das  Vertrauen  der  Regie- 
rung in  Betreff  der  projectirten  neuen  Ordnung  der  Studienangele- 
genheiten genossen.  Dass  dem  wirklich  so  gewesen,  zeigte  sich 
insbesondere  bei  der  mehrere  Jahre  lang,  und  namentlich  seit  dem 
Regierungsantritte  Ferdinand's  III.  wieder  lebhafter,  doch  ver- 
geblich angebahnten  Union  der  beiden  damals  neben  einander  in  Prag 
bestehenden  Akademien,  nämlich  der  weltlichen  Carolinischen  und 
der  sogenannten  Clementinischen  der  Jesuiten.  Hierbei  spielte  der 
gelehrte  Senior  der  medicinischen  Facultät  jedenfalls  eine  einfluss- 
reiche Rolle  und  bemühte  sich  wacker,  zur  endlichen  Verwirklichung 
dieser  so  schwierigen  —  weil  den  besonderen  Interessen  beider 
Parteien   widersprechenden    und    nicht  genügenden  —    Institution 


Beiträge  zur  Literärgeschichte  Böhmens.  133 

beizutragen.  Denn  Marcus  war  vom  Jahre  1642  an  als  Repräsentant 
der  medicinischen  Facultät,  nebst  dein  Doctor  der  Rechte  Johann 
Kridell,  von  Seiten  des  Carolinums,  und  gegenteilig  zwei  Väter 
des  Clementinums  hierzu  delegirt  worden.  Mittlerweile  hatte  Mar- 
cus—  um  das  erst  kürzlich  durch  die  kaiserliche  Gnade  erlangte  Pri- 
vilegium der  Selbstständigkeit  der  weltlichen  Carolinischen  Akademie 
nach  Möglichkeit  zu  wahren  —  es  nicht  unterlassen,  im  Jahre  1651 
eigens  ein  allerunterthänigstes  Promemoria  nebst  einem  neuen,  von 
ihm  selbst  verfassten  Statutenentwurfe  allerhöchsten  Orts  vorzulegen. 
Dieser  Schritt  konnte  aber  keinen  günstigen  Erfolg  mehr  haben ,  da 
die  organische  Vereinigung  der  beiden  Prager  Akademien  bereits  fest 
beschlossen  war  und  bekanntlich  in  Folge  des  kaiserlichen  Unions- 
decretes  vom  23.  Februar  1654  wirklich  ins  Leben  trat.  Bei  der 
hierauf  erfolgten  umfassenden  Neugestaltung  der  Verhältnisse  der 
einzelnen  vier  Facultäten  unter  einander  bewährte  sich  neuerdings 
die  hohe  Achtung,  in  welcher  Dr.  Marcus  bei  seinen  Collegen 
stand,  in  dem  Masse,  dass  sie  ihn  nicht  nur  viermal  nach  einander 
(nämlich  in  den  Jahren  1654  bis  1657)  sondern  auch  wieder  in  den 
Jahren  1660  und  1661,  ferner  1663  bis  1664,  also  im  Ganzen  acht- 
mal zu  ihrem  Decan  erwählt  hatten. 

In  demselben  für  die  Prager  Universität  eine  so  wichtige  Epoche 
machenden  Jahre  1654  sind  „ihme  Johann  Marcus  Marci  von  Kron- 
land, Medicinae  et  Philosophiae  Doctori  et  Professori,  wegen  durch 
lange  Jahr  in  Pest-  und  Kriegszeiten,  auch  wegen  mit  seiner  sonder- 
lichen Erudition  dem  publico  viel  geleisteten  Dienste  und  Nutzen,  von 
Sr.  Majestät  6000  Gulden  Gnadengelder,  aus  der  Hofkammer  zu 
bezahlen  angewiesen  worden."  —  Ferner  haben  demselben  die  bei- 
den weltlichen  Facultäten  im  Jahre  1657  das  unweit  Prag  liegende 
Dorf  Michle  sammt  dem  dazu  gehörigen  Meierhofe  —  weil  Marcus 
dieses  vom  Feinde  angezündete  und  in  Grund  verbrannte  Dorf  und 
den  Meierhof  auf  seine  eigenen  Kosten  wieder  erbaut  —  gegen  einen 
jährlichen  Zins  von  nur  100  fl.  vermiethet. 

Beiläufig  um  dieselbe  Zeit  erhielt  Professor  Marcus  ob  insignia 
in  rem  literariam  merita,  sowohl  für  seine  eigene  Person  als  auch  für 
seinen  ältesten  Sohn  giltig,  die  Würde  eines  Comes  palatinus.  Im 
Jahre  1658  soll  ihn  Kaiser  Ferdinand,  in  dessen  hoher  Gunst  Mar- 
cus gestanden  sein  muss,  zu  seinem  Leibarzte  (S.  Caes.  Majestatis 
medicus  cubicularius)  ernannt  haben;  obgleich  nun  letztere  Jahreszahl 


134  Dr.  Wilhelm  W  e  i  t  e  n  w  e  b  e  r. 

bei  mehreren  Autoren  angegeben  wird ,  so  lässt  sich  auf  die 
Irrthümlichkeit  dieses  Datums  aus  dein  Umstände  schliessen,  dass 
Kaiser  Ferdinand  III.  bereits  ein  Jahr  vorher,  nämlich  am  2.  April 
1657  (rano  po  4  hodinie  polowiczneho  orloge)  gestorben.  Wenn  es 
ferner  in  einigen  literarhistorischen  Schriften  (z.  B.  in  Ad.  Voigt's 
Effigies  virorum  eruditorum  etc.  Pragae  1773.,  pars  I,  p.  72  et  77) 
heisst,  Marci  sei  nie  ausserhalb  Böhmen  gekommen,  so  beruht  diese 
mit  einem  gewissen  Nebengedanken  ausgesprochene  Angabe  jeden- 
falls auf  einem  Irrthum,  indem  Marcus  thatsächlich  einmal ,  und  zwar 
bereits  im  Jahre  1639  den  Grafen  Franz  v.  Sternberg  auf  dessen 
Beise  nach  Born  begleitete,  ein  andersmal  —  wie  ich  eine  dies  be- 
stätigende Stelle  in  seinem  Werke :  Hdv  ev  kü^tm  aufgefunden  J)  — 
sich  mit  dem  kaiserlichen  Hoflager  einige  Zeit  zu  Frankfurt  am  Main 
aufgehalten  hat. 

Noch  kommt  zu  erwähnen,  dass  der  greise  Marcus  am  15.  Jän- 
ner 1662  für  dieses  Jahr  zum  Bector  Magnificus  der  vereinigten 
Carolo-Ferdinandeischen  Universität  gewählt  worden  sei  und  dieses 
höchste  akademische  Ehrenamt  geführt  habe. 

Mit  äusseren  Glücksgütern  reichlich  versehen ,  dabei  sehr  be- 
scheiden und  in  jeder  Beziehung  massig  lebend ,  ungeachtet  seines 
schwächlichen  Körperbaues  dem  ärztlichen  Berufe  bis  zum  letzten 
Augenblicke  mit  voller  Aufopferung  sich  hingebend,  ein  wahrer  Vater 
der  Leidenden  und  Armen  —  starb  Marcus,  allgemein  betrauert,  in 
seinem  72.  Lebensjahre,  am  10.  April  1667  zu  Prag,  nachdem  er 
noch  kurz  vorher  eine  Berufung  an  die  Oxforter  Hochschule  erhalten ; 
zum  offenbaren  Beweise,  dass  Marcus  nicht  nur  „in  Deutschland  genannt 
und  gekannt"  gewesen,  sondern  dass  sein  gelehrter  Buhm  weit  über 
die  Marken  seines  Vaterlandes  sich  verbreitet  habe.  Die  irdische  Hülle 
wurde  feierlich  auf  dem  Altstädter  Friedhofe  der  Jesuiten  beerdigt, 
denn  Marcus  hatte  sich  einige  Tage  vor  seinem  Hinscheiden  in  diesen 
Orden  einkleiden  lassen! 

Die  theils  von  Dr.  Marcus  selbst,  theils  durch  Vermittelung 
seines  ehemaligen  Schülers  und  spätem  Freundes  Dr.  Dobrzensky 


!)  Es  heisst  nämlich  in  dem  Aufsatze:  de  lapillo  Butleri  (S.  345):  Esse  vero  basin  Inijas 
Lapilli  vitriolum,  fassus  est  ejusdem  filius  Mercurius  eo  tempore,  quo  Francofurti 
cum  Aula  Caesarea  manebam,  familiariter  ibidem  mecura  conversatus,  ut  quasi 
quotidie  nostras  aedes  adibat. 


Beiträge  zur  Literärgeschichte  Böhmens.  lOO 

(siehe  weiter  unten)  herausgegebenen  und  im  Drucke  erschienenen 
Schriften  welche  mir  beinahe  insgesammt  vorlagen  und  zugänglich 
waren,  sind  in  chronologischer  Reihe  folgende: 

1.  Disputatio  medica  de  Temperamento  in  genere  et  gravissimo- 
rum  morborum  Tetrade,  Epilepsia,  Vertigine,  Apoplexia  et  Paralysi, 
quam  .  .  .  praeside  Domino  Franco  Roia  de  Aquis tas  Pace  Vero- 
neasi  etc.  publice  examinandam  proponit  Joannes  Marcus,  A.  et 
Philos.  Mag. ,  V.  M.  Candidatus  Anno  MDCXXV.  Pragae  typis  Pauli 
Sessii.  4.  (Befindet  sich  in  der  fürstlich  Lobkowitz'schen  Bibliothek 
zu  Prag  unter  der  Zahl  14645  und  ist  dem  Sohne  seines  obenange- 
führten Mäcens ,  dem  jüngeren  Fürsten  \Y  enzel  Eusebius  v. Lob- 
kowitz  dedicirt.) 

2.  Idearum  operatricium  Idea  sive  Hypotyposis  (bei  Guhrauer 
fälschlich:  hypothesis)  et  detectio  illius  occultaeVirtutis,  quae  semina 
foecundat  (bei  Guhrauer  fälschlich:  secundat)  et  ex  iisdem 
Corpora  organica  producit.  Authore  Joanne  Marco  Marci  etc. 
Anno  MDCXXXV  in  4.  (Mit  mehreren  in  den  Text  eingedruckten 
Abbildungen.  Wir  werden  das  Werk  weiter  unten  ausführlicher 
besprechen.) 

3.  De  proportione  motus  seu  regula  sphygmica  ad  celeritatem 
et  tarditatem  pulsuum  ex  illius  motu  ponderibus  geometricis  librato, 
absque  errore  metiendam.  Pragae,  typis  Joannis  Bilina  1639  in  4. 
(Diese  Schrift,  mit  dem  Bildnisse  des  Verfassers  geziert,  ist  dem 
Kaiser  Ferdinand  III.  gewidmet.) 

4.  Marci  Marci  disputatio  medica  de  pulsu  ejusque  usu. 
Pragae  1642.  Typis  Georgii  Schyparz.  4.  (Enthält  nicht,  wie  man 
durch  den  Titel  verleitet  glauben  sollte,  eine  medicinische  Abhand- 
lung über  den  Puls,  sondern  handelt  über  den  Stoss  in  mechanisch- 
physicalischer  Beziehung.) 

5.  Observationes  exotico-philosophicae.  Pragae  1647.  (Diese 
Schrift  sah  ich  nicht.) 

6.  De  causis  naturalibus  pluviae  purpureae  Bruxellensis.  Ad 
reverendissimum  D.  Joannem  Caramuelem  Lobkowitz  etc. 
Pragae  typis  academicis  1647.  24  Seiten  in  kl.  8.  (Der  Verfasser 
erklärt  den  am  6.  October  1646  bei  Brüssel  gefallenen  rothen  Regen 
nach  den  Ansichten  des  gelehrten  J.  J.  Chiflet.) 

7.  Theses  physico-medicae  de  petrificatione  in  genere  et  de 
Duelech  seu  petra  humana,  quas  ...  in  Universitate  Pragensi  praeside 


136  Dr.   Wilhelm  Weitenweber. 

Joanne   Marco    Marci    discutiendam    proponit   Joan.    Carol. 
Kirchmayer  de  Reich witz  die  29.  Aprilis  1648  in  4. 

8.  De  proportione  motus  Figurarum  rectolinearum  et  Circuli 
quadratura  ex  motu.  Pragae  ex  typographia  academica  1648  in  4. 
(Dieses  Buch,  eine  Frucht  zehnjährigen  Forschens  und  Nachdenkens., 
dedicirte  Marcus  dem  Kaiser  Ferdinand  IV.) 

9.  Thaumantias.  Liber  de  Arcu  Coelesti  deque  colorum  appa- 
rentium  natura,  ortu  et  causis.  In  quo  pellucidi  Opticae  fontes  a  sua 
scaturigine,  ab  his  vero  colorigeni  rivi  derivantur;  ducibus  Geometria 
et  Physica  hermeto-peripatetica.  Pragae  typis  academicis,  anno 
Christi  1648.  268  Seiten  in  4.  (Auch  dieses  grössere  und  bedeutendere 
Werk  ist  dem  Kaiser  Ferdinand  III.  gewidmet.) 

10.  Dissertatio  in  Propositiones  physico-mathematicas  de  natura 
Iridos  Reverendi  P.  Balthasar i  Conradi  etc.  Pragae  ex  typogra- 
phia G.  Schyparz  1650  in  kl.  8.  (Eine  Widerlegung  der  von  P.  Con- 
radi, Professor  der  Mathematik  an  der  Clemeniinischen  Akademie, 
veröffentlichten  Ansichten  über  den  Regenbogen;  dieses  polemische 
Schriftchen  ist  gegenwärtig  selten  und  befindet  sich  in  der  Prager 
k.  k.  Universitäts-Bibliothek.) 

11.  De  longitudine  seu  differentia  inter  duos  meridianos ,  una 
cum  motu  vero  Lunae  inveniendo  ad  tempus  datae  observationis. 
Pragae  1650,  typis  Georgii  Schyparz,  in  8.  (Diese  Schrift  gibt  ein 
ehrenvolles  Zeugniss  von  den  tüchtigen  Studien  des  Verfassers  auf 
dem  astronomischen  Gebiete,  und  ist  dem  spanischen  Könige  Phi- 
lipp IV.  gewidmet;  mit  2  Tafeln  Abbildungen.) 

12.  Anatomia  demonstrationis  habitae  in  promotione  academica 
die  30.  Maji  per  rev.  P.  Conradum  etc.  de  angulo,  quo  Iris  continetur. 
Authore  Joanne  Marco  Marci  etc.  Pragae  1650  in  kl.  8.  cum 
appendice.  (Behandelt  neuerdings  den  oben  sub  Nr.  10  angegebenen 
Gegenstand  in  persönlich  polemischer  Weise.) 

13.  Labyrinthus,  in  quo  via  ad  Circuli  quadraturam  pluribus 
modis  exhibetur.  Pragae  1654  in  4.  (Nach  dem  damaligen  Stand- 
punct  der  Wissenschaft  scharfsinnig.) 

14.  ndv  iv  Travrwv  seu  Philosophia  Vetus  Restituta.  Omnia  in 
Omnibus.  Pragae,  typis  academicis.  Anno  Domini  1662.  XXII  und 
580  Seiten  in  gr.  4.  (Ist  dem  römischen  Kaiser  Leopold  gewidmet. 
Eine  zweite  Ausgabe  dieses  Buches  erschien  zu  Frankfurt  und  Leip- 
zig, auf  dem  Titelblatte  mit  der  Jahreszahl  1667,  auf  dem  beigefügten 


Beiträge  zur  Literärgeschichte  Böhmens.  137 

Titelkupfer  aber  1676  [welches  ist  unrichtig?]  und  mit  dem  aus- 
drücklichen Beisatze  auf  dem  Titelblatte  :  Propter  distracta  hinc  inde 
exemplaria  seduloque  hactenus  quaesita,  denuo  recusa.  Sumptibus 
Christian!  Weidmanni.  Übrigens  beinahe  ganz  gleicher  Abdruck,  die- 
selbe Seitenanzahl  und  sonstige  typographische  Ausstattung,  wie  ich 
aus  genauer  Vergleichung  beider  Exemplare,  wie  sie  in  der  fürstlich 
Lobkowitz'schen  Bibliothek  aufbewahrt  werden,  ersehen  konnte.) 

15.  Liturgia  mentis  seu  disceptatio  medica  de  natura  Epilepsiae, 
illius  ortu  et  causis,  deque  symptomatis,  quae  circa  imaginationem  et 
motum  eveniunt,  in  qua  multa  scitu  digna,  difficilia  et  recondita  de- 
teguntur.  Opus  posthumum,  cui  accessit  tractatus  medicus  de  natura 
urinae,  et  consilia  tria  medica.  Leopoldo  Caesari  dedicavit  Jac. 
Joan.  W.  Dobrzensky,  praemisso  authoris  elogio  et  praefatione 
de  scriptis  ejus.  Batisbonae  anno  1678  in  4. 

16.  Otho-Sophia  seu  Philosophia  Impulsus  universalis  Joannis 
Marci  Marci  etc.  Opus  posthumum  nuperrime  in  ejusdem  authoris 
Liturgia  mentis  promissum,  in  quo  admiranda  Genesis,  Natura,  Pro- 
gressus,  Vires  Impulsus  cum  in  Animalibus,  tum  liquidis  et  solidis 
Corporibus  anoouTv/.ug  explicantur.  Opus  curiosioribus  Medicis,  Ma- 
thematicis,  Philosophis  utile  ac  perjucundum,  Nunc  primum  cum 
aeneis  figuris  in  lucem  editum  a  Jacobo  Joan.  Wenc.  Dobrzensky 
de  Nigro  Ponte.  Vetero-Pragae  typis  Danielis  Michalek  1683  in  4. 

Mit  Bezug  auf  die  so  verschiedenartigen  wissenschaftlichen  Stoffe 
welche  in  den  eben  aufgezählten  Schriften  von  unserm  Dr.  Marcus 
behandelt  werden,  konnte  der  berühmte  Zeitgenosse  Bohuslaw 
Baibin,  welchem  Marcus  nach  seiner  eigenen  dankbaren  Aussage 
ebenfalls  aus  einer  schweren  Krankheit  das  Leben  gerettet  hatte,  in 
einem  eleganten  Gedichte  singen: 

Astronomus,  Sophus  et  Medicus,  Geometra,  Vates, 

Quae  divisa  Alii,  Marce!  jugata  tenes. 
Quid  memorem,  Chemia,  tuae  documenta  Palaestrae, 

Quaeque  ruber  fulvo  parturit  ore  Leo? 
Circulus  et  motus,  medium,  maris  aequor,  Ideae, 

Iris  et  umbra,  Tuum  Maree!  loquuntur  Opus. 

Und  sein  gewesener  Schüler  und  später  vertrauter  Freund,  der 
oben  mehrmals  erwähnte  Dobrzensky,  nennt  ihn  „christianum  Eu- 
clidem,  bohemicum  Platonem,  Pragensium  Hippocratem." 


138 


Dr.  Wilhelm  We i ten webe r. 


Um  aber  die  dreifache  schriftstellerische  Thätigkeit  und  Stel- 
lung unseres  gelehrten  Landsmannes  —  als  Philosoph,  Physiker  und 
Arzt  —  thatsächlich  auffassen  zu  können,  wollen  wir  nun:  1.  eines 
seiner  philosophischen,  dann  2.  eines  seiner  philosophisch-medicini- 
schen,  und  endlich  3.  eines  seiner  physicalisch-mathematischen  Werke 
einer  auszngsweisen  Betrachtung  unterziehen. 

In  seinem  physiologisch-philosophischen  Hauptwerke :  Idearum 
operatricium  Idea  nimmt  Marcus  seinen  Ausgang  von  der 
dualistischen  Natur  aller  Geschöpfe,  nämlich  der  körperlichen  und 
geistigen  überhaupt,  als  welche  durch  die  Allmacht  Gottes  aus  dem 
Nichts  erschaffen  sind.  Der  Verfasser  vertheidigt  sich  in  einem  nach- 
träglich eigens  verfassten  ausführlichen  Vorworte  gegen  die,  ihm 
von  mehreren  Seiten  gemachte  Beschuldigung,  als  seien  die  hierin 
aufgestellten  Ideen  von  der  bildnerischen  Kraft  unkatholisch  und 
ketzerhaft;  und  hat  Marcus  aus  diesem  Grunde  das  Buch  überdies 
durch  eine  Commission  von  Seiten  des  Prager  Erzbisthums  prüfen 
lassen,  welche  dasselbe  vollkommen  gut  hiess  *).  Das  ganze  Werk 
sollte,  nach  dem  ursprünglichen  Plane  des  Verfassers,  aus  zwei 
Büchern  bestehen,  von  denen  aber  leider  nur  das  erste  durch  den  Druck 
veröffentlicht  wurde,  obwohl  das  Inhaltsverzeichniss  beider  Bücher 
vorausgeschickt  ist.  Schon  aus  den  Überschriften  der  einzelnen 
Capitel  lässt  sich  die,  für  jeneZeit  ganz  eigenthiimliche,  der  Wesenheit 
nach  natur-philosophische  Bichtung  des  Marcus,  als  der  neuplatoni- 
schen Schule  angehörig,  sattsam  erkennen.  Wenn  es  —  wie  Guhr- 
auer  (a.  a.  0.  S.  253)  sagt  —  gestattet  ist,  einen  Begriff  der  heu- 
tigen Naturwissenschaft  auf  jene  Zeit  überzutragen,  so  könnte  man 
es  den  Versuch  einer  Lehre  von  der  Metamorphose  der  Pflanzen  und 
Thiere  nennen,   alles  auf  dem  Naturgrunde  des  Systems  von  Para- 


*•)  Schon  bei  Lebzeiten  des  Marcus  Marci  hatte  diese  Schrift  entgegengesetzte,  theils 
ungemein  lobende,  theils  tadelnde  ßeurtheilungen  und  Verdächtigungen  erfahren; 
daher  sagt  der  Verfasser  selbst  hierüber  :  Suas  enim  Junones  suosque  anijues  mos 
sensit. —  Maximilian  Rudolf  Freiherr  v.  Slainicz,  damals  gerade  Official 
undGeneralvicar  des  Prager  Erzbischofs,  Sr.  Eminenz  des  Cardinais  Grafen  Harr  ach, 
hatte  noch  vor  der  Drucklegung  des  Buches  zwei  gelehrten  Theologen  (nämlich  dem 
Frater  Franz  v.  Padua,  Präses  des  Franciscaner-Convents  bei  Maria-Schnee,  und 
dem  Frater  Bonaventura  Tanzarella,  Doctor  der  Philosophie  und  Theologie, 
General-Commissär  des  Carmeliter-Ordens)  aufgetragen  ,  sich  über  die  darin  ausge- 
sprochenen Ansichten  Marci  schriftlich  zu  äussern.  Beide  fanden  das  Buch  „sehr 
gelehrt  und  geistreich  verfasst,  doch  keineswegs  etwas  gegen  die  Religion  und  die 
guten  Sitten  enthaltend." 


Beiträge  zur  Literärgeschichte  Böhmens.  lo9 

celsus  und  dem  altern  von  Helrnont.  Es  war  demnach  ein,  von 
unserm  Landsmanne  bereits  vor  mehr  denn  200  Jahren,  auf  seine 
originelle  mystisch-scharfsinnige  Weise  durchgeführter  Vorläufer  der 
seit  Gothe  in  neuester  Zeit  in  Deutschland  so  belieht  gewordenen 
natur-phüosophischen  Idee  Schleiden's  und  Anderer  im  Gewände 
des  zu  seiner  Zeit  eben  auch  geistesmächtigen  Neuplatonismus. 

Die  Überschriften  der  einzelnen  acht  Capitel  des  ersten  Buches 
lauten  alsos:    1.  Quid  seinen,  quo  modo  et  a  quibus  producatur?  — 

2.  An  semen  animatum,   et    an  una  numero  Anima   in  homine?  — 

3.  Quid  et  quo  modo  se  habeat  in  semine  Virtus  formatrix?  —  4.  De 
erroribus,  qui  contingunt  in  formatione  foetus,  et  de  Monstris.  — 
5.  De  variis  impressionibus  Corporum  in  iigura  et  colore;  et  de  viribus 
Imaginationis.  —  6.  De  magnitudine  Corporum  in  unaquaque  specie, 
an  semper  decrescat?  et  de  Pygmaeis  et  Gigantibus.  —  7.  De  simili- 
tudine  et  differentia  in  Sexu,  corporis  forma  et  moribus;  et  de  An- 
drogynis.  — 8.  De  varia  naturae  humanae  cum  ßrutis,  et  horum  inter 
se  mixtione;  ubi  de  Satyris ,  Nymphis,  Cynocephalis,  Sirenibus,  Tri- 
tonibus,  Harpyis.  Hiermit  Schluss  des  ersten  Buches. 

Die  ebenfalls  acht  Capitel  des,  nicht  im  Drucke  erschienenen, 
zweiten  Buches  sollten  folgende  Gegenstände  umfassen:  1.  De  trans- 
plantatione  in  Vegetabilibus,  Metallis,  Gemmis,  Lapidibus  et  reliquis 
subterraneis;  in  Meteoris,  item  et  Elementis.  —  2.  De  subordinata 
Generatione  deque  iis ,  quae  nascuntur  ex  aliorum  corruptione;  et  de 
putredine.  —  3.  De  umbratili  generatione  in  vapore,  fumo,  igne, 
facie,  crystallo,  urina.  De  Electro,  spectro  magico,  ubi  de  variis 
apparitionibus  et  de  spectris.  —  4.  De  corporum  regeneratione  et  de 
Metempsychosi  animarum.  —  5.  De  metamorphosi  et  corporum  trans- 
mutatione,  ubi  de  Lycanthropis  et  de  Lamyis.  —  6.  De  animarum  a 
suis  corporibus  egressu,  et  longissima  peregrinatione,  ubi  de  statu 
animae  separatae.  —  7.  Quid  mors  et  interitus  rerum;  et  de  Orco 
Hippocratis,  Nocte  Orphei,  Chao  antiquorum.  —  8.  An  Mors  naturae 
viribus  possit  itnpediri?  ubi  de  arbore  vitae  et  medicina  Philosopho- 
rum  universali. 

Ein  viel  umfangreicheres,  zugleich  medicinisches  und  philoso- 
phisches Werk  unsers  Marcus,  ein  Ergebniss  tiefen  Nachdenkens 
über  den  Makro-  und  Mikrokosmus,  so  wie  fleissiger  Naturbeobach- 
tung von  dem  Staudpuncte  jener  Zeit,  ist  seine  Philosophia 
vetus  restituta.  Unter  der  „alten"  Philosophie  versteht  aber  der 


140  Dr.  Wilhelm  Weitenweber. 

Verfasser  nicht  die  altgriechische  Philosophie  überhaupt,  etwa  im 
Gegensätze  zu  der  neuern  christlichen,  sondern  speciell  nur  die  dein 
Aristoteles  unmittelbar  vorhergehende;  es  ist  dem  zufolge  dieses 
Werk  gegen  die  Grundsätze  und  Ansichten  des  letztern  und  der 
neueren  Peripatetiker  gerichtet,  wobei  Marcus  die  Philosophie  der 
jonischen  Schule,  namentlich  die  des  Demokritus  und  Anaxago- 
ras,  in  Schutz  nimmt.  Hat  der  Verfasser  in  der  früher  besprochenen 
Schrift  sich  auf  die  Erzeugung  der  Mikrokosmen  (der  Menschen, 
Thiere,  Pflanzen  und  Steine)  mittelst  des  Samens  beschränkt,  so 
handelt  er  im  vorliegenden  Buche  —  jene  naturphilosophische  Idee 
noch  mehr  verallgemeinernd  —  von  den  Ideae  seminales  im  Allge- 
meinen, so  weit  nämlich  das  Weltall  aus  dem  Chaos  sich  zu  ent- 
wickeln beginnt,  so  wie  von  der  Entwicklung,  Ordnung,  Verknüpfung 
und  gegenseitigen  Übereinstimmung  (Harmonie)  der  einzelnen  Be- 
standteile des  Weltalls.  Marcus  lehrt  hier,  dass  die  himmlischen 
Körper  denselben  Gesetzen  unterworfen  seien,  denen  die  irdischen 
Dinge  gehorchen;  er  stellt  unter  Anderem  auch  die  Hypothese  auf, 
dass  keine  Form  ausser  der  vernünftigen  Seele  von  Neuem  entstehe 
u.  dgl.  mehr.  Jedenfalls  erkennt  man  auch  aus  dieser  Schrift,  wie  es 
sich  der  Verfasser  angelegen  sein  Hess ,  sich  über  die  höchsten  Auf- 
gaben der  philosophischen  Erkenntniss  im  Zusammenhange  Bechen- 
schaft  zu  geben.  Seine  Schlussfolgerungen  gehen ,  einen  scheinbar 
richtigen  logischen  Organismus  bildend,  Schritt  für  Schritt  vorwärts, 
und  werden  stets  auf  das  Specialfach  des  Marcus,  nämlich  die  Heil- 
wissenschaft, angewendet. 

Im  ersten  Theile:  „De  mutationibus,  quae  in  Universo  fiunt" 
werden  folgende  Capitel  (Sectionen)  abgehandelt:  1.  Mundum  non 
fuisse  ab  aeterno,  atque  mutationibus  esse  subjectum.  —  2.  An  detur 
materia  prima?  —  3.  Quae Aristotelis  mens  fuisse  videatur  de  genera- 
tione,  quid  aiii  Peripatetici  sentiantde  generatione?  —  4.  Quid  sit  forma 
Substantialis,  et  an  detur  a  parte  rei. —  5.  Quomodo  forma  in  materia 
praeexistat.  —  6.  Utrum  eadem  forma  sit  aut  esse  possit  in  pluribus 
materiis. —  7.  Sententia  illorum,  qui  negant  generationem  Substantia- 
lem. —  8.  An  in  eadem  materia  esse  possint  plures  formaeSubstantia- 
les  ?  —  9.  An  Sensus  et  appetitus  in  nomine  fiat  per  animam  sensitivam. 
—  10.  An  ratio  vegetativi  in  homine  proveniat  ab  anima  rationali. 

Derzweite  Theil:  „De  partium  Universi  constitutione"  umfasst 
insbesondere:   1.  De  prima  Idearum  ex  Chao  evolutione.   —   2.  Qua 


Beiträge  zur  Literärgeschichte  Böhmens.  14-1 

ratione  coelum  influat  in  haec  inferiora  ?  —  3.  Quinam  effectus  pro- 
veniant  e  stellis;  actiones  vitales  etiam  quoad  Entitatem  non  neces- 
sario  resultare  in  anima  replicafa.  —  4.  Regressus  ad  influxus  Coele- 
stes.  —  5.  De  impressionibus  in  aere  et  Meteoris  inde  causatis;  de 
corruscatione,  tonitru  et  fulmine.  Qua  ratione  aer  mutetur  in  humidi- 
tate  et  siccitate.  —  6.  Quos  effectus  habent  aer  in  corpore  humano. 

—  7.  De  eausis  naturalibus  pluviae  purpureae. 

In  der,  zum  grössten  Theile  physiologische  Stoffe  erläuternden, 
dritten  Abtheilung:  „De  statu  hominis  secundum  naturam"  handelt, 
vom  mystischen  Standpuncte  aus,  das  1.  Capitel:  Qua  ratione  Species, 
objectorum  se  habeant  ad  sensum  et  intellectum.  —  2.  An  Species 
sensibiles  et  objectum  sint  ejusdem  essentiae?  Rationes  in  oppositum 
factae  expenduntur.  —  3.  An  actiones  sensuum  sint  materiales,  et  pro 
ratione  objecti  divisibiles?  Differentiae  inter  Ens  spirituale  et  mate- 
riale.  De  ubicatione  et  motu  Angelorum;  an  vacuum  seu  spatium  abs- 
que  corpore  esse  possit?  —  4.  Actus  tarn  sensus  quam  intellectus 
esse  indivisibiles,  neque  plures  simul  inesse  posse.  —  5.  De  Unione 
inter  objectum  et  intellectum;  de  notitia,  quam  Angeli  diversi  ordinis 
habent  de  se.  Qualis  differentia  conveniat  Angelis.  Anima  separata 
Angelis  assimilatur,  notitiam  vero  eorum,  quae  in  vita  egit  vel  novit, 
secum  defert.  An  et  quomodo  Anima  separata  et  Daemones  a  rebus 
corporeis  patiantur;  an  Unio  objectiva  praeter  sensus  conveniat 
animae,  in  corpore  existenti.  —  6.  De  Chao  mentali  et  hujus  ad  Chaos 
Universi  analogia;  de  spectris  aeris,  qua  ratione  fiant;  de  phasi  dicta 
Morgana.  Non  omnia  phasmata  ratione  optica  constare.  Qua  ratione 
usus  Linguae  peregrinae  innasci  aut  a  Daemone  infundi  possit?  De 
analogia  cerebri  ad  oculum.  Qua  ratione  futurorum  notitia  nobis  ob- 
venire  possit?  —  7.  An  Idea  humana  in  Chao  Universi  contineatur? 

—  8.  De  propagatione  Ideae  humanae;  in  quo  posita  sit  ratio  gene- 
rationis  humanae.  Quaestio  I.  Qua  ratione  macula  peccati  originalis 
propagetur?  Quaestio  II.  Qua  ratione  Christus  Dominus  dicatur  ex 
semine  David?  Quid  semen  conferat  ad  generationem ;  opinio  Harveyi 
expensa.  Quando  foetui  humano  anima  rationalis  infundatur?  An  per 
Restias  et  Daemones  propagari  possit  genus  humanum?  De  praeroga- 
tiva  Matrum ,  et  singulari  excellentia  Dei  matris. 

Im  vierten  T heile  dieses  Werkes  handelt  der  gelehrte 
Verfasser  unter  der  Aufschrift:  „De  statu  hominis  praeter  naturam" 
pathologische  und  toxikologische  Gegenstände  ab,  und  zwar:  1.  De 


142  Dr.  W  i  I  h  e  1  m  W  e  i  t  e  n  w  e  b  e  r. 

occasu  Vitae  humanae;  an  aliquid  vitalis  in  mortuis  maneat?  Ex- 
stasin  diuturnam  atque  etiam  in  annos  plures  posse  produci.  De  Hae- 
morrhagia  cadaveruni.  —  2.  De  morbis.  Quid  dicetur  Archeus?  Qua 
ratione  ideae  morbilicae,  et  ab  bis  morbi  producantur?  Essentia 
morbi  juxta  opinionem  Helmontii  expenditur.  —  3.  De  natura  veneni, 
hujus  differentia  et  effectu.  De  rabie  canine.  De  Tarantismo.  De 
venenis  per  os  assumptis.    De  viva  mortis  imagine  seu  verminatione. 

Der  ausschliesslich  medicinisch-therapeutischen  Gegenständen 
gewidmete  fünfte  Theil :  „De  Curatione  morborum"  enthält  die 
schon  damals  mit  vielem  Interesse  ventilirte  Frage:  1.  De  Magnetismo 
et  actionibus  sympatheticis.  Quid  trahatur  e  vulnere  per  Unguentum 
armarium  ex  opinione  Helmontii.  Magnetismus  unguenti  armarii  juxta 
mentem  Helmontii  examinatur.  Asseritur  verus  modus,  quo  fit  Magne- 
tismus; solvuntur  rationes  in  oppositum  facta e.  De  magnetismo  Saphiri, 
de  magnetismo  plantarum  nonnullarum  e.  g.  Persicariae.  De  magne- 
tismo Vitrioli.  Opinio  illorum,  qui  curam  sympathicam  per  atomos 
seu  effluvia  corporea  fieri  putant.  De  lapillo  Butleri  et  Drif  Hel- 
montii. —  2.  De  virium  coelestium  attractione.  —  3.  Quid  maleficium, 
qua  ratione  fiat  et  curetur.  De  Brutorum  Antipatbia.  De  pisce  Ecbe- 
neide,  qua  ratione  navigia  sistat. 

Konnten  wir  aus  der  Schilderung  der  erstgenannten  Schrift 
(Idearum  operatricium  Idea)»uns  einen  ziemlich  genügenden  Abriss 
von  M.  Marci's  philosophischem  Lehrgebäude  bilden,  nach  dem 
sodann  betrachteten  Buche  (Jldv  iv  7ravTa>v)  nebst  den  philosophi- 
schen Ansichten  auch  einen  Theil  seiner  pathologischen  Ansichten 
kennenlernen;  —  so  wollen  wir,  zunächst  auf  Grundlage  eines  dritten 
bedeutenderen  Werkes  desselben  Verfassers  unter  dem  Titel:  Thau- 
mantias;  liber  de  ArcuCoelesti,  unsern  gelehrten  Landsmann 
auch  noch  in  Bezug  auf  seine  literarischen  Leistungen  auf  dem 
Gebiete  der  Physik  etwas  näher  beleuchten.  Es  ist  dies  Buch  in  der 
That  eine  würdige  Frucht  seiner  mehrjährigen  Tycho  de  Brahe'- 
schen  und  Kepl  einsehen  Studien,  doch  auf  grossentheils  selbst- 
ständigem Boden;  und  Marcus  sagt  in  der  an  den  Kaiser  Ferdi- 
nand III.  gerichteten  Dedication  selbst:  Audet  tandem  in  lucein  pro- 

dire  ejusdem  lucis  filia  Thaumantias  xaXvj  xat  komiKy) ,  quae  per 

annos  novem  sub  atra  bellorum  nube  delitaverat. 

Nachdem  der  Verfasser  zuerst  in  kurzen  Aphorismen  das  Wesen, 
die  Eigenschaften   und  das  Sichtbarwerden  des  Begenbogens,  eine 


Beiträge  zur  Literärgeschichte  Böhmens.  14o 

Iris  primaria  und  secundaria  unterscheidend,  besprochen,  stellt  er 
bei  dieser  Gelegenheit  auch  folgende  zwei  Lehrsätze  auf:  Das  Licht 
kann  von  der  Farbe  nicht  getrennt  werden;  und  dann:  die  Verdich- 
tung ändert  die  Farbe  sowohl  in  der  Art  als  im  Grade.  Beachtens- 
werth  erscheint  uns  unter  Anderem  die  Abhandlung  über  die  Conden- 
sation  und  Rarefaction  im  Allgemeinen,  wo  sich  Marcus  Marci 
namentlich  über  das  Wesen  und  die  Wirkungen  des  Feuers,  sowie 
über  dessen  Ursachen  auf  eine  scharfsinnige  Weise  ausspricht,  indem 
er  die  darüber  geltenden  älteren  Ansichten  mit  auf  eigene  Versuche 
basirten  Gründen  zu  widerlegen  sucht.  Mehrere  Blätter  (p.  43 — 47) 
widmet  Marcus  der  Betrachtung  des  Knallgoldes  (Aurum  volatile) 
und  erklärt  dessen  gewaltige  Wirkungen.  Demnächst  von  der  Mög- 
lichkeit eines  Vadium  handelnd,  beschreibt  er  mehrere  fremde  und 
eigene  Experimente  mit  Glasröhren,  in  welche  theils  Wasser ,  theils 
Wein,  theils  Quecksilber  gegossen  worden,  um  einen  luftleeren  Raum 
hervorzubringen.  Hierauf  setzt  der  Verfasser  in  einem  eigenen  Capi- 
tel  den  optischen  Lehrsatz  aus  einander :  dass  das  Licht  durch  ein 
dichtes  Medium  intensiver,  durch  ein  dünneres  Medium  weniger 
intensiv  sei  bei  einer  und  derselben  Distanz  des  leuchtenden  Kör- 
pers —  und  handelt  sodann  von  dem  Wesen  und  den  Eigenthümlich- 
keiten  der  Strahlenbrechung  im  Allgemeinen,  bei  welcher  Gelegenheit 
auch  insbesondere  der  K  epler'sche  Satz  :  dass  eine  grössere  Nei- 
gung auch  einen  grösseren  Brechungswinkel  verursache,  ausführlich 
nachgewiesen  wird.  Dagegen  behauptet  der  Verfasser  gegen  Kep- 
ler, es  werde  das  Licht  nur  bei  einer  gewissen  Brechung  in  einem 
dichten  Medium  in  Farben  verwandelt,  und  die  verschiedenen  Arten 
von  Farben  seien  nichts  anderes  als  Erzeugnisse  verschiedener  Bre- 
chungen. Die  vier  Hauptfarben  des  Regenbogens  leitet  er  von  den 
eben  so  vielen  Elementen  welche  sich  in  der  Dunstwolke  befinden, 
her ,  und  zwar  aus  der  Erde  die  blaue ,  aus  dem  Wasser  die 
grüne,  aus  der  Luft  die  gelbe  und  aus  dem  Feuer  die  rothe  Farbe.  — 
Ein  besonderes  Interesse  gewähren,  auch  in  historischer  Beziehung, 
die  dioptrischen  Beobachtungen  des  Regenbogens  mittelst  des  Pris- 
ma und  die  daraus  abgeleiteten  Lehrsätze  (p.  94  u.  f.)  welche  von 
der  guten  Beobachtungsgabe  des  Verfassers  ein  günstiges  Zeugniss 
geben.  Nachdem  Marcus  Marci  hierauf  nebenbei  das  Wesen  der 
weissen  und  schwarzen  Farbe  einer  kritischen  Untersuchung  unterzo- 
gen und  den  Unterschied  der  ebengenannten  von  den  übrigen  Farben 


144  Dr.  Wilhelm  Weitenweber. 

scharf  zu  bestimmen  sich  bemüht  hat,  erörtert  er  die  Frage,  worin 
der  eigentliche  Grund  der  Durchsichtigkeit  und  Opacität  liege.  Ein 
weiterer  Gegenstand  seiner  eifrigen  Forschung  ist  ferner  der  Reflex, 
auf  welche  Art  und  von  welcher  Ursache  derselbe  hervorgebracht 
werde ;  dann  die  Erscheinungen  die  das  Sehen  durch  ein  Prisma 
erzeugt.  Sodann  sucht  der  Verfasser  auf  wissenschaftlichem  Wege 
jene  Stelle  zu  bestimmen,  wo  das  optische  Bild  auftritt  (locus  imagi- 
nis)  und  die  Ursachen  davon  anzugeben;  nach  mancherlei  physiea- 
lisch-math.ematiseb.en  Beweisen  gelangt  er  zu  dem  Resultate ,  dass 
diese  Stelle  des  optischen  Bildes  desshalb  sehr  varire,  weil  die  Licht- 
strahlen mehr  oder  weniger  von  ihrem  Centrum  auslaufen.  Diese  Gele- 
genheit benützt  auch  Marcus,  um  über  das  Aufrecht-  oder  Umgekehrt- 
erscheinen des  Objects,  dessen  Vergrösserung  oder  Verkleinerung, 
sowie  über  die  verschiedene  Färbung  des  Objects  zu  sprechen.  —  Im 
Ganzen  werden  im  Thaumantias  111  Theoreme  nebst  zahlreichen 
Corollarien  und  Problemen  aufgestellt,  welche  —  wie  ich  glaube  — 
auch  noch  heutigen  Tages  für  die  Entwickelung  der  physicali- 
schen  Wissenszweige  die  Aufmerksamkeit  und  wissenschaftliche  Wür- 
digung der  gelehrten  Physiker  in  Anspruch  zu  nehmen  vermögen. 

Ich  dürfte  somit  in  dieser  kurzen  Abhandlung  meine  Eingangs 
ausgesprochene  Aufgabe  gelöst  und  dargethan  haben,  dass  Johann 
Marcus  Marci,  wenn  ersuch  als  Schriftsteller  keine  bleibende 
und  entscheidende  Epoche  in  dem  Gesammtgebiete  der  Wissenschaft 
gemacht,  doch  in  der  dreifachen  Beziehung  als  Arzt ,  Philosoph  und 
Physiker  noch  immer  einen  rühmlichen  Platz  in  der  Literärgeschichte, 
insbesondere  in  der  vaterländischen,  verdiene,  wie  ihm  derselbe 
unter  seinen  Zeitgenosssen  in  bedeutendem  Masse  zu  Theil  geworden. 

II.  Jakob  Johann  Wenzel  Dobrzensky  de  Nigroponte. 

Habe  ich  mir  im  vorhergehenden  Aufsatze  die  Ehre  genom- 
men, der  hohen  kais.  Akademie  der  Wissenschaften  eine  literärge- 
schichtliche  Skizze  des  bei  seinen  Zeitgenossen  in  weiteren  Kreisen 
berühmten  Prager  Professors  Dr.  Johann  Marcus  Marci  vorzu- 
legen, so  glaube  ich  kein  passenderes  und  würdigeres  Gegenstück 
der  Bearbeitung  erwählen  zu  können,  als  den  —  was  Studien  und 
Zeitfolge  anbelangt  —  demselben  zunächst  stehenden  Dr.  Jakob 
Johann     Wenzel     Dobrzensky,     welcher     seinem     eigenen 


Beiträge  zur  Literärgescbiehte  Böhmens.  145 

Ausdrucke  nach  ein  treuer  dankbarer  Schüler  und  später  ein  inniglich 
vertrauter  Freund  des  Marcus  war. 

Leider  besitzen  wir  hinsichtlich  seiner  persönlichen  Verhält- 
nisse nur  wenige  mangelhafte  Notizen  welche  ich  überdies  aus  hie 
und  da  zerstreut  rieselnden ,  theils  gedruckten ,  theils  handschrift- 
lichen Quellen  zu  schöpfen  bemüssigt  war,  so  dass  auch  diese  meine 
Zusammenstellung,  wie  ich  selbst  recht  gut  einsehe,  nur  gleichfalls 
lückenhaft  ausfallen  konnte. 

Jakob  Johann  Wenzel  Dobrzensky  (auf  den  Titeln 
seiner  in  böhmischer  Sprache  verfassten  Schriften  mit  dem  Prädicate 
„Czernomostsky",  in  den  deutschen  von  „Seh  warzbruck" 
und  in  den  lateinischen  de  Nigro  ponte)  war  zu  Prag  in  der 
ersten  Hälfte  des  siebzehnten  Jahrhunderts  geboren ;  doch  ist  nir- 
gends sein  Geburlsjahr,  noch  viel  weniger  der  Geburtstag  zu  erse- 
hen. Ebenso  wenig  vermochte  ich  über  dessen  Eltern,  wahrschein- 
lich Prager  Patricier,  zu  erfahren,  nur  soviel,  dass  er  ein  Enkel  des, 
durch  zahlreiche  Schriften  moralischen  und  religiös  -ascetischen 
Inhalts  in  böhmischer  Sprache,  bekannten  Wenzel  Dobrzensky 
(aus  den  Jahren  1579 — 1590)  gewesen.  Doch  darf  man  diese 
Familie  nicht  mit  dem  gleichnamigen  alten  und  begüterten  Freiherren- 
Geschlechte  Dobrzensky  von  Dobrzenitz,  welches  noch  heu- 
tigen Tages  blüht,  verwechseln. 

Die  ersten  Grundzüge  der  literarischen  Bildung  wurden  ihm  theils 
im  väterlichen  Hause,  theils  in  den  niederen  Schulen  seiner  Vaterstadt 
beigebracht,  wobei  der  Knabe  eben  so  viel  versprechende  Geistesgaben 
als  Fleiss  an  den  Tag  legte.  Bald  nachdem  D  ob  rzensky,  der  bestehen- 
den Studienordnung  gemäss,  die  vorgeschriebenen  philosophischen  und 
ärztlichen  Collegien  in  der,  wenige  Jahre  vorher  neuorganisirten 
und  vereinigten  Carolo-Ferdinandea  besucht  und  die  letzteren  Studien 
namentlich  unter  den  damaligen  Professoren  Johann  Marcus 
Marci,  Nikolaus  Franchimont,  Jakob  F  orber ger  und 
Sebastian  Christian  Zeidler  rühmlich  vollendet  hatte,  unter- 
nahmer—  wie  es  damals  die  böhmische  s-tudirende  Jugend  gern  und 
in  Bezug  auf  allgemeine  Bildung  zu  ihrem  grossen  Vortheile  zu  thun 
pflegte  —  eine  längere  wissenschaftliche  Heise  ins  Ausland,  und  zwar 
nach  Italien.  Es  war  nämlich  Dobrzensky's  Zweck,  sich  nicht  nur 
an  den  dortigen  wohleingerichteten  Kranken-Anstalten  in  seiner 
Wissenschaft  und  Kunst  noch  höher  auszubilden,  sondern  er  wollte 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  Gl.  XIX.  Bd.  I.  Hft.  10 


146  Dr.  Wilhelm   Weitenweber. 

auch  die  berühmtesten  gelehrten  Ärzte  jenes  Landes  persönlich  ken- 
nen lernen. 

Insbesondere  hatte  sich  der  jugendliche  Dobrzensky  „nach- 
dem er  vieler  Menschen  Städte  gesehen"  eine  längere  Zeit  hindurch 
in  Ferrara  aufgehalten  und  dort  an  dem,  durch  Kriegsruhm  wie  durch 
seine  Liebe   zu  den  Wissenschaften   gleich  ausgezeichneten  Inno- 
cenz  Fürsten  von  Poli  und  Quadagnoli  einen  besondern  Mäcen 
gefunden,  so  dass  er,  im  Contischen  Palaste  wohnend,  sich  den   phy- 
sicalischen  Studien  vorzugsweise  widmen  konnte,    als  deren  interes- 
santes Ergebniss  Dobrzensky  dort  im  Jahre  1657  seine  Erstlings- 
schrift :  Nova  et  amoenior  de  admirando  fontium  genio  philosophia 
(s.  weiter  unten   das  Schriften-Verzeichniss)  veröffentlichte.    Sein 
auf  dem  Titelblatte  beigesetztes  Prädicat:  de  Nigro  Ponte  soll  zu  dem 
spasshaften,  doch  für  die  Italiener  leicht  verzeihlichen  Missverständ- 
nisse Anlass  gegeben  haben,   als  stammte  der   Verfasser  Dobrzen- 
taeus  von  der  Insel  Euböa,  welche  bekanntlich  den  neuen  Namen  Negro- 
ponte  führt.  —  Dass  Dobrzensky  hierauf  auch  einige  Zeit,   und 
zwar  ausdrücklich  im  October  1650  im  Herzogthum  Parma  gewesen, 
entnehmen   wir  aus  einer  anamnestischen  Angabe,   welche  sich  in 
einer,  vom  Verfasser  später  in  den  Miscellaneis  medico-physicisAea- 
demiae  Naturae  Curiosorum   (Jenae   1671    Annus  II.)   mitgetheilten 
Krankheitsgeschichte  befindat. 

Von  Italien  aus  verbreitete  sich  der  günstige  Ruf  des  kenntniss- 
reichen jungen  böhmischen  Arztes  und  drang  auch  in  seine  Heimath, 
so  dass  nach  Verlauf  weniger  Jahre  der  berühmte  Professor  an  der 
Prager  Akademie  J.  M.  Marci  ihn  zur  Rückkehr  ins  Vaterland  mit 
den  Worten  aufforderte :  D.  möge  doch  lieber  diesem  als  der  Fremde 
sein  ärztlich-praktisches  Wirken  wie  seine  Gelehrsamkeit  zu  Gute 
kommen  lassen.  Dieser  ehrenvollen  Aufforderung  seines  hochgeach- 
teten Lehrers  Folge  leistend,  verliess  Dobrzensky  alsbald  Italien, 
wo  es  ihm  übrigens  gar  wohl  gefallen,  und  kehrte  nach  dem  heimath- 
lichen  Prag  zurück.  Hier  setzte  er,  an  der  Seite  seines  ebengenann- 
ten Gönners,  mit  dem  grössten  Eifer  seine  gelehrten  Studien  fort  und 
wurde  am  11.  Jänner  1663  zum  Doctor  der  Medicin  promovirt,  ver- 
möge welchen  akademischen  Actes  er ,  der  damaligen  Universitäts- 
Verfassung  gemäss,  auch  sogleich  die  Licentiam  docendi  erhielt. 

In  diesem  seinem  Lehramte  an  der  Prager  Hochschule  erwarb 
sich  nun  unser  Dobrzensky  —  dem  anfänglich  als  dem  jüngsten 


Beiträge  zur  Literärgeschichte  Böhmens.  147 

und  ausserordentlichen  Professor  die  theoretischen  Hilfswissenschaf- 
ten anvertraut,  waren,  binnen  Kurzem  die  Zufriedenheit  der  älteren 
Collegen  sowie  die  Hochachtung  seiner  Schüler.  Nachdem  aber, 
wie  wir  bereits  oben  (s.  S.  134)  erwähnt  haben,  der  greise  Senior 
der  medicinischen  Facultät  Marcus  Marci  am  10.  April  1667 
gestorben  war,  rückten  die  Doctoren  Franchimont  und  For ber- 
ger zu  Professoren  der  medicinischen  Praxis  vor,  der  bis  dahin  in 
der  Kategorie  eines  ausserordentlichen  Professors  stehende  Supplent 
Zeidler  (vergl.  oben  S.  130)  erhielt  die  bereits  seit  längerer  Zeit 
ihm  zugesagte  Stelle  eines  wirklichen  Professor  institutionum,  und 
Dr.  D  o  b  r  z  e  n  s  k y  wurde  mittelst  allerhöchster  Entschliessung  definitiv 
zum  Extraordinarius  ernannt.  Hiebei  können  wir  nicht  unbemerkt  lassen, 
dass  es  zu  jener  Zeit  bezüglich  der  persönlichen  Rangordnung  in  den 
öffentlichen  Facultätssitzungen  und  Vorträgen ,  sowohl  unter  den 
Professoren  selbst  als  mit  den  übrigen  Collegiaten,  zu  mancherlei 
Auftritten  und  Zwistigkeiten  kam,  welche  der  akademische  Senat 
schlichten  musste. 

In  Folge  der  später  eingetretenen  Todesfälle  seiner  obenerwähn- 
ten Vordermänner  rückte  D  obrzensky  im  Jahre  1682  zum  Pro- 
fessor institutionum ,  sowie  im  Jahre  1684  zum  zweiten  Lehrer  der 
medicinischen  Praxis,  endlich  im  Jahre  1690  zum  Senior  der  Pro- 
fessoren vor.  Zum  unmittelbaren  Nachfolger  in  der  Reihenfolge  der 
Professoren  hatte  er  den,  von  seinen  Zeitgenossen  ebenfalls  gefeier- 
ten Johann  Franz  Low  v.  Erlsfeld,  Doctor  dreier  Facul- 
täten,  nämlich  der  Philosophie,  Medicin  und  der  Rechte,  einen  eben 
auch  sehr  geschätzten  Arzt  Prags. 

Was  D  obrzensky's  gelehrtes  Wirken  — das  wir  vorzugsweise 
in  das  Auge  zu  fassen  beabsichtigen  —  anbelangt,  so  lässt  sich  dasselbe 
zum  Theil  aus  dem  folgenden  Verzeichnisse  der  von  ihm  veröffent- 
lichten Druckschriften  ersehen,  welches  jedoch  keineswegs  auf  Voll- 
ständigkeit Anspruch  machen  avüI,  sondern  nur  die  von  mir  selbst 
gesehenen  aufzählt. 

Nova  et  amoenior  de  admirando  fontium  genio  (ex  abditis  natu- 
rae  claustris  in  orbis  lucem  emanante)  philosophia.  Ad  votum  Illustr. 
ac  Excell.  Domini  Domini  Innocentii  de  comitibus  exDucibus 
Poli  et  Quadagnol  i,  Baronis  Romani  etc.  perenne  fluere  jiissa. 
Auetore  Jacobo  J.  W.  Dobrzenski  de  Nigro  Ponte,  Boemo 
Pragensi  P.  E.  M.  D.  Opusculum  ,  quod  non  solum  Curiosis   ingeniis 

10* 


|48  Dr-  Wilhelm  VVe  i  tenweber. 

ob  plurimas  et  novas  hydraulicas  machinas  aeri  delicatissime  incisas 
voluptatem  adfert,  sed  et  Plrilosophis  exoticis  quibusdam  erudit  dis- 
cursibus,  et  Matbematicis  campum  aperit  alias  plures  et  ingeniosiores 
excogitandi  inventione.  Ferrariae  apud  Alph.  et  Joan.  Bapt.  de  Mare- 
stis.  1657  in  fol.  (Mit  55  in  den  Text  eingedruckten  Holzschnitten.) 
Die    vom    Verfasser   selbst    angegebene    Eintheilung    und    Über- 
sicht des  Inhaltes  ist  folgende:  Novain  hanc  de  Humidi  genio  Phi- 
losophiam  trifariam   partiri  placuit.     Pars  prima,   quasi   logica. 
De  centro  gravium  in  communi,  et  in  specie  de  Aqua.     De  ejusdem 
spbaericitate  et  concentricitate  cum  Terra,  de  perpendiculari  tenden- 
tia  et  porositate  discurrit,   ubi   etiam  de  potentia,   qua  ad  Centrum 
commune  gravium  liquidum  urgetur,  nova  methodo   disserit.    Pars 
secunda,  quasi  physica,  varius  fontium  Ideas  ex  quinque  principiis 
emanantes  proponit:   1.  pressione  aquae  incumbentis,  2.    suctu  aqua 
descendentis,  3.  impetu  aquae  aerem  fugantis,  4.  violenta  aeris  pres- 
sione, 5.  violenta  aeris  rarefactione,  et  haec  multis  modis,  6.  poten- 
tia mixta  ex  aliquo  horum  principiorum.    Pars  tertia  ,  quasi  m  e  ta- 
physica,  agit  de  subtilibus  quibusdam  liquidi  experimentis  et  effi- 
cientia,  puta  de  perpetuatione  motus  per  Aquas,  de  Hydrotechnica  et 
Hydrologia,  de  aquarum  velocitate  et  lapsae  figura ,  de  modo  aquas 
in  sublime  evehendi.  —  Diese  Schrift  befindet  sich  in  der  Prager 
k.  k.  Universitäts-Bibliothekamter  der  Signatur  XLIX.  A.  55  *). 

Von  den  durch  Dr.  Dobrzensky  alljährlich  in  böhmischer 
Sprache  durch  eine  Reihe  von  mehr  denn  20  Jahrgängen  herausge- 
gebenen Kalendern  besitzt  die  Bibliothek  des  böhmischen  Museums 
eine  namhafte,  doch  leider  nicht  ununterbrochene  Reihe  vom  J.  1665 — 
1685,  welche  aber  weder  einen  sich  gleichbleibenden  Titel  führen, 
noch  in  einem  und  demselben  Verlags-  und  Druckorte  erschienen 
sind.  So  führt  der  I.  Jahrgang  folgenden  Titel :  S  Pranostykau  Hwez- 
darskau  Nowy  Kalendarz  podle  Naprawenj  Rzehorze  Papeze  toho 
gmena  XIII .  . .  S  pilnosti  sepsany  od  Waclawa  Czernomostskeho  atd.  — 


i)  Über  denselben  Gegenstand  handelt  auch  uoch  eine  andere  gleichzeitige  vaterlandische 
Inaugural-Dissertation,  deren  Titel  ich  aus  literargeschichtlicher  Rücksicht  vollständig 
hieher  zu  setzen  mir  erlaube  :  Genesis  fontium  ,  propositionibus  physico-mathematicis 
illustrata  et  publicae  disputatioui  exposita ,  quam  praeside  Joanne  Hanke,  Soe.  J., 
defendendas  suscepit. . .  .Fr  an  eise  us  Leo  L.  B.  de  Rosinital  et  Blatna. 
Olomuci  1680  in  4.  —  In  der  Prager  Univ.  Bibl.  unter  XLIX.  B.  45. 


Beiträge  zur  Literärgeschichte  Böhmens.  149 

Diesem  ist,  wie  alljährlich,  ein  populär -wissenschaftlicher  Anhang 
beigefügt  unter  dem  typographisch  selbstständigen  Titel:  Discursus 
astrophilomanticus,  To  gestduwtipne  oOblozenebeskeRozmlauwänj  w 
nemz  pfibehy,  pripadnosti,  promeny  aucinliwostj  gak  na  Swetljch 
nebeskych,  tak  na  techto  Teljch  dolegssych  ....  sepsane  gsau  skrze 
Waclawa  Czerno  Mostskeho,  FilozoGe  a  Medycyny  Doktora,  Mathe- 
matyckeho  Vmenj  obzwlasstniho  Milownjka.  Na  leto  Paoe  po  prestup- 
nem  prvvnj  1665.  W  Praze  u  J.  Arnoita.  gr.4.  —  Einem  andern  der- 
artigen Kalender  ist  beigeschlossen :  Prace  osmä  na  Leto  Pane  pre- 
stupne  1672  w  Meste  Litomyssli,  wytiskl  Jan  Arnolt  z  Dobroslawina; 
der  Anhang  führt  die  Aufschrift:  Discursus  sphaerographici  Con- 
tinuatio  VIII.,  und  so  fort  bis  zum  J.  1685,  wo  die  Continuatio  XX. 
mit  jedesmal  anderen  belehrenden  Aufsätzen  diätetischen,  ärztlichen, 
historischen  u.  dgl.  Inhalts  in  böhmischer  Sprache  erschienen ,  die 
als  wahre  Volksbücher  zu  betrachten  sind,  wenn  man  natürlicher 
Weise  dem  damaligen  Stande  der  allgemeinen  Bildung  gebührende 
Rechnung  trägt. 

In  dem,  zu  seiner  Zeit  berühmten  und  für  diebetreffende  Litera- 
turgeschichte noch  immer  sehr  wichtigen  Sammelwerke:  Miscellanea 
curiosa  medico-physica  Academiae  Naturae  Curiosorum,  seu  Ephe- 
meridum  medico-physicarum  germanicarum  curiosarumÄnnus  primus, 
anni  scilicet  1670mi  continens  etc.  (Lipsiae  1670),  welches  freilich, 
von  unserem  gegenwärtigen  wissenschaftlichen  Standpuncte  aus 
betrachtet,  gar  mancherlei  „Curiositäten"  der  gelehrten  Welt  mit- 
theilt und  uns  nicht  selten  ein  ungläubiges  Lächeln  abzwingt,  sind 
folgende  Aufsätze  unsers  Schriftstellers  enthalten:  1.  Mors  horrida 
a  febre  maligna  laborantis  rustici  (observatio  78).  —  2.  Artificialis 
Pygmeorum  efformatio  (obs.  79).  —  3.  Illustrissimi  Hypochondriaci 
mors  misera  ab  inunctione  mercuriali  (obs.  80).  —  4.  Calculi  cystidis 
felleae  et  meatus  hepatici  (obs.  129).  —  5.  Anatome  cerebri  bovis 
petrefacti  (obs.  130).  —  Im  nächstfolgenden  zweiten  Jahrgange 
desselben  Sammelwerkes  (Jenae  1671)  finden  wir  von  Dobrzen- 
sky's  medicinischen  und  naturwissenschaftlichen  Mittheilungen  wei- 
ters: 6.  De  calce  podagricorum  (obs.  65).  —  7.  Analogiae  terrae 
motus  anno  elapso  in  Tyroli  facti  cum  hypochondriacis  (obs.  60).  — 
8.  Epilepsia  foeminae  parturientis  (obs.  61).  —  9.  Mors  repentina 
ex  morbo  caduco  (obs.  179).  —  10.  Partus  ob  abscessum  impeditus 
(obs.  180).  —  11.  Calculi  pulmonum  et  ventriculi  (obs.  181).  — 


ISO  Dr.  Wilhelm  Weitenweber. 

12.  Mors  ex  esu  Hellebori  albi  (obs.  182).  —  13.  Perlarum  matura- 
tionis  historia  (obs.  183).  —  14.  Uterus  ex  difficili  partu  perruptus 
(obs.  254.  Eine  Beobachtung  des  Prager  Arztes  Dr.  S  i  m  o  n  A 1.  T  u  d  e- 
cius  de  Monte  Galea).  —  Endlich  kommen  im  dritten  Jahrgange 
dieser  Miscellaneen  (Lipsiae  et  Francofurti  1681)  vor:  IS.  De  incre- 
mento  plantarum  et  fructuum  impedito  (obs.  242).  —  16.  De  Haemor- 
rhagia  Nyctalopiam  subsequente  (obs.  243). 

Als  sich  in  den  Jahren  1678 — 80  die  verheerende  orientalische 
Pestseuche  neuerdings  über  Polen  und  Ungern  den  Grenzen  Böhmens 
immer  näher  und  näher  zog,  sann  der  vielerfahrene  und  gelehrte 
Dobrzensky  auf  ein  Mittel,  durch  welches  seine  Landsleute,  und 
insbesondere  die  Priester,  Ärzte  und  andere  solche  Personen  die  in 
unmittelbaren  Verkehr  mit  Pestkranken  zu  treten  gezwungen  sind, 
wirksam  geschützt  würden.  Er  machte  endlich  ein  solches  Vorbau- 
ungsmittel in  einem  besondern  Tractat  bekannt,  den  Dobrzensky, 
um  selbes  recht  zu  verbreiten  alsbald  in  drei  Sprachen  zugleich 
(nämlich  böhmisch,  deutsch  und  lateinisch)  verfasst  hatte.  Mir  liegen 
nur  Exemplare  der  deutschen  und  lateinischen  Ausgabe  vor;  von  der 
böhmischen  findet  sich  leider  weder  in  der  Prager  k.  k.  Universitäts- 
Bibliothek  noch  in  jener  des  böhm.  Museums  ein  Exemplar  vor.  Sein 
vollständiger  Titel  ist:  Praeservativum  universale  naturale  Augustis- 
simo  Romanorum  Imperatori  Leopoldo  I.  humillime  oblatum,  sine 
pretio  pretiosissimum,  sine  labore  facillimum:  contra  omnem  in  Aura 
serpentem  Contagionem,  maximorum  occasionem  Morborum.  Natura 
stimulante,  Sensu  obsequente,  Experientia  observante,  Ratione  con- 
firmante,  in  artem  deductum  et  pro  Bono  publico  patefactum  a  Ja- 
cobo  Joanne  Wenceslao  Dobrzensky  de  Nigro  Ponte  etc. 
Excusum  Pragae  typis  Univ.  Carolo-Ferdinand.  Anno  1679  in  kl.  8. 
31  Seiten.  Mit  dem  Chronographicon :  Anno  qVo  patrlos  affLICta 
VIenna  pennates  |  VIDerat,  InVIso  pestls  ab  Igne  Morl. 

Die  deutsche  Ausgabe  dieses  Biichelchens  lautet:  Allgemeines 
natürliches  Praeservativ-  oder  Verwahrungs-Mittel  wider  alle  von  giff- 
tiger  Lufft  herrührende,  höchst  gefährliche  und  gar  leichtlich  anste- 
ckende Seuchen,  kunstreich  erwogen,  und  dem  gemeinen  Nutzen 
zum  besten  eröffnet  und  mitgetheilt  von  Jacobo  Joanne  Wen- 
ceslao Do  brzensky  von  Schwarzbruck  u.  s.  w.  In  Verle- 
gung Johann  Zieger's,  Buchhändler  in  Nürnberg  1680,  32  Seiten  in 
kl.  8.  —  Die  böhmische  Ausgabe  erschien  nach  unseres  berühmten 


Beiträge  zur  Literärgeschichte  Böhmens.  101 

Jungmanns  Angabe  unter  dem  Titel:  Wefegnä  a  prirozenä  pi:ed 
nemocmi  obrana.  W  Praze  u  Jana  Arnoita  1679,  in  kl.  8. 

In  der  an  den  Kaiser  L  eo  p  old  I.  gerichteten  Widmungszuschrift 
sagt  der  Verfasser  selbst,  dieses  Büchlein  könnte  „je  eher  mit  einem 
höchst  geneigten  Auge  begünstiget  werden,  je  unfehlbarere  und  dem 
gemeinen  Völklein  bequemlichere,  ohne  Schätzbarkeit  höchst  schätz- 
bare und  zur  Gesundheit  trefflich  erspriessliche  Mittel  dasselbe  mit- 
getheilt."  —  Nachdem  Dobrzensky  einen  ziemlich  weitläufigen  phy- 
siologisch-diätetischen Excurs  über  die  „nun  zuvor  unflätige,  jetzt  aber 
höchst  nöthige  Feuchte  des  menschlichen  Speichels"  vorausgeschickt, 
kommt  er  auf  das  „Object,  Gegenwurf  und  Materi"  dieses  Büch- 
leins selbst.  Es  dürfte  vielleicht  nicht  am  unrechten  Orte  und  für 
manchen  Leser  nicht  uninteressant  sein,  die  Worte  des  Autors  getreu 
wieder  zu  vernehmen.    Sie  lauten: 

„Ich  habe  Vorzeiten  selbst  unbedachtsam  in  Gewohnheit  gehabt, 
und  gesehen  dass  es  fast  alle  Menschen  auch  also  gemachet,  und 
noch  biss  auf  diese  Stunde  sich  also  verhalten,  dass  sie  bei  Anschau- 
ung eines  stinkenden  widerwärtigen  abscheulichen  und  unangeneh- 
men Dinges,  aus  keiner  andern  Anleitung,  sondern  einig  und  allein 
aus  Antrieb  der  Natur ,  gleichsam  aus  Verächtlichkeit  auszuspeien 
pflegen,  dann  der  Geschmack,  so  diese  auf  der  Zungen  liegende 
widerwärtige  Feuchtigkeit  empfindet,  gehorchet  aus  Beihülffe  dess 
Speichels  der  Anreitzung  der  Natur,  damit  er  alles,  was  schädlich 
ist,  durch  das  Ausspürtzen  von  sich  treibe.  Als  ich  diese  Austreibung 
der  allervorsichtigsten  Natur  und  derselben  geleisteten  Dienst  etwas 
tiefsinniger  bei  mir  selbst  erwogen,  auch  hierauf  einen  Arzt  abgege- 
ben, unterschiedliche  Kranken  in  ihren  Zimmern  besuchet  und  dar- 
innen den  vielfältigen  Gestank  verspüret,  bin  ich  endlich  aus  eige- 
ner Erfahrung  zur  gründlichen  Erkanntnüss  der  auch  in  diesem  Fall 
mir  willfährigen  Natur  kommen.  Und  obschon  ich  vor  Jahren  in 
Welschland  so  viele  Spithäler  und  in  denselben  viel  mit  der  franzö- 
sischen Krankheit,  Lungensucht,  hitzigem  Fieber  und  Blattern  Behaff- 
tete  .  .  .  zum  öftern  besucht  habe,  habeich  mich  doch  jederzeit  durch 
Auswerffung  dess  Speichels  so  weit  verwahrt,  dass  ich  niemals  durch 
Gottes  sonderbare  Gnade  bin  angestecket  worden,  ob  ich  mich  gleich 
sonst  keiner  andern  natürlich-beispringenden  Hülffe  bedienet.  Dannen- 
hero  hab'  ich  angefangen,  die  Ursachen  dieser  Beobachtung  an  den 
Tag    zu    bringen  und  daraus  geschlossen,    dass  die  Natur  uns    in 


152  Dr.  Wilhelm  Weitenweber. 

diesem  Fall  ein  solches  Mittel  vorgestrecket ,  vermög  dessen  ein 
Mensch,  der  sonsten  durch  die  Gnade  Gottes  wohl  disponiret  und 
unter  den  Kranken  an  einem  verdächtigen  Ort  wohnet,  so  lange  er 
den  Speichel  nicht  verschlinget,  sich  vor  allen ,  so  viel  es  möglich, 
ansteckenden  Krankheiten  verwahren  möge  ....  Es  sind  subtiele 
und  sehr  anhängende  Dämpfe,  welche  gemächlich,  ehe  man's  spüret, 
durch  den  Schlund  sich  dem  Speichel  beifügen  und  den  Magen  bald 
anstecken,  ja  auch  daselbst  einwurtzeln,  so  dass  also  von  deroselben 
Vermischung  mit  dem  Blut  alles  Übel  herrühret.  Dannenhero  dieses 
mein  letzter  und  eigendlicher  Aussspruch  zur  allgemeinen  Vorbehü- 
tung  und  Verwahrung  ist :  Wer  mit  Kranken  handelt,  sie  mögen  auch 
mit  einer  Krankheit  behafftet  sein,  wie  sie  immer  wollen,  der  soll  kei- 
nes wegs ,  so  lang  er  mit  ihnen  umbgeht,  den  Speichel  verschlucken, 
sondern  allzeit  aus  dem  Munde  werffen.  Und  also  gelebe  ich  der 
Hoffnung,  dass  ein  Solcher  durch  göttlichen  Beistand  und  natürliche 
Hülffe  von  aller  sonst  gewiss  ansteckenden  Seuche  wird  befreyet 
bleiben  !"  — 

Als  jedoch  bald  nach  Veröffentlichung  dieses  Gegenstandes 
unter  anderen  Gegnern  auch  ein  gewisser  Johann  Friedrich  von 
Rain  zu  Stermoll  undRadelsegkh  in  einer,  auf  ganz  unwürdige  Weise 
polemisirenden,  von  alchymistischen  Grillen  über  den  Stein  der  Wei- 
sen angefüllten  Schrift  den  Werth  des  von  Dobrzensky  so  wohl- 
meinend empfohlenen  Vorbeugungsmittels  bestritt,  ja  sogar  den  Ver- 
fasser des  Verbrechens  der  verletzten  Majestät  beschuldigte,  —  fan- 
den sich  wieder  mehrere  gelehrte  Männer  welche  unter  verschiede- 
nen Pseudonymen  die  Ansicht  Dobrz  ens  ky's  in  Schutz  nahmen 
und  jenen  eben  so  unwissenden  als  frechen  Schriftsteller  zurecht- 
wiesen *).  Dass  sich  übrigens  unser  auch  als  ärztlicher  Praktiker  in 


1)  Als  literarische  Belege ,  wie  hitzig-  die  darüber  entbrannte  Polemik  geführt  wurde, 
erlaube  ich  mir  nebst  der  Schrift  des  Joann  es  Christian  Tral  les:  De  insufficien- 
tia  salivae  pro  Praeservativo  universali  Pestis  naturali.  Olsn.  Siles.  1680  noch  einige 
Tractate  zu  nennen.  Namentlich:  Praeservativum  universale  naturale  a  Natura  et 
Arte  depromptum  in  omni  morborum  genere  est  Lapis  Philosophorum,  cujus  possibi- 
litas ,  realitas,  existentia  et  praeparatio  ,  quantum  licet,  quodque  is  solus  sit  unicus 
morborum  omnium  debellator  Hercules  contra  Jacobuni  Joan.  W.  Dobrzensky  de  Nigro 
Ponte  .  .  .  remonstratur  editore  Joanne  Friderico  a  Rain  ad  Stermoll  et  Radelsegkh. 
—  Ferner  gehört  hieher:  Epistola  novi  praeservativi  universalis  naturalis,  nunciatoria 
Criminis  Caes.  Majestatis  laesaeque  graviter  famae  vindicatoria  ad  praenob.  ac  excell. 


Beiträge  zur  Literärgeschichle  Böhmens.  lOo 

Prag  hochgeachtete  Dobrzensky  in  der  wirklich  neuerdings  aus- 
gebrochenen Pestkrankheit  durch  unermüdlichen  Sanitätsdienst  und 
durch  eine,  dem  damaligen  Zustande  der  ärztlichen  Kunst  entspre- 
chende Behandlung  rühmlich  hervorgethan,  ist  mehrseitig  bei  den 
Zeitgenossen  sichergestellt.  Einige  amtliche  Daten  über  die  nächst- 
folgende Epidemie  habe  ich  in  meinen  „Mittheilungen  über  die  Pest  zu 
Prag  in  den  Jahren  1713—1714"  (Prag  1852  in  4.)  veröffentlicht. 
Es  wäre  an  diesem  Orte  überflüssig,  die  posthumen  Werke  des 
Dr.  Marcus  Marci  nochmals  zu  nennen,  deren  Herausgabe  sein 
literarischer  Erbe  Dobrzensky  besorgt  hat,  indem  ich  dieselben 
bereits  bei  der  Schilderung  des  Erstgenannten  (s.  oben  S.  135  ff.)  voll- 
ständig aufgezählt  habe.  Hier  kommt  nur  zu  erwähnen  :  Lachryma 
nondum  arescens,  olim  in  Liturgia  mentis  Excell.  Viri  Joannis 
Marci,  Viri  ob  raram  in  philosophicis,  mathematicis,  astronomicis, 
chymicis,  medicis  Scientiam,  eruditionem  et  doctrinam,  vitae  morum- 
que  probitatem.  alias  denique  praeclaras  virtutum  dotes  toto  facile 
Terrarum  Orbe  longe  aestumatissimi  profusa,  nunc  denuo  grata  ejus- 
demDilecti  Magistrisuiveneratione,  bonis  omnibusMarcianarum  virtu- 
tum Admiratoribus  ad  aeternam  memoriam  Epicedio  encomiastico 
exhibita.  Pragae  typis  Georgii  Czernoch  Anno  1684.  in  4.;  in  wel- 
cher Schrift  sich  Dobrzensky,  selbst  bereits  in  höherem  Alter 
stehend,  neuerdings  als  dankbarer  Schüler  und  Verehrer  seines  ihm 
unvergesslichen  Lehrers  erwies.  Befindet  sich  in  der  Prager  k.  k. 
Universitäts-Bibliothek  unter  der  Signatur  LH.  C.  13. 


Dominum  Jacobum  J.  W.  Dobrzensky  de  Nigro  Ponte  etc.  Dominum ,  Amicum  et  Pa- 
tronum  suum  Colendissimum.  Anno  1681.  Am  Schlüsse  der  Schrift  die  Unterschrift: 
Dabam  e  musaeolo  meo  Phosphoriburgi  ad  Solis-vicum  20.  Octobr.  Anno  1681  Tuus 
promptissimus  Servus  et  Fidelissimus  amicus  Jo  a  n.  V  a  I  en  ti  n  us  von  Schwar- 
tzenwald,  M.  D.  —  Bald  darnach  erschien  ebenfalls  im  Druck :  Judicium  philoso- 
phico-ethico-chymico-medicum  de  illa  Veteri  toties  jam  ventilata  et  nondum  resoluta 
controversia:  An  detur  Lapis  Philosophorum?  Et  ejusdem  indefinita  in  Morbis  tarn 
praeservandis  quam  curandis  Virtus.  Leviter  mota  a  praenob.  et  excell.  D.  J.  J.  W. 
Dobrzensky  de  Nigro  Ponte  etc.  .  .  .  acriter  defensa  a  D.  Joanne  Frid.  a  Rain  etc.  .  .  . 
Germane  id  est  candide  forma  epistolari  conscriptum  a  DidacoGermano,  Phil,  e 
Med.  Doctore.  Anno  Domini  1682.  —  Im  selben  Jahre  noch:  Theatri  alehymistico- 
medici  breve  etjucundum  spectaculum  Agentibus  Binis  in  scenam  Personis  ,  medico  in 
buniilitate  Curioso  et  alchimista  in  cmiositate  Fastuoso ;  observantibus  Jona  Zela- 
tore  et  Lucido  Pam  philo,  curiosis  duobus  mundi  litterarii  peregrinis  defae- 
catae  passionis  Sapientibus  communicatum.  Am  Schlüsse  des  in  Briefform  verfassten 
Büchleins:  Dabam  in  via  Montis  Calvariae ,  prid.  non.  Febr.  Anni  1682.  W. 


154  Dr.  Wilhelm  Weiten  web  er. 

Ferner  hatte  Dobrzenskyals  Anhang  zu  der,  von  ihm  als  posthu- 
mes  Werk  des  Marcus  Marci  herausgegebenen  Othosophia  seu 
Philosophiaimpulsus  universalis  (s.obenS.137)noch  beigefügt  :Monita 
quaedam  medica  ad  valetudinem  conservandam  ex  familiaribus  colloquiis 
clarissimi  aetate  sua  medici  et  Bohemiae  Hippocratis  Marci  Marci 
collecta.  —  Dieser  Aufsatz  enthält  mehrere,  auch  noch  heut  zu  Tage 
beachtens-  und  beherzigenswerthe ,  auf  reife  Erfahrung  gegründete 
Aussprüche  jenes  grossen  Arztes,  echte  Monita.  So  sagt  Dobrzensky 
unter  Anderm :  Plurimum  Marcus  tribuebat  Naturae ,  adeo  ut  quibus- 
dam  hac  in  re  nimius  videretur;  frequenter  habebat  in  ore  (quod  irri- 
debant  aemuli) :  sinamus  agere  naturam,  illa  dabit  indicium!  adjuve- 
mus  Naturam  e.  s.  p. 

Endlich  ist  hier  noch  folgende Inaugural-Dissertation  anzuführen, 
welche  unter  Dobrzensky' s  Präsidium  erschienen  ist:  Hippo- 
crates  redivivus  seu  theses  medicae  inaugurales.  primum  quidem  prae- 
liminaria  quaedam  antiphysiologica,  post  ad  usum  quarundem  partium 
appertinentia  physiologica,  demum  securiorem  medendi  methodum  et 
principia  rerum  Hippocratica  continentes.  Sub  praesidio  J.  J.  W.  Do- 
brzensky etc.  propugnandas  suscepit  Joann  es  Ign.  Franc.  Voita. 
Pragae  1684  in  8.  (in  der  Prager  k.  k.  Univ. -Bibliothek  XL VIII. 
G.  22). 

Akademische  Würden,  sind  unserm  Prof.  Dr.  Dobrzensky 
mehrmals  übertragen  worden,  wie  aus  dem  Archive  der  Prager  medici- 
nischen  Facultät  zu  ersehen  ist.  So  bekleidete  er  das  medicini- 
sche  Decanat  zu  wiederholten  Malen,  nämlich  in  den  Jahren  1683 
und  1684  nach  einander;  zumUniversitäts-Rector  wurde  er  ebenfalls 
zweimal,  und  zwar  am  13.  August  1670  und  sodann  am  8.  August 
1685  inaugurirt.  Weniger  hatte  ihm  die  Glücksgöttinn  bezüglich  der 
Erwerbung  äusserer  Güter  zugelächelt,  wie  überhaupt  auch  schon  im 
17.  Jahrhundert  der  Satz:  „Dat  Galenus  opes"  keine  allgemeine 
Geltung  gehabt  zu  haben  scheint.  Denn  wir  finden  z.  B.  im  gleichzei- 
tigen Facultäts-Protokollbuche  die  keineswegs  erhebende  Bemerkung, 
dass  Professor  v.  Z  eidlern  die  schuldigen,  monatlich  abzuführen- 
den Zinsen  von  einem  aus  der  Facultätscasse  entlehnten  Capitale  per 
200  Gulden  nicht  bezahlt  habe;  ferner  dass  Prof.  Dobrzensky 
gezwungen  gewesen,  seine  Bücher  zeitweise  bei  den  Juden  zu  ver- 
pfänden; endlich  dass  der  Professor  Senior  Kirchmayer  von 
Reichwitz  nach  seinem  Tode  nicht  einmal  so  viel  hinterlassen  habe, 


Beiträge  zur  Literärg'eschiclile  Böhmens.  löO 

damit  die  Facultät  dessen  Sohne  300  Gulden  creditiren  konnte!  — 
Andererseits  lesen  wir  aber  dort  wieder :  Als  es  sich  in  der 
Facultätssitzung  vom  7.  September  1685  um  die  Ausmittelung  der 
Quelle  handelte,  aus  welcher  die  im  Collegium  medicum  eben  aufzu- 
hängenden Bildnisse  der  kürzlich  verstorbenen  Professoren  Marc  i 
und  Franchimont  bezahlt  werden  sollten,  wurde  beschlossen, 
dass  hiezu  die  Facultätscasse  nicht  in  Anspruch  zu  nehmen  sei, 
sondern  Prof.  Dobrzensky  sprach  sich  dahin  aus,  das  Bildniss 
des  Marcus,  sowie  Prof.  Low  v.  Erlsfeld  jenes  des  Franchi- 
mont aus  Eigenem  bestreiten  zu  wollen. 

In  Bezug  auf  Dobrzensky's  Nachkommenschaft  ersieht 
man,  in  Ermangelung  anderer  verwandtschaftlicher  Quellen 
welche  mir  bekannt  geworden ,  auf  eine  freilich  nur  mittelbare 
Weise,  dass  er  einen  Sohn  und  eine  Tochter  gehabt,  aus  folgenden 
Daten: 

a)  Im  gleichzeitigen  Protokollbuche  der  med.  Facultät  heisst  es: 
Die  17.  Decembris  1685  tentatus  est  pro  gradu  Dominus  Franc. 
Octavianus  Dobrzensky  a  Nigro  Ponte,  Patricius  Pragensis, 
cui  ob  merita  Domini  „sui  parentis",  Professoris  ordinarii  et  pro  tem- 
pore Rectoris  Magnifici.  taxa  absolute  fuit  condonata,  cum  hac  tarnen 
reservatione  expressa,  ut  si  in  posterum  Excell.  Domini  Senioris  Doc- 
toris  a  Zeidlern  dominus  filius,  atque  Domini  Doctoris  Low  frater 
se  ad  gradum  disponeret,  gratia  et  beneficio  ejusdem  taxae  frui 
possint  ac  queant. 

b)  In  der  Sitzung  der  medic.  Facultät  am  9.  Juli  1694  wurde 
dem  absolvirten  Studiosus  der  Medicin,  Karl  Buchmann,  die  ärzt- 
liche Praxis  untersagt,  ausser  wenn  er  mit  seinem  „Schwiegervater" 
Dr. Dobrzensky  ginge;  auch  wurde  derselbe  ermahnt,  dass  er  noch 
bei  Lebzeiten  dieses  seines  Schwiegervaters  den  Anfang  mache  mit 
der  Erlangung  des  Gradus  u.  s.  w. 

In  den  literarhistorischen  Notizen  über  Dobrzensky  fand  ich 
nirgends  seinen  Todestag  angegeben;  nur  nach  des  verdienstvollen 
Decans  Langswert  handschriftlichen  Materialien  zu  einer  Ge- 
schichte der  Prager  medic.  Facultät  soll  es  der  3.  März  1697  sein. 
Da  aber  —  wie  ich  Eingangs  erwähnte  —  sein  Geburtsjahr  nicht 
bekannt  ist,  so  kann  man  nicht  mit  Verlässlichkeit  berechnen,  wie  alt 
er  eigentlich  geworden.  Das  von  Langswert  angeführte  Jahr  gewinnt 
dadurch  an  Wahrscheinlichkeit,   dass  laut  dem  Protokollbuche  die 


156      Dr.  Wilhelm  W  ei  t  en  web  er.  Beiträge  zur  Literärge'sehichte  Böhmens. 

medicinischen  Professoren  am  17.  Mai  des  obgenannten  Jahres  zu 
einer  Berathung  zusammengetreten  waren,  welcher  von  den  Compe- 
tenten  für  die  erledigte  ausserordentliche  Lehrkanzel  vorzuschlagen 
wäre,  in  dem  Falle,  dass  Prof.  Voigt  in  die  Kategorie  der  ordentli- 
chen Professoren  vorrücke;  man  entschied  sich  für  den  Excellentis- 
simus  Dominus  Crusius  (Krause?). 


Verzeich niss  der  eingegangenen   Druckschriften.  157 


VERZEICHNIS 

DER 

EINGEGANGENEN   DRUCKSCHRIFTEN. 

(JÄNNER.) 

Academy  of  sciences,  New-Orleans.  Proceedings,  Vol.  I,  Nr.  1. 
Agassiz,  L.,  On  ichthyological  Fauna  of  the  pacific    slope  of  N. 
America.  (American  Journal  of  science.  Ser.  2,  Vol.  19.) 

—  Notice  of  a  collection  of  fishes  from  the  southern  bend  of  the 
Tenessee  river.  N.  Haven  1854;  8°- 

—  The   primitive   diversity   and   number  of  animals  in  geological 
tiraes.  (Ibid.  1854.) 

—  On  extraordinary  Fishes  from  California.   (Ibid.  1853.) 
Andrae,  Karl  Just.,  Bericht  über  die  Ergebnisse  geognostischer 

Forschungen  im  Gebiete  der  14.,  18.  und  19.  Section  der  Ge- 

neral-Quatiermeisterstabs-Karte  von  Steiermark  etc.    (Geolog. 

Jahrbuch  VI.) 
Angius,  Vittorio,  L'Automa  aerio  o  sviluppo    della    soluzione    del 

problema  della  direzione  degli  aerostati.  Torino  1855;  80, 
Baird,  Spencer,  Report  etc.  on  the  fishes  of  the  New-Yersey  Coast. 

Washington  1855;  8°- 
Bizio,  G.,  Risposta  alla  rettificazione  del  Prof.  Ragazzini.  Venezia 

1856;  So- 
Breslau,  Universitäts-Schriften  1854. 
Capelli,  Giov.,  Osservazioni  barometr.  Milano  1843;  8°- 
Carlini,  Osservazioni  meteorologiche.  Bogen  1 — 49. 
Channing,  Will.,  The  American  fire-alarm  telegraph.  Washington 

1855;  8»' 
Cicogna,  Eman.,  Lettera  a  Fr.  Caff    intorno  alla  chiesa  die  S. 

Marco.  Venezia  1855;  8°- 


158 


Verzeichniss  der 


Cicogna,  Osservazioni  sul  canto  39.  di  alcune  edizioni  del  Furioso 

di  L.  Ariosto.  Venezia  1855;  So- 
Dana,  first  Supplement  to  Mineralogy.  (American  Journal  1855.) 

2  Exempl. 
—  Crustacea.  Atlas.  Philadelphia  1853;  Fol. 
Eisenstein,   R.  v.,    Pia  desideria  für  und  Neues  aus  Karlsbad. 

(Wochenblatt  der  Gesellschaft  der  Ärzte.  1855.) 
Gazette,  the  geographica!  and  commercial.  Vol.  I,  Nr.  1 — 6.  N. 

York  1855.  Fol. 
Gesellschaft,  naturforschende,  in  Basel.  Verhandlungen,  Heft  2. 
Gesellschaft,  Senkenbergische,  naturforschende.  Abhandlungen, 

Bd.  I,  Lief.  2.  Frankfurt  1855.  4»- 
Gesellschaft,  physicalische,  in  Berlin.  Fortschritte  der  Physik, 

Bd.  VIII,  Abth.  2. 
Gesellschaft,  Wetterauer,  für  die  gesammte  Naturkunde.  Jahres- 
bericht 1854. 
Gesellschaft,   physical.  -medicin.,  in  Würzburg.  Verhandlungen, 

Bd.  VI,  Heft  2. 
Hermann,  $r. ,  Ü6er  bte  ©tteberung  ber  Setiölferung  beä  $ömgretd)§ 

Satern.  SHun^en  1855;  4»- 
Hessel,  J.  F.  C. ,  Die  Anzahl  der  Parallelstellungen  und  jene  der 

Coincidenzstellungen   eines  jeden    denkbaren   Raumdinges  mit 

seinem  Ebenbilde  und  seinem  Gegenbilde,  der  Regelmässigkeit 

des  Schwerpunktes.  Cassel.  (5  Exempl.) 
&iibner,   Sor.  ,  58iograpl)tfd)e  Qfyaxattmftit    üort  3of.   äBijjma^r. 

SKün^cn  1855;  4<>- 
3  a  Arbiter;  er  beg  SßereineS  für  metflenburgtfdje  ©efdjidjte.  Safyrgang  20. 
Äröntg,  5t.,  Sfteue  SMetfyobe  jur    SBccmctbung   imb  Sluffmbung   ton 

3fte#mmggfe$lem.  SSertm  1855;  8o- 
SotoS,  3at>rg.  1855,  ©ejcmbcr. 

Marburg,  Universitäts-Schriften  aus  dem  Jahre  1853. 
Marsh,  George,  Lecture  on  the  Camel.  (Smithson.  Instit.) 
Miklosich,  Fr.,  Vergleichende  Grammatik  der  slavischen  Sprachen. 

Bd.  3.  Wien  1856;  So- 
Mo  est  a,  C,  Determinacion  de  la  latitud  geografica  del  circulo  meri- 

diano  del  Observatorio  nacional  de  Santiago.  Santiago  1854;  So- 
Peters,  C.  A.  F.,  Bestimmung  der  Abweichungen  des  Green  wicher 

Passagen-Instrum-entes  vom  Meridiane  etc.    Danzig  1855;  4°- 


eingegangenen  Druckschriften.  loJ 

Plantamour,    E. ,    Resumc    meteorolog.  de  l'annee  1854,  pour 
Geneve  et  le  Grand  S.  Bernard.  Geneve  1855;  8»- 

—  Nivellement  du  Grand  S.  Bernard.  Ibidem  1855;  8°- 
Rassunti    mensili  ed  annali  delle   Osservazioni  meteor.  di  Milano 

dal  1763—1840.  Milano  1841;  8°- 
Deuter,  $.,   Über  bte  gortfdjtttte  ber  Seinen  -  3nbuftrte  in  £>ftetretcfy. 

2ßten  1855;  8«- 
Rossmann,  Jul.,  Beiträge  zur  Kenntniss  der  Wasserhahnenfüsse. 

Giessen  1854;  4<>- 
Russell,  Rob.,  On  meteorology.  (Smithson.  Instit.) 
S  a  u v  a  g  e  s  de  la  Croix,  Franc.,  Dissertatio  med.  atque  ludicra  d'Amore. 

Ed.  d'Hombres-Firmas.  Alais  1854;  8°- 
Schade,  Louis,  The  united  states  of  N.  America  and  the  Immigration 

since  1790.  s.  I.  et  d. 
Stephen,  Alexander,  Observation  of  the  annular  eclipse  of  may  26. 

Astron.  journ.  74,  77.  1855. 
Styterfdj,  $rteb.  ».,  Sftebe  in  ber  offentl.  (Süsung  ber  f.  Stfabemte  ber 

SBtffenfc&aften  am  28.  gKärj  1855.  münfym  1855;  4«- 
Trask,   Joh.,  Report  on  the  Geology  of  the  coast  mountains  and 

part  of  the  Sierra  Nevada.  Washington  1854;  8°- 
Vereeniging,  natuurkundige,  in  Nederlandsch  Indie.  Tijdschrift, 

Vol.  V,  afler.  5,  6. 
Verein  für  vaterländ. Naturkunde  in  Würtemberg.  Jahreshefte,  XII,  1. 
Verein,  geognost.-montanist.,  für  Steiermark.  Bericht,  V. 
Verein  für  meklenburgische  Geschichte.  Quartalbericht,  20. 
Verein,  naturforsch.,  zu  Riga.  Correspondenzblatt  1854. 
Villa,  Antonio,  Intorno  alla  malattia  delle  viti.  Milano  1855;  80, 
Wheterill,  Charles,  Description  of  an  Apparatus  for  organic  ana- 

lysis  by  illuminating  gas  etc.  Philadelphia  1854;  80, 

—  On  Adipocire  and  its  formation.  Ibid.;  4°* 

Wintr  ich,  Anton,  Krit.  Beiträge  zur  medicin.  Akustik  etc.  Erlangen 

1855;  4<" 
Zeitschrift,  österr.,  für  praktische  Heilkunde.  Jahrgang  I.  Wien;4°- 
Zerrenner,  Karl,  Einführung,    Fortschritt    und   Jetztstand     der 

metallurgischen  Gasfeuerung  im  Kaisertimme  Österreich.  Wien 

1856;  4«- 


SITZUNGSBERICHTE 


DER 


KAISERLICHEN  AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN. 


PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE   CL ASSE. 


XIX.  BAND.  II.  HEFT. 


JAHRGANG  1856.  —  FEBRUAR. 


11 


163 


SITZUNG  VOM   13.  FEBRUAR   1856. 


Über  den  ziveiten  Bericht  an  S.  E.  den  Herrn  Minister  des 
Innern,   über  die  Literatur  im  österreichischen  Kaiserstaate 

im  Jahre  1854. 

Von  dem  w.  M.,  Hrn.  Regierungsrathe  Jos.  Chmel. 

Regierungsrath  C hm e  1  überreicht  der  Classe  im  Namen  des 
Verfassers  das  so  eben  erschienene  Werk:  „Biographisch-statistische 
Übersicht  der  Literatur  des  österreichischen  Kaiserstaates  vom 
1.  Jänner  bis  31.  December  1854.  Zweiter  Bericht,  erstattet  im  hohen 
Auftrage  Sr.  Excellenz  des  Herrn  Ministers  des  Innern  Alexander 
Freiherrn  von  Bach  etc.  von  Dr.  Constantin  Wurzbach  von  Tan- 
nenberg, Vorstand  der  administrativen  Bibliothek  des  k.  k.  Ministe- 
riums des  Innern.  Mit  57  Tabellen.  Wien.  Aus  der  k.  k.  Hof-  und 
Staatsdruckerei.  18o6,  XXII  und  686  Seiten  ingr.  8. 

Er  begleitet  diese  Übergabe  mit  folgenden  Worten  :  „Indem  ich 
die  Ehre  habe,  ein  Exemplar  dieses  wichtigen  Werkes  der  verehrten 
Classe  zu  überreichen,  kann  ich  nicht  unterlassen  zugleich  die  vollste 
Anerkennung  seines  Werthes,  ja  meine  innigste  Freude  auszuspre- 
chen und  bin  überzeugt  die  gesaminte  Akademie  wird  sich  nach  nähe- 
rer Einsichtnahme  mit  mir  dahin  vereinigen,  dass  dieser  officielle 
„Bericht  über  die  österreichische  Literatur  im  Jahre  1854"  zu  den 
dankenswertesten  Leistungen  auf  dem  Felde  der  Statistik  gehöre. 

Es  ist  dieses  Werk  eine  Anerkennung  der  „Wissenschaft 
und  Kunst"  und  ihres  hohen  Werthes,  ja  ihrer  Wichtigkeit, 
die  eben  so  überraschend  als  erfreulich  ist. 

Dieser  Bericht,  ein  Werk  des  mühsamsten  Fleisses,  der  umsich- 
tigsten bibliographischen  Genauigkeit ,  gibt  ein  Bild  des  geistigen 
Lebens  und  Strebens  unseres  Vaterlandes  in  so  fern  es  sich  durch 

11  • 


164  Joseph  Chmel. 

das  gedruckte  Wort  ausspricht,  welches,  wenn  auch   vorerst  nur 
ausser  lieh  und  andeutend,  schon  das  höchste  Interesse  erregt. 

Der  Berichterstatter  bespricht  nach  einer  orientirenden  Einlei- 
tung (Seite  IX— XXII)  in  der  ersten  Abtheilung  (Seite  1—67)  „die 
periodische  Presse  des  österreichischen  Kaiserstaates  im  Jahre 
1854  im  Allgemeinen,  sodann  die  politischen  Journale  insbeson- 
dere." Acht  Tabellen  erleichtern  die  Übersicht.  Die  zweite  Abtheilung 
enthält  „die  Literatur  des  österreichischen  Kaiserstaates  nach  wissen- 
schaftlichen Fächern,  die  periodischen  Fachschriften  inbegriffen",  in 
XX  verschiedenen  Unterabtheilungen  (S.  71—539).  In  zweiAnhängen 
werden  erstens  die  „Übersetzungs-Literatur  des  Jahres  1854  im  Kaiser- 
staate mit  einer  Tabelle  der  Übersetzungen  und  Auflagen  (S.  541  — 
555),"  sodann  „die  österreichische  Literatur  im  Auslande  vorzüglich 
in  Deutschland  während  der  Jahre  1853  und  1854"  (S.  559—570) 
und  zum  Schluss  höchst  interessante  Tabellen  (S.  571 — 621)  mit- 
getheilt,  deren  drei  General -Tabelle  n  und  ein  und  zwanzig  Spe- 
cial-Tabellen  sind,  vom  höchsten  statistischen  Interesse.  Ein  sehr 
umständliches  und  genaues  Namen-und  Saeh-Register(S.  623 — 685) 
erleichtert  den  Gebrauch  dieses  vortrefflichen  statistischen  Werkes. 

Der  Gedanke,  die  literarische  Thätigkeit  des  österreichischen 
Kaiserstaates  nach  den  vier  Hauptnationalitäten  und  nach  wissenschaft- 
lichen Fächern  übersichtlich  vorzuführen  und  auf  diese  Weise  die 
deutschen,  slawischen,  magyarischen  und  italienischen 
Österreicher  sowohl  selbst  einander  erst  recht  bekannt  zu  machen, 
als  auch  gegenüber  dem  Auslande  als  ein  vielgliedriges  Ganzes  dar- 
zustellen, ist  ein  glücklicher,  ein  patriotischer,  er  stammt  von  unserm 
Curator! 

DerdeutscheÖs  terr  eic  her  wird  auf  das  Nachdrücklichste 
gemahnt,  das  so  rege  und  theilweise  wirklich  staunenswerthe  litera- 
rische Streben  und  geistige  Leben  seiner  italienischen,  magyarischen 
und  slawischen  Brüder  nicht  blos  zu  beachten,  sondern  sich  auch  in 
den  Stand  zu  setzen,  diese  Literaturen  gründlich  zu  verstehen:  auf 
der  andern  Seite  müssen  eben  diese  nicht  deutschen  Oster- 
reich er  sich  bewusst  werden,  dass  sie  durchihre  Gesammt-Einigung 
zu  erhöhter  Bedeutung  und  Geltung  gelangen.  Literatur  und 
Kunst  sind  ein  festes  Band  das  die  verschiedenen  Nationalitäten 
umschlingt,  auf  der  einen  Seite  zu  gegenseitigem  Wetteifer 
anspornt,  aus  dem  schöne  Früchte  —  eine  höhere  geistige  Thätigkeit, 


Über  die  Literatur  im  österreichischen  Kaiserstaate  i.  J.  1854.  165 

eine  grossartigere  Ansicht  des  Lebens  und  eine  innigere  Anhäng- 
lichkeit an  das  theuere  Vaterland  —  entspringen,  und  auf  der  andern 
Seite  die  wechselseitige  Hochachtung  erzeugt,  welche  mit  der 
Zeit  zur  innigen  Neigung  wird. 

Darum  Ehre  und  Dank  dem  erleuchteten  Manne,  der  auf  Lite- 
ratur und  Kunst  solch*  hohen  Werth  legt,  und  sich  gründlichen 
und  umfassenden  Bericht  erstatten  lässt  über  Wachsthum  und  sicht- 
liches Gedeihen  derselben  ! 

Ich  erlaube  mir,  an  diese  Worte  des  Dankes  und  der  Anerken- 
nung im  Interesse  der  vaterländischen  Geschichte,  besonders  der 
Literatur- und  Cult Urgeschichte,  einige  fromme  Wünsche 
anzuknüpfen,  welche  sich  bei  genauer  Durchsicht  dieses  „Berichtes" 
gleichsam  mir  aufdrängten. 

Erstens  —  möchte  doch  ein  kritisches  Journal  mit  zurei- 
chenden Mitteln,  nach  grossartigstem  Massstabe  ,  redigirt  durch  ein 
Redactions-Comite,  in  dem  alle  wissenschaftlichen  Fächer 
vertreten  wären,  ins  Leben  gerufen  werden. 

Kr  i t  i k  ist  einer  heranstrebenden  jungen  Literatur,  und  das  ist 
die  österreichische  als  eine  Gesammt-Literatur ,  vorzugsweise  nöthig. 

Bei  so  vielen  bedeutenden  wissenschaftlichen  Kräften  welche 
insbesonders  an  unseren  regenerirten  Lehranstalten  wirken,  wäre 
die  Zustandebringung  eines  solchen  kritischen  Cen  tra  1  blattes 
durch  Zusammenwirken  mehrerer  hoher  Ministerien  wohl  zu  erreichen. 

Zweitens  —  möchten  aber,  so  wünsche  ich,  auch  über  die  frü- 
here vaterländische  Literatur  ähnliche  literarische  Übersichten  und 
kritische  Nachweisungen  geliefert  werden,  wenigstens  über  die 
Literatur  seit  1800  und  etwa  nach  wissenschaftlichen  Fächern.  Die 
österreichischeßibliographie  wurde  leider  stark  vernach- 
lässigt, es  wären  da  Arbeiten  von  grossem  Werthe  —  noch  ins  Leben 
zu  rufen.  Ohne  höhere  Unterstützung,  ja  ohne  höhere  Aufforderung, 
ohne  förmlichen  Auftrag  werden  wir  gewisse  unentbehrliche  litera- 
rische Hilfsmittel  noch  lange  schmerzlich  entbehren  müssen. 


Hr.  Dr.  Gindely  legt  vor  „neu  aufgefundene  Quellen  zur 
Geschichte  der  böhmischen  Brüder".,  welche  der  historischen  Com- 
mission  zur  Prüfung  und  weiteren  Bestimmung  zugewiesen  werden. 


166  Dr.  Karl  Scherzer 


SITZUNG  VOM  20.   FEBRUAR   1856. 


Gelesen: 


Über  die  handschriftlichen  Werke  des  Padre  Francisco  Ximenez 
in  der  Universitäts-Bibliothek  zu  Guatemala. 

Von  Dr.  Karl  Scherz  er. 

Seit  der  Zeit,  wo  der  grosse  Columbus  zum  ersten  Male  an  der 
Ostküste  des  central-amerikanischen  Continents  landete  und  die  alte 
Welt  mit  einer  neuen  beschenkte,  bat  sich  unsere  Kunde  von  der 
älteren  Geschichte  der  braunen  Bewohner  dieses  wundervollen  Erd- 
striches nur  wenig  geklärt.  Noch  heute  hört  man  Forscher  und 
wissbegierige  Reisende  die  Frage  stellen:  Waren  die  ersten 
Bewohner  Amerika's  Autochthonen,  oder  kamen  sie  aus  anderen 
Himmelsgegenden  eingewandert?  Diese  alten  Baudenkmale  in  den 
Urwäldern  von  Honduras,  Guatemala,  Yucatan  und  Mexico,  welche 
selbst  noch  in  ihren  Trümmern  die  Spuren  einer  aufkeimenden  Kunst 
verrathen,  sind  sie  die  Werke  derselben  braunen  Race  welche  noch 
gegenwärtig  das  Land  bevölkert,  oder  gehören  sie  einem  ver- 
schwundenen Geschlechte  an? 

Da  die  Eingebomen  niemals  eine  Schriftsprache  besassen  und 
ihre  Geschichte  und  Überlieferungen  nur  durch  Auswendiglernen 
der  wichtigsten  Begebenheiten,  sowie  durch  eine  höchst  mangelhafte 
Bilderschrift  vor  Vergessenheit  zu  bewahren  verstanden,  so  bleibt 
der  Forscher  in  dem  Studium  der  älteren  Geschichte  Central- 
Amerika's  und  seiner  räthselhaften  Bewohner  mit  wenigen  Aus- 
nahmen auf  die  Mittheilungen  jener  spanischen  Mönche  angewiesen, 
welche  die  ersten  Eroberer  auf  ihren  abenteuerlichen  Zügen  beglei- 
teten und  die  sich  später  in  den  verschiedenen  Theilen  des 
erworbenen  Landes  als  Missionäre  und  Klosterbrüder  niederliessen. 


Über  die  handschriftlichen  Werke  des  Padre  Francisco  Ximenez  etc.  167 

Leider  liefern  die  sogenannten  „historiadores  primitivos,"  von 
denen  Gonzales  Barcia  im  Jahre  1749  in  Madrid  eine  Gesammt- 
ausgabe  in  drei  Foliobänden  veranstaltete  J).  nur  wenig  Material  zur 
Kenntniss  der  vor-columbischen  Geschichte  und  des  Ursprunges  der 
Bewohner  Central-Amerika's.  Zugleich  herrscht  in  den  wenigen  noch 
bestehenden  Böchersammlungen  der  neu-spanischen  Republiken  ein 
auffallend  grosser  Mangel  an  sonstigen  Handschriften  und  noch 
unbenutzten  Documenten.  In  keinem  der  bedeutenderen  Wohnsitze 
in  den  Staaten  Costa  Rica,  Nicaragua,  Honduras  und  San  Salvador 
fand  ich  auch  nur  Eine  einzige  werthvolle,  auf  die  ältere  Geschichte 
des  Landes  Bezug  habende  Urkunde.  Bei  der  grossen  Schreibseligkeit 
der  Mönche  des  16.  Jahrhunderts  ist  dieser  Mangel  an  handschrift- 
lichen Werken  kaum  anders  als  durch  den  Umstand  zu  erklären,  dass 
im  Laufe  der  verschiedenen  Revolutionen  welche  die  Republiken 
Central-Amerika's  seit  ihrer  definitiven  Losreissung  vom  Mutterlande 
im  Jahre  1823  durchzumachen  hatten  ,  eine  grosse  Zahl  von  Urkunden 
und  Manuscripten  theils  gänzlich  verloren  ging,  theils  aus  dem 
Lande  geführt  wurde.  Als  im  Jahre  1829  nach  Aufhebung  der 
Klöster  durch  General  Morazan  viele  dieser  stattlichen  Räumlichkeiten 
eine  Umstaltung  in  Casernen  und  Gefängnisse  erlitten,  sollen  ganze 
Ladungen  von  Rüchern  und  alten  Manuscripten  aus  ihren  früheren 
Standorten  entfernt  und  vielfach  zur  Anfertigung  von  Patronenhülsen 
verwendet  worden  sein. 

Andere  antiquarische  Schätze  wanderten  nach  Havana,  Madrid, 
Toledo  und  Sevilla,  wohin  sie  expulsirte  Mönche  und  flüchtige 
Anhänger  der  spanischen  Krone  in  Sicherheit  zu  bringen  suchten. 
Auch  nach  Mexico  sind  viele  werthvolle  Urkunden  während  der 
kurzen  Herrschaft  des  Kaisers  Iturbide  (1822  —  1823J  verschleppt 
worden.  Der  einzige  Ort  Central-Amerika's,  wo  der  Forscher 
noch  einzelnen  wichtigen  Handschriften  und  seltenen  Documenten 
begegnet,  ist  Guatemala,  die  Hauptstadt  der  gleichnamigen  Republik. 
Ich  benützte  die  Regenzeit  des  Jahres  1854,  während  welcher 
gewöhnlich  alle  Arten  von  Reisen  und  Ausflügen  zu  naturwissen- 
schaftlichen Zwecken  unterbleiben  rnjüssen,  um  in  den  verschiedenen 


')  Historiadores  primitivos  de  las  Indias  occidentales  que  junto,  traduxo  en  parte  y  sacö 
ä  luz,  ilustrados  con  eruditas  notas  y  copiosos  indices  el  II.  Senor  D.  Andres  Gonzales 
Barcia,  del  Consejo  y  camara  de  Su  Majestad.  3  tomos.  Madrid,  aflo  MDCCXL1X, 


1  68  Dr.  Karl  Scherzer. 

Kloster-Bibliotheken  Guatemala's  nach  Werken  zu  forschen ,  welche 
die  ältere  Geschichte  Central-Ameiika  s  behandeln.  Es  herrscht  in  den- 
selben eine  bedauernswerthe  Unordnung.  Der  dermalige  Präsident  von 
Guatemala,  der  frühere  Indianer- Häuptling  Rafael  Carrera,  hat 
zwar  vor  wenigen  Jahren  die  sämmtlichen,  seit  dem  Jahre  1829 
expulsirt  gewesenen  Ordensgeistlichen  zurückberufen;  er  war  aber 
nicht  im  Stande,  ihnen  gleichzeitig  auch  die  von  der  Morazan'schen 
Regierung  weggenommenen  und  veräusserten  Kirchengüter  wieder 
zu  erstatten,  und  so  leben  selbst  die  wenigen  Mönche  die  sich  seither 
neuerdings  in  der  Hauptstadt  eingefunden,  in  der  grossten  Dürftig- 
keit und  scheinen,  gedrückt  von  Sorgen  aller  Art,  bisher  noch 
nicht  Müsse  gefunden  zu  haben,  sich  um  das  Ordnen  und  Prüfen 
auch  der  wenigen,  der  Zerstörung  und  Verstreuung  entgangenen 
Manuscripte  und  Bücher  zu  kümmern.  In  der  kleinen  Bibliothek 
der  Municipalität  fand  ich  nebst  einer  Anzahl  von  Briefen  der  ersten 
Eroberer  das  Original  von  Bernal  Diaz  de  CastihVs  „Conquista  de 
Nueva  Espana",  welche  derselbe  am  14.  November  1605  in  Guate- 
mala vollendete,  sowie  die  Handschrift  von  Fuentes  de  Guzman's 
„Historia  de  Guatemala".  Von  letzterem  Werke  wird  so  eben  durch 
einen  sehr  verdienstvollen  Arzt  und  Forscher  Guatemala's,  den 
Dr.  Mariano  Padilla,  eine  Übertragung  des  Manuscriptes  in  das 
moderne  Spanische  veranstaltet.  Auch  die  Universitäts -Bibliothek 
besitzt  nur  wenige  werthvolle  ältere  Geschichtsurkunden.  Der 
interessanteste  antiquarische  Schatz  dieser  im  Allgemeinen  sehr 
mangelhaften  Büchersammlung  sind  unstreitig  die  Handschriften  des 
Dominicaner-Mönches  P.  Francisco  Ximenez,  welcher  zu  Anfang  des 
vorigen  Jahrhunderts  als  Pfarrer  in  dem  kleinen  Indianerdorfe 
Chichicastenango  im  Hochlande  von  Guatemala  lebte  und  durch  seine 
tiefe  Gelehrsamkeit  wie  durch  seine  strenge  Wahrheitsliebe  in 
grossem  Rufe  und  Ansehen  stand.  Über  seine  Geburt  wie  sein 
Sterbejahr  gibt  es  nur  ungewisse  Angaben.  An  seinen  Werken  fehlen 
häufig  Titel  und  einzelne  Blätter,  so  dass  man  sogar  über  den 
Zeitpunct  ihrer  Entstehung  im  Unklaren  wäre,  wenn  der  Autor  nicht 
selbst  im  Laufe  seines  Geschichtswerkes  erzählt  hätte,  dass  es  um 
das  Jahr  1721  war,  als  er  seine  Geschichte  der  Provinz  von  Chiapa 
und  Guatemala  schrieb.  Geraume  Zeit  wurden  die  Werke  dieses 
edlen  Mannes  welcher  sich  in  eben  so  würdiger,  als  rücksichtsloser 
Sprache  über  die  von  den  ersten  Eroberern  und  ihren  Nachfolgern 


Über  die  handschriftlichen  Werks  des  Padre  Francisco  Ximenez  etc.  169 

an  den  armen  Indianern  verübten  Grausamkeiten  äusserte  und  sich 
nicht  scheute,  die  Unmöglichkeit  einer  Bekehrung  der  Eingehornen 
durch  Schwert  und  Brandmal  offen  darzustellen,  sogar  für  gänzlich 
verloren  gehalten.  Man  vermuthete  nämlich,  die  spanischen  Macht- 
haber, getroffen  durch  den  herben  Ton,  in  dem  sich  Ximenez  über 
die  blutigen  Gewalttätigkeiten  der  verschiedenen  Statthalter  der 
Colonien  aussprach,  hätten  dieselben  absichtlich  unterdrücken  und 
vernichten  lassen.  Glücklicherweise  sind  sie  unter  dem  Staube  der 
Vergessenheit  im  Dominicanerkloster  zu  Guatemala  einer  solchen 
brutalen  Zerstörung  entgangen,  und  als  später  die  sämmtlichen 
geistlichen  Orden  aufgehoben  wurden,  gelangten  einzelne  Bände  der 
Ximenez'schen  Manuscripte  nach  der  Universitäts- Bibliothek.  Dort 
fand  ich  sie  unter  anderen  Handschriften  im  Monate  Juni  1854.  Die- 
selben sind  nicht  vollständig;  es  fehlt  der  2.  und  4.  Band  der  Samm- 
lung, welche  trotz  meiner  eifrigsten  Nachforschungen  in  den 
verschiedenen  Conventen  der  Hauptstadt  nicht  aufgefunden  werden 
konnten.  Aber  selbst  die  vorhandenen  Bände  der  Manuscripte  des 
gelehrten  Dominicaner- Mönches  wurden  bisher  in  Guatemala  nur 
wenig  beachtet.  Ein  Hauptgrund  davon  mag  allerdings  in  der  sehr 
schwer  leserlichen ,  gebleichten  Schrift  liegen,  welche  das  Studium 
der  Ximenez'schen  Werke  äusserst  mühsam  und  augenfeindlich 
macht.  Ausserhalb  Guatemala  hingegen  sind  diese  Manuscripte  bisher 
nur  durch  einzelne  dürftige  Auszüge  bekannt  geworden,  welche 
Ramon  de  Ordoilez  in  seiner  „Historia  del  cielo  y  de  la  tierra"  daraus 
veröffentlichte,  und  von  ihrem  Vorhandensein  in  der  Universitäts- 
Bibliothek  zu  Guatemala  scheint  seltsamer  Weise  keiner  der  heutigen 
Forscher  central-amerikanischer  Geschichte  unterrichtet  gewesen  zu 
sein.  So  z.  B.  spricht  noch  im  October  1850  der  Altertumsforscher 
Abbe  Brasseur  de  Bourbourg  in  einem  Schreiben  aus  Mexico  an 
seinen  Mäcen,  den  Herzog  von  Valmy  in  Paris,  sein  Bedauern  darüber 
aus,  dass  die  Werke  des  P. Francisco  Ximenez  niemals  veröffentlicht 
wurden  *)>  und  gibt  darin  sogar  der  Befürchtung  Raum,  dass  dieselben 


*)  „Le  pere  Francisco  Ximenez,  provincial  de  l'ordre  de  St.  Dominique,  dans  la  province 
de  Guatemala  et  Cliiapa,  a  compose  une  histoire  ancienne  de  ces  contrees,  demeuree 
manuscrite  et  entiereraent  inconnue."  Lettres  pour  servir  d'introduction  a 
l'hisloire  primitive  desnaüons  civilisees  de  I'Amerique  septentrionale  adressees  ä  Mr.  le 
duc  de  Valmy  par  Mr.  L'abbe  E.  Charles  Brasseur  de  Bourbourg'.    Mexitjue,  Oct.  1830. 


170 


Dr.  Karl  Scherzei 


für  die  Wissenschaft  verloren  sein  dürften.  Es  hatte  also  auch 
dieser  gründliche  Gelehrte  keine  Ahnung,  dass  sich  die  Ximenez1- 
schen  Manuscripte  in  Guatemala  befinden,  obwohl  sich  derselbe 
mehre  Jahre  lang  zu  wissenschaftlichen  Zwecken  in  dem  benach- 
harten  Mexico  aufhielt,  das  mit  der  Hauptstadt  von  Guatemala  einen 
regelmässigen  Verkehr  unterhält.  —  Je  fühlbarer  sich  aber  der 
Mangel  an  Materialien  zur  Kenntniss  der  älteren  Geschichte  der  ersten 
Bevölkerer  Central-Amerika's  herausstellt,  einen  desto  grösseren 
Werth  erhält  das  wenige  noch  Vorhandene,  um  so  wichtiger  erscheint 
es,  Alles  darauf  Bezug  habende  zu  sammeln  und  durch  Veröffentli- 
chung vor  Verlust  oder  allmählicher  Uubrauchbarkeit  zu  sichern.  — 
Dieses  Gefühl  hat  auch  mich  geleitet,  als  ich  mich  zur  Durchsicht 
der  Ximenez'schen  Manuscripte  entschloss.  Ich  will  mir  durchaus 
nicht  die  Ehre  anmassen,  diese  interessanten  Urkunden  aufgefunden  zu 
haben,  aber  das  Verdienst  glaube  ich  ohne  Unbescheidenheit  an- 
sprechen zu  dürfen,  der  Erste  gewesen  zu  sein,  welcher  die  Auf- 
merksamkeit der  gelehrten  Welt  auf  die  Ximenez'schen  Manuscripte 
in  der  Bibliothek  zu  Guatemala  richtete  und  deren  theilweise  Druck- 
legung anregte. 

Eine  vollkommene  Abschrift  derselben  lag  ausser  dem  Bereiche 
meiner  Mittel,  noch  schien  es  mir  von  besonderem  Wert  he  für  die 
Wissenschaft :  denn  nach  der  Weise  der  geistlichen  Geschieht-* 
schreiber  des  vorigen  Jahrhunderts  hat  auch  Ximenez  vielfach  die 
gewöhnlichsten  Ereignisse  sehr  weitläufig  behandelt  und  mit  der 
Beschreibung  der  unbedeutendsten  Geschehnisse  oft  viele  Folioseiten 
angefüllt.  Dagegen  habe  ich  von  Allem  was  sich  auf  die  ältere 
Geschichte  des  Landes  und  den  Ursprung  seiner  Bewohner  bezieht, 
theils  selbst  Auszüge  gemacht,  theils  durch  einen  gebildeten  Neu- 
spanier vollständige  Abschriften  anfertigen  lassen.  Meine  mehrfachen 
Versuche,  die  in  den  verschiedenen  Büchersammlungen  von  Guatemala 
vorhandenen  Wörterbücher  der  Quiche-,  Cacchiquel-  und  Sutujil- 
Sprache  käuflich  an  mich  zu  bringen,  blieben  zu  meinem  grossen 
Bedauern  erfolglos,  obwohl  dieses  Geschäft  unter  den  günstigsten 
Umständen  für  ihre  Besitzer  geschlossen  werden  sollte.  Ich  machte 
nämlich  de.i  Antrag,  bei  meiner  Bückkehr  nach  Europa  die  Druck- 
legung der  angekauften  indianischen  Wörterbücher  veranlassen, 
und  davon  eine  angemessene  Anzahl  gedruckter  Exemplare  den 
Missionären  zur  leichteren  Erlangung  der  für  ihre  frommen  Zwecke 


Über  die  handschriftlichen  Werke  des  Padre  Francisco  Ximenez  etc.  171 

so  hochwichtigen  Kenntniss  der  indianischen  Sprache  unentgeltlich 
überlassen  zu  wollen. 

Die  von  mir  vorgefundenen  Handschriften  des  Padre  Francisco 
Ximenez  zerfallen  in  drei  verschiedene  Theile.  Ein  Band  davon  lie- 
fert auf  1031  enggeschriebenen  Seiten  ein  Bruchstück  der  Geschichte 
der  Provinz  SanVicente  de  Cbiapa  und  Guatemala;  derselbe  beginnt 
mit  dem  vierten  Buche  und  der  Beschreibung  der  Ereignisse  im  Laufe 
des  Jahres  1601  und  endet  mit  dein  fünften  Buche  und  dem  86.  Capitel, 
welches  noch  die  Vorgänge  des  Jahres  1698  in  sich  schliesst.  Aus 
verschiedenen  Andeutungen  des  Autors  geht  hervor,  dass  dies  der 
dritte  Band  seiner  Werke  ist  und  dass  man  1721  schrieb,  als  er  die 
247.  Blattseite  desselben  vollendete.  Der  vorhergehende  Band  dieses 
interessanten  Manuskriptes  ist  leider  in  der  Universitäts-Bibliothek 
nicht  vorbanden.  Eben  so  wenig  ist  es  bekannt,  ob  der  folgende  Band 
dieses  Geschichtswerkes,  der  mit  den  Begebnissen  des  Jahres  1691) 
beginnen  sollte,  und  auf  welchen  Ximenez  am  Ende  des  dritten  Bandes 
in  einem  eigenen  Epilog  anspielt  '),  von  demselben  jemals  begonnen 
und  vollendet  worden  ist.  —  Ein  zweites  Manuscript  von  Ximenez 
umfasst  auf  286  Blättern  in  Gross-Octav  ein  Wörterbuch  der  Quiche- 
und  Cacchiquel-Spraehe.  Es  fehlen  an  diesem  Manuscripte  Titel  und 
Jahrzahl.  Der  Inhalt  hingegen  ist  vollständig,  sowie  diese  Hand- 
schrift überhaupt  von  allen  vorhandenen  Werken  des  P.  Ximenez  das 
am  besten  erhaltene  ist.  Die  indianischen  Worte  sind  mit  rother,  die 
spanischen  daneben  mit  schwarzer  Tinte  geschrieben,  was  das  ganze 
Werk  besonders  deutlich  macht.  Ein  Copiren  dieses  Wörterbuches 
würde  gleichwohl  eine  gründlichere  Kenntniss  der  beiden  indianischen 
Idiome  vorausgesetzt  haben,  als  irgend  einer  der  spanischen  Ab- 
kömmlinge Guatemala's  besitzt. 

Von  nicht  minderem  Interesse  für  die  Forschung  erschien  mir 
derjenige  Theil  der  Manuscripte,  welcher  in  Einem  Bande  die  nach- 


l)  „Y  asi  pondremos  im  ;!  aquesto,  rendiendo  a  Dios  las  gracias  que  despues  de  tantos 
trabajos  de  mar  y  tierra  nie  ha  dado  vida  para  concluir  aqueste  libro  y  aqueste 
tercer  tomo,  suplicando  a  su  infinita  bondad  me  la  conceda  si  ha  de  ser  por  su 
Sto- Servicio  y  por  su  honor  gloria  para  escribir  el  libro  qne  falta  que 
comprehendera  desde  el  ano  de  1699  por  dar  prineipio  a  el  con  la  eleceion  de 
Provincial  auevo  como  he  hecbo  en  los  demas  hasta  el  tiempo  que  alcanzare, 
que  es  de  los  tiempos  mas  calamitosos  que  ha  experimentado  aqueste  Reyno  como 
se  vera  de  hombres,  p  est  es,  guerras  con  «j  ue  ha  ngostado  la  Divina  Justicia 
aqueste   Reyno.    Vol.    III,   fol.    SIS. 


172 


Dr.  Karl  Scherzer. 


folgenden  Abhandlungen  theils  sprachlichen,  theils  religiösen,  theils 
geschichtlichen  Inhalts  umfasst: 

1.  Arte  de  las  tres  lenguas  cacchiquel,  quiche  y  yutuhil  (Sutujil). 

2.  Tratado  segvndo  de  todo  Io  que  debe  saber  vn  ministro  para  la 
bvena  administracion  de  estos  naturales. 

3.  Respuesta  del  Padre  Alonzo  de  Novena,  Prior  Provincial  de  esta 
Provincia  (a  quien  como  ä  oraculo  consultaban  todos  en  sus 
mayores  dudas)  ddo.  Guatemala,  25  Febrero  1580,  ä  algunas 
cuestiones  del  Fray  Ferrano,  vicario  de  Tecutzitlan  en  la  pro- 
vincia de  Mexico,  ddo.  1.  Septiembre  1570,  sobre  diversas 
dudas  en  respeto  de  confesar  ä  los  indios. 

4.  Confesionario  en  las  tres  lenguas  cacchiquel,  quiche  y  yutuhil 
con  unas  Advertencias. 

5.  Catezismo  de  Indios. 

6.  Empiezan  las  historias  del  origen  de  los  Indios  de  esta  provincia 
de  Guatemala,  traducido  de  la  lengua  Quiche  en  la  castellana 
para  mas  comodidad  de  los  ministros  de  el  St.  Evangelio;  nebst 
einem  Anhange:  Escolios  a  las  historias  de  el  origen  de  los 
indios,  escoliadas  para  mayor  noticia  a  los  ministros  de  las  cosas 
de  los  indios. 

Diese  letzte  Abhandlung,  eine  Übersetzung  des  Ursprungs  der 
Indianer  von  Guatemala  aus  dar  Quiche-Sprache  ist  es,  von  welcher 
ich  während  meiner  Anwesenheit  in  Guatemala  eine  vollständige  Ab- 
schrift anfertigen  Hess.  Dieses  interessante  Document  umfasst  56  eng- 
geschriebene Blätter  oder  112  Folioseiten  und  ist  mit  so  bleicher  Tinte 
geschrieben,  dass  das  Original  schon  in  wenigen  Jahren  völlig  unleser- 
lich und  unbrauchbar  werden  dürfte.  Ich  glaube  mich  hier  um  so  mehr 
auf  die  Aufzählung  der  Hauptmomente  der  Quiche-Chronik  beschrän- 
ken zu  können,  als  durch  die  Munificenz  der  kaiserl.  Akademie  der 
Wissenschaften  die  Herausgabe  des  spanischen  Originales  seinem 
ganzen  Umfange  nach  als  selbstständiges  Werk  ermöglicht  wurde. 

Die  Erschaffung  der  Welt  geschah  nach  der  indianischen 
Schöpfungssage  nicht  durch  Einen ,  sondern  durch  mehrere  Schöpfer 
(criadores  y  formadores).  In  Finsterniss  und  Nacht  erschienen  Tepeu 
und  Qucumatz  und  beriethen  mitHuracan  (Geist  des  Himmels),  Cuculha 
huracan  (grosser  Strahl)  und  Chipa  cacullia  (grüner  Strahl)  das  Werk 
der  Schöpfung.  Zuerst  entstand  die  Erde,  die  Berge  und  die 
Ebenen,  sodann  wurden  die  Löwen  und  die  Tiger,  die  Schlangen  und 


Über  die  handschriftlichen  Werke  des  Padre  Francisco  Xirnenez  etc.  173 

Nattern ,  die  Hirsche  (venado)  und  die  Vögel  erschaffen  und  ihnen 
ihre  Wohnorte  angewiesen.  „Du  Hirsch,  wirst  in  den  Niederungen 
und  in  den  Schluchten  schlafen;  dort  wirst  Du  unter  den  Sträuchen 
und  Gräsern  hausen;  in  den  Bergen  wirst  Du  dicli  vermehren,  auf 
vier  Füssen  wirst  Du  gehen  und  mit  vier  Füssen  geboren  werden ; 
und  Ihr,  Vögel,  gross  und  klein,  Ihr  werdet  auf  Bäumen  und 
Gesträuchen  Eure  Wohnsitze  aufschlagen  und  Euch  daselbst  ver- 
mehren und  Euch  schwingen  auf  den  Zweigen  der  Gewächse!" 
Hierauf  verlangten  die  Schöpfer,  dass  die  Thiere  zu  ihnen  reden  und 
sie  als  Gottheiten  verehren  sollten.  Und  da  sie  nicht  wie  Menschen 
sprachen,  sondern  blos  zu  schreien  (chillar)  und  krähen  (cacarear) 
vermochten,  wurden  sie  wieder  vernichtet  und  die  Schöpfer  schufen 
andere  Menschen  aus  Korkholz  und  das  Weib  aus  dem  Pollen  der 
Schwertlilie;  und  sie  vermehrten  sich  und  hatten  Söhne  und  Töchter. 
Aber  sie  hatten  kein  Herz, und  keinen  Verstand,  und  erinnerten  sich 
nicht  ihrer  Schöpfer;  sie  hatten  weder  Blut  noch  Schweiss  (sudor), 
noch  Fleisch;  trocken  und  fahl  waren  ihre  Wangen,  dürr  und  gelb 
Füsse,  Hände  und  Gesicht;  und  es  waren  viele  und  sie  verbrei- 
teten sich  über  die  Erde.  Auch  an  ihnen  fanden  die  Schöpfer  kein 
Wohlgefallen  und  vernichteten  und  tödteten  sie  durch  eine  gewaltige 
Wasserfluth,  und  verwandelten  sie  zur  dauernden  Erinnerung  in  Affen. 
„Und  darum  gleicht  der  Affe  der  heute  in  den  Urwäldern  Guaternala's 
haust,  dem  Menschen,  weil  er  das  Bild  einer  andern  Gattung  von 
Menschen  aus  Holz  ist." 

Noch  herrschte  wenig  Helle  (poca  claridad)  auf  der  Erde,  noch 
hatte  man  nicht  erblickt  das  Gesicht  der  Sonne,  des  Mondes  und  der 
Sterne;  da  übernahm  sich,  geblendet  durch  den  Glanz  seiner  Schätze 
und  seiner  Reichthümer,  einer  der  Götter,  Vucub  caquix  (sieben  Arasse) 
und  glaubte  Sonne  und  Mond  ersetzen  und  wie  diese  leuchten  zu 
können.  Sein  Hochmuth  (soberbia)  wird  aber  bald  durch  die  List 
zweier  anderer  Götter,  Hun-ahpu  (Jäger)  und  Xbalamque  (Tiger  und 
Hirsch)  bitter  bestraft.  Wir  hören  nun  in  sehr  weitläufiger  Weise  die 
Versuchungen  erzählen,  welche  mehrere  Götter  von  Hun-came  und 
Vucub-came,  den  Fürsten  der  Hölle  (los  Senores  de  ei  infierno),  zu 
bestehen  haben.  Zwei  der  ersterenHun-hun-ahpu  und  Vucub-hun-ahpu, 
die  Väter  des  Menschengeschlechtes,  werden  auf  die  seltsamste  Weise 
in  die  Hölle  gelockt.  Auf  ihren  Wanderungen  gelangen  sie  auf  einen 
Kreuzweg  (encrucijada),  von  dem  vier  verschiedene  Wege  auslaufen  : 


1  74  Dr.  Karl  Scherzer. 

ein  rother,  ein  schwarzer,  ein  weisser  und  ein  gelbfarbener  Weg. 
Und  als  sie  dies  stutzig  macht,  spricht  der  schwarze  Weg  zu  ihnen  : 
„Mich  habt  Ihr  zu  nehmen,  denn  ich  bin  der  Weg  der  Fürsten  (de  los 
Senores)";  und  auf  diese  Weise  werden  sie  irregeführt,  und  dem 
Wege  folgend  kommen  sie  zu  den  Thronen  der  Fürsten  der  Hölle. 
Hier  haben  nun  beide  die  seltsamsten  Prüfungen  zu  überstehen. 
Höchst  bizarr  ist  die  Beschreibung  welche  die  indianische  Chronik 
von  der  Hölle  gibt.  Viel  und  mannigfaltig  sind  die  Züchtigungen  in 
diesem  Schauerorte.  Es  gibt  daselbst  ein  Haus  (casa)  der  Finsterniss, 
ein  Haus,  wo  unerträgliche  Kälte  herrscht  (de  intolerable  e  insoportable 
frio),  ein  Haus  der  Tiger,  dessen  büssende  Bewohner  von  diesen 
Urwaldbestien  zerdrückt  und  zerfleischt  werden;  ein  anderes  Haus 
voll  von  Fledermäusen,  die  hässlich  schreien  und  wild  herumfliegen, 
ohne  einen  Ausgang  finden  zu  können;  endlich  ein  Haus  voll  Messer  - 
scheiden  (Solen  vagina?),  die  sich  fortwährend  eine  mit  der 
andern  reiben  und  dadurch  einen  markdurchdringenden  Lärm  hervor- 
bringen. Zuerst  kommen  die  beiden  verirrten  Götter  in  das  Haus 
der  Finsterniss  und  erhalten  ein  Stück  Fichtenholz  (ocote)  und 
Cigarren.  Sie  sollen  auf  Befehl  der  Fürsten  der  Hölle  das  Fichten- 
holz verbrennen  und  die  Cigarren  rauchen,  gleichwohl  aber  beides 
unversehrt  am  nächsten  Morgen  wieder  zurückstellen.  Da  sie  dieses 
Gebot  nicht  zu  erfüllen  im  Stande  sind,  so  müssen  sie  sterben. 
Hun-hun-ahpu  wird  der  Kopf  abgeschnitten  und  auf  Befehl  der 
Fürsten  der  Hölle  auf  die  Gabel  (porcon)  eines  Holzpfahles  (palo) 
am  Wege  gesteckt.  Und  hierauf  fängt  der  dürre  Stock  plötzlich  an 
eine  Frucht  zu  tragen,  die  man  heutzutage  Hicaro  (Crescentia)  nennt 
und  in  die  sich  zum  grossen  Erstaunen  der  Fürsten  der  Hölle 
der  Kopf  Hun-hun-ahpu's  verwandelt  hatte. 

Eine  fast  poetische  Episode  wird  jetzt  in  die  bisher  ziemlich 
prosaische  Erzählung  verweben  :  Ein  junges  Mädchen,  Namens  Xquic 
(Blut),  die  Tochter  eines  mächtigen  Fürsten,  der  Cuchumaquic(sangre 
Junta)  hiess,  hatte  von  der  wunderbaren  Verwandlung  des  Kopfes  von 
Hun-hun-ahpu  in  die  Frucht  des  Hicarobaumes  vernommen  und  trug 
grosses  Verlangen,  diese  Erscheinung  zu  sehen.  Da  wandelte  sie  allein 
zum  Baume  und  stellte  sich  unter  denselben  und  rief  erstaunt  aus: 
„Welche  schöne  herrliche  Früchte!  Wohl  werde  ich  nicht  sterben  noch 
zu  Grunde  gehen,  wenn  ich  eine  dieser  Früchte  pflücke."  Und  nun  ent- 
spinnt sich  ein  Zweigespräch  zwischen  dem  Mädchen  und  dem  in  einen 


Über  die  handschriftlichen  Werke  des  .Padre  Francisco  Ximenez  elc.  j  75 

Kürbiss  verwandelten  Kopf  Hun-hun-ahpu1s;  und  die  Jungfrau  streckt 
den  rechten  Arm  nach  der  Frucht  aus  und  es  träufelt  vom  Lehenssafte 
des  Kürbisses  in  die  Flache  ihrer  Hand  und  sie  empfängt  und  wird 
die  schmerzensreiche  Mutter  vonHun-ahpu  und  Xbalamque,  die,  in  der 
Einsamkeit  der  Berge  aufwachsend,  später  als  die  Rächer  ihrer 
ermordeten  Väter  die  Fürsten  der  Hölle  besiegen.  Und  nach  dieser 
glorreichen  That  erheben  sie  sich  in  den  Himmel,  und  einer  von 
beiden  wird  in  die  Sonne,  der  andere  in  den  Mond,  und  die  400 
Gefährten  ihrer  Thaten  werden  in  Sterne  am  Firmament  verwandelt. 
Die  Quiche-Chronik  aber  lehrt  uns  weiter,  wie  hierauf  Tepeu  und 
Qucumatz  verschiedene  neue  Schöpfungsversuche  anstellen,  bis  endlich 
die  ersten  Menschen  aus  gelben  und  weissen  Maiskolben  geformt 
werden. 

Die  Namen  der  ersten  vier  Menschen  die  weder  Vater  noch 
Mutter  hatten,  noch  von  einem  Weibe  geboren  waren,  sondern  wie 
durch  ein  Wunder  von  Tepeu  und  Qucumatz,  den  Schöpfern  und 
Gestaltern,  erschaffen  wurden,  hiessen :  Balamquitze,  Balam-acab, 
Mahucutah  und  Yquibalam.  Es  waren  gute  und  schöne  Menschen  die 
sprechen,  sehen,  hören,  gehen,  fühlen  und  athmen  konnten.  Und 
gleichsam  als  wären  Tepeu  und  Qucumatz  selbst  über  die  Vollkom- 
menheit ihrer  Schöpfung  überrascht  gewesen,  begannen  sie  nun  die 
ersten  Menschen  zu  fragen  :  „Hört  Ihr,  seht  Ihr,  vermögt  Ihr  zu  gehen 
und  zu  sprechen?  Könnt  Ihr  deutlich  wahrnehmen  die  Berge  und  die 
Ebenen?"  Und  die  ersten  Menschen  konnten  von  einem  Puncte  aus 
alles  sehen,  was  sieh  auf  der  Erde  befand  und  bewegte,  ohne  erst 
ihren  Standort  verändern  zu  müssen,  und  sie  ergossen  sich  in  laute 
Danksagungen  gegen  ihre  Schöpfer  und  Gestalter,  dass  dieselben  sie 
zu  Menschen  geschatfen ,  und  ihnen  Mund  und  Fleisch  gegeben,  dass 
sie  sprechen  und  hören,  gehen  und  sich  bewegen  konnten,  Geschmack 
hatten  und  alles  wussten  und  zu  sehen  vermochten,  das  Entfernte  wie 
das  Nahe,  in  allen  vier  Winkeln  des  Himmels  und  der  Erde  (hasta 
los  cuatro  rincones  de  el  cielo  y  de  la  tierra),  ja  sogar  was  sich  im 
Innern  des  Himmels  und  der  Erde  befand. 

Und  es  schien  den  Schöpfern  nicht  gerathen,  dass  ihre  Creaturen 
alles  wussten  und  sahen,  was  im  Himmel  und  auf  der  Erde  vorging, 
und  die  Gottheiten  beriethen  sich  von  Neuem  und  fragten:  „Was 
machen  wir  wohl  mit  diesen  Geschöpfen,  dass  sie  blos  sehen,  was 
nahe  ist  und  ihre  Augen  blos  einen  Theil  vom  Gesichte  der  Erde 


176  Dr-  Karl  Scherzer. 

wahrnehmen?    Oder  wären  sie  vielleicht  nicht  blos   irdische  Ge- 
schöpfe, sondern  wohl  gar  auch  Götter,  wie  wir?    Sollten  wir  alle 
gleich,  sollte  alles  was  wir  wissen  und  sehen,  Gemeingut  sein?"  Und 
hierauf  beschlossen  die  Götter  in  anderer  Weise  über  die  Geschöpfe. 
Und  sofort  wurde  den  allzu  vollkommen   geschaffenen  Wesen 
durch  den  Geist  des  Himmels  (el  corazon  del  cielo)   ein  Dunst  in 
die  Äugen   gehaucht,   und   es   verdunkelte  und  schwächte  sich  ihr 
Sehvermögen,  als  hätte  man  ihnen  Marienglas  in  das  Gesicht  gebla- 
sen; sie  konnten  von  nun  an  nur  mehr  die  nahen  Gegenstände  wahr- 
nehmen und  nur  diese  erschienen  ihnen  jetzt  klar  und  deutlich.   Und 
während  sie   schliefen,  erhielten   hierauf  die  ersten  vier  Menschen 
ihre   Gefährtinnen;    Caha-paluma   war   die   Frau    des    Balamquitze, 
Chomiha  die  Frau  des  Balam-acab,  Tzununiha  die  Frau  des  Mahu- 
cutah  und  Caquixaha  die  Frau  des  Yquibalam.    Und  diese  waren  die 
Stammältern  der  Quiche's,  welche  die  kleinen  und  grossen   Dörfer 
bevölkerten.    Aber  es  gab  nächst  ihnen  noch  viele  andere  Mächtige 
und  Grosse,  als  sich  das  Geschlecht  der  Quiche's  vermehrte,  dort  im 
Osten  (allä  en  el  Oriente)  und  sie  Messen :  Tepeu,  Oliman ,  Cohah, 
Quenech,  Ahan,  Tanub  und  llocab.    Der  erste  Mensch,  Balamquitze, 
wurde  der  Stammvater  von  den  neun  grossen  Häusern  (casas  grandes) 
der  Caviquib;  der  zweite  Mensch,  Balam-acab,  wurde  der  Stamm- 
vater von  den  neun  grossan  Häusern  der  Nihaibab;  und  der  dritte 
Mensch,  Mahu-cutah,  wurde  der  Stammvater  von  den  vier  grossen 
Häusern  der  Ahan-quiche.    Der  vierte  Mensch,  Yquibalam,  scheint 
keine  Geschlechtsfolge  hinterlassen  zu  haben,  wenigstens  geschieht 
davon  in  der  Quiche-Chronik  keinerlei  Erwähnung.    Ja,  durch  den 
Umstand,  dass  schon  die  Nachkommenschaft  des  dritten  Menschen 
bedeutend  weniger  zahlreich  war,  als  die  des  ersten  und  zweiten, 
gewinnt  es  fast  den  Anschein,  als  würde  die  Erschaffung  von  vier 
Menschenpaaren  zu  gleicher  Zeit  selbst  für  Gottheiten  eine  zu  ge- 
waltige Aufgabe  gewesen  sein,  und  als  wären  die  heidnischen  Götter 
allmählich  in  ihrer  Schöpfungskraft  erlahmt. 

Tanub  und  llocab,  erzählt  die  Chronik  weiter,  kamen  mit 
13  Familien  aus  dem  Osten,  und  es  verlor  sich  nicht  Ein  Name  ihrer 
Väter.  Diese  dreizehn  Familien  waren  die  Zweige  von  dreizehn 
Völkerschaften  und  ihre  Namen  Messen :  Rabinal,  Cacehiqueles, 
Ahquiquinaha,  Sacabib,  Maquib,  Cumatz,  Cuhalha-Vchabaha,  Ahcha- 
milaha,   Ahquibaha,   Abatenaba-Aculvinac,  Balamiha,  Canchaheleb, 


Über  die  handschriftlichen  Werke  des  Padre  Francisco  Ximenez  etc.  177 

Balam-colob.  Und  gross  war  die  Zahl  derer  die  mit  jeder  einzelnen 
dieser  Familien  auszogen.  Die  Chronik  bemerkt,  dass  die  Völker  damals 
noch  keine  Götzen  aus  Holz  und  Stein  besassen,  sondern  ihre  Blicke 
gegen  Himmel  wandten,  wenn  sie  um  Söhne  und  Töchter,  um  gute, 
breite  Wege,  um  Frieden  und  ein  ruhiges  Leben  (vida  sosiegada) 
baten.  In  ihren  Drangsalen  hören  wir  sie  den  Geist  des  Himmels 
und  der  Erde  und  eine  grosse  Zahl  anderer  idealer  Gottheiten 
anrufen,  denen  sie  allen  dieselbe  Macht  und  dieselben  Eigenschaften 
beizulegen  scheinen. — Leider  widerspricht  sich  die  Chronik  häufig 
und  kehrt  sich  nicht  viel  nach  Ordnung  und  Zeit  in  der  Aufzählung 
der  Begebenheiten.  Während  z.  B.  erst  Hun-hun-ahpu  und  Vucub- 
ahpu,  nachdem  sie  die  Fürsten  der  Hölle  besiegt  hatten,  sich  in  Sonne 
und  Mond  und  ihre  400  treuen  Gefährten  in  eben  so  viele  Sterne 
verwandelten,  erfahren  wir  plötzlich  wieder,  dass  es  noch  immer 
dunkel  auf  der  Erde  ist  und  die  Völkerschaften  fortwährend  sehn- 
suchtsvoll den  Aufgang  der  Sonne  erwarten.  Ein  einziger  grosser 
Stern  (un  gran  lujero)  erleuchtet  den  Himmel  und  die  Erde  und 
verkündigt  das  Nahen  des  Tagesgestirns. 

Die  indianische  Schöpfungsgeschichte  scheint  die  Erschaffung 
der  Sonne  von  der  Verleihung  ihrer  leuchtenden  Eigenschaft  zu 
trennen,  und  in  zwei  verschiedene  Zeiträume  zu  verlegen.  Wenn 
man  dies  annimmt,  und  sich  die  Sonne,  den  Mond  und  die  Sterne 
vorerst  nur  als  dunkle  Körper  vorstellt,  denen  erst  später  die  Fähig- 
keit zu  leuchten  verliehen  ward,  so  erscheint  der  anfängliche 
Widerspruch  allerdings  gehoben. 

Die  vier  ersten  Menschen  verfügten  sich  mit  ihren  Familien 
nach  einem  Berge,  Tulanzü  (sieben  Höhlen)  genannt,  um  von  dort  ihre 
Götter  zu  holen  (ä  traer  los  idolos).  Gross  war  ihre  Freude,  als 
sie  fanden,  was  sie  suchten,  und  Balamquitze  nahm  die  Gottheit 
Tohil,  Balam-acab  die  Gottheit  Avilix,  Mahucutah  die  Gottheit 
Hacavitz  und  Yquibalam  trug  das  Idol  Nicahtaha.  Und  als  sie 
von  Tulanzu  zurückkehrten,  fänden  sie  plötzlich  die  Sprache  der 
verschiedenen  Völkerschaften  geändert  und  sie  verstanden  sich  nicht 
mehr  und  theilten  sich.  Einige  zogen  wieder  zurück  nach  dem 
Osten,  aber  Viele  wanderten  nach  dem  Westen  und  kleideten  sich 
blos  in  Thierfelle  (pieles  de  animales)  und  waren  arm  und  besassen 
nichts,  und  hatten  kein  Feuer,  und  klagten  ihrer  Gottheit,  dass  sie 
vor  Kälte  sterben  müssten.    Da  erbarmte  sich  ihrer  Tohil  und  gab 

Sitzh.  d.  phil.-bist.  Cl.  XIX.  Bd.  II.  Hit.  12 


178  Dr.  Karl  Scherzer. 

ihnen  das  Feuer.  Es  wird  nun  des  Weitläufigen  berichtet,  wie  ein 
heftiger  Regen  (im  grande  aguacero)  und  Hagelschlag  das  Feuer 
wieder  auslöschte  und  die  Völker  von  Neuem  froren  und  zitterten  vor 
Kälte,  und  Tohil  wiederholt  um  Hilfe  anriefen  und  um  Feuer  baten. 
Der  Götze  gewährt  ihnen  auch  diesmal  die  Bitte,  verlangt  aber  jetzt, 
dass  sie  ihm  Blut  von  ihrem  Körper  und  Tabak  opfern,  und  ohne 
seine  Zustimmung  keiner  andern  Völkerschaft  von  ihrem  Feuer 
geben  sollen.  Tohil  fordert  zugleich  Balamquitze  und  die  Seinen 
auf,  ihm  zu  folgen  und  den  Ort  aufzusuchen,  wo  sie  sich  nieder- 
zulassen haben  (donde  nos  hemos  de  plantar).  Er  befiehlt  ihnen 
weiter,  sich  die  äussersten  Enden  der  Ohren  und  die  Ellbogen  zu 
durchstechen  und  ihm  auf  diese  Weise  ihre  Erkenntlichkeit  zu 
bezeugen.  Und  sie  thaten,  wie  ihnen  Tohil  befahl,  und  gedachten  in 
ihrem  Gesänge  ihrer  Rückkehr  von  Tulanzü,  und  ihr  Herz  weinte,  als 
sie  weiterziehen  und  Tulanzü  verlassen  mussten. 

Und  als  sie  in  ihren  Wanderungen  endlich  auf  einen  Berg 
kamen,  versammelten  sich  alle  die  Häuptlinge  derQuiches  und  berie- 
then  und  beschlossen  unter  einander  und  legten  jedem  Stamme 
einen  Namen  bei;  und  darum  heisst  dieser  Ort  der  Berg  des  Gebotes 
oder  der  Verheissung  (el  cerro  de  el  mandato  6  aviso).  Und  jetzt 
sprachen  die  drei  Gottheiten :  Tohil,  Avilix  und  Hacavitz  (über  deren 
Wesen  und  Gestalt  uns  die  »Chronik  noch  immer  im  Unklaren  lässt) 
zu  den  vier  Stammvätern:  „Lasst  uns  weiter  ziehen,  hier  kann  nicht 
unseres  Verbleibens  sein,  bringt  uns  an  heimlichen,  verborgenen 
Orten  in  Sicherheit,  damit  wir  nicht  durch  unsere  Feinde  aufgefun- 
den und  gefangen  genommen  werden,  denn  die  Sonne  ist  nahe  ihrem 
Aufgang!" 

Und  jeder  der  Stammväter  nahm  hierauf  seine  Gottheit  und 
trug  sie  nach  irgend  einem  einsamen  Punct,  in  eine  Schlucht,  in 
einen  Wald  oder  auf  eine  Bergeshöhe,  und  erwartete  dort  mit  ihr 
das  Erscheinen  des  Tagesgestirns.  Und  als  sie  endlich  den  Stern  in 
vollem  Glänze  aufgehen  sahen,  welcher  der  Himmelskönigin!!  wie  der 
Ceremonienmeister  einer  irdischen  Majestät  vorauszugehen  pflegt,  da 
verbrannten  sie  Copal  (Rhus  copallinum),  eine  Art  Weihrauch,  den 
sie  vom  Osten  mitgebracht  hatten,  und  sangen  und  tanzten  dazu,  den 
Körper  gegen  Osten  gekehrt  (bailando  häcia  el  Oriente),  woher 
sie  kamen,  und  weinten  vor  Freude.  Und  den  geliebten  und  köst- 
lichen Weihrauch  (el  amado  y   precioso  incienso),  den  Balamquitze 


Über  die  handschriftlichen  Werke  <les  Padre  Francisco  Ximenez  etc.         1  f  9 

mit  sich  führte,  nannten  sie  Mix  tampon,  und  jenen  von  Balamb-acab  : 
Cavitztampon,  und  jenen  von  Mahucutah  nannten  sie  Cah  avipon. 

Und  als  endlich  die  Sonne  aufstieg,  wie  ein  Mensch,  jubelten 
Völker  und  Thiere,  die  Löwen  und  die  Tiger  fingen  in  ihrer  Weise 
zujauchzen  an,  der  Adler  breitete  behaglich  seine  Fittige  aus,  die 
Vögel  begannen  zu  singen;  und  der  erste  Vogel  der  sang,  hiess 
Queletza.  Nun  trocknete  auch  die  Oberfläche  der  Erde  die  bis 
zum  Aufgange  der  Sonne  feucht  und  sumpfig  war,  und  die  Gottheiten 
der  Quiche's:  Tonil,  Avilix  und  Hacavitz,  so  wie  die  andern  Idole: 
der  Löwe,  der  Tiger,  die  Giffnatter,  die  Schlange,  der  Kobold 
(el  duende),  wurden  durch  den  Einfluss  der  Sonnenwärme  zu  Stein. 
Der  Gesang  den  die  Volksstämme  jetzt  anstimmten,  hiess  Cumanü; 
in  demselben  trauerten  sie  um  ihre  Verwandten  und  Brüder  welche  sie 
in  Tulanzü  zurückgelassen,  sowie  über  den  Stamm  Tepeu  Oliman, 
der  im  Osten  geblieben  war,  woher  sie  kamen,  und  gross  war  ihr 
Schmerz  und  ihr  Kummer  über  diese  Abwesenden. 

Die  Chronik  erzählt  uns  ferner,  wie  sich  sodann  die  vier  Stamm- 
väter nach  den  Orten  begaben,  wo  ihre  Idole  verborgen  waren,  und 
dieselben  nun  in  der  Gestalt  von  Jünglingen  (asemejaban  mancebos) 
in  porösen  Stein  verwandelt  fanden.  Und  als  die  Stammväter  vor  dem 
Idol  Tohil  Wurzeln  (ra-chac-noh)  verbrannt  und  die  Blätter  einer 
Palmenart  (pericon)  geopfert  hatten,  da  sprach  die  Gottheit  zu  ihnen, 
obwohl  aus  Stein,  wie  durch  ein  Wunder  und  gab  ihnen  Bath  und 
Gebote.  Bei  dieser  Gelegenheit  sehen  wir  die  Gottheiten  oder  viel- 
mehr die  heidnischen  Priester  bereits  viel  anmassender  und  begehr- 
licher auftreten.  Sie  verlangen  jetzt  von  den  Völkerschaften,  dass 
man  ihnen  nicht  blos  wie  bisher  Blätter  und  Gräser  darbringen, 
sondern  das  Weibliche  des  Wildes  (venado)  und  der  Vögel  opfern 
solle.  Und  als  sie  den  Mund  der  steinernen  Gottheilen  mit  dem  Blute 
der  geopferten  Thiere  tränkten,  fingen  die  Gottheiten  zu  sprechen  an. 

Die  Völkerschaften  hatten  zu  jener  Zeit  noch  keine  festen 
Wohnsitze,  sondern  lebten  in  den  Wäldern  in  grosser  Noth  und 
Dürftigkeit  und  nährten  sich  nur  von  Pferdefliegen  und  Wespen 
(solo  comian  labanos  y  abispas).  Und  sie  durchstachen  sich  die 
Ohren  und  die  Ellbogen  und  betünchten  sich  mit  ihrem  Blute  und 
träuften  es  in  den  Mund  ihrer  Gottheiten,  und  diese  gaben  ihnen 
dafür  eine  Thierhaut  (pazilizib)  und  Blut  aus  ihren  Schultern  zum 
Salben.  —  Die  verschiedenen    Völkerschaften   scheinen   nicht   lange 

12* 


180  Dr.  Karl  Scherzer. 

in  Frieden  mit  einander  gelebt  zu  haben.  Die  Chronik  die  uns  über 
so  Vieles  im  Dunkel  lässt,  gibt  zwar  auch  hier  keine  bestimmte  Ursache 
des  Zerwürfnisses  an;  allein  nach  einer  kurzen  Episode,  in  welcher 
die  Versuchung  der  Idole  derQuiche's  (vermuthlich  auf  Veranlassung 
eines  feindlichen  Stammes),  während  sie  sich  baden,  durch  zwei 
schöne  Jungfrauen  (hermosas  doncellas)  erzählt  wird,  erfahren  wir, 
dass  sich  die  vier  Stammväter  mit  ihren  Anhängern,  mit  Weibern 
und  Kindern  auf  dem  Berge  Hacavitz  befestigt  hatten,  und  mit  Pfeilen 
und  Schildern  wohl  bewaffnet  waren.  Bei  dieser  Gelegenheit  spricht 
die  Chronik  zum  ersten  Male  von  „Soldaten  und  Krie- 
gern" und  dass  auch  die  Frauen  an  den  Kämpfen  Theil 
nahmen  (y  sus  mujeres  tambien  fueron  matadoras);  das  Ende 
dieses  Krieges  aber  ist,  dass  sämmtliche  feindliche  Völker  von  den 
vier  Stammvätern  unterworfen  und  statt  der  Todesstrafe  für  immer 
dienstpflichtig  gemacht  wurden  (aunque  erais  dignos  de  muerte, 
solo  sereis  tributarios  para  siempre,  les  fue  dicho). 

Bald  nach  diesen  wichtigen  Vorgängen  überkommt  die  vier 
Stammväter  des  Quiehe-Geschlechtes  der  Tod.  Sie  wissen,  dass  sie 
sterben  werden,  obwohl  sie  weder  krank  noch  leidend  sind,  und 
benachrichtigen  davon  ihre  Kinder.  Zwei  Söhne  hatte  Balamquitze: 
Gocaib  und  Gocabib,  welche  zugleich  die  Ahnen  sind  des  Stammes 
der  Caviquib;  und  eben  so» viele  Söhne  hatte  Balam-acab,  nämlich: 
Goacul  und  Goacutec,  die  Stammväter  der  Nihaibab;  Mahucutah  hin- 
gegen hatte  nur  Einen  Sohn:  Gohaan.  Der  vierte  Mensch  aber 
scheint  keine  Kinder  gehabt  zu  haben  und  ohne  Nachkommenschaft 
gestorben  zu  sein.  Und  als  Balamquitze  sterbend  von  den  Seinen 
Abschied  nahm,  sagte  er,  dass  er  in  das  Land  zurückkehre,  woher  er 
gekommen,  und  empfahl  ihnen  seiner  und  ihrer  Heimath  zu  geden- 
ken. Er  Hess  ihnen  zu  seinem  Gedächtnisse  ein  verhülltes  Kleinod 
(envoltorio)  zurück,  das  in  der  Chronik  leider  nicht  näher  beschrie- 
ben, sondern  wovon  blos  gesagt  wird,  dass  es  von  Allen  hoch  in 
Ehren  gehalten  wurde.  Die  vier  ersten  Stammväter  aber,  die  von 
der  andern  Seite  des  Meeres,  von  Osten  kamen  (que  vinieron  de  la 
otra  parte  de  el  mar,  del  Oriente),  wurden  nach  ihrem  Tode 
„Bespetados  y  acatados"  genannt. 

DreiSöhnederStammältern:  Gocaib,  Goacutec  und  Gohaan  kehren 
bald  darauf,  ohne  dass  ein  specieller  Grund  dafür  angegeben  wird, 
in  die  Heimath  ihrer    Väter  jenseits  des  Meeres  nach 


Über  die  handschriftlichen  Werke  des  Padre  Francisco  Ximenez  etc.  181 

dem  Osten  zurück.  Die  Chronik,  sonst  so  weitläufig  in  Beschrei- 
bungen, ist  äusserst  lückenhaft  in  der  Schilderung  des  früheren  Vater- 
landes. Wir  erfahren  blos,  dass  im  Osten  ein  grosser  und  mächtiger 
Herrscher  thronte,  der  Nacxit  hiess,  und  dass  die  dahin  Ausgezoge- 
nen, als  sie  in  hohemAHer  zum  zweitenMale  nach  ihren  neuen  Wohn- 
sitzen zurückkamen,  aus  der  alten  Heimath  ihre  Priester,  ihre  Gesetze, 
ihre  Götzen,  Bilderschrift  und  Malerei  mitbrachten. 

Rasch  und  riesig  muss  nun  die  Bevölkerung  zugenommen  haben; 
denn  wir  hören,  dass  bald  nicht  mehr  die  Berge  zu  zählen  waren, 
auf  denen  sich  die  Völkerschaften  niedergelassen  hatten  (no  eran 
contables  los  cerros  quehabitaron).  Das  erste  Dorf,  das  sie  gründeten, 
hiess  (wahrscheinlich  zu  Ehren  ihres  Götzen)  Hacavitz,  das  zweite 
Chiquix  (Dorn),  das  dritte  Chicha,  das  vierte  Humetaha,  das  fünfte 
Culba,  das  sechste  Ravinal  u.  s.  w.  Ein  anderer  Volksstamm  Hess  sich 
auf  dem  Hügel  Chi-izmachi  nieder,,  und  errichtete  daselbst  Gebäude 
aus  festem  Material  (de  cal  y  canto).  Es  gab  damals  nur  drei  grosse 
Häuser  in  Izmachi:  Caviquib,  Nihaibab  und  Ahan-quiche,  und  es 
herrschte  weder  Neid  noch  Klage,  sondern  blos  Ruhe  und  Herzens- 
friede unter  den  Völkern. 

Da  geschah  es,  dass  die  Könige  Cotuha  und  Yztayul  durch  das 
Volk  der  Ilocab  bekriegt  wurden,  welche  den  Stamm  der  Quiche's 
vernichten  und  allein  herrschen  wollten  (lo  que  querian,  era  acabar 
con  los  quiches,  f  que  ellos  solos  reynaron).  Es  entspann  sich  ein 
langer  blutiger  Krieg,  in  welchem  die  Quiche's  einen  glänzenden  Sieg 
davontrugen,  und  damit  den  Grundstein  zur  ferneren  Macht  und  Grösse 
ihres  Reiches  legten.  Zum  ersten  Male  werden  bei  diesen  Käm- 
pfen die  Kr  iegs  gefangenen  zu  Sclaven  gemacht,  und  ein- 
zelne von  ihnen  vor  dem  Idol  geopfert;  der  Berg  Izmachi  wird  jetzt 
von  den  Quiche's  befestigt,  und  der  Götze  Tohil  von  nun  an  in  der 
Stadt  selbst  gehütet.  Gewaltig  war  die  Furcht  der  grossen  und 
kleinen  Völkerstämme  vor  den  Quiche's,  als  sie  ihre  Gefangenen  zu 
Sclaven  machen,  sie  tödten  und  der  Gottheit  opfern  sahen. 

Die  Herrschaft  der  Quiche's  dehnte  sich  von  dieser  Zeit  an  immer 
mehr  aus;  Bevölkerung,  Macht  und  Ansehen  nahm  immer  mehr  zu, 
und  die  drei  grossen  Häuser,  aus  denen  anfänglich  das  Reich  bestand, 
wurden  auf  24  grosse  Häuser  (casas  grandes)  vermehrt.  Diese  neue 
Eintheilung  welche  in  dem  Orte  Cumarcaah  geschah,  wird  von  der 
Chronik  sehr  umständlich  geschildert.     Die  dabei  erwählten  Fürsten 


182  Dr.  Karl  Scherzer. 

und  Grossen  wurden  von  den  Vasallen  hoch  geehrt  und  geliebt.  Sie 
brauchten  nicht  zu  arbeiten,  noch  ihre  Wohnsitze  zu  bauen,  noch  der 
Gottheit  ihren  Tempel  zu  errichten;  alle  diese  Geschäfte  und  noch 
viel  mehrthaten  für  sie  die  Vasallen.  Man  legte  ihnen  zuweilen  sogar 
übernatürliche  Eigenschaften  bei.  So  scheint  wenigstens  aus  einer 
Legende  hervorzugehen,  welche  die  Chronik  von  einem  der  Könige, 
Namens  Qucumatz  (grosse  Schlange)  erzählt,  der  sieben  Tage  lang 
im  Himmel  verweilte,  und  eben  so  lange  in  der  Hölle  blieb,  bald  sich 
in  eine  Schlange  verwandelte,  und  bald  in  einen  Adler,  bald  in  einen 
Tiger,  und  bald  wieder  in  Blut  (sangre  coajada),  und  durch  diese 
wunderlichen  Metamorphosen  selbst  unter  den  Mächtigen  des  Reiches 
einen  gewaltigen  Schrecken  verbreitete,  und  sich  zu  hohem  Ansehen 
verhalf. 

In  der  sechsten  Generation,  unter  der  Herrschaft  von  Zacquicab 
und  Cavizimah,  fand  zum  ersten  Male  eine  Theilung  des  Reiches 
Statt.  Dieselbe  scheint  gleichwohl  nicht  friedlicher,  sondern  gewalt- 
samer Natur  gewesen  zu  sein.  Wenigstens  hören  wir  bald  darauf, 
dass  mehrere  Völkerschaften  (parcialidades)  welche  keinen  Tribut 
mehr  bezahlen  wollten,  von  den  sie  verfolgenden  Soldaten  unterworfen, 
zu  Sclaven  gemacht,  gefoltert,  gepeinigt  (flechados)  und 
machtlos  über  die  Erde  zerstreut  wurden  ,  „wie  der  Blitz  sich  zer- 
theilt,  der  in  den  Stein  fährt,  um  ihn  zu  zersprengen".  ■ — -Zugleich 
tauchen  jetzt  in  der  Chronik  Namen  von  D  ö  r  f e  r  n  auf,  welche 
noch  heut  zu  Tage  b  est  eh  en ,  und  wenn  schon  im  traurigsten 
Verfall,  noch  bis  zur  Stunde  den  Schauplatz  illustriren,  auf  dem  sich 
die  von  der  Chronik  erzählten  Ereignisse  zugetragen  haben.  Wir 
begegnen  Namen,  wie  Chuuila  •) —  dasselbe  Dorf,  wo  zu  Anfang  des 
18.  Jahrhunderts  Pater  Ximenez  als  geistlicher  Seelsorger  lebte,  und 
die  vorliegende  Chronik  niederschrieb,—  Rabinal,  Tzacualpa,  Totoni- 
capam,  Quesaltenango,  Guatemala,  Momostenango  u.s.  w. ;  sämmtlich 
Orte  die  noch  heute  von  den  Quichestämmen  bewohnt  werden ,  und 
mehr'oder  minder  dem  classischen  Boden  der  alten  Indianergeschichte 
angehören.  Auch  gewahren  wir  jetzt,  wie  mit  der  zunehmenden 
Macht  und  dem  steigenden  Einflüsse  des  Reiches  allmählich  auch  die 
inneren    Zustände   geordneter  und  consolidirter  werden ;   politische 


x)  Abkürzung   für  Ch  i  e  h  ic  as  t  en  a  n  go  ,  ein  Dorf  in   den  Altos    von  Guatemala. 


Über  die  handschriftlichen  Werke  des  Padre  Francisco  Ximenez  etc.  18  t» 

Institutionen  treten  ins  Leben,  und  die  erst  noch  zerfahrenen,  wohn- 
sitzlosen Völkerschaften  gewähren  bald  den  erfreulichen  Anblick  eines 
sich  bildenden  Staatsorganismus.  Auf  dem  Berge  Xlbalax-xecamac 
halten  jetzt  die  Fürsten  und  Grossen  ihre  Berathungen,  und  wählen 
Versammlungen  (juntas)  die  über  das  Wohl  des  Reiches  zu  wachen 
haben;  zugleich  werden  Hauptleute  und  Anführer  ernannt,  Festungen 
zum  Schutze  gegen  auswärtige  Feinde  errichtet,  Krieger  in  die 
bedrohtesten  Puncte  vertheilt,  Spione  und  Wachen  ausgeschickt,  und 
die  Gottheiten  durch  Erbauung  von  eigenen  Gebäuden  (edificiosj  zu 
ehren  gesucht  1). 

Auch  erscheinen  jetzt  mehrere  Fürsten  (Qucumatz,  Cotuha, 
Quicab,  Cavizimah)  zum  ersten  Male  als  Wahr  sa  ger  (adi- 
vinos  y  naguales) ,  denen  Vergangenes  und  Zukünftiges  gegenwärtig 
ist,  und  die  Krieg  und  Noth,  Seuche  und  Hunger  vorherzusagen 
vermögen.  Die  Chronik  erzählt  uns,  dass  sie  ihre  Weisheit  aus  einem 
Buche  schöpften,  das  sie  „libro  de  todu,"  oder  auch  „libro  del 
comun"  nannten,  von  dem  jedoch  nicht  weiter  mehr  die  Rede 
ist,  und  das,  wenn  es  überhaupt  jemals  existirthat,  jedenfalls  ver- 
loren gegangen  ist.  Auch  der  heidnische  Cultus  nimmt  nun  mit  der 
politischen  Gestaltung  und  Entwickelung  des  Reiches  einen  mehr  posi- 
tiven Charakter  an.  Die  Gottheiten  und  ihre  Priester  scheinen  sich 
nicht  länger  mehr  blos  mit  Geschenken  von  Blumen  und  Früchten 
und  dem  zeitweiligen  Tödten  von  Kriegsgefangenen  begnügen  zu 
wollen.  Sie  verlangen  einen  mehr  thätigen  Antheil  jedes  Einzelnen, 
eine  Art  persönlichen  Opferns  durch  alle  Arten  von  Entsagungen 
und  Entbehrungen.  Lange  andauernde  Fasten  (ayunos)  wurden  ein- 
geführt, während  welcher  Kleine  und  Grosse  (chicos  y  grandes) 
voll  Zerknirschung  vor  dem  Idol  niederstürzten  (se  quebrantaban 
delante  de  el  idolo)  und  ihr  Herzensanliegen  ausschütteten.  Es  waren 
stets  entweder  Neun,  Dreizehn  oder  Siebz  ehn,  welche  fasteten, 
Weihrauch  verbrannten,  oder  sich  demüthig  vor  dem  Idole  auf  die 
Erde  warfen.  '  Ihre  Bitten  betrafen  hauptsächlich  eine  zahlreiche 
Nachkommenschaft,  reichliche  Nahrung,  Gesundheit  und  Beschützung 
vor  körperlichen  Unfällen.  Wahrend  dieser  Bussfeste  die  zu  gewissen 


*)  Wir  hören  hei  dieser  Gelegenheit  auch  von  einer  neuen  Gottheit  :  Tzutuha  ,  die 
sich  in  Catuhaha  befand,  und  aus  einem  gewöhnlichen  Stein  bestand,  dein  Fürsten 
und  Vasallen  vor  allen  anderen  Gottheiten  zuerst   ihre  Opfer  darbrachten. 


1  84  »r.   Karl  Scherzer. 

Zeiten  wiederkehrten,  nährten  sich  die  Völker  fast  ausschliesslich 
nur  von  Früchten  (zabotes,  matazanos,  jocotes),  trennten  sich 
von  ihren  Frauen,  und  brachten  Tage  und  Nächte  mit  Beten, 
Schreien,  Weinen  und  dem  Verbrennen  von  Weihrauch  im  Hause  des 
Idoles  zu. — 

Wir  sind  jetzt  am  Ende  der  Chronik  angelangt.  Dieselbe  schliesst 
mit  einem  Verzeichnisse  der  Geschlechter  welche  in  Quiche  von  der 
Gründung  des  Reiches  an  durch  die  vier  Stammväter  Balam-quitze, 
Balam-acab,  Mahucutah  und  Yquibalam  zu  jener  Zeit,  als  Sonne, 
Mond  und  Sterne  zu  leuchten  anfingen,  regiert  haben.  Nach  diesem 
Register  herrschte  das  12.  Königsgeschlecht  der  Quiche's,  als  Pedro 
Alvarado  das  Land  bekriegte.  Nach  der  Ankunft  der  Spanier  (lo24) 
regierten  nur  mehr  zwei  Könige :  Tecum  Tepepul,  welcher  bereits 
den  Eroberern  Tribut  zahlen  musste,  und  hierauf  dessen  Söhne  Julius 
Rojas  und  Julius  Cortes,  welche  von  den  Eroberern  getauft,  und 
denen  zugleich  mit  dem  christlichen  Act  die  Namen  ihrer  siegenden 
Feinde  beigelegt  worden  waren. 

Der  Quiche-Chronik  sind  vom  Autor  zum  besseren  Verständniss 
derselben  Scholien  beigefügt,  welche,  mit  theilweiser  Benützung 
einer  gleichfalls  sehr  geschätzten  Handschrift  des  Augustiner  Mönchs 
Fray  Geronimo  Roman,  höchst  werthvolle  Mittheilungen  über  die  Ge- 
schlechtsfolge der  Könige,  die  religiösen  Sitten  und  die  gesellschaft- 
lichen Zustände  im  alten  Quiche-Reiche  liefern,  und  in  denen  zugleich 
in  kurzen  aber  kräftigen  Zügen  das  träge,  misstrauische,  zähe  Wesen 
der  Indianer  geschildert  wird.  Mit  Recht  nennt  sie  Ximenez  ein  Volk 
voll  Widersprüchen,  das  die  härtesten  Arbeiten  verrichtet  und  doch 
wieder  den  höchsten  Grad  von  Faulheit  zeigt;  das  über  alle  Massen 
gefrässig  ist  und  gleichwohl  eine  bewundernswürdige  Enthaltsamkeit 
besitzt;  ein  Volk  endlich,  welches  mit  natürlichen  Gütern  gesegnet, 
dennoch  im  erbärmlichsten  Zustande  lebt.  Der  Reiche  wie  der  Arme, 
der  Cazike  wie  der  niedrigste  Indianer  besitzen  ganz  dieselben  üblen 
und  guten  Eigenschaften,  sie  sind  alle  gleich  in  Allem,  Alle  nur  Ein 
Indianer.  Ihr  ganzes  Wesen  ist  das  von  Kindern,  und  darum  sollten 
sie  auch  nur  wie  solche  beurtheilt  und  behandelt  werden.  Wohl 
Vielen,  meint  Ximenez,  werden  diese  Historien  blos  als  Kinder- 
geschichten erscheinen,  die  weder  Fuss  noch  Kopf  haben;  allein  für 
den  beschränkten  Verstand  des  Indianers  sind  dieselben  eben  so  viele 
Wahrheiten  als  für  den  Katholiken  die  Lehren  des  heil.  Evangeliums, 


Über  die  handschriftlichen  Werke  des  Padre  Francisco  Ximenez  etc.  1  Oö 

und  eine  genaue  Kenntniss  dieser  Traditionen  dürfte  daher  manchen 
neuen  Ausschluss  geben  über  die  Bildungsstufe  und  den  Charakter 
dieses  räthselhaften  Volkes.  Den  dämonischen  Samen  des  Irrglaubens, 
welcher  in  der  Brust  des  Indianers  so  unausrottbare  Wurzeln  geschla- 
gen hat,  vergleicht  der  geistliche  Autor  mit  den  Quecken  im  Wein- 
berge. Wie  der  Winzer  oft  genug  gethan  zu  haben  glaubt,  wenn  er 
die  sichtbaren  Theüe  dieses  Unkrauts  vernichtet  und  sich  nicht  weiter 
um  die  Schösslinge  kümmert,  Welche  im  Verborgenen  fortwuchern, 
eben    so   betrachten    auch  Viele  diese   indianischen  Sagen   blos   als 
bizarre,  sinnlose  Gebilde  einer  verschrobenen  Phantasie  und  halten 
es  nicht  der  Mühe  werth,    tiefer  einzugehen  in  deren  heidnischen 
Ursprung  und  die  Wurzel  des  Irrglaubens  auszurotten ,  welcher  die- 
selben  entsprossen.     Ximenez   klagt    über    den  gänzlichen   Mangel 
an  gedruckten  Werken   welche  die  katholische  Glaubenslehre  in 
indianischer  Sprache  behandeln,   und  wie  selbst  die  wenigen,  von 
frommen  Vätern  im  Indianischen  geschriebenen  Wörterbücher   und 
Katechismen  niemals  durch  den  Druck  veröffentlicht  worden  sind.  Der- 
selbe rügt  strenge  die  Rathschläge  einflussreicher  Personen,  wodurch 
sich  die  damalige  spanische  Regierung  bestimmen  Hess,  den  Religions- 
unterricht der  Indianerin  der  spanischen  Sprache  zu  verordnen,  welche 
diese  nur  wenig  verstanden,  noch,  bei  ihrer  gründlichen  Abneigung 
gegen  Alles  was  spanisch  ist,  sich  Mühe  gaben  sie  zu  verstehen  und 
daher  die  ihnen  beigebrachten  Glaubenssätze  trotz  der  gewaltigsten 
Bemühungen  von  Seite  der  Missionäre  nur  wie   „Papageien"  ohne 
alles  Verständniss  wiederholten. 

Die  Aufgabe  des  Ximenez'schen  Werkes  bestand  hauptsächlich 
darin,  die  ältere  Geschichte  der  Indianer  von  Guatemala  nach  münd- 
lichen Überlieferungen  und  bildlichen  Darstellungen  in  der  Quiche- 
Sprache  niederzuschreiben,  dieselbe  in  die  castilianische  zu  über- 
setzen und  dabei  die  verschiedenen  Irrthümer  aufzudecken,  von 
welchen  dieses  Volk  in  seinem  heidnischen  Zustande  befangen  war 
und  an  denen  es  noch  bis  zur  Stunde  festhält.  Indem  der  ehrwürdige 
Autor  sich  bemühte,  die  spanischen  Mönche  und  Missionäre  mit  den 
Traditionen  und  Sagen  der  ersten  Bewohner  Central -Amerika's 
gründlicher  wie  bisher  bekannt  zu  machen,  hoffte  derselbe,  dass 
eine  genauere  Kenntniss  des  Irrglaubens,  der  Vorurtheile,  der 
Gebräuche  und  Institutionen  dieses  seltsamen  Volkes  ihre  frommen 
Bestrebungen  wesentlich   fördern  und   dazu  beitragen  würde,  dass 


186    Dr.  KarlScherzer.  Über  die  handschriftl.  Werke  des  P.  Francisco  Ximenez. 

es  fortan  nicht  blos   getaufte,  sondern  auch  bekehrte  Indianer 
gebe. 

Während  nun  die  Ximenez'sche  Übersetzung  der  indianischen 
Chronik  dem  eigentlichen  Zwecke,  zu  dem  sie  unternommen  worden, 
vollkommen  entspricht,  bietet  dieselbe  zugleich  dem  Forscher  unserer 
Tage  eine  grosse  Zahl  höchst  interessanter  Mittheilungen  über  die 
Urrace  von  Central-Amerika,  welche  zu  manchen  neuen  Speculationen 
und  Folgerungen  Anlass  geben  dürften.  Aus  diesem  Grunde  schien 
es  mir  von  Wichtigkeit,  diese  Handschrift  aus  der  Nacht  der  Ver- 
gessenheit in  der  Universitäts-Bibliothek  zu  Guatemala  ans  Licht  der 
Öffentlichkeit  zu  ziehen  und  sie  zum  Gemeingut  der  Wissenschaft 
zu  machen.  Und  darum  wage  ich  auch  für  den  soeben  unter  der 
Ägide  der  kaiser!.  Akademie  der  Wissenschaften  im  Druck  veröffent- 
lichten spanischen  Originaltext  die  Theilnahme  und  das  Wohlwollen 
aller  Freunde  amerikanischer  Forschung  zu  hoffen. 


Karl    Stiigmann.  Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  1  ö 7 


Über  die    Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich. 

(Eine  historische  Alihandlung'.) 

Von  Karl  Stögmann. 

Die  vorliegende  Abhandlung  hat  sich  die  Aufgabe  gestellt,  eine 
nähere  Untersuchung  einzuleiten  über  die  Art  und  Weise,  wie  Kärn- 
ten dem  Länderverbande  der  österreichischen  Monarchie  einverleibt 
worden.  Denn  wenn  auch  vielleicht  dem  ersten  Anscheine  nach  diese 
Frage  als  eine  gelöste  betrachtet  werden  könnte,  so  wird  ein  näheres 
Eingehen  in  dieselbe  dennoch  zeigen,  dass  hiernochmanchesUnklare 
zu  beleuchten,  Unrichtiges  zu  widerlegen,  Unbekanntes  zu  ergänzen 
übrig  geblieben.  Versuchen  wir  es  vorerst  nur  einmal,  die  verbrei- 
tetsten  Ansichten  über  diese  Frage  mit  wenig  Worten  zusammenzu- 
fassen, so  können  wir  die  allgemeine  Auffassung  beiläufig  in  folgender 
Weise  bezeichnen: 

Kärnten  befand  sich  unter  denjenigen  Ländern  die  Ottokar 
während  der  Wirren  des  Interregnums  unrechtmässig  an  sich  gebracht, 
und  deren  Herausgabe  an  das  Reich  durch  Rudolf  von  Habsburg  von 
ihm  erzwungen  worden.  Rudolf  verlieh  hierauf  im  Jahre  1282  seinen 
Söhnen  mit  den  babenbergischen  Lehen  auch  Kärnten.  Allein 
Albrecht  und  Rudolf  gaben  das  Land  sofort  an  den  Vater  zurück,  mit 
der  Ritte,  den  Grafen  Meinhart  von  Tirol  damit  zu  belehnen.  Rudolf 
erfüllt  dies  Begehren,  jedoch  mit  dem  Bedinge,  dass  Kärnten  nach 
Aussterben  des  Meinharts'chen  Mannsstammes  wieder  an  das  Haus  Habs- 
burg zurückfallen  müsse.  Als  nun  im  Jahre  1335  dieser  Fall  mit  dem 
Tode  Heinrich's  von  Kärnten  wirklich  eintrat,  fiel  das  Land  in  Folge 
des  geschlossenen  Vertrages  an  Österreich,  was  auch  Kaiser  Ludwig 
durch  die  den  österreichischen  Fürsten  ertheilte  Belehnung  bestätigte. 

Ans  dieser  Darstellung  treten  nun  vorzüglich  zwei  Puncte  her- 
vor, die  einer  genauen  Prüfung  unterzogen  werden  müssen.  Erstens  : 
Wie  steht  es  eigentlich  um  die  Belehnung  von  1282?  Hat  sie  über- 
haupt stattgefunden  oder  unter  welchen  Modificationen?  Dann  zwei- 
tens :  Ist  es  zu  erweisen,  dass  Budolf  von  Habsburg  oder  sein  Sohn 
Albrecht  mit  Meinhart  von  Tirol  einen  derartigen  Vertrag  abge- 
schlossen habe,   der  dem    Hause   Habsburg  ein  Rückfallsrecht  auf 


188  Karl  Stögmann. 

Kärnten  einräumte?  Sind  einmal  diese  beiden  Puncte  erledigt,  so 
schliesst  sich  daran  wie  von  selbst  die  Frage:  In  welcher  Art  und 
Weise  erfolgte  endlich  die  Erwerbung  Kärntens  für  Österreich? 

Die  vorliegende  Schrift  soll  nun  in  ihrem  ersten  Theile  die  bei- 
den ersten  angeregten  Fragen  beantworten;  in  ihrem  zweiten  Theile 
aber  der  dritten  Frage  durch  eine  genaue  auf  Quellen  und  Urkunden 
gestützte  geschichtliche  Darstellung  wo  möglich  Genüge  leisten. 


I. 

Es  hat  besonders  in  der  älteren  österreichischen  Geschichts- 
literatur nicht  an  vereinzelten  Stimmen  gefehlt,  die  die  Belehnung 
der  habsburgischen  Fürsten  mit  Kärnten  im  Jahre  1282  in  Zweifel 
zogen.  So  brachte  schon  Pesler  in  seiner  tüchtigen  Schrift  „Series 
ducum  Karinthiae"  1740  mehrere  Gründe  vor,  die  ihm  dagegen  zu 
sprechen  schienen,  wagte  es  jedoch  nicht,  etwas  Bestimmtes  hierüber 
auszusprechen.  Der  gelehrte  C  alles  aber  und  Kurz  in  seiner  Schrift 
„Österreich  unter  Ottokar  und  Albrecht,"  ignorirten  die  fragliche  Beleh- 
nung völlig,  ohne  sich  auf  einen  weiteren  Beweis  darüber  einzulassen. 
Dagegen  versuchte  esLamb  acher  in  seinem  Werke  über  das  öster- 
reichische Interregnum,  die  Wirklichkeit  der  Belehnung  zu  erweisen. 
Ihm  fielen  SchrÖtter,  Fröhlich  im  „Specimen  Archontologiae 
Karinthiae"  bei,  und  beinahe  die  ganze  neuere  Geschichtschreibung  hat 
sich  zu  derselben  Meinung  bekannt.  So  Mailäth,  soLichnowsky; 
so  Böhmer  in  seinen  Regesten  und  Kopp  im  ersten  Bande  seiner 
Geschichte  der  eidgenössischen  Bünde.  Andererseits  hat  wieder  ein  in 
neuester  Zeit  erschienenes  Werk :  Hagen's  „deutsche  Geschichte, 
1854"  sich  in  ganz  entgegengesetzter  Weise  ausgesprochen. 

Es  sind  vorzüglich  zwei  Gründe  welche  die  neueren  Historiker 
zur  Annahme  der  Belehnung  von  1282  bewogen  haben.  Sie  berufen 
sich  nämlich  auf  zwei  Urkunden,  in  denen  von  dieser  Belehnung  aus- 
drücklich die  Rede  ist.  Die  erste  Urkunde  ist.  der  Belehnungsbrief 
Rudolfs  von  Habsburg  für  Meinhart  von  Tirol  vom  Jahre  1286  i); 
die    zweite,  der   Willebrief  Kurfürst  Albrecht's  von    Sachsen  zur 


l)  Die  Wichtigkeit  der  Urkunde  und  die  Ungenauigkeit  des  einzigen  Abdruckes  in  Ger- 
bert's  Codex  epistolaris  mögen  es  rechtfertigen,  dass  ich  in  dem  Anhange  einen  neuen 
Abdruck  dieses  Actenstückes  beifüge. 


Über  die  Vereinigung'  Kärntens  mit  Österreich.  189 

Belehnung  Meinhart's  mit  Kärnten  J).    Die  hieher  bezügliche  Stelle 
aus  der  ersten  Urkunde  lautet: 

„Noverit  presens  etas  et  futuri  temporis  successiva  posteritas, 
qaod  Illustres  Albertus  et  Rudolfus ,  Duces  ....  apud  Augustam  in 
nostra  presentia  constituti  Celsitudini  nostre  devotis  precibus  instite- 
runt,  quatenus  Principatum  sive  Ducatum  terre  Karinthie,  quo  ipsos 
jam  dudum  cum  ceteris  Ducatibus  videlicet  Austrie 
et  Stirie  supradictis  de  con  sensu  principum  ....  i  n- 
vestivisse  recolligimus  in  Augusta,  in  manus  nostras  libere 
resignatum  spectabili  viro  Meinhardo  ....  conferre  ....  et  ipsum 
de  eo  sollempniter  investire  dignaremur." 

In  dem  Willebriefe  des  Kurfürsten  von  Sachsen  heisst  es: 

„Quia  igitur  illustres  principes  domini  Albertus  et  Rudolfus, 
Duces  Austrie  et  Stirie  petiverint  de  nostro  beneplacito  et  consensu 
procedi,  quod  serenissimus  ....  Romanorum  Rex  ....  Ducatu  Ka- 
rinthie, quemabeoiidem  principes  tenent  in  feodum,  ad 
resignationem  eorum  liberam  spectabilem  Yirum  .  . .  infeodet .  .  .  etc." 

In  der  ersten  Urkunde  sagt  also  Kaiser  Rudolf  ausdrücklich,  da^s 
er  seine  Söhne  zu  Augsburg  mit  Kärnten  belehnt  habe,  und  es  lässt 
sich  gar  nicht  absehen,  warum  er  dies  gesagt  haben  sollte,  wenn 
dem  nicht  wirklich  so  gewesen  wäre.  Durch  den  Willebrief  des 
Kurfürsten  von  Sachsen  wird  diese  seine  Aussage  bestätigt. 

Allein  es  fragt  sich  nun,  ob  durch  diesen  klaren  Ausspruch  des 
Kaisers  und  des  Kurfürsten  jede  Schwierigkeit  in  Betreff  der  Beleh- 
nungsfrage  beseitigt  sei,  oder  ob  ungeachtet  des  Wortlautes  der  Ur- 
kunden doch  noch  Bedenklichkeiten  obwalten ,  und  ob  die  Aussage 
Kaiser  Rudolfs  und  des  Kurfürsten  auch  durch  Quellennachrichten 
und  Thatsachen  bestätigt  werde?  Ferner,  wenn  allenfalls  die  Quellen 
schweigen  und  keine  Thatsachen  dafür  sprechen ,  wie  der  Ausspruch 
des  Kaisers  mit  der  Geschichte  in  Einklang  zu  bringen  sei?  Unter 
den  Quellen  findet  sich  freilich  nur  eine  einzige  die  mit  Rudolfs  Ver- 
sicherung übereinstimmt.  Es  ist  dies  die  „Continuatio  Novimonten- 
sis",  in  welcher  unter  den  Ländern,  mit  denen  Rudolf  von  Habsburg 
seine  Söhne  belehnt,   auch  Kärnten  genannt  wird2).    Die  übrigen 


1)  Die  noch  ungedruckte  Urkunde  folgt  im  Anhange. 

2)  Continuat.  Novimont.  ap.  Pertz.  Item  dominus  Rudolfus  Roman.  Hex  ap.  Augustam 
filiis  suis  Alberto  et  Rudolfo  terras  Austriam,  Stiriam,  Karinthiam,  Marchiam 
portus  naonis  contulit  mense  Decembri.    Von   späterer  Rand   ist   beigeschrieben : 


190  Karl  Stögmann. 

Chroniken  wissen  nichts  davon.  So  nennt  das  gleichzeitige  „Chronicon 
Floriacense"  Österreich,  Steiermark  und  Krain1).  Dasselbe  findet 
sich  in  der  bis  1281  (1282)  reichenden  sogenannten  goldenen 
Chronik2).  Das  Chronicon  Osterhoviense  3)  erwähnt  die  Belehnung 
der  Herzoge  mit  Österreich  und  stellt  die  Belehnung  Meinhart's  mit 
Kärnten  gegenüber.  Das  Chronicon  Claustro-Neoburgense4)  nennt 
Österreich  und  Steiermark.  Keine  der  Chroniken  die  die 
Belehnung  Meinhart's  berichten  und  die  später  citirt  werden,  thut 
hiebei  eine  Erwähnung,  dass  das  Land  früher  den  österreichischen 
Herzogen  gehört  habe.  In  Ottokar's  Reimchronik  ist  wohl  Kärnten 
unter  den  an  Albrecht  und  Rudolf  verliehenen  Ländern  genannt,  aber 
hier  nur  durch  einen  Fehler  des  Abschreibers  der  statt  Öster- 
reich, Kärnten  schrieb5).     Allein  im  Ganzen  genommen  geben 


Rudolfiis  Roman.  Rex  de  eonsilio  et  voluntate  nobilium,  qui  aderant,   Albertum  filium 
suiim  Ducem  Austrie  et  Stirie  constituit. 
')  Chron.  Flor.  ap.  Rauch.  II,  pag.  2 IS. 

Anno  domini  in  festo  Nativitalis  domini  Rudolfus  Rex  Curiani  Regalein  celebravil 
Auguste   in  qua   predicto   Alberto   primogenito  suo   et  Rudolfo   fratri   suo    contulit 
Austriam,  Stiriara  et  Carniolara. 
-)  Hofni.  Arch.  1827,  Chron.  aureuin. 

Rudolfus  Rex  Ronianoriiin  filios  suos  Albertum  et  Rudolfum  Duces  facit  per  Austriam, 
Styriam  et  Carniolam. 
*)   Chron.  Osterhov.  ap.  Rauch.  1. 

Ibi  eciam  Albertum  suum  primogenitum de  Ducalu  Austrie  infeodavit 

et  Meinhardum  comitem  de  Tyrol  ducem  Rarintbie  fecit. 

4)  Chron.  Claustro-Neob. 

Rudolfus.  Rom.  Rex Alberhim  filium  suum  ducem  Austrie  et  Stirie  constituit. 

5)  Es  hält  nicht  schwer,  dies  zu  erweisen,  auch  wenn   man  nicht  in  der  Lage  ist ,    die 
Handschriften  einseben  zu  können.   In   dem  200.   Capitel  der  ReimchroniU   heisst  es: 

Ich  hau  der  Sune  zwen 
Wann  dew  teilent  iren  Laut: 
Chrain,  Chernden  und  Steyrlanl 
•So  sol  einer  Herr  werden  — 
Do  sol  von  Swewischer  erden 
Der  ander  Fürst  haissen. 
In  dem  vorhergehenden  Capitel  hat  uns  der  Verfasser  seine  Absicht  angekündigt, 
von  der  Relehnung  der  Söhne  Rudolfs  mit  Österreich  und  Schwaben  zu  sprechen: 
Ich  wil  euch  chund  machen, 
Mit  wie  getan  Sachen 
Chunig  Rudolf  der  weis', 
Der  fürst  an  hohen  preis 
Und  an  wiezen  unbetrogen 
Sein  Sun  ze  Herczogen 
Dacz  Osterreich  und  in  Swaben  macht. 


Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  191 

hier  die  Quellen  keinen  besondern  Ausschlag.  Sie  sind  für  diese  Zeit 
überhaupt  nicht  sehr  ausführlich,  sie  lassen  willkürlich  ein  oder  das 
andere  Land  aus,  und  wenn  eine  der  Chroniken  erst  nach  1286  ge- 
schrieben wurde,  wo  Kärnten  schon  bestimmt  nicht  mehr  den  öster- 
reichischen Herzogen  angehörte,  so  war  es  ganz  erklärlich,  wenn  es 


Das  200.  Capitel  führt  die  Aufschrift: 

„Wie  Kunig  Rudolf  die  Herrn  gepeten  hat,  daz  si  seinen  Sun  zu  Herrn  in  Osterreich 
nennen  und  in  Swaben  Land." 

Nun  kömmt  aber  im  ganzen  200.  Capitel  das  Wort  „Osterreich"  gar  nicht  vor,  und 
obwohl  Ottokar  die  Belehnung  mit  Österreich  erzählen  will ,  so  n<-nnt  er  Österreich 
doch  nicht,  unter  den  verliehenen  Ländern.  Die  ganze  Folge  der  Erzählung  ist  aber 
derart,  dass  nothwendig  Österreich  genannt  worden  sein  müsste.  Hören  wir  ferner, 
wie  Ottokar  fortfährt: 

Do  dew  Red  hat  ain  End, 

Der  Kunig  mit  siuer  Hend 

Seinen  Sün  peiden 

Lech  unverscheiden 

Die  Grafschaft  und  die  Lannt 

Die  Ich  vor  hau  genannt 

Die  enphingen  sie  mit  Vanen 

Der  Kunig  begund  manen 

Die  herren,  daz  si  swuren 

In  peiden,  ee  sie  dann  furn 

Dar  geschah  nach  siner  Ret, 

Do  er  daz  vollendet  het 

Dez  andern  Morgens  frue 

GreiiF  de  Kunig  darezue 

Graf  Meinhart  von  Tyrol 

Gen  dem  er  was  genaden  vol 

Den  macht  er  unbetrogen 

Dacz  Kernden  Herczogen. 
Otlokar  der,  nebenbei  bemerkt,  in  diesem  Capitel  drei  der  Zeit  nach  sehr  getrennte 
Ereignisse  zusammengezogen  hat,  die  ßelehnung  der  Söhne  Rudolfs,  die  Bitte  der 
österreichischen  und  steierischen  Landesherren,  nur  einen  Herrscher  zu  erhalten,  und 
die  Belehnung  Meinhart's  vom  Jahre  1286,  Ottokar  erzählt  also  hier,  dass  Kärnten 
dem  Meinhart  von  Tirol  gegeben  worden  sei,  während  er  es  oben  unter  den  Ländern 
genannt  hat,  die  den  Söhnen  liudolfs  verliehen  worden.  Bei  seiner  sonstigen  Lust  an 
Breite  und  Ausführlichkeit  der  Darstellung  wäre  es  wohl  übel  angebracht,  diesen 
Widerspruch  aus  einem  Streben  nach  Kürze  erklären  zu  wollen.  Es  ist  augenscheinlich, 
dass  in  der  erst  citirten  Stelle  anstatt  Chernden  Osterreich  gestanden  habe,  und  der 
Irrthum  ist  entweder  durch  den  Abschreiber  veranlasst  worden,  oder  er  ist  auf  Rech- 
nung des  schlechten  Abdruckes  zu  setzen  ,  den  wir  von  dieser  so  wichtigen  Chronik 
leider  besitzen.  Beweisend  für  das  Gesagte  ist  auch,  dass  sowohl  Joh.  Victoriensis 
der  den  Ottokar  benutzte ,  als  auch  Hagen  der  ihn  beinahe  wörtlich  in  Prosa  übertrug, 
Kärnten  nicht  unter  den  Lehen  der  Ib-rzoge  Aibrecht  und  Rudolf  aufzählen,  wohl  aber 
Österreich  nennen.  Die  eine  der  beiden  auf  der  k.  k.  Hofbibliothek  befindlichen  Hand- 
schriften der  Reimchronik  hat  nun  au  der  bezüglichen  Stelle  wirklich  das  Wort  Oster- 
reich statt  kernden. 


192  Karl  Stögmann. 

bei   der   Aufzählung   der   den  Herzogen   verliehenen  Länder   weg- 
blieb. 

Allein  denjenigen  welche  die  Thatsächlichkeit  der  Belehnung 
von  1282  bestritten,  standen  andere  nicht  geringfügige  Gründe  für 
diese  Meinung  zu  Gebote.  In  dem  grossen  Belehnungsbriefe  für  die 
Söhne  des  Kaisers  ist  Kärnten  nicht  genannt;  auch  ein  besonderer 
Belehnungsbrief  für  dieses  Land  ist  nicht  nachzuweisen.  Woher  kam 
es,  dass  man  es  versäumte,  den  Besitz  des  Landes  für  die  Herzoge 
rechtlich  und  urkundlich  zu  sichern?  Fragt  man  nach  einem  Factum, 
aus  dem  hervorginge,  dass  die  österreichischen  Herzoge  Kärnten 
besessen  haben ,  so  lässt  sich  ein  solches  nicht  aufbringen.  In  der 
ganzen  Zeit  von  1282—1286  findet  sich  auch  nicht  Ein  Begierungsact 
der  Herzoge,  der  Kärnten  beträfe.  Die  Herzoge  führen  in  dieser  Zeit 
den  Titel:  „Herzoge  von  Kärnten"  niemals;  weder  gebrauchen  sie 
ihn  selbst,  noch  wird  er  ihnen  vom  Kaiser  oder  irgend  Jemanden 
gegeben.  Auch  auf  ihren  Siegeln  findet  sich  keine  Hinweisung  auf 
eine  Herrschaft  über  Kärnten. 

So  sonderbar  und  auffällig  aber  auch  dies  Alles  erscheinen 
mag,  so  reicht  es  doch  nicht  hin,  den  klaren  Ausspruch  des  Kaisers 
und  des  Kurfürsten  von  Sachsen  zu  entkräften.  Aus  allen  angeführten 
Argumenten  folgt  nur,  dass  die  Söhne  Rudolfs  von  Habsburg  Kärn- 
ten nie  factisch  besessen  haben  mögen;  damit  kann  aber  ganz  gut 
bestehen,  dass  sie  damit  belehnt  worden  sind.  Dem  Geschichtsforscher 
blieb  nun  die  Aufgabe,  nachzuweisen,  wie  es  denn  geschehen  konnte, 
dass  die  Belehnung  ohne  alle  Folgen  blieb,  und  wie  sich  etwa  die 
aufgethürmten  Schwierigkeiten  hinwegräumen  Hessen. 

Einen  Versuch  dieser  Art  hat  Lambacher  gemacht,  indem  er  die 
Hypothese  aufstellte:  Die  Söhne  Rudolfs  von  Habsburg  seien  zwar 
1282  mit  Kärnten  belehnt  worden,  hätten  aber  gleich  nach  der  Be- 
lehnung das  Land  wieder  an  den  Vater  zurückgegeben,  mit  der  Bitte, 
Meinhart  damit  zu  belehnen,  um  ihn  dadurch  für  seine  treuen  Dienste 
zu  belohnen.  Weil  aber  für  diese  Belehnung  Meinhart's  erst  die  Wille- 
briefe der  Kurfürsten  eingeholt  werden  mussten,  verzog  sich  dieselbe 
bis  1286. 

Es  liegt  ein  wahrer  Kern  in  dieser  Annahme  Lambacher's.  Aber 
einerseits  hatte  er  so  gar  nichts  gethan,  seine  Hypothese  zu  begrün- 
den, um  sie  doch  zu  etwas  mehr  als  zu  einer  blossen  willkürlich 
gegebenen  Erklärung  zu   machen ,   andererseits  erscheint  die  ganze 


Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  193 

Hypothese  in  der  gegebenen  Fassung  doch  etwas  gar  zu  naiv.  Albrecht 
und  Rudolf  geben  Kärnten  gleich  nach  der  Belehnung  zurück  ,  und 
es  war  für  sie  (so  sagt  Lambacher)  in  der  That  eben  so  viel,  als 
wäre  ihnen  dasHerzogthum  nicht  verliehen  worden.  Warum  Hessen  sie 
sich  dann  belehnen?  Etwa  um  denSpass  zuhaben,  bei  dem  feierlichen 
Actus  um  ein  Fähnlein  mehr  zu  bekommen?  Warum  nahm  der  Kaiser 
den  Act  der  Belehnung  vor,  wenn  er  die  Absicht  seiner  Söhne  kannte, 
die  doch  im  Moment  vor  der  Belehnung  gewusst  haben  werden,  was 
sie  unmittelbar  nach  derselben  thun  wollten?  Oder  soll  man  etwa 
annehmen,  der  staatskluge,  ewig  vordenkende  Rudolf  der  in  genaue- 
ster Eintracht  mit  seinen  Söhnen  gemeinsame  Plane  verfolgte,  habe 
wirklich  nichts  gewusst  von  dem  Vorhaben  der  Herzoge  und  sei  so 
von  dem  Edelmuthe  seiner  Kinder  die  aus  purer  Dankbarkeit  ein 
reiches  und  wichtiges  Land  von  sich  warfen,  überrascht  und  gerührt 
worden?  Man  sieht,  man  käme  auf  die  sonderbarsten  Consequenzen, 
wollte  man  an  Lambacher  s  Ansicht  festhalten. 

Es  schien  mir  nicht  unnöthig,  so  im  Vorhergehenden  den  ganzen 
Stand  der  Frage  darzulegen,  um  mir  dadurch  den  Boden  für  die 
Durchführung  meiner  eigenen  Ansicht  zu  bereiten,  einer  Ansicht  die 
zum  Theil  auf  einer  Combination  bekannter  Thatsachen  beruht,  vor- 
züglich aber  auf  einige,  bisher  noch  unbenutzte  Urkunden  sich  stützt, 
deren  Einsicht  mir  im  k.  k.  geheimen  Archive  mit  einer  höchst 
ermunternden  und  fördernden  Zuvorkommenheit  gestattet  wurde. 

Die  Verbindung  Meinhart1s  mit  Rudolf  von  Habsburg  reicht  weit 
in  die  Zeit  hinauf,  in  der  Budolf  noch  ein  einfacher  Schweizergraf 
gewesen.  Als  Jugendfreunde  werden  sie  uns  bezeichnet.  Schon  1270 
schlössen  beide  Fürsten  einen  Vertrag  über  die  Vermählung  ihrer 
beiderseitigen  Kinder  Albrecht  und  Elisabeth;  die  Ehe  selbst  wurde 
1276  vollzogen.  Hinlänglich  bekannt  ist  es,  wie  in  dem  erstenKampfe 
Rudolfs  gegen  Ottokar  von  Böhmen  Meinhart  sich  als  sein  treuester 
und  nützlichster  Bundesgenosse  erwies,  theils  durch  seine  glückliche 
Theilnahme  am  Kriege  selbst,  theils  durch  Geldsummen  die  er  dem 
damit  nicht  eben  reichlich  versehenen  Kaiser  vorstreckte. 

Dass  er  hiebei  auch  auf  den  Vortheil  für  sich  und  sein  Geschlecht 
Bedacht  nehmen  mochte,  ist  sehr  erklärlich.  Das  Land  Kärnten  war 
es,  auf  das  er  hier  sein  Augenmerk  richtete.  Johann  Victoriensis 
berichtet  uns,  dass  Meinhart  schon  im  Jahre  1277  den  Kaiser  um 
die  Verleihung  dieses  Landes  ansprach.    Der   Kaiser  antwortete  in 

Sitzb.  d.  uliil.-hist.  Cl.  XIX.  Bd.  II.  Hft.  13 


194  Karl  Stögmann. 

ausweichender  Weise.  Er  könne  so  etwas  nicht  ausführen  ohne  Ein- 
willigung der  Reichsfürsten;  aber  auf  dem  nächsten  Reichstage  solle 
darüber  verhandelt  werden1).  Grosse  Hoffnung  für  die  Erfüllung 
seiner  Wünsche  gewährte  aber  der  Kaiser  dem  Meinhart  dadurch, 
dass  er  ihn  zum  Reichsverweser  in  Kärnten  ernannte  3),  was  immer 
grosse  Aussicht  bieten  mochte,  das  Land  selbst  zu  erhalten,  wie  man 
ja  auch  die  Ernennung  Albrecht's  zum  Reichsverweser  in  den  öster- 
reichischen Landen  für  einen  wichtigen  Schritt  zur  völligen  Über- 
tragung dieser  Länder  an  ihn  betrachtete.  Allein  in  diesen  Restre- 
bungen  Meinhart's,  Kärnten  an  sich  zu  bringen,  fand  er  einen  mäch- 
tigen Rivalen  an  dem  Kaiser  selber,  der  sich  nicht  minder  mit  dem 
Gedanken  befasste,  das  wichtige  Land  von  den  übrigen  dem  Ottokar 
abgenommenen  Ländern  keineswegs  zu  trennen,  sondern  es  gleichfalls 
an  seine  Söhne  zu  vergeben.  So  wie  er  seine  Söhne  dadurch  in  Öster- 
reich festen  Fuss  fassen  liess,  dass  er  die  Rischöfe  von  Salzburg, 
Passau  und  Freising  bewog,  die  bedeutenden  Kirchenlehen  in  den 
österreichischen  Ländern  an  die  Herzoge  zu  verleihen,  so  that  er  das- 
selbe in  Kärnten,  wo  Bischof  Berchtold  von  Bamberg  die  umfang- 
reichen Lehen  seiner  Kirche  an  Albrecht  und  Rudolf  vergabte.  In 
eiifem  Schreiben  an  König  Eduard  von  England  sprach  der  Kaiser 
geradezu   die  Absicht  aus,    Kärnten   seinen   Söhnen   zu   verleihen. 


i)  Joh.  Victor,  ap.  Böhmer,  Font.  rer.  germ.  I.  Band.  (1277.)  Hoc  tempore  Heinricus  dux 
et  Ludwicus  frater  ejus  et  Meinhardus  coraes  de  Tyrol  ad  Regem  convenerunt  postu- 
lantes  eis  et  heredibus  suis  de  terris  acquisitis  donationem  fieri  pro  eorum  et  suorum 
heredum  ad  regni  aelerna  servitia  qualem  cumque.  Quibus  Rex  respondit,  hoc  non 
posse  fieri  sine  Principum  consensu,  sed  iila  in  curia  ,  quam  in  Augusta  concepisset 
agere,  pertractanda,  et  sie  distulit  responsiva.  Mag  hier  auch  in  Betreff  Heinrich's  ein 
Irrthum  obwalten ,  von  Ludwig  und  besonders  von  Meinbart  ist  die  Nachricht  völlig 
glaubwürdig. 

2)  Zum  Beweise  hiefür  diene  einmal  die  Stelle  des  Joh.  Vict.  1277.  Rex  reversus  in 
Austriam,  Styriam  lustravit  ibique  Karinthianos  et  Carniolos  alloquitur,  et  fidelitatem 
ab  eis  reeepit;  terrisque  eorum  per  Meinhardum  comitem  et  officiales  dispositis  venit 
in  vallem  Aness.  Ferner  ein  Brief  Rudolfs  an  den  Bischof  von  Bamberg,  abgedruckt 
bei  Meichelbeck,  hist.  Frisingens.  tom.  II,  p.  2.  Datae  Vinneae  in  Vigilia  Epiphaniae, 
1278.  Darin  heisst  es  :  Cum  propter  dileeti  nobisMainbardi  ComitisTyrolensis,  afiinis 
nostri  Karissimi  absentiam,  et  etiain  propter  Procuratorum  suorum  et  officialium  im- 
potentiam  seu  desidiam,  quos  loco  sui  regimini  terrae  Karinthiae  praefeeit,  Ecclesia 
Werdensis  etc.  Endlich  eine  Stelle  aus  einem  Vertrage  zwischen  llenricus  de  Silberberg 
und  der  Abbatissa  de  Göss,  Anno  Dom.  1280  XVII  Kai.  Martii.  Coram  illustri  Mein- 
hardo  Tyrolen.    qui   de  consensu  Domini  Rudolfi  Romanorum  Regis,  Ducis  Karinthie 

tunc  se  o-essit wo  vermuthlich  Vicarium  oder  etwas  Ähnliches  ausgefallen  ist. 

Conf.  Fröhlich,  Spec.  Arch.  p.  83,  84,  85. 


Über  die  Vereinigung'  Kärntens  mit  Österreich.  195 

Wirklich  lauteten  von  den  Wiilebriefen  der  Kurfürsten  zur  Belehnung 
der  Herzoge  vier  ausdrücklich  auf  Kärnten,  und  1282  folgte  zu  Augs- 
burg die  wirkliche  Belehnung  die  nun  alle  Plane  und  Hoffnungen 
Meinhart's  auf  einmal  zu  nichte  zu  machen  drohte. 

Allein  Meinhart  scheint  nun  keineswegs  gesonnen  gewesen  zu 
sein,  seine  Ansprüche  so  bereitwillig  aufzugeben.  Auch  er  hatte  nicht 
versäumt,  sich  durch  Güterkäufe  in  Kärnten  festzusetzen.  So  hatte 
er  die  reichen  Moosburgischen  Güter  an  sich  gebracht,  wie  der  dar- 
über ausgestellte  Bürgschaftsbrief  Ludwig's  von  Baiern  nachweist. 
Als  Reichsverweser  hatte  er  das  Land  factisch  in  seinem  Besitz  und 
konnte  immer  daran  denken,  sich  darin  zu  behaupten.  Es  lässt  sich 
freilich  nicht  nachweisen,  dass  Meinhart  gegen  die  Belehnung  der 
Herzoge  mit  Kärnten  eine  formelle  Einsprache  erhoben  habe,  aber 
es  lässt  sich  erweisen,  dass  er  eine  sehr  entschiedene  Opposition  da- 
gegen factisch  eingeleitet.  Der  Einblick  in  den  genauen  Zusammen- 
hang aller  damals  stattfindenden  Ereignisse  ist  uns  wohl  nicht  ge- 
boten, aber  es  fehlt  uns  mindestens  nicht  an  einzelnen  Daten  die  uns 
auf  die  rechte  Spur  führen  können.  Ein  merkwürdiges  Licht  auf  jene 
dunklen  Verhältnisse  wirft  eine  Urkunde  des  k.  k.  Staats -Archives, 
die  im  Anhange  beigefügt  ist. 

Offo  von  Lanstrost,  Gerlochus,  des  Herrn  Otto  Sohn,  Nicolaus 
von  Sichirberk  und  Gerlochus,  der  Kastellan  von  Sichirberk  thun 
kund,  dass  sie  eidlich  versprochen  haben,  mit  dem  Schlosse  Sichir- 
berk zu  dienen  ihrem  Herrn  dem  Grafen  Meinhart  von  Tirol  mit  allen 
Rechten,  die  von  Alters  her  bis  jetzt  bei  dem  Herzoge  von 
Kärnten  sind.  De  omnibus  juribus  que  ab  antiquo  tempore  apud 
ducem  carinthie  usque  huc  sunt  devolute. 

Würden  sie  dies  nicht  halten,  sollten  sie  alle  ihre  Rechte 
verlieren. 

Die  Bedeutung  dieser  Urkunde  lässt  sich  nicht  verkennen.  Diese 
Herren  versprechen,  dem  Meinhart  so  zu  dienen,  wie  man  dem  Herzoge 
von  Kärnten  dienen  muss.  Er  ist  aber  nicht  der  Herzog  des  Landes; 
nennen  sie  ihn  doch  selber  nur  Graf;  denn  Herren  des  Landes  sind 
Albrecht  und  Rudolf  von  Österreich.  Aus  Graf  Meinhart's  Stellung 
als  blosser  Reichsverweser  in  Kärnten  kann  sich  die  Urkunde  nicht 
erklären  lassen.  Es  findet  sich  keine  Andeutung  dafür  in  derselben : 
Dass  die  Herren  dem  kaiserlichen  Reichsverweser  gehorchen  würden, 
brauchten  sie  kaum  erst  besonders  zu  bestätigen.  Auch  liegt  in  dem 

13* 


196  Karl  Stögmanu. 

Passus  „cum  omnibus  juribus,  que  ....  apud  ducein  carinthie  sunt," 
mehr,  als  dass  man  auf  eine  blosse  Diensterklärung  gegenüber  dem 
Reichsverweser  schliessen  dürfte.  Ich  glaube  also  nicht  zu  viel  aus 
der  Urkunde  heraus  zu  lesen,  wenn  ich  darin  einen  factischen  Beweis 
dafür  sehe,  dass  Graf  Meinhart  die  kärntnerischen  Herren  auf  seine 
Seite  zu  ziehen  bestrebt  war,  um  auf  sie  gestützt  sich  im  Besitze  des 
Landes  zu  behaupten,  denn  in  dieser  Urkunde  haben  wir  eine  feier- 
liche Erklärung  kärntnerischer  Herren,  dem  Grafen  dienen  zu  wollen 
wie  dem  Herzoge,  ungeachtet  die  Herzoge  von  Österreich  Herzoge 
von  Kärnten  geworden  waren. 

Die  vorerwähnte  Urkunde  dürfte  kaum  die  Einzige  solchen  In- 
haltes  gewesen   sein;   es  scheint  vielmehr,  dass  die  Mehrzahl    der 
kärntnerischen  Herren  sich  auf  die  Seite  des  Grafen  stellte,  der  seine 
Reichsverweserschaft  recht  wohl  dazu  benutzt  haben  mochte,    sich 
ihre  Anhänglichkeit  zu  erwerben.   Wie  könnten  wir  anders  das  auf- 
fällige Verhältniss  der  Kärntner  zu  den  Söhnen  Rudolfs,  ihren  neuen 
Herzogen,    und    zu  dem  Kaiser  erklären?  Benehmen  sich  doch  die 
Kärntner  ganz  so,    als  ob  die  Belehnung  zu  Augsburg  auf  sie  gar 
keinen  Einfluss  nehmen  könnte.   Wir  hören  nichts  von  einer  Gesandt- 
schaft derselben   an  den  Kaiser  oder  an  die  Herzoge.  Die  österrei- 
chischen und  steierischen  Stände  treten  zusammen  und  beschliessen, 
den  Kaiser  zu  bitten,    die  seinen  beiden  Söhnen  ertheilte  Belehnung 
nur  auf  einen  zu  beschränken.  Die  Kärntner  nehmen  keinen  Theil 
an  diesen  Berathungen,  keinen  Theil  an  der  desshalb  an  den  Kaiser 
geschickten  Gesandtschaft.  Erwuchsen  ihnen  aus  der  bevorstehenden 
Doppelregierung  nicht  dieselben  Nachtheile  wie   den  Österreichern 
und  Steierein?  Wussten  sie  nicht  eben  so  gut,  wie  die  andern,  dass 
es  schwer  sei,   zwei  Herren  zu  dienen?    Oder    besassen  Kärntens 
Stände  so  wenig  Selbstgefühl,  dass  sie  die  Österreicher  und  Steierer 
für  Alles  sorgen  Hessen,  sich  gutmüthig  in  Alles  fügend?  Ich  glaube, 
der  Grund ,  warum  es  die  Kärntner  so  gleichgiltig  nahmen ,   ob  sie 
von  beiden  Söhnen  des  Kaisers,  oder  nur  von  Einem  beherrscht  wer- 
den sollten,  lag  vorzüglich  darin,  weil  sie  überhaupt  gar  keinen  zum 
Herrn  haben  wollten,  sondern  lieber  an  Meinhart  von  Tirol  festhielten. 
Einen  höchst  wichtigen  Beweis  aber   für  die  oppositionelle  Stellung 
Meinhart's  gegen  den  Kaiser  gibt  uns  eine  vom  Herrn  Regierungsrathe 
Chmel  im  II.  Bande  der  „Fontes  reruni  austriacarum"  mitgetheilte 
Urkunde  vom  28.  Juni  1283.  In  diesem  Actenstücke  gebahrt  sich 


Über  die  Vereinigung-  Kärntens  mit  Österreich.  197 

Meinhart  ganz  als  Herr  des  Landes.  „Wir  tun  chunt,"  heisst  es  in 
dieser  Urkunde,  „daz  wir  unsern  getriwen  dieneren  hern  Gotfrit  von 
Thrvchsen  unde  hern  Julian  von  Sebvrch  unserem  viztum  von  Chern- 
den  mit  worten  und  ovch  mit  unserem  brieve  offenbar  empfolhen 
haben,  daz  si  an  unser  stat  mit  minne  oder  mit  rechte  zeruouren  und 
zerbrechen  schölten  den  chriech  der  lange  her  gewert  hat  zwischen 
unsern  getrivwen  dieneren  meister  Heinrich  dem  propst  von  Wertse 
unde  Chunraden  von  Paradys,  unde  sjnen  erben  unde  ander  sine  vor 
deren  umbe  fünf  hübe  aigens  da  ze  Domenschik  daz  vnder  Sebvrch 
lit."  Nun  folgt  die  Entscheidung  der  ernannten  Schiedsrichter;  und 
dann  heisst  es  weiter: 

„Daz  disiv  ebenvnge  ymmermere  von  ietwederm  teile  stete  und 
vnverbrochen  ewichlich  belibe,  des  habe  wir  zv  einem  ewigem 
vrchunde  ....  dise  hantveste  under  unserm  nagendem  insigel  .  .  . 
gegeben." 

Entsprechend  diesem  Tone,  der  ganz  dem  eines  unbeschränkten 
Landesherrn  gleichkommt,  lautet  der  Titel,  den  sich  Meinhart  hier 
beilegt : 

„Grave  von  Tyrol,  von  Gorze  unde  vogte  von  Aglay,  vonThrient, 
von  Brichsen,  und  herre  des  Herzentumes  ze  Chernden,  ze 
C h  r  a  y  n  unde  der  W i  n  d  i  s  c  h  e  n  M  a  r  c  h. " 

Man  wird  zugeben,  dass  „herre  des  landes"  mehr  bezeichnen 
muss,  als  die  Würde  eines  Reichsverwesers. 

Bedenkt  man  ferner,  dass  Meinhart  diesen  Titel  „herre"  nicht 
nur  über  Kärnten,  sondern  auch  über  Krain  und  die  Mark  ausdehnt, 
von  welchen  Ländern  man  es  doch  nie  bezweifelt  hat,  dass  sie  den 
Söhnen  Rudolfs  zum  Lehen  gegeben  waren,  so  muss  man  gewiss  aus 
dem  angemassten  Gebrauche  dieses  dem  Meinhart  in  keinem  Falle 
zustehenden,  den  Rechten  der  österreichischen  Fürsten  geradezu 
widersprechenden  Titels  die  oppositionelle  Stellung  Meinharfs  gegen 
Rudolf  uqd  seine  entschiedene  Absicht,  Kärnten,  ja  sogar  Krain  und 
die  Mark  um  jeden  Preis  zu  behaupten,  erkennen  *)• 


*)  Aus  dieser  Zeit  ist  auch  die  Urkunde  Hischof  ßerthold's  von  Bamberg-,  k.  k.  g\  A.,  in 
der  dieser  verspricht,  Meinhart  mit  den  Babenbergisehen  Lehen  inKärnten  zu  belehnen, 
sobald  die  österr.  Herzoge  dieselben  aufgeben  würden.  Meinhart  mag  wohl  wegen 
dieser  für  ihn  höchst  wichtigen  Lehen  mit  dem  Bischof  unterhandelt  haben.  Dieser 
konnte   es   wohl    nicht   wagen,   die  Lehen   den   Herzogen  geradezu  zu  entziehen  ;  er 


198  KarlStögmann. 

Es  lässt  sich  kaum  absehen,  wohin  die  weitere  Verfolgung  einer 
derartigen  Opposition  von  Seiten  Meinhart" s  hätte  führen  müssen. 
Zum  Glück  verhinderte  Rudolfs  weise  Mässigung  und  Nachgiebigkeit 
die  schlimmen  Folgen.  Freilich  hatte  derKaiser  mehr  als  einen  Grund, 
den  völligen  Bruch  mit  seinem  alten  Freunde  zu  vermeiden.  Die  Stel- 
lung Rudolfs  zu  den  grossen  Reichsfürsten  hörte  mehr  und  mehr  auf, 
eine  entschieden  freundliche  zu  sein.  Die  grosse  Macht  die  er  seinen 
Söhnen  übertrug,  verstimmte  die  Fürsten  die  sich  in  dem  Kaiser 
getäuscht  sahen,  den  sie  als  einen  wenig  mächtigen  Mann  absichtlich 
zur  Regierung  berufen  hatten,  und  der  ihnen  nun  zu  nicht  geringem 
Verdrusse  bewies,  wie  gut  er  es  verstehe,  sich  und  seinem  Hause 
Macht  und  Bedeutung  zu  geben.  Nun  mochte  Rudolf  wohl  daran  ge- 
denken, in  welche  gefährliche  Lage  er  schon  einmal,  während  des 
zweiten  Krieges  gegen  Ottokar,  durch  diese  Missstinnuung  der  Für- 
sten gekommen  sei.  Im  ersten  Kampfe  mit  Böhmen  war  er  von  allen 
Seiten  her  unterstützt  worden.  Als  er  aber  nach  diesem  Kriege  seine 
Absichten  auf  die  österreichischen  Länder  zu  deutlich  hervortreten 
liess,  da  zogen  sich  die  überraschten  Fürsten  unmuthig  zurück.  Im 
zweiten  Reichskriege  gegen  Ottokar  standen  nur  drei  grosse  Fürsten 
dem' Kaiser  bei;  die  andern  suchten  Ausflüchte  oder  unterstützten 
geradezu  und  offen  die  Feinde.  Es  war  noch  etwas  ganz  anderes,  als 
Ottokar's  reicher  Schatz  der,  wie  Lichnowsky  meint,  diesem  die 
Hilfe  dreier  deutscher  Bischöfe  zubrachte  *).  Der  Sieg  auf  dem 
Marchfelde,  durch  den  Zuzug  aus  den  österreichischen  Ländern  und 
die  Hilfe  der  Ungern  erfochten,  war  ein  moralischer  Sieg  über  des 
Kaisers  offene  und  heimliche  Gegner  in  Deutschland,  der  die  Oppo- 
sition auf  einige  Zeit  zurückdrängte  und  die  Fürsten  den  Wünschen  des 
Kaisers  geneigter  machte.  Allein  nur  zu  gut  sah  Rudolf,  wie  die  wirk- 
lich erfolgte  Belehnung  seiner  Söhne  eine  Missstimmung  wieder  wach 
rief,  die  seinen  übrigen,  weitaussehenden  Plänen  nicht  wenig  gefährlich 


musste  sich  also  begnügen,  dem  Meinhart  durch  dieses  Versprechen  sich  gefällig  zu 
erweisen.  Man  sieht  nur  wieder,  worauf  Meinhart  damals  hinzielte. 
1)  Kräftig  und  schön  spricht  über  diese  Verhältnisse  das  Chronicon  Salisburgense  (ap. 
Pez,  T.  I.  ad  ann.  1278:  Quanto  principes  et  nobiles  imperii  corrupti  et  abominati facti 
sunt  in  studiis  suis,  et  si  liceret  verum  dicere  expressis  nominibus,  Judae  filii  pro- 
clamarentur,  quorum  nequitiam  coelum  et  coelorum  Dominus  revelabunt.  Generaliter 
enim  natio  non  peccavit,  sed  principes  nationis  quibus  illa  famosa  victoria  perpedie 
labern  infamiae  derelinquet  ad  laudem  honorem,  vindictani  vero  malefactorum. 


Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  199 

zu  werden  drohte.  Die  Berücksichtigung  dieser  Umstände  mochte 
den  Kaiser  von  der  Wichtigkeit  eines  freundlichen  Verhältnisses  zu 
Meinhart  überzeugen  und  ihn  bewegen,  lieber  ein  Opfer  zu  bringen, 
als  seinen  treuesten  Anhänger  zu  verlieren. 

Zur  Zeit  als  Meinhart  die  oben  angezogene,  so  expressive  Ur- 
kunde ausfertigte  (28.  Juni  1283),  hatte  Rudolf  offenbar  schon  den 
Entschluss  gefasst,  Kärnten  aufzugeben.  Um  dies  recht  deutlich  zu 
sehen,  beachte  man  nur  aufmerksam  die  Urkunde  vom  1.  Juni  des- 
selben Jahres,  in  der  der  Kaiser  auf  die  schon  erwähnte  Bitte  der 
österreichischen  und  steirischen  Stände,  ihnen  nur  einen  seiner  Söhne 
zum  Herrn  zu  geben,  Bescheid  ertheilt.  Im  Eingange  der  Urkunde 
nennt  der  Kaiser  die  Länder  die  er  seinen  Söhnen  zu  Augsburg  ver- 
liehen; Kärnten  wird  dabei  nicht  genannt. 

Weiters  fährt  der  Kaiser  fort:  Es  hätten  ihn  die  Herren  und 
Unterthanen  dieser  Länder  gebeten,  ihnen  blos  den  Herzog  Albrecht 
zum  Herrn  zu  geben.  Desshalb  befehle  er  nun,  dass  Albrecht  und 
seine  männlichen  Erben  die  vorgenannten  Länder  (diese  sind,  wohl- 
bemerkt, Österreich,  Steier,  Kram,  die  windische  Mark  und  Portenau) 
allein  besitzen  sollen.  Wenn  aber  binnen  vier  Jahren  Rudolf  mit 
keinem  Königreiche  oder  keinem  andern  Fürstenthume  versorgt  sein 
wird  ,  so  sollen  Albrecht  und  seine  Erben  ihn  mit  einer  noch  zu 
bestimmenden  Geldsumme  entschädigen.  Stirbt  Albrecht  und  seine 
männlichen  Erben,  so  fällt  das  Land  an  Rudolf  und  seine  Erben. 

Wenn  wir  diese  Urkunde  durchlesen,  so  muss  sich  uns  doch  die 
Frage  aufdrängen:  Wie  kommt  es,  dass  in  diesem  Actenstücke,  wo 
der  König  über  sämmtliche  Länder  seiner  Söhne  verfügt,  Kärnten 
gar  nicht  genannt  wird?  Was  sollte  denn  mit  diesem  Lande  geschehen? 
Herzog  Albrecht  bekömmt  es  nicht,  denn  seine  Länder  werden  aus- 
drücklich aufgezählt,  ohne  dass  Kärnteu  dabei  wäre;  Herzog  Rudolf 
bekömmt  es  ebenfalls  nicht,  denn  aus  der  ganzen  Urkunde  geht  her- 
vor, dass'  er  ohne  Land  bleibt.  Und  somit  erklärte  Rudolf  mit  dieser 
Verfügung  Kärnten  zwar  stillschweigend,  aber  doch  unwiderleglich 
für  ein  preisgegebenes  Land,  auf  das  seine  Söhne  weiter  keinen 
Anspruch  machten. 

Es  lässt  sich  bei  der  grossen  Lückenhaftigkeit  des  Materiales 
leider  nicht  angeben,  wann  und  wie  Rudolf  diesen  seinen  Entschluss 
dem  Grafen  Meinhart  kundgethan;  doch  lässt  sich  mit  Sicherheit 
annehmen,  dass   es   bald    nach    dem    28.  Juni  1282  geschehen  sein 


200  Ka'1  Stügmaim. 

müsse,  denn  wir  finden  von  da  an  nichts  mehr,  was  uns  berechtigte, 
an  eine  oppositionelle  Stellung  Meinhart's  zu  seinem  Oberherrn  zu 
denken.  Das  Verhältniss  welches  jetzt  eintrat,  war  folgendes:  Die 
Belehnung  der  österreichischen  Herzoge  mit  Kärnten  wurde  völlig 
ignorirt,  Kärnten  als  ein  dem  Reiche  erledigtes  Lehen  betrachtet  und 
dem  Meinhart  bis  auf  Weiteres  die  Reichsverweserschaft  belassen. 
Dieser  führt  nun  nur  mehr  den  Titel  eines  Grafen  von  Tirol  (so 
in  einer  Urkunde  vom  6.  December  128.3).  Recht  deutlich  ersieht 
man  dieses  Verhältniss  aus  einer  Urkunde  die  ohne  genaue  Angabe 
des  Datums,  jedoch  nach  einer  Aufschrift  in  dorso  aus  dem  Jahre 
1283  ist. 

Meinhart  von  Zenzleinsdorf  und  seine  Gemahlinn,  Gertrud  von 
Trabuch,  verkaufen  die  Mauth  zu  Trabuch,  die  sie  zu  Lehen  tragen 
a  domin  o  terre  an  den  Grafen  Heinrich  von  Phannynberch.  Sie 
sagen  nun  dieses  ihr  Lehen  dem  Könige  Rudolf  auf,  mit  der  Bitte, 
den  genannten  Heinrich  Phannynberch  damit  zu  belehnen. 

Es  handelt  sich  hier  also  um  ein  landesfürstliches  Lehen,  nicht 
um  ein  Lehen  des  Reiches.  Wäre  ein  Herzog  im  Lande  gewesen,  so 
hätten  sich  die  Betreffenden  mit  ihrer  Bitte  an  diesen  wenden  müssen; 
da'ss  sie  sich  an  den  römischen  König  wenden,  zeigt,  dass  Kärnten 
als  ein  herrnloses,  dem  Reiche  lediges  Land  betrachtet  wurde,  dass 
die  Herzoge  von  Österreich  nicht  als  die  Landesherren  angesehen 
wurden,  dass  aber  auch  Meinhart  seine  oppositionelle  Stellung  als 
„herre  von  chernden"  bereits  aufgegeben.  Inzwischen  geschahen 
Schritte,  die  Einwilligung  der  Kurfürsten  für  die  Belehnung  Mein- 
hart's zu  erhalten.  Es  ist  uns  nur  der  schon  citirte  Willebrief  des 
Herzogs  Albrecht  von  Sachsen,  ausgestellt  am  28.  März  1285,  er- 
halten, doch  mögen  wohl  auch  die  übrigen  Kurfürsten  ihre  Wille- 
briefe gegeben  haben. 

Im  Jahre  1286,  im  Monate  "Januar,  sollte  zu  Augsburg  dieBeleh- 
nung  Meinhart's  vor  sich  gehen.  Doch  gingen  dem  endlichen  Acte 
noch    Verhandlungen   zwischen  Albrecht   von   Österreich    und  dem 

CT 

Kaiser  einerseits,  dem  Grafen  Meinhart  andererseits  voran,  die  sich 
vorzüglich  auf  Krain  und  die  Mark  bezogen.  Wir  haben  es  aus  dem 
Titel,  den  sich  Meinhart  in  jener  expressiven  Urkunde  vom  Juni  1283 
beilegte,  gesehen,  dass  er  seine  Absichten  auch  auf  diese  Länder 
ausdehnte.  Das  nachgiebige  Entgegenkommen  des  Kaisers  betreffs 
Kärnten  musste  wohl  auch    Meinhart  zu   Zugeständnissen  bewegen; 


Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  !<iO  1 

er  gab  seine  Ansprüche  auf  Kram  und  die  Mark  auf.  In  einer  beson- 
dern Urkunde  vom  23.  Januar  ordnete  der  Kaiser  diese  Angelegen- 
heit. Um  den  beständigen  Frieden  zwischen  seinem  Sohne  Albrecht 
und  dem  Grafen  Meinhart  zu  erhalten,  verordnete  der  Kaiser,  dass 
dem  Grafen  aus  der  Belehnung  mit  Kärnten,  durch  welche  er  des 
genannten  Grafen  Würde  zu  vermehren  gedenke,  kein  Recht  erwachsen 
soll  in  den  Ländern  Krain  und  der  windischen  Mark.  Im  Gegentheil 
sollen  die  genannten  Länder  mit  all  ihrem  Zugehör  bei  seinem,  des 
Kaisers,  Sohne  bleiben,  der  schon  früher  zu  Augsburg  damit  belehnt 
worden  sei.  Auch  auf  Alles  was  vielleicht  die  Herzoge  von  Kärnten 
dereinst  in  Krain  und  der  Mark  besessen  haben,  soll  der  genannte 
Graf  keinen  Anspruch  haben,  jedoch  soll  er  Krain  und  die  Mark  die 
ihm  der  Kaiser  für  eine  bestimmte  Geldsumme  als  Pfand  angewiesen, 
ruhig  besitzen,  bis  ihm  die  genannte  Summe  vollständig  ausgezahlt 
sein  wird.  Ist  diese  Auszahlung  geschehen,  sollen  die  genannten 
Länder  an  Herzog  Albrecht  und  seine  Erben  zurückfallen.  Kärnten 
soll  Meinhart  so  besitzen ,  wie  es  einst  die  Herzoge  Bernhard  und 
Ulrich  zur  Zeit  der  Herzoge  Leopold  und  Friedrich  von  Österreich 
besessen  haben,  mit  der  Ausnahme,  dass,  wenn  die  genannten  Herzoge 
irgend  welche  Städte,  Burgen,  Güter  oder  Rechte  in  Krain  oder  in 
der  Mark  besessen  haben,  diese  nun  dem  Herzoge  Albrecht  bleiben 
müssen,  und  von  ihm  und  seinem  Gebiete  in  keiner  Weise  getrennt 
werden  dürfen.  Was  aber  die  Herzoge  Leopold  und  Friedrich  an 
Leuten  oder  Gütern  in  Kärnten  besessen  haben,  das  soll  ebenso  und 
in  gleicher  Weise  Herzog  Albrecht  besitzen.  Ferner  soll  der  genannte 
Graf  die  Ministerialen  Herzog  Albrecht's  in  Kärnten  in  keiner  Weise 
beschweren,  oder  ihre  Burgen  und  Besitzungen  für  sich  erwerben, 
ohne  Einwilligung  und  Zustimmung  Herzog  Albrecht's.  Dasselbe  wird 
Herzog  Albrecht  in  Bezug  auf  Kärnten  beobachten. 

Man  kann  aus  der  grossen  Weitläufigkeit  dieser  Urkunde  und 
der  genauen  Bestimmtheit  derselben  schliessen,  dass  es  sich  hier  um 
die  Beilegung  alter  Irrungen  handelte.  Die  Zugeständnisse  die  Mein- 
hart in  dieser  Urkunde  machen  musste,  allen  Ansprüchen  auf  Krain 
und  die  Mark  zu  entsagen,  Alles  was  die  Herzoge  von  Kärnten  der- 
einst in  diesen  Ländern  gehabt  haben,  aufzugeben,  dagegen  Alles 
was  einst,  die  Babenberger  in  Kärnten  besessen,  den  Ilabsburgischen 
Herzogen  zu  überlassen,  waren  gewissermassen  die  Bedingungen, 
auf  die  hin  Meinhart  die  Belehnung  erhalten  sollte. 


202  Karl  Stögmann. 

Noch  ein  Punct  muss  bei  der  angezogenen  Urkunde  in  Betracht 
gezogen  werden;  es  ist  dies  die  Art  der  Titulirung,  deren  sich  der 
Kaiser  bedient.  Den  Meinhart  nennt  er  Grafen  von  Tirol;  seinen 
Sohn  Albrecht  Herzog  von  Österreich  und  Steier,  Herrn  von  Krain, 
der  Mark  und  Portenau.  Wer  war  also  Herzog  von  Kärnten  ?  Man 
sieht  wieder,  als  was  der  Kaiser  das  Land  betrachtete,  als  ein  lediges, 
noch  unbesetztes  Reichslehen. 

Nachdem  nun  diese  Verhandlungen  zu  einem  beide  Parteien  be- 
friedigenden Abschluss  geführt  hatten,  nun  erst  gaben  die  Söhne 
Rudolfs  Kärnten  das  sie  factisch  schon  lange  nicht 
mehr  besassen,  auch  der  Form  nach  an  d e n  K a i s e r  zu- 
rück, mit  der  Bitte,  den  Grafen  Mein  hart  damit  zu  be- 
lehnen. In  dieses  Jahr  1286  muss  also  dieser  Vorgang  gesetzt  wer- 
den, den  L am b acher  in  das  Jahr  1282  setzen  wollte,  wo  er  frei- 
lich keinen  Sinn  und  Verstand  haben  konnte.  Man  darf  nur  den  Beleh- 
nungsbrief Meinhart's  aufmerksam  beachten,  um  dies  einzusehen. 

Der  Kaiser  sagt  darin,  seine  beiden  Söhne  Albrecht  und  Rudolf 
wären  zu  Augsburg  vor  ihn  gekommen  mit  der  Bitte,  den  Grafen 
Meinhart  mit  Kärnten  zu  belehnen,  mit  welchem  Herzogthume  er 
schon  längst  (jam  dudum)  seine  Söhne  belehnt  habe  zu  Augsburg. 
Also,  als  die  Herzoge  ihn  baten,  den  Meinhart  mit  Kärnten  zu  be- 
lehnen, waren  sie  schon  längst  belehnt.  Diese  Bitte  fällt  also  auf  den 
zweiten  Tag  zu  Augsburg  1286,  die  darin  erwähnte  Belehnung  auf 
den  ersten  Augsburger  Tag  vom  Jahre  1282  '). 

Am  1.  Februar  1286  wurde  endlich  Meinhart  von  Tirol  feierlich 
mit  Kärnten  belehnt 3). 

Fassen  wir  noch  schliesslich  die  Ansicht  die  ich  im  Vorher- 
gehenden zu  begründen  bestrebt  war,  in  kurzen  Worten  zusammen. 

Sowohl  Rudolf  von  Habsburg  als  auch  Meinhart  von  Tirol  hatten 
die  Absicht,  Kärnten  zu  gewinnen,  und  beide  Fürsten  ergriffen  darauf 


*)  Dass  der  Kaiser  bei  dem  Jahre  1286  noch  seinen  Sohn  Rudolf  als  Herzog  nennt,  da 
doch  Albrecht  allein  die  Regierung  führte,  kann  nicht  auffallen.  Rudolf  war  so  wie 
Albrecht  mit  Kärnten  belehnt ,  er  und  seine  Nachkommen  hatten  für  den  Fall  von 
Albrecht's  kinderlosem  Tode  ein  Erbrecht  auf  alle  Länder  seines  Bruders;  daher 
musste  er  in  die  Rückgabe  Kärntens  gleichfalls  einwilligen  und  sie  bestätigen. 

2)  Nicht  zu  übersehen  ist  hier  die  Stelle  desChunradus  Sindellingensis :  Rudolfiis  Rex  die 
Fabiani  et Sebastian!  curiam  frequentem Auguste  celebravit.  Tunc  infeodavit  de  novo 
comitem  de  Tyrole  de  ducatu  Carinthie.  In  diesem  de  novo  liegt  wohl  eine  Andeu- 
tung und  Hinweisung  auf  die  Belehnung  von  1282. 


Über  die  Vereinigung'  Kärntens  mit  Österreich.  203 

hinzielende  Maassregeln.  Auf  dem  Reichstage  zu  Augsburg  1282  be- 
lehnte Kaiser  Rudolf  seine  Söhne  mit  Kärnten.  In  Folge  dieses  Actes 
trat  Graf  Meinhart  in  eine  entschiedene  Opposition  gegen  den  Kaiser 
und  zeigte  nicht  undeutlich  die  Absicht,  Kärnten,  ja  sogar  Krain 
und  die  Mark  für  sich  zu  behaupten.  Die  weise  Nachgiebigkeit  des 
Kaisers  verhinderte  auffälligere  Folgen.  Rudolf  gab  Kärnten  Preis, 
das  nun  als  erledigtes  Reichslehen  nach  wie  vor  von  Meinhart  ver- 
waltet wurde.  Nachdem  dieser  seinen  Ansprüchen  auf  Krain  und  die 
Mark  entsagt  hatte,  gaben  die  Söhne  Kaiser  Rudolfs  auf  dem  Reichs- 
tage zu  Augsburg  im  Jahre  1286  das  factisch  bereits  aufgegebene 
Kärnten  nun  auch  in  feierlicher  Form  zurück,  und  es  erfolgte  die 
Belehnung  Meinhart's  mit  dem  genannten  Herzogthume.  Solchergestalt 
glaubeich  die  erste  der  aufgenommenen  Fragen  als  erledigt  betrachten 
zu  dürfen  *). 

II. 

Ich  wende  mich  nun  zur  Beantwortung  der  zweiten  im  Eingange 
aufgeworfenen  Frage:  Hat  Rudolf  von  Habsburg  bei  der  Belehnung 
Meinhart's  mit  Kärnten  den  Bückfall  dieses  Landes  an  das  Haus  Habs- 
burg für  den  Fall  des  Erlöschens  des  Meinhart'schen  Mannsstammes 
bedungen  ? 

Als  Derjenige  der  diese  noch  immer  sehr  verbreitete  und  nicht 
gründlich  widerlegte  Meinung  in  die  Geschichte  eingeführt  hat,  muss 
Steyrer 'genannt  werden,  der  in  seinem  Werke:  „Commentarii  pro 
vita  Ducis  AlbertiH."  (Lipsiae  1725)  diese  Ansicht  aufstellte.  Frei- 
lich stützte  Steyrer  seine  Angabe  auf  nichts  Anderes,  als  auf  eine 
Stelle  in  dem  Manuscript  des  Guilliman,  eines  im  17.  Jahrhundert 
lebenden  Schriftstellers,  dennoch  erklärte  sich  schon  sein  nächster 
Nachfolger,  Pesler,  in  der  „Series  Ducum  Carinthiae"  für  seine  Ansicht, 


*)  Auf  die  einzige  noch  übrige  Schwierigkeit:  „Warum  wird  Kärnten  in  dem  Belehnungs- 
briefe für  die  Söhne  Rudolfs  von  1282  nicht  genannt?"  hat  Böhmer  in  den  Regesten 
wenn  nicht  zurückweisend,  so  doch  erklärend  geantwortet,  wenn  er  die  Annahme 
aufstellt,  der  Belehnungsbrief  der  österreichischen  Herzoge  sei  im  Jahre  1286  ,  als 
Meinhart  mit  Kärnten  belehnt  wurde,  umgeschrieben  worden  und  man  habe  dabei  den 
Namen  des  nun  dem  Meinhart  gehörigen  Landes  weggelassen,  um  allen  Streitigkeiten 
vorzubeugen.  Bedenkt  man,  wie  Meinhart  Kärnten  endlich  erhielt,  so  kann  es  nicht 
ungereimt  erscheinen  ,  anzunehmen,  er  habe  eine  derartige  Sicherstellurg  Beines 
Besitzes,  gegen  alle  möglichen  Anfeindungen,  gefordert. 


204  Karl  Stögmann. 

obwohl   er   einige  leise  Zweifel    nicht   zu   unterdrücken  vermochte. 
Was  aberPesler  noch  etwas  furchtsam  zugegeben  hatte,  das  erscheint 
schon   als    ausgemachte    Sache    bei    Erasmus    Fröhlich    „  Spccimen 
ArchontologiaeCarinthiae."   Schlimmer  noch  wurde  es,  als  Ferdinand 
Schrötter  in  seinen  „Abhandlungen  aus  dem  österreichischen  Staats- 
rechte" sich  der  Steyrer'schen  Ansicht  bemächtigte,  und  sie  für  seine 
Zwecke  benützte.    Dieser  legte  sich  die  Sache  aufs  Bequemste  zu- 
recht,   ohne   auf  den  eigentlich  historischen  Hergang  Rücksicht  zu 
nehmen.  „Rudolf  von  Habsburg  gibt  Kärnten  (so  erzählt  Schrötter) 
an  Meinhart  mit  der  ausdrücklichen  Bedingung  des  Rückfalls.  Herzog 
Heinrich  von  Kärnten  vermählt  seine  Tochter  mit  Johann's  von  Böh- 
men Sohn,  verspricht  diesem  die  Nachfolge  und  lässt  dies  Verspre- 
chen durch  Kaiser  Ludwig  bestätigen.  Dagegen  treten  nun  die  öster- 
reichischen Herzoge  auf,  Ludwig  von  Baiern  lässt  ihre  Ansprüche 
untersuchen,    belehrt  sich  eines  Bessern  und  spricht  ihnen  Kärnten 
zu."  So  beiläufig  hat  Schrötter  die  Sache  dargestellt, /ganz  nach  Art 
eines  wohlgeordneten  gerichtlichen  Verfahrens.  So  abstract  und  con- 
sequent  gestalteten  sich  die  Verhältnisse  in  der  Wirklichkeit  keines- 
wegs, aber  Schrötter's  Ansehen  war  es  dennoch ,   das  der  bequemen 
A'uffassung  in  viele  Geschichtswerke,  z.B.  in  dieMailath's,  Hassler's  etc. 
Eingang  verschaffte. 

Nur  zwei  Schriftsteller  sprachen  sich  entschieden  und  geradezu 
gegen  die  fragliche  Ansicht  aus,  Lambacher  undPölifz;  Beide  stützten 
sich  vorzüglich  darauf,  dass  ja  in  dem  Belehnungsbriefe  Meinhart s 
eineRückfallsbedingung  nicht  ausgesprochen  sei.  Auf  eine  weitläufigere 
Beantwortung  der  Frage  konnten  sie  sich  der  Tendenz  ihrer  Werke 
nach,  kaum  einlassen. 

Dem  von  ihnen  angezogenen  Argumente  suchte  Kurz  in  seinem 
Werke  „Österreich  unter  Albrecht  dem  Lahmen"  damit  zu  begegnen, 
dass  er  die  Hypothese  aufstellte:  „Rudolf  von  Habsburg  habe  seinen 
Söhnen  den  Rückfall  Kärntens  in  einer  besondern  Urkunde  zugesi- 
chert, die  sich  nun  nicht  mehr  auffinden  lasse." 

Er  stützte  sich  hiebei  auf  eine  Stelle  des  Peter  von  Königs- 
saal. 

In  ähnlicher  Weise,  wenn  auch  etwas  schwankend  und  unsicher 
sprach  sich  Lichnowsky  aus. 

Im  7.  Buche  des  ersten  Bandes  seiner  Geschichte  des  Hauses 
Habsburg,  S.  344,  sagt  er: 


Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  1205 

„In  der  Belchnungsurkunde  wurde  kein  Rückfall  an  Österreich 
beim  Aussterbendes  Hauses  Meinhart's  ausgedrückt,  aber  allgemein 
ward  dies  so  verstanden." 

Im  zweiten  Bande,  S.  21ö,  beisst  es  ferner: 

„Für  Kärnten  kommt  die  Anwartschaft  welche  die  Verleihung 
König  Rudolfs  an  seine  Söhne  und  deren  Aufgabe  zu  Gunsten  Mein- 
hart's von  Tirol  mit  sich  bringen  konnte,  jedenfalls  in  Betracht." 

Und  endlich  in  einer  Note  zum  6.  Buch  des  ersten  Bandes, 
S.  473: 

„Wenn  die  Angabe  des  Abtes  Peter  vonKönigssaal  gegründet  ist, 
so  muss  ein  geheimer,  aber  mit  königlicher  Bestätigung  bekräftigter 
Vertrag  darüber  ausgefolgt  worden  sein." 

Man  sieht  aus  diesen  gedrängten  Angaben,  dass  es  zu  einer 
völligen  Entscheidung  der  Frage  noch  nicht  gekommen  sei,  und  dass 
aus  diesem  Grunde  die  nachstehende  Untersuchung  nicht  überflüssig 
sein  dürfte. 

Schon  eine  ganz  allgemeine  Betrachtung  der  Frage  dürfte  hin- 
reichen,  in  uns  nicht  geringe  Bedenken  gegen  die  Richtigkeit  der 
fraglichen  Annahme  die  wir  ein  für  allemal  als  die  Steyrer'sche 
bezeichnen  wollen,  zu  erwecken.  Man  versuche  nur  einmal,  sich 
erst  recht  klar  zu  machen,  was  mit  der  Behauptung:  „Rudolf  von 
Habsburg  habe  den  Rückfall  Kärntens  an  sein  Haus  ausdrücklich 
bedungen,"  eigentlich  ausgesprochen  werde.  Nach  dem  Aussterben 
des  Meinhart'schen  Mannsstammes  sollte  Kärnten  nicht  wie  jedes 
andere  Lehen  an  Kaiser  und  Reich  zurückfallen,  sondern  es  sollte  an 
das  Haus  Habsburg  fallen  ohne  Widerspruch  des  Kaisers,  ohne 
Einspruch" der  Kurfürsten? 

Rudolf  von  Habsburg  hätte  also  Kärnten  zu  einem  Erbe  seiner 
Familie  gemacht,  dem  Reiche  auf  die  unbestimmteste  Zeitdauer  das 
Verfügungsrecht  über  dieses  Land  entzogen?  Es  ist  kaum  glaublich, 
dass  es  dem  Kaiser  nur  habe  in  den  Sinn« kommen  können,  eine  der- 
artige, den  Grundsätzen  des  deutschen  Lehenrechtes  so  widerspre- 
chende Verfügung  zu  treffen;  es  ist  noch  weniger  glaublich,  dass  die 
Kurfürsten  einen  derartigen  Schritt  des  Kaisers  hätten  billigen  mögen, 
dieselben  Kurfürsten  die  es  sich  von  dem  Kaiser  eidlich  hatten  ver- 
sprechen lassen,  kein  Lehen  des  Reiches  ohne  ihre  Einwilligung  zu 
vergeben,  die  also  schon  dadurch  anzeigten,  wie  sehr  sie  die  Absicht 
hatten,  die  kaiserliche  Gewalt  einzuengen  und  zu  beschränken ,    und 


206  Karl    Stög-mann. 

deren  eifersüchtige  Wachsamkeit  durch  die  Art,  wie  Rudolf  von 
Habsburg  die  Macht  seines  Hauses  zu  heben  bemüht  war,  gewiss  nicht 
geringer  geworden  ? 

Dies  Alles  wohl  bedacht,  werden  wir  gewiss  in  dem  angebli- 
chen Verfahren  Rudolfs  etwas  derart  Auffälliges  und  Sonderbares 
erblicken,  dass  nur  die  schlagendsten  Beweise  uns  zum  Glauben  daran 
bewegen  könnten. 

Verlassen  wir  aber  den  Boden  der  historischen  Combination  die 
uns  doch  nur  zu  Zweifeln  führen  könnte,  und  betreten  wir  das  mehr 
sichere  Gebiet  der  Quellenforschung.  So  genau  wir  aber  auch  alle 
Quellen  durchsuchen  mögen,  die  uns  die  Belehnung  Meinhart's  von 
Tirol  berichten,  nirgends  ist  von  einer  Rückfallsbedingung  die  dabei 
gestellt  worden  wäre,  auch  nur  im  Entferntesten  die  Rede. 

Ich  habe  einen  Theil  der  hieher  gehörigen  Quellen  schon  im  ersten 
Theile  der  Abhandlung  citirt,  den  d  ort  genannten  (Chron.Floriac.,Chron. 
Osterhov.,Chron.Claustro  Neob.  und  Ottakar's  Reimchronik)  füge  ich 
hier  noch  bei  den„Continuator"  des  MartinusPolonus  *)»  die  „Annales 
Mellicenses"  2),  „ßurcardi  et  Üytheri  notao  historicae"  3),  die  Chronik 
des  von  Meinhart  gegründeten  Klosters  Stains  4)  und  als  eine  wohl  nicht 
ganz  gleichzeitige,  aber  mit  den  Angelegenheiten  Kärntens  höchst 
vertraute  Quelle  den  Johannes  Victoriensis  5).  So  gern  wir  nun  auch 
zugeben,  dass  die  Quellen  aus  jener  Zeit  im  Allgemeinen  etwas  dürftig 
sind,  so  darf  doch  das  Stillschweigen  aller  Quellen  über  die  fragliche 
Rückfallsbedingung  nicht  zu  gering  angeschlagen  werden.  Denn  in- 
dem diese  Bedingung,  wie  oben  gezeigt  wurde,  als  etwas  ganz  Ab- 
normes, den  gewöhnlichen  Gesetzen  geradezu  Widersprechendes  auf- 
gefasst  werden  muss,  so  konnte  sie  den  Chronisten  der  damaligen 


1)  Cont.  Mart.  Pol.  ap.  Boehmer.  Font.  II,  p.  457—464. 

Anno  Domini  1286  Rex  Rudolfus  curiain  Auguste  celebrat lbi  etiani  comitem 

de  Tyrol  ducem  Karinthie  feeit. 
2J  Annales  Mellicenses.  ap.  Pez.  Script,  tora.  I. 

1282.  Supra  dictus  Rex  contulit  ducatum  Karinthie  eomiti  Tyrolensi  Meinhardo. 
3)  Burk  et.  Dyth.  notae.  hist.  Boehni.  Font.  II,  p.  473. 

(Rudolfus)  comitem  quoque  Einhardum  de  Tyrolis  Karinthie  prefecit. 
4j   Chron.  Stamsense.  ap.  Boehm.  Font. 

Anno  Domini  1286  ipsa  die  Nativitatis  Domini  supra  dictus  comes  Meinhardus  crea- 
tus  est  Dux  Karinthie  in  Augusta  a  Rudolfo  Rege  Romauorum. 
5)  Joh.  Vict.  ap.  Boehm.  Font.  I. 

Comiti  Meinhardo  Goritiae    et  Tyrolis,  socero    filii   sui  Alberti    predicti  contulit 
Ducatam  Karinthie. 


Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  207 

Zeit  keineswegs  so  gleichgiltig  sein,  und  würde  schon  ihrer  Auffäl- 
ligkeit wegen,  auch  in  den  wenig  reichhaltigen  Quellen  mindestens  an 
ein  oder  dem  andern  Orte  irgend  eine  Erwähnung  gefunden  haben. 

Wenden  wir  uns  aber  nach  Beachtung  der  Quellen  zu  Urkunden, 
so  finden  wir  drei  in  dieser  Angelegenheit  aufgestellte  Actenstücke. 

Zwei  derselben  sind  schon  in  dem  ersten  Theile  der  Abhandlung 
besprochen  worden,  nämlich  der  Willebrief  des  Herzogs  von  Sachsen 
und  die  Urkunde  vom  24.  Jänner  des  Jahres  1286. 

In  beiden  wird  einer  Rückfallsbedingung  nicht  erwähnt,  so 
natürlich  eine  derartige  Erwähnung  mindestens  in  der  ersten  Urkunde 
gewesen  wäre. 

Das  wichtigste  Document  ist  jedoch  der  Belehnungsbrief  des 
Grafen  Meinhart  über  Kärnten,  datirt  vom  ersten  Februar  des  Jahres 
1286  zu  Augsburg. 

Der  Kaiser  erklärt  darin,  dass  seine  beiden  Söhne  Albrecht  und 
Rudolf  vor  ihn  gekommen  mit  der  Bitte,  den  Grafen  Meinhart  von 
Tirol  mit  Kärnten  welches  er  früher  zu  Augsburg  ihnen  verliehen 
habe,  zu  belehnen.  Desshalb  habe  er  in  Erwägung  der  Verdienste 
die  der  Graf  um  Kaiser  und  Reich  sich  erworben,  ihm  das  Herzog- 
tum Kärnten  zum  Lehen  gegeben,  und  zugleich  ihm  und  seinen 
Nachfolgern  im  Herzogthume  Recht,  Würde  und  Titel  wie  den  übri- 
gen Reichsfürsten  verliehen.  Hierauf  werden  beinahe  wörtlich  alle 
Bestimmungen  wiederholt,  die  in  der  erwähnten  Urkunde  vom  24.  Jänner 
über  Krain  und  die  Mark,  so  wie  über  das  Verhältniss  des  Her- 
zogs zu  seinem  Lande  und  zu  dem  Herzoge  Albrecht  und  umgekehrt, 
festgesetzt  worden  waren.  Schliesslich  wird  allen  Adeligen,  Mini- 
sterialen etc.  in  Kärnten  befohlen,  Meinhart  als  ihren  rechtmässigen 
Herzog  anzuerkennen.  Es  leuchtet  nun  wohl  Jedermann  ein,  dass  sich 
dieser  Belehnungsbrief  keineswegs  auf  die  einfache  Bestätigung  der 
Belehnung  beschränkt,  sondern,  dass  in  demselben  das  Verhältniss 
des  neuernannten  Herzogs  zu  dem  österreichischen  Fürstenhause  sehr 
ausführlich  festgestellt  wird.  Aber  von  einem  Vorbehalt,  von  einer 
Rückfallsbedingung  zu  Gunsten  Österreichs  ist  darin  keine  Rede,  so 
sehr  aus  der  ganzen  Urkunde  das  entschiedene  Bestreben  hervorgeht, 
die  Interessen  des  Hauses  Habsburg  zu  wahren.  So  ist  es  gewiss  eine 
auffällige  Begünstigung  der  österreichischen  Herzoge,  dass  sie  die 
Güter  und  Rechte  die  die  Babenberger  in  Kärnten  besessen  haben, 
behalten,  der  neue  Herzog  dagegen  die  alten  Rechte  seiner  Vorfahren 


ü£08  KarlStögmann. 

in  Krain  und  der  Mark  aufgeben  muss.  Wenn  man  also  in  diese 
Urkunde  so  genau  Alles  aufnahm,  was  den  österreichischen  Herzogen 
zum  Yortheile  gereichen  konnte,  warum  hätte  man  den  wichtigsten 
Punct,  die  Bedingung  des  Rückfalls,  übersehen  sollen  ?  Bemerkt  muss 
auch  werden,  dass  in  der  ganzen  Urkunde  auch  nicht  die  leiseste 
Andeutung  vorkomme,  die  darauf  hinwiese ,  es  sei  hier  in  Betreff  der 
Belehnung  Etwas  noch  nicht  genau  bestimmt,  sondern  erst  einem 
zweiten  Actenstücke  vorbehalten  worden. 

Man  könnte  nun  freilich,  um  dies  Ignoriren  der  angenommenen 
Bückfallsbedingung  in  Quellen  und  Urkunden  zu  erklären,  annehmen, 
Butlolf  habe  dieselbe  vor  den  übrigen  Fürsten  verborgen,  und  sie  sei 
Gegenstand  eines  geheimen  Vertrages  zwischen  dem  Kaiser  und  Graf 
Meinhart  gewesen,  dessen  Urkunde  aber  nun  leider  zivden  verlorenen 
zu  zählen  sei. 

Wir  wollen  diese  Annahme  vor  der  Hand  ohne  allen  Beweis  hin- 
nehmen, müssen  aber  zwei  Untersuchungen  daran  knüpfen,  nämlich: 
„Wenn  ein  solcher  geheimer  Vertrag  zwischen  den  österreichischen 
und  kärntnerischen  Herzogen  bestand,  ergibt  sich  denn  aus  den  Be- 
ziehungen beider  Länder  irgendwo  eine  Hinweisung  darauf?  „Ferner: 
j,Als  das  Haus  Meinhart's  von  Tirol  ausstarb,  und  die  österreichischen 
Herzoge  Kärnten  in  Besitz  nahmen,  gründeten  sie  da  ihre  Ansprüche 
auf  einen  bestehenden  geheimen  Vertrag?  Kam  er  bei  dieser  Gelegen- 
heit je  zum  Vorscheine?"  Aus  der  Beantwortung  dieser  Fragen  muss 
sich  die  Richtigkeit  oder  Unrichtigkeit  der  aufgestellten  Hypothese 
ergeben. 

Durch  die  Verleihung  Kärntens  an  Meinhart  von  Tirol,  wie 
auch  durch  die  Vermählung  Albrecht's  von  Österreich  mit  Elisabeth 
war  ein  freundschaftliches  Verhältniss  zwischen  den  österreichischen 
und  kärntnerischen  Herzogen  gegründet,  dessen  Fortdauer  sich  durch 
eine  geraume  Weile  nachweisen  lässt.  Als  Bundesgenosse  Albrecht's 
betheiligte  sich  Meinhart  an  dem  Kampfe  gegen  den  Erzbischof  von 
Salzburg  und  den  aufrührerischen  steierischen  Ministerialen  Ulrich 
von  Heunburg1)-  Auch  nach  Meinhart's  Tode  (1295)  3),  unterstützte 
sein  Sohn  Heinrich  aufs  Eifrigste  Albrecht's  Bewerbung  um  die 
deutsche  Königskrone.  Er  führte  dem  Herzog  einen  Zuzug  von  3000 


*)  Chron.  Mon.  Mellic.  qs.  Pez.  I,  p.  244. 

2)  .loh.  Vict.  ap.  Boehm.  f.  I,  p.  334.  Chron.  Stams. 


Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  c  0  9 

Reitern  zu 1)  und  war  Anführer  des  ersten  Heerhaufens  in  der 
Schlacht  bei  Göllheim  •).  Den  19.  Mai  1299  ertheilte  Albrecht  als 
Kaiser,  zu  Speier  den  drei  Brüdern  Otto,  Ludwig  und  Heinrich  die 
Belehnung  mit  Kärnten ,  ohne  dass  in  der  darüber  ausgestellten  Ur- 
kunde der  angeblichen  Rückfallsbedingung  Erwähnung  geschah  3). 

Das  gute  Einvernehmen  zwischen  den  verwandten  Fürsten  wurde 
aber  bald  nach  dieser  Belehnung  getrübt  und  endlich  auf  lange  Zeit 
vernichtet  durch  die  Verwicklung  Herzog  Heinrich's  in  die  böhmischen 
Angelegenheiten.  Denn  als  Herzog  Heinrich  nach  dem  plötzlichen  Tode 
Wenzel's  III.  sich  der  Krone  Böhmens  zu  bemächtigen  strebte,  liess 
Albrecht  Kärnten  durch  Ulrich  von  Wallsee  und  Friedrich  von 
Österreich,  Krain  durch  Heinrich  von  Görz  in  Besitz  nehmen  und  im 
Namen  Österreichs  verwalten4). 

Nach  Albrecht's  Tode  suchte  Friedrich  von  Österreich  den 
Zwist  mit  Heinrich  auszugleichen,  was  nach  mehrfachen  fruchtlosen 
Versuchen  endlich  durch  Vermittlung  der  Königinn  Elisabeth  (der 
Mutter  Friedrich's  und  Schwester  Heinrich's)  im  Jahre  1311  zu 
Salzburg  zu  Stande  kam  5). 

Es  waren  in  dieser  Angelegenheit  mehrere  Urkunden  ausgestellt 
worden;  allein  in  keiner  findet  sich  eine  Beziehung  auf  den  angenom- 
menen Vertrag  über  einen  Rückfall  Kärntens  an  Österreich,  so 
gewöhnlich  es  auch  sonst  war,  bei  einer  gütlichen  Ausgleichung  und 
insbesondere  bei  einer  Beilegung  so  langer  und  bedeutender  Streitig- 
keiten frühere  wichtige  Verträge  vonNeuem  zu  bestätigen  und  sie  als 
noch  zu  Recht  bestehend  zu  erwähnen.  Geben  demnach  die  diploma- 
tischen Beziehungen  zwischen  Österreich  und  Kärnten  keinen  ein- 
zigen Anhaltspunct  für  die  Steyrer'sche  Hypothese,  so  müssen  wir 
noch  sehen,  ob  nicht  vielleicht  aus  den  Vorgängen  bei  der  endlichen 
Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich  dennoch  die  Existenz  einer 
Rückfallsbedingung  hervorgehe. 


i)  Contin.  Mart.  Pol.  p.  1431. 

2)  Joh.  Vict.  ap.  B.  f.  I,  p.  336. 

3)  Lichnowsky.  Regesten.  2 IS. 

4)  Joh.  Vict.  ap.  Boehm.  f.  I.  p. 

Ulricus  de  Wallsee  stahitis  in  Karinthia  offieialihus  et  prefectis  sacrahientis  civium 
receptis  in  Stiriam  est  reversus.  Et  sie  Carinthia  et  CarniolaDuci.  Atistrie  subiuguotur 
et  ejus  nutui  ac  slahitorum  ofiicialium  famiilantur. 

5)  Joh.   Vict.  ap.  B.  f.  I.  In  etwas  gedrängter  Weise  und  Ottokar's  Reimohronik  cap.  819, 
ap.PezIII.  Die  Urkunden  in  Lichnowsky's  Regesten,  110,  111,  127  und   129. 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XIX.  Bd.  II.  Hft.  14 


210  Karl    Stögmann. 

Wir  haben  für  jene  Vorgänge  in  dem  Werke  des  Job.  Victo- 
riensis  einen  Bericht  dessen  Umfänglichkeit  und  Glaubwürdigkeit 
nichts  zu  wünschen  übrig  lassen.  Denn  abgesehen  davon,  dass  Johann 
Abt  zu  Victring,  einem  Kloster  Kärntens  ist,  erscheint  er  noch  über- 
dies persönlich  in  die  fraglichen  Ereignisse  verflochten. 

Das  erste  Capitel  des  6.  Buches  bei  Joh.  Victoriensis  führt  die 
Aufschrift:  „De  morteHeinriciDucis  Karinthie,  et  qüod  ducesAustrie 
terram  obtinuerunt".  In  der  ganzen  Darstellung  ist  nirgends  die  Bede 
davon,  dass  Kärnten  nach  dem  Tode  Herzog  Heinrich's  einem  frü- 
hern Vertrage  gemäss  an  die  österreichischen  Fürsten  habe  fallen 
müssen.  Der  Rechtsgrund,  nach  dem  Albrecht  der  Weise ,  dem 
sich  der  Verfasser  auf  das  Treueste  ergeben  zeigt,  Herzog  von  Kärn- 
ten wurde,  ist  für  Joh.  Vict.  die  kaiserliche  Belehnung.  Er 
gibt  an,  die  Herzoge  hätten  zu  Linz  von  dem  Kaiser  die  Länder 
Kärnten  und  Krain  verlangt;  Krain,  weil  es  ohnedies  den  Herzogen 
von  Kärnten  nur  verpfändet  gewesen;  Kärnten  aber  in  Berücksich- 
tigung ihrer  Abstammung  von  Meinhart  mütterlicher  Seits.  Der  Kaiser 
bewilligt  diese  Forderung,  weil  er  einsieht,  die  Macht  der  österreichi- 
schen Herzoge  sei  für  ihn  höchst  wichtig *). 

So  wenig  als  Johannes  Victoriensis  für  seine  Person  von  einem 
vorher  bedungenen  Bückfall  Kärntens  wusste,  so  wenig  wusstendie 
Kärntner  im  Allgemeinen  davon ,  wie  sich  aus  einem  einfachen 
Gegensätze  bei  Vict.  ersehen  lässt.  Er  sagt  nämlich:  „Die  Krainer, 
wohl  wissend,  unter  wessen  Botmässigkeit  sie  gehörten,  hätten  sich 
ohne  Widerstand  ihrem  wahren  Heirn  unterworfen;  die  Kärntner 
aber  baten  um  Bedenkzeit,  wenn  ihnen  in  gewisser  Frist  keine  Hilfe 
käme,  würden  sie  sich  unterwerfen  3).  Die  Krainer  wussten  also  von 
dem  Bechte  der  Österreichischen  Fürsten,   nämlich,    dass  Krain  nur 


!)  Joh.  Vict.  ap.  B,  p.  416.  Interea  duces  Austrie  Ludewicum  imperatorem  arcessiunt. 
Et  in civitate  Lyntza  super  littus  Danubi  colloquia  miscentes  Karinthiam  petunt  ratione 
sanguinis  materni,  que  filia  Meinhardi  ducis  fuerat;  Carniolam  asserentes  ad  se  legi- 
time devolutam,  quam  duces  Karinthie  a  suis  progenitoribus  iam  longo  tempore  vadis 
nomine  possidebant  Ludewicus  autem  eorum  potentiam  sibi  arbi  trans  necessariam 
adiudieavit  fieri  postulata.  Dux  Otto  veniens  nobilium  et  civilium  reeipit  sacramenta 
uiaxime  quia  imperator  soripserat,  terram  ad  imperium  devolutam  eamse  suis  avun- 
culis  dueibus  contulisse ,  et  omnes  eis  in  reliquum  obedire  demandavit.  Que  littere 
publice  recitale  omnem  terre  populum  constrinxerunt. 

2)  Joh.  Vict.  B.417.  Carniola  vero,  sciens  de  cuius  ditione  esset,  absque  strepitu  omnis 
resistentie  veris  dominis  se  devovit  etKarinthiani  induciarum  tempus  poscentes,  si  sub 
medio,  qui  eos  exolveret  non  veniret,  ad  dueum  se  placitum  inclinarent. 


Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  211 

ein  verpfändet  Gut  gewesen.  Bei  Kärnten  war  dies  nicht  der  Fall, 
und  von  einem  andern  Rechte  wussten  die  Kärntner  nichts.  Huren 
wir  ferner  den  Grund,  aus  dem  sie  sich  später  unterwarfen.  Der 
Kaiser  erliess  einschreiben  an  sie,  in  dem  er  ihnen  kund  that :  „Das 
Land  sei  ein  dem  Reiche  heimgefallenes  Lehen,  und  er 
habe  es  seinen  Oheimen  verliehen;  desshalb  sollten  sie 
diesen  gehorchen"  Dieser  Brief  der  überall  öffentlich  verlesen  wurde, 
brachte  das  ganze  Volk  zur  Unterwerfung. 

Das  Wichtigste  aber  bleibt ,  dass  auch  Herzog  Albrecht  von 
Österreich  nirgends  auf  ein  ihm  auseinerRückfallsbedingung  erwach- 
sendes Recht  sich  berufen  hat.  Johannes  von  Victring  selbst  wird  an 
die  österreichischen  Herzoge  geschickt,  um  die  hinterlassenen  Töchter 
Heinrich's  ihrem  Schutze  zu  empfehlen.  Die  Antwort  Herzog  Albrecht's 
ist  bedeutend  genug:  „Erdedauere  den  Tod  seines  Oheims  und  werde 
dessen  Tochter  in  Allern  getreu  bevormunden,  wenn  sie  seinen  Rath- 
schlägen  Gehör  schenken  wolle.  Kärnten  aber,  das  er  von  der 
Hand  des  Reiches  empfangen  habe,  wolle  er  nicht  heraus- 
geben, und  eben  so  wenig  Krain  das  er  nach  seinem  Rechte  genom- 
men hätte,  weil  die  Zeit  der  Verbindlichkeiten  verflossen  wäre1)- 
Der  Herzog  beruft  sich  also  für  Krain  aufsein  Resitzrecht,  für  Kärn- 
ten aber  auf  die  kaiserliche  Belehnung.  Wenn  ein  Vertrag  bestand, 
der  dein  Herzog  den  Rückfall  Kärntens  von  vornherein  sichern 
musste,  warum  berief  er  sich  nicht  darauf?  Wenn  es  zur  Zeit  Rudolfs 
von  Habsburg  vielleicht  nöthig  schien,  diesen  Vertrag  geheim  zu 
halten,  wozu  diese  Heimlichkeit  zur  Zeit  Albrecht's  des  Weisen,  wo 
sich  gar  kein  Grund  dafür  denken  lässt?  Vergleichen  wir  mit  diesen 
ausführlichen  Angaben  des  Johannes  Victoriensis  die  kürzeren 
Rerichte  der  übrigen  Quellen,  der  „ContinuatioNovimontensis"2),  des 


i)  Joh.  Vict.  6.  I.  B.  417. 

Albertus  dux  respondit:  se  dolere  et  totam  progeniem  de  raorte  avunculi,  eo  quod 
senior  stirpis  eorum  fuerit,  et  filiam  suam,  si  suis  intenderit  consiliis  in  omnibus 
tutaturum ;  sed  Karinthiam  manu  imperi  jam  susceptum,  nolle  diinittere,  nee  Carnio- 
lam,  (|iiam  suo  jure  eepisset,  oblig  ationis  suo  tempore  elapso;  ad  presens  etiam  non 
posse  aliud  respondere. 
2)  Cont.  Novim.  ap.  Perz.  monum.  I  im.  XI. 

133,'i  Eodem  anno  Heinrieus  dux  Karinthie  moritur  et  dueibus  Austrie  et  Stirie 
Alberto  et  Otloni  eadem  terra  a  supradicto  Ludbieo  seeundum  jura  imperialia 
confertur. 

14» 


212  Karl  Stoff  manu 


6 


„Chronicon  Zwettlense"  *)  und  des  „Albertus  Argentinensis"  2).  Alle 
Drei  berichten  einfach  die  Einverleibung  Kärntens  mit  Österreich,  ohne 
dafür  einen  andern  Grund  anzugeben,  als  eben  die  kaiserliche  Beleh- 
nung, ein  Umstand,  der  besonders  in  der  „ContinuatioNovimontensis" 
durch  den  Passus:  „Ludwig  verleihe  dieses  Land  den  österreichischen 
Herzogen  secundum  jura  imperialia",  nachdrücklich  hervorgehoben 
wird. 

So  ungünstig  demnach  die  Berichte  der  Quellen  für  die 
Steyrer'sche  Annahme  lauten,  eben  so  ungünstig  für  dieselbe  gestaltet 
sich  das  Zeugniss  der  über  jene  Verhältnisse  in  keineswegs  spärlicher 
Anzahl  vorliegenden  Urkunden. 

Ich  hebe  aus  diesen  vorzüglich  zwei  heraus,  in  denen  nothwendig 
einer  Bückfallsbedingung  Erwähnung  geschehen  müsste,  wenn  eine 
solche  überhaupt  existirt  hätte. 

Nämlich,  erstens  die  Urkunde  vom  26.  November  des  Jahres 
1330,  in  der  sieben  von  Ludwig  dem  Baier  bevollmächtigte  Schieds- 
richter den  Ausspruch  thun :  Daz  unser  über  vorgenannt  Herre  Cheiser 
Ludewig  von  Born  dem  obgenanten  Hertzog  Otten  von  Österreich,  von 
Styr  und  seinem  bruder  Hertzog  Albrechten  und  iren  Chinden  das 
Hertzentum  und  daz  land  Chernden  verschriben  solle  ze  lihen  an 
allen  furzuch,  wann  der  hochgeboren  furste,  Hertzog  Heinrich  von 
Chernden  abget  und  stirbet. 

Gerade  in  der  Urkunde  also,  in  der  Kärnten  den  österreichi- 
schen Herzogen  gewissermassen  zugesprochen  wird,  wäre  es  gewiss 
am  Platze  gewesen ,  sich  auf  den  Vertrag  zu  berufen ,  nachdem 
Kärnten  beim  Aussterben  des  Meinhartischen  Mannsstammes  an 
Österreich  fallen  musste.  Denn  wenn  ein  solcher  Vertrag  existirte, 
so  war  er  gewiss  geeignet  den  rechtlichen  Grund  für  den  sogenann- 
ten Schiedrichterspruch  abzugeben,  allein  wir  suchen  vergebens 
nach  einem  solchen,  und  wir  werden  später  sehen,  aufweichen 
Motiven  eigentlich  der  ganze  Ausspruch  der  Schiedsrichter  beruhte  3). 


1)  Chron.  Zwetlense. 

1334  Eodem  anno  Dax  Karinthie  obiit,  et  Karinthia  nostris  Ducibus  confertur. 

2)  Albert  Argent. 

Et  ecce  mortuo  duce  Karinthie  sine  filio  sola  ipsius  Bohemicorum. 

3)  Sowohl  die  Vollmacht  Ludwig's,  als  auch  derAusspruch  der  Schiedsrichter  findet  sich 
vollkommen  richtig-  abgedruckt  bei  Kurz  :  „Österreich  unter  Albrecht  dem  Weisen". 


Über  die  Vereinigung-  Kärntens  mit  Österreich.  213 

Die  zweite  höchst  wichtige  Urkunde  ist  der  Belehnungsbrief  den 
Kaiser  Ludwig  den  österreichischen  Herzogen  gab,  als  sie  1335 
Kärnten  wirklich  erhielten.  In  diesem  Belehnungsbriefe  heisst  es: 

Noverint  igitur  presentis  etatis  homines  et  future  quod  nos  pure 
fidei  ac  praeclare  devocionis  insignia,  quibus  illustres  Albertus  et 
Otto  fratres,  Duces  Austrie  ,  Principes  et  avunculi  nostri  dilecti  nos 
et  Romanum  Imperium  venerantur  ac  obsequia  fructuosa ,  quae  nobis 
et  imperio  exhibuerunt,  clare  nostre  mentis  intuitu  limpidius  intuen- 
tes  ipsis  videlicet  Ottoni  et  Alberto  Ducibus  predictis  eorumque  here- 
dibus  Ducatum  Karinthie  ex  nunc  nobis  et  Imperio  per  mortem 
illustris  Heinrici ,  quondam  ducis ,  itidem  avunculi  nostri  dilecti 
vacantem...  .contulimus  et  conferimus  in  feodum. 

Der  Kaiser  verleiht  also  den  Osten*.  Herzogen  Kärnten ,  weil 
es  ein  erledigtes  Reichslehen  ist,  secundum  iura  imperialia,  wie  es 
die  Continuat.  Novimont  treffend  bezeichnet;  anderer  Gründe  erwähnt 
er  nicht.  Nun  ist  aber  nicht  zu  übersehen,  dass  dieser  Schritt  des 
Kaisers  bei  einigen  Rcichsfürsten  auf  den  entschiedensten  Wider- 
spruch stiess,  dass  man  ihn  geradezu  als  einen  Act  der  ungerechte- 
sten Willkür  bezeichnete,  und  den  Kaiser  mit  den  härtesten  Vor- 
würfen nicht  verschonte.  WarnunLudwig  der  Baier  zu  dieser  Beleh- 
nung dadurch  bewogen  worden,  dass  er  Ansprüche  der  österreichi- 
schen Herzoge  für  gegründet  hielt,  dass  er,  wie  es  die  Anhänger  der 
Steyrer'schen  Hypothese  darstellen  wollen,  auf  jene  Rückfallsbedin- 
gung Rücksicht  nahm,  ja  sogar  die  Urkunde  sah,  in  der  diese  Bedin- 
gung enthalten  war,  warum  berief  er  sich  nicht  darauf,  um  so  alle 
Anschuldigungen  zu  Nichte  zu  machen,  in  dem  citirten  Belehnungs- 
briefe, oder  in  irgend  einer  der,  in  dieser  Angelegenheit  ausgestellten 
Urkunden  *)• 


*)  Wir  lieben  noch  folgende  besonders  hervor: 

1  Kaiser  Ludwig  lässt  dem  Konrad  von  Auffenstein  wissen,  dass  ihm  und  dem  Reich 
Kärnten  ledig  geworden,  und  dass  er  es  den  Herzogen  von  Österreich  verliehen  habe; 
daher  solle  Auffenstein  diesen  gehorchen.  Linz,  2.  Mai  1335.  Abgedruckt  im  Anhange. 

2.  Kaiser  Ludwig  erlässt  denselben  Befehl  an  die  Herren,  Städte  und  Landlcute  in 
Kärnten.  Linz,  5.  Mai  1335.  Mitgetheilt  hei  Steyrer,  com.  col.  87. 

3.  Herzog  Otto  verspricht  in  sein  und  seines  Bruders  Namen  dem  Kaiser  beizustehen 
gegen  Johann  von  Böhmen.  „Wann  unser  über  herre  ....  uns  und  nnserm  üben 
bruder  ....  verlihen  hat  das  Herzentum  ze  Chernden,  ....  das  ihm  und  dem  rieh 
von  unserm  oheim  ....  ledig  worden  ist."  Mitgetheilt  von  Fischer,  kleine  Schriften, 
I.  pag.  261. 


214  Karl  Stögmann. 

Ich  glaube  demnach  durch  die  Prüfung-  der  Quellen  und  Urkun- 
den genügend  nachgewiesen  zu  haben,  dass  man  sowohl  zur  Zeit 
Rudolfs  von  Habsburg,  als  zur  Zeit  Albrecht  des  Weisen  ganz  und 
gar  nichts  davon  wusste,  dass  Kärntens  Rückfall  an  Österreich  ver- 
tragsmässig  bedungen  wäre.  Es  bleibt  mir  also  nur  noch  übrig  zu 
zeigen,  auf  welche  Basis  Steyrer  seine  Hypothese  gründete,  und  wel- 
cher Werth  den  Gründen  beizumessen  sei,  mit  denen  Kurz  und  Lich- 
nowsky  ihre  Ansicht  zu  beweisen  suchten. 

Steyrer  der,  wie  bemerkt,  der  Erste  diese  Hypothese  in  die 
Geschichte  einführte,  berief  sich  dabei  auf  ein,  damals  und  auch  jetzt 
noch,  nur  im  Manuscript  vorhandenes  Werk,  die  Historia  Austriaca  des 
Guilimannus.  Schon  die  späte  Zeit  der  Abfassung  dieses  Werkes 
(das  Jahr  1617  ist  als  das  Vollendungsjahr  angegeben)  hätte  ver- 
hindern sollen,  dasselbe  als  eine  Quelle  zu  benützen.  Ein  näheres 
Eingehen  auf  das  Manuscript  welches  zuSteyrer's  Zeit  in  der  ßiblio- 
theca  Thanhauseriana  zu  Innsbruck  lag,  derzeit  aber  im  k.  k.  geh. 
Archiv  sich  befindet,  hätte  das  Vertrauen  in  die  Glaubwürdigkeit  des- 
selben noch  mehr  vermindern  müssen. 

Von  Bewältigung  des  Stoffes,  scharfsinniger  Kritik  oder  geisti- 
ger Erfassung  des  Materials  ist  bei  dem  fraglichen  Werke  wenig 
zu  finden.  Aber  dem  Verfasser  stand  als  Bibliothekar  zu  Innsbruck 
eine  nicht  geringe  Anzahl  von  Urkunden  zu  Gebote.  Dort  wo  er 
solche  benützte,  verdient  er  Glauben;  ganz  unzuverlässig  ist  er,  wo 
Urkunden  fehlen.  Quellenstudien  mangeln  ihm  beinahe  völlig;  wo  er 
eine  Quelle  benützt,  lässt  er  sich  nicht  selten  verleiten,  Zusätze  zu 
machen,  oder  Folgerungen  ganz  eigenmächtiger  Art  als  Thatsachen 
auszugeben,  so  wie  er  denn  mitunter  auch  Histörchen  erzählt,  die  in 
ihrer  vollkommenen  Unsinnigkeit  lebhaft  an  die  Gesta  Francorum 
erinnern. 


Ferner  liegen  an  Urkunden  vor:  Das  Bündniss  Kaiser  Ludwig's  mit  den  Herzogen 
gegen  Johann  von  Böhmen  (Steyrer,  col.  85)  ;  das  Bündniss  der  Herzoge  mit  Ludwig 
von  Brandenburg  und  den  Herzogen  von  Baiern  (Fiseher,  kl.  Sehr.  I.  265)  ;  das  Ge- 
genbündniss  der  baierischen  Herzoge  (Steyrer,  col.  88);  zwei  Bündnisse  mit  Erz- 
bisehof  Friedrich  von  Salzburg  (Steyrer,  col.  89) ;  die  drei  Urkunden,  in  denen  König 
Johann  und  sein  Sohn  Karl  auf  Kärnten  verzichten  (Steyrer) ;  endlich  die  Urkunde, 
in  der  die  Aut'fensteine  die  Herzoge  von  Österreich  als  Herren  von  Kärnten  anerkennen 
(folgt  im  Anhange). 

Alle  diese  Urkunden  bieten  der  genauesten  Prüfung  nicht  den  geringsten  Anhalts- 
punct  für  die  Steyrer'sche  Hypothese. 


Über  die  Vereinig-ung  Kärntens  mit  Österreich.  £\ö 


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Auch  in  Betreff  unserer  Frage  hat  Guilimann  viele  Urkunden  vor 
sich  gehabt,  Er  gibt  den  Belehnungsbrief  von  1286  beinahe  wört- 
lich; er  kennt  den  Landauer,  den  Pressburger  Vertrag,  so  wie  den 
Ausspruch  der  Schiedsrichter.  Er  ist  der  einzige  Geschichtsschrei- 
ber der  die  Zusammenkunft  zu  Augsburg  1330,  die  Ernennung  der 
Schiedsrichter  und  ihren  Ausspruch  berichtet.  Die  gleichzeitigen 
Quellen  wissen  nichts  von  diesen  geheimen  Verhandlungen;  Gui- 
limann erzählt  Alles  nach  den  ihm  vorliegenden  Urkunden.  Von 
Quellen  hat  er  benützt:  die  vitaCaroli  IV.,  den  Johannes  Vitoduranus, 
für  die  frühere  Zeit  die  Reimchronik  des  Ottakar ,  aus  der  er  die 
ganze  Darstellung  der  Belehnung  von  1282  mit  allen  ihren  Unrich- 
tigkeiten abgeschrieben  hat.  Die  beiden  Hauptquellen  für  unsere 
Frage,  den  Joh.  Victoriensis  und  den  Peter  von  Königssaal  hat  er 
nicht  gekannt. 

Unter  einem  ziemlich  confusen  Gemisch  von  wahren,  halbwah- 
ren und  falschen  Angaben  findet  sich  auch  die  Stelle  die  später 
Steyrer  so  verbreitet  hat.  Herzog  Otto  kommt  zu  Augsburg  mit  Lud- 
wig zusammen,  und  nun  heisst  es  weiter:  Igitur  non  solum  ex  com- 
pacto  inter  utrumque  Ottonis  et  Margaritae  avum  Rudolfum  Caesarem 
et  Meynradum,  Carinthiae  Ducem  primum  Otto  Carinthiae  ducatum 
sibi  et  posteris  vindicavit,  sed  legibus  quoque  Romani  Regni,  quibus 
a  Principatibus  foeminae  excluduntur,  et  Carinthiam  ea  conditione 
Meginrado  Rudolfum  tradidisse  ostendebat,  ut  nulla  deinceps  proge- 

nie  superstite  maribus  Austriacis  illa  cederet Imperator  tarnen, 

veluti  hoc  modo  invidiam   declinaturus  totum  de   Carinthiae   ducatu 
negotium  arbitris  commisit. 

Aus  einer  alten  Quelle  hat  Guilimann  diese  Nachricht  nicht, 
denn,  wie  nachgewiesen,  wissen  die  Quellen  nichts  dem  Ähnliches; 
aus  einer  besonderen  Urkunde  hat  er  sie  gleichfalls  nicht,  denn  er 
der  so  viele  ihm  bekannte  Urkunden  wörtlich  oder  im  Auszuge  mit- 
theilt, würde  auch  diese,  mit  der  er  eine  sonst  nirgends  gegebene 
Thatsache  erweisen  konnte,  mitgetheilt,  oder  doch  mindestens  sich 
darauf  berufen  haben. 

Wie  er  aber  zu  dieser  seiner  Ansicht  gekommen,  ist  unschwer 
einzusehen.  Er  hatte  den  Ausspruch  der  sieben  Schiedsrichter  vor 
sich,  nach  welchem  Kärnten  an  Österreich  fallen  sollte,  wenn  Herzog 
Heinrich  stürbe.  Einen  Grund  für  diesen  sonderbaren  Ausspruch  fand 
er  weder   in  der  betreffenden  Urkunde ,  noch  anderswo  angegeben. 


216  Karl  Stögmann. 

Und  indem  er  nun  nach  einem  Grunde  suchte,  fiel  er  auf  die 
bekannte  Annahme  die  sich  freilich  nur  in  seiner  Phantasie  gebildet 
hatte,  die  aber  doch  den  mysteriösen  Schiedsrichterspruch  aufs  Ein- 
fachste erklärte. 

Wir  haben  es  also  hier  mit  nichts  Anderem  zu  thun,  als  mit  einer 
ununterstützten  Hypothese  eines  Schriftstellers  aus  dem  17.  Jahr- 
hundert. Diese  Hypothese  Hess  Steyrer  gelten,  wie  eine  Quellen- 
angabe, und  statt  dass  man  ihre  Richtigkeit  und  Glaubwürdigkeit 
untersucht  hätte ,  nahm  man  sie  fortwährend  als  den  Hauptbeweis 
selbst,  wobei  man  sich  dann  so  recht  im  eigentlichen  Cirkel  bewegte 
und  das  zu  Beweisende  immer  als  ß  e  w  e  i  s  anführte. 

Der  Bericht  des  Guilimann  blieb  fortwährend  der  Hauptbeweis 
für  die  Steyrer'sche  Hypothese;  doch  wurden  daneben  noch  zwei 
andere  Gründe  aufgebracht,  beide  von  Kurz  in  seinem  schon  citirten 
Werke.  Kurz  beruft  sich  nämlich  zuerst  auf  eine  Stelle  beim  Peter 
von  Königssaal,  Chronicon  Aulae  Regiae,  I,  p.  487.  Austriae  Duces 
quaedam  privilegia  produxerunt ,  per  quae  se  habere  ad  Ducatum 
Carinthiae  jus  ostenderunt.  Auch  Lichnowsky  urgirt  diese  Stelle  mit 
dem  Bemerken :  Wenn  der  Abt  von  Königssaal  Recht  habe,  so  müss- 
"ten  solcbe  Privilegia,  Verträge  zwischen  Rudolf  oder  Albrecht  von 
Habsburg  vorhanden  gewesen  sein ,  die  den  österreichischen  Herzo- 
gen den  Rückfall  Kärntens  zusicherten,  die  aber  jetzt  verloren  seien. 
Allein  man  kann  die  Wahrheit  der  von  dem  immer  vorzüglich  unter- 
richteten Abte  mitgetheilten  Nachricht  zugeben,  ohne  desshalb  die 
Consequenz  daraus  zu  ziehen,  die  Lichnowsky  gezogen  hat,  wenn 
man  nur  berücksichtigt ,  zu  welchem  Jahre  sich  diese  Stelle  im 
Chron.  Aul.  Reg.  findet.  Peter  von  Königssaal  spricht  sie  aus  zum 
Jahre  1335,  mortuo  duce  Henrico.  In  diesem  Jahre  hat  aber  die 
Stelle  ihre  volle  Richtigkeit,  denn  in  diesem  Jahre  hatten  die  Her- 
zoge von  Österreich  bereits  ganz  sichere  Urkunden  die  den  Kaiser 
Ludwig  verpflichteten ,  ihnen  Kärnten  zu  verleihen.  Sie  durften  ja 
nur  den  Ausspruch  der  Schiedsrichter  vom  26.  November  1330  vor- 
weisen, und  eine  zweite  Urkunde  vom  23.  November  desselben  Jahres, 
in  der  sich  Kaiser  Ludwig  feierlichst  verpflichtet  hatte  den  Aus- 
spruch der  Schiedsrichter  zu  erfüllen.  Dies  sind  also  die  Privilegia 
von  denen  Peter  von  Königssaal  spricht,  und  man  hat  bei  seiner  Nach- 
richt weder  Ursache  sie  zu  leugnen,  noch  auch  Urkunden,  von  deren 
Existenz  Niemand  weiss,  damit  in  Verbindung  zu  bringen. 


Über  die  Vereinigung'  Kärntens  mit  Österreich.  21  t 

Einen  zweiten  Beweis  hat  Kurz  in  der  Stelle  der  Friedens- 
urkunde  finden  wollen,  in  der  die  österreichischen  Herzoge  1336,  im 
Ennser  Vertrage  auf  Tirol  Verzicht  leisten.  Die  Stelle  lautet:  Renun- 
ciamus  expresse  omni  juri  et  actioni  si  quod  velsi  quae  nobis  aut 
dictis  heredibus  et  successoribus  nostris  in  comitatu  Tyrolis  ex  tra- 
ditione  Heinrici  avunculi  nostri  collatione  infeodatione,  confirmatione 
quorum  cumque  Imperatorum  vel  Regurn,  aut  successione  juris  hae- 
reditarii  competebant.  Kurz  bezieht,  gewaltthätig  genug,  was  hier 
von  Tirol  gesagt  wird,  auf  Kärnten  und  meint,  es  Hesse  sich  daraus 
die  Folgerung  ziehen,  dass  Rudolfs  Söhne  nicht  ohne  alle  Anwart- 
schaft auf  Kärnten  Verzicht  gethan.  Der  ganze,  auf  Schrauben 
gestellte  Beweis  zerfällt  in  Nichts,  wenn  man  bedenkt,  dass  die 
beweisende  Stelle  nichts  Anderes  ist,  als  eine  allgemeine,  sehr 
gebräuchliche  Vertragsformel  mit  der  man  eben  jeder  nur  möglichen 
Spitzfindigkeit  zuvorkommen  wollte.  Zum  Beweis  vergleiche  man 
die  Urkunde,  in  der  Johann  von  Böhmen  bei  demselben  Friedens- 
schlüsse auf  Kärnten  Verzicht  leistet.  Dort  findet  sich  wörtlich 
dieselbe  Stelle;  es  würde  sich  mithin  Alles  was  man  daraus  für  die 
Herzoge  von  Österreich  deduciren  wollte,  auch  für  Johann  von  Böh- 
men deduciren  lassen,  was  also,  wenn  man  aus  dieser  Stelle  ein  auf 
Rudolf  von  Habsburg  zurückgehendes  Recht  ableiten  zu  können 
glaubt,  in  Bezug  auf  Johann  zu  einer  offenen  Absurdität  führen 
musste. 

Welcher  Art  sind  also  die  Beweise  Steyrer's  und  seiner  Anhän- 
ger? Eine  schlecht  ersonnene  Hypothese  eines  Schriftstellers  aus 
dem  17.  Jahrhunderte,  eine  falsch  verstandene  und  mit  vorgefasster 
Meinung  ausgelegte  Stelle  des  Peter's  von  Königssaal,  und  eine  Urkun- 
denstelle deren  gezwungene  Auffassung  ins  Absurde  führt.  Halten 
wir  diese  Beweise  zusammen  mit  Allem  was  früher  gesagt  worden, 
so  können  wir  mit  Bestimmtheit  die  Ansicht  aussprechen,  dass  ein 
Rückfall  Kärntens  an  Österreich  niemals  bedungen  worden ,  und 
dass  die  Annahme  eines  solchen  nur  auf  einem  willkürlichen  Ver- 
suche späterer  Schriftsteller  beruht ,  dadurch  die  Erwerbung  Kärn- 
tens für  Österreich  zu  erklären  *)• 


*)  Ein  einziger  Geschichtsschreiber,  Hassler,  hat  auch  von  einem  Erbrechte  der  öster- 
reichischen Herzoge  auf  Kärnten  gesprochen,  und  dies  aus  der  Vermählung  Albrecht's 
von  Habsburg  mit  Elisabeth,  Meinharfs  Tochter,  herleiten  wollen.  Allein,  Kärnten  war 


Z  1  O  Karl  Stögmann. 

Indem  mir  nun  dieselbe  Aufgabe  übrig  bleibt,  nämlich  zu  zeigen, 
welche  Verhältnisse  eigentlich  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Öster- 
reich herbeiführten,  wende  ich  mich,  um  diese  Frage  zu  lösen,  zu 
dem  letzten  Theile  der  Abhandlung. 


III. 

Die  neue  Herrscherfamilie  die  Rudolf  von  Habsburg  dem  Lande 
Kärnten  durch  die  Belehnung  Meinhart's  von  Tirol  gegeben  hatte, 
sollte  sich  des  neuen  Zuwachses  ihrer  Macht  nicht  lange  erfreuen. 
Von  Meinhart's  vier  Söhnen  starb  Albrecht  schon  vor  dem  Vater, 
Ludwig  im  Jahre  1305,  Otto  fünf  Jahre  später  *)•  Und  so  wie  diese 
Drei  völlig  kinderlos  geblieben  waren,  so  hatte  auch  der  vierte  Sohn 
Heinrich  aus  seiner  ersten  Ehe  mit  Anna  von  Böhmen  keine  Kinder, 
aus  der  zweiten  mit  Adelheid  von  Braunschweig  nur  zwei  Töchter, 
die  nachmals  so  berühmte  Margaretha  Maultasche  ~),  und  eine  zweite 
Tochter  deren  Name  sich  nicht  angegeben  findet3).  Dadurch  aber 
war  Kärnten  das  als  ein  reines  Mannslehen  in  weiblicher  Linie 
nicht  vererbt  werden  konnte ,  binnen  der  kurzen  Zeit  von  vierzig 
Jahren  abermals   auf  den   Punct  gelangt,  ein  erledigtes  Lehen  zu 


kein  Weiberlehen;  daher  besass  auch  Elisabeth  kein  Erbrecht,  konnte  also  auch  keines 
vererben.  Die  Quellen,  .loh.  Victor,  und  Peter  von  Königssaal  sagen  wohl,  dass  sich 
die  österreichischen  Herzoge  auf  ihre  Abstammung  mütterlicherseits  beriefen.  Dies 
mag  seine  Richtigkeit  haben  ,  denn  es  war  in  jener  Zeit  schon  etwas  gewöhnliches, 
dass  die  Agnaten  Ansprüche  auf  die  erledigten  Lehen  erhoben.  Diese  Ansprüche  wur- 
den oft  berücksichtigt;  sie  mussten  aber  nicht  berücksichtigt  werden.  Kaiser  Ludwig 
konnte,  abgesehen  von  allen  andern  Verhältnissen,  Kärnten  wem  immer  verleihen, 
ohne  ein  Recht  der  österreichischen  Herzoge  damit  zu  verletzen.  Die  Ansprüche  der 
Agnaten,  so  oft  und  so  mächtig  sie  auch  damals  schon  auftauchten,  hatten  noch  keine 
gesetzliche  Geltung. 
!)  Chron.  Stamsense.  ad  annos  1292,  1303,  1310,  ap.  Böhmer,  Fontes  I. 

2)  Es  ist  viel  darüber  gestritten  worden,  welche  von  den  Frauen  Heinrich's  Marga- 
retha's  Mutter  gewesen  und  wann  diese  Princessinn  geboren  worden.  Ein  vortrefflich 
geschriebener  Aufsatz:  „Berichtigung  einer  Stelle  in  Karl's  IV.  Selbstbiographie", 
abgedruckt  im  7.  Bande  der  Beiträge  zur  Geschichte  etc.  von  Tirol,  Innsbruck, 
1832,  hat  gründlich  nachgewiesen,  dass  Margaretha  die  Tochter  Anna's  von  Braun- 
schweig, nicht  Annas  von  Böhmen  gewesen  und  1318  oder  1319  geboren  worden. 

3)  Die  Existenz  dieser  zweiten  Tochter  Heinrich's  hat  Steyrer  nachgewiesen.  Coronini 
gibt  ihr  den  Namen  Adelheid,  wohl  nur,  weil  er  sie  mit  einer  unehelichen 
Tochter  Heinrich's,  Adelheid  de  Ruffiano  verwechselt.  Die  letzte  Erwähnung  dieser 
namenlosen  Princessinn  findet  sich  1342;  wann  und  wo  sie  gestorben,  ist  unbekannt. 


Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  i  1  9 


'ou"e 


werden;  um  von  dem  Willen  des  Kaisers  einen  neuen  Herrscher  zu 
erhalten. 

Die  voraussichtliche  Erledigung  eines  so  wichtigen  Landes 
musste  nothwendig  alle  Parteien  auf  den  Kampfplatz  rufen  ,  die  in 
irgend  einer  Weise  auf  die  Erwerbung  desselben  hoffen  konnten. 
Wohl  mochten  die  Grafen  von  Görz,  die  Söhne  von  Meinhart's  Bru- 
der Albrecht,  derartige  Hoffnungen  hegen  J)  ,  sie  traten  aber  bald 
zurück  vor  zwei  an  Macht  und  Bedeutung  weit  überlegenen  Rivalen, 
den  Herzogen  von  Österreich  und  dem  König  von  Böhmen. 

Es  fehlte  wahrlich  nicht  an  Gründen  die  die  Herzoge  von 
Österreich  dazu  bringen  mussten,  an  die  Erwerbung  Kärntens  zu 
denken.  Rudolf  von  Habsburg  hatte  die  Idee  der  Gründung  einer 
österreichisch -habsburgischen  Macht  seinen  Nachkommen  hinter- 
lassen, die  consequente  Durchführung  dieser  Idee  verlangte  die 
Vereinigung  Kärntens  mit  den  übrigen  österreichischen  Ländern. 
Dies  Herzogthum  grenzte  an  Steiermark;  die  Herzoge  von  Österreich 
hatten  sich  genöthigt  gesehen,  ihr  Krain  an  die  Fürsten  Kärntens 
zu  verpfänden;  in  Kärnten  selber  besassen  sie  Besitzungen.  Nur 
ungern  hatte  Rudolf  von  Habsburg  dieses  Land  von  den  übrigen 
ottakarischen  Besitzungen  getrennt,  und  nicht  absichtslos  war  die 
Bestimmung  getroffen  worden,  dass  die  Herzoge  von  Österreich  die 
Güter  und  Rechte  der  ehemaligen  babenbergischen  Fürsten  in  Kärn- 
ten behalten  sollten. 

So  hatten  sie  festen  Fuss  im  Lande  gefasst,  was  ihnen  bei 
einer  allfallsigen  Ledigwerdung  desselben  immer  nur  förderlich  sein 

konnte. 

Mehr  als  Alles  drängte  die  Herzoge  zu  den  äussersten  Anstren- 
gungen um  den  Besitz  von  Kärnten,  der  gefährliche  Mitbewerber 
den  sie  in  der  Person  Johann's  von  Böhmen  gefunden  hatten.  Die 
Rivalität  der  Häuser  Habsburg  und  Luxemburg  war  bereits  eine  ent- 
schiedene Thatsache.  Gerieth  Kärnten  in  die  Gewalt  des  Böhmen- 
königs ,  so  war  dies  eine  Niederlage  für  Österreich.  Der  Streit  um 
Kärnten  bildete  nur  ein  Moment  in  dem  für  Österreichs  Geschick  so 
entscheidenden  Kampf  der  Habsburger  und  Luxemburger    und  die 


x)  Ich  schliesse  dies  aus  einer  Stelle  des  Peter  von  Königssaal,  p.  420,  wo  er  über 
die  Heirath  Johann's  mit  Margarethen  spricht:  „Displicet  autem  haec  copula  Ausliic 
et  quibusdam  aliis  Principibus,  quia  ex  consanquinitate  habere  in  Chorinthia  se 
asserunt  pinqius  jus  et  majus. 


220  Karl  Stögmänn. 

Erwerbung  Kärntens  war  für  Österreichs  Fürsten  eine  politische 
Notwendigkeit  geworden.  Der  Streit  der  sich  demnach  notwen- 
dig entspinnen  musste,  wurde  aber  noch  verwickelter  durch  die 
schwankende  Stellung  die  Kaiser  Ludwig  der  Baier,  von  dem  doch 
endlich  die  Entscheidung  des  Ganzen  abhing,  in  dieser  Sache  ein- 
nahm. An  ihn,  als  den  obersten  Lehensherrn,  musste  das  erledigte 
Kärnten  zurückfallen ,  und  da  weder  König  Johann  noch  die  Herzoge 
von  Österreich  irgend  ein  vollgiltiges  Recht  auf  dieses  Land  aufwei- 
sen konnten,  das  den  Kaiser  bei  der  Vergabung  bestimmen  musste, 
so  lag  es  ganz  in  seiner  Gewalt ,  wem  er  das  Lehen  zusprechen 
wollte.  Allein  Ludwig  war  nicht  der  König  der  nach  unumschränk- 
ter Machtvollkommenheit  entscheiden  konnte.  Immer  durch  die  Ver- 
hältnisse zum  Anschluss  an  eine  Partei  gezwungen ,  brachte  er  es 
nie  dahin  ,  über  den  Parteien  zu  stehen.  Es  war  vorzüglich  seine 
leidige,  kraftlose  Opposition  gegen  den  päpstlichen  Stuhl,  in  die  er 
gewissermassen  hineingedrängt  worden,  die  ihm  fortwährend  die 
Hände  band.  Diese  Stellung  gegen  den  Papst  ward  ihm  bald  im 
äussersten  Grade  unbequem ;  er  suchte  ihrer  los  zu  werden  um  jeden 
Preis  ;  sein  Bestreben  aber  einen  Vermittler  zu  diesem  Zwecke  zu 
finden ,  brachte  in  sein  ganzes  Benehmen  etwas  Schwankendes, 
Haltloses. 

Er  wandte  sich  abwechselnd  bald  an  den  Einen,  bald  an  den 
Andern,  durch  den  er  seine  Absichten  erreichen  zu  können  hoffte, 
opferte  aber  auch  regelmässig  die  Interessen  des  frühern  Bundes- 
genossen denen  des  spätem.  Aufsein  Benehmen  in  der  kärntnerischen 
Angelegenheit  hatte  dies  den  höchsten  Einfluss.  Hätte  Ludwig 
gekonnt,  wie  er  eigentlich  wollte,  sicher  hätte  er  Kärnten  in  ein 
Besitzthum  seines  eigenen  Hauses  verwandelt1)-  Allein  obwohl  diese 
Absicht  aus  allen  seinen  Handlungen  hervorleuchtete,  seine  gefähr- 
dete Stellung  Hess  ihn  nicht  dazu  kommen,  sie  geradezu  auszuspre- 
chen und   offen  zu  verfolgen.    So   schwankte  er  zwischen   beiden 


i)  Will  man  dies  recht  deutlich  sehen ,  so  vergleiche  man  Ludwig's  spätere  Hand- 
lungsweise. Am  26.  Februar  1342  belehnte  er  seinen  Sohn  Ludwig,  den  Gemahl  der 
Margaretha  Maultasche,  mit  Kärnten,  da  Margaretha  nie  auf  dieses  Land  verzich- 
tet habe.  Dies  that  Ludwig  trotzdem  er  im  Jahre  1335  ein  Recht  der  Margaretha 
auf  Kärnten  nicht  anerkannt  und  das  Land  den  österreichischen  Herzogen  ver- 
liehen hatte.  Er  suchte  eben  1342  zu  nehmen,  was  er  1335  nicht  hatte  nehmen 
können.  (Vergl.  Böhmer.  Regest.  Ludw.,  S.  140.) 


Über  die  Vereinigung-  Kärntens  mit  Österreich.  221 

Parteien  hin  und  her,  wandte  sich  bald  dein  König  von  Böhmen,  bald 
den  Herzogen  zu,  wie  ihn  eben  die  Umstände  drängten,  und  zeigte 
sich  dabei  unzuverlässig  und  treulos  gegen  beide  Parteien. 

Den  Streit  um  Kärnten  eröffnete  König  Johann.  Er  fasste  den 
Plan,  dieses  Land  zu  einem  Besitzthum  seines  Hauses  zu  machen  in 
einer  Zeit,  in  der  die  Aufmerksamkeit  der  österreichischen  Herzoge 
auf  ein  höheres  Ziel,  auf  die  Erwerbung  der  deutschen  Krone  gerich- 
tet war.  Und  obwohl  Heinrich  von  Kärnten  durch  Johann  von  dem 
böhmischen  Throne  nicht  ohne  grosse  persönliche  Schmach  war  ver- 
drängt worden,  und  desshalb  mit  Recht  von  Allen  für  einen  unver- 
söhnlichen Gegner  des  Böhmenkönigs  gehalten  wurde,  so  gründete 
dennoch  König  Johann  dessen  abenteuerliche  Natur  das  Paradoxe 
auch  in  der  Politik  zu  lieben  pflegte,  seinen  Plan  darauf,  gerade  durch 
Heinrich  selbst  sich  den  Weg  zur  Erwerbung  Kärntens  zu  bahnen. 
Der  erste  Versuch  einer  Annäherung  geschah  1321.  Johann  von  Böh- 
men und  Heinrich  von  Kärnten  hatten  eine  Zusammenkunft  zu  Pas- 
sau. Mit  seinen  eigentlichen  Absichten  hervorzurücken  konnte  dem 
Könige  kaum  räthlich  erscheinen;  denn  Heinrich  dessen  Gemahlinn 
Agnes  von  Braunschweig  im  vorhergehenden  Jahre  gestorben  war, 

■  ohne  ihm  einen  männlichen  Erben  hinterlassen  zu  haben,  dachte  nun, 
um  diesen  seinen  Lieblingswunsch  doch  vielleicht  verwirklicht  zu 
sehen,  au  eine  dritte  Ehe.    Dem  König  Johann  konnten   derlei  Pläne 

I  nicht  erwünscht  kommen,  aber  er  hielt  es  für  räthlicher  scheinbar 
darauf  einzugehen,  und  unter  dem  Scheine  der  eifrigsten  Beförde- 
rung an  ihrer  Hintertreibung  zu  arbeiten.  Er  schlug  demnach  dem 
Herzog  seine  Schwester  Maria  von  Luxemburg  die  seit  dem  Jahre 
1318  in  Böhmen  erzogen  wurde,  zur  Gemahlinn  vor,  und  gab  auch 
bald  darauf  zu  Eger  Ludwig  dem  Baier  ausdrückliche  Vollmacht,  eine 
Ehe  zu  bereden  zwischen  Heinrich  von  Kärnten  und  Maria  von 
Luxemburg,  zugleich  aber  auch  zwischen  Wenzel  (Karl)  von  Böhmen 
und  Margaretha  der  Tochter  des  Kärntners  j).  Allein  die  schöne 
Maria  weigerte  sich  die  dritte  Gemahlinn  des  nicht  mehr  jugendlichen 
Exkönigs  von  Böhmen  zu  werden  ,  und  Johann  der  eine  Ehe  Hein- 
rich's  unmöglich  wünschen  konnte,  sondern  nur  Zeit  zu  gewinnen 
suchte,  mag  wohl  auch  nicht  besonders  in  sie  gedrungen  haben.    Die 


i)  Die  Urkunde  hierüber  im  Extract  bei  Oefele,  Scrpt.  rer.  15oie.  t.  II.  p,  137. 


222  Karl  Stög mann. 

Weigerung  der  Princessinn  wurde  mit  einem  religiösen  Gelübde  ent- 
schuldigt, und  sie  vermählte  sich  im  nächsten  Jahre  mit  König  Karl 
von  Frankreich  J). 

Allein  Heinrich  gab  darum  seine  Heirathspläne  keineswegs  auf, 
und  König  Johann  zauderte  auch  nicht,  noch  einmal  seine  Hand  dazu 
zu  bieten.  Im  Jahre  1324  sandte  er  die  beiden  Herren  Arnold  von 
Pittingen  und  Bernard  von  Chimburk  nach  Kärnten2),  um  eine  Ehe 
zu  bereden  zwischen  Herzog  Heinrich  und  Beatrix  von  Gaspavia 
(Gaesbecke),  der  Muhme  König  Johanns,  der  Tochter  seiner  Vaters- 
schwester Felicitas  3).  Die  durch  die  beiden  Abgesandten  geführten 
Unterhandlungen  erzielten  die  wichtigsten  Resultate.  Johann  von 
Böhmen  und  Heinrich  von  Kärnten  schliessen  am  Montag  nächst 
Peter  und  Paul  ewigen  Frieden  und  Freundschaft.  Johann  gibt  dem 
Heinrich  zur  Gemahlinn  seine  „lib  Mumen  Jungfrawen  Beatrisen,  die 
geboren  ist  von  Prabant  und  von  Lutzelburch". 

Ebenso  heirathet  Johann's  Sohn  dessen  Name  nicht  genannt  ist, 
eine  Tochter  Herzog  Heinrich's.  Stirbt  König  Johann,  so  wird  der 
Herzog  „Phleger  und  fürmunt"  der  Kinder  bisdass  sie  „zu  iren  tagen 
komment".  Herzog  Heinrich  vermacht  seiner  Tochter  „die  des 
Königs  Sohn  heirathen  wird"  das  Land  zu  Kärnten.  Bekömmt  Her- 
zog Heinrich  aber  Söhne,  so  soll  das  Vermähtniss  ungiltig  sein  und 
soll  seine  Tochter  erben  ,  wie  seine  andere  Tochter.  Stirbt  der 
Herzog,  so  soll  der  König  der  Kinder  „gerhab  und  fürmunt"  sein. 
König  Johann  ersetzt  dem  Herzog  den  grossen  Schaden  den  er  von 
ihm  und  dem  „LandezuPehaim"  genommen,  worüber  der  Erzbischof 
von  Trier   und  der  Bischof  von  Trient  entscheiden  sollen.    Dafür 


l)  Die  Notiz  darüber  findet  sich  beim  Joh.  Victor  (B.  F.  I,  p.  390)  so  angegeben, 
dass  die  Versöbnung  Heinrich's  mit  Johann  ins  Jahr  1318  fallen  musste.  Die  eben 
citirte  Urkunde  ist  von  1321.  In  dasselbe  Jahr  muss  auch  die  Zusammenkunft  zu 
Passau  gestellt  werden,  denn  Agnes  von  Braunschweig,  Heinrich's  zweite  GemahlinD, 
starb  erst  1320,  wesshalb  Heinrich  unmöglich  schon  1318  an  eine  neue  Heirath 
denken  konnte. 

2)  Joh.  Vict.  B.  F.  1,  p.  390.    Die  Stelle  steht  wieder  bei  dem  Jahre  1318,  wohin  sie  | 
offenbar  nicht  gehört;    auch   stellt  statt  Arnold  von  Pittiugen,  welcher  Name  sich 
in  der  Urkunde  findet,  Johannes  de  Pittingen. 

3)  König  Johann's  Vater  hatte  drei  Schwestern,  von  denen  sich  nur  eine,   Felicitas,! 
vermählte,   mit  Jean  dict  Tristan  Sire  de  Lovain,   Gaesbecke  etc.    Aus  dieser  Ehe 
entspross  Beatrix,  die  1339  unverheirathet  starb.   Steyrer  verwechselt  diese  Beatrix j 
mit  Beatrix  von  Savoyen,  der  nachmaligen  Gemahlinn  Heinrich's.  (Vergl.  Böhmer. 
F.  I,  p.  390,  Anmerkung.) 


Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  ZZo 

verzichtet  Heinrich  auf  alle  Rechte  und  Ansprüche  die  er  von  Anna, 
seiner  seligen  Gemahlinn,  her,  auf  Böhmen  erhoben  hat  •)• 

Alles  mochte  in  diesem  Vertrage  dem  König  angenehmer  sein, 
als  die  Vermählung  zwischen  Heinrich  und  Beatrix.  Versprochen 
durfte  dem  Herzog  die  Braut  werden,  erlangen  durfte  er  sie  nicht; 
und  Johann  beeilte  sich  daher  durchaus  nicht,  diesen  Punct  des  Ver- 
trages zu  erfüllen.  Um  so  ungeduldiger  zeigte  sich  Herzog  Hein- 
rich der  den  König  nicht  wenig  gedrängt  haben  mag,  denn  schon 
im  Jahre  1325  stellte  Johann  eine  neue  Urkunde  aus,  in  der  er  „mit 
guter  Treue"  neuerdings  gelobte,"  ohne  allen  „aufzuch"  seine  liebe 
Muhme  von  Brabant  und  seinen  Sohn  Johann  (dieser  war  also  inzwi- 
schen zum  Bräutigam  bestimmt  worden)  nach  Innsbruck  zu  senden, 
„aufSanct  BartholomaeusTag."  Könne  er  selbst  sie  nicht  geleiten,  so 
solle  dies  sein  Schwiegersohn,  der  Herzog  von  Baiern,  thun  2)- 
Allein  der  Bartholomäustag  kam  und  ging,  und  die  „liebe  Muhme 
von  Prabant"  war  noch  immer  nicht  gekommen.  Wie  Johannes  Vic- 
toriensis  berichtet,  erklärte  die  Princessinn  Beatrix,  sie  wolle  die 
reichen  Ländereien  und  ihr  Geburtsland  auf  keinen  Fall  verlassen,  um 
in  ein  fremdes  Land  zu  ziehen. 

Bis  zum  Jahre  1326,  also  zwei  Jahre  lang,  gelang  es  dem  König 
den  Herzog  hinzuhalten ;  da  endlich  erschöpfte  sich  die  Geduld  des 
heirathslustigen  Heinrich  der  nun  darauf  dachte,  sich  nach  einer 
andern  Braut  umzusehen.  Bei  diesem  Wunsche  aber  kamen  ihm  nun 
die  österr.  Herzoge,  vorzüglich  Herzog  Albrecht  der  Weise,  entgegen, 
und  wir  stehen  somit  an  einem  Wendepuncte,  in  dem  nun  Österreich 
an  der  kärntnerischen  Erbschaftsfrage  sich  zu  betheiligen  anfängt. 

Die  österreichischen  Herzoge  hatten  ihr  ganzes  Streben  dahin 
gerichtet,  die  deutsche  Königswürde  für  Friedrich  zu  behaupten,  und 
darüber  waren  die  Vorgänge  in  dem  benachbarten,  ihnen  doch  so 
wichtigen  Kärnten  ganz  übersehen  worden.  Da  erkannte  zuerst 
Herzog  Albrecht,  für  dessenPolitik  es  bezeichnend  ist,  dasssieimmer 
das  Entfernte,  Weitaussehende  gegen  das  Näherliegende  zurück- 
stellte, die  grosse  Gefahr  die  aus  der  innigen  Verbindung  zwischen 


1)  Die  Urkunde  im  7.  Bande  der  Beiträge  zur  Geschichte  etc.  von  Tirol,  p.   204,  dann 
bei  Steyrer  col.  590. 

2)  Uie    Urkunde,    ausgestellt   zu    Innsbruck    1325,    am    Mittwoch   vor  Pfingsten,    im 
7.  Bande  der  Beiträge  etc.,  p.  209. 


224  Karl  St  ö  gm  an  n. 

einem  so  entschiedenen  Gegner  Österreichs  wie  Johann ,  und  einem 
so  lauen  Freunde  wie  Heinrich  entstehen  musste,  und  benutzte  dess- 
halb  die  von  dem  Böhmenkönig  nur  saumselig  und  wenig  aufrichtig 
geförderten  Heirathspläne  des  Kärntners,  um  so  durch  einen  dem 
wankelmüthigen  Heinrich  geleisteten  Dienst  die  Freundschaft  für 
Österreich  in  ihm  zu  erwecken,  und  König  Johann's  gefährliche 
Rivalität  zu  paralisiren. 

Es  wandte  also  Albrecht  das  Augenmerk  des  Herzogs  auf  Beatrix 
von  Savoyen ,  die  Tochter  des  Amadaeus  Magnus  und  der  Maria  von 
Brabant,  deren  Schwester  die  Gemahlinn  des  österreichischen  Her- 
zogs Leopold  gewesen  war.  Er  selbst  übernahm  es,  die  Sache  zu 
vermitteln,  und  eilte  im  Juli  des  Jahres  1326  mit  Vollmachten  der 
verwitweten  Herzogin n  von  Savoyen  und  ihres  Sohnes  versehen,  nach 
Innsbruck,  wo  er  mit  Herzog  Heinrich  den  Ehevertrag  abschloss  und 
sich  selbst  für  die  Auszahlung  der  auf  5000  Mark  festgesetzten  Mit- 
gift verbürgte1). 

Nichts  konnte  dem  Könige  Johann  unerwarteter  und  uner- 
wünschter kommen,  als  diese  Einmischung  Herzog  Albrecht's,  die  mit 
einemmale  alle  seine  Pläne  vernichten  konnte ;  aber  es  gelang  ihm 
vortrefflich  seine  Überraschung  und  seinen  Unmuth  zu  verbergen, 
und  zum  bösen  Spiel  gute  Miene  zu  machen.  Kaum  hatte  er  von  den 
Schritten  Herzog  Albrecht's  gehört,  so  sandte  er  einen  Brief  an 
Heinrich  von  Kärnten,  der  in  jeder  Beziehung  ein  Meisterstück 
diplomatischer  Feinheit  genannt  werden  muss. 

Der  König  versichert  in  diesem  Schreiben  den  Herzog  seiner 
„gantzen  Freundschaft,  sonderlichen  Lieb  und  Untertänigkeit";  er 
betheuert  bei  Gott  und  der  Wahrheit,  dass  er  ihm  seine  liebe  Muhme 
von  Grizbach  gern  zur  Frau  gegeben,  und  gehandelt  hätte,  wie  es 
zwischen  ihnen  „getaidingt"  worden.  Nun  habe  aber  sie  zu  allen  Zeiten 
vorgegeben,  dass  sie  keinen  Mann  auf  „aller  der  Welt"  nicht  nehmen 
wollte,  wie  sie  es  doch  zuvor  gelobt  hätte.  Da  nun  aber  er ,  König 
Johann,  vernommen  habe,  dass  Heinrich  seine  Muhme  von  Savoyen 


*)  Joh.  Vict.,  p.  391 ,  nennt  als  Heirathsvermittler  irrthümlich  den  Herzog  Leopold, 
der  am  letzten  Februar  1326  gestorben  war.  Über  den  Ehevertrag-  finden  sich  zwei 
Urkunden;  eine,  ausgestellt  von  Herzog  Albrecht  zu  Innsbruck  am  Zinstag  inch 
St.  Thomastag-,  ist  mitgetheilt  von  Steyrer,  col.  23 ;  die  andere,  ausgestellt  von 
Herzog  Heinrich  unter  selbem  Ort  und  Datum,  steht  im  7.  Bande  der  Beiträge  etc., 
p.  209. 


Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich«  225 

zur  ehelichen  Frau  nehmen  wolle,  so  vsei  er  darüber  von  Herzen  froh, 
indem  sie  nun  mit  aller  Freundschaft  bei  einander  bleiben  könnten. 
Auch  habe  er  auf  der  Stelle  Boten  nach  Savoyen  gesandt,  um  die 
Heirath  zu  beschleunigen,  demnach  möge  auch  der  Herzog  Heinrich 
seine  Boten  senden  auf  den  Tag  zu  Nürnberg  am  Sonntag  Reminis- 
cere  ,  wo  er  sich  mit  diesen  über  die  vorgenannte  Sache  gänzlich 
vereinigen  wolle,  wie  auch  über  das  Geld  das  er  ihm  geben  werde1). 

Man  sieht  es  aus  diesem  Briefe,  wie  gespannt  das  Verhältniss 
zwischen  Johann  von  Böhmen  und  Heinrich  sein  musste,  und  wie  es 
aller  Schlauheit  von  Seite  des  erstem  bedurfte,  um  einen  völligen 
Bruch  zu  verhüten.  Dieses  gelang  zwar:  doch  wann  und  wie,  lässt 
sich  nicht  angeben.  Die  gefährliche  Heirath  Heinrich's  kam  zu  Stande. 
Auf  dem  Tage  zu  Nürnberg  erschien  auch  weder  Johann  noch 
Boten  Heinrich's;  aber  am  Tage  des  heil.  Gallus  des  Jahres  1327 
sendet  der  König  seinen  Sohn  Johann  nach  Innsbruck,  was  entschie- 
den ein  gutes  Einvernehmen  und  ein  Fortbestehen  der  früheren  Ver- 
träge in  sich  schliesst  2). 

So  war  es  zwar  dem  König  gelungen,  die  alte  Freundschaft  mit 
Kärnten  zu  erneuern,  und  die  eigentliche  Absicht  Herzog  Albrecht's 
zu  vereiteln ;  seinem  letzten  Ziele  aber  stand  er  noch  ziemlich 
ferne.  Denn  was  ihm  auch  Heinrich  einseitig  und  eigenmächtig 
verbrieft  hatte,  es  konnte  nie  zur  rechtlichen  Geltung  gelangen,  so 
lange  die  Bestätigung  des  Reichsoberhauptes  fehlte.  Konnte  man 
aber  die  Einwilligung  des  Kaisers-  in  die  geschlossenen  Verträge 
erhalten,  dann  stand  freilich  ihrer  Durchführung  rechtlich  nichts 
mehr  im  Wege.  Allein  wie  wenig  Ludwig  der  Baier  Lust  hatte  die 
Macht  des  Hauses  Luxemburg  vergrössern  zu  lassen,  das  hatte  Johann 
bei  Gelegenheit  der  Erledigung  von  Brandenburg  gesehen,  demnach 
schien  es  wenig  Erfolg  zu  versprechen,  wenn  Johann  selbst  die  so 
wichtige  Bestätigung  nachsuchte.  Herzog  Heinrich,  noch  immer  von 
der  Hoffnung  belebt,  einen  männlichen  Erben  zu  erhalten ,  bemühte 
sich  anfangs  wenig  um  diese  Einwilligung  des  Kaisers;  als  aber  nach 
einer  zweijährigen  Ehe  mit  Beatrix  seine  Wünsche  keine  Erfüllung 
erlangt  hatten,  da  schien  es  ihm  endlich  Zeit,  seine  Lande  wenigstens 
seiner  Tochter  zu  sichern.    Eine  günstige  Gelegenheit  bot  sich  dar. 


1)  Der  Brief  im  7.  Bande  der  Beiträge  etc.,  p.  211. 

2)  Chronic.  Aul.  Reg.   ap.  Dobner,  tom  V,  p.  420. 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XIX.  Bd.  II.  Hft.  15 


cZCt  Karl  S  tögmann. 

als  Ludwig  der  Baier  Anfangs  Februar  des  Jahres  1330  auf  seinem 
Rückzuge  aus  Italien  nach  Meran  kam,  und  dort  mit  Herzog  Heinrich 
zusammentraf.  Es  ist  hedauernswerth,  dass  uns  kein  näherer  Bericht 
vorliegt  über  diese  merkwürdige  Zusammenkunft,  bei  der  keiner  der 
beiden  Fürsten  mit  seinen  eigentlichen  Absichten  hervortrat,  sondern 
jeder  den  andern  zu  täuschen  suchte.  Heinrich,  statt  offen  und  ehrlich 
vom  Könige  die  Bestätigung  der  mit  Johann  geschlossenen  Verträge 
zu  erbitten,  machte  Winkelzüge.    König  Johann's  Name  durfte  aus 
bekannten  Gründen  nicht  genannt  werden;  die  mit  ibm  geschlossenen 
Verträge  blieben  am   besten  ganz  verschwiegen.  Heinrich  verlangte 
vom  Kaiser  nur,   er  möge  Kärnten  in   ein  Weibslehen  verwandeln,  so 
dass  der  Besitz  des  Landes  auf  Heinrich's  Tochter  und  deren  allfall— 
sigen  Gemahl   übergehen  könne.    Alsbald  sehen  wir  nun  ein  neues 
höchst  wichtiges  Moment  auftauchen,  die  Betheiligung  Kaiser  Ludwig's 
an    der    kärntnerischen    Erbfolgeangelegenheit.      Die    von    Herzog 
Heinrich  gestellte  Bitte  bot  für    Ludwig  nicht  geringe   Aussichten. 
Warum  sollte  er  Heinrich's  schöne  Länder  nicht  so  leicht,  ja  noch 
leichter    erwerben   können,  als   ein  Anderer?    Wenn  Kärnten    und 
Tirol  an  Heinrich's  allfallsigen  Eidam  übergehen  sollten,  warum  konnte 
nicht  ein  Prinz  aus  Ludwig's  Familie  dieser  Eidam  werden?    dass 
Johann's  von  Böhmen  Sohn    der  schon   bestimmte   Eidam   sei,    das 
wusste  Ludwig  höchst  wahrscheinlich  gar  nicht  oder,  wenn  er  doch 
vielleicht  davon  Kenntniss  batte,  so  muss  ihm  Herzog  Heinrich  beru- 
higende Zusicherungen  über  diesen  Punct  gegeben  haben,  denn  dass 
Ludwig  sonst  durchaus  nicht  eingewilligt  hätte,  das  zeigten  die  fol- 
genden Ereignisse  aufs  Deutlichste.    Wie  weit  Hess  sich  aber  der 
Kaiser  mit  seinen  eigenen  Plänen  gegen  Heinrich  heraus?  In  kurzer 
Frist  Hess  sich  die  Angelegenheit  nicht  wohl  abthun,  zu  langen  Ver- 
handlungen fehlte  es  dem  Kaiser  an  Zeit,  denn  dringende  Angelegen- 
heiten riefen  ihn  nach  dem  Innern  Deutschlands.   Somit  musste  sich 
Ludwig  begnügen,  gleichsam  nur   den  Grund   zu   legen,    auf  dem 
dann  weitere  Verhandlungen  bei  günstigerer  Gelegenbeit  gepflogen 
werden   mochten.    Die   Verwandlung  Kärntens   in  ein    Kunkellehen, 
die  den  Herzog  verbinden  musste,  und  noch  obendrein  die  weiteren 
Pläne  Ludwig's  förderte,  konnte  somit  bewilligt  werden,  wenn  es  nur 
an    einer  Klausel  nicht  fehlte,    die  dem   Kaiser   für  jeden  unvorge- 
sehenen Fall  freie  Hand  liess.  In  diesem  Sinne  wurde  denn  auch  am 
G.  Februar  1330  die  betreffende  Urkunde  ausgefertigt. 


Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  227 

Ludwig  thut  dem  Herzog  von  Kärnten  die  besondere  Gnade, 
Treu  und  Freundschaft,  dass  er  all'  seinen  Töchtern  die  er  bereits 
hat,  oder  die  er  noch  bekommen  wird,  ebenso  seines  Bruders  Töch- 
tern verleiht  alle  die  Lehen  die  er  inne  hat  vom  Reich.  Will  aber 
Heinrich  diese  Lehen  vermachen  einem  seiner  Eidame,  so  soll  das 
dem  Kaiser  „gunst,  wille  und  wort  sein  und  doch  also,  das  dies 
unser  getreuer  oheim  tun  soll  mit  unserm  rat  und  wissen".  Das  war 
die  Klausel,  mit  der  Ludwig  den  Kärntner  Herzog  überlistete,  so 
dass  dieser  für  seine  geheimen  Absichten  gar  nichts  gewann.  Denn 
dieser  Beisatz  schloss  ja  doch  stillschweigend  alle  Eidame  aus,  die 
dem  Kaiser  unbequem  sein  konnten.  Für  den  rechten  Eidam  zu  sorgen, 
musste  Ludwig  einstweilen  der  Zukunft  vorbehalten  ,  denn  er  reiste 
augenblicklich  nach  Baiern  ab  (den  17.  Februar  ist  er  schon  in  München, 
um  seine  Aufmerksamkeit  den  Reichsangelegenheiten  zuzuwenden)  *). 

Am  13„  Jänner  des  Jahres  1330  war  nämlich  Friedrich  der 
Schöne  von  Osterreich  gestorben.  Die  Herzoge  von  Österreich  sahen 
sich  dadurch  in  eine  sehr  zweifelhafte  Lage  gedrängt,  denn  es  Hess  sich 
nicht  absehen,  wie  sich  Ludwig  gegen  sie  benehmen  würde.  Dess- 
halb  und  wohl  auch  in  Folge  der  fortwährenden  Aufforderungen  des 
Papstes  versäumten  sie  es  nicht,  sich  durch  Bündnisse  zu  stützen2). 

Herzog  Otto  stellte  sich  an  die  Spitze  eines  Heeres;  ein  neuer 
Kampf  zwischen  Osterreich  und  Baiern  stand  in  Aussicht. 

Allein  Ludwig  von  Baiern  hatte  wenig  Lust  zu  der  erneuten 
Aufnahme  dieses  Streites.  Die  Macht  Österreichs  war  nicht  gering; 
der  Krieg  mit  ihnen  Hess  wenig  Vortheile  hoffen;  der  Friede  mit 
ihnen  raubte  dem  Papste  einen  mächtigen  Anhang.  Ferner  hatte 
Ludwig  versprochen  nach  Italien  zurückzukehren;  dies  konnte  nur 
geschehen,  wenn  Deutschland  beruhigt  war.  Ludwig  wünschte  dess- 
:  halb  den  Frieden  mit  Österreich,  und  knüpfte  Unterhandlungen  mit 
'  Herzog  Otto  an,  die  zu  einem  solchen  Resultate  führen  sollten. 

Nun  wissen  zwar  weder  die  gleichzeitigen  Quellen,  noch  die 
neueren  Geschichtswerke  etwas  davon,  dass  schon  in  jener  Zeit  oder 
überhaupt  vor  dem  erst  am  6.  August  abgeschlossenen  Ungenauer 
Frieden,  Unterhandlungen  zwischen  Ludwig  und  den  Österreichern 


1)  Die  hieher  gehörige  Urkunde  steht  hei  Steyrer,  eol.  78,  und  orthographisch  wohl 
richtiger  im  7.  Bande  der  Beiträge  etc.,  p.  212. 

2)  Die    nicht   unbedeutende    Anzahl  dieser    Bündnisse    ersieht    man    aus  Lichnovvsky's 
Regesten:   799,  800,  801,  803,  804,  806,  807,  810,  811,  813,  818,  819. 


C/Co  Karl  Stög mann. 

gepflogen  wurden.  Allein  es  lässt  sich  nachweisen,  das  dies  wirklich 
geschehen,  und  weil  in  jenen  Verhandlungen  auch  die  Kärntner  Ange- 
legenheit zur  Sprache  kam,  müssen  wir  hier  genauer  darauf  eingehen. 

In  einem  (von  Böhmer  in  dem  ersten  Bande  der  Fontes  mitge- 
theilten)  Briefe  Ludwig's  des  Baier  an  Alois  Gonzaga,  seinen  Reichs- 
vicar  in  Mantua ,  theilt  er  diesem  mit  „dass  er  wegen  Verhinderung 
des  Königs  von  Böhmen  auf  den  gesetzten  23.  April  nicht  nach  Italien 
kommen  könne.  Nun  aber  habe  er  sich  mit  Allen  in  Deutschland, 
besonders  aber  mit  den  Herzogen  von  Österreich  geeinigt,  dass  er 
sicherlich  bis  am  24.  Juni  mit  einem  Heere  nach  der  Lombardei 
werde  kommen  können."  Dieser  Brief  ist  datirt  vom  23.  April  des 
Jahres  1330;  was  also  darin  von  einer  Aussöhnung  mit  den  öster- 
reichischen Herzogen  gesagt  wird,  kann  sich  nicht  auf  den  erst  im 
August  erfolgten  Hagenauer  Frieden  beziehen.  Es  kann  wohl  nicht 
angenommen  werden,  dass  der  Kaiser  etwas  blos  aus  der  Luft 
Gegriffenes  gesagt  habe.  Es  müssen  mindestens  um  jene  Zeit  Ver- 
handlungen im  Gange  gewesen  sein,  von  denen  er  ein  günstiges 
Resultat  erwarten  mochte,  welches  er  vielleicht  nur  zu  vorschnell 
verkündete.  Der  Kaiser  war  bald  nach  dem  14.,  jedenfalls  schon  am 
23.  April  in  München  und  blieb  daselbst  bis  6.  Mai.  Dies  wäre  die 
mögliche  Zeit  für  die  angedeuteten  Verhandlungen. 

Es  gibt  nun  Oefele  im  ersten  Bande  seiner  Scriptores  rerum 
Boicarum,  in  dem  Diplomatarium  Ludovici  Bavari,  ex  Begesto  Auto- 
grapho  Notarii  ejus  Bertholdi  de  Tuttlingen,  eine  Urkunde  unter  dem 
Titel:  Copie  eines  Vertrages,  so  die  Herren  von  Österreich  nach 
Herzog  Friedrich's  von  Österreich  Tode  mit  Kaiser  Ludwig  ausge- 
tragen haben.  Diese  Copie  ist  übrigens  unvollständig ,  ohne  Angabe 
des  Ortes  und  Datums.  Den  Hagenauer  Frieden  kann  sie  nicht 
betreffen,  denn  sie  widerspricht  in  mehreren  Puncten  geradezu  der 
echten  Urkunde  dieses  Friedensvertrages.  Innere  Gründe  über- 
zeugen uns,  dass  wir  es  mit  einem  früher  abgefassten  Actenstücke 
zu  thun  haben;  ein  Umstand  aber  bezeichnet  uns  ziemlich  genau  die 
Zeit,  in  der  dasselbe  abgefasst  worden  sein  muss.  Es  findet  sich 
nämlich  darin  die  Bestimmung,  dass  die  Herzoge  von  Österreich  dem 
Kaiser  gehorsam  sein  wollen  behufs  einer  freundlichen  Richtung  die 
er  zwischen  ihnen  und  dein  Könige  von  Böhmen  einleiten  wird.  Es 
standen  also  damals  die  österreichischen  Herzoge  noch  im  feind- 
lichen   Verhältnisse    zu   Johann    von    Böhmen;    diese   Urkunde  ist 


! 


Über  die  Vereinigung-  Kärntens  mit  Österreich.  229 

demnach  vor  dem  Landauer  Frieden,  also  vor  dem  10.  Mai  abgefasst 
worden.  Da  sie  ferner  der  Aufschrift  gemäss  erst  nach  Friedrich  des 
Schönen  Tod  ausgestellt  worden  ist ,  Ludwig  aber  erst  im  Februar 
nach  Deutschland  kam,  so  trifft  die  Zeit  ihrer  Abfassung  gerade  mit 
der  Zeit  zusammen,  die  oben  für  die  ersten  Unterhandlungen  zwischen 
Ludwig  und  den  Herzogen  festgesetzt  wurde  und  wir  besitzen  dem- 
nach in  dieser  Copie  das  Actenstück  jener  Verhandlungen  J). 

Wir  entnehmen  aber  aus  diesem  Actenstücke  das  sich  am 
besten  als  dasConcept  eines  vorläufigen  Friedensvorschlages  erklären 
lässt,  einen  für  die  kärntnerische  Angelegenheit  höchst  wichtigen 
Passus.  Kaiser  Ludwig  verspricht  die  Lehen  die  dem  Reiche  zunächst 
ledig  werden,  mit  Ausnahme  von  Brandenburg,  Meissen  und  Thürin- 
gen, den  Herzogen  von  Österreich  zu  leihen.  Dass  dies  zunächst  auf 
Kärnten  ging  liegt  am  Tage.  Allein  diese  offenbar  von  Seite  Öster- 
reichs gestellte  Bedingung  war  es  vermuthlich  auch,  die  den  Erfolg 
der  Verhandlungen  vereitelte.  Sie  war  Ludwig' s  Plänen  zu  sehr 
entgegen,  als  dass  er  sie  hätte  annehmen  können.  Die  Unterhand- 
lungen wurden  abgebrochen,  von  den  Quellen -Schriftstellern,  weil 
fruchtlos  und  wenig  bekannt,  auch  nicht  erwähnt,  und  so  von  der 
Geschichte  völlig  ignorirt. 

Die  Rüstungen  der  österreichischen  Herzoge  nahmen  ihren  Fort- 
gang; bei  Colmar  concentrirten  sich  die  Heere  Ludwig  des  Baiern 
und  der  Österreicher,  und  schon  hatte  es  den  Anschein,  dass  es  hier 
zu  einer  entscheidenden  Schlacht  kommen  sollte,  als  plötzlich  ein 
Friedensvermittler  auftrat,  an  den  wohl  Niemand  gedacht  hatte,  König 
Johann  von  Böhmen. 

Am  10.  Mai  hatte  Johann  vorzüglich  auf  Andringen  seiner 
Barone  den  Landauer  Frieden  mit  den  österreichischen  Herzogen 
abgeschlossen3);  im  Monat  Juli  finden  wir  ihn  als  Friedensvermittler 
vor  Colmar.  Noch  einmal  wies  Herzog  Otto  die  gemachten  Anträge 
zurück,  aber  endlich  gab  er  ihnen  doch  Gehör,  und  am  6.  August 
erfolgte  der  Abschluss  des Hagenauer Friedens3);  derFriedenstractat 


*)  Dass  die  Urkunde  bei  Oefele  mit  dein  eigentlichen  Hagenauer  Tractate  nicht  stimme,  hat 
Böhmer  frageweise  angeregt.  Seine  Frage  fände  durch  das  oben  Gesagte  wohl  ihre 
Erledigung. 

a)  Die  Urkunde  ist  mitgetheilt  bei  Steyrer,  eol.  26.     Vergl.  dazu  .loh.  Vict.,  p.  407. 

3)  Joh.  Vict.  pag.  409,  Vitodnr.  pag.  1796  Vit.  Car.  IV.  Die  Urkunde  bei  ülenseblager 
und  bei  Oewold  „Ludov.  I?av.  defensus"  pag.  107. 


230  Karl  Stögmann. 

enthielt  mehrere  Puncte  die  in  den  schon  erwähnten  Verhandlungen 
besprochen  worden  waren ;  jener  Passus  aber ,  der  Kärnten  betraf, 
blieb  völlig  weg,  wie  dies  in  einem  durch  König  Johann  vermittelten 
Frieden   selbstverständlich  war.    Die  Kärntner  Frage  wurde  in  dem 
Hagenauer  Vertrage  mit  Stillschweigen  übergangen,    aber  dennoch 
war  dieser  Friede  von  den  wichtigsten  Folgen  für  den  weitern  Ver- 
lauf und  die  ganze  Wendung  jener  Frage.   Denn  dieser  Friede  begrün- 
dete die  Freundschaft  zwischen  Kaiser  Ludwig  und  den  Herzogen 
von  Österreich.  Es  war  vielleicht  der  grösste  Fehler  den  sich  König 
Johann  in  seiner  auswärtigen  Politik  zu  Schulden  kommen  Hess,  dass 
er  diesen  Frieden  vermittelte,  dessen  gefährliche  Tragweite  er  völlig 
übersah.    Ihm  war  für  den  Augenblick  nichts  ungelegener  als   der 
Kampf  zwischen  Ludwig  und  den  Österreichern ,  ein  Kampf  der  so 
eingreifend  in  alle  Verhältnisse  Deutschlands  erschien,  dass  er  ohne 
König  Johann's  Theilnahme  weder  ausgekämpft  werden  konnte,  noch 
durfte.  Den  König  drängte  es  aber  zu  seinem   abenteuerlichen  Zuge 
nach  Italien.  Um  diesen  antreten  zu  können,  brauchte  er  einen  schnel- 
len Frieden  in  Deutschland.  Als  er  diesen  vermittelte,  dachte  er  frei- 
lich nicht  im  Entferntesten  an  eine  feste  und  aufrichtige  Einigung  der 
Feinde  Baiern  und  Österreich,  während  schon  seine  nächsten  Schritte 
diese  hervorriefen. 

Von  Hagenau  eilte  König  Johann  nach  Tirol,  wo  er  am  16.  Sep- 
tember in  Innsbruck  eintraf.  Mit  ihm  waren  die  Grafen  von  Leiningen, 
Zweibrücken,  Saarbrück  und  Demandis  (?).  Die  Heirath  zwischen 
Margaretha  und  dem  Prinzen  Johann  wurde  vollzogen,  dem  jungen 
Paare  von  den  kärntnerischen  Herren  gehuldigt,  die  alten  Verträge 
wurden  erneuert,  neue  hinzugefügt »).  Fröhliche  Feste  verherrlichten 
diese  Vorgänge.  Als  aber  die  Kunde  davon  nach  Deutschland  kam, 
verfehlte  sie  nicht  die  bedeutendste  Wirkung  auszuüben,  sowohl  auf 
die  Herzoge  von  Österreich,  die  nun  Kärnten  als  beinahe  verloren 
betrachten  mussten ,  als  auch  auf  Ludwig  den  Baier,  der  sich  in  der 
ganzen  Sache  überlistet  sah,  denn  nie  war  es  seine  Absicht  gewesen, 
dem  Johann  von  Böhmen,  dem  er  lange  nicht  mehr  traute  ,  Kärnten, 
Tirol  und  damit  den  Weg  nach  Italien  zu  überlassen.  So  war  der 
Kaiser  eben  nicht  in  der  freundlichsten  Stimmung  gegen  den  hinter- 
listigen Heinrich  von  Kärnten,  als  Herzog  Otto  von  Aachen  aus  nach 


i)  Die  Urkunden  im  VII.  Bde.  der  Beiträge  etc. 


Über  die   Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  CGI 

Augsburg  kam,  entschlossen,  die  kaum  angeknüpfte  Freundschaft  des 
Kaisers  gegen  Johann's  von  Böhmen  Schritte  aufzubieten. 

In  den  nun  folgenden  Unterhandlungen  änderte  Ludwig  seine 
ganze  Politik.  Kärnten  gegen  zwei  so  mächtige  Bewerber  ,  wie  König 
Johann  und  die  österreichischen  Herzoge,  für  sich  und  sein  Haus  zu 
behaupten  ,  schien  ihm  bei  seiner  stets  gefährdeten  Stellung  in 
Deutschland  unmöglich.  Aber  mindestens  Johann  sollte  das  Land 
nicht  behaupten.  Ludwig  schloss  sich  völlig  an  die  österreichischen 
Herzoge  an,  und  der  Preis  ihres  Bündnisses  mit  ihm  war  die  Anwart- 
schaft auf  Kärnten. 

Nur  Eines  mochte  dem  Kaiser  bedenklich  erscheinen;  das  Ver- 
sprechen das  er  vor  wenig  Monden  dem  Herzog  Heinrich  von  Kärn- 
ten gegeben  hatte,  „er  könne  sein  Land  seinemEidame  hinterlassen". 
Freilich  hatte  Heinrich  die  vorsichtige  Klausel  jenes  Briefes,  dass  der 
zukünftige  Eidam  mit  Rath  und  Wissen  des  Kaisers  gewählt  werden 
sollte,  ausser  Acht  gelassen  und  so  schon  einen  Vorwand  zu  ähnlicher 
Nichtbeachtung  des  Vertrages  gegeben.  Dennoch  schien  es  dem 
Kaiser  nöthig,  noch  eine  kleine  Spiegelfechterei  durchzuführen, 
um  mit  ihrer  Hilfe  leichter  über  das  fatale,  an  Heinrich  verliehene 
Privilegium  hinwegzukommen.  Die  Sache  wurde  folgendermassen 
eingeleitet.  Am  23.  November  ernannten  der  Kaiser  und  Herzog 
Otto  zusammen  sieben  Schiedsrichter,  die  alle  zwischen  den  Fürsten 
obschwebenden.  Irrungen  ausgleichen  sollten.  Die  Wahl  dieser 
Schiedsrichter  ist  bezeichnend.  Es  waren  keine  Reichsfürsten;  sondern 
Herzog  Otto  wählte  drei  aus  des  Kaisers  Rathe,  den  Grafen  Berthold 
von  Greyspach,  Heinrich  von  Gumpenberg,  Ludwigs  Vitztum,  und 
Heinrich  von  Breisingen,  Ludwig's  Hofmeister;  und  der  Kaiser  wählte 
hinwieder  drei  aus  des  Herzogs  Rathe;  den  Grafen  Ulrich  von  Pfannen- 
berg, den  Truchsess  von  Dissenhofen  und  den  Truchsess  von  Wald- 
burg. Als  „Übermann",  wurde  Rudolf  von  Hochberg  bestimmt.  In  einer 
eigenen  Urkunde  gelobten  der  Kaiser  und  Herzog  Otto,  Alles  zu 
halten,  was  die  Schiedsmanner  beschliessen  würden,  wenn  sie  nicht 
von  selbst  schon  etwas  Anderes  beschlossen  hätten  *)• 

Am  26.  November  erfolgte  der  Ausspruch  der  Schiedsrichter. 

Die  Herzoge  von  Österreich  bekommen  Kärnten,  sobald  Herzog 
Heinrich  stirbt;  Kaiser  Ludwig  bekommt  das  Oberland  an  derEtsch  und 


l)  Diese  Urkunde  folgt  im  Anhange.  Die  übrigen,  Kurz  etc.  a.  a.  0. 


232  Karl  Stögmann. 

im  Innthal.  Der  Kaiser  wird  bestimmen,  was  Herzog  Otto  den  Erben 
Heinrich's  zu  leisten  haben  soll;  sollte  er  aber  dem  Herzog  darin  zu 
schwer  thun,so  werden  die  sieben  Schiedsrichter  darüber  entscheiden. 

Wer  immer  diesen  Ausspruch  liest,  wird  sich  des  Staunens  nicht 
enthalten  können.  Die  Schiedsmänner  sollen,  wie  es  in  ihrer  Voll- 
macht heisst,  entscheiden,  „über  alle  die  stösse  und  auflaufe",  die 
zwischen  den  Fürsten  und  zwischen  Ludwig  und  den  Herzogen  zu 
entscheiden  sind.  Und  dies  thun  sie  in  der  Weise,  dass  sie  das  Land 
eines  dritten  Fürsten  für  den  Fall  seines  Todes  unter  die  beiden 
Parteien  theilen!  Was  aber  in  aller  Welt  hatte  Kärnten  und  Tirol 
mit  den  „stössen  und  auflaufen"  zwischen  dem  Kaiser  und  den 
Herzogen  zu  schaffen. 

Der  ganze  Schiedsrichterspruch  ermangelt  jedes  rechtlichen 
Grundes;  er  ist  ein  Ausspruch  der  Gewalt.  Die  Diener  des  Kaisers 
und  des  Herzogs  Otto  entschieden,  wie  es  ihnen  vorgeschrieben  war, 
dass  sie  entscheiden  sollten.  Das  Ganze  ist  eine  Spiegelfechterei  die 
rein  auf  Rechnung  Ludwig's  zu  setzen  ist.  Ihn  beirrte  sein  dem  Herzog 
von  Kärnten  gegebenes  Wort.  Die  Herzoge  von  Österreich,  durch 
keine  ähnliche  Verpflichtung  gebunden,  wahrten  einfach  die  Interessen 
ihres  Hauses.  Ihnen  war  es  um  eine  Bürgschaft  für  das  Wort  des 
Kaisers  zu  thun;  die  Form  konnte  ihnen  sehr  gleichgiltig  sein, 
ebenso  gleichgiltig,  inwiefern  Ludwig  das  ihnen  gegebene  Ver- 
sprechen vor  sich  rechtfertigen  konnte. 

Was  übrigens  zu  Augsburg  beschlossen  worden  war,  konnte 
doch  nicht  zur  Ausführung  gelangen,  so  lange  Herzog  Heinrich  lebte, 
und  darum  schien  es  auch  am  geratensten,  die  ganze  Sache  so  geheim 
als  möglich  zu  halten. 

Daher  wissen  auch  die  gleichzeitigen  Quellen,  so  gut  sie  sonst 
unterrichtet  sind,  nichts  von  diesem  Übereinkommen.  Erst  später,  als 
der  in  diesen  Verhandlungen  vorausgesetzte  Todesfall  Heinrich's  wirk- 
lich eintrat,  wurden  auch  die  Verhandlungen  selbst  bekannt,  vermuth- 
lich  dadurch,  dass  die  Herzoge  von  Österreich  sich  nun  darauf  berie- 
fen. Da  erhob  dann  auch  Karl  IV.,  Jobann's  Sohn,  in  seiner  Selbst- 
biographie die  Beschuldigung  gegen  Ludwig  von  Baiern,  dass  er  mit 
den  Herzogen  Albrecht  und  Otto  einen  geheimen  Bund  geschlossen 
habe,  um  die  Herrschaft  des  jungen  Johann  von  Luxemburg  zu  theilen, 
mit  Heimlichkeit  und  Falschheit,  so  dass  er,  Ludwig,  Tirol  bekommen 
sollte,   die  Herzoge  von  Österreich    aber  Kärnten.     Dass   Karl  mit 


Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  <£öd 

dieser  Beschuldigung  sich  auf  den  Ausspruch  der  Schiedsrichter  zu 
Augsburg  beziehe,  ist  wohl  nicht  zu  bezweifeln  l). 

So  genau  aber  Karl  IV.  in  dem  Jahre  1335  wusste,  dass  und 
was  Ludwig  mit  den  österreichischen  Herzogen  verhandelt  habe,  so 
wenig  wusste  es  im  Jahre  1330  Johann. 

Er  hatte  sich  von  Innsbruck  nach  Trient  begeben,  und  dort  alle 
Vorbereitungen  zu  seinem  Zuge  nach  Italien  getroffen. 

Die  unglaublichen  Fortschritte  die  Johann  nun  in  Italien  machte, 
erregten  dem  Kaiser  nicht  geringe  Besorgnisse. 

Immer  enger  und  fester  schloss  er  sich  nun  an  die  österreichi- 
schen Herzoge  an,  in  deren  Macht  er  eine  Stütze  gegen  Johann's 
gefahrvolle  Pläne  zu  finden  hoffte. 

Nicht  minder  verderblich  konnte  Johann's  wachsende  Macht  dem 
Hause  Österreich  werden,  und  darum  hielten  auch  die  beiden  Herzoge 
fest  an  dem  Bunde  mit  dem  Kaiser,  wie  sehr  auch  Papst  Johann  XXII. 
sich  bestrebte,  sie  davon  abzubringen. 

Die  Vorwürfe  und  Drohungen  des  Papstes  in  seinem  Schreiben 
vom  18.  Jänner  schienen  weniger  gefährlich,  als  des  Luxemburgers 
steigende  Macht 2). 

Als  daher  Ludwig  im  März  (oder  April)  auf  einem  Beichstage 
zu  Nürnberg  sich  laut  über  Johann's  Benehmen  in  Italien  beklagte  und 
von  den  Fürsten  den  fiath  erhielt:  „Wenn  der  König  von  Böhmen  sich 
aneigne,  was  sein  sei,  jenseits  der  Berge,  so  möge  er  mit  gutem 
Bechte  sich  unterwerfen,  was  des  Königs  sei,  diesseits  der  Berge," 
da  war  es  vor  Allen  Otto  von  Österreich,  der  sich  bereit  erklärte,  die 
Könige  von  Ungern  und  Polen  zu  einem  Einfalle  in  Böhmen  im  Bunde 
mit  Österreich  zu  bewegen  3). 

Engere  Bündnisse  wurden  noch  im  Monat  Mai  geschlossen.  Otto 
von  Österreich  empfing  im  Namen  seines  Bruders  die  Belehnung  mit 
allen  österreichischen  Ländern, und  wurdezumBeichsvicar  ernannt  4). 


1)  Vita  Caroli  IV,  p.  248.  Et  cum  frater  noster  debuisset  accipere  possessionem  duea- 
tus  Karinthie  et  comitatus  Tyrolis  post  mortem  ipsius,  tunc  fecerat  occulte  ligam 
Ludovicus,  qui  se  gerebat  pro  Iinperatore,  cum  ducibus  Austriae,  Alberto  videlieet 
et  Ottone  ad  dividendum  dominium  fratris  nostri ,  oceulte.  et  t'alse,  volens 
idem  Ludovicus  habere  comitatum  Tyrolis,   Duces  vero  ducatum  Karinthie. 

2)  Raynald,  Auiial.  Eccles.  tom  XV,  ad  h.  a.  N.  20. 

3)  Genaue  Nachrichten  über  diesen  Reichstag  gibt  ein  Brief  an  den  Abt  von  Königs- 
saal,  in  dem  Chron.  Aul.  Reg.  p.  455. 

4)  Böhmer,  Reg.  1295—1300,  p.  80. 


234  Karl  Stögmann. 

Verbindungen  mit  Ungern  wurden  angeknüpft,  bedeutende 
Rüstungen  betrieben;  ein  entscheidender  Schlag  gegen  das  Haus 
Luxemburg  sollte  geführt  werden  *)• 

Noch  immer  war  König  Johann  in  Italien;  erst  im  Juni  verliess  er 
das  Land,  um  das  Ungewitter  zu  beschwören,  das  sich  inzwischen  wider 
ihn  zusammengezogen  hatte.  Sein  Scharfblick  überschaute  schnell  das 
Gefährliche  seiner  Lage ,  zeigte  ihm  aber  auch  den  schwachen  Punct 
des  gewaltigen,  widei*  ihn  geschlosseneu  Bundes.  Ohne  in  sein  Erbland 
zu  gehen  und  dort  Anstalten  zur  Vertheidigung  zu  treffen,  eilte  er 
geraden  Weges  nach  Regensburg  zu  Kaiser  Ludwig  dem  Baier. 

Am  1.  August  war  der  König  in  Regensburg  angekommen.  Zwei 
und  zwanzig  Tage  lang  verhandelten  er  und  Ludwig  der  Baier  auf 
einer  Insel  der  Donau,  mit  ihren  verschwiegensten  Räthen.  Das 
Resultat  war,  dass  die  beiden  Fürsten  sich  über  Alles  vereinigten,  ja 
sogar  eine  Ehe  zwischen  ihren  Kindern  beschlossen. 

„Es  war  dies  zuvor  Allen  unglaublich  gewesen"  bemerkt  der  Abt 
Peter  von  Königssaal,  der  dem  Orte  der  Verhandlungen  nahe  war,  ohne 
von  ihnen  selbst  etwas  erfahren  zu  können  2). 

Die  grosse  Heimlichkeit,  mit  der  die  Verhandlungen  betrieben 
wurden  bewirkte,  dass  keine  Quellenberichte  vorliegen. 

Auch  eine  umfassende  Urkunde  über  die  geheimnissvollen  Ver- 
träge ist  nicht  vorhanden. 

Was  an  späteren  Urkunden  vorliegt  (zum  Beispiel  mehrerer 
Urkunden  mit  Bestimmungen  über  die  von  Johann  besetzten  italieni- 
schen Städte),  kann  unmöglich  als  das  Ganze  der  damaligen  Einigung, 
sondern  nur  als  Einzelheit  derselben,  aufgefasst  werden  3). 

Dass  in  sehr  kurzer  Zeit  nach  dieser  Zusammenkunft  zu  Regens- 
burg die  Versöhnungsversuche  Ludwig' s  gegenüber  dem  Papst  unter 
Johann's  Einfluss  beginnen,  das  dürfte  einen  Fingerzeig  über  die 
eigentlichen  Gründe  jenes  merkwürdigen  Ereignisses  abgeben. 


x)  Vergleiche  die  Urkunden  bei  Steyrer,  col.  34,  36.  Zuerst  wurde  der  am  21.  Sept. 
1328  zwischen  Österreich  und  Ungern  geschlossene  Friede  erneuert.  Weil  aber  in 
diesem  „Bündnisse  gegen  Alle",  Karl  von  Ungern  den  König  Johann  ausdrücklich  aus- 
genommen hatte,  so  wurde  nun  in  einer  zweiten  Urkunde  bestimmt,  dass  dieses 
Bündniss  auch  gegen  ihn  zu  gelten  habe. 

2)  Chron.  Aul.  Reg.  p.  450.  Weit  mehr  als  der  Königssaaler  Abt  weiss  Mutius,  ap. 
Struv.  p.  873,  zu  erzählen,  der  freilich  200  Jahre  später  schrieb,  wesshalb  man 
weder  ihm,  noch   Mannert,  der  ihm  folgt,  viel  Glauben  schenken  dürfte. 

3)  Böhmer,  Reg.  156— 158,  dann  160,  pag.  196. 


Über  die  Vereinigung'  Kärntens  mit  Österreich.  «o5 

So  wenig  nun  auch  von  den  Verhandlungen  jener  Tage  bekannt 
ist,  so  glaube  ich  doch,  vermuthen  zu  dürfen,  dass  sie  sich  zum 
Theile  auch  auf  Kärnten  bezogen  haben. 

Um  aber  diese  Beziehung  darstellen  zu  können,  muss  ich  mir 
erlauben,  für  einen  Augenblick  den  Ereignissen  etwas  vorzugreifen. 

Als  im  Jahre  1335,  nach  dem  Tode  Heinrich's  von  Kärnten, 
der  Streit  um  Kärnten  zwischen  Johann  und  den  Österreichern 
losbrach,  verbreitete  sich  unter  den  Edlen  von  Kärnten  und  Tirol 
das  Gerücht,  König  Johann  habe  mit  dem  Kaiser  abgemacht,  ihm 
Kärnten  und  Tirol  gegen  Brandenburg  tauschweise  zu  überlassen. 
Johann  widersprach  diesem  Gerüchte  in  einer  eigenen,  vom  13.  De- 
cember  1335  aus  Prag  datirten  Urkunde.  Es  sei  mit  Bed  an  ihn 
gekommen,  dass  er  mit  dem,  der  sich  Kaiser  nennt,  vor  etlichen  Jahren 
soll  getaidingt  haben,  dass  er  einen  Wechsel  mit  dem  Herzogthum 
zu  Kärnten,  und  mit  der  Grafschaft  zu  Tirol,  wenn  er  dieser  Lande 
gewaltig  würde,  um  die  Mark  Brandenburg  thun  wollte.  Nun  wisse 
aber  Gott  wohl,  dass  dergleichen  Bed  und  Taidung  nie  in  sein  Herz 
gekommen  sei  1),"  dessenungeachtet  gibt  der  vorsichtige  und  wahr- 
heitsgetreue Johannes  Victoriensis  die  bestimmte  Nachricht:  Es  be- 
stand ein  Vertrag  zwischen  dem  Kaiser  und  dem  König  von  Böhmen, 
dass  ein  Tausch  der  Mark  Brandenburg  um  Tirol  stattfinden  sollte2). 
Dass  der  König  zu  einer  Zeit  wo  Ludwig  durch  seine  neuerliche 
Verbindung  mit  den  Österreichern  von  diesem  Tauschproject  nichts 
mehr  wissen  wollte,  die  ganze  Sache  ableugnete,  könnte  uns  bei  der 
gerade  nicht  allzuzarten  Gewissenhaftigkeit  Johanna  wenig  wundern; 
dass  Ludwig  die  Ableugnung  stillschweigend  zugab,  folgt  einfach 
daraus,  dass  er  selber  aus  dem  Bestehen  auf  dem  Vertrage  keinen 
Vortheil  mehr  schöpfen  konnte;  ja  im  Gegentheile  in  den  Augen  der 
Österreicher  dadurch  nur  compromittirt  worden  wäre.  Ich  möchte 
also  wohl  annehmen,  dass  ein  solcher  Vertrag  zwischen  Ludwig  und 
Johann  bestanden  habe.  Dann  aber  fällt  er  höchst  wahrscheinlich  in 
das  Jahr  1331.  In  den  zwanzigtägigen  Verhandlungen,  an  deren 
Schlüsse  sich  die  beiden  Fürsten  „de  omnibus"  verglichen  hatten, 
mussten  wohl  auch  Johann's  offenkundige  Absichten  auf  Kärnten  zur 


1)  Die  Urkunde  bei  Kurz,  Beilage  IV,  p.  344,  dann  bei  Hormayr,  Beitrüge  zur  Geschichte 
Tirols  irn  Mittelalter,  Nr.  170,   p.  400. 

2)  Job..  Vict.,  p.  424. 


236  KarlStögmann. 

Sprache  kommen.  Ludwig  hatte  seine  Pläne  auf  Kärnten  nie  auf- 
gegeben ;  Johann  hatte  schon  früher  nach  Brandenburgs  Erwerbung 
gestrebt,  somit  lag  das  Tauschproject  nicht  gar  zu  ferne.  Die  öster- 
reichischen Herzoge  wurden  dabei  freilich  hintergangen,  aber  der 
ganze  Friedensschluss  Ludwig's  mit  Johann  war  ja  eine  grosse  Ver- 
letzung der  mit  Österreich  geschlossenen  Verträge. 

So  viel  über  den  von  mir  vermutheten  Zusammenhang  der  Regens- 
burger Beschlüsse  mit  der  kärntnerischen  Frage,  für  den  ich  freilich 
nur  Wahrscheinlichkeitsgründe  aufzubringen  habe. 

Kehren  wir  nun  zu  dem  Gange  der  Ereignisse  zurück.  Der 
plötzliche  Rücktritt  Ludwig's,  von  dem  durch  ihn  selbst  gestifteten 
Bunde  zerstörte  auch  all'  die  hochfliegenden  Pläne  die  die  Verbün- 
deten gehegt  hatten.  Dieser  Krieg  der  die  Macht  des  Hauses  Luxem- 
burg wenn  nicht  zerstören,  doch  bis  zur  Unbedeutendheit  hinab- 
drücken sollte,  wurde  ein  so  unbedeutender,  dass  Johann  während 
desselben  sein  Land  verlassen  und  nach  Frankreich  sich  begeben 
konnte.  Das  Ganze  verlief  sich  in  Grenzstreitigkeiten  der  Barone, 
welche  die  Länder  verwüsteten ,  und  doch  keine  Entscheidung  her- 
beiführen konnten.  Endlich  im  Jahre  1332,  als  man  beiderseits  des 
Streites  müde  war,  schlössen  die  böhmischen  Barone  mit  Einwilligung 
ihres  abwesenden  Königs  Frieden.  Unter  den  Bedingungen  war  auch 
die,  dass  König  Johann  Elisabeth,  Friedrich  des  Schönen  Tochter, 
ehelichen  sollte.  Wie  wenig  innern  Halt  aber  der  ganze  Friede 
besass,  ersieht  man  am  besten  aus  einer  Äusserung  des  scharfsinnigen 
Peter's  von  Königssaal : 

Et  sie  haec  bella 
Sedavit  pulchra  puella 
Dulcia  per  verba    — 
■  Sed  adhuc  latet  anguis  in  herba  *)• 

In  diesem  Frieden  war  Kärntens  mit  keiner  Sylbe  erwähnt. 
Beide  Theile  mochten  fühlen,  dass  eine  Entscheidung  über  diese 
wichtige  Angelegenheit  doch  erst  mit  dem  Tode  Heinrich' s  eintreten 
könnte.  Johann  vielleicht  dadurch  sicher  gemacht,  dass  die  Kärntner 
seinem  Sohne  schon  gehuldigt  hatten,  trieb  sich  nach  seiner  Art  im 
Ausland  umher.    Vorsichtiger  waren  die   österreichischen  Herzoge. 


»)  Chron.  Aul.  Reg.  p.  455,  456,  458. 


über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  237 

Sie  ermangelten  des  Vortheils  in  Kärnten  selbst  eine  feste  Stütze  zu 
haben  und  darum  strebten  sie  darnach,  sich  eine  Partei  im  Lande  zu 
sichern. 

So  schlössen  sie  am  17.  September  1334  ein  ßündniss  mit 
Bischof  Werntho  von  Bamberg  ,  der  nicht  unbedeutende  Besitzungen 
in  Kärnten  hatte  *).  Wichtiger  noch  war  das  wahrscheinlich  durch 
Otto  von  Lichtenstein  vermittelte  geheime  Bündniss  mit  dem  Erz- 
bischof Friedrich  von  Salzburg.  Dieser  verspricht  geradezu,  ihnen  zu 
Kärnten  zu  verhelfen,  hundert  Helme  für  sie  zu  rüsten ,  und  seine 
Vesten  in  Kärnten  ihnen  zu  öffnen.  Dieses  Bündniss  das  durch 
drei  salzburgische  und  drei  österreichische  Schiedsleute  und  durch 
Otto  von  Lichtenstein  als  Obmann  verbürgt  wurde,  war  am  29.  März 
133ö  geschlossen  worden3).  Nicht  minder  thätig  arbeitete  Otto  von 
Lichtenstein  daran,  die  Angesehensten  des  kärntnerischen  Adels  für 
die  Sache  Österreichs  zu  gewinnen,  was  ihm  bei  seinem  Schwager 
Konrad  von  Auffenstein ,  dem  Landmarschall  Kärntens,  auch  gelang. 

Mitten  unter  diesen  geheimen  Bemühungen  starb  plötzlich  der 
Königherzog  Heinrich,  am  2.  April  1335  auf  seinem  Schlosse  Tirol s). 
Kaum  hätte  sich  sein  Tod  zu  einer  ungünstigeren  Zeit  ereignen 
können.  Seine  Tochter  Margarethe  war  17,  ihr  Gemal  erst  14  Jahre 
alt.  Ihr  Vormund  und  Schützer  König  Johann  lag  zu  Paris  darnieder, 
an  Wunden  die  er  im  Turnier  erhalten.  Eilboten  die  von  den  ver- 
waisten Fürstenkindern  an  ihn  gesandt  wurden,  erhielten  nichts,  als 
den  Trost,  er  werde  kommen,  sobald  es  seine  Kräfte  erlaubten.  Allein 
bis  zu  dieser  Zeit  blieben  seine  Gegner  nicht  müssig4). 

Noch  in  demselben  Monat,  in  dem  Heinrich  gestorben  war,  trafen 
auch  schon  Otto  von  Österreich  und  Ludwig  der  Baier  in  Linz  zu- 
sammen 5).  Die  freundliche  Stellung,  in  die  der  Kaiser  1331  zu 
Johann  von  Böhmen  getreten  war,  hatte  längst  wieder  aufgehört.  Es 
hatten  inzwischen  jene  räthselhaften  Vorgänge  stattgefunden,  die 
Ludwig   beinahe   zur  Thronentsagung  gebracht  hätten.    Die  Folge 


*)  Die  Urkunde  bei  Liinig,  XVII,  44,  ausgestellt:  Graz  17.  September.  Gegenurkunde, 
Lichnowsky  Reg.,  994. 

2)  Urkunde   bei  Steyrer,  col.  89. 

3)  Jon.  Vict.,  p.  413.  Chron.  Stams.    B.   f.   I.  Chron.  Aul.  Reg.,  p.  487,  setzt  den  Tod 
des  Herzogs  irrigerweise  in  den  Monat  März. 

4)  Joh.  Vict.,  p.  41G. 

5)  Joh.  Vict,  p.  416. 


238  Karl  St  «ig  mann. 

dieser  Vorgänge  war,  dass  der  Kaiser  sich  mehr  als  je  von  Johann's 
hinterlistiger  Treulosigkeit  überzeugt  hielt,  und  sich  desshalb  eng  an 
Österreich  anschloss,  wie  wir  denn  auch  im  Jahre  1335  wieder 
Herzog  Albrecht  als  denjenigen  finden,  der  es  über  sich  nimmt,  die 
Aussöhnung  zwischen  Ludwig  und  dem  Papste  zu  Stande  zu  bringen. 
Somit  war  die  Stellung  des  Kaisers  zu  den  Herzogen  eine  derartige, 
dass  er,  als  ihn  Herzog  Otto  an  seine  Versprechungen  mahnte,  an 
eine  Nichterfüllung  derselben  kaum  denken  konnte.  Er  belehnte 
demnach  am  2.  Mai  die  Brüder  Albrecht  und  Otto  von  Österreich, 
dessgleichen  auch  ihre  Erben  mit  dem  Herzogthume  Kärnten,  das 
ihm  und  dem  Reiche  durch  den  Tod  seines  Oheims  Heinrich  ledig 
geworden  *). 

Wie  wenig  auch  dieser  Schritt  aus  uneigennütziger  Freundschaft 
des  Kaisers  für  die  österreichischen  Herzoge  oder  aus  einer  durch 
sein  Rechtsgefühl  hervorgerufenen  Anerkennung  ihres  guten  Rechtes 
hervorgehen  mochte,  so  hatte  der  Kaiser  doch  dazu  die  volle  Berech- 
tigung,  wie  bereits  des  Breiteren  dargethan  worden.  Allein  sein  Un- 
muth  gegen  König  Johann  einerseits ,  anderseits  seine  rücksichtlose 
Sorge  für  den  eigenen  Nutzen  verleitete  ihn  noch  zu  einem  andern 
Schritte,  für  den  sich  keine  Berechtigung  in  seiner  kaiserlichen  Macht- 
vollkommenheit linden  lässt.  An  demselben  2.  Mai  verlieh  er  den  öster- 
reichischen Herzogen  auch  die  Grafschaft  Tirol  mit  den  Vogteien 
zu  Trient  und  Brixen  mit  Ausnahme  eines  genau  bestimmten,  gegen 
Schwaben  und  Oberbaiern  gelegenen  Landestheils  den  er  seinen 
Kindern  zu  Lehen  gab  2). 

An  diese  Länder  aber,  die  durch  Heirath  als  freie  Allode  an  das 
Haus  Görz  gekommen  waren,  hatte  der  Kaiser  kein  Recht,  sie  waren 
das  rechtmässige  Erbe  Margarethens.  Allein ,  dass  es  dem  Kaiser  in 
der  ganzen  Angelegenheit  weit  weniger  um  das  strenge  Recht,  als 
um  politischen  Vortheil  zu  thun  war,  geht  aus  dem  ganzen  Verlaufe 
der  Dinge  deutlich  genug  hervor. 

Der  voraussichtliche  Widerstand  den  diese  Belehnungen  des 
Kaisers  finden  mussten,  forderte  dringend  auf,  durch  Bündnisse  für 
die  Behauptung  des  neuen  Besitzthums  zu  sorgen.  So  verhiess  zu- 
erst Kaiser  Ludwig  den  österreichischen   Herzogen  Beistand  gegen 


x)  Der  Belehnungsbrief  bei  Steyrer,  col.  84. 
2)  Loe.  eit.  col.  85. 


Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  230 

König  Johanns,  Kinder  und  Erben,  gegen  Heinrich  von  Baiern,  seinen 
Eidam,  und  gegen  die  Landherren  im  Gebirge  und  in  Kärnten.  Der 
Kaiser  wird  mit  keinem  der  Genannten  Friede  schJiessen  ohne  Beitritt 
der  Herzoge.  Ein  gleiches  Bündniss  schlössen  die  Herzoge  Stephan, 
der  Pfalzgraf  bei  Bhein  für  sich  und  seinen  Bruder  den  Markgrafen 
Ludwig,  dann  die  Herzoge  Ludwig  und  Wilhelm  von  ßaiern  mit  den 
österreichischen  Fürsten,  die  hinwieder  in  einer  eigenen  Urkunde  den 
Genannten  stete  Hilfe  versprechen  gegen  Jedermann,  ausgenommen 
das  Beich,  den  König  von  Ungern,  den  Herzog  von  Sachsen,  den 
Erzbischof  von  Salzburg  und  den  Bischof  von  Passau. 

Besonders  gilt  die  Unterstützung  der  Herzoge  gegen  Jene  die 
den  genannten  Verbündeten  das  Inntheil  entreissen  wollen.  Kommen 
die  österreichischen  Herzoge  in  den  Besitz  des  Etschthales,  so  werden 
sie  den  baierischen  Herzogen  die  Strasse  nach  der  Lombardei  offen 
halten  *). 

Nachdem  sich  solchergestalt  ein  machtiger  Bund  gebildet  hatte, 
für  die  Behauptung  der  den  österreichischen  Fürsten  zugesprochenen 
Länder,  konnte  man  nun  zur  Besitzergreifung  selber  schreiten.  Der 
Kaiser  erliess  eine  Aufforderung  an  den  Landmarschall  von  Kärnten, 
Konrad  von  AufFenstein ,  die  österreichischen  Herzoge  als  Herren 
anzuerkennen  2).  Eine  gleiche  kaiserliche  Aufforderung  folgte  an 
sämmtliche  Herren,  Städte  und  Landleute  zu  Kärnten  3).  Die 
Herzoge  sandten  den  Grafen  Pfannberg  und  Ulrich  von  Wallsee,  den 
Hauptmann  Steiermarks,  nach  Kärnten,  um  das  Land  in  ihrem  Namen 
in  Besitz  zu  nehmen,  oder  es  mit  Waffengewalt  zu  unterwerfen. 

Die  herzoglichen  Gesandten  fanden  die  Krainer  bereit,  ohne 
Widerstreben  die  Herrschaft  Österreichs  anzuerkennen,  denn  sie 
wussten  wohl,  dass  ihr  Land  eigentlich  immer  zu  Österreich  gehört 
hatte  und  nur  pfandweise  an  die  Herzoge  Kärntens  war  verliehen 
worden.  Somit  lag  in  dem  Bückfall  dieses  Landes  nichts  Besonderes 
oder  Ungewöhnliches.  Bei  den  Kärntnern  entstand  Zwiespalt  und 
Bathlosigkeit.  Der  Landmarschall  Konrad  von  Auffenstein  hatte  schon 
am  27.  April  durch  seinen  dazu  bevollmächtigten  Schwager  Otto 
von  Lichtenstein  die  Herzoge  Albrecht  und  Otto  als  rechte  Herren 


»)  Loe.  cit.  col.  88,  8«. 

2)  Die  Urkunde  folgt  im  Anhange. 

3)  Steyrer,  col.  87. 


240  Karl  Stögmann. 

von  Kärnten  erkennen  lassen.  In  einer  neuen  Urkunde  vom  10.  Mai 
erneuerte  er  in  sein  und  seiner  Söhne  Namen  diese  Anerkennung  und 
erklärte  seine  Lehen  von  den  österreichischen  Herzogen  empfangen 
zu  wollen  *).  Die  übrigen  Edeln  verlangten  einen  Termin;  wenn 
während  desselben  keine  Hilfe  käme,  würden  sie  sich  unterwerfen. 
Die  Tiroler  dagegen  sandten  eine  Gesandtschaft  an  die  Herzoge, 
deren  Anführer  und  Redner  der  Abt  Johannes  von  Victring  war. 

Die  Gesandten  hatten  den  Auftrag  die  Unmündigkeit  der  Kinder 
Herzog  Heinrich's  und  den  Tod  des  Vaters  den  Herzogen  vorzustellen, 
und  sie  ihrem  Schutze  zu  empfehlen.  In  Gegenwart  Otto's  von  Lich- 
tenstein erledigte  sich  der  Abt  seines  Auftrages.  Es  war  ein  Beweis 
für  die  hohe  Achtung  deren  Albrecht  überall  genoss,  und  für  das 
Vertrauen  auf  seinen  biedern  wohlwollenden  Sinn,  dass  die  Tiroler 
sich  in  solcher  Weise  an  ihn  wandten.  Allein  diesmal  siegten  Rück- 
sichten höherer  Art,  die  Interessen  des  Staates,  die  Consequenz  der 
die  ganze  Regierung  Albrecht's  leitenden  Idee,  Stärkung  der  Haus- 
macht, über  des  Herzogs  natürliches  Gefühl.  „Er  und  sein  ganzes 
Haus  bedauere  den  Tod  seines  Onkels,  weil  er  gleichsam  der  Älteste 
der  Familie  gewesen  sei,  und  er  werde  seine  Tochter,  wenn  sie  anders 
seinen  Rathschlägen  Gehör  geben  wolle,  in  Allem  liebevoll  und  treu 
beschützen;  Kärnten  aber,  das  er  von  der  Hand  des  Reiches  habe, 
wolle  er  nicht  aufgeben  und  ebenso  wenig  Krain  das  er  mit  gutem 
Rechte  in  Besitz  genommen  hätte,  denn  die  Zeit  der  Verpfändung 
sei  verflossen.  Etwas  Anderes  könne  er  ihnen  für  den  Augenblick 
nicht  erwidern".  Dies  die  Antwort  des  Herzogs. 

Die  Gesandtschaft  deren  Zweck  somit  vereitelt  war,  wandte  sich 
nun  an  den  Kaiser.  Der  Abt  erwähnte  seines  herzoglichen  Oheims, 
seiner  treuen  Dienste,  und  empfahl  dem  Kaiser  seine  Tochter,  wie  er 
selbst  sagt,  mit  aller  ihm  zu  Gebote  stehenden  Wohlberedtheit.  Allein 
der  Kaiser  gab  eine  jener  Antworten  die  in  höflicher  Weise  Alles 
verweigern.  Er  wolle  sich  die  Sache  gnädigst  bedenken.  Während 
noch  die  Tiroler  Gesandten  am  kaiserlichen  Hoflager  verweilten, 
erschienen  daselbst  Markgraf  Karl  von  Mähren,  und  Herzog  Heinrich 
von  Baiern  vor  dem  Kaiser,  und  erklärten  laut,  dass  man  ungerecht 
und  unerhört  mit  den  Kindern  des  Herzogs  von  Kärnten  verfahre. 
Allein    sie    erzielten  damit    eben  so   wenig   als  die  an  die  Herzoge 


!)  Beide  Urkunden  folgen  im  Anhange. 


Über  die  Vereinigung'  Kärntens  mit  Österreich.  Z^i 

geschickte  Gesandtschaft  der  böhmischen  Barone  mit  dem  Propste  von 
Wissehrad  und  dem  Bischof  von  Olmütz  an  der  Spitze.  Die  Herzoge 
erklärten  kurzweg,  lieber  wollten  sie  Alles  wagen  und  aufs  Spiel  setzen 
als  Kärnten  zurückgeben  *). 

Inzwischen  war  der  den  Kärntnern  gewährte  Termin  abgelaufen, 
und  Herzog  Otto  begab  sich  in  Person  mit  einem  Heere  nach  Kärnten, 
um  die  Huldigung  zu  empfangend    Am  meisten  wirkte  der  Brief  des 
Kaisers  an  die  Städte,  Herren  und  Landleute,  der  nun  überall  öffent-' 
lieh  verlesen  wurde. 

Der  junge  Johann  war  nicht  im  Stande  dem  Herzoge  zu  wider- 
stehen ,  und  zog  sich  nach  Tirol  zurück.  Die  Unterwerfung  folgte 
ohne  Widerstand  2).  Herzog  Otto  enthob  den  Konrad  von  Auffenstein 
nebst  einigen  anderen  Officialen  ihrer  Stellen  3);  anstatt  des  ersteren 
wurde  Pfannberg  Landhauptmann  von  Kärnten.  In  Krain  wurde 
Friedericus  Libertinus,  der  von  Heinrich  eingesetzte  Landhaupt- 
mann, auch  von  Otto  bestätigt.  Weil  aber  die  Kärntner  Schwierig- 
keiten machten,  indem  sie  behaupteten ,  es  könne  kein  Fürst  des 
Landes  mit  Recht  Lehen  ertheilen  und  Geriebt  halten,  wenn  er  nicht 
nach  alter  Gewohnheit  feierlich  auf  den  Herzogsstuhl  erhoben  würde, 
so  fügte  sich  Otto  dieser  Sitte  zur  grossen  Freude  des  Volkes  und 
zum  nicht  geringen  Staunen  und  Vergnügen  der  österreichischen 
Herren,  die  sich  nicht  wenig  über  die  einzelnen  Gebräuche  des  ganzen 
Festes  lustig  machten.  Nachdem  so  Kärntens  Besitz  von  Seite  der 
Einwohner  des  Landes  gesichert  schien,  eilte  Otto  nach  Österreich 
zurück  um  dort  erst  den  eigentlichen  Kampf  um  das  Land  aufzu- 
nehmen *). 

König  Johann  von  Böhmen  hatte  alle  diese  Vorgänge  auf  dem 
Krankenlager  erfahren  müssen.  Endlich  hergestellt  eilte  er  mit  der 
grössten  Schnelle  aus  Paris  nach  seinen  Erblanden  und  kam  am 
30.  Juli  in  Prag  an  5).    Gewaltig  war  sein  Zorn  erregt,  vorzüglich 


1)  Joh.  Vict.,  p.  417. 

2)  Joh.  Vict.  loc.  cit.  Chron.  Aul.  Heg-,  p.  487.  Karl  IV.  in  seiner  Selbstbiographie 
schiebt,  wohl  nicht  ganz  mit  Recht,  die  Hauptschuld  aii  dem  Verluste  Kärntens 
auf  Konrad  von  AulTensteiii. 

3)  Der  Grund  dafür  lässt  sich  nicht  absehen;  das  gute  Einvernehmen  mit  den  Auircn- 
steinen  dauerte  fort. 

4)  Joh.  Vict.,  p.  418,  419. 

5)  Chron.   Aul.  Reg.,  p.  486. 

SiUb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XIX.  Bd.  II.  Ilft.  16 


242  Karl  S  log' man n. 

gegen  Ludwig  den  Baier,  und  er  schwur  öffentlich  sich  nie  mehr 
mit  diesem  versöhnen  zu  wollen  *).  Das  erste,  was  er  in  Prag  vor- 
nahm, war  ein  Aufgebot  gegen  den  Kaiser  und  die  österreichischen 
Fürsten  zu  erlassen.  Dies  geschah  den  ersten  Tag  nach  seiner 
Ankunft.  Die  rasche  Entschlossenheit  die  er  so  oft  bewiesen,  zeigte 
sich  auch  diesmal  aufs  Glänzendste.  Der  Bischof  von  Olmütz  und  der 
Herzog  von  Sachsen  eilten  in  des  Königs  Namen  nach  Österreich  um 
die  letzten  Vorstellungen  zu  machen.  Die  Herzoge  möchten  doch  die 
Gesetze  der  Gerechtigkeit  beobachten  und  das  Entrissene  zurück- 
stellen. Der  König  wolle  lieber  sein  Schwert  in  der  Scheide  ruhen 
lassen,  als  es  im  Kampfe  entblössen.  Allein  was  geschehen  sei,  könne 
er  nicht  so  hinnehmen,  die  Herzoge  sollten  sich  zur  Rückgabe  oder 
zum  Kriege  bereit  halten.  Die  Antwort  der  Herzoge  lautete  einfach 
und  entschieden :  Sie  wollten  lieber  den  Krieg  aufnehmen,  als  Kärnten 
fahren  lassen  2).  Inzwischen  hatte  König  Johann 's  Aufgebot  nicht 
geringe  Streitkräfte  zusammengerufen.  Auch  war  es  ihm  gelungen, 
den  König  von  Ungern  auf  seine  Seite  zu  ziehen  und  mit  ihm  am 
3.  September  auf  dem  Wissehrad  ein  Bündniss  gegen  Jedermann 
abzuschliessen.  Die  Verzichtleistung  auf  den  polnischen  Königs- 
titel von  Seiten  Johann's  war  die  Lockspeise  gewesen,  mit  der  er  den 
König  von  Ungern  verleiten  konnte,  seine  früheren  Verträge  mit 
Österreich  so  rücksichtlos  zu  missachten;  die  Einmischung  der  pol- 
nischen Angelegenheiten  verzögerte  aber  wohl  auch  den  raschen 
Ausbruch  des  Krieges  gegen  Österreich. 

Die  Könige  von  Ungern  und  Polen  scheinen  zu  einer  ausgie- 
bigen Hilfe  nicht  eher  geneigt  gewesen  zu  sein ,  bis  der  Friede  mit 
Polen  in  allen  Puncten  festgestellt  wäre.  Wohl  hauptsächlich  um 
zu  derdesshalb  verabredeten  Zusammenkunft  Zeit  Zugewinnen,  begab 
sich  Johann  nach  Regensburg  zu  Kaiser  Ludwig,  mit  dem  er  am  16. 
September  einen  Waffenstillstand  bis  Johannis  des  nächsten  Jahres 
abschloss,  in  den  auch  die  Herzoge  von  Österreich  eingeschlossen 
waren  3).  Während  dieser  Zeit  sollte  zu  Regensburg  ein  Friede 
verhandelt  werden.  König  Johann  benützte  die  Zeit  des  Waffen- 
stillstandes,   um    während   eines    dreiwöchentlichen  Aufenthaltes  in 


1)  Alb.  Arg.  ap  Urst.,  tora  II,  p.  125. 

2)  Joh.  Vict.,  p.  420. 

3)  Chron.  Aul.  Reg-.,  p.  486.  Vergl.  Buchner,  5,  p.  459. 


Ober  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  «4o 

Ungern  mit  den  Königen  von  Ungern  und  Polen  sich  vollständig  zu 
einigen  *). 

Indessen  schlichen  die  Friedensverhandlungen  zu  Regenshurg 
ihren  langsamen  Gang;  mit  Streitigkeiten,  wer  in  den  Waffenstill- 
stand eingeschlossen  sei,  wer  nicht,  wurde  die  Hauptsache  verzögert, 
bis  es  sich  endlich  herausstellte,  dass  die  Verhandlungen  zu  keinem 
Resultate  führen  könnten.  Darüber  waren  drei  Monate  vergangen, 
und  das  Jahr  1335  ohne  weitere  Erfolge  für  ein  oder  die  andere  Partei 
abgelaufen. 

Zu  Anfang  des  Jahres  1336  begab  sich  nun  Kaiser  Ludwig 
nach  Wien,  vermuthlich  um  gemeinschaftlich  mit  den  Herzogen  den 
Kriegsplan  gegen  Böhmen  zu  berathen.  Ehrenvoll  wurde  der  Kaiser 
aufgenommen,  aber  die  Orgeln  schwiegen  überall  während  der  Anwe- 
senheit des  Gebannten.  Nach  mehrfachen  Verhandlungen  kehrte  der 
Kaiser  wieder  nach  München  zurück  2). 

Inzwischen  hatte  Johann  von  Böhmen  erreicht,  was  er  durch 
die  Abschliessung  des  Regensburger  Vertrages  erzwecken  wollte, 
und  hielt  demnach  nicht  mehr  für  nöthig,  den  Ablauf  des  Waffen- 
stillstandes derauf  den  24.  Juni  festgesetzt  war,  abzuwarten,  sondern 
brach  schon  im  Monat  Februar  am  Tage  des  h.  Mathias  (25.  Februar) 
von  Prag  auf,  und  fiel  in  Österreich  ein.  Die  ganze  Zeit  der  Fasten 
und  Ostertage  hindurch  verwüstete  er  nun  mit  Feuer  und  Schwert 
die  Gegenden  nördlich  an  der  Donau  3). 

Inzwischen  hatte  auch  Otto  aus  Österreichern,  Steirern  ,  Kärnt- 
nern und  Krainern  ein  nicht  unbedeutendes  Heer  aufgebracht,  mit  dem 
er  dem  Könige  von  Böhmen  gegenüber  ein  Lager  schlug.  Allein 
während  er  durch  mehrere  Tage  vergebens  die  Ankunft  des  Kaisers 
erwartete,  der  inzwischen  Baiern  noch  nicht  verlassen  hatte4), 
rückten  im  feindlichen  Lager  Hilfs  truppen  der  Ungern  ein,  und  Johann 
von  Böhmen  Hess  zum  Angriff  rüsten. 


*)  Chron.  Aul.  Reg.,  p.  489.  Vita  Car.  IV.,  p.  230. 

2)  Joh.  Vict.,  p.  420.   Vergi.  Böhmer,  Reg.  1722,  1723,  p.  107. 

3)  Chron.   Aul.  Reg.,  p.  490.  Joh.  Vict.,  p.  420. 

4)  Der  Herzog  war  früher  aufgebrochen  ,  als  es  mit  dem  Kaiser  verabredet  worden 
war.  Es  folgt  dies  aus  einer  späteren  Stelle  des  Joh.  Vict.,  p.  421.  Duces  Impe- 
ratoris  accipiunt  ambassatam,  admirantis,  quod  contra  statulum  et  extra  placitos 
dies  dux  Otto  egressus  fuerat  ad  bellandum. 

i6* 


244  Karl  Stögmaun. 


8 


Da,  plötzlich  mitten  in  der  Nacht,  floh  Herzog  Otto  von  panischem 
Schreck  ergriffen,  mit  einigen  Wenigen  heimlich  gegen  Wien.  Man 
hatte  ihm  den  Verdacht  eingeflösst,  dass  Verrath  in  seinem  eigenen 
Heere  sich  eingeschlichen  habe,  dass  einige  Grosse  die  Absicht  hätten, 
in  der  Schlacht  zum  Feinde  überzugehen,  und  desshalb  schon  die 
ungrischen  Feldzeichen  bei  sich  verborgen  hätten,  ja  dass  man  ihm, 
dem  Herzog,  selber  nach  dem  Leben  strebe.  Der  dadurch  bewirkten 
Flucht  des  Führers  folgte  die  Auflösung  und  Zerstreuung  des  ganzen 
Heeres,  ungestraft  verwüstete  nun  König  Johann  das  österreichische 
Gebiet,  eroberte  mehrere  feste  Plätze,  machte  bedeutende  Gefangene, 
und  kehrte  dann,  nachdem  er  an  mehreren  Orten  Besatzungen  zurück- 
gelassen, nach  Prag  zurück,  um  dort  das  Gold  zur  Fortsetzung  des 
Krieges  zu  erpressen  J). 


!)  Joh.  Vict.,  p.  420.  Chron.  Aul.  Reg.  490.  Etwas  confus:  Joh.  Vitodur,  p.  1824.  Ganz 
eigenthümlieh  ist  der  Bericht  des  Chronicon  Zwetlense;  ap.  Pez,  I,  p.  539.  A.  U. 
1336.  Johannes  Rex  ßohemie  iterum  jam  tertia  vice  accepta  occasione,  collecto 
exercitu,  volebat  Austriam  intrare  ;  Rex  vero  Ludvicus,  congregato  exercitu  magno, 
Duces  nostros  juvando,  volehat  superius  de  Waharia  Bohemiam  intrare,  cui  Rex 
Bohemie  primo  cum  suo  exercitu  occurit.  Cumque  vidisset  fortitudinem  adversariorum, 
fugit,  non  Valens  faciem  Regis  Ludevici  sustinere,  descenditque  per  terram  suam, 
castra  metatus  est  juxta  Znoymani  Dux  autem  Otto  cum  maxima  multitudine  peditum 
venit  in  occursum  ejus.  Cumque  in  crastino  essent  pugnaturi ,  nescio  quo  consilio 
occulto  inter  se  decreto  factum  est,  ut  rex  Bohemie  retro  se  in  Bohemiam  fugeret 
Dux  autem  noster  cum  omnibus  fugit,  suis  non  retro  respicientibus. 

Der  erste  abweichende  Punct  dieser  Erzählung,  die  Flucht  Johann's  vor  Lud- 
wig, beruht  auf  einer  offenbaren  Zeitverwechslung;  der  Bericht  des  Joh.  Vict.  und 
die  Regesten  beweisen ,  dass  Ludwig  erst  später  (Juli)  aus  Baiern  aufbrach.  Der 
gegen  die  Böhmen  sehr  eingenommene  Chronist  machte  aus  dem  spätem  Rück- 
zuge des  Königs  eine  Flucht,  die  er  noch  obendrein  zu  einer  ganz  unmöglichen 
Zeit  geschehen  lässt.  Auch  der  zweite  Punct,  die  Flucht  der  Böhmen  aus  dem 
Lager,  ist  eine  Erfindung  des  Chronisten,  zu  der  ihn  sein  durch  den  Triumph  der 
Feinde  über  Otto 's  Flucht  beleidigter  Patriotismus  verleitet  haben  mag.  Das  Factum 
ist  mehr  als  unwahrscheinlich,  dass  ein  ganzes  Heer  die  Flucht  ergreift,  das  eben 
erst  bedeutende  Verstärkungen  erhalten  hat.  Auch  hätte  Joh.  Vict.  ein  so  wichtiges 
Ereigniss  nicht  verschwiegen.  Weiter  berichtet  nun  der  Chronist  von  Zwetl,  der 
König  sei  von  der  Flucht  zurückgekehrt,  habe  Guntharsdorf,  Mauerperg,  Weiger- 
werch  erobert,  Seefeld  nach  vierwöchentlicher  Belagerung  eingenommen  und 
sei  durch  Schwaben  heimgekehrt. 

So  bestimmt  diese  Angaben  lauten,  so  können  sie  doch  nicht  vollkommen 
richtig  sein.  Die  nächtliche  Flucht  der  Österreicher  fällt  auf  den  24.  April;  der  König 
kam  nach  Prag  am  24.  Mai ,  folglich  blieben  für  die  eben  erzählten  Ereignisse 
30  Tage.  Nimmt  man  davon  die  28  Tage ,  die  die  Belagerung  Seefelds  dauerte, 
weg,  so  bleiben  für  den  Rückzug,  die  Wiederkehr  aus  Böhmen,  die  Eroberung  der 
drei  anderen  Plätze  und  den  Rückzug  nach  Prag  nicht  mehr  als  —  zwei  Tage.    Man 


Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  245 

Auch  des  Königs  Sohn  Karl  hatte  von  Tirol  aus  den  Krieg  gegen 
den  Grafen  von  Görz,  den  Bundesgenossen  der  Österreicher,  mit  Glück 

geführt *). 

Herzog  Otto  aber  wurde  von  seinem  Bruder  zürnend  empfangen, 
und  klagend  rief  der  kranke  aber  geistesstarke  Fürst ,  dass  seinem 
Hause  eine  solche  Schmach  noch  nie  wiederfahren2). 

Am  21.  Juni  verliess  der  König  Prag,  wo  er  durch  Gewalttätig- 
keiten aller  Art  an  20.000  Mark  Silber  zusammengebracht  hatte, 
und  zog  neuerdings  nach  Österreich,  wo  er  mit  den  Königen  von 
Ungern  und  Polen  bei  Marcheck  sich  vereinte  3).  Die  österreichi- 
schen Herzoge  hatten  ebenfalls  ein  Heer  gerüstet,  zu  dem  sich  dies- 
mal auch  Herzog  Albrecht  begab,  seine  Krankheit  nicht  achtend,  um 
eine  Wiederholung  der  Ereignisse  des  frühern  Feldzuges  zu  ver- 
hüten *).  Auch  König  Ludwig  war  endlich  im  Juli  mit  einem  Heere 
aufgebrochen,  und  bedrohte  Niederbaiern,  das  Land  des  dem  Böhmen- 
könige verwandten  und  verbündeten  Herzogs  Heinrich.  Auf  diese 
Nachricht  eilte  Johann  aus  Österreich  über  Budweis  und  Camb  nach 
Straubing  seinem  Eidame  zu  Hilfe,  dessen  Land  inzwischen  auf 
eine  kaum  je  erhörte  Weise  verwüstet  worden  war  5),  und  lagerte 
sich  bei  Landau  an  der  Isar,  wo  er  sich  aufs  Beste  verschanzte. 
Ludwig  schlug  zwischen  dem  Cistercienserkloster  Adlersbach  und  dem 
Donaustrome  sein  Lager,  in  das  bald  die  österreichischen  Herzoge 
über  Passau  heranrückend  einzogen.  Zwölf  Tage  vergingen  so  unter 
täglichen  kleinen  Gefechten;  am  13.  brach  Ludwig  plötzlich  auf,  und 
zog  über  Passau  nach  Linz ,  vorzüglich  durch  die  österreichischen 
Herzoge  bewogen,  die  von  Oberösterreich  aus  einen  Einfall  in  Böhmen 
beabsichtigten.  König  Johann  zögerte  noch  einen  Tag  zu  Landau,  um 
abzuwarten,  wohin  der  Kaiser  sich  wenden  würde;  dann  zog  er  in 
Eilmärschen  denselben  Weg,  den  er  gekommen  war  nach  Böhmen 
zurück  6).    Da  änderte  noch  einmal  Ludwig's  wankelmüthiger  Sinn 


kann  es  demnach  nicht  wagen,  diesen  Bericht  in  allen  Einzelheiten  für  glaubwür- 
dig hinzunehmen. 
i)  Vita  Car.  IV.,  p.  251. 

2)  Joh.  Vict.,  p.  420. 

3)  Chron.  Aul.  Reg.,  p.  491. 

4)  Joh.  Vict.,  p.  421. 

5)  Chron.  Salisburg.  Pez  I,  p.4U.     Pas  Jahr  ist  irrig  1337  angegeben. 

6)  .loh.  Vict..  p.  422,    Chron.  Aul.  Reg.   p.  492,  493.    Job.  Vitod,  p.  1827. 


240  Karl  St  ög  mann. 

und  seine  Habgier  unvermuthet  den  Gang  der  Ereignisse,  der  sich 
für  Österreich  so  günstig  gestaltet  hatte,  denn  auch  die  Ungern  hatten 
das  Marchfeld  verlassen,  und  sich  über  die  Grenze  zurückgezogen  *). 
Nun  aber  verlangte  Ludwig  von  den  Österreichern  die  Verpfändung 
mehrerer  fester  Plätze  in  Oberösterreich.  Nicht  leicht  konnten  die 
Herzoge  ein  solches  Zugeständniss  machen ,  und  damit  einen  baieri- 
schen  Fürsten  festen  Fuss  fassen  lassen  in  einer  Provinz,  die  beinahe 
immer  ein  Zankapfel  zwischen  Baiern  und  Osterreich  gewesen  war. 
Daher  antworteten  sie:  „Sie  könnten  diese  bis  dahin  immer ungetheilte 
Provinz  auch  nicht  um  einen  Fleck  Landes  verkürzen ,  anderswo 
würden  sie  sich  seinen  Ansprüchen  nach  Verdienst  bereitwillig  zeigen." 
Ludwig  mochte  die  Forderung  gestellt  haben,  weil  er  hoffte,  aus  der 
Notwendigkeit  seines  Bündnisses  für  Österreich  Vortheil  ziehen  zu 
können,  mehr  vielleicht  noch,  weil  es  ihm  überhaupt  um  einen  Vor- 
wand zu  thun  war,  dieses  Bündniss  selbst  aufzulösen,  das  ihm  den 
Österreichern  zu  viel  Vortheil  zu  gewähren  schien.  Eine  völlige  Besie- 
gung des  Luxemburgers  hätte  die  österreichische  Macht  zu  einer  nur 
zu  gefährlichen  Höhe  erhoben,  und  lag  daher  nicht  in  der  Absicht 
des  Kaisers. 

So  brach  er  denn  mit  seinem  ganzen  Heere  nach  Baiern  auf. 
Der  Herzog  Ulrich  von  Würtemberg  und  der  in  diesem  Kriege  zum 
Markgrafen  erhobene  Graf  von  Jülich  folgten  ihm;  die  Herzoge  sahen 
sich  von  ihren  Bundesgenossen  verlassen  2). 

Der  Erfolg  des  fortgesetzten  Krieges  war  durch  diese  Vorfälle 
für  die  Herzoge  mindestens  ein  sehr  unsicherer  geworden.  Aber  auch 
König  Johann  war  nicht  abgeneigt,  diesen  Krieg  zu  beenden.  Es  fehlte 
ihm  an  Geld;  sein  vorzüglichster  Feind  war  Ludwig,  nicht  die 
Österreicher. 

Die  ungünstigen  Nachrichten  die  er  von  seinem  Sohne  Karl 
erhielt,  mögen  ihn  noch  mehr  in  dieser  friedlichen  Gesinnung  bestärkt 
haben  3).  So  trafen  die  Wünsche  der  Gegner  in  der  Hauptsache 
zusammen;  in  den  einzelnen  Puncten  aber  war  es  schwer,  eine 
Einigung  zu  erzielen.  Desshalb  nahmen  die  zuerst  zu  Linz  angeknüpften 


*)  Verschiedene  Angaben  hierüber  hat  Joh.  Vitod,  p.  1824. 
2)   Chron.   Aul.  Reg-.,  p.  493.    Joh.  Vict.,  p.  422. 

3J  Vita  Car.  quarti,  p.  251,  252.    Trident   und  das  Etsehthal  war  von  den  Italienern 
bedroht. 


Über  die  Vereinigung-  Kärntens  mit  Österreich.  247 

Friedensverhandlungen  nur  einen  langsamen  Verlauf.  Ohne  Resultat 
schied  man  von  Linz.  Bei  einer  neuen  Zusammenkunft  zu  Freistadt 
an  der  Donau  zwischen  Grein  und  Ips  trat  Albrecht's  Gemahlinn 
Johanna  als  Vermittierinn  auf,  und  bewirkte  wirklich  am  4.  September 
einen  vorläufigen  Friedensschluss  i).  Die  genaueren  Puncte  des- 
selben wurden  im  nächsten  Monate  bei  einer  neuen  Zusammenkunft 
zu  Enns  festgestellt,  wo  endlich  am  9.  October  der  Friede  definitiv 
abgeschlossen  wurde,  unter  folgenden  Bedingungen. 

Johann  von  Böhmen  leistet  für  sich  und  seine  Erben,  insbesondere 
für  seinen  Sohn  Johann,  dessen  Gemahlinn  Margaretha  und  ihre 
Schwester  Verzicht  auf  das  Herzogthum  Kärnten ,  Krain  und  die 
March.  Ausgenommen  sind  dieBezirke  jenseits  derSachsenburch,  die 
dem  Erzstift  Salzburg  gehören,  dann  der  dem  Lande  Tirol  einverleibte 
Theil  an  der  Drave,  endlich  das  Schloss  Aufienstein,  und  was  die 
Herren  Konrad  von  Auffenstein  und  Liebenberg  besitzen.  Der  König 
und  sein  Sohn  verpflichten  sich  endlich,  bis  zum  Feste  des  heiligen 
Georg,  d.  i.  den  24.  April  alle  Briefe  und  Urkunden  zurückzugeben, 
die  sie  über  die  besagten  Länder  besitzen.  Der  Erzbischof  von  Salz- 
burg, die  Gräfinn  Beatrix  von  Görz  und  Graf  Albrecht  von  Görz 
werden  an  ihren  Rechten  unbeschädigt  verbleiben. 

Dagegen  entsagen  die  österreichischen  Herzoge  zu  Gunsten 
Johann's  von  Tirol  feierlich  allen  Ansprüchen  auf  Tirol,  und  werden 
gleichfalls  alle  darauf  bezüglichen  Urkunden  bis  24.  April  des  näch- 
sten Jahres  ausliefern.  Znaim,  das  dem  Herzog  Otto  für  den  Braut- 
schatz seiner  Gemahlinn  verpfändet  ist,  wird  dem  König  von  Böhmen 
zurückgegeben,  und  ihm  überdies  Laa  und  Waidhofen  sammt  dem 
Schlosse  für  10.000  Mark  Prager  Groschen  verpfändet  2). 

Im  folgenden  Jahre  1337  bestätigte  König  Karl  von  Ungern 
den  Frieden  zu  Enns  3). 

Somit  war  der  Streit  um  Kärnten  in  der  Hauptsache  abge- 
schlossenworden. Kraftlos  und  darum  unbedeutend  waren  die  Versuche 


i)  Joh.  Vict.,  p.  422.    Chron.  Aul.  Reg.  p.  493.  Ziemlich  unklar:  Job.  Vitodur,  p.  1824. 

2)  Alle  diese  Bedingungen  sind  in  einer  Reihe  von  8  Urkunden  ausgestellt  zu  Enns, 
während  des  9.,  10.  und  11.  Octobers,  verzeichnet.  (Vergl.  Steyrer,  col.  97,  98. 
Liinigl,  p.  1015.  Lichnowsky,  Regesten  1081  —  1086  inclus.)  Die  Rückgabe  von 
Znaim  findet  sich  als  Bedingung  angegeben  in  der  Vita  Car.  IV.,  p.  252.  Die  Ver- 
pfändung von  Laa  und  Waidhofen  als  Friedensbedingung  erhellt  aus  einer  Urkunde 
von    1341. 

•')  Steyrer,  col.  117. 


248  Karl  Stögmann. 

von  Seite  der  Söhne  König  Johann's,  den  Kampf  noch  einmal  zu 
erneuern.  Zwar  erklärten  sie  die  Verträge  ihres  Vaters  mit  den  öster- 
reichischen Herzogen  für  ungiltig,  und  schwuren  im  Vereine  mit  den 
tirolischen  Herren  nicht  anzulassen,  bis  sie  Kärnten  wieder  gewonnen 
hätten1);  allein  alle  Versuche,  ihre  Pläne  zu  verwirklichen,  miss- 
langen.  Im  August  1338  begab  sich  Herzog  Albrecht  selbst  nach 
Kärnten,  und  ordnete  die  Angelegenheiten  des  Landes  2).  Den 
Landesherren,  Rittern  und  Knechten  wurden  ihre  Freiheiten  bestätigt; 
ebenso  erhielt  Klagenfurt  die  Bestätigung  seiner  hergebrachten 
Stadtrechte3);  ein  Gesetz  verbot  alle  Zweikämpfe  im  Lande*). 
So  zeigte  sich  Albrecht  als  kräftiger  Beherrscher  des  Landes,  dem 
zu  widerstehen  nur  fruchtlos  sein  konnte.  Dennoch  gab  Markgraf 
Karl  erst  am  15.  December  1341  seine  Einwilligung  in  den  Ennser 
Vertrag  5);  Johann  und  Margaretha  gaben  sie  nie.  Desshalb  behielten 
auch  die  österreichischen  Herzoge  Laa  und  Waidhofen,  das  sie  dem 
Ennser  Vertrage  gemäss,  an  Johann  von  Böhmen  hätten  verpfänden 
müssen,  mit  ausdrücklicher  urkundlicher  Bewilligung  des  Königs6), 
und  trösteten  sich  über  die  Drohungen  Johann's  und  Margarethens, 
wie  der  Abt  von  Victring  meint,  mit  den  Worten  des  Virgil: 

„Grandia  saepe  quibus  mandavimus  ordea  sulcis  Infelix  lolium 
et  steriles  naseuntur  avenae." 

Werfen  wir  nun  noch  einen  Blick  auf  die  dargestellten  Ereig- 
nisse zurück,  so  können  wir  sagen: 

Die  Erwerbung  Kärntens  war  das  Resultat  verwickelter  politi- 
scher Combinationen.  Die  besonnene,  ausdauernde  Politik  Herzog 
Albrecht's  siegte  über  die  ränkevolle  List ,  wie  über  die  glänzende 
Tapferkeit  Johann's  von  Böhmen. 

Die  Vereinigung  Kärntens  ist  ein  Sieg  der  Habsburger  in  ihrem 
Kampfe  mit  dem  Hause  Luxemburg,  ist  ein  Sieg  der  Idee,  die  das 
ganze  Haus  der  Habsburger  leitete,  in  besonnenem,  kräftigen  Fort- 
schritte, langsam,  aber  sicher  ein  grosses  mächtiges  Österreich  zu 
begründen. 


i)  Joh.  Vict.,  p.  424. 

2)  Joh.  Vict.,  p.  429. 

3)  Lichnowsky,  Reg.  1170,   1171,   1172. 

4)  Steyrer,  col.  121. 

5)  Steyrer,  eol.  130. 

6)  Steyrer,  col.  129. 


Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  ä49 


Urkunden  -  Beilagen. 
I. 

König  Rudolf  belehnt  auf  Bitten  seiner  Söhne  Albreeht  und  Rudolf  den 
Grafen  Meinhart  von  Tirol  mit  dem  Herzogthume  Kärnten,  welches  er 
früher  seinen  Söhnen  verliehen  hat,  und  welches  ihm  nun  diese  zurücksagen. 
Zugleich  bestimmt  er  das  Verhältniss  des  neu  ernannten  Herzogs  zu  Krain, 
und  zu  den  Herzogen  von  Osterreich.    Augsburg,  am  1.  Februar  1286. 

Rudolfus  dei  gratia  Romanorum  Rex,  Semper  Augustus  Omnibus 
Im  perpetuum.  Ex  Augustalis  benevolentie  largitate  providere  consue- 
vit  benemeritorum  fide'ium  suorum  praeclara  meritagraciosisamplecti 
favoribus  et  condignis  bonorum  insigniis  munißce  premiare,  quod 
exemplo  ceteri  provocati,  ad  devotionem  Imperio  debitam  feruentiori- 
bus  animis  se  disponant.  Eapropter  noverit  presens  etas  etfuturi  tem- 
poris  succesiva  posteritas,  quod  Illustres  Albertus  et  Rudolfus,  Duces 
Austrie  et  Stirie,  Domini  Carniole,  Marcbie  et  portus  Naonis,  prinei- 
pes  et  filii  nostri  dilecti  apud  Augustam  in  nostra  presentia  constituti 
Celsitudini  nostre  devotis  preeibus  institerunt,  quatenus  Principatum 
sive  Ducatum  terre  Karintbie,  quo  ipsos  iam  dudum  cum  ceteris  Du- 
catibus  videlieet  Austrie  et  Stirie  supradictis  de  consensu  prineipum 
Electorum.  Jus  in  Electione  Romani  Regis  habentium  inuestiuisse  re- 
coligimus  in  Augusta  in  manus  nostras  libere  resignatum  speetabili 
viro  Meinhardo,  Comiti  Tyrolensi  et  beredibus  suis  conferre  ac  ipsum 
de  eodem  solleinpniter  investire  de  Regali  nostra  Clemencia  dignare- 
mur.  Nos  igitur  prelibati  Comitis  merita,  grata  quoque,  que  nobis  et 
Imperio  Romano  frequenter  impendit  obsequia,  et  que  adbuc  impen- 
dere  poterit  graeiora  benignius  intuentes  et  sollertiusadvertentos  quod 
crescente  numero  Imperii  prineipum  Romanorum  vires  Imperii  sui  ro- 
boris  pariter  et  decoris  suseipiunt  incrementum,  memoratum  Meinbar- 
dum  pro  se  et  suis  heredibus  de  Ducatu  predicto  terre  Karinthie,  in 
manus  nostras  per  filios  nostros,  Duces  predictos  libere  resignato  ad 
devotam  ipsorum  instanciam  adiuneta  sollempnitate  debita  et  consueta 
curauimus  inuestire  Eundem  cum  suis  beredibus,  qui  sibi  in  eodem 
Ducatu  successerint  Juri  honori  et  titulo  ceterorum  Imperii  prineipum 
perpetuo  ascribentes.  Sed  ne  ex  infeodatione  predieta  lnter  prefatum 
Albertum  filium  nostrum  suosque  successores  in  Ducatibus  sive  Do- 
minus supradictis  ex  una  et  Jamdictum  Mcinbardum  Ducem  suosque 


250  Karl  Stögmaim. 

Successores  in  Ducatu  Karinthie  ex  parte  altera  ulla  in  posterum  dis- 
sensionis  materia  valeat  suboriri  tarn  ipsi  Alberto  quam  dicto  Mein- 
hardo  ac  successoribus  eorundem  Imperpetuum  taliter  providemus  hoc 
expressius  attestantes,  quod  ex  collacione  Ducatus  terre  Karinthie 
perNos  ipsi  DuciMeinhardo  nunc  facta  eidem  Meinhardo  vel  suis  suc- 
cessoribus in  eodem  nulluni  ius  penitus  in  terris  Carniole  et  Marchie. 
Sclavonice,  que  vulgo  Windisrnarch  dicitur,  acquiratur,  quin  pocius 
dicte  terre  cum  Ministerialibus,  Castris,  Civitatibus,  Advocatiis  prediis 
ac  ceteris  suis  pertinenciis  universis  libere  apud  filium  nostrum  pre- 
dictum,  suosque  Successores  remaneant  cum  omni  Juris  plenitudine, 
sicut  eidem  per  Nos  iam  pridem  apud  Augustam  Sceptro  nostro  regio 
sunt  collate.  Salvis  nichilominus  ipsi  Alberto  filio  nostro  suisque  Suc- 
cessoribus universis  castris,  civitatibus  Ministerialibus  ac  ceteris  bonis 
et  Juribus  quocumque  nomine  censeantur,  si  quas  vel  si  quae  in  dictis 
terris  Carniole  et  Marchie  Sclavonice  ab  olim  principes  sive  Duces 
Karinthie  quocumque  jure  vel  titulo  possederint.  Ad  que  dictus  Dux 
Meinhardus  suique Successores  nullum  omnino  Juris  aut  facti  respec- 
tum  habebunt.  Ducatum  quoque  terre  Karinthie  Dux  Meinhardus  aut 
sui  heredes  cum  omnibus  illis  Juribus  et  honoribus  possidebunt,  sicut 
ipsum  Illustres  quondam  Bernhardus  et  Ulricus  Duces  Karinthie  Illu- 
strium  virorum  Leupoldi  et  Friderici  Ducum  Austrie  et  Stirie  tempo- 
ribus  possederunt  eotamen  semper  excepto,  quod  si  quas  Civitates, 
Castra,  bona  vel  iura  quocunque  nomine  censeantur  Duces  Jamdicti 
Karinthie  in  terris  Carniole  et  Marchie  supradictis  sicut  premisimus, 
tenuerunt  salva  et  integra  filio  nostro  Alberto  ac  Successoribus  suis 
remaneant  et  ab  ipso  terrarum  suarumDominio  nullo  umquam  tempore 
sequestrentur.  In  Ducatu  quoque  terre  Karinthie  omnia  illa  jura  que 
Leupoldus  et  Fridericus  principes  supradicti  tarn  in  hominibus  quam 
in  bonis  inibi  tenuerint  filius  noster  predictus  suique  successores 
Austrie  et  Stirie  Duces  similiter  et  pari  Jure  per  omnia  possidebunt 
Preterea  Dux  Meinhardus  predictos  Ministeriales  filii  nostri  in  se  et  in 
suis  Castris  in  bonis  ac  Juribus,  que  in  Karinthia  possident,  non  gra- 
vabit  in  aliquo  contra  iusticiam  nee  artabit,  nee  eciam  Castra  vel  pos- 
sessiones  eorum,  quoque  ea  iure  possideant,  comparabit,  Idipsum 
quoque  quoad  omnes  filii  nostri  Ducatus  et  terras  Dux  predictus  fide- 
liter  observabit.  Qua  lege  eciam  filium  nostrum  restringimus  vice 
reeiproea  ut  nee  ipse  videlicet  in  Ducatu  Karinthie  possessiones  aut 
Castra  Ministerialium  dicti  Ducis  Meinhardi  quocumque  ad  ipsos  iure 


Über  die  Vereinigung   Kiirntens  mit  Österreich.  25  I 

spectantia  comparare  presumat.  Universis  itaque  Nobilibus ,  Ministe- 
rialibus, Militibus,  Clientis,  Civibus  ac  Ceteris  qui  predicto  Ducatui 
fidelitatis  bomagio  ac  debite  servitutis  obsequio  astringantur  per  ipsum 
Ducatum  Karintbie  constitutis  Auetoritate  presentium  districte  perci- 
piendo  mandamus  quatenus  dicta  Meinbardo  tamquam  suo  vero  Duci 
et  Domino  devotione  debito  intendentes  integra  suiiuraDucatus  cidem 
exbibeant  et  assignent.  In  quorum  omnium  memoriam  et  robur  per- 
petuo  valiturum  presens  scriptum  exinde  conscribietMajestatis  nostre 
sigillo  iussimus  communiri.  Testes  bujus  rei  sunt  Venerabiles  Ru- 
dolfus  Salzburgensis  Archiepiscopus,  Cancellarius  noster,  Henricus 
Basiliensis,  Wernbardus  Pataviensis ,  Henricus  Ratisponensis,  Rein- 
potoAysfetensis,  HartmannusAugustensis,  Hartnidus  Gurcensis,  Cbun- 
radus  Cbimensis  et  Cunradus  Lavantensis  Ecclesiarum  Episcopi  Nec- 
non  Illustres  Ludovicus  Comes  palatinus  Reni  et  Henricus  frater  suus 
Duces  Bavarie,  Fridericus  Lantgravius  Turingie  et  Nobiles  viriBurc- 
hardus  comes  de  Hoenbergb  Rudolfus  et  Henricus  fratres  Comites  de 
Monteforti  et  Fridericus  Burggravius  de  Nurenberk  et  aliquam  plures 
fide  digni  Signum  Serenissimi  domini  Rudolf!  Regis  Romanorum  In- 
dictissimi  Datum  Auguste  Kalendis  Februarii  Indictione  XIV  Anno 
domini  MCCLXXXVI  Regni  vero  nostri  tertio  decimo. 

K.  k.  g.  A.  P.  0.  Sig.  pend. 

Willebrief  Herzog  Albrecht's  von  Sachsen  zur  Belehnung  Meinhart's  von  Tirol 

mit  Kärnten,  auf  Ansuchen  der  Herzoge  von  Österreich,  welche  dieses  Land 

zum  Lehen  haben,  es  aber  zurücksagen.  Nürnberg,  28.  März  1285. 

Albertus  dei  gratia  Dux  Saxonie,  Angarie  et  Westfalie  burg- 
graviusque  Magdeburgensis  omnibus  inperpetuum.  Imperii  celsitudo 
decoris  tociens  pociora  sue  subsistentie  fulcimenta  recipit,  et  vires 
forciores  assumit  quociens  numerus  principum,  quibus  idem  Imperium 
quasi  collumpnis  egregiis  potenter  innititur  adaugetur.  De  quorum 
utique  multitudine  Imperialis  excellencia  tanto  sublimior  conspicitur, 
quanto  in  eisdem  principibus  firmitate  prestabili  solidior  invenitur  — 
qua  Igitur  Illustres  principes  domini  Albertus  et  Rudolfus,  Duces 
Austrie  et  Stirie  pertinuerunt  de  nostro  beneplacito  et  consensu  pro- 
cedi,  quod  Serenissimus  dominus  noster  Romanorum  Rex  Inclitus  de 
Ducatu  Karintbie.  quem  ab  eo  iidem  principes  tenent  in  feoduin  ad 
resignationem  ipsorum  liberamSpectabilem  virum  dominum Meinbardum 


252  KariStögmann. 

comitem  Tyrolensem ,  quem  adornat  generosi  sanguinis  altitudo, 
quemque  prout  cognovimus  ex  praeclare  fame  praeconio  attolit  rerum 
oppulentia  et  potestas  infeodet  et  clarescere  faciat  in  catervaprincipum 
honore  et  gloria  principatus  nos  decus  et  decorem  Imperii  amplec 
tentes,  Considerantes  eciam  idem  sacrum  Imperium  comitis  eiusdem 
posse  servitiis  salubrius  ad  iuvari,  predictorum  Ducum  Austrie  preci- 
bus  inclinati  nostrum  ad  hoc  benevolum  adbibemus  consensum,  quod 
praefatus  Comes  per  ipsum  dominum  nostrum  Regem  infeodetur  de 
Ducatu  Karintbie  prenotato  et  insigniter  honore  et  scemate  principa- 
tus numero  Imperii  principum  aggregetur.  In  cuius  nostri  consensus 
evidens  testimonium  presens  scriptum  sigillo  nostro  fecimus  commu- 
niri  Datum  Nurenberch  IVKalendis  aprilis  Anno  domini  MCCLXXXV. 

K.  k.  g.  A.  Orig.  P.  Sig.  pend. 

III. 

König  Rudolf  bestimmt  zur  Erhaltung  des  Friedens  zwischen  seinem  Sohne 
Albrecht  und  dem  Grafen  Meinhart  von  Tirol,  dass  dem  Letzteren  aus  der 
Belehnung    mit   Kärnten   kein  Recht    auf  Krain    erwachsen  solle.     Augsburg, 

22.  Januar  1286. 

Rudolfus  dei  gracia  Romanorum  rex  semper  Augustus  universis 
Imperii  Romani  fidelibus  presentes  litteras  inspecturis  vel  et  audituris 
gratiam  suam  et  omne  bonum.  Perpetue  pacis  et  amicicie  federa  inter 
Illustrem  Albertum  Ducem  Austrie  et  Slirie  dominum  Carniole,  mar- 
chie  et  Portus-naonis  principem  et  filium  nostrum  dilectum  ex  una  et 
spectabilem  virum  Meinhardum  comitem  Tyrolensem  socerum  suum 
ex  parte  altera  vigore  perpetuo  affectantes  tarn  filio  nostro  predicto 
quam  ipsi  comiti  in  futurum  taliter  providemus  hoc  expressius  atte- 
stantes.  Quod  ex  collacione  Ducatus  sive  principatus  terre  Karintbie 
quo  dicti  comitis  titulum  ampliare  disponimus  eidem  in  terris  Carniole 
et  Marcbie  Sclavice  que  vulgo  Windischmarch  dicitur,  nullum  jus 
penitus  acquiratur  quam  pocius  dicte  terre  cum  ministerialibus  castris 
civitatibus,  bonis,  bominibus,  advocatiis  et  ceteris  suis  pertinenciis 
universis  libere  apud  filium  nostrum  predictum  permaneant  cum  omni 
juris  plenitudine  sicud  eundem  jampridem  apud  Augustam  sceptro 
nostro  Regio  inuestiuisse  recolimus  de  eisdem  salvis  per  omnia 
filio  nostro  predilecto  castris,  ciuitatibus,  ministerialibus  ac  ceteris 
bonis  et  juribus  quocunque  nomine  censeantur.  At  que  in  terris  pre- 
dictis  scilicet  Carniole  et  Marchie  ab  olimprincipessiveduces  Karintbie 


Über  die   Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  Üi53 

quocunque  jure  vel  titulo  possederunt  ad  que  dictus  comes  praeter 
collaeionis  seu  infeodacionis  ducatus  Karinthie  nullum  unquam  juris 
aut  facti  respectum  habebit  saluo  tarnen  eo  dumtaxat  comiti  memorato 
quod  ipse  comes  sepe  dictas  terras  Carniolam  et  Marcbiam  Sclavicam 
quas  pro  quadam  summa  pecunie  seu  argenti  sibi  jam  dudum  assigna- 
vimus  obligatas  tarn  diu  quietepossideatquousquedictasumriia  pecunie, 
que  nostris  ac  fiiii  nostris  predilecti  literis  sibi  desuper  traditis  est 
expressa,  eidem  plenarie  fuerit  persoluta.  Qua  solucione  completa 
dicteTerread  filium  nostrumAlbertum  vel  suos  heredes  cum  omnibus 
pertinenciis  suis  et  juribus  sicut  superius  est  expressum  libere  reuer- 
tentur.  Ducatum  quoque  Karinthie  dictus  comes  Meinhardus  cum 
omnibus  illis  juribus  ac  honoribus  possidebit  sicut  ipsum  illustres 
quondam  Bernhardus  et  Ulricus  duces  Karinthie  Illustrium  virorum 
Liupoldi  et  Friderici  ducum  quondam  Austrie  et  Stirie  temporibus 
possederint.  Eo  tarnen  excepto,  quod  si  quas  civitates  castra  bona 
vel  jura,  quocumque  nomine  censeantur,  duces  jam  dicti  in  terris 
Carniole  et  Marchie  supradictis  sicut  praemisimus  tenuerunt  integra 
filio  nostro  remaneant  et  ab  ipso  terrarum  suarum  dominio  nullatenus 
sequestreutur.  In  ducatu  quoque  Terre  Karinthie  oumia  illa  jura  que 
predicti  principes  Liupoldus  et  Fridericus  tarn  in  hominibus  quam  in 
bonis  inibi  tenuerunt  filius  noster  predilectus  siiniliter  et  pari  jure  per 
om'nia  possidebit.  Procetera  comes  predictus  ministeriales  filii  nostri 
predicti  in  se  et  in  suis  castris  bonis  ac  juribus  inKarinthiaconstitutis 
non  gravabit  in  aliquo  contra  justiciam  nee  artabit  nee  et  castra  vel 
possessiones  eorum  quocumque  ea  jure  possideant  comparabit  nisi  ad 
hoc  filii  nostri  ducatus  et  terras  comes  idem  iidelis  obseruabit.  Qua 
lege  et  vice  reeiproea  filium  nostrum  astringimus  et  nee  ipse  videlicet 
in  ducatu  Karinthie  possessiones  et  castra  miuisterialium  comitis  prae- 
libati  quocumque  ad  ipsos  jure  speetancia  comparare  presumatabsque 
ipsius  comitis  beneplacito  et  consensu.  Ut  autem  premissa  omnia  rata 
et  inconuulsa  perpetue  observentur  sicut  a  partibus  in  nostra  presentia 
sunt  firmata  presentes  literas  nostre  ac  parcium  ipsarum  sigillis  pro- 
vidimus  muniendas.  Datum  Auguste  X.  Kalenda  februarii  anno  doniini 
millesimo  ducentesimo  oetagesimo  sexto.  Indicatione  XVI  Regi  vero 
nostri  anno  XIII  1286. 

K.  k.  g.  A.  Orig.  P.  Sig.  pend. 


254  Karl  Stögmann. 

IV. 

Bischof  Berthold  von  Bamberg  verspricht  dem  Grafen  Meinhart  von  Tirol  die 
Belehnung  mit  allen  Lehen  der  Kirche  von  Bamberg  in  Kärnten,  sobald  die 
Herzoge  von  Österreich,  Albrecht  und  Budolf  sie  aufgeben  werden.    Villach, 

17.  Decemher  1283. 

Nos  Bertoldus  dei  gratia  Babenbergensis  episcopus  presentibus 

protestamur  quod  pre  oculis  habentes  et  digna  consideratione  recen- 

sentes  diversa  promotionum  et  amicitiae  servicia,  que  dilectus  avuncu- 

lus  noster  Meinbardus  comes  Tyrolensis  nobis  et  nostre  eeclesie  exhi- 

buit  ab  antiquo  et  que  potest  in  posterum  exbibere,  hanc,  sibi  ut  fides 

fidei  et  meritum  merito  respondeat,  promissionem  faeimus  versa  vice. 

Quod    generaliter    omnia    bona   per   ducatum   Karinthie   quocumque 

censeantur    nomine    que    consanguinei    nostri   dilecti   Albertus    dux 

Austrie  et  Stirie  illustris  et  Rudolfus  frater  ejusdem  carissimi  domini 

nostri  Rudolfi  incliti  Romanorum  regis  liberi  a  nobis  habent  in  feodo, 

quandocunque  iidem    fratres   vel   alter   eorum   de   eonsensu  et  bona 

voluntate  alterius  fratris  sui  eadem  feoda   resignaverit,   ipsa   feoda 

singula  et  universa  dicto  Meinhardo  avunculo  nostro  comiti  Tyrolensi 

libere  conferemus.  In  cujus  rei  testimonium  et  majoris  roboris  firmi- 

tatem  presentes  literas  conscribi  ac  nostri  sigilli  munimine  jussimus 

communiri.  Datum  Villaci  anno  domini  millesimo  ducentesimo  octua- 

gesimo  tertio  XV  Cal.  Januar. 

K.  k.  g.  A.  Orig.  P.  Sig.  pend. 

V. 

Die  Herren    von   Sichirberk   versprechen    mit    dem   Schlosse  Sichirberk  dem 
Grafen  Meinhart  so  zu  dienen,  wie  dem  Herzog  von  Kärnten. 

Ego  offo  de  Lanstrost  Gerlochus  filius  domini  Ottonis.  Nikolaus 
de  Sichirberk.  Gerlochus  castellanus  de  Sichirberk  scire  volumus 
universis,  quod  fide  data  promisimus,  quod  de  omnibus  juribus,  que 
ab  antiquo  tempore  apud  Ducem  Karinthie  usque  hie  sunt  devoluta 
parati  sumus  obedire  domino  nostro  venerabili  comiti  Meinhardo  cum 
Castro  Sichirberk.  Quod  si  ratum  non  teneremus,  omnia  jura  nostra 
amisisse  profiternur.  Ad  huius  rei  duraturam  memoriam  presentem 
cedulam  sigilli  domini  Oftbnis  feeimus  communiri. 

K.  k.  g.  A.  Orig.  P.  Sig.  pend. 


Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  Üd55 

VI. 

Meinhart  von  Zenzleinsdorf  und  seine  Gemahlinn  von  Trabiich  bekennen,  dass 

sie   ihre  Mauth    zu  Trahuch   verkauft   haben  an  Heinrich   von   Phannynberch, 

und  sagen  diese  Mauth  dem  König  Rudolf  auf. 

Ego  Meinhardus  de  Zenzleynsdorf  et  uxor  mea  Gertrudis  de 
Trabuch  ac  liberi  nostri  notum  fieri  cupimus  universistampresentibus 
quam  futuris  quod  nostram  Mutam  in  Trabuch,  quam  nobis  nostri 
praedecessores  bereditarie  reliquerunt,  et  quam  in  feudo  tenemus  a 
domino  terre,  Comiti  Heynrico  de  Pbannynberch  vendidimus  omni  eo 
jure,  sicut  babuimus  eam  usque  modo  in  perpetuo  possidendam,  et 
quod  dictam  Mutam  volumus  prefatam  domino  nostro  Inclito  Rudolfo 
regiRomanorum  per  dominum  Syfridum  deChrotendorf  ita  quod  supra 
dictam  conferre  debeat  memorato  comiti  Heinrico  de  Phannynberch 
et  ut  ita  facta  sint  presentibus  profitemur.  In  cuius  rei  testimonium 
presentes  literas  scribi  fecimus  et  Sigilli  nostri  munimine  roborari 
pro  habundanti  testimonio  et  cautela. 

K.  k.  g.  A.  Orig.  P.  Sig.  pend. 

VII. 

Pfalzgraf  Ludwig   von  Baiern    verbürgt   sich   für   den   Verkauf   der  Moosbur- 
gischen Güter  an  Meinhart  von  Tirol.  Augsburg,  29.  Dec.  1283. 

Nos  Ludwicus  dei  gracia  comes  palatinus  Reni  Dux  Bavarie 
notum  facimus  presentium  inspectoribus  universis,  quod  cum  dilectus 
fidelis  noster  vir  nobilis  Ulricus  dictus  de  Lapide  junior,  avunculus 
et  heres  viri  nobilis  Chunradi  quondam  comitis  Mosburgensis  junioris 
viro  nobili  affini  nostro  Karissimo  Meinhardo  comiti Tyrolensi  vendidit 
et  tradidit,  omnia  bona,  res  et  homines,  que  predictus  comes  Mosbur- 
gensis babuit  et  possedit  infra  montes  tempore  mortis  sue,  et  idem 
Ulricus  prefato  affini  nostro  omnium  premissorum  constitueiit  seauc- 
torem  et  de  attendenda  et  adimplenda  auclorisazione  et  warandia 
memorata  nos  (idejussores  dederit,  comiti  prelibato,  sepedicto  affini 
nostro  presentium  auctoritate  promittimus,  quod  sive  promissa  infra 
biennium  ab  ipso  in  jure  evicta  fuerint,  vel  dictus  Ulricus  interim 
requisitus  a  comite  prefato  warandiam  negaverit  de  predictis  eodem 
affini  nostro  pro  ipso  Ulrico  tenebimur  ad  solutionem  ducentarum 
viginti  marcarum  ad  valorem  X  iibrarum  Veronensium  pro  una  earum 
marca  qualibet  estimata.  In  qua  solutione  si  negligentes  fuerimus 
dilectus  fidelis  noster  Heinricus  de  Wittigave,  fratres  de  Tainingen, 


256  Karl  Stögmann. 

Otto  de  Wittelzhoven  etHeinricusDrengerius  quos  dicto  affini  nostro 
prae  eo  fidejussores  dedimus  Monaci  Yel  apud  Wiltaim  moniti  ob- 
stagia  subintrabunt  nunquam  abinde  exituri,  donec  ipsi  affini  nostro 
de  ante  dicta  Peonnia  plene  fuerit  satisfactum.  Et  si  predicti  fideles 
nostri  in  altero  premissorum  locorum  se  in  obstagia  non  receperint 
sicut  superius  est  pretactum  affinis  noster  Meinhardus  babebit  liberam 
facultatem  nostra  pignora  occupare  non  amplius  quam  pro  quantitate 
pecuniae  saepefatae.  In  cuius  rei  testem  presentes  tradimus  nostri 
sigilli  robore  communitas.  Datum  Auguste  Anno  Domini  Millesimo 
ducentesimo  octogesimo  sexto  tertiis  Kalendis  Januarii. 

K.  k.  g.  A.  Orig.  P.  Sig.  pend. 

Till. 

Graf  Berthold    von   Eschenloch   verpfändet  um  120  Mark  Pfennige  alle  seine 
Güter  im  Ennsthale  an  Meinhart,  Herzog  von  Kärnten.  Augsburg,  1286. 

Nos  Bertholdus  comes  de  Escbenloch  tenore  presentium  profi- 
teinur  et  innotescere  volumus  universis  quod  Domino  nostro  Meinbardo 
Illustri  Duci  Karinthie  de  Tyrol  et  GoricieComiti  inCentum  et  viginti 
Marcis  novorum  denariorum,  qui  vigintinariinuncupanlur,  remanserimus 
debitores,  pro  qua  summa  pecunie  ipsi  Domino  nostro,  Duci  Karinthie 
omnes  possessiones  nostras  cum  bominibus  et  bonis  nostris  singulis 
in  valle  Eniiit  positas  titulo  pignoris  obligavimus  hoc  adjecto  quod  si 
voluerimus  vendere  vel  alienare  alias  a  nobis  per  formam  contractus 
aliquando  ipsa  bona  quod  tunc  ipsi  domino  nostro  Duci  venditionem 
vel  alienationem  hujus  modi  et  non  alii  faciemus.  Testes  sunt  vir 
nobilis  Albero  de  Wangav,  dominus  Heinricus  de  Auenstein,  Henricus 
dictus  Menscliel  civis  de  Inspruck  et  dominus  Sifridus  Capellanus  et 
quam  plures  alii  tide  digni.  In  cuius  rei  Testimonium  presentem  sibi 
iiteram  dedimus  sigilli  nostri  muniinine  consignatam. 

Datum  in  Augusta,  Anno  domini  MCCLXXXVI. 

K.  k.  g.  A.  Orig.  R.  Sig.  pend. 

IX. 

Meinhart  von  Zenzleinsdorf  bekennt,  dass  er  dem  Grafen  Meinhart  abgetreten 

sein  Recht  auf  den  Hof  von  Reivantz  bei  dem  Werthe  in  Kärnten  um  300  Mark 

Silbers.    St.  Veit  in  Kärnten,  St.  Nicolausabend  1283. 

Ich  Meinbart  von  Zenzleinsdorf  begib  mit  disem  brive  allen  den 

di  nu  sint  un  nach  uns  chomen  daz  ich  mit  gutem  willen  und  an  allen 


Über  die  Vereinigung   Kärntens  mit  Österreich.  <££)7 

Zvanchsal  minem  herrn  dem  hohen  graven  Meinharten  von  Tyrol 
gegeben  hau  allez  daz  reht,  daz  ih  han  gehabt  in  dem  hoove  ze 
Reivunz  bei  dem  Wertse  ze  Chernden,  und  an  dem  guote,  daz  dar  zu 
höret  un  han  un  dar  auff  bereiget  drey  hundert  March  silbers  unt  daz 
diseo  gift  stact  unt  veste  sei  hat  her  Haertneit  von  Wiidony  sein  In- 
sigl  haben  heizzen  und  ich  das  meine  und  er  diesen  brif  und  sint  des 
gezeugen  her  Dithalm  von  Vilalt,  her  Haertneit  von  Wiidony,  her 
Heinrich  von  Rotenburg  der  Hofmeister  des  hoves  ze  Tyrol,  her 
Julian  von  Seburch  der  wiztum  ze  Chernden,  her  Heinrich  von  Gesierr 
her  Vridreich  von  Arpuchel,  her  Heidenreich  von  Heile! k  und  andre 
bidere  leute.  Oitz  ist  geschehen  ze  sanct  Veit  ze  Chernden  nach 
Christes  geburt  Tausent  iar  zwaihundert  iar  an  dem  drei  unt  achze- 
gistemjar  an  sanct  Nicolaus  abend,  auch  begih  ich  des  daz  ich  von 
minem  Herren  graven  Meinharte  der  dreyhundert  March  silbers 
enphangen  han  um  reht  als  vor  geschriben  stet. 

K.  k.  g.  A.  Orig.  R.  Sig.  pend. 

X. 

Graf  Meinhart  von  Tirol  bestätigt  dem  Kloster  Michelstetten  in  Krain  das 
Recht   Wein  und  Lebensmittel  zollfrei  durch  sein  Gebiet  zu  führen.  Laibach, 

9.  December  1283. 

Nos  Meinhardus  Tyrolis  et  Goricie  comes  Aquilegensis  Tritlen- 
tinus  ac  brixinensis  ecclesiarum  Advocatus  tenore  presentium  prote- 
stamur  et  patere  volumus  tarn  presentibus  quam  futuris ,  quod  viso 
audito  et  plenius  intellecto  tenore  privilegii  continens  donationes, 
jura  et  libertates  Cenobii  Santimonialium  in  Michlstetten  in  terra 
Carniole  ordinis  scilicet  Auguste  ipsum  vidimus  Privilegium  non  can- 
cellatum,  non  abolitum  non  aliqua  sui  parte  viciatum.  Undeutadvotum 
dictarum  sanctimonialium  et  earundem  pauperum  quietis  tranquillitas 
non  tepeat  sed  pocius  roburetur  ipsis  et  dicto  Coenobio  easdem 
donaciones  jura  et  libertates  jnxta  dictorumprivilegiorum  continentiam 
duximus  tenore  presentium  liberaliter  contirmandam.  Ex  propria 
nostra  liberalitate  erga  dictum  Coenobium  motivis  certis  et  zelo  pie- 
tatis  sit  monialibus  ibidem  deo  et  beate  Marie  Virgini  famulantibus 
concedimus  ut  vinum  et  singula  ac  universa  victualia  ad  prebendam 
dictarum  dominarum  et  earundem  familiam  pertinentia  debeant  per 
omnes  nostri  territorrii  districtus  sine  omni  telonei  et  mute  exactione 
vel  alia  qualibet  vexatione  libere  pertransire.   In  huijus  igitur  conlir- 

Sitzb.  d.  nhil.-hist.  Cl.  XIX.  Bd.  II.  Htt.  J7 


258  Karl  Stögma  nn. 

mationis  et^gratie  per  nos  faeite  eisdem  plenam  et  perpetuam  firma- 
tionem  presens  ipsis  scriptum  dari  mandavimus  nostri  sigilli  caractere 
consignatum  actum  et  datum  laibaci  Anno  Domini  Millesimo,  ducen- 
tesimo  octogesimo  tercio.  None  Decemhrc  exeunte. 
Auguste  Indictione  undecima. 

K.  k.  g.  A.  Orig.  P.  Sig.  pend. 

XI. 

Kaiser  Ludwig  und  Otto  von  Österreich  einigen  sieh  über  die  Ernennung  von 
7  Schiedsrichtern,  und  geloben,  fest  an  ihrem  Ausspruche  zu  halten,  wenn  sie 
nicht  früher  etwas  anderes  schon  beschlossen  haben.  Augsburg,  23.  November 

1330. 

Wir  Ludowich  von  Gotts  genaden,  Römischer  Cheyser  ze  allen 
ziten  merer  des  RichsVeriehen  offenbar  an  diesem  brief  und  tun  chunt 
allen  den  die  in  sehent  hörent  oder  lesent,   dazz  wir  uns  mit  unserm 
lieben  Oheim  und  Fürsten  Otten  Hertzogen  ze  Osterrich  und  ze  Steyr 
zu  den  Teydingen,  die  wir  nächst  mit  einander  gehabt  und  gevestint 
haben  vriuntlich  und  lieplich  nu  vereinet  und  verbunden  haben ,   und 
auch  vereinen  und  verbinden   die  weil  wir  leben  für  uns  selber  und 
für  unser  süne  und  erben  und  er  für  sich  und  für  seinen  Bruder  Herzog 
Albrechten  unserm  Oheim  und  seine  Chinder  herwidermit  unser  beider 
briefen  umb  alle  die  stoezz  und  auf  lauf  die  ietzu  zwischen  uns  sind 
oder  furbass  geschechen  mochten  umb  swelherlei  sachen  datz  möcht 
gesein  oder  ob  wir  vil  leicht  an  ettlichen  stuchen,  die  wir  in  enden 
sullen,  zechurz  theten  dez  si  däucht,  oder  si  gen  uns  an  den,  daz  si 
uns  enden  sollten,  das  uns  däucht,  dazz  wir  jetzu  beydersaite  siben 
Wir  drey  auz  irm  Rat,  daz  sint  der  Edel  Man  Ulrich  graf  vonPfannen- 
berch,  und  sind  die  vesten  Ritter  Hanns  derTruchtsaetzz  vonDiezzen- 
hofen  und  Joban  der  Truchtsaetzz  von  Waltburch  und  unser  vorge- 
nanter Oheim  Drei   aus   unserm  Rat  Daz   sind   der   Edel  man  Graf 
Berchtolt  von  Greyspach  von  mansteten  genant  von  Neyffen.  Und  die 
vesten  Ritter  Heinrich  von  Gumpenberg  und  Vitztum  in  obern  Bayern 
und  Hainrieb,  der  Preysinger  von  Wolenzsach  unser  Hofmaister.   Und 
den  sibenten  zu  einem  ober  manne  daz  ist  Graf  Rudolf  von  Hochen- 
berg  unser  lieber  Oheim  genomen  haben.  Und  neman  über  aller  unser 
sache,  als  hier  geschrieben  stendet.  Und  den  geben  wir  vollen  gewalt 
dar  über  mit  unser  beyden  briefen:  Also  daz  wir  nicht  anders  umb 
dieselben  stoezz  und  auflauf  dies  yatzu  zwischen  uns  sind  oder  noch 


Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  259 

geschaehen  moechten ,  oder  ob  wir  gen  einander  ze  enden  haben, 
zechurtz  thaten  als  vor  geschriben  stet,  zetun  noch  zehandeln  sollen 
haben.  Dann  swaz  die  sieben  dar  über  sprechent  oder  machent 
oder  der  merer  teil  under  in  des  süllen  wir  ze  baydar  seitte  gehor- 
sam sain  ez  sei  denn  ob  wir  sein  von  selbe  under  uns  über  ain 
chomen  mögen  friuntlich  und  gütlich  geschieht  auch  daz  icht  niwer 
sache  odar  auflauf  umb  welcherlei  dinch  oder  untate  daz  geschaech 
von  unser  baider  diener  wegen  das  wir  auch  selber  oder  unser  baider 
Amptläut  nicht  dauz  getragen  mochten  darumb  sol  dehein  stoezz  oder 
auflauf  an  unsern  Teidingen  noch  zwischen  uns  enochunsern  diennern 
geschehen  sunder  sullen  wir  oder  uns  beider  Amptlaeut  datz  an  die 
vorgenanten  siben  bringen.  Und  swaz  die  oder  der  merez  teil  dar 
über  sprechent  oder  machent  des  sullen  wir  gehorsam  sein  und  soll 
also  beleiben.  Waer  auch  daz  der  sechser  ainer  ab  gieng  so  sullen 
wir  einen  als  guten  auz  irm  ambt  an  sainer  stat  nemen  und  geben  ob 
er  an  den  unsern  Drein  ab  gat  die  wir  genomen  haben.  Oder  ob  einer 
dabai  nicht  gesain  moecht  an  geuert  get  er  aver  under  den  drein  die 
unser  vorgenant  oheim  aus  unserm  rat  genomen,  habent  ab  so  sullent 
si  einen  als  guten  auz  unserm  Rat  an  sein  stat  nemen  und  geben. 
Waer  auch  daz  der  graf  Rudolf  der  der  sibent  ist  abgieng  des  Got 
nicht  gebe,  so  sullen  wir  und  unser  oheim  einen  mit  ein  ander  an 
sein  stat  gaben,  bey  unsern  Eyden,  die  wir  geschworen  haben  der 
uns  al  nutz  sei.  Möchten  wir  des  aber  nicht  über  ein  chommen  so 
sullent  sich  darumb  die  sechs  die  vorgeschoben  stende  samenen  und 
ze  chauffen  chommen  ze  Auspurch  oder  ze  Regenspurch  und  den 
Uberman  nemen  an  aufschup.  und  sullen  wir  beider  seitte  dann  den 
haben  als  den  forener  sibenten  man.  Swo  man  ouch  den  sibener  bedarf 
umb  deheinerli  sache  oder  bunt  der  wirs  selber  oder  unser  beyder 
Amptläut  nich  über  ein  chomen  moechten  als  vorgeschriben  stet  so 
sollen  die  siben  zesamen  chomen  ze  Auspurch,  ze  Preysach  oder  ze 
Chostantz.  swo  si  dann  ein  teil  under  in  hin  fordert,  dem  sein  dann 
not  ist  und  sullen  dan  daz  richten  aber  nach  dein  Ayde  als  sie 
geschworn  habent.  Und  daz  gehaizzen  und  geloben  wir  mit  guten 
treuen  auf  den  Ait  dem  wir  dem  Rieh  geschworn  haben,  und  unser 
sun  margraf  Ludewig  von  Rrandenburch  bei  seinem  ayde  allez  staet 
ze  behalten.  Und  gehaizzen  für  unsern  sun  hertzog  Stephen,  daez  er 
daez  auch  sweren  sol,  swen  er  zu  seinen  tagen  chumt.  Auch  geheizzt 
es  unser  vorgenant  Oheim  Hertzog  Ott  für  sein  sune.   daz  si  daz  alles 

17  * 


260  Karl  Stög mann. 

sweren  sullen  swenn  sie  zu  irn  tagen  chement.  Ez  sullen  auch  dise 
gaegenTaidunch  unsern  fernernTeydungen  verbuntnuzzen  und  briefen 
immer  ein  Bestettigung  und  ein  bevestigung  sein,  und  an  nichten 
schedlich  oder  widerwaertieh  sein.  Und  der  über  ze  Urchund  geben 
wir  in  disen  brief  mit  unserm  cheyserlichen  Insigel  versigelten.  Da 
man  zalt  von  Christus  geburd  Draitzehenhundert  Jar.  Dar  noch  in 
dem  Dreitzigsten  Jar  in  dem  sechszehenden  Jar  unsers  reichs  und  in 
dein  Driten  des  Cheysertums. 

K.  k.  g.  A.  Orig.  P.  Sig.  pend. 

XII. 

Kaiser  Ludwig  befiehlt  dem  Konrad  von  Auffenstein,  die  Herzoge  von  Öster- 
reich   als  seine  rechten  Herren  in  Kärnten   zu  erkennen,    weil    er    ihnen  dies 
Herzogthum  verliehen  habe.  Linz,  1.  Mai  1335. 

Wir  Ludewig   von  Gotes   genaden  Römischer  Keiser   ze   allen 

ziten   merer   des   richs  entbieten    dem   vesten  mann  Cliunraden  von 

Aufenstein  unserm  üben  getrieven  unser  huld  und  alles  gut.  Wirlazzen 

dich  wizzen  daz  uns  und  dem  riebe  daz  Herzentum  ze  Chaernden  von 

unserm  Oeheim  herzog  Heinrich  Saelig  von  Chernden  ledig  worden 

ist.  und  wan  wir  an  gesehen  haben  die  manichfaltigen   dienst  und 

triew  die  unser  liebe  Oeheim  und  Fürsten  Albrecht  und  Otto  Herczogen 

ze  Osterreich   her  getan  habent  und  auch  noch  getan  muegen  und 

sullen.    Darauz  haben   wir  in  und  iren  Erben  dazselbe  Hertzenturn 

verlihen  ze  richtem  leben  freylich  und  ledichlich  ze  haben.  Und  dar 

umb  gebieten  wir  dir  vestichlich  bei  unsern  und  des  Richs  huldendaz 

du  in  fürbaz  wartent  und  gehorsam  seist  an  alle  Widerrede  in  allen 

Sachen  als  deinem  rechten  heren  und  Herczogen  in  Chärnden.  Geben 

ze  Lyncz  an  Sand  Walburgen  Tag   in  dem  ainen  und  zweintzigsten 

jar  unsers  Richs  und  in  dem  Achten  des  Keisertums. 

K.  k.  g.  A.  Orig.  P.  Sig.  pend. 

XIII. 

Konrad  von  Auffenstein  und  seine  Söhne  erkennen  die  Herzoge  von  Österreich 
als  ihre  rechten  Herren.     Bleiburg,  im  November  1335. 

Ich  Chunrad  von  Aufenstein  marschall  in  Chaernden  und  wir 
Fridreich  und  Chunrat  seine  sün  veriehen  offenlich  mit  diesem  brief 
und  tun  chunt  allen  den  die  in  sehent  hörent  oder  lesent,  daz  unser 
lieber  Swager  und   Oheim   her  Otte   von  Lichtenstain  Chamerer  in 


Über  die  Vereinigung  Kärntens  mit  Österreich.  261 

Steir  von  dem  vollen  gewalte  so  wir  im  mit  priefen  und  mit  unsern 
triwen  geben  haben  uns  betaidingt  hat  mit  den  edlen  und  hoch- 
gebornen  Fürsten  Herczog  Albert  und  Herczog  Otten  ze  Österreich  und 
ze  Steir  unsern  gnaedigen  Herrn  daz  wir  die  Hertzoge  von  Österreich 
erchennen  und  halten  schullen  ze  rechten  herrn  und  Herczogen 
des  landes  ze  Chernden  und  schullen  auch  alle  unsere  leben  die  wir 
haben  von  demHerzogentum  ze  Chernden  von  denselben  unsern  herren 
enphahen  als  von  einem  herzogen  ze  Chernden,  und  schullen  auch 
in  schweren  triwe  und  warheit  ze  leisten  und  auch  ze  dienen  mit  leib 
und  mit  gut  und  mit  vesten  als  unsern  herrn  und  berczogen  in  Chernden 
an  alles  gevaerde.  und  des  ze  einer  offenen  urchund  und  Sicherheit 
geben  wir  den  egenanden  unsern  herren  den  Herczogen  diesen  brief 
versigelten  mit  meinem  des  vorgenanden  Chunrad  anhangendem  In- 
sigel  und  wirFridreich  undChunrat  sein  sün  nicht  haben  aigen  insigel 
der  geben  ist  ze  Pleiburch  nach  Christes  gepurd  Dreyzehen  hundert 
jar  im  fünf  und  dreyzzigsten  jar  des  Mittwochens  nach  Sand  Florianstag. 

K.  k.  g.  A.  Orig.  P.  sig.  pend. 


262 


B  o  1 1  e  r. 


Vorgelegt: 

Vergleichende  Analyse  des  magyarischen    Verbums. 
Von  dem  c.  M.,  Hrn.  Prof.  Boller. 

(Fortsetzung.) 

Bägyad  „ermatten".  Suomi  vaipu  =  lappisch  vabbet  „ermat- 
tet  niedersinken,    müde  oder   matt    werden",    Mandiu    J 

T 

(fa^abi)1)  „etr e  tres-fatigue",  f  |  (faxame  de^ebi)  1)  „etre 

■i, 

accable    de    lassitude    et  de  sommeil;  tomber  de  som- 

meil  et  de  lassitude". 

Baj  „Zauber  etc."  Türkisch  cl  (bagh)  „lier",  jUl>  (bagh- 

lamaq)   „lier,  ensorceler",   Jrl  (baimaq)  „fasciner"  2).  Vgl. 

das  slawische  KaraTH  „incantare". 

Bämul    „gaffen,    staunen".  Mongolisch  J    (gbai/axo)  3) 


„sich  verwundern,  beschauen".  Suomi  kumma  „sich  ver- 
wundern, anstaunen",  kummastele  =  ihmettele  „sich  wun- 
dern",  wotjakiscb  pajmo  *)   „sich  wundern",  Mandzu     $    (fai- 

dzuma)  5)   „prodige,  chose  extra  ordinai  re"  etc.  s.  älmel. 
Ban   „bedauern,    bereuen".    Mongolisch    "f  (gbom/o)«) 

\ 
„sich  grämen,  sich  abhärmen,"  "<f   (ghomudal 7)    „Unzu- 

1 


i)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  III,  p.  129.  2)  Sitzungsb.  Bd.  XVII,  p.  318,  s.  v.  baj. 
3)  Schmidt,  Lex.  p.  190,  a.  4)  Wied  em  ann  ,  Wotj.  Gramm,  p.  341,  b.  5)  Amyot, 
Dict.  Tart.  Mantsch.  III,  p.  141.    6)  S  ch  m  i  dt,  Lex.  p.  202,  a.    7)  Ebendas.  203,  b. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verhums.  ä()U 

friedenheit,  Verdruss,  Kränkung,  Reue  ",^    (gemsikü)  <) 
„bereuen,  Reue  haben",  Mandzu  J?    (xorome)  3)  „etre   cha- 


•li 


gr in,  äff] ige,  triste;  se  repentir;  se  vouloir  du  mal 
d'avoir  fait  quelque  chose";  Suomi  katu  „bereuen"*). 
Vgl.  bänt. 

Ba-n-ik  „umgehen,  behandeln".  Das  Inchoativ  (Reflexiv?) 
zu  baj  (vgl.  szan),  Suomi  vaiva  „Mühe".  Schwerlich  darf  man  an 
Mandzu    rf    (o-me) 3)  „faire,    oper  er"   denken. 

Ban-t  „kränken,  beleidigen".  Causalform  zu  bän. 

Bänya   „Bergwerk".  Mandzu   £    (fenijeme)  3)   „ramasser 

st 

Ji 

dans  un  meine  lieu  les  terres  des  mines  pour  en  tirer  le 
metal,  fondre  la  mine".  Die  gleichbedeutende  Mandzu -Form 
4  (venijeine)4)  „faire  fondre  de  Tor,  de  T  argen t"  geht  auf  4, 

i 

(veine)  5)   „fondre    (intr.) "    =  jakutisch  yji 6)    „schmelzen, 
thauen"  zurück.    Hängen  beide  mit  olvad  zusammen?    Vgl.  fem 
und  das  slawische  6aHa  „  balneum". 
Bär  „obgleich".   Aus  bajar7). 


•i 


!)  S  e  h  in  i  d  t ,  p.  198,  a.  2)  Arayot,  Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.  427.  3)  Ebendas. 
III,  p.  132.  4)  Ebendas.  p.  229.  5)  Ebendas.  p.  239.  6)  Böhtlingk,  Lex.  p.  44,  b. 
7)  Sitzungsb.    Bd.  XVII,  p.  227,  s.  v.  bar. 

*)   Wegen  der  Vertretung  b  =  gh  vergl.  Sitzungsb.  Bd.  XVII  s.  v.  barany,  boldog.    Man 

hat  an  diesem  Lautwechsel  um  so  weniger  Anstand  zu  nehmen,  als  er  sich  auch  auf 

dem  Gebiete  der  indogermanischen  Sprachen  (keltisch,  germanische  Dialekte)  findet 

und  selbst  auf  dem  engen  Räume  der  griechisch-lateinischen  Wortvergleichung  längst 

beobachtet  und  als  Thatsache  hingenommen  war.  "■&  (gh)  und  <D  verhalten  sich  genau 

r 
wie  g  und  b;  Sanskrit  IfJ  (gä)   =  p\;  jp^{  (garbha)    =  ßp^<pos,  J\X  (guru)  =  lat. 

gravis  =  griech.   ß«p'j? ;  J[J  fgo)  =  lat.  bos  =  griech.  ßoü?  (Pott,  Etymologische 

Forschungen  I,  p.  8G,  87J.  Gleiches  gilt  von  der  Vertretung  O  Ol)  &  ('/.)  =  p,  f, 
wenn  man  Sanskrit  äff  (ka)  lat.  quo,  griech.  jco-To«;  Sanskrit  TJy  ~\  (pnncan)  = 
lat.  quinque  =  griech.    iteyts  =  goth.  fiinf;    Sanskrit   <!  ^f   (iks')     „schauen"  = 


griech.  8mou,oi  etc.  zusammenstellt. 


N    N 


264  Boller. 

Bäräny  „Lamm".  Mongolisch   f    (^orighun)  id.1). 

1 

Bätor  „kühn,  muthig".   Mongolisch  tf    (baghadur) 3)    „ein 

1 

tapferer  Mann,  ein  Held,  m  u  t  h  v  o  1 1. " 

Beka  „Frosch,  Kröte".  Mandzu  4  (vaksan)3).,grenouil  le 

1 

ou plutöt crapaud"   4   (vakdza^ön)4)  „bomme  qui  a  le  ven- 


tre  gros",  türkisch  ^cb ,  j*i  (bagbyr)  5)    „flanc"   (vgl.  begyek, 

Bauch).     Hieher  gehört    offenbar  das   ableitungslose  Sanskrit  yjcfi 
(bheka)  „Frosch"  als  Lehnwort. 

Beke  „Friede".  Türkisch  J^l  (baris)  «)  „paix,  pacifie", 
wotjakisch  woz  7)   „  Friede,  Sicherheit",  mongolisch^    (dzuki- 

1 

J;'X°)  8)  »ordnen,  übereinkommen",^  (dzukira^o)  8)  „zur 

l 

Verträglichkeit    zurückkehren",    Suomi  sopu    „Überein- 
stimmung, Eintracht,  Verträglichkeit". 

Bekö,  beklö  „Fusseisen,  Fessel".  Türkisch-persisch    ß-^y 

*sy  (bouqaghy)  9)  „ceps,  fers  aux  pieds". 

Belädi     „ein    armer    Blinder".    Mandzu  — mongolisch    ? 

(balai)  „verfinstert,  blind".  Gehört  zu  Mandzu  %  (biyarisame)10) 

% 

„voir  trouble,  avoir  les  yeux  offusques",  Suomi  pi-miä 


i)  Sitzungsb.  Bd.  XVII,  p.319,s.  v.barany.  2)  S  ch  m  id  t ,  Lex.p.  98,  b.  3)Amyot, 
Dict.  Tart.  Mantch.  III,  p.  228.  4)  Ebendas.  p.229,  5)  Sitzungsb.  Bd.  XVII,  p.  350,  s.  v. 
mely.  6)  Kieffer  et  ß.  I,  p.  172,  b.  7)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  339,  a. 
8)  Schmidt ,  Lex.  p.  308,  a.  9)  K  ief  f  e  r  e  t  ß.  I,  p.  244,  a.  10)  Amy  o  t,  Dict. 
Tart.  Mantch.  1,  p.  548. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums.  -Cüö 

„dunkel,   finster",  pimittä   „blind  machen",  ostjakisch 

petlem  *)   „dunkel",    mongolisch    ?   (barui)  2)  „etwas  dunkel 

X 
oder  finster"  etc.,  Wurzel  ba-r,  bo-r,  bü-r,  bi-r. 

Belyeg   „Zeichen".    Mongolisch    J    (belke)3)  „Zeichen", 

türkisch  J^L  (bilki)  '*),  jakutisch  öäliä  s),   tscheremissisch  päle  id. 
Vergl.  türkisch  Jl^I*  (belurrnek)  „apparaitre,  etre  vu". 

Ber  „Lohn,  Zins".  Suomi  vero  „Grundzins,  Steuer",  ja- 
kutisch öiäp 6)  „geben,  hingeben",  türkisch-tatarisch  jL^j 
(birmek)  Ju^  (vermek)'),  Mandzu  ^  (bume)  »)  „donner«, 
tscheremissisch  pu-e9)„do" — Mandzu  §>"  (bureme)10)„promettre, 


i 


<^ 


donner",  mongolisch  %   (bari^o)  1J)  „  darbringen",  ostjakisch 

1 

meje  13)  „geben". 

Bir  „können,  vermögen,  besitz  en".  Wotjakisch  byg-alo13) 
„vermögen,  können".  Vergleicht  man  bi-r-alom  „Beich"  mit 
dem  Denominative  jL>L  (bilämäk)14)  „herrschen",  so  wird  man 
einen  Zusammenhang  zwischen  bir  und  türkisch  Jb  (bek)  „Fürst" 
nicht  unwahrscheinlich  finden,  ja  beide  auf  eine  gemeinsame  Grund- 
anschauung zurückführen  können.  Die  Wurzel  für  die  erste  Bedeu- 
tung, falls  dieselbe  sich  nicht  aus  der  zweiten  entwickelte,  ist  wohl 
in  dem  Mandzu  rf1  (mu-teme)  15)  „pouvoir,  avoir  de  la  capa- 

cite  pour   les   affaires"  enthalten.     Vgl.   Suomi  mahta  und  s. 
unter  mü. 


i)  Castre'n,  Ostj.  Gramm,  p.  93,  b.  2)  Sc  h  m  i  dt ,  Lex.  p.  102,  b.  3)  Ebend. 
p.  105,  c.  4)  Böhtlingk,  Lex.  p.  134,  a.  5)  KiefferetB.  II,  p.  227,  b.  6)Böht- 
lingk,  Lex.  p.  138,  b.  ')  Böhtlingk,  Lex.  p.  137,  b.  8)  A  m  y  o  t,  Dict.  Tart. 
Mantch.  I,  p.  591.  9)  Castren,  Gramm.  Tscher.  p.  69,  b.  10)  Amyot,  Dict.  Tart. 
Mantch.  I,  p.  582.  *»)  Schmidt,  Lex.  p.  101,  c.  12)  Castren,  Ostj.  Gramm,  p.87,  b. 
13)  Wiederaann,  Wotj.  Gramm,  p.  300,  a.  *4)  B  ö  h  1 1  i  ng  k.  Lex.  p.  139,  b.  15)  Amyot, 
Dict.  Tart.  Mantch.  II,  p.  415. 


266  Boller. 

Bö   „reich,  weit".  Mandzu  ?  (bajen)  J)  „riebe"  =  mon- 
golisch ?  (bajan)3)  „reich,  R  ei  cht  h  um,  Wohlstand",  türkisch 
At  (bai)  „riche",  ostjakisch  poi  id.;  Mandzu  4  (fulu)  3)   „beau- 

coup"  türkisch  Jy  *)    „ample,    large,    copieux",  mongolisch 
3    (olan)5)  „viel".    Vgl.  das  indogermanische  Sanskrit  3^7  (puru) 

=  griechiscb  noXö-g,  gotbisch  filu  „  viel  ". 

Bor  „Haut,  Fell".  Mongolisch  ^    (arisun)  <*)  „Haut,  Fell". 

I 

Bü  „Gram,  Kummer,  Schwermuth".  Mongolisch  $  (buki- 

\ 

nidultai)  7)  „beunruhigend,    ängstlich,    s  c  h  wermiit  big", 
(buda^o)8)  „trauern,  sich  grämen,  missmuthig  werden", 


1 


Suomi  mureb,  mürbe'  =  finnmärkisch- lappisch  moras  „Traurig- 
keit, Gram". 

Büza  „Weitzen".  Mongolisch  §>    (boghotai)  9)     „Weitzen" 


=  türkisch-tatarisch  ^IjJkj  (boghdai)  „froment". 


Bü  „Zauber".  Türkisch  iy  (beugu)10)  .c^  (boughou)  „ma- 


gie,  charme",  mongolisch  jp  (böge)11)  „Zauberer",  Mandzu  £ 


(fa)  12)  „en  chantement". 

Büz    „Gestank".    Mandzu    4    (fungsun)  13)    „puan t eur", 

t 

tscheremissisch  pos  H)  „foetor",  Suomi  haisu  id. 


1)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  II,  I,  p.  312.  2)  Schmidt,  Lex.  p.  103,  a. 
3)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  III,  p.  202.  4)  K  i  ef  f  e  r  etß.I,  p.  245,  h.  5)Schmidt, 
Lex.  p.55,  a.  6)  Ebendas.p.  15,  a.  7)  Ebendas.  p.  HO,  b.  »)  Ebendas.  p.  117,  b.  9)  Ebend. 
p.lil,  c.  10)Kieffer  et  B.  I,  p.  245,  b.  ")  Sit/.ungsber.  Bd.  XVII,  p.  323,  s.  v.  bü. 
i2)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  111,  p.  129.  ")  Ebendas.  II,  p.  212.  *4)  Castren, 
Gramm.  Tscher.  p.  69,  a. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums.  äOi 

Csä  „links".  Mandzu  f  (X1ISXU)  *)  »,a  gauche"  =  linnmär- 


zc- 


kisch-lappisch  guro   id.    (vgl.  bal)  2)   neben    mongolisch    1    (dz 

gün)3)  „links",  lappisch,  Enare-Dialekt  cize  4)  (=Suomi  vasen, 
vgl.  cääce  neben  vesi).  Vgl.  slawisch  moyn,  griechisch  ay.ex.16g, 
Sanskrit  H3EJ  (savya). 

Csäb  „Anlock  im  g".  Schwedisch-lappisch  caje-tet,  finnmävkisch 
c'aje-dattel  „f 0 r (Vre",  Suomi hou-kutus  „ A n r e i t z u n g,  Lockung". 
Offenbar  zu  Mandzu-mongolisch  \    (dzali)  5)  „Betmg,  Arglist" 

=  magyarisch   csal  gehörig.      Vgl.  Mandzu    f    (^öbin)  °)  „arti- 


fice  pour  attraper  le  bien  des  autres",   £  (koiton)  7)  „arti- 

=1 

i 

fice,  tromperie",  f  (koiman) ')  „trompeur,    seducteur", 


s 


■  I 


denen  jedoch  auch  Suomi  juopo,  juopo    „täuschen,  verleiten, 
locken",  entsprechen  kann  (vgl.  csel,  csin). 

Csäkö  „Tschako".  Mongolisch  J  (dogholgha)8)  „Helm",tür- 


i 


kisch  Aij^L  (thoulgha)9)  (t  =  ,j  —  c  für  dz)  „casque". 

Csampas   „krummbeinig".  Gehört  zu  mongolisch  "£   (gha- 

V. 

dzi^o)  lü)    „  k  r  u  m  m  werden",  türkisch  jj!  (qyjyq)   „s  c  h  i  e  f", 

magyarisch  görbe11)»  Suomi  keikka   „aufwärts   oder   zurück- 
gebogen", kampura  „krumm,  schief,  verbogen". 

Csärnporü  „sauer".  Tscheremissisch  sapan  12)  =  Suomi  hapan, 
also  =  mit  savanyü  gleichen  Ursprungs.  Den  Lippennasal  zeigt  syrjä- 
nisch  som  13)  „acidus". 


!)  Arayot,  Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.  418.  2)  Sitzungsb.  Bd.  XVII,  p.  319,  s.  v.  bal. 
3)  Schmidt,  Lex.  p.  299,  a.  4)  Lönnrot:  Überden  enare-lappischen  Dialekt,  p.220. 
5)  Schott:  Über  das  Altaische  etc.  p.  139.  Schmidt,  Lex.  p.  29G,  b.  Amyot,  Dict. 
Tart.  Mantch.  II,  p.  481.  6)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.  48S.  7)  Ebendas.  I, 
l>.  439.  9)  Schmidt,  Lex.  p.  279,  c.  9)  K  i  e  f  f  e  r  et  li.  III,  p.  203,  a.  i»)  Schmidt, 
Lex.  p.  195,  a.  «)  Sitzungsb.  Cd.  XVII,  p.  338,  s.  v.  görbe.  12J  Cnstreii,  Gramm. 
Tscher.  p.  71,  a.       13)  Gas  treu,  Gramm.  Syrj.  p.  15S,  1>. 


268  Boller. 

Csecs    „Blattern,  Pocken".   Türkisch  jl^- (tchetchek)  *) 

„fleur,    petite    veröle",    mongolisch    )j     (cecek)2)    „Blume, 

^1 
Blüthe"  in  9   Jj  (budagha  cedek)*)  „di  e  natürlichen  Pocken". 

u 

Daher  das  Suomi  kukka  „Blume". 
Cseve  „Spule,  Bohre".  S.  csö. 
Csel    „Posse".    Mandau    1     (jobo)«*)    „badin",    türkisch 

J^o  jjJly  (jobandurmaq) 5)  „belustigen,  erheitern". 

Csin  „Streich,  Unart".  Suomi  juoni  „Streich,  Bänke, 
List",  aber  kujet  „scherzhafte  Geberde,  Posse",  kujeet 
„Schalks  streiche". 

Csoka   „Kuss".    Wotjakisch  cup6)    „Kuss",  türkisch  Jl<y>. 

(tscheupmek)  7)  „baiser". 

Csotar  „Schabracke". Türkisch  jjLW  (tchapraq) 8)  „housse 

de  cheval".  Die  gleichbedeutende  Form  l\>  (üapyq)  zeigt,  dass 
die  Wurzel  in  jA  (iapmaq  =   Irlä  qapmaq)  liege.    lX  ist  begrifflich 

=  jli  (qapaq)  =  tatarisch  jlilä  (qapqaq)  =  jakutisch  xannax  9) 
„Deckel".  Csotar  zerlegt  sich  demnach  in  cso  (=  csap  für  jap)  + 
Suffix  tär  (fa  -f  ghar). 

Csöva  „Zunderwerk".  Syrjänisch  cak  10),  „fomesignia- 
rius",  türkisch  «lä  (qav)11)  „ama  dou  ",  jakutisch  Ktia  12)  „Feuer- 
schwamm", Suomi  pakkula  „Zunder,  Feuerschwamm".  Vgl. 
mongolisch  "f  (ghal)13)  „Feuer". 

Csö  „Spule,  Bohre."  Mongolisch  f  (^obogha)  **)  „Was- 
s  er  röhre",  türkisch  j^>-(tsehibouq)  15),  „baguette,  tuyau  de 


i)  Kieffer  et  B.  I,  p.  367,  b.  2)  Schmidt,  Lex.  p.  322,  c.  3)  Ebend.  p.  118,a. 
4)  Amyo  t.  Dict.  Tart.  Mantch.  II,  p.  S69.  5)  Schott:  Über  das  Altaische  etc.  p.  123. 
6)  Wiedemann,  Wotj. Gramm. p.  302.  7)  Ki  ef  f  er  etB.  I,  p.  399, b.  8)Ebe»das.p.350,b. 
9)  Böhtl  ingk,  Lex.  p.  78,  b.  10)Castren,  Gramm.  Syrj.  p.  159,  b.  ")Kieffer 
et  B.  II,  p.  429,  a.  i2)  Böhtlingk,  Lex.  p.  60,  b.  13)  Schmidt,  Lex.  p.  192,  b. 
")  Ebend.p.  163,  c.     15)  Kieffer  et  B.  I,  366,  a. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums.  2G9 

pipe,  pipe".  Offenbar  eine  weiche  Form,  dem  harten  csavar,  türkisch 
,Lj  (juvar)  ')  „cylindrisch",  lappisch  jörba  gegenüber.  Suomi  kelnä 
„Spindel  =  mongolisch    3     (ig)   id.    zeigt    zu    kouru    „Rinne" 

dasselbe  Verhältniss. 

Csöd  (csüd),  „Concu  rs,  Gant".    Allem  Anscheine   nach    die 
weiche  Form    zu   csoport,    syrjänisch   cjukar  2)    „collectio", 

mongolisch^     (cighul^o) 3)   „sich  versammeln,  sichansam- 

< 
■  j 

- 

mein".  'Jf  (ghu-rayo)  *)  „sich  versammeln",  enthält  offenbar 

h 

die  einfachste  Form  der  Wurzel,  zu  der  folglich  auch  magyarisch 

gyül,  gyüjt  so  wie  Suomi  jouko  „Haufe"  gehören.  Die  weiche  Form 
liegt  in  mongolisch  "9    A    (kükü-dzi  irekü)  5)    „zu  Haufen  kom- 

men,    in  Menge  kommen". 

Csödör  „Hengst".    Mongolisch  1    (adzirgha)  6) ,  Mandzu  f 

(adziryan)  6) ,  türkisch  y^n  \  (aighyr),  jakutisch  axbip.     Schott4) 

hat  die  Zusammensetzung  aus  ad  (türkisch  o!  at)   „Pferd"  und 

erkek  (türkisch  jlfjl)  =  irgi ,  irga,  irgan ,  yr  „Männchen  der 

Thiere",  erwiesen.  Das  magyarische  Wort  ist  demnach  bis  zur 
Unkenntlichkeit  verstümmelt. 

Csör  „Schnabel".  Mongolisch  f  (chosighun)7)  „Schnabel, 

1 

Vorgebirge,  Vordertheil  eines   Fahrzeuges",   neben  t 

% 

(yabar)  „Nase,  Vorsprung"  =*  Mandzu   «T"  (oforo)id.  =magya- 

risch  orr  8). 


i)  Schott,  Über  das  Altaische  etc.  p.  107.  2)  Castren,  Gramm.  Syrj.  p.  159,  a. 
3)  Schmidt,  Lex.  p.  327,  a.  4)  Ebendas.  p.  109,  b.  5)  Ebendas.  p.  177,  b. 
6)  Schott,  Über  das  Altaische  etc.  p.  94,  96.  7)  Schmidt,  Lex.  p.  176,  c.  8)  Schott, 
Über  das  Altaische  etc.  p.  68. 


270  Boller. 


Csücs  „Spitze".  Türkisch -^J  (oudj)  Q  „extremite,  fin. 
pointe",  Mandzu  <T*    (udzan) 2)      „cime    des    arbres,     extre- 


^ 


mite  des  branches;  1  e  b  o  u  t,  1  e  commencement".  Der 
Anlaut  ist,  in  Vergleich  mit  jakutisch  tööö  3)  „Spitze,  Gipfel  = 
türkisch  ky  (tübe),  magyarisch  teto,  ostjakisch  tej  4),  U.  Surg.  toi, 
0.  Surg.  tui  „das  Oberste,  die  Spitze",  deren  Wurzel  in  dem 
mongolischen    f    (debcikü)  5),     i    (deg-deikü)  6)  „in    die  Höhe 

schi essen,  emporwachsen"  liegt,  und  die  wohl  insgesammt 
der  weichen  Reihe  angehörten,  ursprünglich  t=j  =  dz=c  gewesen. 
Die  Form  csüp  zeigt,  dass  der  Auslaut  dieser  Bildungen  der  Ablei- 
tung anheimfalle. 

Csüf  „garstig,  abscheulich;    Spott".    Mongolisch^ 


n 

(dzibegürgel)  7)  „Abscheu,  Widerwille",  wotjakisch  dzob8) 
„unrein,  T  r  übe,  Schmutz,  G  r  ä  u  e  1 ",  dzizi 8)  „schmutzig", 
dzozan  8)  „Vorwurf,  Kränkung". 

Di  „Kraft,  Vermögen".  Mongolisch  ^  (kücün) 9)  „Kraft, 

Macht,  Stärke",  wotjakisch  jun  10)  „Kraft,  Stärke",  Suomi  voi- 
maid.  Das  Mandzu  ^  (kulu)11)  „fort,  robuste"  lässt  über  die  Wurzel 

keinen  Zweifel.     Wegen  der  Vertretung  d=j  vergl.  mongolisch  j? 

1 

(^ozighun)  13)  „Wallnuss"  =  türkisch  jj>~  (dzevz)  =jJs  (qoz) 
=  magyarisch  diö;  mongolisch"?  (kelen)  is)  „Zunge,  Sprache  = 
türkisch  Jj  (dil)  *)  etc. 


!)  Sitzungsb.  ßd.  XVII,  p.  381.  2)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.  32. 
s)  Castle  n,  Ostj.  Gramm,  p.  98,  b.  *)Böhtlingk,  Lex.  p.  99,  b.  5)  Schmidt, 
Lex.  p.274,b.  6)  Ebend.  p.  276,  a.  7)  Schmidt,  Lex.  p.  301,  c.  8)  Wiedemann, 
Wotj.  Gramm,  p.  303,  b— 304,  a.b.  9)  Schmidt,  Lex.  p.188,  b.  10)  Wie  dem  au  n,  Wotj. 
Gramm,  p.  308,  a.  ll)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  III,  p.  98.  12)  Ehendas.  p.  176,  c. 
13)  Sitzungsb.  B.  XVII,  p.  356,  s.  v.  nyelv. 

*)   Wie  die  Zischlaute,  Assibilaten  und  Palatalen  selbst  aus  Zahnlauten  entspringen  können, 
so   gehen  sie,    auch  wenn   sie  anderen  Ursprungs,   in  diese  über,  wenn  sieh  eine 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums.  &  7  I 

Dij  „Preis,  Lohn,  Lösegeld".  Ostjakiseh  tm  J)  „Preis", 
syrjänisch  don 2)  „pretium",  Suomi  lunasta3),  lappisch  loneste 
„loskaufen,  auslösen,  erlösen",  jakutisch  TO.iyi  4)  „aus- 
lösen, loskaufen",  mongolisch    ^  (cenekü)  5)  „einen  Werth 

Q> 

angeben,  schätz  en,  gleichstellen",  ^   (ceng)  5j  „ein  f  est- 

gesetzter  Preis,  Taxe",  tscheremissisch  tär  6)  „pretium". 
Del    „Mittag".    Mandzu    £    (dulin)  7)    „lamoitie,le 

iL 

milieu;  midi",  mongolisch  £    (duli)  „Mitte  der  Tages-  und 

Nachtzeit",  türkisch     'hy  (tüs)  etc.  8).      Vergl.  dazu  Mandzu 
£  (dubi)  „  la  mo  itie  ". 

Döl  „sich  lehnen".  Jakutisch  ripiä9)  „stützen",  xipäöil 9) 
„ Stütze",  mongolisch   J  (tüsikü) 10)  „sich  stützen,  sich   auf 

etwas  lehnen". 

Döl^dül  „fallen,  umfallen,  stürzen".  Türkisch  jW%.> 

(düsmek)  u),  J^s^y    (tüsmek)11)»   jakutisch   Tye11)    „von    einer 
Höhe  herabfallen",  Mandzu  £    (tu^eme)  12)  „tomber,  choir". 


-n 
(• 


Dözs  „Zecher,   Schwelger".    Suomi  tuhla  „schwelgen, 
verschwenden  ". 

Du  „Raub,  Beute".  Türkisch  xjh  (dhoiium)  13)  „butin", 

Mandzu  ?  (tapcin)14)  „butin  que  Ton  fait  sur  les  ennemis". 


Sprache  derselben  wieder  entledigt.  Vgl.  das  Alt-  und  Neupersische  d  an  der  Stelle 
von  Zend  »  (=  Sanskrit  ^",  h,  jf,  dz):  JUmO  (dest)  =  -«<?>-»0"C  (zasta)  = 
Sanskrit   es,  ^-^    (hasta). 

XJ  Castren,  Ostj.  Gramm,  p.  99,  a.  2)  Castren,  Gramm.  Syrj.  p.  130,  b. 
3)  Sitzungsb.  Bd.  XVII,  p.  347,  s.  v.  lakik.  4)  Böhtlingk,  Lex.  98,  a.  5)  Schmidt, 
Lex.  p.  320,  c.  6)  Castren,  Gramm.  Tscher.  p.  73,  b.  7)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch. 
II,  p.  320.  8)  Schott,  Über  das  Altaisehe  etc.  p.  129;  Sitzungsb.  Bd.  XVII,  p.  45. 
s.  v.  ejt.  9)  Schmidt,  Lex.  p.  2G3 ,  a.  10)  Böhtlingk,  Lex.  p.  108,  a. 
ll)  Ebendas.  Lex.  p.  113,  a.  12)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch,.  II,  p.  296.  ")  Kief-fer 
et  B.  II,  p.  205,  b.     "_)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  II,  p.  194. 


272  Boller. 

Dücz  „Stütze".  Suomi  tuki,  id.    Vergl.  tamasz  *)• 
Dül  „verwüsten,  verhören".    Denominativ  zu  du.  Vergl. 
jedoch  türkisch  o&  (talan)  2)  „  butin,  proie  ",  J*ÜU  (talamaq)  3) 

„piller",  wotjakisch  talalo  *)  „rauben". 

Düs  „sehr  reich".  Suomi  tavara,  lappisch  davarak  „Reich- 
thum",  mongolisch  i    (davar)  5)  „Vermögen,    Eigenthum", 

1 

wotjakisch  uzyr  6). 

Ebred  „erwachen".    Mandzujf   (keteme)7)  „s'e  veiller", 

■». 

-^ 
Suomi  hava,  lappisch  cabbo-t  8)  id,  türkisch  J^jljl  (ouüarmaq)  9) 

„  eveiller  ". 

Ed  „Süsse".  Syrjänisch  cjöskyd  =  wotjakisch  ceskyd  10), 
lappisch  njalgis11)  „süss".     Vgl.  fz  12)  „Geschmack". 

Eg  „Himmel".  Türkisch  .i)jf(gueuk)  13)   „ciel". 

Eg  „brennen".  Türkisch  jjil  (i'aqmaq)  14)  „brüler,  allu- 
mer"=  lappisch  cakk-at,  mongolisch  <j  (cucali)  15)  „der  Feuer- 
brand",   %    (curki^o)  16)   „brennen,  durchbrennen". 

Eh  „Hunger;  hungerig;  nüchtern".  Syrjänisch  cyg  17) 
„fames",  lappisch  naelggo  „hungerig",  Suomi  nälkäise  id.  inord- 
vinisch  vac  „hungern"  (Ev.  Üb.),  jakutisch  äc  18)  „hungern; 
hungerig,  ausgehungert",  anim  18)  „nüchtern",  türkisch 
-».]  (äc)   „  h u  n g e  r i g  ".  Vgl.  xapj^wi  =  xoprwi  „hungern". 

Ej  „Nacht".  Suomi  yö,  lappisch  igja,  ostjakisch  äT  19),  tsche- 
remissisch  jut,  jakutisch  t^h2»),  Mandzu  f    (tobori)21)  ,  mongolisch 


l 


i)  Sitzungsb.  Bd.  XVII,  p.  379,  s.  v.  tamasz.  2)  Ki  ef  f  e  r  et  B.  I,  p.  323,  b.  3)  Eben- 
das.  p.  273,  a.  4)  Wi  ed  emann,  Wotj.  Gramm,  p.  331,  b.  5)  S  ch  m  i  d  t,  Lex.  p.  238, b. 
6)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  336,  b.  7)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  111,  p.  19. 
8)  Stoekfleth,  Norsk-Lapp.  Ordbog.  p.  38,  a.  9)  Kieffer  et  B.  I,  p*  144,  b. 
10)  Castren,  Gramm.  Syrj.  p.  159,  b.  ")  S  tockfleth,  Norsk-Lapp.  Ordb.  p.  697,  b. 
*2)  Sitzungsb.  Bd.  XVII,  p.  344  s.  v.  i'z.  13)  Kieffer  et  B.  II,  p.  666,  b.  14)  Ebendas. 
p.  1242,  b.  15)  Schmidt,  Lex.  p.  3S4,  c.  16)  Ebendas.  p.  334,  b.  i7)  Castren, 
Gramm.  Syrj.  p.  139,  c.  18)  B  öbtlingk,  Lex.  p.  12,  a.  19)  Sitzungsb.  Bd.  X,  p.  35. 
20)  Böhtlingk,  Lex.  p.  112,  b.     21)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  II,  p.  276. 


*\ 


Vergleicheade  Analyse  des  magyarischen  Verbums.  £>  i  »i 

J  (söni) !)  id.  Vergl.  türkisch  j^Cy^j   (seui'unmek)2),  jlr^j  (seun- 
mek)  2)  „s'  eteindre"  =  mongolisch  t  (sünükü)3)  „erlöschen" 

i 

==  magyarisch  szünik ,  welche  die  Reflexivform  zu  türkisch  jX^L 
(sinmek)4)  „se  d ig er  er"  darstellen.  Demnach  verhält  sich  ej 
zur  Wurzel  szü(-n)  wie  Sanskrit  f^flftT  (ni?ä)  „nox",  vv%  zu  7f$j 
(na?)  „zu  Grunde  gehen". 

Ek  „Schmuck".  Mongolisch^   (kege)  5)  „hübsch,  zier- 

lieh",  bulgarisch   kice  6)   „zier  en",  jakutisch  maprä7)    „Putz", 
Suomi  ko-ria  „Schmuck". 

Ek  „Keil,  Accent".    Mongolisch    1    (aghuldzar)  «)    „spitz 


zulaufend,  spitzig,  Vereinigung  zweier  Wege". 

El  „leben".  Suomi  elä,  syrjänisch  ola,  ostjakisch  yAe  9)  etc., 
mordvinisch  erä.  An  Letzteres  schliesst  sich  einerseits  türkisch  ^  o 
(diri)  „vif,  vivant",  das  sichtlich  zu  jakutisch  tmh  10)  „Athem", 
TWHHäx11)  „belebt,    lebend"   gehört,    andererseits   Mandzu  4, 


■  i 
i 


(veidzume)  13)   „vivre",    t  (vei-^un)  is)  „vif,  vivant".   Mord- 


vinisch  er-ä  zeigt  den  Weg,  auf  dem  der  Anlaut  sich  verlor.  El 
gehört  daher  zu  le-lek  und  stammt  mit  diesem  von  leh-el.  Als 
gemeinsame  Wurzel  muss  demnach  d-g  aufgestellt  werden.  Die 
Mandzu-Formen  f  (sukdun)  „halitus"  (=  türkisch  jj^o  [soluq] 


„haieine")  und  j{   (edun)  „ventus"  hängen  auf  ähnliche  Weise 
zusammen. 


*)  Schmidt,  Lex.  p.  372,  I..  ?)  Kieffer  et  B.  I,  p.  712,  b.  3)  Schmidt, 
Lex.  p..372,  c.  4)  Kieffer  et  B.  1,  p.  G82,  b.  5)  Schmidt,  Lex.  p.  148,  b. 
6)  Cankof,  Gramm,  d.  bul.  Spr.  p.  17S,b.  ?)  Bühllingk,  Lex.  p.  66,  b.  8)  Schmidt, 
Lex.p.  7,  h.  9)  Sitzungsb.  Bd.  X,  p.  52.  10)  Kie  f  f  er  et  B.  I,  p.  570,  a.  ")  Bühl- 
lingk, Lex.  p.  102,  a.  i2)  Amyot,  Diet.Tart.Mantch.  II!,  p.  233.  ")  Ebendas.  p.  236. 
Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XIX.  Bd.  IL  Mit.  18 


274  Boller. 

El  „Schneide,  Schärfe".  Mongolisch  .3  (ir)  9  „Schärfe, 
Schneide",  Mandzu  ^<  (dzejen)  2)    „le  tranchant,  le  tran- 

chant  d'un  couteau,  d'une  hache." 
Emik  „wachen".  S.  ebred. 

En  „ich".  Türkisch   -y  (ben),  ^  (men,  min),  jakutisch  mih, 

mandzu  -  mongolisch   i?    (bi),   Suomi  minä,   lappisch,  mordvinisch 
mon  etc. 

Enek  „Gesang".  Ostjakisch  äpa  9  „Gesang",  äpre  9 
„singen",  jakutisch  wpwa9  „Lied,  Gesang",  türkisch  y  (ir)  5) 
„chant,  chanson".    Mandzu;?'  (irgebun)  6)    „c  armen",  £ 


(irgebume)  6)  „cantare".  Ist  die  Zusammenstellung  richtig,  dann 
muss  r  ausgefallen  sein  und  n  als  Wurzelexponent  gefasst  werden : 
e(r)-n-ek  „cantata".  Vgl.  hangya  „Ameise"  mit  türkisch  &s£j\3 
(qaryndze)  9  und  s.  u.  kemlel. 

Ep  „ganz,   unversehrt;    heil,   gesund".    Türkisch    cl 

(i'agh)  8)  „  entier,  sain",    mongolisch  ^    (co^om) 9)     „gerade, 

1 
just,  bestimmt;  (epen)  ganz,  accurat,  genau".    Gh  =  v=p 

wegen  des  Auslautes. 

Epit   „bauen".  Türkisch    lc\,   (i'apmaq)  i0)  „bätir,  con- 

struire". 

Er  „erreichen,    reifen.    Mit  vocalischem   Anlaute   finden 
sich  wotjakisch  iriwyl  n)  „Gewinn",  Mandzu  ^  (izime)  13)  „etre 

ä  la  veille  de  quelque  chose;  en  avoir  assez",  mongolisch 
fj   (irekü)  J9  „kommen",  türkisch  >^L>j\  (ermek,  irmek)  14)  „par- 


i)  Schmidt,  Lex.  p.  39,  b.  2)  Amyot,  Dict.  Tart.  Manteh.  II,  p.  493. 
3)  Castre'n,  Ostj.  Gramm,  p.  80,  a.  4)  B  öhtlingk,  Lex.  p  32,  a.  5)  Kief fer  et  B. 
I,p.  1SS,  a.  6)  V.  d.  Gabe lentz,  Elem.  de  la  Gramm.  Manteh.  p.  92.  7)  Kieffer  et  B. 
II,  p.  417,  b.  8)  sitzungsb.  Bd.  XVII,  p.  527,  s.  v.  egesz.  9)  Schmidt,  Lex.  p.  332,  a. 
10)  Kieffer  et  ß.  II,  p.  1243,  a.  «•)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  306,  b. 
12)  Amyot,  Dict.  Tart.  Manteh.  I,  p.  153.  13)  Schmidt,  Lex.  p.  38,  c.  14)  Kieffer 
et  B.  I,  p.  25, b. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums.  271) 

venir,    atteindre",    t*L^y    (jUyl)  (irichmek)  *)    „arriver, 

atteindre;  murir".     Den  angegebenen  Bedeutungen  entsprechen 
zwei  mit  Consonanten  anlautende  Wurzeln;  mongolisch    ^   (kiirkii) 

% 
„gelangen,  erreichen,  genug  sein"  =  Suomi  kerki  „hin- 
kommen, hinreichen"  und  türkisch  J**o  (deimek)  „attein- 
dre, toucher,  par venir"  =  jakutisch  tu3)  =  mordvinisch 
(Ev.  Üb.)  sa-ms  „kommen",  Suomi  saa  „erreichen",  sa-ttu 
„anrühren,  treffen."  Da  die  finnischen  Sprachen  sonst  diesen 
Begriff  durch  eine  consonantisch  beginnende  Wurzel  (Suomi  saa, 
syrjänisch  sua,  ostjakisch  jede)  bezeichnen ,  so  bleibt  wenigstens  die 
Möglichkeit  offen,  er  an  eine  der  beiden  Wurzeln  tu  oder  kü-r  derart 
zu  knüpfen,  dass  diese  jenes  iz,  ir  als  Wurzelexponenten  zu  sich 
nehmen.     Vgl.  das  Terminativsuffix  -ig  =  k(a)-)-si  aus  deg. 

Er  „Ader,  Quelle".  Mandzu  jt(sekin)  3)  „source  d'eau", 

<~ 
'£  (seri)*)  „source  d'eau,  origine",  mongolisch  i    (ezi)5) 

„Ursprung",  ^>     (ekin)  6)  „Anfang;  Ursprung  eines 

Flusses";  Suomi  hetet  „Quellader",  tungusisch  jukte7),  njauta 
„Quelle". 

Erdem  „Verdienst".  Mandzu  rf1   (erdemu)s)  „vertu,  habi- 

\ 

lite",  mongolisch^     (erdem)9)  „Verdienst,  Tugend,  Talent". 

^? 
Gehört  zu  erö.    Vergl.  ereny  und  s.  reny. 

Er-ez    „fühlen".      Die    verwandten    Sprachen    bieten    eine 

Doppelreihe   von  Ausdrücken  für  den  Begriff  des  Bewusstwerdens, 

des  Empfindens  sowohl  als  des  Wahrnehmens.    Zur  einen  gehören 

mongolisch   ^>  (kürüleeküi)  10)    „das    Fühlen,    das   Gefühl", 


!)  Kieffer  et  B.  I,  p.  15!>,  b.  2)  Bühtlingk,  Lex.  p.  103,  b.  •')  Amyot,  Dict. 
Tart.  Mantch.  II,  p.  41.  4)  Ebendas.  p.  147.  5)  Sc  hm  i  d  t,  Lex.  p.  35,  b.  6)  Ebendas. 
p.  26,  a.  7)  Schott,  Über  das  Altaische  etc.  p.  103.  8)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch. 
I,  p.  120.    9)  Schmidt,  Lex.  p.  33,  a.    M>)  Schmidt,  Lex.  p.  186,  a. 

18° 


276  Boller. 

lappisch  gallat1),  guldalet  „f>le",  Suomi  hurmeet,  hermut  „Sinnes- 
werkzeuge", aber  koke  „befühlen,  versuchen",  syrjänisch 
kuz'a 2)  „intelligo";  zur  anderen  türkisch    L»Lo  (synamaq)  3), 

jl»<»J  (denemek)4)  „eprouver,  essayer",  wotjakisch  sedis'ko  5) 

„fühlen,  merken",  jeto6)  „anrühren,  berühren",  Mandzu  ^ 

(centeme)  7)  „eprouver  quelque  chose,  examiner  si  une 
chose  est  bonne  ou  m  au vaise"  =  jakutisch  nrnm  8)  „Befüh- 
lung,  Betastung,  Untersuchung",  Suomi  tunte  =  lappisch 
dovdat  „fühlen",  Inchoativ  zu  türkisch  J^J>  (doui'maq)  9)  „s'ap- 
percevoir,  comprendre". 

Er-t  „verstehen".  Mongolisch  rj  (erkicekü)10)  „verstehen, 

l 

begreifen  ",  jakutisch  icrr  ii)  „hören,  verstehen  ",  lappisch 
jierbme  =  miella  „der  Sinn". 

Esz  „Verstand".  Wotjakisch  wiz  12)  „Verstand,  Weis- 
heit, Einsicht",  türkisch  ^.ojl  (ous)  13),  osttürkisch  „j  \  (is) 
„intelligence,  esprit",  mongolisch  3  (u^a^o)  14)  „ver- 
stehen, fassen,  begreifen". 

Etek  „Speise".    Mongolisch  Jj  (idegen)  15)  „Speise",  tür- 

\ 
kisch  jirl  (etmek)  16)  „Brot",  neben  der  Wurzel  jJL>,  (jemek)  16), 

jakutisch  ciä  17)  „essen",  Suomi  syö  etc. 

r 

Ev  „Jahr".  Suomi  vuote,  mongolisch  \  (dzil)1»),  türkisch- 
tatarisch Jj  (jil),  jakutisch  cmji,  ijmji  19),  Mandzu  \.  (se)30)  „annee, 
äge". 


t)  Stockfleth,  Norsk.  Läpp.  Ordbog-,  p.  215,  a.  2)  Castre'n,  Gramm.  Syrj. 
p.  145,  a.  3)  Kieffer  et  B.  II,  p.  122,  a.  4)  Ebendas.  I,  p.  535,  a.  5)  Wiede- 
mann,  Wotj.  Gramm,  p.  330,  a.  6)  Ebendas.  p.  307,  a.  7)  Amyot,  Dict.  Tart. 
Mantch.  II,  p.  445.  8)  Böhtlingk,  Lex.  p.l21,b.  9)  Ki  eff  er  et  B.  I,  p.  566,  a. 
10)  Schmidt,  Lex.  p.  321,  c.  ")  Sitzungsb.  Bd.  XVII,  p.  233,  s.  v.  e'rt  und  Nachtrage 
p.  392.  12)  Wied  emann,  Wotj.  Gramm,  p.  338,  b.  13)  Sitzungsber.  Bd.  XVII,  p.  244. 
s.  v.  ösmer.  14)  Seh  m  id  t ,  Lex.  p.  47  ,  b.  15)  Sc  hmi  d  t,  Lex.  p.  40,  c.  *6)  Schott, 
Über  das  Altaische  etc.  p.  81.  17)  Böhtlingk,  Lex.  p.  165,  b.  18)  S  c  h  m  i  d  t,  Lex. 
p.  304,  a.    «)  Böhtlingk,  Lex.  p.  124,  a.     2»)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  II,  p.  33. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums.  C  i  7 

Faj  „Schmerz,  schmerzen".  Suomi  pakko  „  Schmerz", 
türkisch  ^^\  (aghry)  <)  „douleur",   tatarisch^ \  (auru)  a). 

Farad  „ermüden,  sich  bemühen".  Türkisch  jljy  (i'oroul- 
maq)  3)    „sefatiguer,    etre   las,    fatigue",    mongolisch  < 


(cocaghayo)  '*)  „ermüden",  Suomi  puuja  =  puuha  „mühsam 
arbeiten,  viel  Mühe  haben,  sich  bemühen",  syrjänisch 
mydzja 5)  „fatigor",  und  unter  weicher  Form  jakutisch  äpäi 6) 
„Mühe,  Anstrengung,   Beschwerde". 

Fä-zik  „frieren,  kalt  sein".  Ostjakisch  nöTaje  7)  „kalt 
werden,  frieren",  Suorni  palele  „Kälte  empfinden,  frieren", 
Mandzu^»    (peikun)  §)  „froid  ,  le  fr  oid".  Die  Wurzel  pak  (fagy) 

x: 

liegt  offenbar  auch  in   dem  Mantlzu  f  (pakdzame)  9)  „geler,  se 

l 

cailler,  congeler",  Suomi  paa-ta  „sich  verbärten,  zusam- 
menbacken und  ankleben"  =  pah-ta  „gerinnen". 

Fek    „Halfter,    Zaum".    Mongolisch    f    (xadzaghur)  ™) 


„Pferdezaum",  türkisch  ^-fy    (jugen)    „Zügel",   Suomi  johta 

„lenken"  J1). 

Fei  „Hälfte",  Suomi  puoli,  ostjakisch  pelek12)  etc.,  türkisch 
J\y  (beulmek)13)  „partager,  diviser". 

Fei  „fürchten".  Suomi  pelka,  mordvinisch  päl(ä)14),  Mandzu 
3   (ol^ome)15)  „craindre,  avoir  peur",  mongolisch    <j    (uuli- 

j!  i 

^o)  ,6)  „sich  fürchten,  erschrecken". 


i)  Kieffer  et  B.  I,  p.  64,  b.  2)  Sitzungsb.  p.  330,  s.  v.  faj.  3)  Kieffer  et  B. 
II,  p.  1287,  b.  4)  Schmidt,  Lex.  p.  334,  c.  5)  Castren,  Gramm.  Syrj.  p.  146,  b. 
6)BöhtIingk,  Lex.  p.  17,  a.  ?)Castre'n,  Üstj.  Gramm,  p.  93,  a.  8)Amyot,  Dict. 
Tart.  Mantch.  111,  p.  331.  9)  Ebendas.p.  524.  »«)  Schmidt,  Lex.  p.  145,  a.  ")  Schott, 
Über  das  Altaische  etc.  p.  107.  12J  Sitzungsb.  B.  X.  p.  54.  13)  K  i  e  f  f  e  r  et  B.  I,  p.  247,  b. 
»*)  Sitzungsb.  B.  X,  p.  52.  15)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.  212.  16)  Schmidt, 
Lex.  p.  44,  a. 


278 


B  o  1 1  e  r. 


Fem  „Metall".  Mandzu«!    (veme)  *)  „fo  ndre",  4    (vembu- 


me)1)   „fondre  du  metal  au  feu",  vgl.   bänya. 

Feny  „Glanz".   Mandzu  4  (fosome)2)  „briller  d'eclat",   ^ 


t 


<. 


(foson)2)  „clarte",  türkisch  J^j  (parlamaq)  s)  „briller",    Suomi 
paista  „scheinen,  leuchten". 

Fer  „Platz,  Raum  haben".   Das  Denominativ  zu  Mandzu  $? 
(ba)*)  „Heu,  en droit"  =  mongolisch  j§  (bai)5). 


Fereg  „Wurm".  Mongolisch 


(XoroXa0  6)    »Wurm,    In- 


sect". 

Ferfi  „Mann".  Syrjänisch  veräs 7)  „vir",  mongolisch  J>  (ere)8) 

„Mann,  männlich,  mannhaft"  jakutisch  äp  9)  =  türkisch  jl,  j* 
(er)  „Mann;  Kraft,  Ausdauer".  Also  gleichstämmig  mit  erö, 
das  wahrscheinlich  wie  die  gleichen  türkisch -mongolischen  Formen 
einst  einen  consonantischen  Anlaut  besass. 

Fesü  „Kamm".  Ostjakisch  kundzep  10)  „Kamm",  bulgarisch 
ras-cesuvam11)    „kämmen",  Suomi  harja,  tscheremissisch  serge. 

Feszek  „Nest".    Suomi  pesä  13)  etc.,   Mandzu    4    (feje)  13), 

türkisch  Ij^jJ  (üouva)  14)  „nid". 

Fo  „Haupt".  Suomi  pää,  jakutisch  6äc15),  türkisch  J^l  (bas) 

„Kopf". 

Fo,  föz  „kochen,  sieden".  Syrjänisch  pua 16)  „coquo", 
Mandzu    4     (fujeme)  17)  „b  o  u  i  1  1  i  r",    aber     $  (budzume)  1S) 


l 


<  - 


i)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  III,  p.  239.  2)  Am  yo  tili,  p.  183.  3)  Rief  fer 
et  B.  I,  p.  203,  a.  4)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantsch.  I,  p.  505.  5)  Sitzungsber.  B.  XVII, 
p.  234.  s.  v.  fer.  6)  Ebendas.  p.  335,  s.  v.  fojt  7)  Castren,  Gramm.  Syrj.  163,  a. 
8)  Schmidt,  Lex.  p.30,b;  Schott,  Über  das  Altaische  etc.  p.  96.  9)  Böhtlingk, 
Lex.  p.  16,  a.  10)  Castren,  Ostj.  Gramm,  p.  86,  b.  ")  C  ankof,  Gramm,  der  bulg. 
Spr.  p.  203,  a.  12)  Sitzimgsb.  Bd.  X,  p.  292.  ")  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  III, 
p.  156.  14)  Kieffer  et  B.  II,  p.l298,a.  15)  Bö  htlingk,  Lex.  p.l31,b.  16)  Castren, 
Gramm.  Syrj.  p.  153,  a.  i?)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  III,  p.205.  18)  Ebendas.  I,  p.  576- 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbuuis.  279 

„faire   cuire    quelque    chose",    mongolisch     $>    (bucal^o)1) 


„kochen,   sieden." 

Fü  „blasen".  Ostjakisch  pü(e)  2)  „blasen",  Suonii  puhu  id. 
Mandzu  "t  (^udzuku) 3)  „soufflet  de  forge". 

i 

Ful    „ersticken,    ersaufen".    Reflexiv   zu    dem    Transitiv 
fojt4),  wie  gyül  zu  gyüjt  etc.   Vgl.  Mandzu    £  (fazime)  5)  „se  pen- 

dre,  s'  e trangier". 

Für  „bohren".   Türkisch    Jr>jy    (bourmaq) 6)    „tourner, 

percer  avec  la  tariere",  mongolisch  1    (öröm)7)  „Bohrer". 

1 

Fü  „Gras".  Ostjakisch  pum8),  S.  D.  pom  „Gras",  mongolisch 
fo    (ebiisün)  9)  „Gras,  Kraut",  türkisch  Ojl   (ot)  10)    „herbe, 

herbage,  paturage",  syrjänisch  bydmala  n)  „cresco". 

Füz  „Weide".  Suomi  paju,  syrjänisch  badj 12),   Mandzu    <| 

1 


(fodoxo)13)  „saule". 

Füz  „schnüren,  nesteln,   reihen,  fassen".  Mongolisch 
\    (dzalgha/o) 14)  „anreihen,  a  n  k  n  ü  p'f  e  n ,  eines  zum  Andern 


I 


thun",  Suomi  jatka  „zufügen,  verlängern,  fortsetzen". 

Gät  „Damm,  Deich".  Mongolisch    t   (^asija)  15)    „Damm, 

Abdämmung",    ¥    (^aghalda)  16)    „Absperrung,    Verdäm- 


i)  Schmidt,  Lex.  p.  119,  a.  2)  Castreu,  Ostj.  Gramm,  p.  93,  b.  3)  Amyot, 
Dict.  Tart.  Mantch.  HI,  p.  119.  4)  Sitznngsher.  Bd.  XVII,  p.  334.  s.  v.  fojt.  5)  Amyot, 
Dict.  Tart.  Mantch.  III,  p.  132.  6)  Kieffer  et  B.  I,p.  236,b.  7)  Schmidt,  Lex.  p.73,a. 
8)  Castre'n,  Ostj.  Gramm,  p.  94,  a.  9)  Schmidt,  Lex.  p.  24,  a.  ">)  Kieffer  et  B. 
I.  Bd.  118,  b.  ")  Castren,  Gramm.  Syrj.  p.  138.  a.  12)  Sitzungsb.  Bd.  X,  p.  281. 
13)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  III,  p.  185.  14)  Kieffer  et  B.  I,  p.  245,  a. 
i5)  Schmidt,  Lex.  p.  297,  a.    16)  Schmidt,  Lex.  p.  145,  c. 


280 


Boller. 


mung",Mandzu  f  (kaku)1)  „digue".   Vgl.  mongolisch  "f    (ghai- 


la^o)3)    „hindern,  hinderlich  sein",   Suomi  jassakka  „Hin- 
derniss". 

Gäz  „Furt".  Jakutisch  Kac s)  „waten",  türkisch  jX,X  (gueteh- 

v 

mek)*)  „passer,  traverser,  franchir;    depasser,  devan- 
c er",  mongolisch"^  (ghadulxo)  5)  „über  einen  Fluss  setzen". 


Suomi  kahla  „waten",  syrjänisch  keja  6)  „vado". 

Gege  „Kehlkopf".  Mongolisch    f    (chagholai)  7)     „Kehle, 


-  j 
-6 


Gurgel",  Suomi  kaula  „Hals". 

Gern  „Seh  lag  bäum".  Gehört  zur  Wurzel  von  gät. 

Gep  „Maschine".  Aus  dem  Türkischen  jcl  (iapmaq)  „faire, 

operer;  construire  etc."  S.  epit. 

Gor  „gross,  lang".  Suomi  kaiho,  kaihura  „schmächtig, 
lang,  gestreckt",  jakutisch  xopoi  „in  die  Höhe  schiessen, 
lang  werden",  ^opoghor  „in  die  Höhe  geschossen,  lang 
von  Wuchs",  mongolisch  f  (^angghaghar) 8)  „lang  und  hager 


von  Wach sthum ".    Wegen  des  Ausfalles  von  ngh  vgl.   tschu- 
waschisch sor  =  i^.o  (sonra)  „nach  ",  tora  =  ^J.,  (tanry)  9) 

„Gott". 

Göböly    „Mastvieh".     W^otjakisch    kwajto 10)    „mästen". 
Weiche  Form  zu  hizakodik  ? 

Gög  „Hochmuth".  Mahdzu    i    (küva)    „auguste",     £ 


i)Arayot,  Tart.  Mauteh.  I,  p.  339.  2)  Schmidt,  Lex.  p.  190,  b.  3)Böht- 
lingk,  Lex.  p.  56,  b.  4)  Kieffer  et  B.  II,  p.  SU,  a.  5)  Schmidt,  Lex.  p.  194,  b. 
6J  Castre'n,  Gramm.  Syrj.  p.  143,  b.  7)  Schmidt,  Lex.  p.  165,  a.  8)  Ebend.  p.  127,  b. 
9)  Schott,  Über  das  Altaische,  p.  105.      10)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  514,  a. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums.  /iOl 

(küvasa)1)  „presomptueux,  qui  se  vante",  türkisch  «jJliy  (guv- 
enmek)2)  „se  vanter,  se  glorifier",  Suomi  kehu  „sich  prah- 
len, rühmen".    (Vgl.  kerkedik.)  Gehört  zu  kevely. 

Goz  „Dampf".  Wotjakisch  kwaz  3)  „Luft,  Wetter",  Suomi 
kaase4)  „nebeliger  Dunst",  jakutisch  üic  5)  „starker,  dur  ch- 
d  ringender  Rauch". 

Gyäm  „Stütze".  Mandzu   £    (tajame) 6)    „s'appuyer,    se 

\ 
confier",  türkisch  ^,l>ta  (daiamaq)  7). 

Gyär  „Fabrik".  Syrjänisch  kar(a)8)  „facio",  türkisch  Jc\j\i 

(i'aratmaq)   „creer". 

Gyäsz   „Trauer,  Leid".    Türkisch  ^l  (las)  9)    „ d e u i  1 " . 

Vergl.  offjls  (qazghu)  =  J&i  (qaighu)  10)  „chagrin,  tristesse", 

Mandzu  <f  (^ozi^on)    „affliction,  pleurs  de  tristesse; 


douleur,  amertume",  mongolisch  "f  (ghasal^o)  n)  „jammern, 

trauern". 

Gyava  „feig,  unbehilflich".  Türkisch  jJbjf  (guevsek)  ia) 

„lache,  mou;  effemine,  poltron",  mongolisch  1  (dzügelen)  13) 

1 

„weich,  sanft,  schwach,  weibisch,  dumm",    Suomi  kehno 
„debilis,  nequam".  Vgl.  Suomi  pelkuri  „feig",  mongolisch 


(5(alus^o)  14)  „sich  fürchten,  verzagen,  zurückweichen" 
(^alini^ai)  15)  „nachlässig,  träge,  abgeneigt,  unlustig 


^> 


i)  Amyot,  Dict.  Tart.  Manteh.  I,  p.468.  2)  Kie  f  f  e  r  et  B.  II,  p.  673,  a.  3)Wie- 
demann,  Wntj.  Gramm,  p.  314,  a.  4)  Magyar  Nyelveszet  II.  Füz.  p.  85,  b.  BJ  Böht- 
lingk,  Lex.  p.  33,  a.  6J  Amyot,  Dict.  Tart.  Manlch.  II,  p.  206.  7)  SiUgsb.  Bd.  XVII, 
p.  379,  s.  v.  taniasz.  8)  Castren,  Gramm.  Syrj.  p.  143,  a.  9)Kieffer  et  B.  II, 
p.  1249,  b.  ")  Ebendas.  II,  p.  541,  a.  «)  Schmidt,  Lex.  p*.  196,  a.  «)  Kieffer  etB. 
II,  p.66S,a.  13j  Schmidt,  Lex.  p.313,  c.  14J  Ebend.  p.  136,  c.    15)  Ebendas.  p.  136,  b. 


282  Boller. 

zur  Arbeit",  wotjakisch  kurdes  *)  „furchtsam",  türkisch  J^<$jji 

(qorqmaq)  2)  „avoirpeur,  craindre". 

Gyek  „Eidechse".  S.  gyi'k. 

Gyekeny    „Binsenmatte,    Matte".    Mongolisch    ij     (cikir- 

n 

L 

sun)  3)  „eine  von  Binsen  oder  Bast  gewebte  Matte",  ostja- 
kisch  jegan  4)  U.  S.  jekü  „Schilfmatte"  (vgl.  kaka),  wotjakisch 
jaby,  kaby,  kab  „Matte". 

Gyep  „Rasen".  Jakutisch  Kbipwc5)    „Rasen",  mongolisch  3 

(dzim)  6)    „ausgestochener  Rasen",  türkisch  j\S  (kesek)  7) 

„gazon". 

Gyer  „schütter,  dünn,  licht".  Syrjänisch  gezäd 8)  „rarus, 
hauddensus",  Mandzu  f    (^arpa^ön)9)    „rare,   clairseme", 

Suomi  harva,  „undicht,  selten". 

Gyi'k  „Eidechse".  Türkisch^(kieler)  1°),  wotjakisch  kengal11), 

mongolisch  3*  (kürbel)13)id.  Suomi  sise-lisko,  sisa-lisko,  sisär-lisko, 

\ 

syrjänisch  dzjodzjuu  13)  „  lacerta  agilis",  ostjakisch  cacT,  S. 
caca-F, 14)  „Eidechse". 

Gyogyit  „heilen".  Wotjakisch katjalo15)  „heilen",  Suomikostu 
„genesen". 

Gyöz  „siegen".  Jakutisch  Kwai 16)  „siegen",  Suomi  voi-tta. 

Gyii-1    „sich   versammeln",  gyüj-t  „sammeln".     Suomi 
joukko  „Haufe,  Versammlung",    mongolisch  "t  (ghura^o)  17) 

„sich  versammeln".    Vgl.  csöd. 


i)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  312,  b.  2)  Kieffer  et  B.  II,  p.  320,  b. 
3)  Schmidt,  Lex.  p.  326,  b.  4)  Castren,  Ostj.  Gramm,  p.  83.  5)  Böhtlingk,  Lex. 
p.  64,  a.  6)  Schmidt,  Lex.  p.  303,  c.  7)  Kieffer  et  B.  II,  p.  606,  a.  8)Castren, 
Gramm.  Syrj.  p.  140,  a.  9)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.  374.  10)  Kieffer  et 
B.  II,  p.  626,  a.  ")  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  300,  a.  12)  Schmidt,  Lex. 
p.  208,  b.  i3)  Castren,  Gramm.  Syrj.  p.  139,  a.  14)  Castren,  Ostj.  Gramm, 
p.  96,  a.  15)  W  i  e  d  e  m  a  n  n  ,  Wotj.  Gramm,  p.  309,  a.  16)  B  ö  h  1 1  i  n  g  k,  Lex.  p.  60,  b. 
l?)  Sitzungsb.  Bd.  XVII,  p.  235,  s.  v.  gyöz. 


Vergleichende  Analyse   des  magyarischen  Verbums.  CO 6 

Gyür  „kneten".  Mongolisch  3>  (kübürlekü)  ')   „kneten 

f 

(Teig) ,  durchrühren«  =  1    (dzughuraxo)  2)     „einrühren, 

< 

r 

- 

zurechte  machen"  (Teig). 

Gyü-1  „brennen«,  gyüj-t  „anzünden".  Wotjakisch  dzualo 
„brennen",  syrjänisch  özta  „accendo". 

Gyülöl  „hassen".  Suomi  viha,  syrjänisch  oz  (Ev.  Üb.),  mon- 
golisch  3    (üsikü)s)  „hassen",  Mandzu  t  (sejeme)  *)  „hair". 


Gyürü  „Ring".  Türkisch  ^j  (jüzük)  „bague,  anneau", 

tschuwaschisch  sürü5)  „Ring",  ostjakisch  TyjiT«)  „Fingerring." 

Gyüszü    „Fingerhut".    Türkisch    Ju£j  (iuksuk)')    „de  ä 

c  o  u  d  r  e  ",  jakutisch    cfryn  8)    id.   mongolisch  £    (chorobci)  9), 


Mandzu  f  (sorko)  10)  id. 

Häbor    „Aufruhr".  Mongolisch^  (kimural)  ")  „Aufruhr, 

I 

Aufstand". 

Hag  „steigen,  treten,  schreiten".  Jakutisch  xäM  12) 
„schreiten,  im  Schritt  gehen",  ostjakisch  xat^en  13) 
„Treppe",  syrjänisch  kaa14)  „scando",  tscheremissisch  kuz(e)15), 
mongolisch^  (kiskikü)  16)  „treten,  gehen,  steigen". 

% 

Haj  „Schmeer".  Jakutisch  xaca  17)  „Rauchfett",  Suomi 
kuu,  syrjänisch  cög  18)  etc. 


i)  Schmidt,  Lex.p.207,  b.  2)  Sitzungsb.  Bd.  XVII,  p.339,  s.  v.  gyur.  3)Schmidt, 
Lex.  p.  78,  a.  4)  A  m  y  o  t ,  Dict.  Tart.  Mantch.  II,  p.  39.  5)  Schott,  Über  das  Al- 
taische  etc.  p.  163.  6)  Castren,  Ostj.  Gramm,  p.  100,  a.  ?)  Kieffer  et  B.  II, 
p.  1293,  a.  8)  Böhtlingk,  Lex.  p.  162,  b.  9)  Schmidt,  Lex.  p.  171, a.  10)  Schott, 
Über  das  Altaische  etc.  Nachträge  p.  146.  ll)  Schmidt,  Lex.  p.  156,  a.  12)  Böht- 
lingk, Lex.  p.  79,  a.  13)  Castren,  Ostj.  Gramm,  p.  82,  a.  14)  Castren,  Gramm. 
Syrj.  p.  143,  a.  15)  Castren  ,  Gramm.  Tscher.  p.  65,  a.  16)  Schmidt,  Lex.  p.  201,  a. 
17)  Böhtlingk,  Lex.  p.  84,  b.  i8)  Sitzungsber.  Bd.  XVII.  Nachtrag  p.  391, 
8.  v.  agy. 


284 


B  o  1 1  e  r. 


[ 


Häkk  „Phlegma".  )    Mongolisch    jf      (xakiru^o)  J) 

Häkog  „sich  räuspern".  (  f) 

„ausspeien,    den  Schleim    aus    dem    Halse    aus-  | 
werfen". 

Häl  „übernachten".  Ostjakisch  xö/^e ,  türkisch  ^cß  (qon- 

maq)  2)  id. 

Häla  „Dankbarkeit".    Slawisch  XBaaa  3)   „Iaus.gratia- 
rum  actio",    jakutisch  xajagaa  *)    „Lob,  Ruhm",  Mandzu 


(^uksime) 5)   „se  louer  extremement  de  quelque  chose",  f 

\ 

f  (^uksime  gönime)  5)    „avoir   un  coeur  reconnaissant; 


reconnoitre  ".     Mandzu  ^  (kija  kijame)6)  „approuver,  louer". 

l 

Gehört  zu  köszön,  Suomi  kiitä  „danken". 

Hälö  „Netz,  Garn".  Ostjakisch  xö^ap  7)  „Netz",  mongolisch 
"t  (ghabci^o)  8)   „mit  dem  Netze  fischen",^  (^aghadusun)  9) 

„Fischreusen",   ^  (gülmi) 10)  „das  grosse  Netz,  Fisch- 


netz =  jakutisch  iliM,  türkisch  -  tatarisch  «A>     L     lo.  u),  wot- 

jakisch  kaltom  la)  „Zugnetz". 

Halyog  „Staar,Augenfell".  Suomi  kaihi, kaihet  „derStaar", 

silmän  kalvo  „das  Augen  feil".  Die  Suomi-Wörter  bezeichnen  wie 


*)  Schmidt,  Lex.  p.  130,  c.  2)  Sitzungsber.  Bd.  XVII,  p.  364,  s.  v.  ölt  und  386, 
s.  v.  vendeg.  3)  Miklosich  ,  Lex.  ling.  slov.  p.  192, b.  4)  Böh  tlin  g  k  ,  Lex.  p. 80, a. 
5)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  1,  p.  125.  6)  Ebendas.  I,  p.  55.  7)  Castren,  Ostj. 
Gramm,  p.  82,  a.  8)  Schmidt,  Lex.  p.  202,  c.  9)  Ebendas.  p.  131,  b.  10)  Eben- 
das. p.  207,  c.  ")  Böhtlingk,  Lex.  p.  38,  a.  12)  W  ie  de  ma  nn,  Wotj.  Gramm, 
p.  309,  a. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen   Verbums.  28b 

kaiha  „  Dun  kelheit,  Schatten"  =  kalvet  „schattiger  Ort", 
türkisch  ,)S3jf  (gueulge)  »)    „  o  m  b  r  e  " ,  Mandzu   "•£"  (^elmen)  2) 

„ombre". 

Harn  „Pferdegeschirr".  Mongolisch  i  (/om)  3)  „Kummet, 

Unterlage  für  die  Last  der  Kamele"  =  Mandzu  f  (komo) *) 

h 
(kobcime)  5)  „bäter  ou  seller  un   cheval  ou   toute   autre 


bete",  türkisch  »^(guvem)  6)  „armure  de  cheval,  barde". 

Harn  „Schale,  Balg,  Oberhaut".] 

Hämlik  „ sich  schälen,  häuten".) Wotjakischköm7)„Rinde". 

Hämöz  „schält  ab".  ) 

Mandzu  £  (X°X°)  8)    »gousses    de   haricots    etc."    mong.     f 

1 

(^aghudasun)  9)  „Baumrinde".     Die  Wurzel  liegt  in  mongolisch 
jt  (Xüghur^o) 10)     „abreissen,    sich    losreissen",  jakutisch 


xaja  1J)  =  mongolisch    ^    (^agnu)    „entzwei".  Vgl.  mong.    f 

(^alisun)  12)  „Schale,  Spreu,  Haut,  Membran",  jakutisch 
xaTbipMK  1S)  „Rinde,  Fisch  schuppe"  =  türkisch  ^5  ,1a  (qai'ri) 
=  karej  =  mongolisch  t  (^airasun)  13)   („Fisch  schuppe  "). 

I  t 

Häny    „werfen;   sich    erbrechen".    Mongolisch    t  (^a- 

h 

JaX°.)  u)    «werfen,   schmeissen,    wegwerfen";    daher  mit 


*)  Kieffer  etB.I,p.669,b.  2)  Amyo  t,  Dict.Tart.  Manteh.  III,p.52.  8)  Schmidt, 
Lex.  p.  166,  b.  4)  Amyot,  Dict.  Tait.  Mantch.  I,  p.  424.  5)  Kieffer  et  B.  II, 
p.673,  b.  «)  Ebendas.  p.  482.  7)  Wiederaann  ,  Wotj.  Gramm,  p.  311,  b.  8)  Amyot. 
Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.449.  9)  Böhtlingk,  Lex.  p.76,b.  i°)  Schmidt,  Lex.  p.  132,  c. 
")  Böhtl  ingk.  Lex.  p.  80,  a.  ™)  Schmidt,  Lex.  p.  136,  a.  ")  Böhtlingk, 
Lex.  p.  76,  b.     *4)  Schmidt,  Lex.  p.  144,  b. 


286  Boller. 

hajit  gleichstämmig  *).  Suomi  ku'o  „sicherbrechen,  speien", 
aber  freq.  kakaise  id. 

Hany  „wie  viel ",  jakutisch  xaja3)  „welcher"  (relativ), 
xa^ia  „wie  viel"  (rel.  und  interrog.). 

Harit  „wälzen;  abwenden,  ableiten".  Jakutisch 
KÖHyö  3)  „entfernen,  fern  halten,  abweichen",  KÖfiypyT 
„zur  Seite  schieben,  wegwälzen",  mongolisch "f  (ghar^o)4) 

„hinausgehen,  herauskommen". 

Harom  „drei".  Mongolisch "t  (ghorom)  5),    Suomi   kolme  etc. 

1 

Hat  „Rücken",  jakutisch  KÖ^yc  6)  „Rücken",  Suomi  selkä 
(1  =  5). 

Häz  „Haus",  ostjakisch  xot,  xaT  „Zelt,  Haus".  Suomi 
koti,  tscheremissisch  kuda  „domus",  slawisch  xbiaia,  Xbi3a,  tlu-st* 
„domus". 

Hej  „Schale,  Rinde",  mit  harn  gleichstämmig. 

Heja  „Stock- Tauben  falke,  Habich  t",  syrjänisch  kalja  7) 
„falco  milvus",  lappisch  kuolek. 

Hev  „Hitze".  Ostjakisch  ^odzem  8)  „heiss  ",  mongolisch  t 

(^alaghun)  9)  „heiss,   Hitze  =  Mandzu  £  (^al^ön)  10)    „  cha- 

leur;  chaud",  Suomi  kuuma  „heiss",  türkisch  jL>J>  (gueinuk)11) 

„fievre  c hau  de". 

Hezag  „Lücke,  Zwischenraum". Mongolisch *\  (dzabsar)13) 

„Zwischenraum",  Suomi  vaihet  „was  zwischen  ist,  Zwi- 
schenraum", wohl  gleich  jakutisch  xajarac  „Loch",  und  mit 
diesem  zur  Wurzel  welche  mongolisch  ^agh-ara^o,  ^agh-ar^o  liegt 
gehörend. 


*)  Sitzimgsb.  Bd.  XVII,  p.  339,  s.  v.  hajo  und  341,  s.  v.  hajt.  2)  Böhtlingk, 
Lex.  p.  80,  a.  3)  B.  p.  36,  b.  57,  a.  4)  Schmidt,  Lex.  p.  193,  c.  5)  Hunfalvi. 
6)  B  öhtl  ingk,  Lex.  p.  57,  a.  7)  Castren,  Gramm.  Syrj.  p.  143,  a.  6)  Castren, 
Ostj.  Gramm,  p.  82,  b.  9J  Schmidt,  Lex.  p.  135,  b.  10)  Amyot,  Dict.  Tart. 
Mantch.  III,  p.  419.     ")  Rief  f  er  et  B.  II,  p.  675,  b.     **)    Schmidt,  Lex.  p.  293,  b. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums.  287 

Hi  „rufen".  Suomi  huu-ta.  Mandzu  £   (chülame)  *)    „appe- 


1 


ler",    türkisch   J*,*S    (qyghyrmaq)  2)    „appe ler    quelqu'un, 
c  rier  ". 

Hi  „Mangel".  Suomi  kaipa  „vermissen",  mongolisch 

(XorXak)  3)   „Mangel",    türkisch    Jl$1  (eksik)  *)  „deficit,  de- 
faut,  manoue". 

Hid  „Brücke".  Mongolisch  2  (kegiirge)  5),  J  (kügürge)  6), 

$  I 

Suomi  silta. 

Hig  „flüssig".  Wotjakisch  kizer' 7)  „dünn,  flüssig",  mon- 
golisch ^  (singgen)  s)    „dünn,  flüssig"  (vgl.  wegen  s=h  unter 

hügy). 

Hirn  „Stickerei".  Persisch-türkisch  Ui^(kiem^a) 9)  „damas, 
etoffe  ägrandes  fleurs",  mongolisch  f  (^argham)  10)  „Blu- 

menstickerei  auf  Stoffen". 

Hfr  „Ruf,  Nachricht".  Mandzu  J  (kebu)»)  „nom,  repu- 
tation",  türkisch-tatarisch  cj\  (at),  jakutisch  äT  „Name",  äTTäx, 
„berühmt".  Gehört  obgleich  weich,  wahrscheinlich  zu  hi,  wie  dem 
Mandzu  "J,  das  harte  f  zur  Seite  geht.    Vgl.  indessen  noch  Suomi 

kuulisa  „berühmt". 

Ho  „Mond".  Suomi  kuu,  mordvinisch  koo  12). 

Ho  „Schnee".  Türkisch  jlä  (qar)13),  mongolisch  i  (casun)  14), 


!)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.  489.  2)  Sitzungsber.  Bd.  XVIF,  p.  342,  s.  v.  In'. 
3)  Schmidt,  Lex.  p.  171,  c.  4)  Kieff  er  etB.I,  p.  79,  b.  5)  Schmidt,  Lex.  p.  149,  a. 
6)  Ebendas.  p.  182,  b.  ?)  Wiedem  a  im  ,  Wotj.  Gramm,  p.  310,  b.  8)  Schmidt, Lex. 
p.  3S2,  c.  «)  K  i  e  f  f  e  r  et  B.  II,  p.  637,  a.  i°)  S  c  h  m  i  d  t .  Lex.  p.  142,  a.  «)  A  m  y  o  t, 
Dict.  Tart.  Mantch.  III,  p.  18.  12)  sitzungsb.  Bd.  X,  p.  S4.  13)  Kieffer  et  B.  II, 
p.  415,  b.     *4)  Schmidt,  Lex.  p.  320,  b. 


288  Boller. 

finnmärkisch  (lappisch)  vasso  *)   „sno",   aber  schwedisch -lappisch 
wuop  2)  „tiefliegender  Schnee". 

Hödol  „hui  d  igen".  Jakutisch  wTWKTä  3)   „achten,  ver- 
ehren", mongolisch     f  (chutuk)  „Ehrwürdigkeit". 

1 

Hölyag  „  d  i  e  B  1  a  s  e  ".  Türkisch  cJjJ»   (qovouq),  jakutisch 

xaöax4)  „Blase  im  Körper",  türkisch    j*j\Js    (qabarmaq)  5), 
„se  gonfler,  enfler",  Mandzu  4    (fuka)  6)  „vessie",  syrjänisch 

gadj 7),  wotjakisch  piu8),  lappisch  puojek. 

Hon  „Achsel".  Mandzu   f   (ojC0)9)  u»d  ^  (o)  „aisselle", 

jakutisch xohhox  10)  „Gegend  unter  dem  Arm,  Achselhöhle", 
türkisch  J^SJ  (qoltyq)  „ai  sselle",  Suomi  kain-alo. 

Hö  „Hitze",  s.  hev. 

Hölgy  „Braut,  j  u  n  g  e  s  Frauen  zi  mm  er".  Türkisch  jj" 
(sie)  (guelin)  ")  „epouse,  fiancee,  belle  fille". 

Hölgy    „Hermelin".   Mandzu  ^  (ul^u)  I2) ,   Suomi  kärppä, 


ostjakisch  coc  !3),  mongolisch  jj    (ujeng)  14). 

Hos  „Held".  Türkisch  -».  J  (qoteh),  Jjlo-y  (qotchaq)15)  „Sol- 
dat c  o  u  r  a g  e  u  x  ",  jakutisch  xocvh  16)  „  v e r w  e g e  n  ,  k  ü h  n  ", 
xocyH  äp  „Held",  tscheremissisch  kostan17)  „audax." 

Hügy  „Urin".    Suomi  kusi,  türkisch  jJjuj  >  j\jJu*i  (sidik)18), 

jakutisch  Ik  18),  mongolisch  $  (sigesü)  18)  „Urin",  Mandzu  £    (si- 

1  \ 

deme)  „pisser". 


4)  Stockfleth,  Norsk.  läpp.  Ordbog-.  p.  628,  b.  2)  Schott,  Über  das  Altaische  etc. 
p.  112.  3)  Bühtlingk,  Lex.  p.  30,  b;  Sitzungsber.  Bd.  XVII,  p.  343.  s.  v.  hodol. 
4)  Böhtlingk,  Lex.  p.  86,  b.  5)  Kieffer  et  B.  II,  p.  433,  a.  6)  Amyot,  Dict. 
Tart.  Mantch.  III,  p.  193.  7)  Castre'n,  Gramm.  Syrj.  p.  139,  b.  8)  Wiedemann, 
Wotj.  Gramm,  p.  310,  b.  9)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.  186.  10)  Böht- 
Iingk,  Lex.  p.  86,  b.  ")  Kieffer  et  B.  p.  629,  b.  12)  Amyot,  Dict.  Tart. 
Mantch.  I,  p.  270.  13)  Castre'n,  Ostj.  Gramm,  p.  96,  b.  14)  Schmidt,  Lex.  p.  76,  b. 
15)  Kieffer  et  B.  II,  p.  317,  a.  «)  Böhtling-k,  Lex.jp.  89,  a.  ")  Castren, 
Gramm.  Tscher.  p.  64,  b.    ™)  Bühüingk,  Lex.  p.  34,  a. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums.  289 

Hüsz  „zwanzig".  Wotjakisch - syrjänisch  kyzj *)  „viginti." 
Das  mongolische  f   (^or-in)  zeigt,  dass  ^or  =  hüsz  die  Zehn  noch 

nicht   enthalte   (in  =  türkisch    j  j  (on)  ==  Mandzu   %    (dzuan), 

mongolisch    i  (arban)).     Das  mongolische  ^or  ist  vielmehr  =    <p 

(Xas)  3)  »ein  Paar"  =  syrjänisch  gozja  3)  „par,  bini". 

Hüz  „ziehen".  Ostjakisch  Kece(ivi)  S.D.  Kocce(ivi)*)  „reissen, 
ziehen",  wotjakisch  kysko  5)  „ziehen",  lappisch  keset,  Mandzu 
£  (goc'ime)  6)   „tirer,  attirer". 

Hü  „treu".  Lappisch  jakke-t  „  tro  ",  mordvinisch  käm-ams 

„glauben"    (Ev.    Üb.),    Suomi    uskollise    „treu",     Mandzu    t 

"1 

1 

(akdame) 7)    „avoir    confiance    en  quelqu'un,    le  croire", 
mongolisch   ij    (itegekü)  s)  „glauben,  vertrauen". 

Hü-s  „kühl".  Suomi  kylmä,  syrjänisch  ködzyd 9)  „frigidus", 
wotjakisch  kün  10)  „kalt",  mongolisch  küidiin,  id.  keco  ")  „frieren 
kalt  werden".  Vgl.  fäzik. 

Ij  „Bogen".    S.  fv. 

Iny  „Zahnfleisch".  Suomi  Ten,  Plur,  ikenet,  mongolisch 
.f    h  (siki  mi^an)  ia)   „das  Zah  nf  leise  h   in   den   Zwischen- 

L 

räumen  der  Zähne";  Mandzu  2^  (xeXere)  13)  »  geneive". 

Ir  „schreiben".  Suomi  kirjoitta  „schreiben,  zeichnen", 
türkisch  J^l  ('iazmaq)i*)  „ecrire",  Mandzu  l;j  (nirume)15)  „pein- 

1 

dre,  d  essin  er". 


!)  Castre'n,  Gramm.  Syrj.  p.  146,  b;  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  31S,  a. 
2)  Schmidt,  Lex.  p.  176,  b.  3)  Castren,  Gramm.  Syrj.  p.  140,  a.  4)  Castre'n, 
Ostj.  Gramm.  p.8ö,b.  5)  Wiederaaui,  Wotj.  Gramm.  p.31S,  a.  6)  Amyot.  Dict.  Tart. 
Mantch.  p.  440.  7)  Bbendas.  I,  p.  70.  8)  Schmidt,  Lex.  p.  40,  c.  9)  Castren, 
Gramm.  Syrj.  p.  146,  b.  10)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  313,  b.  UJ  Ebendns.  p.  309,  b. 
12)  Schmidt,  Lex.  p.  3Ö6,  a.  ")  Amyot,  Dict.  Tart  Mantel).  III,  p.40.  «)  Sitzungsb. 
Bd.  XVII,  p.  238,  s.  v.  ir.   15)  Amyot,  Diel.  Tart.  Mantch.  I,  p.316. 

Sitzh.  d.  phil.-hist.  Cl.  XIX.  Bd.  II.  Hfl;,  ig 


290  Boller. 

fr  „Salbe".    Suomi  ihra,  mongolisch   f    (sürcikü)  *)    „be- 

n 
u 

streichen". 

Iv  „Bogen".  Suomi  joutsi,  syrjänisch  vudz'2),  lappisch  juoks, 
ostjakisch  jögot. 

Iz  „Geschmack".    Syrjänisch  vidi  „kosten",  türkisch  „>U 

(däd)  3),  „gout,  saveur". 

Iz,  „Gelenk".     Türkisch  j)|  (an)  4)   „  articu  l  ati  o  n,  jo  in- 

t  u  r  e  " ,  jakutisch  cycyöx  5)   „Gelenk". 

Jar  „gehen".  Türkisch  J^y!«  (varniaq)  6),  jakutisch  6ap  6) 
und  ijapöai  7)  .A  gehen",  tscheremissisch  kast(a)  8)  „eo,  pro- 
ficiscor",  lappisch  vadze-t,  ostjakisch  jäna(m)  9),  Mandzu-mon- 
golisch  *1    (jabu)(o)  10)  „gehen",  das  somit  die  Wurzel  enthält. 

Jatek  „Spiel".  Ostjakisch  jant-kem,  jantchem  H)  „spielen", 
wotjakisch  sudo  12)  „spi  elen",  Suomi  soitta,  mongolisch  £    (-/u- 


sung)  13)    „Spiel,    Scherz",     || 


(naghad^o)  u)    „spielen, 


scherzen",  türkisch  ^jl  (o'ioun,  oiun)  15)  „jeu,  raillerie". 
Jeg  „Eis".  Ostjakisch  jenk,  Mandzu  1  (dzu^e)16)  „glace". 

Jö    „gut",   Job   „rechts".    In  ersterer  Bedeutung  mongolisch 
t  (sain)17)  „gut,  schön;  edel",  ostjakisch  jem18),  jemm  „gut, 


schön",  Suomi  hyvä,  jakutisch  yTyö ,   türkisch  ^^  (ejü)  19);  in  der 
zweiten  jakutisch  yHa  „recht,  rechte  Seite",  Suomi  oikia, 


i)  Schmidt,  Lex.  p.  375,  b.  2)  Castren,  Gramm.  Syrj.  p.  164,  b.  3)  Kieffer 
et  B.  I,  p.  500,  a;  Sitzungsber.  Bd.  XVII,  p.  344,  s.  v.  l'r.  4)  Ki  effer  et  B.  I,  p.  77,  a. 
5)  BöhUing-k,  Lex.  p.  174,  a;  Sitzungsber.  Bd.  XVII,  p.  344;  s.v.  l'r.  6)  Ebendas. 
p.  128,  a.  7)  Ebendas.  p.  123,  a.  8)  C  a  str  en,  Gramm.  Tscher.  p.  63,  a.  9)  Castren, 
Ostj.  Gramm,  p.  83,  a.  10)  Schmidt,  Lex.  p.  287,  a.  A1)  Castren,  Ostj.  Gramm, 
p.  83,  a.  12)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  331,  a.  13)  Sc  hm  i  dt,  Lex.  p.  177,  a. 
14)  Ebendas.  p.  80,  c.  15)  Kieffer  et  B.  I,  p.  146,  b.  16)  Amyot,  Dict.  Tart. 
Mantch.  II,  p.  531;  Sitzungsber.  Bd.  X,  p.  59.  17)  S  chmid  t,  Lex.  p.  336,  c.  18)  Castren, 
Ostj.  Gramm,  p.  83,  b.   19)  Hunfalvi  a'  Török,   Mag-y.  es  Finn.  szök*  egybehas.  p.  139. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums.  2t)  1 

türkisch  clo    (sagh)  *)   „droit",  mongolisch^     (ici)  2)  „rechts, 

rechte  Seite". 

Jos  „wahrsagen".    Mongolisch  ^     (dzung)  3)    „Vorher- 

sagung,  Wahrsagung",  tscheremissisch  muzeda*)  „vaticinor, 
pr  aedic  o". 

Jö   „kommen".  Ostjakisch  jive   „kommen",   Mandzu  2 

(dzime)  5)   „venir",  tscheremissisch  so(a)  6)  „in oo",   (Ev.  Üb.) 
„kommen",  Suomi  tu-le. 

Käba    „blöde,    stumpfsinnig",    käbit   „bethören,  be- 
täuben".  Mongolisch^  (^oirghu)7)   „  g  ed  ankenlos,  unfähig 


I 


seine  Gedanken  oder  Meinung  auszudrücken." 
Käcs  „S  chmidt"  =kovacs. 
Kämva=käva  „Einfassung,  Kreuz".  Mongolisch  f    (^a- 

silak)  8)  „die  hölzerne  Einfassung  eines  Brunnens,  Ein- 
fassung oder  Kasten".  Gehört  daher  mit  gät  zur  Wurzel  Mandzu 
(käme)9)   „environner,  entourer,  enfermer". 


Känya  „Weihe,  Geier".  Belius  hat  damit  bereits  das 
böhmische  käne10),  russisch  kanjuk10)  zusammengestellt.  Vgl.  jedoch 
auch  syrjänisch  kalja11),  „falco  rnilvus",  lappisch  kuolek,  die  wir 
zu  heja  gestellt  haben. 

Kar    „  Arm".    Mongolisch  "f  (ghar)  12)  „die  Hand;  der 

ganze  Arm",  türkisch  Jj  (qol)  13)  „bras";  syrjänisch  s"oj; 
gehört  wohl  zur  Wurzel  syrjänisch  ka-r  „facio".  Vgl.  Sanskrit  kara 
cFH"  „Hand". 


*)  Hu  n  fal  vi  a' Török,  Magy.  es  Finn.  saült' egybehas.  p.  139.  2)  Schmidt,  Lex. 
p.  312,  c.  3)  Ehendas.  p.  42,  a.  4)  Ca  st r  eil,  Gramm.  Tscher.  p.  67,  a. 
5)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  II,  p.  ülö.  6)  Castren,  Gramm.  Tscher.  p.  71,  b. 
7)  Schmidt,  Lex.  p.  1GU,  a.  8)  Ebendas.  p.  140,  a.  9)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  I, 
|.  :!39.  i")  Gyarmathi,  All'init.  ling.  hung.  pag.  33Ö,  348.  ll)  Castren,  Gramm. 
Syij.  p.   143.  a.     *2)  Schmidt,  Lex.  p.  193,  a.     13)  Kieffer  et  B.  II,  p.  526,  a. 

19  • 


292 


Boller. 


Kar  „Schaden".  Mongolisch  £   (/oorla^o) j)     „schaden, 

1 

Verderben  bringen",  jakutisch  xopon  „Einbusse  erleiden", 
xopoMijy2)    „Einbusse,   Verlust,    Na  cht  heil"    (dem   wieder 

(XoroX°)  3)     »sich  verkleinern,  sich 


zunächst  mongolisch    i 

r 


vermindern"  entspricht),  türkisch  jjb   (iazyq)  4)  „dommage, 

perte  causee". 

Karoly   „Sperber,   Vogelfalke".     Ostjakisch  ^ardzagan  5) 
„Habicht,      Taubenfa  I  ke",     mongolisch      t      (^arcaghai)    6) 


„Habicht",  tatarisch   «ü^lä  (qarcagha)  ?) ,  jakutisch  Kblp^ <), 
Kbipowi  7)  „Habicht",  ^   (kirghui)  7)   „der  kleine  Habicht". 

h 
Karomol  „fluchen".  Suomi  kiro  „Fluch,  Schwur",  mon- 
golisch t   (xai'iJaX0) 8)    »fluchen,    schimpfen,    schmähen", 

Mandzu   4    (firume)  9)    „faire  des  imprecations   contre 


quelqu  'un.  ". 

Kavit  „belfern".    Mongolisch^    (dzangghora^o)  10)  „im 

< 
r 

<?> 
Zorne    schreien   und    schimpfen",  Suomi  karju,   syrjänisch 
gorzja  ")   „clamo,  vociferor". 


i)  Schmidt,  Lex.  p.  160,  c.  2)  B  ö  htlingk,  Lex.  p.  87,  b.  3)  S  chmid  t,  Lex. 
p.  170,  c.  4)  Kieffer  et  ß.  II,  p.  1248,  b.  5)  Castre'n,  Ostj.  Gramm,  p.  82,  a. 
6)  Schmidt,  Lex.  p.  142,  b.  7)  Ebendas.  p.  138,  a.  8)  Ebendas.  p.  140,  b. 
9)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.  178.  *°)  Schmidt,  Lex  p.  293,  c.  «)Castren, 
Gramm.   Syrj.   p.  140,  a. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums.  /CU»5 

Kej  „Lust,  Wonne".  Syrjänisch  gaz 1)  „laetitia",  mon- 
golisch 1    (daugha)  2)    „Zeitvertreib,   Ergötzlichkeit",  1 

(dzughan)  s)     „Aufheiterung,    Lustpartie",    tscheremissisch 
(Ev.  Übers.)  susu  „froh;  Freude",  Suomi  hupa. 

Kek  „blau".  Türkisch  .Jjf(gueiik)  3)  „bleu  turquoise", 

mongolisch  j*>   (kiike)  4). 

Kern  „Spion".  Türkisch  jUjjf (gueuzlemek)  5V  jLrj^'(gueu- 
zetmek)  6)  „observer;  surveiller;  guetter".  Diese  Formen 
gehen  zurück  auf  jjT(geuz)  =  jjT(gueur),  und  erstere  ist  sicher 
ein  Denominativ  (vgl.  szem-lel)  von  jjT(gueuz)  6)  „Auge  ".  Wollte 
man  das  magyarische  Wort  eben  dahin  zurückführen,  dann  müsste 
man  eine  dazwischen  liegende  Nominalform  (gueuzem)  voraussetzen. 
Z  fällt  schon  im  Türkischen  aus  wie  jakutisch  KyT  7)  „erwarten" 
neben  KÖcyT  s)  „erwarten,  gewärtig  sei  n"  =  türkisch  £cj> 
(kutmek)7),  Ji^(guimek)  9)  „attendre,  pati  enter"  beweist. 
Wie  verhält  sich  nun   mongolisch  J?   (ketekü)  10)   „  s  p  i  o  n  i  r  e  n, 

'S) 

kundschaften"  zu  diesen  Bildungen?  Liegt  eine  einfachere  Form 
zu  Grunde,  entsprechend  dem  harten  mongolischen   t  (xaraX°)  u) 


n 

4 


„sehen,  schauen",  Mandzu   £  (karame)  13)  „monter  sur  im 


■n 


lieu    eleve    pour    decouvrir  quelque    chose"    f   $    (karun 

i 


cuo^a)  1S)  „soldats  qu'on  envoie    ä  la  decouverte;    espi- 
ons",    welche  dann  (J    [üdzikü]  =  jLjjf    [Jloj/])    den  Anlaut 


i)  Ebendas.  p.  139,  b.  2)  Schmidt,  Lex.  p.  308,  b.  3)  Kieffer  et  B.  II, 
p.  666,  b.  4)  Schmidt,  Lex.  p.  181,  a.  5)  K  i  e  f  f  er  et  B.  II,  p  662,  a.  <*)  Ebendas. 
p.  666,  b.  7)  ßöhtlingk,  Lex.  p.  72,  b.  8)  Ebendas.  p.  60,  b.  9)  Kief.feret 
B.  III,  p.  673,  b.  i°)  Sch.nidt,  Lex.  p.  192,  b.  ")  Ebend.  p.  139,  a.  12)  Amyot, 
Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.  34t       1S)  Ebendas.  p.347. 


294  Boiler. 

bewahrt   hätte  ?   Mongolisch  t     (xa'X°)   0     „nachforschen, 


i 


untersuchen,  erforschen",  Mandzu  t  (kaibume)  2). 

Ken  „Schwefel".   Mongolisch^  (kügür)3),     türkisch  ^^ 

(keukurd)  *)    „souffre". 

Keny   „Willkür".     Türkisch    LwT(könül)  5)   „coeur,  es- 

prit;  volonte,  courage",  Mandiu  i\    (c'ix;0  6)    »  volontiers, 

<. 
volontieren!  ent ". 

Kep  „Bild".  Mongolisch^  (keb)  7)  „Form,  Vorbild", 
jakutisch  mäö  8)  „Form,  Gestalt",  Suomi  kuva,  wotjakisch  kern9) 
„Abbild,  Vorbild". 

Ker  „bitten,  begehren".]  Die  verwandten  Sprachen  bilden 
Kerd  „fragen".  >  eine  grosse  Anzahl  von  Formen, 


(Keres  „suchen".)  J  welche  sich  alle   auf  eine  Wur- 

zel ka-  (ba-),  ke-  (be-,  e-),  ki-,  ko-  zurückführen  lassen.  Mandzu  ? 

(baime)10) „eher eher,  demanderune  chose  qu'on  a  perdue" 
%  (baicame)11)  „demander,  s' in  form  er  de  quelque  chose", 


I 


mongolisch"^  (ghuju^o)12)  „bitten,  erbitten",  magvarisch  koldus 

l 

„Bettler"  (aus  dem  Intensiv),  syrjänisch  kora  13)  „rogo",  tschere- 
missisch  kice  14)  „  r  o  g  o ,  o  r  o  " ,  jakutisch  KÖp/ryö  15)  „suchen, 
bitten,  fordern",  Suomi  kysy  „fragen,  suchen,  bitten", 
mongolisch^   (eriku) 16)    „suchen,   erfragen,    forschen",    J* 

(beterikü)  17)  „suchen,  nachsuchen".    Die  Bezeichnungen  der 


!)  Ebend.  p.  125,  a.  2)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.  571.  3)  Schmidt, 
Lex.  p.  162,  b.  4)  Ki  ef  f  er  et  ß.  II,  p.  620,  a.  5)  Kiefferet  B.  II,  p.668,  a;  Sitzungsb. 
Bd.  XVII,  p.  241 ,  s.  v.  ke'ny.  6)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  III,  p.  448.  7)  Schmidt, 
Lex.  p.  147,  c.  8)  Böhtlingk,  Lex.  p.  66,  b.  9)  Wie  dem  an  n,  Wotj.  Cramm. 
p.  309,  b.  10)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.  515.  ")  Ebendas.  p.  517.  *2)  Schmidt, 
Lex.  p.  206,  a.  13)Castren,  Gramm.  Syrj.  p.  144,  a.  14)  Ca stren,  Gramm.  Tscher. 
p.64,a.   15)Böht    ingk,  Lex.  p.  59,b.  «)  Schmidt,  Lex.  p.31,b.  *7J  Ebend.  p.  106,  b. 


Vergleichende  Analyse    des  magyarischen  Verbums.  «');) 

Begriffe  „suchen"-  und  „bitten"  sind  demnach  wohl  erst  später  in 
einander  aufgegangen  und  einzelne  erhaltene  Formen  zeigen  noch 
die  ehemalige  Sonderling. 

Kereg  „Rinde,  Kruste,  Borke".  Suomi  kuori  „Rinde, 
Schale,  Kruste",  tscheremissisch  kargac,  syrjänisch  kyrs,  Mandzu 
f  (kövalame)  •)  ,,  oter  l'e  corce  "  =    £   (^övalame)  =  f  ("^öva- 


kijame)  3)  =    f  (^ovamijame)  2)  „peler  un  fruit,  un  arbre". 

1   ' 
1 

mongolisch   f  (xaghor^o) 3)    „sich  trennen,   sich   ablösen, 


3, 

in  Stücke  zerfahren,  gehen".    Vgl.  harn. 

Kerked    „sich  prahle  n".    Mongolisch  3>  (kügürgekü)  *) 

n 

3 

„prahlen",  Suomi  kerska.    Vgl.  gög. 

Kes  „  Messer  ".  Ostjakisch  kedze  5),  U.  S.  käcek,  0.  S.  köcek, 
Mandzu  |>*  (xuezi) "«)   „petit  couteau." 

I 

Kesö  „spät".  Mongolisch  t  (^oina)  7)   „nachher,  zurück, 

L 
hinter;  später",  £  (xodzim)  8)    „spät,  verspätet",  Mandzu 

f  (koitame)  9)   „  e  t  r  e  long-temps;    t  a  r  d  e  r  b  e  a  u  c  o  u  p  ", 


syrjänisch  sjor  10)   „sero",  jakutisch  xqjyT  ")  „später",  türkisch 
J.    guetch   „  tard  ". 


i)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.  468.  ~)  Ebendas.  p.  495.  3)  Schmidt,  Lex. 
p.  131,  I).  4)  Ebendas.  p.  182,  c;  Sitzungsber.  Bd.  XV11.  p.  242,  s.  v.  ke'rkedik. 
5)  Castren,  Ostj.  Gramm,  p.  83,  b.  6)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  III,  p.  122; 
Sitzungsber.  Bd.  X,    p.  60.        7)  Schmidt,   Lex.   p.    159,  c.  8)  Ebendas.  p.  17;>,  c. 

9)  Amyot,   Dict.    Tart.  Mantch.   I,  p.  444.        10)   Castre'n,  Gramm.  Syrj.     p.  ISO,  b. 
")  Böhtlingk,  Lex.  p.  87,  a. 


296  Boller. 

Kesz  „fertig".  Mongolisch^"  (küöekü)  *)  „ganz  oder  völlig 

-$> 

sein;  zum  Schlüsse  kommen;  einholen"    Vgl.  jedoch 

das  slawische  totobi»  „paratus". 

Ket  „zwei".    Suomi   kaksi,  türkisch     \,\  (ikki),  mongolisch 

f  (x°Jar3)»    Mandzu^  (däue) 3). 

Keve    „Garbe".    Suomi  kupo  4),  mongolisch*^     (dzeüdzi)  5) 

„Bündel,  Garbe". 

Kez  „  Hand".  Suomi  käsi  (käde),  tscheremissisch  kit  (kiit)  6), 

türkisch  J|  (el),  jakutisch  ill 7)  =  Mandzu  kala. 

Kfgyö   „Schlange".  Wotjakisch  köj 8)  „Schlange",  tschere- 
missisch kiske  9)   „anguis",  Suomi  kyy. 

Kisert.    Missverstandene  Zusammensetzung. 

Kivän.   Ebenso.  Vgl.  vägy. 

Köbor  „herumstreichen  d".  Mongolisch  «*  (kübükü)10) 


„herumziehen,    nirgends  Aufnahme  finden",    türkisch 
ij>jLtL(khovarda)  n)  „vagabond". 

Kör  „Krankheit".  Tscheremissisch  karste  13)  „  a  egroto  ", 
ostjakisch  kedze,  ködze  13)  „krank",  wotjakisch  kyl  14)  „Krank- 
heit", mongolisch^,  (cilegekü)15)  „erschöpfen",  31  (cilegetäi)15) 


4 


„krank,  kränklich",  Suomi  kipu  „Krankheit". 

Kö  „Stein".  Suomi  kivi16),  wotjakisch  kö  17)>  jakutisch  Kaja  18) 
„Fels,  Felsgebirge",  türkisch  U  (qyja)  18)  „  Stein  ",  mongo- 
lisch t  (x^ta)  19)    „Fels"    (der  harte)  =  Mandzu  £  (xata)  ao) 


i)  Schmidt,  Lex.  p.  177,  e.  2)  Schm  i  dt,  Gramm.  §.  76.  3)Gabelentz, 
Gramm.  Mandsch.  p.  38.  4)  Magyar  Nyelve'szet,  II,  p.  86,  a.  5)  S  c  hmi  dt,  Lex.  p.  299,  b. 
6)  Sitzungsber.  Bd.  X,  p.5i.  7)  Sitzungsber.  Bd.  XVII,  p.  363,  s.  v.  oit.  8)  Wiede- 
mann,  Wotj.  Gramm,  p.301,  b.  9)  Castren,  Gramm.  Tscher.  p.64,  a.  10)  Schmidt, 
Lex.  p.  ISO,  b.  ")  Kieffer  et  B.  I,  p.  489.  12)  Castren,  Gramm.  Tscher.  p.  63,  a. 
13)  Castren,  Ostj.  Gramm,  p.  85,  b.  14)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  314,  b. 
15)  Schmidt,  Lex.  p.  328,  b.  16)  Sitzung-sber.  B.  X,  p.  52.  17)  Wiedemann, 
Wotj.  Gramm,  p.  311,  b.  18)  Böhtlingk,  Lex.  p.  80,  a.  19)  Schmidt,  Lex.  p.  142, b. 
20)  A  my  ot ,   Dict.  Tart.  Manteh.  II,  p.  388. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verhums.  Zui 

„pierre  qui  a  une  pointe  ou  dessus;  sonimet,  pic,  les 
pierr  es  de  la  montaigne  qui  sont  les   plus  hautes". 

Küt    „Brunnen,    Quelle".    Mongolisch  g     (^uttuk)  ») 

„Brunnen",  türkisch  j;J  (qoi),  *J>  (qoui'ou)  2)  „puits",  Mandzu 
^  (kuc'in)  3)     „puits   ou  l'on   prend  de  l'eau",    Suomi  kaivo 

„Brunnen",  kaiva  „graben",  ostjakisch  xaiHe(ivi)  *),  syrjänisch 
kodja  5)  „fodio". 

Küld  „senden".  Tscheremissisch  kolt(e)6)  „mitto",  jakutisch 
üt7)  (il^iäöm  „mitto")  „führen,  tragen",  mongolisch  %  (ile- 

gekü)  8)   „senden,  schicken",  wotjakisch  isto  9)  id. 
Lab  „Fuss  ".  S.  lep. 

Läbb  „schweben".  )   Mongolisch  f   (dabi^o)    „flat- 

Läng  „Flamme,  Lohe".  (  J 

ter n  "  =  jakutisch  /iai,  Suomi  liehu  „flattern,  flackern".  Läbb 
und  läng  verhalten  sich  zur  harten  Form  dai,  wie  lebb  und  leng  zur 
weichen  däi  10) ,  mit  dem  Unterschiede,  dass  erstere  die  organische 
Länge  bewahrt  haben.    Mandzu  J  (dame)  1J)  wird  vom  Wehen  des 

"Windes    und   der  Flamme  gebraucht.     Ebenso    das   mongolische   2 

i 

(degdzikü)  12)  „sich  erheben  zum  Fliegen  oder  Auffluge, 
in  Brandgerathen,  auflodern".  Vgl.  Sanskrit  ^rf^FT  (an-ila) 
„Feuer"  und  ^jq^r  (an-ala)   „Wind"  von  ^q    (an)  „wehen". 

Lägy  „weich,  mild".  Mongolisch  |  (talbighu)  13)  „locker, 


lose,  sanft,  mild,   nachgebend",  Suomi  lievä,  lieviä   „los, 
gelinde,  leicht";  wotjakisch  nebyt  n),  tozy  15)   „weich". 


i)  Amy  ot,  Diet.  Tart.  Mantch.  II,  p.  176,  c.  2)  Kieffer  et  B.  II,  p.  541,  a. 
3)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  III,  p.  491.  4)  Castien,  Ostj.  Gramm,  p.  80,  a. 
5)  Castren,  Gramm.  Syrj.  p.  144,  a.  6)  C  as  tr  e  n,  Gramm.  Tscher.  p.64,  b.  7)  ß  ö  h  t- 
lingk,Lex.  p.  38,  a.  8)  Schmidt,  Lex.  p.  37,  c.  9)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm, 
p.  306,  b.  10)  Sitzungsber.  Bd.  XVII,  p.  243,  s.  v.  leng.  ")  Amyot,  Dict-  Tart. 
Mantch.  II,  p.  223.  la)  Schmidt,  Lex.  p.  277,  a;  313,  c.  13)  Ebeudas.  p.  233,  a. 
14)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  319,  a.     *5)  Ebendas.  p.  333,  b. 


298  Boiler. 

Lat  „sehen".  )  Mandzu  |  (duvame)  *)   „re  gar  der, 

Lätszik  „scheinen".  (  1 

examiner",  wotjakisch  caklako  3)  „ansehen,  beschauen, 
betrachten,  beachten,  R  ü  c  k  s  i  c  h t  n  e  h  m  e  u  —  besuchen" 
(lätogat). 

Läz  „Aufruhr;  Fieber".  Wotjakisch  tyskaskon  3)  „Auf- 
ruhr, Streit,  Zwietracht". 

Le=Lev  „Brühe".  Suomi  liemi4). 

Leg  „Luft".        1  Gehören  insgesammt  zu  leh-el.  Vergl.  jaku- 

Lel  „Geist".       (  tisch  twh  5)   „Athem,  Seele",  ostjakisch 

Lelek  „Seele".  )  ttt  6)   „Geist,  Athem". 

Legy  „Fliege".  Mongolisch  %  (ilagha)  7)  „Fliegen". 

Lep  „Milz".  Wotjakisch  lab8)  id.  türkisch  j^lU  (thalaq)  9), 
Mandzu  ?  (delixun)  10)  „rate",  mongolisch  ?  (deligün)11)  „Milz". 

Lep  „schreiten,  steigen".  Wotjakisch  Togo12)  „schrei- 
ten, gehen  ",  syrjänisch  tecjala  13)  „gradior,  passus  facio", 
Suomi  as-kalet  „Schritt",  türkisch  o|  (adum)  =  ostjakisch  jära.i. 

L6  „Pferd".  Ostjakisch  Tay14),  U.  S.  'gayx,  S.  S.  t,ox,  tür- 
kisch ol  (at). 

Log  „oscilliren".     Mongolisch 'jj    (naighu^o)  15)  „das  Hin- 


u n d  Herbewegen"  (n  =  1). 

Lö   „schi essen".  Wotjakisch  ibo  16)  id.,  syrjänisch  lyja  17). 

Lud  „Gans".  Tscheremissisch  loda  „anas",  ostjakisch  tvht18), 
S.  toht  „  Gans". 

Mäj   „Leber".  Suomi  maksa  19),  ostjakisch  MvroT. 



i)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  II,  p.  302.  2)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm, 
p.  300,  b.  3)  Ebendas.  p.  334,  a.  4)  Sitzungsber.  B.  X,  p.  302.  5)  B  öh  tlingk,  Lex. 
p.  102,  a.  6)  Castren,  Ostj.  Gramm,  p.  99,  a.  7)  Schmidt,  Lex.  p.  37,  a; 
Sitzungsher.  Bd.  XVII,  p.  348,  s.  v.  le'gy.  8J  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  316,  a. 
9)  Kieffer  et  B.  II,  p.  184, b.  10)  Amyot,  Diet.  Tart.  Mantch.  II,  p.  242.  ")  Schmidt, 
Lex.  p.  277,  a.  13)  Wied  e  mann,  Wotj.  Gramm,  p.  316.  a.  13)  Castren,  Gramm. 
Syrj.  p.  161,  a.  14)  Castren,  Ostj.  Gramm,  p.  8S,  a.  15)  Schmidt,  Lex.  p.  78,  c. 
i6)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  306,  a.  1?)  Sitzungsber.  Bd.  XVII.  p.  346,  s.  v.  lakik. 
18J   Castren,  Ostj.  Gramm,  p.  100,  a.      19)  Sitzungsber.  Bd.  X,  p.  51. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums.  ä9«' 

Märt  „tunken,  tauchen".  Türkisch  irt»  (banmaq)  ') 
„tremper". 

Mas  „ander,  sonstig".Suomi  muu,  syrjänischmukad-)„al  in  s." 

Meh  „Biene".  Tscheremissisch  mychs  3)  „apis".  Suomi 
mehiläinen  (aus  dem  Indogermanischen?). 

Melto  „würdig".  Jakutisch  MäHbi*)  „Ehrenbezeugung, 
Bevorzugung". 

Mely  „tief".   Ostjakisch  MeT  5)  id. 

Mereg  „Gift,  Galle".  Suomi  myrkki  „Gift". 

Miv  =  mü  „Arbeit,  Kunstwerk".  Mandzu  f    (müden)6) 

„pouvoir,   capacite.     Art;  les  six  arts". 

Mülik  „vergehen,  vor  üb  ergeh  en".  Mongolisch 'j  (nük- 

? 

c'ikü)  7)  „vorbeigehen,  vorübergehen  "  (m=n). 

Näsz  „M  i  t  g  i  f  t".  Etwa  durch  Versetzung  das  mongolische  3 

o 

(indzi)  8)    „Mitgift,    Aussteuer"    (vgl.    nevet  und  mongolisch 

3    (inijekü)  9)   „lachen"). 

Negy  „vier".  Syrjänisch  nolj,  türkisch  0;jJ>(deurt)  10),  mon- 
golisch %  (dürben)n),  Mandzu  %   (douin)<2). 

Nep   „Volk".  Gehört  zu  nö. 

Nev  „Name".  Indogermanisches  Element,  das  in  die  finnischen 
Sprachen  übergegangen. 

Nez  „schauen".  Suomi  näke,  mordvinisch  nej.  Mongolisch 
'X    (iiidün)  1;)   „Auge",  ^   (nidülekü)  l4)  „b  1  i  c  k  e  n,  gucken, 

i-  \ 

schauen",    $    (nighor)  15)   „Gesicht,  Antlitz". 


*)  Kieffer  etB.  I,  p.  184,  b;  SiUungsber.  Bd.  XVII,  p.  349,  s.  v.  mely.  2)  Castren, 
Gramm.  Syrj.  p.  149,  a.  3)  Castren,  Gramm.  Tscher.  p.  67,  a.  4)  Böhtlingk, 
Lex.  p.  147,  a.  5)  Sitzungsb.  Bd.  XVII,  p.  349,  s.  v.  mely.  6JArnyot,  Dict.  Tart. 
Mantch.  II,  p.  416.  7)  Schmidt,  Lex.  p.  96,  a.  8J  Ehend.  p.  36,  b.  9)  Ebendas.  p.  36,  a. 
l0)  Kasembeg,  Ed.  Zenker,  p.  ö4,  il)  Schmidt,  Mong.  Gramm,  p.  48.  12)  Ga- 
be Jen  tz,  Elem.  de  )a  Gramm.  Mandsch.  p.  28.  13)  Schmidt,  Lex.  p.  89,  a. 
14)  Ebendas.  p.  90,  a.     15)  Ebendas.   p.  87,  b;   Schott,  Über  das  Altaische  etc.  p.  123. 


300  Boiler. 

Nö  „wachse  n  ".  Ostjakisch  enme  *)  S.  D.  änme  „w  a  c  h  s  e  n", 
mongolisch  '4  (nemekü)  2)  „vermehren,  sich  vermehren". 

Nö  „Weih,  Gattinn".  Ostjakisch  hch  »),  U.  S.  ne,  0.  S.  m 
„verheurathetes  Weib",  Suomi  naise  „Mädchen,  Jung- 
frau; (verheurathetes)  W  ei  b",  nai  „u  x  o  r  e  m  ducere", 
syrjänisch  nyy4),  lappisch  nieidda  4)  „virgo,  filia",  mon- 
golisch lJ   (naidzinar)  5)   „Weib". 


„ 


t> 


Nyaj  „  H  e  e  r  d  e  ".  Mongolisch  f  (sürük)  6)     „  H  e  e  r  d  e  ", 

\ 

osmanisch  jjj^j  (süri)  7),  jakutisch  yöp  7)  „Heer de". 

Nyäjas  „  f  r  e  u  n  d  1  i  c  h ,  höflich".  Mongolisch  'jj     (nairtai)  8) 

„einstimmig,    friedlich,    vergnüglich",   jakutisch    iai  9) 
„freundlich    gesinnt   gegen   Jedermann    sein". 

Nyäl   „Speichel".   Suomi  sylky,  tschuwaschisch  cjinrre  10). 

Nyi-1  „sich  öffnen".  )  Mandzn  *3  (dzuvame11)  „faire  une 

Nyi-t  „öffnen".  j  % 

ouverture  q  u  e  1  q  u  e  p  a  r  t  ". 

Nyir  „scheeren".  Syrjänisch  syra  12)  „ton  dre". 
Nyül  „Hase".  Mongolisch  i  (taulai)  13)   „Hase". 

i. 

Nyülik  „sich  dehnen".    Syrjänisch  (Ev.  Üb.)  njuzöd,  mon- 
golisch f  (suba^o)14)   „in  die  Länge  ziehen,  verlängern". 

Nyüz   „schinden".    Lappisch  nuow,  jakutisch  cyl  15). 


!)  Castren,  Ostj.  Gramm,  p.  80,  b.  2)  Schmidt,  Lex.  p.  85,  c.  3)  Castren, 
Ostj.  Gramm,  p.  89,  a.  4)  Castren,  Gramm.  Syrj.  p.  ISO,  b.  5)  Schmidt,  Lex. 
p.  79,  c.  6)  Ebendas.  p.  374.  7)  B  öh  tlin  g  k  ,  Lex.  p.  47,  a.  8)  Sc  h  m  i  d  t ,  Lex. 
p.  79,  b.  9)  Böhtlingk.  Lex.  p.  34,  a.  10)  Sitzungsber.  Bd.  XVII,  p.357,  s.  v.  nyelv. 
ii)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch  II,  p.  534.  1*)  Castre'n,  Gramm.  Syrj.  p.  128,  b; 
Sitzungsb.  Bd.  XVII,  p.  358,  s.  v.  nyir.  13)  Schmidt,  Lex.  p.  227,  b;  Sitzungsber. 
Bd.  XVII,  p.  362,  s.  v.  nyül.  i4)  Schmidt,  Lex.  p.  365,  b;  Sitzungsber.  Bd.  XVII, 
p.  358,  s.  v.  nyelv.  15)  Böhtlingk,  Lex.  p.  173,  b;  Sitzungsber.  Bd.  XVII,  p.  358,  s. 
v.  nyelv. 


Vergleichende  Analyse    des  magyarischen  Verhums.  301 

Nyü  „Made".  Mongolisch  t    (ötiin)  J)  „Maden ,  Würmer". 

n 

Ö     alt".  ) 

a  '    ,  IMandzu  1*. (fe)2)  „ancien,  vieux". 

Ocs  „alt,  abgetragen". (  <- 

On  „Zinn;  Blei".  Tscheremissisch  vulna  3),  Mandzu  £  (toyo- 

f 

Ion)  *)  „etain«.  ^ 

r  m 

Ov  „verhüten,  beschützen".  Türkisch  J^us  (qorou- 
maq)  5)  „defendre,  proteger".,  wotjakisch  wozo  „bewahren", 
syrjänisch  vidzja  6)  „custodio,  servo",  Suomi  viitso,  tschere- 
missisch orole  7)   „custodio". 

M 

0  „er,  sie,  es".  Suomi  se,  ostjakisch  Te-Ma,  syrjänisch  syja. 
Or  „Wache".  Wotjakisch  karaul  „Wach  t  er"  =  mongolisch 
(^araghul)  8)   „Wache,  Aufsicht",  Suomi  varova  „vorsieh- 


i 


% 

tig",  J?    (^araghu)  9)    „aufmerksam,  besorgt,  vorsichtig". 

-i 

1 

h 
Es  sind   also  in  6v  und   or  zwei,  wenigstens  in  ihrer  Entwicklung 

verschiedene  Wurzeln  in  einander  geflossen,  von  denen  die  eine  auf 

die  Vorstellung  des  Einschliessens,  die  andere  auf  die  des  Umschauens 

zurückgeht. 

Orül  „wahnsinnig,  rasend  .werden".  Türkisch  j^y 
(qoudouz,  qodoz)  enrage ,  jakutisch  Kbi^wi  „toben,  wüthen". 
Vgl.  Karo  =  mongolisch  t  (ghadusun),    "?  (ghaeugha)  „Pfahl, 


tjf  (ghadusun),    "$  i 

I       i 


Pfosten". 

Osz  „Herbst".  Suomi   syys,    finnmärkisch -lappisch    euofe, 

türkisch  jX(gueuz)  10),  jakutisch  Kyc  10)  id. 

Osz    „grau".  Mongolisch  $  (buru)11),  Mandzu   4,     (ven- 

dze^e)  «)   „gris".  ^ 


^Schmidt,  Lex.  p.  75, c.  2)  Am  yot,  Dict.  Tart. Mantch.  I,  p.  152.  3)  Castren, 
Gramm.  Tscher.  p.  74,  b.  4)  A  m  y  o  t,  Dict.  Tart.  Mantch.  II,  p.  27t.  5)  Kieffer  et 
B.  II,  p.  521,  b.  6)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  339,  b,  a.  7)  Castre'n,  Gramm. 
Syrj.  p.163,  a.  8J  Castren,  Gramm.  Tscher.  p.  68,  a.  9j  S  c  hm  i  d  t ,  Lex.  p.  139,  b. 
10)  Böhtlingk,  Lex.  p.  74,  b.  «)  Schmidt,  Lex.  p.  115,  b.  «)  Amyot,  Dict. 
Tart.  Mantch.  III,  p.  238. 


302  Boller. 

Öz  „Reh".  Mongolisch  £  (dhfcör)  *)■ 

Pähol  „schlagen".  Syrjänisch  pesa  a)    „verbero",  Suomi 

piekse.  Vgl.  das  slawische  biith  „percutere",  Eimb  „f  lag  eil  um". 

Pälcza  „Stock".  Slawisch  na.»ma.   Vgl.  mongolisch  -£   (bi- 

i- 

laghu)^)  „ein  Stock,   ein  Prügel",  wotjakisch  body  *)  (magya- 
risch bot). 

Pota  „Knoten,    Auswuchs".    Türkisch    jly    (boudaq)  5) 

„noeud  dans  un  poutre"  (vgl.  bötyök),  Mandäu   |    (fusxu) 6) 

„noeud  qui  vient aux branches,   au  tronc  de  l'arbre". 
Rag    „kauen,    nagen".    Mongolisch  *j       (dzadzilxo)  7) 


„kauen",  wotjakisch  siisko  8)  id. 

Ra,  reä  „auf".  Mongolisch   %    (degere)  »)  „oben,  über", 

türkisch^  (üz)   in  £^\  (üst)  „dessus",  ^  (üzre)  „en  haut". 

Raz  „schütteln".  Ostjakisch  cepre  „geschüttelt  wer- 
den", also  Versetzung  statt  resg,  wotjakisch  sezgalo  „schütteln". 

Recze  „Ente".  Wotjakisch  vaci,  c'oz  10)  „Ente". 

Reg  „lange".  }  Mongolisch  A    (er-te)11)   „früh,  vormals, 

Regen  „alt",      j 
vorzeiten,  die  Vorzeit",  tscheremissisch  ir  13)  „mane,  tem- 
pus  matutinum",  lappisch  aru  „zeitig". 

Rem  „Schreck".  Nomen actionis  zu  riin  riad  „erschrecken". 

Reny  „Tugend".  Ist  ereny  mit  Verlust  des  Anlautes ,  daher 
gleichstämmig  mit  erdem.  Die  Länge  gehört  dem  Suffixe  an  wie  in 
aräny.   Vgl.  feny  und  wegen  des  Abfalles  legy,  remeny,  ret. 

Ret  „Wiese".  Türkisch ^(uru)  's)  „Ort  wo  Futtergras 
wächst,  Wiese,  Weideplatz",  tungusisch  or^o,  orokto ,  rokta 


1)  Schmidt,  Lex.  p.  314,  c.  2)  Ca  s  t  re  n  ,  Gramm.  Syrj.  p.  152,  a.  3)  Schmidt, 
Lex.  p.  107,  b.  4)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  299,  a.  5)  Kieffer  et  B.  I, 
p.  234,  b.  «)  Amyot,  Diet.  Tart  Mantch.  III,  p.  214.  7)  Schmidt,  Lex.  p.  298,  c. 
8)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  362,  b.  9)  S  c  hmidt ,  Lex.  p.  275,  a.  «•)  Wiede- 
mann, Wotj.  Gramm,  p.  352,  a.  ")  Schmidt,  Lex.  p.  53,  a.  *2)  Castren, 
Gramm.  Tscher.  p.  62,  a.      *3)  Schott,  Über  das  Altaische  etc.  p.97. 


Vergleichende   Analyse  des  magyarischen  Verbums.  303 

„Gewächs",  mongolisch  <    (orghu;/o)  *)  „wac  hsen,  aufgehen, 


<b 

sprossen",  lappisch  riat3)  „pratum".   Suomi  ruohokko,  ruohosto 

„grasiger  Ort"  (ruoho  „Gras"). 

Ri  „weinen".  Indogermanisches  Element  hei  den  Magyaren 
und  Tscheremissen.  Vgl.  bulgarisch  revü  3)  „  weinen,  heulen  " 
aus  pw^aTH. 

Rez  „Kupfer".  Türkisch!»  (jez)  4),      ^  (jes)  4),  mongolisch 

*1  (dzes)  5)  „Erz,  Kupfer",  wotjakisch  irgon6),  Suomi  vaski. 
Also  r=j  (?). 

R6  „einschneiden,  einkerben".  Tscheremissisch  rae  7) 
„caedo,  seco",  Suomi  raan. 

Rüt  „hä ss  lieh".  Suomi  rietas  „  schmutzig,  schändlich, 
hässlich".    Vgl.  das  slawische  Epn/ViKTb  „foedus". 

Ruh  „Krätze".    Bulgarisch  sjiigü  8)  „Krätze',  slawisch 

Cßp'LB'B    id. 

Sär    „Koth".  Mongolisch  jt  (sibar)  9)    „Koth,      kothige 

t> 
Erde,  Morast",  jakutisch  cäx  10)   „Koth". 

Särga  „gelb".  Türkisch^loCsary)11),  mongolisch  $  (sira)  la). 

Säs   „Riethgras".   Wotjakisch  s'as  ls),  Suomi  sara  14). 
Säska   „Heuschrecke".  Suomi  sirkku  15)   „Heuschrecke", 
mongolisch^   (carcagher)  16)  „Heuschrecke". 


% 

Säv,  Sävoly  „  Streif,  Strieme".  Mongolisch  $  (sighur)17) 
türkisch  jXo>»  (tchizmek)  18)   „tirer  des  lignes". 


*)  S  c  b  midt,  Lex.  p.  57,  c.  2J  G  ya  rm  a  th  i ,  Affin,  ling.  hungar.  p.  81.  3)Cankof, 
Gramm.  d.Bulg.  Spr.  |>.203,a.  4)  Sehott,  Über  das  Altaische  etc.  p.  139.  5)  Schmidt, 
Lex.  p.  301,  a.  6J  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  306,  b.  7)  Castr.en,  Gramm.  Tscher. 
p.  70,  a.  8)  Cankof,  Gramm,  d.  Ba%.  Spr.  p.  216,  c.  9)  Sehmi.lt,  Lex.  p.  354,a. 
10)  Böhtl  ingk,  Lex.  p.  152,  a.  ")  S  chot  t ,  Über  das  Altaische  etc.  18)  Schmidt, 
Lex.  p.  360,  b.  1S)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  330,  a.  14)  Magyar.  Nyelv.  II, 
p.89,  a.  15)  Ebendas.  16)  Schmidt,  Lex.  p.  319,  e.  17)  Schmidt,  Lex.  p.  356.  e. 
18)  Kieffer  et  B.  I,  p.  376,  b. 


304  Boiler. 

Se  „Bach".    Wotjakisch  sür »)  „Bach,    kleiner  FIuss", 
ostjakisch  cänä  türkisch  J^«j  sep.  id. 

v 

(Ki)-ser  „begleiten".  Mongolisch  |  (dagha^o)  3)  „folgen, 
begleiten",  Mandzu  £    (da^ame)  3)  „ad  herer  aux   volontes 


I 


de  quelqu'un,  suivre  quelqu'un",  Suomi  seuraa  „folgen, 
begleiten". 

Ser  „schmerzen".  Suomi  särke  „Schmerz  erregen, 
schmerzen". 

Serv  „  Leib  schaden,  Bruch".  Gehört  mit  dem  Vorigen 
entweder  als  Denominativ  zu  seb,  türkisch  \,  (iara)  *)  „blessure, 
plaie",  mongolisch^  (sir^a)  5)   „Wunde,  Verletzung",  oder 

wie  das  tscheremissische  sertnje  6)  „laedo,  offe  ndo"  wahrschein- 
licher  macht,    zu   mongolisch    |    (daghari^o)  7)     „auf    etwas 

stossen,  gegen  etwas  anrennen,  etwas  streifen;  mit 
Worten  beleidigen;  treffen  (be  s  chä  dig  e  n)".  In  ersterer 
Beziehung      2^j[>  (i'armaq)  8)    „se    fendre,   etre  fendu",  wohl 

als  weiche  Form  zu  hasit  gehörig. 

Sik  „eben,  flach,  glatt".  Suomi  siliä  „glatt,  eben". 

Sinlik  „siechen".  Wotjakisch  condo  9)  „mager  werden", 
mongolisch^    (sighu^o)  10)    „ganz    abmagern",     mordvinisch 


(Ev.  Üb.)  sev-ems,  sevne-ms  „verzehren". 

Sip  „Pfeife".  Türkisch  ^dä-o  (syqlyq)  ")  „sifflet,  coup 
de  sifflet",  mongolisch  3    (dzimbur)  ia)  „Pfeife". 


4)  Wie  dem  ann,  Wotj.  Gramm,  p.  331,  a.  2)  Schmi  d  t.  Lex.  p.266,  a.  3)Amyot, 
Dict.  Tart.  Mantch.  II,  p.  198.  4)  KiefferetB.il,  p.  1262,  a.  5)  Schmidt,  Lex. 
p.362,b.  6)  Ca  stre'n,  Gramm.  Tscher.  p.71,a.  7)  S  c  h  in  i  d  t,  Lex.  p.  266,  c.  8)  K  i  e  f- 
fer  et  B.  I,  p.  1247,  b.  '■>)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  301,  a.  10)  Schm  i  d  t, 
Lex.   p.  356, c.     «)  Ebendas.  p.  114,  b.     12)   Schmidt,   Lex.  p.  304,  a. 


Vergleichende  Analyse   des  magyarischen  Verbums. 


305 


Sir  „Grab".  Tscheremissisch  siger  (Ev.  Üb.)  „Grab",  mon- 
golisch f  (suburghan)  *)  „Grabmal,  Grabpyramide". 


1 

Sir  „weinen".  Tscheremissisch  saarakte  a)  „fleo",  lappisch 
cierrot,  ostjakisch  jlce  3)   „weinen". 

So  „Salz  '\  Jakutisch  Tyc  4) ,  türkisch  jy  (tüz)  4)  ,  Suomi 
suola  5)  etc. 

Solyom  „Falke".  Türkisch «jl^^  (doghan)  6),  jls^U  (thoghan) 
„fauc  on". 

Süly  „Last".  Wotjakisch  sekyt 7)  „schwer",  ostjakisch  Tä- 
r,epT,  S.  D.  T^ö^epT  id.  Mongolisch  J  (taughai)  8)  „Gewicht  zum 

■ 

Abwägen".     Gehört  als  harte  Form  zu  teher. 

Sürü  „dicht".  Türkisch  ^ß  (qo'i)  9)  „epais". 

Szäguld  „g  alop  piren".  Mongolisch   £    (labdul^o)  10)   „in 


Galopp    rennen",    Mandzu 


(torime)  11)   „galoper",    Suomi 


laukka   „Galopp". 

Szaj   „Mund".   Suomi  suu  i3),  ostjakisch  TyT  etc. 

Szal  „Faden,  Faser,  Halm".  Ostjakisch  tet  i3)  „Faden", 
mongolisch   3     (utasun)  „Faden"  —  hingegen  ^  (kilghasun)  i4) 

1 

„Pferde haar e ,  grobe,  einzelne  Haare". 

Szall    „steigen,  sich  begeben".  Türkisch     I^iili   (qalq- 
maq)  15)   „se  lever,  partir"  etc.  Vgl.  unter  häg. 


l)  Ebendas.  p.  367,  a.  2)  Castren,  Gramm.  Tscher.  p.  70,  b.  3)  Castre'n, 
Ostj. Gramm,  p.  84,  a.  4)  Böhtliugk,  Lex.  p.  110,  a.  5)  Sitzungsber.  Bd.  X,  p.  289. 
6)  Kieffer  et  B.  I,  p.  556,  a.  7)  Wiedemaun,  Wofj.  Gramm,  p.  526,  b.  8)  Schmidt, 
Lex.  p.  227,  b.  9)  Kieffer  et  B.  II,  p.  333,  b.  ")  Schmidt,  Lex.  p.  279,  a. 
n)  Am  yot,  Dict.  Tart.  Mantch.  II,  p.  280.  X2j  Sitzungsb.  Bd.  X,  p.  292.  13)  Ebendas. 
14)  Schmidt,  Lex.  p.  59,  c.  is)  Ebendas.  p.  1Ö6,  c;  Sitzungsb.  Bd.  XVII,  p.  372, 
s.  v.  szüz. 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XIX.  Bd.  II.  Hft.  20 


306  Boller. 

Szäm  „Zahl".  Türkisch  ^lo  (sa'i)  *)  „nombr  e",  mongolisch  4 

(togha)*)  „Zahl",  Mandzu  £  (ton)»)  „nombre". 

Szan  „Schlitten",  mongolisch  4  (cana)4)  „Schneeschuhe, 
Schlitten",    Mandzu  "f*'    0(unc'u) 5)  »traineau  pour  courir 

sur  la  glace",  wotjakisch  dody  6)  id. 

Szan  „bedauern".  Jakutisch  cäHapijä7)  „trauern",  ostja- 
kisch  iua^a^e8),  uiara^e  „bedauern,  beklagen".  (Vgl.  das 
gleichstämmige  sajnal.) 

Szan  „sich  entschliessen".    Türkisch  Jfrlo    (sanmaq)  9) 

„  p  e  n  s  e  r    d  e  u  r  e  r ,    s  o  u  h  a  i  t  e  r  "  ,    mongolisch    f    (sana^o)  10) 

„denken,  gedenken",  Mandzu    f  (same)11)  „savoir"  (enthält 

die  Wurzel)  jakutisch  caHä  „Absicht"  13)  etc. 

Szänt  „pflügen".  Türkisch  ^Lo  (sapan)  „charrue",  Mandzu 

v 

m    (andza)    „charrue",     mongolisch  1     (andzusun)    „Pflug" 


L 


Suomi  kyntä  „pflügen". 

Szär  „Schaft",   Röhre;    Stengel,    Halm".    Mongolisch 
£  (dürei)  1S)   „Stiefelschaft",  Suomi  sääri  „Wade",  läbszar). 


i 


Szäraz  „trocken".  Ostjakisch  copoM14),  mongolisch 


ä 


i 
A 


(Xa' 


ghorai)  15). 

Szärny    „Flügel".    Mongolisch  £   (sibaghun) 16)   „Vogel' 


t 


!)  Kieffer  et  ß.  II,  p.  89,  b.  2)  Schmidt,  Lex.  p.  246,  c.  3)  Amyot,  Dict. 
Tart.  Mantch.  II,  p.  286.  4)  Schmidt,  Lex.  p.  316,  a.  5)  Amyot,  Dict.  Tart. 
Mantch.  III,  p.  324.  6)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  302,  b.  7)  B  ö  h  1 1  i  n  g'  k  , 
Lex.  p.  134,  1»;  Sitzungsber.  Bd.  XVII,  p.  136,  s.  v.  gyanakodik.  8)  Ca  streu.  Ostj. 
Gramm,  p.  96,  a.  9)  Kieffer  et  B.  II,  p.  88,  b.  «)  Schmidt,  Lex.  p.  337,  b. 
")  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  II,  p.  32.  12)  Sitzungsber.  Bd.  XVII,  p.  236,  s.  v. 
gyanakodik  und  p.  392,  Nachtrag.  13)  Schmidt,  Lex.  p.  285,  a.  14)  C  a  s  t  r  e'  n,  Ostj. 
Gramm,  p.  96,  b.  f6)  Schmidt,  Lex.  p.  132,  b ;  Sitzungsber.  Bd. X,  p.  53  und  Bd.  XVII, 
p.  372,  s.  v.  szüz.     16)  Schmidt,  Lex.  p.  354,  a. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums. 


307 


tschuwaschisch  sönat  *),     türkisch  Jallä  (qanat) ,  jakutisch  Kbina-r  a) 
„Flügel".  Mandiu   £  (gasxa)3)   „oiseau". 

Szäz   „hundert".    Türkisch   jy  (Tu z)  ,,  cent",  Mandzu  | 

-  3; 

(tangghu)  *),  id.      Mongolisch  ^    (dzaghun)  5)   „hundert". 

Szedül  „schwindeln".  Mongolisch  |  (tencirekü)  6)  „schwin- 

'u 

1 

dein,    den    Schwindel    bekommen  "  =  Suomi  heidy-tha,    tr. 

Szegyen  „Schande,  Scham".  Tscheremissisch  vezl(a)  7) 

„pudet  m  e  ",  Suomi  häpiä,  jakutisch  cäT  s)   „Schande,  sich 

schämen",  mongolisch"^  (ghotoburi)9)  „Schande,  Schmach". 

c 

I) 

r 
Szel   „Wind".  Suomi  tuuli10),  türkisch  Jj  (Tel)   „vent",  mon- 
golisch f(salkin)11)   „Wind". 

Szel  „Rand,  Bord,  Küste".  Ostjakisch  myi1 13)  „Rand", 
jakutisch  kwtw  13)   „  Ufer,  Ran  d". 

Szeled  „sich  zerstreuen".    )  Mandzu  £  (tendeme)14)  „se- 
Szet  „aus  einander".  l  -% 

parer.  diviser",  i   (tel^eme)15)   „separer,  diviser,  se  se- 

! 

parer"  (|  (tel^e)  16)  =  telek  „piece   de   terre",   zugetheiltes 

->> 
Stück),  mordvinisch  (Ev.  Üb.)  sinde-ms   „brechen". 


!)  Schott,  Über  das  Altaische  etc.  p.  99.  2)  Sitzungsher.  Bd.  XVII,  p.  372,  s.  v. 
sziiz.  3)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.  378.  4)  A  my  o  t,  Dict.  Tart.  Mantch.  II, 
p.i89.  5)  Schmidt,  Lex.  p.  295,  a.  6)  Ebendas.  p.  240.  7)  Castre'n,  Gramm. 
Tscher.  p.  74,  a.  8j  Böhtlingk,  Lex.  p.  153,  a.  9)  Schmidt,  Lex,  p.  205,  c. 
10)  Sitzungsber.  Bd.X,  p.54.  il)  Schmidt,  Lex.  p.  343,  a.  la)  Castle  n,  Ostj.  Gramm, 
p.  97,  b.  I8)  Böhtlingk,  Lex.  p.  62,  a;  Sitzungsher.  Bd.  XVII,  p.  372,  s.  v.  sziiz. 
14)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  II,  p.  251.  15)  Ebendas.  p.  257.  16)  Ebendas. 
p.  256. 

20  • 


308  Boller. 

Szep   „schön".   Lappisch  coabbe,  wotjakisch  ceber,  Mandzu 
*   (sabume)  9     „voir",   t  (sabi)  J)   „chose    extraordinaire 

i 

q  u  i  est  de  bon  a  ug  u  r  e  et  belle  ä  voir",  mongolisch  "<£ 

(ghova)  3)   „ansehnlich,  schön". 

Szerdek  „saure  Milch".  Jakutisch  Täp  s)  „gesäuerte, 
gekochte  Milch",  mongolisch  $   (tarak)  4)     „gesäuerte  Milch 

nach  Abkochung  derselben". 

Szi  „saugen,  ziehen".  Türkisch  J^o  (sormaq)  6)  „sucer, 
absorber",  tscheremissisch  sopsa  6)  „traho,  sugo"  ==  szorp, 
das  aus  szop  -\-r  entstanden. 

Szij   „Riemen".  Tscheremissisch  sist  (Ev.  Üb.)  „Riemen". 

Szin  „Farbe".  Mongolisch  £  „Farbe,  Wasserfarbe" 
(sir)  7).    Vergleiche  1    (öngge)  8)  „Farbe,  Aussehen". 


Szit  „schüren".  Mongolisch  ^  (silegebur)  9)  „Schürholz, 

Feuerhaken". 

Szi'v    „Herz".  Suomi  sydäme  10),   mongolisch  f  (sedkil)11) 

gehört  zu  mongolisch    i  (serekü)  13)    „im  Vor  aus  wissen,   ver- 
stehen  =  Mandzu  £  fsereme)13)  „savoir,  etreeclaire,  etre 

i 

i  n  s  t  r  u i  t ,  s  a  v  o  i r  d  e  j  ä",  türkisch  jL^*j  (sezmek)  l4)    „  c  r  o  i  r  e, 
penser,  juger,  discerner".     Daher  mit  sej-dit  gleichstämmig. 
Szö  „Wort".     Suomi  sana,  türkisch j^j  (seuz)  15). 


!)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  tt,  p.  13.  8)  Schmidt ,  Lex.  p.  201, 1>.  3)  B  ö  h  t- 
lingkv  Lex.  p.  92,  a.  4)  Schmidt,  Lex.  p.  233,  c.  5)  KiefferetB  II,  p.l29,a. 
6)  Gast  r  e  n  ,  Gramm.  Tscher.  p.  72,  a.  ?)Sc  h  m  i  d  t,  Lex.  p.  360,  b.  8)  Ebendas.  p.  64,  b. 
9)  Ebendas.  p.  358,  c.  10)  Sitzungsber.  Bd.  X,  p.  54.  Il)  Schmidt,  Lex.  p.  305,  b. 
12)  Ebendas.  p.  349,  c.  »)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  II,  p.  42.  14)  Kieffer  et 
ß.  I,  p.  670,  h.     15)  Kieffer  et  B.   I,   p.  708,  a. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verhums.  309 

Ször  „zerstreuen,  worfeln".  Mongolisch!    (tar^a^o)  *) 

„sich  zerstreuen",  tscheremissisch  sab  „ausstreuen"  — tür- 
kisch J^jjU?  (savourmaq)  2)   „vanner". 

Szölö  „Traube".  Türkisch  Jdlo  (salqoum)  3)   „grappe". 
Ször  „Haar".   Suomi  tukka  „Stirnhaar",   türkisch  jL"  (tük) 
„Haar,  Wolle".    Vgl.  indess  Suomi  karva  „Th  i  erh  aar". 

Szörny  „Scheusei".   Mongolisch^  (s'ighudburi)  *)  „Scheu- 


sal, Gegenstand  des  Abscheues",  ;f  (sighudal)*)  „Abscheu, 


l 


Wid  er  will  e". 

Szür  „stechen".  Mandzu  £  (tokome)5)  „piquer,  piercer", 


lappisch  suogge  „durchbohren",  türkisch  X?yo  (soqmaq) 6) 
„piquer". 

Szücz  „Kürschner".  Wotjakisch  suba  7)  „  Pelz  ",  jakutisch 
coh8)  „Pelz",  tobolsk.  jy^'on)5)  „Fell",  oj&  (ton),  oy  „Pelz". 

Szük  „eng.  dürftig".  Suomi  soukka  „eng",  mongolisch^ 

% 

(cighul)  9)   „eng,  knapp,  dürftig",  türkisch  j^ä-o  (syqmaq)10) 

„presser,  serrer,  mettre  ä  l'etroit". 

Szünik    „aufhören".     Mongolisch   f  (sünükii)  n)  „  v  e  r- 

-& 
löschen,   ein  Ende    nehmen",    türkisch    j\iy^(su'i'tinmek)  12) 

=  jAiyj  (seunmek)  „s'etei  ndre".    Vgl.  ej. 


t)  Schmidt,  Lex.  p.  235,  a.  2)  Sitzungsher.  Bd.  XVII,  p.  369,  s.  v.  szür; 
Kieffer  et  B.  II,  p.  58,  b.  3)  Ebendas.  p.  86,  h;  Sitzungsber.  Bd.  XVII,  p.  .'570.  s.  v. 
BZÖlö.  4)  Schmidt,  Lex.  p.  357,  a.  5)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantcb.  II,  p.  2f>0. 
6)  Kieffer  et  B.  II,  p.  131,  b.  7)  Wiedemann,  \V,,lj.  Gramm,  p.  331,  a.  8)  Böht- 
ling-k,  Lex.  p.  160,  a.  9)  S  c  h  m  i  d  t ,  Lex.  p.  326,  c.  *°)  K  i  ef  f  er  et  B.  II,  p  U5,a. 
")  Schmidt,  Lex.   p .  372,  c.     12)  Kieffer  et   B.  I,  p.  712,  b. 


310  Boiler. 

Sziir   „seihen".    Mongolisch  f    (sixaX°)   0     »  d  u  r  c  h" 

- 

seihen",  türkisch  jl^  (seuzmek)  3)  „filtrer". 

Szüz  „Jungfrau",  türkisches    j  (qyz)   „fille",  jakutisch 

KblC  3). 

Tag,  tägas  „geräumig",  türkisch  jL  (iaz)  *)  „plaine, 
etendue",  tscheremissisch  (Ev.  Üh.)  sar  „ausbreiten",  Suomi 
lavia,  laaja  „weit". 

Täj   „Gegend,  Landschaft"  =  türkisch jl. 

Tämad    „entstehen,  aufstehen".   Türkisch  J^y  (dogh- 

maq)  5)    „naitre,  selever". 

Tämasz  „Stütze".  Mandzu  J  (dajame)  6)  „s'appuyer,   se 

h 
l 

confier,  s'appuyer  contre  quelque  ch ose",  türkisch  J^lb 

(daiamaq)  7)  „etager*. 

Täp  „Nahrung".  Ostjakisch  Täirre,  S.  D.  T^TnTe  8)  „ernäh- 
ren", mongolisch  J  (tedzijekü)  9)   „ernähren,  aufziehen". 

T^[  „offen,  öffnen".  Mongolisch  |  (tair/o)  10)  „öffnen", 


Tat) 


% 


eröffnen. 

Tär  „Magazin".    Ostjakisch  Tynac11)  „Magazin". 

Tärs  „Genosse".  Syrjänisch  jort«)  „socius",  jakutisch 
Aogop  13)  „Gefährte,  Freund",  ostjakisch  TÖroc  l4)  „Freund", 
tscheremissisch  tos  15),  türkisch  J*\*  (das),  wotjakisch  joz  16)  „Ge- 
fährte,  Verwandter".    Vgl.  das  slawische  ^poynb. 


i)  Schmidt,  Lex.  p.  355,  b.  2)  Kieffer  et  B.  I,  p.  709,  a;  Sitzungsb.  Bd.  XVII, 
p.  371,  s.  v.  sziir.  3)  Böhtlingk,  Lex.  p.  65,  b  ;  Sitzungsber.  Bd.  XVII,  p.  371,  s.  v. 
szüz.  4)  Kieffer  et  B.  II,  p.  1248,  b.  5)  K  i  e  f  f  e  r  et  B.  I,  p.  200,  a;  Sitzungsb. 
Bd.  XVII,  p.  378,  s.  v.  ta'mad.  6)  Arayot,  Dict.  Tart.  Mantch,  II,  p.  206.  7)  Sitzungsb. 
Bd.  XVII.  p.  379,  s.  v.  tamasz.  8)  Castren,  Ostj.  Gramm,  p.  98,  a.  9)  Schmidt, 
Lex.  p.  245,  a.  ")  Schmidt,  Lex.  p.  227,  b.  ll)  Castren,  Ostj.  Gramm,  p.  100,  a. 
12)  Castren,  Gramm.  Syrj.  p.  142,  a.  «)  B  ö  h  tl  i  n  gk  ,  Lex.  p.  115,  b.  «)  Castren, 
Ostj.  Gramm,  p.  99,  b.  15)  Castre'n,  Gramm.  Tscher.  p.  73,  b.  16)  Wiedemann, 
Wotj.  Gramm,  p.  308,  a. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums. 


311 


Tav  „fern".  Jakutisch  Taijbic1)  „hinausgehen",  Tac2)  „Aus- 
senseite",  (weich)  jakutisch  Tai3)  „fortgehen,  abtreten", 
Mandäu    £  (tule)*)  „dehors". 

Teboly  „Irrsinn".  (Ostjakisch  Teöe5)  „irre  gehen";  Mandzu 
Tev  „Irrthum".     )    i  (tabarame)  6)  =  £   (tasärame)  6),  se 


r 


tromper,  faire  une  eh  ose  pour  l'autre." 

Tel  „Winter".  Suomi  talvi7),  Mandzu    f  (tovori)8),  türkisch 


u*J>'  u«ä  (qys)  9)  „hiver",  jakutisch  kwc9). 

Ter  „Raum,  Platz;  hineingehen,  Platz  haben;  frei, 
weit".  Weiche  Formen  zu  tag.  Türkisch^  (ier)  10) ,  wotjakisch 
terysko  u)   „Platz  finden". 

Ter  „eben".  Türkisch j^3  (duz)  „uni,  egal,  plat,"  mongo- 
lisch    |    (ceksi)11)   „gleich,    gerade,     ohne    Krümmung", 


A 


ostjakisch  Terec  „flach,  platt".  Suomi  tasa  id. 

Terd  „Knie".  Mandzu  £  (topkija)  *2)  „genou",  £  (tujame)13) 


1 


„courber,  plier,  tordre;  courber  les  genoux." 

Tet  „That".  Suomi  teko  „That,  Werk". 

T6  „See".  Ostjakisch  xey  14),  U.  S.  tovx,  0.  S.  tox  „Land- 
see", mongolisch  \\  (naghor)  15)  „See,  Teich". 

To       )  „Stamm,  Stock".  Suomi  tyvi16),  jakutisch  TÖHypräc17) 
Torzs  i    „Baumstumpf". 


!)  Böhtlingk,  Lex.  p.  90,  a.  2)  Ebendas.  p.  93,  a.  3)  Ebendas.  p.  94,  a. 
4)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  II,  p.  291.  5)  Castre'n,  Ostj.  Gramm,  p.  98,  b. 
6)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  II,  p.  177.  7)  Sitzungsber.  B.  X,  p.  51.  8)  A  in  y  0  t, 
Dict.Tart.Mantch.il,  p.  316.  9)  Böhtlingk,  Lex.  p.  65,  a.  l")  Kieffer  et  B.  II, 
p.  1262,  a.  ll)  Wiedemann,  VVotj.  Gramm,  p.  333,  a.  13)  S  c  h  in  i  d  t ,  Lex.  p.  241,  c. 
13)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  II,  p.  295.  13)  Ebendas.  p.  295.  14)  Castre'n, 
Ostj.  Gramm,  p.  99,  a.  15)  Schmidt,  Lex.  p.  81,  a.  16)  Sitzungsb.  Bd.  X,  p.  283. 
17)  Böh  tlingk,  Lex.  p.  99,  a. 


312  Boller. 

Tözs   „Handel,   Handlung".    Ostjakisch  Täm1)   „Waare", 
Tv/^e2)  u.  S.  "gy^e  „kaufen". 

Tül    „jenseits K.    Mongolisch    i  (daba^o)  3)    „hinüber- 

*) 

ziehen  oder  steigen". 

Tür    „Satteldru  ck".    Mongolisch     i    (tagharai)  *)    „eine 

n 

geriebene  Wunde"  (z.  B.  vom  Sattel),  „Schwielen". 

Türok  „Trappe",   mongolisch    |    (tughuduk  5),  d.  i.  tüduk) 

„der  grosse  Trappe". 

Tu  „Nadel".         \  Jakutisch  tik  6)  „stechen,  nähen",  tiir- 
Tüdz  „steppen".  (     kisch  jUj  tikmek. 

Tüz    „Feuer",     tungusisch  toggo7),  togo,   tua,    Mandzu  % 

1 
(tu[v]a)s),  türkisch  jj  (od)9). 

Tyük  „Henne".  Ostjakisch  TaBax  10)  „Huhn",  türkisch  Ji^^ 
(thaouq,    thavouq)  n)    „poule",   mongolisch   |    (takija) 12)    „die 

Henne,  das  Hüh  nervieh". 

Üj    „Finger",  ostjakisch  Tyi 13),  u.  S.   Toi?    Mongolisch  rf 

q 

1 

(choroghon)  14)  „Finger,  Zehe",  Suomi  suormi. 

Uj  „Ärmel",  türkisch  JXj  (iiin)15)  „manche",  mongolisch  j* 

()<;ancui)  16)    „Ärmel    eines    Kleidungsstückes",    syrjänisch 
sos  17),  lappisch  sasse,  Suomi  hiha. 


i)  Castren,  Ostj.  Gramm,  p.  98,  a.  2)  Ebendas.  p.  99,  b.  3)  Schmidt,  Lex. 
p.264,  c.  4)  Schmidt,  Lex.  p.  266.  5)  Schmidt,  Lex.  p.  250,  c.  6)  Böhtlingk, 
Lex.  p.  104,  a.  7)  S  chott ,  Über  das  Altaische  otc.  8)  A  m  yo  t ,  Dict.  Tart.  Mantch.  II, 
p.  302.  9)  Kieffer  et  B.  1,  p.  122,  b.  ")  Castren,  Oslj.  Gramm,  p.  98,  a.  ")  Kief- 
feretB.  II,  p.  163,  a.  i2)  Schmidt,  Lex.  p.  230,  a.  «)  C  a  s  tr  en,  Ostj.  Gramm, 
p.  99,  b.  14)  Schmidt,  Lex.  p.l71,a.  lä)  Ki  e  ff  e  r  et  B.II,  p.  1299,  b.  16)  Schmidt, 
Lex.  p.  128,  a.      ir)   Castre'n,  Gramm.  Syrj.  p.  157,  b. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verhums.  313 

Üj  „neu"  Suomi  uusi  (uude),  ostjakisch  jl^en1),  je^en  „jung, 
neu",   mongolisch  ;f    (sine)2)   „neu",  jakutisch  caija3),  türkisch 

ul  iana  3),  id.  Jana,  IJC>.  (dzana)3),   osmanisch     \>  (ieni)  4),   vgl. 
mongolisch    t  (sonin)  5)  „neu",  frisch". 

Un  „ü b e r d r  ü s s i g  w e r d e n".  Mandzu "$  (kusun)  «)  „nausee, 


<. 


repugnance,    ennui",    türkisch    J^lojl    (ousanmaq)  7)  „s'en- 

nuyer,  avoir  degout",    Suomi  inho    „Ekel",    lappisch  unokas 
„ab  geneigt". 

Ür  „Herr".  Wotjakisch  kuzo  8)  „Herr,  Hausherr«,  Mandzu 
JP  ^(bo-i  chodzi)  9)  „maitre  de  la  maison". 

Ut  „Weg",  Tungusisch  hokta,  oot,  ot  *°),  Suomi  tie,  türkisch 
JjJ  (iol)  i!)     „voie,  chemin  route",  Mandzu  *i     (dzu^on)  la) 

l 

„chemin". 

Uz  „jagen,  treiben,  verfolgen".   Wotjakisch  tuzon  *3) 
„Verfolgung",  mongolisch  ^   (cügegekß)1*)  „vertreiben,  ver- 

o 
jagen,  verfolgen". 

Väd  „Klage,  Anklage".   Mandzu    Z   (ppsan)  15)  „accu- 

/> 

sation,    delation",     4   (vakalan)  *«)     „accusation ",    türkisch 


J«^y  (qolamaq)»)  „accuser,  denoncer",  Suomi  kaipa'. 


*)  Castre' n,  Ostj.  Gramm,  p.  84,  a.  2)  Schmidt,  Lex.  p.  332,  a.  3)  Böht- 
lingk,  Lex.  p.  152,  b.  4)  Kieffer  et  B.  II,  p.  127,  h.  5)  Schmidt,  Lex.  p.  363, b. 
6)  Amyot,  Dict.Tart.Mantch.IlI,  p.  97.  ')  K  i e  f  fe r  et  B.  I,  p.  134,  a.  »)  Wiede- 
mann,  Wotj.  Gramm,  p.  313,  a.  9}  Ai.iyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.56i.  10)  Scho  U, 
Über  das  Altaische  etc.  p.  103.  ")  Kieffer  et  B.  II,  p.  1293,  a.  «•)  A  m  y  o  t ,  Dict. 
Tart.  Mantch.  II,  p.  323.  ")  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  333,  b.  i")  Schmidt, 
Lex.  p.  333.  ^)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.  418.  iß)  Ebendas.  III,  p.  218. 
1?)  Kieffer    et   B.   II,    p.   312,   b. 


314 


B  o  1 1  er. 


Vag  „schneiden,  hauen,  schlachten".   Wotjakisch  cogo1) 
„abhauen ".     Mongolisch  3  (uktal^o)  3)     „schneiden,  ab- 


schneiden". 

Vägy  „sich  sehnen,  verlangen".  Mandzu  5*    (kitume)  3) 


„soupirer  apres  quel  que  chose",  wotjakisch  utis'jalo*)  „ver- 
langen", Suomi  pyytä1  =  lappisch  bivddet  „begehren,  ver- 
langen", mongolisch  "?   (ghaghuldza^o)  5)    „aus  Mangel  und 


Noth    begierig   sein,    schmachten",    "f  (ghaghulkila^o)  5) 


„begierig  sein,  heftiges  Verlangen  haben",  türkisch  J^l 

(onamaq)  6)   „souhaiter",  s.  ki-vän. 

Valik  „sich  scheiden,  verändern".)  Jakutisch  yxiapbii7) 
Valt  „wechseln,  ablösen".  j   „sich  verändern, 

durch    einen    andern    ersetzt    werden"   =   mongolisch    3 

i 

u!bari^o)8)  id.   Vgl.  lappisch  molssot  „atvexle". 

Väläsz  „Antwort".  Suomi  vasta1  „antworten"  (vasta'a  „ent- 
gegnen"), mongolisch   £    (tus)  9)  „gegenüber",  jakutisch tvc10) 

„die  vor  Einem  liegende  Seite",  Tocyi11)  „begegnen,  ent- 
gegen halten*. 

Välaszt    „wählen".     Entweder  zu  välik  (väla  d  -f- 1)  gehörig 
oder  =  jakutisch  Taji la),  tatarisch     l*%&  (sai'Iamaq)  „wählen". 


1)    Wiedemann,    Wotj.   Gramm,    p.  301,    a.  2)  Schmidt,    Lex.     p.  50,  b. 

3)Amyot,  Dict,  Tart.Mantch.  I,  p.  49.  4)  W  i  ed  e  ma  n  n  ,  Wotj.  Gramm,  p.  336,  a. 
5)  Schmidt,  Lex.  p.  192,  a.  6J  K  ie  ff  er  et  B.  1,  p.  144,  b.  7)  ßöhtlingk,  Lex. 
p.  45,  a.  8)  Schmidt,  Lex.  p.  64,  b;  Sitzungsb.  Bd.  XVII,  p.  364,  s.  v.  va'lik. 
9)  Schmidt,  Lex.  p.  255,  b.  10)  B  öhtli  ngk ,  Lex.  p.  110,  a.  ")  Ebendas.  p.  98,  b. 
*2)  Ebendas.  p.   93,   a. 


Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums.  O  1  O 

Väj  „aushöhlen,  graben".     jSyrjänisch  volala  *),   dola  = 
Välu  „Wassertrog".  >   Suomi,  lappisch  vuole,  Man- 

Väpa„Hühlung,  Concavität".)    dzu    £  (falome)8)   „sculp- 

£ 

ter",  türkisch  Jcjt  (oi'maq)  3)  „sculpter,  ciseler,  creuser  un 
concombre". 

Vall  „Schulter".  Suomi  olka,  ostjakisch  BäH  4),  tscheremis- 
sisch  pulos  5),    slawisch  miHuixa  „humeri". 

Vall  „gestehen".  Jakutisch  oi.iiH  6)  „gestehen,  ein- 
gestehen, anerkennen". 

Ki-väu   „wünschen".    Türkisch    lcJ\  (onarnaq)  7)     „sou- 

haiter,   desirer". 

Vär  „warten,    erwarten  ".      Wotjakisch  woz'mas'ko  8) 

„erwarten",  Suomi  varto,  tscheremissisch  vodc  9),  türkisch  lcj\ 
(onmaq)  10)   „attendre". 

Väszon  „Leinwand".  Mandzu  ^    (dzoton)  11),  mongolisch  j] 


4 


(dzotong)  13)    „Leinwand",    persisch  -  türkisch  C/S  (keten)  13) 
„lin",  tscheremissisch  etin  l4)   „linum". 

Ved  „Schutz,  beschützen".   Mongolisch     |    (tedkükü)15) 


„schützen,  in   Schutz   nehmen",  Suomi  turva\ 

Veg„Ende".  Wotjakisch  pun16)  „Ende,  Grenze",  syrjänisch 
pom17)  „finis",   Mand&u   4   (vadzime)  18)  „achever,  terminer 


■  i 


quelque  chose." 


*)  Castren,  Gramm.  Syrj.  2)  Amyot,  Dict.  Tart.  Mantch.  III.  3)  Kieffer 
et  B.  I,  p.  146,  a.  4)  Castren,  Ostj.  Gramm,  p.  102,  b.  5)  Castren,  Gramm. 
Tscher.  p.  69,  b.  6)  Böhtlingk,  Lex.  p.  140,  a.  ?)  Kieffer  et  B.  I,  p.  144, b. 
8)  Wiedem  ann,  VVotj.  Gramm,  p.  339,  a.  9)  Castren,  Gramm.  Tscher.  p.  74,  b; 
Sitzungsber.  Bd.  XVII,  p.385,  s.v.  ve'r.  10)  Kieffer  et  B.  I,  p.  144,  b.  ")  Amyot, 
Dict.  Tart.  Mantch.  II,  p.  517.  12)  Schmidt, Lex.  p.  311,  c.  «)  K  i  ef  f  e  r  et  B.  II, 
p.  567,  b;  Sitzungsber.  Bd.  XVII,  p.  385,  s.  v.  va'szon.  14)  Castren,  Gramm. 
Tscher.  p.  62,  a.        15)    Schmidt,    Lex.   p.  244,  c.  16)  W  i  e  d  e  in  a  n  n  ,    Wotj. 

Gramm,    p.    325,  a.      i7)  Castren,  Gramm.  Syrj.    p.  152,  h.      18)  Amyot,    Dict. 
Tart.  Mantch.  III,  p.  224. 


316  B  oll  er. 

Vekony  „dünn,  schwach,  schlank".  Ostjakisch  BäraT, 
S.  Böro^  „dünn",  syrjänisch  vösnid  J),  mollis,  wotjakisch  vesci 2) 
„schmal,   dünn". 

Vel  „meinen".    Wotjakisch  poto  3)    „meinen,  wollen". 

Ven  „alt,  betagt".  Suomi  vanha,  lappisch  ponje,  syrjänisch 
vaz,*),   türkisch jji^liy  (bunamys)5)  „hochbetagt.", 

Ver  „Blut".  Suomi  veri  e),   jakutisch  xäH  7),    mongolisch   )[ 

(cisun)  8). 

Ves  „meisseln,  stechen,  graben".  Mandzu9    (kejeme)  9) 

1 

„eise ler    sur    du    bois,    eise! er    du    bois",    mongolisch    f 

(sujuci)10)  „Meissel,  Stemmeisen",  Suomi  veistä  „schnitzeln, 
behauen".     Vgl.  slawisch  BaiaTH  „sculpere". 

Vet  „fehlen,  verschütten".  Suomi  vika  „Schuld,  Fehler", 
türkisch  ?~jo  (soutch)  ")>  mongolisch  \  (d&ala)  *3)  „Vergehen, 
Verbrechen,  Schuld",  tscheremissisch  suluk13)  „peccatum"- 

Vi   „kämpfen,   fechten".  Mongolisch    %    (bari-Hu^o)  l4) 

4 

H 
*> 

„kämpfen,  ringen,  sich  balgen"  (sich  wechselseitig  fassen). 
Viz   „Wasser".  Suomi  vesi  (vede),   tscheremissisch  vid15), 
türkisch yo  (su),   mongolisch   \    (usun)  16). 

Vö  „Eidam".  Mongolisch  V  (bukduxo)17)  „sich  verloben", 


4 


Suomi  vävy,  ostjakisch  neij,  S.  D.  bo^18). 


*)  Castren,  Gramm.  Syrj.  p.  166,  h.  2)  Wiedemann,  Wotj.  Gramm,  p.  338, 
a.  3)  Ebendas.  p.324,  a.  4)  Ca  stren  ,  Gramm.  Syrj.  p.  162,  b.  5)  Sc  h  o  1 1 ,  Über 
das  Altaische  etc.  p.  138.  6)  Sitzung-sb.  Bd.  X,  p.  52  und  XVII,  p.  387,  s.  v.  ve'r. 
7)  B  ö h  tl  i  d  g  k  ,  Lex.  p.  77,  a.  8)  S  c  h  m  i  d  t ,  Lex.  p.  330,  b.  9)  A  m  y  o  t ,  Oict.  Tart. 
Mantch.III,p.23.  10)  S  ch  m  id  t ,  Lex.  p.  372,  b.  «)  Kieff  er  et  B.  II.  i2)Schmidt, 
Lex.  p.  288, b.  ")  Castren,  Gramm.  Tscher.  p.  70,  b.  *4)  Schmidt,  Lex.  p.  102,  a. 
15)  Sitzungsb.  Bd.  X,  p.  52,  16)  Schmidt,  Lex.  p.  61,  c.  17)  Ebendas.  p.  112,  a. 
18)   Castren.  Ostj.  Gramm,   p.  102,  b. 


Vergleichende  Analyse    des  magyarischen  Verbums.  »317 

Nachtrag. 

Zu  al.     Das  türkische  Jl  (al)  J)   „tromperie"   kommt  dem 

magyarischen  Worte,  zu  dem  auch  die  Sitzungsb.  Bd.  X,  p.  290 
s.  v.  ylala  angeführten  Formen  gehören,  am  nächsten.  Die  Verei- 
nigung mit  pöjalo  etc.  erhält  durch  die  lappischen  Bildungen,  finnmär- 
kisch-lappisch boassto  =  schwedisch-lappisch  posto,  poito  „falsch" 
(poito  - jubmel  „Abgott",  al-isten)  neben  bsettolas  id.  noch 
weitere  Berechtigung. 

Zu  älok.    Da  das  esthnische  wand  =  türkisch  jj|  (and)  ==  mon- 
golisch   |  (andaghar)  2)  ,  Suomi  vala,  neben  der  Bedeutung  „Eid- 


i 


schwur"  welche  allen  angeführten  Bildungen  zukommt,  auch  die 
besondere  „Fluch"  besitzt,  so  wird  man  atok  richtiger  hieher 
beziehen,  wodurch  die  missliche  Annahme  einer  zweifachen  Ent- 
wickelung  der  in  karomol  liegenden  Wurzel  entfällt. 

Zu  csel,  csin.    Den  anlautenden  Guttural  bewahren  die  mongo- 
lischen Formen  f?  (genedekü)  3)   „sich  irren,  sich  versehen, 


^ 
-i 


eine  Dummheit  begehen",  ,9  (genedelge)  3)  „Täuschung, 


I 


Betrug 


Zu  csöka.  Suomi  suu-tele  „küssen"  gehört  schwerlich  zu 
suu,  sondern  ist  vielmehr  cup  -f-  tele. 

Zu  ei  „Schneide".  Wesentlich  für  die  Ermittelung  der 
Wurzel  ist  das  türkische   Jl  (i'alym,  i'alum)4)   „  trän  c  haut  d'un 

s a b r e ,   d'un   couteau". 

Zu  er  „Ader".  Der  Mangel  einer  ausreichenden  Begründung 
in  den  verwandten  Sprachen  lässt  wenigstens  an  die  Möglichkeit 
denken,  in  er  ein  Lehnwort  zu  suchen.  Vgl.  das  schwedisch-lappische 
ora  „vena",  dänisch  aare,  schwedisch  äder,  althochdeutsch  adara. 
Doch  stehen  für  die  magyarische  Form  bedeutende  lautliche  Schwie- 
rigkeiten zu  beseitigen. 


i)  Kieffer  et  B.  I,p.83,a.  2)  Scho  1 1 ,  über  das  Altaische  etc.  p.  85.  8)  Schmidt, 
Lex.  p.  196,  c.     4)  Kieffer  et  B.  II,  p.  1254,  a. 


3  1  <S  Boller.    Vergleichende  Analyse  des  magyarischen  Verbums. 

Zu  erez.  Man  darf  bei  der  Zusammenstellung  auch  Suomi  aisti 
„Empfindungsvermögen",  aistin  (aistime)  „Sinneswerk- 
zeug", lappisch  aiccet  „fornemme"  nicht  übersehen. 

Zu  fer.    Vgl.  Suomi  mahta   „Raum  haben". 

Zu  gyäsz.  Die  von  Schott  *)  aufgestellte  und  auch  von  mir 
nicht    abgewiesene    Vergleichung    mit   mongolisch    "f  (ghasalang) 

li 

„Jammer,  Unglück,  Elend",  so  einladend  sie  ist,  muss  auf- 
gegeben  werden,  wie  schon  das  Bestehen  der  beiden  Formen  ^jL 

(las)  und  JeJ>  (qaiglm)  neben  einander  wahrscheinlich  macht.   Gyasz 
ist  vielmehr  auf  das  vollständigere  Mandzu   |,  (düsame)  3)    „p  ort  er 


■  i 


ledeul.etre  endeul,  etre  dans  1  a  d o u  1  e u r ,  d a n s  I a  tris- 
tesse, avoir  du  malheu r"  zurückzuführen. 

Zu  häm.  Die  angenommene  Gleichstämmigkeit  der  Wörter  häm, 
hej  und  kereg  ist  sehr  unsicher,  und  darum  auch  das  Versehen, 
welches  die  zu  häm  gehörigen  Formen  unter  kereg  und  umgekehrt 
stellte,  sehr  störend.  Ich  sondere  jetzt  kereg  mit  seinen  Nebenformen 
zu  denen  man  Sitzgsb.  Bd.  X,  p.  54  s.  v.  kuori  vergleiche,  von  häm 

und  hej.  Mit  Letzterem  stelle  ich  zunächst  türkisch    ;~i  (gabouq)  3) 

„ecorce;  cosse,  gousse;    coquille;    c  roüte"  =  Mandzu  & 

(X°X°)  4)  »gousses  deharicots,  fevesetc."  und  führe  diese 
sammt  den  unter  kereg  zusammengestellten  Bildungen  auf  die  Wurzel 
welche  in  dem  Mandzu   £  (^ozime)  5)  „e  nv  el  o  pp  e  r"  liegt,  zurück. 


I 


Endlich  bemerke  ich  nachträglich  zu  der  Sitzb.  B.  XVII,  p.  345 
(vgl.  Nachtrag  p.  393)  gegebenen  Vergleichung  von  kulcs  mit  Suomi 
sulke,  dass  letzteres  dem  Suomi  |  (tülkigür)  6)  „Schlüssel"  ent- 

4J 

% 

spreche,    wodurch  jeder    Anknüpfungspunkt    an    eine  ural-altaische 
Wurzel  wegfällt. 

*)  Schott,  Überdas  Altaischeetc.  p.  109.  2)  A  m  y  o  t ,  Dict.  Tart.Mantch.  II,  p.291. 
3)  K  ie  f  fer  et  B.  II,  p.  440,  b.  4)  A  in  y  o  t ,  Dict.  Tart.  Mantch.  I,  p.  449.  5)  Ebend. 
6)  Schmidt,  Lex.  p.  260,  c. 


Verzeichnis«  der  eingegangenen  Druckschriften.  319 


VERZFJCHMSS 

DER 

EINGEGANGENEN  DRUCKSCHRIFTEN. 

(FEBRUAR.) 

Akademie,   k.  preuss.  d.  Wissensch.    Monatsbericht,   Dee.  1855. 
Anzeiger  f.  Kunde  d.  deutsch.  Vorzeit.  1855,  Nr.12;  1856,  Nr.  1 ;  4<" 
Archiv  d.  Mathematik  u.  Physik.  Von  Grunert.  Bd.  25,  Hft.  1—4. 
Austria.  Jahrg.  8.  Hft.  1—7. 
Beretning  om  Bodsfaengslets  Virksomhed.  i.  A.  1854.  Christiania 

1855;  8<>- 
Boscha,  J.,  Proeve  eener  oplossing  van  een  vraagstuk  betreffende 

de  electrische  Telegrafie.  Amsterdam  1855;  80- 
Cimento,  il  nuovo.    November  1855. 
Clement,  Pierre,  Portraits  historiques. 
Cornet,  Enrico,  Le  guerre  dei  Veneti  nell*  Asia  1470 — 74.  Vienna 

1856;  8o- 
Cos  mos.   Vol.  7,  livr.  22—25.  Vol.  8,  1  —  8. 
Dudik,  B.,  Iter  Romanum.  2  Vol.  Wien  1855;  8°- 
b'(Sl»ert,  ggvfftto*,  ©tc  (Sutturfortfd)ritte  9M)ven3  unb  Öftetreicfytftf)* 

<5d)feften8  «.,  tuät)tenb  ber  legten  lOO^afyre.  SBrünn  1855;  8"- 
Flora.  1855.  Nr.  37-48. 
Forening  physiographiske  i  Christiania:   Nyt   Magazin  for  Natur- 

videnskaberne.  Vol.  1 — 8.  Christiania  1837—55;  8°- 
Förstema  n  n's,  Altdeutsches  Namenbuch,  Bd.  I,  Lief.  8,  9. 
$ranfl,  £ubto.$(ng.,  Snfcfyriften  beä  alten  jitbifcfyen  griebfyofeS  in  3Bten. 

Sßten  1855;  So- 
Frei  bürg  i.  Br.  Universitätsschriften  aus  dem  Jahre  1855. 
Gesellschaft,  k.  k.   mährisch -schlesische,  des  Ackerbaues  etc. 

Mittheilungen.  1855;  Nr.  27—50. 


320  Verzeichniss  der  eingegangenen  Druckschriften. 

Girard,  Charles,  Description  of  new  Fishes.  Boston  1854;  8°- 
£atyn,  Gtyrift.  Wrtd),  ©efdjtcfete  ber  ße§er  im  Mittelalter.  S3b.  1—3. 

(Stuttgart  1854—50;  8»- 
Hailager,  F.,  und  Brandt,  Fr.,  Kong Christian  denFjerdes  norske 

Lovbog  of  1604.  Christiania  1855;  8<>- 
£otmboe,  @.5l.,  £)aä  ättefte  SKünjwcfcn  Sdortocgcn«.  6t>rift.l854;8°- 
Jahrbuch,  neues,  für  Pharmacie  und  verwandte  Fächer,  Bd.  IV, 

Hft.  3,  4. 
J aks ehitsch,  Vlad.,  Statistique  de  Serbie.  Livr.  1 .  Belgrad  1856 ;  8°- 
Kjerulf,    Theodor,    Das    Christiania  -  Silurbecken    chem.-geogn. 

untersucht.  Christiania  1855;  4°- 
Königsberg,  Universitätsschriften  1854. 
Nachrichten,  astronomische,  997 — 1009. 
Nissen,  Hartvig,    Beskrivelse  over   Skotlands    almue  skolevsesen. 

Christiania  1854;  8<>- 
Peretti,  Paolo,  Cianogeno  idrosolforato  rinvenute  nella  espirazione 

dei  colerosi  nel  sangue  e  nelle  ossa  dei  medesimi  morti  nello 

stadio  algido.  Roma  8°* 
«Prcflet,  9Ji.  51.  §.,  Sabettarifcfyer  ©runöriß  ber  (Sxpnimtntal  > $^ftf. 

(Smben  1856;  gol. 

—  Die  Temperatur  von  Emden.  Emden  1856;  Fol. 

—  (Die  arttfymetifdje  <§<$)äbe. 

3ftiebl    t>.    Seuenftern,    Sftecenfton    üon:    £offmann'g    Anleitung 
jum  ©ebvaudje    beS  9ted)iten  *  <3d)teberi  unb  0i eiö  ,  Sefyrbud)  ber 
©eometrie.Oettfdjriftbeäofterreic^tf^enSngenieur'SSereing,  1855.) 
Salmaigirje.  Kristiania  1854;  8°- 

®  e  g  c f f e  r ,  «.$$.  »on,  SDag  alte  ©tabtrecfyt  fcon  Sujern,  SBafet  1 855 ;  8°- 
Stift  eis  er  Norske.  Bd.  I,  Hft.  2;  Bd.  II,  Hft.  1.  Christiania  1854;  8°- 
Stimpson,  VVn.,  Description  of  sorne  of  the  new  Marine  Inverte- 

brata  from  the  Chinese  and  Japanese  Seas.  Boston  1854;  80, 
Vereeniging  v.  Nederlandsch  Indie,  T.  Natuurkund.  Tjidschrift. 

Deel  IX.  Afler  5,  6. 
Weinhold,  Karl,  Altnordisches  Leben.  Berlin  1856;  8°- 
Sßurjbad)    ö.  Sannenberg,  (Sonftant,   23tbttograpf)ifd)  =  ftattftifdje 
Überftcfyt  ber  Literatur  beS  öfterr.  ÄaiferftaateS  t>om  1.  Jänner  Big 
31.  ©ecember  1854.  2Öten  1856;  8°- 
Zerrenner,  Karl,  Die  national-ökonomische  Bedeutung  der  Krim. 


SITZUNGSBERICHTE 


DER  KAISERLICHEN 


IMDKIIIE  DER  WISSENSCHAFTEN 


PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE  CLASSE. 


ZWANZIGSTER  BAND. 


WIEN. 

AUS  DER  K.  K.  HOF-  UND  STAATSDRUCKEREL 

IN  COMMISSION   BEI  W.  BRAUMÜLLER,  BUCHHÄNDLER  DES  K.  K.  HOFES  UND  DER 
K.  AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN. 

1856. 


SITZUNGSBERICHTE 


DER 


PHILOSOPHISCH-HISTORISCHEN  CLASSE 


DER   KAISERLICHEN 


AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN. 


ZWANZIGSTER   RAND. 

Jahrgang  1856.   Heft  I.  eis  III. 
(Mit  1  Caftl.) 


— *^sJS-o®>®js^*— 


WIEN. 

AUS  DER  K.  K.  HOF-  UND  STAATSDRUCKEREI. 

IN  COMMISSION  BEI  W.  BRAUMÜLLER,  BUCHHÄNDLER   DES  K.   K.   HOFES  UND   DER 
K.   AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN. 

1856. 


INHALT. 


Seite 

Sitzung  vom  5.  März  1856. 

Jaec/er,  Ein  Beitrag  zur  Privilegiumsfrage 3 

Sitzung  vom  12.  März  -1856. 

Wolf,  Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  Mit  einer 
literar-historischen  Einleitung  über  die  Volkspoesie  in  Portugal  und 
Catalonien 17 

Sitzung  vom  26.  März  1856. 

Chmel,  Das  Recht  des  Hauses  Habsburg  auf  Kärnten 169 

Sichel,  Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  (Beitrag  zur 

Geschichte  Mailands  im  XV.  Jahrhundert) 185 

Verzeichniss  der  eingegangenen  Druckschriften 261 

Sitzung  vom  9.  April  1836. 

Roessler,  Beitrage  zur  Staatsgeschichte  Österreichs  aus  dem  G.  W.  von 

Leibniz'schen  Nachlasse  in  Hannover 267 

Sitzung  vom  16.  April  1856. 

Aschbach,  Die  römischen  Legionen  prima  und  seeunda  Adjutrix.  Geschichte 
ihrer  Entstehung  —  ihre  früheren  Stationen  und  endlichen  festen 
Standlager  in  Niederpannonien 290 

Sitzung  vom  23.  April  1836. 

Schmidt, #Der  Mons  Cetius  des  Ptolemäus 338 

Dümmler,  Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien  (549 — 928)  353 

Verzeichniss  der  eingegangenen  Druckschriften 431 

Sitzung  vom  7.  Mai  1856. 

v.  Karajan,  Bericht  über  die  Thätigkeit  der  historischen  Commission  der 
kais.  Akademie  der  Wissenschaften  während  des  akademischen  Ver- 
waltungsjahres 1854  auf  1855 437 

—  Bericht  über  die  Thätigkeit  der  Commission  zur  Herausgabe  der 
Acta  conciliorum  sa'euli  XV  während  des  akademischen  Verwal- 
tungsjahres 1854  auf  1855  459 

v.  Schlecht a-Wssehrd,  Bericht  über  die  vom  September  1854  bis  September 

1855  zu  Konstantinopel  erschienenen  orientalischen  Werke     .     .     .     460 

Sitzung  vom  21.  Mai  1856. 

Arneth,  Vortrag  bei  Überreichung    zweier  Werke    von  Vicomte  Emanuel 

de  Rouge  und  Professor  Roth.  (Mit  1  Tafel) 471 

Pfizmaier ,  Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  von  dem 
Friedensschlüsse  von  Sung  bis  zur  Versammlung  der  Reichsfiirsten 
in  Schin.  (Vom  Jahre  545  bis  538  vor  Christo) 486 

Verzeichniss  der  eingegangenen  Druckschriften 551 


SITZUNGSBERICHTE 


DER 


KAISERLICHEN  AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN. 


PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE   CLASSE. 


XX.  BAND.  I.  HEFT. 


JAHRGANG   1856.  —  MÄRZ. 


SITZUNG  VOM  5.  MÄRZ   1856. 


Gelesen : 

Ein  Beitrag  zur  Privilegiiimsfr  age. 

Von  dem  w.  31.  A.  Jaeger. 

Nach  den  vielen  und  gründlichen  Abhandlungen  welche  die 
neuere  Forschung  über  die  Privilegiumsfrage  zu  Tage  gefördert, 
scheint  es  heinahe  ein  überflüssiges  Unternehmen  zu  sein,  den 
Gegenstand  noch  einmal  zur  Sprache  zu  bringen.  Was  lässt  sich 
nach  den  Untersuchungen  Hormayr's  und  Moritzens,  Watten- 
bach's  und  ChmeTs  wohl  etwa  noch  Neues  bringen?  Ist  der 
Reichthum  der  Quellen  nicht  erschöpft?  Ist  nicht  Alles,  was  die 
historische  Combination  errathen  und  vermuthen  konnte,  ans  Licht 
gezogen,  und  weiter  als  bis  zur  blossen  Wabrscheinlichkeit  —  bis 
zur  urkundlichen  Gewissheit  erhoben  worden?  Das  scheint  keinem 
Zweifel  unterliegen  zu  können.  Allein  bei  näherer  Betrachtung  zeigt 
sich  die  Frage  doch  mir  nach  einer  Seite  hin  als  vollkommen  erledigt, 
nach  einer  andern  kann  die  Untersuchung  noch  nicht  in  jeder  Bezie- 
hung für  abgeschlossen  und  über  jeden  Zweifel  hinaus  für  entschieden 
erklärt  werden.  Wir  Mandeln  im  vollen  Tageslichte  über  die  Frage, 
ob  eine  Fälschung  stattgefunden  habe:  offen  hingegen  ist  noch  zur 
Stunde  die  Frage,  wann  und  durch  wen  die  Fälschung  geschehen? 
In  dieser  Beziehung  trübt  noch  mancherlei  Nebel  den  klaren  Blick, 
und  die  Frage  wurde  neuerdings  eine  um  so  offenere,  als  unser 
verehrtes  Mitglied  R.  B.  Chmel  in  seiner  neuesten  Arbeit,  in  der  Ein- 
leitung zu  dem  II.  Bande,  I.  Abth.  der  „Monumcnta  Habsburgiea,"  von 

t" 


/jr  Jaeger. 

seiner  früheren  Ansicht  abgehend,  geneigt  zu  sein  scheint,  die  Quelle 
der  Fälschung  anderswo  zu  suchen  als  in  der  Ottokarischen  Kanzlei. 
Die  Frage  über  die  Zeit  und  den  Urheber  der  Fälschung  kann  ferner 
auch  desswegen  als  eine  olTene  betrachtet  werden,  weil  die  bisherigen 
gegen  Dr.  Wattenbach  und  Friedrich  Böhmer  gerichteten 
Untersuchungen  nicht  in  eine  directe  Widerlegung  ihrer  Behauptungen 
eingingen,  sondern  den  Vorwurf  der  Fälschung  von  dem  Herzoge 
Rudolf  IV.  nur  indirect  dadurch  ablenkten,  dass  sie  ihn  in  seiner 
ganzen  Schwere  auf  ein  früheres  Jahrhundert  und  auf  eine 
andere  Persönlichkeit  übertrugen.  Es  stehen  sich  also  dermalen 
die  zwei  entgegengesetzten  Behauptungen  bezüglich  der  Frage, 
ob  die  Privilegiums-Fälschung  unter  Ottokar  oder  Rudolf  geschah, 
so  gegenüber,  dass  die  Hypothese  Chmel's  etwas  schwankend 
wurde,  Böhmer's  und  Watten  bach's  Behauptung  hingegen, 
dass  die  Fälschung  von  dem  Herzoge  Rudolf  IV.  1358  oder  1359 
ausgegangen  sei,  unverändert  hei  ihrer  ursprünglichen  Schärfe 
verharrt. 

Reim  Durchblättern  des  Muratoriscben  Sammelwerkes  der  Script, 
rer.  italic.  stiess  ich  auf  eine  Urkunde,  von  der  ich  glaube,  dass  sie, 
wenn  sie  auch  die  Zeit  und  den  Urheber  der  Fälschung  zu  bezeichnen 
nicht  vermag,  doch  den  positiven  Reweis  herzustellen  geeignet 
ist,  dass  Herzog  Rudolf  nicht  der  Fälscher  war,  sondern 
d  a  s  s  d  i  e  Privilegien  im  Jahre  1336,  a 1 s  o  d  r  e  i  Jahre  vor 
Rudolfs  Geburt  »)  schon  e  x  i  s  t  i  r  t  e  n ,  und  bereits  damals 
als  alte  Vorrechte  der  österreichischen  Herzoge 
bezeichnet  wurden.  Das  betreffende  und,  wie  ich  glaube,  für 
die  vorliegende  Frage  höchst  wichtige  Document  findet  sich  in  der 
Chronik  des  Gualvaneo  de  la  Flamina  bei  Muratari  Script,  rer.  italic. 
Tom.  XII,  p.  1015  u.  s.  w.  3).  Gualvaneo  de  la  Flamma  schrieb  eine 
Geschichte  der  Visconti  von  1328  bis  1342,  welche  die  Regierungs- 
zeit Azzo's,  Luchino's  und  des  Erzbischofes  Giovanni,  jedoch  nicht 
vollständig  umfassf.   Seine  Glaubwürdigkeit  wird  von  Muratori  hoch 


*)  Rudolf  wurde  geboren  1.  November  1339.  Kurz,  Öster.  unter  Rudolf,   p.  6. 

2)  Die  Regesten  Lichnowsky's  weisen  auf  diese  interessante  Urkunde  schon  bin; 
aber  weder  Chrael  noch  Wattenbach  berücksichtigten  sie,  und  doch  liegt  in 
ihr,  wie  der  Text  oben  darthun  wird,  eine  so  grosse  Beweiskraft! 


Ein  Beitrag  zur  Privileg-iumsfrage.  5 

angeschlagen;  denn  als  Caplan  und  Secretär  des  regierenden  Erz- 
bisehofes  Giovanni,  und  als  ein  Mann  der  am  mailändischen  Hofe 
lebte,  war  er  unstreitig  in  der  Lage,  sich  die  genaueste  Kenntniss 
der  Ereignisse  seiner  Zeit,  seines  Vaterlandes  und  seiner  Fürsten  zu 
verschaffen.  Seine  Chronik  führt  bei  Muratori  den  Titel:  Gualvanei 
de  la  Flammet ,  Ord.  Praedicat.  opuseuium  de  rebus  gestis  ab 
Azone ,  Luchino  et  Johanne  Vicecomitibus  ab  anno  1328  usque  ad 
annum  1342  nunc  primum  in  luceni  editum  e  MS.  codice  Biblioth. 
Ambrosianae.  Intet-  einer  Capitelaufschrift,  unter  welcher  sicher 
Niemand  eine  die  österreichischen  Privilegien  betreffende  Urkunde 
suchen  würde,  nämlich  in  dem  Capitel  „de  stratis  et  cloacis  (urbis 
ßfediolanensisj"  findet  sich  nun  das  oben  erwähnte  für  unsere 
Frage  so  wichtige  Document.  Ehe  ich  jedoch  die  Urkunde  selbst 
mittheile,  stelle  ich  die  hauptsächlichsten  Gründe  die  Böhmer 
und  Wattenbach  für  die  Autorschaft  des  Herzogs  Rudolf 
bezüglich  der  Privilegiumsfälschung  und  für  die  Annahme  des 
Jahres  1358  oder  1359  als  Fälschungsjahres  vorbringen,  in 
gedrängtem  Überblicke  zusammen,  weil  dann  die  Beweiskraft  des 
genannten  Documentes  um  so  schlagender  hervortreten  und  dar- 
thun  wird,  dass  die  Gründe  der  beiden  Gelehrten  nicht  stich- 
hältig sind,  und  die  scheinbar  von  ihnen  gewonnenen  Resultate 
von   selbst    wegfallen. 

Friedrich  Böhmer  bemerkt  in  seinen  Kaiser -Regesten  bei 
Gelegenheit,  wo  er  der  Bestätigung  des  Privilegiums  majus  durch 
Friedrich  II.  erwähnt  i):  „Dieses  Privilegium  ist  eine  Yerunechtung 
des  vorhergehenden  (minus) ,  welche  gleich  einigen  anderen 
Urkunden  unter  Herzog  Rudolf  IV.  von  Österreich  im  Jahre  1358 
oder  1359  (wesshalb  es  denn  auch  keine  älteren  Abschriften 
gibt)  entstanden  ist;  in  der  äussern  Form  täuschend,  im  Inhalt 
läppisch  u.  s.  w." 

„Diese,  wie  Dr.  Wattenbach  sie  nennt  3),  von  Böhmer  mit 
gewohnter  Schärfe  und  Präcision  ausgesprochenen  Andeutungen"  ver- 
folgt nun  der  zweitgenannte  Gelehrte,  und  bemüht  sich,  wie  er  selbst 
versichert,    sie    in    seiner    Abhandlung    über  die    österreichischen 


l)   (tegesta  Imperii   von   1198   —   1234,   p.    199. 

-)  Archiv  für  Rande  österr.  Gescbiehtsquelten,  Bd.  VIII.  S.  9:;. 


ß  Jaeger. 

Freiheitsbriefe  weiter  auszuführen  und  fester  zu  begründen  J). 
Dr.  Wattenbach  sucht,  wenn  auch  in  einer  etwas  andern  Auf- 
einanderfolge seiner  Gedanken  als  wie  ich  sie  hier  gebe,  vor 
Allem  zu  beweisen,  dass  alle  österreichischen  Privilegien  „genau 
mit  einander  zusammenhängen"  S.  82,  „zu  einem  Com- 
plexe  von  Urkunden  gehören,  der  zusammen  ein  eng 
geschlossenes  Ganzes  bildet"  S.  95;  „dass  es  da- 
her noth wendig  sei,  die  Untersuchung  auf  die  ganze 
Reihe  von  Urkunden  auszudehnen,  anstatt,  wie  gewöhn- 
lich geschehen  ist,  das  Privilegium  majus  allein  zu 
betrachten"  S.  82. 

Consequent  mit  diesen  Behauptungen,  die  unbedingt  zuge- 
geben werden  müssen,  da  die  fraglichen  Privilegien  wirklich 
alle  mit  einander  stehen  oder  alle  mit  einander  fallen ,  stellt 
Dr.  Wattenbach  S.  94  die  weitere  Behauptung  hin,  „dass  das 
Privilegium  des  Königs  Heinrich  (VII.)  vom  24.  August 
1228  nicht  vor  dem  Majus  entstanden  sein  könne, 
weil  es  die  Existenz  desselben  voraussetzt,"  folglich  da  nach 
Böhmer's  Behauptung  welche  Dr.  Wattenbach  weiter  auszu- 
führen und  fester  zu  begründen  unternahm,  das  Majus  erst  1358 
oder  1359  entstand,  ebenfalls  erst  in  diesen  Jahren  nach  der 
Fabricirung  des  Majus  sein  Dasein  erhalten  haben  müsse.  So  irrig, 
wie  das  bei  Muratori  aufbewahrte  Document  später  zeigen  wird, 
Böhmer's  und  Wattenbach's  Annahme  der  Jahre  1358  oder  59 
als  Entstehungszeit  des  Privilegiums  von  1228  genannt  werden  muss, 
so  vollkommen  richtig  ist  die  Behauptung,  dass  dieses  Privilegium 
das  Majus  voraussetze,  daher  nicht  vor  ihm  entstanden  sein  könne. 
Diese  Versicherung  Dr.  Wattenbach's  verdient  nicht  blos  unsern 
vollen  Beifall,  sondern  der  Zweck  meiner  Untersuchung  verlangt 
sogar,  dass  wir  etwas  näher  darauf  eingehen,  denn  es  leuchtet  von 
selbst  ein,  dass,  wenn  einerseits  erwiesen  und  zugegeben  ist,  dass 
das  Privilegium  von  1228  zum  Majus  sich  verhalte  wie  das  Abgeleitete 
zum  Ursprünglichen,  und  wenn  andererseits  der  Beweis  hergestellt 
werden  kann,  dass  das  Privilegium  von  1228  lange  vor  dem  Jahre 


l)   Die    Österreich.  Freiheitsbriefe.   Prüfung  ihrer  Echtheit    und  Forschungen  über  ihre 
Entstehung  in  dem  (Anmerkung  2)  genannten  Sammelwerke. 


Ein  Beitrag-  zur  Privilegiumsfrage.  7 

1358  oder  1359  vorhanden  war,  nothwendig  auch  das  Ursprüngliche 
lange  schon  vor  dem  Abgeleiteten,  oder  mit  anderen  Worten,  das  vom 
Freiheitsbriefe  des  Königs  Heinrich  vorausgesetzte  Privilegium  majus 
lange  schon  vor  den  Jahren  1358  oder  1359  vorhanden  gewesen 
sein  muss,  folglich  Böhmer's  und  Wattenbach's  Behauptung 
sich  nicht  halten  kann. 

Das  Privilegium  König  Heinrich's  (VII.)  vom  24.  August  1228 
lässt  sich  auf  vier  wesentliche  Puncte  zurückführen: 

Erstens  wird  darin  festgesetzt,  dass  Jedermann  den  Herzogen 
von  Österreich  und  Steier  Länder  und  anderes  mit  voller  Bechtsgil- 
tigkeit  legiren,  schenken,  verpfänden  und  verkaufen  könne,  und  zwar 
mit  dem  Beisatze,  dass  wenn  ein  solcher  Kauf,  eine  solche  Schenkung, 
Verpfändung  oder  ein  solches  Vermächtniss  sich  so  plötzlich  ereignete, 
dass  die  königliche  Hoheit  um  die  Bestätigung  unmöglich  aufgesucht 
und  angegangen  werden  könnte ,  den  Herzogen  von  Österreich 
desswegen  kein  Nachtheil  in  ihren  Rechten  entstehen  solle.  — 
Vergleicht  man  diesen  Punct  mit  dem  Majus,  so  muss  er  offenbar  eine 
nähere  Bestimmung  der  §•§.  18  und  2  dieses  letzteren  Privilegiums 
genannt  werden,  indem  im  §.  18  gesagt  wird,  dass  die  Herzoge  von 
Österreich  ihre  Freiheiten  und  Vorrechte  auf  alle  noch  zu  machenden 
Erwerbungen  ausdehnen  dürfen,  wodurch  ihnen  ja  eo  ipso  auch  das 
Erwerbungsrecht  für  die  Zukunft  eingeräumt  wurde.  Der  Zusatz, 
dass  sie  in  solchen  Fällen  ,  wo  der  Eile  wegen  die  Zustimmung 
des  Reichsoberhauptes  nicht  eingeholt  werden  könne,  auch  ohne 
dessen  Einwilligung  zur  Erwerbung  schreiten  dürfen,  scheint  eine 
Beziehung  zum  §.  2  des  Majus  zu  haben,  in  welchem  hinsichtlich 
des  Empfanges  der  Belehnung  etwas  Ähnliches  enthalten  ist. 
Der  bequemeren  Vergleichung  wegen  setze  ich  die  betreffenden 
Stellen  aus  dem  Privilegium  vom  Jahre  1228  und  aus  dem  Majus 
in   den   Anmerkungen   unter    dem   Texte    neben   einander  1).     Viel 


!)  Aus  dem  Privileg.  Heinrichs  vom  J.  1228.  „Primo  quodsi  aliquis  alicui 
Dueum  Austrie  et  Styrie  .  .  .  suarum  Terrarum  Provineias  et  talia  cetera,  quocun- 
que  nomine  .  .  .  censeantur ,  que  auf.  a  Hegali  magnifieentia ,  seu  a  Principibus 
spiritualibus  eoneessionis,  eollaeionisve  oflieio  derivarentur.  legare,  dare,  obligare, 
vendere  contingeret,  eosdem  gvendilores  sive  obligateres,  Hegalis  nostra  majestas 
nee  aliquis  hominum  aliqualiter  valeat  impedire.  Quodsi  autem  eadem  veuditio. 
obligatio,  daeio,  legacio  evenire  contingeret  tarn  repente,  quo«!  nee  Regia  snblimitas, 
nee    horummodi    coilatores    possent    aliquatenus    requiri  ,    Dueibus  Austrie   ...  in 


8  Jaeger. 

klarer  und  unbestreitbarer  tritt  die  Beziehung  des  Freiheitsbriefes 
König  Heinrieh's  auf  das  Majus  in  den  drei  folgenden  Puncten 
hervor. 

Im  zweiten  Puncte  des  Privilegiums  vom  Jahre  1228  beurkundet 
König  Heinrich  dem  Herzoge  Leopold  eine  Sentenz  der  Wahlfürsten 
des  Reiches,  die  dem  Herzoge  von  Österreich  das  Recht  einräumt, 
sein  e  Belehnun  g  zu  Pferd  zu  empfangen,  eine  Sentenz  die 
auf  Grund  älterer  Briefe  des  Herzogs  gesprochen  wurde.  —  Diese 
Stelle  des  Privilegiums  vom  Jahre  1228  bezieht  sich  unstreitig  und 
offenbar  auf  den  §.13  des  Majus,  welcher  den  Herzogen  von  Öster- 
reich dieselbe  Befugniss  zuerkennt  *). 

Im  dritten  Puncte  gestattet  König  Heinrich  den  Herzogen  von 
Österreich  ,  das  Diadem  seiner  königlichen  Krone  auf 
ihrem  Herzogs  hüte  zu  tragen,  ein  Vorrecht  welches  ebenfalls 
in  dem  §.  13  des  Majus  schon  enthalten  war,  und  im  Privilegium 
von  1228  höchstens  dahin  näher  bestimmt  wird,  dass  die  im  Majus 
genannte  Zinkenkrone  „sertivm  pimiituni"  die  Königskrone  sei, 
„nostrae  regalis  coronae  diadema"  3). 


eorum  Juribas  ob  hoc  nulluni  eveniat  penitus  detrimentum."  —  Aus  dem  Majus 
(§.  18):  „Volumus  etiam  ut  si  districtus  et  diciones  dicti  ducatus  ampüati  fuerint 
ex  hereditatibus ,  donaeionibus  ,  empeionibus,  deputationibus  veJ  quibusvis  aliis 
devolucionum  successionibus  prefata  jura  privilegia  et  iadulta  ad  augmentum  dicti 
dominii  Austrie  plenarie  referantur."  (§.  2)  „.  .  .  in  terra  Austrie  sibi  debent  sua 
feoda  conferri  .  .  .  quod  si  denegaretur,  ab  imperio  requirat  .  .  .  literatorie  Irina 
vice,  quo  facto  juste  sua  possidebit  feoda  sine  offensa  irnperii  ac  si  ea  corporaliter 
conduxisset."  — 

1)  Die  Stelle  des  Privilegiums  von  1228  lautet:  „Etiam  idem  .  .  .  prineeps  Leopoldus 
dux  Austrie  et  Styrie  coram  nostre  majestatis  oculis  et  Eleetorum  Romani  regni 
culininis  inquisitione  et  sententia  obtinuit  presollerü ,  secundum  suarum  antiquarum 
literarum  recitationem,  omnia  sua  .Iura  seu  feoda,  eujuscunque  sint  conditionis,  i  n 
Equo  residens  recipiat,  talibus  collationibus  inagnitice  preditatus."  — Die  Stelle 
des  Majus  (§.  13):  „Dux  Austrie  principali  ainictus  veste  .  .  .  equo  assidens... 
conducere  ab  imperio  feoda  sua  debet." 

2)  Das  Privilegium  von  1228:  „Preterea,  eidem  illustrissimo  Principi  Leopoldo  .  .  . 
cunctisque  suis  sequacibus  haue  largiter  concedimus  dignitatem,  u  t  in  s  u  i  P  r  i  n  c  i  - 
patus  pilleo  nostre  Regalis  corone  Diadema  solemniter  ferre 
possit."  —  Das  Privilegium  Majus  (§.  13):.  „Dux  Austrie  principali  amictus  veste 
superposito  ducali  pilleo  circumdato  serto  pinnito  baculum  habens 
in  manibus  equo  assidens  .  .  .  conducere  .  .  .  feoda  sua  debet."  —  über  die  Zinken- 
krone ,  und  über  die  deutsche  Königskrone  vergl.  Schrötter's  und  Raiich's 
Österr.  Geschichte  II.   Bd.,  pag.  45,  211  und  507. 


Ein  Beitrag  zur  Privilegiumsfrage.  9 

Viertens  bestätigt  das  Privilegium  vom  Jahre  1228  alle  Rechte, 
Freiheiten,  Gnaden  und  alle  guten  althergebrachten  Gewohnheiten 
der  Herzoge  von  Österreich  und  gestaltet  deren  Ausdehnung  auch 
auf  alle  noch  zu  erwerbenden  Besitzungen,  was  wieder  ein  Punct  des 
Majus  ist,  der  dasselbe  besagt  i). 

Die  Behauptung  Dr.  Wa ttenbach's ,  dass  das  Privilegium 
König  Heinrich's  vom  Jahre  1228  das  Majus  voraussetze,  folglich 
nicht  vor  ihm  entstanden  sein  könne,  hat  demnach  ihre  volle  nicht 
zu  bestreitende  Richtigkeit,  und  der  ganze  Freiheitsbrief  vom  Jahre 
1228  erscheint  nur  als  eine  Bestätigung  und  nähere  Bestimmung 
einiger  Puncfe  des  Majus. 

Dr.  Wattenbach  drängt  hierauf  seine  Behauptung ,  dass  die 
Privilegien  im  Allgemeinen,  nicht  etwa  blos  das  eine  oder  das  andere, 
nicht  vor  den  Jahren  1358  oder  1359  entstanden  seien,  mit  der 
Versicherung,  „dass  von  keinem  der  fraglichen  Privilegien  eine 
Abschrift  bestehe,  die  über  das  Jahr  1300  hinaufgehe"  S.  87,  und 
legt  eben  seine  ganze  Untersuchung  darauf  an,  „ob  sich  ihre  Existenz 
mit  den  geschichtlichen  Vorgängen  der  Jahre  1058  bis  1359 
vereinigen  lasse"  S.  81.  Er  kehrt  dann  S.  94  wieder  speciell  zu  dem 
Privilegium  König  Heinrich's  ddo.  24.  August  1228  zurück,  und 
beweist,  dass  es  mit  nichten  aus  der  Zeit  Ottokar's  herrühren  könne, 
„weil  Ottokar  nicht  Österreich  sondern  Böhmen  als  sein  Hauptland 
ansah ,  hinsichtlich  Österreichs  sich  mit  dem  Belehnungsbriefe 
Richard's  begnügte,  folglich,  wenn  er  geglaubt  hätte  noch  weiterer 
Urkunden  zu  bedürfen,  er  sich  die  Rechte  doch  wohl  für  Böhmen 
würde  ausgesucht  haben,  namentlich  die  schöne  Bestimmung 
in  Heinrich's  (VII.)  Urkunde  über  das  Recht,  Erwer- 
bungen von  Ländern  ohne  Einwilligung  des  Reiches 
zu  mach  e  n"   S.  94. 


l)  Das  Privilegium  von  1228  :  „  .  .  .  volente.s,  largius  omnes  suas  terras  seil  ditiones, 
districtus  et  cetera,  ad  hujusmodi  pertinentia,  vel  que  in  posterum  poterint 
obtinere,  habere  euueta  jura,  libertates,  gratias  bonasque  eonsuetudines ,  quas 
duces  olim  terrarum  jam  dictaritm  pie  recordationis  in  commendabilem  ex  aotiquis 
consuetudinem  perduxeruut,  aut  que  reeenter  a  nostre  manibua  excellentie  susce- 
perunt."  —  Das  Majus  (§.  18):  „Volumus  etiam  ut  si  districtus  et  ditiones  dieli 
ducatus  ampliati  fuerint  .  .  .  prefata  jura  privilegia  et  indulta  ad  augmentum 
dicti   dominli   Austrie  plenarie   ref'eiantur." 


10 


J  a  e  ff  e  r. 


Von  diesem  Gedanken  Anlass  nehmend,  geht  sofort  Dr.  Watten- 
hach  auf  den  eigentlichen  Kern  seiner  Behauptungen  über,  nämlich: 
dass  sowohl  das  Privilegium  Majus,  als  auch  wegen  des  innigen 
Zusammenhanges  mit  demselben  insbesondere  das  vom  Jahre  1228 
von  dem  Herzoge  Rudolf  IV.  bei  Gelegenheit  und  zum  Zwecke  der 
Erwerbung  Tirols  gefälscht  worden  sei.  „Das  Vorrecht,  Länder  auch 
ohne  Bestätigung  vom  Reiche  erwerben  zu  können,  sagt  Dr.  Watten- 
bach S.  83,  ist  hier  —  in  dem  Privilegium  von  1228  —  so  vorsichtig 
und  mit  so  vielen  Einzelheiten  abgefasst,  dass  darin  ganz  augen- 
scheinlich die  Beziehung  auf  einen  bestimmten  Fall 
h  e  r  v  o  r  t  r  i  1 1."  Welches  dieser  bestimmte  Fall  sei ,  deutet 
Dr.  Wattenbach  an  derselben  Stelle  an:  „Dieses  Vorrecht, 
sagt  er,  fand  bei  der  Erwerbung  Tirols  seine  Anwendung; 
es  wird  aber  durch  Cap.  10  der  goldnen  Bulle  in  ähn- 
licher Weise  der  Krone  Böhmens  beigelegt."  Mit  diesen 
Worten  wollte  Dr.  Watten  bach,  wenn  ich  ihn  richtig  verstehe, 
doch  nichts  anderes  sagen,  als:  das  Vorrecht  Länder  ohne  Bestätigung 
vom  Reiche  erwerben  zu  können,  wurde  in  der  goldenen  Bulle 
eigentlich  nur  der  Krone  Böhmens  beigelegt,  aber  vom  Herzoge 
Rudolf  von  dort  in  sein  Privilegium  herüber  genommen,  und  auf  die 
Erwerbung  Tirols  angewendet. 

Was  hier  nur  durch  Combination  aus  den  nicht  ganz  klaren 
Worten  Dr.  Watte  n  b  ach's  abgeleitet  werden  muss,  ist  im  §.  V 
seiner  Abhandlung  über  die  österreichischen  Freiheitsbriefe  unum- 
wunden und  unzweideutig  ausgesprochen.  Es  ist  ja  Aufgabe  dieses 
Paragraphen  nachzuweisen,  dass  eben  Herzog  Rudolf  IV.  der  Fälscher 
des  Majus,  und  wegen  des  früher  von  Dr.  Wattenbach  erwiesenen 
genauen  Zusammenhanges  aller  Privilegien,  auch  der  Fälscher  der 
übrigen  unechten  Stücke,  speciell  des  vom  Jahre  1228  sei,  und  dass 
diese  Fälschung  1358  oder  1359  stattgefunden  habe. 

Ich  werde  die  Beweise  die  Dr.  Wattenbach  auf  10  Octav- 
seiten  für  seine  Behauptung  herbeibringt,  nicht  wiederholen;  sie  sind 
sämmtlich  aus  den  Beziehungen  der  österreichischen  Fürsten  zur 
goldenen  Bulle  und  zu  Karl  IV.,  aus  dem  Charakter  Rudolfs  IV.,  aus 
dessen  Beziehungen  zu  Tirol,  und  ganz  insbesondere  aus  dem  Um- 
stände abgeleitet,  dass  vor  dem  Jahre  1358  weder  Citate  noch 
Abschriften  der  unechten  Privilegien  gefunden  werden,  mit  dem  Jahre 
1359  aber,  wo  es  sich  um  die  Erwerbung  Tirols  handelte,  auf  einmal 


Ein  Beitrag  zur  Privüegiumsfrage. 

in  Titeln,  Siegeln,  Ansprüchen  und  Urkunden  des  Herzogs  Rudulf 
Citate  und  Hinweisungen  auf  die  falschen  Privilegien  zum  Vorschein 
kommen. 

Gehen  wir  nun  über  zu  der  bei  Muratori  aufbewahrten  Urkunde, 
vergleichen  wir  sie  mit  den  Argumenten  Dr.  Watt enbach's,  und 
wir  werden  sehen,  wie  sie  zu  ganz  anderen  Behauptungen  berechtigt, 
als  dieser  Gelehrte  und  Fr.  Böhmer  aufgestellt  haben. 

Die  wichtige  Urkunde  findet  sich,  wie  ich  schon  früher  bemerkte, 
in  der  Chronik  des  Gualvaneo  de  la  Flamma  bei  Muratori 
Script,  rer.  italic.  XII,  p.  1015.  Gualvaneo  berichtet,  dass  in  dem 
Kriege  des  Königs  Johann  von  Böhmen  mit  den  Herzogen  Albrecht  und 
Otto  von  Österreich  wegen  der  Erwerbung  Kärntens  der  Visconte 
Bruzio ,  erstgeborner  Sohn  des  edlen  Visconte  Luchino ,  Herrn  der 
Stadt  Mailand,  den  österreichischen  Herzogen  eine  Hilfsschaar  von 
200  Helmen  nach  Deutschland  zugeführt  habe.  Er  macht  uns  hierauf  mit 
dem  nicht  zu  meinem  Zwecke  gehörigen  Streite  bekannt,  der  zwischen 
Ludwig  dem  Baier  und  Bruzio  wegen  des  Verbotes  entstand,  dass 
im  deutschen  Heere  und  Lager  keine  andere  Fahne  wehen  dürfe,  als 
die  kaiserliche  und  österreichische.  Bruzio  war  entschlossen,  eine 
solche  Schmach  der  Mailänder  Fahne  mit  dem  Schwerte  abzu- 
wehren, hätte  Ludwig  das  Verbot  nicht  zurückgenommen.  Dann  geht 
Gualvaneo  auf  die  eigentlich  hiehergehörige  Stelle  über.  „Am 
Schlüsse  des  Krieges,  erzählt  er,  schlug  Herzog  Albrecht  den  Visconte 
Bruzio  zum  Ritter,  und  als  er  ihm  für  die  geleisteten  Dienste  Burgen 
und  grosse  Geldsummen  antrug,  wies  Bruzio  alles  Angebotene  zurück, 
und  erbat  sich  nur  eine  besondere  grosse  Gnade,  nämlich  das  Recht, 
eine  goldene  Krone  auf  seinem  Hute  tragen  zu  dürfen. 
Die  Herzoge  von  Österreich,  überrascht  durch  dieses  Begehren, 
willigten  nur  mit  grosser  Schwierigkeit  ein,  weil  dieses  Vorrecht 
nur  den  Herzogen  von  Österreich  vor  Zeiten  als  grosse  Gnade  und 
Auszeichnung  eingeräumt  worden  war.  Der  Inhalt  des  hierüber  dem 
Visconte  ausgestellten  Privilegiums  lautete:  „Wir  Albrecht  und 
Otto,  Herzoge  von  Österreich  etc."  und  weiter  unten: 
„verleihen  dem  tapfern  Kriegsmanne  Visconte  Bruzio, 
und  der  ganzen  Viseontischen  Sippschaft,  jenen 
Gliedern  dieses  Hauses  nämlich,  die  von  Matteo  und 
Uberto  abstammen,  das  Vorrecht,  eine  goldene  Krone 
auf  ihrem    Hute,   auf  dem    Helme,    in   den  Fahnen   und 


12  J  a  e  g  e  r. 

Schilden  tragen  zu  dürfen,  aber  nur  unter  dem  Titel 
eines  Lehens;"  —  und  am  Schlüsse  der  Urkunde:  „Gegeben 
zu  Wien  im  Jahre  des  Herrn  M.  CCC.  XXXVI.  am  Abend 
des    eilf  Tausend    Maidtages1)." 

Das  ist  die  wichtige  Urkunde  die  Gualvaneo  uns  aufbewahrt 
hat,  und  ich  nehme  nun  die  von  Dr.  Wattenbach  zu  einem  andern 
Zwecke  S.  96  gebrauchten  Worte,  und  frage:  „Ist  das  nicht  ein 
förmliches  Citat  des  Majus  und  des  Privilegiums  von  1228,  welche 
demnach  damals,  d.h.  1336,  also  drei  Jahre  vor  der  Geburt  des 
Herzogs  Rudolf  existirt  haben  müssen?  Und  wenn  das  richtig  ist, 
wie  steht  es  mit  den  Beweisen  und  Behauptungen  Böhmer's  und 
Wattenbach's  ,    dass  das   Majus   erst  1358  oder   1359  fabricirt 


!)  Gualvaneus  de  la  Flamma:  „Isto  tempore  cum  Joannes  res  Boemiae  bellum  facere 
vellet  cum  Alberto  et  Ottone  Ducibus  Austrie  propter  quamdam  suceessionem  Ducatus 
Karinthiae,  Bnizius  Vicecomes  cum  CC  militibus  illuc  perrexit  in  auxilium  Ducum 
Austriae.  Cum  autem  ad  campum  procederet  utraque  acies,  per  Ludovicum  Bavariae 
Imperii  Usurpatoren»  statutum  fuit,  ut  nullus  prineeps  aut  praelatus  vexillum  erechim 
ad  bellum  deferret,  excepto  supradicto  Ludovico  et  Ducibus  Austriae.  Quod  cum 
omnes  principes  vexilla  deposuissent,  solus  Bruzius  Vicecomes  ad  bellum  processit 
cum  suo  vexillo  erecto.  Ludovicus  autem  Bavariae  auctoritate  imperiali  ei  praecepit, 
quod  vexillum  deponeret,  qui  magno  usus  animo  respondit:  „In  Lombardia  cum  ipse 
Ludovicus  contra  illos  de  domo  mea  saepius  dimicaverit,  nunquam  vexillum  Viee- 
comitum  depositum  fuit,  nee  per  ipsum  superari  potuit.  Nee  etiam  modo  ego,  qui 
non  ut  ejus  hostis  hue  veni ,  vexillum  deponam.  Quod  si  contra  ine  gladium  erexerit, 
cum  g-ladio  evaginato  vexilli  meijura  defendam."  Et  sie  cum  vexillo  erecto  ad  bellum 
processit.  Et  licet  nihil  de  belli  fine  actum  fuerit,  supradictus  Albertus  Dux  Austriae 
ipsum  Bruzium  militem  accinetum  fecit.  Cum  autem  ei  castra  aut  maguas  peeunias 
elargiri  voluisset,  ipse  Bruzius  omnia  respuit  ;  sed  posse  coronain  auream 
super  caput  Bidriae  sive  Briviae*)  deferre  ex  maxima  gratia 
postulavit:  quod  ipsi  Duces  Austriae  cum  magna  difficultate  coneesserunt,  quia 
hoc  solisDucibusAustriae  quondampromagno  munereconeessum 
fuit.  Tenor  privilegii  talis  est:  „Mos  Albertus  et  Otto  Duces  Austriae  etc." 
iufra:  „Bruzio  Vicecomiti,  viro  strenuo  militi  concedimus ,  totique  parentelae 
Vicecomitum,  videlicet  illis  ,  qui  de  Matthaeo  et  Uberto  nati  descenderunt ,  quod 
coronam  auream  possint  portare  super  caput  Biverae  in  galea ,  et  bandereis ,  et 
clypeis  titulo  feudali  etc."  et  Infra:  „Data  Viennae  anno  Domini  M.  CCC.  XXX.  VI.  in 
vigilia  XI  mille  Virginum."  —  Fuit  autem  istud  Privilegium  duobus  sigillis  penden- 
tibus  communitum.  —  Hie  Bruzius  fuit  nobilis  militis  Luchini  Viceeomitis  Domini 
Civitatis  Mediolanensis  primogenitus ,  qui  de  Alamannia  exiens  ,  Mediolanum  cum 
gloria  ad  patrem  rediit.    Muratori  Script,  rer.  italic.  Tom.  XII,  p.  1013. 

*)   Biilria  oder  Brivia  ist   nach    Du    Cange    soviel   als   Biber  =  Castor  ;    Caput  bidriae  soviel  als 
Biber-Castor-Hut. 


Eil)  Beitrag  zur  Privileg iumsfrage.  1  3 

wurde,  und  das  Privilegium  von  1228  nicht  vor  dem  Majus,  also 
ebenfalls  erst  1358  oder  1359  entstanden  sein  konnte?  Oder 
wollte  man  etwa  annehmen,  die  „arch  i  val  isch  en  Studien 
Rudolfs"  haben  sich  auch  auf  die  Archive  der  Visconti  und  auf 
die  Handschriften  der  Ambrosianischen  Bibliothek  erstreckt?  Dass 
Gual van eo,  der  unter  dem  Erzbischofe  Visconte  Giovanni  von 
1349  bis  1354  am  mailündischen  Hofe  lebte,  das  Original  unserer 
Urkunde  in  Händen  hatte,  bezeugen  die  Schlussworte  seines  Berichtes: 
„Fuit  autem  istud  Privilegium  duobus  sigillis  pendentibus  com- 
munitum." 

Es  steht  demnach  Angesichts  dieser  entscheidenden  Urkunde 
fest,  dass  das  Privilegium  vom  Jahre  1228,  und  weil  dieses  nach 
Dr.  Wattenbach's  eigenen  Beweisen  das  Majus  voraussetzt,  auch 
dieses  im  Jahre  1336,  und  zwar,  wie  Gual  van  eo  mit  den  Worten 
„quia  hoc  solis  Ducibus  Austriae  quondam  pro  magno  munere 
concessum  fuit"  aufs  Unzweideutigste  ausspricht ,  als  ein  altes 
Privilegium  der  Herzoge  von  Österreich  vorhanden  war,  folglich 
Herzog  Rudolf  weder  der  Fälscher  des  Majus,  noch  des  vom  Jahre 
1228  war  und  sein  konnte. 

Wollte  man  dieses  neu  gewonnene  Resultat  mit  Rücksicht 
auf  Dr.  Wattenbach's  Abhandlung  weiter  verfolgen,  so  Hessen 
sich  eine  Menge  nicht  uninteressanter  Folgerungen  bezüglich  des 
Details  seiner  Beweisführung  daraus  ableiten;  ich  beschränke  mich 
jedoch  zum  Schlüsse  nur  auf  ein  paar  Bemerkungen. 

1.  Dr.  Watt enb ach  behauptet  S.  87,  dass  von  keinem  der 
fraglichen  Privilegien  eine  Abschrift  bestehe,  die  über  das  Jahr  1360 
hinaufgeht:  ich  frage,  was  ist  der  Brief  bei  Gualvaneo  vorn  Jahre 
1336  anders  als  die  Abschrift  eines  Punctes  des  Freiheitsbriefes 
König  Heinrich1s  vom  Jahre  1228? 

2.  Dr.  Wattenba  eh  versichert  S.  102,  dass  Herzog  Rudolf 
trotz  der  zu  Esslingen  erfahrenen  Demüthigung  es  nicht  über  das 
Herz  bringen  konnte,  von  dem  Prunke  zu  lassen,  mit  deiner 
sich  selbst  in  jenen  Privilegien  ausgestattet  hatte;  und 
Fried.  Böhmer  wird  unter  dem  läppischen  Inhalte  des  Privilegium 
majus  wohl  auch  die  Königskrone  auf  dem  Herzogshute  verstanden 
haben.  Ich  setze  diesen  Äusserungen  der  beiden  Gelehrten  nur  die 
Frage  gegenüber:  Wie  kam  der  Visconte  Bruzio  1336  auf  den 
Einfall,    mit  Zurückweisung  aller  ihm  angebotenen  Belohnungen  vom 


14  Jaeger. 

Herzoge  Albrecht  sich  nur  das  Vorrecht  zu  erbitten,  auf  seinem  Hute 
eine  goldene  Krone  tragen  zu  dürfen?  Sah  er  so  etwas  auf  dem 
österreichischen  Herzogshute?  Und  wenn  er  so  etwas  sah,  war 
dann  die  Krone  die  er  auf  dem  österreichischen  Herzogshute 
erbli-ckte,  eine  andere  als  die  welche  die  Herzoge  „verinög  eines 
schon  vor  Zeiten  ihnen  a  I  lein  ertheilten  Privilegium  s" 
trugen?  Und  war  diese  durch  ein  so  ausschliessendes  Privilegium 
nur  ihnen  bewilligte  Krone  eine  andere,  als  die  welche  wir  aus  den 
Privilegien  kennen?  Machten  aber  in  diesem  Falle  die  Herzoge 
Albrecht  und  Otto  nicht  schon  1336  öffentlich  Gebrauch  vom 
Privilegium  Heinrich's  und  Friedrich's? 

3.  Dr.  Wattenbach  kommt  zweimal  auf  die  Behauptung 
zurück,  dass  durch  das  Privilegium  vom  Jahre  1228  den  Herzogen 
von  Österreich  das  Vorrecht  eingeräumt  wurde,  Länder  und  Anderes 
zu  erwerben,  auch  ohne  Bestätigung  vom  Reiche,  Das 
erste  Mal  S.  83,  wo  er  das  Privilegium  König  Heinrich's  auf  dessen 
wesentliche  Puncte  zurückführt;  das  zweite  Mal  S.  94,  wo  er  zu 
beweisen  sucht,  dass  die  ersten  vier  Privilegien  nicht  zur  Zeit  Ottokar's 
entstanden,  indem  dieser  König  sich  die  Rechte  doch  wohl  direct 
für  Böhmen  und  nicht  für  Österreich  würde  ausgesucht  haben, 
namentlich  die  schöne  Bestimmung  in  Heinrich's  (VII.) 
Urkunde  über  das  Recht,  Erwerbungen  von  Ländern 
ohne  Einwilligung  des  Reiches  zu  machen. 

Wer  diese  in  der  vorliegenden  Fassung  formulirten  Behauptungen 
liest,  kann  nicht  anders  als  glauben,  die  Urkunde  von  1228  enthalte 
wirklich  eine  Bestimmung  welche  den  Herzogen  von  Österreich 
ein  unbedingtes  Recht  einräumt,  sich  Länder  legiren,  verpfänden, 
schenken  und  verkaufen  zu  lassen,  auch  ohne  Bestätigung 
und  Einwilligung  des  Reiches;  mit  anderen  Worten,  er  muss 
glauben,  sie  wären  durch  diese  Urkunde  ermächtigt  gewesen,  überall 
zuzugreifen  um  ihre  Macht  durch  Erwerbungen  zu  vergrössern, 
ohne  sich  um  Kaiser  und  Reich  im  Geringsten  kümmern 
zu  müssen,  ja  selbst  gegen  den  Willen  des  Reiches. 
Liest  man  die  Urkunde  selbst,  so  findet  man  von  einem  solchen 
unbeschränkten  Erwerbungsrechte  nicht  ein  Wort  darin.  Die 
hieher  gehörige  Stelle  lautet  wie  folgt:  „Wenn  Jemand ,  wessen 
Ranges  er  sei,  den  Herzogen  von  Österreich  und  Steier  Theile  seiner 
Länder  (suarum  terrarum  provincias)  und  anderes  dergleichen,  wie 


Ein  Beitrag  zur  Privilegiumsfrage.  1  5 

das  genannt  Averde,  das  in  Bezug  auf  Verleihung  von  der 
königlichen  Würde  oder  von  geistlichen  Fürsten 
abhängig  ist,  iegiren,  schenken,  verpfänden  oder  verkaufen  wollte, 
diesen  Verkäufer  oder  Verpfänder  soll  weder  Unsere  königliche 
Majestät  noch  jemand  Anderer  daran  hindern  können.  Wenn  aber 
dieser  Verkauf ,  diese  Verpfändung,  Schenkung  oder  Legirung  so 
plötzlich  sich  ereignen  sollte,  dass  weder  Unsere  königliche  Hoheit 
noch  die  denen  das  Recht  solcher  Verleihung  zusteht,  ganz  und  gar 
nicht  aufgesucht  und  angegangen  werden  könnten,  so  soll  desswegen 
(ob  hoc)  den  Herzogen  von  Österreich  in  ihren  Rechten  kein  Nachtheil 
erwachsen"  *). 

Heisst  das:  „Die  Herzoge  von  Österreich  haben  das  Recht 
Erwerbungen  zu  machen  auch  ohne  Bestätigung  und  Ein- 
willigung des  Reiches?"  Liegt  in  diesen  Worten  der  Urkunde 
ein  so  allgemeines,  das  Reich  beseitigendes  Erwerbungsrecht,  wie 
Dr.  Wattenbach  es  formulirt?  Oder  besagt  nicht  der  zweite  Theil 
der  citirten  Urkundenstelle,  dass  die  Herzoge  nur  in  jenen  Fällen,  in 
welchen  es  ihnen  unmöglich  ist,  die  Einwilligung  des  römischen 
Königs  oder  derer  denen  das  Verleihungsrecht  zusteht,  einzuholen, 
und  wo  Gefahr  im  Verzuge  für  die  Erwerbung  wäre,  auch  ohne 
vorläufige  Bewilligung  zugreifen  dürfen?  Geht  aber  daraus  nicht  klar 
hervor,  dass  in  allen  anderen  Fällen,  wo  keine  Gefahr  im  Verzuge  ist, 
die  Herzoge  verpflichtet  seien,  die  Einwilligung  des  Reichsoberhauptes 
oder  der  berechtigten  Collatoren  vorerst  nachzusuchen?  Die  Urkunde 
König  Heinrich's  gab  also  den  Herzogen  von  Österreich  kein  unbe- 
dingtes Recht,  Erwerbungen  zu  machen,  wann  und  wo  es  ihnen 
beliebte  ohne  Bestätigung  und  Einwilligung  des  Reiches, 
sondern  machte  alle  Erwerbungen  von  der  vorläufigen  Zustimmung 
des  Reichsoberhauptes  abhängig,  und  gestattete  die  Erwerbung  ohne 
diesen  vorläufigen  Consens  nur  in  Fällen,  wo  es  im  Drange  der  Zeit 
unmöglich  war,  diesen  einzuholen.  Dr.  Wattenba  ch  trug  daher 
einen  Sinn  in  die  Urkunde  hinein,  der  in  ihrem  Wortlaute  nicht  liegt, 
Offenbar  seiner  Hypothese  zu  Liebe,  dass  Herzog  Rudolf  eines  solchen 
Privilegiums  bedurft  habe,  um  Tirol  auch  gegen  den  Willen  Kail's  IV. 
seinem  Hause  zuzuwenden. 


*)  Siehe  den  lateinischen  Text  oben  S.  7,  Anmerkung  1. 


16  J  a  e  g-  e  r.  Ein  Beitrag  zur  Privilegiumsurkunde. 

Ähnliche  Beweisführungen  Dr.  Wattenbach's  könnten 
mehrere  nachgewiesen  werden;  doch  es  genüge  an  dem  durch 
Gualvaneo's  Urkunde  und  Zeugniss  gewonnenen  Resultate,  wel- 
ches, wenn  es  auch  die  Frage  über  die  Zeit  und  den  Urheber 
der  Fälschung  nicht  zum  Abschlüsse  zu  bringen  vermag,  doch  den 
Beweis  unumstösslich  herstellt,  dass  unter  Herzog  Rudolf  IV.  die 
Fälschung  nicht  geschah. 


Ferd.  Wolf.  Proben  portugiesischer  und  catalanisdier  Volksromanzen.        17 


SITZUNG  VOM   12.  MÄRZ    1856. 


Gelesen: 


Proben   portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen. 

Mit  einer  literarhistorischen  Einleitung  über  die  Volkspoesie  in  Portugal  und  Catalonien. 

Von  dem  w.  M.  Ferdinand  Wolf. 

Das  Volk  der  pyrenäischen  Halbinsel  ist  als  ein  sehr  poetisch 
gestimmtes  und  begabtes  berühmt;  wer  auch  nur  die  Spanier  und 
ihre  Literatur  vom  Hörensagen  kennt,  denkt  doch  sogleich  ihrer  herr- 
lichen Romanzen,  ihrer  reizenden  Volkslieder,  die  ja  in  allen  gebil- 
deten Sprachen  Europa's  Übertragungen  und  Nachahmungen  gefunden 
haben.  Ist  dochz.R.  unter  uns  Herders  Bearbeitung  derCid-Romanzen 
wenn  auch  nicht  ein  Volksbuch  im  eigentlichen  Sinne,  so  doch  ein 
Lieblingsbuch  aller  Gebildeten  geworden.  So  sehr  dies  aber  von  der 
Volkspoesie  in  der  castilischen  Mundart  oder  spanischen  Schrift- 
sprache gilt,  so  wenig  sind  die  Volkslieder  in  den  übrigen  Sprachen 
und  Mundarten  der  Halbinsel  ausserhalb  derselben  bisher  bekannt 
geworden ;  kaum  dass  in  einem  oder  dem  andern  Reisewerke 
gelegentlich  einmal  einer  andalusischen  Romanze,  eines  galicischen 
Tanzliedes,  u.  s.  w.  gedacht  wird;  kaum  dass  selbst  die  Fachge- 
lehrten, besonders  wenn  sie  Land  und  Volk  nur  aus  Büchern  kennen 
gelernt  haben,  mehr  als  solche  fragmentarische  Kenntniss  davon  haben; 
ja  ein  so  tüchtiger  Gelehrter  wie  Hr.  Bell  ermann,  der  sich  nicht 
nur  mit  der  portugiesischen  Poesie  gründlich  beschäftigt,  sondern 
auch  lange  Zeit  im  Lande  selbst  gelebt  hat,  spricht  z.  B.  den  Portu- 
giesen fast  alle  eigentümliche  Romanzenpoesie  ab  (s.  dessen:  Die 
alten  Liederbücher  der  Portugiesen,  Berlin  1840,  4'.°,  S.  21). 

Sitzb!  <1.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  1.  Hft.  2 


18  Ferdinand   Wolf. 

Wie  kann  man  aber  auch  Ausländern  daraus  einen  Vorwurf 
machen,  wenn  die  Nationalen  selbst  bisher  sich  so  wenig  darum 
gekümmert  haben,  wenn  gerade  bei  den  Gelehrten  der  Halbinsel  selbst 
erst  in  neuester  Zeit  mehr  Sinn  für  Volkspoesie  erwacht  ist,  wenn  es 
bisher  dort  an  den  rechten  Leuten  gefehlt  hat,  das  im  Munde  des 
Volkes  lebende  Wort  und  Lied  zu  beachten,  zu  sammeln,  treu  und 
rein  aufzuzeichnen  und  mitzutheilen? 

Erst  seitdem  wir  Deutsche  —  und  wir  dürfen  uns  mit  Fug  dessen 
rühmen  —  die  Volkspoesie  überhaupt  nicht  nur  ästhetisch  sondern 
auch  wissenschaftlich  gewürdigt,  zum  Gegenstande  gelehrter  For- 
schung gemacht  haben,  seitdem  Engländer  und  Franzosen  unserem 
Beispiele  gefolgt  sind  ,  haben  auch  die  Südländer  derselben  mehr 
Aufmerksamkeit  zugewandt,  haben  sich  auch  in  Spanien  und  Portugal 
Gelehrte  und  Dichter  gefunden,  die  es  nicht  unter  ihrer  Würde 
hielten,  den  noch  jetzt  im  Munde  des  Volkes  lebenden  Liedern 
und  Sagen  zu  lauschen,  sie  mit  dessen  Worten  niederzuschreiben  und 
in  eigenen  Sammlungen  herauszugeben. 

Und  siehe  da,  nun  sich  die  rechten  Leute  gefunden,  die  es  ver- 
standen, in  den  Wald  zu  rufen,  hat  auch  der  Wald  geantwortet,  mit 
reichen,  wunderbaren  Stimmen,  von  da  geantwortet,  wo  man  ihn 
längst  für  immer  verstummt  geglaubt!  — 

So  bedurfte  es  nur  eines  so  tüchtig  geschulten,  poetisch  begabten 
und  mit  deutscher  Forschung  vertrauten  Gelehrten,  wie  des  Catalanen 
Don  Manuel  Milä  y  Fontanals,  Professors  an  der  Universität  zu 
Barcelona  *),  um  uns  zu  zeigen,  dass  die  Catalanen  noch  jetzt, 
wie  zur  Zeit  der  Berengare,  ein  ebenso  sangreiches  als  betriebsames 


x)  Geboren  zu  Villafranca  del  Panades  den  14.  Mai  1818,  studirte  er  auf  der  Universität 
von  Barcelona  die  Rechtswissenschaften,  worin  er  den  Grad  eines  Licentiaten  erhielt; 
widmete  sich  aber  dann  hauptsächlich  dem  Studium  der  Literaturgeschichte  und  beson- 
ders der  Geschichte  der  Poesie.  Im  Jahre  1846  wurde  er  zum  Professor  der  Literatur- 
geschichte an  der  Universität  von  Barcelona  ernannt.  Ausser  dem  obenerwähnten  ver- 
dienen von  seinen  Werken  angeführt  zu  werden  ein :  Compemlio  del  arte  poetica 
(1843),  seine  Ausgabe  vom  Conde  Lucanor  des  Infanten  Don  Juan  Manuel ,  und  eine 
Sammlung  kleiner  Aufsätze  (opiisculos)  die  er  schon  im  Jahre  1838  herausgab.  Auch 
hat  er  mehrere  Übersetzungen  bekannt  gemacht,  und  z.  B.  von  seiner  Kenntniss  der 
deutschen  Sprache  durch  eine  gelungene  metrische  Übersetzung  vonGöthe's  Ballade: 
„Der  König  von  Thule",  in  dem  vorliegenden  Werke  (S.  23)  eine  Probe  gegeben.  — 
Vergl.  Juan  C  o  r  m  i  n  a  s,  Suplemento  a  las  Memorias  para  ayudar  a  formar  un  Diccio- 
nario  critico  de  los  escritores  catalanes  ....  que  en  1836  publicö  .  ...  D.  Felix 
Torres  A  mal.  Burgos,  1849,  4.,  pag.  17ß  und177. 


Proben  portugiesischer  und  calalanischer  Volksronianzen.  1  [) 

Volk  sind ,  und  er  hat  in  seinem  Werke  :  Observaciones  sobre  la 
poesia  populär,  con  muestras  de  romances  catalanes  ineditos  (Barce- 
lona 1853,  in  4'.°)  uns  nicht  nur  treffliche  Bemerkungen  über  Volks- 
poesie überhaupt,  eine  geschichtliche  Übersicht  und  eine  Charakteristik 
der  catalanischen  insbesondere,  sondern  auch  eine  Sammlung  von 
Bomanzen,  Liedern  und  Märchen  aus  dem  Munde  des  catalanischen 
Volkes  geboten,  die  des  Schönen  und  Merkwürdigen  viel  enthält. 

So  hat  es  freilich  des  bedeutendsten  Dichters  der  neueren  Zeit 
in  Portugal,  des  leider  vor  Kurzem  gestorbenen,  auch  als  Staatsmann 
hinlänglich  bekannten  J.  B.  de  Almeida-Garrett,  bedurft,  um 
die  Portugiesen  selbst  auf  den  Schatz  alter,  echter,  heimischer 
Bomanzen  aufmerksam  und  dafür  empfänglich  zu  machen,  den  ihnen 
der  am  Alten  festhaltende  Landmann  und  der  liedertreue  Hirte 
bewahrt  hatte,  während  die  Gebildeten,  dies  echte  Gold  mit  dem 
nationalen  Gepräge  vornehm  ignorirend,  französischen  Flitter  nach- 
zuahmen und  einzubürgern  suchten.  Dass  die  Portugiesen  auch 
Bomanzen,  ihnen  eigenthüm  liehe,  alte  echteVolksromanzen 
besitzen,  darunter  welche  die  zu  den  schönsten  aller  Nationen 
gehören,  wird  Niemand  mehr  in  Abrede  stellen,  dem  der  von  Almeida- 
Garrett  nun  herausgegebene  Bomanceiro  (Thl.  I,  3.  Aufl.,  Lis- 
sabon 1853;  Th.  II,  III,  ebend.  1851;  —  oder  der  „Obras"  de 
Garrett  IV.,  XIV.  und  XV.  Theil)  bekannt  geworden  ist. 

Da  aber  die  beiden  vorgenannten  Werke  in  Deutschland  kaum 
dem  Namen  nach  bekannt  geworden  sein  dürften,  weil  bei  dem  man- 
gelhaften buchhändlerischen  Verkehr  mit  der  Halbinsel  nur  ein  gün- 
stiger Zufall  die  Einsicht  und  Benützung  von  derlei  Werken  ver- 
schafft, so  glaube  ich  —  dem  in  Bezug  auf  die  genannten  diese  Gunst 
geworden  (das  Werk  des  Hrn.  Milä  y  Fontanals  verdanke  ich  der 
gütigen  Aufmerksamkeit  des  Verfassers)  —  sie  selbst  an  diesem  Orte 
zum  Gegenstande  einer  ausführlicheren  Besprechung  um  so  mehr 
machen  zu  dürfen,  als  sie  nicht  nur  dem  Freunde  der  Volkspoesie, 
sondern  auch  dem  wissenschaftlichen  Forscher  auf  diesem  Gebiete 
eine  reiche  Ausbeute  gewähren. 


Das  östliche  und  das  westliche  Küstenvolk  der  pyrenäischen 
Halbinsel,  die  Catalanen  und  die  Portugiesen,  haben  in  Bezie- 
hung auf  die  Entwickelung  ihrer  Nationalliteraturen  einen  vielfach 


9   » 


20  Ferdinand  Wolf. 

analogen  Gang  genommen.  Catalonien  und  Portugal  wurden  selbst- 
ständige Staaten  unter  süd französischen  Dynastien.  Die  Grafen 
von  Provence  und  von  Burgund  führten  in  diesen  beiden  Küsten- 
ländern der  Halbinsel  frühzeitig  französische  Sitten,  Sprache  und 
Kunstdichtung  ein;  Spuren  dieses  Einflusses  zeigen  sich  bekanntlich 
nicht  nur  in  der  Bildung  der  limousinisch-catalanischen  und  galicisch- 
portugiesischen  Sprache,  sondern  eben  so  sehr  in  der  frühen  Ent- 
wickelung  einer  höfischen  Kunstlyrik  nach  dem  Muster  der  provenza- 
lischen  zu  Barcelona  wie  zu  Lissabon.  Ja,  galicische  Trovadores  und 
catalanische  Meistersänger  sind  in  der  höfischen  Kunst  (dreita  manera 
de  trobar)  und  in  dem  „fröhlichen  Wissen"  (gay  saber)  die  Vor- 
bilder und  Lehrer  selbst  der  castilischen  Kunstdichter  geworden, 
die  sich  anfangs  in  dieser  Art  von  Dichtung  sogar  der  galicischen 
Sprache  bedienten,  und  selbst  noch  im  Cancionero  general  des 
Hernando  del  Castillo  finden  sich  Gedichte  in  der  valencianischen 
Mundart.  Aber  in  Catalonien  wie  in  Portugal  wurde  eben  durch  diese 
frühzeitige  Entwicklung  einer  aus  der  Fremde  stammenden  und  aus- 
ländischen Mustern  nachgebildeten  Kunstpoesie  die  Bildung  einer 
aus  dem  vaterländischen  Boden  der  Volkspoesie  unmittelbar  entspros- 
senen, echt  nationalen  Dichtung  zurückgedrängt  und  aufgehalten;  in 
diesen  beiden,  durch  fremde  Herrschaft  und  fremde  Kunst  zum  Theil 
entnationalisirten  Küstenländern  der  Halbinsel  musste  das  spanische 
Nationalbewusstsein  erst  wieder  durch  den  eigenthümlichen  Reiz  der 
genuinen  Tochter  des  heimischen  Bodens,  der  aus  der  Volkspoesie 
unmittelbar  hervorgegangenen  und  daher,  trotz  aller  fremden  Ein- 
flüsse, volksthümlich  gebliebenen  und  selbstständig  in  voller  Schöne 
entfalteten  castilischen  Dichtung  geweckt  und  gehoben  werden. 
In  Catalonien  und  Portugal  war  die  eigentliche  Volkspoesie,  in  schar- 
fer Trennung  von  der  Kunstpoesie,  ja  von  dieser  zürückgestossen 
und  verachtet,  durch  Jahrhunderte  ganz  sich  selbst  überlassen,  und 
fristete,  fast  ohne  alle  literarische  Cultur,  fast  zur  mundartlichen 
Pöbelpoesie  herabgesunken,  ein  unscheinbares  kümmerliches  Dasein. 
Denn  hier  war  es  nicht  in  dem  Masse,  wie  in  Castilien  und  Aragon, 
ein  Volk  von  Rittern  die  ihre  eigenen  oder  die  Thaten  ihrer 
Ahnherrn  selbst  in  Romanzen  besangen  oder  von  ihren  Juglares  sich 
vorsingen  Hessen;  hier  ward  nicht,  wie  in  Castilien  im  16.  Jahrhun- 
dert, das  Nationalbewusstein  durch  die  Gründung  der  spanischen  Mon- 
archie und  die  Entdeckung  einer  neuen  Welt  neuerdings  so  mächtig 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  2  1 

aufgeregt,   dass   diese  alten  volksmässigen  Nationalgesänge  wieder 
hoch  zu  Ehren  kamen,   dass  man  sie  fleissig  sammelte,  in  die  Wette 
druckte,  Gelehrte  und  Kunstdichter  sie  nachzuahmen  und  zu  vervoll- 
kommnen suchten  und  das  Romanzenmachen  sogar  eine  höfische  Mode 
wurde,  aber  auch  aus  den  Romanzen  das  National-Drama  hervorging. 
Herr  Milä  hat  daher  nicht  ganz  Unrecht,  wenn  er  wiederholt 
behauptet,  auch  die  spanischen  (genauer  die  castilischen)  Romanzen 
seien    nur   die  Nachklänge    von   Ritter -Epen   (Cantares   de  gesta) 
oder  richtiger  von  Nationalliedern  eines  ritterlichen  Volkes;  nur  irrt 
er  darin,  wenn  er  jene  Dichtungen  und  Gesänge  ursprünglich  für 
grössere,  nach  Art  der  französischen  Chansons  de  geste  abgefasste 
Gedichte  hält,    aus  deren  Bruchstücken  sich  später  die  Romanzen 
gebildet  und  in  viel  niedereren  Sphären  erst  die  eigentlich  volks- 
liedermässige  Form  angenommen  hätten.  Denn  es  kann  nach  den  bis- 
her angestellten  Untersuchungen  über  denBildungsprocess  der  volks- 
mässigen Epen  wohl  kaum  mehr  bezweifelt  werden,  dass  naturgemäss 
überall  und  jederzeit  der  breiteren  Entfaltung  und  rein  epischen  Ge- 
staltung ein  epischer  Lyrismus,  die  kurze  fragmentarische  Form  des 
eigentlichen  Volksliedes  vorausgehen  musste,  die,  wenn  sie  auch  aus 
so  frühen  Zeiten  sich  nicht  überall  mehr  urkundlich  nachweisen  lässt, 
doch  noch  in  häufigen  Spuren  in  den  auf  uns  gekommenen  volks- 
mässigen Epen  seihst  deutlich  erkennbar  bleibt    und    sich   in  ihrer 
meist  diaskeuastischen  Zusammensetzung  und  Verschmelzung  charak- 
terisirt.  Hingegen  haben  nicht  immer  die  lyrisch-epischen  Volkslieder 
sich  zu  eigentlichen  Epen  entfaltet  und  gestaltet,  weil  nicht  überall  die 
diesen  Bildungsprocess  bedingenden  Verhältnisse  eintraten.   Dass  und 
warum  dieses  Nichteintreten  namentlich  bei  den  Völkern  der  pyre- 
näischen  Halbinsel  der  Fall  gewesen  sei,  habe  ich  an  einem  andern  Orte 
(s.  Wiener  Jahrb.  d.  Lit.,  Bd.  117,  S.  87  ff.)  nachzuweisen  ver- 
sucht; um  so  weniger  kann  man  daher  hier  die  Romanzen  als  aus 
der  Auflösung  oder  Zersetzung  grösserer  Epen  hervorgegangen  an- 
sehen; aber  hier,  besonders  bei  den  castilischen  Romanzen  kann  man 
vielleicht  besser  als  sonstwo  nachweisen,    wie   das   Volk    dem  sie 
ihre    Entstehung    verdanken,    keineswegs    blos    in    den    niederen 
Sphären  zu  suchen  sei,   wie  es  vielmehr  das  Volk  im  politischen 
Sinne,  das  ritterliche,  eben  aus  dem  hohen  und  niedern  Adel  be- 
stehende,   mit    dem   ungläubigen  Eroberer    durch  Jahrhunderte  um 
die    Erhaltung    des    heimatlichen    Bodens    und    des    angestammten 


22  Ferdinand  Wolf. 

Glaubens  ringende,  dadurch  und  durch  seine  Theilnahme  an  der  Regie- 
rung in  den  Cortes  zum  Selbstbewusstsein  gekommene  Volk  war,  das 
seinen  Charakter,  seine  Geschicke  und  Thaten  in  den  Ausbrüchen 
seiner  Begeisterung  und  seiner  Gefühle,  in  den  Romanzen  zu  ob- 
jectiviren  und  idealisiren,  kurz  auch  poetisch  zu  gestalten  suchte. 
Darum  —  und  nicht  etwa,  weil  sie  aus  Ritter-Epen  hervorgegangen 
sin(l  _  tragen  die  alten  spanischen  Romanzen  einen  durchaus  ritter- 
lichen Charakter ,  und  es  ist  ein  grosser  Irrthum  anzunehmen ,  dass 
ihre  ursprüngliche  Abfassung  dem  Volke  angehöre,  das  man  ge- 
wöhnlich im  Gegensatz  zu  den  gebildeten  Classen  der  Gesellschaft 
so  nennt1).  Den  schlagendsten  Beweis  dagegen  liefert  der  grosse 
Unterschied  zwischen  jenen  alten  echten  Romanzen  des  ritter- 
lichen Volkes  in  Spanien  und  den  späteren  sogenannten  Vulgär- 
Romanzen,  die  in  der  That  nur  von  dem  oder  für  das  niedere 
Volk,  den  von  den  gebildeten  Classen  im  verächtlichen  Sinne:  „Volk" 
oder  vielmehr  Pöbel  (vulgo)  genannten  untersten  Schichten  der  Ge- 
sellschaft gesungen  und  gedichtet  wurden.  (S.  die  treffliche  Charak- 
teristik der  Vulgärromanzen  und  Proben  davon  in  Duran's  zweiter 
Ausgabe  seines  Romancero  gener  al,  und  den  hier  angedeuteten  Unter- 
schied zwischen  ihnen  und  den  alten  Volksromanzen  weiter  ausge- 
führt in  meiner  Einleitung  zur  Primavera  y  Flor  de  Romances; 
pag.  XXXIV— XXXVII.) 

Allerdings  verbreiteten  sich  jene  alten  Volksromanzen  auch  bis 
in  die  niederen  Kreise,  ja  lebten  zeitweise  ausschliessend  im  Munde 
dieses  Volkes  fort,  das  sie  freilich  auch  häufig  nach  seiner  Weise 
entstellte;  doch  gilt  das  Letztere  vielmehr  von  den  zu  vulgären  oder 
Blinden-Rornanzen  (Romances  de  ciegos)  herabgesunkenen  casti- 
lischen,  als  von  jenen  Überresten  der  alten,  die  sich  nur  in  portugie- 
sischer oder  catalanischer  Zunge  mehr  erhalten  haben,  unter  denen, 
wie  wir  sehen  werden,  es  manche  gibt,  die  fast  ihre  ursprüngliche 
Reinheit  bewahrt  haben,  eben  weil  hier  das  Volk  kein  fortdichten- 
des, sondern  nur  ein  den  fremden  überkommenen  Schatz  bewahren- 
des war. 


1)  Insofern  kann  man  Herrn  Mild  Reeht  geben  ,  wenn  er  sagt  (pag.  72) :  „Por  la 
misma  epoca  (zur  Zeit  der  Einführung  der  provenzalischen  Kunstpoesie  in  Cata- 
lonien)  se  difundio  tambien  la  poesfa  narratira  caballeresca  que  se  cantaba 
para  el  pueblo  asi  como  para  los  grandes  y  a'  la  cual  aquf  como  en  los 
deraas  puntos  atribuimos  los  primeros  germenes  de  las  canciones  tradicionales." 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromnn/.en.  23 

Die  Entwicklung  und  Darstellung  der  portugiesischen  und  cata- 
lanischen  Volkspoesie  ist  daher  nicht  nur  an  und  für  sich,  sondern 
auch  in  Bezug  auf  die  castilische  Romanzen -Poesie  von  höchstem 
Interesse,  das  nach  besten  Kräften  zu  befriedigen  ich,  meinen  beiden 
Gewährsmännern  folgend,  einen  Umriss  der  Geschichte  und  Charak- 
teristik der  Volkspoesie  in  jenen  beiden  Ländern  den  aus  ihr  mit- 
zutheilenden  Proben  vorsetzen  will. 


Dass  auch  in  jenem  Theile  der  pyrenäischen  Halbinsel,  welcher 
den  Namen  Portugal  führt,  wie  in  den  übrigen  romanischer  Zunge 
das  lyrisch-epische  Volkslied,  und  zwar  in  einem  dem  jetzigen  Vers- 
masse der  Redondilien  (versos  redondillos,  nicht  zu  verwechseln  mit 
den  coplas  de  redondilla)  sehr  analogen,  kurz  dass  eine  den  jetzt 
sogenannten  Romanzen  homogene  Dichtungsgattung  auch  dort 
überhaupt  die  älteste,  primitive  Poesie  war,  ist  wohl  kaum  zu 
bezweifeln,  und  auch  Hr.  Almeida-Garrett  spricht  sich  mit  Be- 
stimmtheit dafür  aus  1).  Dass  es  aber  an  Documenten,  an  auf  uns 
gekommenen  authentischen  Überresten  jener  alten  primitiven  Volks- 
dichtungen auch  in  Portugal  fehlt,  ist  —  abgesehen  von  den  allge- 
meinen, in  der  Natur  der  Sache  liegenden  Ursachen  des  Mangels  an 
Documenten  der  Art  fast  bei  allen  Nationen  (vgl.  z.  B.  Fauriel,  Hist. 
de  la  poesie  provencale,  Tome  II,  pag.  310)  —  hier  um  so  leichter 
zu  erklären  durch  den  oben  bemerkten  Bildungsgang  der  National- 


*)  A.  a.  0.  Tomo  I,  pag.  5:  „A  nossa  poesia  primitiva  e  eminentemente  nacional,  a  que 
do  principio  e,  para  assim  dizer,  do  primeiro  balbuciar  de  nossa  lingua,  nos  foi  com- 
mum  com  todos  os  outros  povos  que  mais  ou  menos  tiveram  eommunhäo  com  a  lingua 
provencal,  primeira  culta  da  Europa  depois  da  invasäo  septentrional,  foi  seguramente 
o  romance  historico  e  ca  valheresc  o,  ingenua  e  ruda  expressäo  do  enthu- 
siasmo  de  um  povo  guerreiro."  Und  pag.  9:  „Depois  de  muitas  tentativas,  de  exame 
longo  e  reflectido ,  eu  por  mim  convenci-me  de  que  o  metro  proprio  e  natural  de 
nossa  lingua  para  este  genero  de  poesia ,  e  para  todos  os  generös  populäres, 
näo  era  o  hendecasyllabo ,  o  que  dizemos  vulgarmente  heroico.  Os  portuguezes  säo 
uma  nagäo  poetica ,  a  sua  lingua  naturalmente  se  presta  e  spontanea  se  ofl'erece  a's 
formas  e  cadencias  metricas;  os  nossos  mais  rudos  camponezes  improvisam  ein  seus 
seröes  e  festas  com  uma  facilidade  que  deve  espantar  os  extrangeiros:  mas  observe-se 
que  o  metro  d'estes  improvisos  e  sempre  sem  excepcäo  alguma  o  da  redondilha 
de  oito  syllabas,  rara  vez  o  da  endexa ,  acaso  faräo  os  versos  compostos  visivel- 
mente  de  dois  inetros,  isto  e,  os  alexandrinos  ou  dittos  de  arte-maior.  A  causa  e 
obvia;  aquella  e  a  medicäo  mais  natural  que  lhes  ofl'erece  a  musica  da  lingua." 


24  Ferdinand  Wolf. 

Literatur,  durch  ihre  frühzeitige  Entwickelung  zu  einer  höfischen 
Kunstlyrik  unter  dem  Einflüsse  der  provenzalischen,  durch  die  hier 
so  zeitlich  eingetretene  scharfe  Trennung  der  Kunst-  von  der  Volks- 
poesie, deren  Producte  daher  hier  um  so  weniger  der  schriftlichen 
Aufzeichnung  werth  gehalten  wurden  *).  Dazu  kam  noch,  dass  die 
Portugiesen,  insoferne  auch  sie  an  den  allgemeinen  Angelegenheiten 
der  pyrenäischen  Halbinsel  theilnahmen,  wie  an  den  Glaubenskrie- 
gen u.  s.  w.,  von  der  selbstständiger  und  reicher  entwickelten 
castilischen  Volkspoesie  nicht  nur  die  Stoffe,  sondern  auch  schon 
frühzeitig,  wie  wir  sogleich  zeigen  werden,  die  fertigen  Lieder  in 
der  Mundart  ihrer  Nachbarn  herübernahmen,  und  daher  weni- 
ger wie  diese  veranlasst  waren,  selbstständige  Sammlungen  davon 
zu  veranstalten. 

Wohl  glaubt  Hr.  Garrett  (II,  pag.  XXXI)  einige  der  mündlich 
erhaltenen  Romanzen  „ohne  allzusehr  irre  zu  gehen  (sem  grande 
risco  de  errar)"  noch  der  Zeit  Königs  Johann  I.  von  Portugal  zu- 
schreiben zu  dürfen;  aber  das  kann  höchstens  von  ihrer  ursprüng- 
lichen Abfassungszeit  gelten;  der  Form  nach,  in  der  sie  auf  uns 
gekommen,  stammen  sie  eben  so  gewiss  erst  aus  der  ersten  Hälfte 
des  16ten  oder  höchstens  dem  Ende  des  15ten  Jahrhunderts,  als 
die  berühmten  sogenannten  Trovas  dos  Figueiredos,  die  man  für 
das  älteste  Document  der  portugiesischen  Romanzen-Poesie  hat  aus- 
geben wollen  3). 

So  sind  denn  die  uns  erhaltenen  ältesten  Muster  derselben  von 
unzweifelhafter  Echtheit  und  bestimmtem  Datum  die  in  G  i  1- 
V  i  c  e  n  t  e's  Werken  vorkommenden  ;  theils  von  seiner  eigenen 
Composition,  theils  von  ihm  nur  überarbeitete  volksmässige,  theils 
freilich  nur  in  ihren  Anfangsversen  von  ihm  angeführte  echte  Volks- 


4)  Doch  könnte  man  allerdings  die  in  galicischer  oder  alt-portugiesischer  Mund- 
art gedichteten  Ca'ntigas  des  Königs  Alfons  X.  von  Castilien  besonders  in  formeller 
Hinsicht  für  Romanzen,  und  daher  auch  für  die  ältesten  Denkmaler  der  portugiesischen 
Romanzen-Poesie  gelten  lassen. 

2)  Vgl.  B  e  1 1  e  r  m  a  n  n  a.  a.  0. ,  S.  2  u.  3 ;  —  und  meine  Recension  von  dessen  Schrift 
in  der  Allgem.  Hallischen  Literaturzeitung,  Mai  1843,  Sp.  84.  — 
Hr.  Garrett  sagt  davon  (1,  pag.  1-1):  „As  trovas  dos  Figueiredos,  apezar  do  tarn 
suspeito  testimunho  de  Fr.  Bernardo  de  Brito ,  creio ,  por  conviccäo  intima,  que 
säo  das  mais  antigas  composicöes  poeticas  da  lingua  que  chegaram  ate  nos.  Näo 
alludo  porem  a  epochas  tarn  remotas  e  incultas."  —  Allerdings  eine  ebenso  sub- 
jective  als  vage  Kritik. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  4  0 

romanzen.  Unter  diesen  letzteren  sind  schon  mehrere  ganz  auf  uns 
gekommene  castilisehe  Romanzen,  und,  wie  aus  Gil-Vicente's 
Anführung  erhellt,  auch  in  dieser  Sprache  in  Portugal  in  Umlauf 
gekommen  *)•  Bekannt  ist,  dass  auch  Gil-Vicente  selbst  ganze  Dra- 
men in  dieser  Sprache  dichtete,  worin  auch  Romanzen  vorkommen, 
wie  die  in  die  meisten  spanischen  Romanceros  übergegangene  aus 
dessen  Don  Duardos  (Obras.  Hamburgo  1834,  Tomo  II,  pag.  249), 
von  der  Hr.  Garrett  aber  auch  eine  noch  aus  dem  lßten  Jahrhundert 
herstammende  portugiesische  Version  mittheilt,  die  von  der 
castilischen  etwas  abweicht  (a.  a.  0.  III,  131).  Portugiesische  Ro- 
manzen, freilich  schon  im  mehr  kunstmässigen  Style  und  pastoriler 
Gattung  (nach  Art  der  lyrischen  Kunstromanzen  im  Cancionero 
general),  dichtete  Gil-Vicente's  Zeitgenosse,  der  sentimentale  Minne- 
sänger Bernardim-Ribeiro  (in  dessen  Saudades;  eine  davon: 
Ao  longo  de  uma  ribeira,  auch  in  den  datirten  Ausgaben  des  Can- 
cionero de  romances,  und  alle  drei  bei  Garrett,  III,  pag.  139 — 163). 
Daraus  erhellt  jedenfalls,  dass  fast  zu  gleicher  Zeit  wie  in  Casti- 
lien,  zu  Anfang  des  16.  Jahrhunderts,  nur  wohl  hauptsächlich  durch 
castilischen  Einfluss,  auch  in  Portugal  die  volkstümlichen  Ro- 
manzen nicht  nur  wieder  mehr  Beachtung,  sondern  auch  ihre  For- 
men bei  den  Kunstdichtern  selbst  Eingang  und  Nachahmung  fanden. 
Dass  aber  in  Portugal  dies  weniger  ein  Antrieb  und  Ausdruck  des 
wieder  stärker  erwachten  Nationalbewusstseins  war  als  in  Castilien, 
und  besonders  in  der  portugiesischen  Kunstpoesie  mehr  eine  Folge 
des  Einflusses  und  der  Nachahmung  der  castilischen,  zeigt  eben 
ihre  Aufnahme  der  Romanzen  in  letzterer  Sprache  und  deren 


*)  Vgl.  Garrett  (III,  pag.  126  —  129)  ;  —  P  i  d  al's  Einleitung  zur  Madrider  Ausgabe 
des  Cancionero  de  Baena,  pag.  LXIII.  —  Von  bekannten  und  ganz  erhaltenen 
castilischen  Romanzen  werden  von  Gil-Vicente  angeführt  und  dadurch  für 
deren  Alter  ein  bestimmtes  Datum  gegeben,  in  dessen  im  Jahre  1521  aufgeführter 
Comedia:  Rubena  (in  der  Hamburger  Ausgabe  seiner  Werke:  Bd.  II,  S.  11) 
Benita  (criada).   Dejame  cantar  primero: 

Tiempo  era  cubullero 

que  se  nie  acorta  el  vestir. 
Ebenda  (S.  27)  unter  den  von   der  Amme  (ama)  gekannten  Volksliedern  : 

Em  Paris  estuva  Donalda 


Vamonos,  dijo  mi  tio. 

Muliana,  Muliana  (d.  i.  Moriana). 


26  F  e  r  d  i  n  a  n  cl  W  o  1  f. 

Anwendung,  wenn  die  portugiesischen  Hofdichter  selbst  Romanzen 
dichteten,  wie  überhaupt  der  Gebrauch  der  castilischen  Sprache  bei 
den  portugiesischen  Dichtern  von  jener  Zeit  an  und  gerade  in  den 
eigentlich  nationalen  Dichtungsgattungen  und  den  volkstümlichen 
Formen  aus  der  gleichen  Ursache,  dem  überwiegenden  Einflüsse  der 
aus  volksthümlicher  Basis  entwickelten  und  früher  zu  den  volksmässi- 
gen  Formen  zurückgekehrten  castilischen  Poesie,  hervorgegangen 
ist  (vgl.  meine  Anzeige  von  Bellermann's  erwähnter  Schrift, 
a.  a.  0.,  Sp.  107).  Ja  noch  am  Schlüsse  des  16.  Jahrhunderts  war 
es  bei  den  Galanen  und  Damen  von  Lissabon  eine  Modesache,  zur 
Unterhaltung  der  höfischen  Kreise  castilische  Romanzen  zu  sin- 
gen *),  die  später  erst,  nachdem  sie  in  jenen  Kreisen  aus  der 
Mode  gekommen,  auch  in  den  niederem  Schichten  sich  verbreiteten 
und  dann,  in  die  portugiesische  Sprache  übertragen,  sich  nur  mehr 
im  Munde  des  Volkes  erhielten2).  Das  Volk  aber,  weniger  durch 
den,  seit  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  in  der  Kunstpoesie  vor- 
herrschenden Einfluss  der  classisch- italienischen  Schule  der  echt 
nationalen  Poesie  entfremdet,  cultivirte  vorzugsweise  die  aus  Casti- 
lien  stammenden  lyrisch -epischen  Romanzen,  bürgerte  sie  auch 
der  Sprache  nach  bei  sich  ein,  und  besang  selbst  nach  ihrem  Muster 
die  Grossthaten  und  das  tragische  Ende  seines  geliebten  National- 
helden, des  Königs  Sebastian,  während  die  Kunstdichter  nach  dem 
Vorgange  ihrer  spanischen  Kunstgenossen  vorzugsweise  nur  mehr 
pastorile    und  moriske  Romanzen  dichteten3).     Letzterer  Art 


x)  S.  Jorge  Ferreira,  Aulegraphia,  act.  II.  sc.  9  (in  der  Ausg.  von  1619,  fol.  66vo), 
welcher  da  die  für  die  Geschichte  der  portugiesischen  Literatur  sehr  merkwürdige 
satyrische  Bemerkung  macht:  „Naö  ha  entre  n6s  quem  perdoe  a  hüa  troua  portu- 
gueza,  que  muytas  vezes  he  de  vantagem  das  castelhanas  que  se  tem  aforado 
comnosco  e  tomado  posse  do  nosso  ouvido."  Ebenda,  Act  III.  Sc.  1,  gibt  er  ein 
Beispiel  davon,  das  ich  bei  Mittheilung  der  portugiesischen  Romanze:  „Von  dem 
Fräulein  das  in  den  Krieg  zieht,"  anführen  werde. 

2)  So  sagt  selbst  Garrett  (III.  pag.  63):  „Assim  andava  pois  este  romance  (die  in  der 
vorhergehenden  Anmerkung  erwähnte),  extrangeiro ,  e  portal  prezado  na  alta 
sociedade  portugueza;  ate  que,  descendo  dos  salöes  para  oterreiro,  a  popula- 
ridade  o  naturalizou.  Era  castelhano  no  papo,  foi-se  fazer  portuguez 
na  aldea." 

3)  S.  Garrett  (II.  pag.  XXXIII) :  „Temos  muitos  romances,  lendas  e  canpöes  d'esta 
epocha  ,  tanto  escriptos  corao  conservados  pela  tradipäo  oral.  Mas  no  reinado  de 
D.  Joäo  III.  a  affectacäo  bucolica  invade  o  proprio  romance,  que  despe  a  malha  e 
depöe  a  lanca  para  vestir  o  surräo  e  impunhar  o  cajado  de  pastor.    0  gösto  populär, 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  27 

sind  die  bekannten  Nachahmungen  der  morisken  Romanzen  von 
Francisco  Rodrigues  Lobo  und  Francisco  Manuel  de 
Mello.  Aber  auch  in  Portugal,  und  in  Portugal  um  so  mehr,  als 
hier  in  Klima  und  Temperament  die  bukolische  Poesie  von  jeher 
homogene  Elemente  fand,  wurden  die  Schäferromanzen  die 
beliebteste  Gattung  in  den  gebildeteren  Kreisen.  Allerdings  wurden 
diese  nicht  nur  der  morisken  sondern  auch  der  Schäferromanzen  bald 
satt,  weil  sie  eben  nur  Masken  der  wechselnden  Mode  waren,  und 
die  Romanzenpoesie  suchte  hier,  bevor  sie  vom  Hofe  und  aus  der 
eleganten  Gesellschaft  gänzlich  verbannt  wurde,  ihr  Scheinleben  wie 
durch  Selbstverspottung  zu  fristen,  indem  sie  zuletzt  die  Maske  des 
Lustigmachers  vornahm,  den  nachgemachten  maurischen  Alfange 
und  den  ebenso  künstlich  geglätteten  Hirtenstab  mit  der  Pritsche  des 
Truao  und  der  Geissei  des  Satyrs  vertauschte,  und  sogar  im  bur- 
lesken Gewände  auftrat.  In  dieser  Gestalt  finden  wir  die  Roman- 
zen der  Kunstdichter  zu  Ende  dieser  Epoche  in  den  bändereichen 
Sammlungen  jener  Zeit,  wovon  z.  B.  die  unter  dem  pretiösen  Titel: 
„Phenix  renascida"  erschienene  einige  curiose  Muster  enthält. 

Auf  das  von  den  gebildeten  Kreisen  sich  immer  schärfer  tren- 
nende Volk  hatten  diese  Romanzen-Moden  wenig  Eindruck  gemacht; 
es  sah  sie  fast  ohne  Theilnahme  und  mit  Gleichgiltigkeit  entstehen 
und  vergehen;  „denn  diese  Romanzen,"  sagtGarrett  sehr  tref- 
fend, „sprachen  nicht  zu  seinem  Herzen,  nicht  zu  seinen  Leiden- 
schaften, trösteten  es  nicht  in  seinem  Unglück,  belebten  nicht  seine 
Hoffnungen.  Da  aber  kein  Volk  ohne  Poesie  lebt,  so  suchte  und  fand 
sie  unser  Volk  da,  wo  wahrlich  weder  die  Grossen  noch  die  Gelehr- 
ten jener  Zeit  sich  einbildeten,  dass  sie  wäre;  aber  sie  war  da,  die 
wahrhafte,  die  einzig  nationale  jener  Zeit,  die  der  Trovas  und 
Prophecias,  die  dem  Volke  sprachen  von  einem  Befreier,  von 
einem  Rächer,  von  einem  Erlöser,  den  die  Vorsehung  der  portugie- 
sischen Nation  bewahrt  hätte,  und  in  dem  sich  die  in  seiner  Einbil- 
dung fortlebenden  und  ersehnten  Versprechen  des  Sieges  von  Ourique 
erfüllen  würden." 


mal  satisfeito  com  a  escola  classka  dominante,  lanca-seno  romance  castelhano, 
cuja  sinceridade  e  rudeza  epica  Ihe  agrada  mais.  Muitos  romances  castellia- 
nos  se  nacionalizam  entre  nos." 

„0  geuio  cavalheresco  de  D.  Sebastiäo ,  a  calamidade  nacional  da  sua  pcrda  däo 
outra  vez  lom  e  vida  ao  romance  liistorico  e  aventureiio." 


28  Ferdinand  Wolf. 

So  stammen  aus  jener  Zeit  die  berühmten  „Prophecias"  von 
Bandarra  i);  diese  und  ihnen  ähnliche  prophetische  Gesänge  von 
des  portugiesischen  Volkes  neu  erwachendem  Ruhme  und  der  Ab- 
schüttelung  des  spanischen  Joches  machen  nebst  den  nun  mehr  als 
je  zahlreichen  Wunderlegenden  (lendas  de  milagres)  und  geistlichen 
Liedern  (cancoes  ao  divino)  die  einzig  echte  Volkspoesie  jener 
Zeit  aus. 

Zwar  entstanden  nach  dem  Siege  über  die  spanische  Usurpa- 
tion neuerdings  historische  Romanzen  die  diesen  Sieg  und  des 
Volkes  Antheil  feierten;  aber  sie  waren  nicht  eigentlich  mehr  volks- 
mässige ,  sie  gingen  nicht  von  dem  Volke  aus ,  sondern  wurden  von 
Dichtern  von  Profession  gemacht  um  ihm  zu  schmeicheln  und  den 
Feind  zu  verhöhnen,  und  unterscheiden  sich  daher  durch  Styl,  Ton 
und  Colorit  schon  gar  sehr  von  den  alten  echten  Volksromanzen  3). 
Diese  historisch-panegyrischen  Romanzen  glichen  entweder  gereim- 
ten Zeitungsberichten  und  Bulletins,  ganz  in  der  Art  so  vieler  spani- 
schen Romanzen  aus  der  Zeit  KarPs  V.  und  Philipp's  II.,  oder  sie 
waren,  rührten  sie  von  eigentlichen  Kunstdichtern  her,  durch  all 
den  gesucht  dunklen  Schwulst  des  Culteranismus  und  Gongorismus 
entstellt,  die  damals  auch  in  der  portugiesischen  Kunstpoesie  herrsch- 
ten; ja  bis  auf  die  metrische  Form  verleugneten  nun  auch  in  Por- 
tugal die  Romanzen  die  echte  Nationalität  und  wahre  Volkstümlich- 
keit, indem  sie  die  indigenen  Redondilhos  mit  den  italienischen 
Hendecasyllabos  vertauschten,  gleich  den  sogenannten  Romances 
heröicos  der  Spanier. 

So  hatte  seit  dem  17.  Jahrhundert  die  portugiesische  Poesie 
mit  der  spanischen  all  die  Extravaganzen  der  Überreiztheit  und  zu- 
nehmender Impotenz  getheilt,  und  dem  andern  Extrem ,  einer  farb- 
losen, nüchternen,,  mattherzigen  Pseudo-Classicität,  die  Alleinherr- 
schaft eingeräumt 3),  ohne  dass,  wie  in  Spanien,  auch  in  Portugal  die 


!)  Vgl.  über  den  Schuhflicker  von  Trancoso ,  Goncalo  Annes  de  Bandarra,  den 
Hans  Sachs  und  Jakob  Böhme  der  Portugiesen,  Barbosa-Machado,  Bibl.  lusit. 
s.  v.  Goncalo  Annes;  —  und  Ferdinand  Denis,  Resume  de  l'hist.  litt,  du 
Portugal.     Paris  1826.     12°.  pag.  216  et  217. 

2)  „Näo  e  o  povo,"  sagt  Herr  Garrett  von  diesen  Romanzen,  „que  conta  as  suas 
victorias,  säo  os  poetas  que  querem  cortejar  o  povo  no  dia  da  sua  gloria  e  que  o 
näo  sabem  fazer  senäo  com  grosseiros  motejos  aos  inimigos  vencidos." 

3)  Herr  Garrett  sagt  sehr  gut  und  energisch:  „Madrid  e  Lisboa  rivallizavam  a  quäl 
havia   de  proscrever    e  escarnecer  mais  a  sua  verdadeira   poesia  nacional.     A  falsa 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  29 

wahre  Nationalpoesie,  die  aus  den  Romanzen  hervorgegangene,  sich 
naturgemäss  im  Drama  eoncentrirt,  selbstständig  entwickelt  und 
üppig  entfaltet  hätte,  weil  in  Portugal  eben  das  Vorwiegen  der  volks- 
thümlichen  Elemente  auch  in  der  Kunstpoesie  von  Anfang  an  gefehlt 
hatte,  wie  ich  wiederholt  bemerkt  habe. 

Als  die  noch  später  hinzutretende  Fremdherrschaft  der  Fran- 
zosen und  Engländer  in  Portugal  politisch  wie  literarisch  vollendet 
und  unbestritten  war,  als  sich  die  auf  Bildung  Anspruch  machenden 
Classen  ihrer  alten  volksthümlichen  Dichtung  und  nationeilen  Formen 
schämten,  blieb  der  genuinen  Tochter  des  Landes,  der  Romanze, 
freilich  keine  andere  Zufluchtsstätte  mehr,  als  der  Heerd  des  Land- 
manns, als  die  Barke  des  Fischers,  als  die  Hütte  des  Hirten,  als  das 
Volk,  das  der  alten,  heimischen  Sitte  und  Einfalt  treu  geblieben 
war,  in  seiner  Einfalt  fremde  Mode  und  Herrschaft  hasste,  in  seiner 
Treue  die  Lieder  der  Väter  barg  und  bewahrte,  barg  und  bewahrte 
was  die  Gebildeten  vergassen  und  verachteten,  nun  doppelt  verach- 
teten, seit  sie  vergessen  wollten,  dass  auch  ihre  Väter  in  diesen 
Liedern  Ruhm  und  Trost  fanden,  dass  sie  die  Sitten  und  Thaten, 
Freuden  und  Leiden  auch  ihrer  Ahnherrn  besangen,  dass  auch 
ihre  Vorältern  durch  Interessen  und  Leidenschaften ,  in  Sein  und 
Denkweise  noch  enge  mit  dem  Volke  verbunden  waren,  auf  das 
die  Epigonen  nun  so  vornehm  herabsahen. 

„Ja  dies  gemeine  Volk  allein,  dies  Volk  der  Felder  (So  o  povo 
-povo,  o  povo  dos  campos),"  sagt  Hr.  Garrett  sehr  schön,  „die 
am  wenigsten  gebildeten  Classen  der  Gesellschaft  protestirten 
schweigend  gegen  diesen  ungerechten  Missbrauch  eines  gerechten 
Sieges  (der  Classicität),  indem  sie,  wie  die  Hymnen  einer  verfehm- 
ten  Religion,  jene  ursprünglichen  Gesänge  längst  vergangener  Zeiten 
im  Gedächtnisse  bewahrten  und  unter  sich  wiederholten,  welche  die 
Schul- Gelehrten  verachteten  und  verfolgten,  sie  in  dem  allgemeinen 
Anathema  mit  einbegreifend,  das  doch  nur  die  entarteten  Nachahmer 
und  Verderber  derselben  verdient  hatten." 

Doch  dies  war  ja  so  ziemlich  überall  das  Geschick  der  echten 
National-  oder  sogenannten  Volkspoesie,  in  Folge  der  einseitig  culti- 
virten  Studien  des   classischen  Alterthums  und  der  zu  Schablonen 


e   ridieula    imitaeäo    da    antiguidade    classica,    amaneirada    pelas   regras   francezas, 
dominava   tudo." 


30  Ferdinand  Wolf. 

missbrauchten  classischen  Formen  ohne  Rücksieht  auf  den  ganz 
heterogenen  Zeit-  und  National-Geist,  auf  die  ungeheure  Kluft  zwi- 
schen der  antiken  und  modernen  Welt.  Nur  erwachte  hier  früher, 
dort  später  das  National -Bewusstsein  in  solcher  Stärke,  dass  man 
sich  erinnerte,  es  habe  ja  einst  auch  schon  in  der  eigenen  Literatur 
Ausdruck  gefunden,  dass  man  es  nicht  mehr  für  kindischen  Aber- 
glauben hielt,  diese  alten  National -Geister  heraufzubeschwören, 
dass  man  sich  selbst  nicht  mehr  schämte,  sie  in  ihren  letzten 
Zufluchtstätten,  in  den  Ruinen  des  Mittelalters,  in  den  Sennen-  und 
Köhler-Hütten  der  Alpen  und  Wälder  aufzusuchen,  und  wenn  sie  dann 
auf  die  Beschwörung  des  rechten  Meisters  wirklich  erschienen,  er- 
schienen in  ihrer  einfachen,  wenn  auch  oft  ungefügen  Grösse  und  in 
verwildertem  Aussehen,  vor  ihnen  nicht  zurückschreckte,  in  ihnen 
die  Geister  der  eigenen  Ahnen  ehrend  anerkannte,  ja  ihnen  dieselbe 
kritische  Pflege  und  Säuberung  wie  den  Genien  des  classischen 
Alterthums  angedeihen  Hess,  und  sie  aus  der  Gelehrten -Stube  end- 
lich in  die  Salons  der  feinen  Gesellschaft  und  die  Paläste  der  Aristo- 
kratie wieder  einführte,  aus  denen  sie  vielleicht  ursprünglich  hervor- 
gegangen waren. 

Diese  gewiss  nicht  anti-demokratische  Reaction  ging  bekannt- 
lich in  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  von  England  und 
Deutschland  aus,  und  ist  erst  in  unseren  Tagen  über  Frankreich  auch 
nach  Spanien  und  Portugal  gedrungen.  Doch  behauptet  Hr.  Garrett, 
so  bereitwillig  er  auch  den  Einfluss  der  deutschen  Kritik  anerkennt, 
dass  dieser  in  Spanien  viel  bedeutender  und  unmittelbarer  auf  die 
Wiederbeachtung  und  Wiederbelebung  der  alten  Volkspoesie  einge- 
wirkt habe,  als  in  Portugal *). 


!)  Wohl  bekennt  er  :  Quasi  se  podia  dizer  destruida  toda  a  nacionalidade,  apagados  os 
Ultimos  vestigios  originaes  da  nossa  poesia,  quando  no  fim  do  primeiro  quartel 
d'este  seculo  essa  influencia  da  renascenca  alleman  e  ingleza  se  comecou  a  fazer 
sentir." 

Doch  fügt  er  hinzu  :  „Assini  como  na  resistencia  ao  dominio  da  espada  franceza, 
osportuguezes  foram  mais  ajudados  pelos  seus  antigos  alliados,  os  ingleses,  e  o  resto 
d'Hespanha  luctou  mais  de  proprio  marte  e  por  singular  esforco  seu  :  tambem  no 
sacudir  o  jugo  academico  extrangeiro  e  em  proclamar  a  independencia  da  litteratura 
patria,  os  castelhanos  foram  poderosamente  auxiliados  pelos  ingleses  e  allemäes, 
especialmente  e  largamente  pelos  Ultimos:  a  nös  ninguem  nos  ajoudou,  ninguem 
comhateu  a  nosso  lado  ,  ninguem  nos  ministrou  armas,  inunicöes,  soccurro  o  mais 
niinimo." 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  O  1 

Wohl  zunächst  von  dem  Lande,  von  dem  alle  grösseren  politi- 
schen wie  literarischen  Revolutionen  Europa's  ausgehen,  von  Frank- 
reich aus  verbreitete  sich  auch  die  unter  dem  Namen  desRomanticis- 
mus  bekannt  gewordene,  gegen  die  jahrhundertlange  Usurpation  des 
Pseudo-Classicismus  gerichtete  über  die  pyrenäische  Halbinsel,  und 
in  Portugal  stellte  sich  eben  der  Herausgeber  dieses  Romancero,  Hr. 
Garrett,  selbst  an  die  Spitze  derselben,  und  pflanzte  siegreich, 
weil  er  eben  ein  grosser  Dichter  und  wahrhaft  begeistert  war,  die 
National-Fahne  auf;  denn  der  echte  berechtigte  Romanticismus 
ist  ja  nur  die  Rückkehr  zur  Volkstümlichkeit,  die  zeitgemässe  Wie- 
derbelebung und  freie  Fortentwickelung  der  nationeilen  Eigenthüm- 
lichkeit  und  Selbstständigkeit. 

Schon  in  den  Jahren  1825  und  1826  trat  Hr.  Garrett  mit 
seinen,  in  diesem  Geiste  geschaffenen  Gedichten:  „DonaRranca"  und 
„Camoes"  auf;  im  J.  1828  wagte  er  es,  noch  um  einen  Schritt  wei- 
ter zu  gehen,  und  bearbeitete  die  ihm  bekannt  gewordenen  Rruch- 
stücke  alter  echter  Volksromanzen,  auf  die  er  schon  damals  seine 
Aufmerksamkeit  gerichtet  hatte,  in  den  episch -beschreibenden  Ge- 
dichten: „Adozinda"  und  „Rernal-Francez",  freilich  noch  mehr  in 
der  Art  und  unverkennbar  nach  dem  Muster  von  Walter  Scott's 
Lays.  Seitdem,  besonders  seit  1834  setzte  er  mit  allem  Eifer  eines 
begeisterten  Patrioten  und  Dichters,  mitten  unter  den  Stürmen  und 
Wechselfällen  der  politischen  Umgestaltungen  seines  Vaterlandes, 
an  denen  er  selbst  den  lebendigsten  Theil  nahm  und  von  ihnen  oft 
sehr  unsanft  an  ferne  Gestade  und  in  die  Fremde  getrieben  wurde, 
trotz  manchen  herben  Verlusten  des  bereits  Gesammelten,  seine 
Romanzen -Ernte  fort,  theils  unmittelbar  auf  Feld  und  Wiese,  aus 
dem  Volksmunde  *)»  theils  von  gleichgesinnten  Freunden  unter- 
stützt, theils  durch  glückliche  Funde  in  alleren  Aufzeichnungen  be- 
günstigt. Unter  diesen  letzteren  erwähnt  er  besonders  eines  Exem- 
plars der  Ribliotheca  portug.  des  Rarbosa  Machado  das  im  Resitze 
des  bekannten    portugiesischen   Gelehrten  Oliveira  (des  Verfassers 


*)   So   erzählt  er  Z.   B.  von   einer  Quelle  dieser  Art,   die  bekanntlich   überall  zu  den 
frischesten  und  reichhaltigsten  gehört  (Tomo  I.  pag\  XVI). 

Foi  o  caso  que  umas  criadas  velhas  de  minha  mäe  e  uma  nuilata  brazilcira  de 
niinba  irman  appareeeram  sabendo  varios  romances  que  eu  uäo  tinha,  e  muitas  varia- 
das  liccöes  de  outros  que  eu  sim  tinha,  porem  mais  iucompletos.  Assim  se  additou 
copiosamente  o  men  R  o  m  a  n  c  e  i  r  n. 


32  Ferdinand  Wolf. 

der  Memorias)  war,  und  auf  dessen  Ränder  und  die  eingehefteten 
leeren  Blätter  dieser  viele  alte  Lieder  und  Romanzen  gesehrieben 
hatte,  die  er  handschriftlich  in  Portugal  und  Holland,  vorzüglich  bei 
den  aus  Portugal  stammenden  Juden  im  letzteren  Lande  aufgezeichnet 
gefunden  und  copirt  hatte. 

So  sah  Hr.  G.  sich  endlich  im  Stande  seinen  lange  geheg- 
ten Wunsch  ins  Werk  zu  setzen  und  die  Herausgabe  eines  portugie- 
sischen Romanceiro  zu  beginnen.  Als  ersten  Theil  desselben,  und 
gleichsam  als,  den  Übergang  von  der  Kunst-  zur  eigentlichen 
Volkspoesie  bildende  Einleitung  Hess  er  im  J.  1843  zu  Lissabon 
die  zweite,  vermehrte  Ausgabe  seiner  oberwähnten  Bearbeitungen 
echter  Volksromanzen  erscheinen,  die  er  „Romances  da  renascenca" 
selbst  genannt  hat.  In  dritter,  abermals  vermehrter  Ausgabe  erschie- 
nen sie  1853,  nachdem  er  im  J.  1851  im  2.  und  3.  Bde.  die  Ausgabe 
der  Originale,  der  echten  Volksromanzen  begonnen  hatte. 

Er  wollte  die  ganze  Sammlung  in  fünf  Büchern  herausgeben, 
und  zwar  sollte : 

Das  erste  Buch  die  erwähnten  Romances  da  renascenca  nebst 
seinen  Studien  über  die  portugiesische  Volkspoesie  enthalten; 

das  zweite  die  alten  Ritter-  und  sagenhaften  Ro- 
manzen; 

das  dritte  die  legendenartigen  und  prophetischen 
Romanzen  (Lendas  e  prophecias); 

das   vierte  die  eigentlich  historischen; 

und  das  fünfte  die  übrigen  in  den  früheren  Rubriken  nicht 
untergebrachten  mehr  rein  lyrischen  Roman zengattungen  (Ro- 
mances varios,  comprehendendo  todos  os  que  näo  sao  epicos  ou 
narrativos). 

Von  diesen  fünf  Büchern  liegen  in  den  erschienenen  drei 
Bänden  aber  nur  das  erste  und  zweite  vor. 

Das  erste  Buch,  oder  der  erste  Band  enthält  nur  acht  von 
Garrett  nach  Volkssagen  und  Bruchstücken  von  echten  Volksroman- 
zen bearbeitete  episch -beschreibende  Gedichte;  nämlich  ausser 
den  erwähnten  beiden,  Adozinda  und  Bernal- Francez,  noch:  Noite 
de  San'  Joao;  0  Anjo  e  a  Princeza;  0  chapim  d'elrei;  Rosalinda; 
Miragaia  und  As  Pegas  de  Cintra;  nebst  den  von  einigen  gemachten 
englischen  und  französischen  Übersetzungen,  von  Adamson,  Fournier 
und  Zanole. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  dt) 

Der  zweite  und  dritte  Band  begreifen  das  zweite  Buch 
oder  die  alten  Ritter- und  sagenhaften  Romanzen,  mit  einer  literar- 
historischen Einleitung. 

Leider  hat  der  frühzeitige  Tod  des  begabten  Herausgebers  ihn 
gehindert  sein  Werk  selbst  zu  vollenden,  und  es  bleibt  nur  zu  hoffen 
und  zu  wünschen,  dass  ein  von  gleichem  Nationalgefühl  beseelter  und 
mit  demselben  Tact  für  Volkspoesie  begabter  Fortsetzer  sich  finden 
möge,  der  die  gewiss  reichen  von  G.  hinterlassenen  Sammlungen 
auch  in  dessen  Geiste  zu  benützen  und  bekannt  zu  geben  verstehe. 

Ich  habe  mich  bei  meinen  Proben  natürlich  nur  auf  den  zweiten 
und  dritten  Band  beschränkt,  die  (33)  echte  Volksromanzen  (nebst 
der  erwähnten  Romanze  „Dom  Duardos"  von  Gil-Vicente  und  den 
drei  Romanzen  des  Bernardim  Ribeiro:  „A  Ama" ;  —  Avalor;  und 
„Cuidado  e  Desejo")  enthalten,  von  Hrn.  G.  grossentheils  aus  dem 
Volksmunde  selbst  gesammelt,  mit  gewissenhafter  Treue  aufgezeich- 
net und  mit  den  abweichenden  Lesarten  der  verschiedenen  Provin- 
zen ausgestattet,  unter  welchen  die  nördlichen,  besonders  Beira- 
baixa,  gewöhnlich  die  besten  lieferten.  Er  hat  überdies  den  einzelnen 
Romanzen  schätzbare  Einleitungen ,  über  ihre  Quellen ,  Parallelen, 
u.  s.  w.,  vorgesetzt  und  sie  mit  sprach- und  sacherklärenden  Anmer- 
kungen versehen. 

Aus  einer  dieser  Einleitungen  (zur  Romanze  von  Bernal-Fran- 
cez,  im  2.  Bde.  S.  122  ff.)  will  ich  hier  noch  mittheilen,  was  er  im 
Allgemeinen  über  die  im  Portugiesischen  gebräuchlichen  Benen- 
nungen verschiedener  volksmässiger  Dichtgattungen  und  ihre  Vor- 
tragsweise sagt. 

Die  lyrisch -epischen  zum  Absingen  oder  Erzählen  be- 
stimmten Volkslieder  heissen  auch  im  Portugiesischen  gewöhnlich: 
„Romance"  oder  „Rimance";  „Xäcara"  aber,  wenn  sie  eine 
eigentlich  dramatische,  auf  die  Darstellung  berechnete  Form 
bekommen  haben  1).  „Aber  diese  beiden  Arten",  setzt  Hr.  G.  hinzu, 
erscheinen  sehr  oft  verbunden,  und  daraus  entsteht  die  Romance- 
Xäcara,  in  welcher  der  epische  Ton  vorherrscht  ohne  jedoch  das 
dramatische  Element  auszusehliessen;  oder  die  Xäcara-Romance, 
in  welcher  dem  Dialog  nur  durah  ganz  kurze  Erklärungen  (indicacoes), 


*)  Im  Spanischen  werden  bekanntlich   die  Gauner- und  Zigeuner-Romanzen:  Jiicarai 
genannt,  von    .)  a  q  u  e  ,  valenton,  rulian. 
Sitzh.  d.  phil.-hist.  Cl.  XX.  ßd.  I.  Hfl.  3 


34  Ferdinand  Wolf. 

gleichsam  Rubriken  oder  Bülmenweisungen  (quasi  rubricas  ou  direc- 
coes  de  sceua)  nachgeholfen  wird,  die  in  seltenen  Zwischenräumen 
der  Dichter  selbst  vorbringt  (que  faz  o  poeta  a  raros  intervallos)  l). 

„So  trägt  das  Volk,  in  den  vielen  Dingen  der  Art  die  es  erzäh- 
lend darstellt  (recita),  die  Reden  in  Versen  und  singend  vor  (diz 
as  fallas  ein  verso  e  cantando) ,  und  die  erzählenden  Erläuterungen 
(asindicacuesnarrativas)  in  Prosa,  ohne  sich  streng  an  einen  bestimm- 
ten Text  zu  halten  und  mit  grössserer  oder  geringerer  Ausführlich- 
keit, je  nach  dem  Talent  und  derBeredtsamkeitdes  Vortragenden2)." 

„Die  Romance  und  die  Xäcara  befolgen  in  der  Regel  dasselbe 
metrische  Gesetz,  der  durchgehenden  (fixo)  Con-  oder  Assonanz 
und  der  achtsylbigen  Verse  3).  Die  sogenannten  Romances  hen- 
decasyllabos  aus  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  sind  eine  voll- 
ständige Entartung;  und  daher  gingen  sie  unmittelbar  dem 
Verfall  dieser  Dichtgattung  voraus." 

Die  unter  dem  Namen:  Soläo  schon  von  Bernardim-Ribeiro 
und  Sa- de-Miranda  erwähnte  volksmässige  Liedergattung  ist  nach 
Hrn.  Garrett  zwar  eine  epische,  in  der  jedoch  die  Erzählung  trau- 
riger Begebenheiten  häufig  von  lyrischen  Klagen  unterbrochen  wird, 
und  worin  jene  mehr  nur  als  Folie  dieser  dient  4). 


x)  Dies  erinnert  an  die  Art  der  ältesten  französischen  Mysterien  ,  z.  B.  des  de  la  Resur- 
rection  du  Sauveur;  vgl.  Du-Meril,  Origines  latines  du  theatre  moderne.  Paris 
1849,  8.,  pag.  70. —  Übrigens  seheinen  mir  diese  Benennungen  und  Distinctionen  in 
Xacara -Romance  und  Romance -Xacara  mehr  von  Hrn.  G.  erfundene,  theoretische, 
als  wirklich  in  der  Praxis  begründete  und  im  Volksmunde  gangbare  Namen  für  Misch- 
gattungen zu  sein  ?  — 

2)  Auch  bei  anderen  Nationen  findet  sich  diese  Art,  Volkslieder  mit  Einleitungen  oder 
Erläuterungen  in  Prosa  vorzutragen  ,  z.  B.  bei  den  Schweden  (vgl.  Mohnike, 
Volkslieder  der  Schweden.  Berlin  1830,  8.,  S.  205,  216,  234),  Schotten  (vgl.  Mo- 
therwell,  Minstrelsy.  Glasgow  1827,  in  -4.  pag.  XIV — XVI.),  u.  s.  w.  Jedesfalls 
aber  vielmehr  eine  Entartung  späterer  Zeit ,  in  welcher  die  Lieder  im  Volks- 
bewusstsein  schon  verdunkelt  oder  nur  mehr  fragmentarisch  erhalten  waren,  daher 
solcher  Nachhilfe  bedurften. 

3)  „Ausnahmsweise  trifft  man  auf  Romanzen  die  man  bei  uns  ein  endexas  (wie  im 
Spanischen  Endechas)  heisst,  die  nach  Einigen  aus  den  12  sylbigen  Alexandrinern  her- 
vorgingen, nach  Anderen  aus  sechssylbigen  Versen  bestehen,  indem  sie  die  Halbverse 
für  ganze  annehmen  (und  diese  letztere  Ansicht  ist  unbezweifelt  die  richtige,  wie  im 
Spanischen  die  versos  de  arte  mayor  aus  den  versos  de  redondilla  menor  gebildet 
worden  sind;  vgl.  meinen  Aufsatz  über  die  Romanzenpoesie  a.  a.  0.  Bd.  117,  S.  100)." 

4)  Eu  inclino-me  a  creer  que  o  solao  e  um  canto  epico  ornado,  ein  que  as  effusöes 
lyricas  aecompanham  a  narrativa  de  tristes  successos,  mais  para  gemer  e  chorar  söbre 
elles,  do  que  para  os  contar  ponto  por  ponto. 


Proben  portugiesischer  und  calalanischer  Volksromauzen.  35 

Die  Benennungen  Cantiga  und  Canta  r  sind  allerdings  auch 
im  Portugiesischen  wie  im  Spanischen  so  allgemeine  genetische 
Bezeichnungen  wie  unser  Lied;  aber  doch  wird  Cantiga  mehr  von 
rein  lyrischen,  Ca  ntar  hauptsächlich  von  lyrisch-epischen  Liedern 
gebraucht,  während  Cancao,  wie  das  spanische  Caneion,  die 
specielle  Bedeutung  eines  nach  bestimmten  Regeln  gemachten  ku  nst- 
mässigen   Strophen -Liedes  rein  lyrischen  Inhalts  hat1). 

Die  Barcas  sind,  wie  die  italienischen  Barcarolen,  Schiffer- 
lieder, oft  mit  Wechsel -Strophen  und  Chören,  und  es  gibt  auch 
Barcas  ao  divino,  religiöse,  nach  der  Form  und  den  Melodien 
solcher  volksmässiger  gemachte  Lieder. 

Die  Chacota  endlich  war,  nach  den  Beispielen  zu  urtheilen 
die  man  in  den  Stücken  Gil-Vicente's  davon  findet,  eine  im  IS.  und 
16.  Jahrhundert  übliche  Art  von  volksmässigen  Scherz-  und  Spott- 
liedern (cantiga  de  rir  e  brincar)  und  findet  sich  oft  am  Schlüsse 
der  Entremezes  und  Farsas,  um  mehrstimmig  (a  vozes)  gesungen  zu 
werden. 


In  Catalonien  hatte,  wie  ich  bereits  bemerkte,  die  Volks- 
poesie ein  ähnliches  Schicksal  und,  besonders  in  ihrer  frühesten  Ent- 
wicklung, aus  analogen  Ursachen  wie  in  Portugal.  Auch  hier  wurde 
sie  durch  die  sehr  frühzeitige  Einführung  und  Bildung  einer  f  r  e  m  d  e  n 
Kunstlyrik,  jener  der  provenzalisch-limousinischen  Troubadours,  zu- 
rückgedrängt und  in  ihrer  selbstständigen  reicheren  Entfaltung 
gehemmt  oder  doch  vernachlässigt. 

Dass  vor  der  Einführung  der  Troubadourspoesie  auch  hier  eine 
indigene,  echt  volksmässige  Poesie  in  der  Landessprache  bestanden 
habe,  lässt  sich  wohl  schon  aus  den  in  der  Natur  der  Sache  liegen- 
den Gründen  nicht  bezweifeln,  und  wird  noch  überdies  durch  einige 
freilich  nur,  wie  sehr  begreiflich,  sparsame  Zeugnisse  unterstützt. 

So  hat  der  um  die  Poesie  des  Mittelalters  hochverdiente  Hr. 
Edelestand  Du-Meril  in  der  kais.  Bibliothek  zu  Paris  eine  aus  dem 
Kloster   von  Santa  Maria  de  Ripoll  in  Catalonien  stammende  Hand- 


*)  Cancä  o  Ininbem  e  termo  g-enerico,  masinculca  mai  s  artificio  do  que  a  cantiga 
e  o  cantar:  entre  nds  designa  inais  strictamente  a  oJe  romautica  da  meia-edade 
com  eertaa  f6rmulaa  de  metro  e   dirisoes  reguläres  de  strophes. 

3* 


36  Ferdinand  Wolf. 

schrift  aus  dem  13.  Jahrhundert  aufgefunden,  die  ausser  vielen  auf 
jenes  Kloster  bezüglichen  Urkunden  und  lateinischen  Gedichten  auch 
ein  Bruchstück  eines  lateinischen  Gedichtes  vom  Cid  enthält,  das 
jedesfalls  bedeutend  älter  als  die  Handschrift  ist ,  und  so  wie  es 
durch  seinen  Fundort  auf  Ca  talonien  hinweist,  aus  Form,  Ton, 
Art  der  Darstellung  und  einigen  Ausdrücken  und  Anspielungen 
schliessen  lässt,  dass  es  volks massigen  Ursprungs  und  wahr- 
scheinlich aus  bald  nach  dem  Tode  des  besungenen  Helden  abgefassten 
Volksliedern  in  der  Landessprache  hervorgegangen  sei  *)• 
Noch  ebenfalls  vor  dem  13.  Jahrhundert  entstanden  sind  ein 
paar  von  Herrn  Mila  (pag.  66 — 68)  aufgeführte  Epistola?  farcitse 
und  Hymnen,  die  Villanueva  in  catalanischen  Klöstern  aufgefunden 
hat,  und  die  theilweise  oder  ganz  in  der  catalanischen  Mundart  des 
Sprachzweiges  von  Oc  und,  wie  alle  Kirchenlieder  der  Art,  in  ganz 
volksmässigen  Formen  abgefasst  sind  3). 


*)  S.  die  Ausgabe  dieses  Gedichtes  mit  trefflicher  Einleitung-  in  :  Poesies  populaires 
latines  du  moyen  age,  par  M  Edelestauddu  Meril.  Paris  1847,  8.,  pag. 
284  ff.,  vgl.  Mila    a.  a.  0.  pag.  G3. 

2)  Dass  neben  diesen  eigentlichen  Kirchenliedern  bei  kirchliehen  Festen  und  Hoffeier- 
lichkeiten auch  andere,  mehr  weltliche,  und  wahrscheinlich  in  der  Vulgarsprache 
von  den  Juglares  oder  vom  Volke  selbst  gesungen  wurden ,  bezeugt  eine  von 
D.  Mariano  Soriano  Fuertes  (in  seiner  soeben  erschienenen:  Historia  de 
la  musica  espaiiola  desde  la  venida  de  los  Fenicios  hasta  el  afio  de  1850.  Madrid  y 
Barcelona  18S5,  Tomo  I  ,  p.  12ä  y  126)  aus  einer  Handschrift  (El  manuscrito 
que  se  cita  existia  eil  poder  de  D.  Miguel  de  Manuel,  bibliotecario  que  tue  de 
S.  Isidro  el  Real  de  Madrid ,  segun  Teixidor  de  quien  tomamos  esta  noticia)  mit- 
getheilte  Stelle: 

Este  principe  (D.  Ramon  Berenguer  IV.)  se  caso  en  la  ciudad  de  Lerida  con  doiia 
Petronila  reina  de  Aragon ,  celebrandose  los  desposorios  en  la  iglesia  catedral 
con  la  pompa  y  magestad  digna  de  tales  consortes.  El  autor  de  un  manuscrito  que 
refiere  lo  suntuoso  de  estas  bodas,  dice :  que  en  la  catedral  se  canto  el  Tedeum 
Laudamus  por  un  sin  numcro  de  cantores;  que  el  principe  y  la  reina  fueron 
al  ternplo  acompanados  de  la  mayor  parte  de  prelados  y  nobleza  de  Cataluna  y 
Aragon,  precedidos  de  un  gran  coro  de  juglares  y  juglaresas,  cantores  y  cantoras, 
como  tambien  de  muchas  danzas,  enlre  las  cuales  hace  particular  mencion  de  uiia 
compuesta    de    moros    y    cristianos    que    figuraban    un   refiido  combate:  danza  que 

aun  se    conserva    en    nuestros  dias  en    algunos  pueblos  de  Espana El 

autor  del  manuscrito  citado  dice:  que  por  cuautas  partes  viajaba  Berenguer  IV., 
se  le  recibia  con  aclamaciones  acompanadas  de  canticos  6  de  alabanzas  ;  que  los 
pueblos  cercanos  a  los  caminos  por  donde  transitaba  ,  se  quedaban  desiertos  en 
cuanto  sabian  que  su  amado  principe  habia  de  pisar  sus  terminos :  hasta  los  monges 
y  solitarios,  dejahan  sus  escondrijos  para  teuer  el  honor  de  eelebrar  sus  triunfos 
y  victorias,  cantnndole  alegres  canciones  tanto  cn  idioma  catalan  como 
en  latin." 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  37 

Ein  ausdrückliches  Zeugniss  von  der  Existenz  eines  weltlichen 
Volksliedes  aus  der  der  Einführung  der  Trouhadourspoesie  vor- 
hergehenden Zeit  gibt  einer  der  ältesten  catalanischen  Trouhadours 
selbst,  Guillermo  de  Berg  ad  an,  ein  Zeitgenosse  Königs  Al- 
fons  II.  von  Aragon,  in  seinem  Liede: 

Chanson  ai  comensada 
que  sera.  loing  chantada 
en  est  son  v  elh  antic 
que  fetz  N'Ot  de  Moncada 
ainz  que  peira  pausada 
fos  el  cloquer  de  Vieh. 

Zugleich  ist  sehr  merkwürdig,  dass  dieses  ,  nach  einer  alten  hei 
der  Grundsteinlegung  des  Glockenthurms  von  Vieh  gesungenen  Volks- 
weise gemachte  Lied  offenbar  auch  noch  dessen  metrische  Form 
bewahrt  hat,  die,  wie  ich  an  einem  andern  Orte  (Über  die  Lais,  S. 
17  ff.,  besonders  S.  34)  gezeigt  habe,  eine  echt  volksmässige  ist, 
nämlich  die  der  sechszeiligen  Strophe  mit  rime  couce!  — 

Auch  andere  Gedichte  dieses  Troubadours,  sowie  überhaupt 
die  Gedichte  der  ältesten  Troubadours,  tragen  deutliche  Spuren  von 
ihrer  Bildung  nach  volksmässigen  Rhythmen  und  ihrem  Zusammen- 
hange mit  einer  vorausgegangenen  Volkspoesie,  wie  z.  B.  die 
häufige  Anwendung  eigentlicher  Refrains  und  refrainartiger  Wieder- 
holungen, welcher  Zusammenhang  durch  die  so  häufig  erwähnten 
Juglares,  besonders  die  fahrenden  und  die  im  Dienste  der  Communen 
stehenden,  auch  wohl  später  noch  unterhalten  wurde. 

So  erzählt  Don  Pedro  der  III.  von  Catalonien  oder  der  IV.  von 
Aragon,  mit  dem  Beinamen  el  Ceremonioso,  in  der  ihm  selbst  zuge- 
schriebenen Chronik,  wie  bei  dem  Aufstande  der  Valencianersich 
ein  Barbier,  genannt  Gonzalbo,  erfrecht  habe,  sich  zwischen  ihn 
und  die  Königinn  zu  drängen  und  sie  zum  Tanze  zu  zwingen,  indem 
er  ein  gewiss  volksmässiges  Tanzlied  wie  zum  Spotte  dazu  sang, 
wovon  der  König  die  beiden  Verse  anführt : 

Mal  aja  qui  s'en  yrä 
Encara  ni  encara i) 


*) Entre   los    quals    hi    hac  un  barber  qui  havia  nom  Gonsalbo,  ab    cuutre 

CCCC  homens  de  sos  secaces,  veneb  ballar  :il<   Irompes  e  ab  tabals  al  oostre  real 


38  Ferdinand  Wolf. 

Aber  schon  unter  dessen  Sohn  und  Nachfolger,  Don  Juan  I., 
trat  ein  viel  entschiedenerer  Bruch  und  schärferer  Gegensatz  zwi- 
schen der  Kunst-  und  Volkspoesie  ein.  Denn  die  eben  durch  diesen 
König  in  Catalonien  eingeführte,  erkünstelte  Nachblüthe  der  echten 
Troubadourspoesie  ,  die  gelehrt- zünftige  von  Toulouse  oder  das  so- 
genannte „fröhliche  Wissen"  (Gay  saber),sah,  wie  unser  Meister- 
gesang, viel  spröder  als  der  ritterliche  Minnegesang  auf  die  Volks- 
poesie herab,  und  blähte  sich  eben ,  wie  ein  echt  bürgerlicher  Par- 
venü, mit  seiner  Schulweisheit  gewaltig  auf,  dem  von  ihm  mit  zur 
Schau  getragener  Verachtung  behandelten  Volksgesang  gegenüber. 

Wenn  daher  natürlich  auch  nicht  anzunehmen  ist,  dass  der 
Volksgesang  hier  gänzlich  verstummte,  so  findet  man  in  den  Schrift- 
werken des  14.  und  lo.  Jahrhunderts  seiner  höchstens  nur  gedacht 
um  ihn  zu  proscribiren,  oder  um  durch  in  seiner  Art  und  nach 
seinen  Weisen  gemachte  geistliche  Lieder  die  weltlichen  zu  ver- 
drängen *). 

Wohl  kommen  in  den  höfisch -zünftigen  Liederbüchern  jener 
Zeit,  wie  z.  B.  in  den  zu  Paris  und  Zaragoza  handschriftlich  auf- 
bewahrten catalanischen  Cangoners,  Gedichte  unter  dem  Namen 
„Rom  an  c"  aufgeführt  vor;  aber  dies  sind  ebensowenig  lyrisch- 
epische Volkslieder  oder  Romanzen  ,  oder  überhaupt  volksmässige 
Gedichte,  als  die  grösseren  castilischen  Rittergedichte  aus  dem 
13.  und  14.  Jahrhundert  die  ebenfalls  sich„Romance"  nennen;  denn 


e    volguessem    o    no    haguera    ä  ballar  ab  ells   Nos  e  la  Reyna.  E  lo  dit  Gonsalbo 
mese  en  mig  de  Nos  y  de  la  Reyna  e  dix  aquesta   cansö  : 

Mal  aja  qui  s'en  yra 

Encara  ni  encara 

Angeführt  bei  M  i  1  a  ,  pag.  78- 
1)  So  heisst  es  z.  B.  in  den  Synodal- Constitutionen  von  Lerida  vom  J.  1321  (Villa- 
nueva,  Viajes  a  las  iglesias  de  Espana,  Tomo  XVII.):  „Quod  in  ecclesia  vel 
cementeriis  coree  vel  ludi  non  fiant .  .  .  quia  plerique  in  festorum  vigiliis  et  ipsis 
festis  ac  diebus  Dominicis  .  .  .  non  verentur  in  ipsis  earuraque  cementeriis  coreas 
facere  disolutas  ,  et  interdum  canere  cantilenas  ae  multas  insolentias  perpe- 
trare." 

Und  in  einer  Handschrift  des  14.  Jahrb.,  welche  geistliche  Gedichte  und  Lieder, 
auch  in  lemosinischer  Sprache,  enthält,  heisst  es  (ebenda  Tomo  VII.):  „Quia 
interdum  peregrini  ,  quando  vigilant  in  ecclesia  Beatas  Mariaj  de  Monserrato  ,  va- 
dunt  cantare  et  trepudiare  et  etiam  in  platea  de  die  ,  et  ibi  non  debeant  nisi 
honestas  et  devotas  cantilenas  cantare:  idcirco  superius  ac  inferius  aliqua;  sunt 
scripta." 


Proben  portugiesischer  und  catalaniseher  Volksromanzen.  o" 

bekanntlich  führten  seihst  damals  noch  diesen  ursprünglich  ganz  gene- 
rischen  Namen  für  alle  Gedichte  in  den  romanischen  Vulgär- 
sprachen, d.  i.  Romances,  insbesondere  die  grösseren  erzäh- 
lenden und  von  Kunstdichtern  herrührenden  *). 

Ausser  den  in  der  Natur  der  Sache  liegenden  Gründen  und  die- 
sen spärlichen  historischen  Zeugnissen ,  haben  wir  dennoch  ein 
Kriterium,  und  zwar  eines  der  sichersten,  für  das  hohe  Alter  und 
die  selbstständige  Bildung  des  catalanischen  Volksgesanges:  die 
metrischen  Formen  der  noch  jetzt  im  Munde  des  Volkes  fort- 
lebenden Lieder.  Wir  finden  nämlich  unter  diesen  noch  mehrere  die 
nicht  das  Mass  und  die  Reimweise  der  castilischen  Romanzen  haben, 
sondern  aus  zweit  heil  igen,  ein  reim  igen  (oder  assonirenden) 
Langzeilen  bestehen,  und  dadurch  noch  offenbar  auf  ihren 
Ursprung  und  ihren  Zusammenhang  mit  den  alten  provenzalisch- 
limousinischen  Rhythmen  hinweisen.  So  findet  sich  die  normal - 
epische  zweitheilige  zehnsylbige  Langzeile  (vgl.  Diez,  Alt- 
romanische Sprachdenkmale,  S.  76  ff.)  mit  der  Cäsur  nach  der 
vierten  (wenn  männlich)  oder  fünften  (wenn  weiblich)  Sylbe ; 
wie  z.  B. 

Un  pomaret  |  n'hi  tinc  plantat, 
Que  de  pometas  |  n'es  carregat. 


*)  Vgl.  Du-Meril  a.  a.  0.  pag.  294 — 295:  und  meine  Abhandlung  über  die  Roman- 
zenpoesie  der  Spanier,  a.  a.  0.,  Bd.  117,  S.  82—84.—  Auch  Hr.  Mila  (pag. 
83)  sagt:  El  nombre  de  Romans,  limitado  ya  al  parecer  a  la  relacion  ver- 
sificada  de  un  acontecimiento  contemporaneo,  hallase  tambien  en  el 
cancionero  de  Zaragoza  aplicado  a  una  poesi'a  de  Francisco  Ferrer.  La  versifica- 
cion  de  las  dos  poesi'as  (nämlich  von  dieser  und  einer  andern  von  ihm  angeführ- 
ten Dichtung  des  Joan  Fogassot  aus  dem  Pariser  Canconer,  die  ebenfalls  sich  : 
Romang  nennt ,  und  :  fet.  .  .  .  sobre  la  preso  ö  detencio  del  Illustrissim  senyor 
don  Carlos  princep  de  Viana  etc.)  nada  tiene  que  ver  con  la  del  roman- 
ce  castellano."  —  Ja  noch  heutzutage  heissen  in  Catalonien  die  dort  heimi- 
schen eigentlich  volksmiissigen  und  daher  mündlich  fortgepflanzten  und  stets  nur 
zum  Gesänge  bestimmten  Lieder  ganz  allgemein:  Cansü,  während  man  mit 
dem  Namen:  „Romanso"  die  auf  fliegenden  Blättern  gedruckten,  von  den 
Blinden  zum  Verkauf  ausgebotenen  und  daher  zum  Lesen  bestimmten  Gedichte, 
allerdings  oft  Vulgär  -Romauzen  ,  bezeichnet.  (S.  Mila',  pag.  91:  y  nötese  que 
como  en  tiempo  de  Bergadan  y  del  rey  Don  Pedro  el  Ceremonioso  se  Uama 
todavia  canso  toda  poesfa  cantada  y  tradicional,  reservandose  el  nombre 
romance,  romanso,  para  los  pliegos  vendidos  por  los  ciegos  y  en  las  esqui- 
nas.") 


40  Ferdinand  Wolf. 

Oder  mit  der  Cäsur  nach  der  sechsten  (wenn  männlich) 
oder  siebenten  (wenn  weiblich),  wie  im  provenzalischen  Girart 
von  Roussillon  (D  i  e  z ,  a.  a.  0.  S.  89  —  90) : 

A  la  boca  del  mar  |  n'hi  ha  una  donsella , 
Tira  una  pedra  al  aigua  |  toca  l'amor: 

Oder  dem  provenzalischen  zehnsylbigen  lyrischen  Verse 
analog  gebildet  (Diez,  a.  a.  0.  S.  93),  wiewohl  selten  und  fast 
nur  in  Refrains: 

Ay  que  no  n'sap  j  de  viure,  viure,  viure. 

(Vgl.  über  die  Ausbildung  dieses  Verses  in  der  catalani- 
sehen  Kunstpoesie :  D  i  e  z ,  a.  a.  0.  S.  98.) 

Auch  von  der  weiteren  Fortbildung  der  zehnsylbigen  epischen 
Langzeile  zum  zwölfsylbigen  Vers  oder  dem  französischen 
Alexandriner  finden  sich  noch  Beispiele  in  catalanischen  Volkslie- 
dern *),   wie: 

AI  hostal  de  la  Peyra  |  tres  ninas  van  anä. 

Dass  aber  in  den  Mundarten  des  occitanischen  Sprachgebietes 
dieser  zehnsylbige  epische  Langvers  ein  uraltes,  seit  dem  10.  Jahrh. 
nachweisbares  und  echt  Volks  massiges  Mass  gewesen  sei,  kann 
nach  den  trefflichen  Untersuchungen  von  Diez  (a.  a.  0.  S.  113) 
nicht  mehr  bezweifelt  werden;  dessen  Vorkommen  in  noch  fortleben- 
den catalanischen  Volksliedern  lässt  daher  jedesfalls  auf  deren  for- 
mellen Zusammenhang  mit  einer  bereits  vor  dem  Einflüsse  der 
castilischen  selbstständig  ausgebildeten,  rhyt  h  misch  und  melo- 
disch aus  eigenthümlichen  Elementen  hervorgegangenen  und  schon 
typisch  gewordenen  Volkspoesie  zurückschliessen  ;  wenn  man  auch 
diese  erste   Epoche   derselben,     die   etwa   bis   an   das   Ende   des 


t)  Sind  schon  diese  alexandrinerartigen  Verse  (von  12 — 14  Sylben)  eine  nicht  ohne 
Einfluss  der  Kunstpoesie  entstandene  Fortbildung  der  rein  volksmässigen  zehn- 
sylbigen epischen  Langzeile  (vgl.  Diez,  a.  a.  0.  S.  130),  so  sind  noch  weniger 
als  eigentliche  und  ursprünglich  volksmässige  Masse  die  in  ein  paar  catalanischen 
Volksliedern  vorkommenden  Langzeilen  zu  betrachten,  die  aus  Hemistichen  von 
acht  bis  neun  Sylben,  und  einem  refrainartig  angehängten  von  fünf 
bestehen,  wie  in  dem  Liede  vom  Grafen  Arnaldo  (Mila',  pag.  136): 

Tota  sola  feu  la  vetlla  |  muller  leal, 
wo  auch  in  der  That  das  zweite  Hemistich  immer  refrainartig  wiederholt  wird. 


Proben  portugiesischer  und  eatalaniseher  Volksromanzen.  41 

15.  Jahrhunderts  reichte ,  wegen  Mangel  an  Documenten,  nur  eine 
hypothetische,  oder  mit  Hrn.  Mila  die  juglar eske  nennen 
wollte  i). 

„In  das  16.  und  17.  Jahrhundert,  sagt  Hr.  Mila,  fallt  die 
zweite  Periode  der  catalanischen  Volksdichtung,  die,  ihrer  Bildung 
nach  der  castilisehen  Roma  nzen -Poesie."  Auch  die  Catalanen 
nahmen  nach  ihrer  Einbürgerung  in  die  grosse  spanische  Monarchie 
natürlich  Theil  an  dem  neuen  Aufschwung  des  National-Gefühls  in 
der  ersten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts,  der  aus  den  oben  bemerkten 
Ursachen  aber  von  Castilien  ausging,  in  Folge  dessen  die  casti- 
lische  die  Hof- und  Schriftsprache,  und  vorzugsweise  die  castilische 
Romanzen -Poesie  das  Organ  des  nationellen  Bewusstseins  wurde; 
so  zwar ,  dass  nicht  nur  die  Sprachen  der  anderen  Kronländer  zu 
provinciellen  Dialekten,  sondern  selbst  die  in  ihnen  altheimischen 
volkstümlichen  Dichtungsformen  zu  mehr  secundären  und  localen 
wurden.  Die  castilische  Romanzenform  fand  aber  im  Catalanischen 
um  so  leichter  Eingang,  als  ihre  Grundrhythmen,  besonders  der 
der  achtsylbigen  Redondillos ,  hier  in  den  indigenen  Elementen 
durchaus  kein  Hinderniss,  ja  längst  vorbereitete  Analogien  vorfan- 
den3). Daher  sind  nicht  nur  die  castilisehen  Romanzen  seit  jener 
Zeit  auch  in  Catalonien  sehr  beliebt  geworden  und  in  Umlauf 
gekommen,  wie  die  im  Laufe  des  16.  Jahrhunderts  so  häufig  zu  Bar- 
celona und  Valencia  aufgelegten  Romanzen -Sammlungen  beweisen; 
daher  haben  sich  nicht  nur  mehrere  alte  Romanzen  in  castilischer 
Sprache   hier  im   Volksmunde   erhalten  (Hr.  Mila  gibt  davon  drei 


*)    Hr.  Mila  construirt  sie  also  (pag.  93): 

1.  6  epoca  de  los  j  u  gla  r  es  =  siglos  XIV  y  XV.  Corriendo  estos,  los  jugla- 
res  debieron  conservar  fragmentos  anteriores,  componer  otros  nuevos,  6  acaso 
tomar    asuntos    de   otros  paises ,  y  si  no  inventar  las  melodias  existentes  ,  propa- 

gar    los    principales   tipos    de    miisica    catalana De    esta    epoca 

deben  haber  quedado  aunque  con  carnbios  parciales  las  eanciones  compuestas  en 
metros  distintos  del  romance  casteliano,  o  cuando  menos  la  tradi- 
cion  de  estos  metros;  al  par  que  algunos  de  los  pocos  vestigios  historicos  que 
no  se  lian  borrado  de  nuestra  poesia. 

2)  So  sagt  auch  Hr.  Mila  (pag.  91): 

„  .  .  .  el  asonante  debiö  naeer  aqui  (im  Catalanischen)  como  alli  (im  Casti- 
lisehen) del  antiguo  sistema  de  versificacion  monorrima,  y  el  octosilabo  si 
no  es  tan  esencial  a  la  fräse  catalana  como  a'  la  castellana ,  en  manera  alguna 
repngna  ;!  la  primera,  existiendo  de  la  epoca  provenzal  algunos  versos  con  el 
aire  y  brio  de  nuestras  redondillas    nacionales." 


42  Ferdinand   Wolf. 

Beispiele,  wovon  ich  die  beiden  echt  volksmässigen:  Romance  de] 
rey  moro ,  und  Las  dos  hermanas,  in  der  Primavera,  Tcmo  II. 
no.  129  y  130,  wieder  abgedruckt  habe),  ja  wurden  schon  damals 
Romanzen  in  dieser  Sprache  in  Catalonien  selbst  gedichtet 
(man  s.  nur  z.  B.  die  offenbar  in  Catalonien  entstandenen  Romanzen 
vom  Grafen  von  Barcelona  und  der  Kaiserinn  von  Deutschland ,  die 
von  Galceran  de  Pinos,  u.  s.  w.);  sondern  auch  schon  im  16.  Jahrb. 
findet  man  in  cata  la  n  i  s  eher  Sprache  und  in  cas  tili  sehen 
Formen  abgefasste  Gedichte  (wie  einige  Lieder  in  S  erafi's  Poesfas 
in  der  Form  der  castilischen  Letrillas;  die  catalanische  Romanze  in 
sechssylbigen  Redondillos  von  den  Comendadores  de  Cördoba,  und 
mehrere  Letrillas,  Villancicos  und  Canciones  nach  Art  der  castili- 
schen in  catalanischer  Sprache  in  dem  zu  Barcelona  erschienenen 
Cancionero,  llamado  Flor  deenamorados  des  Juan  de  Linares,  u.  s.  w.); 
sondern  es  tragen  auch,  wie  wir  sehen  werden,  mehrere  von  Hrn. 
IMila  aus  dem  Volksmunde  mitgetheilte  catalanische  Romanzen  noch 
deutlich  die  Spuren  ihres  hohen  Alters  und  castilischen  Ur- 
sprungs, und  ein  grosser  Theil  derselben  ist  schon  ursprünglich  in 
der  gewöhnlichen  castilischen  Romanzenform  abgefasst.  So 
bürgerte  sich  diese  Form  auch  in  Catalonien  so  sehr  ein,  dass  die 
in  den  indigenen  Formen  erhaltenen  catalanischen  Romanzen  mehr 
wie  Ausnahmen  erscheinen,  und  selbst  Hr.  Milä  sich  zu  der  Äusse- 
rung veranlasst  findet  (pag.  90) :  „A  primera  vista  y  con  aparente 
razon  se  diria  que  nuestra  poesia  populär  debiö  su  origen  ä  los 
romances  castellanos,  etc.",  eine  Ansicht  die  er  freilich  und 
mit  Recht  als  irrig  zurückweist. 

Doch  kann  man  nur  aus  diesem  vorwiegenden  Einflüsse  der 
castilischen  auf  die  catalanische  Volkspoesie  mehrere  Erscheinungen 
erklären,  die  sonst  räthselhaft  blieben;  wie  das  fast  gänzliche  Feh- 
len von  historisch -sagen  haften  Romanzen  in  der  letzteren; 
nur  dadurch  erklärbar,  dass  die  Romanzen  der  Art,  besonders  wenn 
sie  Gegenstände  allgemeineren ,  nationellen  (im  Gegensatze  zum 
provinciellen)  Interesses  behandelten,  auch  hier  und  schon  ursprüng- 
lich in  castilischer  Sprache  abgefasst  wurden,  und  dass  durch  diesen 
Gebrauch  die  gänzlich  in  Vergessenheit  kamen,  welche  einst  in  der 
Landessprache  Sagen  von  mehr  rein  localem  Interesse  besangen; 
denn  es  ist  doch  wohl  kaum  zu  bezweifeln,  dass  bei  dem  bekannten 
Sagenreichthum   Cataloniens  ,    von  welchen   sich  viele   auf  andere 


Proben  portugiesischer  und  catalaniseher  Volksromanzen.  4  3 

Weise  (z.  B.  in  Chroniken,  u.  s.  w.)  erhalten  haben,  auch,  einst 
wenigstens,  Volkslieder  davon  existirt  haben  *). 

Die  dritte  Epoche  des  catalanischen  Volksgesanges  beginnt 
nach  Hrn.  Mila  mit  dem  18.  Jahrhundert,  und  reicht  bis  auf  unsere 
Tas'e.  Er  nennt  sie:  „eminente mente  populär",  insoferne  in 
dieser  Epoche  die  eigentlich  catalanischen  Volkslieder  rein  traditio- 
nell  blieben,  nur  im  Volksgesange  fortlebten,  und   einen    nicht 


i)  Hr.  Milä  der  auch  diese  räthselhafte  Erscheinung-  bemerkt  hat,  ohne  jedoch 
einen  Erklärungsgrund  dafür  anzugeben,  weist  mehrere  solcher  Sagen  aus  ande- 
ren Quellen  nach  (pag\  95 — 97).  Wir  inachen  darunter,  als  von  allgemeinerem 
mythologischen  Interesse,  auf  die  auch  hier  vorkommende  Sage  vom  „wilden 
Jäger"  (El  viento  del  cazador)  aufmerksam;  auf  die  von  den  „Tö  c  ht  er  n  des 
Königs  Her  ödes"  („de  la  danza  aerea  a  que  estan  condenadas  las  Herodia- 
das  por  la  muerte  del  Baulista,"  wovon  sich  wenigstens  eine  Art  von  Refran  er- 
halten hat,  das  wie  der  Anfang  eines  Volksliedes  klingt:  „Las  fillas  del 
rey  Herodes  —  ballan  que  mes  ballarän)  ;  —  auf  die  mit  dem  Grafen  Wifred  I. 
oder  Ramon  Berenguer  III.  von  Barcelona  in  Verbindung  gebrachte  Drachen- 
sage (el  vencedor  del  Drach),  die  verbreitetste,  auch  auf  mehreren  Kirchen 
Cataloniens  abgebildete  Sage  ;  ein  Drachenbild  wurde  auch  bei  mehreren  feierlichen 
Processionen  unter  Absingen  von  darauf  bezüglichen  Liedern  herumgetragen  ,  z.  B. 
1601  am  Feste  des  heil.  Ramon  de  Penafort  zu  Villafranca  del  Panades,  und  dazu 
das  Lied  gesungen: 

Cosa    primera  De  boca  y  nas 

Viu  que  venia  Llansaba    foch 

De     compania  Ballant  un  poch 

Ab    avalots  Tots  sis  plegats 

Cinch  diablots  Ben     enramats 

Un  bell  d  r  a  c  a  s  Tots  de  cuets 

Man  hat  allerdings  eine  Sammlung  catalaniseher  Sagen  unter  folgendem  Titel,  den 
ich  seiner  Merkwürdigkeit  wegen  ganz  hieher  setzen  will: 

Hazanas  y  Recuerdos  de  los  Catalanes  ,  6  Coleccion  de  leyendas  relativas  a  los 
hechos  mas  famosos,  a  las  tradiciones  masfundadas,  y  a  las  empresas  mas  cono- 
eidas  que  se  eneuentran  en  la  historia  de  Cataluna  ,  desde  la  e'poca  de  la  domina- 
cion  arabe  en  Barcelona ,  hasta  el  enlace  de  Fernando  el  Catolieo  de  Aragon 
con  lsabel  de  Castilla. 

Obra  escrita,  a  imitacion  de  ciertas  baladas  que  compusieron  en  aleman  ,  Goethe, 
Klopstoch  (sie)  ,  Schiller,  Burger  y  Korner  (sie),  por  D.  Antonio  de  Bofa- 
rull  y  Broea,  oficial  del  Real  y  general  Archivo  de  la  Corona  de  Aragon. 
Barcelona  1846,    in  8.   — 

Allein  die  auf  dein  Titel  erwähnte  Nachahmung  ist  in  der  That  eine  wahre  Parodie  ; 
die  Sagen,  übrigens  in  einer  aufgedunsenen,  lächerlich  carikirten  Prosa,  etwa 
im  Styl  Victor  Hugo's  gegeben  ,  sind  durch  novellistische  Verbalhornung  ganz 
entstellt,  und  in  dieser  Gestalt  für  den  wissenschaftlichen  Forscher  ganz  unbrauch- 
bar. Hätte  Hr.  Bofarull  —  wenn  er  Deutsche  nachahmen  wollte  —  doch  die  Sagen 
der  Brüder  Grimm  sich  zum  Muster  genommen!  — 


44  Ferdinand  Wolf. 

nur  von  der  Kunst-  sondern  auch  von  der  Vulgär -Poesie   verschie- 
denen Charakter  bewahrten. 

Denn  seit  der  scharfen  Trennung  der  gebildeten  Classen  von 
dem  was  man  nun  „Volk"  (vulgus)  nannte,  eine  Trennung  die 
hier  um  so  schärfer  sich  bemerklich  machte,  als  die  Schrift-  und 
höhere  Conversationssprache  der  Gebildeten  auch  hier  die  casti- 
lische  wurde,  hatte  dieses  Volk  auch  in  Catalonien  neben  der  aus 
dem  früheren  Nationalleben  und  seinem  eigenen  intimsten  Gemüths- 
leben  hervorgegangenen  Poesie  noch  eine  besonders  auf  dasselbe 
berechnete,  ihm  von  Sängern  oder  Dichtern  von  Profession  mund- 
gerecht gemachte  halb  volks-,  halb  kunstmässige  Dichtung  erhalten, 
die  man  zum  Unterschiede  von  der  echten,  reinen  Volkspoesie  ganz 
gut  die  „Vulgär-  oder  Bänkelsä  nger- Poesie"  genannt  hat. 
Diese  ist  —  wie  der  halb  verbildete,  halb  verwilderte  Pöbel  im 
Unterschiede  von  „Volk"  —  sich  wohl  überall  sehr  ähnlich,  und  auf 
die  in  Catalonien,  besonders  durch  die  gedruckten  Flugblätter  und 
die  Ausrufer  an  den  Strassenecken  und  auf  den  Märkten  verbreitete 
passt  um  so  mehr  die  treffliche  Charakteristik  die  Dur  an  (Roman- 
cero  generali  2.  edic,  Tom .  I,  pag.  XXVIII  sig. ,  —  vgl.  auch 
meine  Bemerkungen  über  diese  Romanzen-Gattung  in  den  Wiener 
Jahrbüchern  d.  Lit.,  Bd.  1 14,  S.  66  ff.)  von  der  castilischen 
V u  1  g ä r - P o e s i e  (Romances  vulgares)  gegeben  hat,  als  eben  ein 
grosser  Theil  jener  Flugblätter  nur  einen  Nachdruck  der  castili- 
schen Originale  enthält,  die  in  catalanischer  Sprache  abgefassten 
sich  aber  höchstens  dadurch  von  ihren  castilischen  Vorbildern  unter- 
scheiden, dass  sie  die  Entartung  noch  überbieten,  noch  prosaischer, 
noch  roher,  kurz  noch  vulgärer  sind  *)• 


*)  So  sagtauch  Hr.  Mila  (pag.  94),  von  den  modernen,   für  den  Druck   bestimmten, 
besonders  in  fliegenden  Blättern  in  Catalonien  verbreiteten  Romanzen  und  Gedichten  : 

los  Ultimos  pertenecen  casi  sin  escepcion  a  la  poesia  vulgär,    es   decir, 

a  la  que  mas  rastrera  y  al  mismo  tiempo  menos  ingenua  que  la  populär  descubre  pre- 
tensiones  de  ingenio  y  de  artificio,  y  adolece,  ora  de  completa  idiotez  ora  de  enfa- 
dosa  pedanteria."  —  Die  k.  k.  Hofbibliothek  besitzt,  in  einem  Quart-ßändchen  zu- 
sammengebunden, mehrere  solcher  in  Catalonien  gedruckter  Flugblätter  und  die 
blosse  Angabe  ihrer  Überschriften  wird  geniigen  ,  um  ihren  Inhalt  und  ihren  Geist 
zu  charakterisiren:  1)  Gustos  Colloqui,  entre  un  enamorat  lacayo,  y  una  hermosa 
cuynera,  en  que,  despues  de  alguns  requiebros,  refereix  ella  sos  treballs,  y  las  rare- 
sas  de  una  mestressa.  —  2)  Trobos  discretos,  para  cantar  los  galanes  a  sus  damas.  — 
3)  Decimas  burlescas  a'  un  assumpto  llepol  (dieser  leckere  Gegenstand  ist  —  la 
merda !  — ).  —  4)  Desenganys,   y  avisos  pera  despertar  al   pecador.  —  5)  Virtuts 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  45 

Die  echte  Volkspoesie  —  von  den  sogenannten  Gebildeten 
verachtet  oder  doch  lange  vernachlässiget,  durch  das  Geschrei  der 
Bänkelsänger  vom  „lauten  Markte"  verscheucht,  nie  zum  Lesen 
oder  nur  zum  blossen  „Sagen"  bestimmt,  sondern  stets  mit  dem 
Gesänge  entstanden,  mit  den  „Weisen"  auf  das  Innigste  verbunden, 
—  diese  von  dichterisch  Erregten  und  Begabten,  nicht  mit  künst- 
lerischem Bewusstsein  und  in  künstlerischer  Absicht  in  einem  glück- 
lichen Augenblicke  geschaffenen,  naturwüchsig  emporgeschossenen, 
von  Gleichgestimmten  mit,  nach-  und  fortgesungenen  Lieder  hatten 
sich  auch  in  Catalonien  auf  die  Berge  und  in  die  Wälder  geflüchtet 
und  tönten  nun  nur  leise  und  verschämt  in  den  ländlichen  Hülten  und 
in  den  Kinderstuben  nach.  In  diesen  letzteren  vornämlich  hat  auch 
Hr.  M  il  a  sie  erlauscht  und  ihnen  und  fahrenden  Sängerinnen,  die 
zum  Danke  für  das  in  den  Gehöften  (musias)  erbettelte  Brod  und  die 
Herberge  durch  solche  Lieder  die  dafür  noch  empfänglichen  Land- 
leute erfreuen,  hat  er  den  grössten  Theil  des  von  ihm  so  glücklich 
wieder  zu  Tage  geförderten  Schatzes  altheimischer  und  so  lange  nur 
im  Verborgenen  fortlebender  Volkspoesie  zu  danken  J). 


del  cagar  (mit  entsprechendem  Holzschnitt).  —  6)  Relacio  nova  de  Ia  batalla  san- 
grienta  donada  per  las  pussas  armadas  a  la  bayoneta,  alla'  en  lo  camp  de  la  pell.  — 
7)  Rahonament  y  coloqni  nou,  en  el  que  es  refereix  eis  grans  casos  que  li  pasa'ren 
a  Neio  el  tripero,  natural  de  Valencia,  fill  del.  carrer  de  Caiiete,  chie  mölt  habil 
pera  el  es  tu  di  o  de  la  uiia,  en  lo  denies  que  vora  el  euriös  Lector  en  esta  Pri- 
mera  part.  —  Seg-oua  pari  —  8)  Dialogo  espirituäl  entre  lo  fill  prodieh  y 
son  pare.  —  9)  Representaeio  y  conversio  de  la  Semaritana.  Interlocutores :  Jesus, 
Judas,  San  Pere,  San  Joan,  La  Semaritana.  —  10)  Lo  estudiant  magich ,  ö  l'aniina 
del  senor  Libori. —  Personas:  M  arch,  marit.  L  aya,  muller.  Don  Joan.  Estu- 
dian.  —  11)  Ganso  novament  treta  per  animar  los  Catalans  en  defensa  de  la  fe,  y 
son  Rey,  y  perseguir  los  Francesos  convencionals  ab  tot  esfors,  y  valor.  Composta 
ab  quartillas.  —  12)  Canso  de  la  mala  dona,  y  del  hon  Janot.  —  13)  Goigs  del  glo- 
rios apostol  Sant  Pau.  —  14)  Goigs  del  glorios  prothomartyr  Sant  Esteve. 
*)  Hr.  Mila'  hat  über  diese  seine  Quellen  mit  so  anmuthiger  Naivetat  berichtet,  dass 
ich  ihn  selbst  sprechen  lasse  (pag.  89—90)  :  „Los  ciegos,  que  son  los  actuales  can- 
torcs  de  profesion  la  (la  poesi'a  tradicional  y  populär  en  todo  el  rigor  de  la  palabra) 
olvidaron  completamentepor  coplas  modernas,  vulgares  y  faltas  de  valor  poe'lico: 
solo  de  algunas  mendigas  hemos  sabido  que  al  mismo  tiempo  que  de  recitaciones  pia- 
dosas  se  ayudaron  de  dos  ö  tres  cantos  populäres  para  excitar  y  recompensar  la 
hospitalidad  de  las  masias.  Aun  mas  que  populär  es  dicha  poesi'a  infa  ntil  ,  pues 
si  los  campesinos  stielen  silvar  6  lalarear  sus  tonos  y  cantan  con  alguna  frecuencia 
las  canciones  mas  modernas,  no  solo  para  si  sino  a  veces  en  coro  y  acompanandose 
con  el  agudo  son  de  la  dulzaina  ;  si  las  mujeres  en  especial  recuerdan  las  canciones 
con  Singular  complacencia,    habiendolas  que  se  envanecen  del  crecido  nunieio  que 


46  Ferdinand  Wolf. 

Diese,  wie  gesagt,  mit  dem  Gesang  entstandenen  und  im 
Gesänge  fortlebenden  Lieder  erhalten  freilich  erst  ihren  ganzen  Reiz, 
wenn  man  sie  singen  hört,  oder  doch  wenigstens  ihre  Melodien  ken- 
nen lernt.  Diese  Melodien,  versichert  Hr.  Mila,  haben  einen  ganz 
eigenthümlichen  Charakter  und  für  den  Eingebomen  einen  unwider- 
stehlichen Zauber.  „Es  ist"  sagt  er,  „als  wenn  dem  der  diese 
Melodien  hört,  sich  das  Leben  verjüngte,  als  wenn  die  Gegenstände 
die  das  durch  sie  gehobene,  veredelte  und  idealisirte  Wort  besingt, 
vor  ihm  in  ihrer  Frische  und  Schöne  erstünden  ,  als  wenn  man  sie 
zum  ersten  Male  vor  sich  sähe,  oder  wie  mit  den  magischen  Rosen- 
wolken der  Kindheit  leicht  verhüllt  (ö  velados  con  los  mdgicos  ce- 
lajes  de  la  infuncia)."  Leider  hat  er  die  Melodien  nicht  beigegeben. 
Sie  werden  auch  unter  Begleitung  von  Instrumenten  vorgetragen, 
wie  von  der  Taröta  oder  Dolsaina  (einer  Art  Huboe),  vorzüglich 
aber  der  Gra  1 1  a  (verwandt  mit  den  in  den  altfranzösischen  Chan- 
sons de  geste  oft  erwähnten  graisles,  clairon)  und  der  Manxa 
borrega  oder  Sac  dels  gemecs  oder  auch  noch,  wie  ehemals, 
Cornamusa  genannt,  womit  man  besonders  die  epischen  Lieder 
begleitet. 

Die  Lieder  dieser  Gattung,  die  eine  epische  Grundlage  haben, 
wiewohl  meist  schon  märchenhaft  verallgemeint  oder  sagenhaft  loca- 
lisirt,  tragen  noch  offenbar  das  Gepräge  frühen  Ursprungs;  denn 
trotz  den  unverkennbaren  Umgestaltungen  die  sie,  wie  alle  blos 
traditionell  fortgepflanzte  Poesie  der  Art,  au  erleiden  hatten,  weisen 
eben  so  wenig  zu  übersehende  Spuren  in  Auffassung  des  Gegen- 
standes, Anschauungsweise,  Sitte,  Ausdruck  und  selbst  in  der  Sprache 
(in  der  sich  noch  so  manche  Wörter  finden,  die  sogar  ihre  unmittel- 
bare Abstammung  aus  dem  Provenzalischen  erkennen  lassen  wie  : 
aymar,  aymador,  nina  u,  s.  w.),  auf  ihre  Entstehung  und  Abfassung 
in  einer  noch  durchaus  ritterlich  gesinnten  Zeit  zurück.  Dies  wird 
noch  bemerkbarer,  wenn  man  mit  ihnen  die  wenigen  eigentlich 
historischen    in    dieser    Periode     selbst     entstandenen    Lieder 


conserva  su  memoria  (er  führt  ein  Weib  aus  Espluga  de  Francoli  an,  die  ihm  einige 
vierzig- solcher  Lieder  vorsang),  coinunmente  solo  se  les  da  importancia  para  en- 
tretener  a  los  niüos,  siendo  las  generaciones  infantiles  las  que  se 
las  transmiten,  y  sonando  comprendidas  a  medias,  en  sus  labios  inocentes,  que  puri- 
fican  lo  que  aquellas  poesi'as  pueden  tener  de  sobrado  ingenuo  y  desnudo." 


Proben  portugiesischer  und  catalaniseher  Volksromanzen.  4  i 

vergleicht,  wie  einige  aus  dem  spanischen  Successionskriege,  an  dem 
Catalonien  bekanntlich  einen  so  grossen  und  tragischen  Antheil  nahm, 
aus  der  Zeit  der  ersten  französischen  Revolution,  aus  dem  Unabhän- 
gigkeitskriege gegen  Napoleon  bis  herab  zum  jüngsten  Successions- 
Streit,  zu  den  Guerillas-,  Contrahandisten-  und  Räuberliedern,  die 
alle  in  Geist  und  Ton  so  weit  von  jenen  ritterlichen  abstehen ,  als 
unsere  von  jener  Zeit,  und  fast  nur  mehr  durch  den  Gegenstand  von 
den  eigentlich  vulgären  sich  unterscheiden. 

Überdies  sind  noch  die  besten  unter  diesen  historischen  Liedern 
jene  die  in  der  N  a  ti  o  n  alspr  ache,  der  castilischen,  oder  doch 
in  der  castilischen  Romanzenform  abgefasst  sind;  ein  neuer  Beweis 
jenes  oben  bemerkten  Einflusses  der  castilischen  Volkspoesie,  als  des 
eigentlichen  Organs  des  Nationalbewusstseins  *). 

Viel  poetischer  ist  eine  andere  Gattung  der  in  neuerer  Zeit 
entstandenen  Lieder,  welche  in  kleinen  Genre-Bildern  Sitten 
des  Landes  oder  merkwürdig  gewordene  Ereignisse  oder  Züge  aus 
dem  täglichen  Leben  schildern  (Canciones  de  costumbres  moder- 
nus) 2). 

Natürlich  fehlt  es  auch  nicht  an  legendenartigen,  und 
darunter  sind  einige  mit  ganz  eigenthümlichen,  echt  volksmässigen 
und  ein  hohes  Alter  beurkundenden  Zügen. 

Neben  diesen ,  mit  mehr  oder  minder  objectiver  Grundlage, 
besteht  wie  überall,  ein  grosser  Theil  der  catalanischen  Volkslieder 
aus  rein  lyrischen,  geistlichen  (Weihnachtslieder)  und  welt- 
lichen (unter  diesen  auch  satyrischen)  Inhalts. 


*)  Dies  gesteht  selbst  Hr.  Mild  zu,  indem  auch  er  bemerkt  (pag.  94):  „Los  moderuos 
que  pertenecen  a  esta  clase  (de  los  h  i  st  o  rie  o  s)  tocan  en  lo  vulgär  y   son  desco- 
loridos  y  prosaicos  cuando  dejan  la  versificacion  del  r  o  ma  nee,   mien- 
tras  si  la  adoptan,  aunque  carecen  de  merito,  eonservan  a'  lo  menos  la  marcha   viva 
y  ra'pida  y  la  intencion  pintoresca". 
2)  In  einer  dieser  Romanzen:  „El  fusilero"   (der  Musketier) ,  nennt  sich   der  Held 
derselben,  ein  Musketier  der  von   seiner  Geliebten  scheiden  muss,  weil  er    Ordre 
bekommen,  sich  in  Barcelona   einzuschiffen,  im   Eingang  und  am   Ende  selbst  als 
Verfasser,  das  einzige  Beispiel  einer  solchen  Bekennung  der  Autorschart : 
Una  canso  vull  cantar  —  no  hi  ha  molt  que  s'ha  dietada, 
treta  de  dos  fusellers  —  que  :i  Camprodon  habitaban. 


La  canso  qui  treta  l'ha  —   la  cansö  qui  l'ha  dietada, 
es  un  fadri  fuseller  —  servidor  del   rey  d'Espana. 
Die  Romanze  ist  übrigens  schon  mehr  im  Bänkelsängerton. 


48  Ferdinand  Wolf. 

Eine  besondere  Erwähnung  verdienen  die  Tanzlieder  (Dau- 
ms). Es  ist  Sitte  in  Catalonien  an  grossen  Festtagen,  besonders  an 
den  Namensfesten  der  Heiligen  grössere  dramatische  Tänze  auf- 
zuführen, in  welchen  das  Leben  des  gefeierten  Heiligen,  oder  Siege 
der  Christen  über  die  Mauren  oder  Türken ,  namentlich  auch  die 
glücklich  abgeschlagenen  Türkenbelagerungen  Wiens;  aber  auch 
manchmal  das  Leben  berüchtigter  Räuber  (bandoleros)  dargestellt 
werden.  Aber  diese  Dramen  mit  Tanz  und  Gesang  rühren  doch  schon 
von  Dichtern  von  Profession  her,  sind  blosse  Gelegenheitsgedichte 
ohne  poetischen  Werth,    kurz,   mehr  Producte  der  Vulgär-Poesie. 

Hingegen  gibt  es  auch  kleinere  Lieder  zu  ländlichen,  geselligen 
oder  Kinder-Tänzen,  und  diese  sind  ganz  gewiss  eigentliche  Volks- 
lieder und  haben  sowohl  dramatische  als  auch  noch  epische  Ele- 
mente *). 


i)  Da  diese  Liedchen  in  der  Übersetzung-  ihren  grössten  Reiz  verlieren,  auch  sehr  kurz 
sind,  so  will  ich  die  vier  von  Hrn.  Mihi  (pag.  173  y  174)  mitgetheilten  im  Origi- 
nale hersetzen. 

1)  El  labrador. 
El  meu  pare  quant  llauraba 
feya  aixis, 
feya  aixis : 
s'en  douaba  un  cop  al  pit, 
y  s'en  giraba. 

Treballeu,  treballeu,    . 
que  la  cibada  culliriau, 

treballeu,  treballeu, 
que  la  cibada  cullireu. 
El  meu  pare  quant  sembraba  etc. 
Der  Tanz,  zu  dem  dieses  Liedchen  gesungen  wird  ,  ist  ein  Rundtanz  (danza  en 
rueda),  das  Segment  eines  Cirkels  beschreibend  und  innehaltend,  um  die   verschie- 
denen Arbeiten  des  Landmannes  nachzuahmen. 

2)  La  nina  de  Puigcerdä". 
Si  passa  el  port,  nineta,  passa  ei  port. 

—  No'l  voli  pas  passar, 
ay  mare,  mare,  mare, 
no'l  voli  pas  passar 

el  port  de  Puigcerdä'. 

Si  passa  el  port,  nineta,  passa  el  port. 

—  No'l  voli  pas  passar 
el  port  tota  soleta, 
noT  voli  pas  passar 

si'l  meu  galan  no  hi  va  etc. 
Wird  zu  gewissen  Tänzen  in  Puigcerdä'  und  Andorra  gesungen. 


Proben  portugiesischer  und  catalanisclier  Volksromanzen.  4«) 

In  der  neuesten  Zeit  entstehen  und  verbreiten  sich  unter  dem 
Volke  höchstens  noch  einige  Liebes-  oder  Spottlieder,  die  natürlich 
meist  von  den  Betheiligten  selbst  herrühren. 

HerrMilä  hat  daher  seinen  „Romancerillo  catalan" 
in  folgende  Sectionen  abgetheilt: 

1 .  Romantische  Lieder  (canciones  romuncescas ) ,  mär- 
chen-  und  sagenhaft  und  darunter  die  ältesten  Ursprungs,  die  schön- 
sten und  eigentümlichsten. 


3.  La   embajadadelRey    moro. 
Aqui  fenvio  la  conversa, 
la  conversa  del  Rey  moro. 
£Öe  dos  hijas  que  tu  tienes 
si  me  quieres  dar  la  una? 

—  Si  las  tengo,  no  las  tengo, 
no  las  tengo  para  dar. 

Si  las  tengo,  no  las  tengo, 
no  las  tengo  para  ti. 

—  Tres  passos  n"hi  fet  enrera, 
no  se  el  Rey  si  'en  dira  res. 

—  Torna,  torna,  escudereta, 
la  mes  linda  t'en  dare  ; 

la  mes  linda  y  la  mes  guapa, 
la  mes  guapa  del  roser. 

—  Ben  serä,  ben  contemplada, 
en  cadira  d'or  sentada ; 
dormira  en  brassos  del  Rey.  — 
A  Dios  perla  y  clavell. 

Die  Kinder  stellen  tanzend  und  singend  dieses  kleine  Drama  dar. 

4.  La  i  da  del  Rey. 
AI  carrer  del  vidre 
n'hi  plantan  una  oliba 
fresca  y  pulida, 
pulida  com  un  sol. 
Sera  per  inaravella, 
s'il  fill  del  Rey  la  vol.  — 
Tocan  a  la  marcha, 
qu'el  Rey  ha  de  marchat'. 
—  No  ploris,  Marieta, 
que  luego  tornara'. 
T'en  portara  un  manto 
de   vint   y   eine  colors, 
manto  snln-e  manto, 
coral  sobre  coral, 
al  cap  de  la  Marieta 
la  Corona  real. 
Ebenfalls  von  Kindern  unter  Tanz  und  Gesang  dramatisch  dargestellt. 
Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  1.  Hft.  \ 


50  Ferdinand  Wolf. 

2.  Geistliche  Lieder  (Canciones  religio  sas) ;  legenden- 
artig, aber  in  Geist  und  Ton  volksmässig. 

3.  Historische  Lieder  (Canciones  histöricas). 

4.  Banditen-Lieder  (Canciones  de  bandidos). 

5.  Lieder  aus  dem  Alltagsleben  (Canciones  de  costum- 
bres  modemas;  genreartige  Sittenbilder^. 

6.  Rein  lyrische  Lieder  (poesias  Uricas). 

7.  Tanzlieder  (Danzas,  die  oben  mitgetheilten  vier^- 
Natürlich  sind  in  diesen  Abtheilungen  die  Grenzen  nicht  immer 

scharf  eingehalten,  namentlich  in  der  ersten,  dritten  und  fünften,  die 
Lieder  enthalten,  die  man  ebenso  gut  der  einen  wie  der  andern 
zutheilen  könnte. 

Noch  hat  Hr.  Milä  seiner  Liedersammlung  einen  Anhang  in 
(castilischer)  Prosa  beigegeben,  der  Proben  von  in  Catalonien  ver- 
breiteten K  in  de  r- Märe  he n  (enentos  infantiles,  in  Catalonien 
Rondallas,  manchmal  mit  dem  Zusätze:  de  la  bora  del  foch,  d.  i. 
vom  Herdrand  oder  der  Ofenbank,  genannt^  und  Bemerkungen  über 
den  dort  noch  herrschenden  Volksaberglauben  enthält.  Ich  glaube 
den  Forschern  in  diesem  Fache  einen  Dienst  zu  erzeugen,  wenn  ich 
auch  daraus  das  Bemerkenswertheste  hier  mittheile. 

Der  Glaube  an  Hexen  (brujas)  und  Zauberer  (hechiceros) 
ist  in  Catalonien  noch  nicht  gänzlich  ausgerottet.  So  erzählt  Hr. 
Milä,  dass  er  ein  unlängst  zum  Danke  für  die  Rettung  eines  Kindes 
angefertigtes  Gemälde  gesehen  habe,  darstellend,  wie  es  die  Hexen 
in  der  Sylvester-Nacht  durch  das  Fenster  zu  entführen  versuchten, 
und  dass  ihm  ein  altes  Weib  erzählt  habe,  wie  ihr  behextes  Kind 
Nachts  von  einer  lauten,  unheimlichen  Stimme  gerufen  wurde,  und 
als  man  durch  gewisse  Beschwörungsformeln  die  es  quälende  Hexe 
zwang,  von  ihm  abzulassen,  diese  plötzlich  am  Fusse  der  Treppe 
sich  zeigte,  die  unmittelbar  zu  dem  Herde  (kogar)  führte,  wo  die 
Entzauberung  (ensalmo)  vorgenommen  wurde.  Die  Zauberer  unter- 
scheiden sich  von  gewöhnlichen  Quacksalbern  dadurch,  dass  sie  die 
Krankheiten  im  voraus  verkünden  (adivinar) ,  und  die  sogenannten 
Segensprecher  (saludadores,  ein  auch  im  übrigen  Spanien 
verbreiteter  Aberglaube,  s.  das  Wörterbuch  der  span.  Akademie  u. 
d.  W.^  sind  Personen  die  in  der  Christnacht  geboren  wurden,  ein 
Mal  am  Gaumen  und  die  Kraft  haben,  von  der  Hundswuth  zu  heilen. 
Wenn  die  Berge  in  Nebel  gehüllt  sind,  sieht  man  deutlich  hindurch 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksroinanzen.  3  1 

gespenstige  Wesen  (Fantasmas),  wiosie  mit  ausgespreitefen  Füssen 
auf  zwei  Fichtenbäumen  stehen.  Kobolde  (Follets)  scheuern  des 
Nachts  die  Häuser  und  züchtigen  faule  Mägde,  und  trotzdem,  dass 
sie  sehr  klein  sind,  erscheinen  sie  manchmal  in  solcher  Menge,  dass 
sie  auch  dem  Beherztesten  Angst  einjagen.  Hingegen  findet  sich 
weder  in  dem  Aberglauben  noch  in  den  Kindermärchen  des  catala- 
nischen  Volkes  die  geringste  Spur  von  eigentlichen  Feen ,  was  um 
so  mehr  zu  verwundern  ist,  als  ihre  Stammgenossen  und  Nachbarn, 
die  Provenzalen,  nicht  arm  an  Feensagen  sind  *). 

Unter  den  von  Hrn.  Mila  mit  lobenswerther  Enthaltsamkeit  und 
Treue  mitgetheilten  Kindermärchen  treffen  wir  fast  lauter  alte  Be- 
kannte, aber  doch  hin  und  wieder  mit  eigentümlichen  Zügen. 

I.  Die  beiden  Mädchen  (Las  dos  ninas).  Ein  Weib  hatte 
eine  Tochter  und  eine  Stieftochter.  Letztere  schickte  es  die  Heerde 
zu  hüten,  und  da  das  Mädchen  sehr  brav  und  fromm  war,  so  betete 
es  während  dem  Hüten.  Als  es  eines  Tages  heimgekehrt  war,  nah- 
men sie  eines  seiner  Lämmer,  schlachteten  es  und  die  Stiefmutter 
befahl  dem  Mädchen,  dessen  Eingeweide  zu  reinigen,  sich  aber 
wohl  zu  hüten,  auch  nur  ein  Stückchen  davon  fallen  zu  lassen.  Beim 
Beinigen  Hess  es  jedoch  ein  Stückchen  fallen;  da  erblickte  es  einen 
Bauer  der  auf  dein  Felde  arbeitete,  zu  diesem  ging  es  und  sprach: 
„Bauer,  guter  Bauer,  möge  Gott  eure  Arbeit  segnen!  habt  ihr  nicht 
ein  Stückchen  Eingeweide  gesehen,  das  den  Bach  hinabtrieb?"  — 
Der  Bauer  antwortete:  „Begebt  euch  zu  jenem  alten  Männchen."  — 
Das  Mädchen  ging  zu  dem  alten  Männchen  und  fragte  es:  „Altes 
Männchen,  gutes  altes  Männchen,  möge  Gott  euch  ein  frohes  Alter 
verleihen!  habt  ihr  nicht  ein  Stückchen  Eingeweide  gesehen,  das 
den  Bach  hinabtrieb?"  —  Das  alte  Männchen  antwortete  ihm:  „Geht 
zu  jenem  alten  Weibchen."  —  „Altes  Weibchen,  gutes  altes  Weib- 
chen, möge  Gott  euch  ein  frohes  Alter  verleihen  !  habt  ihr  vielleicht 
ein  Stückchen  Eingeweide  gesehen,  das  den  Bach  hinabtrieb?"  — 
Die  Alte  antwortete:  „Nein  Mädchen,  doch  tritt  herein."  Das  Mäd- 
chen trat  in  das  Haus  der  Alten,  die  ihm  das  Schönste   was  man  in 


*)  So  führt  Hr.  Mila  selbst,  ein  Beispiel  davon  an  indem  er  bemerkt  (pag.  188):  „Die 
Provenzalen  haben  oder  hatten  eine  Sage  von  einem  gewissen  Brincan,  der  das 
Feenland  besucht  halte.  Diese  Sage  hat  sich  zwar  in  Catalonien  nicht  erhalten;  aber 
doch  bezieht  sich  darauf  die  Redensart:  er  weiss  mehr  als  Brican  (sähe  mas  que 
Brican)." 

4* 


52  Ferdinand  Wolf. 

Gold  und  Silber  sehen  konnte,  zeigte   und  es  aufforderte,  daraus  zu 
wählen,  und  das  Mädchen  nahm  das  am  wenigsten  Werthvolle.  Da 
sprach  die  Alte:   „Merk  auf,  Mädchen,  wenn  du  dich  ein  wenig  von 
hier  entfernt  haben  wirst,  wirst  du  einen  Esel  wiehern  hören ;  hüte 
dich  umzuschauen,  hast  du  dich  etwas  weiter  entfernt,    wirst  du  ein 
Glöckchen  anschlagen  hören:   dann  schau'  in  die  Höhe."  —  So  that 
das  Mädchen  und  als  es  aufschaute,  fiel  ihm  ein  goldenes  Sternchen 
auf  die  Stirne.  Es  kehrte  nach  Hause  und  als  seine  Stiefschwester 
es  so  schön  sah,  wollte  sie  auch  Eingeweide  reinigen  gehen.  Sie 
schlachteten  ein  Lamm,  nahmen  die  Eingeweide  heraus  und  gaben 
sie  ihr  zum  Reinigen;  doch  auch  sie  Hess  ein  Stückchen  hinabfallen. 
Da  sah  sie  den  Bauer  der  auf  dem  Felde  arbeitete,  ging  zu  ihm 
und   sprach:  „Bauer,    schlechter   Bauer,    möge  Gott  üblen  Erfolg 
eurer  Arbeit  geben!  habt  ihr  nicht  ein    Stückchen  Eingeweide  ge- 
sehen, das  den  Bach  hinabtrieb  ?"  Der  Bauer  antwortete:  „Geht  zu 
jenem  alten  Männchen."   —  Sie  ging  zu  ihm    und    sagte  :    Alter, 
schlechter  Alter,  möge  Gott  euch  ein  übles  Alter  bescheren !    habt 
ihr  nicht  u.  s.  w.  ?"  —  Der  Alte  erwiderte:    „Geht  zu  jenem  alten 
Weibchen."  —  Sie  ging  zu  ihr  und  sprach:  „Alte,   schlechte  Alte, 
möge  Gott  euch  ein  übles  Alter  bescheren!  habt  ihr  u.  s.  w.?"  — 
Die  Alte  antwortete:  „Nein  Mädchen,  doch  tritt  herein."  —  Sie  trat 
in  das  Haus  der  Alten  die  ihr  das  Schönste,  was  man  in  Gold  und 
Silber  sehen  konnte,  zeigte  und  sie  daraus  wählen  hiess.  Sie  nahm 
das  Beste.  Da  sprach  die  Alte  zu  ihr:  „Merke  auf,  Mädchen,  wenn 
du  von  hier  etwas  entfernt  bist,  wirst  du  ein  Glöckchen  anschlagen 
hören;  schau1  aber  ja  nicht  in  die  Höhe,  bist  du  etwas  weiter  ge- 
kommen ,    wirst    du    einen  Esel   wiehern   hören ;  dann   erhebe  das 
Haupt."  —  So  that  das  Mädchen  und  als  es  das  Haupt  erhob,  fiel 
ihm  eine  Eselspfote  auf  die  Stirne  *). 

II.  DertreueGe  f  ä  h  r  t  e  (el  baen  companeroj.  Ein  Königs- 
sohn hatte  einen  Gefährten,  und  die  beiden  liebten  sich  sehr.  Der 
Königssohn  wollte  sich  mit  einer  Princessinn  eines  fernen  Reiches  ver- 
mählen und  machte  sich  auf,  sie  zu  suchen,  mit  grossem  Gefolge  und 


i)  Verwandt  mit  dem  deutschen  Märchen:  „Die  drei  Männlein"  (s.  Grimm,  Kinder- 
und  Hausmärcheii,  Nr.  13)  ;  —  und  noch  näher  mit  B  asi  I  e-s  „Le  tre  fiate"  (Penta- 
merone  III,  10),  im  Catalanischen  aber  nur  Bruchstück. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  53 

von  seinem  Freunde  begleitet,  die  Meere  durchschiffend.  Sie  wurden 
an  dem  Hofe  des  Vaters  der  Princessinn  sehr  gut  aufgenommen  und 
führten  sie  frühlichen  Muthes  mit  sich  heim.  In  einer  heiteren  Nacht 
stand  der  treue  Gefährte  wachend  auf  dem  Verdecke  des  Schiffes,  in 
dem  sie  fuhren,  und  während  alles  um  ihn  im  tiefsten  Schweigen 
versunken  war,  vernahm  er  eine  Stimme  welche  sagte:  Wer  das 
erfährt  und  es  sagt,  wird  bis  au  den  Gürtel  in  Marmor  verwandelt 
werden :  am  Hochzeitstage  wird  ein  wunderbarer ,  überaus  schöner 
Vogel. erscheinen,  der  wird  der  Braut  sehr  gefallen,  aber  er  wird 
sie  mit  seinem  Schweife  verwunden."  —  Bald  darauf  hörte  der 
treue  Gefährte  eine  andere  Stimme  die  drohte  mit  der  Ankunft  eines 
andern  furchtbaren  Thieres  und  dass  der,  der  dies  höre  und  es  sage, 
sich  in  Marmor  bis  an  den  Hals  verwandeln  werde.  Und  zum  dritten 
Male  drohte  eine  Stimme  mit  dem  Kommen  eines  schrecklichen  Thie- 
res, und  dass  wer  dies  vernommen  und  es  sage,  sich  ganz  in  Marmor 
verwandeln  werde.  Das  Schiff  brachte  sie  glücklich  nach  dem  Lande 
des  Königssohnes ;  sie  traten  in  seinen  Palast  und  die  Hochzeit  wurde 
gefeiert.  Da  erschien  der  wunderbare  Vogel  und  als  die  Braut  ihn 
ergreifen  wollte,  zog  der  treue  Gefährte  das  Schwert  und  tödtete 
ihn;  dasselbe  that  er  mit  den  beiden  andern  Thieren  ,  als  er  aber 
das  letzte  tödtete,  verwundete  er  zugleich,  ohne  es  zu  wollen,  und 
nur  leicht  die  Princessinn.  Da  wurde  er  zum  Tode  verurtheilt 
und  am  Fusse  des  Galgens  sagte  er  nun  was  er  gehört  habe,  man 
erkannte  seine  Unschuld;  aber  er  war  allmählich  in  Marmor  verwandelt 
worden  *). 

III.  Das  Bohr  des  Sand-Flusses.  (La  cuiia  del  riu  de 
urenas.)  Ein  Mann  hatte  einen  wunden  Fuss  und  sagte  zu  seinen 
drei  Söhnen,  dass  er  den  zu  seinem  Erben  ernennen  werde,  der  ihm 
die  Blüthe  der  Bracken-Distel  (la  flor  del  peniccdt,  eryngium  cam- 
pestre)  bringe,  die  zu  seiner  Heilung  nöthig  sei.  Die  beiden  älteren 
zogen  mitsammen  Eines  Weges  um  sie  zu  suchen,  und  Hessen  den 
jüngsten  allein  gehen.  Dieser  kam  zu  einem  Garten,  bat  um  die  Blüthe 
und  man  gab  sie  ihm,  aber  man  schärfte  ihm  sehr  ein ,  sie  ja  ver- 
borgen zu  halten;  denn  wenn  seine  Brüder  davon  Kunde  erhielten, 
würden  sie  ihn  tödten.  Er  verbarg  sie  in  seine  Strümpfe;  aber  seine 


*)  Offenbar  ein  sehr  unvollständiges  Bruchstück  des  deutschen  Märchens  :  »Der  getreue 
Johannes"  (Grimm,  a.  a.  0.   Nr.  6). 


54  Ferdinand   Wolf. 

Brüder  durchsuchten  ihn  und  fanden  sie.  Da  machten  sie  eine  Grube 
am  Sand-Flusse  und  gruben  ihn  ein.  Es  geschah  aber ,  dass  eines 
Tages  ein  Schäfer  seines  Vaters  da  vorbeikam ,  der  seine  Lämmer 
auf  die  Weide  trieb  ;  der  riss  mehrere  der  dort  wachsenden  Rohre 
aus,  machte  sich  daraus  eine  Flöte  und  begann  darauf  zu  spielen.  Da 
sang  die  Flöte : 

Schäfer,  gutes  Schäferlein, 

du  der  mich  zum  Spiel  geschaffen, 

bin  arn  Sandfluss  eingegraben, 

wegen  jener  Distelblüthe* 

wegen  meines  Vaters  Füsse, 

dass  er  nicht  mehr  leiden  müsse  i). 

Der  Schäfer  ging  zu  seinem  Herrn,  blies  auf  der  Flöte  und  sie 
wiederholte  dieselben  Worte;  da  begaben  sie  sich  zum  Sandfiusse, 
rissen  die  Rohre  aus,  deren  Wurzeln  sie  mit  schönen  Haaren  ver- 
mengt fanden,  und  als  sie  noch  tiefer  gruben,  fanden  sie  den  von 
seinen  Brüdern  eingegrabenen  Sohn  noch  lebend.  Die  Brüder  wurden 
hingerichtet,  der  aber,  der  die  Blüthe  der  Bracken-Distel  gefunden 
hatte,  wurde  von  seinem  Vater  zum  Erben  ernannt  2). 

IV.  Die  drei  Liebes-Pomeranzen.  (Las  tres  naranjas 
del  amor).  Ein  Königssohn  bat  einst  seinen  Vater,  dass  er  ihm  er- 
laube, die  drei  Liebes-Pomeranzen  suchen  zu  gehen.  Der  König  er- 
laubte es  ihm.  Der  Königssohn  zog  fort  und  kam  zu  einem  Hause  und 
frag,  ob  man  ihm  sagen  könne,  wo  die  drei  Liebes-Pomeranzen  zu 
finden  seien.  Der  Herr  des  Hauses  erwiderte,  er  möge  nur  weiter 
ziehen  und  werde  dann  zu  einem  andern  Hause  kommen,  in  dem  ein 
seiniger  Bruder  lebe,  der  ihm  Auskunft  über  die  Pomeranzen  geben 
werde.  Er  zog  weiter,  fand  das  andere  Haus  und  dessen  Herr  sagte 
ihm,  er  solle  in  den  Garten  eintreten  ,  wo  er  einen  Riesen  finden 
werde,  der  die  drei  Pomeranzen  hüte,  und  wenn  er  sehe,  dass  der 


*)  Pastoret,  bon  pastoret, 

tu  que'in  tocas,  tu  que'm  menas, 
so  colgat  al  Riu  de  arenas, 
per  la  flor  del  penicalt, 
per  la  earaa  del  meu  pare 
que  li  feya  tan  de  mal. 
2)  Auch  dieses  Märchen  hat  gemeinsame  Grundlag«  und  Züge  mit  den  deutschen  vom 
„Wasser  des  Lehens"  und  vom  „singenden  Knochen"   (G  rimm,  a.  a.  0.  Nr.  28  und 
97  und  die  Anmerk.  im  3.  lide.  zu  Nr.  28). 


Proben  portugiesischer  und  catalauischer  Volksromanzen.  55 

Piese  die  Augen  offen  habe,  könne  er  sicher  sein,  dass  dieser 
schlafe,  wenn  er  sie  aber  geschlossen  habe,  so  sei  es  eben  so  gewiss 
dass  er  wache.  Er  trat  in  den  Garten  und  fand  glücklicher  Weise 
den  Riesen  mit  offenen  Augen.  Da  nahm  sich  der  Königssohn  die 
drei  Pomeranzen  und  zog  fröhlich  von  dannen;  denn  wenn  auch  der 
Riese  dann  erwachte,  so  war  es  zu  spät,  und  er  konnte  ihn  nicht 
mehr  einholen.  Auf  der  Mitte  des  Weges  angekommen,  öffnete  der 
Königssohn  eine  der  Pomeranzen  und  ein  wunderschönes  Fräulein 
sprang  daraus  hervor,  das  bereit  war,  sich  mit  ihm  zu  vermählen. 
Dieses  frug  ihn,  ob  er  ihm  Wasser  geben  könne,  und  als  es  hörte, 
dass  er  dies  nicht  könne,  war  es  alsogleich  todt.  Der  Königssohn 
zog  ein  Stück  weiter,  öffnete  die  zweite  Pomeranze,  und  es  geschah 
dasselbe.  Er  kam  endlich  zu  einer  Quelle,  versah  sieh  mit  Wasser 
und  öffnete  die  dritte  Pomeranze,  und  auch  aus  dieser  sprang  ein 
wunderschönes  Fräulein,  bereit  sich  mit  ihm  zu  vermählen.  Es  be- 
gehrte Wasser,  der  Königssohn  reichte  es  ihm  und  als  er  es  sich 
gewonnen  sah,  schlug  er  ihm  vor,  an  der  Quelle  zu  warten,  während 
er  einen  Wagen  zu  holen  ginge.  Während  das  Fräulein  nun  wartete 
geschah  es,  dass  eine  Negerinn  dahin  kam,  um  ihre  Krüge  zu  füllen, 
und  als  sie  vom  Wasser  wiedergespiegelt  die  Schönheit  jenes  Fräu- 
leins sah,  glaubte  sie  ihr  eigenes  Bild  darin  zu  erblicken ,  zerbrach 
die  Krüge  und  sprach :  „So  gut  bekam  mir  das  Gehen  nach  der 
Quelle!"  (tan  bonita  ir  ä  la  fuente!).  Aber  bald  sah  sie,  dass  sie 
sich  getäuscht  habe,  als  sie  jenes  Fräulein  gewahr  wurde,  das  auf 
einer  Bank  sass  und  sich  die  Haare  kämmte.  Die  Negerinn  bot  sich 
an,  es  zu  kämmen.  Die  Dame  nahm  es  an  und  die  Verrätherinn  stiess 
ihr  eine  grosse  Nadel  (parpal)  in  den  Kopf,  wodurch  sie  in  eine 
Taube  verwandelt  wurde.  Der  Königssohn  kehrte  zurück  und  als  er 
die  Negerinn  traf,  sagte  er  zu  ihr  :„So  schwarz  bist  du  geworden?" 
Diese  aber  antwortete:  „Die  Sonne  und  der  Nachthimmel  verdun- 
keln sich  oft  (El  sol  y  el  sereno  vuelven  morenoj."  Sie  steigen  in 
den  Wagen,  kommen  zum  Palaste,  die  Diener  eilen  herbei  um  ihnen 
beim  Aussteigen  zu  helfen ,  sie  begeben  sich  nach  dem  Säle  und 
setzen  sich  zum  Mahle.  Die  Taube  war  ihnen  gefolgt,  immer  den 
Königssohn  umkreisend  und  als  sie  sie  beim  Mahle  sah,  nahm  sie 
etwas  aus  dem  Teller  des  Königssohnes  und  beschmutzte  das  Haupt 
der  Negerinn  (iba  .  .  .  ü  ensuciarse  en  la  cabeza  de  la  negra).  Der 
Königssohn   fragte:    Woher  mag   wohl   dieses  Täubchen  gekommen 


56  Ferdinand  Wolf. 

sein?  Hat  es  etwa  einer  der  Diener  gebracht?" —  Wiewohl  ihn  nnu 
die  Negerinn  abzuhalten  suchte,  es  zu  berühren,  so  liebkoste  er  es 
doch,  indem  er  mit  der  Hand  ihm  das  Köpfchen  streichelte.  Da  fand 
er  die  grosse  Nadel,  zog  sie  heraus  und  alsbald  bekam  die  Princessinn 
ihre  erste  Gestalt  wieder  und  der  Königssohn  erkannte  sie  sogleich. 
Das  Fräulein  erzählte  ihm  Alles  was  vorgefallen,  und  er  rief  die 
Diener,  damit  sie  die  Negerinn  ergriffen  und  zum  Tode  führten  *)- 

V.  Die  jüngste  Tochter  (La  hija  menor).  Ein  Vater 
liebkoste  einst  seine  drei  Töchter  und  fragte  sie,  wie  sie  ihn  liebten. 
Die  Älteste  antwortete  :  „Wie  das  Brod.«  Die  mittlere  sagte:  „Wie 
den  Wein."  Die  jüngste  aber  erwiederte:  „Wie  das  Salz  in  den 
Speisen."  Über  die  letzte  Antwort  erzürnte  der  Vater  so  sehr,  dass 
er  seinen  Dienern  befahl,  die  jüngste  Tochter  zu  tödten  und  dass  sie 
zum  Beweise  der  Ausführung  seines  Befehles  ihm  ein  mit  ihrem  Blute 
angefülltes  Fläschchen  und  ihre  grösste  Zehe  (el  dedo  mas  grueso 
de  supicj  bringen  sollten.  Den  Dienern  erbarmte  aber  das  Mädchen, 
sie  schlachteten  ein  Huhn  und  füllten  mit  dessen  Blute  das  Fläsch- 
chen, schnitten  dem  Mädchen  die  grösste  Zehe  ab  und  Hessen  sie 
in  der  Einsamkeit.  Sie  kam  zu  einem  Bauernhause,  wo  man  sie  als 
Gänsehirtinn  aufnahm,  ihr  Holzschuhe  und  ein  Kleid  aus  Holzspänen 
gab,  und  sie  nur  die  „Hölzerne"  (la  fustots)  nannte.  Aber  sie  be- 
wahrte im  Verborgenen  ein  Kleid  von  Gold  und  Canarien-Getieder 
und  zog  es  an,  wenn  sie  im  Walde  die  Gänse  hütete.  Diese  ver- 
riethen  es  ihren  Herrenleuten  indem  sie  schnatterten:  „Oc,  oc,  oc, 
die  Hölzerne  hat  ein  Kleid  von  Gold."  Aber  die  Leute  wollten  es 
nicht  glauben,  und  wann  ein  Salzkörnchen  ins  Feuer  fiel  und  spra- 
zelte,  sagten  sie:  „Das  ist  eine  Laus  von  der  Hölzernen".  Da  trafs 
sich,  dass  ein  Königssohn  durch  diesen  Wald  zog  und  sich  in  das 
Mädchen  verlieble.  Sie  feierten  ein  grosses  Hochzeitsfest  und  luden 
dazu  ihren  Vater  ein,  dem  sie  eine  köstliche  Speise  vorsetzten  in  der 
aber  das  Salz  fehlte.  Sie  frugen  ihn,  wie  ihm  die  Speise  geschmeckt 
habe,  und  er  antwortete,  vortrefflich,  nur  hat  das  Salz  darin  gefehlt, 
was  doch  das  Beste  ist.  Da  gab  sich  ihm  die  Braut  zu  erkennen  und 
ihr  Vater  verschwand  (se  desvaneciü)  2). 


1)  Offenbar  aus  derselben  Quelle  mit  Basile*s:  „Le  tre  cetre"  (Pentamerone,  V,  9)  ; 
aber  mit  anderem  Schlüsse. 

2)  Man  erkennt  auch  in  diesem  fragmentarischen  Märchen   noch  einige  der  Grundziige 
des   im    Deutschen   viel    vollständiger  erhaltenen:    „Die  Gänsehirtinn  am  Brunnen". 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromnn/.en.  J)  j 

VI.  Aschenputtel  (La  cenicienta).  Ein  Weib  hatte  eine 
Tochter;  diese  behandelte  sie  sehr  übel.  Eines  Tages  Hessen  sie  sie 
zu  Hause  mit  einem  Sack  Hirse  und  einem  andern  mit  weissen  kleinen 
Bohnen  (judiasj  um  sie  auszuhülsen.  Sie  begann  bitterlich  zu 
weinen  und  wusste  sich  nicht  zu  helfen.  Da  Hess  sich  eine  Heilige 
zu  ihr  herab  und  trug  sie  was  ihr  fehle.  Das  Mädchen  erklärte  es 
ihr;  die  Heilige  aber  sagte,  sie  wolle  seine  Arbeit  verrichten  und  gab 
ihm  eine  Mandel.  Diese  brach  das  Mädchen  auf  und  fand  darin  ein 
Kleid  von  Gold.  Das  zog  es  an  und  lief  damit  in  die  Messe,  kehrte 
jedoch  sehr  schnell  nach  Hause  zurück,  damit  die  Stiefmutter  und 
Stiefschwester  es  nicht  überraschen.  Der  Königssohn  der  auch  in 
der  Kirche  war,  wurde  von  des  Mädchens  Schönheit  sehr  einge- 
nommen; aber  Niemand  konnte  ihm  Auskunft  über  dieses  Mädchen 
geben.  Die  Stiefmutter  und  die  Schwester  kamen  nach  Hause  und 
sprachen:  „Ach  wärst  du  mit  uns  in  der  Messe  gewesen,  was  für 
eine  wunderschöne  Dame  hättest  du  dort  gesehen  !"  Das  Mädchen 
aber  entgegnete :  „Vielleicht  wohl,  vielleicht  auch  nicht,  vielleicht 
war  ich 's  selbst  (Tal  vez  st,  tat  vez  no,  tal  vez  era  yo)."  —  Sie 
riefen  darauf:  „Schweig,  schweig  Aschenputtel,  Feuerfächer  (ceu- 
drosa,  ventafbchsj."  —  Des  andern  Tags  trugen  sie  ihr  auf,  einen 
Sack  Reis  zu  reinigen  und  gingen  auf  einen  Ball  (sarao).  Das  Mäd- 
chen begann  wieder  zu  weinen  ;  aber  dieselbe  Heilige  kam  zu  ihm 
und  gab  ihm  eine  Nuss,  indem,  sie  wieder  seine  Arbeit  auf  sich  nahm. 
Das  Mädchen  erbrach  die  Nuss  und  fand  darin  ein  Kleid  mit  Glöck- 
chen  (wi  rcstido  de  campanitas,  das  deutet  auf  hohes  Alter  des 
Märchens^.  Es  begab  sich  auf  deo  Ball;  der  Königssohn  näherte  sich 
ihm,  tanzte  mit  dem  Mädchen  und  frug  es,  wo  es  her  sei.  Es  ver- 
weigerte ihm  dies  zu  sagen  und  lief  schnell  fort  um  von  der  Stief- 
mutter nicht  überrascht  zu  werden.  Als  die  Beiden  zu  Hause  an- 
langten, sagten  sie  zu  ihr:  „Ach  wärst  du  mit  uns  gewesen,  was 
für  eine  schöne  Dame  hättest  du  da  gesehen!"  —  Das  Mädchen  aber 
antwortete:  „Vielleicht  wohl,  vielleicht  auch  nicht,  vielleicht  war 
ich's  seihst."  —  Worauf  sie  entgegneten:  „Schweig,  schweig 
Aschenputtel,  Feuerfächer!"  — Bei  der  Eile,  mit  der  sie  den  Ball 
verlassen   hatte,    hatte    sie   eines  ihrer    Sehnlichen  vergessen;  der 


(Grimm,  Kinder-  und  Hausmiirehen,  6.  Aufl.,   1850,    Bd.  II,    >Tr.  179,    besonders 
S.  4ÄS.) 


58  FerdinaudWolf. 

Königssohn  hob  es  auf  und  Iiess  verkünden,  dass  man  allen  Mädchen 
dieses  Sehnlichen  anprobiren  werde  um  zu  erfahren,  welchem  es 
gehöre.  So  kamen  sie  durch  Aschenputtels  Strasse ;  ihre  Schwester 
zeigte  sich  und  probirte  das  Schühchen  ,  aber  da  es  so  ausseror- 
dentlich klein  war,  konnte  sie  den  Fuss  nicht  hineinbringen.  Man 
frug  nach  dem  andern  Mädchen  im  Hause,  aber  sie  und  ihre  Mutter 
sagten,  es  sei  unnöthig,  dem  Aschenputtel  den  Schuh  anzuprobiren. 
Da  erschien  es  selbst  in  dem  Kleide  mit  den  Glöckchen,  man  er- 
kannte es  und  vermählte  es  mit  dem  Königssohne  1). 

VII.  Das  jüngste  Kind  (El  hijo  menor).  Ein  Vater  und 
eine  Mutter  geriethen  in  die  grössteArmuth  und  konnten  ihre  Kinder 
nicht  mehr  ernähren.  Der  Vater  sprach:  „Tödten  wir  sie!"  Aber 
die  Mutter  sagte:  „Besser  ist  es  noch,  wir  setzen  sie  in  einem  Walde 
aus."  —  Die  Kinder  schliefen,  mit  Ausnahme  des  jüngsten  das  Alles 
mitangehört  hatte.  Das  sprang  aus  dem  Bette  und  begab  sich  zum 
Giessbache,  um  sich  die  Taschen  mit  blanken  Kieselsteinen  zu  füllen. 
Des  andern  Tages  sagten  sie  den  Kindern,  dass  sie  nach  Holz  gehen 
wollten  und  gaben  einem  Jeden  eine  Brodrinde.  Die  beiden  älteren 
Kinder  gingen  voraus,  aber  das  jüngste  blieb  hinter  Vater  und  Mutter 
zurück  und  bezeichnete  im  Gehen  den  Weg  indem  es  die  Steine 
auswarf.  Als  die  Eltern  sie  im  Walde  hatten,  Avussten  sie  es  so  an- 
zustellen, dass  sie  sich  davon  schleichen  konnten  und  die  Kinder 
sich  selbst  überliessen.  Die  beiden  älteren  weinten;  aber  das  jüngste 
sprach:  „Habt  keine  Angst,  wir  linden  schon  wieder  nach  Hause, 
wir  werden  uns  schon  zurecht  finden." —  Sie  gingen  den  Kiesel- 
steinen nach  und  gelangten  nach  Hause,  wo  sie  die  Mutter  trafen  die 
sich  entschuldigte  so  gut  sie  konnte.  Des  andern  Tags  wurden  die 
Kinder  in  einen  noch  entlegeneren  Wald  geführt;  aber  sie  fanden 
auf  dieselbe  Weise  wieder  nach  Hause.  In  der  dritten  Nacht  hatten 
die  Eltern  Verdacht  gegen  das  jüngste  Kind  gefasst,  schlössen  die 
Thüre  der  Schlafstube  ab  und  nahmen  den  Schlüssel  zu  sich  ,  damit 
es  nicht  aus  dem  Hause  kommen  könne.  Als  sie  des  andern  Morgens 
wieder  in  den  Wald  zogen,  bestreute  das  jüngste  Kind  statt  mit 
Steinen  mit  Brodkrumen  den  Weg,  indem  es  die  Brodrinde  die  es 


!)  Nicht  nur  mit  dem  allbekannten,  überall  verbreiteten  Märehen  vom  „Aschenputtel" 
sondern  noch  mehr  mit  dem  deutschen  von  „Allerlei  Raub"  ist  diese  catalanische 
Version  verwandt  (s.  Grimm,  a.  a.  0.  Nr.  21  und  65). 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  h9 

mitbekommen,  zerbröckelte.  Aber  die  Vögel  frassen  die  Krumen 
und  die  Kinder  konnten  nun  nicht  den  Weg  Dach  Hause  finden.  Sie 
blieben  die  Nacht  über  auf  einer  Fichte,  um  gegen  die  Wölfe 
geschützt  zu  sein.  Von  da  aus  sahen  sie  ein  Licht,  sie  gingen 
darauf  zu ,  kamen  zu  einem  Hause  und  pochten  an  dessen  Thüre. 
Eine  Frau  öffnete  sie  ihnen,  die  sie  fragten  ob  sie  sie  aufnehmen 
wolle.  Sie  antwortete,  dass  ihr  Mann  ein  Riese  sei  und  die  Kinder 
fresse.  Die  Kinder  aber  drangen  in  sie  und  baten,  sie  möge  sie  im 
Schranke  verstecken.  Die  Frau  gab  nach,  und  schärfte  ihnen  ein, 
dass,  wenn  sie  drei  Schlüge  auf  die  Thüre  hören  würden,  sie  sich 
nicht  muksen  sollten;  aber  schon  beim  Eintritt  rief  ihr  Mann:  „Hier 
riechts  von  Christen-Fleisch!"  —  Die  Frau  suchte  es  ihm  Anfangs 
auszureden:  am  Ende, aber  gestand  sie  und  bat  ihn  nur  bis  zur  Nacht 
der  Kinder  zu  schonen.  Der  Riese  antwortete:  „Es  mag  drum  sein." 
Die  Kinder  hörten  dies  und  schliechen  sich  aus  ihrem  Schlupfwinkel. 
Sie  fanden  in  einem  Rette  drei  Riesenmädchen  in  rosenrothen  Klei- 
dern. Die  nahmen  sie  aus  dem  Rette,  schlössen  sie  in  den  Schrank 
und  legten  sich  in  das  Rett,  indem  sie  ihre  rosenrothen  Kleider 
anzogen  und  ihre  Rosenkränze  aufsetzten.  Der  Riese  aber  ging 
zum  Schranke  und  frass  seine  drei  Töchterchen.  Während  dem  ent- 
flohen die  Kinder  durch  das  Fenster;  als  aber  der  Riese  das  Rett 
seiner  Töchter  leer  fand ,  errieth  er  den  ihm  gespielten  Streich  und 
machte  sich  auf  die  Kinder  zu  verfolgen,  indem  er  einen  Stiefel 
anzog  mit  dem  man  bei  jedem  Schritte  drei  Wegstunden  zurücklegte. 
Doch  wussten  die  Kinder  ihm  auszuweichen  bis  er  ermüdete  und 
einschlief.  Da  näherte  sich  ihm  das  jüngste,  zog  ihm  den  Stiefel  aus, 
und  alle  drei  steckten  sich  hinein  indem  sie  riefen:  „Wach  auf,  wach 
auf,  du  wirst  uns  doch  nicht  mehr  einholen." —  Der  Riese  erwachte; 
aber  sie  liefen  viel  schneller  als  er. —  In  der  Zwischenzeit  hatten 
die  Eltern  der  Kinder  ihr  Loos  etwas  verbessert  und  beweinten  sie 
nun  und  klagten:  „Ach  wenn  wir  doch  unsere  Kinder  wieder  haben 
könnten!" —  Da  traten  die  Kinder  ein,  ganz  vergnügt.  Sie  verkauften 
den  Stiefel  um  einen  hohen  Preis  und  waren  von  nun  an  reich  1). 


*)  Der  Eingang-  dieses  Märchens  hat  gemeinsame  Züge  mit  dem  deutschen  von  i 
„Hanse!  und  Grethel",  der  Sehluss  ist  mit  dem  vom:  „Däumling"  verwandt 
(G  r  i  m  m  ,  a.  a.  O.  Nr.   15  und  Nr.  37  und  4j). 


60  Fördinand  Wolf. 

VIII.     Die    schöne    S  t i  e f t  o  c h  t  e  r  (La  hermosa  hijastra). 
Es  war  einmal  eine  sehr  schöne  Frau   die  eine  Stieftochter  hatte. 
Eines    Tages    kämmte    sie   sich    und   gedachte  ihrer  Schönheit,  da 
erschien  ihr  ein  böser  Geist  (un  espiritu  maloj  und  sagte  zu  ihr,  dass 
es    eine  noch  schönere  als  sie  gebe  ,  und  dies  sei  ihre  Stieftochter. 
Voll  Neides  befahl  die  Frau   ihren  Dienern ,  dass  sie  das  Mädchen 
in  einem  Walde  tödten,  und  zum  Beweise   des  vollzogenen  Befehls 
ihr  ein  Fläschchen  mit  dessen  Blut  angefüllt  bringen   sollten.    Die 
Diener   aber  erbarmten  sich   des  Mädchens  und  tödteten  an  dessen 
Stelle  einen  Hund,  füllten  mit  seinem  Blute  das  Fläschchen  und  über- 
liessen    das  Mädchen  ihrem  Schicksal  im  Walde.    Als  aber  nach  acht 
Tagen  die  Frau  sich  wieder  kämmte,  nun  sich  für  die  schönste  hal- 
tend, siehe  da  erscheint  der  böse  Geist  ihr  abermals  und  wiederholt, 
dass    es  eine  noch   schönere  gehe,  und   dies  sei  ihre  Stieftochter. 
Die  Frau  rief  sehr  erzürnt  ihre    Diener,    befahl  ihnen  von  Neuem 
das  Mädchen  zu  tödten  und  zum  Beweis  des  vollzogenen  Befehls  das 
Fläschchen  zugestopft  mit  einer   der  grossen  Zehen  des  Mädchens  zu 
bringen.  Die  Diener  gingen  in  den  Wald,  schnitten   dem  Mädchen 
eine  grosse  Zehe  ab;  tödteten  es  aber  nicht.  Das  Mädchen  flüchtete 
sich  nun  auf  den  Gipfel  eines  Baumes  und  von  da  aus  sah  es ,  wie 
sich  aus  der  Erde  ein  grosser   Stein   erhob   aus   dem   vier   Männer 
herauskamen.  Nach  einer  Weile  näherte  sich  das  Mädchen  dem  Steine 
und  sprach:   „Stein,  öffne  dich." —  Der  Stein  öffnete  sich,  und  das 
Mädchen  trat  in  eine  geräumige  Höhle  in  der  jene  vier  Männer  wohn- 
ten. Es  brachte  da  alles  in  Ordnung,  kehrte  aus,  flickte  die  Wäsche, 
machte    den    Tisch  zurecht  und  verliess  dann  die  Höhle.    Die  vier 
Brüder   waren    darüber  sehr  erstaunt   und  verabredeten,    dass  des 
folgenden  Tags  einer  von  ihnen  zurückbleiben  sollte  um  aufzupassen. 
Des  andern  Tags   sah  das  Mädchen  von  dem  Gipfel  seines  Baumes 
aus,  dass  blos  drei  herauskamen;  es  unterliess  dennoch  nicht  in  die 
Höhle  zu  gehen.  Es  fand  den   schlafend  der  aufpassen  sollte;  und 
nachdem    es   wieder   alles    in    Ordnung   gebracht,    kämmte  es    den 
Schläfer    und   begoss  ihm  die  Haare  mit   wohlriechendem  Wasser. 
Den  nächsten  Tag  blieb  aber  ein  anderer  Bruder  zu  Hause  der  nicht 
einschlief  und  das  Mädchen   überraschte,   während  es  das  Haus  in 
Ordnung  brachte.  Er  machte  ihm  nun  den  Vorschlag  bei  ihnen  zu 
bleiben ,    und   sie    wollten  es  wie  eine  Schwester  ansehen  und   zu 
ihrer  Hauswirthinn  machen.  Das  Mädchen  willigte  ein  und  verbrachte 


Proben  portugiesischer  und  catalaniacher  Volksromanzen.  ß  1 

eine  geraume  Zeit  da  sehr  zufrieden  und  sehr  geliebt  von  seinen 
neuen  Brüdern.  Als  es  aber  eines  Tages  eben  mit  Nähen  sieh 
beschäftigte,  kam  auch  zu  ihr  der  böse  Geist  in  der  Gestalt  eines 
alten  Weibes  und  trug  ihm  einen  Ring  zum  Kaufe  an.  Das  Mädchen 
lehnte  es  ab;  um  so  mehr  drang  nun  die  Alte  in  es,  ihr  einen 
Pantoffel  abzukaufen,  sodass  es  endlich  darauf  einging.  Kaum  hatte  es 
aber  diesen  angezogen,  so  blieb  es  verzaubert  und  als  die  vier 
Brüder  heimkamen,  fanden  sie  es  wie  todt.  Sie  machten  einen  Sarg  aus 
Krystall,  legten  das  Mädchen  hinein  und  warfen  ihn  in  den  Strom.  In 
diesem  fischten  täglich  zwei  Jünglinge,  und  der  jüngere  rief  einst, 
er  habe  einen  sehr  schweren  Gegenstand  bekommen.  Beide  strengten 
sich  an,  ihn  herauszuziehen,  in  der  Meinung  dass  es  ein  sehr  grosser 
Fisch  sei ,  und  endlicJi  gelang  es  dem  älteren.  Als  sie  nun  den 
krystallenen  Sarg  sahen,  trugen  sie  ihn  nach  Hause,  wo  sie  ihn  in 
einem  Gemach  einsperrten  ,  in  das  sie  Niemand  hineinliessen.  Eines 
Tags  Hessen  sie  es  jedoch  offen  stehen:  ihre  Mutter  trat  ein,  erblickte 
den  Sarg  und  das  Mädchen  das  darinnen  lag,  und  als  sie  den  schö- 
nen Pantoffel  bemerkte,  zog  sie  ihn  dem  Mädchen  vom  Fusse,  und 
da  wurde  dieses  wieder  lebendig.  Die  beiden  Brüder  kamen  nach 
Hause,  und  die  Mutter  warf  ihnen  nun  vor,  dass  sie  ihr  den  Eintritt 
verweigert  hätten ;  doch  sie  freuten  sich  sehr  als  sie  das  Mädchen 
lebend  sahen  und  der  ältere  vermählte  sich  mit  ihm  *) . 

IX.  Der  entzauberte  Königs  söhn  (El  liijo  del  rey, 
desencantado) .  Ein  Vater  hatte  drei  Töchter  die  er  eines  Tages 
bevor  er  auf  den  Markt  ging,  fragte,  was  er  einer  jeden  mitbringen 
solle.  Die  älteste  sagte,  ein  Kleid  von  Gold;  die  mittlere,  ein  Kleid 
von  Silber;  und  die  jüngste  die  er  am  wenigsten  liebte,  antwortete, 
dass  sie  dem  Königssohne  vermählt  werden  wolle.  Alle  riefen  da: 
„Seht  mal  die  Rotznase  (miren  la  mocosilla) ,  die  sich  mit  dem 
Königssohn  vermählen  will!"  —  Da  befahl  der  Vater  seinen  Dienern, 
seine  jüngste  Tochter  zu  tödten;  doch  diese  erbarmten  sich  ihrer 
und  überliessen  sie  im  Wald  ihrem  Schicksale.  Als  sie  sich  nun 
im  Wald  allein  sah,  weinte  sie;  es  überkam  sie  die  Nacht  und  als 
sie  überlegte  wo  sie  Schutz  suchen  solle,  sah  sie  zwei  Lichterchen 
die  sich  ihr  näherten,  und  eine  grosse  Hand  (manota)  die  sie  zu  sich 
winkte;  nach  einigem  Zögern  näherte  sie  sich  ganz  furchtsam,  und 


*)  In   diesen    allerdings    rohen    Umrissen    ist    doch   noch    unser  schönes  Märchen  vom 
„Schneewittchen"  (Grimm,  a.   a.  0.  Nr.  53)  zu  erkennen. 


62  Ferdinand  Wolf. 

traf  mit  einem  Wolf  zusammen;  als  ihr  aber  dieser  kein  Leid  that, 
entschloss  sie  sich  ihm  zu  folgen,  und  sie  kamen  zu  einer  dunklen  Höhle 
in  welcher  ein  Loch  war  durch  das  sie  krochen,  und  dann  sich  in 
einem  schönen  Palaste  befanden,  bedeckt  mit  Gold  und  Edelsteinen. 
Ein  Tisch  präsentirte  sich  vor  dem  Mädchen  und  eine  Hand  zeigte 
sich ,  die  ihm  mit  den  schmackhaftesten  Speisen  aufwartete.  Nach 
der  Mahlzeit  ergriff  dieselbe  Hand  eine  Fackel  und  leuchtete  ihm 
nach  der  Schlafstätte.  Des  andern  Tags  beim  Erwachen  fand  sie 
neben  dem  Bette  ein  neues  Kleid,  und  als  sie  sich  angekleidet  hatte, 
beschloss  sie  den  Palast  zu  besichtigen.  Sie  kam  zu  einer  Thüre  mit 
einer  Überschrift  die  sagte:  „Alles  kannst  du  besichtigen  nur  nicht 
den  grünen  Schrank;"  aber  das  reizte  gerade  ihre  Neugierde  ihn 
zu  öffnen,  und  sie  fand  darin  einen  grossen  Papagei  (Loro)  der 
zu  ihr  sprach:  „Pack  dich,  pack  dich,  Gänschen,  und  gib  den 
Hühnern  Kleie  (anda,  anda,  bachillera,  d  dar  salvado  d  las  gal- 
linas)."  —  Da  schlug  sie  die  Thüre  zu  und  that  den  ganzen  Tag  nichts 
als  weinen,  bis  mit  einbrechender  Nacht  jener  Wolf  mit  den  Lichter- 
chen wieder  zu  ihr  kam  und  sie  fragte,  warum  sie  so  traurig  sei 
und  ob  sie  den  grünen  Schrank  geöffnet  habe.  Sie  verneinte  es  zwar; 
aber  der  Wolf  drang  in  sie  und  endlich  musste  sie  es  ihm  gestehen. 
Da  sagte  ihr  der  Wolf:  „Gut  denn,  merk  auf,  öffne  ihn  morgen 
wieder,  und  wenn  der  Papagei  zu  dir  spricht:  Pack  dich,  pack  dich, 
Gänschen,  und  gib  den  Hühnern  Kleie  ,  so  antworte  ihm  :  „Schweig, 
schweig,  kleiner  Papagei  (lorito),  denn  aus  deiner  Haut  wird  man 
ein  Kleidchen  und  aus  deinen  Federn  ein  Kisschen  machen  für  die 
Wiege  unseres  Kleinen." —  Sie  that  also,  und  der  Papagei  zog  sich 
zurück.  Dann  sagte  der  Wolf  zu  dem  Mädchen:  „Nun  merk  wohl 
auf,  heute  Nacht  mache  ein  tüchtiges  Feuer  an ,  schlachte  mich 
und  wirf  mich  hinein." —  Das  Mädchen  erwiderte,  es  könne  ihm 
kein  Leid  anthun.  Aber  der  Wolf  bestand  darauf,  dass  es  thue  wie  er 
gesagt;  dass  es  jedoch  vorher  noch  ihm  den  Leib  öffne,  aus  welchem 
eine  Taube,  und  aus  dieser  ein  Ei  herauskommen  werde,  und  wann 
es  seinen  Körper  ins  Feuer  geworfen  haben  werde,  solle  es  dieses 
Ei  zerbrechen.  Das  Mädchen  that  ganz  so  wie  er  gesagt,  und  da 
stieg  aus  dem  Ei  der  Königssohn  der  verzaubert  worden  war,  und 
mit  diesem  vermählte  sich  das  Mädchen  *). 


1)  Auch  in  diesem  Märchen  sind  noch  einige  Züge  des  deutschen  vom  „Löweneckerchen" 
(Grimm,  a.  a.  0.  Nr.  88)  zu  erkennen. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen. 


63 


Herr  Mild  theilt  noch  einige  Märchen -Bruchstücke  mit,  die 
aber  so  dürftig  sind,  und  so  wenig  bemerkenswerthe  Züge  enthalten, 
dass  ich  nur  auf  eines  verweisen  will,  in  dem  sich  noch  eine  Version 
unseres  Märchens  vom  „Vogel  Greif"  (Grimm,  Ausgabe  von  1850, 
Nr.  165)  erkennen  lässt. 


Bevor  ich  Proben  von  den  portugiesischen  und  catalanischen 
Romanzen  mittheile,  will  ich  noch  jene  zusammenstellen,  deren 
castilische  Originale  sich  vollständig  erhalten  haben,  von  denen  es 
daher  genügt,  die  ihnen  eigentümlichen  Züge  zu  bemerken. 

Die  den  Romanzen  -  Anfängen  vorgesetzten  Numern  beziehen 
sich  auf  deren  Abdruck  in  der  von  mir  und  Herrn  Prof.  Konrad  Hof- 
mann herausgegebenen  Primaoera  y  Flor  de  romances. 

151)  A  cazar  va  el  caballero.  Im  Portugiesischen:  „0  ca- 
cador";  ganz  abgedruckt  in  der  Primavera. 

191)  A  caza  va  el  emperador. —  Fm  Portugiesischen:  „Dom 
Claros  d'Alem-Mar",  oder  „Dom  Carlos",  sehr  volksmässig 
und  in  vielen  Versionen.  Der  Eingang  weicht  von  der  castilischen 
Romanze  ab;  die  portugiesische  beginnt  nämlich  mit  dem  Schwur  des 
Dom  Claros,  Claralinda  müsse  sein  werden  trotz  ihrer  Klugheit.  Er 
schleicht  sich  daher  als  Weberinn  verkleidet  bei  ihr  ein  und  weiss  sie 
dahin  zu  bringen,  ihn  über  Nacht  in  ihrer  eigenen  Schlafkammer  zu 
beherbergen  (in  diesem  Zuge  hat  die  portug.  Version  viele  Ähnlich- 
keit mit  den  dänischen  und  schwedischen  Balladen  von  Habor  und 
Signil;  vgl.  Dumeril,  Hist.  de  la  poesie  scandinave,  pag.  330). 
Er  beruhigt  am  Morgen  die  Geliebte,  indem  er  sich  zu  erkennen  gibt 
und  sich  mit  ihr  zu  vermählen  verspricht.  Doch  verlässt  er  sie.  Nach 
einiger  Zeit  werden  die  Folgen  dieses  nächtlichen  Besuches  sichtbar 
und  Claralinda's  Vater  ruft  acht  Monate  darnach  ihr  einst  über  Tische 
zu;  „Claralinda,  Claralinda,  wie  unanständig  nimmst  du  dich  in  dieser 
Kleidung  aus  !  "  Sie  will  allerdings  die  Schuld  davon  auf  das  schlecht 
gemachte  Kleid  schieben;  aber  der  Vater  lässt  bewährte  Meister  der 
Schneiderkunst  kommen,  und  sie  fällen  einstimmig  das  Urtheil,  dass 
die  Mache  des  Kleides  nicht  die  Schuld  daran  trage  i).  Da  verurtheilt 


1)  Aos  sette  para  oito  mezes 
o  pae  a  mesa  a  jantar  : 


—  Claralinda,  Claralinda, 
que  feio  e  o  teu  trajar !  — 


64 


Ferdinand  Wolf. 


der  Vater  sie,  des  andern  Morgens  verbrannt  zu  werden.  Sie  findet 
nun  einen  Pagen  der  die  Nachricht  von  ihrer  Nolh  dein  Grafen 
Claros  bringt  u.  s.  w.,  wie  im  Castilischen ;  doch  ist  die  Erkennungs- 
scene  zwischen  ihr  und  dem  als  Mönch  verkleideten  Grafen  viel  aus- 
führlicher und  von  graziöser  Naivetät  *) ;  und  auch  der  Schluss  ist 
hier  etwas  anders,  indem  der  Graf  die  Infantinn  aus  dem  Kerker  ent- 
führt. —  Im  Catalanischen  hat  sich  ebenfalls  eine  Version  von  dieser 
Romanze  erhalten,  wovon  Herr  Milä  aber  nur  ein  Bruchstück  mit- 
theilt (pag.  122)2). 


—  Nao  diga  tal,  seuhorpae; 
ninguem  Ihe  oija  tal  fallar; 
näo  sou  eu,  e  da  vasquinha 
que  e  mal  feita  e  da  mau  ar.  — 

!)  Deixaram-n*o  ao  bom  do  frade 
para  a  infanta  confessar. 
Mal  se  eile  viu  so  com  ella, 
de  amores  Ihe  foi  fallar: 

—  Venha  ca,  minha  meniiia, 
que  a  quero  confessar; 

no  primeiro  mandamento 
um  beijinho  nie  hade  dar.  — 

—  Näo  permitia  Deus  do  ceo 
nem  os  sanctos  do  altar! 
onde  Claros  pös  a  bocca 
näo  nie  hade  um  frade  beijar. 

—  Venha  ca,  minha  menina, 
que  a  quero  confessar: 


Mandou  chamar  alfaiates 
para  se  desinganar : 
disseram  ums  para  os  outros  : 

—  Näo  tem  falta  a  saia  tal. 

no  segundo  mandamento 
um  abrajo  me  hade  dar.  — 

—  Vai-te  na  nia  hora,  frade. 
que  a  mim  näo  hasde  chegar; 
que  a  mim  uiiiica  chegou  hörnern, 
se  näo  —  inda  mal  pezar! 
senäo  so  esse  Dom  Claros. 

Dom  Claros  o  d'Alem  -  mar, 
que,  por  meus  grandes  peccados, 
por  eile  vou  a  queimar!  — 
Dom  Claros  que  tal  ouvin. 
näo  pode  o  riso  occultar. 

—  Por  esse  riso  que  dais, 

sois  Dom  Claros  d'AIem  -  mar  .  .  . 


2)  Da  das  catalanische  Bruchstück  dieser  so  berühmten  Romanze  doch  ein  paar  eigen- 
thiimliche  Züge  enthält,  so  will  ich  es  hersetzen : 

El  rey  se  n'estaba  en  taula  —  y  sa  filla  esta  mirant. 
Er  lässt  sie  in  einen  Thurm  sperren: 

Si  ya  Chan  baixada  a'  veurer  —  caballers  y  nobles  damas, 
hi  son  anadas  tambe  —  las  monjas  de  Santa  Clara. 
Com  las  monjas  son  tan  bonas  —  pape  y  ploma  li  donaban, 
y  ab  sang  de  la  seba  llengua  —  ella  si  ha  escrita  una  carta. 
Quant  la  carta  estingue  feta  —  im  ausseilet  ne  passaba. 

—  No'in  dirias  aussellet  —  ahont  tenias  la  Jornada? 

—  Jornada  de  quinse  lleguas  —  de  Don  Carlos  en  la  casa. 

—  No'm  dirias  aussellet  —  si  m'hi  vols  porta'una  carta? 

—  Be  pot  ser,  linda  senyora,  —  que  ya  per  voste  volaba.  — 
Quant  ne  va  arribar  alli  —  troba  al  compte  que  dinaba  : 

—  Den  lo  guart,  lo  senyor  compte  —  aqui  li  porto  una  carta.  — 
AI  Ilegir  el  sobrescrit  —  cau  en  terra  y  s'en  desmaya. 

—  Nos  desmayi,  el  senyor  comte  —  no  te  de  que  desmayarse, 
que  n'esta  ya  ences  el  foch  —  per  cremar  la  bona  infanta.  — 

Der  Graf  eilt  nun  in  das  Kloster,    nimmt  zwei  Verkleidungen  mit,  wovon  er  eine 
anzieht  und  mit  der  anderen  die  Infantinn  rettet. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  65 

173)  Asentado  estd  Gaif'eros.  —  Im  Portug. :  „Dom  Gaife- 
ros",  alt  und  volksmässig,  im  Ganzen  mit  der  castilisehen  Romanze 
zusammenstimmend;  doch  fehlen  im  Portug.  schon  einige  schöne 
Züge,  wie  der  Monolog  Gaiferos'  auf  seiner  Fahrt  nach  Sansuena,  die 
Rede  der  Melisenda  vor  der  Flucht  und  das  Zusammentreffen  mit 
Montesinos. 

170)  A  tan  alta  va  la  luna.  —  Im  Portug.:  „0  conde  d'AUe- 
manha"  (Allamanha,  oder  Äramenha ,  nach  einigen  Lesarten;  im 
Castilisehen  führt  die  Romanze  auch  den  Titel :  Romance  de  Valdo- 
vinos,  wiewohl  der  Name  im  Texte  nicht  vorkommt  und  er  \mv  „el 
buen  conde  aleman"  genannt  wird)  ;  eine  der  volksmässigsten  und 
verhreitetsten  in  Portugal,  und  noch  vollständiger  erhalten  als  im 
Castilisehen;  so  ist  *es  hier  klarer  motivirt,  dass  die  Infantinn  den 
Buhlen  ihrer  Mutter  nur  desshalb  beim  Vater  anklagt,  ihr  seihst 
gewaltsam  ihre  Ehre  haben  rauben  zu  wollen ,  um  die  Schande  ihrer 
Mutter  zu  verschweigen  und  doch  den  Schuldigen  strafen  zu  machen; 
und  während  die  castilische  Romanze  mit  dem  Urtheil  des  Vaters 
abbricht,  lässt  die  portugiesische  Mutter  und  Tochter  dessen  Vollzug 
mit  ansehen  und  dabei  ein  Zweigespräch  halten,  worin  sie  sich  gegen- 
seitig den  Tod  des  von  beiden  geliebten  Verführers  vorwerfen.  Aber 
gerade  von  diesem  Schlüsse  gibt  es  im  Portugiesischen  zahlreiche 
Varianten  oder  vielmehr  mitunter  sehr  modernisirte  Versionen.  Übri- 
gens ist  es  bemerkenswerth,  dass  auch  im  Portug.  gerade  an  dersel- 
ben Stelle  die  Assonanz  variirt,  wie  im  Castilisehen;  wie  es  über- 
haupt ein  sehr  merkwürdiger  Zug  ist,  dass  die  portug.  Versionen  in 
der  Regel  die  Assonanz  -  Vocale  ihrer  castilisehen  Origi- 
nale beibehalten  haben. 

155)  Caballero,  si  d  Francia  ides;  —  und  156)  Caballero  de 
lejas  tierras ; — im  Portug.  :  „Bella  Infanta",  ist  die  vollstän- 
digste Version  und  wohl  nach  der  ältesten  Grundlage;  denn  hier  wird 
die  Sage  noch  in  die  Zeit  der  Kreuzzüge  verlegt.  In  ihrem  Carlen 
sitzt  die  Infantinn.  ihre  Haare  mit  einem  Goldkamm  kämmend,  und 
sieht  sehnsüchtig  nach  dem  Meere;  sieht  eine  stattliche  Flotte  landen 
und  den  Capitän  sich  ihr  nahen.  Sie  fragt  ihn,  ob  er  im  heiligen 
Lande  (na  terra  que Dem pisava)  ihren  Gemahl  getroffen  hübe.  Er 
verlangt  die  Angabe  der  Merkmale,  woran  er  zu  erkennen  sei.  Sie 
gibt  als  solche  an:  sein  weisses  Ross  mit  goldenem  Sattel,  und  auf 
der  Spitze  seiner  Lanze  trug   er   das   Kreuzeszeichen    (a   cruz  de 

Sitzb.  <1.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  I.  Hit.  5 


66  FerdinandWolf. 

Christo  levava.)  Daran  glaubt  er  zu  erkennen,  dass  ihr  Gemahl  den 
Heldentod  gestorben  sei,  den  er  gerächt  habe.  Als  sie  nun  in  Klagen 
über  ihr  Witthum  und  ihre  drei  verwaisten  und  unvermählten  Töchter 
ausbricht,  fragt  er  sie,  was  sie  dem  gäbe,  der  ihn  ihr  hieher  brächte. 
Sie  bietet  Gold  und  Silber  und  all  ihren  Reichthum.  Das  verschmäht 
er.  Eben  so  vergeblich  bietet  sie  ihm  ihre  drei  Mühlen,  wovon  die 
eine  Gewürznelken,  die  andere  Zimmt,  die  dritte  köstliche  Ölfrucht 
mahlt1);  die  Ziegel  ihres  Daches,  die  von  Gold  und  Elfenbein  sind2); 
endlich  selbst  ihre  drei  Töchter,  die  eine  solle  ihm  die  Schuhe, 
die  andere  die  Kleider  reichen,  und  die  Schönste  von  allen  seine 
Bettgenossinn  sein3).  Er  will  nur  sie  selbst  als  Preis  dafür  neh- 
men. Da  erwidert  sie  entrüstet:  „Einen Ritter  der  durch  solch  Begeh- 
ren seine  niedrige  Herkunft  verräth  (que  tarn  villäo  e  de  st),  lass  ich 
durch  meine  Knechte  (villoes)  ergreifen  und  an  dem  Schweife  meines 
Pferdes  um  meinen  Garten  schleifen.  Vasallen,  meine  Vasallen  kommt 
mir  nun  zu  Hilfe!"  —  Worauf  er  sich  zu  erkennen  gibt,  sprechend: 
„Dieses  Rings  mit  sieben  Steinen,  den  ich  mit  dir  einst  theilte,  wo 
ist  dess  andere  Hälfte?  denn  die  meine,  sieh  sie  hier!"  Da  ruft  sie: 
„So  viel  Jahre  hab'  ich  verweint,  so  viel  Angst  zitternd  erlitten! 
Möge  Gott  dir  es  verzeihen,  Gemahl,  dass  du  mich  dem  Tode  nahe 
gebracht!"  —  Diese  Romanze  ist,  wie  Herr  Garrett  sagt,  die  ver- 
breitetste  unter  dem  Volke  in  Portugal  und  fast  ganz  in  dramatischem 
Dialog  abgefasst.  Ausser  vielen  Varianten  gibt  er  eine  etwas  moder- 
nisirte  Version  aus  der  Provinz  Minho. —  Die  ihr  zu  Grunde  liegende 
Idee  ist  aber  auch  bei  den  meisten  Nationen  sehr  volksmässig  und  in 


1)  —  De  tres  moinhts  que  teuho, 
todos  tres  t'os  dera  a  ti ; 
um  moe  o  cravo  e  a  cannella, 
outro  moe  do  gerzerli : 
ricca  farinha  que  fazem ! 
Tomara  -  os  elrei  p'ra  si. 

2)  —  As  telhas  do  meu  telhado, 
que  säo  de  oiro  e  marfim. 

3)  —  De  tres  filhas  que  eu  tenho, 
todas  tres  te  dera  a  ti: 
uma  para  te  calcar, 

outra  para  te  vestir, 
a  mais  formosa  de  todas 
para  comtigo  dormir. 


Probeu  portugiesischer  und  catalaniacher  Volksromanzen.  67 

Volksliedern  besungen  worden.  So  gibt  Herr  Milä  zwei  catalanische 
Versionen  davon:  „Biancaflor"  und  „La  vuelta  del  pere- 
grino."  In  der  ersteren  ist  Blancaflor's  Gemahl  nach  Frankreich 
gezogen,  kehrt  zur  See  zurück  und  von  der  am  Hafen  sehnsüchtig 
Harrenden  nicht  erkannt  und  nach  ihrem  Gatten  befragt,  sagt  er  ihr, 
er  habe  ihn  gesehen,  und  bringe  ihr  von  ihm  den  Befehl,  sich  einen 
anderen  Geliebten  zu  suchen,  denn  man  habe  ihm  die  Tochter  des 
Königs  von  Frankreich  zur  Gemahlinn  gegeben.  Worauf  sie  sehr 
schön  erwidert:  „Möge  es  dem  wohlbekommen,  der  sie  genommen,  und 
übel  dem,  der  sie  ihm  gegeben  (ben  haja  qui  presa  l'ha —  mal  haja 
qui  li  ha  donadaj",  sieben  Jahre  habe  sie  als  glücklich  Vermählte 
(dona  bencasada)  auf  ihn  gewartet,  sieben  andere  wolle  sie  als  ver- 
lassenes Witfräulein  (viudeta  enviudada)  noch  ferner  auf  ihn  warten ; 
kehre  er  auch  nach  diesen  sieben  Jahren  nicht  zu  ihr  zurück,  so 
wolle  sie  Nonne  werden.  Hierauf  folgt  die  Erkennungsscene  i).  —  In 
der  anderen  catalanischen  Version:  „Die  Heimkehr  des  Pilgers" 
ist  der  Eingang  reizend:  Eine  schöne  Frau  schläft  im  Schatten  einer 
Fichte ,  der  Schatten  aber  verkürzt  sich  {las  ombretas  er  an  alias) 
und  die  Sonne  schien  ihr  auf  den  Busen.  Ein  Bitter  kommt  vorbei, 
will  sie  nicht  wecken;  wirft  ihr  einen  Veilchenkranz  auf  den  Busen. 
Die  Veilchen  waren  frisch,  die  Frau  erwacht.  Sie  fragt,  wer  ist  der 
Ritter  der  meinen  Schlaf  gestört?  Er  antwortet:  Bin  kein  Ritter,  bin 
ein  armer  Pilger.  —  Sie  fragt:  was  es  Neues  in  dem  Lande  gebe 
woher  er  gekommen?  —  Er  antwortet:  die  Neuigkeit  die  ich  bringe, 
Frau,  ein  Pilger  ist  dort  gestorben.  —  Auf  ihre  Fragen  nach  dessen 
Aussehen  beschreibt  er  ihn;  sie  erkennt  darin  ihren  Mann,  und  will, 
ihn  nochmals  zu  sehen,  dahin  ziehen.  Er  stellt  ihr  vor,  es  sei  wohl 
hundert  Meilen  weit,  und  der  Weg  sehr  schlecht.  Sie  besteht  aber 
darauf,  und  sollte  es  auch  ihr  Leben  kosten.  Da  gibt  er  sich  ihr  zu 
erkennen.  —  Schon  in  dieser  Version  ist  die  Sage  aus  den  höheren, 
königlichen  und  fürstlichen  Kreisen  in  niederere  verpflanzt;  noch 
mehr  ist  dies    in  den  offenbar  späteren  Volksliedern  der  Engländer, 


!)  Im  Original  sehr  naiv: 

Allavors  lo  seu  marit  —  li  va  don:!'  un'  abrasada. 

—  Perdoni  lo  meu  marit  —  si  he  faltat  en  cap  paraula. 

—  Perdoni  la  meha  esposa  —  del  temps  que  ;!  mi  m'aguardaba. 

—  Perdoni  lo  meu  marit  —  si  n'he  estada  mal  criada. 

—  Ben  criada,  Blancallor,  —  de  hou  pare  y  bona  mare. 

5" 


68 


F  e  r  (1  i  u  a  u  d   Wolf. 


Holländer  und  Deutschen  der  Fall,  die  damit  verwandt  sind  (s.  die 
englische  Ballade  vom  grauen  Bruder,  in:  „Altschott,  und  alt- 
engl.  Volkshalladen."  Bearbeitet  von  Doenniges,  S.  147;  — 
Willems,  Oude  Vlaemsche  Liederen,  S.  219;  —  und  Simrok, 
Deutsche  Volkslieder  Nr.  84  und  85.  —  Vgl.  auch  Oskar  Schade, 
Volkslieder  aus  Thüringen,  im  Weimar.  Jahrb.  Bd.  III,  Nr.  4, 
„Geprüfte  Treue"). — 

154)  De  Francia  partiö  la  nina.  Die  portugiesische  Version  : 
A  infeiticada  steht  dem  wahrscheinlich  französischen  Originale 
noch  näher  als  die  castilische.  Auf  ein  solches  Original  deutet  der 
Eingang  der  castilischen  Romanze,  der  Schauplatz  heider  Versionen, 
die  Nähe  von  Paris,  der  an  die  Leichtfertigkeit  der  Fabliaux 
streifende  Ton  und  der  in  der  portugiesischen  noch  mehr  hervor- 
tretende Feenglaube.  Durch  den  Schluss  worin  der  Ritter  und  das 
Fräulein  sich  als  Geschwister  erkennen,  nähert  sich  die  portugie- 
sische der  asturischen  Version:  Don  ßueso  (Du ran,  Romancero 
general,  2a  ed.  Tom.  I.  pag.  LXV.),  und  im  Portugiesischen  gibt  es 
davon  mehrere  Versionen  die  diese  Sage  mit  der  oben  erwähnten: 
Nr.  151,  verschmelzen. 

En  el  mes  era  de  Abril;  die  oben  erwähnte,  castilisch  und  por- 
tugiesisch abgefasste  Romanze  aus  Gil  Vicente's  Don  Duardos 
(und,  weil  nicht  eigentlich  volksmässig,  nicht  in  die  Primavera  auf- 
genommen). Herr  Garrett  hat  die  portugies.  Version  nach  Oliveira's 
Aufzeichnung  gegeben,  der  sie  aus  einer  Handschrift  des  16.  Jahr- 
hunderts genommen  haben  will.  Sie  stimmt  fast  wörtlich  mit  der 
castilischen  in  Gil  Vicente's  Stück,  und  die  in  die  spanischen  Roman- 
ceros  übergegangene  castilische  Version  hat  nur  ein  paar  unbedeu- 
tende beschreibende  Interpolationen. 

138)  Galiarda,  Galiarda;  und  139)  Esta  noche ,  cab aller os  ; 
—  mit  dem  in  diesen  beiden  Romanzen  behandelten  Stoffe  ist  der 
einer  portugiesischen  verwandt,  welche  Herr  Garrett  aus  einigen 
Versionen  aus  Tras-os-montes  unter  dem  Titel:  „Albaninha" 
herausgegeben  hat.  Sie  ist  fast  ganz  in  dramatischem  Dialog 
abgefasst.  —  „Albaninha,  Albaninha,"  ruft  der  Ritter,  der  in  den 
castilischen  Romanzen  Florencios  heisst,  hier  aber  nicht  genannt 
wird,  „Tochter  des  Grafen  Alvar,  könnt  ich  dich  nur  drei  Stunden 
zu  meinem  Willen  haben!"  —  Darauf  antwortet  sie  doppelsinnig: 
„Wenig    Zeit    sind    wohl    drei    Stunden,     doch    d'rauf   folgt    das 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  69 

Rechnungabstatten  *)."  Er  schwört  hoch  und  theuer,  diese  Sitte 
unedler  Knechte  (villoes)  sei  ihm  fremd;  möge  man  ihn  mit  diesem, 
oder  einem  noch  schärfer  schneidenden  Schwerte  zerhauen,  wenn  er 
eine  Dame  die  sich  ihm  vertraut  habe,  dem  Gespötte  preisgebe  (me 
forgabarj.  Doch  kaum  hat  der  Morgen  gegraut,  spricht  er  auf  öffent- 
lichem Spaziergange  zu  den  drei  ßrüdern  Albaninha's,  Arm  in  Arm 
mit  ihnen  lustwandelnd:  „Diese  Nacht,  ihr  Ritter,  wisst,  hab  ich 
der  Jagd  obgelegen;  in  meinem  Leben  habe  ich  keine  so  vergnügte 
Nacht  zugehracht.  Es  war  ein  gar  feines  Häschen,  habe  nie  eines 
solche  Sprünge  machen  sehen;  nach  drei  Stunden  scharfen  Jagens 
konnte  ich  es  noch  nicht  ermüden."  —  Da  sagten  die  Brüder  zu  ein- 
ander: Das  ist  'ne  lust'ge  Weis1  zu  spotten!  geht  es  etwa  auf  unsre 
Weiber?  oder  zielt  er  auf  unsre  Schwestern?"  —  Der  Jüngste 
aber,  klugen  Sinnes,  sagte:  „Merkt  ihr  nicht,  dass  es  Albaninha 
ist,  die  der  Verräther  zum  Gespötte  machen  will?"  Da  zogen  sich 
die  drei  bei  Seite  und  beriethen  sich;  die  beiden  älteren  sprachen: 
„Sollen  wir  sie  tödten?"  — Doch  der  jüngste  fragte  dagegen:  „Sol- 
len wir  sie  nicht  vermählen?"  —  „Ja!  "  riefen  da  alle,  und  die  Aus- 
steuer die  sie  zu  bekommen  hat,  wir  wollen  sie  ihr  auszahlen."  — 
Sie  gingen  zu  Albaninha  und  fanden  sie  in  Vorbereitung  zum  Hoch- 
zeitsfesle  (de  voda  a  forum  achar)  ;  zwei  Dienerinnen  kleideten  sie 
an,  zwei  machten  ihren  Kopfputz  zurecht.  Sie  redeten  sie  an:  „Alba- 
ninha, Albaninha,  Tochter  des  Grafen  Alvar!  Den  Bart  deines  Vaters, 
des  Grafen,  wie  gut  wusstest  du  ihn  in  Ehren  zu  halten!  "  —  Drauf 
sie:,,  Den  Bart  meines  Vaters,  des  Grafen,  trachtet  ihr  ihn  in  Ehren 
zu  halten;  zahlt  mir  nur  aus  meine  Aussteuer;  denn  nun  geh  ich, 
mich  zu  vermählen."  — 

185  a)  En  los  campos  de  Alventosa ;  —  im  Portugies.  „Dom 
Beltrao."  Hier  fehlt  der,  wohl  aus  der  Romanze  von  Gaiferos  in 
der  castilischen  eingeschaltete  Monolog  des  seinen  Sohn  aufsu- 
chenden Vaters,  statt  dessen  ein  Gespräch  zwischen  ihm  und  Hirten 
bei  denen  er  nach  dem  Sohne  fragt,  und  zur  Antwort  erhält,  dass 
sie  ihn  nicht  gesehen  haben.  Die  Zeichen  die  er  dem  Mauren  von 
seinem  Sohne  gibt,  sind  im  Portugies.  etwas  abweichend   von  denen 


l)      —  POUCO  tempo  sao  (res  lioras, 
mas  vi'in  depois  o  contar. 
Contar  heisst:  Rechnung  ablegen  und  erzählen. 


70  Ferdinand  Wolf. 

in  der  castilischen  Romanze1)»  und  den  merkwürdigen  Zusatz  am 
Schlüsse  der  portugiesischen  habe  ich  bereits  in  der  Primavera 
mitgetheilt. 

161)  Levantöse  Gerineldo. —  Im  Portugies.  „Reginaldo," 
oder  nach  anderen  Versionen:  „Generaldo,"  „Girinaldo"  und  „Egi- 
naldo,"  auch  mit  dem  Beisatze  „o  atrevido"  3).  Die  meisten  portu- 
gies. Versionen  davon  stimmen  im  Wesentlichen  mit  der  älteren  casti- 
lischen, der  aber  Eingang  und  Schluss  fehlt;  den  Eingang  hat  die 
jüngere  castilische  Version  gemeinsam  mit  der  portugiesischen;  unter 
der  letzteren  haben  aber  die  aus  der  Provinz  von  Ribatejo  vor  dem 
Schlüsse  eine  Episode  eingeschoben,  die  ihnen  eigenthümlich  ist  und 
sich  auch  durch  andere  Assonanz  unterscheidet.  Reginaldo  wird  näm- 
lich von  dem  Vater  der  Infantum,  der  sich  nicht  entschliessen  kann, 
das  Todesurtheil  seiner  Vasallen  an  ihm  vollziehen  zu  lassen,  einst- 
weilen in  einen  Tburm  eingesperrt.  Nach  Jahr  und  Tag  besucht  ihn 
seine  Mutter,  bricht  in  Klagen  über  sein  und  ihr  Schicksal  aus  und 
bittet  ihn,  ihr  noch  zum  Tröste  das  Lied  vorzusingen,  d;is  sein  Vater 
in  jener  St.  Johannisnacht  sang,  in  der  auch  er  ein  Gefangener  wurde; 
auch  der  König  hört  Reginaldo's  Gesang  mit  an ,  und  er  klingt  ihm 
so  bezaubernd  wie  Engel-  oder  Sirenensang.  „Nicht  die  Engel  im 
Himmel,  nicht  die  Sirenen  im  Meere  singen  also,"  ruft  die  Infantinn, 
„sondern  der  Ärmste  den  ihr  zum  Tode  verurtheilt  habt."  —  Da 
widerruft  der  König  das  Urtheil,  und  gibt  ihn  seiner  Tochter  zum 
Gemahl3).   —  Man  sieht,    dass    auch    die  Katastrophe  der  portu- 


l)  —  Brancas  säo  as  suas  armas, 
o  cavallo  tremedal. 
Na  ponta  de  sua  lanca 
levava  um  branco  sendal, 
que  lifo  bordou  sua  daina 
bordado  a  ponto  real. 

2)  Dass  er  unter  diesem  Beinamen  sogar  sprichwörtlich  geworden  sei,  habe  ich  an  einer 
Stelle  von  Lope  de  Vega's  „Comedia  de  la  reina  Dona  Maria"  nachge- 
wiesen (s.  Sitzungsber.  Bd.  XVI,  S.  261). 

3)  Da  diese  Episode,  wenn  auch  vielleicht  eine  spätere  Interpolation ,  doch  sehr  schön 
ist,  so  will  ich  sie  im  Originale  hersetzen: 

Ja  o  mettem  n'uma  torre,  Veio  a  mae  de  Reginaldo 

ja  o  väo  incarcerar.  o  seu  filho  a  visitar: 

Mas  anno  e  dia  e  passado,  —  Filho,  quando  te  pari 

e  a  sentenca  por  dar.  com  tanta  dor  e  pezar, 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen. 


71 


giesischen  Romanzen  bei  weitem  schöner  und  einfacher  ist,  als  die 
abenteuerlieh  verbalhornte  der  jüngeren  castilischen ,  inderderEin- 
fluss  der  italienischen  Rittergedichte  unverkennbar  ist. 

190)  Media  noche  era  por  Mio.  —  Im  Portugies.  „Clara- 
linda;" gibt  das  castilische  Original  nur  in  dürftigen  Umrissen 
Mieder,  wiewohl  in  lebendigem  Dialog  und  mit  anmuthiger Natürlich- 
keit. Der  Hauptnachdruck  ist  hier  auf  die  indiscrete  Zuträgerei  des 
Angebers  (der  hier  ein  Page  des  Königs  ist)  und  dessen  Bestrafung 
gelegt,  so  dass  selbst  die  einfachste  Version  mit  der  Epimythe 
schliesst: 

E  ninguem  mais  n  esta  cörte 

se  atreva  a  mexericar. 


era  um  dia  como  este, 

teu  pae  estava  a  expirar. 

Eu  eo"as  lagrymas  dos  olhos, 

filho,  te  estava  a  lavar: 

eabellos  d'esta  cabeca 

com  elle3  te  fui  limpar. 

E  teu  pae  ja  na  agonia, 

(jue  me  estava  a  incommendar : 

emquanto  fosses  piqueno 

de  bom  insino  te  dar, 

e  depois  que  fosses  grantle 

a  bom  senhor  te  intregar. 

Ai  de  mim,  triste  viuva, 

que  te  näo  soube  criar ! 

A  elrei  te  dei  por  amo, 

que  melhor  näo  pude  aehar: 

tu  vais  dormir  co"a  infanta 

de  teu  senhor  natural ! 

Perdeste  a  cabeja,  filho, 

que  elrei  t'a  manda  cortar! 

Ai!  raeu  filho.  antes  que  morras, 

quero  ouvir  o  teu  cantar. 

—  Como  beide  eu  cantar,  mi  madre, 
se  me  sinto  ja  finar? 

—  Canta,  meu  (ilhinho,  canta 
para  haver  niinha  bencao, 

que  me  estou  lembrando  agora 
de  teu  pae  n'esta  prisäo. 
Canta-me  o  que  eile  cantava 

Man  vergleiche  damit  die  unten  mitzuthei 
des  Gesanges." 


na  noite  de  San'Joäo; 

que  tantas  vezes  m'o  ouviste 

cantar  c'o  meu  coraeäo. 

—  Um  dia  antes  do  dia 
que  e  dia  de  San'Joäo, 

me  incerraram  n'estas  grades 

para  fazer  penacäo. 

E  aqui  estou,  pobre  coitado, 

mettido  n1  esta  prisäo, 

que  näo  sei  quando  o  sol  nasce, 

quando  a  lua  faz  seräo. 

De  suas  varandas  altas 
elrei  estava  a  escutar: 
ja  se  vai  onde  a  princeza, 
pela  mäo  a  foi  buscar : 

—  Anda  ouvir,  6  minha  filha , 
este  tarn  lindo  cantar, 

que  ou  säo  os  anjos  no  ceo, 
ou  as  sereias  no  mar. 

—  Näo  säo  os  anjos  no  ceo, 
nem  as  sereias  no  mar, 

mas  o  triste  sein  Ventura 
a  quem  mandais  degollar. 

—  Pois  ja  revogo  a  sentenca 
e  ja  o  mando  soltar; 
prende-o  tu,  infanta,  agora, 
pois  comtigo  bade  casar. 

ende  catalanische  Romanze:   „Die  Macht 


72  Ferdinand  Wolf. 

131)  Mi  padre  era  de  Ronda;  im  Portugies.  „0  captivo." 
Diese  bedeutend  modernere  portugiesische  Nachbildung  ist  allerdings 
schon  so  verändert,  dass  sich  nur  aus  einzelnen,  aber  wörtlich 
stimmenden  Stellen  noch  das  castilische  Original  erkennen  lässt,  das 
Herrn  Garrett  entgangen  ist ,  wiewohl  auch  ihm  viele  Castilianismen 
in  der  Sprache  aufgefallen  sind.  Der  Anfang  der  portugies.  Version 
stimmt  noch  am  meisten  mit  der  älteren  castilischen  (der  Eingang  in 
der  von  Timoneda  gegebenen,  um  das  Benehmen  des  Gefangenen 
gegen  seine  Herrinn  zu  motiviren,  fehlt  auch  in  der  portugies.),  wie- 
wohl gerade  hier  die  Modernisirung  recht  kenntlich  hervortritt,  denn 
der  Christen-Sclave  wird  hier  sogar  zu  einem  „Hamburger"  gemacht: 

Eu  vinha  do  mar  de  Hamburgo , 
oder  nach  einer  anderen  Lesart: 

meu  pae  era  de  Hamburgo, 

minha  mae  de  Hamburgo  era. 
Er  wird  zwar  von  Mauren  geraubt,  aber  an  einen  Juden  ver- 
kauft auf  dem  Markte  von  Säle.  Dieser  behandelt  ihn  eben  so  hart 
wie  der  moro  perro  in  der  castilischen  Romanze,  was  fast  mit  den 
Worten  derselben  erzählt  wird ;  aber  die  „buena  ama,"  hier  die 
„patroa  bella,"  ist  die  Tochter  des  Juden,  die  sich  in  ihn  verliebt 
hat,  und  von  da  an  weicht  die  portugies.  Version  gänzlich  von  der 
castilischen  ab.  „Die  schöne  Juden-Tochter,"  fährt  hier  der  Chri- 
sten -  Sclave  in  seiner  Erzählung  fort,  „gab  mir  von  dem  weissen 
Brode  das  sie  selbst  ass,  gab  mir  alles  was  ich  wünschte,  und  mehr 
als  ich  je  mir  zu  wünschen  erlaubt  hätte:  denn  in  der  Jüdinn  Armen 
weinte  ich  —  doch  nicht  um  sie.  Sie  sprach  dann  zu  mir:  —  Weine 
nicht,  Christ,  zieh  heim  nach  deinem  Lande.  —  Wie  soll  ich  heim- 
ziehen, Herrinn,  fehlt  es  mir  doch  an  Gelde.  —  Brauchst  du  ein 
Pferd,  geb  ich  dir  meine  Stutte;  bedarfst  du  eines  Schiffes,  will  ich 
dir  meine  Caravelle  geben. — Nicht  um  ein  Pferd  handelt's  sich,  nicht 
darum,  schöne  Herrinn,  denn  Mazagao  ist  weit  von  hier,  und  erst  in 
Ceuta  herrscht  die  Sprache  Castiliens  *).  Noch  brauch'  ich  ein  Schiff, 
denn  ich  will  nicht  entfliehen;  da  würde  ich  ja  deinen  Vater   des 


!)     Que  estii  longe  Mazagao, 
Ceuta  tem  voz  de  Castella. 
Darnach   ist  diese  Version  jedesfalls   erst  nach  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  ent- 
standen. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  i  o 

Geldes  berauben,  das  er  für  mich  gegeben  hat.  —  So  nimm  denn  diesen 
ßeutel  Christ,  gewirkt  aus  gelber  Seide;  meine  Mutter,  als  sie  starb, 
setzte  mich  zu  dessen  Herrinn  ein.  Gehe  hin,  zahle  damit  dein  Löse- 
geld; und  den  Frauen  deines  Landes  erzähle  dann  von  der  Liebe 
der  «liidinn,   und  wie  viel  die  mehr  werth  ist,  als  ihre  Liebe. 

Bald  !)  darauf  kam  der  Patron  nach  Hause.  —  Ihr  kommt  zur 
guten  Stunde,  Patron;  für  euer  Kommen  sei  Gott  gelobt;  denn  so 
eben  erhielt  ich  Botschaft,  dass  mein  Lösegeld  angelangt  sei.  — 
Christ,  Christ,  was  sagest  du!  Bedenk  dich;  denn  das  ist  ja  wirres 
Zeug2).  Wer  sollte  dir  so  viel  Geld  gegeben  haben,  um  dich  los- 
kaufen zu  können?  —  Zwei  Schwestern  gewannen  es  für  mich,  eine 
andere  hat  es  für  mich  bewahrt3),  und  ein  Engel  des  Himmels 
brachte  es  mir,  ein  Engel,  von  Gott  gesandt.  —  Sprich,  Christ,  sage 
mir,  willst  du  nicht  deinen  Glauben  abschwören?  Denn  dann  will  ich 
dich  zu  meinem  Eidam  machen,  zum  Herrn  all1  meiner  Habe.  — 
Nimmer  will  ich  Jude  werden,  nimmer  ein  Türken-Renegat,  und  nie 
will  ich  Herr  sein  über  all'  deine  Habe;  denn  ich  trage  in  meiner 
Brust  Jesus,  den  gekreuzigten.  — 

—  Was*)  hast  du,  Tochter  Rachel?  Sprich,  geliebte  Tochter, 
ist  es  um  des  verfluchten  Christen  willen,  dass  du  also  unglücklich 
wurdest?  —  Mein  Vater,  lass  den  Christen,  lass  ihn;  nein,  er  schul- 
det mir  nichts;  wohl  schuldet  er  mir  die  ßlüthe  meines  Körpers; 
aber  freiwillig  ward  sie  ihm  gegeben  5). 

Da  Hess  er  (der  Vater)  ihr  einen  Thurm  erbauen  aus  köstlichem 
Gestein  (de pedraria  lavrada) ;  damit  die  Mauren  nicht  sprächen:  — 
Die  Jüdinn  ist  entehrt.  —  „Laute,  meine  Laute  (violla),  hier  magst 
du  hängen  bleiben;  denn  dort  zieht  fort  meine  Liebe,  durch  jene 
salzige  Fluth !"  — 


l)  liier  varürt  die  Assonanz. 
'•*)  Olha  que  e  inuito  cruzado. 
•')  Outra  m'o  tinha  guardado; 

aber  fast  scheint  mir  die  dazu  gegebene  Variante  besser: 

que  por  mim  stau  a  soldado, 
die  sieh  für  mich  um  Lohn  verdingt  haben. 
4)  Wieder  Assonanz -Wechsel. 

5)  Mi  ii  pae,  deixe  o  christäo,  deixe, 
que  eile  nüo  nie  deve  nada: 
deve-ine  a  flor  de  inen  COrpO  ; 
nias  de  vontade  fui  dada. 


74  Ferdinand  Wolf. 

130)  Moro,  si  vas  d  la  Espana;  —  im  Portugiesischen: 
„Rain ha  e  captiva";  stimmt  nicht  nur  im  Wesentlichen  des  Inhalts 
mit  der  castilischen  Romanze,  sondern  hat  auch  mehrere  Stellen  mit 
ihr  wörtlich  gemein  und,  was  besonders  zu  beachten  ist,  dieselbe 
Assonanz  (in  i-  a).  Von  einzelnen  abweichenden  Zügen  sind  bemer- 
kenswerth:  dass  der  Graf  der  auch  im  Portugiesischen:  „conde 
Flores"  heisst,  auf  der  Rückkehr  seiner  Pilgerfahrt  nach  Santiago 
in  Galicien  von  den  Mauren  erschlagen  wird,  die,  um  ihrer  Königinn 
eine  Christen-Sclavinn  zu  bringen,  zu  Meer  und  zu  Lande  Raubzüge 
unternommen  hatten,  und  nun  die  Gräfinn  gefangen  nehmen.  Dass  die 
Königinn  eineChristinn  zurSclavinn  haben  wollte,  wird  hier  durch  ihre 
Furcht  motivirt,  die  Maurinnen  könnten  ihr  Zaubertränke  beibringen  *). 
Als  die  Gräfinn  sich  zur  Küchenmagd  erniedrigt  sieht,  ruft  sie  aus: 
„Ich  empfange  die  Schlüssel,  Herrinn,  zu  meinem  grossen  Unglück; 
einst  eine  angetraute  Gräfinn  (condessa  jurada),  nun  eine  Küchen- 
magd." In  der  Anrede  an  das  Kind  das  sie  für  das  ihre  hält,  wodurch 
sie  von  der  Königinn  erkannt  wird,  sagt  sie  hier  sehr  schön:  „Töchter- 
chen meines  Herzens,  womit  soll  ich  dich  taufen?  Meiner  Augen 
Thränen  mögen  dir  als  geweihtes  Wasser  dienen!  Nennen  will  ich 
dich  Rranca  Rosa,  ßranca  Flor  d' Alexandria;  denn  so  nannte  man 
einst  eine  Schwester  die  ich  hatte;  Mauren  nahmen  sie  gefangen  am 
Tage  der  ßlumen-Ostern  (Paschoa  florida,  Pfingsten^,  als  sie  Rosen 
brach  im  Rosengarten  den  mein  Vater  hatte".  —  Die  Königinn,  als 
sie  dies  hört,  bricht  in  Weinen  aus,  und  ruft  ihren  Dienerinnen  zu: 
„Dienerinnen,  meine  Dienerinnen,  haltet  mir  jene  Sclavinn  in  Fähren 
(regalem-me  e'sta  captivaj;  ja,  wäre  ich  nicht  ans  ßett  gefesselt, 
würde  ich  sie  selbst  bedienen  (eu  c  que  a  serviriaj". 

Nachdem  sie  sich  jene  Worte  von  der  Sclavinn  hat  wiederholen 
lassen,  sagt  sie  zu  ihr:  „Wenn  du  nun  deine  Schwester  sähest,  wür- 
dest du  sie  wieder  erkennen?"  —  „Ja",  antwortete  diese,  sähe  ich 
sie  nackt  bis  zum  Gürtel  (da  cintura  para  cimaj;  denn  unter  der 
linken  ßrust  hatte  sie  ein  dunkles  Mal".  —  Da  ruft  die  Königinn: 
„Weh  über  mich,  Ärmste,  weh  mir  Unglücklichen,  ich  hiess  mir  eine 
Sclavinn  suchen  und  sie  brachten  mir  meine  Schwester!" 


l)  Que  me  näo  fio  de  moiras 
näo  me  dem  feiticaria. 


Proben  portugiesischer  und  eatalaniseher  Volksromanzen.  7  O 

Der  nun  folgende  Schluss  ist  der  portugiesischen  Version  eigen- 
tümlich; denn  sie  fährt  nun  also  fort: 

„Kaum  waren  darnach  drei  Tage  verflossen,  so  starb  die  Tochter 
derKöniginn;  darob  weinte  dieGräfinnFlores,  da  sie  sie  für  ihr  eigenes 
Kind  hielt;  darob  weinte  noch  mehr  die  Mutter,  da  ihr  Herz  ihr  die 
Wahrheit  verrieth.  Da  gestanden  auch  die  Dienerinnen,  wie  die  Kinder 
in  der  That  vertauscht  worden  waren.  Die  Mutter,  den  Sohn  im 
Arme,  dachte  vor  Freude  zu  sterben.  Kaum  waren  drei  Stunden  dar- 
nach verflossen ,  sprach  die  eine  (Schwester)  zur  anderen:  „Lass 
uns  nach  Portugal  heimkehren,  nach  dem  Lande  das  Gott  gesegnet".  — 
Sie  rafften  vielen  Reichthum  zusammen  an  Gold  und  edlem  Gestein. 
In  einer  gesegneten  Nacht  entflohen  sie  aus  dem  Maurenlande.  Sie 
landeten  in  dem  ihren,  in  der  Gegend  von  Sancta  Maria1);  begaben 
sich  dann  in  ein  Kloster  und  legten  an  einem  Tage  das  Gelübde  ab". 

Herr  Mila,  der  die  castilische  Romanze  aus  mündlicher  Über- 
lieferung zuerst  bekannt  gemacht  hat,  gibt  auch  eine  catalanische 
über  denselben  Gegenstand.  Sie  weicht  viel  bedeutender  von  der 
castilischen  ab.  Der  Jäger  der  Königinn  von  der  Türkei  (reina  de 
Turquia)  jagte  einst  Tag  und  Nacht  ohne  auf  Wild  zu  treffen;  da 
kam  er  in  einen  Baumgarten ,  in  dem  war  ein  rother  Brustbeerbaum 
(ginjolerj und  unter  dem  sass  eine  schöne  Dame,  gekleidet  in  Gold- 
und  Silberstoff  und  mit  einem  Hemd  von  holländischer  Leinwand,  das 
mehr  als  hundert  Ducaten  werth  war.  Die  brachte  er  als  Gefangene 
der  Königinn.  Als  diese  ihre  Schönheit  sah,  befahl  sie  ihren  Dienern, 
sie  lebendig  zu  verbrennen  (la  cremin  vivaj:  —  „Denn  wenn  der 
König  sie  sähe,  könnte  er  sich  in  sie  verlieben;  dann  würde  sie  die 
Königinn,  ich  die  Sclavinn".  —  Darauf  antwortet  ihr  eine  Alte:  „Köni- 
ginn, ich  will  euch  einen  Rath  geben,  von  den  wenigen  die  ich  noch 
habe;  heisst  sie  am  Meeresstrand  die  Wäsche  waschen,  während  sie 
dabei  hin  und  her  geht,  wird  sie  ihre  weisse  Farbe  verlieren."  — 
Doch  schön  ging  sie  hin ;  noch  schöner  kam  sie  zurück.  Der  König  hiess 
sie  nun  bleiben,  um  seinen  Töchtern  Unterhaltung  zu  machen.  Eines 
Tages  wiegte  sie  die  kleinste,  dabei  sprechend:  —  „Ach  Tochter, 
meine  Tochter,  hätte  ich  dich  doch  in  meiner  Heimat,  ich  Hesse  dich 


*)  Terra  de  Saneta  Maria  hiess  einst  der  District  zwischen  Douro  und  Vouga,  der  nun 
„Terra  da  Feira"  heisst.  Das  lässt  auf  ein  hohes  Alter  der  Abfassung  dieser  Version 
schliessen. 


76  Ferdinand  Wolf. 

dann  taufen  von  einem  Frater,  und  gäbe  dir  den  Namen:  Dona  Isabel  de 
Castilla;  denn  icb  hatte  eine  Schwester  die  diesen  Namen  führte".  — 
Die  Königinn  lag  im  Bette,  und  hörte  sie  diese  Worte  sprechen.  Sie 
sagt  zum  Könige:  —  „Herr  und  König,  habt  ihr  gehört,  was  so  eben 
die  Sclavinn  sagte?"  —  „Sollte  dich  das  ärgern,  Königinn,  will  ich 
soffleich  sie  verbrennen  lassen".  —  „Das  werdet  ihr  wohl  bleiben 
lassen;  denn  ihr  würdet  mich  dadurch  tödten.  Spricht  sie  wahr,  so 
haben  wir  Schwestern  uns  gefunden,  und  wir  waren  zusammen  im 
Palaste,  im  Palaste  von  Castilien".  — 

Mit  dieser  allerdings  schon  sehr  abgeschwächten  Version  sind 
verwandt  die  schwedischen,  dänischen  und  schottischen  Balladen  von 
„Schön  Anna;"  — die  niederländische:  „Schön  Adelheid";  und  die 
deutsche:  „Die  wiedergefundene  Königstochter"  (s.  Arwidson, 
Svenska  Fornsänger,  Tbl.  I,  S.291,  Nr.  42;  —  Hoffmann,  Nieder- 
ländische Volkslieder,  Nr.  11,  2.  Ausgabe,  S.  46;  —  Simrock, 
a.  a.  0.  Nr.  20).  Mit  Recht  hat  Herr  Du-Meril  (I.  c.  pag.  335) 
bemerkt,  dass  alle  diese  Versionen  aus  einer  gemeinsamen  Quelle 
geflossen  sind,  für  welche  man,  als  die  älteste  bis  jetzt  bekannte 
Bearbeitung,  wohl  das  Lai  del  Freisne  ansehen  kann. 

163)  Retraida  estd  la  infanta;  —  die  portugiesische  Version: 
„Conde  Yanno"  (aber  auch  hier  unter  dem  Namen:  „Conde 
Alarcos"  oder  „Anardos"  bekannt,  und  nur  in  den  von  der  spani- 
schen Grenze  entferntesten  Gegenden  „Yanno"  oder  auch:  „Dom 
Du  arte"  und  „Conde  Alberto"  genannt)  ist  ganz  in  der  Prima- 
vera mitgetheilt. 

Auch  eine  catalanische  Version  existirt  davon ,  die  Herr  M  i  1  ä 
unter  dem  Titel:  „El  conde  Fioris"  veröffentlicht  hat.  Sie  ist  gegen 
die  anderen  eine  farblose  Skizze;  enthält  aber  doch  ein  paar  bemer- 
kenswerthe  eigenthümliche  Züge.  Als  nämlich  der  Graf,  mit  des 
Königs  Befehl  seine  Gemahlinn  zu  tödten,  tief  erschüttert  heimgekehrt 
ist,  und  sich  endlich  mit  ihr  zu  Bette  begeben  hat,  dringt  sie  noch- 
mals in  ihn,  ihr  den  Grund  seines  tiefen  Schmerzes  (agonla)  der  ihn 
nicht  schlafen  lasse,  zu  sagen.  Da  antwortet  er  ihr:  —  „Gräfinn,  der 
König  trug  mir  auf,  ihm  lebendiges  Blut  zu  bringen  (que  U  portes  yo 
sang  viva).  —  Gehe  denn  in  den  Stall  hinab  und  schlachte  das  gute 
Pferd  das  dort  ist.  —  Weib,  das  kann  nicht  sein;  denn  der  König 
würd'  es  erkennen.  Der  König  hat  mir  befohlen,  dass  wir  uns  trennen, 
dass    eines   von   uns    beiden  sterben  müsse  und  wir  also  getrennt 


Proben  portugiesischer  und  cataluniscliei*  Volksromanzen,  i   t 

würden.  —  Graf,  für  dich  will  ich  sterben,  Graf,  für  dich  möcht  ich 
sterben.  Steige  die  Treppe  hinab  und  bringe  jenes  feine  Gewebe 
(telas  finas)  das  ich  wirkte  als  ich  noch  Mädchen  war;  und  in  dieses 
Gewebe  eingehüllt  ist  ein  Büschel  Kraut  das  helfen  wird  (y  en  mitiv 
d"  aquellas  telas  —  rihiha  un  brot  de  medicina;  —  das  ist  wohl  eine 
Andeutung,  dass  sie  schon  als  Braut  sich  auf  eine  solche  Katastrophe 
vorbereitet  hatte?).  —  Während  er  ihr  damit  den  Tod  gibt,  kommt 
ein  Page  des  Königs  an,  der  ihm  zuruft:  „Graf,  tödte  dein  Weib, 
wenn  du  es  noch  nicht  getödtet  hast".  — 

Endlich  hat  Herr  Garrett  eine  portugiesische  Bearbeitung  der 
Romanzen  von  Valdovinos  und  dem  Marques  de  Mantua  mit- 
getheilt,  die  eine  eigentliche  Xäcara,  eine  zur  dramatischen 
Aufführung  bestimmte  enkyklische  Romanze  ist,  und  in  welcher 
die  Handlung  und  der  dramatische  Dialog  nur  durch  einen  kurzen 
erzählenden  Prolog  eingeleitet  werden.  Sonst  sind  die  Beden  der 
Handelnden  immer  überschrieben:  „Falla  o  Marquez",  diz  Valdo- 
vinos u.  s.  w.  Selbst  Bühnenweisungen  kommen  vor,  z.  B.  Vetn  o  ermi- 
tdo  e  o  pagem;  aqui  expira  Valdovinos  e  diz  o  Marquez;  aqui 
levam  a  Valdovinos  d  ermida.  E  entra  o  imperador,  o  conde  Gana- 
ldo,  e  diz  o  imperador  ;  aqui  se  vai  Ganaldo;  e  veem  dois  embai- 
xadores  mandados  pelo  marques  de  Mantua,  chamados  Dom  Bei- 
tritt e  duque  Amao:  e  virao  vestidos  de  dö:  e  diz  Beltrdo  ;  ir-se-ha 
Dorn  Reinaldos,  e  vem  a  imperatriz  vestida  de  dö,  c  diz  o  Impera- 
dor;  aqui  se  vai  o  imperador ;  e  vird  Reinaldos  com  o  algoz,  o 
quäl  trard  a  cabeca  de  Dom  Carloto,  e  diz  Reinaldos  etc.  Daher 
führt  diese  Xacara  auch  in  den  fliegenden  Blättern  manchmal  den 
Titel:  „Tragedia".  Sie  ist  ganz  in  Redondillas  und  Quintillas  abge- 
fasst.  Herr  Garrett  setzt  ihre  Abfassung  spätestens  in  das  15.  Jahr- 
hundert, jedesfalls  liegen  ihr  aber  die  berühmten  castilischen  Romanzen 
zu  Grunde. 


Die  nachstellenden  Proben  portugiesischer  und  catalanischer 
Romanzen  machen  durchaus  keinen  Anspruch,  für  eigentlich 
dichterische  Übersetzungen  zu  gelten;  ich  habe  mich  nur  bestrebt 
—  meiner  geringen  Reproductionskraft  und  technischen  Fertigkeit 
wohl  bewusst  —  die  Originale  Vers  für  Vers  mit  möglicher  Wort- 
treue wiederzugeben.    Daher  habe  ich  auch  die  in  der  Regel  durch- 


78  Ferdinand  Wolf. 

gehende  Assonanz,  deren  schwierige  Durchführung  ohnehin  zu  ihrer 
geringen  Vernehmbarkeit  im  Deutschen  in  keinem  Verhältnisse  steht, 
nur  in  ein  paar  Stücken  ausnahmsweise  beobachtet;  statt  deren  die 
in  unseren  Volksliedern  gebräuchliche  Reimweise  anzuwenden,  schien 
mir  eine  grössere  Entstellung  des  nationalen  Charakters  als  die  gänz- 
liche Reimlosigkeit.  Ich  bin  zufrieden,  wenn  diese  Versuche  die  Schön- 
heiten der  Originale  so  wenig  verdunkelt  hätten,  dass  Dichter  in 
der  vollen  Bedeutung  des  Wortes  dadurch  angeregt  würden,  sie 
nachzudichten,  und  wenn  meine  Vorarbeit  ihnen  dabei  von 
einigem  Nutzen  sein  könnte. 

Bei  jeder  Romanze  habe  ich  den  Titel  und  die  Anfangsverse  im 
Originale  beigefügt;  letztere  sind  zur  Angabe  der  Assonanz  (wenn 
sie  wechselt  wird  dies  am  betreffenden  Orte  stets  bemerkt)  und  be- 
sonders bei  den  catalanischen  die,  wie  gesagt,  nicht  alle  im  gewöhn- 
lichen spanischen  Romanzenmaass  abgefasst  sind,  auch  zur  Bezeich- 
nung des  Metrums  und  des  Rhythmus  nothwendig  und  werden  meinem 
Versuche  sie  nachzubilden,  zur  Controle  und  Berichtigung  dienen. 


I.  Portugiesische  Romanzen. 

1.  Dom  Aleixo  *)• 

„Waren  unser  einst  drei  Schwestern, 
glichen  alle  drei  aufs  Haar  uns ; 
unterwies  die  ein1  die  andYe 
in  dem  Kochen,  in  dem  Sticken". 
Da  begab  die  jüngst1  von  ihnen 
eines  Nachts  sich ,  zum  Vergnügen, 
mit  zwei  angebrannten  Fackeln 
unter  die  Orangen-Bäume. 
Trug  die  Kleider  eines  Pagen 
den  man  ihr  getödtet  hatte; 


*)  Titel  gleichlautend. 

Nos  eramos  tres  irmans, 
todas  tres  de  um  egualhar. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  79 

seinen  golcTnen  Dolch  im  Gürtel, 
seine  Stiefel,  reich  betresset, 
wandelt  sie  hinab  die  Strasse, 
wandelt  dann  hinauf  sie  wieder. 

—  Von  den  Schwestern  die  hier  weilen, 
welche  möcht'  ich  wohl  zur  Liebsten?  — 
„Doch  wir  drinnen,  auf  dem  Söller, 
lachen  nur  ob  ihren  Scherzen." 
Ausgelöscht  hat  sie  die  Fackeln, 

und  der  Mond  ist  aufgegangen; 
als  sie  an  dem  Thor  vorbeikam, 
wendet  abwärts  sie  die  Augen, 
sieht  da  einen  Eremiten 
sitzend  auf  der  Bank  am  Eingang. 

—  Was  ist  euer  Thun  hier,  Vater, 
euer  Thun  an  diesem  Orte?  — 

Es  erhob  der  Eremit  sich, 
ohne  Antwort  dVauf  zu  geben  .... 
Steht  vor  ihr  in  solcher  Höhe, 
hoch,  so  hoch,  fast  zum  erschrecken. 

—  Bist  du  etwa  gar  der  Böse, 
will  ich  dich  beschworen  haben. 
Bist  du  eine  arme  Seele, 

will  ich  dich  erlösen  helfen. 

—  Weder  bin  ich  jener  Böse 
den  du  zu  beschwören  hättest; 
noch  die  Seele  eines  Sünders 
die  du  zu  erlösen  brauchtest. 
Bin  der  Geist  des  Dom  Aleixo 
Der  zu  warnen  dich  gekommen: 
ihrer  sieben  auf  dich  lauern 

um  die  Eck',  an  jenem  Thore, 
schwören  bei  dem  heiTgen  Gotte 
dich  des  Lebens  zu  berauben. 

—  Nun  so  schwör1  ich  auch  bei  Gott  denn, 
schwöre  bei  der  heil'gen  Jungfrau  4) 


l)  Hier  wechselt  die  Assonanz. 


80  Ferdinand  Wolf. 

wären  ihrer  nochmals  sieben, 

würcT  ich  nicht  zurück  mich  wenden. 

Holla,  holla,  hört  ihr  Ritter! 

Lasst  nicht  Feigheit  euch  verhindern 

greifet  frisch  nach  eu'ren  Schwertern ! 

Nach  dem  meinen  werd'  ich  greifen. 

Sollte  Einer  keines  haben, 

will  ich  meines  gern  ihm  leihen; 

denn  mit  meinem  gold'nen  Dolch  hier 

werd1  ich  schon  mein  Leben  schützen.   - 

Kaum  sind  diese  Wort'  gesprochen, 
so  enthüllt  der  Eremit  sich, 
schliesset  sie  in  seine  Arme 
mit  dem  grössten  Ungestüme.   .   .   . 
Da  den  Dolch  von  blankem  Golde 
den  sie  trug  in  ihrem  Gürtel, 
bohrt  so  tief  sie  in  die  Brust  ihm, 
dass  er  todtwund  niederstürzte. 

—  Wer  erschlug  dich,  Dom  Alcixo? 
Wer  erschlug  dich,  o  mein  Lehen? 
—  Du  erschlugst  mich,  meine  Herrinn, 
Niemand  sonst  vermocht  es  hätte. 
Heb"  dich  weg,  Dona  Maria, 
wohl  beschuht  und  schlecht  gekleidet, 
magst  du  noch  so  sehr  nun  weinen, 
deine  Seele  bleibt  verloren. 

2.  Silvaninha  *). 

Durch  des  Schlosses  ob're  Hallen 
wandelt  einstens  Silvaninha, 
eine  gold'ne  Laut1  im  Arme; 
o  wie  trefflich  d'rauf  sie  spielte, 
und  wenn  trefflich  d'rauf  sie  spielte^ 
sang  sie  schöner  noch  Romanzen. 


')  Titel  gleichlautend. 

Passeiava-se  Sylvana 
pelo  eorredor  acinia. 


Proben  portugiesischer  und  catalaniseher  Vrolksronianzen.  ö  1 

Ihr  zur  Seite  schritt  der  Vater, 
immer  heft'ger  in  sie  dringend: 

—  Wirst,  Silvana,  nie  du  's  wagen 
eine  Nacht  mein  Bett  zu  theilen? 

—  Sei  es  eine,  mögen's  zwei  sein, 
sei's,  mein  Vater,  gar  alltäglich; 
aber  —  jene  Pein  der  Hölle, 

wer  wird  sie  für  mich  erleiden? 

—  Das  werd'  ich,  werd1  ich,  Silvana, 
dulde  ja  schon  jetzt  sie  täglich.   — 

Es  entfernte  sich  Silvana, 
tief  betrübt  war  sie  gegangen; 
traf  zusamm  mit  ihrer  Mutter 
an  dem  Eingang  der  Capelle. 

—  Was  ist  dir,  mein  Kind  Silvana, 
sprich,   was  fehlt  dir,    meine  Tochter? 

—  Hätt1  ich  nimmer  solchen  Vater, 
war'  ich  nimmer  seine  Tochter! 
Denn  verbot'ne  Lieb1  er  fordert 
von  mir  täglich,  meine  Mutter. 

—  Kehre,  Tochter,  kehr1  nach  Hause, 
in  ein  weisses  Hemd  dich  kleide, 
dessen  Kragen  sei  von  Goldstoff, 
feinem  Silber  dessen  Ärmel l). 
Sollst  dann  in  mein  Bett  dich  legen, 
und  in  deinem   will  ich  liegen  .... 
Möge  dann  die  heil'ge  Jungfrau 

uns  beschützen,  Sanct  Maria!  — 


*)    Veste  uma  alva  camisa, 
que  o  cabecäo  seja  de  oiro, 
as  mang'as  de  prata  fina. 
Über  diese  aus  dem  Oriente  stammende  und   durch  das  ganze  Mittelalter  dauernde 
Sitte,  Hemden  aus  Seide  mit  Gold-  und  Silberstickereien  am  Kragen,   den  Schössen 
und  Ärmeln  zu  tragen,   deren  auch  in  den  catalanischen  Romanzen  erwähnt  wird, 
vgl.  Francisque  Michel,  Recherche«  sur  le  commerce,  la  fabrication  et  l'usage 
des  etofl'es  de  soie,  d'or  et  d'argent  etc.    Paris  18154,  in  4to,  Tome  II,  pag\  2Ü4 — 2.'»6. 
Sitzh.  d.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  I.  Ilft.  G 


82 


Ferdinand   W  o  I  f. 

Um  die  mitternächt'ge  Stunde 
hat  ihr  Vater  sie  umfangen. 

—  Hätte  ich  gewusst  Silvana, 

dass  dir  Keuschheit  fremd  geworden  '), 
hält'  für  dich  die  Pein  der  Hölle 
nie  zu  dulden  ich  verheissen. 

—  Die  du  hältst,  ist  nicht  Silvana; 
die  ist's  die  sie  dir  geboren, 

die  gebar  auch  Dom  Alardos, 
deiner  Reiter  kühnen  Führer, 
die  gebar  auch  den  Dom  Pedro, 
den  Gebieter  deines  Fussvolks, 
die  gebar  auch  die  Silvana 
um  die  buhlt  ihr  eig'ner  Vater. 

—  Weh  dem  eine  Tochter  worden, 
die  verräth  den  eig'nen  Vater! 

—  Weh  auch  der  ein  Vater  worden, 
der  entehrt  die  eig'ne  Tochter!  — 


In  den  Thurm  schliesst  er  die  Tochter, 
dass  nicht  Sonn',  nicht  Mond  sie  schaute; 
gaben  ihr  das  Brod  nach  Unzen . 
und  das  Wasser  karg  bemessen. 
Als  nun  sieben  Jahr  verflossen, 
sehet  da  den  Thurm  sich  öffnen.   .   .   . 
Und  es  zeiget  sich  Silvana 
an  dem  Fenster  in  der  Höhe  3); 
trifft  ihr  Blick  auf  ihre  Mutter 
die  an  einem  Kissen  nähte. 
—  Seid  gegrüsset ,  meine  Mutter, 
meine  vielgeliebte  Mutter! 
Bitte  euch  beim  Gott  des  Himmels 
gebt  mir  einen  Krug  voll  Wassers ; 
denn  das  Leben  mir  entfliehet, 
denn  die  Seele  mir  verschmachtet. 


*)  Se  eu  soubera,  Sylvana, 
que  estavas  tarn  eorrompida. 


2)  Assonanz -Wechsel. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksroman/.en.  83 

—  Gab1  es  wahrlich  dir  nur,  Tochter, 
hätt1  ich's  erst  durch  Salz  verdorben. 
Leb'  seit  mehr  denn  sieben  Jahren 
nur  um  dich  in  schlechter  Ehe. 

Denn  dein  Vater  hat  geschworen 
bei  dem  Kreuze  seines  Schwertes  : 
wer  zuerst  dir  Wasser  reiche 
soll  darob  den  Kopf  verlieren.  — 

Und  es  zeiget  sich  Silvana 
an  noch  höh'rem  Fenster  wieder; 
trifft  ihr  Blick  auf  ihre  Brüder, 
die  mit  Rohrspiel  sich  vergnügten. 

—  Seid  gegrüsset,  meine  Brüder, 
meine  vielgeliebten  Brüder! 
Bitte  euch  beim  Gott  des  Himmels 
gebt  mir  einen  Krug  voll  Wassers; 
denn  das  Leben  mir  entfliehet, 
denn  die  Seele  mir  verschmachtet. 

—  Gäben  wahrlich  dir's  nur.   Schwester, 
hätten  wir 's  zuvor  vergiftet; 

denn  der  Vater  hat  geschworen 
bei  dem  Kreuze  seines  Schwertes: 
wer  zuerst  dir  Wasser  reiche, 
soll  darob  den  Kopf  verlieren.  — 

Und  es  zeiget  sich  Silvana 
an  noch  höh'rem  Fenster  wieder; 
trifft  ihr  Blick  auf  ihren  Vater 
der  im  Wein  die  Freude  suchte. 
—  Seid  gegrüsset,  o  mein  Vater, 
o  mein  vielgeliebter  Vater! 
Bitte  euch  beim  Gott  des  Himmels, 
gebt  mir  einen  Krug  voll  Wassers; 
denn  das  Leben  mir  entfliehet, 
denn  die  Seele  mir  verschmachtet. 
Und  von  heute  an  und  für  der 
will  ich  eure  Buhlinn  werden. 


84  Ferdinand   Wolf. 

—  Auf,   herbei,  ihr  meine  Pagen  ! 
Diener  all1  ihr  meines  Hauses! 
Bringt,  ihr  Eine,  Krug'  von  Golde, 
bringt,  ihr  And're,  Krug'  von  Silber. 
Wer  zuerst  ans  Ziel  gekommen, 

hat  ein  Rittergut  gewonnen  ; 
wer  der  zweite  aber  nachkommt, 
hat  sich  um  den  Kopf  verkürzet. — 

Wohl  beeilten  sich  die  Diener;  .   . 
doch  —  Silvana  hat  geendet 
in  der  heifgen  Jungfrau  Armen ; 
ihre  Leiche  trugen  Engel. 

—  Fahre  wohl,   o  Silvaninha! 
Silvaninha  meiner  Seele! 
Deine  Seele  fährt  zum  Himmel, 
und  die  meine  bleibt  verloren  1). 


1)  Diese  Romanze  ist  eine  der  verbreitetsten  und  ältesten  in  Portugal;  dass  sie  schon 
in  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  in  portugiesischer  Sprache  verbreitet  war 
und  für  eine  alte  galt,  beweist  eine  Stelle  in  Francisco  Manuel  de  Mello's 
(f  1GG6)  Comedia:   „Fidalgo  aprendiz",  Jornada  segunda; 

B  r  i  t  e  s. 
Entoay,  por  meu  prazer, 
qualquer  coisa. 

Gil. 

Sem  guitarra  ? 

B  rites. 
Eylla;  tomay. 

Gil. 
„Passeava-se  Sylvana 
por  um  corredor  um  dia " 

B  r  i  t  es. 
Ay  senhor!  eu  taao  queria 
senäo   lettra  castelhana. 

Gil. 

Cantarey  algaravia, 

se  mandays;  pois  que  quereis? 

B  r  i  t  e  s. 

Uma  lettra  nova  quero 

Herr  M  i  I  a'  gibt  (pag.  122 — 123)  das  nachstehende  Bruchstück  einer  catalanisehen 
Romanze,  das  offenbar  einer  Version  dieser  portugiesischen  angehört,  und  bemerkt 
dazu,  dass  auch  „versiones  semi-castellanas"  in  Catalonien  davon  verbreitet  seien. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  85 

3.  Bernal-Francez  *). 

—  Wer  pocht  an  an  meine  Pforte? 
Wer  poclit  an,  wer  fordert  Einlass? 

—  Bin  Bernal-Francez,  Senhora, 
eure  Pforte,  Liebste,  Öffnet. 

—  Ach!  Bernal-Francez,  wenn's  der  ist, 
öffne  gern  ich  ihm  die  Pforte; 

isfs  jedoch  ein  andrer  Bitter, 
mag  er  sich  von  hinnen  trollen. — 

„Als  ich  trat  aus  meiner  Kammer, 
hab'  die  Schlepp'  ich  mir  zerrissen: 
als  ich  niederstieg  die  Treppe, 
fiel  der  Schuh  mir  von  dem  Fusse; 


Das  Bruchstück  beginnt  mit  der  Einsperrung  der  Tochter  in  den  Thurm  : 
Pera  menjar  li  donaren  —  sols  tonyina  y  carn  salada, 
y  per  beure  li  donaren  —  aigua  de  Ia  mar  salada. 
Passa  un  dia,  passan  dos,  —  passa  tota  Ia  semana. 
Ella  de  set  que  tenia  —  treu  el  cap  a'  la  ventana, 
y  de  aili  sas  germanas  veu  —  qu'en  coixinet  d'or  brodaban. 

—  ^  Germanas,  las  ma  germanas,  —  si'm  voleu  da'  un  canti  d'aigua? 
Que  ia  boca  se  m'aseca,  —  la  garganta  se  m'abrasa. 

—  No  la  beuras,  tu  inaldita,  —  no  la  beuras,  tu  malvada! 
Si  creguessis  al  teu  pare,  —  no  t'en  faltaria  d'aigua.  — 
Margarita  torna  a  dins,  —  tristeta  y  desconsolada. 

Ya  baixa  un  angel  del  cel,  —  y  li  obra  un'altra  ventana, 
y  de  all i  en  veu  los  germans  —  que  ab  pilotas  d'or  jugaban. 

—  i  0  germans,  los  meu  germans  —  si'm  voleu  da'  un  canti  d'aigua  ?  etc. 
Margarita  torna  a  dins,  —  tristeta  y  desconsolada. 

Ya'n  baixa  un  angel  del  cel,  —  que  li  obra  un'altra  ventana, 
que  de  alli  veu  a'  son  pare  —  que  ab  forquilla  d'or  menjaba. 

—  Ay  pare,  lo  meu  bon  pare,  —  si'm  voleu  da  un  canti  de  aigua?  —  etc. 

—  Prompte,  prompte,  eis  mens  criats,  —  prompte  a'  darli  un  canti  d'aigua, 
que'l  que  primer  sera  alli,  —  te  una  Corona  guanyada.  — 

Quant  son  al  cap  de  l'escala,  —  Margarita  ya  linaba. 
Eis  angels  li  feyan  llum,  —  la  Verge  l'amortellaba, 
y  en  el  cuarto  del  seil  pare  —  eis  dimonis  y  ballaban. 
Herr  fiarrett  hat  die  obige  Romanze  in  seinem  schon  1828  herausgegebenen  Gedichte  : 
„Adozinda"  bearbeitet,  obwohl  er  damals  ebenfalls  nur  Bruchstücke  davon  kannte. 
*)  Titel  gleichlautend  (wortlich:  Bernhard  der  Franzose). 
Quem  bäte  a'  minha  porta, 
quem  bäte,  oh!   quem  \sta  alli  ? 


86 


Ferdinand  Wolf. 

bei  dem  Offnen  meiner  Pforte 
hat  man  mir  das  Licht  verlöschet.  .   . 
Fasste  ihn  dann  an  den  Händen, 
führte  ihn  nach  meinem  Garten, 
machte  ihm  ein  Bett  von  Rosen 
und  ein  Kissen  von  Jasminen, 
wusch  ihn  mit  dem  Thau  der  Blumen, 
bettet1  ihn  an  meiner  Seite 

—  Mitternacht  ist  schon  vorüber, 
und  du  bleibst  von  mir  gewendet! 
Was  ist  dir,  mein  Allerliebster? 
Hab'  dich  nimmer  so  gesehen  ! 
Wenn  du  meine  Diener  fürchtest, 
werden  nicht  hieher  jetzt  kommen; 
wenn  du  meine  Brüder  fürchtest, 
sind  nicht  hier  zu  dieser  Stunde; 
zitterst  du  vor  meinem  Gatten, 
der  zog  fort  in  ferne  Lande, 
fiel  der  Mauren  List  zum  Opfer; 
dieses  ist  mir  kund  geworden. 


—  Fürchte  nimmer  deine  Brüder, 
weiss,  dass  sie  auf  meiner  Seite; 
fürchte  auch  nicht  deine  Diener 
die  mich  mehr  als  dich  noch  lieben ; 
zitt're  nicht  vor  deinem  Gatten, 

hab'  vor  ihm  wohl  nie  gezittert 

Zitt're  du  nun,  falsche  Schlange! 
Er  ist's,  den  du  hast  zur  Seite. 

—  Ach!  wenn  du  es  bist,  mein  Gatte, 
lieb1  dich  mehr  ja  als  mich  selber!  .... 
Ach!  des  Traums,   des  bösen  Traumes 
den  ich  eben  hier  erst  hatte!  .... 
Lass  uns  aufsteht,  o  mein  Gatte! 

Lass  mich  geh'n  mich  anzukleiden, 

—  Schweig',  o  schweig',  du  falsche  Schlange; 
denn  du  täuschest  mich  nicht  also. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  87 

Für  dein  Aufsteh'n  kommt  kein  Morgen; 

ich  werd1  sorgen  dich  zu  kleiden: 

werd'  'nen  rothen  Rock  dir  geben, 

und  von  Cannesin  die  Jacke, 

und  zum  Halsband  eine  Klinge. 

Hast  es  selbst  gewollt  nicht  anders.  — 


—  Lass  mich  jetzt  von  hinnen  ziehen; 
denn ,  gehüllt  in  meinen  Mantel, 
will  ich  meine  Dame  sehen, 
sehen,  ob  sie  mein  gedenke. 
—  Deine  Liebste,   mein  Gebieter, 
todt  ist  sie,  hab's  selbst  gesehen, 
und  was  sich  an  ihr  mir  zeigte, 
will  ich  jetzo  dir  beschreiben: 
trug  'nen  Rock  von  rother  Farbe, 
und  von  Carmesin  die  Jacke, 
und  zum  Halsband  eine  Klinge; 
alles  nur  für  dich  aus  Liebe. 

Und  die  Glocken  die  ihr  thronten, 
zog  sie  ja  mit  eig'nen  Händen ; 

hab'  die  Bahr'  die  sie  getragen, 

selbst  mit  schwarzem  Tuch  verhangen  ; 

und  der  Sarg  der  sie  umschlossen, 

war  von  Elfenbein  und  Golde. 

Das  Geleit  ihr  gaben  Mönche, 

ihre  Schar  war  zahl-  und  endlos ; 

folgten  ihr  wohl  sieben  Grafen, 

und  der  Ritter  mehr  als  tausend. 

Weinten  sehr  die  Fräulein  alle; 

doch  die  Pagen  gingen  lachend. 

Haben  sie  zur  Erd  bestattet 

in  der  Kirche  Sanct  Aegidi.   — 

„Kaum  sind  diese  Wort'  gesprochen, 

stürzt'  wie  todt  ich  hin  zu  Boden. 

Erst  nach  vieler  Stunden  Ablauf 

kehrte  mir  Bewusstsein  wieder. 


88  Ferdinand  Wolf. 

Rafft'  mich  auf  zu  ihrem  Grabe, 

dort  wollt'  ich  dem  Tod  mich  weihen.   . 

—  Öffne  dich,  o  heil'ges  Grab,  mir! 
Berge  mich  an  deiner  Seite!  — 

Da  aus  düst'rer  Grabestiefe 
hört'  ich  eine  Stimm'  entsteigen : 

—  Lebe,  lebe  du  mein  Ritter, 
lebe;  —  ich  bin  ja  gestorben  ! 
Hab  die  Augen  die  dich  schauten 
schon  mit  Erde  überdecket, 

und  der  Mund  der  dich  geküsset, 
hat  Geschmack  und  Reiz  verloren. 
Sieh',  das  Haar  mit  dem  du  spieltest, 
liegt  zerfallen  mir  zur  Seite, 
und  der  Arm  der  dich  umfangen, 
sieh' ,  ist  nichts  mehr  als  Gebeine. 
Lebe,  lebe  du  mein  Ritter; 
denn  verlebt  hab'  ich  mein  Leben! 
Und  das  Weib  dem  du  vermählst  dich, 
lass,  wie  mich,   es  Anna  heissen: 
wenn  du  dann  zu  dir  es  rufest, 
wirst  du  meiner  dich  erinnern. 
Sage  ihr  von  uns'rem  Lieben, 
dass  ihr  Warnung  sei  mein  Ende; 
und  wenn  sie  dir  Töchter  brächte, 
besser  sie  als  mich  dann  lenke : 
sich  um  Männer  nicht  verderben, 
wie  ich  mich  um  dich  verdorben  ')• 


1)  Auch  diese  Romanze  ist  nach  Herrn  Garretfs  Zeugniss,  und  noch  mehr  nach  inneren 
Kriterien,  eine  der  volkstümlichsten  und  ältesten;  aber  er  hatte  darin  geirrt,  sie  für 
das  ausschliessende  Eigenthum  der  Portugiesen  zu  halten,  und  hat  nun  seihst  bemerkt, 
dass  der  zweite  Theil  derselben  (von  dem  Verse  an:  „Lass  mich  jetzt  von  hinnen 
ziehen")  sich  auch  in  einer  castilischen  Version  erhalten  hat,  die  anfängt: 

En  los  tiempos  que  me  vi 
(s.  Dur  an,  Romancero  general.  2a  ed.   Tomo  I,  pag.  158;  —  und  meine  Abhandlung 
über  die  Prager  Sammlung,  a.  a.  O.  S.  276,  wo  ich  ein  abweichendes  Bruchstück  der- 
selben aus  einer  Glosse  mitgetheilt  habe).    Diese  Version   ist  allerdings  viel  jünger 
und  schon  kiuislmiissig  überarbeitet.    Aber  Herr  M  i  1  a' ,  dem  von  der  portugiesischen 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  89 

4.  Der  gefangene  Graf,  oder  Gottes  Gericht J)- 

Ein  Gefangner  ist  der  Graf  nun, 
ein  Gefang'ner,  wohl  verschlossen; 
nicht  gefangen  wegen  Raubes, 
nicht,  weil  er  gemordet  hätte  : 
weil  ein  Fräulein  er  geschändet, 
die  gepilgert  nach  Santiago; 
g'nügt  ihm  nicht  sie  zu  entehren, 
gab  sie  Preis  auch  seinem  Diener. 
Überfiel  sie  im  Gebirge, 
ganz  entfernt  von  jedem  Wohnort; 
Hess  für  todt  sie  dorten  liegen, 
ohne  Mitleid,  ohne  Pflegung. 
Und  sie  weint'  drei  Tag1,  drei  Nächte, 
hätte  wohl  geweint  noch  länger, 
wäre  Gott  bereit  nicht  immer 
Schutz  den  Leidenden  zu  bringen. 


Romanze  nur  einige  Verse  bekannt  geworden  sind,  theilt  auch  (pag.  116 — 117)  eine 
catalanische  Version  aus  dem  Volksmunde  mit,  unter  dem  Titel :  „La  condesa". 
Doch  enthält  auch  sie  nur  den  zweiten  Theil  und  die  ursprüngliche  Sage  schon  so  ver- 
dunkelt, dass  es  nicht  der  Buhle,  sondern  der  Gemahl  der  Gräfinn  ist,  der  von  seinem 
Diener  ihren  nicht  gewaltsamen  Tod  erführt ,  zu  ihrem  Grabe  eilt  und  von  ihrem 
Geiste  angeredet  wird.  Sie  beschwört  ihn,  sich  wieder  zu  vermählen  bei  seiner  Liebe 
zu  ihr  (casat  per  l'amor  de  mi),  seine  Gattinn  dann  so  zu  achten,  wie  er  sie  geachtet 
habe;  die  Kinder  aber,  die  er  mit  ihr  gehabt,  in  ein  Kloster  zu  bringen,  damit  sie 
nicht  erfahren,  was  es  heisse  in  der  Welt  leben  (no  aprenguin,  el  mon  que  cosa  vol 
dir),  und  nur  im  Gebete  mögen  sie  ihr  Leben  zubringen  (fes-los  dir  lo  Pare-Nostre 
—  el  vespre  y  el  demati). 

Die  erwähnte  moderne  Überarbeitung  des  Herrn  G  a  rre  tt   trägt  den  Titel  des 
Originales,  und  ist  von  John  Adamson   zweimal  ins  Englische  und  von  Isidoro 
G  il  ins  Spanische  übersetzt  worden,  welche  Übersetzungen  auch  im  Romanceiro 
wieder  abgedruckt  sind  (die  ältere  englische  nach  Garrett's  Bearbeitung  im  ersten 
Theil,  und  die  spätere  nebst  der  spanischen  als  Anhang  der  Volksromanze  im  zweiten). 
Die  Original-Romanze  hat  Herr  Garrett  nun  vollständig  nach  Oliveira's  Aufzeichnung 
und  nach  mündlicher  Überlieferung  mitgetheilt.  —  Vgl.  dazu  :  T  a  1  v  j  (Frau  R  o  b  i  n- 
son),   Versuch  einer   geschichtlichen  Charakteristik  der  Volkslieder   germanischer 
Nationen.  Leipzig  1840,  8,  S.,  141. 
*)  Justica  de  Dens,    nach  der  Version  von  Beiralta,   welche  die  vollständigste  ist; 
nach  der  von  Tras-os-montes  :   „0  C  o  n  de  p  r  e  s  o". 
Preso  vai  o  conde,  preso, 
preso  vai  a  bom  recado. 


f)0  Fe  r  (I  i  n  a  n  ä  W  o  I  f. 

So  kam  dieses  Wegs  ein  Alter, 
war  ein  alter,  armer  Krieger, 
weiss  wie  Schnee  an  Bart  und  Haaren, 
und  sein  Schwert  dient  ihm  zum  Stabe; 
Muscheln  auf  dem  Pilgerkleide, 
Muscheln  um  den  Rand  des  Hutes. 
Nähert  sich  der  armen  Pilg'rinn, 
voller  Liebe,  voller  Güte: 

—  Meine  Tochter,   weine  nicht  mehr, 
hast  genug  geweint  nun,  Tochter! 
Jener  schurkenhafte  Ritter 
ist  ffefansfen,  wohl  verschlossen.  — 
Und  der  gute  alte  Krieger 
nimmt  mit  sich  das  arme  Mädchen  ; 
gehen  an  den  Hof  des  Königs 
der  den  Grafen  hielt  gefangen. 

—  Fordre  auf  dich,  guter  König, 
bei  dem  heiligen  Apostel, 
dieser  die  zu  ihm  gepilgert, 
nun  ihr  gutes  Recht  zu  wahren. 
Göttlich  Recht  sühnt's  durch  die  Ehe, 
durch  den  Tod  der  Menschen  Satzung. 
Adels-Vorrecht  darf  nicht  gelten 
wo  Gott  selbst  beleidigt  wurde. — 
Sprach  der  König  zu  den  Räthen 
mit.  dem  Ausdruck  schweren  Kummers: 

—  Will  den  Fall  ohn1  alles  Zögern 
alsogleich  entschieden  sehen.  — 
Anbetrachts  des  Falls  der  vorliegt, 
wird  zu  Recht  bekannt  nach  Urlheil : 
dass  er  sich  mit  ihr  vermähle  , 
und  wenn  nicht, —  enthauptet  werde. 

—  Wohl  ,   so  sei  es,  sprach  der  König, 
lasst  den  Büttel  herbescheiden : 
mit  dem  Kopf  hab'  er's  zu  Missen, 
oder  ihr  die  Hand  zu  reichen. 

—  Schwert  und  Büttel  mögen  kommen, — 
ruft  zurück  der  Angeklagte, 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  9  1 

—  lieber  tausend  Tode  sterben, 
als  entehrtes  Leben  führen!  — 
Hört  nun,  was  der  Alte  sagte, 
unser  guter  alter  Kriegsmann : 

—  Pflegt  des  Rechtes  schlecht,  Herr  König, 
schlecht  habt  ihr  den  Fall  entschieden: 
muss  vorerst  sich  ihr  vermählen, 

und  darauf  enthauptet  werden. 
Blut  tilgt  nur  der  Ehre  Flecken, 
aber  wäscht  nicht  rein  von  Sünde.  — 
Kaum  dass  er  dies  Wort  gesprochen, 
wirft  er  von  sich  seinen  Degen , 
legt  hinweg  die  Pilger- Zeichen, 
legt  hinweg  die  Krieger-  Waffen, 
und  in  beugen  Bischofs  Kleidung 
schaut  man  ihn  ganz  umgewandelt: 
seine  Mitra  glänzt  von  Steinen  , 
und  von  purem  Gold  sein  Krummstab. 
Nimmt  die  Hand  der  armen  Pilg'rinn. 
hat  des  Grafen  Hand  ergriffen  : 

—  Durch  das  Wort  das  ich  nun  spreche, 
hab' ich  ehlich.  euch  verbunden. — 

Alle  die  dies  sahen,  weinten, 
weinte  mehr  als  all'  der  Schuld'ge; 
weinend  um  den  Tod  er  flehte, 
um  entehrt  nicht  fortzuleben. 
Da  versöhnt  den  reu'gen  Sünder 
nun  mit  Gott  der  heil'ge  Bischof. 
Trugen  ihn  für  todt  von  hinnen, 
brauchten  nicht  des  Büttels  Hilfe: 
Gottes  Urtheil  an  ihm  kund  ward; 
endet  früher  als  die  Stunde. 
Doch  sich  seiner  SeeP  erbarmend 
hat  ihr  Heil  erfleht  Sanct  Jakob; 
denn  —  kein  and'rer  war  der  Pilger, 
und  der  Bischof  und  der  Kriegsmann  »). 


*)  „Unter    den    Volksromanzen    unserer    Halbinsel«,    sagt   Hr.    Garrett,     „gibt     es 
wenige    ansprechendere    als    diese.    Wo    sie    entstanden   ist,  weiss  ich  Dicht;  aber 


92  Ferdinand   Wolf. 

5.    Der  Graf  Nillo  •). 

Herr  Graf  Nillo,  Herr  Graf  Nillo 
führt  sein  Pferd  hin  zu  dem  Bade; 
Mährend  seinen  Durst  das  Pferd  löscht, 
stimmt  er  an  ein  schönes  Liedchen. 
Ob  der  Nacht  die  eingefallen, 
kann  der  König  ihn  nicht  sehen. 


in  den  castilisehen  Sammlungen  findet  sie  sieh  flicht". —  Dieses  Urtlieil  seheint  mir 
in  jeder  Hinsieht  einer  Beschränkung  zu  bedürfen;  denn  der  Ton  in  dieser  Romanze 
ist  hei  weitem  nicht  so  frisch,  ihre  Darstellung  nicht  so  dramatisch- lebendig,  wie 
in  den  meisten  übrigen,  und  das  legenden  artige  Element  in  ihr  hat  das 
volksthümliehe  schon  abgeschwächt.  Aber  auch  unter  den  c  as  t  i  I  is  c  h  e  n  Romanzen 
ist  eine,  die  offenbar  ein  Bruchstück  davon,  und  zwar  von  einer  viel  älteren, 
noch  frischeren  und  volkstümlicheren  Version  ist,  die  in  der  Pr  im  a  v  er  a  ,  unter 
N.  137  mitgetheilte  2.  Romanze:  del  conde  Lomhardo ,  die  anfängt:  En  aquellas 
perias  pardas.  Die  legendenartige  Verbindung  mit  dem  Apostel  St.  Jakob  fehlt 
allerdings  in  der  castilischen ;  aber  sie  fehlt  auch,  wie  Hr.  Garrett  selbst  angibt, 
in  der  Version  von  Tras- os- montes ,  in  der  blos  das  Verbrechen  des  Grafen  und 
seine  Verurtheiluiig  erzählt  wird,  und  die  damit  schliesst ,  dass  er  in  folgenden 
Versen  noch  seinen  letzten  Willen  erklärt: 

— Nicht  begrabt  mich  in  der  Kirche  , 

nimmer  in  geweihter  Erde; 

sondern  dort  auf  jenem  Anger 

wo  gehalten  wird  der  Jahrmarkt. 

Unbedeckt  lasst  mir  das  Haupt  dann 

und  die  Hare  schön  geflochten; 

gebet  zu  des  Kopfes  Kissen 

mir  den  Sattel  meines  Pferdes. 

Und  die  Wand'rer  mögen  sprechen : 

Weh  dir  armen  ,  unglücksePgem  , 

bist  an  Liebes  -  Weh  gestorben  , 

das  ein  Weh  ist  zum  verzweifeln. 
Mit    dieser   Romanze   verwandt    ist    eine  andere  portugiesische  die    Hr.    Garrett 
unler  dem  Titel:   „Aaromeira",  die  Pil gerinn,  herausgegeben  hat,  und  die 
fast  wie  die  castilische  anfängt : 

Por  aquelles  montes  verdes. 
In  der  Nähe  einer  Einsiedelei  überfällt  der  Ritter  die  Pilgerinn  ;  sie  ringt  mit  ihm 
mit  der  äussersten  Anstrengung  ihrer  Kräfte  um  ihre  Ehre:  schon  ist  sie  dem 
Unterliegen  nahe  ;  da  ersieht  sie  den  Dolch  in  seinem  Gürtel  und  durchbohrt  ihn 
damit.  Der  Sterbende  beschwört  sie,  seine  Schmach  nicht  bekannt  zu  machen  und 
seiner  nicht  zu  spotten.  Sie  verweigert  dies;  doch  ruft  sie  den  Eremiten  herbei, 
dass  er  für  die  arme  Seele  bete  und  die  Leiche  in  geweihter  Erde  begrabe. 
\)   Conde  Nill  o.— 

Conde  Nillo,  conde  Nillo 
seu    cavallo    vai  banhar. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  93 

Die  Inf  antin  n  aber  weiss  nicht, 
soll  sie  lachen,  soll  sie  weinen. 

—  Schweige,  meine  Tochter,  horche, 
wirst  ein  schönes  Lied  dann  hören : 
Engel  singen's  in  dem  Himmel 

oder  die  Siren"  im  Meere  t). 

—  Weder  Engel  in  dem  Himmel, 
weder  die  Siren'  im  Meere; 
Herr  Graf  Nillo   ist's,  mein  Vater, 
der  mit  mir  sich  will  vermählen. 
—Wer  spricht  mir  vom  Grafen  Nillo, 
wer  erkühnt  sich  ihn  zu  nennen, 
diesen  meutrischen  Vasallen 

dem  Verbannung  ich  verhängte? 

—  Herr,  die  Schuld  ist  nur  die  meine, 
mich  nur  musst  dafür  du  strafen. 
Nimmer  kann  ohn'  ihn  ich  leben  .... 
Ich  war's  die  ihn  rufen  lassen. 

—  Schweig,  verrätherische  Tochter, 
wolle  selbst  nicht  dich  entehren. 
Noch  bevor  der  Morgen  anbricht, 
siehst  du  ihn  zum  Richtplatz  führen. 

—  0!  der  Henker  der  ihn  tödtet, 
wird  auch  mir  den  Tod  bereiten; 
in  das  Grab  das  ihm  sich  öffnet, 
wird  man  mich  zu  legen  haben.  — 

—  Wem  erdrönet  diese  Glocke? 
wem  gilt  ihrer  Klänge  Drönen? 
Herr  Graf  Nillo  ist  gestorben; 
die  Infantinn  liegt  im  Sterben. 
Schon  geöffnet  steh'n  die  Gräber 
und  schon  senkt  man  sie  hinunter; 
ihn  am  Eingang  in  die  Kirche , 
sie  am  Fuss  des  Hochallares. 


!)  Vgl.    oben    die    Bemerkung-en    über  die    Romanze    von    Gerineldo,    in  welcher 
wörtlich  dieselbe  Stelle  vorkommt. 


94  Ferdinand  Wolf. 

Spriesst  Cypresse  aus  dem  einen, 
ein  Orangebaum  aus  dem  and'ren  ; 
wächst  die  eine,  wächst  der  and're, 
küssen  sich  mit  ihren  Spitzen. 

Als  vernommen  dies  der  König, 
lässt  sogleich  die  Bäum'  er  fallen. 
AdMig  Blut  träuft  aus  dem  einen, 
königliches  aus  dem  and'ren: 
eine  Taub'  entfleugt  dem  einen, 
eine  Ringeltaub1  dem  and'ren  *)• 

Setzt  der  König  sich  zum  Mahle; 
brachten  ihn  sodann  zu  Bette. 
—  Fluchen  muss  ich  solcher  Minne  , 
fluchen  muss  ich  solchem  Liehen ! 
Nicht  im  Leben,  nicht  im  Tode, 
nie  vermocht1  ich  sie  zu  trennen. 


'I  In  einer  anderen  von  Hrn.  Garrett  mitgetheilten  portugiesischen  Romanze: 
„A  pe  regrin  a"  ,  die  Wanderinn,  reist  die  von  ihrem  Geliebten  verlassene 
Princessinn  diesem  nach,  findet  ihn  in  dem  Schlosse  einer  Dame;  aber  bereits  mit 
ihr  vermählt.  Aus  Schmerz  darüber  stirbt  sie  in  seinen  Armen  ,  und  auch  er 
überlebt  sie  nicht  lange.  Die  verwitwete  Dame  liisst  beide  am  Meeresufer  begraben  ; 
auf  dem  Grabe  des  Ritters  wächst  ein  Fichtenwald  (pinheiral),  auf  dem  der 
Princessinn  Geröhricht  (canavial).  Die  Dame  lässt  alles  Rohr  abschneiden ;  aber 
die  Wurzeln  trieben  immer  wieder  von  Neuem  ,  und  des  Nachts  hörte  die  Dame 
das  Rohr  seufzen. —  In  der  catalanischen  Romanze:  „Don  Luis"  (bei  Mila, 
pag.   108)   entsteigen  den   Gräbern  der    Gatten  ein  Tauber  und    eine  Täubinn. 

Diese  Metempsychosen,  als  Symbole  der  über  das  Grab  hinausdauernden  Liebe, 
kommen  in  den  Volksliedern  der  meisten  Nationen  vor,  ohne  dass  man  dess- 
halb  an  eine  eigentliche  Entlehnung  zu  denken  hätte.  Vgl.  Du-Meril,  a.  a.  0. 
pag.  331,  332;—  Ko  berstein  und  Cassel:  „Über  die  in  Sage  und  Dichtung 
gangbare  Vorstellung  von  dem  Fortleben  abgeschiedener  Seelen  in  der  Pflanzen- 
welt „in  Hoffmann's  und  Schade's  Weimar.  Jahrbuch  für  deutsche  Sprache 
und  Literatur.  Heft  I.  und  IL;  —  und  den  Nachtrag  dazu  in  Herrig's  Archiv 
für  das  Studium  der  neueren  Sprachen  und  Literatur  Bd.  XVII,  Heft  4,  S.  444. 
—  Über  das  Erscheinen  abgeschiedener  Seelen  in  der  Gestalt  von  Thieren,  namentlich 
in  Vogelgestalt,  vgl.  „Des  Gervasius  von  Tilbury  Otia  imperialia.  In  einer 
Auswahl  neu  herausgegeben  von  Felix  Liebrecht."  Hannover  1856,  in -8.  S.  115. 
Hr.  Garrett  bemerkt,  dass  Nillo  kein  portugiesischer  und  überhaupt  kein 
romanischer  Name  sei ;  er  ist  es  auch  in  der  That  nicht  ,  sondern  stammt  in 
dieser  Form  aus  dem  Norden,  etwa  durch  die  Normannen  eingeführt,  von 
N  i  I  a  u  s,  Niels,  d.  i.   Nikolaus. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksroinanzen.  1LH 

6.  Dom  Joäo  '). 

Von  den  Grenzen  von  Castilien 
Trauerkund  ist  eingetroffen  : 
dass  Dom  Joäo  kehrt  heim  erkranket; 
schweres  Leid  für  seine  Liebste! 
Drei  Doctoren  sind  entboten 
die  im  besten  Rufe  stehen, 
und  der  ihm  das  Leben  friste, 
reiche  Zahlung  soll  dem  werden. 
Langen  ein  die  beiden  jünger'n, 
sagen  ,   nichts  sei  zu  befürchten  ; 
endlich  kommt  der  reifst'  an  Jahren, 
spricht  mit  Täuschung  fremder  Stimme  : 

—  Habt  drei  Stunden  noch  zu  leben, 
und  die  ein'  ist  halb  verflossen ; 
diese  nützt  zum  Testamente , 

für  der  Seele  Heil  zu  sorgen  ; 
weiht  die  zweit1  den  Sacramenten , 
dann  ist  sie  verwandt  am  besten; 
in  der  dritten  nehmet  Abschied 
von  der  Liebsten  eures  Herzens.— 

Während  dieser  Red1  ist  Dona 
Isabel  hinzugetreten. 
Ihr  zu  wendet  er  die  Augen, 
doch  mit  schon  getrübtem  Rlicke: 

—  0,  wie  gut,  dass  du  gekommen, 
meine  Liebste,  wie  ersehnet! 

wie  hat  mich  verlangt  zu  sehen 
dich  in  dieser  schweren  Stunde ! 

—  Ich  vertrau'  der  heil'gen  Jungfrau, 
komme  mit  dem  festen  Glauben, 
dass  sie  mich  erhör',  dich  rette, 
dass  dein  Übel  weichen  werde. 


1)  Titel  gleichlautend.— 

L:t  das    bandas  de  Castella 
triste    nova    era     che^ada. 


96  Ferdinand   Wolf. 

—  Sollt'  ich  jemals  mich  erholen, 
meine  vielgeliebte  Rose, 

dann  im  Beete  meines  Busens 

würdest  wurzeln  du  für  immer; 

mit  des  Erzbischofes  Segnung 

und  geweihten  Wassers  Sprengung, 

mit  der  heil'gen  Kirche  Stola 

an  mein  Herz  dann  festgebunden.  — 

Während  dieser  Wechselreden 
kam  hinzu  auch  seine  Mutter: 

—  Was  meinst  du,   mein  Sohn,  Geliebter 
dieser  tief  betrübten  Seele  ? 

—  Meine,  Mutter,  ich  soll  sterben 
und  dies  Leben  geh'  zu  Ende. 

Nur  drei  Stunden  mir  noch  bleiben, 
und  die  ein'  ist  halb  verflossen. 

—  Sohn  den  ich  trug  unterm  Herzen, 
denk'  in  dieser  schweren  Stunde, 

ob  nicht  Schuld  dich  noch  verpflichte 
einer  Dam'  von  edlem  Stamme? 

—  Mutter,  ja,  ich  schulde,  schulde  .   .   . 
Mög's  vor  Gott  zu  schwer  nicht  wiegen ! 
Hab'  in  übler  Stund'  geraubet 

Dona  Isabel  die  Ehre. 

Doch  vermach'  ich  tausend  Duros  i) 

ihr,  dass  sie  sich  mag  vermählen. 

—  Sohn,  nicht  zahlen  kann  man  Ehre, 
tausend  Duros  sie  nicht  kaufen. 

—  Mehr'  sie  denn  noch  um  zweihundert 
und  das  Kreuz  an  meinem  Schwerte. 

—  Sohn,  nicht  zahlen  kann  man  Ehre, 
alles  Geld  ist  nichts  dagegen. 

—  Will  sie  jenen  drei  Doctoren 
bestens  anempfohlen  lassen; 

bind'  es,  Mutter,  auf  die  Seel'  euch, 
dass  ihr  wohl  sie  schützen  möget. 


i)  Im  Original:  „Cruzados". 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  9  7 

Wer  sich  will  mit  ihr  vermählen, 
soll  ein  Landgut  mit  gewinnen; 
und  wer  dies  zu  thun  sich  weigert, 
soll  den  Kopf  darob  verlieren. 

—  Sohn ,  nicht  zahlen  kann  man  Ehre, 
noch  mit  Gütern  sie  erkaufen. 

Wenn  du  diese  Dame  liebtest, 
hinterlasse  sie  nicht  ehrlos! 

—  Nun  so  leg  ich  diese  kalte 
Hand  in  ihre,  mir  so  theu're. 
Von  Dom  Joao  ist  sie  nun  Witwe ; 
Gräfinn  wird  sie  fürder  heissen. 

7.  Morena  J). 

Trat  an's  Hausthor  der  Morena, 
der  Morena ,  schlecht  vermählet. 

—  Öffne  mir  das  Thor,  Morena, 
öffne  mir's ,  beim  Heil  der  Seele ! 

—  Kann  ich  öffnen  dir  die  Thüre, 
Frater  Joao,  mein  vielgeliebter, 
wenn  das  Kind  mir  säugt  am  Busen, 
und  der  Mann  mir  liegt  zur  Seite? 

Über  diesen  Wechselreden 
wacht  der  Mann  auf;  und  er  fragt  sie  : 

—  Weib  ,  was  hat  dies  zu  bedeuten? 
Wem  nur  gelten  deine  Worte? 

—  Sprach  sie  zu  der  Magd  die  backet, 
sehend  dass  sie  Brodteig  knetet, 
wenn  es  Milchbrod  was  sie  knete, 
mög'  sie  wen'ger  Wasser  nehmen. 

—  Auf,  mein  Weib,  verlass  das  Bett  nun, 
gehe,  für  dein  Haus  zu  sorgen. 


*)  „A  Morena«;  eigentlich:   die  Brünette,  wie  eine  Maurian. 

Fui-me  a  jiorla  da  Morena, 

da  Morena  mal  casada. 
Sitzb.  d.  phil.-hist.  C!.  XX.  Bd.  I.  Ilft.  „ 


98  Ferdinand  Wolf. 

Schicke  deine  Knecht'  nach  Holze, 
lass  die  Sclaven  Wasser  holen. 
— Mach  dich  auf,  auch  du,  mein  Eh'herr, 
zieh  zu  jagen  aus  im  Walde; 
denn  nie  sich'rer  ist  die  Beute, 
als  wenn  noch  der  Morgen  grauet. 

Und  es  ziehet  aus  der  Gatte; 
die  Morena  aber  schmückt  sich 
mit  dem  coschenillen  Mantel, 
jede  Ell'  zu  zwölf  Testonen  1), 
an  dem  Fuss  straff  angezogen 
Strümpfe  von  fleischfarbner  Seide, 
in  der  Hand  ihr  Musselin-Tuch, 
das  sie  fast  am  Boden  nachschleppt2). 
G'raden  Weg's  zum  Kloster  geht  sie ; 
schon  erreicht  hat  sie  die  Pforte. 
Bruder  Joao,  der  ist  der  Pförtner, 
der  erfasst  sie  an  den  Händen, 
zieht  sie  fort  zu  seiner  Zelle, 
nimmt  sie  tüchtig  in  die  Beichte, 
und  die  Busse  die  er  auflegt, 
hilft  er  ihr  gleich  mitverrichten. 

Aus  dem  Kloster  aber  tretend, 
Kommt  entgegen  ihr  der  Gatte. 

—  Woher  kommst  du,  meine  Gattinn? 
woher  kommst  du,  freudestrahlend? 

—  Eine  neue  Messe  hört*  ich, 
eine  Messe,  schön  gesungen. 
Bruder  Joao  war's  der  sie  sagte, 
hat  damit  mich  wohl  getröstet. 

—  Da  muss  ich  dich  jetzo  trösten 
mit  der  Spitze  dieses  Schwertes.  — 
Stiess  es  tief  ihr  in  den  Busen; 
streckt  sie  nieder,  wohl  getroffen. 


1)  „Testöes",  eine  Münze,  so  genannt,  weil  ein  Haupt  (testa)  auf  ihr  abgebildet  ist 
2)   Sua  bengalla  na  mäo 

mie  mal  no  ehäo  Ihe  tocava. 


Proben  portugiesischer  und  calalanischer  Volksromanzen.  99 

—  Nichts  ist  mir  am  Tod  gelegen; 
nichts  mich  kostet  es  zu  sterben. 
Leid  thut  miVs  nur  um  mein  Kindlein 
das  der  Brust  noch  nicht  entwöhnt  ist. 

—  Wärst  du  wirklich  brav  als  Mutter, 
wärst  du  nie  so  schlecht  als  Gattinn, 
hättest  nicht  gehabt  zu  sterben 
dieses  unheilvollen  Todes  !  — 

Hingetragen  nach  dem  Kloster, 
senkten  sie  in's  Grab  die  Leiche. 
Bruder  Joao  hat  drob  —  gelächelt; 
und  ihr  Mann  war's  der  geweint  hat. 

8.  Helene  *)• 

—  Ach!  wie  mich  die  Sehnsucht  dränget 
nach  dem  Hause  meines  Vaters! 

Wie  die  Wehen  schmerzhaft  drängen; 
und  der  Mutter  muss  ich  harren ! 

—  Wenn  dich  nun  die  Sehnsucht  dränget, 
geh'  und  stille  ihre  Plagen; 

nicht  so  gross  sind  jene  Schmerzen; 
mach  dich  auf  den  Weg  zum  Vater. 

—  Und  wer  wird  das  Mahl  bereiten 
wenn  des  Nachts  kehrt  heim  der  Gatte  ? 

—  Werd'  ihm  schon  ein  Mahl  bereiten 
von  dem  was  er  selbst  erjaget, 

und  vom  Brod  und  meinem  Weine 
nehm'  er  was  ihm  dann  behaget. 


—  Wo  verweilt  mein  Weib  Helene, 
hat  vergessen  sie  des  Mahles? 
—  Ach!  dein  Weib,  mein  Sohn,  Helenen 
wirst  vergeblich  du  erharren; 


*)  „Helen  a' 


—  Ai!  (jue  saudades  nie  apertam 
|>ela  easa  de  meu  pae ! 


100 


F  er  di na nd  Wolf. 

kehrte  heim  zu  ihren  Eltern, 

könnt' s  bei  uns  nicht  mehr  ertragen ; 

schalt  mich  eine  alte  Hündinn, 

dich  den  Sohn  von  solcher  Alten. 

—  'Raus ,  mein  Ross  von  Andalusien, 

sollst  im  Nu  mir  sein  gesattelt; 

und  dies  Weib,  bei  Gott  ich's  schwöre, 

soll  es  theuer  mir  bezahlen. 


Frohe  Botschaft,  theurer  Eidam, 
ich  euch  mitzutheilen  habe: 
habt  ein  Söhnlein,  und  so  schönes, 
gleicht  den  Engeln  des  Altares. 

—  Frohe  Botschaft  habt  gegeben, 
schlimme  sollt  von  mir  erhalten: 
dass  die  Mutler  die's  geboren, 
nicht  die  ist  die  es  soll  warten. 

Mach  dich  auf  von  hier,  Helene, 
zu  begleiten  deinen  Gatten. 

—  Wöchnerinn  seit  einer  Stunde! 
Wohin  bringt  ihr  nun  die  Arme? 

—  Auf  so  kurzem  guten  Wege 
hat  sie  nicht  viel  zu  ertragen, 
und  mein  Ross  von  Andalusien 
schneller  geht's  als  Mondes-Strahlen. 

—  Geh'  es,  wie  es  nimmer  gehe ! 
Wohin  bringt  ihr  nun  die  Arme? 

—  Sprecht  nicht  weiter,  meine  Mutter, 
schon  sollt  ihr  geschwiegen  haben; 
denn  das  Weib,  das  angetraute, 

hat  des  Manns  Gebot  zu  achten. 

Reichet  mir  nur  meinen  Gürtel, 

um  damit  mich  warm  zu  halten; 

um  noch  mehr  mich  einzuhüllen, 

reicht  mir  jene  dichte  Jacke. 

Und  nun  gebt  mir  noch  mein  Söhnchen, 

mich  verlangt  es  zu  umarmen. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen  101 

Ach!  mein  Söhnchen,  dieser  Küsse 
kannst  du  denken  noch  nach  Jahren? 
Ruft  sie,  Mutter,  ins  Gedächtniss 
ihm,  wenn  machtig  er  der  Sprache. 

—  Was  sind  das  für  Worte ,  Tochter  ? 

—  Mutter,  es  sind  Trost-Gedanken. 
Auf  so  kurzem,  guten  Wege 

habe  ich  nichts  zu  hefahren, 
und  das  Ross  von  Andalusien 
schneller  geht's  als  Mondes -Strahlen.— 


Ja,  das  Ross  von  Andalusien 
schneller  ging's  als  Mondes-Strahlen; 
doch  der  Weg,  er  starrt  von  Felsen, 
und  es  gleitet,  droht  zu  fallen. 
Eilen  vorwärts,  eilen  vorwärts, 
spricht  kein  Wort  das  Ein'  zum  Andern. 
Schon  beginnt  ihr  Leib  zu  schwellen, 
und  die  Hand'  ihr  zu  erkalten. 
Als  des  Berges  Spitz'  erreichet, 
ruft  sie :  Weh !  —  zum  Tod  ermattet. 

—  Warum  rufst  du  Weh,  Helene, 
dieses  Seufzen   was  soll's  sagen? 

—  Dass  das  Leben  mir  verrinnet 
und  dass  ich  dem  Ende  nahe. 
Wöchnerinn  seit  einer  Stunde, 
fühl'  ich  mich  in  Blut  gebadet. — 

Auf  die  Erd'  muss  er  sie  legen, 
kann  zu  Ross  sich  nicht  mehr  halten. 
'S  ist  des  Todes  eis'ger  Schauer 
der  sie  drängt  zum  End\   dem  nahen. 

—  Wem  vermach'st  du  dein  Geschmeide, 
der  dir's  wissen  wird  zu  Danke? 

—  Ich  vermach*  es  meinen  Brüdern, 
gönnst  du  ihnen  diese  Gabe. 

—  Wem  vermach'st  du  dieses  Kreuz  hier, 
und  die  Stein'  im  gold'nen  Bande? 


\  02  Ferdinand  Wolf. 

—  Dieses  Kreuz  sei  meiner  Mutter, 
zu  ihm  bef  sie  für  mich  Arme; 
doch  die  Steine  wird  sie  missen, 
die  magst  du  für  dich  behalten; 
lasse  deren  mehr  sich  freuen, 
schenkst  du  einst  sie  einer  And'ren. 

—  Und  dein  liegend  Gut,  wem  schenkst  du's, 
dass  er  treu  es  dir  verwalte  ? 

—  Das  vermach1  ich  dir,  mein  Eh'herr, 
wolle  Gott,  dir  komm's  zu  statten. 

—  Und  wem  lassest  du  dein  Söhnchen, 
dass  er  dessen  treulich  warte? 

—  Deiner  Mutter,  und  Gott  gebe, 
dass  sie  Liebe  zu  ihm  fasse. 

—  Nimmer  lass'  es  dieser  Hündinn, 
fähig  dir  es  nachzuschlachten. 
Lass'  es  lieber  deiner  Mutter, 

die  wird  es  getreulich  warten; 
mit  den  Thränen  ihrer  Augen 
wird  sie  es  gewisslich  waschen, 
und  das  Tuch  vom  eignen  Haupte 
nimmt  sie  ,  besser  es  zu  warmen.  — 

Als  sie  diese  Worte  hörte, 
kehrte  Lebenslust  der  Armen; 
doch  die  Stimm'  in  ihrem  Busen 
kann  zum  Mund  nicht  mehr  gelangen. 
Da  sagt  sie  ihm  mit  den  Augen, 
dass  sie  ihm  verziehen  habe. 

—  Nicht  Verzeihung  mir,  Helene, 
Gott  wird  nimmer  dir  willfahren. 
Ach!  ihr  Schmerzen  all1  der  Hölle, 
ja,  ich  fühle  schon  euch  nahen; 
denn  zum  Himmel  seh1  ich  kehren 
meinen  Schutzgeist,  mich  verlassen. 
Fluch  den  Zungen  der  Verräther 
und  den  Ohren  die  sie  fanden, 

hab  zu  Lieb  den  bösen  Zungen 
meinen  Engel  selbst  geschlachtet. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksroinanzen.  1U»> 

Sieben  Jahr  und  einen  Tag  mehr 
will  ich  durch  die  Länder  wandern, 
und  an  Rom's  hochheil'ger  Pforte 
will  ich  auf  den  Knien  harren. 
Hier  will  ich,  ein  heilig  Kloster 
gründend,  diesen  Ort  bewahren, 
jeden  Tag  mit  sieben  Messen, 
je  an  eigenem  Altare. 
Wer  es  schauet,  wird  dann  sprechen: 
Hier  hat  er  die  Sund1  begangen, 
hier  auch  büssend  sie  bereuet; 
Gott  mög'  seiner  Seele  gnaden. 


9.  Das  Schiff  Cathrineta  »)• 

Seht  das  Schiff  hier,  Cathrineta; 
viel  war1  davon  zu  erzählen ! 
Eine  Märe  zum  Erschrecken 
wollt  vernehmen  nun  ihr  Herren. 

War  vor  mehr  als  Jahr  und  Tagen, 
dass  sie  d'rauf  das  Meer  durchschifften; 
hatten  schon  nichts  mehr  zu  nagen, 
hatten  schon  nichts  mehr  zu  beissen. 
Warfen  Sohlen  in  die  Salzbrüh/ 2) 
um  sie  andYen  Tags  zu  essen ; 


1)   „A  na  u  Cathrinela." — 

La  vem  a  nau  Cathrineta 
que  teni  muito  que  contar! 
Herr  Garrett  halt  den  Namen  des  Schiffes:  „Cathrineta"  für  ein  Diminutiv 
von  Ca  Uterina  d.i.  S  an  c  ta-  C  a  t  h  er  ina.  Es  ist  die  einzige  Schiffer-Romanze 
die  ihm  bekannt  geworden  ist,  worüber  auch  er  sich  mit  Recht  verwundert,  bei  einer 
Nation  von  Seefahrern  wie  die  Portugiesen!  —  Desshaib,  und  des  dämonischen 
Elementes  wegen  das  auch  nur  äusserst  selten  in  den  Romanzen  der  Halbinsel  vor- 
kommt, habe  ich  sie  hier  mitgetheilt,  was  sie  sonst  ihres  geringen  poetischen  Wertlies 
wegen  kaum  verdient  hätte. 

2)  Deitarani  solla  de  molho  (?), 
para  o  outro  diajantar; 
mas  a  solla  era  tani  ri.ja, 
que  a  quo  poderam  tragar. 


1  04  Ferdinand  Wolf. 

doch  zu  hart  die  Sohlen  waren, 
konnten  sie  hinab  nicht  schlingen. 
Loosen,  wen's  von  ihnen  treffe 
auf  der  Schlachtbank  zu  verbluten: 
auf  den  Capitain  des  Schiffes 
ist  das  Todesloos  gefallen. 

—  Klimm,  erklimme,  mein  Matrose, 
jenen  Mast,  den  allerhöchsten. 
Siehst  du  nicht  die  sparfschen  Küsten 
oder  Portugals  Gestade? 

—  Sehe  weder  span'sche  Küsten, 
weder  Portugals  Gestade; 
seh'  blos  sieben  blanke  Schwerter, 
dich  zu  tödten  alle  dreuend. 

—  Auf,  hinauf  denn  du,  mein  Lugmann1), 
klimm1  auf  jenes  Topp,  das  höchste. 
Siehst  du  nicht  die  span'schen  Küsten 
oder  Portugals  Gestade? 

—  Späher -Lohn  hab1  ich  verdient  mir, 
Capitain,  ja  wohl  verdient  mir: 

sehe  schon  die  span'schen  Küsten, 
seh"  schon  Portugals  Gestade. 
Mehr  noch  seh'  ich,  seh'  drei  Mädchen 
unter  dem  Orangen-Baume: 
seh'  die  Eine  sitzend  kochen, 
wie  die  And're  spinnt  am  Rocken, 
von  den  drei'n  die  Allerschönste, 
die  steht  weinend  in  der  Mitte. 

—  Alle  drei  sind  meine  Töchter, 
0,  wer  lässt  mich  sie  umarmen! 
Von  den  drei'n  die  Allerschönste 
soll  mit  dir  sich  dann  vermählen. 
— Nimmer  avüI  ich  eure  Tochter ; 
theuer  kam  sie  euch  zu  stehen ! 

—  Nun  so  schenk'  ich  so  viel  Geld  dir, 
dass  du  nimmer  es  kannst  zählen. 

V)  Gageiro. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  105 

—  Euer  Geld,  das  will  ich  auch  nicht; 
sein  Gewinn  auch  kam  euch  theuer. 

—  Sollst  denn  haben  meinen  Schimmel 
der  fand  seines  Gleichen  niemals. 

—  Mögt  behalten  eu'ren  Schimmel 
des  Dressur  kam  euch  zu  theuer. 

—  Nun,  so  geb'  ich  Cathrineta, 
dieses  Schiff  dir  ganz  zu  eigen. 

—  Cathrineta  will  ich  auch  nicht; 
nicht  versteh*  ich  es  zu  lenken. 

—  Was  verlangst  du  dann,  mein  Späher, 
welchen  Lohn  soll  ich  dir  geben? 

—  Capitain,  nur  deine  Seele, 
um  sie  mit  mir  fortzuführen. 

—  Heb'  dich  weg  von  mir,  o  Dämon! 
der  du  wolltest  mich  versuchen. 
Gott  nur  eigen  ist  die  Seele, 

und  den  Leib  geh'  ich  dem  Meere. — 


In  die  Arm'  nahm  ihn  ein  Engel, 
liess  ihn  nicht  im  Meer  ertrinken. 
Ein  Gebrüll'  entfuhr  dem  Dämon, 
dass  aufheulten  Fluth  und  Winde. 
Und  des  Nachts  fand  Cathrineta 
an  der  Küste  man  geborgen. 

10.  Gnimari). 

War  die  schönste  aller  Jungfrau'n 
die  es  gab  in  jenem  Lande, 
so  voll  Reizes,  so  voll  Geistes 
war  zu  finden  keine  and're. 


*)  Dona  „Cuimar"  nach  der  Version  von  Extremadura;  Dona  „Ag-ueda"   nach  der 
von  Alemtejo. 

Era  a  inenina  mais  linda 
que  n'  aquella  terra  havia. 


1  0  ß  F  er  d  i  n  ;i  n  <1  W  o  I  f. 

Liebt  Dom  Joao  sie  recht  von  Herzen, 
liebt  sie  über  alle  Massen; 
seine  Lieb'  ihr  zu  beweisen 
lässt  ihn  Tag  und  Nacht  nicht  ruhen. 
Ist  auch  ein  gar  schmucker  Junker, 
mehr  als  alle  ihrer  würdig. 
Aber  and'rem  Rathc  folgend, 
will  der  Vater  jener  Jungfrau, 
reich  vermählt  will  er  sie  wissen 
einem  Kaufherrn  jenes  Ortes; 
schätzt  gering  der  Liebe  Rechte, 
achtet  nicht  auf  ad'lig  Wesen. 
Als  Dom  Joao  dies  kund  geworden, 
fehlt  nicht  viel,  er  war'  gestorben. 
Zieht  hinaus,   weit,  weit  von  hinnen, 
saget  nicht  wohin  er  ziehe. 
Zog  so  fort  drei  ganze  Monde, 
ja  drei  Monde,  wie  bewusstlos; 
denn  das  Leben  war  zur  Last  ihm, 
konnte  kaum  es  mehr  ertragen. 
Lässt  sein  Pferd  dann  wieder  satteln, 
achtet  nicht  was  er  beginne; 
folget  blindlings  allen  Strassen, 
unbewusst  wohin  er  ziehe. 
Lenker  ist  das  Pferd  geworden, 
ihm  gehorchet  nun  der  Reiter. 
Land  um  Land  durchzieht  er  also; 
doch  erkennt  er  keins  von  allen. 
So  kehrt  er  zurück  zur  Heimath; 
wo  er  sei,  jedoch  nicht  wissend. 
Eines  Maitags  Morgens  war  es, 
alles  Feld  ringsum  in  Riüthe, 
Vögel  stimmen  ihren  Sang  an, 
lächelnd  winkt  die  grüne  Wiese; 
doch  von  dort,  dem  Stadt-Rereiche, 
hört  man  Trauerruf  ertönen: 
Sterbgeläut  der  Glocken  war  es, 
und  der  Clerisei  Gesänge, 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  107 

und  des  Adels  und  des  Volkes, 

wie  sie  aus  der  Kirche  kamen.   .   .  . 

Durch  das  Thor  Dom  Joao  einreitet, 

reitet  fort  von  Gass'  zu  Gasse; 

kommt  zu  seiner  Dame  Gasse, 

ohne  dass  er  sie  erkannte. 

Und  am  Hause,  und  am  Fenster 

wo  er  sie  zu  sehen  pflegte, 

Alles  ist  da  schwarz  verhangen, 

schwarz,  so  schwarz,  als  schwarz  nur  möglich. 

Rufen  hiess  er  eine  Dona, 

seiner  Dam1  Gefährtinn  war  es. 

—  Saget  mir  um  Gott,  Senhora, 

seid  so  höflich  mir  zu  sagen, 

diese  tiefen  Trauerzeichen 

für  wen  tragt  ihr  sie ,  wer  ist  es  ? 

— Trage  sie  für  meine  Herrinn 

Dona  Guimar  de  Mexia; 

denn  bei  Gott  ist  ihre  Seele, 

in  der  kalten  Erd'  ihr  Körper. 

Nur  für  euch,  Dom  Juao,  für  euch  nur 

ist  aus  Liebe  sie  gestorben.  — 

Als  Dom  Joao  dies  hat  vernommen, 

stürzt  wie  todt  er  hin  zur  Erde; 

doch  der  Schmerz  war  ein  so  grosser, 

dass  durch  dessen  Kraft  er  fortlebt. 

Keine  Thräne  weint  sein  Auge, 

und  sein  Mund  blieb  fest  verschlossen. 

Rings  erwartend  harrt  die  Menge, 

was  er  nun  beginnen  werde. 

Ganz  in  Schwarz  er  sich  nun  kleidet, 

schwarz,  so  schwarz,  als  schwarz  nur  möglich. 

Schreitet  hin  gerad  zur  Kirche 

wo  sie  seine  Dam1  begraben. 

—  Bitte,  Sacristan,  inständig, 

ja  bei  Gott  und  Sanct  Maria, 

bitt1  ich  dich,  sei  mir  behilflich 

dieses  frische  Grab  zu  öfl'uon.  — 


108 


Ferdinand  Wolf. 

Sah  sie  da  in  ganzer  Schöne, 
so  wie  sonst  er  sie  gesehen  ; 
selbst  gestorben  und  begraben 
hatte  sie  nicht  ihres  Gleichen. 
Auf  die  Erd1  beugt  er  die  Kniee, 
himmelwärts  die  Arme  hebt  er, 
schwört  bei  Gott  und  seiner  Seele, 
dass  er  nimmer  sie  verlasse. 
Reisst  heraus  den  Dolch  von  Golde 
den  er  trug  in  seinem  Gürtel, 
um  im  Tod'  sie  zu  begleiten, 
da  er's  nicht  gekonnt  im  Leben. 
Doch  nicht  wollt1  die  heil'ge  Jungfrau, 
Gottes  Mutter  Sanct  Maria, 
dass  verderbe  seine  Seele, 
und  aus  Liebe  so  verderbe. 
Da  durch  Gottes  hohen  Rathschluss 
sah  ein  Wunder  man  geschehen: 
die  Verblich'ne  reicht  die  Rechte 
dem  Geliebten  ihres  Herzens, 
öftnet  ihre  holden  Augen, 
und  ihr  Mund,  er  lächelt  wieder. 
Wiederkehrt  mit  aller  Liebe 
die  nie  floh,  entfloh'nes  Leben. 
Gingen  nun  den  Vater  holen 
den  beinah'  der  Schmerz  getödtet. 
Freunde  kommen  und  Verwandte, 
alle  voll  der  grössten  Freude ; 
danken  all'  der  heil'gen  Jungfrau, 
deren  Werk  es  wohl  gewesen. 
Sie  Dom  Joao  erhält  zur  Gattinn, 
die  er  sich  so  wohl  verdient  hat1). 


!)  Über  denselhen  Gegenstand  hat  Hr.  Mila  (pag.  125— 127)  eine  castilische 
Romanze  mitgetheilt  u.  d.  T. :  „La  amante  resucitada",  die  wiederaufer- 
standene Geliebte.  Sie  ist  aber  schon  mehr  im  Tone  der  modernen  Vulsrär- 
Romanzen  abgefasst;  bis  zum  Schlüsse  stimmt  sie  in  den  Hauptzügen  ganz  mit  der 
portugiesischen ,  nur  dass  natürlich  der  Schauplatz  nach  Barcelona  verlegt  ist, 
Don  Juan  nicht  weiter  als  bis  Perpiiian  kommt  und,  viel  prosaischer,  die  Reise  und 


Proben  portugiesischer  und  eatalanischer  Volksromanzen.  109 

11.  Dona  Ausenda1). 
Vor  der  Thür'  Dona  Ausenda's 
wuchs  ein  Kraut  mit  Wunderkräften: 
wenn  ein  Weib  es  nur  berührte, 
fühlt  es  gleich  sich  guter  Hoffnung. 
Thai  es  einst  Dona  Ausenda 
in  'ner  unheilvollen  Stunde; 
kaum  es  ihre  Hand  berührt  hatt' 
fühlt  sie  gleich  sich  guter  Hoffnung 3). 

Setzt  ihr  Vater  sich  zu  Tische, 
und  sie  kam  mit  grosser  Eile 
ihm  den  Wasch-Napf  darzureichen, 
wie  es  guter  Tochter  ziemlich, 
Als  er  scharf  in's  Aug'  sie  fasste, 
färbte  Röthe  ihre  Wangen. 


die  Umkehr  mit  vollem  Bewusstsein  macht.  Am  Schlüsse  wird  das  Legendenartige 
noch  mehr  hervorgehoben;  denn  die  Virgen  del  Remedio  (Maria-Hilf)  rettet  Don 
Juan  als  ihren  besonderen  Verehrer  der  keinen  Tag  und  keine  Nacht  vorübergehen 
lässt,  ohne  das  Ave  Maria  zu  beten.  Hauptsächlich  aber  unterscheidet  sich  die  casti- 
lische  dadurch  von  der  portugiesischen,  dass  als  Don  Juan  mit  der  vom  Tode  erweckten 
Geliebten  (hier  Maria  gehejssen)  aus  dem  Grabe  in  die  Welt  zurückkehrt  und  sie  nach 
seinem  Hause  führen  will,  ihnen  der  hier  bereits  mit  ihr  vermählte  Kaufmann  begegnet 
und  Don  Juan  fragt,  wer  die  Dame  sei  die  er  führe  und  die  er  für  seine  Gattinn  halten 
müsste,  wenn  diese  nicht  so  eben  begraben  worden  wäre.  Darauf  antwortet  ihm 
Don  Juan:  „Dein  war  sie;  nun  ist  sie  mein".  Sie  kommen  vor  Gericht,  und  das 
UrtheiJ  wird  gefällt:  „Dass  sie  dem  Don  Juan  nun  ihre  Hand  zu  reichen  habe,  der  sie 
so  wohl  verdient  hat."  —  Vorzüglich  durch  diesen  letzten  Zug,  den  Streit  um  die 
Wiederauferstandene,  schliefst  sich  die  castilische  Version  noch  näher  an  die  zahl- 
reichen novellistischen  und  dramatischen  Bearbeitungen  dieses  Gegenstandes  an; 
denn  fast  bei  allen  Nationen,  von  B  a  n  d  e  1 1  o  's  Novelle  (II.  41)  und  der  von  M  a  n  n  i 
(Le  veglie  piacevoli ,  Vol.  6)  wie  eine  wahre  Begebenheit  erzählten  Geschichte  der 
Ginevra  Amieri  von  Florenz  an,  bis  zu  den  Novellen  von  L  eop.  S  chefe  r  (Gene- 
vion  von  Toulouse)  und  C.  Paul  (Dr.  Faust  P  ach  ler,  Die  Frau  von  Bouisseur), 
und  dem  Drama  von  Leigh  Hunt(A  Legend  of  Florence)  hat  diese  schöne  Sage  ihr 
poetisches  Recht  geltend  gemacht. 

*)  Titel  gleichlautend.  —  Vom  Volksmunde  auch  in  „Dona  Ausencia"  witzig  verstümmelt. 

A  porta  de  Dona  Ausenda 
estä  uma  herva  fadada. 

2)  Ahnliche  Wunderwirkung  kommt  vor  in  der  berühmten  Romanze  von  Don  Tristan 
(P  r  i  in  a  v  e  r  a,  no.  146)  ,  und  in  Basile's  Märchen  :  „La  schiavottellaii  (P  e  n  t  a  m  e- 
ron  e,  II,  8). 


110  Ferdinand   Wolf. 

—  Was  ist  das,  Dona  Ausenda? 
Ei  bei  Gott,  du  wirst  ja  Mutter! 

—  Sprecht  nicht  also,  mein  Herr  Vater, 
Täuschung  ist's  verpfuschten  Rockes! 
Mich  verführte  nie  die  Liebe, 

mir  hat  Gunst  kein  Mann  zu  danken.  — 
Da  Hess  rufen  er  zwei  Schneider 
die  den  besten  Namen  hatten: 

—  Prüfet  diesen  Rock  mir,  Meister, 
ob  in  seinem  Schnitt  ein  Fehler?  — 
Einer  prüft  ihn,  und  der  And're: 

Dieser  Rock  ist  frei  von  Fehlern, 
und  dass  schlank  nicht  seine  Taille, 
trägt  das  Fräulein,  nicht  der  Rock  Schuld. 

—  Beichte  denn,  Dona  Ausenda. 
Büssest  Morgen  schon  im  Feuer  *)• 

—  Ach  wie  traurig  ist  mein  Schicksal ! 
Ach  wie  traurig,  weh  mir  Armen! 
Ohne  je  die  Lieb'  zu  kennen 

muss  entehrt,  weh  mir,  ich  sterben!  — 

Riefen  dann  den  Eremiten 
von  der  Brück'  AlliviadaV, 
war  ein  Mönchlein,  schien  bei  Jahren; 
trafen  ihn  schon  auf  dem  Wege. 
Kaum  gelangt  er  zu  der  Thüre, 
stürzt  er  auf  das  Wunderkraut  sich, 
schneidet  ab  es  an  der  Wurzel, 
birgt  es  in  des  Ärmels  Falten. 

—  Beugt  das  Knie,  Dona  Ausenda, 
um  zu  beichten  eure  Sünden 
Gott  und  seiner  heil'gen  Mutter. 

—  Vater,  niemals  kannt1  ich  Liebe, 
mir  hat  Gunst  kein  Mann  zu  danken; 
bösen  Geistes  Listen  sind  es, 

dass  ich,  Jungfrau,  Mutter  wurde. 


')   Eine  ganz  ähnliche  Stelle  haben  wir  oben  in  der  portugiesischen  Version  der  Romanze 
vom  C on de  Claros  (Dom  Claros  d'Alem-mar)  bemerkt. 


Proben  portugiesischer  und  catalaniseher  Volksromanzen.  111 

—  Und  seit  wann  ist's  denn,  Senhora, 
dass  ihr  diese  Bürde  fühlet? 

—  Heute  g'rade  sind's  neun  Monde, 
dass  ich  unter  jenem  Strauche 

in  der  Nacht  des  heil'gen  Johann 
sorglos  mich  dem  Schlummer  hingab. 
Fühlte  da  den  Duft  der  Blumen 
und  des  überthauten  Strauches, 
fühlte  mich  so  überglücklich, 
so  voll  Seligkeit  und  Wonne, 
dass  mir  Leid  that  das  Erwachen, 
als  das  Morgenroth  ich  schaute. 

—  Nehmt  dies  Kräutlein  hier,  Senhora, 
arg  gefeit  ist  dieses  Kräutlein; 

doch  indem  ich  es  nun  segne, 
wird  es  wandeln  sich  in  Heilkraut. 

—  Ach,  und  dieser  Duft,  mein  Vater, 
ganz  wie  der  von  jenem  Strauche!  — 
Sprach  nichts  mehr  Dona  Ausenda, 
ward  vom  Schlafe  überwältigt. 

Denn  noch  eine  Gabe  hatte 
jenes  Kraut,  die  Zaubergabe 
dass,  berührt  ein  Weib  es,  schwanger, 
gleich  es  los  ward  seiner  Bürde. 
So  auch  ohne  Schmerz  und  Leiden 
zu  gar  segensreicher  Stunde 
brachte  sie  zur  Welt  ein  Kindlein, 
wohl  geboren,  wohl  gediehen. 
L  In  dem  Ärmel  barg's  der  Bruder, 
ging,  und  sprach  kein  Wort  mehr  weiter. 

Schon  erwacht  Dona  Ausenda, 
fühlt  sich  jeder  Last  entledigt, 
alles  des  was  ihr  geschehen, 
kann  sie  kaum  sich  mehr  entsinnen, 
dünkt  ihr  fast  ein  böser  Traum  nur 
der  die  Sinne  ihr  verwirrte. 
Bufet  da  nach  ihren  Fräulein, 
rufet  da  nach  ihrer  Wärt'rinn, 


\\2  Ferdinand  W  olf. 

kleidet  sich  auf's  Ällerschmuckste 
in  den  Rock  von  schlankster  Taille; 
ging  entgegen  ihrem  Vater, 
den  sie  fand  im  Vorhof  draussen, 
sorgend  für  des  Holzes  Schichtung, 
das  den  Tod  ihr  sollte  bringen. 

—  Seht  mich,  Vater,  zu  Gebot1  euch, 
schon  bereitet  und  gebeichtet, 
mögt  an  mir  denn  euren  Willen, 
Vater,  nun  vollziehen  lassen.  — 

Wiederholt  er  sie  betrachtet, 
wie  so  schlank  und  drall  geworden, 
und  ihr  Leib,  wie  zierlich  wieder, 
und  der  Rock,  wie  angegossen. 

—  Welches  Hexen-Werk,  o  Tochter, 
hatte  also  dich  verzaubert? 

Und  wie  hob  sich  die  Verwünschung, 
dass  ich  nun,  wie  sonst,  dich  schaue? 

—  War  wohl  eines  Zaubers  Wirkung, 
oder  Gab'  gefeiten  Krautes, 

bannte  ihn  wohl  jener  Bruder 
von  der  Brück'  Alliviada's. 

—  Meiner  ganzen  Habe  Hälfte, 
ja  die  wohlgezählte  Hälfte 
soll  dem  guten  Eremiten 

nun  von  Stunde  angehören. — 

Kaum  sind  diese  Wort'  gesprochen, 
sieh,  da  stand  der  Eremite. 

—  Nehm',  Herr  Graf,  die  Schenkung  gerne, 
wenn  die  Hälfte  wohl  gezählet 

auch  in  sich  begreift  Ausenda, 

wenn  ihr  sie  mir  gebt  zum  Weibe.  — 

Lachten  all1  da  ob  des  Bruders; 
doch ,  ohn'  weiter  was  zu  sagen, 
streift  er  Kutte  und  Kapuz'  ab, 
richtet  das  gebeugte  Haupt  auf, 
war  zu  schau'n  ein  schmucker  Junker, 
und  von  adeligem  Wesen. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  1  o 

War,  für  wahr,  der  Graf  Ramiro, 
ihrer  nächsten  Nachbarn  einer. 
Legt'  zur  guten  Stund'  Ausenda 
ihre  Hand  aufs  Zauberkräutlein! 


12.  Das  Fräulein  das  in  den  Krieg  zieht  ')• 

—  Krieg  ist  wieder  angekündet 
zwischen  Aragon  und  Frankreich. 
Weh  mir,  dass  ich  schon  zu  alt  bin, 
kann  nicht  milzieh'n,  nicht  mehr  kämpfen. 
Habe  Kinder,  sieben  Kinder; 

aber  keinen  Sohn  darunter!  — 
Antwort  d'rauf  gibt  ihm  die  ält'ste 
Tochter,  ganz  entschloss'nen  Sinnes: 

—  Bringt  ein  Pferd  und  gebt  mir  Waffen, 
will  den  Sohn  euch  wohl  ersetzen. 

—  Hast  ja  Augen  allzu  feurig, 
Tochter,  werden  dich  erkennen. 


i)  Donzella  que  vai  aguerra. 

Ja  se  apregoam  as  guerras 
entre  Franca  e  Aragäo. 
Den  obigen  Titel  führt  diese  Romanze  nach  der  vollständigsten  Version  die  Herrn 
Garrett  von  den  Azorisehen  Inseln  zukam  ;  in  Versionen   aus  anderen  Provinzen  hat 
sie  die  Titel :   „Dona  Leonor",  „Dom  Joäo",   „Dom  Carlos"   etc.    Doch    ihr 
ursprünglicher  Titel  unter  dem   sie  schon  im   16.  Jahrhundert  bekannt   war,  ist:    „0 
rapazdo  CoudeDaros".    So  nennt  sie  J  or  ge  F  e  r  r  e  i  r  a  in  der  oben  (S.  26) 
aus  dessen  „Aulegraphiau  angeführten  Stelle,  woraus    zugleich  hervorgeht,    dass 
sie  ursprünglich  in  cas  ti  lischer  Sprache  abgefasst  und  in  den  höfischen  Krei- 
sen beliebt  war.   Ich  will  nun  jene  nicht  nur  für  diese  Romanze,   sondern  für  die  Ge- 
schichte der  Romanzenpoesie  in  Portugal  überhaupt  sehr  merkwürdige  Stelle  aus  der 
Aulegraphia  (act.  III,  sc.  1)  im  Original  hersetzen.  Zwei  galante  Hofherren,  Dinardo 
Perreira  und  Grasidel  de   Abreu,    die  schon    mit  Ungeduld    das  Serviren   des  Diners 
erwarten,  suchen  sich  die  Zeit  durch  Witze-  uud.Ylusikmachen  zu  verkürzen;  Dinardo 
sagt  da:  Ora  poys  que  assi  te  tocarey :   O  rapaz  do  Conde  Daros. 
(canta)  Pregonadas  son  las  guerras 
de  Francia  contra  Aragon. 
iCömo  las  haria,  triste, 

viejo,  cano  y  pecador? 

Das  Absingen  castiliseher  Romanzen  war  also  damals  am  Hofe  von  Lissabon  fashio- 
nabel.     Die   portugiesische  Volks-Romanze  wurde  zuerst  von    .1.    M,   da    Costa   e 
Silva  durch  den  Druck  bekannt  gemacht  in  seinem  Gedichte  dein  sie  zur  Grundlage 
diente:   „Isabel  ou  a  heroina  de  Aragäo"   (Lisboa  1832). 
Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  I.  Hft.  3 


114  F  e  r  d  i  n  a  n  d  W  o  1  f. 

—  Geh1  ich  durch  der  Krieger  Reihen, 
werd'  ich  sie  zu  Boden  schlagen. 

—  Hast  doch  auch  zu  breiten  Nacken  *), 
Tochter,  werden  dich  erkennen. 

—  Gebt  mir  nur  gewichfge  Waffen, 
werden  ihn  schon  enger  drücken. 

—  Hast  doch  allzu  volle  Brüste, 
Tochter,  werden  dich  erkennen. 

—  Gebt  ein  Wams  mir  das  gut  schliesset, 
wird  verhüllen  mir  die  Brüste. 

—  Hast  doch  allzu  kleine  Hände, 
Tochter,  werden  dich  erkennen. 

—  Gebt  mir  Handschuh'  nur  von  Eisen, 
und  sie  scheinen  rechten  Masses. 

—  Hast  ja  Füsse  gar  so  zarte, 
Tochter,  werden  dich  erkennen. 

—  Steck'  in  Stiefel  sie  mit  Sporen, 
Berge  d'rin  sie  aller  Augen.  — 


—  Ach,  Herr  Vater,  ach,  Frau  Mutter! 
Grosses  Leid  trag'  ich  im  Herzen; 
denn  des  Grafen  Daros  Augen 
Frau'n-  nicht  Männer-Augen  sind  es. 

—  Lad1  ihn  ein,  mein  Sohn,  zu  gehen 
mit  dir  in  den  Apfelgarten-); 

wenn  ein  Weib  er  wirklich  wäre, 
langt  vor  allem  er  nach  Rosen.  — 
Doch  das  Fräulein,  weil  es  klug  ist, 
greift  sogleich  nach  den  Reinetten: 

—  0,  welch'  köstliche  Reinetten! 
ihr  Geruch  erfreuet  Männer. 
Duft'ge  Rosen  sind  für  Damen, 
wer  sie  ihnen  bringen  könnte! 


i)  Tendes-los  hombros  mui  altos. 
2)  Assonanz-Wechsel. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  1  \  5 

—  Ach,  Herr  Vater,  ach,  Frau  Mutter! 
Grosses  Leid  trag  ich  im  Herzen; 
denn  des  Grafen  Daros  Augen 
Frau'n-  nicht  Männer-Augen  sind  es. 

—  Lad1  ihn  ein,  mein  Sohn,  zu  kommen 
und  das  Mahl  mit  dir  zu  theilen; 

wenn  ein  Weib  er  wirklich  wäre, 
wird  er  niedern  Stuhl  sich  wählen.  — 
Doch  das  Fräulein,  weil  es  klug  ist, 
setzt  sich  auf  der  höchsten  einen. 

—  Ach,  Herr  Vater,  ach,  Frau  Mutter! 
Grosses  Leid  trag  ich  im  Herzen ; 
denn  des  Grafen  Daros  Ausen 
Frau'n-  nicht  Männer-Augen  sind  es. 

—  Lad'  ihn  ein,  mein  Sohn,  zu  gehen 
mit  dir  zu  des  Marktes  Buden; 

wenn  ein  Weib  er  wirklich  wäre, 
wird  er  nach  den  Bändern  langen.  — 
Doch  das  Fräulein,  weil  es  klug  ist, 
wählt  zum  Ankauf  einen  Dolch  sich  : 

—  Ha!  wie  ist  der  Dolch  so  trefflich, 
um  sich  Mann  gen  Mann  zu  wehren! 
Schmucke  Bänder  sind  für  Damen; 
wer  sie  ihnen  bringen  könnte! 

—  Ach,  Herr  Vater,  ach,  Frau  Mutter! 
Grosses  Leid  trag  ich  im  Herzen ; 
denn  des  Grafen  Daros  Augen 
Frau'n-  nicht  Männer-Augen  sind  es. 

—  Lad'  ihn  ein,  mein  Sohn,  zu  kommen 
mit  dir,  in  dem  Strom  zu  schwimmen; 
wenn  ein  Weib  er  wirklich  wäre, 
Weist  die  Ladung  er  zurücke.  — 
Doch  das  Fräulein,  weil  es  klug  ist, 

Fängt  schon  an  sich  zu  entkleiden 

Bringt  ihr  da  ihr  Page  ein  Schreiben, 
Liest  es  kaum,  beginnt  zu  weinen. 

—  Nachricht  ist  mir  zugekommen, 
Nachricht  die  mich  sehr  bekümmert, 


116  Ferdinand  Wolf. 

dass  gestorben  meine  Mutter, 
dass  dem  Tode  nah'  mein  Vater. 
Höre  wie  in  meiner  Heimat 
Grabesglocken  schon  ertönen, 
und  das  Weinen  zweier  Schwestern 
glaub"  von  hier  ich  zu  vernehmen. 
Steigt  zu  Pferd,  zu  Pferd,  mein  Ritter, 
wollt  ihr  heimwärts  mich  begleiten.  — 

Langen  an  bei  einem  Schlosse; 
steigen  alsogleich  vom  Pferde. 
—  Bringe,  Vater,  einen  Eidam, 
solltet  ihr  genehm  es  halten; 
war  mein  Hauptmann  in  dem  Kriege, 

wollte  mir  von  Liebe  sprechen 

Liebt  er  jetzt  noch  mich,  wie  damals, 
muss  er  bei  dem  Vater  werben. 
Sieben  Jahr'  dient'  ich  im  Kriege, 
habe  Sohnes  Stell1  vertreten  *)  ; 
keiner  hat  erkannt  mich  jemals, 
meinen  Hauptmann  ausgenommen ; 
der  erkannt'  mich  an  den  Augen, 
aber  wahrlich  an  nichts  and'rem!  — 

13.  Der  Mäher2). 

Einst  von  Rom  ein  Kaiser  hatte 
eine  Tochter,  Frucht  der  Liebe, 
liebt'  so  masslos  sie,  so  masslos, 
dass  sie  ganz  verzogen  wurde. 


*)  Rückkehr  zur  ersten  Assonanz. 

2)   „0  cegador".  — 

0  imperador  de  Roma 
tem  uma  fiiha  bastarda. 
Nach  der  Version  von  Beiralta,  der  Hr.  Garrett  gefolgt  ist.  In  der  Version  von 
Tras-os-montes  führt  die  Romanze  den  Titel:  „A  filha  do  imperador  de 
Rom  a",  und  sie  weicht  auch  sonst  vielfach  von  der  hier  gegebenen  ab.  Hr.  Garrett 
hat  nur  einige  der  anstössigsten  Stellen  die  er  überdies  für  spätere  Interpolationen 
hält,  weggelassen.  Aber  auch  so,  wie  sie  vorliegt,  hat  die  Romanze  ganz  den  frivolen 
Charaktereines  franzosischen  Fabliau  und  stammt  vielleicht  auch  aus  dieser  Quelle? 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksroman/.pn.  1  1  i 

Warben  um  sie  Grafen,  Herren, 
Männer,  die  von  Stand  und  Anseif n; 
sie  hingegen,  stolz  und  spröde, 
weiss  an  jedem  was  zu  tadeln: 
der  zu  jung,  zu  alt  der  and're, 
ganz  und  gar  ist  jener  bartlos, 
und  an  Muth  scheint's  dem  zu  fehlen, 
um  das  Schwert,  wie's  ziemt,  zu  führen. 
Spricht  der  Vater  lächelnd  zu  ihr: 

—  Dafür  wirst  du  büssen  müssen! 
Seh'  fürwahr  dich  schon  als  Liebste 
eines,  der  die  Schweine  hütet.  — 

Morgens  am  St.  Johanns-Tage, 
Morgen,  wann  so  süss  es  dämmert, 
zeiget  sich  in  aller  Frühe 
die  Infantinn  auf  dem  Söller: 
und  drei  Mäher  sieht  sie  kommen, 
emsig  fördernd  ihre  Arbeit, 
von  den  drei'n  der  allerkleinste 
ist  es  der  am  meisten  fördert. 
Trägt  ein  Band  an  seinem  Hute 
das  von  Seid'  und  Gold  gewirket, 
und  die  Sens'  mit  der  er  mähet, 
leuchtet  wie  das  pure  Silber. 
In  sein  zierlich  schmuckes  Wesen 
hat  verliebt  sich  die  Infantinn. 

Und  der  Mäher  mähet,  mähet 

und  er  weiss  wohl  was  er  mähte! 

Kommt  da  ihre  kluge  Amme 
der  sie  ganz  sich  anvertraute: 

—  Siehst  du,  Amme,  jenen  Mäher, 
emsig  fördernd  seine  Arbeit? 
Grafen,  Herzoge  und  Ritter, 
keiner  reicht  an  diesen  Mäher ! 
Geh',  ruf  zu  mir  im  Geheimen 
ihn,  dass  Niemand  darum  wisse. 

—  Guter  Mäher,  komme  mit  mir, 
meine  Herrinn  will  dich  sprechen. 


\  [  3  F  e  r  d  i  n  n  n  d  W  o  1  f . 

—  Nichts  von  deiner  Herrinn  weiss  ich, 
noch  wozu  sie  mich  will  rufen? 

—  Mäher,  Glückskind,  allzu  niedrig 
hast  die  Blicke  du  gerichtet. 

Heb'  empor  die  Augen,  schaue 
jenen  Stern  des  lichten  Morgens! 

—  Seh'  die  Sonne  die  dort  aufgeht, 
sehe  nicht  den  Stern  des  Morgens. 

—  Sonne  oder  Stern,  kommst  mit  du? 

—  Geh'  schon;  denn  wer's  kann,  gebiete. - 
Gingen  durch  ein  Hinterpförtchen, 

denn  das  Thor  war  noch  verschlossen. 
In  der  Kammer  der  Princessinn 
fand  sich  ein  der  gute  Mäher. 

—  Was  nun,  Herrinn,  was  nun  wollt  ihr? 
denn  auf  euren  Ruf  nur  kam  ich. 

—  Wissen  will  ich,  ob  du  Muth  hast 
meine  Arbeit  auszurichten? 

—  Muth  zu  allem,  allem  hab'  ich, 
scheue  mich  vor  keiner  Arbeit. 
Sprecht  nun,  Herrinn,  welche  Arbeit? 
und  wo  soll  ich  sie  verrichten? 

—  Nicht  im  Wald  und  nicht  im  Thale, 
nicht  im  Brachfeld  und  Gehäge. 
Mäher,  's  ist  —  in  meinen  Armen; 
denn  ich  glüh'  für  dich  in  Liebe!  — 

Es  verging  der  Tag,  der  ganze, 
wohl  der  grösste  Theil  der  Nacht  auch, 
und  der  Mäher  mähet,  mähet,  .... 
und  er  weiss  wohl  was  er  mähte! 

—  0  genug,  genug  schon,  Mäher; 
schon  gethan  ist  deine  Arbeit. 
Geh'  nun,  eh'  mein  Vater  kommet 
mit  des  Morgens  erstem  Grauen.  — 

Kaum  sind  diese  Wort'  gesprochen, 
Kommt  der  Vater  an  das  Bette. 

—  Mit  wem  sprichst  du,  meine  Tochter, 
schon  so  früh  bei  Tages  Anbruch  ? 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  1  <? 

—  Sprech'  mit  dieser  meiner  Amme, 
die  mich  in  Verzweiflung-  bringet, 
hat  das  Bett  so  schlecht  bereitet, 
dass  es  mich  nicht  schlafen  lassen. 

—  Deine  Amme  ist  wohl  die  hier 
deren  Bart  so  dicht  sich  zeiget? 
Hurtig  kleid'  sich  an  das  Frauchen; 
denn  noch  eh'  der  Morgen  grauet, 
will  durch  den  Barbier  des  Büttels 
ich  sein  Kinn  geschoren  sehen.  — 

Doch  der  Mäher  ganz  gelassen 
dieses  Urtheil  hat  vernommen. 
Lest  mit  einer  Hand  das  Kleid  an, 
mit  der  anderen  die  Schuhe; 
springet  in  des  Hauses  Mitte, 
Als  wenn  nichts  geschehen  wäre. 

—  Mag  nun  der  Barbier  nur  kommen, 
mit  dem  Messer  wohl  geschliffen. 
Wollen  sehen,  wer  dem  Herzog 

von  der  Lombardei  den  Bart  nimmt !  — 

Eilt  der  Kaiser,  ganz  zufrieden, 
auf  der  Stell'  sie  zu  vermählen. 
Wollt1  nicht  Herren  sie,  noch  Grafen, 
Männer  nicht  von  Stand'  und  Anseh'n; 
wollte  nur  allein  den  Mäher 
der  dem  Mäh'n  so  fleissig  oblag  *)« 


l)  Im    Original    ist   noch    eine   Art   von    Epimythe    angehängt,    die    aber    gewiss    ein 
späterer  Zusatz  eines  Bänkelsängers  ist.    Sie  lautet: 

Hätt'  ein  Sehweinhirt  auch  sein  können, 

der  entehrt  sie  hätt'  gelassen   .... 

War  zum   Glück  ein   hoher  Herzog, 

Herrscher  von  gar  grossem   Rufe. 

So  ist  Alles  in  der  Welt  nur  Zufall, 

und  der  Zufall  fiel  zum  Heil  aus. 
Verwandt  mit  dieser  ist  die  c  a  t  a  I  a  n  i  s  ch  e  Romanze  :  „Los  tres  tarn  bo  res" 
(Mila\  pag.  121);  doch  benimmt  sich  hier  die  Princessinn  die  sich  in  einen  der 
drei  Trommler  verliebt,  anständiger;  denn  wiewohl  auch  sie  ihn  zu  sich  gerufen, 
besteht  sie  doch  darauf,  dass  er  vor  Allem  hei  ihren  Eltern  um  sie  werbe.  Er 
wird  vom  König  natürlich  mit  Verachtung  abgewiesen  und  mit  dein  Tode  bedroht; 
gibt  sich  aber  dann  als  den  Sohn  des  Königs  von  England   zu   erkennen,    und    als 


120  Ferdinand  Wolf. 

14.  Die  Braut  von  der  Küste1). 

—  Schütz'  euch  Gott  noch  fürder,  Muhme, 
fleissig  spinnend  an  dem  Rocken. 

—  Ei,  willkommen  mir,  Herr  Ritter, 
dessen  Rede  so  manierlich. 

—  Fort  zu  böser  Stunde  zog  er, 
Muhme,  kehrte  heim  zu  böser; 
Niemand  will  ihn  mehr  erkennen, 
hat  sich  wohl  gar  sehr  verändert ! 
Besser  wär's  als  solche  Rückkehr 
hätten  Mauren  ihn  getödtet. 

—  Ach!  du  bist  es,  Herzens-Neffe, 
bist  es,  das  ist  deine  Sprache! 
Siehst  nicht  diese  Augen,  Söhnchen, 
die  vom  Weinen  fast  erblindet! 

—  Und  mein  Vater,  meine  Mutter? 
Muhme,  möchte  sie  umarmen! 

—  Ach!  dein  Vater  starb,  mein  Neffe, 
deine  Mutter  ward  begraben. 

—  Muhme,  sprecht,  und  meine  Flotte 
der  ich  hier  gebot  zu  bleiben? 

—  Deine  Flotte,  lieber  Neffe, 

sandt'  in  See  sie  der  Grenz-Hauptmann  2). 

—  Was  ist's,  Muhm1,  mit  meinem  Pferde 
das  ich  hier  zurückgelassen? 

—  Dieses  Pferd,  mein  lieber  Neffe, 
hiess  der  König  weg  es  nehmen. 

—  Was  ist's  Muhm',  mit  meiner  Dame 
die  hier  blieb  mich  zu  beweinen? 


man  ihm  nun  mit  Freuden    die    Hand    der   Princessinn  bewilligen   will ,    antwortet 
er:  —  Ich  will  nicht  eure  Gnade,  noch  eure  Tochter;  denn  in  meinern  Lande  gibt 
es  viel  Schönere. 
*)   „A  noiva  arraiana". 

Deus  vos  salve,  minha  tia, 
na  vossa  roca  a  fiar. 
2)  0  fronteiro 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  1  Zl 

—  Deine  Dame  macht  heut  Hochzeit, 
Morgen  wird  sie  sich  vermählen. 

—  Und  wo  weilt  sie?  sagt  mir,  Muhme! 
denn  dahin  will  ich  auch  gehen. 

—  Neffe,  nimmer  sag  ieh's,  nimmer; 
denn  sie  könnten  dich  dort  tödten. 

—  Werden  mich  nicht  tödten,  Muhme, 
weiss  mich  mit  Manier  zu  nehmen, 
und  wo  die  Manier  nicht  ausreicht, 
soll  das  Schwert  zu  Hilfe  kommen.  — 


—  Gott  zum  Gruss,  euch  von  der  Hochzeit, 
wohl  bekomm'  euch  ihre  Freude ! 

—  Seid  willkommen,  edler  Ritter, 
lasst  mit  uns  zum  Mahl  euch  nieder. 

—  Nicht  verlangt  mich's  nach  der  Hochzeit, 
nicht  verlangt  mich's  nach  dem  Mahle; 
mich  verlangt's  die  Braut  zu  sprechen, 
meine  nahverwandte  Base.  — 

Als  sie  nun  herbei  gekommen, 
überfluthet  ganz  mit  Thränen, 
Wehe !  als  sie  sah  den  Ritter, 
wollt'  sie  sterben,  wollt'  vergehen. 

—  Wenn  du  weinst  ob  meinem  Anblick, 
will  ich  mich  alsbald  entfernen ; 

wenn  du  weinst  des  Aufwands  wegen, 
bin  ich  dir  dafür  Bezahler. 

—  Zahlen  sollt'  es  mit  dem  Leben 
wer  mich  hintergehen  wollte, 

als  im  Land  jenseits  des  Meeres 

für  gestorben  sie  dich  gaben. 

Mögen  sie  nun  Hochzeit  halten, 

wohl  das  Mahl  sich  schmecken  lassen ; 

doch  von  meiner  ersten  Liebe 

soll  das  Herz  mir  Keiner  wenden!  — 


122  Ferdinand  Wolf. 

—  Komm'  ein  Richter  von  Castilien, 
Portugals  Alcalden  einer! 
Und  will  Recht  mir  hier  nicht  werden, 
soll  es  dieses  Schwert  mir  schaffen  *)• 

15.  Die  goldene  Schnur2). 

Zieht  der  Hauptmann  da  vorüber 
in  den  Krieg  mit  seinen  Truppen: 
war  n  Recruten,  an  zweihundert, 
war'n  zweihundert  Frischgeworb  ne. 
Wenn  auch  alle  traurig  gehen, 
einer  war  es  mehr  als  alle, 
lässt  den  Säbel  niedrig  schleppen, 
schlägt  zu  Boden  seine  Blicke. 
Da  auf  ihres  Weges  Mitte 
wendet  sich  an  ihn  der  Hauptmann: 
—  Mein  Soldat,  warum  so  traurig? 
Dieses  Trauern,  wem  soll's  gelten  ? 


*)  Auch  mit  dieser  ist  eine  c  ata  1  a  niseh  e  Romanze,  die  von:  „Don  Luis"  (Mila, 
pag.  107)  offenbar  aus  derselben  Quelle  geflossen;  nur  dass  die  catslanische  ,  als 
eine  spätere,  alles  schon  in  viel  niederere  Kreise  herabzieht,  und  am  Schlüsse  eine 
tragische  Wendung-  nimmt.  Don  Luis  ist  ein  auf  die  Galeeren  Verbannter,  und 
erhält  nach  siebenjähriger  Strafarbeit  mit  der  Bedingung  Erlaubniss  in  die  Heimat 
zurückzukehren,  dass  er  binnen  drei  Stunden  über  das  Meer  rudere;  er  braucht 
aber  nur  anderthalb  dazu;  eilt  nach  dem  Hause  seiner  Muhme,  und  es  folgt  ein 
ganz  ähnliches  Gespräch  zwischen  dieser  und  ihm,  wie  im  Portugiesischen.  Hier 
ist  es  aber  nicht  blos  die  Geliebte ,  sondern  seine  Gattinn  die  sich  eben  wieder 
vermählt  hat.  Er  verlangt  von  der  Muhme  den  Hut  und  die  Guitarre,  deren  er  sich 
sonst  bediente,  und  weckt  durch  seinen  Gesang  die  Neuvermählten.  Der  Mann  er- 
wacht zuerst  und  ruft:  „Wach  auf  mein  Leben,  wenn  du  einen  schönen  Gesang 
hören  willst;  das  ist  Sirenen-Sang,  oder  kommt  von  einem  Fische  wie  er  im 
Meere  umherkreist  (Sentireu  cant  de  sirena  —  o  peix  que  roda  pel  mar)".  — 
Sie  erkennt  aber  sogleich  die  Stimme  ihres  früheren  Gatten  ,  und  als  der  zweite 
sich  bereit  macht  den  ersten  zu  ermorden  .  erklärt  sie  ihm :  „Wenn  du  jenen 
tödten  willst,  so  fange  lieber  gleich  mit  mir  an-'.  —  Er  aber  tödtet  jenen  um 
Mitternacht,  und  sie  bei  Tagesanbruch.  Beide  werden  in  der  Kirche  von  Santa- 
Maria  zu  Barcelona  begraben;  seinem  Grabe  entsteigt  ein  Tauber,  dem  ihren  eine 
Täubinn  (vgl.  oben  die  Anmerkung  zur  Romanze:  Der  Graf  Nillo). 
2)  0  cordäo  do   oiro.  — 

La'  se  vai  o  capitäo 

c'os  seus  soldados  a'  guerra. 


Proben  portugiesischer  und  catalaniseher  Volksromanzen.  ]  4J 

—  Nicht  dem  Vater,  nicht  der  Mutter, 
einer  Schwester  nicht,  die  mein  war* ; 
gilt  der  Frau  die  ich  verlassen 

dort  allein  in  meiner  Heimat. 
Diese  Schnur  von  feinem  Golde, 
hundert  Unzen  schwer,  doch  schwerer1) 
wird  sie  mir,  da  ich  sie  trage, 
nicht  beim  Abschied  ihr  zurückliess. 

—  Geb\  Soldat,  dir  sieben  Tage, 
dass  du  heimkehrst  sie  zu  sehen : 
wenn  du  sie  in  Thränen  findest, 
magst  bei  ihr  du  sieben  Jahr1  sein  ; 

doch  wenn  nicht,  —  hast  du  zur  Rückkehr 
auch  nicht  eine  Stunde  Frist  mehr.  — 
Wie  da  ganz  vergnügt  und  freudig 
mein  Soldatlein  nun  davonsprang! 

Nicht  die  Heerstrass'  er  dahin  zog, 
nahm  viel  kürz're  Seitenwege; 
und  vor  Mitternacht  noch  pochte 
er  am  Thore  seines  Hauses. 

—  Wer  pocht  nun  an  meinem  Thor  an, 
pocht  und  pocht  mit  solcher  Hast  an? 

—  Ein  Soldat  ist's,  liebes  Frau'chen, 
der  vom  Krieg  euch  bringet  Nachricht. 

—  Hol'  der  Henker  solche  Nachricht 
und  noch  mehr  den  Überbringer! 
Geh',  steh1  auf  mein  Vielgeliebter, 
zeige  dich  an  jenem  Fenster, 

jage  den  Soldaten  fort  mir, 
zu  so  übler  Stund1  gekommen  ! 

—  Freund,  ihr  seid  hier  irrgegangen 
mit  der  Nachrieht  aus  dem  Kriege  ; 
lasst.uns  schlafen  nun  in  Ruhe, 

da  wir  ihrer  wohl  bedürfen.  — 

Der  Soldat  trollt  sich  von  hinnen, 
schneller  als  er  hergekommen. 


1)  que  seile  arrateis  hem  pesa ;  arratel,  ein  Gewicht  von   16  Unzen. 


124  Ferdinand   Wolf. 

—  Wohl  ergeh'  es  meinem  Hauptmann 
der  mir  solches  Wohl  erwiesen ! 

Ei,  was  siehen  Tage  Urlaubs  !  .  .  . 

Sieben  Stunden  nicht  es  brauchte 

um  vom  Heimweh  mich  zu  heilen, 

mich  von  allem  Gram  zu  lösen ! 

Nehmt  hier,  nehmt,  mein  lieber  Hauptmann, 

diese  Schnur  von  feinem  Golde 

die  nun  nicht  mehr  mich  belastet; 

meine  Frau  hat's  nicht  mehr  nöthig; 

sorgen  doch  für  sie  die  Vettern. 

—  Deine  Frau  hat  —  Vettern  also, 
und  du  gingst  von  ihr  bekümmert!  — 


II.  Gatalanische  Romanzen. 

a)   Romantische. 

1.   Das  Vögelchen  *). 

Am  obern  Rand  von  jener  Wies1 
ein  Apfelbaum  gepflanzet  ist. 
(Refr.   Ach!  der  weiss  nicht  zu  leben,  leben,  leben. 
Ach!  der  weiss  nicht  zu  leben,  zu  lieben!) 
Von  Äpfelchen  erdrücket  schier, 
so  rosenroth  wie  keine  hier, 
auch  weiss  und  gelb  die  Halbscheid,  ist. 
Ein  Vögelchen  ganz  oben  sitzt, 
wie  pures  Gold  sein  Schnabel  glitzt, 
die  Flügeichen  halb  golden  sind, 
das  Schweifchen  ganz,  ja  bis  zur  Spitz. 
Ein  Jägersmann  zum  Ziel  es  nimmt. 
—  Ach!  Jägersmann,  schiess  nicht  auf  mich, 
vom  König  bin  ich  sehr  geliebt, 


J)   „La  a  vec  ill  a".  — 

A  qui  a'  dalt  —   en  aquest  prat. 


Proben  portugiesischer  und  eatalanischer  Volksromanzen.  125 

die  Kön'ginn  liebt  mich  mehr  wie  nichts, 
ich  ess1  und  trink  an  ihrem  Tisch, 
ich  schlafe  stets  in  ihrer  Mitt1.  — 
Der  Jägersmann  es  dennoch  schiesst. 
Der  Seeleut'  Klag'  die  Luft  durchdringt: 

—  0  weh!  woher  dies  Blut  nun  fliesst? 
Kommt  es  vom  Feld?  kommt's  wohl  vom  Krieg? 
kommt's  aus  der  Erd1?  des  Meeres  Tief? 
Wohl  gar  von  ihm,  der  Vögel  Zier? 

0  weh!  wird  des  der  König  inn1, 
Des  Jagers  Tod  ist  dann  gewiss. 

2.  Der  Rönigssohn J). 

Im  Mädehen-Schloss  da  waren  (aber  ach!) 

ihrer  drei,  ja  drei, 

die  eine  seicht  die  Wäsche,  (aber  ach!) 

bleicht  die  and're  sie, 

die  dritte  sammelt  Veilchen  (aber  ach!) 

für  den  Königssohn. 

Mit  einem  gold'nen  Apfel  (aber  ach!) 

kommt  der  Königssohn2), 

er  zielt  mit  einem  Steinchen  (aber  ach !) 

trifft  die  Liebste  wohl, 

er  trifft  sie  wohl  getroffen  (aber  ach !) 

in  des  Herzens  Mitt'. 

—  That,  Liebchen,  ich  dir  wehe,  (aber  ach!) 
denke,  doch  wohl  nicht? 

—  Ein  wenig,  nicht  zu  sehr,  doch  (aber  ach!) 
in  des  Herzens  Mitt'. 

—  That,  Liebchen,  ich  dir  wehe,  (aber  ach !) 
heilen  werd'  ich  dich  3), 


1)  „El  hijo  del  Key".   — 

AI  castell  de  Jas  ninetas  —  (mes  ay)  tres  eran,  tres. 

2)  Die  Assonanz  wechselt. 

3)  Wieder  Assonanz-Wechsel. 


126  Ferdinand  Wolf. 

in  Frankreich  gibt's  viel  Ärzte,  (aber  ach !) 

heilen  wohl  auch  dich. 

Viel  Geld  hab'  ich  im  Beutel,  (aber  ach!) 

gnug  sie  zu  bezahl'n. 

In  meines  Vaters  Garten  (aber  ach !) 

ist  ein  Wunderkraut, 

es  heilt  das  Liebeswehe,  (aber  ach !) 

geht's  zu  suchen  hin.  — 

Als  nun  darnach  sie  suchen,  (aber  ach!) 

hört  man  Sterbgeläut1). 

Gestorben  ist  Mariechen,  (aber  ach!) 

Woll1  ihr  Gott  verzeih'n! 

Wo  machen  wir  ihr  Grab  wohl?  (aber  ach!) 

unter  dem  Balcon? 

Nicht  da,  nicht  unterm  Fenster  (aber  ach!) 

noch  am  Hinterthor; 

an  'nem  Sprach-Gitterlein  nur;  (aber  ach!) 

beten  dann  für  sie 

Vermochten  nicht  zu  beten;  (aber  ach!) 
Weinen,  Klagen  war's  2). 


3.  Der  Seemann  3). 

An  des  Meeres  Ufer  sass 
ein  holdes  Mädchen, 

sticket  emsig  auf  ein  Tuch 
die  schönsten  Blumen. 


1)  Abermals  wechselt  die   Assonanz. 

2)  Die  letzten  vier  Verse  sind  auch  im  Original  hart  und   dunkel  : 

^Ahont  li  faran  Teusolta?  —  (mes  ay)  sota'l  balcö. 
Ni  eu  balco  ni  en  finestra  —  (mes  ay)  ni  en  finestro 
sino  en  una  reixeta  —   (mes  ay)  fent  oracio ; 
I'oracio  que  ya'n  feyan  —  (mes  ay)  llantos  y  plors. 
Man  fügt  dieser  Romanze  auch  manchmal  noch  folgenden  Schluss  bei 

Esta  canso  qui  l"ha  treta  —  no  es  home,  no, 

es  una  doucelleta  —  de  Mataro, 

te  la  boca  xiqueta  —  com  un  piny6, 

la  cabellera  llarga  —  fins  al  talo. 

3)  „El  marinen)".  — 

A  la  hora  de  la  mar  —    n'hi  ha  una  dnncella. 


Proben  portugiesischer  und  cafalanischer  Volksromanzen.  127 

Als  gestickt  die  Hälfte  war, 

da  fehlt  die  Seide. 
Sieht  wie  naht  ein  Schiff,  und  ruft : 

—  Sieh  da,  ein  Segel ! 
Seemann,  guter  Seemann,  sprich, 

du  bringst  wohl  Seide  ? 

—  Welcher  Farbe  wollt  ihr  sie, 
weiss'  oder  rothe? 

—  Will  von  röthlicher  sie  wohl, 
das  ist  viel  schöner, 

will  von  röthlicher  sie  nur, 
's  ist  für  die  Kön'ginn. 

—  Kommt  denn  mit  mir  in  das  Schiff 
und  nehmt  euch  diese.  — 

Kaum  betraten  sie  das  Schiff, 

lichtet's  die  Segel. 
Stimmt  der  Seemann  einen  Sang 

an,  eine  Märe. 
Bei  des  Seemannes  Gesang 

schlief  ein  das  Mädchen. 
Fand,  als  es  erwachet,  fern 

sich  von  der  Heimat. 

—  Seemann,  guter  Seemann,  bringt, 
o  bringt  an's  Land  mich ! 

denn  der  Seeluft  Wehen  macht 
mir  viele  Schmerzen. 

—  Dieses  werd'  ich,  traun,  nicht  thun! 
Ihr  sollet  mein  sein. 

—  Unser  sind  der  Schwestern  drei ; 
bin  ich  die  schönste. 

Ist  die  eine  Herzoginn, 

die  and're  Gräfinn, 
und  ich  ärmste  bin  das  Weib 

nur  eines  Seemanns! 
Kleidet  sich  die  ein1  in  Gold, 

in  Seid'  die  and're, 
und  mir  ärmsten  ward  ein  Kleid 

von  woH'nem  Zeuge! 


128 


Ferdinand  Wolf. 

—  S'  ist  von  Wollzeug  wahrlich  nicht, 

s'  ist  auch  von  Seide; 
seid  nicht  eines  Seemanns  Weih; 

ihr  seid  ja  Kön'ginn  ; 
denn  von  Englands  König  bin 

ich  Sohn  und  Erbe; 
sieben  Jahr1  durchzog  die  Welt 

ich  euch  zu  suchen1). 


4.  Der  Hochzeitsschmuck  a). 

Waren  mal  drei  Mädchen,  sassen 
alle  drei  auf  einer  Bank, 
alle  drei  da  nur  besprachen 
ihrer  Liebsten  Wiederkehr. 
(Refr.  Wie  der  Zweig  das  Laub  beweget  säuselnd, 
wie  sich  säuselnd  wiegt  am  Zweig  das  Laub.) 
Antwort  gibt  darauf  die  Ält'ste: 

—  Meiner  zögert  wohl  ein  Jahr. — 
Antwort  gibt  darauf  die  Mittlre  : 

—  Meiner  zögert  nicht  so  lang. — 
Ging  die  Jüngste  an  das  Fenster, 
ihren  Liebsten  kommen  sieht, 
welchen  trug  ein  grüner  Sattel, 
und  zwei  Diener  ihm  voran. 
Waren  ihre  ersten  Worte: 

—  Wesshalb  zögerst  du  so  lang?  — 
Ihre  nächsten  Worte  waren  : 

—  Was  bringst  du  mir  für  1nen  Schmuck? 

—  Ob  der  Schmuck  den  ich  dir  bringe, 
dir  genehm  sei,  weiss  ich  nicht; 


*)  Einige  Ähnlichkeit  damit  hat  die  schwedische    Ballade:    „Den    Ulla    Batsman" 

(s.  Mohnike,  Volkslieder  der  Schweden.    Berlin    1830,   8.,  S.  89  „der  kleine 

B  oo  tsm  ann"). 

2)  „Las  joyas  de  boda".  — 

Si  u'eran  tres  doncelletas, 
assentadas  en  un  banc. 


Proben  portugiesischer  und  calalanisdier  Volksronianzen.  129 

von  Valencia  nicht  Pantoffel, 
keine  Schuhe,  keine  Strumpf; 
er  ist  keines  Goldschmieds  Arbeit, 
und  kein  Christ  hat  ihn  gemacht; 
machte  ihn  ein  Mauren-König, 
ist  von  Gold  und  von  Demant, 
und  der  Gürtel  den  ich  bringe, 
ist  von  Perlen  und  Brillant, 
einer  Mauren  Kön'ginn  Arbeit, 
brauchte  dazu  sieben  Jahr. 
Sagten  mir,  du  sollst  ihn  tragen 
dreimal  nur  in  einem  Jahr: 
einmal  an  dem  Fastnacht-Sonnta» 
dann  am  Sanct  Johannistag; 
und  das  dritte  Mal  zu  Pfingsten, 
wann  die  Rosen  wieder  blüh'n.  — 

5.  Amelia's  Testament1). 

Schwer  erkranket  ist  Amelia, 
gibt  kein  Mittel  mehr  dagegen; 
sie  zu  sehen  kommen  Grafen, 
Grafen,  Kön'ge  und  ßarone. 
(Refr.  All  mein  Herzblut  stocken 

macht  ein  Strauss  von  Nelken.) 
Kommt  zu  ihr  auch  ihre  Mutter, 
stellt  davon  sich  überraschet. 

—  Tochter,  meine  Tochter,  sage 
welches  Übel  dich  befallen? 

—  Meine  Mutter,  meine  Mutter, 

d  u  kennst  nur  zu  wohl  mein  Übel ! 


)  „El  testamento  de  Amelia".   

L'Amelia  esta'  malaita 
que  no  hi  ha  nies  reraey. 

Terrae»T«eiJs mLdir  R0,n:T  h3t  *"  Schwedisc"e  ™ksüed:  «Der  K.einen 
icsiament     (s.  Mohnike,  a.  a.  0.  S.  S). 

Sitzb.  d.  ohil.-hisf.  ci.  XX.  Bd.  !.  Hft. 


1  30  Ferdinand  Wolf. 


Gaben  mir  ja  gift'ge  Kräuter  *), 
weil  ich  ihn  zum  Gatten  wählte, 
gaben  mir  ja  gift'ge  Kräuter, 
Mutter,  wirst  bald  todt  mich  sehen. 

—  Beichte  denn,  o  meine  Tochter! 
und  empfang'  die  letzte  Zehrung; 
wann  du  diese  hast  empfangen, 
wirst  das  Testament  du  machen. 

—  Hab'  in  Frankreich  sieben  Schlösser, 
alle  steh' n  mir  zu  Gebote : 

drei  den  Armen  ich  vermache, 
ja,  den  Armen  und  den  Pilgern, 
und  das  vierte  bleib'  den  Mönchen 
um  des  Allerbarmers  willen; 
all1  die  and'ren  dem  Don  Carlos, 
meinem  vielgeliebten  Bruder. 

—  Was  vermachst  du  mir  dann,  Tochter, 
mir,  was  willst  du  hinterlassen? 

—  Euch,  o  Mutter,  hinterlass  ich, 
euch  empfehl1  ich  meinen  Gatten. 

6.  Die  Studenten  von  Tolosa  2). 

Auf  der  hohen  Schul1  Tolosa's 
waren  drei  Studenten  einst, 
um  Capläne  auch  zu  werden 
machten  sie  die  Studien  mit. 
Lernten  da  drei  Mädchen  kennen, 
ja,  der  schmucksten  Mädchen  drei; 
machen  sich  mit  ihnen  Kurzweil, 
treiben  wohl  ein  loses  Spiel; 
doch  die  Mädchen  nehmen1s  übel, 
wenden  sich  an  das  Gericht. 


!)  Matsiuas. 

2)   „Los  estudiantes  de  Tolosa".  — 


A  la  vila  de  Tolosa 
n'hi  ha  tres  estudiants. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  1  3  1 

Nach  Verlauf  kaum  einer  Stunde 
setzt  man  die  Studenten  fest. 
Der  von  ihnen  war  der  Jüngste, 
weinte  drob  fast  Tag  und  Nacht; 
und  der  Älteste  ihn  tröstet : 

—  Lieber  Bruder,  wein'  nicht  so, 
denk'  an  Frankreich,  unsern  Bruder 
der  im  Dienst  Herzogs  Bohan  *); 
wenn  er  hört'  was  uns  geschehen, 
kam  hieher  er  augeublicks, 

und  erschlug'  den  Vogt  und  Bichter, 
alle  ihre  Schreiber  mit. — 
An  *nem  grossen  Gitterfenster 
hat  der  Bichter  sie  behorcht. 

—  Schweiget,  Schweiget,  ihr  Gefang'ne, 
werdet  bald  von  hier  geholt.  — 

Schon  des  Nachmittags  um  zwei  Uhr 
zeigt  man's  ihnen  schwarz  auf  weiss2); 
schon  des  Nachmittags  um  vier  Uhr 
schleppt  man  sie  zum  Richtplatz  hin. 
Während  man  sie  auf-  und  losknüpft, 
ist  ihr  Bruder  angelangt. 
Fragt  sogleich  die  Frau  des  Wirthes : 

—  Wesshalb  ist  solch'  grosser  Lärm  ? 
Drei  Studenten  ,   o  die  Ärmsten ! 

richten  sie  hier  mit  dem  Strang. 

—  Schweiget,   schweiget  still,  Frau  Wirthinn, 
meine  Brüder  sind  all'  drei. 

Wollt  mir  sagen  nur,  Frau  Wirthinn, 
wie  komm'  ich  am  schnellsten  hin? 
—  Eilet  hin  durch  jene  Strassen, 
oder  über  Wies'  und  Feld. — 
Schnell  steigt  er  vom  schwarzen  Bosse, 
schwingt  sich  auf  ein  weisses  Boss, 


»)  In  einigen  Versionen  heisst  der  rächende    Bruder :    Rey  Duran  oder  Don  Rolan. 
z)  ya'Is  en  donan  pape'  hiane,   d.  i.  das  Urtheil. 


132  Ferdinand  Wolf. 

und  das  Ross,  es  sprenget  also, 
dass  die  Steine  Funken  sprüh'n. 
Aus  der  Scheide  reisst  sein  Schwert  er, 
stosst  den  Sporen  in  das  Ross. 

—  Aus  dem  Weg,  ihr  schwangYen  Frauen, 
augenblicklich  aus  dem  Weg! 

dass  das  Kind  euch  unterm  Herzen 
nicht  darob  zu  Grunde  geh'.  — 
Angelangt  am  Fuss  des  Galgens, 
hört  er  schon  ihr  letztes  Ach, 
Mit  der  Schneide  seines  Schwertes 
ihren  Strick  er  rasch  zerhaut; 
küsset  sie  auf  jede  Wange: 

—  Rrüder,  gnädig  sei  euch  Gott ! 
Gott  befohlen ,  Stadt  Tolosa, 

wirst  wohl  denken  noch  an  mich!  — 

Und  er  gibt  die  Stadt  Tolosa 

Preis  dem  Feuer  und  dem  Schwert: 

von  dem  Blute  des  Herrn  Richters 

werden  ihre  Strassen  roth, 

in  dem  Blute  jener  Mädchen 

wird  man  Pferde  schwimmen  seh'n. 

—  Gott  befohlen ,  Stadt  Tolosa, 
hält'  ich  nimmer  dich  gekannt!  — 


7.   Der  Pilger1). 

—  Nach  Sanct  Jakob  will  ich  geh'n, 
nach  Sanct  Jakob  von  Galicien, 
mit  dem  Stabe  in  der  Hand, 
und  dem  Rosenkranz  im  Gürtel.  — 
Als  sie  schon  der  Stadt  genaht, 
ganz  in  ihrer  Nähe  waren, 


*)  „El  romero".  — 

A   S.  Jaume  vuy  anar. 
a  S.  Jaume  de  Galicia. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  133 

kamen  sie  zu  einer  Herberg, 
dient  darin  ein  junges  Mägdlein, 
dieses  sprach  zu  jenem  Pilger: 

—  Küsse  mich,  sei  doch  nur  höflich. 

—  Das  lehrt  nicht  des  Herrn  Gebot, 
noch  Sanct  Jakob  von  Galicien. — 
Nimmt  die  Magd  'nen  gold'nen  Becher, 
schiebt  ihn  in  des  Pilgers  Tasche, 
und  als  sie  zum  Mahl  sich  setzen, 
wird  vermisst  der  gold'ne  Becher. 

—  Ei  wo  ist  der  gold'ne  Becher, 
des  Herrn  Obeims  Trinkgeschirr? 

—  Den,  sagt  d'rauf  die  Magd  der  Herberg, 
hat  der  junge  Pilgersmann. 

—  Häng'  man  micb  noch  diesen  Tag, 
habe  ich  den  gold'nen  Becher.  — 
Und  nach  strengem  Richterspruch 
ward  gehängt  er  diesen  Tag  noch. 
Trotz  dem  unterliess  die  Fahrt 
nicht  sein  Vater,  noch  die  Mutter. 
Als  sie  aber  rückgekehrt, 

wollen  ihren  Sohn  sie  sehen. 
Und  die  Pilg'rinn  sagt  dem  Pilger, 
dass  den  Sohn  sie  sehen  wolle. 

—  Wohin  willst  du ,  närrisch  Weib, 
wohin  willst,  mein  Weib,  du  gehen? 
Siehst  du  ihn  auch  nur  von  fern, 
wirst  zu  weinen  du  beginnen.  — 
Und  als  sie  von  fern  ihn  sah, 
weint'  sie  schon  als  sollt"  sie  sterben. 
Hielt  Sanct  Jakob  ihn  am  Fuss, 

an  dem  Kopfe  Sanct  Maria, 
und  die  Engel  rings  um  ihn 
hatten  sich  ihm  beigesellet. 

—  Höret  Mutter,  meine  Mutter, 
eines  möchf  ich  euch  wohl  sa<ron : 
dass  ihr  geht  den  Richter  rufen, 
ruft  den  Richter  dieser  Stadt  an, 


134  Ferdinand  Wolf. 

werdet  finden  ihn  verspeisend 

einen  Hahn  und  eine  Henne; 

kommt  ihr  dann  vor  ihm  zu  steh'n, 

sprecht  zu  ihm  ganz  höflich  also: 

„Gott  beschütz'  euch,  mein  Herr  Richter, 

euch  sammt  eurer  ganzen  Sippe, 

geht  zu  lösen  meinen  Sohn, 

denn  zum  Leben  kam  er  wieder". 

—  Pack  hinweg  dich,  närrisch  Weib, 

sprich  mir  nicht  von  solchen  Possen! 

S  o  lebt  wieder  euer  Sohn 

wie  der  Hahn  und  diese  Henne. — 

Es  beginnt  der  Hahn  zu  kräh  n, 

aus  der  Schüssel  steigt  die  Henne. 

Ist  fürwahr  ein  Wunder  Gottes, 

seiner  demuthsvollen  Mutter. 

Lösten  da  den  Jüngling  ab, 

und  die  Magd  ward  aufgehänget, 

doch  bevor  ward  sie  gestäupt;  — 

hätte  mehr  noch  wohl  verdienet j). 


1)  Diese  Romanze  gehört  eigentlich  zu  den  legendenartigen.  —  Herr  Edelestand 
du  Meril  hat  (in  der  Anzeige  von  Mila"s  Werk,  im  Athenaeum  francais 
1855,  Nr.  22,  pag.  457)  von  dieser  Legende  ein  italienisches  Mirakelspiel  ange- 
führt, unter  dem  Titel :  „La  Rapresentatione  (Vuno  miracolo  di  Tre  Pelle- 
grini  che  andavano  a  S.  Jacopo  di  Galitia,  nuovamente  ristampata".  —  In 
Firenze,  Tauno  del  Nostro  Signore  MDLV  in  4.  6  Blatter.  —  Das  Wunder  wird 
folgendermassen  dargestellt: 

El  Podestä  risponde: 

Che  sia  il  vero,  mene  maraviglio, 

et  che  lui  viva  et  fia  tanto  giulivo, 

tanto  puö  esser  quanto  il  gallo  cotto, 

il   quäle  e  qui,  sucitasse  di  botto.  — 

II  gallo  resucita  etc.  .  .  . 
Dasselbe  Wunder  kommt  auch  in  einem  bretonischen  Volkslied  vor:  „Not re- 
Dame du  Folgoat"  (  Villemarque,  Barzas-Breiz.  4.  ed.  Paris  1846,  8. 
Tome  II,  pag.  81).  Dass  die  Quelle  dieser  Wundersage  wahrscheinlich  ein  apo- 
kryphes Evangelium  gewesen  sei ,  scheint  eine  Stelle  in  der  Chanson  de  geste 
von  Ogier  de  Danemarche  par  Raimbert  de  Paris  (Paris  1842,  8. 
Tome  II,  pag.  485,  Vers  11615  — 11627)  anzudeuten,  worin  in  einem  Gebete 
Ogier's  von  Herodes  gesagt  wird ,  dass  er  an  die  Geburt  eines  Königs  der  Juden 
nur  dann  habe  glauben  wollen,  wenn  der  Hahn  den  er  so  eben  verspeist  hatte, 
sich  wiederbefiedere  und  wiederbelebe  ;  was  denn  sogleich  geschah. 


Proben  portugiesischer  und  catalaniseher  Volksromanzen.  135 

8.  Die  Tochter  des  Mallorkaners  *)• 

Klein .   so  klein  hat  man  vermählet 
von  Mallorca's  Herrn  die  Tochter, 
noch  so  klein,  dass  sie  nicht  konnte 
selbst  sich  Schuh1  und  Kleid  anziehen. 
(Refr.  Wer  was  Liebes  hat,  verlässt  es, 
wer  es  nicht  hat,   will  es  haben.) 
Ihr  Gemahl  hat  sie  verlassen, 
dass  sie  grösser  werden  könne : 
in  den  Krieg  ist  er  gezogen, 
kehrt  vor  sieben  Jahr1!!  nicht  wieder. 
Sieben  Jahre  sind  verflossen, 
ihr  Gemahl  ist  heimgekehrt; 
pochen  schon  an  ihrem  Pförtlein : 

—  Arciseta,  komm1  zu  öffnen. — 
Es  erscheint  statt  ihr  die  Mutter 
an  dem  Fenster  ganz  verweint. 

—  Wie  soll  Arciseta  öffnen? 

Ist  ja  hier  nicht  mehr  zu  finden! 
Hat  entführt  der  Mauren-König 
sie  nach  seinem  Mauren-Schloss. 

—  Mutter,  holet  mir  den  Mantel, 
holt  den  Reise-Mantel  mir; 

denn  die  Welt  will  ich  durchziehen, 
mir  erbettelnd  Rrod  und  Wein. 
Gebt  mir  nicht  den  schönsten  Mantel, 
auch  den  seid'nen  gebt  mir  nicht; 
gebt  den  schlechtesten  von  allen 
die  zu  tragen  ich  gepflegt.  — 
Sah  sie  schon  an  jenem  Fenster, 
wie  mit  Nähen  sie  sich  müh't, 
ihre  Nadel  ist  von  Silber, 
feinem  Gold  der  Fingerhut. 


*)  „La  hijii  del  Mal  lorquin".  — 

Tant  petita  l'han  casada 
la  filln  del  mallorquf. 


136  Ferdinand  Wolf. 

—  Wollt  erbarmen  euch ,  Arcisa, 
nicht  des  armen  Pilgersmanns  ? 

—  Kommt  um  neun  des  Morgens  wieder, 
Morgen  um  die  neunte  Stund; 

dann  hab'  ich  nur  zu  gebieten 
über  Alles  was  hier  ist. — 
Das  vernimmt  der  Mauren-König 
der  im  Garten  sich  ergeht. 

—  Sei  barmherzig  doch,  Arcisa, 
mit  dem  armen  Pilgersmann; 

ihm  bereit1  den  Tisch  mit  Weisszeug 
und  mit  gutem  Brod  und  Wein. — 
Während  sie  den  Tisch  bereitet, 
sich  ein  Seufzer  ihr  entringt. 

—  Wesshalb  seufzet  ihr,  o  Herrinn! 
wem  wohl  dieser  Seufzer  galt? 

—  Guten  Grund  hab'  ich  zu  seufzen, 
da  ihr  wurdet  mein  Gemahl. 

—  Willst  du  folgen  mir,  Arcisa, 
willst  du,   Holde,  mit  mir  flieh'n? 

—  Ei,  Herr  Graf,  seid  des  versichert; 
wären  wir  schon  unterwegs! 

Ihr  begebt  euch  nach  dem  Stalle, 
holet  euch  das  beste  Ross; 
ich  will  in  die  Kammer  gehen, 
und  die  besten  Kleider  hoTn.  — 
Als  der  Maure  das  gewahr  wird, 
war  Arcisa  schon  entfloh'n. 

—  Wärst  hier  nie  hereingekommen, 
hätte  ich  dich  nur  erkannt !  — 
Schnell  begibt  er  sich  zum  Stalle, 
Sattelt  sich  das  beste  Ross. 

Doch  als  er  gelangt  zum  Wasser, 
bricht  die  Brücke  mitt*  entzwei. 

—  Ha!  nun  seh'  ich's  wohl,  o  Bettler, 
dass  sie  dir,  nicht  mir  bestimmt  war!  — 


Proben  portugiesischer  und  catalaniseher  Volksromanzen.  137 

9.  Der  Ritter  von  Malaga  *). 

Gott  befohlen  Malaga, 

Stadt  des  Reichthums  und  des  Glanzes! 

Wandelt  einst  in  ihr  ein  Ritter, 

wirbt  um  eine  edle  Dame; 

doch  ihr  Vater  sie  -verweigert 

dem  der  ihr  der  liebste  Werber. 
Einen  Thurm  liess  er  errichten, 
d'rin  sie  abgesperrt  zu  halten, 
hart  am  Meer,  auf  einem  Berge, 
an  der  See  jenseit'gem  Ufer. 
Tage  kamen,  Nächte  schwanden, 
späht  die  Dame  durch  das  Fenster: 
sieht  den  guten  Grafen  kommen, 
sieht  das  Licht  das  ihn  geleitet. 
Da  erhebt  ein  Sturm  sich  jählings, 
hat  das  Licht  ihm  ausgelöschet. 

—  Weh  mir  Armen,  weh  mir  Ärmsten! 
weh  ,  ertrunken  ist  der  Gute  !  — 
Während  sie  noch  also  wehklagt, 
klimmt  die  Stieg'  herauf  der  Liebste. 

—  Guter  Graf,  Herr  meines  Lebens, 
welcher  Leiden  seid  ihr  Ursach ! 

—  Ach,  die  meinen  sind  noch  grösser; 
denn  schon  weilt'  ich  in  der  Hölle, 

um  dich,  Liebste,  seh'n  zu  können, 
gab  ich  hin  mich  den  Dämonen!  — 
Hand  an  Hand  sich  fest  erfassend, 
gaben  Preis  sie  sich  der  Salzfluth. 


*)  «El  caballero  de  Ma'laga.« 

lAy  i?  Deu,  ciutat  de  Ma'laga, 
ciutat  rica  y  abundatita  ! 


138  Ferdinand  Wolf. 

Mütter,  die  ihr  Töchter  habet, 
gebt  sie  denen  die  sie  lieben, 
und  nicht  also  macht  sie  leiden 
in  dem  Leben  dies-  und  jenseits »). 

10.   Die  Gefangenen  von  terida  3). 

Im  Gefängniss  Lerida's 

die  dort  Gefangenen  all*, 
hundertfunfzig  an  der  Zahl, 

sie  sangen  all'  ein  Lied. 
Eine  Dam'  hört  ihnen  zu, 

im  Rücken  jener  Thür\ 
Die  Gefangnen  hatten's  doch 

bemerkt,    und  hielten  inn'. 

—  Ihr  Gefangne,  wessbalb  wollt 
ihr  weiter  singen  nicht? 

—  Wie,  Senora,  singen  soll'n 
wir  in  so  schwerer  Haft, 

ohne  Speis  und  ohne  Trank , 
als  einmal  nur  des  Tags? 

Möchten  sie    das  einemal 
uns   geben    nur  genug! 

—  Singt,  Gefangene,  o  singt! 
ich  bring'  es  euch  gewiss.  — 

Zu  dem  Vater  sie  nun  geht, 
verlangt    ner  Bitf  Gewähr. 

—  Meine  Tochter  Margareth, 
was  willst  von  mir  gewährt? 

—  Vater,  lieber  Vater  mein, 
des  Kerkers  Schlüssel   gebt. 


i)  Offenbar  verwandt  mit  unserem  Volksliede:    Von    zwei  Königskindern ,    und 
wie     dieses    wurzelnd     in    der    Sage    von    Hero    und    Leander.    —    Vgl.  J.    V.    W. 
Schmidt,    Taschenbuch    deutscher    Romanzen    (Berlin    1827),      S.    269     ff.;    ■ 
Oskar  Schade,  Volkslieder  aus  Thüringen,  im  III.  Bd.   des  Weimar.  Jahrb.  Nr.  1. 
„Nach  Liebe  Leid". 

2)   „Los  p  res  os  de  Lerida." — 

Ä  la  preso  de  Lleyda  —  tots  los  presos  hi  son. 


Proben  portugiesischer  und  catalaniecher  Volksromanzen. 

—  Meine  Tochter  Margareth, 
die  kann  ich  nicht  gewähr'n. 

Morgen  ist  das  End'   der  Woch', 
da  soll'n  sie    hangen  all1. 

—  Vater,  lieber  Vater  mein, 
den  Liebsten  mir  nicht  hängt! 

—Meine  Tochter  Margareth, 

dein  Liebster,  welcher  ist's? 
—Vater,  liebster  Vater  mein, 

der  grösst1  und   schmuckste  ist's. 
—Meine  Tochter  Margareth  , 

der    muss  der  erste  dran. 
—Vater,  lieber  Vater  mein, 

da  hängt  mich  gleich  dazu! 

—  Meine  Tochter  Margareth, 

das  lass  ich  wahrlich  sein !  — 
Silbern  ist  das   Dreigerüst, 

die  Stricke  sind  von    Gold, 
jede  Spitz'  des   Galgens  ziert 

ein  duft'ger  Blumenstrauss. 
Jeder  der    vorüberkommt, 

verspürt  den  Wohlgeruch; 
sagt  'nen  Vater -Unser  dann 

fürs  armen  Liebsten  Heil  1)- 

11.  Don  Juan  und  Dona  Maria  2). 

Der  Dona  Maria  Mutter 
und  die  Mutter  des  Don  Juan 
schliefen  beid'  in  einer  Wiege, 
eine  Amme  nährte  beid1; 


139 


4)  Ähnlichen  Stoff  behandelt  die  französische  „C  h  a  n  s  o  n"  die  M  armier  (und 
nach  ihn)  auch  Hr.  M  i  1  a' ,  nag.  46)  aus  der  Franche-Comte  in  seinen  „Chansons 
du  Nord"  raitgetheilt  hat,  sie  fangt  an: 

Qui  veut  oui'r   une  chanson,  c'est   la  (ille  d"un  geolier 

une  chanson  nouvelle,  qui   est  amoureuse  d'un  prisonnier. 

2)   „Don  Juan    y  Dona  Mar  { a."  — 

La  mare  de  D.  Juan 
tambe  de  Dona  Maria. 


1  40  Ferdinand  Wolf. 

wuchsen  auf  zusamm  die  beiden, 
von  der  Lieb'  zugleich  besiegt  *). 
Don  Juan  ist  fortgezogen 
in's  castilische  Gebiet. 

—  Mutter  ach  !  du  meine  Mutter , 
kehrt  Don  Juan  wohl  bald  zurück? 

—  Tochter  ach!  du  meine  Tochter, 
was  willst  du,  dass  ich  dir  sag1? 
Will  dir  einen  Rath  wohl  geben, 
einen  Rath  von  mir  vernimm: 
mögest  auf  das  Feld  wohl  gehen, 
um  zu  säen  Salz  und  Mehl ; 

wann  du  Salz  und  Mehl  siehst  wachsen, 
kehret  wieder  heim  Don  Juan. 

—  Mutter,  das  soll  mir  wohl  sagen, 
dass  ich  ihn  nie  wieder  seh*! 
Reicht  den  Wanderstab  mir  Vater, 
Mutter,  gebt  ein  Pilgerkleid; 
denn  die  weite  Welt  durchziehen 
will  ich  in  dem  Pilgerkleid.  — 

Ist  gewandert  hundert  Meilen 
fand  kein  Dorf,  fand  keine  Stadt. 
Endlich  kam  sie  zu  'nem  Brunnen, 
gar  lebend'gen  Wassers  Born. 
Sah  da  sieben  Wäscherinnen , 
wuschen  an  des  Königs  Hemd. 

—  Gott  beschütz'  euch  Wäscherinnen. 

—  Seid  willkommen,  Pilgerinn. 
Ei,  für  wahr,  sie  gleicht  ja  völlig 
dem  Gemälde  von  Marie  , 

der  Marie  die  Don  Juan's  ist, 
Tag  und  Nacht  er  nach  ihr  seufzt, 


1)  Hr.  Mil  a  selbst  bemerkt ,  dass  der  Eingang  dieser  Romanze  dunkel  oder  unvollständig 
sei;  denn  so  wie  er  vorliegt,  kann  er  doch  nur  die  Bedeutung  haben,  dass  die 
beiden  Mütter  von  Jugend  auf  als  innige  Freundinnen  zusammenlebten  ,  wahrend 
das  Nachfolgende  keinen  Bezug  mehr  daraufnimmt. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  141 

deren  Bild  in  seinem  Zimmer, 
deren  Zug  in's  Herz  er  grub. 

—  Wahrlich  nicht,  ihr  Wäscherinnen, 
nie  ward  ich  Marie  genannt, 

meine  Mutter  nannf  mich  Thekla, 

als  ich  noch  ganz  klein  und  jung  war, 

armer  Leute  Kind  hin  ich  nur, 

fristeten  das  Leben  kaum; 

in  die  weite  Welt  fort  zog  ich, 

um  zu  suchen  Arbeit  mir. 

—  Welche  Arbeit  könnt  verrichten 
ihr  wohl,  schöne  Pilgerinn? 

—  Kann  mit  Gold  und  Silber  sticken, 
wenn  ich  Gold  und  Silber  hab', 
kann  zuschneiden  auch  und  nähen 
gutes,  feines  Linnenzeug. 

—  Dort  in  dem  Palast  des  Königs 
findet  Arbeit  sich  genug. 

—  Gott  beschütz'  euch,  Kön'ginn- Mutter. 

—  Seid  willkommen,   Pilgerinn. 
Ei,  für  wahr,  sie  gleicht  ja  völlig 
dem  Gemälde  von  Marie, 

der  Marie  die  Don  Juan's  ist, 
Tag  und  Nacht  er  nach  ihr  seufzt , 
deren  Bild  in  seinem  Zimmer . 
deren  Zug'  in's  Herz  er  grub. 

—  Wahrlich  nicht ,  o  Kön'ginn  -  Mutter , 
nie  ward  ich  Marie  genannt, 

meine  Mutter  nannt'  mich  Thekla, 

als  ich  noch  ganz  klein  und  jung  war, 

armer  Leute  Kind  bin  ich  nur, 

fristeten  das  Leben  kaum; 

in  die  weite  Welt  fort  zog  ich , 

um  zu  suchen  Arbeit  mir. 

—  Welche  Arbeit  könnt  verrichten 
ihr  wohl,  schöne  Pilgerinn? 

—  Kann  mit  Gold  und  Silber  sticken , 
wenn  ich  Gold  und  Silber  hab', 


142  Ferdinand   Wolf. 

kann  zuschneiden  auch  und  nähen 

gutes  ,  feines  Linnenzeug.  — 

Tragen  nun  ihr  auf  zu  sticken , 

Arheit  für  ein  Jahr  und  Tag; 

und  das  erste  was  sie  stickte, 

war  ein  Hemd  für  Don  Juan. 

Stickt'  Don  Juan  auf  die  Manschetten  , 

auf  die  Kehrseite  Marie , 

auf  den  unteren  Rand  der  Schösse 

mahlte  sie  den  Morgenstern. 

Als  Don  Juan  nun  heimgekommen , 

fällt  ihm  auf  das  weisse  Hemd. 

—  Sprecht,   o  schöne  Kön'ginn,  wer  hat, 
wer  gesticket  dieses  Hemd  ? 

—  Ich,  Don  Juan,  hab  es  mit  diesen 
schönen  Händen  selbst  gestickt. 

—  Ei  das  lügt  ihr  ,  schöne  Kön'ginn, 
hättet  nimmer  das  erdacht. 

Dieses  Hemd  hier  hat  gesticket 

eine  schöne  Pilgerinn. — 

Und  das  Pferd  er  schnell  sich  sattelt, 

sie  zu  treffen  will  er  seh'n. 

Und  er  fand  sie,  eingeschlafen, 

auf  das  Pferd  er  rasch  sie  hebt. 

—  Gott  zum  Grusse,  schöne  Kön'ginn, 
hier  hast  du  die  Pilgerinn, 

wirst  sie  fürder  so  ansehen 

als  wenn  sie  dir  Tochter  war'.  — 

12.  Don  Juan  und  Don  Ramon  1). 

Don  Ramon  und  Don  Juan 
kehren  heim  von  einein  Jagdritt, 
hoch  zu  Rosse  Don  Juan , 
Don  Ramon  vom  Pferde  stürzet. 


*)  „Don  Juan  y   Don  Ramon."  — 

Don  Juan  y  Don  Ramon 
venian   de     ia    eassada. 


Proben  portugiesischer  ui'd  catalanisclier  Volksromanzen.  1  4-«J 

Sie  die  Mutter  kommen  sieht 
über  einen  grünen  Acker, 
sammelnd  Malven,  Veilchen  auch, 
um  zu  heilen  ihre  Wunden. 

—  Was  fehlt  dir,  mein  Sohn  Ramon  ? 
Deine  Farbe  ist  erblichen ! 

—  Mutier,  Hess  zur  Ader  mir; 

doch  der  Aderlass  schlug  schlimm  an. 

—  0  verflucht  sei  der  Barbier 
der  solch'  Aderlass  dir  machte! 

—  Sprecht,  o  Mutter,  keinen  Fluch ; 
denn  es  naht  mein  letztes  Stündlein. 
Tragen  ich  wohl  und  mein  Pferd 
neun  und  zwanzig  Lanzenstiche : 
trafen  neun  davon  das  Pferd, 

mich  die  andVen  all'  die  fehlen. 

Heute  Nacht  noch  stirbt  das  Pferd, 

Morgen  ich  in  aller  Frühe. 

Wollt  beerdigen  das  Pferd 

in  des  Stalles  bestem  Platze, 

und  beerdiget  dann  mich 

in  der  Kirch'  von  St.  Eulalia; 

leget  auch  mir  auf  das  Grab 

einen  Degen  quer  darüber. 

Fragen  sie,  wer  mich  erschlug: 

's  war  Don  Juan,  mein  Jagdgefährte.  — 

13.  Die  Macht  des  Gesanges1). 

Don  Francisco  sass  gefangen, 
in  dem  Kerker  eingesperrt; 
ach!  wie  trauert  seine  Mutter, 
da  sie  hört,  dass  er  in  Haft. 


Diese  Romanze  stammt  von    Mallorea ;    schon  D.  J.   M.  Qu  adr  ad  o  hatte  in  den: 
Recuerdosy    bellezas    de    Espafia;    Mallorca,    pag.  330   und  336  sie 

nebst  einer  eastilischen  Übersetzung  mitgetheilt. 
*■)  „El  poder  del  canto." 

S'en  estaba  Don  Francisco 
tancat  dius  de  la  pres<5. 


144  Ferdinand  Wolf. 

Kaufet  ihm  eine  Guitarre 

die  zu  seinem  Sang  er  stimm1. 

—  Hast  du  sie  dann  wohl  gestimmet, 
singe  auch  ein  Lied  dazu. 

—  Welches  Lied  soll  ich  nur  singen, 
sagt,  was  sing'  ich  für  ein  Lied? 

—  Das  dein  Vater  einst  gesungen 
in  der  Nacht  vor  Himmelfahrt.  — 
D'rob  die  Vögel  in  den  Lüften 
halten  ein  in  ihrem  Flug, 

und  die  Kinder  in  der  Wiege 
lullet  sein  Gesang  in  Schlaf  J)> 
und  der  Kön'ginn  Pagen  alle 
rühren  sich  nicht  von  der  Stell1; 
ihn  vernommen  hat  die  Kön'ginn 
von  dem  höchsten  Söller  dort, 
fragt  sogleich  die  Pagen  alle: 

—  Wer  ist  jener  Sänger  wohl? 

—  Don  Francisco  ist  der  Sänger 
der  in  dem  Gefängniss  sitzt.  — 
Ohne  Zaudern  ruft  die  Kön'ginn: 

—  Den  wünscht'  ich  mir  wohl  zum  Sohn ! 
Ohne  Zaudern  die  Infantum  : 

—  Will  ihn,  Mutter,  zum  Gemahl!  — 
Ohne  Zaudern  geh'n  die  Pagen 

ihn  zu  holen  aus  der  Haft. 

Doch  er  gab  darauf  zur  Antwort: 

nie  geh'  er  von  hier,  o  nie! 

denn  es  geh'  kein  schmuckres  Leben, 

als  zu  sein  in  solcher  Haft2). 


i)  Über  solche   Wirkung  des  Gesanges,    vgl.  Holland,  zur  Gudrun,  in  Pfeif fer's 
„Germania",  Jahrg.  I.  1836.  Hft.  1.  S.  124. 

2)     Que    no  hi  ha  nies  galan  vida 
qu'estar  taneat  en  presö. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromänzen.  1  4r5 

14.  Dou  ftiiillcriiio's  Heimkehr  1). 

Einen  Ruf  erliess  der  König, 

rufen  durch  das  ganze  Land : 

Dass  die  Rittersleute  alle 

möchten  auszieh' n  in  den  Krieg; 

und  auch  so  der  Don  Gnillermo, 

der  auch  solle  mit  auszieh'n, 

der  gewann  so  gutes  Frauchen; 

lassen  ihn  nicht  des  sich  freu'n. 

Er  empfahl  sie  seiner  Mutter, 

die  wird  sie  behüten  wohl, 

sie  nicht  Arbeit  machen  lassen, 

die  sie  nicht  verrichten  könnt'. 

Leichte  Arbeit  sie  nur  machte, 

wie  das  Plätten,  Sticken,  Näh'n; 

sollte  sie  's  nicht  freu'n  zu  sticken, 

nehme  sie  den  Strumpf  zur  Hand; 

wenn  auch  Stricken  sie  nicht  freue, 

lasse  man  sie  gar  nichts  thun. 

Doch  des  andern  Tags,  schon  Morgens 

macht  man  sie  zur  Schweinemagd. 

—  Schweinemägdlein,  Schweinemägdlein, 
Zeit  ist's,  mach  dich  auf  den  Weg, 

lege  ab  den  Rock  von  Seide, 
den  von  FlockwolP  ziehe  an. 
Bringst  mir  sieben  Spindeln  Garnes 
und  ein  Bündel  Holz  dazu. 

—  Schwiegermutter ,  Schwiegermutter , 
wohin  soll'  ich  geh'n  an's  Werk  ? 

—  In  den  Eichwald  Don  Guillermo's , 
seinen  schönen  Eichenwald. — 

Als  sie  einst,  ganz  einsam,  singet, 
sieht  drei  Ritter  sie  sich  nah'n. 


*)  „Lavuelta  de  l).   Guillermo." 

El  rey  n'ha  fet  fe*una  erida . 
unas  eridas  n'ha  fet  fe\ 

Sitzb.  d.  |>hil.-hist.  Gl.  XX.  ßd.  I.  Mit.  10 


]  46  Ferdinand  Wolf. 

Siigt  Guillermo  zu  den  and'ren: 
Dünkt  mich,  meine  Frau  zu  seh'n. 

—  Gott  beschütze  dich,  o  Hirtini) ! 

—  Ritter,  Gott  sei  auch  mit  euch! 

—  Schweinehirtinn ,  Schweinehirtinn , 
heimzukehren  ist  es  Zeit! 

—  Muss  drei  Spindeln  voll  noch  machen 
und  ein  Bündel  Holz  dazu.  — 

Mit  der  Schneide  seines  Schwertes 
macht  er  ihr  ein  Bündel  Holz , 
solch  Geräusch  er  dabei  machte  , 
dass  entlief  ein  junges  Schwein. 

—  SageHirtinn,  sage  Hirtinn, 
wo  find'  ich  hier  Herberg  wohl? 

—  In  des  Schwiegervaters  Haus  geht, 
gut  zu  leben  dort  man  pflegt, 

mit  Kapaunen  und  mit  Hennen 
und  'nein  fetten  Hühnchen  auch. 

—  Geh'n  wir,  geh'n  wir  denn,  o  Hirtinn! 
heimzukehren  ist  es  Zeit. 

—  Gehe  nicht  ins  Haus  zum  Schlafen  , 
werd'  mich  davor  hüten  wohl. 

—  Dennoch  wirst  du  hingeh'n,  Hirtinn, 
nehme  dich  in  meinen  Schutz. 
Sprich  ,  o  Hirtinn ,  sprich ,  o  Hirtinn  , 
was  gibt  man  dir  dort  zum  Mahl  ? 

—  Einen  Laib  vom  Gerstenbrode, 
hätt1  ich  des  nur  auch  genug! 

—  He,  Frau  Wirthinn ,  he,  Frau  Wirthinn 
wer  speist  wohl  mit  mir  zu  Nacht? 

—  Unser  Mägdlein  mag  das  thuen; 
meiner  Tochter  ich's  verwehr'. 

—  Sieben  Jahr  ass  ich  am  Tisch  nicht, 
nicht  am  Tisch,  am  Tischlein  nicht; 
sondern  stets  nur  unter'm  Tische , 

als  wenn  ich  ein  Jagdhund  war'. 

—  Sagt,  Frau  Wirthinn,  sagt  Frau  Wirthinn, 
wer  dem  Ritter  leuchten  wird? 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromaqzen.  14-7 

—  Unser  Mägdlein  mag  das  thuen; 
meiner  Tochter  icb'a  verwehr'. 

—  Sprecht,  Frau  Wirthinn,  sprecht,  Frau  Wirfhinn, 
wer  wird  wohl  mein  Bettgenoss? 

—  Unser  Mägdlein  mag  das  werden; 
meiner  Tochter  ich's  verwehr'. 

—  Ehe  ich  dahin  ihm  folge, 
stürz1  ich  mich  zum  Fenster  'naus. 
Sieben  Jahr'  schlief  ich  im  Bett  nicht, 
nicht  im  Bett,  im  Bettlein  nicht; 
sondern  auf  dem  Band  des  Herdes, 
als  war'  ich  'ne  Aschenkatz. — 

An  des  Schlafgemaches  Schwelle 
einen  Bing  er  ihr  da  gab. 
Und  sie  schliessen  zu  die  Thüre, 
und  begeben  sich  zu  Bett. 
Andren  Tags,  in  aller  Frühe 
schon  die  Schwiegermutter  rief: 

—  Auf,  steh'  auf,  du  Schweinemägdlein, 
grunzen  ja  die  Schwein'  schon  sehr! 
Bringst  mir  sieben  Spindeln  Garnes 

und  ein  Bündel  Holz  dazu. 

—  Schickt  darnach  nur  eure  Tochter; 
meinem  Weib1  ich  das  verwehr1. 
Wäret  ihr  nicht  meine  Mutter  , 
traun,   ich  euch  verbrennen  Hess1, 
und  die  Asche  die  ihr  gäbet, 

sollt'  ein  böser  Wind  verweh' n  *)• 


*)  Damit  hat  das  bretonische  Volkslied  :  „L'epouse  du  C  r  o  i  s  e  "  (V  i  1 1  e  m  a  r  q  u  e, 
1.  c.  Tome  I,  pag.  240)  im  Wesentlichen  und  in  einzelnen  Zügen  so  viele 
Ähnlichkeit,  dass  man  wohl  auf  eine  gemeinsame  Quelle,  wahrscheinlich  eine 
altfranzösische,  schliessen  könnte,  um  so  mehr  als  die  catalanischc  Version  das 
normale  auslautende  a  in  e  abgeschwächt  hat  wie  statt :  anar,  deixar,  mit  ja,  etc. 
and,  deixe,  mitje ,   etc.,  und  zwar  gerade  in  den  Assonanzen. 


10 


148 


F  e  r  d  i  n  a  n  d  W  o  I  f. 

h)  Legendenartige. 
15.  Die  heilige  Magdalena  *). 

Magdalena  kämmt  die  Haare 
sich  mit  einem  gold'nen  Kamm : 
während  sie  sich  also  kämmet 
tritt  zu  ihr  die  Schwester  Martha. 

—  Sagemir  doch,  Magdalena, 
warst  du  heut  schon  in  der  Messe  ? 

—  Schwester,  nein,  noch  war  ich  nicht, 
hab'  gedacht  daran  nicht  einmal. 

—  Gehe  hin,  geh,  Magdalena, 
wirst  dich  wahrlich  dort  verlieben; 
predigt  dort  ein  junger  Mann  , 
Schade,  dass  er  Frater  wurde!  — 
Magdalena  eilt  hinauf 

um  den  schönsten  Schmuck  zu  nehmen, 
nimmt  da  ihre  gold'nen  Ringe, 
Ohrgehänge  und  Braceletten, 
nimmt  den  Schmuck  von  feinem  Gold 
der  zur  Busenzierde  dient, 
auch  den  goldgestickten  Mantel 
dessen  Schlepp  den  Boden  fegt. 
An  dem  Eingange  der  Kirche 
lässt  sie  ihre  Magd'  und  Diener. 
Dass  sie  besser  hör1  die  Predigt, 
setzt  sie  sich  ganz  nah'  der  Kanzel. 
Schon  der  Predigt  erste  Worte 
trafen  Magdalena's  Herz; 
als  die  Red'  die  Mitt*  erreicht, 
stürzt  ohnmächtig  sie  zusammen. 
Dann  legt  sie  von  sich  die  Ringe, 
die  Gehänge,  die  Braceletten, 


i)   „Santa  Magdalena".— 

Magdalena  's  pentinaba 

ab  una  pinta    dauvada. 


Proben  portugiesischer  und  catalaniseher  Volksromanzen.  14«' 

und  den  Schmuck  von  feinem  Gold 
legi  sie  hin  sich  vor  die  Füsse. 
Als  die  Predigt  nun  geendet, 
kehrt  zurück  auch  Magdalena. 
Ad  dem  Ausgange  der  Kirche 
fand  sie  einen  Büsser  steh'n. 

—  Kannst  du,  Büsser,  mir  wohl  sagen, 
wo  der  gute  Frater  weilt? 

—  Jesus  sitzet  nun  hei  Tische, 
dort  hält  jetzt  er  seine  Mahlzeit. — 
Dorthin  geht  auch  Magdalena, 
setzt  sich  zu  des  Tisches  Füssen. 
Mit  den  Thränen  ihrer  Augen 
netzet  sie  die  Füsse  Christi, 

mit  den  Flechten  ihrer  Haare 
trocknet  sie  die  Füsse  Christi. 
Und  die  Knochen  die  er  wegwirft, 
sammelt  sie  vom  Boden  auf. 
Da  wird  Jesus  des  gewahr 
und  er  fragt  sie  alsogleich : 

—  Was  suchst  du  hier,  Magdalena, 
was  führt  dich  nun  her  zu  mir? 

—  Dich  ,  o  Jesus ,  suche  ich  hier, 
ob  du  willst  mich  Beichte  hören. 

—  Was  hast  du  mir  wohl  zu  beichten, 
was  zu  beichten  hast  du  mir? 

—  Was  ich  dir  zu  beichten  habe, 

"s  ist  mein  früh'res  sünd'ges  Leben. 

—  Gebe  dir  es  abzubiissen 
sieben  Jahr'  in  Waldes-Wildniss, 
nährend  dich  von  Gras  und  Fenchel, 
nährend  dich  von  bitfren  Kräutern. — 

Nach  der  sieben  Jahre  Ablauf 
kehrt  zurücke  Magdalena. 
Auf  des  Weges  Mitt'  gekommen 
fand  sie  eine  klare  Quelle, 
mit  dem  Wasser  dieser  Quelle 
wäscht  sie  ihre  Hände  rein. 


150  Ferdinand   Wolf. 

—  Hände,  wer  euch  sah,  und  jetzt  sieht, 
wie  habt  ihr  euch  arg  verändert!  — 

Da  hört  eine  Stimm1  sie  sagen: 
„Magdalena,  du  bist  sündig!" 

—  Engel  mein,  hab'  ich  gesündigt, 
sei  mir  neue  Buss'  gegeben. 

—  Kehre,  kehre,  Magdalena, 
sieben  Jahr'  in  Waldes-Wildniss. — 

Nach  Verlauf  der  vierzehn  Jahre 
hat  geendet  Magdalena; 
unter  lautem  Sang  der  Engel 
wird  sie  himmelwärts  gehoben; 
Engel  leuchten  ihrer  Leiche 
und  Maria  hüllt  sie  ein. 

16.  Der  König  Herodes  i). 

Gottes  heil'ge  Mutter  schnitt  einst  zu  und  nähte, 
machte  selbst  die  Hemdchen  für  Maria's  Söhnchen. 
Während  sie  sie  zuschnitt,  während  sie  sie  nähte, 
unter  ihrer  Kammer  grossen  Lärm  sie  hörte. 
Und  sie  fragt  die  Nachbarinnen: 

—  Nachbarinnen,  was  soll  das? 

—  Herrinn,  's  ist  der  Fürst  Herodes 
der  umzingelt  hält  die  Stadt; 

alle  Kinder  die  er  findet, 
will  er  tödten  lassen  all*» 

—  Nie  soll  meinen  Sohn  er  finden 
gut  verborgen  ich  ihn  halt1. 

—  Gehen  wir,  Joseph,  o  Iass  uns,  mein  Gemahl, 
nach  Ägypten  flieh'n,  hier  haben  wir  nicht  Rast! 
Lassen  wir  dies  Haus  und  was  uns  hier  genährt. 
Dass  Herodes  komm1,  hab  sagen  ich  gehört. — 


l)   „El  rey  Herodes."  — ■ 

La  mare  de  Deu  —  tallaba  y  cusia. 
In   dieser  Romanze    variirt   Rhythmus    und    Assonanz,    und    nach    dem    strophischen 
Parallelismus  zu  sehliessen ,    könnte    ihr    eine    Sequenz    zu    Grunde    liegen.  —  Ich 
habe   mich   bemüht  sie  so   gut   als  möglich   nachzubilden,   und   die    schwierige  Form 
möge   die  Härte   und  Ungefügigkeit  des   Ausdrucks  entschuldigen. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen. 

Als  sie  auf  des  Weges  Mitte, 
trafen  sie  auf  einen  Mann. 

—  Was  tragt  ihr  hier  wohl,  Maria, 
was  verhüllt  ihr  also  tragt? 

—  Trage  hier  ein  Päckchen  Weizen, 
Weizen  von  der  besten  Art. 

—  Wollt  ihr  mir  ihn  wohl  verkaufen, 
oder  geben  nur  als  Pfand? 

—  Will  ihn  weder  euch  verkaufen, 
noch  verpfänden  ich  ihn  kann; 
denn  durch  dieses  Päckchen  Weizen 
wird  erlöst  das  Welten-All. — 

Auf  der  Eselinn  sie  reitend  weiter  ziehn, 
folgend  dem  Geleis  auf  einer  Heerstrass  hin, 
Engel  hatten  sie,  die  Vöglein  auch  umschwebt, 
dass  das  gute  Kind  Jesus  nicht  werd'  entdeckt. 
So  ziehn  sie  des  Wegs,  gar  sehr  von  Angst  gequält, 
trafen  einen  Mann  der  Weizen  ausgesät. 

—  Mann,  ihr  guter  Mann,  ihr  guter  Sämann  sprecht, 
habt  ihr  eine  Garb1  in  der  ich  mich  verberg1? 

Guter  Sämann ,  guter  Sämann, 
von  der  guten  Weizen-Saat, 
wollt  'ne  Garbe  ihr  mir  geben, 
dass  ich  mich  dVinn  bergen  kann? 

—  Wie  wollt  ihr  'ne  Garbe  haben, 
da  zu  sä'n  ich  kaum  begann? 

—  Geht  die  Sichel  nur  zu  holen, 
reif  zum  Schnitte  steht  es  dann. — 
Als  der  Sämann  wiederkehret, 
kornvoll',  trockne  Halm'  er  fand. 

In  der  nächst  gemachten  Garbe 

sich  die  Jungfrau  da  verbarg. 
Kaum  verging  "ne  Stund,  als  angezogen  kam 
eine  Häscher-Schar,  sie  suchend  überall, 
sprechen  zu  dem  Mann  der  dem  Schnitt  ging  nach : 

—  Mann,  ihr  guter  Mann  ,  ihr  guter  Schnitter,  sprecht, 
saht  ihr  wohl  ein  Weib  das  den  Erlöser  trägt? 


151 


1  52  Ferdinand  Wolf. 

Antwort  gibt  er  d'rauf: —  Hier  ein's  vorbei  wohl  zog, 
während  ich  da  weilt'  beim  Schnitte  dieses  Korns. — 
Einer  zu  der  Schar  da  sagt:  —  Die  sind  es  nicht; 
kehren  wir  nach  Haus  mit  allen  die  hier  sind. 
Nahmen  einen  Weg  der  uns  nichts  eingebracht, 
hatten  viele  Müh';  doch  keinen  Fund  gemacht  *). 

17.   Der  heilige  Ranion  von  Pefiafort 2). 

Einen  Rosenbaum  pflanzt1  die  Mutter  Gottes; 
aus  dem  grossen  Baum  spross  hervor  ein  Sehössling, 
spross  hervor  Ramon,  Sohn  von  Villafranca3). 
Kön'ge  beichten  ihm,  Könige  und  Päpste. 
Hört  'nen  König  Beicht,  der  in  Sund1  versunken, 
gross  ist  dessen  Sund1,  sich  Ramon  entsetzet. 
—  Weinet  nicht,  Ramon,  Sünde  ist  'mal  Sünde; 
gebt  ihr  Ablass  nicht,  so  verderbt  ihr  Spanien. — 
Geht  zur  Bucht  Ramon  sich  ein  Schiff  zu  miethen, 
er  zum  Schiffer  spricht:  —  Wollet  ihr  mich  führen?  - 
Doch  der  Schiffer  sagt,  dass  verbot  der  König 
ihm,  zu  leih'n  sein  Schiff  Mönchen  und  Caplänen. 
den  Scholaren  nicht  mit  den  langen  Kutten. 


!)  Herr  Mihi  bemerkt  hiezu :  „Manche  Versionen  geben  als  Fortsetzung'  oder  viel- 
leicht als  Ergänzung-  dieser  Romanze  die  merkwürdige  Sage:  dass  das  Repphuhn 
und  die  Münze  (menta)  den  Versteck  der  Maria  verriethen,  wesshalb  das  erstere 
dazu  verdammt  wurde,  dass  sein  Kopf  nicht  essbar  sei,  und  die  zweite ,  dass  sie 
keine  Körner  trage : 

Calla,  calla  la  perdiu,   —   malehit  sera"l  teu  cap.  .  . 
Calla,  la  menta  xarraira  —   que  n'etsmenta  y  mentiras, 
y  que  mentre'n  siguis  menta  —  floriras  y  no  granaras." 

2)  „San  Raimundo  de  Pefiafort".  — 

La  Mare  de  Deu  —  un  roser  plantaba. 
In  den  Recuerdos  y  Bellezas  de  Espatta,  Abtheilung:  Mallorca,  wird  pag.  335, 
eine  von  dieser  etwas  abweichende  Version  gegeben.  Eine  castilische  findet 
sich  bei  Duran,  Rom.  gen.  Nr.  1225,  von  Gabriel  Laso  de  la  Vega.  Die 
Legende  von  diesem  Heiligen  und  dem  Könige  von  Aragon,  Jaime  el  conquistador, 
bildet  ein  Gegenstück  zu  der  von  Johann  von  Nepomuk  und  dem  König  Wenzel 
von  Böhmen.  Ramon  wurde  1456  selig  gesprochen;  und  bei  der  Feier  seiner 
Seligsprechung  im  J.  1601  sind  wohl  alle  diese  Romanzen  entstanden.  Die  oben 
gegebene  catalanische  ist  zugleich  eines  der  beliebtesten  Wiegenlieder. 

3)  Das  Geschlecht  der  Herren  von  Penyafort  war  jedesfalls  in  Villafranca  ansässig, 
indem  dort  eine  Strasse  den  Namen  derselben  führt. 


Proben  portugiesischer  und  eatalanischer  Volksromanzen.  j  53 

Wirkt  da  Sanct  Ramon,  gottbegnadigt,  Wunder: 

wirft  sein  Kleid  aufs  Meer,  ihm  als  Schiff  zu  dienen, 

und  den  Hirtenstab  pflanzt  er  auf  als  Mastbaum, 

und  das  Scapulier  schwellet  er  zum  Segel, 

macht  die  heil'ge  Schnur  zur  sehr  heil'gen  Flagge. 

Sieht's  der  Monjuich,  meldet  an  ein  Schiffchen, 

und  die  Seeieut  all'  eilen  auf  die  Mauern: 

—  Jesus!  was  ist  das?  Bark'  oder  Galeere? 

Keine  Barke  ist's,  keine  Kriegsgaleere; 

es  ist  Sanct  Ramon ,  der  gewirkt  ein  Wunder. 

Im  Kathrina-Dom  läuten  sie  die  Glocken. 


c)   Historische. 

18.  Die  Dame  von  Aragon  *). 

Ist  'ne  Dam'  in  Aragonien, 

ist  wie  eine  Sonne  schön, 

und  goldgelbes  Haupthaar  hat  sie 

das  ihr  an  die  Fersen  reicht. 

(Refr.  Ach!  wie  lieb  Agna  Maria! 

eine  Herzens-Räuberinn !) 
Kämmte  sie  da  ihre  Mutter 
mit  'nem  kleinen  Kamm  von  Gold, 
jedes  Haar  ist  eine  Perle, 
jede  Perl'  ein  gold'ner  Ring, 
jeder  Gold-Ring  ist  ein  Gürtel, 
ihr  den  ganzen  Leib  umschlingt. 
Ihre  Schwester  flicht  zu  Zöpfen 
diese  Haare  zwei  zu  zwei, 
ihre  Pathinn  salbt  sie  ein  ihr 
mit  'nem  Öl  neunfachen  Dufts, 
ihre  Schwäg'rinn  sie  ihr  bindet 
mit  'nein  Band,  neunfarbig  ist's, 


1  I   ,.La  dama  de  Aragon". 

A  Arag6  n'hi  ha  una  dama 
qu'es  bonica  cum  im  sol. 


\  54  Ferdinand  Wolf. 

und  ihr  Bruder  sie  betrachtet 

mit  so  siegesreichem  Blick, 

sie  betrachtet  und  mit  sich  führt 

auf  die  Mess1  von  Aragon. 

AU'  die  Bing1  die  sie  da  ankauft 

ihr  entfallen  aus  dem  Tuch; 

ihre  Diener  die  ihr  folgen, 

heben  auf  sie  zwei  zugleich. 

—  Bruder,  geh'n  wir  in  die  Messe, 

geh'n  das  Hochamt  wir  zu  h^r'a.  — 

Als  sie  in  die  Kirche  traten, 

die  Altar'  Gold  wiederstrahl'n. 

Als  das  Weihwasser  sie  nehmen, 

wird  die  Schal1  zum  Blumenkelch. 

Wie  die  Dame  sie  ersehen, 

machen  sie  ihr  alsbald  Platz ; 

Damen  auf  die  Erd1  sich  setzen, 

sie  auf  einen  Stuhl  von  Gold. 

Der  Caplan  der  liest  die  Messe, 

finden  kann  er  keinen  Text, 

der  Scholar  der  ihn  bediente, 

weiss  nicht  mehr  zu  respondirV 

Wessen  ist  wohl  jene  Dame 

von  der  solcher  Glanz  ausstrahlt? 

„Frankreichs  Königs  Tochter  ist  sie, 

Schwester  des  von  Aragon; 

wollt  ihr  mir  vielleicht  nicht  glauben, 

seht  euch  ihre  Schuh'  nur  an: 

werdet  sehen  die  drei  Lilien 

und  das  Wappen  Aragons1)-" 


!)  Diese  Romanze,  obwohl  ich  sie  mit  Herrn  Mila  unter  die  historischen  gesetzt 
habe,  ist  doch  wohl  eine  romantische;  denn  nur  der  Schluss  könnte  glauben 
machen,  dass  sie  sich  auf  eine  historische  Person  beziehe;  aber  selbst  Herrn 
Mila  ist  es  nur  mit  einer  sehr  gezwungenen  Deutung  des:  „Frankreichs  Königs 
Tochter"  als  einer  politischen  Adoptiv-Tochter ,  gelungen,  unter  der  Dame  von 
Aragon  die  Schwester  Don  Pedro's  III.  von  Aragon  und  die  fiemahlinn  Philipp's 
des  Kühnen  von  Frankreich  darin  zu  sehen.  —  Mit  dieser  Romanze  hat  viele 
Ähnlichkeit  die  castilisehe:  En  Sevilla  est.ä  una  hermita  (P r i m a  v  e r a, 
Nr.  143). 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  1  JO 

19.  Die  Amme  des  Infanten  *). 

In  des  Königs  Palast  dort 

wird  ein  Festmahl  abgehalten, 

Niemand  blieb  davon  zurück 

als  die  Amin'  mit  dem  Infanten. 

Der  Infant  wollt'  schlafen  nicht, 

nicht  im  Stuhl,  nicht  in  der  Wiege, 

nur  im  gold'nen  Wiegelein 

das  die  Amme  ihm  bereitet. 

Grosses  Feuer  facht  die  Amm1 

an  vom  grünen  Eichenholze. 

An  des  Feuer-Herdes  Rand 

ist  die  Amme  eingeschlafen. 

Als  die  Amme  dann  erwacht', 

fand  vom  Kind  sie  nichts  als  Asche, 

Rief  die  Amm'  in  grosser  Angst: 

—  Steht  mir  bei,  o  heil'ge  Jungfrau! 
Rettet  mich  nicht  eure  Hilf, 

werd'  von  allen  ich  verabscheut, 
von  den  Grafen  und  Barons, 
all  den  hochgebor nen  Herren. 
Jungfrau,  schafft  ihr  mir  das  Kind, 
lass  'ne  Goldkron'  ich  euch  machen, 
eurem  hochgepries'nen  Sohn 
eine  Krön'  von  feinem  Silber. — 
Trat  des  Königs  Diener  ein: 

—  Was  fehlt  euch  denn,  meine  Amme? 

—  Hab  verlor'n  das  Wickelzeug, 
in  des  Königs  Haus  das  beste. 

—  Seht  hier  Amme,  hier  ist  Geld, 
kauft  ein  and'res  in  der  Bude. 

—  Wickelzeug  wie  ich's  verlor, 
nicht  verkauft  man's  in  der  Bude. 


l)  „La  nodriza  del  infantc".  — 

All:!  al  palacio  del  rey 
im   »ran   Convit  n"lil   lialiia. 


1  5G  Ferdinand   Wolf. 

—  Seht  hier  Amme,  hier  ist  Geld, 
kaufet  ein's  beim  Silberhändler, 
findet  ihr's  dort  nicht  von  Gold, 
kaufet  ein's  von  feinem  Silber. — 
Als  sie  ist  auf  Mitte  Wegs, 
findet  sie  da  Sanct  Maria. 

—  Jungfrau  schafft  ihr  mir  das  Kind, 
lass  'ne  Goldkron  ich  euch  machen, 
eurem  hochgepries'nen  Sohn 

eine  Krön'  von  feinem  Silber. 

—  Kehr  zurück  in  den  Palast, 
sei  nicht  mehr  so  sehr  betrübet ; 
findest  dorten  den  Infant, 

ganz  allein  mit  seinem  Spielzeug1). 


20.  Die  Gefangennehmung  des  Königs  vou  Frankreich 2). 

Frankreichs  Konig  zog  aus  einstmal 

an  'nein  Montag,  Morgens  früh, 

zog  aus  einst  zu  nehmen  Spanien; 

und  die  Spanier  fingen  ihn. 

Setzten  in  stockfinst'ren  Kerker 

ihn,  wusst'  nicht,  war's  Tag  war's  Nacht. 

wenn  nicht  an  'nem  einz'gen  Fenster, 

auf  den  Weg  ging's  nach  Paris. 

Steckt  den  Kopf  hinaus  zum  Fenster, 

einen  Wandrer  kommen  sieht. 

—  Guter  Wandrer,  guter  Wandrer, 
was  sagt  man  von  mir  in  Frankreich? 

—  Sagen  in  Paris  und  Frankreich, 
dass  ihr  todt  oder  gefangen. 


!)   Auch  diese  Romanze  die  Herr  Mila   ebenfalls    unter    die  historischen  gereiht  hat. 
ist  doch  wohl  eine  romantische  oder  vielmehr  eine  legendenarligo.    Sie    ist    n<»]>st 
der  von  St.  Ramon  das  beliebteste  Wiegenlied  in  Catalonien. 
2)  „La  prision  del  r e y  de  Francia". 

Ya  parti  lo  rey  de   Fransa 
hu  dilluns  nl  demati. 


Proben  portugiesischer  und  cätalanischer  Volksromanzen.  10/ 

—  Wandrer,  kehr  zurück  nach  Frankreich. 
bringe  Botschaft  hin  von  mir, 

sage  meiner  theuren  Gattinn, 
lösen  mich  von  hier  sie  komm1. 
Ist  nicht  Geld  genug  in  Frankreich, 
gehe  man  nach  Sanct  Denis, 
und  verkauf  das  gold'ne  Kissen, 
und  verkauf  die  Lilien-Blum'. 
Ist  nicht  Geld  genug  im  Beutel, 
gehe  man  nach  Sanct  Patriz  ')• 

21.  Die  Dame  von  Rens3). 

Aus  der  grossen  Stadt,  aus  Bens 
waren  alle  fortgefloh'n, 
ausser  einer  edlen  Dame 
deren  Mann  gefangen  sass. 
Sie  ging  zu  dem  Commandanten, 
zu  dem  Herren  aus  Madrid. 

—  Gott  zum  Grass,  Herr  Commandant, 
wollt  hefrei'n  ihr  meinen  Mann? 

—  Ei,  beweint  ihr,  edle  Dame, 
euren  Mann  und  seine  Lieb1? 

—  Ja  fürwahr,  Herr  Commandant, 
meinen  Mann  und  seine  Lieb'. 

—  Seid  nicht  bange,  edle  Dame. 
Morgen  seh't  ihr  ihn  gewiss. — 
Als  sie  spähend  stand  am  Fenster, 
sieht  sie  bringen  ihren  Mann. 


')  Offenbar  «'in  Spottlied  auf  des  Königs  Franz  !.  von  Frankreich  Gefangenschaft  in 
Spanien.  Die  letzten  Verse,  besonders  das  Zuhilferufen  des  zaubermächtigen 
Patrizius,  verspotten  wohl  seinen  Geldmangel.  —  So  frisch  die  catalanische ,  so 
prosaisch  ist  die  cas  tili  sehe  Romanze  auf  denselben  Gegenstand  (s.  Du  ran, 
I.  c.  Nr.  1141). 
3)  „La  dania  de  Reus". 

A  la  gran  vila  de  Reus 
tota  la  gent  ha  fugit. 


\  58  Ferdinand  Wolf. 

—  Wär't  verstummt  ihr,  Commandant! 
Werdet  denken  meiner  noch ! 

Ihr  habt  meinen  Stolz  geraubt  mir, 
ihr  liesst  hängen  meinen  Mann ! 

—  In  dem  Heer  hab'  ich  drei  Söhne, 
wählet  euch  den  besten  aus, 

und  wenn  diese  euch  missfallen, 
werd'  ich  selber  euer  Mann.  — 

Einst  kehrt  aus  der  Messe  heim  sie, 
tritt  der  Commandant  zu  ihr : 

—  Habet  Mitleid,  edle  Dame, 
habet  Mitleid  doch  mit  mir! 

—  Hab'  das  Mitleid  das  ihr  hattet, 
als  ihr  meinen  Mann  liesst  hängen.— 
Ein  Pistol  sie  schnell  hervorzieht, 
drückt  es  ab  mit  rascher  Hand  »)• 

22.  Bach's  von  Roda  Tod2)- 

Ach,  Stadt  Vieh,  befiehl  dich  Gott! 

wohl  verdientest  du  zu  brennen ! 

Hingest  auf  'nen  Cavalier , 

ja  den  edelsten  der  Ebne. 
(Refr.  Mutter  Gottes,  schütze  uns! 
du,  o  von  Roser  und  Carme ! 
Du,  glorreicher  Dominik, 
an  des  Tag  sie  ihn  aufhingen!) 

Hiessen  niedersteig'n  Herrn  Bach, 

weil  ein  Freund  nach  ihm  verlange; 

war  kaum  unten  angelangt, 

banden  sie  ihn  fest  mit  Stricken , 


i)  Herr  Mihi  bezieht  die  in  dieser  Romanze  erzählte  Begebenheit  auf  die    Zeit   des 
spanischen  Successionskrieges  zu  Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts,   als  sich  nament- 
lich in  Catalonien  die  Parteien  mit  der  grössten  Erbitterung  verfolgten. 
2)   „La  muerte  de  Bach  de  Roda". 

;Ay  a  Deu  ciutat  de  Vieh, 
be'n  mereixes  ser  cremada! 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  1  5  J 

und  an  eines  Rosses  Schweif 

nach  Stadt  Vieh  sie  ihn  da  schleiften. 

Liessen  künden  einen  Ruf: 

„Zimmerleuf  ihr  und  Baumeister, 

baut  'nen  neuen  Galgen  auf 

an  der  Höh'  von  Devalladas." 

Zimmerleut'  antworten  drauf, 

sei  kein  tauglich  Holz  vorhanden. 

Sagt  darauf  der  General: 

„Reisset  nieder  ein  paar  Häuser." 

Reissen  aus  viel  Lichterpfähl, 

auch  die  silbernen  Laternen; 

liessen  einen  Ruf  ergeh'n  : 

alle  Thore  zuzuschliessen. 

Schon  die  Thor'  geschlossen  sind, 

als  Pardon  kommt;  doch  zu  spät  nun! 

denn  sie  greifen,  binden  ihn, 

schleppen  ihn  hinaus  zum  Galgen. 

Als  er  das  Gerüst  bestieg , 

sagte  er  noch  diese  Worte: 

—  Als  Verräther  nicht  ich  sterb', 

noch  als  Haupt  'ner  Räuberbande ; 

nur  weil  künden  ich  gewollt: 

ganz  noch  fühl'  das  Vaterland  sich. 

Dieses  Kästchen  hier  von  Gold 

soll  Pater  Ramon  von  Carme 

der  Gewissensrath  mir  ist, 

als  Erinnerung  behalten. 

Nicht  zu  sterben  schmerzt  es  mich, 

noch,  dass  schmählich  ist  mein  Ende ; 

aber  dass  ich  Töchter  hab\ 

alle  drei  mit  Heirathsbriefen  *), 

und  sie  doch  nicht  lassen  kann 

alle  drei  auch  wohl  versorget'-). 


i)  Totas  tres  son  encartadas.  Wozu  die  Erklärung'  Herrn  MilsTs:  „encartadas  por 
comprometidas  para  casarse  en  cartas  ö  escrihiras  nupeiales". 

2)  Diese  Romanze  ist  echt  historisch  und  nach  Herrn  Milä  gleichzeitig  mit  der  besun- 
genen Begebenheit.  D.  Francisco  Masian  Bach  von  Roda  war  einer  der  ersten 


|  ß 0  Ferdinand   Wolf. 

d)  Räuberromanzen. 

23.  Die  Magd  des  Gasthauses  zu  La  Peyra  *)• 

Ins  Schenkhaus  von  La  Peyra  eintraten  Damen  drei; 

(Hollaho,  Holla!) 
fragten  da  des  Hauses  Frau,  was  gibt  es  zu  supier'n? 

—  's  gibt  da  Thunfische  mit  Fett,  und  Repphühner  mit  Speck.  — 
Zwei  der  Damen  assen  da,  die  dritte  wollt'  es  nicht, 
allzumüde  fühlt  sie  sich  und  will  zur  Ruhe  geh'n. 

—  Nimm  du,  Mädchen,  hier  das  Licht,  und  geh'  sie  zu  begleit'n.— 
'ne  Verräth'rinn  ist  die  Magd,  belauscht  sie  durch  die  Wand. 
Haben  kurze  Hosen  an  und  an  der  Seit'  Pistoi'n. 
Geht  die  Magd  zum  Herrn  hinab:  —  Heut  Nacht  sie  uns  beraub1:!. 
Lest  zur  Ruh'  euch,  meineFrau,  heutNacht  will  wach  ich  bleib'n. — 
'ne  Verräth'rinn  ist  die  Magd,  zu  horchen  passt  sie  auf. 
Als  es  zwei  geschlagen  hatt',  die  Räuber  niederstieg'n. 
Als  sie  kamen  in  die  Küch' ,  die  Magd  zu  schnarchen  schien, 
träuften  da  drei  Tropfen  Wachs  ihr  auf  die  Brust  herab, 
'ne  Verräth'rinn  ist  die  Magd,  sie  schnarcht  und  schnarcht  noch  mehr. 
Einer  zu  dem  And'ren  sagt,  —  sie  schläft  ganz  wohl  und  fest.  — 
Werfen  einen  Kinder-Arm  in's  Feuer  da  hinein: 
„Wer   nun   wach  ist,  schläft  nicht    ein,    und  nicht  erwacht,   wer 

schläft3)." 
Schreiten  nun  zur  Thür  hinaus,  und  machen  einen  Pfiff. 
Doch  das  Mädchen,  das  ist  klug,  und  schliesst  die  Thüre  ab. 
—  Öffnest,  Mädchen,  du  die  Thür,  geb'  hundert  Thaler  dir. 


unter  den  Einwohnern  Vich's,  die  sieh  für  das  Haus  Österreich  erklärten,  am  20.  Juli 
1703.  Er  kämpfte  an  der  Seite  seines  berühmten  Landsmannes  Jose  Mas  im  Succes- 
sionskriege,  und  wurde  nach  der  Einnahme  von  Barcelona  und  Vieh  in  der  Nähe  des 
letzteren  Ortes,  auf  dem  Vorplatze  von  Devalladas,  mit  mehreren  anderen  Edelleuten 
und  Anhängern  der  österreichischen  Partei  hingerichtet,  die  zugleich  die  Landes- 
Privilegien  gegen  die  Cenlralisation  vertheidigt  hatten. 

»)  „La  criada  del  hostal  de  la  Peira".  — 

AI  hostal  de  la  Peyra  —  tres  damas  van  anar  (oleta-ola'j. 

2)  Vgl.  über  diesen  allgemein  verbreiteten  Diebs  -  Aberglauben :  Job.  Praetorium 
„Philologemata  abstrusa  de  pollice;  in  quibus  singularia  animadversa  vom  Diebs- 
daume  etc."  Lipsia;  1677  in  4.,  pag.  153  sqq. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksromanzen.  101 

—  Nicht  für  hundert,  fünfzig  mehr,  die  Thür1  sich  öffnet  euch. 

—  Willst  du  jenen  Kinder-Arm  mir  geben  -wohl  heraus? 

—  Streck'  die  Hand  hier  durch  die  Thür1,  geh  dann  dir  jenen  Arm. — 
'ne  Verräth'rinn  ist  die  Magd,  haut  ihm  die  Hand  wurzab. 

—  Dirne,  lass  gesagt  dir's  sein,  das  zahlst  du  mir  noch  sehr, 
ja  mit  deiner  Adern  Blut  wasch1  ich  die  Hand  mir  rein ! 

Und  du,  Wirth  von  La  Peyra,  sei  dess  wohl  eingedenk; 
denn  die  Magd  die  du  da  hast,  kannst  hoch  du  halten  sehr, 
hat  beschützt  das  Leben  dir,  und  vor  dem  Raub  dein  Haus: 
von  drei  Söhnen  die  du  hast,  gib  einen  ihr  zur  Wahl. 

24.  Der  Erbe  des  Galgens  ')• 

—  Als  ich  war  noch  klein,  ganz  klein, 
da  beschenkte  mich  die  Mutter, 
manches  Spielzeug  sie  mir  gab, 
manche  weich  gekäute  Nüsse; 
legte  mich  dann  auf  das  Bett, 
dass  ich  schlief  und  nicht  mehr  weinte. 
Spann*  am  Rocken  mit  sieb'n  Jahr, 
und  mit  neun  ich  Wolle  kratzte; 
doch  mit  zwölf  ich  zog  auf  Raub, 
ein  Geschäft  das  nicht  gesetzlich, 
doch  mit  zwölf  ich  zog  auf  Raub, 
führt  mit  fünfzehn  schlechtes  Leben ; 
doch  mit  achtzehn  beichtet'  ich 
einem  Frater  der  gepredigt. 
Als  die  Beicht'  im  besten  Zug, 
spricht  er  schlecht  von  den  Kam'raden. 
Eines  Tags  im  Gottes-Haus 
streck'  ich  mit  'nem  Schuss  ihn  nieder, 
eines  Tags  im  Gottes-Haus 
während  er  die  Messe  ablas. 


l)  „El  heredero  de  la  horca".  — 

Quant  yo  u'era  petitet, 


la  niare  ni'en  regalaha. 


•Sitzt..  (1.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  I.  Hft.  ü 


162  Ferdinand   Wolf. 

„ —  Greifet  den  Verräther,  greift, 

ihm  komm'  nicht  zu  Gut  die  Kirche!"  — 

Mir  kam  nicht  die  Kirch'  zu  Gut, 

nicht  die  heiligen  Reliquien. 

Nicht  darauf  verlies  ich  mich, 

meinen  Beinen  traut'  ich  besser, 

über  eine  Wand  ich  sprang, 

hatt  wohl  sieben  Ellen  Höhe; 

doch  all'  das  war  nur  ein  Spass 

gen  den  Fluss  unt'  viere  tief. 

Unter  einem  Mühlen-Rad 

barg  ich  mich,  das  Leb'n  zu  retten. 

Um  die  Stund  der  Mitternacht 

pocht'  am  Thor  ich  meiner  Mutter. 

—  Woher  kommst  du,  o  mein  Sohn? 
Schlimme  Kunden  laufen  um  jetzt, 
sage,  schlugst  'nen  Priester  todt, 
während  er  die  Messe  ablas? 

—  Mutter,  glaubet  nicht  daran 
seht  doch,  haben  euch  belogen; 
wäre  wahr  das  was  man  sagt, 

blieb'  ich  hier  nicht  mehr  in  Spanien.  — 

Während  diesem  Zwiegespräch 

ist  ein  Schreiben  eingetroffen, 

dieses  Schreiben  ging  an  ihn, 

an  die  Mutter  nur  die  Aufschrift: 

„Woll'n  zum  Erben  machen  ihn 

in  der  Eb'ne  von  Cerdana, 

und  auf  einer  Anhöh1  dort 

hast  ein  Haus  schon  ganz  bereitet, 

hat  drei  Pfähle  dieses  Haus, 

ohne  Dach  und  ohne  Wände, 

scheint  die  Sonn'  darauf  am  Tag 

und  bei  Nacht  der  klare  Mondschein, 

komm'  von  welcher  Seit'  er  woll'  der  Wind  *)> 

immer  trifft  er  dich  ins  Antlitz." 


l)  Auch  im  Original  ist  dieser  Vers  zu  lang: 

Vingui  d'alla  'hont  vingni  el  vcnl. 


Proben  portugiesischer  und  catalanischer  Volksroinanzen.  163 

e)   Genreartige  (de  eoslumbres  modernus). 

25.  Die  Entführung  *)• 

Nicht  in  kleinen  Häusern,  nicht  in  grossem  Haus 
ist  wie  Pepa  eine,  preisen  alle  sie. 
(Refr.  Lieblich  ist  die  Rose,  lieblicher  der  Zweig.) 
Wie  auch  all1  sie  preisen,  geb'n  ihr  keinen  Mann. 
Geht  da  zu  dem  Bache,  eine  Schürz  zu  wasch'n, 
um  recht  schmuck  zu  gehen  an  dem  Weihnachtstag. 

—  Was  machst  du  hier,  Pepa,  was  machst  du  hier  doch? 

—  Wasche  meine  Wäsche,  und  die  Schürze  auch, 
um  recht  schmuck  zu  gehen  an  dem  Weihnachtstag.  — 
Er  erfasst  und  schwingt  sie  auf  das  Pferd  hinauf, 
grün  ist  dessen  Sattel  und  das  Pferd  ist  weiss. 

Sie  die  Strassen  LIeida's  seufzend  nun  durchzieht. 
— Warum  weinst  du,  Pepa,  warum  weinst  so  sehr? 
= — Wein'  um  meine  Eltern,  um  die  Brüder  mein, 
nehmen's  sich  zu  Herzen,  sterben  sicher  drob. 

—  Lass  sie  immer  sterben,  graben  sie  schon  ein, 
haben  neue  Gräber,  müssen  sie  einweih'n, 

auf  der  Gräber  jedes  setzen  sie  'nen  Zweig, 
Fratres  und  Capläne  beten  dann  für  sie. 

26.  Die  todte  Braut 3). 

—  War  am  Tag'  des  Sanct  Joan, 
an  dem  hochgehalten  Festtag, 
(Refr.  Stadt  Ripoll ,  ade,  ade, 

in  der  Mitt'  von  zwei  Gewässern!) 
leg  den  Sattel  auf  das  Pferd, 
reite  straks  auf  das  Gebirge, 


!)  „El  rapto«.  — 

A  la  torre  xica  —  a  ia  torre  gran. 

2)  „La  m  u  e  r  t  e    de    I  a    n  o  v  i  a".  — 

El  dia  de  San  Joan, 
n'es  diada  scnyalada. 

ii 


1  (3  4  Ferdinand   Wolf. 

mit  dem  schwarzen  Band  am  Hut 
und  den  sammtbesetzten  Schuhen. 
Als  ich  auf  der  halben  Höh', 
hör  'ne  Stimm1  ich  ,  fein  und  klar, 
wende  wieder  mich  zurück, 
seh1  sie  hinter  einem  Strauche. 
In  Galopp  setz'  ich  das  Pferd, 
schnurstraks  gings  nach  ihrem  Hause. 
Doch  auf  halbem  Wege  schon 
hör1  von  dort  ich  Glocken-Läuten. 
Kommt  entgegen  mir  ein  Freund. 

—  Für  wen  läuten  sie  die  Glocken? 

—  Will  dir's  sagen  wohl,  mein  Freund, 
's  ist  für  deine  Vielgeliebte. 

—  Steh'  mir  Gott  bei!  kann  das  sein? 
sah'  sie  vor  'ner  Viertelstunde.  — 

In  Galopp  setz1  ich  das  Pferd, 
schnurstraks  ging's  nach  ihrem  Hause. 
Als  ich  in  der  halben  Gass', 
seh'  die  Thor  ich  halb  geschlossen, 
auf  dem  Söller  schwarzes  Tuch. 
Kehrt  sich  mir  das  Herz  im  Leib  um ; 
stürme  rasch  die  Trepp"  hinauf, 
als  war1  ich  der  Herr  des  Hauses. 
Stürm'  hinauf  den  ersten  Gang, 
stürm1  hinauf  der  Treppe  zweiten, 
als  den  dritten  ich  erreicht, 
find  ich  sie  im — Leichentuche. 
Schon  zu  Füssen  ihr  ich  knie, 
schon  enthüll1  ich  ihr  das  Antlitz. 

—  Nicht  berühr  mich,  mein  Gemahl, 
weil  verdammet  ich  dann  würde. 
Geh1  in  das  Gewölb  hinab, 

findest  dorten  meine  Mutter, 
dass  die  Schlüssel  sie  dir  geb1, 
sag',  die  Schlüssel  meiner  Truhe, 
und  in  deren  mittleren  Fach 
findest  du  die  Ohrgehänge, 


Proben  portugiesischer  und  catalaniscber  Volksromanzen.  165 

und  in  deren  unterm  Fach 
findest  du  den  Ring  von  Silber, 
findest  einen  Ring  von  Gold 
mit  drei  engverschlung'nen  Steinen, 
und  die  Haub'  von  rothem  Netz 
findest  du  auch  in  der  Truhe. 
Rufe  dann  die  Zimmerleut', 
sag1,  dass  einen  Sarg  sie  machen, 
sie  ihn  etwas  grösser  machen, 
dass  wir  beide  Platz  d'rin  finden. 


27.  Maria  Aügeleta J). 

—  Geh1  Maria  in  den  Garten, 
nimm  da  Abschied  von  den  Pflanzen, 
auch  von  deinem  Lieblingsbaum2) 
den  du  jeden  Tag  begössest. 
(Refr.  Sag1,  ihr  Nelken,  euch  ade, 

euch  ihr  Rosen,   Waldviolen!) 
Heben  nun  sie  auf  ein  Pferd, 
geben  eines  ihrer  Mutter. 
Zieh'n  die  Diener  dann  voran, 
Vater,  Mutter  zuletzt  folgen. 
Als  sie  auf  dem  halben  Weg:, 
kommt  ein  schmucker  Mann  zu  ihnen. 

—  Wollt  ein  wenig  ihr  verzieh'n, 
nur  um  euch  ein  Wort  zu  sagen? 
Hättet  ihr  ein  weisses  Pferd, 
zog'  ich  mit,  euch  zu  begleiten? 

—  Rrauchen  keinen  Diener  mehr, 
haben  g'nug  uns  zu  begleiten. — 


')  „Angelet»".  — 


2)   Im   Original   steht: 


Angelet«,  ves  al   hört, 
despedeixte  de  las  plantas- 

Y  tambe  del  mar  du  ixe   (?). 


106  Ferdinand  Wolf. 

Gibt  ihr  dann  'nen  Nelkenstrauss, 

wie  man  gibt  ein  Angedenken. 

Kaum  sie  an  den  Nelken  roch, 

fängt  Maria  an  zu  weinen. 

Beim  Einritt  in  Tarragona 

zog  sie  Vieler  Blick1  auf  sich, 

wissen  nicht,  soll'n  sie  nach  ihr  seh'n, 

nach  dem  Schmucke  den  sie  trug; 

heben  nun  sie  von  dem  Pferd1, 

heben  auch  herab  die  Mutter. 

Da  eilt  sie  die  Trepp1  hinauf, 

wirft  sich  auf  das  Buhbett  hin. 

Ihre  Mutter  sie  vermisst, 

schnell  die  Treppe  sie  hinaufsteigt. 

—  Was  fehlt  dir,  Maria  Engel, 
dass  so  sehr  erzürnt  du  bist? 
0  hätt1  ich  verfolgt  den  Buben 

der  im  Strauss  dir  Gift  wohl  reichte ! 

—  Hat  mich  nicht  vergiftet,  nein, 
da  mein  Herz  sich  d'ran  erfreute.  — 
Auch  ihr  Vater  sie  vermisst, 
schnell  die  Treppe  er  hinaufsteigt. 

—  Was  fehlt  dir,  Maria  Engel, 
dass  so  sehr  erzürnt  du  bist? 
0  hätt'  ich  verfolgt  den  Buben 

der  im  Strauss  dir  Gift  wohl  reichte! 

—  Hat  mich  nicht  vergiftet,  nein, 
da  mein  Herz  sich  d'ran  erfreute. — 
Auch  ihr  Bruder  sie  vermisst, 
schnell  die  Treppe  er  hinaufsteigt. 

—  Was  fehlt  dir,  Maria  Engel, 
dass  so  sehr  erzürnt  du  bist? 
0  hätt1  ich  verfolgt  den  Buben 

der  im  Strauss  dir  Gift  wohl  reichte ! 

—  Hat  mich  nicht  vergiftet,   nein, 
da  mein  Herz  sich  d'ran  erfreute. 

—  Kennst  du  jenen  Herren  wohl 
der  sich  hier  ergeht  im  Saale? 


Proben  portugiesischer  und  cntalanischer  Volksromanzen.  107 

—  Kenn'  nicht  solchen  Erzverräther; 
ach!  mein  Lehen  geht  zu  Ende!  — 
Um  die  Stund'  der  Mitternacht 
legt  Maria  ihre  Beicht'  ab ; 
um  ein  Uhr  nach  Mitternacht 
sie  empfängt  die  letzte  Ölung; 
um  zwei  Uhr  nach  Mitternacht 
ist  bei  Gott  schon  ihre  Seele. 


28.  Die  Tochter  des  Landmanns  '). 

Es  war  'mal  ein  Landmann  der  hatte  eine  Tochter, 
er  wollte  sie  nicht  geb'n  den  Jungen  seines  Fleckens. 
(Refr.  Der  Apfelbaum  verblüht,   die  Rose  sich  entfaltet.) 
Wollt  sie  'nein  Franzmann  geb'n  vom  Lande  der  Gabachen  3), 
Hess  sie  vor  Hunger  sterben,   vor  Kälte  in  der  Bude, 
schickt  sie  auch  nach  dem  Wald',  zu  holen  Holz  von  Eichen. 
Beim  Eintritt  in  den  Wald  sticht  sie  sich  an  'nein  Dornstrauch. 
Da  stösst  sie  aus  'nen  Schrei:  —  Hilf  mir,  Jungfrau  Maria! 
wenn  du  mir  jetzt  nicht  hilfst,  bin  Morgen  nicht  mehr  lebend! 
Dies  ihr  Geliebter  hört  bis  in  des  Fleckens  Mitte. 
Gleich  sattelt  er  das  Pferd  und  legt  ihm  um  die  Zügel; 
eilt  schnurstraks  in  den  Wald,  dahin  wo  weilt  das  Mädchen. 
■ — Willst,  Mädchen,  kommen  mit,  geh'  ich  dir  das  Geleite. 
Von  Schlössern  drei  die  mein,  zur  Herrinn  dich  werd1  machen: 
das  ein1  in  Valencia,  das  and're  in  Castilien, 
das  dritte  ist  mein  Herz,  das  hält  dich  hoch  am  meisten. 

29.  Das  zweifelhafte  Versprechen  3). 

Ach!  ihr  Mädchen  von  dem  Flecken, 
und  auch  ihr  vom  Aussenwerk! 


*)  „La  iiija  del  labrador".  — 

N'hi  habia  im  pages  —   que'n  tenia  una  filla. 
2)  Gabacho    (s|>r.    Gabatscbo),    Schimpfname    der    eingewanderten    Franzosen    in 
Spanien. 

:1 )   „ I,  a  |>  r  o  m  e  s  a  d  u  d  o  s  a".    — 

|Ay  las  noyas  de   In  vila 
>   tambe  las  del  rabal 


1  uö      Fercl.  Wolf.  Proben  portugiesischer  und  catalanlseher  Volksroraanzen. 

Wie  ihr  früh  auf  seid  des  Morgens, 
zu  dem  Schürzen-Waschen  eilt!  — 
Während  sie  die  Schürzen  waschen, 
kommt  ein  schmucker  Bursch  vorbei. 

—  Hier  will  ich  mich  wohl  verweilen; 
und  du,  Mädchen,  gibst  mir  nichts? 

—  Wollt  ihr  etwa  diese  Schnur  hier, 
oder  dieser  Schürze  Band? 

—  Nichts  will  ich  als  jene  Böse 
die  ihr  an  dem  Busen  tragt. 

—  Kommt  Sanct  Peter  Abends  wieder, 
oder  Morgens  von  Sanct  Juan, 
werden  dann  die  Rosen  blühen 

für  euch  —  oder  einen  sonst. 


J  o  s  e  p  !i  C  h  m  e  I.   Das  I«  e  c  Ii  t  des  Hauses  Habsburg  auf  Kärnten.  109 


SITZUNG  VOM  20.  MÄRZ    1850. 


Gelesen: 


Das  Recht  des    Hauses  Habsburg  auf   Kärnten. 
Von  dem  w.  M.  Hrn.  Regiernngsrath  Joseph  Chmel. 

In  dem  „Vorbericht"  zum  zweiten  Bande  der  ersten  Abtheilung 
der  Monumenta  Habsburgica,  S.  XXI,  habe  ich  in  der  Vertheidigung 
meiner  Ansicht  über  das  grosse  Privilegium  von  1156  auch  Folgendes 
geäussert:  „Kaiser  Ludwig  der  Baier  fand  es  für  gut,  bei  Gelegenheit 
der  Erledigung  des  Herzogthums  Kärnten,  worauf  die  österreichischen 
Herzoge  von  Zeit  der  ersten  Belehnung  (1282)  her  die  gerech- 
testen Ansprüche  hatten  und  das  sie  nur  temporär  abgetreten 
hatten,  den  österreichischen  Herzogen,  mit  denen  vielfache  Unter- 
handlungen gepflogen  wurden ,  in  ihr  eigenes  Gebiet  nachzu- 
ziehen." 

Diese  Äusserung  scheint  die  nächste  Veranlassung  gewesen  zu 
sein  zu  einer  Abhandlung  eines  jungen  Mannes,  die  in  einer  der 
letzten  Classen-Sitzungen  unserer  Akademie  vorgetragen  wurde. 

Der  Verfasser,  Herr  Stögmann,  ein  talentvoller  und  eifriger 
Zögling  unseres  neu  gegründeten  Seminars  für  österreichische 
Geschichte,  bestrebte  sich  in  dem  ersten  Theile  seiner  Abhandlung 
nachzuweisen,  „dass  die  ziemlich  allgemein  verbreitete  Annahme, 
der  Rückfall  Kärntens  an  Österreich  nach  Aussterben  des  Meinhard'- 
schen  Mannsstammes  sei  ausdrücklich  bedungen  gewesen,  sich 
historisch  nicht  erweisen  lasse."  —  Im  zweiten  Theile  wird  die 
„eigentliche  Geschichte  des  Heimfalles  (?)  Kärntens  an  Österreich 
durchgeführt." 


170  JosephChmel. 

„Es  ergibt  sich  demnach  (nach  Stögmann's  eigenen  Worten) 
aus  der  ganzen  Darstellung,  dass  die  Erwerbung  Kärntens  betrachtet 
werden  muss  als  das  Resultat  höchst  verwickelter,  politischer 
Combinationen.  Die  besonnene  ausdauernde  Politik  Herzog  Albrecht's 
siegte.  Die  Bedeutung  dieses  Sieges  liegt  aber  nebst  der  dadurch 
gewonnenen  Machtvermehrung  auch  noch  in  dem  Umstände,  dass 
dieser  ganze  Streit  um  Kärnten  betrachtet  werden  muss  als  ein 
Moment  des  grossen  Kampfes  der  Häuser  Habsburg  und  Luxemburg, 
eines  Kampfes ,  der  auf  Österreichs  Geschicke  den  bedeutendsten 
Einfluss  ausübt."  (Wiener  Zeitung  1856,  Nr.  66,  S.  814.) 

Ich  sehe  mich  veranlasst,  meine  obige  Ansicht  von  dem  Recht 
des  Hauses  Habsburg  auf  Kärnten  zu  erläutern  und  zu  begründen. 
Ich  leugne  nicht,  dass  die  Erwerbung  Kärntens  durch  die  „besonnene 
ausdauernde  Politik  Herzog  Albrecht's"  gefördert  wurde,  ich  behaupte 
aber,  der  B  e sitz  von  Kärnten,  mithin  seine  Erwerbung,  müsse 
eine  solidere  Basis  haben,  als  blosse  „politische  Combina- 
tionen." —  Ich  begnüge  mich  nicht  mit  einem  blos  facti  sehen 
Besitze,  Kärnten  gehörte  dem  Hause  Habsburg  auch  de  jure. 

Wäre  die  Erwerbung  Kärntens  nur  das  Resultat  „höchst  ver- 
wickelter, politischer  Combinationen",  hätte  das  Haus  Habsburg  nicht 
das  begründetste  Recht  auf  Kärnten  gehabt,  so  würde  der  Besitz 
des  Herzogthums  kein  rechtlicher,  sondern  nur  ein  fac  tischer 
sein,  und  das  wäre  eine  höchst  unerfreuliche  Anomalie ,  eine  uner- 
quickliche Ausnahme  in  der  Geschichte  des  Hauses  Habsburg,  die 
von  Rudolf  I.  bis  Maria  Theresia  bei  allen  Erwerbungen  eine  recht- 
liche Basis  uns  vorführt  und  bietet. 

Herr  Stögmann  glaubt  zwar,  die  Herzoge  von  Österreich  hätten 
auf  Kärnten  zu  Gunsten  Meinhard's  ganz  unbedingt  verzichtet, 
und  es  sei  mithin  die  Erwerbung  im  Jahre  1335  durchaus  in  keinem 
Zusammenhange  mit  dem  früheren  Besitze  durch  die  Belehnung  im 
Jahre  1282,  er  hat  aber  meines  Erachtens  bei  dieser  Behauptung 
etwas  sehr  Wesentliches  ausser  Acht  gelassen. 

Wäre  die  Verzichtleistung  unbedingt  gewesen,  hätten  sich 
die  Herzoge  aller  Ansprüche,  ja  ihres  eventuellen  Bechtes  auf  Kärnten 
begeben,  so  hätte  die  Verleihung  Kärntens  im  Jahre  1335  als  erle- 
digtes Bei  ch  sieben  rechtlich  nur  erfolgen  können,  wenn  die  Kur- 
fürsten des  Reiches  dazu  ihre  förmliche  Einwilligung  aufs  Neue  durch 
Willebriefe  gegeben  hätten.   Diese  fehlen  aber  gänzlich,   es  ist  nicht 


Das  Recht  des  Hauses  Habsburg-  auf  Kärnten.  171 

die  mindeste  Spur,  dass  solche  existirt  haben  oder  auch  nur  zur 
Sprache  gekommen  seien. 

Man  brauchte  sie  auch  gar  nicht,  die  ursprünglichen  Willebriefe 
zur  Zeit  der  ersten  Belehnung  reichten  aus.  Die  Kurfürsten  hatten 
ein  für  alle  Mal  eingewilligt,  dass  König  Rudolf  I.  die  Reichslehen, 
welche  König  Ottokar  nach  und  nach  an  sich  gezogen  und  die  durch 
seine  Energie  und  Umsicht  dem  Reiche  erhalten  wurden,  seinen 
Söhnen  verleihen  könne.  Darunter  war  auch  Kärnten.  Die  Beleh- 
nung auch  mit  diesem  Herzogthume  fand  Statt,  bei  Gelegenheit  der 
Belehnung  mit  Österreich,  Steiermark,  dem  Lande  Krain  und  der 
Mark.  Diese  Thatsache  bezeugt  König  Rudolf  selbst  in  seinem 
Lehenbriefe  für  Meinhard  vom  1.  Februar  1286:  „Quo  (Ducatu  terre 
Karinthie)  ipsos  (filios  nostros)  iamdudum  cum ceteris  Ducatibus  uide- 
licet  Austrie  et  Stirie  supradictis  de  consensu  Principum  Electorum 
ius  in  electione  Romanorum  Regis  habentium  investiuisse  recoligimus 
in  Augusta".  —  Wir  wollen  hier  nicht  das  bereits  Bekannte  und  öfter 
Besprochene  auch  von  Herrn  Stögmann  mit  Sorgfalt  Zusammenge- 
stellte wiederholen. 

Bekanntlich  drohte  diese  Belehnung  mit  Kärnten,  das  Graf 
Meinhard  von  Görz  und  Tirol  mit  Gut  und  Blut  dem  Reiche  erhalten 
hatte  und  als  Reichsverweser  verwaltete,  ein  bitteres  Zerwürfniss 
zwischen  König  Rudolf  (mit  seiner  Familie)  und  seinem  treuesten 
Freunde  und  Anhänger,  dein  Schwiegervater  seines  ältesten  Sohnes 
Albrecht,  herbeizuführen. 

Die  Lage  war  schwierig,  Rudolf  war  Meinharden  vielfach  ver- 
pflichtet, Kärnten  war  ihm  in  Aussicht  gestellt,  er  hatte  grössere 
Summen  darauf  verwendet. 

König  Rudolf,  der  ohnehin  bekanntlich  in  der  zweiten  Hälfte 
seiner  Regierung  an  den  meisten  und  angesehensten  Kurfürsten 
nichts  weniger  als  gute  Freunde  hatte,  da  diese  Herren  die  allmähliche 
Erstarkung  des  Reichsoberhauptes  durch  Begründung  einer  kräftigen 
Hausmacht  fürchteten  und  daher  auch  geneigt  waren,  selbst  Rebellen 
zu  unterstützen,  musste  alles  Mögliche  thun,  die  guten  Freunde  sich 
zu  erhalten  und  nicht  etwa  die  Zahl  seiner  Gegner  zu  vermehren. 

Auf  der  andern  Seite  wäre  es  aber  wohl  eine  unzeitige  Gross- 
muth  gewesen,  eine  Selbsta  ufopferu  ng,  wenn  Rudolf  und  sein 
Haus  das  so  wichtige  Kärnten,  das  zur  Arrondirung  der  übrigen 
Länder  unerlässlich  war,    worin    seine   Söhne   bereits  nicht  unbe- 


deutende  Besitzungen  (als  Lehen)  besassen,  so  ganz  und  gar  ohne 
alle  Entschädigung  aufgegeben  hätten. 

Das  sieht  dem  klugen,  dem  kräftigen  KönigRudolf  nicht  gleich, 
eben  so  wenig  dem  noch  entschiedeneren  und  energischen  Erst- 
gebornen, Herzog  AI  brecht,  der,  wie  seine  ganze  Regierungs- 
sreschichte  beweist,  auf  seine  Gerechtsame,  auf  seine  Stellung  volles 
Gewicht  legte. 

Leider  ist  uns  die  Geschichte  des  dreizehnten  und  vierzehnten 
Jahrhunderts  nur  höchst  fragmentarisch  und  lückenhaft  überliefert, 
magere,  meist  wenig  unterrichtete  Chronisten  geben  uns  ungenü- 
gende Andeutungen,  höchstens  von  Resultaten  die  augenfällig 
waren.  Wie  sich  die  Verhältnisse  gestalteten,  die  Motive,  die  eigent- 
lichen Absichten,  die  wirksam  gewesenen  Kräfte,  Ansichten ,  Veran- 
lassungen zur  Entwiekelung  derselben  bleiben  uns  verborgen.  Die 
damalige  Zeit  überhaupt  schrieb  wenig,  handelte  desto  mehr;  —  zu- 
dem ist  wohl  Vieles  von  dem  was  etwa  niedergeschrieben  wurde 
von  gut  Unterrichtelen,  verlorengegangen,  namentlich  Brie  fe  oder 
Berichte.  Um  desto  mehr  Gewicht  ist  auf  Urkunden  zu  legen, 
die  noch  am  besten  gehütet  und  erhalten  wurden,  wenn  sie  auch 
meist  kurz  und  wohl  nicht  ohne  Absicht  dunkel  gehalten  sind. —  Man 
muss  sie  mithin  erläutern. 

Wir  wissen  über  das  Verhältuiss  der  in  die  Kärntner  Angelegen- 
heit Verflochtenen  in  den  Jahren  1283,  1284,  1285  so  gut  als  nichts. 
Factisch  war  Graf  Meinhard  der  Regiments -Verweser,  die  österrei- 
chischen Herzoge  übten  wohl  keinerlei  Acte  der  Herrschaft  aus, 
wenigstens  nach  dem  bisherigen  Stande  der  Geschichtsforschung : 
aber  dass  sie  ihr  durch  die  Belohnung  zu  Augsburg  am  27.December 
1282  erhaltenes  Recht  auf  Kärnten  sogleich  wieder  aufgegeben 
hätten,  weil  die  Belehnungs-Urkunde  nur  die  Belehnung  mit  Öster- 
reich, Steier,  Kram  und  der  Mark  aufführt,  ist  ganz  unmöglich. 
Ohne  Zweifel  wurde  in  der  ersten  Ausfertigung  auch  Kärnten  aufge- 
führt und  erst  später,  nach  getroffener  Ausgleichung  mit  Meinhard. 
eine  zweite  Urkunde  ausgefertigt,  in  welcher  Kärnten  nicht  erwähnt 
ist,  um  des  Friedens  willen;  die  erste  Urkunde  wurde  sodann  natürlich 

cassirt. 

Wäre  die  Resignation  der  österreichischen  Herzoge  auf  Kärnten 
sogleich  erfolgt,  so  hätte  das  Ganze  der  kärntnerischen  Angelegenheit 
einen  Aufschub  erleiden  müssen,  der  unstatthaft  war.  Es  hätte  sogleich 


Das  Recht  des  Hauses  Habsburg  auf  Kärnten.  173 

neuer  Unterhandlungen  mit  den  Kurfürsten  bedurft,  deren  Einwilli- 
gung zur  Creirung  eines  neuen  Herzogs  neben  den  so  eben  zur 
Herzogswürde  erhobenen  Königssöhnen  gewiss  nicht  so  schnell  zu 
erlangen  war ! 

Es  war  vielmehr  ein  jahrelanger  Conflict  der  Interessen,  und  die- 
selben fanden  ihre  Ausgleichung  gewiss  nicht  leicht  und  nicht 
schnell  *). 

Der  sicherste  Beweis  ,  dass  die  Resignation  auf  Kärnten  erst 
spät,  kurz  vor  Meinhard's  Belehnung  (1.  Februar  1286)  stattge- 
funden, sind  die  Worte  im  Willebriefe  des  Kurfürsten  Albrecht 
von  Sachsen,  der  am  29.  März  1285  ausgestellt  ist,  und  welche 
die  beiden  Herzoge  von  Österreich  noch  als  wirkliche  Besitzer 
Kärntens  auffahren:  De  Ducatu  Karinthie,  quem  ab  eo  (Romanorum 
Rege)  iidem  principes  tenent  in  feodum.  — 

Die  Resignation  fand  unter  der  Bedingung  Statt,  dass  Kärnten 
nur  dem  Grafen  Meinhard  von  Tirol  verliehen  werde  ,  das  war  die 
conditio  sine  qua  non.  Ganz  natürlich! 

Ich  begreife  nicht,  dass  man  sich  die  Sache  gar  so  einfach  und 
leicht  genommen  hat. 

Die  Herzoge  leisteten  etwa  Verzicht  auf  Kärnten,  so  recht  gross- 
müthig,  wie  ein  reicher  Mann  in  einem  Augenblick  der  Laune  auch 
eine  grössere  Summe  wohl  hinwirft,  um  etwa  Ruhe  zu  haben  gegen 
ungestüme  Bitten  und  Forderungen? 

Betrachten  wir  uns  die  Sache  etwas  näher.  Vielleicht  gibt  uns 
die  Urkunde  der  Belehnung  Meinhard's  vom  1.  Februar  1286  selbst 
einen  Anhaltspunct. 

Zuerst  fällt  mir  auf,  dass  die  ganze  Angelegenheit  zunächst  we- 
niger wie  eine  lediglich  dem  Grafen  Meinhard  von  Tirol  erwiesene 
Gnade  und  Gunst  behandelt  wird,  als  eine  auch  und  zwar  vorzugs- 
weise Begünstigung  der  Österreich]  s  eben  Herzoge,  der  Söhne 
des  Königs. 

Die  Söhne  haben  gebeten,  Kärnten  ,  worauf  sie  aus  freiem 
Antrieb  resignirten,   dem  Grafen  Meinhard  zu  verleihen. 

Der  urkundliche  Ausdruck  ist  ganz  eigenthümlich:  „.  .  .  nouerit 
presens  etas  et  futuri  temporis  successiua  posteritas,   quod   Illustres 


'(Eist    1284    nach  der    Geburt    eines    Sohnes    (Rudolf)   resp.  Enkels   ward  man 
dazu  geneigt. 


174  JosephChmel. 

Albertus  et  Rudolfus  Duces  Austrie  etStirie,  DominiCarniole,  Marchie 
ac  Portus  Naonis,  Principes  et  filii  nostri  dilecti,  apud  Augustam  in 
nostra  presentia  constituti,  Celsitudini  nostre  deuotis  precibus 
institerunt  (es  waren  also  inständige  Bitten,  nicht  etwa  eine 
missmuthige  Fügung  in  ein  nothwendig  gewordenes  Aufgeben  gewisser 
Rechte),  quatinus  Principatum  siue  Ducatum  terre  Karinthie  .... 
Spectabili  viro  Meinhardo  Comiti  Tyrolensi  et  heredibus  suis 
conferre,  ac  ipsum  de  eodem  sollempniter  inuestire  de  Regali  nostra 
dementia  dignaremur."  —  Der  Ausdruck  wiederholt  sich  kurz  darauf 
„ad  deuotam  ipsorum  instantia  in." 

Geht  daraus  klar  hervor,  dass  die  Schlichtung  dieser  Angelegen- 
heit und  die  Bevorzugung  Meinhard's  durch  die  Erhebung  zum  Herzog 
von  Kärnten  bei  vorausgegangener  Verzichtleistung  der  früher  recht- 
mässig belehnten  österreichischen  Herzoge  zur  vollen  Zufriedenheit 
aller  dabei  Betheiligten  erfolgt  sei,  so  ist  es  noch  auffallender,  dass 
sich  die  Herzoge  auch  um  die  unerlässlich  nöthige  Einwilligung  der 
Kurfürsten  selbst  beworben  haben. 

Es  ist  zwar  bisher  nur  ein  einziger  Willebrief  bekanntgeworden, 
der  des  Kurfürsten  Albrecht  von  Sachsen,  vom  29.  März  1285  (k.  k. 
geh.  Hausarchiv,  s.  Lichnowsky,  Regesten  I,  105),  es  heisst  aber  darin 
ausdrücklich:  „Quia  igitur  Illustres  principes,  domini  Albertus  et 
Rudolfus,  Duces  Austrie  et  Stirie  petiuerunt,  de  nostro  benepla- 
cito  et  consensu  procedi,  quod  Serenissimus  dominus  noster  Romano- 
rum Rex  Inclitus,  de  Ducatu  Karinthie  ....  spectabilem  virum 
dominum  Meinhardum  ....  infeodet  .  .  .  ."  und  sodann:  „predic- 
torum  Ducum  Austrie  precibus  inclinati,  nostrum  ad  hoc  beniuolum 
adhibemus  consensum. 

Ist  das  nicht  ein  deutlicher  Reweis,  dass  dieseResignation  sowie 
die  Belehnung  Meinhard's  mit  Kärnten  im  besonderen  Interesse  der 
österreichischen  Herzoge  geschehen  sei? 

Ich  bemerke  bei  dieser  Gelegenheit  übrigens ,  wie  es  allerdings 
auftauend  ist,  dass  bisher  nur  ein  einziger  Willebrief  bekannt 
geworden  und  zwar  der  eines  Fürsten  der  in  besonderer  Verbän- 
dung mit  dem  Hause  Habsburg  gestanden,  denn  Kurfürst  Albrecht 
von  Sachsen  war  König  Rudolfs  Schwiegersohn,  dessen  Tochter 
Agnes  er  seit  1276  zur  Gemahlinn  hatte.   — 

Röhmer  bemerkt  bei  Gelegenheit  der  Belehnung  Meinhard's 
(Regesten   K.   Rudolfs   S.  130,   Nr.   859):    „Zu   dieser  Belehnung 


Das  Recht  des  Hasses  Habsburg  auf  Kärnten.  1  i  J) 

haben  ohne  Zweifel  die  Wahlfürsten  Willebriefe  gegeben,  doch 
finde  ich  nur  den  des  Herzogs  Albrecht  von  Sachsen  d.  d.  29.  März 
1285  erwähnt.  Lichnowsky,  Regesten  I,  105." 

Auch  der  Umstand  ist  auffallend,  dass  König  Rudolf,  der  doch 
von  der  ersten  Relehnung  seiner  eigenen  Söhne  sagt,  dass  sie  mit 
Bewilligung  der  „Priucipum  Electorum  jus  in  electione  Romanorum 
Regis  habeutium"  geschehen  sei,  in  seinem  Lehenbriefe  für 
Meinhard  von  dieser  zweiten  Einwilligung  der  Kurfürsten  nichts 
erwähne !  — 

Allerdings  war  König  Rudolf  um  diese  Zeit  mit  mehreren  Kur- 
fürsten auf  sehr  gespanntem  Fusse,  wie  wir  bereits  bemerkten;  wir 
halten  aber  dafür ,  dass  die  Willebriefe  zur  Giltigkeit  einer  Reichs- 
belehnung  nicht  unerlässlich  seien. 

Im  schlimmsten  Falle,  wenn  selbst  die  anderen  Kurfürsten 
protestirt  hätten  gegen  diese  Resignation  der  österreichischen 
Herzoge  und  die  Erhebung  Meinhard's,  wäre  das  Recht  der  Habs- 
burger auf  Kärnten  nicht  fraglich,  weil  dann  sogleich  die  frühere 
Belehnung  vom  Jahre  1282  als  rechtlich  giltig  wieder  eingetreten 
wäre. 

Höchstens  wären  dann  Meinhard  und  seine  drei  Söhne  bis  zum 
Jahre  1335  uiirechtlich  im  Besitze  Kärntens  gewesen,  was  wohl 
Niemand  behaupten  dürfte.  — 

Was  nun  aber  bedeutet  die  Belehnungsurkunde  Meinhard's  vom 
Jahre  1286  und  in  welcher  Verbindung  steht  sie  mit  den  habsbur- 
gisch-österreichischen  Herzogen  ?  - — 

Ich  behaupte  mit  voller  Zuversicht ,  dass  die  aus  freiem  Antriebe 
erfolgte  Resignation  der  habsburgisch- österreichischen  Herzoge  in 
Betreff  Kärntens  ihrem  Rechte  auf  Kärnten  keinen  Eintrag  gethan, 
dass,  obschon  sie  sich  nicht  mit  ausdrücklichen  Worten  den 
„Heimfall  Kärntens  nach  Aussterben  der  männlichen 
Erben  Meinhard's"  ausbedungen  haben,  doch  Kärnten  ihnen 
eventuell  gehört  habe  und  zwar  mit  einem  ausdrücklichen  Worte 
der  Urkunde  selbst. 

Wem  wurde  Kärnten  verliehen?  „Spectabili  viro  Meinhard o 
Comiti  Tyrolensi  et  heredibus  suis." 

Zu  diesen  „heredib  us"  Meinhard's,  des  neuen  Herzogs  von 
Kärnten,  gehörte  aber  auch  El  isa  beth  seine  älteste  Tochter,  die 
Gemahlinn    des    ältesten    der    beiden     österreichischen     Herzoge, 


17ß  Joseph  Chmel. 

Albrechts;  derselbe  Albrecht  also  welcher  in  Gemeinschaft  mit 
seinem  Bruder  Rudolf  auf  Kärnten  zu  Gunsten  seines  Schwieger- 
vaters resignirt  hatte,  erhielt  für  seine  Gemahlinn  und  ihre 
Kinder  das  eventuelle  Erbrecht. 

Ja  Elisabeth  war  eine  Erbtochter  und  zwar  hatte  sie  das 
Erbrecht  auf  alle  Besitzungen  ihres  Vaters,  mithin  auch  auf  Tirol. 
Das  war  allerdings  die  äusserst  günstige  Sachlage  welche  die 
Ausgleichung  erleichtert  ja  möglich  gemacht  hatte,  oder  glaubt 
man  etwa,  einem  Fremden  hätten  die  österreichischen  Herzoge 
ihr  Recht  cedirt?  — 

Wahrlieh  das  hiesse  mehr  als  Schwäche,  das  wäre  dem 
klugen  Rudolf  nicht  zu  verzeihen  gewesen! 

Ich  zweifle  keinen  Augenblick,  dass  bei  dieserGelegenheit  eine 
Erbverbrüderung  zwischen  M  e  i  n  h  a  rdund  seinen  Kinde  r  n 
und  dem  Hause  Habs  bürg  abgeschlossen  wurde,  wodurch 
sich  beide  Theile  wechselseitig  ihre  Lande  bei  Abgang  der  Kin- 
der männlichen  Geschlechtes  bei  einem  der  Contrahenten  ver- 
schrieben. 

Es  ist  dieses  abzunehmen  aus  den  späteren  Thatsachen,  wie 
wir  sehen  werden.  Sie  musste  abgeschlossen  werden,  um  die  Lande 
nicht  in  ganz  fremde  Hände  kommen  zu  lassen. 

Durch  diese  Resignation  und  die  darauf  erfolgte  Belehnung 
Meinhard's  und  seiner  Erben  mit  Kärnten  ward  nicht  blos  der 
gute  Freund  des  Vaters,  der  Schwiegervater  des  ältesten 
Sohnes,  die  Familieneintracht  geschont  und  bewahrt,  sondern  das 
Haus  Habsburg  hatte  auch  die  Anwartschaft  nicht  blos  auf  Kärnten 
was  es  schon  hatte,  sondern  auch  auf  Tirol  was  es  noch  nicht 
hatte,  erlangt.  Es  war  ein  Meisterwerk  der  Klugheit  des  Stifters 
des  Hauses  Habsburg!  — 

Nicht  1359  oder  1363  erst  ward  Tirol  für  Österreich  gewon- 
nen, sondern  schon  1286  ward  dazu  der  Grund  gelegt.  Zwar  hat 
uns  die  Sorglosigkeit  und  Geringschätzung,  mit  welcher  leider  in 
der  Regel  (Sorgfalt  gehörte  zu  den  Ausnahmen,  wenigstens  bei 
nicht  -  geistlichen  Archiven)  alte  Documente  behandelt  wurden, 
wenn  man  sie  nicht  eben  brauchte,  den  Verlust  dieser  Erbver- 
brüderungs- Documente  verursacht,  dass  sie  aber  existirten ,  dass 
sie  im  Momente  der  Entscheidung  pmducirt  und  geltend  gemacht 
wurden,  ist  nicht  zu  bpzwoifelri. 


Das  Recht  des  Hauses  Habsburg  auf  Kärnten.  177 

Wir  nähern  uns  der  Zeit,  in  welcher  der  „Heimfall"  Kärn- 
tens an  das  Haus  Habsburg,  wie  selbst  Herr  Stögmann  (natürlich 
unbewusst)  sich  äusserte,  stattfand. 

Wir  kommen  vom  Jahre  1286  auf  das  Jahr  1330.  Im  Jahre  1286 
waren  die  „Heredes"  des  Herzogs  Meinhard  von  Kärnten,  Grafen 
von  Tirol,  zunächst  seine  sechs  Kinder,  die  vier  Söhne  Otto,  Albrecht, 
Ludwig   und  Heinrich  und  seine  zwei  Töchter  Elisabeth  und  Agnes. 

Im  Jahre  1330  lebte  von  den  Söhnen  nur  noch  Heinrich,  der 
Exkönig  von  Böhmen;  der  im  Jahre  1292  verstorbene  Sohn  Albrecht 
hatte  eine  Tochter  Margarethe  hinterlassen,  die  an  den  Burggrafen 
Friedrich  IV.  von  Nürnberg  vermählt  und  Mutter  mehrerer  Kinder 
war.  Der  Sohn  Ludwig  war  unvermählt  im  Jahre  1305  gestorben, 
von  dem  im  Jahre  1310  verstorbenen  Otto  waren  vier  (unvermählte?) 
Töchter  zurückgeblieben,  eben  so  hatte  der  noch  lebende  Heinrich 
nur  zwei  Töchter  Margarethe  und  Adelheid. 

Die  Tochter  Agnes  welche  an  den  Landgrafen  Friedrich  von 
Thüringen  vermählt  war,  ist  schon  vor  dem  Vater  im  Jahre  1293 
gestorben. 

Die  Tochter  Elisabeth,  Witwe  des  römischen  Königs  Albrecht  I., 
war  im  Jahre  1313  gestorben,  von  ihren  12  Kindern  lebten  im 
Jahre  1330  noch  die  zwei  Söhne  Albrecht  und  Otto,  Herzoge  von 
Osterreich,  und  die  zwei  Töchter  Elisabeth,  Herzoginn  von  Lothringen, 
und  Agnes,  verwitwete  Königinn  von  Ungern. 

In  Betreff  Kärntens  das  durch  keine  Frau  regiert  werden 
konnte,  waren  also  die  einzigen  successions fälligen  Erben  die 
zwei  österreichischen  Herzoge  Albrecht  und  Otto,  erst  nach  ihnen 
und  ihren  Söhnen  wären  die  Urenkel  Meinhard's,  die  Burggrafen 
von  Nur  nberg  successionsfähig  gewesen. 

Hinsichtlich  Tirols  das  zum  Theile  auch  durch  eine  Erb- 
tochter an  die  Grafen  von  Görz  gekommen  war  (Adelheid,  ver- 
mählt seit  1 24S  mit  Grafen  Meinhard  von  Görz,  dem  Vater  des  Her- 
zogs Meinhard),  wären  wohl  vielleicht  an  und  für  sich  alle  Kinder 
ohne  Unterschied  des  Geschlechtes  erbfähig  gewesen,  es  hätten  mit- 
hin die  Töchter  der  Söhne  Albrecht,  Otto  und  Heinrich  eben  solche 
Ansprüche  gehabt  als  die  Söhne  der  Tochter  Elisabeth,  wenn  nicht 
durch  eine  specielle  Übereinkunft  (eben  die  höchst  wahrscheinliche 
Erbverbrüderung)  auch  hier  die  männlichen  Erben  aus  dem 
Hause  Habsburg  den  Vorzug  gehabt  hätten. 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  I.  Hft.  12 


178  Joseph  Chrael. 

Übrigens  wurde  von  allen  Töchtern  der  Söhne  Meinhard's 
eine  einzige  als  Erbtochter  betrachtet  und  zwar  die  wohlbekannte 
Margaret  ha  mit  dem  späteren  hässlichen  Beinamen  Maultasche, 
König  Heinrich's  von  Böhmen  Tochter.  Ihre  Hand  ward  schon  früh- 
zeitig Gegenstand  vielfacher  Intriguen,  die  Häuser  Luxemburg  und 
Witteisbach  suchten  in  ihren  Häuptern,  König  Johann  von  Böhmen 
und  Kaiser  Ludwig,  für  einen  ihrer  Söhne  ihren  Besitz  zu  erringen. 

Wir  enthalten  uns,  diese  theilweise  schmählichen,  jedenfalls 
eitlen  Bestrebungen  weiter  zu  verfolgen,  wir  wollen  ja  hier  nur  das 
hervorheben,  was  das  Becht  der  Habsburger  auf  Kärnten  wie  auf 
Tirol  beleuchtet. 

Hatte  Heinrich's  Tochter  Margareth  irgend  ein  Recht  als 
weiblicher  Sprosse  und  Erbe  Meinhard's,  so  hatte  dasselbe  Recht 
(nur  früher)  auch  schon  Meinhard's  Tochter  Elisabeth,  die  Gattinn 
König  Albrecht's;  gesetzt  den  Fall,  es  wäre  auch  keine  Erbverbrü- 
derung zwischen  Herzog  Meinhard  und  den  österreichischen  Herzogen 
abgeschlossen  worden,  die  Söhne  der  Tochter  hatten  jedenfalls  den 
Vorzug  vor  der  Tochter  des  Sohnes,  denn  stets  hatte  der  Mann 
im  Lehenwesen  den  Vorzug  vor  dem  Weibe,  das  nur  ausnahmsweise 
Lehen  ihrem  Gatten  zubringen  konnte.  Dem  ungeachtet  suchte  be- 
sonders König  Johann  von  Böhmen  der  Luxemburger  die  Anwartschaft 
auf  Kärnten  und  Tirol  seinem  Hause  zu  sichern. 

1327  hatte  Kaiser  Ludwig  bei  seinem  Durchzuge  nach  Italien 
dem  König  Heinrich  von  Böhmen  die  Erbfolge  in  seinen  Ländern  auch 
für  seine  Töchter  und  die  Töchter  seines  Bruders  zugesichert  und 
diese  Zusage  bei  der  Rückkehr  im  Jahre  1330,  6.  Februar,  zu  Meran 
wiederholt  *). 


i)  In  der  Urkunde  vom  6.  Februar  1330  heisst  es  (K.  Ludwig):  „das  wir  seinen  Töch- 
tern, die  er  ietz  hat,  oder  die  im  gott  noch  geit  und  seines  Bruedern   Tochter,  i 
„alle    die    Lehen    verliehen    haben    und    verleichen,    die    unser    vorgenanter  Oheim 
„inne  hat  von  dem  Reich,  es  seie  zu  Kerndten,  oder  in  der  Grafschaft 
„z  e  Tyrol,  oder  wie  sie  genant,    als    es    sein  Vatter  Herzog  Meinhard    an    ihn  j 
„bracht  hat,  und  auch  das  er  seitmal  gewunnen  hat  mit  so  getaner  beschaidenhait, 
„ob  das  Gott  geit,    das  unser  vorgenanter  oheim  Sune  gewünnet,    die   sollen  die  ; 
„vorgenante  Lehen  erben,  und  die  Töchter  nicht,  wer  aber  das  die  Sune  abgien- 
„gen  ohne  Erben,    und  das  die  Süne  Töchter  Hessen,    die    sollen    es    auch    erben, 
„als  vorgeschriben  stehet ,    und  wofer    auch    wer,    das    unser    vorgenanter  Oheim  . 
„die  vorgenante  Lehen  dheinen  seinen  aiden,    oder  seines  Brüdern  aiden,    den    er  j 
„iezt    hat  oder  noch  gewünnet,  vermachen  oder  verschreiben  wolte,    das  soll  uns 


Das  Recht  des  Hauses  Habsburg  auf  Kärnten.  179 

Dagegen  hatte  schon  1324  am  25.  April  (aus  Luxemburg) 
König  Johann  von  Böhmen  den  Vorschlag  gemacht,  eine  der  Töchter 
Heinrich' s  solle  einen  der  Söhne  Johann' s  heirathen,  für  seine  Ansprü- 
che auf  Böhmen  erhalte  Heinrich  30.000  Mark,  auch  wolle  er  Johann 
ihm  zur  abermaligen  Vermählung  und  zwar  dieses  Mal  mit  Beatrix 
von  Savoyen  Vorschub  leisten. 

Im  Jahre  1327  wurde  der  erst  fünfjährige  Sohn  König  Johanns, 
Johann  Heinrich,  nach  Innsbruck  gebracht  und  dessen  Heirath  mit 
der  achtjährigen  Margareth  festgesetzt. 

Die  Heirath  mit  Beatrix  von  Savoyen  war  aber  durch  österrei- 
chische Vermittlung  1328  zu  Stande  gekommen,  da  König  Johann 
sich  zurückgezogen,  aus  Furcht,  Heinrich  könnte  noch  männliche 
Erben  erhalten. 

Er  drang  im  Jahre  1330  bei  seiner  unvermutheten  Ankunft  in 
Tirol  (im  September)  auf  die  Vollziehung  der  Vermählung  der 
Kinder. 

Dadurch  war  aber  die  Gunst  des  Kaisers  verscherzt,  so  hatte  er 
es  nicht  gemeint,  als  er  im  selben  Jahre  (s.  oben)  dem  Exkönig  von 
Böhmen  die  oben  angeführte  Urkunde  ausstellte. 

Er  zog  also  die  Begünstigung  zurück,  durch  welche  ohnehin  die 
wohl  verbrieften  und  anerkannten  Rechte  der  sämmt liehen  Erben 
Meinhard's,  namentlich  der  österreichischen  Herzoge,  so  auffallend 
beseitigt  wurden. 

Ohnehin  nöthigte  den  Kaiser  seine  politische  Lage,  sich  den 
Letzteren  möglichst  zu  nähern,  und  wir  finden  also  im  selben  Jahre 
1330  (November)  specielle  Verhandlungen  zwischen  Kaiser  Ludwig 
und  den  Herzogen  Albrecht  und  Otto  von  Österreich,  nachdem  bereits 
im  August  vorher  durch  Vermittlung  desselben  Luxemburgers  (König 
Johann  von  Böhmen),  der  ein  Meister  in  diplomatischen  Unterhand- 
lungen und  Täuschungen  war,  die  vollständigste  Ausgleichung  statt- 
gefunden. 


„gunsf,  will,  und  worth  seil),  und  sollen  auch  wir  im  die  band  darumb  raiehen. 
„und  doch  also,  das  dis  unser  getreuer  Oheim  tun  soll  mit  unserni 
„rat  und  wissen-'.  Steyerer  Comm.  Alberti  II,  p.  78,  79.  Offenbar  wollte 
Kaiser  Ludwig-  diese  Lande  in  seine  Familie  bringen,  daher  er  mit  Umgehung  aller 
früher  Berechtigten  die  Töchter  Heinrich's  oder  seines  Bruders  Albrecht  für  erb- 
fähig erklärte  und  ihren  Ehegatten  die  Lande  verleihen  will,  natürlich  wenn 
diese  Eidame  ihm  genehm  sind. 

12* 


180  Joseph  Chmel. 

Es  war  den  österreichischen  Herzogen  welche  ohne  Zweifel  in 
Erfahrung  gebracht,  wie  sowohl  der  Kaiser  als  König  Johann  von 
Böhmen  ihrem  Hause  die  Lande  Kärnten  und  Tirol  zuzuwenden 
bemüht  seien,  besonderes  Anliegen,  sich  ihre  wohlerworbenen  Rechte 
auf  die  Lande  zu  sichern.  Es  war  um  diese  Zeit  schon  höchst  wahr- 
scheinlich geworden,  dass  Heinrich  von  Kärnten  -  Tirol  ohne  männ- 
liche Erben  abgehen  werde ,  sie  mussten  sich  mithin  für  den  ein- 
tretenden Fall  den  guten  Willen  des  Reichsoberhauptes  zum  voraus 
beurkunden  lassen,  sie  bei  ihrem  Rechte  auch  zu  erhalten. 

Wir  zweifeln  keinen  Augenblick,  dass  Kaiser  Ludwig,  wenn 
ihm  nicht  der  ränkevolle  Luxemburger  zuvorgekommen  wäre,  den 
österreichischen  Herzogen  durchaus  jegliche  Anwartschaft  auf  Kärn- 
ten und  Tirol  versagt  haben  würde,  nur  der  Umstand  machte  ihn 
geneigt,  das  Recht  der  Söhne  Elisabeth's,  Meinhard's  Erbtochter, 
anzuerkennen. 

Herzog  Otto  von  Österreich  der  die  österreichischen  Interessen 
bei  der  tödtlichen  Erkrankung  seines  Bruders  Albrecht  zu  vertreten 
hatte,  brachte  auch  den  Kaiser  dahin,  dass  alle  noch  bestehenden 
Differenzen,  alle  gegenseitigen  Ansprüche  deren  es  aus  der  früheren 
Zeit  der  Rivalität  zwischen  den  beiden  Gegenkönigen  so  manche  gab, 
auf  freundschaftliche  Weise  durch  Schiedsrichter,  auf  welche  beide 
Theile  compromittirten,  geschlichtet  und  entschieden  werden  sollten. 

Diese  Schiedsrichter,  sechs  mit  einem  Obmann ,  waren  aus  den 
Räthen  der  Fürsten  gewählt.  Natürlich  hatten  diese  Compromiss- 
richter  nur  zu  untersuchen  und  zu  bestimmen,  was  beiden  Parteien 
recht  und  billig  sei.  Ein  Schiedsgericht  untersucht  nur  den  Stand 
der  Dinge  und  was  jede  Partei  für  sich  an  Rechtsgründen  vor- 
bringt, das  wird  geprüft  und  das  Gewicht  derselben  beurtheilt. 

Wenn  nun  diese  sieben  Schiedsrichter  welche  ihrer  Stellung 
nach  nicht  die  geringste  Gewalt  über  die  Parteien  hatten,  in  einer 
Urkunde  vom  26.  November  erklärten  „daz  unser  über  vorgenant 
Herre  Cheiser  Ludowig  von  Rom,  nu  angans  (das  heisst:  nöthiger 
Weise)  dem  obgenanten  Hertzog  Otten  von  Osterrich  und  von  Styr, 
und  sinem  bruder  Hertzog  Albrechten,  und  iren  chinden ,  daz  Her- 
tzentum  und  daz  Land  Chernden  verschriben  sol  ze  lihen,  an  allen 
furzuch,  wenne  der  Hochgeborn  furste,  Hertzog  Heinrich  von  Kern- 
den,  abget  und  stirbet"  —  so  muss  man  nicht  etwa  glauben,  dass 
diese  sieben  Schiedsrichter  jetzt  erst  den  österreichischen  Herzogen 


Das  Recht  des  Hauses  Habsburg  auf  Kärnten.  181 

das  Recht  auf  Kärnten  gegeben  haben,  weil  es  der  Kaiser  so 
haben  wollte  und  dass  sich  mithin  das  ganze  Recht  des  Hauses  Habs- 
burg auf  die  zufällige  Laune  des  Kaisers  Ludwig  basire  und  dass  mit- 
hin die  wirkliche  Relehnung  im  Jahre  133S  auf  diesem  Compromiss 
vom  26.  November  1330  beruhe.   Das  ist  geradezu  absurd. 

So  kann  über  ein  deutsches  Reichslehen,  über  ein  Her- 
zogthum  nicht  verfügt  werden,  und  zwar  von  so  untergeordneten 
Personen !  — 

Der  Ausspruch  der  Compromiss  richte  r  will  nur  sagen: 
Das  Recht  der  österreichischen  Herzoge  auf  Kärnten  ist  klar,  es  ist 
so  begründet  (natürlich  auf  Beweisstücke  und  Urkunden  welche  von 
den  österreichischen  Räthen  producirt  wurden) ,  dass  der  Kaiser 
nothgedrungen  schon  jetzt  urkundlich  versprechen  müsse,  ihnen  nach 
dem  Tode  Herzog  Heinrich's  von  Kärnten  dieses  Herzogthum  zu  ver- 
leihen. 

Wie  kann  man  nur  einen  Augenblick  zweifeln  ,  dass  die  öster- 
reichischen Herzoge  das  ausgesprochenste  Recht  auf  Kärnten  nach- 
gewiesen haben  mussten,  wenn  die  Schiedsrichter  solchen  Ausspruch 
fällten.  Kaiser  Ludwig  war  wohl  am  wenigsten  geneigt,  den  habs- 
burgisch-österreiehischen  Herzogen  etwas  einzuräumen,  worauf  sie 
kein  Recht  hatten.  Eine  solche  Begünstigung  ist  von  einem  Rivalen 
(und  das  war  das  Haus  Witteisbach  dem  Hause  Habs  bürg 
gegenüber)  ganz  undenkbar. 

Dass  aber  in  der  kärntnerischen  Angelegenheit  wirklich 
urkundliche  Beweise,  ohne  Zweifel  schon  bei  dieser  Gelegenheit  des 
Schiedsgerichtes,  vorgebracht  wurden,  ist  wohl  einleuchtend. 

Einer  der  unterrichtetsten  und  beachtenswerthesten  gleichzei- 
tigen Chronisten  sagt  es  ausdrücklich,  Peter  von  Zittau,  Abt  von 
Königssaal  *). 


')  Peter  von  Zittau,  Abt  von  Königssaal  (zwischen  den  Jahren  1294 — 1338) 
„einer  der  eigenthümlichsten  und  merkwürdigsten  Chronisten  Böhmens"  wie 
Palacky  in  seiner  „Würdigung  der  alten  böhmischen  Geschichtsschreiber"  (Prag 
1833)  S.  120  sagt. 

Er  war  von  Vielem  was  er  erzählt,  Augenzeuge.  Er  war  im  Jahre  1309 
Capellan  des  ersten  Abtes  von  Königssaal,  Konrad  aus  Erfurt,  der  sich  für  die 
Princessinn  Elisabeth  (die  letzte  Premyslidinn)  und  für  die  Aufnahme  der  Lüzel- 
burger  in  Böhmen  so  thiitig  erwies  ;  Peter  begleitete  ihn  auf  seinen  Reisen  nach 
Deutschland  in  den  Jahren  1309  und  1310,  war  Augenzeuge  aller  Verhandlungen 
zu    Heilbronn,    Frankfurt,    lleimbacb  und  Speier  vor  uml  bei  der  Vermählung  der 


182  Joseph  Chmel. 

Wir  wollen  die  ganze  Stelle,  welche  in  mehrfacher  Beziehung 
von  Interesse  ist,  hier  anführen,  sie  bezieht  sich  auf  die  wirkliche 
Acquisition  von  Kärnten  im  Jahre  1335  ,  kann  aber  schon  hier,  wo 
es  sich  um  urkundliche  Begründung  des  habsburgischen  Beeil- 
te s  handelt,  zur  Sprache  kommen. 

Ich  bemerke  voraus,  dass  Abt  Peter  die  Verhältnisse  besonders 
des  luxemburgischen  Hauses  vortrefflich  kannte  ,  folglich  sein  Zeug- 
niss  auch  als  das  eines  Unbefangenen  doppeltes  Gewicht  habe. 

„Eodem  anno  (1335)  mense  Martio  mortuus  est  Dux  Heynricus 
Karynthie,  Comes  Tyrolis,  qui  propter  hoc  quod  in  Bohemia  pro  tem- 
pore negligenter  fuerat,  consuevit  se  Begem  Bohemie  in  suis  epistolis 
usque  ad  suum  obitum  nominare.  De  isto  Duce  in  primo  volumine  plu- 
rima  sunt  conscripta,  quo  mortuo  mox  Albertus  et  Otto  Duces  Austrie 


böhmischen  Elisabeth  mit  Kaiser  Heinrich's  VII.  Sohne  Johann,  wodurch  die  Dyna- 
stie der  Lüzelburger  zum  Besitz  des  böhmischen  Thrones  gelangte;  1311  war  er 
mit  dem  jungen  König  Johann  in  Brunn,  bei  der  mährischen  Huldigung,  auch  1312 
mit  der  Königinn  Elisabeth  in  Mähren  ;  1313  begleitete  er  den  König,  als  er  nach 
Italien  seinem  Vater  Heinrich  nachziehen  wollte ,  und  nachdem  dieser  Zug  durch 
die  Nachricht  von  Heinrich's  Vergiftung  bei  Siena  rückgängig  geworden  war, 
befand  er  sich  beim  Rückzüge  der  Armee,  dann  mit  dem  Abte  Konrad  zu  Ehren- 
fels auf  einer  Botschaft  zum  Erzbischof  von  Mainz ;  darauf  mit  in  Coblenz  bei 
der  zwischen  Ludwig  dem  Baier  und  Friedrich  dem  Schönen  von  Österreich  strei- 
tigen Kaiserwahl. 

1316  wurde  er  Abt  seines  Klosters.  —  Er  war  aber  um  diese  Zeit  auch 
Hausfreund  und  Beichtvater  des  weiblichen  Theils  der  königlichen  Familie  ;  er 
genoss  das  Vertrauen  vieler  fürstlichen  Personen  in  hohem  Grade,  und  wir 
sehen  ihn  häufig  als  Theilnehmer  an  fürstlichen  Hochzeiten  und  bei  anderen  hoch- 
festlichen Ehrentagen.  —  Mit  König  Johann  war  er  in  vielfachem  Verkehr. 

Meinert  sagt  von  diesem  Chronisten  (Palacky,  S.  133)  :  „Indem  Peter  die  böh- 
mische Geschichte  wieder  lehrte,  den  Blick  gleichsam  über  die  Grenzgebirge 
ihres  Landes  zu  erheben,  und  sich  dadurch  selbst  zu  verstehen  ,  gewinnt  das  im 
Ganzen  düstere  Gemälde  der  Zeit,  das  er  „nicht  eben  mit  Wohlgefallen"*)  vor 
uns  aufrollt,  einen  Reichthum  und  eine  Mannigfaltigkeit,  die  nur  durch  die 
Glaubwürdigkeit  des  Inhaltes  übertroffen  werden.  Er  erzählt 
nichts ,  als  was  er  entweder  selbst  gesehen ,  oder  wovon  er  sonst  Gewissheit 
hat"  —  durch  Urkunden  die  er  häufig  beibringt;  er  erzählt  freimüthig ,  gründ- 
lich und  mit  einer  Anschaulichkeit,  die  eben  so  sehr  die  Frucht  seiner  Verhält- 
nisse und  des  tiefen  Gemüthes,  womit  er  seine  ganze  Zeit  aufgefasst,  als  der 
Bildung  ist,  die  er  sich  insbesondere  durch  die  Lesung  deutscher  Dichter 
erworben." 


*)  Er  sagt,  Dobner  V,  S.  34G:  „Quecunque  Iiactenus  hie  notavi  ,  non  itlco  scribere  euravi, 
quia  mihi  ex  hoc  delectatio  aliqua  fuerit,  sed  ut  qnilibet  ,  qui  ista  Iegerit,  inte'lig-at 
quam  subito  raundus,  et  coneupiseentia  eius  transeat." 


Das  Recht  des  Hauses  Habsburg  auf  Kärnten.  lOii 

ipsius  avunculi  (vielmehr  er  war  ipsorum  avunculus!)  accedentes 
ad  Ludwjcum  Babarum  ab  eo  Ducatum  Carintbie  in  feodo  rece- 
perunt,  asserentes  quod  idem  Ducatus  de  jure  esset  ad  Imperium 
devolutus,  eo  quod  esset  a  Duce  predicto  tantum  filia,  sed  non  aliquis 
heres  masculinus  derelictus;  ipsi  quoque  prefati  Duces  A  u- 
strie  quedam  privilegia  produxerunt,  per  que  se 
habere  ad  Ducatum  Caryntbie  ius  ostende runt.  Johan- 
nes vero  secundogenitus  filius  Johannis  Begis  Bohemie  gener  dicti 
Henrici,  Ducis  Karinthie,  eui  prius  fere  omnes  nobiles  de  Ducatu 
Karintbie,  et  Comitia  Tyrolis  homagium  fecerant,  dictis  Ducibus 
Austrie,  qui  exercitu  magno  venerant,  non  poterat  resistere,  quamvis 
ibidem  in  illo  esset  tempore.  Igitur  cogitur  de  Ducatu  cedere  et  in 
sola  Comitia  Castro  Tyroli  cum  suis  fidelibus  permanere.  Hec  una  cau- 
sarum  extitit,  propter  quam  Jobannes  Boemie  in  Bohemiam  venit  de 
Gallin,  et  contra  Ludwicum  et  Duces  Austrie  expeditionem,  ut  dictum 
est,  fieri  ordinavit;  dixit  enim  predicta  fieri  in  preiudicium  suum,  et 
sui  filii  obprobrium,  et  contemptum."  —  Chronicon  Aulae  Begiae  bei 
Dobner,  Monumenta  Historica  Boemiae  etc.  Tom.  V.  p.  487. 

Abt  Peter  von  Königssaal ,  der  Vertraute  des  luxemburgischen 
Hauses,  führt  also  an,  dass  die  österreichischen  Herzoge  (die  näch- 
sten männlichen  Erben  des  Hingeschiedenen)  ihr  Becbt  auf  Kärnten 
durch  einige  Privilegien  (Urkunden)  nachgewiesen  haben.  Diese 
Stelle  lässt  sich  nicht  missverstehen,  ich  lege  kein  grösseres  Gewicht 
darauf,  als  auf  Worte  eines  Chronisten  oder  selbst  eines  Geschichts- 
schreibers gelegt  werden  kann.  Der  Compromiss-Spruch  im  Jahre 
1330  kann  es  nicht  sein,  der  begründet  kein  Recht,  er  kennt  nur  das 
bereits  begründete  an. 

Diese  Privilegien  können  nur  solche  Documente  gewesen  sein, 
welche  das  Successionsrecht  der  österreichischen  Herzoge  (als 
männlicher  Erben)  nach  dem  Tode  Herzog  Heinrich's  von  Kärnten 
evident  nachweisen,  und  das  konnte  nur  eine  Erbverbrüderung  die  mit 
Ausschluss  der  weiblichen  Nachkommen  die  successionsfähigen 
männlichen  Erben  zur  Nachfolge  berief. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  den  weiteren  Verlauf  dieser  Angele- 
genheit zu  erörtern,  da  ohnehin  bekannt  ist,  dass  Kaiser  Ludwig 
den  österreichischen  Herzogen  im  Jahre  1335  nicht  blos  Kärnten 
verlieh,  sondern  auch  Tirol,  dass  das  letztere  Land  jedoch  für  dieses 
Mal    nicht   bleibend    gewonnen    wurde  ,    da    die   Tiroler    für    die 


184  Joseph  Chmel.    Das  Recht  des  Hauses  Habsburg  auf  Kärnten. 

Tochter  Heinrich's,  die  jugendliche  Margareth,  mit  Gut  und  Blut 
einstanden. 

Das  thaten  sie  aber  wohl  desshalb,  weil  Kaiser  Ludwig  sich 
einen  Theil  des  nördlichen  Tirols  zueignen  wollte  und  dies  zur  Be- 
dingung der  Verleihung  gemacht  hatte. 

Eine  solche  Zerstückelung  des  Landes  duldeten  sie  nicht. 

Dass  der  Luxemburger  Karl  am  Ende  diese  Verleihung  Kärn- 
tens bestätigte,  die  nach  seiner  Erklärung  durch  Kaiser  Ludwig's 
Lehensbrief  noch  nicht  rechtskräftig  gewesen  sein  soll,  weil  Ludwig 
als  gebanntes  Beichsoberhaupt  nichts  Giltiges  vornehmen  konnte, 
dass  er  am  Ende  auch  die  Erwerbung  Tirols  auf  den  nämlichen 
Bechtstitel  hin  dem  Hause  Habsburg  bestätigte,  ist  doch  wohl  nur 
der  Macht  des  urkundlichen  Bechtes  zuzuschreiben,  was  Habs- 
burg für  sich  hatte. 

Das  Becht  des  Hauses  Habsburg  war  also  das  Erbrecht,  wel- 
ches feierlich  anerkannt  war  in  der  Urkunde  K.  Budolfs  I.  vom 
1  Februar  1286,  da  das  Herzogthum  Kärnten  dem  Grafen  Mein- 
hard  von  Tirol  und  seinen  Erben  verliehen  wurde. 

Nach  dem  Tode  seiner  Söhne  waren  seine  Enkel  die  unstrei- 
tig nächsten  und  in  Bezug  auf  Kärnten  das  ein  Mannslehen  war, 
die  unbestritten  allein  su  cces  sionsf  ähigen  Erben;  das  waren 
aber  die  österreichischen  Herzoge,  die  Enkel  K.  Budolfs  I.,  die  Habs- 
burger Albrecht  und  Otto  (mit  ihren  Söhnen). 

Hinsichtlich  Tirols  hatten  die  Enkel  zum  mindesten  gleichen 
Anspruch  als  wie  die  Enkelinnen,  die  Töchter  der  Söhne. 

Selbst  im  Falle,  es  wäre  keine  Erbverbrüderung  abge- 
schlossen worden,  die  doch  beinahe  gewiss  stattfand. 

Darum  bleibe  ich  bei  meinem  ersten  Satze :  Die  österreichi- 
schen Herzoge  hatten  auf  Kärnten  die  gerechtesten  An- 
sprüche und  wenn  sie  im  Jahre  1286  Kärnten  dem  Freunde  ihres 
Vaters,  dem  Schwiegervater  eines  aus  ihnen,  temporär  abtraten, 
so  behielten  sie  doch  die  Anwartschaft  darauf  als  seine  Erben, 
die  ihnen  auch  v  e  rbri  e  f  t  ward. 


S  i  c  k  e  I.    Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  185 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen. 

Beitrag  zur  Geschichte  Mailands  im  XV.  Jahrhundert. 

Von  Dr.  Th.  Sickel. 

In  einer  Abhandluag  von  mir  über  die  Erwerbung  Mailands 
durch  Franz  Sforza,  welche  im  XIV.  Bande  des  Archivs  für  Kunde 
österreichischer  Geschichtsquellen  adgedruckt  worden  ist,  sprach 
ich  schon  mein  Bedauern  darüber  aus  ,  dass  das  von  mir  damals 
benutzte  Material  in  den  Mailänder  Archiven  mehrfach  Lücken  ent- 
hält und  mich  oft  bei  Aufklärung  der  wichtigsten  Begebenheiten  in 
Stich  gelassen  hatte.  So  hatte  ich  unter  den  Papieren  aus  der  Zeit 
der  Ambrosianischen  Bepublik  nichts  mehr  gefunden,  was  über  die 
Beziehungen  der  damaligen  Mailänder  Begierung  zu  anderen  Staaten 
hätte  Aufschluss  geben  können  und  hatte  mich  mit  den  dürftigen 
Notizen  begnügen  müssen,  welche  die  sonst  so  trefflichen  Mailänder 
Chronisten  über  diesen  Punct  überliefert  haben.  Weitere  Forschun- 
gen welche  ich  seitdem  an  anderen  Orten  habe  anstellen  können, 
haben  mich  in  den  Stand  gesetzt,  gerade  zur  Aufklärung  dieser  Be- 
ziehungen neues  Material  beizubringen,  und  namentlich  hat  mich 
eine  in  Genf  aufbewahrte  Sammlung  von  Actenstücken  aus  den  Jah- 
ren 1447 — 1449  von  der  früher  mir  entgangenen  Bedeutsamkeit  der 
Unterhandlungen  überzeugt,  welche  zwischen  der  Ambrosianischen 
Republik  und  dem  Hause  Savoyen  gepflogen  worden  sind.  Es  beßn- 
det  sich  nämlich  in  dem  Genfer  Cantonalarchive  (Affaires  etrangeres 
Nr.  24)  ein  Folioband  mit  dem  Titel:  „Recueil  de  lettres  entre  le 
Pape  Felix  et  son  fils  au  sujet  de  la  ligue  de  Milan",  320  Seiten 
stark.  In  demselben  sind  60  meist  gut  erhaltene  Schriftstücke  (das 
von  neuerer  Hand  vorgeschriebene  Register  zählt  nur  59  auf, 
indem  es  eine  Numer  zwischen  14  und  15  übergeht)  zusammenge- 
bunden, die  sieh  mit  wenigen  Ausnahmen  auf  die  angegebene  Ligue 
beziehen.    Theils  sind  es  Originalstücke,  theils  gleichzeitige  Copien, 


186  S  i  c  k  e  i. 

theils  Entwürfe;  die  letzteren  nur  mit  grosser  Mühe  zu  entziffern. 
Schon  vor  einer  Reihe  von  Jahren  waren  Turiner  Gelehrte  auf  diese 
Sammlung  aufmerksam  geworden  und  hatten  für  die  dortige  histori- 
sche Commission  eine  Abschrift  nehmen  lassen  ,  welche  aber  abhan- 
den kam,  ehe  sie  veröffentlicht  werden  konnte.  1851  erschien  dann 
im  VIII.  Bande  des  Archivs  für  schweizerische  Geschichte  eine  Ab- 
handlung des  Herrn  Prof.  Gaullieur  in  Genf,  welche  den  Inhalt  dieser 
Schriftstücke  in  ziemlich  ausführlichen  Analysen  wiedergab,  eine 
verdienstvolle  Arbeit,  zu  der  auch  ich  nur  wenige  Zusätze  und 
Berichtigungen  beibringen  kann ,  nachdem  es  mir  eben  durch  des 
II.  Gaullieur  freundliche  Vermittlung  gestattet  gewesen  ist ,  die  Ori- 
ginale einzusehen  und  durchzuarbeiten.  Darin  läge  also  noch  keine 
Berechtigung,  denselben  Gegenstand  noch  einmal  zu  behandeln.  Der 
Herr  Verfasser  hatte  aber,  seinen  eigenen  Worten  nach,  die  Absicht, 
nur  die  Puncte  zu  erwähnen,  welche  auf  die  Geschichte  von  Genf 
und  der  Schweiz  Bezug  haben ,  und  obschon  seine  Arbeit  dann  mehr 
geboten  hat,  als  die  Ankündigung  erwarten  Hess,  sind  in  ihr  doch 
viele  für  die  Geschichte  Italiens  wichtige  Ergebnisse  dieser  Schrift- 
stücke übergangen  worden.  Namentlich  blieb  es  für  die  Mailänder 
Geschichte  noch  übrig,  diesen  zum  Theil  nicht  mit  Daten  versehenen 
Schriftstücken  den  rechten  Platz  in  der  chronologischen  Reihenfolge 
anzuweisen,  sie  ferner  durch  tieferes  Eingehen  in  die  sonstigen  Mai- 
länder Quellen  mit  deren  Ergebnissen  in  Verbindung  und  so  in  das 
rechte  Licht  zu  setzen.  Das  ist  die  Aufgabe  welche  ich  mir  zunächst 
für  diese  Vorlesung  gesteckt  habe,  und  bei  deren  Lösung  ich  zugleich 
Gelegenheit  finden  werde,  die  Resultate  meiner  Forschungen  in  ande- 
ren Archiven  über  denselben  Gegenstand  einzuflechten. 

Zuvor  möge  es  mir  aber  vergönnt  sein,  zum  besseren  Verständ- 
niss  der  weitern  Darstellung  Ihnen  das  Bild  der  Personen  zu  verge- 
genwärtigen, welche  die  Hauptrolle  in  den  Beziehungen  der  Mailän- 
der Republik  zu  dem  Hause  Savoyen  gespielt  haben,  namentlich  das 
Bild  des  Herzogs  Amadeus  VIII.  von  Savoyen. 

Sobald  Amadeus  nach  der  etwas  unruhigen  Regentschaft  seiner 
Grossmutter  Anna  von  Bourbon  1398  die  Zügel  der  Regierung  selbst 
ergriffen  hatte,  trat  sein  Bestreben,  das  von  seinen  Vorfahren  begon- 
nene Werk  fortzusetzen,  deutlich  an  den  Tag.  Es  galt  die  einzelnen 
kleinen  Herren  welche  sich  inmitten  der  gräflichen  Besitzungen  noch 
unabhängig  behauptet  hatten,  in  ein  Lehensverhältnisshineinzuzwingen, 


Die  Ambrosianisclie  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  187 

und  die  einzelnen  freien  Gemeinden  weiche  sich  noch  in  jenen  Gegen- 
den erhalten  hatten,  der  gräflichen  Gewalt  zu  unterwerfen.    Savoyen 
und  Piemont  welches  letztere  J)  seit  dem  Tode  Ludwig's  von  Achaja 
(Dec.  1418)  Amadeus  zugefallen  war,  sollten  einen  in  sich  möglichst 
abgerundeten    Staat  bilden.      Für   entsprechende    Organisation   der 
Regierung  und  für  die  Gesetzgebung  entwickelte  Amadeus  eine  grosse 
Thätigkeit:  ihm  verdankte  das  Land  neue  Statuten,  eine  Art   Hypo- 
thekenordnung, eine  ziemlich  geordnete  Finanzverwaltung,  vielfache 
Verbesserung  der  Münze,   Einsetzung  von  Behörden  für   Strassen- 
und  Brückenbau  2).    Der  Stadt  Turin   widmete  der  Graf  besondere 
Aufmerksamkeit,    hob   die   dortige  Universität,    beförderte  die  Ent- 
wicklung  der  Gewerbe  und  suchte  namentlich  die  Tuchfabrication 
durch  allerlei  Begünstigungen  in  den  Stand  zu  setzen  mit  der  lom- 
bardischen zu  concurriren 3).   Grösserer  Wohlstand  sollte  die  Bürger 
für  das  allmähliche  Eingehen  ihrer  alten  Freiheiten  entschädigen. 
Übrigens  waren  sie  es  nicht  allein ,  welche  den  Druck  der  stärkeren 
Regierung  empfanden.  Der  Adel  musste  sich  ebenfalls  fügen.    Ein 
Glück  für  das  Land ,  dass  Amadeus  der  Rivalität  zwischen  savoyi- 
schen  und  piemontesischen  Edeln  Schranken  zu  setzen  und  den  alten 
Streitigkeiten  zwischen  ihnen  Einhalt  zu  gebieten  wusste.    Zu  stän- 
dischen Beralhungen,  bei  denen  der  Adel  den  Haupteinfluss  ausübte, 
Hess  es  der  Graf  nur  im  äussersten  Falle  kommen,  und  wurden  die 
Stände  zusammenberufen,  so  wurden  sie  doch  nur  das  Werkzeug  des 
das  ganze    Land    beherrschenden  Willens   des  Grafen.    Auch   der 
Geistlichkeit  war  Amadeus  ein  gestrenger  Herr.    Allerdings  folgte 
auch  er  dem  Beispiele  anderer  Fürsten ,  stiftete  Klöster  und  stattete 
einzelne,  wie  das  zu  Ripaille,  grossmüthig  aus.  Aber  auch  die  Geist- 
lichen mussten  sich  dem  weltlichen  Regimente ,   so  weit  es  das  all- 
gemeine Interesse  erheischte,    unterwerfen.     In  Turin  wurden  sie 
durch  einen Beschluss  des  herzoglichen  Rathes,  der  „super  iniquitate 
superbia  et  immoderata  avaritia  cleri  et  presbiterorum  civitatis  Tau- 
rinensis"  betitelt  war,   gezwungen  zu  den  Communallasten   beizu- 
steuern4). Was  die  Reformation  der  Geistlichkeit  betraf,  so  hatte  sich 


*)  Datta,  storia  dei  Prineipi  d'Acaja.  Torino  1832,  I,  p.  335. 

2)  D.  Maebanaei  Ep.  in  Monum.  Iiistoriae  patriae.   1.  763  seq. 

3)  Paralipomeni  di  storia   Pietnontese  per  cura    di    Searabelli   (nach  den  Forsebungen 
vom  Mareh.  F.  Carrone)    im  Areh.  storieo  llaliano,  vol.  13,  p.  240. 

4)  Searabelli,  1.  e.   p.  276. 


188  Sickel. 

der  Graf  schon  zur  Zeit  desKostnitzerConcils  lebhaft  für  sie  interessirt, 
und  als  der  dort  gefasste  Beschluss,  alle  zehn  Jahre  Provincialconcile 
zur  Hebung  der  sich  einschleichenden  Missbräuche  abzuhalten,  nicht 
zur  Ausführung  kam,  Hess  er  sich  vom  Papste  autorisiren  (Bulle  vom 
8.  Mai  1429),  die  Kirche  und  Geistlichkeit  in  seinen  Landen  einer 
Reform  zu  unterwerfen.  So  gegen  alle  streng  und  gerecht  erhielt  Ama- 
deus  Ruhe  und  Frieden  im  Lande  und  förderte  den  allgemeinen  Wohl- 
stand. Während  die  Nachbarländer  unter  der  Last  ununterbrochener 
innerer  Kriege  seufzten,  während  im  angrenzenden  Frankreich  ergrei- 
fende und  trotzige  Klagelieder,  wie  sie  uns  Monstrelet  aufbewahrt 
hat1)»  von  Mund  zu  Munde  gingen,  gedieh  das  von  Natur  nicht  einmal 
begünstigte  Land  des  Grafen  in  solchem  Masse,  dass  Olivier  de  la 
Marche3)  es  als  das  reichste,  sicherste  und  wohlbebauteste  preist. 

„Von  den  seinen  war  er  sehr  geliebt",  sagt  auch  die  lateinische 
Landeschronik  von  Amadeus,  und  wenn  sie  hinzufügt:  „und  von  den 
Nachbarn  gefürchtet",  bezeichnet  sie  eben  so  richtig  des  Grafen  Ver- 
hältniss  zu  den  Nachbarfürsten.  Eben  die  Befestigung  und  Regelung 
der  Gewalt  im  innern  Staatswesen  verlieh  dem  Hause  Savoyen  hin- 
längliche Macht,  seiner  Politik  nach  aussen  hin  Nachdruck  zu  verleihen. 
Dazu  kam  des  Grafen  Einsicht  und  Klugheit,  seine  Gewandtheit  und 
Geschmeidigkeit,  seine  Festigkeit  und  zähe  Ausdauer  in  der  Verfol- 
gung des  einmal  vorgesteckten  Zieles.  Inmitten  der  Zerwürfnisse 
welche  in  Frankreich  zwischen  den  Häusern  Valois,  Bourbon,  Orle- 
ans und  Burgund  ausgebrochen  waren,  inmitten  der  in  jedem  Augen- 
blicke sich  neu  gestaltenden  Parteiverbindungen,  wusste  er  leidliche 
Beziehungen  zu  allen  französischen  Fürsten  zu  unterhalten,  wusste 
jeden  durch  Verbindung  mit  seinen  Gegnern  einzuschüchtern, 
wusste  jedem  Zugeständnisse  zu  entlocken,  wusste  sich  hier  eine  von 
Alters  her  streitige  Herrschaft  sichern  zu  lassen,  wusste  dort  seine 
Anerkennung  als  Lehnsherr  durchzusetzen.  Am  wichtigsten  in  dieser 
Hinsicht  war  für  Amadeus,  dass  Karl  VII.  ihm  die  Oberlehnsherrschaft 
über  Saluzzo  abtrat3).  Seine  Erfolge  steigerten  dabei  sein  politisches 
Ansehen  in  solchem  Grade,  dass  er  in  den  wichtigsten  Streitfragen 
als  Schiedsrichter  oder  Vermittler  angerufen  wurde.   Zur  grössten 


*)  I.  eap.  274.  —  cf.  aneh  Chartier,  quatlrilogue  invectif. 

9)  I.  eap.  6. 

3)  Searabelli,  I.  c.  pag.  18ä. 


Die  Amhrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  189 

Ehre  gereichte  es  dem  damals  (1410)  noch  jungen  Grafen,  den  Frie- 
den von  Wincestre  *)  zu  Stande  gebracht  zu  haben.  Ebenso  gelang 
es  ihm  später  zu  wiederholten  Malen  Waffenstillstand  zwischen  König 
Karl  und  Philipp  von  Burgund  zu  vermitteln  und  allmählich  die  Ver- 
söhnung vorzubereiten,  welche  endlich  im  Frieden  von  Arras  besie- 
gelt wurde  und  Frankreich  vom  Rande  des  Abgrundes  rettete.  Nur 
übertreiben  die  Geschichtsschreiber  Savoyens  3)  den  Einfluss ,  den 
Amadeus  auf  den  Abschluss  dieses  letztern  Friedens  ausgeübt  hat,  und 
übersehen,  dass  sein  guter  Wille  und  seine  Bestrebungen  nicht  eher 
wirkliche  Erfolge  erzielt  hatten,  als  bis  das  Eingreifen  gebieterischer 
Thatsachen  und  Verhältnisse  zum  Frieden  zwang.  Immerhin  war 
während  der  französisch-burgundischen  Kriege  Amadeus'  Ansehen  so 
gestiegen,  dass  seine  Gesandten  auf  dem  Basler  Concil  den  burgun- 
dischen  den  Vortritt  streitig  zu  machen  versuchen  konnten.  Freilich 
gaben  die  Burgunder  nicht  nach,  deren  Fürsten  schon  nach  königli- 
chem Range  trachteten,  während  das  Haus  Savoyen  erst  vor  wenig 
Jahren  zur  herzoglichen  Würde  gelangt  war. 

Die  Erhöhung  des  Grafen  Amadeus  zum  Herzog  (19.  Februar 
1416)  3),  die  mit  ihr  zusammenhängende  Bestätigung  des  Reichs- 
vicariats,  dieErtheilung  des  jus  de  non  appellando  (25.  August  1422) 
waren  für  Amadeus  ebenso  viele  politische  Erfolge,  welche  ihm  dann 
den  Weg  zu  neuen  bahnten.  Was  er  der  Gunst  des  Kaisers  Sigis- 
mund  verdankte,  machte  er  namentlich  gegen  die  Schweizerrepubli- 
ken  geltend.  Als  Reichs vicar  hatte  er  einen  Rechtstitel  mehr  sich  in 
die  Angelegenheiten  des  Wallis  zu  mischen  und  die  dort  zwischen 
dem  Bischof,  dem  Adel  und  den  Gemeinden  ausgebrochenen  Händel 
zu  seinem  Vortheile  auszubeuten.  Schwerer  noch  lastete  auf  der  Stadt 
Genf  der  immer  wachsende  Einfluss  des  Grafen*).  Bald  stützte  er 
sich  bei  Geltendmachung  seiner  Ansprüche  auf  des  Kaisers  Autorität, 
bald  nahm  er  zum  Papste  Martin  V.  den  er  sich  verpflichtet  hatte, 
seine  Zuflucht.  Des  letzteren  Intervention  verdankte  er  bei  Gelegen- 
heit einer  bischöflichen   Vacanz   einen   Vertrag  5) ,   durch   den    er 


1)  Monstrelet  I.  cap.  71. 

2)  z.  B.  Guichenon  II.  pag-.  37  seq. 

3)  Guichenon,  preuves  pag.  2ö2. 

4)  Spon,  hist.    de    la    rille  et  de    letal  de  He'neve    I.    2.  —   Cibrario  in   Mein,    dell' 
Acad.di  Torino,  serie  II.  vol.  6. 

5)  1427,  Searanelli,  1.  c.  pag-.  202. 


190  S  i  c  k  e  I. 

allerdings  die  Schirmvogtei  aufgab,  dafür  aber  und  gegen  unbedeu- 
tende Geldentschädigung  die  vollfreie  Herrschaft  über  die  Vorstadt  St. 
Gervais  und  über  die  Burg  auf  der  Rhone-Insel  erwarb;  so  Herr  der 
halben  Stadt,  konnte  ihm  die  andere  Hälfte  nicht  mehr  entgehen. 

Wichtiger  für  die  Schriftstücke   die   ich  zu   analysiren   habe, 
sind  die  Beziehungen  des  Herzogs  Amadeus  zu  seinen  italienischen 
Nachbarn.  Noch  galten  die  Grafen  vonMaurienne  in  Italien  als  fremde 
Eindringlinge,  aber  sie  selbst  hielten  sich  schon  für  berufen,  einen 
grösseren  Staat  in  Überitalien  zu  bilden.    Wie  sie  sich  Saluzzo  zu 
unterwerfen  wussten,  erwähnte  ich  schon.  Die  Markgrafen  von  Mon- 
ferrat  sollten  in  gleiche  Abhängigkeit  gebracht  werden.  Bald  wurden 
ihnen  einzelne  Landstriche  in  offenem  Kriege  entrissen,  bald  mussten 
sie  savoyische  Hilfe  oder  Vermittlung  mit  Abtretung  anderer  erkau- 
fen, für  andere  mussten  sie  die  Lehnsherrlichkeit  des  Herzogs  aner- 
kennen 9-    Mehr  aber  noch  lockten  Amadeus  die  reichen  Städte  und 
Gefilde  der  Lombardei.    Die  bald  übermüthig  kühne,  bald  ängstlich 
zaghafte ,  immer  unsichere  Politik  des  Herzogs  Filippo  Maria  von 
Mailand  bot  die  beste  Gelegenheit,  sich  nach  dieser  Seite  hin  zu  ver- 
größern.  Die  wirklichen  Erfolge  waren  zwar  noch  gering,  aber  die 
Bestrebungen  des  Herzogs  Amadeus,  die  kühnsten  Hoffnungen,  das 
letzte  Ziel  seiner  Politik,  dessen  Verfolgung  seitdem  wie  eine  Pflicht 
fortgeerbt  ist  im  Hause  Savoyen ,  treten  in  allen  Verhandlungen  klar 
zu  Tage,  welche  er  mit  oder  gegen  Mailand  gepflogen  hat.    Ich  hebe 
nur   die  wesentlichsten   Momente  hervor.    Im  September   1423  2) 
wurde  zwischen  Savoyen   und  Florenz    ein  Bündniss  gegen  Filippo 
Maria  geschlossen  (auch  die  Schweizer  hoffte  man  mit  in  dasselbe 
hineinzuziehen),  in  welchem  die  Republik  auf  alle  Eroberungen  in  der 
Lombardei  verzichtete  und  sie  dem  Herzoge  in  Aussicht  stellte.  Durch 
die  Abtretung  von  Vercelli  wandte  Visconti  noch  die  ihm  von  Savoyen 
drohende  Gefahr  ab.    Schon  wenige   Jahre  darauf  (11.  Juni  1426) 
kam  es  aber  zu  einem  neuen  Vertrage  3)  zwischen  Venedig,  Florenz 
und  Savoyen,  der  wenigstens   bis   ein  Jahr  nach  dem  Tode  des  Her- 
zogs von  Mailand  dauern  sollte.  Nach  demselben  sollte  das  Herzogthum 


*)  Ben.   di  San  Giorgio  u.  Scarabelli,  pag.  267. 

2)  Simonetta,  de  rebus  gestis  Fr.  Sfortiae  I.  II.  —  Scarabelli,  pag.  209. 

3)  Gnichenon,  preuves  pag.  263,  und  der  Wortlaut  des  Theilungsvertrags  bei  Scara- 
belli, 1.   c.  pag.  211. 


Die  Ambrosianische  Republik   und  das  Haus  Savoyen. 


191 


Mailand  ganz  verschwinden,  und  bei  der  zwischen  den  contrahiren- 
den  Mächten  im  voraus  verabredeten  Theilung  hatte  sich  Amadeus 
das  beste  Theil  ausbedungen:  alles  Gebiet  von  der  piemontesischen 
Grenze  bis  an  den  Tessin  und  jenseits  noch  Mailand  und  Pavia  mit 
allen  Dependenzen.  Der  Kaiser  vermittelte  zwar  nochmals  zwischen 
den  Herzögen  von  Mailand  und  Savoyen;  aber  jener  musste  in  den 
beiden  Verträgen  vom  2.  Februar  und  2.  December  1427  *)  die  Ab- 
tretung von  Vercelli  und  aller  seit  seinem  Regierungsantritte  von  Sa- 
voyen gemachten  Eroberungen  bestätigen;  zugleich  drang  ihm  Ama- 
deus seine  älteste  Tochter  Maria  zur  Frau  auf.  in  Folge  dieser 
schlau  berechneten  Verbindung  nahm  Amadeus'  Politik  eine  neue 
Wendung  an.  Allerdings  beauftragte  er  seine  Gesandten,  den  Vene- 
tianern  und  Florentinern,  welche  ihr  früheres  Bündniss  mit  Savoyen 
durch  diese  Heirath  bedroht  glauben  mussten,  die  Erklärung  abzuge- 
ben, „dass  die  Heirath  nicht  gegen  die  gemeinschaftliche  Ligue  Ver- 
stösse und  in  keinem  Falle  ein  Hinderniss  sei,  auch  in  Zukunft  Krieg 
mit  Mailand  zu  beginnen ,  dass  es  schon  andere  Beispiele  der  Art  in 
der  Geschichte  der  Familie  gebe"  2).  Diese  beruhigende  Erklärung 
sollte  aber  offenbar  nur  den  Übergang  zu  einer  neuen  Haltung  vermit- 
teln und  hielt  Amadeus  nicht  ab,  im  weiteren  Verlaufe  die  Partei  des 
Visconti  gegen  die  beiden  Republiken  zu  ergreifen.  Nur  seinen  eige- 
nen Wünschen  blieb  Amadeus  dabei  treu.  Sein  altes  Ziel,  die  Erobe- 
rung der  Lombardei,  wollte  er  jetzt  durch  den  Herzog  von  Mailand 
aufgedrungene  Freundschaft  zu  erreichen  suchen.  Denn  zum  Schutze 
der  Viscontischen  Staaten  und  gleichsam  als  Gegenleistung  für  im 
Nothfall  zu  leistende  Hilfe  brachte  Amadeus  eine  Schenkung  unter 
Lebenden  zwischen  sich  und  dem  kinderlosen  Filippo  Maria  zur 
Sprache.  Als  seine  im  Sommer  1434  nach  Mailand  geschickten  Ge- 
sandten immer  wieder  auf  diesen  Vorschlag  zurückkamen,  sah  sich 
der  dortige  Herzog  genöthigt  durch  seine  Räthe  den  Gegenvorschlag 
machen  zu  lassen,  er  wolle  einen  von  Amadeus'  Söhnen  adoptiren  und 
im  Fall,  dass  er  ohne  eigene  legitime  Kinder  zu  hinterlassen  sterbe, 
diesem  Adoptivsöhne  Genua,  Savona,  Asti,  Tortona,  Alessandria,  Parma 
und  Piacenza  mit  ihren  Gebieten  zufallen  lassen.  In  dem  schliesslich 
vereinbarten  Vertrage  (von  Filippo  Maria  am  17.  October,  von  Amadeus 


1)  Guichenon,  hist.  vol.  II,  pag-.  41   und  preuves  pag\  344.  —  Andreas  Billius,   I.  VI. 

2)  Scarabelli,  I.  c.  p.  222. 


192  Si  cke  I. 

am  8.  November  beschworen)  war  aber  weder  von  Schenkung 
noch  von  Adoption  die  Rede ,  in  der  Hauptsache  wurde  nur  der  Ver- 
trag von  1427  erneuert  und  demselben  einige  Territorialbestimmun- 
gen zu  Gunsten  Savoyens  hinzugefügt1)-  Wahrscheinlich  hatte  der 
Umstand,  dass  Amadeus  seine  letzten  Absichten  diesmal  zu  deutlich 
durchblicken  Hess,  die  Mailänder  von  grösseren  Zugeständnissen 
abgehalten.  Dass  die  ganzen  Verhandlungen  in  das  tiefste  Geheim- 
niss  gehüllt  waren  —  so  dass  die  gleichzeitigen  Mailänder  gar  keine 
Kenntniss  von  ihnen  gehabt  zu  haben  scheinen  und  ebenso  wenig  spä- 
tere Historiker,  bis  Carrone  den  Schleier  gelüftet2)  —  ersparte  dem 
Herzoge  von  Savoyen  die  Schmach  einer  auf  diplomatischem  Felde 
erlittenen  Niederlage  und  that  seinem  auf  die  offenkundigen  Erfolge 
gegründeten  politischen  Rufe  keinen  Abbruch. 

Fassen  wir  also  das  Bisherige  noch  einmal  zusammen,  so  kön- 
nen wir  im  Grossen  und  Ganzen  Amadeus1  Politik  als  von  glücklichem 
Erfolge  gekrönt  bezeichnen.  Indem  seine  Zeitgenossen  eben  so 
urtheilten,  musste  sie  allerdings  die  Nachricht  überraschen,  dass  sich 
Amadeus  der  fürstlichen  Gewalt  begeben  und  als  Eremit  nach  Ripaillc 
zurückgezogen  habe.  Aber  hätten  sie  und  viele  der  späteren  Histori- 
ker die  Bedeutung  dieses  Schrittes  nicht  überschätzt,  wären  sie  der 
angeblichen  Abdankung  des  Herzogs  auf  den  Grund  gegangen,  so 
würden  sie  sich  die  Mühe  erspart  haben,  unhaltbare  Erklärungsver- 
suche aufzustellen.  Die  meisten  früheren  Schriftsteller  (A.  Sylvius, 
Wanderburch,  ßzovius,  Monod,  Sala,  Doni  d'Altidio,  Guichenon) 
schreiben  den  Entschluss  des  Herzogs  tief  religiöser,  devoter  Gesin- 
nung zu  und  stellen  dem  entsprechend  sein  Leben  in  Ripaille  als 
streng  ascetisch  dar.  Der  Tod  seiner  Gemahlinn  Maria  von  Burgund 
(von  dem  aber  Cibrario  3)  in  neuester  Zeit  nachgewiesen  hat,  dass 
er  schon  in  das  Jahr  1422  fällt),  der  Tod  seines  ältesten  Sohnes 
(2.  Aug.  1432)  sollten  sein  Gemüth  tieferschüttert,  das  Attentat  auf 
ihn,  dessen  Galois  de  Sure  1434  beschuldigt  wurde,  sollte  ihm 
die  Vergänglichkeit  dieses  Lebens  zum  Bewusstsein    und  ihn   zum 


1)  Scarabelli,  I.  c.  pag.  267. 

2)  Nur  dem  burgundischen  Hofe  scheinen  die  Verhandlungen  nicht  unbekannt 
geblieben  zu  sein,  und  daher  mag  Olivier  de  la  Marche  1.  cap.  6  seine  Nach- 
richt haben;  nur  irrt  er,  wenn  er  glaubt,  dass  es  wirklich  zur  Verschiebung 
Mailands  an  Savoyen  gekommen  sei. 

3)  Cibrario,  opusculi,  Torino  1841:  Cronologia  rettificata. 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  193 

Entschluss  gebracht  haben,  sich  von  der  Welt  und  ihrem  Treiben 
zurückzuziehen.  Sein  der  Kirche  ergehener  Sinn,  seine  Fürsorge 
für  dieselbe  werden  ferner  von  diesen  Schriftstellern  angezogen,  die 
zum  Theil,  namentlich  Wanderburch  *)♦  was  m  Amadeus'  Innerm  vor 
sich  gegangen  sein  soll,  mit  langen  ebenso  umvahren  als  unschönen 
Reden  ausschmücken.  Aber  es  ist  schwer  mit  dem  was  wir  von  dem 
Leben  des  Herzogs  vor  und  nach  seinem  Eintritt  in  Ripaille  wissen, 
zusammenzureimen,  dass  einzelne  Unglücksfalle  in  seiner  zahlreichen 
Familie  in  solchem  Grade  auf  ihn  gewirkt  und  dass  Überdruss  an  der 
Welt  ihn  in  stilles  selbstbeschauliches  Leben  getrieben  habe.  Hatte 
er  sich  doch  auch  früher  eines  frommen  Gelübdes,  des  einer  Wallfahrt 
nach  dem  gelobten  Lande2),  ein  Gelübde,  auf  dessen  Erfüllung  seine 
Zeit  noch  so  grossen  Werth  legte,  ohne  Bedenken  überhoben,  als  die 
Pflichten  des  weltlichen  Fürsten  ihn  im  Vaterlande  zurückhielten. 
Vielleicht  können  wir  auch  einen  Schluss  auf  die  Geistesrichtung  3) 
des  Herzogs  aus  den  Büchern  ziehen,  welche  er  für  seine  Bibliothek 
erwarb;  Carrone4)  führt  aus  den  in  Turin  erhaltenen  Rechnungen  als 
solche  folgende  auf:  eine  Bibel  und  den  Trojanerkrieg  in  französischer 
Sprache,  den  Thesaurus,  die  Geschichte  der  Römer  und  Carthager, 
die  neun  alten  Philosophen,  Seneca's  Briefe,  Dante,  die  Kriege 
Frankreichs  und  Englands,  die  Statuten  der  Lombardei,  die  Cento 
Novelle  in  lombardischem  Dialekt.  Ein  angehender  Eremit  würde 
wohl  in  anderen  Büchern  Nahrung  für  seinen  Geist  gesucht  haben. 

Finden  sich  nun  in  den  früheren  Jahren  des  Herzogs  keine 
Spuren  dieser  ihm  angedichteten  Neigung  zu  beschaulichem  Leben, 
so  widerlegt  vollends,  was  wir  von  der  Lebensweise  Amadeus'  und 
seiner  Gefährten  in  Ripaille  wissen,  die  aufgestellte  Behauptung 
eines  streng  ascetischen  Wandels.  Amadeus  hat  in  dieser  Hinsicht 
nichts  gemein  mit  seinem  Zeitgenossen  Bruder  Klauss.  Während 
dieser  sich  seine  Hütte  am  felsigen  Ranft  aufbaute  inmitten  damals 
unwegsamer  Wildniss  ,  prangte  des  Herzogs  Eremitage  in  freund- 
licher Gegend  in  aller  Pracht  jener  Zeit.  Das  Schloss  zu  Ripaille,  an 


*)  Sabaudorum  ducum  bist,  gentilitiae  1.  II,  pag.  120  seq. 

2)  Cibrario,  Economia  politica  vol.  II,  pag-,   17. 

3)  Sauli,  condizione  degli  studj  nella  Savoja,  in  Mem.  dell'Acead.  di  Torino,  s  II. 
vol.  VI.  pag.  126  sequ.  —  Über  den  Kunstsinn  des  Herzogs  cf.  Cibrario,  studj 
storici,  Tor.  1851,  pag.  321. 

4)  Scarabelli,  I.  c.  pag.  248. 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  I.  Hft.  13 


194  Siekel. 

den  wohnlichen  Ufern  des  Genfersees,  von  herrlichem  Eichen-  und 
Kastanienwald  umgeben,  war  schon  in  früheren  Zeiten  ein  Lieblings- 
aufenthalt des  Grafen  von  Savoyen  *).  Amadeus  verlebte  dort  einen 
Theil  seiner  Jugendjahre,  vergrösserte  später  das  alte  Schloss, 
legte  bei  ihm  längs  der  Dranse  einen  weiten  Wildpark  an  ,  stiftete 
daselbst  die  Augustinerabtei  zu  N.  Dame  de  St.  Maurice,  an  die  sich 
dann  später  die  Eremitage  anschloss.  Schweizer  Chroniken  schildern 
letztere  als  eine  Art  Burg,  deren  einzelne  Thürme  und  Flügel  eben 
so  viele  Wohnungen  für  die  einzelnen  Ordensbrüder  bildeten;  jeder 
Flügel  war  von  einem  Garten  umgeben  und  enthielt  allerlei  Gemächer 
und  eine  Einrichtung  ,  deren  Bequemlichkeit  auch  einem  Fürsten 
nichts  zu  wünschen  übrig  Hess.  Die  Kleidung  unserer  Eremiten  ahmte 
auch  nur  in  der  Farbe  und  dem  Schnitt  des  Gewandes  —  grauer  eng 
anliegender  Rock  mit  Kutte  —  die  wirklicher  Einsiedler  nach,  und 
zu  ihm  und  dem  knotigen  Stock  passte  gar  wenig  das  Purpurbarett, 
der  goldgestickte  Gürtel  und  das  goldene  Ordenskreuz  2).  Anstatt 
Wurzeln  und  Quellwasser,  fügt  Monstrelet  hinzu,  Hessen  sie  sich  den 
besten  Wein,  das  schönste  Fleisch  vorsetzen;  und  wer  noch  an  dem 
guten  Leben  zweifeln  sollte,  das  die  Brüder  von  Ripaille  führten,  den 
verweisen  wir  auf  die  in  Turin  aufbewahrten  Küchenrechnungen  3), 
nach  denen  alle  Delicatessen  jener  Zeit  für  den  Tisch  von  Ripaille 
angekauft  wurden.  Amadeus  hatte  auch  hinlänglich  für  den  Unterhalt 
in  Ripaille  gesorgt:  10,000  Gulden  waren  für  ihn  ausgesetzt,  zu  denen 
noch  die  Einkünfte  des  Bisthums  Genf  kamen,  aus  dem  er  den  recht- 
mässigen Inhaber  Franz  Miez  verdrängt  hatte  und  in  dem  er  sich  seit 
des  letztern  Tode  (1440)  behauptete  4).  So  Hess  sich  schon  leben  „in 
einem  Paradiese  von  Vergnügungen",  wie  Maehanaeus  sagt  5);  so 
konnte  schon  bei  den  damals  noch  in  strenger  Zucht  aufgewachsenen 
Schweizern  Amadeus  in  den  Ruf  eines  Schwelgers  kommen;  so 
konnte  das  sprüchwörtliche  „faire  Ripaille"  entstehen,  lange  bevor 
Voltaire  in  seinen  Briefen  über  den  Genfersee  den  wunderlichen 
Amadeus  mit  den  Worten  geisselte: 

„Tu  vecus  en  vrai  sage,  en  vrai  voluptueux". 

1)  Chron.    du    Conte    Ronge    in    Monum.    hist.    patriae  p.  I.    col.  590.     Wurstisen. 
Basler  Chron.  ed.  1765,  pag.  386. 

2)  A.  Sylvius  ad  Petrura  Noxetanum.  —  Monstrelet  II,  eap.  168  u.  a. 

3)  Scarabelli,  1.  c.  pag.  251. 

4)  Levrier,  Ies  Contes  du  Genevois  II.  pag.  30  seq. 

5)  Machanei  Epit.  hist.  in  Mon.  hist.  patriae  I ,  col.  614. 


Die  Ambrosianische  Republik  und  «las  Haus  Savoyen.  1  95 

Dies  weltliche  Treiben  in  der  Eremitage  hängt  nun  auch  damit 
zusammen,  dass  Amadeus  keineswegs,  wie  es  darzustellen  versucht 
worden  ist,  auf  die  Betheiligung  an  den  Welthändeln  verzichtet  hatte. 
Der  Wortlaut  des  Patents  vom  7.  November  1434,  durch  welches 
der  Herzog  seinen  Sohn  Ludwig,  Prinz  von  Piemont,  zum  Statthalter 
einsetzt  *),  lässt  in  dieser  Hinsicht  keine  Zweifel  zu.  Amadeus  bindet 
in  demselben  seinen  Sohn  nicht  allein  an  Vorschriften,  welche  er  ihn 
bei  der  Regierung  streng  zu  beobachten  ermahnt,  sondern  macht  die 
Ausübung  der  herzoglichen  Gewalt  zum  Theil  von  seiner  Zustim- 
mung abhängig,  zum  Theil  reservirt  er  sich  dieselbe  ganz.  Der  Zu- 
stimmung des  Vaters  bedurfte  es  zur  Abschliessung  oder  Aufkündi- 
gung von  Verträgen,  zu  Kriegserklärungen,  zur  Veräusserung  von 
Domänen,  zu  Änderungen  in  der  Münzwährung,  zur  Ertheilung  von 
geistlichen  Ämtern  und  Pfründen.  Die  Steuern  sollten  ausschliesslich 
von  des  Vaters  Schatzmeister  eingezogen  werden,  und  die  etwanige 
Erhebung  zu  gräflichen  und  markgräflichen  Würden  behielt  der  alte 
Herzog  sich  allein  vor.  Um  im  Übrigen  des  Statthalters  Regierung 
möglichst  überwachen  zu  können,  Hess  Amadeus  seinen  Sohn  meisten- 
theils  in  Thonon,  also  in  seiner  Nähe,  residiren.  Die  Staatshandlungen 
fuhren  denn  auch  fort  im  Namen  von  Amadeus  zu  geschehen,  dessen 
Name  sich  auch  als  alleinige  Unterschrift  unter  vielen  Documenten 
befindet.  Ich  führe  nur  einige  Belege  an.  Ende  1436  liess  Amadeus 
durch  seine  Abgeordneten  einen  seit  langer  Zeit  mit  Bourbon  streitigen 
Punct  die  Herrschaft  Dombes  betreifend  beilegen3).  Ein  Jahr  darauf 
vermittelte  er  die  Heirath  zwischen  Johann  von  Cypern  und  Amadea 
Yon  Monferrat3).  Der  Geleitsbrief  für  den  Kaiser  und  die  Patriarchen 
des  Morgenlandes ,  welche  aufgefordert  nach  Basel  zu  kommen, 
Savoyen  hätten  berühren  müssen,  war  von  Amadeus  ausgestellt4). 
Die  Verhandlungen  mit  Venedig  im  Jahre  1437  führte  der  alte  Herzog 
ausschliesslich,  empfing  die  Briefe  und  Gesandtschaften  des  Dogen 
und  ordnete  seinerseits  Gesandte  an  ihn  ab 5).  Von  den  inneren 
Angelegenheiten  die  von  Amadeus  ausgingen,  führe  ich  nur  die 
Reorganisation  des  Appellhofes  an6).    Carrone  weist  sogar  einzelne 

!)  Guichenon,  preuves  353.  —  Monstrelet.  II,  cap.  168. 
2)  Guichenon,  bist,  de  Bresse. 
3J  Ben.  S.  Giorgio  pag.  324. 

4)  MS.  lat.   Nr.  27  auf  der  Genfer  Cantonalbibiiothek. 

5)  Guichenon,  hist.   de  Savoie,  pag.  59  und   preuves. 

6)  Scarabelli,  I.  c.  pag.  274. 

13* 


196  Sicke   . 

Regierungsacte  nach,    welche  Amadeus  gegen  den  Willen  und   die 
Bitten  seines  Sohnes  vornahm. 

Die  angebliche  Abdankung,  der  vermeintliche  Überdruss  des 
Eremiten  Amadeus  an  Ausübung  weltlicher  Gewalt  sind  also  darauf 
zurückzuführen,  dass  der  Herzog  der  alltäglichen  minder  bedeuten- 
den Geschäfte  überhoben  sein  wollte,  an  allen  wichtigen  Angelegen- 
heiten dagegen  nach  wie  vor  den  lebhaftesten  Antheil  nahm,  für  sie 
mit  seinen  Ordensbrüdern  den  höchsten  Rath  *)  bildete  und  in  ihrer 
Leitung  sogar  eine  grosse  Thätigkeit  entwickelte.  Weder  die  irdi- 
sche Richtung,  noch  den  weltlichen  Inhalt  seines  Lebens  hatte  Ama- 
deus durch  seinen  Eintritt  in  Ripaille  aufgegeben :  nur  unter  anderer 
Form,  in  anderer  Kleidung  und  mit  anderem  Namen  lebte  er  dort  als 
Grosser  und  als  Fürst  fort.  Bedarf  dieser  Schritt  der  sich  somit  nur 
auf  Äusserlichkeiten  bezieht,  noch  einer  Erklärung,  so  möchte  ich  ihn 
auf  eine  gewisse  romantische  Neigung  des  Herzogs  zurückführen. 
Savoyen  hat  im  XV.  Jahrhundert  vieles  mit  anderen  Grenzprovinzen 
und  Ländern  Frankreichs  gemein,  namentlich  mit  Burgund.  Durch 
das  Gefühl  des  Gegensatzes  zu  den  thatsächlichen  Verhältnissen,  in 
welchen  sich  die  neue  Zeit  ankündigte,  und  zu  den  Ideen,  als  deren 
Träger  Frankreich  in  die  Schranken  trat,  wurde  grade  an  den  Gren- 
zen dieses  Reiches  das  Bestreben  angeregt,  der  Neugestaltung  ent- 
gegenzutreten und  zu  diesem  Behufsich  mit  Bewusstsein  in  die  For- 
men vergangener  Zeiten  zurückzudenken  und  sie  mit  einem  gewissen 
Schein  der  Realität  zu  umkleiden.  Es  würde  über  die  hier  mir 
gesteckte  Aufgabe  hinausgehen,  durchzuführen  ,  wie  in  beiden  Län- 
dern, in  Rurgund  und  in  Savoyen,  diese  Romantik  alle  Richtungen 
des  Lebens  durchdrang,  namentlich  an  den  Höfen  der  Fürsten,  an 
denen  der  frühere  nur  noch  in  veralteten  Institutionen  und  Sitten 
fortlebende  Geist  und  der  neue  erst  nach  entsprechenden  Formen 
ringende  am  meisten  aufeinanderstiessen.  In  Burgund  entstand  auf 
diesem  Boden  der  goldene  Vliessorden ,  an  die  Stelle  der  abhanden 
gekommenen  Bittertreue  und  Bitterehre  Fictionen  derselben  setzend, 
dabei  mit  ganz  weltlichen  Formen,  denn  seine  Mitglieder  waren  auf 
dem  Schlachtfelde  aufgewachsen  und  ergraut  und  sollten  jeder  Zeit 
zu  neuem  Kampfe  gerüstet  sein.  In  Savoyen,  von  ähnlichen  Einflüssen 


*)  Cibrario,  studi  storici  pag.  318  seq. 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  1  {)( 

getrieben,  stiftete  Amadeas  die  Brüderschaft  der  Eremiten  von 
St.  Maurice,  auch  insofern  ein  Ritterorden,  als  seine  Mitglieder  die 
Ahnenprobe  zu  bestehen  hatten ,  sonst  die  Formen  geistlicher  Orden 
nachahmend.  Die  Wahl  dieser  letzteren  mag  allerdings  durch  den  fried- 
lichen, schlicht  frommen  aber  doch  jedes  höheren  religiösen  Schwunges 
baaren  Sinn  des  Herzogs  bestimmt  worden  sein,  und  dadurch,  dass  Ama- 
deus,  der  den  damaligen  Verfall  der  Kirche  und  ihrer  Träger  aus  der 
Nähe  geschaut  hatte  und  an  den  mühsamen  Versuchen  sie  zu  läutern  ein 
lebhaftes  Interesse  nahm,  durch  den  Schein  solcher  Formen  eine 
der  früher  ehrwürdigsten  kirchlichen  Institutionen  wieder  zu  heben 
gedachte.  Dass  es  aber  auch  nur  eine  Fiction  war,  in  der  sich  Ama- 
deus  gefiel,  sahen  wir  schon;  kein  Gelübde  im  alten  Sinne  band  die 
Brüder,  welche  sich  lediglich  zur  Beobachtung  rein  äusserlicher 
Formen  verpflichteten  und  sonst  in  jeder  Beziehung  in  weltlichem 
Treiben  und  Trachten  verharrten. 

Allerdings  ist  noch  eine  andere  Erklärungsweise  versucht 
worden,  welche  dem  Eintritte  des  Herzogs  in  die  Eremitage  eine  viel 
grössere  Tragweite  geben  würde,  und  zu  welcher  sich  noch  in  neuester 
Zeit  der  von  mir  oft  angeführte  Carrone  hingeneigt  zu  haben 
scheint.  Mit  Berufung  auf  einzelne  Stellen  älterer  zum  Theil  dem 
XV.  Jahrhundert  angehöriger  Geschichtsschreiber  wird  nämlich 
behauptet,  durch  den  Eintritt  in  eine  Art  von  geistlichen  Orden  habe 
sich  Amadeus  den  Weg  bahnen  wollen  zu  seiner  später  wirklich 
erfolgten  Papstwahl,  womit  dann  zusammenhängt,  dass  die  letztere 
auf  einer  fein  angelegten,  Jahre  lang  vorbereiteten  Intrigue  beruht 
haben  und  namentlich  durch  Bestechung  der  Basler  Väter  zu  Stande 
gekommen  sein  soll.  Obgleich  diese  Behauptung  die  von  mir  versuchte 
Auffassung  nicht  geradezu  ausschliessen  würde  ,  wage  ich  ihr  nicht 
beizustimmen,  so  lange  sie  nicht  schlagender,  als  bisher  geschehen 
ist,  begründet  sein  wird.  Wir  berühren  hier  einen  der  wichtigsten 
Momente  der  Geschichte  der  Kirche  und  der  Geschichte  des  XV. 
Jahrhunderts,  über  welche  einUrtheilzu  fällen  erst  möglich  sein  wird, 
wenn  reichlicheres,  namentlich  urkundliches  Material  vorliegen  wird. 
Die  Chronisten  erscheinen  mir  in  allem  was  sich  auf  die  Kirchen- 
spaltung und  das  Basler  Concil  bezieht,  schlechte  Gewährsmänner  zu 
sein.  Die  Laien  unter  ihnen  sind  nicht  genug  über  die  geheimen  Trieb- 
federn und  Vorgänge  innerhalb  der  kirchlichen  Parteien  unterrichtet 
oder  scheuen  sich,  was  sie  wissen  und  meinen,  auszusprechen.  Der  in 


198  Sickel. 

alter  Zucht  und  Ehrfurcht  aufgewachsene  de  la  Marche  spricht  sich  *) 
eben  hei  Gelegenheit  des  damaligen  Schisma's  in  bezeichnender 
Weise  aus.  „Ehe  man  an  den  Namen  und  Ruf  so  heiliger  und  hoher 
Person  in  der  Christenheit  rührt,  soll  unser  Verstand  stillhalten  vor 
Angst,  die  Zunge  stammeln  aus  Furcht,  die  Tinte  vertrocknen,  das 
Papier  bersten,  die  Feder  sich  krümmen  aus  Sorge  um  die  Gefahr 
zu  fallen  und  zu  verfallen  in  Ungehorsam  und  falsch  Zeugniss,  zuwi- 
der dem  Gebot  und  Geheiss  unserer  heiligen  ,  heilsamen  Mutter  und 
Quelle,  der  siegreichen  Kirche;  also  flehe  ich  zu  dem  der  da  wacht 
über  alle  Guten  und  Glaubigen,  um  Muth,  dass  er  mich  schütze  und 
bewahre,  solche  Dinge  zu  berühren  und  etwas  niederzuschreiben, 
was  gegen  die  Ordnung  und  mein  Gewissen  wäre."  Eine  gleiche 
Scheu  finden  wir  allerdings  bei  dem  Florentiner  Poggio  nicht;  er 
beschuldigt  Papst  Felix  wenigstens  indirect,  indem  er  die  Wahl  dem 
Einfluss  des  Geldes  des  letzten  Visconti  zuschreibt.  Vergessen  wir 
aber  nicht ,  dass  Poggio  an  und  für  sich  seiner  leidenschaftlichen 
Polemik  wegen  wenig  zuverlässig  ist,  dass  er  der  Verwandte,  Ver- 
traute und  einstige  Secretär  von  Nikolaus  V.  war  und  dass  er  somit 
hinsichtlich  seiner  Glaubwürdigkeit  in  Bezug  auf  die  Geschichte  des 
Schisma's  auf  gleicher  Stufe  steht  mit  den  dem  geistlichen  Stande  ange- 
hörigen  Anhängern  der  römischen  Päpste.  Deren  Zeugniss  über  dieVor- 
gänge  in  Basel  kann  aber  ebenso  wenig  massgebend  sein,  als  anderseits 
das  Schweigen  welches  die  dem  Concil  zugethanen  Berichterstatter 
über  alles  beobachten,  wasAmadeus'  Charakter  verdächtigen  könnte. 
Von  den  Chronisten  endlich  aus  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts, 
mögen  sie  nun  Laien  oder  Geistliche  sein,  können  wir  ebenfalls  über 
die  geheimen  Vorgänge  in  den  beiden  Lagern  keinen  besondern 
Aufschluss  erwarten;  denn  indem  die  Spaltung  schliesslich  durch 
Compromiss  zwischen  Nikolaus  und  Felix  ausgeglichen  wurde,  indem 
jener  die  von  seinem  Gegner  vorgenommenen  Handlungen  bestätigte 
und  ihn  selbst  mit  allen  Ehren  überhäufte,  wurde  es  allen  welche  es 
mit  der  Wiedervereinigung  aufrichtig  meinten,  zur  Pflicht,  den  Schleier 
des  Vergessens  über  das  Vergangene  zu  breiten.  Fragen  wir  weiter  nach 
dem  Zeugniss  der  Urkunden,  so  enthalten  sie  vielmehr  eine  Wider- 
legung, als  eine  Bestätigung  der  Behauptung,  dass  Amadeus'  Eintritt 
in  Bipaille  auf  die  Papstwahl  berechnet  gewesen  sei.    Der  ziemlich 

»)  1.  I,  cap.  6. 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  1  90 

lebhafte  Briefwechsel  zwischen  Papst  Eugen  und  Amadeus  *),  des  letz- 
teren Parteinahme  für  jenen  in  den  ersten  Jahren  des  Concils  lassen 
den  Herzog  eher  als  gehorsamen  Sohn,  denn  als  Mitbewerber  erschei- 
nen. Als  dann  seit  1435,  also  nach  dem  Eintritt  in  Ripaille,  die  Span- 
nung zwischen  dem  Concil  und  dem  Papste  zunahm,  hielt  Eugen  den 
alten  Herzog  noch  für  seinen  treuesten  Anhänger  und  Anwalt  (Corre- 
spondenz  bis  Juli  1439  bei  Guichenon  1.  c.) ,  und  als  das  Concil  am 
25.  Juni  1439  die  Absetzung  Eugen's  aussprach,  [protestirte  gegen 
dieselbe  gerade  Amadeus  am  entschiedensten  (20.  Juli).  Neben  die- 
sem seinem  offen  zu  Tage  liegenden  Verhalten  müsste  also  der  Herzog 
Eugen  gegenüber  eine  geradezu  entgegengesetzte  geheime  Politik 
verfolgt  haben.  Es  wiederspräche  das  allerdings  weder  Amadeus' 
Charakter,  noch  dem  Geiste  der  Zeit,  aber  es  wäre  voreilig,  es  behaup- 
ten zu  wollen  auf  blosse  Andeutungen  parteiischer  Chronisten  hin  und 
ohne  ein  einziges  urkundliches  Zeugniss  dafür  beibringen  zu  können. 
Aus  diesem  Grunde  müssen,  wie  ich  glaube,  die  betreffenden  Fragen 
als  noch  offene  behandelt  werden,  bis  reichlicheres  und  zuverlässi- 
geres Material  über  die  Geschichte  des  Basler  Concils,  wie  es  die 
kaiserliche  Akademie  in  Aussicht  gestellt  hat,  gestattet,  sich  ein  be- 
stimmteres Urtheil  über  die  Vorgänge  und  Persönlichkeiten  zu  bilden. 
Ich  würde  auch  dieser  Erörterung  über  die  Glaubwürdigkeit  der 
bisher  über  jene  Ereignisse  vorliegenden  Berichte  und  Zeugnisse  nicht 
bedurft  haben,  wenn  ihnen  nicht  rückwirkende  Kraft  auf  die  Deutung 
des  Eintritts  von  Amadeus  in  Ripaille  zugeschrieben  worden  wäre;  denn 
die  eigentliche  Geschichte  des  Papstes  Felix  berührt  nicht  mehr  die 
von  mir  zu  besprechenden  Begebenheiten  der  Jahre  1447 — 1449. 
In  ihnen  erscheint  Amadeus  höchstens  dem  Titel  nach  noch  als  Papst, 
seine  Rolle  ist  die  des  Seniors  des  Hauses,  des  politischen  Rathgebers, 
und  es  genügt  also ,  die  Daten  der  in  diese  Zeit  fallenden  Abdankung 
festzustellen.  Nach  den  auf  dem  Lyoner  Tage  erfolgten  Verabredun- 
gen2) musste  sich  Felix  dazu  bequemen3)  am  11.  December  1447 


*)  Guichenon,  hist,  p.  63  sequ.;  preuves  pag.  302  sequ.  —  und  Actenstücke  des 
Basler  Concils  in  der  Genfer  Bibliothek,  MS.   lat.  Nr.  27. 

2)  Wichtiges  Material  für  die  Geschichte  dieses  Tages  enthält  die  auf  der  kaiserl. 
Bibliothek  zu  Paris  aufbewahrte  Colleclion  Legrand,  in  vol.  I.  (Pieees  originales) 
und  in  vol.  II.  (P.  historiques). 

3)  Chron.  lat.  Sabaudiae  in  Monum.  hist.  patriae  I.  col.  620:  „renuntiato  potius 
cohacta  dici  meruit,  quam  alias."  —  Guichenon,  preuves  pag.  320. 


200  S  i  c  k  e  1. 

seine  bedingungsweise  Abdankung  zuzusagen.  Nachdem  die  Gesandten 
von  Nikolaus  und  vom  Dauphin  die  Erfüllung  der  Bedingungen *) 
gewährleistet  hatten  (4.  April  1449),  erfolgte  Felix'  förmliche  Ab- 
dankung am  7.  April  und  mit  dem  Schluss  des  Concils  von  Lausanne 
die  Wiederherstellung  der  Kircheneinheit. 

Indem  Amadeus'  Sohn  Louis  in  den  Mailänder  Angelegenheiten 
nur  die  zweite  Rolle  spielt,  kann  ich  in  Bezeichnung  seines  Charak- 
ters und  seiner  Stellung  kürzer  sein.  Louis  besass  weder  die  Ein- 
sicht noch  den  Ernst  seines  Vaters;  wandelbar  in  seinen  Neigungen 
und  Entschlüssen2)  erlahmte  er,  sobald  sich  der  Ausführung  seiner 
Pläne  Schwierigkeiten  in  den  Weg  stellten.  So  täuschte  er  die  Hoff- 
nungen, mit  denen  das  Land  seinen  Regierungsantritt  begrüsst 
hatte3).  Nachdem  er  nämlich  unter  des  Vaters  Leitung  seit  1435 
die  Verwaltung  geführt  hatte,  war  er  nach  der  Wahl  des  alten  Her- 
zogs zum  Papst,  im  April  1440,  mit  der  vollen  herzoglichen  Gewalt 
bekleidet  worden.  Von  diesem  Augenblicke  an  übten  die  Cyprioten, 
welche  mit  der  Herzoginn  Anna  von  Cypern  an  den  Hof  gekommen 
waren  4),  einen  unheilsamen  Einfluss  aus.  Nur  auf  die  Interessen  ihres 
Heimatlandes  bedacht,  sogen  sie  Savoyen  und  Piemont  aus,  um 
Gelder  nach  Cypern  zu  schicken.  Die  herzoglichen  Finanzen  verschlim- 
merten sich  mit  jedem  Tage,  das  Land  verarmte  5).  Zugleich  hatten 
die  Cyprioten  ein  lustiges,  leichtsinniges  Leben  bei  Hofe  eingeführt,  in 
dem  Louis  selbst  sich  mehr  gefiel,  als  in  Regierungsgeschäften.  Tänzer, 
Gaukler,  Sänger,  Spieler  waren  des  Herzogs  liebste  Gesellschaft;  er 
hätte  lieber  ein  Schloss  verloren,  als  einer  Belustigung  entsagt.  Was 
seines  Amtes  war,  überliess  er  unterdessen  seinen  oft  wechselnden 
und  willkürlich  schaltenden  Günstlingen.  Als  der  Missmuth  über 
dies  Treiben  einmal  zum  Ausbruch  kam,  wurde  zwar  eine  Commis- 
sion  ernannt  zu  Untersuchungen  und  zur  Reform  der  Justiz;  indem 
es  aber  dem  Herzog  an  Ernst  und  Kraft  gebrach,   das  begonnene 


*)  Ein  Empfehlungsschreiben  von  Amadeus  ddo.  Genf  18.  October  1448  (in  Mohr's 
Schweiz.  Regesten,  vol.  1.  Priorat  der  St.  Petersinsel  im  Bieler  See  Nr.  20)  regt 
die  Frage  an,  wie  ,  falls  die  dort  angegebene  Jahreszahl  richtig  ist ,  es  kommt, 
dass  Amadeus  schon  damals  den  bescheideneren  Titel :  „Bischof  von  Sabina  ,  Car- 
dinal und  päpstlicher  Legat"  angenommen  hat. 

2)  Chron.  lat.  Sab.  1.  c.  col.  615. 

3)  Macbaneus  in  Monum.  hist.  patriae  1.  col.  770. 

4)  Cibrario,  opusculi,  cronologia  rettificata. 

5)  Chron.  lat.  Sab.  I.  c.  col.  617. 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  201 

Werk  durchzuführen,  gaben  die  halben  Massregeln  nur  demHass  und 
Neid  der  Parteien  neue  Nahrung.  Ein  Theil  des  savoyischen  Adels, 
durch  Zurücksetzung  gekränkt,  suchte  bei  Karl  VII.  Schutz  *);  andere, 
weil  sie  ihren  Rath  geringschätzt  sahen ,  zogen  sich  mürrisch  vom 
Hofe  und  den  Geschäften  auf  ihre  Güter  zurück;  andere  wieder 
wandten  sich  mit  ihren  Klagen  an  den  alten  Herzog.  Des  letzteren 
noch  immer  überwiegender  Einfluss  mochte  auch  das  Regieren 
erschweren,  so  wie  anderseits  des  Herzogs  Beziehungen  zu  den  übri- 
gen Mächten  durch  Felix1  Stellung  als  Gegenpapst  immer  mehr  ver- 
wickelt wurden.  Louis  vermochte  weder  seinen  Vater  zur  Abdankung 
zu  bewegen,  auf  der  Kaiser  Friedrich  und  Karl  von  Frankreich 
bestanden,  noch  konnte  er  sich  entschliessen,  dessen  Partei  aufzu- 
geben. Nikolaus  V.  erklärte  desshalb  schon  das  ganze  savoyische 
Erbtheil  für  an  Frankreich  verfallen  2)  und  predigte  einen  Kreuzzug 
gegen  Amadeus  und  Louis.  Der  Kaiser,  durch  die  Verlängerung  des 
Schisma's  und  durch  Savoyens  Eingriffe  in  Schweizer  Angelegen- 
heiten erbittert,  verweigerte  Louis  die  Anerkennung  als  Herzog3). 
Karl  VH.  wurde  durch  die  enge  Verbindung  des  Herzogs  mit  dem 
Dauphin  verstimmt.  So  schwand  in  wenigen  Jahren  das  Ansehen  und 
der  Einfluss  hin,  zu  denen  Amadeus1  klügere  und  glücklichere  Politik 
Savoyen  erhoben  hatte.  Und  dennoch  hielt  auch  Louis  an  dem  Lieb- 
lingsgedanken seines  Vaters  fest,  an  den  Absichten  auf  dieLombardei. 
Zwar  bot  sich  kein  Anlass  mit  dem  Mailänder  Schwager  zu  brechen 
und  im  Kriege  neues  Gebiet  zu  erobern;  aber  für  den  vorherzu- 
sehenden Fall  des  unbeerbten  Todes  des  Herzogs  Filippo  Maria 
schloss  auch  Louis,  gleichwie  Amadeus,  mehrere  Bündnisse  ab.  In 
einem  zu  Thonon  am  12.  Juni  1436  getroffenen  Übereinkommen  4) 
wurde  mit  den  jüngeren  Monferrats  eine  einstige  Theilung  der  Lom- 
bardei verabredet.  Später  als  sich  Louis  und  der  Dauphin  wieder 
genähert  hatten,  entwarfen  sie  ebenfalls  im  Februar  1445  in  Genf 
einen  Vertrag5),  der  auf  Eroberungen  in  Italien  berechnet  war  und 
in  dem  sich  Herzog  Louis  den  Mailänder  Staat  ausbedung. 


*)  Dupleix,  bist,  de  France,  pag.  82. 

2)  Lünig,  Cod.  dipl.  it.  sect.  II,  43. 

3)  „Ludovico  se  pro  duce  gerenti"  und  ähnliche  Ausdrücke  in  den  Briefen  des  Kaisers, 
in  Chmel's  Regesten. 

4)  Scarabelli,  I.  c.  pag.  271. 

5)  ScarabeUi,  I.  c.  pag.  310. 


202  S  i  c  k  e  i. 

Zwei  Jahre  darauf  trat  nun  wirklich  der  lange  vorhergesehene 
Fall  ein.  Mit  dem  Tode  FilippoMaria's,  am  13.  August  1447,  erlosch 
der  Mannsstamm  der  Visconti.  „Dieser  Todesfall  —  meldeten  kurz 
darauf  die  kaiserlichen  Gesandten  in  Mailand  an  ihren  Herrn  *)  — 
ruft  grosse  Bewegungen  hervor ,  zu  denen  Italien  an  und  für  sich 
hinneigt,  und  die  jetzt  mehr  denn  je  dadurch  verschlimmert  werden, 
dass  alle  Parteien:  Deutsche  und  Italiener,  Franzosen  und  Spanier, 
des  letzten  Herzogs  Erbschaft  beanspruchen;  denn  so  glücklich  gele- 
gen ist  die  Lombardei,  so  reiches  Land,  so  üppiger  Boden,  dass  sie 
alle  anlockt."  Die  Mailänder  selbst  aber,  des  Druckes  und  der  Will- 
kür müde,  welche  die  letzten  Herzoge  ausgeübt  hatten,  hatten  vom 
ersten  Tage  an  die  Freiheit  ausgerufen  und  das  Gemeinwesen,  dessen 
Unabhängigkeit  sie  zu  vertheidigen  entschlossen  waren,  dem  Schutze 
des  heiligen  Ambrosius  anempfohlen.  Guelfen  und  Ghibellinen  hatten 
sich  einmüthig  verständigt.  Die  Organisation  der  Behörden  und 
Gerichte  wurde  vor  der  Hand  beibehalten.  Nur  wurde  dem  Rathe  der 
900,  welcher  schon  früher  für  städtische  Angelegenheiten  bestanden 
hatte,  die  Verwaltung  des  Staatsvermögens,  die  Beschlussnahme  über 
Steuern  und  die  Aufsicht  über  deren  Verwendung  zugewiesen.  Neben 
ihm  entstand  der  kleine  Rath  der  24  (je  vier  von  den  sechs  Thoren 
oder  aus  den  sechs  Stadttheilen)  ,  aus  deren  Mitte  wieder  zur  Aus- 
übung der  obersten  bisher  herzoglichen  Gewalt  die  sechs  Capitäne, 
Conservatoren  und  Defensoren  der  Freiheit  zunächst  auf  drei  Monate 
gewählt  wurden3).  So  lange  nicht  Parteileidenschaft  aufloderte, 
konnte  das  innere  Regiment  seinen  geregelten  Gang  fortgehen.  Aber 
andere  Fragen  stellten  gleich  die  junge  Ambrosianische  Republik  auf 
eine  harte  Probe.  Die  Venetianer  waren  schon  vor  des  Herzogs  Tode 
auf  Mailänder  Gebiet  erschienen  und  bedrohten  zunächst  den  Bestand 
des  Staates.  Die  Gefahr  war  so  gross,  dass  man  eilig  Francesco 
Sforza,  obgleich  er  selbst  Erbansprüche  auf  das  Herzogthum  erhob, 
herbeirufen  und  ihm  unter  Abschluss  einer  vortheilhaften  Condotta 
die  Vertheidigung  des  Vaterlandes  anvertrauen  musste3).  In  jedem 
Prätendenten,   unter  denen  nächst  Sforza  Alfons  von  Aragonien  und 


*)  Chmel,  Materialien  1,  CXI,  h. 

2)  Arehivio  civico  di  Milano ,  Reg-.  A.  u.  B.  ad  1448;  einzelnes  auch  im  Gesandtschafts- 
bericht bei  Chmel  I.  c. 

3J  Arch.  civico  Reg-.  B.  f.  16  v.  Wo  nicht  besondere  Citate  angegeben  sind ,  folge  ich 
den  Mailänder  Chronisten :  Simonetta,  Corio  und  Cagnola. 


Die  Ainbrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  £\J d 

Herzog  Karl  von  Orleans  am  meisten  zu  fürchten  waren,  drohte  ein  Feind. 
Es  war  auch  fraglich,  ob  die  übrigen  Städte  und  Gebiete  der  Lombardei, 
welche  von  dem  Visconti  beherrscht  worden  waren ,  sich  dem  Regi- 
mente  der  Hauptstadt  unterwerfen  und  die  von  ihr  beanspruchte  Lan- 
deshoheit anerkennen  würden.  Crema,  Parma,  Como,  Novara  hatten 
sich  freilich  schon  günstig  erklärt;  auch  das  entfernte  Chiavenna  *) 
huldigte,  als  Baldessare  Vertemate  das  weisse  Fähnlein  mit  dem 
rothen  Kreuz  und  darüber  das  Wort  „Libertas"  dorthin  brachte,  und 
nahm  einen  Mailänder  Vogt  auf.  Aber  Lodi,  der  Hauptstadt  gefährlich 
nahe,  war  von  der  gueliischen  Partei  bestimmt  worden ,  sich  dem 
Banner  von  St.  Marcus  zu  unterwerfen  (schon  am  17.  August);  Pia- 
cenza  folgte  seinem  Beispiele  bald  nach.  Im  Parmesanischen  ver- 
suchten die  Este  und  die  Correggi  das  Joch  Mailands  abzuschütteln 
und  machten  selbst  auf  Parma  Anschläge.  Im  Norden  des  Herzog- 
thums  schwankte  alles.  Die  kleinen  Herrn  an  den  Seen:  die  Rusca 
in  Lugano,  die  Borromeo  in  Arona  u.  s.  w.  suchten  sich  frei  zu 
machen.  Ins  Liviner-  und  Palenzerthal  fielen  die  Urner  ein2),  ohne 
bei  den  unschlüssigen  Vögten  Widerstand  zu  finden,  und  erneuerten 
mit  ihren  welschen  Brüdern  die  alten  Bünde.  Von  Westen  her  war 
die  Hauptstadt  ebenso  bedroht.  Nachdem  die  Parteien  in  Pavia  lange 
geschwankt,  ergab  sich  die  Stadt  am  8.  September  dem  Grafen  Fran- 
cesco. Wenn  auch  Genua,  wie  es  dem  Kaiser  versprochen3),  sich 
ruhig  verhielt,  so  überschritten  doch  die  Fieschi  und  Fregosi  auf 
eigene  Hand  das  Gebirge  und  bemächtigten  sich  einzelner  Ortschaf- 
ten. Von  Asti  aus  drohte  Frankreichs  Macht,  vom  sterbenden  Her- 
zoge selbst  herbeigerufen.  Denn  als  er  sich  in  seinem  letzten  Lebens- 
jahre von  allen  Seiten  bedrängt  sah,  hatte  er  sich  erboten  ,  wenn 
Karl  VII.  ihm  Hilfe  schicke,  die  Grafschaft  Asti,  einst  der  Valentina 
Visconti  als  Heirathsgut  zugeschrieben,  ihrem  Erben  Karl  von 
Orleans  auszuliefern.  Die  Übergabe  erfolgte  auch  wirklich  am  12. 
August  —  also  am  Tage  vor  Viseonti's  Tode  —  durch  den  herzog- 
lichen Statthalter  Tomaseo  Tebaldo  zu  Händen  des  vom  König  gesand- 
ten Gouverneurs  Dresnay.  Durch  diese  Festsetzung  in  Asti  wurde 
Orleans,  der  Mailand  als  Weiberlehen  betrachtete  und  so  als  nächster 
Erbe  das  ganze  Herzogthum  forderte,  besonders  gefährlich.     Sein 


')  Spreeher,  Pallas  1.  3,  pag.  95  ;  Guier  (selbst  Podesta  in  Plurs)  Rhaetia  1.11. 

2)  Tschudi  II,  518. 

3)  Brief  vom  4.  Oct.  1447,  in  ChmePs  Materialien  I,  CX11. 


204  S  i  c  k  e  I. 

königlicher  Vetter  trat  nun  auch  als  Chef  des  Hauses  für  diese  An- 
sprüche ein  und  rief,  sie  zu  verfechten,  schon  am  3.  September  1447 
in  gebieterischem  Tone  den  Herzog  Louis  von  Savoyen  auf  *).  Auf  ein 
Schreiben  ähnlichen  Inhalts  vom  Herzog  von  Burgund  an  Sforza  habe 
ich  früher  aufmerksam  gemacht 2).  Auch  Orleans  suchte  durch  Dres- 
nay  den  Grafen  für  seine  Sache  zu  gewinnen  s).  Mit  den  wenigen 
Truppen,  mit  denen  der  französische  Gouverneur  nach  Asti  gekom- 
men war,  versuchte  er  unterdessen  schon  einen  Einfall  ins  Alessan- 
drinische.  So  lange  die  Mailänder  ihm  nur  Boten  und  Briefe  entge- 
gensetzen konnten,  machte  er  Fortschritte,  denn  bei  den  Guelfen  hatte 
der  Name  Frankreich  guten  Klang  und  von  allen  waren  die  Fran- 
zosen gefürchtet,  deren  Treiben  die  italienischen  Chronisten  der  Zeit 
nicht  grausam  genug  schildern  können.  Als  aber  das  kleine  Bosco 
ihnen  Widerstand  leistete,  fand  die  Bepublik  Zeit  Truppen  gegen 
sie  unter  Coglione  und  Astorre  auszuschicken.  Am  17.  und  18.  October 
kam  es  zu  einem  Zusammenstoss,  in  welchem  die  Franzosen  gänz- 
lich geschlagen  und  auf  Asti  zurückgeworfen  wurden;  ihr  Führer 
Dresnay  wurde  gefangen  und  nach  Mailand  gebracht.  Herzog  Karl4) 
hatte  sich  unterdess  selbst  mit  einiger  burgundischer  Mannschaft 
aufgemacht  und  hielt  am  26.  October  seinen  feierlichen  Einzug  in 
Asti.  Dort  erwartete  er  zunächst  den  Erfolg  der  Unterhandlungen 
die  er  durch  seine  Gesandten  in  Mailand  pflegen  liess  5),  bereitete 
sich  aber  zugleich  für  den  Fall  vor,  dass  er  seine  Anerkennung  als 
Herzog  von  Mailand  erzwingen  müsse,  und  suchte  sich  durch  ein 
Bündniss  vom  15.  December  der  Hilfe  des  Markgrafen  Johann  von 
Monferrat  zu  versichern6).  Gerüchtweise  hiess  es  auch,  gegen  Mit- 
fasten werde  seinem  Vetter  Orleans  der  Dauphin  zu  Hilfe  kommen, 
der  gleichzeitig  in  Venedig  in  Unterhandlung  stand  über  eine  Con- 
dotta  7) ,  welche  er  in  Italien  und  namentlich  wohl  gegen  Mailand 
übernehmen  wollte. 

Im  Westen  war  endlich  Mailand  von  Savoyen  bedroht,  das  jetzt 
den  von  seinen  Fürsten  lange  ersehnten  Augenblick  gekommen  sah. 


i)  Recueil  de  lettres  entre  le  P.  Felix  etc.  Nr.  I. 

2)  In  meiner  Abhandlung'  im  Archiv,  Bd.  XIV. 

3)  Bericht  der  kaiserl.  Gesandten  I.  c. 

4)  0.  de  la  Marche  I,  cap.  17. 

5)  Bericht  der  kaiserl.  Gesandten,  bei  Chmel  I.  c. 
6J  Ben.  da  S.  Giorgio,  pag\  331. 
7)  Libri  secretonim  consilii  rog-atornm  ad  1447,  im  Arch.  ai  Frari  in  Venedig-. 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  £\)ö 

Auf  die  erste  Kunde  von  des  Herzogs  Tode  fielen  savoyische  Truppen 
ins  Gebiet  von  Alessandria  ein  und  bemächtigten  sich  der  Ortschaften 
Confluenza  (das  Caspar  Schlick  zu  Lehen  trug),  Valenzia,  Borgo, 
Bassigrnana  u.  a.  Von  Vercelli  aus  durchstreiften  andere  das  Novarese 
und  Lomellin.  Savoyische  Agenten  drangen  noch  weiter  vor,  bis  nach 
Pavia,  und  suchten  das  Land  bald  durch  Verheissung  von  Abgaben- 
freiheit, bald  durch  Drohungen  zur  Unterwerfung  zu  bringen.  Auch 
in  diesen  Gegenden  waren  es  die  Mailand  feindlichen  Guelfen  welche 
zu  Savoyen  hinneigten ;  die  Ghibellinen  aber ,  von  Sforza  durch 
Alberto  Maleta  und  Giovanno  Bizio  ermuthigt,  widersetzten  sich  nach 
Kräften  der  Unterwerfung  unter  Herzog  Louis  und  behaupteten  sich 
in  den  wichtigsten  Puncten  des  Lomellin,  in  Vighevano  und  Mortara. 
Louis  der  in  der  Hoffnung  von  dem  ganzen  Lande  als  Herr  ausge- 
rufen zu  werden  nach  Vercelli  gekommen  war,  überzeugte  sich  bald, 
dass  ohne  bedeutende  Truppenmassen  nichts  auszurichten  war,  zog 
sich  nach  der  Niederlage  der  Franzosen  bei  Bosco,  welche  den  Mai- 
ländern freiere  Hand  gab ,  vorläufig  zurück  und  versuchte  zunächst 
mit  der  Bepublik  zu  unterhandeln. 

So  standen  die  Sachen  in  jenen  Gegenden,  als  die  kaiserlichen 
Gesandten  in  der  zweiten  Hälfte  des  October  nach  Mailand  kamen. 
Kaiser  Friedrich  hoffte  nämlich  dasHerzogthum  als  erledigtes  Beichs- 
lehen  einziehen  zu  können  und  hatte  diese  seine  Absicht  dem  ge- 
sammten  Volk  von  Mailand  schon  durch  ein  Schreiben  vom  1.  Sep- 
tember kund  gethan  *).  Einige  Wochen  darauf  trafen  seine  Gesandten 
in  der  Lombardei  ein,  unter  ihnen  der  Bischof  von  Seckau,  Graf 
C.  Schlick  und  A.  Sylvius,  der  in  seinem  Pentalogus  schon  seit  Jahren 
die  Politik  vorgezeichnet  hatte ,  welche  sein  Herr  beim  Tode  des 
letzten  Visconti  zu  befolgen  haben  würde.  Sie  fanden  die  Stadt 
welche  sich  von  allen  Seiten  bedrängt  sah,  nicht  abgeneigt,  sich  dem 
Kaiser  als  Schirmherrn  zu  unterwerfen.  Aber  über  die  Form  der 
Unterwerfung,  das  Verhältniss  der  Lombardei  zur  Hauptstadt,  das 
Mass  der  zu  gewährenden  Freiheit,  den  Charakter  und  die  Höhe  der 
zu  leistenden  Abgaben,  über  die  vom  Kaiser  beanspruchte  Hilfe 
konnten  sich  Friedrich's  Oratoren  mit  den  Gewalthabern  der  Bepublik 
so  wenig  einigen,  dass  sie,  ohne  irgend  etwas  entschieden  zu  haben, 


!)  Chmei,  Materialien  Bd.  1,  CXI,  a,  und  A.  Sylvius,  hist.  Frid.  in  Kollarii  Anal.  vol.  II. 
pag.  146  seq. 


206  S  i  c  k   e  I. 

am  10.  November  ihre  Rückreise  antraten,  in  dem  trefflichen  Berichte 
dieser  Gesandten,  den  ich  schon  erwähnt  habe,  zeigen  sie  sich  auch 
gut  von  den  vielfach  sich  durchkreuzenden  Intriguen  der  Parteien  in 
Mailand  unterrichtet.  Nur  das  Treiben  der  savoyischen  Gesandten 
scheinen  sie  nicht  ganz  durchschaut  zu  haben.  Während  sie  nur  von 
einem  Waffenstillstände  wissen ,  der  zwischen  der  Ambrosianischen 
Republik  und  Louis  abgeschlossen  war,  hatten  sich  die  Unterhand- 
lungen schon  um  ein  Schutz-  und  Trutzbündniss  gedreht,  das  bald 
nach  der  Abreise  der  Oratoren  und  nachdem  die  Aussicht  auf  wirksame 
und  sofortige  Hilfe  von  Seiten  des  Kaisers  geschwunden  war,  zum 
Abschluss  kam.  Louis  besass  in  Mailand  eine  warme  Fürsprecherinn 
und  Verfechterinn  der  Ansprüche  seines  Hauses  in  seiner  Schwester, 
der  verwitweten  Herzoginn  Maria.  Sforza's  Anhänger  selbst  schildern 
sie  als  eine  sittsame,  ehrwürdige  Dame  von  anspruchslosem,  beschei- 
denem Wesen;  dies  und  ihr  eheliches  Unglück1)  mochten  ihr  viele 
Herzen  zugewandt  haben.  Wie  wir  sie  nun  im  Folgenden  rastlos 
thätig  sehen  werden,  an  einer  Verbindung  Mailands  mit  Savoyen  zu 
arbeiten,  so  erscheint  sie  auch  hier  schon  als  Unterhändlerinn  des 
Vertrages  vom  17.  November  14472),  im  Namen  des  Herzogs  von 
seinem  Rathe  Andreas  Malet  mit  den  Capitanen  und  Defensoren  der 
Freiheit  abgeschlossen.  In  der  Hauptsache  ist  der  Vertrag  nur  eine 
Erneuerung  des  1434  zwischen  den  Herzögen  von  Mailand  und 
Savoyen  beschworenen,  nur  dass  jetzt  an  die  Stelle  des  verstorbenen 
Herzogs  Filippo  Maria  die  Ambrosianische  Republik  als  zu  Schutz  und 
Trutz  verbündeter  Alliirter  tritt;  ausserdem  werden  dem  Herzoge 
Louis  die  in  den  letzten  Wochen  gemachten  Eroberungen  gewähr- 
leistet. Dem  Kaiser  welchem  an  demselben  Tage  vom  Mailänder 
Regiment  die  Einnahme  von  Piacenza  gemeldet  wurde3),  wurde  der 
Abschluss  dieses  Bündnisses  verheimlicht. 

Die  so  zuerst  eingeleitete  Verbindung  nahm  noch  im  Laufe  des 
Winters  einen  engeren  Charakter  an. 


t)  Searabelli,  1.  c.  pag.  238  seq. 

2)  Recueil  de  lettres  entre  le  P.  Felix  etc.,  im  Genfer  Archiv  Nr.  II.  Indem  H.  Gauliieur 
unter  dem  Vertrage  falschlich  1446  gelesen  hat,  zieht  er  daraus  die  irrlhiimliche 
Folgerung,  dass  es  in  Mailand  schon  vor  dem  Tode  des  Herzogs  eine  geschlossene 
republikanische  Partei  gegeben  habe  und  dass  dieselbe  in  der  Voraussicht  dieses 
Todesfalles  schon  Verbindungen  mit  den  benachbarten  Mächten  eingegangen  sei. 

3J  Chmel,  Materialen  Nr.  CXXI. 


Die  Ambrosianische  Republik  und  da-s  Haas  Savoyen.  <£U7 

In  Mailand  war  der  erste  Jubel  über  die  „aus  der  Verbannung 
heimgekehrte"  Freiheit  bald  verrauscht  und  die  alten  Reibungen 
zwischen  Guelfen  und  Ghibellinen  brachen  von  Neuem  aus.  Jene 
drängten  zum  Frieden  mit  Venedigs  zunächst  drohender  Macht,  diese 
widersetzten  sich  der  Annahme  der  allerdings  günstigen  Bedingungen 
und  förderten  dadurch,  ohne  es  zu  wollen,  die  Interessen  Sforza's 
der  allein  bei  der  Fortsetzung  des  Krieges  gewinnen  konnte.  Ein 
erster  Versuch  sich  mit  Venedig  zu  verständigen  war  schon  im 
October  1447  gemacht1),  scheiterte  aber  an  den  Ansprüchen  Mai- 
lands auf  Lodi  und  Piacenza.  Als  nun  letztere  Stadt  im  November 
erobert  worden  war,  kam  es  in  Bergamo  zu  neuen  Friedensunterhand- 
lungen auf  Grund  des  damaligen  Besitzstandes.  Man  war  dem  Abschluss 
ganz  nahe,  als  es  den  Ghibellinen  und  Sforzeschi  gelang,  das  Volk 
aufzuwiegeln ,  dadurch  ihre  Gegner  einzuschüchtern 2)  und  den 
Abbruch  der  Verhandlungen  zu  erzwingen.  Jedenfalls  musste  man 
sich  nun  für  den  Beginn  des  Frühjahres  zu  neuem  Kriege  rüsten. 
Vom  Kaiser  geschützt  zu  werden  war  so  wenig  Aussicht,  dass  man 
die  ihm  versprochene  Absendung  von  Gesandten  an  ihn  von  Tag  zu 
Tag  hinausschob.  Dem  tüchtigsten  Feldherrn  der  Republik,  dem 
Grafen  Sforza,  musste  man  misstrauen  und  wagte  nicht  ihm  die  übri- 
gen Condottieri  unterzuordnen,  wodurch  allein  Einheit  und  Nachdruck 
in  die  Kriegführung  hätte  gebracht  werden  können.  Mailand  sah  sich 
also  nach  anderer  Hilfe  um  und  hoffte  sie  bei  Savoyen  zu  finden.  Der 
grosse  Rath  bevollmächtigte  Thomas  Morone  und  Nicoiao  Arcimbaldo  3) 
mit  dem  Herzog  Louis  die  weitere  Ausführung  des  abgeschlossenen 
Bündnisses  zu  verabreden,  und  am  3.  März  1448  4)  verpflichteten  sich 
die  Parteien ,  durch  einen  neuen  Vertrag  zu  gegenseitiger  Hilfslei- 
stung gegen  ihre  Feinde  und  zur  Stellung  von  1000  Berittenen  und 
eben  so  viel  Fussvolk  auf  die  Dauer  von  drei  Monaten;  40  Tage  5) 


*)  Bericht  der  kaiserl.  Gesandten,  bei  Chmel  1.  c. 

2)  Storia  di  Brescia  in  Muratori  Script.  Rer.  Ital.  col.  846.  Dem  Volke  wurde  der  Abbruch 
der  Verhandlungen  am  15.  Mai  verkündigt:  Arch.  civico  di  Milano  Reg.  C.  Gride. 

3)  Recueil  de  lettres  entre  le  P.  Felix  etc.  Nr.  IV. 

4J  Das  Genfer  Schriftstück  trägt  das  Datum  „3.  Martij"  und  nicht  „3.  Maij"  wie  H. 
Gauliier  gelesen  hat  und  wie,  wahrscheinlich  nach  ihm,  auch  Cibrario  angegeben 
hat  in  seinem  neuesten  Werke  Origini  e  progresso  delle  instituzione  della  Monar- 
chist di  Savoja,  Tor.  1834,  1,  pag.  102. 

5)  Und  ;>OTage  für  die  von  jenseits  der  Berge  zu  stellende  Mannschaft,  eine  durch  die 
Verhältnisse  gebotene  Bestimmung,  die  in  allen  derartigen  Verträgen  mit  italieni- 
schen Staaten  wiederkehrt. 


208  S  i  c  k  e  1. 

nach  der  Aufforderung  sollte  die  Hilfsmannschaft  gestellt  werden. 
Etwaige  Eroherungen  sollten  zu  gleichen  Theilen  gemacht  werden; 
dem  Herzog  wird  wiederholt  der  damalige  Besitzstand  gewährleistet. 
Wichtig  ist,  dass  Louis  in  einem  ergänzenden  Instrumente  von  glei- 
chem Tage  einen  Vorbehalt  aussprach  für  alle  Rechte  der  Krone 
Frankreichs  und  des  Herzogs  von  Orleans,  der  noch  immer  in  Asti 
verweilte  und  von  dort  aus  durch  Secundus  de  Nattis  mit  Mailand 
unterhandelte  *)• 

Herzog  Louis  war  aber  damals  gar  nicht  im  Stande  Hilfe  zu 
leisten,  er  selbst  hatte  vollauf  zu  thun,  in  der  Schweiz  mit  dem  öster- 
reichischen Freiburg  im  Uechtlande  begonnene  Händel  durchzu- 
fechten. 

Vergeblich  war  auf  mehreren  Tagen  im  vergangenen  Sommer2) 
versucht  worden,  die  obwaltenden  Streitigkeiten  beizulegen,  Ende 
1447  war  es  zu  offenen  Feindseligkeiten  zwischen  Savoyen  und  Frei- 
burg gekommen.  Seit  letzteres  von  Herzog  Albrecht  von  Österreich 
die  angerufene  Hilfe  erhalten  hatte ,  sah  sich  auch  Louis  nach  Bun- 
desgenossen  um  und  fand  sie  ohne  grosse  Mühe  in  den  noch  vom 
Züricherkrieg  her  unwilligen  und  seitdem  vielfach  gereizten  Bernern; 
am  4.  Jänner  1448  sandten  auch  sie  an  Freiburg  den  Fehdebrief. 
Herzog  Albrecht  wirkte  nun  wieder  beim  Kaiser  aus,  der  Louis  wegen 
seiner  Haltung  in  den  kirchlichen  Angelegenheiten  zürnte,  dass  der- 
selbe die  Sache  des  treuen  Freiburg  als  Reichssache  erklärte  und 
seinem  Bruder  das  Reichsbanner  und  Mandate  sandte  3).  Zur  Aus- 
führung kamen  die  kaiserlichen  Befehle  allerdings  auch  diesmal 
nicht,  aber  sie  schüchterten  doch  Herzog  Louis  ein  und  bestimmten 
ihn,  die  von  Frankreich  und  Burgund  angebotene  Vermittlung  anzu- 
nehmen, durch  deren  Gesandte  am  16.  Juli  1448  der  Frieden  von 
Murten  zwischen  Freiburg  und  Österreich  einerseits,  Savoyen  und 
Bern  andererseits  zu  Stande  kam. 

Aus  den  Bestimmungen  des  Vertrages  erwähne  ich  nur, 
dass  Freiburg  sich  verpflichtete,  dem  Herzog  Louis  für  Unkosten 
binnen  vier  Jahren  die  Summe  von  40,000  Gulden  zu  entrichten, 
welche  demselben  dann  bei  seinen  Unternehmungen  in  Italien  zu 
Statten  kam. 


i)  Ventura,  1.  c.  col.  835. 

2)  Alt,  hist.  des  Helvet.  4,  107. 

3)  Chmel,  Regesten  und  Materialien  ad  1448. 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  209 

Während  des  Freiburger  Krieges  war  indessen  der  Herzog  von 
Savoyen,  um  Mailand  im  Auge  zu  behalten,  in  Piemont  geblieben  J)  und 
hatte  von  dort  aus  mit  seinem  Vater  über  die  lombardischen  Angelegen- 
heiten correspondirt.  Denn  ohne  Felix'  Zustimmungen  hätte  Louis 
nicht  gewagt,  sich  in  grössere  Unternehmungen  einzulassen,  und  ohne 
dieselbe  hätte  er  auch  weder  den  Adel  noch  das  Land  zur  Mit- 
wirkung vermocht.  Bald  nach  Abschluss  des  Vertrages  vom  3.  März 
schickte  also  Louis  eine  Abschrift  desselben  durch  Jaques  de  Clare- 
mont  an  seinen  damals  in  Lausanne  residirenden  Vater.  Dieser,  durch 
die  eben  sehr  lebhaften  Unterhandlungen  über  seine  Abdankung  im 
höchsten  Grade  in  Anspruch  genommen  und  sehr  wohl  von  der  Gefahr 
unterrichtet2),  welche  seinem  ganzen  Hause  drohte,  seitdem  sich 
Frankreich  entschieden  auf  die  Seite  des  Papstes  Nikolaus  gestellt 
hatte,  verhehlte  seinem  Sohne  nicht,  dass  ihn  die  neuen  Verwick- 
lungen, in  die  sich  Louis  stürzte,  mit  Besorgniss  erfüllten  und  dass  er 
ihn  kaum  der  voreilig  übernommenen  Aufgabe  gewachsen  glaube3). 
Frankreich  —  fürchtete  der  Papst  —  werde  durch  den  Vorbehalt  zu 
Gunsten  Orleans  noch  nicht  hinlänglich  beruhigt  sein,  alle  andern  Prä- 
tendenten aber,  namentlich  auch  der  Kaiser,  gegen  Savoyen  aufge- 
bracht sein.  Aber  auch  bei  Felix  wurden  alle  diese  Bedenken  dadurch 
aufgewogen,  dass  die  Erwerbung  der  Lombardei  sein  eigener  Lieb- 
lingsgedanke war,  und  so  munterte  er  den  Sohn  vielmehr  noch  auf, 
indem  er  ihm  seinen  Bath  ertheilte  und  seine  Hilfe  in  Aussicht  stellte. 
„Da  die  Mailänder,"  schreibt  er,  „sich  nicht  mit  Worten  abfinden 
lassen  werden ,  gilt  es  ernstlich  zu  rüsten  und  vor  allen  Dingen  Geld 
zu  schaffen.  Die  gewöhnlichen  Abgaben  werden  dazu  nicht  hinreichen: 
also  solle  der  Herzog  die  Salzsteuer  von  Nizza  verpfänden,  seine  und 
seiner  Frau  Kostbarkeiten  und  Schmuck  verwerthen:  finde  sich  in 
Piemont  kein  Geld  zu  leihen,  so  solle  es  in  Genf  versucht  werden." 
Felix  macht  alle  die  an  seinem  Hofe  namhaft,  die  im  Stande  sein 
werden  Geld  vorzuschiessen,  er  selbst  will  das  Seinige  thun,  wenn 
auch  Louis  Opfer  bringt.  Da  Felix"  Einfluss  noch  immer  überwiegend 
war,  hatte  er  auch  bereits  an  die  Greyers,  Entremonts,  Menthone 
und  andere  Vasallen  in  Savoyen  und  der  Waadt  geschrieben  und  sie 
aufgefordert,   mit  ihren  Mannen  nach  Piemont  zu  ziehen. 


1)  Cf.  die  Aetenstücke  aus  dieser  Zeit  bei  Guiclienon. 

2)  d'Achery  Spicil.  III,  770. 

3)  Recueil  de  lettres  entre  le  P.  Felix,  Nr.  V. 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  I.  Hft.  14 


210  S  i  c  k  e  I. 

Zur  Ausführung  dieser  Massregeln  kam   es  aber  im   Sommer 
1448  noch  nicht.  Die  Republik  bestand  wahrscheinlich  damals  nicht 
auf  der  Ausführung  der  Vertragsbestimmungen  vom  März,  denn  Sforza 
machte,  allen  Intriguen  zum  Trotz,   täglich  mehr  Fortschritte,   trieb 
die  venetianischen  Truppen  Schritt  für  Schritt  vom  Mailänder  Gebiet 
zurück  und  wandte  so  die  zunächstliegende  Gefahr  ab.  Als  er  endlich 
am  15.  August  1448  bei  Caravaggio  einen  glänzenden  Sieg  über  die 
Venetianer  erfocht ,   schien   die  Ambrosianische   Republik  über   alle 
Gefahr  glücklich  hinaus  und  feierte  den  Triumph  mit  Festlichkeiten 
und  Jubelklängen  *)•  Aber  bald  darauf  traf  die  Kunde  vom  Vertrag 
von  Rivoltella  (18.  October)  ein.    Graf  Francesco  ging  in  das  Lager 
der  besiegten  Venetianer  über  und  schickte  sich  an,  mit  ihrer  Hilfe 
seine  nun  offen  eingestandenen  Ansprüche  auf  das  ganze  Herzogthum 
geltend  zu  machen.   Und  als  nun  alle  Bemühungen  der  Mailänder, 
Sforza  durch  Bitten  und  Versprechungen  wieder  für  sich  zu  gewinnen, 
erfolglos  blieben,  sahen  sich  die  Capitäne  der  Freiheit  mehr  denn  je 
von  aller  Hilfe  verlassen,  schauten  sich  nach  allen  Seiten  nach  Bun- 
desgenossen  um  und  schickten  in  ihrer  Noth  Gesandte  an  den  Kaiser, 
an  Alfons,  an  Karl  VII.  und  den  Dauphin,  an  Philipp  von  Burgund,  an 
Herzog  Louis  von  Savoyen.  In  diese  Zeit,  also  Ende  October,  glaube  ich 
auch  die  drei  nächstfolgenden  Schriftstücke  der  Genfer  Correspon- 
denz  (Nr.  VI — VIII)   setzen  zu  müssen.    Zunächst  finden  wir  dort 
einen  Brief  Louis' ,  den  Jean  de  Compeys  an  Felix  in  Genf  zu  über- 
bringen   hatte2).    Der   Herzog  meldet,    dass  Sforza,  von  Venedig 
und  Florenz  unterstützt,  zur  Eroberung  von  Mailand  ausgerückt  sei 
(auch  die  Chronisten  erzählen,  dass  er  bei  seinem  Abzüge  vonBrescia 
die  Hauptstadt  habe  angreifen  wollen,  jedoch  durch  die  unterdess 
erfolgte  Unterwerfung   Lodi's  unter   das   republikanische  Regiment 
bestimmt  worden  sei,  sich  erst  gegen  diese  Stadt  zu  wenden)  und  dass 
er,  der  Herzog,  es  unter  solchen   Umständen   für   nöthig   erachtet, 
2000  Berittene,  4000  Fussvolk  und  200  Bogenschützen  an  den  Gren- 
zen aufzustellen;  auch  habe  er  vermittelt,  dass  Jean  de  Challant  mit 
burgundischen  Truppen  in  Mailands  Dienste  getreten  sei.  —  Compeys 
fügte  im  Namen  seines  Herrn  zu  diesen  Meldungen  weitere  geheime 


*)  Arch.  civico  di  Milano,  Reg.  Litterarum  f.  93  v. 

2)  J.  de  Compeys  wurde  allerdings  schon  im  Juli  einmal  von  Turin  nach  der  Schweiz 
gesandt  (Müller,  Schweiz.  Geschichte,  Bd.  IV,  cap.  o)  ;  der  Brief  kann  aber  erst  im 
October  geschrieben  sein  und  muss  einer  zweiten  Reise  angehören. 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  211 

Erklärungen1)  die  zuerst  davon  Zeugniss  ablegen,  dass  Louis  auf 
dem  eingeschlagenen  Wege  zur  Herrschaft  über  Mailand  zu 
gelangen  hoffte.  Täuschte  sich  der  Herzog  dabei  selbst  oder  täusch- 
ten ihn  seine  Anhänger  und  Unterhändler  in  Mailand  über  die  dort 
herrschende  Stimmung,  seinen  Vater  Hess  er  wissen,  „wenn  er  von 
der  Stadt  noch  nicht  zum  Herrn  erkoren  und  noch  nicht  als  solcher 
ausgerufen  sei,  so  geschehe  es  nur,  um  ehrenhalber  das  republika- 
nische Regiment  noch  eine  Zeit  lang  bestehen  zu  lassen.  Er  brauche 
aber  nur  seine  Macht  zum  Schutze  Mailands  zu  entwickeln  und  die 
ganze  Last  des  Krieges  auf  sich  zu  nehmen,  um  seine  letzten  Wünsche 
in  Erfüllung  gehen  zu  sehen."  Louis  selbst  gesteht  jedoch  ein,  dass  es 
ihm  an  Geld  und  Truppen  dazu  fehle  und  dass  er  sich  fürchte,  den  Zorn 
des  Kaisers,  die  Feindschaft  von  Orleans,  Sforza  und  aller  andern 
Prätendenten  auf  sich  zu  ziehen,  Erhalte  also  bis  jetzt  die  Mailänder 
mit  halben  Versprechen  hin  und  unterhandle  unterdessen  mit  Venedig 
und  Sforza,  um  womöglich  durch  Einverständniss  mit  diesen  seine 
Besitzungen  zuvergrössern,  ohne  ihren  jetzigen  Bestand  zu  gefährden 
und  ohne  sich  in  unerschwingliche  Kosten  zu  stürzen.  Doch  rüste  er 
für  alle  Fälle,  habe  schon  sein  ganzes  Habe  zu  Geld  gemacht  und 
allen  seinen  Credit  aufgeboten;  der  Ertrag  reiche  aber  zur  Besoldung 
der  Truppen  so  wenig  aus,  dass  er  seinen  Vater  um  SO, 000  Ducaten 
bitte,  für  die  das  Land  jenseits  der  Alpen  als  Pfand  dienen  möge. 

Papst  Felix  antwortet  auf  diese  Eröffnungen 2)  durch  denselben 
Compeys,  dass  er  die  Sachlage  aus  der  Ferne  nicht  hinlänglich 
beurtheilen  könne,  es  aber  jedenfalls  für  erforderlich  halte,  eine 
grössere,  möglichst  gut  disciplinirte  Truppenmasse  aufzustellen. 

Die  erbetenen  Subsidien  könne  er  nicht  geben,  indem  er  selbst 
einer  Anleihe  wegen  sich  nach  Brügge  habe  wenden  müssen. 

Während  nun  Louis  selbst  noch  schwankte,  waren  seine  Unter- 
handlungen mit  Mailand  Sforza  nicht  entgangen.  Derselbe  beeilte 
sich  desshalb  die  Gebiete  welche  im  Westen  des  Herzogthums  sich 
noch  zur  Ambrosianischen  Republik  hielten,  unter  seine  Botmässig- 
keit  zu  bringen ,  und  rüstete  sich  zugleich  die  Savoyischen  Truppen 
zurückzuschlagen,  falls  sie  den  Mailändern  zu  Hilfe  eilen  wollten. 
Er  nahm  zu  diesem  Zwecke  die  ihm  schon  lange  angebotenen  Dienste 


1)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  VII. 

2)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  VIII. 

14 


212  S  i  c  k  e  I. 

Wilhelms  von  Montferrat  an  und  schloss  mit  ihm  am  1.  November 
1448  zu  Casolate  eine  Condotta  ab,  oder  vielmehr  eine  Ligue  *) ; 
denn  die  Condottieri  jener  Zeit  begnügten  sich  nicht  mehr  mit  blossem 
Gewinn  an  Sold,  sondern  trachteten  danach,  durch  ihrDienstverhält- 
niss  Herrschaften  zu  erwerben  3).  Wie  nun  Louis  seine  Eroberungs- 
pläne auf  den  Untergang  des  Grafen  Francesco  baute,  so  schaltete 
dieser  seinerseits  in  der  Hoffnung  endlichen  Siecres  nach  Belieben 
mit  den  italienischen  Besitzungen  des  Hauses  Savoyen  und  verfügte 
über  sie  zu  Gunsten  des  jüngeren  Monferrat.  Denn  nicht  allein  die  zu 
Mailand  gehörige  Stadt  und  das  Bisthum  von  Alessandria,  nicht  allein 
das  Gebiet  vonTanaro,  sondern  auch  Stadt  und  Bisthum  Turin  bisSusa, 
Ivrea,  Valperga  —  kurz  ganz  Piemont  versprach  Sforza  dem  Mark- 
grafen Wilhelm  zu  Lehen  zu  geben  und  wollte  für  dieselben  den 
Lehnseid  erst  fordern,  wenn  er  selbst  Herr  von  Mailand  geworden 
wäre.  Folgen  von  eigentlicher  Bedeutung  hatte  allerdings  dieser 
Vertrag  eben  so  wenig,  als  ähnliche  gegen  Sforza's  Macht  gerichtete; 
aber  deutlich  genug  spricht  sich  in  ihm  der  von  vielen  nationalen 
Fürsten  Italiens  gehegte  Wunsch  aus,  die  Savoyischen  Herzoge  über 
die  Alpen  zurückzudrängen. 

Bei  der  blossen  Annäherung  von  Sforza's  Hauptmacht  wankten 
übrigens  in  der  westlichen  Lombardei  schon  Viele  die  es  bisher  mit 
der  Bepublik  gehalten  hatten.  Die  reich  begüterten  Visconti  unter- 
warfen sich  dem  Grafen;  die  Busca  folgten  ihnen  bald  nach.  Aus  der 
Brianza,  von  Lugano,  Varese,  vom  grossen  See  eilten  Abgeordnete  in 
Sforza's  Lager  ihm  zu  huldigen.  Nur  die  Städte  Lecco,  Como,  Bel- 
linzona  blieben  in  jenen  Gegenden  Mailand  treu.  Dagegen  unterwarf 
sich  zum  grossen  Theil  das  flache  Land  von  Novara  jenseits  des 
Tessin,  so  dass  fast  nur  die  Stadt  noch  widerstand.  Ende  November, 
nachdem  in  Mailand  Karl  Gonzaga  zum  Oberfeldherrn  ernannt  worden 
war  3),  war  es  noch  gelungen  von  der  Hauptstadt  Verstärkung  nach 
Novara  zu  werfen,  und  obgleich  die  auch  von  Savoyen  angebotene 
Besetzung  der  Stadt  und  Burg  abgelehnt  worden  war,  rechnete  man 
im  Nothfall  auf  die  Hilfe  der  Savoyischen  Truppen,  welche  die  Sesia 
überschritten  hatten  und  südlich  von  Novara  bei  Vighevano  sogar  bis 


J)  Der  Wortlaut  bei  Ben.  San  Giorgio,  pag.  332. 

2)  Cf.  Canestrini,  della  milizia  ital.  im  Aren,  storico  ita!.  vol.  XV,  pag'.  82. 

3)  Grida  vom   15.  Nov.   1448  im  Areh.  civico  di  Milano,  Reg.  C. 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  61d 

zum  Tessin  vorgedrungen  waren  *).  Um  ihren  Streifzügen  ein  Ende 
zu  machen,  schickte  Sforza  seinerseits  noch  im  November  Truppen 
unter  Mathes  Campano  ins  Lomellin  und  Novarese  ab  und  begab 
sieh  endlieh  selbst  von  Lodi  aus  vor  Novara,  um  es  zur  Unterwer- 
fung aufzufordern.  Bartoloineo  Visconti,  Bischof  daselbst,  im  Jahre 
zuvor  Vorkämpfer  und  Wortführer  der  Freiheit  in  Mailand  2),  dann 
an  ihr  verzweifelnd  und  seitdem  ein  eifriger  Anhänger  Sforza's3), 
vermittelte  die  Übergabe  der  Stadt,  welcher  auch  die  Burg  bald 
folgte.  Was  in  der  Umgegend  noch  Widerstand  geleistet  hatte,  ergab 
sich  nun  fast  ohne  Schwertstreich.  Nur  in  Bomagnano  suchte  sich 
eine  ausgesuchte  Savoyische  Schar  (angeblieh  3000  Mann)  die  vor 
wenigen  Tagen  eingerückt  war,  zu  behaupten,  wies  Sforza's  Auffor- 
derung sich  zurückzuziehen  mit  schnöden,  prahlerischen  Worten 
zurück  und  wich  erst  nach  hartnäckigem  Kampfe.  «letzt  erhob  sich 
im  Lomellin  das  Volk  selbst  gegen  die  hie  und  da  (Vighevano,  Sali 
u.  a.)  noch  befindlichen  piemontesischen  Besatzungen;  jenseits  des  Po 
erzwangen  die  Ghibellinen  in  Tortona4)  die  Unterwerfung  unter  den 
Grafen  und  in  Alessandria  die  Unterwerfung  unter  Wilhelm  von  Mont- 
ferrat,  der  laut  des  mit  Sforza  geschlossenen  Vertrages  am  1.  Jänner 
1449  von  der  Stadt  Besitz  ergriff5).  So  war  bis  Neujahr  der  ganze 
Westen  des  herzoglichen  Gebiets  dem  Grafen  unterthan  geworden 
und  das  Savoyische  Hilfsheer  über  den  Grenzfluss,  die  Sesia,  zurück- 
geworfen. Ein  Angriff  auf  piemontesisches  Gebiet  lag  augenblicklich  so 
wenig  in  Sforza's  Plänen,  dass  er  seinem  Heere  besonders  einschärfte, 
sich  aller  Feindseligkeiten  gegen  das  Nachbarland  zu  enthalten. 

Die  Nachricht  von  diesen  Ereignissen  hatte  Vaultier  Chabod  im 
Auftrage  des  Herzogs  Louis  an  Felix  zu  überbringen6). 

Derselbe  sollte  dem  Papte  zunächst  für  seine  Geldsendungen 
danken  und  für  die  Mühe  die  er  sich  gab,  Gendarmen  aus  Savoyen 
zu  schicken.  Den  Fall  von  Novara  schrieb  der  Herzog  lediglich 
dem  Umstände  zu,  dass  die  Bürger  seine  Besatzung  nicht  hatten  ein- 
lassen wollen;    wenn   Bomagnano  gefallen,    so  sei  es  ebenfalls  die 


*)  Vendizotti,  de  fatti  Veneti  I.  5>22. 

2)  Bericht  der  kaiserl.  Gesandten  bei  Chmel.  1.  c. 

3)  Documente  in  meiner  Abhandlung  im  Archiv. 

4)  Decembrio,  Vita  Fr.  Sfortiae  in  Muratori  Script.  Rer.  Ital,  XX.  col.    1041. 

5)  fihilini,  Annales  Aless.  ad   1448  —  und   Ben.  San  Giorgio  p.  336i 

6)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  IX. 


214  Sickel. 

Schuld  der  Mailänder  welche  überhaupt  wenig  von  Kriegführung 
verständen.  Graf  Francesco  erhalte  jetzt  die  ihm  von  Venedig  und 
Florenz  zugesicherte  Hilfe.  Er  (Louis)  habe  sich  eben  nach  Piemont 
begeben,  um  der  Stadt  Mailand  näher  zu  sein,  in  der  er  viel  Einver- 
ständnisse habe.  Wenn  der  Graf  auch  unter  Androhung  schwerer 
Strafen  verboten,  Einfälle  in  Piemont  zu  machen,  so  traue  er  dem 
wenig.  Übrigens  fahre  er  fort,  mit  Sforza  zu  unterhandeln,  der 
geneigt  scheine,  Novara  mit  seinem  Gebiete  an  Savoyen  abzutreten, 
wenn  ihm  freie  Hand  in  Betreff  Mailands  gelassen  werde.  Papst  Felix 
möge  rathen,  ob  dies  Anerbieten  anzunehmen  sei,  falls  sich  die  übri- 
gen Aussichten  zerschlügen.  Auch  Louis  habe  nämlich  seine  guten 
Verbindungen  in  Mailand,  die  er  der  Vermittlung  des  Abts  von  Casa- 
nova verdanke;  auch  die  Herzoginn  von  Mailand  nehme  sich  der 
savoyischen  Interessen  warm  an.  Die  Mailänder  selbst  wollten  nicht 
gern  Krieg  führen,  sondern  ihm  gegen  Zahlung  von  jährlichen  Sub- 
sidien  von  100,000  Ducaten  die  ganze  Last  aufbürden  und  ihn  unbe- 
schadet ihrer  Freiheit  und  Unabhängigkeit  zum  Protector  machen. 
Einen  Vertrag  dieses  Inhaltes,  von  Casanova  vorgelegt,  habe  er  sich 
jedoch  geweigert  zu  unterzeichnen.  Sie  hätten  freilich  darauf  erklärt: 
wenn  sie  nicht  binnen  vierzehn  Tagen  unterstützt  würden,  müssten 
sie  sich  Sforza  unterwerfen;  desshalb  habe  der  Herzog  neuerdings 
seinen  Rath  Merlot  noch  nach  Mailand  geschickt,  um  sie  zum  Aus- 
harren zu  ermuthigen.  Er  wolle  sie  ja  gern  schirmen,  nur  müssten  sie 
ihn  zu  ihrem  Herrn  erwählen:  als  solcher  wolle  er  weder  ihre 
Freiheit  beschränken,  noch  Abgaben  von  ihnen  verlangen,  sondern 
nur  den  rechten  Titel  und  die  Huldigung ,  damit  er  bei  seinen 
Freunden  und  in  seinem  Lande  wirksame  Unterstützung  seiner 
Pläne  finde. 

Der  Mailänder  sonstiges  Gesuch,  ihnen  eine  angesehene  Per- 
sönlichkeit als  Vitzdom  zu  schicken,  habe  er  mit  der  Aufforderung 
zurückgewiesen,  bis  zu  seiner  eigenen  Ankunft  der  Herzoginnwitwe 
gehorsam  zu  sein.  Übrigens  stehe  er  mit  Francesco  Piccinini  in  Un- 
terhandlung, der  für  10  bis  12,000  Ducaten  zu  ihm  übergehen  wolle. 
Sollten  ihn  die  Mailänder  nun  wirklich  zu  ihrem  Herrn  erwählen,  so 
bitte  er  Felix,  ihm  mit  seinem  Rathe  beizustehen  und  ihm  Geld  zu 
verschaffen  um  18,000  Mann  in  Sold  nehmen  zu  können:  drüben  in 
Italien  wolle  jeder  für  seine  Dienste  bezahlt  werden.  Nochmals  bitte 
er  also  um   50,000  Ducaten ,   mit  deren   Hilfe   er  bestimmt  darauf 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  it  1  5 

rechne,  die  Oberhand  über  Sforza  zu  bekommen  und  seine  Pläne  auf 
Italien  durchzusetzen. 

In  der  Antwort  *)  welche  Chabod  an  den  Turiner  Hof  zurück- 
brachte, versicherte  Felix  nochmals,  dass  er  augenblicklich  nicht  im 
Stand  sei,  weitere  Vorschüsse  zu  machen.  So  sehr  er  die  Fortschritte 
Sforza's  bedauere,  so  wisse  er  keinen  andern  Rath  zu  geben,  als  den, 
gegen  des  Grafen  Verbindung  mit  Venedig  und  Florenz  zu  arbeiten. 
Um  die  Mailänder  von  einer  Unterwerfung  abzubringen,  müssten  sie 
jedenfalls  durch  Vermittlung  des  Abts  von  Casanova  mit  Worten  hin- 
gehalten werden.  Unter  allen  Umständen  müssten  sie  die  ganze  Last 
eines  Krieges  auf  sich  nehmen,  und  ehe  sie  darauf  keine  bestimmte 
Antwort  gegeben ,  liesse  sich  weder  mit  ihnen,  noch  mit  dem  Grafen 
eine  feste  Verabredung  treffen3). 

In  beiden  Briefen  welche  sich  dadurch  unterscheiden,  dass  der 
besonnene  in  Politik  ergraute  Amadeus  sich  weniger  Täuschungen 
hingab,  als  sein  Sohn,  spricht  sich  übrigens  ein  im  allgemeinen  rich- 
tiges Verständnis  der  Dinge,  wie  sie  waren,  aus.  Die  Ereignisse  eben 
dieses  Monats  December,  in  den  beide  Schreiben  zu  setzen  sein 
werden,  zeigten  das  Unvermögen  der  Republik,  einem  Gegner  gegen- 
über, wie  Sforza  war ,  die  ihr  zugehörigen  selbst  von  Parteien  zer- 
rissenen Gebiete  zu  behaupten,  und  die  Unzulänglichkeit  der  halben 
Hilfe,  wie  sie  Savoyen  bis  jetzt  gewährt  hatte.  Richtig  war  aber 
auch,  dass  der  Herzog  eine  grössere  und  äusserste  Anstrengung  nur 
dann  machen  konnte,  wenn   ein  reeller  Gewinn  in  Aussicht  stand: 


i)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  X. 

2)  In  diesem  Briefe  und  in  dem  vorausgegangenen  des  Herzogs  Louis  sind  folgende  zwei 
Stellen  zu  beaeliten.  Louis  schreibt:  „Item  si  notre  dit  Pere  sera  content  que  mon 
dit  Seigneur,  s'il  se  vat  assez  puissant,  oste  lespine  de  son  jardin  auant  quelle  croisse 
ou  puisse  plus  poindre  et  attentis  attendendis",  worauf  Felix  antwortet :  „Touchant 
Particle  doster  lespine  du  jardin  semble  que  pour  le  present  il  nest  point  temps  den 
parier."  II.  Gaullieur  bemerkt  dazu,  dass  ein  Sohn  Sforza's  von  den  Mailänder  Re- 
publikanern ermordet  sei,  und  ist  geneigt  aus  obigen  Stellen  die  Absieht  herauszu- 
lesen, Sforza's  Nachkommen  ans  dem  Wege  zu  räumen.  Von  der  angeblichen  Ermor- 
dung eines  Sohnes  von  Sforza  habe  ich  aber  nirgends  etwas  finden  können  und 
bezweifle  die  Richtigkeit  dieser  Angabe.  Auch  sonst  ist  mir  nichts  bekannt  geworden, 
was  jene  von  IL  Gaullieur  versuchte  Deutung  unterstützen  könnte.  Würde  man  nicht 
mit  ebenso  viel  Recht  bei  dem  Worte  epine  an  die  Partei-Intrigiien  am  Turiner  Hofe 
und  an  eine  in  dieselbe  verwickelte  Persönlichkeit  denken  können?  Jedenfalls  wird 
es  gerathen  sein,  bis  andere  Nachrichten  eine  Aufklärung  geben,  solche  mysteriöse 
Äusserungen  auf  sich  beruhen  zu  lassen  und  sich  davor  zu  hüten,  an  ihre  höchst 
unsicheren  Auslegungen  irgend  welche  Folgerungen  zu  knüpfen. 


216  S  i  c  k  e  1. 

Erhöhung  des  Hauses  Savoyen  durch  Einverleibung  der  Lombardie 
oder  wenigstens  durch  wesentliche  Gebietsvergrösserung.  Mit  blossem 
Söldncrgolde,  wie  es  Mailand  bot,  konnte  der  Herzog  wohl  einzelne 
Condottieri  mit  ihren  Truppen  erkaufen,  aber  nicht  sein  Land  auf- 
bieten. Denn  in  demselben  herrschte  noch  im  Gegensatz  zu  dem 
übrigen  Italien  die  alte  Heerverfassung  *);  das  Heer  bestand  aus  der 
von  den  Domanialgütern  aufgebotenen  Mannschaft,  aus  Vasallen  und 
ihren  Hintersassen,  aus  den  von  den  Communen  zu  stellenden  Mannen 
(je  einer  auf  das  Haus)  —  damit  im  Zusammenhange  die  Verpflich- 
tung sich  selbst  im  Felde  zu  erhalten  und  die  beschränkte  Dauer  der 
Dienstzeit.  Ein  solches  Heer  war,  wenn  ihm  nicht  ein  höheres  be- 
geisterndes Ziel  vorgesteckt  wurde,  bei  grösseren  stetigen  Unter- 
nehmungen einem  rein  mechanisch  zusammengesetzten ,  aber  durch 
einen  Willen  zusammengehaltenen  und  geleiteten,  wie  Sforza's 
Söldnermacht  war,  nicht  gewachsen;  ein  solches  Heer  war  zu  gut 
und  zu  stolz,  um  blossen  Sold  zu  dienen.  Fand  so  der  Unternehmungs- 
geist der  savoyischen  Fürsten  seine  Schranken  an  der  Leistungs- 
fähigkeit des  Landes  und  diese  wieder  an  der  Weigerung  der  Mai- 
länder grössere  Zugeständnisse  zu  machen,  so  waren  andererseits 
die  Defensoren  der  Freiheit  berechtigt  und  verpflichtet,  alle  Herr- 
schergelüste, unter  welchem  Namen  sie  auch  sich  verbergen  mochten, 
zurückzuweisen.  In  den  Städten  Italiens  lebte  noch  in  frischer  Er- 
innerung fort,  wie  selbst  temporäre  Herrn  und  Capitäne  sich  allmäh- 
lich zu  unumschränkten  Machthabern  aufgeworfen,  wie  die  Visconti 
in  Mailaud,  die  Gonzaga  in  Mantua,  die  della  Scala  in  Verona  zur 
Gewaltherrschaft  gelangt,  und  unter  den  Mailänder  Bürgern  war  die 
der  Visconti  noch  in  zu  lebhaftem  Andenken,  als  dass  man  nicht 
ebenso  gefürchtet  hätte,  den  Namen  Savoyen  anzurufen,  als  den 
Namen  Sforza's.  EinEinverständniss  aus  beiderseitigem  freien  Antriebe 
hervorgegangen  konnte  somit  nicht  zwischen  der  Ambrosianischen 
Republik  und  dem  Hause  Savoyen  zu  Stande  kommen,  und  die  ganze 
Verhandlung  die  wir  noch  kennen  lernen  werden,  läuft  darauf  hinaus, 
dass  die  eine  Partei  die  andere  zu  überlisten,  sich  ihrer  zu  bedienen 
und  es  ihr  dann  nicht  zu  danken  trachtete. 

In  den  zuletzt  erwähnten  Briefen  war  von  einem  Vertrage  die 
Rede,  den  der  Abt  von  Casanova  vermittelt  hatte  und  den  Louis  sich 


1J  Canestrini,  della  milizia  italiana,  I.  c.  pag.  12ö. 


Die  Amljiosianisclie  Republik  und  das  Flaus  Savoyen.  217 

weigerte  zu  unterzeichnen.  Wir  begegnen  liier  zum  ersten  Male  die- 
sem Abte  von  Casanova,  Agosto  da  Lignano,  einem  unermüdlichen, 
rührigen  Piemontesen,  der  sich  damals  die  Erhöhung  des  Hauses 
Savoyen  ebenso  angelegen  sein  Hess,  als  dreissig  Jahre  später  die 
des  Burgunderherzogs  *),  einem  Diplomaten  zweiten  Ranges,  der  sich 
in  allen  Lagen  gleich  bleibt:  hastig  und  rastlos,  keck  und  verwegen, 
gutmüthig  und  leichtgläubig,  ungeschickt  und  unglücklich.  Schon 
seit  einiger  Zeit  spielte  er  den  Unterhändler  zwischen  der  Republik 
und  Savoyen,  und  trat  endlich,  als  im  November  die  Unterhandlungen 
einen  ernsteren  Charakter  annahmen,  als  bevollmächtigter  Gesandter 
Piemonts  in  Mailand  auf.  Er  wies  sich  als  solcher  durch  ein  in  aller 
Form  ausgestelltes  und  von  den  Mailändern  in  Ordnung  befundenes 
Mandat 2)  aus  und  brachte  auf  Grund  seiner  Specialvollmacht  am 
6.  December  1448  ein  Bündniss  zu  Stande.  Seinen  wesentlichen 
Inhalt  kennen  wir  schon  aus  dem  obigen  Briefe  des  Herzogs  an  sei- 
nen Vater;  ich  hebe  also  aus  ihm  nur  noch  eine  Bestimmung  hervor, 
weil  sie  bezeichnend  für  die  Innigkeit  der  beabsichtigten  Verbindung 
ist,  und  weil  sie  eine  sonst  unverständliche  Angabe  der  Chronisten 
erklärt3).  Die  Parteien  verpflichteten  sich  nämlich,  „zum  Zeichen 
wahrhafter  Einigung  oder  vielmehr  Einheit  und  Freundschaft  ihre 
Wappen  und  Bannerzeichen  in  einander  überzutragen,  d.  h.  ins  Geviert 
zu  stellen  ,  so  dass  in  zwei  Vierteln,  nämlich  in  einem  oben  und  in 
einem  unten  das  Wappen  des  genannten  Herrn  Herzogs  sei,  d.  h. 
das  weisse  Kreuz  in  rothem  Felde,  und  in  den  beiden  andern  Vierteln 
das  Wappen  der  genannten  Stadt,  d.  h.  das  rothe  Kreuz  in  weissem 
Felde."  —  Als  nun  aber  dieser  Vertrag  nach  Turin  gebracht  wurde, 
weigerte  sich  Louis,  wie  wir  sahen,  ihn  zu  ratificiren,  und  sandte 
seinen  Rath  Merlot  zu  den  Mailändern,  sie  von  dieser  Weifferumr 
und  ihren  Gründen  in  Kenntniss  zu  setzen  und  ihnen  wo  möglich 
grössere  Zugeständnisse  abzulocken. 

In  dem  Berichte  den  Merlot  später  über  seine  Gesandtschaft  erstat- 
tete4) wird  ausdrücklich  gesagt,  dass  der  Abt  von  Casanova  vom  Her- 
zoge zum  Abschluss  des  Vertrages  vom  6.  December  bevollmächtigt 


1)  Monum.  Habsburg.  I,  a.  a.  0.    ladt,  Burgunderkriege  I,  pag.  161.    Guiehenon  II, 
pag.  139. 

2)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  XVII  und  XVIII. 

3)  0.  de  la  Marelie  I,  17;  Corio  sfor.  di  Milano,   p.  V,  u.  a. 
4I  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  XVIII. 


218  Sickel. 

war,  und  dass  ihm,  nach  den  Äusserungen  derHerzoginn  von  Mailand, 
nur  vorgeworfen  werden  könnte,  sich  leichtfertig,  aber  ohne  böse 
Absicht  zu  solchen  Bestimmungen  herabgelassen  zu  haben;  es  scheint 
daher  fast,  als  habe  die  Vollmacht  für  den  Abt  grössere  Tragweite 
gehabt,  als  Louis  nachträglich  seinem  Vater  gegenüber  eingestehen 
wollte1). 

Jedenfalls  besass  Casanova  noch  immer  das  Vertrauen  des  Her- 
zogs und  wurde  schon  bald  darauf  wieder,  um  von  Neuem  zu  unter- 
handeln, nach  Mailand  geschickt.  Hin  und  herreisend  zwischen  Turin 
und  Mailand  fiel  er  endlich  auch  einmal  den  gräflichen  Truppen  in 
die  Hände.  Sforza  sollte  geäussert  haben,  er  wäre  seit  zwei  Monaten 
Herr  von  Mailand,  wenn  der  Abt  es  nicht  hintertriebe,  hielt  denselben 
aber  wohl  nicht  für  eine  so  wichtige  und  so  gefährliche  Person;  denn 
nach  kurzer  Haft  inPavia  liess  er  ihn  ungehindert  nach  Turin  Weiter- 
reisen. Zu  derselben  Zeit2)  wurden  übrigens  auch  zwischen  Louis 
und  Sforza  noch  Unterhandlungen  gepflogen,  aber  der  savoyische  Agent 
Mercenier  fand  den  Grafen  durch  die  letzten  Erfolge  so  kühn  gemacht, 
dass  er  von  den  früher  angebotenen  Gebietsabtretungen  nichts  mehr 
wissen  wollte. 

In  Mailand  wurde  auch,  wie  Louis  seinem  Vater  durch  Bonnivald 
meldete,  von  allen  und  mit  allen  unterhandelt;  auch  eine  zweite  kai- 
serliche Gesandtschaft  fand  sich  um  Neujahr  1449  daselbst  ein.  Denn 
nach  der  Vereinigung  Sforza's  mit  Venedig  hatten  sich  die  Mailänder 
in  ihrer  Bedrängniss  noch  einmal  an  Friedrich  gewandt  und  ihn  durch 
Briefe  und  Botschaften  aus  der  Gleichmütigkeit  aufgerüttelt,  mit 
der  er  den  Angelegenheiten  in  Oberitalien  zuschaute.  Jetzt  schickte 
er3)  Härtung  von  Kappel  und  Johann  Hinderbach  ab,  um  das  Volk 
wiederholt  aufzufordern,  sich  der  kaiserlichen  Herrschaft  zu  unter- 
werfen und  in  kaiserlichen  Schutz  zu  treten.  Die  Ankunft  der  Ge- 
sandten fiel  aber  in  den  unglücklichsten  Augenblick:  alle  Ordnung 
schien  damals  aufgelöst  und  gerade  die  dem  Kaiser  feindlichste  Partei 
war  eben  an  das  fiuder  gekommen.  Gegen  Gonzaga  nämlich,  der 
seine  Stellung  als  Oberfeldherr  nur  zu  selbstischen  Zwecken  auszu- 
beuten trachtete,  hatten  sich  die  Häupter  der  Ghibellinen  vereinigt 


1)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  XXII. 

2)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  XI. 

3)  A.  Sylvius  hist.  Frid.,  png.  147. 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Maus  Savoyen.  219 

und,  weil  sie  die  revolutionäre  Bewegung  immer  bedenklicher  um 
sich  greifen  und  alle  Gewalt  in  die  Hände  der  zünftischen  Bürger 
fallen  sahen,  beschlossen,  die  Stadt  dem  Grafen  zu  ühergehen.  Auf 
ihre  Aufforderung  hin  hatte  sich  Sforza  auch  nach  Unterwerfung  von 
Novara  wieder  Mailand  genähert  und  bei  Landriano  aufgestellt.  Der 
verabredete  Plan  wurde  aber  verrathen,  und  die  Häupter  der  Ver- 
schwörung, von  denen  sich  nur  wenige  durch  Flucht  retten  konnten, 
büssten  dieselbe  theils  mit  dem  Tode,  theils  mit  Verbannunsr  nach 
Como,  Arona  oder  Turin.  Mit  dem  Sturz  der  Ghibellinen  ging  nun 
eine  Umgestaltung  des  Regimentes  Hand  in  Hand:  der  kleine  Bath 
bestand  hinfort  nur  noch  aus  zwölf  Mitgliedern,  unter  denen  sich 
einzelne  angesehene Guelfen,  wie  Trivulzio  und  InnocenzoCotta,  meist 
aber  nichtadelige,  früher  kaum  gekannte  Emporkömmlinge,  wie  Appi- 
ano  und  Ossona,  befanden.  Mit  diesen  Gewalthabern  — eine  Zusam- 
menberufung des  grossen  Bathes  der  900  wurde  den  kaiserlichen 
wie  allen  andern  Gesandten  als  unzulässig  verweigert  —  vermochten 
Kappel  und  Hinderbach  nichts  abzuschliessen  und  kehrten  so  unver- 
richteter Dinge  wieder  heim.  Die  augenblicklich  herrschende Faction 
neigte  jedoch  sonst  stark  zu  Friedensunterhandlungen  hin.  Nach 
Venedig  wurde  Henrico  Panigarola  mit  Vollmacht  vom  8.  Jänner  1449 
abgesandt  *)•  Die  Anträge  eines  Orators  des  Königs  Alfons  (wahr- 
scheinlich derselbe  Louis  Sescasses,  der  um  diese  Zeit  auch  in  Turin 
erschien)  wurden  mit  Dank  entgegengenommen. 

Namentlich  suchte  aber  die  Bepublik  sich  noch  enger  an  den 
Herzog  von  Savoyen  anzuschliessen  und  kam  ihm  ,  als  er  sich  hart- 
näckig weigerte  den  früher  von  Casanova  abgeschlossenen  Vertrag 
zu  ratificiren  mit  neuen  Zugeständnissen  entgegen.  Die  Verhandlun- 
gen sollten  diesmal  in  Turin  geführt  werden,  wohin  die  Capitäne 
Antonio  da  Babbia  deputirten  3). 

Der  Gesandte  wurde  feierlich  und  mit  allen  Ehren  empfangen  und 
darauf  anMerlot  und  denCardinal  vonCypern  gewiesen,  um  mit  ihnen 
zu  unterhandeln.  Auch  Antoine  Bolomyer,  der  besondere  Vertrauens- 
mann des  alten  und  des  jungen  Herzogs,  wurde,  um  an  denBerathun- 
gen  Theil  zu  nehmen,  schleunigst  aus  Savoyen  herbeigerufen,  Babbia 
hatte  übrigens  nur  bedingte  Vollmacht.  Die  misstrauischen  und  auf 


1)  Meine  Abhandlung-  im   Archiv,  Doc.  XIV. 

2)  Arn  2.  Februar  in  Turin.    Guichenon  II,  8ö,  und  Ueeueil  de  lettres  etc.   Nr.  XX. 


220  S  i  c  k  e  1. 

Wahrung  ihrer  Freiheit  eifersüchtigen  Mailänder  hatten  es  vorbehal- 
ten, dass  der  Vertrag  noch  einmal  von  den  Capitänen  geprüft  und 
von  den  900  ratificirt  werden  sollte.  Sonst  war  aber  Rabbia  ermäch- 
tigt zuzugestehen,  dass  dem  Herzog  die  unbeschränkte  Oberleitung 
desKrieges;anvertraut,  dass  ihm  das  Gebiet  bis  zum  Tessin  abgetreten 
und  dass  ihm  und  seinen  Nachfolgern  ein  Tribut  von  der  Stadt  zuge- 
sichert werde  *)• 

Über  die  Verhandlungen  auf  Grund  dieser  Puncte,  über  die 
Aufnahme  derselben  am  Turiner  Hofe  und  über  die  Ereignisse,  welche 
mit  den  Berathungen  zusammenfielen  und  auf  sie  einwirkten,  geben 
uns  mehrere  Briefe  aus  dem  Monat  Februar  Aufschluss.  Als  Rabbia 
in  Turin  eintraf,  erhielt  der  Herzog  einen  vom  27.  Jänner  1449  da- 
tirten  Brief  seines  Vaters2),  in  welchem  dieser  ihn  darin  bestärkte, 
höhere  Anforderungen  an  Mailand  zu  stellen  undihmdenRath  ertheilte, 
jedenfalls  Sforza  so  lange  mit  Scheinverhandlungen  hinzuhalten ,  bis 
mit  der  Republik  definitiv  abgeschlossen  und  die  Rüstungen  beendigt 
seien.  —  Ein  Brief  des  Herzogs  an  seine  Schwester  vom  6.  Februar 3) 
spricht  zuerst  die  lebhafte  Freude  aus  über  das  Misslingen  der  letzten 
Anschläge  der  Ghibellinen  und  des  Grafen  auf  die  Stadt.  Louis  setzt 
dann  nochmals  aus  einander,  in  wiefern  die  Bestimmungen  des  Casa- 
nova'schen  Vertrags  für  ihn  unwürdig  und  unmöglich  sind  und  dass 
er  ihn  desshalb  habe  zurückweisen  müssen. 

„Die  Mailänder,"  fährt  er  fort,  „schlagen  meine  Freundschaft 
und  die  für  sie  schon  gebrachten  Opfer  nicht  hoch  genug  an :  ich 
habe  auf  meine  eigenen  Kosten  bereits  12.000  Mann  aufgestellt,  deren 
Zahl  durch  die  täglichen  Zuzüge  von  jenseits  immer  mehr  anwächst. 
Darauf  muss  in  dem  neuen  Vertrage  den  so  eben  Rabbia  mit  meinen 
Räthen  vorbereitet,  Rücksicht  genommen  werden.  In  demselben  soll 
wo  möglich  Venedig  mit  inbegriffen  werden,  in  der  Weise,  dass  die 
Adda  als  Grenze  zwischen  den  beiden  Republiken  und  der  Tessin  als 
Grenze  zwischen  Mailänder  undSavoyischem  Gebiet  bezeichnet  werden. 
Wollen  die  Mailänder  mich  nicht  zu  ihrem  Herrn  machen,  so  müssen 
sie  mir  wenigstens  diese  Gebietsabtretung  und  die  Zahlung  eines 
jährlichen  Tributs  zugestehen.  Besser  aber  wäre  es  jedenfalls,   sie 


*)  Reeueil  de  lettres  etc.  Nr.  XXV. 

2)  Recnei!  de  lettres  etc.  Nr.  XII. 

3)  Reeiieil  de  lettres  etc.  Nr,  XX. 


üie  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  2*£1 

wählten  mich  unter  massigen  Bedingungen  zu  ihrem  Herrn:  mein 
Vater,  mein  Land,  meine  Freunde  werden  mich  dann  wirksamer 
unterstützen.  Sucht  sie  also  darin  zu  bestärken,  dass  sie  mir  noch 
weiter  entgegenkommen;  sobald  ich  ihren  guten  Willen  erkenne, 
werde  ich  mit  ganzer  Macht  den  Krieg  beginnen." 

Die  ernstlichen  Absichten  des  Herzogs  liessen  auch  seine  in  der 
That  beträchtlichen  Rüstungen  nicht  mehr  bezweifeln.  Rabbia  sprach 
daher  in  einem  Schreiben  an  die  Capitäne  vom  6.  Februar  *)  die 
beste  Zuversicht  aus.  Aber  eine  andere  Frage  war,  ob  die  grösste 
Machtentwicklung  Savoyens  im  Stande  sein  würde,  die  Republik 
gegen  die  vereinigte  Macht  Venedigs  und  Sforza's  zu  schirmen,  und 
diese  Frage  wurde  durch  den  Grafen  Sforza  selbst  in  Mailand  in 
Anregung  gebracht. 

Wir  erwähnten  schon,  dass  er  den  Abt  von  Casanova  aufgefan- 
gen hatte;  es  war  ihm  eben  so  gut  bekannt,  dass  noch  andere  Agenten 
an  einem  Bündnisse  arbeiteten  und  zwischen  Turin  und  Mailand  hin- 
und  hergingen,  welche  letztere  Stadt  er  seit  Mitte  Jänner  so  eng  um- 
schlossen hatte,  dass  nur  die  Porta  Nuova  und  die  Strasse  nach 
Monza  noch  offen  waren  2).  Er  Hess  also  den  damaligen  Inhabern  des 
Regiments  unter  Berufung  auf  seine  eigenen  Ansprüche  Vorstellungen 
gegen  das  mit  Savoyen  beabsichtigte  Bündniss  machen,  bezeichnete 
des  Herzogs  Versprechen  als  prahlerisch,  unausführbar  und  unwirk- 
sam und  erbot  sich  freies  Geleit  nach  Turin  zu  geben,  wenn  man  sich 
von  der  Lage  der  Dinge  überzeugen  wolle. 

Diese  Warnungen  Sforza's  fanden  allerdings  kein  Gehör,  moch- 
ten aber  doch  dazu  beitragen,  dass  die  Capitäne  die  Savoyischen 
Anerbietungen  mit  grösserer  Vorsicht  prüften  und  die  Aufforderung 
Louis'  ihn  zum  Herzog  zu  machen  entschieden  zurückwiesen. 

Am  10.  Februar  hatte  unterdess  Louis  in  versammeltem  Rath 
die  schwebenden  Verhandlungen  von  Neuem  zur  Sprache  gebracht3). 
Zunächst  wurde  ein  Vertragsentwurf  vorgelegt,  den  Louis  Sescasses 
im  Namen  des  Königs  Alfons  nach  Turin  gebracht  hatte  und  der  ein 
enges  Schutz-  und  Trutzbündniss  zwischen  Savoyen  und  Aragonien 
gegen    alle    ihre    Feinde    und     zugleich    zur    Aufrechthaltung    der 


!)  Recueil  de  letlres  etc.  Nr.  XIX. 

2)  Recueil  de  Iettres  etc.  Nr.  XIII. 

3)  Recueil  de   lettres  etc.  Nr.  XIV. 


222 


S  i  c  k  e  1. 


Ambrosianischen  Republik  in  Aussicht  stellte  *).  Der  Vorschlag  hatte 
zwei  bedenkliche  Seiten.  Savoyen  hätte  durch  Annahme  desselben  ent- 
schieden Partei  gegen  Anjou  ergriffen  und  somit  auch  gegen  Karl  VII, 
dessen  Wünschen  und  Plänen  man  ohnedies  schon  durch  das  Mailänder 
Bündniss  zu  nahe  trat;  zweitens  wäre  der  Bund  mit  Alfons  zugleich 
gegen  Venedig  gerichtet  gewesen ,  welches  der  Herzog  vielmehr  in 
sein  Interesse  und  in  den  Mailänder  Vertrag  mit  hineinzuziehen 
bedacht  war.  So  blieben  die  Anträge  Alfons'  vor  der  Hand  unberück- 
sichtigt. Dagegen  wurde  hinsichtlich  der  Verhandlungen  mit  der 
Ambrosianischen  Republik  der  Beschluss  gefasst,  nochmals  die  Auf- 
forderung ergehen  zu  lassen,  die  Stadt  Mailand  möge  Louis  herzog- 
liche Gewalt  und  herzoglichen  Titel  mit  voller  Herrschaft  und  Blut- 
bann ertheilen  ,  dann  verpflichte  er  sich ,  sie  bis  zum  Juli  von  allen 
ihren  Feinden  zu  befreien.  Diese  in  nacktesten  Worten  formulirte 
Bedingung  wurde  Jean  de  Marquisey  beauftragt  den  Capitänen  vor- 
zulegen. 

Noch  weiter  tragende  Pläne,  noch  kühnere  Hoffnungen  beschäf- 
tigten in  denselben  Tagen  Herzog  Louis  und  seinen  Hof.  In  einem 
Briefe  an  den  Papst  Felix  vom  12.  Februar2)  meldet  er  zunächst  aus 
der  Lombardei,  dass  in  der  Woche  zuvor  Graf  Sforza  mit  ganzer 
Macht  auf  Mailand  gezogen  und  schon  die  Thore  der  Vorstädte  ein- 
genommen habe  (wahrscheinlich  dieselbe  Unternehmung,  bei  der 
auch  Gonzaga  die  Hände  mit  im  Spiel  hatte),  mit  ihm  sei  auch  Dame 
Blanche  nebst  ihren  Kindern  gewesen.  Die  Mailänder  habe  aber  die 
Anwesenheit  von  Sforza's  Familie  so  wenig  gerührt,  dass  sie  sogar 
voller  Erbitterung  und  Wuth  einen  Ausfall  gemacht  und  die  Sfor- 
zeschi  mit  bedeutendem  Verlust  zurückgeschlagen  hätten.  Tags  darauf 
am  6.  Februar  sei  der  Piemontese  Micheletto  mit  andern  Condottieren 
übergegangen  in  Folge  der  mit  ihm  abgeschlossenen  Condotta,  welche 
ihm  12.000  Ducaten  und  eine  Besitzung  in  Piemont  zusage.  Geld  thue 
jetzt  vor  allem  Noth,  so  dass  Louis  den  Vater  wiederholt  um  die 
bewussten  50,000  Ducaten  bitte.  Übrigens  sei  nach  den  neuesten 
Nachrichten  das  Mailänder  Volk  ihm  mehr  denn  je  gewogen.  Dazu 
fügt  dann  der  Herzog  das  Gerücht,  der  König  vonCypern  sei  gestorben, 


1)  Recueil  de  lettres  etc. ,    pag.  77 ,    zwischen  Nr.  XIV  und  Nr.  XV,    in  dem  Register 
übergangen. 

2)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  XIII. 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  4»d 

die  Insel  in  gross ter  Spaltung.  Eine  Partei  wolle  ihn  oder  eines 
seiner  Kinder  zum  König  ausrufen  und  es  komme  nur  darauf  an, 
Abgeordnete  hinzusenden.  Nun  sei  auch  Raphael  Adorno  augenblick- 
lich bei  ihm,  mache  ihm  Aussicht  auf  die  Herrschaft  von  Genua 
und  verspreche  ihm.  von  dieser  Stadt  aus  Galeeren  nach  Cypern  zu 
schicken  und  dort  Louis1  Sache  zu  verfechten.  Gelinge  der  An- 
schlag auf  diese  Republik,  so  sei  er,  Louis,  als  König  von  Cypern 
zugleich  des  Tributs  enthoben,  welchen  die  Insel  an  Genua  zu 
zahlen  habe. 

Schon  zwei  Tage  darauf,  am  14.  Februar,  schickte  der  Herzog 
seinem  Vater  neue  Nachrichten  aus  Mailand  zu1)-  Sforza  berannte  fast 
täglich  die  Stadt,  und  hätte  sie,  wenn  nicht  Monza  widerstanden,  gänz- 
lich umzingelt.  Durch  Micheletto  ermuthigt,  gaben  die  Capitäne  Gon- 
zaga  den  Befehl  von  Monza  aus,  in  das  er  sich  einige  Nächte  zuvor 
geworfen  hatte,  einen  grösseren  Ausfall  zu  machen,  welcher  auch 
Dank  der  verräterischen  Haltung  des  älteren  Piccinini  gelang.  Erst 
nachdem  Sforza  selbst  herbeigeeilt  war,  konnten  seine  Truppen  ihre 
frühere  drohende  Stellung  wieder  einnehmen.  Die  Lage  der  Mailän- 
der hatte  sich  so  um  nichts  gebessert,  aber  auch  ihr  verzweifelter 
Muth  war  noch  derselbe.  An  diese  Meldungen  knüpft  Louis  neue 
Klagen  über  die  Geldnoth,  welche  Micheletto's  Übergang  nur 
gesteigert  hatte.  Alles  bis  auf  das  Geschmeide  der  Herzoginn  war 
verkauft  und  verpfändet. 

In  der  Antwort  auf  die  letzten  Briefe  2)  offenbart  Papst  Felix 
seine  Überlegenheit  in  politischer  Einsicht  und  seine  ruhige  berech- 
nende Mässigung.  Er  findet  es  schon  sehr  gewagt,  dass  Louis  den 
Mailändern  versprochen  hat,  sie  bis  zum  Juli  von  ihren  Feinden  zu 
befreien;  die  Zeit  sei  zu  kurz.  Aber  die  Mailänder  Angelegenheit  sei 
jetzt  die  Hauptsache  und  erfordere  alle  Aufmerksamkeit  und  Anstren- 
gung. Desshalb  sei  das  weitere  Ziel  das  sich  der  Sohn  hinsichtlich 
Genua's  und  Cyperns  auf  blosse  Gerüchte,  auf  die  trügerischen  Aner- 
bieten eines  Adorno  hin  vorgestellt  habe,  so  lange  nicht  zu  verfolgen, 
als  die  nächstliegende  Aufgabe  nicht  gelöst  sei.  Auch  das  spanische 
Bündniss  sei  zu  verwerfen  :  Alfons  stehe  Savoyen  nicht  so  nah,    als 


1)  Recueil  de  leüres  etc.  Nr.  XV. 

2)  Nur  im  Entwurf  erhalten:  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  XVI. 


224  S  i  c  k  e  I. 

das  stammverwandte  französische  Haus  und  sei  anderseits  zu  fern,  um 
wirksame  Hilfe  leisten  zu  können. 

Am  28.  Februar  nun,  wahrscheinlich  nachdem  von  Mailand  eine 
abschlägige  Antwort  auf  die  zuletzt  von  Marquesey  überbrachten 
Vorschläge  eingelaufen  war,  versammelte  Louis  im  bischöflichen 
Palaste  zu  Turin  seine  Räthe  und  die  einflussreichsten  Männer  des 
Landes  (den  Cardinal  von  Cypern ,  Louis  Batard  d'Achaja,  Chou- 
taigne,  Challand,  Varax,  Lornay  u.  a.),  um  einen  endgiltigen  Be- 
schluss  in  der  Mailänder  Angelegenheit  zu  fassen  •)•  Antonie  Bolomyer 
hatte  zu  diesem  Behufe  in  einer  Denkschrift 3)  die  Gründe  zusammen- 
gestellt, „welche  den  Herzog  und  seine  Rathgeber  bestimmt  hatten, 
die  Partei  der  Mailänder  zu  ergreifen."  Der  Frieden,  heisst  es  in 
derselben,  würde  sicherer  und  vorzuziehen  sein,  wenn  nicht  beson- 
dere Umstände  in  Betracht  kämen.  Auf  verschiedene  Versuche,  ein 
Einverständniss  mit  Sforza  und  Venedig  herbeizuführen,  sei  keine 
bestimmte  Antwort  erfolgt.  Dagegen  sage  der  Graf  laut,  dass  er 
dem  Herzoge  nach  der  Eroberung  von  Mailand  den  Krieg  erklären 
und  ihn  über  die  Alpen  zurückwerfen  wolle;  seinen  Leuten  habe  er 
reiche  Beute  und  Land  in  Piemont  versprochen  und  sich  gerühmt, 
bis  St.  Michaelstag  in  St.  Michael  (in  Savoyen  jenseits  des  M.  Cenis) 
zu  sein.  Schon  sein  jetziges  Benehmen  offenbare,  wie  er  gesonnen 
sei:  er  habe  die  Ehre  der  Herzoginn  von  Mailand  nicht  geschont, 
und  verlange  Vercelli  zurück.  Übrigens  sei  er  von  den  Unterhantl- 
lungen  Savoyens  mit  Mailand  hinlänglich  unterrichtet  und  beklage 
sich  laut  über  dieselben.  Offenbar  werde  er  daher  als  Herr  von  Mailand 
nicht  Frieden  halten ,  und  so  habe  der  Herzog  nicht  mehr  freie  Wahl 
zwischen  Krieg  und  Frieden ,  sondern  müsse  angreifen  oder  sich 
wehren.  Für  jenes  spreche  aber  die  Kampfbereitschaft  des  piemon- 
tischen  Heeres,  die  Kriegslust  der  Mailänder,  die  Verheissungen 
Aragons.  Jedenfalls,  wenn  nicht  die  schon  gebrachten  schweren 
Opfer  vergeblich  sein  sollten,  müsse,  ehe  die  Franzosen  kämen, 
gehandelt  werden.  Auch  den  Mailändern  sei  man  eine  offene  Kriegs- 
erklärung schuldig.  Sie  hätten  der  Savoyischen  Allianz  wegen  andere 
vorteilhafte  Anerbietungen  ausgeschlagen  und  wären  nach  den 
Berichten  der  Herzoginn  und  Micheletto's  bereit,  Louis  vor  Ostern  zu 


i)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  XXII. 
2)  Reeueil  de  lettres  etc.  Nr.  XXIV. 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  225 

ihrem  Herrn  zu  machen.  Wolle  man  die  Republik  nicht  zwingen, 
sich  andern,  wohl  gar  Sforza  in  die  Arme  zu  werfen,  so  müsse  der 
von  Rabbia  vorgelegte  Entwurf  angenommen  werden.  Jedenfalls 
werde  dadurch,  abgesehen  von  der  Herrschaft  über  Mailand,  alles 
Land  bis  zum  Tessin  gewonnen  und  die  Herzoginn  von  Mailand  aus  der 
Gefahr  errettet,  in  der  sie  zur  Schande  des  Hauses  Savoyen  schwebe. 
Schlügen  auch  jetzt  die  Absichten  auf  das  Mailänder  Herzogthum 
fehl,  so  eröffne  eine  entschiedene  Parteinahme  die  Aussicht  auf  die 
Zukunft,  nach  dem  Tode  Sforza's.  Auch  würde  es  dem  Herzoge  und 
dem  Adel  zur  Unehre  gereichen,  das  einmal  begonnene  Unternehmen 
aufzugeben.  Es  wäre  sonst  auch  zu  fürchten,  dass  sich  sogar  Sforza 
mit  Rene  und  Genua  zu  einem  Angriffe  auf  Nizza  vereinigten.  End- 
lich könnte  sich  auch  der  Herzog  nicht  mehr  ohne  Einwilligung  der 
Republik  und  ohne  Zustimmung  des  Vaters  vom  Kriege  lossagen, 
während  ein  neuer  Vertrag  zugleich  den  von  Casanova  abgeschlos- 
senen unvorteilhaften  Bund  rückgängig  machen  würde.  Es  bleibe 
nur  die  Wahl,  ruhig  zuzuschauen,  wie  Mailand  in  des  Grafen  Gewalt 
komme,  oder  entschieden  für  die  Republik  Partei  zu  ergreifen.  Er 
stimme  für  das  letztere  und  dafür,  die  Gelegenheit  mitzunehmen, 
wenigstens  einige  Erwerbungen  zu  machen. 

Die  Gründe  Bolomyer's  gaben  den  Ausschlag  im  Rathe  des  Her- 
zogs, und  so  kam  es  am  6.  März  1449  zum  Abschluss  eines  neuen 
Bündnisses1),  dessen  wesentliche  Bestimmungen  sich  in  Folgendem  zu- 
sammenfassen lassen.  Der  frühere  Vertrag  vom  December  wird  für  null 
und  nichtig  erklärt.  Sechs  Tage  nachRatification  des  neuen  verpflichtet 
sich  der  Herzog  mit  seiner  ganzen  Macht  den  Krieg  gegen  Sforza  zu 
beginnen  und  namentlich  sofort  zu  versuchen,  Proviant  in  die  Stadt  zu 
schaffen.  Ihrerseits  verpflichtet  sich  die  Stadt,  gleichfalls  den  Krieg 
zu  eröffnen  und  ihre  Truppen  mit  den  herzoglichen  zu  vereinigen. 
Was  der  Herzog  dem  Grafen  abnimmt,  wird  er,  so  weit  er  es 
nicht  vor  dem  Tode  des  Herzogs  Filippo  Maria  besessen  hat,  der 
Stadt  abtreten.  Der  Herzog  von  Savoyen  verpflichtet  sich  die  Un- 
abhängigkeit der  Republik  gegen  Jedermann,  mit  Ausnahme  der 
Krone  Frankreichs,  zu  schützen.  Zur  Entschädigung  für  solche 
Dienste  und  ihren  Kostenaufwand  tritt  Mailand  die  Stadt  Novara  und 
ihr  Gebiet  bis  zum  Tessin  mit  allem  Zubehör  und  allen  Rechten  ab 


J)  Reeueil  de  lettres  etc.  Nr.  XXV. 

ftitzb.  d.  phil.-hist.  Ol.  XX.  Bd.  1.  Hfl.  15 


226  S  i  c  k  e  1. 

und  verpflichtet  sich  zu  ihrer  Eroberung  mitzuwirken.  Ausserdem 
bezahlt  Mailand  dem  Herzoge  und  seinen  zwei  nächstfolgenden 
Erben  in  sechsmonatlichen  Raten  einen  jährlichen  Tribut  von  25.000 
guten,  vollwichtigen  Ducaten,  und  der  Herzog  rechnet  sogar  auf 
Erhöhung  dieser  Summe  im  günstigsten  Fall.  Keine  Partei  darf  ein- 
seitig Frieden  schliessen  mit  Sforza.  Der  Vertrag  bleibt  in  Kraft 
und  verpflichtet  zu  gegenseitiger  Hilfsleistung  auf  die  Dauer  der 
Regierungszeit  des  jetzigen  Herzogs  und  seiner  zwei  Nachfolger. 
Mailändischer  Seits  muss  der  Vertrag  vom  Rath  der  900  ratificirt 
werden. 

In  Mailand  verfehlte  die  Kunde  vom  Abschluss  dieses  Vertrages 
nicht  die  grösste  Freude  hervorzurufen  und  allen  Muth  anzufachen. 
Von  dem  allgemeinen  Jubel  fortgerissen,  Hessen  selbst  die  Defen- 
soren  der  Freiheit  ihre  Bedenken  fallen,  ratificirten  den  Bundesver- 
trag und  erwiesen  dem  Herzoge  Ehren,  wie  sie  nur  einem  wirklichen 
Herrn  zukamen.  Louis1  Wappen  wurde  an  den  Thoren  und  den  öffent- 
lichen Gebäuden  aufgestellt  *).  Eine  Grida  2)  stellte  jede  Schmähung 
des  Herzogs  einer  Majestätsbeleidigung  gleich  und  forderte  auf  jeden 
anzugeben,  der  öffentlich  oder  heimlich  über  das  Savoyische  Bünd- 
niss  murre  oder  der  Ehre  des  Herzogs  zu  nahe  trete.  Die  Stadt 
machte  auch  ihrem  Versprechen  gemäss  neue  Anstrengungen.  Am 
30.  März  erfolgte  ein  allgemeines  Aufgebot3),  das  sich  in  den  nächsten 
Wochen  bei  mehreren  Ausfällen  auszeichnete,  und  als  es  Ende  April 
Melegnano  zu  entsetzen  galt,  an  20.000  Mann  stark  im  Felde 
erschien.  Herzog  Louis  wurde  von  den  in  Mailand  ergriffenen  Mass- 
regeln durch  eine  Gesandtschaft  in  Kenntniss  gesetzt,  welche  aus 
Pietro  Donsio,  Giovanni  di  Casale  und  Micheletto  bestand  und  am 
Freitag  vor  Palmsonntag  (4.  April)  in  Turin  ankam.  Sie  brachten 
allerdings  die  Nachricht,  dass  die  Neunhundert  welchen  auch  die 
Ratification  des  Vertrages  vom  6.  März  vorbehalten  war,  zwei  Be- 
stimmungen desselben,  die  Unabhängigkeit  des  Grafen  Borromeo 
betreffend,  verworfen4)  hatten;  gaben  aber  dem  Herzoge  die 
besten    Versicherungen     von    der    Liebe    und    Anhänglichkeit    der 


1)  Oe  la  Marche  I,  eh.  17,  und  Mailänder  Chronisten. 

2)  Grida  vom  28.  März   1449,  im   Arch.  civieo  di  Milano,  Reg.   C.   f.  61   v. 

3)  Grida,  ibidem. 

4)  Reeueil  de  lettres  ete.  Nr.  XLV1I 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyeu.  2ä7 

Mailänder  und  sl eilten  eine  förmliche  Unterwerfung  der  Stadt  unter 
sein  Scepter  in  nahe  Aussicht ;  nur  ermahnten  sie  ihn  auch  von 
Neuem,  kräftigen  Beistand  zu  leisten  *). 

In  Lausanne  dagegen,  von  Seiten  des  Papstes  Felix,  fand  das 
ßiindniss  vom  6.  März  entschiedene  Missbilligung.  Jacques  de  Lor- 
nay  war  der  erste,  welcher  Kunde  von  demselben  an  den  päpstlichen 
Hof  brachte  und  zugleich  Mannschaft  und  Gelder  aus  der  Waadt 
herbeischaffen  sollte.  Statt  irgend  etwas  in  dieser  Hinsicht  auszu- 
richten, erhielt  er  von  Amadeus  ein  wenig  erfreuliches  Antwort- 
schreiben an  den  Herzog  Louis.  Bei  dem  ersten  entscheidenden 
Schritte  nämlich,  den  der  junge  Herzog  in  der  Mailänder  Angelegen- 
heit gethan  hatte,  offenbarte  es  sich,  dass  Felix  noch  immer  in 
wichtigen  Dingen  die  oberste  Leitung,  die  letzte  Entscheidung  bean- 
spruchte. Nicht  allein,  dass  er  sich  bitter  beklagte2),  dass  der  Ver- 
trag ohne  seine  förmliche  Zustimmung  abgeschlossen  war;  von  die- 
sem Augenblicke  an  griff  er  trotz  der  Sorgen  und  Mühen,  welche 
ihm  die  bevorstehende  endliche  Beilegung  der  Kirchenspaltung  ver- 
ursachte, eigenmächtig,  ohne  Einverständniss  mit  seinem  Sohne, 
fast  ohne  dessen  Wissen  in  die  politischen  Angelegenheiten  Savoyens 
ein,  ganz  in  der  Weise,  wie  er  es  sich  einst  vor  fünfzehn  Jahren 
vorbehalten  hatte.  Wir  werden  sehen,  wie  er  in  der  nächsten  Zeit 
mit  der  Stadt  Mailand,  mit  Sforza,  mit  dem  Herzog  von  Orleans  in 
directe  Unterhandlungen  tritt,  wie  er  sich  selbst  in  die  Führung  des 
Krieges  mischt,  welcher  in  Folge  des  Mailänder  Bündnisses  ausbrach. 

Die  Missbilligung  des  Vertrages  stützte  sich  in  dem  dem  Jac- 
ques de  Lornay  anvertrauten  Antwortschreiben  zunächst  darauf,  dass 
Felix  ihn  für  unausführbar  hielt.  Hatte  auch  er  selbst  sein  Lebe- 
lang nach  Erwerbung  der  Lombardei  getrachtet,  so  hatte  er  doch 
die  Verfolgung  dieses  Lieblingsplanes  immer  den  Umständen  ange- 
passt  und  sich  erst  auf  die  Hilfe  von  Venedig  und  Florenz,  später  auf 
die  Zustimmung  des  letzten  Herzogs  zu  stützen  gesucht.  Sein  Sohn 
hatte  den  unterdess  schwieriger  gewordenen  Verhältnissen  in  keiner 
Weise  Bechnung  getragen  und  wollte  seine  von  den  Mailändern  nur 
halb  und  ungern  anerkannten  Ansprüche  gegenüber  der  vereinten 
Macht  von   Sforza,    Venedig   und  Florenz   geltend    machen.     Felix 


1)  Reeueil  de  lettres  etc.  Nr.  XXXI. 

2)  Recueii  de  lettres  etc.  Nr.  XXVI. 

15 


228 


S  i  c  k  e  1. 


erschien  jeder  derartige  Versuch  um  so  weniger  ausführbar,  als  zur 
selben  Zeit  Savoyen  selbst  durch  schlechtes  Regiment,  namentlich 
durch  die  Spaltungen  im  Adel  zur  Ohnmacht  herabgesunken  war. 
Nachdem  der  Hof  einige  Jahre  zuvor  dem  Unwillen  des  Adels  den 
Kanzler  Guillaume  Bolomyer  hatte  opfern  müssen,  war  in  Jean  de 
Compeys  Herrn  von  Torrens  ein  nener,  noch  eigenmächtigerer  Günst- 
ling der  Herzoginn  und  des  Herzogs  emporgekommen.  Ihm  gegen- 
über bildete  sich  aus  dem  Adel  Savoyens  und  der  Waadt  eine  um  so 
geschlossenere  Partei,  als  sie  an  dem  gleichfalls  mit  dem  Turiner 
Regiment  unzufriedenen  Amadeus  einen  Rückhalt  fand.  An  ihrer 
Spitze  standen  die  einflussreichsten  Männer  in  Savoyen:  der  Marschal 
Jean  de  Seyssel,  Herr  von  Barjat  und  Francois  de  la  Palu,  Herr  von 
Varembon.  Ein  Jahr  später  bildeten  sie  mit  den  ersten  Familien  des 
Landes  eine  förmliche  Ligue  gegen  Compeys  und  seinen  Anhang, 
welche  alle  staatlichen  Bande  aufzulösen  drohte;  aber  auch  schon 
1449  war  die  Spaltung  so  gross  geworden,  dass  sie  ein  energisches 
Auftreten  des  Herzogs  nach  aussen  hin,  eine  Machtentwicklung,  wie 
sie  das  Mailänder  Bündniss  voraussetzte,  unmöglich  machte.  Dass 
gerade  Compeys  nun  durch  seine  Stellung  am  Hofe  berufen  worden 
war,  den  Vertrag  mit  der  Ambrosianischen  Republik  zur  Ausführung 
zu  bringen,  vermehrte  noch  die  Bedenken  des  Papstes  und  hielt  die 
ihm  feindliche  Partei  des  Adels  von  wirksamer  Unterstützung  des 
Unternehmens  zurück.  Amadeus  machte  ferner  in  seinem  Schreiben 
dem  Herzog  Louis  den  Vorwurf,  in  dem  eben  abgeschlossenen  Ver- 
trage die  Bechte  des  Hauses  Orleans  nicht  gewahrt  und  sich  dadurch 
einen  neuen  Feind  zugezogen  haben.  War  nun  auch  allerdings  in  die- 
ser Hinsicht  ein  Fehler  gemacht  worden,  so  beging  Felix  in  demsel- 
ben Augenblicke  einen  noch  grösseren,  indem  er  ohne  Wissen  seines 
Sohnes  mit  dem  Bastard  von  Orleans  Mailands  wegen  Unterhand- 
lungen anknüfte.  Der  Herzog  von  Orleans  hatte  sich  nämlich  *)  seit 
seinem  Aufenthalt  in  Asti  überzeugt,  dass  er  weder  durch  Unterhand- 
lungen zur  Herrschaft  über  Mailand  gelangen,  noch  mit  seiner  gerin- 
gen Macht  seine  Anerkennung  als  Herzog  erzwingen  würde,  und 
hatte  sich  desshalb  an  den  französischen  Hof  in  Lyon  begeben  und 
seinen    königlichen    Vetter  mit  Bitten  bestürmt,    ihm  ein  Heer  zur 


l)  A.  Chartier,  histoire  de  Charles  VII  ad  1448,  und  Olivier  de  la  Marone  1,  eh.   17 
und  21. 


Die  Ambrosinnische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  ZZv 

Eroberung  der  Lombardei  zur  Verfügung  zu  stellen.  König  Karl  hatte 
seine  Hilfe  auch  zugesagt,  wollte  die  Mailänder  Angelegenheit  jedoch 
erst  nach  Beilegung  der  Kirchenspaltung  in  Angriff  nehmen.  Nun 
wurde  aber  der  Bastard  von  Orleans  Graf  Dunois  an  die  Spitze  einer 
Gesandtschaft  gestellt  welche  der  König  in  den  ersten  Monaten  des 
Jahres  1449  nach  Lausanne  an  Felix  schickte,  um  mit  demselben  die 
über  dessen  Abdankung  gepflogenen  Unterhandlungen  zum  Abschluss 
zu  bringen.  Natürlich  benutzte  der  Bastard  der  im  März  in  Lausanne 
eintraf,  diese  Gelegenheit,  um  mit  Felix  zugleich  die  Mailänder  An- 
gelegenheit zu  besprechen  und  ihm  in  derselben  Zugeständnisse 
abzulocken  ,  welche  wir  im  weiteren  Verlauf  kennen  lernen  werden. 
Indem  Herzog  Louis  von  diesen  Unterhandlungen  erst  durch  Jacques 
de  Lornay  erfuhr,  war  nicht  er,  sondern  Amadeus  selbst  dafür  ver- 
antwortlich, dass  Savoyens  Stellung  nach  dieser  Seite  hin  immer 
schwieriger  und  verwickelter  wurde. 

Dagegen  Hess  es  sich  Amadeus  angelegen  sein  auf  eine  Aus- 
söhnung des  Adels  hinzuwirken.  Am  28.  März  schickte  er  durch 
Jean  Lyobard  einen  Brief  an  Herzog  Louis  *),  in  dem  er  auf  die 
Notwendigkeit  hinwies,  ehe  an  eine  ernstliche  Unternehmung  und 
Eroberung  der  Lombardei  zu  denken  sei,  der  Spaltung  zwischen  den 
Grossen  des  Landes  ein  Ende  zu  machen.  Er  kündigte  zugleich  an, 
dass  auf  seine  Veranlassung  Barjat  und  Varembon  sich  an  den  Turiner 
Hof  begeben  würden ,  wo  dann  eine  Aussöhnung  mit  der  Compeys1- 
schen  Partei  stattfinden  sollte.  Mit  ernsten  Worten  ermahnte  er 
seinen  Sohn  ihnen  einen  besseren  Empfang  zu  bereiten,  als  einigen 
andern  Rittern  Savoyens,  die  von  der  Aussicht  auf  den  bevorste- 
henden Krieg  gelockt,  sofort  nach  Piemont  geeilt  waren,  daselbst 
aber  eine  kalte,  fast  schnöde  Aufnahme  gefunden  hatten. 

Leider  fanden  diese  gutgemeinten  Rathschläge  kein  Gehör.  Louis, 
ganz  unter  dem  Einflüsse  der  Herzoginn  und  deren  Günstlinge, 
verbat  sich  sogar,  wie  wir  aus  einem  späteren  Briefe  erfahren  3), 
die  Ankunft  der  Herrn  von  Barjat  und  Varembon  und  verzichtete 
lieber  auf  die  Hilfe  seiner  Savoyischen  Vasallen.  Dagegen  hätte 
der  Herzog  gern  seine  alten  Bundesgenossen  von  Bern  zu  Hilfe 
gerufen,    von    deren   Kriegstüchtigkeit     er    sich     viel    versprach, 


!)  Recueil  de  lettres  etc.  Ni>.  XXVII. 
2)  Recueil  de  leltres  etc.  Nr.  XXVIII. 


230  S  i  e  k  e   I 

und  bat  seinen  Vater  desshalb  mit  ihnen  zu  unterhandeln.  Amadeus 
war  jedoch  anderer  Meinung.  Einmal  sind  ihm  die  Berner  zu  entfernt 
von  Italien;  dann  hat  der  Herzog  auch  nicht  das  Geld  sie  zu  besol- 
den. Drei  Schweizer-Compagnien  würden  monatlich  18,000  Gulden 
beanspruchen,  das  heisst  ebensoviel  als  die  ganze  Armee  des  Her- 
zogs zu  erhalten  kostet.  Obendrein  wären  die  Berner,  was  ihre  Be- 
zahlung anbetrifft,  sehr  schwierig  und  würden  sie  nicht  vollständig 
zufrieden  gestellt,  so  würden  sie  leicht  aus  guten  Freunden  Feinde. 
So  äusserten  sich  wenigstens  zwei  Berner  Abgesandte,  die  sich  gerade 
damals  in  Kirchenangelegenheiten  am  Hofe  Felix*  befanden.  Auch 
würden  die  Schweizer  Bedenken  tragen,  fügte  der  Papst  hinzu,  in 
Savoyische  Dienste  zu  treten,  so  lange  die  Spaltung  im  Adel  fort- 
dauere und  das  ganze  Unternehmen  scheitern  zu  machen  drohe. 

Mit  dieser  Antwort  auf  Louis'  Vorschläge  übersandte  ihm 
Felix  zugleich  einen  vorläufig  mit  dem  Bastard  von  Orleans 
entworfenen  Vertrag1)  folgenden  Inhaltes:  Die  Herzöge  von 
Orleans  und  Savoyen  verpflichten  sich  zu  beiderseitigem  Wohl  und 
Nutzen  zur  gemeinschaftlichen  Eroberung  aller  Städte ,  Plätze 
und  Herrschaften  die  dem  letztverstorbenen  Herzoge  von  Mai- 
land unterthan  waren.  Nur  die  Stadt  Mailand  soll  vor  der  Hand 
ausgeschlossen  bleiben  und  über  sie  erst  in  besseren  Zeiten, 
dann  aber  auch  zu  beiderseitigem  Vortheil  der  zwei  Herzöge 
verfügt  werden.  Alles  eroberte  Land  soll  zu  gleichen  Theilen 
unter  sie  getheilt  werden.  Nur  Novara  nebst  seinem  Gebiete  soll 
dem  Herzog  von  Savoyen  im  voraus  zugesichert  bleiben  und  ebenso 
dem  Herzog  von  Orleans  Alessandria  mit  Zubehör  oder  ein  anderes 
entsprechendes  und  an  die  Grafschaft  Asti  grenzendes  Gebiet.  Die 
Kosten  der  Unternehmung  sollen  zu  gleichen  Theilen  getragen  und 
was  von  dem  einen  mehr  verausgabt  würde,  schliesslich  von  dem 
andern  ersetzt  werden.  Den  Erfolg  zu  sichern  soll  der  König  von 
Frankreich  4000  Berittene  unter  dem  Marschall  de  la  Ferte  nach  Asti 
senden  und  sie  in  seinem  Namen  am  Kriege  theilnehmen  lassen.  Die- 
selben sollen  dem  Herzog  Louis  ebenso  zur  Eroberung  des  ihm  im 
voraus  zugesicherten  Gebietes  mit  verhelfen ,  als  die  Savoyischen 
Truppen  zur  Eroberung  des  Orleans'schen  Antheils  mitzuwirken 
hätten. 


1)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  XXIX. 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  4>o\ 

Es  liegt  auf  der  Hand,  in  welchem  Grade  dieses  wenn  auch  nur 
vorläufige  Übereinkommen  die  Pläne  des  Herzogs  Louis  und  sein  mit 
Mailand  schon  geschlossenes  Bündniss  durchkreuzte.  Dass  die  Frage, 
wem  einst  die  Stadt  Mailand  zufallen  solle,  noch  offen  gelassen  war, 
genügte  nicht;  die  Vereinbarung  mit  Orleans  und  das  Bündniss  vom 
6.  März  konnten  nicht  mit  einander  bestehen.  Offenbar  erkannte  auch 
Felix  das  letztere  als  ohne  seine  Zustimmung  abgeschlossen  gar  nicht 
an  und  wollte  seinen  Sohn  zum  Verrath  an  seinen  Mailänder  Freun- 
den zwingen. 

Es  war  aber  zu  spät  zu  gemeinschaftlichem  Handeln  mit  Orleans: 
Savoyen  war  bereits  in  Krieg  mit  Sforza  verwickelt.  Der  Herzog 
unterhandelte  allerdings  bis  in  den  April1)  hinein  mit  dem  Grafen 
Francesco,  aber  lediglich  zum  Schein.  Seine  an  der  Grenze  aufge- 
stellten, schlecht  disciplinirten  Truppen  unternahmen  schon  im  Jänner 
einzelne  Streifzüge  in  das  Gebiet  von  Novara3).  Und  kaum  war  am 
6.  März  das  Bündniss  mit  der  Ambrosianischen  Republik  zu  Stande 
gekommen,  so  fielen  grössere  Truppenmassen,  ohne  zuvor  den  Krieg 
zu  erklären,  in  die  Lombardei  ein.  Das  schutzlose  Lomellin  wurde  in 
wenig  Tagen  unterworfen.  Um  dieselbe  Zeit,  Mitte  März,  machte  Jean 
de  Compeys  der  sich  den  Oberbefehl  vorbehalten  hatte,  den  Versuch 
Novara  von  Vercelli  aus  nächtlich  zu  überrumpeln  3).  Durch  List  und 
Verrath  war  es  seiner  ausgesuchten  Schar  auch  schon  gelungen  in 
die  Stadt  einzudringen,  als  sich  die  kleine  Sforzische  Besatzung, 
unter  Guido  d'Assisi  und  dem  Stradioten  Lucas,  sammelte  und  den 
Feind  zurückschlug.  Das  flache  Land  aber  blieb  den  beutelustigen 
Savoyern  preisgegeben ,  bis  Sforza  auf  die  erste  Kunde  von  diesen 
Einfällen  Hilfe  schicken  konnte.  Christophoro  Taurello  und  Angelo 
Labello  ordnete  er  nach  dem  Lomellin  ,  seinen  Bruder  Corrado  und 
Christophoro  diSalerno  nach  Novara  ab,  alle  mit  dem  gemessenen  Be- 
fehle sich  nur  defensiv  zu  verhalten.  Sforza  lag  es  aus  vielen  Gründen 
daran  einem  förmlichen  Kriege  mit  Herzog  Louis  auszuweichen.  Viel- 
leicht Hess  er  sich  auch  wirklich  durch  des  Herzogs  Scheinunterhand- 
lungen täuschen  und  gab  sich  dem  Wahne  hin,  jene  feindlichen  Ein- 
fälle geschähen  nicht  auf  Louis'  sondern  auf  Amadeus'  Befehl.  Letz- 
teren   betrachtete  er    als  den   eigentlichen  Leiter    der  Savoyischen 


1)  Reeueil  de  lettres  etc.  Nr.  XXXII. 

2)  Corrispondenza  ducale   144!)  im  Anh.  di   S.  Fedele   in  Mailand. 

3)  Maehanaeus  in  Mon.  hist.  patriae  I,  col.  773. 


232  S  i  c  k  e  I. 

Politik  und  sandte  desshalb  Giovanni  Alboni  aus  Pavia  an  ihn  ab,  um 
sich  darüber  zu  beschweren,  dass  der  Papst  seinen  Sohn  ohne  allen 
Anlass,  ohne  allen  Rechtsgrund  zum  Kriege  anstachle  *)•  Die  Ant- 
wort von  Felix  ist  bezeichnend  für  sein  ganzes  heuchlerisches  Trei- 
ben. Er  habe,  schreibt  er,  seine  ganze  Aufmerksamkeit  den  geistlichen 
Dingen,  dem  Heil  und  Wohl  der  römischen  Kirche  zugewandt  und 
alle  weltliche  Gewalt  der  Leitung  seines  Sohnes  anvertraut.  Derselbe 
sei  es  seiner  und  seines  Hauses  Ehre  schuldig ,  treu  an  dem  jüngst 
mit  Mailand  abgeschlossenen  Bunde  festzuhalten  und  die  gemein- 
schaftliche Sache  in  weiterem  Kriege  zu  verfechten.  Was  er  bereits 
erobert  habe  wieder  herauszugeben,  wie  es  Sforza  verlange,  sei  kein 
Grund  vorhanden.  Denn  das  habe  Louis  von  seinen  Vorfahren  gelernt, 
nie  zurückzugeben,  was  einmal  erobert  sei,  vielmehr  noch  mehr  von 
denen  zu  verlangen,  die  Frieden  von  ihm  begehrten. 

Sobald  Graf  Francesco  diese  Antwort  empfangen  und  sich  von 
der  Unmöglichkeit  überzeugt  hatte  den  Frieden  mit  Savoyen  zu 
erhalten,  ergriff  er  schnell  energische  Massregeln  und  sandte  bedeu- 
tende Verstärkungen  unter  Alberto  da  Carpi  und  Coglione  an  die 
piemontesische  Grenze.  Die  dem  letztern  Condottiere  untergeordneten 
Truppen  welche  das  Gebiet  von  Novara  besetzen  sollten,  nahmen 
eine  eigenthümliche  Stellung  ein,  die  aber  ganz  dem  Geiste  der  vene- 
tianischen  Politik  entsprach.  Gerade  die  Geschichte  dieses  Jahres 
bietet  mehrere  Belege  dafür  dar ,  dass  die  Republik  von  S.  Marco 
sich  da,  wo  es  ihr  Interesse  erheischte,  durch  kein  Versprechen,  durch 
keinen  Vertrag  binden  liess.  Diese  Treulosigkeit  in  einzelnen  kriti- 
schen Momenten  suchte  die  Signoria  aber    dadurch  zu    bemänteln, 


i)  Nach  Simonetta  1.  XVII.  Wie  es  schon  Simonetta's  Stellung  am  Mailänder  Hofe  wahr- 
scheinlich macht,  hat  er  sich  bei  Abfassung-  seiner  Geschichte  amtlicher  Quellen, 
namentlich  der  herzogliehen  Correspondenz  bedient.  Ich  habe  vielfach  Gelegen- 
heit o-ehabt,  die  Analysen  von  Schriftstücken  die  er  mittheilt,  mit  den  noch  erhal- 
tenen Originalen  zu  vergleichen  und  habe  sie  meist  wortgetreu  gefunden,  so  dass 
ich  kein  Bedenken  trage,  da,  wo  wie  hier  die  Originale  verloren  gegangen  sind, 
Simonetta  zu  folgen.  Überhaupt  ist,  was  er  gibt,  im  allgemeinen  zuverlässig;  seine 
Parteilichkeit  besteht  nur  darin,  dass  er  das  Wichtigste  mit  Stillschweigen  über- 
o-eht,  sobald  es  den  Ruhm  seines  Herrn  und  Gebieters  beeinträchtigen  könnte. 
Ausserdem  Hessen  ihn  hier  und  da  seine  Quellen  im  Stich,  so  z.  B.  bei  allen  Ver- 
handlungen der  Republik  mit  anderen  Staaten.  Dasselbe  gilt  von  Corio,  der  unter 
ganz  gleichen  Verhältnissen  gearbeitet  hat;  das  Decret,  durch  welches  Corio  vom 
Herzo<>-  Ludovico  Moro  autorisirt  wurde  für  sein  Geschichtswerk  die  Acten  des  her- 
zoglichen  Archivs  zu  benutzen,  ist  noch  erhalten  und  befindet  sich  jetzt  in  der  Samm- 
lung des  Cav.  Morbio  in  Mailand. 


Die  Ambrosianiscbe  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  Cfto 

dass  sie  im  Allgemeinen  das  Princip  der  Vertragstreue  mit  Entschie- 
denheit aufstellte,  selbst  durchführte  und  andern  gegenüber  behaup- 
tete. Sie  hielt  für  gewöhnlich  mit  ängstlicher  Gewissenhaftigkeit  an 
dem  Buchstaben  der  Bestimmungen  fest,  und  wusste  so  einzelnen 
schreienden  Verletzungen  zum  Trotz  den  Ruf  der  Zuverlässigkeit  zu 
behaupten.  In  dem  hier  vorliegenden  Falle  lag  ein  strenges  Festhalten 
an  dem  Wortlaute  der  Verträge  obendrein  im  Interesse  der  Republik 
und  wurde  um  so  entschiedener  und  unverhohlener  geltend  gemacht. 
Der  zwischen  Venedig  und  Sforza  abgeschlossene  Vertrag  von  Rivol- 
tella  sicherte  nämlich  diesem  venetianische  Hilfe  zur  Verteidigung 
seiner  Besitzungen  und  zur  Eroberung  des  ihm  zugestandenen  Viscon- 
ti'schen  Erbtheiles  zu.  Daraus  abgeleitet  erkannte  die  Signoria  ihre 
Verpflichtung  an,  was  Sforza  beanspruchen  konnte,  auch  gegen  An- 
griffe von  Savoyischer  Seite  her  zu  vertheidigen,  verweigerte  aber 
jede  weitere  Mitwirkung,  jedes  aggressive  Vorgehen  gegen  Herzog 
Louis.  Demgemäss  hatte  Coglione  als  venetianischer  Condottiere 
Befehl,  das  Sforza  zukommende  Gebiet  von  Novara  gegen  die  Einfälle 
der  Piemontesen  sicher  zu  stellen,  die  Grenze  selbst  aber  nicht  zu 
überschreiten.  Nur  so  erklärt  sich,  was  wir  weiter  von  der  Kriegs- 
führung in  jenen  Gegenden  zu  erzählen  haben  ,  nur  so  werden  die 
zwischen  Venedig  und  Savoyen  gewechselten  Briefe  verständlich. 

Sforza,  der  überhaupt  mit  der  venetianischen  Politik  innig  ver- 
traut war  und  jetzt  beständig  einen  venetianischen  Legaten,  Giacomo 
Antonio  Marcello,  zur  Seite  hatte  und  durch  ihn  aufs  Genaueste  von 
den  Absichten  der  Signoria  unterrichtet  wurde,  begnügte  sich  auch 
mit  der  in  diesem  Falle  dem  Vertrage  von  Rivoltella  gegebenen  Aus- 
legung. Herzog  Louis  aber,  obschon  auch  er  durch  den  Abt  von  Casa- 
nova mit  Venedig  in  Verbindung  war,  verstand  die  Haltung  der  Re- 
publik nicht,  verstand  nicht  einmal,  dass  sie  ihm  günstig  war,  und 
ergriff,  bis  ihn  ein  besonderes  Schreiben  von  Marcello  aufklärte, 
ganz  verkehrte  Massregeln  gegen  die  venetianischen  Kaufleute  welche 
sein  Land  passirten.  Marcello  schrieb  desshalb  unterm  4.  April  1449 
aus  Sforza's  Lager  an  den  Herzog  *),  dass  die  Signoria  der  alten 
Freundschaft  mit  dem  Hause  Savoyen  eingedenk  auch  jetzt  nichts 
gegen  diePerson  und  das  Land  des  Herzogs  unternehmen  wolle,  noch 
werde,  dass  sie  aber,  wie  es  ihr  eigenes  Interesse  erheische  und  die 


»)  [ieciieil   de   lettre«   etc.   Nr.  XXXVI. 


234 


S  i  c  k  e  I. 


vertragsmässige  Verpflichtung,  das  Sforza  zukommende  Gebiet  gegen 
Einfälle  von  Piemont  her  zu  schirmen  entschlossen  sei.  In  einem 
Schreiben  ähnlichen  Inhalts  vom  14.  April  erläuterte  Bartolomeo 
Coglione  die  ihm  von  derSignoria  ertheilten  Befehle,  und  endlich  ver- 
sicherte der  Venner  der  Justiz  der  florentinischen  Republik,  welche 
damals  ganz  dieselbe  Politik  befolgte  wie  Venedig,  dass  auch  sie 
nicht  den  Bestand  Savoyens  zu  gefährden  beabsichtige  *). 

Coglione  beschränkte  sieh  nun  auch  wirklich  auf  die  Verteidi- 
gung des  Gebietes  von  Novara  und  säuberte  es  möglichst  von  den 
über  die  Sesia  einfallenden  Savoyischen  Truppen.  Corrado  und  die 
übrigen  Condottieri  Sforza's  brauchten  sieh  darauf  nicht  zu  beschrän- 
ken, verfolgten  die  Feinde  über  den  Grenzfluss  und  streiften  bis  vor 
die  Thore  von  Vercelli,  wobei  sich  allerdings  zuweilen  auch  Vene- 
tianische  Söldner  beutelustig  und  Coglione's  Befehlen  zuwider 
anschlössen.  Durch  diese  Streifzüge  gelang  es  Corrado  endlich,  Com- 
peys  mit  dem  Kern  der  Savoyischen  Macht  über  die  Sesia  herüber- 
zulocken  und  nun  mit  Coglione  vereint  über  ihn  herzufallen.  Com- 
peys  selbst,  der  Urheber  und  Leiter  des  ganzen  Unternehmens,  fiel 
dabei  in  die  Hände  der  Venetianer  und  blieb  einige  Monate  lang  in 
Gefangenschaft,  so  dass  er  an  dem  weiteren  Kriege  nicht  theilneh- 
men  konnte. 

Von  diesen  Vorfällen  unterrichtete  der  Herzog  seinen  Vater 
durch  Ant.  de  Labalme  z).  Louis  beklagte  sich  dabei  auch  über  die 
Ungleichheit  des  Kampfes,  indem  er  den  12,000  Mann  Sforza's  kaum 
die  Hälfte  entgegenstellen  konnte  und  obendrein  nur  junge,  der  Kriegs- 
kunst der  Italiener  wenig  erfahrene  Mannschaft.  Dieselbe  wollte  auch 
nur  gegen  regelmässige  Soldzahlungen  dienen.  Besonders  unzuverläs- 
sig waren  die  Picardischen  Bogenschützen,  welche  durch  Vermittlung 
des  Herzogs  von  Burgund  in  Savoyische  Dienste  getreten  waren.  Auf 
Mailands  Unterstützung  glaubte  sich  Louis  wenig  verlassen  zu  können. 
Ihre  geringe  Infanterie  genügte  kaum  die  noch  behaupteten  Städte 
Como,  Crema,  Lodi  und  Monza  zu  besetzen.  Die  Bürger  selbst 
erschienen  ihm  nicht  kriegserfahren.  Louis  befand  sich  daher  nicht 
in  der  Lage  seinen  kühnen  Eroberungsplan  auszuführen,  sah  viel- 
mehr sein  eigenes  Land  von  der  Übermacht  Sforza's  bedroht.    Seine 


i)  10.  April   1449  im  Recueil  de   lettres  Nr.  XXXV. 

2)  In  der  Woche  vor  Ostern.     Recueil  de  lettres  Nr.  XXXI  und  XXXII. 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  235 

einzige  Rettung  war,  Sforza  seine  Führer  abtrünnig  zu  machen  und 
in  Savoyische  Dienste  zunehmen.  Aber  dazu  fehlte  es  wieder  an  Geld, 
wenn  sich  nicht  Felix  dazu  verstand,  die  schon  oft  erbetene  Summe 
von  50,000  Ducaten  herbeizuschaffen.  Herzog  Louis  verheimlichte 
seinem  Vater  auch  nicht,  dass  seine  Ohnmacht  ihn  um  das  Vertrauen 
der  Mailänder  bringen  müsse,  und  dass  wenn  nicht  schleunig  Rath 
geschafft  würde,  das  ganze  Unternehmen  scheitern  würde.  Von  den 
mit  Sforza  noch  immer  fortgesetzten  Unterhandlungen  versprach  er 
sich  keinen  Erfolg  und  ahnte  schon,  dass  er  bei  dem  Versuche  den 
schlauen  Italiener  zu  überlisten  zuletzt  selbst  überlistet  wurde.  Dar- 
über, dass  Felix  direct  mit  dem  Grafen  Francesco  verhandelte,  ohne 
Wissen  und  ohne  Einverständniss  mit  seinem  Sohne,  sprach  sich  die- 
ser ziemlich  unwillig  aus.  Seinerseits  meldete  er  alles  was  er  that: 
dass  er  den  Abt  von  Casanova  nach  Venedig  geschickt  hatte,  um  wo 
möglich  eine  Verständigung  mit  der  Signoria  herbeizuführen ,  dass 
er  Gaspard  de  Mazin  beauftragt  hatte,  in  Genua  auszukundschaften, 
ob  Sforza  dort  Verbindungen  habe,  dass  Nicod  de  Menthone  Unter- 
handlungen pflog,  um  für  den  Ertrag  der  Salzsteuer  von  Nizza  Gelder 
aufzunehmen.  Am  Schlüsse  seines  Briefes  kommt  der  Herzog  noch 
einmal  darauf  zurück,  Berner  Hilfe  anzurufen  und  seinen  Vater  zu 
bitten,  er  möge  dieselben  so  schnell  als  möglich  kommen  lassen. 

An  die  Stelle  des  gefangenen  Compeys  war  unterdess  Micheletto 
de  Piemonte  getreten.  Früher  selbst  im  Dienste  von  Sforza  hatte  er 
sich  unter  diesem  einen  gewissen  militärischen  Ruf  erworben;  dann 
zu  der  Mailänder  Republik  übergegangen,  hatte  er  dort  das  Vertrauen 
der  Capitane  der  Freiheit  gewonnen  und  eignete  sich  so  besonders 
dazu,  den  Oberbefehl  und  zugleich  die  Vermittlung  zwischen  dem  Her- 
zoge und  seinen  Mailänder  Bundesgenossen  zu  übernehmen.  Bezeich- 
nend ist,  dass  Micheletto  den  alten  Herzog  als  die  eigentliche  Seele 
des  ganzen  Unternehmens,  als  den  berechtigten  Leiter  der  savoyischen 
Politik  betrachtete,  an  ihn  ebenso  wie  an  Louis  Bericht  erstattete  und 
von  ihm  Rath  und  Befehle  ei.nholte;  bezeichnend  ist  die  Art,  wie  er 
sich  dabei  über  des  jungen  Herzogs  Antheil  an  dem  Vorhaben  aus- 
spricht. Am  15.  April  schrieb  er  von  Vercelli  aus  an  Amadeus1)  :  „Die 
Einwohner  dieser  Stadt  sind  in  hohem  Grade  unzufrieden  mit  der 
schlechten   und  unpassenden  Leitung  der  Angelegenheiten   und  mit 


*)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  XXX. 


236  S  i  c  k  e  1. 

den  Erpressungen  der  Soldaten.  Schlecht  bezahlt,  plündern  diese  die 
eigenen  Unterthanen  des  Herzogs  aus."  Micheletto  hatte  nur  mit  gros- 
ser Noth  einige  Ordnung  herstellen  und  durch  Versprechen  pünct- 
licher  Besoldung  der  Desertion  vorbeugen  können.  Er  erklärt  offen, 
dass  er  den  ganzen  Krieg  gegen  Sforza  missbillige  und  wünscht  nur 
dass  er  ein  gutes  Ende  nehme.  Graf  Francesco  habe  schon  eine 
bedeutende  Macht,  allein  5000  Berittene,  an  der  Grenze  aufgestellt, 
während  der  Herzog  über  geringe  kriegsuntüchtige  Mannschaft 
gebiete.  Es  müsse  also  entweder  mit  Sforza  Frieden  gemacht  oder  die 
savoyische  Armee  schleunigst  vermehrt  werden.  —  In  einem  zweiten 
Schreiben  von  demselben  Tage  meldet  Micheletto1)»  dass  er  selbst 
in  Mailand  gewesen  ist  und  dort  mit  der  Herzoginn  gesprochen  hat. 
Eine  Verständigung  mit  Sforza  scheint  ihm  nicht  mehr  möglich,  da 
dieser  zu  sehr  gegen  Savoyen  aufgebracht  ist  und  über  das  herzog- 
liche Haus  sich  in  so  spöttischer  und  verächtlicher  Weise  ausgelas- 
sen hat,  dass  es  gar  nicht  zu  wiederholen  ist.  Da  der  Krieg  also 
unvermeidlich  ist,  bittet  Micheletto  den  Papst  seinen  ganzen  Einfluss 
aufzubieten,  damit  der  Herzog  endlich  geeignetere  Massregeln  ergreife. 
So  habe  er  auch  jetzt  noch  Aussicht  Herr  von  Mailand  zu  werden, 
wie  Michelletto  selbst  aus  dem  Munde  des  Volkes  in  der  Stadt  und 
auf  dem  Lande  gehört  habe.  Noch  behaupte  die  Bepublik  einige 
wichtige  Plätze,  könne  aber  ohne  energische  Hilfe  sich  nicht  lange 
mehr  halten. 

Die  Lage  Mailands  war  auch  im  höchsten  Grade  misslich.  Ob- 
schon  das  Heer,  mit  dem  Sforza  die  Stadt  bedrängte,  durch  die 
Absendung  von  Truppen  an  die  piemontesische  Grenze  bedeutend 
vermindert  war,  genügte  es  noch  immer  dazu  Mailand  fast  ringsum 
einzuschliessen ,  und  es  handelte  sich  allein  noch  um  den  Besitz  von 
Monza  das,  wie  wir  sahen,  Gonzaga  um  jeden  Preis  zu  vertheidigen 
angewiesen  war.  Schwerlich  wäre  ihm  dies  aber  gelungen ,  wenn 
Sforza  nicht  im  entscheidenden  Momente,  als  er  eben  den  Sturm 
dieses  Platzes  angeordnet  hatte,  von  den  beiden  Piccinini  im  Stich 
gelassen  worden  wäre.  Das  für  sie  glückliche  Ereigniss  meldeten  die 
Capitane  der  Freiheit  dem  Herzoge  in  einem  Briefe  vom  15.  April 2)  : 


*)  Reeueil  de  lettres  etc.  Nr.  XXX. 

2)  Reeueil   de   lettres  etc.    Nr.  XXXIII.  Der  Brief  ist  unterschrieben:  Raphael ,    d.  i. 

Jacobus    da    Cambiago    Rafaele ,    der  im    Reg^  civico  A.    im  Mailander  Stadtarchiv 

mehrmals  als  Capitaneo  della  libertä  vorkommt. 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  237 

„Wir  verzweifelten  schon  an  unserer  Rettung,  schrieben  sie,  als  es 
die  Vorsehung  den  Brüdern  Piccinini  eingab  den  Grafen  zu  verlassen 
und  in  unsern  Dienst  zu  treten  zur  Vertheidigung  unserer  goldenen 
Freiheit.  Diesen  Morgen  sind  sie  mit  ihren  gesammten  Truppen  zu  uns 
übergegangen  und  haben  auf  ihrem  Wege  die  Vorposten  Sforza's  über- 
fallen und  in  die  Flucht  gejagt.  Jetzt  ist  der  Augenblick  gekommen, 
in  dem  eure  Herrlichkeit  ihrerseits  im  Felde  erscheinen  und  jenseits 
des  Tessin  den  Krieg  beginnen  muss,  während  wir  unsererseits  hier 
alles  aufbieten  werden.  So  wird  Sforza  überrascht  und  bedrängt  nicht 
widerstehen  können"  *). 

Diese  Hoffnungen  waren  allerdings  übertrieben.  In  Mailand 
fehlte  es  an  Geld  die  Piccinini,  wie  man  es  versprochen  hatte,  zu 
bezahlen  a).  Der  Mangel  an  Lebensmitteln  war  in  der  Stadt  schon  so 
gross,  dass  Weizenbrod  nicht  mehr  verkauft  werden  durfte  und  den 
Truppen  vorbehalten  war,  für  diese  aber  auch  nur  noch  auf  sieben 
Tage  ausreichte;  mit  den  Vorräthen  von  Roggen  und  Hirse  glaubte 
man  noch  einen  Monat  auszukommen.  Aber  mit  den  Truppen  der  Pic- 
cinini konnte  man  wenigstens  für  den  Augenblick  wieder  im  Felde 
erscheinen,  und  so  wurde  beschlossen  den  Versuch  zu  machen,  Crema 
das  die  Venetianer  seit  einigen  Wochen  hart  bedrängten,  zu  entsetzen. 
Am  18.  April  brachen  also  die  Piccinini  von  Mailand  in  der  Richtung 
von  Lodi  auf  und  zwangen  dadurch  nicht  allein  die  Venetianer  zum 
Rückzug  von  Crema,  sondern  bemächtigten  sich  auch  Melegnano's. 
Sforza  wurde  dadurch  genöthigt  von  Monza  abzulassen  und  die  Wie- 
dereroberung von  Melegnano  zu  versuchen.  Hier  südlich  und  nur 
wenige  Meilen  von  Mailand  schien  es  zur  Entscheidung  kommen  zu 
sollen.    Die  Bürger  machten  einen  verzweifelten  Versuch  und  zogen 


*)  Dieser  Brief  macht  es  unzweifelhaft,  dass  die  Piccinini  am  iS.  April  von  Sforza 
abfielen  und  nicht  am  25.,  wie  sämmtliehe  Mailänder  Chronisten  berichten.  Es  liegt 
auch  auf  der  Hand,  wie  diese  zu  ihrer  falschen  Angabe  gekommen  sind,  und  be- 
zeichnet dieser  Fall  zugleich  die  Art  und  Weise,  wie  Corio,  Cagnola  U.  a.  für  die  Ge- 
schichte dieser  Zeit  Simoneita  nachgeschrieben  haben.  Simonetta  1.  18  setzt  diese 
Vorfalle  nämlich  „biduo  post  dominicam  resurrectionem"  und  hat  einige  Zeilen 
zuvor  offenbar  geschrieben  „ad  decimum  septimum  Kaleiulas  Majas",  was  beides 
mit  dem  15.  April  übereinstimmt.  Nun  ist  aber  in  den  älteren  Zarotus"schen  Aus- 
gaben beim  Druck  „decimum"  ausgefallen  und  nur  „septimum"  stehen  geblieben, 
was  alle  späteren  veranlasst  hat,  die  Vorfälle  dieses  Tages  auf  den  25.  April  zu 
setzen. 

2)  Cf.  den  Brief  des  Terminals  im  Arch.  civico  di  Milano,  abgedruckt  in  Verri  II, 
p.  335. 


238  S  i  c  k   e  I. 

in  einer  Stärke  aus,  wie  sie  in  dem  ganzen  Kriege  noch  nicht  im 
Felde  erschienen  war.  Piccinini  eilte  mit  30,000  Mann  zum  Entsatz 
von  Melegnano  herbei:  zum  grossen  Theil  Mailänder  Bürger,  einige 
Tausend  Soldtruppen  und  eine  verhältnissmässig  grosse  Zahl  von 
Schützen  welche,  wie  es  scheint,  aus  der  Schweiz  zu  Hilfe  gekom- 
men waren.  Das  Heer  der  Republik  war  aber  zu  wenig  im  Krieg 
erfahren  und  geübt,  als  dass  es  Francesco  Piccinini  bätte  wagen  kön- 
nen, es  mit  Sforza's  Truppen  aufzunehmen.  Als  dieser  sich  also  durch 
die  Übermacht  nicht  schrecken  liess  und  festen  Fusses  die  Schlacht 
erwartete,  zogen  die  Mailänder  unverrichfeter  Dinge  wieder  heim 
und  gaben  Melegnano  auf,  das  sich  am  1.  Mai  dem  Grafen  wieder 
unterwarf. 

Unterdessen  war  es  auch  an  der  piemontesischen  Grenze  zur 
Entscheidung  gekommen.  Am  19.  April  hatte  Herzog  Louis  von  Turin 
an  seinen  Vater  gemeldet  *) ,  dass  es  gelungen  war  die  Piccinini  zu 
gewinnen  und  dass  ihr  Abfall  Sforza's  drohende  Pläne  vereitelt 
hatte.  Louis  bat  darum  dringend,  unter  diesen  günstigeren  Umständen 
nicht  mit  dem  Herzog  von  Orleans  abzuschliessen;  dagegen  unter- 
handelte er  noch  immer  mit  Sforza  und  erwartete  eben  von  ihm  eine 
Antwort  auf  seine  Anträge.  Eines  war  dem  Herzog  klar  geworden: 
dass  er  mit  der  Macht  seines  Landes,  mit  seinem  Vasallenheere  die 
Absichten  auf  Mailand  nicht  durchsetzen  konnte,  dass  er  durchaus  die 
italienischen  Condottieri  mit  Geld  für  seine  Sache  gewinnen  musste. 
Er  war  also  bereit  die  äussersten  finanziellen  Massregeln  zu  ergreifen. 
Da  ihm  nun  die  ßanquiers  nicht  einmal  gegen  acht  Procent  leihen 
wollten,  schlug  er  vor  einen  Theil  seines  Landes  zu  verpfänden;  zur 
Auslosung  würde  genügen,  was  er  in  der  Lombardei  zu  erobern  hoffte 
und  was  ihm  die  Republik  als  Tribut  zu  zahlen  hätte.  Eine  Nachschrift 
des  Briefes  dringt  noch  angelegentlicher  darauf,  sofort  Geld  herbei- 
zuschaffen; denn  eben  ist  die  Nachricht  eingetroffen,  dass  die  Feinde 
Roinagnano  und  was  sonst  im  Lomellin  und  um  Novara  noch  zu  Sa- 
voyen  gehalten  hatte,  wiedererobert  haben  und  nun  Piemont  selbst 
bedrohen. 

So  sah  sich  der  Herzog  von  Savoyen  zum  Handeln  gezwungen, 
ehe  er  selbst  seine  Rüstungen  für  genügend  erachten  konnte.  Die 
Mahnung  der  Mailänder,   die  Meldung  dass  sie  in  diesen  Tagen   in 


l)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  XXXIV. 


Die  Ambrosianische  Republik   und  das  Haus  Savoyen.  CoJ 

Masse  ausziehen  wollten,  drängten  gleichfalls  zum  Kriege.    Zunächst 
wurde    daher    die    Eroberung    von   Borgomainero    im   Agognathale 
beschlossen,  welche,  wie  man  hoffte,  eine  allgemeine  Erhebung  der  in 
der  Umgebung  des  Langensees  zahlreichen   guellischen  Partei    zur 
Folge  haben  würde.    Am  20.  April  brach  die  Savoyische  Hauptmacht 
unter  Gaspar  de  Varax,  Jacques  Challand,  Jacques  de  Lornay  von  der 
Sesia  auf  und  zog   über  das  Gebirge  in    das  Agognathal.    Zufälliger 
Weise  hatten  an  diesem  Tage  Corrado  Sforza,  Giacomo  di  Salerno 
und  Coglione  einen  Streifzug  in  dieselbe  Gegend    und    einen  Angriff 
auf  Carpigniano  unternommen,    so  dass  die  beiden  feindlichen  Heere 
unweit  Borgomainero  unerwartet  aufeinanderstiessen.     Das  Gefecht, 
das  sich  zwischen  ihnen  entspann,  das  bedeutendste  in  diesem  Kriege 
zwischen  Sforza  und  Savoyen,  ist  von  den  italienischen  Schriftstel- 
lern der    Zeit    mit    besonderer  Ausführlichkeit    beschrieben ,     weil 
sich    in    demselben    die    Verschiedenheit    der    Heeresordnung,    der 
taktischen  Aufstellung    und  Bewegungen   und    der  Kriegsgebräuche 
am  meisten  offenbarte. 

Italienischerseits  befanden  sich  dort  nämlich  Soldtruppen  zu  Pferd 
und  zuFuss.  Das  savoyische  Heer  bestand  fast  ausschliesslich  aus  berit- 
tenen, schwerbewaffneten  Hommesd'armes,  noch  in  Lanzen  im  alten 
Sinne  eingetheilt.  Die  damals  aus  England  nach  Burgund  und  Frank- 
reich übertragene  Sitte,  volle  Lanzen  zu  bilden  und  in  jede  einen  oder 
zwei  berittene  Bogenschützen  einzureihen,  hatten  die  Savoyer  noch 
nicht  in  ihr  Heerwesen  völlig  aufgenommen,  versuchten  aber  gerade 
jetzt  sie  in  gewissem  Grade  nachzuahmen.  Die  Burgunder  im  Solde  des 
Herzogs  waren  nämlich  Bogenschützen  aus  derPicardie,  wo  sich  diese 
neue  englische  Kampfesweise  am  schnellsten  ausgebildet  hatte.  Beritten 
waren  dieselben  nur  um  sich  schneller  fortbewegen  zu  können;  im  Ge- 
fecht selbst  sassen  sie  ab  und  mischten  sich  zu  Fuss  entweder  unter  die 
Schwerbewaffneten  oder  nahmen  seitwärts  der  Schlachtlinie  möglichst 
gedeckte  Flankenstellung  ein.     Als  sich  nun  hier  auf  der   Ebene  bei 
Borgomainero  die  beiden  Heere   plötzlich    auf  dem  Marsche  begeg- 
neten,  kam  es  zuerst  zu  keiner  besonderen  Formation.     Die  Piemon- 
tesen   stürzten  sich  gleich   in  dicht  geschlossenem  Geschwader  auf 
die  kaum  entwickelte  Schlachtreihe  der  Italiener  und  brachten  sie  zu 
theilweisem  Weichen.  Die  Herzogliehen  machten  dabei  „mala  guerra", 
ein  Wort  das  allein  genügte  den  italienischen  Söldnern  Schrecken 
einzujagen;   auch   flohen    beim    ersten    Angriff  ganze    Scharen   vom 


240  S  i  c  k  e  1. 

Schlachtfelde  und  brachten  nach  Novara  voreilig  die  Kunde  einer 
Niederlage.  Die  Piemontesen  hatten  aber  nach  dem  ersten  Stoss  den 
Angriff  aufgegeben.  Die  kleine  Zahl  der  Gegner  machte  sie  stutzig: 
hinter  ihr  in  dem  dichten  Walde  vermutheten  sie  eine  grössere  Schar 
und  fürchteten  bei  weiterem  Vordringen  in  einen  Hinterhalt  zu  gera- 
then.  Also  zogen  sie  sich  zurück  und  stellten  sich  selbst  einen  Angriff 
abzuwarten  in  eng  geschlossenem  Ringe,  in  sogenanntem  Igel  auf.  Die 
Bogenschützen  aber  sassen  ab,  schafften  die  Pferde  seitwärts  ins  Ge- 
büsch, vertheilten  sich  vor  den  Berittenen,  schlugen  die  Spitzpfähle, 
welche  sie  von  den  Engländern  gelernt  hatten  mit  sich  zu  führen,  vor  sich 
kreuzweise  ein,  verbanden  sie  mit  Stricken  und  bildeten  so  einen  Ver- 
hau, hinter  dem  sie  einigermassen  geschützt  ihre  Pfeile  auf  die  Geg- 
ner abschössen.  Die  Italiener  stutzten  beim  Anblick  dieser  ihnen 
neuen  Stellung;  bei  ihrer  numerischen  Schwäche  und  ihrer  Furcht 
vor  der  mala  guerra  wagten  sie  nicht  anzugreifen  und  konnten  sich 
doch  wieder  nicht  zu  schimpflichem  Rückzuge  entschliessen.  In  zwei 
Gewalthaufen  vertheilt  warteten  sie  so  fast  bis  zur  Dämmerung.  Noch 
immer  vermochten  sich  ihre  Führer  nicht  zu  einem  Entschlüsse  zu  eini- 
gen, als  endlich  ein  piemontesisches  Geschwader  sich  von  demBinge 
loslöste  und  in  dichtgeschlossenen  Reihen  auf  den  einen  Gewalthaufen, 
den  Christophoro  di  Salerno  befehligte,  eindrang.  Die  Italiener  aber 
hielten  diesmal  Stand ,  und  als  das  Geschwader  sich  auf  den  Ring 
zurückzog,  rissen  Christophoro's  Beredtsamkeit  und  neu  erwachte 
Kampfeslust  die  Sforzeschi  fort  und  beide  Gewalthaufen  formirten 
sich  zum  Angriff  auf  den  Ring.  Während  das  Fussvolk  sich  der  Pferde 
der  Bogenschützen  bemächtigte,  sprengten  die  Reitergeschwader  im 
vollsten  Trabe  von  beiden  Seiten  auf  die  Piemontesen  ein  und  machten 
durch  schnellen  Angriff  die  Kunst  der  Picardischen  Schützen  nutzlos. 
Der  Ring  jedoch  weicht  und  wankt  nicht;  die  Glieder  theilen  sich 
aber  auch  nicht  zu  freier  Kampfbewegung.  Bei  wiederholtem  An- 
prall der  Sforzeschi  sind  auf  beiden  Seiten  die  Lanzen  schon  zer- 
schellt; jetzt  greifen  diese  zu  den  Hiebwaffen,  gegen  die  die  Savoyi- 
scheBüstung nicht  hinlänglichen  Schulz  gewährt,  das  italienische  Fuss- 
volk eilt  noch  mit  Lanzen  versehen  herbei  und  drängt  auf  den  Igel  ein, 
der  seiner  Wehr  beraubt  ist.  Der  Ring  wird  endlich  durchbrochen, 
die  dichte  Aufstellung  nützt  nun  nichts  mehr,  sondern  hindert  nur 
die  freie  Bewegung ;  so  unterliegen  die  schwerfälligen  Hommes- 
d'armes   im   eigentlichen    Gemenge  der    grösseren  Geschicklichkeit 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  241 


ihrer  Gegner.  Die  Italiener  hatten  zwar  beim  Angriff  Gleiches  mit 
Gleichem  vergelten  wollen  und  ihre  Hauptleute  auch  den  bösen  Krieg 
verkündet,  aber  von  ihrer  milderen  Sitte  und  ihrer  Gewinnsucht 
beherrscht,  machten  sie  doch,  was  nicht  entrinnen  konnte,  nur  zu 
Gefangenen.  Unter  diesen  befanden  sich  die  drei  Führer  des  her- 
zoglichen Heeres  und  eine  Menge  Edelleute. 

Wenige  Tage  darauf  (26.  April)  schrieb  Herzog  Louis  an  Ama- 
deus  *)  :  „Heiliger  Vater,  ich  empfehle  euch  die  Angelegenheiten  mei- 
nes Landes  diesseits  und  melde  euch  mit  grosser  Betrübniss,  wie  am 
letzten  Dinstag  die  Herren  de  Varax,  de  Challand  und  de  Montillier 
mit  ihrem  Gefolge  von  etwa  1000  Pferden  gegen  Borgoinainero  zogen. 
Trotz  ihrer  Tapferkeit  konnten  sie  es  nicht  einnehmen.  Und  als  sie 
nun  zurückkehrten,  begegneten  sie  den  Truppen  Sforza's.  Nach  lan- 
ger Wehr  und  langem  Kampf  blieben  zwölf  von  den  unsrigen  und 
wohl  sechzig  von  den  Feinden.  .  .und  schliesslich  wurden  Varax, 
Challand,  Montillier  mit  zweihunderten  gefangen ..."  Diese  Nieder- 
lage hatte  den  kleinmüthigen  Herzog  gänzlich  umgewandelt.  Wäh- 
rend er  kurz  zuvor  in  froher  Aussicht  auf  Sieg  abgelehnt  hatte, 
gemeinschaftliche  Sache  mit  Orleans  zu  machen ,  schrieb  er  jetzt : 
„ich  erwartete  täglich  die  Abgeordneten  des  lieben  Vetters  von  Orle- 
ans und  höre  nun,  dass  sie  heimgekehrt  sind,  worüber  ich  sehr  ver- 
wundert bin,  da  sie  mir  eine  Allianz  und  4000  Berittene  als  Hilfe 
angeboten  hatten .  .  .  Wollten  sie  nur  eitle  Versprechen  geben ,  so 
würde  der  Bund  mit  ihnen  nur  Schaden  und  Verlegenheiten  brin- 
gen... Schwierigkeiten  mit  den  Mailändern  könnten  nur  insofern 
entstehen,  als  ich  ihnen  alles  Land  jenseits  des  Tessin  herauszugeben 
versprochen  habe,  aber  sie  würden  sich  dazu  verstehen,  dem  Herzoge 
von  Orleans  einige  Plätze  abzutreten ,  wenn  er  zu  ihrer  Eroberung 
mit  beitragen  wollte.  Nur  müsste  die  Hilfe  ohne  Verzug  geleistet 
werden."  Der  Brief  erwähnt  dann  noch  der  Anwesenheit  eines  Ge- 
sandten von  Sforza,  Alberto  Bolando,  der  als  erste  Bedingung  für 
Friedensunterhandlungen  eine  Familienverbindung  vorschlug  —  eine 
Bedingung  die  dem  Herzog  so  anmassend  erschien,  dass  er  sie  gar 
nicht  für  ernstlich  hielt  und  in  dem  Orator  nur  einen  Kundschafter 
sah.  Am  Schlüsse  konnte  Louis  noch  die  eben  eingelaufene  Nachricht 


*)  Reeueil  de  lettre*  etc.  Nr.  XXXVII. 

Sitzb.  d.  phil.-hist.Cl.  XX.  Bd.  I.  Hfl.  jü 


242  S  i  c  k  e  I. 

mittlieilen,  dass   es  dem  Herrn   von   Varax  gelungen  war,  sich  mit 
geringer  Summe  loszukaufen  und  der  Gefangenschaft  zu  entrinnen. 

Amadeus  hatten,  wie  wir  sahen,  die  Mailänder  Verwickelungen 
seit  ihrem  Anbeginn  grosse  Sorge  gemacht,  welche  sich  beim  Empfang 
jeder  dieser  Briefe  steigerte.  Da  nun  die  kirchlichen  Angelegenheiten 
jetzt  endlich  geordnet  waren,  da  seit  dem  25.  April  auch  das 
Lausanner  Concil  seine  Sitzungen  geschlossen  hatte,  vermochte 
Amadeus  den  italienischen  Verhältnissen  grössere  Aufmerksamkeit 
zuzuwenden.  Erbeauftragte  daher  zwei  seiner  Vertrauten,  den  Bischof 
von  Lausanne  und  den  Präsidenten  Jacques  de  la  Tour,  welche  zu 
Papst  Nikolaus  reisen  und  von  ihm  die  Ausstellung  und  Ausfertigung 
des  Amadeus  zugesicherten  Breve's  erbitten  sollten,  sich  zunächst 
nach  Turin  zu  begeben  und  ihn  genauer  von  dem  Stand  der  Dinge 
daselbst  zu  unterrichten.  Am  2.  Mai  bei  Hofe  angekommen,  berich- 
tete der  Präsident  am  6.  Mai  1449  ').  Der  Herzog  willigte  in  den 
Vorschlag  seines  Vaters  ein,  die  Häupter  des  Adels  nach  Genf  kom- 
men zu  lassen,  wo  Amadeus  zwischen  ihnen  richten  und  eineRachtung 
zu  Stande  bringen  wollte;  nur  war  die  Ausführung  so  lange  nicht 
möglich,  als  Jean  de  Compeys,  der  Führer  der  einen  Partei,  sich  noch 
in  Gefangenschaft  befand.  Indem  de  la  Tour  beauftragt  worden  war, 
dem  Herzog  nochmals  Amadeus1  Missfallen  an  dem  ohne  seine  Zustim- 
mung abgeschlossenen  Mailänder  Bündnisse  auszudrücken,  entschul- 
digte sich  Louis  mit  der  damaligen  zur  Entscheidung  drängenden 
Lage  der  Dinge:  Antonio  Rabbia  habe  zu  jener  Zeit  von  Mailand 
Befehl  gehabt  mit  Sforza  abzuschliessen,  falls  sich  der  Herzog  nicht 
binnen  sechs  Tagen  für  sie  erkläre ;  jedes  Zaudern  würde  ihn  also 
isolirt  haben.  Der  Präsident  hatte  dann  darauf  gedrungen,  durch 
eine  Verständigung  mit  Sforza  dem  Kriege  ein  Ende  zu  machen,  da 
derselbe  jenseits  der  Alpen  nichts  weniger  als  beliebt  sei.  Louis  hatte 
wie  gewöhnlich  darauf  geantwortet,  dass  Sforza  sich  nicht  zu  ernst- 
lichen Unterhandlungen  verstehen  wolle.  Auch  de  la  Tour  liess  sich 
in  dieser  Hinsicht  von  der  in  Turin  herrschenden  Stimmung  fortreis- 
sen,  sprach  sich  für  Fortsetzung  des  Krieges  aus  und  erörterte  vor 
Allem  die  Massregeln  die  desshalb  zu  ergreifen  sein  würden.  Es  han- 
delte  sich  namentlich  wieder   darum    Geld    herbeizuschaffen.      Die 


M  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  XXXIX. 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  243 

Finanznoth  hatte  schon  die  absonderlichsten  Vorschläge  *)  hervor- 
gerufen. Ich  übergehe  sie  hier,  so  bezeichnend  sie  auch  für  die  dama- 
ligen Staats  wirtschaftlichen  Zustände  in  Savoyen  sind,  und  hebe  nur 
hervor,  dass  sie  den  Credit  des  Herzogs  als  völlig  erschöpft  erschei- 
nen lassen  und  dass  die  ihm  gestellten  Bedingungen  der  Art  waren, 
dass  sich  Amadeus  veranlasst  sah  an  den  Rand  eines  dieser  Vor- 
schläge zur  Verbesserung  der  Finanzen  eigenhändig  zu  schreiben  : 
„Solche  Bestimmungen  sind  unehrenhaft  und  unzulässig,  sind  also 
zu  streichen".  Amadeus  hielt  es  für  zweckmässiger,  einzelne  Besitzun- 
gen in  der  Waadt  und  Burgund  mit  Vorbehalt  des  Rückkaufs  zu  ver- 
äussern und  unterhandelte  desshalb  mit  dem  Herrn  von  Neuenburg. 
Indem  der  Herzog  von  Neuem  den  Wunsch  geäussert,  Berner  in  seine 
Dienste  zu  nehmen,  hatte  de  la  Tour  zwar  die  schon  früher  erwähn- 
ten Einwendungen  wiederholt,  hatte  aber  auch  zugleich  einige  Hoff- 
nung gemacht,  dass  Amadeus,  wenn  er  selbst  nach  Piemont  käme, 
sich  von  Schweizer  Söldnern  begleiten  lassen  würde  ,  eine  Aussicht 
die  den  Herzog  Louis  mit  grosser  Freude  erfüllte,  denn  der  Berner 
Kriegstüchtigkeit  wurde  schon  damals  in  Italien  gefürchtet.  Da  Ama- 
deus noch  immer  Mailands  wegen  mit  dem  Hause  Orleans  in  Unter- 
handlung stand,  bat  sein  Sohn  dringend,  in  einen  etwanigen  Vertrag 
nichts  aufzunehmen,  was  der  Ehre  Savoyens  in  den  Augen  der  Mai- 
länder schaden  könnte. 

Die  Anwesenheit  des  Präsidenten  de  la  Tour  in  Turin  (vom  2. 
bis  17.  Mai)  hielt  übrigens  den  Herzog  Louis  und  seine  Räthe  nicht 
ab,  gleichzeitig  nach  zwei  Seiten  hin  Unterhandlungen  anzuknüpfen, 
welche  sich  mit  einander  schlecht  vertrugen  und  vor  denen  Amadeus 
mehr  als  einmal  gewarnt  hatte.  Ich  erwähnte  schon  früher,  dass 
König  Alfons  in  der  Person  des  Ludovico  Sescasses  einen  Geschäfts- 
träger am  Savoyischen  Hofe  hielt  und  durch  denselben  ein  Bündniss 
gegen  Venedig,  Florenz  und  Sforza  hatte  beantragen  lassen.  Nach 
einem  uns  erhaltenen  Entwürfe  3)  wurde  demselben  am  11.  Mai  1449 
folgende  Antwort  ertheilt :  „Herzog  Louis  habe  des  Königs  Aner- 
bietungen mit  Dank  aufgenommen  und  geprüft.  Eine  Subsidie  von 
100.000  Ducaten  werde  ihm  willkommener  sein,  als  Hilfsmannschaft. 
Der  Herzog  verfüge  bereits  über   15.000  Mann  in  bester  Ordnung 


1)  Recueil  de  letties  Nr.  XXXVIII  u.  XLII. 

2)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  XLIV. 

16 


244  S  i  c  k  e  I. 

theiis  Italiener,  theils  Burgunder;  ausserdem  erwarte  er  an  10.000 
Berner.  Hinsichtlieh  des  Zweckes  eines  Bündnisses  komme  es 
zunächst  darauf  an,  die  Stadt  Mailand  von  ihrem  Bedränger  Sforza 
zu  hefreien.  Wolle  sie  dann  Louis  zum  Herzog  machen,  so  solle 
König  Alfons  sich  damit  zufrieden  erklären.  Ebenso  werde  jener  sich 
damit  einverstanden  erklären,  wenn  Mailand  den  König  als  Herrn 
erwähle,  und  Louis  suche  für  diesen  Fall  nur  darum  nach,  in  dem 
Besitz  der  von  ihm  in  der  Lombardei  zu  Lehen  getragenen  Ortschaften 
bestätigt  zu  werden.  Ausserdem  beanspruche  er  auf  Lebenszeit  von 
Mailand  einen  jährlichen  Tribut  von  200.000  Ducaten."  Das  auf  die- 
sen Grundlagen  vorgeschlagene  Bündniss  sollte  bis  zur  gänzlichen 
Vernichtung  des  Grafen  Francesco  dauern.  Wir  werden  weiter  sehen, 
dass  dieser  Entwurf  bei  dem  später  wirklich  mit  dem  Könige  abge- 
schlossenen Vertrage  gar  nicht  in  Betracht  kam,  müssen  hier  aber 
schon  darauf  hinweisen,  dass  er  in  geradem  Widerspruch  zu  einem 
an  demselben  Tage  mit  dem  Dauphin  verabredeten  Bündnisse  stand. 
Um  dieselbe  Zeit  waren  nämlich  der  Bastard  von  Armagnac  und 
La  Tonniere  als  Gesandte  des  Dauphin  in  Turin  angekommen.  Der 
letztere  scheint  allerdings  damals  weniger  denn  je  daran  gedacht  zu 
haben,  seine  abenteuerlichen  Pläne  zu  Unternehmungen  in  Italien 
wieder  aufzunehmen;  sein  Versuch  sich  mit  dem  Herzog  Louis  zu 
verbinden  mochte  durch  näher  liegende  Zwecke  veranlasst  worden 
sein.  Schon  damals  mit  seinem  Vater  gespannt,  suchte  der  Dauphin 
sich  in  und  ausserhalb  Frankreichs  Hilfe  für  alle  Fälle  zu  sichern 
und  strebte  desshalb  danach  den  Herzog  Louis  durch  ein  enges 
Bündniss  und  wo  möglich  durch  ein  Ehegelöbniss  an  sich  zu  fesseln. 
Das  Dauphine,  welches  derKönigssohn  ganz  selbstständig  beherrschte 
und  dessen  Interessen  er  eifrig  wahrnahm,  konnte  durch  engen  An- 
schluss  an  das  Nachbarland  nur  gewinnen  und  fand  an  ihm  im  Noth- 
fall  einen  Bückhalt.  Die  Gesandten  waren  also  beauftragt  1)  eine 
Hilfe  von  200  bis  300  Lanzen  anzubieten,  2)  den  Abschluss  eines, 
im  Entwurf  vorgelegten  Vertrags  vorzuschlagen,  und  3)  eine  per- 
sönliche Zusammenkunft  des  Dauphin  mit  dem  Herzog  und  dessen 
Töchtern  zu  beantragen.  Der  betreffende  Entwurf  *)  gehört  nicht 
hieher,  indem  er  der  Hauptsache  nach  darauf  berechnet  ist  die  Ver- 
hältnisse zwischen  Savoyen  und  dem  Dauphine  möglichst  zu  regeln; 


1)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  XL1. 


Die  Ambrosianische  Republik   and  das  Haus  Savoyen.  <c4-;i 

aber  er  schloss  doch  auch  ein  allgemeines  Bündniss  zwischen  den 
beiden  Fürsten  mit  ein  und  vertrug  sich  insofern  nicbt  mit  dem  gleich- 
zeitig in  Berathung  genommenen  Aragonesischen  Bündnisse  *)• 

Die  Lage  der  Dinge  in  der  Lombardie  hatte  unterdessen  schon 
mehrfach  wieder  gewechselt.  Piccinini  hatte  freilich  keine  Schlacht 
wagen  können,  Melegnano  war  von  Neuem  in  Sforza's  Hände  gefallen, 
die  Piemontesen  waren  zurückgeschlagen  und  das  ganze  Gebiet  von 
Novara  unter  des  Grafen  Botmässigkeit  zurückgekehrt;  aber  in  den- 
selben Tagen  hatten  sich  die  Guelfen  von  Vighevauo  erhoben,  die 
Sforzeschi  überwältigt,  savoyische  Besatzung  aufgenommen  und  sich 
von  Neuem  für  die  Ambrosianische  Bepublik  erklärt.  Andere  Ort- 
schaften im  Lomellin  waren  gefolgt.  Bassignano  und  Borgofranco  3) 
am  Po  waren  den  Herzoglichen  übergeben  worden.  Hätten  an  Louis' 
Hofe  nicht  Bathlosigkeit  und  Unentschlossenheit  geherrscht,  wäre 
seine  Armee  nicht  entmuthigt  und  in  Auflösung  begriffen  gewesen, 
hätte  es  ihm  nicht  an  Geld  gefehlt,  Sforza's  Condottieri  die  ihre 
Dienste  anboten,  in  Sold  zu  nehmen,  so  hätte  dieser  Augenblick  nicht 
unbenutzt  vorübergehen  dürfen.  Sforza  erkannte  mit  seinem  raschen 
Blick  sofort  die  Gefahr.  Vighevauo  mit  seiner  Umgebung  in  Feindes- 
häuden  schnitt  die  Verbindung  zwischen  Pavia  und  Novara  ab  und 
eröffnete  zugleich  den  savoyischen  Truppen  den  Weg  nach  Mailand. 
Melegnano  war  also  kaum  erobert,  so  brach  der  Graf  mit  seiner 
ganzen  Macht  nach  dem  Lomellin  auf  und  befahl  auch  Coglione  sich 
dorthin  zu  wenden.  Begengüsse  hatten  jedoch  die  Flüsse  angeschwellt 
und  erst  nach  langem  Hin-  und  Hermarsch  konnten  seine  Truppen 
vor  dem  stark  befestigten  Vighevanö  eintreffen.  In  diese  Tage  fällt 
auch  die  Verhaftung  des  Guglielmo  di  Monferrato,  den  Sforza  seit 
einiger  Zeit  in  Verdacht  hatte,  wie  die  Piccinini,  zu  Mailand  oder 
Savoyen  übergehen  zu  wollen3)  und  den  er  desshalb  vorzog  in  Pavia 


*)  Indem  die  vom  Dauphin  angebotene  Hilfe  gegen  Sforza  nicht  geleistet  wurde  und  die 
weiteren  Verhandlungen  zwischen  ihm  und  dem  Herzog  die  Mailänder  Verhältnisse 
nicht  berühren,  glaube  ich  sie  hier  übergehen  zu  können  und  verweise  für  sie  auf 
Gaullieur  I.  c. 

*)  Recueil   de  lettres  etc.  Nr.  XLI. 

')  So  bei  Simonetla  I.  XV11I,  bestätigt  durch  des  Herzogs  Louis  Briefe.  Benevuto  di 
San  Giorgio  in  der  Cron.  ital.  p.  336  (u.  ebenso  in  der  Chron.  lal.)  gibt  freilich 
ein  anderes  Motiv  an:  „Bianca,  moglie  di  esso  conte,  dal  cui  amore  il  S.  Guglielmo 
era  stimulato"  etc.  —  Das  Datum  1.  Mai  bei  S.  Giorgio  ist  offenbar  falsch:  cf. 
auch   Carreto   Thron,  di   Monferrat   in   Mon.   bist,   patriae   ad    144(1. 


246  S  i  c  k  e  1. 

festnehmen  zu  lassen.  Der  Widerstand  nun,  den  Vighevano  leistete,  hielt 
des  Grafen  ganze  Macht  wochenlang  bis  zum  3.  Juni  auf,  und  wenn 
ihn  auch  Herzog  Louis  nicht  zu  henutzen  wusste,  so  bot  er  doch  dem 
Alberto  da  Carpi,  der  bei  Novara  zur  Deckung  der  Grenze  zurückge- 
lassen war,  Gelegenheit  zu  Savoyen  überzugehen  und  gab  Mailand 
auf  einige  Zeit  freie  Hand.  Namentlich  gelang  es  der  republikanischen 
Partei  im  Norden  der  Lombardei,  wie  es  scheint  im  Einverständniss 
mit  den  Schweizern,  einen  neuen  Aufstand  gegen  Sforza  zu  veran- 
lassen 1).  Piccinini  zog,  während  Sforza  vor  Vighevano  lag,  die  Olona 
bis  Seprio  hinauf.  Gleichzeitig  kamen  die  Urner  und  selbst  Unter- 
waldner  über  den  Gotthard,  stürmten  Castiglione  im  Livinerthal  und 
erzwangen  den  Übergang  über  Ponte  Tresa,  wo  damals  die  Haupt- 
strasse nach  der  Lombardei  durchführte.  So  ging  Sforza  die  ganze 
Landschaft  um  und  zwischen  den  Seen  verloren;  nur  Rusca  und 
Ventimiliano  in  Canturio  blieben  ihm  treu.  Nach  der  Einnahme  von 
Vighevano  sah  er  sich  also  genöthigt,  sich  nach  dieser  Seite  zu 
wenden,  eroberte  Castello  S.  Giorgio  und  Castiglione  am  Olona  und 
überliess  es  dann,  indem  er  sich  selbst  nach  S.  Angelo  zwischen  Pavia 
und  Lodi  begab  3),  dem  älteren  San-Severino  und  Ventimiliano  den 
dortigen  Aufstand  zu  dämpfen.  Am  20.  Juli  kam  es  noch  einmal  zu 
einem  blutigen  Zusammenstoss  mit  den  Schweizern,  darauf  kehrten 
das  Luganerthal,  die  Umgebung  des  Comersees  mit  Ausnahme  von 
Como  und  das  untere  Valtellin  unter  Sforza's  ßotmässigkeit  zurück. 
Die  Schweizer  geriethen  mit  ihren  eigenen  Freunden,  denMailändern, 
in  Streit,  bedrohten  Belinzona  und  licssen  sich  nur  durch  Zugeständ- 
niss  von  Zollfreiheiten  wieder  beschwichtigen. 


1)  Das  folgende  gebe  ich  nur  als  einen  Versuch,  die  unklaren  und  zum  Theil  sich 
widersprechenden  Angaben  von  Simonetta  1.  XIX,  Corio  p.  V,  und  Tschudi  II. 
1)28  u.  535  in  Einklang  zu  bringen.  Er  beruht  darauf,  dass  ich  nach  dem  Vor- 
gänge von  J.  von  Müller  zwei  Castiglione  unterscheide:  das  eine,  welches  Tschudi 
erwähnt  und  der  Einsiedeiner  Geschichtsfreund  (VI.  177),  in  der  Nähe  von  Arbedo, 
dort  wo  sich  an  dem  Vereinigungspunct  der  Gotthard-  und  Bernhardinstrasse  ein 
altes  herzogliches  Schloss  befand,  und  das  andere,  von  Simonetta  und  Corio 
erwähnt,  in  der  Grafschaft  Anglera,  unweit  Seprio  an  der  Olona.  Stammsitz  des 
Mailänder  Gesehleehls  Castiglione,  von  dem  Cardinal  Brando  erbaut. 

2)  Wohl  in  der  ersten  Woche  des  Juli.  Sforza  gebrauchte  nach  Simonetta  fünf  Tage 
zu  diesem  Zuge.  Auf  ihm  scheint  er  Vighevano  berührt  zu  haben,  von  wo  er  am 
7.  Juli  nach  Florenz  schreibt  (cf.  im  Archiv  für  Kunde  österr.  Gesch.  I.  c.  doc. 
VIII.),  ein  Brief,  der  nicht  mehr  in  die  Zeit  der  Belagerung  von  Vighevano  fallen 
kann,  da  sieh  dies  am  3,  Juni  ergibt, 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  247 

Wie  gesagt,  liess  Herzog  Louis  diese  Zeit,  Mai  bis  Juli,  unbenutzt 
verstreichen.  Aber  er  und  sein  Vater  unterbandelten  damals  gerade  sehr 
lebhaft  über  die  Mailänder  Angelegenheiten.  Ende  Mai  begaben  sich 
Guillaume  de  Luyrieux  dela  Cueilleund  der  Bischof  von  Turin  in  Louis' 
Auftrage  zu  Amadeus  und  brachten  ihm  zunächst  eine  Antwort  in 
Bezug  auf  die  Abdankung  des  Papstes  und  seine  jetzige  Stellung  als 
Cardinallegat  *).  Dann  hatten  sie  über  die  Lage  der  Dinge  in  der 
Lombardei  zu  berichten.  Die  alten  Klagen  über  Sforza's  Hartnäckigkeit, 
Feindschaft,  Drohungen,  über  seine  Anmassung  eine  Familienverbin- 
dung  zu  verlangen  wiederholen  sich  in  der  den  Gesandten  ertheil- 
ten  Instruction.  Die  Versuche  des  Herzogs  sich  seinem  Vater  gegen- 
über über  die  Zuständein  Turin  zu  rechtfertigen:  über  die  schlechte 
sorglose  Behandlung  der  wichtigsten  Geschäfte,  den  fortdauernden 
Hader  der  Parteien,  die  schlechte  Verwendung  der  den  Ländern 
abgedrungenen  Subsidien,  offenbaren  nur  die  Bathlosigkeit  Louis'. 
Bei  dem  gänzlichen  Geldmangel  mussten  die  Anerbieten  zurückge- 
wiesen werden,  welche  täglich  von  den  besten  Condottieri  einliefen. 
Der  Marchese  Ferrara,  Carlo  Gonzaga,  Torelli,  die  Campofregosi 
stellten  der  Reihe  nach  ihre  Bedingungen  zu  Condotten.  Aber  nur  mit 
Alberto  da  Carpi  wurde  abgeschlossen,  ohne  jedoch  seine  Forderun- 
gen befriedigen  zu  können.  Die  letzte  Hilfe  erwartete  der  Herzog 
von  diplomatischen  Unterhandlungen.  Burgundische  und  Orleans'sche 
Gesandten  sollten  in  Turin  eintreffen.  Der  Abt  von  Casanova  hielt 
sich  noch  immer  in  Venedig  auf  und  hatte  endlich  von  der  Signoria 
die  Antwort  erhalten,  sie  sei  geneigt  einen  allgemeinen  Frieden  abzu- 
schliessen  auf  folgender  Grundlage :  Mailand  solle  unabhängig  bleiben, 
aber  gewisse  Plätze  an  Venedig,  andere  an  Sforza  abtreten;  ausserdem 
müsse  der  Papst  die  Republik  von  ihren  dem  Grafen  gegenüber  im 
Vertrag  von  Rivoltella  übernommenen  Verpflichtungen  freisprechen. 
Solchen  Dispens  auszuwirken  hatte  der  Herzog  bereits  den  Präsi- 
dent von  Chanibery  beauftragt.  Der  letztere  sollte  ausserdem,  ehe  er 
sich  mit  dem  Bischof  von  Lausanne,  wie  ihnen  Amadeus  befohlen, 
nach  Rom  zum  Papst  Nikolaus  begeben  würde,  mit  dem  Könige  Alfons 
zusammentreffen  und  mit  ihm  über  das  beabsichtigte  Bündniss  ver- 
handeln. 


')  Recueil  de  lettres  Nr.  XI. I. 


248  S  i  c  k  e  1. 

Einige  Wochen  darauf,  am  14.  Juni,  schrieb  dann  *)  Herzog 
Louis  an  seinen  Vater:  „Der  Geldmangel  steigert  immer  mehr  meine 
Noth:  die  Gensdarmen  ohne  Geld  und  ohne  Proviant  haben  die 
Grenze  verlassen  und  sind  bei  Turin,  wo  ich  sie  unterhalten  muss, 
denn  die  Bauern  widersetzen  sich  ihnen  Lebensmittel  zu  geben. 
Andere  Söldner  desertiren  und  entfliehen  heimlich  und  nächtlich. 
Allerdings  haben  mir  Piemont  und  die  alten  Lande  20.000  Gulden 
Subsidien  bewilligt,  aber  vor  Michaelis  wird  das  Geld  nicht  einkom- 
men.  Von  den  Grenzlandschaften  lässt  sich  gar  nichts  erwarten,  denn 
sie  sind  von  der  Armee  stark  beschädigt  und  ausgesogen  worden. 
Alberto  daCarpi  habe  ich  in  Dienst  nehmen  müssen,  weil  er  drohend  an 
der  Grenze  stand  und  sonst  meinem  Lande  grossen  Schaden  zugefügt 
hätte.  Aber  ich  habe  ihm  nur  2000  Ducaten  zahlen  können  und  weiss 
nicht,  woher  dieinwenigTagen  fälligen  8000  für  ihn  nehmen.  Er  steht 
jetzt  mit  seiner  Mannschaft  bei  Gatinara  (an  der  Sesia).  Stadt  und 
Gebiet  von  Vercelli  sind  aber  noch  immer  bedroht  und  sind  verzwei- 
felt, dass  sie  im  Stiche  gelassen  werden.  Ich  habe  also  eben  beschlos- 
sen alle  meine  Leute  zusammenzuraffen.  Schickt  nur,  heiliger  Vater, 
von  drüben  den  Herrn  you  Varembon  mit  möglichst  starker  Schar, 
sorgt  aber  auch  drüben  für  seinen  und  seiner  Leute  Sold.  Mit 
Sforza  der  jetzt  Vighevano  genommen,  lässt  sich  nicht  unterhan- 
deln. Dagegen  sind  die  Gesandten  von  Burgund  und  Orleans  ein- 
getroffen und  haben  mir  Vorschläge  hinsichtlich  Mailands  gemacht; 
die  Mailänder  Oratoren  haben  aber  nicht  eher  darauf  eingehen 
wollen ,  als  bis  sie  von  ihren  Capitänen  Bescheid  und  Befehl  er- 
halten". 

Bei  der  Bathlosigkeit  welche  am  Hofe  und  im  herzoglichen  Bathe 
herrschte,  kann  es  uns  nicht  wundern,  dass  Amadeus  von  der  natür- 
lichen Sorge  für  das  Wohl  seines  Hauses  getrieben,  sich  nach  und 
nach  wieder  der  obersten  Leitung  aller  Staatsgeschäfte  bemächtigte. 
Wir  sehen  ihn  um  diese  Zeit  oft  ganz  direct  in  die  wichtigsten  Ange- 
legenheiten eingreifen.  Gesandten  welche  sein  Sohn  an  irgend  einen 
Hof  abordnete,  gab  Amadeus  noch  seinerseits  geheime  Instructionen 
und  band  sie  an  dieselben  mit  ernsten  Drohungen:  „Unseren  und  des 
ganzen  Landes  Unwillen  werdet  ihr  euch  zuziehen,  wenn  ihr  euch 
von  diesen  meinen  Vorschriften  entfernt;  mit  eurer  Person  und  eurer 


l)  RppiipM  de  lettres  etc.  Nr.  XLVIII. 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  240 

Habe  haftet  ihr  mir  dafür"  *).  Was  der  Cardinallegat  mit  seinen  Räthen 
und  Ordensbrüdern  beschlossen  hatte,  ging  dem  Herzog  als  ein  Befehl 
zu,  den  er  ohne  daran  zu  ändern  auszuführen  hatte.  So  wurde  auf  die 
vom  Bischof  von  Turin  gebrachte  Botschaft  dem  Herzoge  am  14.  Juni 
ein  vom  gesammten  Rathe  in  Lausanne  unterzeichneter  Beschluss 
als  Antwort  zugeschickt 3),  dem  ich  folgende  Stellen  entnehme:  „Wäre 
dem  heiligen  Vater  in  der  Mailänder  Angelegenheit  immer  die  reine 
Wahrheit  gesagt  worden,  so  würde  alles  besser  gegangen  sein.  Auf  die 
von  Sforza  in  Vorschlag  gebrachte  Heirath  darf  unter  keiner  Bedingung 
eingegangen  werden,  sie  würde  dem  Hause  Savoyen  zur  Schande 
gereichen.  Was  Sforza's  Krieg  mit  Mailand  anbetrifft,  hätte  Gott 
gewollt,  dass  wir,  ehe  eine  Verbiudlichkeft  der  Republik  gegenüber 
übernommen,  den  Rundesvertrag  gesehen  hätten.  So  löblich  es  war  der 
Herzoginnwitwe  Schutz  angedeihenzu  lassen,  so  wenig  war  es  nöthig 
desshalb  Krieg  anzufangen.  Und  sollte  dieser  um  Mailands  willen 
begonnen  werden,  so  hätte  die  Republik  auch  seine  ganze  Last  auf 
sich  nehmen  müssen.  Mit  den  Condottieren  des  Grafen  jetzt  zu  unter- 
handeln hilft  nichts,  so  lange  man  nicht  Geld  hat  sie  in  Sold  zu  nehmen, 
und  um  der  fremden  Hauptleute  willen  darf  man  die  seinen  nicht 
zurücksetzen  und  aller  Hilfsmittel  entblössen.  Es  wäre  wohl  schön 
das  Haus  Savoyen  und  seine  Herrschaft  zu  vergrössern,  aber  dazu 
muss  es  einen  guten  Anlass  geben,  dazu  muss  man  Geld  haben  und 
eine  tüchtige  wohldisciplinirte  Armee.  Hinsichtlich  der  Subsidien,  so 
hat  man  in  Savoyen  einen  Gulden  für  jede  Feuerstelle  bewilligt,  die 
Ämter  haben  sich  aber  ausbedungen,  dass  das  Geld  in  die  Hände  des 
heiligen  Vaters  gegeben  werde,  um  zum  Resten  und  für  die  Angelegen- 
heiten des  Herzogs  verwandt  zu  werden.  Plätze  unter  Vorbehalt  der 
Einlösung  zu  verpfänden  wäre  ganz  gut,  wenn  man  Jemand  dazu  bereit 
ünden  könnte;  aber  niemand  will  sich  bei  solchen  Zuständen  und  wenn 
Wort  und  Treue  schlecht  gehalten  werden,  darauf  einlassen.  Wie  die 
Dinge  jetzt  stehen,  ist  es  am  besten  mit  Venedig  und  dem  Papst  zu 
unterhandeln  und  dazu  tüchtige  Botschafter  auszusuchen.  Veneti- 
anische  Kaufleute  festzuhalten  war  ein  grober  Fehler  der  nicht 
wieder  begangen  werden  darf". 


M  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  LVIH. 
2)  Rpoupil  de  lettres  etc.  Nr.  XLV. 


250  S  i  c  k  e  1. 

Die  Härte  und  Strenge  dieses  gebieterischen  Bescheides  wurde 
wo  möglich  noch  in  den  Instructionen  verschärft,  welche  Luyreux 
und  der  Bischof  von  Turin  bei  ihrer  Bückreise  von  Lausanne  nach 
Piemont  erhielten  1).  Sie  sollten  darauf  dringen,  dass  sofort  mit  Sforza 
Frieden  geschlossen  würde,  wenn  es  irgend  mit  Ehren,  ohne  Opfer 
und  mit  Zustimmung  Mailands  geschehen  könnte.  Sie  sollten  ferner 
auf  Beilegung  der  Streitigkeiten  zwischen  dem  Adel  bestehen,  welche 
vom  Anfang  an  diesem  Kriege  eine  unglückliche  Wendung  gegeben; 
nöthigenfalls  sollte  Jean  de  Compeys  der  sich  um  diese  Zeit  aus  der 
Gefangenschaft  losgekauft  hatte,  gezwungen  werden  sich  auf  seine 
Besitzungen  in  der  Waadt  zu  begeben  und  dort  eine  Zeit  zu  bleiben. 
Den  Streifzügen  welche  dem  Kriege  weitere  Ausdehnung  gaben,  sollte 
Einhalt  geboten  werden  und  alle  Unternehmungen  möglichst  einge- 
schränkt werden.  Hätte  der  Herzog  in  früheren  Zeiten  des  Vaters 
Bathschläge  befolgt  und  sich  unnützer  Ausgaben  enthalten,  so  würden 
die  Dinge  heute  besser  stehen;  alles  was  bis  jetzt  ausgegeben,  hätte 
der  Verherrlichung  und  Vergrösserung  des  Savoyischen  Hauses  nicht 
genützt;  vor  Allem  müsse  Louis  seiner  Frau  und  seinen  Genossen 
Beschränkungen  auferlegen.  Und  obschon  es  seiner  Heiligkeit  und 
ihrem  Alter  besser  anstehe  in  Buhe  zu  leben ,  so  wolle  Sie  der  Zeit 
Rechnung  tragen,  die  viel  erheische  und  Gesetze  vorschreibe,  und 
zum  Trost  des  Volkes  nach  jenseits  kommen. 

Wahrscheinlich  noch  vor  der  Rückkehr  des  Bischofs  von  Turin 
aus  Lausanne  hatte  Herzog  Louis  einen  neuen  Boten,  Andre  Mallet, 
an  seinen  Vater  abgeordnet,  um  nochmals  die  Noth  und  Gefahr  Pie- 
monts  vorstellen  und  um  Hilfe  aus  Savoyen  bitten  zu  lassen  2).  Aus 
seinen  Instructionen  führe  ich  nur  an,  dass  Louis,  von  dem  Umschwung 
der  Stimmung  in  Venedig  3)  unterrichtet,  Lust  hatte  den  Krieg  von 
Neuem  zu  beginnen  oder  sich  venetianischer  Vermittlung  zu  bedienen. 
Allenfalls  meinteer,  liesse  sich  mit  Sforza  ohne  Zustimmung  von  Mai- 
land Frieden  schliessen,  indem  der  Ralh  der  neunhundert  seiner  Zeit 
nicht  alle  Bestimmungen  des  Vertrags  vorn  6.  März  ratificirt  habe 
und  somit  der  ganze  Vertrag  an  Verbindlichkeit  verliere;  aber  es 
wäre  misslich  darauf  gestützt  einen  Vertragsbruch  zu  begehen,  denn 


1)  P.ecueil  de  lettres  etc.   Nr.  XLVI. 

2)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  XLVII. 

s)  Ausführlich  dargestellt  in  meiner  Abhandlung  im  Archiv  etc.  b.   XIV. 


Die  Ambrosianische  Repulilik  und  das  Haus  Savoyen.  2o  1 

so  leicht  würde  dann  Niemand  wieder  sich  mit  Savoyen  verbünden 
wollen.  Louis  wusste  auch,  dass  die  Republik  von  S.  Marco  durch 
den  Markgrafen  von  Mantua  mit  Alfons  in  Unterhandlungen  stand. 
Er  selbst  hatte  sich  mit  den  Orleans'schen  Gesandten  noch  nicht  einigen 
können.  —  Mallet  erhielt  zugleich  eine  Schrift  *) ,  in  der  sich  die 
herzoglichen  Räthe  gegen  die  Vorwürfe  Amadeus'  zu  vertheidigen 
suchten;  aber  siemussten  in  ihr  doch  selbst  eingestehen,  dass  Piemont 
verloren  sei,  wenn  nicht  Hilfe  aus  Savoyen  komme. 

Auf  die  gestrengen  Rriefe  welche  der  Turiner  Bischof  mit- 
brachte, erfolgten  dann  von  Seite  des  Herzogs  zwei  Antworten,  aus 
denen  ich  nur,  was  sie  Neues  enthalten,  anführe.  Der  Herzog  gibt  2) 
seinem  Vater  eine  Liste  der  noch  kämpf-  und  dienstfähigen  Mannschaft, 
in  die  er  aber  auch  Hauptleute  aufnimmt,  die  gar  nicht  in  seinem, 
sondern  in  Mailands  Sold  standen.  Er  selbst  klammerte  sich  jetzt,  wie 
an  die  letzte  Hoffnung,  an  die  Ankunft  seines  Vaters  an,  denn  er  ver- 
sprach sich  von  ihm  nicht  allein  Rath,  sondern  auch  Hilfe  an  Mann- 
schaft und  Geld.  Die  Unterhandlungen  mit  den  Gesandten  von  Bur- 
gund  und  Orleans  waren  indess  fortgesetzt.  Die  Mailänder  hatten 
endlich  ihre  Bedingungen  gestellt  und  zwar  dahin,  dass  Orleans  ihnen 
3000  Berittene  zu  Hilfe  schicken  solle,  wofür  sie  ihm  Alessandria  und 
Tortona  anboten,  Novara  solle  Louis  erhalten;  alles  andere  Land  soll 
zwischen  die  drei  Cuntrahenten  getheilt  werden.  Indem  nun  aber  der 
Herzog  von  Orleans  von  Mailand  noch  Subsidien  verlangte,  halte  man 
sich  bisher  nicht  einigen  können.  Was  ausserdem  die  Verhandlungen 
in  die  Länge  zog,  war,  dass  die  Deputirten  der  Republik  nur  sehr 
beschränkte  Vollmacht  hatten  und  wegen  jedes  neuen  Vorschlages  bei 
den  Capitänen  der  Freiheit  wieder  anfragen  mussten. 

So  erfahren  wir  aus  dem  zweiten  Antwortschreiben  des  Herzogs3), 
das  Philibert  de  Menthone  und  Pierre  d'Annecy  Anfang  Juli  nach  Lau- 
sanne zu  bringen  hatten,  dass  wegen  der  Unenlschlossenheit  der  Mai- 
länder Oratoren  die  anderen  Unterhändler  auf  eigene  Hand  vorwärts 
gegangen  waren  und  zwei  Entwürfe  aufgesetzt  hatten,  von  denen  der 
eine  allerdings  den  Mailändern  den  Beitritt  noch  offen  liess,  der  andere 
aber  sie  gar  nicht  mehr  als  Milcontrahentcn  erscheinen  liess.    Der 


1)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  XI. VIII. 

2)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  Uli. 
B)   Recueil  de  lettres  He.   Nr.   (,. 


252  Sickel. 

letztere  wich  in  einigen  Puncten  von  dem  früher  zwischen  Amadeus 
und  dem  Grafen  Dunois  stipulirten  Vertrag  ab;  desshalh  wagten  jetzt 
die  Turiner  Räthe  nicht  mehr  ihn  anzunehmen,  ohne  ihn  vorher  dem 
alten  Herzoge,  „dem  die  Ehre  der  Unterhandlung  zukomme",  zur  Prü- 
fungvorgelegt zu  haben.  Dieser  Entwurf J)  nun  lautete  seinem  wesent- 
lichen Inhalte  nach:  „Zum  beiderseitigen  Vortheil  u.  s.  w.  schliessen 
die  beiden  Herzöge  von  Orleans  und  Savoyen  ein  Bündniss  zu  gemein- 
schaftlicher Eroberung  aller  vom  letztverstorbenen  Herzog  von  Mai- 
land besessenen  Städte  und  Landschaften.  Ausgeschlossen  bleibt  vor 
der  Hand  die  Stadt  Mailand  und  was  sie  selbst  noch  inne  hält.  Alle 
Eroberungen  werden  zu  gleichen  Theil  getheilt  mit  Vorbehalt  von 
Novara  für  Herzog  Louis  und  von  Alessandria  oder  Pavia  für  Herzog 
Charles.  Es  wird  Anderen  der  Beitritt  zu  diesem  Bündnisse  offen 
gelassen  und  es  kann  ihnen  ein  entsprechendes  Gebiet  zugesichert 
werden.  Alles  dies  geschieht  aber  mit  vollem  Vorbehalt  der  Rechte 
welche  das  Haus  Orleans  auf  das  Herzogthum  Mailand  hat,  und  ohne 
eine  Verzichtleistung  auf  diese  Rechte  vorauszusetzen.  Auch  erfolgt 
die  Eroberung  der  von  Sforza  besetzten  Gebiete  im  Namen  des  Königs." 
Die  Überbringer  dieses  Entwurfes  hatten  zugleich  nochmals  die 
Bedrängniss  der  Mailänder  Republik  zu  schildern,  welche  sie  zwang 
in  Unterhandlungen  mit  Sforza  und  Venedig  einzutreten,  wovon  der 
Herzog  sie  durch  eine  Micheletto  anvertraute  Botschaft  und  durch 
neue  Verheissungen  baldiger  Hilfe  abzuhalten  suchte.  Endlich  erfah- 
ren wir  hier  zuerst  von  den  Bemühungen  des  schon  erwähnten 
Bischofs  von  Novara,  Bart.  Visconti,  einen  Frieden  zwischen  Savoyen 
und  Sforza  zu  vermitteln. 

Amadeus1  Antwort  3)  auf  diese  Mittheilungen  ist  ebenso  wohl- 
wollend, als  seine  früheren  Briefe  streng:  seine  Eitelkeit  war  befrie- 
digt und  seine  Sorge  gemindert,  sobald  ihm  das  letzte  entscheidende 
Wort  zugestanden  wurde;  seine  Antwort  gibt  auch  wieder  Zeugniss 
von  seinem  politischen  Scharfblick  und  seiner  ruhigen  Überlegung. 
„Der  Vorbehalt,  schreibt  er,  des  Herzogs  von  Orleans  für  seine  Rechte 
als  Erbe  der  Visconti  ist  unzulässig,  ihn  zugestehen  hiesse  sich  ver- 
geblich abmühen  und  unabsehbaren  Streitigkeiten  aussetzen.  Auch 
ist  es  unmöglich  ein  Bündniss  wider  den  Willen  und  mit  Ausschluss 


1 )  Hecueil  de  lettres  etc.  Nr.  LI. 
~)  Recueil  de  lettres  etc.   Nr.  LI II. 


Die  Ambrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  6ÖO 

der  Mailänder  einzugchen,  denn  ihr  würdet  dadurch  Mailand  und 
Sforza.  Venedig,  Alfons,  kurz  ganz  Italien  gegen  euch  in  die  Schran- 
ken rufen,  eine  Macht  gegen  die  grössere  Kräfte  als  die  eurigen 
vergeblich  ankämpfen  würden.  Allerdings  ist  es  auch  richtig,  dass 
die  Interessen  und  Wünsche  Orleans,  hinter  dem  der  König  von 
Frankreich  steht,  berücksichtiget  werden,  aber  es  Hesse  sich  entgeg- 
nen, dass  Savoyen  Ehren  halber  ohne  die  Republik  sich  in  nichts 
einlassen  kann,  und  unterdessen  müsste  vor  allen  Dingen  dem  Krieg 
ein  Ende  gemacht  und  ein  Friede  zu  Stande  gebracht  werden ,  der 
als  vollbrachte  Thatsache  den  Ansprüchen  Orleans  entgegengehalten 
werden  könnte." 

Unterwarf  sich  nun  Herzog  Louis,  wie  wir  aus  diesen  Verhand- 
lungen mit  Orleans  sehen,  in  ihnen  der  wohlbegründeten  Anforderung 
seines  Vaters,  in  allen  wichtigen  Dingen  zu  Rathe  gezogen  zu  werden, 
so  scheint  er  doch  gleichzeitig  nach  einer  andern  Seite  ganz  auf 
eigene  Hand  gehandelt  zu  haben.  Als  im  Mai  .Taques  de  la  Tour  von 
Louis  beauftragt  war  mit  dem  König  von  Aragon  zu  unterhandeln, 
hatte  Amadeus  es  zur  besonderen  Redingung  gemacht,  dass  ohne 
seine  Zustimmung  nichts  abgeschlossen  werde  i).  Seitdem  erwähnt 
nun  keiner  der  zwischen  dem  Herzoge  und  seinem  Vater  gewech- 
selten und  uns  erhaltenen  Rriefe  des  Königs  Alfons,  und  doch  wurde 
am  27.  Juni  1449  zu  Castelnuovo  bei  Neapel  von  Nicod.  de  Menthone 
ein  Bündniss  zwischen  Louis  und  Alfons  abgeschlossen2)  zu  gegen- 
seitigem Schutze,  zur  Aufrechthaltung  und  Verteidigung  der  Ambro- 
sianischen Republik  und  zur  gänzlichen  Vertreibung  und  Vernich- 
tung des  Grafen  Francesco. 

Es  war  dies  neue  Bündniss  offenbar  nicht  in  Einklang  mit  Ama- 
deus' jetzigen  Absichten,  die  lediglich  auf  Wiederherstellung  des 
Friedens  und  auf  ehrenvollen  Rückzug  aus  der  leichtsinnig  herauf- 
beschworenen Gefahr  hinausliefen.  Amadeus  selbst  hatte  zwar  zuerst 
den  Plan  gefasst  die  Macht  seines  Hauses  in  Italien  auszudehnen  und 
hatte  seit  langen  Jahren  die  Ausführung  vorbereitet.  Aber  hatte  ei- 
sern ehrgeiziges  Streben,  seine  kühnen  Entwürfe  ganz  aufgegeben, 
seit  die  Jahre  seine  Kraft  gebrochen,  seine  politische  Erfahrung  aber 
geschärft,  oder  opferte  er  die  Ausführung  seiner  Lieblingsgedanken 


1)  Reeiieil  de  leltres  etc.  Nr.  XLV. 

2)  Gedruckt  bei   Guicbenon  v.  4.   p.   1,  p.  3GJ. 


254  S  i  c  k  e  1. 

nur  der  Einsicht,  dass  sein  Sohn  dazu  unfähig,  dass  der  Staat  dazu 
jetzt  zu  schwach  war:  in  jenen  Augenblicken  fasste  er  seine  Aufgabe 
entschieden  als  eine  friedliche  auf  und  von  einer  Erwerbung  der  Lom- 
bardei oder  eines  Theiles  derselben  ist  bei  Amadeus  nicht  mehr  die 
Rede.  Den  besten  Beweis  dafür  geben  uns  zwei  Actenstücke,  an  deren 
Abfassung  die  bischöflichen  Räthe  des  Cardinallegaten  und  die  mit 
ihrem  Fürsten  ergrauten  Ordensbrüder  von  St.  Maurice  Antheil 
hatten.  Zunächst  besitzen  wir  noch  das  mit  sämmtlichen  Unter- 
schriften versehene  Originalprotokoll *)  der  zu  Evians  am  24.  Juli 
1449  gehaltenen  „Berathung  und  endgiltigen  Beschlussfassung. •* 
In  ihr  wird  zuvörderst  im  Interesse  der  Angelegenheiten  des  Her- 
zogs und  zur  Beruhigung  des  Volkes  die  Reise  Amadeus'  nach  Pie- 
mont  befürwortet,  es  aber  doch  in  sein  Belieben  gestellt,  ob  er  sich 
den  Beschwerden  solcher  Reise  unterziehen  will.  Indem  er  in  jedem 
Falle  mit  dem  erforderlichen  Gelde  ausgerüstet  sein  muss,  wird  vor- 
geschlagen von  den  Ämtern  Subsidien  einzuziehen  und  Gelder  auf 
Pfandschaft  aufzunehmen.  Es  wird  vorgeschlagen  auf  den  31.  die 
Herren  von  Orange  undNeufchatel  und  Berner  Abgeordnete  nach  Lau- 
sanne zu  berufen,  damit  ihnen  Amadeus  das  Land  während  seiner 
Abwesenheit  anempfehlen  und  ihrer  Obhut  anvertrauen  kann.  In  An- 
betracht des  Standes  und  der  Würde  des  Cardinallegaten  erscheint 
es  den  Räthen  angemessen,  dass  er  als  Friedensvermittler  nach  Pie- 
mont  gehe  und  daher  ausser  seinem  gewöhnlichen  Gefolge  keine 
Gensdarmen  mit  sich  führe;  dennoch  müsse  man  sich  mit  dem  Adel 
und  den  Freunden,  namentlich  mit  den  Bernern  verständigen,  damit 
für  den  Nothfall  eine  angemessene  Macht  in  Bereitschaft  gehalten 
werde.  Was  in  Bezug  auf  einen  Frieden  mit  Sforza  zu  thun  sei, 
solle  nicht  eher  entschieden  werden,  als  bis  Amadeus  an  Ort  und 
Stelle  von  der  Lage  der  Dinge  habe  Kenntniss  nehmen  können,  und 
es  solle  nur  dem  Herzog  geschrieben  werden,  sich  ebenfalls  bis  zu 
diesem  Augenblicke  jedes  entscheidenden  Schrittes  zu  enthalten. 

Wesshalb  die  Ausführung  dieser  Beschlüsse  aufgeschoben  wurde, 
erfahren  wir  nicht.  Am  17.  August  fand  aber  in  Genf  eine  neue  Be- 
rathung über  die  Mailänder  Angelegenheiten  Statt,  von  der  wir  eben- 
falls  noch  das   Protokoll2)   mit  Bemerkungen   von  Amadeus'  Hand 


i)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  L1V. 
2)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  LVII. 


Die  Amhrosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  £5«) 

besitzen.  In  demselben  ist  von  der  in  kürzester  Zeit  bevorstehenden 
Abreise  die  Rede,  welche  dem  Herzoge  und  den  bei  ihm  befindlichen 
Gesandten  nach  Turin  und  derHerzoginn  Marie  nach  Mailand  gemel- 
det werden  soll.  Es  heisst  in  ihm  weiter:  „Da  der  heilige  Vater 
entschlossen  ist  die  Berner  mit  sich  nach  Italien  zu  nehmen,  muss, 
indem  die  Zeit  drängt  und  sie  einen  Monat  zur  Rüstung  gebraueben, 
ihnen  sofort  geschrieben  werden,  wenn  es  nicht  überhaupt  vorzuziehen 
ist,  die  Mannschaft  nur  aus  und  in  Italien  anzuwerben.  Alberto  da 
Carpi  und  Micheletto  di  Piemonte,  die  man  ohnedies  nicht  zwingen 
muss  um  ihres  Unterhaltes  willen  wieder  zum  Feinde  überzugehen, 
würden  die  erforderliche  Anzahl  von  Truppen  stellen  können.  Die 
12.000  Ducaten  welche  bereit  gehalten  werden  müssen,  sollen  auf 
die  herzoglichen  Kleinodien  aufgenommen  werden.  Auch  die  Her- 
zoginn  von  Mailand  soll  durch  eigenhändiges  Schreiben  ihres  Vaters 
gebeten  werden,  in  Mailand  Geld  aufzutreiben."  Amadeus  billigte 
diese  Beschlüsse  mit  Ausnahme  dreier  Puncte:  die  Berner  wollte  er 
mit  sich  führen,  ebenso  den  Adel  Savoyens  und  der  Stadt  Waadt, 
den  Fremden  wollte  er  aber  keine  Soldzahlungen  bewilligen.  Und  auf 
die  Anfrage  der  Räthe  hinsichtlich  dieser  Puncte  bestimmte  schliess- 
lich der  Cardinallegat,  dass  er  von  Bern  die  von  dem  Berner  Abge- 
ordneten bewilligte  Mannschaft  mitnehmen  wolle,  dass  sie  sich  bis 
zum  10.  September  in  Ivrea  einfinden  solle,  wohin  er  sich  selbst 
zunächst  begeben  werde,  und  dass  von  den  Edelleuten  ihn  so  viele 
als  möglich  begleiten  sollen. 

Kehren  wir  zu  Mailand  zurück,  wo  unterdessen  die  Gewaltherr- 
schaft von  Appiano  und  Ossona,  nachdem  sie  sich  sechs  Monate  be- 
hauptet, gestürzt  worden  war.  Der  alles  Einflusses  beraubte  Adel, 
namentlich  der  ghibellinische,  hatte  sich  endlich  ermannt  und  am 
1.  Juli  die  Wiederherstellung  des  Regiments  von  1447  mit  zwei- 
monatlichen Wahlen  durchgesetzt.  Appiano  und  Ossona  wanderten 
in  den  Kerker.  Die  Chronisten  bezeichnen,  ich  weiss  nicht  ob  mit 
Recht,  die  neuen  Capitanei  als  Sforza's  Sache  zugethan,  jedenfalls 
wagten  sie  aber  nicht  ihre  Hinneigung  zu  ihm  an  den  Tag  zu  legen 
und  beauftragten  nur  den  seit  Jänner  in  Venedig  befindlichen  Henrico 
Panigaroia  lebhafter  in  die  Signoria  zu  dringen,  dass  sie  zum  Ab- 
schluss  eines  Friedens  die  Hand  biete. 

Um  dieselbe  Zeit  erschien  in  Mailand  zum  dritten  Mal 
eine   kaiserliche   Gesandtschaft:   Aeneas   Sylvius   und  Härtung  von 


256  S  i  c  k  e  I. 

Cappel1)-  Da  gerade  in  den  Alpenthälern  seit  dem  Einfalle  der  Schwei- 
zer der  Krieg  wüthete,  gelangten  sie  nur  mit  Mühe  nachComo  und  fan- 
den dann  wieder  neue  Schwierigkeiten,  durch  die  von  Sforza  besetzte 
Landschaft  nach  der  Hauptstadt  zu  kommen.  Aeneas  der  uns  selbst 
von  dieser  Gesandtschaft  berichtet,  scheint  die  Stellung  der  Parteien, 
wie  er  sie  jetzt  vorfand,  nicht  recht  verstanden  zu  haben.  „Das  Re- 
giment, sagt  er,  war  wieder  in  die  Hände  des  Adels  übergegangen, 
was  dem  Grafen  zu  Statten  kam,  denn  die  welche  nach  kaiserlicher 
Herrschaft  trachteten,  waren  in  das  Gefängniss  geworfen".  Daraus 
aber  allein,  dass  die  damaligen  Capitane  des  Kaisers  Anträge  zurück- 
wiesen, geht  weder  als  nothwendige  Folgerung  hervor,  dass  sie  zu 
Sforza  hinneigten,  noch  anderseits,  dass  die  eben  gestürzte  Partei 
den  Kaiser  hätte  anerkennen  wollen.  Appiano  und  Ossona,  die  jetzt  im 
Kerker  schmachteten  und  nun  von  ihm  als  Freunde  kaiserlichen  Regi- 
ments bezeichnet  wurden,  waren  ja  nach  Sylvius'  eigener  vorherge- 
hender Erzählung  daran  Schuld ,  dass  die  zweite  Gesandtschaft 
Friedrich's  an  die  Mailänder  am  Anfange  des  Jahres  nichts  ausgerichtet 
hatte.  Es  gab  in  Mailand  überhaupt  keine  kaiserlieh  gesinnte  Partei, 
höchstens  Agitatoren  welche,  wie  Gonzaga,  die  Anwesenheit  der  Ora- 
toren  benutzen  wollten,  um  zur  Durchsetzung  ihrer  Pläne  Unruhe  und 
Aufstände  hervorzurufen.  Und  auch  als  Nothbehelf  in  der  Bedrängniss 
war  bei  der  herrschenden  Stimmung  eine  scheinbare  Unterwerfung 
unter  das  Reich  nur  denkbar,  wenn  den  Mailändern  ihre  Forderungen 
und  zugleich  wirksame  Hilfe  hätten  zugestanden  werden  können.  Jenes 
wiesen  die  Gesandten  zurück,  über  diese  konnte  das  Volk  sich  auch 
nach  Sylvius'  schönen  und  übertriebenen  Verheissungen  nicht  täuschen. 
Allerdings  kamen  die  Unterhändler  der  Republik  jetzt  in  ihren  Anträ- 
gen dem  Kaiser  mehr  entgegen,  als  zwei  Jahre  zuvor,  aber  immer 
nicht  genug,  als  dass  die  Gesandten  auf  dieselben  hätten  eingehen 
können.  So  reisten  des  Kaisers  Botschafter  nochmals  unverrichteter 
Dinge  ab,  fanden  auch  bei  Sforza  den  sie  im  Lager  besuchten,  jetzt 
gesteigerte  Ansprüche  und  trafen  Ende  August  wieder  am  kaiserlichen 
Hofe  in  St.  Veit  ein  *). 

Unterdessen  hatten  sich  die  Capitane  der  Ambrosianischen  Re- 
publik am  29.  Juli  noch  einmal   in  ihrer  Noth  an  Herzog  Louis  von 


*)  Aeneas  Sylvius,  hist.  Frid.  p.   147. 
2)  Chmel's  Regesta  Friderici. 


Die  Ainluosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen.  257 

Savoyen  gewandt  mit  folgendem  Schreiben1):  „Durchlauchtigster 
Fürst.  Obschon  wir  eure  Ermahnungen  von  besonderer  Theilnahme 
und  Freundschaft  eingegeben  wissen,  können  wir  sie  nicht  mehr  an- 
gemessen finden.  Wir  haben  unsere  Freiheit  zu  vertheidigcn  keine 
Mühe,  kein  Opfer  gescheut,  wir  haben  unzählige  Niederlagen,  Brand 
und  Verwüstung  unserer  Äcker,  Verheerung  unseres  Landes,  Belage- 
rungen und  alles  Leid  muthig  ertragen.  Aber  unsere  Mitbürger  und 
unser  Volk  waren  -bei  allen  Opfern  durch  die  Hoffnung  auf  Hilfe  von 
eurer  Herrlichkeit  aufrecht  erhalten.  Sie  lebten  in  festern  Vertrauen 
auf  die  Versprechungen,  Verpflichtungen  und  Ermutigungen  eurer 
Briefe  und  Botschaften.  Doch  die  Zeit  ist  verstrichen  und  die  Hilfe 
nicht  gekommen.  Wiil  also  eure  Herrlichkeit  den  Muth  dieses  Volkes 
noch  aufrecht  und  sie  in  Hoffnung  erhalten,  so  gilt  es  ohne  allen  Verzug- 
Beistand  zu  leisten  nicht  mit  Worten,  sondern  mit Thaten.  Der  Verzug 
hat  uns  vernichtet.  Allzu  feindselig  verwendet  der  Graf,  unser  gemein- 
samer Gegner,  unser  Getreide  zum  Unterhalt  der  seinen,  verhindert 
uns  auszusäen,  was  Alles  nicht  geschehen  wäre,  wenn  wir  zeitig  unter- 
stützt worden  wären.  Unsere  Noth  wird  jetzt  noch  zunehmen,  wenn 
wir  bei  weiterem  Ausbleiben  der  Hilfe  weder  Weinlese  halten  noch 
die  Äcker  für  das  nächste  Jahr  bestellen  können.  Aus  Mitleid  mit 
unserer  Lage  möge  uns  also  eure  Herrlichkeit  die  immer  verspro- 
chene Hilfe  senden.  Die  Ehre  des  Hauses  Savoyen  steht  dabei  auf 
dem  Spiel.  Und  eure  Herrlichkeit  möge  nicht  vergessen,  dass  wir 
nicht  allein  in  Gefahr  schweben,  sondern  auch  ihre  Länder  gleiches 
Loos  erwartet,  wenn  wir  unterliegen." 

Vergebliches  Bitten.  Auch  das  neueste  mit  Alfons  zu  Mailands 
Befreiung  abgeschlossene  Bündniss  blieb  unausgeführt.  Der  Herzog 
war  nicht  im  Stande  der  Bepublik  zu  helfen,  und  seines  Vaters  Ge- 
bot Frieden  zu  halten  befolgte  er  um  so  williger,  als  sein  eigener 
Math  und  seine  Eroberungslust  vor  den  Schwierigkeiten  die  sich 
entgegenstellten ,  zu  Schanden  geworden  waren. 

Der  Stadt  welche  sich  um  dieselbe  Zeit  auch  an  Alfons  und 
den  Papst  vergeblich  gewandt  hatte ,  sollte  von  anderer  Seite  wenig- 
stens auf  einige  Zeit  Hilfe  kommen.  Sforza  allerdings,  den  wir  zu- 
letzt im  Juli  in  die  Gegend  von  Lodi  zurückkehren  sahen,  hatte 
auch  dort  Fortschritte  gemacht,  Pizzighetone,  Melzi  und  Vimercato 


x)  Recueil  de  lettres  etc.  LVI. 
Sitzli.  d.  phil.-hist.  Ol.  XX.  Bd.  I.  Hfl.  17 


258  Sickel. 

eingenommen  und  belagerte  dann  Cassano  an  der  Adda,  obgleich  in 
seinem  Heere  Krankheiten  wütheten  und  auch  ihm  das  Geld,  seine 
Truppen  zu  besolden,  mangelte.  Günstiger  noch  gestaltete  sich  seine 
Lage  durch  Gonzaga's  Übergang. 

Als  nämlich  am  1.  September  neue  Capitane  in  Mailand  zu  wählen 
waren,  gewannen  wieder  die  guelfische  und  die  Volkspartei  die  Ober- 
hand, selbst  Appiano  und  Ossona  wurden  befreit  und  sassen  nochmals 
im  Rathe.  Diese  Umwälzung  und  die  gleich  wieder  beginnende  Ver- 
folgung der  gestürzten  Ghibellioen  bestimmten  Gonzaga,  der  an  der 
Sache  der   Republik    verzweifelte,    seinen  Frieden    mit  Sforza  zu 
machen  *).  Am  11.  September  ging  er  in  des  Grafen  Lager  über  und 
überlieferte  ihm  Lodi  und  Crema.  Dass  Sforza  letztere  Stadt  vertrags- 
mässig  an  Venedig  abtrat,  trug  vermuthlich  mit  dazu  bei,  die  dortige 
Signoria  zum  Frieden  geneigt  zu  machen.  Ich  habe  an  anderm  Orte 3) 
erzählt,  wie  sich  dort  allmählich  ein  Umschwung  in  der  Stimmung 
vorbereitet  hatte,  wie  trotz  Sforza' s  Einrede  zwischen  den  beiden  Re- 
publiken unterhandelt  worden  war,  wie  indem  Augenblick  dergrössten 
Gefahr  Mailand  durch  den  Vertrag  vom  24.  September  gerettet  wurde. 
An  demselben  Tage,  an  welchem  dem  Mailänder  Volke  von  der  Frei- 
treppe  des   Palastes   herab  die  frohe   Friedensbotschaft  verkündet 
wurde,  am  30.  September,  schrieben  die  Capitane  an  den  Herzog  von 
Savoyen  folgenden  Brief3):  „Durchlauchtigster  Fürst  und  Herr,  den 
wir  wie  einen  Vater  ehren.  Da  wir  den  Antheil  kennen,  den  ihr  an 
allem  was  unsrer  Stadt  Gutes  und  Böses  widerfährt,  nehmt,  so  thun 
wir  euch  kund,  dass  die  Venetianer  uns  auf  Betrieb  Panigarola's  den 
Frieden  anbieten.  Er  schreibt  uns,  dass  er  die  Signoria  endlich  be- 
reit findet,  mit  uns  und  mit  Einschluss  des  Grafen  Francesco  eine 
Ligue  zu  machen."  (Folgen  die  von  Venedig  zuerst  vorgeschlagenen 
Territorialbestimmungen,  ziemlich  gleichlautend  mit  denen  im  Doc.  IX 
meiner  früheren  Abhandlung  1.  c.)  „So  hart  diese  Bedingungen  sind, 
können  wir  sie  jetzt  nicht  verwerfen,  da  die  uns  versprochene  Hilfe 


1 )  Mandatum  Francesei  de  la  Capra  procuratoris  in  capitulis  cum  M.  Carlo  Gonzago, 
Laude  2.  September  1449  im   Mailänder  Arch.  di  S.  Fedele,  Trattati. 

~)  In  meiner  Abhandlung-  im  Archiv  für  Kunde  österr.  Geschichtsquellen.  Ich  habe 
zu  den  dortigen  Angaben  nur  hinzuzufügen,  dass  nach  gleichzeitiger  Copie  in  den 
Comniemoriali  des  Arch.  ai  Frari ,  die  von  Sforza  nicht  anerkannte  Ratification 
seines  Bündnisses  mit  Venedig  und  Mailand  am  12.  October  1449  erfolgt  war. 

3)  Recueil  de  lettres  etc.  Nr.  LV. 


Die  Ambrosianiscbe  Republik  und  <l;is  Haus  Savoyen.  Cö>) 

ausbleibt,  da  Verrath  unter  uns  auftaucht  und  uns  schon  Pizzighetone, 
Lodi,  Crema  hat  verlieren  lassen.  Unser  Feind  lagert  mit  aller  Macht 
tausend  Schritte  vor  der  Stadt  und  berennt  täglich  die  Vorstädte. 
Unser  Volk  ist  allen  Schrecken  der  Noth  ausgesetzt.  Wir  wissen 
noch  nicht,  ob  dieser  von  Venedig  vorgeschlagene  Friede  von  un- 
serm  Gegner  angenommen  werden  wird,  aber  wir  glauben  eurer 
Herrlichkeit  davon  Kenntnis«  geben  zu  müssen,  damit  sie  sich  danach 
richten  und  bestimmen  könne,  ob  wir  sie  in  den  Vertrag  mit  auf- 
nehmen sollen"  II.  s.  w. 

Auch  dieser  Brief  bestätigt,  dass  die  Republik  von  S.  Marco 
mit  dem  Vertrage  vom  24.  September  einen  auch  Sforza  mit  um- 
fassenden Frieden  abschliessen,  die  näheren  Gebietsbestimmungen 
aber  erst  mit  diesem  vereinbaren  wollte  und  dass  sie  sich  mit  der 
Ambrosianischen  gegen  Sforza  erst  verbündete ,  als  dieser  die  ihm 
gebotenen  Bedingungen  hartnäckig  zurückwies.  Er  bestätigt  endlieh 
auch,  dass  es  die  Signoria  auf  einen  allgemeinen  Italischen  Frieden 
abgesehen  hatte,  wie  ihre  Abgeordneten  dem  Grafen  eröffneten1) 

Mailand  betrachtete  also  den  Herzog  von  Savoyen  noch  immer  als 
Verbündeten  und  gedachte  ihn  in  den  Friedensvertrag  mit  einzube- 
greifen,  während  in  Turin  die  einstige  Allianz  vergessen  war,  sobald 
sie  keine  Aussicht  mehr  auf  Eroberung  und  Erweiterung  der  Macht 
eröffnete.  Im  Herbst  war  Amadeus  wirklich  über  die  Alpen  nach 
Piemont  gekommen;  wie  er  einst  zwischen  fremden  Fürsten  und 
Staaten  als  Vermittler  aufgetreten  war,  wollte  er  jetzt  in  den  Sohn 
dringen,  Frieden  zu  schliessen3).  Zu  Feindseligkeiten  war  es  bei  der 
gänzlichen  Auflösung  des  piemontesischen  Heeres  schon  seit  langer 
Zeit  nicht  mehr  gekommen,  im  October  wurde  nun  auch  ein  Waffen- 
stillstand zwischen  dem  Herzog  und  Grafen  ratificirt  s).  Alberto  da 
Carpi  und  der  Bischof  von  Novara,  dem  Sforza  in  Melegnano  am 
4.  November  Vollmacht  ertheilt  hatte,  arbeiteten  seitdem  eifrig  an 
dem  Friedenswerke.  Ungeduldig  nach  der  Waadt  zurückzukehren 
beschleunigte  auch  Amadeus  nach  Kräften  den  Abschluss,  mehr  auf 
den  Frieden   selbst   bedacht,   als   auf  die  Verbindlichkeiten  gegen 


*)  Doe.  XV  in  meiner  Abhandlung'  I.   c. 

'-)  Epit.  hist.  Machanaei  in  Mon.  bist,  patriae  vol.   1   775. 

3)  Doc.  XV1I1,  XIX,  XX  in  meiner  Abhandlung  I.  c.  Fälschlich  vermuthete  ich  früher 

in  dem  Datum  der  letzten  Numer:  Z7.  December  1450  einen  Schreibfehler;    es  ist 

1450  more  italico  zu  verstehen. 

17* 


200  S  i  c  k  e  I.    Die  Ambiosianische  Republik  und  das  Haus  Savoyen. 

Mailand,  welche  sein  Sohn  durch  einen  von  ihm  nie  anerkannten 
Bund  übernommen  hatte.  Am  27.  December  1449  wurde  der  Friede 
Yon  den  Bevollmächtigten  unterzeichnet  und  wenige  Wochen  darauf 
von  beiden  Fürsten  ratificirt.  Die  Grenze  zwischen  beiden  Gebieten 
blieb  nach  diesem  Vertrage  die  welche  bei  dem  Tode  des  letzten 
Visconti  bestanden  hatte,  so  dass  die  Erledigung  des  Mailänder  Herzog- 
thums  Savoyen  keinen  Gewinn  gebracht  hatte.  Dagegen  musste  Herzog 
Louis  das  Bündniss  mit  der  Ambrosianischen  Republik  opfern,  dem 
Grafen  guten  wahren  Frieden  zusagen,  versprechen  den  Gegnern 
seines  neuen  Bundesgenossen  auf  keine  Weise  Vorschub  noch  Hilfe 
zu  leisten  und  ruhig  zusehen,  dass  Mailand  nach  langem  verzweifelten 
Kampfe  sich  doch  endlich  unter  das  Scepter  Sforza's  beugte. 


Verzeichnis.*  der  eingegangenen  Druckschriften.  ^G  1 


VERZEICIIIVISS 

DER 

EINGEGANGENEN   DRUCKSCHRIFTEN. 

MÄRZ. 

Sluftria,  23o$cnfdjrift  für  9JoIfg»trt$fd)aft  unb  ©tattfltf.   Sa^rg.  8. 

Nr.  1  —  12. 
Accademia  di  scienze  ect.  di  Padova,  Rivista  periodica.  Nr.  6  —  8. 
Academia  R.,  de  Ciencias  etc.    Madrid,    Resumen  de   las   actas 

1851—52. 

—  Memorias.  T.  II. 

Academie  d' Archeologie  de  Relgique.  Vol.  XII,  4. 
Akademie,     k.  preussische,    der  Wissenschaften.    Monatsbericht 

1850.   Janner.  Februar. 
Annalen  der  Chemie.  Rd.  97,  Heft  2. 

Ra  er  wähl,  Hermannus,  De  electione  Rudolf]  I.regis.  Rerol.  1855;  8°- 
Rarrand  e,  Joachim,  Parallele  entre  les  depöts  siluriens  de  Roheme 

et  de  la  Scandinavie.  Prague   1856;  4°- 
Bell,  Thomas,  Address  etc.  of  the  anniversary  meeting  of  the  Lin- 

nean  Society.  1855. 
Bizio,    Rartol.,    Fermentazione    lattica    dei    corpi     delle    ostriche 

(Ostrea  eilnlis  L.)  e  separazione  del  piincipio  produttore  dell' 

acido,  chiamato  Oslreino.   Venezia   1856;  4°- 

—  Ricerche  sperimentali  intorno  al  calorico  di  diluizione.  Venezia 
1856;  8o- 

Rizio,  G.  (liglio),  Sopra  V  acidificazione  del  petroleo  a  contatto 
dell'  aria.  Venezia  1856;  8<>- 

Boden  heimer,  L. ,  Das  Lied  Mosis.  Eine  wissenschaftliche  Ver- 
gleichung  des  in  der  Walt  on  sehen  Polyglotte  auf  diesen  Penta- 
teuch-Abschnitt  enthaltenen  Übertragungen.  Crefeld  1856;  8°- 


!2fJ2  Verzeichniss  der 

33onn,  Untt>erfttät8==@d)rtften  au§  bem  %a$?e  1854. 

Boucher  de  Perthes,  Voyage  a  Constantinople.  2  Vol.  Paris  1855; 
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Carlini,  Franc,  Presentazione  di  varii  documenti  relativi  alla  costru- 
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Cassel,  Paulus,  Aus  der  Hagia  Sophia.  Ein  akadem.  Neujahrs- 
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Charriere,  Ernest,  La  Strategie  de  la  paix  auxiliaire  de  la  guerre. 
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Comarmond,  A.,  Description  de  1'  ecrin  d' une  dame  romaine, 
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|y  r  i  e  §  ,  Sftarttn,  Slnleftung  jutn  Sabafiftau  unb  bte  Fermentation  be§ 
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Froriep,  St.,  ©fc  Rettung  ber  (Sretfnen.  Sern  1856;  8°- 

Greifs  wald,  Universitäts-Schriften  aus  dem  Jahre  1855. 

Grunert,  Archiv  der  Physik  etc.  Tbl.  26,  Nr.  1. 

Guggenbühl,  J.,  Raccolta  di  relazioni,  lettere  ed  articoli  diversi 
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e  l'educazione  dei  Fanciulli  crelini.  Genova  1854;  80, 

—  Die  Heilung  und  Verhütung  des  Cretinismus  und  ihre  neuesten 
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Istituto,  I.  R.  Lombardo  di  scienze,  Giornale  Nr.  43,  44. 

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Itzigsohn,  Armin,  De  fabrica  sporae  Mougeotiae  genuflexae.  Neu- 

dam  1856;  So- 
Jahrbuch,  Neues,  der  Pharmacie  etc.  Bd.  IV,  Nr.  5,  6. 
Kopp,  Geschichtsblätter  aus  der  Schweiz.  Bd.  II,  Heft  3. 
SNaga&tn,  StfeneS,  lauft&tfd)e8,  33b.  32,  £efti— 4. 
Marignac,  C,  Recherches  sur  les  formes  cristallines  de  quelques 

composes  chimiques.  Geneve  1855;  40, 
Mignard,    Dicouverte  d' une  ville  Gallo -Romaine  dite  Laudunum. 

Paris   1854;  4°- 


eingegangenen  Druckschriften.  2ß3 

Mittheilungen   der  k.  k.  Centralcommission  zur  Erforschung  und 
Erhaltung  der  Baudenkmale.  Jahrg.  I,  Nr.  1—5. 

Nachrichten,  astronomische,  1009  —  1014. 

Reichsanstalt,  k.  k.  geologische,  Jahrbuch.  Bd.  VI,  Nr.  3. 

Scoutetten,  Une  visite  a  1*  Abendberg.  2.  ed.   Bern  1856;   So- 
Society,  Linnean,  Transactions.  Vol.  21,  p.  4. 
—  Proceedings  Nr.  66. 

25  er  ein,  tytftortfdjer,  für  SifeberiJAtent,  SBerl&anblungen.  23b.  IV,  £eft  3. 

Verein,    siebenbürg.,    für   Naturwissenschaften    zu    Hermannstadt. 
Verhandlungen,  Bd.  VI. 

Vi  e  rtel  j  ah  rs  -Seh  rift  für  wissenschaftliche  Veterinärkunde.  Bd. 
VII,  Heft  1. 

Weitenweber,  Willi.,   Denkrede  auf  Prof.   Frz.   Ad.  Petrina. 
Prag  1856;  4°- 

Zerrenn  er,  Karl,    Die  Anwendung   der  Gasfeuerung  beim  Glas- 
hüttenbetriebe zu  Tscheitsch  in  Mähren.  Wien  1856  ;  80, 


Berichtigung. 

Im  Verzeichnisse  für  den  Monat  December  vorigen  Jahres  ist  zu   lesen  : 

Slfcfcfcad),    Sofeplj,    ©efdjicfcte    jfcu'fer    (©igmunbS.     33  t  er     Sänbe.      Hamburg 
1838  —  1845;  8°- 

statt : 

Stfdjbadj,    %o)epi),     ©efdjidjtc     Äaifer   ©igntunbS.    2)vei    SÖcmbe.     Hamburg 
1838  —  1841;  8°- 


SITZUNGSBERICHTE 


DER 


KAISERLICHEN  AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN. 


PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE   CL ASSE. 


XX.  BAND.  IL  HEFT. 


JAHRGANG   1856.  —  APRIL. 


18 


267 


SITZUNG  VOM  9.   APRIL   1856. 


Vorgelegt : 


Beiträge   zur    Staatsgeschichte  Österreichs    aus  dem  G.   W. 
von  Leibnix  sehen  Nachlasse  in  Hannover. 

Von  Dr.  Eniil  F.  Roessler  in  Göttingen. 

Als  ich  vor  einigen  Monaten  unter  den  Handschriften  der  königl. 
Bibliothek  zu  Göttingen  einen  nicht  unbedeutenden  Vorrath  bisher 
unbekannter  Leibniz^eher  Schriften  aufgefunden  hatte,  ward  mir 
auch  durch  eine  besondere  Vergünstigung  des  königl.  hannoverschen 
Ministeriums  eine  genauere  Durchsicht  des  Nachlasses  Leibnizens 
auf  der  königl.  Bibliothek  zu  Hannover  gestattet. 

Schon  im  Vorhinein  konnte  ich  eine  Ausbeute  erwarten,  da  nur 
ein  Theil  dieses  umfangreichen  literarischen  Schatzes  vollkommen 
durchgeordnet  und  verzeichnet  ist.  Aus  der  Beihe  verschiedener 
wichtiger,  bisher  unbekannten  Arbeiten  Leibniz's,  welche  ich  als 
ein  freudiges  Ergebniss  dieser  Durchforschung  der  nachgelassenen 
Handschriften  betrachten  kann,  will  ich  hier  Einer  hohen  kaiserlichen 
Akademie  nur  von  einer,  für  die  Geschichte  Österreichs  wichtigen, 
fast  planmassig  von  dem  grossen  Manne  angelegten  Sammlung  über 
die  Zustände  und  Verhältnisse  Österreichs  im  Anfange  des  XVIII.  Jahr- 
hunderts berichten,  und  diese  einer  besonderen  Fürsorge  empfehlen. 

Die  sie  bildenden  Actenstücke  sind  die  Frucht  seines  mehrmali- 
gen Aufenthaltes  in  Wien  und  einer  eingehenden  Beschäftigung  mit 
den  österreichischen  Zuständen ;  besonders  stehen  sie  in  Verbindung 
mit  seiner  letzten  Anwesenheit  in  den  Jahren  1712 — 1714,  worüber 

18" 


äOÖ  Roessler. 

jüngsthin  ein  hochverehrtes  Mitglied  der  kaiserlichen  Akademie  durch 
mehrere  treffliche  Abhandlungen  ein  neues  Licht  verbreitet  hat. 

Seit  jenen  Jahren  trat  Leibniz  mit  dem  kaiserlichen  Hofe  in  eine 
nähere  Verbindung;  er  genoss  das  Vertrauen  der  einflussreichsten 
Staatsmänner ,  und  auch  nach  seiner  Abreise  von  Wien  bis  an  seinen 
Tod  hielt  er  die  Hoffnung  fest,  nach  Österreich  berufen  zu  werden 
und  in  eine  Wirksamkeit  zu  kommen,  welche  er  als  Lohn  seines  reichen 
Lebens  und  als  eine  Anerkennung  seiner  hohen  Verdienste  ansehen 
konnte;  darum  wurde  auch  unablässig  die  Correspondenz  mit  Wien 
unterhalten  und  jene  Materialien  vervollständigt. 

Überblicke  ich  diese  reichen  neuen  Quellen  zur  österreichischen 
Geschichte,  welche  fast  sämmtlich  eigenhändig  von  Leibniz  geschrie- 
ben sind,  so  kann  man  diese  vollen  Früchte  des  Geistes  und  Strebens 
des  grössten  Mannes  seiner  Zeit  nicht  allein  als  willkommene  neue 
Zeugnisse  seiner  Wirksamkeit  betrachten,  sondern  sie  verdienen  als 
Monumenta  Austriaca  in  eminentem  Sinne  eine  besondere  Wür- 
digung. Eine  bisher  nur  wenig  bekannte  Seite  seines  folgenreichen 
Wirkens  tritt  hier  vollkommen  klar  und  bestimmt  zum  ersten  Male  in 
den  Vordergrund.  Der  Name  dieses  grossen  Genius  ist  durch  diese 
Denkmäler  für  alle  Zeit  mit  der  Geschichte  der  geistigen  Cultur 
Österreichs  verwebt ;  von  einem  grossartigen  Gesichtspuncte  aus 
sieht  er  die  Zukunft  des  österreichischen  Hauses  und  Staates  voraus, 
mit  seinem  nie  getrübten  echten  Patriotismus  knüpft  er  die  Hoffnungen 
der  deutschen  Nation  an  die  Kräftigung  und  Erstarkung  der  inneren 
und  öffentlichen  Verhältnisse  Österreichs.  Wir  treffen  auf  Aussprüche 
einzelner,  für  seine  Zeit  oft  zu  kühner  Ideen  der  Neugestaltung,  auf 
fruchtbare  Keime  der  Entwicklung,  welche  wir  erst  in  unseren  Tagen 
zur  Reife  gelangt  sehen.  Wenngleich  die  Denkschriften  und  Arbeiten 
über  die  Zustände  des  Reiches  und  der  österreichischen  Erblande  den 
Mittelpunct  des  neuen  geschichtlichen  Stoffes  ausmachen,  so  muss 
dieser  nicht  minder  durch  den  Briefwechsel  und  andere  Actenstücke 
welche  jene  Arbeiten  vorbereiten,  ergänzt  werden. 

In  dieser  Weise  kann  ich  nach  einer  vorläufigen  Kritik  einen 
Überblick  des  mir  zu  Gebote  stehenden  Materials  in  folgender  Weise 
geben : 

1.  Eine  Reihe  von  Schreiben  und  Eingaben  Leibnizens  an  den 
Kaiser  und  dessen  Staatsminister  über  seine  Stellung  am  Hofe  in 
ausführlichen  Concepten  und  Entwürfen. 


Beiträge  zur  Staatsgesehichte  Österreichs  etc.  269 

2.  Briefe  und  Berichte  desselben  an  den  kurhannover'schen 
und  Braunschweig- Wolfenbüttel'schen  Hof  über  die  Zustände  in  Wien. 

3.  Seine  Correspondenz  mit  den  bedeutendsten  Staatsmännern 
und  Gelehrten  Österreichs.  Dieser  umfangreiche  Theil  des  Leib- 
niz'schen  Nachlasses  ist  ein  fast  völlig  unbekannter  Vorrath  von 
Briefen  des  Prinzen  Eugen  von  Savoyen ,  des  Fürsten  von  Lichten- 
stein, der  Grafen  Bonneval,  Harrach,  Sinzendorf,  Seilern,  Jörger, 
Schlick  u.  s.  w.  Fast  den  meisten  der  Briefe  ist  das  Concept  der  Ant- 
worten auch  beigelegt. 

4.  Denkschriften  und  Promemoria  über  die  Zustände  Deutsch- 
lands, welche  Leibniz  zum  Theil  im  Auftrage  des  Kaisers  über  die 
politischen  Tagesfragen  für  die  verschiedenartigen  Zwecke  arbeitete. 

Diese  höchst  bedeutenden  staatsrechtlichen  Ausführungen  sind 
durch  die  grossartigen  Anschauungen  der  politischen  Zustände  des 
Beiches  und  der  Erblande  von  grösstem  allgemeinen  Interesse  und 
werfen  auf  mehrere  noch  dunkle  Puncie  der  Zeitgeschichte  ein  neues 
Licht. 

5.  Entwürfe  und  Vorschläge  über  die  einzelnen  Angelegenheiten 
und  Verhältnisse  der  Erblande  und  des  Beiches.  In  dieser  Beihe  von 
Actenstücken  lassen  sich  viele  eigenhändige  längere  und  kürzere 
Aufsätze  aufnehmen,  welche  sich  mit  den  verschiedenartigen  Proble- 
men des  damaligen  geistigen  und  materiellen  Lebens  beschäftigen. 
Hieher  zählt  der  bereits  bekannte  Plan  der  Gründung  einer  kaiser- 
lichen Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien;  doch  neben  diesen 
noch  eine  Anzahl  anderer  Projecte  über  mannigfaltige  cammerali- 
stische  Gegenstände.  Am  lehrreichsten  sind  die  Vorschläge  zur 
Hebung  der  gesammten  materiellen  Verhältnisse  des  Staates,  die 
Beurtheilung  einzelner  Finanzmassregeln,  Vorschläge  einer  zweckmäs- 
sigen Besteuerung,  einer  Verbesserung  der  Kriegs -Verfassung,  Gedan- 
ken über  die  Änderung  der  Urbarial -Verhältnisse,  Aufhebung  der 
Frohnen  und  Leibeigenschaft.  Allerorts  sind  auch  statistische  Angaben 
des  bisherigen  Zustandes  hinzugefügt,  so  dass  dadurch  diese  Stücke 
eine  sehr  willkommene  und  neue  Quelle  zur  Kenntniss  der  damaligen 
Landeszustände  werden.  Neben  Plänen  welche  auf  grossartige  Um- 
staltungen  der  inneren  Verhältnisse  absehen,  finden  wir  den  wunder- 
bar organisirenden  schöpferischen  Geist  der  mit  seiner  eminenten 
Universalität  auch  anscheinend  minder  wichtige  Fragen  des  indu- 
striellen Lebens  beachtete,  auch  mit  Projecten,  wie  z.  B.  über  eine 


270  •    Roessler. 

neue  Art  der  Beleuchtung  Wiens ,  über  die  Anlegung  von  Kornmaga- 
zinen,  über  die  Einführung  neuer  Färbestoffe,  über  die  Einrichtung 
von  Werk-  und  Arbeitshäusern  in  Österreich  beschäftigt,  und  keine 
Seite  welche  die  Hebung  des  geistigen  Lebens  und  der  Wissenschaft, 
die  Pflege  und  Aufklärung  der  Geschichte  des  Hauses  und  Reiches 
betrifft,  Hess  er  unbeachtet;  wir  finden  Vorschläge  eines  Collegii 
historici,  einer  Ausgabe  der  Chroniken,  der  Anlegung  eines  Haus- 
archives  u.  s.  w. 

6.  Unter  dem  Namen  „Wiener  Personalien  "  vereinigte  ich  ein- 
zelne kleinere  handschriftliche  Bemerkungen  über  die  bedeutenderen 
Persönlichkeiten  Wiens.  Diese  kurzen  Schilderungen  voll  Frische  und 
Lebendigkeit  gewähren  uns  ein  lebenstreues  Bild  des  damaligen 
Wiener  Verkehrs. 

7.  Actenstücke,  Berichte  und  andere  Mittheilungen,  von  dem 
Kaiser  und  den  Ministern  als  Materiale  für  die  ihm  übertragenen  Aus- 
arbeitungen an  Leibniz  übergeben. 

8.  Die  wöchentlichen  Belationen  des  kurhannover'schen  Ge- 
sandten in  Wien  durch  eine  Reihe  von  Jahren,  welche  sich  Leibniz 
zur  Information  über  die  Verhältnisse  des  Hofes  verschaffen  konnte. 

Nur  so  und  im  Allgemeinen  kann  ich  vorläufig  auf  den  Vorrath 
von  Geschichtsquellen  über  die  Staats geschichte  Öster- 
reichs in  den  ersten  Decennien  des  XVIII.  Jahr  hu  nd  er  ts, 
welche  mir  zur  Benützung  überlassen  sind,  und  welche  ich  bereits 
zu  bearbeiten  begonnen  habe,  berichten. 

Die  Zeit  welcher  diese  Actenstücke  ihren  Ursprung  verdanken, 
ist  eine  Periode  der  Neugestaltung  Österreichs  nach  schweren  äus- 
seren und  inneren  Kämpfen.  Kaiser  Karl  VI.  und  dessen  Minister 
sahen  in  Leibniz  den  erfahrenen  gereiften  Staatsmann,  dem  sie  fast 
alle  Fragen  der  neuen  Organisation  und  der  Feststellung  der  Politik 
nach  Aussen  vorlegten.  Mit  einer  seltenen  und  überraschenden  Liebe 
wendete  er  sich  diesen  Fragen  zu,  in  der  Hoffnung,  nun  in  grössere 
Verhältnisse  des  Staatslebens  eingreifen  zu  können. 

(Aus  dem  reichen  Materiale  wählen  wir  hier  auf  den  Bath  eini- 
ger Freunde  drei  Stücke  aus,  um  den  Charakter  jener  Stoffe  erken- 
nen zu  lassen.  Vor  Allem  eine  der  ersten  Eingaben  Leibnizens  an  den 
Kaiser,  welche  als  eine  Selbstschilderung  seines  thatenreichen 
Lebens  —  er  war  schon  in  das  67.  Jahr  getreten  —  ein  besonderes 
Interesse  gewährt,  und  eine  zweite  in  der  er  dem  Kaiser  verschiedene 


Beiträge  zur  Staatsgeschichte  Österreichs  etc.  271 

Vorschläge  macht  und  ober  seine  Anstellung  am  kaiserlichen  Hofe 
als  Reichshofrath  spricht,  die  dritte  handelt  von  dem  Reichskriege 
gegen  Frankreich). 


I.  Leibniz  an  Kaiser  Karl  VI. 

(Januar  1713.) 

Schilderung  seines  bisherigen  Lebens,—  seine  Studien,  —  Aufenthalt  in  Mainz, — 
Leben  und  Wirken  in  Hannover,  —  Leistungen  im  Gebiete  der  Geschichte,  — 
Bergwerkssachen,  Analysis  infiniti,  —  Societät  der  Wissenschaften  in  Berlin,  — 
Vertheidigung  der  christlichen  Religion,  —  Theodicee,  —  Unionsbestrebungen, — 
Correspondenz  mit  den  Jesuiten  in  China,  —  neue  politische  Memoires, —  Beur- 
theilung  einer  neuen  Machina  astronomica,  —  kurze  Notizen  über  verschiedene 
Projecte  welche  noch  weiter  ausgeführt  werden  sollten. 

Es  hat  der  Zustand  meines  halses,  der  mir  fast  das  reden  ver- 
bothen,  nicht  zugelassen,  dass  ich  ehe  umb  die  allergnädigste  Audienz 
ansuchen  dürffen,  die  ich  doch  so  lange  gewünschet  habe,  und  umb 
deren  willen  ich  bey  dieser  Jahreszeit  eine  grosse  reise  übernommen. 
Und  erfreue  mich  von  herzen,  dass  ich  noch  endtlich  das  glück  erle- 
bet, einem  hohen  potentaten  auffzuwarten,  bey  dem  macht  liecht  und 
güthe  mit  gleichen  schritten  gehen,  zu  dessen  dienste  ich  alle  arbeit, 
die  ich  zeit  meines  lebens  gethan,  zu  wiedmen  verlange. 

Damit  nun  E.  Kayserl.  Mayt.  besser  nachricht  von  meinen  prae- 
stitis  und  praestandis  haben  möchten,  so  hab  ich  unlängst  durch  dero 
leib  Medicum  Gar  eil i  etwas  zu  E.  M.  hohen  banden  überreichen  las- 
sen, darinn  enthalten  ein  allerunlerthänigstes  Memorial,  meine  wenige 
Person  betreffend,  eine  gewisse  Schrifft,  so  ich  auf  vornehmer  leute 
in  Holland  begehr  vor  E.  Mt.  rechte  aufgesetzet,  und  von  Spanien 
nicht  wenig  approbiret  worden;  eineFabulam  moralemüber  die  gegen- 
wartige Conjimcturen  in  England  und  Holland,  die  E.  M.  hof-Canzler 
Graf  von  Seilern  nach  seinem  Sinn  gefunden.  Und  eine  Epistel 
die  ein  gelehrter  Man  von  der  Societät  der  Scienzen  zu  Berlin 
geschrieben,  darauss  zu  ersehen,  dass  man  (mir)  deren  praesidium 
aufgetragen,  weil  man  dafür  helt,  dass  ein  und  andres  von  mir 
entdecket  worden.  Ein  buch  in  folio ,  sub  nomine  Codicis  juris 
gentium,  darinn  ich  viel  wichtige  unbekannt  stuck  in  publicis, 
darauff  einige  praetensiones  illustres  beruhen,  der  weit  mit- 
getheilet,  wird  E.  M.  oberst  hofmeister  F.  von  Lichtenstein 
überliefert  haben. 


272  Roessler. 

Und  weil  ich  die  fruchte  aller  meiner  arbeiten  E.  Mt.  zu  con- 
feriren  geneigt,  so  kan  nicht  umbhin  etwas  davon  zu  berühren,  damit 
E.  M.  besser  urtheilen  können,  ob  und  worinn  ich  Dero  nüzlich  seyn 
möge. 

Als  ich  bey  gar  früher  Jugend  das  doctorat  auff  der  Universität 
erlanget  und  hernach  reisen  wollen,  bin  ich  zu  Maynz  von  dem  Chur- 
fiirsten  zu  Maynz,  Johann  Philipp  von  S  c  hö  n  b  orn,  in  dienst  behalten 
worden,  theils  wegen  eines  Methodi  juris,  davon  ihm  ein  büchlein 
dediciret,  theils  weil  ich  damahls  bereits  in  chymicis  etwas  gethan 
gehabt,  davon  S.  Churfstl.  gnaden  ein  grosser  liebhaber  gewesen,  und 
haben  sie  mich  zum  Revisionsrath  in  einem  tribunal  gemacht,  welches 
anstatt  der  appellationen  nach  Speyer  aufgericht,  ungeacht  ich  evan- 
gelischer Religion  gewesen,  ich  habe  alda  mit  einem  hofrath  an  einer 
gewissen  emendatione  juris  prudentia  arbeiten  sollen,  deren  der  Chur- 
fürst  als  Erz-Canzler  des  reichs  sich  angenommen,  die  aber  durch 
seinen  tod  unterblieben,  da  ich  dann  meine  reise  fortgesetzt,  in  Frank- 
reich mich  auf  Mathesin  sehr  geleget  und  durch  neue  sehr  applaudirte 
entdeckungen  es  dahin  gebracht,  dass  ich  nicht  nur  mitglied  der 
Königl.  Academien  in  Frankreich  und  England  worden,  sondern  man 
mich  auch  mit  einer  ansehnlichen  pension  in  Frankreich  behalten  wol- 
len. Als  mich  Herzog  Johann  F  riedr  ich  zu  braunschweig  der  Kay- 
serin  Amalia  Mt.  sl.  Vater  in  seine  dienste  beruffen  und  zu  dero  Hofrath 
gemacht,  daneben  auch  mir  deroßibliothec  zu  beobachten  aufgetragen. 
Dessen  Bruder  und  successor  herzog  Ernst  Augustus  Heinrich 
Churfürst  hat  mich  nicht  allein  bey  diesen  behalten,  sondern  hernach 
auch  zu  geheimten  Justizrath  erkläret,  von  den  gemeinen  Canzley 
laboribus  dispensiret  und  mir  Historiam  et  jura  domus  zu  untersuchen 
aufgetragen ,  worüber  ich  eine  eigne  reise  nach  Beyern  und  Italien 
gethan  und  viel  rare  sachen  nicht  nur  zu  dienst  des  hauses  Braun- 
schweig, sondern  auch  des  Kaysers  und  reichs  zusammenbracht  und 
sind  darüber  sowohl  meine  2  Volumina  Codicis  juris  gentium  als  auch 
2  volumina  Accessionum  Historicarum  und  3  volumina  Scriptorum 
Brunsvicensium  illustrantium  in  druck  kommen.  Ich  habe  inzwischen 
auch  gelegenheit  gehabt  der  Bergwerkssachen  zu  untersuchen  und  in 
Mathematischen  entdeckungen  fortgefahren;  wie  ich  dann  eine  ganz 
neue  Analysin  infiniti  entdecket,  dadurch  finitae  quantitates  entdecket 
werden,  darüber  ein  vornehmer  Französcher  Marquis  einen  ganzen 
commentarium  gemacht  und  mir  die  ehre  der  inventionmit  grossem  lob 


Beiträge  zur  Staatsg-eschichte  Österreichs  etc.  Z  i  O 

beygeleget,  die  Engländer  auch  sich  deren  cum  elogio  bedienet.  Und 
als  der  König  in  Preussen  eine  last  bezeiget  eine  societät  der  wissen- 
schafften zu  stifften,  habe  ich  einen  Vorschlag  gethan  aus  einem  calen- 
der  privilegio  und  andern  dergleichen  den  ersten  fundum  dazu  zu 
nehmen,  so  auch  geschehen  und  ist  mir  das  praesidium  darüber  auf- 
getragen worden,  zumahl  da  die  gemahlin  des  jezigen  Chörfürsten 
zu  Braunschweig  Durchl.  frau  Schwester,  eine  fürstin  von  vortreffl. 
Verstand,  mich  offt  gern  bey  sich  haben  wollen,  dass  ich  offt  zu  Ber- 
lin seyn  müssen. 

Lud  als  ein  gewisser  berühmter  Franssoss  ßayle  genant,  dessen 
diclionarium  criticum  und  andere  Schrifften  sehr  gelesen  worden, 
sich  aus  einem  unlöbl.  absehn  bemühet,  hin  und  wieder  in  seinen 
Schrifften  etwas  gegen  die  christl.  religion  einzustreuen  und  sonder- 
lich die  lehre  von  der  gerechtigkeit  und  güthe  Gottes,  libero  arbitrio 
und  grafia  divina  anzugreifen,  und  gar  der  Manichaer  alten  lehre  von 
einem  guthen  und  bösen  principio  aufwärmen  wollen,  habe  ich  auff 
der  Königin  begehren  unter  dem  nahmen  Theodicee  (das  ist  von 
de-rgöttl.  gerechtigkeit)  ein  werck  herausgegeben,  welches  von  vor- 
nehmen Theologis,  der  dreyen  Reichs-Beligionen,  höchlich  approbiret 
worden.  Ein  jesuiter  ist  begriffen  es  in  latein  zu  übersezen ,  ein 
Evangelischer  und  verschiedene  reformirte  Theologi  habens  öffentlich 
gerühmet. 

Als  auch  der  vorige  sowohl  als  der  iezige  Bischoff  zu  Neustad 
auff  des  glorwürdigsten  Keysers  Leopoldi  anregung  dahin  sich  beden- 
ken wolte,  wie  eine  mässigung  der  Religions-controversionen  und  der 
daraus  entstehenden  Verbitterung  getroffen  werden  möchte  und  zu 
dem  ende  mit  herzog  Johann  Fridrich,  Churfüsten  Ernst 
August  und  des  letzten  churfürstl.  Theologis  conferiret,  ist  alles 
durch  meine  Hand  gangen  und  wird  der  noch  lebende  Bischoff  Graf 
zu  Buchaim  bezeigen,  dass  der  primariat  Theologus  des  orths  alles 
mit  mir  communiciret.  Wie  ich  dann  auch  eine  conferenz  darüber  mit 
dem  päbstl.  nuntio  nunmehr  Cardinal  Doria  gehabt,  der  sich  sehr  ver- 
gnügt darüber  bezeiget. 

Zugeschweigen  meiner  correspondentz  mit  denen  jesuitern  in 
China,  die  mir  verschiedene  rare  Sachen  herausgeschickt ;  wie  ich 
dann  hingegen  durch  meine  erfindung  verursachet,  dass  die  bedeutung 
der  urältesten  Chinesischen  zeichen,  die  die  Chinesen  schon  zu  Con- 
futii  zeiten  nicht  mehr  verstanden,  entdecket  worden. 


274  Roessler. 

Aus  diesem  allen  nun,  weil  ein  mehreres  anzuführen  zu  lang 
fallen  wolte,  können  E.  M.  am  besten  urtheilen,  ob  und  worinn  ich 
etwa  dienlich  seyn  köndte. 

Die  zeit  alliier  nicht  so  wenig  als  thunlich  zu  verlieren,  als  der 
Reichs  vice  Canzler  mir  ein  buch  communieiret  intituliret:  Soupirs 
de  TEurope,  gegen  die  heutige  perniciosen  Friedensconsilia,  samt 
einen  spöttischen  brief  den  ein  franzos  dagegen  geschrieben,  habe 
ich  in  kürze,  aber  verhoffentlich  bündige,  antwort  dagegen  gemacht, 
darinn  sein  unfug  ihm  in  lachen  gezeigt  wird.  Und  stehet  darum  ob 
ich  es  E.  K.  M.  allerunterthsenigst  praesentiren  darff,  samt  einem 
project  einer  vorrede  so  ich  nach  Spanien  geschickt  an  den  von 
Imhoff,  wenn  mein  büchlein  pro  juribus  S.  M.etwa  in  Spanische  über- 
setzt wieder  herauskommen  solte. 

Ich  habe  die  Machinam  astronomicam  gesehen  und  befinde,  dass 
der  Autor,  welcher  ein  discipul  des  P.  Orbani ,  meines  besondern 
guthen  freundes  gewesen,  überaus  grossen  fleiss  angewendet  und  ver- 
hoffentlich auch  etwas  guthes  ausgerichtet.  Sich  dessen  zu  versichern, 
müssen  einige  Excerpta  aus  seinen  Ephemeribus  gemacht,  und  an 
diejenigen,  die  die  ihrige  per  calculos  und  feder  gemacht,  mitgetheilt 
werden,  umb  zu  sehen,  ob  sie  zusammentreffen.  Im  übrigen  will  ich 
zu  einer  andern  zeit  melden ,  wie  etwas  viel  leichters  und  doch  weit 
vollkommners  zu  machen,  dadurch  nicht  allein  die  Ephemerides  nach 
den    tafeln  zu  verfertigen,    sondern  die  rechnung  mit  dem  himmel 

besser  zu  conferiren.  Sonsten   weil  man  ein  congregation 

(Das  Nachfolgende  sind  nur  unzusammenhängende 
N  otiz  en.) 

Wegen  des  Herzogen  Anton  Ulrich  zu  Wolfenbuttel  Durchlaucht  .  .  . 
pise  causa?  stipendia  ....  ob  sie  wohl  gebraucht. 
Anatomie  in  Wachs  von  Paris  —  Frere  jaques  dass  er  jemand  in- 
formire  .... 
Instruction  der  maitres  des  requetes  die  in  die  Provinzen  geschickt 

worden. 

Caroli  IV  diarium  perpetuum  aller  Reihen,  als  burgundischer  fran- 
zösisch. 

Wenn  der  Friede  bey  holland  unvermeidlich,  meint  S.  Durchlaucht 
es  stünde  zu  versuchen,    ob  dem  Herzog  von  Savoyen  Catalonien 
anstatt  Sicilien  zu  wege  zu  bringen  damit  die  Catalonier  nicht 
ihren  Feinden  sacriticirt  werden. 


Beiträge  zur  Staatsgeschiehte  Österreichs  etc.  2/5 

Wenn  der  Krieg  fortzusetzen,  auff  mittel  zu  gedenken  die  den  feind 

unverhofft, 

was  der  Czar  gezeiget. 

Anticapitulatio  perpetua. 

Grosse  anständige  privilegien  für  eultura  scientiarum. 

Gelder  durch  Leibrenten. 

Arithmetica  politica. 

Caroli  Mag.  conjunetio  Rheni  &  Danubii. 


II.  Leibniz  an  Kaiser  Karl  VI. 

(1713.) 

Sein  Verhältniss  zu  den  Staats-,  Polizei-    und  Kriegssachen,  —  Staatstafeln, 

—  politica  arithmetica,  —  Reichshofrathsstelle,  —  Gehalt.  —  Geschichte  des 
Kaisers,  —  Landesbeschreibungen.  —  Sociefset  der  Scienzen  in  Wien,  — Einrich- 
tung derselben, —  Namen  einzelner  Gelehrten  und  Liebhaber  der  Wissenschaften 
in  den  Erblanden, —  Schreiben  des  Kaisers  an  den  Kurfürsten  von  Braunschweig, 

—  Verhältniss    zu  dem  Kaiser  von   Russland,  —  Friedens -Verhandlungen  in 

Berlin. 

Hahe  mich  zuförderst  in  unterthänigkeit  zu  bedanken,  dass  E. 
Kayserl.  Mayt.  den  grund  zu  erfüllung  meines  Wunsches  legen  wol- 
len, weicher  darinn  bestehet,  dass  ich  als  ein  treuer  patriot  E.  Mt. 
als  dem  überhaupt  des  Vaterlandes  mit  denen  fruchten  meiner  viel- 
jährigen Meditationen  und  erfindungen  die  wenige  übrige  Zeit  meines 
lebens  dienen  möge. 

Vielfeltige  öffentliche  Schrifften  der  gelehrtesten  leüte  in  Europa 
geben  zeügniss,  dass  ich  viel  neues  und  wichtiges  entdecket,  circa 
jura  imperii,  circa  Historiam,  in  juris  prudentia,  in  physica,  in  Mathesi. 
Ich  habe  aber  noch  viele  andere,  so  ich  nicht  bekand  gemacht,  betref- 
fend Staats-,  polizey-  und  kriegessachen;  wie  ein  grosser  potentat  zu 
einer  gründlichen  information  des  zustandes  seiner  lande  und  folglich 
des  Vermögens  und  der  mängel  gelangen,  auch  ein  Breviarium  seines 
imperij  in  form  von  Tabellen  vor  sich  haben  könne;  wie  die  Arith- 
metica politica  wohl  anzubringen,  dass  man  nicht  nur  die  zahl,  son- 
dern auch  nahrung  und  mittel  überschlagen  könne;  wie  die  gesundheit, 
erhaltung  und  nahrung  der  menschen  besser  zu  besorgen ;  vornehm- 
lich aber  wie  die  Schuldenlast  förderlichst  abzuwelzen  und  die  finan- 
zen  auss  der  Unordnung  zu  bringen;  auch  durch  neue  inventa  res 


4it O  Roessler. 

militaris  in  andern  stand  zu  sezen  und  ehe  die  sach  gemein,  die  feinde 
zu  surprenniren. 

E.  K.  Mt.  haben  selbst  ein  grosses  liecht  in  allen  dingen,  Sie 
haben  aber  leüte  nöthig,  die  ihnen  die  arbeit  erleichtern  und  die 
materiell  in  kurze  extracte  und  quintessenzen  bringen,  damit  Sie  alles 
besser  übersehen  und  sich  entschliessen  können.  Und  finden  sie  viel- 
leicht offtmahls  von  denen  selbst  hinderniss  die  ihnen  am  besten  an 
band  gehen  solten ,  als  welche  änderungen  und  Verbesserungen  nicht 
geneigt,  dadurch  ihre  labores  gehäuffet,  ihre  Emolumente  aber  ver- 
mindert würden,  zumahl  die  wenigsten  leüte  sich  gern  die  mühe  geben 
wollen,  die  dinge  gründlich  zu  untersuchen.  Weil  ich  aber  von  Jugend 
auff  unnothige  gesellschaften  und  die  meisten  lustbarkeiten  vermieden 
und  stets  in  laboribus  et  meditationibus  begriffen  gewesen  und  ohne 
rühm  zu  melden  grosse  information  von  allen  regierungssachen  habe, 
so  hoffe  ich  E.  Mt.  nüzlich  an  band  zu  gehen  und  ihro  die  arbeit  zu 
erleichtern. 

Weil  nun  E.  M.  zeit  vor  sie  und  das  gemeine  wesen  kostbar 
wegen  der  grossen  und  vielen  geschaffte  die  dero  obliegen,  die  mei- 
nige zeit  aber  ich  auch  zu  rathe  halten  muss,  weil  ich  deren  vermuth- 
lich  nicht  viel  übrig  habe,  E.  Mt.  auch  vielleicht  so  wohl  meinen 
guthen  willen  als  auch  mein  geringes  vermögen,  wo  nicht  in  capaci- 
tüt,  doch  in  laboriosität  und  fleiss,  aus  den  bisherigen  gehabten  alier- 
gnädigsten  Audienzen  spühren  können,  so  wäre  es  nun  an  dem,  ob 
bey  dieser  Audienz  zu  gewissen  allergnädigsten  resolution  zu  gelan- 
gen und  etwas  festzustellen,  damit  ich  gewisse  mesuren  nehmen  und 
meine  Sachen  darnach  einrichten,  auch  förderlichst  zu  meinem  zweck 
gelangen  könne:  E.  Mt.  würckliche  nüzliche  Dienste  zu  leisten. 

Zuförderst  muss  unterthänigst  nachfragen,  ob  E.  Mt.  in  gnaden 
erlauben,  dass  ich  directe  et  non  per  interpositas  personas  meine 
Angelegenheit  Dero  antragen  dürffe.  Weil  ich  befunden,  dass  alles 
langsam  hehrgangen,  wenn  es  durch  mittels  leüte  geschehen  sollen. 
Man  hat  mir  zwar  einrathen  wollen,  ich  solle  mich  mit  dem  bereits 
erhaltenen  aniezo  vergnügen  und  damit  wegziehen,  hiernach 
aber  durch  patronen  und  correspondenz  das  übrige  ausszumachen 
suchen.  Alleine  wo  es  E.  Mt.  gnädigst  erlauben,  so  wünsche  bey 
meiner  jetzigen  gegenwart  ein  vor  alle  mahl  die  sach  in  solchen  stand 
zu  sezen,  dass  ich  anstalt  zu  meiner  förderlichsten  transplantation 
machen  könne. 


Beiträge  zur  Staatsgeschichte  Österreichs.  277 

E.  Mt.  haben  mir  wegen  der  Reichshofrathsstelle  bereits  2000  fl. 
verwilliget1)"  Und  wenn  ich  gleich  nicht  alliier  wäre,  so  würde  ich 
durch  labores  pro  Historia  et  juribus  imperii,  so  ich  zu  haus  unter 
banden  habe,  solche  verhoffentlich  verdienen.  Der  scienzien  zu  ge- 
schweigen.  Ein  mehrers,  fast  3000  fl.  geniesse  ich  zu  hause,  also 
wenn  ich  in  meiner  bisherigen  ruhe  verbliebe  hätte  ich  fast  5000  fl. 
daher  kan  nicht  wohl  mich  hieher  transplantiren ,  noch  mit  decoro 
hier  subsistiren,  als  wenn  E.  Mt.  mir  zuförderst  besoldung  in  gnaden 
verwilligeu  wollen.  Was  ich  habe,  ausser  der  nothdurfft,  wende  ich 
gemeiniglich  auff  studia,  inventiones  et  experimenta,  also  in  der  that 
ad  bonum  publicum  et  pias  causas. 

Damit  ich  aber  auch  alhäer  meine  zeit  nüzlich  zu  E.  Mt.  dienst 
brauche  und  alles  ordentlich  fassen  möge;  so  bedüncket  mich  nöthig 
zu  seyn,  dass  ich  einen  gewissen  zutritt  bey  E.  Mt.  hätte  und  etwa 
wöchentlich  einmahl  wenigstens  zu  gewisser  zeit  erscheinen  dürffe, 
und  S.  Mt.  Histori  von  Zeiten  zu  zeiten ,  wenn  alles  in  frischem 
gedächtniss,  zu  entwerffen  hätte;  zu  welchem  Ende  E.  Mt.  mir  die 
Schrifften  mittheilen  und  mittheilen  lassen  köndten .  die  zu  solcher 
arbeit  dienlich  wären. 

Ueberdiess  wäre  nöthig,  dass  S.  Mt.  genaue  beschreibungen  dero 
grossen  lande  inachen  Hessen,  massen  wie  dann  dazu  nüzliche  vor- 
schlage zu  thun,  wie  nicht  allein  sonderliche  art  von  Iand  Charten, 
(doch  nicht  pro  publico)  sondern  auch  andre  richtige  nachrichtung 
zu  haben,  wozu  die  Instruction  dienen  kan,  so  einsmahls  der  könig  in 
Frankreich  denen  in  die  provinziell  geschickten  commissarien  gege- 
ben. Und  hoffe  ich  bey  dieser  sach  direction  nüzlich  zu  seyn,  weil 


*)  Am  Rande  findet  von  seiner  Hand  sich  nachstehende  Übersicht  seiner  Einnahmen: 
1300  Besoldung 

100  auf  pferde 

125  poslgeld 

100  hausmiethe 

175  holz  und  liecht 
1800  rthlr.  Hanover 

400      „       Wolfenbiittel 

600      -        Berlin 


2800  rthlr.  oder       4200  fl.  vorher 

2000  „  Reichshofrath 

2000  „  Czaar 

8200  11.  Summa 


278  R  o  e  s  s  1  e  v. 

sowohl  die  polizey  und  finanzen ,  dass  ist  nahrungs-  und  Cameral 
sachen,  als  auch  die  scienzen  dadurch  befördert  würden. 

Bey  denen  scienzen  selbst  hoffe  ich  auch  nicht  wenig  zu  E.  K. 
Mt.  gusto  zu  contribuiren ;  und  köndte  die  sach  nach  denen  mir  be- 
kandten  Modellen  der  königl.  Englischen,  Französischen  und  Preussi- 
schen  Societäten  (von  welchen  allen  ich  ein  glied  von  der  letzten 
aber  director  bin)  gefasset,  das  beste  darauss  genommen  und  vor- 
handenes verbessert  werden. 

Solche  Societät  köndte  dienen: 

1.  Die  bissherige  Wissenschaft  der  menschen  so  in  büchern 
vorhanden,  zu  concentriren. 

2.  Die  Wissenschaften  die  bey  den  menschen  vorhanden  aber 
nicht  in  bücher  bracht,  auch  ad  perpetuam  rei  memoriam  in  schrillten 
zu  fassen,  durch  beschreibung  der  künste,  Handwercker  und  profes- 
sionen,  samt  denen  terminis  artium. 

3.  Neue  experimenta,  observationes  und  entdeckung  anzustellen. 

4.  Allerhand  propositiones  zu  examiniren,  damit  E.  M.  die  pro- 
ponenten  dahin  weisen  köndte,  wie  der  könig  in  franckreich  mit  der 
Academie  des  sciences  zu  thun  pfleget. 

5.  Es  köndten  auch  gewisse  praemia  inventoribus  gesezet  und 
zu  dem  ende  nüzliche  problemata  proponiret  werden,  cum  praemio 
vor  die  so  sie  leisten  würden. 

Den  rechten  grund  aber  dazu  zu  legen ,  wäre  nöthig  ein  fundus 
welcher  von  der  Hof-Cammer  nicht  dependire,  damit  die  progressus 
studiorum  den  Cameral  Difficultäten  nicht  unterworffen  seyn  möge: 
Solches  würde  durch  gewisse  privilegia  und  andern  dergleichen  E. 
Mt.  unschädlichen  Concessiones  geschehen  können.  Ich  habe  bey  der 
königl.  Preüssischen  Societät  den  fundum  der  Calender  vorgeschlagen, 
so  gleichwohl  jährlich  in  allen  landen  3  a  4000  überschuss  thut, 
würde  in  E.  M.  landen  mehr  als  noch  eins  so  hoch  gehen;  der  wäre 
pro  observatorio  et  re  Astronomica ,  mathematische  instrumente  und 
dergleichen.  Ein  andrer  fundus  köndte  kommen  von  vergleichung 
maass  und  gewichts,  samt  der  inspection  darauff,  damit  K.  M.  und  das 
publicum  sowohl  als  privati  nicht  vervorlheilet  werden. 

Ein  fundus  zu  einem  werckhause  mechanischer  inventionen  und 
Modellen  köndte  kommen  von  einrichtung  der  feuer  sprüzen  samt 
einer  behörigen  feuerordnung  in  allen  städten  und  flecken.  Da  dann 
nüzliche  anstalt  zu  machen,  ohne  übermässige  kosten  dazu  zu  gelangen. 


Beiträge  zur  Slaatsgescliichte  Österreichs  etc.  <t  i  t) 

Zu  physicis,  medicis  und  einem  Iaboratorio  köndte  dienen  ein 
perpetuum  collegium  sanitatis,  so  durch  alle  Erblande  seine  corre- 
spondenz  hätte  und  mit  der  societate  scientiarum  diessfals  in  grosser 
connexion  und  communication  stünde,  und  zu  besserer  bestreitung  der 
experimentorum  und  observationum  köndte  dienen ,  die  dem  werck 
angehoffete  inspection  der  armenhäuser  und  dazu  gewidmeter  funda- 
tionen;  auch  privilegia  vor  olitäten  und  gebrandte  wasser  und  der- 
gleichen labores  chymicos,  insofern  sie  von  den  Apothekern  selbst 
nicht  verrichtet  werden.  Es  wäre  auch  vor  die  Cultur  der  teütschen 
spräche  zu  sorgen,  deswegen  ich  viel  Untersuchung  gethan  und  ein 
grossen  apparatum  habe. 

In  genere  köndte  die  societät  der  scienzen  eine  inspection  haben 
über  die  stipendia  und  andre  fundationes,  so  zu  aufnähme  der  studien 
gemeynet,  damit  -er  wohl  angeleget  und  weitere  ingenia  angezogen 
würden,  die  bey  den  scienciis  nüzlich  zu  gebrauchen.  Es  wären  auch 
künfftig  die  geistlichen  beneficia ,  die  in  E.  Mt.  collation  stehen, 
solchen  leüten  zu  Zeiten  zu  verleihen,  davon  etwas  ad  progressus 
scientiarum  zu  liotfen.  Man  köndte  auch  ausserlesene  leüte  von  ver- 
schiedenen orthen  kommen  lassen,  wie  mir  dann  unter  den  Jesuitern, 
Dominikanern  und  andern,  wackere  leüte  bewust,  auch  der  P- 
Augustin   delle   Scuole  pie  nicht  zu  verachten. 

Es  köndten  auch  membra  honoraria  seyn  wie  in  Franckreich, 
nehmlich  vornehme  praelaten  und  Cavallieri,  und  muss  ich  bekennen, 
dass  ich  hier  unter  den  Cavallieren  mehr  solide  Wissenschaft  gefun- 
den, als  bey  denen,  so  profession  von  Erudition  machen;  allen  gehet 
zweifelsohne  vor  der  Graf  von  Schlick;  ich  habe  auch  überaus 
grosses  vergnügen  bey  dem  graf  Jörg  er  gefunden,  nicht  weniger 
bey  dem  graf  von  Sinzendorff,  bey  der  Kayserin  Amalia,  zu 
geschweigen  des  fürsten  Anton  von  Liechtenstein,  Graf  von 
Rapp  ach,  graf  von  Salm,  und  anderer  die  sich  in  chymicis  delec- 
tiren.  In  dem  lande  ist  der  graf  von  Her  berstein,  appellations  rath 
zu  Prag,  ein  excellenter  Mathematicus.  Sonsten  sind  hier  einige  feine 
leüte  in  studien,  die  hrn.  Gareil i,  vater  und  söhn,  der  hr.  Da  van- 
za tisch  bey  dem  hr.  graf  Stella,  den  ich  sehr  rühmen  bohre.  Der 
Bibliothecarius  Gentilotti,  derArchitectus  Fischer,  dessen  Sohn 
sich  wohl  anlasset,  der  Antiquarius  Heraeus,  die  landmesser  Mari- 
noni  (Marignoni)  und  Müller.  Es  sollen  auch  guthe  optici  hier  seyn. 
Sonderlich  wären  leute  nöthig,  die  den  Wasserbau  wohl  verständen. 


280  R  o  e  s  8  1  e  r. 

Wenn  nun  diese  meine  künfftige  objecta  festgestellt  so  hätte 
ich  auff  meine  abreise  zu  gedencken  und  selbige  zu  beschleunigen, 
damit  ich  desto  ehe  zurückkommen  könne;  solches  zu  befördern 
würde  ohnmaassgeblich  ein  handschreiben  von  E.  K.  Mt.  an  den  Chur- 
fürsten  von  Braunschweig  nöthig  seyn,  daraus  der  Churfürst  abneh- 
men könne,  dass  meine  subsistenz  alliier  nicht  allein  E.  Mt.  lieb 
sey,  sondern  auch  dem  Churfürsten  selbst  zu  dienst  gereichen 
köndte. 

Gegen  des  Herzogs  von  Wolfenbüttel  Durchlebt,  hat  der  Czaar 
von  seiner  negotiation  mit  E.  Mt.  gedacht  und  mündtlich  bezeiget, 
wie  lieb  ihm  seyn  würde,  wenn  S.  D.  dazu  contribuiren  köndte;  Sie 
haben  mir  darauff  davon  geschrieben  und  aufgetragen  Dero  guthe 
officia  ferner  darinn  anzubieten.  Nun  erinnere  sich  E.  Mt.  dass  in 
meinem  von  dem  herzog  überbrachten  schreiben  schohn  bereits  der- 
gleichen enthalten  und  der  Czaar  den  herzog  deswegen  ersuchet; 
stünde  also  dahin,  ob  ich  E.  M.  einen  erspriesslichen  dienst  alliier 

vor  meiner  abreise  erweisen  köndte,  zumahl  ich  mit  dem 

familiär  und  derselbe  weiss,  dass  der  Czaar  und  der  herzog  confidenz 
zu  mir  haben. 

Jederman  verlanget  den  frieden,  ich  auch,  möchte  aber  dabey 
wünschen,  dass  er  mehr  honorabel  und  sicher  vor  E.  Mt. ,  das  Reich 
und  ganz  Europa  seyn  möchte.  Und  bin  ich  in  gedancken ,  wo  es 
möglich  wäre,  Holland  von  einer  unzeitigen  Signatur  abzuhalten,  solte 
man  es  an  nichts  erwinden  lassen.  Auff  solchen  fall  solte  ich  glauben, 
dass  noch  zeit  wäre,  bey  dem  könig  in  Preüssen  etwas  fruchtbarliches 
auszurichten  und  vermittelst  desselben  und  der  bereits  gewissen  die 
übrigen  alle  zur  Leistung  des  contingents  zu  bringen.  Ich  bin  mit  dem 
könig  selbst  und  seiner  gemahlin  familiär.  Und  habe  sonderlichen  zutritt 
bey  dem  ober  praesident  Dan  keim  ann  allezeit  gehabt,  der  sehr 
wohl  gesinnet.  Vielleicht  köndte  auf  solchen  fall  ich  auch  einen  nach- 
drücklichen handbrief  von  S.  Mt.  nach  Berlin  überbringen  und  viel- 
leicht mehr  aussrichten  als  eine  kostbare  Ambassade. 


Beiträge  zur  Staatsgeschichte  Österreichs  etc.  «oi 


III.  Leibniz  an  Kaiser  Karl  Tl. 

(Im   Frühjahre    1713.) 

Die  Fortsetzung  des  Reichskrieges  gegen  Frankreich,  —  politische  Zustände  im 
Reich,  —  Stimmung  der  Reichsstände,  —  Vermehrung  des  Reichs-Contingents, 
—  Die  Könige  von  Polen  und  Dänemark, — Verhältniss  des  Königs  von  Preussen 
und  des  Kurfürsten  von  Braunschweig,  —  Mithilfe  von  England  und  Holland,  — 
Allianz  mit  Russland,  —  Kriegsnothdurft, —  Geldmittel  —  directe  und  indirecte 
Steuern,  —  Neue  finanzielle  Hilfsquellen,  —  Leibrenten,  —  Die  Anschaffung  von 
Naturalien  und  Kriegsmaterialien,  Getreide,  dessen  Zufuhr,  Brandwein,  Feld- 
chirurgen und  Apotheken,  —  Bekleidung  und  Munition  der  Soldaten,  —  Ordi- 
nari,    —    Bereitschaft  für    den  Krieg,  —  Extraordinaria,  —  Geheimnisse,  — 

Kriegslisten. 

Die  heroische  Erschliessung  kayserlicher  Mt.  den  krieg  mit 
dem  Reich  gegen  Franckreich  fortzusezen,  damit  die  Ehre 
Teütscher  Nation  und  die  Wohlfahrt  des  Vaterlandes  errettet  werde,  ist 
höchlich  zu  lohen.  Sie  erfordert  Muth  und  verstand  in  hohem  grad. 
Gott  hat  dem  Kayser  beides  verliehen.  Ein  ieder  getreuer  wohlgesinn- 
ter patriot  soll  das  seinige  beytragen  nach  dem  er  kan,  bonis  fortunae, 
corporis,  animi,  das  ist  mit  darschuss,  mit  der  band,  mit  nachdenken; 
ich  kan  meinen  eifer  am  besten  mit  dem  letzten  zeigen;  nachdem  ich 
von  jugend  auf  in  Staats-,  Polizey-  und  kriegs-sachen,  von  vornehmen 
Ministris  und  Generalen  beygezogen  worden.  Mein  guther  wille  wird, 
wo  nicht  lob,  doch  entschuldigung  verdienen. 

Es  ist  aufs  förderlichste  alle  das  jenige  zu  veranstalten,  was  zu 
einem  so  grossen  vorhaben  gegen  einen  so  mächtigen  und  geschwin- 
den feind  von  nöthen,  so  theils  erfordert  handlung  mit  andern,  theils 
bestehet  in  kayserl.  Mt.  eigner  macht.  Handlung  mit  andern  geschieht 
im  Reich  und  mit  den  aussländern.  Reym  Reich  ist  gestalten  sachen 
nach  wenig  zu  thun,  als  per  potentiores,  wollen  diese  den  reichsschlüs- 
sen  genau  nachkommen,  und  neue  zulängliche Reichsconcluse  befördern, 
wird  es  an  execution  nicht  fehlen.  Das  Reich  s-contingent  wäre  a 
triplo  ad  quadruplum  zu  erhöhen  und  noch  dazu  ein  beständiger  geld- 
beytrag  ausszuwerften.  Die  Könige  zu  Pohlen  und  Dennemark  wegen 
ihrer  Reichslande,  scheinen  uns  versichert,  weilen  Sie  wohl  sehen, 
dass  durch  den  allgemeinen  frieden  mit  franckreich  ihre  Schwedische 
Eroberung  in  gefahr  sey,  der  König  zu  Preussen  scheint  wohl  geneigt 
und  unschwehr  zu  gewinnen.  Mir  ist  bekand  sein  sonderlicher  Eifer 
vor  die  Ehre  des  Vaterlandes  Teütscher  Nation.  Das  Chur-  und  fürstl. 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  II.  Hft.  -J9 


282  R  o  e  s  8  I  e  i. 

haus  Braunschweig  wird  sowohl  dienliche  reichsschlüsse  befördern, 
als  sich  denen  so  zu  inachen,  ein  gniigen  zu  thun,  so  wenig  küufftig 
als  bisshero  entbrechen.  Die  noch  übrige  Churfürsten,  das  ist  die 
beyden  geistl.  mit  Chur  Pfalz  werden  gern  beytreten  zumahl  wenn  sie 
den  ernst  sehen,   Sie  müssen  sich  sonst  für  verlohren  achten. 

Es  wären  auch  noch  einige  puncte  wegen  Werbungen,  Pferde- 
handel, Münzwesen,  Kornkauf  und  dergleichen  im  Reich  festzustellen 
und  deswegen  mit  den  potentioribus  abrede  zu  nehmen,  davon  hernach. 

Kayser  Leopoldus  hat  sich  hey  wichtigen  begebenheiten  dieses 
weges  per  potentiores  glücklich  bedient  und  bey  seinem  ersten  krieg 
mit  Franckreich  vermittelst  Chur  Brandenburg  und  des  hauses  Braun- 
schweig, das  Beicli  zur  ruptur  bracht.  Er  hat  sich  auch  zu  Zeiten 
dazu  grosser  fürsten  und  vornehmer  herrn  mit  grossem  nacbdruck 
gebrauchet  an  die  hofe  zu  gehen  und  alda  die  herren  selbst  zu  gewin- 
nen, den  fürsten  Johann  Georg  von  Auhalt- Dessau,  den  Margra- 
fen  Hermann  von  Baden,  den  fürsten  von  Wal  deck.  Weil  der 
gleichen  her  ren  ganz  andern  eingang  haben  als  sonst  abgesandte. 
Dieses  könclte  aniezo  zum  Exempel  dienen. 

Aussländer  mit  denen  noch  etwas  zu  thun  wären  der  Czar  und 
Holland.  Mit  England  selbst  wie  übel  es  sich  auch  gehalten,  wäre 
nicht  gänzlich  abzubrechen,  sondern  ein  schein  von  verständniss  zu 
erhalten.  Denn  in  grosse  geschaffte  müssen  die  leidenschaften  des 
gemüths,  als  Rachgier,  verdruss,  ungedult  nicht  einfliessen.  Und  muss 
man  den  König  in  Franckreich  hierin  zum  Exempel  nehmen.  Fas  est 
et  ab  hoste  doceri.  Auss  England  und  Holland  können  Privat-Per- 
sonen  auf  annehmliche  weise  mit  ansehnlichen  geldsummen  an  band 
gehen.  Der  Englische  hof  kan  der  Crone  Franckreich  ein  und  andres 
beybringen  ,  weil  er  sowohl  die  Nation  als  Hannover  noch  in  etwas 
feyern  muss.  In  Holland  sehen  viele  den  bösen  frieden  nicht  gern  und 
wer  nicht  umbgekaufft.  wird  dem  Kayser  und  Beich  alles  guthes  gön- 
nen dürffen,  also  die  Holländer  nicht  nur  den  Burgundischen  Creiss. 
sondern  auch  den  Nieder- Rhein,  wo  nicht  in  allem  doch  grossen 
theils  verwahren  und  diessfalls  hey  Franckreich  sorge  tragen.  Es  ist 
auf  alle  weise  dahin  zu  trachten,  dass  Holland  bey  fürwehrenden  frie- 
den ziemlich  armirt  bleibe,  denn  so  muss  Franckreich  auch  aus  Vor- 
sorge mehr  völeker  gegen  sie  halten.  Und  bey  etwa  anständigen  Ver- 
änderungen können  sie  bald  wieder  beytreten.  Damit  Sie  nun  an 
manschafft  sich  nicht  zu  viel  enthlössen,  können  diese  zwene  gründe 


Beiträge  zur  Staatsgeschichte  Österreichs  <■!<■.  283 

dienen:  dass  sie  in  bereitschafft  seyn,  sich  entgegen  zu  sezen,  erst- 
lich wenn  Franckreich  und  das  Englische  Ministerium  den  praeten- 
denten  einführen  wollen,  so  des  Staats  verderben  wäre,  vors  andere, 
wenn  (da  Gott  vor  sey)  Franckreich  gegen  das  Reich  zu  glücklich 
seyn  und  alzu  weit  gehen  solte. 

Mit  dem  Czar  köndte  eine  defensiv  Allianz  gemacht  werden 
gegen  männiglich,  doch  also  dass  Sie  gegen  Orient  nicht  statt  haben 
solle,  als  biss  der  Czar  mit  der  Pforte  einen  frieden  oder  langen  still- 
stand getroffen.  Und  weil  er  mit  den  Königen  zu  Pohlen  und  Dene- 
marck  in  genauer  Verbindung,  diese  aber  dem  Reich  wegen  restiren- 
der  Contingenzen  verhafftet;  köndten  Sie  vom  Czar  ein  corpus  über- 
nehmen und  dem  Reichs-Commando  untergeben,  deme  zum  theil  vom 
Reich  brodt  verschaffet,  das  übrige  von  diesen  beyden  Cronen  geleistet 
würde.  Diese  aber  hingegen  im  besitz  der  Schwedischen  lande  mit 
leistung  des  Contingents  vom  Reich  gelassen,  biss  Sie  und  das  Reich 
mit  der  Crone  Schweden  wegen  der  zugefügten  schaden  nach  billig- 
keit  verglichen.  Dem  Czar  köndte  zugleich  mit  dem  ceremonial 
wie  andern  mächtigen  Cronen,  gefüget  werden.  Der  Czar  und  die 
beyden  Könige  werden  sich  aniezo  vergnügen ,  wenn  dieses  alles  mit 
dem  Kayser  geschlossen  wird,  obschohn  solche  Puncta  noch  nicht 
ans  reich  gebracht  wurden,  und  kan  es  mit  den  königen  und  durch 
Sie  am  besten  auch  beym  Czaar  zu  werck  gerichtet  werden. 

Ich  komme  nun  auf  das  so  kayserliche  Mt.  selbst  vor  sich  zu 
thun  recht  und  vermögen  haben.  Zum  krieg  sind  nöthig  leüte,  pferde, 
geld,  species  (das  ist  naturalien  oder  artilicalien)  und  endtlich  der 
gebrauch.  Die  leute  belangend,  weil  man  der  nicht  wohl  zu  viel  haben 
kan,  wäre  so  viel  thunlich  zu  übernehmen,  fremde  oder  sonst  nicht 
anständige  Werbungen  im  Reich  zu  verhindern,  was  andere  abdancken, 
zu  nehmen  wo  es  zu  erhalten, 

wobey  keine  zeit  zu  versäumen.  Vortrefliche  generale,  officiere,  inge- 
nieurs  ,  wjeren  bey  zu  ziehen.  Rey  den  trouppen ,  sonderlich  bey  der 
Artillerie  die  menge  solcher  handwercksleüte  die  dazu  nüzlich,  als 
zimmer leüte,  Schmiede,  Wagner,  Maurer,  Müller,  Racker,  Brauer, 
Rrandtwein-Rrenner.  Pferde  wären  auch  nach  nothdurfft  bey  zeiten 
aufzukauffen,  wo  es  mit  vortheil  zu  thun. 

Geld  ist  zu  erlangen  durch  Reytrag  und  Darlehn.  Beytrag  ist 
zweyerley,  Hülff  und  Erstattung,  llülff  deutlich  und  stillschweigend, 
deutlich   durch    contribution  und    Licente.     Unter   dem  nahmen  der 

19* 


äS4  R  o  e  s  8  I  e  r. 

Contribution  begreiffe  Kopf-  samt  Vermögenssteuer,  bufengelder, 
Rauch-  Zinss  und  was  sonst  auf  liegende  güther  geschlagen  wird, 
auch  was  man  von  Einkommen,  Besoldung  und  verdienst  fordern 
möchte.    Wohin  des  Vaubans  dixme  gehohret. 

Contribution  giebt  ieder  en  gros,  aber  Licente  en  detail  und 
nicht  so  mercklich ,  auch  zum  theil  freywillig,  sind  also  angenehmer, 
doch  die  ungelegenheit  dabey,  dass  Sie  nach  gemeiner  weise  alzu- 
viel  bedienten  erfordern.  Dagegen  hat  man  an  einigen  orthen  die 
Licent  nur  auf  wenig  species,  als  körn-  oder  Mehlzinss  oder  tranck- 
steüer  geschlagen.  Dadurch  aber  nur  necessaria,  nicht  aber  zugleich 
commoda  et  superflua  beschwehret  worden,  da  doch  diese  am  meisten 
zu  beschwehren.  Es  solte  aber  auch  vielleicht  zu  diesem  solche  an- 
stalt  zu  treffen  seyn ,  dass  viele  bediente  nicht  nöthig.  Sonderlich 
aber  wolte  rathen,  dass  Brandtwein  und  taback  hoch  beschwehret, 
doch  den  Soldaten  ein  gewisses  frey  passirt  würde.  Eine  sonderliche 
art  der  Licente  sind  die  Loterien,  da  wird  etwas  auff  der  Leutelust 
geschlagen,  die  Sie  bey  der  hoffnuug  des  gewinns  empfunden.  Wäre 
in  kayserlichen  Erblanden  auch  zu  versuchen.  Mit  denen  sind  Tanz 
und  Spielgelder  verwandt. 

Erstattung  wäre  zweyerley  von  vergangenen  und  vom  künff- 
tigen.  Erstattung  des  vergangenen  köndte  bey  dieser  hohen  noth- 
durfft  von  denen  füglich  gesucht  werden  können,  so  des  publici  unbillig 
genossen.  Hieher  gehohren  domania,  zumahl  non  onerose  alienata 
peculatus  und  andre  misshandlungen  oder  malversations,  wobey  aber 
nicht  auf  Schwedisch  sondern  mit  grosser  aequanimität  zu  verfahren. 
Hiemit  wären  verwand  poenalia  und  andere  Fiscalische  Jura. 

Zu  Erstattung  des  künfftigen  wäre  vor  die  dinge  zu  fordern, 
so  man  dein  publico  zum  besten  vornehmen  wolte;  dahin  gehöret  das 
Assecurations  Werck;  darunter  begriffen  feuer-casse,  anstalt  zu  Ver- 
hütung der  land-schäden,  feuer  und  passgeld.  Es  ist  auch  solches 
der  Ursprung  der  Mauth,  welche  in  sicherheil  und  Unterhaltung  der 
Strassen  ihren  Ursprung  haben.  Diese  wäre  bey  den  speciebus  minus 
necessariis  auch  zu  erhöhen  und  da  sonst  etliche  guthe  anstalten  pro 
bono  publico  zu  machen,  konnte  die  Herrschaft  etwas  desswegen 
fordern. 

Es  köndten  auch  privilegia  gratiae,  so  theils  in  dignitate,  rang, 
titeln,  ehrenzeichen  bestünden,  gegen  geld.  doch  auf  eine  geziemende 
anständige  weise,  überlassen  werden. 


Beiträge  zur  Staalsg'eschichte  Österreichs  etc.  4O0 

Bisher  deutliche  hülfte:  es  wäre  aber  auch  einig  übrig  eine 
geheime  unvermerkte  hülfte,  dadurch  das  publicum  Millionen  ohne 
sonderbare  beschwehrung  der  unterthanen  erhalten  konnte,  bestünde 
in  einer  ganz  sonderbaren  billigen  und  löblichen  Münz-anstalt,  so 
Kavserl.  Mai.  nicht  allein  in  ihren  Erblanden  vornehmen,  sondern 
auch  mit  den  vornehmsten  Reichsständen  einrichten  und  zu  einer  all- 
gemeinen Reichs  sache  machen  köndten,  welches  ein  eigen  bedenken 
verdient. 

Darlehn  wäre  in  und  ausser  landes  zu  suchen,  aber  beydes 
gegen  leidliche  Zinsen.  Innerhalb  landes  wäre  mutuum  theils  voluii- 
tarium,  theils  einigermassen  necessarium,  und  dieses  letztere  köndte 
einigen  aufgebürdet  werden,  die  aus  vorhergehendem  Capite  der 
Erstattung  verhafftet  beydes  mutuum  ist  zweyerley,  beständig  und 
vergehend  oder  ä  fond  perdu.  Die  beständigen  zinsen  solten  billig 
nicht  über  fi  pro  100  gehen  und  welche  capitalia  höher  gehen,  wären 
durch  andere  abzutragen,  so  mit  bessern  conditionen  zu  negotiiren; 
auch  die  bisherige  usuraria  pravitas,  wo  sie  alzu  hoch  gangen,  aus 
obigem  capite  zu  ahnden. 

Vergehende  Zinsen  oder  ä  fond  perdu  sind  diejenigen  so  auff 
gewisse  jähre  oder  auf  ein  oder  mehrer  menschen  leben  gerichtet 
und  damit  aufhören,  so  man  leibrenten  nennet.  Auff  gewisse  jähre 
sind  einige  capitalia  unlängst  in  England  und  Holland,  zum  theil 
vermittelst  Loterien  erhalten  worden.  Durch  diese  art  hat  offtmahlen 
der  berühmte  pensionarius  de  Wit  den  Staat  von  Holland  auss  den 
schulden  zu  reissen  gesuchet.  Und  solte  ich  dafür  halten,  dass  die 
orthe,  wo  viel  geistliche,  so  mehr  auf  ihre  bequemligkeit  als  erben 
zu  sehen  pflegen,  als  die  Kayserliche  Erblande  zu  leibrenten  am 
bequemsten.    Weswegen  annehmliche  Vorschläge  zu  thun  wären. 

Ausser  landes  könnte  man  Zinsen  aus  England,  Holland  und 
Genua  negotiiren,  weilen  contanten  an  diesen  orthen  in  menge.  Wo 
contanten  da  sind  die  interessen  klein  und  legen  die  leüte  daselbst  ihre 
Gelder  gern  uinb  5  oder  6  pro  100  an,  wenn  sie  gesichert.  Sicherheit 
wäre  ihnen  theils  durch  fidejussores  als  landschafften,  theils  durch 
würkliche  Antichretische  einräumung  eines  guthes  oder  Rente  zu 
verschaffen,  wozu  die  so  genannten  Lombards  oder  Lehn-banken 
zu  ziehen.  Den  Eng-  und  Holländern  köndte  aus  denen  dem  Kayser 
überbleibenden  Spanischen  Niederlanden,  den  Genuesern  auss  Ungarn, 
Napolis  und  Mayland  damit  geholffen  werden.     Ob  auch  die  Juden 


286  Roessler. 

mit  nuzen  beyzuziehen   und  ihnen  zu  mehrer  annehmligkeit  einige 
gnaden  zu  ertheilen,  stünde  zu  überlegen. 

Es  köndten  auch  ansehnliche  Summen  durch  einen  fürsten  von 
Credit  als  mediatorem  negotiiret  werden.  Hiezu  wäre  im  Reich 
niemand  bequemer  als  der  Churfürst  zu  Braunschweig,  der  Kayserl. 
Maj.  und  dem  Reich  sehr  devot  und  in  guthen  oeconomischen  Credit 
stehet.  Dem  köndte  man  zum  Unterpfand  die  einkünffte  des  Bistums 
Hildesheim  einräumen,  und  da  solches  über  verhoffen  durch  die 
französische  obermacht  endtlich  evincirt  werden  solte,  annehmliche 
Mittel  aussfinden  ihn  anderwerts  zu  vergnügen. 

Nach  geld  und  volck  kommen  Naturalien  und  artificialien  oder 
species  ex  naturalibus  parabiles.  Zu  erhaltung  und  zum  streit  so  vor 
Menschen  und  Vieh  bei  Armeen  zu  verschaffen,  und  zwar  den  Men- 
schen unterhalt,  nehmlich  vietus  et  amictus,  Leibesnahrung,  Arzney 
und  Kleider,  leibesnahrung,  speise  und  trank,  dazu  auch  arzney  zu 
dessen  erhaltung  zu  ziehen.  Zur  Speise  vornehmlich  Korn  und  die- 
ses ist  der  Hauptpunct.  Getränk  will  rechnen  Brandtewein  und  Tabac. 
Korn,  so  bey  den  Armeen  nöthig,  ist  vornehmlich  Rocken,  gersten 
und  haber,  wiewohl  auch  der  weizen  nicht  ganz  auszusezen.    Weil 
nun  darinn  das  vornehmste  lebensmittel,  so  wäre  ohne  die  geringste 
versäumung  der  zeit  sowohl  in  den  Erblanden  als  anderswo  die  noth- 
durfft  zu  veranstalten.    In  den  Erblanden  wären  ohnverzüglich  der 
vorhandene  vorrath   in  publico  et  privato  zu  untersuchen,  was  im 
lande  nöthig  zu  überschlagen,  und  weil  grosse  Steigerung  zu  besorgen, 
denen  dardanariis  und  kornjuden  vorzubeugen;  auf  gewisse  Taxen 
secundum  gradus  zu  denken,  die  aussfuhr  zu  beschränken,  da  nöthig 
auff  zukauff  des  Korns  zu   gedenken.     Mit  andern  Teütschen  für- 
nehmen fürsten  und  ständen  auch  wohl  Creisen  wegen  dieses  wichtigen 
Punctes  förderlichst  zu  communiciren;  leüte  so  im  proviant-wesen 
erfahren,  darüber  mündtlich  und  schrifftlich  zu  vernehmen,  aus  ihren 
bedenken  das  beste  ziehen. 

Hiezu  gehohret  die  einrichtung  der  zufuhr ,  damit  solche  frey 
sey  ohne  Mauth  und  andre  beschwehrungen,  auch  zu  land  und  wasser 
leicht  geschehe.  Darunter  begreiffe  die  Verbesserung  des  fuhrwesens 
(dabei  viel  zu  erinnern)  nicht  weniger  als  der  rechte  gebrauch  der 
Schiffart  auf  den  Ströhmen,  alwo  dahin  zu  sehen,  ob  nicht  die  Donau 
mit  dem  Rhein,  nach  Caroli  M.  versuch,  welcher  der  leichteste 
scheint  und  in  kurzer  Zeit  zu  vollstrecken.    Wie  es  denn  von  Carolo 


Beiträge  zur  Staatsgesehichte  Österreichs  etc.  287 

M.  in  einem  jähr  so  weit  bracht  worden,  dass  er  den  neuen  Canal 
würcklich  befahren. 

Der  Trank  wird  zum  theil  aus  körn  bereitet,  als  aus  welchem 
hier  und  brandtwein  gemacht  wird,  wiewohl  diesen  auch  die  Wein- 
hefen geben.  Die  ganze  brandtweinfabrick,  als  woran  ein  grosses 
sowohl  wegen  ertrags  als  menschlicher  gesundheit  gelegen  und 
wobey  grosse  Missbräuche  eingeschlichen,  köndte  die  hohe  herr- 
schafft  mit  guthem  Recht  an  sieh  ziehen,  sonderlich  in  kriegszeiten, 
zumahl  der  brandtwein  mehr  eine  arzney  als  nahrung  seyn  sollte, 
und  daher  dessen  Gebrauch  bei  dem  landmann  in  den  bierländern, 
da  er  überhand  nimt,  billig  einzuschränken  und  nur  bey  denen  Sol- 
daten zu  favorisiren,  als  welche  sich  offt  mit  wasser  behelffen  müssen, 
daher  dafür  halte,  es  solte  die  sach  also  gefasset  werden,  dass  einem 
ieden  Soldaten  ein  trank  brandtwein  ohne  entgelt  abgefolget  würde. 
Es  sollte  auch  an  orthen  da  das  wasser  nicht  gut,  svorauss  der  meiste 
Untergang  der  mannschafft  entstehet ,  das  wasser  in  grosse  gefässe 
gebracht  werden,  dass  es  sich  wenigst  sezen  könne,  wo  man  es  nicht 
durch  Sand  saigen  kann.  Und  aus  solchen  gefässen  so  unter  der 
erde  an  einem  reinen  orthe  bedeckt  ständen,  köndte  es  ohne  entgelt 
aussgezapfet  werden. 

Und  weil  zu  der  leibeserhaltung  auch  die  arzney  gehöret,  wäre 
hochnöthig  bei  den  Völkern  zu  haben  die  menge  von  guthen  chirurgis 
und  deren  gesellen,  wohlbestelte  Feld-Apotheken,  alles  unter  aufsieht 
erfahrener  Medicorum,  und  geistlicher  leüte,  Capuziner  oder  sonst 
ßarfüsserordens,  die  vor  der  armen  Soldaten  leib  und  seele  zu  sorgen 
hätten. 

Weil  auch  bei  stürmen  und  schlachten  sonderlich  auf  einmahl  viel 
menschen  leiden,  dass  die  Chirurgen  mit  pflaster  und  arzneyen  kaum 
zureichen,  wäre  bey  Zeiten  diessfals  auf  guthe  anstalt  zu  denken,  des- 
gleichen auch  weil  diarrhoeae  und  dysenteriae  sehr  einreissei),  wäre 
ein  vorrath  von  jpecacuanha  und  dergleichen  nöthig,  auch  sonst 
remedia  contra  morbos  castrenses  hauptsächlich  anzuschaffen. 

Die  Kleider  der  Kaiserlichen  Soldaten  solten  billig  in  den  Erb- 
landen aus  Erbländischer  wolle,  leder,  linnen  und  hanf  bereitet 
werden.  Worin  eine  grosse  wirthschafft  stehet.  Man  muss  auch  auf 
die  güthe  und  dauer  sehen,  daher  die  zeuge  billig  geköpert  seyn, 
nach  art  der  Sarge  de  Nismes ,  die  die  Cramers  und  Schneitier  nur 
deswegen  auss  der  Mode  bracht,   weil  sie  zu  lang  gedauert.     Hüte, 


288  R  o  e  s  s  1  e  r. 

Schuhe  und  strumpfe  hätten  auch  eine  sonderbare  güthe  nöthig, 
damit  dem  armen  Soldaten  die  schwehren  marsche  so  viel  möglich 
erleichtert  würde.  Wovon  dienliche  Proben  bereits  geschehen. 

Das  Vieh  betreffend,  wobey  neben  pferden  und  Eseln  eine  menge 
Ungarischer  ochsen  zu  wünschen,  wäre  nöthig  glatt  und  rauh  futter. 
Das  glatte  futter  ist  aber  beym  körn  begriffen.  Rauhes  futter  oder 
fourrage  müssen  die  örther  selbst  dargeben,  wo  die  armeen  stehen, 
wiewohl  vermittelst  der  Ströhme  auch  ein  merkliches  von  andern 
orthen  beizuschaffen. 

Zum  streit  gehohren  offensive  gewehr  und  munition;  defensive 
wappen  und  was  sonst  zur  bedeckung  nöthig.  Offensiva  auch  wappen 
schild,  Harnisch  und  was  zur  bedeckung  nachzuführen  rechnet  man 
mehr  zur  Artillerie;  was  aber  an  der  stelle  zu  nehmen,  als  Erde, 
steine,  palissaden,  schanzkörbe,  etc.  gehohret  auch  zur  fortißcation. 

Und  weil  nicht  nur  auf  marsch  oder  zug,  lager  und  schlachten, 
sondern  auch  auf  belagerungen  zu  gedenken,  müsse  alles  was  nach- 
geführet  werden  inuss,  bey  Zeiten  nothdürfftig  angeschafft  werden. 

Und  weil  nun  das  Schiesspulver  das  kräfftigste  bewegungsmittel, 
so  uns  die  natur  gegeben,  wäre  für  allen  dingen  ein  Überfluss 
von  Schiesspulver  und  folglich  von  Salpeter  anzuschaffen,  dann  an 
kohlen  fehlet  es  nicht,  an  schwefel  nicht  leicht.  Salpeter  ist  das 
wichtigste  ingrediens ,  daher  man  Jessen  so  viel  thunlich  im  land 
bereiten  lassen  und  ein  grosses  quantum  zuzukauffen  hätte.  Und 
halte  ich  vor  rathsam  eine  guthe  quantität  des  Salpeters  von  den 
ostindischen  Compagnien  aufs  allereheste  zu  erhandeln,  damit  Frank- 
reich solche  nicht  wegnehmen  auch  die  wahre  nicht  zu  sehr  ver- 
theuert  werde.  Es  wäre  auch  zu  veranstalten ,  dass  förderlichst  eine 
guthe  Parthey  tauglich  gewehr  und  guthe  küriss  verfertigt  werden. 

Zu  Proviand  und  Artillerie-wesen  wird  die  zufuhr  zu  land  und 
wasser  erfordert.  Die  lebensmittel  und  andre  nothdurfft  müste  frey 
und  ohne  zolle  oder  mauth  zubracht  werden.  Zu  Land  ist  das  wagen- 
werck  wohl  zu  besorgen,  dabey  nicht  wenig  zu  erinnern.  Sonderlich 
aber  wären  die  ströhme  mit  schiffen  und  flössen  wohl  zu  gebrauchen. 
Und  unter  andern  dahin  zu  sehen,  ob  nicht  die  Donau  mit  dem  Rhein 
zu  vereinigen  und  zwar  nach  Caroli  M.  versuch,  welcher  der  leich- 
teste scheinet,  und  in  kurzer  zeit  zu  vollstrecken,  wie  es  dann  Caro- 
lus  M.  in  einem  jähre  so  weit  gebracht,  dass  er  den  neuen  Canal 
würcklich  beschiffet. 


Beitrage  zur  Staatsgesehichte  Österreichs  etc.  289 

Die  anstalt  bestehet  in  ordinario  et  extraordinario ,  das  ordina- 
rium  in  Bereitschaft  und  Operationen,  Bereitschaft  in  Wirthschaft  und 
kriegesdisciplin.  Operation  bey  Armeen,  detachements  und  partheyen 
in  lagerung,  zug  oder  marsch,  aetionen,  belagerungen.  Von  allen 
diesen  dingen  wären  genaue  Verfassungen  und  Instructionen  dienlich, 
nicht  nur  vor  die  so  gebraucht  werden,  und  ofFt  nicht  die  völlige 
erfahrung  haben,  sondern  auch,  weil  zu  Zeiten  geschieht,  dass  einem 
verständigen  und  erfahrenen  Man  nicht  alles  im  nothfall  beyfallet, 
also  dienlich  der  unvollkommenheit  des  menschlichen  gemüths  durch 
Tabellen,  indices  und  Agenda  zu  heißen. 

Extraordinarium  bestände  in  neuen  erfindungen ,  welche  von 
erfahrenen  und  ingeniösen  Personen  an  band  gegeben  köndte.  Und 
nicht  allerdings  zu  verachten ,  sondern  zu  Zeiten  einen  nützlichen 
gebrauch  haben  köndte.  Und  wäre  dergleichen  von  vortreflicher 
nutzbarkeit  den  feind  zu  surpreniren  und  in  Verwirrung  zu  bringen, 
daher  ganz  geheim  zu  treiben.  Und  weil  mir  leüte  bekand  die  solche 
vortheil  erfunden,  von  denen  ein  grosses  zu  hoffen,  wird  solches 
ein  Eignes  bedenken  erfordern.  Wie  ich  dann  dafür  halte ,  dass 
nächst  Gottes  hiilff,  vortreffligkeit  des  Generals  und  tapferkeit  der 
trouppen ,  die  grösste  Hoffnung  eines  glücklichen  Success  auf 
solche  mittel  und  wege  zu  bauen,  deren  sich  der  feind  nicht  ver- 
muthet. 


290  As  c  h  I)  a  c  h. 


SITZUNG  VOM   16.  APRIL    1856. 


Gelesen  $ 


Die  römischen  Legionen  prima  und  secunda  Adjutrix. 

Geschichte    ihrer    Entstehung    —    ihre     früheren    Stationen    und     endliehen     festen     Standlager    in 

Niederpannonien. 

Von  dem  c.  M.,  Hrn.  Prof.  Dr.  J.  Asch b ach. 

Die  beiden  Legionen  I  Adjutrix  und  II  Adjutrix  gehören  nicht  zu 
den  ältesten  Kaiserlegionen :  ihre  Entstehung  fällt  zwar  noch  in  das 
erste  christliche  Jahrhundert,  aber  nicht  vor  dem  Abgange  des  Kai- 
sers Nero.  Sie  wurden  beide  kurze  Zeit  nacheinander,  die  eine  von 
Kaiser  Galba,  die  andere  von  Vespasianus  und  zwar  aus  Schiffs- 
soldaten gebildet.  Sie  kamen  beide  wenige  Jahre  nach  ihrer 
Errichtung  an  den  Rhein,  wo  sie  aber  nur  vorübergehend  unter 
dem  flavischen  Kaiserhause  ihre  Standquartiere  hatten.  Von  der  Zeit 
des  Kaisers  Trajan  an  finden  wir  sie  beide  in  Niederpannonien  an 
der  Donau,  wo  sie  dann  mehrere  Jahrhunderte  hindurch  in  densel- 
ben Standlagern  verblieben. 

Die  beiden  Schwesterlegionen  bilden  wichtige  Glieder  in  der 
Reihe  der  römischen  Legionen.  Um  ihre  Stellung  und  ihren  Zusam- 
menhang mit  den  übrigen  römischen  Truppenkörpern  gehörig  zu 
erläutern  ,  ist  es  nöthig  einen  Rück  auf  den  Bestand  der  Kaiserlegio- 
nen und  der  übrigen  römischen  Streitkräfte  im  ersten  christlichen 
Jahrhundert  überhaupt  zu  werfen1). 


l)  Eine  wichtige  Quelle  für  das  römische  Heerwesen  im  eisten  Jahrhundert  der  Kaiser- 
zeit war  das  jetzt  leider  verlorene  22.  Buch  der  römischen  Geschichte  Appians, 
worin  die  Stärke  der  Heeresmacht  der  Römer,  ihr  Einkommen  von  jedem  unter- 
worfenen Volke  und  ihr  Aufwand  auf  die  Land-  und  Seemacht  darg-eleg-t  war.  Appian. 
bist.  Rom.  praef.  c.  15. 


Die  römischen   Legionen  prima  und  seeunda  Adjutrix.  291 

Als  Augustus  die  Alleinherrschaft  erlangt  hatte,  errichtete  er  25  *) 
stehende  Legionen,  welche  in  die  ihm  besonders  vorbehaltenen  Grenz- 
provinzen unter  Legaten  oder  Militär-Statthaltern  in  bestimmten 
Standlagern  veitheilt  wurden  zur  Bewachung  und  Verteidigung  des 
Reiches  gegen  auswärtige  Feinde2).  Die  Legionen  waren  grössten- 
theils  aus  derjenigen  Streitmacht  römischer  Bürger 3)  gebildet,  welche 
dem  Augustus  die  Siege  im  Kampfe  mit  seinem  Rivalen  Marcus  An- 
tonius erfochten  hatte.  Aber  auch  von  den  Antonischen  Legionen 
hatte  er  mehrere,  die  zu  ihm  übergegangen  waren ,  bestehen  lassen. 
Dagegen  waren  die  übergetretenen  Legionen  des  Triumvirs  Lepidus 
mit  Ausnahme  von  einer  oder  zwei  sämmtlich  aufgelöst  worden.  Den 
fünf  übernommenen  Legionen  Avurden  die  Standquartiere  in  Asien 
undAgypten  angewiesen  und  die  früher  geführten  Benennungen  gelas- 
sen. Es  waren  die  III  Cyrenaica,  die  III  Galüca,  die  IV  Scythica,  die 
VI  Ferrata  und  X  Fretensis.  Dagegen  diejenigen  Legionen,  die  Augu- 
stus von  seiner  frühern  Streitmacht  beibehielt,  verlegte  er  in  die 
abendländischen  Grenzprovinzen;  von  Nordafrika  und  Spanien  im 
äussersten  Westen  ausgehend,  zogen  sich  die  Grenzwachen  in  den 
Standlagern  durch  Gallien,  die  beiden  Germanien,  dann  längs  der 
Donau  hinab  bis  zu  den  Küsten  des  schwarzen-  Meeres.  Die  abend- 
ländischen Legionen  wurden  nach  Ziffern  von  I — XX  benannt  und  um 
sie  von  den  gleich  bezifferten  orientalischen  zu  unterscheiden  oder 
um  sie  durch  ehrende  Prädicate  auszuzeichnen,  erhielten  die  meisten 


)  Dio'  Cass.  Hist.  Rom.  LV,  23.    Tpia  fis  Stj  tots  xai  sixoai  a-potTo;rs3a,  ^  ,    a>;  -(z  z~zy,: 
Xifooat,  T.i-i-s  xai  sixoai  iroXiTixa  i-zpi'fz-rj. 

2)  Appian.  hist.  Rom.  praef.  c.  7.  Tv  ts  apx"hv  l>  xtfxXcp  jtepixd&T)vceti  [AS-faX-n?  axpaTO- 
tcsooi?  xai  (S'jXaauo'jjt  -rfjv  toottjvSs  fijv  xai  ftaXajaav  u>j7isp  -/copiov.    Herodian.hist.il.  11. 

'Ef   oö    Ss    eis    t6v  Ssßaaxov    TCspüjXOEv  -j]  p.ovapy_ta cppoupia  6i  xai   TToa-co-soa  tt)? 

äp/7)?   itpoußäXstO 7t<jTa>j.<uv    xs    ij.z-(iftzii   xai    xäfppwv  ?j    dpiüv  TipoßXr1p.a3tv    sp^p-o) 

-z   Y'fl  "«'■  S'J^ßa-u)  'rpa^a?  ttjv  ap-/7],i  üjyjpu'jsato.     Cf.  Dio.  Cass.  LH,  22  u.  27.  Ael. 
Aristid.  in  Romam  orat.  ed.  Jebh.  T.  I,  p.  216. 

3)  In  den  beiden  ersten  Jahrhunderten  der  Kaiserzeit  wurden  nur  römische  Bürger  in 
die  Legionen  aufgenommen,  daher  bei  den  griechischen  Schriftstellern  die  ßenennunsr 
a-paT'^soa  oder  jxpaTEÜp.a-a  TtoXiTixa  (bürgerliche  Heere)  für  die  Legionen  im 
Gegensatz  zu  den  nicht-bürgerlichen  Auxiliartruppen.  (Vgl.  Stewech.  Comment.  ad 
Veget.  de  re  milit.  II,  c.  2.)  Manche  neuere  Schriftsteller,  wie  W  alter  Rom.  Rechts- 
gesch.  I,  S.  410,  beachten  diesen  sichern  historischen  Punct  nicht.  Wenn  bei  Hero- 
dian.  hist.  Rom.  II,  11  die  Legionssoldaten  genannt  werden  jucM^opoi  tel  ^tjtoi« 
oinrjpealo«  «pcrritÜTai,  so  enthält  diese  Angabe  keinen  Widerspruch:  denn  die  Legio- 
näre dienten  auch  für  einen  bestimmten  Sold,  und  sie  konnten  in  so  fern  wohl  p.i:r9ö- 
ipopoi  genannt  worden. 


292  Aschbach. 

noch  besondere  Beinamen.  Zur  Belohnung  vorzüglicher  Tapferkeit 
war  der  Beiname  Augusta  der  I,  II,  III  und  VIII  Legion  ertheilt 
worden;  der  VI,  XIVund  XX,  welche  glänzende  Siege  erfochten  hatten, 
ward  das  ehrende  Prädicat  Victrix  gegeben;  hei  der  XIV  wurde  es 
durch  die  Vorsetzung  des  Wortes  Martia  noch  verstärkt;  bei  der  XX 
ward  zur  Erinnerung  an  ihren  siegreichen  Legaten  Valerius  Messala 
durch  Hinzufügung  des  Beinamens  Valeria  eine  besondere  Auszeich- 
nung ertheilt.  Nach  dem  Gotte  Apollo,  dessen  Geschossen  man  im 
Kriege  plötzlichen  Tod  und  Untergang  zuschrieb,  wurde  die  XV  Apol- 
linaris  genannt.  Ob  die  XII  Legion  schon  unter  Augustus  den  Beina- 
men Fulminata  oder  Fulminatrix  geführt,  ist  nicht  mit  Bestimmtheit  zu 
ermitteln.  Jedenfalls  aber  hatte  sie  ihn  schon  unter  Nero.  Zuverlässig 
ist  es,  dass  die  VII  und  XI  Legion,  die  erst  unter  Kaiser  Claudius  die  Bei- 
namen Claudia  Pia  Fidelis  erhielten,  früher  nur  die  Zahl  ohne  irgend  eine 
andere  Bezeichnung  geführt  hatten ;  höchst  wahrscheinlich  war  dasselbe 
auch  der  Fall  bei  der  XVI,  XVII.  XVIII  und  XIX  Legion.  Erst  später 
erhielt  die  XVI  den  Beinamen  Gallica  nach  dem  Lande  Gallien  und  die  I, 
die  früher  Augusta  geheissen,  wurde  nach  ihrem  Standquartier  in  Nie- 
dergermanien Germanica  genannt.  Die  IV  und  V  Legion  führten  den 
Beinamen  Macedonica,  weil  sie  früher  in  Macedonien  gestanden,  die 
IX  hiess  Hispana  nach  den  Hispaniern,  aus  welchen  sie  ausgehoben 
worden.  Die  drei  Legionen  X,  XIII  und  XIV  wurden  Gemina  bei- 
genannt, weil  eine  jede  von  ihnen  aus  Bestandtheilen  zweier  früherer 
Legionen  zusammengesetzt  war1). 

Die  anfängliche  Vertheilung  der  20  abendländischen  Legionen 
in  die  occidentalischen  römischen  Provinzen  in  solcher  Weise,  dass  die 
Legionen  mit  niederen  Nummern  im  äussersten  Westen,  die  mit  den 
höheren  Zahlen  im  Osten  an  der  Donau  und  die  mit  den  mittleren  am 
Bhein  und  den  Alpenländern  standen,  erlitt  zuerst  durch  den  grossen 
illyrischen  Krieg,  dann  durch  die  Niederlage  des  Varus  im  Tento- 
burger  Walde  eine  gänzliche  Änderung.  Ein  fast  vollständiger  Wech- 
sel der  Legionen  in  den  Standlagern  trat  ein;  dazu  kam,  dass  die 
drei  mit  Varus   zu  Grunde  gegangenen  Legionen,  die  XVII,  XVIII 


l)  Über  die  Augusteischen  Legionen  handelt  vornehmlich  Dio  Cass.  LV,  23.  Dass  die 
Legio  I  früher  den  Beinamen  Augusta  geführt  habe,  ist  aus  Dio.  Cass.  LV1,  ii  zu 
schliessen. 


Die  römischen  Legionen  prima  und  seeunda  Adjutrix.  -t,t>> 

und  XIX  !)  nicht  wieder  hergestellt  wurden.  Man  betrachtete  diese 
ZifTern  als  Unglückszahlen.  Augustus  errichtete  als  Ersatz  für  die 
abgegangenen  Truppenkörper  die  V  Alauda,  die  XXI  Rapax  und  die 
XXII  Dejotariana,  wovon  die  erstere  den  Donau-Legionen,  die  zweite 
den  Rheintruppen,  die  dritte  aber  dem  orientalischen  Heere  zugetheilt 
wurde2). 

Wie  Augustus  in  seinen  letzten  Regierungsjahren  die  Legionen 
vertheilt  hatte,  so  verblieben  sie  in  den  ihnen  zugewiesenen  Stand- 
lagern durch  die  ganze  Regierung  des  Tiberius  und  Caligula  bis  in 
die  ersten  Jahre  der  Herrschaft  des  Claudius.  In  Nordafrika  stand  die 
III  Augusta;  in  Spanien  lagen  die  IV  Macedonica,  die  VI  Victrix  und 
die  X  Gemina ;  am  Rhein  waren  in  Ober-  und  Nieder-Germanien  acht 
Legionen  aufgestellt:  die  I  Germanica,  die  II  Augusta,  die  V  Mace- 
donica, die  XIII  und  XIV  Gemina,  die  XVI  Gallica,  die  XX  Valeria 
Victrix  und  die  XXI  Rapax;  in  Pannonien  und  Noricum  befanden  sich 
drei  Legionen:  VIII  Augusta,  IX  Hispana  und  XV  Apollinaris;  in  Mö- 
sien  zwei:  V  Alauda  und  XII  Fulminata;  in  der  Nähe  von  Dalmatien 
ebenfalls  zwei,  die  VII  und  XI,  beide  später  Claudia  beigenannt.  Die 
übrigen  sechs  Legionen  befanden  sich  im  Orient:  zwei  in  Ägypten 
die  III  Cyrenaica  und  XXII  Dejotariana  und  die  vier  anderen  am  Eu- 
phrat  und  in  Syrien:  III  Gallica,  IV  Scythica  ,  VI  Ferrata  und  X 
Fretensis  3). 


1)  Dass  es  diese  drei  Legionen  waren,  ist  sicher  und  kann  vollständig-  nachgewiesen 
werden.  Die  Meinung,  welche  P  fi  tz  n  er  ,  (Jesch.  der  Kaiserlegionen  von  August. 
his  Hadr.,  aufgestellt  hat,  dass  mit  Varus  die  Legionen  I,  V  und  XIX  untergegangen 
und  sie  sämmtlich  wieder  hergestellt  worden,  ist  ganz  unstatthaft.  Urlichs  und 
Grotefend  (in  den  Jahrb.  des  Ver.  v.  Alterthumsfreund.  im  Rheiul.  IX,  p.  134  und 
X(,  p.  80)  haben  eine  gute  Widerlegung  dieser  unrichtigen  Ansicht  geliefert. 

2)  Grotefend  hat  in  Betreff  der  an  die  Stelle  der  untergegangenen  Varianischen 
Legionen  errichteten  neuen  eine  abweichende  Ansicht  aufgestellt,  die  wir  nicht 
theilen.  Der  berühmte  Epigraphiker  B  o  r  gh  e  s  i  hat  in  dieser  Streitfrage  schon  das 
Richtige  getroffen. 

3)  Taeit.  Annal.  IV,  5.  Praecipuum  Iihenum  juxta,  commune  in  Germanos  Gallosque 
subsidium ,  octo  legiones  erant.  Hiapaniae,  recens  perdomitae,  tribus  habebantur. 
Mauros  Juba  rex  acceperat  donum  populi  Romani.    Cetera  Africae  per  duas  legiones 

parique  nuinero  Aegyptus.    Dehinc  initio  ab  Syria   usque  ad  Humen  Euphrateo 

qualuor  legionibus  coercita ripamque  Danubii  legioiium  duae  in  Pannonia,  duae 

in  Moesia  attineb.uit:  totidem  apud  Dalmatiam  localis,  quae  posita  regionis  a  tergo 
Ulis  ac  si  repenlinum  auxilium  Italia  posceret,  band  proeul  accirentnr.  In  der  Zeit, 
welche  hier  Tacitns  vor  Augen  hat  (im  9.  Regierungajahre  des  Tiberius)  war  gerade 
aber  nur  voriibergeheiid   die   Legion    IX  Hispana   aus  Pannonien   nach  Afrika  gezogen 


294  Aschbach. 

Nachdem  Kaiser  Claudius  die  neue  Eroberung  Britannien  als 
Provinz  dem  römischen  Reiche  beigefügt  und  zur  Behauptung  der 
Insel  daselbst  vier  Legionen  die  Standquartiere  angewiesen  hatte, 
mussten,  um  nicht  durch  den  Abgang  mehrerer  Legionen  vorn  Rhein 
und  von  der  Donau  die  Grenzbewachung  an  diesen  Strömen  zu  schwä- 
chen, neue  Legionen  errichtet  werden.  So' kam  es,  dass  die  Zahl  der 
Legionen  auf  28  vermehrt  ward.  Kaiser  Claudius  errichtete  die  XV 
Primigenia  und  XXII  Primigenia  zur  Verstärkung  der  Rhein-Legionen1) 
und  Nero  stellte  zum  Schutze  der  Alpenländer  und  Italiens  die  I  Italica 
her2).  Dieser  Kaiser,  der  grössere  Streitkräfte  in  den  illyrischen  Pro- 
vinzen zusammenzog,  eines  Theils  um  die  kriegerischen  Bewegungen 
der  Völker  an  der  untern  Donau  in  Zaum  zuhalten,  anderen  Theils  um 
den  orientalischen  Legionen  Verstärkungen  zukommen  zu  lassen  zum 
Behuf  einer  kräftigeren  Kriegsführung  in  Armenien,  hatte  einige 
Dislocationen  der  abendländischen  Legionen  vorgenommen. 

In  Afrika  verblieb  die  III  Augusta,  aber  aus  Spanien  wurden  zwei 
Legionen  die  IV  Macedonica  und  X  Gemina  gezogen,  nur  die  VI 
Victrix  behielt  ihr  altes  Standquartier  auf  der  pyrenäischen  Halbinsel. 
Britannien,  welches  seit  der  Regierung  des  Claudius  von  vier  Legio- 
nen ,  II  Augusta ,  IX  Hispana  ,  XIV  Gemina  und  XX  Valeria  Victrix 
bewacht  wurde,  musste  die  XIV  Gemina  abgeben.  Am  Rhein  lagen 
nur  7  Legionen:  I  Germanica,  IV  und  V  Macedonica,  XV  und  XXII 
Primigenia,  XVI  Gallica  und  XXI  Rapax:  es  konnte  aber  als  achte 
noch  dazu  die  von  Nero  neu  errichtete  I  Italica  gerechnet  werden, 
welche  vorerst  an  der  Rhone  stationirt  war.  Viel  bedeutender  waren 
die  Veränderungen  im  Wechsel  der  Standlager  der  Donaulegionen. 
Pannonien  bekam  ganz  neue  Legionen,  die  vom  Rhein  gezogene  XIII 
Gemina  und  die  früher  in  Dalmatien  gestandene  XI  Claudia;  Mösien, 
wo  bis  dahin  die  V  Alauda  und  XV  Apollinaris  gelegen  ,  erhielt  zur 
Besatzung  die  pannonische  Legion  VIII  Augusta  und  die  dalmatische 


worden,  daher  werden  in  der  Taciteischen  Stelle  in  Pannonien  statt  drei  nur  zwei, 
dagegen  in  Nordafrika  zwei  Legionen  statt  einer  angegeben.  Die  Vertheilung-  der 
einzelnen  Legionen  in  den  Provinzen  lässt  sich  vornehmlich  aus  Tacitus,  aber  auch 
aus  manchen  andern  Quellen  mit  einiger  Sicherheit  nachweisen  :  es  ist  aber  hier 
nicht  der  Ort,  auf  diesen  Punct  näher  einzugehen. 

*)  Borg-hesi  (Inscr.  del  Reno  p.  179). 

2)  Sueton.  Nero  c.  19.  Conscripta  ex  ltalicis  senum  pedum  tironibus  nova  legione, 
quam  Magni  Alexandri  phalangem  appellabat.  cf.  Tacit.  Hist.  I,  c.  59.  Dio  Cass.  LV,  24. 


Die  römischen  Legionen  prima  und  secunda  Adjutrix.  <^Uo 

Legion  Ml  Claudia.  In  Dalmatien  selbst  aber  nahm  die  aus  Britan- 
nien gezogene  XIV  Gemina  ihr  Standlager,  wozu  bald  noch  aus  Spa- 
nien die  X  Gemina  kam.  Aus  der  Reihe  abendländischer  Legionen 
schieden  und  zu  den  orientalischen  Kriegen  verwendet  wurden  die  V 
Alauda,  XII  Fulminata  und  XV  Apollinaris.  Es  war  somit  die  römi- 
sche Streitmacht  im  Orient,  die  früher  nur  6  Legionen ,  die  vier 
syrischen  III  Gallica,  IV  Scythica,  VI  Ferrata  und  X  Fretensis  und 
zwei  ägyptischen  III  Cyrenaica  und  XXII  Dejotariana  gezählt  hatte, 
auf  neun  Legionen  erhöht  worden  *). 

Die  Legionen  hatten  in  den  ersten  Jahrhunderten  der  Kaiserzeit 
eine  Stärke  von  6000  Mann  zu  Fuss  ;  dazu  gehörten  aber  ausserdem 
noch  600  bis  800  Reiter2).  Die  grösseren  Legions-Reiterabthei- 
lungen  wurden  Vexillationes  genannt3). 

Die  Legionen  waren  aber  nicht  die  einzigen  stehenden  Truppen- 
körper im  römischen  Reiche,  sie  bildeten  allerdings  den  Kern  der 


1)  Für  die  Verkeilung  der  Legionen  unter  Nero  ist  Tacitus  in  verschiedenen  Stellen  der 
Annalen  und  in  den  Historien  Hauptquelle ;  dazu  ist  noch  Flavius  Joseph,  de  hello 
Judaic.  lib.  II,  c.  16,  §.  4,  wo  eine  interessante  Darlegung  der  römischen  Streitkräfte 
gegeben  wird,  zuzufügen.  —  Wir  haben  leider  bis  jetzt  noch  keine  Geschichte  der 
römischen  Legionen  in  der  Kaiserzeit.  Einige  Vorarbeiten  sind  dazu  allerdings 
geliefert.  Dahin  gehören :  Lebeau  in  den  Mem.  de  Pacad.  des  inscript.  T.  XXV, 
p.  464.  Eckhel,  doctr.  Nun»,  vet.  VIII,  p.  492.  Grotefend,  Zeitschr.  f.  die 
Alterthums-Wissen.  1840,  Nr.  79 — 81  und  ausführlicher  in  P a u  l y 's  Realencyclop. 
der  class.  Alterth.  W.  (Art.  Legionen)  IV,  856  IT.  Pfitzner,  Comment.  quot  qui- 
busque  numeris  insignes  legiones  inde  ab  Augusto  usque  ad  Vespasian.  priuc.  in 
Orientem  tetenderint.  Neobrand.  1844.  Pfitzner,  allgem.  Gesch.  der  Kaiser- 
lesionen  v.  Ausustus  bis  Hadrian  in  der  Zeitschr.  f.  Alterthums-Wiss.  1846,  Nr.  1  ff. 
Böcking,  in  der  Annotatio  ad  Notit.  dignitat.  Imp.  Korn,  2Tom.  Bonn. 1839 — 18Ö3. 
Über  die  rheinischen  Legionen  insbesondere:  Borghesi,  in  den  Annali  dell'  in- 
stitut.  archeol.  T.  XI,  p.  128  sqq.  (Rom.  1839).  Klein,  über  die  Legionen,  die  in 
Obergermanien  standen.  Mainz  1853,  4°.  H.  Meyer,  Geschichte  der  XI.  und  XXI. 
Legion  in  d.  Mittheil,  der  antiquar.  Gesellschaft  in  Zürich.  Bd.  Vll,  Zürich  1833,  4°. 
S.  123  ff.  und  dazu  Klein  in  den  Bonner  Jahrb.  des  Vereins  v.  Alterlhumsf.  Hft.  XXII, 
S.  109  ff.    Bonn  18Ö5. 

2)  Veget.  de  re  milit.  II,  2  und  besonders  6.  Legio  habet  pedites  sex  milia  eentum, 
equites  septingentos  viginti  sex.  Minor  ilaque  numerus  armatorum  in  una  legione 
esse  non  debet.  .Major  autem  interdum  esse  consuevit,  si  non  tantum  unam  cohortem, 
sed  etiam  alias  iniliarias  fueiit  jussa  suscipere.  Cf.  Jo.  Laurent.  Lyd.  de  magistrat. 
I,  46  u.  III,  3.  Auch  in  den  Inschriften  kommen  häufig  die  equites  legionis  vor.  Es 
ist  daher  die  Meinung  neuerer  Schriftsteller  (z.  B.  Lange  bist,  niutat.  rei  mil.  Born. 
Gott.  1846)  zu  verwerfen,  dass  die  Legionen  in  der  Kaiserzeit  nur  die  Hilfsreiterei 
der  Alae  gehabt  hüllen. 

3)  Inschrift  bei  Murat.  881,  3.  Vexillationes  Leg.  I  et  II  Ailjutric.  Jo.  Laur.  Lyd.  de 
magistrat.  I,  46,  gibt  der  Vexillalio  eine  Stärke  tun  .'JOD  Reitern. 


290  Aschbach. 

römischen  Streitkräfte  an  den  Grenzen ;  aber  zu  jeder  Legion  gehörten 
eine  Anzahl  leichter  Hilfsvölker  zu  Pferd  und  zu  Fuss.  Diese  waren 
nicht  aus  der  bürgerlichen  Bevölkerung  ausgehoben,  sondern  aus  den 
dem  Römerreiche  unterworfenen  Völkern  und  Stämmen,  wornach  sie 
auch  gewöhnlich  benannt  wurden  *).  Zu  der  Legion  gehörten  in  der 
Regel  zwei  oder  drei  Regimenter  oder  Alae  von  berittenen  Hilfsvölkern. 
Selten  war  nur  eine  Ala  beigegeben2).  Ihre  Stärke  war  gewöhnlich 
600  Pferde3),  seltener  1000.  Im  letzten  Falle  hiess  sie  eine  ala 
milliaria.  Ähnlich  war  es  in  Betreff  der  Abtheilungen  der  Hilfsvölker 
zu  Fuss,  welche  Auxiliar-Cohorten  oder  einfach  Cohorten  genannt 
wurden,  und  aus  500  bis  1000  Mann  bestanden.  Kleinere  selbst- 
ständige Corps  unter  500  Mann  führten  den  Namen  Numerus ,  wel- 
ches Wort  eigentlich  die  allgemeine  Bezeichnung  für  eine  bestimmte 
Truppenabtheilung,  also  auch  selbst  für  die  Legion  und  Cohorte  war. 
Es  gab  Auxiliar-Cohorten,  die  auch  eine  besondere  Abtheilung  Reiter 
hatten,  oder  die  zur  Hälfte  aus  Fussvolk  und  zur  Hälfte  aus  Reiterei 
bestanden;  solche  hiessen  Cohortes  equitatae  im  Gegensatz  zu  den 
gewöhnlichen  Cohortes  peditatae,  welche  letztere  keine  Reiter  hatten  4). 
Es  entschied  einzig  das  Bedürfniss,  wie  viele  Cohorten  von  Hilfsvöl- 
kern der  Legion  beizugeben  waren.  Höchst  selten  finden  wir  zwei 
oder  drei  Cohorten  zugetheilt ,  in  der  Regel  waren  es  5,  6  bis  8  5). 


i)  Siieton.  Oct.  c.  49.  Ex  militaribus  copiis  legiones  et  auxilia  provinciatim  distribuit 
Tacit.  Ann.  IV,  5.  Apud  idonea  provinciarum  sociae  triremes  alaeque  et  auxilia  cohor- 
tium  :  neque  multo  secus  in  iis  virium.  Cf.  Tacit.  Agricol.  c.  24.  Tacit.  Ann.  XIV,  38, 
Hist.  I,  69,  II,  c.  89,  IV,  70,  V,  1.  Vellej.  Paterc.  II,  112  u.  113.  Sueton.  Octav.  c.23. 

2)  Nach  Vellej.  Palerc.  II,  117,  waren  bei  den  drei  Varianischen  Legionen  nur 
3  Alae  und  6  Cohorten,  u.  Sueton.  Oct.  c.  23  nennt  dieselben  omnia  auxilia. 

3)  Jo.  Laurent.  Lyd.  de  magistr.  I,  46. 

4)  In  den  Inschriften  werden  häufig  die  Cohortes  equitatae  und  peditatae  (wie  z.  B.  die 
Coli.  I.  Thracum  equitata  bei  Cardiuali  dipl.  u.  334,  Coh.  III,  Thrac.  equitat.  Gruter. 
480,  6.  524,  2)  genannt:  auch  kommt  es  nicht  selten  vor,  dass  in  denselben  von 
equites  der  Cohorten  gesprochen  wird.  Flav.  Joseph,  de  bell.  Jud.  III,  4,  2  spricht 
von  Auxiliar-Cohorten,  wovon  jede  600  Mann  zu  Fuss  und  120  Reiter  hatte.  In  den 
Militärdiplomen  werden  manchmal  neben  einander  Cohorten  mit  derselben  Ziffer  und 
mit  demselben  Namen  genannt,  z.  B.  Coh.I  Alpinorum  et  I  Alpinorum,  Coh.  I  Mon- 
tanorum  et  1  Montanorum  (Arneth,  Mil.  Dipl.  I  et  III).  Aus  anderen  Inschriften 
erfahren  wir,  dass  es  eine  I  Alpinorum  equitata  und  eine  I  Alpinorum  pedilata  gab 
(Arneth,  I.e.  T.  XI,  p.  67.  Coh.  I  Alpinor.  equitata.  Cardinali  dipl.  T.  XXIII. 
Coh.  I  Alpinor.  ped.  Cardinali  liest  unrichtig  pedemontanorum). 

5)  Zu  der  leg.  XIV  Gemina  gehörten  um  das  J.  70  nach  Chr.  als  auxilia  octo  Batavorum. 
Cohortes.    Tacit.    Hist.    I,    69.     Sueton.    Vespas.    c.  4.     Additis    ad     copias    duabus. 


Die  römischen  Legionen  prima  und  secunda  Adjutrix.  207 

Ja  es  findet  sich,  dass  der  Legion  III  Augusta  in  Afrika  im  J.  69  n.  Chr. 
5  Alae  und  19  Auxiliar-Cohorten  beigegeben  waren1),  dass  demnach 
zu  den  7000  Legionären  an  14.000  bis  15.000  Mann  Auxiliartruppen 
kamen. 

Gewöhnlich  wechselten  die  Alae  und  Cohortes  auxiliariae  die 
Standquartiere  zugleich  mit  der  Legion,  wozu  sie  gehörten.  Oft  aber 
verblieben  sie  auch  in  ihren  Lagern  stehen  und  wurden  dann  beim 
Truppenwechsel  anderen  Legionen  zugetheilt 3).  Übrigens  gehörten 
in  solchen  Provinzen  ,  wo  zwei  oder  mehrere  Legionen  lagen  und 
unter  einem  Legatus  Augusti  standen,  die  Auxiliartruppen  nicht  einer 
einzelnen  Legion,  sondern  dem  ganzen  Provincial-Exercitus  an.  Auch 
waren  die  Auxiliartruppen  nicht  in  dem  Legions -Lager  stationirt, 
sondern  sie  hatten  abgesondert  ihre  eigenen  Standlager,  welche  als 
einzelne  vorgeschobene  Posten  in  Bezug  auf  das  Hauptlager  der 
Legion  betrachtet  werden  konnten. 

Eine  ganz  eigenthümliche  Stellung  zwischen  den  Legionen  und 
den  Auxiliartruppen  hatten  die  bürgerlichen  Cohorten  der  italienischen 
Freiwilligen.  Sie  wurden  Cohortes  Italicae  voluntariorum  civium 
;  Romanorum  oder  einfacher  Cohortes  voluntariorum,  auch  Cohortes 
I  voluntariae  genannt.  Es  kommt  ferner  die  Bezeichnung  Cohortes 
ingenuorum  mit  und  ohne  den  Zusatz  civium  Romanorum  vor.  Sie 
bestanden  aus  italienischen  Bürgern,  die  ohne  zum  Kriegsdienst 
verpflichtet  zu  sein ,  freiwillig  als  leicht  bewaffnete  in  der  Reihe  der 
Auxiliartruppen  dienten,  aber  in  ihre  Mitte  auch  Nichtbürger  von  den 
Bundesgenossen  aufnahmen,  welche  dann  in  der  Kategorie  der  übrigen 
Auxiliartruppen  sich  befanden  und  erst  nach  langjähriger  Dienstzeit 


legionibus,  octo  alis,  cohortibus  decem.  Nach  Fi.  Joseph,  de  beil.  Judaic.  III,  4,  2 
gehörten  zur  V.  u.  XV.  Legion  18  Cohorten  Hilfsvölker,  wozu  später  noch  weitere 
zehn  Cohorten  kamen. 

*)  Tacit.  Hist.  II,  58. 

a)  Tacit.  Annal.  IV,  5  sagt,  dass  er  die  Stärke  und  Vertheilung  der  Auxiliar-Truppen 
in  dem  römischen  Reiche  nicht  genau  angeben  könne:  cum  ex  usu  temporis,  huc  illuc 
mearent,  gliscerent  numero  et  aliquanto  minuerentur.  Ähnlich  Dio.  Cass.  LV.  24 
2u|;.|j.ay_<.xa  xod  tte^öjv  xäi  ititcsujv  xai  kocjtüiv  ojaoT^tiTS  tjv  —  oü  ydp  ix1"  T°  äxpißf.? 
eitceTv.  Eine  Schrift,  worin  eine  genaue  Übersicht  der  römischen  Auxiliar-Cohorten 
und  Alen  geliefert  wird,  fehlt  bis  jetzt.  Vorarbeiten  zu  einem  solchen  Werke 
finden  sich  bei  Böcking  Ar.uot.  ad  Notit.  Dignit.  Imp.  und  bei  Cardinali  im 
elenco  delle  ale  e  delle  coorti  sociali  desunto  dalle  antiche  inscrizioni  in  den 
Memorie  Rom.  di  antichita.  Vol.  III,  p.  215.  Es  lässt  sich  Cardinali's  Ver- 
zeichniss  noch  sehr  vervollständigen. 

Sitzb.  d.  phii.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  II.  Hft.  20 


298  Asch  b  ach. 

das  Bürgerrecht  erhielten.  Nach  der  Zahl  der  römischen  Tribus 
gab  es  35  Cohortes  Voluntariorum.  Drängte  sich  eine  grössere 
Anzahl  Freiwilliger  herbei,  so  wurde  die  Zahl  35  doch  nicht  über- 
schritten, sondern  es  gab  doppelte  und  dreifach  gleichbezifferte 
Cohortes  voluntariae  mit  besonderen  Beinamen,  wie  z.  B.  die  Coli.  I 
Voluntariorum  Campanorum  neben  einer  Coli.  I  Italica  civium  Roma- 
norum ingenuorum  und  einer  Coli.  I  Italica  civium  Romanorum 
equitata  bestand.  In  ähnlicher  Weise  verhielt  es  sich  mit  den  Reiter- 
Regimentern  oder  Alae  der  italischen  oder  römischen  Bürger; 
jedoch  war  deren  Zahl  eine  viel  geringere.  Einer  jeden  Legion  oder 
doch  jedenfalls  einem  jeden  Provincial-Exercitus  waren  eine  oder 
mehrere  Cohortes  voluntariorum  civium  Romanorum  zugetheilt;  so 
finden  wir  in  Spanien  vier  solcher  Cohorten,  sieben  am  Rhein: 
ausser  der  Coli.  I  voluntaria  civ.  Rom.  equitata  die  Coli.  III,  IV,  XV, 
XXIV,  XXVI,  XXXII ;  —  in  Pannonien  lagen  zwei  Cohortes  volunta- 
riorum, nämlich  die  I  voluntaria  Campanor.  und  die  XVIII  voluntaria 
civium  Romanorum ,  und  daneben  noch  eine  Ala  civium  Roma- 
norum *). 

Ausser  den  ständigen  Grenztruppen  der  Legionen  und  Auxiliar- 
völkerund  neben  den  Cohorten  der  Voluntarii  gab  es  aber  auch  noch  in 
Italien  selbst  eine  stehende  Truppenmacht.  Es  war  dieselbe  aus  Kern- 
truppen gebildet,  welche  vorzüglich  aus  dem  mittlem  Italien  und  den  alt- 
römischen  Colonien  ausgehoben  wurden  und  theils  in  der  Hauptstadt 
standen,  theils  aber  bei  derselben  ihr  festes  Lager  hatten.  Sie  konnten, 
da  sie  nur  aus  Bürgern  zusammengesetzt  waren,  als  die  bürgerliche 
Leibwache  des  Kaisers  gelten.  Die  vor  Rom  gelagerten  neun  (später 
zehn)  Cohorten  Messen  prätoris  che,  die  drei  (später  vier)  in  der 
Stadt  befindlichen  städtische  (cohortes  urbanae),  die  zum  Dienst 
in   der  Nacht  verwendeten  sieben  Cohorten  wurden  Bürgerwächter 


A)  Es  ist  hier  nicht  der  Ort  näher  in  diesen  Theil  des  römischen  Heerwesens  einzu- 
gehen: es  gibt  über  denselben  fast  noch  gar  keine  Vorarbeiten.  Das  was  Mari  nid 
Cardinali,  Borghesi,  Kellermann,  Zumpt  darüber  gesagt  haben,  ist  zu  I 
unvollständig  und  ungenügend,  ja  theilweise  sogar  unrichtig.  Wenn  man  einige 
wenige  Stellen  bei  Vellejus  Paterculus,  Tacitus  u.  A.  ausnimmt,  so  geben  uns  die  jj 
römischen  Schriftsteller  keine  Nachrichten  über  die  Cohortes  voluntariorum:  man 
muss  daher  die  Nachrichten  über  sie  aus  den  zerstreuten  Inschriften,  die  ihrer 
gedenken,  sammeln.  Übrigens  sind  die  Auxiliar-Cohorten  mit  dem  Zusätze  civium 
P.omanorum  nicht  mit  unseren  Cohortes  voluntariae  civium  Romanorum  zu  ver- 
wechseln.   Es  sind  beide  durchaus  von  einander  unterschieden. 


Die  römischen  Legionen  prima  und  secunda  Adjutrix.  /Call 

(Vigiles)  genannt.  Da  jede  dieser  Cohorten  1000  Mann  zählte,  so 
waren  sie  sämmtlich  milliariae  1).  Diese  Cohorten  wurden  nie  in 
Legionen  vereinigt. 

Ausser  der  städtischen  Leihwaehe  hatte  der  Kaiser  noch  Leihwäch- 
ter sowohl  zu  seiner  persönlichen  Bewachung,  wie  auch  zu  besonderen 
Dienstleistungen.  Diese  in  der  nächsten  Umgebung  des  Kaisers  befind- 
lichen Truppen  waren  weder  Römer  noch  Italiener,  sondern  aus  den 
Auxiliartruppen  oder  von  bundesgenössischen  Völkern  entnommen ; 
sie  wurden  bei  ihrer  Aufnahme  in  den  Dienst  mit  dem  römischen 
Bürgerrechte  beschenkt;  ein  Theil  derselben,  die  als  kaiserliche 
Leibwächter  (custodes  corporis  Augusti)  dienten,  waren  in  die  Colle- 
gia  Germanorum,  zuweilen  auch  Batavorum  genannt,  eingereiht,  die 
zum  Dienst  des  Kaisers  verwendeten  berittenen  Ordonanzen  bildeten 
den  Numerus  equitum  singularium  Augusti 3). 

Es  erübrigt  noch  von  der  Seemacht  der  Römer  zu  sprechen. 
Wie  die  römische  Landmacht  im  Allgemeinen  in  eine  italische  und 
provinziale  zerfiel,  so  war  es  auch  mit  den  Seestreitkräften  der  Fall, 
nur  waltete  hier  der  Unterschied  vor,  dass  die  Hauptstärke   nicht  an 


*)  Tacit.  Annal.  IV,  5.  Quamquam  insideret  urbem  proprius  miles,  tres  urbanae,  novem 
praetoriae  cohortes.  Sueton.  Oetav.  49.  Certum  numerum  partim  in  urbis,  partim 
in  sui  custodiam  allegit.  Neque  tarnen  unquam  plus  quam  III  cohortes  in  urbe  esse 
passus  est  easque  sine  castris  :  reliquas  in  hiberna  et  aestiva  —  dimittere  assuerat. 
Dio  Cass.  (LV.  24)  classificirt  die  bürgerlichen  Truppen  in  die  itoXixixa  axpotx&TisSa 
an  den  Grenzen,  d.  i.  Legionen,  in  das  städtische  Heer  (äaxixiv  axpocxsupLa,  d.  i.  Prä- 
torianer,  städtische  und  nächtliche  Cohorten)  und  endlich  in  das  Trabanten-Corps 
(Sopu'popixrjv,  d.  i.  Singulares  und  Custodes  corporis  Augusti).  In  Betreu"  der  prä- 
torischeu  und  städtischen  Cohorten  berichtet  er:  Ot  xs  a(D|j.axo'.p'JXaxsc;,  pvipioi  öv-s?, 
xotl  Sexa/f,  -zz-zaf\).i'i'ji  xat  ol  xfj;  toXeu);  (ppoupoi  exaxi;y_i).ioi  xs  övxe;  xat  xsxpayf) 
v£v£(j.s(Asvot.  Vom  Kaiser  Vitellius  wurden  die  prätorischen  Cohorten  auf  sechzehn, 
die  städtischen  auf  vier  vermehrt.  Die  Cohortes  urbanae  führten  als  Fortsetzung 
der  prätorischen  die  Ziffern  X,  XI  und  XII,  später  XI,  XII,  XIII  und  XIV,  wie  aus  den 
Inschriften  ersehen  werden  kann.  Die  Inschriften,  die  Cohortes  urbanae  mit  Zahlen 
von  I — IX  erwähnen,  sind  falsch.  Orelli  Inscr.  Nr.  3422.  —  Über  die  Vigiles,  deren 
sieben  Cohorten  so  in  die  vierzehn  Quartiere  von  Rom  vertheilt  waren,  dass  je  zwei 
Quartiere  einer  Cohorte  zur  Bewachung  zugewiesen  waren,  besitzen  wir  das  treffliche 
Werk  von  Kellermann:  Vigilum  Rom.  latercula  duo.  Rom.  1836,  fol.  Cf.  Dio 
Cass.  LV,  26.  Appian.  de   bell.  civ.  p.  746. 

2)  Tacit.  Annal.  I,  24,  XIII,  18.  Dio  Cass.  LV,  24.  Eevot  xe  brnsTs  SüiXexxoi ,  ot;  xo  tu>v 
BaxaoOtov  4it6  tijs  Baxo'ja;  xfj?  £v  x^>  "P^vüs  V7JOOU  övop.a ,  oxi  Srj  xpaxisxot  liraE'Jiiv 
elai  —  oö  |Asvxot  4pi*(*6v  äxpiß?)  —  eItieiv  8uv«[j.ai.  Über  die  equites  singulares  hat 
vortrefTlich  gehandelt  Henzen  in  der  Abhandlung  sugli  equiti  singolari  degli  lmpe- 
ratori  Rom.  in  den  Aunali  deü'  Instit.  archeolog.  T.  XXII,  p.  53. 

20  • 


300  A  s  c  h  b  a  c  h. 

den  Grenzen  versammelt  war,  sondern  sich  an  den  italischen  Küsten 
befand.  Die  apenninische  Halbinsel  wurde  von  den  beiden  prätorischen 
Flotten,  diezuMisenum  undRavenna  stationirten,  bewacht1)-  Eine  jede 
zählte  mehrere  Hundert  Schiffe,  unter  denen  die  LiburnenundBiremen 
(mit  2  Ruderbänken)  und  die  Triremen  (mit  drei  Ruderbänken)  wohl 
die  grössere  Zahl  ausmachten,  aber  es  befanden  sich  darunter  auch  ziem- 
lich viele  der  grössten  Art  von  Kriegsschiffen  (Quadriremen,  Pente- 
ren  undSexeren)  2).  Die  Bemannung  der  Schiffe  zerfiel  in  die  Schiffs- 
mannschaft, Matrosen  und  Ruderknechte  (classiarii)  und  in  die  Schiffs- 
soldaten (classici);  oft  werden  aber  auch  beide  Kategorien  mit  dem 
gemeinschaftlichen  Namen  classici  bezeichnet3).  Die  Schiffssoldaten 
waren  in  zwei  sogenannte  classicae  legiones  eingereiht,  die  eine 
für  die  misenische,  die  andere  für  die  ravennatische  Flotte4).  Die 
Schiffs-Legionäre  aber  waren  in  Bezug  auf  Stellung,  Rechte  und  son- 
stige Verhältnisse  wesentlich  von  den  gewöhnlichen  Legionären  ver- 
schieden ;  sie  waren  keine  römischen  Bürger  und  hatten  eine  viel 
längere  Dienstzeit.  Erst  nach  26  Dienstjahren  ward  ihnen  die  Entlas- 
sung (missio  honesta)  mit  dem  römischen  Bürgerrecht  als  Belohnung 
ertheilt 5).     Wie  die  Spanier,  Bhätier,   Gallier,  Noriker  vorzüglich 


l)  Suetoii.  Oct.  c.  49.  Ciassem  Miseni  et  alteram  Ravennae  ad  tutelara  superi  et  inferi 
maris  collocit.  Tacit.  Aun.  IV,  S.  Italiam  utroque  mari  duae  classes ,  Misenum  apud 
et  Ravennam  praesidebant  —  valido  cum  remige.    Dio  Cass.  LV,  24    Kai  a'j[j.|j.a/ixa 

xai  tis^üjv  xat  Lmtsiuv  xal  vatniLv  öaao7)TCOxs  t)v  .     Veget.  de  re  mil.  IV,  c.  31   [V,  c.  1]. 

Apud  Misenum  et  Ravennain  singulae  legiones  cum  classibus  stabant.    Cf.  Böcking 

Annot.  ad  dignit.  Imp.  II,  991  u.  1011. 

2)  Über  die  Anzahl  und  die  Namen  der  Schiffe  von  den  beiden  prätorischen  Flotten 
handeln  mehrere  italienische  Alterthurasforscher,  aber  nicht  in  erschöpfender  Weise. 
Gori  Insc.  Elrusc.  III,  p.  6  und  Marini  frat.  Arv.  II,  408  geben  einen  nur  sehr 
unvollständigen  Schiffs-Katalog;  Vernazza  dipl.  di  Adrian,  p.  79  führt  fünf  und 
vierzig  Schiffe  der  Misenischen  Flotte  namentlich  an;  vollständiger  ist  das  Verzeich- 
niss,  welches  Cardinali  aus  fast  zwei  hundert  Steininschriften  gibt,  das  früher  in 
den  Memor.  Rom.  antiq.  I.  2,  p.  60,  später  in  den  Diplom,  militar.  p.  7  abgedruckt 
ist,  aber  aus  dem  Werk  Mommsen's  über  die  lateinischen  Inschriften  des  König- 
reiches Neapel  sehr  vermehrt  werden  kann.  Man  vergl.  auch  Ruhnken,  de  tutel.  et 
insignib.  nav.  Rom.  p.  267. 

3)  Maffe  i  Mus.  Veron.  p.  347  unterscheidet  mit  Recht  die  beiden  Ausdrücke:  Classiarii 
sunt  x6  voc'jtixöv,  milites  classis  sunt  ETußäxai;  classiarii  in  na  vi  operantur,  nos 
eos  vocamus  l'equipage  du  vaisseau,  milites  classis  de  navi  pugnant  et  ubi 
necesse  fuerit,  exscensionem  faciunt,  hos  nuncupamus  les  soldats  de  marine. 

4)  Veget.  de  re  milit.  IV,  c.  31  [V,  c.  1]. 

5)  Die  Prätorianer  hatten  eine  16jährige,  die  Legionäre  eine  20jährige,  die  Auxiliar- 
Truppen   eine  25jährige  Dienstzeit;    letztere  empfingen  dann  mit  ihrer  Entlassung 


Die  römischen  Legionen  prima  und  secuoda  Adjutrix.  301 

tüchtiges  Fussvolk,  die  Bataver,  Numidier,  Britten,  Pannonier,  Thra- 
cier  die  besten  Beiter  zu  den  Auxiliartruppen  stellten,  so  lieferten  die 
Inselbewohner  im  Mittelmeer,  ferner  die  Dalmatiner,  Phönicier,  Ägyp- 
ter und  Kleinasiaten  hauptsächlich  vortreffliche  Schiffsmannschaften. 
Wie  die  Prätorianer  vor  den  Legionen,  den  stehenden  Armeen  in  den 
Grenzprovinzen,  mancherlei  Privilegien  voraus  hatten  ,  so  erfreuten 
sich  auch  die  Classici  auf  den  beiden  prätorischen  Flotten  vieler  Vor- 
rechte vor  den  Provincial-Flotteii,  den  sogenannten  triremes  sociales. 
Die  misenische  Flotte  hatte  ihre  besonderen  Stationen  an  den  Küsten 
Nordafrika's,  Spaniens,  Galliens,  Siciliens,  Sardiniens  und  Corsika's; 
ihr  lag  ob  die  stete  Verbindung  mit  diesen  Ländern  und  Inseln  zu 
unterhalten.  Die  östlichen  Küstenländer  des  Mittelmeeres  waren  zu 
gleichem  Zwecke  der  ravennatischen  Flotte  zugewiesen *). 

Unabhängig  von  den  beiden  prätorischen  Flotten  waren  die  dem 
Legions-Commando  unterstehenden  besonderen  Provincialtlotten  in  den 
vom  Mittelmeere  getrennten  Gewässern  oder  auf  den  grossen  Grenz- 
strömen ;  sie  bestanden  grösstenteils  aus  kleineren  und  mittleren 
Kriegsschiffen,  Liburnen  und  Triremen.  Im  Canal  und  an  der  Küste 
Britanniens  befand  sich  die  gallische  und  britannische  Flotte, 
auf  dem  Bhein  die  germanische,  auf  der  Donau  die  pannonische  und 
mösische,  auf  dem  schwarzen  Meere  die  pontische,  auf  dem  Euphrat 
die  syrische,  auf  dem  Nil  die  ägyptische3). 

Im  Ganzen  belief  sich  die  gesammte  stehende  Streitmacht 
welche  die  Bömer  in  den  ersten  Jahrhunderten  der  Kaiserherrschaft 
unterhielten,  auf  mehr  als  600.000  Mann  Bewaffneter3)  und  auf  über 
1000  Kriegsfahrzeuge. 


(missio  honesta)  das  römische  Bürgerrecht.  Die  Seetruppen  waren  demnach  am  un- 
günstigsten gestellt.  Vergl.  Cardinali  diplom.  militar.  und  Walter's  Rom. 
Rechtsgesch.  I,  411. 
*)  Veget.  de  re  milit.  1.  c.  Misenatium  classis  Galliam,  Hispanias,  Mauritaniam,  Africam, 
Aegyptum,  Sardiniam  atque  Siciliam  hahebant  in  proximo.  Classis  autem  Ravennatium 
Epiron,  Macedoniam,  Achaiam,  Propontidem,  Pontum,  Orienten)  ,  Cretam ,  Cyprum 
petere  directu  navigatione  consueverat. 

2)  Cardinali  (dipl.  milit.  p.  281)  hat  am  besten  über  die  römischen  Provinzialflotten, 
und  zwar  nach  Inschriften  gehandelt:  über  die  Donauflotten  ist  O  rel  1  i  nr.  3061  und 
Bock  ing  in  der  Annotat.  ad  Notit.  dignit.  Imp.  zu  vergleichen.  Seit  Vespasian's  Zeit 
führte  sowohl  die  pannonische  wie  die  mösische  Flotte  den  Beinamen  Flavia. 

3)  Agathias  in  der  bist.  Rom.  V.  13,  wo  er  über  den  Verfall  des  Kriegswesens  in  der 
Zeit  des  Kaisers  Juslinian  spricht,  und  angibt,  dass  damals  die  stehenden  Armeen 


302  A  s  o  h  b  a  c  li. 

Die  gelieferte  allgemeine  Skizze  von  den  römischen  Streitkräf- 
ten in  der  ersten  Zeit  der  Kaiserherrschaft  vorauszuschicken  war 
nothwendig,  um  die  Geschichte  der  Entstehung  der  beiden  Legionen 
I  und  II  Adjutrix,  die  mit  der  Land-  und  Seemacht  in  Verbindung 
standen,  in  ein  helleres  Licht  zu  stellen. 

Es  war  im  Jahre  68  unserer  Zeitrechnung,  als  sich  auf  allen 
Seiten  der  Aufstand  gegen  die  Tyrannei  des  Kaisers  Nero  erhob. 
Zuerst  kam  ihm  die  Kunde  von  der  Empörung  des  Vindex  in  Gallien, 
dann  erhielt  er  die  Nachricht  von  dem  Abfalle  des  spanischen  Statt- 
halters Servius  Sulpicius  Galba.  Nun  erst  erwachte  Nero  aus  seiner 
bisherigen  Sicherheit  und  Sorglosigkeit  und  traf  ernstliche  Rüstungen 
gegen  die  Aufstände.  Bereits  zeigte  sich  auch  der  Geist  des  Ungehor- 
sams und  des  Widerstandes  in  und  bei  Rom  unter  denPrätorianern  und 
städtischen  Cohorten.  Da  der  Kaiser  so  plötzlich  in  Italien  selbst  von 
dem  Anfruhr  sieb  bedroht  sah,  so  zog  er  eiligst  die  Seesoldaten  (milites 
classici)  mit  einen»  grossen  Theil  der  Schiffsmannschaft  oder  Ruderer 
(classiarii)  von  den  beiden  prätorisehen  Flotten  in  die  Nähe  der 
Hauptstadt.  Die  gerade  auf  Schiffen  der  ravennatischen  Flotte  nach 
dem  Oriente  unterwegs  befindlichen  abendländischen  Legionstruppen 
wurden  schleunigst  zurückgerufen.  Die  milites  classici  der  miseni- 
schen  Flotte  Hess  Nero  schnell  die  Schiffe  besteigen  und  nach  Spanien 
übersetzen,  um  Galba's Abfall  zu  züchtigen;  und  da  die  Aufrührer  von 
Gallien  aus  drohten  über  die  Alpen  nach  Italien  einzubrechen  und 
sie  bei  Rom  eintreffen  konnten,  ehe  die  an  den  Grenzen  stehenden 
Legionen  zur  Hilfe  zu  eilen  im  Stande  waren,  so  wurde  nicht  nur 
der  noch  in  Italien  anwesende  Theil  der  Seesoldaten  in  die  Haupt- 
stadt gezogen,  sondern  auch  die  grosse  Masse  der  Ruderknechte  und 
Schiffsleute  beider  prätorisehen  Flotten  zu  einer  legio  classica  oder 
legio  classicorum  eingerichtet.  Um  diese  Seetruppen  und  Schiffs- 
mannschaften zum  eifrigen  Kampfe  anzuregen  und  zu  grösserer  An- 
hänglichkeit für  seine  Person  zu  gewinnen,  versprach  der  Kaiser,  sie 
zu  wirklichen  Legions-Soldaten  zu  erheben,  ihnen  vor  der  beendigten 
Dienstzeit  das  römische  Bürgerrecht  zu  schenken  nebst  allen  damit 
in  Verbindung  stehenden  Vortheilen   und  Privilegien.    So   lange   sie 


zusammen  nur  130,000  Bewaffneter  g-ezählt  hätten,  fügt,  indem  er  einen  Blick  auf 
die  früheren  Zeiten  der  römischen  Kaiserherrschaft  wirft,  hinzu :  Asov  i<;  rcsvxe  xoei 
xejsapdxovTa  xai  sjaxoaia?  -/tXicioa;  |xa^iu,(uv  äv6p(I>v  -rjv    SXtjV  ä-(s.iptaBai  6Öva|UV  etc. 


Die  römischen  Legionen    prima  und  secunda  Adjntrix.  303 

aber  noch  nicht  den  Legions-Adler  und  die  anderen  Feldzeichen  hatten, 
so  lange  ihnen  nicht  ein  bestimmtes  Lager  mit  den  dazu  gehörigen 
Ländereien  an  der  Grenze  des  Reiches  in  irgend  einer  Provinz  zuge- 
wiesen war,  konnten  sie  sich  noch  nicht  als  wirkliche  Legion  betrachten, 
sie  waren  nur  in  der  Form  einer  Legion  von  der  Flotte  dem  Land- 
heere zur  Unterstützung  auf  unbestimmte  Zeit  beigegeben  und  konn- 
ten daher,  wenn  die  Erfüllung  des  kaiserlichen  Versprechens  durch 
äussere  Umstände  verhindert  war,  wieder  in  ihre  alten  minder  gün- 
stigen  Verhältnisse  zurückversetzt  werden  *). 

In  wenigen  Wochen  hatten  sich  wichtige  Ereignisse  gedrängt. 
Der  Abfall  von  Nero  hatte  sich  von  den  westlichen  Provinzen  bald 
nach  Italien,  ja  bis  nach  Rom  selbst  verbreitet  und  war  sogar  in  das 
Lager  der  Prätorianer  gedrungen.  Indem  der  Kaiser  den  Annius  Ru- 
brius  Gallus  mit  einem  Theile  der  misenischen  Flotte  und  der  dazu 
gehörigen  zahlreichen  Schiffsbemannung  nach  Spanien  abschickte, 
um  dort  den  Aufstand  Galba's  zu  unterdrücken,  erklärte  sich  der 
Senat,  durch  den  Abfall  der  Prätorianer  ermuthigt,  gegen  Nero.  Bald 
kam  auch  die  Kunde,  dass  die  nach  Spanien  abgesandten  Seetruppen, 
anstatt  die  Empörung  auf  der  pyrenäischen  Halbinsel  zu  unterdrücken, 
zu  Galba,  der  zum  Kaiser  ausgerufen  worden,  übergegangen  wären3). 
Die  herbeigezogenen  Seesoldaten  und  Ruderknechte,  welche  Nero  in 
Rom  hatte,  waren  nicht  stark  genug  seinen  wankenden  Thron  zu  stützen. 
Nero's  Sturz  erfolgte  und  der  allgemein  gehasste  Tyrann  endete  (9.  Juni 
68)  durch  Selbstmord  sein  Leben,  noch  ehe  die  in  Rom  befindlichen 
Schiffsmannschaften  zu  einer  wirklichen  Legion  eingerichtet  waren. 
Dagegen  hatte  Galba  in  Spanien  rasch  gehandelt.  Auf  der  pyrenäischen 
Halbinsel  befand  sich  damals  nur  eine  einzige  Legion,  die  VI  Victrix, 


*)  Tacitus  hat  am  Schlüsse  des  IG.  Buches  der  Annalen ,  das  verloren  ist,  ohne  Zweifel 
von  diesen  Vorgängen  ausführlich  gehandelt.  Jetzt  müssen  wir  uns  mit  einigen 
kurzen  Andeutungen  und  Notizen  über  die  Sache  an  verschiedenen  Stellen  seiner 
Historien  begnügen,  besonders  I,  6:  (Legione)  remanente  ea,  quam  e  classe  Nero 
conscripserat.  Damit  stimmen  überein  Sueton.  Galb.  c.  12:  (classiarios),  quos  Nero 
ex  remigibus  justos  milites  fecerat  —  und  Plutarch.  Galb.  c.  15:  OOxot  (oi  epe'-et'.) 
o'tjCjov,  6.5?  st;  iv  TayiJ-a  6  Nsp(uv  ouXXo/iaa?,   a-e'fTjVö  a-cpaTiujTa?. 

2)  Dio  Cass.  LXI1I,  27.  (Nspujv)  ht'  foteivoo?  (Galbum  et  Rufum)  'Poüßpiov  TaXXov  xctl 
SXXou«  tivoi;  'iizt\>;\izi.  Zonaras ,  der  noch  einen  vollständigeren  Dio  Cassius  vor  sich 
halte  (wir  besitzen  von  ihm  hier  nur  des  Xiphilinus  Auszug),  berichtet:  „Als  Nero 
erfuhr,  dass  Petronius,  de"n  er  mit  dem  grössten Theile  des  Heeres  gegen  die  Empörer 
geschickt  hatte,  auf  Galba's  Seite  übergetreten  war,  so  verzweifelte  er  an  dem  Glücke 
der  Waffen  etc." 


304  Aschbach. 

mit  zwei  Alen  und  drei  Cohorten  Auxiliartruppen.  Diese  Streit- 
macht hatte  den  Impuls  zur  Erhebung  Galba's  gegeben,  indem  sie  ihn 
zum  Kaiser  ausgerufen  *).  Er  errichtete  aus  solchen  spanischen  Pro- 
vincialen,  die  römische  Bürger  waren,  sich  sogleich  eine  zweite 
Legion,  welcher  er  die  Numer  VII  gab  und  die  man  nach  ihrem 
Errichter  auch  die  legio  VII  Galbiana  nannte.  Aus  den  kriegerischen 
Stämmen  der  Spanier  und  Lusitanier  hob  er  junge  Mannschaften  zum 
Kriegsdienste  aus  und  bildete  sich  aus  ihnen  eine  Anzahl  von  Auxiliar- 
Cohorten  und  Alen2).  Aber  er  constituirte  noch  eine  weitere  Legion 
aus  den  zu  ihm  übergetretenen  Classicis  der  misenischen  Flotte; 
diese  neue  Legion  sollte  aber  nicht  blos  ein  legio  classica ,  sondern 
eine  wirkliche  Landlegion  sein  mit  allen  ihr  zukommenden  Vorrechten 
und  Privilegien.  Sie  erhielt  die  Numer  I  und  den  Beinamen  Adjutrix, 
weil  sie  den  beiden  anderen  Legionen  zur  Hilfe  und  Unterstützung 
von  der  Flotte  aus  beigegeben  war.  Von  den  griechischen  Schrift- 
stellern wird  Adjutrix  zur  Bezeichnung  desselben  Sinnes  durch  die 
Worte  vj  emxovpuog 3)  und  v?  ßovj.$6s*)  oder  v  ßorJSov<;<x5')  —  die 
Helfende  —  übersetzt. 

Somit  hatte  die  legio  I  Adjutrix  nicht  Nero  in  Rom ,  sondern 
Galba  in  Spanien,  und  zwar  aus  misenischen  Flottensoldaten  und 
Ruderknechten  gebildet,  welche  sichere  historische  Thatsache  man  in 
neuester  Zeit  hat  bestreiten  wollen  6).   Hätten  wir  noch  den  Schluss 


*)  Sueton.  Galb.  c.  10.  Tstcit.  Hist.  1,  16  in  der  Rede  des  Galba  :  Nero,  quem  non  ego 
cum  una  legione,  sed  sua  immanitas,  sua  luxuria  cervicibus  publicis  depulere ;  und 
IV,  16  :  (Cerialis)  proprios  inde  stimulos  legionibus  admovebat:  —  principem  Galbam 
sextae  legionis  auctoritate  factum. 

2)  Sueton.  Galba  c.  10.  (Galba)  e  plebe  provinciae  (Hisp.  Tarrag.)  legiones  et  auxilia 
conscripsit  super  exercitum  veterem  legionis  unius  duarumque  alarum  et  cohortium 
trium.  Der  Passus  „e  plebe  provinciae  legiones  conscripsit"  ist  nicht  genau:  er  geht 
nur  auf  die  leg.  VII  Galbiana,  nicht  auch  auf  die  leg.  1  Adjutrix,  die  aus  Misenischen 
classicis  gebildet  war. 

3)  Dio  Cass.  LV,  24. 

4)  Plutarch.  Galb.  c.  12.    Ptolem.  Geogr.  II,  c.  14  [15J. 

5)  Jo.  Laurent.  Lyd.  de  magistrat.  III,  3.    tö  itp<I>xov  zif^a.  t4  ßorjöoüv. 

6)  Gegen  Gr  o  tef  eu  d,  der  den  Galba  für  den  Errichter  der  I.  Adjutrix  hält,  erklärt 
sich  Fr.  Ritter  in  den  Jahrb.  des  Vereins  f.  Alterthumsfr.  im  Rheinl.  XV,  113  ff. 
Seine  Gründe,  die  er  für  seine  Ansicht,  dass  Nero  der  wahre  Schöpfer  unserer  Legion 
sei,  vorbringt,  lassen  sich  wohl  widerlegen.  Grotefend  hat  über  diesen  Punct 
besonders  in  der  Schrift:  Gruss  an  H.  L.  Ahrens.  Hannov.  1849  und  in  den  Jahrb. 
d.  Ver.  f.  Alt.  im  Rheinl.  XVII,  p.  209  ff.  gehandelt.  Wenn  wir  ihm  auch  in  dem 
streitigen  Hauptpuncte  beistimmen ,  so  treten  wir  doch  nicht  in  allen  Stücken  seinen 
Behauptungen  bei. 


Die  römischen  Legionen  prima  und  seeunda  Adjutrix.  OUO 

des  16.  Buches  der  Taciteischen  Annalen,  so  würden  wir  über  die- 
sen Punct  ausführliche  Kunde  haben.  Aber  selbst  bei  diesem  Verluste 
fehlt  es  uns  nicht  an  anderen  Nachrichten,  woraus  sich  beweisen  lässt, 
dass  Galba  der  Errichter  der  Legion  war.  Denn  erstlich  sagt  es  Dio 
Cassiusauf  alte  Nachrichten  gestützt,  ausdrücklich1),  dann  aber  erfah- 
ren wir  bei  Tacitus  aus  einer  Stelle  in  den  Historiis ,  wo  er  von  dem 
Marsche  Galbas  aus  Spanien  nach  Italien  spricht,  dass  ein  Theil  seiner 
Truppen  früher  gewöhnt  gewesen  auf  den  Flotten  Campanien  und  Grie- 
chenland zu  besuchen 3).  Dass  aber  nicht  etwa  von  Nero  schon  förmlich 
die  legio  classica  errichtet  worden  und  sie  als  I  Adjutrix  zu  Galba 
übergetreten  sei ,  dieser  Ansicht  widerspricht  die  ausdrückliche  An- 
gabe Sueton's,  dass  Galba  in  Spanien  neue  Legionen  errichtet 
habe  3).  Sprechen  wir  ihm  aber  die  Errichtung  der  legio  I  Adjutrix 
ab,  so  kann  nur  von  einer  neuen  Legion,  der  VIIGalbiana,  die  Rede 
sein.  Nicht  zu  übersehen  ist  auch  der  Umstand,  dass  der  Führer  der 
Misenischen  Flotten-Abtheilung,  der  die  milites  classici  nach  Spanien 
übersetzte,  nämlich  Annius  Rubrius  Gallus,  bald  als  Legat  der  I  Ad- 
jutrix erscheint  und  wir  somit  einen  weiteren  Fingerzeig  auf  den 
engen  Zusammenhang  jener  Classici  mit  unserer  Legion  erhal- 
ten*). Nähere  Aufklärung  gibt  dann  auch  das  erste  Auftreten  Galba's 
in  Rom. 

In  Folge  der  Aufforderung  des  Senats  eilte  er  über  die  Pyrenäen 
durch  Gallien  nach  Italien.  In  Spanien  hatte  er  die  legio  VI  Victrix 
mit  ihren  wenigen  Auxiliartruppen  zurückgelassen.  Er  führte  nur  die 
beiden  neugebildeten  Legionen  I  Adjutrix  und  VII  Galbiana  mit  zahl- 
reichen Auxiliartruppen  nach  Italien.  Als  er  daselbst  angekommen 
war  (im  Herbste  68) ,  fand  er  schon  Alles  zu  seinem  günstigen  Em- 
pfang vorbereitet.  Auch  die  Prätorianer  hatten  sich  für  ihn  erklärt; 
ein   eigentlicher  Kampf  um  den   Kaiserthron  war  in  Italien  nicht  zu 


*)   Dio  Cass.  LV,  24.     '0  TaXßa?  xi-:t  irpioTov  to  'Etuxouoixov   auv^xai-s. 

2)  Tacit.  Hist.  I,  23.  Labores  itinerum,  inopia  commeatuum  ,  duritia  imperii  atrocius 
aecipiebantur,  cum  Campaniae  lacus  et  Achaiae  urbes  classibus  adire  soliti,  Pyrenaeum 
et  Alpes  et  immensa  viarum  spatia  aegre  sub  armis  eniterentur.  Wie  beiden  Le- 
gionen, so  fand  auch  bei  den  beiden  prätorisehen  Flotten  ein  häufiger  Wechsel  in 
Betreff  der  Stationen  der  Mannschaften  Statt,  so  dass  eine  Versetzung  von  der 
Ravennatischen  Flotte  zur  Misenischen  ganz  gewöhnlich  war.  Die  Schiffsmann- 
schaften lernten  dadurch  alle  Gewässer  des  Mittelmeeres  kennen. 

3)  Sueton.  Galb.  c.   10. 

4)  Tacit.  Hist.  1,  87,  11,  51  und  vorzüglich  11,  11  u.  23. 


306  A  seh  b  ac  h. 

führen.  Galba  sandte  daher  die  VII  Galbiana  unter  ihrem  Legaten 
Antonius  Primus  nach  Dalmatien,  um  diese  von  Truppen  enthlösste 
Provinz  zu  sichern;  er  wollte  sie  nicht  in  ein  entfernteres  Stand- 
lager schicken,  um  auf  alle  Fälle  gerüstet  zu  sein  und  eine  ganz 
ergebene  Streitmacht  in  der  Nähe  zu  haben.  Dagegen  die  I  Adju- 
trix  behielt  er  in  seiner  Umgebung  und  an  ihrer  Spitze  und 
mit  zahlreichen  spanischen  und  lusitanischen  Hilfsvölkern  näherte 
er  sich  Rom.  Ein  Widerstand  bei  seinem  Einzüge  in  die  Haupt- 
stadt war  kaum  zu  befürchten;  dennoch  bezeichnete  der  neue 
Kaiser  seine  Ankunft  daselbst  mit  einem  grossen  Blutbad.  Die  durch 
Nero's  letzte  Anordnungen  nach  Rom  gebrachte  Menge  von  milites 
classici  und  Ruderknechten,  die  nicht  mehr  wie  der  Tyrann  ihnen  ver- 
sprochen, in  eine  förmliche  Legion  hatten  eingereiht  werden  können, 
zog  meist  waffenlos  zu  vielen  Tausenden  dem  Kaiser  bis  an  die  Mil- 
vische  Brücke  entgegen.  Sie  trugen  ihm  ihre  Bitte  vor,  er  möge  sie 
in  gleicher  Weise,  wie  er  ihre  Kameraden  von  der  misenischen  Flotte 
in  eine  Land-Legion  der  I  Adjutrix  eingereiht  habe,  zu  Legionären 
aufnehmen,  sie  demnach  zu  einer  besonderen  Legion  mit  Numer, 
Adler *) ,  Feldzeichen  und  Standlager  einrichten.  Galba  aber  sah 
keinen  Grund,  diese  Schiffsmannschaften,  die  Nero  noch  zuletzt  als 
Werkzeuge  seiner  Grausamkeit  hatte  verwenden  wollen,  zu  belohnen. 
Auch  schien  es  ihm  ein  Zeichen  von  Schwäche  ablegen,  wenn  er 
dem  unbegründeten  Begehren  Folge  gebe.  Nach  seiner  Entscheidung 
sollten  sie  wieder  zu  ihren  Schüfen  zurückkehren  und  so  schlug  er  in 
bestimmter  Weise  ihr  Ansuchen  ab.  Als  aber  die  Bitten  mit  tumultua- 
rischem  Geschrei  und  drohenden  Geberden  wiederholt  wurden ,  gab 
der  Kaiser  seiner  mitgebrachten  zahlreichen  spanischen  Reiterei 
Befehl  die  Lärmenden  und  Drohenden,  die  den  Weg  versperrten, 
auseinander  zu  jagen  und  niederzumachen.  So  kamen  an  7000  Clas- 
sici um,   und   selbst  von    denen,    welche   dem    Gemetzel  entgangen 


x)  Plin.  hist.  nat.  X,  S.  Veget.  de  re  mil.  II,  6.  Aquila  praeeipuum  Signum  in  Romano 
est  semper  exercitu  et  totius  legionis  insigne.  So  lange  eine  römische  Heeresabtheilung 
nicht  den  Adler  hatte,  konnte  sie  noch  nicht  als  eigentliche  Legion  gelten  ,  auch 
selbst,  wenn  sie  schon  vorläufig  den  Namen  Legion  führte.  Unter  dem  Legionsadler 
verstand  man  ein  kleines  Tempelchen  mit  einem  goldenen  Adler  auf  einer  langen 
Stange,  die  in  einem  spitzigen  Schaft  auslief,  so  dass  sie  in  den  Boden  gesteckt  wer- 
den konnte;  nur  wenn  die  ganze  Legion  ausrückte,  wurde  auch  der  Adler  mit- 
genommen.  Cf.  Dio  Cass.  XL,  c.  18. 


Die  römischen  Legionen  prima  und  seeunda  Adjutrix.  oU7 

waren,  wurde  ein  Theil  hingerichtet,  der  Rest  von  einigen  Tausenden 
aber  unter  strenge  Bewachung  gestellt *). 

Allerdings  hatte  Galba  durch  dieses  erste  entschiedene  Auftre- 
ten sich  überaus  gefürchtet  gemacht;  jedoch  war  das  über  die  Massen 
blutige  Verfahren  gegen  grösstentheils  Waffenlose  nicht  geeignet  ihm 
die  Anhänglichkeit  der  Römer  zu  gewinnen.  Sie  sahen  bald  ihre 
Stadt  mit  zahlreichen  Truppen  angefüllt;  es  waren  daselbst  nicht  nur 
die  von  Nero  noch  zurückgerufenen  Abtheilungen  verschiedener 
Legionen,  die  nach  Asien  hatten  überschifft  werden  sollen,  eingetrof- 
fen (sie  zögerten  nicht,  Galba  als  ihren  Kaiser  anzunehmen)  —  son- 
dern auch  viele  andere  Truppen,  die  Galba  aus  Spanien  und  Gallien  mit- 
gebracht hatte,  waren  den  Römern  ein  ungewohnter  Anblick.  Vorzüglich 
zahlreich  aber  waren  die  Scharen  der  früheren  Schiffsmannschaften, 
welche  die  Stadt  anfüllten;  denn  nicht  nur  befand  sich  dabei  die 
legio  I  Adjutrix,  die  wegen  ihrer  Entstehung  von  Classicis  der  mise- 
nischen  Flotte,  auch  legio  Classica  genannt  ward,  sondern  auch  die 
Trümmer  der  sogenannten  Nero'schen  legio  Classica,  die  mehr  als 
decimirt  war.  Zur  Unterscheidung  von  der  letztern  wird  die  erstere 
von  Tacitus  mit  dem  Beinamen  Hispana  genannt,  weil  sie  Galba  aus 
Spanien   mitgebracht  hatte2).     Ihre   Soldaten   waren   aber  keines- 


*)  Sueton.  Galb.  c.  12.  Nam  cum  classiarios,  quos  Neros  ex  remigibus  justos  milites 
fecerat,  redire  ad  pristinum  statum  cogeret,  recusantes  atque  insuper  aquilam  et 
signa  pertinacius  flagitantes,  non  modo  immisso  equite  disjecit,  sed  decimavit 
etiam.     Ausführlicher    noch    erzählt    Plutarch.    Galb.  c.  15.      Ou-zoi  (ol  ips-at), 

oO;   eis    '£•>  zii^a    6  Nepiüv    a'jXXoyiaas    dmeepißve    oTpattiÖTas e&opüßouv  ßorj  inr)U.eta 

t<J>  TaYlAaTi  xai  ycupav  al-oüv-e?.  'Eviwv  6e  xai  xäi  jxayaipas  J7taaau.syu>v,  exeXeoss  to'Js 
Imteis  ep-ßaXeiv  aöxois  6  TaXßa;.  Tacit.  Histor.  an  verschiedenen  Stellen  I,  31,  1,  6. 
(Introitus  [Galbae]  in  urbem ,  trucidatis  tot  millibus  inermium  militura)  ,  1,  37  in 
der  Rede  Otho's  an  die  Truppen :  Horror  animum  subit,  quotiens  recordor  feralem 
introitum  —  cum  in  oculis  urbis  decumari  deditos  juberet,  quos  deprecantes  in 
fidem  acceperat.  Dio  Cass.  LXIV.  c.  3  nennt  anstatt  der  Classici  unrichtig  Bopuipopot 
(Leibtrabanten  des  Nero).  '£>s  5'oiix  eTiei&cmo ,  dXX'e&op'ißouv,  icp-rjxe  atpiai  to  iTpaTsyp.« 
xai  ol  |xsv  Ttotpay_pf(|J.a  es  eiitaxtx/iXio'js  d-efravov,  ot  Ss  xai  iastoc  toüto  oexaTSU&s'y'es. 

2)  Tacit.  Hist.  I,  6.  Inducta  legione  Hispana,  remanente  ea ,  quam  Nero  e  classe  con- 
scripserat,  plena  urbs  exercitu  insolito :  multi  ad  h'oc  numeri  e  Germania  ac  Britannia 
et  Illyrieo.  Man  streitet  darüber,  was  für  eine  Legion  in  vorstehender  Stelle  unter 
legione  Hispana  zu  verstehen  sei.  Natürlich  kann  hier  nicht  die  Rede  von  der 
IX  Hispana  sein,  die  damals  in  Britannien  lag.  ßorghesi  meint,  Tacitus  bezeichne 
damit  die  spanische  Legion  VI  Victiix,  die  den  Galba  zuerst  zum  Kaiser  ausgerufen 
hatte  und  unter  remanente  ea  (legione)  wäre  die  Leg.  I  Adjutrix  zu  suchen.  Diese 
Auffassung  ist  sicher  ganz  unrichtig.  Denn  die  VI  Victrix  war  in  Spanien  in  ihrem 
Standlager   zurückgeblieben   und  die  I  Adjutrix  war  nicht  die  von  Nero  conscribirte 


30ö  Aschbach. 

wegs  Spanier,  sondern  meist  aus  den  östlichen  Küstenländern  des 
Mittelmeeres. 

Über  diesen  Punct  erhalten  wir  sichere  Andeutungen  durch  die 
beiden  Militär-Diplome,  worin  Kaiser  Galba  Veteranen  der  legio  I 
Adjutrix  die  honesta  missio  mit  dem  römischen  Bürgerrechte  und  dem 
Connubium  ertheilt.  Beide  Diplome  sind  von  demselben  Tage,  dem 
22.  December,  im  ersten  Regierungsjahre  Galba's  erlassen,  als 
C.  Bellicus  Natalis  und  P.  Cornelius  Scipio  Asiaticus  Consuln 
waren.  Es  war  dieses  im  J.  68  unserer  Zeitrechnung.  Es  scheint, 
dass  eine  grosse  Anzahl  solcher  Diplome  an  Veteranen  der  genannten 
Legion  damals  gegeben  worden,  wodurch  Galba  das  den  neuen 
Legionären  ertheilte  Versprechen  alsbald  erfüllte.  Aus  den  Namen 
und  dem  Vaterlande  der  angegebenen  Soldaten  und  der  unterschrie- 
benen Zeugen,  welche  letztere  ohne  Zweifel  der  Legion  ange- 
hörten oder  doch  angehört  hatten,  ersehen  wir,  dass  sie  Klein- 
asiaten (Phrygier,  Lydier,  Maeonier,  Ephesier)  oder  Syrier  (beson- 
ders Antiochener)  waren. 

Diese  Militär-Diplome  sind  aber  in  mehrfacher  Hinsicht  höchst 
merkwürdig;  sie  sind  unter  den  fünfzig  Militär-Diplomen,  welche 
uns  bekannt  geworden,  mit  Ausnahme  eines  ähnlichen  von  Vespa- 
sian,  die  einzigen  ihrer  Art.  Bei  der  honesta  missio  für  die  Legions- 
Soldaten  wurde  sonst  nicht  das  römische  Bürgerrecht  mit  dem  Connu- 
bium ertheilt ,  weil  ein  Legionär  schon  römischer  Bürger  war. 
Nur  für  die  in  den  Auxiliar-Cohorten  und  Alen  dienenden  Nicht- 
bürger  hatte  eine  Bürgerrechtsertheilung  Sinn.  Bei  den  Soldaten  der 
Legio  I  Adjutrix  aber  musste  eine  Ausnahme  stattfinden ,  weil 
sie  vorher  auf  der  Flotte  gedient  hatten ,  zu  welchem  Dienste 
Nichtbürger  genommen  wurden.  Da  aber  die  römische  Civität  nicht, 
wie  sonst  bei  den  Auxiliartruppen  der  Fall  war,  auf  Grund  fünf 
und  zwanzigjähriger  Dienstzeit  ertheilt  und  dieses  auch  ausdrück- 
lich in  dem  kaiserlichen  Diplom  der  honesta  missio  erwähnt  ward, 
so  konnte  diese  Form  bei  den  eigentümlichen  Verhältnissen  der 
Legionäre  der  I  Adjutrix  nicht  beobachtet  werden.    Wir  finden  daher 


legio  classica,  die  sich  bei  Galba's  Einzug1  zu  Rom  befand.  In  fast  gleicher  Weise 
wie  Borghesi  fasst  auch  Ritter  a.  a.  O.  die  Sache  auf.  Statt  Hispana  liest  er 
Hispanica.  Gegen  Ri  tter's  Ansicht  ist  Grotefend,  der  ganz  richtig  unter  der  Legio 
Hispana  die  legio  I  Adjutrix  versteht,  in  den  Jahrb.  des  Ver.  der  Alterthumsfr.  im 
Rheinl.  XVII.  209  ff.  aufgetreten. 


Die  römischen  Legionen  prima  und  secunda  Adjutrix.  öUtl 

auch  eine  andere  ganz  besondere  Fassung  gewählt ,  nämlich  ohne 
Erwähnung  der  Dienstzeit *)• 


l)  Die  beiden  Militär-Diplome  des  Kaisers  Galba  für  Veteranen  der  leg.  I  Adjutrix  wur- 
den zu  Castello  a  mare  gefunden:  das  eine  im  J.  1688,  das  andere  im  J.  1728;  jenes 
wird  gegenwärtig  in  Florenz  im  Museum  Mediceum  aufbewahrt;  das  zweite  befindet 
sich  jetzt  zu  Verona  Im  Museum  de'  Marchesi  Dionigi.  Beide  Diplome  haben  durch 
den  Druck  veröffentlicht  Maffei  im  Mus.  Veron.  p.  98  und  p.  485;  Muratori, 
p.CCCVI,  3.  und  CCC,  4;  Gori  J.  Etr.  Vol.  I,  257.  III,  144;  M  a  rini  frat.  Arval.  449 
u.  450;  Vemazza,  dipl.  di  Adrian,  p.  51  sqq. ;  Cardinali  dipl.miIit.Tav.il. 
p.  XVI,  Tav.  III.  p.  XVIII;  Spangenberg,  Tab.  jur.  Rom.  T.  II  ■.  III.  —  Auch  bei 
Orelli  Nr.  737  ist  das  erste  Diplom  gedruckt.  Den  ausführlichsten  Coramentar 
über  beide  Diplome  hat  C  a  r  d  i  n  a  1  i  in  dem  angeführten  Werke  geliefert  p.  38  u.  49  ff. 
Das  im  Jahre  1688  aufgefundene  Diplom  lautet: 

(Ganze  innere  Seite.) 
SER  GALBA  IMPERATOR  CAESAR  AVGVST 
PONTIF   MAX    TRIB   POT  COS  DES  IT 
VETERANIS  QVIMILITAVERVNTIN  LEGIONE 
T  ADIVTRICE  HONESTAM  MISSIONEM  ET 
CIVITATEM  DEDIT  QVORVM  NOMINA  SVB 
SCRIPTA  SVNT  1PS1S  LIBERIS  POSTERISQVE 
EORVM    ET    CONVB1VM    CVM    VXORIBVS 
QVAS  TVNC  HABVISSENT  CVM  EST  CIVITAS 
IIS  DATA  AVT  SIQVI  CAELIBES  ESSENT  CVM 
IIS  QVAS  POSTEA  DVXISSENT  DVM  TAXAT 
SINGVLI  SINGVLAS  A  D 

XI  KAL  1AN 

C  BELLICO  NATALE 

PCORNELIO  SCIPIONE 
D10MEDI  ARTEMONIS  F 

PHRYGIO 
DESCRIPTVM  ETRECOGNITVM  EXTABVLA  AE 
NEA  QVAE  FIXA  EST  ROMAE  IN  CAPITOLIO 
IN  ÄRA  GENTIS  IVLIAE 

Die  vordere  äussere  Seite  wiederholt  wörtlich  den  Inhalt  der  ganzen  inneren  Seite 
mit  Ausnahme  des  Wortes  PHRYGIO;  wofür  sich  findet  PHRYGLAVDIC. 
Die  andere  äussere  Seite  enthält  die  7  Zeugen : 

TI    IVLIVS         PARDALA  SARD 
CIVLI    CHAR     MI  SARDIAN 
TI     CLAVDI       QV1FID1NI  MAO 

NIAN 
C  IVL  CF  COL  LIBON  SARD 
TI  FONTEIVS  CERIALIS  SARD 
P  GRALTI  PF  AEM  PROVIN 

CIAE 

IPESIVS 
M  ARRI  RVFI  SARD 


310  Asch  1)  ach. 

Ein  zweiter  Umstand,  der  nicht  weniger  der  I  Adjutrix  eine 
eigentümliche  Stellung  unter  den  Legionen  anwies,  war  der,  dass 
sie  anfänglich  kein  bestimmtes  Standlager  in  einer  römischen  Grenz- 
provinz hatte.  Galba  mag  ihr  versprochen  haben ,  dass  sie  nach 
Beendigung  des  Bürgerkrieges  eines  von  den  beiden  damals  freien 
Standlagern  in  Spanien  erhalten  sollte.  Dass  dieser  Kaiser  aber 
sogleich  nach  seiner  Ankunft  in  Italien  der  Leg.  I  Adjutrix  ihr  Stand- 
quartier in  Pannonien  angewiesen  habe,  wie  neuere  Schriftsteller 
behaupten  i),  ist  unrichtig;  sie  haben  die  Worte  des  Dio  Cassius,  der 
von  seiner  Zeit  (um  200  nach  Chr.)  spricht3),  falsch  verstanden. 

Wir  haben  auch  noch  eine  Kupfermünze  vom  Kaiser  Galba, 
die  ohne  Zweifel  auf  unsere  I  Adjutrix  zu  beziehen  ist.    Der  Avers 


Das  im  Jahre  1728  aufgefundene  Diplom  gibt  in  der  ganzen  innern  Seite  denselben 
Wortlaut  wie  das  andere  Diplom :  nur  kommt  natürlich  ein  anderer  Soldaten- Name 
vor,  nämlich:  MATHAIO  POLAI  F  SVROS  (es  ist  zu  lesen  SYRO)  und  der  Schluss 
lautet  auf  der  ersten  Seite:  EX  TABVLA  QVAE  FIXA  EST  ROiMAE  IN  CAPITOLIO 
AD  ARAM. 

Auf  der  zweiten  äussern  Seite  finden  sich  die  Namen  der  sieben  Zeugen : 

C.  IVLIVS  AG  RIPPA  APAMM 

C  NILVS  IACE  OS  ANTIO 

L  VEL1NA  NAVTA  ANTIOC 

Tl  CLAVDIVS  CHAEREA  ANTIO 

L  CORNELIVS  OPTATVS  ANTIOC 

L  SECVRA  ALEXANDRVS  VET 

ERANVS 
M  VALERIV  S  DI0D0RVS 

VETERANVS 

Was  in  beiden  Diplomen  besondere  Beachtung  verdient,  sind  die  Namen  und  das 
Vaterland  der  verabschiedeten  Soldaten  und  der  Zeugen,  welche  letztere  sicher  früher 
verabschiedete  Veteranen  der  leg.  I.  Adjutrix  waren.  In  dem  ersten  Diplom  haben  wir 
den  verabschiedeten  Soldaten  Diomedes,  Sohn  des  Artemon ,  aus  dem  phrygischen 
Laodicea  oder  Laudicia  gebürtig.  Unter  den  Zeugen  finden  sich  vier  Sardiani,  worunter 
nicht  Sardinier,  die  im  Lateinischen  gewöhnlich  Sardi,  Sardonii  und  Sardinenses 
genannt  werden,  sondern  vielleicht  die  Sardiaei  oder  Sardiotae,  eine  dalmatische 
Völkerschaft,  verstanden  werden  könnten.  Cf.  Plin.  III,  22;  Strabo  VII;  Ptol. 
Geog.  II,  16,  8.  Richtiger  aber  dürfte  es  sein,  unter  Sardiani  Einwohner  der  lydischen 
Stadt  Sardes  zu  verstehen  :  nicht  nur  passt  die  Form  Sardianus,  die  sonst  nicht  für 
Sardiaeus  oder  Sardiota  vorkommt,  für  Sardes  ,  sondern  es  stimmt  auch  mit  den 
übrigen  Zeugen,  die  sämmtlich  Kleinasiaten  sind:  denn  der  Ti.  Claudius,  Quinti 
filius ,  Idinus  ist  ein  Maeonier  aus  Maeonia  in  der  Nähe  von  Sardes ,  und  der 
P.  Graltius,  Publii  filius  von  der  tribus  Aemilia  ,  ist  ein  Provinziale  aus  Ephesus, 
denn  statt  IPESIVS  ist  zu  lesen  EPESIVS  oder  EPHESIVS.  Dagegen  in  dem  2.  Diplom 
ist  sowohl  der  verabschiedete  Soldat  Mathäus ,  Sohn  des  Poläus,  ein  Syrier,  wie 
auch  fünf  Zeugen,  wovon  einer  aus  Apamea  und  vier  aus  Antiochia. 

*)  Cardinali  (p.  39)  u.  A. 

2)  Dio  Cass.  LV,  24. 


Die  römischen  Legionen  prima  und  seeunda  Adjutrix.  ö  1  1 

der  Legionsmünze  zeigt  das  rechtsgekehrte  belorherte  Haupt  Galba's 
mit  der  Legende: 

SER.  GALBA  IMP.  CAES.  AVG.  TR.  P. 
(d.  i.  Servius  Galba  Imperator  Caesar  Augustus  tribunicia  potestate). 
Die  Kehrseite  gibt  einen  Legions-Adler  zwischen  zwei  Legionszeichen; 
am  Rande  links  den  Buchstaben  S,  rechts  den  Buchstaben  C  (d.  i. 
SenatusConsulto);  die  mit  Halsketten,  Kronen  und  anderen  Decoratio- 
nen der  militärischen  Tapferkeit  behangenen  Stäbe  der  drei  Signa 
stehen  auf  Schiffsschnäbeln,  die  beiden  Legionszeichen  haben  auf 
ihrer  Spitze  eine  Hand  —  es  finden  sich  hier  die  Symbole  oder 
Embleme  der  ursprünglich  aus  Classicis  gebildeten,  dem  Landheere 
zur  Hilfe  und  Unterstützung  beigegebenen  Leg.  I  Adjutrix  *). 

Die  Regierung  Galba's  war  nur  von  sehr  kurzer  Dauer.  Schon 
nach  wenigen  Monaten  erfolgte  sein  Sturz  durch  die  Umtriebe  Otho's, 
der  die  Missgriffe  Galba's  benützte,  mit  Hilfe  der  von  ihm  gewonne- 
nen Truppen  den  Kaiserthron  (15.  Jan.  69  n.  Chr.)  zu  besteigen. 
Nicht  allein  die  Prätorianer  waren  von  Galba  abgefallen,  auch  die 
Leg.  I  Adjutrix  folgte  dem  treulosen  Beispiele  der  Kaisergarde.  Seit- 
dem Galba  bei  seinem  Einzüge  in  Rom  ein  so  grosses  Blutbad  unter 
ihren  früheren  Flotten-Cameraden  hatte  anrichten  lassen  ,  war  sie 
gegen  ihn  mit  Unwillen  erfüllt;  sie  zögerte  daher  auch  nicht  den 
meuterischen  Prätorianern  beizutreten  und  nach  der  Ermordung 
Galba's  dem  neuen  Kaiser  sogleich  den  Eid  der  Treue  zu  schwören2). 
Die  bis  zu  dieser  Zeit  in  Gefangenschaft  gehaltenen  Überreste  der 
neronianischen  legio  Classica  wurden  nunmehr  in  Freiheit  gesetzt  und 
nicht  auf  die  Flotte  zurückgeschickt,  sondern  wie  Landtruppen  inLe- 
gions-Cohorten  eingereiht  und  auch  den  anderen  in  Born  befindlichen 
Classicis  (ausNero's  Zeit)  in  Aussicht  gestellt,  in  jene  aufgenommen 
zu  werden  3). 


*■)  Die  Münze  ist  beschrieben  und  abgebildet  bei  Grotefend  Gruss  an  H.  L.  Ahrens. 
Hannov.  1849,  S.  8  ff.  Über  die  Signa  militaria  spricht  Plin.  hist  nat.X.  c.S.  Cf.  Ez. 
Spanheim  de  praestant  et  usu  numismat.  p.  558  ed.  Amst.  1671  und  Stewech.  ad 
Veget.  de  re  milit.  p.  56. 

2)  Tacit.  Hist.  I,  31.  (Galba)  legioni  classicae  diffidebatur,  infestae  ob  caedem  com- 
militonum  ,  quos  priino  statim  introitu  trucidaverat  Galba. —  Legio  classica  nihil 
cunctata  Praetorianis  adjimgitur.  c.  36.  Postquam  (Otho)  universa  classicorum  legio 
saeramentum  ejus  accepit. 

3)  Tacit.  Hist.  I,  87.  (Otho)  reliquos  caesorum  ad  pontem  Milvium  et  saevitia  Galbae  in 
custodiam  habitos ,  in  numeros  (i.  e.  cohortes)  Iegionis  composuerat,  facta  et  ceteris 


312  Asch  b  ach. 

Da  Otho  somit  die  neronianische  legio  Classica  wiederherstellte 
als  besonderes  Land-Corps  und  die  Leg.  I  Adjutrix  wegen  ihrer  Ent- 
stehung aus  Classicis  nicht  selten  auch  legio  Classica  genannt  wurde, 
so  gab  man,  um  Verwechselungen  zu  verhüten ,  der  Legio  I  Adjutrix 
die  Bezeichnung  Legio  I  Classica  oder  Classicorum,  oder  überhaupt 
legio  Prima1),  der  andern  die  Benennung  legio  Classica  oder  legio 
e  classicis,  ohne  weiteren  Beisatz. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  durch  neue  Truppenaushebungen 
die  Lücken  in  der  Bemannung  der  beiden  prätorischen  Flotten,  die 
durch  die  Entfernung  so  vieler  Tausende  von  classici  entstanden 
waren,  wieder  ausgefüllt  wurden. 

Dem  Kaiser  Otho  war  nicht  beschieden  lange  in  Buhe  der  Herr- 
schaft sich  zu  erfreuen.   Kaum  hatte  er  den  Thron  bestiegen,  so  kam 
ihm  schon  die  Nachricht  zu,   dass  die  Legionen  am  Bhein  den  Vitel- 
lius  zum  Kaiser  ausgerufen  hätten  (am  1.  Jan.  69)  und  sie  in  grosser 
Heeresmacht  nach  Italien  zögen,  um  mit  gewaflheter  Hand  ihn  in  die 
Herrschaft  einzusetzen.  Unter  den  Truppen,  welche  Otho  den  über 
die  Alpen  ziehenden  vitellianischen  Legionen  entgegensandte,  befand 
sich  auch  unsere  Leg.  I  Adjutrix.    Ibrem  früheren  Legaten  Annius 
Bubrius  Gallus  war  damals  im  Commando  Orphidus  Benignus  gefolgt. 
In  der  Nähe  von  Cremona  bei  Bedriacum  kam  es  zwischen  den  vitel- 
lianischen und  othonianischen   Streitkräften  zur  blutigen  Schlacht. 
Es  war  hier  das  erste  Mal,  dass  die  Legio  I  Adjutrix  ins  Treffen  geführt 
wurde.     Sie  brannte  vor  Kampfbegier  und  konnte  kaum  den  Moment 
erwarten,  wo  sie  sich  auf  den  Feind  stürzte.    Ihr  gebührte  auch  der 
Preis  der  Tapferkeit   und    der    unerschrockensten    Ausdauer.     Sie 
durchbrach  mit  unwiderstehlichem   Ungestüm  die  Beihen   der  Legio 
XXI  Bapax  und  erbeutete  im  blutigsten  Kampfe  deren  Adler.    Dieser 
schimpfliche  Verlust  spornte  die  Vitellianer  zu  den  ausserordentlich- 
sten  Anstrengungen  an;  sie  erneuerten  den  Angriff  auf  die  I  Adjutrix, 
tödteten  deren  Legaten  Orphidius  Benignus  uud  erbeuteten  mehrere 


spe  honoratioris  in  posterum  militiae.  Von  diesen  Classicis  ist  die  Rede  auch  hei 
Tacit.  Hist.  II.  11.  Classicorum  numerus  ingens,  und  III,  55.  Secuta  est  e  classicis 
legio. 
*)  Tacit.  Hist.  II,  1.  Ex  ipsa  urhe  —  equitum  vexilla  cum  legione  prima.  II,  23.  Gallus 
legionem  primam  in  auxilium  Placentiae  ducehat.  cf.  II ,  17.  II,  24.  Dextra  fronte 
prima  legio  incessit.  II,  67.  Prima  classicorum  legio  in  Hispaniam  missa.  In  allen 
diesen  Stellen  ist  sicher  von  der  leg.  I  Adjutrix  die  Rede. 


Die  römischen  Legionen  prima  und  secunda  Adjulrix.  313 

Fahnen  und  Legionszeichen  ')•  Die  Schlacht  ging  für  Otho  ver- 
loren. Da  er  die  Niederlage  nicht  überleben  wollte,  so  stürzte 
er  sich  in  sein  eigenes  Schwert  und  endete  durch  Selbstmord 
(16.  April  69),  nachdem  er  nur  drei  Monate  die  Herrschaft  geführt 
hatte. 

Die  othonianischen  Legionen  unterwarfen  sich  dem  Sieger 
Vitellius.  Dieser  traute  der  I  Adjutrix  nicht  ganz;  auch  war  ihm  die 
grosse  Anhänglichkeit  die  sie  überall  für  die  Sache  Otho's  an  den 
Tag  gelegt  hatte,  wohl  bekannt  geworden2).  Er  entfernte  daher  die 
Legion  aus  Italien  nach  Spanien,  wo  er  ihr  das  Standlager  anwies. 
Dort,  meinte  Vitellius,  sollte  sie  im  Friedenslager  allmählich  ihren  wil- 
den Sinn  mildern  und  seiner  Herrschaft  gefügiger  werden  3).  Dage- 
gen die  andere  legio  Classica  die  Otho  errichtet  hatte  ,  behielt  er  in 
Italien  bei  sich;  er  wähnte,  diese  Truppen  würden  ihm  besonders  treu 
und  ergehen  sein.  Wie  sehr  er  sich  in  dieser  Erwartung  täuschte, 
zeigte  sich  bald. 

Die  orientalischen  Legionen  welchen  auch  die  Donau-Legionen 
beitraten,  erkannten  die  Herrschaft  des  Vitellius  nicht  an ,  sie  riefen 
(am  1.  Juli  69)  den  Fiavius  Vespasianus  zum  Kaiser  aus  der,  ehe  er 
aus  dem  Oriente  selbst  in  Italien  eintraf,  dahin  seine  Legaten  mit 
den  Donau-Legionen  vorausgeschickt  hatte ,  zur  Bekriegung  seines 
Rivalen. 


*)  Taeit.  Hist.  II,  23  sagt:  Aegre  coercitam  legionem  (I  Adjutr.)  et  pugnandi  ardore 
usque  ad  seditionem  progressam.  Dass  sie  den  Kern  und  die  Hauptstärke  des  otho- 
nianischen Heeres  gebildet  habe,  wird  Hist.  III,  13  angegeben.  Von  der  Schlacht  bei 
Bedriacum  berichtet  Taeit.  Hist.  II,  43  :  E  parte  Othonis  prima  Adjutrix  non  ante  in 
aciem  deducta,  sed  ferox  et  novi  decoris  avida.  Primani,  stratis  una  et  vicesimanorum 
principiis  aquilam  abstulere.  Quo  dolore  accensa  legio  impulit  rursum  primanos, 
interfecto  Orphidio  ßenigno  legato  et  plurima  signa  vexillaque  ex  hostibus  rapuit. 
Ausführlicher  noch  lautet  die  Erzählung  bei  Plutarch,  Oth.  c.  12.  Mövoct  6:  Süo 
Xeysiovs;  (üut<u  y^P  tö  T<iY|A<xToc  'Piupoüoi  xaXo'Jjiv)  s-ixXrjjiv  yj  piv  O'JiteXXiou  "Apira£, 
■i)  OE  Odtovoc  B'jy;i}o;  —  v6p.tp.6v  Tiva  päyjfjv  a'jpzsaoüja  ^a).\oifirfi'ri ,  k^.i:/yi~'t  iroXuv 
Xpovov.  Oi  psy  oyv  "O&or/os  ävops?  7)3av  süptuiTCii  xai  ÖYceSoi.  ~o).s'po'j  5s  xcu  päyr,;  tots 
npiuTTjV  --\yj.i  X.ap.ß<4vovTEc  Es  wird  dann  erzählt,  wie  sie  die  -popcr/oi  der  leg.  XXI 
Rapax  tödteten  und  deren  Adler  erbeuteten,  aber  diese  Legion  den  Angriff  erneuerte  : 
-'*/  ts  -psjßs'j-Tjv  (Legaten)  toj  T^pa-o?  'Op«pt8iov  sxtsivav  xod  noXXa  -iöv  o^psiuiv 
Tjpitctja;. 

2)  Taeit.  Hist.  IL  86.  Pro  Othone  adversa  Vitellio  fnerat.  III.  13.  A  prima  Adjntrice 
legione,  quae  memoria  Othonis  infensa  Vitellio. 

3)  Taeit.  Hist.  II,  07.  Prima  classicorum  legio  in  llispaniam  missa.  ul  pace  et  QUO 
mitesceret. 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  II.  Hft.  21 


314  A  s  c  h  b  a  c  h. 

Nachdem  die  ravennatische  Flotte  von  Vitellius  abgefallen  war1) 
und  die  illyrischen  Legionen  fürVespasianus  den  Sieg  in  der  Schlacht 
hei  Cremona  erfochten  hatten,  schien  schon  die  Herrschaft  des  Vitel- 
lius erschüttert.  Noch  war  aber  nicht  Alles  verloren,  da  der  grössere 
Theil  der  abendländischen  Provinzen  und  Legionen   auf  seiner  Seite 
stand.    Jedoch  die  schwelgerische  Üppigkeit   und  die  Trägheit  des 
Vitellius  zeigten  vollständig  seine  Unfähigkeit   in    stürmischer   Zeit 
das  Regiment  zu  führen.    Die  Umtriebe  und  Thätigkeit  der  Gegner 
gewannen  täglich  mehr  Boden:  in  Spanien  war  es  nicht  schwer,    die 
Legio  IAdjutrix  die  dem  Vitellius  ohnehin  feindlich  gesinnt  war,  ron  ihm 
abzuziehen;  diesem  Beispiele  des  Abfalles  folgten  sogleich  die  beiden 
anderen  in  Spanien  liegenden  Legionen  VI  Victrix  und  X  Gemina  2), 
bald  auch  die  vier  britannischen  Legionen  II  Augusta,  IX  Hispana,  XIV 
Gemina  und  XX  Valeria  Victrix.  Als  auch  die  misenische  Flotte  für  die 
vespasianische  Partei  sich  erklärt  hatte  3),  war  des  Vitellius  Herr- 
schaft auf  dem  Mittelmeer  vernichtet.    Um  das  weitere  Vordringen 
der  vespasianischen  Legionen  von  Oberitalien  aus  gegen  Rom  zu  ver- 
hindern, hatte  Vitellius  mit  fast  sämmtlichen  prätorianischen  Cohor- 
ten  und  der  ganzen  batavischeu  Reiterei  die  vonOtho  errichtete  legio 
Classica  an  den  Apenninus  gesendet 4).    Sie  sollte  eine  feste  Stellung 
bei  der  Coloniestadt  Narnia  in  Umbrien  nehmen.  Anstatt  dem  Feinde 
gegenüber  die  wichtige  Festung  zu  behaupten,  gingen  die  vitelliani- 
schen  Truppen  treulos  über,    wobei  sich  die  legio  Classica  als  Preis 
ihres  Abfalles  5)   besondere   Rechte  und    Vortheile   von  Vespasianus 
ausbedungen  zu  haben  scheint. 

Wie  Nero  nicht  als  Schöpfer  der  Legio  I  Adjutrix  angesehen 
werden  kann,  obschon  er  die  Classici  von  der  misenischen  Flotte 
zuerst  wie  Legions-Soldaten  verwendete,  so  dürfen  auch  Otho  und 
Vitellius    welche    Classici    von     beiden     prätorischen    Flotten    zur 


ij  Tacit.  Hist.   11,   100.  III,  12. 

2)  Tacit.  Hist.  11,  86.  Scriptae  in  Hispaniam  ad  priraanos  epistolae,  quod  legio —  pro 
Othone  adversa.  III,  13.  Cuncta  ad  victoris  (Vespasiani)  opes  conversa,  initio  per 
Hispaniam  a  prima  Adjutrice  legione  orto,  quae  —  decimam  quoque  ac  sextam  traxit. 

3)  Tacit.  Hist.  111,  57. 

4)  Tacit.  Hist.  Hl ,  55.  Vitellius  —  Julium  Priseuni  et  Alphenum  Varum  cum  XIV 
Praetoriis  cohortibus  et  omnibus  equituni  aus  obsidere  Apeuninum  jubet.  Secuta 
e  classicis  legio. 

5)  Tacit.  Hist.  111,  58,  61,  63  und  besonders  67:  Audita  defectionis  legionis  (classicae) 
cohortiumque  quae  se  Narniae  dederunt. 


Die  römischen   Legionen  prima  und  secunda   Adjutrix  diO 

Vermehrung  ihrer  Streitkräfte  herbeizogen  und  als  eine  legio  Classica 
ihrer  Landmacht  zntheilten,  nicht  als  Errichter  einer  neuen  Legion 
betrachtet  werden.  Denn  diese  zweite  legio  Classica  des  Otho  wie 
des  Vitellius  war  keine  förmliche  stehende  Legion  römischer  Bürger 
mit  einem  bestimmten  Standlager,  sie  war  nur  für  die  Dauer  des 
Krieges  zu  einem  bestimmten  Zwecke  in  der  Form  einer  Legion 
errichtet;  sie  war  in  Cohorten  und  Centurien  abgetheilt  und  hatte 
auch  Führer  wie  die  eigentliche  Legion,  aber  es  fehlten  ihr  dennoch 
die  wesentlichsten  Merkmale  und  Bedingungen  einer  Legion. 

Kaiser  Vespasian  war  es,  der  aus  den  von  Vitellius  abgefallenen 
Classicis  der  ravennatischen  Flotten  welche  nach  dem  Beispiele  der 
von  Galba  zur  legio  I  Adjutrix  erhobenen  misenischen  Classici  den 
günstigeren  Legionsdienst  verlangten  i),  eine  förmliche  Legion  bil- 
dete, zu  deren  Vervollständigung  auch  ein  Theil  der  übergetretenen 
vitellianischen  legio  classica  verwendet  wurde.  Die  Soldaten  der 
neuen  Legion  welche  II  Adjutrix  hiess  mit  den  Beinamen  Pia  Fidelis  2), 
bekamen  somit  sogleich  das  römische  Bürgerrecht;  die  Veteranen 
wurden  mit  allen  Bechten  der  Legionäre  entlassen  und  als  römische 
Bürger  in  bestimmte  Coloniestädte  eingewiesen.  Die  Legion  selbst 
erhielt  den  Adler  und  die  anderen  Feldzeichen  3)  und  es  ward  ihr  ein 
Standlager  mit  dazu  gehörigen  Ländereien  zugetheilt.  Es  scheint, 
dass  ihr  sogleich  nach  ihrer  Errichtung  ein  pannoniscb.es  Standquar- 
tier zugewiesen  wurde.  Ihre  Truppen  waren  meist  aus  Pannoniern  und 
Dalmatiern  zusammengesetzt4),  ihr  Abgang  von  der  Flotte  ward  auch 
zunächst  durch  neuausgehobene  Dalmatier  ersetzt5}.    Wie  sich   aus 


*)  Tacit.  Hist.  III,  50.     Ad    has  copias  e  classicis  Raveimatibus    legionariam  militiarn 

poscentibus  optimus  quisque   adsciti. 
2)  Dio  Cass.  LV.  24.     Oöeanooiavö?   xö   Beörepov   tö  'Emxoiipixöv  to  i-i  Ilavvoviq  rj  xcitu). 

Tacit.  Hist.   IV,  68.    E  recens  conscriptis  seeunda  legio.    Vorzüglich  aber  ist  hier 

Ouelle    das    unten    mitgetheilte  Militardiplom  Vespasian's  für  Soldaten  der   Leg.   II 

Adjutrix  Pia  Fidelis. 
3j  Tacit.   Hist.  V,   16.    Cerialis  in  der  Rede  an  die  Legionen  vor  der  Schlacht  gegen 

die  Bataver:  illa  primum  acie  seeundanos  nova  signa  novamque  aquilam 

dicaturos. 
4j  (Tnter  den  sieben  Zeugen  des  Militärdiploma  von  Vespasian  (s. folg.  S.,  Note  1)  befinden 

sich    fünf  Dalmatier :    drei    von  Salona ,    einer    von    Jadera  (Zara)    und  einer  von 

»dinurn   (.NadinJ,  in  dem  andern  vespasianischen   Militardiplom   fs.  S.  317,  Note  1) 

sind  sämmtliche  sieben  Zeugen  Dalmatier:   drei  aus  Jadera,  zwei  aus  Salona,  zwei 

aus  Epitaurus  und  Risinum  (Ra^usa). 
5J  Tacit.  Hist.   III,  50.  Ciassem  Dalmatae  sopplevere. 

21 


Oib  Aschbacli. 

einem  Militärdiplome  des  Kaisers  Vespasianus  vom  6.  März  d.  J.  70 
unserer  Zeitrechnung  für  Soldaten  der  II  Adjutrix  ersehen  lässt,  wur- 
den die  welche  eine  zwanzigjährige  Dienstzeit  zurückgelegt  hatten, 
als  Veteranen  in  allen  Ehren  entlassen1):  denn  die  Dienstzeit  der  Le- 
gionäre dauerte  blos  20  Jahre,  dagegen  die  der  Seesoldaten  26  Jahre. 
Daher  heisst  es  auch  in  einem  andern  Diplom  des  Kaisers  Vespasian 
vom  5.  April  des  J.  71  für  Veteranen  auf  der  ravennatischen  Flotte, 
die  in  pannonische  Coloniestädte  eingewiesen  wurden ,   dass   sie  das 


J)  Dieses  vespasianische  Militärdiplom ,  welches  zu  Resina  in  Caropanien  im  J.  1746 
gefunden  worden  ist  und  gegenwärtig-  im  Mus.  Hercul.  zu  Neapel  aufbewahrt  wird, 
ist  unter  andern  veröffentlicht  in  den  Bronzi  delle  antiehita  d'Ercolano  T.  I,  p.  XL, 
bei  Marini  frat.  Arv.  p.  452,  und  bei  Cardinali  dipl.  mil.  Tav.  IV,  p.  XIX.  mit 
Commentar  p.  63  sqq.  Es  lautet  die  ganze  innere  Doppelseite,  und  die  zweite 
äussere  Seite,  welche  die  Zeugen,  die  fast  sämmtlich  Dalmatier  sind,  gibt,  wie  folgt : 

IMP    VESPASIANVS  CAESAR  AVG 
TRIBVNIC  POTEST  COS  TT 
VETERANIS  QVI  MILITAVERVNT  IN  LEGIONE 
TT  ADIVTRICE    PIA   FIDELE  QVI   VICENA 
STIPENDIA     AVT      PLVRA    MERVERANT 
ET    SVNT     DIMISSI    HONESA    MISSIONE 
QVORVM  NOMINA  SVBSCRIPTA  SVNT  IP 
SIS   LIBERIS  POSTERISQVE  EORVM    CIVI 
TATEM  DEDIT  ETCONVBIVM  CVM  VXORI 
BVS  QVAS  TVNC  HABV1SSENT  CVM  EST 
CIVITAS  IIS  DATA  AVT  SIQVI  CAELIBES 
ESSENT  CVM  IIS  QVAS  POSTEA  DVXISSENT 
DVMTAXAT  SINGVLI  SINGVLAS 

A  D  NON  MART 

IMP  VESPASIANO  CAESARE  AVG  IT 

CAESARE  AVG  F  VESPASIANO  COS 


T  I  PAG  V  LOC  XXXXVI 
NERVAE  LAIDI  F  DESIDIATI 
DESCRIPTVM  ET  RECOGNITVM  EX  TABVLA 
AENEA  QVAE  FIXA  EST  ROMAE  INCAPI 
TOLIO  IN  PODIO  ARAE  GENTIS  IVLIAE 

C  HELVI  LE  PIDI  SALONI 
TANI 

Q  PETRONI   MVSAEI  IADES 
TIM 

L  VALERI      ACVTI  SALONIT 

M  NASSI        PHOEBI  SALONIT 

L  PVBLICI     GERMVLLI 

Q  PVBLICI     MACEDONIS 
NEDITANI 
Q  PVBLICI     CRESCENTIS 


Die  römischen  Legionen  prima  und  secunda  Adjutrix.  öl/ 

Bürgerrecht  mit  dem  Connubium  nach  zurückgelegter  sechs  und  zwan- 
zigjähriger Dienstzeit  erhielten1).  Übrigens  ersehen  wir  auch  sonst 
aus  Inschriften ,  dass  die  entlassenen  Veteranen  der  II  Adjutrix  in 
pannonische  Coloniestädte  als  römische  Bürger  deducirt,  d.  i.  ein- 
gewiesen wurden  3). 

So  lange  noch  Vespasianus  mit  Vitellius  um  die  Herrschaft  zu 
kämpfen  hatte  —  der  Sturz  des  letzteren  erfolgte  erst  im  December 
des  J.  69  —  und  so  lange  der  gefährliche  batavische  Aufstand  unter 
Civilis  am  Niederrhein  dauerte,  konnte  von  der  legio  II  Adjutrix  das 
ihr  zugewiesene  pannonische  Standlager  nicht  bezogen  werden.  Da 
Vespasian  nach  Befestigung  seiner  Herrschaft  in  Italien  und  in  Bom, 
grössere  Truppenmassen  am  Bhein  zusammendrängte,  so  kamen  dahin 
fast  zu  gleicher  Zeit  auch  die  beiden  Legionen  I  und  n  Adjutrix  3). 


1)  Dieses  zweite  vespasianische  Diplom ,  welches  zu  Salona  gefunden ,  und  lange  in 
Rom  im  Mus.  Barberin.  aufbewahrt  wurde,  ist  jetzt  in  Berlin.  Es  ist  ziemlich  oft 
gedruckt,  nicht  nur  in  den  Sammlungen  der  Militärdiplome,  wie  bei  Cardinali 
Tav.  V,  sondern  auch  bei  Gruter  573,  1 ;  bei  Morcelli  de  stilo  p.  191; 
Vernazza  memorie  della  R.  Acad.  di  Torino  T.  XXIII  u.  A.  Der  Anfang  lautet: 
Irap.  Caesar  Vespasianus  Aug.  Pont.  Max.  Tr.  Pot.  TT.  Imp.  VL  P.  P.  Cos.  TU. 
Desig.  IUI.  Veteranis  qui  militaverunt  in  classe  Ravennate  sub  Sex.  Lucilio  Basso 
qui  sena  et  vicena  stipendia  aut  plura  meruerunt  et  sunt  deducti  in  Pannoniam  etc. 
Non.  April.  Caesare  Aug.  F.  Domitiano  Cn.  Pedio  Casto  Cos.  Piatori  Veneti  F. 
Centurioni  Maezeio  (die  Mazaei  waren  eine  pannonische  Völkerschaft  an  der  Grenze 
von  Dalmatien.    Plin.  VI,  22;  Dio  Cass.  LV,  32). 

2)  Eine  im  Jahre  1843  aufgefundene  Steininschrift,  welche  in  der  Zeitschrift  für 
Geschichte  von  Steiermark  IV,  209  mitgetheilt  ist,  lautet: 

C  •  CORNELIVS  •  C  •  F 
POM  •  DERT  •  VERVS 
VET  •  LEG    TT  •  ADI 

DEDVCT-C  •  V  •  T  •  P     (i.  e.  Colonia  Ulpia  Trajana  Poetoviensis) 
MISSION  •  AGR  •  II 
MILIT  •  B  •  COS 
ANNOR • L  ■  H  -  S • E 
TEST  •  FIER  •  IVS 
HERES 

C  •  BILLIENVS  VITALIS 
FC 

3)  Die  Stelle  in  Tacit.  Hist.  IV,  68  ist  in  Betreff  der  Zahlen  sehr  corrumpirt.  Es 
wird  dort  von  Vespasians  Truppensendung  an  den  Rhein  gesprochen :  Legiones 
viclrices  sexla  (für  VI  ist  zu  lesen  XI)  et  octava  ,  Vitelliauorum  una  et  vicesima, 
e  recens  conscriptis  secunda  (i.  e.  II  Adjutrix),  Penninis  Cottianisque 
Alpibus,  pars  monte  Grajo,  traducuntur  :  XIV  legio  e  Britannia,  sexta  et  decima 
(für  X  ist  1  zu  lesen  i.e.  I  Adjulrix)  ex  Hispania  accitae.  Erst  später  wurde 
die  X  Gemina  aus  Spanien  an  den  Rhein  gesendet.    Tacit.  Hist.  V,   19.    XIV  legio 


318  A  s  c  h  b  a  c  h. 

Die  erstere  verliess  ihr  spanisches  Standlager  J),  um  nie  wieder 
dahin  zurückzukehren,  die  andere  welche  in  der  ersten  Zeit  ihrer 
Errichtung  in  lllyrien  gestanden,  sollte  nur  vorübergehend  die  Lücken 
ausfüllen,  welche  theils  durch  den  Untergang,  theils  durch  die  Auf- 
lösung rheinischer  Legionen  entstanden  waren. 

Vespasian  setzte  die  Zahl  der  Legionen  auf  dreissig  fest.  Er 
ordnete  von  Neuem  das  römische  Kriegswesen,  steuerte  der  Zügel- 
losigkeit  der  Soldaten,  organisirte  mehrere  Legionen  ganz  neu  und 
gab  ihnen  theilweise  auch  andere  Benennungen  und  andere  Stand- 
lager. Am  wenigsten  änderte  er  im  Oriente,  wo  er  die  fünf  alten 


in  superiorem  provinciam  Gallo  Annio  missa,  Cerialis  exercitum  clecima  ex  Hispania 
legio  supplevit.  Klein  (über  die  Legg.  in  Obergerm.  S.  2t)  erklärt  sich  ohne 
Grund  dagegen,  dass  die  1  Adjutrix  schon  unter  Vespasian  an  den  Rhein  gekommen. 
!)  Die  zu  Tarragona  in  Spanien  gefundene  Inschrift,  welche  Gruter  529,  5  und 
Mural.  795,  3  geben,  rührt  wohl  nicht  aus  der  Zeit  des  Aufenthaltes  der  1  Adjutrix 
in  Spanien  her,  denn  es  wird  in  derselben  auch  die  leg.  II  Trajana  (Leg.  II  ■  TR) 
erwähnt,  die  erst  um  dreissig  .lahre  später  errichtet  ward.  Aus  der  Inschrift  aber 
lässt  sich  ersehen  ,  dass  römische  Bürger  aus  pannonischen  Coloniestädten  in  der 
I  Adjutrix  dienten,  denn  es  wird  M.  Aurelius  Lucilius,  einer  von  den  kaiserlichen 
Trabanten  (Singularibus) ,  der  in  verschiedenen  Legionen  als  Hastatus  Primus 
gedient  hatte,  als  von  Petavio  (Pettau)  gebürtig  angegeben.  Die  Inschrift  lautet: 
M  •  AVR  •  M-  F  |  LVCILIO  PETAVIONI  |  EX  SINGVLARIBVS  IMP  |  LEG  -I  •  ADIVTJ 
LEG  •  II  •  TR  |  LEG  •  VIII  ■  AVG  |  LEG  •  XIII  •  GEM  |  LEG  •  VII  •  CL  |  HAST  •  PR  | 
ANNOR  •  LX  |  STIPENDIOR  •  XXXX  |  VLPIA  FAVEiNTINA  |  VXOR  ET  HEUES  | 
MARITO  PiENTISSIMO  |  ET  INDVLGENTISS1MO  |  FACIVND  ■  CVRAVIT.  — 

Aus  der  Zeit  des  Aufenthalts  in  Spanien  rührt  her  die  Inschrift  bei  Gruter  383,  7 
(Murat.  t5,  7),  die  in  Sevilla  gefunden  worden:  M  •  CALPVILNIO  MF  |  GAL  • 
SENECAE  FABIO  |  TVRPIONI  SENTINATIANO  PRAEF  |  CLASSIS  PR  ■  MISEN  | 
PRAEF  |  CLASSIS  PRAET  •  RAVEN  |  PROC  ■  PROVINCIAE  LVSITAN  •  ET  VETTO- 
NIAE  |  PP  •  LEG  •  I  •  ADIVTRICIS  ORDO  D  •  C  •  R  •  M  |  M  •  CALPVRVIVS  SENECA  | 
HONORE  VSVS  |  IMPENSVM  REMISIT.—  D  ■  C-  R  M  bedeutet  Decurionum  Coloniae 
Romulae  (i.  e.  Hispalis)  Mandavit.  — 

Aus  der  Zeit,  wo  die  I  Adjutrix  in  Spanien  stationirte ,  rührt  vielleicht  auch 
folgende  Inschrift: 

D    M 

T  •  FL  •  ANTONINO 

PPLEG    T- ADIVTRI 

EXN  •  PRINC  •  CL 

QVIVIXIT-ANN.LXX 

FILI  -PATRI-BM 
(in  Neapel  im  Mus.  Borbon.   bei  Mommsen  Inscr.  Reg.  Neap.  N.  2666). 

Dass  auch  die  bei  Gruter  193,  3  (Mu  rat.  874,  4)  und  Kellermann  Vigil. 
N.  41  mitgetheilten  Inschriften  aus  dieser  Zeit  sind,  könnte  bestritten  werden. 
Dagegen  ist  die  bei  Vicque  in  Spanien  gefundene  und  von  Murat.  523,  5  mil- 
getheilte  Inschrift  offenbar  aus  dieser  Zeit. 


Die  römischen  Leg-'onen  prima  und  seeunda  Adjutrix.  31«) 

Legionen  (III  Cyrenaica,  III  Gallica,  IV  Scythica,  VI  Ferrata  und 
X  Fretensis)  nebst  den  zwei  später  hinzugefügten  XII  Fulminata 
und  XXII  Dejotariana  in  ihren  Standquartieren  Hess  :  nur  mit  einer 
Legion,  der  XVI  Flavia,  die  er  neu  aus  der  früh  er  n  XVI  Gallica 
bildete,  vermehrte  er  die  orientalischen  Streitkräfte,  indem  er  die- 
selbe nach  Syrien  legte.  In  Nordafrika  verblieb  die  III  Augusta. 
Dagegen  wurden  im  Abendlande  grosse  Veränderungen  vorgenommen. 
Von  den  21  europäischen  Legionen  kam  nur  eine  nach  Spanien;  es 
war  die  VII  Galbiana,  die  aus  Pannonien  gezogen  und  mit  den  gerin- 
gen Überresten  der  im  batavischen  Kriege  zu  Grunde  gegangenen 
XV  Primigenia  vereinigt  als  legio  VII  Gemina  Felix  in  der  Nähe 
der  galicisch-asturischen  Gebirge  stationirte  und  den  Grund  zu  der 
spätem  spanischen  Stadt  Leon  (Legione)  legte.  In  Britannien 
verblieben  die  drei  alten  Legionen  II  Augusta,  IX  Hispana  und 
XX  Valeria  Victrix.  Da  von  den  alten  Rhein-Legionen  drei  (IV  Mace- 
donica, XV  Primigenia  und  XVI  Gallica)  im  Krieg  zu  Grunde  gegangen 
oder  aufgelöst  worden  waren,  so  mussten  zu  den  noch  bestehenden 
vier  I  Germanica ,  V  Macedonica  ,  XXI  Rapax  und  XXII  Primi- 
genia neue  hinzukommen.  So  lange  der  batavische  Krieg  gedauert 
hatte,  wurden  am  Rhein  die  aus  anderen  Provinzen  herbeigezogenen 
Legionen  I  und  II  Adjutrix,  die  VI  Victrix,  die  VIII  Augusta,  die 
X  Gemina,  die  XI  Claudia  und  XIV  Gemina  verwendet.  Die 
II  Adjutrix  war  das  erste  Mal,  seit  ihrem  Bestehen,  am  Niederrhein  in 
die  Schlacht  geführt  worden  und  hatte  ihren  neuen  Adler  und  ihre 
neuen  Feldzeichen  durch  den  tapfersten  Kampf  eingeweiht *).  Ihr 
Standlager  hatte  sie  eine  Zeit  lang  zu  Batavodurum3)  (Duurstede  in 
der  Provinz  Utrecht),  was  kein  eigentliches  Legionslager,  sondern 
nur  ein  früheres  Standquartier  von  Auxiliartruppen  war.  Nach  der 
völligen  Unterdrückung  des  batavischen  Aufstandes  verminderte 
Vespasian  die  Zahl  der  Rhein-Legionen  auf  acht.  In  Niedergermanien 
stationirten  I  Germanica,  V  Macedonica,  VI  Victrix  und  XXI  Rapax; 
nach  Obergermanien  kamen  zu  der   früher  daselbst  liegenden   XXII 


A)  Taeit.  Hist.  IV,  68.  V.  lö. 

2)  Tacit.  Hist.  V,  20.  Praesidia  —  legionum  uno  die  Civilis  —  invaserit ,  decimam 
legionem  Arenaci,  secundam  Batavoduri.  Ein  Fragment  von  einer  am  Rhein  gefun- 
denen Steininsehrift,  welche  der  II  Adjutrix  erwähnt,  gibt  Fuchs  Gesch.  v.  Mainz 
I,   123  u.  Steiner,  Cod.  inscr.  n.  377.  MIL  .  .  II  ADI. 


320  A  s  c  h  b  a  c  h. 

Primigenia  die  I  Adjutrix  in  Moguntiacum  *),  die  VIII  Augusta  in 
Argentoratum  und  die  XI  Claudia  in  Vindonissa*).  Die  übrigen  neun 
Legionen  wurden  für  die  Bewachung  Illyriens  und  der  Donauländer 
bestimmt;  fünf  für  die  von  den  Daciern  und  Sarmaten  sehr  bedrohten 
unteren  Donaugegenden :  I  Italien ,  IV  Flavia  (errichtet  von  Vespasian 
an  der  Stelle  der  IV  Macedoniea),  V  Alauda ,  VII  Claudia  und  XV 
Apollinaris;  vier  für  die  oberen  Donauländer  Pannonien  und  Noricum  : 
die  X,  XIII  und  XIV,  sämmtlich  mit  dem  Beinamen  Gemina,  und  die 

II  Adjutrix »). 

Unter  Titus  und  Domitian  kamen  keine  Errichtungen  neuer 
Legionen  vor;  die  Standquartiere  der  Truppen  blieben  auch  im  Ganzen 
dieselben.     Doch  fielen  unter  Domitian  einige  Veränderungen  vor. 


i)  Dieses  zeigen  die  in  Mainz  gefundenen  zahlreichen  Steininschriften  und  Stempel- 
zeichen der  1  Adjutrix.  Vgl.  Steiner,  Cod.  inscr.  tat.  Rhen.  I,  N.  395—401,  und 
S.  321,  Note4;  ferner  Gruter  389,  1;  478,6;  516,  1;  M  u  r  a  t.  550,  2;  1106, 
3;  2028,  6;  2029,  4;  Donati  284,  8;  293,  2;  469,2;  473,  3;  Maffei,  M.  V. 
244  3-  451  6.  u.  7.  Klein  in  der  oben  angeführten  Schrift  über  die  Legionen  in 
Obergermanien  S.  21  gibt  an,  dass  Stempel-  und  Backsteine  von  der  I.  Adjut.  bei 
Mainz,  Wiesbaden,  Hedernheim,  Bergzabern,  Rottenburg  gefunden  worden,  und  dass 
es  von  keiner  Legion  in  Mainz  so  viele  Steine  der  Legionscenturien  gäbe  als  gerade 
von  dieser;  noch  gegenwärtig  seien  einige  Stadtthore  damit  geziert  und  er  gibt 
S.  22  einige  an.  Grabsteine  von  Soldaten  der  I  Adjutrix  führt  er  in  Allem  zehn  an. 
Unrichtig  aber  sind  folgende  Angaben  Kleines:  „dass  die  I.  Adjutrix  schon  unter 
Vespasian  hierher  (nach  Moguntiacum)  kam,  möchte  ich  nicht  annehmen,  eher  unter 

Trajan sie  scheint  nicht  lange  am  Rhein  gestanden  zu  haben.  —  Die  Denkmäler, 

die  sie  in   den  rheinischen  Gegenden  zurückgelassen  hat,  gehören  also  in  die  Zeit 
von  etwa  100—150". 

2)  Zeitweise  ward  die  I  Adjutrix  mit  der  XI  Claudia  am  Oberrhein  verwendet,  wie  aus 
einem  bei  Baden  gefundenen  Fragment  einer  Inschrift  zu  schliessen  ist.  Leicht- 
len 's  Forschungen  I,  S.  55  und  S  teiner,  Cod.  Inscr.  II,  Nr.  829: 

.  .  MP  •  NERVA • TRA 
.  .  .  PONTIF  •  MAX 
.  .  .  G  •  I  •  ADI  .  .  .  EG  •  XI  .  C 

3)  Das  Jahr,  in  welchem  die  II  Adjutrix  nach  Pannonien  in  ihr  schon  früher  bestimmtes 
Standlager  kam,  lässt  sich  nicht  ermitteln :  jedenfalls  aber  war  es  noch  unter  Ve- 
spasian's  Regierung  sogleich  nach  Beendigung  des  batavischen  Aufstandes.  Dass 
die  Legion  noch  bis  auf  Trajan's  Zeit  am  Rhein  gestanden,  wie  einige  Neuere  be- 
haupten, ist  sicher  eine  unrichtige  Ansicht.  Aus  dieser  ersten  Zeit  des  Aufenthaltes 
der  II  Adjutrix  in  Pannonien  mag  die  sehr  verstümmelte  Inschrift  (bei  Murat.  765,5) 
herrühren,  welche  Mommsen  Inscr.  regn.  Neap.  N.  383  nach  eigener  Besichtigung 
sehr  verbessert  und  vervollständigt  hat;  es  wird  darin  von  einem  Tribunus  militum 
seeundae  Adjutricis  Piae  Fidelis  gesprochen,  der  Bello  Suebico  et  Sarmatico  mit 
mehreren  Ehrenzeichen  beschenkt  worden  war.  Allerdings  könnte  die  Inschrift  auch 
der  Zeit  des  Marcus  Aurelius  angehören. 


Die  römischen  Legionen  prima  und  secunda  Adjutrix.  321 

Die  Rhein-Legion  I  Germanica  erlitt  eine  schwere  Niederlage,  sie 
wurde  dann  neu  organisirt  und  erhielt  die  Benennung  I  Min  er  via. 
Die  legioV  Alauda  in  Mösien  ging  mit  ihrem  Legaten  im  Kriege  gegen 
die  Dacier  zu  Grunde,  sie  wurde  nicht  mehr  hergestellt;  in  ihr 
Standquartier  kam  vom  Rhein  her  die  V  Macedonica.  Die  in  einem 
orientalischen  Kriege  vernichtete  legio  XXII  Dejotariana  erhielt  auch 
keinen  Ersatz;  somit  war  unter  Kaiser  Domitian  der  Bestand  der 
Legionen  auf  28  herabgesunken  *). 

Erst  der  Kaiser  Trajan  ergänzte  die  Zahl  der  Legionen  wie- 
der auf  dreissig.  Er  errichtete  für  die  in  das  mösische  Standlager 
der  untergegangenen  V  Alauda  gekommene  V  Macedonica  die  XXX 
Ulpia  Victrix  und  wies  ihr  am  Niederrhein  das  frühere  Standquartier 
der  V  Macedonica  an  und  für  die  abgegangene  XXII  Dejotariana 
wurde  in  Ägypten  die  II  Trajana  errichtet "). 

In  seinen  beständigen  Kriegen  mit  den  Germanen,  Sarmaten 
und  Daciern  beschäftigte  Trajan  seine  Legionen  ununterbrochen. 
Unter  Domitian  schon  und  unter  Nerva  hatte  die  Rheinlegion  I  Adju- 
trix mit  den  Sueven  und  anderen  Germanen  zu  kämpfen ,  wie  wir  aus 
Inschriften  ersehen  3);  ihre  Ergänzungen  erhielt  sie  meist  aus  Panno- 
nien  und  Dalmatien,  wie  sich  ebenfalls  aus  den  bei  Mainz  und  in  den 
Rheingegenden    gefundenen    Inschriften    nachweisen  lässt  4).     Ihre 


!)  Tacit.  Agrieol.  c.  41.  Ea  insecuta  sunt  rei  publicae  tempora,  quae  sileri  Agrieolam 
nonsinerent:  tot  exereitus  in  Moesia  Daciaque  et  Germania  Pannoniaque  temeritate 
aut  per  ignaviam  ducum  amissi :  tot  militares  viri  cum  tot  cohortibus  expugnati  et 
capti:  nee  jam  de  limite  Imperii  et  dpa,  sed  de  hibernis  legionum  et  possessione 
dubitatum. 

2)  Dio  Cass.  LV,  24. 

3)  Die  in  Portugal  gefundene  Inschrift,  welche  Gruter  368,  3  und  Masdeu  hist. 
critic.  de  Espana  VI,  N.  921  geben,  gehört  hieher: 

Q- ATTIO  T-F  |  MAEC  •  PR1SCO  |  AEDII  VIR-QVINQ  |  FLAM •  AVG -PONTIF  | 
PRAEF-FABR   |   PRAEF-COH-I-  HISPANORVM  |  ET  COH  TlVIONTANORVM  |  ET 
COH  -I-LVSITANOR  |  TRIB  •  MIL  |  LEG-F-ADIVTR  |   DONIS    DONATO  |  AB    IMP- 
NERVA  |    CAESARE   AVG  •  GERM^  BELLO    SVEBIC  |  CORONA  AVREA  |  HASTA 
PVRA  |  VFXILLO  |  PRAEF  |  ALAE  T  AVG  ■  THRACVM  |  PLEBS  VRBANA. 

Die  Bemerkung  von  Klein  (über  die  Legionen  in  Obergerman.  a.  a.  0.)  über 
diese  Inschrift  ist  nicht  richtig.  „Grotefend  bei  Pauly  S.  869  will  dies  aus 
einer  Inschrift  Gruter  368,  3  folgern,  weil  hier  eines  Belli  Suebic.  Erwähnung  ge- 
schieht, an  welchem  ein  Centurio  derselben  unter  Nero  (?)  Theil  nahm;  allein 
dort  ist  nach  Gudius  B  aetic.  zu  lesen." 
4)  Steiner,  Cod.  Inscr.  I,  Nr.  361,  363,  326,  333,  334,  336,  337,343,  333.  Klein 
gibt  auch  eine  Anzahl  solcher  Inschriften. 


322  Aschbach. 

Soldaten  waren  besonders  aus  den  pannonischen  und  dalmatischen 
Coloniestädten  Savaria  (Stein  am  Anger),  Apros,  Jadera  und  Äquum; 
vielleicht  hatte  mancher  von  ihnen  schon  auf  den  prätorischen  Flotten 
gedient,  wozu  ja  Dalmatien  vorzüglich  Mannschaften  lieferte. 

Trajan  drängte  wegen  seiner  schweren  Kriege  mit  den  Daciern 
im  Anfange  des  zweiten  Jahrhunderts  die  römischen  Streitkräfte  an 
der  untern  Donau  zusammen.  Für  die  Bewachung  der  Rheingrenze 
und  des  Limes  Romanus  von  der  Donau  bis  an  die  Lahn  erachtete  er 
vier  Legionen  ausreichend;  so  verblieben  nur  noch  die  I  Minervia 
und  XXX  Ulpia  Victrix  in  Niedergermanien,  und  die  VIII  Augusta 
und  XXII  Primigenia  in  Obergermanien.  Von  den  übrigen  vier  Le- 
gionen kam  die  VI  Victrix  nach  Britannien  in  das  Lager  der  IX  Hispana, 
welche  mit  der  XXI  Rapax  zur  Bewachung  Rliätiens  und  der  obern 
Donau  verwendet  wurde,  indem  die  beiden  anderen  Legionen  IAdju- 
trix  und  XI  Claudia  Trajan  an  die  untere  Donau  zog  und  damit  seine 
Streitkräfte  im  Kriege  gegen  die  Dacier  verstärkte1).  Auch  die  pan- 
nonische  Legion  II  Adjutrix  wohnte  den  dacischen  Feldzügen  bei3), 
und  die  I  Adjutrix  später  auch  der  parthischen  Expedition  3). 


1)  Die  zu  Nismes  gefundene  Inschrift,  welche  Borghesi  Inscr.  del  Ueno  (Annali  XI, 
p.  147)  mittheilt,  gehört  der  trajanischen  Zeit  an  : 

T.    Julio    Sex.    F.    Volt.  Maximo  Ma  .  .  .  Brocchio    Servilian  Aquadron  ...    |  L. 

Servilio  Vatiae  Cassio   |   Leg.  Aug.   IUI  Flaviae  Leg.  Aug.  Leg.  I  Adjut.     |    Juridico 

Hisp.  citerioris  Baeticae   don.  |  hello  Dacico  coronis  murali    et  vallari  et  .   .   [arg.] 

|  vexillo  Trib.  mil.  Leg.  V.  Macedonic.  Seviro  [eq.]  |  Rom.  Turm.  T  X  viro  stlitibus 

dijudic.  Calagurritani  ex  Hispauia  citeriore  Patrono. 

2)  Nach  einer  Inschrift  bei  Marini  Fr.  Arv.  II,  530.  Orell.  N.  3048.  T  ■  AVRIDIO  • 
P  •  F  •  NICEPHORO  |  PRIMIPILO  LEG  ■  II  •  ADIVT  •  IN  |  BELLO  CONTRA  |  DACOS 
AB    INVICTISSIMO     IMP   ■   NO   |    STRO    TRAIANO    |   FELICITER    PATRATO    CAS 

|  TRENSI  CORONA  DONATO  |  ET  IN  OBDINEM  EQV1T  •  RO  |  MAN  •  ADSCITO  L  ■ 
GALERIVS  VAFER  ET  |  C  •  CESIVS  LISIMACVS  II  ■  VIR  |  HVIVS  MVNICIPI 
PATRON  |  B  •  M  •  P  •  C  ■  VI  •  KAL  ■  IVLII. 

3)  Dieses  zeigt  eine  bei  Nola  in  Campanien  gefundene  Inschrift,  welche  G  ruter  1096, 
Kellermann  Vig.  N.  34  und  correcter  Mommsen  Inscr.  regn.  Neap.  N.  1947 
geben.  Für  XVTTi  FIRM  ist  zu  lesen  XVI  FLFIRM  und  für  LEG  TT  GALL  ist  zu 
setzen  LEG  DI  GALL.     Die  Inschrift  lautet: 

CN  •  MAR  CIO 

CN  •  FIL  •  GAL  • 

PLAETORIO  CELERI 

QVAEST  •TTVIR  £  ■  LEG  ■  VIT  GEMINA 

£  -TEG  •  XVIII  FIRM 

DONIS  DONATO  A  DIVO 

TRAIANO  IN  BELLO  PARTHIC 

CORONA  MVRALI  TORQVIBVS 


Die  römischen  Legionen  prima  und  secunda  Adjutrix.  323 

Nach  der  glücklichen  Beendigung  des  dacischen  Krieges  wurde 
zur  Bewachung  der  neueroberten  Provinz  Dacia  die  V  Macedonica 
und  die  früher  in  Pannonien  gelegene  XIII  Gemina  verwendet;  die 
XI  Claudia  erhielt  ihr  Standlager  in  Mösien,  aber  die  I  Adjutrix 
kehrte  nicht  mehr  an  den  Bhein  zurück,  sondern  sie  kam  in  das  frei- 
gewordene Standlager  der  XIII  Gemina 1)  nach  Pannonien ,  wo  sie 
nun  bleibend  stationirte.  Diese  grosse  römische  Provinz  welche  im 
Norden  und  Osten  von  der  Donau,  im  Süden  von  der  Save,  im  Westen 
vom  Mons  Cetius  (Kahlenberg)  und  den  norischen  (steirischen)  Ge- 
birgen begrenzt  wurde,  zu  manchen  Zeiten  aber  diese  Gebirgszüge 
mit  Noricum  bis  an  die  Enns  in  sich  schloss  3),  theilte  Kaiser  Trajan 
zuerst  in  zwei  Provinzen  in  Ober-  und  Niederpannonien,  welche  der 
Baabtluss  theilweise  von  einander  schied  3). 

Indem  in  den  beiden  oberpannonischen  Donau-Lagern  zuVindo- 
bona  (Wien)  undCarnuntum  (Petronell)  die  X  Gemina  und  XIV  Ge- 
mina standen ,  hatten  in  Niederpannonien  die  beiden  Legionen  I 
und  II  Adjutrix  ihre  Standquartiere  und  zwar  zu  Bregetio  (d.  i. 
Szüny,   oberhalb   Gran)    die  Legio   I  Adjutrix,   und   zu  Acinquum 


ARMILLIS  PHALERIS  £  •  LEG  ■  Ü  GALL 
£  •  LEG  •  XlTTl  GEM  ■  MART  •  VICTR 

£    LEG- VTI  CL  -P-F-  £  •  LEG    T- ADI  •  PF    PPLEG 
EIVSDEM  PRAEPOSITO  NVMEROR 
TENDENTIVM  IN  PONTO  AB 
SARO  TRIB  •  COH  •  IT  VIG  • 
PATRONO  COL ■ 
D  D 

*)  Früher  hatte  die  XIII  Geraina  ihr  Winterlager  zu  Petovio  (Pettau)  gehabt.  Tacit. 
Hist.  III,  1.    Später  war  es  an  die  Donau  nach  Bregetio  verlegt  worden. 

2)  Die  genaueste  Begrenzung  Pannoniens  gibt  Ptolem.  Geogr.  II,  c.  14  u.  15. 

3)  Noch  unter  Titus  und  Domitian  kommt  von  einer  Theilung  Pannoniens  in  zwei  Pro- 
vinzen keine  Spur  vor.  In  den  Militärdiplomen  dieser  beiden  Kaiser  für  Truppen,  die 
in  Pannonien  lagen,  heisst  es  einfach:  et  sunt  in  Pannonia.  (Vgl.  Arneth  zwölf  Mil. 
Dipl.  Nr.  III  u.  IV,  p.  33  u.  39.)  Erst  von  Trajan  wurde  Moesia  wie  Pannonia  in 
zwei  Provinzen  ,  in  die  obere  und  untere,  getheilt.  (Vgl.  Arneth  I.  c.  T.  V,  p.  43 
in  Betren"  Mösiens,  und  ein  Militärdiplom  Trajans  v.  J.  114  für  Truppen  in  Pannonia 
inferiore  Sitzungsber.  der  phil.-hist.  Classe  der  Wiener  k.  Akad.  d.  W.  Bd.  XI.)  Ptole- 
mäus  in  der  Geogr.  I.  c.  gibt  die  Trennung  in  die  zwei  Provinzen  an.  Wenn  auch 
zeitweise  unter  Antoninns  Pius  wieder  eine  Vereinigung  stattfindet,  so  ist  doch  von 
Marcus  Aurelius  an  bis  auf  Diocletian  Pannonien  in  das  obere  und  untere  getheilt. 
Unter  Hadrian  war  Aelius  Verus  vor  dem  Jahr  136  Pannoniis  dux  ac  rector  impositus, 
mox  consul  creatus;  vgl.  Spartian.  vif.  Ael.  Ver.  c.  3. 


324  A  s  c  h  I)  a  c  h. 

(Altofen)  die  II  Adjutrix;  sie  blieben  daselbst  Jahrhunderte  hin- 
durch !). 

An  bestimmten  Angaben  der  alten  Quellen  über  die  Stand- 
quartiere unserer  beiden  Legionen  in  Niederpannonien  im  zweiten 
Jahrhundert  fehlt  es  nicht.  Es  geben  darüber  Zeugniss  vier  ziem- 
lich gleichzeitige  Quellen,  zwei  davon  nennen  uns  genau  mit  Namen 
die  Standlager,  eine  dritte  bezeichnet  nur  die  Provinz  und  endlich  die 
vierte  reiht  die  Legionen  überhaupt  nur  zu  den  pannonischen.  Begin- 
nen wir  mit  der  allgemeinsten  Notiz  und  schreiten  wir  dann  zu  den 
specielleren  Angaben. 

Man  hat  ein  altes  Legionen- Verzeichniss  das  offenbar  aus 
der  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  herrührt.  Auf  einer  kleinen 
runden  Marmor-Säule  die  sich  früher  auf  dem  Capitolium  zu  Rom 
befand,  jetzt  aber  im  vaticanischen  Museum  aufbewahrt  wird,  finden 
sich  die  Namen  der  Legionen  aufgezeichnet.  Man  hat  früher  den 
Werth  dieses  wichtigen  Verzeichnisses  weniger  schätzen  können, 
weil  man  die  drei  Columnen  in  welche  die  Namen  gereiht  sind,  über- 
sah und  die  Namen  daher  irrthümiich  in  eine  verkehrte  Verbindung 
brachte,  so  dass  man  die  eilf  Zeilen  von  je  drei  Legionen-Namen 
nach  einander  las,  anstatt  dass  man  die  drei  Columnen  besonders 
hätte  berücksichtigen  sollen,  mit  Ausnahme  der  letzten  (eilften)  Zeile 
die  ein  späterer  Zusatz  ist  mit  drei  neben  einander  zu  lesenden 
Legionen-Namen.  Offenbar  gibt  der  capitolinische  Legionen-Katalog 
den  Bestand  der  Legionen  in  den  ersten  Jahren  des  Marcus Aurelius, 


*)  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  über  die  beiden  oberpannonischen  Standlager  Vindobona 
und  Carnunturn  näher  zu  sprechen.  Doch  müssen  wir  bemerken ,  dass  über  die 
römische  Stadt  Carnuntum  eine  gelehrte  Abhandlung  von  E.  v.  S  acken  erschienen 
ist  (Sitzungsb.  der  phil.-hist.  Cl.  der  Wiener  k.  Akad.  der  W.  Bd.  IX,  S.  660).  Das 
im  Itinerar.  Antonini  und  in  der  Notitia  dignit.  Imp.  genannte  Bregetio,  welches 
Ammian.  Marcel  1  in.  Bregitio  schreibt,  Ptolemäus  aber  Bps-foctTiov,  Aurelius 
V  i  c.to  r  Bergentio  ,  Jornandes  Brigitio  ,  lag  am  südlichen  Donauufer  im  Lande 
der  Aravisci.  C  e  1 1  a  r  i  u  s  setzt  den  Ort  an  die  Stelle  des  heutigen  Gran ;  Mannert 
und  die  neuesten  Herausgeber  des  Itinerar.  Antonini,  Parthey  und  Pinder  be- 
stimmen als  Lage  die  Gegend  von  dem  Marktflecken  Szöny  in  der  Mitte  zwischen 
Gran  und  Komorn.  —  Acincum  oder  Acinquum  (so  in  den  Inschriften,  im  Itiner.  An- 
tonin. ,  Ammian.  Mar  cell  in.  und  in  der  Notit.  Dign.  Imp.)  wird  vonPtolem. 
Geogr.  II,  i S  "AxootjTcov  und  in  der  Tabula  Peutinger.  Aquincum  genannt.  Diese  am 
rechten  Donauufer  gelegene  Römer -Colonie  ist  an  der  Stelle  des  heutigen  Markt- 
flecken Altofen  (Buda  vetus)  zu  suchen ,  wo  zahlreiche  Spuren  römischer  Nieder- 
lassung aufgefunden  wurden  und  Inschriften  von  der  leg.  II  Adjutrix  auf  das  Stand- 
lager derselben  hinweisen. 


Die  römischen  Legionen  prima  und  secunda  Adjutrix.  32 D 

also  in  einer  Zeit  wo  bereits  die  beiden  Legionen  IX  Hispana  und 
XXI  Rapax  schon  zu  Grunde  gegangen  waren.  Da  es  noch  unter 
Kaiser  Hadrian  (bis  138)  dreissig  Legionen  gegeben1),  durch  den 
Abgang  jener  beiden  Legionen  aber,  die  nicht  mehr  im  Katalog  vor- 
kommen, der  Bestand  auf  28  herabgesunken  war,  so  muss  die  Auf- 
stellung der  Säuleninschrift  nach  Hadrian's  Zeit  fallen.  Sie  kann  aber 
nicht  nach  der  Regierung  des  Marcus  Aurelius  gemacht  worden 
sein ,  denn  sonst  müssten  die  von  diesem  Kaiser  neu  errichteten 
beiden  Legionen  II  und  III  Itaüca  an  ihrer  Stelle  eingereiht  sein. 
Sie  finden  sich  zwar  auf  der  Inschrift  angegeben,  aber  als  späterer 
Zusatz  in  der  dritten  Columne  zu  Ende;  eine  noch  spätere  Zugabe 
ist  die  Beifügung  der  drei  parthischen  Legionen  welche  Kaiser  Sep- 
timius  Severus  um  200  n.  Chr.  errichtete.  In  dem  ursprünglichen 
capitolinischen  Katalog  kamen  daher  nur  28  Legionen -Namen  vor 
und  zwar  in  der  ersten  Columne  zehn,  in  der  zweiten  ebenfalls  zehn 
und  in  der  dritten  nur  acht  Namen.  Die  Reihenfolge  ist  eine  geogra- 
phische. Nach  den  Provinzen  worin  sich  die  Standquartiere  der 
Legionen  befanden,  werden  letztere  genannt.  Nach  dieser  Anordnung 
wird  im  Norden  mit  den  drei  britannischen  Legionen  (II  Augusta,  VI 
Victrix,  XX  Valeria  Victrix)  begonnen,  es  wird  dann  zu  den  vier 
rheinischen  (VIII  Augusta,  XXII  Primigenia,  I  Minervia,  XXX  Ulpia) 
übergegangen;  es  folgten  weiter  die  vier  pannonischen  (I  Adjutrix, 
X  Gemina,  XIV  Gemina,  II  Adjutrix),  dann  die  sechs  dacisch-mösischen 


1)  Spartian.  vit.  Adrian,  c.  14.  (Adrianus  Imp.)  qui  habet  triginta  legiones.  Über  die 
letzten  Standquartiere  der  beiden  Legionen  IX  Hispina  und  XXI  Rapax  und  die  Zeit 
ihres  Abganges  herrscht  ziemliche  Dunkelheit.  Dass  die  IX  Hispana  noch  unter 
Hadrian  existirte,  ist  keinem  Zweifel  unterworfen.  Einen  Beweis  dafür  liefert  die 
Inschrift  auf  den  Consul  L.  Burbulejus  (im  Anfang  der  Regierung  des  K.  Antonius 
Pius),  vgl.  B  or  gh  e  si  sopra  un' inscrizione  del  console  L.  Burbulejo.  Napoli  1838 
und  eine  andere  Inschrift  bei  Renier,  Inscr.  Rom.  de  l'Algier.  Paris  1853.  Livr.  I,  p.  5. 
Ob  diese  Legion  in  Britannien  oder  in  Palästina  oder  an  der  oberen  Donau  in  Rhatien 
zu  Grunde  gegangen,  darüber  kann  gestritten  werden.  Noch  mangelhafter  sind  die 
Nachrichten  über  die  XXI  Rapax  nach  Vespasian's  Zeit.  Weder  Urlichs,  noch 
Meyer,  noch  Klein,  die  über  sie  gehandelt  haben,  können  eine  bestimmte 
Hinweisung  geben,  wo  sie  zuletzt  gestanden  und  wann  sie  ihren  Untergang  gefunden. 
Sicher  ist  es,  dass  sie  unter  Septimius  Severus  nicht  mehr  existirt  hat,  aber  auch 
unter  M.  Aurelius  und  in  der  Zeit  des  Ptolemäus  war  sie  nicht  mehr  vorhanden. 
Unter  Hadrian  aber  kann  ihre  Existenz  noch  behauptet  werden.  Dass  sie  aber  schon 
Domitian  ganz  aufgelöst  habe,  wie  Meyer  a.  a.  0.  S.  142,  nach  Grotefend's 
früherer  Meinung  behauptet,  ist  offenbar  eine  unrichtige  Ansicht  die  sich  auf  falsche 
Voraussetzungen  stützt. 


326 


Aschbach. 


(IV  Flavia,  VII  Claudia,  I  Italica,  V  Macedonica,  XI  Claudia, 
XIII  Gemina);  es  wird  hierauf  zu  den  orientalischen  Legionen  fort- 
geschritten; zuerst  werden  die  zwei  kappadocischen  (XII  Fulminata 
und  XV  Apollinaris) ,  dann  die  vier  syrischen  (III  Gallica,  IV  Scy- 
thica,  XVI  Flavia,  VI  Ferrata)  nebst  der  einen  palästinischen 
(X  Fretensis)  und  der  einen  arabischen  (III  Cyrenaica)  genannt. 
Ferner  werden  in  Afrika  zuerst  die  ägyptische  (II  Trajana),  dann 
die  nordafrikanische  (III  Augusta)  angeführt.  Den  Schluss  des  Cyclus 
macht  endlich  die  eine  spanische  (VII  Gemina)  1). 

Bestimmter  und  genauer  als  der  capitolinische  Legionen - 
Katalog  lautet  der  Bericht  bei  Dio  Cassius  der  in  seiner  römischen 
Geschichte  eine  Übersicht  der  alten  bis  auf  seine  Zeit  (von  180 — 230) 
noch  vorhandenen  19  Augusteischen  und  der  später  gebildeten  Legio- 
nen angibt.  Er  nennt  ausdrücklich  bei  jeder  Legion  den  Errichter  und 


*)  Die  capitolinische  Marmor-Inschrift  mit  dem  Legionen-Katalog'  gibt  Gruter  doppelt 
313,  3  mit  11  Zeilen  und  Nr.  513,  2,  wo  aber  die  9.  Zeile  mit  den  Namen  von  drei 
Legionen  fehlt.  So  auch  bei  Orelli:  das  vollständige  Verzeichniss  Nr.  3369,  das 
mangelhafte  Nr.  3468.  Den  correctesten  Abdruck  hat  B  o  rghesi  Inscriz.  del  Reno 
(Annali  dell'  Institut,  di  Corrispond.  archeol.  T.  XI,  Rom.  1839,  p.  176)  geliefert. 
Darnach  geben  wir  hier  den  Katalog : 


11  •  AVG 
VI  •  VICTR 
XX  •  VICTR 
VIII  •  AVG 
XXH  •  PRIM 
I  •  MINER 
XXX  •  VLP 
I  •  ADIVT 
X  •  GEM 
XIIH  •  GEM 
I • PARTH 


II  •  ADIVT 
IUI  •  FLAV 
VII  •  CLAVD 

I  •  ITALIC 
V  •  MACED 

XI  •  CLAVD 
XIII  ■  GEM 

XII  •  FVLM 
XV  • APOL 

III  •  GALLIC 

II  •  PARTH 


IUI  •  SCYTH 
XVI  •  FLAV 

VI  •  FERRAT 
X • FRETE 
III  •  CYREN 

II  •  TRAIAN 

III  •  AVG 

VII  •  GEM 

II  •  ITAL 

III  •  ITALIC 
III  •  PARTH 


Wir  verdanken  Borghesi  der  diese  Inschrift  wiederholt  genau  besichtigte,  wesent- 
liche Berichtigungen  einiger  Irrthiimer,  die  in  den  früheren  Abdrücken  sich  einge- 
schlichen hatten:  an  der  Stelle,  wo  Bu  rghesi  ganz  richtig  XIIH  •  GEM  gefunden, 
geben  Gruter  und  Orelli  früher  XIII  ■  GEM  und  umgekehrt  für  XIII  ■  GEM  wurde 
XI1I1  •  GEM  gelesen.  Durch  diese  falschen  Lesungen  aber  wurden  die  pannonischen  und 
dacischen  Legionen  untereinander  geworfen.  Dass  aber  bei  Aufzählung  der  pannoni- 
schen Legionen  nicht  wie  bei  der  Angabe  der  ober-  und  niedergermanischen  Legionen 
geschehen  ist,  die  niederpannonischen  von  den  oberpannonischen  gesondert  gestellt 
worden  sind,  mag  darin  seinen  Grund  haben,  dass  zu  Zeiten  und  zwar  gerade  unter 
Antoninus  Pins,  als  die  Inschrift  gemacht  ward,  die  beiden  Provinzen  als  Gesammt- 
Pannonien  unter  einem  Statthalter  vereinigt  waren  und  daher  kein  Grund  war  die 
I  und  II  Adjutrix  wie  die  X  und  XIIH  Gemina  besonders  zusammenzureiheu. 


Die  römischen  Legionen  prima  und  secunda  Adjutrix.  *)£  / 

die  Provinz ,   worin  sich  ihr  Standlager  befand.  Von  den   vier  pan- 
nonischen  Legionen  meldet  er: 

„Die  zehnte,  aus  zwei  Legionen  und  desshalb  die  doppelte 
genannt,  in  Oberpannonien." 

„Die  vierzehnte  oder  doppelte  in  Oberpannonien." 
„Galba  errichtete  die  erste  Helfende  in  Niederpannonien." 
„Vespasian,  die  zweite  Helfende  in  Niederpannonien". 
Diese  Angaben  sind  dahin  zu  berichtigen,  dass  Galba  undVespa- 
sian  die  Legionen  nicht  in  Niederpannonien  errichtete,  sondern   die 
Worte  des  Dio  Cassius  sind  so  zu  verstehen,  dass  Galba  die  I  Adju- 
trix die   zur  Zeit   des  schreibenden  Dio  Cassius  in  Niederpannonien 
lag,  errichtete,  und  Vespasian   die  II  Adjutrix   die  damals    ebenfalls 
dort  ihr  Standquartier  hatte.  Dass  dieses  die  richtige  Auslegung  ist, 
zeigt  auch  die  Fassung  der  Angabe  bei  der  X  und  XIV  Geniina  die 
auch  nicht  vom  K.  Augustus  in  Oberpannonien  errichtet  wurden *). 

Eine  dritte  Quelle,  und  zwar  speciell  für  die  namentlichen  Stand- 
lager unserer  beiden  Legionen  in  Niederpannonien  ist  Claudius  Ptole- 
mäus  in  seinem  geographischen  Werke  das  um  die  Mitte  des  zweiten 
Jahrhunderts  verfasst  ist.  Er  gibt  die  von  Trajan  getroffene  Einthei- 
lung  in  Ober-  und  Niederpannonien  an  und  bei  Aufzählung  der  Donau- 
städte in  diesen  beiden  Provinzen  nennt  der  freilich  arg  corrumpirte 
Text  uns  die  Standlager  der  X  und  XIV  Gemina  in  Oberpannonien, 
und  bei  der  Stadt  Bregaetium  findet  sich  die  leg.  I  Adjutrix  beige- 
schrieben ,  bei  Atjuincum  in  Niederpannonien  aber  nur  eine  Legion 
ohne  Nummer  und  Beinamen.  Sicher  ist.  da  der  Zusatz  ß"  ßor^öc 
(II  Adjutrix)  durch  die  Nachlässigkeit  der  Abschreiber  ausgefallen2). 


i)  Dio  Cass.  LV,  23  und  24. 

2)  Da  bei  Ptolemäus  noch  keine  Spur  von  den  beiden  durch  Marcus  Aurelius  zum 
Schutz  für  Noricum  und  Rhätieu  errichteten  Legionen  II  und  III  Italica  vorkommt,  so 
ist  daraus  zu  schliessen,  dass  die  Abfassung  seiner  Geographie  nicht  nach  dem 
Schlüsse  der  Regierung  dieses  Kaisers  (also  nicht  nach  180)  fallen  kann.  Imlib.  II, 
c.  14  [15]  nennt  Ptolemäus  in  Oberpannonien  folgende  Donaustädte: 
'  [ouXipßova 

Kapvou? 

Xsyiiov  io  r;p|Aavixr( 

Xsp-oßotXos 


32ö  Aschbach., 

Zur  Rectification  des  comimpirten  ptolemäischen  Textes  kann 
das  Itinerarium  Antonini  Augusti  dienen,  welches  freilieh  manche 
spätere  Zusätze  erhalten  hat,  dessen  erste  Anlage  aber,  wenn  nicht  der 
zweiten  Hälfte  des  zweiten,  doch  jedenfalls  dem  Anfange  des  dritten 
Jahrhunderts  angehört,  wenn  unter  Antoninus  Augustus  Caracalla  zu 
verstehen  ist.  Sie  ist  eine  wichtige  Quelle  nicht  nur  für  die  Kennt- 
niss  der  Richtung  der  römischen  Heerstrassen,  sondern  auch  der 
Militärstationen,  indem  hei  den  Orten  wo  Legions -Standlager  sich 
befanden,  die  Namen  der  Legionen  beigeschrieben  sich  finden.  Da 
beiLauriacum(Lorch)  inNoricum  beigeschrieben  ist  Leg.  III  (es  muss 
gelesen  werden  Leg.  II  I.  i.  e.  Leg.  Illtalica)  —  so  ist  die  Abfassung 
des  Itinerars  ohne  Zweifel  eine  jüngere  als  die  der  ptolemäischen 
Geographie  und  des  capitolinischen  Legionen -Katalogs.  Die  Reifü- 
gung  von  den  Zusätzen  Legio  I  Jovia  und  Legio  II  Herculea  bei 
Städten  an  der  untern  Donau  gehört  einer  spätem  Hand  an  aus  dem 
Ende  des  dritten,  oder  Anfange   des  vierten  Jahrhunderts.    Wichtig 


und  in  Niederpannonien  c.  15  [16]  gibt  er  folgende  Donaustädte  an: 


KoupToc 

Aovfiwjvi 

2aXo6a 

Ts'j-roßoupYiov 

Käpius 

Kopvaxov 

'Axouiyxov 

'Axo6|xiyxov  Xsy'wv 

SocXTvov 

'PlTTlOV 

Ao'jajriviov 

Ta'jpoupov  7J  Taypouvov 

In  diesen  Ptolemäischen  Angaben  sind  ausser  anderen  [rrthümern  vorzüglich 
dreierlei  Unrichtigkeiten  hervorzuheben.  Erstlich  sind  die  Grenzen  von  Ober-  und 
Niederpannonien  nicht  genau  beobachtet,  indem  die  Stadt  Bregaetion .  die  eine 
niederpannonische  war,  zu  Oberpannonien  gerechnet  wird.  Zweitens  sind  mehrere 
Städtenamen  ganz  unrichtig-  und  verstümmelt  geschrieben,  statt  Oüivooßova  ist  das 
corrumpirte  IoyXioßova,  statt  XspouXaxa  das  entstellte  Xsp-oßaXci<;  u.  s.  w.  genannt. 
Drittens  sind  die  Legionsangaben  entweder  nicht  zu  den  Orten  wozu  sie  gehören, 
geschrieben,  oder  sie  enthalten  Unrichtigkeiten  und  sind  mangelhaft.  Diese  Irrthiimer 
mögen  nicht  auf  Rechnung  dec  Ptolemäus,  sondern  seiner  Abschreiber  zu 
setzen  sein.  Zu  'IooXiößov«  (für  OüivGoßova)  ist  zwar  richtig  die  X.  Legion  bei- 
geschrieben, aber  mit  entstellten  Beinamen,  statt  Xsy'wv  8exaxi)  rep|i«vix^  muss  es 
heissen  Xsyiiuv  Ssxdrr)  Tsixivt).  Nicht  zu  «PXsÜov  sondern  zu  KapvoD?  (Carnuntum) 
gehört  der  Zusatz:  Xsy'u>v  18  rspixavixY) ,  wo  aber  wieder  dieselbe  Verwechselung 
vorkommt,  indem  Tspixavix^  anstatt  rs(j.ivr)  gesetzt  ist,  denn  es  ist  die  Rede  vor  der 
XIV  Gemina.  Bei  ßpeY«itiov  (Bregetio)  ist  der  Zusatz  Xsyi<uv  d  ß^So;  (|eg-.  I  Ad- 
jntrix)  an  der  rechten  Stelle.  Dagegen  musste  nicht  bei  'AxoufUYxov  (Aeimineum), 
sondern  bei  'Axoüiyxov  (Aquincum)  der  Beisalz  Xsy1iuv  stehen  ,  und  zwar  noch  mit 
Hinzufügung  des  ausgefallenen  ß'  ßrjT/!}o<;  (II  Adjutrix). 


Die  römischen  Legionen  prima   und  secunda  Adjutrix.  320 

für  unsern  Zweck  ist  das  was  bei  den  pannonischen  Städten  sich 
beigeschrieben  findet,  nämlich 

bei  Vindobona  leg.  X  Gem. 

bei  Carnuntum  leg.  XIIII  Gem. 

bei  Bregetio  leg.  I  Adiut. 

bei  Aquinquo  leg.  II  Adiut.  *) 

So  lange  das  römische  Reich  im  Abendland  bestand,  blieben  die- 
selben Legionen  in  Pannonien  in  ihren  alten  Standlagern.  Selbst  als 
das  Land  in  der  Zeit  des  Diocletianus  und  Constantinus  des  Grossen 
eine  neue  Eintheilung  in  drei  abgesonderte  Provinzen  erhielt, 
änderten  nicht  die  beiden  Legionen  I  und  II  Adjutrix  ihre  Stand- 
lager. Nach  der  neuen  Eintheilung  des  römischen  Reiches  durch 
Konstantin  den  Grossen  ,  welche  sich  unverändert  bis  in  das  fünfte 
Jahrhundert  erhielt,  gehörte  Pannonia  zu  dem  abendländischen  Uly— 
ricum  das  unter  dein  Praefectus  Praetorio  Italiae  stand.  Es  zerfiel 
in  die  nördliche  Consularprovinz  Pannonia  Prima  worin  auch  Nori- 
cum  bis  an  den  Inn  mit  inbegriffen  war,  und  das  von  den  drei  Legio- 
nen X  Gemina  ,  XIV  Gemina  und  II  Italica  bewacht  wurde ;  dann  in 
Pannonia  Secunda  oderRipariensis,  auch  Savia  genannt,  welches  den 
Süden  des  Landes  in  sich  fasste  ,  wo  die  beiden  von  Diocletian 
errichteten  Legionen  V  Jovia  und  VI  Herculea  stationirten,  und  end- 
lich in  das  östliche  Pannonien  Valeria  Ripensis,  wo  unsere  beiden 
Legionen  I  und  II  Adjutrix  noch  die  Standlager  Bregetio  und 
Acinquum  mit  einer  Anzahl  anderer  festen  Positionen  inne  hatten 2). 

Dass  trotz  der  verheerenden  Hunnen-  und  Gothenzüge  in  Pan- 
nonien nach  dem  Abzüge  der  barbarischen  Völker  im  Anfange  des 
sechsten  Jahrhunderts  die  Grenzfesten  an  der   mittlem   Donau   mit 


1)  Die  beste  Ausgabe  mit  kritisch  revidirtem  Texte  von  dem  Itinerarium  Antonini 
Augusti  haben  Parthey  und  Pin  der,  Berlin   1848,  geliefert. 

2)  Die  im  Anfange  des  V.  Jahrhunderts  abgefasste  Notitia  dignitatuin  Imperii  gibt  über 
die  spätere  Eintheilung  Pannoniens  (vgl.  B  ö  c  k  i  ng,  annotat.  c.  31  —  33  ad  Notit. 
II,  p.  96,  145,  661,  692,  1194)  und  über  die  Stationen  der  I  und  II  Adjutrix  Auskunft. 
Die  Angaben  daselbst  lauten  : 

Praefectus  Legionis  I  Adj  ut  ri  eis   cohortis  V  partis  superioris  Bregetione. 
Praefectus  Legionis  II  Adjutricis  cohortis  partis  superioris  Aliscae. 
Praefectus  Legionis  II  Adjutricis  partis  inferioris  Florentiae. 
Praefectus  Legionis  II  A  dj  u  t  r  i  c  i  s  tertiae  partis  superioris  Acinco. 
Praefectus  Legionis  II   Adjutricis  in  castello  contra  Tautantum. 
Praefectus  Legionis  II  Adjutricis  Lussonio. 
Praefectus  Legionis  (II  Adjutricis)  Transacinco. 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  II.  Hft.  22 


330  Aschbach. 

ihren  Legionen  noch  in  den  Händen  der  Römer  waren,  erhellt  aus 
manchen  Überlieferungen,  Nach  dem  Untergange  des  abendländi- 
schen Römerreiches  kam  Pannonien  zu  dem  byzantinischen  Reiche; 
Kaiser  Justinian  hatte  grpsse  Schwierigkeit,  es  gegen  die  Germanen, 
die  Heruler  und  Gepiden,  welche  öfters  in  des  Kaisers  Dienste  tra- 
ten, zu  behaupten.  Selbst  als  die  Gepiden  Pannonien  besetzt  hatten, 
behaupteten  sich  noch  die  Legionen  in  ihren  festen  Standlagern.  Da 
Justinian  dieselben  doch  als  verlorene  Posten  ansah ,  so  gab  er  sie 
endlich  ganz  auf.  Um  die  Freundschaft  der  Langobarden  und  ihren 
Beistand  gegen  die  Gepiden  zu  gewinnen,  beschenkte  er  jene  die 
damals  in  Rugiland  nördlich  von  der  Donau  und  Oberpannonien  oder 
Pannonia  Prima  gewohnt  hatten,  mit  der  norischen  Hauptfestung 
(Lauriacum)  und  mit  den  pannonischen  Standlagern.  So  kam  Panno- 
nien bald  ganz  in  die  Gewalt  der  Langobarden  *),  und  als  sie  nach 
der  Besiegung  der  Gepiden  (068)  nach  Italien  zogen,  nahmen  die 
an  die  Theiss  neu  eingewanderten  Avaren  das  Land  in  Besitz.  Die 
Spuren  der  beiden  Legionen  I  und  II  Adjutrix  sind  dann  vollständig 
verschwunden. 

Obschon  die  beiden  niederpannonischen  Legionen  I  und  II  Ad- 
jutrix in  der  römischen  Kriegsgeschichte  der  späteren  Kaiser  sicher 
eine  sehr  bedeutende  Rolle  gespielt  haben ,  so  finden  wir  bei  den 
Schriftstellern  des  dritten  und  der  folgenden  Jahrhunderte  doch  nur 
selten  eine  ausdrückliche  Erwähnung  unserer  Legionen2).  Sie  wer- 
den unter  dem  Narnen  der  pannonischen  Heere,  mit  ihren  beiden 
Schwesterlegionen  X  und  XIV  Gemina  in  Oberpannonien ,  oder  mit 
den  an  der  untern   Donau  stationirten  zusammen    als  illyrische  oder 


i)  Proeop.  de  hello  Gothic.  III,  33. 

2)  Ael.  Spartian.  in  vit.  Adrian,  c.  2.  (Adrian.)  trihunus  secundae  Adjutricis  legionis 
creatus —  —  extremis  jam  Domitiani  temporibus.  Capitolin.  vit.  Pertinac.  c.  2. 
(Pertinacem)  Marcus  Imperator  —  primae  legioni  regendae  imposuit,  statimque 
Rhelias  et  Noricum  ab  hostibus  vindicavit.  Es  ist  hier  wohl  die  I  Adjutrix  und  nicht 
die  I  Italica  gemeint,  die  in  Mösien  stand.  Dagegen  gehören  die  Primani,  von  welchen 
Capitolin.  vit.  Clod.  Albin.  c.  6  angibt,  dass  sie  unter  den  Clodius  Albinus  ge- 
standen, offenbar  der  1  Italica  an,  besonders  da  sie  mit  den  Quartani  (IV  Flavia) 
zusammengestellt  werden,  da  diese  letztere  Legion  auch  in  Mösien  stand.  Die  spä- 
testen ausdrücklichen  Erwähnungen  von  der  I  Adjutrix  finden  sich  nach  früheren 
Kaisergesetzen  im  Cod.  Theodos.  in  1.  fi.  C.  Cod.  Justin,  lib.  XII.  tit.  37.  1.  6.  u. 
tit.  53.  1.  3.  u.  hei  Jo.  Laurent.  Lyd.  de  magistrat.  Rom.  III.  2.  u.  von  der  IIAdjutrix 
in  Cod.  Justin,  lib.  X.  tit.  52.  I.  1.  L.  I.  C.  de  prof.  et  med.  X. 


Die  römischen  Legionen  prima  und  secunda  Adjutrix.  331 

Donau-Legionen  im  Allgemeinen  genannt1).  Diese  Legionen  -waren  es, 
welche  vor  allen  andern  den  grossen  Marcomannenkrieg  unter  Mar- 
cus Aurelius  durchzufechten  hatten ;  sie  waren  es,  welche  den  Kaiser 
Septimius  Severus  erhohen  und  ihm  die  Siege  über  seine  Rivalen 
verschafften.  Sie  waren  die  Stütze  des  Kaisers  Maximin,  und  obschon 
auch  in  der  Zeit  der  dreissig  Tyrannen  einige  Gegenkaiser  an  der  Donau 
auftraten,  so  hielten  doch  die  meisten  treu  an  Gallienus,  dem  recht- 
mässigen Herrscher.  In  den  Zeiten  des  K.  Probus,  wie  auch  unter 
der  Regierung  des  Galerius  wurden  sie  zur  Cultivirung  und  Urbar- 
machung des  Landes  verwendet.  Sümpfe  und  Seen  wurden  ausgetrock- 
net, Canäle  angelegt,  Wälder  ausgerottet  und  mancherlei  neue  Anpflan- 
zungen, darunter  auch  der  Weinreben  gemacht.  In  den  Zeiten  der 
Völkerwanderung,  der  Einbrüche  der  Hunnen,  Vandalen,  Rugier, 
Gothen,  Heruler  waren  es  ebenfalls  die  Donau-Legionen  welche  den 
ersten  und  heftigsten  Stoss  auszuhalten  hatten. 

Müssen  wir  beklagen,  dass  uns  die  Schriftsteller  so  wenig  spe- 
ciell  über  die  Legionen  I  und  II  Adjutrix  in  Niederpannonien  berich- 
ten, so  sind  wir  doch  über  ihre  militärische  Wirksamkeit  und  Anwe- 
senheit in  Illyrien  nicht  ganz  ohne  Nachricht  gelassen.  Eine  Menge 
von  Legions-Ziegeln  und  Stein-Inschriften  welche  grösstenteils  in 
der  Nähe  ihrer  Standlager  gefunden  worden  sind,  und  eine  Anzahl 
von  Legions-Münzen  geben  uns  Nachrichten,  oder  doch  wenigstens 
Fingerzeige  und  Andeutungen  von  ihrem  frühern  Dasein  und  Schaf- 
fen in  Pannonien.  Aus  diesen  Quellen  nur  erfahren  wir  auch  die 
weiteren  Beinamen  unserer  beiden  Legionen.  So  lange  die  I  Adju- 
trix noch  nicht  in  Niederpannonien  stand ,  führte  sie  keine  weitere 
Bezeichnung2),  indem  die  Schwester-Legion  II  Adjutrix  sogleich  bei 
ihrer  Errichtung  die  Ehren-Beinamen  Pia  Fidelis  erhielt3).  Seit- 
dem aber  Trajan  die  beiden  Legionen  in  Niederpannonien  unter  dem 
Commando  eines  und  desselben  Legatus  Augusti  vereinigte,  führ- 
ten sie    beide   gleichmässig  dieselben  Beinamen.      Doch  fehlen   in 


*)  Herodian.  an   mehreren  Stellen  seiner  römischen   Geschichte,    besonders  üb.  II. 
c.  9.  fll.  III.  10.  VI.  7.  VII.  2.  u.  3.  Zosim.  III.  11. 

2)  Dieses  lässt  sich  daraus  schliessen,  dass  in  keiner  einzigen  Inschrift  der  I  Adjutrix 
aus  dem  ersten  Jahrhundert  die  Beinamen  Pia  Fidelis  vorkommen. 

3)  Dieses  erscheint  aus  Vespasian's  Mflitärdiplom  vom  .1.  70  für  Veteranen  der  Leg-.  II 
Adjutrix  Pia  Fidelis,   vgl.  oben. 

22» 


332  Aschbach. 

manchen  späteren  (chronologisch-bestimmbaren)  Inschriften  *)  entwe- 
der die  Prädicate  Pia  Fidelis,  oder  sie  wurden  gewöhnlich  nur  durch 
die  Buchstaben  P.  F.  angedeutet2):  sie  kommen  aber  nicht  vor  auf 
den  silbernen  Münzen  welche  der  Kaiser  Septimius  Severus  auf 
unsere  beiden  Legionen  schlagen  Hess  3).  Auf  den  bei  Mainz  gefun- 
denen Legions -Ziegeln  und  Inschriften  der  I  Adjutrix  findet  sich  nie 
der  Beisatz  P.  F.,  sondern  nur  einfach  die  Bezeichnung  LIA,  oder 
LEG  I  A-  oder  LEG  ■  I  AD  oder  vollständiger  ADIV,  ADIVT  und 
ADIVTB 4).  So  auch  auf  den  bei  Ofen  in  Ungern  gefundenen  Steinen, 
aber  häufig  noch  mit  Hinzufügung  von  P  F  5).  Ähnlich  sind  die 
Legionsbezeichnungen  der  II  Adjutrix6). 


1)  Z.  ß.  in  der  Inschrift  (bei  Chandl  er,  Inscr.  Ant.  p.  93,  6)  von  Ael.  Valerianus  Bf. 
Trib.   Leg.  I  Adj.  v.  J.  243  p.   Ch.  Arriano  et  AIO   (lies  PAPO)   COS.    Eine  andere 

v.  J.  191  Aproniano  et  Bradua  Cos.  bei  Steiner  N.  712:  Avitus  Savaria ex 

aquilifer.  Leg.  I  I  Adjutricis.     Eine  dritte  v.  j.  229 :  Leg-.  H.  AD  •  P  •  F  •  S  •  V  •  L  •  M  • 
IMP  •  D  -N  •  SEVE  •  ALEX  •  T  •  CASS  ■  DIONE  COS  (bei  Orelli  Nr.  1177). 

2)  Munt.  812.  7. 

D  •  M  |  FABIO  MAX1MO  |  QVI  VIXIT  ANN.  XLVIO  |  JVL1A  ENTITIA  |  CONJVCI 
F  •  C  •  LEG  .  TA  •  P  •  F  VEXIL  ■  TRES.  Es  ist  zu  lesen  LEG  T  •  A  •  P  •  F  i.  e.  Leg. 
I  Adjutr.  Piae  Fidel.  Auch  in  der  bei  Wien  gefundenen,  bei  M  ura  t.  796,  1  mit- 
getheilten  Inschrift,  worin  vorkommt: 

M  •  AVR  •  VALENTI  2-  LEG  ■  TA  ■ 
ist  für  TA  zu  lesen   I  •  A  i.   e.  I  Adjutr. 

3)  Der  Avers  mit  dem  belorberten  Haupte  des  Kaisers  und  der  Legende: 

IMP  •  CAE  •  L  •  SEPT  •  PERT  ■  AVG 

(i.  e.  Imperator  Caesar  Lucius  Septimius  Pertinax  Augustus)  und  auf  dem  Revers: 

LEG  •  I  •  ADIVT  .  TR  •  P  •  COS      oder 
LEG  •  II  •  ADIVT  •  PR  •  P  •  COS 

(i.  e.   Leg.  I  [II]  Adjutr.  Tribunit.  potestat.   Consul.)    Cf.  Eckhel  doctr.  num.  Vet. 
T.  VII,   168. 

4)  Vergl.  Steiner,  Cod.  Inscript.  lat.  Reni  N.  362.  I.  395— 401.  437.  526.  533.  536. 
537.  545.  u.  ff.  vgl.  oben  S.  321,  Note  2. 

5)  Orelli  Nr.  3550.  D.  M  |  MEMORIAE  QVONDAM  |  Q -NVMITORII  FELICIS  £  LEG- 
I  ADI  |  PF-  VIXIT  ANNIS  LX  STIP  ■  XL  |  AELIA  SABINA  CONIVGI  |  PIENTIS- 
SIMO  F.  C.  Auffallend  ist  es,  dass  in  folgender  Inschrift  (bei  Orelli  4974)  die 
Beinamen    fehlen,  da  doch  die  darin  genannten  anderen  Legionen  sie  haben: 

ABXOBAE   |   C  •  ANTONIVS   |   SILO    £  •  LEG  •  I  •  AD   |   IVTRICIS    ET    LEG  ■  II  ■ 
ADIVTRICIS  ET  LEG  ■  III  •  AVG  |  ET  LEG  •  IUI  ■  F  •  F  |  ET  LEG  •  XI  •  GL  •  P  •  F  | 
ET  LEG  •  XXII  P-FD|VSLLM- 

6)  Die  Stelle,  wo  das  Standlager  Bregetio  gewesen  ,  ist  noch  nicht  genau  ermittelt; 
ist  sie  einmal  genau  bestimmt,  so  lassen  sich  wohl  noch  manche  Spuren  römischer 
Alterthümer  an  der  Lagerstätte  auffinden.  Gerade  Legionsziegeln  von  der  II  Adjutrix 
könnten  auf  die  Spur  der  Lagerstätte  führen. 


Die  römischen  Legionen  prima  und  secunda  Adjutrix.  333 

Unter  Elagabal  führte  die  I  Adjutrix  die  Beinamen  bis  Pia 
Fidelis1)»  und  unter  Galiienus  werden  ihr  auf  Legions-Münzen  die 
Prädicate  VI-PYIF  (d.  i.  sextum  Pia  et  sextum  Fidelis)  gegeben, 
welche  auch  der  II  Adjutrix  ertheilt  werden,  aber  auch  mit  einer 
Steigerung  septimum  Pia  et  septimum  Fidelis.  Aus  diesen  gallieni- 
schen Legionsmünzen  erfahren  wir,  dass  ausser  dem  Adler  die  I  Ad- 
jutrix den  Steinbock  und  den  Pegasus,  die  II  Adjutrix  den  Pegasus 
und  den  Storch  geführt  hat2). 

Zu  den  beiden  Beinamen  Pia  Fidelis  erhielten  von  einzelnen 
Kaisern  die  beiden  niederpannoiiischen  Legionen  auch  noch  weitere 
Beinamen,  um  ihre  Treue  und  Anhänglichkeit  an  das  kaiserliche 
Haus  besonders  zu  belohnen.  Es  sind  vorzüglich  Septimius  Severus 
und  die  Nachfolger  aus  seiner  Familie  gewesen,  welche  nicht  blos 
unseren,  sondern  auch  den  meisten  anderen  Legionen  Bezeichnungen 
nach  dem  kaiserlichen  Namen  ertheilten  und  dadurch  uns  einen  Fin- 
gerzeig geben,  aus  welcher  Zeit  die  Inschrift  rührt,  worin  die  mit 
einem  solchen  Beinamen  ausgezeichnete  Legion  genannt  ist.  Denn 
ein  solcher  Beiname  war  nur  für  die  Dauer  der  ßegierung  desjenigen 
Kaisers  ertheilt,  der  ihn  gegeben  hatte.  Septimius  gab  den  Beinamen 
Severiana,  der  gewöhnlich  abgekürzt,  ja  selbst  nur  durch  den  einzigen 
Buchstabens    angedeutet  wurde 3);    Caracalla    dessen    kaiserlicher 


!)   DEO  SOLI  ELAGABAL 

AM  MVNATI  •  MIL  ■  LEG  •  I  •  AD 

BIS  P  •  FD  •  CON 
(Eck  hei,  doet.  num.  vet.  VII,  405.    Orelli,  N.  3390.)  CON  ist  nicht  Constans, 
ein   weiterer    Beinamen  der  Legion  ,    sondern    constituit,    wie  dieses  Wort  in  In- 
schriften öfter  abgekürzt  wird. 

2)  Eck  hei,  doct.  num.  Vet.  T.   VII,  p.  402. 

3)  Der  Beiname  Severiana  ist  in  folgenden  Inschriften  vollständig  ausgeschrieben: 

1.  In  einer  bei  Ofen  gefundenen  Inschrift,  welche  Murat.  70,  7  mittheilt: 
SILVANO  AVG  |  AVR  L  F  PORVS  VET  |  ALAE  II  AVR  VALES  |  MIL  LEG  Ü 
ADIVTR  |  SEVERIANAE  .  .  |  ET  AVR  SEVERA  FILIA 

2.  In  einer  Inschrift  bei  0  r  el  1  i  3393,  die  ebenfalls  bei  Ofen  gefunden  worden : 
LEG  II  ADI  P  F  SEVERIANA.  Die  unten  S.  334,  Note  2,  mitgetheilten  In- 
schriften, worin  unsere  Legionen  den  Beinamen  Severiana  führen  ,  sind  wohl  nicht 
hieher  zu  rechnen,  indem  sie  nach  der  beigefügten  chronologischen  Angabe  in  die  Zeit 
des  Severus  Alexander  gehören,  der  vielen  Legionen  auch  den  Beinamen  Severiana 
mit  und  ohne  die  Beifügung  von  Alexandriana  gab.  Klein  (in  den  Bonner  Jahrb. 
XXII.  S.  119)  behauptet,  Severiana  sei  als  Beiname  der  Legionen  meistens  voll- 
ständig ausgeschrieben  oder  mit  SEVER  oderSEV  bezeichnet,  nur  höchst  selten,  fast 
in  zweifelhaften  Fällen  erscheine  es  nur  mit  S.  Iliezu  nahm  er  als  Beweis  die  Inschrift 


334  Aschbach. 

Name  Antoninus  war,  ertheilte  den  Beinamen  Ant  oniniana,  der 
in  der  Regel  ebenfalls  nicht  ausgeschrieben ,  oft  nur  durch  den 
einzigen  Buchstaben  A  angezeigt  ward  *) ;  ob  auch  von  Severus 
Alexander  unseren  beiden  Legionen,  wie  einigen  andern  Legionen  der 
Doppelbeiname  Severiana  Alexandrina,  wofür  gewöhnlich  nur 
die  Chiffern  S  A  geschrieben  wurden,  beigelegt  wurde,  ist  höchst 
wahrscheinlich.  Unter  seiner  Regierung  führten  aber  unsere  beiden 
Legionen  I  und  II  Adjutrix  auch  den  Beinamen  Severiana  2),  nach 
seinem  eigentlichen  Namen  Severus,. 


bei  0  r  e  1 1.  Nr.  1177,  wo  anstatt  LEG  •  II  •  AD  •  P  •  F  •  S  •  VLM  gelesen  werden  müsse : 
AD  •  P  •  F  •  V  •  SLM.  In  der  Inschrift  bei  Grut.  24,  6.  Orel  li  Nr.  1307  bedeutet 
LEG  •  I  •  AD  •  P  •  S  nicht  Leg.  I  Adjutrix  Pia  Severiana ,  sondern  Leg.  I  Adjutrix 
pecunia  sua. 
*■)  Eine  bei  Raab  gefundene  Inschrift  vom  Jahr  207  n.  Chr.  (Apro  et  Maximo  coss.)  gibt 
Grut.  103,  6: 

VICTORIAE  |   AVGG  NN  |  ET  LEG  I  |  ADI  P  F  |  ANTONINIANAE  j  P  MARCIVS 
P  F  |   SEXTINIANVS  |  EPHESO  |  P  P  D  D  |  DEDICANTE  |  EGNATIO  |  VICTORE  | 
LEG  AVGG  |  PR   PR  |  ET  CL  PISONE  |  LEGATO  LEG  |  V  IDVS  IVNIAS  APRO  ET 
MAX  COSS. 

Eine  andere  bei  Ofen  gefundene  Inschrift  geben  G  r  u  t  e  r  1068.  2  und  0  r  e  1 1  i 
Nr.  2129: 

DIS  M1LITARIBVS 

ET  GENIO  LOCI  PRO 

SALVTE  ET  REDITV 

IMP  •  CAES  •  M  •  AVR. 

ANTONINI  PH  INVICTI  AVG  ■  CLOD 

MARCELLINVS  S  •  C  •    TRIB  •  MIL  •  LEG  ■  II 

A  •  P  •  F  •  ANT  •  TRANSLAT 

EX  LEG  •  X  •  FR  •  ANT  ■  NV 

MINI  EIVS  SEMPER 

DEVOTISSIMVS 

2)  Dieses  lässt  sich  aus  zwei  Inschriften  vom  J.  228  nach  Chr.  (Modesto  et  Probo 
Coss.)  nachweisen:  die  erstere  ist  bei  Ofen  gefunden  und  findet  sich  bei  Grut  er 
169,  7  raitgetheilt : 

SCHOLA  SPECVLATORVM  LEGIONVM 

F  ET  Ü  ADIVTRICVM  PIARVM  FIDELIVM 

SEVERIANARVM  REFECTA  PER  EOSDEM 

QVORVM  NOMINA  INFRA  SCRIPTA  SVNT 

DEDICANTE  FL  AELIANO  LEG  AVG  PR  PR 

KAL  OCTOB  MODESTO  ET  PROBO  COS  [Es  folgen  dann  die  Namen]. 

Die  andere  Inschrift  ist  bei  Waizen  in  Ungern  gefunden  und  steht  bei  Sestin. 
Viaggio  p.  239  : 

AESCVLAPIO  |  ET  HYGIAE  |  AVG  .  .  .  AVR  ARTEMIDORVS  BF  LEG  LEG  |  II 
ADP  F  S  |  AGENS  CC  |  V  S  L  M  |  MODESTO  |  ET  PROBO  COSS 


Die  römischen  Legionen  prima  und  secunda  Adjutrix.  33ö 

Von  dem  Kaiser  Gordian  III.  führte  die  II  Adjutrix  den  Beinamen 
Gordiana1)  und  unter  K.  Claudius  Gothicus  auch  den  Zusatz  sex- 
tum  Pia  sextum  Fidelis  Cons  tans  Claudiana2).  Dass  die 
I  Adjutrix  den  Ehrennamen  V  i  c  t  r  i  x  geführt  habe ,  wie  man  in 
einer  Inschrift  aus  dem  Ende  des  ersten  Jahrhunderts  hat  finden 
wollen,  hat  sich  unrichtig  erwiesen,  indem  das  Wort  Victrix  auf  dem 
Steine  gar  nicht  vorkommt ,  und  nur  die  unrichtige  Lesung  des 
Schlusses  von  dem  Worte  ADIVTR  zu  dem  Irrthume  Veranlassung 
gegeben  hat3). 

Weder  die  I  Adjutrix  noch  die  II  Adjutrix  haben  den  Ehren- 
namen Augusta  geführt  *),  nur  in  falschen  Inschriften  wird  er  ihnen 
beigelegt.  Die  Behauptung5),  dass  die  II  Adjutrix  auch  II  Flavia 
genannt  worden  sei,  ist  eine  irrige;  denn  die  Legio  II  Flavia  ist  eine 
von  unserer  II  Adjutrix  ganz  verschiedene;  sie  ist  erst  von  Constan- 
tinus  errichtet  und  nach  seinem  Beinamen  Flavius  genannt  worden. 

Noch  ist  zu  bemerken,  dass  es  nicht  mehr  als  zwei  Legionen 
gab,  die  den  Beinamen  Adjutrix  führten;  es  ist  eine  falsche  Inschrift, 
welche  eine  Legio  IV  Adjutrix  nennt6). 


!)  LEG  •  II  •  ADI  •  P  •  F  •  GORDIANA  (Orell.  Nr.  339S) ;  und  eine  andere  ebenfalls 
zu  Altofen  gefundene  Inschrift  hei  Reines.  Inscr.  316.  N.  39:  IMP  ■  CAESARI  M  \ 
ANTONIO  GOR  |  DIANO  PIO  FEL  |  INVICTO  AVG  |  PONTIFICI  MAX  |  TRIB  ■ 
POTEST  •  fil  COS  •  PROCOS  •  PI  |  L  •  II  •  ADI  •  P  •  F  |  GORDIANA  |  NVMI  | 
MAIESTATIQVE  1  EIVS. 

2)  Die  zu  Buda  (Ofen)  gefundene  Inschrift  Schoen  visner  iter  p.  Pann.  II,  186. 
Eckhel  D.  N.  Vet.  VII,  405.  Orell.  Nr.  1024  u.  4985:  IMP  •  CAES  •  M  ■  AVREL| 
CLAVDIO  GERMANICO  |  P  •  F  •  INVICTO  AVG  |  PONT  •  MAX  •  TRIB  •  POT  •  111  • 
COS  •  PRO  |  COS  •  P  •  P  •  LEG  •  II  •  ADI  |  TT  •  P '  ■  vT  •  F  •  CONSTANS  |  CLAVDIANA 
NVMINI  MA  |  IESTATIQVE  |  EIVS  DICATISSIMA. 

3)  Q.  Petronius  C.  F.  |  Modestus  P  •  P  •  BIS  |  LEG  •  XU  ■  FVLM  •  ET  LEG  ■  I  •  ADIVT  | 
VICTR  •  Trib.  Mil.  COH.  V  Vig  |  Tr.  Coh.  XU  Vrb.  Tr.  Coh.  V  Pr.  Proc.  |  Divi 
Nervae  et  Imp.  Caes.  |  Nervae  Trajani  Aug.  Germ.  |  Provinc.  Hispaniae  citer. 
Asturicae  et  Galaeciarum  Flamen  Divi  |  Claudi  dedit  idemque  dedicavit.  Diese  In- 
schrift wurde  bei  Triest  gefunden:  sie  ist  abgedruckt,  bei  Grut.  193,  3.  Murat. 
874,4.  Kellermann,  Vig.  N.  41.  Aber  bei  Kandier,  Inscr.  dei  tempi  Romani 
rinvenute  neu'  Istria.  Trieste  1835,  N.  44  befindet  sich  ein  genauerer  Abdruck :  da 
wird  gelesen  LEG  •  1  ■  ADIVTRIC  .  also  ohne  VICTR.  Vor  Modestus  ist  auch  PVP 
d.  i.  die  tribus  Pupiena  angegeben. 

*)  Murat.  818,  1.  MIL  •  LEG  ■  11  •  ADIVTRIC  •  AVG.  [Bertoli  antich.  di  Aquil.  N.  180-]. 
Bei  Murat.  729,  4  ist  A.  A.  nicht  Adjutrix  Augusta,  sondern  Adjutrix  Autoniuiana 
zu  lesen. 

5)  Steiner,  cod.  inscr.  Rheni  ed.  I,  p.  211. 

6)  Murat.  287,  2.  Mommsen,  Inscr.  regn.  Neap.  stellt  sie  mit  Recht  unter  die 
Inscr.  spur.  N.  232. 


336  Aschbach. 

Wir  haben  noch  eine  ziemlich  grosse  Anzahl  von  Stein-Inschriften 
die  unserer  beiden  Legionen  erwähnen  :  ihre  Zahl  geht  weit  über 
hundert.  Von  der  I  Adjutrix  aber  haben  sich  mehr  erhalten  als  von 
der  II  Adjutrix.  Die  meisten  sind  in  Ungern  gefunden  worden,  was 
leicht  daraus  erklärt  werden  kann,  dass  die  beiden  Legionen  in 
Niederpannonien  am  längsten  ihre  Standquartiere  gehabt  haben. 
Aber  auch  in  den  Rheingegenden,  in  Italien  und  in  Spanien  sind 
nicht  wenige  gefunden  worden.  Besonders  interessant  müssen  uns 
die  Inschriften  sein  ,  welche  Personen  nennen  ,  die  in  der  einen 
oder  der  andern  Legion  ein  höheres  Militäramt  bekleidet  haben. 
Jedoch  ist  die  Zahl  der  Inschriften,  die  uns  Legaten  oder  Legati 
Augusti  nennen  nur  gering1)»  auch  über  deren  Stellvertreter  die 
Legions  -  Präfecten  (praefecti  legionis  oder  praefecti  castrorum)  2) 
sind  nur  wenige  Inschriften  vorhanden.  Viel  grösser  ist  die  Zahl 
über  dieTribuni  militum  3),  die  Primipili4)  und  die  übrigen  Centurio- 
nes5)  oder  Hauptleute.  Aber  auch  in  Bezug  auf  die  niederen  Militär- 


t)  Legaten  der  I  Adjutrix:  Orelli  N.  822.  Labus  diss.  p.  35.  Arneth,  Beschreibung 
des  Münz-  u.  Antiken-Cab.  p.  32.  Henzen,  Jahrb.  d.  Vereins  v.  A.  Fr.  im  Rhein). 
XIII,  67.  Roulez  Magistrats  Rom.  de  la  Beig.  in  den  Mem.  de  l'aead.  de  Brux.  XVII, 
24,  über  den  Legatus  Leg.  I  Adjutr.  A.  Platorius  Nepos.  —  Gruter  24,  6  und 
Orelli  Nr.  1307  über  den  Leg.  Leg.  I  Adj.  L.  Antonius  Sabinianus.  —  Borghesi, 
Annali  dell'  Inst,  archeol.  XI,  p.  147,  über  den  Leg.  Augusti  Leg.  I  Adjutr.  C. 
Julius  Maximus  Brochus.  —  Murat.  517,  4.  Inschr.  auf  den  Leg.  Leg.  II  Adjutr. 
Q.  Ranius  Honoratianus. 

2)  Von  der  I  Adjutrix  :  Gruter  345,  3  =  M  a  f  f  e  i  M.  V.  242,  3  u.  O  r  e  1 !  i  Nr.  2695  ; 
Maffei,  A.  C.  L.  346,  2  =  Orelli  Nr.  2731.—  Von  der  II  Adjutrix:  Gruter 
1069,  11. 

3)  Von  der  I  Adjutrix:  Gruter  368,  5  =  493,  1;  381,  1  =  Marini,  fr.  arv.  p.  793; 
Gruter  436,  7  =  Mommsen,  I.  R.  N.  N.  1426;  Maffei,  M.  V.  365,  2  = 
Don  ati  295,  4.  Von  der  II  Adjutrix:  Gruter  392,  7  =  Orelli  3898;  Gruter 
1068,  2  =  Orelli  2129;  Gruter  356,  1  =  Orelli  890;  Gruter  348,  1  = 
Orelli  2258;  Sestini  Viagg.  254  =  Orelli  1458;  Sestini  257  =  Marini, 
F.  A.  p.  145  u.  Orelli  1665;  Fabrett.  10,  554  =  D  o  na  ti  VI,  42  u.  Mor  c  eil. 
de  stil.  LXVIIII. 

4)  Von  der  I  Adjutrix:  Gruter  383,  7  =  Murat.  15,  7;  Gruter  387,  8  =  Orelli 
3445;  Gruter  193,  3  =  Murat.  874,  4  u.  Kellerma  nn,  Vig.  N.  41 :  besser  bei 
Kandier,  Inscr.  N.  44 ;  Masdeu,  bist,  de  Esp.  V.  N.  411;  Mommsen,  I. 
R.  N.  2666.  —  Von  der  II  Adjutrix:  Gruter  21,  9.  =  Marini,  F.  A.  p.  530 
u.  Orelli  3048. 

5)  Von  der  I  Adjutrix:  S  e  s  t  i  n.  V.  p.  274  =  Orelli  3550;  Maffei,  M.  V.  461, 
2;  Orelli  4974;  Murat.  823,  5;  796,  1;  1019,  4.  Gruter  541,  6;  1096, 
6  =  Kellermann,  Vig.  N.  34;  Mommsen,  I.  R.  N.  1947.  —  Von  der  II Ad- 
jutrix: Gruter  387,  8  =  Orelli  3445;  Orelli  4962  u.  4974. 


Die  römischen  Legionen  prima  und  secunda  Adjutrix.  ö37 

ämter  und  die  bevorzugten  Stellungen  der  Soldaten  fehlt  es  nicht  an 
Inschriften  von  unseren  beiden  Legionen;  es  werden  darin  genannt 
aquiliferi  *),  imaginiferi 2),  signiferi 3),  armorum  custodes4),  bene- 
ticiarii  5),  speculatores6),  veterani 7)  ,  dnplarii 8),  equites  9)  u.  s.  w. 
Bei  weitem  die  grösste  Zahl  der  Inschriften  aber  betreffen  gewöhn- 
liche Soldaten  10), 

Es  erübrigte  noch  die  zu  unseren  beiden  niederpannonischeu 
Legionen  gehörigen  Auxiliartruppen  zu  besprechen.  Dieser  ziemlich 
umfassende  Gegenstand  aber,  der  einen  wesentlichen  Theil  des 
Exercitus  Pannonicus  in  sich  begreift,  soll  in  einer  andern  beson- 
dern Abhandlung  erörtert  werden. 


1)  Von  der  I  Adjutrix:    Steiner,  Cod.  Inscr.  Rh.  N.  712. 

2)  Von  der  II  Adjutrix:  Murat.  86,   11. 

3)  Von  der  I  Adjutrix:  Sestin.    p.  281   =  Orelli  3531. 

4)  Von  der  II  Adjutrix:  Murat.  855,  1. 

5)  Von  der  I  Adjutrix:  Ch  and  ler,  Inscr.  Ant.  93,  8.    Von  der  II  Adjutrix:  Sestini 
p.  259. 

6J  Von  der  I  et  II  Adjutrix:  Gruter  169,  7. 

7)  Von  der  I  Adjutrix :  Gruter  478,  6 ;  von  der  II  Adjutrix :  S  e  s  t  i  n.  250  =  Orelli 
1234.    Murat.  70,  7.    Zeitschr.  für  d.  Gesch.  v.  Steiermark  IV,  209. 

8)  Von  der  I  Adjutrix:  Sestin.  p.281  =  0relli  3531.   Von  der  II  Adjutrix:  Sestini 
p.  239. 

9J  Von  der  II  Adjutrix:  Sestin.  p.  262  =  Orelli  1792. 

10)  Die  Zahl  der  Inschriften  von  gewöhnlichen  Soldaten  ist  ziemlich  gross;  sie  sind  abge- 
druckt   bei  Gruter,  Muratori,  Sestini,  Maffei,  Orelli,   Steiner  u.  A. 


338  A.  Schmidl. 


SITZUNG  VOM  23.  APRIL   1856. 


Gelesen: 


Der  Mons  Cetius  des  Ptolemäus. 

Von  Dr.  A.  Schmidl. 

Die  Bearbeiter  der  Geographia  veterum  scheinen  in  sehr  vielen 
Fällen  zweierlei  übersehen  zu  haben,  und  zwar  vorerst,  dass  nicht 
sowohl  von  einer  „Geographie  der  Alten"  im  Allgemeinen,  sondern  nur 
von  der  „geographischen  Ansicht  der  Alten  in  dieser  oder  jener 
Epoche"  gesprochen  werden  sollte.  Die  ausserordentlichen  Ent- 
deckungen welche,  im  16.  Jahrhundert  sowohl  wie  in  unseren  Tagen, 
die  Kenntniss  einzelner  Erdtheile  so  plötzlich  nicht  nur  erweiterten 
sondern  geradezu  umgestalteten,  kommen  im  Alterthum  freilich  nicht 
vor,  wo  keine  Nordpol-Expeditionen  und  keine  wiederholten  Expedi- 
tionen in  das  Innere  von  Afrika  u.  s.  w.  zunächst  zu  wissenschaft- 
lichen Zwecken  vorgenommen  wurden.  Aber  die  Kenntniss  einzelner 
Länder  so  wie  die  Vorstellung  von  der  Erdoberfläche  überhaupt  war 
dennoch  zu  verschiedenen  Zeiten  eine  sehr  verschiedene,  je  nach 
den  fortschreitenden  Forschungen  sowohl  als  nach  den  wissenschaft- 
lichen Darstellungen  derselben.  Wie  verschieden  ist  nicht  die  Dar- 
stellung des  Eratosthenes  von  jener  des  Ptolemäus  u.  s.  w., 
welche  Verschiedenheiten  zeigt  die  Peutinger'sche  Tafel  von  dem 
Antoninischen  Itinerar!  Bei  der  Erörterung  einer  Frage  die  sich 
auf  die  alte  Geographie  bezieht,  ist  also  wesentlich  erst  die  Zeit 
zu  bestimmen,  für  welche  man  Aufklärung  sucht,  und  es  ist  zur 
erschöpfenden  Darstellung  nöthig  die  Phasen  nachzuweisen,  welche 
die  Darstellung  eines  Objectes  in  den  verschiedenen  Epochen  bei 
den  alten  Schriftstellern  durchgemacht  hat. 


Der  Mons  Cetius  des  Ptolemäus. 


339 


Ein  zweiter  Umstand  der  oft  übersehen  wurde  und  hauptsäch- 
lich zu  der  Verwirrung  beigetragen  hat,  in  welcher  so  viele  Partien 
der  alten  Geographie  sich  befinden,  ist  das  Übertragen  moderner 
Ansichten,  neuerer  Kenntnisse  auf  die  Darstellung  des  alten  Schrift- 
stellers, indem  man  sich  abmüht,  dessen  Angaben  mit  den  neuesten 
Erfahrungen  und  Beobachtungen  in  Übereinstimmung  zu  bringen. 
Als  wenn  Strabon  und  Ptolemäus  nicht  eben  so  gut  die  einzig 
richtigen  Schilderungen  geliefert  hätten,  wenn  sie  die  Hilfsquellen 
des  jetzigen  Forschers  gehabt  hätten.  Die  Angaben  der  Alten  sind 
allerdings  sehr  oft  irrig,  aber  es  handelt  sich  darum  nachzuweisen, 
wie  der  alte  Autor  in  seiner  Zeit,  von  seinem  Standpuncte  aus,  mit 
seinen  Hilfsmitteln  den  Gegenstand  erfassen  konnte  und  musste,  und 
da  wird  man  alsbald  finden,  dass  der  richtige  Blick,  die  scharfe 
Beobachtungsgabe  und  klare,  präcise  Darstellung  welche  wir  an  den 
Classikern  mit  Recht  rühmen,  auch  nur  in  den  seltensten  hieher 
gehörigen  Fällen  sich  vermissen  lassen.  Nur  wenn  man  sich  in  das 
Alterthum  zurückversetzt,  wird  man  seinen  Überlieferungen  gerecht 
werden,  wenn  man  aber  Ptolemäus  mit  unseren  Generalstabs- 
karten in  der  Hand  lesen  und  nach  ihnen  commentiren  will,  so  wird 
man  wohl  zumeist  als  Resultat  nur  das  erhalten,  was  Ptolemäus 
nicht  gemeint  hat  und  nicht  gemeint  haben  kann. 

Diese  Betrachtungen  dringen  sich  denn  auch  jedem  Unbefan- 
genen auf,  der  sich  mit  den  geographischen  Darstellungen  der  öster- 
reichischen Länder  beschäftiget,  wie  sie  bei  den  alten  Autoren  vor- 
kommen, und  ein  schlagendes  Beispiel,  wie  an  sich  klare  Verhältnisse 
verwirrt  werden,  wie  Unrecht  man  den  Classikern  thut,  wenn  man 
sie  desshalb  des  Irrthums  zeiht,  weil  ihre  Ansicht  nicht  mit  der 
jetzt  bekannten  Wirklichkeit  übereinstimmt,  gibt  der  Mons  Cetius 
und  die  Montes  Cetil. 

Der  Mons  Cetius  wird  allgemein  als  die  Grenze  von  Noricum 
und  Pannonia  angegeben.  M anner t  gibt  (III,  612)  als  Resultat  der 
Meinungen  der  Alten  folgendes : 

„Pannonia  wurde  begrenzt  auf  der  Westseite  durch  den  Berg 
Cetius  oder  die  Bergkette  welche  von  der  Save  an,  westlich  neben 
Cilley  unter  dem  neuen  Namen  Trojaner  Berg  gegen  Norden  steigt 
und  endlich  unter  dem  Namen  Calenberg  westlich  von  Wien  an 
der  Donau  sich  endigt.  Weil  die  Gegend  um  Aemona  von  pannoni- 
schen  Völkern  besetzt  war,  so  wurde  die  Grenzlinie  längs  der  Save 


340  A.  Schmidl. 

bis  zu  dieser  Stadt  gezogen  (welche  auf  der  Grenzscheide  zwischen 
Italien,  Pannomen  und  Noricum  stand)  und  liegt  von  da  gerade  öst- 
lich, längs  einem  Theil  der  Carvanka  und  längs  der  albanischen 
Berge,  welche  Fortsetzung  der  Alpen  in  ansehnlicher  Höhe  südlich 
unter  der  Save  gegen  Morgen  fortstreicht." 

Weiterhin  äussert  Mannert  gelegentlich  von  Cetium : 

„Cetium  24  Mill.  nach  der  anderen  Angabe  desitiner.  30  Mill. 
vom  vorigen  Orte  (nämlich  Vindobona)  und  22  Mill.  vom  folgenden 
(nämlich Donau  aufwärts) Arlape.  ..  .Die  Lage  desselben  muss  man 
der  Stadt  Crems  gegenüber,  beim  Kloster  Gottvich,  oder  bei  Mau- 
tern suchen.  Die  Peutinger'sche  Tafel  nennt  wohl  auch  ein  Cetium, 
versteht  aber  dadurch  Kaienberg,  am  Berge  gleichen  Namens 
westlich  von  Wien,  wo  er  die  Grenzen  der  beiden  Provinzen  machte, 
daher  sie  auch  die  Entfernung  von  Vindobona  nur  auf  6  Mill.  ansetzt." 

Wir  werden  in  der  Folge  sehen,  dass  Mannert  —  dessen 
grosse  Verdienste  in  Abrede  zu  stellen  Niemand  beifallen  wird  — 
hier  seine  Ansicht  den  Alten  unterlegte  und  damit  eine  ganze  Kette 
von  Irrthümern  behauptet.  Nicht  anders  erging  es  auch  Hormayr. 
Nachdem  er  die  erste  der  entscheidenden  Stellen  bei  Ptolemäus 
citirt  hat,  folgert  er  dergestalt  *): 

„Nach  genauen  neuen  Aufnahmen  zieht  sich  diese  Grenzscheide 
(nämlich  Mons  Cetius)  also:  mit  dem  Kahlen-  und  Leopoldsberge  an 
der  Donau  endigend,  steigt  der  Gebirgszug  von  dieser  über  den 
Hermanns-Kobel"  und  so  führt  dieselbe  Hormayr  weiter  über  den 
Bosskopf,  Biederberg,  Hochstrass,  Schöpfel,  Harraseck,  Gschaid, 
Hochkogl,  Steinleiten,  Amas-Kogel,  Baxalpe,  Semering,  Wechsel. 
„Der  österreichische  Schneeberg  hat  keine  unmittelbare  Verbindung 
mit  dem  Semmering  oder  wie  des  Lazius  Angabe  glauben  lässt  mit 
der  Prein.  Sollte  dennoch  die  alte  Grenze  Noricums  und  Oberpan- 
noniens  (was  wohl  in  jener  Zeit  kaum  so  genau  geschieden  werden 
dürfte?)  von  Gschaid  nach  dem  Schneeberg  hingegangen  sein,  so  hätte 
sie  sich  wohl  längs  der  Schwarza  bis  Glocknitz  gezogen,  und  sich 
von  da  über  Schottwien  nach  dem  Semmering  gewendet,  oder  wäre 
zwischen  der  Baxalpe  und  dem  Schneeberg  über  die  Schwarzau 
nach  der  Prein  emporgestiegen,  um  dann  dem  Höhenzuge  weiter  zu 
folgen." 


1)  Wien,  seine  Geschicke  und  seine  Denkwürdigkeiten,  X,  121. 


Der  Mons  Cetius  des  Ptolemäus.  341 

„Das  Letztere  scheint  wahrscheinlicher  als  das  Erstere;  jedoch 
fiel,  aller  Wahrscheinlichkeit  nach,  der  Schneeberg  schon  ganz  nach 
Oberpannonien  und  die  Grenze  blieb  dem  Höhenzuge  durchaus  ge- 
treu. Es  ist  dieser  Zug  zu  ausgezeichnet  in  Beziehung  auf  den 
ganzen  Gebirgsstock  und  zu  sehr  in  die  Augen  fallend,  als  dass  ein 
Soldatenauge  —  und  das  hatten  die  Römer  fürwahr;  ein  Hannibal, 
ein  Viriath,  ein  Hermann,  mussten  es  ihnen  lassen  —  eine  andere 
Grenze  wählen  konnte;"  Hormayr  führt  dann  die  Grenze  über  den 
Pfaff,  die  Spitaler  und  Preduler  Alpen,  Teichalpe,  Schocket,  über  die 
Muhr,  den  Platsch,  über  die  Pettauer  Berge,  „über  die  Drau  und  Dran 
nach  dem  Potschberge  (vorzugsweise  Caravanka)  bei  Gonowitz,  folgt 
seiner  Verbindung  mit  dem  Wald-Bacher,  der  gegen  die  Sau  ab- 
fällt, und  nun  dem  linken  Ufer  bis  an  den  Dran  =  Traianerbere1. 
einen  Zweig  der  Neutbaler  Alpen  (Trajani  montes).  Die  meisten 
Altertumsforscher  lassen  die  fragliche  Grenze  der  Sau  noch  weiter 
folgen ,  in  der  Gegend  des  heutigen  Krainburg  über  sie  gehen ,  sich 
auf  das  Suchagebirg  heben,  wo  am  Fusse  desselben  (Na  Bazha) 
die  dreifache  Mark,  Noricums,  Pannoniens  und  Italiens  (Carnia's, 
des  alten  cisalpinischen  Galliens)  zusarnmenfloss." 

Auf  den  ersten  Blick  geht  aus  dieser  Darstellung  schon  hervor, 
dass  Hormayr  einen  fortlaufenden  „Höhenzug"  in  dieser  Richtung 
als  die  Grenzlinie  bezeichnend  annimmt,  das  heisst  denn  wohl  im 
Jahre  1823,  in  welchem  Hormayr  schrieb,  so  viel  als  „Wasser- 
scheide", wie  damals  die  Wasserscheiden-Theorie  am  schönsten 
blühte,  und  dass  er  seiner  Idee  einer  „Grenzlinie"  zu  Liebe  einen 
Höhenzug  (unbeschadet  des  Durchbruchs  der  Flüsse)  annahm ,  wie 
er  in  der  Natur  nicht  existirt.  Fehlte  er  schon  darin,  so  beging  er 
den  zweiten  grössern  Fehler,  diesen  seinen  Irrthum  so  hinzustellen, 
als  hätten  ihn  die  alten  Geographen  ihm  überliefert. 

Wir  wollen  nun  sehen,  was  diese  alten  Schriftsteller,  unsere  geo- 
graphischen Ahnen,  über  den  fraglichen  Gegenstand  uns  wirklich 
überliefert  haben,  und  wie  das  Überlieferte  zu  verstehen  sei. 

Strabon  kennt  den  Mons  Cetius  selbst  dem  Namen  nach  nicht. 
Zwei  seiner  Darstellungen  beziehen  sich  auf  unsern  Schauplatz.  „Den 
See  (Bodensee)  berühren  auf  geringe  Weite  die  Rhaitier,  auf  grössere 
hingegen  die  Helvetier  und  Vindeliker.  Nach  diesen  gegen  Morgen 
folgen  die  Noriker  und  die  Wüste  der  Bojer,  bis  zu  den  Pannoniern. 
Alle  diese  Völker,  zumeist  aber  die  Helvetier  und  Vindeliker  bewohnen 


342  A.    Schmidl. 

Bergebenen.  Die  Rhaitier  und  Noriker  reichen  bis  an  die  Übergänge 
der  Alpen  und  ziehen  sich  gegen  Italien  hinüber,  jene  der  Insubrer 
berührend,  diese  die  Karner  und  die  Gegenden  um  Akyleia"  *). 

„Beschreiben  wir  nun  zuerst  das  Iilyrische  ,  den  Istros  und 
diejenigen  Alpen  berührende  Bergland ,  welche  von  dem  Landsee 
zwischen  den  Vindelikern,  Rhaitiern  und  Helvetiern  beginnend  zwi- 
schen Italia  und  Germania  liegen.  Einen  Theil  dieses  Landes  ver- 
wüsteten die  Daker,   als  sie  die   ....  keltischen  Völker  der  Boier 

und  Taurisker  bekämpften das  Übrige  besetzen  die  Pannonier, 

bis  an  Segestike  und  den  Istros  gegen  Norden  und  Osten;  auf 
den  andern  Seiten  erstrecken  sie  sich  weiter." 

Dieses  „sich  weiter  erstrecken"  gegen  Süd  und  West  muss  die 
Pannonier  zu  Grenznachbarn  der  Noriker  machen,  von  denen  wir 
oben  gehört  haben  dass  sie  „bis  an  die  Übergänge  der  Alpen  reichen" 
und  „die  Karner  und  die  Gegenden  umAquileja  berühren";  Strabon 
gibt  aber  keine  Grenzlinie  zwischen  beiden  Völkern  an,  wenn 
auch  die  Wohnsitze  der  von  ihm  bezeichneten  Völker  solche  Umrisse 
erhalten  haben,  dass  sie  ethnographisch  genommen  wohl  ausreichen. 

Ein  Jahrhundert  später  als  der  amasische  Altvater  der  Geographie 
zieht  aber  Claudius  Ptolemäus  schon  bestimmtere  Grenzlinien  und 
sagt  zuversichtlich: 

Tb  Ncopixbv  nepiopiCezocc  änb  pev  dooecoq  atvcp  nozapcp,  dreh 
Se  äpxzcov  pepec  zoo  Aa.vooßloo  zep  dnt'j  ai'voo  nozapoo  pe'/pi  too 
Ketioo  opooz  ob  deove  [ine/ei  poipa^J  lp  X' — pz  y  . 

Anb  §e  ävazoXcov  aozip  zw  Kezloj  opec '  änb  de  peaypßptaz. 
zip  ze  bnb  zb  elptjpevov  opoq  pepec  rjyc  IJavvovia?  zrj<;  ävo).  oö  zb 
doapixojzazov  nepa<z  ine/ei  poifpaz]  Ä?  — p.£  y 

H  ITawovca  y  ävco  nepiopl^ezai  änb  pev  doaeox:  zip  Keziw 
opec  xal  ix  pipooq  zip  Kapoodyxa.  änb  de  pr^-qpßplaq  zqz  ze 
lazpiaq  xal  zys  'IXXopcooz  pepec  xazä  napäXXyXov  ypappyv  zyv  änb 
zoo  ecpyuevoo  doapcxcozdzoo  nepazoz  dcä  zoo'AXßavoo  bpooz,  peypc 
zöjv  ßeßlcov  öpiwv  xal  zoo  öpioo  zijc  xdzco  Ilawoviat;  o  ine/ec 
poipas    pa  X'  —  ps  y  . 

Anb  de  äpxzaiv,  zip  elp~qp£v(p  opec  zoo  Ncopcxoo,  xal  zip  zoo 
Aavooßioo  pepec  zip  änb  Kezc'oo  öpoos  pey^pc  riyc  xazä  zbv  Apa- 
ßcbva  nozapbv  exzponr^q  ijq  ij  ftiocs  ine/ec  uoepaz     pa — p£  yö. 


1)  Buch  VII.  Absch.  1,  §.  5,  nach  Croskurd. 


Der  Mons  Cetius   des   Ptolemäus.  o4«J 

„Noricum  wird  auf  der  Westseite  durch  den  Innfluss  begrenzt; 
auf  der  Nordseite  durch  den  Theil  der  Donau,  welcher  vom  Inn  bis 
zum  Berg  Cetius  reicht.  37°  30'  L.  —  46"  50'  Br.  Auf  der  Ostseite 
durch  den  Berg  Cetius  selbst,  und  auf  der  Mittags  —  durch  den 
Theil  von  Oberpannonien,  welcher  unter  dem  eben  genannten  Gebirg 
ist,  dessen  westliches  Ende  unter  36°  L.,  —  45°  20'  Br.,  die  Mitte 
aber  unter  dem  37<>  L.,  —  45°  40'  Br.,  liegt »). 

Oberpannonien  wird  begrenzt  gegen  Westen  durch  den  Berg 
Cetius  und  zum  Theil  auch  durch  den  Karvankas;  gegen  Mittag  durch 
einen  Theil  von  Istrien  und  Illyrien  nach  einer  Parallel -Linie, 
welche  von  den  eben  genannten  westlichen  Grenzen  anfängt  und  über 
den  Berg  Albanus  fortläuft  bis  zu  den  Bebischen  Bergen ,  und  den 
Grenzen  Unferpannoniens  zwischen  dem  41°  50'  L., —  45°  20'  Br. 
Gegen  Mitternacht  ist  die  Grenze  Noricum,  und  der  Theil  der  Donau 
welcher  zwischen  dem  Berge  Cetius  an  der  Mündung  des  Flusses 
Arabo,  liegt  unter  dem  41°  L.,  —  47°  40'  Br." 

Ein  geographischer  Autor  kann  wohl  keinen  besseren  Commentar 
haben  als  gleichzeitige  Karten,  die  nach  seinen  Angaben  verfertigt 
wurden.  Ich  sage  gleichzeitige,  weil  die  Erfahrung  uns  hinlänglich 
gezeigt  hat,  dass  spätere  Karten,  in  welchen  man  die  späteren 
Erfahrungen  und  Entdeckungen  mit  den  weit  älteren  Angaben  des 
Autors  combinirt,  nur  zu  Verwirrung  Anlass  geben  können,  und  uns 
am  wenigsten  ein  Bild  der  Anschauungsweise  mittheilen,  die  zur 
Zeit  des  Autors  von  diesem  oder  jenem  Lande  gang  und  gebe  war. 
Ein  Blick  auf  die  modernen  Karten  welche  neueren  Ausgaben  des 
Ptolemäus  beigesellt  sind,  gibt  den  Beweis  für  das  Gesagte. 

Aber  zum  Glück  sind  Karten  auf  uns  gekommen,  welche  schwer- 
lich jünger  sind  als  die  Arbeit  des  Ptolemäus  selbst.  Es  sind 
das   die    dem    Agathodämon   zugeschriebenen  Karten2),    deren 


*)  Über  die  Einwohner  Deutsehlands  im  zweiten  Jahrhundert  der  christlichen  Zeitrech- 
nung, namentlich  über  Sachsen  und  Baiern  nach  Claudius  Ptolemaeus.  Von  Andr. 
Buchner,  München  1839;  4°. 

2)  Einige  der  besten  Handschriften  des  Ptolemäus  enthalten  27  Karten,  ausser  einer 
allgemeinen,  10  von  Europa,  4  von  Afrika,  12  von  Asien,  mit  der  besondern 
Bemerkung,  dass  sie  von  dem  Alexandriner  Agathodämon  verfertigt  sind.  Es  liegt 
somit  die  Annahme  nahe,  dass  der  Mechaniker  Agathodämon,  als  Zeitgenosse 
des  Ptolemäus,  unter  seiner  Leitung  sie  gemacht  habe,  nicht  der  Grammatiker 
gleichen  Namens,  der  im  5.  Jahrhundert  lebte.  (Vergl.  Schö  1 1,  Geschichte  der  griech. 
Literatur,  II.  752.)   Wer  nur  einen  Begriff  von  Kartenzeichnung  (noch  dazu  in  der 


344  A.  Schmidt. 

Originale  wahrscheinlich  sogar  unter  des  Ptolemäus  Leitung  selbst 
für  ihn  angefertigt  wurden,  keinesfalls  aber  viel  jünger  sind.  Hätten 
wir  Text  und  Karte  in  der  ursprünglichen  Gestalt!  Aber  bekanntlich 
gehören  die  Texte  der  ältesten  Geographen  gerade  zu  den  fehler- 
vollsten und  Ptolemäus  insbesondere  entbehrt  noch  immereiner 
tüchtigen  kritischen  Recension.  Die  vorhandenen  Karten  desAgatho- 
dämon  sind  bei  den  erhaltenen  Handschriften  natürlich  Copien, 
im  frühern  oder  spätem  Mittelalter  gemacht,  und  an  der  Peutinger'- 
schen  Tafel  haben  wir  ein  Beispiel  mit  welchen  Unmöglichkeiten 
ein  mittelalterlicher  Copist  seine  Arbeit  vermehrte,  im  Glauben  sie 
zu  verbessern;  wir  sind  daher  berechtiget  die  Agathodämon'schen 
Karten  mit  einigem  Misstrauen  zur  Hand  zu  nehmen,  aber  sie  werden 
uns  dennoch  zweierlei  Dienste  leisten: 

1.  Zu  zeigen,  wie  —  von  Entstellungen  abgesehen  —  des 
Autors  geographische  Anordnung  zu  seiner  Zeit  verstanden  wurde; 

2.  Ob  vielleicht  schon  in  früher  Epoche  —  wenigstens  zur 
Zeit  des  Copist en  —  Auslegungen  des  Textes  vorhanden  waren, 
welche  den  Sinn  nicht  richtig  gaben  und  vielleicht  gerade  die  Quelle 
von  Fehlern  geworden  sind,  die  sich  dann  in  der  Deutung  der  Ansicht 
des  Classikers  immer  weiter  fortgepflanzt  haben. 

Die  Wiener  k.  k.  Hofbibliothek  besitzt  bekanntlich  einen  der 
vorzüglichsten  Codices  des  Ptolemäus,  welchem  denn  auch  die 
Karten  des  Agathodämon  beigegeben  sind  (hier  Agathosdämon 
genannt)  in  einer  Ausführung  die  schwerlich  in  einem  andern  Codex 
übertroffen  wird. 

Von  diesen  Karten  enthält  die  fünfte  europäische  den  für  uns 
interessanten  Schauplatz. 

Wir  sehen  nördlich  den  Verlauf  des  Donaustromes,  südlich 
den  Verlauf  eines  zusammenhängenden  Gebirges  welches  westlich 
den  Namen  Karawanken,  östlich  des  Albe  n-Gebirges  führt. 

Südlich  vom  Donaustrome,  aber  nicht  unmittelbar  an 
demselben,  erhebt  sich  ein  Massengebirge ,  von  Nordost  nach  Süd- 
west streichend,  unser  xercov  ojooc ,   Mons  cetius. 

Wir  müssen  die  naive  Zeichnung  desselben  etwas  näher  ins 
Auge  zu  fassen ,  uns  nicht  der  Mühe  verdriessen  lassen ,    denn  bei 


damaligen  Zeit)  hat,  wird  gewiss  keinen  Augenblick  zweifeln,  ob  er  einen  „Me- 
chaniker" oder  einen  „Grammatiker"  als  Verfertiger  jener  ältesten  Karten  anneh- 
men soll. 


Der  Mons  Cetius  des  Ptoleraäus.  345 

der  Gewissenhaftigkeit  mit  der  die  Alten  das  mittheilten,  was  und 
wie  sie  es  eben  wussten,  andererseits  bei  der  offenkundigen  Naivetät 
ihrer  Darstellungen  ist  an  ihren  Zeichnungen  jeder  Strich  von 
Bedeutung.  Betrachten  wir  die  Zeichnung  unseres  Mons  Cetius 
genau,  so  sehen  wir,  dass  an  demselben  gegen  Osten  und  gegen 
Süden  ein  Abtall  angedeutet  ist,  gegen  Westen  aber  nicht 
und  eben  so  wenig  gegen  Norden.  Was  will  das  sagen?  Offen- 
bar nichts  anderes  als  dass  gegen  Osten  und  gegen  Süden  das 
Ende  des  Gebirges,  sein  Abfall  gegen  die  Ebene  dem  Autor 
bekannt  war,  gegen  Nord  und  West  aber  nicht.  Gegen  West 
konnte  das  auch  nicht  sein,  denn  dieser  Mons  Cetius  ist  selbst  nichts 
anders  als  der  östliche  Abfall  der  Alpen,  dessen  Verlauf  nach 
Westen  freilich  damals  nicht  bekannt  war  —  doch  ich  will  meiner 
Endfolgerung  nicht  vorgreifen.  Der  begrenzende  Querstrich  des 
cetischen  Gebirgspolygon  gegen  Norden  ist  aber  einerseits  nicht 
buchstäblich  zu  nehmen,  da  die  Gebirgszeichnungen  der  Alten 
bekanntlich  perspectiviscb — wenn  auch  im  kindlichen  Sinne — zu 
nehmen  sind;  durch  diesen  scharfen  Querstrich  ist  also  allerdings 
ein  Abfall  und  noch  dazu  ein  plötzlicher  angedeutet.  Aber  von 
Wichtigkeit  für  uns  ist  andererseits  der  Umstand  ,  dass  die  Strom- 
linie der  Donau  damals  nicht  dem  jetzigen  rechten  oder  südlichen 
Ufer  zunächst,  sondern  mehr  am  linken,  nördlichen,  also  am 
Bisamberge  vorüber  führte ,  wohin  sie  in  späterer  Zeit  bekanntlich 
wieder  vorzudringen  suchte. 

Der  genau  bezeichnete  Abfall  des  Mons  Cetius  gegen  Süden  aber 
ist  ein  Beweis,  dass  der  Autor  ihn  als  ein  von  den  Karawanken  g  e- 
trenntes  Gebirge  kannte,  in  dessen  nächster  Nähe  er  jedoch  endete. 

Erwähnung  verdienen  noch  die  drei  am  Mons  Cetius  entspringen- 
den Flüsse,  sie  sind  sämmtlich  so  gezeichnet,  als  ob  sie  am  äusser- 
sten  Abfall  des  Gebirges  gegen  die  Ebene  zu  entsprängen.  Warum? 
Weil  der  Autor  ihren  w ahren  Urs p r u n g  im  Innern  des  Gebirges 
nicht  kannte,  und  dieser  Umstand  ist  für  mich  entscheidend,  er 
beweiset  nämlich,  dass  zur  Zeit  des  Ptolemäus  das  Innere  des 
Mons  Cetius  nicht  bekannt  war 1)- 


*)  Das  heisst  mit  anderen  Worten  im  2.  Jahrhundert,  ßrelimer's  Annahme,  dass 
Ptolemäus  ein  Tyrisches  (also  älteres)  Kartenwerk  (des  Marinus?)  vor  sich  gehabt 
habe,  ist  durch  Heeren  längst  widerlegt  (Ideen  III,  383  und  De  fontibus  geogr. 

Sitzb.  d.  pbil.-bist.  Cl.  XX.  Bd.  II.  Hft.  23 


346  A.  Schmidl. 

Um  unsere  Aufgabe  vollständig  zu  lösen,  dürfen  wir  aber  die 
etwaigen  Varianten  dieser  Karte  nicht  vernachlässigen,  und  zwar 
müssen  wir  auf  die  ältesten  Ausgaben  zurückgehen,  da  den  späteren 
schon  Karten  beigegeben  wurden,  die  nicht  mehr  Copien  jener  des 
Agathodämon  sind,  sondern  nach  Ansicht  des  Herausgebers  mehr 
oder  weniger  rectificirte. 

Die  älteste  Ausgabe  unseres  Autors  ist  bekanntlich  eine  latei- 
nische Übersetzung  welche  aber  keine  Tafeln  enthält.  Dieselbe 
Übersetzung,  mit  Verbesserungen  von  Domizio  Calderino,  Romae 
1478,  enthält  die  frühesten  Copien  der  27  Tafeln,  von  Arnold 
Buckinck.  Sind  diese  Copien  aus  dem  (römischen)  Codex  getreu, 
was  ich  natürlich  nicht  beurtheilen  kann .  so  geben  sie  ein  ganz 
anderes  Bild  unseres  Mons  Cetius,  so  verschieden  von  jenem  in  dem 
Wiener  Codex,  dass  die  Vermuthung  nur  zu  nahe  liegt,  Buckinck 
habe  die  naive  Bergzeichnung  die  der  römische  Codex  ähnlich  mit 
dem  Wiener  haben  dürfte,  verbessern  wollen.  Statt  der  Platte 
welche  wir  im  Wiener  Codex  vor  uns  sehen,  ist  das  Gebirge  hier 
schon  perspectivisch  aus  Gipfeln  übereinander  aufgebaut.  Abgesehen 
von  dieser  sein  sollenden  Verbesserung  zeigt  die  Zeichnung  noch 
zwei  andere  wesentliche  Verschiedenheiten.  Im  Wiener  Codex  ist 
das  Gebirge  an  der  Ostseite  etwas  gegen  Osten  ausgebaucht,  bei 
Buckinck  gerade  das  Gegentheil.  Im  Wiener  Codex  ist  die  Breite 
fast  gleich  von  Nord  nach  Süd,  bis  auf  einen  massigen  Vorsprung  im 
Südwest;  bei  Buckinck  ist  gerade  in  dieser  Gegend  das  Gebirge 
auffallend  schmäler  gezeichnet,  dagegen  im  Norden  gegen  die  Donau 
zu  überwiegend  breiter.  —  Dieselbe  Zeichnung  finden  wir  auch  in 
der  Ausgabe  von  1513,  nur  plumper;  der  Zeichner  war  nicht  so 
geschickt  wie  Buckinck. 

Ein  weiterer  wesentlicher  Umstand  ist  aber  die  verschiedene 
Stellung  der  Schrift.  Im  Wiener  Codex  beginnt  die  Schrift  xiztov 
öpoc;  am  Südende  des  Gebirges  und  ist  ganz  ausgeschrieben  bis  gegen 
das  Nordende.  Bei  Buckinck  steht  die  Schrift  Cetius  Mons  in  der 
Mitte  der  Zeichnung,  in  der  Ausgabe  von  1513  am  äussersten  Nord- 
ende gegen  die   Donau    zu :    Die   alten   Chartographen  hatten  noch 


Ptolem.).  Wären  die  Ptolemäischeu  Karten  aber  auch  vom  Grammatiker  A g a t h  o- 
il  ä  ni  o  n,  so  würde  daraus  nur  folgen,  dass  auch  im  !>.  Jahrhundert  das  Innere  des  Mons 
Cetius  nicht  besser  bekannt  war  als  im  zweiten. 


Der  Mons  Cetius  des   Ptolemäus.  347 

kein  so  complicirtes  reiches  System  von  conventioneilen  Zeichen  für 
die  verschiedenen  topographischen  Verhältnisse  zu  Gehote,  wie  die 
jetzigen  Ingenieur-Geographen,  sie  wussten  aber  durch  so  einfache 
Mittel  geographische  Momente  zu  bezeichnen,  dass  sie  darin  den 
Neueren  oft  als  Muster  dienen  könnten,  die  bis  zur  Verwirrung 
Symbol  auf  Symbol  häufen.  Ich  erinnere  nur  an  den  glücklichen  Ge- 
danken der  Peutinger'schen  Tafel  den  Übergangspunct,  die  Fürth 
eines  Flusses  ganz  einfach  dadurch  zu  bezeichnen,  dass  eben  nur  an 
solchen  Puncten  der  Name  des  Flusses  beigesetzt  ist. 

Wir  dürfen  daher  keineswegs  glauben,  dass  die  Stellung 
der  Schrift  bei  unserem  Mons  Cetius  eine  gleichgiltige  sei.  Im 
Wiener  Codex  ist  sie  offenbar  die  richtige,  das  heisst  dem  Sinn  des 
Ptolemäus  entsprechend,  und  sonach  heisst  bei  ihm  das  ganze  Ge- 
birge von  den  Karawanken  bis  zur  Donau  cetisches  Gebirg.  Der 
Endpunct  desselben  gegen  die  Donau  zu  ist  durchaus  unbenannt,  und 
die  Stellung  der  Schrift  in  den  beiden  erwähnten  Ausgaben  offenbar 
unrichtig,  in  der  Ausgabe  von  1513  ist  sogar  ganz  willkürlich  der 
Endpunct  des  Gebirges  mit  Mons  Cetius  benannt.  Das  wäre  aber 
offenbar  das  heutige  Kahlengebirge  und  ich  stehe  nicht  an  zu  be- 
haupten, dass  nur  diese  wil  1  kür  1  ich  e Änderung  derKarten-Copisten 
zu  der  irrigen  Behauptung  Veranlassung  gegeben  hat: 
der  Kahlenberg  sei  insbesondere  der  Mons  Cetius  der  Alten  und  inso- 
ferne  unterschieden  von  dem  weiteren  Verlaufe  des  Gebirges,  als  der 
„Montes  Cetil". 

Ptolemäus  spricht  auch  immer  nur  von  dem  ganzen  Gebirge 
und  seine  Grenzbestimmung  hat  auch  nur  dadurch  einen  Sinn.  Nur 
die  flüchtigste  Lesung  des  Textes  kann  den  Mons  Cetius  auf  den 
Kahlenberg  beziehen,  denn  die  Worte  „Ober-Pannonien  wird  begrenzt 
gegen  Westen  durch  den  Ber#  Cetius"  können  unmöglich  auf  den 
einzelnen  Kahlenberg  bezogen  werden,  weil  unmittelbar  darauf  die 
Worte  folgen  „und  zum  Theil  auch  durch  den  Karwankas"  was 
Ptolemäus  unmöglich  sagen  konnte,  wenn  er  nicht  das  ganze  Gebirge 
eben  von  der  Donau  bis  zu  den  Karwanken  unter  dem  Namen  ceti- 
sches Gebirge  begriffen  haben  wollte  *). 


')   Wie  es  mit  der  Kenntniss  unseres  Vaterlandes  selbst    bei  unseren  nächsten  Nach- 
barn  aussieht,   ist  Buehnei's   oben   citirte    schätzbare  Arbeit  wieder  ein  schlagender 

23* 


348  A.  Schmidl. 

Die  8  Bücher  der  Geographie  des  Ptolemäus  waren  bekannt- 
lich durch  fast  14  Jahrhunderte  hindurch  das  einzige  systematische 
Handbuch  der  Erdkunde  und  sie  sind  auch  so  sehr  die  vornehmste 
Quelle  der  Geographie  der  Alten,  dass  wir  selbst  unserm  Mons  Cetius 
nach  ihnen  nicht  weiter  mehr  begegnen.  Des  Ptolemäus  Quel- 
len waren  Handelsnachrichten,  Mitteilungen  Alexandrinischer  Kauf- 
leute und  nur  daraus  erklärt  es  sich,  dass  er  aus  Gegenden  von 
Europa  ,  die  keine  hervorragenden  politischen  Schauplätze  waren, 
bessere  und  reichhaltigere  Nachrichten  gibt,  als  selbst  Plinius  und 
Tacitus,  wie  dies  namentlich  mit  den  Nordküsten  unseres Erdtheils 
der  Fall  ist,  über  den  der  Bernsteinhandel  fast  allein  Licht  verbrei- 
ten konnte. 

Wir  finden  also  unsern  Mons  Cetius  nirgend  wo  anders  erwähnt, 
weder  vor  Ptolemäus  durch  Pomponius  Mela  und  Plinius1)» 
noch  späterhin  durch  Fibius  Sequester,  den  ersten  christ- 
lichen Geographen  Aethicus,  selbst  nicht  im  10.  Jahrhundert  durch 
den  kaiserlichen  Statistiker  Constantinus  Po  rphyro gen.  in 
seiner  Militär-Geographie  de  thematibus  imp.  Orient,  et  occident. ; 
nicht  das  Antoninische  Itinerar  und  nicht  die  Notitia  utriusque  imperii 
nennen  unsern  Mons  Cetius,  als  dessen  alleinige  Quelle  daher  Ptole- 
mäus gelten  muss  2). 

Mit  den  Karten  des  Agathodämon  nehmen  wir  auf  längere 
Zeit  Abschied  von  den  karthographischen  Darstellungen  des  Alter- 
thums  überhaupt,  und  von  systematischen  sogar  für  immer.  Die 
nächste  uns  vorkommende  Karte  ist  bekanntlich  eine  „Administrativ- 


ßeweis,  inilem  er  in  einer  seiner  Noten  zu  obigen  Stelleu  sagt:  „Karvankas,  heut 
zu  Tage  Karst  (!),  ein  Zweig  der  venetischen  oder  julischen  Alpen  in  Illyrien, 
im  Triester  Kreis  (!)." 

1)  A  tergo  Carnorum  et  Japydum ,  qua  se  fert  magnus  Hister,  Raetis  junguntur 
Norici.  Oppida  eorum  Virununi,  Celeia ,  Teurnia,  Aguntum ,  Vianiomina,  Claudia 
Flavium  Solvense.  Noricis  junguntur  lacus  Peiso ,  deserta  Boiorum;  jam  tarnen 
colonia  divi  Claudii  Saharia  et  oppido  Scarabantia  Julia  habitantur. 

Inde  glandifera  Pannoniae,  qua  miteseentia  Alpium  juga  per  medium  lllyricum 
a  septentrione  ad  meridiem  versa  molli  in  dextra  ae  laeva  devexitate  considunt 
quae  pars  mare  Hadriaticum  spectat,  appellatur  Delmatia  et  lllyricum  supra  dictum 
Ad  septentriones  Pannonia  vergit,  finitur  inde  Danuvio.  In  ea  coloniae  Aemona, 
Siscia,  Amnes  clari  et  navigabiles  in  Danuvium  defluunt  Draus  e  Noricis  violentior, 
Savos  ex  Alpibus  Carnicis  placidior,  120  m.  p.  intervallo  etc.  etc.  Plinius  Natu- 
ralis historiae  lib.  III.  cap.  24,  23  (ed.  Jul.  Sillig  Vol.  I,  p.  267  s.  s.). 

2)  Wie  denn  auch   Mannert,  Hormayr  etc.    keinen    andern    alten  Autor  dafür  citiren. 


Der  Mona  Otitis  dos   Ptolemäus.  34-0 

Karte",  wie  wir  heut  zu  Tage  sagen,  nämlich  die  Strassenkarte  des 
römischen  Reiches ,  welche  wir  unter  dem  Namen  der  Tabula  Peu- 
tingeriana  kennen.  Dieser  kostbare  Schatz  der  k.  k.  Hofbibliothek 
in  Wien  liegt  zwar  von  Scheyb  —  mit  Mannert's  Einleitung  — 
in  einer  kritischen  Ausgabe  vor  uns,  aber  eines  geographischen 
Commentars  entbehrt  bekanntlich  auch  dieses  herrliche  Document 
noch  immer. 

Sehen  wir  uns  auf  der  Peutinger'schen  Tafel  nach  dem  Ptole- 
mäischen  Mons  Cetius  um ,  der  dort  in  so  imposanter  Gestalt  uns 
entgegentrat,  so  vermissen  wir  ihn,  zu  unserem  Erstaunen  ganz 
in  der  Bedeutung  die  er  dort  hatte.  Der  Raum  welcher  von  dem 
Ptolemäischen  Gebirge  —  mit  allen  ihm  jedenfalls  zuzuschreibenden 
Verzweigungen  —  erfüllt  wird ,  ist  auf  der  Peutingerischen  Tafel 
durch  4  Gebirge  in  weiten  Abständen  begrenzt. 

1.  Ostsüdost  von  Viudobona  steht  ein  Gebirge  dem  ein  FIuss 
ohne  Namen  entspringt,  der  sich  bei  Saldis  mit  einem  zweiten 
Flusse  vereinigt  und  dann  Drinumfi.  genannt  wird.  Dass  mit  Erste- 
rem  die  Drau,  mit  Letzterem  die  Save  bezeichnet  wird,  kann  keinem 
Zweifel  unterworfen  sein.  Als  Ursprung  der  Drau  wird  demnach 
auch  hier  das  cetische  Gebirge  angegeben ,  der  Ursprung  der  Save 
wird  aber  schon  südwestlich  von  Nauportum  verlegt. 

2.  Östlich  von  Steinamanger  ist  ein  kleineres  Gebirge  ver- 
zeichnet, das  wohl  nur  auf  den  Bakonyer  Wald  gedeutet  wer- 
den kann. 

3.  Weit  im  Westen  finden  wir  dann  das  Gebirge,  aus  dem  die 
Wippach  (fl.  frigidum)  entspringt ,  die  julischen  Alpen  ,  und 

4.  endlich  südöstlich  vom  Vorigen  den  Karst. 

Aus  der  Constellation  des  Ganzen  geht  wohl  unstreitig  hervor, 
dass  das  erstgenannte  namenlose  Gebirge  unser  Mons  Cetius  sei. 

Es  darf  uns  nicht  abschrecken,  dass  die  Peutinger'sche  Tafel 
unrichtig  das  Gebirge  von  Vindobona  weg  nach  Südost  streichen 
lässt,  indess  Agathodämon  dasselbe  richtig  von  Vindobona  nach 
Südwest  verzeichnet.  Agathodämon  zeichnete  nämlich  als  wissen- 
schaftlicher Geograph,  der  Verfasser  des  Peutinger'schen  Originals 
hingegen  als  Marschcommissär;  aber  gerade  in  dieser  Eigenschaft  ist 
er  für  uns  lehrreich  genug.  Die  geographische  Position  der  Gebirge 
konnte  ihm  gleichgiltig  sein,  die  Züge  der  Hauptstrassen 
aber   nicht.    In  Bezug  aber  auf  den  Verlauf  der  Strassen  ist  das 


350  A.  Seh  midi. 

Gebirge  nicht  störend  auf  dieser  Karte,  die  ja  ohnedies  ihrer  Bestim- 
mung gemäss  als  bequem  der  Höhe  nach  zu  übersehende  Wandkarte 
in  einen  langen  aber  schmalen  Streifen  ausgezogen  wurde  und  daher 
alle  Positionen  von  West  gegen  Ost  verlängert  oder  verrückt.  Mass- 
gebend ist  der  Umstand,  dass  Carnuntum  im  Nordost  und  Virunum 
(die  Tafel  schreibt  bekanntlich  irrig  Carnunto  und  Varuno)  im  Süd- 
west des  Gebirges  verzeichnet  sind.  Aus  dieser  Stellung  geht  unzwei- 
felhaft hervor,  dass  dieses  Gebirge  nur  der  Mons  Cetius  des  Ptole- 
mäus  sein  könne.  Dass  nur  die  Drau  und  nicht  auch  die  Save  in  der 
Tafel  im  cetischen  Gebirge  entspringt,  wie  bei  Ptolemäus,  ist 
eben  nur  ein  Beweis,  dass  der  Ursprung  der  letzteren  schon  genauer 
bekannt  war,  jener  aber  nicht. 

Ich  habe  im  Vorhergehenden  mich  bemüht  zu  zeigen,  was  Ptole- 
mäus unter  Mons  Cetius  verstanden  haben  wollte,  es  ist  nun  die 
Frage  zu  beantworten,  welches  Gebirge  wir  uns  als  dasjenige  vor- 
stellen müssen,  das  diesem  Mons  Cetius  entspricht.  Ein  erster  Blick 
auf  unsere  Karten  zeigt  schon,  dass  in  der  von  Ptolemäus  angege- 
benen Richtung  kein  Gebirge  existirt,  dass  der  Raum  desselben  viel- 
mehr, nicht  wie  bei  ihm  von  Nord  nach  Süd,  sondern  von  West  nach 
Ost  durch  die  Ketten  der  Alpen  erfüllt  wird,  und  zwar  sowohl  durch 
die  Nordalpen,  als  die  Central-Alpen  und  selbst  einen  Theil  der  Süd- 
alpen. Jedes  Bemühen  die  Grenzlinie  von  Noricum  und  Pannonien 
durch  einen  fortlaufenden  Höhenzug  zu  bezeichnen,  wird  also  immer 
missglücken,  weil  in  der  genannten  Bichtung  kein  ununterbrochener 
Höhenzug  existirt,  ein  Umstand,  der  freilich  erst  durch  neuere  Unter- 
suchungen sich  herausgestellt  hat.  Die  Details  mit  welchen  z.  B. 
Hormayr  sich  abmühte,  sind  natürlich  falsch  und  nur  von  einigen 
Widerlagen  und  Armen  der  genannten  verschiedenen  Gebirge 
lässt  sich  nachweisen,  dass  sie  mit  der  Grenzlinie  zusammentreffen. 
Eine  solche  Grenz  1  in ie  aufzustellen  kam  aber  Ptolemäus  auch  gar 
nicht  in  den  Sinn,  er  zeichnete  ein  breites  Massengebirge  als 
Grenze  im  Allgemeinen  hin,  und  gab  dadurch  unzweifelhaft  zu  erken- 
nen, dass  er  eine  Linie  weder  aufstellen  konnte  noch  wollte. 

Und  liegt  dies  nicht  in  der  Natur  der  Sache?  Zahllose  Thäler 
und  Schluchten  der  norischen  Gebirge  (so  wollen  wir  einmal  statt 
Mons  Cetius  sagen)  münden  gegen  das  pannonische  Flachland  hin  — 
wer  kann  da  wohl  etwas  anderes  sagen,  als:  „bis  zu  den  Eingängen 
der  Gebirge,  vielleicht  auch  etwas  ihren  Ostabhang   hinauf  sassen 


Der  Mons  Cetius  des   Ptolemäus.  «j  5  1 

pannonische  Stämme;  weiter  einwärts  im  Gebirge  auf  den  Höhen 
beginnt  nori  seh  es  Gebiet".  Eine  natürliche  feste  Grenze,  wie  z.B.  das 
Erzgebirge,  die  Tauern  sind  u.  s.  w.  gibt  es  da  nicht,  jede  Grenzlinie 
ist  in  dieser  Richtung  eine  conventioneile,  wie  auch  heut  zu  Tage 
zwischen  Steiermark  und  Ungern,  zahllose  Thal  er  und  Schluchten 
quer  übersetzend;  die  Natur  hat  kein  anderes  Verhältniss 
geschaffen  als  ein  mannigfaches  Ineinandergreifen. 

Dass  Ptolemäus  nicht  mehr  und  Besseres  gab  als  er  eben 
konnte,  wird  ihm  wohl  Niemand  zum  Vorwurf  machen,  aber  wenn  seine 
Angabe  auch  nicht  strenge  als  richtig  sich  herausstellt,  so  verlohnt  es 
doch  der  Mühe,  zu  untersuchen  wie  er  denn  zu  seiner  Ansicht  gekommen 
ist  ?  Die  Itinerarien  geben  uns  den  Aufschluss.  Die  grosse  römische  Heer- 
strasse führte  nämlich  nicht  durch  Steiermark,  wie  in  unseren  Tagen 
Heerstrasse  und  Eisenbahn,  sondern  sie  führte  von  Pettau  aussen 
herum  an  den  östlichen  Abfällen  der  Alpen  hin,  durch  das  viel  weg- 
samere pannonische  Hügel-  und  Flachland  hinauf  an  die  Donau  nach 
Carnuntum,  Yindobona  und  dann  in  das  Ufernoricum.  Durch  die 
Alpenthäler  führten  nur  Seitenstrassen.  Auf  der  grossen  Strasse  aber 
von  Pettau  über  Steinamanger,  Ödenburg  nach  Hainburg  (Sabaria, 
Scarabantia,  Carnuntum)  ist  man  fast  immer  in  einer  solchen  Entfer- 
nung von  den  Gebirgen,  dass  die  Mündungen  der  Thäler  und  Schluchten 
zum  grössten  Theile  verschwinden,  die  Thalwände  als  zusammen- 
schliessend  sieh  darstellen  und  die  verschiedenen,  hier  gegen  die 
Ebene  auslaufenden  Gebirge,  als  ein  zusammenhängendes 
Ganzes  sich  darstellen,  das  allerdings  im  Allgemeinen  dieBich- 
tung  des  Ptolemäischen  Mons  Cetius  hat.  Nehmen  wir  ein  Beispiel 
aus  unserer  Nähe.  Selbst  in  der  Entfernung  der  alten  Posistrasse 
verschwinden  die  Eingänge  der  Thäler  der  Wien,  Liesing,  des  Möd- 
linger  Baches,  der  Schwechat,  Triesting  u.  s.  w.,  so  dass  sich  die 
Gebirgsausläufer  als  ein  von  Nord  nach  Süd  ziehender  Gebirgsrücken 
darstellen,  was  doch  nicht  der  Fall  ist.  Weiter  südlich,  in  Unter- 
steiermark (einst  pannonisch)  ist  dies  noch  mehr  der  Fall.  Im  Alter- 
thum,  wo  dichtere  Bewaldung  auch  der  Vorberge  dies  Verhältniss 
noch  scheinbarer  machen  musste,  war  daher  nichts  natürlicher  als 
sich  das  Gebirge  in  der  Bichtung  von  Nordost  nach  Südwest  als  ein 
zusammenhängendes  Rücken-  oder  Masse  ngebirge 
vorzustellen,  wie  wir  bei  Ptolemäus  den  Mons  Cetius  aufge- 
fasst  finden. 


352  A.  Schmidl.  Der  Mons  Cetius  des  Ptolemäus. 

Als  Resultat  meiner  Untersuchung  stellt  sieh  demnach  Folgendes 
heraus  : 

t.  Für  die  Erklärung  des  Mons  Cetius  ist  Ptolemäus  allein 

massgebend. 

2.  Er  stellt  sich  denselben  als  ein  Massengebirge  vor,  an  dessen 
Ostrande  Pannonien  beginnt,  in  dessen  Innerem  Noricum  liegt,  ohne 
aber  eine  bestimmte  Grenzlinie  aufzustellen. 

3.  Alles  Gebirge  zwischen  der  Donau  und  den  Karavvanken 
längs  der  pannonischen  Ebene  herab,  nannte  Ptolemäus  Mons 
Cetius;  die  Vindicirung  dieses  Namens  für  das  Kahlengebirge  ins- 
besondere ist  eine  Erfindung  der  späteren  Zeit,  durch  irrige  Copie 
der  Karten  des  Agathodämon  veranlasst. 

4.  Es  ist  eine  vergebliche  Mühe,  im  Verlaufe  der  Alpenketten 
den  Zug  des  Ptolemäischen  Mons  Cetius  nachweisen  zu  wollen;  Alles 
was  man  in  dieser  Beziehung  sagen  kann,  ist:  Ptolemäus  verstand 
unter  Mons  Cetius  die  östlichsten  Alpen,  zwischen  der  Donau  und 
den  Karawanken. 


Ernst  D  iim  ml  er.   Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmalien.     353 


Vorgelegt  s 

Über  die  älteste   Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien. 

(549  —  928.) 

Von  Dr.  Ernst  Düiimiler. 
VORWORT. 

Die  Geschichte  Dalmatiens  seit  der  Aufnahme  seiner  slawischen 
Bewohner  ist  häufiger  behandelt  worden,  als  man  nach  der  Wichtigkeit 
des  Volkes  für  die  herrschenden  Nationen  Europa's  erwarten  sollte 
und  es  könnte  daher  vielleicht  überflüssig  erscheinen  ,  dass  hier 
wiederum  bekannte  Dinge  von  Neuem  erörtert  werden.  Dennoch 
glaubte  der  Verfasser  der  ursprünglich  nur  mit  der  Absicht  an's 
Werk  ging,  die  vorübergehende  Verbindung  dieses  Ländchens  mit 
der  Weltmonarchie  Karl's  des  Grossen  näher  zu  prüfen  ,  dass  sich 
auch  sonst  durch  schärfere  Sichtung  des  Überlieferten  an  seinen  Vor- 
gängern im  Einzelnen  Manches  würde  berichtigen  und  nachtragen 
lassen,  wenngleich  im  Ganzen  zu  dem  Material  nichts  wesentlich 
Neues  hinzugefügt  werden  konnte.  Aus  diesem  Grunde  wurde  trotz 
jenes  Bedenkens  die  vorliegende  Arbeit  unternommen ,  für  deren 
geringen  Inhalt  übrigens  der  geringe  Umfang  zur  Entschuldigung 
dienen  mag. 

Unter  den  früheren  Bearbeitungen  der  croatisch- dalmatischen 
Geschichten  verdient  noch  immer  die  grösste  Beachtung  das  Werk 
des  Joh.  Lucius  aus  Trau  de  regno  Dalmatiae  et  Croatiae  libriVI, 
wovon  unsers  Wissens  die  erste  Ausgabe  zu  Amsterdam  im  J.  1668 
erschien  (wiederholt  in  J.  G.  Schwandtner  scriptores  rerum 
Hungaricar.  Vindobonae  1746,  tom.  III).  Dieses  Buch  bildet  in  jeder 
Hinsicht  die  Grundlage  aller  späteren  Leistungen  auf  demselben 
Felde,  durch  umfassende  Gelehrsamkeit  und  scharfe  Prüfung  der 
Thatsachen  —  bei  deren  Erzählung  nur  eine  bessere  Gliederung  des 
Ganzen  zu  wünschen  wäre  —  ist  es  ebenso  ausgezeichnet,  wie  durch 
die  Fülle  der  hier  zum  ersten  Male  abgedruckten  Urkunden ,  zu  wel- 
chen sich  auch   mehrere  Geschichtsschreiber  gesellen,   namentlich 


3  5  4  E  r  n  s  t  D  ii  m  m  I  e  r. 

die  historia  Salonitana  des  im  J.  1268  verstorbenen  Arehidiaeonus 
Thomas  von  Spalato.  Eine  Ergänzung  des  urkundlichen  Materials 
lieferte  besonders  noch  der  gleichfalls  überaus  fleissige  Jesuit 
Daniel  Farlati  in  seiner  illyrischen  Kirchengeschichte  (Ulyricum 
sacrum,  Venetiis  175 1  fol.  I — VII).  An  Urtheil  aber  steht  er  Lucius 
durchaus  nach;  er  ist  weitschweifig  und  sehr  unkritisch  und  berührt 
die  politischen  Verhältnisse  überhaupt  nur  beiläufig,  so  dass  er  als 
Herausgeber  bei  weitem  mehr  Dank  verdient,  denn  als  Geschichts- 
forscher. Einen  nicht  unwichtigen  Beitrag  zu  den  Quellen  lieferte  die 
von  Zanetti  im  J.  1765  zum  ersten  Male  unter  dem  falschen  Namen 
des  chronicon  Sagornini  herausgegebene  venetianische  Chronik  des 
Diaconus  Johannes,  der  sie  in  den  Jahren  980  bis  1008  zum  Theil 
nach  älteren  schriftlichen  Aufzeichnungen  verfasste.  Da  die  meisten 
Nachrichten  welche  der  um  dreihundert  Jahre  jüngere  Andreas 
Dandolo  über  die  Slawen  in  Dalmatien  gibt,  wörtlich  aus  seinem 
Vorgänger  herübergenommen  sind ,  so  hätte  dieser  statt  jenes  stets 
benutzt  werden  müssen,  doch  ist  dies  in  Bezug  auf  Dalmatien  bis  auf 
die  neueste  Zeit  noch  von  Niemand  geschehen,  obgleich  wir  jetzt  im 
siebenten  Bande  der  Monumenta  Germaniae  eine  sehr  gute  Ausgabe 
der  venetianischen  Chronik  von  Pertz  besitzen. 

Für  die  Fortsetzung  der  aligemeinen  Welthistorie  (Band  491', 
Halle  1798)  übernahm  Job.  Christ,  von  Engel  ausser  der 
Geschichte  Ungerns  auch  die  seiner  Nebenländer,  insbesondere  Dal- 
matiens.  An  seinem  Werke  ist  die  vorausgeschickte  ausführliche 
Geographie  und  Statistik  des  Landes  recht  brauchbar,  während  die 
ziemlich  flüchtig  componirte  Erzählung  selbst  mehr  einem  Auszuge 
aus  Lucius  und  Farlati  als  einer  selbständigen  Arbeit  gleicht.  Er 
fing  bereits  an ,  die  byzantinischen  Quellen  die  für  die  ältere  Zeit  in 
erster  Linie  stehen,  nicht  im  Urtexte  nachzuschlagen,  sondern  die  von 
Joh.  Gotthilf  Stritter  im  Auftrage  der  Petersburger  Akademie 
geordneten  lateinischen  Übersetzungen  (memoriae  populorum  olim 
ad  Danubium  .  .  .  incolentium  e  scriptoribus  historiae  Byzantinae  erutae 
et  digestae,  tom.  II.  Slavica,  Petropoli  1774)  daraus  zu  benutzen.  Dies 
Verfahren  aber  muss  durchaus  als  unkritisch  verworfen  werden,  weil 
lediglich  nach  diesen  aus  ihrem  Zusammenhange  gerissenen  Bruch- 
stücken sich  die  Glaubwürdigkeit  jeder  einzelnen  Nachricht  unmöglich 
genügend  bestimmen  lässt  Hierzu  ist  vielmehr  eine  zusammenhän- 
gende Leetüre  jedes  Schriftstellers   in  seiner  Ursprache  unbedingt 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  355 

nothwendig.  Auch  in  P.  J.  Safarik's  mit  Recht  berühmtem  Werke 
über  slawische  Alter  thüm  er  (deutsch  von  Mosig  von  Ähren  fehl, 
Leipzig  1843)  mnss  man  unterscheiden  zwischen  dem  worauf 
im  Grunde  hauptsächlich  seine  Absicht  gerichtet  war,  d.  h.  den 
Erörterungen  über  die  ursprünglichen  Wohnsitze,  die  Verfassung 
und  Eintheilung  der  einzelnen  Slawenstämme,  und  zwischen  der  Über- 
sicht ihrer  Geschichte.  Während  er  in  ersterer  Beziehung  über  Dal- 
matien das  von  Lucius  bereits  Beigebrachte  bedeutend  erweitert  und 
äusserst  schätzbare  Erläuterungen  gibt,  ist  er  dagegen  in  letzterer 
Hinsicht  von  seinen  Vorgängern  sehr  abhängig  und  folgt  insbesondere 
bei  den  Serben  undCroaten  fast  ganz  dem  Buche  Engefs,  wobei  denn 
so  manche  Irrthümer  unvermeidlich  sind. 

Dass  für  die  Erforschung  der  dalmatischen  Geschichte  noch 
Einiges  zu  thun  übrig  geblieben,  zeigte  in  neuester  Zeit  eine  zu  Ber- 
lin erschienene  Doktordissertation  von  Herrn.  Leop.  Krause  (Res 
Slavorum  imperiorum  occidentalis  et  orientalis  confinio  habitantium 
saeculo  IX.  pars  I,  1854),  worin  namentlich  durch  eine  eingehende 
Kritik  des  Kons  tantin  Po  rphyrogenitus  mehrere  Punete  neu 
und  mit  Erfolg  ergründet  worden  sind.  Krause  erwarb  sich  auch 
das  Verdienst  näher  nachzuweisen  (was  Engel  S.  446  bereits 
behauptete),  dass  der  Priester  von  Dioklea  (regnum  Slavorum)  aus 
dem  XII.  Jahrhundert  und  der  mit  ihm  grösstenteils  gleichlautende 
Marcus  Marulus  (gesta  regum  Dalmatiae  etCroatiae),  mit  denen  noch 
Farlati  sehr  unglückliche  harmonistische  Versuche  anstellte,  in  die 
Zahl  jener  halb  aus  Sagen,  halb  aus  kecken  Erdichtungen  zusammen- 
geflickten Zwittergeburten  gehöre,  wie  deren  u.  a.  auch  die  Ungern 
und  die  Cechen  in  ihrem  anonymen  Notar  und  ihrem  Hajek  aufzu- 
weisen haben.  Man  kann  sie  daher,  doch  auch  nur  mit  der  grössten 
Vorsicht,  allenfalls  für  die  Sagengeschichte  und  für  geographische 
Bestimmungen,  aber  sicherlich  nie  zur  Erkenntniss  historischer  That- 
sachen  benutzen. 

Die  nachstehende  Abhandlung  schlägt  nun  den  Weg  ein,  dass 
darin  zuerst  von  der  Verwüstung  Dalmatiens  gehandelt  werden  soll, 
die  von  den  ersten  slawischen  Ankömmlingen  ausging,  dann  von  der 
Besitznahme  durch  die  Croaten  und  Serben.  Es  folgt  eine  Über- 
sicht der  Verkeilung  des  Bodens  unter  seine  alten  und  neuen  Bewoh- 
ner, nachdem  zwischen  ihnen  ein  friedliches  Übereinkommen  wieder 
geordnete  Zustände  herbeigeführt  hatte.    Nach  einer  völligen  Lücke  in 


OOD  ErnstDiimmler. 

der  Überlieferung  von  mehr  denn  hundert  Jahren  schliessen  sich 
daran  unsere  überaus  dürftigen  Nachrichten  über  die  Festsetzung  der 
fränkischen  Herrschaft  in  Dalmatien ,  unter  welcher  wir  auch  das 
Christenthum  nach  früheren  allmählichen  Anfängen  unter  den  Croa- 
ten  überall  herrschen  sehen.  Durch  die  Ausbreitung  der  Bulgaren 
wird  sodann  eine  bedeutende  Verminderung  der  croatischen  Macht 
bewirkt  und  die  Anfälle  der  Sarazenen  führen  schliesslich  zur  Rück- 
kehr unter  die  byzantinische  Oberhoheit.  Durch  die  Bemühungen  des 
Papstes  wird  Croatien  nach  seinem  Abfall  wenigstens  der  römischen 
Kirche  erhalten,  während  Serbien  von  Thronstreitigkeiten  zerrissen 
mehr  und  mehr  seinen  geistigen  Schwerpunct  in  Konstantinopel 
findet.  Hierdurch  werden  auch  die  römischen  Dalmatier  zum  erneu- 
ten Anschluss  an  den  päpstlichen  Stuhl  bewogen  und  das  einigende 
Band  einer  einheitlichen  Kirchenverfassung  umschlingt  beide  Völker 
indem  es  die  Grundlage  ihrer  allmählichen  Verschmelzung  bildet.  Die 
weitere  Entwickelung  des  dalmatisch-croatischen  Königthums,  der 
traurige  Verfall  des  Volkes  in  staatlicher,  wie  in  sittlicher  Hinsicht 
zur  Zeit  des  ersten  Kreuzzuges  liegen  ausserhalb  unserer  Aufgabe, 
die  wesentlich  in  der  ersten  Hälfte  des  X.  Jahrhunderts  abschliesst. 

Halle  a.  S.  d.  22.  März  1856. 


Der  Verfasser. 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  35  / 


I.  Verwüstung  und  Eroberung  Dalmatiens  durch  die  Slawen. 

Unsere  Kenntniss  von  der  ältesten  Geschichte  der  illyrischen 
Slawen  verdanken  wir  fast  ausschliesslich  dem  Kaiser  Konstantin  VII. 
Porphyrogenitus,  der  in  seinem  Werke  von  der  Verwaltung  des  Rei- 
ches (Cap.  29  bis  36)  sowohl  von  der  Lage  und  den  Verhältnissen 
derselben  im  J.  949  n.  Chr.  Geb.,  als  auch  von  ihrer  Einwanderung 
und  ihren  früheren  Geschicken  handelt.  Wegen  dieses  Alleinstehens 
unserer  Quelle  lassen  sich  deren  Nachrichten  über  die  Slawisirung 
Dalmatiens  nur  zum  Theile  durch  andere  Zeugnisse  bewahrheiten 
oder  widerlegen ,  und  die  Entscheidung  über  ihre  Glaubwürdigkeit 
muss  desshaib  theils  von  ihrem  innern  Charakter,  theils  von  dem  des 
Schriftstellers  überhaupt  abhängen.  Das  ganze  Buch  dem  unsere 
Kunde  entspringt,  trägt  aber  ebenso  wie  die  gesammte  schriftstel- 
lerische Thätigkeit  des  Kaisers  das  Gepräge  vollkommener  Geist- 
losigkeit  und  eines  rein  mechanischen  Sammlerfleisses.  Er  widmete 
dasselbe  seinem  Sohne  dem  Kaiser  Romanus  II.  zu  dem  Behufe,  ihm 
Belehrungen  über  alle,  das  römische  Reich  rings  umschliessende  Bar- 
baren zu  geben,  über  ihre  Macht  und  Ausdehnung  und  insbesondere 
über  den  Nutzen  oder  Schaden  der  von  ihnen  zu  erwarten  wäre1). 
Die  für  diesen  Zweck  brauchbaren  Nachrichten  welche  Konstantin 
besass ,  prüfte  er  aber  weder  durch  Vergleichung  noch  verarbeitete 
er  sie  zu  einem  zusammenhängenden  Ganzen,  sondern  er  stellte  sie 
wie  in  einem  Collectaneum  einfach  neben  einander,  ohne  sich  durch 
Widersprüche  stören  zu  lassen.  Daher  kommt  es  denn,  dass  er  zu 
gleicher  Zeit  und  vielleicht  im  nämlichen  Capitel  ein  sehr  zuver- 
lässiger und  ein  ganz 'unzuverlässiger  Gewährsmann  sein  kann,  je 
nach  der  Beschaffenheit  der  Quelle  welcher  er  blindlings  folgt.  Da 
über  die  Dinge  die  er  vorzugsweise  berücksichtigt,  die  früheren 
byzantinischen  Geschichtsschreiber  sehr  wenig  enthielten,  so  wurden 
diese  auch  von  Konstantin  fastgar  nicht  benutzt3),  vielmehr  scheint  das 


*)  Constantin.   de  administr.   iraperio  ed.   Bekker  p.   66. 

2)  Cap.  17  bis  22  und  25  sind  aus  der  Chronographie  des  Theophanes  abgeschrieben, 

wie  Konstantin  seihst  angibt,   ui;d    in    den   Cap.  23    und   24    werden    mehrere   alle 

Geographen   wie  Apollodor,   Artemidor,  Charax  u.  a.   citirt. 


3 5 ö  Ernst   Diimmler. 

Meiste  was  er  meldet,  entweder  aus  den  Berichten  der  byzantinischen 
Gesandten  über  die  fremden  Völker  oder  aus  den  Erzählungen  von 
Botschaftern,  Geissein  oder  Kaufleuten  geschöpft  zu  sein,  die  sich  aus 
deren  Mitte  in  Konstantinopel  aufhielten  *).  In  der  Natur  einer  solchen 
auf  blos  mündlichen  Erkundigungen  beruhenden  Kenntniss  liegt  es, 
dass  sie  über  die  gleichzeitigen  Zustände  der  Völker  zuverlässig  und 
meist  befriedigend  ist,  über  ihre  Vergangenheit  aber  nur  aus  sagen- 
haften Überlieferungen  besteht,  die  zudem  noch  durch  griechische 
Auffassung  öfter  getrübt  sind.  Wie  wenig  Konstantin  aber  geeignet  war 
die  letzteren  selbständig  zu  berichtigen  oder  zu  ergänzen,  ergibt  sich 
aus  seiner  grossen  Unwissenheit  in  der  älteren  byzantinischen  Ge- 
schichte selbst,  soweit  er  sie  nicht  aus  schriftlichen  Quellen  schöpfte. 
So  leitet  er  u.  a.  den  Namen  der  Stadt  Dioklea  von  dem  des  Kaisers 
Diokletian  ab  3),  obgleich  es  sich  in  der  That  gerade  umgekehrt  ver- 
hielt. Attila  den  er  König  der  Avaren  nennt,  lässt  er  in  Oberitalien 
mit  den  Franken  kämpfen  und  bis  nach  Born  und  Calabrien  vordrin- 
gen3); ferner  verwechselt  er  gar  die  Kaiserinn  Irene  (780 — 802) 
mit  Sophia,  der  Gemahlinn  Justin's  II.  (f  574)  und  stellt  den  Patri- 
cius  Narses  mit  dem  Papste  Zacharias  (742 — 751)  als  Zeitgenossen 
zusammen  *).  Endlich  wird  die  Theilung  des  langobardischen  Herzog- 
thums  Benevent  in  die  FUrstenthümer  Benevent  und  Capua  i.  .1.  848 
von  ihm  um  hundert  Jahre  zu  früh  angegeben  5)  und  statt  Sikenolf 
und  Badelchis  fälschlich  Siko  und  Sikard  zugeschrieben  u.  s.  f. 

Über  die  Eroberung  Dalmatiens  durch  die  Slawen  enthält  nun 
Konstantin  zwei  in  einigen  Nebenpuncten  von  einander  abweichende 
Erzählungen6),  deren  Hauptinhalt  folgender  ist:  „Dalmatien  wurde 
durch  Diokletian  mit  einer  Colonie  von  Bömern  bevölkert7),  deren 
Hauptort  Salona  war,    eine  Stadt   halb  so  gross  wie  Konstantinopel 


')  Von  dem  gesandtschaftlichen  und  Handels-Verkehr  mit  den  Barbaren  ist  häufig-  die 
Rede,  z.  ß.  p.  68,  69,  72,  74,  184  u.  s.  f.  Cap.  26,  welches  von  der  Abstammung- 
des  Königs  Hug-o  von  Italien  handelt,  macht,  verglichen  mit  der  Antapodosis  des 
Liudprand  von  Cremona  ,  ganz  den  Eindruck,  als  wäre  der  Inhalt  desselben  aus 
des  letzteren  Bericht  geflossen,  da  er  !I49  als  Gesandter  in  Konstantinopel  verweilte. 

2)  Cap.  29,  35  (p.   126,   162). 

3)  Cap.  28  (p.  123). 

4)  Cap.  27  (p.  119). 

5)  Ebendas.  (p.  120). 

«)  Cap.  29  und  30  (p.   126,   141). 

7)  Vgl.  Cap.  33,  35,  36  fp.   160,   162,  163). 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Ualmatieu.  31)9 

und  mit  kaiserlichen  Palästen  und  einem  Hippodrome  geschmückt  *). 
Von  dort  zogen  alljährlich  zu  Ostern  tausend  Reiter  aus  ganz  Daltna- 
tien  nach  der  Donau,   um  die  Übergänge  üher  den  Strom  gegen  jed- 
weden Feind  zu  bewachen.  Als  diese  eines  Tages,  neugierig  wer  dort 
drüben  wohnen  möchte,   über  den  FIuss   setzten  und    während  eines 
Auszuges  der  Männer  nur  Weiber  und  Kinder  vorfanden-),  machten 
sie  grosse  Beute  an  Menschen  und  Vieh  und  kehrten  damit  ungestraft 
nach  Salona  heim.  Die  Avaren  oder  Slawen  von  ihrem  Zuge  wieder- 
kehrend beschlossen  wegen  jener  Plünderung  Rache  zu  nehmen.  Sie 
legten  den  römischen  Reitern  bei  ihrem  zweiten  Einfall  einen  Hin- 
terhalt und  nahmen  sie  sämmtlich   gefangen  oder  hieben  sie  nieder. 
Auf  ihr  Befragen  erfuhren  sie  den  Ort,   von  wo  jene  ausgezogen  und 
die  Zeit  wann  ihre  Heimkehr  erwartet  würde.  Dies  benutzend  legten 
die  Avaren  die  Kleider  und  Waffen  der  in  ihre  Hände  gefallenen  Römer 
an,  zogen  in  dieser  Verkappung  ohne  Schwierigkeiten  durch  den  Eng- 
pass  von  Klissa  und  eroberten  das  unvorbereitete  Salona  durch  plötz- 
lichen Überfall.     Dies   war  der  Anfang  ihrer  Einwanderung  in  Dal- 
matien;  denn  da  ihnen  das  Land  gefiel,  nahmen  sie  es  nach  und  nach 
für  ihre  Heerden  in  Besitz  und  beschränkten  die   Römer   auf  weniere 
Seestädte  und  Inseln.     Als  so  Dalmatien  grösstenlheils  verödet  lag, 
wandte  sich  ein  Geschlecht  der  Croaten  oder  Chorwaten  die  jenseits 
der  Karpathen  sassen,  mit  seinem  Volke  Hilfe  suchend,  an  den  Kaiser 
Heraklius  und  erhielt  von  ihm  das  Land  der  Avaren  südlich  der  Donau 
überwiesen.     Sie    vertrieben     diese    und    wurden    Unterthanen    der 
Römer.  Ihrem  Beispiele  folgten  etwas  später  ihre  früheren  Nachbarn, 
die  Serben,  die  sich  anfangs  in  der  Provinz  Thessalonich    nieder- 
liessen.    Dann,  nachdem  sie  schon  über  die  Donau  wieder  zurückge- 
kehrt waren,   ward  ihnen  gleichfalls  avarisches  Gebiet  südlich  von 
den  Croaten  angewiesen,  wo  auch  sie  als  Unterthanen  des  griechischen 
Kaisers  wohnten." 

Dieser  Bericht  Konstantins  setzt  zwei  Eroberungen  Dalmatiens 
durch  die  Barbaren  voraus,  welche  gänzlich  von  einander  zu  trennen 


1)  Cap.  29,  30,  31  (p.  126,  141,  149).  Prokopius  (de  hello  Gothico  I,  c.  7,  p.  38 
ed.  Bonn.)  lässt  die  Vorstadt  von  Salona  sich  bis  zu  dem  Engpass  von  Klissa  aus- 
dehnen, 4000  Schritte  von  der  Stadt. 

2)  Nach  der  andern  Version  im  Cap.  29  sind  die  Avaren  wehrlose  und  friedliche  Hirten 
die  erst,  durch  die  viele  Jahre  Wodurch  fortgesetzten  Plünderungen  der  Römer  zum 
Widerstände  gereizt  werden. 


O U 0  Ernst  Dümrah'r. 

sind.  Die  erste  welche  er  bald  den  Äraren  *) ,  bald  den  Slawen 
zuschreibt,  scheint  er  in  die  zweite  Hälfte  des  V.  Jahrhunderts  zu 
setzen,  weil  er  im  J.  449  Salona  zerstört  werden  lässt2);  doch  liegt 
es  auf  der  Hand,  wie  unrichtig  diese  Angabe  ist,  die  nur  aus  irgend 
einem  Missverständnisse  entsprungen  sein  kann,  da  man  um  diese  Zeit 
von  Slawen  an  der  Donau  noch  ganz  und  gar  nichts  wusste.  Eben  so 
wunderlich  ist  die  Verwechselung  der  Slawen  mit  den  von  ihnen  völlig 
verschiedenen,  wahrscheinlich  türkischen  Avaren,  die  sich  am  besten 
als  Vereinigung  abweichender  Berichte  erklärt.  Überhaupt  trägt  die 
ganze  Erzählung  Konstantin1s  einen  durcbaus  sagenhaften  Charakter 
an  sich,  so  besonders  die  beiderseitige  Unkenntniss  der  Römer  und 
Avaren,  wer  wohl  am  andern  Ufer  der  Donau  wohnen  möchte;  ferner 
auch  die  Überrumpelung  Salona"s,  denn  nichts  ist  gewisser,  als  dass 
nicht  die  Römer  sondern  die  Avaren  die  ersten  Angreifer  waren,  und 
keinenfalls  ist  Salona  unter  den  Städten  zuerst  gefallen.  Dagegen 
darf  allerdings  an  der  Tlmtsache  festgehalten  werden,  dass  schon  vor 
dem  Einbrüche  der  Croaten  und  Serben  Dalmatien  eine  theihveise 
Verödung  erfahren  habe,  denn  über  diese  lassen  sich  auch  noch 
andere  besser  beglaubigte  Zeugnisse  beibringen.  Als  die  Römer  den 
Gothen  Dalmatien  das  ihnen  als  eine  der  wichtigsten  Provinzen  des 
Westens3)  galt,  so  eben  entrissen  hatten,  wurde  dasselbe  schon  wie- 
der von  den  Einfallen  der  Slawen  heimgesucht,  unter  denen  wir  wohl 
keine  anderen  verstehen  dürfen,  als  den  weitverbreiteten  Stamm  der 
Winden  oder  Slovenen.  Bei  ihren  Einbrüchen  wird  zuerst  vorzugsweise 
Thracien  genannt,  sei  es,  dass  sie  dort  am  häutigsten  und  schlimm- 
sten hausten,  oder  dass  man  in  Konstantinopel  die  Züge  die  in  die- 
ser Richtung  stattfanden  am  meisten  der  Beachtung  werth  hielt.  Doch 
wird  uns  allerdings  bereits  im  J.  549.  während  noch  Totila,  der 
Gothenkönig,  um  den  Besitz  Italiens  stritt,  von  einem  verheerenden 
Vordringen  der  Slawen  durch    lllyricum  bis  nach  Durazzo   Meldung 


i)  In  Cap.  29  nennt  er  sie  sOvr,  SxXctßmxä  .  .  5-riva  xsi  'Aßapoi  IxoXoOvxo,  in  den 
Cap.  30 — 33,  33,  36  spricht  er  dagegen  überall  nur  von  Avareu  als  den  früheren 
Besitzern  Dalmatiens. 

2)  Cap.  29  (p.  137)  rechnet  er  500  Jahre  von  der  Auswanderung  eines  Theiles  der 
Salonitaner  nach  Ragusa  bis  auf  seine  Zeit  (949  n.  Chr.  Geb.)  ,  doch  könnte  die 
Zahl  verderbt  sein. 

3)  Prokopius  (de  bello  Gothico  I,  13  ed.  Dindorf  p.  80)  sagt  von  Dalmatien:  tö 
t^c  emcepiac  ).E>.oyi— ai  xpärot,  und  Konstantin  (c.  30.  p.  141):  Sv8o?öxepov  tum 
£XX(Ov  ZTr.zr,iu>-t  &£|xaT<ov  tö  toioürov  ft£\irt   JTJyyavsj. 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Üalinatien.  ö ;)  1 

gethan1)-  Im  J.  551  setzten  wiederum  3000  Slawen  über  die  Donau, 
die  unter  der  Bevölkerung  von  Thracien  undlllyrien  ungestraft  wüthe- 
ten 2).  Ähnliche  Schaareu  verwandten  Ursprungs  kehrten  schon  im 
folgenden  Jahre  wieder,  und  als  sie  in  der  Richtung  nach  Thessa- 
lonich auf  Widerstand  stiessen,  zogen  sie  über  die  Berge  nach  Dal- 
matien3).  Sie  überwinterten  diesmal  sogar  auf  römischem  Grund 
und  Boden  und  man  hegte  die  Vermuthung,  dass  König  Totila  in  sei- 
nem Verzweiflungskampfe  gegen  die  römische  Übermacht  mit  Geld 
diese  wilden  Horden  gedungen  habe ,  um  durch  sie  einen  Theil  der 
römischen  Streitkräfte  im  Osten  zu  beschäftigen4).  Hiernach  würde 
sich  die  später  verbreitete  Sage  5),  dass  die  Croaten  mit  den  Gothen 
zugleich  unter  Totila's  Führung  von  Polen  ausgezogen  seien ,  viel- 
leicht als  eine  entstellte  Überlieferung  erklären  lassen,  zumal  da 
Erinnerungen  an  die  Herrschaft  der  Gothen  sich  in  Dalrnatien  sehr 
wohl  erhalten  konnten. 

So  lange  die  Langobarden  und  Gepiden  noch  an  der  Donau  sassen 
—  jene  in  beiden  Pannonien,  diese  in  Dacien  und  in  der  Gegend  von 
Sinnium  —  war  es  fast  ganz  von  dem  Willen  dieser  Völker  abhängig, 
ob  sie  den  Slawen  die  nur  nahe  der  Mündung  die  Donau  berührten, 
den  freien  Durchzug  durch  ihr  Gebiet  nach  den  illyrischen  Gegenden 
gestatten  wollten  oder  nicht,  und  so  wurden  diese  z.B.  im  J.  552  von 
den  mit  Byzanz  verfeindeten  Gepiden  selbst  über  die  nördlichen  Pro- 
vinzen des  römischen  Reiches  losgelassen6).  Einen  völligen  Wechsel 
in  diesen  Verhältnissen  führte  seit  565  das  Auftreten  eines  neuen 


*)  Procop.  de  hello  Goth.  III,  29  (p.  397):  'IX.'X.upioös  arorrat;  axP1  'Eitioapicuv 
eopaaav  «vrjxeaTa  IpY<*  .... 

2)  A.  a.  0.  c.  38  (p.  441—444). 

3)  C.  40  (p.  430). 

4)  P.  454. 

5)  Thomas  archidiacon.  c.  VII  (p.  541);  Presbyter  Üiocleas  c.  III  (p.  477  in 
Schwandtner ,  scriptor.  rer.  Hungaricar.  III).  Jener  erzählt,  Totila  mit  seinen 
Gothen  hätte  einen  Theil  von  Salona,  sowie  des  diokletianischen  Palastes  zerstört. 
Salona  wurde  in  der  That  unter  Vitigis  von  den  Gothen  belagert  und  Totila  schickte 
ebenfalls  eine  bedeutende  Streitmacht  zur  Wiedereroberung  Dalmatiens  ab,  die  sieg- 
reich bis  Salona  vordrang  (Procop.  I,  16,  III,  35).  Ein  Rest  von  gothischer  Be- 
völkerung erhielt  sich  auch  noch  dort  unter  römischer  Herrschaft  (Procop.  I,  7, 
p.  38)  und  so  mag  jene  wunderliche  Sage  von  der  Abstammung  der  Croaten  von  den 
Gothen  entstanden  sein. 

6)  Procop.  IV,  25  (p.  591).  Justinian  wollte  desshalb  mit  den  Gepiden  einen  Bundes- 
vertrag schliessen. 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  II.  Hft.  24 


36/£  Ernst  Dümmler. 

und  bis  dahin  unbekannten  Volkes,  der  Avaren,  herbei,  die  im  Bunde 
mit  den  Langobarden  bald  dem  gepidischen  Reiche  ein  Ende  machten 
und  nach  dem  Abzüge  jener  nach  Italien  auch  in  den  Besitz  Pannoniens 
nachrückten.  Von  ihnen  hing  es  fortan  ab,  ob  die  griechischen  Nordpro- 
vinzen von  der  Geissei  des  Krieges  verschont  bleiben  oder  schlimmere 
Plagen  als  bisher  erdulden  sollten,  denn  die  meisten  der  Donauslawen 
mussten  sich  unter  ihr  Joch  beugen  und  nur  in  dem  dacischen  Ge- 
birgslande  behauptete  sich  noch  ein  Rest  unabhängiger  Slawen  die 
aber  zunächst  mehr  Thracien  als  Illyrien  bedrohten  J).  Im  Ganzen  war 
es  für  den  byzantinischen  Kaiser  eine  äusserst  unheilvolle  Verän- 
derung, dass  an  die  Stelle  deutscher  Stämme  die  sich  gegenseitig 
befeindeten  und  desshalb  wechselweise  Freundschaft  mit  dem  griechi- 
schen Reiche  halten  mussten,  jetzt  ein  dem  letzteren  durchaus  feind- 
liches Barbarenvolk  trat,  welches  die  Slawen  bei  ihren  Einfällen  viel- 
mehr antrieb  als  zurückhielt.  Schon  im  J.  568  als  Bai'an2),  der  erste 
bekannte  Khakhan  der  Avaren,  Sirmium  belagerte,  das  er  als  Hinter- 
lassenschaft der  Gepiden  in  Anspruch  nahm,  entsandte  er  von  dort 
10.000  kutrigurische  Hünen,  d.  h.  Bulgaren  über  die  Sau,  um  die 
römische  Provinz  Dalmatien  zu  verheeren.  Seitdem  durch  den  Aus- 
zug der  Langobarden  die  letzte  Scheidewand  gefallen  war,  welche 
die  Slawen  noch  von  dem  ehemals  römischen  Noricum  und  von 
Istrien  trennte,  wurden  auch  diese  Länder  eine  Zielscheibe  ihrer  An- 
griffe; um  das  J.  592  findet  der  erste  feindliche  Zusammenstoss  zwi- 
schen ihnen  und  den  Baiern  statt3)  und  598  wünschte  Papst  Gregor 
der  Grosse4)  dem  Exarchen  Kallinikus  von  Italien  noch  zu  einem 
Siege  über  die  Slawen  Glück.  Da  sie  um  dieselbe  Zeit  von  der  untern 
Donau  aus  Thracien  und  Illyrien  zu  überschwemmen  fortfuhren5), 
so  konnte  Dalmatien,  in  welchem  die  nach  beiden  Richtungen  unter- 


v)  Vgl.  Zeuss,  die  Deutschen  und  die  Nachbarstämme  |).  623,  Aum.  2  und  Sa  fa  r  i  k, 
siaw.  Alterth.  II,  153—158. 

2)  Menander  Protector  (in  Fragment»  historicor.  Graec.  ed.  Müller  IV,  p.  233). 

3)  Zeuss.  die  Deutschen,  p.  616. 

4)  Mansi  collectio  concilior.  X,  p.   117. 

5)  Zeuss,  p.  596.  Im  Mai  591  schrieb  Gregor  I.  noch  an  die  illyrischen  Bischöfe, 
dass  sie  die  Amtsg-enossen  quos  a  propriis  locis  hostilitatis  f'uror  expulerat  auf- 
nehmen und  verpflegen  sollten,  im  März  592  aber  an  den  Präfecten  Jobinus  von 
Illyricum  :  Gaudemus  quod  eminentiae  vestrae  regimine  afflietae  dominus  voluit 
provinciae  eonsulere,  ut  quam  ex  una  parte  flayello  barbaricae  vastationis 
ulcerat,  haue  ex  alia  per  eminentiam  vestram   curet.  (Mansi  IX,  1065,  1093.) 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  363 

nommenen  Züge  gleichsam  wie  in  einem  Winkel  zusammenstiessen, 
unmöglich  verschont  bleiben.  Dennoch  ersehen  wir  aus  dem  Brief- 
wechsel des  Papstes  mit  den  dalmatischen  Bischöfen1),  dass  bis 
zum  Ausgange  des  VI.  Jahrhunderts  noch  ganz  geordnete  kirchliche 
Zustände  daselbst  stattfanden,  und  es  ist  wohl  von  dem  üppigen  Leben 
der  dortigen  Prälaten3),  aber  nicht  von  feindlichen  Bedrängnissen 
die  Bede.  Zum  ersten  Male  spricht  Gregor  I.  im  Juli  600  dem 
Erzbischof  Maximus  von  Salona  sein  Beileid  über  die  von  den  Slawen 
erduldeten  Drangsale  aus  und  seine  Besorgnisse  für  die  Zukunft, 
weil  dieselben  schon  durch  Istrien  sich  den  Zugang  nach  Italien  zu 
bahnen  gesucht  hätten 3).  Auch  wird  uns  etwa  ein  Jahr  zuvor 
ein  Einfall  der  Avaren  in  das  nördliche  Dalmatien  gemeldet4), 
auf  welchem  ihr  Khakhan  zuerst  die  Stadt  Bankeis  in  seine  Gewalt 
brachte  und  ausserdem  noch  40  römische  Burgen  verwüstete.  Die- 
ser Zug  steht  indessen  ganz  vereinzelt  da,  und  so  ward  auch  in 
dem  Frieden  5)  den  die  Römer  und  Avaren  im  Jahre  600  schlössen, 
die  Donau  als  die  beiderseitige  Grenze  anerkannt  und  den  ersteren 
das  Recht  zugestanden,  zur  Bekämpfung  der  Slawen  dieselbe  zu  über- 
schreiten. Die  jetzt  folgende  Periode  der  byzantinischen  Geschichte, 
die  Regierung  des  elenden  Kaisers  Phokas  war  ohne  Zweifel  für  die 
Grenzlande  die  unheilvollste,  doch  gibt  uns  kein  gleichzeitiger 
Geschichtschreiber  davon  näheren  Rericht  und  wir  müssen  uns  mit 
allgemeinen  Andeutungen  6)  des  hereinbrechenden  Unterganges 
begnügen.  Um  das  Jahr  610  kämpften  Baiern  und  Slawen  an  der  obern 
Drau  mit  einander7),   an  der  obern  Sau  in  Carniola,  dem   spätem 


!)  Vgl.  .Taffe  regesta  pontificum  Romanor.  Nr.  721—723,  742,749,  810—811  u.  s.  f. 

2)  Vgl.  z.  B.  Mansi  IX,  1090;  X,  329. 

3)  Mansi  X,  p.  231:  Et  quidem  de  Sclavorum  ijente,  quae  vobis  valde  imminet, 
t'ffllgor  vehementer  et  conturbor.  Affllgor  in  his  quae  jatn  in  vobis  patior: 
conturbor  quia  per  Istriae  aditum  jatn  Italiam  intrare  coeperunt. 

4)  Theophylact.  Simocatta  historiar.  VII,  c.  12  (ed.  ßekker  p.  291).  Safari'k  (II, 
238)  zieht  statt  Bankeis  die  Lesart  Balea  vor  und  erklärt  es  als  Belaj  südlich  von 
Karlstadt,  das  recht  gut  passen  würde. 

5)  Theophylact.  Sim.   VII,  c.   15  (p.  299). 

6)  Theophanes  (ed.  Classen  p.  461):  'HpaxXiio;  Ss,  6  ßasiXs'Jc  ßotaiXsyjac  süps  jtapa).E).u- 
p.c'va  -ä  trifi  ltoXiieia;  Tiu|j.ai(jov  npaY^axa •  ttjv  te  y<*P  Eöp<birj]v  oi  ßdpßapoi  ('Aßapsic?) 
spv;p.u)iav  xai  tt,v  'Aalav  oi  Ilspaai  kölsöh  xa-ijTpi'}av ;  vgl.  Nicephori  hreviariuni  (ed. 
Bekker  p.  3).  Phokas  vermehrte  hei  seinem  Regierungsantritte  sogleich  die  her- 
kömmlichen Jahrgelder  der  Avaren  (Theoph.  p.  451). 

7)  Paulus  Diaconus  IV,  40. 

24* 


364  Ernst  Dum  ml  er. 

Krain  erscheinen  die  letzteren  schon  ganz  heimisch1)  und  bei  Innichen 
stellt  sich  ihre  Grenze  gegen  Baiern  fest.  Mit  den  Langobarden 
bewahrte  der  Avarenkhan  lange  Zeit  hindurch  das  in  Paunonien  ange- 
knüpfte freundschaftliche  Verhältniss.  So  geschah  es,  dass  im  Jahre 
602  das  griechische  Istrien  von  beiden  Völkern  gemeinsam ,  so  wie 
von  den  unter  avarischem  Oberbefehle  fechtenden  Slawen  durch 
Rauben  und  Brennen  verheert  wurde,  und  dass  im  zweiten  Jahre  dar- 
auf die  letzteren  auf  Gebeiss  des  Khakhans  den  König  Agilulf  bei  der 
Eroberung  der  Stadt  Cremona  unterstützten  2).  Dennoch  löste  sich 
nach  einigen  Jahren  der  ewige  Bund  der  zwischen  Avaren  und  Lan- 
gobarden geschlossen  worden,  und  im  J.  610  überschwemmten  die 
ersteren  das  Herzogthum  Friaul  mit  zahllosen  Scbaaren;  da  Herzog 
Gisulf  im  Kampfe  geblieben  war,  stand  ihnen  mitAusnahme  mehrerer 
festen  Burgen  das  ganze  Land  weit  und  breit  offen  und  auch  die 
Hauptstadt  Cividale  fiel  in  ihre  Hände3).  Istrien  wurde  dann  bald 
wieder  im  J.  61t  von  den  Slawen  auf  klägliche  Weise  verwüstet4). 
Wenn  man  bedenkt,  dass  diese  bei  ihren  ersten  Einfällen  mit  grosser 
Grausamkeit  verfuhren  und  Tausende  von  römischen  Einwohnern,  zum 
Theil  auf  martervolle  Weise  durch  Keulenschläge,  durch  Pfählen, 
durch  Kreuzigen,  Verbrennen  u.  s.  f.  hinschlachteten,  unzählige  in 
die  Gefangenschaft  fortschleppten  und  durch  die  von  ihnen  bewirkte 
allgemeine  Unsicherheit  der  Strassen  die  Bebauung  der  Äcker  ver- 
hinderten 5),  so  wird  man  geneigt  sein,  der  Erzählung  Konstantins e) 
von  einer  fast  gänzlichen  Verödung  Dalmatiens  vollen  Glauben  beizu- 
messen. Nur  die  festen  Küstenstädte  und  die  Inseln,  unzugängliche 
Felsen  und  Lagunen  mögen  hiervon  eine  Ausnahme  gemacht  haben. 


')  Ders.  IV,  39;  VI,  51;  vgl.  Zeuss,p.  617.  Das  Concil  von  Grado  sollte  aber  nicht 
/,uin  Beweise  angeführt  werden,  dass  im  Jahre  579  die  Bisthümer  Tiburnia  und  Cilli 
noch  existirt  hätten,  da  von  Ruheis  die  Unechtheit  seiner  angeblichen  Acten  langst 
erwiesen  ist  (s.  Mansi  IX,  p.  928). 

2)  Paulus  Diac.  IV,  24,  28;  vgl.  Zttiss,  p.  735. 

3)  A.  a.  O.  IV,  37. 

4)  A.  a.  0.  IV,  41. 

5)  Procop.  de  hello  Goth.  III,  29,  38,  40  (p.  397,  443,  455);  historia  arcana  c.  18 
(p.  103) ,  wo  gewiss  übertrieben  die  Zahl  der  bei  jedem  Einfall  der  Barbaren 
getödteten  oder  mitgeschleppten  Römer  auf  mehr  als  200,000  angegeben  wird. 

6)  De  adm.  imp.  c.  31  (p.  148)  :  Trapct  8s  tü>v  'Aßap«uv  exoiioydsvTe;  ol  aüxol  'Pcup-ävoi  .  .  . 
cti  xouTiuv  IpTjpirji  xa&earrjxaai  xü'P*1''  C.  33  (p.  166):  rcapa  x<I>v  'Aßapcov  aixp.aX<u- 
xiafkiaa  -rj  ts  x^P0  xo"  6  tgcjtt);  Xa6c  xo  mxpawxv  rjprjixüjxai.  Vgl.  c.  35,  36  (p.  162, 
163). 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  3G5 

Eine  wirkliche  Eroberung  des  Landes  durch  die  Avaren ,  mit  deren 
Beistimmung  die  Slawen  jene  Züge  unternahmen,  wird  uns  sonst 
nirgends  gemeldet  und  möchte  wohl  auch  überhaupt  sehr  zweifel- 
haft sein,  weil  die  einzelnen  Umstände  die  unser  Gewährsmann 
davon  erzählt,  der  Wahrheit  durchaus  nicht  entsprechen.  Slawische 
Verwüstungen  unter  avarischem  Schutz  bilden  wahrscheinlich  die 
einzige  ^tatsächliche  Grundlage  seines  Berichtes.  Selbst  wenn  es 
richtig  wäre,  dass  noch  in  der  Mitte  des  X.  Jahrhunderts  Überreste 
der  Avaren  sich  in  Dalmatien  vorfanden1),  würde  eine  solche  verein- 
zelte Colonie  sich  auch  recht  wohl  ohne  die  Beherrschung  des  gan- 
zen Landes  denken  lassen,  und  zudem  fehlt  es  für  jene  Nachricht  an 
jeder  anderweitigen  Bestätigung. 

Auf  jenen  ersten  Sturm  von  Seiten  der  Slovenen  folgte  ein 
zweiter,  der  von  den  nahe  verwandten  Stämmen  der  Croaten  und 
Serben  ausging.  Diese  drangen  wie  ein  Keil  zwischen  die  Winden 
in  Kärnten  und  Pannonien  und  die  in  Thracien  und  Mösien  ein  und 
rissen  beide  für  immer  aus  einander,  so  dass  ihre  Entwickelung  seit- 
dem ganz  gesonderte  Bahnen  einschlug 3).  Die  Urheimat  der  Cro- 
aten und  Serben  bleibt  auch  nach  der  anscheinend  ganz  genauen 
Beschreibung  Konstantin's  ziemlich  dunkel,  denn  was  er  über  Weiss- 
serbien jenseits  Ungerns  erzählt,  beruht  offenbar,  wie  zuerst  Z  euss  3) 
erkannte,  auf  einer  Verwechselung  der  Süd-  mit  den  Nordserben  oder 
Sorben  die  aber  einer  ganz  andern  Sprachfamilie  angehören.    Sein 


*)  Const.  c.  30  (p.  144)  :  xai  etoiv  äxjiT)v  sv  Xpwßatia;  ix  tcju;  tujv  'Aßapiov  xai  y1" 
Yviuoxovtcu  'Aßapst?  rJvTS?.  Safari'k  (II,  278)  will  darunter  die  heutigen  Morlaken 
verstehen  wegen  einiger  abweichender  Sitten  derselben,  die  Engel  (allgem.  Welt- 
historie Bd.  49b,  p.  231 — 234)  für  tatarisch  hielt,  allein  es  ist  doch  sehr  unwahr- 
scheinlich, dass,  während  der  Kern  des  avarischen  Volkes  an  der  Donau  nach  mehr 
als  zweihundertjähriger  Herrschaft  spurlos  verschwand ,  in  Dalmatien ,  wo  sie 
höchstens  zwei  Jahrzehnte  walten  konnten,  sich  ein  Rest  bis  auf  den  heutigen  Tag 
erhalten  haben  sollte. 

2)  Miklosich,  vergleich.  Grammatik  der  slaw.  Sprachen  (p.  VII)  „jene  Slawen,  aus 
deren  Verschmelzung  mit  den  fremden  Bulgaren  das  Volk  der  späteren  Bulgaren 
hervorgegangen,  waren  gleich  den  ältesten  slawischen  Metanasten  im  Westen  ein 
Zweig  des  slovenischen  Stammes."  Vgl.  Ko  pitar,  Ursprung  der  slaw.  Liturgie  (bei 
Chmel,  d.  Österreich.  Geschichtsforscher  Ic,  p.  508). 

3)  Die  Deutschen,  p.  610.  Engel  (a  a.  O.  p.  455)  hält  in  der  That  die  Sorben  in 
der  Lausitz  für  die  Stammväter  der  Serben!  Aus  wirklicher  Tradition  scheint  die 
Nachricht  (c.  33,  p.  160)  zu  stammen,  dass  der  Fürst  der  (serbischen)  Zachlumer 
Michael  sein  Geschlecht  von  den  Anwohnern  der  Weichsel  hergeleitet  habe. 


366  Ernst  Dümmler. 

Gross-  oder  Weiss-Croatien  an  der  Nordseite  der  Karpathen  nordöst- 
lich von  Böhmen  darf  vielleicht  eher  für  begründet  erachtet  werden, 
da  auch  später »)  der  croatische  Name  noch  in  der  Gegend  von  Kra- 
kau  vorkommt,  doch  hat  freilich  im  Verlaufe  der  Zeit  die  polnische 
Nationalität  ihn  dort  vollständig  verdrängt.  Immerhin  mag  man 
annehmen,  dass  jene  beiden  Völker  in  dem  Flachlande  der  Weichsel 
und  Oder  längere  Zeit  ihre  Sitze  aufgeschlagen  hatten,  ehe  sie  nach 
dem  Süden  aufbrachen. 

Sehr  zweifelhaft  bleibt  nun,  wie  wir  uns  ihre  Wanderung  von 
jenseits  der  Karpathen  nach  der  Donau  denken  sollen,  denn  was  uns 
darüber  mitgetheilt  wird ,  hat  wenig  das  Ansehen  einer  glaubhaften 
Geschichte.  Schon  die  Erzählung  von  den  Serben3),  einem  so  mäch- 
tigen und  ausgedehnten  Volksstamme,  dass  sie  anfangs  in  der  kleinen 
Provinz  Thessalonich  Platz  gefunden,  dann  über  die  Donau  zurück- 
gekehrt und  von  Neuem  eingefallen  seien,  „bedarf  keiner  weiteren 
Widerlegung".  Sehr  unwahrscheinlich  ist  es  aber  auch,  dass  jene 
beiden  Völker  oder  eigentlich  nur  ein  Theil  von  ihnen  3)  als  Feinde 
sich  durch  das  avarische  Reich  durchgeschlagen  haben  sollten,  das 
sie  doch  unzweifelhaft  passiren  mussten,  um  dann  zu  den  Römern 
überzutreten,  zumal  da  Heraklius  trotz  der  wiederholten  Treulosigkeit 
des  Khakhans  durchaus  mit  den  Avaren  Frieden  zu  halten  suchte*). 
Vielnäher  liegt  daher  die  Annahme,  dass  auch  dieCroaten  und  Serben 
wie  alle  slawischen  Völker  rings  umher  unter  avarischer  Herrschaft 
standen  und  mit  Bewilligung  ihrer  Herren  den  Slovenen  nachfolgend 
das  von  diesen  verödete  Dalmatien  und  Mösien  in  dauernden  Besitz 
nahmen.  Allerdings  muss  die  Begierung  des  Kaisers  Heraklius  als 
der  richtige  Zeitpunct  dieser  Eroberung  festgehalten  werden,  denn 
Papst  Johann  IV. 5),   ein  geborner   Dalmatier   (640  —  642)  schickte 


*)  Safari  k  II,  244,  389,  393.  Auch  Thomas  von  Spalato  c.  VII  (p.  541)  lässt  die 
Croaten  de  partibus  Poloniae  herkommen ,  und  Laonicus  Chalkokondylas  im 
15.  Jahrh.   (lib.  1,  ed.   Bekker    p.    34)  :    „tu;   svioi  (tpaaiv)    äitö    Tfj?    izipa-i   toO  'Iaxpou 

E7t'    EJyaTtOV    TTJS    E'jpiÜltT);  ,     &7t6     TS     KpOOCTta?     X«i    IlpOUatÜiV    TÜ)V    I?    TClV    äpXTlI)OV    <I)XSC(VOV 

xal  2ap|j.G<Tias  ttjs  vDm  fj'jxiu  'Piosia?  xaXo'jjj.svrJ;." 

2)  Const.  c.  32  (p.  152),  vgl.  Zeuss  p.  612,  Anm.  2. 

3)  Von  den  Croaten  war  es  nur  (J-ict  yEvsa  oiayujpia&siaot  e£  airnüv  .  .  .  p-sia  tou  Xaoü 
aÜTtüv  (p.  143)  und  von  den  Serben  to  xoü  Xaoü  .  .  .  ^ixiau  (p.  152). 

4)  Theophanes,  p.  464—466.    Nicephori  breviarium  p.   14,  20,  27. 

5)  Vita  Joannis  IV  bei  Anastasius  de  vitis  pontific.  Romanor.  ed.  Blanchini,  Romae 
1718,  I,  p.  123. 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  367 

gerade  am  Ende  derselben  den  Abt  Martin  nachlstrien  und  Dalmatien, 
um  daselbst  Reliquien  zu  sammeln  und  die  christlichen  Gefangenen 
durch  Lösegeld  aus  der  Gewalt  der  Heiden  zu  befreien.  Unter  die- 
sen Umstünden  wurden  durch  die  Thaten  der  Zerstörung,  mit  denen 
die  Croaten  und  Serben  ihr  Reich  begründeten,  nicht  die  Avaren 
getroffen,  sondern  die  Reste  der  römischen  Revölkerung  und  deren 
bis  dahin  noch  verschont  gebliebene  Stüdte.  Und  so  schreibt  auch 
Konstantin '),  wie  er  denn  oft  Widersprechendes  ohne  Arg  berichtet, 
die  Vernichtung  von  Epidaurus,  sowie  der  übrigen  Städte,  also  auch 
dieSalonas,  den  Slawen  zu,  die  zu  seiner  Zeit  noch  im  Lande 
wohnten,  d.  h.  den  Serben  und  Croaten.  Wir  dürfen  daher  diese 
Völker  ebenso  gewiss  für  feindliche  Eindringlinge  halten ,  wie  ihre 
Vorgänger  die  Slovenen,  und  auch  in  viel  späterer  Zeit  fuhren  sie 
ja  noch  fort  sich  als  Seeräuber  furchtbar  zu  machen.  Erst  als  das 
avarische  Reich  sank  und  durch  die  Rekehrung  zum  Christenthum 
mildere  Gesinnungen  ihnen  allmählich  eingepflanzt  wurden,  fand  ein 
Anschluss  an  den  byzantinischen  Kaiser  Statt.  Indem  dieser  dann  auf 
die  Wiedereroberung  des  Landes  verzichtete,  konnte  sich  sehr  leicht 
die  Meinung  bilden,  als  habe  er  dasselbe  von  vornherein  den  Slawen 
zur  Rewohnung  angewiesen.  War  demnach  der  wirkliche  Sachver- 
halt einmal  in  Vergessenheit  gerathen,  so  hielt  es  nicht  schwer,  die 
Croaten  gerade  als  die  Refreier  Dalmatiens  von  der  Zwingherrschaft 
der  Avaren  darzustellen,  um  sie  so  den  Römern  gegenüber  im  günstig- 
sten Lichte  zu  zeigen.  Eine  solche  Auffassung  römisch  gesinnter 
Croaten  dürfte  dem  Rerichte  Konstantin's2)  zu  Grunde  liegen  und 
seine  Abweichungen  von  der  Wahrheit  vollständig  erklären.  Die 
Namen  der  von    ihm  erwähnten  Führer   gehören  3)   unstreitig    der 


1)  Cap.  29  (p.  136):  e-ei6t),  -rpixa  -i  Xoiita  ixparqfrnaav  x«3Tpa  -apa  t<I>v  SxXäßcuv  tüv 
üvtcuv  ev  ~.u>  Nfum  Expo-/)»7)  xai  tö  toioötov  xAoTpOM  (sc.  Epidaurus).  Fallmerayer 
(Gesch.  der  Halbinsel  Morea  p.  160)  entnahm  diese  Notiz  aus  Konstantin  und  glaubte 
ihn  zu  berichtigen,  indem  er  für  jene  Zerstörung  das  Jahr  S49  statt  449  ansetzte, 
allein  Epidaurus  existirte  noch  am  Ende  des  VI.  Jahrhunderts,  wie  zwei  Briefe 
Gregor's  1.  aus  den  Jahren  592  und  597  beweisen  (Mansi  IX,  1119;  X.93:  habitatores 
Epidauriensis  civitatis) . 

2)  Auf  diese  Quelle  führen  besonders  auch  die  Worte  über  den  Wunderthäter  Martin 
(c.  31,  p.  150)  8v  xocL  Xiyooaw  oi  «Orot  XpwßaTOi  Sa'J|Aa-a  txava  itonjffat,  also  sicher- 
lich croatische  Gewährsmänner. 

3)  Cap.  30  (p.  143).  Fünf  Brüder  und  zwei  Schwestern  werden  daselbst  genannt. 
Die  letzteren  beiden  Tuga  und  liuga  lassen  sich  mit  der  cechischen  Libusa  und  der 
polnischen  Wanda  vergleichen. 


368  Ernst  Dümmler. 

croatischen  Stammsage  an,  wofür  besonders  der  Umstand  spricht, 
dass  darunter  der  Volksname  Chrovatos  vorkommt,  ganz  entsprechend 
dem  Cech  der  Böhmen  und  dem  Lech  der  Polen. 


II.  Yertheilung  Dalmatiens  nach  der  slawischen  Eroberung. 

Über  die  Wohnsitze  die  durch  die  Einwanderung  der  Croaten 
und  Serben  diesen  in  Dalmatien  und  Mösien  zufielen,  sowie  über  die 
Orte  die  den  alten  Einwohnern  verblieben,  erhalten  wir  erst  aus  dem 
IX.  bis  X.  Jahrhundert  genauere  Kunde ,  doch  darf  im  Allgemeinen 
wohl  angenommen  werden,  dass  seit  dem  Ende  des  siebenten  in  dieser 
Hinsicht  sich  wenig  verändert  habe ,  weil  von  da  an  meist  friediche 
Verhältnisse  obwalteten: 

I.  Die  römischen  oder  romanisirten  Bewohner  des  Landes,  in 
soweit  sie  nicht  unter  slawische  Botmässigkeit  geriethen,  nannten  sich 
selbst  noch  fortwährend  Romanen  J)  und  behielten  die  lateinische 
Sprache  bei.  Von  dem  alten  Liburnien ,  d.  h.  dem  Lande  zwischen 
der  Arsa  und  Kerka,  behaupteten  sie  die  vier  nördlichen  grossen 
Inseln  Veglia,  Arbe,  Cherso  und  Lussin2),  welche  letzteren  beide 
nur  durch  einen  schmalen  Meeresarm  getrennt,  gemeinsam  unter  dem 
Namen  Opsara  oder  Absaros  begriffen  werden.  Die  gleichnamige 
Stadt,  das  heutige  Ossero ,  lag  auf  Cherso.  Auf  dem  Festlande  von 
Liburnien  blieb  den  Römern  nur  die  alte  und  ansehnliche  Hafenstadt 
Jadera,  von  Konstantin  mit  willkürlicher  Änderung  Diadora  genannt, 
während  die  Slawen  den  Namen  später  in  Zadar  3)  und  die  Italiener 
in  Zara   verwandelten.    Eine  Zerstörung  durch  die  Croaten    erfuhr 


i)  Cap.  29  (p.  12S,  128),  33  (p.  160),  35  (p.  162).  Konstantin  unterscheidet  sie 
durch  die  Bezeichnung  'Pio^ävoi  von  den  Griechen,  die  er  stets  Tio|j.eüoi  nennt. 
Auch  Einhard  (ann.  817)  heiss*  die  römischen  Dalmatier  Romani. 

2)  Konstantin  erwähnt  (p.  128,  140)  •*]  "Äff*»),  t)  BsxXa  xai  tö  "Ctyapa  als  Städte, 
doch  führte  gerade  Lussin  von  der  gegenüberliegenden  Stadt  bis  zum  Anfange 
dieses  Jahrhunderts  den  Namen  Ozora ,  Ossero,  und  da  es  durch  eine  Brücke  mit 
Cherso  zusammenhängt,  so  konnte  es  füglich  als  eine  und  dieselbe  Insel  betrachtet 
werden,  daher  auch  die  Alten  beide  unter  der  Benennung  der  Apsyrtides  zusammen- 
fassten. 

3)  Diese  Form  findet  sich  zum  ersten  Male  in  dem  Briefe  des  Papstes  Johann  VIII.  vom 
10.  Juni  879,  der  bestimmt  ist  habitatoribus  Spalatensis  civitatis  atque  Zada- 
rensis  (bei  Mansi  collectio  conciliorum  XVII,  p.  129). 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  Ol)  9 

Jadera  niemals1)  und  wenn  bei  Thomas  von  Spalato2)  von  einer  sol- 
chen die  Rede  ist,  indem  die  Wiedererbauung  der  Stadt  flüchtigen 
Salonitanern  zugeschrieben  wird,  so  scheint  diese  Nachricht  nur  dar- 
aus entstanden  zu  sein,  dass  man  den  Namen  Jadera  von  dem  des 
Flusses  Jader  bei  Salona  abzuleiten  suchte.  Die  südlicher  liegenden 
liburnischen  Inseln,  die  anfänglich  den  vertriebenen  Römern  zur 
Zuflucht  gedient  haben  mochten,  wie  Ulbo,  Selva,  Pago,  Meleda  u.  a., 
waren  in  Konstantin^  Zeit  ganz  entvölkert  und  enthielten  nur  ver- 
lassene Ortschaften,  dagegen  fristete  noch  eine  andere  römische 
Gemeinde  auf  dem  kleinen  Eilande3)  Levigrad  (jetzt  Vergada)  zwi- 
schen Pasman  und  Morter  ihr  Dasein. 

In  Dalmatien  im  engern  Sinne,  d.  h.  dem  Küstenstriche  von  der 
Kerka  bis  Durazzo  rettete  sich  von  den  alten  Städten  nurTragurium, 
jetzt  Trau  und  von  den  Slawen  Troghir  benannt,  indem  seine  Bewoh- 
ner sich  auf  die  gegenüberliegende  kleine  Insel  Bua  zurückzogen,  die 
nur  durch  eine  schmale  Landzunge  wie  durch  eine  Brücke  mit  dem 
Festlande  verbunden  war4).  Sehr  zweifelhaft  ist  es,  ob  wir  Cattaro, 
das  Dekatera  des  Konstantin5)   und  Kotor  der  Slawen,    auch    hier 


1)  Konstantin  (p.  139)  bezeugt  dies  ausdrücklich,  indem  er  Zara  älter  sein  lässt 
als  Rom.  Konr.  Mann  ert  (Geographie  der  Griechen  und  Römer  VII,  p.  329 — 332) 
zweifelt  auch  nicht,  dass  sein  Diadora  das  Jadera  der  Alten  sei,  identificirt  aber 
dennoch  beide  mit  dem  südlicher  liegenden  ßielograd,  auf  welches  ihm  die  von 
Plinius  (111,  22)  angegebenen  Entfernungen  besser  zu  passen  schienen.  Hierzu 
verleitete  ihn  der  Name  Zara  vecchia ,  der  in  neuerer  Zeit  Bielograd  von  den 
Schiffern  beigelegt  worden  ist.  Allein  Zara  hiess  nicht  nur  während  des  ganzen 
Mittelalters  gewöhnlich  noch  Jadera,  sondern  hat  auch  die  bedeutenderen  römischen 
Alterthiiroer  (vgl.  Joa.  Lucii  de  regno  Dalmatiae  et  Croatiae  I.  1,  c.  5,  p.  53 — 54) 
und  zudem  kennt  Konstantin  C.  31  (p.  151)  schon  das  croatische  BsVrrpaoov 
neben  dem  römischen  Diadora. 

2)  Cap.  IX.  (bei  Schwandtner  III,  p.  545). 

■)  Const.  de  adm.  imp.  c.  29  (p.  140):  sie  Itspov  vtjoiov  (la-ri  to  xdj-pov)  Tö  Ao'ju,- 
ßpixdTOM;  vgl.  Johannis  chronicon  Venetum  (Pertz,  monum.  Germaniae  SS.  VII,  32), 
wo  dem  venetianisehen  Dogen  Petrus  Urseolus  a.  998  auf  der  Fahrt  von  Bielograd 
nach  Trau  Levigradae  insulae  Colones  .  .  oecurrentes  saemmentu  prompte 
fecerunt.  Der  Name  ist  an  beiden  Orten  offenbar  derselbe  und  nur  im  griechischen 
Munde  etwas  umgemodelt;  auch  die  schleunige  Unterwerfung  lässt  auf  römische 
Abkunft  der  Bewohner  schliessen.  Die  Lage  von  Vergada,  welches  Joa.  Lucius 
(I,  c.  14)  für  Lumbrikat  nahm ,  passt  vollkommen  auf  den  Bericht  des  Johannes 
über  die  Fahrt  des  Dogen.  Die  Vermuthungen  von  Farlati  (lllyric.  saerum  I.  222) 
und  von  Pertz  (a.  a.  0.  Anm.  4)  sind  daher  zurückzuweisen. 

4)  Vgl.  K.  Mannert  a.  a.  0.  p.  337. 

5)  De  adm.  imp.  c.  29  (p.  139).  Er  übergeht  es  p.  128,  wo  er  die  Städte  der  Römer 
aufzahlt. 


d70  Ernst  Dümmler. 

anreihen  dürfen,  da  sein  Name  von  keinem  der  Alten  genannt  wird  *) 
und  eher  der  slawischen  Sprache  anzugehören  scheint2).  Die  Stadt  die 
auf  der  einen  Seite  vom  Meere,  auf  der  andern  von  hohen  Bergen 
umschränkt  ist3),  mag  daher  ihre  Entstehung  wie  ihre  Benennung 
gleichfalls  erst  den  slawischen  Verwüstungen  zu  verdanken  haben. 
Ausserdem  wurden  sicher  durch  die  flüchtigen  Römer  die  beiden 
Städte  Spalato  oder  Aspalathos  und  Ragusa  oder  Rausium  neu 
gegründet.  Nach  der  Einnahme  Salona's  durch  die  Croaten,  so  erzählt 
der  Archidiaconus  Thomas4) ,  hatten  sich  die  Einwohner  grössten- 
teils auf  die  zunächst  gelegenen  Inseln  Solta ,  Brazza,  Lesina  u.  a. 
geflüchtet  und  erst  nach  einiger  Zeit  unter  Führung  eines  gewissen 
Severus  sich  nach  dem  festen  Lande  zurückgewagt ,  wo  ihnen  aber 
die  Trümmer  ihrer  Vaterstadt  keinen  sichern  Aufenthalt  gewährten. 
Gewiss  ist,  dass  ein  Theil  der  Saionitaner  sich  nach  dem  3 — 4  Mil- 
lion entfernten  und  durch  die  dazwischen  aufgehäuften  Felsen  schwer 
zugänglichen  Palaste  Diokletian's  begab.  Dieses  grossartige  Bauwerk 
das  aus  einer  ganzen  Reihe  einzelner,  getrennter  Gebäude  bestand, 
bildete  ein  regelmässiges  Viereck  dessen  Seiten  je  220  Fuss  in  der 
Länge  massen,  und  wurde  durch  eine  aus  Quadersteinen  wohlgefügte 
Mauer  und  viele  Thürme  verwahrt.  Aus  diesem  Palatium  Diokletiaifs 
entwickelte  sich  die  Stadt  Spalato,  die  allmählich  aus  seinem  Um- 
kreise herauswuchs5).  In  gleicherweise  wurde  von  den  vertriebenen 
Einwohnern  von  Epidauros  das  später  so  berühmte  Ragusa,  slawisch 
Dubrownik,  gegründet,  in  welchem  sich  auch  eine  Anzahl  von  Bür- 
gern aus  Salona  niederliess  6).  Das  Gebiet  aller  dieser  Städte  schloss 


*)  Das  Kärraprj;  des  Prokop  (de  aedific.  IV,  4,  p.  281)  gehört  nicht  hieher,  weil  es 
nach  seiner  Aussage  in  Dardanien  lag. 

2)  Vgl.  z.   B.  to  Kdxspa  in  Bosnien   (de  adm.  imp.  c.   32,  p.   139). 

3)  Coust.  a.  a.  0.  sl?  xo  ty};  &a).dja7)c  <jupndT)p<D[j.tx  laxt  xb  xdaxpov  l'/si  8s  tö  xoioüxov 
xaixoGv  xOxXov  a'JT'jüi  opir)  u'jajXa,  üjjxs  jiovu)  xü>  xaXoxatpiip  ßXsrcsiv  xov  tjXiov  x.  x.  X. 
Vgl.  dazu  Banduri  p.  338  und  346. 

4)  Cap.  VIII  und  IX  (p.  543—546). 

5)  Const.  c.  29  (p.  137—138);  Farlati  Illyric.  sacr.  III.  1— 3  ;  K.  Ma  n  n  er  t  VII,  p.324. 

6)  Const.  p.  136.  Ragusa  soll  nach  seiner  Gründung  noch  eine  dreimalige  Erweite- 
rung erfahren  hahen  wegen  der  Zunahme  der  Bevölkerung.  Thomas  von  Spalato 
(c.  VIII,  p.  544)  lasst  Epidaurus  von  herbeiziehenden  Römern  zerstört  werden,  die 
alsdann  mit  den  vertriebenen  Bürgern  gemeinsam  Ragusa  erbauen.  Noch  fabel- 
hafter erzählt  die  Sache  der  Priester  von  Dioklea  (c.  XX,  p.  487),  der  in  auffallender 
Übereinstimmung  mit  Konstantin  gleichfalls  Lausium  als  ursprünglichen  Namen  der 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  o  (  1 

nach  dem  festen  Lande  zu  höchstens  die  nächsten  Dorfschaften  ein, 
da  alles  Andere  den  Slawen  unterthan  war,  die  nöthigen  Lebensmittel 
mussten  daher  zum  Theil  aus  den  vorliegenden  Inseln  herbeigeschafft 
werden,  bis  auch  deren  Besitz  mehr  und  mehr  bedroht  wurde  *)• 

Die  oberste  Civil-  und  Militärverwaltung  des  römischen  Dalma- 
tiens  lag  in  den  Händen  eines  byzantinischen  Statthalters  der  unter 
dem  Titel  eines  Proconsuls  oder  Strategen2)  in  Zara  seinen  gewöhn- 
lichen Sitz  hatte  3).  Wie  man  Dalmatien  stets  als  einen  Theil  Italiens 
betrachtete  4),  so  stand  der  Stratege  dieser  Provinz  ohne  Zweifel 
auch  unter  dem  Exarchen  von  Ravenna ,  so  lange  dies  nicht  in  die 
Herrschaft  der  Langobarden  und  Franken  übergegangen  war.  Die 
Abhängigkeit  der  Dalmatier  von  dem  Kaiser  in  Konstantinopel, 
der  ihnen  gegen  ihre  Feinde  ohnehin  sehr  ungenügende  Hilfe 
gewährte,  beschränkte  sich  wohl  auf  die  Zahlung  eines  jährlichen 
Tributes  und  das  Aufbringen  von  Schiffen  und  Matrosen,  wenn 
diese  für  einen  Krieg  erfordert  wurden 5),  während  in  ihren  inneren 
Angelegenheiten  die  Städte  nach  einer  freien  Municipalverfassung, 
in  der  Art  Venedigs,  sich  selbst  regierten  6).  Nicht  diese  schwachen 
politischen  Bande  die  die  dalmatischen  Städte  und  Inseln  noch  mit 
Byzanz  verknüpften,  gaben  der  römischen  Nationalität  daselbst  Halt 
und  Festigkeit,  sondern  vielmehr  die  bei  weitem  stärkeren  kirchlichen, 
von  denen  später  zu  reden  sein  wird. 


Stadt  angibt.  Vgl.  auch  das  Chronicon  Salernitan.  c.  88  (Pertz  SS.  Hl,  512),  wo 
als  Gründer  von  Ragusa  ein  Theil  der  Römer  selbst  bezeichnet  wird ,  die  unter 
Konstantin  nach  Byzanz  übersiedelnd  beim  Slawenlande  Schiffbruch  litten. 

1)  Const.  c.  30  (p.  146).  Hiermitsind  keineswegs,  wie  Safafik  (slaw.  Alterthümer 
II,  p.  304)  annimmt,  die  vier  grossen  nördlichen  Inseln  im  Quarnerobusen  gemeint, 
auf  denen  selbst  sich  römische  Städte  befanden,  sondern  die  kleineren  Inseln  nahe 
der  Küste,  wie  Uglian,  Zirona,  Solla  u.a.,  welche  zur  Zeit  Konstantin's  unbebaut 
und  von  Einwohnern  verlassen  waren,  nach  seiner  eigenen  Aussage  p.  140:  toc  6s 
XoiTrä  itaiv  äoixYjxa,  r/ov-a  tpr^öxaazpa. 

2)  Const.  p.  146:  tu)  a-pa-T]-^ ,  wo  auch  der  jährliche  Tribut  erwähnt  wird;  de 
caerimoniis  aulae  ßyzantinae  II,  c.  50,  52  (ed.  Reiske  p.  697,  713,  728);  Brief 
Gregor's  1.  MarceUino  pi-oeonstili  Dalmatiae  (Mansi  X,  p.  112). 

3)  Einhardi,  annal.  821:  Fortunalus  . . .  veniens  .  . .  Jaderam  Dalmatiae  civitatem, 
Johanni  praef'ecto  provinciae  illius  fugae  suae  causas  aperuit. 

4)  Const.  de  thematibus  1.  11  (p.  57):  t)  Ss  AaX|j.a~ia  t/jc  'IiaXia;  sali  "/ujpa.  \rgi.  Joa, 
Lucius  I,  c.  6  (p.  60). 

5)  Dies  lehrt  die  Erzählung  bei  K  o  n  s  tan  t  in  (c.  29,  p.  231),  woselbst  die  Ragusaner 
im  J.  870  ßaaiXr/7)  xeXsoasi  die  croatischen  und  serbischen  Hilfsvölker  nach  Bari 
übersetzen. 

«)  Vgl.  Farlati  HI,  p.  4. 


d  7  St  E  r  n  s  t  D  ü  m  in  1  e  r. 

II.  Die  Croaten  sassen  hinter  den  Römern  längs  der  Meeresküste, 
soweit  sie  durch  die  dalmatischen  Städte  von  dieser  nicht  ausge- 
schlossen wurden,  vonAlbona  oder  dem  Flusse  Arsa,  der  alten  Grenze 
Istriens,  im  Norden  beginnend  bis  zur  Mündung  der  Cettina  süd- 
wärts *).  Undeutlicher  sind  ihre  Grenzen  nach  dem  Binnenlande  zu 
und  lassen  sich  daselbst  nur  annähernd  bestimmen.  Im  Süden  reich- 
ten sie  über  die  Cettina  noch  etwas  hinaus  ,  da  zwei  ihrer  Gaue, 
Chleviana  und  lmota,  jetzt  Liwno  undlmoschi,  jenseits  derselben  zu 
suchen  sind.  ImNordosten  erscheint  Plewa,  jetzt  Pliwa  an  dem  gleich- 
namigen Nebenflusse  des  Werbas  als  der  am  weitesten  vorgeschobene 
Posten  der  uns  aber  kaum  berechtigt,  mit  Safarik2)  den  Lauf  des 
Werbas  als  ihre  Grenze  anzusetzen,  denn  in  dem  ganzen  weiten 
Räume  zwischen  diesem  Flusse ,  der  Sau  und  der  Unna  werden  uns 
keine  anderen  croatischen  Orte  oder  Gaue  genannt.  Im  Nordwesten 
wo  Croatien  in  den  Gebirgen  sich  noch  oberhalb  Istriens  landeinwärts 
erstreckt  haben  soll ,  dürfen  wir  es  etwa  bis  zu  den  Quellen  der 
Kulpa  ausdehnen,  allein  auch  hier  sind  uns  nördlich  von  einer  zwi- 
schen Zengg  und  Sluin  gezogenen  Linie  keine  Ortschaften  bekannt. 
Der  eben  beschriebene  Umfang  ergibt  sich  aus  den  vierzehn  von 
Konstantin  namentlich  aufgeführten  Gauen  Croatiens,  mit  denen  die 
von  ihm  erwähnten  Städte  grossentheils  zusammenfallen3).  Wenn  er 
nun  hiermit  auch  die  Grenzen  desjenigen  croatischen  Staates  richtig 
angibt,  der  zu  den  dalmatischen  Römern  in  näherer  Beziehung  und 
Verbindung  stand,  so  scheint  doch  einerseits  auch  dieser  in  früheren 
Zeiten  eine  weitere  Ausdehnung  besessen  zu  haben,  andererseits 
wurden  nicht  immer  alle  Croaten  von  ihm  eingeschlossen,  und  jene 
Angaben  bedürfen  daher  in  beiden  Fällen  einer  Vervollständigung. 
Konstantin*)  erzählt  nämlich  selbst,  das  croatische  Reich  sei  ehedem 


i)  Const.  c.  30  (p.  146). 

2)  Slaw.  Alterth.  II,  294—298. 

3)  C.  30,  31  (p.  145,  151).  Schon  Lucius  (I,  c.  13,  p.  77)  bemerkt  hierüber:  In 
relatis  zwpaniis  maritimae  ut  plurimum  regiones  numerantur ,  ideo  vel  duces 
s.  bani  a  Porphyrogenito  nominati  maritimam  tantum  Croatiam  possederunt, 
vel  ipse  in  rebus  occidentalibus  purum  versatus  multa  omisit.  Aus  Einhard 
(ann.  819)  ergibt  sich  nur,  dass  das  Gebiet  der  Croaten  im  Norden  nicht  über  die 
Kulpa  hinausgereichl  haben  könne.  Aus  der  Urkunde  Tirpimir's  vom  J.  852  (bei 
Schwan  dtner  111,99),  wo  es  von  Spalato  heisst:  quae  metropolis  usque  ripam 
Danubii  et  pene  per  totum  regnum  Croatiae ,  lässt  sich  keineswegs  schliessen, 
dass  auch  das  letztere  von  der  Donau  begrenzt  worden. 

4)  C.  31   (p.   151). 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Daimatien.  »373 

bei  weitem  mächtiger  gewesen  als  zu  seiner  Zeit,  denn  es  habe  einst- 
mals 60.000  Reiter  und  100.000  Fussgänger  stellen  können,  dazu 
an  grösseren  Fahrzeugen,  sogenannten  Sagenen  80  zu  je  100  Mann, 
und  an  kleineren  sogenannten  Konduren  100  zu  je  10 — 20  Mann.  Die 
Verminderung  dieser  Streitkräfte  die  nur  bei  der  Zahl  der  Sagenen 
näher  bestimmt  wird,  indem  er  diese  auf  30  sinken  lässt,  setzt  Kon- 
stantin in  die  Mitte  des  IX.  Jahrhunderts  und  leitet  sie  aus  den  zer- 
störenden Wirkungen  eines  Bürgerkrieges  her.  Wegen  jener  für  den 
geringen  Fläehenraum  und  die  gebirgige  Natur  des  Landes  übermässig 
grossen  Zahlen  ist  man  indessen  versucht,  ihre  Verringerung  nicht 
blos  inneren  Wirren,  sondern  auch  einer  bedeutenden  Landabtretung 
zuzuschreiben.  Kaum  aber  möchte  es  zur  Erklärung  jener  früheren 
Streitmacht  genügen,  wenn  wir  die  Mündung  des  Werbas  in  die  Sau 
als  äusserste  Nordostgrenze  des  alten  Croatiens  annähmen,  vielmehr 
scheint  es  fast  nothwendig,  auch  Bosnien  nicht  als  ursprünglich  ser- 
bisches Gebiet  gelten  zu  lassen,  sondern  als  eine  ehemalige  Erwer- 
bung der  Croaten.  In  Wahrheit  wird  dasselbe,  wenn  es  auch  schon 
im  X.  Jahrhundert  einen  Bestandteil  von  Serbien  bildet,  doch  noch 
als  eine  besondere  Landschaft  davon  unterschieden,  deren  Bewohner 
ihre  eigenen  Sitten  hatten,  wie  sie  auch  später  meist  ihre  eigenen 
Fürsten  gehabt  haben  i).  Die  Berechtigung  zu  diesen  Vermuthungen 
gewährt  uns  die  Nachricht2),  dass  die  Croaten  bei  ihrer  Einwan- 
derung sich  keineswegs  auf  Daimatien  beschränkt,  sondern  sich 
von  dort  auch  nach  Illyrien  und  Pannonien  ausgebreitet  hätten,  wo 
von  ihnen  ein  besonderer  Staat  unter  eigenen  Fürsten  gegründet 
worden  sei.  Von  Pannonien  kann  hier  nur  der  äusserste  Theil  von 
Unterpannonien,  das  sogenannte  Syrmien  zwischen  der  untern  Sau 
und  der  Donau,  in  Betracht  kommen 3),  in  welchem  die  Bevölkerung 


1)  Konstantin  (c.  32,  p.  159)  nennt  neben  Serbien  xö  ytuptov  Bo'awva  mit  zwei 
Städten;  Joh.  Kinnaraus,  ein  Zeitgenosse  des  Kaisers  Friedrich  1.  sagt,  nachdem  er 
die  Drina  als  Grenze  gegen  Serbien  angegeben  (historiar.  ed.  Meineke  III,  7,  p.  104)  : 
eoxi  8s  t)  Bo'j&va  du  Ttj>  Sspßiiuv  äp/^o'jTtävuj  xal  auT7)  si'xouaa,  dXX'  s&vo;  Iota  Tiapa 
taUTTj  xai  5<üv  xal  dp-/_o'|j.svov. 

2)  Konstantin  c.  30  (p.  144).  Auch  in  dem  Theophanes  continuat.  V,  52  (ed. 
Bekker  p.  288)  wird  von  den  Serben  und  Croaten  geredet  als  von  tü>v  iv  ilawo- 
via  xal  AaX(j.aTta  xai  xü)v  ETtexsiva  toutujv  6iaxsi|Jt.£vu>v  2x'j!}ü>v. 

3)  So  urtheilte  schon  Zeuss  (pag.  612),  indem  er  an  das  Frankochorion  der  Byzantiner 
dachte.  Diese  Gegenden  sind  jetzt  mit  serbischen  Flüchtlingen  bevölkert  und  von 
dort  breitet  sich  zum  Nachtheile  der  slovenischen  Mundart  die  serbische  immer  weiter 
überSlavonien  aus.  Im  Jahre  1024  aber  befand  sich  zu  Sirmium  ein  croatischer  Befehls- 


3/4  E  r  n  s  t  D  ü  m  m  I  e  r. 

und  die  Beherrscher  öfter  gewechselt  haben,  während  die  bei  wei- 
tem grössere  Hälfte  desselben,  das  heutige  Slavonien  und  Provinzial- 
Croatien,  soviel  wir  wissen,  stets  von  Slovenen  bewohnt  war.  Wenn 
dem  so  ist,  so  wird  mit  Illyrien  im  römischen  Sinne  das  Land 
gemeint  sein,  welches  Dalmatien  einschliessend  *)  sich  im  Norden 
und  Osten  bis  zur  Sau  und  Drina  ausdehnte ,  also  vornehmlich 
Bosnien.  Darunter  verstehen  wir  das  Flussgebiet  der  Bosna  östlich 
von  der  Drina  begrenzt,  durch  welches  die  Verbindung  zwischen 
Croatien  und  Syrmien  vollkommen  hergestellt  wird.  Hiernach  dür- 
fen wir  uns  nicht  wundern,  wenn  Konstantin  über  die  Sitze  der 
pannonischen  und  illyrischen  Croaten  gar  nichts  Näheres  mitzu- 
theilen  weiss,  weil  ja  zu  seiner  Zeit  dieselben  bereits  in  andere 
Hände  übergegangen  und  theils  von  den  Serben,  theils  von  den  Bul- 
garen in  Besitz  genommen  waren.  Jene  auffallend  hohe  Angabe 
der  Streitmacht  aber  mag  sich  aus  einer  Zeit  herschreiben,  welche 
das  Hinterland  mit  den  Küstenbewohnern  vorübergehend  zu  Einem 
Beiche  vereinigt  sah. 

v 

Das  dalmatische  Croatien  zerfiel  in  vierzehn  Zupen  oder  Gaue, 
in  deren  jedem  sich  in  der  Begel  eine  befestigte  Stadt 3)  oder  Burg 
zum  Schutze  des  Landes  und  zur  Zuflucht  für  das  wehrlose  Volk 
befand.  Unter  diesen  grösseren  Orten  waren  wohl  Nona  (das  Aenona 
der  Alten)  und  Bielograd  die  bedeutendsten  und  dienten  desshalb  den 


haber  Sermon  oder  Cismigus,  nach  dessen  Ermordung'  die  Stadt  in  die  Hände  der 
Griechen  fiel  (Georg.  Cedrenus  histor.  eompend.  tom.  II ,  p.  476 ;  Lupus  Protospata- 
rius  s.  a.  bei  Pertz  SS.  V,  pag.  57)  und  im  Jahre  1154  heisst  es  von  jener  Gegend 
bei  Joh.  Kinnamus  (III,  c.  10,  p.  114):  rp  ouv  iosTv  .  .  .  xoi  rjv  "Iaxpo?  xai  2äos 
TOTa|ACii  .  .  .  £7ti  06vvi%7)?  a'JTOji-txTiCo'jat  vvjaOM  .  .  .  XEVOUuivqv  TCÖtjav  xai  xaxoixcov  Jitavi- 
tjcuaav. 

1)  Ich  schliesse  mich  hier  der  Ansicht  Krause's  (p.  4 — 5)  an,  der  u.  a.  noch  geltend 
macht,  dass  die  Franken  von  den  Serben  als  von  einer  Nation  sprechen,  die  sie 
nur  vom  Hörensagen  kennen  (Einhard,  ann.  822)  und  dass  Bulgaren  und  Croaten 
mit  einander  Krieg  führen,  ohne  dass  der  Serben  als  eines  zwischen  ihnen  woh- 
nenden Volkes  irgend  Erwähnung  geschieht  (Const.  c.  32,  p.  150  — 151).  Auch 
die  Ausdehnung  der  Metropolitanrechte    Spalato's    könnte  dafür   sprechen.  Äusserst 

v  v 

unwahrscheinlich  ist  die  Vermuthung  Safarik's  (II,  p.  279,  343),  in  dem  kleinen 
Kraubatgau  in  Steiermark  jene  von  Dalmatien  ausgegangene  croatische  Colonie  zu 
suchen,  da  Konstantin  nicht  daran  dachte,  auf  das  ehemalige  Noricum  und  damalige 
Slavinien  noch  den  Namen  IUyricum  auszudehnen. 

2)  Vgl.  Palacky,  Geschichte  von  Böhmen,  1,  p.  174 — 176.  E  i  n  h  a  r  d  erzählt  von 
dem  von  dem  Feinde  Überfallenen  Croatenfürsten  (s.  a.  819) :  omnia  Sita  castellis 
inclusit.  Die  Namen  der  Städte  fallen  zum  Theil  mit  denen  der  Zupen  zusammen. 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  375 

Fürsten  gewöhnlich  als  Sitze.  An  der  Spitze  der  Verwaltung  stan- 
den in  den  Gauen  die  Zupane,  den  deutschen  Grafen  entsprechend, 
und  nur  die  drei  nördlichsten  Gaue  Karbava,  Licca  und  Gutziska 
erkannten  in  dem  Banns  ein  gemeinsames  Oberhaupt  an,  dessen 
Würde,  wenn  sie  auch  fremden  Ursprungs  sein  sollte,  doch  schwer- 
lich auf  die  Avaren  zurückgeführt  werden  kann  J).  Bei  dem  ursprüng- 
lichen Vorwiegen  der  Vielherrschaft  und  der  Spaltung  unter  allen 
slawischen  Völkern  2)  darf  man  in  demBan  und  den  Zupanen  auch  für 
die  ersten  Zeiten  der  Niederlassung  in  Dalmatien  unabhängige 
Häuptlinge  des  Volkes  erblicken,  unter  denen  allmählich  erst  der 
Grosszupan3)  von  einem  blossen  Vorrange  zu  einer  wirklichen  Ober- 
herrschaft gelangte.  Da  Monarchien  unter  den  Slawen  sich  überall 
erst  durch  fremde  Einwirkung  gebildet  haben,  so  ist  es  sehr  wahr- 
scheinlich ,  dass  der  byzantinische  und  zum  Theil  wohl  auch  der 
fränkische  Einfluss  bei  den  Croaten  in  dieser  Beziehung  den  Aus- 
schlag gegeben  haben.  Die  strenge  Erblichkeit  des  Thrones  konnte 
auch  im  IX.  Jahrhundert  noch  nicht  recht  durchgeführt  werden  und 
eine  Volkswahl  war  bei  jeder  Erledigung  desselben  nothwendig  *). 
Der  Grosszupan  umgab  sich  bald  mit  einer  Reihe  von  Hofbeamten, 
mit  einem  Pfalzgrafen,  Marschalk,  mehreren  Kämmerern,  einem  Mund- 
schenken, Waffenträger  u.  s.  f.,  bei  denen  eine  Nachbildung  frän- 
kischer Einrichtungen  5)    unverkennbar  ist. 

III.  Die  Serben  stehen,  obgleich  viel  zahlreicher  als  die  Croaten, 
doch  in  den  ersten  Jahrhunderten  nach  ihrer  Ansiedelung  hinter 
diesen  zurück,  weil  sie  von  vornherein  in  viele  gesonderte  Unter- 
abtheilungen zerfielen  und  erst  später  zur  Bildung  einer  einheitlichen 


*)  Dies  glaubt  Safari k  (II,  278,  Anm.  2;  290,  Anm.  3),  allein  ßaian  findet  sich  nicht 
bei  den  Avaren  als  eine  dem  Khakhan  untergeordnete  Würde ,  sondern  ist  vielmehr 
nur  der  Eigenname  des  ersten  und  berühmtesten  Khakhans  seihst.  Baiavo?  6  tüv 
'Aßaptuv  Xaydvos  heisst  er  bei  Menander  p.  263  u.  a.  a.  0.  Vgl.  Liudprand, 
antapodosis  111,  29,  wo  Etaianus  als  bulgarischer  Eigenname  vorkommt. 

2)  S.  die  Zeugnisse  bei  Safaf  l'kll,  661,  664.  Vgl.  Einhard,  ann.  789  über  die  Wilzen. 

3)  Safaf  fk  11,290,  Anm.  3.  Auch  die  Benennung  Croatorum  iudex  kommt  dafür  vor 
in  Johannis  chronic.  Venet.  p.  30,  sowie  die  Zupane  überhaupt  öfter  hulices  heissen. 

4)  Im  Jahre  821  wird  nach  Einhard  (ann.  s.  a.)  der  Neffe  des  verstorbenen  Fürsten 
petente  populo  zum  Nachfolger  eingesetzt.  Im  IX.  Jahrhundert  wechselten  die 
Dynastien  öfters. 

5)  S.  die  Urkunde  des  Herzogs  Muncimir  vom  J.  892  (bei  Farlati  III,  82),  unter  welcher 
sich  die  Unterschriften  des  Jupano  Cavullario,  des  Jup.  Camerario,  des  Jitp. 
Pincemario,  des  Jup.  Armigeri  u.  a.  linden. 


3  f  6  K  r  n  8 t   l>  ii  m  m  I  <*  r. 

Macht  gediehen.  Von  dem  Theile  des  Volkes,  der  östlich  von  jenen 
zwischen  der  Drina  und  Morava  und  über  diese  hinaus  sass  und 
später  sich  auch  über  Bosnien  ausbreitete,  treten  uns  mit  grösserer 
Deutlichkeit  nur  an  der  Donau  die  Stämme  der  Ostabotriten  oder 
ßranitzewzer  und  der  Timotschaner  entgegen  •),  von  denen  diese 
Anwohner  des  Timok  waren,  jene  um  die  Mündungen  der  Morava  in 
der  Landschaft  Braniczewo  wohnten.  Viel  besser  bekannt  sind  die 
Küstenserben  in  Dalmatien,  die  südlichen  Nachbarn  der  Croaten,  die 
sich  wiederum  in  vier  verschiedene  Stämme  theilten. 

A)  Die  Narentaner  führten  ihren  Namen  vom  Flusse  Narenta  und 
werden  auch  Paganer  genannt3),  weil  sie  am  längsten  der  Taufe  wider- 
strebten. Sie  nahmen  in  zwei  Gauen  den  schmalen  äusserst  felsigen 
Küstensaum  von  der  Mündung  der  Cettina  bis  zur  Narenta  ein ,  und 
erstreckten  sich  mit  dem  dritten,  dem  von  Duwno  (dem  alten  Delmi- 
nium),  ziemlich  tief  ins  Binnenland  hinein.  Ausserdem  gehörten  ihnen 
die  fruchtbaren  und  weidereichen  Inseln  Kurzola,  Meleda,  Brazza  und 
Lesina  oder  Hvar.  Als  Seefahrer  ausgezeichnet  wurden  sie  durch 
ihre  häufigen  Bäubereien,  durch  welche  sie  die  ganze  nördliche 
Hälfte  des  adriatischen  Meeres  unsicher  machten,  der  Schrecken 
aller  ihrer  Nachbarn.  Wenn  die  Slawen  3)  die  ums  J.  633  mit  zahl- 
reichen Schiffen  bei  Sipontum  landeten  und  dem  Leben  des  Herzogs 
Aio  von  Benevent  ein  Ende  machten,  Narentaner  waren,  so  müssen 
sie  ihr  Räuberhandwerk  schon  sehr  früh  angefangen  haben.  Sie 
bewirkten  hierdurch  namentlich  eine  zunehmende  Verödung  der  dal- 

v 

matischen  Inseln*).    Die  drei  südlichsten  von  diesen,  Lissa,   Cazza 


4)  Ich  folge  hier  Zeuss  p.614,  während  Safaffk  (II,  p.  208— 209)  anderer  Ansicht  ist, 
indem  er  jene  Stämme  noch  den  bulgarischen  Slawen  beizählt  und  daher  die  Morava 
als  ursprüngliche  Ostgrenze  der  Serben  ansetzen  will.  Zeuss  (a.  a.  0.)  weist  noch  eine 
Reihe  von  Gaunamen  im  Innern  Serbien  aus  dem  IX.  Jahrhundert  nach,  die  ich  hier 
wegen  ihrer  Dunkelheit  übergehe. 

2)  Konstantin  nennt  den  Fluss  Naro  der  Alten  'Opövxios  (c.  30,  p.  145)  und  das  Volk 
Tfl  'Pu)(j:ata)v  SiouUxtü)  'Apo'jvTavoi  (c.  29,  36,  p.  128,  129,  163),  wofür  in  dem  Theo- 
phanes  continuat.  V,  52  irrig  'Pevcavoi  gesetzt  ist.  Johann  von  Venedig  dagegen  schreibt 
stets  Narrentani  (Pertz,  SS.  VII,  p.  16,  17,  20,  22,  24,  31,32).  Das  Wort 
pagani  (pogani)  bedeutet  auch  in  slawischer  Sprache  Heiden.  Über  ihre  Wohnsitze 
vergl.  Safarikll,  p.  266  ff.,  der  aber  die  von  ihm  behauptete  Ausdehnung  südlich 
von  der  Narenta  nachzuweisen  vergessen  hat. 

3)  Paulus  Diaconus  IV,  46:  Sclavi  cum  multitudine  navium. 

4)  Const.  c.  30  (p.  146),  vgl.  c.  29  (p.   140). 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  3/7 

und  Lagosta  *)  werden  von  Konstantin  von  der  Botmässigkeit  der 
Narentaner  ausdrücklich  ausgenommen,  so  dass  es  den  Anschein 
gewinnt,  als  seien  sie  noch  unter  römischer  Hoheit  verbliehen,  allein 
Lissa  finden  wir  später  wenigstens  unter  croatischer  Herrschaft,  wess- 
halb  es  ums  Jahr  996  von  den  Venetianern  verwüstet  wurde2),  und 
Lagosta  wurde  ebenso  wie  Curzola  als  berüchtigtes  Seeräubernest 
zwei  Jahre  später  von  dem  Dogen  Peter  Urseolus  mit  grosser  An- 
strengung erobert  3).  Daher  muss  es  sich  damals  gleichfalls  im 
Besitze  der  narentanischen  Slawen  befunden  haben. 

B)  Die  Zachlumer4)  oder  Chulmer  stiessen  im  Süden  an  die 
Narentaner  und  reichten  von  der  Narenta  bis  in  die  Gegend  von 
Ragusa,  das  auf  der  Grenze  ihres  Gebietes  lag.  Sie  erstreckten 
sich  ziemlich  weit  ins  Binnenland  bis  nach  Dobar,  südöstlich  von 
Liubinje  und  bis  zur  Buna,  einem  Nebenflusse  der  Narenta  auf  der 
linken  Seite.  Die  bekannteste  unter  ihren  Städten  war  Stagno  am 
Anfange  der  Halbinsel  Sabioncello.  Das  Fürstenthum  der  Zachlumer, 
welches  von  einem  jetzt  verschollenen  Berge  Chlum  den  Namen 
hat,  erscheint  unter  den  südserbischen  Landschaften  als  die  bedeu- 
tendste und  umfangreichste. 

C)  Die  Trawunjer  oder  Terwunjer  5)  sassen  an  der  Küste  von 
Ragusa  bis  Cattaro  und  reichten  ebenfalls  ziemlich  weit  ins  Innere, 
doch  sind  nach  dieser  Seite  hin  ihre  Grenzen  sehr  unsicher.  Ihnen 
gehörte  die  Stadt  Trebinje  ,  die  vielleicht  ihren  Namen  bewahrt, 
und  der  kleine  Bezirk  Canale  oder  Konawlje,  d.  h.  der  in  einer 
Halbinsel    endigende  Küstensaum    unmittelbar  südlich    von  Ragusa, 


!)  Cap.  36  (p.  164)  ia  Xöapa,  das  sonst  nicht  genannt  wird,  passt  am  besten  auf  die 
Insel  quae  vocatur  Caza,  das  heutige  Cazza  zwischen  Lissa  und  Lagosta,  in  Johannis 
chronicon  Vcnetum  s.  a.  998  (p.  32)  erwähnt. 

2)  Ebenda  p.  30  unam  illorum  civitatem  que  Issa  nominahatur ,  doch  will  Joa.  Lucius 
dafür  Cissa  lesen  (1.  II,  c.  4,  p.  114),  welchen  Namen  die  Insel  Pago  bei  Carlopago 
früher  führte  (s.  1.  III,  c.  12,  p.  277). 

3)  Joh.  chron.  Venet.  (p.  32 — 33)  improbos  Ladaestinae  insulae  habiiatores. 

4)  Const.  c.  30,  33  (p.  146,  160)  vgl.  Safari'k  II,  p.  263—266,  Thomas  von  Spalato 
c.  XIII.  (p.  548)  nennt  es  Chulmiae  ducatus  und  der  Fürst  Michael  heisst  in  einem 
Schreiben  Johann's  X.  (Farlati  III ,  93)  Chulmorum  dux.  Die  späteren  Könige  von 
Ungern  nannten  sich  nach  der  Eroberung  Dalmatiens  auch  Culme  dux  (s.  Joa.  Lucius 
III,  c.  13,  p.  234). 

5)  Const.  c.  30,  34  (p.  145,  147,  161) ;  id.  de  caerimon.  aulae  Byzant.  II,  48  (ed.  Ileiske 
p.  691),  wo  neben  einander  der  äfc/tov  -ü>v  TpaJV/JMiüv  und  toü  KbvAXtj  erwähnt  wer- 
den,  wahrscheinlich  nur  irrthümlich.  Vgl.  Safarik  II,  p.  210 — 212. 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  II.  Hft.  25 


378  Ernst  Du  mm  ler. 

der  später  von  dieser  Stadt  gekauft  wurde.  Auch  in  ihrem  Lande 
befanden  sich  sehr  viele  befestigte  Plätze. 

DJ  Die  Diikljaner  führten  ihren  Namen  von  der  Stadt  Dioklea, 
dem  Geburtsorte  der  Mutter  des  Kaisers  Diokletian,  die  an  der 
Mündung  der  Zeta  in  die  Moratscha  nördlich  von  Podgoritza  gelegen 
war.  Zu  Konstantins  Zeiten  lag  dieselbe  in  Trümmern,  ohne  dass 
wir  angeben  könnten,  wann  sie  zerstört  worden  sei J);  im  XII.  Jahr- 
hundert aber  wird  Dioklea  wieder  als  ansehnliche  Stadt  erwähnt2). 
Das  Gebiet  der  Diikljaner,  dieser  südlichsten  unter  den  Serben,  fällt 
beinahe  ganz  mit  dem  heutigen  Montenegro  zusammen  und  füllte 
am  Meeresufer  den  Raum  zwischen  Cattaro  und  Antivari,  der  illyri- 
schen Grenzstadt  aus.  Im  Süden  wurden  sie  von  der  byzantinischen 
Provinz  Dyrrhachium 3)  eingeschlossen,  die  aus  einem  Theile  des 
alten  Epirus  gebildet  war. 

Die  Verfassung  der  Serben  *)  scheint  ganz  die  nämliche  gewe- 
sen zu  sein  wie  die  der  Croaten.  Auch  ihre  Zupane  erkannten  als 
gemeinsames  Oberhaupt  (als  Ältesten)  den  Grosszupan  an,  der  zu 
Desniza  an  der  untern  Drina  in  den  ältesten  Zeiten  seinen  Sitz  hatte. 
Doch  konnte  derselbe  keinesweges  seine  Oberhoheit  über  die  ein- 
zelnen Häuptlinge  überall  auf  die  Dauer  geltend  machen,  die  wilden 
Narentaner  zumal  bildeten  während  des  IX.  Jahrhunderts  einen  ganz 
selbständigen  Staat,  und  auch  die  Fürsten  der  übrigen  Küstenserben 
strebten  nach  gleicher  Unabhängigkeit  die  ihnen  vorübergehend 
wenigstens  zu  Theil  wurde. 

In  den  Kämpfen  zwischen  Römern  und  Slawen,  welche  durch 
den  Einbruch  der  Croaten  hervorgerufen  waren,  muss  endlich  ein 
Stillstand  eingetreten  sein  und  ein  gegenseitiges  friedliches  Überein- 
kommen stattgefunden  haben,  durch  welches  sich  die  Grenzen  in  der 


!)  Const.  c.  30,  33  (p.  143,  162).  Er  nennt  es  ein  spy^oxaatpov ,  weil  er  aber  bei 
demselben  Volke  eine  Stadt  AoxXa  gleichfalls  erwähnt,  hält  Safarfk  (II,  273) 
beide  für  identisch  und  stellt  jene  Zerstörung'  gänzlich  in  Abrede,  nicht  ohne 
Wahrscheinlichkeil. 

2)  Joh.  Cinnamus  V,  11  (p.  249)  AioxXsia-s  itöX«  ™spt9<xvT)s.  Bei  Nicephor.  Bryennius 
111,  1   (p.   100)  kommen  die  AioxXsI;  vor. 

3)  Bei  Konstantin  (pag.  143)  sind  zi  xaj-sXXtcc  -vi  A'jppa/io.j,  welche  im  Süden  auf 
die  Dukljaner  folgen,  nicht  die  Städte  unterhalb  Dratsch,  wie  S  afaf  lk  a.  a.  0. 
übersetzt,  sondern  die  Städte  des  Themas  Dyrrhachium,  d.  h.  Lesch,  Olgun  und 
Antivari. 

4)  Safarik  II,  p.  249,  234. 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  379 

zuvor  entwickelten  Weise  für  die  verschiedenen  Nationalitäten  auf 
immer  feststellten.  Man  darf  aber  nicht  glauben,  dass  wenige  Jahre 
hierzu  genügt  hatten,  oder  gar  dem  Kaiser  Heraklius  das  Friedens- 
werk selbst  zuschreiben,  denn  zu  dieser  Annahme  kam  Konstantin  nur 
durch  seine  von  vornherein  unrichtige  Ansicht  von  der  Einwanderung 
der  Slawen  als  einer  friedlichen.  Suchen  wir  nun  nach  einem  Zeit- 
puncte,  in  welchen  mit  der  grössten  Wahrscheinlichkeit  das  Ende  des 
Krieges  um  den  Besitz  Dalmatiens  verlegt  werden  könnte,  so  bietet 
sich  uns  als  besonders  hierzu  geeignet  das  Jahr  678.  In  diesem 
schloss  nach  Beendigung  des  gefahrvollen  sarazenischen  Krieges  der 
Kaiser  Konstantin  II.  Pogonatus  Friede  mit  den  Avaien  und  wie  es 
unbestimmt  heisst,  mit  allen  gegen  Westen  das  Reich  umgrenzenden 
Völkern  1).  Bei  dieser  Gelegenheit  also,  zu  einer  Zeit,  da  die  Avaren 
wegen  des  hereinbrechenden  Verfalles  ihres  Reiches  aufgehört  hat- 
ten, ein  Schrecken  der  Römer  zu  sein,  wurden,  so  scheint  es,  auch 
die  nordwestlichen  Grenzen  geordnet,  indem  man  die  Serben  und 
Croaten  gegen  Anerkennung  der  byzantinischen  Oberhoheit  im  Besitze 
des  eroberten  Landes  Hess  und  ihnen  so  unter  ihren  eigenen  Fürsten 
eine  fast  unabhängige  Stellung  2)  einräumte. 

Ihre  Aufnahme  in  den  römischen  Staatsverband  bildete  den  Über- 
gang zu  ihrer  Aufnahme  in  die  christliche  Kirche,  welche  Konstantin 
ebenfalls  noch  unter  Heraklius  vor  sich  gehen  lässt  3).  Diese  Nach- 
richt muss  sicherlich  als  irrig  verworfen  werden,  da  nicht  daran  zu 
denken  ist,  dass  auf  die  noch  nicht  vollendete  Eroberung  unmittelbar 
die  Bekehrung  gefolgt  sei.  Auch  deutet  Konstantin  selbst  einen  grösse- 
ren Zwischenraum  (von  etwa  30  Jahren)  zwischen  beiden  Ereignissen 


*)  Nicephori  breviar.  p.  37:  6  -cwv  'Aßipcov  f^ep-nw  xati  oi  iizixuva  apyovTs;  xwv  repö« 
Süaiv  ■iwpaxet|j.svu>v  s&vüjv  suchten  den  Frieden  nach;  bei  Theophanes  (p.  544) 
sind  es  die  pf^s?  igap^ot  xs  xal  xäataXooi  xai  oi  s^yio-aid  xfa  r^itZ  _^v  ^ai,t  i^üv. 
Die  gleiche  Vermuthung  hegte  schon  Joa.  Lucius  I.,  c.  10  (p.  71).  Thomas 
von  Spalato  (c.  X,  p.  546)  weiss  von  einem  auf  kaiserliches  Geheiss  geschlos- 
senen Frieden. 

2)  Die  Ansicht  Konstantin's,  dass  die  Croaten  und  Serben  zuerst  Unterthanen  des 
römischen  Reiches  gewesen  und  dann  abgefallen  seien,,  hängt  mit  seiner  irrigen 
Meinung  über  ihre  friedliche  Einwanderung  eng  zusammen,  da  ein  wirkliches 
Unterthanenverhältniss  gewiss  nie  stattgefunden  hat.  Daher  erklärt  es  sich,  dass  er 
c.  29  (p.  128)  den  Abfall  sogleich  änö  tt);  paaiXsia;  'HpaxXsto>j  toö  ßaadscu;  "Pu>p.aiiov 
datirt,  während  er  sonst  eine  spätere  Epoche  dafür  annimmt,  über  die  hernach  zu 
handeln  sein  wird. 

3)  Cap.  31,  32  (p.  148,   133). 

25' 


380  E  r  n  s  t  D  ü  m  m  1  e  r. 

an,  indem  er  zur  Zeit  der  Taufe  Porga  über  die  Croaten  regieren 
lässt  und  zur  Zeit  der  Einwanderung  dessen  Vater.  Auf  einem  Miss- 
verständnisse beruht  es  aber,  wenn  derselbe  Schriftsteller  erzählt. 
Heraklius  habe  aus  Rom  Priester  kommen  lassen,  die  die  Croaten  und 
Serben  getauft  und  ihnen  einen  Erzbischof,  Bischöfe  und  Priester 
gesetzt  hätten.  Den  wahren  Sachverhalt  erfahren  wir  aus  dem  Archi- 
diakonus  Thomas  von  Spalato  J),  der  über  die  kirchlichen  Angelegen- 
heiten seines  Landes  bisweilen  gute  Nachrichten  aufbewahrt  hat. 
Nach  ihm  wurde  allerdings  ein  päpstlicher  Legat,  Johann  von  Ra- 
venna,  nach  Dalmatien  abgeordnet,  um  die  verfallenen  kirchlichen 
Ordnungen  nach  der  allgemeinen  Zerrüttung  aller  Verhältnisse  da- 
selbst wieder  herzustellen.  Er  bewirkte  die  Übertragung  des  erz- 
bischöflichen Sitzes  von  dem  zerstörten  Salona  nach  Spalato,  das  zur 
Metropole  für  Dalmatien  und  Croatien  erhoben  wurde,  und  ward  selbst 
zum  ersten  Erzbischof  des  neuen  Sitzes  erwählt,  wo  er  den  Tempel 
des  Jupiter  zu  einer  Kirche  der  Jungfrau  weihte  und  die  Reliquien 
der  Märtyrer  Anastasius  und  Domnus  dann  aus  Salona  in  dieselbe 
übertrug  2).  Dort  genossen  sie  bald  die  gleiche  Verehrung  wie  an 
ihrer  früheren  Ruhestätte.  Da  die  neue  Metropole  in  alle  Rechte  der 
alten  eintrat ,  so  wurden  dem  Erzbischofe  von  Spalato  3)  auch  die 
Bischöfe  des  oberen  und  unteren  Dalmatiens  als  Suffragane  unter- 
geordnet; dies  waren  die  Vorsteher  der  Kirchen  Ossero,  Veglia,  Arbe, 
Zara,  Ragusa,  Cattaro.  Unsicher  ist  die  Ausdehnung  des  Erzbisthumes 
Spalato  im  Norden,  wo  die  Donau  als  Grenze  angegeben  wird  und  es 


i)  Cap.  XI  (p.  546— 547). 

2)  Thomas  archidiaeon.  c.  XI,  XII  (p.  547).  Konstantin  c.  29  (p.  137—138) 
erwähnt  auch  die  Kirche,  wo  der  h.  Domnus  ruht,  sowie  den  h.  Anastasius ,  doch 
lässt  er  die  erstere  nicht  aus  einem  Zeustempel,  sondern  aus  dem  xoitüjv  Diokle- 
tian's  hervorgehen. 

3)  Thom.  archid.  c.  XV.  (p.  550).  Nach  ihm  soll  das  Erzbisthum  Salona  ultra  Alpes 
ferreas  usque  ad  confinia  Zagrabiae  reichen.  In  ähnlicher  Weise  dehnt  derselbe 
Schriftsteller  die  Grenzen  Croatiens  aus  ab  aquilone  a  ripa  Danubii  usr/ue  ad 
mare  Dalmaticum ,  doch  hatte  er  hierbei  zunächst  nur  die  zweite  Hälfte  des 
X.  Jahrhunderts,  die  Zeit  Dirzislav's,  im  Auge.  Herzog-  Tirpimir  sagt  in  seiner 
Urkunde  vom  J.  852  (Schwandtner  III,  99)  von  Spalato:  quae  metropolis  us- 
que  ripam  Danubii  et  pene  per  totutn  regnum  Croatiae.  Da  das  Erzbisthum 
Salzburg  nur  bis  zur  Einmündung  der  Drau  in  die  Donau  reichte  und  zum  Patriarchat 
von  Aquileja  nur  Kärnten  im  Süden  der  Drau  gehörte,  so  mag  das  Land  zwischen 
Drau  und  Sau  vielleicht  zum  Erzbisthum  Salona  gerechnet  worden  sein,  bis  es  im 
J.  870  Iladrian  II.  mit  dem  pannonischen  Bisthum  des  h.  Methodius  verband. 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  OO  1 

sich  bis  in  die  Gegend  von  Agram  erstrecken  sollte.  Auch  musste  ja 
dieses  ganze  Gebiet  erst  durch  die  Predigt  erobert  werden.  Mit  die- 
ser machte  der  Erzbischof  Johannes  sogleich  einen  Anfang  und  wenn 
wir  dem  Berichte  Konstantins  glauben  dürften,  so  wären  seine  Be- 
mühungen die  den  günstigsten  Erfolg  gehabt  haben  sollen ,  durch 
einen  ganz  eigentümlichen  Vertrag  *)  gesichert  worden.  Auf  Geheiss 
des  Papstes,  so  meldet  unser  Gewährsmann,  verpflichteten  sich  die 
Croaten  urkundlich  und  unter  den  heiligsten  Eiden,  für  welche  sie 
den  Apostel  Petrus  zum  Zeugen  anriefen,  niemals  die  Länder  Anderer 
mit  Krieg  zu  überziehen,  sondern  stets  mit  allen  Nachbarn  Frieden 
zu  halten.  Würden  sie  dagegen  in  ihrem  Lande  von  anderen  Völkern 
angegriffen,  so  solle  Gott  ihr  Vorkämpfer  sein  und  der  heilige  Petrus 
ihnen  den  Sieg  verleihen.  Dieser  Nachricht  die  ganz  den  Charakter 
sagenhafter  Überlieferung  trägt,  könnte  vielleicht  ein  durch  Johannes 
von  Ravenna  als  päpstlichen  Abgesandten  zwischen  Römern  und  Sla- 
wen vermittelter  Friedensvertrag  als  Thatsache  zu  Grunde  liegen, 
in  welchem  diese  sich  verpflichteten,  jene  in  dem  ihnen  verbliebenen 
Gebiete  nicht  ferner  zu  belästigen ,  sondern  fortan  Frieden  mit  ihnen 
zu  halten.  Jedenfalls  betrachteten  aber  die  Croaten  den  heiligen 
Petrus  später  als  den  besonderen  Schutzpatron2)  ihres  Landes,  der 
es  lieber  sähe,  dass  sie  sich  auf  dessen  Vertheidigung  beschränkten, 
als  dass  sie  Angriffskriege  führten.  —  Zur  näheren  Alismittelung  des 
Jahres,  in  welchem  das  Erzbisthum  Salona  zu  Spalato  erneuert  wurde, 
fehlt  es  an  allen  sicheren  Anhaltspuncten  3) ,  doch  darf  man  dieses 
Ereisrniss  wohl  noch  in  das  siebente  Jahrhundert  setzen. 


*)  Cap.  31  (p.  149). 

2)  Hierauf  beziehen  sich  wohl  auch  die  Worte  Johann"s  VIII.  an  Sedeslav  (Mansi 
XVII,  119)  ut  pro  amore  sanctorum  apostolorum  Petri  ac  Pauli  praefec- 
torum  v  estrorum  pruesentem  legatum  .  ■  .  incolumem  venisse  faciatis  etc. 

3)  Farlati  (III,  p.  19.)  folgt  der  Autorität  eines  aus  dem  römischen  Archive  ent- 
nommenen Kataloges  der  Erzbischöfe  von  Salona,  nach  welchem  Johannes  ab  anno 
650  usque  ad  annum  circiter  680  der  Kirche  vorstand ,  allein  in  diesem  sehr 
jungen  Kataloge  sind  für  die  ältere  Zeit  höchstens  die  Namen  der  Erzbischöfe 
glaubwürdig  und  nichts  weiter.  Krause  (p.  8 — 9)  schliesst  scharfsinnig  aus  den 
Worten  des  Thomas  von  Spalato  (c.  XII ,  p.  347)  quamvis  adhuc  aliqui  super- 
essent,  qui  locum  sciebant,  tanicn  non  facile  discerni  poterat ,  unde  corpus 
b.  Domnii  tolleretur,  dass  zwischen  der  Zerstörung  Salona's  und  der  Übertragung 
jener  Reliquien  etwa  öO  bis  60  Jahre  verflossen  seien,  sein  Gewährsmann  aber,  der 
erst  im  Jahre  1200  das  Licht  der  Welt  erblickte,  steht  diesen  Ereignissen  doch 
allzufern,  als  dass  man  derartige  Berechnungen  auf  ihn  begründen  könnte. 


382  Ernst  Dümmler. 

III.  Dalmatien  unter  fränkischer  Herrschaft. 

Die  Verbindung  zwischen  der  dalmatischen  Küste  und  den  gegen- 
überliegenden Gestaden  Italiens,   mit  dem  stets  ein  sehr  lebhafter 
Verkehr  statthatte  *) ,   vermittelte  für  den  Landweg  die  Halbinsel 
Istrien,  die  auch  in  ihrer  Bevölkerung  einen  Übergang  bildet,  denn 
während  das  Innere  von  einem  Gemisch  von  Slovenen  und  Croaten 
bewohnt  war  2),  erhielt  sich  in  den  Seestädten  die  römische  Nationa- 
lität. Ehe  daher  die  fränkische  Einwirkung  auf  Croatien  sich  erstrecken 
konnte,  musste  zuerst  Istrien  dem  Abendlande  gewonnen  werden.  Im 
Jahre  776  fiel  das  langobardische  Herzogthum  Friaul  durch  die  Er- 
stürmung der  Städte  Cividale  und  Treviso  zum  zweiten  Male  und  dies- 
mal für  immer  in  die  Hände  der  Franken  s);  bis  zum  Timavo  rückten 
sie  ihre  Grenzen  vor  und  setzten  an  die  Stelle  des  gestürzten  Herzogs 
Hrodgaud  einen  fränkischen  Markgrafen  Marcarius.  Die  griechischen 
Kaiser  betrachteten  diese  unmittelbare  Nachbarschaft  des  Franken- 
reichs 4)  nicht  ohne  ernstliche  Besorgnisse ,    zumal  da  Istrien  der 
römischen  Kirche   angehörte  5)    und  also  in  geistlicher  Beziehung 
schon  der  Anziehung  des  Westens  ausgesetzt  war.    Als  daselbst  im 
Jahre  778  ein  istrischer  Bischof  Mauricius  im  Auftrage  Karl's  des 
Grossen  6)  einige  dem  römischen  Stuhle  zustehende  Einkünfte  ein- 
treiben wollte,  hielt  man  ihn  für  einen  Sendboten  des  Frankenkönigs, 
der  gekommen  sei,  die  Einwohner  zum  Abfall  von  ihrem  rechtmässigen 
Herrn  zu  verleiten;   er  wurde  desshalb  von  den  Griechen  und  der 


!)  Diesen  bezeugt  auch  die  in  der  Chronik  von  Salerno  c.  88 — 89  (PertzSS.  11), 
512)  aus  dem  Ende  des  X.  Jahrhunderts  aufbewahrte  Sage,  wonach  Ragusa  von 
der  Mannschaft  von  zwei  römischen  SchifTen  gegründet  wurde,  die  auf  dem  Wege 
nach  Konstautinopel  dort  zurückblieben.  Diese  Römer  von  Ragusa  kehrten  später 
wegen  der  Unsicherheit  ihres  Wohnsitzes  nach  Italien  zurück  und  gründeten  zuerst 
Mein,  dann  Eboli  und  endlich  Amalfi. 

2)  Miklosich,  vergleich.  Grammatik  d.  slavv.  Sprachen  p.  VIII.  Safari'k  (II,  301) 
erklärt  es  als  allgemein  bekannt,  dass  die  heutige  slawische  Bevölkerung  Istrieus 
ihrer  Mundart  nach  zu  den  alten  Croaten  gehöre. 

3)  Muratori,  Geschichte  von  Italien  (Leipzig  1746)  IV,  p.  416—418. 

4)  Einhai-di  vita  Karoli  M.  c.  16:  Erat  enim  semper  Romanis  et  Graecis  Fran- 
corum  suspecta  potentiu.  ■  .  . 

5)  Vita  Hadriani  I  (Anastasius  de  vitis  pontif.  Romanor.  ed.  Blanchini  I,  p.  2ä0).  Carolus 
Francorum  rex  ascribi  inssit  .  .  .  praefato  pontifici  .  .  .  provincias  Venetiarum 
et  Histrium. 

6)  Das  Schreiben  Hadrian's  über  diesen  Vorfall  bei  Mansi  XII,  773. 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  383 

ihnen  anhängenden  Partei  geblendet  und  aus  dem  Lande  gejagt.  In 
dem  folgenden  Jahrzehent  waltete  indessen  zwischen  beiden  Reichen 
noch  durchaus  ein  freundschaftliches  Verhältniss  ob,  das  sogar  durch 
ein  Ehebündniss  zwischen  dem  jungen  Kaiser  Konstantin  IV.  und  der 
Prinzessin!)  Hrotrud  besiegelt  werden  sollte.  Die  hierüber  getroffene 
Verabredung  wurde  erst  im  Jahre  788  durch  die  Schuld  der  herrsch- 
süchtigen Kaiserinn  Irene  *)  in  schroffer  Weise  gebrochen  und  in 
Unteritalien  sofort  der  Krieg  eröffnet,  um  bald  mit  einer  schimpflichen 
Niederlage  der  Griechen  zu  enden.  In  dieses  erste  Jahr  des  Aus- 
bruches der  Feindseligkeiten  2),  und  sicherlich  nicht  eher,  fällt  wahr- 
scheinlich die  Eroberung  Istriens  durch  die  Franken.  Sie  konnte 
damals  um  so  leichter  vollbracht  werden,  weil  ohnehin  in  diesem 
Jahre  an  der  Grenze  Friauls  ein  Heer  gegen  die  Avaren,  Thassilo's 
Bundesgenossen,  im  Felde  stand  3).  Istrien  behielt  seinen  eigenen 
Herzog  (dux)  der  unter  die  Oberaufsicht  des  Markgrafen  von  Friaul 
gestellt  wurde,  und  zahlte  die  nämlichen  Abgaben  die  früher  von 
Konstantinopel  aus  erhoben  worden  (344  Mark),  fortan  den  fränki- 
schen Herrschern  4).  Schon  3  Jahre  später,  als  König  Pippin  von 
Italien  in  das  Reich  der  Avaren  eindrang  und  dieselben  am  22.  August 
791  in  einem  glücklichen  Treffen  besiegte,  wird  mit  besonderer  Aus- 
zeichnung 5)  des  Herzogs  (Johannes)  von  Istrien  gedacht. 


*)  Einhardi,  ann.  788  :  Constantinus  imperator  propter  negatam  sibi  regis  filiam 
iraius.  Vgl.  Theophanis  chronographia  (ed.  Classen  p.  718),  wo  Irene  beschuldigt 
wird,  dass  sie  >jJ3aatx  .  .  .  tt]v  -po;  -oy;  OpccYY^'-1»  ffUvetXXoqpijv  ihren  Sohn  Konstantin 
wider  seinen   Willen  mit  Maria,  einem  Mädchen  kx  tüv  'Ap^sviaxiLv,  vermählt  habe. 

2)  Eine  ähnliche  Vermuthung  hegte  schon  Joh.  G.  Eckhart  (commentarii  de  reb. 
Franciae  orient.  I,  737),  indem  er  sich  auf  das  chron.  Moissiac.  s.  a.  789  bezog, 
woselbst  die  Absendung  von  drei  Patriciern  zur  Unterwerfung  Italiens  erwähnt 
wird.  Damit  sind  aber  dieselben  Kämpfe  gemeint,  die  die  Annal.  Laurissenses  rnai. 
und  Theophanes  richtiger  ins  Jahr  788  setzen. 

a)  Muratori,  Gesch.  v.  Italien  IV,  453,  vgl.  Ann.  St.  Emmerammi  mai.  788  (Pertz 
SS.  I,  92)  :  Huni  ad  Furyali  und  Alcuini  epist.  ad  Colcum  lectorem  (ed.  Frohen.  1,6). 

4)  Andreae  Danduli  chron.  (Muratori  scriptor.  rer.  Halicar.  XII,  col.  155)  1.  VII,  c.  15, 
P.  VIII :  Provinciae  quoque  Istriue  ab  imperio  Constantinopolituno  subtraetae 
Joannes  per  Carolum  dux  ordinatus  est  etc.  Nach  einer  urkundlichen  Aufzeich- 
nung, vgl.  Hegel,  Gesch.  d.  Slädteverf.  v.  Italien  I.  p.  235.  Jene  Erwähnung  gehört 
in  das  Jahr  807,  da  hinzugefügt  wird:  Eodem  anno  luna  tertio  obseurata  est 
et  sol  semel  (v.  Einhard  ann.  807). 

5)  S.  Karl's  Brief  an  Fastrada  in  Sirmondi  concilia  Galliae  11,  158:  dux  de  Hlstria, 
ut  dictum  est  nobis  ,  quod  ibidem  bene  fecit  ille  cum  suis  hominibus.  Vgl. 
ann.  Lauresham.,  791  (Pertz  SS.  I,  84).   £>ed  et  ille  tunc  eius  exercitus  quem 


384  E  r  n  s  t  D  ii  m  m  1  e  r. 

Der  Herzog  Erich,  der  nach  Marcarius  etwa  seit  788  die  Mark- 
grafschaft Friaul  verwaltete  *),  ein  Strassburger  von  Geburt,  soll  auch 
die  Croaten  dem  Frankenreiche  unterworfen  haben,  freilich  wohl  nur 
zu  sehr  loser  Abhängigkeit.    Schon  im  Anfange  des  Jahres  796  wird 
ein  slawischer  Fürst  Wonomir  genannt,  der  demselben  auf  einem  mit- 
ten  im  Winter  ins  Avarenland  unternommenen  Zuge  Heerfolge  lei- 
stete 2) :   er  könnte  Grosszupan  von  Croatien  gewesen  sein,  wie  ja 
auch  der  Name  Zwonimir  später  noch  von  croatischen  Königen  geführt 
wird.  Eben  so  nahe  liegt  es  jedoch,  ihn  für  einen  Fürsten  der  Slove- 
nen  zwischen  Sau  und  Drau  zu  halten ,  die  durch  die  Zerstörung  des 
avarischen  Reiches  ihre  Unabhängigkeit  erlangten.    Gleich  unsicher 
ist  die  Entscheidung  der  Frage,  gegen  welche  Slawen  im  Jahre  797 
Pippin  mit  den  Baiern  und  einem  Theile  der  Langobarden  zu  Felde 
zog,  um  ihr  Land  zu  verwüsten  3);  die  Erwähnung  der  ersteren  lässt 
aber  schliessen,  dass  sie  mehr  auf  der  deutschen  Seite  zu  suchen  sind, 
wie  auch  aus  der  Verbindung  ihres  Abfalles  mit  dem  der  Avaren  her- 
vorgeht;  vermuthlich  ist  ein  Theil  der  auch  später  noch  aufsässi- 
gen4) Winden  in  Kärnten  und  Krain  gemeint.  Dagegen  scheint  aller- 
dings Erich  im  Kampfe  mit  den  Croaten  seinen  Tod  gefunden  zu 
haben;  denn  er  fiel  im  Herbste  799  bei  der  Belagerung  von  Tersatto, 
unfern  Fiume,  durch  Pfeilschüsse  und  Steinwürfe  von  den  Städtern 
erschlagen  5).  Die  endgiltige  Anordnung  und  Abgrenzung  dieser  süd- 


Pippinus  filhis  eins  de  Italia  transmisit ,  ipse  introivit  in  lUyricum  et  inde  in 
Pannonia  etc.  Krause  (p.  16 — 17)  schliesst  aus  diesen  Worten  zu  voreilig, 
dass  Pippin  zuerst  die  Croaten  als  Unterthanen  der  Avaren  angegriffen  habe,  denn 
offenbar  war  sein  Zug  gleichfalls  nur  gegen  die  Avaren  in  Pannonien  gerichtet. 
*)  Erich  (Aericus)  wird  zuerst  erwähnt  in  einem  Briefe  Alkuin's  an  ihn  c.  787 — 788 
(Alcuini  opera  ed.  Frobenius  I,  4). 

2)  Ann.  Lauriss.  maior.  796:  Heirichus  dux  Foroiulensis  missis  hominibus  suis 
cum  Wonomyro  Sclavo  in  Pannonias  hringum  .  .  .  spoliavit. 

3)  Ann.  Alamann.  797  (Pertz  SS.  I,  47,  48):  super  Sclavos;  Ann.  Guelferbyt.  P.  II, 
797  (p.  45):  in  Wenedum. 

4)  Nach  Einhard  (ann.  820)  hatten  sich  die  Carniolenses  und  pars  Carantanorum 
zugleich  mit  Liudewit  empört. 

5)  Ann.  Guelferbyt.  799;  Ann.  Einhardi,  799:  iuxta  Tarsaticam,  Liburniae  civi- 
tatem;  Einhardi  vita  Karoli  M.  c.  13;  Paulini  patriarchae  Aquileiensis  versus  de 
Herico  duce  (in  Einhardi  vita  Karoli  ed.  Pertz  p.  37).  Der  letztere  scheint  ihm 
ausdrücklieh  die  Unterwerfung  der  Croaten  zuzuschreiben,  indem  er  von  ihm  sagt : 
Barbaras  gentes  domuit  sevissimas  ....  Dalmatiarum  quibus  obstat  ter minus, 
freilich  könnten  damit  auch  nur  die  Avaren  gemeint  sein.  Liburniam  atque  Dal- 
matiam  zählt  im  Allgemeinen  zu  den  von  Karl  unterworfenen  Ländern  Einhard: 
vita  K.  M.  c.  IS. 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalraatien.  Oo5 

östlichen  Marken  des  Frankenreiches  erfolgte  im  August  des  Jahres 
803  bei  einem  Aufenthalte  des  Kaisers  in  Regensburg  i) ,  wo  ausser 
den  Avaren  auch  verschiedene  slawische  Stämme  durch  Gesandt- 
schaften ihre  Huldigung  darbrachten.  Die  Croaten  wurden  unter  die 
Obhut  der  Markgrafen  von  Friaul  gestellt 2) ,  mit  denen  sie  bei  der 
Theilung  der  fränkischen  Monarchie  an  das  Königreich  Italien  über- 
gingen. Ihre  Verpflichtungen  werden  sicherlich  in  nichts  anderem 
bestanden  haben,  als  in  der  Anerkennung  der  fränkischen  Oberhoheit 
und  in  der  Darbringung  freiwilliger  Geschenke. 

Die  Venetianer  und  die  römischen  Bewohner  Dalmatiens,  die 
sich  jetzt  von  allen  Seiten  von  Unterthanen  oder  Schutzverwandten 
des  Frankenreiches  umschlossen  sahen,  fassten,  diesem  Drucke  nach- 
gebend, im  Jahre  805  ebenfalls  den  Entschluss,  den  mächtigen  Kai- 
ser Karl  zu  ihrem  Herrn  zu  erwählen,  und  so  erschienen  bald  nach 
Weihnachten  dieses  Jahres  zu  Diedenhofen  3),  wo  sich  der  Hof  gerade 
aufhielt,  die  beiden  Dogen  von  Venedig,  Obelierius  und  Beatus,  so 
wie  der  Herzog  Paulus  von  Zara  und  Donatus,  der  Bischof  dieser 
Stadt,  als  Gesandte  der  Dalmatier,  um  unter  Überreichung  glänzen- 
der Geschenke  ihre  Unterwerfung  anzukündigen.  Der  Kaiser,  obschou 
er  erst  vor  drei  Jahren  zu  Königshofen  einen  förmlichen  Frieden  mit 
den  Griechen  geschlossen  4) ,  nahm  die  Huldigung  ihrer  bisherigen 
Unterthanen  bereitwillig  an  und  verfügte  sogleich  das  Weitere  über 


')  Ann.  Juvavens.  mai.,  803:  Carolus  in  Baiouria  mense  August o  ,•  Guelferbyt.  S03: 
Imperator   .    .    .   ad   Reganespuruc;    Einhardi ,   803:     dispositis   Pannoniarum 

causis ;  Mettenses,  803:  ad  Regenesburch Mutti  quoque  Sclavi  et  Huni .  . 

se  .  .  .  imperatoris  dominio  subdiderunt ;  Ann.  Lobienses ,  803:  Pannonia 
cum  finitimis  regnis  sub  ditione  imperatoris  redacta  est;  Ann.  Laurissens. 
min.  (803)  (Pertz  SS.  I,  87,  43,   191,  II,   195,  I,  35). 

2)  Einhardi,  ami.  817:  Cadolah  (Herzog-  von  Friaul)  ad  quem  illorum  (sc.  Dal- 
matinorum)  confinium  cura  pertinebat.  Unter  den  Flüssen,  die  über  den  Tod 
Erich'fl  trauern  sollen  ,  nennt  Panlinus  auch  die  Corca ,  bei  welcher  man  an  die 
Kerka  denken  könnte,  wahrscheinlich  aber  ineint  er  die  Gurk,  die  sich  in  die  Sau 
ergiesst  (Corcora  der  Alten). 

3)  Einhardi,  ann.  806  .  .  .  Et  facta  est  ibi  ordinatio  ab  imperatore  de  ducibus  et 
populis  tarn  Veuetiae  quam  Dalmatiae.  Kurz  zuvor  wird  erwähnt  (.loh.  chron. 
Venet.  p.  14)  ,  dass  die  venetianischen  Dogen  eine  Flotte  ad  Vahnaciarum  pro- 
vinciam  depopuhuidam  absandten,  vielleicht  um  die  Dalmatier  zu  zwingen,  dass  sie 
mit  ihnen  gemeinschaftliche  Sache  machen  möchten. 

4)  Ebenda.  802—803;  Ana.  Guelferbyt.,  802;  Ann.  Lauriss.  min.  33,  35;  Theophanes 
p.  737,  742. 


386  Ernst  Dümmler. 

die  Regierung  und  die  inneren  Einrichtungen  Venetiens  und  Dalma- 
tiens.  Im  folgenden  Jahre  schickte  der  griechische  Kaiser  Nikephorus 
eine  Flotte  unter  dem  Patricius  Niketas  ab,  um  das  Verlorene  wieder 
einzubringen  *).  Dieser  befestigte  zunächst  Venedig  von  Neuem  im 
Gehorsam ,  indem  er  dem  Dogen  Obelerius  die  Würde  eines  Spatha- 
rius  (d.  h.  kaiserlichen  Schwertträgers)  verlieh  und  sich  von  den 
Einwohnern  Geissein  ihrer  Treue  stellen  Hess.  Mit  diesen  kehrte  er 
im  Anfange  des  Jahres  807  nach  Konstantinopel  zurück,  nachdem  mit 
König  Pippin  ein  Waffenstillstand  bis  zum  August  abgeschlossen  wor- 
den war.  Erst  zwei  Jahre  später  wurde  vonByzanz  eine  zweite  Flotte 
unter  einem  Admiral  Paulus  abgeschickt2),  die  erst  in  Dalmatien, 
dann  in  Venedig  anlegte  und  daselbst  überwinterte.  Ein  Theil  der- 
selben erlitt  bei  einem  Angriffe  auf  die  Insel  Comacchio  durch  die 
fränkische  Besatzung  dieses  Ortes  eine  Niederlage  welche  die  Grie- 
chen zur  Anknüpfung  von  Friedensunterhandlungen  geneigt  machte. 
Sie  scheiterten  an  der  Treulosigkeit  der  venetianischen  Dogen  welche 
sie  nicht  blos  zu  hintertreiben  wussten,  sondern  sogar  das  Leben  des 
griechischen  Admirals  bedrohten.  Als  dieser  desshalb  nach  Hause 
zurückgekehrt  war,  belagerte  König  Pippin  Venedig  zu  Lande  und 
zu  Wasser  3)  im  Jahre  810  und  eroberte  einen  Theil  der  Stadt, 
namentlich  die  Insel  Malamocco,  während  sein  mittelst  einer  Schiff- 
brücke auf  Rialto  unternommener  Angriff  durch  einen  Sturm  vereitelt 


*)  Einhardi,  ann.  806 — 807.  Johannis  chron.  Venet.  p.  14.  Auch  das  kirchliche  Ober- 
haupt Venedigs  ,  der  Patriarch  Fortunatus  von  Grado,  war  sieh  wahrscheinlich  der 
Mitschuld  an  dem  Abfalle  der  Stadt  bewusst,  weil  er  nicht  wagte  Nicetae  patricii 
adventum  praeslolari ,  sondern  nach  dem  fränkischen  Italien  floh,  wo  ihm  der 
Kaiser ,  da  er  propter  persecutionem  Graecorum  seu  Veneticorum  exul  sei, 
das  ßisthum  Pola  zu  seinem  Unterhalte  anweisen  wollte.  Vgl.  den  Brief  des  Papstes 
Leo  III.  an  Karl  bei  Mansi  XIII,  975—976. 

2)  Einhardi,  ann.  809. 

3)  Ebenda,  810..  subiectaque  Venecia  ac  ducibus  eius  in  deditionem  acceptis, 
eandem  classem  ad  Daltnacia"  litora  vastanda  misit.  Auch  Konstantin 
(c.  28,  p.  124)  weiss,  dass  Pippin  6  Monate  lang  von  'AsißoXo?  (Albiola)  aus  die 
Insel  Malamocco  belagerte,  bis  die  Venetianer  zuletzt  ßiaodevxes  ....  ärco  t^; 
ftfowiau;  oxXtjceiu;  Frieden  schlössen.  Johannes  von  Venedig  (p.  14)  lässt  ihn  mit 
grosser  Schwierigkeit  nach  Albiola  gelangen  und  dort  durch  die  Dogen  eine  Nieder- 
lage erleiden,  sicque  predictus  rex  confusus  recessit.  Am  ausführlichsten  ist 
Andreas  Dandolo  (chron.  üb.  VII,  c.  13,  P.  XXIII,  col.  123),  nach  welchem  die 
Venetianer  Mathemaucensi  urbe  relicta  in  Rivoaltum  venerunt  und  bei  einem 
dorthin  versuchten  Übergänge  Pippin  eine  Niederlage  beibrachten.  Diese  Nach- 
richt scheint  zuverlässig  zu  sein. 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  387 

ward.  Auch  schickte  er  eine  Flotte  ab,  um  die  Gestade  des  griechi- 
schen Dalmatiens  zu  verwüsten,  die  aber  der  in  Korfu  stationirte 
Admiral  zu  schleuniger  Heimkehr  nöthigte.  Der  am  8.  Juli  810  uner- 
wartet früh  erfolgende  Tod  des  kriegerischen  Königs  Pippin  machte 
diesen  Verwickelungen  ein  schnelles  Ende,  da  der  Kaiser,  hoch- 
bejahrt wie  er  war,  selbst  wenig  Neigung  mehr  hatte,  mit  den 
schwachen  Anfängen  einer  fränkischen  Flotte  den  ungleichen  Kampf 
mit  den  zur  See  ihm  weit  überlegenen  Griechen  aufzunehmen.  Im 
October  wurde  daher  zu  Aachen  mit  dem  byzantinischen  Gesandten 
Arsaphius  vorläufig  ein  Vertrag  verabredet  *)  und  sogleich  allen 
Eroberungen  auf  griechischem  Gebiete  entsagt.  Der  förmliche  Ab- 
schluss  des  Friedens  erfolgte  im  Jahre  812,  nachdem  zuvor  Bischof 
Haito  von  Basel  an  der  Spitze  einer  fränkischen  Gesandtschaft  2)  die 
Unterhandlungen  in  Konstantinopel  zu  Ende  geführt.  Die  Gesandten 
des  Kaisers  Michael  überbrachten  3)  die  von  ihm  vollzogene  Friedens- 
urkunde nach  Aachen,  laut  welcher  Karl  auf  Venetien  und  Dalmatien 
verzichtete,  dafür  aber  als  Kaiser  anerkannt  und  mit  dem  Titel  Basi- 
leus  begrüsst  wurde.  Die  Venetianer  durften  ungehindert  im  fränki- 
schen Reiche  Handel  treiben  und  hatten  dafür  nur  ein  jährliches 
Schutzgeld  an  dessen  König  zu  entrichten  '*).    Die  Croaten  wurden 


*)  Einhardi,  ann.  810  .  .  Aicifcro  Venetiam  reddidit.  Johann  von  Venedig  (p.  15) 
erwähnt  ebenfalls ,  dass  ein  nuntius  Constantinopolitanus  nomine  Ebersapius 
(i.  e.  Arsaphius)  die  beiden  venetianischen  Dogen  absetzte  und  verbannte,  was 
Einhard  s.  a.  811  erzählt.  Vgl.  auch  den  Brief  KaiTs  au  den  Kaiser  Nikephorus 
in  Alcuiui  opera  ed.  Proben.  II,  560. 

3)  Einhardi,  ann.  811;  Ann.  Alamann.  Weingart.,  811;  Herimann.  Augiens.,  811; 
Monach.  Saugall.  gesta  Karoli  M.  II,  c.  6  ;  Visio  Wettini  metr.  bei  Mabillon  acta 
sanctor.   ordinis  S.  Benedicti  saec.  IVa,  p.  274. 

3)  Einhardi,  ann.  812.  Denselben  Frieden  meint  Einhard  in  der  vita  Karoli  M. 
c.  14.  Histriam  quoque  et  Liburniam  atque  Dalmatiam  (sc.  perdomuit)  ex- 
ceptis  maritimis  civitatibus ,  quas  ob  amicitiam  et  iunetum  cum  eo  foedus 
Constantinopolitanum  imperatorem  habere  permisit  und  ebenda  c.  16 :  Cum 
quibus  .  .  .  foedus  firmissimum  statuit ,  ut  nullet  inter  partes  cuiuslibet  scandali 
remaneret  occasio.  Die  Verzichtleistung  auf  Venedig  und  die  dalmatischen  Städte 
ist  hiernach  klar,  ebenso  nach  den  Annalen  die  Anerkennung  KaiTs  als  Kaiser: 
Imperatorem  eum  et  Basileum  appellantes,  nachdem  dieser  eorum  contumaciam 
tnagnunimitate  überwunden  hatte  (nach  der  vita  Karoli  M.  c.  28) ,  vgl.  Theo- 
phanis  chronogr.  p.  770,  wo  Karl,  früher  nur  (p.  736)  6  tujv  OpdYYiuv  p*j£  genannt, 
plötzlich  pcuiXeO;  heisst. 

4)  Const.  de  adra.  imp.  c.  28  (p.  124);  Andreae  Danduli  chrou.  col.  151,  163,  176  ; 
vgl.  Archiv  für  ältere  deutsche  Geschichtsk.  III,  578. 


388  Ernst  Diimmler. 

durch  diesen  Frieden  nicht,  berührt,  sondern  verblieben  auch  ferner- 
hin unter  fränkischer  Oberhoheit,  und  wenn  berichtet  *)  wird,  dass 
Ludwig  der  Fromme  auf  dem  Reichstage  zu  Paderborn  im  Juli  815 
die  Gesandten  aller  Ostslawen  und  ihre  Huldigungen  zu  seinem  Regie- 
rungsantritte empfing,  so  sind  ohne  Zweifel  auch  die  dalmatischen 
Slawen  mit  einbegriffen.  Obgleich  durch  den  Frieden  von  812  aller 
Grund  zu  ferneren  Streitigkeiten  aus  dem  Wege  geräumt  sein  sollte, 
traf  doch  schon  im  Jahre  817  wieder  ein  Gesandter  2)  des  Kaisers 
Leo's  des  Armeniers  ein,  um  im  Namen  der  dalmatischen  Römer 
Reschwerde  über  die  Verletzung  ihrer  Grenze  zu  erheben;  diese 
wurden  desshalb  durch  eine  Vernehmung  der  Einwohner  Dalmatiens 
an  Ort  und  Stelle,  welcher  sich  der  Markgraf  Kadolaus  von  Friaul, 
nebst  einem  gewissen  Albgar  und  dem  griechischen  Gesandten  unter- 
zog, aufs  Genaueste  festgestellt  und  bestimmt. 

Im  Herbste  des  Jahres  818,  als  Ludwig  der  Fromme  auf  der 
Reise  nach  Aachen  begriffen,  sich  gerade  in  Heristall  aufhielt,  begeg- 
neten ihm  dort  die  Gesandten  mehrerer  slawischer  Völker 3),  nament- 
lich der  Timotschaner  die  die  bulgarische  Herrschaft,  unter  der  sie 
früher  gestanden,  mit  der  fränkischen  vertauschen  wollten,  indem  sie 


*)  Einhardi,  ann.  815:  omnes  orientalium  Sclavorum  primores  etlegati. 

2)  Einhardi,  ann.  817:  ratio  inter  eum  (sc.  Cudolaum)  et  plurimos  et  Romanos 
et  Sclavos  pertinebat.  Die  vita  Hludovici  lmperatoris  c.  27,  welche  den  Einhard 
benutzt,  sagt  deutlicher  Legatio  .  .  .  erat  de  finibus  Dalmatorum,  Romanorum 
et  Sclavorum. 

3)  Einhardi,  ann.  818.  Bei  den  Worten:  legati  Rornae  ducis  Guduscanorum  et 
Timocianorum ,  qui  nuper  a  Bulgarorum  societate  desciverant  et  ad  nostros 
fines  se  contulerant ,  simul  et  IÄudewiti  etc.  interpungire  icl;  mit  Zeuss  (die 
Deutschen  p.  614)  hinter  Guduscanorum,  denn  es  ist  ganz  klar,  dass  die  Timot- 
schaner mit  Borna  nichts  zu  thun  hatten,  da  sie  auch  im  Jahre  819  als  selbständiges 
Volk  sich  mit  Liudevvit  verbinden  (Timocianorum  .  .  populurn,  qui  .  .  .  ad  im- 
peratorem  venire  ae  dicioni  eius  se  permittere  gestiebat  etc.^.  Die  Guduskaner 
waren  von  Borna ,  dem  dux  Dahnaciae  oder  dux  Dalmatiae  atque  Liburniae 
neuerdings  unterworfen  und  desshalb  schickte  er  a.  818  ihre  Gesandten  nach  Heristall, 
damit  auch  sie  dem  Kaiser  huldigten  ,  dem  er  schon  länger  unterthänig  war.  Als 
sie  819  Borna  in  der  Schlacht  im  Stiche  lassen,  wird  er  auxilio  .  .  .  praetoria- 
norum  suorum  beschützt,  d.  h.  von  den  Croaten,  über  die  er  ursprünglich  herrschte. 
Es  liegt  sehr  nahe  an  die  croatische  Zupa  Gutziska  zu  denken  (s.  oben  S.  375), 
die  mit  Licca  und  Karbava  unter  einem  Baue  stand,  also  vielleicht  damals  dem 
Grosszupan  noch  nicht  gehorchte.  Das  domum  regressi  des  Einhard  von  einer 
Schlacht  an  der  Kulpa  819  steht  dieser  Annahme  nicht  im  Wege,  wie  Krause 
(p.  20)  glaubt,  denn  Gutziska ,    das  bei  Ottocac  an  dem  Flusse  Gatzka  zu  suchen 

v  v  f 

ist  (Safari  k  II,    296),  braucht  durchaus  nicht  bis  zur  Kulpa  gereicht  zu  haben, 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  «>o«J 

zugleich  ihre  "Wohnsitze  wechselten,  ferner  des  Croatenherzogs  Borna 
und  des  Fürsten  der  pannonischen  Slovenen  Liudewit,  der  zu  Sissek 
am  Einflüsse  der  Kulpa  in  die  Sau  seinen  Sitz  hatte  l).  Der  letztere 
führte  bei  Ludwig  Klage  über  das  übermüthige  Benehmen  und  die 
Grausamkeit  des  Grenzgrafen  Kadolaus,  worin  sich  bereits  seine 
Absicht  zur  Empörung  aussprach ,  und  ging  im  folgenden  Jahre  zu 
offenem  Abfalle  über.  In  dem  mehrjährigen  Kriege  der  sich  hieraus 
entspann  und  nach  Kadolaus'  Tode  im  Jahre  819  von  seinem  Nach- 
folger Balderich  weiter  geführt  wurde,  leistete  Borna  3),  wie  es 
scheint  ganz  aus  eigenem  Antriebe  und  zu  eigenem  Vortheile,  dem 
fränkischen  Beiche  wesentlichen  Beistand.  Schon  im  ersten  Jahre 
rückte  er  von  Süden  her  mit  einem  grossen  Heere  dem  mit  den 
Timotschanern  und  einem  Theile  der  kärntnerischen  Winden  ver- 
bündeten Liudewit  entgegen,  weil  ihn  aber  die  Bewohner  der  Zupanie 
Gutziska  im  Stiche  Hessen,  erlitt  er  an  der  Kulpa  eine  Niederlage,  in 
welcher  auch  sein  Verbündeter  Dragamosus  fiel,  und  entkam  nur 
unter  dem  Schutze  seiner  Leibwache.  Sein  Gegner  verwüstete  hier- 
auf im  December  das  Gebiet  der  dalmatischen  Croaten,  während  Borna 
sich  in  seine  festen  Burgen  zurückzog.  Indem  er  aber  von  dort  den 
Feind  den  er  in  offenem  Felde  nicht  bestehen  konnte,  mit  leichten 
Truppen  beständig  belästigte  und  neckte,  zwang  er  ihn,  mit  grossem 
Verluste  das  Land  wieder  zu  räumen  3).  Diesen  glücklichen  Erfolg, 
so  wie  die  kurz  zuvor  stattgehabte  Wiederunterwerfung  der  abtrün- 
nigen Gutziskaner  liess  Borna  dem  Kaiser  durch  hierzu  abgesandte 
Boten  anzeigen.  Im  Beginne  des  Jahres  820  erschien  er  sogar  4)  in 
eigener  Person  am  kaiserlichen  Hoflager  zu  Aachen  und  ertheilte  seine 
Bathschläge  hinsichtlich  der  Fortsetzung  des  Krieges  gegen  Liudewit. 
Noch  drei  Feldzüge  der  umfassendsten  Art  mussten  wider  ihn  unter- 
nommen werden,  ehe  Liudewit  sich  entschloss,  sein  Land  zu  verlas- 
sen und  nach  Serbien  zu  entweichen5),   wo  er  sich  hinterlistiger 


*)  Vgl.  über  diesen  Abschnitt  die  südöstlichen  Marken,  p.  2o — 27. 

2)  Borna  hegte  sicherlich  die  Absicht,  sich  im  Norden  erobernd  auszubreiten ,  daher 
unterwarf  er  die  Guduskaner  und  bewog  sogar  Liudewit's  Schwiegervater  Draga- 
mosus, sich  ihm  anzusehliessen. 

3)  Einhardi,  arm.  819. 

4)  Einhardi,  ann.    820. 

5)  Ebenda,  822  .  .  Liudewitus ,  Siscia  civitate  relicta  ad  Soruhos  ,  f/uae  natio 
magnam  Dalmaliae  partem  obtinere  diciiur,  fugiendo  se  contulit,  et  uno  ex 


390  ErnstDümmler. 

Weise  der  Burg  eines  dortigen  Häuptlings  bemächtigte.  Im  Herbst 
des  Jahres  823  traf  endlich  die  Nachricht  von  dem  Tode  dieses 
gefährlichen  Feindes  ein1),  es  hatte  ihn  nämlich  Liudemusl,  der 
Oheim  des  Herzogs  Borna,  bei  dem  er  in  Daimatien  eine  Zuflucht 
gesucht,  nach  kurzem  Verweilen  aus  dem  Wege  räumen  lassen.  So 
war  mit  Hilfe  der  Croaten  vornehmlich  eine  Empörung  unterdrückt 
worden,  bei  der  es  sich,  wie  das  Aufgebot  so  bedeutender  Streit- 
kräfte beweist,  um  die  Verwirklichung  grossartiger  Pläne,  vielleicht 
um  die  Stiftung  eines  grossen  Windenreiches  an  der  Donau  gehandelt 
hatte.  Auch  die  Griechen  scheinen  diesem  Unternehmen  nicht  abhold 
gewesen  zu  sein,  wie  man  daraus  schliessen  darf,  dass  der  Patriarch 
Fortunatus  von  Grado  a),  ein  Mann  von  sehr  veränderlicher  und 
unruhiger  Sinnesart,  Liudewit  beim  Bau  seiner  Festen  mit  Maurern 
und  Zimmerleuten  unterstützte.  Wegen  dieser  Parteinahme  zur  Bechen- 
schaft  gezogen,  entfloh  er  im  Jahre  821  zu  dem  griechischen  Strate- 
gen Johann  nach  Zara  und  von  dort  nach  Konstantinopel;  griechische 
Gesandte  führten  ihn  später  im  Jahre  824  nach  Unterdrückung  des 
Aufstandes  zurück.  Bald  zeigte  es  sich,  dass  die  fränkische  Herrschaft 
an  der  untern  Donau  im  vollen  Umfange  wieder  hergestellt  sei,  denn 
auf  einem  Beichstage  den  Kaiser  Ludwig  am  Anfange  des  Winters 
822  zu  Frankfurt  hielt,   empfing  er  nicht  nur  Gesandtschaften  der 

v 

Cechen,  Mähren  und  Avaren  ,  sondern  sogar  der  Ostabotriten  3)  oder 
Branitschewzer  (Prädenecenter),  der  unmittelbaren  Nachbarn  der 
Bulgaren  am  nördlichen  Ufer  der  Donau. 

Auch  Konstantin  der  den  Abfall  der  Croaten  ganz  irrig  unter 
die  Begierung  Michael's  (II.)  des  Stammlers  (820  —  829)  setzt4), 


ducibus  eorum  a  quo  receptus  est  per  dolum  inierfecto  civitatem  eins  in  suam 
redegit  dicionem. 
*)  Einhardi,  823:   relictis  Sorabis  cum  Dalmatiam  ad  Liudemuhslum  avunculum 
Bornae  ducis  etc. 

2)  Einhardi,  ann.  821  . .  Fortunatus  .  .  .  cum  .  .  .  apud  imperatorem  fuisset  accu- 
satus ,  quod  Liudewitum  ad  perseverandum  in  perfidia  qua  coeperat  horta- 
retur  ■  .  .  dam  navigavit ,  veniensque  Jaderam  Dalmaciae  civitatem,  Johanni 
praefecto  provinciae  illius  fugae  suae  causas  aperuit,  vgl.  s.  a.  824.  Schon 
Leo  Hl.  schreibt  im  Jahre  806  über  Fortunatus  an  Karl  (MansiXIII,  p.  976)  non 
audivimus  de  eo  sicut  decet  de  archiepiscopo,  neque  de  purtibus  Franciae,  ubi 
eum  beneficiastis. 

3)  Einhardi,  ann.  822,  824. 

4)  De  adm.  imp.  c.  29  (p.  128),  wo  er  sich  freilich  nicht  ganz  bestimmt  ausdrückt! 
|j.aXiaTa  o£  ixi  MiyarjX ,    loa  e£    'A|ioptou  toi  TpauXoü  .  .  .  toc  exsIjs  s9vt),   gi  ts  Xpcu- 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  391 

hat  von  ihrer  Verbindung  mit  dem  Frankenreiehe  dunkle  Kunde  erhal- 
ten. Er  erzählt  J),  die  Frauken  wären  gegen  die  ihnen  unterworfenen 
Croaten  mit  solcher  Grausamkeit  verfahren,  dass  sie  ihre  Säuglinge 
den  Hunden  zum  Frasse  vorgeworfen.  Darob  hätten  die  Croaten  sich 
empört  und  ihre  fränkischen  Gebieter  ermordet.  Ein  grosses  Heer 
sei  darauf  aus  dem  Frankenreiche  gegen  sie  zu  Felde  gezogen,  dem 
in  siebenjährigen  harten  Kämpfen  die  Croaten  den  Sieg  abgewonnen, 
indem  sie  zuletzt  den  Anführer  Kotzilin  mit  allen  seinen  Leuten  nie- 
derhieben und  so  ihre  Freiheit  retteten.  Es  leuchtet  ein,  wie  unbe- 
gründet diese  ganze,  offenbar  aus  croatischem  Munde  stammende 
Erzählung  ist;  unter  Porinus,  d.  h.  Borna,  soll  jener  Abfall  erfolgt 
sein  und  doch  bestieg  nach  seinem  Tode  im  Jahre  821  sein  Neffe 
Ladaslav  2)  den  Thron  nur  mit  Zustimmung  des  Kaisers  Ludwig  als 
seines  Oberlehnsherrn  und  noch  über  ein  halbes  Jahrhundert  ver- 
ging, ehe  die  Croaten  sich  wirklich  aus  ihrer  Verbindung  mit  den 
Franken  lösten,  die  sich  allmählich  und  unvermerkt  schon  gelockert 
hatte.  Die  angebliche  Grausamkeit  der  Franken  3),  die  in  so  grellen 
Farben  gemalt  wird,  und  der  siebenjährige  (soll  heissen  fünfjährige) 
Krieg  mit  ihnen  beruhen  auf  einer  Verwechselung  der  pannonischen 
Slovenen  mit  den  dalmatischen  Croaten,  die  um  so  leichter  vor  sich 
gehen  konnte,  da  ja  Borna  selbst  in  jenen  Kämpfen,  freilich  auf  frän- 
kischer Seite,  eine  wichtige  Rolle  spielte.  Der  Tod  Kotzilin's,  d.  h. 
des  Markgrafen  Kadolans.  wurde  zwar  durch  ein  kaltes  Fieber  *)  und 


ßa-ot  -/cai.  SspßXfji  .  .  .  f&y'jtiav)  iBiöpuftpoi  xoi  aiiToxscpaXoi.  Dagegen  wird  im  Theo- 
phan.  continuat.  II,  c.  28  und  V,  c.  52  (p.  84,  288  ed.  Bekker)  der  Abfall  jener 
Völker  ausdrücklich  unter  Michael  von  Amorium  gesetzt,  und  damit  zugleich  eben 
so  ungenau  die  Eroberung  Calabriens  und  Langobardiens  verbunden,  die  erst  unter 
Theophilus  begann.  Der  Irrthum  K  o  ns  tant  in 's  ist  offenbar  daher  entsprungen, 
dass  er  die  Trennung  der  dalmatischen  Slawen  vom  byzantinischen  Reiche  mit  der 
der  dalmatischen  Römer,  die  etwa  unter  Michael  III.  eintrat,  vermischte  und  ver- 
wechselte. 
*)  De  adm.  imp.  c.  30  (p.  144).  In  derselben  Weise  wie  hier  geschieht,  beurtheilte  ich 
diese  Erzählung  schon  in  den  südöstlichen  Marken  (p.  79 — 80),  worauf  auch  Krause 
(p.  49 — 53),  ohne  meine  Schrift  zu  benutzen,  die  gleiche  Ansicht  zu  begründen  suchte. 

2)  Einhnrdi,  ann.  821  .  .  imperutore  consentiente  .  .  Ladasclavus  successor  ei  con- 
stitutus  est.  Das  Gleiche  folgt  aus  der  Datirung  der  Urkunde  Tirpimir's  vom 
4.  März  852  :  regnante  in  Italiu  piissimo  Lothurio  Fruncorum  rege. 

3)  Vgl.  Einhardi,  ann.  818  (Liudewitus):  Cadolaum  .  .  .  crudelitatis  atqueinsolcntiue 
aecusare  conabatur. 

4)  Einhardi,  ann.  819:  Cadolah  .  .  febre  correptus  deeessit.  Kotzilin  scheint  mir 
Entstellung   aus  Kadolah,  denn  wenn   es  auch,  wie  Krau  se  meint,  gleich   Kotzel 


392  E  r  n  s  t  D  ii  m  m  I  e  r. 

nicht  durch  das  Schwert  herbeigeführt,  allein  er  fiel  doch  in  die  Zeit 
des  Krieges  und  zudem  könnte  eine  Erinnerung  an  das  gewaltsame 
Ende  seines  Vorgängers  Erich  mitgewirkt  haben. 

Während  sonach  diese  Erzählung  Konstantins  durchaus  die 
Gestalt  der  Sage  an  sich  trägt,  in  der  die  geschichtlichen  Thatsachen 
zur  Unkenntlichkeit  entstellt  sind ,  liegt  vielleicht  einer  andern 
sich  unmittelbar  daran  schliessenden  Nachricht  etwas  Wahrheit  zu 
Grunde.  Nach  errungener  Unabhängigkeit,  so  fährt  er  fort,  habe 
Borna  zum  Papste  nach  Rom  geschickt,  der  auf  seine  Bitte  Bischöfe 
absandte,  das  croatische  Volk  zu  taufen.  Der  Widerspruch  welcher 
zwischen  dieser  Angabe  und  der  ersten  unter  den  Fürsten  Porga 
gesetzten  Taufe  stattfindet  ist  nicht  so  gross,  wie  er  aussieht,  wenn 
wir  bedenken,  dass  im  VII.  Jahrhundert  zunächst  nur  die  römische 
Kirchenprovinz  Salona  wiederhergestellt  und  damit  erst  der  Anfang 
zur  Bekehrung  der  Croaten  gemacht  wurde.  Nehmen  wir  an,  dass 
diese  im  Beginne  des  IX.  Jahrhunderts  in  der  Hauptsache  vollendet 
war ,  so  hat  es  nichts  Auffallendes ,  wenn  die  Croaten  durch  ihre 
engere  Verbindung  mit  dem  fränkischen  Reiche  hierzu  veranlasst, 
sich  wegen  ihrer  kirchlichen  Ordnungen  unmittelbar  an  den  Papst 
wandten.  Auch  finden  wir  in  der  That  in  der  zweiten  Hälfte  des 
IX.  Jahrhunderts  *)  einen  croatischen  Bischof  von  Nona,  welcher  mit 
dem  römischen  Stuhle  in  unmittelbarem  Verkehre  stehend,  sich  nicht 
in  Abhängigkeit  von  dem  Erzbischofe  von  Salona  begeben  will. 
Die   Einsetzung    dieses   Bischofs,    die   ausdrücklich  dem   Papste  2) 


Hezilo,  Heinrich  wäre,  so  haben  wir  damit  noch  immer  nicht  den  Namen  Erich 
(Aericus),  welcher  von  Heinrich  durchaus  unterschieden  werden  muss. 

!)  Dies  bezeugt  das  Bruchstück  eines  Briefes  in  Gratiani  decretum  p.  III,  Dist.  I,  c.  8  : 
Nicolaus  papa  electo  et  clero  Nonensis  ecclesiae.  Ecclesia  id  est  catholicorum 
collectio  quomodo  si?ie  apostolicae  sedis  instituetur  nutu,  quando  iuxta  Sacra 
decreta  nee  ipsa  debet  absque  praeeeptione  papae  basilica  noviter  construi 
quae  ipsam  catholicorum  intra  semetipsam  amplecti  catervam  dignoscitur? 
Thomas  von  Spalato  (c.  XIII,  p.  548)  sagt ,  dass  nach  der  Bekehrung'  der  Croaten 
ausser  den  dalmatischen  Bisthümern,  in  Sclavonia  der  episcopus  Delmitanus  und 
Sciscitanus  eingesetzt  wurden.  Er  verwechselt  aber  die  Zeiten  und  nennt  bischöf- 
liche Kirchen  die  nur  vor  der  slawischen  Eroberung  existirten ,  denn  Delmiuni 
(jetzt  Duwno)  ist  nach  ihm  selbst  (c.  I,  p.  533)  ein  Ort  ubi  antiqua  moenia 
ostenduntur  ibique  fuisse  Delmis  civitas  memoratur ,  und  Sissek  (Segestica, 
Siscia)  gehörte  gar  nicht  zu  Croatien,  sondern  zu  Slavonien,  auch  wird  in  keiner 
von  beiden  Städten  während  des  IX.  Jahrhunderts  ein  Bischof  erwähnt. 

2)  Johann  VIII.  schrieb  879  an  Theodosius  von  Nona  (Mansi  XVII,  124) :  toio  corde 
totaque  voluntale  ad  gremium  sedis  apostolicae,  unde  antecessorcs  tut  divinae 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  393 

zugeschrieben  wird,  könnte  man  demnach  auf  die  ZeitBorna's  zurück- 
führen und  dadurch  die  Bekehrung  der  Ooaten  vollendet  werden 
lassen. 

Die  Erzbischöfe  von  Spalato,  denen  diese  Spaltung  von  Dalma- 
tien sehr  gefährlich  zu  werden  drohte,  wussten  bald  die  croatischen 
Fürsten  wieder  für  sich  zu  gewinnen.  Ladaslav's  Nachfolger  Moislav, 
mit  welchem  der  venetianische  Doge  Peter  Tradonicus  zu  San  Mar- 
tino  auf  Cherso  839  einen  Friedensvertrag  schloss  1).  ordnete  bereits 
an,  dass  von  dem  herzoglichen  Hofe  Klissa  der  von  ihm  gegründeten 
Kirche  des  h.  Georg  zu  Sussuratz  bei  Spalato  die  Zehnten  gezahlt 
würden  3).  Von  seinem  Nachfolger  Tirpimir  hat  sich  vom  4.  März 
852  die  erste  croatische  Urkunde  erhalten,  datirt  nach  der  Regierung 
des  Königs  Lothar  in  Italien,  in  welcher  er  nicht  nur  jene  Verpflich- 
tung bestätigt,  sondern  auch  die  gedachte  Kirche  seinem  geliebten 
Gevatter,  dem  Erzbischofe  Petrus  von  Salona,  zu  ewigem  Besitze 
schenkt3).  Der  erzbischöflichen  Kirche  von  Spalato,  der  Metropole 
des  ganzen  croatischen  Reiches  bis  zum  Ufer  der  Donau,  werden 
zugleich  alle  früheren  Erwerbungen  bestätigt,  weil  Petrus  den  Her- 
zog Tirpimir  bei  der  Erbauung  und  Ausstattung  eines  Mönchsklosters 
das  er  nach  gemeinsamem  Beschlüsse  aller  Zupane  anlegte,  mit  einem 
Darlehen  von  eilf  Pfund  Silbers  unterstützt  hatte. 


legis  dogmatu  mellifl.ua  cum  sacrae  institutionis  forma  summique  sacerdotii 
honorem  sumpserunt ,  redeas. 
')  .loh.  chrou.  Venet.  p.  17:  ubi  ad  locum  qui  vocatur  sancti  Martini  curtis  per- 
veniret ,  paeem  cum  illoram  principe  Muisclavo  nomine  firmavit.  Das  Jahr 
(das  dritte  des  Dogen  Peter,  d.  h.  839)  kann  unmöglich  richtig'  sein,  wenn  man, 
wie  nach  Joa.  Lucius  (Hb.  II,  c.  2,  p.  100)  alle  Neueren  gethan  haben,  die  Urkunde 
Tirpimir's  ins  Jahr  837  setzt.  Aber  man  kann  jenen  Vertrag-  Peter's  mit  Moislav  auch 
nicht  nach  836  verlegen  ,  und  Tirpimir  erst  nachher  zur  Regierung  kommen  lassen, 
weil  es  in  seiner  Urkunde  heisst:  ego  .  .  .  meis  cum  omnibus  zuppanis  constru.ri 
monasterium  ibique  catervas  fratrum  adhibui ,  quorutn  sedulis  votis  .  .  .  nos 
immunes  redderet  Deo  peccatis.  Zur  Errichtung  eines  Klosters  gehörte  ein  längerer 
Zeitraum  als  wenige  Monate.  Da  die  15.  Indiction  während  der  Regierung  Lothar's 
auch  in  das  Jahr  852  fiel,  so  nehme  ich  keinen  Anstand  dieses  zu  wählen,  weil  da- 
durch die  obigen  Schwierigkeiten  ganz  fortfallen.  Die  unterlassene  Nennung  des 
Königs  Ludwig  II.  von  Italien  hat  nichts  zu  bedeuten,  und  der  römische  Katalog  der 
Bischöfe  von  Salona  (Farlali  I,  334)  schöpfte  aus  denselben  Quellen  wie  wir  und 
besitzt  daher  keine  eigene  Beweiskraft. 

2)  Quas  decimas  antecessor  noster  Mislavo  dare  coepit. 

3)  Schwandtner,  Script.  III,  99 ;  Farlati  III,    51  flg.  mit  brauchbaren  Erläuterungen. 
Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  II.  Hft.  26 


394  ErnstDümmler. 

Um  diese  Zeit  trat  auch  ein  Franke  *)  aus  der  Diöcese  von  Aqui- 
leja,  Namens  Martin  auf,  der  völlig  lahm  sich  von  vier  Männern  tra- 
gen Hess  und  obgleich  er  ein  Laie  war,  doch  viele  Wunder  vollbracht 
haben  soll.  Wahrscheinlich  wollte  er  die  Neubekehrten  im  Glauben 
stärken  und  zu  friedlichem  Verhalten  gegen  ihre  Nachbarn  ermah- 
nen. Da  die  kirchlichen  Verhältnisse  Dalmatiens  noch  immer  etwas 
schwankend  und  ungeordnet  waren,  so  konnten  herumziehende  Geist- 
liche dort  eher  als  anderwärts  einen  gesicherten  Aufenthalt  finden. 
Daher  sehen  wir  auch  den  wegen  seiner  Prädestinationslehre  überall, 
zuletzt  auch  aus  Friaul,  vertriebenen  3)  Mönch  Gottschalk  endlich  im 
Jahre  849  in  diesen  Gegenden  3)  noch  eine  Zuflucht  suchen.  Auf 
Tirpimir  folgte  in  der  Regierung  sein  Sohn  *)  Kresimir. 

Unter  den  zahlreichen  serbischen  Stämmen,  von  denen  nur  die 
Anwohner  der  Donau  vorübergehend  unter  die  fränkische  Herrschaft 
geriethen,  treten  in  der  ersten  Hälfte  des  IX.  Jahrhunderts  am  mei- 
sten die  Narentaner  als  kühne  Seeräuber  hervor.  Hierbei  kam  es 
ihnen  sehr  zu  statten,  dass  die  Natur  selbst  ihr  Land  durch  schroffe 
Felsen  vor  Angriffen  von  der  See  aus  geschützt  und  die  Mündungen 
der  Narenta  durch  gefährliche  Sandbänke  für  grössere  Fahrzeuge 
unzugänglich  gemacht  hatte.  Obgleich  ein  Gesandter  von  ihnen  5), 
den  sie  ums  Jahr  823  an  den  venetianischen  Dogen  Johannes  Parti- 
cipatius  schickten,  sowohl  selbst  die  Taufe  annahm,  als  auch  mit 
Venedig  einen  Frieden  abschloss,  war  dieser  doch  von  sehr  geringer 
Dauer,  denn  wenige  Jahre  später  wurden  venetianische  Kaufleute  auf 
der  Rückkehr  von  Benevent  von  den  Narentanern  gefangen  genommen 
und  getödtet.  Um  diesen  Friedensbruch  zu  bestrafen,  stach  der  Doge 
Petrus  Tradonicus  839  mit  einer  Anzahl  von  Kriegsschiffen  gegen 


*)  Const.  de  adm.  imp.  c.  31  (p.  149):  äuö  Opc^ia«  tt)?  ixe-ra^u  Xpcoßa-ias  xat  Bsvs-ic«;, 
d.  h.  aus  Krain,  Istrien  oder  Friaul. 

2)  S.  den  Brief  des  Erzbischofs  Hrabanus  von  Mainz:  Heberardo  comiti  (an  den  Mark- 
grafen Eberhard  von  Friaul)  in  Sirmondi  opera  varia  ed.  Veneta  II,  col.  1019—1026. 

3)  Prudentius  ann.  Bertin.,  849 :  Godescalcus  .  .  .  Dalmatiam  Pannoniam  Noreiam- 
que  adorsus   (Pertz  SS.  I,  443). 

4)  Const.  de  adm.  imp.  c.  31  (p.  ISO).  Farlati  (III,  84),  dem  auch  Safafi'k  (II, 
288)  folgt,  verwirrt  die  Reihenfolge  der  croatischen  Herzoge  völlig,  indem  er 
Kresimir  erst  c.  900  nach  Muncimir  zur  Regierung  kommen  lässt.  Konstantin 
bezeichnet  ihn  (Kpac7T)pipr))  als  Sohn  Tirpimir's  und  denkt  sich  ihn  offenbar  als  dessen 
unmittelbaren  Nachfolger. 

5)  Joh.  chron.  Ven.  p.  16:  missus  Sclavomm  de  insula  Narrentis. 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  395 

das  Slavvenland  in  See  und  nachdem  er  mit  Moislav  den  erwähnten 
Vertrag  eingegangen,  wandte  er  sich  nach  den  narentanischen  Eilan- 
den und  schloss  mit  dem  Fürsten  dieses  Volkes  1)  Drosaik  abermals 
Frieden  der  von  ebenso  geringer  Wirkung  war,  wie  der  frühere. 
Nach  etlichen  Jahren  2)  lief  daher  Petrus  zum  zweiten  Male  gegen  den 
slawischen  Häuptling  Liudit  aus,  durch  den  er  eine  Niederlage  und 
einen  Verlust  von  hundert  Mann  erlitt,  so  dass  auch  fernerhin  den 
Räubereien  der  Narentaner  kein  Einhalt  geschah. 

Die  kleine  Landschaft  Terwunja  wurde  gegen  die  Mitte  des 
Jahrhunderts  zu  einem  selbständigen  Fürstenthume  erhoben  3), 
indem  der  serbische  Grosszupan  Wlastimir  dem  terwnnischen  Zupan 
Krai'nas,  dem  er  seine  Tochter  vermählt,  zur  Auszeichnung  volle 
Unabhängigkeit  verlieh. 


IV.  Einwirkungen  der  Bulgaren  und  Sarazenen :  Rückkehr  zum  griechi- 
schen Reiche. 

Durch  den  Sturz  der  Avarenmacht  an  der  Donau  traten  zum 
ersten  Male  die  durch  die  Bulgaren  in  Einem  Reiche  vereinigten  Sla- 
wen in  nähere  Berührung  mit  den  abendländischen  Nationen,  indem 
sie  das  alte  Daeien  östlich  von  der  Theiss  und  nördlich  von  der  Donau 
aus  der  Hinterlassenschaft  der  Avaren  sich  aneigneten  *).  Bald  wur- 
den die  Bulgaren  die  unmittelbaren  Grenznachbarn  der  Franken,  als 


*)  Joh.  chron.  Ven.  p.  17  .  . :  pertransiens  ad  Narrentanas  insulas,  cum  Drosaico 
Marianorum  iudice  .  .  fedus  instituii.  Die  eigenthümliche  Bezeichnung  des 
narentanischen  Fürsten  Drosaik  erinnert  an  Thomas  von  Spalato,  c.  XIII  (p.  348) 
und  c.  XV  (p.  330)  :  cum  tota  Maronia  et  Chulmiae  ducatu,  wo  gleichfalls  die 
narentanische  Küste,  die  sogenannte  Primorie  gemeint  ist.  Eine  zweite  Benennung 
des  Volkes  (vielleicht  gleich  Meeranwohner)  scheint  hier  zu  Grunde  zu  liegen,  blosse 
Entstellung  des  Namens  (von  Naro,  Naronia)  ist  kaum  wahrscheinlich. 

2)  Joh.  chron.  Ven.  a.  a.  0.  Es  geschah  wohl  gegen  840,  denn  gleich  darauf  wird  die 
Sonnenfinsterniss  vom  3.  Mai  840  erwähnt. 

3)  Const.  de  adm.  imp.  c.  34  (p.  161).  KraTnas  war  ein  Sohn  des  ßelai,  von  ihm 
stammte  Phalimer  und  von  diesem  Tzutzimer.  Y,aav  o;  oi  -f/s  TEpßouviai;  ap/ov7s; 
äst  Crai'j  vjv  Xöfov  tou  Spxovxos  SepßXia; ,  fügt  K.  hinzu,  und  scheint  damit  anzudeuten, 
dass  nach  Tzutzimer  die  serbische  Oberhoheit  von  den  terwunjisehen  Fürsten  wieder 
anerkannt  wurde. 

4)  Die  südöstlichen  Marken  des  fränkischen  Reiches  p.  9 — 10.  Aach  Ropitar  (Glagolita 
Clozianus  p.  XII)  gehört  der  Name  !*t\sth  plane  et  unice  et  in  specie  dem  bulgarisch- 
slawischen Dialekt  an,  zum  Beweise  der  Ausbreitung  dieses  Stammes  bis  dorthin. 

26» 


396  Ernst  Dümmler. 

diese  sich  nicht  mehr  mit  dem  Besitze  Pannoniens  begnügten,  son- 
dern auch  die  serbischen  Stämme  an  beiden  Ufern  der  Donau,  die  der 
Mündung  der  Drau  gegenüber  beginnend  bis  zum  Timok  sich  aus- 
dehnten, ihrem  Reiche  hinzuzufügen  wussten  1).  Das  bulgarische  Volk 
stand  damals  auf  einer  sehr  hohen  Stufe  der  Macht  und  zeigte  sich 
unter  Krum  den  Griechen  furchtbar.  Der  Kaiser  Nicephorus  blieb 
gegen  diesen  im  Kampfe,  Michael  kehrte  ruhmlos  heim  und  schon 
bedrohten  sie  Konstantinopel;  Krum's  Nachfolger  Mortago  oder  Omor- 
tag  aber  (seit  815)  schloss  mit  Leo  dem  Armenier,  dessen  Tapfer- 
keit er  achtete,  einen  dreissigjährigen  Frieden  und  hielt  Freundschaft 
mit  ihm.  Dafür  konnte  er  nun  seine  Aufmerksamkeit  dem  Westen 
um  so  ungestörter  zuwenden,  und  als  auf  gütlichem  Wege  die  Fran- 
ken ihre  Herrschaft  über  die  Ostabotriten,  die  er  seine  Unterthanen 
nannte,  nicht  aufgeben  wollten,  führte  er  in  den  Jahren  827  —  829 
einen  Krieg  gegen  das  fränkische  Reich  an  der  Drau,  durch  den  er 
nicht  blos  seine  Ansprüche  2)  durchsetzte ,  sondern  wahrscheinlich 
auch  die  Slovenen  im  südlichen  Unterpannonien  und  die  dortigen 
Croaten  eine  Zeitlang  seinen  Geboten  unterwarf 3).  Mortago's  Nach- 
folger Presiam  kehrte  seine  Waffen  gegen  die  Serben  und  wollte 
deren  Fürsten  Wlastimir  zu  seinem  Vasallen  machen,  allein  er  wurde 
in  dreijährigen  Kämpfen  mit  grossem  Verluste  zurückgeschlagen  4). 
Presiam's  Sohn  Bogoris  oderBorises,  später  Michael  genannt,  der 
gegen  das  J.  845  den  bulgarischen  Thron  bestieg  5),  gedachte  gegen 


*)  Die  südöstlichen  Marken,  p.  27—29. 

2)  Dies  folgt  vorzüglich  daraus,  dass  in  der  zweiten  Hälfte  des  IX.  Jahrhunderts  Bel- 
grad eine  bulgarische  Stadt  war:  Johann  VIII.  erwähnt  in  einem  Briefe  an  König 
Michael  vom  J.  878  (Mansi  XVII,  p.  64)  das  Bisthum  Belgrad  als  zu  dessen  Beiche 
gehörig  und  c.  886  findet  sich  ttj  BsXecYpaScuv  ein  imocrtpdTTjYos  des  Bogoris  nach  der 
Vita  St.  Clementis  c.  16  (ed.  Miklosich  p.  22),  vgl.  Safari  k  II,   177. 

s)  In  den  südöstlichen  Marken  (p.  29)  habe  ich  mit  allzugrosser  Bestimmtheit  be- 
hauptet, dass  die  Pannonia  Savia  längere  Zeit  unter  bulgarischer  Herrschaft  verblieb, 
denn  auch  ohne  den  Besitz  jenes  Landes  waren  im  Süden  der  Sau  die  Bulgaren  die 
Nachbarn  der  Croaten,  so  lange  die  Serben  sich  noch  nicht  zwischen  beide  Völker 
eingeschoben  hatten.  Ich  stimme  daher  jetzt  Krause  (p.  26— 27)  bei,  welcher 
Liudewit's  Nachfolger  Ratimar  (838)  unabhängig  von  den  Bulgaren  sein  lässt. 

*)  Const.  de  adm.  imp.  c.  32  (p.  154):  fHXcuv  aüxou;  inraxaSai.  Von  den  Vorgängern 
Wlastimir's  ßoiseslav,  Rodoslav,  Prosegois  kennt  Konstantin  nur  die  Namen. 

5)  Krause  (p.  26)  bezieht  die  Gesandtschaft  der  Bulgaren,  die  nach  Ruodolf  (Ann. 
Fuld.,  845)  König  Ludwig  in  diesem  Jahre  zu  Paderborn  empfing,  auf  den  Regie- 


damit 
stimmt. 


rungsantritt   des  Bogoris.     Vgl.  Theophan.  continuat.   IV.    13   (p.   462),   der 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  o97 

die  Croaten  auf  Eroberungen  auszugehen ,  doch  endigte  dieser  Krieg 
nach  Konstantin^  Bericht  *)  mit  einem  Frieden  der  alles  beim  Alten 
liess  und  freundschaftliche  Beziehungen  zwischen  beiden  Völkern 
herbeiführte.  Diese  Angaben  lassen  vielleicht  eine  Ergänzung  zu, 
wenn  man  damit  zusammenhält,  was  uns  sonst  von  demselben  Schrift- 
steller über  die  gleichzeitige  innere  Umwandlung  Croatiens  gemel- 
det wird.  Bis  auf  Kresimir,  den  Sohn  Tirpimir's,  lässt  er  jene  über- 
aus grosse  Macht  der  Croaten  reichen,  wonach  sie  nicht  weniger  als 
160.000  Mann  ins  Feld  zu  stellen  vermochten.  Auf  Kresimir  folgte 
sein  Sohn  Miroslav  der  schon  nach  vierjähriger  Begierung  von  dem 
Bane  Pribunia  ermordet  und  gestürzt  wurde.  In  der  Zeit  innerer 
Verwirrung  und  Spaltung,  die  hieraus  erfolgte,  soll  dann  jene 
grosse  Verminderung  der  croatischen  Streitkräfte  stattgefunden  haben. 
Sie  erklärt  sich  aber,  wie  schon  oben  bemerkt  wurde,  viel  leichter 
und  natürlicher  durch  eine  Abtretung  an  Land,  und  so  mag  denn  die 
Vermuthung  nicht  zu  kühn  erscheinen2),  dass  durch  jenen  Krieg 
des  Königs  Bogoris  Bosnien  von  den  Bulgaren  erobert  worden  sei. 
Vielleicht  sträubte  sich  das  Nationalgefühl  der  Croaten  die  dem 
Kaiser  Konstantin  von  allen  diesen  Dingen  erzählten,  eine  solche 
Eroberung  offen  einzugestehen,  durch  welche  sie  seit  jener  Zeit  auf 
das  Küstenland  beschränkt  blieben. 

Später  muss  freilich  Bosnien  in  serbischen  Besitz  übergegangen 
sein,  in  welchem  es  sich  auch  zu  den  Zeiten  Konstantin^  befand,  und 
zwar  dürfen  wir  diesen  Wechsel  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  noch 
unter  Bogoris  selbst  setzen.  Als  dieser  nämlich,  um  die  Niederlage 
seines  Vaters  zu  rächen»),  die  drei  Söhne  Wlastimir's  Muntimir, 
Stroimir  und  Goinik  mit  Krieg  überzog,  wurde  er  völlig  geschlagen 
und  sein  ältester  Sohn  Wladimir  gerieth  sogar  in  die  Gefangenschaft 
der  Serben.    Um  ihn   zu   lösen  musste  er  einen  sehr  nachtheiligen 


»)  De  adm.  irap.  c.  31   (p.    löOJ. 

2)  Vgl.  Krause  p.  29.  Derselbe  beruft  sich  auch  darauf,  dass  Georg  Cedrenus  (II. 
p.  476)  die  Bosniaken  Croaten  zu  nennen  schiene.  Dort  aber  ist  nur  nach  der  Unter- 
werfung Bulgariens  ganz  allgemein  von  ti  8(topo  I8vr)  -<>>'  Xopßatüiv  die  Rede,  von 
deren  Fürsten  einer  zu  Sirmium  herrschte. 

3)  Const.  de  adm.  imp.  c.  32  (p.  154),  wo  Zeile  18  v.  oben  unstreitig  für  BXatrc^p-epov 
zu  verbessern  ist  BV*8ij|iepov ,  dem.  so  hiess  nach  den  übrigen  Quellen  (Ann.  Puldens. 
892;  Vita  S.  Clementis  c.  19  ed.  Miklosich;  Georg.  Monachus  de  Michaele  et 
Theodora  c.  8)  der  älteste  Sohn  des  Bogoris. 


39$  Ernst  Uii  mm  ler. 

Frieden  schliessen,  in  welchem  er  ohne  Zweifel  den  serbischen  Für- 
sten auch  Land  abtrat.  Die  Vermuthung,  dass  dies  Bosnien  gewesen 
sei,  erhält  dadurch  ein  grösseres  Gewicht,  dass  nach  einem  Briefe 
des  Papstes  Johann's  VIII.  *)  der  serbische  Staat  unter  Muntimir  der 
bald  seine  beiden  Brüder  vertrieb,  sich  bis  zur  Donau  ausdehnte  und 
dort  an  Slavonien  grenzte. 

Während  so  die  Macht  der  Croaten  durch  die  Bulgaren  bedeu- 
tende Einbusse  erlitt  und  nie  wieder  ihre  frühere  Höhe  erreichte, 
wurden  auch  die  römischen  Dalmatier  durch  einen  neu  auftauchenden 
Feind  aufs  Schlimmste  heimgesucht.  Die  afrikanischen  Sarazenen  von 
Kairwan,  die  seit  dem  Jahre  827  mit  der  Eroberung  Siciliens  sich 
beschäftigten,  begannen  jetzt  auch  das  ad  riatische  Meer  unsicher 
zu  machen  und  wurden  bald  für  die  fränkischen  und  venetianischen 
Kaufleute  eine  noch  grössere  Plage  als  die  räuberischen  Narentaner. 
Unter  mehreren  Führern2)  von  denen  uns  Kalfo  und  Saba  namhaft 
gemacht  werden,  überfielen  sie  auf  36  Schiften  im  J.  840  zuerst  das 
obere  Dalmatien  und  plünderten  daselbst  die  Städte  Budua,   Rosa3) 


l)  Bei  Timo»  imago  anthjuae  Hungariae  p.  143:  Monternero  duci  Sclavoniae ,  er 
wird  darin  aufgefordert  ad  Pannoniensium  .  .  .  dioecesim  zurückzukehren,  welche 
bis  nach  Syrmien  reichte.  Safafi'k  (II,  288,  Anm.  2)  bezieht  diesen  Brief  ganz 
irrig  auf  den  Croaten  Muncimir. 

8)  Constantin.  de  thematib.  p.  61 ,  de  adm.  iinp.  c.  29  (p.  130) ;  Theophan.  contin.  V. 
c.  53  (p.  289).  Alle  früheren  Bearbeiter  (z.  B.  Safarik  II,  275)  setzen  dies  Er- 
eigniss  in  die  Jahre  867  oder  868,  weil  Konstantin  es  in  die  Zeit  des  Begierungs- 
antrittes des  Basilius  verlegt.  Hiermit  im  Widerspruch  lässt  er  aber  auch  jene 
Plünderungen  der  Einnahme  von  Bari  (a.  841)  vorangehen  und  dies  führt,  da  die 
Belagerung  \on  Bagusa  15  Monate  gedauert  haben  soll,  auf  das  Jahr  840.  Offenbar 
passt  dies  viel  besser  zu  den  darauf  folgenden  Kämpfen  der  Venetianer  mit  den 
Sarazenen  und  zu  den  Namen  der  Führer.  Kalfon  oder  Calfo  (KocXtpou?)  hiess  nach 
dem  Chronic.  Casinense  c.  8  (b.  Pertz  SS.  III,  p.  225)  und  nach  Erchempert  c.  16 
(ib.  p.  246)  der  König,  welcher  Bari  841  eroberte,  und  Saba  (2<xßa)  befehligte 
nach  dem  Chronic.  Venetum  p.  17  zu  Tarent.  2oX8ov6t,  der  871  Bari  vertheidigte, 
ist  irrig  mit  jenen  beiden  zusammengestellt.  Eben  so  unrichtig  wird  die  erst  im 
Jahre  870  erfolgende  Absendung  des  Nicetas  (s.  unten)  auf  die  Abwehr  der  Sara- 
zenen bezogen,  während  sie  vielmehr  gegen  die  Slawen  gerichtet  war.  Konstantin 
ist  über  den  ursächlichen  Zusammenhang  wie  über  die  Zeitfolge  dieser  Begeben- 
heiten gleich  unklar. 

9)  'Püjiaa  ist  vielleicht  Porto  Böse  an  der  Einfahrt  in  den  Busen  von  Cattaro  gegenüber 
Castelnovo,  keinenfalls  aber  Bisano,  das  damals  Bhiziniiim,  'P'asva  hiess.  Unter  dem 
Ta  AExatepa  xö  xcxtu)  ist  der  unmittelbar  am  Meere  gelegene  untere  Theil  der  Stadt 
gemeint,  welche  von  hohen  Bergen  umgürtet  wird,  auf  denen  sich  noch  heute 
eine  sehr  feste  Burg  befindet. 


Hier  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  399 

und  das  untere  Cattaro;  dann  versuchten  sie  sogar  die  Hauptstadt 
dieser  Gegenden,  Ragusa,  einzunehmen  und  belagerten  es  15  Monate 
hindurch.  Die  Bürger  wandten  sicli  in  ihrer  Bedrängniss  nach  Kon- 
stantinopel  um  Hilfe;  als  die  Sarazenen  die  ohnehin  wenig  Fort- 
schritte gemacht  hatten,  durch  Überläufer  erfuhren,  dass  griechische 
Schiffe  im  Anzüge  seien,  hoben  sie  die  Belagerung  auf  und  segelten 
nach  der  gegenüberliegenden  apulischen  Küste.  Dort  eröffneten  sich 
ihnen  viel  lockendere  Aussichten,  da  auf  Geheiss  des  Fürsten  Radel- 
chis  von  Benevent  der  Gastalde  Pando  von  Bari  sie  zum  Beistande 
herbeirief1)-  Noch  im  J.  841  überrumpelten  sie  in  einer  Unstern  Nacht 
Bari,  in  dessen  Nähe  sie  gelagert  waren,  und  bald  gelang  ihnen  auch 
die  Einnahme  Tarent's.  Beide  Städte  dienten  nun  als  Stützpuncte  für 
alle  ferneren  Unternehmungen,  und  die  inneren  Fehden  der  Fürsten 
von  Benevent  und  Capua  boten  eine  vortreffliche  Gelegenheit,  unge- 
straft Apulien  und  Calabrien  weit  und  breit  zu  verwüsten.  Im  J.  846 
kämpften  sie  bereits  auf  der  Tiberbrücke  mit  den  Römern  und  nur 
die  Dazwischenkunft  des  Herzogs  Wido  von  Spoleto  rettete  die 
ewige  Stadt. 

Das  byzantinische  Reich ,  unter  der  schwachen  Regierung 
Michael's  III.  oder  vielmehr  seiner  Mutter  Theodora,  blieb  unthätig 
gegenüber  allen  den  Unbilden  die  seinen  Unterthanen  durch  die 
Muselmänner  widerfuhren  3).    Ein  Patricius  Theodosius  3)  wurde  nur 


l)  Nach  dem  Chron.  Casin.  (a.  a.  0.)  lud  Radelchis  transmariaos  Saracenos  ein,  ver- 
muthlich  von  Ragusa's  Belagerung'.  Konstantin  la'sst  sie  mit  Unrecht  40  Jahre  über 
Langobardien  herrschen  ,  da  es  vielmehr  nur  30  Jahre  der  Fall  war.  Joh.  chron. 
Venet.  p.  19:  quam  .  .  civitatem  (sc-  Barim),  Bandone  eiusdem  civitatis  gastal- 
dio  agente ,  Sarracenorum  gens  per  annos  circiter  30  tenuerunt ,  ebenso 
Chronic.  Casin.  c.  4  (p.  223) :  per  annos  ferme  triginta. 

a)  Const.  c.  29  (p.  128 — 129)  :  tt}?  .  .  .  tü>v  'Pcop-aiiuv  ßccsiXeicc;  oia  -wi  xdxe  xparoüv- 
t(dv  vü>9poTTjTa  xai  octpe'Xeiav  eis  to  pvvjSev  Trapci-av  [uxpoü  6s!v  ivaTcoveuadcri};  .  .  oi  ~-x 
tt);  AEXp.a-ic:;  xdorpa  olxoüvxee  fefÄvaatv  «ixoxeipaXot  etc.  Diese  Schilderung  bezieht 
sich  auf  die  ganze  Periode  von  Michael  II.  bis  Michael  III.  (820  —  867),  welchen 
letzteren  Konstantin  (Tlieophan.  contin.  V.  53,  p.  289)  ebenfalls  6  tpaüXoi;  ßasiXeu; 
nennt,  und  in  der  That  mag  auch  die  Losreissung  der  dalmatischen  Römer  in  diese 
Zeit  fallen. 

3)  Johann,  chron.  Venet.  p.  17.  Tarent  fiel  etwas  später  als  Bari  in  die  Hände  der 
Sarazenen  (Chron.  Casin.  c.  4,  c.  17),  daher  diese  Seeschlacht  wohl  nicht  vor  843 
gesetzt  werden  kann.  Die  Worte:  ad  Tarantum ,  vbi  Saba  ■  .  .  cum  maximo 
exercitu  manebat  lassen  aber  auch  die  Auslegung  zu,  dass  Saba  etwa  erst  in  der 
Belagerung  Tarent's  begriffen  war,  welches  fame  obsessa  genommen  wurde,  und 
das  führt  auf  842. 


400  Ernst  Dum  ml  er. 

ohne  Heer  nach  Venedig  geschickt,  um  den  Dogen  Petrus  Tradonicus 
dem  er  die  Würde  eines  Spatharius  überbrachte,  zu  einem  Kriegs- 
zuge gegen  die  Ungläubigen  anzuspornen.     Dieser  lief  wirklich  mit 
einer  Flotte  von  60  Schiffen  gegen  den  Fürsten  Saba  in  Tarent  aus, 
allein  die  Venetianer  erlitten  eine  völlige  Niederlage  in  welcher  der 
grösste  Theil  von    ihnen   gefangen  genommen  oder  getödtet  wurde. 
Die  Feinde  säumten  nicht  lange  für  diesen  Angriff  Rache  zu  nehmen; 
sie  fuhren  diesmal  bis  nach  der   Stadt  Ossero,  die  sie  gerade  am 
zweiten  Osterfeiertage  verbrannten,  das  gleiche  Luos  erfuhr  Ancona, 
und  auf  dem  Rückwege  ward  noch  eine  Anzahl  venetianischer   Kauf- 
fahrer genommen.     Nicht   glücklicher   waren   die    Venetianer   zwei 
Jahre  *)  später,  als  abermals  die  Sarazenen  bis  in  den   Quarnero- 
Busen  vordrangen;  bei  der  kleinen  Insel  Sansego  westlich  von  Lussin 
wurde  die  venetianische  Flotte  zum  zweiten  Male  vollständig  besiegt. 
Auch  in  der  Folgezeit  dauerten  diese  Leiden  noch  fort,  wiewohl  der 
Kaiser  Ludwig  II.  der  im  J.   848  die  Sarazenen  aus  Benevent  ver- 
trieb, und  der  Markgraf  Eberhard  von  Friaul,  ein  Sprössling  des  alten 
Salierlandes,  dem   Übel  kräftig  zu  steuern  suchten2).    Die  Slawen 
fuhren  ebenfalls  in  ihrem  früheren  Handwerk  fort;    ums   Jahr  846 
verwüsteten  sie  die  venetianische  Insel  Caorle ,   nachdem  sie  zuerst 
die  Absicht  gehegt  hatten,  sich  der  Stadt  Venedig  selbst  zu  bemäch- 
tigen 3) ,  und  der  venetianische  Doge  Ursus  sah  sich  genöthigt  den 
Croatenherzog  Domagoi,  den  nächsten4)  der  nach  Miroslav  genannt 


*)  Chron.  Venet  p.  17 — 18.  In  dem  bis  963  teichenden  Chron.  Siculum  (Muratori  SS, 
Ib,  col.  24Ö)  werden  zwei  Einnahmen  Ragusa's  durch  die  sicilischen  Sarazenen,  848 
und  867,  erwähnt,  unter  denen,  wenn  sie  überhaupt  begründet  sind,  wir  uns  wohl 
nur  vorübergehende  Plünderungen  zu  denken  haben. 

2)  Vgl.  die  Verse  über  ihn  in  der  Historia  ecclesiae  Cisoniensis  (bei  Dachery  spicilegium 
II,  p.  878),  in  denen  es  heisst:  Qui  Sclavos  fortes,  Numidas  Maurosque  feroces 
Saepe  triumphavit,  interfecit,  spoliavit.  Nur  der  ersteren  gedenkt  Andreas  von 
Bergamo  c.  13  (p.  238):  Multa  futiguüo  Langobardi  et  oppressio  a  Sclavorum 
gens  sustinuit ,  usque  dum  imperator  Foroiulanorum  Ebherardo  principem 
constituit.  Eberhard  gelangte  nicht,  wie  Krause  (p.  30)  glaubt,  c.  860  zu  seiner 
Markgrafschaft,  sondern  noch  vor  840,  vielleicht  828  unmittelbar  nach  Balderich. 
Theganus  (Pertz  SS.  II,  603)  erwähnt  836  einen  Eberhardus  fidelis  als  Abgesandten 
Lothar's  aus  Italien  und  dieser  nennt  selbst  Evherardum  fidelem  comitem  nostrum 
in  einer  Urkunde  vom  1.  Sept.  841  (oder  844),  in  welcher  auch  der  Doge  Petrus 
schon  spatarius  heisst,  bei  Muratori  Script,  rer.  IUI.  XII,  col.  176  (Böhmer,  regesta 
Carolor.  Nr.  372). 

3)  Joh.  chron.  Venet.  p.   18. 

4)  Ebenda  p.   19. 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  4Ü  1 

wird,  durch  Absendung  einer  Kriegsflotte  um  865  zur  Ruhe  und  zum 
Frieden  zu  zwingen. 

Alle  diese  Unfälle  ereigneten  sich  unter  der  schlaffen  Regierung 
Michaela  III.  welcher,  in  unwürdige  Ausschweifungen  versenkt,  die 
Anwohner  des  adriatischen  Meeres  völlig  sich  selbst  iiberliess  und 
ihnen  allen  Beistand  gegen  ihre  Feinde  versagte.  Erst  im  J.  867 
bestieg  in  Basilius  dem  Macedonier  wieder  ein  thatkräftiger  und  ein- 
sichtsvoller Regent  den  byzantinischen  Thron  ,  unter  welchem  auch 
die  Dinge  im  unteren  Italien  bald  eine  bessere  Wendung  nahmen. 
Die  vereinten  Kräfte  des  morgenländischen  und  abendländischen 
Kaiserthumes  sollten  jetzt  Apulien  und  Calabrien  Jen  Händen  der 
Ungläubigen  wieder  entreissen,  und  zunächst  ihre  Hauptfeste  Bari 
durch  Sturm  erobern  i).  Schon  im  J.  869  begann  die  Erschliessung 
dieser  Stadt2),  zu  welcher  von  byzantinischer  Seite  ein  Patricius  mit 
400  Schiffen  eintraf,  doch  kehrte  der  letztere  bald  nach  Korinth 
zurück,  als  von  Neuem  Uneinigkeit  zwischen  beiden  Reichen  aus- 
brach. Ernstlicher  wurde  die  Belagerung  im  Jahre  870  in  Angriff 
genommen  und  zwar  zunächst  nur  von  einem  fränkisch-langobar- 
dischen  Heere  unter  Kaiser  Ludwig  II.  3).  Mit  diesen  vereinigten 
sich  auf  sein  Geheiss  auch  die  Streitkräfte  der  Südserben  und  Croa- 
ten  welche  von  eigenen  und  ragusanischen  Schiffen  über  das  Meer 
geführt  wurden4).  Während  man  so  mit  dem  Kampfe  um  Bari  beschäf- 
tigt war,  ereignete  sich,  dass  die  Gesandten  des  Papstes  Hadrian'sII. 
die  Bischöfe  Donatus  von  Ostia,  Stephan  von  Nepi  und  der  Diakonus 
Marinus,  welche  der  Synode  zu  Konstantinopel  im  J.  869 — 870  bei- 
gewohnt hatten,  ohne  allen  Schutz  in  Durazzo  entlassen,  narentani- 
schen  Piraten  in  die  Hände   fielen5);   sie   wurden  vollständig  aus- 


1)  Constant.  de  adra.  imp.  c.  29  (p.  130);  Theophan.  contin.  V,  c.  SS  (p.  293)  Tgl. 
Muratori,  Geschichte  von  Italien  (Leipzig  1747)  V,  p.  90—91. 

2)  Hincmar.  ann.  Bertiniani,  869  (Pertz  SS.  I,  481,  485). 

3)  S.  den  Brief  Ludwig's  II.  an  Basilius  in  dem  Chronic.  Salernitan.  c.  107  (Pertz  SS. 
III,  52S) :  diu  demorante  stolo  fraternitatis  tu  e  etc. 

4)  Kons  ta  n  tin  (p.  131  u.  Theoph.  cont.  a.  a.  0.)  lässt  ßocaiXoqj  xsXsuasi  die  Streit- 
macht der  Slawen  zu  dein  von  Ludwig'  herbeigeführten  Landheere  stossen ;  dieser 
dagegen  in  dem  angeführten  Briefe  spricht  von  den  Sclavenis  nostris  cum  navibns 
suis  apud  Baritn  in  procinetu  communis  utilitutis  consistentibus  et  nichil  ad- 
versi  sibi  aliunde  imminere  putuntibus. 

5)  Vita  Hadriani  U  (ed.  Blanchini  I,  o.  432)  :  in  Sclavorum  dedueti  manus,  vgl.  den 
Brief  Hadrian's  an  den  Kaiser  Basilius  (Mansi  XVI,  206) :  Apocrisiarios  quoque 
nostros ,    super  quorum    nihilominus   reversione   scripsistis ,   licet  sero ,  post 


402 


Ernst  D  ii  in  in  I  e  i 


geplündert  und  sogar  der  Concilienaeten  beraubt,  es  bedurfte  erst 
einer  päpstlichen  und  kaiserlichen  Verwendung,  um  sie  aus  ihrer 
Gefangenschaft  zu  befreien.  Diesen  Unfall  wusste  der  Kaiser  Basilius 
sehr  geschickt  dazu  zu  benutzen,  um  in  Dalmatien  seine  Herrscher- 
rechte wieder  in  Erinnerung  zu  bringen.  Ais  er  nämlich  im  Spät- 
herbst 870  nach  langem  Harren  endlich  die  erwartete  Hilfe  unter 
dein  Patricius  Georgius  nach  Bari  sandte ,  schickte  er  zugleich  einen 
zweiten  Patricius,  Niketas  Ooryphas,  zur  Bedeckung  des  adriatischen 
Meeres  ab,  welcher  zur  Strafe  für  jene  Plünderung  der  päpstlichen 
Gesandten  in  dem  Gebiete  der  Südserben  viele  Orte  zerstörte  und 
die  Bewohner  als  Gefangene  fortführte  *)•  Nachdem  Bari  unter  sehr 
geringer  Mitwirkung  der  Griechen  am  2.  (oder  3.)  Februar  871  end- 
lich gefallen a)  und  nach  dreissigjähriger  Entfremdung  unter  die 
Herrschaft  der  Franken  zurückgekehrt  war,  führte  Ludwig  II.  in 
einem  Schreiben  an  Basilius  die  bitterste  Beschwerde  über  jene  von 
Niketas  verübten  Verwüstungen,  durch  welche  seine  slawischen 
Unterthanen  ungerecht  betroffen  worden  wären  und  noch  dazu  wäh- 
rend dieselben  sich  mit  der  Belagerung  Bari's  beschäftigten.  Diese 
Klagen  konnten  nicht  viel  Erfolg  haben,  da  Ludwig  gleich  darauf 
in  die  Gefangenschaft  des  Fürsten  Adelgis  von  Benevent  gerieth  und 


tnulta  tarnen  pericula ,  depraedationes  atque  propriorum  hominum  trucida- 
tionem,  nudos  tandem  recepimus  .  .  omnes  stupefacti  mirantur  ■  .  .  quod  ita 
dispositionis  vestrae  constitntio  improvide  prodire  potuerit,  ut  in  barbarorum 
gladios,  nullo  imperii  vestri  fidti  praesidio ,  niiseranter  inciderint.  Ähnlich 
Ludwig1  II.:  decuerat  excellentiam  tuam  ita  munitos  eos  remittere,  ut  nullus 
vel  piratarum  vel  aliorum  pravorum  i?icursus  inciderent  .  .  .  Nee  tarnen, 
quae  praefati  venerabiles  apoerisiarii  perdiderunt ,  hactenus  restituta  sunt. 

1)  Kaiser  Ludwig  II.  schreibt  (a.  a.  0.):  Ceterum  fraternitatis  tuae  dilectionem 
rogamus  nullam  Nicetae  patricio  molestiam  irrogare  pro  eo  quod  nostrum 
tarn  insolenter  offenderit  animum  .  .  .  Et  Niceta  quidem  patricius,  Hadriano 
loci  servatore  cum  classibus  destinato,  aeeepta  quasi  pro  kuiusmodi  re  occa- 
sione ,  multas  praedas  ab  ipsis  Sclavenis  abstulit  et  quibusdam  castris  dir- 
ruptis,  eorum  homines  captivos  adduxit  .  .  .  tuam  nolumus  ignorare  frater- 
nitatem ,  super  castra  nostra  dirrupta  et  tot  populis  Sclaveniae  nostrae 
in  captivitate  sine  qualibet  parcitute  subtractis,  supra  quam  dici  possit  animum 
nostrum  commotum. 

2)  Ann.  ßenevent.,  871;  Andreas  Bergomas  c.  15;  Erchempert.  c.  33;  Chronica 
ßenedicti;  Johann,  chron.  Venetum  (Pertz  SS.  III,  174,  236,  232,  203,  VII,  19). 
Der  letztere  gibt  den  2.  Februar  als  Tag  der  Einnahme  an ,  Lupus  Protospatarius 
(ib.  V,  32)  s.  a.  868  den  3.  Die  Beihilfe  der  Griechen  erwähnt  von  den  abend- 
ländischen Quellen  nur  die  Chronik  von  Salerno  c.  107  (p.  321,  327),  vgl.  c.  103 
(p.  319). 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  403 

seine  Unternehmungen  gegen  die  Sarazenen  nicht  zu  Ende  zu  füh- 
ren vermochte.  Den  sarazenischen  Verwüstungen  in  Dalmatien  war 
daher  mit  der  Einnahme  von  Bari  keineswegs  für  immer  ein  Ziel 
gesetzt:  schon  im  März  872  kamen  wieder  muhammedanische  Räu- 
ber1), diesmal  von  der  Insel  Kreta,  und  verheerten  ausser  anderen 
Orten  auch  die  Stadt  Brazza,  von  wo  sie  mit  unermesslicher  Beute 
heimkehrten.  Im  Jahre  875  wagten  sie  sogar  einen  Angriff  auf 
Grado  und  plünderten  dann,  als  sie  auf  zu  kräftigen  Widerstand  sties- 
sen,  die  Inselstadt  Comacchio 2).  Nicht  minder  setzten  die  Croaten 
jetzt  im  Vereine  mit  den  Narentanern3)  ihre  Räubereien  fort,  von 
welchen  im  J.  875  vier  istrische  Städte  Umago,  CiUanuova,  Cervere 
und  Rovigno  hart  betroffen  wurden4).  Als  sie  es  von  dort  sogar  auf 
Grado  abgesehen  hatten,  kam  der  venetianische  Doge  Ursus  Partici- 
patius  mit  dreissig  Schiffen  schnell  der  bedrohten  Stadt  zu  Hilfe  und 
brachte  den  Slawen  eine  so  vollständige  Niederlage  bei,  dass  fast 
Niemand  von  ihnen  lebend  sein  Vaterland  erreichte.  Die  croatischen 
Gefangenen  setzte  der  siegreiche  Doge  ohne  Lösegeld  in  Freiheit 
und  nach  dem  Tode  Domagoi's,  der  im  J.  876  erfolgte,  wurde  mit 
seinen  Söhnen  ohne  Schwierigkeit  der  Friedensvertrag  erneuert,  der 
früher  zwischen  Venedig  und  den  Croaten  bestand.  Die  Narentaner 
wurden  in  diesen  Frieden  nicht  aufgenommen  und  auch  noch  ferner 
von  Venedig  bekämpft;  der  schmähliche  Sclavenhandel 5),  welchen 
des  Gewinnes  halber  venetianische  Kaufleute  mit  ihnen  getrieben 
hatten,  ward  vom  Dogen  mit  Beistimmung  des  Volkes  und  der  Geist- 
lichkeit unter  harten  Strafen  verboten. 

Jetzt  endlich  war  der  Zeitpunct  gekommen ,  die  byzantinische 
Herrschaft  am  adriatisch£n  Meere  wieder  zur  vollen  Geltung  zu 
bringen,  so  wie  sie  in  Unteritalien  durch  die  Besetzung  Barfs  eben 


!)  Joh.  chron.  Venet.  p.  19:  Braciensem  eiusdem  provinciae  urbem  =  der  Insel 
Brazza  (?). 

2)  Daselbst  p.  19—20;  Andreas  Bergomas  c.  17  (p.  237). 

3)  S.  den  Brief  Johann's  VIII. :  Domasol  duci  glorioso  (Mansi  XVII,  243) :  Praetcrea  de- 
votionis  tuae  Studium  exhoriamur,  ut  contra  marinos  latrunculos,  f/ul  sab  prae- 
textu  tui  no m i n i s  in  christicolns  debacchantur.  tunto  vehementius  accendatur, 
f/uunto  Worum  pravitute  famam  tui  Hominis  obfuscutam  fuisse  coynoscis  etc. 

4)  Joh.  chron.  Ven.  p.20:  Sclavorum  pessime  yentes  et  Dalmacianorum;  mit  den  letz- 
teren sind  unfraglich  die  Croaten  gemeint.  Domagoi  wird  wegen  seiner  Räubereien 
auch  Sclavorum  pessimus  dux  geninnt. 

5)  Andreae  Danduli  chronic,  lib.  VIII,  c.  4,  P.  XXIII  (Muratori  XII,  col.  186)  mercatores 
Veneti  lucri  cupidi  u  pirutis  et  latrunculis  tnuncipia  comparabant  etc. 


404  Ernst  Dümmler. 

neue  Stärke  gewonnen  hatte1),  denn  das  zwischen  ost-  und  west- 
fränkischen Bewerbern  schwankende  Italien  konnte  keinen  ernstlichen 
Einspruch  erheben  und  die  Markgrafen  von  Friaul  suchten  mehr  ihre 
ehrgeizigen  Pläne  auf  die  Königskrone  zu  verwirklichen,  als  die 
Grenzen  sorgsam  zu  hüten.  Während  der  venetianische  Doge  Ursus 
durch  die  Verleihung  des  ehrenvollen  Titels  eines  Protospatharius 
enger  an  den  byzantinischen  Hof  gekettet  wurde2),  erhob  sich  in 
Croatien  Sedeslav,  ein  Nachkomme  Tirpimir's,  mit  kaiserlichem  Bei- 
stande zum  Besitze  der  höchsten  Gewalt  und  jagte  die  Söhne 
Domagoi's  im  J.  877  aus  dem  Lande.  Er  ging  selbst  nach  Kon- 
stantinopel und  liess  sich  dort  vom  Kaiser  Basilius  die  ihm  durch 
Volkswahl  bereits  übertragene  Herzogswürde  bestätigen.  Mit  ihm 
zugleich  unterwarfen  sich  die  Häuptlinge  der  Narentaner,  Zachlumer 
und  der  übrigen  Südserben 3) ;  auch  die  Römer  schickten  eine 
Gesandtschaft,  um  ihr  früheres  Unterthanenverhältniss  zu  erneuern, 
und  ihre  Bischöfe  —  wenn  sie  nicht  schon  früher  vom  Papste 
abgefallen  waren,  schlössen  sich  wenigstens  damals  dem  Patriarchen 
von  Konstantinopel  an4).  Um  das  Verhältniss  der  verschiedenen 
Bevölkerungen  zu  einander  endgiltig   zu  ordnen,  wurde  bestimmt, 


l)  Ann.  Benevent.,  876;  Lupus  Protospatar.,  875;  Erchempert.  c.  38.  Die  Einwohner 
riefen  Gregorium  baiulum  imperiale  Graecorum  qui  tunc  in  Odronto  de  gebot  aus 
Furcht  vor  den  Sarazenen  freiwillig-  herbei. 

3)  Johann,  chron.  Venet.  p.  21 :  His  diebus  Sedeselavus,  Tibimiri  ex  progenie,  impe- 
riali  fultus  praesidio  Constantinopolim  veniens  Sclavorum  ducatum  arripuit, 
filiosque  Domogoi  exilio  trusit.  Eo  videlicet  tempore  domnus  Ursus  dux  ab  impe-  . 
rialibus  internunciis  protospatharius  effectus  etc.;  darauf  scheinen  sich  die  Worte 
Konstantin^  (de  adm.  imp.  c.29,  p.  129)  zu  beziehen :  itpoeßdXeto  ei;  aiiTouc  (i.  e.  Scla- 
vos)  äpyovxo? ,  oö;  ixstvot  tj&sXov  xai  rcpoexptvov ,  fatö  ysvzök;  -Jj;  sxeivoi  i)f&xwv  xai 
lorspfov  (sc.  Tirpimiri),  vgl.  Theoph.  contin.  V,  34  (p.  292). 

3)  Konstantin  (a.a.O.)  setzt  ohne  nähere  Bestimmung  des  Jahres  die  Wiederunterwer- 
fung der  Slawen  vor  den  Fall  von  Bari  und  stellt  sie  als  eine  Folge  der  Entsetzung 
Ragusa's  dar.  Sicherlich  wusste  er  nur,  dass  es  unter  Basilius  geschah  und  mit  der 
Wiedererlangung  der  Herrschaft  auf  dem  adriatischen  Meere  in  Verbindung  stand, 
woraus  er  sich  das  Weitere  combinirte.  Ebenso  lässt  er  ja  auch  Bari  schon  871  an  die 
Griechen  übergehen ,  während  dies  doch  erst  nach  dem  Tode  des  Kaisers  Ludwig  IL 
im  December875  erfolgte!  Wir  dürfen  daher  unbedenklich  der  venetianischen  Chronik 
so  wie  der  inneren  Wahrscheinlichkeit  folgen. 

4)  Johann  VIII.  schrieb  im  Jahre  879  u.  a.  an  die  Bischöfe  und  Bewohner  der  römischen 
Städte  (Mansi  XVII,  129):  Reminisei  namque  debetis  . . .  quanta  postmodum  nunc 
usque  sustiuueritis  adversa  ,  cum  ab  ea  (sc.  Romana  ecclesia)  vos  quasi  alienos 
separare  non  dubitastis.  Diese  Worte  lassen  auf  eine  längere  Entfremdung  als  von 
877  bis  879  sehliessen. 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Daimatien.  405 

dass  die  römischen  Städte  und  Inseln  dem  byzantinischen  Strategen 
zu  Zara  künftig  nur  eine  ganz  geringe  Abgabe  zu  zahlen  hätten ,  als 
Zeichen,  dass  sie  noch  dem  Reiche  angehörten  »)•  Den  grössten  Theil 
ihres  bis  dahin  entrichteten  Tributes  sollten  sie  dagegen  fortan  den 
Slawen  entrichten 2) ,  damit  sie  fürder  von  diesen  unbelästigt  die 
Feldmarken  um  ihre  Städte  und  die  dazu  gehörigen  Inseln  in 
Sicherheit  bebauen  dürften.  Dieser  Verfügung  gemäss  zahlte  Spa- 
lato  den  Croaten  jährlich  200  Goldstücke,  Zara  110,  Ossero,  Arbe, 
Veglia  und  Trau  je  100,  wozu  noch  Lieferungen  an  Wein  und 
anderen  Erzeugnissen  kamen.  Ragusa  das ,  auf  der  Grenze  von 
Chulmia  und  Terwunja  gelegen,  mit  seinen  Weinbergen  in  beide 
Gebiete  hineinragte,  zahlte  an  den  Fürsten  eines  jeden  von  beiden 
36  Goldstücke.  Zu  demselben  Mittel  entschlossen  sich  ,  wir  wissen 
nicht  ob  zu  jener  Zeit  oder  erst  später,  auch  die  Venetianer  3);  um 
der  lästigen  Dränger  los  zu  werden,  entrichteten  sie  gleichfalls  den 
croatischen  Grosszupatien  einen  jährlichen  Tribut.  Da  die  Narentaner 
und  auch  manche  von  den  übrigen  Südserben  noch  immer  ungetauft 
waren ,  so  schickte  bei  dieser  Gelegenheit  der  Kaiser  Rasilius  *) 
mit  seinem  Rotschafter  zugleich  griechische  Geistliche  nach  Daima- 
tien, um  den  dortigen  Heiden  die  Taufe  zu  spenden.  So  war  durch 
kluge  Renutzung  der  Umstände  die  byzantinische  Oberhoheit  in  ganz 
Daimatien  neuerdings  zur  Anerkennung  gebracht,  allein  sie  beruhte 
auf  sehr  schwachen  Grundlagen  und  es  hing  fast  ganz  von  dem  Gut- 
dünken des  jedesmaligen  Grosszupans  und  seiner  Partei  ab,  ob  sie 
einen  Kaiser  zu  bedürfen  glaubten  oder  nicht.  Mit  der  fränkischen 
Herrschaft  freilich  war  es  wohl#für  immer  vorbei. 


!)  Da  nach  Constantin.  de  caeriin.  aulae  Byz.  II,  SO  (p.  697)  die  Strategen  des  Westens 
kein  Gehalt  empfingen  oioc  ti  ).ap.ßävsiv  ocütou?  a-'j  ttüv  iotiuv  aü-üJv  t}e|jic<"ucuj  s'jvry&sta; 
xa-'ixo;,  so  bildete  das  ßpa/ii  ti,  welches  die  Dalmatier  auch  ferner  noch  dem  Strategen 
zahlten,  vielleicht  dessen  Besoldung.  Seinen  Sitz  zu  Zara  bezeugt  auch  die  Urkunde 
a.  1067  bei  Schwandtner  III,  123. 

2)  Const.  de  adm.  imp.  c.  30  (p.  146 — 147).  Er  übergeht  hier  wie  p.  128  Levigrad  und 
Cattaro,  jenes  wohl  wegen  seiner  Geringfügigkeit,  dieses  vielleicht  desshalb,  weil  es 
schon  serbische  Bevölkerung  aufgenommen.  Vgl.  Zeuss,  die  Deutschen,  p.  616. 

3)  Joh.  chron.  Venet.  p.  29,  30.  Petrus  Urseolus  a.  991  solitum  censum  primus  dare 
interdixit,  worauf  die  Croaten  anfangen  Herum  censum,  inportune  ducis  exiere 
(i.  e.  exigere). 

4)  Theoph.  cont.  V,  54  (p.  291):  „Upsts  S'J&sük  p-etä  xai  ßaaiXixou  dcv&piurcou  <jüv  aii-co!; 
(sc.  legatis  Sclavorum)  i"-a-i-j-z0.vi.u  Es  ist  nicht  daran  zu  denken,  dass  darunter  der 
Erzbischof  Methodius von  Pannonien  gemeint  sei.  wie  Farlati  (III,  66)  und  Krause 
(p.  41)  ohne  allen  Grund  annehmen. 


406  Ernst  Dümraler. 

V.  Einwirkung  der  römischen  Kirche ;  schwankender  Znstand  der 

Slawen. 

Die  zweite  Hälfte  des  IX.  Jahrhunderts  zeigt  uns  ganz  im  Gegen- 
satz zu  dem  Sinken  der  karolingischen  Königsmacht  einen  grossartigen 
Aufschwung  des  Papstthums  welches  jene  bald  zu  überflügeln  drohte. 
Während  es  sich  mit  den  pseudoisidorischen  Decretalien  neue  und 
bis  dahin  unerhörte  Gerechtsame  zu  erkämpfen  suchte  und  im  skan- 
dinavischen Norden  so  eben  die  ersten  Glaubensboten  seine  Herrschaft 
weiter  trugen ,  trachtete  es  zugleich  danach ,   im  Osten  gegen   den 
Patriarchen  von  Konstantinopel  die  alten  Grenzen  in  weitester  Aus- 
dehnung herzustellen ,   wie    sie  einst  unter  Gregor  dem   Grossen 
bestanden  hatten.    Denn  zu  seiner  Diöcese  war  das  ganze  IHyricum 
im  vollen  Umfange  gezählt  worden ,  in   welchem   es  bis  nach  Kreta 
reichte,  und  der  Erzbischof  von  Thessalonich,   dessen  Stelle  seit 
Justinian  der  von  Justiniana  prima  vertrat,   empfing  von  Rom  sein 
Pallium,  um  als  Vicarius  des  apostolischen   Stuhles  der  illyrischen 
Kirchenprovinz  vorzustehen.  Der  Einbruch  der  östlichen  Barbaren  im 
VII.  Jahrhundert  und  der  Streit  um  die  Verehrung  der  Bilder  hatten 
alle  diese  Beziehungen  zerrissen.  Papst  Nikolaus  war  der  erste,  der 
sie  wieder  anzuknüpfen  suchte,   indem  er  im  Jahre  860  von  Kaiser 
Michael  III.  forderte  *)>  dass  wie  vor  alten  Zeiten  der  Erzbischof  von 
Thessalonich  als  Vicar  des  römischen  Stuhles  für  Epirus ,  IHyricum, 
Macedonien,  Thessalien,  Achaia,  Dacien  und  Mösien  angesehen  würde. 
König  Bogoris  von  Bulgarien,  der  erst  durch  griechische  Geistliche 
getauft  worden  war,  wandte  sich  im  Jahre  866  an  Nikolaus,  der  ihm 
zwei  Bischöfe  zur  Bekehrung  seines    Volkes  schickte   und   es   der 
römischen  Kirche  unterwarf.    Die  Brüder  Konstantin  und  Methodius 
aus  Thessalonich,  die  Übersetzer  der  heiligen  Schrift  in  die  slawische 
Sprache  und   Lehrer   des    mährischen  Volksstammes,  wurden   von 
Nikolaus1  Nachfolger  Hadrian  II.  in  Rom  durch  einige  Zugeständnisse 
vollständig  gewonnen  und  für  Methodius  im  Jahre  870  ein  neues 
mährisch-pannonisches  Erzbisthum3)  an  Stelle  des  untergegangenen 


1)  .Taffe  regesta,  Nr.  2021.  Dalmatie»  gehörte  nicht  zu  diesem  kirchlichen  Verbände,  da 
der  Erzbischof  von  Salona  unmittelbar  unter  dem  Papste  stand,  wichtig  aber  war  es 
als  Übergang  nach  lllyrien. 

2)  Vgl.  meine  Abhandlung:   die  pannonische  Legende  vom  h.  Methodius,  p.  35 — 45. 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Ualmalien.  40  i 

Bisthums  Sirrnium  errichtet.  Durch  ihn  und  seine  Jünger  sollte  die 
ganze  Slawenwelt  an  der  Donau,  die  theils  noch  heidnisch,  theils  sehr 
ungenügend  christlich  war,  im  römischen  Sinne  völlig  bekehrt  wer- 
den, indem  die  als  Ausnahme  gestattete  Anwendung  der  Landes- 
sprache beim  Gottesdienste  auf  die  slawischen  Nationen  eine  mächtige 
Anziehung  übte.  Auch  an  den  Fürsten  Muntimir  von  Serbien  schrieb 
desshalb  Johann  VIII.  *)  :  „Folge  der  Gewohnheit  deiner  Vorfahren 
und  suche,  soweit  es  dir  möglich  ist,  zurpannonischen  Diöcese  zurück- 
zukehren. Und  weil  jetzt,  Gott  sei  Dank  dafür,  vom  Stuhle  Petri 
ein  Bischof  dorthin  ordinirt  ist,  wende  dich  wieder  an  seine  väter- 
liche Fürsorge." 

An  die  Croaten  erging  keine  ähnliche  Aufforderung,  denn  sie  hatten 
bereits  ihren  eigenen  Bischof  der  mit  Nikolaus  I.  in  unmittelbarem 
Verkehre  stand,  und  das  Becht  des  Erzbischofs  von  Salona  als  des 
Metropoliten  von  ganz  Dalmatien  war  unbestritten.  Das  nähere  Ver- 
hältniss  Borns  zur  dalmatischen  Kirche  hatte  sich  aber  seit  längerer 
Zeit  gelockert  und  auch  die  croatische  Geistlichkeit  mit  ihrem  beson- 
deren Oberhaupte  war  unter  Sedeslav  mindestens  ebenfalls  dem 
Patriarchen  von  Konstantinopel  zugefallen.  Noch  im  Anfange  des 
J.  879  richtet  Johann  VIII.3)  an  Sedeslav  nur  die  höfliche  Bitte, 
seinem  nach  Bulgarien  reisenden  Gesandten  freien  Durchzug  durch 
sein  Gebiet  und  sicheres  Geleit  zu  gewähren,  in  einem  Tone  der 
auf  ein  näheres  Verhältnis  zwischen  beiden  durchaus  nicht  schliessen 
lässt.  Noch  in  demselben  Jahre  aber,  in  welchem  jener  Abgesandte 
zum  König  Michael  ging,  um  ihm  die  Bückkehr  zur  römischen  Kirche 
annehmlich  zu  machen,  die  er  seit  870  verlassen  hatte3),  trat  auch 
in  Croatien  ein  völliger  Umschwung  ein.  Sedeslav  wurde  gestürzt 
und  an  seine  Stelle  drängte  sich  *)  sein  Mörder  Branimir  oder  Brenamir. 


*■)  Timou  imago  antiquae  Hungariae,  143. 

2)  Mansi  XVII,  119:  Dilecto  filio  Sedesclavo  glorioso  comiti  Sclavorum.  Quin  fama 
tuaf  dilectionis  atque  boniiutis  et  religionis  in  Deum  ad  nos  usqne  pervenit,  con- 
fidenter  yloriae  tiiae  praecipimus  etc.  Das  Datum  dieses  Briefes  wird  mit  Unrecht 
auf  den  2.  Mai  bezogen.  Vgl.  J  a  f  f  e  regesta  p.  260  und  280. 

3)  Vita  Hadriani  II.  (Muratori  III",  268). 

4)  .loh.  chron.  Ven.  p.  21  :  Hin  diebus  quiäam  Selavvs  nomine  Brenamir,  interfeclo 
Sedescavo  ipshis  dacatum  usurpavit.  Johann  VIII.  schreibt  ihm  [dilecto  filio  Bra- 
nimir: Mansi  XVII,  125),  dass  er  schon  am  Himmelfahrtslage  879  (21.  Mai)  für 
ihn  und  sein  Volk  vor  St.  Peter's  Altare  gebetet  habe,  also  fällt  seine  Erhebung  in  das 
Frühjahr. 


■408  Ems  t  Dum  ml  er. 

Dieser  im  Vereine  mit  dem  Diakonus  Theodosius  der  gerade  um 
die  nämliche  Zeit  zum  Bischof  von  Nona  erwählt  war,  zog  es  vor, 
sich  wiederum  dem  Papste  anzuschliessen,  und  beide  bezeugten 
ihm  durch  eigene  Schreiben  *)  ihre  Ergebenheit  welche  etwa  im 
Mai  879  der  Priester  Johann  von  Venedig  nach  Rom  überbrachte. 
Dorthin  hatte  demselben  schon  der  mächtige  Mährerherzog  Suato- 
pluk  Aufträge  übergeben,  wie  denn  Johann  an  allen  diesen  slawischen 
Höfen  wohlbekannt  gewesen  zu  sein  scheint  und  öfter  in  Unter- 
handlungen thätig  war2).  Johann  VIII.,  voll  Freude  über  dieses 
glückliche  Ereigniss,  ermunterte  den  croatischen  Fürsten  und  sein 
Volk3)  nachdrücklich  auf  dem  eingeschlagenen  Wege  auszuharren, 
und  forderte  zugleich  den  Diakonus  Theodosius  auf4),  nirgends 
anderswo  als  in  Rom  die  Bischofsweihe  nachzusuchen.  Seine 
hierauf  bezüglichen  Briefe  vertraute  der  Papst  jenem  Priester 
Johann  an ,  den  er  zugleich  als  seinen  Gesandten  mit  neuen  Auf- 
trägen 5)  an  den  König  Michael  von  Bulgarien  schickte.  Ferner  gab 
er  ihm  aber  auch  ein  Schreiben  vom  10.  Juni  an  die  abtrünnige 
römische  Geistlichkeit  Dalmatiens  und  an  die  Bewohner  von  Spalato, 
Zara    und    der   übrigen    Städte    mit6),    um    diese    zu    ihrer  Pflicht 


1)  Ihren  Inhalt  ersehen  wir  aus  den  drei  Antwortsehreihen  des  Papstes  hei  Mansi  XVII. 
124—126,  vom  4.  und  7.  Juni  879. 

2)  Nach  den  Ann.  Fuldenses,  874  (P  e  r  t  z  SS.  I,  388)  vermittelte  in  diesem  Jahre  den  Frie- 
den zwischen  König-  Ludwig  und  Suatopluk  als  legationis  princeps  ein  Johannes  pres- 
byler  de  Venetüs  und  in  dem  Schreiben  Johann's  VIII.  an  Suatopluk  vom  14.  Juni  879 
(ßoczek,  codex  diplomat.  Moraviae  1,40)  heisst  es :  Johanne  presbytero  vestro, 
quem  nobis  misistis,  referente  didicimus  etc.  In  dem  Briefe  an  Branimir  bezeichnet 
er  ihn  als  Johannem  venerabilem  presbyterum  communem  fidelem  und  sagt  über 
ihn  quia  hunc  ipsum  Johannem  presbyterum  tibi  et  nobis  verum  fidelem  in  Omni- 
bus esse  cognoscimus. 

3)  Johann  VIII.  schrieb :  omnibus  venerabilibus  sacerdotibus  et  universo  populo  u.  a. 
quia  velut  carissimi  filii  ad  sanctam  Romanam  ecclesiam,  unde  parentes  vestros 
melliflua  sanctae  praedicationis  dogmata  suscepisse  agnoscitis ,  toto  animo  tota- 
que  voluntate  redire  cupiatis  .  .  .  magna  sumus  repleti  laetitia.  Et  ideo  brachiis 
extensis  vos  amplectimur  . . .  si  vos  haue  .  .  .  sponsionem  vestram  usque  ad  finem 
sinceriter  habueritis  et  fideliter  tenueritis. 

4)  Ideo  monemus  sagacitatem  tuam,  ne  in  quatnlibet  partem  aliam  declines,  et  con- 
tra sacra  venerabilium  patrum  instituta  episcopatus  yratiam  reeipere  quaeras .  • . 
sed  toto  corde  . .  .  ad  gremium  sedis  apostolicae  . .  .  redeas  etc. 

5)  Vgl.  den  Brief  des  Papstes  an  Michael  vom  8.  Juni  879  (Mansi  XVII,  129). 

6)  Reverendissimis  et  sanetissimis  episcopis  Vitali  Jadrensi ,  Dominico  Absarensi 
ceterisque  episcopis  Dahnatinis  seu  Joanni  archipresbytero  sanctae  sedis  Salo- 
nitanae ,  omnibusque  sacerdotibus  et  senioribus  populi  habitatoribus  Spalatensis 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  409 

zurückzurufen.  Da  um  diese  Zeit  gerade  das  ErzbisthumSalona  erledigt 
war  und  eine  neue  Wahl  noch  nicht  stattgefunden  hatte,  so  gebot 
Johann  unter  Androhung  des  Bannes,  dass  der  Neugewählte  das  Pal- 
lium nur  von  ihm  empfangen  solle  und  verhiess  seinen  kräftigen  Bei- 
stand, im  Falle  die  Bischöfe  Furcht  vor  den  Griechen  oder  vor  den 
wankelmüthigen  Slawen  hegten  1)  und  desshalb  nicht  zu  Born  zurück- 
zukehren wagten. 

Bei  den  Croaten  fanden  die  Wünsche  und  Forderungen  des 
Papstes  ein  sehr  geneigtes  Gehör,  denn  Theodosius  erschien  nach 
einiger  Zeit  selbst  in  Born,  um  dort  seine  Bischofsweihe  zu  empfangen 
und  versicherte  Johann  aufs  Neue  der  Ergebenheit  seines  Fürsten 
Branimir  ~).  Dieser  wurde  daher  jetzt  vom  Papste  ersucht,  seine 
Bevollmächtigten  nach  Born  zu  entsenden,  damit  der  päpstliche  Stuhl 
mit  diesen  über  alle  kirchlichen  Angelegenheiten  das  Nähere  ver- 
handeln und  dann  mit  ihnen  einen  Beauftragten  nach  Croatien  schicken 
könne,  der  das  gesammte  Volk  von  Neuem  nach  alter  Weise  zum 
Gehorsam  gegen  die  römische  Kirche  verpflichte.  Auch  diesem  Ver- 
langen scheint  vollständig  entsprochen  worden  zu  sein,  da  wir  auch 
Stephan  VI.  (885—891)  in  der  Stellung  eines  Oberhirten  denselben 
Bischof  Theodosius  von  Nona  darüber  zurechtweisen  3)  sehen,  dass 
er  seinen  barbarischen  Pfarrkindern  Bigamie  erlaubt  habe. 


civitatis  utque  Zadarensis  ceterarumque  civitatum  (Mansi  XVII,  129).  Darin 
sagt  der  Papst  u.  a.,  dass  er  pro  assidua  gentium  persecutione  nunc  usque  impe- 
diti  erst  jetzt  einen  Brief  an  sie  richten  könne,  und  dass  er  an  den  Presbyter  Johann 
fidelem  familiärem  nostrum  auch  noch  mündliche  Aufträge  ertheilt  habe,  wegen 
deren  sie  ihm  Glauben  schenken  sollten. 

l)  Porro  si  aliquid  de  parte  Gruecorufn  vel  Sclavorum  super  vestra  ad  nos  rever- 
sione  vel  consecratione  aut  de  pallii  perceptione  dubitatis,  scitote  pro  certo  etc. 

a)  Die  Ankunft  des  Theodosius  in  Pioin  erwähnt  der  Papst  in  einem  Schreiben  an  Michael 
(sicut  nobis  retulit  Theodosius  venerabilis  episcopus)  und  an  Branimir  E.vcellen- 
tissimo  viro  Branimero  glorioso  comiti  et  dilecto  filio  noslro  atque  Omnibus 
religiosis  sacerdotibus  et  honorabilibus  iudicibus  (i.  e.  zuppanis)  cunctoi/ue 
populo,  worin  es  heisst :  mandamus  ut  revertente  ad  vos  dilecto  episcopo  vestro 
idoneos  legatos  vestros  praesentialiter  ad  nos  diriyere  non  praetermittatis .  . . 
ut  nos  cum  Ulis  missum  nostrum  dirigamus  ad  vos,  quibus  secuudum  morem  et 
consuetudinem  ecclesiae  nostrae  universus  populus  vester  fidelitatem  promittat. 
(Mansi   XVII,  209,  211.)  Beide  Briefe  setzt  Jaffe  (regesta  p.  287)  ins  Jahr  880. 

3)  Ivonis  decretum  VIII,  c.  39:  Stephanus  V.  Theodosio  episcopo.  Nunquidne  duabus 
simul  sponsis  nubere  barbaricam  gentem  instruis?  Nunquidne  sacramenlum 
ecclesiae  exponentem  uposiolum  non  legisti,  erunt  duo  in  carne  unu  ?  an  for- 
sitan  tui  Codices  falso  tres  in  carne  una  asserunt?  Desine  iam  tali  tabescere 
ignavia  et  disce  paternis  obedire  regulis  . . . 
Sit/.b.  <1.  phil.-hist.  Ol.  XX.  P.d.  II.  Hft.  27 


410  Ernst  Dümmler. 

Die  Ermahnungen  welche  Johann  VIII.  an  die  römische  Geist- 
lichkeit Dalmatiens  richtete,  hatten  dagegen  nicht  sogleich  den 
erwünschten  Erfolg.  Vielleicht  war  es  in  der  That  die  Furcht  vor 
den  Griechen,  welche  den  neugewählten  Bischof  Marinus  vonSpalato1) 
bewog,  sich  nicht,  wie  ihm  aufgegeben  worden,  das  Pallium  von  Rom 
zu  holen,  sondern  sich  in  ganz  ordnungswidriger  Weise2)  von  dem 
Patriarchen  Walbert  von  Aquileja  weihen  zu  lassen.  Denn  dieser, 
obgleich  er  ein  Glied  der  römischen  Kirche  war,  stand  dennoch  mit 
dem  Patriarchen  Photius  von  Konstantinopel,  der  sich  an  die  Stelle  des 
rechtmässigen  Ignatius  eingedrängt,  in  freundschaftlichem  Verkehr3), 
und  es  ist  gar  nicht  unwahrscheinlich,  dass  er  ausdrücklich  von  ihm 
beauftragt  wurde,  in  seinem  Namen  Marinus  zum  Erzbischof  von 
Spalato  zu  ordiniren.  Die  weitere  Entwickelung  dieser  Verhältnisse 
ist  unbekannt  und  erst  im  zweiten  Jahrzehnt  des  X.  Jahrhunderts 
finden  wir  plötzlich  den  römischen  Bischof  als  unbestrittenes  Ober- 
haupt der  dalmatischen  Kirche  anerkannt. 

Durch  die  Entfremdung  des  Erzbischofs  von  Spalato  von  der 
vonBranimir  ergriffenen  Partei,  sowie  durch  seinen  engeren  Anschluss 
an  Rom  gedachte  der  Bischof  Theodosius  von  Nona  eine  ganz  unab- 
hängige Stellung  einzunehmen  und  selbständig  dem  Kirchenwesen 
Croatiens  vorzustehen»  indem  er  seinen  Metropoliten  auf  die  römischen 
Einwohner  beschränkte,  daher  wies  ihn  schon  Stephan  VI. an4),  sich 


!)  Thomas  archidiacon.  c.  XIII  (p.  548):  Marinus  archiepiscopus  fuit  tempore  Caroli 
regis  et  Branimiri  ducis  Sclavoniae.  Wenn  diese  Nachricht,  wie  es  fast  scheint, 
auf  einer  Urkunde  beruht,  so  kann  man  aus  der  Erwähnung  Karl's  des  Dicken  schlies- 
sen,  dass  derselbe  von  Branimir  dem  Namen  nach  noch  als  Oberherr  anerkannt  wurde. 

2)  Ivonis  decretum  V,  c.  13:  Stephanies  V.  papa  Walberto  patriarchae.  Miramur 
prudentiam  Uiam  Cumensi  ecclesiae  denegare  consecrare  pastorem,  cum  te 
iam  ad  hoc  provocatum  noveris  apostolica  exhortatione . .  .  Desine  iam  cuius- 
piam  zelo  electum  a  clero  et  expetitum  a  popido  Liutvardum  Cumensis  eccle- 
siae antistitem  protelare:  qnia  si  protelaveris  et  enm  consecrare  iam  ioties 
monitus  non  maturaveris ,  quam  ad  nos  venerit ,  procul  dubio  consecratus 
abibit,  quia  licet  apostolica  auctoritate  id  facere  valeamus,  tuo  tarnen  incita- 
mur  exemplo ,  qui  transgressis  terminis  tibi  commissis  in  ecclesia  Salonensi 
episcopum  ordinäre  ad  indecentiam  sedis  apostolicae  praesumpsisti,  quod  quan- 
tae  praevaricationis  sit,  ipse  perpende. 

3)  Vgl.  Farlati  III,  p.  78 — 79,  der  sich  theils  auf  ein  Schreiben  Johann's  VIII.  an 
Walbert  vom  27.  Mai  877  stützt,  theils  auf  einen  Brief  des  Photius  archiepiscopo 
Aquileiae  videlicet  Venetiarum  bei  Baronius  s.  a.  883. 

4)  Ivo  VIII,  c.  59 : . . .  disce  paternis  obedire  regidis,  ne  inveniaris  statutos  a  patri- 
bus  terminos  transgredi ,  vel  per  ambitionem  de  maiori  ad  muiorem  transire 
ecclesiam,   quod  tentantem   laica    etiam  communione   sacri  privant   canones. 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalraatien.  411 

innerhalb  der  ihm  vom  Gesetze  vorgezeichneten  Schranken  zu  halten 
und  nicht  aus  Ehrgeiz  nach  einer  höheren  Rangstufe  zu  streben, 
wenn  er  nicht  Gefahr  laufen  wolle ,  gänzlich  von  der  Kirchengemein- 
schaft ausgeschlossen  zu  werden.  Nachtheilig  für  diese  Bestrebun- 
gen war  die  Umwälzung,  durch  welche  nach  Branimir  wiederum  ein 
Sprössling  der  alten  Herzogsfamilie,  Muncimir,  der  jüngere  Sohn 
Tirpimir's,  den  Thron  bestieg,  der,  indem  er  sich  Herzog  von  Gottes 
Gnaden  nannte  J),  weder  die  fränkische  noch  die  byzantinische  Ober- 
hoheit anerkennen  wollte.  Dem  Vorbilde  seines  Vaters  folgend,  zeigte 
er  sich  dagegen  dem  Metropoliten  von  Salona  geneigt.  Als  daher  im 
J.  892  des  Theodosius  Nachfolger,  der  Bischof  Aldefreda  von  Nona, 
die  Kirche  des  h.  Georg  zu  Sussuratz  als  sein  Eigenthum  in  Anspruch 
nahm,  indem  er  behauptete,  dieselbe  sei  vonTirpimir  dem  Erzbischof 
Petrus  von  Spalato  nur  zu  lebenslänglicher  Nutzniessung  verliehen 
worden,  da  entschied  Muncimir  zu  Gunsten  des  Erzstiftes  Salona, 
dem  er  die  besagte  Kirche  zurückgab2),  unter  den  stärksten  Ver- 
wünschungen wider  diejenigen  welche  etwa  in  Zukunft  diesen  Besitz 
antasten  würden.  So  war  der  Bischof  von  Nona  mit  der  Forderung 
zurückgewiesen,  dass  alle  Kirchen  die  nicht  unmittelbar  Eigenthum 
der  Römer  wären 3),  zu  seiner  Diöcese  gehören  müssten. 

Noch  undeutlicher  als  die  kirchlichen  Verhältnisse  Dalmatiens  sind 
für  die  letzten  zwei  Jahrzehnte  des  IX.  Jahrhunderts  die  politischen. 
In  diesen  trat  dadurch  eine  wichtige  Veränderung  ein,  dass  die 
Magyaren,  auf  derselben  Strasse  herbeiziehend  wie  einst  die  Avaren, 
nicht  blos  das  grossentheils  bulgarische  Daeien  in  Besitz  nahmen, 
sondern  auch  das  fränkische  Pannonierf,  mit  welchem  sie  gleichfalls 
das  Land  zwischen  Sau  und  Drau  verbanden  *).  Weiter  nach  Süden 


Diese  Worte  sind  in  ihrer  Abgerissenheit  etwas  dunkel  und  ich  habe  bei  ihrer 
Auslegung'  schon  auf  die  im  nächsten  Abschnitte  zu  behandelnden  Streitigkeiten 
zwischen  den  Bisehöfen  von  Spalato  und  Nona  Bezug  genommen. 

1)  Muncimir  divino  munere  iuvutus  Croatorum  (lux  (Schwandtner  III ,  105; 
Farlati  III,  82). 

2)  Volo  ut  nullus  deinceps  de  successoribus  meis,  de  potestate  Spalatensiutn  eccle- 
siae  subtrahere  uudeat ....  sed  iuxta  priseam  consuetudinem ,  ut  donatam  a 
patre  rneo  recolimus,  et  mox  per  praesens  Privilegium  denuo  mancipumus,  ut 
omnino  subiaceat  dictae  ecclesiae  iure:  qui  x>ero  postmodiim  avaritiae  faciblts 
uecensus,  atque  in  superbiae  cornibus  elevatus  statuta  nostra  parvipendens  etc. 

3)  Diesen  Anspruch  erhob  er  wenigstens  im  Anfange  desX..lahrh.,  s.  den  folg.  Abschnitt. 

4)  Constant.  de  adm.  imp.  c.  40  (p.  (74):  jiX7]aia£o'j3i  6s  tote  Toöpxo«  •  .  .  npo;  6e  -ri 
[Aearjp.ßfiiM'jv  oi  Xpubßercoi;  c.  13  (p.  81)  ol  6s  Xpcußocxoi  npos  tä  8pt]  toT;  Toüpxot?  ^apa- 

27* 


41  Z  Ernst  Du  ramler. 

sind  sie  jedoch  sicherlich  nicht  vorgedrungen  *)  und  Croatien  diente 
sogar  wegen  seiner  gesicherten  Lage  vielen  der  ihrer  Heimath 
berauhten  Mährer8)  als  Zuflucht  vor  den  Ungern.  Indem  die  letzteren 
aber  wiederholentlich  nach  Italien  zogen  und  die  Wege  dorthin 
unsicher  machten,  wurde  Croatien  von  der  Verbindung  mit  demselben, 
die  sonst  wohl  eher  wieder  anzuknüpfen  gewesen  wäre,  gänzlich 
abgeschnitten  und  blieb  sich  durchaus  selbst  überlassen.  Tamislav, 
der  Grosszupan,  der  zunächst  nach  Muncimir  um  914  erwähnt  wird3), 
legte  sich  daher,  wenn  uns  nicht  eine  falsche  Lesart  täuscht,  sogar 
schon  den  Königstitel  bei*).  Auch  er  gehörte  wahrscheinlich  dem 
Geschlechte  Tirpimirs  an5)  und  stand,  wie  Sedeslav,  mit  Konstan- 
tinopel in  freundschaftlichen  Beziehungen  ,  wodurch  er  vom  Kaiser 
als  besondere  Auszeichnung  die  Consulwürde  erlangte6). 

Die  Narentaner  setzten  ihr  früheres  Räuberhandwerk  auch  noch 
fort,  nachdem  sie  auf  Veranstaltung  des  Kaisers  Basilius  sämmtlich 
die  Taufe  empfangen  hatten.     Als   daher  Karl  der  Dicke  zu  Ravenna 


xeivrai;  c.  42  (p.l?7)  xoroixoüot  u.i-/    o!    ToDpxoi   nspoftev  toj   Aavooßetas  itoTapoü  .  .  . 
d'/.'/.i  xai  ivöev  jjlesov  toO  Aavoüßsa);  xai  -o3  2äßa  noxiaoO. 

1)  Der  sog.  anonyuius  Belae  regis  notarius  de  gestis  Hungarorum  erzählt  (c.  XLII)' 
dass  Arpad's  Feldherren  Lelu.  Bulsuu  und  Botond  et  tdvitatem  SpaJetensem  cepe- 
runt  et  tot  am  Crouutiam  sibi  subiugaverunt,  und  von  Arpad's  Sohne  Zulta  lässt 
er  (c.  LVII)  die  Grenze  des  neuen  Reiches  bestimmen:  ab  occidente  usque  ad 
»iure,  ubi  est  Spalatina  eivitas.  Dies,  wie  das  meiste  was  er  berichtet,  sind 
Fabeln,  die  auf  der  Anschauung  einer  viel  späteren  Zeit  beruhen.  Wir  ersehen 
vielmehr  aus  den  Verhandlungen  mit  dem  Bischof  von  Nona  im  Jahre  928  (Farlati  III, 
p.  103),  dass  den  Croaten  damals  auch  Sissek  gehörte,  welches  ihnen  wohl  bei 
der  Eroberung  Slavoniens  durch  die  Ungern  zugefalleu  war. 

2)  Const.  c.  41  (p.  176):  oi  JnioXei^OevTEi;  -roO  X.ao5  SiEaxopitiaihqcrav  -y.-.ys^, ,-.--z  ■.:-  -a 
itapaxEip.eva  iure,,  eis  ~t  -vj;  BooXfdpou;  in  Toäpxau;  za;  Xpcußixous  xai  eU  ~.i  >.v.-i 
i&vn. 

3)  Thomas  archidiaconus  c.  XIII  (p.  548)  :  Joannes  arehiepiseopus  fttit  anno  domini 
914  tempore   Tamisltivi  dtteis. 

4)  In  den  Acten  des  Xationalconcils  a.  c.  925  heisst  er  Chroatorum  rex  und  Johann  X. 
schrieb  ihm:  dilecto  filio  Tamislao  regi  Croatorum  (Fa  r  1  a  t  i  III,  p  .92,  94).  Die 
Sache  hat  nichts  Unwahrscheinliches. 

5)  Konstantin  (c.  29,  p.  129),  nachdem  er  erzählt,  dass  Basilius  den  Croaten  erlaubt 
habe,  aus  dem  Geschlecht  it-  exeTvoi  r^i-wi  xai  iz-.tyt'y>  sich  einen  Fürsten  zu 
wählen  (d.  h.  Sedeslav  aus  dem  Geschlechte  Tirpimir's) ,  fügt  hinzu:  xct;.  ix-tota 
p-s/v.  -oO  yöv  ix  tiüv  ao-d)-;  ^eveÖN  ytvovxai  Sp^ovxeg  ei;  a&xoü;  (sc.  Croatos  Serblos- 
que),   xai  oöx  i\  i-iyj.%. 

6)  In  den  Concilacten  von  Spalato  heisst  es  von  ihm :  consulatum  peragente  in 
provincia  Chroatorum  et  Dalmatiurum  finibus  Tamislao  rege  (a.  a.  0.).  Auch 
die  dalmatischen  Römer  wurden  als  seine  Unterthanen  betrachtet,  weil  sie  ihm  ja 
Tribut  zahlen  mussten. 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dnlmatien.  4- 1  «> 

im  Jahre  879  am  11.  Jänner  mit  Ursus  Participatius  den  längst 
bestehenden  Vertrag  zwischen  den  Venetianern  und  seinen  italienischen 
Unterthanen  abermals  auf  fünf  Jahre  erneuerte  *)  ,  fügte  er  noch  die 
Clausel  hinzu,  dass  beide  Theile  nicht  blos  den  Slawen  die  ihnen 
durch  Seeraub  beschwerlich  fielen,  einmöthig  Widerstand  leisten, 
sondern  sie  auch  in  ihrem  eigenen  Lande  angreifen  sollten.  Die 
Venetianer  wenigstens  handelten  diesem  Vertrage  gemäss,  indem 
ihr  Doge  Petrus  Candianus  I.  gegen  die  Narentaner  ein  Heer  aus- 
schickte, und  da  dieses  ohne  Erfolg  zurückkehrte,  im  August  887  in 
eigener  Person  mit  zwölf  Schiffen  gegen  die  Feinde  auslief.  Bei  einem 
Orte  der  Mucules  genannt  wird,  kämpfte  er  2),  obrleich  mit  gerin- 
ger Mannschaft,  anfangs  glücklich  gegen  sie  und  zerstörte  fünf  von 
ihren  Schiffen,  endlich  aber,  indem  die  Narentaner  mit  grosser  Über- 
macht über  ihn  herfielen,  wurde  er  am  18.  September  mit  sieben 
Begleitern  erschlagen,  während  die  übrigen  glücklich  entrannen.  Um 
917  als  in  Serbien  nach  Verdrängung  der  Söhne  Muntimir's  dessen 
Neffe  Peter  regierte,  erkannten  die  Narentaner  die  Oberhoheit  dieses 
Fürsten  3)  an  und  verhielten  sich  seitdem  etwas  friedlicher. 

Im  Beginne  des  zehnten  Jahrhunderts  tritt  unter  den  Südserben 
vornehmlich  die  früher  wenig  genannte  Landschaft  Zachlumia  unter 
ihrem  Fürsten  Michael,  dem  Sohne  Wyschewit's,  hervor*).  Von  den 
Serben  desBinnenlandes  ganz  unabhängig,  unterhielt  derselbe  längere 
Zeit  ein  freundschaftliches  Verhältniss  mit  dem  tapfern  und  kriegs- 
lustigen Bulgarenkönig  Simeon,  dem  jüngeren  Sohne  des  Bogoris. 
Ihm  lieferte  er  im  Jahre  912  den  Sohn  des  venetianischen  Dogen 
Ursus  Participatius  IL,  Petrus,  aus,  den  er  auf  der  Bückreise  von 
Konstantin opel  arglistig  gefangen  genommen  und  seiner  reichen  Habe 


!)  Andreae  Danduli  chron.  lib.  VIII,  c.  3,  P.  XXX  (col.  187):  .  .  insiituit,  nt  contra 
Sclavos,  qui  utrosque  maritimis  latroeiniis  nitebantur  invadere,  debeunt  una- 
nimiter  et  concorditer  non  solutn  resistere ,  sed  etiam  invudere.  Vgl.  Archiv 
für  altere  deutsche  Geschichtsk.  IV,    174. 

2)  Johann,  chron.  Venet.  p.  22  .  .  .  ad  montem  Seavoram  perveniens  in  loco  qui 
vocatur  Mucides  e.vivit.  Nach  Joa.  Lucius  I.  II,  c.  2  (p.  103)  läge  dieser  Ort 
in  der  Nähe  von  Zara,  und  hiesse  jetzt  Ponta  Micha,  doch  kann  diese  Bestimmung 
kaum  richtig-  sein,  da  er  ohne  Zweifel  im  Gebiete  der  Narentaner  gesucht  werden  muss. 

3)  Const.   c.   32  (p.   136)  .  .  ei;  llccfaviav  ttjv  xixs  Ttapa  xoü  äp-/ovtos  SepßXias  Sictxpa-cju- 

4)  Ebenda  c.  33  (p.  160)  .  .  Mi^a-hX  toü  'jiol  zw  BoiNxeßoÖTCT]  toö  äp/ovio«  tüjv  Z«/- 
Xouimov  .  .  Wyschewit  ist  nach  Safari  k  (II,  233)  der  Sohn  Wyscha  (d.  h.  Wy- 
scheslav's),  also  war  Michael  der  Enkel   Wyscha's. 


414  Ernst  Dämmler. 

beraubt  hatte1);  sein  Vater  musste  ihn  erst  durch  Geschenke  aus  der 
bulgarischen  Gefangenschaft  loskaufen.  Als  im  J.  917  der  Stratege 
des  Themas  Dyrrhachium  Leo  Rhabduchus  in  der  Landschaft  Narenta 
mit  dem  serbischen  Fürsten  Peter  geheime  Unterhandlungen 
anknüpfte2),  theilte  Michael  dem  König  Simeon  mit,  es  sei  darauf 
abgesehen,  den  Grosszupan  Peter  durch  Geschenke  zu  bewegen, 
dass  er  mit  den  Ungern  vereinigt  das  bulgarische  Gebiet  überfiele, 
sowie  denselben  von  der  andern  Seite  gerade  in  den  Petschenegen 
Feinde  erweckt  werden  sollten3).  Auf  diese  Vorbereitungen  folgte  am 
20.  August  die  furchtbare  Niederlage  der  Griechen  am  bulgari- 
schen Achelous.  Wahrscheinlich  durch  dieses  Unglück  ihrer  Waffen 
bewogen,  welches  die  siegreichen  Bulgaren  alsbald  bis  vor  Konstan- 
tinopel führte  ,  suchten  die  Byzantiner  in  dem  Fürsten  von  Chulmia 
sich  einen  Freund  und  Bundesgenossen  zu  gewinnen  und  verliehen 
ihm  die  Titel  eines  Proconsuls  und  Patricius4),  die  noch  keiner 
seiner  Vorfahren  besessen.  Michael  fühlte  sich  mächtig  genug, 
um  am  10.  Juli  926  die  Stadt  Sipontum  5)  (beim  heutigen  Manfre- 
donia)  an  der  gegenüberliegenden  apulischen  Küste  zu  erobern.  In 
seinem   Ländchen  bestand    zu   Stagno,  vielleicht   erst    seit   seiner 


!)  Joh.  chron.  Venet.  p.  23.  Petrus  hatte  vom  Kaiser  Leo  die  Würde  eines  Proto- 
spatharius  und  reiche  Geschenke  erhalten.  Qui  dum  Chroatorum  fines  rediens 
transire  vellet ,  a  Michahele  Sclavorurn  duce  fraude  deceptus  etc.  Die  Ver- 
wechselung- der  Zachlumer  mit  den  Croaten,  deren  sich  unsere  Quelle  hier  schuldig 
macht,  hat  Lucius  (1.  I,  c.  1,  p.  95)  u.  a.  irre  geführt  und  ihn  den  Michael  für 
einen  croatischen  Fürsten  halten  lassen.  Aus  dem  Folgenden :  His  autem  diebus 
defuncto  Leone  imperatore,  ergibt  sich  das  Jahr  912. 

2)  Const.  c.  32  (p.  156)  :  ij-rjXox'jit/jCJa;  6s  npöc  xouxo  Mi/a-fjX  6  apy_u>v  xd>v  ZayXoupiiDv 
s>-r;voas  2up.£iuv  Tij)  Bo'jXYapcuv  äpxovct,  ö'xi  x.  x.  X.  Das  Jahr  folgt  aus  dem  Zusätze: 
eys'vETo  8s  xotl  xctxet  xov  xaipöv  exeTvov  xai  itüXsp.os  sls  'A/sXibv  p.Exajju  xtöv  'Piop-otiiov 
xal  xü)v  BouXYotpiuv ,  denn  diese  Schlacht  fand  am  20.  August  der  5.  Indiction,  d.  h. 
des  Jahres  917  Statt,  nach  Theophan.  continuat.  1.  VI,  c.  10  (p.  389). 

3)  Theophan.  continuat.  1.  VI,  c.  7,  10  (p.  387,  390). 

4)  Const.  c.  33  (p.  160)  -q  fevza  xou  ävöuTtdxou  xotl  naxpixlou  Miy_a/)X  .  .  .  Nach  Cou- 
stant.  de  caerimon.  aulae  Byzant.  II,  48  (p.  691)  lautete  die  gewöhnliche  Aufschrift 
in  kaiserlichen  Briefen  :   eL;  xiv  apy/jvxot  xiüv  ZayXoup.(uv. 

5)  Ann.  Benevent.,  926  Michael  rex  Sclavorurn  comprehendit  Sypontum,  id. 
Lupus  Protospatarius,  926;  Ann.  Barenses,  928:  Hoc  anno  comprendit  Michael 
rex  Sclavorurn  civitatem  Sipontum  mense  Julio  die  sanctae  Felicitatis  Ilferia 
indictione  15  (i.  e.  10.  Juli  926:  Pertz,  SS.  III,  175,  V,  54,  52).  Safarik 
(II,  256) ,  der  diese  Nachricht  aus  Lupus  Protospatha  kannte,  redet  von  einem 
Zuge  Michael's  in  die   Walachei ! 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  4rl  O 

Zeit1),  ein  eigenes  Bisthum  das  zur  Kirchenprovinz  Salona  zählte, 
und  auch  den  Päpsten a)  war  der  Herzog  der  Chulrner  keineswegs 
unbekannt. 

Serbien  im  Binnenlande  wurde  um  diese  Zeit  der  Einwirkung 
des  Abendlandes  und  seines  geistlichen  Oberhauptes  mehr  und 
mehr  entzogen  und  byzantinischen  Einflüssen  weiter  eröffnet.  Mun- 
timir  hatte  seine  Macht  und  Alleinherrschaft  begründet ,  indem  er 
seine  beiden  jüngeren  Brüder  Stroimir  und  Goinik  mit  den  Waffen 
überwand  und  als  Gefangene  nach  Bulgarien  schickte3).  Hieraus 
entspannen  sich  endlose  Verwirrungen  und  Fehden,  denn  als  ums 
Jahr  89 1  4)  auf  Muntimir  sein  ältester  Sohn  Pribeslav  mit  zwei  jün- 
geren Brüdern  folgte,  kehrte  Peter,  der  Sohn  Goinik's,  aus  Croatien 
zurück,  wo  er  Zuflucht  gefunden ,  und  vertrieb  seine  drei  Vettern 
nach  einjähriger  Regierung.  Während  er  sich  selbst  der  Herrschaft 
bemächtigte,  flohen  jene  nach  Croatien.  Der  zweite  von  ihnen, 
Branus,  der  ums  J.  89o  mit  gewaffneter  Hand  in  Serbien  einfiel, 
wurde  besiegt,  gefangen  und  geblendet.  Nicht  besser  erging  es 
einem  anderen  Vetter  Peter's,  Klonimir,  dem  Sohne  des  nach 
Bulgarien  verbannten  Stroimir;  obgleich  er  mit  seinen  Mannen 
schon  in  Desniza,  der  Hauptstadt  Serbiens,  eingedrungen  war, 
wurde  er  dennoch  besiegt  und  getödtet  im  J.  897,  und  Peter  blieb 
jetzt  20  Jahre  hindurch  im  unbestrittenen  Besitze  der  Herrschaft, 
indem  er  dem  Namen  nach  die  Oberhoheit  des  byzantinischen  Kaisers 
Leo  anerkannte  und  mit  dem  mächtigen  Bulgarenfürsten  Simeon, 
dessen  Sohn  er  sogar  aus  der  Taufe  hob,  Frieden  hielt.  Die  Anzeige 

v 

welche  der  zachlumische  Zupan  Michael  dem  letzteren  machte  von 


*)  Thomas  archidiaconus  c.  XV  (p.  SSO).  In  Stagno  nihilominus  fuit  episcopatus, 
suuque  parochia  erat  comitatu  Ckulmiae.  Im  J.  928  wird  zum  ersten  Male  der 
(bischöflichen)  eeelesia  Stagnensis  gedacht  (Farlati  III,   103). 

2)  Auf  dem  Nationalconcil  von  Spalato  heisst  es  :  Michaele  in  suis  finibus  praesi- 
dente  duce  und  Michael,  cum  suis  proceribus  tritt  neben  Tamislav  gleichbe- 
rechtigt auf.  Johann  X.  schrieb  ihm  c.  923:  Michaeli  excellentissimo  duci  Chul- 
morum.  (Farlati  III,  92,  94.) 

3)  Für  die  serbischen  Geschichten  dieser  Zeit  ist  die  einzige  Quelle  Konstantin  de 
adm.  imp.  c.  32  (p.  153 — 138).  Unter  den  Serborum  proceribus,  die  neben  den 
Croaten  auf  dem  Concil  von  Spalato  erscheinen  (Farlati  III,  92),  sind  ohne  Zweifel 
die  Zachlumer  (und  Terwunjer)  gemeint. 

4)  Die  Jahre  lassen  sich  nach  der  chronologisch  feststehenden  Schlacht  am  Achelos 
rückwärts  berechnen,  wie  dies  auch  Safarik  (II,  250—231)  gethan  hat.  Die 
Epoche  des  Kaisers  Romanus  I.  (920—944)  bestätigt  diese  Berechnung. 


416  Ernst    Du  mm  ler. 

einem  heimlichen  Einverständnisse  zwischen  ihm  und  den  Byzantinern 
zum  Nachtheile  Bulgariens,  bewog  Simeon,  den  Herzog  Peter  unter 
Versicherungen  der  Freundschaft  hinterlistig  ergreifen  und  im  Kerker 
tödten  zu  lassen.    Die  ihm  entrissene  Herzogswürde  übertrug  er  dar- 
auf an  Paulus,  den  Sohn  des  geblendeten  Branus,  der  im  Jahre  917 
mit  einem  bulgarischen  Heere  nach  Serbien  zurückkehrte.    Da  er  als 
Bundesgenosse  der  Bulgaren  den  Griechen  feindlich  gesinnt  war ,  so 
stellte  im  J.  920  der  Kaiser  Bomanus  Lecapenus  einen  neuen  Thron- 
bewerber gegen   ihn  ins  Feld  in    der  Person  des  Zacharias,  eines 
Sohnes  des  vertriebenen  Pribeslav,    der  bis  dahin   in  Konstantinopel 
gelebt.  Derselbe  erlitt  jedoch  durch  Paulus  eine  Niederlage  und  wurde 
den   Bulgaren   als   ihr  Gefangener  übergeben.    Als  diese  sich    drei 
Jahre  später  aber  selbst  mit  ihrem  früheren  Schützling  Paulus  ent- 
zweiten, benutzten  sie  ihrerseits  den  Zacharias  um  jenen  zu  stürzen, 
derselbe  trug  auch  in  der  That  diesmal  den  Sieg  und  die  Herrschaft 
davon.     Seiner  früheren   Freundschaft  mit  den  Griechen  und  ihrer 
Huld  eingedenk  zog  er  es  vor,   auch  fernerhin  den  Kaiser  Bomanus 
als  seinen  Oberherrn  anzuerkennen  und  sich  nicht  vor  den  Bulgaren 
zu  beugen.     Sogleich  musste  er  ihre  Feindschaft  erfahren ,  aber  das 
Heer  das  Simeon  unter  Marmais  und  Theodor   Sigritzi  gegen   ihn 
gesandt,  erlitt  eine  Niederlage  und  die  Häupter  der  beiden  Anführer 
sowie  ihre  Waffen  gelangten  als  Siegeszeichen  nach  Konstantinopel 
dem  Zacharias  sich  stets  gehorsam  erwies. 

Während  so  in  Croatien  und  Chulmien  bei  politischer  Unabhän- 
gigkeit der  Herrscher  ein  erneuter  Anschluss  an  die  römische 
Kirche  stattfand ,  trat  Serbien  in  politischer  wie  in  kirchlicher 
Beziehung  in  einen  engeren  Verband  mit  dem  byzantinischen  Beiche, 
wozu  auch  der  völlige  Abfall  der  bulgarischen  Fürsten  vom  römischen 
Bischof  das  Seinige  beitragen  musste. 

VI.  Kirchliche  Einigung  der  Römer  and  Slawen;  Schicksale  der 

slawischen  Liturgie. 

Durch  eine  glückliche  Fügung  der  Umstände  lichtet  sich  für 
das  zweite  Jahrzehent  des  X.  Jahrhunderts  einigermassen  das 
Dunkel  das  sonst  über  die  kirchlichen  Zustände  des  croatischen  Volkes 
in  älterer  Zeit  verbreitet  ist ,  und  zuverlässige  Zeugnisse  gewähren 
uns    eine   unerwartet  reichhaltige   Belehrung.     Durch    die   äusserst 


Über  die  älteste  Gpscliichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  417 

mangelhafte  Art  in  der  sie  von  unwissenden  Abschreibern  überliefert 
sind  !)'  leidet  wohl  hie  und  da  ihr  Verständniss,  nicht  aber  ihrWerth, 
irgend  wesentlichen  Abbruch.  Diese  Stücke  bestehen  in  den  Acten 
eines  Provinzialconcils  der  gesammten  dalmatischen  Kirche,  in  vier 
hierauf  bezüglichen  päpstlichen  Schreiben  und  einem  kurzen  Aaszuge 
aus  den  Verhandlungen  einer  zweiten  dalmatischen  Synode,  sämmtlich 
enthalten  in  einer  handschriftlichen  Geschichte  von  Salona.  In  diesen 
Schriftstücken  tritt  mit  voller  Schärfe  und  Entschiedenheit  der  Gegen- 
satz der  römischen  zur  croalisch-serbischen  Bevölkerung  von  Dalmatien 
hervor,  indem  beide  durch  ihre  besonderen  geistlichen  Oberhäupter 
vertreten  sind,  denen  gegenüber  die  Fürsten  wie  es  scheint  ein  unpar- 
teiisches Verhalten  beobachten.  Der  Streit  hat  sich  jetzt  zu  einer 
bestimmteren  Gestalt  ausgebildet,  es  handelt  sich  nicht  mehr  um  die 
Frage  des  Anschlusses  an  Rom  oder  an  Konstantinopel ,  da  das  erstere 
allein  und  unbestritten  herrscht,  sondern  theils  um  die  Durchführung 
einer  einheitlichen  Kirchenverfassung  für  beide  Bevölkerungen,  theils 
um  die  Anwendung  der  slawischen  Sprache  im  Gottesdienste. 

Wann  die  slovenische  Liturgie  bei  den  dalmatischen  Slawen  Ein- 
gang gefunden,  wird  in  den  Quellen  nirgends  näher  angegeben. 
Unmittelbar  durch  den  persönlichen  Einfluss  des  h.  Methodius  kann 
es  nicht  der  Fall  gewesen  sein,  weil  die  Croaten  gar  nicht  zu  seiner 
Diöcese  gehörten  und  ihm  nach  dieser  Seite  hin  nur  auf  Serbien  ein- 
zuwirken verstattet  war.  Mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  wird  sich 
dagegen  der  Beginn  der  Ausbreitung  dieser  wichtigen  Neuerung 
von  den  Mährern  und  Slovenen  zu  den  stammverwandten  Croaten 
in  die  Zeit  die  dem  Tode  des  Methodius  zunächst  folgte,  verlegen 
lassen.  Die  fränkische  oder  lateinische  Geistlichkeit  in  Mähren  unter 
der  Führung  des  Bischofs  Wiching  von  Neutra,  welche  dem  Griechen 
und  seinen  Jüngern  stets  aufsässig  gewesen  war,  brachte  es  unter 
seinem  Nachfolger  Gorasd,  einem  Mährer  von  Geburt,  dahin,  dass  im 


*)  Farlati  der  sie  zuerst  bekannt  gemacht ,  vertheidigt  sie  (Illyric.  sacr. ÜI,  84  flg.) 

mit  Eifer  und  Erfolg  gegen  Joa.  Lucius  der  sehr  voreilig  den  Stab  darüber  brach, 
indem  er  sie  kurzweg  für  fieta  et  suppositiiia  erklärte.  Die  Bezeichnung  als 
>'ationalconcil  ist  nicht  gerechtfertigt,  da  nur  der  Erzbischof  von  Salona  mit  seinen 
Suffraganen  zugegen  war  und  die  Metropole  Dioklea  oder  Antivari  überhaupt  noch 
nicht  existirte.  Die  Annahme  Krause's  (p.  7,  14),  dass  nach  der  Zerstörung 
Salona's  für  das  obere  Dalmatien  der  Bischof  \on  Dioklea  (Doeleatinac  civitatis: 
Maiisi  X,  329)  eine  Zeit  lang  Metropolit  gewesen  sei,  ist  gleichfalls  völlig  uuer- 
weislich. 


418  Brnat  Dfi  ■  m  I  e  r. 

J.  886  die  gesammte  griechisch-slawische  Geistlichkeit  »us  den 
Lande  gewiesen  wurde,  indem  man  ihre  Abweichungen  in  der  Lehre 
und  im  Ritus  schon  als  ketzerisch  anzusehen  begann  1)-  Me  meisten 
dieser  Priester  deren  Zahl  beim  Tode  des  Methodius  zweihundert 
betragen  haben  soll2),  schlugen  die  Strasse  nach  dem  Süden  ein  und 
zerstreuten  sich  dort  in  verschiedenen  Richtungen*).  Nur  ein  kleiner 
Theil  von  ihnen,  der  h.  Clemens  mit  seinen  Genossen,  gelangte  nach 
Bulgarien,  dem  Lande  ihrer  Sehnsucht  *),  and  bürgerte  dort  mit  der 
slovenischen  Liturgie  die  Ansichten  der  griechischen  Kirche  ein,  so 
dass  seitdem  hei  den  Bulgaren  kein  Schwanker!  mehr  eintrat.  Natür- 
lich ist  es,  dass  andere  von  jenen  Vertriebenen  sieh  auch  nach  Serbien 
und  Croatien  wandten  5),  die  eine  ebenso  nahe  Zuflucht  boten.  Die 
slovenische  Liturgie  und  Bibelübersetzung  die  sie  mitbrachten, stimmte 
freilich  mit  der  Mundart  der  Croaten  keineswegs  ganz  überein,  allein 
sie  war  ihnen  doch  ohne  Zweifel  verständlich  und  mussteihr  Ohr  viel 
heimischer  berühren,  als  die  fremdartigen  Laute  der  lateinischen  oder 
griechischen  Sprache.  So  ist  es  nicht  zu  verwundern,  dass  unter 
Begünstigung  des  Bischofs  von  Nona  der  slawische  Gottesdienst  sich 
die  Herzen  des  Volkes  mit  dem  glücklichsten  Erfolge  eroberte.  Frag- 
licher erscheint  das  Verhalten  der  Forsten  Tamislav  und  Michael  die 
wohl  nicht  unbedingt  als  Gönner  dieser  Neuerung  auftraten  ;  viel- 
leicht waren  auch  sie  dem  Fremden  holder  als  dem  Einheimischen  und 
dünkte  sie  die  lateinische  Sprache  heiliger  zu  sein  als  die  slawische, 


■i   Vgl.  hierüber   Wattenbach :    Beitrage  w  Geschichte  der  christlichen  Kirche  in 

Mahren  und  Böhmen    |>.  24 —  29  und  wegen    des  Jahres  die  pannonisebe  Legende 

vom   h.   Methodius   [>.   'J4 —  ">'■'>. 
2)   Vita  St.  Clementis  <■.  VI    (p.   11).   c  XI    (p.    17).      Doch   werden  gewiss  nicht  alle 

den  Lateinern  beharrlich  Widerstand  geleistet  haben. 
')   Vita  St.  Clementis  c.  XIII   (p.  19)  :   npomüyzavi  fowreiv    SXXov   4XX<r/o5  -''■,>  icopä   to8 

l<rtpou   tzpür»    ttapiSwxa  ■ ;  c.   XIV.  SXXoe    -j/fj/'.'j   bttonäprpcn ,    fap   -■,",-.:  8<5£ov,    Iva 

xal  itXeio)  i      /,/•■,  -  piXißtoai. 

4j  A.  a.  0.    Bov;r.  •;.  BooX-rapiav  vn.    Michael  hatte  sich  mit  Eifer  der 

griechischen  Kirche  angeschlossen   und  sein  jüngerer  Sohn  Sirneon   war  griechisch 

gebildet  (Lindprand  antapod.  I.  III.  c  29). 
">)  In  dem  croatischen  König  Snetopelek  des   Presbyter  Dioeleas  (regnum  Slavor.  c.  IX. 

X,   p.   480)  der  in  Gemeinschaft  mit  dem   Philosophen  Konstantin  in    Dalmatien  das 

Christenthnm  eingeführt  haben   soU,  ist  unschwer  der  Mährerherzog  Suatoplna   im 

erkennen,    an  dessen  Namen  sich  der  Ursprung  der  slovenischen  Liturgie   knüpfte. 

Man   sieht  daraus,  dass  eine  dunkle  Erinnerung  an  den  Weg  auf  dem  sie  eingewandert 

war.  sich  auch  in  Dalmatien  erhalten  hatte. 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatlen.  419 

wie  jenen   Herzog   Suatopluk  l)  der  die  Bedenken   welche  ihm  die 
slovenische  Liturgie  erregte,  eigens  dein  Papste  mittbeilen  liess. 

Indem  nun  der  Bischof  von  Nona  sieh  der  volkstümlichen  Form 
des  Gottesdienstes   gewogen  zeigte  und  sie  allmählich  in  fast  allen 
croatischen  Kirchen  durchdrang,  musste  er  jetzt  um  so  mehr  als  das 
alleinige  geistliche  Oberhaupt  der  Croaten  und  Südserben  angesehen 
werden.   Er  konnte  die  römischen  Bischöfe  die  die  fremde  Kirchen- 
sprache beibehielten ,  ganz  auf  ihre  Slädte  und  Inseln  beschränken 
und    brauchte   sich    wenig   um  die   angesprochene    Oberhoheit   des 
Metropoliten  von  Salona  zu  bekümmern.  Diese  für  die  römische  Geist- 
lichkeit so  äusserst    nachtheiligen   Verhältnisse    bewogen    sie   nach 
langer  Entfremdung2)  in  Rom  Abhilfe  zu  suchen,  auf  dessen  Beistand 
nicht  minder  auch  ihr  Gegner,  der  croatische  Bischof,  zählte;    denn 
während  jene   sich    fern  gehalten  oder  gar  der  griechischen  Kirche 
zugeneigt  hatten,  war  er  stets  mit  seinem  Fürsten  ein  treuer  Anhän- 
ger des  apostolischen  Stuhles  geblieben.    Daher  wandten   sieh  ums 
Jahr  92o  die  Herzoge  Tamislav  von  Croatien  und  Michael  vonZachul- 
raien,  der  Erzbischof  Johann  von  Spalato  und  die  Bischöfe  Forminus 
von  Zara,    Gregor    von    Nona,    sowie    die    übrigen    an    den    Papst 
Johann  X  und    baten    ihn  zur  Abstellung  aller  Missstände  Legaten 
nach    Dalmatien    zu    senden    und    über    die    streitigen  Puncte    der 
Lehre  ihnen  Unterweisung  zu  Theil   werden    zu    lassen  s).     Diesen 
Wünschen    entsprechend    schickte    der   Papst ,    ein  Mann    der    bei 
schlechten  Sitten  von  sehr  entschlossenem  Charakter  war,  die  bei- 
den Bischöfe  Johann  von  Ancona  und  Leo  von  Präneste  als  seine 
Bevollmächtigten    nach    Croatien,  indem    er  ihnen    zwei   Schreiben 
mitgab.    Das    erste  an  den  Erzbischof  Johann  von  Salona  und  seine 
SufFragane  gerichtet4),   enthielt  lebhafte  Vorwürfe,  dass  sie  in  ihrer 


lJ  S.  Wa  tte  n  bac  h 's  Beiträge,  p.  26. 

2)  Johann  X.  begann  daher  sein  Schreiben  mit  den  Worten:  Cum  religio  vettrae 
dilectionis  per  tot  unnorum  curricula  et  mensium  spatia  sanctum  Bomanam  et 
apostolicam  utque  universalem  ecclesiam  .  in  cuius  cathedra  Deo  auctore  nos 
pruesidemus,  visitare  neglexit,  omnino  miramur. 

•*)  Farl  ati  III,  92  Praefatio  der  Synode.  Als  streitig  betrachteten  sie  vornehmlich  die 
Anwendung  einer  andern  als  der  lateinischen  oder  griechischen  Sprache  beim 
Gottesdienste,  denn  von  Abweichungen  in  der  Lehre  ist  sonst  nicht  die  Rede. 

4J  Paria ti  III,  93  .  .  .  Et  qwa  f'mna  revelante  cognovimus  per  confinia  veatrae 
paroehiue  aliain  doctrinam  puflulare ,  quae  in  sacris  voluminibus  non  re/>e- 
ritur,  vobis  tacentibus  et  consentientibm  valde  doluimus  ....  Vnde  hortautur 


420  Ernst  Dümmler. 

Provinz  eine  Lehre  duldeten ,  die  aller  Beglaubigung  durch  die 
heilige  Schrift  ermangle.  „Ferne  sei  es,  so  heisst  es  darin,  dass 
ihr  die  Lehre  des  Evangeliums  und  die  Bücher  der  Kirchengesetze, 
sowie  die  Vorschriften  der  Apostel  verlassend,  zu  der  Lehre  des 
Methodius  euch  wendet,  den  wir  in  keiner  Schrift  unter  den  heiligen 
Vätern  genannt  finden."  Er  ermahnte  sie  daher,  im  Vereine  mit 
seinen  Legaten  dergleichen  Abweichungen  im  Slawenlande  auszutil- 
gen und  sich  zu  bemühen,  dass  die  Messe  dort  so  gefeiert  würde, 
wie  überall  in  der  katholischen  Kirche,  d.  h.  in  lateinischer  Spracdie. 
Johann  X.  theilte  also  ganz  die  schon  im  J.  885  von  Stephan  VI. 
ausgesprochene  Auffassung  !),  wronach  Methodius  wegen  seiner  von 
der  römischen  Kirche  abweichenden  Ansichten  über  das  Ausgehen 
des  h.  Geistes  und  über  die  Fasten  als  Irrlehrer  verworfen  und  die 
slawische  Liturgie  auf  das  Entschiedenste  verdammt  wurde. 

Der  zweite  Brief2)  den  die  päptlichen  Legaten  mitbrachten, 
war  von  Johann  hauptsächlich  für  seinen  „geliebten  Sohn"  den 
König  Tamislav  sowie  für  den  „ausgezeichnetsten"  Herzog  Michael 
bestimmt  und  begann  mit  der  Behauptung,  dass  die  Slawen  als  die 
eigensten  Söhne  der  römischen  Kirche  schon  in  den  Zeiten  der 
Apostel  mit  der  Milch  des  Glaubens  genährt  worden  seien.  Wie  nun 
in  jüngerer  Zeit  durch  Gregor  1.  die  Sachsen  ebendaher  nicht  blos 
die  römische  Kirchenlehre,  sondern  auch  die  römische  Kirchen- 
sprache 3j  empfangen  hätten,  so  fordere  er  sie  gleichfalls  auf,  wie 
von  ihrem  Vermögen  so  dessgleichen  von  ihren  Kindern  Gott  den 
Zehnten  darzubringen  und  dieselben  vom  zartesten  Alter  an  für  das 
Studium  der  römischen  Wissenschaft  zu  bestimmen.  „Denn,  so  fährt 
er  fort,   welcher  besondere  Sohn  der  römischen  Kirche  ,  wie  ja  ihr 


vos  dilectissimi ,  ut  cum  nostris  episcopis  .  .  .  iuncti  cuncta  per  Sclavinieam 
terram  audacter  corrigere  satagatis :  ea  videlieet  ratione ,  ut  nullo  modo  ab 
illorum  supradictorum  episcoporum  doctrina  in  alir/uo  deviare  praesumatis. 
Ita  ut  secundum  mores  Romanae  ecclesiae  Sclavinorum  terra  ministerium 
sacrificii  peragant,  in  Latina  scilicet  lingua  non  autem  in  extraneu,  qitia 
nutlus  filius  aliquid  lor/ui  debet  vel  sapere ,  nisi  ut  mater  ei  insinuaverit ,  et 
quia  Sclavi  specialissimi  filii  sanctae  Romanae  ecclesiae  sunt,  in  doctrina 
matris   permanere  debent. 

V)   Wattenbach's  Beiträge  p.  27—28,  46—47. 

2)  Farlati  III,    95. 

3J  Doctrinam  pariter  et  litterar  um  studia  in  ea  videlieet  lingua,  in  qua  illorum 
mater  apostolica  ecclesia  infulata  manebut. 


Ül>er  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  421 

seid,  kann  Freude  daran  finden,  in  barbarischer,  d.  h.  in  slawischer 
Sprache  Gott  dasMessopfer  zu  weihen?"  Vielmehr  sollten  sie  gehor- 
sam den  Anordnungen  der  römischen  Bischöfe  Dalmatiens  und  seiner 
Legaten  die  lateinische  Sprache  für  alle  gottesdienstlichen  Handlungen 
anwenden. 

Nachdem  die  beiden  Abgesandten  die  dalmatischen  Städte  bereist 
und  mit  den  Fürsten  Zusammenkünfte  gehalten  hatten,  beriefen  sie 
zur  vollständigen  Erfüllung  ihrer  Aufgabe  ein  Concil  ')  nach  Spalato, 
zu  welchem  sich  bis  nachCattaro  hin  alle  dalmatischen  Bischöfe  ein- 
fanden. Nur  Ein  Kanon  2),  unter  denen  die  dort  beschlossen  wurden 
der  zehnte,  beschäftigte  sich  mit  der  slawischen  Sprache  und  bestimmte, 
dass  kein  Bischof  die  slawischen  Priester  zu  höheren  Graden  beför- 
dern solle;  diejenigen  die  bereits  zu  Klerikern  oder  Mönchen 
geweiht  seien ,  dürften  zwar  in  ihrem  Stande  verharren ,  aber  in 
der  Kirche  keine  Messe  lesen  ausser  im  Falle  der  Noth,  wenn  kein 
anderer  Priester  vorhanden  sei.  Alle  übrigen  Verfügungen  des  Concils 
betrafen  entweder  die  noch  sehr  mangelhafte  Kirchenzucht  oder  die 
Kirchenverfassung.  Gleich  im  Anfange  wurde  festgesetzt,  dass,  weil 
der  h.  Domnus  von  Petrus  selbst  abgesandt  sei,  um  in  Salona  zu  pre- 
digen, dem  Orte  wo  seine  Gebeine  ruhten,  auch  der  Vorrang  vor 
allen  übrigen  dalmatischen  Kirchen  gebühre.  In  allen  den  Städten 
wo  einst  ein  Bisthum  bestanden,  sollte  auch  jetzt  wieder  ein  Bischof 
eingesetzt  werden,  insofern  Geistlichkeit  und  Volk  dazu  in  hinrei- 
chender Zahl  vorhanden  wären.  Die  Bischöfe  von  Bagusa  undCattaro, 
die  zusammen  an  die  Stelle  des  ehemaligen  Bischofs  von  Epidaurus 
getreten  waren  3) ,  hätten  ihre  Diöcesen  um  die  sie  haderten,  gleich- 


*)  Farlati  III,  96,  vgl.  p.  92 :  Quiqtie  pervenientes  dicti  episcopi  ...  congregatis 
in  Spalato  episcopls  et  iudicibus  celeberrimum  eoncilium  peregere.  Unter  den 
iudices  sind  wieder  die  Zupane  zu  verstehen,  an  welche  auch  Johann  X.  sein 
Schreiben  zugleich  gerichtet  hatte  (verum  etiam  et  Omnibus  zupanis  ciiuctisque 
sacerdotibus  et  universo  popido  per  Sclavoniatn  et  Dalmatium  commorantibus) . 

2)  Ut  nullus  episcopus  nostrae  provinciae  andeat  in  quolibet  gradu  Slavinica 
lingua  promovere ;  tarnen  in  clericatu  et  monaehatu  Üeo  deservire.  Nee  in 
sua  ecclesia  sinat  cum  missas  fueere,  praeter  si  necessitatem  sacerdotian 
haberet  per  supplicatiouem  a  Romano  pontifice  licentiam  ei  sacerdotalis 
ministerii  tribuat. 

3)  So  verstehe  ich  den  can.  VIII :  De  episeopis  llagusitano  et  Cutharitano,  guorum 
manifeste  una  sedes  dignoscitur ,  ipsam  dioceesim  aequa  linier  inter  se  divi- 
dant.  Die  una  sedes  kann  nur  Epidaurus  gewesen  sein,  dessen  vertriebene  Be- 
wohner Ragusa  erbauten.  Meine  oben  (S.  370)  ausgesprochene  Verinuthung  von 
einer  neueren  Gründung  Cattaro's  empfangt  hierdurch  Bestätigung. 


4:22  Ernst  Dümmler. 

massig  zu  theilen.  Kein  Bischof  darf  die  ihm  vorgeschriebenen 
Grenzen  überschreiten  und  in  einen  fremden  Sprengel  eingreifen. 
Auch  der  Bischof  der  Croaten  ist  wie  die  übrigen  dem  gemeinsamen 
Metropoliten  von  Salona  unterworfen  und  dieser  daher  berechtigt,  für 
die  ganze  Kirchenprovinz  geistliche  Amtshandlungen  vorzunehmen. 
Wenn  dennoch  der  König  mit  seinen  Zupanen  sich  dieser  Bestimmung 
nicht  fügen  wollte,  so  hätte  er  und  sein  Bischof  die  ganze  Verant- 
wortung zu  tragen  für  etwaige  Abweichungen  im  Dogma,  und  die 
römische  Geistlichkeit  wolle  hierfür  keine  Mitschuld  auf  sich  nehmen. 
Einige  andere  Kanones  bezogen  sich  auf  die  öffentliche  Sittlichkeit 
des  noch  sehr  rohen  Volkes;  sie  verhängten  Strafen  gegen  die  häufig 
vorkommenden  Ermordungen,  verboten  das  Verstössen  der  Ehefrauen, 
ausser  im  Falle  der  Hurerei,  und  den  Genuss  von  Kirchengütern 
durch  Laien.  Auch  die  Erziehung1)  der  Knaben  für  wissenschaftliche 
Studien,  d.  h.  zur  Erlernung  der  Kirchensprache  und  des  lateinischen 
Bitus  wurde  besonders  anempfohlen  und  gebilligt. 

Nachdem  die  Synode,  d.  h.  lediglich  die  römischen  Bischöfe  mit 
den  Legaten  alle  diese  Beschlüsse  gefasst,  schickte  sie  dieselben 
durch  einen  Priester  Peter  von  Spalato  zur  Genehmigung  an  den 
Papst2).  Aber  auch  der  Bischof  Gregor  von  Nona  säumte  nicht  seine 
vermeintlichen  Ansprüche  auf  den  Primat  in  Dalmatien  durch  eigene 
Abgesandte  in  Born  geltend  zu  machen,  und  so  erfolgte  nicht  die  von 
Seiten  der  Römer  erwartete  und  gewünschte  Antwort,  sondern 
Johann  X.  forderte  vielmehr  im  Jahre  926  den  Erzbischof  Johann  von 
Spalato  auf3),  entweder  in  eigener  Person  mit  seinem  Gegner  in  Rom 
zu  erscheinen,  oder  einen  Suffragan  als  Bevollmächtigten  zu  senden, 


!)  Can.  XIV  .  .  ut  haeredes  suos  servos  suos  litterate  (corr.-rarum)  studiis 
tradant,  quicumque  ehrisiianitatem  perfeetam  habere  cupiunt.  Ut  Uli  eos 
(sc  discipulos)  instanter  corripiant  et  ipsi  eos  (sc.  magistros  s.  presbyteros) 
libenter  exaudiant,  non  ut  peregrinos  sed  ut  proprios. 

2)  Farlati  III,  97:  cuncta  per  ordhiem  sancta  synodus  Romano  pontifici  confir- 
manda  per  dicios  suos  legatos  episcopos  et  Petrutn  presbyterum  Spalatensem 
insertis  litteris  nuntiare  decrevit. 

3)  Farlati  111,101.  Er  spricht  von  der  maxima  murmiiratio,  die  sich  in  dem  Synodal- 
schreiben zeigte  und  schliesst:  Sed  quia  minime  res  praelibata  tumidtuantibus 
vobis  finiri  vuluit,  nihil  dignum  religionis  ecclesiastica  dogmata  sumere  potuit, 
in  welchen  Worten  man  den  Einfluss  der  einseitigen  und  parteiischen  Darstellung 
des  Bischofs  von  Nona  erkennt:  qui  sibi  vindicare  cupiens  primatum  Dalma- 
ttarum  episcoporum ,  hoc  quod  non  expediebat  contra  dictam  synodum  in 
unribus  apostolicis  iniustum  iniecif  certamen  (Farlati  III,  97). 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  423 

damit  durch  den  apostolischen  Stuhl  ihr  Streit  endgiltig  entschieden 
werden  könnte.  Die  übrigen  Capitel  der  Synode  dagegen  wurden 
bestätigt. 

Wahrscheinlich  weil  jener  Aufforderung  nicht  von  beiden  Sei- 
ten vollständig  entsprochen  ward,  dauerte  der  Zwist  noch  zwei  Jahre 
hindurch  fort1)»  bis  er  abermals  durch  einen  päpstlichen  Gesandten 
geschlichtet  wurde,  der  aus   einer   ganz  andern  Veranlassung  nach 
Croatien  gekommen  war.     Der   König  der    Bulgaren    Simeon    hatte 
nämlich  nicht  eher  geruht,  als  bis  es  ihm  doch  zuletzt  gelungen  war, 
den    ihm    feindlichen    Serbenfürsten    Zacharias    zu    stürzen a).     Er 
schickte  ein  zweites  Heer  unter  Knin,  Himnik  und  It  ;boklia  gegen  ihn 
aus,  welches  von  einem  neuen  Thronbewerber  Tzeslav,  dem  Sohne 
Klonimir's,  begleitet  war.  Zacharias  wagte  dieser  Streitmacht  gar 
keinen   Widerstand  entgegenzusetzen,  sondern  entwich  nach  Croa- 
tien.   Simeon    berief   hierauf  die  serbischen  Zupane  sämmtlich  zu 
einer  Versammlung,  unter  dem  Vorgeben,  seinen  Schützling  Tzeslav 
förmlich  von  ihnen  zum  Grossfürsten  wählen  lassen  zu  woilen.  Nach- 
dem er  sie  so  durch  ein  eidliches  Versprechen  getäuscht,  Hess  er 
sie  insgesammt  als  Gefangene  abführen  und  ergriff  darauf  ungehindert 
von  ganz  Serbien   Besitz,  dessen  Bevölkerung  zum  grossen   Theile 
nach  Croatien  flüchtete3).  Auch  dieses  gedachteSimeon  jetzt  entwe- 
der zu  unterwerfen  oder  für  die  Aufnahme  der  Serben  zu  bestrafen; 
er  schickte  im  Frühjahr  927  seinen  Feldherrn  Alogobotur  gegen  die 
Croaten  *),  die  ihn  aufs  Haupt  schlugen  und  seine  Truppen  grössten- 


1)  Farlati  III,  103:  Unde  frequenter  ea(n)dem  poscentibus  nobis  definitionem 
reeipere  .  .  .  qnae  sequuntur  epistolae  ad  nos  post  biennium  devenerunt. 
Dies  geschah,  wie  sich  aus  dem  Folgenden  ergibt,  im  Jahre  928,  daher  musste 
der  zuvor  erwähnte  Brief  926  gesetzt  werden  ,  und  die  Synode  von  Spalato ,  die 
wohl  einige  Monate  früher  statthatte,  wahrscheinlich  in  die  zweite  Hälfte  des 
Jahres  925. 

2)  Const.  de  adm.  imp.  c.  32  (p.  1S8). 

3)  Auch  nach  Konstantinopel  flüchteten  viele,  welche  der  Kaiser  Romanus  svouc;«;  xol 
E'yEpYETTjaa?  später  zurückschickte.  Von  diesen  ohne  Zweifel  liess  Konstantin  sich 
die  ungeheure  Übertreibung  aufbinden,  Simeon  habe  Serbien  dermassen  zur  Wüste 
gemacht,  dass  Tzeslav  c.  934  zurückkehrend  nur  50  Männer  ohne  Weib  und  Kind 
dort  vorfand  ,    die  ihr  Leben  von  der  Jagd  fristeten! 

4)  So  erzählt  Konstantin  de  adm.  imp.  a.  a,  0. ,  dagegen  soll  nach  dem  Theophan.  con- 
tinuat.  I.  VI,  c.  20  fp.  411)  am  27.  Mai  der  15.  Indiction  (d.  h.  im  J.  927)  Simeon 
selbst  gegen  die  Croaten  zieheiu! ,  von  ihnen  besiegt,  seine  sämmtlichen  Truppen 
eingebüsst  haben.  Auf  denselben  Tag  aber  verlegen  Symeon  Magister  (p.  740)  und 


424  Ernst  Dümmler. 

theils  vernichteten.  Da  um  dieselbe  Zeit  am  27.  Mai  Simeon  selbst 
starb  und  unter  seinem  Sohne  Peter  der  ihm  nachfolgte,  der  bulga- 
rische Name  plötzlich  seine  Furchtbarkeit  verlor,  so  machten 
unmittelbar  darauf  die  Ungern  und  die  Croaten  mit  einem  Theile 
der  Serben  l)  zur  Rache  für  jenen  Angriff  einen  feindlichen  Ein- 
fall in  Bulgarien.  Bald  aber  kam  dennoch  ein  Friede  zwischen 
beiden  Völkern  zum  Abschluss,  welchen  die  päpstlichen  Legaten, 
der  Bischof  Madalbert  und  ein  Herzog  Johann  vermittelten a). 
Wahrscheinlich  waren  dieselben  abgesandt,  um  wieder  eine  kirch- 
liche Verbindung  zwischen  Rom  und  Bulgarien  anzubahnen,  die 
freilich  in  keiner  Weise  zu  Stande  kam ,  da  Peter  durch  seine  Ver- 
mählung mit  der  griechischen  Prinzessinn  3)  Maria,  der  Tochter  des 
Christophorus,  gleich  darauf  in  ein  sehr  enges  Verhältniss  zum 
byzantinischen  Hofe  trat. 

Nachdem  die  päpstlichen  Abgeordneten  das  Friedenswerk  vollen- 
det hatten,  berief  Madalbert  die  dalmatischen  Bischöfe  und  croatischen 
Fürsten  wiederum  zu  einer  Synode  nach  Spalato.  Auf  dieser  wurden 
alle  alten  Gerechtsame  und  Privilegien  der  einzelnen  dalmatischen 
Kirchen  ,  vor  allen  der  des  b.  Domnus  neuerdings  anerkannt  und 
bestätigt.  Die  Bisthümer  sollten  sämintlich  in  ihren  ursprünglichen 
Grenzen  unter  dem  Primate  von  Spalato  wieder  hergestellt  werden, 
und  zwar  erscheinen  als  Suffragane  für  das  croatische  Dalmatien 
Arbe,  Veglia,  Ossero  und  Zara4),  für  das  serbische  aber  Stagno, 
Bagusa  und  Cattaro.   Da  die  Kirche  zu  Nona  vor  Alters  nicht  ihren 


Georgius  Monaehus  (p.  904)  den  Tod  Simeou's,  obgleich  der  Fortsetzer  des  Theo- 
phanes,  den  sie  übrigens  ausschreiben,  hierfür  (c.  21)  gar  keinen  Tag  angibt.  Viel- 
leicht darf  man  dies  dahin  vereinigen ,  dass  jene  Niederlage  »nd  der  Tod  Siineon''s 
allerdings  an  einem  Tage  erfolgten ,  dass  aber  dieser  eis  BciX-fapia-;  starb,  während 
nur  sein  Feldherr  in  Croatien  gesehlagen  wurde. 

*)  Theoph.  continuat.  VI,  22  (p.  413)  Tot  xiSxXtp  ouv  Iövy)  .  .  .  .  oi  ts  Xptußäxov  ol  Toupxoi 
xai  ol  XoiTtoi  .  .  . 

z)  Farlati  III,  103:  Bulgariam  petentes  Romanorum  legati  Madalbertus  venera- 
bilis  episcopus  et  Joannes  dux  illustris  du.v  Cumas  (diese  Worte  waren  auch 
dem  Herausgeber  räthselhaft)  . . .  sicut  Ulis  opus  iniunctum  apostolica  iussione 
fuit,  Bulgariam  perrexerunt;  r/uique  peracto  negotio  pacis  inter  Bulgaros  et 
Croatos  etc. 

3)  Theoph.  contin.  1.  VI,  c.  22  —  23  (p.  414);  Liudprand.  antapodosis  I.  HI,  c.  38; 
legatio  c.  19.    Am  8.  October  927  wurden  sie  getraut. 

4)  Zu  Trau  scheint  damals  kein  Bisthum  bestanden  zu  haben;  erst  zum  Jahre  998 
wird  ein  Bischof  dieser  Stadt  genannt  in  der  venetianischen  Chronik,  p.  32. 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  425 

eigenen  Bischof  hatte ,  sondern  zur  Diöcese  Zara  gehörig  nur  von 
einem  Erzpriester  verwaltet  wurde,  so  sollte  auch  dies  Verhältniss 
zurückgeführt  werden.  Dem  Bischof  Gregor  Hess  man  zur  Entschä- 
digung die  Wahl  zwischen  drei  ehemals  bischöflichen  Kirchen  *) 
die  sich  durch  die  Zahl  ihrer  Geistlichen  und  ihre  Volksmenge 
auch  wiederum  dazu  eigneten,  Bischofssitze  zu  sein,  zwischen 
Skradin  (Scardona),  Sissek  und  Delmina.  Wenn  derselbe  mit  einer 
von  diesen  drei  Diöcesen  nicht  zufrieden,  sie  alle  zusammen 
übernehmen  wolle,  so  würde  dies  nur  zu  seinem  eigenen  und  zum 
Verderben  des  ihm  anvertrauten  Volkes  gereichen,  da  bei  der 
ungeheuren  Ausdehnung  ihres  Sprengeis  Ein  Bischoi  nicht  im  Stande 
sei,  seinen  geistlichen  Pflichten  innerhalb  desselben  genügend  nach- 
zukommen. Alle  diese  Satzungen  wurden  durch  den  Bischof  Madal- 
bert  abermals  dem  Papste  zur  Bestätigung  vorgelegt  und  dieser 
—  seit  dem  Juli  928  Leo  VI.  —  säumte  nun  nicht2),  sofort  dem  Erz- 
bischof Johann  von  Salona  das  Pallium  zuzusenden.  In  dem  Begleit- 
schreiben3) welches  insbesondere  an  die  Bischöfe  Forminus  von 
Zara  und  Gregor  von  Nona  gerichtet  war,  forderte  er  sie  ernstlich 
zum  Gehorsam  gegen   ihren  Metropoliten  auf  und  zur  Beschränkung 


l)  FarJati  III,  103:  cum  sint  utrinque  omnes  populatae  et  Deo  adiuvante  sacer- 
dotum  et  plebium  copiam  liabentes  proponatur  sive  in  Scardonitanu  ecclesiu 
vel  Sisciuna  aut  eerte  in  Delminensi  ecelesia  (sc.  ei  ut  episcopus  sit).  Safa- 
rik  (II,  289)  sagt  sehr  ungenau,  es  wären  drei  neue  Bisthiimer  in  Skradin,  Sis- 
sek und  Duwno  gegründet  worden,  während  doch  in  Wahrlieit  zunächst  nur  von 
Einem  die  Rede  ist.  Ebenso  verwechselt  Thomas  von  Spalato  (c.  XIII,  p.  548)  die 
Zeilen,  indem  er  die  römischen  Bisthiimer  Siseia  und  Delminium  noch  bis  unter 
die  Herrschaft  der  Croaten  bestehen  lässt.  Nur  von  ihrer  Wiederherstellung  war 
die  Rede. 

-)  Divinu  uuctoritate  et  sancti  Petri  per  suas  litteras  et  paüii  missione  conjir- 
mata.  Daraus,  dass  die  letzte  Entscheidung-  erst  von  Leo  VI.  (also  nach  dem  Juli 
928)  gefällt  ward,  ergibt  sich,  dass  die  von  Madalbert  abgehaltene  Synode  jeden- 
falls ins  Jahr  928  gesetzt  werden  muss. 

:i)  Farlati  III,  106  (auch  hei  Ughelli  Italia  sacra  V,  p.  1457,  aber  noch  fehlerhafter): 
.  . .  Gregorium  vero,  qui  probitate  (corr.  opporlunitate)  temporis  in  Croatorum 
terra  episcopus  effectus  est ,  praecipimus  in  sola  Scardonituna  ecelesia  tan- 
tummodo  ministrure ,  uüenas  parochias  ei  praecipimus  nullo  modo  amplius 
usurpare.  Erst  nach  der  Zerstörung-  Bielograd's  durch  die  Venetianer  im  Jahre 
112(1  verlegte  dessen  Bisehof  seinen  Sitz  nach  Skardona  (2x6p5ova).  Auch  Thomas 
von  Spalato  weiss  von  den  Streitigkeiten  mit  dem  Bisehof  von  Nona  (c.  XVI,  p.  555) : 
restauratus  est  episcopatus  Noncnsis  (a.  1074)  cuius  episcopus  Gregorius  tiud- 
las  olim  molestias  Joanuem  Spalatensem  archiepiscopum  austinere  /'reit,  debi- 
tam  ei  subtruhendo  obedientiam,  et  sibi  ius  metropoliticum  indebite  vendicando. 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  II.  litt,  28 


426  E  r  n  s  t  D  ii  m  in  I  e  r. 

auf  die  ihnen  von  Alters  zustehenden  Diöcesangrenzen.  Der  croa- 
tische  Bischof  Gregor  aber,  der  nur  durch  die  Gunst  der  Zeit- 
verhällnisse  emporgekommen,  solle  sich  mit  der  Kirche  Scardona 
allein  genügen  lassen. 

Während  der  serbische  Staat  nach  seiner  völligen  Vernich- 
tung, im  J.  934  durch  Tzeslav  mühsam  wieder  hergestellt  wurde *) 
und  seitdem  ein  gehorsamer  Vasall  des  byzantinischen  Reiches  blieb, 
gelangte  Croatien  unter  den  Nachfolgern  Tamislav's,  besonders  unter 
Kresimir  II. a),  und  seinem  Sohne  Dirzislav  3)  zu  hoher  Macht  und 
Bliithe  und  breitete  sich  nach  beiden  Seiten  im  Norden  wie  im 
Süden  über  die  benachbarten  Landschaften  aus.  Die  Narentaner, 
gegen  welche  der  Doge  Petrus  Candianus  III. 4)  zweimal  seine  Gom- 
baren  auslaufen  liess,  weil  sie  nach  wieder  erlangter  Unabhängigkeit 
ihre  Räubereien  erneuerten,  mussten  sich  unter  die  croatische  Herr- 
schaft beugen  und  nicht  minder  die  kurz  zuvor  noch  so  mächtigen 
Zachlumer  5).  Ebenso  fiel  das  Land  zwischen  Sau  und  Drau,  das 
alte  croatische  Gebiet  Syrmien,  wieder  den  Grosszupanen  der  Croa- 
ten  zu  und  zugleich  auch  ein  grosser  Theil  von  Slavonien.  Unter 
Dirzislav  der  den  Königstitel  in  Dalmatien  dauernd  einführte, 
reichten  die  Grenzen  des  Reiches  von  Kärnten  und  Istrien  auf  der 
einen  und  der  Donau  auf  der  andern  Seite  im  Süden  bis  nach  Ragusa, 


i)  Constant.  de  adm.  imp.  c.  32  (p.  158  —  159):  xal  &icb  xüiv  idousiwv  öwpeuiv  toö 
ßa;ji).su)<;  xtuv  'P(D|xcua>v  j'jaTY)aa|j.svo;  xal  evotxiqaas  tt)v  yiopav  <b<;  i-i  npätepov  ecmv 
ÜäotctoiyiJ-svo;  SotAoupSTCÜJ;  to>  ßaatXEt  'Pu)|xaicüv  (sc.  TCsia&Xaßos)' 

2)  Vgl.  die  Urkunde  Kresimir's  III.  vom  Jahre  1069  (Schwandtner  III,  123),  worin 
er  von  den  gestis  proavi  Cresimiri  maioris.  .  .et  filii  eins  Dirzislavi  spricht. 

3)  Er  wird  erwähnt  in  zwei  Urkunden  von  den  Jahren  994  und  1000  (Farlati  III, 
p.  111  —  112);  vgl.  Thomas  archidiacou.  c.  XIII  (p.  548):  Martinus  archiepiscopus 
fuit  anno  dorn.  970  tempore  Theodosii  imperatoris  et  Dircislavi  regis ;  ...  ab 
isto  Dircislavo  caeteri  successores  eins  reges  Dalmatiae  et  Croatiae  appellati 
sunt;  recipiebant  enhn  dignitatis  insignia  ab  imperatoribus  Constantinopoli- 
tanis  et  dieebantur  eorum  eparchi  sive  patritii.  Habebant  namqtte  ex  suc- 
cessione  saae  originis  patrnm  et  proavorum  dominium  regni  Dalmatiae  et 
Croatiae. 

4)  Johannis  chron.  Venet.,  p.  24.  Der  erste  Angriff  geschah  im  Jahre  948  (sexto  sui 
ducatus  anno),  der  zweite  vor  959,  in  welchem  Petrus  starh.  Die  Venetiauer 
kehrten  federe  firmato  ad  propria  zurück,  also  bildeten  die  Narentaner  damals 
noch  einen  unabhängigen  Staat. 

5)  Thomas  archid.  c.  XIII:  Istaque  fuerunt  regni  eorum  confinia  .  .  .  ab  aquilone 
vero  a  ripa  Danubii  usque  ad  mare  Dahnaticum  cum  tota  Muronia  et  Chul- 
miae  ducatu.  Das  Bisthum  Knin  reichte  (e.  XV)  usque  ad  Dravum  fluvium. 
Safafik  (II,  291)  bezweifelt  die  Abhängigkeit  der  Südserben. 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien.  4^  ( 

welches  seitdem  auch  die  Markscheide  der  croatischen  und  serbischen 
Nationalität  wurde  «)•  Auf  diesen  glänzenden  Aufschwung  folgte  aber 
ein  schnelles  Sinken  ,   als    der  tapfere   venetianische  Doge  Petrus 
Urseolus  dem  König  Dirzislav  den  bis  dahin  üblichen  Zins  kündigte2) 
und   nachdem   er  schon  vorher  das   Räubernest   Lissa   zerstört,  im 
J.  998  durch  einen  grossen  Seezug  3)  alle  dalmatischen  Römer  und 
sogar  die  croatische  Hauptstadt  Bielograd   zur  Anerkennung    seiner 
Oberhoheit   bewog.    Auch    die  Narentaner  züchtigte  er  durch    die 
Unterwerfung  der  Inseln  Kurzola  und  Lagosta.  Hiermit  begann  die  Ein- 
mischung der  Fremden,  bald  der  Venetianer,  bald  der  Griechen  bald 
der  Ungern  für  das  Schicksal  des  croatischen   Volkes  entscheidend 
zu  werden,  und  Croatien  gelangte  seitdem  nie  wieder  zu  einer  selb- 
ständigen Macht  und  Bedeutung,  zumal  da  die  Serben  '*),  durch  römi- 
sche  Elemente   nicht   zersetzt ,  bald  eine  viel  grössere   Volkskraft 
entwickelten  und  ihren  Nachbarn  durchaus    den   Vorsprung  abge- 
wannen. 

In  den  kirchlichen  Verhältnissen  Dalmatiens  drangen  allmählich 
jene  Bestimmungen  durch,  welche  die  beiden  Synoden  von  Spalato 
beschlossen  hatten.  Die  Diöcesen  der  römischen  Bischöfe  umfassten 
in  der  That  auch  croatisches  Gebiet,  wie  denn  z.  B.  die  von  Spalato 

v 

selbst  sich  auch  über  die  Zupanien  Cettina,  Hlivno ,  Karbava  u.  a. 
erstreckte 5).  Auch  ward  das  Bisthum  Nona  längere  Zeit  hindurch 
wirklich  aufgehoben  und  scheint  erst  im  J.  1074  durch  Gregor'sVII. 
Legaten,  den  Erzbischof  Gerald  von  Sipontum,  förmlich  wiederher- 


4)  Miklosich,  vergleich.  Grammatik  p.  VIII,  doch  sind  „die  Grenzen  nach  keiner 
Seite  hin  genau  ausgemittelt". 

2)  Joh.  chron.  Venet.  p.  29,  30. 

3)  Ebenda  p.  31 — 33.  Vorher  waren  nur  die  Jateranenses  cives  dem  Dogen  unter- 
worfen. Die  Croatorum  ac  Narentunorum  principe»  werden  neben  einander 
genannt,  doch  können  sehr  wohl  die  letzteren  die  Vasallen  der  ersteren  gewesen 
sein.  Der  ungenannte  Croatorum  rex,  der  seinen  Bruder  Surigna  entfernt  hatte, 
muss  Dirzislav  sein.  Der  Doge  nannte  sich  seitdem  (p.  35)  Venetieorum  ac 
Dalmaticorum  dux. 

4)  Schon  gegen  die  Mitte  des  XI.  Jahrhunderts  gründete  Michael  unter  den  Siid- 
serben  ein  Reich,  wahrscheinlich  zu  Duklia,  und  wurde  auch    von    Gregor  VII.   als 

V  V    . 

König  anerkannt  (Safarik  II,  252). 

5)  Thomas  archidiac.  c.  XV  (p.  550) :  Ecclesia  nempe  metropolis  has  sibi  voluit 
parochias  retinere  .  .  .  comitatum  Cetinae ,  Cleunae ,  Clissae ,  Masaarum, 
Almissum  et  Corbaviam  ei  ultra  Alpes  ferreas  usque  ad  confinia  Zagrabiae 
totamque  Maroniam.    Vgl.  Farlati  III,  13. 

28' 


428  Ernst  Dämmler. 

gestellt  worden  zu  sein  *)■  Inzwischen  hatte  sich  freilich  zu  Knin 
ein  neuer  croatischer  Bischof  erhoben  mit  einem  sehr  weit  ausge- 
dehnten Sprengel,  welcher  den  königlichen  Hof  auf  allen  seinen  Reisen 
begleiten  musste2),  und  auch  zu  Bielograd  wurde  ein  eigenes  Bis- 
thum  errichtet3).  Die  Gründung  einer  neuen  Metropole  zu  Antivari 
für  die  Südserben,  welche  Alexander  II.  im  J.  1067  bestätigte4), 
entzog  dem  Erzbischof  von  Salona  den  südlichsten  Theil  seines  Spren- 
geis, für  welchen  schon  seit  dem  Ende  des  X.  Jahrhunderts  der 
Bischof  von  Ragusa  die  erzbischöfliche  Würde5)  angestrebt  hatte. 

Der  slawische  Gottesdienst  behauptete  sich  durch  die  Neigung 
des  Volkes  auch  noch  nach  dem  Verbote  Johann's  X.,  so  dass  im  XI. 
Jahrhundert  ein  abermaliges  Einschreiten  nöthig  schien.  Im  J.  1059 
als  Kresimir  III.  in  Croatien  regierte  6)  und  der  Erzbischof  Johann 
der  Kirche  Spalato  vorstand,  hielt  der  Abt  Mainard  von  Pomposia, 
später  Cardinal  von  S.  Rufina,  als  Legat  des  Papstes  Nikolaus  II.  eine 
Provinzialsynode  ab  7),  in  welcher  u.  a.  festgesetzt  wurde  ,  dass  in 
Zukunft  Niemand  mehr  in  slawischer  Sprache  die  Feier  der  Sakra- 
mente begehen  dürfe,  sondern  nur  in  griechischer  oder  lateinischer, 
und  dass  kein  slawischer  Priester  fortan  die  Weihe  empfangen  solle. 
„Denn,  so  fährt  unser  Berichterstatter  fort,  man  behauptete,  dass 
die  gothische  Schrift  von  einem  gewissen  Ketzer  Methodius  erfunden 


i)  Thomas  archid.  c.  XVI.  (p.  555).  Das  Jahr  folgt  aus  Jaffe  regesta  Nr.  3604. 
Auf  der  Versammlung,  die  Kresimir III.  im  .1.  1069  zu  Noua  hielt  (in  nostro  Nonensi 
cenaculo) ,  tritt  als  Bischof  des  Ortes  noch  der  von  Zara  auf,  doch  findet  sich 
ein  Bischof  von  Nona  bereits  im  J.  1072  genannt  (S  chw  an  dtn  er  III,  125,  164). 

-)  Thomas  archid.  c.  XV  (p.  550):  regalis  erat  episcopus  et  regis  curiam  seque- 
batur  eratque  unus  ex  principibus  aulae. 

3)  Ebenda. 

4)  Thomas  archid.  p.  549,  vgl.  die  Bulle  Alexander's :  Schwandtue r  III,  p.  149 
(Jaffe  regesta  Nr.  3422,  wo  sie  erst  in  das  richtige  Jahr  gewiesen  wird)  und  den 
Presbyter  Diocleas  c.  XII  (p.  483). 

5)  In  Johannis  chron.  Venet.  p.  33  wird  a.  998  der  Ragusiensis  arcMepiscopus 
erwähnt,  obgleich  ihm  Spalato  tocius  Dahnaciae  Metropolis  ist.  In  einem  Schreiben 
Gregor's  VII.  an  den  König  der  Serben  Michael  vom  J.  107S  ist  die  Rede  von 
dem  Streite  zwischen  den  Erzbischöfen  von  Spalato  und  Ragusa,  der  in  Rom  ent- 
schieden werden  soll  (Schwan  dtn  er  III,  142). 

°)  Kresimir  III.  schenkte  im  Febr.  1059  coram  apoehrisario  S.  R.  ecclesiae  vene- 
rabili  abbate  Maynardo  misso  a  Nicoiao  sanclissimo  papa  dem  Kloster  des  h. 
Johannes  zu  Bielograd  die  Insel  Zuri.  Da  schon  der  Erzbischof  Laurentius  zugegen 
war,  so  muss  die  Synode  vorher  stattgefunden  haben  ,  denn  sie  versammelte  sich 
noch  bei  Lebzeiten  seines  Vorgängers  Johann  (vgl.  Jaffe'  regesta  Nr.  3509). 

')  Thomas  archidiae.  c.  XVI  (p.  552—553). 


Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  iii  Dalmatien.  420 

sei,  welcher  als  ein  Betrüger  in  derselben  slawischen  Sprache  vieles 
gegen  die  katholische  Glaubensregel  schrieb;  desshalb  soll  er  auch  nach 
göttlichem  Gericht  durch  einen  plötzlichen  Tod  bestraft  worden  sein." 
Dieser  höchst  wunderlichen  und  ungerechten  Auffassung  des  h.Metho- 
dius,  welche  als  weitereAusbildung  der  früheren  von  VViching  aufge- 
brachten Verdächtigungen  erscheint,  liegt  ersichtlich  nichts  anderes  zu 
Grunde  als  eine  Verwechselung  zwischen  ihm  und  dem  Bischof  Vulfila, 
dem  Erfinder  der  gothischen  Schrift,  in  welcher  derselbe  allerdings 
manches  wider  den  orthodoxen  Glauben  schrieb.  In  ähnlichem  Sinne 
war  ja  in  Dalmatien  die  Ansicht  verbreitet,  arianische  Gothen  seien 
die  Stammväter  der  Croaten  gewesen  *).  Die  Beschlüsse  des  von  Mäi- 
nard  abgehaltenen  Concils,  welche  noch  Alexander  II.  auf  einer 
römischen  Synode  bestätigte  3),  erfüllten  die  slawischen  Priester  mit 
grosser  Betrübniss,  denn  ihre  Kirchen  wurden  geschlossen  und  sie 
mussten  den  gewohnten  Gottesdienst  einstellen.  Dennoch  drang 
dieses  Verbot  noch  nicht  vollständig  durch  und  im  J.  1248  erlaubte 
Innocenz  IV.  dem  slawischen  Bischöfe  von  Zengg  auf  sein  Gesuch  3), 
dass  in  den  Kirchen  wo  es  herkömmlich  sei,  der  Gottesdienst  in  der 
slawischen  Sprache  abgehalten  werden  dürfe.  Als  Urheber  ibrer 
eigenen  Schrift  aber  bezeichneten  die  croatischen  Priester  nicht  mehr 
den  h.  Methodius  dessen  Urtheil  einmal  gesprochen  war  ,  sondern 
den  h.  Hieronymus  selbst,  und  die  Schrift  welche  Innocenz  erlaubte, 
ist  nicht  die  von  Konstantin  erfundene  Kyrilliza,  sondern  die  ihrem 
Ursprünge  nach  räthselhafte  Glagoliza.  In  dieser  Form  behauptete 
sich  die  slawische  Liturgie4)  bis  auf  den  heutigen  Tag. 


i)  Vgl.  oben  S.  36i. 

2)  Ivonis  decret.  IV,  c.  139:  Notifieamus  omnia  capitula,  qtiae  per  eonfratres 
nostros,  venerabilem  Mainardum  sc.  coUuterulem  episcopum  nostrum  et  Jo- 
hannern archiepiscopum  nostrum  in  Spalalo  aliisque  civitatibus  sunt  statuta  etc. 
Von  dieser  Bestätigung-  weiss  auch  Thomas  von  S|ta!alo  (p.  553 — SS4),  der  hier- 
durch verführt  wurde,  die  Synode  unter  Alexander  II.  und  den  Erzbischof  Laurentins 
zu   setzen. 

3)  FarlatiUI,  143  (aus  Raynaldus)  ...  in  Ulis  dumtaxat  partibus,  ubi  de  consue- 
tudine  observatur  praemissa. 

4)  Vgl.  Kopitar,  Ülagolitn  Clozianus  p.  XIII— XVIII. 


430     Ernst  Diimmler.  Über  die  älteste  Geschichte  der  Slawen  in  Dalmatien. 


REGENTENTAFEL. 


Grossiiipane  Croatiens. 

(Zuonimir  796  ?). 

Borna  (Porinus)  818  f  821. 

Ladaslav  821. 

Muislav  (Mislavo)  839. 

Tirpimir  852. 

Kresimir  I. 

Miroslav,  4  Jahre  lang. 

Pribunia. 

Domagoi  c.  865  -{-876. 

Söhne  Domagoi's  877. 

Sedeslav  877—879. 

ßranimir(ßrenamir)879, 880. 

Muncimir  892. 

Tamislav  914,  926. 

Kresimir  II. 

Surigna  (Kresimir  III  ?). 

Dirzislav  970,  994,  1000. 


Gross&npane  Serbiens. 

Boiseslav. 

Rodoslav. 

Prosegois. 

Wlastimir. 

Muntimir,  Stroimir,  Goinik. 

Muntimir  allein  c.  872  f  c.891. 

Piibeslav,  Branus,  Stephan. 

Peter  c.  892—917. 

Paulus  c.  917—923. 

Zacharias  c.  924—927. 

(Serbien  bulg.  c.  927— 934). 

Tzeslav  c.  934. 


Chanen.  Könige  Bulgariens. 


Krum  e  802—815. 

Mortago  (Omortag)  815,827. 

Presiam. 

Bogoris  (Michael)  c.  844-889. 

Wladimir  889—893. 

Simeon  893—927. 

Peter  927—968. 

Roman,  Peter,  968—971. 

(Bulgarien  griech.  971-976). 


STAMMBAUM 

der  serbischen  Fürsten  nach  Konstantin  Porphyrog.  c.  32. 


Boiseslav. 

1 

I 

Rodoslav. 

1 

Prosegois. 

1 

Wlastimir. 

Muntimir. 

Stroimir. 

1 
Klonimir 

Bulg 

arin. 

Goinik 
1 

Pribeslav. 

1 

Branus. 

! 

Paulus. 

Stephan. 

Peter. 

Zacharias. 

Tscheslav. 

Verzeichiiiss  der  eingegangenen  Druckschriften.  4rOi 


VERZEICHNIS 


DER 


EINGEGANGENEN    DRUCKSCHRIFTEN. 

(APRIL.) 

Akademie  der  Wissenschaften,  k.  preussische,  Abhandlungen  aus 

dem  Jahre  1854,  I  Suppl. 
Annalen  der  Chemie  und  Pharmacie.  Bd.  97,  Heft  3. 
Annales  academici,  1851  —  52.  Lugduni  Batav.  1855;  4°- 
Annales  des  mines.  Serie  V,  Tom.  7. 
Austria,  Nr.  13  —  17. 
Brück,  R.,  Electricite  ou  magnetisme  du  globe  terrestre.  Extrait 

d'etude  sur  Ies  principes  des  sciences  physiques.  Vol.  I,  p.  1,2. 

Bruxelles  1851  ;  8<>- 
Cicogna,    Em.,    Relazione    sopra    due    opere    di    P.    Kandier. 

(Atti  deir  Istituto  Veneto.  Ser.  3,  T.  1  disp.  3.) 
Effemeridi  astronomiche  di  Milano.  1856. 
Eichwald,    Ed.  von,   Naturhistorische   Bemerkungen  als  Beitrag 

zur  vergleichenden  Geognosie  auf  einer  Reise  durch  die  Eifel, 

Tirol,  Italien  etc.  Moskau  1851;  4<>- 
Fenicia,  Salvatore,  Dissertazione  sul  tifo  colerico.  Napoli  1855;  8°- 
gerbtnanbeum,  26.  3a§re86erid)t  be3  58ertoaltimg8*2lu8fd}uffe3. 

—  Sfteue  3ettfd)rift  für  Strot  unb   Vorarlberg.  (Dritte  $o(ge,  9h\  5. 
fttota,   1856,  Mi.  1  —  12. 

Germanisches  Nationalmuseum.  Denkschriften,  Bd.  I. 
Gesellschaft  für  Beförderung  der  Naturwissenschaften  zu  Freiburg 

im  Breisgau.  Berichte,  Heft  12. 
Gesellschaft,    Deutsche    morgenländische,    Zeitschrift.    Bd.  X, 

Heft  1,  2. 


432  Verzeichniss 

Gilliss,   J.   M.,   The    U.   S.    naval  astronomical  expedition  to  the 

southern  hemisphere  daring  the  years  1849  —  52.  Vol.  1,  2. 

Washington  1855;  4°- 
Goerz,   Chemische  und  praktische  Untersuchung  der  wichtigsten 

Kalke  des  Herzogthums  Nassau.  Wiesbaden  1855;  4°- 
Hamburger  Stadt-  und  Schulschriften  aus  dem  Jahre  1854. 
Zöllner,  Stbolf,  ©efdjicfyte  ber  £errfd)aft  $trd)f)eim  *  23otanb  unb  @tauf. 

Sßteäbaben  1854;  8<>- 
Kool,  J.  A.,  Apercu  historique  au  sujet  de  la  societe  pour  secourir 

les  noyes  instituee  ä  Amsterdam.  Amsterdam  1855;  8°* 
Lot os.  1856,  Nr.  1,  2. 
SSRe^er,   St.,  ©ine  neue  einfache  SKet^obc  ba§  fpeciftfcfye  ®etmd)t  fefter 

unb  fiüfftger  Körper  gu  beftimmen.  8t.  «Petersburg  1855;  8°- 
SJiofyr,  %f).  ».,  Strato  für  bte  ©cf^i^tc  ber  Sftepubltf  ©raubünben. 

$eft  15  —  17. 
Müller,  Niklas,  Mithras.  Wiesbaden  1851;  So- 
Nachrichten,  Astronomische.  1015  —  18. 
Radlkofer,  Ludwig,  Die  Befruchtung  der  Phanerogamen.  Leipzig 

1856;  4o- 
Reich  enbach,  C.  von,  Odische  Erwiederungen.  Bd.  I,  1856. 
Society,  Asiatic  of  Bengal,  Journal.  1855,  Nr.  5,  6. 
Society,  chemical,  Quarterly  Journal.  Nr.  31 ,  32. 
Stalin,    Christ.  Friedr.  v. ,  Würtembergische  Geschichte.  Th.  3. 

Stuttgart  1856;  8°- 
Suess,  E.,  Notice  sur  Tappareil  brachial  des  Thecidees.  Traduit 

p.  le  Comte  F.  A.  de  Marschall  et  observations  sur  le  meine 

sujet.  Par  Eug.  Deslo  ngcham  ps.  Caen  1855;  40, 
Valentinelli,  Er.,  Bibliografia  della  Dalmazia  e  del  Montenegro. 

Zagrabia  1855;  8«- 
herein,  fnftortfdjer ,   für   ba§   »ürtembergtftye    ^ranfen.    ßeitfdjrift. 

£efi  9.  * 

gßeretne,  £e|tfd)e,  für  ©efd)td)te  ic.  $ertobtfd)e  33(ätter.  Sffr.  1— 7. 
Verein,  S.  Nassauische  Alterthumskunde  und  Geschichtsforschung. 

Denkmäler.  Heft  1. 
—  Annalen.  Bd.  IV,  Heft  1  —  3. 
93er ein,  f)tftortfd)er,  ber  Gberpfafj.  93ert;aublungeu.  33b.  16. 
93er ein,   f>iftortfd)er,   für  sftieberfad)fen.   ßeitfcbrift,   1852,  £eft  2; 

1853,  £cft  1,  2. 


der  eing-egnng-enen  Druckschriften. 


433 


Verein,  naturhistorischer,  der  preussischen  Rheinlande,  Jahres- 
bericht. 12.,  Heft  3,  4. 

Verein,  naturwissenschaftlicher,  für  Sachsen  und  Thüringen. 
Zeitschrift.  Bd.  5,  6. 

Sfßagner,  3)?.,  unb  «Sdjetjer  ßatl,  Steifen  tn  0iorbamerifa  in  ben 
Sauren  1852  unb  1853.  3  SBbe.  «eipjtg  1854;  8°- 

Waldheim,  Fischer  de,  Rapport  sur  les  travaux  de  la  societe  Imp. 
des  Naturalistes  de  Moscou.  Moscou  1856;  4°- 

Wolf,  Fernando  y  Hofmann,  Conrado,  Primavera  y  flor  de 
Romances  6  coleccion  de  los  mas  viejos  y  mas  populäres  roman- 
ces  castellanos.  2  Vol.  Berlin  1856;  8<>- 


/ 


SITZUNGSBERICHTE 


DER 


KAISERLICHEN  AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN. 


PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE   CL ASSE. 


XX.  BAND.  III.  HEFT. 


JAHRGANG   1856.   —  MAI. 


29 


437 


SITZUNG  VOM  7.  MAI   1856. 


Gelesen : 


Bericht  über  die  Thätigkeit  der  historischen   Commission  der 
kais.   Akademie  der    Wissenschaften   während  des  akademi- 
schen Verwaltungsjahres  1854  auf  1855. 

Vorgetragen  in  der  Classensitzung  vom  7.  Mai  1856  von  dem  Bericht- 
erstatter derselben  Th.  G.  v.  Rarajan. 

Meine  Herren ! 

Im  Sinne  des  §.  28  unserer  Geschäftsordnung  erstatte  ich  heute 
den  mir  obliegenden  Bericht  über  die  Leistungen  Ihrer  historischen 
Commission  während  des  akademischen  Verwaltungsjahres  1854  auf 
185o.  An  die  Spitze  desselben  stelle  ich  den  Überblick  des  materi- 
ellen Umfanges  der  im  Laufe  des  Jahres  von  der  Commission  zu- 
standegebrachten Veröffentlichungen.  Ein  Paar  Bände  derselben  sind 
allerdings  noch  nicht  ausgegeben,  im  Drucke  aber  schon  so  weit  vor- 
geschritten, dass  ihr  Erscheinen  in  Kurzem  zu  gewärtigen  ist.  Sie 
müssen  aber  den  Leistungen  des  Vorjahres  entschieden  zugeschrieben 
werden,  weil  ihre  Abfassung  sowohl  wie  die  Prüfung  der  ein- 
gelieferten Arbeit  jener  Zeit  angehört,  und  auch  deren  Druck  über- 
wiegend in  ihr  bewerkstelligt  wurde. 

Im  Laufe  dieses  Jahres  sind  nun  nicht  weniger  als  neun  starke 
Octavbände  geliefert  worden,  im  Gesammtiunfange  von  beiläufig  320 
Bogen,  zum  Theile  sehr  engen  Druckes.  Von  diesen  entfallen  auf 
unsere  Fontes  rerum  Austriaearum'  fünf  Bände,  nämlich  in  der 
Reihe   der    ersten    Abtheilung    der   zweite,    in  jener  der    zweiten 

29* 


438  v-  Karajan. 

Abtheilung  der  achte,  zehnte,  eilfte  und  zwölfte ;  in  der  Reihe  der  Bände 
unseres  'Archives'  der  vierzehnte  und  fünfzehnte;  von  den  'Monu- 
mentä  habsburgica'  Abtheilung  I,  Band 2,  endlich  vom  'Notizenhlatte' 
Band  5.  In  diesem  Jahre  sind  somit  im  Ganzen  um  drei  Bände  mehr 
geliefert  als  im  Vorjahre,  zudem  mehr  als  in  irgend  einem  der 
vorausgegangenen  sieben  Jahre  des  Bestehens  Ihrer  historischen 
Commission. 

Der  Inhalt  dieser  Bände,  dessen  ist  sich  die  Commission  bewusst, 
wird  weder  an  innerem  Gehalte,  noch  an  Vielseitigkeit  dem  in  frü- 
heren Jahren  Gelieferten  nachstehen.  Die  sachliche  Durchordnung 
desselben,  zu  der  ich  gleich  übergehen  werde,  lässt  darüber  keinen 
Zweifel. 

Mit  den  von  der  verehrten  Classe  für  den  Lauf  des  Jahres 
bewilligten  Geldmitteln  wurde  gewissenhaft  hausgehalten,  so  dass 
irgend  eine  nennenswerthe  Überschreitung  der  gewährten  Ausmasse 
in  keiner  der  Abteilungen  zu  befürchten  ist. 

Ich  halte  es  für  zweckmässig,  bei  der  Durchordnung  des  ver- 
öffentlichten Stoffes  genau  den  Gang  meiner  früheren  Berichte  ein- 
zuhalten, wäre  es  auch  nur,  um  Vergleiche  und  Anknüpfungen 
an  die  Abtheilungen  der  früheren  Berichte  zu  vermitteln  oder  zu 
erleichtern. 

Das  Stammland  der  Monarchie, 

Österreich  unter  der  Enns, 

ist  was  die  allgemeine  Landesgeschichte  betrifft,  durch  zwei 
Arbeiten  bereichert  worden.  Erstens  durch  eine  Mittheilung  Dr.  H. 
Zeibig's:  Beiträge  zurGeschichte  der  ständischen  Verhältnisse  Öster- 
reichs unterder  Enns  in  den  Jahren  1510  bis  1540,  aus  einer  Samm- 
lung von  gedruckten  Original-Ausschreibender  niederösterreichischen 
Stände  im  Stifts-Archive  zu  Kloster-Neuburg.  Im  Notizenblatte  Nr.  13 
auf  S.  297  bis  303,  dann  Nr.  14  auf  S.  316  bis  325.  Zweitens  durch 
den  Abdruck  von  44  Briefen  und  Urkunden  zur  Geschichte  der  Ver- 
waltung des  Landes  und  des  ungrischen  Einfalles  der  Jahre  1476 
bis  1478.  Er  findet  sich  durch  Regierungsrath  Chmel  eingerückt  in 
den  Monum.  habsb.  Abtheilung  I,  Bd.  2  auf  S.  516  bis  634. 

Die  bedeutendste  Bereicherung  hat  aber  im  Laufe  des  Jahres 
die  Geschichte  der  geistlichen  Körper  Schäften  dieses  Kron- 
landes erfahren;  denn  mit  rühmlichem  Eifer  haben  die  drei  ältesten, 


Bericht  über  die  Thätigkeit  der  historischen  Commission  etc.  430 

noch  bis  zur  Stunde  erhaltenen  geistlichen  Stiftungen  des  Babenber- 
gischen  Hauses  den  reichen  Vorrath  ihrer  Archive  der  Wissenschaft 
erschlossen  und  den  willkommenen  Stoff  Ihrer  historischen  Commis- 
sion zur  Verfügung  gestellt.  Dadurch  wurde  es  möglich,  drei  Bände 
unserer  Fontes  mit  dieser  für  die  Geschichte  des  Stammlandes  so 
nöthigen  Ausbeute  zu  füllen. 

Band  VIII  der  Fontes  enthalt  das  lang  ersehnte  älteste  Saalbuch 
des  Benedictiner- Stiftes  Göttweig,  mit  Erläuterungen  und  einem 
diplomatischen  Anhange  veröffentlicht  durch  Willi.  Karlin  ,  Mitglied 
dieses  Stiftes.  Die  Erläuterungen  ,  379  an  der  Zahl ,  zeugen  von 
grossem  Fleisse  und  Sachkenntniss.  Der  Anhang  enthält  die  ältesten 
und  wichtigsten  Urkunden  des  Stiftes  aus  den  Jahren  1083  bis  1300, 
achtzig  an  der  Zahl,   begleitet  von  sehr  brauchbaren  Registern. 

Band  XI  der  Fontes,  bis  auf  das  Register  fertig  gedruckt,  bringt 
eine  Sammlung  von  345  Urkunden  des  Stiftes  Heiligenkreuz,  gröss- 
tentheils  ungedruckt  und  aus  den  Jahren  1136  bis  1299,  heraus- 
gegeben von  dem  Hofmeister  des  Stiftes  P.  T.  Weiss,  das  erste  über- 
haupt erschienene  Urkundenbuch  dieses  Stiftes.  Ein  folgender  Band 
soll  die  Urkunden  des  vierzehnten  Jahrhunderts  enthalten. 

Band  X  der  Fontes  endlich,  dessen  Erscheinung  durch  Über- 
siedlung und  Erkrankung  des  Herausgebers  etwas  verzögert  wird, 
bringt  nicht  weniger  als  300  bisher  ungedruckte  Urkunden  des  Stifts- 
Archives  zu  Kloster-Neuburg  aus  dem  zwölften  bis  fünfzehnten  Jahr- 
hundert. Die  Bearbeitung  desselben  wurde  durch  das  fleissige  Mit- 
glied dieses  Stiftes  Dr.  H.  Zeibig  an  die  Commission  eingesandt. 
Dieser  überraschend  neue  Vorrath  geschichtlichen  Stoffes,  noch  neben 
den  Veröffentlichungen  unseres  verstorbenen  corresp.  Mitgliedes  M. 
Fischer,  erklärt  sich  aus  dem  Umstände,  dass  sich  Fischer  grössten- 
theils  auf  die  Mittheilung  von  Original-Urkunden  beschränkte,  und 
die  in  den  Saalbüchern  eingetragenen  vorerst  nicht  lieferte,  während 
Dr.  Zeibig  nachträglich  überwiegend  solche  sammelte. 

Ausser  diesen  drei  grösseren  Mittheilungen  sind  hier  noch  zwei 
kleinere  einzureihen;  erstens  fünf  Urkunden  zur  Geschichte  des 
Nonnenklosters  S.  Niklas  zu  Wien  aus  den  Jahren  1277,  1283, 
1287  und  1289,  welche  P.  T.  Weiss  im  Anhange  zum  eilften  Bande 
der  Fontes  auf  den  Seiten  311,  313,  314,  317  und  320  veröffent- 
lichte; dann  ebenda  auf  Seite  322  die  Urkunde  Nr.  XXII  vom 
1.  Februar  1296,  betreffend  das  Nonnenkloster  St.  Peterinder  Sperre 


440  V.  Karaja». 

zu  Wiener-Neustadt,  und  zwar  eine  Schenkung  des  Richters  daselbst, 
Heinrich  Leubel,  über  eine  Baadstube  in  der  Stadt  und  ein  Grundstück 
zu  Solenau. 

Die  Geschichte  des  Städtewesens  in  diesem  Kronlande  ist 
auch  sonst  nicht  leer  ausgegangen. 

Zur  Geschichte  Wiens  z.  B.  sind  nicht  weniger  als  sechs  Bei- 
träge aufzuführen.  Im  Allgemeinen  eine  Mittheilung  Chmers:  'Zur 
Geschichte  der  Stadt  Wien  aus  Wiener  Stadtrechnungen  der  Jahre 
1368  bis  1403'  aus  einer  Handschrift  der  k.  k.  Hofbibliothek;  im 
Notizenblatte  Nr.  14,  S.  325  bis  328;  Nr.  15,  S.  350  bis  352; 
Nr.  16,  S.  365  bis  376;  endlich  in  Nr.  17  auf  S.  391  bis  400. 

Ferner  aus  dem  magistratischen  Archive  der  Hauptstadt  mitge- 
theilt  durch  A.  Camesina :  'Die  Ordnung  im  Pilgrimshause  zu  Wien', 
aufgesetzt  am  23.  April  1423  durch  den  Rector  der  Wiener  Univer- 
sität Narciss  Hercz  von  Berching,  dann  den  Landes-Hubmeister  und 
Kellermeister,  im  Notizenblatte  Nr.  18,  S.  419  bis  424.  Aus  dem 
Archive  des  Stiftes  Heiligenkreuz  mitgetheilt  durch  P.  T.  Weiss  im 
Anhansre  zu  Band  XI  der  Fontes  auf  S.  321  eine  Urkunde  Nr.  XXI 

CT 

vom  21.  April  1292  betreffend  den  Wiener  Bürger  Heinrich  Kastner 
und  Gertrud  dessen  Hausfrau. 

Auch  das  geistige  Leben  dieser  Stadt  wird  durch  ein  paar  Auf- 
sätze beleuchtet.  So  jenes  der  Wiener  Hochschule  durch  eine 
Abhandlung  des  corresp.  Mitgliedes  Fried.  Firnhaber  über  das  Ver- 
hältniss  der  Universität  zur  Constanzer  Kirchenversammlung  unter 
dem  Titel:  'Petrus  de  Pulka,  Abgesandter  der  Wiener  Universität 
am  Concilium  zu  Constanz'.  Mit  34  ungedruckten  Belegstücken.  Im 
Archive  Bd.  XV,  S.  1  -bis  70. 

Anziehend  sind  auch  die  biographischen  Mittheilungen  über  den 
Gründer  der  ersten  öffentlichen  Bibliothek  zu  Wien  (im  Jahre  1678), 
Johann  Joachim  Enzmüller  Grafen  und  Herrn  zu  Windhaag,  in  dem 
Aufsatze  F.  X.  Pritz's:  'Beiträge  zur  Geschichte  von  Münzbach  und 
Windhaag  in  Oberösterreich  im  einstigen  Machlandviertel'.  Archiv 
Bd.  XV,  S.  133  bis  184. 

Neue  und  verlässliche  Anhaltspuncte  zur  Geschichte  des  Han- 
dels und  der  Gewerbe  zu  Wien  liefert  endlich  folgende  Mittheilung 
weil.A.  M.  Böhm's  :  Verhandlungen  bezüglich  des  Geschäftsbetriebes 
ausländischer  Kaufleute  in  Wien  und  diesfällige  Verordnung  Kais. 
Maximilians  I.  vom  22.  Jänner  1515,  nach  einem  Codex  der  n.  Ö. 


Bericht  über  die  Thätigkeit  der  historischen  Commission  etc.  441 

ständischen  Bibliothek'.  Im  Archive  Bd.  XIV,  S.  261  bis  304.  In 
dieser  Deduction  sind  übrigens  eine  Menge  einzelner  Briefe,  Ver- 
ordnungen u.  s,  w.  aus  früherer  Zeit  enthalten,  die  der  noch  im 
Argen  liegenden  Geschichte  des  Handels  und  Verkehrs  in  unseren 
Gegenden  sehr  zu  statten  kommen. 

Als  letzter  Beitrag  zur  Geschichte  des  Städtewesens  in  diesem 
Kronlande  ist  hier  noch  anzureihen  eine  Ausarbeitung  weiland  Willi- 
bald Leyrer's,  Stifts-Archivars  zu  Kioster-Neuburg,  mit  der  Über- 
schrift: 'Zur  Geschichte  der  landesfürstlichen  Stadt  Eggenburg  im 
vierzehnten  und  fünfzehnten  Jahrhunderte'  mitgetheilt  von  Dr.  H. 
Zeibig  im  Notizenblatte  Nr.  15  auf  S.  343  bis  349. 

Für  die  Geschichte  des  Kronlandes 

Österreich  ob  der  Enns 

sind  vier  einzelne  Arbeiten  aufzuzählen.  Erstens  für  die  allge- 
meine Landesgeschichte:  Zwanzig  Briefe  und  Actenstücke, 
die  allgemeinen  Landesangelegenheiten,  sowie  jene  der  Verwaltung 
und  des  Güterbesitzes  betreffend,  sämmtlich  dem  Jahre  1478  ange- 
hörig und  aus  dem  Originale  des  k.  k.  Haus-,  Hof-  und  Staats-Archivs, 
mitgetheilt  vom  Regierungsrathe  Chmel  in  Monum.  habsb.  Abthei- 
lung I,  Bd.  2  auf  Seite  636  bis  689. 

Derselbe  Gelehrte  lieferte  auch  zwei  Beiträge  zur  Finanz g  e- 
schichte  dieses  Kronlandes  durch  Mittheilung  des  Urbariums  der 
Pfarre  Althaim  oder  Mauernberg  vom  Jahre  1682,  aus  dem  Originale 
des  Consistorial-Kanzlei-Archives  zu  Linz,  im  Notizenblatte  Nr.  18, 
S.  430  bis  432  und  Nr.  19,  S.  455  bis  456.  In  denselben  beiden 
Numern  des  Notizenblattes  brachte  Chrnel  auch  das  Zehend-,  Dienst- 
und Sammlungs-Register  der  Pfarre  Gallneukirchen  von  gleichem 
Jahre  und  aus  gleicher  Quelle. 

Die  Geschichte  der  geistlichen  Körperschaften  des 
Landes  wird  aber  bereichert  durch  den  schon  oben  erwähnten  Auf- 
satz F.X.  Pritz's:  'Beiträge  zur  Geschichte  von  Münzbach  und  Wind- 
haag in  Oberösterreich  im  einstigen  Machland-VierteP,  Archiv  Bd.  XV, 
S.  133  bis  184,  welcher  nebst  manchem  Andern  auch  die  Stiftungen 
des  Dominicaner-Möndiklosters  St.  Joachim  zu  Münzbach  und  des 
Nonnenklosters  zu  Wmdhaag  ausführlich  darstellt. 


442  v.  Karajan. 


Das  Erzherzogthum  Osterreich 

und  zwar  die  Geschichte  seines  Regentenhauses  betreffen  fol- 
gende Mittheilungen. 

Zuerst  die  Geschichte  des  Hauses  der  ßabenberger  ein  Aufsatz 
weiland  A.  M.  Böhm's  mit  der  Überschrift:  'Eine  neue  ßabenberger 
Urkunde',  nämlich  die  Bestätigung  einer  Schenkung  an  das  Kloster 
Lambach  durch  Herzog  Heinrich  II.,  geschehen  zu  St.  Polten  im  Jahre 
1162.  Aus  einer  Abschrift  des  n.  ö.  ständischen  Archives  veröffent- 
licht im  Notizenblatte  Nr.  20  auf  S.  470  bis  472. 

Eine  zweite  Urkunde  eines  Gliedes  des  Hauses  der  ßaben- 
berger ist  die  yon  P.  T.  Weiss  im  Anhange  zu  Band  XI  der  Fontes 
aus  dem  Stifts-Archive  zu  Heiligenkreuz  veröffentlichte  Urkunde  Nr.  II 
aufS.  294,  durch  welche  Herzog  Friedrich  II.  am  22.  Juli  1232 
der  Abtei  Maria-Zeil ,  das  Dorf  Taubitz  und  ein  halbes  Lehen  zu 
Felling  als  Geschenk  übergibt. 

Zur  Geschichte  des  zweiten  Regentenhauses  und  namentlich  in 
Bezug  auf  das  Verhältniss  dieses  Kronlandes  zu  demselben  dienlich 
sind  zweiundsechzig  Urkunden  der  Jahre  1473  bis  1477,  welche 
R.  R.  Chmel  aus  den  Originalen  des  geh.  Haus-,  Hof-  und  Staats- 
Archives  im  zweiten  Bande  der  ersten  Abtheilung  der  Monumenta 
habsburgica  auf  den  Seiten  223  bis  308  veröffentlichte. 

Als  ein  Beleg  zur  Finanzgesc  hiebt  e  des  Landes  im  drei- 
zehnten Jahrhundert  ist  zu  erwähnen  das  von  demselben  Gelehrten 
aus  dem  gleichzeitigen  Originale  des  geh.  Haus-,  Hof-  und  Staats- 
Archives  mitgetheilte  :  'Rationarium  AustriacunT.  Aus  der  Zeit  Otto- 
kar's  II.  Dasselbe  ist  etwas  älter  als  das  bei  Rauch  in  den  'Scriptores' 
mitgetheilte  und  steht  im  Notizenblatte  Nr.  14,  S.  333  bis  336; 
Nr.  15,  S.  353  bis  360;  Nr.  16,  S.  377  bis  384;  Nr.  17,  S.  401 
bis  408;  Nr.  18,  S.  425  bis  428. 

Endlich  für  die  Geschichte  des  Gemeindewesens  zu  beach- 
ten sind  manche  Nachweisungen  in  Karl  von  Sava's :  'Beiträge  zur 
Siegelkunde  Österreichs  ob  und  unter  der  Enns',  im  Notizenblatte 
Nr.  8  auf  S.  177  bis  180.  Dort  finden  sich  nämlich  Berichtigungen 
und  Zusätze  zu  jenem  Theile  von  Melly's  grösserem  Werke  über 
Siegelkunde,  der  von  jener  der  österreichischen  Städte  und  Märkte 
handelt. 


Bericht    über  die  Thätigkeit  der  historischen  Commission  etc.  443 

Das  benachbarte  Kronland 

Salzburg 

und  zwar  in  Bezug  auf  die  G  e  s  c  h  i  c  h  t  e  des  B  i  s  t  h  u  m  s  wird  er- 
läutert durch  die  Fortsetzung  des  gelehrten  Streites  zwischen  Prof. 
Dr.  K.  Tang]  zu  Graz  und  dem  Freiherrn  v.  Ankershofen  zu  Klagen- 
furt, Dämlich  über  die  Frage  :  'Ob  der  Salzburger  Erzbischof  Gebe- 
hard  der  Gurker  Kirche  Friesach  entzogen  und  Erzbischof  Thiemo 
ihr  selbes  vorenthalten  habe'?  Von  Dr.  Karlmann  Tangl.  Im  Archive 
Bd.  XIV,  S.  389  bis  399. 

Zur  Geschichte  der  geistlichen  Körp  er  seh  aften  jenes 
Gebietes  aber  zu  beachten  sind  die  vom  Begierungsrathe  Chmel  mit- 
getheilten  Auszüge  aus  dem  'Liber  delegationum  seu  traditionum  rerum 
Salzburgensium  canonicorum'.  Aus  einer  Handschrift  des  geh.  Haus-, 
Hof-  und  Staats-Archives  im  Notizenblatte  Nr.  20,  S.  472  bis  480; 
Nr.  21,  S.  506  bis  512;  Nr.  22,  S.  523  bis  544;  Nr.  23,  S.  554 
bis  576;  endlich  Nr.  24,  S.  596  bis  608. 

Tirol. 

Die  Staats-  und  Kirchengeschichte  dieses  Kronlandes 
zugleich  beleuchten  die  von  dem  wirkl.  Mitgliede  Prof.  Alb.  Jäger 
ausgearbeiteten :  'Begesten  und  urkundliche  Daten  über  das  Verhält- 
niss  Tirols  zu  den  Bischöfen  von  Chur  und  zum  Bündnerlande  von  den 
frühesten  Zeiten  des  Mittelalters  bis  zum  Jahre  1665'.  Abgedruckt  im 
Archive  Bd.  XV  auf  S.  337  bis  387.  Sie  umfassen  über  fünfhundert 
Numern,  und  sind  zumeist  aus  handschriftlichen  Quellen  geschöpft. 

Das  Begen ten haus  im  fünfzehnten  Jahrhundert  betreffen 
57  Actenstücke  welche  Begierungsrath  Chmel  aus  dem  geh.  Haus-, 
Hof-  und  Staats-Archive  unter  dem  Titel :  'Zur  Geschichte  Herzogs 
Sigismund's  von  Österreich  aus  den  Jahren  1470  bis  1477',  und  ein 
Nachtrag  dazu,  das  Jahr  1478  umfassend,  in  den  Monum.  habsb. 
Abtheilung  I,  Bd.  2  auf  den  Seiten  131  bis  220,  darnach  429 
bis  512  veröffentlicht  hat. 

Die  Geschichte  des  Deutschordens  in  Tirol  aber  beleuch- 
ten mehrere  Berichte  von  Deutschordens-Gliedern  an  den  Hochmeister 
in  Preussen  aus  verschiedenen  Theilen  dieses  Kronlandes  und  den 
Jahren  1386,  1420,  1423  und  1514.  Sie  finden  sich  abgedruckt  aus 
dem  Königsberger  Ordensarchive  in  dem  Aufsatze  unseres  corresp. 


444  v.  Karajan. 

Mitgliedes  Johannes  Voigt:  'Urkundliche  Mittheilungen  aus  dem 
deutschen  Ordens-Archive  zu  Königsberg',  im  Notizenblatte  Nr.  5, 
S.  102,  107  und  109,  dann  Nr.  18,  S.  412  bis  419. 

Für  die  Geschichte  des  Gemeindewesens  endlich  zu  beach- 
ten sind  die  Beschreibung  und  Nachweisung  über  einige  Gemeinde- 
siegel Tirols,  welche  in  Melly's  Beiträgen  zur  Siegelkunde  theils  feh- 
len, theils  Berichtigung  bedürfen,  mitgetheilt  von  Karl  von  Sava  im 
Notizenblatte  Nr.  8,  S.  181  bis  183. 

Steiermarks 

allgemeine  Landesgeschichte,  und  im  Besonderendessen 
Handel,  Gewerbe,  Steuerwesen,  Begalien ,  Behandlung  der  Juden 
u.  s.  w.  erläutern  siebenundzwanzig  Urkunden  und  Briefe  aus  dem 
Jahre  1478,  welche  aus  Originalien  und  Abschriften  des  k.  k.  geh. 
Haus-,  Hof-  und  Staats-Archives  Regierungsrath  Chmel  im  2.  Bande 
der  1.  Abtheilung  der  Monumenta  habsburgica  und  zwar  auf  den 
Seiten  691  bis  838  veröffentlichte. 

Einen  Beitrag  zur  Geschichte  der  geistlichen  Körper- 
schaften des  Landes  bildet  die  von  P.  T.  Weiss  im  Anhange  zum 
eilften  Bande  der  Fontes  auf  S.  294  rnitgetheilte  Urkunde  Nr.  II, 
durch  welche  Herzog  Friedrich  II.  von  Österreich  am  22.  Juli  1232 
dem  Stifte  Maria-Zeil  das  Dorf  Taubitz  und  ein  halbes  Lehen  zu 
Felling  schenkt. 

Die  Angelegenheiten  des  deutschen  Ordens  während  des 
sechzehntem  Jahrhunderts  beleuchtet  ein  Schreiben  des  Comthurs 
zu  Gross-Sonntag  und  Graz  an  den  Grossmeister  in  Preussen  vom 
24.  November  1513,  welches  das  corresp.  Mitglied  Johannes  Voigt 
aus  dem  Königsberger  Archive  im  Notizenblatte  Nr.  9  auf  S.  199 
bis  201  mittheilt. 

Als  Belegstücke  für  die  Geschichte  des  Gemeindewesens 
in  Steiermark  sind  endlich  anzusehen  die  durch  Karl  von  Sava  gelie- 
ferten Beschreibungen  und  Nachweisungen  mehrerer  bisher  gar  nicht 
oder  nur  mangelhaft  erörterter  Siegel  steirischer  Gemeinden,  im 
Notizenblatte  Nr.  8  auf  den  Seiten  180  und   181. 

Kärnten. 

Die  allgemeine  Landesgeschichte  befördern  die  durch 
Gottlieb  Freiherrn  von  Ankershofen  gelieferten  'Urkunden-Regesten  zur 


Bericht  über  die    Thatigkeit  der  historischen  Commission    etc.  4-4 ö 

Geschichte  Kärntens'.  Zweiundneunzig  an  der  Zahl  beleuchten  sie 
sämmtlich  den  Zeitraum  der  ersten  fünfundzwanzig  Jahre  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts.  Sie  stehen  im  Archive  Band  XIV  auf  den  Seiten 
1 1 1  bis  145.  Ihnen  schliessen  sich  Nachträge  an  zu  den  in  früheren 
Bänden  des  Archives  gelieferten  Regesten  und  zwar  für  die  ältesten 
Zeiten  bis  zum  Schlüsse  dez  zwölften  Jahrhunderts.  Sie  füllen,  44 
an  der  Zahl,  die  Seiten  149  bis  160  desselben  Bandes. 

Die  Landesverteidigung,  den  Bauernaufruhr,  die  Besitzverhält- 
nisse u.  s.  w.  betreffen  neunzehn  Urkunden  des  Jahres  1478,  welche 
Regierungsrath  Chmel  aus  den  Originalien  des  k.  k.  geh.  Haus-, 
Hof-  und  Staats-Archives  im  zweiten  Bande  der  eisten  Abtheilung 
der  Monumenta  habsburgica  auf  den  Seiten  840  bis  887  veröffent- 
licht hat. 

Für  die  Regenten  geschichte  des  Landes  im  eilften  Jahr- 
hundert gibt  Aufschluss  ein  bisher  unbeachteter  gleichzeitiger  Brief 
über  die  Absetzung  des  Herzogs  Adalbero  von  Kärnten  im  Jahre  1035. 
Aus  einer  Handschrift  des  Vaticans  mitgetheilt  von  dem  correspond. 
Mitgliede  Dr.  J.  Fr.  Böhmer  zu  Frankfurt  a.  M.  im  Notizenblatte 
Nr.  22  auf  S.  520  bis  522. 

Theile  der  Kirchengeschichte  des  Landes  beleuchten, 
erstens  ein  längerer  Aufsatz  Dr.  Jac.  Stepischneg's  unter  dem  Titel: 
'Georg  III.  Stobaeus  von  Palmburg,  Fürstbischof  von  Lavant'.  Nach 
seinem  Leben  und  Wirken  geschildert  (f  23.  Oct.  1618),  ein  nicht 
unwichtiger  Beitrag  zur  Geschichte  der  Gegenreformation,  abge- 
druckt im  Archive  Bd.  XV,  S.  71  bis  132;  und  die  schon  oben  er- 
wähnte polemische  Untersuchung  des  Dr.  K.  Tangl:  'Ob  der  Salz- 
burger Erzbischof  Gebehard  der  Gurker  Kirche  Friesach  entzogen, 
und  Erzbischof  Thiemo  ihr  selbes  vorenthalten  habe?'  Im  Archive 
Bd.  XIV  auf  den  Seiten  389  bis  399. 

Endlich  lässt  sich  auch  auf  einen  kleinen  Beitrag  zur  Kriegs- 
geschichte Kärntens  hinweisen,  ich  meine  auf  ein  Schreiben  des 
obersten  Feldhauptmannes  Grafen  Niklas  von  Salm  an  den  Landes- 
hauptmann von  Kärnten  aus  Jastrawetzka  in  den  windischen  Landen 
vom  10.  September  1522,  das  Aufgebot  gegen  die  Türken  betreffend. 
Auch  dieses  Stück  wurde  durch  das  corresp.  Mitglied  Johannes  Voigt 
aus  dem  Königsberger  Ordensarchive  eingesandt  und  im  Notizen- 
blatte Nr.  9  auf  den  Seiten  201  und  202  abgedruckt. 


446  v.  Karaj  an. 


Krain 


und  zwar  dessen  allgemeine  Landes g esc hichte  betreffen 
sieben  Urkunden  über  Rechtsstreitigkeiten,  Abgaben  und  Besätzver- 
hältnisse aus  den  Jahren  1473  bis  1478,  welche  Regierungsrath 
Chmel  aus  den  Originalien  des  geheimen  Haus-,  Hof-  und  Staats- 
Archives  in  den  zweiten  Band  der  ersten  Abtheilung  der  Monumenta 
habsburgica  einrückte  und  zwar  auf  die  Seiten  888  bis  921. 

Als  Beigabe  zur  Geschichte  des  Gemeindewesens  sind  aber 
zu  beachten  die  Beschreibung  und  Nachweisung  eines  Siegels  der 
Gemeinde  Landstrass,  mitgetheilt  von  Karl  von  Sava  im  Notizen- 
blatte Nr.  8  auf  Seite  183.  Gleiches  gilt  von 

(jörz 

dessen  Geschichte  des  Gemeinde wesens  einen  gleichen  Beitrag 
von  demselben  Verfasser  erhielt,  nämlich  die  Beschreibung  eines 
Siegels  der  Landeshauptstadt  und  zwar  aus  dem  vierzehnten  Jahr- 
hundert. Es  bildet  diese  Mittheilung  wie  mehrere  ähnliche  bereits 
aufgezählte  eine  Ergänzung  zu  Melly's  grösserem  Werke  über  die 
Siegelkunde,  und  findet  sich  im  Notizenblatte  Nr.  8  auf  S.  183. 
Ganz  in  derselben  Weise  ist  auch  die  Geschichte  des  Kronlandes 

Dalmazien 

und  zwar  dessen  Gemeindewesen  durch  die  Beschreibung  eines 
Siegels  der  Stadt  Ragusa  aus  dem  vierzehnten  Jahrhundert  von  dem- 
selben Verfasser  ergänzt  worden.  Sie  wurde  ebenfalls  im  Notizen- 
blatte Nr.  8,  Seite  183  eingerückt. 

Ungleich  reicher  bedacht  und  zwar  durch  den  Beginn  einer 
eigenen  umfangreichen  Sammlung  von  Urkunden  muss  das  Kronland 

Venedig 

genannt  werden.  Für  die  Geschichte  der  äusseren  Verhältnisse, 
namentlich  die  Beziehungen  dieser  einstigen  Republik  zum  Oriente 
baben  nämlich  die  Professoren  Dr.  Tafel  und  Thomas  inf  zwölften 
Bande  unserer  Fontes  eine  eigene  Sammlung  begonnen,  welche  in 
ihrem  ersten  Bande  die  Jahre  814  bis  1205  umfasst,  und  für  diese 
Periode  bereits  160  Belegstücke  in  berichtigten  Texten  liefert.  Bei 
jedem  Documente  findet  sich  die  Nachweisung  seiner  früheren  Drucke, 


Bericht  über  die  Thätigkeit  der  historischen  Commission  etc.  447 

wenn  solche  vorhergingen,  sowie  die  nöthigen  Erläuterungen  und 
Berufungen  auf  die  Handschriften  aus  denen  geschöpft  wurde.  Der 
zweite  Band  der  Sammlung  ist  in  der  Handschrift  bereits  eingeliefert 
und  dessen  Druck  begonnen. 

Für  die  Kir che ngesc hieb te  des  Kronlandes  von  Bedeutung 
muss  die  Nachweisung  des  geschichtlichen  Stoffes  genannt  werden, 
welchen  eine  fortgesetzte  Sammlung  von  Regesten  liefert  zur  Geschichte 
der  Patriarchen  von  Aquileja.  Sie  wurde  durch  J.  Valentinelli  schon 
vor  zwei  Jahren  im  Notizenblatte  begonnen  und  im  Jahre  1855  des- 
selben fortgeführt.  Sie  ist  namentlich  zweien  Handschriften  der 
Marciana  zu  Venedig  entnommen,  welche  von  den  frühesten  Zeiten 
beginnen  und  herab  bis  ins  sechzehnte  Jahrhundert  reichen.  In  die- 
sem Jahre  allein  wurden  bei  219  Numern  geliefert  und  zwar  in  fol- 
genden Blättern:  in  Nr.  8  auf  den  Seiten  169  bis  176;  in  Nr.  10  auf 
S.  217  bis  222;  in  Nr.  12  auf  S.  268  bis  277;  endlich  in  Nr.  19 
auf  S.  451  bis  455.  Die  Sammlung  soll  fortgesetzt  werden.  Am 
Schlüsse  derselben  scheint  eine  chronologische  Durchordnung  des 
Gelieferten  unerlässlich. 

Lombardie. 

Zur  Kenntniss  des  historischen  Material  es  dieses  Kron- 
landes hat  Dr.  Th.  Sickel  einen  Beitrag  geliefert  in  einem  Schreiben 
über  das  Mailänder  Staatsarchiv,  dem  bald  eine  nachträgliche  Erläu- 
terung folgte.  Ersteres  im  Notizenblatte  Nr.  1  auf  S.  9  bis  11,  letz- 
tere ebenda  in  Nr.  24  auf  Seite  590  bis  594. 

Von  demselben  Gelehrten  wurde  eine  wichtige  Untersuchung 
zur  al lg em  einen  Landesgeschichte  geliefert,  nämlich  dessen 
Beiträge  und  Berichtigungen  zur  Geschichte  der  Erwerbung  Mai- 
lands durch  Franz  Sforza,  mit  einem  Anhange  von  22  ungedruckten 
Belegstücken  der  Jahre  1448  und  1449  aus  dem  Mailänder  Staats- 
Archive.  Diese  Arbeit  findet  sich  im  Archive  Band  XIV  auf  den 
Seiten  191  bis  258. 

Für  die  Geschichte  des  Regentenhauses  der  Sforza  ist  end- 
lich noch  ein  kleiner  Beitrag  hier  anzureihen,  ich  meine  die  Acten- 
stücke  zur  Geschichte  Corsica's  unter  rnailändischer  Oberherrschaft. 
Fünfzehn  Briefe  von  Galeazo  Maria  Sforza,  Herzogen  von  Mailand, 
und  seinem  Kanzler  Cicco  Simnnetta  vom  Jahre  1473.  Diese  wurden 
aus  den  Originalen  des  Archives  von  San-Fedele  in  Mailand  mitgelheilt 


448  v.  Karajan. 

von  Prof.  Joseph  Müller  in  Pavia  und  Archivar  Ludwig  Ferrario  in 
Mailand,  und  finden  sich  im  Notizenblatte  Nr.  3,  S.  65  bis  72;  Nr.  6, 
S.  131  bis  136;  endlich  in  Nr.  22  auf  S.  522  bis  523. 
Das  Kronland 

Böhmen 

muss  im  Laufe  dieses  akademischen  Jahres  neben  dem  Erzherzog- 
thume  Österreich  und  Venedig  in  den  Veröffentlichungen  der  histo- 
rischen Commission  als  am  reichsten  bedacht  genannt  werden.  An 
einzelnen  Beiträgen  sind  nämlich  hier  allein  achtzehn  aufzuführen, 
und  wir  werden  gleich  hören,  welche  Bedeutung  ihnen  einzuräumen  ist. 

Was  vor  Allem  die  äusseren  Verhältnisse  dieses  Kron- 
landes betrifft,  in  der  Zeit  in  der  es  noch  ein  selbstständiges  Beich 
bildete,  so  ist  hier  einer  Arbeit  Dr.  Jos.  Fiedler's  zu  gedenken,  über- 
schrieben: 'Böhmens  Herrschaft  über  Polen.  Ein  urkundlicher  Bei- 
trag'. Es  enthält  diese  Untersuchung  unter  Anderm  als  Belegstücke 
vier  ungedruckte  und  wichtige  Urkunden  aus  dem  k.  k.  geh.  Haus-, 
Hof-  und  Staats-Archive,  die  zum  ersten  Male  in  ihrer  ganzen  Bedeu- 
tung erwogen  und  erläutert  werden.  Sie  findet  sich  im  Archive 
Bd.  XIV,    S.  163  bis  188. 

Für  die  all  gemeine  Landesgeschichte  von  Wichtigkeit 
sind  vor  Allem  vier  Quellenschriftsteller,  herausgegeben  von  dem 
corresp.  Mitgliede  Prof.  Konst.  Hötler.  Zuerst  das  sogenannte  Chro- 
nicon  Pragense,  die  Jahre  824  bis  1419  umfassend,  mit  wichtigen 
Angaben  namentlich  für  die  spätere  Zeit,  so  über  Johannes  von 
Pomuk  zu  welcher  Stelle  der  Excurs  des  Herausgebers  in  der  Erläu- 
terung zu  vergleichen  ist.  Diese  Quelle  findet  sich  abgedruckt  im 
2.  Bande  der  ersten  Abtheilung  der  Fontes  auf  S.  3  bis  6. 

Dann  ein  'Chronicon  Lipsiense'  überschriebener  Annalist  der 
Jahre  1348  bis  1411  aus  einer  Handschrift  der  Universitäts-Biblio- 
thek zu  Leipzig  herausgegeben  und  bisher  ungedruckt.  Ebenda  auf 
Seite  6  bis  12. 

Dann  das  sogenannte  Chronicon  Viennense1  aus  der  Hand- 
schrift der  k.  k.  Hofbibliothek  zum  ersten  Male  gedruckt  im  selben 
Bande  der  eben  bezeichneten  Sammlung  auf  S.  1  und  2.  Es  umfasst 
die  Jahre  1367  bis  1405,  und  enthält  namentlich  in  Bezug  auf  die 
Entstehung  der  Husitischen  Bewegungen  manche  bemerkenswerthe 
Angaben. 


Bericht  über  die  Thätigkeit  der  historischen  Commission  etc.  44  J 

Endlich  eine  bisher  ungedruckte  Wittingauer  Chronik  eines 
Augenzeugen  der  Jahre  1419  bis  1439,  herausgegeben  aus  einer 
Handschrift  des  fürstlich  Schwarzenberg'schen  Archives  zu  Wittingau 
im  zweiten  Bande  der  ersten  Abtheilung  unserer  Fontes  auf  den 
Seiten  50  bis  65. 

Schon  diese  Quellen,  ungleich  mehr  aber  noch  die  folgenden 
beleuchten  die  Anfänge  und  den  Verlauf  der  Husitischen  Bewegungen, 
gehören  somit  der  Kirchengeschichte  wie  der  allgemeinen 
Landesgeschichte  zu  gleichen  Theilen  an. 

Vor  Allem  zu  erwähnen  ist  des  'Petrus  de  Mladenowicz  Historia 
de  factis  et  actis  Magistri  Johannis  Hus  Constaneiae'.  Herausgegeben 
von  K.  Höfler  im  2.  Bande  der  1.  Abtheilung  der  Fontes  auf  Seite 
111  bis  320. 

Mladenowicz  war  bisher  nur  aus  einer  deutscheu  Umarbeitung, 
nicht  Übersetzung,  des  sechzehnten  Jahrhunderts  bekannt,  die  zu- 
dem noch  in  tendenziöser  Weise  abgefasst,  wie  der  Herausgeber 
meint  von  Ulrich  von  Hütten  bewerkstelligt  war.  Mladenowicz  hat 
unter  vielem  Andern  äusserst  wichtigem  auch  eine  Vertheidigungs- 
rede  Husens  bewahrt,  die  dieser  zu  Konstanz  halten  wollte,  und  von 
der  er  sich  einen  vollständigen  Sieg  erwartete,  auf  die  er  daher  auch 
seine  ganze  geistige  Kraft  verwandte.  Diese  Bede  ist  bis  zur  Stunde 
noch  nirgends  veröffentlicht  worden.  Durch  den  echten  Mladenowicz 
wird  für  die  Geschichte  Husens  geradezu  neuer  Boden  gelegt. 

Eine  nicht  minder  wichtige  Quelle  für  dieselbe  Periode  der 
böhmischen  Geschichte  muss  das  Werk  des  Magister  Laurentius  de 
Bfezina  (auch  Brezowa)  genannt  werden  unter  dem  Titel:  De  gestis 
et  variis  accidentibus  regni  Bohemige',  1414  bis  1422.  Höfler  theilt 
es  nach  fünf  Prager  Handschriften  und  einer  zu  Breslau  mit  im  sel- 
ben Bande  unserer  Fontes  auf  Seite  321  bis  527.  Utraquist  vom 
reinsten  Wasser,  ist  aber  Meister  Laurenz  in  Vielem  gut  unterrichtet 
und  wenn  er  auch  unverholen  überall  Partei  nimmt,  so  gehört  er 
doch  nichts  desto  weniger  zu  den  bedeutendsten  Quellen  dieser  Zeit 
und  Gegenden.  Sein  Werk  war  bisher  nur  bruchstückweise  heraus- 
gegeben. 

Von  demselben  Verfasser  lieferte  Höfler  ein  lateinisches  Spott- 
gedicht auf  die  Deutschen  nach  dem  grossen  Siege  der  Böhmen  bei 
Taus  am  14.  August  1431  in  dem  nämlichen  Bande  auf  Seite  596 
bis    620.      Es    trägt   die    Überschrift:     'Carmen    insignis    coronse 


450  v.  Karajan. 

Bohemise'    und  befindet  sich  handschriftlich    in   der   Universitäts- 
Bibliothek  zu  Prag.  Es  zählt  im  Ganzen  1635  Verse. 

Auf  Seite  528  bis  534  desselben  Bandes  veröffentlichte  Höfler 
die  Schrift  eines  Ungenannten:  'De  origine  Taboritarum  et  de  morte 
Wenceslai  IV,  Begis  Bohemia3\  und  zwar  aus  einer  Basler  Hand- 
schrift die  bisher  völlig  unbekannt  war.  Ferner  auf  Seite  565  bis 
596  aus  einer  Pariser  Handschrift:  'Andres  Batisbonensis  Dialogus 
de  Husitis',  geschrieben  im  Jahre  1430,  bisher  ebenfalls  ungedruckt. 
Endlich  auf  den  Seiten  541  bis  564  eine  Streitschrift  unter  dem  Titel : 
'Sermones  ad  Bohemos'  verfasst  von  einem  Katholiken  vor  dem  Jahre 
1419,  bestehend  aus  890  lateinischen  Versen  gegen  die  Husiten 
und  erhalten  in  einer  Handschrift  des  böhmischen  Museums  zu  Prag. 
Zu  diesem  Gedichte  fügte  Höfler  noch  ein  Paar  Anhänge  aus  anderen 
Handschriften  und  Hess  demselben  auf  Seite  621  bis  632  aus  einem 
Codex  des  Prager  Domcapitels  eine  zweite  Streitschrift  eines  Unge- 
nannten folgen  mit  der  Überschrift:  'Inveetiva  contra  Husitas,  scripta 
post  annum  1432'. 

Mehr  über  die  Ereignisse  dieser  Zeit  in  Prag  selbst  berichtend 
sind  folgende  Quellenschriften  der  Höfler'schen  Sammlung  zu  nennen. 
Auf  den  Seiten  65  und  66  ein  kurzes  aber  nicht  unwichtiges  'Chro- 
nicon  capituli  metropolitani  Pragensis  annorum  1318  usque  1439', 
aus  einer  Handschrift  der  Bibliothek  dieses  Capitels,  ferner  ein  sehr 
bedeutendes  'Chronicon  universitatis  Pragensis,  1348  usque  1413' 
ajiß  der,  soviel  bis  jetzt  bekannt,  einzigen  Handschrift  der  k.  k.  Hof- 
bibliothek zu  Wien,  Nr.  7650,  auf  Seite  13  bis  47  zum  ersten  Male 
herausgegeben.  Dann  gleichfalls  aus  einer  Handschrift  dieser  Biblio- 
thek, Nr.  3282,  ein  Chronicon  Palatinum'  überschriebenes  Jahrbuch, 
die  Zeit  von  1346  bis  1348  umfassend,  bisher  ungedruckt,  beson- 
ders die  Vorgänge  in  Prag  erzählend  und  eingereiht  auf  den  Seiten 
47  bis  50.  Darnach  ebenda  S.  78  bis  102  aus  einer  Handschrift  der 
Hofbibliothek  zu  Darmstadt  ein  eben  solches  mit  der  Überschrift : 
'Chronicon  veteris  collegiati  Pragensis,  1419  usque  1441'.  Endlich 
auf  den  Seiten  67  bis  78  die  höchst  wichtige,  hier  zum  ersten  Male 
veröffentlichte  Chronik  des  Prager  Stadtschreibers  Procop,  verfasst 
ums  Jahr  1476,  welche  einen  äusserst  lehrreichen  Bückblick  auf  den 
Beginn  und  die  allmähliche  Entwickelung  des  Husitismus  gewährt.  Sie 
erscheint  hier  zum  ersten  Male  vollständig  aus  einer  Handschrift  des 
Wittingauer  Archives.  Prof.  Höfler  hat  seiner  Einleitung  die  Erklärung 


Bericht  über  die  Thätigkeit  der  historischen  Commission  etc.  451 

mancher  im  Texte  vorkommenden  böhmischen  Ausdrücke  beigegeben. 
Nicht  unerwähnt  darf  übrigens  hier  gelassen  werden ,  dass  Prof. 
Höfler  bei  den  eben  aufgezählten  wichtigen  Veröffentlichungen  für 
die  Geschichte  Böhmens  aufs  Bereitwilligste  von  Herrn  Palacky  unter- 
stützt wurde,  der  manche  der  hier  mitgetbeilten  Quellen  mühsam, 
behufs  seiner  böhmischen  Geschichte,  gesammelt  hatte.  Auch  dem 
Secretär  des  böhmischen  Museums  Hrn.  Nebesky  verdankt  diese 
Quellensammlung  erwünschte  Bereicherung. 

Ausserdem  oben  besprochenen  Aufsatze  Dr.  Fiedler's  und  einem 
kleineren  gleich  zu  erwähnenden  zur  Geschichte  dieses  Kronlandes 
befinden  sich  alle  übrigen  hier  aufgezählten  Stücke  in  dem  von  Prof. 
Höfler  gelieferten  Bande,  dem  zweiten  der  ersten  Abtheilung  unserer 
Fontes,  zugleich  dem  zweiten  der  Geschichtsschreiber,  dem  in:  Laufe 
des  nächsten   Jahres  schon  ein  dritter  folgen  wird. 

Zur  Geschichte  des  Gemein  de  wesens  dieses  Kronlandes  füge 
ich  hier  noch  einen  kleinen  Beitrag  Karl  von  Sava  an,  nämlich  die 
Beschreibung  und  Nachweisung  mehrerer  sehr  alter  und  anziehender 
Siegel  böhmischer  Gemeinden  im  Notizenblatte  Nro.  8  auf  Seite 
184,  und  in  Nr.  13  auf  den  Seiten  303  bis  307. 

Die  Kronländer 

Mähren  und  Schlesien 

haben  in  Beziehung  auf  die  Geschichte  ihres  Gemeindewesens 
in  derselben  Numer  des  Notizenblattes  durch  denselben  Verfasser 
eine  ähnliche  Bereicherung  erhalten. 

Ingern. 

Für  die  Geschichte  der  äusseren  Verhältnisse  dieses 
Kronlandes  während  seiner  Selbstständigkeit  im  fünfzehnten  Jahr- 
hunderte hat  Begierungsrath  Chmel  im  zweiten  Bande  der  ersten 
Abtheilung  der  Monumenta  babsburgieaauf  den  Seiten  1  bis  128  fünfzig 
Belegstücke  aus  den  Originalen  des  geh.  Haus-,  Hof-  und  Staats- 
Archives  mitgetheilt.  Sie  erläutern  namentlich  das  Verhältnis s  Ungerns 
zum  deutschen  Reiche,  und  insbesondere  zu  Österreich  unter  Mathias 
Corvin  in  den  Jahren  1472  bis  1477,  und  werden  in  demselben 
Bande  auf  den  Seiten  516  bis  G34.  ebenfalls  durch  Chmel  mittle- 
theilt,  von  einer  zweiten  Beihe  von  Briefen  und  Geschäftsschriften 
aus  gleicher  Quelle   gefolgt,    welche  speciell    den    Einfall  und    die 

Sitzh.  d.  phil.-hist.  Gl.  XX.  Bd.  III.  oft.  30 


452  v-  K  ar  a  j  an. 

Besetzung  Österreichs  durch  Corvin  schildern,  das  ist  die  Ereignisse 
der  Jahre  1476  bis  1478. 

Zur  Kenntniss  der  inneren  Verhältnisse  des  Landes  wäh- 
rend einer  viel  späteren  Periode  geben  sehr  anziehenden  Aufschluss 
die  durch  das  corresp.  Mitglied  Fr.  Firnhaber  im  Notizenblatte  Nr.  1 
auf  Seite  11  bis  24,  dann  in  Nr.  2  auf  S.  36  bis  48  veröffentlichten 
drei  Actenstücke  zur  Geschichte  der  Serben  in  der  Woiwodina  aus 
den  Jahren  1755,   1776  und  1782. 

Auch  die  Geschichte  der  geistlichen  Körperschaften 
dieses  Kronlandes  ist  durch  einen  zwar  kleinen,  aber  in  frühe  Zeiten 
hinaufreichenden  Beitrag  von  P.  T.  Weiss  aus  dem  Stiftsarchive  von 
Heiligenkreuz  bereichert  worden.  Er  enthält  im  eilften  Bande  unserer 
Fontes  auf  den  Seiten  293,  295,  307,  312  und  316  fünf  Urkunden 
aus  den  Jahren  1224,  1233,  1237,  1277  und  1285,  welche  die 
Abtei  Marienberg  (Bors  monostra)  bei  Güns  betreffen. 

Zur  Kenntniss  des  Gemeinde  wesens  endlich  ist  die  Beschrei- 
bung und  Nachweisung  einiger  mittelalterlicher  Siegel  ungrischer 
Städte  und  Märkte  hier  anzureihen,  welche  Karl  von  Sava  im  Notizen- 
blatte Nr.  19  auf  den  Seiten  442  bis  447  geliefert  hat. 

Siebenbürgen. 

Die  Geschichte  der  ältesten  Zeit  dieses  Kronlandes  beleuch- 
tet ein  Aufsatz  des  corresp.  Mitgliedes  J.  K.  Schuller  im  vierzehnten 
Bande  unseres  Archives  auf  Seite  97  bis  107  unter  der  Überschrift: 
'Siebenbürgen  vor  Herodot  und  dessen  Zeitalter'. 

Zur  Kenntniss  des  mittelalterlichen  Genieindewesens  muss 
aber  aufgeführt  werden  die  schon  öfters  erwähnte  Arbeit  Kari's  von 
Sava,  die  Beschreibung  und  Nachweisung  einiger  mittelalterlicher 
Siegel,  welche  auch  eine  Reihe  solcher  von  siebenbürgischen 
Gemeinden  auf  den  Seiten  443  und  444  des  Notizenblattes  schildert. 

Auch  des  Grossherzogthumes 

ftrakau 

Städtewesen  wird  durch  den  eben  erwähnten  Aufsatz  Sava's  in 
Beziehung  auf  zwei  mittelalterliche  Siegel  der  Hauptstadt  dieses 
Kronlandes  beleuchtet.  Die  Schilderung  und  Nachweisung  derselben 
findet  sich  auf  Seite  447  in  Nr.  19  des  Notizenblattes. 


Bericht  über  die  Thiitig-keit  der  historischen  Coinmission   etc.  4 Od 

Österreichische  Monarchie. 

Nach  der  Aufzählung  der  für  die  Geschichte  der  einzelnen 
Kronländer  gelieferten  Arbeiten  sind  endlich  auch  jene  zu  erwähnen, 
welche  mehrere  Kronländer  zugleich  oder  die  Gesammtmonarchie 
zum  Gegenstande  haben. 

Für  die  Kenntniss  des  historischen  Material  es  dieser 
Länder  ist  vor  Allem  ein  Aufsatz  des  corresp.  Mitgliedes  Dr.  Watten- 
bach aufzuführen  unter  dem  Titel:  'Iter  Austriacum",  eine  Schilde- 
rung der  in  Wien,  Pesth,  Klagenfurth  und  Laibach  durch  diesen 
Gelehrten  geprüften  geschichtlichen  Handschriften.  Sie  steht  im 
Archive  Band  XIV  auf  den  Seiten  3  bis  29.  Von  da  an  bis  ans  Ende 
des  Aufsatzes  folgt  eine  eingehende  Untersuchung  über  Briefsteller 
des  Mittelalters ,  in  welcher  manche  Handschriften  in  Bibliotheken 
des  Kaiserstaates  näher  gewürdigt  werden. 

Der  Geschichte  der  ältesten  Zeiten  der  Monarchie  gewidmet 
ist  die  Fortsetzung  der  unter  dem  Titel:  'Beiträge  zu  einer  Chronik 
der  archäologischen  Funde  in  der  österreichischen  Monarchie',  von 
dem  wirklichen  Mitgliede  J.  G.  Seidl,  schon  seit  einer  Reihe  von 
Jahren  fortgesetzten  Berichte.  Sie  steht  auf  den  Seiten  239  bis  336 
des  fünfzehnten  Bandes  des  Archives. 

Die  äusseren  Verhältnisse  der  Monarchie  namentlich  zu 
Ungern,  Frankreich,  dem  Papste  u.  s.  w.  im  Jahre  1478  lassen 
fünfundzwanzig  Briefe  auswärtiger  Regenten  an  Kaiser  Friedrich  III. 
und  andere  Potentaten  erkennen ,  welche  Regierungsrath  Chmel  im 
zweiten  Bande  der  ersten  Abtheilung  der  Monumenta  habsburgica  auf 
den  Seiten  3  i  1  bis  332  zum  Gerneingute  gemacht  hat.  Speciell  aber  die 
Verhältnisse  zum  deutschen  Reiche  beleuchten  weitere  dreiundfünf- 
zig Briefe  und  Acten,  wie  jene  ersten  aus  den  Originalen  des  geh. 
Haus-,  Hof-  und  Staats-Archives  durch  Chmel  mitgetheilt,  ebenda  auf 
Seite  335  bis  388. 

Zur  allgemeinen  inneren  Geschichte  der  Monarchie  und  vor 
Allem  zu  jener  des  Regen  ton  hauses  von  Bedeutung  ist  die  Fort- 
führung der  Untersuchung  über  die  Haus- Privilegien,  die  in  dem  von 
Wattenbach  gelieferten  Aufsatze  Iter  Austriacum'  abermals  angeregt 
wurde,  im  vierzehnten  Bande  des  Archives  Seite  3  bis  6,  und  in 
der  Einleitung  zum  zweiten  Bande  der  ersten  Abtheilung  der  Monu- 
menta habsburgica  durch  Regierungsrath  Chmel  ausführliche  Erwi- 
derung fand. 

30  • 


454  v.  Ka  rajan. 

Spätere  Zeiten  des  Regentenhauses  beleuchtet  das  durch  Dr. 
Otto  Stobbe  im  Archive,  Band  XIV,  auf  den  Seiten  307  bis  385  aus 
einer  Erlanger  Handschrift  des  vierzehnten  Jahrhunderts  mitgetheilte 
Formelbuch:  'Summa  curia?  Begis'  aus  der  Zeit  König  Rudolfs  I. 
und  Albrecht's  I.  Ferner  eine  Reihe  von  Fürstenbriefen  des  fünfzehn- 
ten Jahrhunderts  aus  der  Zeit  Kaiser  Friedrich's  III.,  theils  aus  den 
Originalen  desReichsarchives  zuMünchen,  theils  aus  Abschriften  des 
germanischen  Museums  zu  Nürnberg,  mitgetheilt  vom  Regierungsrath 
Chmel  als  Fortsetzung  einer  schon  im  Vorjahre  begonnenen  Reihe,  im 
Notizenblatte  Nr.  4,  S.  83  bis  88;  Nr.  7,  S.  138  bis  160;  Nr.  9, 
S.  202  bis  208;  Nr.  10,  S.  222  bis  232;  Nr.  lls  S.  249  bis  256; 
endlich  in  Nr.  12  auf  S.  278  bis  280.  Gleichem  Zwecke  dienen  34 
Briefe  und  Actenstücke  über  die  Verhältnisse  Erzherzogs,  nacbmals 
Kaisers  Maximilian  I.  zu  den  Niederlanden  aus  dem  Jahre  1478, 
mitgetheilt  von  Chmel  im  zweiten  Bande  der  ersten  Abtheilung  der 
Monuinenta  habsburgica  auf  den  Seiten  391  bis  426.  Endlich  55 
Belegstücke  aus  den  Originalen  des  geh.  Haus-,  Hof-  und  Staats- 
Archives  zur  Geschichte  der  österreichischen  Vorlande,  und  nament- 
lich des  Regenten  derselben  Herzogs  Sigismund  von  Österreich  wäh- 
rend der  Jahre  1470  bis  1478,  in  derselben  Sammlung  auf  den 
Seiten  131  bis  220,  darnach  429  bis  512,  mitgetheilt  durch  Regie- 
rungsrath Chmel. 

Die  Staats-  und  Kirchen -Geschichte  der  Monarchie 
betreffen  die  von  Dr.  Beda  Dudik  im  Archive  Band  XV,  auf  Seite 
185  bis  238,  gelieferten  'Auszüge  aus  päpstlichen  Begesten  für 
Österreichs  Geschichte.  Gesammelt  in  Rom  im  Jahre  1853'.  Sie 
umfassen  die  Jahre  1308  bis  1604,  im  Ganzen  105  Numern.  Von 
diesen  sind  in  einem  Anhange  44  Urkunden  vollständig  mitgetheilt. 
Anzufügen  ist  hier  auch  schon  der  oben  berührte  Aufsatz  Dr.  Jakob 
Stepischneg\s,  'Georg  III.  Stobaeus  von  Palmburg,  Fürstbischof  von 
Lavant',  Archiv  XV,  S.  71  bis  132,  weil  er  die  kirchlichen  Ver- 
hältnisse Österreichs,  Steiermarks ,  Kärntens,  Krains  u.  s.  w.  am 
Ende  des  sechzehnten  Jahrhunderts  behandelt. 

Die  Besitz-,  Handels-  und  Gewerbe-Verhältnisse,  somit  die 
Finanzgeschichte  der  Monarchie  im  fünfzehnten  Jahrhundert 
berühren  sieben  Urkunden  und  Briefe  über  die  Verhältnisse  der 
Juden  in  Steiermark,  Kärnten  und  Krain,  dann  über  Steuerwesen, 
Besitz -Streitigkeiten,     die    Erbauung    und    Erhaltung    kaiserlicher 


Bericht  über  die  Thätigkeit  der  historischen   Commission    etc.  451) 

Schlösser  und  Burgen  und  Ähnliches,  mitgetheilt  vom  Regierungsrath 
Chmel  in  den  Monum.  habsburg.  Abtheilung  I,  Bd,  2,  S.  929  bis  947, 
sowie  eine  zweite  Veröffentlichung  desselben  unter  dem  Titel :  'Liber 
delegationum  seu  traditionum  rerum  Salzburgensium  canonicorum' 
aus  einer  Handschrift  des  12.  und  13.  Jahrhunderts  im  Notizenblatte 
Nr.  20,  S.  472  bis  480;  Nr.  21,  S.  506  bis  512;  Nr.  22,  S.  523 
bis  544;  Nr.  23,  S.  554  bis  576;  endlich  Nr.  24,  S.  596  bis  608. 

Über  die  Besitzungen  geistlicher  Körperschaften  im 
Bereiche  der  Monarchie  ist  im  Laufe  des  Jahres  nur  ein  einziger 
Beitrag  geliefert  worden,  nämlich  durch  Chmel  eine  Zusammenstel- 
lung aus  einer  Handschrift  des  dreizehnten  Jahrhunderts  über  die 
Besitzungen  des  Benedictiner-Klosters  Nieder-Altaich  in  der  Passauer 
Diöcese.  Sie  bildet  eine  Fortsetzung  früherer  Mittheilungen  im  Jahr- 
gange 1854  desselben  Notizenblattes,  und  findet  sich  in  Nr.  4,  S.  89 
bis  96;  Nr.  5,  S.  113  bis  120;  Nr.  6,  S.  137  bis  144;  Nr.  7, 
S.  101  bis  168;  Nr.  8,  S.  185  bis  192;  Nr.  9,  S.  209  bis  216; 
Nr.  10,  S.  233  bis  240;  Nr.  11,  S.  257  bis  267;  Nr.  12,  S.  281 
bis  288;  Nr.  13,  S.  309  bis  312;  endlich  Nr.  14,  S.  329  bis  336. 

Zur  Geschichte  des  deutschen  Ordens  im  Kaiserreiche  sind 
anzuführen:  Verschiedene  Schreiben  von  Deutschordensgliedern  an 
den  Grossmeister  in  Preussen,  den  Jahren  1411,  1414,  1416, 
1418,  1420,  1444,  1451,  1452,  1455,  1470,  1472,  1478,  1494 
und  1499  angehörig,  aus  mehreren  Ländern  des  Kaiserreiches,  mit- 
getheilt  durch  das  corresp.  Mitglied  Johannes  Voigt  aus  den  Origi- 
nalen des  Königsberger  Archives,  im  Notizenblatte  Nr.  5,  S.  102 
bis  112  und  Nr.  9,  S.  195  bis  199. 

Als  ein  Beitrag  zur  Geschieht e  des  Adels  in  den  österrei- 
chischen Ländern  kann  eine  Mittheilung  A.  M.  Böhm's  im  Notizen- 
blatte Nr.  21,  S.  496  bis  506  angesehen  werden,  nämlich  die  Schil- 
derung mehrerer  österreichisch-böhmischer  Grenzfehden  zu  Ende  des 
fünfzehnten  und  Anfange  des  sechzehnten  Jahrhunderts,  sowie  des- 
selben Verfassers  'Beiträge  zur  österreichischen  Siegellvunde,  nach 
Originalen  und  handschriftlichen  Quellen,  grösstenteils  des  nieder- 
österreichisch -ständischen  Archives,  abgedruckt  im  Notizenblatte 
Nr.  24  auf  den  Seiten  594  bis  596,  da  in  demselben  die  Wappen 
mehrerer  Geschlechter  der  Monarchie  erörtert  werden. 

Auch  ein  Schärflein  zur  Biographie  berühmter  Männer  des 
Kaiserreiches  findet  sich  im  Notizenblatte  Nr.  18  auf  Seite  428  bis 


4J)6  v.  K  a  r  a  j  a  n. 

430,  mitgetheilt  durch  Chmel,  nämlich  eine  Messestiftung  in  der 
Schlosscapelle  zu  Wildenau,  welche  eigenhändig  durch  Aeneas 
Silvius  Piccolomini ,  damals  Pfarrer  zu  Aspach  in  Österreich,  am 
13.  September  1445  bestätigt  wird.  Das  Original  befindet  sich  in 
dem  Consistorial-Archive  zu  Linz. 

Schlüsslich  ist  noch  auf  eine  Mittheilung  zur  Geschichte  eines 
ehemaligen  Bestand t heiles  der  Monarchie,  nämlich  der  soge- 
nannten Vorlande  derselben  hinzuweisen,  auf  dieschon  oben  erwähn- 
ten Actenstücke  zur  Geschichte  der  Verhältnisse  der  österreichischen 
Vorlande  zum  deutschen  Reiche  und  zu  Österreich  in  den  Jahren 
1470  bis  1478,  mitgetheilt  in  zwei  Reihen  durch  Regierungsrath 
Chmel  im  zweiten  Bande  der  ersten  Abtheilung  der  Monumenta 
habshurgica,  auf  den  Seiten  131  bis  220  und  429  bis  512,  im  Ganzen 
55  Briefe  und  Urkunden. 

Von  der  Monarchie  zum  Nachbarlande 

Baiern 

übergehend  sind  drei  Mittheilungen  beachtenswerth,  alle  drei  den 
Besitz  geistlicher  Körperschaften  in  Baiern  betreffend. 
Erstens  die  Verleihungsurkunde  eines  Besitzes  des  Bisthums  Regens- 
burg auf  österreichischem  Boden,  nämlich  die  Belehnung  Stephan's 
von  Maissau  mit  dem  Schlosse  Kopfstetten  bei  Eckartsau  durch 
Bischof  Heinrich  von  Regensburg  vom  26.  Jänner  1286,  mitgetheilt 
durch  P.  T.  Weiss  im  Anhange  zu  Band  XI  der  Fontes  unter  Nr.  XVI 
auf  Seite  316;  dann  die  fortgesetzte  Nachweisung  der  Besitzungen 
des  Benedictiner-Klosters  Nieder-Altaich  in  der  Salzburger  Diöcese 
durch  Begierungsrath  Chmel  im  Notizenblatte  Nr.  4,  S.  89  bis  96 ; 
Nr.  5,  S.  113  bis  120;  Nr.  6.  S.  137  bis  144;  Nr.  7,  S.  161  bis  168; 
Nr.  8,  S.  185  bis  192;  Nr.  9,  S.  209  bis  216;  Nr.  10,  S.  233  bis 
240;  Nr.  11,  S.  257  bis  264;  Nr  12,  S.  281  bis  288;  Nr.  13, 
S.  309  bis  312;  endlich  Nr.  14,  S.  329  bis  336;  endlich  von  dem- 
selben Gelehrten  die  Veröffentlichung  eines  dem  zwölften  bis  drei- 
zehnten Jahrhundert  angehörigen  Liber  delegationum,  seu  tradi- 
tionum  rerum  Salzburgensium  canonicorum',  welcher  die  Besitzungen 
dieser  Geistlichen  in  Baiern  und  Österreich  aufzählt ,  mitgetheilt  im 
Notizenblatte  Nr.  20  auf  S.  472  bis  480;  Nr.  21,  S.  506  bis  512; 
Nr.  22,  S.  523  bis  544  ;  Nr.  23,  S.  554  bis  576,  und  Nr.  24, 
S.  596  bis  608. 


Bericht  über  die  Thätigkeit  der  historische!)  Commissinn  etc.  4b 7 

Deutschland. 

Zwei  urkundliche  Mittheilungen  Chmel's  sind  es,  beide  im  zweiten 
Bande  der  ersten  Abtheilung  der  Monumenta  habsburgica  stehend, 
welche  auf  die  allgemeinen  politischen  Verhältnisse  des 
ehemaligen  römischen  Reiches  deutscher  Nation  sich  beziehen; 
erstens  50  Actenstücke  zur  Beleuchtung  der  Beziehungen  Ungerns 
zum  deutschen  Reiche  und  insbesondere  zu  Österreich  während  der 
Jahre  1472  bis  1477  auf  Seite  1  bis  128,  und  dreiundfünfzig  Briefe 
und  Actenstücke  Kaiser  Friedrich's  III.  an  einzelne  Reichsstände  aus 
dem  Jahre  1478  auf  den  Seiten  335  bis  388,  beide  den  Originalen 
des  k.  k.  Haus-,  Hof-  und  Staats-Archives  entnommen. 

Als  in  ihren  Ausgangspuncten  die  politischen  Grenzen  Deutsch- 
lands überschreitend  müssen  schlüsslich  noch  zwei  Arbeiten  aufge- 
führt werden,  erstens  als  die 

Schweiz 

in  Bezug  auf  Staats-  und  Kirchengeschichte  berührend  die 
durch  das  wirkliche  Mitglied  Prof.  Albrecht  Jaeger  im  Archive, 
Band  XV,  S.  337  bis  387  mitgetheilten  Regesten  und  urkundlichen 
Daten  über  das  Verhältnis«  Tirols  zu  den  Bischöfen  von  Chur  und  zum 
Bündnerlande  von  den  frühesten  Zeiten  des  Mittelalters  bis  zum  Jahre 
1665,  über  fünfhundert  Numern  füllend,  von  denen  die  meisten  aus 
ungedruckten  Quellen  geschöpft  sind,  und  zweitens  die  auf  die 

Niederlande 

und  deren  Rege  ntenha  u  s  bezüglichen,  durch  Chmel  im  zweiten 
Bande  der  ersten  Abtheilung  der  Monumenta  habsburgica  aus  den 
Originalen  des  k.  k.  Haus-,  Hof-  und  Staats-Archives,  auf  den  Seiten 
391  bis  426  veröffentlichten  34  Briefe  und  Actenstücke  über  die 
Verhältnisse  der  Niederlande  zu  Kaiser  Friedrich  III.  und  darnach 
zum  Erzherzoge  und  nachmals  Kaiser  Maximilian  I.  aus  dem  Jahre 
1478. 


Werfen  wir,  an  den  Schluss  unseres  Berichtes  gelangt,  einen 
prüfenden  Blick  auf  die  lange  Reihe  der  hier  aufgezählten  stofflichen 
Mittheilungen  sowohl  wie  kritischen  Arbeiten,  so  treten  uns  aus  der 
bunten  Fülle  des  Ganzen  vor  Allem  drei  gewaltige  Gruppen  entgegen. 
Erstens  die  glänzende  Bereicherung  der  Quellen  zur  Geschichte  des 
Stammlandes  der  Monarchie,  dann  jene  für  die  Geschichte  Böhmens 


45 S  v.  Karajan. 

während  der  erschütternden husitisehen Bewegungen,  endlich  drittens 
die  Sammlung-  und  Sichtung1  des  bis  jetzt  nach  allen  Richtungen  hin 
zerstreuten  StoiTes  zur  Geschichte  Venedigs  in  seinen  Beziehungen 
zum  Oriente.  Diese  drei  Wahrnehmungen  allein  schon  neben  der 
sonstigen  Beschaffenheit  des  Gebotenen  lehren,  dass  sich  der  Charak- 
ter der  durch  die  Commission  veröffentlichten  Arbeiten  und  Stoff- 
Sammlungen  immer  mehr  und  mehr  vielseitig  gestalte,  und  nach  und 
nach  alle  Länder  des  weiten  Kaiserreiches  in  ihren  geschichtlichen 
Interessen  gleichmässig  zu  vertreten,  der  grossen  Idee  des  Gesammt- 
staates  auch  in  ihren  Veröffentlichungen  Ausdruck  zu  verleihen  suche. 
Es  kann  zudem  selbst  von  dem  ungenügsamsten  Tadler  nicht  mehr 
geleugnet  werden,  dass  sich  hier  ein  gewaltiges  Bestreben  geltend 
mache,  dass  in  diesen  Sammlungen,  die  dermal  bereits  die  Zahl  von 
siebenunddreissig  Bänden  erreicht  haben,  durch  allseitiges  unver- 
drossenes Zusammenwirken,  durch  die  von  der  Akademie  jedem  ern- 
sten Forscher  uneigennützig  gewährten  Unterstützungen  sich  ein 
mächtiger  Bau  erhebe,  der  auf  festen  Grundlagen  ruhend  auch  dau- 
ernde Ergebnisse  verheisse. 

Es  gereicht  dabei  der  Commission  zur  wahren  Freude,  öffentlich 
aussprechen  zu  können,  dass  die  Theilnahme  an  ihren  Bestrebungen 
nicht  nur  nicht  erkalte,  sondern  dass  sich  allenthalben  in  den  einzel- 
nen Kronländern  tüchtige  Kräfte  zu  gemeinschaftlichem  Wirken  immer 
mehr  und  mehr  anschliessen,  so  z.  B.  im  Laufe  der  letzten  Zeit  in 
Böhmen  Palacky,  Höfler,  Wocel,  Xebesky,  in  Venedig  und  der  Lom- 
bardie  Valentinelli,  Müller,  Ferrario,  in  Kärnten  Stepischneg,  in 
Österreich  Karlin  und  Weiss,  jener  zu  geschweigen,  welche  schon 
früher  mit  der  Commission  im  Wechselverkehre  standen. 

Diese  hat  übrigens  die  vor  Jahren  begonnenen  Arbeiten  am  Atlasse 
Alt-Österreichs,  am  Codex  diplomaticus  Austrise  inferioris  auch  während 
des  abgelaufenen  Jahres  nicht  ausser  Acht  gelassen,  sondern  mit 
den  dermal  zu  Gebote  stehenden,  leider  geringen  Kräften  das  Mög- 
liche zu  leisten  gesucht. 

Die  Commission  glaubt  wie  bisher,  so  auch  in  Hinkunft  auf  die 
kräftige  Unterstützung  der  verehrten  Classe  hoffen  zu  dürfen,  und 
wird  es  an  sich  nicht  fehlen  lassen,  den  ihr  dadurch  erwachsenden 
Verpflichtungen  auf  das  Gewissenhafteste  nachzukommen. 


Bericht  über  die  Herausgabe  der  Acta  concilioruro  saeculi  XV.  459 


Bericht  über  die  Thätigkeit  der  Commission  zur  Herausgabe 

der  Acta  conciliorum  stecuii  XV  während  des  akademischen 

Ver waUu  ngsjahres  1854  auf  1855. 

Erstattet  in  der  Classen-Sitzung  vom  7.  Mai   1850  durch  das 
\v.  M.  Th.  G.  von  Karajan. 

Meine  Herren! 

Die  Thätigkeit  der  Commission  zur  Herausgabe  der  Concilien- 
Acten  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  musste  sich  im  Laufe  des  Ver- 
waltuugsjahres  1854  auf  1855  lediglich  auf  die  Fortsetzung  des 
bereits  weit  vorgeschrittenen  Druckes  des  ersten  Bandes  ihrer  Ver- 
öffentlichungen, auf  die  Verfassung  der  erforderlichen  Register,  end- 
lich der  Biographien  der  einzelnen  Schriftsteller  beschränken.  Dies 
geschah  aus  doppeltem  Grunde.  Erstens,  weil  die  verwendbaren 
Arbeitskräfte  nur  dazu  ausreichten,  und  zweitens,  weil  die  der  Com- 
mission zur  Verfügung  gestandenen  Geldmittel  für  den  Lauf  des 
Jahres  im  Ganzen  698  fl.  23  kr.  kaum  an  Anderes  denken  liessen, 
als  auf  die  Honorirung  der  bis  zur  Vollendung  des  Bandes  zu  liefern- 
den Arbeiten. 

Diese  nun  ist  aber  in  ganz  Kurzem  zu  erwarten.  Bereits  ist  der 
ganze  Text  109  Bogen  in  Kleinfolio  fertig  gedruckt,  die  Register  im 
Satze,  3  Bogen  vollendet,  der  Abdruck  der  Biographien,  deren  voll- 
ständige Manuscripte  bereits  vorliegen,  und  etwa  4 — 5  Bogen  im 
Drucke  liefern  werden,  in  Angriff  genommen.  Es  ist  daher  zu 
hoffen,  dass  der  erste  Band  noch  im  Laufe  dieses  Monates  längstens 
im  nächsten  .werde  ans  Licht  treten  können. 

Nach  dem  von  der  Commission  vorlängst  gefassten  Beschlüsse 
soll  im  Laufe  des  Jahres  1855  auf  1856  für  den  zweiten  Band  die 
Geschichte  des  Basler  Concils,  verfasst  durch  den  Augenzeugen 
Johannes  de  Segovia,  und  in  einem  herrlichen  Exemplare  hand- 
schriftlich an  der  k.  k.  Hofbibliothek  erhalten,  in  Angriff  genommen 
werden.  Dasselbe  umfasst  zwei  tüchtige  Bände  in  Folio,  und  wird 
einen  ganzen  Band,  wenn  nicht  mehr,  der  Veröffentlichungen  der 
Commission  füllen.  Mit  der  Abschriftnahme  soll  nach  Vollendung  des 
ersten  Bandes  begonnen  weiden. 


460  v.  Schlechta-Wssehrd. 


Vorgelegt: 

Bericht  über  die  vom  September  1854  bis  September  18oo  zu 
Konstantinopel  erschienenen  orientalischen  Werke. 

Von  dein  c.  M.  Freiherrn  Ottokar  M.  v.  Schlechta-Wssehrd. 

Als  Nachtrag  zu  den  im  Laufe  des  islamitischen  Jahres  1270 
hier  erschienenen  Lithographien  *)  kommt  noch  folgende  zu  bemerken: 

Kitäbi  Fal  3),  d.  h.  Buch  der  Wahrsagung,  von  Dschafer 
Ssadik.  Ein  Octavheft  von  48  Seiten,  aufgelegt  in  der  Steindruckerei 
des  hiesigen  Fortifications-Institutes  (Monat  Silkide  o.  J.  —  August 
1854).  Es  enthalt  die  türkische  Übertragung  des  gleichnamigen 
arabischen  Originales.  Dieselbe  wurde  auf  Befehl  Sultan  Murad  des 
Zweiten  angefertigt,  wofür  die  veralteten  Bedeformen  genügsamen 
Beweis  liefern.  Die  ersten  drei  Seiten  geben  die  Gebrauchsanwei- 
sung; den  Best  füllen  kabbalistische  Kreise  und  Tabellen,  welche 
denjenigen  der  glaubt  „eine  Frage  an  das  Schicksal  frei  zu  haben," 
sich  der  Beihe  nach  zuschicken  und  deren  letzte  endlich  dem  Geplag- 
ten in  vier  meistentheils  dunklen  Versen  Befriedigung  seiner  Neu- 
gierde gewahrt.  Die  einzelnen  Spalten  der  Tabellen  welche,  je 
nach  Beschaffenheit  der  gestellten  Frage ,  einzusehen  sind,  werden 
durch  Würfel  bestimmt,  worauf  die  Zahlen,  statt  in  Ziffern,  in  Buch- 
staben (Ebdsched  Hewes)  notirt  sein  sollen.  Im  Nothfalle  können 
solche  Würfel  auch  durch  die  Hände  ersetzt  werden,  wo  dann  die 
Gesammtzahl  der  von  zwei  Personen  gleichzeitig  ausgestreckten  Fin- 
ger die  Numer  der  einzusehenden  Tabelle  angibt. 

Das  Ganze  hat  in  so  fern  Interesse,  als  es  beweist,  welch' 
ferner  Vergangenheit  das  Urbild  jener  vielfältigen  Copien  angehört, 
die  später  in  Europa  unter  verschiedenen  Titeln  und  veränderten 
Formen  als  Gesellschafts-  und  Kinderspiele  so  grosse  Verbreitung 
gefunden  haben. 


i)  Siehe  das  Juliheft  des  Jahrganges  1855  der  Sitzungsberichte  der  philos.-histor.  Classe 
der  kaiserl.  Akademie  der  Wissenschaften,  XVII.  Bd.,  S.  157  ff.  (Auch  besonders 
abgedruckt.) 


2 


Bericht  über  die  zu  Konstantinopel  erschienenen  orientalischen  Werke.      461 

Im  Laufe  des  Jahres  d.  H.  1271  erschienen  hier  nachstehende 

Blei-Druckwerke. 

Nr.  309.  Osmanische  Geschichte  von  Chairullah  Efendi  *)•  Das 
vorliegende  achte  Bändchen  3)  derselben,  176  Seiten  stark,  erschien 
Mitte  Rebi-ulewwel  o.  J.  (December  1854)  und  beschreibt  in  zwei 
Abschnitten  (Fassl)  die  mit  der  Regierung  Sultan  Mohammed  des 
Eroberers  gleichzeitigen  Weltereignisse,  dessen  Verwaltung,  die 
Eroberung  Konstantinopels,  Serbiens  und  Moreas,  die  Feldzüge 
gegen  Scanderbeg  u.  s.  w.  Seite  85  findet  sich  eine  Stelle  die, 
soviel  dem  Berichterstatter  bekannt,  bisher  in  keiner  europäischen 
einschlägigen  Geschichte  aufgeführt  erscheint  und  als  charakteristisch 
für  die  Persönlichkeit  des  genannten  Sultans  hier  erwähnt  zu  werden 
verdient.  Sie  lautet  wörtlich  : 

„Als  Sultan  Mohammed  (nach  Besichtigung  des  eroberten 
„Byzanz)  in  sein  Zelt  zurückkehrte,  zog  ihm  das  Corps  der  Ulema 
„entgegen  welche,  im  Einverständnisse  mit  dem  Grosswefir  Chalil 
„Pascha,  für  Aufschiebung  der  Belagerung  gestimmt  hatten.  Sie 
„priesen  Gott  dafür,  dass  er  ihr  Gebet  erhört  und  dem  Sultan  das 
„schwierige  Unternehmen  erleichtert  habe.  Der  Sultan  hingegen, 
„welcher,  mancher  früherer  Ungebührlichkeiten  halber,  gegen  die 
„Gesetzgelehrten  aufgebracht  war,  gab  seinem  Ärger  freien  Lauf  und 
„antwortete:  Euch  habe  ich  nichts  zu  danken,  zum  Siege  verhalf 
„mir  einzig  und  allein  dieser  da,  wobei  er  auf  den  in  seinem  Gürtel 
„steckenden  Säbel  deutete.    Die  Ulema  verstummten." 

Nr.  310.  Biographien  berühmter  europäischer  Staatsmänner  3), 
ein  Octavband  von  202  Seiten  ,  aufgelegt  in  der  hiesigen  Staats- 
druckerei Mitte  Schaban  (April  1855).  In  der  Vorrede  erzählt  der 
Verfasser,  Abro  Sohak,  Armenier  von  Geburt  und  Beamter  im  Über- 
setzungsbureau der  Pforte,  der  sich  selbst  als  „unbedeutender, 
armseliger  und  mangelvoller  Unterthan"  betitelt,  dass  er,  um 
einen  schwachen  Beweis  seiner  Bewunderung  für  die  täglich  fort- 
schreitende Civilisirung  seines  Vaterlandes  abzulegen,  und  zugleich 


a)  Der  Inhalt  der  sieben  vorhergehenden  wurde  bereits  früher  beschrieben. 


462  v.  S  c  hie  ch  t  a-Ws  s  ehr  d. 

einheimischen  Ministem  nützliche  Vorbilder  zu  liefern,  die  Absicht 
hege ,  monatlich  je  einen  Band  Biographien  berühmter  Staatsmänner 
des  Abendlandes  erscheinen  zu  lassen,  wozu  mittelst  des  vorliegen- 
den ersten Theiles  der  Anfang  gemacht  werde.  Dieser  enthält  in  türki- 
scher Übersetzung  nach  Amadee,  Bastide,  Capefigue  u.  s.  w.  die 
Lebensbeschreibungen  Talleyrand's ,  des  Fürsten  Metternich,  Lord 
Wellington^,  Grafen  Nesselrode's  und  Lord  Palmerston's,  dessen 
lange  Parlamentsrede  über  die  Beziehungen  Englands  zum  Conti- 
nente,  gleichfalls  ins  Türkische  übertragen,  den  Schluss  bildet. 
Unschöne  Porträte  der  beschriebenen  Persönlichkeiten  sind  in  Holz- 
schnitt beigegeben. 

Die  Übersetzung,  obwohl  im  Ganzen  vorzüglich,  leidet  stellen- 
weise an  dem  Fehler,  in  welchen  europäisirte  Morgenländer  wie  auch 
europäische  Übersetzer  aus  dem  Orientalischen  so  häufig  verfallen; 
sie  will  zu  getreu  sein ,  nimmt  mehr  auf  den  Ausdruck  als  auf  den 
Geist  der  Sprache  Bücksicht  und  wird  daher  oft  unverständlich. 

Nr.  311.  Kitab  ol  Kuduri  *),  Ende  Silkide  (August  1855), 
in  obiger  Anstalt  aufgelegt,  Octavband  von  156  Seiten,  durchaus 
arabisch,  enthält  in  43  Büchern  das  dogmatische  Werk  über 
die  religiösen  Vorschriften  des  Islams  vom  Scheich  Ebul  Hasan 
Elkuduri  aus  Bagdad.  Commentirende  Glossen  laufen  neben  dem 
Texte  auf  den  Bändern   fort. 

Nr.  312  Chul äset  ul  -  Munschiat3),  d.  h.  Ausgewählte 
Schriftmuster,  ein  Klein-Octavband  von  119  Seiten,  ohne  Datum, 
aufgelegt  in  der  Druckerei  der  türkischen  Privat-Zeitung,  verfasst 
von  Ahmed  Said  Efendi,  Schreiber  im  Cuntrolorainte  der  grossh. 
regulären  Truppen,  enthält  Formulare  von  Epitheten,  Bittschriften, 
Briefen  und  Documenten  aller  Art  in  türkischer  Sprache,  wobei,  wie 
es  in  einer  Bandglosse  zur  Vorrede  heisst,  mit  Vermeidung  aller 
veralteten  Ausdrücke,  vornehmlich  auf  dasBedürfniss  und  die  Schreib- 
weise der  Gegenwart  Bedacht  genommen  worden  ist. 

Nr.  313.  Hadiket-ul- Wufera,  d.  h.  Garten  der  Wefire,  ein 
Kleiu-Octavband  von  292  Seiten  ,  aufgelegt  in  der  genannten 
Privat-Druckerei  ohne  Angabe  des  Monates  der  Veröffentlichung. 
Das  in  türkischer  Sprache  abgefasste  Werk,  welches  übrigens  bereits 


x)  ^j-^1  ^l^    8)  o£~i!  L^^U. 


Bericht  über  die  zu  Konstantinopel  erschienenen  orientalischen  Werke.       463 

in  der  Hammer-Purgstall'schen  Sammlung  in  der  k.  k.  Hofhibliothck 
zu  Wien  handschriftlich  existirt,  zerfällt  in  4  Theile,  deren  jeder 
abgesondert  pagioirt  ist.  Der  erste  und  umfangreichste  enthält  die 
Biographien  der  osmanischen  Grosswefire  seit  dem  ersten  derselben 
(Alajeddin  Pascha)  bis  zu  Rami  Mehmed  Pascha  unter  Sultan  Mustafa 
dem  Zweiten.  Seite  130  gibt  Aufschluss  über  den  Autor  dieses 
1.  Theiles  Osmanfade  Taib   Efendi. 

Derselbe,  Sohn  eines  unbedeutenden  aber  vermögenden  Pforten- 
beamten, studirte  die  Gesetzwissenschaften,  bekleidete  zu  wieder- 
holten Malen  Professorstellen  in  verschiedenen  Akademien  (Medrese) 
und  erreichte  endlich  durch  die  Gunst  des  damaligen  Grosswefirs 
Damad  Ibrahim  Pascha  die  einträgliche  Stelle  eines  Kadhi  von  Kairo, 
als  welcher  er  im  Jahre  d.  H.  1036  (1724)  mit  Tod  abging. 

Der  zweite  Theil  (86  Seiten)  setzt  die  Biographien  bis  Said 
Mehmed  Pascha  unter  Sultan  Osman  III.  fort.  Dessen  Verfasser  nennt 
sich  Dilaweragafade  Omer  und  bekleidete  unter  Mustafa  dem  Dritten 
die  Würde  eines  Reis  Efendi. 

Der  dritte  Theil  (50  Seiten)  aus  der  Feder  Ahmed  Dschawid 
Beys,  eines  Seraibeamten  unter  S.  Selim  dem  Dritten,  führt  die 
Lebensbeschreibungen  bis  Jusuf  Sia  Pascha  weiter,  unter  dessen 
Grossvvefirat,  mit  Beiziehung  englischer  Hilfe,  Ägypten  den  Fran- 
zosen abgenommen  wurde. 

Der  vierte  Anhang  endlich  schliesst  sichdem  vorigen  unmittelbar 
an  und  endet  mit  der  Biographie  des  tragischen  Alemdar  Mustafa 
Pascha,  des  unfreiwilligen  Mörders  und  zugleich  Rächers  seines  Herrn 
und  Gönners  Selim  des  Dritten.  Verfasser  dieses  letzten  Theiles  ist 
ein  gewisser  Abdulfettah  Schäfkät  aus  Bagdad. 

Nr.  314.  Tarichi  Dschewdet1),  d.  i.  Geschichte,  verfasst 
von  Dschewdet.  Von  diesem  vorzüglichen  Werke  über  die  Begeben- 
heiten des  osmanischen  Beiches  seit  dem  Frieden  von  Kainardsche 
(1188)  (1774)  sind  bisher  2  Bände  erschienen,  in  deren  nähere 
Besprechung  der  Beferent  nicht  eingeht,  weil  der  Inhalt  derselben 
bereits  in  Hammer  -  Purgstall's  bezüglichem  Berichte  2)  ausführlich 
geschildert  worden  ist. 


*)  03j>    <£jU 

2)  Im  Novemberhefte  des  Jahrganges  1853  der  Sitzungsberichte  der  philos.-histor. 
Gasse  der  kaiserl.  Akademie  der  Wissenschaften ,  XVIII.  Bd.,  S.  3.  (Auch  besonders 
abgedruckt.) 


464  v.  Schlechta-Wssehrd. 

Ahmed  Dschewdet,  deren  Verfasser,  ist  gegenwärtig  Kadhi  von 
Galata  und  bekleidet  gleichzeitig  den  Posten  eines  Reichsgeschichts- 
schreibers oder  Staatschronisten  der  h.  Pforte.  Sein  Werk  will  er, 
wie  auch  im  Vorworte  gesagt  ist,  bis  zur  Epoche  der  Janitscharen- 
Vertilgung  fortführen.    Der  dritte  Band  befindet  sich  unter  der  Presse. 

Lithographien. 

Multeka  elebhur  *),  d.  h.  Zusammen  flu  ss  der  Meere. 
Ein  Band  von  215  Seiten  Octav,  in  der  Staatsdruckerei  Anfangs 
Redscheb  vollendet,  enthält  den  arabischen  Text  dieses  berühmten 
Compendiums  islamitischer  Dogmatik  und  Rechtsgelehrsamkeit  sammt 
commentirenden  Randglossen,  von  Ibrahim  El-Halebi.  Schrift  und 
Steindruck  sind  von  besonderer  Zierlichkeit. 

Netaidsch  ul-Efkiar2),  d.h.  Denkresultate,  Octavband  von 
219  Seiten,  Mitte  Redscheb  in  obiger  Anstalt  erschienen,  umfasst 
zwei  arabische  Commentare  des  gleichfalls  in  arabischer  Sprache 
abgefassten  grammatikalischen  Werkes  Mehmed  Birgewi's,  betitelt  3): 
„Aufhellung  der  Geheimnisse."  Der  erstere  dieser  beiden  Commentare 
läuft  regelmässig  auf  der  Mitte  des  Blattes  fort  und  hat  zum  Ver- 
fasser Scheich  Mustafa  Ibn'  Hanife,  beigenannt  Ethwa. 

Der  Autor  des  zweiten,  in  Form  von  Randglossen  neben  dem 
mittleren  Texte  umherlaufenden,  nennt  sich  Scheich  Mehmed  Ibn' 
Ahmed  Seinifade.  Sein  Werk  führt  den  Titel  Feth  -  ulesrar,  d.  h. 
Erschliessung  der  Geheimnisse.  Mehmed  Birgewi  oder  Birgeli  lebte 
bekanntlich  unter  der  Regierung  Suleiman  des  Grossen  und  verfasste 
unter  andern  auch  einen  islamitischen  Katechismus,  welcher  noch 
gegenwärtig  die  Grundlage  des  Primär- Schulunterrichtes  im  osmani- 
schen  Reiche  bildet. 

Meli  ah  u  Im  iah  4),  d.  h.  Reiz  der  Wasser,  Heft  von  22  Seiten, 
vollendet  in  der  Staatsdruckerei  am  15.  Redscheb  (4.  April  1855), 
verfasst  im  Jahre  1216  (1801  —  1802)  vom  Sohne  des  Scheich- 
ul-islam  Aaschir  Efendi,  dem  gegen  Ende  1226  (zweite  Hälfte 
Decembers  1811)  gestorbenen  Seriasker  von  Rumelien  Elhadsch 
Mehmed  Hafid  Efendi.  Der  Abhandlung  gehen  auf  drei  Seiten  drei 
Lobgedichte  voraus.    Über  denselben  prangt  ein  Holzschnitt,    zwei 


i>  ^i\  j±.    2)  ysli\  gc    a)  j\j^i\  j\^\    4)  »ui  *V 


Berieht  über  die  zu  Konstantinopei  erschienenen  orientalischen  Werke.      46S 

von  Bäumen  beschattete  Fontainen  darstellend,  eine  Anspielung  auf 
den  Inhalt  des  gepriesenen  Productes.  Nicht  minder  passend  beginnt 
die  Abhandlung  selbst  mit  jenem  Koran-Verse  *)  der,  ein  arabisches 
Seilenstück  zu  dem  hellenischen  „Towp  npayp.dT(jw  aotarov,"  im 
Oriente  fast  jeden  öffentlichen  Brunnen  schmückt  und  wohl  auch  im 
Occidente  über  dem  Eingange  zu  Kaltwasser-Heilanstalten  zu  prangen 
verdiente,  dem  Eintretenden  Leben  und  Gesundheit  verheissend. 
Hierauf  erzählt  der  Verfasser,  wie  ihm  sein  Aufenthalt  in  einem 
Landhause  auf  der  reizenden.  Höhe  von  Dschamlidsche  am  asiati- 
schen Ufer  des  Bosphorus  den  Gedanken  eingab,  die  als  vorzüglichst 
gerühmten  Brunnen  und  Quellen  der  Umgegend  Konstantinopels  mit- 
telst der  Wasserwage  und  des  Thermometers  zu  untersuchen  und 
das  Ergebniss  seiner  Experimente  in  der  gegenwärtigen  Schrift 
niederzulegen.  Als  über  jedes  irdische  Gewässer  erhaben,  preist 
er  zuvörderst  das  Wasser  des  heiligen  Brunnens  Semfem  in  Mekka, 
dessen  wunderbare  Köstlichkeit  und  Heilkraft  nicht  minder  durch 
eine  Überlieferung  aus  dem  Munde  des  Propheten  als  durch  die 
Erfahrung  der  davon  schlürfenden  Pilger  bewiesen  und  gerühmt  wird. 
Das  seiner  Ansicht  nach  zunächst  beste ,  weil  leichteste  und 
geschmackvollste  Wasser  ist  das  Begenwasser.  Von  diesem  behaup- 
tet der  Verfasser  auf  Grundlage  persönlicher  Versuche,  dass  solches 
im  April  gesammelt,  sich  in  reinen  und  sehr  scharfen  Essig  ver- 
wandelt, wenn  man  davon  10  Okka  (beiläufig  22ya  W\  Pfde.)in  einem 
Gefässe  durch  40  Tage  aufbewahrt,  nachdem  man  25  Drachmen 
Rosinen,  in  ein  Säckchen  gebunden,  während  des  bemerkten  Zeit- 
raumes darin  liegen  gelassen  hat.  An  das  Regenwasser  reiht  sich 
jenes  der  Ströme  und  Quellen.  Das  Ideal  allen  Wassers  aber  wäre 
jenes,  in  welchem  sich  folgende  acht  Bedingungen  vereinigt  fänden: 
Steiniges  Bett,  starker  Fall,  Leichtigkeit  und  Fähigkeit  zu  schnellem 
Erwarmen  und  Erkalten,  rasches  Ausströmen,  Mächtigkeit  und  Fülle 
wodurch  die  Aufnahme  schädlicher  Bestandteile  verhindert  wird, 
guter  Geschmack,  langes  Binnen,  und  hochgelegener,  der  Luft  und 
Sonne  zugänglicher  Ursprung,  endlich  Fluss  von  Süden  nach  Norden, 
oder  von  Westen  nach  Osten.  Die  meisten  dieser  Kriterien  sind  dem 
Wasser  des    Niles    eigen,    daher    dieser    auch    vorzugsweise  den 


')  "^^  ^^  ^P    **'  sj^  LLä-s.-  d.h.  Durch  das  Wasser  geben  allem  Sein  wir  Leh 


en. 


466  >'.  Schlechta-Wssehrd. 

Beinamen  des  „gesegneten"  verdient.  Diesem  Ideal  am  nächsten  kommt 
destillirtes  Wasser,  hierauf  natürliches  Quellwasser,  dann  Röhren- 
und  Cisternenwasser  welches  jedoch,  seiner  Absperrung  halber,  und 
namentlich  im  Winter,  wegen  des  damit  sich  mengenden  Schnees 
als  Trunk  eben  nicht  anzurathen  ist,  dann  Brunnenwasser  welches 
meistentheils  dieselben  Nachtheile  hat.  Noch  schädlicher  ist  Teich-, 
Sumpf- ,  salziges ,  bitteres ,  warmes  schwefel-  und  sonst  mineral- 
hältiges  Wasser  welches  letztere,  kalt  getrunken,  nachtheilig  wirkt. 
Nach  diesen  allgemeinen  Bemerkungen  geht  der  Verfasser  auf  die 
Beschreibung  der  einzelnen  beliebtesten  Quellen  in  der  Nähe  Kon- 
stantinopels über.  Diese  sind  der  Reihe  nach:  Die  Quelle  von 
Tschamlidsche,  die  der  begeisterungstrunkene  Autor  als  Padi- 
schah  der  Gewässer  begrüsst;  leider  verträgt  ihr  Wasser  den  Trans- 
port nicht.  Kestane  suju,  d.  h.  Kastanienwasser,  eine  Quelle  auf 
dem  europäischen  Ufer  des  Bosphorus,  nahe  bei  Bujukdere.  Kai'sch 
bunari,  d.  h.  Riemenquell,  eine  Stunde  oberhalb  Scutari,  wo  in 
neuester  Zeit  die  britischen  Schwadronen  ihre  Pferde  tränkten.  Die 
Quelle  von  Sultan  tsehiftligi  auch  in  jener  Gegend.  Das  Wasser 
von  Kara  kulak  in  dem  schattigen  Thale  von  Cbunkiar  Eskelesi 
(Kaiserscala)  in  Asien,  gegenüber  von  Bujukdere.  Das  Wasser  von 
Kuskuli,  auf  einer  asiatischen  Anhöhe.  Die  Quelle  von  Miri  achur 
Köschki(d.  h.  vom  Kiosk  des  Stallmeisters)  im  Thale  der  europäischen 
süssen  Wasser,  wenig  geschätzt.  Gümisch  suju,  d.  h.  Silber- 
wasser, in  Asien  bei  Sultanie  am  Bosphorus.  Tokmak  suju  bei 
Stenia  in  Europa.  Das  Wasser  von  Haikali ,  3  Stunden  von  Konstan- 
tinopel. Tscheke  suju  bei  Nikomedien;  das  Wasser  dieses  Quells 
wird  als  Geschenk  nach  Konstantinopel  gebracht.  Nerchdschi 
suju  am  europäischen  Ufer  des  Bosphorus.  Turundschli  suju, 
2  Stunden  ausserhalb  der  Hauptstadt.  Kirk  dscheschme,  d.  h.  die 
vierzig  Quellen.  Das  Wasser  von  Nafir  Aga  bei  Ejub,  auch 
B  üründs  chikl  i  Ajasma,  d.  h.  Schleier  -  Weihquell  genannt. 
Tholaji  oder  Dolaji  bunari  bei  dem  alten  Schlosse  auf  der 
asiatischen   Seite  des  Bosphorus. 

Schliesslich  werden  noch  einige  Verhaltungsmassregeln  in  Bezug 
auf  das  Wassertrinken  überhaupt  angedeutet,  worauf  historische  Daten 
über  den  Bau  einiger  Fontainen  und  mehrere  Chronogramme  folgen,  wo- 
mit das  Büchlein  schliesst.  Wie  wichtig  gutes  Trinkwasser  für  eine  Nation 
ist,  welcher  ihr  religiöses  Gesetz  geistige  Getränke  untersagt,  bedarf 


Bericht  übei  die  ^11  Koustautinopel  erschieueuen  orientalischen  Werke       4u7 

keiner  Erwähnung.  Der  Koran  verheisst  den  Gläubigen  als  eine  der 
köstlichsten  Gaben  der  ihnen  bevorstehenden  Seligkeiten  „einen  rei- 
nen Trunk. u  Ausserdem  schreiben  die  Morgenländer  dein  Wasser 
weit  grössere  Einwirkung  auf  die  Gesundheit  zu  als  dies  in  Europa 
angenommen  wird.  Der  Ausdruck  für  „Acelimatisirung"  lautet  im 
Orientalischen  „Vertrautwerdung  mit  Wasser  und  Luft."  Es  kann 
daher  nicht  Wunder  nehmen,  dass  die  eben  besprochene  Broschüre 
für  die  muselmanische  Bevölkerung  mehr  Interesse  hat  und  in  zahl- 
reicheren Exemplaren  abgesetzt  wird  als  so  manches  andere  Press- 
erzeugniss ,  welcher  Umstand  auch  die  ihm  geweihte  längere 
Besprechung  entschuldigen  möge. 

Ein  38  Seiten  starkes  Octavheft,  am  lö.  Bedscheb  in  der  Staats- 
druckerei  erschienen.  Dasselbe  führt  keinen  Titel  und  enthält  die 
poetischen  und  prosaischen  Leistungen  eines  osmanischen  Gesetz- 
gelehrten  Namens  Mehmed  Aarif  Efendi ,  der  im  Jahre  1262 
(Februar  1849)  als  Titular-Kafiasker  in  Brussa  mit  Tod  abging. 
Seine  Biographie  welche  jedes  weitere  Interesse  entbehrt,  bildet 
den  Eingang  des  Büchleins,  worauf  zwei  Briefe  des  Verstorbenen 
in  türkischer  Prosa,  und  ein  Vorwort  aus  seiner  Feder  zu  einem  aus 
dem  Englischen  übersetzten  geographischen  Werke ,  als  Muster  sei- 
nes ungebundenen  Styles  folgen.  Die  nächsten  zwanzig  Seiten  ent- 
halten Gedichte  vermischten  Inhalts;  den  Schluss  bildet  ein  kurzer 
Diwan.  Dichterischen  Werth  hat  das  Ganze  so  wenig,  dass  der 
Beferent  sich  vergeblich  bemühte  eine  Stelle  aufzufinden,  die  verdient 
hätte  in  Übersetzung  der  Aufmerksamkeit  des  deutschen  Lesers 
empfohlen  zu  werden. 

Chat  im  et  ul  E  schär  i),  d.  h.  Schlussfolge  der  Dichtungen, 
ein  Band  von  460  Seiten  farbigen  Papieres,  herausgegeben  in  der 
lithographischen  Anstalt  des  hiesigen  Fortifications-Corps.  Die  ersten 
drei  Blätter  enthalten  Lobgedichte  zu  Ehren  des  Verfassers  und  sei- 
nes Werkes.  In  der  Vorrede  wird  bemerkt,  dass  schon  der  Prophet 
den  hohen  Werth  der  Poesie  anerkannte,  indem  er  dem  Dichter  Kab 
Ihn*  Sobeir  zur  Belohnung  für  ein  ihm  vorgelesenes  Gedicht  sein 
eigenes  Kleid  zum  Geschenk  machte,  und  zwar  dasselbe  welches 
noch  gegenwärtig   im  alten   Serai   alljährlich   einmal  der  Verehrung 


Sitzb.  d.  phil.-hiflt.  Cl.  XX.  Cd.  III.  Ilft.  31 


408  v-  Sch  leeht  a-Wssehrd. 

der  Gläubigen  ausgesetzt  wird.  Daher  hätten  auch  die  osmanischen 
Herrscher  jederzeit  der  Poesie  ihren  besonderen  Schutz  angedeihen 
lassen  und  zum  Theil  auch  selbst  der  edlen  Versekunst  gehuldigt, 
als  da  Ahmed  III.,  Selim  III.  u.  a.  m.  Aus  demselben  Grunde  sei  man 
auch  immer  bemüht  gewesen  die  Biographien  osmanischer  Dichter 
nebst  Blüthenlesen  aus  ihren  Leistungen  mittelst  eigener  Sammel- 
werke (Teskere)  der  Nachwelt  zu  bewahren.  Die  beiden  jüngsten 
dieser  Teskere  von  Mirfafade  Salim  und  Ssefai  Efendi  gingen  nicht 
über  das  Jahr  1135  m.  Z.  (1723)  hinaus,  wesshalb  Fathin  Efendi. 
der  Verfasser ,  auf  Anrathen  einiger  ausgezeichneter  Männer,  es 
unternommen  habe ,  jene  Encyklopädien  bis  zum  heutigen  Tage  fort- 
zusetzen. Diese  Fortsetzung  bildet  den  Inhalt  des  gegenwärtigen 
Buches.  Die  einzelnen  Dichter  folgen  sich  in  alphabetischer  Ordnung 
nach  dem  Anfangsbuchstaben  ihrer  Namen  an  einander  gereiht.  Jeder 
Biographie  geht  eine  Gedichtprobe,  länger  oder  kürzer,  voraus;  die 
Sprache  (türkisch)  ist  schwungvoll  und  gewählt.  Die  meisten  Staats- 
männer und  hohen  Würdenträger  der  Pforte  haben  in  ihren  Musse- 
stunden  auch  Poesie,  oder,  wie  die  Araber  diese  so  sinnig  benen- 
nen, „erlaubte  Magie-'  getrieben  und  erscheinen  desshalb  gleichfalls 
biographisch  geschildert,  was  dem  Werke  gewissermassen  auch  einen 
politisch-historischen  Werth  verleiht.  Fathin  Efendi  bekleidet  ein 
unbedeutendes  Amt  und  lebt  in  kümmerlichen  Verhältnissen.  Der 
letzte  Vers  des  vierzeiligen  Chronogramms,  womit  er  seine  Leistung 
beschliesst,  und  worin  gesagt  ist,  „dass  sein  Werk  besonders  schön 
gedruckt  sei ,"  ist  leider  der  Wahrheit  nicht  gemäss ,  da  die 
Lithographie  zu  den  schlechtesten  der  hier  erschienenen  gezählt 
werden  muss. 

Medschmäi  M  u  nschiat  J)<  d.  b.  Sammlung  von  Schrift- 
mustern, ein  Octavheft  von  150  Seiten,  aufgelegt  in  der  Lithographie 
der  grossen  Kaserne  in  Pera,  hat  einen  gewissen  Ahmed  Said  Efendi 
zum  Verfasser  der  Concipistendienste  in  der  Controlorkanzlei  für  die 
regulären  Truppen  versieht.  Die  Hässlichkeit  und  Fehlerhaftigkeit  der 
Schrift  und  Lithographie  sind  des  geschmacklosen  Inhaltes  würdig. 

Taabirname  2),  d.  h.  Buch  der  Traumdeutung,  eine  Broschüre 
in  Klein-Octav  von  64  Seiten;  der  Druckort  ist  nicht  angegeben. 


*)  OU^o   7*«sS-         2)  AäU/UäJ 


Eforichi  Sber  die  zu  Konstantinopel  erschienenen  orientalischen  Werke       469 

Der  türkische  Text  ist  durchaus  mit  Vocalzeichen  versehen,  was 
anzudeuten  scheint,  dass  die  Arbeit  für  den  Volksgehrauch  bestimmt 
ward,  ihr  vollständiger  Titel  lautet:  „Traumauslegungsbuch  des  Pro- 
pheten (Frieden  über  ihn),  welches  als  Randglosse  zu  dein  berühm- 
ten Traumdeutungsbuche  Muhaijeddin  Arabi's  beigefügt  worden  ist." 
Inder  Vorrede  wird  dieselbe  als  eine  Übersetzung,  zusammengetragen 
aus  Ibn'  Serin  (Seirein?)  und  mehreren  anderen  einschlägigen  Pro- 
ducten,  bezeichnet.  Als  Einleitung  folgt  eine  kurze  Abhandlung  über 
Träume  im  Allgemeinen.  Diese  sind  bedeutungsvoll  oder  nicht.  Von 
den  bedeutungsvollen  gibt  es  drei  Gattungen :  Tebschir,  nämlich 
Freudiges  ankündigende,  Tahrir,  d.  i.  warnende,  und  IIb  am,  d.  i. 
inspirirte  Träume.  Alle  drei  sind  von  Gott  gesendet.  Träume  ohne 
Bedeutung  sind  ebenfalls  dreifacher  Kategorie,  nämlich  Chäbi 
himmet,  d.  i.  durch  moralische  Aufregung,  Chäbi  illet,  d.  i. 
durch  Krankheit,  Chäbi  scheitan,  d.  i.  durch  Einflüsterungen  des 
Dämons  hervorgerufene  Träume.  An  diese  allgemeinen  Bemerkungen 
reihen  sich  53  Abschnitte  enthaltend  die  Auflösungen  der  Traum- 
räthsel  je  nach  dem  geträumten  Gegenstande.  Die  Randglossen  geben 
weitere  Anleitungen  über  die  Traumarten  und  deren  Deutung.  Dem 
Büchlein  ist  ein  Verzeichniss  auf  6  Seiten  angehängt,  welches  Auf- 
schluss  über  die  Bedeutung  des  Gliederjuckens  gibt,  einer  andern 
Gattung  Aberglaubens,  die  im  Oriente  sehr  verbreitet  ist  und  wohl 
auch  in  Europa  unter  dem  Landvolke  zahlreiche  Bekenner  zählt.  Die 
erste  Spalte  bezeichnet  den  Leibestheil  in  dem  sich  das  Jucken  fühl- 
bar macht,  die  fünf  übrigen  Spalten  bestimmen  das  entsprechende 
Ereigniss  welches  durch  das  Jucken  angekündigt  wird,  und  zwar 
nach  fünf  verschiedenen  Autoritäten :  Dschafer  Ssadik,  Danial  oder 
Daniak,  Sulkarnein,  Selman,  Ssoheib. 

Tarichi  Ali  Osman  li  Ssolakfade  *)>  d.  h.  Geschichte  der 
osmanischen  Dynastie  von  Ssolakfade,  Klein-Folioheft  von  83  Seiten, 
eine  Art  Prachtausgabe,  indem  die  Titel  und  bemerkenswerthesten 
Stellen  durchgehends  mit  Bronzefarbe  und  theilweise  in  goldene 
Vignetten  gedruckt  sind.  Die  lithographische  Anstalt,  aus  der  die- 
selbe hervorgegangen,  ist  nicht  angegeben.  Das  vorliegende  Heft 
enthält  übrigens  nur  einen  Abschnitt  der  benannten  Geschichte,  denn 


31 


470    v.  Sclilechta-Wssehrd.  Bericht  über  die  zu  Konstantinopel  ersch.  Werke. 


es  schliesst  bereits  mit  der  Regierung  Sultan  Bajefid  Jildirims,  wah- 
rend Ssolakfades  Werk  bis  zum  Jahre  1054  (1644)  fortläuft.  Ham- 
mer-Purg  stall  welcher  es  benützte,  nennt  es  „das  brauchbarste  aller 
Compendien  osmanischer  Geschichte."  Mehmed  Hemdemi  Ssolakfade 
mit  dem  Beinamen  Miskali,  ward  in  Konstantinopel  geboren,  wo  er 
auch,  nach  Einigen  im  Jahre  1060  (1649)  nach  Anderen  8  Jahre 
später,  gestorben  ist.  Mit  dem  Rufe  des  Geschichtsschreibers  ver- 
band er  jenen  eines  Dichters  und  Musikers. 


Arne  th.    Vortrag  bei  Überreichung  zweier  Werke  etc.  471 


SITZUNG  VOM  21.  MAI   1856. 


Gelesen: 


Vortrag    des   Regierungsrathes  Arnelh,    bei  Überreichung 
zweier  Werke  von  Vicomte  Emmanuel  de  Rouge  und 

Professor  Roth. 

(Mit  1  Tafel.) 

Der  Vicomte  Emmanuel  de  Rouge  hat  mir  folgendes  Werk  für 
die  kaiserl.  Akademie  der  Wissenschaften  zugestellt: 

Notice  sommaire  des  Monumens  Egyptiens  exposes  dans  les 
Galeries  du  Musee  du  Louvre  par  le  Vicomte  Emmanuel  de  Rouge, 
Membre  de  l'Institut,  Conservateur  honoraire  des  Monumens  Egyptiens 
au  Musee  du  Louvre.  Paris  1855. 

Indem  ich  die  Ehre  habe,  diese  Muster-Notiz  über  eine  so  grosse 
Sammlung,  wie  die  der  ägyptischen  Alterthümer  im  Louvre,  zu  über- 
geben, kann  ich  nicht  umhin  einige  Bemerkungen  über  diese  treff- 
liche Arbeit  beizufügen. 

Es  ist  Ihnen  bekannt,  dass  in  Frankreich  ungemein  viel  Material 
für  ägyptische  Alterthumskunde,  insbesondere  seit  der  Expedition 
nach  Ägypten  durch  Napoleon  im  Jahre  1798  —  1800,  zusammen- 
gebracht wurde;  es  ist  Ihnen  ferner  bekannt,  welch'  ungemeines 
Prachtwerk  *)  Napoleon  über  Ägypten  in  alterthümlicher  wie  natur- 
geschichtlicher   Beziehung   veröffentlichen    Hess.     Ein    Theil    der 


*)  Description  de  Pl£gypte.  Eines  der  schönsten  Prachlwerke,  dessen  erste  von  Napoleon 
im  Jahre  1809  veranstaltete  Auflage  sehr  selten  und  anfangs  sehr  kostbar  war,  so  dass 
Pancoucke  später  die  Erlaubniss  ansuchte  und  erhielt,  die  Platten  zu  einer  /.weilen 
bequemeren  und  wohlfeileren  Auflage  benutzen  zu  dürfen. 


472  Arneth. 

Alterthümer  fiel  nach  der  Schlacht  bei  Aboukir  als  Siegesbeute  in  die 
Hände  der  Engländer;  unter  diesen  war  der  Schlüssel  zum  Lesen 
ägyptischer  Schriften,  der  Stein  von  Rosette  mit  zweisprachiger 
Inschrift.  —  Ein  Engländer  Young  fand  zuerst  das  Mittel,  diesen 
Schlüssel  zu  gebrauchen;  der  Franzose  Champollion  jedoch  er- 
öffnete damit  ein  weites  Feld  von  Entdeckungen.  Diesen  scharf- 
sinnigen Mann  sandten  die  Bourbons  nach  Ägypten,  um  die  geistigen 
Eroberungen  Napoleon's  fortzusetzen.  Karl  X.  liess  eine  Reihe  von 
Zimmern  des  Louvre  prachtvoll  für  die  Aufnahme  ägyptischer  Alter- 
thümer herrichten.  Unter  der  gegenwärtigen  Regierung  wurden 
treffliche  Erdgeschosse  für  die  grossen  und  schweren  Monumente  und 
im  ersten  Stocke  für  die  leichteren  mehrere  Säle  in  Stand  gesetzt, 
so  dass  jetzt  die  Räumlichkeiten  des  grossartigen  Louvre  für  die 
ägyptischen  Alterthümer  zu  den  schönsten  und  zweckmässigsten 
gehören,  die  man  wünschen  kann,  obschon  sie  für  die  neuen  Erwer- 
bungen, die  Mariette,  mit  kaiserlichen  Mitteln  in  Ägypten  durch 
die  glücklichsten  Ausgrabungen  begünstigt,  in  überraschender  Menge 
zusammenbrachte,  nicht  mehr  hinreichen.  In  der  That,  nirgends  als 
in  London  und  in  Paris  kann  so  an  den  wirklichen  Monumenten  der  Ver- 
gleich von  denen  Chaldäa's  wie  Ägyptens  gemacht  werden ,  obschon 
die  in  London  von  Ninivc  u.  s.  w.  aufgestellten  ungleich  merkwürdiger 
sind  als  die  in  Paris.  Vielleicht  kann  ich  Zeit  finden,  Ihnen  einiger- 
massen  den  Anblick  vor  Augen  zu  führen,  den  im  brittischen  Museum 
der  richtig  ausgeführte  Grundsatz,  dass  nur  das  Sammeln  heisst,  dass 
ähnliche  Dinge  zusammengestellt  werden ,  hervorbringt ;  denn  hier 
stehen  reihenweise  alle  grossen  Monumente  des  alten  Ägyptens,  alle 
grossen  Monumente  Chaldäa's,  Lyciens  und  Griechenlands  und  zwar 
das  Vollendetste,  besonders  von  Letzterem,  beisammen.  Die  Monumente 
des  menschlichen  Geistes  in  diesen  vier  Epochen  und  vier  Ländern 
bilden  den  grössten  wie  unerreichbaren  Schmuck  in  dieser  Gattung 
Denkmale  im  brittischen  Museum. 

Das  häufig  übersehene,  jedoch  nichts  desto  weniger  grosse 
Verdienst  der  Ordner  grosser  öffentlicher  Anstalten  besteht  in  der 
Feststellung  von  richtigen  Principien  der  Ordnung.  Ähnliche  Grund- 
sätze gelten  bei  Bibliotheken,  Archiven,  Naturalien-,  Bilder-  und 
Münz-Sammlungen;  zur  Aufstellung  von  Systemen  in  diesen  Fächern 
gehört  offenbar  eine  gewisse  Schärfe  des  Geistes  und  Folgerichtig- 
keit des  Denkens,  wie  Beharrlichkeit  in  der  Ausfüllung.   Eben  diese 


Vortrag:  bei  Überreichung'  zweier  Werke  ele.  47 d 

Eigenschaften  werden  von  Ordnern  archäologischer  Sammlungen 
erfordert,  aber  alle  müssen  von  einem  gewissen  Gefühle  für  Schön- 
heit, diesem  Quell  der  das  menschliche  Herz  am  meisten  ansprechen- 
den Hervorbringungen,  durchdrungen  sein,  so  wie  die  archäologischen 
nicht  selten  einen  so  grossen  Kreis  von  Jahrtausenden  umfassen,  als 
Archive  und  Bibliotheken  von  Jahrhunderten. 

Vicomte  Rouge  hat  insbesonders  den  Schönheitssinn  im  über- 
raschenden Masse  bei  der  Aufstellung  der  ägyptischen  Alterthümer 
im  Louvre  an  den  Tag  gelegt;  indem  er  das  ganze  Gebiet  der 
ägyptischen  Archäologie  beherrscht,  hat  er  die  vorhandenen  Gegen- 
stände wissenschaftlich  gesondert  und  dann  mit  dorn  ihm  eigenen 
Kunstsinn  und  unglaublicher  Detailausführung  zur  Anschauung  ge- 
bracht, und  um  diese  Anschauung  auch  weiteren  Kreisen  mitzutheilen, 
das  Ihnen  vorliegende  Werk  verfasst. 

Erdgeschoss  wie  erster  Stock  gehören  zu  den  günstigsten  Loca- 
litäten  in  Bezug  auf  Licht  und  sonstige  Zurichtung,  fast  könnte  die  im 
ersten  Stock  für  zu  prächtig  angesehen  werden,  es  waren  jedoch  vor- 
handene Räume,  in  welche  die  Alterthümer  gebracht  werden  mussten 
und  diese  gewiss  sehr  heikliche  Aufgabe  hat  Vicomte  Rouge  trefflich 
gelöst. 

Die  Arbeit  muss  man  sehen ,  um  sie  zu  beurtheilen ,  die  aber, 
die  ich  Ihnen  vorzulegen  die  Ehre  habe,  werde  ich  nun  in  ihre 
Hauptfächer  auflösen,  um  Ihnen  einen  Begriff  zu  geben,  welch"  schönes 
Resumc  von  grossen  Anstrengungen  dieselbe  enthält. 

Wie  sehr  ich  den  Grundsatz  billige,  den  der  Verfasser  aus- 
geführt, habe  ich  wohl  in  manchen  meiner  literarischen  Versuche 
dargethan,  den  Grundsatz  nämlich:  in  der  Einleitung  den  Standpunct 
anzugeben,  auf  welchem  die  Wissenschaft,  um  die  es  sich  handelt, 
jetzt  steht.  Auf  eine  ähnliche  Weise  ist  auch  der  Verfasser  des 
vorliegenden  Werkes  verfahren;  er  hat  in  der  Vorrede  über  die 
ägyptische  Archäologie  überhaupt  gesprochen,  über  Cham  p  oll  ion's 
grosse  Verdienste,  wie  auch  über  die  des  mit  königlicher  Munificenz 
durch  Lepsius  herausgegebenen  Prachtwerkes  und  der  Arbeiten 
Brugsch's,  die  sich  insbesondere  auf  demotische  Schrift  beziehen. 

Auf  diese  Einleitung  folgt  eine  trefflich  geschriebene  Übersicht 
der  auf  Monumente  gestützten  Geschichte  Ägyptens,  in  welcher  auf 
die  häufigen  Verbindungen  zwischen  Israel  und  Ägypten,  auf  die 
Herrschaft   des    letztern   über   Mittel -Asien    durch    mehr  als   fünf 


474  A  r  n  e  t  h. 

Jahrhunderte,  daher  auch  der  häufige  Verkehr  zwischen  Ägypten, 
Assyrien  und  Phönizien,  hingewiesen  wird. 

Auf  die  Ühersicht  der  Geschichte  folgt  die  der  Zeitrechnung, 
über  die  es  unmöglich  ist  bestimmte  Thatsachen  anzugeben. 

Die  Beschreibung  beginnt  mit  den  im  Saale  Heinrich's  IV.  zu 
ebener  Erde  aufgestellten  Sphinxen,  Statuen,  Statuetten  und  Gruppen. 
Besonders  merkwürdig  sind  in  diesem  Saale  der  Koloss  von  Seti  IL, 
Enkel  des  Sesostris,  und  die  Sphinxe,  von  denen  eine  Rarases- 
Meiamoun,  den  Sesostris  der  Griechen,  die  andere  Menephtah,  den 
Sohn  des  Sesostris,  vorstellen. 

Hier  findet  sich  auch  eine  treffliche  Sammlung  von  Stelen,  Bas- 
reliefs und  Sarkophagen,  in  denen  auf  dem  Grunde  gewöhnlich  die 
Göttinn  der  Unterwelt  eingearbeitet  ist,  auf  welcher  die  Mumie  ruhte. 

Ich  gebe  Ihnen  hier1)  eines  der  schönsten  Bilder  des  Amenthes 
auf  den  schönsten  der  bisher  bekannt  gewordenen  Sarkophage, 
welcher  ein  Geschenk  des  Herrn  Hofrathes  Anton  Bitter  v.  Laurin, 
sich  im  k.  k.  Museum  im  untern  Belvedere  befindet  und  füge  Ihnen 
die  Erzählung  des  Vorganges  bei,  wie  ich  auf  die  Entdeckung  dieser 
ungemein  trefflichen  Darstellung  des  Amenthes  kam. 

Sie  erinnern  sich  meiner  Beschreibung  des  Sarkophages.  die 
ich  die  Ehre  hatte  Ihnen  am  26.  Jänner  1853  vorzutragen2).  Sie 
können  sich  meine  Freude  vorstellen,  meine  damals  ausgesprochene 
Ansicht  bestätiget  zu  finden,  dass  dieser  Sarg  der  schönste  an  Arbeil 
sei,  der  bisher  bekannt  geworden;  denn  nicht  nur  ward  diese  Ver- 
rnuthung  durch  die  Besichtigung  der  ähnlichen  Monumente  in  Berlin, 
London  und  Paris,  sondern  auch  durch  Herrn  Mariette  bekräftigt, 
der  mich  im  Hofe  des  Louvre  zu  Paris  mit  den  Worten  begrüsste: 
Vous  avez  le  plus  beau  sarcophage  egyptien  qui  existe.  (Ich  setze 
hinzu :  wir  haben  auch  den  schönsten  griechischen,  und  den  Entwurf 
eines  der  schönsten  cinquecentistischen  für  Kaiser  Maximilian  I. 
von  Collin,  sämmtliche  im  untern  Belvedere.) 

Als  der  ägyptische  Sarkophag  aufgestellt  wurde,  zeigte  es  sich 
bald,  dass  der  unterste  Theil  mit  einem  vom  hölzernen  Sarge  welcher 
im  steinernen  eingeschlossen  war,  noch  erübrigten,  mit  Asphalt  be- 
festigten Brett  zugedeckt  sei.    Nach  der  Schönheit  der  Arbeit  dos 


*)  Siehe  die  Tafel. 

a)  Sitzungsberichte  der  k-  Akademie  der  Wissenschaften,  .lanner  1853 


Vortrag  bei  Überreichung  zweier  Werke  etc.  475 

ganzen  Sarkophages  zu  urtheilen,  zweifelte  ich  keineswegs,  dass  auf 
dem  Steinboden  ebenfalls  das  Bild  des  Amenthes  eingearbeitet  sein 
werde.  Da  jedoch  auf  einem  andern,  gleichfalls  von  Herrn  v.  Laurin 
herrührenden,  schönen  Sarkophage  dies  nicht  der  Fall  war,  so  blieb 
die  Möglichkeit  noch  immer  übrig,  dass  dies  auch  hier  nicht  ge- 
schehen sei.  Der  vielen  anderwärtigen  Arbeiten  wegen,  da  über- 
dies das  einmal  entfernte  Brett  nicht  wieder  auf  den  Asphalt  auf 
ähnliche  Art  zurückzubringen  wäre,  wenn,  wider  Vermuthen,  keine 
Figur  sich  darunter  befände,  Hess  ich  die  Sache  auf  sich  beruhen. 
Als  Graf  Rouge  hier  ankam  und  ich  ihm  mit  dem  grössten  Ver- 
gnügen die  k.  k.  ägyptische  Sammlung  zeigte  und  ihm  gestattete, 
so  viel  er  wollte,  davon  abzuzeichnen,  befragte  ich  ihn  um  seine 
Meinung,  ob  er  auch,  wie  ich,  die  Vermuthung  hege,  dass  am 
Grunde  die  Gestalt  des  Amenthes  eingegraben  sei;  Graf  Rouge 
bestärkte  mich  in  meiner  Ansicht,  und  so  Hess  ich  Asphalt  und 
Mumienbrett  mit  Behutsamkeit  himvegnehmen,  worauf  diese  vorzüg- 
liche Vorstellung  des  Amenthes  zum  Vorschein  kam.  Der  Name  und 
die  Würden  des  Bestatteten  sind  sowohl  auf  den  Seiten  des  Amenthes, 
wie  auf  dem  hölzernen  Brett  und  dem  Sarge  selbst  angebracht,  also 
eine  merkwürdige  Bestätigung,  dass  alles  zusammengehört  habe.  Die 
Befestigung  der  Mumie  auf  dem  Boden  des  Sarkophages  mittelst 
Asphaltes  und  einer  dichten  Oberlage  Peches,  das  heiss  auf  den 
Asphalt  gegossen  wurde,  wornach  man  den  hölzernen  Sarkophag  mit 
der  eingeschlossenen  Mumie  darauf  legte,  wie  die  verbrannte  Rück- 
seite beweiset,  ist  bisher  nicht  beobachtet  worden. 

Ausser  diesem  Sarkophage  fand  Herr  v.  Rouge  in  der  k.  k.  ägyp- 
tischen Sammlung  noch  vorzüglich  eine  Pyramide  aus  Kalkstein  des 
Sesostris  sehr  merkwürdig.  Er  kömmt  darauf  vor  mit  dem  Namen 
Ramses-Meiamoun  oder  auch  einfach  Ses;  daraus  erhellt,  dass  Ses 
der  populäre  Name  des  grossen  Eroberers  war. 

Man  kennt  einen  Cartousch,  auf  dem  man  Seson  liest  und  manch- 
mal Sesonre.  Diesen  Cartousch,  schrieb  mir  Herr  v.  Rouge,  wusste  man 
früher  nicht  zu  bestimmen.  Er  gehört  jedoch,  nach  dieser  Pyramide 
zu  urtheilen,  dem  Ramses-Meiamoun,  daher  der  Name  Sesostris  bei 
den  Griechen.  Die  Form  Sesoosis  (Zzaooioig)  bei  Diodor  —  34  a  — 
entspricht  den  von  Seson  ohne  der  Endung  re.  Obschon  der  Graf 
Rouge  alle  grösseren  Anstalten  der  Art  kennt,  so  schrieb  er  mir  doch  : 
„Votre  cabinet  m'a  interessä  an  dernier  point".   Besonders  war  es 


476  Arneth. 

ein  Papyrus  der  seine  Aufmerksamkeit  auf  sich  zog,  von  welchem 
ich  ihm  eine  sorgfältig  gemachte  Durchzeichnung  schickte ,  so  wie 
vor  Kurzem  eine  von  Herrn  Rath,  Director  des  Museums  Sr.  Durch- 
laucht des  Fürsten  Metternich  zu  Königswarth ,  sehr  schön  ausge- 
führte Photographie  und  Durchklatschung  einer  der,  man  kann  fast 
sagen,  Wunder  der  ägyptischen  Kunst  auf  einer  Stele,  welche  Sen- 
dung die  Bekanntschaft  des  Herrn  v.  Rouge  mit  mehr  als  500  Stelen, 
auf  angenehme  Weise  vermehren  wird. 

Um  wieder  zum  Werke  des  Herrn  v.  Rouge  zurückzukehren,  so 
will  ich  Sie  noch  aufmerksam  machen,  dass  im  Erdgeschosse  noch 
ein  Saal  den  Ausgrahungen  des  Herrn  Mariette  bestimmt  ist,  welcher 
die  Katakomben  des  Apis  bei  Aboukir  fand ,  wo  diese  Stiere  von 
Memphis  begraben  wurden. 

Der  Dienst  des  Apis  als  zweiter  Gottheit  von  Memphis  dauerte 
von  den  ältesten  Zeiten  bis  zur  Cleopatra  und  ihrem  Sohn  Caesarion, 
da  der  erste  Gott  in  Memphis  Ptah  hiess.  Aus  Osiris-Apis  machten 
die  Griechen  Serapis  oder  todter  Apis,  da  jeder  Todter  dem  Osiris 
verglichen  wurde  —  daher  Osiris-Apis  oder  Sarapis. 

Es  findet  sich  hier  auch  die  Grabschrift  auf  den  Apis,  welchen 
Cambyses  verwundete,  als  er  zornig  über  den  verfehlten  Zug  gegen 
die  Äthioper  zurückkehrte  und  Memphis  im  Freuden -Taumel  über 
den  gefundenen  Apis  sah.  518  vor  Christo. 

Treffliche  Sachen  enthält  der  Saal  der  Monumente  der  ersten 
Dynastien  Ägyptens. 

Auf  der  Stiege  welche  das  Erdgeschoss  mit  dem  ersten  Stocke 
verbindet,  sind  einer  der  Löwen  des  Serapeums  und  schöne  sehr  grosse 
Canopus  Vasen  aufgestellt,  welche  der  erstgeborne  Sohn  des  Sesostris- 
Scha- ein -tarn  dem  Apis  widmete;  ferner  mehrere  Statuen,  zwei 
schöne  Sarkophage  und  zwei  Pyramiden. 

Im  ersten  Stocke  empfängt  der  I.  oder  der  historische  Saal  den 
Besucher. 

Ungemein  reich  ist  in  diesem  Saale  die  Sammlung  von  Gold- 
gegenständen, obschon  im  Juli  1830  viele  abhanden  kamen.  Auf 
rothen  Carneolen  ist  der  Name  Scha-em-tam  des  Sohnes  Ramses  II. 
Aus  der  Feinheit  dieser  Arbeiten  sieht  man,  wie  gross  die  Kunstfer- 
tigkeit der  Ägyptier,  die  zur  Zeit  des  Moses  so  treffliche  Dar- 
stellungen in  Gold  und  in  die  härtesten  Steine  einzuschneiden  wussten, 
und  wie  begreiflich  es  daher  wird,  dass  Moses  die  Namen  der  zwölf 


Vortrag  bei  Überreichung  zweier  Werke  etc.  477 

Stämme  Israels  auf  zwei  Schildern  in  zwölf  Steine  eingegraben  unter 
dem  Namen  Urirn  und  Thumim  auf  der  Brust  trug  *)• 

Der  zweite  Saal  ist  für  die  Alterthümer  des  häuslichen  Lehens 
in  Ägypten  bestimmt.  Der  Mensch  sieht  so  gerne  die  Beweise,  dass 
er  mehr  oder  minder  immer  der  nämliche  war,  dass  nur  Modificationen 
eintreten,  dass  das  Wesen  aber  sich  gleich  bleibt  —  wir  sehen  diese 
Erscheinung  mit  besonderem  Vergnügen  auf  alten  Monumenten ,  und 
mit  um  so  grösserem,  je  älter  diese  sind.  In  der  Abtheilung  der  Kämme 
mussten  gerade  die  schönsten  unter  die  assyrischen  eingereiht  werden, 
weil  sie  erwiesenermassen,  obschon  in  ägyptischen  Gräbern  gefunden, 
doch  aus  Assyrien  stammen  ,  woraus  ersichtlich  wird,  dass  die  Damen 
der  damaligen  Zeit  den  assyrischen  Gebräuehen  und  Industriezweigen 
huldigten.  Wie  anziehend  sind  z.  B.  auf  griechischen  Vasen  Lebens- 
weisen, welche  den  unseren  gleichen ;  so  auch  die  Instrumente  aller 
Art  auf  den  römischen  Familien-Münzen.  Bei  den  Monumenten  Ägyp- 
tens wächst  die  Theilnahme  uin  so  mehr,  weil  sie  eine  unendliche 
Zeit  von  uns  trennt,  und  weil  die  Email-Arbeiten  die  hier  vorkommen, 
zu  dem  Schönsten  was  jetzt  gemacht  werden  könnte,  zu  rechnen  sind, 
wie  Ringe  und  Siegel  die  trefflichsten  Muster  abgeben  können.  Bronze- 
Arbeiten  gleichen  den  besten  unserer  Art  in  Stahl  und  Eisen,  wie 
kleine  Messer  und  grössere  zum  Bart  abnehmen,  die  in  Gestalt  wie 
die  englischen  aussehen. 

Der  dritte  Saal  ist  für  die  Gegenstände  welche  zur  Bestattung 
gehören,  bestimmt. 

Dem  Ceremoniell  bei  Begräbnissen  und  den  diesfälligen  religiösen 
Anschauungen  verdanken  wir  den  grössten  Theil  der  ägyptischen 
Monumente. 

„Line  grande  doctrine"  — sagt  der  Vicomte  de  Rouge —  „domine 
tout  le  Systeme  funeraire  des  anciens  Egyptiens,  et  presida,  depuis 
les  temps  les  plus  recules,  ä  tous  les  rites  qui  aecompagnaient  l'em- 
baumement  et  la  sepulture,  ainsi  qu'  ä  tous  les  emblemes  qui  couvrent 
les  cercueils  et  les  sculptures  des  tombeaux;  c'  est  l'immortalite  de 
Tarne.  Cette  immortalite  etait  plus  specialement  promise  aux  ämes 
qui  auraient  ete  reconnues  vertueuses  par  Osiris,  juge  des  enfers. 
Elles  devaient  rejoindre  leur  corps  et  Tanimer  dune  nouvelle  vie 
que  la  mort  ne  pourrait  plus  atteindre.  L'ensemble  de  cette  doctrine, 


l)  Bell  er  mann,  Urim  nml  Thumim,   Berlin   1824. 


478  ■    Arneth. 

vraiment  nationale  en  Egypte,  ressort  clairement  de  ce  que  nous 
pouvons  deja  comprendre  dans  les  textes  du  rituel  funeraire.  Ce  livre 
sacre  dont  chaque  momie  devait  porter  un  exemplaire  plus  ou  moins 
complct,  contient  une  serie  dhymnes,  de  prieres  et  d'instructions, 
dont  une  partie  est  specialement  destinee  aux  diverses  ceremonies 
des  funerailles.  On  y  trouve  aussi  les  doctrines  dont  la  connaissanee 
etait  regardee  comme  necessaire  a  Tarne  humaine  pour  jouir  de  tous 
les  biens  attaches  a  la  proclamation  de  sa  vertu.  Le  chapitre  II  est 
consacre  ä  la  vie  qui  commence  apres  la  rnort,  et  le  chapitre  XLIV 
enonce  formellement  que  cette  nouvelle  vie  ne  sera  plus  sujette  a  la 
mort. " 

„Tel  est  donc  le  principe  general  qui  a  regi  tous  les  rites  fune- 
raires  des  anciens  Egyptiens,  et  sans  nier  los  raisons  sanitaires  que 
le  climat  justifie  si  hicn,  cette  croyance  a  certainement  exerce  la 
plus  grande  influence  sur  la  coutume  d'ernbaumer  les  corps,  pour  les 
conserver  autant  que  possible  dans  leur  integrite." 

„Suivant  la  promesse  contenue  dans  le  chapitre  LXXX1X  du 
rituel  funeraire.  Tarne  justifiee,  une  fois  parveoue  ä  une  certaine 
epoque  de  ses  peregrinations,  devait  se  reunir  ä  son  corps,  pour 
n'  en  plus  etre  Jamals  separee." 

So  bedeutend  auch  die  Kenntnisse  über  ägyptische  Mythologie 
erweitert  worden  sind,  so  sind  wir  doch  noch  weit  entfernt,  sie  zum 
Abschlüsse  bringen  zu  können.  Die  Namen  von  einer  grossen  Menge 
mythischer  Wesen  sind  gelesen;  nicht  so  leicht  aber  ist  der  Zusam- 
menhang zwischen  denselben  anzugeben. 

An  der  Spitze  des  ägyptischen  Mythus  steht  der  Cultus  der 
Sonne  welche  jeden  Tag  entstehen  macht,  indem  sie  sich  aus  dem 
nächtlichen  Himmel  emporschwingt,  und  daher,  so  zu  sagen,  jeden 
Tag  aus  sich  selbst  gebiert;  sie  war  unter  dem  Namen  Ra  in  ganz 
Ägypten  verehrt,  indess  so  viele  andere  mythische  Wesen  in 
verschiedenen  Städten  und  zwar  blos  in  diesen  ihre  Verehrung 
hatten.  Ptah  war  vorzüglich  zu  Memphis  in  Verehrung,  sein  Sohn 
Imhotep  ist  die  Gestalt  welche  eine  aufgeschlagene  Rolle  auf  den 
Knieen  hält;  in  Paris  ist  eine  Statue  desselben  von  Granit,  auf  der 
aufgeschlagenen  Rolle  steht  sein  Name. 

Hermonlhis  verehrte  den  Mond.  Auf  anschauliche  Weise  be- 
schreibt Hr.  v.  Rouge  Anhour  und  Moui,  Ma,  Selk-und,  Pacht,  von 
der  in  allen  Museen  mehr  oder  minder  treffliche  Statuen  vorkommen; 


Vortrag  bei  Überreichung  aweier  Werke  etc.  47  J 

ferner  beschreibt  Rouge  die  Statuen  von  Nowre-Atoum,  Hobs,  Ilathor, 
deren  Köpfe,  wie  die  Säulen-Capitäle  ihrer  Tempel,  fast  immer  mit 
den  Ohren  einer  Kuh  versehen  sind.  Auch  Netpe  erscheint  oft  in 
den  Sarkophagen  als  die  Gestalt  welche  sich  über  die  Mumien  aus- 
streckt. Die  Vorstellungen  des  Sev  sind  sehr  selten ;  desto  häufiger 
die  des  Osiris  und  der  Isis,  und  ihrer  Schwester  Nephthys,  welche 
ein  Körbchen  über  einem  Hause  auf  dem  Kopfe  trägt ;  der  durch 
den  Schakals  -  Kopf  charakterisirte  Gott  ist  Anubis,  er  kömmt  so 
häufig  vor,  wie  die  vier  Söhne  des  Osiris:  Amset,  Hapi,  Tiou- 
Mautew,  Kevah-Senouw;  gleichfalls  kömmt  häufig  vor  das  Bild  des 
Thoth,  des  Schreibers  der  Götter  und  des  Herren  des  göttlichen 
Wortes;  so  auch  das  Bild  des  Horus,  des  Sohnes  Osiris  und  der  Isis; 
über  die  verschiedenen  Functionen  desselben  wie  über  Bes  schreibt 
Hr.  v.  Rouge  sehr  unterrichtend. 

Die  grösste  Belehrung  gewährt  freilich  das  vorliegende  Buch 
erst  dann ,  wenn  man  es  in  den  Räumen  des  herrlichen  Louvre  mit 
den  Monumenten  selbst  vergleicht  und  dem  Verfasser  dankt,  dass  er 
eine  so  lichtvolle  Aufstellung  in  den  Gegenständen  wie  in  der  gelehrten 
Beschreibung,  die  Ergebnisse  einer  tiefgehenden  Gelehrsamkeit  die 
er  sowohl  hier  wie  in  anderen  Werken  *)  vielfach  erprobt  bat ,  mit 
gefälliger  Darlegungsweise  verbindet  und  zum  Nutzen  den  solche 
Anstalten  leisten  können,  am  kräftigsten  beigetragen,  ja  diesen  Nutzen 
allein  ermöglicht  hat. 

Bewundernswerth  ist  aber  das  Talent  des  Verfassers  in  der 
belehrenden  Aneinanderknüpfung  der  verwandten  Dinge,  ungemein 
sinnreich  die  Benützung  jedes  Umstandes,  um  das  Monument  so 
angenehm  als  möglich  für  den  Beschauer  und  so  lehrreich  als  mög- 
lich für  den  Forscher  zu  machen. 

Der  Hr.  Vicomte  Emmanuel  de  Rouge  hat  in  der  That  den 
grössten  Antheil  daran,  wenn  der  Zweck  den  die  Gründer  solcher 
Anstalten  vor  Augen  haben,   im   reichsten  Masse  erfüllt  wird  —  der 


i)  a)  Explication  d'une  Iuseription  egyptienne,  prouvant  que  les  auciens  Egyptiens  ont 
conmi  la  generation  eternelle  du  fils  de  Dien.  (Annales  de  Ja  philosophie  chretienne 
1851.) 

b)  Notiee  sur  an  manascrit  egyptien  en  ecriture  hieratique,  e'crit  sous  le  regne  de 
Merienpbthah,  fils  du  granä"  Ramses  vers  le  XV«'  siecle  avnnl  l'ere  chretienne. 
(Athenaenm  francais.  irc  anfeee  1852.) 

c)  Notiee  de  quelques  textes  hieroglyhiques  recemment  publica  par  M.  Greene  par 
M.  le  Vicomte  de  Rouge.  (Extrait  de  l'  Athenaenm  francais)  Paris  1855. 


480  A  r  ii  e  t  h. 

Zweck  Dämlich:  Belehrung  zu  gewähren,  die  Wissenschaft,  die 
Kunst,  die  Industrie,  die  Vaterlandsliebe  zu  fördern,  dass  diese  indirect 
die  Zinsen  des  Capitales  welches  die  Anschaffung  solcher  Anstalten 
benöthigte,  im  reichsten  Masse  eintragen. 

Kaum  wird  wo  anders  als  in  Frankreich  und  England  es  so  klar, 
dass  öffentliche  Anstalten  für  Wissenschaft  und  Kunst,  unter  denen 
die  Sammlungen  vielleicht  den  ersten  Rang  einnehmen,  zugleich  auch 
die  Symbole  der  Macht  und  Einheit  eines  Staates  sind ,  und  dass  sie 
den  Nationalreichthum  wesentlich  fördern,  indem  sie  den  Producten 
aller  Art  die  besten  Vorbilder  zeigen ;  oder  kann  man  glauben,  dass  in 
London  2,000.000  Menschen  (von  Christabend  1850  bis  Christabend 
1851  sogar  2,527,216)  das  britische  Museum  jährlich  ohne  Nutzen 
besuchen  *),  oder  dass  in  Paris  seit  Colbert,  d.  i.  seit  200  Jahren 
die  öffentlichen  Sammlungen  in  den  bequemsten  Räumen  zur  freiesten 
Benützung  fruchtlos  offen  stehen?  Schon  hat  im  Jahre  1850  Hr.  H. 
Brugsch3)  dem  Hrn.  Vicomte  einen  Tribut  seiner  Hochachtung 
gebracht. 

Es  gewährt  mir  ein  lebhaftes  Vergnügen,  in  obigen  Worten  den 
Hrn.  Vicomte  de  Rouge  ein  Zeichen  der  Anerkennung  zu  geben,  wie 
sehr  er  immer  das  Studium  der  ägyptischen  Alterthümer  durch  sein 
Wirken  begründet  und  fördert. 

Ausser  dem  Werke  des  Hrn.  Vicomte  de  Rouge  habe  ich  noch 
folgendes  von  Hrn.  Prof.  Roth  zu  überreichen: 

„Die  Proclamation  des  Amasis  an  die  Cyprier  bei  der  Besitz- 
nahme Cyperns  durch  die  Ägypter  um  die  Mitte  des  sechsten  Jahr- 
hunderts vor  Christi  Geburt.  Entzifferung  der  Erztafel  von  Idalion 
in  des  Herrn  Herzogs  von  Luynes  „Numismatique  et  Inscriptions 
Cypriotes"  von  Dr.  E.  M.  Roth,  ordentlichem  öffentlichen  Professor 
der  Philosophie  und  des  Sanskrit  an  der  Universität  zu  Heidelberg. 
Paris,  Henri  Plön;  Heidelberg  bei  C.  Mohr.  1855." 


!)  British  Museum.  An  Account  of  the  Incomeand  E  xpen  di  tu  r  e  of  the  British 
Museum,  for  the  Financial  Yenr  ended  31.  March  1855;  of  the  Estimated 
Charges  and  Expenses  for  the  Year  ending  31.  March  1856,  and  Sinn 
necessary  to  Discharge  the  saine  :  Numbcr  of  Persons  adniitted  and  Progress  of 
Arrangement.  (Lord  Seymour)  ordered  by  the  House  of  Commons,  to  be  printed. 
18.  April  1835. 

a)  Übersichtliche  Erklärung  ägyptischer  Denkmäler  des  königl.  neuen  Museums  zu 
Berlin.   1830. 


Vortrag  bei  Überreichung  zweier  Werke  «•!<•  4ö  I 

Es  ist  gerade  ein  Jahr,  dass  der  gelehrte  Verfasser  des  oben 
angeführten  Werkes  dasselbe  dem  Herrn  Herzoge  von  Luynes  wid- 
mete. In  der  Widmung  sprach  Professor  Roth  seinen  Dank  gegen 
den  Herzog  aus,  den  er  bat,  ihm  die  Typen  zu  der  herauszugeben- 
den Schrift  zu  leihen;  der  Herzog  aber  Hess  das  Werk  mit  der  ihm 
eigenthümliehen  Grossmuth  sogleich  drucken  und  schön  ausstatten, 
wie  ich  es  hier  Ihnen  im  Namen  und  auf  Ersuchen  des  Verfassers 
vorzulegen  die  Ehre  habe.  Professor  Roth  schrieb  mir  :  „Wie  Sie  aus 
der  Vorrede"  —  zu  vorliegendem  Werke  —  „ersehen  werden,  habe 
ich  diese  Arbeit,  obgleich  sie  ein  an  sich  selbst  höchst  interessantes 
Document  betrifft,  doch  vorzugsweise  in  der  Absicht  unternommen, 
eine  Probe  von  der  wissenschaftlichen  Entzifferungs- Methode  zu 
geben ,  die  ich  auch  bei  der  Lesung  und  Übersetzung  der  Hierogly- 
phen anwende,  und  die  mich  zu  einer  grammatisch  und  philologisch 
eben  so  sicheren  Interpretation  hieroglyphischer  Texte  geleitet  hat, 
als  sie  nur  immer  bei  einem  griechischen  oder  lateinischen  Schrift- 
steller möglich  ist."  .  .  .  „Ich  entschloss  mich,  durch  die  Entziffe- 
rung eines  (mit  den  Hieroglyphen)  verwandten ,  in  ebenfalls  ganz 
unbekannten  Charakteren  geschriebenen  Documentes  eine  Probe 
meiner  Methode  zu  geben,  aus  der  man  ersehen  könnte,  wie  weit 
meiner  Behauptung  Vertrauen  zu  schenken  sei.  Ich  hoffe,  dass  meine 
Arbeit  den  strengsten  Anforderungen  der  Kritik  genügen  wird ,  denn 
ich  habe  sie  gerade  zu  diesem  Zwecke  mit  einer  so  gewissenhaften 
Vollendung  bis  in  die  kleinsten  grammatischen  Details  ausgeführt, 
wie  sie  sonst  bei  solchen,  gewöhnlich  sehr  hypothesenreichen  For- 
schungen wohl  selten  stattfindet." 

Indem  ich  hier,  mit  Übergehung  der  Entzifferung  der  Schrift- 
zeichen, die  Inschrift  von  Idalion,  von  Herrn  Roth  ins  Deutsche  über- 
setzt mittheile,  deren  Facsimile  der  Herzog  von  Luynes  in  seinem 
sehr  schönen  und  gelehrten  Werke  „Numismatique  et  Inscriptions 
Cypriotes."  Paris  1852.  tabl.  VIII  et  IX  mit  grosser  Sorgfalt  veröf- 
fentlichte, glaube  ich  Sie  hinreichend  auf  selbe  aufmerksam  zu 
machen : 

„Entnommen  wird  die  Angst,  verscheucht  der  Greuel  der  Ver-  1 
Wüstung  durch  diese  Bekanntmachung  der  Hauptstadt.    Genug  ist's 
der  Strafe,  genug  hat  diese  Insel  gezittert  vor  der  Verwüstung;  und 
wieder  aufgerichtet  j  erhebt  »ich  Salamis  zur  Beseitigung  der  Angst.  2 
Genug  ist's    der   Busse,    die  Herzen   der   Verächter  schreckt   der 


482  A  r  ii  e  l  h. 

3  Bundesvertrag  der  Hauptstadt  und  schneidet  ab  die  Furcht,  |  den  Quell 
der  Unterjochung.  Genug  ist  die  Insel  zertreten.  Gegen  sich  seihst 
wüthete  die  Insel,  gegen  ihr  eigenes  Innere.  Nun  naht  ihre  Freude. 

4  Wiederhergestellt  |  hat  Ägypten  das  Bündniss,  die  Hoffnung  des  armen 
zerrütteten  Amathus,  Idalion  und  Salamis.  Genug  der  Busse  ist  dieser 

ii  Bundesvertrag  |  der  Insel,  der  zertretenen  Insel.  Er  ward  geordnet  als 
Hoffnung  einer  Ordnung  von  dauerndem  Bestand,  und  wieder  aufge- 

6  richtet  hat  Ägypten  die  heruntergesunkene  Insel,  |  die  Insel  von  Sala- 
mis.  Genug  hat  Amathus  gezittert.  Eine  Anordnung  zur  Freude,   ein 

7  Ausfluss  der  Gnade  ist  diese  Verbindung;  sie  ward  errichtet  |  als  eine 
Anordnung  zur  Freude,  zur  Beschirmung  und  Integrität  der  Insel 
von  Salamis.  Genug  der  Busse  ist  dieser  Bundesvertrag.  Genug  zer- 

8  treten  ist  die  Insel,  |  die  Insel  von  Amathus.  Siehe,  Bedauern  erregte 
Salamis,    Bedauern  die  Insel,    die    arme  Insel.    Nun  ist  ein  Ende 

9  gemacht  dem  Frevel  und  der  Drangsal,  |  der  Ursache  der  Verwüstung 
dieser  Insel  und  ihrer  Zerrüttung  unter  Thränen  und  erbarmenden 
Wehklagen.  Genug  ist's  der  Verwüstung.  Gekommen  ist  derSchlussj 

in  der  Kriegsleiden ,  neues  Leben  empfangen  Salamis  und  die  Städter. 

Siehe,  die  Zerstörte  lebt  wieder  auf,  ja,  neues  Lehen  gibt  der  Bun- 
M  desvertrag  |  der  zerrütteten  Insel,  neues  Leben  der  Verwüsteten  und 

der  Zerstörten.  Er  schneidet  ab  die  Furcht  und  Angst  der  bedräng- 

12  ten  Insel.   Und  es  beschirmt  |  Ägypten  ihre  Integrität;  ja  durch  Ägyp- 
ten wird  ihre  Integrität  beschirmt.  Beweis  ist  der  Bundesvertrag  der 

13  Insel;  der  zertretenen  Insel,  |  der  ihr  Ruhe  verkündigt  und  freudigen 
Abschluss,  und  Beschirmung  einer  freudebringenden  Ordnung;   ein 

14  Ausfluss  (der  Gnadeist  dieses  Bündniss,  eine  Anordnung)  |  dieses 
Vertrages   zwischen   der   Hauptstadt  Ägyptens   und  der  zertretenen 

15  Insel,  und  er  vertilgt  die  Furcht  von  Idalion  und  Salamis.  |  Genug  ist's 
der  Busse.  Er  errichtet  eine  Ordnung  von  Bestand  und  Hoffnung,  eine 

10  Ordnung  der  Freude,  die  da  vertilgt  die  Unterdrückung  |  der  Gewalt, 
und  Salamis   schützt.    Genug  der  Busse  ist  dieser  Bundesvertrag.  | 

17  Errichtet  ward  er  als  eine  Anordnung  der  Freude,  als  eine  Stütze 
von  Amathus.  Siehe,  Mitleid  erregt  Salamis,  Mitleid  und  Erbarmen 

18  der  Frevel;  |  Mitleid  die  Verwüstung  und  Entheiligung  und  Zerstörung 
unter  Thränen,  die  Ungerechtigkeit  einer  erbarmenswerthen  Drang- 

19  sal.  Genug  ist's  der  Zerstörung.  |  Herbeigekommen  ist  der  Schiusa 
der  Kriegsleiden  und   es  hört  auf  das  Weinen,   die  Angst  und  der 

20  Mord  und  die  Vertilgung.  Genug  ists  der  Angst,  |  Gebrochen  wird  der 


Vortrag  bei  Überreichung  sweier  Werke  >'tc.  4ö»J 

Schrecken  des  Frevels   und  die  Furcht  der  Zerrüttung.  Genug  ist's 
der  Drangsal  und  des  Kampfes  der  Insel.  Unvergällt  soll  die  Freude 
sein,  |  und  der  Hader  gestraft  nach  ägyptischem  Gesetze.  Wiederauf-  21 
leben  soll  der  Elende,  und  aufhören  das  Wehklagen ,  die  Angst,  die 
Beraubung  und  Plünderung,  |  ein  Ende  nehmen  die  Rache.  Genug  ist's  22 
der  Verwüstung.    Herbeigekommen  ist  der  Schluss  der  Kriegsleiden, 
Wiederaufleben  sollen  Salamis  |  und  die  Städter.  Siehe,  fern  sei  Tau-  23 
schung,  es  lebt  in  Wahrheit  wieder  auf  (Salamis  nämlich);  ja  neues 
Leben  erhält  durch  den  Bundesvertrag  die  verwüstete  Insel    |   durch  24 
diesen  Bundesvertrag  Amathus.'  Siehe,  es  schirmt  Achme  die  zerrüttete 
Insel,  es  beschirmt  Ägypten  ihre  Integrität,  |  durch  Ägypten  wird  ihre  25 
Integrität  beschirmt.    Beweis  ist  der  Bundesvertrag,   der  ihr  Ruhe 
verkündigt,   und  einen  freudebringenden  Abschluss  und  die  Beschir- 
mung einer  freudebringenden  Ordnung,  |  die  da  aufhebt  die  Unter-  26 
drückung   der   Gewalt.    Er   beschirmt  das  Ansehen  (des  Gesetzes) 
und  hemmt  die  Ausübung  der  Bedrängungen;  er  hemmt  und  schneidet 
ab  die  Bedrückung  |  von  Salamis.  Genug  ist's  der  Busse,  des  Nieder-  27 
brennens  der  abgeschnittenen  Saat.   Bedauern  erweckt  die  Ausdeh- 
nung |  der  Verwüstung.   Überdruss  erregte  der  Hauptstadt  die  Angst  28 
der   Gemüther,  die   Ausrottung   der   Städter.    Siehe,  |  sie  gewährt  29 
Schutz,  ja,  sie  vertilgt  die  Angst  der  Gemüther,  belebt  die  Hoff- 
nung des  Volkes,  erbarmt  sich  des  Zagenden  |  und  vertilgt  das  Weh-  37 
klagen;   genug  ist  die  Insel  zerrüttet.  Sie  hebt  auf,  was  erpresst  hat 
die  Gewalt  der  Unterdrückung   und  des  Raubes;  genug  und  hinrei- 
chend ist  die  Insel  verheert,  j  Sie  gewährt  Heilung  (und)  lässt  wieder  38 
aufleben  die  gänzlich  niedergesunkene  Hoffnung  der  armen  Insel;  sie 
tilgt  die  Angst  der  Gemüther." 

Es  würde  die  Grenzen  des  Berichtes  weit  überschreiten,  wenn 
ich  Auszüge  aus  der  „grammatischen  Begründung  der  vorhergegan- 
genen Übersetzung",  aus  der  „Sacherklärung  der  Inschrift"  geben 
wollte. 

Bei  dieser  Gelegenheit  kann  ich  wirklich  nicht  umhin,  Sie 
aufmerksam  zu  machen,  welche  grosse  Verdienste  der  Herzog  von 
Luynes  sich  um  Wissenschaft  und  Kunst  schon  seit  geraumer  Zeit 
erwirbt. 

Seit  dem  Wiederaufleben  der  Wissenschaft  und  Kunst  werden 
wenige  Privaten  mehr  dafür  gewirkt  haben  als  eben  der  Herzog;  er 
hat  selbst  die  trefflichsten  Werke  verfasst,  sie  im  Drucke  heraus- 

SiUb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  III.  Hft.  32 


484  Am  eth. 

gegeben1),  er  hat  die  Herausgabe  anderer  Werke2)  aufs  Gross- 
müthigste  unterstützt  oder  möglich  gemacht,  er  besitzt  selbst  die  treff- 
lichsten Sammlungen  in  allen  Richtungen,  er  beschenkte  die  öffent- 
lichen Institute  mit  den  kostspieligsten  Monumenten,  wie  erst  jüngst 
das  Louvre  mit  dem  Sarkophage  des  Esmunazar,  Königs  von  Sidon, 
worüber  er  zugleich  ein  sehr  schönes  Werk  veröffentlichte.  Wie  gross- 
artig die  Anschauungsweise  der  antiken  Kunst  von  Seite  des  Herzogs 
von  Luynes  ist,  hat  er  gewiss  durch  so  viele  Werke  an  den  Tag 
gelegt,  insbesondere  aber  auch,  wie  er  keine  Kosten  scheut,  um 
diese  zu  bethätigen,  dass  er  nach  den  Ideen  die  er  sich  von  der 
Bildsäule  der  Pallas  auf  der  Akropolis  zu  Athen  machte,  dieselbe  im 
dreifach  verjüngten  Massstabe  ausführen  Hess.  Die  Wissenschaft  und 
Kunst  nicht  blos  der  antiken  Welt,  sondern  auch  des  Mittelaltersund 
der  neueren  Zeit,  in  dieser  auch  durch  die  interessanteste  Vereinigung 
mit  der  Industrie,  finden  in  dem  Herzoge  von  Luynes  einen  der 
grössten  Beförderer,  auf  den  nicht  leicht  ein  anderer  Name  besser 
passt,  als  dessen  Begriff  mit  dem  Worte  Mäcen  ausgedrückt  wird. 

Leider  besitze  ich  zu  wenig  Kenntnisse,  um  Ihnen  das  grosse 
Verdienst  des  Herrn  Herzogs  von  Luynes  in  allen  Beziehungen  zu 
schildern,  noch  weniger,  um  die  des  Herrn  Professors  Roth  hinläng- 
lich zu  beschreiben,  und  bekenne  um  so  leichter  über  das  vorliegende 
Werk  mich  alles  Urtheils  zu  enthalten,  da  unser  grosse  Orientalist 
mir  mit  nachahmenswerthem  Beispiele,  diese  Sache  der  Zeit  zu  über- 
lassen, vorgegangen  ist. 


*)  a)  Me'taponte.  Paris  1833,  Fol.,  mit  10  Kupfertafeln. 

b)  Etudes  numismatiques  sur  quelques  types  relatifs  au  eulte  d'Hecate.  Paris  1835,  4. 

c)  Description  des  Vases  peints.  Mit  43  Kupfertafeln.  Paris  1840,  Fol. 

d)  Choix  des  raedailles  grecques.  Paris  1840.  Mit  17  Kupfertafeln,  Fol. 

e)  Essai  sur  la  Numismatique  des  Satrapies  et  de  la  Phenicie  sous  Ies  rois  Achae- 
menides.   Paris  1846,  4. 

f)  Supple'ment  ä  TEssai.  Planches  XVII.  4. 

g)  Numismatique  et  Inscriptions  Cypriotes.  Paris   1852,  4. 

h)  Memoire  sur  le  Sareophage  et  Plnscription  funeraire  d'Esmunazar,  roi  de  Sidon. 
Paris  1856,  4. 
~)  a)  Recherehes  sur  Ies  monuments  et  1'  histoire  des  Normands  et  de  la  Maison  de 
Souahe  dans  1'Italie  meridionale.  Publiees  par  Ies  soins  de  Mr.  le  Duc  de  Luynes, 
Membre  de  l'Academie  des  Inscriptions  et  Belles-Lettres.  Texte  par  Hui  Mar  d- 
Breholles,  Traducteur  de  Matthieu  Paris.  Dessins  par  Victor  Bai  ta  rd 
Architecte.  Paris  1844,  Fol. 
b)  Die  Proclamation  des  Amasis  etc.  etc. 


Aenetk.  Amenti.es  auf  dem  Boden  eines  ägypt.  Sarkophage«  in  (l.kk.aaypi.S.-imiuluii'j". 


SiUuRg«li.lk.Atai.d.lCphilo8rhi8tor.Cl.XXJi.S.Heft.t856. 


Vortrag  bei  Überreichung  zweier  Werke  etc.  4oO 

Diese  Zeilen  waren  schon  lange  geschrieben,  um  dem  Wunsehe 
des  Herrn  Einsenders  nachzukommen ,  Ihnen  das  genannte  Werk 
zu  überreichen,  als  ich  auf  andere  Lesearten  des  merkwürdigen 
Monumentes  von  Dali  aufmerksam  gemacht  wurde.  Wie  der  Herzog 
von  Luynes  Herrn  Professor  Ewald  in  Göttingen  aus  Liebe  zur 
Wissenschaft  und  Wahrheit  photographische  Abbildungen  des  Sarges 
des  Esmunazar  mittheilte,  mit  gleicher  Liebe  zu  beiden  theile  auch 
ich  die  Titel  dieser  Werke  mit,  wenn  sie  auch  auf  ganz  andere  Re- 
sultate führen  als  das  überreichte  Buch,  es  sind  diese  die  Arbeiten 
des  Herrn  Professors  Ewald1). 


*)  Götting.  gel.  Ang.  1835,  177.  St.,   1836.  3  St.   Den  ersteren  geantwortet  von  Hrn. 
Roth,  Heidelberger  Jahrb.  d.  L.   1836.  Nr.  1. 

Erklärung  der  grossen  phönikischen  Inschrift  von   Sidon    und    einer   ägyptisch- 
aramäischen,  mit   den  zuverlässigen  Abbildern  beider  v.  H.  Ewald.  Göttingen  183(i. 


32° 


486  Dr.  Pfizmaier. 


Vorgelegt : 

Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  von  dem 
Friedensschlüsse  von  Sung  bis  zur  Versammlung  der  Reichs- 
fürsten in  Schin.    {Vom  Jahre  ö4rS  bis  538  vor  Christo.) 

Von  dem  w.  M.,  Herrn  Dr.   Pfizmaier. 
VORWORT. 

Der  im  letzten  Jahre  des  vorhergehenden  Zeitraumes  abgeschlos- 
sene Vertrag  von  Sung  hatte  zum  Zweck,  den  seit  langer  Zeit  gestör- 
ten inneren  Frieden  in  China  wieder  herzustellen.  Zugleich  enthielt 
er  die  Bestimmung,  dass  die  Oberherrschaft  fortan  von  den  zwei  Rei- 
chen Tsin  und  Tsu  gemeinschaftlich  geübt  werden  solle.  Die  Folge 
davon  war ,  dass  die  Reichsfürsten  sich  beinahe  ausschliesslich  um 
die  Gunst  des  für  den  Augenblick  mächtigeren  Tsu  bewarben,  wäh- 
rend das  um  diese  Zeit  an  innerer  Zerrüttung  leidende  Tsin  von  ihnen 
vernachlässigt  wurde.  Die  Behandlung  der  kleinen  Reiche  von  Seite 
der  Träger  dieser  Hegemonie  war,  nach  den  hier  verzeichneten  Bei- 
spielen zu  schliessen,  übermüthig  genug.  So  wurde  der  Gesandte  von 
Tsching  an  der  Grenze  des  Reiches  Tsu  zurückgewiesen  und  ihm 
bedeutet,  dass  sein  Gebieter,  der  Fürst  von  Tsching,  persönlich  zu 
erscheinen  habe.  Tse-tschan,  Prinz  von  Tsching,  erhielt  in  Tsin 
ein  schlechtes  Wohngebäude  und  wurde  nicht  vorgelassen.  In  der 
Versammlung  von  Kue  (541  vor  Chr.  Geb.),  bei  welcher  jedoch  nur 
die  Gesandten  der  Reichsfürsten  erschienen,  wurde  der  Vertrag  von 
Sung  erneuert.  Gegenstand  einer  eigenthümlichen  Behandlung  wurde 
hier  wieder  das  Reich  Lu.  Dasselbe  hatte  sich  nämlich  durch  seinen 
Angriff  auf  Khiü  eines  Bruches  des  Reichsfriedens  schuldig  gemacht. 
Der  Prinz  von  Tsu  stellte  dafür  einen  Antrag  auf  Hinrichtung  des 
Gesandten  von  Lu,  ein  Schicksal,  welchem  derselbe  nur  durch  Für- 
sprache Tschao-wu1s,  Regierungsvorstehers  von  Tsin,  entging.  Im 
achten  Jahre  des  Friedens  endlich  (538  vor  Chr.  Geb.)  hielt  Tsu  in 
Tsin  um  dieErlaubniss  an,  die  Reichsfürsten  für  sich  allein  nach  Schin 
berufen  zu  dürfen,  woselbst  die  Versammlung  derselben  auch  stattfand, 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  487 

und  in  Folge  dessen  die  früher  mit  Tsin  getheilte  Oberherrschaft  aus- 
schliesslich an  Tsu  überging. 

Die  übrigen  hier  verzeichneten  Begebenheiten  beziehen  sich  auf 
innere  Angelegenheiten  der  Reiche  Lu,  Tsching  und  Tsi. 


£p£  FJ^i  53,  das  Jahr  des  Cyklus  (545  vor  Chr.  Geb.).  Acht- 
undzwanzigstes  Regierungsjahr  des  Fürsten  Siang  von  Lu. 

In  diesem  Jahre  starben  der  Himmelssohn,  König  Ling  und 
Khang,  König  von  Tsu. 

Yeo-ke  geht  als  Gesandter  nach  Tsu. 

„Der  Fürst  von  Tsai  reiste  nach  Tsin.  Der  Fürst  von  Tsching 
hiess  Yeu-ke  sich  begeben  nach  Tsu." 

Die  Folge  des  im  vorigen  Jahre  abgeschlossenen  Vertrages  von 
Sung  war,  dass  die  Reichsfürsten  von  nun  an  sich  um  die  Gunst  des 
Reiches  Tsu  bewarben ,  während  sie  den  Himmelssohn  und  den  Hof 
des  früher  die  Oberherrschaft  übenden  Reiches  Tsin  vernachlässigten. 
In  diesem  Jahre  erschien  der  Fürst  von  Tsai  noch  an  dem  Hofe  von 
Tsin;  die  Fürsten  von  Lu,  Sung,  Tschin,  Tsching  und  Hiü  jedoch 
erschienen  in  eigener  Person  an  dem  Hofe  von  Tsu.  Nur  das  Reich 
Tsching  wollte,  wie  hierzu  ersehen,  sich  anfänglich  durch  einen 
Gesandten  vertreten  lassen.  Yeu-ke  ist  Tse-tai-scho. 

„Er  gelangte  an  den  Han.  Die  Menschen  von  Tsu  wiesen  ihn 
zurück." 

Der  Fluss  Hau  bildete  damals  die  Grenze  des  Reiches  Tsu  im 
Norden. 

„Sie  sprachen:  Nach  dem  Vertrage  von  Sung  beschämt  der 
Landesherr  in  der  That  uns  in  eigener  Person." 

In  dem  Vertrage  von  Sung  wurde  bestimmt ,  dass  die  Reichs- 
fürsten persönlich  an  dem  Hofe  eines  der  beiden  die  Oberherrschaft 
ausübenden  Reiche  erscheinen. 

„Da  jetzt  du,  mein  Sohn,  gekommen,  so  lässt  unser  Landesherr, 
o  mein  Sohn,  dir  sagen,  dass  einstweilen  du  mögest  zurückkehren." 

„Wir  werden  entsenden  einen  Eilboten,  damit  er  frage  in  Tsin, 
und  werden  es  euch  dann  melden." 


488  '"■•  Pfizmaier. 

Tsu  will  in  Tsin  anfragen  lassen,  ob  der  Fürst  von  Tsching  in 
eigener  Person  erscheinen  solle  oder  nicht.  Das  Ergebniss  werde  es 
dann  nach  Tsching  melden. 

„Tse-tai-scho  sprach :  In  dem  Vertrage  von  Sung  befiehlt  euer 
Landesherr,  dass  man  leiten  solle  die  kleinen  Reiche.  Hierauf  heisst 
er  sie  auch  festsetzen  ihre  Landesgötter,  in  Ruhe  halten  und  besänf- 
tigen die  Menschen  ihres  Volkes,  vermittelst  der  Gebräuche  empfan- 
gen die  Ruhe  des  Himmels." 

„Dieses  sind  die  Vorschriften  eures  Landesherrn,  und  auf  die- 
sem beruht  die  Hoffnung  der  kleinen  Reiche." 

„Unser  Landesherr  hat  desswegen  mich  Ke  entsandt,  damit  ich 
reiche  die  Felle  und  Seidenstoffe." 

-^  Ke  ist  Tse-tai-scho's  Name. 

„Weil  das  Jahr  nicht  leicht,  erkundige  ich  mich  bei  dem  unter- 
sten Leiter  der  Geschäfte." 

Der  Fürst  von  Tsching  war  durch  die  in  seinem  Lande  herr- 
schende Hungersnoth  verhindert  worden  persönlich  zu  erscheinen. 
Der  Gesandte  spricht  hier  von  dem  Leiter  der  Geschäfte,  weil  er  auf 
den  König  von  Tsu  nicht  offen  anzuspielen  wagt. 

„Jetzt  hat  der  Leiter  der  Geschäfte  einen  Refehl  und  sagt:  Was 
habt  ihr  zu  verkehren  mit  der  Regierung?  Ihr  müsset  absenden  euren 
Landesherrn." 

Die  Grossen  des  Reiches  Tsching  seien  nicht  befugt,  mit  der 
Regierung  des  Reiches  Tsu  zu  verkehren. 

„Er  verlasse  die  Hut  eurer  Grenzen.  Er  übersetze  die  Berge 
und  die  Flüsse.  Er  treffe  auf  Reif  und  auf  Thau.  Alles  dieses,  um  zu 
erfüllen  den  Wunsch  unseres  Landesherrn." 

„Das  kleine  Reich  setzt  eben  nur  auf  euren  Landesherrn  seine 
Hoffnung.  Darfes  etwas  anderes,  als  dem  Befehle  nur  gehorchen?" 

„Nichts  ist,  was  nicht  nach  den  Worten  der  Urkunde  des  Ver- 
trages, dass  es  einen  Bruch  bewirkte  in  der  Tugend  eures  Landes- 
herrn." 

„Aber  dem  Leiter  der  Geschäfte  bringt  uns  keinen  Nutzen." 

Dieses  gegen  den  Wortlaut  des  Vertrages ,  in  welchem  dem 
Obigen  zufolge  gesagt  wird ,  dass  Tsu  die  kleinen  Reiche  leiten,  d.  i. 
für  ihren  Nutzen  sorgen  solle. 

„Die  kleinen  Reiche  fürchten  sich.  Wäre  dieses  nicht ,  welche 
Mühe  würden  sie  wohl  scheuen?" 


Notizen  stiis  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  489 

„Tse-tai-scho  kehrte  zurück  und  meldete  den  Vollzug  des  Be- 
fehles." 

„Er  sprach  zu  Tse-tschen:  Der  Fürst  von  Tsu  wird  sterben!" 

„Er  ordnet  nicht  die  Regierung,  nicht  die  Tugend,  und  er  hat 
eine  blinde  Begierde  nach  den  Fürsten  des  Reichs,  um  durchzudrin- 
gen mit  seinen  Wünschen.  Wird  er  wohl  noch  lange  begehren  können?" 

Khang,  König  von  Tsu,  starb  auch  wirklich  in  diesem  Jahre. 

Tse-tschan  errichtet  vor  der  Hütte  keinen  Ertlwall. 

„Tse-tschan  stand  als  Minister  zur  Seite  dem  Fürsten  von  Tsching 
und  reiste  mit  ihm  nach  Tsu." 

„Er  errichtete  vor  der  Hütte  keinen  Erdwall." 

Es  wurde  erwartet,  dass  Tse-tschan  vor  dem  Weichbilde 
der  Hauptstadt  von  Tsching  einen  Erdwall  mit  Stufen  errichten  werde, 
um  daselbst  wie  auf  einem  Altare  zu  opfern,  was  jedesmal  geschah, 
wenn  der  Landesherr  die  Reise  nach  einem  fremden  Hofe  antrat. 
Statt  dessen  Hess  Tse-tschan  nur  eine  Hütte  von  Gräsern  bauen. 

„Der  äussere  Diener  sprach:  Einst,  wenn  die  früheren  Grossen 
des  Reichs  als  Minister  zur  Seite  der  früheren  Landesherren  auszogen 
nach  einem  Reiche  der  vier  Gegenden,  unterliessen  sie  es  niemals, 
einen  Erdwall  zu  errichten." 

Der  äussere  Diener  hiess  in  Tsching  ein  Angestellter  ,  dessen 
Aufsicht  die  zum  Opfern  bestimmten  Hütten  und  Erdhöhlen  anver- 
traut waren. 

„Jetzt  baust  du  eine  Hütte  von  Gräsern.  Wäre  es  nicht  möglich, 
dass  dieses  nicht  geschehe?" 

„Tse-tschan  sprach:  Wenn  der  Landesherr  eines  grossen  Reiches 
sich  begibt  in  ein  kleines  Reich,  so  errichtet  man  einen  Erdwall. 
Wenn  der  Landesherr  eines  kleinen  Reiches  sich  begibt  in  ein  grosses 
Reich,  so  baut  man  eine  Hütte  von  Gräsern,  sonst  nichts.  Wozu 
brauchte  man  wohl  einen  Erdwall?" 

„Ich  Kiao  habe  es  gehört:  Wenn  der  Landesherr  eines  grossen 
Reiches  sich  begibt  in  ein  kleines  Reich ,  so  gibt  es  dabei  fünf  gute 
Dinge." 

Kiao  ist  Tse-tschan's  Name. 

„Man  ist  grossmüthig  bei  dessen  Schuld.  Man  verzeiht  dessen 
Fehler.    Man  kommt  ihm  zu  Hilfe  bei  Unglück  und  Betrübniss.    Man 


490  °r.  Pfizmaier. 

belohnt  dessen  Tugend  und  Gesetzlichkeit.    Man  belehrt  es  über  das 
was  es  nicht  versteht." 

Das  so  eben  Angegebene  sind  die  fünf  guten  Dinge. 

„Das  kleine  Reich  wird  nicht  ermüdet.  Es  erschliesst  sein  Herz 
und  unterwirft  sich,    als  kehrte  es  nach  Hause." 

„Desswegen  baut  man  einen  Erdwall,  damit  man  in  das  Licht 
stelle  seine  Verdienste." 

„Man  verkündet  es  offenbar  den  Nachkommen,  damit  sie  nicht 
lass  werden  in  ihrer  Tugend." 

„Wenn  der  Landesherr  eines  kleinen  Reiches  sich  begibt  in  ein 
grosses  Reich,   so  gibt  es  dabei  fünf  schlechte  Dinge." 

„Man  bekennt  seine  Schuld.  Man  bittet  wegen  seiner  Gebrechen. 
Man  übt  dessen  Regierung.  Man  führt  ein  dessen  Ämter  und  Ab- 
gaben." 

Das  kleine  Reich  richtet  sich  in  seinen  inneren  Angelegenheiten 
nach  dem  Reispiele  des  grossen. 

„Man  leistet  Folge  dessen  Befehl  über  die  Zeit." 

Wenn  das  grosse  Reich  einen  Befehl  hinsichtlich  einer  Zusam- 
menkunft oder  eines  Besuches  an  dem  Hofe  ertheilt,  so  leistet  das 
kleine  Reich  Folge.  Das  so  eben  Angegebene  sind  die  fünf  schlechten 
Dinge. 

„Ist  dieses  nicht  der  Fall,  so  vermehrt  man  die  Seide  und  die 
Seidenstoffe,  um  Glück  zu  wünschen  bei  dessen  Wohlergehen,  und 
seine  Trauer  zu  bezeugen  bei  dessen  Widerwärtigkeiten." 

So  oft  dem  grossen  Reiche  Glück  zu  wünschen  oder  Beileid 
zu  bezeugen  ist ,  gibt  das  kleine  Reich  eine  grössere  Menge  von 
Geschenken. 

„Alles  dieses  ist  ein  Unglück  für  das  kleine  Reich.  Warum  sollte 
man  bauen  einen  Erdwall,  um  in  das  Licht  zu  setzen  sein  Unglück?" 

„Bei  demjenigen  was  man  zu  verkünden  hat  den  Söhnen  und 
Enkeln,  ist  es  wohl  erlaubt,  nicht  in  das  Licht  zu  setzen  das  Unglück." 

Ngan-tse  verweigert  die  Annahme  einer  Stadt. 

„Bei  der  Empörung  der  Familie  Thsui  verlor  man  sämmtliche 
Prinzen." 

Im  fünfundzwanzigsten  Jahre  des  Fürsten  Siang  von  Lu  tödtete 
Thsui-tschü  den  Fürsten  Tschuang  von  Tsi,  worauf  sämmtliche 
Prinzen  von  Tsi  in  die  Verbannung  gingen. 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  4J1 

„Als  die  Familie  Khing  in  die  Verbannung  ging,  rief  man  sie 
insgesammt  zurück." 

Im  Winter  dieses  Jahres  wurde  Khing-fung,  der  Genosse 
Thsui-tschü's,  vertrieben  und  floh  nach  Lu. 

„Man  beschenkte  Ngan-tse  mit  Pi-tien.  Der  abhängigen  Städte 

waren  sechzig." 

Hp  ^  Ngan-tse  ist  4[h  ^P  ^  Ngan-ping-tschung. 
S?  Jfcfl  Pi-tien  ist  eine  der  Hauptstädte  von  Tsi,  zu  welcher 
sechzig  kleinere  Städte  und  Flecken  gehörten. 

„Er  nahm  es  nicht  an." 

„Tse-wei  sprach:  Die  Reichthümer  sind  etwas  was  die  Menschen 
wünschen.    Warum  wünschest  du  sie  allein  nicht?" 

F?      ^     Tse-wei  ist  das  Haupt  der  von   dem  Fürsten  Hoei 

von  Tsi  abstammenden  Familie  jsj     fe   Heu-kao. 

„Jener  antwortete:  Die  Städte  des  Geschlechtes  Khing  genüg- 
ten dem  Wunsche.    Desswegen  ging  es  in  die  Verbannung." 

„Meine  Städte  geniigen  dem  Wunsche  nicht.  Wenn  man  sie 
vermehrt  durch  Pi-tien,  so  genügen  sie  dem  Wunsche." 

„Wenn  sie  dem  Wunsche  genügen,  so  gehe  ich  in  die  Ver- 
bannung in  nicht  langer  Zeit.  In  dem  Auslande  kann  ich  nicht  regie- 
ren eine  einzige  meiner  Städte." 

„Dass  ich  Pi-tien  nicht  annehme,  geschieht  nicht,  weil  ich  die 
Reichthümer  hasse,  sondern  weil  ich  fürchte,  die  Reichthümer  zu 
verlieren." 

„Auch  sind  die  Reichthümer  gleich  den  Seidenstoffen  welche 
eine  Breite  besitzen.  Indem  man  sie  auf  ein  Mass  bringt,  bewirkt 
man,   dass  sie  sich  nicht  lösen." 

„Das  Volk  lebt  im  Überflusse  und  bedient  sich  des  Vortheils." 

Das  Volk  wird  hier  ebenfalls  mit  den  Seidenstoffen  verglichen. 

„Hier  ist  die  strenge  Tugend,  damit  sie  ihm  eine  Breite  gebe. 
Sie  bewirkt,  dass  er  sich  nicht  lostrennt.  Dieses  heisst:  eine  Breite 
geben  dem  Vortheil." 

„Ist  der  Vortheil  übermässig,  so  geht  er  verloren." 

„Ich  wage  es  nicht,  Begier  zu  haben  nach  Vielem.  Dieses  heisst: 
eine  Breite  geben." 


492  "'•  Pfiamaier. 

P  T  54,  das  Jahr  des  Cyklus  (544  vor  Chr.  Geb.).  Neun- 
undzwanzigstes  Regierungsjahr  des  Fürsten  Siang  von  Lu. 

Dieses  Jahr  ist  das  erste  Regierungsjahr  des  Königs  |j|  King 
von  Tscheu  und  des  Königs  ^  yM  Kia-ngao  von  Tsu.  In  dem- 
selben starb  ferner  Fürst  Hien  von  Wei,  und  Fürst  Yü-tsai  vonU  wurde 
durch  einen  Eunuchen  getödtet,  wobei  als  bemerkenswerth  hervor- 
zuheben,  dass  der  Name  dieses  Mannes,  seiner  niedrigen  Stellung 
willen,  in  der  Geschichte  absichtlich  nicht  genannt  wird.  Nach  dem 
Kue-yü  war  er  ein  Eingeborner  des  Reiches  Yue,  der  von  dem  Fürsten 
Yü-tsai  bei  der  Rekriegung  dieses  Reiches  gefangen  genommen,  von 
diesem  zur  Rewachung  der  Schiffe  verwendet  wurde.  Als  der  Fürst 
eines  Tages  die  Schiffe  besichtigte,  tödtete  ihn  der  Eunuche  mit 
einem  Schwerte,  eine  That  deren  Reweggrund  Rache  gewesen. 

Ki-tscha  sieht  die  Musikwerkzeage. 

„Der  Prinz  Ki-tscha  kam,  sich  zu  erkundigen." 
M,   ^    Ki-tscha  ist  der  Sohn  des  Fürsten  Scheu-mung  von  U. 
Derselbe  erschien  in  diesem  Jahre  an  dem  Hofe  von  Lu. 

„Er  bat,  sehen  zu  dürfen  die  Musik  der  Tscheu." 

König  Tsching  vonTscheu  hatte  dem  Reiche  Lu  gleich  bei  dessen 
Gründung  die  Musik  des  Himmelssohnes  geschenkt,  aus  welchem 
Grunde  in  Lu  sowohl  die  Werkzeuge  als  auch  die  Weisen  der  Musik 
der  Tscheu  vollständig  erhalten  waren. 

„Man  Hess  die  Künstler  für  ihn  singen  die  Lieder  des  Südens 
von  Tscheu  und  Schao." 

Die  Lieder  des  Südens  von  Tscheu  heissen  die  von  dem  Fürsten 
von  Tscheu,  Minister  des  Königs  Tsching,  gesammelten  Lieder  aus 
Tscheu  und  dessen  angrenzenden  Gebieten.  Die  Lieder  des  Südens 
von  Schao  wurden  ebenfalls  von  dem  Fürsten  von  Tscheu  gesammelt, 
und  stammen  aus  Schao,  dem  Lande  welches  der  Fürst  von  Schao, 
ein  anderer  Minister  des  Königs  Tsching,  besessen. 

„Er  sprach:  0  wie  schön!  Im  Anfange  machte  er  sie  zum  Fuss- 
gestell.   Er  kam  noch  nicht  so  weit." 

Schon  König  Wei  hatte  vermittelst  dieser  Lieder  die  Umbildung 
des  Volkes  begonnen,  jedoch  in  Folge  der  Unordnungen  des  Königs 
Tschheu  von  Schang  waren  die  Wohlthaten  der  Umbildung  noch  nicht 
der  ganzen  Welt  zu  Theil  geworden. 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  4.L> 

„So  bestrebte  er  sich  und  zürnte  nicht." 

Aus  den  Tönen  dieser  Musik  lässt  sich  erkennen,  dass  König 
Wen  sich  die  Regierung  angelegen  sein  liess,  und  von  der  Leiden- 
schaft des  Hasses  frei  war. 

„Sie  sangen  für  ihn  die  Lieder  aus  Poei,  Yung  und  Wei." 

Poei,  Yung  und  Wei  waren  zur  Zeit  des  Sturzes  der  Dynastie 
Schang  drei  verschiedene  Reiche.  Als  bald  nachher  Khang-scho,  der 
jüngere  Bruder  des  Königs  Wu  von  Tscheu  ,  mit  dem  Reiche  Wei 
belehnt  wurde,  beherrschte  er  diese  drei  Reiche  zugleich  unter  dem 
gemeinschaftlichen  Namen  Wei.  Obgleich  diese  Lieder  hier  ohne 
Unterschied  zusammengestellt  werden,  wird  doch  angenommen,  dass 
deren  Melodien  verschieden  gewesen  seien,  was  übrigens  nicht  zu 
ermitteln. 

„Er  sprach  :   0  wie  schön!   Welch'  eine  Tiefe!" 

„Es  sind  diejenigen  welche  trauern,  aber  nicht  ermüden." 

Unter  den  Beherrschern  des  Reiches  Wei  führte  Fürst  Siuen 
einen  unordentlichen  Lebenswandel,  Fürst  I  wurde  von  den  nördlichen 
Barbaren  getödtet.  Das  Volk  trauert  zwar  in  diesen  Liedern ,  aber 
es  ermüdet  nicht  in  seinem  gerechten  Wandel. 

„Ich  habe  gehört:  Die  Tugend  Khang-scho's  und  des  Fürsten 
Wu  von  Wei  war  so  beschaffen.  Es  sind  diese  Lieder  aus  Wei !" 

Fürst  Wu  war  der  neunte  Beherrscher  des  Reiches  Wei  nach 
Khang-scho.  Nur  dadurch,  dass  diese  beiden  Fürsten  ihr  Volk  in 
einem  hohen  Grade  umbildeten,  war  dieses  im  Stande,  solche  Lieder 
hervorzubringen. 

„Sie  sangen  für  ihn  die  Lieder  des  Königs." 

Der  König  ist  der  König  Ping  von  Tscheu,  der  seinen  Wohnsitz 
nach  Wang-tsching  (der  Stadt  des  Königs)  verlegte,  und  dessen 
neunund vierzigstes  Regierungsjahr  das  erste  des  Fürsten  Yin  von 
Lu.  Der  Köni^  steht  hier  für  dessen  Reich. 

„Er  sprach:  0  wie  schön!  Sie  sind  kummervoll,  aber  frei  von 
Furcht." 

Das  Volk  trauert  wegen  des  Unterganges  der  Tscheu,  aber  im 
Hinblick  auf  das  Vermächtniss  der  früheren  Könige  fürchtet  es  sich 
nicht. 

„Dieses  ist  der  Osten  der  Tscheu!" 

Es  lässt  sich  erkennen,  dass  diese  Lieder  nach  der  Übersiede- 
lung der  Tscheu  nach  Osten  gedichtet  wurden. 


494  fr.  Pfizmaier. 

„Sie  sangen  für  ihn  die  Lieder  aus  Tsching." 

„Er  sprach:  0  wie  schön!  Jedoch  ist  es  schon  zu  weichlich. 
Das  Volk  erträgt  es  nicht.  Dieses  ist  sein  früherer  Untergang!" 

Die  Musik  des  Reiches  Tsching  war  weichlich,  ebenso  die  in 
diesem  Reiche  gedichteten  Lieder.  Der  Prinz  tadelt  dessen  schwache 
Regierung  und  erkennt  aus  diesen  Liedern,  dass  Tsching  schon  einmal 
zu  Grunde  gegangen,  indem  nämlich  zur  Zeit  der  Übersiedelung  der 
Tscheu  nach  Osten  auch  Wu ,  Fürst  von  Tsching,  nach  dem  neuen 
Tsching  übersiedelte. 

„Sie  sangen  für  ihn  die  Lieder  aus  Tsi." 

„Er  sprach:  0  wie  schön  !  Welch'  eine  Fülle!  Ein  grosser  Wind 
fürwahr ! " 

Der  Wind  ist  die  Kraft  der  Umbildung  in  diesen  Liedern. 

„Der  als  Grenzmarke  setzte  das  östliche  Meer,  es  ist  er,  der 
grosse  Fürst!  Das  Reich  lässt  sich  noch  nicht  ermessen!" 

Der  erste  Landesherr  von  Tsi  war  Liü-wang,  der  grosse  Fürst 
von  Tscheu.  Derselbe  hatte  das  Meer  als  Grenze  seines  Reiches  im 
Osten  bestimmt.  Der  Prinz  meint,  dass  Tsi  vielleicht  wieder  zu  seiner 
früheren  Grösse  gelangen  werde. 

„Sie  sangen  für  ihn  die  Lieder  aus  Pin." 

„Er  sprach!  0  wie  schön!  Was  für  ein  Umfang!" 

„Hier  ist  Freude  ohne  Ausgelassenheit.  Dieses  ist  der  Osten 
des  Fürsten  von  Tscheu!" 

Pin  ist  das  Stammland  der  Tscheu.  Diese  Lieder  entstanden  zu 
der  Zeit,  als  der  Fürst  von  Tscheu  gegen  den  Osten  zog,  um  daselbst 
die  Bildung  zu  verbreiten. 

„Sie  sangen  für  ihn  die  Lieder  aus  Thsin." 

„Er  sprach:  Dieses  nennt  man  die  Töne  der  Hia.  Was  angehören 
kann  den  Hia,  besitzt  die  Grösse.  Es  ist  das  Gelangen  zu  der 
Grösse!" 

Das  Reich  Thsin  war  unter  den  westlichen  Barbaren  gegründet. 
Erst  zur  Zeit  Ytb  |fe  Thsin-tschung's,  der  durch  König  Siuen  von 
Tscheu  neu  eingesetzt  wurde,  fing  es  an  sich  zu  vergrössern  und 
erhielt  die  Töne  der  Hia,  d.  i.  die  Musik  des  Mittelreiches.  Die 
Bedeutung  des  Wortes   W  Hia  ist  „gross". 

„Dieses  ist  das  alte  Land  der  Tscheu!" 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  4-«»b 

Fürst  Siang,  der  Enkel  Thsin-tschung's,  begleitete  der  König 
Ping  bei  dessen  Übersiedelung  nach  Osten  und  erhielt  dafür  das 
ganze  Gebiet  der  westlichen  Tscheu. 

„Sie  sangen  für  ihn  die  Lieder  aus  Wei." 

Das  Reich  ;r&J  Wei  wurde  schon  von  dem  Fürsten  Hien  von 
Tsin  vernichtet  und  mit  dem  letztgenannten  Reiche  vereint,  daher 
vermuthet  wird,  dass  die  Lieder  aus  Wei  sämmtlich  dem  Reiche  Tsin 
angehören. 

„Er  sprach:  0  wie  schön!  Wie  gemessen  diese  Töne!  Sie  sind 
gross  und  doch  gefällig." 

In  den  jetzt  vorhandenen  Liedern  aus  Wei  wird  gewöhnlich  die 
Kargheit  gerügt,  daher  der  Ausdruck  :  „Sie  sind  gross  und  doch 
gefällig"  nicht  zu  erklären. 

„Sie  sind  eingeschränkt  und  wandeln  mit  Leichtigkeit." 

Wei  war  ein  unfruchtbares,  von  Bergen  eingeschlossenes  Land, 
dessen  Wege  gleichwohl  sehr  bequem  waren.  Die  Bewohner  schätzten 
die  Sparsamkeit. 

„Unterstützt  man  dieses  durch  die  Tugend,  so  ist  man  ein 
erleuchteter  Gebieter." 

Ebenso  kann  man  ein  weiser  Landesherr  sein,  wenn  Sparsam- 
keit der  Stamm  und  Tugend  die  Stütze  desselben  ist. 

„Sie  sangen  für  ihn  die  Lieder  aus  Thang." 
}=£?    Thang:  ist  der  alte  Name  des  Reiches  Tsin. 

„Er  sprach:  0  wie  tief  diese  Gedanken!  Sie  haben  das  Volk 
das  hinterlassen  das  Geschlecht  Thao-thang." 

Thao-thang  ist  der  Kaiser  Yao,  der  den  Fürsten  von  Tsin  sein 
Volk  hinterlassen.  Tsin  ist  nämlich  das  alte  Land  des  Kaisers  Yao, 
der  ursprünglich  Fürst  von  Thang  gewesen. 

„Wäre  dieses  nicht,  warum  gälte  ihr  Kummer  so  dem  Fernen?" 

„Wer  sonst  als  die  Nachkommen  der  vollendeten  Tugend,  ist 
dergleichen  im  Stande?" 

„Sie  sangen  für  ihn  die  Lieder  aus  Tschin." 

„Er  sprach:  Ein  Reich  ohne  Gebieter,  kann  es  wohl  lange 
bestehen  ?" 

Die  Töne  des  Reiches  Tschin  waren  unordentlich  und  zeugten 
von  vollkommener  Rücksichtslosigkeit,  daher  der  Ausdruck:  Ein 
Reich  ohne  Gebieter. 


496  Dr-  Pfizmaier. 

„Von  den  Liedern  ans  Knai  bis  zn  den  folgenden  enthielt  er 
sich  des  Tadels." 

Die  Künstler  sangen  noch  die  Lieder  der  Reiche  g  K  Knai  und 
Tsao,  über  welche  der  Prinz  ihrer  Unbedeutendheit  wegen  keinen 
Tadel  aussprach. 

„Sie  sangen  für  ihn  die  kleinen  regelmässigen  Lieder." 

Die  regelmässigen  Lieder  sind  Gesänge  mit  regelmässiger  Musik. 
Man  unterscheidet  die  kleinen  regelmässigen  Lieder  welche  bei  Em- 
pfangsfeierlichkeiten, und  die  grossen  welche  bei  Zusammenkünften 
an  dem  Hofe  gesungen  wurden. 

„Er  sprach:  0  wie  schön!  Sie  haben  Sehnsucht,  aber  sie  neigen 
sich  nicht  zum  Abfall.  Sie  grollen,  aber  sie  sagen  es  nicht  mit  Worten." 

Das  Volk  sehnt  sich  nach  den  Königen  Wen  und  Wu,  aber  es 
denkt  nicht  an  Empörung.  Es  ist  über  die  gegenwärtige  Regierung 
ungehalten,  aber  es  weiss  sich  zu  massigen. 

„Dieses  ist  die  Winzigkeit  der  Tugend  der  Tscheu.  Es  ist  noch 
immer  das  Volk  das  hinterlassen  die  früheren  Könige!" 

Dieses  war  noch  das  Volk  welches  die  besseren  Könige  der 
Dynastie  Yin  hinterlassen  hatten,  daher  die  Tugend  der  Tscheu  sich 
noch  nicht  entwickeln  konnte. 

„Sie  sangen  für  ihn  die  grossen  regelmässigen  Lieder." 

„Er  sprach:  0  wie  mächtig!  Was  für  ein  Einklang!" 

„Sie  sind  gebogen,  aber  von  Leib  gerade." 

Die  Musik  zu  diesen  Liedern  enthält  halbe  Töne,  ist  aber  doch 
regelmässig. 

„Dieses  ist  die  Tugend  des  Königs  Wen!" 

„Sie  sangen  für  ihn  die  Lobpreisungen." 

Man  unterscheidet  dreierlei  lobpreisende  Gedichte:  diejenigen 
der  Tscheu,  des  Reiches  Lu  und  der  Schang. 

„Er  sprach:  0  wie  vollendet!" 

„Sie  sind  gerade,  aber  nicht  schroff.  Sie  sind  gebogen,  aber 
nicht  verkrümmt.  Sie  sind  einander  genähert,  aber  sie  drängen  sich 
nicht.    Sie  sind  von  einander  entfernt,  alter  sie  trennen  sich  nicht." 

Das  Obige  bezieht  sich  auf  die  Töne  dieser  Musik,  das  Folgende 
mehr  auf  den  Geist  derselben  und  die  ihnen  zu  Grunde  gelegten  Worte. 

„Sie  wandeln  umher,  aber  sie  schweifen  nicht  aus.  Sie  sind 
schwankend,  aber  nicht  gedrückt.  Sie  sind  traurig,  aber  nicht  miss- 
muthig.  Sie  sind  freudig,  aber  nicht  ausgelassen." 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  497 

„Sie  sind  bedürftig,  aber  nicht  dürftig.  Sie  sind  umfangreich, 
aber  nicht  gedehnt." 

„Sie  geben,  aber  sie  verschwenden  nicht.  Sie  nehmen,  aber  sie 
begehren  nicht.  Sie  weilen,  aber  sie  stocken  nicht.  Sie  wandeln,  aber 
sie  verlieren  sich  nicht." 

„Die  fünf  Tone  sind  in  Einklang.  Die  acht  Winde  sind  gleich- 
förmig." 

Die  acht  Winde  heissen  sämmtliche  Töne  der  Tonleiter. 

„Die  Abschnitte  haben  ihr  Mass.  Die  Weisen  haben  ihre  Ord- 
nung. Hierdurch  besitzen  sie  gemeinschaftlich  die  vollkommene 
Tugend." 

Die  Tugend  der  oben  genannten  drei  Lobpreisungen  ist  eine 
und  dieselbe. 

„Er  sah  die  Tänzer  der  bildlichen  Schalmei  und  der  südlichen 
Pfeife." 

Die  bildliche  Schalmei  und  die  südliche  Pfeife  sind  die  Gegen- 
stände welche  die  Tänzer  in  den  Händen  hielten,  und  welche  zugleich 
zwei  Tänzen  den  Namen  geben.  „Die  bildliche  Schalmei"  heisst  der 
kriegerische  Tanz,  „die  südliche  Pfeife"  der  zierliche  Tanz,  und 
beide  gehören  zu  der  Musik  des  Königs  Wen. 

„Er  sprach:  0  wie  schön!  Er  ist  noch  immer  in  Betrübniss!" 

König  Wen  ist  in  Betrübniss,  weil  seine  Begierung  noch  nicht 
vollständig  geordnet  ist. 

„Er  sah  die  Tänzer  der  grossen  Kriegskunst." 

„Die  grosse  Kriegskunst"  hiess  ein  Tanz,  der  zu  der  Musik  des 
Königs  Wu  gehörte. 

„Er  sprach:  0  wie  schön!  Die  Vollkommenheit  der  Tscheu  ist 
so  beschaffen!" 

„Er  sah  die  Tänzer  der  fortgesetzten  Beschützung." 

„Die  fortgesetzte  Beschützung"  ist  ein  Tanz  der  zu  der  Musik 
des  Königs  Thang  gehört.  Durch  den  Namen  wird  angedeutet,  dass 
Thang  die  Tugend  des  grossen  Yü  fortzusetzen  im  Stande  war. 

„Er  sprach:  Die  höchstweisen  Männer  sind  gross,  doch  sie 
haben  noch  immer  die  erröthende  Tugend.  Ein  Höchstweiser  zu  sein, 
ist  schwer!" 

König  Thang  war  zwar  gross,  aber  er  mochte  über  seine  Tugend 
erröthen,  weil  er  durch  Eroberung  zur  Herrschaft  gelangt  war. 

„Er  sah  die  Tänzer  der  grossen  Hia." 


498  l>r.  Pfizmaier. 

„Die  grosse  Hia"  ist  die  Musik  Yü's,  des  Gründers  der  Dynastie 
Hia. 

„Er  sprach:  0  wie  schön!  Er  bemühte  sich  und  rühmte  sich 
nicht  der  Tugend.  Wer  sonst  als  Yü  ist  im  Stande,  dieses  zu  üben?" 

„Er  sah  die  Tänzer  der  fortsetzenden  Schalmei." 

„Die  fortsetzende  Schalmei"  heisst  eine  Tonweise  des  Kaisers 
Schün. 

„Er  sprach:  0  welche  vollendete  Tugend!  Sie  ist  gross  in  der 
That!  Wie  der  Himmel  der  Alles  überwölbt,  wie  die  Erde  die  Alles 
in  sich  fasst!" 

„Wäre  es  auch  die  vollkommenste  Tugend,  es  ist  keine  welche 
dieser  noch  zu  nahe  getreten!" 

„Das  Sehen  hat  hier  ein  Ende.  Gibt  es  noch  eine  andere  Musik, 
ich  getraue  mich  nicht,  um  sie  zu  bitten." 


ip  /§  55,  das  Jahr  des  Cyklus  (543  vor  Chr.  Geb.).  Dreis- 
sigstes  Regierungsjahr  des  Fürsten  Siang  von  Lu. 

Dieses  Jahr  ist  das  erste  Regierungsjahr  der  Fürsten  ^  Siang 

von  Wei  und   H4^    BR    I-moei  von  U. 

Tse-tschan  verniuthet  den  Untergang  des  Reiches  Tschin. 

„Tse-tschan  von  Tsching  reiste  nach  Tschin  zur  Durchsicht  des 
Vertrages." 

Im  fünfundzwanzigsten  Jahre  des  Fürsten  Siang  von  Lu  war 
Tsching  in  das  Reich  Tschin  eingefallen  und  hatte  dessen  Unter- 
werfung erzwungen.  In  diesem  Jahre  erfolgte  die  Durchsicht  des 
damals  zwischen  den  beiden  Reichen  geschlossenen  Vertrages. 

„Er  kehrte  zurück  und  meldete  den  Vollzug  des  Befehles." 

„Er  sprach  zu  den  Grossen  des  Reichs :  Tschin  ist  ein  ver- 
lorenes Reich.  Es  lässt  sich  mit  ihm  nicht  verkehren." 

„Es  sammelt  das  Getreide.  Es  befestigt  seine  Aussenwerke.  Es 
verlässt  sich  auf  diese  zwei  Dinge  und  beruhigt  nicht  sein  Volk." 

„Sein  Landesherr  ist  ein  schwacher  Setzling.  Die  Prinzen  sind 
ausgelassen.  Der  Thronfolger  ist  gemein.  Die  Grossen  des  Reichs 
sind  stolz." 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  4»'J 

„Die  Regierung  hat  viele  Thore,  und  es  grenzt  an  grosse  Reiche. 
Kann  es  wohl  anders  als  verderben?" 

„Es  dauert  nicht  länger  als  zehn  Jahre." 

Im  achten  Jahre  des  folgenden  Fürsten  Tschao  von  Lu  wurde 
Tschin  durch  Tsu  vernichtet,  was  genau  im  zehnten  Jahre  nach  der 
hier  erzählten  Begebenheit  erfolgte. 

Schin-wn-yü  vermuthet,  dass  Prinz  Wei  nicht  entkommen  werde. 

,,Der  Prinz  Wei  von  Tsu  tödtete  den  grossen  Anführer  der 
Pferde  Wei-yen  und  nahm  Besitz  von  dessen  Haus." 


Der  Prinz  a  Wei  war  der  Sohn  des  früheren  Königs  Kung 
und   Regierungsvorsteher   von  Tsu.   |4  '0f,    Wei-yen    führt    den 

Namen  von  der  Familie  -^£  Wei,    welche  jedoch   in   Tsu   zu   der 

— 1 1~ 

Familie  -fp.    Thsien  gehörte. 

„Schin-wu-yü  sprach:  Der  Sohn  des  Königs  wird  gewiss  nicht 
entkommen." 

-=jp  "fpH     ffl    Schin-wn-yü  gehörte  zu  der  Familie    -T*     j31 

Thsien-yin  von  Tsu. 

„Die  guten  Menschen  sind  die  Stammältern  der  Reiche.  Der 
Sohn  des  Königs  steht  als  Minister  im  Dienste  des  Reiches  Tsu.  Den 
Guten  sollte  er  angedeihen  lassen  die  Pflege.  Er  aber  behandelt  sie 
grausam:  er  bringt  Unglück  über  das  Reich." 

Weil  Prinz  Wei  die  Guten  welche  die  Stammältern  der  Reiche 
sind,  entfernt,  bringt  er  Unglück  über  das  Reich  Tsu. 

„Auch  ist  der  Vorsteher  der  Pferde  die  Seite  des  Vorstehers 
der  Regierung,  und  beide  gehören  zu  den  vier  Gliedern  des 
Königs." 

Der  Anführer  des  Streitwagen  ist  der  Genosse  des  Regierungs- 
vorstehers. Die  höchsten  Minister  heissen  die  Arme  und  Schenkel 
des  Landesherrn. 

„Er  sagt  sich  los  von  den  Stammältern  des  Volkes.  Er  entfernt 
eine  Seite  seines  Leibes.  Er  mäht  ab  die  Glieder  des  Königs  und 
bringt  Unglück  über  dessen  Reich.  Es  gibt  keine  Vorbedeutungen  so 
schlimm  wie  diese:  wie  könnte  er  wohl  entkommen?" 

Prinz  Wei,  der  spätere  König  Ling  von  Tsu,  wurde  im  drei- 
zehnten Jahre  des  nachfolgenden  Fürsten  Tschao  von  Lu  getödtet. 

Sitzh.  d.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  III.  Ilft.  33 


500  l>r.   Pfizmaier. 

Tse-tschan  verweigert  die  Ibernahme  der  Regiernng. 

„Tse-pi  von  Tsching  übertrug  Tse-tschan  die  Regierung." 
f\5*    Hp  Tse-pi  verzichtete  zu  Gunsten  Tse-tschan's  auf  die 

Stelle  eines  Regierungsvorstehers  von  Tsching. 

„Dieser  weigerte  sich  und  sprach:  Das  Reich  ist  klein  und 
bedrängt.  Die  Geschlechter  sind  gross,  der  Günstlinge  viele.  Es 
lässt  sich  nicht  regieren." 

„Tse-pi  sprach:  Ich  Hu  stelle  mich  an  die  Spitze  und  gehorche. 
Wer  würde  es  dann  wagen,  sich  dir  zu  widersetzen?  Du  stehst  uns 
zur  Seite  als  guter  Minister." 

/Jp  Hu  ist  Tse-pi's  Name.  Dieser  will  den  Ministern  mit  seinem 

Beispiele  im  Gehorsam  gegen  Tse-tschan  vorangehen.  Letzterer  stände 
dann  als  Minister  dem  Landesherrn  zur  Seite. 

„Ein  Reich  ist  durchaus  nicht  klein.  Das  kleine  kann  dem 
grossen  dienen.  Das  Reich  wird  hierdurch  grossmüthig  bedacht." 

„Tse-tschan  führte  die  Regierung." 

Er  unternahm  hierauf  die  Regierung  an  Tse-pi's  Stelle. 

„Er  hatte  Pe-schf  zur  Verwendung  und  machte  ihm  ein  Ge- 
schenk mit  einer  Stadt." 

^7   iH  Pe-schf  ist  der  Fürstenenkel  hH  Tuan.    Tse-tschan 

wollte  Pe-schf  bei  der  Regierung  verwenden  und  gab  ihm  zu  ver- 
stehen, dass  er  (Pe-schf)  seine  Dienste  nicht  umsonst  leisten  werde. 

„Tse-tai-scho  sprach:  In  einem  Reiche  nehmen  Alle  Theil  an 
dem  Reiche.    Wie  kommt  es,  dass  man  ihn  allein  beschenkt?" 

„Tse-tschan  sprach:  Keine  Wünsche  haben,  ist  in  der  That 
unmöglich.  Alle  erhalten  was  sie  wünschen,  wofür  sie  nachgehen 
ihren  Geschäften  und  Eifer  zeigen  bei  ihren  Werken." 

„Sind  es  denn  nicht  wir  welche  verrichtet  haben  die  Werke? 
Sind  sie  wohl  zuzuschreiben  den  Menschen?" 

„Warum  sparen  wir  die  Stadt?  Wohin  sollte  die  Stadt  wohl 
wandeln? 

Die  Stadt  wird  immer  dem  Reiche  Tsching  verbleiben. 

„Tse-tai-scho  sprach :  WTie  verhält  es  sich  aber  mit  den  Reichen 
der  vier  Gegenden?" 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  oO  1 

„Tse-tschan  sprach:  Wir  stellen  uns  ja  Niemanden  entgegen, 
sondern  wir  entsprechen  nur  einem  Wunsche.  Was  könnten  die 
Reiche  der  vier  Gegenden  uns  vorwerten?" 

„In  dem  Buche  von  Tsching  ist  es  enthalten:  Bei  dem  Beruhigen 
der  Reiche  und  Häuser  muss  der  Anfang  gemacht  werden  mit  den 
Grossen." 

Das  Buch  von  Tsching  enthielt  Regierungsgrundsätze  für  das 
Reich  Tsching.  Unter  den  Grossen  werden  hier  die  angesehenen 
Geschlechter  verstanden. 

„Wir  beruhigen  vorerst  die  Grossen  und  warten  auf  das  was 
sie  uns  leisten." 

In  demselben  Sinne  wurde  oben  gesagt,  dass  sie  „Eifer  zeigen 
bei  ihren  Werken." 

„Pe-schf  fürchtete  sich  jetzt  und  gab  die  Stadt  zurück.  Hierauf 
gab  man  sie  ihm  endgiltig." 

„Tse-tschan  Hess  den  Hauptstädten  und  abhängigen  Städten 
zukommen  ihre  Auszeichnung." 

Nachdem  Pe-schi  die  Stadt  wieder  angenommen,  wurden  sämmt- 
liche  grössere  und  kleinere  Städte  des  Reiches  nach  Rangstufen  geordnet. 

„Höhere  und  Niedere  erhielten  ihre  Kleidung." 

Ebenso  unterschieden  sich  der  Fürst,  die  Reichsminister,  die 
Grossen  des  Reichs  und  die  Staatsdiener  durch  die  Farbe  ihrer 
Kleidung. 

„Die  Felder  erhielten  Erdwälle  und  Wassergräben." 

Die  Felder  des  Volkes  wurden  auf  diese  Weise  abgegrenzt. 

„Die  Hütten  und  Brunnen  erhielten  Genossenschaften  von  fünf 
Menschen." 

Die  Brunnen  sind  die  an  den  Brunnen  gelegenen  Felder.  Die 
fünf  Menschen  welche  diese  Genossenschaften  bildeten,  sollten  sich 
wechselseitig    schützen. 

„Diejenigen  unter  den  Grossen  welche  redlich  waren  und 
sparsam,  beschenkte  er  nach  Umständen." 

„Diejenigen  welche  hoffährtig  waren  und  verschwenderisch, 
bestrafte  er  nach  ihrer  Schuld." 

„Fung-khiuen  wollte  opfern  und  bat,  jagen  zu  dürfen." 

73:  ||y  Fung-khiuen  ist  EJ-lf  H?  Tsehc-tschang,  der  Sohn 
des  Fürstenenkels  Tuan.  Er  wollte  das  erlegte  Wild  zum  Opfer 
verwenden. 

33  * 


502  Dr.  Pfizmaier. 

„Jener  erlaubte  es  nicht  und  sprach  :  Nur  der  Landesherr  bedient 
sich  des  Wildes.  Die  Gesammtheit  beschränkt  sich  auf  das  Vorräthige." 

Tse-tschan  meint,  dass  nur  der  Landesherr  sich  des  auf  der  Jagd 
erlegten  Wildes  zum  Opfer  bedienen  dürfe.  Alle  übrigen  Personen  neh- 
men die  eben  vorhandenen ,  mit  Heu  oder  Körnern  gefütterten  Thiere. 

„Tse-tschang  zürnte.  Er  zog  sich  zurück  und  rief  seine  Leute 
zu  den  Waffen." 

Er  berief  die  seiner  Person  zugetheilten  Krieger,  um  Tse-tschan 
anzugreifen. 

„Tse-tschan  floh  nach  Tsin.  Tse-pi  hielt  ihn  zurück  und 
entfernte  Fung-khiuen.  Fung-khiuen  floh  nach  Tsin." 

Tse-tschan  wollte  anfänglich  nicht  gegen  Fung-khiuen  auf- 
treten, daher  seine  Flucht.  Fung-khiuen  flieht  jetzt,  weil  er  von 
Tse-pi  vertrieben  wurde. 

„Tse-tschan  bat  wegen  seiner  Felder  und  Dörfer." 

Er  bat  den  Fürsten  von  Tsching,  die  Besitzungen  Fung-khiuen's 
nicht  einziehen  zu  lassen. 

„Nach  drei  Jahren  gestattete  er  ihm  die  Heimkehr.  Er  gab  ihm 
zurück  die  Felder  und  Dörfer  sanimt  deren  Erträgniss." 

„Nachdem  er  die  Regierung  ein  Jahr  geführt,  priesen  ihn  die 

Menschen  mit  den  Worten: 

„Die  Kleider  und  die  Mützen  jetzt. 
Wir  halten  sie  alle  verschlossen. 
Die  Felder,  wo  wächst  das  Korn  und  der  Hanf. 
Fünf  Menschen  sind  ihre  Genossen. 
Was  sollte  Tse-tschan's  Leben  droh'n? 
Wir  sind  ihm  zu  helfen  entschlossen." 
Dieses  und  das  unten  folgende  gemeine  Volkslied  wurde  damals 
in  Tsching  gesungen.  Tse-tschan  hatte  Unterschiede  der  Kleidung 
eingeführt,    wesswegen    diejenigen    welche   sich   eine   ihnen   nicht 
gebührende  Kleidung  angemasst  hatten ,  dieselbe  jetzt  zurücklegen 
mussten. 

„Nachdem  er  sie  drei  Jahre  geführt,  priesen  sie  ihn  wieder  mit 
den  Worten: 

„Wir  haben  Söhn'  und  Brüder  wohl, 
Doch  Tse-tschan  kann  sie  belehren. 
Wir  haben  Felder  mit  Korn  und  mit  Hanf, 
Doch  Tse-tschan  lässt  es  sich  mehren. 
Wenn  Tse-tschan  sollte  sterben  einst, 
Wer  könnt'  uns  Gleiches  gewähren?" 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  503 

7^    Q   56,  das  Jahr  des  Cyklus  (542  vor  Chr.  Geb.).   Ein 
und  dreißigstes  Regierungsjahr  des  Fürsten  Siang  von  Lu. 

Mo-scho  weiss  die  Gesetzlosigkeit  des  Fürsten  Tschao  im  Toraas. 

„Der  Fürst  verschied  in  dem  Palaste  von  Tsu.  Tse-ye  starb." 

Fürst  Siang  von  Lu  war  in  diesem  Jahre  nach  Tsu  gereist  und 

starb  in   dem  für  ihn   daselbst,  erbauten  Palaste.    Der  Thronfolger 

tri--/         '  ^ 

5^-p  ~f-  Tse-ye  wurde  zum  Landesherrn  erhoben,  starb  jedoch 
schon  im  Herbste,  im  neunten  Monate  des  Jahres  und  drei  Monate 
nach  dem  Tode  seines  Vaters  an  den  Folgen  der  Traurigkeit. 

„Man  erhob  den  Prinzen  Tschheu." 

Der  Prinz  Zffl  Tschheu  ist  der  Sohn  des  Fürsten  Sianer,  der 

spätere  Fürst  JJJ7?  Tschao,    dessen    Mutter  |||  Mis  Tsi-kuei,  die 

jüngere  Schwester  |||  ^  King-kuei's,  einer  Tochter  des  Hauses  Tsi. 
„Mo-scho  wünschte  es  nicht." 
Mo-scho  ist  Scho-sün-piao. 

„Er  sprach:  Der  Thronfolger  ist  gestorben.  Gibt  es  einen 
jüngeren  Bruder  geboren  von  derselben  Mutter,  so  erhebt  man  ihn." 

„Gibt  es  keinen  solchen,  so  erhebt  man  den  älteren." 

In  diesem  Falle  wird  der  von  einer  Nebengemahlinn  geborene 
älteste  Sohn  eingesetzt. 

„Sind  die  Jahre  gleich,  so  wählt  man  den  Weiseren." 

„Sind  die  Ansprüche  gleich,  so  brennt  man  die  Schildkröten- 
schale. Dieses  ist  die  alte  Sitte." 

Wenn  das  Alter  und  die  Vorzüge  der  von  einer  Nebengemahlinn 
geborenen  Söhne  einander  gleich  sind,  so  nimmt  man  seine  Zuflucht 
zur  Wahrsagung. 

„Jener  war  kein  Sohn  einer  ersten  Gemahlinn :  wozu  braucht  man 
den  Sohn  ihrer  jüngeren  Schwester?" 

Die  Mutter  des  Prinzen  Tse-ye  war  King-kuei,  welche  nicht  die 
erste  Gemahlinn  des  Fürsten  Siang,  daher  hätte  unter  sämmtlichen 
Söhnen  dieses  Fürsten  der  älteste  gewählt  werden  sollen. 

„Auch  ist  dieser  Mensch  in  der  Trauer  und  ist  nicht  traurig.  Er 
gerieth  in  Betrübniss  und  zeigt  ein  heiteres  Angesicht.  Dieses  heisst 
gesetzlos  sein." 


504  Dr.   IMizniaiei. 

„Unter  den  gesetzlosen  Menschen  gibt  es  wenige  welche  nicht 
Unheil  stiften." 

„Erhebt  man  ihn  wirklich,  so  bereitet  er  Kummer  der 
Familie  Ki." 

Die  Familie  3^-  Ki  ist  der  erste  Reichsminister  Ki-sün,  der 
das  Meiste  zur  Einsetzung  des  Fürsten  Tschao  beigetragen. 

„Wu-tse  horte  ihn  nicht.    Hierauf  erhob  mau  ihn  endgiltig." 

Wu-tse  ist  Ki-wu-tse,  d.  i.  Ki-sün.  Er  setzte  zuletzt  die 
Erhebung  des  Fürsten  Tschao  durch. 

„Bis  zur  Zeit  des  Begräbnisses  wechselte  er  dreimal  die  Trauer- 
kleider." 

Der  neue  Fürst  Tschao  war  die  Hauptperson  bei  dem  Begräb- 
nisse des  Fürsten  Siang.  Bis  zu  der  Zeit  wo  dasselbe  gefeiert  wurde, 
hatte  er  dreimal  die  Trauerkleider  zerrissen  und  sie  mit  neuen  ver- 
tauscht. 

„Der  Besatz  der  Trauerkleider  war  wie  bei  den  ursprünglichen 
Trauerkleidern." 

Der  Besatz  der  zerrissenen  Trauerkleider  blieb  ganz  und  hatte 
das  Aussehen  wie  an  neuen  Kleidern. 

„Um  diese  Zeit  war  Fürst  Tschao  neunzehn  Jahre  alt.  Er  hatte 
noch  immer  den  Sinn  eines  Knaben." 

Obwohl  erwachsen,  spielte  er  und  war  muthwillig  wie  ein  Kind, 
wesswegen  die  Trauerkleider  zerrissen. 

-Die  Weisen  erkannten  hieraus,  dass  er  kein  srutes  Ende 
nehmen  könne." 

Fünf  und  zwanzig  Jahre  spater  wollte  Fürst  Tschao  die  Familie 
Ki  ausrotten  und  floh,  als  ihm  dieses  misslang,  in  das  Reich  Tsi. 


Tse-tschan  zerstört  die  Ringmauer  des  Wohngebäades  in  Tsin. 

-In  dem  Monate  in  welchem  der  Fürst  starb,  stand  Tse-tschan 
als  Minister  zur  Seite  dem  Fürsten  von  Tsching  und  reiste  mit  ihm 
nach  Tsin." 

Der  Fürst  von  Lu  starb  im  Sommer,  dem  sechsten  Monate  des 
Jahres. 

„Wegen  unserer  Trauer  hatte  ihn  der  Fürst  von  Tsin  noch  nicht 
empfangen." 


Notizen  aus  «1er  Geschiebte  der  chinesischen  Reiche  etc.  505 

Die  Fürsten  von  Lu  und  Tsin  gehörten  zu  der  Familie  Ki,  dess- 
wegen  nahm  der  Fürst  von  Tsin  an  dem  Tode  des  Fürsten  Siang  von 
Lu  besondern  Antheil. 

„Tse-tschan  Hess  die  Hingmauer  seines  Wohngebäudes  voll- 
ständig niederreissen  und  brachte  herein  Wagen  und  Pferde." 

„Sse-wen-pe  stellte  ihn  zur  Rede." 

JP   ^    -^-  Sse-wen-pe  ist  o^J    -J-  Sse-kiai,  dessen  Name 

auch  U^  — |—  Sse-kiai  geschrieben  wird.  Derselbe  ist  ein  Anderer 
als  der  früher  vorgekommene.  Fan-siuen-tse,  dessen  Name  ebenfalls 
£j  -j-  Sse-kiai. 

„Er  sprach:  Weil  in  der  niedrigen  Stadt  Regierung  und  Strafe 
nicht  geordnet,  wimmelt  es  bei  uns  von  Räubern.  Wir  können  nichts 
thun  für  die  Angehörigen  des  Fürsten  des  Reichs,  welche  sich  auf 
einem  Resuche  befinden  bei  unserem  Landesherrn." 

„Dess wegen  heissen  wir  die  abgeordneten  Menschen  fest  ver- 
wahren das  Haus,  wo  die  Gäste  wohnen,  höher  bauen  dessen  Thore, 
stärker  aufführen  dessen  Ringmauern,  um  keinen  Kummer  zu  bereiten 
den  gastenden  Gesandten." 

„Jezt  hast  du,  mein  Sohn,  sie  niedergerissen.  Ist  dein  Gefolge 
auch  im  Stande  sich  zu  schützen,  wie  wird  es  sich  verhalten  mit  den 
übrigen  Gästen  ?" 

„  Weil  unsere  niedrige  Stadt  die  Herrinn  des  Vertrages,  bessern 
wir  aus ,  befestigen  und  decken  mit  Stroh  die  Mauern.  So  erwarten 
wir  unsere  Gäste." 

„Wenn  du  jetzt  alles  niederreissest,  wie  können  wir  entgegen- 
kommen dem  Refehle?  Unser  Landesherr  heisst  mich  Kiai  hinsicht- 
lich des  Refehles  bitten." 

tä     Kiai  ist  Sse-wen-pe's  Name. 

„Jener  antwortete:  Weil  unsere  niedrigen  Städte  beengt  und 
klein,  sind  wir  eingeschlossen  von  grossen  Reichen  welche  strafen 
und  Forderungen  stellen  zur  Unzeit." 

„Desswegen  getrauten  wir  uns  nicht  in  Ruhe  zu  verweilen.  Wir 
suchten  vollständig  hervor  unseren  niedrigen  Tribut  und  kamen,  uns 
einzufinden  bei  den  Angelegenheiten  der  Zeit." 

„Es  trifft  sich ,  dass  der  Leiter  der  Geschäfte  eben  nicht  bei 
Müsse,  und  wir  erhielten  noch  keine  Zusammenkunft.  Auch  bekamen 


506  l)r-  Pfizmaier. 

wir  nicht  zu  hören  den  Befehl ,  wir  wissen  noch  nicht  die  Zeit  der 
Zusammenkunft." 

„Wir  wagen  es  nicht,  die  Geschenke  zu  übersenden.  Wir 
wagen  es  auch  nicht,  sie  auszustellen." 

„Wenn  wir  sie  übersenden,  so  sind  es  Erzeugnisse  aus  den 
Vorrathshäusern  eures  Landesherrn.  Ohne  dass  wir  sie  vor  euch 
dargelegt,  wagen  wir  es  nicht,  sie  zu  übersenden." 

„Wenn  wir  sie  ausstellen ,  so  fürchten  wir  die  unzeitige  Ein- 
wirkung von  Hitze  und  Feuchtigkeit,  wodurch  sie  faulen  und  wurm- 
stichig werden.  Hierdurch  würden  wir  verdoppeln  die  Schuld  der 
niedrigen  Städte." 

„Ich  Kiao  habe  gehört:  Als  Fürst  Wen  gewesen  der  Herr  des 
Vertrages,  waren  Palast  und  inneres  Gebäude  unansehnlich." 

Kiao  ist  Tse-tschan's  Name.  Fürst  Wen  von  Tsin  bewohnte 


Iren 


Iren 

für  seine  Person  einen  niedrigen  und  kleinen  Palast. 

„Es  gab  keine  Terrassen  mit  Fernsicht,  keine  Warten.  Dagegen 
vergrösserte  man  die  Wohngebäude  der  Fürsten  des  Reichs." 

Die  Gebäude  in  welchen  die  zum  Besuche  kommenden  Reichs- 
fürsten einkehrten,  wurden  im  grösseren  Massstabe  aufgeführt. 

„Ihre  Wohngebäude  waren  gleich  den  Schlafgemächern  des 
Fürsten." 

Der  die  Schlafgemächer  enthaltende  Theil  des  Palastes  war 
durch  seine  Grösse  ausgezeichnet. 

„Die  Vorrathshäuser  und  die  Ställe  wurden  vollkommen  her- 
gerichtet. Der  Vorsteher  des  Landes  ebnete  bei  Zeiten  die  Wege. 
Der  Maurer  bewarf  bei  Zeiten  mit  Mörtel  den  Palast  und  das  Innere 
der  Wohngebäude." 

„Wenn  die  Reichsfürsten  als  Gäste  ankamen,  so  stellte  der 
Mann  der  Felder  ein  Leuchtfeuer  in  den  Vorhof." 

Der  Mann  der  Felder  hiess  ein  Angestellter  der  die  Felder  und 
das  Weichbild  beaufsichtigte. 

„Die  dienenden  Menschen  machten  die  Runde  um  den  Palast. 
Wagen  und  Pferde  erhielten  ihren  bestimmten  Platz.  Das  Gefolge 
der  Gäste  wurde  abgelöst.  Der  Ausschmücker  des  Wagens  bestrich 
die  Achsen  mit  Fett." 

„Die  Trabanten,  die  Rinderhirten  und  Pferdeknechte,  ein  jeder 
hatte  im  Auge  seine  Angelegenheiten." 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  507 

„Die  Genossen  der  hundert  Obrigkeiten,  ein  jeder  legte  dar 
seine  Gegenstände." 

Die  zum  Empfang  der  Gaste  dienenden  Gegenstände  wurden 
Yor  den  Obrigkeiten  ausgelegt. 

„Der  Fürst  hielt  die  Gäste  nicht  auf,  und  diese  versäumten  auch 
nicht  ihre  Geschäfte." 

Da  die  Gäste  bald  wieder  abreisen  konnten,  so  erlitten  ihre 
Geschäfte  keine  Unterbrechung. 

„Kummer  und  Freude  hatte  er  mit  ihnen  gemein.  Stiess  ihnen 
etwas  zu,  so  untersuchte  er  es.  Er  belehrte  sie  über  das  was  sie 
nicht  wussten,  und  kümmerte  sich  um  das  was  ihnen  fehlte." 

„Die  Gäste  kamen  als  kehrten  sie  nach  Hause." 

Die  Gäste  fühlten  sich  gleich  bei  ihrer  Ankunft  in  ihren  Woh- 
nungen heimisch. 

„Sollten  sie  statt  dessen  Unglück  gehabt  haben  und  Betrübniss? 
Sie  fürchteten  nicht  die  Räuber  und  waren  auch  nicht  in  Besorgniss 
wegen  Hitze  und  Feuchtigkeit." 

„Jetzt  hat  der  Palast  von  Tung-Ti  im  Umfange  mehrere  Meilen, 
aber  die  Fürsten  des  Reichs  wohnen  bei  einem  Trabanten." 

$T  §F5  Tun&-ti'  cler  auf  dem  gleichnamigen  Gebiete  erbaute 
abgesonderte  Palast,  welchen  damals  die  Fürsten  von  Tsin  bewohn- 
ten. Das  den  Fürsten  des  Reichs  angewiesene  Wohngebäude  kam  an 
Grösse  kaum  dem  Hause  eines  Trabanten  gleich. 

„Das  Thor  fasst  nicht  die  Wagen,  und  es  ist  unmöglich  hinüber 
zu  setzen." 

„Diebe  und  Räuber  gehen  öffentlich  umher,  und  die  Pest  des 
Himmels  wird  nicht  abgehalten." 

„Der  Empfang  der  Gäste  geschieht  zur  Unzeit,  der  Befehl  dazu 
ist  uns  unbekannt." 

„Wenn  ich  überdies  nicht  zerstört  hätte  die  Mauern ,  wir 
könnten  nirgends  bergen  die  Geschenke,  und  ich  würde  noch  ver- 
doppeln unsere  Schuld." 

„Ich  wage  zu  bitten  den  Leiter  der  Geschäfte,  dass  er  befehle 
hinsichtlich  des  Ortes  wo  wir  wohnen  sollen." 

„Hat  euer  Landesherr  auch  die  Trauer  wegen  Lu,  so  ist  dieses 
auch  der  Kummer  unserer  niedrigen  Städte." 

Tsching  gehörte  so  wie  Tsin  und  Lu  zu  der  Familie  Ki  und 
hatte  daher  gleiche  Ursache  zur  Trauer. 


508  Di\  Ffizmaier. 


„Wenn  wir  dazu  kommen,  die  Geschenke  darzulegen,  so  bauen 
wir  die  Ringmauer  und  reisen  weiter.  Es  wäre  Gnade  von  eurem 
Landesherrn.    Würden  wir  es  wagen,  diese  Mühe  zu  scheuen?" 

Die  Gäste  aus  Tsching  würden  sich  in  diesem  Falle  gerne  her- 
beilassen, die  zerstörte  Ringmauer  wieder  aufzubauen. 

„Wen-pe  meldete  den  Vollzug  des  Refehles." 

„Tsehao-wen-tse  sprach:  Es  ist  die  Wahrheit." 

Tschao-wen-tse  ist  Tschao-wu. 

„Wir  besitzen  in  derThat  nicht  die  Tugend,  und  wir  bestimmen 
die  Ringmauer  eines  Trabanten  zur  Aufnahme  für  die  Fürsten  des 
Reichs.  Dieses  ist  eine  Schuld  unsererseits." 

„Man  hiess  Sse  -  wen  -  pe  sich  entschuldigen  wegen  Unauf- 
merksamkeit." 

„Als  der  Fürst  von  Tsin  den  Fürsten  von  Tsching  empfing, 
that  er  ein  Übriges  bei  den  Gebräuchen.  Er  bezeugte  in  hohem 
Grade  seine  Freundschaft  bei  der  Feierlichkeit  und  Hess  ihn  zurück- 
kehren." 

„Hierauf  baute  man  ein  Wohngebäude  für  die  Fürsten  des 
Reichs." 

„Scho-hiang  sprach:  Die  Rede  darf  nicht  aufgegeben  werden, 
wie  hier  zu  ersehen." 

„Tse-tschan  besass  die  Gabe  der  Rede:  die  Fürsten  des  Reichs 
vertrauten  ihm.    Wie  könnte  man  die  Rede  aufgeben?" 

Tse-tschan  lässt  die  Schule  des  Districtes  nicht  niederreissen. 

„Die  Menschen  von  Tsching  lustwandelten  in  der  Schule  des 
Districtes  und  sprachen  über  die  Lenker  der  Regierung." 

„Jen-ming  sprach  zu  Tse-tschan:  Wie  wäre  es,  wenn  wir  die 
Schule  niederreissen  Hessen?" 

„Tse-tschan  sprach:  Warum  dieses?  Die  Menschen  verlassen 
den  Hof  am  Morgen  und  am  Abend  und  lustwandeln." 

Die  Bewohner  von  Tsching ,  welche  am  Hofe  Geschäfte  hatten, 
pflegten,  nachdem  sie  denselben  verlassen,  in  der  Schule  des  Districtes 
zu  lustwandeln. 

„Sie  besprechen,  was  an  den  Lenkern  der  Regierung  gut  ist 
und  was  nicht.  Was  sie  gut  finden ,  mögen  wir  ausüben.  Was  sie 
schlecht  finden,  mögen  wir  verbessern.  Sie  sind  also  unsere  Lehrer: 
warum  sollten  wir  die  Schule  niederreissen  lassen?" 


Notizen  aus  der  Geschichte  iler  chinesischen  Iteiche  etc.  öU«f 

„Ich  habe  gehört:  Redlichkeit  und  gute  Thaten  beeinträchtigen 
den  Hass.  Ich  habe  nicht  gehört :  Anwendung  der  Strenge  tilgt  den 
Hass.  Wie  sollte  man  ihm  nicht  wehren  können  ohne  Übereilung?" 

„Es  ist  gerade  so,  als  ob  man  aufhalten  wollte  einen  Fluss. 
Er  macht  einen  grossen  Einriss  in  dasjenige  was  sich  ihm  entgegen- 
stellt. Die  Menschen  welche  er  zu  Grunde  richtet,  sind  viele." 

„Wir  sind  nicht  im  Stande  zu  helfen.  Wir  müssen  machen 
kleine  Einrisse  und  bewirken  einen  Abzug.  Wir  müssen  die  Reden 
anhören  und  sie  für  eine  Arznei  halten." 

„Jen-ming  sprach:  Ich  Mie  weiss  es  jetzt  und  auch  später, 
dass  man  dir,  mein  Sohn,  in  Wahrheit  dienen  kam  .  Ich  der  kleine 
Mensch  besitze  in  der  That  keine  Fähigkeiten.  Wenn  du  wirklich 
also  handelst,  so  wird  das  Reich  Tsching  dir  in  der  That  vertrauen: 
wie  wären  es  allein  die  zwei  oder  drei  Minister?" 

„Tschung-ni  hörte  diese  Worte  und  sprach:  Aus  diesem  habe 
ich  es  ersehen.  Wenn  die  Menschen  sagen  sollten,  dass  Tse-tschan 
nicht  menschlich,  so  glaube  ich  es  nicht." 

Tschung-ni  (Confucius)  der  die  hier  angeführten  Worte  Tse- 
tschan's  in  späterer  Zeit  hörte,  war  in  diesem  Jahre  zehn  Jahre  alt. 

Tse-tschan  heisst  Tse-pi  von  der  Verwendung  Yin-bVs  abstehen. 

„Tse-pi  wollte  Yin-ho  eine  Stadt  regieren  lassen." 
rl    ^P'  Yin-ho,  ein  Grosser  des  Reiches  Tsching,  sollte  Statt- 
halter in  einer  Stadt  werden,    welche  zugleich  dessen  Eigenthum 
geworden  wäre. 

„Tse-tschan  sprach:  Er  ist  zu  jung.  Ich  weiss  noch  nicht,  ob 
wir  es  dürfen  oder  nicht." 

„Tse-pi  sprach :  Er  ist  ehrerbietig.  Ich  liebe  ihn :  er  wird  sich 
nicht  gegen  uns  auflehnen." 

„Wir  lassen  ihn  sich  dahin  begeben  und  lernen.  Er  wird  auch 
genesen  und  verstehen  zu  regieren." 

Dass  Yin-ho  nicht  zu  regieren  versteht,  wird  als  eine  Krankheit 
betrachtet.  Wenn  man  ihn  sich  in  die  Stadt  begeben  und  daselbst 
die  Regierung  lernen  Hesse,  so  würde  er  gleichsam  von  seiner 
Krankheit  genesen. 

„Tse-tschan  sprach :  Es  darf  nicht  sein.  Wenn  die  Menschen 
andere  Menschen  lieben,  so  trachten  sie,  ihnen  Nutzen  zu  bringen." 


.) 


1  0  Dr.  Pfizmaier. 


„Wenn  du  jetzt,  mein  Sohn,  einen  andern  Menschen  liebst,  so 
thust  du  dieses,  indem  du  ihn  regieren  lassest." 

„Dieses  ist  so  viel,  als  wenn  Jemand  noch  nicht  im  Stande 
wäre  das  Schwert  zu  halten,  und  man  ihn  hiesse  etwas  zerhauen. 
Er  wird  Beschädigungen  erleiden  in  der  That  mancherlei." 

„Indem  du  einen  Menschen  liebst,  wirst  du  ihn  beschädigen, 
sonst  nichts.  Wer  würde  trachten  wollen,  von  dir  geliebt  zu  werden?" 

„Du  bist  für  das  Reich  Tsching  der  Grundbalken.  Wenn  der 
Grundbalken  bricht,  so  stürzen  auch  die  Querbalken.  Ich  Kiao  werde 
hierdurch  zerschmettert.  Darf  ich  es  wagen,  nicht  frei  heraus  zu 
reden?" 

„Du  besitzest  einen  schönen  Seidenstoff.  Du  lassest  nicht  die 
Menschen  an  ihm  das  Zuschneiden  lernen." 

„Die  grosse  Stadt  einer  grossen  Obrigkeit,  sie  ist  ein  Schirm- 
dach unseres  Leibes,  und  wir  heissen  einen  Lernenden  sie  zuschnei- 
den: ist  sie  nicht  auch  mehr  als  ein  schöner  Seidenstoff?" 

„Ich  Kiao  habe  gehört:  Man  lernt,  und  dann  erst  tritt  man  in 
die  Regierung.  Ich  habe  noch  nicht  gehört,  dass  Jemand  durch  das 
Regieren  gelernt  hätte." 

„Wenn  du  wirklich  also  handelst,  so  wird  jener  gewiss  Schaden 
erleiden." 

„Es  verhält  sich  wie  bei  der  Jagd.  Wenn  man  gewohnt  ist  mit 
Pfeilen  zu  schiessen,  den  Wagen  zu  lenken,  so  ist  man  im  Stande, 
die  wilden  Thiere  zu  erlegen.  Wenn  man  noch  nicht  fähig  ist,  den 
Wagen  zu  besteigen,  mit  Pfeilen  zu  schiessen,  den  Wagen  zu  lenken, 
so  ist  Stürzen,  Zerschellen  und  Umschlagen  zu  befürchten  :  wie  hätte 
man  Zeit,  zu  denken  an  das  Erlegen?" 

„Tse-pi  sprach  :  0  wie  trefflich!  Ich  Hu  besitze  keinen  Scharf- 
sinn." 

„Ich  habe  gehört:  Der  Weise  bemüht  sich,  kennen  zu  lernen 
das  Grosse  und  das  Ferne." 

„Ich  der  kleine  Mensch  bemühte  mich,  kennen  zu  lernen  das 
Kleine  und  das  Nahe." 

„Was  mich  den  kleinen  Menschen  betrifft:  Die  Kleider  welche 
anliegen  meinem  Leibe,  ich  lernte  sie  kennen  und  richtete  auf  sie 
mein  Augenmerk." 

„Die  grosse  Stadt  einer  grossen  Obrigkeit,  die  ein  Schirmdach 
meines  Leibes,  ich  glaubte  sie  fern  und  schätzte  sie  gering." 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  511 

„Wenn  deine  Worte  nicht  gewesen ,  so  hätte  ich  dieses  nicht 
erkannt." 

„In  früheren  Tagen  sagte  ich:  Du  regierst  das  Reich  Tsching. 
Ich  regiere  mein  Haus  und  bilde  mir  ein  Schirmdach.  Dieses  ist 
wohl  möglich." 

„Jetzt  und  für  die  Folge  weiss  ich,  dass  ich  diesem  nicht 
gewachsen.  Von  nun  an  bitte  ich ,  und  beträfe  es  auch  mein  Haus, 
dir  gehorchen  zu  dürfen  und  dem  gemäss  zu  handeln." 

„Tse-tschan  sprach :  Die  Herzen  der  Menschen  sind  einander 
nicht  gleich,  gerade  so  wie  ihre  Gesichter.  Wie  dürfte  ich  dafür- 
halten, dass  dein  Gesicht  gleich  meinem  Gesichte?" 

Wenn  das  Innere  sich  nach  den  Gesichtszügen  beurtheilen  lässt, 
so  ist  anzunehmen,  dass  Tse-pi's  Seele  mit  derjenigen  Tse-tschan's 
nicht  durchaus  gleich.  Tse-tschan  könne  daher  dessen  häusliche 
Angelegenheiten  nicht  mit  seinen  eigenen  in  Übereinstimmung 
bringen. 

„Jedoch,  was  ich  in  meinem  Herzen  halte  für  gefährlich,  dieses 
werde  ich  dir  noch  melden." 

Tse-tschan  werde  auf  die  häuslichen  Angelegenheiten  Tse-pi's 
nur  dann  Einfluss  üben,  wenn  für  diesen  eine  Gefahr  vorhanden  ist. 

„Tse-pi  hielt  ihn  für  redlich,  desswegen  übertrug  er  ihm  die 
Regierung." 

„Tse-tschan  war  hierdurch  im  Stande,  das  Reich  Tsching  zu 

regieren." 

l'e-kung-tho  spricht  über  Würde  und  Anstand. 

„Der  Fürst  von  Wei  befand  sich  in  Tsu." 

Derselbe  war  an  dem  Hofe  von  Tsu  erschienen  und  noch  nicht 
zurückgekehrt. 

„Pe-kung-wen-tse  beobachtete  Würde  und  Anstand  des  Ling- 
yin's  Wei." 

^C   a£   jzf  H  ^  Pe-kung-wen-tse  ist  ßfr  ^  zj  \^  Pe-kung- 

tho,  ein  Prinz  des  Reiches  Wei.  Der  Prinz  [§  Wei  war  der  Ling- 

yin  (Regierungsvorsteher  von  Tsu). 

„Er  sprach  zu  dem  Fürsten  von  Wei:  Der  Ling-yin  gleicht 
einem  Landesherrn.  Er  wird  eine  besondere  Absicht  hegen." 


Jj}2  Hr.  Pfizmaier. 

Er  wird  sich  gegen  den  Landesherrn  empören  oder  ihn  tödten. 

„Wenn  er  seine  Absicht  auch  erreichen  sollte,  er  ist  nicht  im 

Stande  ein  gutes  Ende  zu  nehmen." 

„In  einem  Gedichte  heisst  es : 

Den  Anfang  wohl  ein  Jeder  hat, 
Doch  Wen'ge  sind,  die  können  enden." 

„Ein  gutes  Ende  ist  in  der  That  schwer.    Der  Ling-yin  wird 

dem  Unglück  nicht  entkommen." 

„Der  Fürst  sprach:  Woher  weisst  du  dieses?" 

„Jener  antwortete:  In  einem  Gedichte  heisst  es: 

Wer  Würde  nur  und  Anstand  achtet, 
Das  Volk  als  Muster  ihn  betrachtet." 

„Der  Ling-yin  ist  ohne  Würde  und  Anstand.  Das  Volk  hat  an 
ihm  kein  Muster." 

Wen-tse  meint,  der  Ling-yin  hahe  wohl  Würde  und  Anstand, 
wie  sie  sich  für  einen  Landesherrn,  nicht  aber  wie  sie  sich  für  einen 
Minister  geziemen. 

„Wer  für  das  Volk  kein  Muster  ist  und  doch  in  seiner  Stellung 
über  dem  Volke,  der  kann  kein  gutes  Ende  nehmen." 

Wenn  der  Ling-yin  einmal  der  Landesherr  werden  sollte,  so 
befände  er  sich  in  seiner  Stellung  über  dem  Volke. 

„Der  Fürst  sprach:  0  wie  trefflich!  Aber  was  nennst  du  Würde 
und  Anstand?" 

„Jener  antwortete:  Was  die  Würde  besitzt  und  Ehrfurcht  ein- 
flössen kann,  nennt  man  Würde." 

„Was  den  Anstand  besitzt  und  Gestalt  empfangen  kann ,  nennt 
man  Anstand." 

„Der  Landesherr  hat  Würde  und  Anstand  eines  Landesherrn. 
Seine  Minister  haben  Ehrfurcht  vor  ihm  und  lieben  ihn.  Sie  nehmen 
ihn  zum  Muster  und  geben  ihm  eine  Gestalt.  Desswegen  ist  er  im 
Stande,  zu  besitzen  sein  Reich  und  sein  Haus.  Sein  vortrefflicher 
Name  überdauert  die  Geschlechtsalter." 

„Der  Minister  bat  Würde  und  Anstand  eines  Ministers.  Seine 
Untergebenen  haben  Ehrfurcht  vor  ihm  und  lieben  ihn.  Desswegen 
ist  er  im  Stande,  sich  zu  behaupten  in  seinem  Amte,  zu  bewahren 
sein  Geschlecht,  einzurichten  sein  Haus." 

„Diesem  gemäss  abwärts  verhält  es  sich  so  bei  Allen.  Hierdurch 
können  Höhere  und  Niedere  sich  wechselseitig  sichern." 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  ölo 

„In  den  Gedichten  von  Wei  heisst  es: 

Die  Würde  ganz,  der  Anstand  wird  besessen, 
Es  lässt  sich  nicht  ermessen." 

„Es  wird  gesagt:  Landesherr  und  Minister,  Höhere  und  Niedere. 
Vater  und  Sohn,  älterer  und  jüngerer  Bruder,  Angehörige  und  Fremde. 
Grosse  und  Kleine,  für  alle  giht  es  Würde  und  Anstand." 

Dieses  die  Erklärung  der  obigen  Verse  welche  andeuten,  dass  es 
für  jeden  Menschen  einen  besonderen  Anstand  gibt,  die  Abstufungen 
dieser  Eigenschaften  daher  unzählig  sind. 

„In  den  Gedichten  von  Tschheu  heisst  es: 

Wodurch  der  Freund  dem  Freunde  steht  zur  Seite : 
Durch  Würde  nur,  durch  Anstand  er  ihn  leite." 

„Es  wird  gesagt:  Zwischen  Freund  und  Freund  ist  es  Sitte, 
einander  zu  belehren  durch  Würde  und  Anstand." 

Dieses  die  Erklärung  des  in  den  obigen  Versen  enthaltenen 
Wortes  „leiten". 

„Das  Buch  der  Tscheu  verzeichnet  die  Tugenden  des  Königs 
Wen.  Es  sagt:  Die  grossen Beiche  hatten  Ehrfurcht  vor  seiner  Macht. 
Die  kleinen  Reiche  liebten  seine  Tugend." 

„Es  wird  gesagt:  Sie  haben  Ehrfurcht  vor  ihm  und  lieben  ihn." 

„In  einem  Gedichte  heisst  es: 

Die  ohne  Wissen,  ohne  Seh'n, 

Zum  Muster  nehmen  sie  den  Kaiser  in  den  Höh'n." 

Diese  Verse  beziehen  sich  auf  den  König  Wen,  der  nicht  seine 
eigene  Erkenntniss  zu  Grunde  legt,  sondern  die  Ordnung  des  Himmels 
zum  Muster  nimmt. 

„Es  wird  gesagt:  Sie  nehmen  ihn  zum  Muster  und  geben  ihm 
eine  Gestalt." 

„Tschheu  hielt  den  König  Wen  gefangen  sieben  Jahre.  Die  Für- 
sten des  Reichs  folgten  ihm  alle  in  das  Gefängniss.  Tschheu  fürchtete 
sich  hierauf  und  entliess  ihn.  Dieses  lässt  sich  nennen:  sie 
liebten  ihn." 

„König  Wen  bekriegte  das  Reich  Thsung.  Er  bespannte  die 
Streitwagen  zweimal:  da  unterwarf  es  sich  und  ward  sein 
Diener." 

„Die  Barbaren  des  Südens  und  des  Ostens  führten  einer  den 
anderen,  damit  sie  sich  unterwerfen.  Dieses  lässt  sich  nennen  :  sie 
haften  vor  ihm  Ehrfurcht." 


Jj|4  Dl-  Pfizma-ier. 

„Die  Verdienste  des  Königs  Wen,  die  Welt  dichtet  auf  sie 
Lieder,  sie  singt  und  tanzt  sie.  Dieses  lässt  sich  nennen:  sie  nahmen 
ihn  zum  Muster." 

„Die  Handlungen  des  Königs  Wen,  bis  auf  den  heutigen  Tag 
sind  sie  ein  Gesetz.  Dieses  lässt  sich  nennen:  sie  gaben  ihm  Gestalt." 

„Desswegen ,  wenn  der  Landesherr  sich  befindet  auf  dem 
Throne,  so  kann  er  Ehrfurcht  einflössen.  Sein  Gewähren  und  seine 
Nachsicht  kann  ihm  Liebe  erwerben.  Sein  Vortreten  und  sein  Zurück- 
treten kann  massgebend  sein.  Sein  Umherwandeln  lässt  sich  zum 
Muster  nehmen.  Seine  Haltung  lässt  sich  betrachten.  Was  er  thut, 
kann  dienen  als  Gesetz.  Sein  tugendhafter  Wandel  kann  Gestalt 
empfangen.  Die  Töne  seiner  Stimme  können  als  Musik  dienen.  Seine 
Bewegungen  besitzen  Anmuth.  Seine  Worte  besitzen  glänzenden 
Schmuck." 

„Solchergestalt  überragt  er  sein  Volk.  Dieses  nennt  man :  Würde 
und  Anstand  besitzen." 


£t|  fj^  S7,  das  Jahr  des  Cyklus  (541  vor  Chr.  Geb.).  Erstes 
Regierungsjahr  des  Fürsten  Tschao  von  Lu. 

In  diesem  Jahre  tödtete  der  Prinz  Wei  den  König  Kia-ngao  von 
Tsu  und  bestieg  den  Thron  an  dessen  Stelle. 

Tse-yü  gestattet  Tsu  nicht,  der  Tochter  mit  Waffen  entgegen  zu  ziehen. 

„Wei,  Prinz  von  Tsu,  erkundigte  sich  in  Tsching." 

Tsu  traf  die  Vorbereitungen  für  die  Versammlung  der  Reichs- 
fürsten in  Kue  und  schickte  zu  diesem  Behufe  den  Prinzen  Wei  als 
Gesandten  nach  Tsching. 

„Zugleich  vermählte  er  sich  mit  einer  Tochter  aus  dem 
Geschlechte  des  Fürstenenkels  Tuan." 

Der  Fürstenenkel  Fl?  Tuan  ist  Pe-schf,  ein  Grosser  des 
Reiches  Tsching. 

„U-khiü  war  dessen  Genosse." 

U-khiü  ist  Tsiao-khiü.  Er  war  dem  Gesandten  zugetlteilt. 

„Nachdem  jener  sich  erkundigt,  wollte  er  mit  einem  Heere  der 
Tochter  entgegen  ziehen." 

„Tse-tschan  war  desswegen  besorgt." 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  5  1  ■) 

Er  fürchtete  in  Wirklichkeit  einen  Einfall  in  das  Reich  Tsching. 

„Er  hiess  Tse-yü  es  verweigern." 

Tse-yü  war  damals  in  Tsching  der  Mann  des  Verkehres  mit  den 
Gesandten. 

„Dieser  sprach:  Weil  unsere  niedrigen  Städte  beengt  und  klein, 
sind  sie  nicht  geeignet  zur  Aufnahme  eures  Gefolges.  Wir  bitten  eure 
Befehle  an  einem  Altare  hören  zu  dürfen." 

Der  Prinz  Wei  möge  ausserhalb  der  Stadt  einen  Altar  von  Erde 
errichten  und  daselbst  seine  Vermählung  feiern. 

„Der  Ling-yin  hiess  den  grossen  Haushofmeister  Pe-tschheu-li 
antworten :  Eurer  Landesherr  beschämt  mit  Gerchenken  unseren 
Grossen  des  Reichs.  Namens  Wei." 

„Er  spricht  zu  Wei:  Ich  werde  bewirken,  dass  das  Geschlecht 
Fung  zur  Beruhigung  für  dich  besitzt  dein  inneres  Haus." 

Das  Geschlecht  ^  Fung  ist  das  Geschlecht  des  Fürsten- 
enkels  Tuan.  Der  Fürst  von  Tsching  macht  dem  Prinzen  Wei  gleich- 
sam ein  Geschenk  mit  der  Tochter  des  Hauses  Fung. 

„Wei  breitet  selbst  die  Matte,  meldet  es  in  dem  Ahnentempel 
der  Könige  Tschuang  und  Kung,  und  kommt  zu  euch." 

Der  König  Tschuang  von  Tsu  ist  der  Grossvater  des  Prinzen 
Wei,  der  König  Kung  dessen  Vater.  Ehe  der  Prinz  nach  Tsching  reiste, 
hatte  er  in  dem  Ahnentempel  geopfert  und  sein  Vorhaben  gemeldet. 

„Wenn  man  ihn  beschenkte  auf  dem  Felde,  so  würde  man  das 
Geschenk  eures  Landesherrn  übergeben  den  Pflanzen  und  den 
Halmen." 

„Unser  Grosser  des  Reichs  würde  nicht  in  eine  Reihe  gestellt 
werden  mit  den  Ministern  des  Reichs." 

„Es  ist  nicht  allein  dieses.  Man  heisst  auch  Wei  hintergehen 
seine  früheren  Landesherren." 

Da  der  Prinz  sein  Vorhaben  früher  in  dem  Ahnentempel  gemeldet, 
so  würde  er,  wenn  die  Feier  nicht  in  dem  Ahnenteinpel  des  Hauses 
Fung  vollzogen  würde,  die  Geister  seiner  Ahnherren  betrogen  haben. 

„Er  wird  es  nicht  dahin  bringen,  unseren  Laudesherrn  vorzu- 
stellen. Er  kann  auf  keine  Weise  zurückkehren.  Mögen  die  Grossen 
des  Reichs  dieses  bedenken." 

Wenn  der  Prinz  sich  vor  seinen  Ahnherren  biossgestellt  hätte, 
so  würde  er  seines  Ranges  als  erster  Minister  verlustig  werden.  Er 
könnte  nicht  mehr  nach  Tsu  zurückkehren. 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  III.  Hft.  34 


■)\  ß  Dr.  Pfizmaier. 

„Tse-yü  sprach:  Unser  kleines  Reich  ist  ohne  Schuld.  Das  Ver- 
trauen ist  in  der  That  seine  Schuld." 

„Wenn  wir  das  Vertrauen  haben  wollten,  dass  das  grosse  Reich 
uns  werde  beruhigen  und  dass  ihr  keineswegs  im  Verborgenen  heget 
ein  Herz  für  das  Unheil,  in  Folge  dessen  ihr  Anschläge  machet  gegen 
uns ,  so  würde  unser  kleines  Reich  sich  irren  in  Hinsicht  seines  Ver- 
trauens und  zur  Warnung  dienen  den  Fürsten  des  Reichs.  Es  wird 
bewirken,  dass  Niemand  ist,  der  euch  nicht  zürnt." 

„Dass  man  sich  widersetze  dem  Befehle  eures  Landesherrn, 
und  dass  etwas  verschlossen  werde  und  unterlassen,  wird  von  uns 
befürchtet." 

„Wäre  dieses  nicht,  so  gehörten  unsere  niedrigen  Städte  den 

Hütern  eurer  Wohngebäude.  Dürften  wir  es  wagen,  zu  schonen  den 

Ahnentempel  des  Geschlechtes  Fung?" 

„U-khiü    erkannte,    dass    man   sich   vorgesehen.    Er   bat,   mit 
I 
gesenkten  Bogengehäusen  einziehen  zu  dürfen." 

Indem  die  Krieger  die  Bogengehäuse  gesenkt  hielten,  zeigten 

sie,  dass  sich  in  ihnen  keine  Bogen  befinden. 

„Man  bewilligte  es.  Jene  zogen  ein  und  entfernten  sich  wieder." 

„Hierauf  begaben  sie  sich  zu  der  Zusammenkunft  nach  Kue." 

Das  Gebiet  |fc|  Kue  befand  sich  in  dem  Reiche  Tsching. 

Rhi-wa  belehrt  Tschao-wa  über  die  Treoe. 

„Bei  der  Versammlung  in  Kue  suchte  man  hervor  den  Vertrag 
von  Sung." 

Bei  dieser  Versammlung  waren  die  Reichsfürsten  durch  ihre 
Gesandten  vertreten.  Der  Zweck  war  die  Erneuerung  des  vor  fünf 
Jahren  abgeschlossenen  Vertrages  von  Sung. 

„Khi-wu  sprach  zu  Tschao-wen-tse :  Bei  dem  Vertrage  von 
Sung  erreichten  die  Menschen  von  Tsu  ihre  Absicht  gegenüber 
Tsin." 

ytp  lijjj  Khi-wu  ist  der  Sohn  Khi-hfs.  Bei  dem  Beschwören 
jenes  Vertrages  erhoben  die  Abgesandten  von  Tsu  den  Anspruch, 
dass  ihnen  gestattet  werde,  von  dem  Blute  des  Opferthieres  zuerst  zu 
kosten,  worauf  die  Abgesandten  von  Tsin  ihnen  wichen. 

„Jetzt  ist  der  Ling-yin  treulos.  Den  Fürsten  des  Reichs  ist 
dieses  bekannt." 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  öl  i 

„Wenn  du  dich  nicht  hütest,  so  fürchte  ich,  dass  es  wieder 
so  kommen  wird  wie  in  Sung". 

„Die  Treue  Tse-mo's  ward  gepriesen  von  den  Fürsten  des 
Reichs.  Gleichwohl  hat  er  Tsin  betrogen  und  beschimpft.  Um  wie  viel 
mehr  ist  dieses  zu  erwarten  von  dem  Ärgsten  unter  den  Treulosen?" 

Tse-mo  ist  Khie-kien,  der  im  vorhergehenden  Jahre  Ling-yin 
von  Tsu  gewesen.  Bei  der  Abschliessung  des  Vertrages  von  Sung 
trugen  er  und  die  Seinigen  unter  den  Kleidern  Panzer.  Der  Ärgste 
unter  den  Treulosen  heisst  hier  der  Prinz  Wei,  der  gegenwärtige 
Ling-yin  von  Tsu. 

„Wenn  Tsu  noch  einmal  seine  Absicht  durchsetzen  sollte  gegen- 
über Tsin,  so  wäre  dieses  eine  Schande  für  Tsin." 

„Du  stützest  das  Reich  Tsin  und  bist  der  Herr  des  Vertrages 
bis  auf  den  heutigen  Tag  durch  sieben  Jahre." 

Tschao-wu  wurde  im  fünfundzwanzigsten  Jahre  des  Fürsten 
Siang  von  Lu  der  Regierungsvorsteher  von  Tsin. 

„Du  hast  zweimal  versammelt  die  Fürsten  der  Reiche,  dreimal 
versammelt  die  Grossen  der  Reiche." 

Im  fünfundzwanzigsten  Jahre  des  Fürsten  Siang  von  Lu  war  die 
Versammlung  der  Reichsfürsten  in  Y||  B&  1-1,  im  sechsund- 
zwanzigsten Jahre  in  yffil  y{§  Tschen-yuen.  Bei  der  Versammlung 
von  Sung  im  siebenundzwanzigsten  Jahre  des  Fürsten  Siang  waren 
die  Reichsfürsten  durch  ihre  Gesandten  vertreten,  ebenso  bei  der 
zweiten  Versammlung  von  Tschen-yuen  im  dreissigsten  Jahre  des 
Fürsten  Siang  und  bei  der  in  diesem  Jahre  stattfindenden  Versamm- 
lung von  Kue. 

„Du  brachtest  zur  Unterwerfung  Tsi  und  die  nördlichen 
Barbaren." 

Im  achtundzwanzigsten  Jahre  des  Fürsten  Siang  von  Lu  erschie- 
nen der  Fürst  von  Tsi  und  die  nördlichen  Barbaren  an  dem  Hofe 
von  Tsin. 

„Du  beruhigtest  das  östliche  Hia." 

Durch  die  Unterwerfung  des  Reiches  Tsi  und  der  nördlichen 
Barbaren  wurden  auch  die  Reiche  des  Ostens  beruhigt. 
„Du  machtest  ein  Ende  den  Unordnungen  in  Thsin." 
Im  sechsundzwanzigsten  Jahre  des  Fürsten  Siang  von  Lu  schlössen 
Thsin  und  Tsin  nach  langjähriger  Fehde  mit  einander  Friede. 

34  « 


5J  8  Dr-  Pfiz maier. 

„Du  bautest  die  Stadtmauern  von  Tschüu-yü." 
Im  neunundzwanzigsten  Jahre  des  Fürsten  Siang  von  Lu  über- 
siedelte der  Fürst  von  Khi  nach  -^p  yg  Tschün-yü,  dessen  Mauern 

Tsin  bauen  liess. 

„Die  Krieger  in  dem  Heere  sind  nicht  gebrochen.  Reich  und 
Haus  sind  nicht  erniedrigt.  Das  Volk  bedient  sich  keiner  Schmäh- 
worte. Die  Fürsten  des  Reichs  hegen  keinen  Groll.  Der  Himmel 
schickt  keine  grossen  Wetterschäden." 

„Dieses  verdanken  wir  deiner  Thätigkeit.  Du  besitzest  einen 
vortrefflichen  Namen,  dass  du  aber  den  Besehluss  machest  durch  die 
Schande.,  dieses  wird  von  mir  Wu  befürchtet." 

,tp    Wu  ist  Khi-wu's  Name. 

„Du,  mein  Sohn,  kannst  nicht  anders  als  dich  hüten." 

„Wen-tse  sprach:  Ich  Wu  habe  das  Geschenk  erhalten." 

itt"  Wu  ist  Tschao-wen-tse's  Name.  Das  Geschenk  sind  Khi- 
wu's  Worte. 

„Wohl  hatte Tse-mo  zur  Zeit  des  Vertrages  von  Sung  den  Willen 
Unheil  zu  bringen  über  die  Menschen.  Ich  Wu  hatte  den  Willen 
menschlich  zu  sein  gegen  die  Menschen.  Hierdurch  hat  Tsu  belei- 
digt das  Reich  Tsin." 

„Jetzt  habe  ich  Wu  noch  immer  diesen  Willen.  Wenn  Tsu  sich 
wieder  befassen  sollte  mit  dem  Trug,  so  bringt  es  uns  keinen 
Schaden." 

„Ich  Wu  halte  mich  an  die  Treue  und  mache  sie  zur  Grundlage. 
Ich  stelle  sie  voran  und  übe  sie." 

„Es  ist  wie  bei  einem  Ackermann.  Er  jätet  und  er  pflügt.  Ereig- 
net sich  auch  Misswachs,  es  kommt  gewiss  wieder  ein  fruchtbares 
Jahr." 

„Auch  habe  ich  gehört:  Wer  fähig  ist  der  Treue,  wird  den 
Menschen  nicht  unterliegen.  —  Ich  bin  ihrer  noch  nicht  fähig." 

Das  einzige  was  Tschao-wu  befürchtet,  ist,  dass  er  die  Treue 
noch  nicht  vollständig  üben  könne. 

„In  einem  Gedichte  heisst  es: 

Von  denen  die  nicht  trügen,  nicht  verletzen, 
Sind  Wen'ge  die  als  Muster  nicht  zu  schätzen." 

„Dieses  heisst:  die  Treue.  Wer  im  Stande  ist  zu  sein  ein  Muster 
der  Menschen,  der  wird  den  Menschen  nicht  unterliegen." 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  519 

„Mein  Kummer  ist,  dass  ich  ihrer  nicht  fähig.  Wegen  Tsu  bin 
ich  ohne  Sorge." 

„  Wei,  Ling-yin  von  Tsu,  bat  um  die  Herbeischaffung  des  Opfer- 
thieres.  Man  möge  lesen  die  alte  Urkunde  und  sie  legen  auf  das 
Opferthier,  nichts  weiter." 

Der  Prinz  verlangte,  dass  man  die  Urkunde  des  früheren  Ver- 
trages von  Sung  ablese  und  sie  auf  das  Opferthier  lege,  ohne  das  Blut 
zu  kosten,  was  einem  Eidschwur  gleichgehalten  werden  solle.  Er 
glaubte  nämlich,  dass  die  Abgesandten  von  Tsin  jetzt  ihrerseits 
Ansprüche  erheben  würden,  das  Blut  zuerst  kosten  zu  dürfen. 

„Die  Menschen  von  Tsin  gewährten  es." 


Tschao-wen-tse  bittet  am  Verzeihung  für  Scho-sün-piao. 

„Ki-wu-tse  bekriegte  Khiü.  Er  eroberte  Yün." 

Ki-wu-tse   ist   Ki-sün-su   von    Lu.   e&K    Yün ,    eine    Stadt    des 

Reiches    EEJ    Khiü,  auf  welche  Lu  damals  Anspruch  machte. 

„Die  Menschen  von  Khiü  meldeten  es  bei  der  Zusammenkunft." 

Die  Zusammenkunft  ist  die  Versammlung  von  Kue. 

„Tsu  meldete  es  nach  Tsin  mit  den  Worten:  Bei  dem  Hervor- 
suchen des  Vertrages  haben  wir  uns  noch  nicht  zurückgezogen,  und 
schon  macht  Lu  einen  Angriff  auf  Khiü." 

„Es  durchkreuzt  den  ordnenden  Vertrag.  Wir  bitten,  dessen 
Abgesandten  zu  strafen." 

Der  Prinz  Wei  meldet  dieses  Tschao-wu.  Scho-sün-piao  befand 
sich  um  diese  Zeit  als  Abgesandter  von  Lu  bei  der  Versammlung. 
Tsu  verlangte,  dass  der  Abgesandte  wegen  der  Schuld  seines  Landes 
hingerichtet  werde. 

„Lo-hoan-tse  stand  zur  Seite  Tschao-wen-tse's.  Er  wollte  von 
Scho-sün  eine  Belohnung  begehren  und  bat  für  ihn." 

~F  fe.  ^rc  L°-h°an-tse  ist  mf^-p  ^  Lo-wang-fu,  der  als 
zweiter  Abgesandter  von  Tsin  dem  ersten  Abgesandten  Tschao-wu 
zur  Seite  stand. 

„Er  liess  bitten  um  einen  Gürtel.  Jener  gab  ihn  nicht." 

Da  Wang-fu  nicht  sagen  konnte,  dass  er  von  Scho-sün-piao  eine 
Belohnung  begehre,  so  liess  er  diesen  Wunsch  nur  durchblicken, 
indem  er  ihn  um  einen  Gürtel  bat 


520  Dr«   Hfizmaier. 


„Liang-khi-khing  sprach  :  Durch  das  Geschenk  umgibst  du  mit 
einem  Gehäge  deinen  Leib.  Warum  möchtest  du  es  sparen?" 

[jh^  Ml    ¥&  Liang-khi-khing  war    ein  Angestellter  in   dem 

Hause  Seho-sün-piao's. 

„Scho-sün  sprach:  Die  Versammlung  der  Fürsten  des  Reichs 
hat  zum  Zwecke  den  Schutz  der  Landesgötter.  Wenn  ich  durch  ein 
Geschenk  der  Schuld  entkomme,  so  wird  Lu  gewiss  ein  Heer  erhalten. 
Ich  würde  ihm  dann  Unglück  bringen:  was  wäre  dieses  für  ein 
Schutz?" 

Wenn  Scho-sün  seine  Verzeihung  durch  ein  Geschenk  erkaufen 
sollte,  so  würde  das  Reich  Lu  des  Vertragsbruches  beschuldigt  und 
zur  Strafe  dafür  von  der  bewaffneten  Macht  des  Reichsfürsten  ange- 
griffen werden. 

„Die  Menschen  besitzen  die  Mauern  der  Häuser,  um  zu  verbergen 
ihr  Böses.  Wenn  die  Mauern  bersten,  wessen  Schuld  ist  dieses?" 

„Wenn  ich  Schutz  brächte  und  dann  Böses  thäte,  so  thäte  ich 
noch  etwas  Ärgeres  als  dieses." 

Wenn  die  Mauern  nicht  schützen  können,  so  liegt  die  Schuld  an 
ihnen  selbst.  Wenn  Scho-sün  durch  den  Vertrag  das  Reich  Lu  zu 
schützen  suchte  und  ihm  auf  die  angegebene  Weise  wieder  Unglück 
brächte,  so  hätte  er  eine  grössere  Schuld  als  die  Mauern  welche 
bersten. 

„Bin  ich  auch  unwillig  über  Ki-sün,  was  hat  das  Reich  Lu 
verschuldet?" 

Ki-sün  war  es,  der  Scho-sün  durch  seinen  Angriff  auf  Khiü  in 
Schuld  verwickelt. 

„Ich  Scho  ziehe  hinaus,  Ki  bleibt.  Dieses  ist  etwas  Herkömm- 
liches: wem  sollte  ich  ferner  grollen?" 

Als  Scho-  sün  aus  Lu  fortzog,  Hess  er  Ki-sün  die  Stelle  eines 
ersten  Reichsministers  versehen,  der  das  Land  zu  verwalten  hatte. 

„Übrigens  begehrt  Fu  eine  Belohnung.  Wenn  ich  sie  ihm  nicht 
gebe,  so  nimmt  die  Sache  kein  Ende." 

Ffl'tf-  Fu  ist  Lo-wang-fu's  Name. 

„Er  Hess  den  Abgesandten  kommen." 
Der  Abgesandte  ist  der  zweite  Abgesandte  Wang-fu. 
„Er  zerriss  den  Stoff  seines  Kleides  und  gab  es  ihm  mit  den 
Worten:  Der  Gürtel  ist  zu  eng." 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  ÖZ\ 

Er  zeigte  hierdurch,  dass  er  Wang-fu  nicht  verstehen  wolle. 

„Tschao-meng  hörte  dieses  und  sprach :  Am  Rande  des  Ver- 
derbens nicht  vergessen  auf  das  Reich,  ist  die  Redlichkeit." 

„Rei  dem  Gedanken  an  das  Unglück  sich  nicht  hinwegsetzen 
über  das  Amt,  ist  die  Treue." 

Das  Amt  Seho-sün-piao's  erforderte  es,  sich  zu  der  Versammlung 
nach  Kue  zu  begeben.  Er  that  dieses,  obwohl  er  wissen  konnte,  dass 
ihm  daselbst  ein  Unglück  begegnen  werde. 

„Rei  der  Sorge  für  das  Reich  vergessen  auf  den  Tod,  ist  die 
Lauterkeit." 

„In  seinen  Rathschlüssen  diese  drei  Dinge  voransetzen,  ist 
die  Gerechtigkeit." 

„Wer  im  Resitze  dieser  vier   Dinge,   darf  man   diesen   wohl 

strafen?" 

„Hierauf  bat  er  für  ihn  in  Tsu  und  sprach :  Ist  Lu  auch  schul- 
dig, sein  Leiter  der  Geschäfte  vermeidet  nicht  das  Unglück.  Er  hat 
Ehrfurcht  vor  eurer  Macht  und  achtet  eure  Refehle." 

„Wenn  du  ihm  verzeihst,  so  mag  es  sein,  dass  du  hierdurch 
aufmunterst  die  Minister  der  Rechten  und  der  Linken." 

„Wenn  yoii  deinen  sämmtlichen  Angestellten  diejenigen  welche 
daheimbleiben,  nicht  vermeiden  den  Wust  der  Geschäfte,  diejenigen 
welche  hinausziehen,  nicht  vermeiden  das  Unglück,  was  für  eine 
Retrübniss  könnte  es  noch  geben?" 

„Wodurch  die  Retrübniss  entsteht:  es  ist  der  Wust  der 
Geschäfte,  wenn  man  ihn  nicht  ordnet,  das  Unglück,  wenn  man  es 
nicht  abwehrt.  Aus  diesen  Ursachen  kommt  sie  über  uns." 

„Wenn  Jemand  fähig  ist  dieser  zwei  Dinge,  wesswegen  sollte 
man  sich  noch  betrüben?" 

Die  zwei  Dinge  sind :  der  Wust  der  Geschäfte  und  das  Unglück 
nicht  vermeiden. 

„Wenn  wir  nicht  beruhigen  diejenigen  welche  ihrer  fähig, 
welche  Menschen  würden  uns  wohl  folgen?" 

„Von  Scho-sün-piao  von  Lu  lässt  sich  sagen,  dass  er  ihrer 
fähig:  ich  bitte  ihm  zu  verzeihen,  um  zu  beruhigen  diejenigen 
welche  ihrer  fähig  sind." 

„Du  hältst  die  Zusammenkunft  und  verzeihst  denjenigen  welche 
schuldig.  Du  belohnst  ferner  diejenigen  welche  weise.  Wer  unter 
den  Fürsten  des  Reichs  hätte  hieran  keine  Freude?  Sie  werden   ihre 


,r)22  Dr.  Pfi  zmaie  r. 

Hoffnung  setzen  auf  Tsu  und  sich  ihm  anschliessen.  Sie  werden 
blicken  auf  das  Ferne,  als  wäre  es  das  Nahe." 

„Die  Städte  an  den  Grenzen  sind  einmal  auf  dieser  Seite,  das 
andere  Mal  auf  jener.  Wie  könnte  es  hier  eine  Beständigkeit  geben?" 

„Man  kümmert  sich  um  das  Grosse  und  setzt  zurück  das  Kleine: 
hierdurch  eignet  man  sich  zu  einem  Herren  des  Vertrages.  Wozu 
solltest  du  auch  diese  Dinge  brauchen?" 

Ein  Reich  welches  die  Oberherrschaft  ausübt,  hat  nicht  nöthig, 
bei  Kleinigkeiten,  wie  dieser  Streit  um  eine  Grenzstadt,  als  Schieds- 
richter aufzutreten. 

„Einfälle  an  den  Grenzen:  wo  ist  das  Reich,  in  welchem  diese 
nicht  vorkämen?  Von  denjenigen  welche  die  Herren  des  ordnen- 
den Vertrages,  wer  ist  im  Stande,  hier  zu  schlichten  ?" 

„Wenn  U  oder  Po  eine  Rlösse  geben,  wie  wären  die  Leiter  der 
Geschäfte  in  Tsu  fähig,  Rücksicht  zu  nehmen  auf  den  Vertrag?" 

Das  Reich  ^-  U  lag  im  Norden,  das  Reich  tt^fe  Po  im  Süden 
von  Tsu.  Dem  Friedensschlüsse  von  Sung  zum  Trotz  würde  Tsu, 
wenn  es  könnte ,   Gebietsteile  dieser  beiden  Reiche  an  sich  reissen. 

„Dass  Tsu  nichts  wissen  möge  von  den  Grenzangelegenheiten 
des  Reiches  Khiü,  die  Reichsfürsten  hiermit  nicht  behelligt  werden, 
ist  dieses  nicht  auch  möglich?" 

„Der  Streit  zwischen  Khiü  und  Lu  um  Yün  schreibt  sich  her 
von  den  frühesten  Tagen.  Wenn  er  nur  keinen  grossen  Eintrag  thut 
den  Landesgöttern,  so  brauchen  wir  nicht  einzuschreiten." 

„Wenn  wir  die  Behelligung  fernhalten,  die  Guten  mit  Gross- 
muth  behandeln,  so  werden  Alle  wetteifern  in  Thätigkeit.  Mögest  du 
dieses  wohl  bedenken." 

„Er  wiederholte  seine  Bitte  nachdrücklich." 

„Die  Menschen  von  Tsu  gewährten  es.  Hierauf  verzieh  man 
Scho-sün." 


Der  Fürst  Lieu-ting  kommt  zu  dem  Schlüsse,  dass  Wa-tse  nicht  das 

Jahr  erreichen  werde. 

„Der  Himmelskönig  hiess  den  Fürsten  Lieu-ting  bewillkommnen 
Tschao-meng  an  dem  Ying." 

Tschao-meng,  d.  i.  Tschao-wu-tse  kehrte  von  der  Versammlung 
in  Kue  nach  Hause.    Als  er  zu  dem  Gebiete  des  Flusses  fi|j  Ying 


n- 


Notizen  aus  der  Geschichte  <ler  chinesischen  Reiche  etc. 


o23 


gelangte,   entsandte   König  King,   der  Himmelssohn,  einen  der  drei 
Regierungsvorsteher  von  Tscheu,  den  Fürsten  ^     ^lj   Lieu-ting, 

auch  genannt  W      J^l]   Lieu-hia,  um  ihn  zu  bewillkommnen. 

„Sie  bezogen  ein  Haus  im  Norden  des  Lo." 

Der  Mj:  Lo  war  ein  Fluss  des  Reiches  Tscheu. 

„Lieu-tse  sprach:  Wie  herrlich  die  Verdienste  Yii's!  Seine 
glänzende  Tugend  dringt  in  die  Ferne." 

Hp-  J^ll  Lieu-tse  ist  Lieu-ting.  Rei  dem  Anblick  des  Flusses 
Lo  denkt  er  an  die  Verdienste  Yii's,  der  diesem  Flusse  seinen  Lauf 
gegeben.  Die  Ferne  heissen  die  späteren  Geschlechter  welche  dieser 
Wohlthat  theilhaftig  werden. 

„Wenn  Yü  nicht  gewesen,  hätten  wir  wohl  unsere  Gestalt 
bekommen?" 

Ohne  Yü  gebe  es  in  diesem  Lande  nur  Schildkröten ,  es  hätte 
keine  Menschen  mehr  hervorgebracht. 

„Ich  und  du,  wir  tragen  Mützen  und  Kleider  mit  bläulichen 
Säumen,  damit  wir  regieren  das  Volk  und  überwachen  die  Fürsten 
des  Reichs.  Dieses  bewirkte  die  Kraft  Yii's." 

„Warum  setzest  du  nicht  auch  fort  in  die  Ferne  die  Verdienste 
Yii's  und  bist  ein  grosses  Schirmdach  für  das  Volk?" 

„Jener  antwortete :  Ich,  der  alte  Mann,  fürchte  verwickelt  zu 
werden  in  Schuld.  Wie  wäre  ich  im  Stande  mich  zu  kümmern  um 
das  Ferne?" 

„Menschen  meines  Gleichen  begnügen  sich  mit  ihrem  Gehalte. 
Am  Morgen  denke  ich  nicht  an  den  Abend:  wie  könnte  ich  denken 
an  die  Dauer?" 

„Lieu-tse  kehrte  zurück  und  erzählte  es  dem  Könige." 

„Er  sprach:  Was  das  Sprichwort  sagt:  „„Im  Alter  sei  man 
weise,  und  das  hohe  Alter  wird  uns  zu  Theil"",  dieses  lässt  sich 
anwenden  auf  Tschao-meng." 

„Er  ist  der  erste  Reichsminister  in  Tsin  und  ist  vorgesetzt  den 
Fürsten  des  Reichs,  aber  er  stellt  sich  in  die  Reihe  der  kleinen 
Reamten." 

Er  thut  das  Letztere,  indem  er  sich  mit  seinem  Gehalte 
begnügt. 

„Am  Morgen  denkt  er  nicht  an  den  Abend:  er  verlässt  die 
Götter  und  die  Menschen." 


524  Dl-  Pfizmaier. 

Indem  er  nicht  für  den  Abend  sorgt,  denkt  er  nicht  an  die 
fernen  Geschlechter  und  ist  kein  Schirmdach  für  das  Volk.  Das  Volk 
ist  der  Hauswirth  der  Götter.  Indem  er  also  das  Volk  verlässt,  ver- 
lässt  er  auch  die  Götter. 

„Die  Götter  zürnen ,  das  Volk  fällt  von  ihm  ab :  wie  könnte  er 
wohl  lange  bestehen?  Tschao-meng  wird  kein  zweites  Jahr  erreichen." 

„Wenn  die  Götter  zürnen,  so  trinken  sie  nicht  das  Opfer.  Wenn 
das  Volk  abfällt,  so  besorgt  es  nicht  seine  Angelegenheiten." 

„Opfer  und  Angelegenheiten  werden  ausser  Acht  gelassen:  wie 
sollte  er  noch  übrig  bleiben?" 

Tschao-wu  starb  wirklich  im  Winter  dieses  Jahres. 

Tse-tschan  vertreibt  Tse-nan. 

„.Die  Schwester  Siü-ngu-fan's  von  Tsching  zeichnete  sich  durch 
Schönheit  aus." 

4M    35.  ^7^    Siü-ngu-fan,  ein  Grosser  des  Reiches  Tsching. 

„Der  Fürstenenkel  Tsu  freite  um  sie." 

Der  Enkel  des  Fürsten  Mo  von  Tsching  führte  den  Namen 
Ö  Tsu.    Sein  Jünglingsname  ist    Fjq    -p    Tse-nan." 

„Auch  der  Fürstenenkel  He  Hess  mit  Gewalt  einen  Vogel 
übergeben." 

Der  Fürstenenkel  0||  He  führte  den  Jünglingsnamen  4!Zf  Hp 
Tse-si.  Er  trat  ebenfalls  als  Freier  auf,  indem  erSiü-ngu-han  zwang, 
eine  wilde  Gans  anzunehmen. 

„Fan  fürchtete  sieb  und  meldete  es  Tse-tschan." 


411 


Fan  ist  Siü-ngu-fan's  Name. 


„Tse-tschan  sprach:  Es  ist,  weil  das  Reich  ohne  Regierung. 
Du  brauchst  dich  desswegen  nicht  zu  kümmern.  Sie  werden  nur 
thun,  was  du  wünschest." 

„Fan  wendete  sich  an  die  zwei  Söhne.  Er  bat  sie,  die  Tochter 
wählen  zu  lassen.  Beide  willigten  ein." 

„Tse-sf  erschien  in  reichem  Schmucke,  breitete  die  Geschenke 
aus  und  entfernte  sich." 

„Tse-nan  erschien  in  Kriegskleidern.  Er  seboss  einen  Pfeil  nach 
rechts  und  links,  sprang  auf  den  Wagen  und  entfernte  sich." 

„Die  Tochter  hatte  sie  von  dem  Gemache  gesehen  und  sprach: 
Tse-si  ist  wirklich  schön,  aber  Tse-nan  ist  ein  Mann.    Der  Mann  ein 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  ö4Ö 

Mann,  das  Weib  ein  Weib:  dieses  nennt  man  die  Übereinstim- 
mung." 

„Hierauf  gelangte  sie  in  die  Familie  Tse-nan's." 

„Tse-sf  zürnte.  Er  nahm  ein  Bogengehäuse,  kleidete  sich  in  den 
Panzer  und  besuchte  Tse-nan.  Er  wollte  ihn  tödten  und  dessen  Gattinn 
rauben." 

„Tse-nan  wusste  dieses.  Er  ergriff  eine  Lanze  und  vertrieb  ihn. 
Als  sie  zu  einem  Durchgang  kamen ,  stiess  er  ihn  mit  der  Lanze. 
Tse-si  ward  verwundet  und  kehrte  zurück." 

„Er  meldete  es  den  Grossen  des  Reichs  und  sprach.  Ich  be- 
suchte ihn  in  Freundschaft.  Ich  wusste  nicht,  dass  er  eine  andere 
Absiebt  habe.  Desswegen  wurde  ich  verwundet." 

„Die  Grossen  des  Reichs  pflogen  darüber  Rath." 

„Tse-tschan  sprach:  Das  Recht  ist  auf  beiden  Seiten  gleich.  Hat 
aber  die  Schuld  der  Jüngere  und  Niedere,  so  ist  die  Schuld  bei  Tsu." 

Aus  diesem  Ausspruche  geht  hervor,  dass,  wie  schon  oben  an- 
gedeutet worden,  die  Regierung  des  Reiches  Tsching  schwach  war 
und  Tse-tschan  nicht  die  Macht  zu  strafen  besass. 

„Hierauf  Hess  er  Tse-nan  fest  nehmen  und  gab  ihm  einen 
Verweis." 

„Er  sprach:  Der  grossen  Gebote  in  den  Reichen  sind  fünf:  du 
hast  sie  sämmtlieh  übertreten." 

„Man  fürchte  die  Macht  des  Landesherrn.  Man  gehorche  seiner 
Regierung.  Man  ehre  die  Höheren.  Man  diene  den  Älteren.  Man 
schütze  die  Verwandten.  Durch  diese  fünf  Dinge  regiert  man  die 
Reiche." 

„Jetzt  ist  der  Landesherr  in  dem  Reiche ,  und  du  machst 
Gebrauch  von  den  Waffen  :  du  fürchtest  nicht  seine  Macht." 

„Du  übertrittst  die  Gesetze  des  Reichs :  du  gehorchst  nicht 
der  Regierung." 

Dieses  that  Tse-nan,  indem  er  Tse-sf  tödten  wollte. 

„Tse-sf  ist  der  höhere  Grosse  des  Reichs.  Du  bist  der  niedere 
Grosse  des  Reichs,  aber  du  hast  dich  vor  ihm  nicht  gedemüthigt:  du 
ehrst  nicht  die  Höheren." 

„Du  bist  der  Jüngere,  und  hast  keine  Scheu:  du  dienest  nicht 
dem  Älteren." 

„Du  verletzest  mit  den  Waffen  deinen  älteren  Vetter:  du 
schätzest  nicht  die  Verwandten." 


526  Dr.   V  fizmaier. 

„Der  Landesherr  iässt  dir  sagen:  Ich  bringe  es  nicht  über  mich 
dich  zu  tödten.  Ich  begnadige  dich  zu  der  Verbannung." 

„Mögest  du  es  dir  angelegen  sein  lassen,  schleunigst  auszu- 
wandern, damit  du  nicht  verdoppelst  deine  Schuld." 

„Er  bestimmte  Tse-nan  zur  Auswanderung." 

Tsc-tschan  von  Tsching  bespricht  die  Krankheit  des  Fürsten  von  Tsin. 

„Der  Fürstenenkel  Kiao  reiste  nach  Tsin,  um  sich  zu  erkundigen. 
Zugleich  fragte  er  wegen  der  Krankheit." 

Der  Fürstenenkel  f^  Kiao  ist  Tse-tschan.  Fürst  Ping  von 
Tsin  war  um  jene  Zeit  erkrankt. 

„Scho-hiang  fragte  ihn  seinerseits  und  sprach:  Unser  Landes- 
herr ist  schwer  erkrankt.  Der  Mann  der  Schildkröte  sagt:  Sche-tschin 
und  Tai-thai  suchen  ihn  heim." 

Durch  das  Brennen  der  Schildkrötenschale  erfuhr  man,  dass 
zwei  Götter  Namens  /'fr  -||-  Sche-tschin  und  JäjA  ^  Tai-thai 
den  Fürsten  mit  einer  Krankheit  gestraft  haben. 

„Die  Geschichtschreiber  kennen  sie  nicht.  Ich  erlaube  mir  zu 
fragen:  was  für  Götter  sind  diese?" 

„Tse-tschan  sprach:  Einst  hatte  das  Geschlecht  Kao-sin  zwei 
Söhne.  Der  ältere  hiess  Ngö-pe,  der  jüngere  hiess  Sche-tschin." 

Kao-sin  ist  der  Kaiser  Ku.  tä  fh^l  Ngö-pe,  der  Name  des 
älteren  Sohnes. 

„Sie  wohnten  in  Kuang-lin." 

i\j\\    Jfllf  Kuang-lin,  der  Name  eines  Gebietes. 

„Sie  konnten  sich  nicht  mit  einander  vertragen.  Täglich  suchten 
sie  hervor  die  Lanzen,   um  einander  zu  bekriegen." 

„Der  nachfolgende  Kaiser  missbilligte  dieses.  Er  versetzte 
Ngö-pe  nach  Schang-khieu." 

Kaiser  Yao  hiess  den  älteren  Sohn  seinen  Wohnsitz   auf  dem 

Gebiete    j^      [tri  Schang-khieu  nehmen. 

„Er  hiess  ihn  vorstehen  dem  grossen  Feuer." 

Ngö-pe  wurde  der  Vorsteher  des  dem  Sternbilde  J||  Schin 
dargebrachten  Opfers.  Dieses  Sternbild  heisst  das  grosse  Feuer  und 
befindet  sich  in  dem  vierten  Zeichen  des  Thierkreises. 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  »>27 

„Die  Menschen  von  Schang  setzten  sieh  daselbst  fest.  Desswegen 
ist  das  grosse  Feuer  das  Sternbild  der  Schang." 

Der  Ahnherr  der  Dynastie  Schang  wurde  mit  Schang-khieu 
belehnt,  worauf  diese  Dynastie  dem  hier  genannten  Sternhilde  opferte. 

„Er  versetzte  Sche-tschin  nach  Ta-hia." 

yg       y^   Ta-hia,  das  ursprüngliche  Gebiet  des  Reiches  Tsin, 

auch    nji     -jp^  Tsin-yang  genannt. 

„Er  hiess  ihn  vorstehen  den  drei  Sternen." 

Sche-tschin  wurde  der  Vorsteher  des  dem  Sternbilde  Jfö  San 
„den  drei  Sternen"  dargebrachten  Opfers.  Dieses  Sternbild  befindet 
sich  in  dem  neunten  Zeichen  des  Thierkreises. 

„Die  Menschen  von  Thang  setzten  sich  daselbst  fest.  Sie  unter- 
warfen sich  und  dienten  den  Hia  und  den  Schang." 

Das  Gebiet  Ta-hia  wurde  das  Reich  P|  Thang,  welches  unter 
den  Dynastien  Hia  und  Schang  durch  eigene  Fürsten  regiert  wurde. 

„Der  Landesherr  ihres  letzten  Geschlechtsalters  hiess  Thang- 
scho-yü." 

Dieser  Jv&  /KU*  p?  Thang -scho-yü  ist  der  letzte  seines 
Hauses  und  ein  anderer,  als  der  gleich  unten  vorkommende  Thang- 
scho-yü,  der  Gründer  des  neuen  Hauses  Thang. 

„Als  Yf-kiang,  die  Gemahlinn  des  Königs  Wu,  mit  Tai-scho 
schwanger  war,  träumte  ihr,  dass  der  Himmelskaiser  zu  ihr  sprach: 
Ich  gebe  deinem  Sohne  den  Namen  Yü.  Ich  werde  ihn  betheilen  mit 
Thang.  Ich  werde  ihn  zugesellen  den  drei  Sternen  und  gedeihen 
lassen  seine  Söhne  und  Enkel." 

Diese  Worte  spricht  der  Gott  des  Himmels,  ifp  ffl  Yi-kiang 
ist  die  Tochter  des  grossen  Fürsten  (Tai-kung)  von  Tsi  und  Gemahlinn 
des  Königs  Wu  von  Tscheu.  /JA?  "^  Tai-scho  (der  grosse  Oheim) 
ist    der    Bruder    des    Königs     Tsching,    als    Landesherr    genannt 

1W-     ^A  Scn°-yu  von  Thang- 

„Als  er  geboren  ward,  enthielt  seine  Hand  eine  Schrift  welche 
besagte:  Yü." 

Die  Linien  seiner  Hand  bildeten  das  Schriftzeichen  Ji&  Yü. 

„Diesem  gemäss  gab  man  ihm  den  Namen." 

„Hierauf  vernichteteKönig  Tsching  das  Reich  Thang  und  belehnte 
Tai-scho.    Desswegen  sind  die  drei  Sterne  das  Sternbild  von  Tsin." 


528  Dr-  Pttzmaier. 

Der  Sohn  Scho-yü's  verwandelte  den  Namen  des  Reiches  Thang 
in  Tsin.  Da  das  Reich  Tsin  aus  dem  Reiche  Sche-tschin's  hervor- 
gegangen, so  sollte  den  drei  Sternen  eigentlich  von  Tsin  geopfert 

werden. 

„Betrachtet  man  es  von  dieser  Seite,  so  ist  Sche-tschin  der 
Gott  der  drei  Sterne." 

Dieses  die  Aufklärung  über  den  ersten  der  zwei  Götter,  der  zu 
Folge  Sche-tschin,  ein  in  Tsin  einheimischer  Gott,  der  Vorsteher 
des  für  die  drei  Sterne  bestimmten  Opfers.  Auf  den  Himmelskarten 
steht  in  dem  Zeichen  |+J  Schin,  dem  neunten  des  Thierkreises,  das 
Bild  der  drei  Sterne,  diesem  zunächst  das  Sternbild  Sche-tschin. 

„Einst  hatte  das  Geschlecht  Kin-thien  einen  Abkömmling  Namens 

Moei." 

Kin-thien  ist  der  Kaiser  Schao-hao.  Einer  seiner  Nachkommen 

führte  den  Namen  Wjt  Moei. 

„Er  wurde  der  Vorsteher  der  bläulichen  Tiefen." 

Moei  war  die  höchste  der  den  Gewässern  vorgesetzten  Obrig- 
keiten. 

„Er  ging  voran  Yün-ke  und  Tai-thai." 

Von  den  zwei  Söhnen  Moei's  hiess  der  ältere  ~k$L  Tj*  Yün-ke, 
der  jüngere  Tai-thai. 

„Tpi-thai  war  im  Stande  zu  übernehmen  dessen  Amt." 

Dieser  Sohn  führte  das  Amt  des  Vaters  fort. 

„Er  brachte  in  Lauf  die  Flüsse  Fen  und  Thao." 

Yjrf*  Fen  und  ^Jk  Thao  Messen    zwei   Flüsse    des  späteren 

Reiches  Tsin. 

„Er  dämmte  die  grossen  Sümpfe  und  Hess  zurückbleiben  das 
Land  Tai-yuen." 

[i3      ~^r  Tai-yuen  (die  grosse  Ebene)  ein  Gebiet  des  späteren 

Tsin-yang. 

„Der  Kaiser  benützte  seine  vortrefflichen  Eigenschaften  und 
belehnte  ihn  mit  dem  Flusse  Fen." 

Der  Kaiser  Tschuen-hiu  belehnte  Tai-thai  mit  dem  Lande  des 
oben  genannten  Flusses  Fen. 

„Schin,  Sse,  Jao  und  Hoang  bewahrten  in  der  That  dessen 
Opfer. " 


Notizen  aus  der  Geschichte  «1er  chinesischen  Reiche  etc.  5<dd 

Die  vier  Reiche  j/J^Q  Schin,  jjjj[  Sse,  j§=Jao  und  §  Hoang 
wurden  von  den  Nachkommen  Tai-tlnus  beherrscht,  welche  so  wie 
dieser  dem  Flusse  Fen  opferten. 

„Jetzt  ist  Tsin  der  Vorsteher  des  Fen,  und  es  hat  jene  ver- 
nichtet." 

Das  Reich  Tsin  besitzt  jetzt  dasGeliiet  des  FlussesFen,  nachdem 
es  die  vier  genannten  Reiche  ihrer  Unabhängigkeit  berauht. 

„Betrachtet  man  es  von  dieser  Seite,  so  ist  Tai-thai  der  Gott 
des  Flusses  Fen." 

Dieses  die  Aufklärung  über  den  letzteren  der  zwei  Götter,  der 
zu  Folge  Tai-thai,  ein  ebenfalls  in  Tsin  einheimischer  Gott,  der 
Vorsteher  des  für  den  Fluss  Fen  bestimmten  Opfers. 

„Jedoch  diese  zwei  Götter  haben  nichts  zu  thun  mit  dem  Leibe 
des  Landesherrn." 

„Sind  es  Götter  der  Berge  und  Flüsse,  so  erscheinen  die  Land- 
plagen der  Überschwemmung,  der  Dürre,  der  Pest  und  der  Seuchen. 
In  diesem  Falle  bringt  man  ihnen  das  Opfer." 

Die  Heimsuchung  solcher  Götter  hat  die  hier  genannten  Übel 
zur  Folge.  Man  legt  dann  Seide  und  Schilfrohr  nieder,  baut  einen 
Tempel  und  bittet  um  die  Abwendung  des  Übels. 

„Sind  es  Götter  der  Sonne,  des  Mondes  und  der  Sterne,  so 
kommen  Schnee,  Reif,  Wind  und  Regen  zur  Unzeit.  In  diesem  Falle 
bringt  man  ihnen  das  Opfer." 

Das  Opfer  ist  dasselbe,  wie  bei  den  Göttern  der  Berge  und 
Flüsse. 

„Was  den  Leib  des  Landesherrn  betrifft ,  so  kommen  auch  in 
Betracht  Ausgehen  und  Heimkehren,  Speise  und  Trank,  Kummer  und 
Freude.  Was  sollten  die  Götter  der  Berge,  der  Flüsse  und  der 
Gestirne  noch  bewirken  ?" 

Tse-tschan  meint,  dass  die  Krankheit  des  Fürsten  von  Tsin  haupt- 
sächlich in  dessen  ungeregelter  Lebensweise  ihren  Grund  habe. 

„Ich  Kiao  habe  es  gehört:  Der  weise  Herrscher  besitzt  vier 
Tageszeiten." 

„Am  Morgen  hört  er  die  Meldungen  in  Sachen  der  Regierung. 
Am  Mittag  befasst  er  sich  mit  Nachforschungen.  Am  Abend  verfertigt 
er  die  Erlässe.  In  der  Nacht  gönnt  er  dem  Leib  Ruhe." 

„Durch  dieses  beschränkt  er  auf  ein  Mass  und  bringt  in  Umlauf 
seine  Lebensgeister.  Er  lässt  es  nicht  zu,  dass  etwas  sich  verstopfe, 


530  Dr.  Pfizmaier. 

sich  verschliesse,  sich  ansammle  oder  stocke,  wodurch  blossgelegt 
würde  sein  Leih." 

Wenn  die  Lebensgeister  nicht  in  Umlauf  gebracht  werden,  so 
geschieht  hierdurch  der  Ernährung  Eintrag,  die  Rippen  und  andere 
Knochen  des  Körpers  kommen  in  Folge  der  Abmagerung  zum  Vor- 
schein. 

„Wenn  dieses  Herz  nicht  munter,  so  bringt  es  Verwirrung  in 
die  hundert  Ordnungen." 

„Geschieht  es  jetzt  nicht,  dass  er  die  vier  Tageszeiten  macht  zu 
einer  einzigen?  Hierdurch  ist  seine  Krankheit  entstanden." 

„leb  Kiao  habe  ferner  gehört:  Der  innere  Palast  hat  nichts  zu 
thun  mit  den  Familien  gleichen  Namens.  Sie  bewirken  Verküm- 
merung." 

Der  Landesherr  soll  keine  Gemahlinnen  nehmen,  welche  mit  ihm 
den  gleichen  Familiennamen  führen. 

„Ihre  Neigung  hat  sich  früher  schon  erschöpft.  Sie  erzeugen 
dann  wechselseitig  Krankheiten.  Darum  hat  ein  weiser  Herrscher  vor 
diesem  Abscheu." 

Personen  von  gleichem  Familiennamen  empfinden  ohnedies  zu 
einander  grosse  Neigung.  Wenn  sie  sich  noch  mit  einander  vermählen, 
so  entsteht  ein  Übermass  dieser  Neigung,  was  Krankheiten  und 
einen  frühen  Tod  zur  Folge  hat. 

„Desswegen  heisst  es  in  den  Denkwürdigkeiten:  Wenn  man  eine 
Nebengemablinn  kauft  und  nicht  weiss  ihren  Familiennamen,  so  brennt 
man  die  Schildkrötenschale." 

Wenn  man  in  diesem  Falle  ein  glückliches  Ergebniss  erhält,  so 
hat  sie  einen  fremden  Familiennamen. 

„Dass  diese  zwei  Dinge  vermieden  werden,  war  ein  Gegenstand 
der  Sorgfalt  für  die  Alten." 

Die  zwei  Dinge  sind  die  Vermengung  der  vier  Tageszeiten  und 
die  Vermählungen  zwischen  Personen  mit  gleichem  Familiennamen. 

„Die  Unterscheidung  der  Familiennamen  bei  Männern  und 
Weibern  bildet  einen  grossen  Abschnitt  der  Gebräuche." 

„Jetzt  hat  euer  Landesherr  in  dem  inneren  Palaste  wirklich 
vier  Töchter  der  Familie  Ki :  wäre  wohl  dieses  nicht  die  Schuld?" 

Die  Fürsten  von  Tsin  gehörten  ebenfalls  zu  der  Familie  f/E  Ki. 

„Wenn  die  Ursache  diese  beiden  Dinge,  so  ist  es  nicht  möglich 
ihn  zu  heilen." 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  1)31 

„Wenn  die  Töchter  der  Familie  Ki  in  Abschlag  kämen,  so  wäre 
es  noch  immer  möglich.  Wo  nicht,  so  wird  er  die  Krankheit  gewiss 
zunehmen  lassen." 

„Der  Fürst  von  Tsin  hörte  die  Worte  Tse-tschan"s  und  sprach  : 
Er  ist  ein  Weiser,  der  sich  um  die  Sache  annimmt." 

„Er  beschenkte  ihn  reichlich." 

Der  Arzt  Ho  bespricht  die  Krankhnl  des  Pursten  von  Tsin. 

„Der  Fürst  von  Tsin  begehrte  einen  Arzt  von  Thsin.  Der  Fürst 
von  Thsin  entsandte  den  Arzt  Ho,  damit  er  sehe,  was  ihm  fehle." 

T^P  Ho  ist  der  kleine  Name  des  Arztes. 

„Dieser  sprach:  Die  Krankheit  ist  unheilbar.  Sie  entsteht, 
indem  man  naht  dem  inneren  Hause  des  Weibes,  eine  Krankheit 
gleich  dem  Wurmfrass." 

„Sie  stammt  nicht  von  den  Dämonen,  nicht  von  der  Nahrung. 
Es  ist  Verwirrung  mit  Verlust  des  Verstandes.  Der  vortreffliche 
Minister  wird  sterben.  Der  Befehl  des  Himmels  lautet  nicht  günstig." 

„Der  Fürst  sprach:  Darf  man  denn  dem  Weibe  nicht  nahen?" 

„Jener  antwortete:  Man  bringe  es  auf  ein  Mass.  Die  Musik 
der  früheren  Könige  brachte  hierdurch  auf  ein  Mass  die  hundert 
Angelegenheiten.    Darum  gibt  es  die  fünf  Masse." 

Die  fünf  Masse  sind  die  fünf  Töne  der  Musik. 

„Langsamkeit  und  Geschwindigkeit,  Anfang  und  Ende  passen 
zu  einander.  Von  den  mittleren  Tönen  steigt  man  abwärts." 

Wenn  die  mittleren  Töne  bereits  gespielt  worden,  so  geht  das 
Musikstück  zu  Ende. 

„Nachdem  man  fünf  Töne  abwärts  gestiegen ,  rührt  man  nicht 
mehr  die  Saiten." 

„Es  gibt  zwar  ausschweifende  Töne  welche  die  Hand  ermü- 
den. Sie  überwuchern  das  Herz  und  stopfen  das  Ohr  voll.  Sie 
machen  vergessen  Gleichmass  und  Einklang.  Der  weise  Herrscher 
hört  diese  nicht  an." 

„Bei  den  Gegenständen  ist  es  dasselbe.  Gelangt  man  zur  Ermü- 
dung, so  gibt  man  es  auf.  Man  gibt  keinen  Anlass  zur  Entstehung 
von  Krankheiten." 

„Der  Weise  beschäftigt  sich  mit  Laute  und  Cither  wegen  der 
Angemessenheit  und  des  Masses ,  nicht  aber  um  sein  Herz  überwu- 
chern zu  lassen." 

Sitzb.  d.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  III.  Hfl.  35 


532  Dr-   Pfizmaier. 

„Der  Himmel  besitzt  sechs  Seelen.  Sie  steigen  hernieder  und 
bringen  hervor  die  fünf  Arten  des  Geschmacks." 

Diese  sechs  Seelen  werden  gleich  unten  verzeichnet.  Die  fünf 
Arten  des  Gescbmacks  entsprechen  den  fünf  Grundstoffen.  Der 
Geschmack  des  Wassers  ist  salzig,  der  Geschmack  des  Feuers  bitter, 
der  Geschmack  des  Holzes  sauer,  der  Geschmack  des  Metalls  scharf, 
der  Geschmack  der  Erde  süss. 

„Diese  erschliessen  sich  und  bewirken  die  fünf  Farben." 

Die  Farbe  des  Salzigen  ist  schwarz,  die  des  Bitteren  roth,  die 
des  Saueren  blau,  die  des  Scharfen  weiss,  die  des  Süssen  gelb. 

„Diese  bestätigen  sich  und  bewirken  die  fünf  Töne." 

Unter  den  fünf  Tönen  der  Tonleiter  ist  die  schwarze  Farbe  der 
Ton  Yü,  die  rothe  Farbe  der  Ton  Tschhing,  die  grüne  Farbe  der 
Ton  Kio,  die  weisse  Farbe  der  Ton  Schang,  die  gelbe  Farbe  der 
Ton  Kung. 

„Werden  sie  ausschweifend,  so  bringen  sie  hervor  sechs  Arten 
von  Krankheiten." 

„Die  sechs  Seelen  heissen:  der  Urstoff  der  Finsterniss ,  der 
Urstoff  des  Lichts ,  Wind,  Regen,  Nacht  und  Tageshelle." 

„Vertheilt  bewirken  sie  die  vier  Jahreszeiten.  Geordnet  bewirken 
sie  die  fünf  Masse." 

Die  vier  Jahreszeiten  bringen  in  ihrer  Ordnung  die  Masse  der 
fünf  Grundstoffe  hervor.  Der  Frühling  ist  dem  Holze  vorgesetzt,  der 
Sommer  dem  Feuer,  der  Herbst  dem  Metall,  der  Winter  dem  Was- 
ser, indem  einem  jeden  dieser  Grundstoffe  zweiundsiebenzig  Tage 
zugetheilt  werden.  Die  Erde  beherrscht  von  einer  jeden  der  vier 
Jahreszeiten  achtzehn  Tage,  was  im  Ganzen  ebenfalls  zweiund- 
siebenzig Tage  beträgt. 

„Überschreiten  sie  das  Mass ,  so  bewirken  sie  Unglück  in  der 
Natur." 

„Ist  der  Urstoff  der  Finsterniss  ausschweifend,  so  entstehen 
Krankheiten  der  Kälte." 

„Ist  der  Urstoff  des  Lichtes  ausschweifend,  so  entstehen  Krank- 
heiten der  Hitze." 

„Ist  der  Wind  ausschweifend ,  so  entstehen  Krankheiten  der 
Hände  und  Füsse." 

„Ist  der  Regen  ausschweifend,  so  entstehen  Krankheiten  des 
Bauches." 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  533 

„Ist  die  Nacht  ausschweifend,  so  entstellen  Krankheiten  der 
Verwirrung." 

Die  Nacht  ist  für  die  Ruhe  bestimmt.  Bei  zu  häufigem  Umgang 
mit  Weihern  bringt  (nach  der  oben  gebrauchten  Ausdrucksweise) 
der  Wurmfrass  Verwirrung  über  die  Gedanken. 

„Ist  die  Tageshelle  ausschweifend,  so  entstehen  Krankheiten 
des  Herzens." 

Der  Tag  ist  für  die  Verrichtung  der  Geschäfte  und  zum  Nach- 
denken bestimmt.  Eine  übermässige  Anstrengung  in  dieser  Hinsicht 
erschöpft  das  Herz. 

„Das  Weib  ist  ein  Geschöpf  des  Urstoffes  des  Lichts  und  ihre 
Zeit  ist  die  Nacht." 

Weil  das  Weib  dem  Manne  gewöhnlich  folgt,  ist  sie  ein 
Wesen  des  Lichtprincips.  Ihre  Zeit  ist  die  Nacht,  weil  der  Umgang 
mit  ihr  in  der  Nacht  zu  geschehen  pflegt. 

„Findet  bei  ihr  Ausschweifung  Statt,  so  bringt  sie  hervor  innere 
Hitze  und  die  Krankheit  der  Verwirrung  durch  den  Wurmfrass. " 

Nach  dem  Obigen  erzeugt  der  Urstoff  des  Lichts,  wenn  er  das 
Mass  überschreitet,  Krankheiten  der  Hitze,  die  Nacht  im  Übermasse 
erzeugt  Krankheiten  der  Verwirrung. 

„Jetzt  beobachtest  du,  o  Herr,  kein  Mass  und  keine  Zeit:  konn- 
test du  anders,   als  in  diesen  Zustand  gerathen?" 

„Er  trat  hinaus  und  brachte  die  Meldung  Tschao-meng." 

„Tschao-meng  sprach :  Wen  verstehst  du  unter  dem  vortreff- 
lichen Minister?" 

„Jener  antwortete:   Du,  o  Gebieter,  bist  damit  gemeint." 

„Du,  o  Gebieter,  stehst  zur  Seite  in  der  Regierung  des  Rei- 
ches Tsin  bis  zu  dem  heutigen  Tag  acht  Jahre.  In  dem  Reiche  Tsin 
ist  keine  Empörung.  Unter  den  Reichsfürsten  ist  keine  Abtrünnigkeit. 
Man  kann  dich  wohl  den  Vortrefflichen  nennen." 

„Ich  Ho  habe  es  gehört:  Die  grossen  Minister  der  Reiche 
rechnen  sich  zur  Ehre  ihr  vollkommenes  Glück,  sie  unterziehen  sich 
ihren  grossen  Pflichten." 

„Wenn  Unglück  hereinbricht  und  sie  nicht  im  Stande  sind  es  zu 
ändern,  so  müssen  sie  auf  sich  nehmen  das  Verderben." 

„Jetzt  ist  euer  Landesherr  gelangt  zur  Ausschweifung,  und  hat 
sich  zugezogen  eine  Krankheit.  Er  wird  nicht  fähig  sein  zu  sorgen 
für  die  Landesgötter:   welches  Unglück  ist  wohl  grösser?" 

35* 


534  Dr-   Pl'iz  maier. 

„Du,  o  Gebieter,  kannst  ihn  nicht  abhalten:  aus  diesem  Grunde 
habe  ich  es  gesagt." 

Desswegen   hatte  der  Arzt  gesagt:  Der  vortreffliche  Minister 

wird  sterben. 

„Tscho-meng  sprach:   Was  nennst  du  den  Wurmfrass?" 
„Jener  antwortete:  Dasjenige  was   entsteht  aus  Versunkenheit 
im  Übermasse,  aus  Verwirrung  und  Unordnung." 

„In  der  Schrift  bilden  Schüssel  und  Insecten  den  Wurmfrass." 
Das  Zeichen  ^%  Ku  mit  den  verschiedenen  Bedeutungen 
„Wurmfrass,  Kornwurm,  Verwirrung,  Geschäfte"  ist  zusammen- 
gesetzt aus  ^  tschung  „Insecten"  und  JUL  Ming  „Schüssel".  Es 
zeigt  somit  eine  Schüssel,  in  welcher  die  schädlichen  Insecten 
gesammelt  werden. 

„Die    fliegenden    Insecten    des   Getreides    sind    ebenfalls    der 
Wurmfrass." 

Es  wird  geglaubt ,  dass  das  lange  aufbewahrte  Getreide  sich  in 
fliegende    Insecten    verwandle,   welche  mit   30*  Ku    „Kornwurm", 


ursprünglich  ebenfalls  Wurmfrass,  bezeichnet  werden. 

„In  den  Verwandlungen  der  Tscheu  ist  es  enthalten:  Das 
Weib  bringt  in  Verwirrung  den  Mann." 

Dieses  unter  dem  Diagramma  „der  Kornwurm",  wobei  dem  Zei- 
chen   $?%   Ku  die  Bedeutung  „Verwirrung"  zukommt. 

„Der  Wind  macht  fallen  auf  den  Bergen." 

Das  Diagramma  zeigt  unten  den  Wind,  oben  den  Berg.  Der 
Wind  weht  an  dem  Fusse  des  Berges  und  bewirkt  den  Fall  der 
Bäume  und  Pflanzen. 

„Dieses  bedeutet  der  Wurmfrass.  Der  Gegenstand  ist  überall 
derselbe." 

Das  für  Wurmfrass  gebrauchte  Zeichen  hat  somit  die  drei  ver- 
schiedenen oben  angegebenen  Bedeutungen. 

„Tschao-meng  sprach:  Du  bist  ein  vortrefflicher  Arzt." 

„Er  behandelte  ihn  mit  Auszeichnung  und  Hess  ihn  heimkehren." 

Ping,  Fürst  von  Tsin,  starb  übrigens  erst  zehn  Jahre  später,  im 
zehnten  Jahre  des  Fürsten  Tschao  von  Lu. 

gl  ^  58,  das  Jahr  des  Cyklus  (S40  v.  Chr.  Geb.).  Zweites 
Begierungsjahr  des  Fürsten  Tschao  von  Lu. 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  o3o 

Dieses  Jahr  ist  das  erste  Regierungsjahr  des  Königs  ^t    Ling 
von  Tsu. 


Scho-kiung  erkundigt  sich  in  Tsin  anter  Beobachtung  der  Gebräuche. 

„Scho-kiung  erkundigte  sich  in  Tsin.  Er  erwiederte  den  Besuch 
Siuen-tse's." 

*7  'J^  Sc,10"k'un^  ist  der  Solin  ^  /h?  Seho-lao's  ,  ein 
Grosser  des  Reiches  Lu.  Han-siuen-tse  war  früher  nach  Lu  gekom- 
men, um  sich  zu  erkundigen. 

„Der  Fürst  von  Tsin  Hess  ihn  an  dem  We'chbilde  der  Stadt 
bewillkommnen." 

Wenn  ein  Gast  des  Landesherrn  erwartet  wurde,  so  wurde  den 
Gebräuchen  gemäss  ein  Reichsminister  entsendet,  um  ihn  an  den 
Grenzen  des  Weichbildes  der  Stadt  zu  bewillkommnen. 

„Jener  lehnte  es  ab  und  sprach:  Mein  Landesherr  hiess  mich 
Kiung  kommen,  um  fortzusetzen  die  alte  Freundschaft." 

„Er  sagte  mit  Bestimmtheit:  Du  darfst  nicht  als  Gast  auftreten." 

Der  Fürst  von  Lu  hatte  Scho-kiung  verboten,  sich  nach  den  für 
einen  Gast  geltenden  Gebräuchen  behandeln  zu  lassen. 

„Wenn  ich  mit  meinem  Auftrage  durchdringe  bei  dem  Leiter 
der  Geschäfte,  so  sind  unsere  niedrigen  Städte  schon  belohnt  genug." 

„Darf  ich  es  wagen,  zu  beschämen  den  Abgesandten  des  Weich- 
bildes ?  Ich  bitte,  es  ablehnen  zu  dürfen." 

„Man  bereitete  für  ihn  ein  Wohngebäude.  Er  lehnte  es  ab  und 
sprach:  Mein  Landesherr  hiess  mich  untergeordneten  Diener  kom- 
men, um  fortzusetzen  die  alte  Freundschaft.  Wenn  die  Freundschaft 
geschlossen,  die  Sendung  erfüllt,  so  ist  dieses  ein  Glück  für  mich. 
Darf  ich  es  wagen,  Schande  zu  bringen  über  das  grosse  Wohn- 
gebäude?" 

„Scho-hiang  sprach:  Tse-scho-tse  kennt  die  Gebräuche!" 

~F  'R^   ~P    Tse-scho-tse  ist  Scho-kiung. 

„Ich  habe  es  gehört:  Redlichkeit  und  Treue  sind  die  Werk- 
zeuge der  Gebräuche.  Erniedrigung  und  Nachgiebigkeit  sind  die 
Vorsteher  der  Gebräuche." 

„In  seiner  Rede  vererass  er  nicht  auf  das  Reich.  Dieses  ist  Red- 
lichkeit und  Treue." 


536  Dr.  Pfizmaier. 

Scho-kiung  hatte  in  seiner  Rede  die  alte  Freundschaft  der  zwei 
Reiche  erwähnt. 

„Er  setzte  voran  das  Reich,  sich  selbst  setzte  er  nach.  Dieses 
ist  Erniedrigung  und  Nachgiebigkeit." 

Scho-kiung  sprach  zuerst  von  dem  Lohn  der  niedrigen  Städte, 
d.  i.  des  Reiches  Lu,  hieraufsagte  er,  was  für  ihn  selbst   ein  Glück. 

„In  einem  Gedichte  heisst  es: 

Wer  Würde  nur,  wer  Anstand  überwacht, 
Der  bat  es  halb  zur  Tugend  schon  gebracht." 

„Der  Meister  steht  schon  nahe  der  Tugend!" 

Ngan-ying  reist    als  Gesandter  nach  Tsin,    nm  zu  bitten  nm  die  Fort- 
setzung des  inneren  Hauses  und  bespricht  die  Regierung  des  Reichs. 

„Der  Fürst  von  Tsi  entsandte  Ngan-ying,  damit  er  bitte  um  die 
Fortsetzung  des  inneren  Hauses  in  Tsin." 

Mm.  tfp  Ngan-ying   ist   Ngan-ping-tschung    von    Tsi,    auch 

Ngan-tse  genannt.  Um  diese  Zeit  war  fjPr:  /JA  Schao-kiang,  die 
Gemahlinn  des  Fürsten  von  Tsin,  eine  Tochter  des  früheren  Fürsten 
von  Tsi  gestorben.  Fürst  King  lässt  hier  den  Fürsten  Ping  von  Tsin 
bitten,  eine  andere  Tochter  des  Hauses  Tsi  zu  wählen. 

„Er  sprach:  Mein  Landesherr  heisst  mich  Ying  sagen:  Ich 
wünsche  zu  dienen  eurem  Landesherrn.  Am  Morgen  und  am  Abend 
ermüde  ich  nicht.  Ich  wollte  darreichen  den  Tribut  ohne  Zeit  zu  ver- 
lieren. Da  ereignete  sich  vieles  Unglück  für  das  Reich  und  das 
Haus,  desswegen  bin  ich  nicht  dazu  gekommen." 

„Die  werthlose  Tochter  des  früheren  Landesherrn  in  erster 
Linie  wurde  bestimmt  für  den  inneren  Palast." 

Schao-kiang  war  die  Tochter  des  früheren  Fürsten  von  Tsi  von 
dessen  Hauptgemahlinn. 

„Sie  erleuchtete  meine  Hoffnungen.  Da  hatte  auch  sie  kein 
Glück.  In  einem  frühen  Alter  erlag  sie  ihrem  Schicksal." 

Schao-kiang  war  in  der  Rlüthe  ihrer  Jahre  gestorben. 

„Ich  habe  meine  Hoffnung  verloren.  Wenn  euer  Landesherr 
nicht  vergessen  sollte  die  Freundschaft  des  früheren  Landesherrn, 
wenn  er  in  Güte  berücksichtigen  wollte  das  Reich  Tsi,  wenn  er  mich 
beschämen  wollte  und  meiner  sich  erbarmen,  wenn  er  Segen  begeh- 
ren wollte  von  dem  grossen  Fürsten,  dem  Fürsten  Ting,  überglänzen 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  53  i 

unsere  niedrigen  Städte,  beruhigen  unsere  Landesgötter,  so  haben 
wir  noch  immer  Töchter  des  früheren  Landesherrn  in  erster  Linie, 
so  wie  Muhmen,  ältere  und  jüngere  Schwestern  welche  er  hinter- 
lassen." 

Der  grosse  Fürst  und  Fürst  Ting  waren    früher    Beherr- 

scher des  Reiches  Tsi. 

„Sie  gleichen  eben  Menschen." 

Da  der  Fürst  von  Tsi  die  Schönheit  dieser  Töchter  nicht  rühmen 
will,  so  vergleicht  er  sie  mit  gewöhnlichen  Menschen. 

„Wenn  euer  Landesherr  nicht  verlassen  wollte  unsere  niedrigen 
Städte,  sondern  prüfen  lassen  wollte  und  wähle1,  damit  bestimmt 
würde  eine  fürstliche  Gemahlinn,  so  setzte  ich  auf  dieses  meine  Hoff- 
nung." 

„Han-siuen-tse  hiess  Scho-hiang  antworten:  Es  ist  der  Wunsch 
unseres  Landesherrn.  Unser  Landesherr  kann  sich  nicht  allein  unter- 
ziehen den  Angelegenheiten  seiner  Landesgötter,  er  hat  noch  keine 
Gefährtinn.  Er  lebt  in  der  Zeit  der  Trauerkleider  und  Trauermützen, 
dess wegen  wagte  er  es  noch  nicht,  darum  zu  bitten." 

Da  Fürst  Ping  sich  eben  in  der  Trauer  um  Schao-kiang  befand, 
so  konnte  er  seine  Angelegenheiten  nicht  selbst  besorgen  und  auch 
nicht  Tsi  durch  eine  Bitte  zuvorkommen. 

„Wenn  euer  Landesherr  mich  beschämte  mit  einem  Befehle,  so 
wäre  keine  Gnade  grösser  als  diese." 

„Wenn  er  in  Güte  berücksichtigt  unsere  niedrigen  Städte,  wenn 
er  beruhigt  das  Reich  Tsin  und  ihm  schenkt  eine  Gebieterinn  des 
inneren  Palastes,  wie  käme  dieses  zu  Gute  mir  allein?  Sämmtliche 
Minister  würden  in  derThat  theilhaftig  seiner  Wohlthat.  VonThang- 
scho  abwärts  würden  Alle  in  der  That  es  schätzen  und  sich  Glück 
wünschen." 

Die  Geister  der  früheren  Landesherren  von  Tsin,  deren  erster 
Thang-scho  gewesen,  würden  hierüber  ihre  Freude  bezeugen. 

„Nachdem  die  Vermählung  zu  Stande  gekommen,  empfing  Ngan- 
tse  die  Ehrenbezeugungen." 

Für  Ngan-tse  wurde  die  einem  Gaste  zukommende  Festlichkeit 
veranstaltet. 

„Scho-hiang  folgte  ihm  zu  dem  Feste.  Sie  sprachen  miteinander." 

Scho-hiang  machte  bei  diesem  Feste  den  Wirth. 

„Scho-hiang  sprach:  Wie  steht  es  um  das  Reich  Tsi?" 


538  Dr-  Pfizmaier. 

„Ngan-tse  sprach:  Dieses  ist  sein  letztes  Geschlechtsalter.  Ich 
habe  sonst  keine  Kunde." 

„Tsi  gehört  bereits  dem  Geschlechte  Tschin.  Der  Fürst  ver- 
lässt    sein  Volk  und   heisst  es  sich   unterwerfen   dem   Geschlechte 

Tschin." 

Der  Prinz  King-tschung  von  Tschin  war  im  zweiundzwanzig- 
sten Jahre  des  Fürsten  Tschuang  von  Lu  nach  Tsi  geflohen  und 
hatte  daselbst  das  Geschlecht  |K|  Tschin  gegründet.  Diesem 
Geschlechte  wendeten  sich  die  Bewohner  von  Tsi  jetzt  zu,  woraus 
Ngan-ying  erkennt,  dass  die  gegenwärtige  Dynastie  des  Reiches  Tsi 
bald  untergehen  werde. 

„Die  vier  alten  Masse  von  Tsi  sind  eine  Metze,  ein  Viertel,  ein 
Scheffel,  ein  Malter." 

„Vier  Mässchen  bilden  eine  Metze.  Ein  jedes  vervierfacht  sich 
und  steigt  bis  zu  dem  Scheffel.  Zehn  Scheffel   bilden   einen  Malter." 

Nach  dem  in  Tsi  üblichen  Masse  für  Getreide  bildeten  vier 
Mässchen  eine  Metze,  vier  Metzen  ein  Viertel,  vier  Viertel  einen 
Scheffel,  zehn  Scheffel  einen  Malter,  Namen  welche  jedoch  den  chi- 
nesischen j=i  Teu,  |m  Ngeu,  |j£  Fu,  JgJ  Tschung  nur  annä- 
hernd entsprechen. 

„Das  Geschlecht  Tschin  steigt  bei  drei  Massen  immer  um  eines. 
Ein  Malter  ist  daher  schon  gross." 

Nach  dem  Masse  dessen  sich  das  Geschlecht  Tschin  bediente, 
sind  fünf  Mässchen  des  Reiches  Tsi  eine  Metze,  fünf  Metzen  ein  Vier- 
tel, fünf  Viertel  ein  Scheffel.  Ein  Malter  der  übrigens  auch  nur  zehn 
Scheffel  enthielt,  war  daher  im  Verhältnisse  zu  dem  Masse  des  Rei- 
ches Tsi  schon  bedeutend  gross. 

„Mit  dem  Masse  seines  Hauses  beschenkt  es,  jedoch  mit  dem 
Masse  des  Fürsten  nimmt  es  ein." 

„Die  Bäume  des  Gebirges,  welche  auf  den  Markt  kommen,  sind 
nicht  theurer  als  im  Gebirge.  Die  Fische,  die  Seekrebse  und  Austern 
sind  nicht  theurer  als  an  dem  Meere." 

„Das  Volk  theilt  in  drei  Theile  seinen  Verdienst.  Zwei  Theile 
kommen  zu  dem  Fürsten,  jedoch  für  Kleidung  und  Speise  verwendet 
es  einen  einzigen." 

„Was  der  Fürst  sammelt,  fault  und  wird  wurmstichig,  doch  die 
dreierlei  Greise  frieren  und  hungern." 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  Oü" 

Die  Gegenstände  welche  in  den  Vorrathshäusern  des  Fürsten 
vonTsi  aufgespeichert  liegen,  gehen  häufig  zu  Grunde,  während  er  die 
Greise  seines  Reiches  weder  mit  Reis  noch  mit  Kleidungsstoffen 
betheilt.  Die  dreierlei  Greise  sind  nach  Einigen  die  Personen  des 
hohen,  des  mittleren  und  niederen  Alters,  nach  Anderen  sind  es  die 
Greise  aus  dem  Stande  der  Ackersleute,  der  Handwerker  and  Kaufleute. 

„Auf  den  Märkten  des  Reichs  sind  die  gewöhnlichen  Schuhe 
wohlfeil,  die  Schuhe  für  Menschen  ohne  Füsse  sind  theuer." 

Den  Namen  oTfl  Yung,  ursprünglich  „hüpfen",  führte  damals 
in  Tsi  eine  besondere  Art  Schuhe  zum  Gebrauche  für  Personen, 
denen  zur  Strafe  die  Füsse  abgeschnitten  worden  waren.  Dass  diese 
Schuhe  im  Preise  hochstanden,  war  ein  Zeichen,  dass  es  damals  in 
Tsi  viele  Menschen  gab,  welche  diese  Strafe  erlitten  hatten. 

„Die  Menschen  des  Volkes  sind  voll  von  Schmerz,  und  jenes 
lindert  vielleicht  ihren  Schmerz." 

Das  Volk  erwartet  Linderung  seiner  Schmerzen  von  dem  Ge- 
schlecbte  Tschin. 

„Sie  lieben  es  gleich  dem  Vater  und  der  Mutter  und  kehren 
sich  ihm  zu  wie  fliessendes  Wasser.  Sollte  es  auch  nicht  gewinnen 
wollen  das  Volk,  wie  könnte  es  diesem  ausweichen?" 

„Khi-pe,  Tschhe-ping,  Yü-sui  und  Pe-hi,  sie  stehen  zur  Seite 
dem  Fürsten  Hu.  Tai-ki  befindet  sich  bereits  in  Tsi." 

46     &  Khi-pe  itk    jj|~  Tschhe-ping,  J^  |^  Yü-sui  und 

Mv    4M    Pe-hi  waren  Ahnherren  der   Fürsten   von  Tschin.  Fürst 

^ü  Hu  gehörte  zu  den  Nachkommen  dieser  vier  Männer  und  war 

der  erste  Landesherr  des  Reiches  Tschin.  ~hj&  /\^  Tai-ki  ist  die 
Tochter  des  Königs  Wu  von  Tscheu  und  Gemahlinn  des  Fürsten  Hu. 
Ngan-ying  meint,  die  gegenwärtige  Dynastie  Tsi  werde  zu  Grunde 
gehen  und  das  Geschlecht  Tschin  an  ihrer  Stelle  das  Reich  Tsi 
beherrschen.  Die  vier  genannten  Ahnherren  von  Tschin  stehen  ihrem 
Abkömmling,  dem  ersten  Landesherrn  von  Tschin  helfend  zur  Seite, 
und  der  Geist  der  Fürstinn  Tai-ki  befinde  sich  bereits  in  Tsi. 

„Scho-hiang  sprach:  Es  ist  wahr.  Für  das  Haus  unseres  eigenen 
Fürsten  ist  jetzt  ebenfalls  das  letzte  Geschlechtsalter." 

„An  die  Streitwagen  werden  keine  Pferde  gespannt.  Die  Reichs- 
minister  haben  nichts  zu  thun  bei  den  Heeren." 


540  Dr-  Pfizmaier. 

Die  Reichsminister  waren  inTsin  zugleich  Anführer  eines  Heeres. 
Dieselben  haben  jetzt  kein  Heer  zu  befehligen,  woraus  sich  schliessen 
lässt,  dass  Tsin  schwach  ist  und  keine  Feldzüge  unternehmen  kann. 

„Wenn  der  Fürst  in  den  Wagen  steigt,  so  hat  er  keine 
Menschen.  Wenn  die  Sehaaren  sich  in  Reihe  stellen,  so  haben  sie 
keinen  Anführer." 

Der  Fürst  kann  nicht  den  geeigneten  Mann  zum  Wagengenossen 
finden,  die  Kriegsschaaren  von  hundert  Mann  besitzen  keinen  fähigen 
Anführer. 

„Das  gewöhnliche  Volk  ist  erschöpft  und  niedergeschlagen, 
aber  in  dem  Palaste  nimmt  überhand  die  Verschwendung.  Die  auf  den 
Strassen  verhungern,  blicken  aufeinander,  aber  dasBesitzthum  seiner 
Weiber  wird  immer  ansehnlicher." 

„Das  Volk  hört  den  Befehl  des  Fürsten,  als  wollte  es  entrinnen 
den  Räubern  und  den  Feinden." 

„Luan,  Khie,  Siü,  Yuen,  Ku,  Tu,  Khing  und  Pe  sind  gesunken 
und  befinden  sich  unter  den  Schergen  und  Trabanten." 

Die  acht  Familien  Ifl  Luan,  ^R   Khie,  ?3j-  Siü,    JH  Yuen, 

^fij*  Ku,  Äff  Tu,  pst  Khing  und  YP  Pe  gehörten  zu  den  ange- 
sehensten Geschlechtern  des  Reiches  Tsin.  Dieselben  sind  jetzt 
herabgekommen  und  verrichten  die  niedrigsten  Dienste. 

„Die  Regierung  ist  bei  den  Pforten  der  Häuser." 

Die  Regierung  ist  zersplittert  und  unter  den  verschiedenen 
grossen  Häusern  getheilt. 

„Das  Volk  hat  nichts,  woran  es  sich  halten  könnte.  Der  Landes- 
herr bessert  sich  nicht  mit  den  Tagen.  Durch  die  Freude  spricht 
er  Hohn  dem  Kummer." 

„Das  Haus  des  Fürsten  ist  erniedrigt:  wie  könnte  dieses  währen 
durch  Tage?" 

Die  Erniedrigung  des  fürstlichen  Hauses  kann  von  keiner 
langen  Dauer  sein. 

„Die  Inschrift  auf  dem  Dreifusse  der  Verleumdung  lautet:  Wenn 
der  Tag  noch  dunkel,  die  grosse  Klarheit." 

Es  ist  unbekannt,  wer  den  liier  genannten  Dreifuss  gegossen, 
oder  die  Inschrift  verfasst.  Der  Sinn  der  Inschrift  ist:  Der  Herrscher 
über  Menschen  steht  täglich  frühe  auf  und  erleuchtet  hierdurch  auf 
eine  grossartige  Weise  seine  Tugend. 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  O-t  1 

„Die  späteren  Geschlechter  sind  fahrlässiger,  um  wie  viel  mehr 
derjenige  der  sich  nicht  bessert  mit  den  Tauen?  Kann  er  wohl 
lange  bestehen?" 

„Ngan-tse  sprach:   Was  gedenkst  du  zu  thun?" 

„Scho-hiang  sprach  :  Die  fürstlichen  Geschlechter  von  Tsin  sind 
erstorben.  Ich  He  habe  es  gehört:  Wenn  das  Haus  des  Fürsten 
erniedrigt  werden  soll,  so  stürzen  zuerst  die  Linien  und  Geschlechter 
als  Zweige  und  Blatter,  hierauf  folgt  ihnen  der  Fürst  nach." 

E4V  He  ist  Yang-sche-he's,  d.  i.  Scho-hiang's  Name. 

„Meine  Linie  zählte  eilf  Geschlechter,  von  diesen  ist  nur  das 
Geschlecht  Yang-sehe  noch  vorhanden." 

Scho-hiang  gehörte  zu  dem  Geschlechte  "^  +  Yang-sche, 
dessen  Ahnherr  der  Sohn  eines  Fürsten  gewesen.  Die  übrigen  von  dem 
nämlichen  Ahnherrn  abstammenden  Geschlechter  waren  damals  nicht 
mehr  vorhanden.  Welcher  Fürst  jedoch  der  Stifter  dieser  Linie 
gewesen,  ist  unbekannt. 

„Ich  He  besitze  auch  keinen  Sohn.  Das  Haus  des  Fürsten  ist 
gesetzlos,  es  wäre  ein  Glück,  wenn  er  stürbe.  Wie  könnte  er  wohl 
das  Opfer  erhalten?" 

Das  Haus  des  Fürsten  werde  keine  Nachkommen  haben  und  ihm 
könne  von  diesen  nicht  geopfert  werden. 

Pigan-ying  tadelt  die  vielen  Strafen. 

„Vor  diesem  wollte  Fürst  King  das  Haus  Ngan-tse's  umtauschen." 

„Er  sprach :  Dein  Haus  ist  nahe  dem  Markte.  Es  ist  feucht, 
eng,  unruhig  und  staubig,  du  kannst  in  ihm  nicht  wohnen.  Ich  bitte 
dich,  dir  dafür  ein  helles  und  hochgelegenes  gehen  zu  dürfen." 

„Jener  weigerte  sich  und  sprach:  Deine  früheren  Diener, 
o  Herr,  hatten  darin  Platz." 

Die  früheren  Diener  sind  Ngan-tse's  Vorfahren  welche  dieses 
Haus  bewohnten. 

„Ich  bin  nicht  würdig,  ihnen  nachzufolgen.  Es  ist  von  mir  schon 
eine  Anmassung." 

Ngan-tse  hält  es  schon  für  eine  Anmassung,  dass  er  als  Unwür- 
diger das  Haus  seiner  Vorfahren  bewohnt. 

„Auch  indem  ich,  der  kleine  Mensch,  nahe  dem  Markte  bin, 
bekommeich  am  Morgen  und  am  Abend  was  ich  wünsche.    Ich,  der 


542  Dr.  Pfizmaier. 

kleine  Mensch,  ziehe  davon  meinen  Nutzen.   Darf  ich  den  Bewohnern 
der  Strassen  wohl  lästig  fallen?" 

Ngan-tse  verschmäht  es,  ein  Haus  in  einer  Strasse  zu  beziehen. 

„Der  Fürst  lachte  und  sprach:  Da  du  dem  Markte  nahe  wohnst, 
merkst  du  dir  auch  die  Preise?" 

„Jener  antwortete:  Ich  habe  schon  davon  Nutzen  gezogen:  wie 
sollte  ich  sie  mir  nicht  merken?" 

„Der  Fürst  sprach:  Welche  Gegenstände  sind  theuer,  welche 
wohlfeil  ?" 

„Um  diese  Zeit  verhängte  Fürst  King  viele  Strafen,  es  gab  Leute, 
welche  Schuhe  für  Menschen  ohne  Füsse  verkauften.  Desswegen 
antwortete  jener:  Die  Schuhe  für  Menschen  ohne  Füsse  sind  theuer, 
die  gewöhnlichen  Schuhe  sind  wohlfeil." 

„Er  hatte  dieses  schon  dem  Landesherrn  gesagt,  desswegen 
erwähnte  er  es  in  seiner  Unterredung  mit  Scho-hiang." 

Die  Unterredung  Ngan-tse's  mit  Scho-hiang  steht  in  dem  vorher- 
gehenden Abschnitte. 

„Fürst  King  verminderte  aus  diesem  Grunde  die  Strafen." 

„Die  Weisen  sprachen:  Die  Worte  der  menschlichen  Menschen, 
wie  ausgedehnt  ihr  Nutzen!" 

„Ngan-tse  sprach  ein  einziges  Wort,  und  der  Fürst  von  Tsi 
verminderte  die  Strafen." 

„In  einem  Gedichte  heisst  es: 

Der  Weise  sich  zum  Werk  des  Segens  wende, 
Dann  nimmt  das  Unglück  wohl  ein  schnelles  Ende." 

„Dieses  lässt  sich  von  ihm  sagen." 

„Als  Ngan-tse  sich  nach  Tsin  begab,  bestimmte  ihm  der  Fürst 
ein  anderes  Haus.  Als  er  zurückkehrte,  war  es  schon  vollendet." 

„Nachdem  er  sich  bedankt,  riss  er  es  nieder  und  baute  die 
Häuser  der  Strasse  gerade  so,  wie  sie  früher  gewesen.  Hierauf  liess 
er  sie  durch  den  Schaffner  des  Hauses  zurückgeben." 

Fürst  King  hatte  die  Häuser  der  Strasse  niederreissen  lassen, 
um  für  das  Haus  Ngan-tse's  Platz  zu  gewinnen.  Nachdem  dieser  sein 
eigenes  Haus  zerstört,  liess  er  die  Häuser  des  Volkes  wieder  auf- 
bauen und  gab  sie  ihren  früheren  Eigenthümern  zurück. 

„Auch  berief  er  sich  auf  ein  Sprichwort:  Nicht  wegen  des 
Hauses  brennt  man  die  Schildkrötenschale,  nur  wegen  der  Nachbarn 
brennt  man  die  Schildkrötenschale." 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  543 

Der  Sinn  des  Sprichwortes  ist:  Die  Menschen  suchen  nicht 
durch  Wahrsagung  zu  erfahren ,  oh  ihr  Haus  glückbringend  sein 
werde,  sondern  ob  sie  daselbst  mit  dem  Nachbarn  leben  können. 

„Die  zwei  oder  drei  Söhne  haben  schon  früher  die  Schildkröten- 
schale  gebrannt  wegen  der  Nachbarn.  Der  Schildkrötenschale  zuwider 
handeln,  bringt  kein  Glück." 

Die  zwei  oder  drei  Söhne  sind  die  früheren  Bewohner  der 
Strasse.  Indem  sie  durch  das  Brennen  der  Schildkrötenschale  hin- 
sichtlich der  Nachbarn  ursprünglich  ein  glückliches  Ergebniss  erhalten 
und  man  sie  jetzt  ihre  Wohnung  wechseln  lässt,  setzt  man  sich  in 
Widerspruch  mit  diesem  Ergebniss  der  Wahrsag  mg. 

„Der  Weise  lässt  sich  nicht  zu  Schulden  kommen,  was  zuwider 
den  Gebräuchen.  Der  kleine  Mensch  lässt  sich  nicht  zu  Schulden 
kommen,  was  kein  Glück  bringt." 

Den  Gebräuchen  zuwider  handelt  man,  indem  man  die  früheren 
Wohngebäude  des  Volkes  niederreissen  lässt. 

„Dieses  sind  alte  Vorschriften:  darf  ich  ihnen  wohl  zuwider 
handeln?" 


j£  2§  60,  das  Jahr  des  Cyklus  (538  vor  Chr.  Geb.).  Viertes 
Regierungsjahr  des  Fürsten  Tschao  von  Lu. 

Nin-scho-tsi  spricht  über  drei  Dinge,  bei  welchen  keine  Gefahr. 

„Der  Fürst  von  Tsu  hiess  Tsiao-khiü  reisen  nach  Tsin  und 
ersuchen  wegen  der  Fürsten  des  Reichs." 

Ling,  König  von  Tsu  wollte  eine  Zusammenkunft  der  Reichs- 
fürsten veranstalten.  Der  Abgesandte  Tsiao-khiü  sollte  hierbei  die 
Einwilligung  des  Reiches  Tsin  nachsuchen. 

„Der  Fürst  von  Tsin  wollte  es  nicht  gestatten." 
„Der  Anführer  der  Pferde  Heu  sprach:  Es  darf  nicht  sein." 
Der  Anführer  der  Streitwagen  fe  Heu  ist  ^j(  Tj^  -J£  Niü- 
scho-tsi.  Er  meint,   der  Fürst  von  Tsin  dürfe  das  Ansuchen  nicht 
zurückweisen. 

„Der  König  von  Tsu  ist  hochmüthig.  Der  Himmel  will  ihn  viel- 
leicht durchsetzen  lassen  seinen  Willen,  um  zu  verstärken  sein  Gift 
und  ihm  hernieder  zu  sr-nden  die  Strafe.  Man  kann  es  noch  nicht 
wissen." 


544  Dr-  Pfizmaier. 

„Ob  er  ihn  befähigen  werde,  ein  gutes  Ende  zu  nehmen,  kann 
man  ebenfalls  noch  nicht  wissen." 

„Tsin  und  Tsu  werden  nur  gestützt  von  dem  Himmel,  sie  dürfen 
nicht  mit  einander  streiten." 

Beide  Reiche  sind  einander  an  Macht  gleich,  und  dasjenige 
welches  von».  Himmel  begünstigt  wird,  erlangt  die  Herrschaft  über 
die  Reichsfürsten ,  desswegen  dürfen  sie  einander  diese  Oberherr- 
schaft nicht  streitig  machen. 

„Mögest  du,  o  Herr,  es  gewähren  und  ordnen  die  Tugend,  indess 
du  wartest  auf  das,  wohin  er  sich  wendet." 

„Wendet  er  sich  zur  Tugend,  so  werden  selbst  wir  ihm  dienen, 
um  wie  viel  mehr  die  Fürsten  des  Reichs?" 

„Macht  er  den  Übergang  zu  Ausschweifung  und  Unterdrückung, 
so  wird  Tsu  ihn  verlassen :  mit  wem  brauchten  wir  noch  zu  streiten?" 

„Der  Fürst  sprach:  Tsin  hat  drei  Dinge,  bei  welchen  keine 
Gefahr:  was  für  ein  Gegner  könnte  ihm  wohl  erwachsen?" 

„Das  Reich  besitzt  steile  Anhöhen  und  erzeugt  viele  Pferde." 

Dieses  die  zwei  ersten  Dinge,  bei  welchen  keine  Gefahr. 

„Tsi  und  Tsu  haben  vieles  Unglück." 

In  den  mächtigen  Reichen  Tsi  und  Tsu  ereignen  sich  Empörung 
und  Fürstenmord,  während  Tsin  von  diesen  Übeln  verschont  bleibt. 
Dieses  das  dritte,  bei  welchem  keine  Gefahr. 

„Wer  für  sich  diese  drei  Dinge  hat,  wohin  sollte  er  sich  wen- 
den, ohne  zu  siegen?" 

„Jener  antwortete:  Sich  verlassen  auf  steile  Anhöhen  und 
Pferde,  und  rechnen  auf  das  Unglück  der  benachbarten  Reiche,  dieses 
sind  drei  gefahrbringende  Dinge." 

„Die  vier  Felsengebirge,  die  drei  Pässe,  die  Mauern  des  Yang, 
das  grosse  Haus,  die  Berge  King  und  Tschung-nan  sind  die  steilsten 
Aiihöhen  der  neun  Provinzen." 

Von  den  vier  Felsengebirgen fej*  UU  Sse-yo   ist  das    östliche 

der   (Jj    ^E  Thai-schan,  das  südliche  der  |_|_|  /^f  Heng-schan ,  das 

westliche  der   (Jl  EffiE  Hoa-schan,  das  nördliche  der   |Jj    M3    Hoan- 

schan.  Die  drei  Passe    ^   "Z^    San-thu  sind  die  Gebirge  ^t    y^ 

Thai-hang,   $cr  j|§=n  Hoan-yuen  und  J4fy  ife  Hiao-tschhi.  Eben  so 

sind  Namen  von  Gebirgen  T/TJ^  I|J|  Yang-tsching  (die  Stadtmauer  des 


Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  .)4.) 

Princips  Yang)  ä>  /$.   Thai-schi  (das  grosse  innere  Haus)    []_     7t (I 
King-schan  und  nFJ     th  Tschung-nan. 

„Es  gab  daselbst  mehr  als  eine  Familie." 

In  diesen  durch  natürliche  Bollwerke  geschützten  Gegenden 
hatten  mehrere  Familien  Reiche  gegründet.  Sie  gingen  aber  sämmt- 
lich  zu  Grunde,  wenn  sie  nicht  die  Tugend  besassen. 

„Die  nördlichen  Gebiete  der  Provinz  Ki  bringen  Pferde  hervor. 
Es  gibt  daselbst  keine  Reiche  im  Aufschwung." 

An  der  nördlichen  Grenze  der  Provinz  ^b  Ki  lag  das  Reich 
>p£  Yen. 

„Indem  man  sich  auf  steile  Anhöhen  und  Pferde  verlässt,  darf 
man  sich  nicht  für  gesichert  halten.  Von  Alters  her  ist  es  so 
gewesen." 

„Desswegen  trachteten  die  früheren  Könige  zu  ordnen  den 
Klang  der  Tugend  und  boten  sie  den  Göttern  und  Menschen.  Ich 
habe  nicht  gehört,  dass  sie  nach  steilen  Anhöhen  und  Pferden 
getrachtet  hätten." 

„Auf  das  Unglück  der  benachbarten  Reiche  darf  man  nicht 
rechnen." 

„Einige  hatten  vieles  Unglück  und  sicherten  ihr  Reich.  Sie 
erweiterten  noch  ihre  Grenzen." 

„Andere  hatten  gar  kein  Unglück  und  richteten  zu  Grunde  ihr 
Reich.  Sie  verloren  noch  den  Wohnsitz,  den  sie  besassen.  Wie  könnte 
man  rechnen  auf  das  Unglück?" 

„Tsi  hatte  das  Unglück  mit  Tschung-sün,  und  es  gewann  den 
Fürsten  Hoan.  Bis  auf  den  heutigen  Tag  ist  es  seine  Zuversicht." 

-Hb  Im  Tschung-sün  heisst  der  Fürstenenkel  Wu-tschin,  der 
im  neunten  Jahre  des  Fürsten  Tschung  von  Lu  den  Fürsten  Siang 
von  Tsi  tödtete.  Die  Folge  dieses  Ereignisses  war  die  Einsetzung  des 
Fürsten  Hoan  und  die  Oberherrschaft  des  Reiches  Tsi. 

„Tsin  hatte  das  Unglück  mit  Li  und  Pei,  und  es  gewann  den 
Fürsten  Wen.  Hierdurch  wurde  es  der  Herr  des  Vertrages." 

Im  neunten  Jahre  des  Fürsten  Hi  von  Lu  tödtete  Li-khe  den 
Thronfolger  Tscho.  Der  Genosse  Li-khe7s  war  jpR    Jv  Pei-tsching. 

„Wei  und  Hing  hatten  gar  kein  Unglück.  Die  Feinde  richteten 
sie  ebenfalls  zu  Grunde." 


546  Dr-  Pfizniaier. 

Im  ersten  Jahre  des  Fürsten  Min  von  Lu  vernichtete  Wei  das 
Reich  Hing ,  im  zweiten  Jahre  desselben  Fürsten  vernichteten  die 
nördlichen  Barbaren  wieder  das  Reich  Wei. 

„Dess wegen   kann   man  auf  das  Unglück  der  Menschen   nicht 

rechnen." 

„Wer  auf  diese  drei  Dinge  sich  verlässt  und  nicht  ordnet  die 
Regierung  sammt  der  Tugend,  der  geht  zu  Grunde  unverzüglich:  wie 
wäre  er  noch  im  Stande  zu  siegen?  Mögest  du,  o  Herr,  es  gewähren." 

„Tschheu  beging  Ausschweifungen  und  Grausamkeiten.  König 
Wen  war  gütig  und  verträglich.  Die  Yin  gingen  hierdurch  zu 
Grunde.  Die  Tscheu  kamen  hierdurch  empor.  Wie  hätten  sie  gestrit- 
ten um  die  Fürsten  des  Reichs?" 

König  Wen  brachte  sein  Reich  nur  auf  die  angegebene  Weise 
zum  Aufschwung,  nicht  aber,  indem  er  mit  König  Tschheu  um  die 
Oberherrschaft  über  die  Reichsfürsten  stritt. 

„Hierauf  gewährte  man  dem  Gesandten  von  Tsu." 

Schin-fung  spricht  über  den  Hagel. 

„Es  war  ein  grosser  Hagel.  Ki-wu-tse  fragte  Schin-fung:  Kann 
man  dem  Hagel  Einhalt  gebieten?" 

ti=i  Etl  Schin-fung,  ein  Grosser  des  Reiches  Lu.  Ki-wu-tse 
ist  Ki-sün-su,  der  erste  Reichsminister  von  Lu. 

Zu  diesem  Ereigniss  bringt  Hu-ngan-kue  im  Wesentlichen  fol- 
gende Erklärung:  Wenn  die  Luft  der  beiden  Naturprincipe  Yin  und 
Yang  sich  gleichmässig  verbreitet,  so  entstehen  Reif,  Schnee,  Regen 
und  Thau.  Verbreitet  sie  sich  nicht  gleichmässig,  so  bewirkt  sie  ein 
widerspänstiges  Wetter.  Zu  diesem  gehören  Stürme  mit  Finsterniss, 
Stürme  mit  Staub,  Hagel.  Das  Yin  welches  das  Yang  einschüchtert, 
ist  das  Bild  eines  Ministers  der  sich  Eingriffe  in  die  Rechte  des 
Landesherrn  erlaubt.  Um  diese  Zeit  hatte  sich  Ki-sün-su  alle  Gewalt 
in  dem  Reiche  Lu  und  namentlich  den  alleinigen  Refehl  über  das 
Heer  angemasst.  Als  warnende  Winke  zeigten  sich  hierauf  in  Lu 
binnen  wenigen  Monaten  mehrere  ungewöhnliche  Naturerscheinungen. 
Schin-fung  war  eigentlich  ein  Schützling  Ki-sün-siTs,  wesshalb  an- 
genommen wird ,  dass  er  über  den  Gegenstand  nicht  entschieden 
sprechen  wollte.  Er  schob  daher  die  Schuld  auf  die  Aufbewahrung 
des  Eises  und  äusserte  noch  verschiedene  andere  irrige  Meinungen, 


Notizen  ans  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc.  54-7 

während  seine  Absicht  war,  dem  Fürsten  Tschao  Furcht  einzuflössen, 
damit  er  die  Gebräuche  beobachte  und  die  Regierung  verbessere. 

„Jener  antwortete  :  Die  höchstweisen  Menschen  sind  in  der 
Höhe,  sie  besitzen  keinen  Hagel.  Und  wenn  sie  ihn  auch  besässen, 
sie  bewirken  kein  Unglück  der  Natur." 

Die  Geister  der  weisen  Landesherren  welche  in  dem  Himmel 
sind,  haben  keinen  Hagel  den  sie  schicken  könnten.  Angenommen 
jedoch,  sie  besässen  einen  Hagel,  so  würden  sie  durch  ihn  kein 
Unglück  anrichten. 

„Ehemals,  wenn  die  Sonne  stand  auf  der  nördlichen  Bahn, 
sammelte  man  das  Eis. 

Im  zwölften  Monate  der  Dynastie  Hia,  dem  zweiten  der  Dyna- 
stie Tscheu  (d.  i.  von  Mitte  December  bis  Mitte  Jänner)  tritt  die 
Sonne  in  die  Sternbilder  rf="  Khieu  (die  Anhöhe)  und  fih  Wei  (der 
Abgrund),  welche  Sternbilder  des  nördlichen  Himmels  sind. 

„Wenn  sie  stand  auf  der  westlichen  Bahn  und  am  Morgen  war 
das  Sichtbarwerden,  nahm  man  es  hervor." 

Im  dritten  Monate  der  Dynastie  Hia,  dem  fünften  der  Dynastie 
Tscheu  (d.  i.  von  Mitte  März  bis  Mitte  April)  tritt  die  Sonne  in  die 
Sternbilder  j&n  Mao  (die  Mütze)  und  S  Pi  (das  Hasennetz), 
welche  Sternbilder  des  westlichen  Himmels  sind.  Um  dieselbe  Zeit, 
im  Frühlingsanfang  ist  das  Sternbild  ^  Khuei  (die  Hüftbeine)  im 

Osten  sichtbar. 

„Zur  Zeit,  wo  man  es  sammelte,  halten  die  tiefen  Berge,  die 
erschöpften  Thäler  den  Urstoff  der  Finsterniss  gefangen  und  ver- 
schliessen  die  Kälte.  Aus  diesem  Grunde  nimmt  man  es  hinweg." 

Indem  man  das  Eis,  in  welchem  das  Princip. der  Finsterniss  sich 
ansammelt,  fortschafft,  leitet  man  die  Stoffe  dieses  Princips  ab,  damit 
es  in  der  Natur  keinen  Schaden  anrichte. 

„Zur  Zeit,  wo  man  es  hervornahm,  gibt  es  an  dem  Hofe  Ein- 
künfte und  Bangstufen,  Bewirthungen  von  Gästen,  Trauerfälle  und 
Opfer.    Aus  diesem  Grunde  bedient  man  sich  dessen." 

Bei  allen  hier  gedachten  Gelegenheiten  macht  man  von  dem 
Eise  Gebrauch,  das  übrigens  nicht  dem  Landesherrn  allein  vorbe- 
halten werden  darf. 

„Wenn  man  es  aufbewahrt,  nimmt  man  schwarze  Binder, 
schwarzes  Getreide  und  opfert  sie  dem  Vorsteher  der  Kälte." 

Sitzh.  d.  phil.-hist.  Cl.  XX.  Bd.  III    Hft.  36 


548  Dr.  Pfizmaier. 

Der  Vorsteher  der  Kälte  ist  ein  Gott  der  Finsterniss,  darum 
werden  ihm  schwarze  Gegenstände  gewidmet.  Bei  der  Einsammlung 
des  Eises  opfert  man  diesem  Gotte. 

„Wenn  man  es  hervornimmt,  verfertigt  man  Bogen  aus  Pfirsich- 
holz und  Pfeile  aus  Hagedorn.  Man  vertreibt  mit  ihnen  das  Unglück 
der  Natur." 

In  dem  Augenblicke  wo  man  das  Eis  vertheilen  will,  sucht  man 
durch  Schiessen  mit  den  hier  genannten  Bogen  und  Pfeilen  das  durch 
das  Eis  entstehende  natürliche  Unglück  zu  bannen. 

„Man  opfert  der  Kälte  und  bewahrt  es.  Man  beschenkt  mit 
Lämmern  und  eröffnet  es." 

So  wie  bei  der  Aufbewahrung  des  Eises  dem  Vorsteher  der 
Kälte  geopfert  wird,  so  werden  im  zweiten  Monate  der  Dynastie 
Hia  diejenigen  Personen  welche  das  Eis  erhalten,  mit  Lämmern 
beschenkt,  worauf  erst  die  Eisgruben  geöffnet  werden. 

„Der  Fürst  macht  zuerst  davon  Gebrauch.  Wenn  das  Feuer 
hervortritt,  ist  es  vollständig  vertheilt." 

Der  Landesherr,  als  der  Geehrteste,  benützt  das  Eis  zuerst. 
Im  dritten  Monate  der  Dynastie  Hia  (d.  i.  von  Mitte  April  bis  Mitte 
Mai)  wird  der  Feuerstern,  d.  i.  der  Planet  Mars  zuerst  sichtbar. 
Um  diese  Zeit  muss  das  Eis  an  alle  Personen  welche  dasselbe  zu 
erhalten  haben,  vollständig  vertheilt  sein. 

„Bei  der  Aufbewahrung  sei  es  verborgen.  Bei  dem  Gebrauch 
werde  es  allgemein." 

„Dann  gibt  es  irn  Winter  keinen  austretenden  Stoff  des  Lichts." 

Der  Winter  ist  dann  nicht  warm. 

„Im  Sommer  keinen  versteckten  Stoff  der  Finsterniss." 

Der  Sommer  ist  dann  nicht  kalt. 

„Im  Frühling  keine  kältenden  Winde,  im  Herbst  keinen  bitteren 
Begen." 

„Der  Donner  rollt,  aber  es  schlägt  nicht  ein.  Es  gibt  keinen 
verderblichen  Beif,  keinen  Hagel.  Pest  und  Krankheiten  steigen  nicht 
hernieder.     Das  Volk  stirbt  keines  ungewöhnlichen  Todes." 

„Jetzt  sammelt  man  das  Eis  der  Flüsse  und  der  Teiche.  Man 
verwirft  es,  ohne  sich  dessen  zu  bedienen." 

Man  sammelt  nicht  das  Eis  der  Berge  und  Thäler.  Da  ferner 
der  Landesherr  das  Eis  für  sich  selbst  behält  und  andere  von  dem 
Gebrauche  desselben  ausschliesst,    so   wird   es    weggeworfen   und 


Notizen  aus  der  Geschiehte  der  chinesischen  Reiche  etc.  549 

nicht  vollständig  unter  die  Diener  des  Landesherrn  vertheilt.  Diesen 
Umstünden  wird ,  wie  gleich  unten  zu  ersehen,  von  Schin-fung  das 
Unglück  in  der  Natur,  namentlich  der  Hagelschaden  zugeschrieben. 

„Der  Wind  überschreitet  nicht  das  Mass,  aber  er  tödtet.  Der 
Donner  rollt  nicht,  aber  es  schlägt  ein.  Der  Hagel  bewirkt  in  der 
Natur  Unglück:  könnte  man  ihm  wohl  Einhalt  gebieten?" 

Der  Fürst  von  Tsu  versammelt  die  Rcichsfürsten  in  Schin. 

„Der  Fürst  von  Tsu  versammelte  die  Reichsfürsten  in  Schin." 
ph  Schin,  eine  Stadt  des  Reiches  Tsu.  Dieses  die  erste  Ver- 
sammlung der  Reichsfürsten,  welche  Tsu  für  sich  allein  bewerk- 
stelligte, nachdem  es  von  Tsin  hierzu  die  Erlaubniss  erhalten.  Rei 
der  ersten  durch  König  Tschuang  veranstalteten  Versammlung  von 
Schin-ling  gehorchten  Tsu  blos  die  Reiche  Tschin  und  Tsching. 
Bei  der  gegenwärtigen  Versammlung  von  Schin  betheiligten  sich  im 
Ganzen  zwölf  Reiche,  es  erschienen  nämlich  daselbst  die  Fürsten 
von  Tsai,  Tschin,  Tsching,  Hiü,  ^  Siü,  Theng ,  £|[  Schün,   £J] 

Hu,  V^jT  Tschin,  dem  kleinen  Tschü,  der  Thronfolger  von  Sung, 

ferner  die  östlichen  Rarbaren  des  Flusses  '^|g   Hoai. 

„Tsiao-khiü  sprach  zu  dem  Fürsten  von  Tsu:  Ich  habe  gehört : 
Die  Reichsfürsten  kennen  nicht  die  Unterwerfung.  Den  Gebräuchen 
wird  zu  Theil  die  Unterwerfung." 

„Jetzt  hast  du,  o  Herr,  das  erste  Mal  gewonnen  die  Fürsten  des 
Reichs :  mögest  du  dein  Augenmerk  richten  auf  die  Gebräuche. " 

„Ob  die  Oberherrschaft  zu  Stande  kommen  werde  oder  nicht, 
hängt  ab  von  dieser  Versammlung." 

„Der  Fürst  von  Tsu  stellte  den  Reichsfürsten  zur  Schau  den 
Hochmuth." 

„Tsiao-khiü  sprach:  Rei  der  Angelegenheit  der  sechs  Könige, 
der  zwei  Fürsten  wurden  überall  den  Reichsfürsten  zur  Schau 
gestellt  die  Gebräuche." 

Die  Angelegenheit  der  sechs  Könige  heissen  das  Opfer  von 
Wo-thai  unter  König  Khi,  der  Refehl  von  King-pd  unter  König 
Thang,  die  Versammlung  von  Meng-thsu  unter  König  Wu,  die  Früh- 
lingsjagd von  Khi-yang  unter  König  Tsching,  der  Hof  in  Fung-kung 
unter  König  Khang,  die  Versammlung  von  Thu-schan  unter  König 

36' 


1)50    Dr.  Pfizmaier.  Notizen  aus  der  Geschichte  der  chinesischen  Reiche  etc. 

Mo.  Die  Angelegenheit  der  zwei  Fürsten  heissen  der  Heereszug  von 
Tschao-ling  unter  dem  Fürsten  Hoan  von  Tsi,  die  Versammlung  von 
Tsien-tu  unter  dem  Fürsten  Wen  von  Tsin. 

„Die   Fürsten  des    Reichs   achteten   aus    diesem   Grunde    die 

Befehle." 

„Khie  von  Hia  veranstaltete  die  Versammlung  von  Jing.    Min 

fiel  von  ihm  ab." 

König  Khie  versammelte  die  Reichsfürsten  in  dem  Reiche  An  Jing. 

Bei  dieser  Gelegenheit  empörte  sich  der  Fürst  des  Reiches  ^j|;  Min. 

„Tschheu  von  Schang  veranstaltete  die  Frühlingsjagd  von  Li. 
Die  östlichen  Barbaren  fielen  von  ihm  ab." 

&L  Li  war  ein  Reich  der  östlichen  Barbaren. 

„Yeu  von  Tscheu  schloss  den  Vertrag  von  Thai-schf.  Die  Bar- 
baren des  Westens  und  des  Ostens  fielen  von  ihm  ab." 

König  Yeu  Hess  die  Reichsfürsten  in  dem  Gebirge  ^  ^ 
Thai-schi  (das  grosse  innere  Haus)  einen  Vertrag  beschwören. 

„Es  wurde  überall  den  Reichsfürsten  zur  Schau  gestellt  der 
Hochmuth.  Die  Fürsten  des  Reichs  verachteten  aus  diesem  Grunde 
die  Befehle. " 

„Jetzt  zeigst  du,  o  Herr,  den  Hochmuth:  sollte  es  wohl  nicht 
sein,  dass  du  nichts  ausrichtest?" 

„Der  König  hörte  ihn  nicht." 

„Tse-tschan  besuchte  Tso-sse  und  sprach:  Ich  bin  ohne  Sorge 
wegen  Tsu.  Es  ist  hochmüthig  und  sträubt  sich  gegen  den  Tadel. 
Es  kann  nicht  länger  als  zehn  Jahre  dauern." 

Tse-tschan  meint,  das  Reich  Tsu  werde  sich  nicht  länger  als 
zehn  Jahre  im  Besitze  seiner  Macht  befinden. 

„Tso-sse  sprach:  Es  ist  wahr.  Wenn  der  Hochmuth  keine  zehn 
Jahre  währt,  so  dringt  dieses  Laster  nicht  in  die  Ferne.  Wenn  man  in 
die  Ferne  dringen  lässt  den  Hochmuth,  dann  erst  wird  man  verlassen." 

„Bei  dem  Guten  ist  es  eben  so.  Wenn  die  Tugend  dringt  in 
die  Ferne,  dann  erst  erfolgt  der  Aufschwung." 


Verzeichniss  der  eingegangenen  Druckschriften.  •).)  1 


YKttZEICHNISS 

DER 

EINGEGANGENEN   DRUCKSCHRIFTEN. 

MAI. 

Akademie,  k.  bayerische,  Abhandlungen  der  philosophischen  Ciasse. 
Bd.  8,  Abtb.  1. 

—  ^Bulletin  unb  ©ete^rte  Slnjeigen.   23b.  41. 
Akademie,  k.  preussische.  Monatsbericht.   März  und  April. 
Annalen  der  k.  k.  Sternwarte  in  Wien.  Dritte  Folge,  Bd.  5. 
Annuaire  de  l'institut  des  provinces  de  France.   1856. 

5t  nj  et  gen,  ©ötttngtfdje,  geteerte.  Safyrgcmg  1855. 
Anzeiger  für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit.   1856,  Nr.  4,  5. 
Berlin,  Universitätsschriften  aus  dem  Jahre  1855. 
Caumont,    Statistiques   routieres    de  la   Basse -Normandie.  Paris 
1855;  8°- 

—  Rapport  sur  divers  monuments  et  sur  plusieurs  excursions  archeo- 
logiques.  Paris  1856;  8°- 

Ciconj,  Giov.  SulPorigine  ed  incremento  di  Udine.  s.  1.  et  d.;  S°- 
Cicogna,  II  ricco  non  e  piü  felice  del  povero.  Venezia  1855;  8°- 
Clibborn,   E.,  An  essay  on  the  probability  of  Saul  Beniah  ect. 

Huving  been  the  Hycsos  rulers  ect.  s.  1.  et  d.;  8°- 
Colla,  A„  ulteriori  notizie  intorno  ai  pianeti  Circe,  Leucotea,  Ata- 

lante  e  Fides,  e  sulla  3  Cometa  del  1555  etc.  Parma  1856;  8<" 
Cosmos.  1856,  Nr.  17—21. 
Dana,  second  supplem.  to  Mineralogy.  Cambridge  1855;  8°- 

—  Address  before  the  american  association  for  the  advancement  of 
science.  Cambridge  1856;  8°* 

Davidson,  Thomas,  Classification  der  Brachiopoden.  Deutsch  be- 
arbeitet mit  einigen  neuen  Zusätzen  versehen  von  Ed.  Suess. 
Wien  1856;  4<>- 


552  Verzeichniss  der 

D'Escayre  de  Lauture,  etc.,  Memoire  sur  le  Soudan.  Cahier  2.  3.; 
8o. 

Förster,  Bauzeitung  1856.   Hft.  2,  3. 

Gesellschaft,  medicin. - physic,  zu  Würzburg.    Verhandlungen. 

Bd.  VI,  Hft.  3. 
Göttin ger  Universitäts-Schriften  aus  dem  Jahre  1855. 
Grimani,    Marco  Antonio,  Relazione  del  Podestä  di  Padova,  dal  6 

Nov.  al  28.  Febb.  1554.  Venezia  1856;  &P- 
Grimani,  Pietro,    due  discorsi  pronunziati  del   popolo   dal  seren. 

Doge  di  Venezia,  il  1  Giuglio  1741.  Venezia  1856;  8°- 
Grimani,  Franc,  Relazione  storico  politiche  delle  isole  del  mare 

Jonio  suddite  della  serenissima  repubiica  di  Venezia.    Venezia 

1856;  8°- 
Hausmann,  Joh.,  Friedr.,    Über  die  durch  Molecularbewegungen 

in    starren    leblosen    Körpern    bewirkten    Formveränderungen. 

Göttingen  1856;  4°- 
Journal,  the  astronomical.  Cambridge.  Vol.  IV,  Nr.  17 — 19. 
Kokscharow,  Nicolai  v.,    Materialien  zur  Mineralogie  Russlands. 

Mit  Atlas.  Lief.  16  —  20. 
Kupffer,  Compte  rendu  annuel  de  l'Observatoire  physique  central. 

St.  Petersbourg  1855;  4«- 
Landtafel  des  Markgrafenthums  Mähren.  Lief.  4  —  6. 
Lawson,  Thom.,  Meteorolog.  Register  for  12  years  1831  — 1842, 

compiled  fron)  observations  made  by  the  officers  of  the  medical 

department  of  the  army  ofthe  military  posts  of  the  united  states. 

Washington  1851;  8«* 
Malacarne,  Giamb.,    Rettificazione   geometrica   e   rigorosa    della 

periferia  del  circolo  colla  geometria  elementare.  Vicenza  1856. 
Menabrea,  S.  f.  Lois  generales  de  divers  ordres  de  phenomenes 

dont  Tanalyse  depend  d'equations  lineaires  aux  differences  par- 
tielles tels  que  ceux  des  vibrations  et  de  la  propagation  de  la 

chaleur.  Turin  1855;  So- 
Mi  tth  eilungen  aus  dem  Gebiete  der  Statistik.  Jahrg.  IV,  Heft  4. 
2Rad)ridjten  »on  ber  ©.  51.  Untüerfttät  unb  ber  f.©efettfd)aftber2ötffen- 

fri)aften  ju  ©ötttngen.   1855. 
Neve,  Felix,  Etüde  sur  Thomas  de  Medzoph   et  sur  son  histoire 

de  r  Armenie  au  XV  siecle.  Paris  1855;  8<>- 
—  Les  Hymnes  funebres  de  feglise  Armenienne.  Louvain  1855;  8°- 


eingegangenen  Druckschriften.  bo3 

Palacky,  Franz,  Zeugenverhör  über  den  Tod  König  Lad  isla  us' 

von  Ungern  und  Böhmen  im  J.  1457.  Prag  1856;  4°- 
Pamatky,  arehaeologicke.  Dil  II.  1. 
Piovere,  Leonardo,   Orazione  nella  partenza  di  P.  Grimani  del 

Reggimento  di  Vicenza  1530.   Venezia  1856;  80- 
^3cato6et»era,  (Sbuarb,  bte  felttfcfyeu  unb  römtfcfyen  Qlntt'fcn  tu  Steter* 

maxt.  ®ra|  1856;  8«' 
Roth,  E.  M.,    Die  Proclamation  des  Amasis  an  die  Cyprier.    Paris 

1855;  4o- 
Rouge,  Eman.,  Vicomte  de,  Notice  sommaire  des  monuments  egyp- 

tiens,  exposes  dans   les   galeries   du    Musee   du   Louvre.  Paris 

1855;  8«- 
So  ciete  fran^aise,  pour  la  conservation  des   monuments.    Bulletin 

monumental.  Serie  3,  Tom.  1.  Paris  1855;  8°- 
Societe  geologique  de  France.  Bulletin.  Tom.  XII.  46  —  50.  Tom. 

XIII.   1.  2. 
Societe  Imp.  des  Naturalistes  de  Moscou.    Rapport  sur  la  Seance 

extraord.  du  28.  Dec.  1855.  4  Exemp. 
Societe  de  Physique  et  d'histoire  naturelles  de  Geneve.  Memoires. 

Tom.  XIV.  1. 
herein,  fjtftor.,  für  Steiermark  SftitttjeÜungen.  £eft  6.  3afyres6erid)t. 

1855. 
Verein,  zoolog.-botanischer  in  Wien,  Verhandlungen.  Bd.  V. 
—  Bericht   über   die  Österreich.  Literatur  der  Zoologie  etc.  a.  d. 

.1.  1850—53.  Wien  1855;  8<- 


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AS  Akademie  der  Wissenschaften, 

142  Vienna.     Philo sophi sc h-Histo- 

A53  rische  Klasse 
Bd. 19-20  Sitzungsberichte 

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