SITZUNGSBERICHTE
DER KAISERLICHEN
1K1DE1I1E DER WISSENSCHAFTEN.
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE CLASSE.
NEUNZEHNTER BAND.
WIEN.
AUS DER K. K. HOF- UND STAATSDRUCKEREI.
IN COMMISSION BEI W. BRAUMILLER, BUCHHÄNDLER DES K. K. HOFES UND DER
K. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
1856.
SITZUNGSBERICHTE
DER
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHEN CL4SSE
DER KAISERLICHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
NEUNZEHNTER RAND.
Jahrgang 1856. Heft I und IL
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WIEN.
AUS DER K. K. HOF- UND STAATSDRUCKEREI.
IN COMMISSION BEI W. BRAUMÜLLER . BUCHHÄNDLER DES K. K. HOFES UND DER
K. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
1856.
As
-2o
INHALT.
Seite
Sitzung vom 2. Jänner 1856.
Firnhaber, Die Mission des Freiherrn von Sassinet, österreichischen
Agenten in Rom, im Jahre 1701 3
Sitzung vom 9. Jänner 1856.
Miklosich, Üher die Sprache der Bulgaren in SiebenMirgen 30
Sitzung vom 16. Jänner 1856.
Bergmann, Pflege der Numismatik in Österreich im XVIII. Jahrhundert
mit besonderem Hinblick auf das k. k. Münz- und Medaillen-Cabinet 31
Sitzung vom 30. Jänner 1856.
Boiler, Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums 109
Weitenweber, Beiträge zur Literärgeschichte Böhmens 12.0
Verzeichniss der eingegangenen Druckschriften 157
Sitzung vom 13. Februar 1856.
Chmel, Über den zweiten Bericht an S. E. den Herrn Minister des Innern,
über die Literatur im österreichischen Kaiserstaate im Jahre 1854 . 163
Sitzung vom 20. Februar 1856.
Scherzer , Über die handschriftlichen Werke des Padre Francisco Ximenez
in der Universitäts-Bibliothek zu Guatemala 166
Stögmann, Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich 187
Boller, Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums (Fort-
setzung) ~ol
Verzeichniss der eingegangenen Druckschriften 319
SITZUNGSBERICHTE
DER
KAISERLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE CL ASSE.
XIX. BAND. I. HEFT.
JAHRGANG 1856. — JÄNNER.
's
SITZUNG VOM 2. JÄNNER 1856.
Gelesen:
Die Mission des Freiherrn von Sassinet, österreichischem
Agenten in Rom , im Jahre 1701.
Von dem c. M. , Herrn Friedrich Firnhaber.
Die k. Bibliothek in Paris besitzt unter ihren Handschriften ein
Actenstück welches eine wichtige Ergänzung zur Geschichte der
österreichischen Politik in Italien am Anfange des 18. Jahrhunderts
bildet, jenem Zeiträume welcher als Beginn des spanischen Succes-
sionskrieges einen der folgenreichsten Abschnitte der Geschichte des
Hauses Habsburg und der Gestaltung des österreichischen Staates bildet.
Das berührte Actenstück ist angeführt in: Ant. Marsand, i manoscritti
della regia biblioteca parigina. Parigi 1835, 2 vol. in 4°, und zwar
im 1. Bande pag. 390, Nr. 10090. 5. und führt den Titel: „Istru-
zione secreta dell' imperatore Leopoldo al consigliere aulico di Sassi-
net." Freiherr von Sassinet oder Chassinet, der mit dieser Mission an
den päpstlichen Hof betraut war, wurde später nach dem Fehlschlagen
des Aufstandes in Neapel zu Gunsten des Erzherzogs Karl, nach-
maligen Kaisers Karl VI., in welchem Aufstande er sich an die Spitze
gestellt hatte, im Jahre 1701 von den Franzosen gefangen, nach
Frankreich abgeführt und in der Bastille festgesetzt. Mit ihm kamen
so auch wahrscheinlich seine Papiere nach Paris. Über das Ende
dieses Mannes herrscht mythisches Dunkel. Bei meinen Studien über
die Geschichte der pragmatischen Sanction fiel mir auch die Notiz
4- Friedrich Firnhaber.
über dieses wichtige Actenstück in die Hände, und ich war so glück-
lich, mir eine ziemlich genaue Copie desselben verschaffen zu können.
Ich theile sie in den folgenden Zeilen in ihrem ganzen Umfange mit
und erlaube mir nur, einige auf den Gegenstand der Unterhandlung
Sassinef s bezügliche Andeutungen für dio geneigten Leser voran-
zuschicken.
Am 1. November 1700 war die spanische Linie des Hauses
Habsburg mit König Karl II. zu Ende gegangen. Das natürliche Erb-
recht der österreichischen Linie war durch das durch französischen
Einfluss geschaffene Testament des Verewigten , kraft dessen der
Herzog von Anjou, Enkel Ludwigs XIV., zum Erben der spanischen
Monarchie eingesetzt wurde, aufs Bitterste verletzt. Diese Rechts-
verletzung war so in die Augen fallend, dass König Ludwig XIV. selbst
anfangs wenigstens sich überrascht stellte, und erst nach einiger Zeit
die Annahme für seinen Enkel erklärte.
Kaiser Leopold I., der natürliche Erbe Spaniens, der weder dem
ersten noch dem zweiten Theilungsprojecte über die spanische Monar-
chie seine Zustimmung gegeben hatte, leider zum Unglück für den
Besitz seines Hauses, sondern unbedingt an seinem guten Rechte des
ungeschmälerten Besitzes der ganzen spanischen Monarchie fest-
hielt, verwarf natürlich auch das Testament feierlich. Unterhandlungen
zeigten sich als unzureichend, sie waren auch bei den ausgesproche-
nen Verhältnissen unmöglich; es blieb keine andere Entscheidung
als das Schwert, und diesen Weg zu betreten scheute sich Kaiser
Leopold keinen Augenblick. Die Rüstungen Österreichs begannen
unverzüglich, und wieder, wie seit Jahrhunderten, war Italien der
erste Tummelplatz der Waffen der beiden feindlichen Mächte Habs-
burg und Bourbon.
Die zwei wichtigen und reichen Appertinenzen der spanischen
Monarchie, Mailand, dann das Königreich beider Sicilien (für Österreich
um so wichtiger, als sie seinem Staatencomplex die nächsten, seiner
Entwickelung die gelegensten waren), bildeten den ersten Gegenstand
des Kampfes. Wir werden in diesen Zeilen auch nur diese Phase des
Successionskrieges ins Auge fassen, da wir zur Erläuterung unseres
erwähnten Actenstückes nur die Kämpfe um Mailand und Sicilien
näher zu beleuchten haben.
Die Mission des Freiherru von Sassinet. Q
Mailand, Neapel und Sicilien, Rom, Sardinien, Venedig sind die
Hauptpuncte des Gemäldes.
Die ersten beiden zu erringen, die Hilfe und Zustimmung oder
wenigstens die Neutralität der anderen, der mächtigsten Staaten der
italienischen Halbinsel zu erlangen, war das Ziel der militärischen
und diplomatischen Operationen.
Mailand zu besetzen, war die erste Sorge des Kaisers. Der
spanische Generalgouverneur in Mailand, Prinz Lothringen Vaude-
mont wurde aufgefordert, kaiserliche Truppen in Mailand aufzuneh-
men, — er weigerte sich der friedlichen Aufforderung und erklärte
sich sogleich für den Herzog von Anjou, Philipp V. von Spanien, —
trotz der dem Kaiser günstigen Stimmung des Volkes und des Militärs
in Mailand. Schon der erste Punct der Forderungen Österreichs
musste also erkämpft werden, und noch im Jahre 1700 wurde dies-
falls der Beschluss gefasst, eine Armee von 19.000 Mann zu Fuss
und 10.000 Pferden unter Prinz Eugen von Savoyen über venetiani-
sches Gebiet durch Trient und Roveredo in Italien einrücken zu
lassen. Mailand musste in den Besitz Österreichs kommen, es war
die erste Bedingung, die Brücke zur Erwerbung des Königreichs
beider Sicilien. In Mailand Herr zu sein, und die Zustimmung des
Papstes, als dazwischen liegender italienischer Grossmacht und aner-
kannten Lehensherrn von Neapel, zu gewinnen, waren nothwendige
Bedingungen des weitern günstigen Erfolges. Für das erste, den
militärischen Theil, sollte der grosse Eugen, für das zweite, diploma-
tische Unterhandlungen sorgen.
Auf dem römischen Stuhle sass Clemens XI. Älbani, geboren 1649,
gewählt am 23., gekrönt am 30. November 1700 unmittelbar nach dem
Tode des Königs von Spanien , hatte er unter allen Einflüssen dieser
ganz Europa erschütternden Begebenheit seinen Thron bestiegen.
Jung an Jahren für seine hohe Würde, neu als Fürst eines mäch-
tigen Staates, war es natürlich, dass jede Partei alle Mittel anwendete,
ihn für ihre Sache zu gewinnen. Eben die Neuheit seiner Stellung be-
wog ihn aber, sich fürs Erste nicht auszusprechen, und die Neutralität
für wünschenswerth zu halten, die jedoch bald einem geheimen Hin-
neigen und endlich einer ausgesprochenen Sympathie für Frankreich
Platz machte.
Für Österreich schien wenigstens im Anfange die Persönlich-
keit des neuen Papstes eine Garantie zu sein, dass seine Rechte in
6 Friedrich Firnhaber.
Italien gewahrt werden würden. Clemens XI. gehörte keiner ent-
schiedenen Partei an, war sogar als Cardinal unter den Österreich
angenehmen Candidaten, und unter Einflüss der österreichisch
gesinnten Cardinäle Grimani, Medici, Lamberg und Cautelmi gewählt.
Er selbst spricht dies in seinem ersten Schreiben an den Kaiser
aus, man konnte ihn sonach als einen Mann betrachten, dessen Wahl,
wenn auch nicht gewünscht, doch wenigstens durch die von Öster-
reich erzwungene Ausschliessung anderer missliebiger Candidaten
erfolgt war.
Am 28. December 1700 erliess der Kaiser ein Schreiben an den
neuen Papst, worin er dessen Notificationsschreiben über seinen
Regierungsantritt beantwortet. Es ist erwähnenswerth, und spricht
noch immer für die günstige Sachlage, dass der Kaiser in diesem
Schreiben, von der gewöhnlichen Form strenger Curialschreiben
abgehend, sich mehr in vertrauten Ausdrücken bewegt, und am
Schlüsse beifügt: considerare la mia attentione per meritarmi la bene-
dictione et assistenza della medesima, mentre non hebbi mai maggi-
ore obbligatione di animo, che di continuare la pace e la tranquillitä
del christianismo -. sperando pero dalla sua
equanimitä, che come giusto pote non sia per disapprovare che io
procuri di mantenere le giuste ragioni e dritti dell' imperio e della
mia casa, come ne corre un preciso obbligo, ma piuttosto per por-
germi il suo paterno aiuto e per dare benigno orecchio a quanto da
mia parte sopra questo ed altri particolari li verra esposto dal conte
di Lambergh mio ambasiatore.
Der österreichische Gesandte in Rom, Graf Lamberg, hatte also
bereits seine Instructionen, um bei dem neuen Oberhaupte der Christen-
heit Österreichs Rechte zu wahren , und denselben für dieses zu
gewinnen.
Graf Lamberg war ebenfalls neu in seiner Würde. Nach der
Abberufung des Grafen Martiniz, der den Gesandtschaftsposten bis zum
Jahre 1700 versehen, aber plötzlich, wie es scheint, in Ungnade
gefallen war, übernahm Graf Lamberg mit Anfang des Jahres 1700
seine Stelle. Wir kennen die Motive der Abberufung des Grafen
Martiniz nicht, müssen uns aber ebenfalls wie die österreichisch
gesinnte Partei in Rom wundern , dass der kaiserliche Hof einen
solchen Schritt in so bewegter Zeit gethan und einen des Platzes und
der Verhältnisse so kundigen Mann wie Graf Martiniz bei den im
Die Mission des Freiherrn von Sassinet.
Anfange des Jahres 1700 zu erwartenden wichtigen Zeitereignissen,
durch einen neuen, und ehen darum weniger unterrichteten Botschafter
ersetzt habe. Man sprach in Rom offen seine Unzufriedenheit darüber
aus, und äusserte sich dahin, dass der kaiserliche Hof damit nur dem
französischen Interesse in die Hände arbeite, da der Einfluss der
Gesandten der Grossmächte bei der Wahl eines neuen Papstes,
welche bei dem Alter und der Kränklichkeit Innocenz XII. zu vermu-
then war, von unermesslichem Einflüsse sei. Die Stimmung gegen
Lamberg war eine allgemein ungünstige, ja in der ersten Zeit legte
man ihm sogar zu grossen Eifer für die Förderung der Angelegen-
heiten seiner Familie durch Betreibung der Wahl seines Verwandten
des Grafen Philipp Lamberg, Bischofs von Passau, zum Cardinal bei.
ZurCharakterisirung des Mannes fügen wir noch Folgendes bei: Leo-
pold Graf Lamberg , von der Ottenstein'schen oder Lamberg-Sprin-
zenstein'sehen Linie, Sohn des Grafen Johann Franz und der Freiinn
Marie Constanze von Questenberg war am 13. Mai 1654 geboren,
Erbland-Stallmeister in Krain und in der windischen Mark, Ritter des
goldenen Vliesses, kais. wirklicher geheimer Rath, Kämmerer und seit
1690 kais. Minister auf dem Reichstage zu Regensburg, im Jahre
1703—1705 Botschafter in Rom, starb in Wien am 28. Juni 1706.
Er war vermählt mit Katharina Eleonora Gräfinn von Sprinzenstein,
durch seine Gemahlinn kam das reiche Sprinzenstein'sche Majorat an
sein Haus : die Herrschaften und Städte Waidhofen , Drosendorf,
Weichhartschlag, Theya, Thumritz, Pyrrha u. s. w. Er war bekannt
durch seine bis zur Verschwendung geartete Pracht. So erschien er
auch in Rom (s. Theatrum Europaeum). Er hatte 21 Personen von
gutem Adel in seinem Gefolge, bei seinem Einzüge in Rom sollen an
den Gala wägen alle Beschläge, die Reifen der Räder, sogar die
Hufeisen der Pferde von gegossenem und geschlagenem Silber, statt
Eisen, gewesen sein, jede Galalivree der zahlreichen Dienerschaft,
über tausend Gulden gekostet haben. Der ganz von gediegenem Sil-
ber verfertigte Hausaltar den er bei dieser Gesandtschaft mit sich
führte, das ganze Leiden Christi darstellend, ist (nach Wisgrill,
Schauplatz) noch in derSchlosskirche zu Kranichberg zu sehen. Sein
erstes Auftreten und seine Stellung gegen den früheren Botschafter
Grafen Martiniz war, allen Andeutungen nach, ein feindliches, so zwar,
dass letzterer der nach Lamberg's Ankunft in Rom daselbst verblieb,
darauf bestand, der kaiserliehe Hof möge durch ein eigenes Schreiben
3 p r i e d r i « h F. i r n h a b e r.
anerkennen, dass er seinen Posten tüchtig und zur Zufriedenheit
verwaltet habe, welchem Ansuchen endlich auch, nachdem Graf Lam-
berg durch manche Umstände gezwungen, sich mit ihm verständigt
zu haben scheint, willfahrt wurde. Nach dieser Abschweifung über
den Vertreter der Politik Österreichs in Rom kommen wir auf unsern
Gegenstand zurück.
Zur rechtlichen Darlegung der Ansprüche Österreichs erliess
Kaiser Leopold unterm 29. Jänner 1701 ein zweites Schreiben an den
päpstlichen Hof, ein rein diplomatisches Actenstück, worin er die
Rechte des Hauses Habsburg auf die ganze spanische Monarchie aus-
einandersetzte , gegen die Relehnung des Herzogs von Anjou mit
Neapel protestirte, und selbst um die Belehnung ansuchte. In dieser
Form hielt sich also der Kaiser streng auf dem Wege des Rechtes,
indem er die Rechte des römischen Stuhles auf Neapel anerkannte
und von diesem letztern die Entscheidung verlangte.
Dieser Schritt hatte den gewünschten Erfolg nicht. Der h. Vater
entschuldigte sich mit dem Bestreben die Neutralität aufrecht erhal-
ten zu wollen, bot sich aber zugleich zum Friedensvermittler mit
Frankreich an. Kaiser Leopold nahm diesen Antrag an, und erwiederte
durch seinen Gesandten und den apostolischen Nuntius, er unterwerfe
sich gerne der Vermittlung des h. Vaters zur Herstellung einer Aus-
gleichung, und werde bis dahin keine Truppen nach Italien schicken,
unter der Bedingung jedoch , dass die Franzosen und Spanier sich
gleichfalls jedes aggressiven Schrittes enthielten. Die schon eingerück-
ten Truppen sollten Befehl zum Rückmarsch erhalten , der Papst soll
Neapel und Sicilien als päpstliches Lehen, dann Mailand und Belgien
als Lehen des h. römischen Reiches einstweilen übernehmen und bis
zur Entscheidung sequestriren.
So rechtsliebend und billig diese Vorschläge waren , fanden sie
doch (und dies war vorauszusehen) von französischer Seite Wider-
spruch. Ludwig XIV. der in ihnen, obgleich sie sich nur auf die
Nebenländer Spaniens bezogen, doch schon ein Nachgeben in der
Hauptsache erblickte, da in Spanien selbst Philipp von Anjou bereits
als König anerkannt war, auch der damalige General -Gouverneur
der Niederlande, der Kurfürst von Baiern, sich Philipp V. anschloss
und Anfangs Februar 1701 bereits französische Truppen die belgischen
Festungen besetzten, ein Gleiches der Gouverneur von Mailand, der
Herzog von Lothringen- Vaudemont (wie bereits erwähnt), dann der
Die Mission des Freiherrn von Sassinet. il
Vicekönig von Neapel in Aussicht stellten — alle Aussichten für Frank-
reich also günstig waren — Ludwig XIV. verwarf jede Vermittlung,
höchstens sollte Italien ganz neutral bleiben, — der Kampf sollte in
Spanien ausgekämpft werden, dem Sieger dann auch die italienischen
Besitzungen zufallen; — eine Idee, durch deren Annahme der gege-
benen Sachlage nach Kaiser Leopold sich selbst von jeder Parcelle
der spanischen Erbschaft ausgeschlossen hätte.
Dass man auch kaiserlicherseits wenig von der Vermittlung des
Papstes erwartete, und nur aus Achtung für ihn seinen Antrag annahm,
ist daraus ersichtlich, dass Cardinal Lamherg welcher in Venedig
wegen eines Bündnisses unterhandelte, sich dahin äusserte: Die
Vermittlung des Papstes scheine ihm wenig erspriesslich, wegen
dessen politischer Schwäche. Sollte es aber dabin kommen, dass
die streitigen Provinzen sequestrirt würden, so sei die erste und
vornehmste Bedingung, dass sich die Franzosen aus dem Mailän-
dischen zurückzögen.
Keiner von allen diesen Vorschlägen kam zur Ausführung. Es
blieb also Österreich zur Wahrung seines Rechtes nur der Weg der
Gewalt, den man zu betreten bereits angefangen. Ludwig XIV. sucbte
den Papst und die übrigen italienischen Fürsten zu einem Bündnisse
zu vereinigen und den Kaiser ganz von Italien auszuschliessen, was
ihm aber zum Glücke Österreichs nicht gelang. Obwohl man aus dem
Gratulationsschreiben des Papstes an den Herzog von Anjou zur Erlan-
gung der spanischen Krone entnehmen kann , wie sehr er sich schon
auf die französische Seite neigte, und wie wenig von ihm für Öster-
reich zu hoffen war, obwohl die^ eine Factum strenge genommen
schon hinreichend gewesen wäre, ihn selbst als Feind Österreichs zu
erkennen, so lähmte er die Schritte der letztern Macht doch immer
dadurch, dass er sich äusserlich strenge neutral erklärte und so
behandelt sein wollte. Er anerkannte Philipp V.- als König, weigerte
sich aber als neutrale italienische Macht, ihm die Investitur über Nea-
pel zu verleihen, oder auch nur Hoffnung dazu zu machen, obgleich
er ihm durch die Anerkennung den grössten moralischen Vorschub zur
Erreichung seiner Zwecke auch in Italien gab. Er zeigte seine Par-
teilichkeit für ihn so offen, dass er die goldene Rose welche alljährlich
vom Papste geweiht und jenem Fürsten verehrt wird, welchem er im
Augenblicke die grösste Zuneigung bezeugen will, dem neuen Könige
von Spanien bestimmte. Freilich unterblieb die wirkliche Ausführung
10 Fried rieh Firnhaber.
dieses Gnadenactes, allein nur auf die energischen Vorstellungen des
österreichischen Botschafters.
Trotz dieser ausgesprochenen Zeichen von Sympathie für Frank-
reich Hess sich Clemens doch, wie gesagt, durchaus nicht herbei,
bezüglich Neapels eine Entscheidung zuthun. Franzosen und Spanier
versuchten alle Mittel und Wege, ihn zu erweichen, ihn zu einem
Bündnisse zu bewegen oder die Belehnung zu erlangen, und so zu
erreichen, dass er der bereits ausgesprochenen Anerkennung Philipp's
hinsichtlich der in Besitz genommenen Theile den Schlussstein rück-
sichtlich Italiens einfüge, „der König von Spanien wolle sich per-
sönlich nach Born begeben, um dort die Lehen zu empfangen, und
auf solche Art aufs Feierlichste die Oberherrlichkeit des Papstes
anerkennen, er wolle eine Provinz Neapels an den Kirchenstaat
abtreten, in kirchlichen Angelegenheiten dem Papste besondere
Bechte einräumen, ja persönliche Vortheile für die Familie Albani
wurden in Aussicht gestellt und versprochen," wie Polidori, der
Biograph Clemens XL, in seinem Werke erzählt.
Alle diese Bemühungen wirkten nichts auf den Papst, eben so
wenig als alle Anträge des Grafen Lamberg von Seite des Kaisers
für seinen Sohn, den Erzherzog Karl. Die Demonstration des gedach-
ten österreichischen Gesandten, an seinem Palaste in Born neben dem
kaiserlichen Wappen das k. spanische befestigen zu lassen, machte
keinen Eindruck, man Hess ihn gewähren und machte von päpstlicher
Seite keinen Einspruch dagegen.
Während dieser fortdauernden, Schachzügen gleichen Verhand-
lungen und Unterhandlungen beider Theile setzte der Kaiser seine
Büstungen fort, die Truppen rückten endlich in Italien ein. Wir
wollen hier durchaus in keine Details der militärischen Vorgänge uns
einlassen, der Feldzug in Italien im Jahre 1701 ist vielfach beschrie-
ben und dargestellt von den verschiedenen Biographen Leopold's L,
Joseph's I. und Karl's VI., so wie in anderen Werken, am ausführ-
lichsten in dem neuen Werke von Pelet in der grossen Samm-
lung: Collection de documents inedits sur l'histoire de France etc.
I. serie : Memoires militaires relatifs ä la succession d'Espagne sous
Louis XIV. etc. Paris imp. roy. 183o, tom I, p. 189 ff.
Neben den militärischen Fortschritten und dem politischen
Treiben in Born wurde nicht minder in den übrigen Theilen Italiens
gearbeitet. Venedig, die alte, doch noch immer mächtige Bepublik
Die Mission des Freiherrn von Sassinet. 1 1
war der Zielpimct der Bestrebungen des Grafen und Cardinais Johann
Philipp vonLamberg, um sie für Österreich Zugewinnen, und sich ihren
Beistand zu sichern. Ihm entgegenarbeitete von französischer Seite der
Cardinal Cesar d'Estrees; — beide unterhandelten geheim mit dem dazu
von der Bepublik ausersehenen Mitgliede des grossen Bathes, Bene-
detto Capello, beide ohne Erfolg; denn auch Venedig wollte durch-
aus für neutral gelten und kein Bündniss eingehen. Der einzige
Gewinn für Österreich war der, dass die Bepublik sich dem Durch-
zuge der österreichischen Truppen der ihr Gebiet berühren musste,
nicht hindernd in den Weg zu stellen versprach, sondern nur jede
Verletzung ihres Gebietes und ihrer Unterthanen hintangehalten
wissen wollte.
Der Herzog vonMantua, Ferdinand Gonzaga, erklärte sich gleich-
falls neutral, Hess sich jedoch schon in Venedig mit d'Estrees in
geheime Unterhandlungen ein. Um ihn als Lehensmann des deutschen
Beiches in Treue zu erhalten, sollten der Papst und Venedig seine
Staaten mit neutralen Truppen besetzen. Bevor jedoch dieser Be-
schluss zur Ausführung kam, hatte Herzog Ferdinand, durch franzö-
sisches Gold gewonnen, seine Hauptstadt den Franzosen nach dem
Vorspiele einer scheinbaren Belagerung übergeben. General Tesse
setzte sich in den Besitz von Mantua, der Kaiser erklärte den Herzog
in die Beichsacht. Der Herzog von Parma blieb bei der erklärten
Neutralität, Modena erklärte sich für den Kaiser.
Der Herzog von Sardinien, nachdem er längere Zeit sich mit
Ausflüchten hingezogen hatte, sprach sich offen für Frankreich aus,
und wurde durch die Aussicht auf die Verbindung seiner zweiten
Tochter M. Luisa mit Philipp von Anjou noch fester an dasselbe
gebunden, als er es bereits durch die Heirath seiner ältesten Tochter
mit der altern Linie der Bourbons war.
So standen die Verhältnisse in Italien im Frühjahre 1701. Die
meisten italienischen Fürsten halb oder ganz für Frankreich, und
von diesem wieder gegen Österreich unterstützt. Österreich hatte
nur Aussicht auf sein Waffenglück. Ausserdem fand es Unterstützung
in den Sympathien der Bevölkerung und hegte noch immer die Hoff-
nung, den Papst hinsichtlich Neapels zu einem günstigen Ausspruche
zu bewegen.
Nachdem Kaiser Leopold, wie schon erwähnt, gegen das Testa-
ment KarPs II. protestirt und diese Protestationen nicht nur an die
12 Friedrich Firnhaber.
Höfe, sondern auch im Volke verbreitet hatte, erliess er Autrufe an die
Unterthanen von Mailand, Neapel, Sardinien und Sicilien. Er erinnerte
sie an ihre Pflichten gegen Kaiser und Reich, er rief ihnen die vielen
von Österreich erwiesenen Wohlthaten ins Gedüchtniss zurück,
und versprach ihnen Aufrechthaltung aller Privilegien und Freiheiten.
Um in diesem Sinne weiter auf das Volk zu wirken, schickte er den
Grafen Castelbarco, einen Verwandten des Marchese Visconti, von
den Mailändern geliebt und einflussreich, nach Mailand. Doch weder
dieser noch sein Freund Marchese Pagani, ein gleich treuer Anhän-
ger Kaiser Leopold's, vermochten trotz der Stimmung des Volkes für
Österreich gegen den aufmerksamen Vaudemont eine günstigere
Stellung zu erreichen. Ohne Resultat kehrte Castelbarco nach Wien
zurück.
Stärker und kräftiger war des Kaisers Anhang in Neapel. Die
kaiserlich gesinnte Partei bereitete eine Umwälzung vor, die zur
Vertreibung der Franzosen führen sollte. Sie wollten Neapel als
freien Staat erklären, mit dem Rechte sich einen neuen Regenten zu
wählen. Der neu zu wählende sollte der Erzherzog Karl, Sohn
Kaiser Leopold's, sein. Offen wurde diese Ansicht ausgebreitet, um An-
hänger zu gewinnen, so dass sich selbst eine literarische Controverse
entspann, bezüglich der Rechte des päpstlichen Stuhles auf Neapel
und deren Verletzung durch eine solche Theorie. Flugschriften und
Abhandlungen erschienen, ohne wie natürlich eine oder die andere
Partei zu überzeugen, gleichsam als ein Vorspiel, um die Plane des
mit der französischen Herrschaft unzufriedenen Adels zu verdecken,
die Meinungen zu sondiren, zu prüfen und Zeit zu gewinnen. Mar-
chese Cesar delVasto e di Pescara, ein treuer Anhänger Österreichs
war es, den man zur Anknüpfung der Verhandlungen mit dem kaiser-
lichen Hofe ausersah, und ihn im Namen des neapolitanischen Adels
an Kaiser Leopold sendete, um ihn aufzufordern, die Zuneigung der
Revölkerung zu benützen und die Bewegung zu unterstützen. Zweck
war, wie gesagt, Vertreibung der Franzosen aus Neapel, Erwählung
des Prinzen Karl zum Vicekönig, Bedingungen: Sitz seiner Residenz
im Lande, Aufrechthaltung der Rechte und Privilegien u. s. w. Der
Kaiser wies den Antrag nicht zurück, Hess sich aber offen nicht
weiter in die Sache ein, als dass er zwei Militärs, den Giovanni
Carafl'a Conte di Policastro und Carlo Sangro Marchese di Santo
Luzito nach Rom sendete, um von da aus die Verbindung mit dem
Die Mission des Freiherrn von Sassinet. 1 ',)
neapolitanischen Adel zu unterhalten. Es scheint, dass der öster-
reichische Botschafter Graf Lamberg wenig, der treu ergebene Car-
dinal Grimani mehr in das Geheimniss eingeweiht waren. In inniger
Verbindung mit den zwei genannten Officieren standen die Brüder
Marchese Girolamo und Giuseppe Capece in Rom; — ein lebhafter
Verkehr zwischen Rom, Neapel und Wien war die nächste Folge
dieses Schrittes. Unbegreiflicher Weise flössten diese Vorgänge
dem Gouverneur von Neapel, dem Herzoge von Medina Celi, nicht
den geringsten Argwohn ein, wenigstens im Anfange der Bewegung
ergriff er keine Gegenmassregeln, während dessen der Papst, höchst
wahrscheinlich besser unterrichtet oder vorsichtiger, so strenge war,
dass er, wie Botta erzählt, den Priester Rivarola von Genua und
den Kleriker Volpini wegen ihrer Reden und satyrischen Schriften
hinrichten liess.
In dieser Zeit tritt eine neue wichtige Persönlichkeit auf den
Schauplatz. Botta sagt in seiner Geschichte von Italien, p. 202 :
„Capece (welcher zur Betreibung der Angelegenheiten von Rom
nach Wien geschickt worden war) bekam von da aus zum Begleiter
den Baron Sassinet, einen gebornen Burgunder, in österreichischen
Diensten, welcher zur Förderung des Unternehmens dienen sollte."
Diese Angabe so wie die Nachrichten über die Wirksamkeit des
genannten Agenten sind nicht richtig. Aus der ganzen Sachlage
einerseits, so wie aus der geheimen Instruction Sassinet's scheint
Folgendes hervorzugehen. Kaiser Leopold dem alles daran gelegen
sein musste, den Papst zu gewinnen , ihn wenigstens in Bezug auf
die zu erwartenden Vorgänge in Neapel nicht feindlich gegen sich zu
haben, hatte den Entschluss gefasst, dieserwegen einen eigenen
geheimen Unterhändler nach Rom zu schicken, der den Papst für
Österreich stimmen und zugleich in Verbindung mit Neapel stehen
sollte. Seinen officiellen Vertreter, den Grafen Lamberg, benutzte er
nicht dazu, um im Falle des Misslingens der Unternehmung ihn nicht
zu compromittiren , vielleicht auch, weil er des Terrains nicht so
kundig war und auch bisher beim Papste kein definitives Resultat
erzielt hatte. Dieser Agent, eben wegen seiner Geschicklichkeit und
seiner Erfahrung in italienischen Angelegenheiten dazu erkoren, war
der erwähnte Baron Sassinet dessen geheime Instruction, wie im
Anfange erwähnt, in der königlichen Bibliothek in Paris sich befin-
det. Dieses Actenstück hat eine um so grössere Bedeutung , als in
14 Friedrieh Firnhaber.
demselben Hindeutungen auf die Vorgänge in Neapel sich befinden, die
Ideen des Kaisers ganz beleuchtet werden, und der Empfänger der-
selben— ebenSassinet — nachdem er keinen Erfolg bei dem h. Vater
erwirkt hatte, später bei dem wirklich erfolgten Aufstände in Neapel
eine hervorragende Rolle spielte, und dort ein tragisches Ende nahm.
Wir wissen wenig über die Persönlichkeit des Mannes der eine
so wichtige und zugleich so gefahrvolle Mission übernahm. Franz
Freiherr von Sassinet „consigliere della nostra camera aulica",
wie ihn die Instruction nennt, von Geburt ein Burgunder (ßotta 202)
nach Targe histoire II, p. 60, in der Franche Comte geboren, frü-
her Secretär des k. Botschafters in Rom, des Fürsten Anton Florian
von Lichtenstein. Dies ist alles, was bis zum Zeitpuncte seines
gegenwärtigen Auftretens bekannt ist *)• Die kaiserlichen Minister,
die Grafen Harrach und Mansfeld und Fürst Lichtenstein, sein frü-
herer Chef, wählten ihn als besonders tauglich zu diesem Unterneh-
men (Targe 1. c).
Der Inhalt seiner Instruction geht im Allgemeinen dahin, den
Papst zu bewegen, aus seiner Neutralität herauszutreten, und ihn zu
einem Bündnisse mit Österreich zu vermögen, die Nachtheile ausein-
anderzusetzen , die sein Hinneigen zu den Franzosen für Rom und
ganz Italien mit sich bringen, und die Investitur mit Neapel als päpst-
lichem Lehen, oder wenigstens seine Zustimmung, wenn
i) Ein Manuscript der k. Bibliothek in Paris 737, Suppl., woraus Gay Ne'gociations
etc. p. 30 einiges mittheilt, sagt über Sassinet: Cet agent, d'une naissance assez
obscure du comte de Bourgogne , fut conduit des le berceau par ses parents en
Allemao-ne, qui s' y refugierent pour s'y mettre a couvert des poursuites de la
justice. 11 passa sa jeunesse partie dans le pays et partie de Flandre, ou il eut le
bonheur d' avoir de 1' emploi et de s' eu etre acquitte d'une maniere a faire
esperer beaucoup de lui dans la suite. II devint apres secretaire d'ambassade et
servit ä Rome en cette qualite sous le prince de Lichtenstein. Ce fut par ces
differents degres qu' il acquit la connaissance des interets des princes, des moeurs
et des usages des cours de 1' Europe , et principalement de la fine politique de
celles d' Italic
Gay fügt hier bei: Uue fortune relativement aussi brillant pour un personnage
aussi obscur n' avait au fond rien etonnant quand on songe que son oncle, le
celebre baron de Isola avait commence par etre cuisinier. Dieser Baron Francois
dell' Isola , dessen Neffe Sassinet sein soll , ist derselbe welcher in österreichi-
schen Diensten schon unter Ferdinand III. verwendet, sich bis zum Gesandten in
Spanien aufschwang , und gleich geschickt als Diplomat wie als politischer
Schriftsteller, endlich das Baronat erlangte, und nur durch seinen frühzeitigen
Tod (1674 zu Wien) an noch höherem Steigen verhindert wurde.
Die Mission des Freiherrn von Sassinet. 1 5
Österreich sich in den factischen Besitz gesetzt
haben würde, zu erlangen.
Der letztere Beisatz deutet auf die beabsichtigte Bewegung in
Neapel. Man wünschte, wenn diese gelänge, des Papstes sicher zu
sein, dass er die Sache als fait aceompli ansehe.
Baron Sassinet, als früherer Secretär der österreichischen
Gesandtschaft in Born, muss als solcher bedeutende Fähigkeit bewiesen
haben, weil die Instruction ausdrücklich sagte, man wähle ihn zu
dieser Mission, um den Grafen Lamberg der keine so erprobte Er-
fahrung an dein dortigen Hof besitze , zu unterstützen, ohne jedoch
auszuschliessen, dass er selbstständig auf seine Zwecke hinarbeite. —
Oder wollte man ihn dadurch nur aufmuntern? — vielleicht den Grafen
Lamberg absichtlich in Unwissenheit seiner Verhandlungen mit dem
h. Vater lassen? „actio assistiate al dito ambasiatore, informandolo
nelle congionture dello stile e modo di trattare di quella corte, della
quäle vi supponiamo informatissimo per la lunga prattica, che avete
della medesima" (sagt die Instruction im Eingange).
Die Artikel 1, 2, 3 enthalten allgemeine Andeutungen; die Arti-
kel 4, 5, 6 und 7 berühren ausführlich das Verhältniss zum Papste;
8, 9, 10 und 11 die Verbindungen mit Neapel.
Die Artikel 1 und 2 werden nach den bisher gegebenen Andeu-
tungen klar werden, sie berühren Sassinet's Stellung zu Graf Lam-
berg und Cardinal Grimani. Er soll dem Grafen den öffentlichen
Zweck seiner Mission, die Erlangung der Belehnung kundgeben, und
denselben nach und nach aufklären über das was ihm (Lamberg)
für den Fall einer ausserordentlichen Mission bereits aufgetragen ist.
Lamberg hatte also schon seine Instructionen, wir werden aber doch
nicht irren, wenn wir, gestützt auf die Fassung dieses ersten Artikels,
unsere oben ausgesprochene Meinung wiederholen, dass man Grafen
Lamberg über die eigentliche Bestimmung Sassinet's in Unkenntniss
liess. Die zwar durch nichts erwiesene Angabe von Targe 1. c, dass
Baron Sassinet allein es war, dem das Ministerium die ganze Sache
anvertraute, ihm die geheimsten Instructionen mitgab und ihm die
Geldmittel anvertraute, um die neapolitanische Verschwörung zu
unterstützen, ihn in Allem an den Cardinal Grimani weisend, scheint
wenigstens bezüglich des Grafen Lamberg der Wahrheit nahezukom-
men, wenn auch der Österreich feindliche Schriftsteller in Sassi-
net nur den Agenten der neapolitanischen Bevolution darstellt. Dem
16 Friedrich Fi rn Im bor.
Verhältnisse zu gedachten Cardinale ist Artikel 2 der Instruction
gewidmet. Auch ihn soll Sassinet nach und nach einweihen, seine
Rathschläge sollen strenge befolgt werden, doch so, dass Graf Lam-
berg sich dessen nicht versehe und das gute Einvernehmen mit Gri-
mani nicht gestört werde; ja Sassinet soll weder im Hause des Einen
noch des Andern wohnen, um jede Eifersucht zu vermeiden.
Artikel 4 verbreitet sich weitläufig über Sassinet's Hauptaufgabe
welche bisher ganz unbekannt war, das Project, den Papst zu einer
Allianz mit Österreich zu vermögen. Schon oft in vergangenen Zeiten
seien solche Verbindungen dieser beiden Mächte gegen die Franzosen
da gewesen, freilich sei es jetzt um so schwieriger, da die Franzosen in
Italien so mächtig seien, aber eben dies müsse für den päpstlichen
Stuhl ein noch wichtigeres Motiv sein, gegen sie zu wirken. Es wird
hingewiesen auf den zunehmenden Übermuth der Franzosen, vor dem
selbst der päpstliche Stuhl nicht sicher sei. Sassinet soll den Papst
intimidiren durch die Aussicht auf ein Bündniss des Kaisers mit Eng-
land und den Generalstaaten, ihn aber doch wieder beruhigen, dass
wenn dies stattfinden sollte, der Kaiser jeden Schaden von Italien
fern halten wolle.
Artikel 5 ist ganz der für Österreich so wichtigen Frage über
die Zugestehung der Investitur mit Neapel gewidmet. Es werden die
Gründe auseinandergesetzt, welche Österreich für sich in Anspruch
nimmt und sich auf die erste Investitursbulle Clemens IV. bezogen.
Sassinet könne diesfalls dem heiligen Vater die vortheilhaftesten An-
träge machen, mit ausdrücklicher Hindeutung, dass es nicht leere
Versprechungen sein würden, wie man es von Frankreich gewohnt
ist, das weder einen Frieden noch ein Bündniss , noch irgend eine
andere Convention halte, wie ja selbst im gegenwärtigen Anlasse z.
B. der Herzog von Anjou, sein Vater und Grossvater das angebliche
Testament Karl's II. angenommen haben; doch komme auch von dieser
Erklärung und über diese Verfügung nichts zur Ausführung, ja es
werde ihr entgegen gehandelt, trotz der natürlichen und rechtlichen
Verpflichtung welche man sich doch durch die Annahme auflegte.
Der Vorwand, sagt Artikel 6, den Frankreich zur Beschönigung
seiner Absichten vorbringt, ist der, glauben zu machen, dass der Her-
zog von Anjou als König von Spanien unabhängig und ohne irgend
eine Verbindung mit Frankreich sein werde, dieses und seine Streit-
macht werden nur als Hilfsmacht bezeichnet , während doch klar
Die Mission des Freiherrn von Sassinet. 1 7
sei, dass der König von Frankreich auch Herr in Spanien sein wolle
und werde, einen Minister in Madrid haben werde, der seinen Neffen
überwache, die Stellen mit Franzosen besetzen werde, wie man jetzt
schon durch die Verleihung des obersten Marine-Commando von Spa-
nien an den Grafen d'Estrees gesehen habe. Alle Minister hätten
diesem einen zu gehorchen, er müsse alle Ausfertigungen gutheissen,
man könne also auch ein Bündniss mit der Türkei früher erwarten,
als man denke. Der Zweck sei also klar für den Augenblick, die Zu-
kunft mache eine totale Vereinigung in der Succession der Kronen
von Spanien und Frankreich weder unmöglich noch unwahrscheinlich.
Artikel VII. Da es sich ereignen könnte, dass ein Aufstand in
Neapel oder Sicilien zu Gunsten des Erzherzogs Karl stattfinde,
oder dass der Kaiser sich bewogen finden könnte, eine Dirigirung
seiner Streitmacht gegen Neapel zu veranlassen, so sei der Papst für
diesen Fall zu bewegen, dass er erstens den Durchzug durch Fer-
rara und Bologna gestatte, damit die Truppen Neapel erreichen
könnten, zweitens aber sei dahin zu wirken, dass er nicht schon frü-
her gegen ein derlei Ereigniss (per tal operatione) missgestimmt
würde, und es als einen Eingriff in seine lehensherrlichen Bechte
ansehe. Die Instruction verbreitet sich hier weitläufig über die Schritte
die man schon gethan, um den Papst zu vermögen, die Begierung
von Neapel und Sicilien als Lehensherr bis zur Austragung des Strei-
tes an sich zu nehmen, was aber leider nicht geschehen sei, sondern
im Gegentheile hätte man sie im unrechtlichen Besitze des einen
Bewerbers gelassen, welcher nun die Einkünfte gegen den Kaiser
und sein Becht verwende. Jetzt sei der Moment da, wo die dortigen
Unterthanen, der Gerechtigkeit während der langen Herrschaft Öster-
reichs und des sanften und guten Begiments sich erinnernd, des letz-
tern Hilfe ansprächen, diese könne ihnen der Kaiser nicht versagen,
ohne ihre Liebe zu verscherzen, und sich für immer unmöglich zu
machen , oder Ursache eines noch schlimmem Ausganges zu sein.
Liesse sich der Papst von all' diesen so starken Gründen nicht
bewegen, so sei als letztes Auskunftsmittel Folgendes vorzuschlagen:
Wenn Erzherzog Karl zum Könige Neapels vom Volke proclamirt
wird, so soll ihm der ruhige Besitz im Namen des heiligen Stuh-
les garantirt werden.
Artikel VIII erwähnt die Verbreitung einer Flugschrift in Born,
Neapel, Mailand u. s. w.
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XIX. Bd. I. Hft. 2
18 Friedrich Firnhaber.
Artikel IX berührt die beabsichtigte Erhebung des neapolitani-
schen Adels. Sassinet wird an D. Carlo di Sangro gewiesen, welcher
sich in Rom seit April aufhält um die Verbindungen mit den Neapo-
litanern zu unterhalten. Mit Sangro ist D. Giuseppe Capece Bruder
desMarchese von Soffrano, alle Drei gut gesinnte vollkommen verläss-
liche Leute. Von ihnen wird Sassinet über den gegenwärtigen Stand-
punct des Unternehmens in Kenntniss gesetzt werden , so wie durch
Mittheilung' dessen was der Kaiser an Graf Lamberg schreiben wird.
Er soll sich alles dies gegenwärtig halten, und allen Eifer und Auf-
merksamkeit anwenden , um die Neapolitaner einig und im Zutrauen
auf die kaiserliche Gnade zu erhalten.
Artikel X und XI enthalten kurze Aufträge, mit den Fürsten von
Belvedere und dem Agenten des Erzbischofs von Neapel zu verkehren
und auf seiner Hinreise mit dem Prinzen Eugen von Savoyen über die
allfällig nöthigen militärischen Massregeln sich zu besprechen.
So viel über den Inhalt dieser so wichtigen , mit dem Datum
30. Juni 1701 versehenen Schrift.
Da uns weitere Quellen über die wirklich erfolgten Unterhand-
lungen Sassinefs am päpstlichen Hofe mangeln, so können wir nur aus
den Begebenheiten Schlüsse über den Erfolg derselben ziehen.
Unmittelbar vor oder nach dem Zusammentreffen Sassinefs mit
dem Prinzen Eugen erfolgte im Juli der Einmarsch der kaiserlichen
Truppen in Ferrara, in der Absicht, wenn Sassinet beim Papste
erfolgreich wirke , der erwarteten Erhebung in Neapel zu Hilfe
zu eilen. Doch der päpstliche Hof erhob darüber die bittersten
Beschwerden die sich darin concentrirten, Prinz Eugen habe zwar
um die Erlaubniss zum Durchzuge gebeten, sei aber, ohne die Ant-
wort abzuwarten, fortmarschirt. Der Papst zeigte sich so entrüstet,
dass er Truppen zusammenziehen Hess , um die Österreicher mit
Gewalt zurückzudrängen. Prinz Eugen wollte nicht das Äusserste
wagen ; — in Hoffnung auf die Wirksamkeit Sassinefs zog er sich
freiwillig zurück.
Ende Juli treffen wir den Baron Sassinet in Rom. Graf Lamberg
stellte ihn dem Papste als Geschäftsträger des Erzherzogs Karl vor,
entschuldigte sich zugleich über den Einmarsch der österreichischen
Truppen, und soll sogar, wie Buder erzählt, um Erlaubniss zur
Beziehung der Winterquartiere im römischen Gebiete und ein Dar-
lehen von 500,000 Thaler angesucht haben, zwei höchst unwahr-
Die Mission des Freiherni von Sassinet. 1 9
scheinliche Forderungen welche auch beide vom h. Vater abgeschla-
gen wurden.
Von da an beginnt nun die Wirksamkeit Sassinet's : dass er nichts
erreichte, beweisen die Folgen , ja dass sein Geschäft so weit fehl-
schlug, dass er nicht einmal den Papst günstig stimmen konnte, zeigt,
dass letzterer gerade in dieser Zeit fünf spanische Bisthümer auf
Nomination des Herzogs von Anjou präconisirte. Prinz Eugen wartete
vergeblich auf die Erlaubniss zum Vorrücken.
Mittlerweile hatten die Bewegungen in Neapel ihren ungestörten
Fortgang. Die Häupter des neapolitanischen Adels bewaffneten ihre
Unterthanen, warben Truppen an, selbst auf römischem Gebiete, such-
ten ihren Anhang unter der grossen Masse zu verstärken, gegen Ende
des Monats September sollte der Moment des Losbrechens sein.
Neben den hervorragendsten Gliedern der Adelspartei, dem Herzog
Grimaldi, Caraffa, Sangro, Capece u. s. w. war Cardinal Grimani ein
thätiges Werkzeug des Unternehmens. Verbindungen im ganzen
Königreiche, in Sicilien und in Rom waren eingeleitet, Aussicht auf
günstigen Erfolg vorhanden, wenn Sassinet nur Einiges in Rom errei-
chen konnte. Er erreichte nichts , und begab sich nach dem Fehl-
schlagen seiner Mission nach Neapel. Hier soll er mit Capece in der
Vorstadt de la vita bei einem Schneider gewohnt haben. Je näher
der beabsichtigte Zeitpunct rückte , desto weniger konnten natürlich
die Vorbereitungen verborgen bleiben. Auch der so arglose Gouver-
neur von Neapel wurde endlich aufmerksam, er erhielt deutliche
Anzeigen über die bevorstehenden Ereignisse, und ergriff seine Mass-
regeln. Er konnte dies um so leichter, als der päpstliche Hof auf
seiner Seite und von Aussen nichts zu fürchten war. Die Unterneh-
mung war also, nach dem Misslingen der Unterhandlungen Sassinet's
in Rom, misslungen, bevor sie zum Anfang kam, da selbst für den
Fall eines günstigen Erfolges für Österreich im ersten Augenblicke,
Österreichs Hilfe zu ferne war, um das günstige Resultat zu unter-
stützen und aufrecht zu erhalten. Die ganze grosse politische Bewe-
gung, durch die Wahl des Volkes dem Erzherzoge Karl den Thron
von Neapel zu sichern, sank durch die Macht der Umstände und
schlechte Massregeln zu einem bedeutungslosen Strassenkrawall
herab. Alles misslang endlich, als der Ausbruch aus Furcht vor den
Gegenmassregeln des Gouverneurs beschleunigt wurde. Er erfolgte
am 22. September zwecklos und resultatlos und erreichte in zwei
2* •
20 Friedrich Firnhaber.
Tagen sein unblutiges Ende. Eine detaillirte Darstellung der Vor-
gänge dieser Tage liegt ausser dem Bereiche dieser Zeilen, wir wol-
len die Ereignisse nur so weit verfolgen, insofern sie den Baron Sas-
sinet betreffen.
Die Macht der Franzosen war durch den Besitz und die günstige
Stimmung der Nachbarstaaten schon so erstarkt, die Gegenmassregeln
gegen die Neapolitaner dadurch so erleichtert, dass die Neigung der
Bevölkerung für Österreich weder Gelegenheit, noch bei der wenigen
Aussicht auf günstigen Erfolg hinlängliche Kraft hatte, sich geltend
zu machen.
Überraschenderweise treffen wir jedoch an der Spitze des Auf-
standes den Baron Sassinet persönlich. Mehrere gleichzeitige Berichte,
welche Charles Gay in seinen Negociations mittheilt, geben an, dass die
Verschwörung hauptsächlich sein Werk war, dass er die Verbindungen
im ganzen Königreiche unterhielt, ja endlich beim Ausbruche sich
selbst an die Spitze gestellt habe. Die Strassen durchreitend, hinter
sich eine grosse Menschenmenge, proclamirte er die Wahl des Erz-
herzogs Karl zum Vicekönig von Neapel. Er hoffte noch Alles von der
Sympathie der Bevölkerung, und trug desshalb das Bild des Erz-
herzogs im Triumphe vor sich her. Doch vergebens. Die Volksbewe-
gung wurde unterdrückt, Sassinet und Sangro gefangen genommen,
und allen weiteren Bemühungen auf das Volk zu wirken dadurch die
Spitze abgebrochen, dass die Sieger keine Strenge zeigten, sondern
allgemeine Amnestie kundmachten. Schon am 23. wurde dieselbe für
die Bewohner der Stadt kundgemacht, am 25. erschien die zweite
für das ganze Königreich. Ausgenommen davon waren nur der prin-
cipe di Marchia, der duca di Telese Grimaldi, duca de la Castelluccia
Spinelli, Matizia Caraffa, Tiberio Caraffa, Giuseppe Capece, und jene
welche bei dem Ausbruche in die Hände der französischen Truppen
gefallen waren. In der Beihe dieser Letzteren waren Sangro und
Sassinet. Sangro wurde am 11. October enthauptet, Sassinet an Bord
einer Galeere gebracht und nach Frankreich geführt, wo er in der
Bastille festgesetzt wurde. Von da an erlischt jede Spur über seine
spätere Lebenszeit.
Seine wahnsinnige Idee, sich selbst zum Mittelpunct eines Auf-
standes zu machen, und sich bei dem Ausbruche an die Spitze zu
stellen, lässt sich, abgesehen von der ganz anders projectirten Bewe-
gung die auf rechtlicher Basis beruhte, und bei der offenbaren
Die Mission des Freilierrn von Sassinct. C 1
Unmöglichkeit einen Erfolg zu erzielen, nur damit erklären, dass er
nach dem Fehlschlagen seiner Mission in Rom, durch die Ausführung
eines kühnen Streiches in Neapel auf eigene Faust sein Glück zu
gründen hoffte. Gelang der Streich, so musste ihm der Kaiser dank-
bar sein, wenn auch seine Handlungen in Neapel mehr das Gepräge
der Unternehmung eines kühnen Abenteurers als eines kaiserlichen
Abgesandten trugen.
Benutzte Quellen.
Carlo Botta, Storia d'Italia continuata da quella del Guicciardini
sino al 1789. tomo VII. Parigi, Baudry 1832. Enthält den
ganzen Verlauf der Vorgänge in Italien , ist aber ganz in
italienisch-französischem Geiste geschrieben.
Targe, histoire de Tavenement de la maison de Bourbon au tröne
d'Espagne, Paris, Saillant 1772, 2 vol. 8°.
Limiers, histoire deSuede sous le regne de Charles XII. Amsterdam,
Jansons 1721, 6 vol.
Theatrum Europaeum ad ann. 1700 et 1701. Enthält manche
brauchbare Details.
Pelet Memoircs militaires relatifs ä la succession d'Espagne. Paris
1835. In der Collection des documents inedits etc.
Gay, Charles Negociations relatives ä Tetablissement de la maison
de Bourbon sur le tröne des deux Siciles. Paris, Allouard et
Kaeppelin 1853, 1 vol. 8°. Ein gutes mit Original-Quellen ver-
sehenes Buch, aber ganz in Österreich feindlichem Sinne.
Polidori, de vita et rebus gestis Clementis Undecimi pontif. max.
lib. sex. Urbini MDCCXXVII. Fantauzzi fol. 1 vol.
Clementis XI. pont. max. Opera omnia in quibus continentur I. Eius
orationes consistoriales. II. Homiliae. III.Epistolae et brevia selec-
tiora. IV. Bullarium seeundum exempla romana fideliter repetita.
Accedit vita Clementis a praesule quodam romano perscripta.
Francfurti, Weidmann 1729 fol.
Buder, Leben und Thaten des klugen und berühmten Papstes
Clementis des Eilfften. Aus guten Nachrichten mit einer grossen
Anzahl von dessen Bullen, Breven und Reden auch andern actis
publicis beschrieben etc. in 3 Theilen. Frankfurt. Härtung 1720,
3 vol. 8°.
22 Friedrich Firnhaber.
Braun, Leben Seiner Majestät Caroli III., Königs in Spanien und
der Indien etc. worinnen zugleich mit enthalten, was der spani-
schen Successionssache und des daraus entstandenen Krieges
halber . . . vorgefallen, etc. etc. Leipzig Grossen V Erben und
Braun 1708. 3 vol. 8°. Enthält die meisten auf Rom und Neapel
bezüglichen Staatsschriften.
Herchenhahn, Geschichte der Regierung Kaiser Joseph's des Ersten
u. s. \v. Leipzig 1786. Crusius 2 vol. 8°.
Zschackwitz, Leben Josephi I. Leipzig 1712, 8°.
„ Caroli VI. Frankfurt 1723, 8°.
Rinck, Leben Joseph's. Cöln 1712. 2 vol. 8° und alle übrigen Bio-
graphen Karl's VI. und Joseph's I.
Beilagen.
Instruzione secreta delP imperatore Leopoldo al
consigliere aulico di Sciassinet.
(Mss. de la bibliotheque royale de Paris n. 10090. 5. pag. 390.)
Leopoldo per la gracia di Dio imperatore de Romani instruzzione
secreta per il nostro e fidel diletto Francesco di Sciassinet consigliere
della nostra camera aulica.
II fine della nostra missione si restringe ad assistere nella Corte
di Roma, ove senza carattere dovete aceudire al nostro ministro
ambasciatore conte di Lambergh, del quäle se bene habbiamo tutta la
sodisfattione , che tocca in quanto alla sua fede e zelo verso il nostro
seruitio, non havendo egli tuttavia sperimentata notitia di quella corte,
che tanto abbonda di raggiri et artificij, habbiamo stimato conueniente
alli nostri imperiali interessi di mandarvi colä sotto altro pretesto,
che dovrete publicare tacendo sempre il vero motivo della mossa,
accio assistiate al ditto ambasciatore, informandolo nelle congiunture
dello stile e modo di trattare di quella corte, della quäle vi supponiamo
informatissimo per la lunga prattica che havete della medesima, sugge-
riservandosi di mutare o variare in tutto, o in parte il suo contenuto
secondo le contingenze de casi, di che vi daremo di tempo in tempo
gli ordini necessarij.
I. In esser giunto dourete subito portarui dal sud° ambasciatore,
esponenclogli il motivo publico della vostra missione, consegnandoli
Die Mission des Freiherrn von Sassinet. 23
la nostra imperial carta, e poi in altra congiuntura ä poco ä poco ui
andarete spiegando seco in cio, che coli' occasione della vostra uenuta
gl1 habbiamo ordinato, che come prattico di quella corte, doue per
tanti anni ci hauete seruito, assisterete a quanto uorrä imporui detto
ambasciatore toccante il nostro seruitio obedendo i suoi ordini, et
eseguendu le sue eommissioni.
II. Lo stesso dourete pratticare col Cardinale Grimani conse-
gnandogli pure la nostra carta, ma tirando sempre le uostre lineetutte
al punto di mantenere la buona corrispondenza dell' ambasciatore col
Cardinale, il quäle come Italiano accorto e prattico delle corti puö
illuminare Tambasciatore, onde senza che questi s'accorga, che noi
desidcriamo una stretta dipendenza da i consigli di detto Cardinale la
sostenga con tutta suauita euitando ogni diffidenza, che potesse appren-
dere V ambasciatore se mai sapesse detto nostro desiderio.
III. Per scanzare ogni gelosia dourete astenerui d'habitare in casa
d' uno o delT altro nel tempo della uostra permanenza in quella cittä.
IV. Lo stato presente delle cose del mondo rentle pendenti in
Roma alcuni affari di somma importanza al nostro imperial seruitio. II
puntö e d' attraere dalla nostra parte il Papa in alcuna alleanza per
le graui emergenze dltalia e benche ciö non sarebbe nouita per
essersi altre uolte ueduta tal unione de Papi con la nostra augustissima
casa per cacciar i Francesi, ora che questi si sono resi potenti e formi-
dabili alla corte di Roma rende piü difficultosa, che in altri tempi
Tunione, che si desidera, benche dourebbe esser questo stesso motiuo
piü efficace ä persuaderla, mentre se la detta corte si e opposta al
disegno de' Francesi di por piede in Italia quando erano meno potenti
con maggior uigore dourebbe procurarlo, quando son piü forti, ed in
particolare dopo Tesperienza di questi ultimi anni che si e fatta si
orgogliosa quella Corona, che ha preteso distruggere Tautorita della
Santa sede, e render il papa come im suo capellano. Ad ogni modo il
timor della uiolenza delle sue forze fa molto languide le operationi di
quella corte, e l'esempio della repubblica di Venezia , che tuttauia si
rendo al nostro ministro quanto vi parra necessario per la vostra
condotta del gravissimo negotio dell1 acquisto de legni di Napoli, e
diSicilia, che e Toggetto principale della nostra cesarea intentione
in haver risoluto d' inviare la vostra persona sola, percio vi si
danno le seguenti instruzzioni, secondo le quali dovrete regolarvi,
mantiene in neutralita attrahe anche Tanimo del Pape a seguirla in
24- Friedrich Firnhaber.
questo punto. Pure se mai l'insolenza francese nella strauaganza delle
operationi e delle domande irritasse la corte di Roma non deue trascu-
rarsi tale o simile occasione per replicare a tempo le istanze per la
lega desiderata. Intanto si deue ponderare con lei non hauer noi sin'
ora conchiusa lega con gl" Inglesi eOlandesi e benclie e probabilepossa
seguire procureremo in tal caso, in quauto si poträ tenerli lontano dalle
soste d1 Italia, ma quando uedremo che il Papa, il quäle dourebbe darci
el primo e piü potente aiuto non ci assiste, sarä preciso procurarlo da
chi Toflerisce, e puo eseguirlo con molto nostro uantaggio, e ci dis-
piacerebbe all'ora , se mai i nemici della santa sede ponessero alcun
piede in Italia; ma 1' urgente necessitä et il motiuo della natural difesa,
si come ci giustifica auanti Dio et il mondo cosi rifonderä il male delle
conseguenze sopra chi potendo ajutarci con uantaggio della Santa
chiesa, s'astiene di farlo. Tutto cio deue discorrersi fuori de termini
di alcun impegno e solo in quelli di ponderatione accio a nulla noi
restiamo obligati, ed insieme serua di stimolo al Papa per la risoluzi-
one che si desidera.
V. L' altro puuto principale e quello delP inuestitura domandata
dal regno di Napoli che sta tuttauia pendente delle decisione del Papa
et dal parere della congregazione destinata. Questo conuiene senza
intermissione sollicitarlo, non solo per hauerne la determinazione che
speriamo favorevole, ma ancho perche nel caso di differirsi la delibe-
ratione, siccome sino al uedersi l'esito delle cose, che sono in Italia,
le nostre istanze continuamente portate daranno giustificatione alle
resolutioni future. Le nostre ragioni sono cosi chiare come si uede
ne' scritti mandati a Roma e le piü forti sono appoggiate su la bolla
della prima inuestitura, che diede Papa Clemente IV. su le quati si
sono fondate le altre seguenti, onde si deue procurare un esatta pon-
deratione di esse aiutandoci coi loro confessori, parenti ed amici e
promettendo al Papa le Offerte piü uantaggiose per la santa sede,
dicendoli che questa non saranno come quelle o fatte e da farsi dalla
Francia, quali comprenderanno gran cose, perche si sa, che non ui e
intentione d' osseruarle, non essendosi ancora ueduto, che quella Corona
doppo il presente regnante habbia eseguito cio, che ha promesso ne in
capitulationi di pace, ne di lega, ne in qualsiuoglia conuentione; anzi
nella soggetta materia di che si tratta, hauendo il duca d' Angio con i
suoi padre et avo accettato il supposto testamento del defonto re Carlo II.
si osserua son scandalo universale, che niuna delle parti di quella
Die Mission des Freilierrn von Sassinet. 2 b
pretesa dispositione sin'ora si eseguisce, aiizi ad essa si eontrauiene,
ogni gionio scordati dell1 obligatione naturale, e civile alla quäle coli1
accettatione si sono sottoposti. II contenuto delle Offerte, che faremo,
si sta maturando con piena ritlessione, ma non si presenterä se prima
non siamo sicuri dell' intentione pontiiicia di concedere Tinvestitura.
VI. E perche il pretesto di che si vale la Francia per colorire i
suoi fini, si riduce ä far credere, che il Duca d'Angiö sarä il re di
Spagna indipeudeiite, e con Tantica separatione dagli interessi della
Francia le di cui armi sono chiamate auxiliarie a quelle di Spagna
quantunque da tutti si conosca esser questa una delie solite arti per
ingannare, si vede con euidente dimostratione essere il fine di ren-
dersi cosi arhitro il re della monarehia di Spagna, come e di quella
di Francia, lo stare assistente a Madrid un suo ministro per regolatore
di suo nipote, i posti che si prouedono ne Francesi, anche de piü
gelosi per gli Spagnuoli come e stato V ultimo di tenente generale
dell' armi maritime di Spagna conferito al conte d'Estrees. Grordini
dati a tutti li ministri di ohedire incessamente a quelli del primo e fra
essi ue ne sono alcuni dati al ambasciatore di sottoscrivere tutte le
leggi, che inuiasse a firmar detto re senz' altra participatione, onde
potressimo ueder fermata alcunä lega col Turco, quando meno si pensa.
Queste e tante altre dimostrationi fan chiaro et incontrastabile il
fine, che si pretende nel tempo presente, lasciando al futuro eiö che
possa succedere dall' inoorporatione totale in termine di successione
della corona di Spagna con quella di Francia.
VII. Potrebbe intanto accader alcun accidente di seditione in
Napoli, o Sicilia, o di acclamatione del nostro dilettissimo figlio Tarci-
duca Carlo per re di quei regni, o pure per precedenti ragioneuoli
motiui ci risoluessimo di ordinäre qualche distaccamento delle nostre
truppe che sono in Italia per incaminarle a Napoli, il che si renderebbe
preciso dall' auenimento delle due primi casi; allora dourebbe trattarsi
col Papa, non solo per il passo di Ferrara e Bologna a fine di poter
per quella uia entrar in regno per le parti di Abruzzo, ma a fine
ancora che antecedentamente per le suggestioni de nostri nemici non
s'irritasse per tal operatioue, che li medesimi farebbero apparire, per
poco rispettosa e pregiudiciale al decoro della santa sede nel tempo
della pendenza della domandata inuestitura, all'ora per farli apparir
questa, quäl ella e, e liberarla da somiglianti calunnie, sarebbe neces-
sario di ponderar al Papa, come doppo la morte del Re Carlo II.
20 Friedrich Firnhaber.
puhlicatosi il supposto testamcnto alla notitia di questo, e di esser
asceso alla dignitä pontificia soggetto da noi tanto stimato per la
di cui esaltacione habbiamo cooperato con tutti i mezzi possibili
immediatamente alla prima insinuatione che ci fece Sua Santita del
desiderio della pace, ci meteressimo intieramente alla di lui delibe-
ratione riponendo tutti i nostri imperiali interessi nelle sue paterne
mani, e ci rassegniassimo nell' istesso tempo, che in conformitä
degli esempi pratticati in simili casi da altri sommi pontefici si con-
tentasse di auocar a se il gouerno de suoi regni di Napoli e Sicilia,
come per giustizia deue fare il signore diretto de feudi ad ogni giudi-
tio de priuati pendente la decisione della controuersia de beni,
che si litigano, it che non solo sarebbe stato secondo il tenor di tutte
le leggi raa ancora mezzo efficace per ottener quella pace e concor-
dia tanto dal Papa desiderata. Non solo ciö non si e potuto ottenere,
ma di piü all1 istesso tempo quei legni sono stati occupati dall' ingiusto
possesso del Duca d'Angio, et i tributi di quei popoli si applicano
contro le nostre armi et all'oppositioni delle nostre chiare ragioni,
adesso che la materia e in stato, nel quäle quei del Regno di Napoli
informati della guistitia e ben afFetti alla nostra augustissima casa, il
di cui dominio per 200 anni e stato loro tanto soaue e grato, si solle-
citano ad assisterli colle nostri armi, non potiamo piü dilatar l'ese-
cutione, perche uedendosi altrimenti destituiti dal nostro aiuto, si
darebbero alla disperatione, prorompendo in atti fieri, et altre uolte
pratticati da quella natione, e quando ben si astenessero da simili
attentati, perderebbero affatto l'amore del nostro dominio, $ cui sono
sottoposti, rendendo con un tal effetto quasi impossibile in altro tempo
Timpresa, si che siamo per ogni uerso obligati ad assistergli pronta-
mente. Che se poi a uista di ragioni si forti il Papa non ci dasse il
possesso, che si domanda con espressa o tacita concessione all' ora
per ultimo mezzo termine si li potrebbe proporre il seguente, cioe :
Quando rimanga acclamato il sudetto arciduca nostro figlio per re di
quei regno , il pacifico possesso dello stesso si dichiarerä con scrit-
tura e cautela sufficiente , di tenersi da questo dominio in nome delia
Santa Sede, che ne ha il diretto, ä fine colla total sentenza di dare
l'inuestitura senza perö pregiudicio di tutte le nostre imperiali
ragioni, considerando noi che simil offerta non puö pregiudicarci.
Primo, perche seguita l'acclamatione di quei populi rimane dal
medesimo atto de popoli 1 'acclamato arciduca Carlo eletto per legittimo
Die Mission des Freiherrn von Sassinet. 2 T
re di quel Regno senza dipendenza dal preditto testamento del
re di Spagna, ne dall' inuestitura del padron dirctto, ma solo dallo
uolontä di quelli sudditi ne quali pone la legge primaria delle gcnti
tal facoltä. Secondo, perche stimiamo, che non hauremo necessita
proporre tale speditione, mentre quando le cose si riducono ä tale
stato, non tardarebbe il papa a dar Tinvestitura a nostro beneficio ma
se uolesse mantenersi nella pratticata sospensione non ostante i riferiti
espedienti e ragioni, che si propongono, ui saranno dei mezzi che
Iddio ci ha dato, quali restaranno sempre piü giustificati dalla prece-
denza di tali Offerte.
VIII. Conuerrä che portiate con uoi la seconda parte ultimamente
scritta dal Tellier (?) lorenese a fauore delle nostre ragioni, condu-
cendo il maggior numero che si poträ dei ditti libri cosi in Francese,
come in Italiano, accio si uadano spargendo in Roma, rimettendone
a Napoli, Sicilia e Milano la maggior quantitä possibile essendo un"
opera assai ben compilata.
IX. Rimane adesso il discorrersi d1 un altro punto di non minor
irnportanza che pur deuesi maneggiare in Roma. Si ritroua cola
D. Carlo di Sangro inuiatoui sin dal mese di Aprile, per mantener et
auanzar la buona dispositione degl' animi de Napolitani, che sono a
noi ben affetti, e ä D. Carlo di Sangro aggiunto un caualiere chiamato
D. Giuseppe Capece fratello del Marcliese di Soffrano, e di tutti due
questi due ultimi habbiamo intiera sodisfattione, come pur del primo.
Lo stato oue ci ritrouiamo sin' ora per i passi dati lo sentirete dai
medesimi, e uene rendera totalmente informato la copia, che ui si
darä di quanto in tal proposito scriveremo al nostro ambasciatore, che
non replichiamo. Tenete dunque presente il suo contenuto e secondo
esso ui dourete regolare. V1 incarichiamo perö in questo di star con
tutta uigilanza, perche niuno dei detti soggetti s' ingelosisca dell' altro,
mantonendoli tutti concordi e sicuri della nostra gratia, e lo stesso
dourete pratticare cogl'altri loro dipendenti, se mai hauesse occasione
di trattarli, ricordandoui, che la nazione Napolitana e delicatissima
in simili puntigli, onde ci uuole tutta V accortezza in tenerli lontani
da ogni sospetto, in che potessero incorrere nell1 attribuirsi da noi la
buona direttione degl' affari e la felicitä del successo (se Dio la per-
mettera) piu ad uno, ehe all' altro.
X. Starete con gran riguardo nel trattar col principe di Belvedere,
che e in Roma in habito di prete perche ci e assai sospetta la sua
Z S F r i e d r i c h F i r n h a b e r.
fede, et anche coli' agente del Cardinale Cautelmi Arciuescouo di
Napoli, la di cui casa ha dato segni troppo euidenti, e manifesti della
sua inclinatione uerso la Francia.
XL Doppo la precedenza de sudetti auertimenti u' incarichiamo.
che nell'andar ä Roma ui abbocchiate col principe Eugenio di Sauoia
comandante Generale del nostro esercito, il quäle informarete dello
stato in che sono le cose quando stimi tempo et opportunitä di pratti-
car il distaccamento di alcune delle nostre truppe per incaminarle in
quel regno per la uia d' Abruzzo, che numero gli parerä a proposito
di porter staccare e la forma di poterla eseguire, di che ci renderete
informati prima di partire da lui, accio possiamo pontualmente preue-
nir il modo per tal impresa et accordarlo coli' istessi signori Napoli-
tani, che sono in Roma, e suoi adherenti, ed intanto ui assicuriamo
della nostra beneuolenza e gratia.
Vienna 30 Giugno 1701.
Leopoldus. (Loco sigilli.)
(Lettera di S. S. demente XI. al im per atore Leopoldo I.)
Clemens Papa XI.
Charissime in Christo tili noster, salutem et apostolicam benedic-
tionem. Sapendo noi quanto graui sollicitudini porti seco il supremo
pontificato non habbiamo lasciato opera intentata per distorre il sacro
collegio de' cardinali dal pensare alla nostra ellettione supplicando
neu' istesso tempo con calde e profuse lacrime il signore a liberarci
da un si graue peso ; ma havendo la diuina prouidenza per i suoi
imperscrutabili giudizj non solo indurato gli animi degli elettori, ren-
dendoli sordi alle nostre preghiere, ma di piu anche mosso il generoso
cuore di S. M. a desiderare che una dignitä tanto superiore alle
nostre forze uenisse appoggiata alla nostra debolezza siccome hanno
con sovrabbondanti finezze mostrato li Cardinali di LamberghiMedici e
Grimani assieme col conte di Lamberghi suo ambasciatore non lascia-
mo di raccomandarci al sommo datore de lumi, perche rischiarando la
nostra mente ci dia uigore di potere adequatamente sodisfare alle
nostre parti e nel dimostrare alla M. V. il nostro piü sincero, e uiuo
riconoscimento bramiamo con tutto ardore, che alla felicita del nostro
Apostolato conspirino si consigli di pace e di zelo per la santa
religione negli animi de imperatori cattolici, o poi che ben conosciamo,
per le tante proue che V. M. ha sempre dati alla sua insigne pietä quäl
Die Mission des Freiherrn von Sassinet. <C«J
premura clla habbia per il bene e quiete della christianita tutta, e quäl
interesse giustamente prenda non meno per li uantaggi e propagazi-
one della fede ortodossa (di cui e dignissimo defensore) die per il
mantenimento de dritti ecclesiastici pregbiamo il cielo, che costodisea
lungamente la M. V. che da noi uiene stimata comc un ualidissimo
mezzo ad esaltare la diuina gloria nei presenti tempi e confidiamo
habbia a godere del modo con cui indrizzeremo tutte le nostre questi-
oni a promuoverla. A questi sensi siamo persuasi che V. M. verrä
facilmente indotta dal proprio zelo, e (lalle dimostrationi efficaci, che
saremo pronti a manifestarli di una paterna tenerissima aftezione, onde
bramosi di dargliene proue nella occasioni che ci si presenteranno
benediciamo per fine con particolarissima cordialitä la M. V. con
tutta la sua augustissima casa. Datum Romae apud S. Petrum die
nostrae consecrationis SO.Novembris 1700. Suscepti a nobis aposto-
latus officii anno primo.
(Risposta dell' imperatore Leopoldo I. alla lettera
di S. S. demente XL)
Beatissimo padre.
La gloria- di maggiore di V. S. nella sua felicissima esaltatione
al pontiflcato deriua nel concetto universale dalle istesse sue sublimi
ed apostoiiche uirtu, le quali non solo incitarono un ardente desiderio
di cooperarci per quanto poteuo, ma in tutto il sacro collegio, tanta
ostinatione e concorde uolontä di prouedere, non ostante le pie reni-
tenze di V. B. la chiesa di Dio di cosi buon pastore tanto necessario
nelle occorenti emergenze. Io ringratio la diuina prouienza di questo
fortunato successo, da cui me ne deriua una somma consolatione ed
insiemelaSantita V. delle sue paterne aflettuose espressioni fattemi con
la lettera di proprio pugno dell' ultimo scorso, dalla quäle concepisco,
certissima fiducia che sia per conseruar sempre in particolare riguardo
la mia figliale osseruanza et obbedienza uerso la sede apostolica con-
siderare la mia attentione per meritarmi la benedictione et assistenza
della medesima mentre non hebbi mai maggiore obbligatione di animo,
che di continuare la pace e la tranquillita del Cristianismo come farö
ancora per secondare le sante intentioni di V. Beatitudine sperando
pero dalla sua equanimita che come giusto pote non sia per disap-
prouare che io procuri di mantenere le giuste ragioni e dritti dell
imperio e della mia casa, comene corre un preciso obbligo, ma piutosto
oO Franz Mi kl o sich. Über die Sprache der Bulgare».
per porgermi il suo paterno aiuto, e per dare benigno orechio a
quanto da mia parte sopra questo ed altri particolari li uerra esposto
dal conte di Lambergh mio ambassiatore e mentre prego la diuina
bonta che come ci e stata propizia in beneficarci eon un suo tanto
degno vicario cosi la sia in conseruarcelo sano, et incolume chiedo per
me et i miei figli e nipoti dalla S. V. continuate beneditioni e resto
Vienna 28. Dicembre 1700.
ubedientissimo figlio
Leopoldo.
SITZUNG VOM 9. JÄNNER 1856.
Das wirkliche Mitglied, Herr Professor Franz Miklosich,
legte eine Abhandlung über die Sprache der Bulgaren in Siebenbür-
gen vor. Dieselbe umfasst: 1) eine Einleitung, in welcher die leider
dürftigen Notizen über die bulgarische Ansiedelung von Cserged bei
Blasendorf zusammengestellt werden ; 2) den Text eines für die
Csergeder Bulgaren bestimmten Katechismus welchen der Verfasser
der Güte des als Sprachforscher auch in weiteren Kreisen bekannten
Blasendorfer Domherrn Timotheus Cipariu verdankt. Die Bulgaren
von Cserged welche, ungeachtet sie vol* einigen Decennien ihre Sprache
mit der ihrer Nachbarn, der Bomanen, vertauscht haben , von diesen
auch jetzt noch Schiai (Slawen) genannt werden, bekennen sich zum
Protestantismus und der Katechismus war wahrscheinlich für einen
Deutschen bestimmt, dessen geistlicher Beruf ihm einige Kenntnisse
der bulgarischen Sprache nothwendig machte; 3) Verzeichniss und
Erklärung der in dem Text des Katechismus vorkommenden Wörter,
von denen ein nicht unbedeutender Theil aus dem Bomanischen und
mittelbar aus dem Magyarischen entlehnt ist; 4) Bemerkungen zur
Grammatik des Denkmals welches für die Linguistik dadurch ein
Interesse hat, dass es die einzige Quelle ist , aus welcher einige
Kenntniss der Sprache der Bulgaren in Siebenbürgen geschöpft wer-
den kann und dadurch, dass die Sprache desselben geeignet ist, über
einen Punct der altslovenischen Lautlehre, nämlich die Nasalität
zweier Vocale, Licht zu verbreiten.
Joseph Bergmann. Pflege der Numismatik iu Österreich. Ol
SITZUNG VOM 16. JÄNNER 1850.
Gelesen :
Pflege der Numismatik in Osterreich im XVIII. Jahrhundert
mit besonderem Hinblick auf das k. k. Münz- und Medaitten-
Cabinet.
Mit erläuternden Anmerkungen
von dem w. M., Herrn Joseph Bergmann.
„Si quid uovisti rcctius istis,
Caudidus imperti ; si nou, his utere mecuui."
Horat.
Erste Abtheilung.
Von Heraus bis auf Eckhel (1709—1774).
Meine Untersuchungen über K. Karl'sVI. Medaillen- undAntiqui-
täten-Inspector Karl Gustav H erfeus und das lebhafte Interesse
das ich als Beamter des k. k. Münz- und Antiken-Cabinetes an ihm
nehme, führten mich auf den Gedanken, den weitern Gang der Fort-
bildung und des Wachsthums dieses grossartigen Institutes das ganze
XVIII. Jahrhundert hindurch bis zu Eckhel's Hintritte (-{• 1798) zu ver-
folgen und nicht allein die an demselben thätig wirkenden Männer,
sondern auch jene welche das Feld der Numismatik in Österreich
ruhmvoll bebauten, nachzuweisen und vorzuführen, wie auch beson-
ders jene Zeit von fast vier Jahrzehnten (von 1730 — 1767), während
welcher dasselbe dadurch, dass es keine eigene selbstständige Ver-
waltung hatte, in Dunkel gebullt ist, in etwas aufzuhellen. Mühsam
war das Unternehmen , desshalb aber um so einladender , weil aus
diesem so eben erwähnten langen Zeiträume der unselbststän-
digen Verwaltung dem dermaligen k. k. Münz- und Antiken-Cabinete
32 Joseph Bergmann.
alle Acten fehlen. Diese amtlichen Quellen in demselben beginnen
erst mit dem Jahre 1774 wieder zu tliessen und fliessen bis zum
Anfange des neuen Jahrhunderts sehr spärlich, zumal der beschei-
dene Eckhel seine einfachen Geschäfte einfach führte und aller Viel-
schreiberei abhold war, sie betreffen zum grössten Theile Rechnungen
und Dienstsachen. Ich war demnach zur Erreichung meines festge-
steckten Zieles genöthigt, das vielfach zerstreute Material theils in
den Vorreden numismatischer Werke jener Zeit, theils in alten Hof-
Schematismen, theils im ehemaligen k. k. Hofkammer-Archive, theils
bei Privaten aufzusuchen, zu sammeln und zu verarbeiten.
Ich lege die gewonnenen Resultate in biogr aphisch-histo-
rischer Form und möglichst in chronologischer Folge
zur Erinnerung an den grössten Numismatiker Eckhel, dessen
Geburtstag (13. Jänner) die numismatische Gesellschaft in Berlin
alljährlich feiert, hier nieder mit dem freundlichen Ersuchen, kundi-
gere Männer des Faches mögen weiteres Material zu einer umfassen-
den Geschichte der alten und neuen Numismatik in Österreich und
des k. k. Münz- und Antiken-Cabinets sammeln, wozu diese Zeilen als
geringer Beitrag dienen sollen.
Zwölf Männer werde ich in dieser 1. Abtheilung dem geneigten
Leser vorführen, von denen neun Priester und zwar fünf aus dem
gelehrten Orden der Gesellschaft Jesu waren, die übrigen drei dem
Laienstande und dem Auslande, Frankreich und Schweden, ihrer
Geburt nach angehörten.
I. Karl Gustav Heraus. — Ich beginne mit dem Auftreten dieses
Schweden der in unserm Österreich in der Numismatik die Bahn
öffnete, und fasse mich über ihn kurz, indem ich bei Ver-
öffentlichung seiner Correspondenz mit Leibniz und Anderen, wie
auch in dessen Historia metallica seu numismatica Austriaca in den
Sitzungsberichten (der philosophisch - historischen Classe 1854,
Bd. XIII, S.40— 61 und 539— 625, dann Bd. XVI. S. 132— 168) sein
Leben zu beleuchten versucht und ihm in meinen Medaillen auf
berühmte und ausgezeichnete Männer des österreichischen Kaiser-
staates im II. Bande Nr. XCI einen eigenen Artikel gewidmet habe.
Unter K. Joseph's I. Begierung schien hier ein schöner Morgen
für Münz- und Alterthumskunde anzubrechen. Er berief zu diesem
Ende den gelehrten, in seinem Fache eines ausgebreiteten Rufes sich
erfreuenden Herseus im J. 1709 vom fürstlich Schwarzburgischen
Pflege der Numismatik in Österreich. DO
Hofe nach Wien. Nach zwei Jahren am 17. April 1711 starb dieser
Herrscher an den Blattern in seinem 33. Lebensjahre. Herseus trat
nun in die Dienste seines Bruders und Nachfolgers K. Karl's VI., der
schon als Prinz sich viel mit Münzen beschäftigte und auf seinem
Zuge nach und in Spanien (in ipsa expeditione Iberica) zu edler
Unterhaltung sogar ein kleines Münz-Cabinet, das spanische
genannt, mit sich führte. Unser kaiserlicher Medaillen- und Antiqui-
täten-Inspector hatte die Aufgabe aus den Medaillen und Münzen
welche theils in der Schatzkammer, ferner da und dort in eisernen
Kästchen und Trüheln, hölzernen Schachteln, sammtenen Beuteln,
Leinwandsäckchen unbeachtet und ungewürdigt verborgen lagen,
theils von Sr. kaiserlichen und katholischen Majestät selbst verwahrt
wurden, ein grosses einheitliches Cabinet und zwar ein
antikes und modernes zu schaffen. Zu weiterer Bereicherung
desselben reiste Heraus im Spätsommer 1713 nach Ambras in Tirol
und brachte von da über 1200 auserlesene Stücke. Vielgeschäftig
wurden von ihm Münzen und Medaillen nicht nur in Wien angekauft
und eingetauscht, sondern kamen auch aus dem Auslande, aus Augs-
burg, der Schweiz und Italien, besonders durch die kaiserlichen
Gesandten Marquis Hercules Joseph Ludwig dePrie1) und durch
dessen Nachfolger Johann Wenzel Grafen von G alias (s. Anm. II)
aus Rom, dann aus Ferrara, Sicilien u. s. w. grosse Sendungen , vor-
züglich von alten italienischen Medaillen, woher der Reichthum an
derlei Stücken im k. k. Cabinet sich erklärt. Bei einer jährlichen
Dotation von 4000 Gulden und bei der umsichtsvollen Thätigkeit die
Heraus auf seinem Felde entwickelte , wuchs das kaiserliche Institut
in wenigen Jahren (von 1713—1720) schnell zu einer schönen
Blüthe heran, bald aber gerieth der frische Trieb, wie es scheint,
durch die Schuld des mit der Pflege betrauten unsteten Gärtners in
Stockung, indem er vom Bergwerks-Dämon von seiner geraden und
sichern Bahn in Wien auf einen gefährlichen Abweg in die rauhe Veitsch
im obersteierischen Gebirge sich verlocken liess, der sein Vermögen
verschlang und seine Lebenskraft brach. Sein letztes, mir bekanntes
Schreiben ist aus Veitsch vom 30. September 1725 und er scheint
bald, bis jetzt unbekannt wo , von dieser Erde geschieden zu sein.
*) Kürzere Notizen und Citate setze ich hier unten ; längere Anmerkungen s. am
Ende, su die üher Prie sub I.
Sitzb. d. phil.-hist. CI. XIX. Bd. I. Hfl. 3
34 Joseph Bergmann.
Über seine numismatischen, epigraphischen und poetischen Lei-
stungen s. meine vorerwähnten Mittheilungen in den Sitzungsberich-
ten der kais. Akademie und Nr. XCI meines Medaillenwerkes. Seine
Arbeiten geben ihm das schönste Zeugniss über vielseitige Kennt-
nisse, gründliche Gelehrsamkeit und regen Fleiss ; seine Entwürfe
zu den Medaillen K. Karl's VI. zeigen Geschmack und sinnreiche
Einfachheit gegenüber denen aus der Zeit der Kaiser Leopold I.
und Joseph I.
Heraus der sich eines grossen Vertrauens und Ansehens am
kaiserlichen Hofe zu erfreuen hatte, später aber in Allerhöchstdes-
sen Ungnade gefallen war , übergab zu wiederholten Malen dem
Schatzmeister Heinrich Uwens (f 1730) in einem Buche Abzeich-
nungen und Abdrücke von goldenen und silbernen Münzen zur Con-
trole statt des Inventariums im J. 1721, dann am 21. und 24. Mai 1722
auch Cameen und andere Gegenstände die ihm anvertraut waren.
Sollte nicht einiges Misstrauen von Seite des Hofes gegen den Con-
servator diese Übergabe hervorgerufen haben ?
II. Nach Heraus ward, wie Schlager1) meldet, im J. 1727
der Abbate Johann Baptist Banaglia als Medaillen- und Antiquitäten-
Inspector mit der Besoldung von 1500 Gulden, die auch sein Vor-
gänger bezogen hatte, angestellt, und im k. k. Staats- und Standes-
kalender auf das J. 1 729 lesen wir im angehängten Hof-Schematis-
mus bei dem k. k. Oberstkämmerer-Stabe, S.XX : „Antiquitäten- und
Medaillen-Inspector Hr. Johann Baptist Panagia". Derselbe wird in
Herrgotts Numotheca I. Praefat. §. XV. im J. 1729 Panacia aus
Calabrien, als der letzte Inspector des Cabinets K. Karl's VI.
genannt, das damals 10,794 moderne Münzen und Medaillen zählte 2).
Banaglia, Panagia oder Panacia sind unstreitig Namen derselben
einen Person, was auch der gleiche Taufname bestätigt, die beiden
letztern scheinen zeitüblich griechisirt zu sein. Er starb am 20. März
1730 in Wien3). Im vorerwähnten Staats- und Standeskalender aufs
1) Schlager*s Materialien zur österr. Kunstgeschichte, in dem von der histor. Com-
mission der kais. Akad. herausgegebenen Archive, Bd. V, 696 und 710.
2) U 1 1 i m u s , cui numophylacii cura commissa fuit, Johannes Baptista PANACIA
erat, natione Ca lab er.
3) Im wienerischen Diarium vom J. 1730, Kr. 23 heisst es in der Sterbeliste: Der
Wohl-Ehrw. in Gott Geistlicher Herr Johann Baptist Bannagia , kaiserl. Anti-
quitäten- und Medaillen-Inspector, in dem Hillebrandischen Haus am Kohl-Mark (sie),
alt 38 Jahr.
Pflege der Numismatik in Österreich. 35
J. 1731 heisst es im Anhange S. XX: »Antiquitäten- und Medaillen-
Inspector-Vaeat". Somit war in diesem Jahre diese Stelle noch
erledigt und unbesetzt. Eben so lautet es in dem für 1739. So fehlt in
den folgenden gleichen Kalendern für die Jahre 1748, 1752, 1763
und 1765, in denen der jeweilige Schatzmeister, Galerie-Inspector und
Andere bei dem k. k. Oberstkämmerer-Stabe, dem sie alle unterstan-
den und ihre Nachfolger noch unterstehen, namentlich aufgeführt
sind , die Rubrik „Antiquitäten- und MedaiHeu-Inspector" gänzlich
und taucht erst im J. 1767 *) neben den anderen k. k. Instituten
S. 441 als: „Münz- und Medaillen -Cabinet-Director — Hr. Valentin
Jameray Duval" neu auf, wie wir unten zeigen werden.
Bevor wir in Bezug auf die Per so neu die bei dem k. k.Münz-
und Medaillenschatze später angestellt, oder auf dein Felde der
Numismatik mit lohnendem Erfolge thätig waren, weiter gehen,
müssen wir des betrügerischen Ankaufs einer ganzen Sammlung in
Rom erwähnen, der n acli Heraus' Verwaltung gemacht wurde. Der
Kaiser, voll unablässigen Eifers sein ausgezeichnetes Cabinet zu
vermehren, Hess von den Carthäusern in Rom das reiche Münzcabi-
net das ihr verstorbener Procuratore generale, Pater de Roche-
fort, mit grösster Mühe gesammelt und zu dessen Herausgabe
Kupferplatten angefertigt hatte, im vollen Vertrauen auf das einge-
schickte Verzeichniss um eine grosse Summe Geldes ankaufen und ord-
nete Anton Daniel B e r t o 1 i (S. 37) zur Überbringung nach Wien
dahin ab. Leider war er so unbehutsam, daselbst sich überreden
zu lassen die Kupferplatten zum Abdrucke einiger Exemplare ohne
Vorwissen seiner Vorgesetzten zu erlauben. Hiezu druckte man den
Titel : „Numismata aerea maximi moduli primique duodecim Augusti
ex auro, dudum Romae in Coenobio Carthusiae nunc Viennae Austriae
in gaza Caesarea" ohne Angabe des Ortes und des Jahres, in Folio
(Anm. III). Als die Sammlung nach Wien gekommen war, untersuchte
der gelehrte Pius Nicolaus Gare 11 i , des Kaisers Leibarzt und Hof-
bibliotheks-Präfect, mit dem kaiserlichen Antiquario (wohl Panagia)
nicht allein die Münzen , unter denen sie über 200 falsche, wobei
viele Medaillons waren, fanden, sondern auch die zu Rom abgedruck-
ten Kupferplatten, die so voll grosser Fehler besonders in den
Umschriften waren, dass man diese fehlerhaften so viel möglich zu
x) Leider konnte ich nirgends den Hof-Schematismus von 176o* auffinden.
3*
36 Joseph Bergmann.
unterdrücken sich bemühte, wesshalb Abdrücke dieses Werkes zu
den grössten Seltenheiten gehören. Garelli schrieb darüber am
30. April 1729 einen Brief an Abbe Bignon , Bibliothekar K. Lud-
wig's XV., der im Journal des Scavans. Tom. LXXXIX. Sept. 1729,
pag. 132 gedruckt und später vonErasmus Froelich im zweiten Theile
des Cimelium Vindobonense in lateinischer Sprache wieder heraus-
gegeben wurde. Froelich und Eckhel säuberten später mit schärferer
Kritik noch mehr diesen Augiasstall.
Ausser diesem römischen Cabinete kaufte der Kaiser noch die
ansehnliche Sammlung antiker Münzen vom Grafen Karl Joseph
von Paar (IV) und Hess sie mit seinem kaiserlichen Schatze in einem
der neuerbauten Hofbibliothek nahen Gemache vereinen, und ver-
diente mit vollstem Bechte die Huldigung, die Heraus auf einer Me-
daille mit der Inschrift: OB SEBVATAM PBISC1 NOSTBIQ.ue TEM-
POBIS MEMOBIAM HERCVLI MVSARVM (s. dessen Inscriptiones
edit. 1721, pag. 47) seinem Gebieter dargebracht hat.
Die Vorgänge die des frühern Lieblings Heraus Ungnade her-
beiführten, und der allzu theuere Ankauf der Münzsammlung in Rom
mochten nicht wenig beitragen, den Kaiser seinem Münzcabinet immer
mehr und mehr abgeneigt zu machen, so dass er, wie ich oben
erwähnte, nach Banaglia's oder Panagia's Tode die erledigte Stelle
eines Antiquitäten- und Medaillen-Inspectors gar nicht mehr besetzte.
Der Zeitgenosse Johann ' Basil Küchelbecker erwähnt in :
Allerneueste Nachricht vom Römisch-Kais. Hofe etc. Hannover 1732.
auf S. 925 vom kaiserlichen Münz- und Medaillen-Cabinet :
„dass es unstreitig eines von den stärksten ist, so man zu dieser Zeit
in Europa findet. Allein wir müssen bekennen, dass wir dazu vor
diessmal nicht vermögend, aus Ursache, weil dieses unvergleichliche
Cabinet, so auf der Burg in denen Käyserlichen Zimmern
stehet, vorjetzo niemand ge zeiget wird. Unterdessen können
wir von hörensagen so viel berichten, dass in solchen nicht nur viele
antique Müntzen, e. g. Nummi Graeci, Ebraici, Romani etc. anzu-
treffen, sondern dass von solchen auch die Suite und die Ordnung
meistentheils vollkommen zu sehen. Es sind e. g. die Numi Consu-
lares ; die Käyser sowohl in Gold als Silber und Kupfer etc. nach
der Reihe allda zu finden, und überdies wird nicht leicht ein rarer
Nummus existiren, welchen man allhier nicht haben sollte. Von
modernen Münzen und Medaillen findet man ebenfalls daselbst
E'flege der Numismatik in Österreich. 3 i
einen starken Vorrath, und der über solches bestellte Kaiserl. Anti-
quitäten- und Medaillen-Inspector , Herr Johann Baptist Pana-
gi a (der schon 1730 gestorben, was Herr Küchelbecker, Syndicus
zu St. Annaberg in Sachsen, nicht wusste) erhält solches in der
schönsten Ordnung, welcher dem Publico die grösste Gefälligkeit
erweisen könnte, wenn er mit allergnädigster Käyserl. Erlaubniss eine
Beschreibung davon ans Licht geben wollte."
Nach demselben Küchelbecker hatte auch die k. k. Hofbi-
bliothek damals noch eine Münzsammlung, indem es S. 712,
§. 5 heisst: Nebst denen vielen und unvergleichlichen Büchern, Avie
auch denen raresten Manuscriptis, sind auch allhier noch sehr
viel rare und curiose Sachen zu sehen. Denn man verwahret allhier,
nebst vielen An tiqui täten und Curiositäten , auch einen ziemlich
starken Vorrath von alten und raren Münzen sowohl von Gold
und Silber als auch von Ertz und andern Metallen , welche in einer
schönen Ordnung rangiret zu sehen und in einer guten Suite zu fin-
den sind.
Ob der Hofbibliotheks-PräfectGarelli(f 1739) oder der Schatz-
meister Nicolaus Hilling, oder wer sonst nach Panagia\s Tode die
Oberaufsicht oder Verwaltung vom J. 1730 an führte, vermag ich
nicht anzugeben.
Nun wollen wir die auf Herseus (I) folgenden schriftstelle-
rischen Pfleger der Münzkunde in Wien, die noch der
Regierungszeit K. Karl's VI. (f 1740) und dem gelehrten Orden
der Gesellschaft Jesu angehören, dem Leser vorführen, nämlich:
Granelli, Edschlager und G r u e b e r.
Wir kennen am kaiserlichen Hofe zu jener Zeit ausser vielen
hohen italienischen Cavalieren und Geschäftsmännern mehrere ausge-
zeichnete Gelehrte aus diesem Lande, von denen die hervorragend-
sten sind: Johann Baptist Garelli aus Bologna, schon K. Leo-
polde wie auch K. Karl's VI. Leibarzt (f 1732) und dessen grössern,
gereisten und gelehrten Sohn Pius Nicolaus, kais. Protomedicus
und Hofbibliolheks-Präfecten (f 21. Juli 1739), dessen einziger
schwächlicher und kränkelnder Sohn Johann Baptist Hannibal
in seinem Testamente vom 22. October 1740 seine ererbte kostbare
(die Garellisch e, nachher im Theresianum aufgestellte) Biblio-
thek dem Vaterlande vermachte und am 15. September 1741 im
22. Lebensjahre starb; ferner Anton Daniel Bertoli aus Udine,
38 Joseph Bergmann.
Designatore di Camera K. Karl's VI., nach des Florentiners Fabricio
von Cerrini Tode (f 1. Dec. 1730) Galerie-Inspector und Zeichen-
lehrer der Erzherzogin!), nachherigen Kaiserinn Maria Theresia, 1744;
der Neapolitaner Dr. A 1 e x a n d e r R i c c a r d i , Fiscal bei dem Con-
sejo de Espana, des Jüngern Garelli Mitpräfect der kaiserlichen
Hofbibliothek (f 1726), durch den Panagia aus Calabrien in kais.
Dienste gekommen sein mag; der Venetianer Apostolo Zeno,
gleichfalls auch Numismatiker, der seine reiche, 10.778 Stücke grie-
chische und römische Münzen zählende Sammlung durch Froelich's
Vermittelung am 28. September 1747 dem Stifte St. Florian um
20.000 Gulden verkaufte, endlich der Hofmathematicus und Astronom
Johann Jacob Marinoni aus Udine , dann Oberingenieur der
k.k. Ingenieur-Akademie (f 11. Jänner 1755) nebst Anderen. — Die-
sen ist anzureihen:
III. Rarl Granelli, am 21. Februar 1671 zu Mailand geboren,
kam mit 16 Jahren in den Orden der Jesuiten nach Österreich,
beschäftigte sich mit der Geschichte und Topographie der österrei-
chisch-deutschen Erblande und schrieb seine anonyme: Germania
Aus tr i a c a seu Topographia omnium Germaniae provinciarum Augustae
domui hereditario jure subjectarum studio et labore cujusdam Socie-
tatis Jesu sacerdotis etc. Viennae 1701, in fol. mit acht Landkarten
der einzelnen Landschaften. Dieser Band erschien im J. 1752 in
Quarto abermal, aber ohne diese Karten und zum dritten Male mit
vielen Verbesserungen und Zusätzen bei Gelegenheit der feierlichen
Disputation des Freiherrn Moriz von Brabeck, Zöglings des k. k.
Theresianums, in sehr schöner Ausgabe bei Trattnern im J. 1759 in
4t0 ohne Karten. Granelli war Doctor der heiligen Schrift und lehrte
an der hiesigen Universität Philosophie und Theologie, ferner war er
der verwitweten Kaiserinn Amalia Beichtvater, dann in der Mathema-
tik, Geschichte und M ü n z k u n d e F r o e 1 i c h's L e h r e r. Er sammelte
mit grosser Sorgfalt antike, besonders griechische Münzen, die er wie
auch seinen mit Anmerkungen versehenen handschriftlichen Katalog sei-
ner wohlgeordneten Sammlung sammt einer gewählten numismatischen
Handbibliothek dem Jesuiten-Collegium in Wien hinterliess. Später kam
die Sammlung ins neugegründete Theresianum und ward nach Auf-
hebung des Ordens (1773) dem k. k. Münz-Cabinet einverleibt. Er
starb im Collegium zu Wien am 3. März 1739. Die Angabe die
ich irgendwo las, dass P. Granelli noch auf dem Sterbebette des
Pflege der Numismatik in Österreich. 39
stärkenden Trostes sich erfreute seine mühevolle Schöpfung in den
Händen EckhePs zu sehen, ist eine leere Phrase, da dieser damals
ein zweijähriges Kind war. In der Collectio Scriptorum Societatis
Jesu. Tom. I. Scriptores Provinciae Austriacae. Viennae 1755,
S. 105 sind seine Werke genannt: über Numismatik hat er nichts
geschrieben.
IV. Christian Edschlager (auch Etschlager nicht aber
Ekschlager), im Jahre 1699 zu Wien geboren, trat 1717 in den
Orden der Gesellschaft Jesu, verlegte ausser seinen ßerufsstudien sich
mit vollem Eifer auf Sprachen, besonders die griechische und hebräi-
sche, und war fast aller europäischen Sprachen kundig. In den Neben-
stunden beschäftigte ihn — vielleicht auf des gereiften Mitbruders
Granelli Anregung — vorzüglich die Münzkunde. Seine poetische Ader
führte den Jüngling auf die Bahn welche Ceva, Giannettasius, Rapinus,
Vaniere etc. auf ihrem Gebiete betreten haben, die Numismatik in
einem Lehrgedichte zu besingen. Im Jahre 1724 erschien das-
selbe in Gratz unter dem Titel: Synopsis Rei Nummariae Veterum :
Mein Exemplar in 12mo, dem leider der Titel wie auch die Angabe der
Seitenzahlen fehlen, enthält auf 52 von mir gezählten Seiten 1452
Hexameter in XXI Abschnitten mit nachstehenden Aufschriften:
I. Nummaria. II. Gazophylacium. III. Nomina Nummorum. IV. Aetas
Nummorum. V. Origo nummorum et metalli varietas. VI. Aurum.
VII.Argentum. VIII. Aes. IX. Divisio Nummorum. X. Magnitudo Num-
morum. XI. Nummi maximi. XII. Pars adversa Nummorum, et series.
XIII. Pars aversa Nummorum. XIV. Ordo Nummorum. XV7. Voces et
literae.XVI. Delectus Nummorum. XVII. Color Nummorum. XVIII. Men-
dae Nummorum. XIX. Minora ornamenta Nummorum. XX. Fraudes, et
Nummi falsi (der längste Artikel von 320 Versen). XXI. Paraenesis.
Zum Schlüsse folgt: Synopsis Rei Nummariae explicandis versibus
necessaria , die LX. Monita oder Erläuterungen mit 43 Abbildungen
auf vier Kupfertafeln enthält. Dieses Gedicht erfreute sich einer so
günstigen Aufnahme , dass kurz nach dessen Erscheinen ein reicher
und gelehrter Engländer den Verfasser brieflich bat, eine umfassen-
dere Lehre über diesen Stoff auf seine Kosten ßerauszugeben. Da die
erste Auflage bald eine grosse Seltenheit geworden war, Hess der
Jesuit Karl Klein dieses Gedicht in: Analecta poetica provinciae
Austriae Societatis Jesu, etc., und zwar in Analectorum Epiconim
parte I. Viennae 1755, in 8V0, pag. 444—500 und die Monita von
4-0 Joseph Bergmann.
S. 501 — 540 mit den vorerwähnten Abbildungen auf vier Tafeln
abermals abdrucken.
Vom Seeleneifer getrieben widmete P. Edschlager sich dem
apostolischen Amte der Mission durch vier Jahre in und um Konstan-
tinopel und auf den griechischen Inseln, sammelte sorgfältig grie-
chische Münzen die er zeitweise seinem Ordensbruder P. Granelli
zusandte, nicht minder alte Inschriften für seinen Freund Erasmus
Froelich, dem er auch die Inschrift auf dem pannonisch-norischen,
nun im k. k. Münz- und Antiken- Cabinete verwahrten Bronce-Gewichte,
das bei Ruschtschuk in der Donau von Fischern gefunden wurde, Über-
mächte. Malfei theilte im J. 1734 diese Inschrift jedoch mit fehler-
haften Umrissen mit. S. Prof. Daniel Schimkos verdienstliche Ab-
handlung: Über ein pannonisch-norisches Gewicht in den Sitzungs-
berichten der kais. Akademie der Wissenschaften, Bd. XI. Abtheil. 2,
S. 606—631, besonders 621.
Pater Edschlager lebte nach seiner Rückkehr aus dem Orient
zu Stadt Steyer, erfüllte bei grassirender Krankheit treu die Pflichten
des Priesters und starb daselbst am 2. März 1742.
V. Leopold Grueber zu Rohrbach in Osterreich am 12. Novem-
ber 1696 geboren, trat früh in den Jesuiten-Orden, lehrte im Colle-
gium zu Wien Poesie und Rhetorik, ward Doctor der Gottesgelehrt-
heit, versah verschiedene Ämter im Orden inner- und ausserhalb
k
Wiens, war nach dem Staats- und Standeskalender für 1748 Supe-
rior zu Traunkirchen und starb zu Gratz 1773. Ausser einigen reli-
giösen und moralischen Schriften schrieb er: Numi Augustorum
Caroli VI. et Elisabethae Christinae. Viennae Austriae cusi breviter
descripti et explanati. Viennae Schwendiman. 1726, 8T0. Cf. Col-
lectioScriptorum Societ. Jesu, Tom. I. p. 111. Leider war ich bisher
nicht so glücklich diese Schrift Grueber's irgendwo aufzufinden und
deren Inhalt einzusehen, ob und wie sehr er Heraeus' Publicationen
benützt hat.
Noch eines vaterländischen Gelehrten auf dem Gebiete der
Numismatik müssen wir gedenken, bevor wir zu den beiden Vorder-
österreichern Marquard Herrgott und Rüsten Heer übergehen.
Dieser ist
VI. Chrvsostonms Hanthaler, am 14. Jänner 1690 zu Marenbach
bei Ried im damals baierischen Innviertel geboren, erhielt in der
h. Taufe den Namen Johann. Er studirte unter sehr drückenden
Pflege der Numismatik in Österreich. 4 I
Verhältnissen zuSalzburg, graduirte daselbst aus der Philosophie und
wollte ins dortige Stift St. Peter eintreten. Abgewiesen wandte er
sich zur Rechtswissenschaft und musste, wie einst der grosse Erasmus
von Rotterdam, theils als Corrector in einer Buchdruckerei, theils
durch Correpetitionen aus der Mathematik und Physik und als Gelegen-
heitsdichter seinen Lebensunterhalt mühsam erwerben. Nun ging Han-
thaler nach Wien um nach vollendeten Rechtsstudien sich der Theo-
logie zu widmen. Durch einen Herrn von Metzburg dem 1716
gewählten Abte Chrysostomus Wieser zu Lilien fei d empfoh-
len, trat er in dieses Gotteshaus ein , legte nach seinem Noviziat am
15. August 1717 seine Gelübde ab, nahm seines würdigen Abtes
Namen Chrysostomus an, und las am 2. April 1718 die erste Messe.
Seine priesterlichen Eigenschaften und wissenschaftlichen Kenntnisse
machten ihn bald zu verschiedenen Klosterämtern verwendbar. Er
war durch vierzehn Jahre Novizenmeister , da er ein vorzügliches
Talent zur Heranbildung hoffnungsvoller Jünglinge für die Wissen-
schaften und für die Seelsorge besass, und als Bibliothekar ordnete
er den Bücherschatz und verfasste einen Katalog, darauf bekleidete
er die Stelle eines Subpriors und Administrators am Annaberg und
widmete sich nach der Bückkehr in sein Kloster ganz den Wissen-
schaften, besonders dem Studium der altern österreichischen
Geschichte, wozu ihm sein genannter Abt (f 1747) vollkommene
Müsse gewährte und das Archiv reichliche Quellen bot. Die Münz-
sammlung des Stiftes, welche seine numismatischen Werke veran-
lasste, ging bei dessen Aufhebung (25. März 1789) unter. Abbe
Neu mann hat das Verdienst die Kupferplatten von Hanthaler's
Fortsetzung seiner „ Fasti Campililienses" die mit dem Küchen-
geräthe und Kupfergeschirre auf den Trödelmarkt gerathen waren,
durch deren Ankauf um 72 Gulden vom Untergang gerettet zu
haben. Sie kamen durch des Freiherrn v. Hormavr Vermitteluner
an den Abt Ladislaus zurück, wodurch die weitere Ausgabe veran-
lasst wurde.
Bekannt sind seine Fasti Campililienses. Linz 1730— 1745
in 4t0 und dessen Nachlass, den der vormalige Abt, nachherige Er-
lauer Erzbischof Ladislaus v. Pyrker in Wien 1818 in zwei Folio-
Bänden herausgegeben hat. Ausser Anderem schrieb er ein Verzeich-
niss bisher bekannter Alt- und Neuer , Merckwürdiger Wienerischer
Schau-, Denk- und Lauf- Müntzen. Linz 1745 in 4t0 . Die achte
4<s! Joseph Bergmann.
Abtheilung enthält nach Heraeus „Müntzen unter Kayser Karl dem
Sechsten und Glorreichen", S. 56, und die Medaillen nach demselben
Vorgänger; die neunte und letzte die Münzen, vornämlich Denkmünzen
aus den ersten Regierungsjahren der Kaiserinn M. Theresia bis zur
Vermählung ihrer Schwester der Erzherzoginn M. Anna mit ihrem
Schwager dem Herzog Karl von Lothringen, am 7. Jänner 1744.
Schon am 16. December desselben Jahres starb sie als Statthal-
terinn der Niederlande zu Brüssel in Folge einer todtgebornen Prin-
cessinn. Ein anderer von ihm handschriftlich hinterlassener Theil
enthält die Münzen, Bilder und Sigille der hochadeligen Personen,
Fürsten, Grafen und Freiherren; ferner ein dritter die Münzen, Bilder
und Sigille der adeligen und ritterlichen Personen, der Gelehrten,
Städte und Märkte. Nach seinem Tode (f 2. September 1754)
erschienen dessen: Exercitationes faciles de numis veterum pro Tyro-
nibus. Tom. II, Vindobonae et Pragae. 1756 in 4t0 cum figg. Diese
Übungen sind in die Form von Dialogen eingekleidet. Seine volumi-
nösen, gedruckten und ungedruckten Werke, wie auch die Notizen
über sein Leben s. in der kirchlichen Topographie Österreichs. Wien
1825, Bd. VI, den Ambros Becziczka, nachheriger Abt von Lilien-
feld, verfasste, S. 216 und 306; dann in Barons von Hormayr Archiv,
1816, S. 637.
Die dem Erzhause Österreich stets treu ergebenen Vor lande
waren die Mutter vieler ausgezeichneter Männer in Kirche, Staat und
Wissenschaft. Unter den zahlreichen Reichsstiftern und Klöstern
derselben ragte im vorigen Jahrhundert in der Pflege der Wissen-
schaft dieBenedictiner-AbteiSt. Blasien auf dem Schwarzwalde vor
Allen hervor. Deren Abt Franz II. erwarb 1747 den Titel eines Für-
sten des h. römischen Beichs für sich und seine Nachfolger. Dieses
Gotteshaus besass ein wohl geordnetes Archiv, eine reiche Biblio-
thek besonders im historischen Fache, die im Brande 1768 grössten-
teils verbrannte. Mit ihr war ein ansehnliches Mün z-C abinet ver-
eint, das bei jenem Brande einen starken Vorrath von Bracteaten
verlor, und eine eigene Druckerei, deren Ertrag für die Bereicherung
der Bibliothek verwendet wurde. In diesem Musensitze lebten und
wirkten Martin Gerbert, Aemilian Ussermann, Franz Kreutter, Ambro-
sius Eichhorn, Trudpert Neugart, Berthold Rottler etc., wie auch
unsere beiden Numismatiker Mar quard Herrgott und Rüsten
Heer.
Pflege der Numismatik in Österreich. 4o
VII. Franz Jacob Herrgott, am 9. October 1694 zu Freiburg
in Breisgau geboren, erhielt seine Erziehung im Stifte St. Blasien,
ward daselbst 1715 Profess mit dem Namen Marquard, und
am 17. December 1718 Priester. Sein Abt schickte den hoffnungs-
vollen jungen Mann zu weiterer Ausbildung nach Paris zu den
gelehrten Benedictinern zu St. Germain, denen die Wissenschaft die
weltbekannten classischen Werke verdankt. Er brachte die Überzeu-
gung von der Notwendigkeit gründlicher Quellenforschung, den
Trieb ausdauernder freimüthiger Forschung und Gewandtheit im
Umgange mit Menschen aus Frankreich mit sich zurück. Abt Franz II.
ernannte ihn zu seinem Hofcaplan, später zum Bibliothekar und Gross-
kellner. Bei allen seinen Geschäften widmete er seine Müsse, umfas-
sende Sammlungen zu einem ausführlichen Werke über vaterländische
Kirchengeschichte anzulegen. Nun wurde er nach Wien geschickt,
wo er als Deputirter der breisgauischen Stände von 1728 bis 1748
durch volle zwanzig Jahre deren Angelegenheiten am kaiserlichen
Hofe vertrat. Hier an den reichen Quellen fasste er den Gedanken
seiner habsburgischen Stammsgeschichte. Bekannt sind die Genea-
logia Augustae Domus Austriacae und die Monumenta, von denen noch
der erste Band während seines Aufenthaltes in Wien erschien. Zwei
Sommer hindurch besuchte er das k. k. Münz- undMedaillen-Cabinet
und sammelte mit aller Mühe und bedeutenden Unkosten, wo er nur
konnte, österreichische Münzen, im Laufe von zwölf Jahren über ein-
hundert Stücke. Er verkehrte hier mit dem gelehrten Freiherrn Buol,
der eine auserlesene Münzsammlung und eine in der Numismatik
erfahrene Frau hatte (V.), dessgleichen mit dem Freiherrn von Stein
aus Schwaben, einem grossen Münzenfreunde, ferner mit de France,
Erasmus Froelich, den er „Eruditionis laude florentissimus" nennt.
Sicherlich kannte er noch Panaciaoder Banagia, den er den
letzten Medaillen-Inspector K. Karl's VI. nennt. Herrgott's Numotheca
ist ein Werk, zu dem die meisten Studien hier in Wien gemacht
wurden. Als er mit dem Titel eines kaiserlichen Bathes und Histo-
riographen in sein Stift zurückgekehrt war, erhielt er die Prop-
stei Krotzingen, die ihm Müsse genug gönnte seine Arbeiten
fortzusetzen. In den Jahren 1752 und 1753 gab er mit seinem Mit-
bruder P. Büsten Heer heraus: Numotheca Principum Austriae
ex gazis Aulae Caesareae potissimum instructa et aliunde aucta etc.
Vol. II. Friburgi. — Seine Münzen zeichnete und ätzte in Kupfer
44 Joseph Bergmann.
grösstenteils Peter Mayer aus St. ßlasien, den er über zwölf
Jahre in seinem Solde hatte. Im Jahre 1760 erschien der letzte
Band dieser kostbaren Monnmenta. Zwei Jahre später an seinem
Geburtstage den 9. October 1762 starb er auf seinem Tusculum
Krotzingen, wo er ruht *)•
VIII. Weniger bekannt ist das stillere Leben von Rasten Heer.
Er war im Canton Aargau zu Klingnau, wo St. Blasien eine Propstei
besass, am 19. April 1715 geboren, legte am 15. November 1733
Profess im Stifte ab, ward erst Bibliothekar und Vorstand des
dortigen Münz-Cabinets, als welcher er wesentlichen Antheil
an Herrgott's vorerwähnter Numotheca nahm. Wir finden ihn jedoch
auch ausserhalb des Stiftes in der Seelsorge und in der Administration.
Nach Herrn Professors Fi ekler in Mannheim dankenswerthenMit-
theilungen war er in Krotzingen im October 1755, dann im März
bis November 1762, ferner im September 1763 zuNöggersweil
auf dem Schwarzwald, wo er sich im October 1765 noch befand;
endlich zuBondorf. — Nach Herrgott's Hintritt wünschte und glaubte
Heer die Monumenta Domus Austriacae in Krotzingen ruhig vollenden
zu dürfen ; zu seinem Leidwesen aber erhielt er von St. Blasien aus
die Weisung am 19. November 1762 dorthin zurückzukehren 3).
Man bestimmte ihn sofort zum Pfarrer in Nöggersweil, wo er am
1. December 1762 aufzog. Die Fortsetzung der Monumenta gab er
aber nicht auf, obwohl ihn diese Ortsveränderung sehr derangirt
hatte. Er arbeitete im März 1764 an der Vollendung der Tapho-
graphia Principum Austriae und hoffte sie bis zum Sommer
1765 unter die Presse geben zu können, was auch der Fall war;
denn im October d. J. war der Druck zu St. Blasien im vollen Gange.
Gerbert vollendete und gab sie 1772 heraus. Er sagt in der Prae-
fatio pag. XXXI : Sed iam ante decem annos immortuus labori
*) Vgl. Prof. Fickler's in Mannheim inhaltreichen Aufsatz: Zwei hahsburgische Denk-
mäler und zwei habsbnrgische Geschichtsschreiber P. Herrgott und P. Kopp in
den österr. Blättern für Literatur und Kunst. Wien 9. Oct. (N. 41) 1854, S. 267.
2) Am 18. Nov. schrieb er an Lamey, Bibliothekar zu Strassburg: „Hie literis apnd
nos honor, tantum praefertur utile honesto , so redet man in Freiburg, so redet
man hier und aller Orten." Mit diesem wie mit Schöpft in stand er in gelehr-
tem und vertrautem Briefwechsel, wie er denn unter Anderem an erstem schrieb :
„Intellexi, quam anxius tarn Tu, quam summe venerandus patronus Tuus, iramo et
mens, dominus Schöpflinus, meä de vaJetudine fueritis. — E Crozinga die
XXH. Martii 1762.
Pflege der Numismatik in Österreich. 4o
(P. Marquardus), P. RUSTENO HEER, quo vivus socio usus fuerat in
amplissimo hoc monumentorum Aus triac orum opere, reliquit elu-
cubrandum opus. In quo dum esset ille, et iam haec Tapographia
sub prelo sudaret San-BIasiano — ecce anno 1768 repentino incen-
dio apparatus omnis periit: ipseque P. HEER sequenti anno fatis
cessit, sicque ambo prius sepulcro sunt illati, quam opus hoc in lucein
prodierit etc. Als nach Herrgott's Tode Heer zum Rathe und Histo-
riographen Sr. k. k. Majestät ernannt worden war, bot in Folge
dessen der Fürstabt ihm einen Ehrenposten an, den er wegen Trans-
portirung der Bibliothek, Handschriften etc. bis zur Vollendung des
Druckes sich verbat. Dieser Posten war wahrscheinlich die Admini-
strators-Stelle zu Bondorf, in der wir P. Heer nun fortan finden.
Das Diarium Monasterii S. Petri des Abt Philipp meldet beim
1. Februar 1769: Invisunt me D. Hiller, synd. equestr. Ordin., Dom.
de Camuzi et de Zwerger, et Pat. Rustenus Heer Sanblasianus
supremus curator Bondorfensis. Und beim ersten April desselben
Jahres: Hodie Bondorfii obiit A.R. P. Rustenus Heer, monachus
San-Blasianus, qui prosequi et complere debuisset opus P, Marquardi
p. m. „Monumenta Austriaca" inscriptum, sed forte necdum
finivit. Aet. ann. 54. R. I. P.
Von ihm ist auch die Schrift: Anonymus Murensis (Abbas Fri-
dolinus Kopp) denudatus et ad locum suum restitutus s. Acta fun-
dationis monasterii Murensis denuo examinata. Friburgi 1756, fol.
Während Hanthaler und die beiden St. Blasianer, dann der
Jesuit Froelich als Private im Laufe des IV. und V. (1730—1750)
Jahrzehents mit Geschichte und Numismatik sich beschäftigten,
geschah zu dieser Zeit in letzterm Fache von Seite des Hofes durch
Publication nichts. Kaiser Karl VI. Hess die nach Panagia's Tode
erledigte Stelle eines Antiquitäten- und Medaillen-Inspectors, wie die
Hof-Schematismen dieser Jahre zeigen, bis zu seines Lebens Ende
(20. October 1740) unbesetzt. Seine grosse Tochter hatte bei dem
stürmevollen Antritte ihrer segensreichen Regierung für wichtigere
Dinge zu sorgen. Erst als die wilden Wogen des österreichischen
Erbfolgekrieges und der beiden schlesischen Kriege auf ein Jahr-
zehent zur Ruhe sich gelegt hatten, konnte sie auf die Künste des
Friedens Bedacht nehmen. Ihr Geist belebte die Monarchie mit neuer
Kraft. Sie ordnete die Finanzen, das Heer und die wichtigeren
Zweige der Administration, hierin war Maria Theresia gross. Die
t^O Joseph Ber gm a 11 u.
Zeit forderte neue Schöpfungen, und diese forderten tüchtige Männer
welche die weise Regentinn, wie der Erfolg zeigt, fand und glücklich
wählte. Sie gründete auf der Stätte, — der Favorite — in der ihr
Vater die Augen geschlossen, im Jahre 1746 die adelige Ritter-Aka-
demie, das nach ihr genannte Theresianum, baute 1750 das
prächtige Universitätsgebäude und besetzte die Hochschule mit aus-
gezeichneten Lehrern aus dem In- und Auslande, Gerhard van Swie-
ten erhob das medicinische Studium zu europäischem Rufe, im Jahre
1752 stiftete sie als wahre Mater castrorum die berühmte Militär-
Akademie zu Wiener-Neustadt und die Ingenieur-Akademie in Wien,
1753 die orientalische Akademie, die einzige ihrer Art in Europa,
die Mutter ausgezeichneter Geschäftsmänner für den Orient und
Pflegerinn orientalischer Gelehrsamkeit, sie schuf das geheime Haus-,
Hof- und Staatsarchiv; ferner errichtete sie eine Graveur- und
Bossirschule zur Förderung der Münzprägung, eine Zeichner- und
Kupferstecher -Akademie unter dem Protectorate des Fürsten von
Kaunitz. So geschah auch Vieles in den Provinzen.
Nun gebot es die Zeit, auch für die k. k. Hof- Institute zu
sorgen. An die Stelle des 1739 verstorbenen Hofbibliotheks-Prä-
fecten Garelli trat 1745 der Kaiserinn erster Leibarzt van Swieten,
das verwaiste M ü n z- und Medaillen-C abinet bedurfte vorzüglich
erneuter Aufmerksamkeit und Pflege, die ihm bald im vollsten Masse
zu Theil werden sollte.
Maria Theresia's Gemahl, Franz Stephan, letztregierender
Herzog von Lothringen, ward kraft des Wiener Friedens vom 3. Octo-
ber 1735 nach dem Ableben Johann Gasto's von Medicis (f 9. Juli
1737) Grossherzog von Toscana, und am 13. September 1745 in
Frankfurt zum römisch-deutschen Kaiser erwählt und den 4. October
als Franz I. mit KaiTs des Grossen Krone gekrönt. Kaiser Franz I.
hatte bekanntlich eine grosse Vorliebe für Physik, Chemie und
Botanik , und stand seiner kais. Gernahlinn bei Vervollkommnung
und Einführung so mancher herrlichen Schöpfung rathend und mit-
schaffend zur Seite. Er ist der Schöpfer des grossartigen Naturalien-
Cabinets. Er kaufte im J. 1748 die in ganz Europa berühmte Mine-
ralien-Sammlung des Chevalier Jean deBaillou, der vordem in des
Grossherzogs Johann Gasto Diensten gestanden ist. Baillou kam nach
Wien und ward der erste Director des Hof-Naturaliencabinetes Kaiser
Franzens I. mit der Erblichkeit auf seine männlichen Nachkommen. Er
Pflege der Numismatik in Österreich 47
starb am 24. November 1758, ihm folgte sein Sohn Johann Balthasar
seit 1766 Freiherr von Baillou, und nach dessen am 23. Februar 1802
erfolgtem Tode entsagte sein Sohn Joseph Johann diesem erblichen
Amte (s. Anm. VI).
Nicht mindere Liebe hatte der Kaiser zur Numismatik , legte
mit kaiserlichen Mitteln in möglichster Reichhaltigkeit das moderne
Münz- und Medaillen-Cabin et an, berief im nämlichen Jahre
1748 seinen Bibliothekar Duval aus Florenz und betraute ihn mit
der Obsorge über diese seine Sammlung, dem später nach dem
Hof-Schematismus von 1769 Johann Verot als Custos (Garde du
Cabinet) und Karl Schreiber als Adjunct untergeordnet waren.
Der Kaiser unterliess jedoch keine Gelegenheit, auch das Cabinet
der alten Münzen und geschnittenen Steine zu bereichern.
Wir kommen nun zur fast vierzigjährigen Epoche (1748 — 1786)
der französischen und auch französisch schreibenden
Beamten am kaiserlichen modernen Münz- und Medaillen-Cabinete,
wie auch die aus dieser Zeit herrührenden Acquisitions- Journale,
Kataloge und Münzzettel in dieser Partie zeigen.
Zum geschichtlichen Abrisse der literarischen Pflege der
Numismatik, sowohl der antiken als der modernen, in unserm Oster-
reich zurückkehrend, wollen wir den oben erwähnten Männern jene
vier anreihen, welche vom J. 1748 bis 177o werkthätigen Antheil
an derselben nahmen, nämlich de France, die theoretisch und
praktisch gebildeten Numismatiker Duval, dann Froelich und
Khell, die beiden Vorläufer Eckhel's.
IX. Joseph de France, um das Jahr 1691 angeblich zu Besaueon
geboren, kam als junger Handelsmann nach Wien. Es gelang ihm in
Hofdienste einzutreten und sich in denselben emporzuheben. Zum
ersten Male begegnet er uns im J. 1736 in einer ansehnlichen Stel-
lung. Als nämlich Joseph von Salazar, kaiserlicher Hofkammer-
Rath, Hof-Schatz- und Kammerzahlmeister der verwitweten Kaiserinn
Wilhelmine Amalia wegen seines hohen Alters mit Ende des genann-
ten Jahres in Ruhe treten sollte, wurde laut Decretes vom 13. Decem-
ber an dessen Stelle Jos eph Angelo de France, bisher gewe-
sener Vice- künftighin als wir kl ich er Hof- Seh atz- und Kam-
in er Zahlmeister der erwähnten Kaiserinn ernannt und hatte mit
dem Anfange des neuen Jahres 1737 seinen Dienst anzutreten. Am
4. Mai 1740 verlieh K. Karl VI. ihm aufsein Anlangen in gnädigster
4o Joseph Bergmann.
Erwägung seiner rühmlichen Eigenschaften und seiner Ihrer Majestät
der verwitweten Kaiserinn geleisteten treuen und erspriesslichen
Dienste, besonders aber in Consideratiou des von besagter Kaiserinn
eingelegten Vorworts den Titel eines schlesischenKammer-
rathes, den auch der kaiserliche Schatzmeister Heinrich Uwens
(f 28. Februar 1730) geführt hatte. De France hatte sich in das
Vertrauen des allerhöchsten Hofes gesetzt und besass, wenn ihm
auch höhere Studien abgehen mochten, Geschick und Geschmack,
die k. k. Schatzkammer einzurichten. Nach den Acten im
Archive der k. k. Hofkammer (des dermaligen Finanzministeriums),
dem diese Angaben entnommen sind, ward 1748 von der Kaiserinn
Maria Theresia ihm für die bis dahin geleistete und weiter zu lei-
stende Besorgung der Schatzkammer und Galerie freigestellt, einen
hiezu nöthigen Charakter selbst zu verlangen und in Vorschlag zu
bringen. Er bat um den Charakter eines General-Directors
der k. k. Schatzkammern und Galerien und zugleich, weil
dieses als ein neues Officium keinen Rang oder Vorzug gebe, um den
Titel eines wirklichen Hofkammer-Rathes. Am 2. August 1748,
also in dem Jahre, in dem Chevalier de Baillou und Duval nach Wien
berufen wurden, ernannte die Kaiserinn allergnädigst unsern de
France zum G eneral - D irector der k. k. Schatzkammern
und Galerien in allen ihren Erblanden, mit dem Titel eines Hof-
kämm er-Rathes und dem Beisatze, dass der ihm conferirte Cha-
rakter in seinen bereits aufhabenden (sie) k. polnischen und chur-
sächsischen Diensten ihm nicht hinderlich sein und er auch von
Niemandem als von dem zeitlichen Oberstkämmerer (damals
Johann Joseph Graf von Khevenhüller) einige Dependenz haben
solle. — Als der Grosssultan Mahmud I. den Chaddi Mustafa Effendi
im Sommer 1748 nach Wien sandte, um dem K. Franz 1. seine
Glückwünsche zu dessen Kaiserkrönung darzubringen, gedachte die
Kaiserinn auch ihrerseits dem Sultan durch den kaiserlichen Resi-
denten und nachherigen ersten bleibenden Internuntius zu Konstan-
tinopel, Heinrich Freiherrn von Penkler, ein Geschenk im Werthe
von 20.000 Gulden überreichen zu lassen. Diese Summe liess sie
dem de France „gewesten Kays. Amalischen Kammer-Zahlmaister,"
zur Beischaffung dieser Präsente bei der Hofkammer gegen Quittung
und Verrechnung am 22. und 29. August anweisen. Sie beschloss
auch dem Chaddi Effendi spätestens am 20. September die Abschieds-
Pflege der Numismatik in Österreich. 49
"6
Audienz und Geschenke zu ertheilen, um durch dessen baldige Ab-
reise das Ärarium von den vielen Unkosten zu entledigen. Der mit
Quittungen belegten Rechnung de France's, die unter dem 2. Juni
1749 ganz richtig befunden wurde, liegt auch das specificirte Ver-
zeichniss dieser Geschenke bei, worunter eine reparirte mathema-
tische Uhr aus seiner Sammlung zu 108 fl. IS kr. erwähnt ist. (Vgl.
über diese türkische Gesandtschaft Baron v. Hammers Geschichte
des osmanischen Reiches. Pesth 1836, Bd. IV, 437 ff.)
Am 3. Februar 1749 erstand er in einer Versteigerung das
Haus Nr. 1073 in der Kärntnerstrasse und erwirkte zur taxfreien
Besitzfähigkeit desselben den Titel eines wirklichen Hofkammer-
Rathes (VII). Er war ein reicher Mann von feingebildetem Geschmack
und thätigem Sammlerfleisse, was uns sein Museum lehrt; Avelchen
Grad von literarischen Kenntnissen oder von Gelehrsamkeit aber er
besass, vermögen wir nicht zu bestimmen, da er nirgends als Schrift-
steller erscheint. Sicherlich war er ein tüchtiger praktischer Ge-
schäftsmann, welcher die Oberaufsicht über das k. k. Münz-
C abinet J) hatte und die Obsorge der Herausgabe des k. k. Cime-
liums übernahm, zumal Duval seinem ganzen Wesen nach die erfor-
derliche Geschäftsgewandtheit nach Aussen nicht haben mochte.
De France starb in einem Alter von siebenzig Jahren vor seiner
Gemahlinn, geb. Smitmer, kinderlos an der Brustwassersucht am 25.
(nicht 28.) Februar 1761 nach dem Grabmonument zu St. Stephan,
wo er ruht.
Er hinterliess eine überaus reiche Sammlung von antiken
Münzen, Gemmen, bronzenen Statuetten, Gefässen und verschiedenen
Anticaglien, von der ein Katalog unter dem Titel : „Musei Franciani
descriptio, Lipsiae 1781" gedruckt wurde. Die Herausgabe des
I. Theiles , der die Münzen und Gemmen enthält, besorgte der
gelehrte Friedrich Wolfgang Reizius, die Beschreibung der Mün-
zen ist aber unsers Eckhel's Arbeit, die des II. Theiles Georg Hein-
rich Martini's. Die Münzen kaufte das Hunter'sche Museum in
England, die Cameen die russische Kaiserinn Katharina IL, die Siegel,
Statuetten, Werkzeuge, Anticaglien das k. k. Antiken-Cabinet in Wien
im J. 1808, so auch das oben Seite 40 erwähnte antike Bronze-
*) S. das neu eröffnete Münz-Cabinet von Dr. Johann Friedlich Joachim. Nürnberg
1761, 4., Vorwort S. 8.
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XIX. Bd. I. Hft. 4
Ol) Joseph Bergmann.
Gewicht das Herr Professor Schimko für ein pannonisch-norisches
erklärt hat.
Wir kommen nun zu einem sehr merkwürdigen Manne der aus
einer armen Hütte der Champagne hervorging und nach schwer ver-
lebter Jugend spät sich zum tüchtigen Gelehrten ausbildete, als
Bibliothekar zu Florenz und später als Vorstand des k. k. Münz-
Cabinetes in Wien die vollste Gunst des Kaisers Franz I. genoss und
an dessen glänzendem Hofe bei seiner Natureinfachheit verblieb, zu
— Duval. Der hier mitgetheilte Abriss seines interessanten Lebens,
der besonders seine Stellung am genannten k. k. Institute im Auge
hält, ist seiner ausführlichen Biographie von F. A. v. Koch, die
zum Theile auf dessen eigenen Aufzeichnungen beruht, seinen Briefen
und den alten Hofivammerarchivs-Acten entnommen.
X. Valentin Jamerai Duval, Sohn eines kinderreichen und armen
Taglöhners, im Dörfchen Artonay in der Champagne geboren, hütete
nach dessen frühem Tode die Truthühner eines Bauers und lernte
etwas lesen, musste aber, weil er aus knabenhaftem Muthwillen
einen Truthahn mit einem rothen Tuchlappen todt gehetzt hatte,
diesen Dienst verlassen. Dienstlos und aus seinem Geburtsorte
gestossen und dazu noch von den Blattern befallen, irrte er im Jahre
1709 auf offenem Felde umher und fand bei einem armen Schäfer
Aufnahme und nur die sorgsame Pflege eines benachbarten Pfarrers
mit Hilfe seiner guten Natur retteten ihn vom sichern Untergange.
Weiter diente er durch 2 Jahre einem andern Schäfer zu Clezantaine,
und ein Zufall führte den vierzehnjährigen Knaben der dieses Lebens
müde war, zur Einsiedelei la Rochette am Fusse derVogesen. Er half
dem Bruder Palemon in seinen Arbeiten und lernte etwas schreiben
und rechnen. Er strebte demselben im beschaulichen Leben ähnlich
zu werden. Besonders entflammte einige religiöse Leetüre in dem
sechzehnjährigen Einsiedler eine heilige Begeisterung. Doch bald
bändigte er seine stürmische Phantasie und gewöhnte seinen Geist
nach und nach zu angestrengterem Denken und gewann Geschmack
am Lesen. Von da kam der junge Klausner im J. 1713 zu vier
unwissenden Eremiten in St. Anna bei Luneville, hütete ihre sechs
Kühe und bildete sich durch das Lesen einiger Bücher. Mit unglaub-
lichem Muthe bekriegte er die Vögel und das Wild des Waldes und
verschaffte sich durch deren Erlös eine kleine Bibliothek, schritt
rastlos in seiner Selbstbildung fort und erzwang sich von den
Pflege der Numismatik in Österreich. O 1
Eremiten sogar täglich zwei Freistunden zum Studiren. Die ehrliche
Zurückgabe eines gefundenen Petschafts an seinen Eigenthümer, den
inLuneville wohnenden Engländer Forster, brachte ihm zwei Louisd'or
und später manchen Thaler, Avenn der Natursohn ihn in der Stadt
besuchte. Der gebildete Mann nahm Einfluss auf die Wahl seiner
Bücher und Landkarten. So brachte der Junge 400 Bände des ver-
schiedensten Inhalts zusammen , indem er sich jeden andern noch
so kleinen Genuss versagte.
Als Duval am 13. Mai 1717 unter einem Baume, um sich seine
kleine Herde, in seinen Forschungen vertieft und von Landkarten um-
geben sass, fand ihn der Graf von Vidampier e, Hofmeister der
jungen Herzoge von Lothringen, Leopold Clemens' (f 1723) und Franz
Stephan's, des nachmaligen Kaisers, die zufällig in dieser Gegend
jagten. Von dem Wissen des gelehrten Sonderlings, seinem gesunden
Verstände und seiner Geistesgegenwart aufs Angenehmste überrascht,
entschlossen sich der Graf und Baron von Pfütschner, der Herzoge
zweiter Erzieher der um Duval's Heranbildung und später um dessen
Hauswesen in Wien das grösste Verdienst hatte , demselben im
Jesuiten-Collegium zu Pont-ä-Mousson einen geregelten Unterricht
angedeihen zu lassen. Zwei und zwanzigjährig schied er von den
Eremiten nach vierjährigem Aufenthalte mit Thränen, kam an den
Hof des Herzogs Leopold (f 1729) nach Luneville und von da auf
dessen Kosten ins genannte Collegium, wo er sich besonders der
Geschichte, Geographie und den Altertbiimern rastlos widmete und
in anderthalb Jahren Biesenfortschritte machte. Zu Ende des folgen-
den Jahres 1718 nahm ihn der Herzog mit nach Paris, wo eine
neue wundervolle Welt vor seinen erstaunten Augen auftauchte, und
kehrte über Belgien und Holland mit seinem hohen Gönner zu Ende
des Jahres 1719 nach Luneville zurück. Im Jahre 1729 ernannte ihn
trotz seines Sträubens der Herzog zu seinem Bibliothekar und
zum Professor der Geschichte an der Akademie zu Luneville,
wo er bis zum März 1737 lehrte.
Als Lothringen 1735 für Toscana an den polnischen Exkönig
Stanislaus Leszinski und eventuell an Frankreich abgetreten wurde,
ging Duval mit der ihm anvertrauten Bibliothek im J. 1737 nach
Florenz und kam von da am letzten December 1743 zum ersten
Mal nach Wien, um seinem Grossherzoge Franz I. seine Aufwar-
tung zu machen. Während seines hiesigen Aufenthaltes erhielt er
4*
öC JosephBergmann.
am allerhöchsten Hofe den Auftrag sowohl die antiken als modernen
Münzen auf Tafeln zu bringen. Aus diesem ersieht man, dass der
Münzsammlung wieder einige Aufmerksamkeit zugewendet und
Franz I. zu dieser Zeit zur Anlegung eines eigenen Cabinetes
von modernen Münzen angeregt wurde, das bei seinen kaiserlichen
Mitteln in etlichen Jahren zu seltenem Reichthum heranwuchs. Duval
erbat sich, dass von den XXVI Kupferplatten die von Herseus' The-
saurus numismatum recentiorum Caroli VI. etc. damals vorhanden
waren, einige Abzüge gemacht wurden, wie uns Marquard Herrgott
in der Vorrede §. XVIII seiner Numotheea berichtet. Im folgen-
den Paragraphe wird die Ordnung dieser Herseus'schen Platten
angegeben. Die andern XXXVII Platten waren, wahrscheinlich als
Herseus in des Kaisers Ungnade gefallen, in die Hände des provi-
sorischen Hofmarschalls Franz Jakob Anton Grafen von Brandis und
nach dessen Tode (1746) in einer Kiste durch dessen Tochter
M. Juditha zu den Augustinern gerathen. De France im J. 1756
im Gespräche mit der Gräfinn zufällig auf diese geheimnissvolle Kiste
geführt, untersuchte sie und erkannte die so lang vermissten Kupfer-
platten des unglücklichen Herseus. (S. meine Mittheilung in den
Sitzungsberichten der kais. Akademie. Bd. XIII, 548 — 551.) —
Nach fast neunmonatlichem Aufenthalte verliess Duval am 23. Sep-
tember 1744 Wien und kam am 15. October wieder zu seiner Biblio-
thek an den Arno zurück, machte — wahrscheinlich auf höhere Ver-
anlassung zu weiterer archäologischer Ausbildung — Reisen nach Rom
und Neapel. In Rom weckte die Betrachtung der Trümmer des Welt-
reiches seine frühere Liebe zur Geschichte und zu den Altertliü-
mern von Neuem, und Numismatik, worin er schon in Lothringen
Unterricht ertheilt hatte, wurde nun eine seiner Lieblingsbeschäf-
tigungen, die in ihm die Lust erregte eine Sammlung alter Mün-
zen anzulegen.
Als K. Franz I. eine Sammlung von den verschiedensten in allen
Erdtheilen gangbaren Geldsorten, wie auch von Medaillen, kurz ein
modernes Münz-Cabinet anlegte, berief er seinen Liebling
Duval im J. 1748 bleibend nach Wien, um ihm die Aufsicht nicht,
allein über sein neues, sondern auch (wie aus Allem erhellet) über
das alte, von K. Karl VI. und seinen Ahnen herstammende Münz-
Cabinet, das wir nach diesem Kaiser der in der ersten Hälfte
seiner Regierung so viel für dasselbe gethan hat, füglich das
Pflege der Numismatik in Österreich. 53
Karolinische (Numophylacium Carolino-Austriacum) nennen können,
anzuvertrauen, zumal in den Hof-Schematismen dieser Zeit nirgends
ein eigener Aufseher oder Beamter für das Münz- oder Antiquitäten-
Cabinet erwähnt wird , das doch unter der Aufsicht und Überwa-
chung eines Fachmannes stehen musste. Duval wohnte in der kaiser-
lichen Burg und für seine wenigen Bedürfnisse wurde von seinem
alten Gönner und Freunde, Sr. Excellenz dem geheimen Bathe Baron
von Pfütschner, bei dem er speiste, aufs Beste gesorgt. Mehrmals
in der Woche kam er zum Kaiser, um mit demselben gemeinschaftlich
die Münzen auszuscheiden und die Gefache zu ordnen (Anm. VIII).
Hier wollen wir noch bemerken, dass Duval, als er 1751 des zehnjäh-
rigen Erzherzogs, nachherigen Kaisers Joseph II. Unter lehr er
(sous-precepteur) werden sollte, diesen so ehrenvollen Antrag mit
seltener Bescheidenheit ablehnte, indem er wegen des Verlustes
seiner Schneidezähne den Mangel seiner Organe und die Undeut-
lichkeit seiner Aussprache vorschützte und sagte, dass die zu einem
guten Erzieher erforderlichen Eigenschaften ihm fehlen. Nichtsdesto-
weniger verblieb er im ungetrübten Besitze des Wohlwollens Ihrer
kaiserlichen Majestäten.
Duval der im Mai 1748 nach Wien gekommen war, arbei-
tete seinem Charakter gemäss unablässig in der ihm anvertrauten
Münzsammlung, und zwar, wie es scheint, sowohl in der alten
Karolinischen als auch in der neuen , die K. Franz I. angelegt hat.
Zeugen dessen sind die Publicationen, an denen er einen Hauptantheil
hatte, wie wir nachher hören werden. Zeugen dessen sind drei Folio-
bände eines beschreibenden Verzeichnisses von Münzen persischer
Könige der Arsaciden, die im Jänner 1752 dann im Mai 1756 vom
Kaiser gekauft wurden. Sie sind von Missionären, einem Carmeliter
und Dominicaner, in jenen Ländern gesammelt worden, Dessgleichen
von den Münzen ihrer Nachfolger, der Chalifen, der Dynastie der
Fatimiden, Almoraviden, der Herren von Bassora, der türkischen
Kaiser, des Grossmoguls, der Könige von Armenien, der neupersi-
schen Könige, der Buchara, China, Japan, Indien, Goa, Madras, Ma-
labar, Pondichery, Thibet etc. , endlich von Münzen der europäi-
schen Colonien in Amerika, als englisch-amerikanischen, spanisch-
amerikanischen, französisch-amerikanischen, portugiesisch-amerikani-
schen mit Abbildungen in Kupfer, die eingeklebt sind. Diese anhal-
tenden Arbeiten aber hatten seine Gesundheit zerstört, die eine
54 .Toseph Bergmann.
Herstellung erheischte. Er trat zu diesem Ende am 24. April 1752 eine
Reise nach Frankreich an und verkehrte in Paris vorzüglich mit Abbe
Langlet du Fresnoy, du Fresne d'Aubigny, Abbe Barthelemy, Herrn de
Boze, Duclos, Frau v. Grafigny etc., deren Umgang ihn am meisten
ansprach. Diese Reise heiterte ihn sehr auf, wie seine Briefe an
Fräulein von Guttenberg zeigen. Auf dem Rückwege besuchte ei-
sernen Geburtsort Artonay, wo er die aelterliche Hütte kaufte und an
deren Stelle ein steinernes Haus bauen liess, das er der Gemeinde
mit der Bestimmung als Wohnung für den Ortsschullehrer schenkte;
ferner liess er 1759 die ärmliche Wohnung des Klausners, bei dem
er etwas schreiben und rechnen gelernt hatte , in erneuerter Gestalt
von Grund aus herstellen. Nach Wien zurückgekehrt begann er seine
alte Lebensweise, indem er seine Zeit den Büchern und Münzen wid-
mete und in einem kleinen Kreise theurer Freunde sich bewegte.
Besonders hohe Verehrung zollte er dem vorerwähnten Fräulein
Josepha von Guttenberg, (IX) das im Staats- und Standes-
Kalender für 1748, S. 388, Kammerdienerinn der Kaiserinn Maria
Theresia genannt wird, und mit dem er, wenn es im Gefolge ihrer
Majestät von Wien abwesend war, in fleissigem Briefwechsel stand ;
ferner führte er mit dem russischen Hoffräulein Anastasie Soko-
loff, das er 1762 bei dessen Durchreise durch Wien in einer Loge
des Hoftheaters kennen gelernt hatte, eine lebhafte Correspondenz.
Durch dasselbe übersandte ihm die Kaiserinn Katharina II. wieder-
holt Zeichen ihrer besondern Wertschätzung, so eine Kette mit
einer anhängenden Medaille in Gold , eine Suite russischer Silber-
medaillen, seltene Bücher und kostbare Pelze. Briefe beider Fräu-
lein sind unter den CXXXV Briefen etc. in den in St. Petersburg
1784 in zwei Theilen gedruckten Oeuvres de Valentin Jamerai Duval
enthalten.
Auf Befehl Ihrer Majestät der Kaiserinn machte der 71jährige
Duval mit dem Abbe Johann Mar cy(X) vom 21. Juni bis 13. Juli
1766 eine Reise durch Steiermark, Kärnten und das Pusterthal nach
Innsbruck, wo der Statthalter beide mit aller Aufmerksamkeit
empfing und in der Burg einlogirte. Tiefste Wehmuth ergriff den
dankbaren Natursohn hier, wo sein kaiserlicher Gönner am
18. August 1765 das Leben ausgehaucht hatte. Dieser Besuch
setzte den dortigen alten Burgpfleger v. Kiep ach (XI) in grosse,
drollige Unruhe, der den andern Tag sie nach dem Schlosse Ambras
Pflege der Numismatik in Österreich. 55
führte, wo sie die Rüstungs-, Kunst- und Wunderkammern besichtigten
und dann speisten. Nachdem sie die folgenden Tage die Franciscaner-
Hofkirche mit dem Cenotaph des K. Maximilian I. und den meister-
haften Arbeiten Alexander's Collin, die Universität (XII) und ihren
grossen Saal mit den zwei grossen Globen und den gezeichneten Blät-
tern der Landkarte Tirols von dem schlichten genialen Landmanne
Peter Anich gesehen und bewundert, dann auch die Salinen zu Hall
und die Abtei Witten in Begleitung des Statthalters besucht hatten,
fuhren sie am 9. Juli von Hall auf dem Inn der Donau zu gegen Linz
und Wien, wie uns Duval's Beschreibung dieser Reise an Fräulein von
Guttenberg im Briefe CXXVT berichtet.
Dies war die letzte grössere Reise Duval's. Hochgeachtet und
geehrt vom kaiserlichen Hofe blieb er ein einfacher Sohn der Natur,
still, bescheiden und arbeitsam bis zu seinem Tode am 3. November
1775. Im Sterbebuch der k. k. Hofburgpfarre steht eingeschrieben:
„Duval Valentin Jamerai, Bibliothekar und Antiquar Sr. königl.
Hoheit des Grossherzogs in Florenz und Ober-Director der k. k. Me-
daillen-Cabinete starb am 3. November 1775 im 81. Jahre seines
Alters, und wurde in der Hofgruft begraben. Hat die h. Sterbsa-
cramente empfangen." Er war ein Freund ungeschminkter Wahrheit
und überaus wohlthätig. Dieser ausserordentliche Mann der seine
Bedürfnisse stets auf das Notwendigste beschränkte, hatte ein Herz
voll des Mitleids mit dem Weh des Nächsten. Er half wo er konnte.
In seinem Testamente vermachte er ein Capital von 12.250 Gulden
zu dem Ende, dass die hievon entfallenden Interessen nach dem Tode
der Legatarien dreien armen Mädchen zu einer Aussteuer vertheilt
werden. Das Präsentationsrecht hiezu haben die niederösterreichi-
schen Landrechte. S. Anton v. Geusau's Geschichte der Stiftungen,
Erziehungs- und Unterrichts-Anstalten in Wien. Wien 1803, S. 482.
Have anima candidissima!
XI. Erasmns Froelich. Aus der Mitte des Ordens der den Hof-
Antiquar Heraus wegen der gewandten, classischen Latinität in
seinen Inschriften mit Scheelsucht angesehen haben soll, bildete
zur Zeit, als der Unglückliche ins Grab stieg, im Stillen ein Mann
sich aus, der auf dem Felde der Numismatik sehr viel hoffen liess
und die Hoffnungen in vollem Maasse erfüllte — -Erasmus Froe-
lich. Am 2. October 1700 zu Gratz geboren, trat mit 16 Jahren
in den Orden der Gesellschaft Jesu und ragte bald durch Talent
56 Joseph Bergmann.
und Fleiss unter den jüngeren Mitgliedern desselben in Österreich
hervor, lehrte nach zurückgelegten philosophischen Studien anfangs
an dem Gymnasium zu Klagenfurt, ward dann an die Wiener Uni-
versität berufen um die Mathematik zu lehren , die er öffentlich und
privatim mit Meisterschaft vortrug. Hier weckte sein Mitbruder
Edschlager (S.39) zuerst den schlummernden Funken für Numis-
matik, der später zur Leuchte werden sollte. Froelich widmete
seine Müsse diesem Studium. Er stand mit diesem gelehrten, poly-
glotten Freunde, mochte dieser zu Galata oder irgendwo in den
österreichischen Landen weilen, bis zu dessen allzufrühem Hinschei-
den (1742) in ununterbrochenem Briefwechsel der, wie sein Bio-
graph Khell sagt, (damals) noch vorhanden und fast auf jeder Seite
von Münzen und Inschriften voll ist. Froelich fand nach dessen Tode
ein Verzeichniss von mehr als siebzig Inschriften , die überschick-
ten Münzen kamen mit der Granellischen Sammlung ins Theresiauum.
Im fast täglichen Umgange mit P. Grane 11 i wurde diese Lust und
Liebe gesteigert und seine Fortschritte in der Numismatik so erfolg-
reich , dass er seinen gelehrten Lehrer schon bei dessen Lebzeiten
weit übertraf, ihm aber stets den schuldigsten Dank zollte. Er bildete
in diesem seinemLieblingsfache, wie in der Geschichte, ohne welche
die Numismatik todt ist, allmählich sich zu jener Beife aus, die ihm
eine ausgezeichnete Stelle unter den Numismatikern und Geschichts-
forschern seiner Zeit in Österreich anweist. Sein literarischer Erst-
ling zur Feier einer akademischen Promotion im J. 1733 geschrieben
führt den Titel: Utilitas Bei Numariae veteris coinpendio proposita.
Accedit Appendicula ad numos Coloniarum per Cl. Vaillantium editos.
E Cimelio Vindobonensi cujusdam e Societate Jesu (seil. Caroli Gra-
nellii). Excudi curavit Johannes Adamus Schmidius, Bibliopola
Noribergensis, in 8V0 , nebst einer Kupfertafel mit 27 Münzen.
Als die Kaiserinn Maria Theresia auf der Stelle der alten k. k.
Favorite, dem gewöhnlichen Sommerpalaste des allerhöchsten
Hofes, in dem ihr Vater am 20. October 1740 gestorben war, im
J. 1746 die nach ihr genannte Bitterakademie gebaut hatte *)> über-
gab sie derselben 1748 die Garellische Bibliothek und setzte ihr den
gelehrten Froelich als Bibliothekar vor, dem daselbst seit 1746
*) Bei der Ausgrabung des Grundes soll man alte Münzen vom K. Alexander Severus
mit der Aufschrift „SPES PVBLICA" gefunden haben.
Pflege der Numismatik in Österreich. 1)7
zugleich das Lehramt der Geschichte, der Alterthümer, Diplomatik,
Wappenkunde und der griechischen Sprache anvertraut war. Er
überbrachte aus dem Professhause (bei St. Anna) des Ordens die
G ran e 11 i sehe Münzsammlung dahin, welche die Jesuiten
diesem adeligen Collegium als völliges Eigenthum überlassen
hatten.
Als die Kaiserinn den Katalog ihres wahrhaft kaiserlichen
Cabinetes antiker Münzen (Cimelii Carolino-Austriaci) ans Licht
stellen lassen wollte, wurden unter de France's Oberleitung Duval
und Froelich, dann als Duval im J. 1752 nach Frankreich reiste,
auch Khell zur Ausfertigung desselben verwendet und sie lösten
vereint diese schöne Aufgabe zu vollster Zufriedenheit beider Majestä-
ten. Froelich hatte vermöge seiner historischen Kenntnisse sicher-
lich nicht den unbedeutendsten Antheil an diesem sie Alle ehrenden
Werke. Öfters besuchte sie der Kaiser bei ihrer Arbeit und wusste
durch seine theilnehmende Gegenwart ihre Bemühungen zu lohnen.
Auch Hess er, wenn er von der Last der Staatsgeschäfte ausruhend
mit der Durchsicht schwieriger und theuer gekaufter mittelalter-
licher Münzen sich beschäftigte, manchmal unsern Froelich rufen,
besonders als er im Jahre 1752 eine grosse Anzahl part bischer
Münzen (S. 53) erhalten hatte, und fand an seinem angenehmen und
lehrreichen Vortrage über dieselben Vergnügen. Nicht minder ehrte
die Kaiserinn den Pater Froelich und nannte ihn einen grossen
Mann. Sie Hess alle Tripletten ihres Miinz-Cabinetes, die in fünf
geräumigen Kisten verwahrt lagen und beinahe volle und reiche
Serien jeglicher Grösse sowohl in Silber als Bronze bildeten, ihm
einhändigen. Segensreich wirkte er auf Kopf und Herz des jungen
Adels im Theresianum und ermunterte ihn durch Lehre und Bei-
spiel zum Fleisse. Er ward im In- und Auslande hoch geehrt und
in seinem Fache durch vielen Briefwechsel zu Rathe gezogen.
An zehn Jahre litt er an Steinschmerzen, so dass am 7. October
1756 eine gefährliche Operation in Gegenwart van Swieten's vor-
genommen werden musste. Er genas, widmete mit neuem Muthe sich
seinem Amte, um den 7. Juli 1758 an einem hitzigen Seitenstech-
iieber zu sterben.
Froelich's numismatische, historische (die dunkle Partien
österreichischer und innerösterreichischer Geschichte des Mittel-
alters behandeln) und mathematische Arbeiten, fünf und zwanzig an
Oö Joseph B ergmann.
der Zahl, sind durch kritischen Scharfblick, Klarheit und redlichen
Wahrheitssinn ausgezeichnet.
Sein Ordensbruder Khell, zugleich sein Schüler in der Numis-
matik und Nachfolger an der Garellischen Bibliothek, gab: Erasmi
Froelich e S. I. de Familia Vaballathi numis inlustrata opusculum
postumum. Vindobonae 1762 in 4t0 heraus und setzte in dem voran-
geschickten „Elogium P. Erasmi Froelich" von S. 7 — 27 sei-
nem Lehrer ein Denkmal der Dankbarkeit, dem obige biographische
Notizen hauptsächlich entnommen sind J)-
XII. Joseph Khell von Khellbnrg. — Nach den Reichsadels-
Acten erhalten am 14. Februar 1585 die Gebrüder Michael, Melchior
und Wolfgang Khell einen Wappenbrief; ferner am 7. März 1657
Johann Georg und Georg Khell den Adeiststand mit dem Prädicate
Khell bürg, und Wappenbesserung durch jenes des ausgestor-
benen Geschlechtes der Übelbacher. Im Innern der Pfarrkirche zu
Gmunden copirte ich im J. 1850 die Grabschrift: Joh. Wilh. Khell
v. Khellbürg, gewester Registrator, Salz- und Einnehmer- Ambts
Gegenhandler zu Gmunden, f 16. März 1712 im 66. Jahre. Zwei
Wappen. — Darunter die seiner Ehefrau : Maria Helena, geb. Helm-
bergerin von Weiterstorf, f 12. Juni 1725, alt 75 Jahre.
Nach Mittheilungen aus dem Taufbuche zu Linz wurde dem
Herrn Wolfgang Wilhelm Keel (sie) von Kellnburg und seiner
Hausfrau Anna Regina am 15. August 1714 der Sohn Joseph Xaver
Wilhelm daselbst geboren. Im J. 1729 trat er in den Orden der
Jesuiten, lehrte durch vier Jahre in den unteren Schulen zu Klagen-
furt, machte zu Wien die philosophischen und theologischen Studien.
Er lehrte erstlich in seiner Vaterstadt, dann in der Theresianischen
Ritterakademie Philosophie und war einer der ersten in unserem Lande,
der sich von Aristoteles zuCartesius wandte, darauf durch sechs Jahre
an der Universität die griechische und hebräische Sprache, erklärte
drei Jahre die heilige Schrift und ward Doctor der Theologie und
kehrte wieder ins Theresianum zurück. Hier übernahm er nach
Froelich's Tode (1758) die Aufsicht über die Bibliothek, lehrte
zugleich durch zwei Jahre Geschichte und dann bis an seines
*) Lebensgeschichte weiland Herrn Erasmus Froelich etc., übersetzt von Samuel
Wilhelm Oetter im neueröffneten Münz-Cabinete. Nürnberg 1773, Bd. IV. Anhang
Nr. 201—220.
Pflege der Numismatik in Österreich. 59
Lebens Ende Numismatik und Alterthumskunde, auch finden wir ihn
daselbst als Professor der Experimental-Physik. Mit Froelich's Stelle
erbte er auch dessen Briefwechsel und vermehrte ihn mit ausgezeich-
neten Gelehrten seines Faches in Deutschland, Frankreich, Italien
und Spanien, machte gern Reisen, so nach Venedig zum Marchese
Savorgnani, nach Schwetzingen, wo er den Kurfürsten Karl Theodor
von der Pfalz besuchte. Auch machte er kleine Reisen durch die
inländischen Stifter und suchte allenthalben Geschmack und Liebe für
die Münzkunde zu wecken und rege zu machen. Er war Mitarbeiter
an dem Kataloge der antiken Münzen, besonders als Duval im J. 1752
nach Frankreich reiste. Er starb an wiederholten Schlaganfällen am
4. November 1772, wahrscheinlich in der Nacht auf den 5., indem
das Wienerische Diarium von 1772 Nr. 91 berichtet: „Am S.Novem-
ber starb der wohlerwürdige P. Joseph Kh eil S. J. im Theresia-
num auf der Wieden, alt 58 Jahre." Das Verzeichniss seiner
numismatischen, theologischen und physicalischen Arbeiten s. in der
österreichischen National-Encyklopädie. Wien 1837, Bd. VI, 509 und
einen Theil derselben in Michael Denis' Merkwürdigkeiten der k. k.
Garellischen Bibliothek. Bd. I, dann S. 20 ff. Dieser charakterisirt ihn
daselbst S. 15: „Khell gab Froelichen sowohl an Gründlichkeit als
Ausdehnung der Kenntnisse wenig nach; er begriff aber und arbei-
tete langsamer. Sein Umgang war etwas steif und trocken; doch
besass er dabei das redlichste deutsche Herz das aller Verstellung
ganz unfähig war." Sein Nachfolger an der Garellischen Bibliothek
war Michael Denis, und seine vorzüglichsten Schüler Joseph
Eckhel und der hoffnungsvolle Graf Alois Cristiani, Zögling der
k. k. Theresianischen Ritter-Akademie.
Nachdem wir die gelehrten Numismatiker Duval, Froelich
und Khell näher kennen gelernt haben, wollen wir zu den k. k.
Münzschätzen zurückkehren. Es gab damals drei Münzsamm-
lungen des kaiserlichen Hofes, A. die im k. k. Schlosse Ambras
(NumophylaciumAmbrasianum s. Ambrasiense) ; B. das alte öster-
reichische, von K. Ferdinand I. herstammende und von K.Karl VI.
beträchtlich vermehrte Haus-Cabinet (Numophylacium Carolino-
Austriacum); C. das moderne Münz- und Medaillen-Cabinet
K. Franzens I. (Numophylacium Imperatoris Francisci I).
A. Die durch Erzherzog Ferdinand von Tirol (reg. von
1 564 — 1 595) gestiftete k. k. Ambraser Sammlung hatte einen
bO Joseph Bergmann.
grossen Reichthum an alten Münzen. Doctor Eduard Freiherr von
Sacken gibt in seiner ausführlichen und quellensichern Beschrei-
bung der genannten Sammlung, Wien 1855, Bd. I, 41 auf Grund-
lage des alten Inventariums vom J. 1596 im XV. Kasten der damali-
gen Kunstkammer, in dem die Münzsammlung verschlossen war , an :
1400 Silbermünzen, 660 mittelalterliche, 440 antike Goldmünzen;
ferner die Kästchen mit geschnittenen Steinen über 1800 Stücke
nebst allerlei Kleinodien und Seltenheiten. Dies sind wohl nur die
im XV. Kasten eingelegten, inventirten Stücke, ausserdem gab es
sicherlich noch eine ungleich bedeutendere Anzahl derselben, wenn
auch von geringerem Werthe. Von Medaillen ist hier gar keine
Rede, der Verfasser des Inventariums verstand, wie aus Allem ersicht-
lich ist, unter Münzen auch die Medaillen.
Dieses bestätigt uns auch Heraus' Journal (im k. k. Münz-Cabi-
nete) S. 113, das eine specificirte Angabe von schönen Medaillen
aus dem kunstreichen XVI. Jahrhundert nachweist, die aus Ambras
an das k. k. Münz-Cabinet in Wien gekommen und wovon mehrere in
meinem Medaillenwerke, wie von Margaretha von Firmian, Gemahlinn
Kaspars I. von Freundsberg, und von ihrem Schwager Balthasar von
Freundsberg, Taf. VII, Nr. 26 und 28 abgebildet sind. Wir nennen
noch beispielsweise : Christoph Adler, Hieronymus Apfelbeck von 1532,
Michael Berger von 1523, Wenzel Beyer, Anna Brandstetterin, Arnold
vo"n Brück, Isabella von Chiallant, Asmus Gebhart, Margaretha Gwand-
schneiderin, Georg Herman, Georg Loxan, Wolfgang Graf von Mont-
fort-Rothenfels, den Typographen Johann Petrejus, Matthias Praun,
Franz von Sickingen etc. etc.; ferner die Gräfinnen Margaretha,
Ursula und Amalia von Solms und viele Andere. So viel wir wissen
wurde während der Zeit (1623—1665), als die jüngere erzherzog-
liche Linie in Tirol regierte, die Münzsammlung in Ambras, mit
etwaiger Ausnahme der von den Landesfürsten zu Hall geprägten
Stücke, nicht vermehrt.
Der französische Arzt und Tourist Karl Patin der zugleich
Numismatiker war und in den Jahren 1669 und 1672 Ambras
besuchte, fallt über das Schloss, dessen Schätze und besonders auch
über die dortige Münzsammlung ein sehr günstiges Urtheil, und
sagt: „Es gibt dort eine Reihe antiker Goldmünzen von Julius Caesar
bis auf Kaiser Heraklius (f 641); sie ist sowohl an Zahl als an
Schönheit die vollkommenste, die ich gesehen habe. Es befindet sich
Pflege der Numismatik in Österreich. 0 1
daselbst eine andere Suite von Consular- und Kaisermünzen, und
eine unzählige Menge von Silbermünzen, doch die bronzenen sind bei
weitem die allerkostbarsten. Wenn Seine Majestät der Kaiser diese
unvergleichlichen Stücke mit seiner Sammlung in Wien vereinigte,
würden sein und das königliche Cabinet zu Paris die ersten sein." —
Leider missbrauchte Patin das allzu grosse Vertrauen des allzu nach-
sichtigen Aufsehers und Hess genügsame Merkmale seines Besuches
sowohl in Ambras als in anderen Sammlungen zurück, die anderwärts
ihre Abnehmer fanden *).
Der kaiserliche Münzen- und Antiquitäten-Inspector Herseus,
war im Spätsommer und Herbste 1713 in Ambras3) und brachte von
da ins Wiener Cabinet 88 goldene Medaillen, an silbernen Doublet-
ten und einigen anderen 911 Stücke , an Erz 224, zusammen 1233
Stücke. Zugleich verzeichnete er in möglichster Eile Münzen der
Sammlung während seiner Anwesenheit. Es verwahrt nämlich die
mehrgenannte Sammlung noch einen handschriftlichen Katalog Nr.
275. B. des Supplement-Inventariums mit den Worten : „In hoc Cata-
logo (quem intra triduum fuisse absolutum norunt praesentes)
errorum ubi forte occurrunt, veniam sperat memoria omni morä et
librorum apparatu destituta." Leider ohne Datum und Unterschrift in
Folio. Es sind darin, wie bei solcher Eilfertigkeit begreiflich ganz
kurz aber in sehr schöner Handschrift verzeichnet die Goldmünzen
der römischen Kaiser, dann die Consular- oder Familienmünzen in
Silber, die Kaisermünzen in Silber, endlich die Münzen in Klein- und
Grossbronze, zusammen 3355 Stücke.
Vom Reisenden Jobann Georg Key ssler, der am 8. Juni
1729 in Ambras war, lernen wir aus dessen „Neueste Reise durch
Deutschland, Böhmen etc." Hannover 1751, Bd. I, 30 die damalige
innere Einrichtung der Münzsammlung kennen, indem er sagt :
„Im VI. Schranke der Kunstkammer zeigen sich verschiedene
Schreibtische, so mit alten Münzen angefüllt sind. Ferner S. 31 :
Sechs grosse in schwarzen Sammt gebundene und mit Silber beschlagene
1) Quatre Relations historiques , par Charles Patin, Medecin de Paris. A ßasle.
M. DCC. LXXI1I. p. 91. Das Nähere üher diesen Touristen hat mein hochverehrter
Herr Collega Johann Gabriel Sei dl mit erläuternden Anmerkungen in der Austria
für das J. 1848, S. 107—131 raitgetheilt.
2) S. mein e Anmerkung zu Heraeus' zweitem Briefe ddo. Innsbruck 2. October 1713 an
Leibniz in Wien, in den Sitzungsberichten derkais. Akademie d. Wiss. Bd. XVI, S. 140.
62 Joseph Bergmann.
Folianten enthalten eine treffliche Sammlung von Münzen der alten
römischen Kaiser, wie sie in der Zeitordnung auf einander folgen.
Die Blätter dieser Bücher sind von dünnem Holze, worinnen die
Münzen reihenweise also eingefasset sind, dass man beide Seiten
durch das blosse Umwenden des Blattes bequemlich betrachten kann.
Der gelehrte He rseu s hat dieses Werk in Ordnung gebracht, ein
Mann von vielen Wissenschaften, der aber zuletzt in Ungnade gekom-
men, weil man seine Treue in Ansehung der ihm anvertrauten Mün-
zen in Zweifel gezogen. Nächst diesen ist ein Vorrath von alten
goldenen Münzen, dreizehn Pfund schwer, vorhanden, worunter
auch ein Otto *), nach dessen kupfernem nummo aber man allhier ver-
geblich fraget. Es würde ein eigener Mann erfordert werden, wenn
dieser einzige Schrank, in weichem noch sechs und dreissig tau-
send (! ?) silberne alte Münzen liegen, in Ordnung gebracht werden
sollte, ohne zu gedenken der vielen tausend kupfernen Stücke, so in
etlichen Kisten unordentlich unter einander liegen. Aus besagtem
Schranke zeigt man auch eine goldene Medaille, die der Baron Pfen-
niger, churpfälzischer Oberjägermeister, in Gegenwart des Kaisers (!)
aus Blei in Gold verwandelt hat (XIII)."
Dann weiter: „Noch ist hier zu sehen ein Originalsilbe r-
ling3) aus der Zahl derjenigen welche Judas zum Lohne seiner
Verrätherei empfangen. Man zeigt dergleichen zween auch zu Hall,
zwo Stunden von Innsbruck, und andere an andern Orten."
Der Band 268 des Supplement-Inventariums der k. k. Ambraser
Sammlung enthält im Anhange eine kurze Anzeige des Inhaltes von
XX Kästen, mit der Notiz an der Stirne : „Geschr.(ieben) nach
1750. (Doch vor des altern Primisser's Eintreten in den Dienst zu
Ambras.) Der Inhalt in Bezug auf den VI. Kasten stimmt mit Keyss-
ler's Angabe überein und lautet S. 6 in kürzerer Fassung: „VI. oder
Münzkasten: Drei sehr kostbare Kästlein oder Cabinets: Das erste
von Ebenholz mit kleinen messing- vergoldeten Bildnissen geziert:
t) Über die falschen Bronzemünzen vom römischen Kaiser Otho, s. Eckhel Doc-
trina numorum veterum. Vol. VI, 302 seq. — Kaiser Ferdinand III., sein Bruder der
edle Erzherzog' Leopold Wilhelm und die Küniginn Christina von Schweden such-
ten solche zu erlangen. Der Streit über die Echtheit dieser Münzen veranlasste
den genannten Erzherzog durch Heinrich Thomas Chifflet eine Abhandlung „de
Othonibus aereis" verfassen zu lassen.
2) Das k. k. Münz-Cabinet verwahrt drei echte Sikel oder Silberlinge.
Pflege der Numismatik in Österreich. 6 3
darinnen sind in verschiedenen Lädlein bei 1123 goldene Medail-
len, wiegen zusammen beiläufig 23 Mark, unter denen auch einige
neuere merkwürdige Münzstücke, als Rosenobles, sogenannte goldene
Salvadors, vier Sickel oder jüdische Silberling, das Goldstück von dem
pfälzischen Oberjägermeister Karl Freiherr Pfenniger anno 1716 zu
Innsbruck mittelst öffentlich unternommener alchymischer Operation
aus Blei verfertiget etc. etc." Ferner S. 7 und 8: „Der dritte
grössere Schrank-Kasten mit vielen Säulen von Marmel gleich
einem Gebäu gezieret, soll den berühmten Tempel Dianae zu Epheso
vorstellen und durch Erzherzog Ferdinand von einem Grafen von
Montfort um eine Herrschaft, die bei 24.000 (sie) jährlicher Ein-
künften getragen, wie man vorgibt, erkauft worden sein. Er hat
150 kleine Schublädlein und darinnen eine grosse Zahl Cameen
oder eingeschnittener Steine etc. etc. etc.; dann der Ring des ersten
gothischen Königs mit der Aufschrift „Alaricus rex", welcher dermals
im k. k. Münz- und Antiken-Cabinete verwahrt wird. „Endlich steht
da ein niederer viereckiger Kasten gleich einem Tisch , voll mit
alten Medaillen, von denen darin und anderswo zusammen bei
36.000 Stück sein sollen."
Dieser Graf ist kein anderer als U 1 r i c b der letzte von M o n t-
fort-Tettnang und Rothenfels, der österreichischer Landes-
hauptmann für Vorderösterreich war und am 16. April 1574 starb.
Die Medaille auf diesen münzberechtigten Reichsgrafen habe ich in
meinem Medaillenwerk, Bd. II, Taf. XIX, Nr. 92 mit einem Abrisse
seines Lebens mitgetheilt. Nach v. Vanottfs Geschichte der Grafen
von Montfort, S. 156 hatte derselbe ein Münz-, Kunst- und Rari-
täten-Cabinet, in jenem, wenn man die verschiedenen Partien
zusammenzählt, an sechsthalbtausend antike Münzen, dann über 2000
silberne Blechpfennige, d. i. Bracteaten. Auch besass er 22 Hefen
(Geschirre), so in der Erde gefunden worden (XIV). Von den Erben
— er hinterliess von seiner S. 60 genannten Ursula, gebornen Gräfinn
von Solms-Lich, nur zwei Töchter, deren jüngere Barbara mit Anton
von Fugger von Kirchberg, des Erzherzogs Kämmerer, vermählt
war — kaufte dieser eine Sammlung geschnittener Steine, nach dem
ältesten Inventarium an 2000 Stücke, jedoch ohne Beschreibung der
Vorstellungen, um einen sehr bedeutenden Preis *). Die zwei ehernen
x) Vgl. Prim isser, S. 247; Baron v. Sacken, II. 165; meine Medaillen, II. IUI.
64 Joseph Bergman n.
Bruchstücke eines römischen Edictes de lege agraria, welche nun das
k. k. Antiken -Cabinet verwahrt, dürften — wie ich aus einer münd-
lichen Mittheilung des gelehrten Herrn Professors Theodor Mommsen
schliesse — von einem Grafen von Montfort , nämlich von daher in
des Erzherzogs Sammlung gekommen sein *)•
Der Erzherzog der für alles Schöne empfänglichen Sinn hatte,
sorgte für gute und schöne Münze. Reichlichen Bergsegen gaben die
Silbergruben des Landes während der ersten Hälfte seiner Regie-
rung, später waren sie minder ergiebig. Häutig findet man noch des-
sen Thaler von gutem Schrott und Korn , 83 verschiedene Stücke
verwahrt das k. k. Münz-Cabinet und nur drei Guldenstücke die sehr
selten sind. Er schickte im J. 1584 zwölf Münzer mit allem Zugehör
von Hall, wohin Erzherzog Sigmund die Münzstätte von Meran im
J. 1450 übertragen hatte, seinem Vetter K. Philipp IL, um in Sego-
via die spanische Münze zu reformiren. Das tirolische Münz- und
Bergwesen hatte damals noch europäischen Ruf.
Die k. k. Ambraser-Sammlung verwahrt sub 272 des Supple-
ment-Inventars ein von des altern Primisser's Hand gut geschriebenes
Verzeichniss ohne Jahreszahl doch nach 1779, indem derselbe
Eckhel's in diesem Jahre erschienenen Catalogus musei caesarei
Vindobonensis numorum veterum citirt, mit dem Titel: „Catalogus
nummorum veterum, quae in Museo Caesareo Ambra siensi
asservantur;" ferner sub N. 275: „Catalogus numorum in Numophy-
acio Ambrasiensi adservatorum, continens 1) numos familiarum;
2) numos Imperatorum et Caesarum aureos: 3) numos Imperatorum
argenteos; 4) numos aureos et argenteos supra numerum adservatos."
Eckhel, der im Jahre 1784 auf allerhöchsten Befehl nach Ambras
geschickt wurde, brachte von da die geschnittenen Steine nebst dem
Reste der dort verwahrten Münzen.
B. Wir glauben keinen Tadel zu verdienen, wenn wir einen
kurzen historischen Abriss über das allmähliche Entstehen des
alten österreichischen Haus-Cabin e tes (Numophylacium
Carolino-Austriacum) voranschicken. ■ — Ohne Zweifel nahm Kaiser
Maximilian I. wie an Allem, so auch an der Münze lebhaften thätigen
Antheil. Schon als Prinz ging er, wie der Weisskunig CapitelXXXV,
1) Diese Bruchstücke sind in Johann Primisser: Kurze Nachrieht von dem k. k.
Raiitaten-Cabinet zu Ambras etc. Innsbruck, 1777 im Anhange abgebildet.
Pflege der Numismatik in Österreich. 65
S. 81 meldet, „gar oft in seins vaters Muntz vnd erkundiget sich
gar wol alles grunts. Er was in der Muntz gar kunstreich, dann Er
betrachtet selbs die Nutzbarkeit, die Ihme daraus kumen möcht, vnd
in seiner Regirung hat dieser kunig die allerpest Muntz von
Silber vnd gold schlagen lassen über alle ander kunig, vnd kain
kunig hat Ime geleichen mugen mit seiner Muntz, das ist allain
kummeh aus seiner kunst vnd erfarung. Derselb Jung kunig hat
auch in seinen kunigreichen alle pöse und frembde Muntz abgethan
vnd vertilgt, vnd an vil Ennden Newe guete Muntz aufrichten vnd
schlagen lassen etc. Vnd insonderhait hat Er grosse Muntz schla-
gen lassen, Nemlichen aus gold dermassn guldin, dass etlich zwen,
etlich fünf, etlich zehen, etlich funfzehen, etlich zwantzig guldin,
vnd aus dem Silber solich pfening, das etlich ein ort ains Guldin,
etlich ainen halben guldin, etlich einen guldin, etlich vier guldin
gewegen haben, was kuniglich vnd erlich gemuet hat dieser kunig in
allen seinen Sachen gehabt, das sich dann auch in seiner hochen
und gueten Muntz erschinen vnd geoffenbart hat." Wohl bekannt
und von den Sammlern sehr gesucht sind dieses Fürsten grössere
und kleinere Münzen die er in Gold und Silber schlagen liess.
Sollte derselbe, von dem wir auch so schöne Medaillen besitzen,
nicht auch Münzen und Medaillen anderer Fürsten und Reichsstände
von ausgezeichneter Arbeit, von denen einige als Erstlinge (incuna-
bula) der Medaillenkunst die damals in Italien und Deutschland mit
der Plastik und Holzschneidekunst aufzuleben begann, noch in seine
Regierungszeit fallen, gesammelt und aufbewahrt haben, die dann
auf seine Enkel und Erben übergingen? Leider haben sich hierüber
keine näheren Notizen erhalten. Wahrscheinlich dürfte der gelehrte
Cuspinian der des Kaisers Commentator rerum antiquarum genannt
wird , gleich Willibald Pirkheimern in Nürnberg sich mit der alten
Numismatik beschäftigt haben.
Der Wiener Hof besass schon unter K. Ferdinand I. eine für jene
Zeit, in der man derlei Denkmäler mit Liebe zu sammeln anfing, nicht
unbedeutende Sammlung alter Münzen, indem dieser Fürst sie zuerst
seinem Kammerdiener und Burggrafen (Cubiculario suo et Castellano
Viennensi) Leopold Heipergcr und später seinem gelehrten Leibarzte
und Bibliothekar, dem bekannten Doctor Wolfgang Lazios 1) anvertraute.
l) Lazius' Porträt von Hanns Sebald Lautensack und dessen Gedenkstein bei
St. Peter in Wien, wie auch neue Beiträge über denselben vom k. k. Couservator
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XIX. Bd. I. Hft. 5
(3() Joseph B ergmann.
Dieses folgere ich daraus, dass jener nach Dr. Dudik's jüngst erschie-
nener Anzeige eines Katalogs der Münzen K. Ferdinand^ I. *) die
Sammlung Seiner königlichen Majestät ordnete oder ordnen liess
(Anmerkung XV), dieser, nämlich Lazius, herkömmlich Numophylacii
Imperatorii conditor genannt wird. Bekanntlich wurde, abgesehen
von der ungrischen und böhmischen Königskrone, Ferdinand I. am
5. Jänner 1531 zu Cöln zum römischen Könige gewählt, dann am
11. zu Aachen gekrönt, und folgte seinem Bruder Karl V. der am
3. August 1556 der Kaiserwürde entsagt hatte, in derselben. Er
nannte sich Electus Romanorum Imperator am 14. Mai 1558 zum
ersten Mal auf Münzen und zwar auf einem Thaler. S. Madai's Thaler-
Cabinet Nr. 2408 und v. Schulthess-Rechberg Bd. I, Nr. 127. —
Der Antheil der jedem an der Überwachung oder am Ordnen der
Sammlung (zu gleicher Zeit oder nach einander?) gebührt, wird sich
nicht mehr ermitteln lassen ; wir dürfen jedoch ohne Fehlgriff den
grossem Letzterem zuweisen. Jener mochte als Schatzmeister die
strenge Verwahrung gehabt, dieser als Gelehrter die Bestimmung
und Beschreibung oder die Oberaufsicht über die Arbeiten, wenn sie
ja von jemand Anderem und nicht von ihm allein verrichtet wurden,
übernommen oder geleitet haben. Wenn auch eine grosse Masse
ungesonderter und ungeordneter Münzen vorhanden war, so fällt
doch die Riesenzahl von 700,000 Stücken (bei v. Khautz, S. 170)
als die lächerlichste Übertreibung auf ein geringes Maass zusammen.
Lazius, der Vorstand dieses Cabinetes, war auch Schriftsteller in
diesem Fache und gab in Wien 1558 Commentariorum veterum
Numismatum etc. specimen exile in 16 Bogen in Folio heraus. Er
musste, wie er klagt, aus Mangel an Künstlern in Wien seine Münzen,
Schaupfenninge selbst zeichnen, stechen oder in Holz schneiden.
Bald nach dessen Tode (f 1565) finden wir den Mantuaner
Jakob S t r a d a von B o s s b e r g 3), der auf seinen vielen Beisen eine
reichhaltige Sammlung von Münzen, Medaillen, Gemmen,
und anderen Antiquitäten angelegt hatte, bei K. Maximilian II. als
Albert Camesina s. in: Berichte des Alterthums- Vereins zu Wien , Bd. I, 1854,
S. 8 ff., und wir fügen bei, dass er von K. Ferdinand I. ddo. Prag- am 9. Januar 1544
ein Priv ilegium de imprimendis libris erhielt.
1) Dr. Beda D udik's Iter Romanum, Wien 1855, Bd. I, S. 224, s. Anm. XVI.
2) Über dieses Prädicat s. Anm. XVI.
Pflege der Numismatik in Österreich. 07
kaiserlichen Antiquarius, in welcher Dienstleistung ihn mit jähr-
lichen einhundert Gulden K. Rudolf II. beliess. In Wien besass er
1585 ein Haus. Von seinen überaus netten Abzeichnungen von alten
griechischen und römischen Münzen verwahrt die k. k. Hof-Biblio-
thek dreizehn Bände. Stets von seinen Fürsten ausgezeichnet, starb
er zu Prag am 6. September 1588. — Ihm folgte als Erbe sowohl der
antiquarischen Kenntnisse, als der gesammelten Schätze sein Sohn
Ottavio Strada von Rossberg, der sich K. Rudolfs Hofcavalier
(Nobilis aulicus) und Antiquarius, wie auch Civis Romanus nennt
und in ähnlicher Kunstweise wie sein Vater arbeitete. Dessen gleich-
namiger Sohn Ottavio der Jüngere gab nach seines Vaters Tode
(f vor 1615) dessen Werk: „De vitis Imperatorum et Caesarum Roma-
norum a Julio Caesare primo Monarcho (sie) usque ad Dominum
Nostrum Imperatorem Matthiam unicum effigiebus et symbolis
etc. Francofurti ad Moenum 1615", in Folio mit 531 Bildnissen heraus.
Ottavio I. hinterliess auch Handzeichnungen in Medaillenform von
Sinnbildern vornehmer Personen unter dem Titel: „Simbola Roma-
norum Pontificum, Cardinalium, Magnorum Ducum, Ducum, Principum,
Marchionum, Archiepiscoporum, Episcoporum, Comitum totius Regni
ltaliae et Germaniae, atque aliorum Illustrium omnium nationum Viro-
rum. Per Octavium de Strada Mantuanum, S. Caes. Mtis. Nobi-
lem Aulicum, Civem Romanum et Antiquarium." In Folio mit einem
alphabetischen Register in der k. k. Ambraser Sammlung Nr. 88.
Die beiden älteren Strada haben durch Bekanntmachung ihrer
mühsam und mit grossen Unkosten gesammelten Schätze, wenn die-
selben auch ohne gehörige Unterscheidung, Ordnung und Erklärung
vom Standpuncte ihrer Zeit herausgegeben sind, um das Aufleben
der Numismatik und Alterthumskunde sich grosse Verdienste erwor-
ben.
Während des dreissigjährigen Krieges welcher unser deutsches
Vaterland zerfleischte und erschöpfte, war keine Müsse, derlei Samm-
lungen zu vermehren, und wir vermissen aus diesen wildbewegten Jahr-
zehenten alle Kunde über den Stand der kaiserlichen Münzen- und
Antiquitäten-Sammlung in Wien. Die feindlichen Schicksale welche
die Rudolfinischen Schätze und Sammlungen in Prag in jener Epoche
betroffen haben, sind bekannt. Um das Jahr 1655 berief K. Ferdi-
nand III. den wegen seiner Kenntnisse in der antiken Numismatik
angerühinten Jesuiten Simon Wagnereck (XVII) nach Wien und
5*
O O Joseph Bergmann.
gab ihm den Auftrag, die antiken Münzen in eine gelehrte, wissen-
schaftliche Ordnung (eruditum ordinem) zu bringen und zu be-
schreiben *).
Da wir so viel als nichts über die numismatisch-archäologi-
schen wie auch über andere literarische Bestrebungen aus dieser Zeit
in Österreich, die wie eine unfruchtbare Steppe vor uns liegt, wissen,
so wollen wir, wenn auch Weniges in unserem Fache hier beibringen.
Einem Kataloge 2) in der k. k. Hofbibliothek entnehmen wir die Worte:
„Augustissimus Imperator Ferdinandus III. in animo habuit nummos
antiquos (quorum numerus iam anno 1655 ultra quatuordecim
millia asceudebat) studio et opera Simonis Wagnerecci Suevi
Historici tarn hieroglyphice quam historice resolvere et explanare.
Quod opus coeptum et ad quintum usque tomum perductum fuit, sicuti
ego illud, favore dicti Wagnerecci, manibus evolvi 3). Attamen insi-
diatrix mors interveniens huic glorioso coepto interstitium posuit."
Wagnereck starb am 16. März 1657 und ihm folgte nach siebenzehn
Tagen der Kaiser, indem er nach kurzer Krankheit am 2. April
verschied.
In demselben Kataloge S. 254 lesen wir in der Beschreibung einer
Papier-Handschrift: „Continentur eo Godefridi Wendelini 4)
Canonici Tornacensis et R. P. Simo nis Wangner eck e Socie-
tate Jesu interpretationes Lapidis Carchedonii litteris graecis
longe plurimis exarati ex Thesauro rei Antiquariae Serenissimi Archi-
ducis Leopoldi Guglielmi Gubernatoris Belgii deprompti, at in aes
incisi A. MDCLX. Utrasque has interpretationes obtulit Wagnereck
Divo Ferdinando III. Rom. Imp. Calend. Jan. A. MDCLVI. Equidem
Wendelinus existimavit, esse gemmam Basilidianam seu Abraxeam."
1) Petri Lambeeii Commentarii de Biblioth. Caes. Vindobon. Edit. altera. 1766.
Tom. I, 724.
2) Catalogus Manuscript. Codic. latin. histor. profan, a N. CXLII— CCCXX11. fol. 254 b
(ad codic. Nr. CCXLVII1).
3) na Lambeck erst im J. 1663 in die Hofbibliothek eintrat, so sind diese Worte von der
Hand eines Mannes (vielleicht seines Vorgängers Mauchter) geschrieben, der mit
Wagnereck in persönlichen] Verkehre stand.
4) Gottfried Wend e 1 i n , 1580 im Lüttichischen geboren, war ein Rechtsgelehrter und
ausgezeichneter Mathematiker, von seinen Zeitgenossen der P t o 1 em ae us genannt,
lebte in Rom, dann zu Marseille, lehrte Gassendi, ward dann Advocat zu Paris,
darauf Pfarrer an verschiedenen Orten in den Niederlanden und endlich Canonicus zu
Tournay.
Pflege der Numismatik in Österreich. 69
Anderer Meinung war Wagnereck, der Verfasser dieses Kataloges
aber stimmt jenem bei. In eben demselben sind mehrere Manuscripte
angezeigt, die man dem mehr erwähnten Jesuiten zuschreibt. Hievon
nach genauer Durchsicht ein anderes Mal.
Auf K. Ferdinand's III. Befehl wurde — nach obiger Andeutung
von Wagnereck — ein System der alten Numismatik entworfen, nach
dem alle Münzen, griechische und römische gemischt, alphabetisch
geordnet werden sollten. Der Codex Mscpt. bist, profan. N. CCXLVIII
mit dem Titel: „Idea universalis de nummis veterum", enthält die
Idea literae A auf 112 Folioblättern, worauf alle dem Verfasser
bekannten griechischen und römischen Münzen, deren Name mit A
anfängt, mit lateinischen Aufschriften ohne weitere Erklärung von
Nr. 1 ABDERA bis Nr. 507 AXYRITANI *) siue Achyritani (! falsch)
mit einem Schiffe und einem Delphin auf der Kehrseite, nach einander
gereibt und sämmtliche Stücke mit der Feder und schwerfälliger
Hand roth gezeichnet sind.
K. Ferdinand's III. Sohn und Nachfolger K. Leopold I., ein
gründlicher Kenner der lateinischen Sprache a), war gleichfalls ein
grosser Freund von Münzen und Alterthümern und beschäftigte sich
häufig in seinen Erholungsstunden nach der Tafel mit derlei Denk-
mälern. Das Münz-Cabinet zählte im J. 1663 in Gold 596, in Silber
9997, in Bronze 5347, zusammen 15,940 Stücke.
Nun trat im J. 1663 der gelehrte Hamburger Peter Lambeck,
welcher in Leyden, Paris, Toulouse, Rom etc. studirt und sich aus-
gebildet hatte, als Präfect in die kaiserliche Hofbibliothek ein und
brachte auf allerhöchsten Befehl nach dem Tode des Erzherzogs
Sigmund Franz, mit dem am 25. Juni die jüngere tirolische Linie
erlosch, von Ambras sämmtliche Handschriften, 559 Stücke an
der Zahl, und 1489 gedruckte Bände nach Wien, wo sie der
kais. Bibliothek einverleibt wurden 3). — Der Codex histor. profan.
Nr. CCLXI enthält den Entwurf seiner Rechnung die er Sr. Majestät
i) Die mit AX- anfangenden Namen auf den Münzen sind nach denen von AX- gesetzt,
da der Schreiber hier der Ordnung des griechischen Alphabetes folgte.
2) Bekanntlich sind die lateinischen Inschriften auf einigen Denksäulen in Wien von
K. Leopold I. verfasst. Als man ihn bei der grossen Theuerung in einer Bittschrift
mit dem Chronostichon „ConCeDe paneM" um Abhilfe bat, signirte er sie mit
„ConCeDaM".
3) Lambecii Commentar. Biblioth. Caesar. Lib. II, pag. 51.
70 Joseph Bergmann.
über die von ihm vom 2. bis 6. Mai 1668 nach dem alten Carnuntum
unternommene Reise (iter Carnuntinum) legt, auf der er bedacht war,
die kais. Antiquitäten- Sammlung zu vermehren, woraus erhellet, dass
diese wie die Münzen ihm unterstanden. Er kaufte einen alten gol-
denen Ring um IS fl., einen alten silbernen Ring, item 29 alte sil-
berne Münzen, 90 gute alte kupferne, 105 geringere und fast unkenn-
bare alte kupferne Münzen, zusammen 224 Stücke, und gab für alte
Steine mit Inschriften 30 Gulden; ferner machte er vom 17. bis
20. August desselben Jahres eine zweite Reise dahin, mit einem
Schreiber und dem Maler Thomas Georg Müller, welcher den
alten Triumphbogen und die umliegende Landschaft zeichnete. Dieser
bekam für seine Zeichnung und deren Ausarbeitung 8 Gulden. Lam-
beck kaufte 13 alte heidnische Numismata und gab den Bauern
die ihm Nachricht gebracht hatten, zur Belohnung und Ermun-
terung Trinkgeld. Am 21. und 22. August Hess er durch seinen
Schreiber Johannes eine alte römische Inscription von Petronell
abholen.
Auch bringt er in seine Rechnung ddo. 1. October 1668 „für
zwei alte Statuen zu Rom und Salzburg i), welche für des Antin oi
Bildnuss gehalten werden, beide zusammen auf einer kupfernen Tafel
in Folio, für das Kupfer an sich selbst, wie auch für dasselbe zu
schleifen, poliren und stechen 15 Gulden." — Diese kleinen Züge
geben uns einen Beleg für die erTolgreiche Thätigkeit des vielseitigen
Lambeck auch auf diesem Felde. Die Rechnung wurde Sr. Majestät
dem Kaiser gelegt, der solche Ausgaben aus seiner Privatschatulle
bezahlte, so wie auch, wie aus Allem erhellet, noch ein Jahrhundert
hinfort bis um 1767 ein eigener Status von Cabinets-Beamten orga-
nisirt wurde.
i) Dieser angebliche Anti nous ist abgebildet mit der Bip ennis, die er damals in der
Linken hatte, in L a m b e cii Comment. Lib. II, 379. Diese grosse Bronzestatue ward
1502 nach dem gelehrten Reisenden Stephan Venandus Pighius in seinem Hercules
Prodicius, Coloniae 1609, p. 146J, der sie im September 1574 zu Salzburg, wohin
sie durch den Cardinal Matthäus Lang gekommen war, gesehen hatte, von einem
ackernden Bauern auf dem St. Helenaberg bei St. Veit in Kärnten, nach Andern auf den
Trümmern von Virunum gefunden. Sie wurde 1806 nach Wien gebracht und steht im
untern k. k. Belvedere. Herr Director Arneth hält diese Statue für einen Germa-
nicus (?). S. dessen Beschreibung der zum k.k. Münz- und Antiken-Cabinete gehöri-
gen Statuen, Büsten, Reliefs etc. Wien 1856, S. 24, Nr. 155.
Pflege der Numismatik in Österreich. 7 1
Der französische Tourist Karl Patin (s. oben S. 60), der seine
Relationen über die beiden Besuche Wiens im August 1669 und im
J. 1 673 niederschrieb, ertheil t das schönste Lob den kaiserlichen Samm-
lungen, von denen er besonders der Bibliothek und dein Münz-Cabi-
net alle Aufmerksamkeit widmet. Auf Seite 12 erwähnt er der dort
verwahrten 2200 Silbermünzen von der römischen Kaiserinn Sabina
(f 138), alle mit der Rückseite „VENERI GENITRICI", sämmtlichecht
antik, von schönem Gepräge und guter Erhaltung. Diese mochten von
einem einzigen Funde herkommen, dann zum Theile im Laufe der Zeit
als Doubletten zum Tausche für fehlende Stücke verwendet worden
sein. Vorzüglich interessirten ihn Jakob Strada's Zeichnungen die
er unvergleichlich und unterrichtend nennt. Er war über die Ehre,
Sr. kaiserlichen Majestät persönlich seine Ehrfurcht bezeugen zu
können, hoch erfreut und lobt Allerhöchstderen Herablassung und
Herzensgüte. Eines Tages hatte er das Glück Zeuge zu sein, wie
Seine Majestät selbst die Bildergallerie und das Cabinet der antiken
Münzen besuchte. Vierthalb Stunden hindurch sah er hier nach
S. 18 den römischen Kaiser im Verkehr mit seinen durchlauchtigsten
Ahnen und fügt bei, dass man dies anderwärts nicht sehen könnte.
Grosses Lob zollt er ferner der umfassenden Gelehrsamkeit und
seltenen Gefälligkeit des Bibliothekars Lambecius den er
während seines zweiten Aufenthaltes durch drei Monate fleissig
besuchte.
Im Jahre 1669 war, wie wir aus Patin's erster Relation S. 7
ersehen, noch eine zweite Hofsammlung in Wien, nämlich die
des 1662 verstorbenen Erzherzogs Leopold Wilhelm. Dieser
kunstliebende Fürst hatte während seiner Statthalterschaft in den
spanischen Niederlanden (von 1647 — 1656) eine kostbare Gemälde-
Gallerie von 1500 (?) Stücken angelegt, die somit damals mit der des
Kaisers welcher jene von seinem edlen Oheim geerbt hatte, noch
nicht vereinigt war. Das nämliche Cabinet enthielt auch an 300 (?)
antike Statuen von Marmor und Bronze, wie auch eine Serie von
800 verschiedenartigen antiken Goldmünzen, ausgezeichnet
eben so sehr durch die Seltenheit und Merkwürdigkeit des Gepräges
als durch ihren innern Metallwerth; ausserdem eine gewaltige Masse
von griechischen, dann Consular- und Kaisermünzen, wie auch andere
in Gross- und Mittelbronze. Patin besass hiervon einen genauen
Katalog der durch seine Reichhaltigkeit überrascht.
72 Joseph Bergmann.
Im J. 1672 vermehrte K. Leopold I. sein Cabinet das gesondert
in der kaiserliehen Bibliothek stand, um 226 Stücke die aus Thomas
Lansius' *) Münzsammlung herstammten.
Wir wollen in dieses Detail näher eingehen, indem es uns einen
genaueren Bericht über diesen Ankauf darbietet und zugleich einen
Einblick in die Behandlung der alten Numismatik in jener Zeit ge-
währt.
Der vorher genannte Codex histor. profan. Nr. CCLXI in Folio
enthält die Original-Quittung von Seite der Helena Sophia Hartun-
gin Wittib für die alten Münzen des Thomse Lansii, welche vor
diesem dem Hartungischen Glückshafen (also einer Lotterie) einver-
leibt gewesen, über 1800 Gulden, die sie baar und in Einer Summe von
Sr. kaiserl. Majestät wirklichem Bathe, Historiographo und Hofbiblio-
thecario Peter Lambeck wohl empfangen hat. Wien den 12. Juli 1672.
Es waren, wie uns die Rückseite des Titelblattes anzeigt, „Numismata
aurea 24, N. argentea 1100 et aerea 1092, in Summa 2216," und
unter den bronzenen 245 unlesbare Stücke. Dann steht: Addenda
Thesauro Caesareo. Ex consularibus juxta seriem Ursini ä Patino
editam. Es waren, wie es scheint, lauter römische Münzen. Darauf
folgen fünf Blätter, auf deren jedem je vier Stücke in fünf Reihen, d. i.
20 Namen von Kaisermünzen, aus graugelblichem Papier münzförmig
in Guldengrösse geschnitten, beschrieben und eingeklebt sind, somit
100 Stücke, auf dem sechsten und letzten Blatte sind nur acht derlei
Zettelchen aufgeklebt, demnach im Ganzen 108 Stücke. Jedes Zet-
telchen oder Blättchen ist durch einen Querstrich halbirt, oberhalb des
Striches liest man auf der ersten Münze in Uncialen: „AGRIPPA",
unterhalb desselben in 3 Zeilen: „Neptunus cum delphino et tridente";
auf der zweiten „ALEXANDER SEV."erus, unten „Providentia Augusti
de annona typus", die letzte Münze ist beschrieben: „VITELLIUS",
unten: „Martis victoris typus". Dann folgen von S. 38—40 Münzen
von kleinerem Module, 1.82 an der Zahl in gleicher alphabetischer
nicht chronologischer Ordnung, anfangend mit „L. AELIUS — Feli-
citatis stantis typus" und schliessend mit „VOLUSIANUS — Con-
cordiae sedentis typus." Nach Kollar, welcher die zweite Ausgabe
*) Aus Thomas Lansius, den ich anfänglich seinem Namen nach für einen Italiener
gehalten habe, ist ein Sohn Österreichs und Professor zu Tübingen
geworden. S. Anmerkung XVIII.
Pflege der Numismatik in Österreich. 73
von Lambecii Commentar besorgte, wurden laut Bd. I, 622 im J. 1752
auf Befehl der Kaiserinn Maria Theresia die selteneren und werth-
volleren Stücke von den Ordnern des Cirnelii Austriaca, nämlich von
Duval und Froelich, der kaiserlichen Münzsammlung einverleibt.
Unter den vornehmen Hofcavalieren nennt Patin in seiner ersten
Relation S. 26 besonders den Grafen (Paul Sixt II.) von Trautson,
welcher in seinem Cabinete allerlei Seltenheiten, Bücher, antike und
moderne Münzen, Gemälde, Agathe, Markasite, indische Rari-
täten und dergleichen besitzt, und fügt nicht mit Unrecht bei, dass
sein Grossvater (Paul Sixt I., und wir setzen bei, auch sein Urgross-
vater Johann II.) ein Liebling K. Rudolfs II. gewesen sei, der dessen
Lust zum Sammeln geweckt haben mochte. — Bei anderer Gelegen-
heit wollen wir die Münzsammlungen von Privaten in Wien
vom XVI. bis in die Mitte des XIX. Jahrhunderts zu beleuchten ver-
suchen.
K. Leopold's I. älterer Sohn und Nachfolger K. Joseph I. gedachte
diese zerstreuten Glieder in ein Ganzes, in einen Körper zu bringen,
zu welchem Zwecke er, wie ich oben S. 32 andeutete, im J. 1709
den gelehrten und praktischen Numismatiker Herseus an seinen Hof
berief.
Über Heraeus der sechzehn Jahre lang seinem Amte in Wien
vorstand, und seine wissenschaftlichen Leistungen verweisen wir auf
S. 32. Nach dessen Abtreten folgte um 1727 Panagia der aber
schon im dritten Monate 1730 starb und wegen Kürze der Zeit für
die Wissenschaft, so viel uns bekannt ist, nichts leistete. Diese lag
von Seite der alten österreichischen Haussammlung, mit Ausnahme
dessen was P. Herrgott zu seiner Numotheca benützte, bis zur Mitte
des Jahrhunderts gänzlich brach, um welche Zeit eine neue, frucht-
bringende Thätigkeit in derselben begann.
Auf der Kaiserinn Maria Theresia Befehl wurde diese ihre
ererbte Münzsammlung welche in einem Gemache der k. k. Hof-
bibliothek verwahrt wurde, unter den Auspicien Sr. Excellenz des
Herrn Oberstkämmerers Johann Joseph Grafen von Khevenhüller
und unter des praktischen General -Schatzmeisters de France
Obsorge im Laufe von drei Jahren geordnet und classificirt. Mit der
Ausführung der mühsamen Arbeit waren gemeinsam betraut: Duval
und Froelich, dann ward an Duval's Stelle, als er (nach S. 54) im
Jahre 1752 eine längere Reise nach Frankreich und Lothringen
74 Joseph Bergmann.
machte, zur Vollendung des Werkes der Jesuit Khell, damals Pro-
fessor der Philosophie und Experimentalphysik im Theresianum, bei-
gezogen. Das Resultat der vereinten geistigen Kräfte dieser Männer
deren Lebens -Notizen wir vorausgeschickt haben, erschien unter
dem Titel : Nwnismata Cimelii Äastriaci Yindobonensis, quorum rariora
iconismis, cetera Catalogis exhibita jussu Mariae Theresiae
lmperatricis et Reginae Augustae. Vindobonae typis et sumptibus
Thomae Trattnern 1755 in Fol. Der I. Theil enthält 25, der II. 112
Kupfertafeln. Das Motto aus Claudian. in I. consulat. Stiliconis
libr. II, 9 — 1 1 weiset auf den frühern ungeordneten Zustand dieses
Cabinets hin:
Prima chaos dementia solvit,
Congeriem miserata rudern, vultuque sereno
Diseussis tenebris in lucem saecula f u d it.
Die gleichfalls lateinische Widmung lautet auf beide Majestäten, den
Kaiser und die Kaiserinn, und ist allein mit „Josephus de
France", der sich, wie es scheint, den Löwentheil zuzueignen
wusste, unterzeichnet. Dieses Blatt ist gezeichnet und gestochen von
dem bekannten Salomon Kleiner aus Augsburg.
Da Froelich kränkelte und schon im J. 1758 starb, Duval und
de France, so lange er lebte (f 1761), mit der Herausgabe der
modernen Monnoies en or et»en argent (1756, 1759 und 1769)
beschäftigt waren, lag das Feld der alten Numismatik durch zwanzig
Jahre bis zum Erscheinen von Eckhel's erstem numismatischen Werke
im Jahre 1775 abermals unbebaut, mit Ausnahme dessen was P.Joseph
Khell bei Gelegenheit feierlicher Disputationen im Theresianum
veröffentlichte. Dessen Arbeiten sind in Michael Denis1 Merkwür-
digkeiten der k. k. Garellischen Bibliothek, Wien 1780, Bd. I, von
S. 19 — 26 angezeigt. Nur müssen wir noch Khell's zweier Briefe an
den Hofkriegsrath und Truchsess Johann Joseph Ritter von Hauern *)
„de duobus numisaeneis" Numophylacii Haueriani, Vindobonae 1761,
in 4to, erwähnen, welche zwei Münzen, nämlich vom Kaiser De eins
und von der Mutter des Kaisers Vespasian, Flavia Vespasia Polla,
betreffen. Letztere Münze erklärte Khell für falsch (womit auch
!) Die Münzsammlung wurde noch bei seinen Lebzeiten an einen Grafen von Erpach
verkauft.
Pflege der Numismatik in Osterreich. ( O
Eckhel in seiner Doctrina numorum veterum V. 349 übereinstimmt)
und rief eine scharfe Schutzschrift (Dissertatio apologetica) für deren
Echtheit von einem H. Numophilus x) in 18 Bogen im J. 1766 hervor,
der eine noch schärfere Entgegnung und Widerlegung von Khell's
Seite folgte. Diese beiden Briefe Khell's wurden im J. 1766 cum
praefatione apologetica bei Thomas von Trattnern wieder gedruckt.
Endlich gedenken wir noch eines jungen, viel versprechenden,
aber früh dahin geschiedenen Zöglings der k. k. Theresianischen
Ritter- Akademie, des italienischen Grafen Alois Cristiani, welcher
nach Eckhel der beste Schüler Khelfs genannt wird (XIX). Von ihm
können wir hier anführen : u) Thesauri Britannici Pars I. ex Italico
Nie. Fr. Haym 2). Interprete Aloysio Com. Cristiani, apud Schulz,
4to, mit 30 Kupfertafeln, bei Gelegenheit seiner eigenen Disputation
im J. 1762; der II. Theil mit 41 Tafeln wurde von Khell edirt.
b) Adpendicula ad Numismata Graeca Populorum et Urbium a Jac.
Gesnero tabulis aeneis repraesentata. Opera et studio Aloysii
Comitis Cristiani, apud Schulz, 4to. Unter Khell's Anleitung
1762. Auch erschien von demselben unter Denis* Anleitung ein
deutsches Gedieht: „Der Sommertag, in vier poetischen Betrach-
tungen," bei Trattnern 1763, in 8vo. Allzufrüh verstarb dieser viel-
versprechende Jüngling.
C. Neben der antiken Numismatik bedurfte auch die moderne
sorgfältiger Pflege. Ihr grosser Gönner und Förderer war Kaiser
Franz I., der sein neu angelegtes Cabinet mit den Münzen selbst
der entlegensten Welttheile zu bereichern suchte. Schon ein Jahr
nach dem Erscheinen des vorerwähnten Cimelium Vindobonense
folgte die erste Ausgabe der modernen Silber münzen unter
dem Titel: "flonnoies en Argent, qui composent une des diflerentes
parties du Cabinet de S. M. LT EMPEBELR, depuis les plus grandes
pieces jusqu'au florin inclusivement. Vienne chez Jean Thomas
*) Dieser ist der Weltpriester Joseph Monsperger. S. Gelehrter Anzeiger, V. Stück
vom J. 1766, den dritten Mai, Nr. 36. — Dieser Streit über die Münze der Vespasia
Polla mag- sehr heftig' gewesen sein, da das Exemplar im kais. Caliinete, in dem die
Schriften pro und contra gesammelt sind, auf dem Schildchen die Aufschrift „Bellum
Pollanum" trägt.
2) Franz Nikolaus Haym war in Italien geboren, in der Musik und Numismatik vorzüg-
lich erfahren, hielt sich in England auf, gab 1719 und 1720 Tesoro Britannico in II Voll,
in 4to zu London heraus, wo er am 11. August 1729 starb.
/ 6 Joseph Bergmann.
Trattner, MDCCLVI, Royalfolio, in 2 Bänden, wovon der erste 614,
der zweite 561 von Duval's Hand geschriebene Seitenzahlen enthält.
Diese erste Ausgabe ist so voluminös geworden, weil grösstenteils
nur eine Seite und diese, wenn ich mich so klar ausdrücken darf,
nur halbbrüchig, d. h. nur in einer Spalte herab in der Regel bedruckt
ist, indem die andere zu Ergänzungen und Nachträgen leer gelassen
wurde. Diese Ausgabe scheint in wenigen Exemplaren ausgegeben
worden zu sein, daher sie ausserordentlich selten ist. Sie fehlt dem
Bücherschatze des k. k. Münzen-Cabinetes. Das erstgenannte Exemplar,
in das Duval eigenhändig seine Ergänzungen, Nachträge u. s. w. ein-
trug, verwahrt die k. k. Hofbibliothek.
Drei Jahre später erschienen: Monnoies en Or, qui composent
une des differentes parties du Cabinet de S. M. L' EMPEREUR, depuis
les plus grandes pieces jusqu'aux plus petites. Vienne, chez Jean
Thomas Trattner, MDCCLIX, Royalfolio, 315 Seiten. Dazu kam:
Supplement au Catalogue des Monnoies en Or, qui composent une des
differentes parties du Cabinet IMPERIAL depuis les plus grandes
pieces jusqu'aux plus petites. A Vienne, chez Jean Thomas de Tratt-
nern. MDCCLX1X. Royalfolio. 98 Seiten.
In demselben Jahre noch erschien die zweite Ausgabe des Kata-
Ioges der Silbermünzen: Catalogue des Monnoies en Argent, qui com-
posent une des differentes parties du CABINET IMPERIAL depuis
les plus grandes pieces jusqu'au Florin inclusivement. Nouvelle edi-
tion corrigee et considerablement augmentee. A Vienne, chez Jean
Thomas de Trattnern. MDCCLXIX. 561 Seiten. Endlich: Supple-
ment au Catalogue des Monnoies en Argent etc. etc. A Vienne, chez
le meme. MÜCCLXX. 27 Seiten.
Die Ausgaben von den Jahren 1756 und 1759 aus der Samm-
lung Seiner Majestät des Kaisers wurden, wie uns schon die fran-
zösischen Titel an der Stirne des Werkes lehren, von französisch-
schreibenden Männern, hauptsächlich von Duval und die späteren
Ausgaben wohl auch mit Beihilfe Verot's, den Duval vielleicht bei
seiner Reise nach Frankreich für das k. k. Institut gewonnen haben
mag, unter Oberleitung de France's der erst 1761 starb, noch bei
des Kaisers Lebzeiten veröffentlicht; bezeichnend ist daher der Aus-
druck du Cabinet de S. M. l'Empereur. Als nach seinem Hin-
scheiden (f 1765) sein modernes Cabinet mit dem antiken Haus-
Cabinet der Kaiserinn in einem Locale vereint worden war, schrieb
Pflege der Numismatik in Österreich. i (
der Herausgeber der Ausgaben von 1769 und 1770 ganz ricbtig
du Cabinet Imperial.
Dieses Werk ist um so seltener und kostbarer, da dasselbe nie
in den Buchhandel kam , sondern nur durch die Munificenz Ihrer
Majestäten als Geschenk verehrt wurde. Es zeigte welchen Antheil
das allerhöchste Kaiserpaar an diesen langjährigen und kostspieligen
Arbeiten genommen hat. Das Äussere dieser beiden Kataloge die
man als ein Ganzes oder auch als zwei verschiedene Werke betrach-
ten kann, ist durch Schönheit der Lettern, Grösse des Formates,
Stärke des Papiers und Feinheit des Kupferstiches prachtvoll, kai-
serlich ausgestattet. In bedeutend geringerem Werthe dagegen steht
der wissenschaftliche Theil. Dem oder den ungenannten Her-
ausgeber oder Herausgebern gebührt nur das Verdienst der Classi-
fication der Suiten, die nach der Natur der Sache in beiden Kata-
logen dieselbe ist. Das Schema ist: a) Münzen der geistlichen
Fürsten nach ihren absteigenden Rangstufen , als der Päpste, Kur-
fürsten (nur im Kataloge der Silbermünzen) , Erzbischöfe , Bischöfe,
Äbte und Capitel wie auch der Ordens-Grossmeister in alphabetischer
Ordnung, natürlich in französischer Benennung; b) Münzen der
weltlichen Fürsten und Herren, nämlich der Kaiser, Könige, Kur-
und Reichsfürsten, Grafen, gleichfalls alphabetisch geordnet; c) Mün-
zen der Republiken und Städte1).
Eine sorgfältige und genaue Beschreibung die doch so nahe
lag, wird gänzlich vermisst. Konnte sie nicht wie imCimelium Vindo-
bonense (S. 74) mit steter Hinweisung auf die betreffende Abbildung
vorangeschickt werden? Es bedurfte allerdings zu diesem Zwecke
nicht des geschichtlichen Textes , wie ihn die beiden gelehrten
St. Blasianer in ihrer Numotheca Principum Austriae aus ihrem Füll-
horne schütteten. Die nackte Angabe des Namens des Münzherrn,
der Republik oder Stadt, des Geburts- oder Sterbejahres des Münz-
herrn etc. genügt nicht. An Bild, Legende oder Inschrift wird gar
nicht gedacht, dessgleichen nicht an Gewicht und innern Werth und
Seltenheit, ob im Zweifel das Stück eine Münze oder Medaille , ein
einfacher oder doppelter, halber oder 2/3 Thaler sei, welches Detail
*) Vgl. über die Einrichtung des k. k. Cabinetes Prof. Joachim 's neueröffnetes
Miinz-Cabinel. Nürnberg 1701. Tbl. I, Vorrede S. 5 — 7. Benjamin Lengnich's
Nachrichten zur Bücher- und Münzkunde. Danzig 1780. 8. Tbl. I, 227— V.ri.
78 Joseph Bergmann.
die Brauchbarkeit eines Werkes erhöht. Ferner fehlt jegliche Be-
zeichnung mit Numern , um bei etwaigem Citate bestimmt auf ein
Stück hinweisen zu können. Vergebens sucht man ein Vorwort
oder eine Einleitung, vergebens irgend ein Register. Viel-
leicht wurden die Stücke aus dem Grunde nicht numerirt, weil
jede Münze auf einer eigenen Kupferplatte abgebildet und ein-
gedruckt ist, so dass man bei einer wiederholten Ausgabe die
Platten der neu hinzu gekommenen Stücke allenthalben an Ort und
Stelle bequem einschieben kann. In diesem Betracht wäre ja durch
Unterabtheilungen mit a, b, c zum Numer gesetzt leicht zu helfen
gewesen und man hätte zudem daraus leicht den neuen Zuwachs
ersehen. Das Material zu einem beschreibenden Texte findet man
in den von Duval's Hand geschriebenen französischen Katalogen
des k. k. Münz-Cabinets, das zu einer neuen Ausgabe benützt werden
konnte. Die Kupferplatten zu den beiden Werken sind noch
im k. k. Institute verwahrt. Von einer neuen Ausgabe, der dritten
der Monnoies en Argent, die in Angriff genommen wurde, wollen
wir später reden.
Nach des Kaisers Hintritte verdoppelte M. Theresia ihre Sorg-
falt für die von ihm hinterlassenen Sammlungen. Sie setzte den jedes-
maligen Ob erstkämm er e r zum ober sten Di rector aller kai-
serlichen Sammlungen ein, welche Würde der seit 1763 in den
Reichsfürstenstand erhobene Johann Jo seph von Kheven hüller
nur noch kurze Zeit bekleidete. Nach demselben stand denselben von
1765 bis 1770 Anton Altgraf von Salm-Reiffers ch eid vor.
Unter dessen Oberdirectorate wurden die beiden verschiedenen
Münzsammlungen zu einem Ganzen in einem Locale vereinigt
und zugleich mit dem Naturalien- und dem damaligen mechanisch-
physicalischen Cabinete in die neuerbauten Säle am Augustiner-
gange überbracht, wo noch heut1 zu Tage das k. k. Münz- und
Antiken-, wie auch das Mineralien-Cabinet in bester Ordnung aufge-
stellt sind. Vor dem Haupteingange Hess die Kaiserinn ein marmornes
Portal mit aus Bronze verfertigten numismatischen , mathematischen,
astronomischen und physicalischen Emblemen auf beiden Seiten und
über der Thüre des verewigten Stifters Büste gleichfalls aus Bronze,
aufstellen mit der passenden Aufschrift:
Pflege der Numismatik in Österreich. 79
NATURAE. MIRANDA. ET. ARTIS.
QUAE. UNA. CUM.
OMNIÜM. FERE. POPULORUM. MONETIS.
D. FRANCISCUS. ROM. IMP. P. F. AUG.
URIQUE. TERRARUM. CONLEGIT.
IOSEPUÜS. II. ET. M. THERESIA. AUGG.
PURLICAE. UTILITATI. ET. MEMORIAE.
PARENTIS. OPT. ET. CONIUGIS. AMANTISS.
ADIECTO. VETERUM. NUM. AVITO. THESAURO.
HEIC.
SACRA. ESSE IUSSERUNT. MDCCLXV.
Dieses Portal ist neben dem Titelblatte der Monnoies en Argent
vom J. 1769, von Salomon Kleiner gestochen, mit der ganzen
Inschrift dargestellt; die Inschrift und die Embleme auf beiden
Seiten sind, als man den Gang wölben musste, weggenommen worden.
Nun wird auch der Status der B e a m t e n dieser drei Hof-
anstalten organisirt. In dem Staats- und Standes-Kalender für das
J. 1765 ist hievon noch keine Rede, weil dieser wohl schon im
,T. 1764 gedruckt wurde. Der vom J. 1766 ist nirgends aufzuünden,
und in dem auf das folgende Jahr 1767 lesen wir auf Seite 440 :
„Naturalien-Cabinet-Director.
Hr. Ludwig de Baillou."
Seite 441. „Münz- und Medaillen-Cab inet-Director.
Hr. V a 1 e n t i n J a m e r a y D u v a 1.
Schreiber allda. Hr. Johann Verot."
„Des physikalischen Cabinets *) -Director.
Hr. Johann Marcy, Domherr zu Leitmeriz und Canonicus
zu Soignies 3)."
Im Kalender für 1769, S. 452 ist Dtival desselben Cabinets
Director, dann heisst es weiter: „Garde du Cabinet der Münz
und Medaillen: Hr. Johann Verot. Adjimct: Hr. Carl Schrei-
ber." So lauten auch die Angaben von den Jahrgängen 1770
und 1771.
i) Der gleichzeitige Weiskern (f 30. Dec. 1768) nennt es in seiner Beschreibung
der k. k. Hauptstadt Wien etc Wien 1770, Th. III, 67 das mechanisch-
physicalischeKunst-C abinet und auch den Abbe Johann IIa r c y etc. dessen
Vorstand.
2) Soignies ist ein Stadtehen in der ehemaligen Grafschaft Hennegau , drei Meilen
von Mons, in welcher Gegend Marcy geboren sein mag.
80 Joseph Bergmann.
Im J. 1774 lesen wir folgenden Status auf S. 492. Oberstkäm-
merer : Heinrich Fürst von Auersperg etc. Oberstkämmereramts-
Secretär: Hr. Joseph Andreas Thoss. — S. 494:
„Münz- und Medaill en-Cabinets-Director es.
Hr. Valentin Jameray Duval.
Hr. Ignatz (sie) Eckel.
Garde du Cabinet: Hr. Johann Verot.
Adjunct: Hr. Carl Schreiber."
S. 47. „Ober-Münz- und Medaillen-Graveur.
Hr. Anton Wiedemann.
Im k. k. Hof-Schematismus für das J. 1776 nach Dinars Tode
(f 3. November 1775) finden wir auf S. 349:
„Münz- und M e d a i 1 1 e n - C a b i n e t.
Hr. Johann Verot, Director der modernen Münzen,
log. in der Burg.
Adjunct: Hr. Karl Schreiber, log. auf der Wieden.
Director der Antiquitäten — Münzen (sie).
Hr. Joseph Eckel, Weltpriester, log. in der Burg."
Wir sind nun zur Periode gekommen, in der Eckhel als der
letzte der fünf numismatischen Jesuiten Österreichs und Schöpfer
des wissenschaftlichen Systems der antiken Numismatik ins k. k.
Münz-Cabinet eingetreten ist. Da mir noch mehrere bisher unbekannte
Details über seine Familie und sein Leben aus sicherer Quelle in
Aussicht gestellt sind, werde ich — wie ich hoffe bald — dieselben
zugleich mit dem Schlüsse dieser Abhandlung als zweite Abtheilung
den Freunden der vaterländischen Gelehrtengeschichte und der
Numismatik in diesen Blättern vorlegen.
Pflege der Numismatik in Österreich. ö 1
Anmerkungen.
I. S. 33. Tarinctti Marchese de Pri6. — Das piemontesische Ge-
schlecht der Marchesi de Prie ist von dem altadeligen französi-
schen de Prie wohl zu unterscheiden. Hercules Joseph Ludwig
Turinetti, des h. römischen Reichs Marchese de Prie, und
Pancaglier, Graf von Pisein und Castiglione, war anfangs General-
Commissarius bei der kaiserlichen Armee in Italien, dann K. Joseph'sl.
Botschafter am päpstlichen Hofe und führte nach dessen Tode den
Titel eines Agenten der Kaiserinn-Mutter Eleonora als Interims-Regen-
tinn der österreichischen Königreiche und Lande. Kaiser Karl VI.
ernannte ihn am 25. November 171 1 zu Innsbruck zum geheimen Rathe
und bestätigte ihn als Botschafter am päpstlichen Hofe , als welcher
er am 7. September 1712 die feierliche Audienz bei Sr. Heiligkeit
dem Papste Clemens XI. halte. Im J. 1714 wurde er vom Grafen
Johann Wenzel von G all a s von diesem Posten abgelöst und kam als
kais. Vice-General-Gouverneur in die österreichischen Niederlande.
Er betheiligte sich bei der Errichtung der ostendischen Handels-
Compagnie die K. Karl VI. ddo. Wien am 19. Dec. 1722 sanctionirte,
und soll nach der europäischen Fama vom J. 1723, Tbl. 268, S. 328
und 336 die Summe von 150.000 Gulden subscribirt haben. Er machte
ein grosses Haus und ihm wurden, bevor er im Mai 1725 von Brüs-
sei abreiste, eine Forderung von 112.000 Gulden und darüber noch
eine Summe von 40.000 Gulden zu den Reisekosten bezahlt. Sein
Nachfolger war Graf Da un bis die durchlauchtigste Gouvernante,
die Erzherzoginn Elisabeth, des Kaisers Schwester, ankam. Er hatte
Feinde und Neider deren Verleumdungen er zu Schanden machte.
Er war ferner nach den Reichsadels-Acten am 8. August 1716 Grand
von Spanien, kais. wirklicher geheimer Rath, Ritter des Ordens
deir Annonciada und starb am 13. Jänner 1726 in Wien im 72.
Jahre seines Alters, am selben Tage als General Graf von Bonneval
seines Arrestes auf dem Spielberg entlassen wurde. Sein Leichnam
wurde nach seiner Anordnung in aller Stille in der St. Michaels
Pfarrkirche beigesetzt. Wir wollen hier näher in dessen Familien-
Sitzb. d. phil.-hist. CK XIX. Bd. I. Hf t. Ü
$ % J o s e |> h B e r g in a ii n.
und Vermögensverhältnisse eingehen, da sein Haus in der Stadt Wien
später an de France käuflich gelangte. Nach dem magistratischen
Grundbuche kaufte der genannte Graf Tu r i n e tt i Marehese de P r i e,
kais. Commissarius und Plenipotentiarius in Italien etc., am 22. Sep-
tember 1704 das ehemals sogenannte Hasenhaus in der Kärntner-
strasse Nr. 1073 und ward am 20. März 1706 an die Gewähr
geschrieben. Den 12. April 1708 wurde er in den nieder-
österreichischen Herrenstand aufgenommen und 1709 introducirt.
Ihn dessen Porträt in der europäischen Fama zum Th. 111 abgebil-
det ist, beerbten laut des am 12. Februar 1726 publicirten Testa-
ments seine beiden Söhne Johann Anton und Karl. Das Haus
kam an den altern Sohn, musste aber seiner Schulden halben verstei-
gert werden. Bei der dritten Lieitation am 3. Februar 1749 erstand
dasselbe mit ausgelöschtem Lichte1) um 36.000 Gulden de France.
So weit das Grundbuch. Nach dem Wissgrill'scheu Manuscripte erbte
der ältere Sohn noch Fridau-Rabenstein in Steiermark und die Güter
in Krain (Pisein oder Pisino) und Hungarn, der jüngere Karl Ferdi-
nand jene in Piemont und Neapel. Nach Küchelbecker vom J. 1732,
S. 817 heisst es: Von den auf der Wieden befindlichen Palästen
sind folgende remarquable, nämlich des Fürsten von Lobkowitz Haus
und Garten, des Marquis de Prie, des Grafen Konrad von Star-
heinbers etc. — Von der Witwe und den Söhnen de Prie's erwähnt
uns noch die vorerwähnte Fama vom J. 1726, S. 230: Der Kaiser
setzte seiner Witwe nicht allein einen jährlichen Gehalt von 9000
Gulden aus, sondern befahl auch eine Rechnung derjenigen Summe
zu überreichen, welche ihr verstorbener Gemahl von der Zeit an, da
derselbe kaiserlicher Ambassadeur in Rom gewesen, bis an seineu
Tod vorgeschossen, damit ihr dieselben wieder ersetzt werden möch-
ten. Ferner haben Seine Majestät dem ältesten Sohne des Marquis,
dem Herzog von Esquilache, das Fürstenthum welches sein Vater im
Königreiche Neapel besessen und jährlich 18.000 Gulden einbringen
soll, für ihn und seine Erben überlassen.
II. zu S. 33. — Johann Wenzel Graf von Dallas, des waf-
fenberühmten General - Lieutenants Mathias Grafen von G. Enkel,
') Die Zwischenzeit zwischen den verschiedenen Anhoten und dem letzten Meistbote
und Zuschlagen an
wieder angezündet.
und Zuschlagen an den Meistbieter wurde das Licht ausgelöscht und dann
Pflege der Numismatik in Österreich. 83
ward kaiserlicher Gesandter am englischen Hofe, von wo er am
31. Jänner 1712 nach Wien zurückkam. Darauf war er der Erzher-
zogina M. Elisabeth Obersthofmeister, dann nach de Prie Botschafter
am römischen Hofe, als weicherer den 13. Mai 1714 seine feierliche
Audienz hatte, endlich ward er Vicekönig und General -Capitän des
Königreichs Neapel, wo er am 4. Juli 1719 den prachtvollsten Ein-
zug hielt, aber schon den 25. desselben Monats starb. Mit seinem
Sohne Philipp Joseph erlosch am 23. Mai 1757 dieses südtiro-
lische und in Böhmen heimisch gewordene Geschlecht. Er setzte auf
den Fall, wenn seine Gemahlinn Anna Francisca, Graiinn von Colonna-
Vels sich zum zweiten Male verehelichte, oder wenn sie stürbe (f 6. April
1759), den altern Sohn seines Schwagers Johann Christoph Frei-
herrn von Clam als Universalerben ein. Die Kaiserinn Maria Theresia
bestätigte am 29. August 1768 (nicht 1778) dieses Testament und
erlaubte dieser Familie den Grafenstand mit dem Namen Clam-
G alias anzunehmen.
III. zu S. 35. — Oben auf dem Titelblatte innerhalb zweier
grosser Lorberzweige lesen wir: Aureinummi XII Caesarum qui inter
eximiae raritatis numismata aliorum Impp. servantur Bomae in Museo
BB. PP. fartusianorum. Im Felde sind zwölf Münzen der ersten
römischen Kaiser in Kupfer gestochen, darunter stehen die Namen
dieser Kaiser und eine ganz dürftige Beschreibung von deren Münzen.
Unten in der Ecke : G aietanus Piccinu s incidit. Fü e ssl i in sei-
nem Künstler-Lexikon spricht ganz recht, wenn er diese Abbildungen
von Münzen ohne alle Angabe des Ortes und Jahres in diese oder kurz
vorhergegangene Zeit setzt, was Nagler Bd. XI, 270 in Frage stellt.
Das im k. k. Münz-Cabinete verwahrte schöne Exemplar enthält ausser
dem so eben erwähnten Titelblatte LXXXVIII Tafeln, auf deren
jeder in der Begel mit grosser Baumverschwendung nur zwei Münzen
oder Medaillons, manchmal auch nur Eine, nämlich Vorder- und
Bückseite ohne irgend ein beigefügtes Wort abgebildet sind.
IV. S. 36. — Ob diese Sammlung bei des Grafen Lebzeiten oder
nach dessen Tode gekauft wurde, vermag ich nicht anzugeben.
Rarl Joseph Beichsgraf von Paar, im J. 1654 geboren, war kais. wirk-
licher geheimer Bath und Kämmerer, oberster Beichs-Hof- und der
kais. Erbkönigreiche und Lande General-Erbpostmeister und hat den
Kaisern Leopold und Joseph I. grosse Dienste geleistet. DemK. Karl VI.
ging er bei dessen Ankunft in Oberitalien entgegen, begleitete ihn
6~
84 Joseph Bergmann.
zur Krönung (22. Dec. 1711) nach Frankfurt und ward dafür 1712
Ritter des goldenen Vliesses. Er starb am 12. Mai 1725 zu Wien.
Er hatte von seiner Gemahlinn Renata Gräfinn von Sternberg viele
Kinder. Sein Sohn Johann Adam war damals Reichshofrath.
V. S. 43. — Anton Franz Freiherr von Buol, ein Sohn Johann
Georg1 s Edlen, seit 18. November 1718 Reichsfreiherrn von Buol,
K. Joseph'sl. gewesenen Informators und nachherigen Hofrathes etc.,
ward bald nach seines Vaters Tode (fl727) wirklicher Hofrath und
geheimer Referendarius, dann 1761 Vice-Statthalter der niederöster-
reichischen Regierung und Ritter des k. ungrischen St. Stephans-
Ordens. Er war ein sehr gelehrter Mann der eine auserlesene Biblio-
thek von 12.000 Banden und sehr seltene Manuscripte besass. Er
starb am 30. Mai 1767. Seine erste Gemahlinn war M. Eleonora von
Gleiffheim, die zweite war M. Anna Theresia Freiinn von
Kirchnern, Tochter Michael Achazens Freiherrn von Kirchnern,
vormaligen Reichshofrathes etc., die im J. 1777 starb.
VI. S. 47. Über die Familie von Baillou. — Diese altadelige bis
ins XIII. Jahrhundert hinaufreichende Familie von Raillou, die
tüchtige Männer in ihrem Stammbaume zählt, war auch in Frankreich
sesshaft. Sebastian de Baillou diente als Intendant der französischen
Armee unter dem Marschall Crenaud, trat hernach in die Dienste des
Prinzen von Lothringen - Vaud.emont und vermählte sich 1683 mit
Margaretha de Gonet. Deren Sohn Jean de Baillou, im J. 1686
wahrscheinlich in Lothringen geboren, ward mit den Pagen des
genannten Prinzen erzogen und vorzüglich in der Mathematik und den
verwandten Wissenschaften, wie auch in der Reit- und Fechtkunst
unterrichtet und setzte seine Studien unter dem Obersten du Wiwier,
einem Verwandten der Familie, eifrig fort. Nach dessen Tode bildete
er rastlos in Paris sich weiter aus und ward in des Herzogs Fran-
cesco von Parma Dienste berufen. Der Herzog ernannte ihn am
6. October 1725 zum General-Commissär der Artillerie und Ge-
neral-Ingenieur. Nach Jenes Hinscheiden (f 26. Februar 1727)
bestätigte dessen Bruder und Nachfolger Herzog Antonio ihn in sei-
nen Stellen und ernannte ihn den 25. September 1728 noch zum
General-Intendanten sämmtlicher herzoglicher Gebäude und Güter,
ferner am 22. November 1729 zum General- Oberintendanten aller
Bergwerke und Fabriken für Parma und Piacenza. Nach Antonio's,
des Letzten aus dem Hause Farnese, Tode (-J-20. Jänner 1731) trat
Pflege der Numismatik in Österreich. 85
Chevalier de ßaillou in die Dienste Johann Gasto's, des letzten
Mediceers, der ihn am 9. Juli 1735 zum Director der berühmten
mediceischen Galerie, dann 1736 zum General-Director aller Festun-
gen, Gebäude und Bergwerke in Toscana ernannte.
Nach Johann Gasto's Tode (-J- 1737) bekleidete er unter dem
neuen Grossherzoge Franz Stephan dieselben Würden. Chevalier
de Baillou war ein ausgezeichneter Mathematiker und Physiker, und
hatte am Hofe zu Parma zur Erholung seines Fürsten und des höhern
Adels Vorlesungen überExperimental-Physik gehalten, war erfinderisch
in der Chemie, Optik und Mechanik, die k. französische Akademie
hatte ihn zu ihrem Mitgliede ernannt, auch war er Ritter des goldenen
Sporns und im J. 1735 Ritter des Constantinischen Georg-Ordens
von Parma. Seine Mineralien-Sammlung galt als die erste in Europa,
über die das seltene Buch: Description abregee du fameux C ab in et
de Mr. le Chevalier de Baillou, pour servir ä Thistoire
naturelle des pierres precieuses, metaux, mineraux, et autres fossiles.
Par Joannon de S. Laurent. A Lucques, MDCCXLVI, in 4t0 156
pag., worin nur ein Theil dieser grossen Sammlung enthalten ist.
Kaiser Franz kaufte diese Sammlung und machte 1748 den Chevalier
de Baillou zum ersten Director des neugegründeten Hof-
Naturalien-Cabinets und ernannte am 25. October 1753 ihn
zum Oberstlieutenant in der Artillerie. Er starb am 24. Novem-
ber 1758, in der obern Breunerstrasse Nr. 1137. Mit seiner Gemah-
linn Marchesa Margarita Monti della Scrivia aus Piemont erzeugte
er ausser sieben Töchtern die zwei Söhne Joseph und Johann Lud-
wig Balthasar. Joseph war im J. 1766 Artillerie-Oberst, Comman-
dant en Chef des Artillerie- und Ingenieur - Corps und General-
Director der militärischen Arehitectur und Fortification im Grossher-
zogthum Toscana, und ist mit seiner Gemahlinn Petronilla de Ruyz,
mit der er sich am 8. September 1757 verehelichte, der Stifter der
toscanischen Linie der Freiherren von Baillou.
Johann Ludwig Balthasar von Baillou, am 19. August 1731
zu Parma geboren, folgte seinem Vater in der Würde eines Directors
des k. k. Hof-Naturalien-Cabinets , wurde mit seinem Bruder Joseph
wegen der Verdienste ihres Vaters und in Anbetracht ihres uralten
Adels von K. Joseph II. am 9. April 1766 in den Reichs fr ei-
ner renstand erhoben. Am 2. December 1782 erhielt er das Incolat
in Böhmen, Mähren und Schlesien, kaufte am 4. Jänner 1799 die
ÖÖ Joseph Bergmann.
Herrschaft Hustopetsch im Prerauer Kreise in Mähren, vermählte
sich am 14. Mai 1771 mit der Freiinn Anna von NefFzern und starb
am 23. Februar 1802 in Wien auf der Freiung Nr. 143 im
71. Jahre.
Sein Sohn Joseph Johann Freiherr von Baillou , am
27. October 1775 in Wien geboren, war Edelknabe und fungirte als
solcher bei K. Franzens Krönung in Frankfurt 1792, ward erst Officier
bei Savoyen-Dragoner, widmete sich dann der Ökonomie und entsagte
nach des Vaters Tode der in der Familie erblichen Würde eines
k. k. Hof-Naturalien-Cabinets-Dir ectors. Im Jahre 1809
diente er als wirklicher Hauptmann beim zweiten Prerauer Landwehr -
Bataillon. Er erzeugte mit seiner Gemahlinn M. Antonia Gräfinn
von S obeck (f 1829) 21 Kinder, von denen zehn am Leben blie-
ben. Das Weitere über diese Familie s. im „Gothaischen Almanach
der deutschen Freiherren für das J. 18o4" als die einzig richtigen
Angaben, da die früheren nicht richtig sind.
Man möge uns diese Weitläufigkeit zu gut halten, indem wir
das Andenken an Jean de Baillou, einen zu seiner Zeit berühm-
ten und um das Entstehen des k. k. Hof-Naturalien-Cabinets hochver-
dienten Edelmann, dessen Namen aber unverdienter Weise bei-
nahe verschollen ist, bei der jetzigen Generation wieder auffrischen
wollen, zumal uns ganz zuverlässliche Quellen, theils von Seite
eines Verwandten *) dieses nun im Freiherrenstande blühenden
Geschlechtes, theils im Beichsadels-Archive zu Gebote standen.
Anmerkung. Zur nähern Kenntniss der damaligen Beamten
am k. k. Hof-Naturalien-Cabinete fügen wir hier an den Stand nach
dem Hof- und Staats-Schematismus vom J. 1789, S. 393. Director:
Hr. L ud wig Freiherr von Baill on, Adjunct: Hr. Abbe Andreas
Stitz (sie). Custos: Hr. Johann Baptist Megerle, nachher seit dem
30. November 1803 mit demPrädicat von Mühlfeld. Später wird Abbe
Stütz zweiter und nach des Baron von Baillou Ableben alleiniger
Director bis zu seinem Tode am 11. Februar 1806.
VII. S.49. De France's Hans und Porträt. — Nachdem de France
laut Anmerkung I. das dem Marchese Johann Anton de Pri e gehörige
') Die ausführlichen Notizen über diese Familie verdanke ich dem k. k. Rittmeister
Karl Blöchling-er von Bannholz, der seit 26. October 1845 mit, I sähe IIa Freiinn
von Baillou vermählt ist.
Pllege der Numismatik in Österreich. ö i
Haus in der Kärntnerstrasse Nr. 1073 um 30.000 Gulden in der Ver-
steigerung erstanden hatte, wollte er sich an die Gewähr schreiben
lassen. Da er aber als Titularrath nicht die Fähigkeit hatte ohne
Zahlung der auf ihn entfallenden Taxe von 608 Gulden zum Besitze
zugelassen zu werden, so erwirkte er den Rang eines wirklichen
k. k. Kammerrath.es, als welcher er die zum Besitze eines bürgerli-
chen Hauses erforderliche privilegirte Eigenschaft hatte. Die Kaiserinn
M. Theresia ernannte auf seine Bitte ihn zum wirklichen Hofkammer-
rathe laut der Verständigung vom 13. April 1749. Er wurde nun am
22. Mai an die Gewähr geschrieben und wird in den bezüglichen Acten-
stücken wirklicher k. k. Hofkammerrath , General-Director der
k. k. Schatzkammer und Galerien, wie auch k. polnischer und kur-
sächsischer wirklicher Provinzialrath genannt. Am 17. Mai desselben
Jahres stellte er den von seiner Hand unterzeichneten und mit seinem
Siegel besiegelten Revers aus , sein Haus nur einem Bürgerrechts-
fähigen zu verkaufen. Nach seinem kinderlosen Tode kam am
27. Juni 1761 seine Witwe Francisca Smitmer, verwitwete de
Rotta an die Gewähr, dann seit 26. August 1760 deren Tochter
erster Ehe M. Anna, Witwe des Freiherrn Hermann Lorenz von
Cannegiesser, darauf den 15. September 1780 deren Tochter
Katharina, vermählte Freiinn von Hess, welche hochbetagt am
4. September 1848 starb. Der Sohn ihrer gleichnamigen Tochter
Katharina (f 1812) und des Freiherrn Hermann von Diller, k. k.
Hofrathes und Kanzlei-Directors des k. k. Hofmarschallamtes (f 30.
Nov. 1832), Hermann Freiherr von Di 11 er wurde am o. März 1850
an die Gewähr geschrieben.
Die Privatbibliothek Sr. k. k. apostolischen Majestät besitzt de
France's Brustbild en face in Kleinfolio in geschabter Manier mit
der Umschrift: IOSEPHO DE FRANCE MDCCLV, innerhalb einer
ovalen Umrahmung, an deren unterem Rande zu lesen : „Martin, de
Meytens pinxit Eff. (igiem)", und „J. G. Haid sculpsit." Man erblickt
de France vor einem Schranke mitMünzen und Gemmen ; unter dem-
selben dessen Wappen, nämlich sechs Querbalken die in Gold und
schwarz wechseln, so dass auf den drei goldenen je drei , zwei und
eine Lilie abnehmend prangen. Links (vom Bilde aus) gewahrt man
ägyptische Antiquitäten und drei antike Münzen, daneben den Rücken
eines Foliobandes mit der Aufschrift: „Cimelium — Cses. Reg. —
Austriac. Vindobon.", die sämmtlich auf einem Tische ruhen;
88 Joseph Bergmann.
darunter ist auf einem länglichen Vierecke gezeichnet der Grundriss
und die Einth eilung seiner Wohnung, vorne sein Museum mit den
Namen der Gemächer: Museum. Technoteca (sie). Triclinium. Con-
clave ex vasis murrhinis vulgo Porcelain, rückwärts seine Zimmer
sammt den Dienstboten-Zimmern und der Küche. Seitwärts rechts
unten: Sal. Kleiner delineavit Vindobonae, wahrscheinlich zeich-
nete er die Nebensachen, da das Porträt selbst in der Schabmanier
ausgeführt ist. Ganz unten liest man in sechs Hexametern die Wid-
mung :
„His numos forulis auro, argentoque vetustos
gemmarumque gregem caelatum condidit idem,
descriptas qui pone aedes, ne digna deessent
templa Deum signis, priscique cohortibus aevi;
Neve Vienna tibi soli servirot, in orbem
Austriacos hie suasit opes diffundere libro.
Devot: J. K. E. F.
Diese Chiffern bezeichnen wohl: Josephus Khell, Erasmus
Froelich.
Anmerkung. Nach den Reichsadels-Acten wurde Chri-
stoph de France aus Lissabon von K. Karl V., ddo. Brüssel am
31. August 1531 in den Adelstand erhoben. Sein Wappen war ein
Greif. — Raynutius de France erhielt von K. Rudolf II. ddo.
Prag am 12. Juni 1585 den Ritterstand nur für seine Person. Leider
ist in den betreffenden Acten kein Wappen zu finden. Derselbe war
k. spanischer Provinzialrath in Flandern und war mit Christoph
Assonleville Herrn von Haulteville, belgischem Staatsrathe und
Schatzmeister des Ordens des goldenen Vliesses, nach Prag gekom-
men, wo im Namen des Grossmeisters K. Philipp's II. der Erzherzog
Ferdinand von Tirol, schon seit 1559 Ritter des Ordens, dessen
Insignien seinen Neffen, dem K. Rudolf II. und Erzherzog Ernest,
ferner seinem Rruder dem Erzherzog Karl von Steiermark, dann
Wilhelmen von Rosenberg und Leonharden IV. Freiherrn von Har-
rach verlieh. S. meine Mittheilungen nach einer bildlichen Darstel-
hing dieser Feierlichkeit in der k. k. Ambraser Sammlung in den
Wiener Jahrbüchern der Literatur 1830, Bd. LI, im Anzeigeblatte
S. 2—12.
VIII. zu S. 53. — Gemälde das K. Franz I. im Kreise
der gelehrten Directoren der vier wissenschaftlichen Hof-
Pflege der Numismatik in Österreich. öS)
Institute darstellt. — Die Wand zwischen den beiden Fenstern des
letzten Zimmers des k. k. Mineralien-Cabinets ziert ein grosses Öl-
gemälde von den Künstlern Mesmer und Kohl1)- Auf demselben sieht
man denKaiser, den erlauchten Gründer des kaiserlichen Naturalien-
wie auch des modernen Münz- und physicalischen Cabinets, in ganzer
Figur und in Lebensgrösse an einem Mosaiktische sitzend und eine
Smaragdstufe in der Hand haltend; Seiner Majestät gegenüber steht
in geistlichem Gewände Abbe Johann Marcy, Director des physica-
lisch-mathematischen Cabinets, zu dessen Füssen ein Globus ruht,
auf den Tisch zeigend; hinter des Kaisers Stuhle steht mit einem
aufgeschlagenen Buche Gerhard van Swieten, Präfect der kaiser-
lichen Hofbibliothek; links neben ihm in blauer, rothausgeschlagener
Artillerie - Uniform, goldbetresster Weste und mit der Feldbinde
umgürtet, hält der Director des Naturalien-Cabinets Chevalier de
Baillou einen Flussspath in seinen Händen, endlich seitwärts des
Tisches durch den Saal dem Kaiser zuschreitend Duval, eine
Schublade mit Goldmünzen in beiden Händen haltend. Die beiden
Letzteren, weil sie tiefer im Hintergrunde gruppirt werden mussten,
sind in etwas kleinerer Gestalt gehalten. — Das Porträt des Kaisers
gilt als das bestgelungene, wesshalb es für den Kaisersaal zu Frank-
furt copirt wurde. Wenn dieses Gemälde bei Lebzeiten aller dieser
Männer verfertigt wurde, so fällt es in die Zeit von 1753 bis 1758,
indem in jenem Jahre de Baillou k.k. Oberstlieutenant in der Artillerie
wurde und in diesem Jahre starb und die Anderen länger lebten.
IX. S. 54. Fräulein Josepha von Gattenberg. — Die von Gutten-
berg haben in Wirtemberg ein adeliges Gütchen zu Guttenberg
besessen und sich davon geschrieben, dasselbe aber in den früheren
Kriegsläuften verloren. Schon von K. Rudolf IL wurden sie am 26. Juni
1603 wegen ihrer dem h. römischen Reiche geleisteten Dienste
sowohl in des Reichs als seiner Erblande rittermässigen Adelsstand
erhoben. So erwarb sich Johann Lorenz Trunk — dies ist
der Familienname — als gewester Ältester des innern Rathes und
l) Franz Mesmer oder Messmer, geboren zu Antholz im Pusterlhale, war ein
Schüler Martin's von Meylens und einer der besten Porträtmaler seiner Zeit. Er
war kais. Hofmaler, 17G7 Mitglied der k. k. Akademie und starb 1774. Er malte
gewöhnlich nur die Köpfe, das andere Jakob Kohl, mit dem Mesmer zu diesem
Zwecke sich verbunden hatte.
9 U Joseph Bergmann.
bischöflich Freisingischer Hofmeister ') bei der Belagerung Wiens im
J. 1683, in welcher derselbe gegen den Erbfeind die gefährlichsten
Posten vertheidiget und eine tödtliche Wunde empfangen hat, sich
vorzügliche Verdienste, ferner bewährte dessen Sohn Johann
Lorenz als Stadtgerichts-Beisitzer, dann Stadtraths-Verwaudter
und Hof- und Soldaten-Quartiers-Commissär seine ausnehmende Ge-
schicklichkeit. In Anbetracht dieser von Beiden geleisteten Dienste
erhielt dieser von K. Joseph I. am 16. Jänner 1708 die Bestäti-
gung des Adelsstandes mit dem früher geführten Wappen und dem
Ehrenworte von Guttenberg. Später bekam er auch das Stadt-
richteramt zur Belohnung von 1708 — 1712, derselbe war auch von
1712 — 1716 Bürgermeister von Wien. Wahrscheinlich dessen
Enkel, dem Josephv. Guttenberg, k. k. Hof-Commissionsrathe und
Depositenamts-Administrator, verlieh die Kaiserinn M. Theresia am
15. Jänner 1773 den Ritters t an d für ihn und seine ehelichen
Nachkommen. Ob Fräulein Josepha von G. dessen Tante oder
Schwester war, vermag ich nicht zu bestimmen. Etliche Briefe
Duval's an dasselbe, die er auf seiner Reise nach Frankreich 1752
schrieb, dessgleichen die Antworten auf dieselben haben sich erhalten,
besonders ausführlich ist der Bericht über seine Reise nach Tirol im
J. 1766 in Oeuvres de Val. Jam. Duval. Tom. II, Lettre CXXVI, pag.
238 — 257. Interessanter ist der Briefwechsel mit dem russischen
Hoffräulein Sokoloff. Einige Mal unterschreibt er sich an dieses
„Fanden berger d'Austrasie" , und spricht beide zu Anfange der
Briefe gewöhnlich mit den Worten an: Aimable Bibi, wie er auch
gewöhnlich alle geistreichen Fräulein für die er Interesse hatte, nennt,
vielleicht weil Fräulein von Guttenberg Josepha — Pepi — hiess.
X. S. 54. a) Der berühmte TVlathematicus Herr Abbe Johann Marcy,
ein geborner Niederländer, war Domherr zu Leitmeritz und Soignies,
Präses und Director der Physik und Mathesis an der hiesigen Univer-
sität, wie auch der jungen Erzherzoge Lehrer in diesen Fächern, dann
später Kanzler der Universität zu Löwen , wahrscheinlich um 1772,
') Auf der Stelle des alten, vielwinkeligen Freisingerhofes, dessen Entstehen
durch Bischof Otto von Freisingen, einen Sohn des h. Markgrafen Leo-
pold IV. von Österreich, auf 1140 angegeben wird, baute der Hofbtiehdrueker
von Trattnern zwischen 1773 — 1778 den nach ihm genannten grossen T r a 1 1-
nerh o f.
Pflege der Numismatik in Österreich. 9 I
da wir im k. k. Staats- und Standes-Schematismus für 1773, S. 477
Joseph Nagel als Director des k. k. physicalischen Cabinets lesen,
der zugleich des Studii Physici et Mathematici Präses und Director
war. Wann Marcy gestorben, vermag ich nicht anzugeben. — Marcy
war, wie aus Allem erhellet, ein tüchtiger, hochgeachteter Mann. Laut
eines kaiserlichen Befehls vom 19. September 17G2 war er zu Be-
ratungen über Wasser b a uteri beizuziehen, so kraft der Hand-
billete vom 10. October und 5. November 1762 bei derlei Bauten am
Bhein und bei Altbreisach; ferner zur Commission zur Nutzbar-
machung der Wiener-Neu städter Heide1); laut Befehls vom
23. Juni und 7. September 1763 hatten er und der Commerzienrath
Stegner hiezu den Plan zu entwerfen. Beide und der k. k. Oberst-
lieutenant Brequin erstatteten am31. März 1764 wegen einer Mappe
dieser Heide Bericht. Ein allerhöchstes Handbillet vom 13. März
1764 befiehlt, dass der mit der Begier ungs-Commission zu Neustadt
gewesene Abbe Marcy wie ein Hofrath zu tractiren sei und man
daher ihm die Liefergelder (Diäten) von dem Tage seines dortigen
Aufenthaltes an, wie dem Stegner aus der Cassa extraordinario zu
verabfolgen habe (nach dem k. k. Hofkammer- oder dermaligen
Finanzministeriums-Archive). Dessen Bildniss s. auf dem Gemälde
K. Franz I. mit den Vorständen der vier Hof-Institute, vgl. S. 89.
b) Abbe Marcy's Medaille auf Duval. — Marcy Hess im
J. 1755 zu Ehren seines Freundes nachstehend beschriebene Medaille
prägen welche dessen Büste von der rechten Seite darstellt, wie sie
ein der Loge, in der Duval sass, naher Zeichner mit kunstgeübter
Hand gezeichnet hat. Av. VALENT. DV. VAL. IMP. eratoris AVG. usti
ANTIQ. uarius B1BL. iothecae FLOB. entinae PBAEF. ectus. Dessen
kräftiges Br us tbild von der rechten Seite, mit scharfem aber gut-
müthigem Ausdrucke im Gesichte mit Perrücke und leichtem Um-
l) Maria Theresia gründete auf ihre Kosten auf dieser Heide im .1. 1703 ein neues
Pfarrdorf und besetzte es mit Tirolern, um den Versuch von Urbarmachung des
Steinfeldes zu unterstützen. Den Grundstein der neuen Pfarrkirche zum h eiliges
Kreuz sollte am 29. September 1767 die Erzherzoginn M. Josepha, Braut Fer-
dinande IV., Königs heider Sicilien, legen, welchen Tag auch die hierauf bezügliche
Medaille angibt. Da sie aber von den Blattern in Schönbrunn befallen wurde
(an denen sie am Namenstage ihrer Mutter den 15. October starb), legten ihre
Schwestern Maria Anna, die Nu m i s m a t iker inn, und Maria Amalia denselben am
4. October.
92 Joseph Bergmann.
würfe. Rev. PAVIT ET ADMETI TAVROS FORMOSVS APOLLO,
nachTibulI Buch II, Eleg. III, V. 11. In einer baumbewachsenen Land-
schaft mit einer Einsiedelei steht bei einem Baume ein Hirt, seinen
Stab an die linke Schulter gelehnt , der einen Atlas (das Theatrum
Geographiae veteris von George Hornius) in den Händen vor sich
hält und zu dessen Füssen eine Landkarte und sein Hut liegt. Vor ihm
stehen zwei Herren, der Graf Vidampiere und Baron von Pf üts ch-
ner, neben diesen ihre Zöglinge die beiden Prinzen von Lothringen,
Leopol d Clemens von zehn und FranzStephan von neunthalb
Jahren, rückwärts deren Gefolge und die Equipage im Hintergrunde.
Gross e dieser Medaille, die das Andenken an das Auffinden des
erwachsenen Duval erhalten soll, 2 Zoll 5 Linien im Wiener Maasse;
Gewicht: o1/^ Loth in Silber; Originalguss, geschnitten und abge-
bildet in Prof. Joachim's neu eröffnetem Münz-Cabinete. Nürn-
berg 1761, Bd. I, Taf. XXI, B. zu S. 215, gestochen von Johann
Sebastian Leitner, dann die Rückseite als Vignette in Oeuvres de
Valentin Jamerai Duval. Tom II. Sein Porträt en face ist auch dem
Titelblatte des I. Theiles vorgesetzt. Dass Marcy diese Medaille
verfertigen Hess, bestätigt dasselbe Werk S. 23.
XI. S. 54. — Herr von Kiepach und das Porträt der Erz-
herzoginn Clandia Felicitas. — Die Kiep ach oder Küepach sind
von gutem tirolischen Adel. Christoph von Küepach zu Ried,
Zimmerlehen und Haselburg erhält im J. 1548 die tirolische Land-
mannschaft, dann am 29. Juli 1552 den rittermässigen Adelsstand
nebst Wappenbesserung; dessgleichen am 1. Jänner 1562 auch für
seines Brudes hinterlassene Söhne und Töchter. — Der kindische
alte Kiepach dessen Namen Duval stets Quib ach schreibt, zeigte
unter schallendem Lachen den Herren ganz besonders das Porträt
derKaiserinn Claudia Felicitas, einer berühmten Schönheit ihrer
Zeit. Sie ist die Tochter des Erzherzogs Ferdinand Karl von Tirol
(f 1662) und der Prinzessinn Anna von Medicis, die am 30. Mai
1652 zu Innsbruck geboren war. Der französische Arzt und Tou-
rist Karl Patin (S. 60), der zu Weihnachten 1672 das zweite Mal in
Innsbruck war, sagt von derselben1): J'y vis cette Archi-Duchesse
l) Quatre Relations historiques par Charles Patin, Medecin de Paris. A Basle.
M. D. C. LXXIII, p. 303.
Pflege der Numismatik in Österreich. 93
qu'on pretendoit estre accordee avec S. A. R. d'Angleterre J) : On ne
scauroit s'imaginer plus de beautez, de grace et de majeste. La
Venus de Zeuxis qui avoit occupe le plus grand Peintre du monde
n'en avoit pas d'avantages : C'estoit pourtant l'abrege ou pour mieux
dire la copie de ce qu'il y avoit de beau chez les Grecques, qui
eorame Vous scavez, Monseigneur (Antoine Ulric, Duc de Brunsvic
et de Lunebourg), avoyent la reputation d'estre les plus belies
du monde. Ce que j'ay oüy dire de son esprit est encor au des-
sus de ce que j'ay vu, mais je ne me tiens pas assez fort pour Vous
en exprimer ce qu'il en faut penser. En esorivant cecy je viens
d'aprendre la mort de rimperatrice : Si ce n'estoit pas estre trop
hardy de vouloir marier l'Empereur, jelemarierois ä cette Princesse :
Tout est desia d'aceord dans mon esprit; que scait-on si cela n'arri-
vera pas reellement, ce ne seroit pas la premiere fois que Y imagi-
nation auroit este secondee du succez : Imaginatio generat casum,
disent les Physiciens, et je prendrois grand plaisir que cela arrivast,
tant pour la consolation de TEmpereur, que pour le bien de l'Em-
pire." Des K. Leopold I. erste Gemahlinn Margaretha Theresia, K. Phi-
lipp's IV. von Spanien Tochter, war am 12. März 1673 ohne Hinter-
lassung eines männlichen Erben gestorben und der Kaiser — damals
der einzige männliche Habsburger deutscher Linie — vermählte
am 15. October desselben Jahres sich mit seiner tirolischen Base
die aber nach der Geburt zweier noch vor ihr gestorbener Prin-
zessinnen am 8. — 9. April 1676 an der Auszehrung verschied und zu
Wien in der Dominicaner-Kirche ruht. Der verwitwete Kaiser schenkte
ihr Hochzeitskleid dessen Stickerei die höchste Kunst verriet!) , und
die beiden mit Diamanten besetzten Trauringe der Kirche zu Maria
Hiezing bei Schönbrunn und schrieb mit eigener Hand in fünfzehn
Zeilen Worte der Widmung bei, deren letzte ein Chronostichon bilden
und lauten: IX Aprilis Anno qVo CLaVDIa IMperatrIX ple obllt.
Der Kaiser war ein ausgezeichneter Kenner des Latein und Meister
in derlei Arbeiten. Vgl. S. 69, Anm. 2. — Zwei Porträte dieser
schönen Prinzessinn verwahrt die k. k. Ambraser Sammlung unter
*) Diese königliche Huheit von England war wohl der naehherige König Jakob II.,
der am 10; April 1671 von Anna Nyde Witwer geworden war und sieh dann am
23. November 1673 mit der fünfzehnjährigen Heraoginn M. Beatrix Eleonora von
Modeua vermählte.
«7 tt .Iose|ih Bergmann.
Nr. 28 und 29. — In derselben Kirche zu Hiezing vermählte sich
K. Leopold's jüngerer Sohn Karl (VI) am 23. April 1708 durch Pro-
curation mit der Herzoginn Elisabetha Christina von Braunschweig.
XII. S. 55. Duval's und Abbe Marcy's Besuch der llniver-
sitäts- Bibliothek in Innsbruck und des Letztern Theilnahme
an der Herausgabe von Peter Anich's Karte von Tirol. —
Die Stelle über diesen Besuch in dieser Bibliothek im Briefe
Duval's (Tom II. 249) an Fräulein von Guttenberg lautet: „Com-
ment, en admirant la vaste et süperbe salle de l'Universite , et
les deux grands globes qui en fönt l'ornement, de raerae
que T ample carte manuscrite du Tyrol, et les divers
instruments qui ont servi ä la tracer, un venerable profes-
seur Jesuite nous apprit que les globes, la carte et les instru-
ments etoient l'ouvrage d'un simple paysan ä chapeau verd et
pointu, d'un homme sans ayeux, sans titre, sans etudes classiques,
et d'une physionomie des plus vulgaires, et comment, M. l'Abbe
Marcy , bon juge en fait de talents , etonne d'un tel phenomene,
ambitionna le portrait de cet homme extraordinaire , lequel en
effet Iui a ete envoye mais avec la triste nouvelle que le digne
objet du portrait n'existoit plus etc." — Dieser Natursohn war der
bekannte Peter An ich, zu Oberperfus unweit Innsbruck 1723
geboren, der wie Duval die Herde hütete und erst im 28. Lebens-
jahre durch den Jesuiten Jgnaz von Weinhart J) Arithmetik, theo-
retische und praktische Geometrie, Mechanik und Astronomie gründ-
lich lernte und sich zum Schönschreiber, geschickten Zeichner, Map-
pirer und Mechaniker ausbildete. Bald verfiel er auf den Gedanken
einen Erd- und einen Himmels-Globus, wie auch verschiedene mathe-
matische Instrumente zu verfertigen. Die Verfertigung der genannten
beiden Globen fällt in die Jahre 1756—1758. Er erhielt den
ehrenvollen Auftrag eine Karte von ganz Tirol zu entwerfen und zu
zeichnen, dem er aufs Fleissigste nachkam. Als der kaiserliche Hof
bei der feierlichen Vermählung des Grossherzogs Peter Leopold mit
der Infantum M. Louise von Spanien im August 1765 zu Innsbruck
*) Dieser gelehrte Jesuit welcher die beiden Reisenden durch den Bibliotheksaal
geleitete, war ein ausgezeichneter Lehrer in Physik, Mathematik und Mechanik, der
durch die uneigennützigste Herauhildung Anich's, wie auch zum Theile Hueber's alles
Lobes würdig ist. Er starb hochbetagt am 22. Mai 1787.
Wiege der Numismatik in Österreich. 95
war, sollten Anich's meisterhafte Arbeiten demselben vorgelegt wer-
den. Leider waltete ein eigener Unstern über der Arbeit, indem der
Stich von drei Blättern theils in Augsburg, theils in Wien von ver-
schiedenen Künstlern somit ungleich ausgeführt war und daher die
Abdrücke gar nicht vorgelegt werden konnten. Seihst Anich dessen
Werke damals als eine der vorzüglichsten Merkwürdigkeiten Inns-
brucks galten, konnte den Majestäten nicht vorgestellt werden, da er
in Folge eines sich hei den Vermessungen in der sumpfigen Gegend
zwischen Bozen und Leifers zugezogenen hitzigen Gallenfiehers
krank lag. Wenn er sich auch wieder etwas erholte und eine goldene
Ehrenmedaille sammt einem jährlichen Gnadengehalt von 200 Gulden
sein Gefühl hoben, so war doch seine Lebenskraft gebrochen. Er
starb unverehelicht wie Duval, sieben Wochen nachdem die beiden
Reisenden Tyrol verlassen hatten, am 1. September 1766 im 44. Jahre
seines Alters. Die grossmüthigeKaiserinn gab seiner Schwester einen
lebenslänglichen Gnadengehalt.
Als die grosse Karte Tirols durch Anich's Neffen und Schüler
Blasius H ueber (-J- 1814) vollendet und rein gezeichnet war, wurde
sie in Wien von Johann Ernst Mansfeld1) in Kupfer gestochen.
Die Aufsicht und Leitung bei deren Stiche übernahm Abbe Marcy, da
Freiherr von Sperges seiner vielen Geschäfte wegen sich derselben
nicht unterziehen konnte. Den bezüglichen Befehl vom 13. April
1768 fand ich im ehemaligen k. k. Hofkammer-Archiv. Marcy schloss
am 2S. Mai desselben Jahres mit Mansfeld den Contract der mit
1500 Gulden genehmigt wurde, und schaffte Holländer Papier zu
den Abdrücken herbei. Die Karte erschien 1774. Auf Marcy's im
J. 1771 gemachten Vorschlag verfertigte Hueber noch eine Über-
sichtskarte von den zwanzig grossen Blättern unter dem Titel „Atlas
Tirolensis. Diese Karten der beiden tirolischen Bauern gehörten
zu den besten ihrer Zeit in Europa. — Die Hebemaschine die der
Tischlermeister Ja uf er in Innsbruck erfunden hatte, wurde nach
einem Actenstücke in der k. k. Hofkammer zur Begutachtung zuge-
theilt dem Abbe Marcy, dem Architekten Pakassy und den Herren
Joseph Walcher, einem gelehrten Exjesuiten, und Joseph Nagel.
Min Nagler's Künstler-Lexikon, in dem Bd. VIII, 254 Mansfeld's Arbeiten genannt
sind, werden diese Landkarten nicht erwähnt. Dessen Sohn Johann Georg war
Kupferstecher am k. k. Münz- und Antiken-Cahinete und starb ISIS.
96 Joseph Bergmann.
XIII. S. 62. Über Baron von Pfenninge^ alchymistische Medaille-
Kaiser Karl VI. war zu dieser Zeit nicht in Tirol, sondern im Novem-
ber 1711 auf seiner Reise aus Spanien zu seiner Krönung in Frank-
furt. — Beschreibung dieser Medaille welche das k. k. Münz- und
Antiken-Cabinet in Wien verwahrt.
Vorderseite: AUREA PROGENIES PLUMBO PROGNATA
PARENTE1). Saturn auf Wolken thronend, auf deren einer
sein Zeichen h zu sehen ist, mit der Sense in der Rechten und
der Sanduhr in der Linken, dessen Haupt aber prangt als glänzende
Sonne, als — Gold.
Rückseite, in achtzehn Zeilen die Worte:
METAMORPHOSIS
CHYMICA
SATURNI IN SOLEM.
ID EST.
PLUMBI IN AURÜM.
SPECTATA OENIPONTI.
31 DECEMBRIS MDCCXVI.
PROCURANTE. SERENISSIMO
CAROLO PHILIPPO
COMITE PALATINO RHENI
S. R: I: ARCHIDAPIFERO ET ELECTORE
BAVARIAE. IVLIAE. CLIVIAE.
ETMONTIUM DUCE.
TYROLIS GUBERNATORE ETc ETc
ATQUE IN HAC MONETA
AD PERENNEM MEMORIAM
ARCI AMBROS ET
POSTERITATI DONATA.
Grösse: 2 Zoll 2 Linien im Wiener Maasse; Gewicht: lö1/^
Ducaten.
Karl Philipp, Pfalzgraf von der Neuburger Linie wurde nach
seines kinderlosen Bruders Johann Wilhelm's Tode (f 8. Juni 1716)
Kurfürst von der Pfalz. — Professor Schmieder setzt in seiner
Geschichte der Alchemie, Halle 1832, S. 40, diese Medaille und
den Vorgang der Transmutation des Bleies in Gold irrig in die Zeit
K. Ferdinande III. und weiset auf Keyssler's Reisen hin.
!) Zur Vollendung' des Distichons fügen wir hei: Hoc si quis credit, plumheus inge-
nio est.
Pflege der Numismatik in Österreich. 97
XIV. S. 63. Gräflich Montfortische Antiquitäten-Samm-
lung. — Herr Oberbibliothekar v. Stalin in Stuttgart antwortete
mir auf meine den antiquarischen Nachlass dieses Grafen betreffende
Anfrage Folgendes: „Graf Ulrich von Montfort war allerdings ein
grosser Antiquitäten- und Curiositäten-Liebhaber, sammelte auch sonst
Exotica und Artefacta. Die handschriftliche Chronik des Grafen von
Montfort ist von mir aus der Verlassenschaft des verstorbenen Hofraths
von Gock für die königliche öffentliche Bibliothek gekauft worden.
Sie trägt jetzt die Numer: Mscr. histor. in fol. Nr. 318 und enthält
Bl. 269—275 inclusive: Verzeichnuss Weyland Ulrich Graffen
von Montfort seeligen verlassen sachen von Antiquitäten und
anderen, so in die Kunstkammer gehörig". Hieraus ergibt sich,
dass aus demselben von Vanotti nur einige Zeilen Excerpte
abdrucken Hess.
XV. S. 66. Katalog der Münzen des römischen Königs Ferdi-
nand I. und über Leopold Heiperger. — Diesen schön geschriebenen
Katalog von 70 Blättern in Querfolio verwahrt die Bibliothek der
Exköniginn Christina von Schweden in Born mit dem Titel : „Catalogus
numismatum antiquorum et modernorum in aula Imperatoria servato-
rum. Sign. N. 661." Leider ohne Jahreszahl. Er besteht aus drei
Theilen oder Abtheilungen, von denen der I. und II. die Münzsamm-
lung und der III. ein Verzeichniss der Geburts- und Sterbetage der
fünfzehn Kinder *) K. Ferdinand I. enthält. Die Aufschrift des I.
Theiles lautet: Catalogus Bomanorum Consulum ab urbe condita
omnium, quorum memoria apud authores reperitur, ordine litera-
rum digestus, quo facilius cum numismatum inscriptionibus con-
ferri possint. Eorum tarnen quia major pars ad posteros non per-
venit, additi sunt numeri tabulae et ordinis, sicut per forulos sin-
gulos digesta serenissima regia Maiestas Bomanorum per
Cubicularium suum etCastellanum Viennensem Leopoldum
Heiperger 3) componi et ab interitu vindicari commisit. Da hier im
Contexte Ferdinand königliche Majestät genannt wird und oben
in den Worten der später und zuletzt geschriebenen Aufschrift
') Die Namen, Geburtsorte und Tage dieser Kinder sind auch in K. Ferdinande 1.
Gebetbuche (Nr. 123) in der k. k. Ambraser Sammlung eingeschrieben. S. m ein e
Mittheilung in Ridler's österr. Archiv. Wien 1831. S. 531 ff.
2) In Dudik's Iter Romanum 1. 224, unrichtig G es pe rge r gedruckt, wofür ich Hei-
perger setzte.
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XIX. Bd. I. Hft. 7
98 Joseph Bergmann.
vom kaiserlichen Hofe die Redeist, so dürfte die Vollendung
dieses Kataloges um das J. 1556 fallen.
Nach dessen Einteilung führt die I.Rubrik die Aufschrift : Annus
ab urbe condita , die II. nomina Consulam in alphabetischer Ord-
nung, die III. Fo(rulus); die IV. enthält den Nume rus der Münze.
Im Ganzen sind hier etwa 99 Consularmünzen verzeichnet, die damals
in diesem Cabinete waren. Die zweite Abtheilung (fol. 45) hat die
Aufschrift: „Sequuntur nomina Romanorum Imperatoruni" cum brevi
elogio vitiorum aut virtutum quibus excelluerunt, simul cum adnota-
tione annorum imperii et obitus et ipso mortis genere. Quorum fere
omnium numismata apud serenissimam Romanorum majestatem super-
sunt, atque in scriniis ad hoc confectis disposita, atque in ordinem
per tabulas, seu folia lignea redacta sunt prout in dictis scriniis
clare apparet." Bei vielen sind auch die Gemahlinnen angegeben.
Die I. Rubrik ist bezeichnet: Forulus (Lade), die II. Numerus, die III.
Stirps et nomen, die IV. Annus, dann Epitheton, ferner imperii tem-
pus, aetas und endlich obitus. Bis auf Karl den Grossen, den der
Verfasser nach Michaeli, von Konstantinopel setzt, sind die Numern
der Münzen angegeben, eine sehr reiche Sammlung. Fortgesetzt ist
die Reihe bis auf K. Karl V., zu dessen Lebzeiten der Katalog ange-
legt wurde. Ungern vermissen wir eine Probe der Beschreibung von
der einen und andern Münze. <
Leopold Heiperger, Heyperger auch Heu berger entstammt
einem tirolischen Geschlechte aus Hall , von dem ein Zweig sich in
Wien niederliess. Er war erst des römischen Königs Ferdinand I.
Kammerdiener (cubicularius) , später Hof-Zahl- und Schatzmeister
und Burggraf in Wien, und in letzteren Eigenschaften wohl ein natür-
licher Verwahrer der Münzen seines Fürsten und Herrn. Er war
auch wie seine Ahnen in Tirol, ein vermöglicher Mann und besass
das Haus zum goldenen Hirschen am alten Fleischmarkt an der
Stelle, wo dermals des Herrn Vizepräsidenten von Karajan neuerbau-
tes Haus Nr. 728 steht. Ausserdem hatte Heiperger einen Hofaus-
stand an 1000 Gulden Gnadengeld, das nach einer Aufzeichnung im
k. k. Hofkammer-Archiv im Juli 1556 noch vor Ausgang desselben
Jahres zu zahlen war. Im December 1556 ward befohlen die Provi-
sion von jährlichen 100 Gulden auf dreizehn Jahre nach seinem
Tode zu erstrecken; dann im August 1558 wird angeordnet, dass
man ihm in einem Jahre und in zwei Fristen 400 Thaler Gnadengeld
Pflege der Numismatik in Österreich. 99
reiche; darauf im November, dass man 200 Gulden Provision und
Gnadengeld dem Leopold Heiperger auf die Mauth in Linz anweise,
welche Überweisung von 100 Gulden Gnadengeld vom Hof-Zahlmei-
steramte auf die Mauth in Linz erfolgte. Im Jänner 1560 heisst es,
man soll die ihm jetzo bewilligten 200 Gulden in zwei Fristen bezah-
len. Dieses kleine Detail gibt einen Einblick in die Geldverhältnisse
jener geldarmen Zeit. Im März 1560 wird verwilliget, durch drei
Jahre jedes Jahr 150 Gulden rheinisch, von seinem Abgang an
gerechnet, dessen Hausfrau und den Erben (nämlich dem Sohne
Karl und den verehelichten Töchtern Judith und Anna) reichen
zulassen. Somit ist das bisher angenommene Sterbejahr 1557 in 1560
zu verändern. Wolfgang Lazius der in dessen Nähe sein Haus, den
sogenannten Dr. Latzenhof, wo nun ein neues Haus gebaut wird,
bewohnte, sagt von Heiperger als Münzsammler: Lupoldus,
Ferdinando Caesari ä Cubiculis, ingentem ac admirandum vetustatis
thesaurum collegit, consulum Rom. Imperatorum ceterorumque vetu-
stiorum principum numismalis magno labore conquisitis et a nobis in
ordinem digestis" V. Lazii Rerum Viennensium Commentarii.
Basileae 1546, pag. 146. Wenn demnach Heiperger nicht seine eigene
Sammlung ordnen konnte, wie sollte er die seines Gebieters ordnen, er
war, wie gesagt, als Schatzmeister und Burggraf nur deren Verwahrer.
Eine Medaille auf ihn und seine Hausfrau Elisabetha Fern-
b ergerinn von Egenberg verwahrt das k. k. Münz-Cabinet, die in
meinen Medaillen Bd. I, Tab. IV, Nr. 18 abgebildet und S. 44 f.
erläutert ist. Eine andere auf ihn allein, auf welcher er ausdrücklich
der römisch-königlichen Majestät Kammerdiener genannt wird,
besitzt aus der Sammlung des k. k. F. M. L. vonHayeck seit 1836 das
fürstlich Fürstenbergische Münz-Cabinet zu Heiligenberg.
XVI. S. 66. — Jacob Strada, erhielt am 27. December 1598 die
Adelsbestätigung und Wappenbesserung und sein Sohn Ottavioden
18. Mai 1598 die Bestätigung des seinem Vater vom K. Maximilian II.
verliehenen Adels und Wappens , wie auch die Besserung des letz-
teren durch Vereinigung mit jenem seiner Mutter Ottilia, gebornen
von Rossberg aus Franken (nach den Reichsadels -Acten). —
Nach Angabe der europ. Farm: für 1712. S. 484 finden wir in
K. Karl's VI. Hofstaate „Johann Peter Strada, Graf von Nedabilitz,
königl. Staathalter in Böhmen." Ob dieser ein Abkömmling der Strada
von Rossberg ist, vermag ich nicht zu bestimmen.
7*
100 Joseph Bergmann.
XVII. S. 67. Simon Wagnereck, war nicht in Schwaben, sondern
zu München im J. 1605 geboren, durch neun Jahre Professor der
Beredtsamkeit und im Griechischen und Lateinischen wohl unterrich-
tet. Auch befasste er sich mit dem Lesen und Erklären von Inschrift-
steinen, Nach P. Sotwel beleuchtete er die römischen Münzen der
kurfürstlichen Sammlung, bevor er seinem Rufe nach Wien folgte.
Cf. Bibliotheque des Ecrivains de la Compagnie de Jesus, par Augu-
stin et Alois de Back er. Liege 1855, Premiere serie, p. 782, wo
seine theologischen Werke angezeigt sind. — Über den derselben
baierischen Familie entsprossenen Adepten, den sogenannten Baron
von Wagner eck, der sich 1680 in Prag, dann in Ischl, Waizen-
kirchen, 1682 zu Brunn, dann 1683 zu Wien aufhielt und im selben
Jahre zu Enns starb, s. Dr. Schmieder's Geschichte derAlehemie,
Halle 1832, S. 439 f. und 601.
XVIII. zu S.72. Thomas Lansius wurde am 16. Februar 1577 im
Markte Berg in Oberösterreich geboren. Sein Vater Leonhard beklei-
dete die Richtersstelle daselbst und scheint überhaupt ein angesehe-
ner Mann gewesen zu sein. Der junge Lansius erhielt seine erste
wissenschaftliche Bildung auf dem Gymnasium zu Linz, in welches
er im vierzehnten Jahre eintrat , und das er schon im sechzehnten
verliess, um die Universität zu beziehen. Er wählte, da er wie es
scheint von Haus aus der protestantischen Kirche angehörig war, eine
protestantische Universität suchte, Tübingen. Wann er nach Tübingen
gekommen, konnte ich nicht genau auffinden, da seine Gedächtniss-
redner das Jahr und den Tag nicht angeben und in der Matrikel der
Universität, die ich vom J. 1590 bis 1598 durchgesehen habe, sein
Name nicht vorkommt. Er studirte zunächst Philosophie und Philolo-
gie und scheint sich, wie seine Leichenreden melden, durch Talent
und Eifer sehr ausgezeichnet zu haben. Im November 1596 schrieb
er eine Dissertation de rerum naturalium principiis, und vertheidigte
zum Behufe der Erlangung der Magisterwürde eine andere logischen
Inhalts „de praedicabilibus" unter dem Präsidium des Professors Zieg-
ler „peculiari cum plausu." Er setzte seine philosophischen Studien
noch fort, verband aber damit das Studium der Rechtswissenschaft,
und im Jänner 1598 trug er seinen Namen in die Matrikel der juri-
dischen Facultät ein. Kurz darauf begab er sich wegen des Todes
seines Vaters in die Heimat, kehrte aber nach drei Monaten nach
Tübingen zurück, ging hierauf einige Zeit nach Marburg, kam von
Pflege der Numismatik in Österreich. 101
dort auf die Messe nach Frankfurt am Main, wo er die Bekanntschaft
eines jungen reichen Österreichers Abraham Hölzel 1) machte, der im
Begriffe war eine grössere Reise durch Europa zu machen. Er bot
sich ihm zum Führer und Begleiter an und brachte nun mehrere
Jahre auf Reisen durch Frankreich, die Niederlande, England, Ita-
lien, Ungern uud Deutschland zu. In Paris hielt er sich längere Zeit
auf. Nach seiner Rückkehr erschien er wieder in Tübingen, um dort
die Würde eines Doctors der Rechte zu erlangen und sich häuslich
niederzulassen. Er wurde am 3. December 1604 von Johann Harp-
precht zum Doctor der Rechte creirt und an demselben Tag mit
Susanna Schnepf, einer Tochter des Professors der Theologie
Theodor Schnepf, getraut. Bei der Universität scheint er zunächst
keine Wirksamkeit gehabt zu haben, wir finden wenigstens nicht,
dass er Vorlesungen gehalten hätte. Einige Jahre später am 13. Mai
1606 wurde er von dem Herzog Friedrich zum Professor der
Geschichte, Politik und Beredtsamkeit an dem Collegium illustre
(einer von der Universität unabhängigen Bildungsanstalt für den
Adel) ernannt. In dieser Stellung blieb er bis zu seinem Tode (am
22. December 1657) und war während dieser Zeit nicht nur der
Hauptlehrer, sondern auch der Leiter und Berather der Anstalt. Zu-
gleich war er bei drei Herzogen herzoglicher Bath und zwar nicht
blos mit Rang und Titel, sondern auch mit nicht unerheblichem Ein-
fluss, besonders in Universitäts- Angelegenheiten. Wir finden ihn
öfters unter den vom Herzog bestellten Visitatoren der Universität.
Die Leichenpredigt rühmt ihn als einen grossen Patronen der Uni-
versität.
Seine oben genannte erste Frau starb nach siebzehnjähriger
kinderloser Ehe, drei Jahre hernach heirathete er Anna Maria
!) Die Hölzl oder Ilölzel gehören ursprünglich dem tirolischen Adel an. Johann
Ritter erhält 1472 die Landmannschaft in Tirol. Ein späterer Johann erfreute
sich der Bewilligung sich künftig Hölzl von Sternstein zu nennen. Am
12. Jänner 1583 erhalten Johann, Christoph, Kaspar und Wolfgang,
wahrscheinlich Gehrüder oder Vetter, den Adelstand. Hanns Hölzl von Stern-
stein war ein sehr thätiger und umsichtiger Gewerke von Krumau , Hatiborzitz
und Budweis und machte 1584 verschiedene Vorschläge bei dem Budweiser Berg-
baue zu einigen Ersparnissen, zu Errichtung von Naturalmagazinen für die Bergleute,
wie es in Tirol und Salzburg gebräuchlich war. Er legte in Budweis eine Sammlung
der edelsten Erzstufen, d. i. eine Min er ali en-Samml ung an, worüber er von der
Bergwerks-Commissiou beloht wurde. Da das reiche Geschlecht noch bis auf den
heutigen Tag fortblüht, dürfte L a n s i u s mit einem seiner Söhne Ueisen gemacht haben.
102
Joseph Bergmann.
Ca s per, eine Tochter des damaligen Bürgermeisters von Tübingen,
Rudolf Casper. Diese gebar ihm eine einzige Tochter welche im
Jahre 1646 den berühmten Juristen Wolfgang Adam Lauterbach hei-
rathete, zehn Kinder bekam und den 16. September 1662 starb.
Über seine Personalien erschienen folgende Schriften :
1. Die Leichenpredigt auf Thomas Lansius von Joseph Demm-
ler, Professor der Theologie zu Tübingen. Tübingen 1658.
2. Panegyricus memoriae ac honori Thom. Lansii dictus publice
a Christoph. Caldenbach. Tubingae 1658.
3. Thomae Lansii cineres seu oratio de vita ejus beatoque excessu.
Habita Tubingae in illustri collegio a Magno Hesenta lero.
1658. — Diese Schrift enthält am meisten biographisches Ma-
terial. Hesenthaler war auch Professor am Collegium illustre.
Diese Mittheilung verdanken wir durch des gefeierten Doctors
Uhl and gütige Vermittelung dem Herrn Bibliothekar Kl üp fei
der die Geschichte der Universität Tübingen 1849 herausgegeben
hat, und zollen beiden schuldigen Dank. Derselben wollen wir noch
folgende Notiz die sich auf Lansius als Gelehrten und als Numis-
matiker bezieht, hier als an rechter Stelle anfügen.
Lansius erwarb sich bei seinen Zeitgenossen, besonders durch
seine Consultatio de principatu inter provincias Europae, die zu
Tübingen mehrmals und zuletzt im J. 1655 in 8V0 gedruckt und
sogar auf königlichen Befehl ms Englische übersetzt wurde, einen
bedeutenden Namen und war vom Kaiser und den Reichsfürsten häutig
zu Rathe gezogen, ja er erhielt vom K. Ferdinand III. eine goldene
Medaille mit dessen Bildniss. Auch sammelte er eine grosse Anzahl
der ältesten Münzen und suchte diesen Schatz stets zu mehren.
Der genannte Kaiser berief ihn mit diesem Münzschatz an seinen
Hof, da er aber die Reise nicht unternehmen konnte , überschickte
er denselben nach Wien, leider starb der Kaiser nach gar kurzer
Krankheit am 2. April 1657. Noch am Schlüsse des nämlichen Jah-
res folgte ihm Lansius ins Grab. S. Elogium Thomae Lansii auc-
tore B. Theophilo Spizelio Augustano in: J. G. Schelhornii
Amoenitates literariae. Francofurti et Lipsiae. Tom. VI. 587 — 594.
XIX. S. 75. Die alte Familie Beltrame Cristiani ist im Mailändi-
schen heimisch, von der auch Einige nach Genua übersiedelten.
Petrus Julius Beltrame ward an K. Heinrich VIII. von England im J.
1538 zur Zeit seines Abfalles vom katholischen Glauben abgeordnet.
Pflege der Numismatik in Österreich. 1 0 O
Don Beltrame Cristiani diente erst in der Justiz und war Oberlichter
in Parma, später verwaltete er im kaiserlichen und königlich sardini-
schen Namen das Herzogthum Modena und war Gubernator von
Parma. Die Kaiserinn M. Theresia erhob ihn am 31. Juli 1743 in den
Grafenstand nach dem Rechte der Erstgeburt seiner ehelichen männ-
lichen Nachkommen für die Herzogthümer Parma und Piacenza (nach den
Reichsadels-Acten) j). Später ernannte diesen vielfach verwendbaren
Mann die Kaiserinn zum Präsidenten des Finanzwesens ihrer Erbstaa-
ten in Italien mit dem Titel eines Kanzlers, in welcher Stelle er am
10. Juli 1758 zu Mailand starb. Kurz vor seinem Hinscheiden erhielt
er von der Monarchinn ein eigenhändiges Schreiben, worin sie ihn
ersuchte, mit Hintansetzung aller Geschäfte nur für die Wieder-
herstellung seiner Gesundheit zu sorgen und sich ihr und dem Staate
zu erhalten. „Seid — schloss sie ihr Schreiben — übrigens unbe-
sorgt wegen Euerer Kinder. Sie sollen in jedem Falle eine Mutter an
mir finden , welche mehr für sie thun wird, als der zärtlichste Vater
wünschen kann."
Der Graf hinterliess in Beziehung auf seine Stellung und
geführte gute Wirthschaft ein sehr mittelmässiges Vermögen ; aber
die grosse Kaiserinn hielt reichlich ihre gnädige Zusage. Wir finden
zwei junge Grafen Franz und Alois Cristiani, wohl dessen Söhne,
im k.k. Theresianum. Beide Jünglinge interessirten mich um so mehr,
da Graf Alois als Zwillingsgestirn Eckhefs am numismatischen Hori-
zonte aufzugehen schien (S. 59). Um Näheres über ihn zu erfahren,
wandte ich mich an Herrn Dr. Heinrich Demel, Director der genann-
ten k. k. Ritter-Akademie, der mir sagte, dass die Jesuiten bei Auf-
hebung ihres Ordens alle Schriften und Kataloge mit sich genommen
haben. Der gelehrte Froelich veröffentlichte 1756 bei der feierlichen
Disputation der Grafen Johann Fekete und Franz Cristiani seine:
Diplomataria sacra Ducatus Styriae. IL Partes apud Trattnern 2).
Graf Alois wollte in Erinnerung an sein schönes Vaterland und sei-
nen Vater3) eine Beschreibung der Umgegend von Mailand mit
1) Bei der Drucklegung dieses Bogens fand ich einige nähere Notizen üher den Gra-
fen Cristiani in Kaltenbäck's Österreich. Zeitschrift. Wien 1836, S. 104, auf
die ich verweise.
2) Denis' Merkwürdigkeiten der Garellischen Bibliothek. Wien 1780, Bd. I, 19.
3) In der Vorrede zu seinem Thesaurus Britannicus sagt er : — quo nie trahehat et patria
optimi, qui pro Augusta hac in provincia p lena cum potestate fuit, rccordatio.
104 Joseph Bergmann.
historischen Anmerkungen herausgeben , stand aber, da diese Arbeit
bei seinen Studien zu umfangreich und zeitraubend war, hievon ab
und wandte sich zu numismatischen Lucubrationen.
Anhang.
Johann Baptist Primisser als Schüler D u v a Ts , und des Letz-
tern Zeugniss, wie auch über Alois Primisser.
Jobann Baptist Primisser am 23. August 1739 zu Prad
in der Nähe des Orteies geboren, machte unter der Leitung sei-
nes altern Bruders Cassian J) die Gymnasial- und philosophischen
Studien zu Innsbruck, ward Hofmeister im gräflich von KünigPsehen
Hause und trat 1765 von den juridischen Studien als Haus-
secretär in die Dienste des obersten böhmischen und österrei-
chischen ersten Kanzlers Rudolf Grafen von Chotek, der
sich in Innsbruck befand, und reiste in jener Eigenschaft mit
ihm nach Wien. Als der damalige Scblosshauptmann von Ambras und
Burgpfleger zu Innsbruck, Herr v. Kiep ach (S. 54), seines Alters
wegen seinem Dienste nicht mehr recht vorstehen konnte , erhielt
Primisser vom Gubernial-Präsidenten aus Innsbruck die Aufmunterung
sich um die erstere Stelle zu bewerben, indem man sie von
der Burgpflege trennen und einem wissenschaftlich gebildeten Manne
übergeben wolle. Diesem Winke gehorchte Primisser und erhielt
1768 die Anwartschaft auf dieselbe. Nun benützte er alle Zeit,
die ihm von seinem Secretärsdienste übrig blieb, zu der hiezu erfor-
derlichen Ausbildung und besuchte das k. k. Münz- und Medaillen-
Cabinet das Duval's Direction unterstand. Im November desselben
Jahres begleitete er des Kanzlers vielversprechenden Neffen, Johann
Rudolf Grafen Chotek, den nachherigen Finanz-, dann Staats- und
Conferenz-Minister (f 1824), auf dessen Reise über Innsbruck nach
Mailand, Florenz, Rom, Neapel etc. und kehrte durch Frankreich, mit
vielen und neuen Kenntnissen bereichert, im September 1770 nach
Wien zurück.
')Ca ssian war Capitular und Archivar zu Stams, ordnete die dortige Bibliothek und
wurde der Geschichtsschreiber seines Stiftes. Er starb allzufrüh am 19. December
1771. An ihn schrieb sein Bruder interessante Briefe, besonders über Roms Alterthü-
mer , Staatsverfassung, deren Mängel, Kunstsachen, etc., die leider nicht mehr
vollständig in Stams vorhanden sind.
Pflege der Numismatik in Österreich. 105
Als den edlen Kanzler im J. 1771 eine tödtliche Krankheit befiel,
empfahl er der Kaiserin!) M. Theresia die huldvoll ihn persönlich
besuchte, alle Jene die er gern belohnt wissen wollte, ihrer Gnade,
und unter diesen besonders Primisser. Der Graf starb am 7. Juli
und bald betheilte sie Primissern mit einer jährlichen Pension. Da
der betagte Herr von Kiepach seinem Dienste im Schlosse Ambras
nicht mehr vorstehen konnte, erhielt Primisser im Jänner 1772
die wirkliche Anstellung, ging nach Innsbruck , übernahm die
Verwaltung des Schlosses Ambras und des dortigen Raritäten-
Cabinets und ordnete dasselbe, das im Laufe der Zeit in grosse
Unordnung gerathen war. Er gab „kurze Nachrichten von dem k. k.
Raritäten-Cabinete zu Ambras in Tirol. Innsbruck bei Wagner
1777 in 8T0" heraus, ward 1783 auch Professor der griechischen
Sprache wie auch Bibliothekar zu Innsbruck, und kam im Septem-
ber 1806 mit dem Cabinete nach Wien. Hier begann er nach den
Kriegsjahren die neue Aufstellung im untern k. k. Belvedere, und
ward beim Lesen der Bibel vom Schlagflusse gerührt am 8. Fe-
bruar 1815. Seine begonnene Arbeit setzte fort und vollendete des-
sen einziger trefflicher Sohn Alois, dem wir die mustergiltige
„Beschreibung der k. k. Ambraser Sammlung. Wien 1819"
nach ihrer damaligen Aufstellung verdanken. Im Jahre 1822 verehe-
lichte er sich mit Fräulein Julie Mih es, Tochter des k. preussischen
Bergrathes Melchior M. aus Breslau (f 11. Oct. 1827 in Wien),
einer ausgezeichneten Malerinn, deren Leistungen man in Nagler's
Künstler-Lexikon, Bd. IX, 285 nachsehe. Bald begann er zu kränkeln
und starb am 25. Juni 1828 im 32. Jahre seines edlen und thätigen
Lebens ander Luftröhrenschwindsucht, der Letzte dieser tirolischen
Familie. Nach dessen Tode ging die kinderlose Witwe zugleich mit
ihrer Schwester am 1. November 1827 ins Kloster der Salesianerinnen
am Rennwege in Wien, legte am21. April 1829 das feierliche Gelübde
ab, und nahm den Namen Maria de Chantal an. Sie war eine erwünschte
Lehrerinn im Zeichnen und in mehreren anderen Fächern in dem
dortigen Fräulein -Institute, auch vom Jahre 1843 — 1849 Ober in n
und starb am Zehrfieber den 16. Jänner 1855 in einem Alter von
69 Jahren.
Als Numismatik er schrieb Primisser : „Das älteste öster-
reichische und Wiener Münzwesen bis in die Zeiten Fer-
dinand^ I. mit zwei Münztafeln , gedruckt in des Freiherrn von
{06 Joseph Bergmann.
Hormayr Geschichte von Wien. Bd. III, 209 ff., und Berichtigung eines
numismatischen Irrthums im Hesperus. Archiv 1821, S. 364. Umfang-
reichsind seine handschriftlichen Kataloge im k.k.Münz- und Antiken-
Cabinete. Als der Director von Steinbüchel und der erste Custos,
der dermalige Director Arneth, im J. 1818 von Wien abwesend
waren, hielt Primisser inhaltreiche Vorlesungen über Numismatik
voll Klarheit und Präcision, die dem Schreiber dieser Zeilen, seinem
dankbaren Schüler, der damals sich nicht träumen Hess, dass er
ihm zehn Jahre später im Amte folgen sollte, stets unvergesslich
bleiben *).
Nach dieser längern Einleitung mit näherem Detail über die
beiden Primisser wird der nachstehende Extractus Protocolli der böh-
mischen und österreichischen Hofkanzlei de datis 25. und 26. Martii
1768 an die k. k. Hofkammer bezüglich der Pri miss er'schen
Anwartschaft auf die Schlosshauptmann schaft zu Ambras
und des Zeugnisses von Duval für Primisser im Zusammenhange
völlig erklärt. Er lautet in etwas verbesserter Orthographie und Inter-
punction wörtlich wie folgt: Das Tirolische Gubernium erstattet
unterm 8. März seinen Bericht über zwei beigeschlossene Memorialien:
lo. des Hof-Burg-Pflegers und Schlosshauptmanns zu
Amras Karl Maximilian v. Kiepach 3), ihm in beiden Officiis
seinen Sohn Karl Johann cum spe successionis zu adjungiren,
dann 2do des Johann Primisser um die A n w artsc haft auf
die S c hl o ssh au ptman n stelle zu Amras. Der Sohn des alten
von Kiepach habe die langjährigen Dienste seines Vaters für sich, sei
auch von einem guten Studio und sittsamer Aufführung, und dürfte
daher, besonders nachdem dessen Vater dieErlaubniss ertheilt worden,
einen seiner Söhne in Vorschlag zu bringen, allerdings einer Conside-
ration würdig sein, da jedoch andererseits der Johann Primisser sowohl
dem allgemeinen Bufe nach, als auch dem beigebrachten Zeugniss zu
Folge die zur Verwaltung eines so wichtigen Antiquitäten-, Münz- und
Naturalienschatzes, wie jener auf dem Schloss Amras ist, erforder-
lichen Wissenschaften welche dem jungen von Kiepach ermangeln,
1) Über die fünf gelehrten Primisser s. meine Mittheilung- in der österreichischen
National-Encyklopädie, Bd. IV, 292 f. und über Alois Primisser und dessen
wissenschaftliche Leistungen besonders in den Blattern für Literatur und Kunst zu
Kaltenbäck's Österreich. Zeitschrift etc. Wien 1837, Nr. 99 und im Tiroler Boten 1839
2) Die von Küepach oder Kiepach s. oben S. 92.
Pflege der Numismatik in Österreich. 107
in vorzüglichem Grade besitze, könnten beide Officia eines Hof-Burg-
Pflegers und eines Schlosshauptmanns zu Amras ganz füglich wiederum
getrennet werden. Das Gubernium erachtet, dass dem jungen von
Kiepach die Anwartschaft auf das Hof-Burg-Pflegeramt, dem Johann
Primisser aber jene auf die Schlosshauptmannschaft zu Amras ver-
liehen werden könne. Übrigens habe vorhin ein Hof-Burg-Pfleger an
Salario 709 fl. und ein Schlosshauptmann zu Amras 474 fl. genossen.
Es scheine aber des Letzteren Besoldung dem Decoro officii und
dessen Wichtigkeit allerdings nicht angemessen zu sein.
Die Amrasisehe Sammlung von Münzen, Antiquitäten, auch theils
Naturalien ist in ganz Europa bekannt und wird von allen Fremden
besucht, wie solches mehrere gedruckte Beisebeschreibimgen nebst
dem Vorwurf enthalten, dass eine so wichtige Sammlung von Leuten
besorgt werde , welche nicht die geringste Kenntniss der schönen
Wissenschaften besitzen und sich durch ihre ungereimten mündlichen
Erklärungen lächerlich machen, dadurch aber dem Lande selbst
Schande und Vorwürfe der tiefsten Unwissenheit zuziehen, da doch
ein geschickter Vorsteher, besonders wenn solcher im Stande wäre,
den unter seiner Aufsicht habenden (sie) Schatz durch Schriften dem
Publico bekannt zu machen, zur Ausbreitung der Wissenschaften
nützliche Dienste leisten könnte. Allzubekannt ist, dass der jetzige
Schlosshauptmann von Kiepach kaum lateinisch lesen kann, viel weni-
ger sich im Stande befindet, die gemeinste römische oder griechische
Münze nur zu benennen, und dass solcher durch seine fabelhaften
Erzählungen bei allen Fremden Lachen und zugleich Argerniss
erwecket *)• Dessen Sohn mag ein ganz guter Student sein und
!) Vor vielen Jahren erzählte mir ein alter Tiroler Edelmann, der in seiner Jugend
bei der Erzherzoginn Elisabeth, Schwester K. Joseph's II., in Innsbruck Edel-
knabegewesen war, ganz drollige Dinge aus dieser v. KiepachischenZeit. Unter Ande-
rem zeigte von Kiepach dem genannten Kaiser bei einem Besuche des Schlosses den
Strick des Judas als eine Hauptcuriosität, den der Kaiser, um der Lächerlichkeit
ein Ende zu machen, sogleich von seinem Begleiter wegnehmen liess. Keyssler,
der zu Anfang Juni 1729 Ambras besah, sagt in „Neueste Reisen durch Deutschland,
Böhmen etc., Hannover 1751, Thl. I, 28: In Ambras ist in einer Schachtel ein Stück
des Stricks, woran Judas sich erhenkt haben soll. Dabei war ein Zeugniss von
Sebastian Schertel (dessen Rüstung die Sammlung dermals sub Nr. 84 ver-
wahrt) , dass er denselben bei der Überrumpelung Roms unter Karl Herzog von
Bourbon 1327 in einer Kirche erbeutet habe. Er spricht von lächerlichen Foppereien
von Seite des ihn zeigenden Schlosshauptmanns. Vielleicht war Herr von Kiepach
schon damals daselbst angestellt. — So hat denn auch der Strick von J udas seine
Geschichte !
108 Joseph Bergmann. Pflege der Numismatik in Österreich.
seine Institutiones und Pandecten ganz fleissig gehört haben, allein
hiedurch wird man kein Antiquarius und Münzenkenner. Dahingegen
gibtDuval, Director des kais. kön. Medaillen-Cabinetes, dem Johann
Primisser das Zeugniss, dass er eine ausnehmende Fähigkeit zu dieser
Wissenschaft zeige, die hierzu nöthigen Sprachen besitze und die
Schriftsteller welche von Münzen und Alterthümern handeln, fleissig
lese, folglich alle Hoffnung von sich gebe, ein geschickter Vorsteher
einer dergleichen Sammlung zu werden.
Man wäre daher von Seite der böhmisch-österreichischen Hof-
kanzlei mit dem Gubernio einverstanden, dass zwar dem jungen
v. Kiepach zur Consolation seines alten Vaters die Anwartschaft auf
die Hof-Burg-Pflegerstelle, jene auf den Schlosshauptmanns-Dienst
aber dem Johann Primisser verliehen werden könnte. Anbelangend
die Besoldung dieses Letzteren wird es sich seinerzeit zeigen, ob
derselbe nicht mit dem vormaligen Salario auslangen könne, besonders
da kein Reisender ist, welcher nicht für die mit Zeigung habende
(sie) Mühe einem jeweiligen Schlosshauptmanne eine kleine Ergetz-
lichkeit zurücklässt, solches auch gar gerne thut, wenn er durch
etliche Stunden eine angenehme und lehrreiche Unterhaltung genossen
hat. (Der schleppende Schluss lautet:)
Mit welcher diesseitigen Wohlmeinung demnach gegenwärtiger
Bericht an Eine löbliche kais. auch kais. königl. Hofkammer per
Extractum Protocolli zu begleiten und sich derselben Wohlmeinung
zu erbitten sein wird, damit demnächst der gemeinschaftliche aller-
unterthänigste Vortrag (au die Kaiserinn Maria Theresia) erstattet
werden könne. — Die Hofkammer ddo. 5. April war hiermit gänzlich
einverstanden und fügte bei, dass man, was dasSalarium des zweiten
Postens betrifft, denselben zu seiner Zeit mit einer proportionirten
Besoldung zu versehen allergnädigst geneigt sein werde.
Boller. Vergleichende Analyse <les magyarischen Verbums. 109
SITZUNG VOM 30. JÄNNER 1856.
Vorgelegt:
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums.
Von dem c. M., Hrn. Prof. Boller.
Das Magyarische besitzt eine Anzahl mehr minder zweckmässiger
praktischer Grammatiken, hat aber, bis jetzt wenigstens, noch keine
wissenschaftliche Bearbeitung gefunden. Vorliegender Aufsatz macht
nicht darauf Anspruch, in dem behandelten Theile diese Lücke aus-
zufüllen, sondern hat blos den Zweck, Materialien dafür zu liefern.
Die Wurzel.
Um das Wesen des Verbal- Ausdruckes richtig beurtheilen zu
können, ist eine klare Einsicht in den Bau der Sprache überhaupt
nothwendig. Diese kann, da die Formen unter denen der mensch-
liche Geist seine Anschauungen und Begriffe, in gegenseitigem Ein-
verständniss zwischen Sprechenden und Hörenden, lautlich ausgeprägt
hat, in den einzelnen Sprachen gegeben sind, nur auf dem Wege der
Erfahrung und speciell der Zergliederung und Vergleichung der Zei-
chen mit dem Bezeichneten sowohl als unter einander selbst, gewon-
nen werden. Betrachtet man nun die Summe der in einer Sprache
vorhandenen Begriffszeichen, so zerfallen diese zunächst in zwei
Beihen, von denen die eine blos die räumliche Beziehung des Bezeich-
neten zu dem wahrnehmenden Subjecte, ohne Bücksicht auf die sinn-
fälligen Eigenschaften der Substanz, angibt, die aridere hingegen die
Objecte gerade durch letztere bezeichnet. Die Begriffszeichen der
zweiten Gattung ordnen sich in Gruppen die einzeln eben so einen
lautlichen Mittelpunct besitzen, wie ihr begrifflicher Inhalt auf eine
110
B o 1 1 e r.
gemeinsame Anschauung zurückgeht. Die Wörter äll-ok, all- 6,
all -äs, äll-adalom, äll-omäs, äll-omäny, äll-väny etc., sto,
sta-ns, sta-tio, sta-tus, sta-men, sta-tua etc. haben die Sylbe
all, sta gemein, wie die durch sie dargestellten Begriffe insgesammt
sich aus der Anschauung des „Erscheinens in aufrechter
Stellung" entwickelt haben. All und sta sind die Stamm- oder
primitive Wurzel dieser Wörter und „in aufrechter Stellung
sich befinden" das gemeinsame Merkmal der durch sie ausge-
drückten Begriffe. Die Verschiedenheit dieser Begriffe unter sich
wird also durch die Endungen -ok, -ö, -äs, -odalom, -omäs, -omäny,
-väny, o, -ns, -tis, -tus, -men, -tua, und zwar jeder einzeln durch
die entsprechende Form der letzteren, bedingt. Da jene Begriffe die
Verhältnisse angeben, in denen die Erscheinung zu den in ihren
Bereich fallenden Objecten steht, diese Verhältnisse aber bei den ver-
schiedenen Erscheinungen constant bleiben (yA:g = J(gens); —
YB:g = Ä; — V A:g = /(nstrument), VB:g' = T etc.), so wer-
den jene Endungen zu Exponenten der letzteren und folglich der
diesen entsprechenden Begriffe, so dass diese mit der Kenntniss der
Wurzel und ihres Exponenten gegeben und erklärt sind.
Man pflegt diese unmittelbar auf die Erscheinung
bezogenen Begriffs-Bildner, des letzteren Umstandes wegen
Würz el suffixe zu nennen' im Gegensatze zu den Spross-
bildnern welche Verhältnisse fertiger Begriffe zu anderen
bezeichnen.
Eine grosse Anzahl der einfachen Begriffe zeigt bei der Analyse
des entsprechenden lautlichen Ausdruckes zwar das dem Verhältniss
zukommende Wurzelsuffix, dieses tritt aber an die aus der Verglei-
chung der zusammengehörigen Wörter abgezogene Wurzel nicht
unmittelbar, indem zwischen beide ein drittes Element sich einschob.
Untersucht man die Bedeutung der so gebildeten Wörter, so zeigt
sich, dass jenes Zwischenglied, ohne den Werth des Suffixes zu
berühren, die Bedeutung der Wurzel modificirt und näher bestimmt.
So bezeichnet „Setzer" vermöge des Suffixes den Wirkenden,
aber nicht, der Bedeutung der Stammwurzel gemäss „der sitzt",
sondern mit Angabe des Causalverhältnisses „der sitzen macht".
Man kann diese Mittelglieder Wurzelexponenten nennen, die
so modificirfen Wurzeln aber als secundäre bezeichnen und diese
Benennung auch da gebrauchen, wo die Stammwurzel selbstständig
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums.
nicht mehr nachweisbar ist, sobald der Wurzelexponent gegen die
Primitivität spricht.
Eine dritte Reihe von Bildungen mittelst der Wurzelsuffixe end-
lich fügt diese, meist unter Vermittlung eines besonderen Wurzel-
exponenten, an eine bereits fertige Wortform. So ist regna-tor von
regna(-re) gebildet, welches selbst auf die Stammwurzel reg zurück-
geht; remenyl stammt von remeny, einem Verbalnomen von der nicht
mehr nachweisbaren Stammwurzel (e)r. Diese Gattung Wurzeln
pflegt man nach ihrer Grundlage denominative zu nennen.
Demnach kann man sich den Hergang bei der Sprachbildung in
folgender Weise denken.
Indem der Geist den durch die unmittelbare sinnliche Anregung
hervorgerufenen Eindruck festzuhalten strebte, um sie dem Geiste
wieder vorzustellen, schuf er ein Lautbild das Erscheinendes und
Erscheinung, Substanz und Accidenz gleichmässig bezeichnete —
die Wurzel *). Da den verschiedenen Eindrücken verschiedene Laut-
bilder entsprechen, wurden diese, auf die in den Kreis der Erschei-
nung fallenden Objecte bezogen, zu Unterscheidungszeichen der letz-
teren. Diese Unterscheidung wurde ergänzt durch die Beobachtung,
dass die Objecte zu der Erscheinung in bestimmten, stets wiederkeh-
renden Verhältnissen als Wirkendes, Gewirktes, Werkzeug, Ort der
Wirkung etc. stehen, welche sich durch constante Exponenten bezeich-
nen Hessen, die übrigens, wo die Beziehung entweder an sich oder in
Folge anderweitiger Bestimmung keinem Zweifel unterliegt, auch fort-
blieben und dann ideell ergänzt werden. Durch beides nun — das
der besonderen Erscheinung entsprechende Lautbild und den dasVer-
hältniss der Substanz zu der Erscheinung anzeigenden Exponenten
— gewann die Sprache positive Erkennungszeichen (nomina,
von nosco) für die Objecte. An Inhalt gewannen diese BegrifFs-
') Obgleich die Grammatik welche analytisch verfahren muss , zum Begriffe der
Wurzel nur durch Äbstraction gelangt und daher von ihrer Realität absieht, ja diese
zum Tbeil bestreitet, unterliegt es dennoch keinem Zweifel, dass dieselbe einst selbst-
ständig im Gebrauch gewesen. Beleg dafür ist der Umstand, dass die Wurzel nicht
blos in den einsylbigen, sowie in den ural-altaischen Sprachen, sondern selbst im San-
skrit, und gerade in dessen ältester Form, dem Vedendialekte häufigundin allen
den verschiedenen Bedeutungen, für welche besondere Suffixe
vorhanden sind, gebraucht wird. In der noch unentwickelten Bedeutung
liegt auch die Veranlassung zu dem unfruchtbaren Streite über die Priorität der Nomi-
nal- oder Vrerbalwurzel.
112 Boller.
zeichen, indem die Erscheinung nach Caus alität, notwendi-
ger oder zufälliger Verbindung mit ihren materiellen
Trägern, E ntwickelung, Dauer, Wiederh olung, Inten-
sität, Richtung, Zahl und Wechselbeziehung der wir-
kenden oder von der Wirkung getr offen en Obj ecte etc.
näher bestimmt wurde (secundäre Wurzel). Insbesondere aber kam
der Sprache zu diesem Zwecke der Umstand zu statten, dass jene
Begriffszeichen , obgleich nur aus der zumeist charakteristischen
Erscheinung entwickelt, dennoch die Ganzbegriffe der concreten
Objecte selbst vorstellen, folglich an die Stelle der Wurzel gesetzt,
auch alle an dem Concretum haftenden Merkmale repräsentiren und
in den neu zu bildenden Begriff übertragen (Denominativ- Wurzel).
Zwischen der Erscheinung und ihrem Lautbilde
besteht kein noth wendiger Zusammenhang, wenigstens
lässt sich ein solcher überhaupt nur in sehr vereinzelten Fällen nach-
weisen. Auch spricht die thatsächliche Verschiedenheit der Wurzeln
in den verschiedenen Sprachstämmen, ungeachtet sich dieselben auf
ein und dieselbe Erscheinung beziehen, gegen denselben. Dies gilt
in noch höherem Grade von den Verhältnissexponenten. Diese unter-
scheiden sich an Zahl, Materie (Pronominalstamm, Wurzel, Nomen) und
Gebrauch, ja selbst die Verhältnisse welche durch sie dargestellt
werden, variiren, sogar innerhalb derselben Sprache nach zeitlichen
Abständen, namentlich bestehen in der ältesten Periode Exponenten
allgemeinerer Geltung neben besonderen, welche nur ein einzelnes
der durch erstere vertretenen Verhältnisse darstellen.
Hieraus folgt 1. dass die Form der Sprache nicht durch die
äussere Erscheinung bedingt wird; 2. dass die Bildung derselben
eine allmähliche war, und dass 3. die allgemeinen Denkgesetze, wenn
auch bei der Begriffsbildung vorzugsweise thätig, doch die Verschie-
denheit der Sprachen nicht ausreichend erklären. Für diese müssen
vielmehr die Klarheit der Anschauung, die Lebendigkeit der Form
gebenden Phantasie und die auf der Organisation des Sprachappa-
rates beruhende Vorliebe für bestimmte Laute einerseits, andererseits
der Standpunct, von welchem aus der Geist die Verhältnisse der
Objecte zu den Erscheinungen betrachtet *) , so wie die Schärfe,
*) So besitzt das Tagalische eine Ausdrucksweise, in welcher das Verbum finitum als
Nomen loci und das Object als davon abhängiger Genitiv erscheint; in einer andern ist
ersteres durch ein Nomen instrumenti ersetzt. Vgl. Humboldt, über die Kawisprache.
Vergleichende Analyse des rnag-yarisehen Verbuins. 113
womit er die verschiedenen Verhältnisse scheidet — also solche
Momente welche in der Individualität des sprachhildenden Subjectes,
d. i. Volksstammes, ihren Grund haben, in Anspruch genommen wer-
den. Die Sprachforschung bestätigt daher auch ihrerseits denSchluss,
den die Naturgeschichte aus den morphologischen und physiologi-
schen Verhältnissen auf Stammeseinheit gezogen: Völker, deren
Sprache für die Erscheinung gleiche Lautbilder
gebraucht, die Verhältnisse von demselben Stand-
puncte'aus auffasst und zu deren Bezeichnung sich
derselben Exponenten bedient, waren zur Zeit der
Sprachbildung noch eins, und eine ihren Sprachen
gemeinsame Form ist erklärt, wenn es auch nur in
einer derselben gelingt, sie bis zu ihrem Ursprünge
zu verfolgen. Die Erfahrung lehrt nämlich, dass der Lautinhalt
der Sprache einem fortwährenden Umwandlungs-Processe unter
gleichzeitiger Substanzminderung unterliegt, und zwar um so mehr,
je mehr die Sprache sich von ihrem Ausgangspuncte entfernt,
die Idee welche in den Formen Ausdruck fand, dem Bewusst-
sein entschwand und letztere zu blos conventioneilen Begriffs-
zeichen herabsanken. Wer vermöchte die Bedeutung vom franz.
äme, pere, aoüt aus den Elementen zu entwickeln? Dennoch wird
Niemand zweifeln, dass sie wie ihre lateinischen Vorgänger anima,
pater, augustus erklärt werden müssen. Die Giltigkeit der für die
lateinischen Wörter gegebenen Erklärung auch für die französischen
hängt von der Überzeugung ab, dass diese aus jenen hervorgegangen.
Wie die Identität beider Formen, trotz des grossen lautlichen Abstan-
des, hier keinem Zweifel unterliegt, da der Zusammenhang historisch
gesichert; so ist überhaupt die Lautverschiedenheit an sich, wenn
sie anders aus den in der Natur des Sprachorgans begründeten und
in ihren Ergebnissen historisch nachweisbaren Entwickelungsge-
setzen der Laute erklärt werden kann, kein Hinderniss, äusserlich
fern liegende aber gleichbedeutende Begriffszeichen auf dieselbe
Quelle zurückzuführen.
Nach dieser Abschweifung auf das Gebiet der Sprachentwicke-
lungsgeschichte kehren wir zum Magyarischen zurück.
Die Grammatiker und Lexicographen welche sich bis zur Auf-
stellung der Wurzel versteigen, nehmen diese als synonym mit dem
Verbalstamme und gehen bei der Analyse überhaupt nicht weiter als
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XIX. Bd. I. Hit. 8
114
Boller.
auf die einfachste vorliegende Form des letzteren zurück. In Folge
dieser Verwechslung vermengen sie die Stammwurzel mit ihren Ent-
wicklungen, der secundären und Denominativwurzel überall, wo
ihnen erstere nicht unmittelbar vorliegt. Ihre Wurzeln tragen daher
ein sehr verschiedenartiges Gepräge. Am häufigsten sind sie ein-
sylbig und aus einem kurzen oder langen Vocale bestehend, dem ein
einfacher Consonant vortreten kann und regelmässig ein einfacher
oder Doppelconsonant folgt (nur die langen Vocale i, 6, ö, ü, ü
kommen im Auslaute der Wurzel vor); nicht selten aber wird auch
eine zweisylbige Wurzel aufgeführt. Von den einfachen Consonanten
kann jeder auf die Wurzel schliessen, die Gruppen enthalten entweder
eine Verdoppelung {gg, 11, rr), eine Liquida (7, n, f) oder einen
Zischlaut mit einem Dental oder Guttural, seltener mit einem Labial,
einem Zischlaute oder einer Liquida verbunden.
Schon mit den Mitteln welche die Sprache selbst bietet, lässt
sich ein grosser Theil der angeblichen Wurzeln weiter verfolgen;
so erweisen sich die Auslaute d, t, g, l, r, z, ng als Wurzelexponen-
ten, deren Geltung sich im Bewusstsein der Sprache noch erhalten
hat, -m-1, än-1, -eny-1 etc. sind Denominativbildungen, die Verdop-
pelungen 11, rr etc. Assimulationen aus l-\-g {Je), r-\-g.
Nimmt man aber noch die verwandten Sprachen zu Hilfe, so
gelingt die Analyse noch viel weiter bis zu einem überraschend
einfachen Stammlaute, der sich auf den ersten Blick als Erzeugniss
des unmittelbar sinnlichen Eindruckes kund gibt: Die (nicht weiter
zerlegbare) Elementar form der Wurzel enthält einen
kurzen Vocal, dem meist ein einfacher Consonant
vorausgeht und in der Regel ein Guttural, seltener
ein Labial (die Ursprünglichkeit der wenigen bis jetzt nicht zer-
legbaren Wurzeln mit einem Zischlaut, einer Liquida oder einem
Dental am Ende mag vor der Hand dahingestellt bleiben) folgt. Dem-
nach müssen 1. alle langen Vocale (und Diphthonge) einen besonderen
Erklärungsgrund erhalten, 2. die anlautenden Consonanten in vielen
Fällen verschwunden , 3. die auslautenden Gutturale und Labiale
entweder fortgefallen oder in andere Laute umgesetzt sein, und
4. alle übrigen im Auslaute der Wurzel befindlichen Consonanten
als Wurzelexponenten betrachtet werden.
Was nun den langen Vocal betrifft, der sich in einer Anzahl
magyarischer WTurzeln findet, so lehrt die Vergleiehung, dass er regel-
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. 1 1 «3
massig aus der Verschmelzung zweier zusammenstossendeu einfachen
Vocale hervorgegangen. Dieses Zusammentreffen kann auf doppeltem
Wege herbeigeführt werden. Entweder fällt ein Consonant der zwei
Vocale trennt, heraus, so dass letztere nun an einander rücken, oder
ein dem Vocal vor- oder nachtretender Halhvocal (j, v), sei dieser
nun primitiv, Vorschlag, oder was erfahrungsmässig meist der Fall,
Vertreter eines Gutturals oder Dentals, geht in den Vocal über. Im
ersteren Falle können jede beliebigen zwei Vocale zusammentreffen,
im zweiten ist der eine der beiden zusammentretenden Vocale stets i
oder u. In ersterem Falle behauptet der zweite Vocal das Vorrecht,
im zweiten der primitive.
Ich habe in folgender Zusammenstellung versucht, den Nach-
weis für jeden einzelnen Fall zu liefern, der Kürze wegen beziehe
ich mich auf die in dem Aufsatze „zur magyarischen Etymologie"
behandelten Wörter.
Äg „Ast". Mongolisch $ (salaghan) l), jakutisch cajiä, ostja-
kisch jägal 2), syrj. jägart „Ast", Suomi oksa etc.
Ägy „Bett", entweder türkisch jtl. (jataq) 3), syrj. volj,
voljpasj, wotjakisch vales, Suomi vuote, mordvinisch jatsamo (Ev.
Übers.), Mandzu % (na^an) etc. oder türkisch jlijj» (düsäk, Ta-
pete, Aufgebreitetes), ostjakisch TycaK, mongolisch $ (debisger)*)
i
„Decke, Teppich, Lager, Matratze" etc.
Ägy-ek „Lende", Mandzu $ (fa^i) 5) l'.aine, commen-
cement de la cuisse, türkisch Jl^\ (ouilouq)6) ha n che, jaku-
tisch yJiJiyK 7) „Schenkel".
Agyu „Kanone " für algyu.
») Sitzungsb. Band XVII, p. 60, s v. szölö. 2) Castren, Ostj. Gramm, p. 83, a.
3) Sitzungsb. p. 316, 391, s. v. ägy. 4) Schmidt, Lex. p. 273, c. 5) Amyot,
Dict. Tart. Manisch. III, p. 138. 6) Kieffer et B. I, p. 146, a. 7) B öhtl ingk,
Lex. p. 45, b.
8*
116 Boller.
Äj-ul „ o h n m ä c h t i g w e r d e n " , türkisch J^Sy jllS^j (bufial-
maq) *) „etre suffoque, se pämer, tomber en syncope",
jakutisch yij a) „in Ohnmacht fallen".
AI „falsch", wotjakisch aldalo „betrügen", türkisch Jclxl\
(aldatmaq) id., jakutisch a^ac 3) „ I r r t h u m « etc. Suomi peija
„täuschen, hintergehen", peto-llinen „betrügerisch, be-
trüg 1 i c h " , lappisch bsetto-las 4) „ f a 1 s c h ", wotjakisch pöjalo 5)
„betrügen", verführen" (vgl. das Denominativ ä-m-it
„täuschen, bethören, verblenden"), mongolisch V
(mege) 6) „Betrug, Heuchelei", Mandäu JT" (ei-t-ereku) 7)
„hypocrite, trompeur, qui ment".
Äld „segnen" — äld-oz „opfern " , wotjakisch wös 8)
„Opfer", wös'jato „beten; segnen", Suomi palvele „ver-
ehren, anbeten" (vgl. das slavische Eajn.BaH'B „statua"), türkisch
>IL* (tapmaq) 9) „adorare, co lere", mongolisch J, (taki^o) 10)
4
„opfern, Ehre an thun, verehren", tscheremissisch tsokl (Ev.
Übers.) „verehren, anbeten", jakutisch ajigä u) „segnen",
Mandzu ^ (algin) 13) „bonn,e reputaton, louange, estime",
syrjänisch osk(a) 13) „laudo".
Äldozik „untergehen (von der Sonne)", tscheremissisch
val(e)14) descendo, demergor, vaz (vaaz)14) labor, elabor,
vazalma (Ev. Übers.) „Untergang der Sonne", mordvinisch
valg(a) (Ev. Übers.) herabsteigen, fallen von, (ci) valgomo
(Sonnen-) Untergang.
i) Kieffer et B.I. p. 244, b. •) Böhtlingk, Lex. p. 41. b. 3) Sitzungsber.
Band XVII. p. 220, s. v. al. 4) S t oc kfleth , Norsk-Lapp. Ordbog. p. 143, b. 5) Wie-
demann, Wotj. Gramm, p. 394, a. 6) Schmidt, Lex. p. 214, b. 7) A in y o t, Dict.
Tart. Mantch. I, p. 123. 8) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 339, b. 9) Böhtlingk,
Lex. p. 91, b. 10) Schmidt, Lex. p. 230, a. ") Sitzungsb. Band. XVII, p. 220, s.
v. äld: 12) Amyot, Dict. Tart. Mantch. I, p. 84. 13) Castren, Gramm. Syrj. p. 150, b.
14J Castren, Gramm. Tscheremiss. p. 74, a.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verhums. 117
All „stehen", tscheremissisch salg, mongolisch "3 (diok-
S0X°) 0 e*c*
All „Kinn", wotjakisch anglen , ostjakisch ajj eH 2) , jakutisch
cämä3), mongolisch^ (sana)4) „Kinnlade", comanisch sagac3),
tatarisch jlsCU- (dzafiaq) 3) = türkisch jl£T (janaq) &) = _*J^|
(ijjak) = jlH (enek) „Backen" = ostjakisch JianjiaK «J „Kiefer",
finnmärkisch -lappisch oalo-dafte 7) , schwedisch -lappisch olol 8),
ololm = Suomi leukaluu „Kinnbein".
All-at „Thier", wotjakisch pudo 9), tscheremissisch vol-
jek10), Mandiu £ (ul^a) 11). Mongolisch Jj (ada-ghusun)12) .„ein
Thier, ein Wesen des Thierreichs ", 1 (amin)13) „Lehen".
Letztere Form zeigt, dass für die Wurzel nur a in Anspruch ge-
nommen werden darf. Das weiche Suomi eläin zeigt gleiche Ent-
wicklung.
Äl-om „Traum", wotjakisch wöt 14) , wotam „Traum",
Mandiu & (tolgin) 15).
Al-tal „durch" = wotjakisch polti 16) „durch", mon-
golisch ;
(toghol^o, doghol^o) 17) „durch etwas hindurch
- j
gehen oder durchwandern; vollenden, bis ans Ende
gelangen ".
!) Schmidt, Lex. p. 17, c; Sitzungsb. p. 221, s. v. all. 2)Castre'n, Ostj.
Gramm, p. 97, a. 3) Böhtlingk, Lex. p. 158, b. 4) Schmidt, Lex. p. 352, a.
5) Böhtlingk, Gramm. §. 177. 6) Castren, Ostj. Gramm, p. 87, a. 7) Stockfleth
Norsk-Lappisk Ordbog, p. 342, b. 8) Gyarmathi, Affinit. linq. hung. p. 9t. 9) Wie-
demann, Wotj. Gramm, p. 324, b. 10) Castren, Gramm. Tseherem. p. 74, b.
P) Amyot, Dict. Tart. Mantch. I, p. 269. la) Schmidt, Lex. p. 17, c. 13) Ebendas.
p. 9, c. 14) Wied emann, Wotj. Gramm, p. 339, b. *5)Amyot, Dict.Tart.Mantch.il,
p. 274. 16) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 324, a. *7) Schmidt, Lex. p. 249, c.
118 Boller.
Almel, amul = bamul (bäval, bävaszkodik) „staunen",
jakisch paj-mo1) „sich wundern", Mandzu 4" (faidzun
1
wot-
j" (faidzuma) 2)
i
odige", tscheremissisch potikä 3) „prodigium ". S. unten.
Angy „Brudersfrau", wotjakisch kenak 4).
Ar „Preis", türkisch cl (äghyr) 5) etc.
Ar „ Flu th", Mandzu 4 (furgin) 6) „flux de mer, maree",
mongolisch 3 (ujer) 7) „das Steigen des Wassers, der hohe
%
serstand, die Überschwemmung".
Ar-mar
0
Wassersianu, uie uuerscnweii n g ~ .
Ar-many „Cabale", türkisch z*j\ (azmaq) 8) „s'e garer,
etreseduit", mongolisch fj (argha) 9) „List, Betrug" =
Mandzu y (argha)10) „stratageme, artifice", v (jarkijame) 11
i ä
„tenter quelq'un, le seduire; penser aux moyens d
seduire quelqu'u n ".
Ar-ny, ar-nyek „Schatten", Suomi varjo, wotjakisch vuzer 12),
syrjänisch vudzär 1S).
Ar-ok „Graben", wotjakisch gudzo **) „graben ", jakuti;
xac15) „graben, hervorgraben, aushöhlen", türkisch l
(qazmaq) 16) „creuser, fouiller."
Ar - 1 „schaden", türkisch jjl (jazyq) 17) „dorn-
mage, perte causee", mongolisch a* (^okira^o) ls) „schaden,
*) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 321, b. 2)Amyot, Dict. Tart. Mantch. III,
p. 141. 3) Castren, Gramm. Tscher. p. 69, a. 4) Wiedeinann, Wotj. Gramm,
p. 309, b. 5) Sitzungsb. Bd. XVII, p. 317, s. v. ar. 6) Aray o t, Dict. Tart. Mantel). III,
p.208. 7) Schmidt, Lex. p. 76,b. 8) Kieffer et B. I, p. 27, b. ») Schm id t, Lex. '.
p.l6,a. i°) Amyot, Dict.Tart. Mantch. I, p.53. ") Ebendas. II, p. 556. ^Wiede-
mann, Wotj. Gramm, p. 340, a. 13) Castren, Gramm. Syrj. p. 164, b. 14 ) W i e d e-
mann, Wotj. Gramm, p. 305, b. l5) B ö htling-k, Lex. p.84. 1G) K ieff er et B. II,
p.418,b. 17) Ebendas. p. 1248, b. ™) Schmidt, Lex. p. 165, a.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. IIa
Schaden thun, verderben", <f (xoor'aX°) 0 «schaden,
Verderben bringen, schlimme Absichten haben".
Äs „graben, aufwühlen" s. är-ok. Das mongolische "f
(ghau) 2) „Grube, Graben " zeigt, dass r und s secundär sind.
Äs-it „gähnen", syrjänisch odsala3) „oscitor", wotjakisch
wusylo 4) „gähnen", mongolisch <£ (ebsijekü) *), id. türkisch jj^j
(es-nemek) 6) „bäiller".
Ä-tok „Fluch", Mandzu 4
(firume) 7) faire des impre-
-ri
cations contre quelqu'un, luisouhaiter au mal, türkisch
J^\ (il-endz) 8) „ malediction, impr ecation", welche die
weichen Formen zu dem harten mongolischen f XarÜaX° 9)
1
„fluchen, schimpfen", wotjakisch kargalo, Suomi kiro, id. ver-
halten. Tok ist Suffix wie inti-tok. Wahrscheinlich ist vor dem-
selben r, wie in e-nek, ausgefallen und ätok demnach mit kär-omol
gleichen Ursprungs.
Äzik „n a s s werden", lappisch gasta -det, Suomi kastu
„feucht, nass werden", kasta „befeuchten, benetzen,
wässern", türkisch ^il (i'ach) 10) „humidite; humide, hu-
mecte".
l) Schmidt, Lex. p. 190, b. a) Ebendas. p. 190, b. 3)Castren, Gramm.
Syrj. p. 150, a. 4) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 340, a. 5) Schmidt, Lex.
p. 25, a. 6)Kiefferet B. I, p. 42, a. 7) Amyot, Diet. Tait. Mantch. III, p. 179.
8) Kieffer et ß. I, p. 160, a. 9) Schmidt, Lex. p. 140, b. 10) Kieffer et B. II,
1250, a.
1 Z 0 Dr. Wilhelm W e i t e n w e b e r.
Beiträge zur Liter arge schichte Böhmens.
Von Hrn. Dr. Wilhelm Rudolph Weitenweber in Prag.
VORWORT.
Seit einer längern Reihe von Jahren habe ich mir unter Anderm
einen ganz kleinen Hilfszweig des historischen Wissens zur speciellen
Aufgabe meines Forschens gestellt — in der Überzeugung, dass
hieraus zur Aufhellung und theilweisen Förderung der betreffenden
Wissenszweige, wenigstens mittelbar, ein nicht unwesentlicher Vor-
theil erwachsen könne; ich meine die Biographik der vaterlän-
dischen Ärzte und Naturforscher. Bereits sind, als Ergebnisse dieser
meiner Studien, zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten
gerade ein Viertelhundert von solchen mehr oder weniger ausgeführten
Lebensskizzen veröffentlicht worden.
So schilderte ich bisher namentlich: I. Johann Ritter De
Carro(in Glaser's Ost und West. Prag 1841, Nr. 9, besonders
abgedruckt, Carlsbad 1843, in^8.; in Sachs' medic. Unterhaltungs-
magazin, Berlin 1843). — 2. Vincenz Julius Edler v. Kromb-
holz (in der Vierteljahrschrift für prakt. Heilkunde, Prag 1844, 1. Bd.;
besonders abgedruckt, Prag 1845 — Sachs' medic. Unterhaltungs-
magazin, Berlin 1845 — in der Zeitschrift Lotos 1852, Juni). —
3. Karl Wilhelm Kahlert (in der Prager med. Viertelj. 1845,
VI. Bd.). — 4. Johann Pöschmann (ebendaselbst). — 5. Joseph
Engel (in der med. Viertelj. VII. Bd.). — 6. Joseph Müller und
Franz Kottnauer (ebendaselbst). — 7. Jobann Theobald
Held (Jubelschrift u. s. w. Prag 1847, 34 Seiten in gr. 8. mit dessen
Porträt). — 8. Joseph C. Ed. Hos er (Rückblicke auf das Leben
u. s. w. Prag 1848, VIII und 83 Seiten. Auszugsweise in den Abhandl.
der königl. böhm. Gesellschaft der Wiss. Prag. 1850, V.Folge, 6. Bd.)
— in der Prager med. Viertelj. 1849, XXI. Band — in Lotos, Jahrg.
1852, December). — 9. Isaak Jeitteles (Jubelfestschrift u. s. w.
Prag 1850, 27 Seiten in 8.).— 10. Joseph D ia ubalik (Zur
Erinnerung an u. s. w. Prag 1851, 19 Seiten in 8.). — 11. Johann
Beiträge zur Lilerärgescliielite Böhmens. 121
Christian Mik an (in der Prager med. Viertelj. 1845, VII. Band;
inLotos, Jahrg. 1852, März). — 12. Balthasar Preiss (in Lotos,
Jahrg.1852, August). — 13. Joseph Steinmann (ebendaselbst,
April).— 14. FranzWilhelm Sieb er (ebendaselbst, Mai).— 15.
Kaspar Graf von Sternberg (ebendaselbst, September; böhmisch
in Purkyne's und Krejcfs Zeitschrift Ziva, Jahrg. 1853, Nr. 6, 7 und
9). — 16. Ignaz Friedrich Tausch (in Lotos, 1852, October
undNovember — inFlora oder botanische Zeitung, Begensburg 1852,
Nr. 48).— 17. Johann Emanuel Pohl (in Lotos, III. Jahrg. 1853,
Januar). — 18. Wenzel Benno Seidl (ebendas., September). —
19. Joseph August Corda (in den Abhandl. der k. böhm. Ges.
d. Wiss., V. Folge, 7. Band; — Denkschrift u. s. w. Prag 1852, 38
Seiten in gr. 4. — in der Prager med. Viertelj. 1853, XL. Band —
in Lotos, IV. Jahrg. 1854, Januar — französisch in J. de Carro's
Almanach de Carlsbad, Armee 1 854, p. 1 57 — böhmisch in Ziva, 1 853).
— 20.Thaddäus Hänke (inLotos, 1853 —böhm. in Ziva, 1853).
— 21. Johann Swatopl. Presl (in den Abhandl. der k. böhm.
Ges. der Wiss., V. Folge, 8. Band — Denkschrift u. s. w. 1854 —
böhmisch in Purkyne's und Krejcfs Zeitschrift Ziva, 1853, Nr. 1). —
22. Karl Bofiwoj Presl (Denkschrift u. s.w. ebendaselbst —
böhmisch in Ziva, 1853, Nr. 2 und 3).' — 23. Franz Amhros Beuss
(in Lotos, IV. Jahrg. 1854, Juni). — 24. Anton Bitter v. Jungmann
(in der Prager med. Viertelj. 1854, XLIV, Band — böhm. in Ziva,
1854,Nr.l2). — 25. Franz Adam Petrina (für die Abhandl. der
v
kön. böhm. Ges. der Wiss., V. Folge, 9. Band — böhmisch in Ziva,
1855, Nr. 10).
Freilich muss ich hier im Allgemeinen zugestehen, dass es sich
in den sämmtlichen so eben aufgezählten Mittheilungen über gelehrte
Zeitgenossen, dem Zwecke von Nekrologen gemäss, vielmehr um
bemerkenswerthe Personalnachrichten als um Thatsachen handelte;
glaube aber andererseits dennoch, dass diese Aufsätze als eben so
viele, wenn auch nur kleine Bausteine zu einem — wir wollen hoffen,
in nicht gar zu ferner Zukunft aufzuführenden — Gebäude einer Ge-
lehrtengeschichte Österreichs, und insbesondere Böhmens, betrachtet
werden können.
In den vorliegenden Blättern beabsichtige ich in das XVII. Jahr-
hundert zurückzugehen und will namentlich versuchen, zwei Zier-
den der Prager Hochschule aus jener Zeit, die Professoren an der
1 2 ä Dr. Wilhelm Weitenweber.
medicinischen Facultät: Johann Marcus Marci und Johann
Wenzel Dobrzensky etwas ausführlicher zu schildern. Nebenbei
dürfte diese Abhandlung auch so manchen nicht uninteressanten Ein-
blick in die damaligen akademischen Verhältnisse Prags gewähren ;
möü'e sie demnach von dem betreffenden Leserkreise mit freundlicher
Nachsicht aufgenommen werden.
Prag, am 29. October 1855.
I. Johann Harens Harri von Grönland.
In einer der letzten Sitzungen der philosophischen Classe der
königl. böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften in Prag hat Herr '
Prof. Robert Zimmermann bei Gelegenheit der anziehenden
Schilderung eines in der fürstl. Fürstenberg, sehen Bibliothek in Prag
aufbewahrten rechtsphilosophischen Manuscriptes (Libellus de hominis
convenientia) welches den Grafen Franz Joseph v. Hoditz zum
Verfasser hat, einen kurzen geschichtlichen Überblick der philoso-
phischen Bestrebungen in Böhmen und Prag insbesondere gegeben.
Unter den gelehrten Böhmen, 'die in der ersten Hälfte des XVII. Jahr-
hunderts neben den anderen Wissenszweigen auch das Studium der
Philosophie mit Eifer und Erfolg betrieben, führte der Vortragende
auch den, nach Göthe's literar-historisch wohl nicht begründetem
Ausdrucke „in Deutschland sonst gar nicht genannten und bekannten"
Marcus Marci auf. Ich will, um letztern Ausdruck thatsächlich zu
berichtigen, hier nur einen Bohuslav Bai bin, J.W. Dobrzensky,
Daniel Morhof, Adauct Voigt und Martin Pelzel nennen,
welche Schriftsteller schon lange vor Göthe's Zeiten in ihren vielver-
breiteten Schriften mehrmals des Marci rühmliche Erwähnung thun.
Hat nun gleich erst in neuester Zeit der, mittlerweile leider ver-
storbene geschätzte Gelehrte Guhrauer in Breslau (im XXI. Bande,
Heft 2 der Zeitschrift für Philosophie und philos. Kritik. Halle 1852)
eine gründlich würdigende Abhandlung über unsern Landsmann und
dessen philosophische Schriften veröffentlicht, so dürfte es, meines
Erachtens, auch in gegenwärtiger hochgeehrter Versammlung noch
immer am rechten Orte sein, über diesen als Philosoph, Physiker und
Beitrüge zur Literärg'eschichte Böhmens. 1 Co
Arzt gleich beachtenswerthen Mann einige ausführlichere Mitthei-
lungen zu machen.
Aus der vollständigen Aufzählung und theihveisen Auseinander-
setzung seiner ebenso zahlreichen als mannigfaltigen Werke von
grösserem und geringerem Umfange wird es leicht ersichtlich werden,
dass Marcus Marci nicht nur in der besondern Literärgeschichte
Böhmens, sondern auch in der allgemeinen nicht einen der letzten
Plätze verdiene. Doch sei es mir vorher gestattet, nach den mir zu
Gebote gestandenen literarischen Quellen einen gedrängten Abriss
seines Lebens- und Bildungsganges, sowie seiner für Wissenschaft
und Vaterland höchst erspriesslichen Leistungen vorauszuschicken.
J o h a n n e s M a r c u s (oder vielleicht ursprünglich Marek ?) hatte in
einem ziemlich unbedeutenden Landstädtchen, dem an der Grenze Böh-
mens gegen Mähren gelegenen Landskron, das Licht der Welt erblickt,
war daselbst am 13. Juni 1595 geboren, in welchem Jahre der ge-
lehrte M. Marcus Bydzovinus a Florentino zum wiederholten
Male die Würde des Bector Magnificus an der Prager Carolinischen
Akademie bekleidete. Über seine ersten Jugendverhältnisse erfahren
wir nur, dass er von der zartesten Kindheit an schwächlich und
kränklich gewesen, namentlich mehrere Jahre hindurch an einem
hartnäckigen skrofulösen Augenübel leidend gewesen sei ; daher war
es gekommen, dass der kleine Johannes bei seinen übrigens ausge-
zeichneten Geistesgaben und seinem sehr regen Wissenstriebe gar
gern in die Schule des Ortes ging, dort aber mit, der Lichtscheu
wegen, grösstenteils geschlossenen oder verbundenen Augen sitzend,
weder zu lesen noch zu schreiben vermochte, sondern beinahe den
ganzen Unterricht blos auf dem Wege des Aufhorchens und Memorirens
gemessen konnte. Hierauf wurde der Knabe schon frühzeitig behufs
der humanistischen Studien von seinen Eltern auf das benachbarte Gym-
nasium zu Neuhaus geschickt, dessen Einrichtung damals — wie dies
nach des gelehrten Bibliothekars Baphael Ungar's Zeugniss bei
den meisten böhmischen Gymnasien in jener Zeitperiode ungeachtet
der bedauerlichen politischen und kirchlichen Wirren der Fall war —
auf einer früher nicht gekannten Stufe der Vollkommenheit stand.
Nachdem der talentvolle Jüngling überdies am Olmützer Gymnasium
sich ziemlich gediegene Kenntnisse in der damals so sehr in Schwung
gehenden Dialektik, wie nicht minder in der classischen Literatur der
Griechen und Römer angeeignet hatte, bezog er, vom Fürsten Zdenko
124 Dr. Wilhelm Weitenweber.
Adalbert Lobkowic auf edle Mäcenatenweise unterstützt, die
utraquistische Akademie zu Prag , um sich hier zur Zeit, als der be-
rühmte kaiserl. Hofmathematieus (= Astronom) Johann Kepler
die sogenannten Rudolfinisehen Tafeln zu verbessern berufen war —
mit gleichem Eifer auf Physik zu verlegen.
Sodann wandte sich Marcus zu dem gleichzeitigen Studium
de,. — was man schon damals ganz richtig einsah — sich wechselseitig
voraussetzenden und ergänzenden Naturwissenschaften und Medicin.
Wie förderlich aber diese innige Verschmelzung und Durchdringung
der eben genannten Realfächer mit der Philosophie (Pansophie jener
Zeit) seiner gelehrten Bildung sowohl, als der gründlichen praktischen
Befähigung gewesen, bewahrheitete sich unwiderleglich an Marci's
weiterem individuellen Lebensgange; man verstand nämlich damals
unter dem Ausdrucke Philosophie die Gesammtheit der menschlichen
Erkenntniss.
Für einen Beweis seines angebornen Talents und ungewöhnlich
ausdauernden Fleisses kann es ferner gelten, dass M. M. während
seines Aufenthaltes in Prag als Student sich eine solide Kenntniss
der lateinischen und griechischen, sowie später der arabischen und
hebräischen Sprache, wie nicht minder unter den neueren Idiomen
nebst der deutschen und böhmischen auch noch der spanischen, fran-
zösischen und italienischen Sprache eigen gemacht. Was die Natur-
wissenschaften betrifft, hatte M. insbesondere die Botanik und Heil-
mittellehre aus den trefflichen Schriften des damals höchst berühmten
P. A. Matthioli, die Anatomie aber wahrscheinlich von dem über
seine Zeiten hervorragenden Jessenius selbst gelernt. Binnen
wenigen Jahren hatte er nicht nur den philosophischen Magistergrad
erlangt, sondern wurde auch im Jahre 1 625, also in seinem 30. Lebens-
jahre zum Doctor der Medicin (s. unten seine Inauguraldissertation)
promovirt; es war dies zur selben Zeit, als der um das Schulwesen
hochverdiente Arnos Comenius sich bei dem edlen böhmischen
Herrn Georg von Sadowa im Riesengebirge aufhielt.
Nur seinem alsbald anerkannten praktisch-ärztlichen Talent und
seiner ebenso vielseitigen und tiefen Gelehrsamkeit hatte es Marcus
zu verdanken, dass er einerseits im allgemeinen Rufe eines der gelehr-
testen Physiker und Philosophen seines Vaterlandes stand, anderer-
seits binnen Kurzem einer der gesuchtesten, weil glücklichsten Ärzte
Prags ward.
Beiträge zur Literargescliichte Böhmens. 14u
Für Marci's klare Naturauffassung, für seine geläuterte Einsicht
in das leider auch noch heute zum grössern Theile räthselhafte Wesen
der Krankheiten — natürlich abgesehen von der, in der ersten Hälfte
des XVII. Jahrhunderts herrschenden mystischen Einkleidung der Heil-
kunst — gibt auch der Umstand einen factischen Beleg ab, dass man
allgemein in Prag seinem Verfahren am Krankenbette nachrühmte:
Dr. Marcus wisse vermöge fleissiger und genauester Beobachtung
des Wirkungsvermögens der natürlichen Körper auf den mensch-
lichen Organismus seine Kranken ohne grosse Auslagen durch die
einfachsten, leicht zu bereitenden, ja meistentheils durch sogenannte
Hausmittel wiederherzustellen (Simplex veri sigillum). Auf gleiche
Weise schildert ihn sein jüngerer ärztlicher Zeitgenosse, Johann
Wenzel Dobrzensky (in dessen Gelegenheitsschrift: Lachryma
nondum arescens etc. Pragse 1684): „Festinabat ille lente; etiam
dum properaret Cunctator, properans dum cunctaretur. Natur« do-
minus, quia servus, minister non magister eruendam naturam, non
obruendam decuit, manudueendam non raptandam. In curandis morbis
felix maluit esse quam fortunatus, exspectando volens potius negligere
quam properando occidere." — Wahrlich ein Zeugniss der bedeu-
tungsvollsten Anerkennung, ein Triumph den selbst heutzutage, nach
mehr denn 200 Jahren des so sehr gerühmten, riesigen wissenschaft-
lichen Fortschrittes, nur wenige Priester Äsculaps beanspruchen
dürfen; eine Anerkennung welche das Ansehen Marci's in unseren
Augen um ein Bedeutendes zu lieben im Stande ist. Es beweist
nämlich diese Thatsache, wie Marcus als wahrhaft philosophischer
Arzt, auf Grundlage einer gesunden Theorie und von richtigem Tacte
getragen, den mitunter naturwidrigen pharmakodynamischen und
therapeutisch -pathologischen Systemen seiner, ja selbst späterer
Zeiten mit dem herrlichsten Erfolge vorausgeeilt war. So sehr aber
auch Dr. Marcus sich mit den Geheimnissen der Natur bekannter
zu machen, die Finsterniss, mit welcher der Aberglaube und Vorur-
theile verschiedener Art zu seinen Zeiten die Naturwissenschaften
noch umhüllten, zu durchbrechen und eine neue Bahn einzuschlagen
suchte, die ihn seiner Meinung nach sicher zu der „Wahrheit" führen
sollte, — so konnte er dennoch nicht vermeiden , dass er öfters auf
wunderliche Ansichten gerieth und das Schicksal aller Derer die
neue Systeme aufbauen wollen, erfuhr, d. i. zuweilen die abenteuer-
lichsten Sätze aufzustellen und zu vertheidigen.
l^O Dr. Wilhelm Weitenweber.
In Würdigung der oben angeführten ausgezeichneten Eigen-
schaften geschah es auch, dass die gerade damals erledigt gewordene
Stelle eines Physicus des Königreiches Böhmen dem Dr. Maren s ver-
liehen wurde; auch dürfte derselbe nicht lange darnach — wie die
Materialien zur Verfassung einer Geschichte der Prager medicinischen
Facultät ausweisen — beiläufig um das Jahr 1626, unter, den Univer-
sitätsstudien keineswegs holden Umständen, zum Professor extra-
ordinarius an der Carolinischen Akademie ernannt worden sein. Dieses
letztere Amt bekleidete Marcus, statutenmässig sodann in die Reihe
der ordentlichen Professoren vorrückend, bei all seiner anhaltenden
Schwächlichkeit, bei der die Kräfte aufreibenden ausgebreiteten
Privatpraxis, durch beinahe volle vierzig Jahre.
In beiden Richtungen, als gelehrter Lehrer und erfahrener
Praktiker, hatte sich Marcus das ehrende Vertrauen der Regierung
bei Gelegenheit der im Verlaufe jener Jahre angestrebten Reform-
versuche im höhern Studienwesen, sowie anderntheils von Seiten
der Prager Bevölkerung am Krankenbette, in seltenem Ma^se erworben
und selbes sich bis an sein spätes Lebensende unwandelbar erhalten.
Die mannigfachen Drangsale der damals schon so viele Jahre beinahe
unausgesetzt wüthenden Kriegsfurie, namentlich die in Prag während
der 14wöchentlichen harten Belagerung durch die Schweden herr-
schende Pestseuche boten unserm Marcus eine leider nur zu reich-
liche Gelegenheit, sein von edler Humanität erfülltes Wirken in das
hellste Licht zu stellen. Er leistete nämlich nicht nur in den eigens
errichteten Nothspitälern unermüdlich ärztliche Dienste *), sondern
hatte auch von Facultäts- und Magistrats wegen den Auftrag, die
öffentlichen Sanitäts-Massregeln anzuordnen und zu leiten. So war
*) Hier mag auch eine Episode aus dem Lehen unsers Marci ein Plätzchen finden. Als im
Jahre 1648 das schwedische Heer Prag' belagerte, ereignete es sich, dass die Gemah-
liun des schwedischen Anführers v. Wittenberg in dem nahe gelegenen Königssaal
(Zhraslava) schwer erkrankte. Da der Ruf des berühmten Prager Arztes auch in das
feindliche Lager gedrungen war, erbat sich der genannte General kaiserlicherseits die |
Erlaubniss, dass er die persönliche Hilfeleistung des Dr. Marci in Anspruch nehmen
könnte. Sie ward ihm gewährt und M. in dem eigenen vierspännigen Wagen des feind-
lichen Feldherrn dahin abgeholt. Als nach abgethaner Visite der Arzt in dem schwedi-
schen Wagen am jenseitigen Moldauufer wieder gegen Prag zurückfuhr, vermuthete
die Wyssehrader Besatzung, es befinde sich wohl der schwedische General in dem
Wagen, und schoss mit Kanonen auf letztern; wobei sogar ein Pferd der Bespannung
getödtet worden sein soll , Marcus aber glücklicherweise mit dem blossen Schre-
cken davon kam.
Beiträge zur Literärgeschichte Böhmens. 147
unter Anderem Marci wahrscheinlicherWei.se der Verfasser des, mit-
telst Decrets vom 4. December 1646 von der k. k. höhmischen Statt-
halterei in böhmischer Sprache herausgegebenen, an die Stadthaupt-
männer der drei Prager Städte gerichteten Pestreglements, sowie der
noch ausführlichem Instruction vom 19. Juli 1649.
Gleichzeitig hatte sich Marcus, trotz seiner mehrerwähnten
lebenslänglichen Kränklichkeit (in phthisin lapsus) rastlos der Pflege
der friedlichen Musen gewidmet. Er machte sich — wie wir später
sehen werden — als fruchtbarer Schriftsteller auf dem Gebiete der
Philosophie und der Physik auf eine rühmliche Weise bemerkbar
und hatte sogar unter Anderem auch in seinem Hause eine eigene
Sternwarte eingerichtet. Doch wollen wir schon hier einräumen, dass
Dr. Marcus ebenso, wie selbst der grosse Kepler, an der Krankheit
seiner Zeit gelitten habe, welche mehr dem Blendenden und
Mystischen, als dem Einfachen und Klaren, mehr dem Wunderbaren
als dem Wahren nachstrebte, wo man Poesie der Wissenschaften für
Philosophie hielt.
Unterm 27. März 1631 hatte Se. Majestät Ferdinand III. mit-
telst eines Hofdecrets dem Professor Johann Marcus Marci „in
Anbetracht seiner langjährigen Dienstleistung als ältesten Professor
in facultate medica 600 Gulden jährliche Besoldung dergestalt be-
willigt, dass ihm von Zeit der geschehenen Separation der Universität
bis zur anderweitigen allergnädigsten Resolution, und so lange er
hier rühmlich profitiren würde, solche 600 Gulden jährlich gereicht
und gegeben werden sollen." — Im Jahre 16o5 suchte Marcus
neuerdings um eine Gehaltserhöhung und um den Titel eines „Pro-
fessoris supraordinarii" an.
Das betreffende Majestätsgesuch lautet: Mächtigster und unbe-
siegtester Kaiser! Huldvollster Herr, Herr! Es ist Sitte, diejenigen,
die an irgend einer Universität in vieljährigem Vortrage ergrauten,
nicht nur der Last des ordentlichen Vortrags zu entheben mit Bei-
fügung des Titels eines Professoris supraordinarii, sondern auch als
Belohnung der geleisteten Dienste — auf dass sie die Beschwerden
des Alters minder fühlen und Andere durch solche Hoffnung zur Aus-
dauer im Lehramte angereizt werden — ihre Besoldung zu erhöhen.
Da ich nun über 30 Jahre an dieser k. k. Prager Universität nicht
fruchtlos, wie ich hoffe, Professor bin, indem ich solche zu Mitpro-
fessoren habe, die einst meine Schüler waren, von denen andere
128
Dr. Wilhelm Weiten web er.
sowohl in diesem Erb-Königreiche Euer Majestät, als anderwärts mit
glücklichem Erfolge die Heilkunst ausüben, anderer meiner Leistungen
zu geschweigen; so glaube ich nichts meinen Verdiensten Unzu-
kömmliches zu begehren, wenn ich, dieselbe Gnade mir huldreichst
erweisen zu wollen, bitte. Doch ist mir weder Müssiggang , noch
gänzliche Enthebung von den Vorträgen Vorsatz : sondern damit das
reiflicher von mir Durchdachte leichter ans Licht treten und die
Frucht meiner Studien auch an Andere gelangen könne; so möge es
mir nicht zum Nachtheil gereichen, wenn ich mich aus diesen Rück-
sichten manchmal davon entferne, indem dieser Abgang leicht von
dem Extraordinario ersetzt werden kann. Auch bitte ich nicht dess-
halb um Erhöhung des Gehaltes, dass mir etwas zuwachse, sondern
damit, wenn Andern der Gehalt erhöht wird, der meinige nicht
geschmälert werde. Denn da die (Universitäts-) Einkünfte geringer
sind, als dass daraus Allen genügt werden kann, so muss notwen-
diger Weise mir so viel abgehen, als einem Andern zuwächst. Ich
bitte also unterthänigst, damit Euer kais. Majestät mir den Titel eines
Professoris supraordinarii, mit der Zulage von wenigstens einem Drittel
meines Gehaltes nach der jetzigen Bemessung, huldvollst zu verleihen
geruhen. Da es aber billig ist, dass zwischen Jenen welche durch
30 Jahre, und Jene die durch 4 Jahre die Professur bekleiden, einiger
Unterschied stattfinde *) , so lebe ich der Hoffnung , dass dieses mein
untertänigstes und billiges Ansuchen die huldreichste Entscheidung
erhalten werde. Eurer kais. Majestät unterthänigster und unterwer-
fenster
Prag, 25. Juni 1625.
Johann Marcus M a r c i.
Über vorstehendes Gesuch äusserte sich der Präger akademische
Senat in seinem a. h. Orts abverlangten gutachtlichen Berichte ddo.
6.December dess. Jahres dahin: dass der Titel „Professor supraordina-
rius", welcher zugleich exemptionem ab ordinariislectionibus mitbrin-
gen will, bei hiesiger und andern Universitäten nicht allein fremd und
unbekannt sei, sondern auch den ordinariis Professoribus und anderen
*) Diese etwas spitzige Bemerkung' bezieht sich auf den Umstand , dass gleichzeitig- auch
Professor Franchimont um die Erhöhung- seines Gehaltes von 400 fl. auf 600 fl.
jährlich eingeschritten ist. W.
Beiträge zur Literürgeschiehte Böhmens. 129
interessirten Pupillen sehr nachtheilig fallen würde, indem des Supra-
ordinarii ordinariae Iectiones durch einen Extraordinarius — welcher
aus der Ursache vielleicht eben ex communi wollte besoldet sein —
suppliret und versehen, und dergestalt den Ordinariis ihre Salaria
welche ohnedies anjetzo gering, auch hei diesen Friedenszeiten kaum
den dritten Theileinkommen, nothwendig geschmälert werden müssten.
Zudem erscheine keine andere Ursache, warum Herr Marci a lectio-
nihus ordinariis exempt sein wollte, als etwa seine profunda cogitata
et privatas hicubrationes (welche aber die Professur gar nichts an-
gehen) in Tag zu geben. Nun lassen eben in anderen Universitäten
die Professoren gleich integra volumiua ausgehen, welche doch
derentwegen a lectionibus publicis keineswegs überhoben werden.
Nicht weniger ist fremd, dass man, indem man begehrt a legendo et
laboreexemt zu sein, dennoch die Besoldung ad tertiam usque partem
(folglich, wie oben angeführt, von 600 Gulden, welche Marcus
schon als Senior und Professor primarius hat, auf 900 Gulden) ver-
bessert haben will, was ohne merklichen Schaden -und Nachtheil der
Andern nicht geschehen kann ; sintemalen so viel ihme, Herrn Marco,
diesfalls accrescirte, den Andern nothwendig decresciren müsste; es
wäre denn, dass er extraordinaria und den Andern unpräjudicirliche
Media, solche seine Merita zu remuneriren, Ihrer Majestät vorschlagen
thäte."
Leider hatte in den letzten 10 Jahren seines Lebens die Ge-
brechlichkeit des Marci einen solchen Grad erreicht, dass sie ihn
zur Fortführung seines Lehramtes als Professor primarius praxeos
grossentheils unfähig machte. Dass eine vieljährige, doch unentgelt-
liche Substitution durch den ausserordentlichen Professor Sebastian
Christ. Zeidler nöthig wurde, erhellt aus folgenden Actenstücken
welche ich hier als Charakterbild der damaligen akademischen Ver-
hältnisse in extenso mittheilen will, wie selbe mir in meiner Stellung
als Facultäts-Historiograph zugänglich sind :
I. Wir Rector und Magistratus academicus Carolo-Ferdinandi-
scher Universität zu Prag; hiemit Urkunden und bekennen, demnach
Uns, der löblichen Pragerischen Universität Rectori MagniGco,
Decanis, Senioribus et Professoribus der Edle und Hochgelehrte
Herr Sebastian us Christianus Zeidler, Medicinae Doctor, zu
erkennen geben, wasmassen Er schon 14 Jahr bei hiesiger Univer-
sität die extraordinari Professor ohne sondere Recompens, mit Zu-
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XIX. Bd. I. Hft. 9
130 Dr. Wilhelm Weitenweber.
Setzung des Seinigen versehen hätte, und diesem nach darüber eine
schriftliche Attestation begehrt. Als haben Wir solches sein bitt-
liches Begehren nicht verweigern können noch sollen, sondern zeugen
und attestiren nach Unserer selbsteigenen Wissenschaft hiemit, dass
denen, wie Eingangs gemeldet, in der Wahrheit also und nicht anders
seie und desswegen in allen vorfallenden Occasionen (wiewohl an-
jetzo nichts vaciret, sondern wann ins künftige sich einige Vacanz
der Professur ereignen sollte) Er in facultate medica bei hiesiger
Universität vor Allen andern promovirt zu werden, und dem löblichen
Gebrauch nach die Succession zu haben sich meritirt gemacht
habe. Urkund dessen haben Wir gegenwärtige Attestation unter der
Universität Insiegel ausfertigen lassen. So geschehen Prag am
28. Januarii 1665.
II. (Kaiserliches Schreiben an Ihre Excell. und Gnaden, die
königl. Herren Statthalter in Prag.) Liebe Getreue! Aus Eurem ge-
horsamen Schreiben vom 11. Februarii jüngsthin haben Wir mit
mehreren gnädigst verstanden, was gestalt und aus welchen Ursachen
Uns Ihr den Sebastian Christ. Zeidler, Med. Doctorn, damit
Er in das Doctoris Marci ordinari Professurstelle succediren und
Ihme unterdessen, bis zur erfolgenden Vacanz der titulus ordinarii
Professoris gegeben werden möchte, intercedendo recommandiren
thut. Sintemalen wir dann um der angezogenen Verdienst und recom-
mandation willen gnädigst kein Bedenken tragen, dass Er Doctor
Zeidler in obbesagten Doctoris Marci Professur zu seiner Zeit
wirklich succediren möge. Jedoch weilen Wir ob malam consequen-
tiam Ihme hierauf eine Expectanz zu ertheilen Bedenken tragen : Als
werdet Ihr Ihme (wie hiemit unser gnädigster Befehl) dahin zu
bescheiden haben, dass Er sich bis zu erfolgender Vacanz gedulden
solle, Wir wollten alsdann darauf schon gnädigst bedacht sein, dass
Er hiezu vor Andern promovirt werde. Hieran vollzieht Ihr gehor-
samst Unsern gnädigsten Willen und Meinung. Geben Wien den
15. Aprilis anno 1665.
Leopold.
Joan. Hartwigius Comes de Nostiz
Ris Biae S. Cancellarius.
III. Allerdurchlauchtigster, Allergnädigster Herr Herr ! Euer
Majestät! Wir allergehorsamst unterthänigst nicht vorhalten, was
Beiträge zur Literärgeschiehte Böhmens. 131
Gestalt bei dero allhiesiger kays. und künigl. Carolo-Ferdinandeischen
Universität zu Prag durch den erfolgten tödlichen Hintritt Joannis
Marci von Cronlandt, Med. Doctoris, eines ordinarii Professoris
Stelle facultatis medieae vacirend worden sein, zu dergleichen Erset-
zung Euer kays. Majestät den ordinem successionis observiret und
beobachtet zu werden, allergnädigst gewählet nach Inhalt Dero dies-
falls hiebevor ergangenen kaiserlichen Resolution. Weiln dann, Aller-
gnädigster Kayser, König und Herr ! die nachfolgende Professores in
Facultate medica anjetzo diese sind, als nämlichen! der erste Nico-
laus Franchimontvon Frankenfeldt, anjetzo Rector Magnifi-
cus, der andere aber Jacobus Forberger, beide Medicinae Doc-
tores und lange Jahre her nach einander geweste Professores ordinarii,
die sich daher in ordine succedendi der angezogenen Allergnädigsten
kays. Resolution allergehorsamst halten, und sich bey dem darob
acquirirten Jure zu schützen allerunterthänigst bitten, Sebast.
Christ. Z eidler aber Medicinae Doctor, der bishero Institutionum
Professuram extraordinariam, weiln der Dr. Marci zu dieser Zeit
impotens gewesen, versehen und pro ordinaria zu erfolgender Vacanz
allbereits von Euerer kays. Majestät die allergnädigste Vertröstung
hat. Als gelanget an Euer kays. Majestät hiemit unser gehorsamstes
unterthänigstes Bitten , die geruhen nicht allein die vorhergehende
Professores ordinarios, Doct. Franchimont und Doct. Forber-
ger, bei dem allergnädigst resolvirten Jure succedendi allergnädigst
zu schützen, sondern auch dem Doct. Zeidler die verbleibende
Vacantiam Institutionum Professoris ordinarii allergnädigst wirklich
zu conferiren. Zu ihrer kays. Majestät beharrlicher kayserlichen
und königlichen Gnaden uns Allergehorsamst unterthänigst empfeh-
lend Euerer kays. Majestät Allergehorsamst unterthänigste Rector.
Decani und Professores Facultatis medieae in der Carolo-Ferdinan-
deischen Universität zu Prag.
Prag am 16. April 1667.
Johann Georg Scholtz von Schollenberg.
IV. (Zeidler's Majestätsgesucb.) Allergnädigster Herr Herr!
Euer kays. königl. Majestät geruhen hiebei kommend allergnädigst
zu ersehen, wasmassen der Prager Universität, allda ich in Facultate
medica die extraordinari Professur nunmehr in die 16 Jahr, und
ordinari lectiones anstatt des Doctoris Marci über 10 Jahr, ohne
9 "
J32 Dr. Wilhelm Weitenweber.
einiges Salario mit Zusetzimg des Meinigen mühsam suppliret, zur
ordinari Professur Ihren Calculum auf mich gegeben, auch von Eurer
kays. und königl. Majestät inhalts Lit. B. (s. oben II.) dahin aller-
gnädigst sincerirt bin, dass auf erfolgende Vacanz ich dazu vor
Anderen promovirt werden solle. Demnach nun der allmächtige Gott
jüngster Tage vermeldeten Doctorem Mar cum durch den zeitlichen
Tod von dieser Welt abgefordert, und hierdurch eine ordinari Pro-
fessurstelle vacirend worden; Als ist an Euer kays. und königl.
Majestät mein allerunterthänigst gehorsamstes Bitten, die geruhen
in allergnädigster Erwägung meiner nunmehr in die 16 Jahr in extra-
ordinari Professur ohne einiges Salario zugesetzter Treuherziger
Mühe, mir obvermeldt allergnädigst sincerirtermassen die vacirende
ordinari Professur vor Anderen zu conferiren und mich hiezu behö-
riger Massen neben anlaufender Besoldung installiren zu lassen. Wie
ich mich nun darüber Ihrer allergnädigster gewährigster Resolution
allerunterthänigst gehorsamst getröste, also diese kays. Gnad mit
allerunterthänigster Treu und Fleiss unaussetzlich zu verdienen mir
angelegen halten werde. Eurer kays. und königl. Majestät Allerunter-
thänigst gehorsamster
Sebastianus Christianus Zeidler
Med. Doctor.
«
Doch kehren wir nach dieser wohl etwas ungebührlich längern
und der Zeitfolge vorgreifenden Abschweifung, welche uns übrigens
einen tiefern Einblick in die Verhältnisse des damaligen medicinischen
Lehrkörpers in Prag gestattet, wieder zu unsermDr. Marcus zurück.
Ich habe oben erwähnt, Marci habe das Vertrauen der Regie-
rung in Betreff der projectirten neuen Ordnung der Studienangele-
genheiten genossen. Dass dem wirklich so gewesen, zeigte sich
insbesondere bei der mehrere Jahre lang, und namentlich seit dem
Regierungsantritte Ferdinand's III. wieder lebhafter, doch ver-
geblich angebahnten Union der beiden damals neben einander in Prag
bestehenden Akademien, nämlich der weltlichen Carolinischen und
der sogenannten Clementinischen der Jesuiten. Hierbei spielte der
gelehrte Senior der medicinischen Facultät jedenfalls eine einfluss-
reiche Rolle und bemühte sich wacker, zur endlichen Verwirklichung
dieser so schwierigen — weil den besonderen Interessen beider
Parteien widersprechenden und nicht genügenden — Institution
Beiträge zur Literärgeschichte Böhmens. 133
beizutragen. Denn Marcus war vom Jahre 1642 an als Repräsentant
der medicinischen Facultät, nebst dein Doctor der Rechte Johann
Kridell, von Seiten des Carolinums, und gegenteilig zwei Väter
des Clementinums hierzu delegirt worden. Mittlerweile hatte Mar-
cus— um das erst kürzlich durch die kaiserliche Gnade erlangte Pri-
vilegium der Selbstständigkeit der weltlichen Carolinischen Akademie
nach Möglichkeit zu wahren — es nicht unterlassen, im Jahre 1651
eigens ein allerunterthänigstes Promemoria nebst einem neuen, von
ihm selbst verfassten Statutenentwurfe allerhöchsten Orts vorzulegen.
Dieser Schritt konnte aber keinen günstigen Erfolg mehr haben , da
die organische Vereinigung der beiden Prager Akademien bereits fest
beschlossen war und bekanntlich in Folge des kaiserlichen Unions-
decretes vom 23. Februar 1654 wirklich ins Leben trat. Bei der
hierauf erfolgten umfassenden Neugestaltung der Verhältnisse der
einzelnen vier Facultäten unter einander bewährte sich neuerdings
die hohe Achtung, in welcher Dr. Marcus bei seinen Collegen
stand, in dem Masse, dass sie ihn nicht nur viermal nach einander
(nämlich in den Jahren 1654 bis 1657) sondern auch wieder in den
Jahren 1660 und 1661, ferner 1663 bis 1664, also im Ganzen acht-
mal zu ihrem Decan erwählt hatten.
In demselben für die Prager Universität eine so wichtige Epoche
machenden Jahre 1654 sind „ihme Johann Marcus Marci von Kron-
land, Medicinae et Philosophiae Doctori et Professori, wegen durch
lange Jahr in Pest- und Kriegszeiten, auch wegen mit seiner sonder-
lichen Erudition dem publico viel geleisteten Dienste und Nutzen, von
Sr. Majestät 6000 Gulden Gnadengelder, aus der Hofkammer zu
bezahlen angewiesen worden." — Ferner haben demselben die bei-
den weltlichen Facultäten im Jahre 1657 das unweit Prag liegende
Dorf Michle sammt dem dazu gehörigen Meierhofe — weil Marcus
dieses vom Feinde angezündete und in Grund verbrannte Dorf und
den Meierhof auf seine eigenen Kosten wieder erbaut — gegen einen
jährlichen Zins von nur 100 fl. vermiethet.
Beiläufig um dieselbe Zeit erhielt Professor Marcus ob insignia
in rem literariam merita, sowohl für seine eigene Person als auch für
seinen ältesten Sohn giltig, die Würde eines Comes palatinus. Im
Jahre 1658 soll ihn Kaiser Ferdinand, in dessen hoher Gunst Mar-
cus gestanden sein muss, zu seinem Leibarzte (S. Caes. Majestatis
medicus cubicularius) ernannt haben; obgleich nun letztere Jahreszahl
134 Dr. Wilhelm W e i t e n w e b e r.
bei mehreren Autoren angegeben wird , so lässt sich auf die
Irrthümlichkeit dieses Datums aus dein Umstände schliessen, dass
Kaiser Ferdinand III. bereits ein Jahr vorher, nämlich am 2. April
1657 (rano po 4 hodinie polowiczneho orloge) gestorben. Wenn es
ferner in einigen literarhistorischen Schriften (z. B. in Ad. Voigt's
Effigies virorum eruditorum etc. Pragae 1773., pars I, p. 72 et 77)
heisst, Marci sei nie ausserhalb Böhmen gekommen, so beruht diese
mit einem gewissen Nebengedanken ausgesprochene Angabe jeden-
falls auf einem Irrthum, indem Marcus thatsächlich einmal , und zwar
bereits im Jahre 1639 den Grafen Franz v. Sternberg auf dessen
Beise nach Born begleitete, ein andersmal — wie ich eine dies be-
stätigende Stelle in seinem Werke : Hdv ev kü^tm aufgefunden J) —
sich mit dem kaiserlichen Hoflager einige Zeit zu Frankfurt am Main
aufgehalten hat.
Noch kommt zu erwähnen, dass der greise Marcus am 15. Jän-
ner 1662 für dieses Jahr zum Bector Magnificus der vereinigten
Carolo-Ferdinandeischen Universität gewählt worden sei und dieses
höchste akademische Ehrenamt geführt habe.
Mit äusseren Glücksgütern reichlich versehen , dabei sehr be-
scheiden und in jeder Beziehung massig lebend , ungeachtet seines
schwächlichen Körperbaues dem ärztlichen Berufe bis zum letzten
Augenblicke mit voller Aufopferung sich hingebend, ein wahrer Vater
der Leidenden und Armen — starb Marcus, allgemein betrauert, in
seinem 72. Lebensjahre, am 10. April 1667 zu Prag, nachdem er
noch kurz vorher eine Berufung an die Oxforter Hochschule erhalten ;
zum offenbaren Beweise, dass Marcus nicht nur „in Deutschland genannt
und gekannt" gewesen, sondern dass sein gelehrter Buhm weit über
die Marken seines Vaterlandes sich verbreitet habe. Die irdische Hülle
wurde feierlich auf dem Altstädter Friedhofe der Jesuiten beerdigt,
denn Marcus hatte sich einige Tage vor seinem Hinscheiden in diesen
Orden einkleiden lassen!
Die theils von Dr. Marcus selbst, theils durch Vermittelung
seines ehemaligen Schülers und spätem Freundes Dr. Dobrzensky
!) Es heisst nämlich in dem Aufsatze: de lapillo Butleri (S. 345): Esse vero basin Inijas
Lapilli vitriolum, fassus est ejusdem filius Mercurius eo tempore, quo Francofurti
cum Aula Caesarea manebam, familiariter ibidem mecura conversatus, ut quasi
quotidie nostras aedes adibat.
Beiträge zur Literärgeschichte Böhmens. lOO
(siehe weiter unten) herausgegebenen und im Drucke erschienenen
Schriften welche mir beinahe insgesammt vorlagen und zugänglich
waren, sind in chronologischer Reihe folgende:
1. Disputatio medica de Temperamento in genere et gravissimo-
rum morborum Tetrade, Epilepsia, Vertigine, Apoplexia et Paralysi,
quam . . . praeside Domino Franco Roia de Aquis tas Pace Vero-
neasi etc. publice examinandam proponit Joannes Marcus, A. et
Philos. Mag. , V. M. Candidatus Anno MDCXXV. Pragae typis Pauli
Sessii. 4. (Befindet sich in der fürstlich Lobkowitz'schen Bibliothek
zu Prag unter der Zahl 14645 und ist dem Sohne seines obenange-
führten Mäcens , dem jüngeren Fürsten \Y enzel Eusebius v. Lob-
kowitz dedicirt.)
2. Idearum operatricium Idea sive Hypotyposis (bei Guhrauer
fälschlich: hypothesis) et detectio illius occultaeVirtutis, quae semina
foecundat (bei Guhrauer fälschlich: secundat) et ex iisdem
Corpora organica producit. Authore Joanne Marco Marci etc.
Anno MDCXXXV in 4. (Mit mehreren in den Text eingedruckten
Abbildungen. Wir werden das Werk weiter unten ausführlicher
besprechen.)
3. De proportione motus seu regula sphygmica ad celeritatem
et tarditatem pulsuum ex illius motu ponderibus geometricis librato,
absque errore metiendam. Pragae, typis Joannis Bilina 1639 in 4.
(Diese Schrift, mit dem Bildnisse des Verfassers geziert, ist dem
Kaiser Ferdinand III. gewidmet.)
4. Marci Marci disputatio medica de pulsu ejusque usu.
Pragae 1642. Typis Georgii Schyparz. 4. (Enthält nicht, wie man
durch den Titel verleitet glauben sollte, eine medicinische Abhand-
lung über den Puls, sondern handelt über den Stoss in mechanisch-
physicalischer Beziehung.)
5. Observationes exotico-philosophicae. Pragae 1647. (Diese
Schrift sah ich nicht.)
6. De causis naturalibus pluviae purpureae Bruxellensis. Ad
reverendissimum D. Joannem Caramuelem Lobkowitz etc.
Pragae typis academicis 1647. 24 Seiten in kl. 8. (Der Verfasser
erklärt den am 6. October 1646 bei Brüssel gefallenen rothen Regen
nach den Ansichten des gelehrten J. J. Chiflet.)
7. Theses physico-medicae de petrificatione in genere et de
Duelech seu petra humana, quas ... in Universitate Pragensi praeside
136 Dr. Wilhelm Weitenweber.
Joanne Marco Marci discutiendam proponit Joan. Carol.
Kirchmayer de Reich witz die 29. Aprilis 1648 in 4.
8. De proportione motus Figurarum rectolinearum et Circuli
quadratura ex motu. Pragae ex typographia academica 1648 in 4.
(Dieses Buch, eine Frucht zehnjährigen Forschens und Nachdenkens.,
dedicirte Marcus dem Kaiser Ferdinand IV.)
9. Thaumantias. Liber de Arcu Coelesti deque colorum appa-
rentium natura, ortu et causis. In quo pellucidi Opticae fontes a sua
scaturigine, ab his vero colorigeni rivi derivantur; ducibus Geometria
et Physica hermeto-peripatetica. Pragae typis academicis, anno
Christi 1648. 268 Seiten in 4. (Auch dieses grössere und bedeutendere
Werk ist dem Kaiser Ferdinand III. gewidmet.)
10. Dissertatio in Propositiones physico-mathematicas de natura
Iridos Reverendi P. Balthasar i Conradi etc. Pragae ex typogra-
phia G. Schyparz 1650 in kl. 8. (Eine Widerlegung der von P. Con-
radi, Professor der Mathematik an der Clemeniinischen Akademie,
veröffentlichten Ansichten über den Regenbogen; dieses polemische
Schriftchen ist gegenwärtig selten und befindet sich in der Prager
k. k. Universitäts-Bibliothek.)
11. De longitudine seu differentia inter duos meridianos , una
cum motu vero Lunae inveniendo ad tempus datae observationis.
Pragae 1650, typis Georgii Schyparz, in 8. (Diese Schrift gibt ein
ehrenvolles Zeugniss von den tüchtigen Studien des Verfassers auf
dem astronomischen Gebiete, und ist dem spanischen Könige Phi-
lipp IV. gewidmet; mit 2 Tafeln Abbildungen.)
12. Anatomia demonstrationis habitae in promotione academica
die 30. Maji per rev. P. Conradum etc. de angulo, quo Iris continetur.
Authore Joanne Marco Marci etc. Pragae 1650 in kl. 8. cum
appendice. (Behandelt neuerdings den oben sub Nr. 10 angegebenen
Gegenstand in persönlich polemischer Weise.)
13. Labyrinthus, in quo via ad Circuli quadraturam pluribus
modis exhibetur. Pragae 1654 in 4. (Nach dem damaligen Stand-
punct der Wissenschaft scharfsinnig.)
14. ndv iv Travrwv seu Philosophia Vetus Restituta. Omnia in
Omnibus. Pragae, typis academicis. Anno Domini 1662. XXII und
580 Seiten in gr. 4. (Ist dem römischen Kaiser Leopold gewidmet.
Eine zweite Ausgabe dieses Buches erschien zu Frankfurt und Leip-
zig, auf dem Titelblatte mit der Jahreszahl 1667, auf dem beigefügten
Beiträge zur Literärgeschichte Böhmens. 137
Titelkupfer aber 1676 [welches ist unrichtig?] und mit dem aus-
drücklichen Beisatze auf dem Titelblatte : Propter distracta hinc inde
exemplaria seduloque hactenus quaesita, denuo recusa. Sumptibus
Christian! Weidmanni. Übrigens beinahe ganz gleicher Abdruck, die-
selbe Seitenanzahl und sonstige typographische Ausstattung, wie ich
aus genauer Vergleichung beider Exemplare, wie sie in der fürstlich
Lobkowitz'schen Bibliothek aufbewahrt werden, ersehen konnte.)
15. Liturgia mentis seu disceptatio medica de natura Epilepsiae,
illius ortu et causis, deque symptomatis, quae circa imaginationem et
motum eveniunt, in qua multa scitu digna, difficilia et recondita de-
teguntur. Opus posthumum, cui accessit tractatus medicus de natura
urinae, et consilia tria medica. Leopoldo Caesari dedicavit Jac.
Joan. W. Dobrzensky, praemisso authoris elogio et praefatione
de scriptis ejus. Batisbonae anno 1678 in 4.
16. Otho-Sophia seu Philosophia Impulsus universalis Joannis
Marci Marci etc. Opus posthumum nuperrime in ejusdem authoris
Liturgia mentis promissum, in quo admiranda Genesis, Natura, Pro-
gressus, Vires Impulsus cum in Animalibus, tum liquidis et solidis
Corporibus anoouTv/.ug explicantur. Opus curiosioribus Medicis, Ma-
thematicis, Philosophis utile ac perjucundum, Nunc primum cum
aeneis figuris in lucem editum a Jacobo Joan. Wenc. Dobrzensky
de Nigro Ponte. Vetero-Pragae typis Danielis Michalek 1683 in 4.
Mit Bezug auf die so verschiedenartigen wissenschaftlichen Stoffe
welche in den eben aufgezählten Schriften von unserm Dr. Marcus
behandelt werden, konnte der berühmte Zeitgenosse Bohuslaw
Baibin, welchem Marcus nach seiner eigenen dankbaren Aussage
ebenfalls aus einer schweren Krankheit das Leben gerettet hatte, in
einem eleganten Gedichte singen:
Astronomus, Sophus et Medicus, Geometra, Vates,
Quae divisa Alii, Marce! jugata tenes.
Quid memorem, Chemia, tuae documenta Palaestrae,
Quaeque ruber fulvo parturit ore Leo?
Circulus et motus, medium, maris aequor, Ideae,
Iris et umbra, Tuum Maree! loquuntur Opus.
Und sein gewesener Schüler und später vertrauter Freund, der
oben mehrmals erwähnte Dobrzensky, nennt ihn „christianum Eu-
clidem, bohemicum Platonem, Pragensium Hippocratem."
138
Dr. Wilhelm We i ten webe r.
Um aber die dreifache schriftstellerische Thätigkeit und Stel-
lung unseres gelehrten Landsmannes — als Philosoph, Physiker und
Arzt — thatsächlich auffassen zu können, wollen wir nun: 1. eines
seiner philosophischen, dann 2. eines seiner philosophisch-medicini-
schen, und endlich 3. eines seiner physicalisch-mathematischen Werke
einer auszngsweisen Betrachtung unterziehen.
In seinem physiologisch-philosophischen Hauptwerke : Idearum
operatricium Idea nimmt Marcus seinen Ausgang von der
dualistischen Natur aller Geschöpfe, nämlich der körperlichen und
geistigen überhaupt, als welche durch die Allmacht Gottes aus dem
Nichts erschaffen sind. Der Verfasser vertheidigt sich in einem nach-
träglich eigens verfassten ausführlichen Vorworte gegen die, ihm
von mehreren Seiten gemachte Beschuldigung, als seien die hierin
aufgestellten Ideen von der bildnerischen Kraft unkatholisch und
ketzerhaft; und hat Marcus aus diesem Grunde das Buch überdies
durch eine Commission von Seiten des Prager Erzbisthums prüfen
lassen, welche dasselbe vollkommen gut hiess *). Das ganze Werk
sollte, nach dem ursprünglichen Plane des Verfassers, aus zwei
Büchern bestehen, von denen aber leider nur das erste durch den Druck
veröffentlicht wurde, obwohl das Inhaltsverzeichniss beider Bücher
vorausgeschickt ist. Schon aus den Überschriften der einzelnen
Capitel lässt sich die, für jeneZeit ganz eigenthiimliche, der Wesenheit
nach natur-philosophische Bichtung des Marcus, als der neuplatoni-
schen Schule angehörig, sattsam erkennen. Wenn es — wie Guhr-
auer (a. a. 0. S. 253) sagt — gestattet ist, einen Begriff der heu-
tigen Naturwissenschaft auf jene Zeit überzutragen, so könnte man
es den Versuch einer Lehre von der Metamorphose der Pflanzen und
Thiere nennen, alles auf dem Naturgrunde des Systems von Para-
*•) Schon bei Lebzeiten des Marcus Marci hatte diese Schrift entgegengesetzte, theils
ungemein lobende, theils tadelnde ßeurtheilungen und Verdächtigungen erfahren;
daher sagt der Verfasser selbst hierüber : Suas enim Junones suosque anijues mos
sensit. — Maximilian Rudolf Freiherr v. Slainicz, damals gerade Official
undGeneralvicar des Prager Erzbischofs, Sr. Eminenz des Cardinais Grafen Harr ach,
hatte noch vor der Drucklegung des Buches zwei gelehrten Theologen (nämlich dem
Frater Franz v. Padua, Präses des Franciscaner-Convents bei Maria-Schnee, und
dem Frater Bonaventura Tanzarella, Doctor der Philosophie und Theologie,
General-Commissär des Carmeliter-Ordens) aufgetragen , sich über die darin ausge-
sprochenen Ansichten Marci schriftlich zu äussern. Beide fanden das Buch „sehr
gelehrt und geistreich verfasst, doch keineswegs etwas gegen die Religion und die
guten Sitten enthaltend."
Beiträge zur Literärgeschichte Böhmens. lo9
celsus und dem altern von Helrnont. Es war demnach ein, von
unserm Landsmanne bereits vor mehr denn 200 Jahren, auf seine
originelle mystisch-scharfsinnige Weise durchgeführter Vorläufer der
seit Gothe in neuester Zeit in Deutschland so belieht gewordenen
natur-phüosophischen Idee Schleiden's und Anderer im Gewände
des zu seiner Zeit eben auch geistesmächtigen Neuplatonismus.
Die Überschriften der einzelnen acht Capitel des ersten Buches
lauten alsos: 1. Quid seinen, quo modo et a quibus producatur? —
2. An semen animatum, et an una numero Anima in homine? —
3. Quid et quo modo se habeat in semine Virtus formatrix? — 4. De
erroribus, qui contingunt in formatione foetus, et de Monstris. —
5. De variis impressionibus Corporum in iigura et colore; et de viribus
Imaginationis. — 6. De magnitudine Corporum in unaquaque specie,
an semper decrescat? et de Pygmaeis et Gigantibus. — 7. De simili-
tudine et differentia in Sexu, corporis forma et moribus; et de An-
drogynis. — 8. De varia naturae humanae cum ßrutis, et horum inter
se mixtione; ubi de Satyris , Nymphis, Cynocephalis, Sirenibus, Tri-
tonibus, Harpyis. Hiermit Schluss des ersten Buches.
Die ebenfalls acht Capitel des, nicht im Drucke erschienenen,
zweiten Buches sollten folgende Gegenstände umfassen: 1. De trans-
plantatione in Vegetabilibus, Metallis, Gemmis, Lapidibus et reliquis
subterraneis; in Meteoris, item et Elementis. — 2. De subordinata
Generatione deque iis , quae nascuntur ex aliorum corruptione; et de
putredine. — 3. De umbratili generatione in vapore, fumo, igne,
facie, crystallo, urina. De Electro, spectro magico, ubi de variis
apparitionibus et de spectris. — 4. De corporum regeneratione et de
Metempsychosi animarum. — 5. De metamorphosi et corporum trans-
mutatione, ubi de Lycanthropis et de Lamyis. — 6. De animarum a
suis corporibus egressu, et longissima peregrinatione, ubi de statu
animae separatae. — 7. Quid mors et interitus rerum; et de Orco
Hippocratis, Nocte Orphei, Chao antiquorum. — 8. An Mors naturae
viribus possit itnpediri? ubi de arbore vitae et medicina Philosopho-
rum universali.
Ein viel umfangreicheres, zugleich medicinisches und philoso-
phisches Werk unsers Marcus, ein Ergebniss tiefen Nachdenkens
über den Makro- und Mikrokosmus, so wie fleissiger Naturbeobach-
tung von dem Staudpuncte jener Zeit, ist seine Philosophia
vetus restituta. Unter der „alten" Philosophie versteht aber der
140 Dr. Wilhelm Weitenweber.
Verfasser nicht die altgriechische Philosophie überhaupt, etwa im
Gegensätze zu der neuern christlichen, sondern speciell nur die dein
Aristoteles unmittelbar vorhergehende; es ist dem zufolge dieses
Werk gegen die Grundsätze und Ansichten des letztern und der
neueren Peripatetiker gerichtet, wobei Marcus die Philosophie der
jonischen Schule, namentlich die des Demokritus und Anaxago-
ras, in Schutz nimmt. Hat der Verfasser in der früher besprochenen
Schrift sich auf die Erzeugung der Mikrokosmen (der Menschen,
Thiere, Pflanzen und Steine) mittelst des Samens beschränkt, so
handelt er im vorliegenden Buche — jene naturphilosophische Idee
noch mehr verallgemeinernd — von den Ideae seminales im Allge-
meinen, so weit nämlich das Weltall aus dem Chaos sich zu ent-
wickeln beginnt, so wie von der Entwicklung, Ordnung, Verknüpfung
und gegenseitigen Übereinstimmung (Harmonie) der einzelnen Be-
standteile des Weltalls. Marcus lehrt hier, dass die himmlischen
Körper denselben Gesetzen unterworfen seien, denen die irdischen
Dinge gehorchen; er stellt unter Anderem auch die Hypothese auf,
dass keine Form ausser der vernünftigen Seele von Neuem entstehe
u. dgl. mehr. Jedenfalls erkennt man auch aus dieser Schrift, wie es
sich der Verfasser angelegen sein Hess , sich über die höchsten Auf-
gaben der philosophischen Erkenntniss im Zusammenhange Bechen-
schaft zu geben. Seine Schlussfolgerungen gehen , einen scheinbar
richtigen logischen Organismus bildend, Schritt für Schritt vorwärts,
und werden stets auf das Specialfach des Marcus, nämlich die Heil-
wissenschaft, angewendet.
Im ersten Theile: „De mutationibus, quae in Universo fiunt"
werden folgende Capitel (Sectionen) abgehandelt: 1. Mundum non
fuisse ab aeterno, atque mutationibus esse subjectum. — 2. An detur
materia prima? — 3. Quae Aristotelis mens fuisse videatur de genera-
tione, quid aiii Peripatetici sentiantde generatione? — 4. Quid sit forma
Substantialis, et an detur a parte rei. — 5. Quomodo forma in materia
praeexistat. — 6. Utrum eadem forma sit aut esse possit in pluribus
materiis. — 7. Sententia illorum, qui negant generationem Substantia-
lem. — 8. An in eadem materia esse possint plures formaeSubstantia-
les ? — 9. An Sensus et appetitus in nomine fiat per animam sensitivam.
— 10. An ratio vegetativi in homine proveniat ab anima rationali.
Derzweite Theil: „De partium Universi constitutione" umfasst
insbesondere: 1. De prima Idearum ex Chao evolutione. — 2. Qua
Beiträge zur Literärgeschichte Böhmens. 14-1
ratione coelum influat in haec inferiora ? — 3. Quinam effectus pro-
veniant e stellis; actiones vitales etiam quoad Entitatem non neces-
sario resultare in anima replicafa. — 4. Regressus ad influxus Coele-
stes. — 5. De impressionibus in aere et Meteoris inde causatis; de
corruscatione, tonitru et fulmine. Qua ratione aer mutetur in humidi-
tate et siccitate. — 6. Quos effectus habent aer in corpore humano.
— 7. De eausis naturalibus pluviae purpureae.
In der, zum grössten Theile physiologische Stoffe erläuternden,
dritten Abtheilung: „De statu hominis secundum naturam" handelt,
vom mystischen Standpuncte aus, das 1. Capitel: Qua ratione Species,
objectorum se habeant ad sensum et intellectum. — 2. An Species
sensibiles et objectum sint ejusdem essentiae? Rationes in oppositum
factae expenduntur. — 3. An actiones sensuum sint materiales, et pro
ratione objecti divisibiles? Differentiae inter Ens spirituale et mate-
riale. De ubicatione et motu Angelorum; an vacuum seu spatium abs-
que corpore esse possit? — 4. Actus tarn sensus quam intellectus
esse indivisibiles, neque plures simul inesse posse. — 5. De Unione
inter objectum et intellectum; de notitia, quam Angeli diversi ordinis
habent de se. Qualis differentia conveniat Angelis. Anima separata
Angelis assimilatur, notitiam vero eorum, quae in vita egit vel novit,
secum defert. An et quomodo Anima separata et Daemones a rebus
corporeis patiantur; an Unio objectiva praeter sensus conveniat
animae, in corpore existenti. — 6. De Chao mentali et hujus ad Chaos
Universi analogia; de spectris aeris, qua ratione fiant; de phasi dicta
Morgana. Non omnia phasmata ratione optica constare. Qua ratione
usus Linguae peregrinae innasci aut a Daemone infundi possit? De
analogia cerebri ad oculum. Qua ratione futurorum notitia nobis ob-
venire possit? — 7. An Idea humana in Chao Universi contineatur?
— 8. De propagatione Ideae humanae; in quo posita sit ratio gene-
rationis humanae. Quaestio I. Qua ratione macula peccati originalis
propagetur? Quaestio II. Qua ratione Christus Dominus dicatur ex
semine David? Quid semen conferat ad generationem ; opinio Harveyi
expensa. Quando foetui humano anima rationalis infundatur? An per
Restias et Daemones propagari possit genus humanum? De praeroga-
tiva Matrum , et singulari excellentia Dei matris.
Im vierten T heile dieses Werkes handelt der gelehrte
Verfasser unter der Aufschrift: „De statu hominis praeter naturam"
pathologische und toxikologische Gegenstände ab, und zwar: 1. De
142 Dr. W i I h e 1 m W e i t e n w e b e r.
occasu Vitae humanae; an aliquid vitalis in mortuis maneat? Ex-
stasin diuturnam atque etiam in annos plures posse produci. De Hae-
morrhagia cadaveruni. — 2. De morbis. Quid dicetur Archeus? Qua
ratione ideae morbilicae, et ab bis morbi producantur? Essentia
morbi juxta opinionem Helmontii expenditur. — 3. De natura veneni,
hujus differentia et effectu. De rabie canine. De Tarantismo. De
venenis per os assumptis. De viva mortis imagine seu verminatione.
Der ausschliesslich medicinisch-therapeutischen Gegenständen
gewidmete fünfte Theil : „De Curatione morborum" enthält die
schon damals mit vielem Interesse ventilirte Frage: 1. De Magnetismo
et actionibus sympatheticis. Quid trahatur e vulnere per Unguentum
armarium ex opinione Helmontii. Magnetismus unguenti armarii juxta
mentem Helmontii examinatur. Asseritur verus modus, quo fit Magne-
tismus; solvuntur rationes in oppositum facta e. De magnetismo Saphiri,
de magnetismo plantarum nonnullarum e. g. Persicariae. De magne-
tismo Vitrioli. Opinio illorum, qui curam sympathicam per atomos
seu effluvia corporea fieri putant. De lapillo Butleri et Drif Hel-
montii. — 2. De virium coelestium attractione. — 3. Quid maleficium,
qua ratione fiat et curetur. De Brutorum Antipatbia. De pisce Ecbe-
neide, qua ratione navigia sistat.
Konnten wir aus der Schilderung der erstgenannten Schrift
(Idearum operatricium Idea)»uns einen ziemlich genügenden Abriss
von M. Marci's philosophischem Lehrgebäude bilden, nach dem
sodann betrachteten Buche (Jldv iv 7ravTa>v) nebst den philosophi-
schen Ansichten auch einen Theil seiner pathologischen Ansichten
kennenlernen; — so wollen wir, zunächst auf Grundlage eines dritten
bedeutenderen Werkes desselben Verfassers unter dem Titel: Thau-
mantias; liber de ArcuCoelesti, unsern gelehrten Landsmann
auch noch in Bezug auf seine literarischen Leistungen auf dem
Gebiete der Physik etwas näher beleuchten. Es ist dies Buch in der
That eine würdige Frucht seiner mehrjährigen Tycho de Brahe'-
schen und Kepl einsehen Studien, doch auf grossentheils selbst-
ständigem Boden; und Marcus sagt in der an den Kaiser Ferdi-
nand III. gerichteten Dedication selbst: Audet tandem in lucein pro-
dire ejusdem lucis filia Thaumantias xaXvj xat komiKy) , quae per
annos novem sub atra bellorum nube delitaverat.
Nachdem der Verfasser zuerst in kurzen Aphorismen das Wesen,
die Eigenschaften und das Sichtbarwerden des Begenbogens, eine
Beiträge zur Literärgeschichte Böhmens. 14o
Iris primaria und secundaria unterscheidend, besprochen, stellt er
bei dieser Gelegenheit auch folgende zwei Lehrsätze auf: Das Licht
kann von der Farbe nicht getrennt werden; und dann: die Verdich-
tung ändert die Farbe sowohl in der Art als im Grade. Beachtens-
werth erscheint uns unter Anderem die Abhandlung über die Conden-
sation und Rarefaction im Allgemeinen, wo sich Marcus Marci
namentlich über das Wesen und die Wirkungen des Feuers, sowie
über dessen Ursachen auf eine scharfsinnige Weise ausspricht, indem
er die darüber geltenden älteren Ansichten mit auf eigene Versuche
basirten Gründen zu widerlegen sucht. Mehrere Blätter (p. 43 — 47)
widmet Marcus der Betrachtung des Knallgoldes (Aurum volatile)
und erklärt dessen gewaltige Wirkungen. Demnächst von der Mög-
lichkeit eines Vadium handelnd, beschreibt er mehrere fremde und
eigene Experimente mit Glasröhren, in welche theils Wasser , theils
Wein, theils Quecksilber gegossen worden, um einen luftleeren Raum
hervorzubringen. Hierauf setzt der Verfasser in einem eigenen Capi-
tel den optischen Lehrsatz aus einander : dass das Licht durch ein
dichtes Medium intensiver, durch ein dünneres Medium weniger
intensiv sei bei einer und derselben Distanz des leuchtenden Kör-
pers — und handelt sodann von dem Wesen und den Eigenthümlich-
keiten der Strahlenbrechung im Allgemeinen, bei welcher Gelegenheit
auch insbesondere der K epler'sche Satz : dass eine grössere Nei-
gung auch einen grösseren Brechungswinkel verursache, ausführlich
nachgewiesen wird. Dagegen behauptet der Verfasser gegen Kep-
ler, es werde das Licht nur bei einer gewissen Brechung in einem
dichten Medium in Farben verwandelt, und die verschiedenen Arten
von Farben seien nichts anderes als Erzeugnisse verschiedener Bre-
chungen. Die vier Hauptfarben des Regenbogens leitet er von den
eben so vielen Elementen welche sich in der Dunstwolke befinden,
her , und zwar aus der Erde die blaue , aus dem Wasser die
grüne, aus der Luft die gelbe und aus dem Feuer die rothe Farbe. —
Ein besonderes Interesse gewähren, auch in historischer Beziehung,
die dioptrischen Beobachtungen des Regenbogens mittelst des Pris-
ma und die daraus abgeleiteten Lehrsätze (p. 94 u. f.) welche von
der guten Beobachtungsgabe des Verfassers ein günstiges Zeugniss
geben. Nachdem Marcus Marci hierauf nebenbei das Wesen der
weissen und schwarzen Farbe einer kritischen Untersuchung unterzo-
gen und den Unterschied der ebengenannten von den übrigen Farben
144 Dr. Wilhelm Weitenweber.
scharf zu bestimmen sich bemüht hat, erörtert er die Frage, worin
der eigentliche Grund der Durchsichtigkeit und Opacität liege. Ein
weiterer Gegenstand seiner eifrigen Forschung ist ferner der Reflex,
auf welche Art und von welcher Ursache derselbe hervorgebracht
werde ; dann die Erscheinungen die das Sehen durch ein Prisma
erzeugt. Sodann sucht der Verfasser auf wissenschaftlichem Wege
jene Stelle zu bestimmen, wo das optische Bild auftritt (locus imagi-
nis) und die Ursachen davon anzugeben; nach mancherlei physiea-
lisch-math.ematiseb.en Beweisen gelangt er zu dem Resultate , dass
diese Stelle des optischen Bildes desshalb sehr varire, weil die Licht-
strahlen mehr oder weniger von ihrem Centrum auslaufen. Diese Gele-
genheit benützt auch Marcus, um über das Aufrecht- oder Umgekehrt-
erscheinen des Objects, dessen Vergrösserung oder Verkleinerung,
sowie über die verschiedene Färbung des Objects zu sprechen. — Im
Ganzen werden im Thaumantias 111 Theoreme nebst zahlreichen
Corollarien und Problemen aufgestellt, welche — wie ich glaube —
auch noch heutigen Tages für die Entwickelung der physicali-
schen Wissenszweige die Aufmerksamkeit und wissenschaftliche Wür-
digung der gelehrten Physiker in Anspruch zu nehmen vermögen.
Ich dürfte somit in dieser kurzen Abhandlung meine Eingangs
ausgesprochene Aufgabe gelöst und dargethan haben, dass Johann
Marcus Marci, wenn ersuch als Schriftsteller keine bleibende
und entscheidende Epoche in dem Gesammtgebiete der Wissenschaft
gemacht, doch in der dreifachen Beziehung als Arzt , Philosoph und
Physiker noch immer einen rühmlichen Platz in der Literärgeschichte,
insbesondere in der vaterländischen, verdiene, wie ihm derselbe
unter seinen Zeitgenosssen in bedeutendem Masse zu Theil geworden.
II. Jakob Johann Wenzel Dobrzensky de Nigroponte.
Habe ich mir im vorhergehenden Aufsatze die Ehre genom-
men, der hohen kais. Akademie der Wissenschaften eine literärge-
schichtliche Skizze des bei seinen Zeitgenossen in weiteren Kreisen
berühmten Prager Professors Dr. Johann Marcus Marci vorzu-
legen, so glaube ich kein passenderes und würdigeres Gegenstück
der Bearbeitung erwählen zu können, als den — was Studien und
Zeitfolge anbelangt — demselben zunächst stehenden Dr. Jakob
Johann Wenzel Dobrzensky, welcher seinem eigenen
Beiträge zur Literärgescbiehte Böhmens. 145
Ausdrucke nach ein treuer dankbarer Schüler und später ein inniglich
vertrauter Freund des Marcus war.
Leider besitzen wir hinsichtlich seiner persönlichen Verhält-
nisse nur wenige mangelhafte Notizen welche ich überdies aus hie
und da zerstreut rieselnden , theils gedruckten , theils handschrift-
lichen Quellen zu schöpfen bemüssigt war, so dass auch diese meine
Zusammenstellung, wie ich selbst recht gut einsehe, nur gleichfalls
lückenhaft ausfallen konnte.
Jakob Johann Wenzel Dobrzensky (auf den Titeln
seiner in böhmischer Sprache verfassten Schriften mit dem Prädicate
„Czernomostsky", in den deutschen von „Seh warzbruck"
und in den lateinischen de Nigro ponte) war zu Prag in der
ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts geboren ; doch ist nir-
gends sein Geburlsjahr, noch viel weniger der Geburtstag zu erse-
hen. Ebenso wenig vermochte ich über dessen Eltern, wahrschein-
lich Prager Patricier, zu erfahren, nur soviel, dass er ein Enkel des,
durch zahlreiche Schriften moralischen und religiös -ascetischen
Inhalts in böhmischer Sprache, bekannten Wenzel Dobrzensky
(aus den Jahren 1579 — 1590) gewesen. Doch darf man diese
Familie nicht mit dem gleichnamigen alten und begüterten Freiherren-
Geschlechte Dobrzensky von Dobrzenitz, welches noch heu-
tigen Tages blüht, verwechseln.
Die ersten Grundzüge der literarischen Bildung wurden ihm theils
im väterlichen Hause, theils in den niederen Schulen seiner Vaterstadt
beigebracht, wobei der Knabe eben so viel versprechende Geistesgaben
als Fleiss an den Tag legte. Bald nachdem D ob rzensky, der bestehen-
den Studienordnung gemäss, die vorgeschriebenen philosophischen und
ärztlichen Collegien in der, wenige Jahre vorher neuorganisirten
und vereinigten Carolo-Ferdinandea besucht und die letzteren Studien
namentlich unter den damaligen Professoren Johann Marcus
Marci, Nikolaus Franchimont, Jakob F orber ger und
Sebastian Christian Zeidler rühmlich vollendet hatte, unter-
nahmer— wie es damals die böhmische s-tudirende Jugend gern und
in Bezug auf allgemeine Bildung zu ihrem grossen Vortheile zu thun
pflegte — eine längere wissenschaftliche Heise ins Ausland, und zwar
nach Italien. Es war nämlich Dobrzensky's Zweck, sich nicht nur
an den dortigen wohleingerichteten Kranken-Anstalten in seiner
Wissenschaft und Kunst noch höher auszubilden, sondern er wollte
Sitzb. d. phil.-hist. Gl. XIX. Bd. I. Hft. 10
146 Dr. Wilhelm Weitenweber.
auch die berühmtesten gelehrten Ärzte jenes Landes persönlich ken-
nen lernen.
Insbesondere hatte sich der jugendliche Dobrzensky „nach-
dem er vieler Menschen Städte gesehen" eine längere Zeit hindurch
in Ferrara aufgehalten und dort an dem, durch Kriegsruhm wie durch
seine Liebe zu den Wissenschaften gleich ausgezeichneten Inno-
cenz Fürsten von Poli und Quadagnoli einen besondern Mäcen
gefunden, so dass er, im Contischen Palaste wohnend, sich den phy-
sicalischen Studien vorzugsweise widmen konnte, als deren interes-
santes Ergebniss Dobrzensky dort im Jahre 1657 seine Erstlings-
schrift : Nova et amoenior de admirando fontium genio philosophia
(s. weiter unten das Schriften-Verzeichniss) veröffentlichte. Sein
auf dem Titelblatte beigesetztes Prädicat: de Nigro Ponte soll zu dem
spasshaften, doch für die Italiener leicht verzeihlichen Missverständ-
nisse Anlass gegeben haben, als stammte der Verfasser Dobrzen-
taeus von der Insel Euböa, welche bekanntlich den neuen Namen Negro-
ponte führt. — Dass Dobrzensky hierauf auch einige Zeit, und
zwar ausdrücklich im October 1650 im Herzogthum Parma gewesen,
entnehmen wir aus einer anamnestischen Angabe, welche sich in
einer, vom Verfasser später in den Miscellaneis medico-physicisAea-
demiae Naturae Curiosorum (Jenae 1671 Annus II.) mitgetheilten
Krankheitsgeschichte befindat.
Von Italien aus verbreitete sich der günstige Ruf des kenntniss-
reichen jungen böhmischen Arztes und drang auch in seine Heimath,
so dass nach Verlauf weniger Jahre der berühmte Professor an der
Prager Akademie J. M. Marci ihn zur Rückkehr ins Vaterland mit
den Worten aufforderte : D. möge doch lieber diesem als der Fremde
sein ärztlich-praktisches Wirken wie seine Gelehrsamkeit zu Gute
kommen lassen. Dieser ehrenvollen Aufforderung seines hochgeach-
teten Lehrers Folge leistend, verliess Dobrzensky alsbald Italien,
wo es ihm übrigens gar wohl gefallen, und kehrte nach dem heimath-
lichen Prag zurück. Hier setzte er, an der Seite seines ebengenann-
ten Gönners, mit dem grössten Eifer seine gelehrten Studien fort und
wurde am 11. Jänner 1663 zum Doctor der Medicin promovirt, ver-
möge welchen akademischen Actes er , der damaligen Universitäts-
Verfassung gemäss, auch sogleich die Licentiam docendi erhielt.
In diesem seinem Lehramte an der Prager Hochschule erwarb
sich nun unser Dobrzensky — dem anfänglich als dem jüngsten
Beiträge zur Literärgeschichte Böhmens. 147
und ausserordentlichen Professor die theoretischen Hilfswissenschaf-
ten anvertraut, waren, binnen Kurzem die Zufriedenheit der älteren
Collegen sowie die Hochachtung seiner Schüler. Nachdem aber,
wie wir bereits oben (s. S. 134) erwähnt haben, der greise Senior
der medicinischen Facultät Marcus Marci am 10. April 1667
gestorben war, rückten die Doctoren Franchimont und For ber-
ger zu Professoren der medicinischen Praxis vor, der bis dahin in
der Kategorie eines ausserordentlichen Professors stehende Supplent
Zeidler (vergl. oben S. 130) erhielt die bereits seit längerer Zeit
ihm zugesagte Stelle eines wirklichen Professor institutionum, und
Dr. D o b r z e n s k y wurde mittelst allerhöchster Entschliessung definitiv
zum Extraordinarius ernannt. Hiebei können wir nicht unbemerkt lassen,
dass es zu jener Zeit bezüglich der persönlichen Rangordnung in den
öffentlichen Facultätssitzungen und Vorträgen , sowohl unter den
Professoren selbst als mit den übrigen Collegiaten, zu mancherlei
Auftritten und Zwistigkeiten kam, welche der akademische Senat
schlichten musste.
In Folge der später eingetretenen Todesfälle seiner obenerwähn-
ten Vordermänner rückte D obrzensky im Jahre 1682 zum Pro-
fessor institutionum , sowie im Jahre 1684 zum zweiten Lehrer der
medicinischen Praxis, endlich im Jahre 1690 zum Senior der Pro-
fessoren vor. Zum unmittelbaren Nachfolger in der Reihenfolge der
Professoren hatte er den, von seinen Zeitgenossen ebenfalls gefeier-
ten Johann Franz Low v. Erlsfeld, Doctor dreier Facul-
täten, nämlich der Philosophie, Medicin und der Rechte, einen eben
auch sehr geschätzten Arzt Prags.
Was D obrzensky's gelehrtes Wirken — das wir vorzugsweise
in das Auge zu fassen beabsichtigen — anbelangt, so lässt sich dasselbe
zum Theil aus dem folgenden Verzeichnisse der von ihm veröffent-
lichten Druckschriften ersehen, welches jedoch keineswegs auf Voll-
ständigkeit Anspruch machen avüI, sondern nur die von mir selbst
gesehenen aufzählt.
Nova et amoenior de admirando fontium genio (ex abditis natu-
rae claustris in orbis lucem emanante) philosophia. Ad votum Illustr.
ac Excell. Domini Domini Innocentii de comitibus exDucibus
Poli et Quadagnol i, Baronis Romani etc. perenne fluere jiissa.
Auetore Jacobo J. W. Dobrzenski de Nigro Ponte, Boemo
Pragensi P. E. M. D. Opusculum , quod non solum Curiosis ingeniis
10*
|48 Dr- Wilhelm VVe i tenweber.
ob plurimas et novas hydraulicas machinas aeri delicatissime incisas
voluptatem adfert, sed et Plrilosophis exoticis quibusdam erudit dis-
cursibus, et Matbematicis campum aperit alias plures et ingeniosiores
excogitandi inventione. Ferrariae apud Alph. et Joan. Bapt. de Mare-
stis. 1657 in fol. (Mit 55 in den Text eingedruckten Holzschnitten.)
Die vom Verfasser selbst angegebene Eintheilung und Über-
sicht des Inhaltes ist folgende: Novain hanc de Humidi genio Phi-
losophiam trifariam partiri placuit. Pars prima, quasi logica.
De centro gravium in communi, et in specie de Aqua. De ejusdem
spbaericitate et concentricitate cum Terra, de perpendiculari tenden-
tia et porositate discurrit, ubi etiam de potentia, qua ad Centrum
commune gravium liquidum urgetur, nova methodo disserit. Pars
secunda, quasi physica, varius fontium Ideas ex quinque principiis
emanantes proponit: 1. pressione aquae incumbentis, 2. suctu aqua
descendentis, 3. impetu aquae aerem fugantis, 4. violenta aeris pres-
sione, 5. violenta aeris rarefactione, et haec multis modis, 6. poten-
tia mixta ex aliquo horum principiorum. Pars tertia , quasi m e ta-
physica, agit de subtilibus quibusdam liquidi experimentis et effi-
cientia, puta de perpetuatione motus per Aquas, de Hydrotechnica et
Hydrologia, de aquarum velocitate et lapsae figura , de modo aquas
in sublime evehendi. — Diese Schrift befindet sich in der Prager
k. k. Universitäts-Bibliothekamter der Signatur XLIX. A. 55 *).
Von den durch Dr. Dobrzensky alljährlich in böhmischer
Sprache durch eine Reihe von mehr denn 20 Jahrgängen herausge-
gebenen Kalendern besitzt die Bibliothek des böhmischen Museums
eine namhafte, doch leider nicht ununterbrochene Reihe vom J. 1665 —
1685, welche aber weder einen sich gleichbleibenden Titel führen,
noch in einem und demselben Verlags- und Druckorte erschienen
sind. So führt der I. Jahrgang folgenden Titel : S Pranostykau Hwez-
darskau Nowy Kalendarz podle Naprawenj Rzehorze Papeze toho
gmena XIII . . . S pilnosti sepsany od Waclawa Czernomostskeho atd. —
i) Über denselben Gegenstand handelt auch uoch eine andere gleichzeitige vaterlandische
Inaugural-Dissertation, deren Titel ich aus literargeschichtlicher Rücksicht vollständig
hieher zu setzen mir erlaube : Genesis fontium , propositionibus physico-mathematicis
illustrata et publicae disputatioui exposita , quam praeside Joanne Hanke, Soe. J.,
defendendas suscepit. . . .Fr an eise us Leo L. B. de Rosinital et Blatna.
Olomuci 1680 in 4. — In der Prager Univ. Bibl. unter XLIX. B. 45.
Beiträge zur Literärgeschichte Böhmens. 149
Diesem ist, wie alljährlich, ein populär -wissenschaftlicher Anhang
beigefügt unter dem typographisch selbstständigen Titel: Discursus
astrophilomanticus, To gestduwtipne oOblozenebeskeRozmlauwänj w
nemz pfibehy, pripadnosti, promeny aucinliwostj gak na Swetljch
nebeskych, tak na techto Teljch dolegssych .... sepsane gsau skrze
Waclawa Czerno Mostskeho, FilozoGe a Medycyny Doktora, Mathe-
matyckeho Vmenj obzwlasstniho Milownjka. Na leto Paoe po prestup-
nem prvvnj 1665. W Praze u J. Arnoita. gr.4. — Einem andern der-
artigen Kalender ist beigeschlossen : Prace osmä na Leto Pane pre-
stupne 1672 w Meste Litomyssli, wytiskl Jan Arnolt z Dobroslawina;
der Anhang führt die Aufschrift: Discursus sphaerographici Con-
tinuatio VIII., und so fort bis zum J. 1685, wo die Continuatio XX.
mit jedesmal anderen belehrenden Aufsätzen diätetischen, ärztlichen,
historischen u. dgl. Inhalts in böhmischer Sprache erschienen , die
als wahre Volksbücher zu betrachten sind, wenn man natürlicher
Weise dem damaligen Stande der allgemeinen Bildung gebührende
Rechnung trägt.
In dem, zu seiner Zeit berühmten und für diebetreffende Litera-
turgeschichte noch immer sehr wichtigen Sammelwerke: Miscellanea
curiosa medico-physica Academiae Naturae Curiosorum, seu Ephe-
meridum medico-physicarum germanicarum curiosarumÄnnus primus,
anni scilicet 1670mi continens etc. (Lipsiae 1670), welches freilich,
von unserem gegenwärtigen wissenschaftlichen Standpuncte aus
betrachtet, gar mancherlei „Curiositäten" der gelehrten Welt mit-
theilt und uns nicht selten ein ungläubiges Lächeln abzwingt, sind
folgende Aufsätze unsers Schriftstellers enthalten: 1. Mors horrida
a febre maligna laborantis rustici (observatio 78). — 2. Artificialis
Pygmeorum efformatio (obs. 79). — 3. Illustrissimi Hypochondriaci
mors misera ab inunctione mercuriali (obs. 80). — 4. Calculi cystidis
felleae et meatus hepatici (obs. 129). — 5. Anatome cerebri bovis
petrefacti (obs. 130). — Im nächstfolgenden zweiten Jahrgange
desselben Sammelwerkes (Jenae 1671) finden wir von Dobrzen-
sky's medicinischen und naturwissenschaftlichen Mittheilungen wei-
ters: 6. De calce podagricorum (obs. 65). — 7. Analogiae terrae
motus anno elapso in Tyroli facti cum hypochondriacis (obs. 60). —
8. Epilepsia foeminae parturientis (obs. 61). — 9. Mors repentina
ex morbo caduco (obs. 179). — 10. Partus ob abscessum impeditus
(obs. 180). — 11. Calculi pulmonum et ventriculi (obs. 181). —
ISO Dr. Wilhelm Weitenweber.
12. Mors ex esu Hellebori albi (obs. 182). — 13. Perlarum matura-
tionis historia (obs. 183). — 14. Uterus ex difficili partu perruptus
(obs. 254. Eine Beobachtung des Prager Arztes Dr. S i m o n A 1. T u d e-
cius de Monte Galea). — Endlich kommen im dritten Jahrgange
dieser Miscellaneen (Lipsiae et Francofurti 1681) vor: IS. De incre-
mento plantarum et fructuum impedito (obs. 242). — 16. De Haemor-
rhagia Nyctalopiam subsequente (obs. 243).
Als sich in den Jahren 1678 — 80 die verheerende orientalische
Pestseuche neuerdings über Polen und Ungern den Grenzen Böhmens
immer näher und näher zog, sann der vielerfahrene und gelehrte
Dobrzensky auf ein Mittel, durch welches seine Landsleute, und
insbesondere die Priester, Ärzte und andere solche Personen die in
unmittelbaren Verkehr mit Pestkranken zu treten gezwungen sind,
wirksam geschützt würden. Er machte endlich ein solches Vorbau-
ungsmittel in einem besondern Tractat bekannt, den Dobrzensky,
um selbes recht zu verbreiten alsbald in drei Sprachen zugleich
(nämlich böhmisch, deutsch und lateinisch) verfasst hatte. Mir liegen
nur Exemplare der deutschen und lateinischen Ausgabe vor; von der
böhmischen findet sich leider weder in der Prager k. k. Universitäts-
Bibliothek noch in jener des böhm. Museums ein Exemplar vor. Sein
vollständiger Titel ist: Praeservativum universale naturale Augustis-
simo Romanorum Imperatori Leopoldo I. humillime oblatum, sine
pretio pretiosissimum, sine labore facillimum: contra omnem in Aura
serpentem Contagionem, maximorum occasionem Morborum. Natura
stimulante, Sensu obsequente, Experientia observante, Ratione con-
firmante, in artem deductum et pro Bono publico patefactum a Ja-
cobo Joanne Wenceslao Dobrzensky de Nigro Ponte etc.
Excusum Pragae typis Univ. Carolo-Ferdinand. Anno 1679 in kl. 8.
31 Seiten. Mit dem Chronographicon : Anno qVo patrlos affLICta
VIenna pennates | VIDerat, InVIso pestls ab Igne Morl.
Die deutsche Ausgabe dieses Biichelchens lautet: Allgemeines
natürliches Praeservativ- oder Verwahrungs-Mittel wider alle von giff-
tiger Lufft herrührende, höchst gefährliche und gar leichtlich anste-
ckende Seuchen, kunstreich erwogen, und dem gemeinen Nutzen
zum besten eröffnet und mitgetheilt von Jacobo Joanne Wen-
ceslao Do brzensky von Schwarzbruck u. s. w. In Verle-
gung Johann Zieger's, Buchhändler in Nürnberg 1680, 32 Seiten in
kl. 8. — Die böhmische Ausgabe erschien nach unseres berühmten
Beiträge zur Literärgeschichte Böhmens. 101
Jungmanns Angabe unter dem Titel: Wefegnä a prirozenä pi:ed
nemocmi obrana. W Praze u Jana Arnoita 1679, in kl. 8.
In der an den Kaiser L eo p old I. gerichteten Widmungszuschrift
sagt der Verfasser selbst, dieses Büchlein könnte „je eher mit einem
höchst geneigten Auge begünstiget werden, je unfehlbarere und dem
gemeinen Völklein bequemlichere, ohne Schätzbarkeit höchst schätz-
bare und zur Gesundheit trefflich erspriessliche Mittel dasselbe mit-
getheilt." — Nachdem Dobrzensky einen ziemlich weitläufigen phy-
siologisch-diätetischen Excurs über die „nun zuvor unflätige, jetzt aber
höchst nöthige Feuchte des menschlichen Speichels" vorausgeschickt,
kommt er auf das „Object, Gegenwurf und Materi" dieses Büch-
leins selbst. Es dürfte vielleicht nicht am unrechten Orte und für
manchen Leser nicht uninteressant sein, die Worte des Autors getreu
wieder zu vernehmen. Sie lauten:
„Ich habe Vorzeiten selbst unbedachtsam in Gewohnheit gehabt,
und gesehen dass es fast alle Menschen auch also gemachet, und
noch biss auf diese Stunde sich also verhalten, dass sie bei Anschau-
ung eines stinkenden widerwärtigen abscheulichen und unangeneh-
men Dinges, aus keiner andern Anleitung, sondern einig und allein
aus Antrieb der Natur , gleichsam aus Verächtlichkeit auszuspeien
pflegen, dann der Geschmack, so diese auf der Zungen liegende
widerwärtige Feuchtigkeit empfindet, gehorchet aus Beihülffe dess
Speichels der Anreitzung der Natur, damit er alles, was schädlich
ist, durch das Ausspürtzen von sich treibe. Als ich diese Austreibung
der allervorsichtigsten Natur und derselben geleisteten Dienst etwas
tiefsinniger bei mir selbst erwogen, auch hierauf einen Arzt abgege-
ben, unterschiedliche Kranken in ihren Zimmern besuchet und dar-
innen den vielfältigen Gestank verspüret, bin ich endlich aus eige-
ner Erfahrung zur gründlichen Erkanntnüss der auch in diesem Fall
mir willfährigen Natur kommen. Und obschon ich vor Jahren in
Welschland so viele Spithäler und in denselben viel mit der franzö-
sischen Krankheit, Lungensucht, hitzigem Fieber und Blattern Behaff-
tete . . . zum öftern besucht habe, habeich mich doch jederzeit durch
Auswerffung dess Speichels so weit verwahrt, dass ich niemals durch
Gottes sonderbare Gnade bin angestecket worden, ob ich mich gleich
sonst keiner andern natürlich-beispringenden Hülffe bedienet. Dannen-
hero hab' ich angefangen, die Ursachen dieser Beobachtung an den
Tag zu bringen und daraus geschlossen, dass die Natur uns in
152 Dr. Wilhelm Weitenweber.
diesem Fall ein solches Mittel vorgestrecket , vermög dessen ein
Mensch, der sonsten durch die Gnade Gottes wohl disponiret und
unter den Kranken an einem verdächtigen Ort wohnet, so lange er
den Speichel nicht verschlinget, sich vor allen , so viel es möglich,
ansteckenden Krankheiten verwahren möge .... Es sind subtiele
und sehr anhängende Dämpfe, welche gemächlich, ehe man's spüret,
durch den Schlund sich dem Speichel beifügen und den Magen bald
anstecken, ja auch daselbst einwurtzeln, so dass also von deroselben
Vermischung mit dem Blut alles Übel herrühret. Dannenhero dieses
mein letzter und eigendlicher Aussspruch zur allgemeinen Vorbehü-
tung und Verwahrung ist : Wer mit Kranken handelt, sie mögen auch
mit einer Krankheit behafftet sein, wie sie immer wollen, der soll kei-
nes wegs , so lang er mit ihnen umbgeht, den Speichel verschlucken,
sondern allzeit aus dem Munde werffen. Und also gelebe ich der
Hoffnung, dass ein Solcher durch göttlichen Beistand und natürliche
Hülffe von aller sonst gewiss ansteckenden Seuche wird befreyet
bleiben !" —
Als jedoch bald nach Veröffentlichung dieses Gegenstandes
unter anderen Gegnern auch ein gewisser Johann Friedrich von
Rain zu Stermoll undRadelsegkh in einer, auf ganz unwürdige Weise
polemisirenden, von alchymistischen Grillen über den Stein der Wei-
sen angefüllten Schrift den Werth des von Dobrzensky so wohl-
meinend empfohlenen Vorbeugungsmittels bestritt, ja sogar den Ver-
fasser des Verbrechens der verletzten Majestät beschuldigte, — fan-
den sich wieder mehrere gelehrte Männer welche unter verschiede-
nen Pseudonymen die Ansicht Dobrz ens ky's in Schutz nahmen
und jenen eben so unwissenden als frechen Schriftsteller zurecht-
wiesen *). Dass sich übrigens unser auch als ärztlicher Praktiker in
1) Als literarische Belege , wie hitzig- die darüber entbrannte Polemik geführt wurde,
erlaube ich mir nebst der Schrift des Joann es Christian Tral les: De insufficien-
tia salivae pro Praeservativo universali Pestis naturali. Olsn. Siles. 1680 noch einige
Tractate zu nennen. Namentlich: Praeservativum universale naturale a Natura et
Arte depromptum in omni morborum genere est Lapis Philosophorum, cujus possibi-
litas , realitas, existentia et praeparatio , quantum licet, quodque is solus sit unicus
morborum omnium debellator Hercules contra Jacobuni Joan. W. Dobrzensky de Nigro
Ponte . . . remonstratur editore Joanne Friderico a Rain ad Stermoll et Radelsegkh.
— Ferner gehört hieher: Epistola novi praeservativi universalis naturalis, nunciatoria
Criminis Caes. Majestatis laesaeque graviter famae vindicatoria ad praenob. ac excell.
Beiträge zur Literärgeschichle Böhmens. lOo
Prag hochgeachtete Dobrzensky in der wirklich neuerdings aus-
gebrochenen Pestkrankheit durch unermüdlichen Sanitätsdienst und
durch eine, dem damaligen Zustande der ärztlichen Kunst entspre-
chende Behandlung rühmlich hervorgethan, ist mehrseitig bei den
Zeitgenossen sichergestellt. Einige amtliche Daten über die nächst-
folgende Epidemie habe ich in meinen „Mittheilungen über die Pest zu
Prag in den Jahren 1713—1714" (Prag 1852 in 4.) veröffentlicht.
Es wäre an diesem Orte überflüssig, die posthumen Werke des
Dr. Marcus Marci nochmals zu nennen, deren Herausgabe sein
literarischer Erbe Dobrzensky besorgt hat, indem ich dieselben
bereits bei der Schilderung des Erstgenannten (s. oben S. 135 ff.) voll-
ständig aufgezählt habe. Hier kommt nur zu erwähnen : Lachryma
nondum arescens, olim in Liturgia mentis Excell. Viri Joannis
Marci, Viri ob raram in philosophicis, mathematicis, astronomicis,
chymicis, medicis Scientiam, eruditionem et doctrinam, vitae morum-
que probitatem. alias denique praeclaras virtutum dotes toto facile
Terrarum Orbe longe aestumatissimi profusa, nunc denuo grata ejus-
demDilecti Magistrisuiveneratione, bonis omnibusMarcianarum virtu-
tum Admiratoribus ad aeternam memoriam Epicedio encomiastico
exhibita. Pragae typis Georgii Czernoch Anno 1684. in 4.; in wel-
cher Schrift sich Dobrzensky, selbst bereits in höherem Alter
stehend, neuerdings als dankbarer Schüler und Verehrer seines ihm
unvergesslichen Lehrers erwies. Befindet sich in der Prager k. k.
Universitäts-Bibliothek unter der Signatur LH. C. 13.
Dominum Jacobum J. W. Dobrzensky de Nigro Ponte etc. Dominum , Amicum et Pa-
tronum suum Colendissimum. Anno 1681. Am Schlüsse der Schrift die Unterschrift:
Dabam e musaeolo meo Phosphoriburgi ad Solis-vicum 20. Octobr. Anno 1681 Tuus
promptissimus Servus et Fidelissimus amicus Jo a n. V a I en ti n us von Schwar-
tzenwald, M. D. — Bald darnach erschien ebenfalls im Druck : Judicium philoso-
phico-ethico-chymico-medicum de illa Veteri toties jam ventilata et nondum resoluta
controversia: An detur Lapis Philosophorum? Et ejusdem indefinita in Morbis tarn
praeservandis quam curandis Virtus. Leviter mota a praenob. et excell. D. J. J. W.
Dobrzensky de Nigro Ponte etc. . . . acriter defensa a D. Joanne Frid. a Rain etc. . . .
Germane id est candide forma epistolari conscriptum a DidacoGermano, Phil, e
Med. Doctore. Anno Domini 1682. — Im selben Jahre noch: Theatri alehymistico-
medici breve etjucundum spectaculum Agentibus Binis in scenam Personis , medico in
buniilitate Curioso et alchimista in cmiositate Fastuoso ; observantibus Jona Zela-
tore et Lucido Pam philo, curiosis duobus mundi litterarii peregrinis defae-
catae passionis Sapientibus communicatum. Am Schlüsse des in Briefform verfassten
Büchleins: Dabam in via Montis Calvariae , prid. non. Febr. Anni 1682. W.
154 Dr. Wilhelm Weiten web er.
Ferner hatte Dobrzenskyals Anhang zu der, von ihm als posthu-
mes Werk des Marcus Marci herausgegebenen Othosophia seu
Philosophiaimpulsus universalis (s.obenS.137)noch beigefügt :Monita
quaedam medica ad valetudinem conservandam ex familiaribus colloquiis
clarissimi aetate sua medici et Bohemiae Hippocratis Marci Marci
collecta. — Dieser Aufsatz enthält mehrere, auch noch heut zu Tage
beachtens- und beherzigenswerthe , auf reife Erfahrung gegründete
Aussprüche jenes grossen Arztes, echte Monita. So sagt Dobrzensky
unter Anderm : Plurimum Marcus tribuebat Naturae , adeo ut quibus-
dam hac in re nimius videretur; frequenter habebat in ore (quod irri-
debant aemuli) : sinamus agere naturam, illa dabit indicium! adjuve-
mus Naturam e. s. p.
Endlich ist hier noch folgende Inaugural-Dissertation anzuführen,
welche unter Dobrzensky' s Präsidium erschienen ist: Hippo-
crates redivivus seu theses medicae inaugurales. primum quidem prae-
liminaria quaedam antiphysiologica, post ad usum quarundem partium
appertinentia physiologica, demum securiorem medendi methodum et
principia rerum Hippocratica continentes. Sub praesidio J. J. W. Do-
brzensky etc. propugnandas suscepit Joann es Ign. Franc. Voita.
Pragae 1684 in 8. (in der Prager k. k. Univ. -Bibliothek XL VIII.
G. 22).
Akademische Würden, sind unserm Prof. Dr. Dobrzensky
mehrmals übertragen worden, wie aus dem Archive der Prager medici-
nischen Facultät zu ersehen ist. So bekleidete er das medicini-
sche Decanat zu wiederholten Malen, nämlich in den Jahren 1683
und 1684 nach einander; zumUniversitäts-Rector wurde er ebenfalls
zweimal, und zwar am 13. August 1670 und sodann am 8. August
1685 inaugurirt. Weniger hatte ihm die Glücksgöttinn bezüglich der
Erwerbung äusserer Güter zugelächelt, wie überhaupt auch schon im
17. Jahrhundert der Satz: „Dat Galenus opes" keine allgemeine
Geltung gehabt zu haben scheint. Denn wir finden z. B. im gleichzei-
tigen Facultäts-Protokollbuche die keineswegs erhebende Bemerkung,
dass Professor v. Z eidlern die schuldigen, monatlich abzuführen-
den Zinsen von einem aus der Facultätscasse entlehnten Capitale per
200 Gulden nicht bezahlt habe; ferner dass Prof. Dobrzensky
gezwungen gewesen, seine Bücher zeitweise bei den Juden zu ver-
pfänden; endlich dass der Professor Senior Kirchmayer von
Reichwitz nach seinem Tode nicht einmal so viel hinterlassen habe,
Beiträge zur Literärg'eschiclile Böhmens. löO
damit die Facultät dessen Sohne 300 Gulden creditiren konnte! —
Andererseits lesen wir aber dort wieder : Als es sich in der
Facultätssitzung vom 7. September 1685 um die Ausmittelung der
Quelle handelte, aus welcher die im Collegium medicum eben aufzu-
hängenden Bildnisse der kürzlich verstorbenen Professoren Marc i
und Franchimont bezahlt werden sollten, wurde beschlossen,
dass hiezu die Facultätscasse nicht in Anspruch zu nehmen sei,
sondern Prof. Dobrzensky sprach sich dahin aus, das Bildniss
des Marcus, sowie Prof. Low v. Erlsfeld jenes des Franchi-
mont aus Eigenem bestreiten zu wollen.
In Bezug auf Dobrzensky's Nachkommenschaft ersieht
man, in Ermangelung anderer verwandtschaftlicher Quellen
welche mir bekannt geworden , auf eine freilich nur mittelbare
Weise, dass er einen Sohn und eine Tochter gehabt, aus folgenden
Daten:
a) Im gleichzeitigen Protokollbuche der med. Facultät heisst es:
Die 17. Decembris 1685 tentatus est pro gradu Dominus Franc.
Octavianus Dobrzensky a Nigro Ponte, Patricius Pragensis,
cui ob merita Domini „sui parentis", Professoris ordinarii et pro tem-
pore Rectoris Magnifici. taxa absolute fuit condonata, cum hac tarnen
reservatione expressa, ut si in posterum Excell. Domini Senioris Doc-
toris a Zeidlern dominus filius, atque Domini Doctoris Low frater
se ad gradum disponeret, gratia et beneficio ejusdem taxae frui
possint ac queant.
b) In der Sitzung der medic. Facultät am 9. Juli 1694 wurde
dem absolvirten Studiosus der Medicin, Karl Buchmann, die ärzt-
liche Praxis untersagt, ausser wenn er mit seinem „Schwiegervater"
Dr. Dobrzensky ginge; auch wurde derselbe ermahnt, dass er noch
bei Lebzeiten dieses seines Schwiegervaters den Anfang mache mit
der Erlangung des Gradus u. s. w.
In den literarhistorischen Notizen über Dobrzensky fand ich
nirgends seinen Todestag angegeben; nur nach des verdienstvollen
Decans Langswert handschriftlichen Materialien zu einer Ge-
schichte der Prager medic. Facultät soll es der 3. März 1697 sein.
Da aber — wie ich Eingangs erwähnte — sein Geburtsjahr nicht
bekannt ist, so kann man nicht mit Verlässlichkeit berechnen, wie alt
er eigentlich geworden. Das von Langswert angeführte Jahr gewinnt
dadurch an Wahrscheinlichkeit, dass laut dem Protokollbuche die
156 Dr. Wilhelm W ei t en web er. Beiträge zur Literärge'sehichte Böhmens.
medicinischen Professoren am 17. Mai des obgenannten Jahres zu
einer Berathung zusammengetreten waren, welcher von den Compe-
tenten für die erledigte ausserordentliche Lehrkanzel vorzuschlagen
wäre, in dem Falle, dass Prof. Voigt in die Kategorie der ordentli-
chen Professoren vorrücke; man entschied sich für den Excellentis-
simus Dominus Crusius (Krause?).
Verzeich niss der eingegangenen Druckschriften. 157
VERZEICHNIS
DER
EINGEGANGENEN DRUCKSCHRIFTEN.
(JÄNNER.)
Academy of sciences, New-Orleans. Proceedings, Vol. I, Nr. 1.
Agassiz, L., On ichthyological Fauna of the pacific slope of N.
America. (American Journal of science. Ser. 2, Vol. 19.)
— Notice of a collection of fishes from the southern bend of the
Tenessee river. N. Haven 1854; 8°-
— The primitive diversity and number of animals in geological
tiraes. (Ibid. 1854.)
— On extraordinary Fishes from California. (Ibid. 1853.)
Andrae, Karl Just., Bericht über die Ergebnisse geognostischer
Forschungen im Gebiete der 14., 18. und 19. Section der Ge-
neral-Quatiermeisterstabs-Karte von Steiermark etc. (Geolog.
Jahrbuch VI.)
Angius, Vittorio, L'Automa aerio o sviluppo della soluzione del
problema della direzione degli aerostati. Torino 1855; 80,
Baird, Spencer, Report etc. on the fishes of the New-Yersey Coast.
Washington 1855; 8°-
Bizio, G., Risposta alla rettificazione del Prof. Ragazzini. Venezia
1856; So-
Breslau, Universitäts-Schriften 1854.
Capelli, Giov., Osservazioni barometr. Milano 1843; 8°-
Carlini, Osservazioni meteorologiche. Bogen 1 — 49.
Channing, Will., The American fire-alarm telegraph. Washington
1855; 8»'
Cicogna, Eman., Lettera a Fr. Caff intorno alla chiesa die S.
Marco. Venezia 1855; 8°-
158
Verzeichniss der
Cicogna, Osservazioni sul canto 39. di alcune edizioni del Furioso
di L. Ariosto. Venezia 1855; So-
Dana, first Supplement to Mineralogy. (American Journal 1855.)
2 Exempl.
— Crustacea. Atlas. Philadelphia 1853; Fol.
Eisenstein, R. v., Pia desideria für und Neues aus Karlsbad.
(Wochenblatt der Gesellschaft der Ärzte. 1855.)
Gazette, the geographica! and commercial. Vol. I, Nr. 1 — 6. N.
York 1855. Fol.
Gesellschaft, naturforschende, in Basel. Verhandlungen, Heft 2.
Gesellschaft, Senkenbergische, naturforschende. Abhandlungen,
Bd. I, Lief. 2. Frankfurt 1855. 4»-
Gesellschaft, physicalische, in Berlin. Fortschritte der Physik,
Bd. VIII, Abth. 2.
Gesellschaft, Wetterauer, für die gesammte Naturkunde. Jahres-
bericht 1854.
Gesellschaft, physical. -medicin., in Würzburg. Verhandlungen,
Bd. VI, Heft 2.
Hermann, $r. , Ü6er bte ©tteberung ber Setiölferung beä $ömgretd)§
Satern. SHun^en 1855; 4»-
Hessel, J. F. C. , Die Anzahl der Parallelstellungen und jene der
Coincidenzstellungen eines jeden denkbaren Raumdinges mit
seinem Ebenbilde und seinem Gegenbilde, der Regelmässigkeit
des Schwerpunktes. Cassel. (5 Exempl.)
&iibner, Sor. , 58iograpl)tfd)e Qfyaxattmftit üort 3of. äBijjma^r.
SKün^cn 1855; 4<>-
3 a Arbiter; er beg SßereineS für metflenburgtfdje ©efdjidjte. Safyrgang 20.
Äröntg, 5t., Sfteue SMetfyobe jur SBccmctbung imb Sluffmbung ton
3fte#mmggfe$lem. SSertm 1855; 8o-
SotoS, 3at>rg. 1855, ©ejcmbcr.
Marburg, Universitäts-Schriften aus dem Jahre 1853.
Marsh, George, Lecture on the Camel. (Smithson. Instit.)
Miklosich, Fr., Vergleichende Grammatik der slavischen Sprachen.
Bd. 3. Wien 1856; So-
Mo est a, C, Determinacion de la latitud geografica del circulo meri-
diano del Observatorio nacional de Santiago. Santiago 1854; So-
Peters, C. A. F., Bestimmung der Abweichungen des Green wicher
Passagen-Instrum-entes vom Meridiane etc. Danzig 1855; 4°-
eingegangenen Druckschriften. loJ
Plantamour, E. , Resumc meteorolog. de l'annee 1854, pour
Geneve et le Grand S. Bernard. Geneve 1855; 8»-
— Nivellement du Grand S. Bernard. Ibidem 1855; 8°-
Rassunti mensili ed annali delle Osservazioni meteor. di Milano
dal 1763—1840. Milano 1841; 8°-
Deuter, $., Über bte gortfdjtttte ber Seinen - 3nbuftrte in £>ftetretcfy.
2ßten 1855; 8«-
Rossmann, Jul., Beiträge zur Kenntniss der Wasserhahnenfüsse.
Giessen 1854; 4<>-
Russell, Rob., On meteorology. (Smithson. Instit.)
S a u v a g e s de la Croix, Franc., Dissertatio med. atque ludicra d'Amore.
Ed. d'Hombres-Firmas. Alais 1854; 8°-
Schade, Louis, The united states of N. America and the Immigration
since 1790. s. I. et d.
Stephen, Alexander, Observation of the annular eclipse of may 26.
Astron. journ. 74, 77. 1855.
Styterfdj, $rteb. »., Sftebe in ber offentl. (Süsung ber f. Stfabemte ber
SBtffenfc&aften am 28. gKärj 1855. münfym 1855; 4«-
Trask, Joh., Report on the Geology of the coast mountains and
part of the Sierra Nevada. Washington 1854; 8°-
Vereeniging, natuurkundige, in Nederlandsch Indie. Tijdschrift,
Vol. V, afler. 5, 6.
Verein für vaterländ. Naturkunde in Würtemberg. Jahreshefte, XII, 1.
Verein, geognost.-montanist., für Steiermark. Bericht, V.
Verein für meklenburgische Geschichte. Quartalbericht, 20.
Verein, naturforsch., zu Riga. Correspondenzblatt 1854.
Villa, Antonio, Intorno alla malattia delle viti. Milano 1855; 80,
Wheterill, Charles, Description of an Apparatus for organic ana-
lysis by illuminating gas etc. Philadelphia 1854; 80,
— On Adipocire and its formation. Ibid.; 4°*
Wintr ich, Anton, Krit. Beiträge zur medicin. Akustik etc. Erlangen
1855; 4<"
Zeitschrift, österr., für praktische Heilkunde. Jahrgang I. Wien;4°-
Zerrenner, Karl, Einführung, Fortschritt und Jetztstand der
metallurgischen Gasfeuerung im Kaisertimme Österreich. Wien
1856; 4«-
SITZUNGSBERICHTE
DER
KAISERLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE CL ASSE.
XIX. BAND. II. HEFT.
JAHRGANG 1856. — FEBRUAR.
11
163
SITZUNG VOM 13. FEBRUAR 1856.
Über den ziveiten Bericht an S. E. den Herrn Minister des
Innern, über die Literatur im österreichischen Kaiserstaate
im Jahre 1854.
Von dem w. M., Hrn. Regierungsrathe Jos. Chmel.
Regierungsrath C hm e 1 überreicht der Classe im Namen des
Verfassers das so eben erschienene Werk: „Biographisch-statistische
Übersicht der Literatur des österreichischen Kaiserstaates vom
1. Jänner bis 31. December 1854. Zweiter Bericht, erstattet im hohen
Auftrage Sr. Excellenz des Herrn Ministers des Innern Alexander
Freiherrn von Bach etc. von Dr. Constantin Wurzbach von Tan-
nenberg, Vorstand der administrativen Bibliothek des k. k. Ministe-
riums des Innern. Mit 57 Tabellen. Wien. Aus der k. k. Hof- und
Staatsdruckerei. 18o6, XXII und 686 Seiten ingr. 8.
Er begleitet diese Übergabe mit folgenden Worten : „Indem ich
die Ehre habe, ein Exemplar dieses wichtigen Werkes der verehrten
Classe zu überreichen, kann ich nicht unterlassen zugleich die vollste
Anerkennung seines Werthes, ja meine innigste Freude auszuspre-
chen und bin überzeugt die gesaminte Akademie wird sich nach nähe-
rer Einsichtnahme mit mir dahin vereinigen, dass dieser officielle
„Bericht über die österreichische Literatur im Jahre 1854" zu den
dankenswertesten Leistungen auf dem Felde der Statistik gehöre.
Es ist dieses Werk eine Anerkennung der „Wissenschaft
und Kunst" und ihres hohen Werthes, ja ihrer Wichtigkeit,
die eben so überraschend als erfreulich ist.
Dieser Bericht, ein Werk des mühsamsten Fleisses, der umsich-
tigsten bibliographischen Genauigkeit , gibt ein Bild des geistigen
Lebens und Strebens unseres Vaterlandes in so fern es sich durch
11 •
164 Joseph Chmel.
das gedruckte Wort ausspricht, welches, wenn auch vorerst nur
ausser lieh und andeutend, schon das höchste Interesse erregt.
Der Berichterstatter bespricht nach einer orientirenden Einlei-
tung (Seite IX— XXII) in der ersten Abtheilung (Seite 1—67) „die
periodische Presse des österreichischen Kaiserstaates im Jahre
1854 im Allgemeinen, sodann die politischen Journale insbeson-
dere." Acht Tabellen erleichtern die Übersicht. Die zweite Abtheilung
enthält „die Literatur des österreichischen Kaiserstaates nach wissen-
schaftlichen Fächern, die periodischen Fachschriften inbegriffen", in
XX verschiedenen Unterabtheilungen (S. 71—539). In zweiAnhängen
werden erstens die „Übersetzungs-Literatur des Jahres 1854 im Kaiser-
staate mit einer Tabelle der Übersetzungen und Auflagen (S. 541 —
555)," sodann „die österreichische Literatur im Auslande vorzüglich
in Deutschland während der Jahre 1853 und 1854" (S. 559—570)
und zum Schluss höchst interessante Tabellen (S. 571 — 621) mit-
getheilt, deren drei General -Tabelle n und ein und zwanzig Spe-
cial-Tabellen sind, vom höchsten statistischen Interesse. Ein sehr
umständliches und genaues Namen-und Saeh-Register(S. 623 — 685)
erleichtert den Gebrauch dieses vortrefflichen statistischen Werkes.
Der Gedanke, die literarische Thätigkeit des österreichischen
Kaiserstaates nach den vier Hauptnationalitäten und nach wissenschaft-
lichen Fächern übersichtlich vorzuführen und auf diese Weise die
deutschen, slawischen, magyarischen und italienischen
Österreicher sowohl selbst einander erst recht bekannt zu machen,
als auch gegenüber dem Auslande als ein vielgliedriges Ganzes dar-
zustellen, ist ein glücklicher, ein patriotischer, er stammt von unserm
Curator!
DerdeutscheÖs terr eic her wird auf das Nachdrücklichste
gemahnt, das so rege und theilweise wirklich staunenswerthe litera-
rische Streben und geistige Leben seiner italienischen, magyarischen
und slawischen Brüder nicht blos zu beachten, sondern sich auch in
den Stand zu setzen, diese Literaturen gründlich zu verstehen: auf
der andern Seite müssen eben diese nicht deutschen Oster-
reich er sich bewusst werden, dass sie durchihre Gesammt-Einigung
zu erhöhter Bedeutung und Geltung gelangen. Literatur und
Kunst sind ein festes Band das die verschiedenen Nationalitäten
umschlingt, auf der einen Seite zu gegenseitigem Wetteifer
anspornt, aus dem schöne Früchte — eine höhere geistige Thätigkeit,
Über die Literatur im österreichischen Kaiserstaate i. J. 1854. 165
eine grossartigere Ansicht des Lebens und eine innigere Anhäng-
lichkeit an das theuere Vaterland — entspringen, und auf der andern
Seite die wechselseitige Hochachtung erzeugt, welche mit der
Zeit zur innigen Neigung wird.
Darum Ehre und Dank dem erleuchteten Manne, der auf Lite-
ratur und Kunst solch* hohen Werth legt, und sich gründlichen
und umfassenden Bericht erstatten lässt über Wachsthum und sicht-
liches Gedeihen derselben !
Ich erlaube mir, an diese Worte des Dankes und der Anerken-
nung im Interesse der vaterländischen Geschichte, besonders der
Literatur- und Cult Urgeschichte, einige fromme Wünsche
anzuknüpfen, welche sich bei genauer Durchsicht dieses „Berichtes"
gleichsam mir aufdrängten.
Erstens — möchte doch ein kritisches Journal mit zurei-
chenden Mitteln, nach grossartigstem Massstabe , redigirt durch ein
Redactions-Comite, in dem alle wissenschaftlichen Fächer
vertreten wären, ins Leben gerufen werden.
Kr i t i k ist einer heranstrebenden jungen Literatur, und das ist
die österreichische als eine Gesammt-Literatur , vorzugsweise nöthig.
Bei so vielen bedeutenden wissenschaftlichen Kräften welche
insbesonders an unseren regenerirten Lehranstalten wirken, wäre
die Zustandebringung eines solchen kritischen Cen tra 1 blattes
durch Zusammenwirken mehrerer hoher Ministerien wohl zu erreichen.
Zweitens — möchten aber, so wünsche ich, auch über die frü-
here vaterländische Literatur ähnliche literarische Übersichten und
kritische Nachweisungen geliefert werden, wenigstens über die
Literatur seit 1800 und etwa nach wissenschaftlichen Fächern. Die
österreichischeßibliographie wurde leider stark vernach-
lässigt, es wären da Arbeiten von grossem Werthe — noch ins Leben
zu rufen. Ohne höhere Unterstützung, ja ohne höhere Aufforderung,
ohne förmlichen Auftrag werden wir gewisse unentbehrliche litera-
rische Hilfsmittel noch lange schmerzlich entbehren müssen.
Hr. Dr. Gindely legt vor „neu aufgefundene Quellen zur
Geschichte der böhmischen Brüder"., welche der historischen Com-
mission zur Prüfung und weiteren Bestimmung zugewiesen werden.
166 Dr. Karl Scherzer
SITZUNG VOM 20. FEBRUAR 1856.
Gelesen:
Über die handschriftlichen Werke des Padre Francisco Ximenez
in der Universitäts-Bibliothek zu Guatemala.
Von Dr. Karl Scherz er.
Seit der Zeit, wo der grosse Columbus zum ersten Male an der
Ostküste des central-amerikanischen Continents landete und die alte
Welt mit einer neuen beschenkte, bat sich unsere Kunde von der
älteren Geschichte der braunen Bewohner dieses wundervollen Erd-
striches nur wenig geklärt. Noch heute hört man Forscher und
wissbegierige Reisende die Frage stellen: Waren die ersten
Bewohner Amerika's Autochthonen, oder kamen sie aus anderen
Himmelsgegenden eingewandert? Diese alten Baudenkmale in den
Urwäldern von Honduras, Guatemala, Yucatan und Mexico, welche
selbst noch in ihren Trümmern die Spuren einer aufkeimenden Kunst
verrathen, sind sie die Werke derselben braunen Race welche noch
gegenwärtig das Land bevölkert, oder gehören sie einem ver-
schwundenen Geschlechte an?
Da die Eingebomen niemals eine Schriftsprache besassen und
ihre Geschichte und Überlieferungen nur durch Auswendiglernen
der wichtigsten Begebenheiten, sowie durch eine höchst mangelhafte
Bilderschrift vor Vergessenheit zu bewahren verstanden, so bleibt
der Forscher in dem Studium der älteren Geschichte Central-
Amerika's und seiner räthselhaften Bewohner mit wenigen Aus-
nahmen auf die Mittheilungen jener spanischen Mönche angewiesen,
welche die ersten Eroberer auf ihren abenteuerlichen Zügen beglei-
teten und die sich später in den verschiedenen Theilen des
erworbenen Landes als Missionäre und Klosterbrüder niederliessen.
Über die handschriftlichen Werke des Padre Francisco Ximenez etc. 167
Leider liefern die sogenannten „historiadores primitivos," von
denen Gonzales Barcia im Jahre 1749 in Madrid eine Gesammt-
ausgabe in drei Foliobänden veranstaltete J). nur wenig Material zur
Kenntniss der vor-columbischen Geschichte und des Ursprunges der
Bewohner Central-Amerika's. Zugleich herrscht in den wenigen noch
bestehenden Böchersammlungen der neu-spanischen Republiken ein
auffallend grosser Mangel an sonstigen Handschriften und noch
unbenutzten Documenten. In keinem der bedeutenderen Wohnsitze
in den Staaten Costa Rica, Nicaragua, Honduras und San Salvador
fand ich auch nur Eine einzige werthvolle, auf die ältere Geschichte
des Landes Bezug habende Urkunde. Bei der grossen Schreibseligkeit
der Mönche des 16. Jahrhunderts ist dieser Mangel an handschrift-
lichen Werken kaum anders als durch den Umstand zu erklären, dass
im Laufe der verschiedenen Revolutionen welche die Republiken
Central-Amerika's seit ihrer definitiven Losreissung vom Mutterlande
im Jahre 1823 durchzumachen hatten , eine grosse Zahl von Urkunden
und Manuscripten theils gänzlich verloren ging, theils aus dem
Lande geführt wurde. Als im Jahre 1829 nach Aufhebung der
Klöster durch General Morazan viele dieser stattlichen Räumlichkeiten
eine Umstaltung in Casernen und Gefängnisse erlitten, sollen ganze
Ladungen von Rüchern und alten Manuscripten aus ihren früheren
Standorten entfernt und vielfach zur Anfertigung von Patronenhülsen
verwendet worden sein.
Andere antiquarische Schätze wanderten nach Havana, Madrid,
Toledo und Sevilla, wohin sie expulsirte Mönche und flüchtige
Anhänger der spanischen Krone in Sicherheit zu bringen suchten.
Auch nach Mexico sind viele werthvolle Urkunden während der
kurzen Herrschaft des Kaisers Iturbide (1822 — 1823J verschleppt
worden. Der einzige Ort Central-Amerika's, wo der Forscher
noch einzelnen wichtigen Handschriften und seltenen Documenten
begegnet, ist Guatemala, die Hauptstadt der gleichnamigen Republik.
Ich benützte die Regenzeit des Jahres 1854, während welcher
gewöhnlich alle Arten von Reisen und Ausflügen zu naturwissen-
schaftlichen Zwecken unterbleiben rnjüssen, um in den verschiedenen
') Historiadores primitivos de las Indias occidentales que junto, traduxo en parte y sacö
ä luz, ilustrados con eruditas notas y copiosos indices el II. Senor D. Andres Gonzales
Barcia, del Consejo y camara de Su Majestad. 3 tomos. Madrid, aflo MDCCXL1X,
1 68 Dr. Karl Scherzer.
Kloster-Bibliotheken Guatemala's nach Werken zu forschen , welche
die ältere Geschichte Central-Ameiika s behandeln. Es herrscht in den-
selben eine bedauernswerthe Unordnung. Der dermalige Präsident von
Guatemala, der frühere Indianer- Häuptling Rafael Carrera, hat
zwar vor wenigen Jahren die sämmtlichen, seit dem Jahre 1829
expulsirt gewesenen Ordensgeistlichen zurückberufen; er war aber
nicht im Stande, ihnen gleichzeitig auch die von der Morazan'schen
Regierung weggenommenen und veräusserten Kirchengüter wieder
zu erstatten, und so leben selbst die wenigen Mönche die sich seither
neuerdings in der Hauptstadt eingefunden, in der grossten Dürftig-
keit und scheinen, gedrückt von Sorgen aller Art, bisher noch
nicht Müsse gefunden zu haben, sich um das Ordnen und Prüfen
auch der wenigen, der Zerstörung und Verstreuung entgangenen
Manuscripte und Bücher zu kümmern. In der kleinen Bibliothek
der Municipalität fand ich nebst einer Anzahl von Briefen der ersten
Eroberer das Original von Bernal Diaz de CastihVs „Conquista de
Nueva Espana", welche derselbe am 14. November 1605 in Guate-
mala vollendete, sowie die Handschrift von Fuentes de Guzman's
„Historia de Guatemala". Von letzterem Werke wird so eben durch
einen sehr verdienstvollen Arzt und Forscher Guatemala's, den
Dr. Mariano Padilla, eine Übertragung des Manuscriptes in das
moderne Spanische veranstaltet. Auch die Universitäts -Bibliothek
besitzt nur wenige werthvolle ältere Geschichtsurkunden. Der
interessanteste antiquarische Schatz dieser im Allgemeinen sehr
mangelhaften Büchersammlung sind unstreitig die Handschriften des
Dominicaner-Mönches P. Francisco Ximenez, welcher zu Anfang des
vorigen Jahrhunderts als Pfarrer in dem kleinen Indianerdorfe
Chichicastenango im Hochlande von Guatemala lebte und durch seine
tiefe Gelehrsamkeit wie durch seine strenge Wahrheitsliebe in
grossem Rufe und Ansehen stand. Über seine Geburt wie sein
Sterbejahr gibt es nur ungewisse Angaben. An seinen Werken fehlen
häufig Titel und einzelne Blätter, so dass man sogar über den
Zeitpunct ihrer Entstehung im Unklaren wäre, wenn der Autor nicht
selbst im Laufe seines Geschichtswerkes erzählt hätte, dass es um
das Jahr 1721 war, als er seine Geschichte der Provinz von Chiapa
und Guatemala schrieb. Geraume Zeit wurden die Werke dieses
edlen Mannes welcher sich in eben so würdiger, als rücksichtsloser
Sprache über die von den ersten Eroberern und ihren Nachfolgern
Über die handschriftlichen Werks des Padre Francisco Ximenez etc. 169
an den armen Indianern verübten Grausamkeiten äusserte und sich
nicht scheute, die Unmöglichkeit einer Bekehrung der Eingehornen
durch Schwert und Brandmal offen darzustellen, sogar für gänzlich
verloren gehalten. Man vermuthete nämlich, die spanischen Macht-
haber, getroffen durch den herben Ton, in dem sich Ximenez über
die blutigen Gewalttätigkeiten der verschiedenen Statthalter der
Colonien aussprach, hätten dieselben absichtlich unterdrücken und
vernichten lassen. Glücklicherweise sind sie unter dem Staube der
Vergessenheit im Dominicanerkloster zu Guatemala einer solchen
brutalen Zerstörung entgangen, und als später die sämmtlichen
geistlichen Orden aufgehoben wurden, gelangten einzelne Bände der
Ximenez'schen Manuscripte nach der Universitäts- Bibliothek. Dort
fand ich sie unter anderen Handschriften im Monate Juni 1854. Die-
selben sind nicht vollständig; es fehlt der 2. und 4. Band der Samm-
lung, welche trotz meiner eifrigsten Nachforschungen in den
verschiedenen Conventen der Hauptstadt nicht aufgefunden werden
konnten. Aber selbst die vorhandenen Bände der Manuscripte des
gelehrten Dominicaner- Mönches wurden bisher in Guatemala nur
wenig beachtet. Ein Hauptgrund davon mag allerdings in der sehr
schwer leserlichen , gebleichten Schrift liegen, welche das Studium
der Ximenez'schen Werke äusserst mühsam und augenfeindlich
macht. Ausserhalb Guatemala hingegen sind diese Manuscripte bisher
nur durch einzelne dürftige Auszüge bekannt geworden, welche
Ramon de Ordoilez in seiner „Historia del cielo y de la tierra" daraus
veröffentlichte, und von ihrem Vorhandensein in der Universitäts-
Bibliothek zu Guatemala scheint seltsamer Weise keiner der heutigen
Forscher central-amerikanischer Geschichte unterrichtet gewesen zu
sein. So z. B. spricht noch im October 1850 der Altertumsforscher
Abbe Brasseur de Bourbourg in einem Schreiben aus Mexico an
seinen Mäcen, den Herzog von Valmy in Paris, sein Bedauern darüber
aus, dass die Werke des P. Francisco Ximenez niemals veröffentlicht
wurden *)> und gibt darin sogar der Befürchtung Raum, dass dieselben
*) „Le pere Francisco Ximenez, provincial de l'ordre de St. Dominique, dans la province
de Guatemala et Cliiapa, a compose une histoire ancienne de ces contrees, demeuree
manuscrite et entiereraent inconnue." Lettres pour servir d'introduction a
l'hisloire primitive desnaüons civilisees de I'Amerique septentrionale adressees ä Mr. le
duc de Valmy par Mr. L'abbe E. Charles Brasseur de Bourbourg'. Mexitjue, Oct. 1830.
170
Dr. Karl Scherzei
für die Wissenschaft verloren sein dürften. Es hatte also auch
dieser gründliche Gelehrte keine Ahnung, dass sich die Ximenez1-
schen Manuscripte in Guatemala befinden, obwohl sich derselbe
mehre Jahre lang zu wissenschaftlichen Zwecken in dem benach-
harten Mexico aufhielt, das mit der Hauptstadt von Guatemala einen
regelmässigen Verkehr unterhält. — Je fühlbarer sich aber der
Mangel an Materialien zur Kenntniss der älteren Geschichte der ersten
Bevölkerer Central-Amerika's herausstellt, einen desto grösseren
Werth erhält das wenige noch Vorhandene, um so wichtiger erscheint
es, Alles darauf Bezug habende zu sammeln und durch Veröffentli-
chung vor Verlust oder allmählicher Uubrauchbarkeit zu sichern. —
Dieses Gefühl hat auch mich geleitet, als ich mich zur Durchsicht
der Ximenez'schen Manuscripte entschloss. Ich will mir durchaus
nicht die Ehre anmassen, diese interessanten Urkunden aufgefunden zu
haben, aber das Verdienst glaube ich ohne Unbescheidenheit an-
sprechen zu dürfen, der Erste gewesen zu sein, welcher die Auf-
merksamkeit der gelehrten Welt auf die Ximenez'schen Manuscripte
in der Bibliothek zu Guatemala richtete und deren theilweise Druck-
legung anregte.
Eine vollkommene Abschrift derselben lag ausser dem Bereiche
meiner Mittel, noch schien es mir von besonderem Wert he für die
Wissenschaft : denn nach der Weise der geistlichen Geschieht-*
schreiber des vorigen Jahrhunderts hat auch Ximenez vielfach die
gewöhnlichsten Ereignisse sehr weitläufig behandelt und mit der
Beschreibung der unbedeutendsten Geschehnisse oft viele Folioseiten
angefüllt. Dagegen habe ich von Allem was sich auf die ältere
Geschichte des Landes und den Ursprung seiner Bewohner bezieht,
theils selbst Auszüge gemacht, theils durch einen gebildeten Neu-
spanier vollständige Abschriften anfertigen lassen. Meine mehrfachen
Versuche, die in den verschiedenen Büchersammlungen von Guatemala
vorhandenen Wörterbücher der Quiche-, Cacchiquel- und Sutujil-
Sprache käuflich an mich zu bringen, blieben zu meinem grossen
Bedauern erfolglos, obwohl dieses Geschäft unter den günstigsten
Umständen für ihre Besitzer geschlossen werden sollte. Ich machte
nämlich de.i Antrag, bei meiner Bückkehr nach Europa die Druck-
legung der angekauften indianischen Wörterbücher veranlassen,
und davon eine angemessene Anzahl gedruckter Exemplare den
Missionären zur leichteren Erlangung der für ihre frommen Zwecke
Über die handschriftlichen Werke des Padre Francisco Ximenez etc. 171
so hochwichtigen Kenntniss der indianischen Sprache unentgeltlich
überlassen zu wollen.
Die von mir vorgefundenen Handschriften des Padre Francisco
Ximenez zerfallen in drei verschiedene Theile. Ein Band davon lie-
fert auf 1031 enggeschriebenen Seiten ein Bruchstück der Geschichte
der Provinz SanVicente de Cbiapa und Guatemala; derselbe beginnt
mit dem vierten Buche und der Beschreibung der Ereignisse im Laufe
des Jahres 1601 und endet mit dein fünften Buche und dem 86. Capitel,
welches noch die Vorgänge des Jahres 1698 in sich schliesst. Aus
verschiedenen Andeutungen des Autors geht hervor, dass dies der
dritte Band seiner Werke ist und dass man 1721 schrieb, als er die
247. Blattseite desselben vollendete. Der vorhergehende Band dieses
interessanten Manuskriptes ist leider in der Universitäts-Bibliothek
nicht vorbanden. Eben so wenig ist es bekannt, ob der folgende Band
dieses Geschichtswerkes, der mit den Begebnissen des Jahres 1691)
beginnen sollte, und auf welchen Ximenez am Ende des dritten Bandes
in einem eigenen Epilog anspielt '), von demselben jemals begonnen
und vollendet worden ist. — Ein zweites Manuscript von Ximenez
umfasst auf 286 Blättern in Gross-Octav ein Wörterbuch der Quiche-
und Cacchiquel-Spraehe. Es fehlen an diesem Manuscripte Titel und
Jahrzahl. Der Inhalt hingegen ist vollständig, sowie diese Hand-
schrift überhaupt von allen vorhandenen Werken des P. Ximenez das
am besten erhaltene ist. Die indianischen Worte sind mit rother, die
spanischen daneben mit schwarzer Tinte geschrieben, was das ganze
Werk besonders deutlich macht. Ein Copiren dieses Wörterbuches
würde gleichwohl eine gründlichere Kenntniss der beiden indianischen
Idiome vorausgesetzt haben, als irgend einer der spanischen Ab-
kömmlinge Guatemala's besitzt.
Von nicht minderem Interesse für die Forschung erschien mir
derjenige Theil der Manuscripte, welcher in Einem Bande die nach-
l) „Y asi pondremos im ;! aquesto, rendiendo a Dios las gracias que despues de tantos
trabajos de mar y tierra nie ha dado vida para concluir aqueste libro y aqueste
tercer tomo, suplicando a su infinita bondad me la conceda si ha de ser por su
Sto- Servicio y por su honor gloria para escribir el libro qne falta que
comprehendera desde el ano de 1699 por dar prineipio a el con la eleceion de
Provincial auevo como he hecbo en los demas hasta el tiempo que alcanzare,
que es de los tiempos mas calamitosos que ha experimentado aqueste Reyno como
se vera de hombres, p est es, guerras con «j ue ha ngostado la Divina Justicia
aqueste Reyno. Vol. III, fol. SIS.
172
Dr. Karl Scherzer.
folgenden Abhandlungen theils sprachlichen, theils religiösen, theils
geschichtlichen Inhalts umfasst:
1. Arte de las tres lenguas cacchiquel, quiche y yutuhil (Sutujil).
2. Tratado segvndo de todo Io que debe saber vn ministro para la
bvena administracion de estos naturales.
3. Respuesta del Padre Alonzo de Novena, Prior Provincial de esta
Provincia (a quien como ä oraculo consultaban todos en sus
mayores dudas) ddo. Guatemala, 25 Febrero 1580, ä algunas
cuestiones del Fray Ferrano, vicario de Tecutzitlan en la pro-
vincia de Mexico, ddo. 1. Septiembre 1570, sobre diversas
dudas en respeto de confesar ä los indios.
4. Confesionario en las tres lenguas cacchiquel, quiche y yutuhil
con unas Advertencias.
5. Catezismo de Indios.
6. Empiezan las historias del origen de los Indios de esta provincia
de Guatemala, traducido de la lengua Quiche en la castellana
para mas comodidad de los ministros de el St. Evangelio; nebst
einem Anhange: Escolios a las historias de el origen de los
indios, escoliadas para mayor noticia a los ministros de las cosas
de los indios.
Diese letzte Abhandlung, eine Übersetzung des Ursprungs der
Indianer von Guatemala aus dar Quiche-Sprache ist es, von welcher
ich während meiner Anwesenheit in Guatemala eine vollständige Ab-
schrift anfertigen Hess. Dieses interessante Document umfasst 56 eng-
geschriebene Blätter oder 112 Folioseiten und ist mit so bleicher Tinte
geschrieben, dass das Original schon in wenigen Jahren völlig unleser-
lich und unbrauchbar werden dürfte. Ich glaube mich hier um so mehr
auf die Aufzählung der Hauptmomente der Quiche-Chronik beschrän-
ken zu können, als durch die Munificenz der kaiserl. Akademie der
Wissenschaften die Herausgabe des spanischen Originales seinem
ganzen Umfange nach als selbstständiges Werk ermöglicht wurde.
Die Erschaffung der Welt geschah nach der indianischen
Schöpfungssage nicht durch Einen , sondern durch mehrere Schöpfer
(criadores y formadores). In Finsterniss und Nacht erschienen Tepeu
und Qucumatz und beriethen mitHuracan (Geist des Himmels), Cuculha
huracan (grosser Strahl) und Chipa cacullia (grüner Strahl) das Werk
der Schöpfung. Zuerst entstand die Erde, die Berge und die
Ebenen, sodann wurden die Löwen und die Tiger, die Schlangen und
Über die handschriftlichen Werke des Padre Francisco Xirnenez etc. 173
Nattern , die Hirsche (venado) und die Vögel erschaffen und ihnen
ihre Wohnorte angewiesen. „Du Hirsch, wirst in den Niederungen
und in den Schluchten schlafen; dort wirst Du unter den Sträuchen
und Gräsern hausen; in den Bergen wirst Du dicli vermehren, auf
vier Füssen wirst Du gehen und mit vier Füssen geboren werden ;
und Ihr, Vögel, gross und klein, Ihr werdet auf Bäumen und
Gesträuchen Eure Wohnsitze aufschlagen und Euch daselbst ver-
mehren und Euch schwingen auf den Zweigen der Gewächse!"
Hierauf verlangten die Schöpfer, dass die Thiere zu ihnen reden und
sie als Gottheiten verehren sollten. Und da sie nicht wie Menschen
sprachen, sondern blos zu schreien (chillar) und krähen (cacarear)
vermochten, wurden sie wieder vernichtet und die Schöpfer schufen
andere Menschen aus Korkholz und das Weib aus dem Pollen der
Schwertlilie; und sie vermehrten sich und hatten Söhne und Töchter.
Aber sie hatten kein Herz, und keinen Verstand, und erinnerten sich
nicht ihrer Schöpfer; sie hatten weder Blut noch Schweiss (sudor),
noch Fleisch; trocken und fahl waren ihre Wangen, dürr und gelb
Füsse, Hände und Gesicht; und es waren viele und sie verbrei-
teten sich über die Erde. Auch an ihnen fanden die Schöpfer kein
Wohlgefallen und vernichteten und tödteten sie durch eine gewaltige
Wasserfluth, und verwandelten sie zur dauernden Erinnerung in Affen.
„Und darum gleicht der Affe der heute in den Urwäldern Guaternala's
haust, dem Menschen, weil er das Bild einer andern Gattung von
Menschen aus Holz ist."
Noch herrschte wenig Helle (poca claridad) auf der Erde, noch
hatte man nicht erblickt das Gesicht der Sonne, des Mondes und der
Sterne; da übernahm sich, geblendet durch den Glanz seiner Schätze
und seiner Reichthümer, einer der Götter, Vucub caquix (sieben Arasse)
und glaubte Sonne und Mond ersetzen und wie diese leuchten zu
können. Sein Hochmuth (soberbia) wird aber bald durch die List
zweier anderer Götter, Hun-ahpu (Jäger) und Xbalamque (Tiger und
Hirsch) bitter bestraft. Wir hören nun in sehr weitläufiger Weise die
Versuchungen erzählen, welche mehrere Götter von Hun-came und
Vucub-came, den Fürsten der Hölle (los Senores de ei infierno), zu
bestehen haben. Zwei der ersterenHun-hun-ahpu und Vucub-hun-ahpu,
die Väter des Menschengeschlechtes, werden auf die seltsamste Weise
in die Hölle gelockt. Auf ihren Wanderungen gelangen sie auf einen
Kreuzweg (encrucijada), von dem vier verschiedene Wege auslaufen :
1 74 Dr. Karl Scherzer.
ein rother, ein schwarzer, ein weisser und ein gelbfarbener Weg.
Und als sie dies stutzig macht, spricht der schwarze Weg zu ihnen :
„Mich habt Ihr zu nehmen, denn ich bin der Weg der Fürsten (de los
Senores)"; und auf diese Weise werden sie irregeführt, und dem
Wege folgend kommen sie zu den Thronen der Fürsten der Hölle.
Hier haben nun beide die seltsamsten Prüfungen zu überstehen.
Höchst bizarr ist die Beschreibung welche die indianische Chronik
von der Hölle gibt. Viel und mannigfaltig sind die Züchtigungen in
diesem Schauerorte. Es gibt daselbst ein Haus (casa) der Finsterniss,
ein Haus, wo unerträgliche Kälte herrscht (de intolerable e insoportable
frio), ein Haus der Tiger, dessen büssende Bewohner von diesen
Urwaldbestien zerdrückt und zerfleischt werden; ein anderes Haus
voll von Fledermäusen, die hässlich schreien und wild herumfliegen,
ohne einen Ausgang finden zu können; endlich ein Haus voll Messer -
scheiden (Solen vagina?), die sich fortwährend eine mit der
andern reiben und dadurch einen markdurchdringenden Lärm hervor-
bringen. Zuerst kommen die beiden verirrten Götter in das Haus
der Finsterniss und erhalten ein Stück Fichtenholz (ocote) und
Cigarren. Sie sollen auf Befehl der Fürsten der Hölle das Fichten-
holz verbrennen und die Cigarren rauchen, gleichwohl aber beides
unversehrt am nächsten Morgen wieder zurückstellen. Da sie dieses
Gebot nicht zu erfüllen im Stande sind, so müssen sie sterben.
Hun-hun-ahpu wird der Kopf abgeschnitten und auf Befehl der
Fürsten der Hölle auf die Gabel (porcon) eines Holzpfahles (palo)
am Wege gesteckt. Und hierauf fängt der dürre Stock plötzlich an
eine Frucht zu tragen, die man heutzutage Hicaro (Crescentia) nennt
und in die sich zum grossen Erstaunen der Fürsten der Hölle
der Kopf Hun-hun-ahpu's verwandelt hatte.
Eine fast poetische Episode wird jetzt in die bisher ziemlich
prosaische Erzählung verweben : Ein junges Mädchen, Namens Xquic
(Blut), die Tochter eines mächtigen Fürsten, der Cuchumaquic(sangre
Junta) hiess, hatte von der wunderbaren Verwandlung des Kopfes von
Hun-hun-ahpu in die Frucht des Hicarobaumes vernommen und trug
grosses Verlangen, diese Erscheinung zu sehen. Da wandelte sie allein
zum Baume und stellte sich unter denselben und rief erstaunt aus:
„Welche schöne herrliche Früchte! Wohl werde ich nicht sterben noch
zu Grunde gehen, wenn ich eine dieser Früchte pflücke." Und nun ent-
spinnt sich ein Zweigespräch zwischen dem Mädchen und dem in einen
Über die handschriftlichen Werke des .Padre Francisco Ximenez elc. j 75
Kürbiss verwandelten Kopf Hun-hun-ahpu1s; und die Jungfrau streckt
den rechten Arm nach der Frucht aus und es träufelt vom Lehenssafte
des Kürbisses in die Flache ihrer Hand und sie empfängt und wird
die schmerzensreiche Mutter vonHun-ahpu und Xbalamque, die, in der
Einsamkeit der Berge aufwachsend, später als die Rächer ihrer
ermordeten Väter die Fürsten der Hölle besiegen. Und nach dieser
glorreichen That erheben sie sich in den Himmel, und einer von
beiden wird in die Sonne, der andere in den Mond, und die 400
Gefährten ihrer Thaten werden in Sterne am Firmament verwandelt.
Die Quiche-Chronik aber lehrt uns weiter, wie hierauf Tepeu und
Qucumatz verschiedene neue Schöpfungsversuche anstellen, bis endlich
die ersten Menschen aus gelben und weissen Maiskolben geformt
werden.
Die Namen der ersten vier Menschen die weder Vater noch
Mutter hatten, noch von einem Weibe geboren waren, sondern wie
durch ein Wunder von Tepeu und Qucumatz, den Schöpfern und
Gestaltern, erschaffen wurden, hiessen : Balamquitze, Balam-acab,
Mahucutah und Yquibalam. Es waren gute und schöne Menschen die
sprechen, sehen, hören, gehen, fühlen und athmen konnten. Und
gleichsam als wären Tepeu und Qucumatz selbst über die Vollkom-
menheit ihrer Schöpfung überrascht gewesen, begannen sie nun die
ersten Menschen zu fragen : „Hört Ihr, seht Ihr, vermögt Ihr zu gehen
und zu sprechen? Könnt Ihr deutlich wahrnehmen die Berge und die
Ebenen?" Und die ersten Menschen konnten von einem Puncte aus
alles sehen, was sieh auf der Erde befand und bewegte, ohne erst
ihren Standort verändern zu müssen, und sie ergossen sich in laute
Danksagungen gegen ihre Schöpfer und Gestalter, dass dieselben sie
zu Menschen geschatfen , und ihnen Mund und Fleisch gegeben, dass
sie sprechen und hören, gehen und sich bewegen konnten, Geschmack
hatten und alles wussten und zu sehen vermochten, das Entfernte wie
das Nahe, in allen vier Winkeln des Himmels und der Erde (hasta
los cuatro rincones de el cielo y de la tierra), ja sogar was sich im
Innern des Himmels und der Erde befand.
Und es schien den Schöpfern nicht gerathen, dass ihre Creaturen
alles wussten und sahen, was im Himmel und auf der Erde vorging,
und die Gottheiten beriethen sich von Neuem und fragten: „Was
machen wir wohl mit diesen Geschöpfen, dass sie blos sehen, was
nahe ist und ihre Augen blos einen Theil vom Gesichte der Erde
176 Dr- Karl Scherzer.
wahrnehmen? Oder wären sie vielleicht nicht blos irdische Ge-
schöpfe, sondern wohl gar auch Götter, wie wir? Sollten wir alle
gleich, sollte alles was wir wissen und sehen, Gemeingut sein?" Und
hierauf beschlossen die Götter in anderer Weise über die Geschöpfe.
Und sofort wurde den allzu vollkommen geschaffenen Wesen
durch den Geist des Himmels (el corazon del cielo) ein Dunst in
die Äugen gehaucht, und es verdunkelte und schwächte sich ihr
Sehvermögen, als hätte man ihnen Marienglas in das Gesicht gebla-
sen; sie konnten von nun an nur mehr die nahen Gegenstände wahr-
nehmen und nur diese erschienen ihnen jetzt klar und deutlich. Und
während sie schliefen, erhielten hierauf die ersten vier Menschen
ihre Gefährtinnen; Caha-paluma war die Frau des Balamquitze,
Chomiha die Frau des Balam-acab, Tzununiha die Frau des Mahu-
cutah und Caquixaha die Frau des Yquibalam. Und diese waren die
Stammältern der Quiche's, welche die kleinen und grossen Dörfer
bevölkerten. Aber es gab nächst ihnen noch viele andere Mächtige
und Grosse, als sich das Geschlecht der Quiche's vermehrte, dort im
Osten (allä en el Oriente) und sie Messen : Tepeu, Oliman , Cohah,
Quenech, Ahan, Tanub und llocab. Der erste Mensch, Balamquitze,
wurde der Stammvater von den neun grossen Häusern (casas grandes)
der Caviquib; der zweite Mensch, Balam-acab, wurde der Stamm-
vater von den neun grossan Häusern der Nihaibab; und der dritte
Mensch, Mahu-cutah, wurde der Stammvater von den vier grossen
Häusern der Ahan-quiche. Der vierte Mensch, Yquibalam, scheint
keine Geschlechtsfolge hinterlassen zu haben, wenigstens geschieht
davon in der Quiche-Chronik keinerlei Erwähnung. Ja, durch den
Umstand, dass schon die Nachkommenschaft des dritten Menschen
bedeutend weniger zahlreich war, als die des ersten und zweiten,
gewinnt es fast den Anschein, als würde die Erschaffung von vier
Menschenpaaren zu gleicher Zeit selbst für Gottheiten eine zu ge-
waltige Aufgabe gewesen sein, und als wären die heidnischen Götter
allmählich in ihrer Schöpfungskraft erlahmt.
Tanub und llocab, erzählt die Chronik weiter, kamen mit
13 Familien aus dem Osten, und es verlor sich nicht Ein Name ihrer
Väter. Diese dreizehn Familien waren die Zweige von dreizehn
Völkerschaften und ihre Namen Messen : Rabinal, Cacehiqueles,
Ahquiquinaha, Sacabib, Maquib, Cumatz, Cuhalha-Vchabaha, Ahcha-
milaha, Ahquibaha, Abatenaba-Aculvinac, Balamiha, Canchaheleb,
Über die handschriftlichen Werke des Padre Francisco Ximenez etc. 177
Balam-colob. Und gross war die Zahl derer die mit jeder einzelnen
dieser Familien auszogen. Die Chronik bemerkt, dass die Völker damals
noch keine Götzen aus Holz und Stein besassen, sondern ihre Blicke
gegen Himmel wandten, wenn sie um Söhne und Töchter, um gute,
breite Wege, um Frieden und ein ruhiges Leben (vida sosiegada)
baten. In ihren Drangsalen hören wir sie den Geist des Himmels
und der Erde und eine grosse Zahl anderer idealer Gottheiten
anrufen, denen sie allen dieselbe Macht und dieselben Eigenschaften
beizulegen scheinen. — Leider widerspricht sich die Chronik häufig
und kehrt sich nicht viel nach Ordnung und Zeit in der Aufzählung
der Begebenheiten. Während z. B. erst Hun-hun-ahpu und Vucub-
ahpu, nachdem sie die Fürsten der Hölle besiegt hatten, sich in Sonne
und Mond und ihre 400 treuen Gefährten in eben so viele Sterne
verwandelten, erfahren wir plötzlich wieder, dass es noch immer
dunkel auf der Erde ist und die Völkerschaften fortwährend sehn-
suchtsvoll den Aufgang der Sonne erwarten. Ein einziger grosser
Stern (un gran lujero) erleuchtet den Himmel und die Erde und
verkündigt das Nahen des Tagesgestirns.
Die indianische Schöpfungsgeschichte scheint die Erschaffung
der Sonne von der Verleihung ihrer leuchtenden Eigenschaft zu
trennen, und in zwei verschiedene Zeiträume zu verlegen. Wenn
man dies annimmt, und sich die Sonne, den Mond und die Sterne
vorerst nur als dunkle Körper vorstellt, denen erst später die Fähig-
keit zu leuchten verliehen ward, so erscheint der anfängliche
Widerspruch allerdings gehoben.
Die vier ersten Menschen verfügten sich mit ihren Familien
nach einem Berge, Tulanzü (sieben Höhlen) genannt, um von dort ihre
Götter zu holen (ä traer los idolos). Gross war ihre Freude, als
sie fanden, was sie suchten, und Balamquitze nahm die Gottheit
Tohil, Balam-acab die Gottheit Avilix, Mahucutah die Gottheit
Hacavitz und Yquibalam trug das Idol Nicahtaha. Und als sie
von Tulanzu zurückkehrten, fänden sie plötzlich die Sprache der
verschiedenen Völkerschaften geändert und sie verstanden sich nicht
mehr und theilten sich. Einige zogen wieder zurück nach dem
Osten, aber Viele wanderten nach dem Westen und kleideten sich
blos in Thierfelle (pieles de animales) und waren arm und besassen
nichts, und hatten kein Feuer, und klagten ihrer Gottheit, dass sie
vor Kälte sterben müssten. Da erbarmte sich ihrer Tohil und gab
Sitzh. d. phil.-bist. Cl. XIX. Bd. II. Hit. 12
178 Dr. Karl Scherzer.
ihnen das Feuer. Es wird nun des Weitläufigen berichtet, wie ein
heftiger Regen (im grande aguacero) und Hagelschlag das Feuer
wieder auslöschte und die Völker von Neuem froren und zitterten vor
Kälte, und Tohil wiederholt um Hilfe anriefen und um Feuer baten.
Der Götze gewährt ihnen auch diesmal die Bitte, verlangt aber jetzt,
dass sie ihm Blut von ihrem Körper und Tabak opfern, und ohne
seine Zustimmung keiner andern Völkerschaft von ihrem Feuer
geben sollen. Tohil fordert zugleich Balamquitze und die Seinen
auf, ihm zu folgen und den Ort aufzusuchen, wo sie sich nieder-
zulassen haben (donde nos hemos de plantar). Er befiehlt ihnen
weiter, sich die äussersten Enden der Ohren und die Ellbogen zu
durchstechen und ihm auf diese Weise ihre Erkenntlichkeit zu
bezeugen. Und sie thaten, wie ihnen Tohil befahl, und gedachten in
ihrem Gesänge ihrer Rückkehr von Tulanzü, und ihr Herz weinte, als
sie weiterziehen und Tulanzü verlassen mussten.
Und als sie in ihren Wanderungen endlich auf einen Berg
kamen, versammelten sich alle die Häuptlinge derQuiches und berie-
then und beschlossen unter einander und legten jedem Stamme
einen Namen bei; und darum heisst dieser Ort der Berg des Gebotes
oder der Verheissung (el cerro de el mandato 6 aviso). Und jetzt
sprachen die drei Gottheiten : Tohil, Avilix und Hacavitz (über deren
Wesen und Gestalt uns die »Chronik noch immer im Unklaren lässt)
zu den vier Stammvätern: „Lasst uns weiter ziehen, hier kann nicht
unseres Verbleibens sein, bringt uns an heimlichen, verborgenen
Orten in Sicherheit, damit wir nicht durch unsere Feinde aufgefun-
den und gefangen genommen werden, denn die Sonne ist nahe ihrem
Aufgang!"
Und jeder der Stammväter nahm hierauf seine Gottheit und
trug sie nach irgend einem einsamen Punct, in eine Schlucht, in
einen Wald oder auf eine Bergeshöhe, und erwartete dort mit ihr
das Erscheinen des Tagesgestirns. Und als sie endlich den Stern in
vollem Glänze aufgehen sahen, welcher der Himmelskönigin!! wie der
Ceremonienmeister einer irdischen Majestät vorauszugehen pflegt, da
verbrannten sie Copal (Rhus copallinum), eine Art Weihrauch, den
sie vom Osten mitgebracht hatten, und sangen und tanzten dazu, den
Körper gegen Osten gekehrt (bailando häcia el Oriente), woher
sie kamen, und weinten vor Freude. Und den geliebten und köst-
lichen Weihrauch (el amado y precioso incienso), den Balamquitze
Über die handschriftlichen Werke <les Padre Francisco Ximenez etc. 1 f 9
mit sich führte, nannten sie Mix tampon, und jenen von Balamb-acab :
Cavitztampon, und jenen von Mahucutah nannten sie Cah avipon.
Und als endlich die Sonne aufstieg, wie ein Mensch, jubelten
Völker und Thiere, die Löwen und die Tiger fingen in ihrer Weise
zujauchzen an, der Adler breitete behaglich seine Fittige aus, die
Vögel begannen zu singen; und der erste Vogel der sang, hiess
Queletza. Nun trocknete auch die Oberfläche der Erde die bis
zum Aufgange der Sonne feucht und sumpfig war, und die Gottheiten
der Quiche's: Tonil, Avilix und Hacavitz, so wie die andern Idole:
der Löwe, der Tiger, die Giffnatter, die Schlange, der Kobold
(el duende), wurden durch den Einfluss der Sonnenwärme zu Stein.
Der Gesang den die Volksstämme jetzt anstimmten, hiess Cumanü;
in demselben trauerten sie um ihre Verwandten und Brüder welche sie
in Tulanzü zurückgelassen, sowie über den Stamm Tepeu Oliman,
der im Osten geblieben war, woher sie kamen, und gross war ihr
Schmerz und ihr Kummer über diese Abwesenden.
Die Chronik erzählt uns ferner, wie sich sodann die vier Stamm-
väter nach den Orten begaben, wo ihre Idole verborgen waren, und
dieselben nun in der Gestalt von Jünglingen (asemejaban mancebos)
in porösen Stein verwandelt fanden. Und als die Stammväter vor dem
Idol Tohil Wurzeln (ra-chac-noh) verbrannt und die Blätter einer
Palmenart (pericon) geopfert hatten, da sprach die Gottheit zu ihnen,
obwohl aus Stein, wie durch ein Wunder und gab ihnen Bath und
Gebote. Bei dieser Gelegenheit sehen wir die Gottheiten oder viel-
mehr die heidnischen Priester bereits viel anmassender und begehr-
licher auftreten. Sie verlangen jetzt von den Völkerschaften, dass
man ihnen nicht blos wie bisher Blätter und Gräser darbringen,
sondern das Weibliche des Wildes (venado) und der Vögel opfern
solle. Und als sie den Mund der steinernen Gottheilen mit dem Blute
der geopferten Thiere tränkten, fingen die Gottheiten zu sprechen an.
Die Völkerschaften hatten zu jener Zeit noch keine festen
Wohnsitze, sondern lebten in den Wäldern in grosser Noth und
Dürftigkeit und nährten sich nur von Pferdefliegen und Wespen
(solo comian labanos y abispas). Und sie durchstachen sich die
Ohren und die Ellbogen und betünchten sich mit ihrem Blute und
träuften es in den Mund ihrer Gottheiten, und diese gaben ihnen
dafür eine Thierhaut (pazilizib) und Blut aus ihren Schultern zum
Salben. — Die verschiedenen Völkerschaften scheinen nicht lange
12*
180 Dr. Karl Scherzer.
in Frieden mit einander gelebt zu haben. Die Chronik die uns über
so Vieles im Dunkel lässt, gibt zwar auch hier keine bestimmte Ursache
des Zerwürfnisses an; allein nach einer kurzen Episode, in welcher
die Versuchung der Idole derQuiche's (vermuthlich auf Veranlassung
eines feindlichen Stammes), während sie sich baden, durch zwei
schöne Jungfrauen (hermosas doncellas) erzählt wird, erfahren wir,
dass sich die vier Stammväter mit ihren Anhängern, mit Weibern
und Kindern auf dem Berge Hacavitz befestigt hatten, und mit Pfeilen
und Schildern wohl bewaffnet waren. Bei dieser Gelegenheit spricht
die Chronik zum ersten Male von „Soldaten und Krie-
gern" und dass auch die Frauen an den Kämpfen Theil
nahmen (y sus mujeres tambien fueron matadoras); das Ende
dieses Krieges aber ist, dass sämmtliche feindliche Völker von den
vier Stammvätern unterworfen und statt der Todesstrafe für immer
dienstpflichtig gemacht wurden (aunque erais dignos de muerte,
solo sereis tributarios para siempre, les fue dicho).
Bald nach diesen wichtigen Vorgängen überkommt die vier
Stammväter des Quiehe-Geschlechtes der Tod. Sie wissen, dass sie
sterben werden, obwohl sie weder krank noch leidend sind, und
benachrichtigen davon ihre Kinder. Zwei Söhne hatte Balamquitze:
Gocaib und Gocabib, welche zugleich die Ahnen sind des Stammes
der Caviquib; und eben so» viele Söhne hatte Balam-acab, nämlich:
Goacul und Goacutec, die Stammväter der Nihaibab; Mahucutah hin-
gegen hatte nur Einen Sohn: Gohaan. Der vierte Mensch aber
scheint keine Kinder gehabt zu haben und ohne Nachkommenschaft
gestorben zu sein. Und als Balamquitze sterbend von den Seinen
Abschied nahm, sagte er, dass er in das Land zurückkehre, woher er
gekommen, und empfahl ihnen seiner und ihrer Heimath zu geden-
ken. Er Hess ihnen zu seinem Gedächtnisse ein verhülltes Kleinod
(envoltorio) zurück, das in der Chronik leider nicht näher beschrie-
ben, sondern wovon blos gesagt wird, dass es von Allen hoch in
Ehren gehalten wurde. Die vier ersten Stammväter aber, die von
der andern Seite des Meeres, von Osten kamen (que vinieron de la
otra parte de el mar, del Oriente), wurden nach ihrem Tode
„Bespetados y acatados" genannt.
DreiSöhnederStammältern: Gocaib, Goacutec und Gohaan kehren
bald darauf, ohne dass ein specieller Grund dafür angegeben wird,
in die Heimath ihrer Väter jenseits des Meeres nach
Über die handschriftlichen Werke des Padre Francisco Ximenez etc. 181
dem Osten zurück. Die Chronik, sonst so weitläufig in Beschrei-
bungen, ist äusserst lückenhaft in der Schilderung des früheren Vater-
landes. Wir erfahren blos, dass im Osten ein grosser und mächtiger
Herrscher thronte, der Nacxit hiess, und dass die dahin Ausgezoge-
nen, als sie in hohemAHer zum zweitenMale nach ihren neuen Wohn-
sitzen zurückkamen, aus der alten Heimath ihre Priester, ihre Gesetze,
ihre Götzen, Bilderschrift und Malerei mitbrachten.
Rasch und riesig muss nun die Bevölkerung zugenommen haben;
denn wir hören, dass bald nicht mehr die Berge zu zählen waren,
auf denen sich die Völkerschaften niedergelassen hatten (no eran
contables los cerros quehabitaron). Das erste Dorf, das sie gründeten,
hiess (wahrscheinlich zu Ehren ihres Götzen) Hacavitz, das zweite
Chiquix (Dorn), das dritte Chicha, das vierte Humetaha, das fünfte
Culba, das sechste Ravinal u. s. w. Ein anderer Volksstamm Hess sich
auf dem Hügel Chi-izmachi nieder,, und errichtete daselbst Gebäude
aus festem Material (de cal y canto). Es gab damals nur drei grosse
Häuser in Izmachi: Caviquib, Nihaibab und Ahan-quiche, und es
herrschte weder Neid noch Klage, sondern blos Ruhe und Herzens-
friede unter den Völkern.
Da geschah es, dass die Könige Cotuha und Yztayul durch das
Volk der Ilocab bekriegt wurden, welche den Stamm der Quiche's
vernichten und allein herrschen wollten (lo que querian, era acabar
con los quiches, f que ellos solos reynaron). Es entspann sich ein
langer blutiger Krieg, in welchem die Quiche's einen glänzenden Sieg
davontrugen, und damit den Grundstein zur ferneren Macht und Grösse
ihres Reiches legten. Zum ersten Male werden bei diesen Käm-
pfen die Kr iegs gefangenen zu Sclaven gemacht, und ein-
zelne von ihnen vor dem Idol geopfert; der Berg Izmachi wird jetzt
von den Quiche's befestigt, und der Götze Tohil von nun an in der
Stadt selbst gehütet. Gewaltig war die Furcht der grossen und
kleinen Völkerstämme vor den Quiche's, als sie ihre Gefangenen zu
Sclaven machen, sie tödten und der Gottheit opfern sahen.
Die Herrschaft der Quiche's dehnte sich von dieser Zeit an immer
mehr aus; Bevölkerung, Macht und Ansehen nahm immer mehr zu,
und die drei grossen Häuser, aus denen anfänglich das Reich bestand,
wurden auf 24 grosse Häuser (casas grandes) vermehrt. Diese neue
Eintheilung welche in dem Orte Cumarcaah geschah, wird von der
Chronik sehr umständlich geschildert. Die dabei erwählten Fürsten
182 Dr. Karl Scherzer.
und Grossen wurden von den Vasallen hoch geehrt und geliebt. Sie
brauchten nicht zu arbeiten, noch ihre Wohnsitze zu bauen, noch der
Gottheit ihren Tempel zu errichten; alle diese Geschäfte und noch
viel mehrthaten für sie die Vasallen. Man legte ihnen zuweilen sogar
übernatürliche Eigenschaften bei. So scheint wenigstens aus einer
Legende hervorzugehen, welche die Chronik von einem der Könige,
Namens Qucumatz (grosse Schlange) erzählt, der sieben Tage lang
im Himmel verweilte, und eben so lange in der Hölle blieb, bald sich
in eine Schlange verwandelte, und bald in einen Adler, bald in einen
Tiger, und bald wieder in Blut (sangre coajada), und durch diese
wunderlichen Metamorphosen selbst unter den Mächtigen des Reiches
einen gewaltigen Schrecken verbreitete, und sich zu hohem Ansehen
verhalf.
In der sechsten Generation, unter der Herrschaft von Zacquicab
und Cavizimah, fand zum ersten Male eine Theilung des Reiches
Statt. Dieselbe scheint gleichwohl nicht friedlicher, sondern gewalt-
samer Natur gewesen zu sein. Wenigstens hören wir bald darauf,
dass mehrere Völkerschaften (parcialidades) welche keinen Tribut
mehr bezahlen wollten, von den sie verfolgenden Soldaten unterworfen,
zu Sclaven gemacht, gefoltert, gepeinigt (flechados) und
machtlos über die Erde zerstreut wurden , „wie der Blitz sich zer-
theilt, der in den Stein fährt, um ihn zu zersprengen". ■ — -Zugleich
tauchen jetzt in der Chronik Namen von D ö r f e r n auf, welche
noch heut zu Tage b est eh en , und wenn schon im traurigsten
Verfall, noch bis zur Stunde den Schauplatz illustriren, auf dem sich
die von der Chronik erzählten Ereignisse zugetragen haben. Wir
begegnen Namen, wie Chuuila •) — dasselbe Dorf, wo zu Anfang des
18. Jahrhunderts Pater Ximenez als geistlicher Seelsorger lebte, und
die vorliegende Chronik niederschrieb,— Rabinal, Tzacualpa, Totoni-
capam, Quesaltenango, Guatemala, Momostenango u.s. w. ; sämmtlich
Orte die noch heute von den Quichestämmen bewohnt werden , und
mehr'oder minder dem classischen Boden der alten Indianergeschichte
angehören. Auch gewahren wir jetzt, wie mit der zunehmenden
Macht und dem steigenden Einflüsse des Reiches allmählich auch die
inneren Zustände geordneter und consolidirter werden ; politische
x) Abkürzung für Ch i e h ic as t en a n go , ein Dorf in den Altos von Guatemala.
Über die handschriftlichen Werke des Padre Francisco Ximenez etc. 18 t»
Institutionen treten ins Leben, und die erst noch zerfahrenen, wohn-
sitzlosen Völkerschaften gewähren bald den erfreulichen Anblick eines
sich bildenden Staatsorganismus. Auf dem Berge Xlbalax-xecamac
halten jetzt die Fürsten und Grossen ihre Berathungen, und wählen
Versammlungen (juntas) die über das Wohl des Reiches zu wachen
haben; zugleich werden Hauptleute und Anführer ernannt, Festungen
zum Schutze gegen auswärtige Feinde errichtet, Krieger in die
bedrohtesten Puncte vertheilt, Spione und Wachen ausgeschickt, und
die Gottheiten durch Erbauung von eigenen Gebäuden (edificiosj zu
ehren gesucht 1).
Auch erscheinen jetzt mehrere Fürsten (Qucumatz, Cotuha,
Quicab, Cavizimah) zum ersten Male als Wahr sa ger (adi-
vinos y naguales) , denen Vergangenes und Zukünftiges gegenwärtig
ist, und die Krieg und Noth, Seuche und Hunger vorherzusagen
vermögen. Die Chronik erzählt uns, dass sie ihre Weisheit aus einem
Buche schöpften, das sie „libro de todu," oder auch „libro del
comun" nannten, von dem jedoch nicht weiter mehr die Rede
ist, und das, wenn es überhaupt jemals existirthat, jedenfalls ver-
loren gegangen ist. Auch der heidnische Cultus nimmt nun mit der
politischen Gestaltung und Entwickelung des Reiches einen mehr posi-
tiven Charakter an. Die Gottheiten und ihre Priester scheinen sich
nicht länger mehr blos mit Geschenken von Blumen und Früchten
und dem zeitweiligen Tödten von Kriegsgefangenen begnügen zu
wollen. Sie verlangen einen mehr thätigen Antheil jedes Einzelnen,
eine Art persönlichen Opferns durch alle Arten von Entsagungen
und Entbehrungen. Lange andauernde Fasten (ayunos) wurden ein-
geführt, während welcher Kleine und Grosse (chicos y grandes)
voll Zerknirschung vor dem Idol niederstürzten (se quebrantaban
delante de el idolo) und ihr Herzensanliegen ausschütteten. Es waren
stets entweder Neun, Dreizehn oder Siebz ehn, welche fasteten,
Weihrauch verbrannten, oder sich demüthig vor dem Idole auf die
Erde warfen. ' Ihre Bitten betrafen hauptsächlich eine zahlreiche
Nachkommenschaft, reichliche Nahrung, Gesundheit und Beschützung
vor körperlichen Unfällen. Wahrend dieser Bussfeste die zu gewissen
*) Wir hören hei dieser Gelegenheit auch von einer neuen Gottheit : Tzutuha , die
sich in Catuhaha befand, und aus einem gewöhnlichen Stein bestand, dein Fürsten
und Vasallen vor allen anderen Gottheiten zuerst ihre Opfer darbrachten.
1 84 »r. Karl Scherzer.
Zeiten wiederkehrten, nährten sich die Völker fast ausschliesslich
nur von Früchten (zabotes, matazanos, jocotes), trennten sich
von ihren Frauen, und brachten Tage und Nächte mit Beten,
Schreien, Weinen und dem Verbrennen von Weihrauch im Hause des
Idoles zu. —
Wir sind jetzt am Ende der Chronik angelangt. Dieselbe schliesst
mit einem Verzeichnisse der Geschlechter welche in Quiche von der
Gründung des Reiches an durch die vier Stammväter Balam-quitze,
Balam-acab, Mahucutah und Yquibalam zu jener Zeit, als Sonne,
Mond und Sterne zu leuchten anfingen, regiert haben. Nach diesem
Register herrschte das 12. Königsgeschlecht der Quiche's, als Pedro
Alvarado das Land bekriegte. Nach der Ankunft der Spanier (lo24)
regierten nur mehr zwei Könige : Tecum Tepepul, welcher bereits
den Eroberern Tribut zahlen musste, und hierauf dessen Söhne Julius
Rojas und Julius Cortes, welche von den Eroberern getauft, und
denen zugleich mit dem christlichen Act die Namen ihrer siegenden
Feinde beigelegt worden waren.
Der Quiche-Chronik sind vom Autor zum besseren Verständniss
derselben Scholien beigefügt, welche, mit theilweiser Benützung
einer gleichfalls sehr geschätzten Handschrift des Augustiner Mönchs
Fray Geronimo Roman, höchst werthvolle Mittheilungen über die Ge-
schlechtsfolge der Könige, die religiösen Sitten und die gesellschaft-
lichen Zustände im alten Quiche-Reiche liefern, und in denen zugleich
in kurzen aber kräftigen Zügen das träge, misstrauische, zähe Wesen
der Indianer geschildert wird. Mit Recht nennt sie Ximenez ein Volk
voll Widersprüchen, das die härtesten Arbeiten verrichtet und doch
wieder den höchsten Grad von Faulheit zeigt; das über alle Massen
gefrässig ist und gleichwohl eine bewundernswürdige Enthaltsamkeit
besitzt; ein Volk endlich, welches mit natürlichen Gütern gesegnet,
dennoch im erbärmlichsten Zustande lebt. Der Reiche wie der Arme,
der Cazike wie der niedrigste Indianer besitzen ganz dieselben üblen
und guten Eigenschaften, sie sind alle gleich in Allem, Alle nur Ein
Indianer. Ihr ganzes Wesen ist das von Kindern, und darum sollten
sie auch nur wie solche beurtheilt und behandelt werden. Wohl
Vielen, meint Ximenez, werden diese Historien blos als Kinder-
geschichten erscheinen, die weder Fuss noch Kopf haben; allein für
den beschränkten Verstand des Indianers sind dieselben eben so viele
Wahrheiten als für den Katholiken die Lehren des heil. Evangeliums,
Über die handschriftlichen Werke des Padre Francisco Ximenez etc. 1 Oö
und eine genaue Kenntniss dieser Traditionen dürfte daher manchen
neuen Ausschluss geben über die Bildungsstufe und den Charakter
dieses räthselhaften Volkes. Den dämonischen Samen des Irrglaubens,
welcher in der Brust des Indianers so unausrottbare Wurzeln geschla-
gen hat, vergleicht der geistliche Autor mit den Quecken im Wein-
berge. Wie der Winzer oft genug gethan zu haben glaubt, wenn er
die sichtbaren Theüe dieses Unkrauts vernichtet und sich nicht weiter
um die Schösslinge kümmert, Welche im Verborgenen fortwuchern,
eben so betrachten auch Viele diese indianischen Sagen blos als
bizarre, sinnlose Gebilde einer verschrobenen Phantasie und halten
es nicht der Mühe werth, tiefer einzugehen in deren heidnischen
Ursprung und die Wurzel des Irrglaubens auszurotten , welcher die-
selben entsprossen. Ximenez klagt über den gänzlichen Mangel
an gedruckten Werken welche die katholische Glaubenslehre in
indianischer Sprache behandeln, und wie selbst die wenigen, von
frommen Vätern im Indianischen geschriebenen Wörterbücher und
Katechismen niemals durch den Druck veröffentlicht worden sind. Der-
selbe rügt strenge die Rathschläge einflussreicher Personen, wodurch
sich die damalige spanische Regierung bestimmen Hess, den Religions-
unterricht der Indianerin der spanischen Sprache zu verordnen, welche
diese nur wenig verstanden, noch, bei ihrer gründlichen Abneigung
gegen Alles was spanisch ist, sich Mühe gaben sie zu verstehen und
daher die ihnen beigebrachten Glaubenssätze trotz der gewaltigsten
Bemühungen von Seite der Missionäre nur wie „Papageien" ohne
alles Verständniss wiederholten.
Die Aufgabe des Ximenez'schen Werkes bestand hauptsächlich
darin, die ältere Geschichte der Indianer von Guatemala nach münd-
lichen Überlieferungen und bildlichen Darstellungen in der Quiche-
Sprache niederzuschreiben, dieselbe in die castilianische zu über-
setzen und dabei die verschiedenen Irrthümer aufzudecken, von
welchen dieses Volk in seinem heidnischen Zustande befangen war
und an denen es noch bis zur Stunde festhält. Indem der ehrwürdige
Autor sich bemühte, die spanischen Mönche und Missionäre mit den
Traditionen und Sagen der ersten Bewohner Central -Amerika's
gründlicher wie bisher bekannt zu machen, hoffte derselbe, dass
eine genauere Kenntniss des Irrglaubens, der Vorurtheile, der
Gebräuche und Institutionen dieses seltsamen Volkes ihre frommen
Bestrebungen wesentlich fördern und dazu beitragen würde, dass
186 Dr. KarlScherzer. Über die handschriftl. Werke des P. Francisco Ximenez.
es fortan nicht blos getaufte, sondern auch bekehrte Indianer
gebe.
Während nun die Ximenez'sche Übersetzung der indianischen
Chronik dem eigentlichen Zwecke, zu dem sie unternommen worden,
vollkommen entspricht, bietet dieselbe zugleich dem Forscher unserer
Tage eine grosse Zahl höchst interessanter Mittheilungen über die
Urrace von Central-Amerika, welche zu manchen neuen Speculationen
und Folgerungen Anlass geben dürften. Aus diesem Grunde schien
es mir von Wichtigkeit, diese Handschrift aus der Nacht der Ver-
gessenheit in der Universitäts-Bibliothek zu Guatemala ans Licht der
Öffentlichkeit zu ziehen und sie zum Gemeingut der Wissenschaft
zu machen. Und darum wage ich auch für den soeben unter der
Ägide der kaiser!. Akademie der Wissenschaften im Druck veröffent-
lichten spanischen Originaltext die Theilnahme und das Wohlwollen
aller Freunde amerikanischer Forschung zu hoffen.
Karl Stiigmann. Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. 1 ö 7
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich.
(Eine historische Alihandlung'.)
Von Karl Stögmann.
Die vorliegende Abhandlung hat sich die Aufgabe gestellt, eine
nähere Untersuchung einzuleiten über die Art und Weise, wie Kärn-
ten dem Länderverbande der österreichischen Monarchie einverleibt
worden. Denn wenn auch vielleicht dem ersten Anscheine nach diese
Frage als eine gelöste betrachtet werden könnte, so wird ein näheres
Eingehen in dieselbe dennoch zeigen, dass hiernochmanchesUnklare
zu beleuchten, Unrichtiges zu widerlegen, Unbekanntes zu ergänzen
übrig geblieben. Versuchen wir es vorerst nur einmal, die verbrei-
tetsten Ansichten über diese Frage mit wenig Worten zusammenzu-
fassen, so können wir die allgemeine Auffassung beiläufig in folgender
Weise bezeichnen:
Kärnten befand sich unter denjenigen Ländern die Ottokar
während der Wirren des Interregnums unrechtmässig an sich gebracht,
und deren Herausgabe an das Reich durch Rudolf von Habsburg von
ihm erzwungen worden. Rudolf verlieh hierauf im Jahre 1282 seinen
Söhnen mit den babenbergischen Lehen auch Kärnten. Allein
Albrecht und Rudolf gaben das Land sofort an den Vater zurück, mit
der Ritte, den Grafen Meinhart von Tirol damit zu belehnen. Rudolf
erfüllt dies Begehren, jedoch mit dem Bedinge, dass Kärnten nach
Aussterben des Meinharts'chen Mannsstammes wieder an das Haus Habs-
burg zurückfallen müsse. Als nun im Jahre 1335 dieser Fall mit dem
Tode Heinrich's von Kärnten wirklich eintrat, fiel das Land in Folge
des geschlossenen Vertrages an Österreich, was auch Kaiser Ludwig
durch die den österreichischen Fürsten ertheilte Belehnung bestätigte.
Ans dieser Darstellung treten nun vorzüglich zwei Puncte her-
vor, die einer genauen Prüfung unterzogen werden müssen. Erstens :
Wie steht es eigentlich um die Belehnung von 1282? Hat sie über-
haupt stattgefunden oder unter welchen Modificationen? Dann zwei-
tens : Ist es zu erweisen, dass Budolf von Habsburg oder sein Sohn
Albrecht mit Meinhart von Tirol einen derartigen Vertrag abge-
schlossen habe, der dem Hause Habsburg ein Rückfallsrecht auf
188 Karl Stögmann.
Kärnten einräumte? Sind einmal diese beiden Puncte erledigt, so
schliesst sich daran wie von selbst die Frage: In welcher Art und
Weise erfolgte endlich die Erwerbung Kärntens für Österreich?
Die vorliegende Schrift soll nun in ihrem ersten Theile die bei-
den ersten angeregten Fragen beantworten; in ihrem zweiten Theile
aber der dritten Frage durch eine genaue auf Quellen und Urkunden
gestützte geschichtliche Darstellung wo möglich Genüge leisten.
I.
Es hat besonders in der älteren österreichischen Geschichts-
literatur nicht an vereinzelten Stimmen gefehlt, die die Belehnung
der habsburgischen Fürsten mit Kärnten im Jahre 1282 in Zweifel
zogen. So brachte schon Pesler in seiner tüchtigen Schrift „Series
ducum Karinthiae" 1740 mehrere Gründe vor, die ihm dagegen zu
sprechen schienen, wagte es jedoch nicht, etwas Bestimmtes hierüber
auszusprechen. Der gelehrte C alles aber und Kurz in seiner Schrift
„Österreich unter Ottokar und Albrecht," ignorirten die fragliche Beleh-
nung völlig, ohne sich auf einen weiteren Beweis darüber einzulassen.
Dagegen versuchte esLamb acher in seinem Werke über das öster-
reichische Interregnum, die Wirklichkeit der Belehnung zu erweisen.
Ihm fielen SchrÖtter, Fröhlich im „Specimen Archontologiae
Karinthiae" bei, und beinahe die ganze neuere Geschichtschreibung hat
sich zu derselben Meinung bekannt. So Mailäth, soLichnowsky;
so Böhmer in seinen Regesten und Kopp im ersten Bande seiner
Geschichte der eidgenössischen Bünde. Andererseits hat wieder ein in
neuester Zeit erschienenes Werk : Hagen's „deutsche Geschichte,
1854" sich in ganz entgegengesetzter Weise ausgesprochen.
Es sind vorzüglich zwei Gründe welche die neueren Historiker
zur Annahme der Belehnung von 1282 bewogen haben. Sie berufen
sich nämlich auf zwei Urkunden, in denen von dieser Belehnung aus-
drücklich die Rede ist. Die erste Urkunde ist. der Belehnungsbrief
Rudolfs von Habsburg für Meinhart von Tirol vom Jahre 1286 i);
die zweite, der Willebrief Kurfürst Albrecht's von Sachsen zur
l) Die Wichtigkeit der Urkunde und die Ungenauigkeit des einzigen Abdruckes in Ger-
bert's Codex epistolaris mögen es rechtfertigen, dass ich in dem Anhange einen neuen
Abdruck dieses Actenstückes beifüge.
Über die Vereinigung' Kärntens mit Österreich. 189
Belehnung Meinhart's mit Kärnten J). Die hieher bezügliche Stelle
aus der ersten Urkunde lautet:
„Noverit presens etas et futuri temporis successiva posteritas,
qaod Illustres Albertus et Rudolfus , Duces .... apud Augustam in
nostra presentia constituti Celsitudini nostre devotis precibus instite-
runt, quatenus Principatum sive Ducatum terre Karinthie, quo ipsos
jam dudum cum ceteris Ducatibus videlicet Austrie
et Stirie supradictis de con sensu principum .... i n-
vestivisse recolligimus in Augusta, in manus nostras libere
resignatum spectabili viro Meinhardo .... conferre .... et ipsum
de eo sollempniter investire dignaremur."
In dem Willebriefe des Kurfürsten von Sachsen heisst es:
„Quia igitur illustres principes domini Albertus et Rudolfus,
Duces Austrie et Stirie petiverint de nostro beneplacito et consensu
procedi, quod serenissimus .... Romanorum Rex .... Ducatu Ka-
rinthie, quemabeoiidem principes tenent in feodum, ad
resignationem eorum liberam spectabilem Yirum . . . infeodet . . . etc."
In der ersten Urkunde sagt also Kaiser Rudolf ausdrücklich, da^s
er seine Söhne zu Augsburg mit Kärnten belehnt habe, und es lässt
sich gar nicht absehen, warum er dies gesagt haben sollte, wenn
dem nicht wirklich so gewesen wäre. Durch den Willebrief des
Kurfürsten von Sachsen wird diese seine Aussage bestätigt.
Allein es fragt sich nun, ob durch diesen klaren Ausspruch des
Kaisers und des Kurfürsten jede Schwierigkeit in Betreff der Beleh-
nungsfrage beseitigt sei, oder ob ungeachtet des Wortlautes der Ur-
kunden doch noch Bedenklichkeiten obwalten , und ob die Aussage
Kaiser Rudolfs und des Kurfürsten auch durch Quellennachrichten
und Thatsachen bestätigt werde? Ferner, wenn allenfalls die Quellen
schweigen und keine Thatsachen dafür sprechen , wie der Ausspruch
des Kaisers mit der Geschichte in Einklang zu bringen sei? Unter
den Quellen findet sich freilich nur eine einzige die mit Rudolfs Ver-
sicherung übereinstimmt. Es ist dies die „Continuatio Novimonten-
sis", in welcher unter den Ländern, mit denen Rudolf von Habsburg
seine Söhne belehnt, auch Kärnten genannt wird2). Die übrigen
1) Die noch ungedruckte Urkunde folgt im Anhange.
2) Continuat. Novimont. ap. Pertz. Item dominus Rudolfus Roman. Hex ap. Augustam
filiis suis Alberto et Rudolfo terras Austriam, Stiriam, Karinthiam, Marchiam
portus naonis contulit mense Decembri. Von späterer Rand ist beigeschrieben :
190 Karl Stögmann.
Chroniken wissen nichts davon. So nennt das gleichzeitige „Chronicon
Floriacense" Österreich, Steiermark und Krain1). Dasselbe findet
sich in der bis 1281 (1282) reichenden sogenannten goldenen
Chronik2). Das Chronicon Osterhoviense 3) erwähnt die Belehnung
der Herzoge mit Österreich und stellt die Belehnung Meinhart's mit
Kärnten gegenüber. Das Chronicon Claustro-Neoburgense4) nennt
Österreich und Steiermark. Keine der Chroniken die die
Belehnung Meinhart's berichten und die später citirt werden, thut
hiebei eine Erwähnung, dass das Land früher den österreichischen
Herzogen gehört habe. In Ottokar's Reimchronik ist wohl Kärnten
unter den an Albrecht und Rudolf verliehenen Ländern genannt, aber
hier nur durch einen Fehler des Abschreibers der statt Öster-
reich, Kärnten schrieb5). Allein im Ganzen genommen geben
Rudolfiis Roman. Rex de eonsilio et voluntate nobilium, qui aderant, Albertum filium
suiim Ducem Austrie et Stirie constituit.
') Chron. Flor. ap. Rauch. II, pag. 2 IS.
Anno domini in festo Nativitalis domini Rudolfus Rex Curiani Regalein celebravil
Auguste in qua predicto Alberto primogenito suo et Rudolfo fratri suo contulit
Austriam, Stiriara et Carniolara.
-) Hofni. Arch. 1827, Chron. aureuin.
Rudolfus Rex Ronianoriiin filios suos Albertum et Rudolfum Duces facit per Austriam,
Styriam et Carniolam.
*) Chron. Osterhov. ap. Rauch. 1.
Ibi eciam Albertum suum primogenitum de Ducalu Austrie infeodavit
et Meinhardum comitem de Tyrol ducem Rarintbie fecit.
4) Chron. Claustro-Neob.
Rudolfus. Rom. Rex Alberhim filium suum ducem Austrie et Stirie constituit.
5) Es hält nicht schwer, dies zu erweisen, auch wenn man nicht in der Lage ist , die
Handschriften einseben zu können. In dem 200. Capitel der ReimchroniU heisst es:
Ich hau der Sune zwen
Wann dew teilent iren Laut:
Chrain, Chernden und Steyrlanl
•So sol einer Herr werden —
Do sol von Swewischer erden
Der ander Fürst haissen.
In dem vorhergehenden Capitel hat uns der Verfasser seine Absicht angekündigt,
von der Relehnung der Söhne Rudolfs mit Österreich und Schwaben zu sprechen:
Ich wil euch chund machen,
Mit wie getan Sachen
Chunig Rudolf der weis',
Der fürst an hohen preis
Und an wiezen unbetrogen
Sein Sun ze Herczogen
Dacz Osterreich und in Swaben macht.
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. 191
hier die Quellen keinen besondern Ausschlag. Sie sind für diese Zeit
überhaupt nicht sehr ausführlich, sie lassen willkürlich ein oder das
andere Land aus, und wenn eine der Chroniken erst nach 1286 ge-
schrieben wurde, wo Kärnten schon bestimmt nicht mehr den öster-
reichischen Herzogen angehörte, so war es ganz erklärlich, wenn es
Das 200. Capitel führt die Aufschrift:
„Wie Kunig Rudolf die Herrn gepeten hat, daz si seinen Sun zu Herrn in Osterreich
nennen und in Swaben Land."
Nun kömmt aber im ganzen 200. Capitel das Wort „Osterreich" gar nicht vor, und
obwohl Ottokar die Belehnung mit Österreich erzählen will , so n<-nnt er Österreich
doch nicht, unter den verliehenen Ländern. Die ganze Folge der Erzählung ist aber
derart, dass nothwendig Österreich genannt worden sein müsste. Hören wir ferner,
wie Ottokar fortfährt:
Do dew Red hat ain End,
Der Kunig mit siuer Hend
Seinen Sün peiden
Lech unverscheiden
Die Grafschaft und die Lannt
Die Ich vor hau genannt
Die enphingen sie mit Vanen
Der Kunig begund manen
Die herren, daz si swuren
In peiden, ee sie dann furn
Dar geschah nach siner Ret,
Do er daz vollendet het
Dez andern Morgens frue
GreiiF de Kunig darezue
Graf Meinhart von Tyrol
Gen dem er was genaden vol
Den macht er unbetrogen
Dacz Kernden Herczogen.
Otlokar der, nebenbei bemerkt, in diesem Capitel drei der Zeit nach sehr getrennte
Ereignisse zusammengezogen hat, die ßelehnung der Söhne Rudolfs, die Bitte der
österreichischen und steierischen Landesherren, nur einen Herrscher zu erhalten, und
die Belehnung Meinhart's vom Jahre 1286, Ottokar erzählt also hier, dass Kärnten
dem Meinhart von Tirol gegeben worden sei, während er es oben unter den Ländern
genannt hat, die den Söhnen liudolfs verliehen worden. Bei seiner sonstigen Lust an
Breite und Ausführlichkeit der Darstellung wäre es wohl übel angebracht, diesen
Widerspruch aus einem Streben nach Kürze erklären zu wollen. Es ist augenscheinlich,
dass in der erst citirten Stelle anstatt Chernden Osterreich gestanden habe, und der
Irrthum ist entweder durch den Abschreiber veranlasst worden, oder er ist auf Rech-
nung des schlechten Abdruckes zu setzen , den wir von dieser so wichtigen Chronik
leider besitzen. Beweisend für das Gesagte ist auch, dass sowohl Joh. Victoriensis
der den Ottokar benutzte , als auch Hagen der ihn beinahe wörtlich in Prosa übertrug,
Kärnten nicht unter den Lehen der Ib-rzoge Aibrecht und Rudolf aufzählen, wohl aber
Österreich nennen. Die eine der beiden auf der k. k. Hofbibliothek befindlichen Hand-
schriften der Reimchronik hat nun au der bezüglichen Stelle wirklich das Wort Oster-
reich statt kernden.
192 Karl Stögmann.
bei der Aufzählung der den Herzogen verliehenen Länder weg-
blieb.
Allein denjenigen welche die Thatsächlichkeit der Belehnung
von 1282 bestritten, standen andere nicht geringfügige Gründe für
diese Meinung zu Gebote. In dem grossen Belehnungsbriefe für die
Söhne des Kaisers ist Kärnten nicht genannt; auch ein besonderer
Belehnungsbrief für dieses Land ist nicht nachzuweisen. Woher kam
es, dass man es versäumte, den Besitz des Landes für die Herzoge
rechtlich und urkundlich zu sichern? Fragt man nach einem Factum,
aus dem hervorginge, dass die österreichischen Herzoge Kärnten
besessen haben , so lässt sich ein solches nicht aufbringen. In der
ganzen Zeit von 1282—1286 findet sich auch nicht Ein Begierungsact
der Herzoge, der Kärnten beträfe. Die Herzoge führen in dieser Zeit
den Titel: „Herzoge von Kärnten" niemals; weder gebrauchen sie
ihn selbst, noch wird er ihnen vom Kaiser oder irgend Jemanden
gegeben. Auch auf ihren Siegeln findet sich keine Hinweisung auf
eine Herrschaft über Kärnten.
So sonderbar und auffällig aber auch dies Alles erscheinen
mag, so reicht es doch nicht hin, den klaren Ausspruch des Kaisers
und des Kurfürsten von Sachsen zu entkräften. Aus allen angeführten
Argumenten folgt nur, dass die Söhne Rudolfs von Habsburg Kärn-
ten nie factisch besessen haben mögen; damit kann aber ganz gut
bestehen, dass sie damit belehnt worden sind. Dem Geschichtsforscher
blieb nun die Aufgabe, nachzuweisen, wie es denn geschehen konnte,
dass die Belehnung ohne alle Folgen blieb, und wie sich etwa die
aufgethürmten Schwierigkeiten hinwegräumen Hessen.
Einen Versuch dieser Art hat Lambacher gemacht, indem er die
Hypothese aufstellte: Die Söhne Rudolfs von Habsburg seien zwar
1282 mit Kärnten belehnt worden, hätten aber gleich nach der Be-
lehnung das Land wieder an den Vater zurückgegeben, mit der Bitte,
Meinhart damit zu belehnen, um ihn dadurch für seine treuen Dienste
zu belohnen. Weil aber für diese Belehnung Meinhart's erst die Wille-
briefe der Kurfürsten eingeholt werden mussten, verzog sich dieselbe
bis 1286.
Es liegt ein wahrer Kern in dieser Annahme Lambacher's. Aber
einerseits hatte er so gar nichts gethan, seine Hypothese zu begrün-
den, um sie doch zu etwas mehr als zu einer blossen willkürlich
gegebenen Erklärung zu machen , andererseits erscheint die ganze
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. 193
Hypothese in der gegebenen Fassung doch etwas gar zu naiv. Albrecht
und Rudolf geben Kärnten gleich nach der Belehnung zurück , und
es war für sie (so sagt Lambacher) in der That eben so viel, als
wäre ihnen dasHerzogthum nicht verliehen worden. Warum Hessen sie
sich dann belehnen? Etwa um denSpass zuhaben, bei dem feierlichen
Actus um ein Fähnlein mehr zu bekommen? Warum nahm der Kaiser
den Act der Belehnung vor, wenn er die Absicht seiner Söhne kannte,
die doch im Moment vor der Belehnung gewusst haben werden, was
sie unmittelbar nach derselben thun wollten? Oder soll man etwa
annehmen, der staatskluge, ewig vordenkende Rudolf der in genaue-
ster Eintracht mit seinen Söhnen gemeinsame Plane verfolgte, habe
wirklich nichts gewusst von dem Vorhaben der Herzoge und sei so
von dem Edelmuthe seiner Kinder die aus purer Dankbarkeit ein
reiches und wichtiges Land von sich warfen, überrascht und gerührt
worden? Man sieht, man käme auf die sonderbarsten Consequenzen,
wollte man an Lambacher s Ansicht festhalten.
Es schien mir nicht unnöthig, so im Vorhergehenden den ganzen
Stand der Frage darzulegen, um mir dadurch den Boden für die
Durchführung meiner eigenen Ansicht zu bereiten, einer Ansicht die
zum Theil auf einer Combination bekannter Thatsachen beruht, vor-
züglich aber auf einige, bisher noch unbenutzte Urkunden sich stützt,
deren Einsicht mir im k. k. geheimen Archive mit einer höchst
ermunternden und fördernden Zuvorkommenheit gestattet wurde.
Die Verbindung Meinhart1s mit Rudolf von Habsburg reicht weit
in die Zeit hinauf, in der Budolf noch ein einfacher Schweizergraf
gewesen. Als Jugendfreunde werden sie uns bezeichnet. Schon 1270
schlössen beide Fürsten einen Vertrag über die Vermählung ihrer
beiderseitigen Kinder Albrecht und Elisabeth; die Ehe selbst wurde
1276 vollzogen. Hinlänglich bekannt ist es, wie in dem erstenKampfe
Rudolfs gegen Ottokar von Böhmen Meinhart sich als sein treuester
und nützlichster Bundesgenosse erwies, theils durch seine glückliche
Theilnahme am Kriege selbst, theils durch Geldsummen die er dem
damit nicht eben reichlich versehenen Kaiser vorstreckte.
Dass er hiebei auch auf den Vortheil für sich und sein Geschlecht
Bedacht nehmen mochte, ist sehr erklärlich. Das Land Kärnten war
es, auf das er hier sein Augenmerk richtete. Johann Victoriensis
berichtet uns, dass Meinhart schon im Jahre 1277 den Kaiser um
die Verleihung dieses Landes ansprach. Der Kaiser antwortete in
Sitzb. d. uliil.-hist. Cl. XIX. Bd. II. Hft. 13
194 Karl Stögmann.
ausweichender Weise. Er könne so etwas nicht ausführen ohne Ein-
willigung der Reichsfürsten; aber auf dem nächsten Reichstage solle
darüber verhandelt werden1). Grosse Hoffnung für die Erfüllung
seiner Wünsche gewährte aber der Kaiser dem Meinhart dadurch,
dass er ihn zum Reichsverweser in Kärnten ernannte 3), was immer
grosse Aussicht bieten mochte, das Land selbst zu erhalten, wie man
ja auch die Ernennung Albrecht's zum Reichsverweser in den öster-
reichischen Landen für einen wichtigen Schritt zur völligen Über-
tragung dieser Länder an ihn betrachtete. Allein in diesen Restre-
bungen Meinhart's, Kärnten an sich zu bringen, fand er einen mäch-
tigen Rivalen an dem Kaiser selber, der sich nicht minder mit dem
Gedanken befasste, das wichtige Land von den übrigen dem Ottokar
abgenommenen Ländern keineswegs zu trennen, sondern es gleichfalls
an seine Söhne zu vergeben. So wie er seine Söhne dadurch in Öster-
reich festen Fuss fassen liess, dass er die Rischöfe von Salzburg,
Passau und Freising bewog, die bedeutenden Kirchenlehen in den
österreichischen Ländern an die Herzoge zu verleihen, so that er das-
selbe in Kärnten, wo Bischof Berchtold von Bamberg die umfang-
reichen Lehen seiner Kirche an Albrecht und Rudolf vergabte. In
eiifem Schreiben an König Eduard von England sprach der Kaiser
geradezu die Absicht aus, Kärnten seinen Söhnen zu verleihen.
i) Joh. Victor, ap. Böhmer, Font. rer. germ. I. Band. (1277.) Hoc tempore Heinricus dux
et Ludwicus frater ejus et Meinhardus coraes de Tyrol ad Regem convenerunt postu-
lantes eis et heredibus suis de terris acquisitis donationem fieri pro eorum et suorum
heredum ad regni aelerna servitia qualem cumque. Quibus Rex respondit, hoc non
posse fieri sine Principum consensu, sed iila in curia , quam in Augusta concepisset
agere, pertractanda, et sie distulit responsiva. Mag hier auch in Betreff Heinrich's ein
Irrthum obwalten , von Ludwig und besonders von Meinbart ist die Nachricht völlig
glaubwürdig.
2) Zum Beweise hiefür diene einmal die Stelle des Joh. Vict. 1277. Rex reversus in
Austriam, Styriam lustravit ibique Karinthianos et Carniolos alloquitur, et fidelitatem
ab eis reeepit; terrisque eorum per Meinhardum comitem et officiales dispositis venit
in vallem Aness. Ferner ein Brief Rudolfs an den Bischof von Bamberg, abgedruckt
bei Meichelbeck, hist. Frisingens. tom. II, p. 2. Datae Vinneae in Vigilia Epiphaniae,
1278. Darin heisst es : Cum propter dileeti nobisMainbardi ComitisTyrolensis, afiinis
nostri Karissimi absentiam, et etiain propter Procuratorum suorum et officialium im-
potentiam seu desidiam, quos loco sui regimini terrae Karinthiae praefeeit, Ecclesia
Werdensis etc. Endlich eine Stelle aus einem Vertrage zwischen llenricus de Silberberg
und der Abbatissa de Göss, Anno Dom. 1280 XVII Kai. Martii. Coram illustri Mein-
hardo Tyrolen. qui de consensu Domini Rudolfi Romanorum Regis, Ducis Karinthie
tunc se o-essit wo vermuthlich Vicarium oder etwas Ähnliches ausgefallen ist.
Conf. Fröhlich, Spec. Arch. p. 83, 84, 85.
Über die Vereinigung' Kärntens mit Österreich. 195
Wirklich lauteten von den Wiilebriefen der Kurfürsten zur Belehnung
der Herzoge vier ausdrücklich auf Kärnten, und 1282 folgte zu Augs-
burg die wirkliche Belehnung die nun alle Plane und Hoffnungen
Meinhart's auf einmal zu nichte zu machen drohte.
Allein Meinhart scheint nun keineswegs gesonnen gewesen zu
sein, seine Ansprüche so bereitwillig aufzugeben. Auch er hatte nicht
versäumt, sich durch Güterkäufe in Kärnten festzusetzen. So hatte
er die reichen Moosburgischen Güter an sich gebracht, wie der dar-
über ausgestellte Bürgschaftsbrief Ludwig's von Baiern nachweist.
Als Reichsverweser hatte er das Land factisch in seinem Besitz und
konnte immer daran denken, sich darin zu behaupten. Es lässt sich
freilich nicht nachweisen, dass Meinhart gegen die Belehnung der
Herzoge mit Kärnten eine formelle Einsprache erhoben habe, aber
es lässt sich erweisen, dass er eine sehr entschiedene Opposition da-
gegen factisch eingeleitet. Der Einblick in den genauen Zusammen-
hang aller damals stattfindenden Ereignisse ist uns wohl nicht ge-
boten, aber es fehlt uns mindestens nicht an einzelnen Daten die uns
auf die rechte Spur führen können. Ein merkwürdiges Licht auf jene
dunklen Verhältnisse wirft eine Urkunde des k. k. Staats -Archives,
die im Anhange beigefügt ist.
Offo von Lanstrost, Gerlochus, des Herrn Otto Sohn, Nicolaus
von Sichirberk und Gerlochus, der Kastellan von Sichirberk thun
kund, dass sie eidlich versprochen haben, mit dem Schlosse Sichir-
berk zu dienen ihrem Herrn dem Grafen Meinhart von Tirol mit allen
Rechten, die von Alters her bis jetzt bei dem Herzoge von
Kärnten sind. De omnibus juribus que ab antiquo tempore apud
ducem carinthie usque huc sunt devolute.
Würden sie dies nicht halten, sollten sie alle ihre Rechte
verlieren.
Die Bedeutung dieser Urkunde lässt sich nicht verkennen. Diese
Herren versprechen, dem Meinhart so zu dienen, wie man dem Herzoge
von Kärnten dienen muss. Er ist aber nicht der Herzog des Landes;
nennen sie ihn doch selber nur Graf; denn Herren des Landes sind
Albrecht und Rudolf von Österreich. Aus Graf Meinhart's Stellung
als blosser Reichsverweser in Kärnten kann sich die Urkunde nicht
erklären lassen. Es findet sich keine Andeutung dafür in derselben :
Dass die Herren dem kaiserlichen Reichsverweser gehorchen würden,
brauchten sie kaum erst besonders zu bestätigen. Auch liegt in dem
13*
196 Karl Stögmanu.
Passus „cum omnibus juribus, que .... apud ducein carinthie sunt,"
mehr, als dass man auf eine blosse Diensterklärung gegenüber dem
Reichsverweser schliessen dürfte. Ich glaube also nicht zu viel aus
der Urkunde heraus zu lesen, wenn ich darin einen factischen Beweis
dafür sehe, dass Graf Meinhart die kärntnerischen Herren auf seine
Seite zu ziehen bestrebt war, um auf sie gestützt sich im Besitze des
Landes zu behaupten, denn in dieser Urkunde haben wir eine feier-
liche Erklärung kärntnerischer Herren, dem Grafen dienen zu wollen
wie dem Herzoge, ungeachtet die Herzoge von Österreich Herzoge
von Kärnten geworden waren.
Die vorerwähnte Urkunde dürfte kaum die Einzige solchen In-
haltes gewesen sein; es scheint vielmehr, dass die Mehrzahl der
kärntnerischen Herren sich auf die Seite des Grafen stellte, der seine
Reichsverweserschaft recht wohl dazu benutzt haben mochte, sich
ihre Anhänglichkeit zu erwerben. Wie könnten wir anders das auf-
fällige Verhältniss der Kärntner zu den Söhnen Rudolfs, ihren neuen
Herzogen, und zu dem Kaiser erklären? Benehmen sich doch die
Kärntner ganz so, als ob die Belehnung zu Augsburg auf sie gar
keinen Einfluss nehmen könnte. Wir hören nichts von einer Gesandt-
schaft derselben an den Kaiser oder an die Herzoge. Die österrei-
chischen und steierischen Stände treten zusammen und beschliessen,
den Kaiser zu bitten, die seinen beiden Söhnen ertheilte Belehnung
nur auf einen zu beschränken. Die Kärntner nehmen keinen Theil
an diesen Berathungen, keinen Theil an der desshalb an den Kaiser
geschickten Gesandtschaft. Erwuchsen ihnen aus der bevorstehenden
Doppelregierung nicht dieselben Nachtheile wie den Österreichern
und Steierein? Wussten sie nicht eben so gut, wie die andern, dass
es schwer sei, zwei Herren zu dienen? Oder besassen Kärntens
Stände so wenig Selbstgefühl, dass sie die Österreicher und Steierer
für Alles sorgen Hessen, sich gutmüthig in Alles fügend? Ich glaube,
der Grund , warum es die Kärntner so gleichgiltig nahmen , ob sie
von beiden Söhnen des Kaisers, oder nur von Einem beherrscht wer-
den sollten, lag vorzüglich darin, weil sie überhaupt gar keinen zum
Herrn haben wollten, sondern lieber an Meinhart von Tirol festhielten.
Einen höchst wichtigen Beweis aber für die oppositionelle Stellung
Meinhart's gegen den Kaiser gibt uns eine vom Herrn Regierungsrathe
Chmel im II. Bande der „Fontes reruni austriacarum" mitgetheilte
Urkunde vom 28. Juni 1283. In diesem Actenstücke gebahrt sich
Über die Vereinigung- Kärntens mit Österreich. 197
Meinhart ganz als Herr des Landes. „Wir tun chunt," heisst es in
dieser Urkunde, „daz wir unsern getriwen dieneren hern Gotfrit von
Thrvchsen unde hern Julian von Sebvrch unserem viztum von Chern-
den mit worten und ovch mit unserem brieve offenbar empfolhen
haben, daz si an unser stat mit minne oder mit rechte zeruouren und
zerbrechen schölten den chriech der lange her gewert hat zwischen
unsern getrivwen dieneren meister Heinrich dem propst von Wertse
unde Chunraden von Paradys, unde sjnen erben unde ander sine vor
deren umbe fünf hübe aigens da ze Domenschik daz vnder Sebvrch
lit." Nun folgt die Entscheidung der ernannten Schiedsrichter; und
dann heisst es weiter:
„Daz disiv ebenvnge ymmermere von ietwederm teile stete und
vnverbrochen ewichlich belibe, des habe wir zv einem ewigem
vrchunde .... dise hantveste under unserm nagendem insigel . . .
gegeben."
Entsprechend diesem Tone, der ganz dem eines unbeschränkten
Landesherrn gleichkommt, lautet der Titel, den sich Meinhart hier
beilegt :
„Grave von Tyrol, von Gorze unde vogte von Aglay, vonThrient,
von Brichsen, und herre des Herzentumes ze Chernden, ze
C h r a y n unde der W i n d i s c h e n M a r c h. "
Man wird zugeben, dass „herre des landes" mehr bezeichnen
muss, als die Würde eines Reichsverwesers.
Bedenkt man ferner, dass Meinhart diesen Titel „herre" nicht
nur über Kärnten, sondern auch über Krain und die Mark ausdehnt,
von welchen Ländern man es doch nie bezweifelt hat, dass sie den
Söhnen Rudolfs zum Lehen gegeben waren, so muss man gewiss aus
dem angemassten Gebrauche dieses dem Meinhart in keinem Falle
zustehenden, den Rechten der österreichischen Fürsten geradezu
widersprechenden Titels die oppositionelle Stellung Meinharfs gegen
Rudolf uqd seine entschiedene Absicht, Kärnten, ja sogar Krain und
die Mark um jeden Preis zu behaupten, erkennen *)•
*) Aus dieser Zeit ist auch die Urkunde Hischof ßerthold's von Bamberg-, k. k. g\ A., in
der dieser verspricht, Meinhart mit den Babenbergisehen Lehen inKärnten zu belehnen,
sobald die österr. Herzoge dieselben aufgeben würden. Meinhart mag wohl wegen
dieser für ihn höchst wichtigen Lehen mit dem Bischof unterhandelt haben. Dieser
konnte es wohl nicht wagen, die Lehen den Herzogen geradezu zu entziehen ; er
198 KarlStögmann.
Es lässt sich kaum absehen, wohin die weitere Verfolgung einer
derartigen Opposition von Seiten Meinhart" s hätte führen müssen.
Zum Glück verhinderte Rudolfs weise Mässigung und Nachgiebigkeit
die schlimmen Folgen. Freilich hatte derKaiser mehr als einen Grund,
den völligen Bruch mit seinem alten Freunde zu vermeiden. Die Stel-
lung Rudolfs zu den grossen Reichsfürsten hörte mehr und mehr auf,
eine entschieden freundliche zu sein. Die grosse Macht die er seinen
Söhnen übertrug, verstimmte die Fürsten die sich in dem Kaiser
getäuscht sahen, den sie als einen wenig mächtigen Mann absichtlich
zur Regierung berufen hatten, und der ihnen nun zu nicht geringem
Verdrusse bewies, wie gut er es verstehe, sich und seinem Hause
Macht und Bedeutung zu geben. Nun mochte Rudolf wohl daran ge-
denken, in welche gefährliche Lage er schon einmal, während des
zweiten Krieges gegen Ottokar, durch diese Missstinnuung der Für-
sten gekommen sei. Im ersten Kampfe mit Böhmen war er von allen
Seiten her unterstützt worden. Als er aber nach diesem Kriege seine
Absichten auf die österreichischen Länder zu deutlich hervortreten
liess, da zogen sich die überraschten Fürsten unmuthig zurück. Im
zweiten Reichskriege gegen Ottokar standen nur drei grosse Fürsten
dem' Kaiser bei; die andern suchten Ausflüchte oder unterstützten
geradezu und offen die Feinde. Es war noch etwas ganz anderes, als
Ottokar's reicher Schatz der, wie Lichnowsky meint, diesem die
Hilfe dreier deutscher Bischöfe zubrachte *). Der Sieg auf dem
Marchfelde, durch den Zuzug aus den österreichischen Ländern und
die Hilfe der Ungern erfochten, war ein moralischer Sieg über des
Kaisers offene und heimliche Gegner in Deutschland, der die Oppo-
sition auf einige Zeit zurückdrängte und die Fürsten den Wünschen des
Kaisers geneigter machte. Allein nur zu gut sah Rudolf, wie die wirk-
lich erfolgte Belehnung seiner Söhne eine Missstimmung wieder wach
rief, die seinen übrigen, weitaussehenden Plänen nicht wenig gefährlich
musste sich also begnügen, dem Meinhart durch dieses Versprechen sich gefällig zu
erweisen. Man sieht nur wieder, worauf Meinhart damals hinzielte.
1) Kräftig und schön spricht über diese Verhältnisse das Chronicon Salisburgense (ap.
Pez, T. I. ad ann. 1278: Quanto principes et nobiles imperii corrupti et abominati facti
sunt in studiis suis, et si liceret verum dicere expressis nominibus, Judae filii pro-
clamarentur, quorum nequitiam coelum et coelorum Dominus revelabunt. Generaliter
enim natio non peccavit, sed principes nationis quibus illa famosa victoria perpedie
labern infamiae derelinquet ad laudem honorem, vindictani vero malefactorum.
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. 199
zu werden drohte. Die Berücksichtigung dieser Umstände mochte
den Kaiser von der Wichtigkeit eines freundlichen Verhältnisses zu
Meinhart überzeugen und ihn bewegen, lieber ein Opfer zu bringen,
als seinen treuesten Anhänger zu verlieren.
Zur Zeit als Meinhart die oben angezogene, so expressive Ur-
kunde ausfertigte (28. Juni 1283), hatte Rudolf offenbar schon den
Entschluss gefasst, Kärnten aufzugeben. Um dies recht deutlich zu
sehen, beachte man nur aufmerksam die Urkunde vom 1. Juni des-
selben Jahres, in der der Kaiser auf die schon erwähnte Bitte der
österreichischen und steirischen Stände, ihnen nur einen seiner Söhne
zum Herrn zu geben, Bescheid ertheilt. Im Eingange der Urkunde
nennt der Kaiser die Länder die er seinen Söhnen zu Augsburg ver-
liehen; Kärnten wird dabei nicht genannt.
Weiters fährt der Kaiser fort: Es hätten ihn die Herren und
Unterthanen dieser Länder gebeten, ihnen blos den Herzog Albrecht
zum Herrn zu geben. Desshalb befehle er nun, dass Albrecht und
seine männlichen Erben die vorgenannten Länder (diese sind, wohl-
bemerkt, Österreich, Steier, Kram, die windische Mark und Portenau)
allein besitzen sollen. Wenn aber binnen vier Jahren Rudolf mit
keinem Königreiche oder keinem andern Fürstenthume versorgt sein
wird , so sollen Albrecht und seine Erben ihn mit einer noch zu
bestimmenden Geldsumme entschädigen. Stirbt Albrecht und seine
männlichen Erben, so fällt das Land an Rudolf und seine Erben.
Wenn wir diese Urkunde durchlesen, so muss sich uns doch die
Frage aufdrängen: Wie kommt es, dass in diesem Actenstücke, wo
der König über sämmtliche Länder seiner Söhne verfügt, Kärnten
gar nicht genannt wird? Was sollte denn mit diesem Lande geschehen?
Herzog Albrecht bekömmt es nicht, denn seine Länder werden aus-
drücklich aufgezählt, ohne dass Kärnteu dabei wäre; Herzog Rudolf
bekömmt es ebenfalls nicht, denn aus der ganzen Urkunde geht her-
vor, dass' er ohne Land bleibt. Und somit erklärte Rudolf mit dieser
Verfügung Kärnten zwar stillschweigend, aber doch unwiderleglich
für ein preisgegebenes Land, auf das seine Söhne weiter keinen
Anspruch machten.
Es lässt sich bei der grossen Lückenhaftigkeit des Materiales
leider nicht angeben, wann und wie Rudolf diesen seinen Entschluss
dem Grafen Meinhart kundgethan; doch lässt sich mit Sicherheit
annehmen, dass es bald nach dem 28. Juni 1282 geschehen sein
200 Ka'1 Stügmaim.
müsse, denn wir finden von da an nichts mehr, was uns berechtigte,
an eine oppositionelle Stellung Meinhart's zu seinem Oberherrn zu
denken. Das Verhältniss welches jetzt eintrat, war folgendes: Die
Belehnung der österreichischen Herzoge mit Kärnten wurde völlig
ignorirt, Kärnten als ein dem Reiche erledigtes Lehen betrachtet und
dem Meinhart bis auf Weiteres die Reichsverweserschaft belassen.
Dieser führt nun nur mehr den Titel eines Grafen von Tirol (so
in einer Urkunde vom 6. December 128.3). Recht deutlich ersieht
man dieses Verhältniss aus einer Urkunde die ohne genaue Angabe
des Datums, jedoch nach einer Aufschrift in dorso aus dem Jahre
1283 ist.
Meinhart von Zenzleinsdorf und seine Gemahlinn, Gertrud von
Trabuch, verkaufen die Mauth zu Trabuch, die sie zu Lehen tragen
a domin o terre an den Grafen Heinrich von Phannynberch. Sie
sagen nun dieses ihr Lehen dem Könige Rudolf auf, mit der Bitte,
den genannten Heinrich Phannynberch damit zu belehnen.
Es handelt sich hier also um ein landesfürstliches Lehen, nicht
um ein Lehen des Reiches. Wäre ein Herzog im Lande gewesen, so
hätten sich die Betreffenden mit ihrer Bitte an diesen wenden müssen;
da'ss sie sich an den römischen König wenden, zeigt, dass Kärnten
als ein herrnloses, dem Reiche lediges Land betrachtet wurde, dass
die Herzoge von Österreich nicht als die Landesherren angesehen
wurden, dass aber auch Meinhart seine oppositionelle Stellung als
„herre von chernden" bereits aufgegeben. Inzwischen geschahen
Schritte, die Einwilligung der Kurfürsten für die Belehnung Mein-
hart's zu erhalten. Es ist uns nur der schon citirte Willebrief des
Herzogs Albrecht von Sachsen, ausgestellt am 28. März 1285, er-
halten, doch mögen wohl auch die übrigen Kurfürsten ihre Wille-
briefe gegeben haben.
Im Jahre 1286, im Monate "Januar, sollte zu Augsburg dieBeleh-
nung Meinhart's vor sich gehen. Doch gingen dem endlichen Acte
noch Verhandlungen zwischen Albrecht von Österreich und dem
CT
Kaiser einerseits, dem Grafen Meinhart andererseits voran, die sich
vorzüglich auf Krain und die Mark bezogen. Wir haben es aus dem
Titel, den sich Meinhart in jener expressiven Urkunde vom Juni 1283
beilegte, gesehen, dass er seine Absichten auch auf diese Länder
ausdehnte. Das nachgiebige Entgegenkommen des Kaisers betreffs
Kärnten musste wohl auch Meinhart zu Zugeständnissen bewegen;
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. !<iO 1
er gab seine Ansprüche auf Kram und die Mark auf. In einer beson-
dern Urkunde vom 23. Januar ordnete der Kaiser diese Angelegen-
heit. Um den beständigen Frieden zwischen seinem Sohne Albrecht
und dem Grafen Meinhart zu erhalten, verordnete der Kaiser, dass
dem Grafen aus der Belehnung mit Kärnten, durch welche er des
genannten Grafen Würde zu vermehren gedenke, kein Recht erwachsen
soll in den Ländern Krain und der windischen Mark. Im Gegentheil
sollen die genannten Länder mit all ihrem Zugehör bei seinem, des
Kaisers, Sohne bleiben, der schon früher zu Augsburg damit belehnt
worden sei. Auch auf Alles was vielleicht die Herzoge von Kärnten
dereinst in Krain und der Mark besessen haben, soll der genannte
Graf keinen Anspruch haben, jedoch soll er Krain und die Mark die
ihm der Kaiser für eine bestimmte Geldsumme als Pfand angewiesen,
ruhig besitzen, bis ihm die genannte Summe vollständig ausgezahlt
sein wird. Ist diese Auszahlung geschehen, sollen die genannten
Länder an Herzog Albrecht und seine Erben zurückfallen. Kärnten
soll Meinhart so besitzen , wie es einst die Herzoge Bernhard und
Ulrich zur Zeit der Herzoge Leopold und Friedrich von Österreich
besessen haben, mit der Ausnahme, dass, wenn die genannten Herzoge
irgend welche Städte, Burgen, Güter oder Rechte in Krain oder in
der Mark besessen haben, diese nun dem Herzoge Albrecht bleiben
müssen, und von ihm und seinem Gebiete in keiner Weise getrennt
werden dürfen. Was aber die Herzoge Leopold und Friedrich an
Leuten oder Gütern in Kärnten besessen haben, das soll ebenso und
in gleicher Weise Herzog Albrecht besitzen. Ferner soll der genannte
Graf die Ministerialen Herzog Albrecht's in Kärnten in keiner Weise
beschweren, oder ihre Burgen und Besitzungen für sich erwerben,
ohne Einwilligung und Zustimmung Herzog Albrecht's. Dasselbe wird
Herzog Albrecht in Bezug auf Kärnten beobachten.
Man kann aus der grossen Weitläufigkeit dieser Urkunde und
der genauen Bestimmtheit derselben schliessen, dass es sich hier um
die Beilegung alter Irrungen handelte. Die Zugeständnisse die Mein-
hart in dieser Urkunde machen musste, allen Ansprüchen auf Krain
und die Mark zu entsagen, Alles was die Herzoge von Kärnten der-
einst in diesen Ländern gehabt haben, aufzugeben, dagegen Alles
was einst, die Babenberger in Kärnten besessen, den Ilabsburgischen
Herzogen zu überlassen, waren gewissermassen die Bedingungen,
auf die hin Meinhart die Belehnung erhalten sollte.
202 Karl Stögmann.
Noch ein Punct muss bei der angezogenen Urkunde in Betracht
gezogen werden; es ist dies die Art der Titulirung, deren sich der
Kaiser bedient. Den Meinhart nennt er Grafen von Tirol; seinen
Sohn Albrecht Herzog von Österreich und Steier, Herrn von Krain,
der Mark und Portenau. Wer war also Herzog von Kärnten ? Man
sieht wieder, als was der Kaiser das Land betrachtete, als ein lediges,
noch unbesetztes Reichslehen.
Nachdem nun diese Verhandlungen zu einem beide Parteien be-
friedigenden Abschluss geführt hatten, nun erst gaben die Söhne
Rudolfs Kärnten das sie factisch schon lange nicht
mehr besassen, auch der Form nach an d e n K a i s e r zu-
rück, mit der Bitte, den Grafen Mein hart damit zu be-
lehnen. In dieses Jahr 1286 muss also dieser Vorgang gesetzt wer-
den, den L am b acher in das Jahr 1282 setzen wollte, wo er frei-
lich keinen Sinn und Verstand haben konnte. Man darf nur den Beleh-
nungsbrief Meinhart's aufmerksam beachten, um dies einzusehen.
Der Kaiser sagt darin, seine beiden Söhne Albrecht und Rudolf
wären zu Augsburg vor ihn gekommen mit der Bitte, den Grafen
Meinhart mit Kärnten zu belehnen, mit welchem Herzogthume er
schon längst (jam dudum) seine Söhne belehnt habe zu Augsburg.
Also, als die Herzoge ihn baten, den Meinhart mit Kärnten zu be-
lehnen, waren sie schon längst belehnt. Diese Bitte fällt also auf den
zweiten Tag zu Augsburg 1286, die darin erwähnte Belehnung auf
den ersten Augsburger Tag vom Jahre 1282 ').
Am 1. Februar 1286 wurde endlich Meinhart von Tirol feierlich
mit Kärnten belehnt 3).
Fassen wir noch schliesslich die Ansicht die ich im Vorher-
gehenden zu begründen bestrebt war, in kurzen Worten zusammen.
Sowohl Rudolf von Habsburg als auch Meinhart von Tirol hatten
die Absicht, Kärnten zu gewinnen, und beide Fürsten ergriffen darauf
*) Dass der Kaiser bei dem Jahre 1286 noch seinen Sohn Rudolf als Herzog nennt, da
doch Albrecht allein die Regierung führte, kann nicht auffallen. Rudolf war so wie
Albrecht mit Kärnten belehnt , er und seine Nachkommen hatten für den Fall von
Albrecht's kinderlosem Tode ein Erbrecht auf alle Länder seines Bruders; daher
musste er in die Rückgabe Kärntens gleichfalls einwilligen und sie bestätigen.
2) Nicht zu übersehen ist hier die Stelle desChunradus Sindellingensis : Rudolfiis Rex die
Fabiani et Sebastian! curiam frequentem Auguste celebravit. Tunc infeodavit de novo
comitem de Tyrole de ducatu Carinthie. In diesem de novo liegt wohl eine Andeu-
tung und Hinweisung auf die Belehnung von 1282.
Über die Vereinigung' Kärntens mit Österreich. 203
hinzielende Maassregeln. Auf dem Reichstage zu Augsburg 1282 be-
lehnte Kaiser Rudolf seine Söhne mit Kärnten. In Folge dieses Actes
trat Graf Meinhart in eine entschiedene Opposition gegen den Kaiser
und zeigte nicht undeutlich die Absicht, Kärnten, ja sogar Krain
und die Mark für sich zu behaupten. Die weise Nachgiebigkeit des
Kaisers verhinderte auffälligere Folgen. Rudolf gab Kärnten Preis,
das nun als erledigtes Reichslehen nach wie vor von Meinhart ver-
waltet wurde. Nachdem dieser seinen Ansprüchen auf Krain und die
Mark entsagt hatte, gaben die Söhne Kaiser Rudolfs auf dem Reichs-
tage zu Augsburg im Jahre 1286 das factisch bereits aufgegebene
Kärnten nun auch in feierlicher Form zurück, und es erfolgte die
Belehnung Meinhart's mit dem genannten Herzogthume. Solchergestalt
glaubeich die erste der aufgenommenen Fragen als erledigt betrachten
zu dürfen *).
II.
Ich wende mich nun zur Beantwortung der zweiten im Eingange
aufgeworfenen Frage: Hat Rudolf von Habsburg bei der Belehnung
Meinhart's mit Kärnten den Bückfall dieses Landes an das Haus Habs-
burg für den Fall des Erlöschens des Meinhart'schen Mannsstammes
bedungen ?
Als Derjenige der diese noch immer sehr verbreitete und nicht
gründlich widerlegte Meinung in die Geschichte eingeführt hat, muss
Steyrer 'genannt werden, der in seinem Werke: „Commentarii pro
vita Ducis AlbertiH." (Lipsiae 1725) diese Ansicht aufstellte. Frei-
lich stützte Steyrer seine Angabe auf nichts Anderes, als auf eine
Stelle in dem Manuscript des Guilliman, eines im 17. Jahrhundert
lebenden Schriftstellers, dennoch erklärte sich schon sein nächster
Nachfolger, Pesler, in der „Series Ducum Carinthiae" für seine Ansicht,
*) Auf die einzige noch übrige Schwierigkeit: „Warum wird Kärnten in dem Belehnungs-
briefe für die Söhne Rudolfs von 1282 nicht genannt?" hat Böhmer in den Regesten
wenn nicht zurückweisend, so doch erklärend geantwortet, wenn er die Annahme
aufstellt, der Belehnungsbrief der österreichischen Herzoge sei im Jahre 1286 , als
Meinhart mit Kärnten belehnt wurde, umgeschrieben worden und man habe dabei den
Namen des nun dem Meinhart gehörigen Landes weggelassen, um allen Streitigkeiten
vorzubeugen. Bedenkt man, wie Meinhart Kärnten endlich erhielt, so kann es nicht
ungereimt erscheinen , anzunehmen, er habe eine derartige Sicherstellurg Beines
Besitzes, gegen alle möglichen Anfeindungen, gefordert.
204 Karl Stögmann.
obwohl er einige leise Zweifel nicht zu unterdrücken vermochte.
Was aberPesler noch etwas furchtsam zugegeben hatte, das erscheint
schon als ausgemachte Sache bei Erasmus Fröhlich „ Spccimen
ArchontologiaeCarinthiae." Schlimmer noch wurde es, als Ferdinand
Schrötter in seinen „Abhandlungen aus dem österreichischen Staats-
rechte" sich der Steyrer'schen Ansicht bemächtigte, und sie für seine
Zwecke benützte. Dieser legte sich die Sache aufs Bequemste zu-
recht, ohne auf den eigentlich historischen Hergang Rücksicht zu
nehmen. „Rudolf von Habsburg gibt Kärnten (so erzählt Schrötter)
an Meinhart mit der ausdrücklichen Bedingung des Rückfalls. Herzog
Heinrich von Kärnten vermählt seine Tochter mit Johann's von Böh-
men Sohn, verspricht diesem die Nachfolge und lässt dies Verspre-
chen durch Kaiser Ludwig bestätigen. Dagegen treten nun die öster-
reichischen Herzoge auf, Ludwig von Baiern lässt ihre Ansprüche
untersuchen, belehrt sich eines Bessern und spricht ihnen Kärnten
zu." So beiläufig hat Schrötter die Sache dargestellt, /ganz nach Art
eines wohlgeordneten gerichtlichen Verfahrens. So abstract und con-
sequent gestalteten sich die Verhältnisse in der Wirklichkeit keines-
wegs, aber Schrötter's Ansehen war es dennoch , das der bequemen
A'uffassung in viele Geschichtswerke, z.B. in dieMailath's, Hassler's etc.
Eingang verschaffte.
Nur zwei Schriftsteller sprachen sich entschieden und geradezu
gegen die fragliche Ansicht aus, Lambacher undPölifz; Beide stützten
sich vorzüglich darauf, dass ja in dem Belehnungsbriefe Meinhart s
eineRückfallsbedingung nicht ausgesprochen sei. Auf eine weitläufigere
Beantwortung der Frage konnten sie sich der Tendenz ihrer Werke
nach, kaum einlassen.
Dem von ihnen angezogenen Argumente suchte Kurz in seinem
Werke „Österreich unter Albrecht dem Lahmen" damit zu begegnen,
dass er die Hypothese aufstellte: „Rudolf von Habsburg habe seinen
Söhnen den Rückfall Kärntens in einer besondern Urkunde zugesi-
chert, die sich nun nicht mehr auffinden lasse."
Er stützte sich hiebei auf eine Stelle des Peter von Königs-
saal.
In ähnlicher Weise, wenn auch etwas schwankend und unsicher
sprach sich Lichnowsky aus.
Im 7. Buche des ersten Bandes seiner Geschichte des Hauses
Habsburg, S. 344, sagt er:
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. 1205
„In der Belchnungsurkunde wurde kein Rückfall an Österreich
beim Aussterbendes Hauses Meinhart's ausgedrückt, aber allgemein
ward dies so verstanden."
Im zweiten Bande, S. 21ö, beisst es ferner:
„Für Kärnten kommt die Anwartschaft welche die Verleihung
König Rudolfs an seine Söhne und deren Aufgabe zu Gunsten Mein-
hart's von Tirol mit sich bringen konnte, jedenfalls in Betracht."
Und endlich in einer Note zum 6. Buch des ersten Bandes,
S. 473:
„Wenn die Angabe des Abtes Peter vonKönigssaal gegründet ist,
so muss ein geheimer, aber mit königlicher Bestätigung bekräftigter
Vertrag darüber ausgefolgt worden sein."
Man sieht aus diesen gedrängten Angaben, dass es zu einer
völligen Entscheidung der Frage noch nicht gekommen sei, und dass
aus diesem Grunde die nachstehende Untersuchung nicht überflüssig
sein dürfte.
Schon eine ganz allgemeine Betrachtung der Frage dürfte hin-
reichen, in uns nicht geringe Bedenken gegen die Richtigkeit der
fraglichen Annahme die wir ein für allemal als die Steyrer'sche
bezeichnen wollen, zu erwecken. Man versuche nur einmal, sich
erst recht klar zu machen, was mit der Behauptung: „Rudolf von
Habsburg habe den Rückfall Kärntens an sein Haus ausdrücklich
bedungen," eigentlich ausgesprochen werde. Nach dem Aussterben
des Meinhart'schen Mannsstammes sollte Kärnten nicht wie jedes
andere Lehen an Kaiser und Reich zurückfallen, sondern es sollte an
das Haus Habsburg fallen ohne Widerspruch des Kaisers, ohne
Einspruch" der Kurfürsten?
Rudolf von Habsburg hätte also Kärnten zu einem Erbe seiner
Familie gemacht, dem Reiche auf die unbestimmteste Zeitdauer das
Verfügungsrecht über dieses Land entzogen? Es ist kaum glaublich,
dass es dem Kaiser nur habe in den Sinn« kommen können, eine der-
artige, den Grundsätzen des deutschen Lehenrechtes so widerspre-
chende Verfügung zu treffen; es ist noch weniger glaublich, dass die
Kurfürsten einen derartigen Schritt des Kaisers hätten billigen mögen,
dieselben Kurfürsten die es sich von dem Kaiser eidlich hatten ver-
sprechen lassen, kein Lehen des Reiches ohne ihre Einwilligung zu
vergeben, die also schon dadurch anzeigten, wie sehr sie die Absicht
hatten, die kaiserliche Gewalt einzuengen und zu beschränken , und
206 Karl Stög-mann.
deren eifersüchtige Wachsamkeit durch die Art, wie Rudolf von
Habsburg die Macht seines Hauses zu heben bemüht war, gewiss nicht
geringer geworden ?
Dies Alles wohl bedacht, werden wir gewiss in dem angebli-
chen Verfahren Rudolfs etwas derart Auffälliges und Sonderbares
erblicken, dass nur die schlagendsten Beweise uns zum Glauben daran
bewegen könnten.
Verlassen wir aber den Boden der historischen Combination die
uns doch nur zu Zweifeln führen könnte, und betreten wir das mehr
sichere Gebiet der Quellenforschung. So genau wir aber auch alle
Quellen durchsuchen mögen, die uns die Belehnung Meinhart's von
Tirol berichten, nirgends ist von einer Rückfallsbedingung die dabei
gestellt worden wäre, auch nur im Entferntesten die Rede.
Ich habe einen Theil der hieher gehörigen Quellen schon im ersten
Theile der Abhandlung citirt, den d ort genannten (Chron.Floriac.,Chron.
Osterhov.,Chron.Claustro Neob. und Ottakar's Reimchronik) füge ich
hier noch bei den„Continuator" des MartinusPolonus *)» die „Annales
Mellicenses" 2), „ßurcardi et Üytheri notao historicae" 3), die Chronik
des von Meinhart gegründeten Klosters Stains 4) und als eine wohl nicht
ganz gleichzeitige, aber mit den Angelegenheiten Kärntens höchst
vertraute Quelle den Johannes Victoriensis 5). So gern wir nun auch
zugeben, dass die Quellen aus jener Zeit im Allgemeinen etwas dürftig
sind, so darf doch das Stillschweigen aller Quellen über die fragliche
Rückfallsbedingung nicht zu gering angeschlagen werden. Denn in-
dem diese Bedingung, wie oben gezeigt wurde, als etwas ganz Ab-
normes, den gewöhnlichen Gesetzen geradezu Widersprechendes auf-
gefasst werden muss, so konnte sie den Chronisten der damaligen
1) Cont. Mart. Pol. ap. Boehmer. Font. II, p. 457—464.
Anno Domini 1286 Rex Rudolfus curiain Auguste celebrat lbi etiani comitem
de Tyrol ducem Karinthie feeit.
2J Annales Mellicenses. ap. Pez. Script, tora. I.
1282. Supra dictus Rex contulit ducatum Karinthie eomiti Tyrolensi Meinhardo.
3) Burk et. Dyth. notae. hist. Boehni. Font. II, p. 473.
(Rudolfus) comitem quoque Einhardum de Tyrolis Karinthie prefecit.
4j Chron. Stamsense. ap. Boehm. Font.
Anno Domini 1286 ipsa die Nativitatis Domini supra dictus comes Meinhardus crea-
tus est Dux Karinthie in Augusta a Rudolfo Rege Romauorum.
5) Joh. Vict. ap. Boehm. Font. I.
Comiti Meinhardo Goritiae et Tyrolis, socero filii sui Alberti predicti contulit
Ducatam Karinthie.
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. 207
Zeit keineswegs so gleichgiltig sein, und würde schon ihrer Auffäl-
ligkeit wegen, auch in den wenig reichhaltigen Quellen mindestens an
ein oder dem andern Orte irgend eine Erwähnung gefunden haben.
Wenden wir uns aber nach Beachtung der Quellen zu Urkunden,
so finden wir drei in dieser Angelegenheit aufgestellte Actenstücke.
Zwei derselben sind schon in dem ersten Theile der Abhandlung
besprochen worden, nämlich der Willebrief des Herzogs von Sachsen
und die Urkunde vom 24. Jänner des Jahres 1286.
In beiden wird einer Rückfallsbedingung nicht erwähnt, so
natürlich eine derartige Erwähnung mindestens in der ersten Urkunde
gewesen wäre.
Das wichtigste Document ist jedoch der Belehnungsbrief des
Grafen Meinhart über Kärnten, datirt vom ersten Februar des Jahres
1286 zu Augsburg.
Der Kaiser erklärt darin, dass seine beiden Söhne Albrecht und
Rudolf vor ihn gekommen mit der Bitte, den Grafen Meinhart von
Tirol mit Kärnten welches er früher zu Augsburg ihnen verliehen
habe, zu belehnen. Desshalb habe er in Erwägung der Verdienste
die der Graf um Kaiser und Reich sich erworben, ihm das Herzog-
tum Kärnten zum Lehen gegeben, und zugleich ihm und seinen
Nachfolgern im Herzogthume Recht, Würde und Titel wie den übri-
gen Reichsfürsten verliehen. Hierauf werden beinahe wörtlich alle
Bestimmungen wiederholt, die in der erwähnten Urkunde vom 24. Jänner
über Krain und die Mark, so wie über das Verhältniss des Her-
zogs zu seinem Lande und zu dem Herzoge Albrecht und umgekehrt,
festgesetzt worden waren. Schliesslich wird allen Adeligen, Mini-
sterialen etc. in Kärnten befohlen, Meinhart als ihren rechtmässigen
Herzog anzuerkennen. Es leuchtet nun wohl Jedermann ein, dass sich
dieser Belehnungsbrief keineswegs auf die einfache Bestätigung der
Belehnung beschränkt, sondern, dass in demselben das Verhältniss
des neuernannten Herzogs zu dem österreichischen Fürstenhause sehr
ausführlich festgestellt wird. Aber von einem Vorbehalt, von einer
Rückfallsbedingung zu Gunsten Österreichs ist darin keine Rede, so
sehr aus der ganzen Urkunde das entschiedene Bestreben hervorgeht,
die Interessen des Hauses Habsburg zu wahren. So ist es gewiss eine
auffällige Begünstigung der österreichischen Herzoge, dass sie die
Güter und Rechte die die Babenberger in Kärnten besessen haben,
behalten, der neue Herzog dagegen die alten Rechte seiner Vorfahren
ü£08 KarlStögmann.
in Krain und der Mark aufgeben muss. Wenn man also in diese
Urkunde so genau Alles aufnahm, was den österreichischen Herzogen
zum Yortheile gereichen konnte, warum hätte man den wichtigsten
Punct, die Bedingung des Rückfalls, übersehen sollen ? Bemerkt muss
auch werden, dass in der ganzen Urkunde auch nicht die leiseste
Andeutung vorkomme, die darauf hinwiese , es sei hier in Betreff der
Belehnung Etwas noch nicht genau bestimmt, sondern erst einem
zweiten Actenstücke vorbehalten worden.
Man könnte nun freilich, um dies Ignoriren der angenommenen
Bückfallsbedingung in Quellen und Urkunden zu erklären, annehmen,
Butlolf habe dieselbe vor den übrigen Fürsten verborgen, und sie sei
Gegenstand eines geheimen Vertrages zwischen dem Kaiser und Graf
Meinhart gewesen, dessen Urkunde aber nun leider zivden verlorenen
zu zählen sei.
Wir wollen diese Annahme vor der Hand ohne allen Beweis hin-
nehmen, müssen aber zwei Untersuchungen daran knüpfen, nämlich:
„Wenn ein solcher geheimer Vertrag zwischen den österreichischen
und kärntnerischen Herzogen bestand, ergibt sich denn aus den Be-
ziehungen beider Länder irgendwo eine Hinweisung darauf? „Ferner:
j,Als das Haus Meinhart's von Tirol ausstarb, und die österreichischen
Herzoge Kärnten in Besitz nahmen, gründeten sie da ihre Ansprüche
auf einen bestehenden geheimen Vertrag? Kam er bei dieser Gelegen-
heit je zum Vorscheine?" Aus der Beantwortung dieser Fragen muss
sich die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der aufgestellten Hypothese
ergeben.
Durch die Verleihung Kärntens an Meinhart von Tirol, wie
auch durch die Vermählung Albrecht's von Österreich mit Elisabeth
war ein freundschaftliches Verhältniss zwischen den österreichischen
und kärntnerischen Herzogen gegründet, dessen Fortdauer sich durch
eine geraume Weile nachweisen lässt. Als Bundesgenosse Albrecht's
betheiligte sich Meinhart an dem Kampfe gegen den Erzbischof von
Salzburg und den aufrührerischen steierischen Ministerialen Ulrich
von Heunburg1)- Auch nach Meinhart's Tode (1295) 3), unterstützte
sein Sohn Heinrich aufs Eifrigste Albrecht's Bewerbung um die
deutsche Königskrone. Er führte dem Herzog einen Zuzug von 3000
*) Chron. Mon. Mellic. qs. Pez. I, p. 244.
2) .loh. Vict. ap. Boehm. f. I, p. 334. Chron. Stams.
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. c 0 9
Reitern zu 1) und war Anführer des ersten Heerhaufens in der
Schlacht bei Göllheim •). Den 19. Mai 1299 ertheilte Albrecht als
Kaiser, zu Speier den drei Brüdern Otto, Ludwig und Heinrich die
Belehnung mit Kärnten , ohne dass in der darüber ausgestellten Ur-
kunde der angeblichen Rückfallsbedingung Erwähnung geschah 3).
Das gute Einvernehmen zwischen den verwandten Fürsten wurde
aber bald nach dieser Belehnung getrübt und endlich auf lange Zeit
vernichtet durch die Verwicklung Herzog Heinrich's in die böhmischen
Angelegenheiten. Denn als Herzog Heinrich nach dem plötzlichen Tode
Wenzel's III. sich der Krone Böhmens zu bemächtigen strebte, liess
Albrecht Kärnten durch Ulrich von Wallsee und Friedrich von
Österreich, Krain durch Heinrich von Görz in Besitz nehmen und im
Namen Österreichs verwalten4).
Nach Albrecht's Tode suchte Friedrich von Österreich den
Zwist mit Heinrich auszugleichen, was nach mehrfachen fruchtlosen
Versuchen endlich durch Vermittlung der Königinn Elisabeth (der
Mutter Friedrich's und Schwester Heinrich's) im Jahre 1311 zu
Salzburg zu Stande kam 5).
Es waren in dieser Angelegenheit mehrere Urkunden ausgestellt
worden; allein in keiner findet sich eine Beziehung auf den angenom-
menen Vertrag über einen Rückfall Kärntens an Österreich, so
gewöhnlich es auch sonst war, bei einer gütlichen Ausgleichung und
insbesondere bei einer Beilegung so langer und bedeutender Streitig-
keiten frühere wichtige Verträge vonNeuem zu bestätigen und sie als
noch zu Recht bestehend zu erwähnen. Geben demnach die diploma-
tischen Beziehungen zwischen Österreich und Kärnten keinen ein-
zigen Anhaltspunct für die Steyrer'sche Hypothese, so müssen wir
noch sehen, ob nicht vielleicht aus den Vorgängen bei der endlichen
Vereinigung Kärntens mit Österreich dennoch die Existenz einer
Rückfallsbedingung hervorgehe.
i) Contin. Mart. Pol. p. 1431.
2) Joh. Vict. ap. B. f. I, p. 336.
3) Lichnowsky. Regesten. 2 IS.
4) Joh. Vict. ap. Boehm. f. I. p.
Ulricus de Wallsee stahitis in Karinthia offieialihus et prefectis sacrahientis civium
receptis in Stiriam est reversus. Et sie Carinthia et CarniolaDuci. Atistrie subiuguotur
et ejus nutui ac slahitorum ofiicialium famiilantur.
5) Joh. Vict. ap. B. f. I. In etwas gedrängter Weise und Ottokar's Reimohronik cap. 819,
ap.PezIII. Die Urkunden in Lichnowsky's Regesten, 110, 111, 127 und 129.
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XIX. Bd. II. Hft. 14
210 Karl Stögmann.
Wir haben für jene Vorgänge in dem Werke des Job. Victo-
riensis einen Bericht dessen Umfänglichkeit und Glaubwürdigkeit
nichts zu wünschen übrig lassen. Denn abgesehen davon, dass Johann
Abt zu Victring, einem Kloster Kärntens ist, erscheint er noch über-
dies persönlich in die fraglichen Ereignisse verflochten.
Das erste Capitel des 6. Buches bei Joh. Victoriensis führt die
Aufschrift: „De morteHeinriciDucis Karinthie, et qüod ducesAustrie
terram obtinuerunt". In der ganzen Darstellung ist nirgends die Bede
davon, dass Kärnten nach dem Tode Herzog Heinrich's einem frü-
hern Vertrage gemäss an die österreichischen Fürsten habe fallen
müssen. Der Rechtsgrund, nach dem Albrecht der Weise , dem
sich der Verfasser auf das Treueste ergeben zeigt, Herzog von Kärn-
ten wurde, ist für Joh. Vict. die kaiserliche Belehnung. Er
gibt an, die Herzoge hätten zu Linz von dem Kaiser die Länder
Kärnten und Krain verlangt; Krain, weil es ohnedies den Herzogen
von Kärnten nur verpfändet gewesen; Kärnten aber in Berücksich-
tigung ihrer Abstammung von Meinhart mütterlicher Seits. Der Kaiser
bewilligt diese Forderung, weil er einsieht, die Macht der österreichi-
schen Herzoge sei für ihn höchst wichtig *).
So wenig als Johannes Victoriensis für seine Person von einem
vorher bedungenen Bückfall Kärntens wusste, so wenig wusstendie
Kärntner im Allgemeinen davon , wie sich aus einem einfachen
Gegensätze bei Vict. ersehen lässt. Er sagt nämlich: „Die Krainer,
wohl wissend, unter wessen Botmässigkeit sie gehörten, hätten sich
ohne Widerstand ihrem wahren Heirn unterworfen; die Kärntner
aber baten um Bedenkzeit, wenn ihnen in gewisser Frist keine Hilfe
käme, würden sie sich unterwerfen 3). Die Krainer wussten also von
dem Bechte der Österreichischen Fürsten, nämlich, dass Krain nur
!) Joh. Vict. ap. B, p. 416. Interea duces Austrie Ludewicum imperatorem arcessiunt.
Et in civitate Lyntza super littus Danubi colloquia miscentes Karinthiam petunt ratione
sanguinis materni, que filia Meinhardi ducis fuerat; Carniolam asserentes ad se legi-
time devolutam, quam duces Karinthie a suis progenitoribus iam longo tempore vadis
nomine possidebant Ludewicus autem eorum potentiam sibi arbi trans necessariam
adiudieavit fieri postulata. Dux Otto veniens nobilium et civilium reeipit sacramenta
uiaxime quia imperator soripserat, terram ad imperium devolutam eamse suis avun-
culis dueibus contulisse , et omnes eis in reliquum obedire demandavit. Que littere
publice recitale omnem terre populum constrinxerunt.
2) Joh. Vict. B.417. Carniola vero, sciens de cuius ditione esset, absque strepitu omnis
resistentie veris dominis se devovit etKarinthiani induciarum tempus poscentes, si sub
medio, qui eos exolveret non veniret, ad dueum se placitum inclinarent.
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. 211
ein verpfändet Gut gewesen. Bei Kärnten war dies nicht der Fall,
und von einem andern Rechte wussten die Kärntner nichts. Huren
wir ferner den Grund, aus dem sie sich später unterwarfen. Der
Kaiser erliess einschreiben an sie, in dem er ihnen kund that : „Das
Land sei ein dem Reiche heimgefallenes Lehen, und er
habe es seinen Oheimen verliehen; desshalb sollten sie
diesen gehorchen" Dieser Brief der überall öffentlich verlesen wurde,
brachte das ganze Volk zur Unterwerfung.
Das Wichtigste aber bleibt , dass auch Herzog Albrecht von
Österreich nirgends auf ein ihm auseinerRückfallsbedingung erwach-
sendes Recht sich berufen hat. Johannes von Victring selbst wird an
die österreichischen Herzoge geschickt, um die hinterlassenen Töchter
Heinrich's ihrem Schutze zu empfehlen. Die Antwort Herzog Albrecht's
ist bedeutend genug: „Erdedauere den Tod seines Oheims und werde
dessen Tochter in Allern getreu bevormunden, wenn sie seinen Rath-
schlägen Gehör schenken wolle. Kärnten aber, das er von der
Hand des Reiches empfangen habe, wolle er nicht heraus-
geben, und eben so wenig Krain das er nach seinem Rechte genom-
men hätte, weil die Zeit der Verbindlichkeiten verflossen wäre1)-
Der Herzog beruft sich also für Krain aufsein Resitzrecht, für Kärn-
ten aber auf die kaiserliche Belehnung. Wenn ein Vertrag bestand,
der dein Herzog den Rückfall Kärntens von vornherein sichern
musste, warum berief er sich nicht darauf? Wenn es zur Zeit Rudolfs
von Habsburg vielleicht nöthig schien, diesen Vertrag geheim zu
halten, wozu diese Heimlichkeit zur Zeit Albrecht's des Weisen, wo
sich gar kein Grund dafür denken lässt? Vergleichen wir mit diesen
ausführlichen Angaben des Johannes Victoriensis die kürzeren
Rerichte der übrigen Quellen, der „ContinuatioNovimontensis"2), des
i) Joh. Vict. 6. I. B. 417.
Albertus dux respondit: se dolere et totam progeniem de raorte avunculi, eo quod
senior stirpis eorum fuerit, et filiam suam, si suis intenderit consiliis in omnibus
tutaturum ; sed Karinthiam manu imperi jam susceptum, nolle diinittere, nee Carnio-
lam, (|iiam suo jure eepisset, oblig ationis suo tempore elapso; ad presens etiam non
posse aliud respondere.
2) Cont. Novim. ap. Perz. monum. I im. XI.
133,'i Eodem anno Heinrieus dux Karinthie moritur et dueibus Austrie et Stirie
Alberto et Otloni eadem terra a supradicto Ludbieo seeundum jura imperialia
confertur.
14»
212 Karl Stoff manu
6
„Chronicon Zwettlense" *) und des „Albertus Argentinensis" 2). Alle
Drei berichten einfach die Einverleibung Kärntens mit Österreich, ohne
dafür einen andern Grund anzugeben, als eben die kaiserliche Beleh-
nung, ein Umstand, der besonders in der „ContinuatioNovimontensis"
durch den Passus: „Ludwig verleihe dieses Land den österreichischen
Herzogen secundum jura imperialia", nachdrücklich hervorgehoben
wird.
So ungünstig demnach die Berichte der Quellen für die
Steyrer'sche Annahme lauten, eben so ungünstig für dieselbe gestaltet
sich das Zeugniss der über jene Verhältnisse in keineswegs spärlicher
Anzahl vorliegenden Urkunden.
Ich hebe aus diesen vorzüglich zwei heraus, in denen nothwendig
einer Bückfallsbedingung Erwähnung geschehen müsste, wenn eine
solche überhaupt existirt hätte.
Nämlich, erstens die Urkunde vom 26. November des Jahres
1330, in der sieben von Ludwig dem Baier bevollmächtigte Schieds-
richter den Ausspruch thun : Daz unser über vorgenannt Herre Cheiser
Ludewig von Born dem obgenanten Hertzog Otten von Österreich, von
Styr und seinem bruder Hertzog Albrechten und iren Chinden das
Hertzentum und daz land Chernden verschriben solle ze lihen an
allen furzuch, wann der hochgeboren furste, Hertzog Heinrich von
Chernden abget und stirbet.
Gerade in der Urkunde also, in der Kärnten den österreichi-
schen Herzogen gewissermassen zugesprochen wird, wäre es gewiss
am Platze gewesen , sich auf den Vertrag zu berufen , nachdem
Kärnten beim Aussterben des Meinhartischen Mannsstammes an
Österreich fallen musste. Denn wenn ein solcher Vertrag existirte,
so war er gewiss geeignet den rechtlichen Grund für den sogenann-
ten Schiedrichterspruch abzugeben, allein wir suchen vergebens
nach einem solchen, und wir werden später sehen, aufweichen
Motiven eigentlich der ganze Ausspruch der Schiedsrichter beruhte 3).
1) Chron. Zwetlense.
1334 Eodem anno Dax Karinthie obiit, et Karinthia nostris Ducibus confertur.
2) Albert Argent.
Et ecce mortuo duce Karinthie sine filio sola ipsius Bohemicorum.
3) Sowohl die Vollmacht Ludwig's, als auch derAusspruch der Schiedsrichter findet sich
vollkommen richtig- abgedruckt bei Kurz : „Österreich unter Albrecht dem Weisen".
Über die Vereinigung- Kärntens mit Österreich. 213
Die zweite höchst wichtige Urkunde ist der Belehnungsbrief den
Kaiser Ludwig den österreichischen Herzogen gab, als sie 1335
Kärnten wirklich erhielten. In diesem Belehnungsbriefe heisst es:
Noverint igitur presentis etatis homines et future quod nos pure
fidei ac praeclare devocionis insignia, quibus illustres Albertus et
Otto fratres, Duces Austrie , Principes et avunculi nostri dilecti nos
et Romanum Imperium venerantur ac obsequia fructuosa , quae nobis
et imperio exhibuerunt, clare nostre mentis intuitu limpidius intuen-
tes ipsis videlicet Ottoni et Alberto Ducibus predictis eorumque here-
dibus Ducatum Karinthie ex nunc nobis et Imperio per mortem
illustris Heinrici , quondam ducis , itidem avunculi nostri dilecti
vacantem... .contulimus et conferimus in feodum.
Der Kaiser verleiht also den Osten*. Herzogen Kärnten , weil
es ein erledigtes Reichslehen ist, secundum iura imperialia, wie es
die Continuat. Novimont treffend bezeichnet; anderer Gründe erwähnt
er nicht. Nun ist aber nicht zu übersehen, dass dieser Schritt des
Kaisers bei einigen Rcichsfürsten auf den entschiedensten Wider-
spruch stiess, dass man ihn geradezu als einen Act der ungerechte-
sten Willkür bezeichnete, und den Kaiser mit den härtesten Vor-
würfen nicht verschonte. WarnunLudwig der Baier zu dieser Beleh-
nung dadurch bewogen worden, dass er Ansprüche der österreichi-
schen Herzoge für gegründet hielt, dass er, wie es die Anhänger der
Steyrer'schen Hypothese darstellen wollen, auf jene Rückfallsbedin-
gung Rücksicht nahm, ja sogar die Urkunde sah, in der diese Bedin-
gung enthalten war, warum berief er sich nicht darauf, um so alle
Anschuldigungen zu Nichte zu machen, in dem citirten Belehnungs-
briefe, oder in irgend einer der, in dieser Angelegenheit ausgestellten
Urkunden *)•
*) Wir lieben noch folgende besonders hervor:
1 Kaiser Ludwig lässt dem Konrad von Auffenstein wissen, dass ihm und dem Reich
Kärnten ledig geworden, und dass er es den Herzogen von Österreich verliehen habe;
daher solle Auffenstein diesen gehorchen. Linz, 2. Mai 1335. Abgedruckt im Anhange.
2. Kaiser Ludwig erlässt denselben Befehl an die Herren, Städte und Landlcute in
Kärnten. Linz, 5. Mai 1335. Mitgetheilt hei Steyrer, com. col. 87.
3. Herzog Otto verspricht in sein und seines Bruders Namen dem Kaiser beizustehen
gegen Johann von Böhmen. „Wann unser über herre .... uns und nnserm üben
bruder .... verlihen hat das Herzentum ze Chernden, .... das ihm und dem rieh
von unserm oheim .... ledig worden ist." Mitgetheilt von Fischer, kleine Schriften,
I. pag. 261.
214 Karl Stögmann.
Ich glaube demnach durch die Prüfung- der Quellen und Urkun-
den genügend nachgewiesen zu haben, dass man sowohl zur Zeit
Rudolfs von Habsburg, als zur Zeit Albrecht des Weisen ganz und
gar nichts davon wusste, dass Kärntens Rückfall an Österreich ver-
tragsmässig bedungen wäre. Es bleibt mir also nur noch übrig zu
zeigen, auf welche Basis Steyrer seine Hypothese gründete, und wel-
cher Werth den Gründen beizumessen sei, mit denen Kurz und Lich-
nowsky ihre Ansicht zu beweisen suchten.
Steyrer der, wie bemerkt, der Erste diese Hypothese in die
Geschichte einführte, berief sich dabei auf ein, damals und auch jetzt
noch, nur im Manuscript vorhandenes Werk, die Historia Austriaca des
Guilimannus. Schon die späte Zeit der Abfassung dieses Werkes
(das Jahr 1617 ist als das Vollendungsjahr angegeben) hätte ver-
hindern sollen, dasselbe als eine Quelle zu benützen. Ein näheres
Eingehen auf das Manuscript welches zuSteyrer's Zeit in der ßiblio-
theca Thanhauseriana zu Innsbruck lag, derzeit aber im k. k. geh.
Archiv sich befindet, hätte das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit des-
selben noch mehr vermindern müssen.
Von Bewältigung des Stoffes, scharfsinniger Kritik oder geisti-
ger Erfassung des Materials ist bei dem fraglichen Werke wenig
zu finden. Aber dem Verfasser stand als Bibliothekar zu Innsbruck
eine nicht geringe Anzahl von Urkunden zu Gebote. Dort wo er
solche benützte, verdient er Glauben; ganz unzuverlässig ist er, wo
Urkunden fehlen. Quellenstudien mangeln ihm beinahe völlig; wo er
eine Quelle benützt, lässt er sich nicht selten verleiten, Zusätze zu
machen, oder Folgerungen ganz eigenmächtiger Art als Thatsachen
auszugeben, so wie er denn mitunter auch Histörchen erzählt, die in
ihrer vollkommenen Unsinnigkeit lebhaft an die Gesta Francorum
erinnern.
Ferner liegen an Urkunden vor: Das Bündniss Kaiser Ludwig's mit den Herzogen
gegen Johann von Böhmen (Steyrer, col. 85) ; das Bündniss der Herzoge mit Ludwig
von Brandenburg und den Herzogen von Baiern (Fiseher, kl. Sehr. I. 265) ; das Ge-
genbündniss der baierischen Herzoge (Steyrer, col. 88); zwei Bündnisse mit Erz-
bisehof Friedrich von Salzburg (Steyrer, col. 89) ; die drei Urkunden, in denen König
Johann und sein Sohn Karl auf Kärnten verzichten (Steyrer) ; endlich die Urkunde,
in der die Aut'fensteine die Herzoge von Österreich als Herren von Kärnten anerkennen
(folgt im Anhange).
Alle diese Urkunden bieten der genauesten Prüfung nicht den geringsten Anhalts-
punct für die Steyrer'sche Hypothese.
Über die Vereinig-ung Kärntens mit Österreich. £\ö
'O ""O
Auch in Betreff unserer Frage hat Guilimann viele Urkunden vor
sich gehabt, Er gibt den Belehnungsbrief von 1286 beinahe wört-
lich; er kennt den Landauer, den Pressburger Vertrag, so wie den
Ausspruch der Schiedsrichter. Er ist der einzige Geschichtsschrei-
ber der die Zusammenkunft zu Augsburg 1330, die Ernennung der
Schiedsrichter und ihren Ausspruch berichtet. Die gleichzeitigen
Quellen wissen nichts von diesen geheimen Verhandlungen; Gui-
limann erzählt Alles nach den ihm vorliegenden Urkunden. Von
Quellen hat er benützt: die vitaCaroli IV., den Johannes Vitoduranus,
für die frühere Zeit die Reimchronik des Ottakar , aus der er die
ganze Darstellung der Belehnung von 1282 mit allen ihren Unrich-
tigkeiten abgeschrieben hat. Die beiden Hauptquellen für unsere
Frage, den Joh. Victoriensis und den Peter von Königssaal hat er
nicht gekannt.
Unter einem ziemlich confusen Gemisch von wahren, halbwah-
ren und falschen Angaben findet sich auch die Stelle die später
Steyrer so verbreitet hat. Herzog Otto kommt zu Augsburg mit Lud-
wig zusammen, und nun heisst es weiter: Igitur non solum ex com-
pacto inter utrumque Ottonis et Margaritae avum Rudolfum Caesarem
et Meynradum, Carinthiae Ducem primum Otto Carinthiae ducatum
sibi et posteris vindicavit, sed legibus quoque Romani Regni, quibus
a Principatibus foeminae excluduntur, et Carinthiam ea conditione
Meginrado Rudolfum tradidisse ostendebat, ut nulla deinceps proge-
nie superstite maribus Austriacis illa cederet Imperator tarnen,
veluti hoc modo invidiam declinaturus totum de Carinthiae ducatu
negotium arbitris commisit.
Aus einer alten Quelle hat Guilimann diese Nachricht nicht,
denn, wie nachgewiesen, wissen die Quellen nichts dem Ähnliches;
aus einer besonderen Urkunde hat er sie gleichfalls nicht, denn er
der so viele ihm bekannte Urkunden wörtlich oder im Auszuge mit-
theilt, würde auch diese, mit der er eine sonst nirgends gegebene
Thatsache erweisen konnte, mitgetheilt, oder doch mindestens sich
darauf berufen haben.
Wie er aber zu dieser seiner Ansicht gekommen, ist unschwer
einzusehen. Er hatte den Ausspruch der sieben Schiedsrichter vor
sich, nach welchem Kärnten an Österreich fallen sollte, wenn Herzog
Heinrich stürbe. Einen Grund für diesen sonderbaren Ausspruch fand
er weder in der betreffenden Urkunde , noch anderswo angegeben.
216 Karl Stögmann.
Und indem er nun nach einem Grunde suchte, fiel er auf die
bekannte Annahme die sich freilich nur in seiner Phantasie gebildet
hatte, die aber doch den mysteriösen Schiedsrichterspruch aufs Ein-
fachste erklärte.
Wir haben es also hier mit nichts Anderem zu thun, als mit einer
ununterstützten Hypothese eines Schriftstellers aus dem 17. Jahr-
hundert. Diese Hypothese Hess Steyrer gelten, wie eine Quellen-
angabe, und statt dass man ihre Richtigkeit und Glaubwürdigkeit
untersucht hätte , nahm man sie fortwährend als den Hauptbeweis
selbst, wobei man sich dann so recht im eigentlichen Cirkel bewegte
und das zu Beweisende immer als ß e w e i s anführte.
Der Bericht des Guilimann blieb fortwährend der Hauptbeweis
für die Steyrer'sche Hypothese; doch wurden daneben noch zwei
andere Gründe aufgebracht, beide von Kurz in seinem schon citirten
Werke. Kurz beruft sich nämlich zuerst auf eine Stelle beim Peter
von Königssaal, Chronicon Aulae Regiae, I, p. 487. Austriae Duces
quaedam privilegia produxerunt , per quae se habere ad Ducatum
Carinthiae jus ostenderunt. Auch Lichnowsky urgirt diese Stelle mit
dem Bemerken : Wenn der Abt von Königssaal Recht habe, so müss-
"ten solcbe Privilegia, Verträge zwischen Rudolf oder Albrecht von
Habsburg vorhanden gewesen sein , die den österreichischen Herzo-
gen den Rückfall Kärntens zusicherten, die aber jetzt verloren seien.
Allein man kann die Wahrheit der von dem immer vorzüglich unter-
richteten Abte mitgetheilten Nachricht zugeben, ohne desshalb die
Consequenz daraus zu ziehen, die Lichnowsky gezogen hat, wenn
man nur berücksichtigt , zu welchem Jahre sich diese Stelle im
Chron. Aul. Reg. findet. Peter von Königssaal spricht sie aus zum
Jahre 1335, mortuo duce Henrico. In diesem Jahre hat aber die
Stelle ihre volle Richtigkeit, denn in diesem Jahre hatten die Her-
zoge von Österreich bereits ganz sichere Urkunden die den Kaiser
Ludwig verpflichteten , ihnen Kärnten zu verleihen. Sie durften ja
nur den Ausspruch der Schiedsrichter vom 26. November 1330 vor-
weisen, und eine zweite Urkunde vom 23. November desselben Jahres,
in der sich Kaiser Ludwig feierlichst verpflichtet hatte den Aus-
spruch der Schiedsrichter zu erfüllen. Dies sind also die Privilegia
von denen Peter von Königssaal spricht, und man hat bei seiner Nach-
richt weder Ursache sie zu leugnen, noch auch Urkunden, von deren
Existenz Niemand weiss, damit in Verbindung zu bringen.
Über die Vereinigung' Kärntens mit Österreich. 21 t
Einen zweiten Beweis hat Kurz in der Stelle der Friedens-
urkunde finden wollen, in der die österreichischen Herzoge 1336, im
Ennser Vertrage auf Tirol Verzicht leisten. Die Stelle lautet: Renun-
ciamus expresse omni juri et actioni si quod velsi quae nobis aut
dictis heredibus et successoribus nostris in comitatu Tyrolis ex tra-
ditione Heinrici avunculi nostri collatione infeodatione, confirmatione
quorum cumque Imperatorum vel Regurn, aut successione juris hae-
reditarii competebant. Kurz bezieht, gewaltthätig genug, was hier
von Tirol gesagt wird, auf Kärnten und meint, es Hesse sich daraus
die Folgerung ziehen, dass Rudolfs Söhne nicht ohne alle Anwart-
schaft auf Kärnten Verzicht gethan. Der ganze, auf Schrauben
gestellte Beweis zerfällt in Nichts, wenn man bedenkt, dass die
beweisende Stelle nichts Anderes ist, als eine allgemeine, sehr
gebräuchliche Vertragsformel mit der man eben jeder nur möglichen
Spitzfindigkeit zuvorkommen wollte. Zum Beweis vergleiche man
die Urkunde, in der Johann von Böhmen bei demselben Friedens-
schlüsse auf Kärnten Verzicht leistet. Dort findet sich wörtlich
dieselbe Stelle; es würde sich mithin Alles was man daraus für die
Herzoge von Österreich deduciren wollte, auch für Johann von Böh-
men deduciren lassen, was also, wenn man aus dieser Stelle ein auf
Rudolf von Habsburg zurückgehendes Recht ableiten zu können
glaubt, in Bezug auf Johann zu einer offenen Absurdität führen
musste.
Welcher Art sind also die Beweise Steyrer's und seiner Anhän-
ger? Eine schlecht ersonnene Hypothese eines Schriftstellers aus
dem 17. Jahrhunderte, eine falsch verstandene und mit vorgefasster
Meinung ausgelegte Stelle des Peter's von Königssaal, und eine Urkun-
denstelle deren gezwungene Auffassung ins Absurde führt. Halten
wir diese Beweise zusammen mit Allem was früher gesagt worden,
so können wir mit Bestimmtheit die Ansicht aussprechen, dass ein
Rückfall Kärntens an Österreich niemals bedungen worden , und
dass die Annahme eines solchen nur auf einem willkürlichen Ver-
suche späterer Schriftsteller beruht , dadurch die Erwerbung Kärn-
tens für Österreich zu erklären *)•
*) Ein einziger Geschichtsschreiber, Hassler, hat auch von einem Erbrechte der öster-
reichischen Herzoge auf Kärnten gesprochen, und dies aus der Vermählung Albrecht's
von Habsburg mit Elisabeth, Meinharfs Tochter, herleiten wollen. Allein, Kärnten war
Z 1 O Karl Stögmann.
Indem mir nun dieselbe Aufgabe übrig bleibt, nämlich zu zeigen,
welche Verhältnisse eigentlich die Vereinigung Kärntens mit Öster-
reich herbeiführten, wende ich mich, um diese Frage zu lösen, zu
dem letzten Theile der Abhandlung.
III.
Die neue Herrscherfamilie die Rudolf von Habsburg dem Lande
Kärnten durch die Belehnung Meinhart's von Tirol gegeben hatte,
sollte sich des neuen Zuwachses ihrer Macht nicht lange erfreuen.
Von Meinhart's vier Söhnen starb Albrecht schon vor dem Vater,
Ludwig im Jahre 1305, Otto fünf Jahre später *)• Und so wie diese
Drei völlig kinderlos geblieben waren, so hatte auch der vierte Sohn
Heinrich aus seiner ersten Ehe mit Anna von Böhmen keine Kinder,
aus der zweiten mit Adelheid von Braunschweig nur zwei Töchter,
die nachmals so berühmte Margaretha Maultasche ~), und eine zweite
Tochter deren Name sich nicht angegeben findet3). Dadurch aber
war Kärnten das als ein reines Mannslehen in weiblicher Linie
nicht vererbt werden konnte , binnen der kurzen Zeit von vierzig
Jahren abermals auf den Punct gelangt, ein erledigtes Lehen zu
kein Weiberlehen; daher besass auch Elisabeth kein Erbrecht, konnte also auch keines
vererben. Die Quellen, .loh. Victor, und Peter von Königssaal sagen wohl, dass sich
die österreichischen Herzoge auf ihre Abstammung mütterlicherseits beriefen. Dies
mag seine Richtigkeit haben , denn es war in jener Zeit schon etwas gewöhnliches,
dass die Agnaten Ansprüche auf die erledigten Lehen erhoben. Diese Ansprüche wur-
den oft berücksichtigt; sie mussten aber nicht berücksichtigt werden. Kaiser Ludwig
konnte, abgesehen von allen andern Verhältnissen, Kärnten wem immer verleihen,
ohne ein Recht der österreichischen Herzoge damit zu verletzen. Die Ansprüche der
Agnaten, so oft und so mächtig sie auch damals schon auftauchten, hatten noch keine
gesetzliche Geltung.
!) Chron. Stamsense. ad annos 1292, 1303, 1310, ap. Böhmer, Fontes I.
2) Es ist viel darüber gestritten worden, welche von den Frauen Heinrich's Marga-
retha's Mutter gewesen und wann diese Princessinn geboren worden. Ein vortrefflich
geschriebener Aufsatz: „Berichtigung einer Stelle in Karl's IV. Selbstbiographie",
abgedruckt im 7. Bande der Beiträge zur Geschichte etc. von Tirol, Innsbruck,
1832, hat gründlich nachgewiesen, dass Margaretha die Tochter Anna's von Braun-
schweig, nicht Annas von Böhmen gewesen und 1318 oder 1319 geboren worden.
3) Die Existenz dieser zweiten Tochter Heinrich's hat Steyrer nachgewiesen. Coronini
gibt ihr den Namen Adelheid, wohl nur, weil er sie mit einer unehelichen
Tochter Heinrich's, Adelheid de Ruffiano verwechselt. Die letzte Erwähnung dieser
namenlosen Princessinn findet sich 1342; wann und wo sie gestorben, ist unbekannt.
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. i 1 9
'ou"e
werden; um von dem Willen des Kaisers einen neuen Herrscher zu
erhalten.
Die voraussichtliche Erledigung eines so wichtigen Landes
musste nothwendig alle Parteien auf den Kampfplatz rufen , die in
irgend einer Weise auf die Erwerbung desselben hoffen konnten.
Wohl mochten die Grafen von Görz, die Söhne von Meinhart's Bru-
der Albrecht, derartige Hoffnungen hegen J) , sie traten aber bald
zurück vor zwei an Macht und Bedeutung weit überlegenen Rivalen,
den Herzogen von Österreich und dem König von Böhmen.
Es fehlte wahrlich nicht an Gründen die die Herzoge von
Österreich dazu bringen mussten, an die Erwerbung Kärntens zu
denken. Rudolf von Habsburg hatte die Idee der Gründung einer
österreichisch -habsburgischen Macht seinen Nachkommen hinter-
lassen, die consequente Durchführung dieser Idee verlangte die
Vereinigung Kärntens mit den übrigen österreichischen Ländern.
Dies Herzogthum grenzte an Steiermark; die Herzoge von Österreich
hatten sich genöthigt gesehen, ihr Krain an die Fürsten Kärntens
zu verpfänden; in Kärnten selber besassen sie Besitzungen. Nur
ungern hatte Rudolf von Habsburg dieses Land von den übrigen
ottakarischen Besitzungen getrennt, und nicht absichtslos war die
Bestimmung getroffen worden, dass die Herzoge von Österreich die
Güter und Rechte der ehemaligen babenbergischen Fürsten in Kärn-
ten behalten sollten.
So hatten sie festen Fuss im Lande gefasst, was ihnen bei
einer allfallsigen Ledigwerdung desselben immer nur förderlich sein
konnte.
Mehr als Alles drängte die Herzoge zu den äussersten Anstren-
gungen um den Besitz von Kärnten, der gefährliche Mitbewerber
den sie in der Person Johann's von Böhmen gefunden hatten. Die
Rivalität der Häuser Habsburg und Luxemburg war bereits eine ent-
schiedene Thatsache. Gerieth Kärnten in die Gewalt des Böhmen-
königs , so war dies eine Niederlage für Österreich. Der Streit um
Kärnten bildete nur ein Moment in dem für Österreichs Geschick so
entscheidenden Kampf der Habsburger und Luxemburger und die
x) Ich schliesse dies aus einer Stelle des Peter von Königssaal, p. 420, wo er über
die Heirath Johann's mit Margarethen spricht: „Displicet autem haec copula Ausliic
et quibusdam aliis Principibus, quia ex consanquinitate habere in Chorinthia se
asserunt pinqius jus et majus.
220 Karl Stögmänn.
Erwerbung Kärntens war für Österreichs Fürsten eine politische
Notwendigkeit geworden. Der Streit der sich demnach notwen-
dig entspinnen musste, wurde aber noch verwickelter durch die
schwankende Stellung die Kaiser Ludwig der Baier, von dem doch
endlich die Entscheidung des Ganzen abhing, in dieser Sache ein-
nahm. An ihn, als den obersten Lehensherrn, musste das erledigte
Kärnten zurückfallen , und da weder König Johann noch die Herzoge
von Österreich irgend ein vollgiltiges Recht auf dieses Land aufwei-
sen konnten, das den Kaiser bei der Vergabung bestimmen musste,
so lag es ganz in seiner Gewalt , wem er das Lehen zusprechen
wollte. Allein Ludwig war nicht der König der nach unumschränk-
ter Machtvollkommenheit entscheiden konnte. Immer durch die Ver-
hältnisse zum Anschluss an eine Partei gezwungen , brachte er es
nie dahin , über den Parteien zu stehen. Es war vorzüglich seine
leidige, kraftlose Opposition gegen den päpstlichen Stuhl, in die er
gewissermassen hineingedrängt worden, die ihm fortwährend die
Hände band. Diese Stellung gegen den Papst ward ihm bald im
äussersten Grade unbequem ; er suchte ihrer los zu werden um jeden
Preis ; sein Bestreben aber einen Vermittler zu diesem Zwecke zu
finden , brachte in sein ganzes Benehmen etwas Schwankendes,
Haltloses.
Er wandte sich abwechselnd bald an den Einen, bald an den
Andern, durch den er seine Absichten erreichen zu können hoffte,
opferte aber auch regelmässig die Interessen des frühern Bundes-
genossen denen des spätem. Aufsein Benehmen in der kärntnerischen
Angelegenheit hatte dies den höchsten Einfluss. Hätte Ludwig
gekonnt, wie er eigentlich wollte, sicher hätte er Kärnten in ein
Besitzthum seines eigenen Hauses verwandelt1)- Allein obwohl diese
Absicht aus allen seinen Handlungen hervorleuchtete, seine gefähr-
dete Stellung Hess ihn nicht dazu kommen, sie geradezu auszuspre-
chen und offen zu verfolgen. So schwankte er zwischen beiden
i) Will man dies recht deutlich sehen , so vergleiche man Ludwig's spätere Hand-
lungsweise. Am 26. Februar 1342 belehnte er seinen Sohn Ludwig, den Gemahl der
Margaretha Maultasche, mit Kärnten, da Margaretha nie auf dieses Land verzich-
tet habe. Dies that Ludwig trotzdem er im Jahre 1335 ein Recht der Margaretha
auf Kärnten nicht anerkannt und das Land den österreichischen Herzogen ver-
liehen hatte. Er suchte eben 1342 zu nehmen, was er 1335 nicht hatte nehmen
können. (Vergl. Böhmer. Regest. Ludw., S. 140.)
Über die Vereinigung- Kärntens mit Österreich. 221
Parteien hin und her, wandte sich bald dein König von Böhmen, bald
den Herzogen zu, wie ihn eben die Umstände drängten, und zeigte
sich dabei unzuverlässig und treulos gegen beide Parteien.
Den Streit um Kärnten eröffnete König Johann. Er fasste den
Plan, dieses Land zu einem Besitzthum seines Hauses zu machen in
einer Zeit, in der die Aufmerksamkeit der österreichischen Herzoge
auf ein höheres Ziel, auf die Erwerbung der deutschen Krone gerich-
tet war. Und obwohl Heinrich von Kärnten durch Johann von dem
böhmischen Throne nicht ohne grosse persönliche Schmach war ver-
drängt worden, und desshalb mit Recht von Allen für einen unver-
söhnlichen Gegner des Böhmenkönigs gehalten wurde, so gründete
dennoch König Johann dessen abenteuerliche Natur das Paradoxe
auch in der Politik zu lieben pflegte, seinen Plan darauf, gerade durch
Heinrich selbst sich den Weg zur Erwerbung Kärntens zu bahnen.
Der erste Versuch einer Annäherung geschah 1321. Johann von Böh-
men und Heinrich von Kärnten hatten eine Zusammenkunft zu Pas-
sau. Mit seinen eigentlichen Absichten hervorzurücken konnte dem
Könige kaum räthlich erscheinen; denn Heinrich dessen Gemahlinn
Agnes von Braunschweig im vorhergehenden Jahre gestorben war,
■ ohne ihm einen männlichen Erben hinterlassen zu haben, dachte nun,
um diesen seinen Lieblingswunsch doch vielleicht verwirklicht zu
sehen, au eine dritte Ehe. Dem König Johann konnten derlei Pläne
I nicht erwünscht kommen, aber er hielt es für räthlicher scheinbar
darauf einzugehen, und unter dem Scheine der eifrigsten Beförde-
rung an ihrer Hintertreibung zu arbeiten. Er schlug demnach dem
Herzog seine Schwester Maria von Luxemburg die seit dem Jahre
1318 in Böhmen erzogen wurde, zur Gemahlinn vor, und gab auch
bald darauf zu Eger Ludwig dem Baier ausdrückliche Vollmacht, eine
Ehe zu bereden zwischen Heinrich von Kärnten und Maria von
Luxemburg, zugleich aber auch zwischen Wenzel (Karl) von Böhmen
und Margaretha der Tochter des Kärntners j). Allein die schöne
Maria weigerte sich die dritte Gemahlinn des nicht mehr jugendlichen
Exkönigs von Böhmen zu werden , und Johann der eine Ehe Hein-
rich's unmöglich wünschen konnte, sondern nur Zeit zu gewinnen
suchte, mag wohl auch nicht besonders in sie gedrungen haben. Die
i) Die Urkunde hierüber im Extract bei Oefele, Scrpt. rer. 15oie. t. II. p, 137.
222 Karl Stög mann.
Weigerung der Princessinn wurde mit einem religiösen Gelübde ent-
schuldigt, und sie vermählte sich im nächsten Jahre mit König Karl
von Frankreich J).
Allein Heinrich gab darum seine Heirathspläne keineswegs auf,
und König Johann zauderte auch nicht, noch einmal seine Hand dazu
zu bieten. Im Jahre 1324 sandte er die beiden Herren Arnold von
Pittingen und Bernard von Chimburk nach Kärnten2), um eine Ehe
zu bereden zwischen Herzog Heinrich und Beatrix von Gaspavia
(Gaesbecke), der Muhme König Johanns, der Tochter seiner Vaters-
schwester Felicitas 3). Die durch die beiden Abgesandten geführten
Unterhandlungen erzielten die wichtigsten Resultate. Johann von
Böhmen und Heinrich von Kärnten schliessen am Montag nächst
Peter und Paul ewigen Frieden und Freundschaft. Johann gibt dem
Heinrich zur Gemahlinn seine „lib Mumen Jungfrawen Beatrisen, die
geboren ist von Prabant und von Lutzelburch".
Ebenso heirathet Johann's Sohn dessen Name nicht genannt ist,
eine Tochter Herzog Heinrich's. Stirbt König Johann, so wird der
Herzog „Phleger und fürmunt" der Kinder bisdass sie „zu iren tagen
komment". Herzog Heinrich vermacht seiner Tochter „die des
Königs Sohn heirathen wird" das Land zu Kärnten. Bekömmt Her-
zog Heinrich aber Söhne, so soll das Vermähtniss ungiltig sein und
soll seine Tochter erben , wie seine andere Tochter. Stirbt der
Herzog, so soll der König der Kinder „gerhab und fürmunt" sein.
König Johann ersetzt dem Herzog den grossen Schaden den er von
ihm und dem „LandezuPehaim" genommen, worüber der Erzbischof
von Trier und der Bischof von Trient entscheiden sollen. Dafür
l) Die Notiz darüber findet sich beim Joh. Victor (B. F. I, p. 390) so angegeben,
dass die Versöbnung Heinrich's mit Johann ins Jahr 1318 fallen musste. Die eben
citirte Urkunde ist von 1321. In dasselbe Jahr muss auch die Zusammenkunft zu
Passau gestellt werden, denn Agnes von Braunschweig, Heinrich's zweite GemahlinD,
starb erst 1320, wesshalb Heinrich unmöglich schon 1318 an eine neue Heirath
denken konnte.
2) Joh. Vict. B. F. 1, p. 390. Die Stelle steht wieder bei dem Jahre 1318, wohin sie |
offenbar nicht gehört; auch stellt statt Arnold von Pittiugen, welcher Name sich
in der Urkunde findet, Johannes de Pittingen.
3) König Johann's Vater hatte drei Schwestern, von denen sich nur eine, Felicitas,!
vermählte, mit Jean dict Tristan Sire de Lovain, Gaesbecke etc. Aus dieser Ehe
entspross Beatrix, die 1339 unverheirathet starb. Steyrer verwechselt diese Beatrix j
mit Beatrix von Savoyen, der nachmaligen Gemahlinn Heinrich's. (Vergl. Böhmer.
F. I, p. 390, Anmerkung.)
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. ZZo
verzichtet Heinrich auf alle Rechte und Ansprüche die er von Anna,
seiner seligen Gemahlinn, her, auf Böhmen erhoben hat •)•
Alles mochte in diesem Vertrage dem König angenehmer sein,
als die Vermählung zwischen Heinrich und Beatrix. Versprochen
durfte dem Herzog die Braut werden, erlangen durfte er sie nicht;
und Johann beeilte sich daher durchaus nicht, diesen Punct des Ver-
trages zu erfüllen. Um so ungeduldiger zeigte sich Herzog Hein-
rich der den König nicht wenig gedrängt haben mag, denn schon
im Jahre 1325 stellte Johann eine neue Urkunde aus, in der er „mit
guter Treue" neuerdings gelobte," ohne allen „aufzuch" seine liebe
Muhme von Brabant und seinen Sohn Johann (dieser war also inzwi-
schen zum Bräutigam bestimmt worden) nach Innsbruck zu senden,
„aufSanct BartholomaeusTag." Könne er selbst sie nicht geleiten, so
solle dies sein Schwiegersohn, der Herzog von Baiern, thun 2)-
Allein der Bartholomäustag kam und ging, und die „liebe Muhme
von Prabant" war noch immer nicht gekommen. Wie Johannes Vic-
toriensis berichtet, erklärte die Princessinn Beatrix, sie wolle die
reichen Ländereien und ihr Geburtsland auf keinen Fall verlassen, um
in ein fremdes Land zu ziehen.
Bis zum Jahre 1326, also zwei Jahre lang, gelang es dem König
den Herzog hinzuhalten ; da endlich erschöpfte sich die Geduld des
heirathslustigen Heinrich der nun darauf dachte, sich nach einer
andern Braut umzusehen. Bei diesem Wunsche aber kamen ihm nun
die österr. Herzoge, vorzüglich Herzog Albrecht der Weise, entgegen,
und wir stehen somit an einem Wendepuncte, in dem nun Österreich
an der kärntnerischen Erbschaftsfrage sich zu betheiligen anfängt.
Die österreichischen Herzoge hatten ihr ganzes Streben dahin
gerichtet, die deutsche Königswürde für Friedrich zu behaupten, und
darüber waren die Vorgänge in dem benachbarten, ihnen doch so
wichtigen Kärnten ganz übersehen worden. Da erkannte zuerst
Herzog Albrecht, für dessenPolitik es bezeichnend ist, dasssieimmer
das Entfernte, Weitaussehende gegen das Näherliegende zurück-
stellte, die grosse Gefahr die aus der innigen Verbindung zwischen
1) Die Urkunde im 7. Bande der Beiträge zur Geschichte etc. von Tirol, p. 204, dann
bei Steyrer col. 590.
2) Uie Urkunde, ausgestellt zu Innsbruck 1325, am Mittwoch vor Pfingsten, im
7. Bande der Beiträge etc., p. 209.
224 Karl St ö gm an n.
einem so entschiedenen Gegner Österreichs wie Johann , und einem
so lauen Freunde wie Heinrich entstehen musste, und benutzte dess-
halb die von dem Böhmenkönig nur saumselig und wenig aufrichtig
geförderten Heirathspläne des Kärntners, um so durch einen dem
wankelmüthigen Heinrich geleisteten Dienst die Freundschaft für
Österreich in ihm zu erwecken, und König Johann's gefährliche
Rivalität zu paralisiren.
Es wandte also Albrecht das Augenmerk des Herzogs auf Beatrix
von Savoyen , die Tochter des Amadaeus Magnus und der Maria von
Brabant, deren Schwester die Gemahlinn des österreichischen Her-
zogs Leopold gewesen war. Er selbst übernahm es, die Sache zu
vermitteln, und eilte im Juli des Jahres 1326 mit Vollmachten der
verwitweten Herzogin n von Savoyen und ihres Sohnes versehen, nach
Innsbruck, wo er mit Herzog Heinrich den Ehevertrag abschloss und
sich selbst für die Auszahlung der auf 5000 Mark festgesetzten Mit-
gift verbürgte1).
Nichts konnte dem Könige Johann unerwarteter und uner-
wünschter kommen, als diese Einmischung Herzog Albrecht's, die mit
einemmale alle seine Pläne vernichten konnte ; aber es gelang ihm
vortrefflich seine Überraschung und seinen Unmuth zu verbergen,
und zum bösen Spiel gute Miene zu machen. Kaum hatte er von den
Schritten Herzog Albrecht's gehört, so sandte er einen Brief an
Heinrich von Kärnten, der in jeder Beziehung ein Meisterstück
diplomatischer Feinheit genannt werden muss.
Der König versichert in diesem Schreiben den Herzog seiner
„gantzen Freundschaft, sonderlichen Lieb und Untertänigkeit"; er
betheuert bei Gott und der Wahrheit, dass er ihm seine liebe Muhme
von Grizbach gern zur Frau gegeben, und gehandelt hätte, wie es
zwischen ihnen „getaidingt" worden. Nun habe aber sie zu allen Zeiten
vorgegeben, dass sie keinen Mann auf „aller der Welt" nicht nehmen
wollte, wie sie es doch zuvor gelobt hätte. Da nun aber er , König
Johann, vernommen habe, dass Heinrich seine Muhme von Savoyen
*) Joh. Vict., p. 391 , nennt als Heirathsvermittler irrthümlich den Herzog Leopold,
der am letzten Februar 1326 gestorben war. Über den Ehevertrag- finden sich zwei
Urkunden; eine, ausgestellt von Herzog Albrecht zu Innsbruck am Zinstag inch
St. Thomastag-, ist mitgetheilt von Steyrer, col. 23 ; die andere, ausgestellt von
Herzog Heinrich unter selbem Ort und Datum, steht im 7. Bande der Beiträge etc.,
p. 209.
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich« 225
zur ehelichen Frau nehmen wolle, so vsei er darüber von Herzen froh,
indem sie nun mit aller Freundschaft bei einander bleiben könnten.
Auch habe er auf der Stelle Boten nach Savoyen gesandt, um die
Heirath zu beschleunigen, demnach möge auch der Herzog Heinrich
seine Boten senden auf den Tag zu Nürnberg am Sonntag Reminis-
cere , wo er sich mit diesen über die vorgenannte Sache gänzlich
vereinigen wolle, wie auch über das Geld das er ihm geben werde1).
Man sieht es aus diesem Briefe, wie gespannt das Verhältniss
zwischen Johann von Böhmen und Heinrich sein musste, und wie es
aller Schlauheit von Seite des erstem bedurfte, um einen völligen
Bruch zu verhüten. Dieses gelang zwar: doch wann und wie, lässt
sich nicht angeben. Die gefährliche Heirath Heinrich's kam zu Stande.
Auf dem Tage zu Nürnberg erschien auch weder Johann noch
Boten Heinrich's; aber am Tage des heil. Gallus des Jahres 1327
sendet der König seinen Sohn Johann nach Innsbruck, was entschie-
den ein gutes Einvernehmen und ein Fortbestehen der früheren Ver-
träge in sich schliesst 2).
So war es zwar dem König gelungen, die alte Freundschaft mit
Kärnten zu erneuern, und die eigentliche Absicht Herzog Albrecht's
zu vereiteln ; seinem letzten Ziele aber stand er noch ziemlich
ferne. Denn was ihm auch Heinrich einseitig und eigenmächtig
verbrieft hatte, es konnte nie zur rechtlichen Geltung gelangen, so
lange die Bestätigung des Reichsoberhauptes fehlte. Konnte man
aber die Einwilligung des Kaisers- in die geschlossenen Verträge
erhalten, dann stand freilich ihrer Durchführung rechtlich nichts
mehr im Wege. Allein wie wenig Ludwig der Baier Lust hatte die
Macht des Hauses Luxemburg vergrössern zu lassen, das hatte Johann
bei Gelegenheit der Erledigung von Brandenburg gesehen, demnach
schien es wenig Erfolg zu versprechen, wenn Johann selbst die so
wichtige Bestätigung nachsuchte. Herzog Heinrich, noch immer von
der Hoffnung belebt, einen männlichen Erben zu erhalten , bemühte
sich anfangs wenig um diese Einwilligung des Kaisers; als aber nach
einer zweijährigen Ehe mit Beatrix seine Wünsche keine Erfüllung
erlangt hatten, da schien es ihm endlich Zeit, seine Lande wenigstens
seiner Tochter zu sichern. Eine günstige Gelegenheit bot sich dar.
1) Der Brief im 7. Bande der Beiträge etc., p. 211.
2) Chronic. Aul. Reg. ap. Dobner, tom V, p. 420.
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XIX. Bd. II. Hft. 15
cZCt Karl S tögmann.
als Ludwig der Baier Anfangs Februar des Jahres 1330 auf seinem
Rückzuge aus Italien nach Meran kam, und dort mit Herzog Heinrich
zusammentraf. Es ist hedauernswerth, dass uns kein näherer Bericht
vorliegt über diese merkwürdige Zusammenkunft, bei der keiner der
beiden Fürsten mit seinen eigentlichen Absichten hervortrat, sondern
jeder den andern zu täuschen suchte. Heinrich, statt offen und ehrlich
vom Könige die Bestätigung der mit Johann geschlossenen Verträge
zu erbitten, machte Winkelzüge. König Johann's Name durfte aus
bekannten Gründen nicht genannt werden; die mit ibm geschlossenen
Verträge blieben am besten ganz verschwiegen. Heinrich verlangte
vom Kaiser nur, er möge Kärnten in ein Weibslehen verwandeln, so
dass der Besitz des Landes auf Heinrich's Tochter und deren allfall—
sigen Gemahl übergehen könne. Alsbald sehen wir nun ein neues
höchst wichtiges Moment auftauchen, die Betheiligung Kaiser Ludwig's
an der kärntnerischen Erbfolgeangelegenheit. Die von Herzog
Heinrich gestellte Bitte bot für Ludwig nicht geringe Aussichten.
Warum sollte er Heinrich's schöne Länder nicht so leicht, ja noch
leichter erwerben können, als ein Anderer? Wenn Kärnten und
Tirol an Heinrich's allfallsigen Eidam übergehen sollten, warum konnte
nicht ein Prinz aus Ludwig's Familie dieser Eidam werden? dass
Johann's von Böhmen Sohn der schon bestimmte Eidam sei, das
wusste Ludwig höchst wahrscheinlich gar nicht oder, wenn er doch
vielleicht davon Kenntniss batte, so muss ihm Herzog Heinrich beru-
higende Zusicherungen über diesen Punct gegeben haben, denn dass
Ludwig sonst durchaus nicht eingewilligt hätte, das zeigten die fol-
genden Ereignisse aufs Deutlichste. Wie weit Hess sich aber der
Kaiser mit seinen eigenen Plänen gegen Heinrich heraus? In kurzer
Frist Hess sich die Angelegenheit nicht wohl abthun, zu langen Ver-
handlungen fehlte es dem Kaiser an Zeit, denn dringende Angelegen-
heiten riefen ihn nach dem Innern Deutschlands. Somit musste sich
Ludwig begnügen, gleichsam nur den Grund zu legen, auf dem
dann weitere Verhandlungen bei günstigerer Gelegenbeit gepflogen
werden mochten. Die Verwandlung Kärntens in ein Kunkellehen,
die den Herzog verbinden musste, und noch obendrein die weiteren
Pläne Ludwig's förderte, konnte somit bewilligt werden, wenn es nur
an einer Klausel nicht fehlte, die dem Kaiser für jeden unvorge-
sehenen Fall freie Hand liess. In diesem Sinne wurde denn auch am
G. Februar 1330 die betreffende Urkunde ausgefertigt.
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. 227
Ludwig thut dem Herzog von Kärnten die besondere Gnade,
Treu und Freundschaft, dass er all' seinen Töchtern die er bereits
hat, oder die er noch bekommen wird, ebenso seines Bruders Töch-
tern verleiht alle die Lehen die er inne hat vom Reich. Will aber
Heinrich diese Lehen vermachen einem seiner Eidame, so soll das
dem Kaiser „gunst, wille und wort sein und doch also, das dies
unser getreuer oheim tun soll mit unserm rat und wissen". Das war
die Klausel, mit der Ludwig den Kärntner Herzog überlistete, so
dass dieser für seine geheimen Absichten gar nichts gewann. Denn
dieser Beisatz schloss ja doch stillschweigend alle Eidame aus, die
dem Kaiser unbequem sein konnten. Für den rechten Eidam zu sorgen,
musste Ludwig einstweilen der Zukunft vorbehalten , denn er reiste
augenblicklich nach Baiern ab (den 17. Februar ist er schon in München,
um seine Aufmerksamkeit den Reichsangelegenheiten zuzuwenden) *).
Am 13„ Jänner des Jahres 1330 war nämlich Friedrich der
Schöne von Osterreich gestorben. Die Herzoge von Österreich sahen
sich dadurch in eine sehr zweifelhafte Lage gedrängt, denn es Hess sich
nicht absehen, wie sich Ludwig gegen sie benehmen würde. Dess-
halb und wohl auch in Folge der fortwährenden Aufforderungen des
Papstes versäumten sie es nicht, sich durch Bündnisse zu stützen2).
Herzog Otto stellte sich an die Spitze eines Heeres; ein neuer
Kampf zwischen Osterreich und Baiern stand in Aussicht.
Allein Ludwig von Baiern hatte wenig Lust zu der erneuten
Aufnahme dieses Streites. Die Macht Österreichs war nicht gering;
der Krieg mit ihnen Hess wenig Vortheile hoffen; der Friede mit
ihnen raubte dem Papste einen mächtigen Anhang. Ferner hatte
Ludwig versprochen nach Italien zurückzukehren; dies konnte nur
geschehen, wenn Deutschland beruhigt war. Ludwig wünschte dess-
: halb den Frieden mit Österreich, und knüpfte Unterhandlungen mit
' Herzog Otto an, die zu einem solchen Resultate führen sollten.
Nun wissen zwar weder die gleichzeitigen Quellen, noch die
neueren Geschichtswerke etwas davon, dass schon in jener Zeit oder
überhaupt vor dem erst am 6. August abgeschlossenen Ungenauer
Frieden, Unterhandlungen zwischen Ludwig und den Österreichern
1) Die hieher gehörige Urkunde steht hei Steyrer, eol. 78, und orthographisch wohl
richtiger im 7. Bande der Beiträge etc., p. 212.
2) Die nicht unbedeutende Anzahl dieser Bündnisse ersieht man aus Lichnovvsky's
Regesten: 799, 800, 801, 803, 804, 806, 807, 810, 811, 813, 818, 819.
C/Co Karl Stög mann.
gepflogen wurden. Allein es lässt sich nachweisen, das dies wirklich
geschehen, und weil in jenen Verhandlungen auch die Kärntner Ange-
legenheit zur Sprache kam, müssen wir hier genauer darauf eingehen.
In einem (von Böhmer in dem ersten Bande der Fontes mitge-
theilten) Briefe Ludwig's des Baier an Alois Gonzaga, seinen Reichs-
vicar in Mantua , theilt er diesem mit „dass er wegen Verhinderung
des Königs von Böhmen auf den gesetzten 23. April nicht nach Italien
kommen könne. Nun aber habe er sich mit Allen in Deutschland,
besonders aber mit den Herzogen von Österreich geeinigt, dass er
sicherlich bis am 24. Juni mit einem Heere nach der Lombardei
werde kommen können." Dieser Brief ist datirt vom 23. April des
Jahres 1330; was also darin von einer Aussöhnung mit den öster-
reichischen Herzogen gesagt wird, kann sich nicht auf den erst im
August erfolgten Hagenauer Frieden beziehen. Es kann wohl nicht
angenommen werden, dass der Kaiser etwas blos aus der Luft
Gegriffenes gesagt habe. Es müssen mindestens um jene Zeit Ver-
handlungen im Gange gewesen sein, von denen er ein günstiges
Resultat erwarten mochte, welches er vielleicht nur zu vorschnell
verkündete. Der Kaiser war bald nach dem 14., jedenfalls schon am
23. April in München und blieb daselbst bis 6. Mai. Dies wäre die
mögliche Zeit für die angedeuteten Verhandlungen.
Es gibt nun Oefele im ersten Bande seiner Scriptores rerum
Boicarum, in dem Diplomatarium Ludovici Bavari, ex Begesto Auto-
grapho Notarii ejus Bertholdi de Tuttlingen, eine Urkunde unter dem
Titel: Copie eines Vertrages, so die Herren von Österreich nach
Herzog Friedrich's von Österreich Tode mit Kaiser Ludwig ausge-
tragen haben. Diese Copie ist übrigens unvollständig , ohne Angabe
des Ortes und Datums. Den Hagenauer Frieden kann sie nicht
betreffen, denn sie widerspricht in mehreren Puncten geradezu der
echten Urkunde dieses Friedensvertrages. Innere Gründe über-
zeugen uns, dass wir es mit einem früher abgefassten Actenstücke
zu thun haben; ein Umstand aber bezeichnet uns ziemlich genau die
Zeit, in der dasselbe abgefasst worden sein muss. Es findet sich
nämlich darin die Bestimmung, dass die Herzoge von Österreich dem
Kaiser gehorsam sein wollen behufs einer freundlichen Richtung die
er zwischen ihnen und dein Könige von Böhmen einleiten wird. Es
standen also damals die österreichischen Herzoge noch im feind-
lichen Verhältnisse zu Johann von Böhmen; diese Urkunde ist
!
Über die Vereinigung- Kärntens mit Österreich. 229
demnach vor dem Landauer Frieden, also vor dem 10. Mai abgefasst
worden. Da sie ferner der Aufschrift gemäss erst nach Friedrich des
Schönen Tod ausgestellt worden ist , Ludwig aber erst im Februar
nach Deutschland kam, so trifft die Zeit ihrer Abfassung gerade mit
der Zeit zusammen, die oben für die ersten Unterhandlungen zwischen
Ludwig und den Herzogen festgesetzt wurde und wir besitzen dem-
nach in dieser Copie das Actenstück jener Verhandlungen J).
Wir entnehmen aber aus diesem Actenstücke das sich am
besten als dasConcept eines vorläufigen Friedensvorschlages erklären
lässt, einen für die kärntnerische Angelegenheit höchst wichtigen
Passus. Kaiser Ludwig verspricht die Lehen die dem Reiche zunächst
ledig werden, mit Ausnahme von Brandenburg, Meissen und Thürin-
gen, den Herzogen von Österreich zu leihen. Dass dies zunächst auf
Kärnten ging liegt am Tage. Allein diese offenbar von Seite Öster-
reichs gestellte Bedingung war es vermuthlich auch, die den Erfolg
der Verhandlungen vereitelte. Sie war Ludwig' s Plänen zu sehr
entgegen, als dass er sie hätte annehmen können. Die Unterhand-
lungen wurden abgebrochen, von den Quellen -Schriftstellern, weil
fruchtlos und wenig bekannt, auch nicht erwähnt, und so von der
Geschichte völlig ignorirt.
Die Rüstungen der österreichischen Herzoge nahmen ihren Fort-
gang; bei Colmar concentrirten sich die Heere Ludwig des Baiern
und der Österreicher, und schon hatte es den Anschein, dass es hier
zu einer entscheidenden Schlacht kommen sollte, als plötzlich ein
Friedensvermittler auftrat, an den wohl Niemand gedacht hatte, König
Johann von Böhmen.
Am 10. Mai hatte Johann vorzüglich auf Andringen seiner
Barone den Landauer Frieden mit den österreichischen Herzogen
abgeschlossen3); im Monat Juli finden wir ihn als Friedensvermittler
vor Colmar. Noch einmal wies Herzog Otto die gemachten Anträge
zurück, aber endlich gab er ihnen doch Gehör, und am 6. August
erfolgte der Abschluss des Hagenauer Friedens3); derFriedenstractat
*) Dass die Urkunde bei Oefele mit dein eigentlichen Hagenauer Tractate nicht stimme, hat
Böhmer frageweise angeregt. Seine Frage fände durch das oben Gesagte wohl ihre
Erledigung.
a) Die Urkunde ist mitgetheilt bei Steyrer, eol. 26. Vergl. dazu .loh. Vict., p. 407.
3) Joh. Vict. pag. 409, Vitodnr. pag. 1796 Vit. Car. IV. Die Urkunde bei ülenseblager
und bei Oewold „Ludov. I?av. defensus" pag. 107.
230 Karl Stögmann.
enthielt mehrere Puncte die in den schon erwähnten Verhandlungen
besprochen worden waren ; jener Passus aber , der Kärnten betraf,
blieb völlig weg, wie dies in einem durch König Johann vermittelten
Frieden selbstverständlich war. Die Kärntner Frage wurde in dem
Hagenauer Vertrage mit Stillschweigen übergangen, aber dennoch
war dieser Friede von den wichtigsten Folgen für den weitern Ver-
lauf und die ganze Wendung jener Frage. Denn dieser Friede begrün-
dete die Freundschaft zwischen Kaiser Ludwig und den Herzogen
von Österreich. Es war vielleicht der grösste Fehler den sich König
Johann in seiner auswärtigen Politik zu Schulden kommen Hess, dass
er diesen Frieden vermittelte, dessen gefährliche Tragweite er völlig
übersah. Ihm war für den Augenblick nichts ungelegener als der
Kampf zwischen Ludwig und den Österreichern , ein Kampf der so
eingreifend in alle Verhältnisse Deutschlands erschien, dass er ohne
König Johann's Theilnahme weder ausgekämpft werden konnte, noch
durfte. Den König drängte es aber zu seinem abenteuerlichen Zuge
nach Italien. Um diesen antreten zu können, brauchte er einen schnel-
len Frieden in Deutschland. Als er diesen vermittelte, dachte er frei-
lich nicht im Entferntesten an eine feste und aufrichtige Einigung der
Feinde Baiern und Österreich, während schon seine nächsten Schritte
diese hervorriefen.
Von Hagenau eilte König Johann nach Tirol, wo er am 16. Sep-
tember in Innsbruck eintraf. Mit ihm waren die Grafen von Leiningen,
Zweibrücken, Saarbrück und Demandis (?). Die Heirath zwischen
Margaretha und dem Prinzen Johann wurde vollzogen, dem jungen
Paare von den kärntnerischen Herren gehuldigt, die alten Verträge
wurden erneuert, neue hinzugefügt »). Fröhliche Feste verherrlichten
diese Vorgänge. Als aber die Kunde davon nach Deutschland kam,
verfehlte sie nicht die bedeutendste Wirkung auszuüben, sowohl auf
die Herzoge von Österreich, die nun Kärnten als beinahe verloren
betrachten mussten , als auch auf Ludwig den Baier, der sich in der
ganzen Sache überlistet sah, denn nie war es seine Absicht gewesen,
dem Johann von Böhmen, dem er lange nicht mehr traute , Kärnten,
Tirol und damit den Weg nach Italien zu überlassen. So war der
Kaiser eben nicht in der freundlichsten Stimmung gegen den hinter-
listigen Heinrich von Kärnten, als Herzog Otto von Aachen aus nach
i) Die Urkunden im VII. Bde. der Beiträge etc.
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. CGI
Augsburg kam, entschlossen, die kaum angeknüpfte Freundschaft des
Kaisers gegen Johann's von Böhmen Schritte aufzubieten.
In den nun folgenden Unterhandlungen änderte Ludwig seine
ganze Politik. Kärnten gegen zwei so mächtige Bewerber , wie König
Johann und die österreichischen Herzoge, für sich und sein Haus zu
behaupten , schien ihm bei seiner stets gefährdeten Stellung in
Deutschland unmöglich. Aber mindestens Johann sollte das Land
nicht behaupten. Ludwig schloss sich völlig an die österreichischen
Herzoge an, und der Preis ihres Bündnisses mit ihm war die Anwart-
schaft auf Kärnten.
Nur Eines mochte dem Kaiser bedenklich erscheinen; das Ver-
sprechen das er vor wenig Monden dem Herzog Heinrich von Kärn-
ten gegeben hatte, „er könne sein Land seinemEidame hinterlassen".
Freilich hatte Heinrich die vorsichtige Klausel jenes Briefes, dass der
zukünftige Eidam mit Rath und Wissen des Kaisers gewählt werden
sollte, ausser Acht gelassen und so schon einen Vorwand zu ähnlicher
Nichtbeachtung des Vertrages gegeben. Dennoch schien es dem
Kaiser nöthig, noch eine kleine Spiegelfechterei durchzuführen,
um mit ihrer Hilfe leichter über das fatale, an Heinrich verliehene
Privilegium hinwegzukommen. Die Sache wurde folgendermassen
eingeleitet. Am 23. November ernannten der Kaiser und Herzog
Otto zusammen sieben Schiedsrichter, die alle zwischen den Fürsten
obschwebenden. Irrungen ausgleichen sollten. Die Wahl dieser
Schiedsrichter ist bezeichnend. Es waren keine Reichsfürsten; sondern
Herzog Otto wählte drei aus des Kaisers Rathe, den Grafen Berthold
von Greyspach, Heinrich von Gumpenberg, Ludwigs Vitztum, und
Heinrich von Breisingen, Ludwig's Hofmeister; und der Kaiser wählte
hinwieder drei aus des Herzogs Rathe; den Grafen Ulrich von Pfannen-
berg, den Truchsess von Dissenhofen und den Truchsess von Wald-
burg. Als „Übermann", wurde Rudolf von Hochberg bestimmt. In einer
eigenen Urkunde gelobten der Kaiser und Herzog Otto, Alles zu
halten, was die Schiedsmanner beschliessen würden, wenn sie nicht
von selbst schon etwas Anderes beschlossen hätten *)•
Am 26. November erfolgte der Ausspruch der Schiedsrichter.
Die Herzoge von Österreich bekommen Kärnten, sobald Herzog
Heinrich stirbt; Kaiser Ludwig bekommt das Oberland an derEtsch und
l) Diese Urkunde folgt im Anhange. Die übrigen, Kurz etc. a. a. 0.
232 Karl Stögmann.
im Innthal. Der Kaiser wird bestimmen, was Herzog Otto den Erben
Heinrich's zu leisten haben soll; sollte er aber dem Herzog darin zu
schwer thun,so werden die sieben Schiedsrichter darüber entscheiden.
Wer immer diesen Ausspruch liest, wird sich des Staunens nicht
enthalten können. Die Schiedsmänner sollen, wie es in ihrer Voll-
macht heisst, entscheiden, „über alle die stösse und auflaufe", die
zwischen den Fürsten und zwischen Ludwig und den Herzogen zu
entscheiden sind. Und dies thun sie in der Weise, dass sie das Land
eines dritten Fürsten für den Fall seines Todes unter die beiden
Parteien theilen! Was aber in aller Welt hatte Kärnten und Tirol
mit den „stössen und auflaufen" zwischen dem Kaiser und den
Herzogen zu schaffen.
Der ganze Schiedsrichterspruch ermangelt jedes rechtlichen
Grundes; er ist ein Ausspruch der Gewalt. Die Diener des Kaisers
und des Herzogs Otto entschieden, wie es ihnen vorgeschrieben war,
dass sie entscheiden sollten. Das Ganze ist eine Spiegelfechterei die
rein auf Rechnung Ludwig's zu setzen ist. Ihn beirrte sein dem Herzog
von Kärnten gegebenes Wort. Die Herzoge von Österreich, durch
keine ähnliche Verpflichtung gebunden, wahrten einfach die Interessen
ihres Hauses. Ihnen war es um eine Bürgschaft für das Wort des
Kaisers zu thun; die Form konnte ihnen sehr gleichgiltig sein,
ebenso gleichgiltig, inwiefern Ludwig das ihnen gegebene Ver-
sprechen vor sich rechtfertigen konnte.
Was übrigens zu Augsburg beschlossen worden war, konnte
doch nicht zur Ausführung gelangen, so lange Herzog Heinrich lebte,
und darum schien es auch am geratensten, die ganze Sache so geheim
als möglich zu halten.
Daher wissen auch die gleichzeitigen Quellen, so gut sie sonst
unterrichtet sind, nichts von diesem Übereinkommen. Erst später, als
der in diesen Verhandlungen vorausgesetzte Todesfall Heinrich's wirk-
lich eintrat, wurden auch die Verhandlungen selbst bekannt, vermuth-
lich dadurch, dass die Herzoge von Österreich sich nun darauf berie-
fen. Da erhob dann auch Karl IV., Jobann's Sohn, in seiner Selbst-
biographie die Beschuldigung gegen Ludwig von Baiern, dass er mit
den Herzogen Albrecht und Otto einen geheimen Bund geschlossen
habe, um die Herrschaft des jungen Johann von Luxemburg zu theilen,
mit Heimlichkeit und Falschheit, so dass er, Ludwig, Tirol bekommen
sollte, die Herzoge von Österreich aber Kärnten. Dass Karl mit
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. <£öd
dieser Beschuldigung sich auf den Ausspruch der Schiedsrichter zu
Augsburg beziehe, ist wohl nicht zu bezweifeln l).
So genau aber Karl IV. in dem Jahre 1335 wusste, dass und
was Ludwig mit den österreichischen Herzogen verhandelt habe, so
wenig wusste es im Jahre 1330 Johann.
Er hatte sich von Innsbruck nach Trient begeben, und dort alle
Vorbereitungen zu seinem Zuge nach Italien getroffen.
Die unglaublichen Fortschritte die Johann nun in Italien machte,
erregten dem Kaiser nicht geringe Besorgnisse.
Immer enger und fester schloss er sich nun an die österreichi-
schen Herzoge an, in deren Macht er eine Stütze gegen Johann's
gefahrvolle Pläne zu finden hoffte.
Nicht minder verderblich konnte Johann's wachsende Macht dem
Hause Österreich werden, und darum hielten auch die beiden Herzoge
fest an dem Bunde mit dem Kaiser, wie sehr auch Papst Johann XXII.
sich bestrebte, sie davon abzubringen.
Die Vorwürfe und Drohungen des Papstes in seinem Schreiben
vom 18. Jänner schienen weniger gefährlich, als des Luxemburgers
steigende Macht 2).
Als daher Ludwig im März (oder April) auf einem Beichstage
zu Nürnberg sich laut über Johann's Benehmen in Italien beklagte und
von den Fürsten den fiath erhielt: „Wenn der König von Böhmen sich
aneigne, was sein sei, jenseits der Berge, so möge er mit gutem
Bechte sich unterwerfen, was des Königs sei, diesseits der Berge,"
da war es vor Allen Otto von Österreich, der sich bereit erklärte, die
Könige von Ungern und Polen zu einem Einfalle in Böhmen im Bunde
mit Österreich zu bewegen 3).
Engere Bündnisse wurden noch im Monat Mai geschlossen. Otto
von Österreich empfing im Namen seines Bruders die Belehnung mit
allen österreichischen Ländern, und wurdezumBeichsvicar ernannt 4).
1) Vita Caroli IV, p. 248. Et cum frater noster debuisset accipere possessionem duea-
tus Karinthie et comitatus Tyrolis post mortem ipsius, tunc fecerat occulte ligam
Ludovicus, qui se gerebat pro Iinperatore, cum ducibus Austriae, Alberto videlieet
et Ottone ad dividendum dominium fratris nostri , oceulte. et t'alse, volens
idem Ludovicus habere comitatum Tyrolis, Duces vero ducatum Karinthie.
2) Raynald, Auiial. Eccles. tom XV, ad h. a. N. 20.
3) Genaue Nachrichten über diesen Reichstag gibt ein Brief an den Abt von Königs-
saal, in dem Chron. Aul. Reg. p. 455.
4) Böhmer, Reg. 1295—1300, p. 80.
234 Karl Stögmann.
Verbindungen mit Ungern wurden angeknüpft, bedeutende
Rüstungen betrieben; ein entscheidender Schlag gegen das Haus
Luxemburg sollte geführt werden *)•
Noch immer war König Johann in Italien; erst im Juni verliess er
das Land, um das Ungewitter zu beschwören, das sich inzwischen wider
ihn zusammengezogen hatte. Sein Scharfblick überschaute schnell das
Gefährliche seiner Lage , zeigte ihm aber auch den schwachen Punct
des gewaltigen, widei* ihn geschlosseneu Bundes. Ohne in sein Erbland
zu gehen und dort Anstalten zur Vertheidigung zu treffen, eilte er
geraden Weges nach Regensburg zu Kaiser Ludwig dem Baier.
Am 1. August war der König in Regensburg angekommen. Zwei
und zwanzig Tage lang verhandelten er und Ludwig der Baier auf
einer Insel der Donau, mit ihren verschwiegensten Räthen. Das
Resultat war, dass die beiden Fürsten sich über Alles vereinigten, ja
sogar eine Ehe zwischen ihren Kindern beschlossen.
„Es war dies zuvor Allen unglaublich gewesen" bemerkt der Abt
Peter von Königssaal, der dem Orte der Verhandlungen nahe war, ohne
von ihnen selbst etwas erfahren zu können 2).
Die grosse Heimlichkeit, mit der die Verhandlungen betrieben
wurden bewirkte, dass keine Quellenberichte vorliegen.
Auch eine umfassende Urkunde über die geheimnissvollen Ver-
träge ist nicht vorhanden.
Was an späteren Urkunden vorliegt (zum Beispiel mehrerer
Urkunden mit Bestimmungen über die von Johann besetzten italieni-
schen Städte), kann unmöglich als das Ganze der damaligen Einigung,
sondern nur als Einzelheit derselben, aufgefasst werden 3).
Dass in sehr kurzer Zeit nach dieser Zusammenkunft zu Regens-
burg die Versöhnungsversuche Ludwig' s gegenüber dem Papst unter
Johann's Einfluss beginnen, das dürfte einen Fingerzeig über die
eigentlichen Gründe jenes merkwürdigen Ereignisses abgeben.
x) Vergleiche die Urkunden bei Steyrer, col. 34, 36. Zuerst wurde der am 21. Sept.
1328 zwischen Österreich und Ungern geschlossene Friede erneuert. Weil aber in
diesem „Bündnisse gegen Alle", Karl von Ungern den König Johann ausdrücklich aus-
genommen hatte, so wurde nun in einer zweiten Urkunde bestimmt, dass dieses
Bündniss auch gegen ihn zu gelten habe.
2) Chron. Aul. Reg. p. 450. Weit mehr als der Königssaaler Abt weiss Mutius, ap.
Struv. p. 873, zu erzählen, der freilich 200 Jahre später schrieb, wesshalb man
weder ihm, noch Mannert, der ihm folgt, viel Glauben schenken dürfte.
3) Böhmer, Reg. 156— 158, dann 160, pag. 196.
Über die Vereinigung' Kärntens mit Österreich. «o5
So wenig nun auch von den Verhandlungen jener Tage bekannt
ist, so glaube ich doch, vermuthen zu dürfen, dass sie sich zum
Theile auch auf Kärnten bezogen haben.
Um aber diese Beziehung darstellen zu können, muss ich mir
erlauben, für einen Augenblick den Ereignissen etwas vorzugreifen.
Als im Jahre 1335, nach dem Tode Heinrich's von Kärnten,
der Streit um Kärnten zwischen Johann und den Österreichern
losbrach, verbreitete sich unter den Edlen von Kärnten und Tirol
das Gerücht, König Johann habe mit dem Kaiser abgemacht, ihm
Kärnten und Tirol gegen Brandenburg tauschweise zu überlassen.
Johann widersprach diesem Gerüchte in einer eigenen, vom 13. De-
cember 1335 aus Prag datirten Urkunde. Es sei mit Bed an ihn
gekommen, dass er mit dem, der sich Kaiser nennt, vor etlichen Jahren
soll getaidingt haben, dass er einen Wechsel mit dem Herzogthum
zu Kärnten, und mit der Grafschaft zu Tirol, wenn er dieser Lande
gewaltig würde, um die Mark Brandenburg thun wollte. Nun wisse
aber Gott wohl, dass dergleichen Bed und Taidung nie in sein Herz
gekommen sei 1)," dessenungeachtet gibt der vorsichtige und wahr-
heitsgetreue Johannes Victoriensis die bestimmte Nachricht: Es be-
stand ein Vertrag zwischen dem Kaiser und dem König von Böhmen,
dass ein Tausch der Mark Brandenburg um Tirol stattfinden sollte2).
Dass der König zu einer Zeit wo Ludwig durch seine neuerliche
Verbindung mit den Österreichern von diesem Tauschproject nichts
mehr wissen wollte, die ganze Sache ableugnete, könnte uns bei der
gerade nicht allzuzarten Gewissenhaftigkeit Johanna wenig wundern;
dass Ludwig die Ableugnung stillschweigend zugab, folgt einfach
daraus, dass er selber aus dem Bestehen auf dem Vertrage keinen
Vortheil mehr schöpfen konnte; ja im Gegentheile in den Augen der
Österreicher dadurch nur compromittirt worden wäre. Ich möchte
also wohl annehmen, dass ein solcher Vertrag zwischen Ludwig und
Johann bestanden habe. Dann aber fällt er höchst wahrscheinlich in
das Jahr 1331. In den zwanzigtägigen Verhandlungen, an deren
Schlüsse sich die beiden Fürsten „de omnibus" verglichen hatten,
mussten wohl auch Johann's offenkundige Absichten auf Kärnten zur
1) Die Urkunde bei Kurz, Beilage IV, p. 344, dann bei Hormayr, Beitrüge zur Geschichte
Tirols irn Mittelalter, Nr. 170, p. 400.
2) Job.. Vict., p. 424.
236 KarlStögmann.
Sprache kommen. Ludwig hatte seine Pläne auf Kärnten nie auf-
gegeben ; Johann hatte schon früher nach Brandenburgs Erwerbung
gestrebt, somit lag das Tauschproject nicht gar zu ferne. Die öster-
reichischen Herzoge wurden dabei freilich hintergangen, aber der
ganze Friedensschluss Ludwig's mit Johann war ja eine grosse Ver-
letzung der mit Österreich geschlossenen Verträge.
So viel über den von mir vermutheten Zusammenhang der Regens-
burger Beschlüsse mit der kärntnerischen Frage, für den ich freilich
nur Wahrscheinlichkeitsgründe aufzubringen habe.
Kehren wir nun zu dem Gange der Ereignisse zurück. Der
plötzliche Rücktritt Ludwig's, von dem durch ihn selbst gestifteten
Bunde zerstörte auch all' die hochfliegenden Pläne die die Verbün-
deten gehegt hatten. Dieser Krieg der die Macht des Hauses Luxem-
burg wenn nicht zerstören, doch bis zur Unbedeutendheit hinab-
drücken sollte, wurde ein so unbedeutender, dass Johann während
desselben sein Land verlassen und nach Frankreich sich begeben
konnte. Das Ganze verlief sich in Grenzstreitigkeiten der Barone,
welche die Länder verwüsteten , und doch keine Entscheidung her-
beiführen konnten. Endlich im Jahre 1332, als man beiderseits des
Streites müde war, schlössen die böhmischen Barone mit Einwilligung
ihres abwesenden Königs Frieden. Unter den Bedingungen war auch
die, dass König Johann Elisabeth, Friedrich des Schönen Tochter,
ehelichen sollte. Wie wenig innern Halt aber der ganze Friede
besass, ersieht man am besten aus einer Äusserung des scharfsinnigen
Peter's von Königssaal :
Et sie haec bella
Sedavit pulchra puella
Dulcia per verba —
■ Sed adhuc latet anguis in herba *)•
In diesem Frieden war Kärntens mit keiner Sylbe erwähnt.
Beide Theile mochten fühlen, dass eine Entscheidung über diese
wichtige Angelegenheit doch erst mit dem Tode Heinrich' s eintreten
könnte. Johann vielleicht dadurch sicher gemacht, dass die Kärntner
seinem Sohne schon gehuldigt hatten, trieb sich nach seiner Art im
Ausland umher. Vorsichtiger waren die österreichischen Herzoge.
») Chron. Aul. Reg. p. 455, 456, 458.
über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. 237
Sie ermangelten des Vortheils in Kärnten selbst eine feste Stütze zu
haben und darum strebten sie darnach, sich eine Partei im Lande zu
sichern.
So schlössen sie am 17. September 1334 ein ßündniss mit
Bischof Werntho von Bamberg , der nicht unbedeutende Besitzungen
in Kärnten hatte *). Wichtiger noch war das wahrscheinlich durch
Otto von Lichtenstein vermittelte geheime Bündniss mit dem Erz-
bischof Friedrich von Salzburg. Dieser verspricht geradezu, ihnen zu
Kärnten zu verhelfen, hundert Helme für sie zu rüsten , und seine
Vesten in Kärnten ihnen zu öffnen. Dieses Bündniss das durch
drei salzburgische und drei österreichische Schiedsleute und durch
Otto von Lichtenstein als Obmann verbürgt wurde, war am 29. März
133ö geschlossen worden3). Nicht minder thätig arbeitete Otto von
Lichtenstein daran, die Angesehensten des kärntnerischen Adels für
die Sache Österreichs zu gewinnen, was ihm bei seinem Schwager
Konrad von Auffenstein , dem Landmarschall Kärntens, auch gelang.
Mitten unter diesen geheimen Bemühungen starb plötzlich der
Königherzog Heinrich, am 2. April 1335 auf seinem Schlosse Tirol s).
Kaum hätte sich sein Tod zu einer ungünstigeren Zeit ereignen
können. Seine Tochter Margarethe war 17, ihr Gemal erst 14 Jahre
alt. Ihr Vormund und Schützer König Johann lag zu Paris darnieder,
an Wunden die er im Turnier erhalten. Eilboten die von den ver-
waisten Fürstenkindern an ihn gesandt wurden, erhielten nichts, als
den Trost, er werde kommen, sobald es seine Kräfte erlaubten. Allein
bis zu dieser Zeit blieben seine Gegner nicht müssig4).
Noch in demselben Monat, in dem Heinrich gestorben war, trafen
auch schon Otto von Österreich und Ludwig der Baier in Linz zu-
sammen 5). Die freundliche Stellung, in die der Kaiser 1331 zu
Johann von Böhmen getreten war, hatte längst wieder aufgehört. Es
hatten inzwischen jene räthselhaften Vorgänge stattgefunden, die
Ludwig beinahe zur Thronentsagung gebracht hätten. Die Folge
*) Die Urkunde bei Liinig, XVII, 44, ausgestellt: Graz 17. September. Gegenurkunde,
Lichnowsky Reg., 994.
2) Urkunde bei Steyrer, col. 89.
3) Jon. Vict., p. 413. Chron. Stams. B. f. I. Chron. Aul. Reg., p. 487, setzt den Tod
des Herzogs irrigerweise in den Monat März.
4) Joh. Vict., p. 41G.
5) Joh. Vict, p. 416.
238 Karl St «ig mann.
dieser Vorgänge war, dass der Kaiser sich mehr als je von Johann's
hinterlistiger Treulosigkeit überzeugt hielt, und sich desshalb eng an
Österreich anschloss, wie wir denn auch im Jahre 1335 wieder
Herzog Albrecht als denjenigen finden, der es über sich nimmt, die
Aussöhnung zwischen Ludwig und dem Papste zu Stande zu bringen.
Somit war die Stellung des Kaisers zu den Herzogen eine derartige,
dass er, als ihn Herzog Otto an seine Versprechungen mahnte, an
eine Nichterfüllung derselben kaum denken konnte. Er belehnte
demnach am 2. Mai die Brüder Albrecht und Otto von Österreich,
dessgleichen auch ihre Erben mit dem Herzogthume Kärnten, das
ihm und dem Reiche durch den Tod seines Oheims Heinrich ledig
geworden *).
Wie wenig auch dieser Schritt aus uneigennütziger Freundschaft
des Kaisers für die österreichischen Herzoge oder aus einer durch
sein Rechtsgefühl hervorgerufenen Anerkennung ihres guten Rechtes
hervorgehen mochte, so hatte der Kaiser doch dazu die volle Berech-
tigung, wie bereits des Breiteren dargethan worden. Allein sein Un-
muth gegen König Johann einerseits , anderseits seine rücksichtlose
Sorge für den eigenen Nutzen verleitete ihn noch zu einem andern
Schritte, für den sich keine Berechtigung in seiner kaiserlichen Macht-
vollkommenheit linden lässt. An demselben 2. Mai verlieh er den öster-
reichischen Herzogen auch die Grafschaft Tirol mit den Vogteien
zu Trient und Brixen mit Ausnahme eines genau bestimmten, gegen
Schwaben und Oberbaiern gelegenen Landestheils den er seinen
Kindern zu Lehen gab 2).
An diese Länder aber, die durch Heirath als freie Allode an das
Haus Görz gekommen waren, hatte der Kaiser kein Recht, sie waren
das rechtmässige Erbe Margarethens. Allein , dass es dem Kaiser in
der ganzen Angelegenheit weit weniger um das strenge Recht, als
um politischen Vortheil zu thun war, geht aus dem ganzen Verlaufe
der Dinge deutlich genug hervor.
Der voraussichtliche Widerstand den diese Belehnungen des
Kaisers finden mussten, forderte dringend auf, durch Bündnisse für
die Behauptung des neuen Besitzthums zu sorgen. So verhiess zu-
erst Kaiser Ludwig den österreichischen Herzogen Beistand gegen
x) Der Belehnungsbrief bei Steyrer, col. 84.
2) Loe. eit. col. 85.
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. 230
König Johanns, Kinder und Erben, gegen Heinrich von Baiern, seinen
Eidam, und gegen die Landherren im Gebirge und in Kärnten. Der
Kaiser wird mit keinem der Genannten Friede schJiessen ohne Beitritt
der Herzoge. Ein gleiches Bündniss schlössen die Herzoge Stephan,
der Pfalzgraf bei Bhein für sich und seinen Bruder den Markgrafen
Ludwig, dann die Herzoge Ludwig und Wilhelm von ßaiern mit den
österreichischen Fürsten, die hinwieder in einer eigenen Urkunde den
Genannten stete Hilfe versprechen gegen Jedermann, ausgenommen
das Beich, den König von Ungern, den Herzog von Sachsen, den
Erzbischof von Salzburg und den Bischof von Passau.
Besonders gilt die Unterstützung der Herzoge gegen Jene die
den genannten Verbündeten das Inntheil entreissen wollen. Kommen
die österreichischen Herzoge in den Besitz des Etschthales, so werden
sie den baierischen Herzogen die Strasse nach der Lombardei offen
halten *).
Nachdem sich solchergestalt ein machtiger Bund gebildet hatte,
für die Behauptung der den österreichischen Fürsten zugesprochenen
Länder, konnte man nun zur Besitzergreifung selber schreiten. Der
Kaiser erliess eine Aufforderung an den Landmarschall von Kärnten,
Konrad von AufFenstein , die österreichischen Herzoge als Herren
anzuerkennen 2). Eine gleiche kaiserliche Aufforderung folgte an
sämmtliche Herren, Städte und Landleute zu Kärnten 3). Die
Herzoge sandten den Grafen Pfannberg und Ulrich von Wallsee, den
Hauptmann Steiermarks, nach Kärnten, um das Land in ihrem Namen
in Besitz zu nehmen, oder es mit Waffengewalt zu unterwerfen.
Die herzoglichen Gesandten fanden die Krainer bereit, ohne
Widerstreben die Herrschaft Österreichs anzuerkennen, denn sie
wussten wohl, dass ihr Land eigentlich immer zu Österreich gehört
hatte und nur pfandweise an die Herzoge Kärntens war verliehen
worden. Somit lag in dem Bückfall dieses Landes nichts Besonderes
oder Ungewöhnliches. Bei den Kärntnern entstand Zwiespalt und
Bathlosigkeit. Der Landmarschall Konrad von Auffenstein hatte schon
am 27. April durch seinen dazu bevollmächtigten Schwager Otto
von Lichtenstein die Herzoge Albrecht und Otto als rechte Herren
») Loe. cit. col. 88, 8«.
2) Die Urkunde folgt im Anhange.
3) Steyrer, col. 87.
240 Karl Stögmann.
von Kärnten erkennen lassen. In einer neuen Urkunde vom 10. Mai
erneuerte er in sein und seiner Söhne Namen diese Anerkennung und
erklärte seine Lehen von den österreichischen Herzogen empfangen
zu wollen *). Die übrigen Edeln verlangten einen Termin; wenn
während desselben keine Hilfe käme, würden sie sich unterwerfen.
Die Tiroler dagegen sandten eine Gesandtschaft an die Herzoge,
deren Anführer und Redner der Abt Johannes von Victring war.
Die Gesandten hatten den Auftrag die Unmündigkeit der Kinder
Herzog Heinrich's und den Tod des Vaters den Herzogen vorzustellen,
und sie ihrem Schutze zu empfehlen. In Gegenwart Otto's von Lich-
tenstein erledigte sich der Abt seines Auftrages. Es war ein Beweis
für die hohe Achtung deren Albrecht überall genoss, und für das
Vertrauen auf seinen biedern wohlwollenden Sinn, dass die Tiroler
sich in solcher Weise an ihn wandten. Allein diesmal siegten Rück-
sichten höherer Art, die Interessen des Staates, die Consequenz der
die ganze Regierung Albrecht's leitenden Idee, Stärkung der Haus-
macht, über des Herzogs natürliches Gefühl. „Er und sein ganzes
Haus bedauere den Tod seines Onkels, weil er gleichsam der Älteste
der Familie gewesen sei, und er werde seine Tochter, wenn sie anders
seinen Rathschlägen Gehör geben wolle, in Allem liebevoll und treu
beschützen; Kärnten aber, das er von der Hand des Reiches habe,
wolle er nicht aufgeben und ebenso wenig Krain das er mit gutem
Rechte in Besitz genommen hätte, denn die Zeit der Verpfändung
sei verflossen. Etwas Anderes könne er ihnen für den Augenblick
nicht erwidern". Dies die Antwort des Herzogs.
Die Gesandtschaft deren Zweck somit vereitelt war, wandte sich
nun an den Kaiser. Der Abt erwähnte seines herzoglichen Oheims,
seiner treuen Dienste, und empfahl dem Kaiser seine Tochter, wie er
selbst sagt, mit aller ihm zu Gebote stehenden Wohlberedtheit. Allein
der Kaiser gab eine jener Antworten die in höflicher Weise Alles
verweigern. Er wolle sich die Sache gnädigst bedenken. Während
noch die Tiroler Gesandten am kaiserlichen Hoflager verweilten,
erschienen daselbst Markgraf Karl von Mähren, und Herzog Heinrich
von Baiern vor dem Kaiser, und erklärten laut, dass man ungerecht
und unerhört mit den Kindern des Herzogs von Kärnten verfahre.
Allein sie erzielten damit eben so wenig als die an die Herzoge
!) Beide Urkunden folgen im Anhange.
Über die Vereinigung' Kärntens mit Österreich. Z^i
geschickte Gesandtschaft der böhmischen Barone mit dem Propste von
Wissehrad und dem Bischof von Olmütz an der Spitze. Die Herzoge
erklärten kurzweg, lieber wollten sie Alles wagen und aufs Spiel setzen
als Kärnten zurückgeben *).
Inzwischen war der den Kärntnern gewährte Termin abgelaufen,
und Herzog Otto begab sich in Person mit einem Heere nach Kärnten,
um die Huldigung zu empfangend Am meisten wirkte der Brief des
Kaisers an die Städte, Herren und Landleute, der nun überall öffent-'
lieh verlesen wurde.
Der junge Johann war nicht im Stande dem Herzoge zu wider-
stehen , und zog sich nach Tirol zurück. Die Unterwerfung folgte
ohne Widerstand 2). Herzog Otto enthob den Konrad von Auffenstein
nebst einigen anderen Officialen ihrer Stellen 3); anstatt des ersteren
wurde Pfannberg Landhauptmann von Kärnten. In Krain wurde
Friedericus Libertinus, der von Heinrich eingesetzte Landhaupt-
mann, auch von Otto bestätigt. Weil aber die Kärntner Schwierig-
keiten machten, indem sie behaupteten , es könne kein Fürst des
Landes mit Recht Lehen ertheilen und Geriebt halten, wenn er nicht
nach alter Gewohnheit feierlich auf den Herzogsstuhl erhoben würde,
so fügte sich Otto dieser Sitte zur grossen Freude des Volkes und
zum nicht geringen Staunen und Vergnügen der österreichischen
Herren, die sich nicht wenig über die einzelnen Gebräuche des ganzen
Festes lustig machten. Nachdem so Kärntens Besitz von Seite der
Einwohner des Landes gesichert schien, eilte Otto nach Österreich
zurück um dort erst den eigentlichen Kampf um das Land aufzu-
nehmen *).
König Johann von Böhmen hatte alle diese Vorgänge auf dem
Krankenlager erfahren müssen. Endlich hergestellt eilte er mit der
grössten Schnelle aus Paris nach seinen Erblanden und kam am
30. Juli in Prag an 5). Gewaltig war sein Zorn erregt, vorzüglich
1) Joh. Vict., p. 417.
2) Joh. Vict. loc. cit. Chron. Aul. Heg-, p. 487. Karl IV. in seiner Selbstbiographie
schiebt, wohl nicht ganz mit Recht, die Hauptschuld aii dem Verluste Kärntens
auf Konrad von AulTensteiii.
3) Der Grund dafür lässt sich nicht absehen; das gute Einvernehmen mit den Auircn-
steinen dauerte fort.
4) Joh. Vict., p. 418, 419.
5) Chron. Aul. Reg., p. 486.
SiUb. d. phil.-hist. Cl. XIX. Bd. II. Ilft. 16
242 Karl S log' man n.
gegen Ludwig den Baier, und er schwur öffentlich sich nie mehr
mit diesem versöhnen zu wollen *). Das erste, was er in Prag vor-
nahm, war ein Aufgebot gegen den Kaiser und die österreichischen
Fürsten zu erlassen. Dies geschah den ersten Tag nach seiner
Ankunft. Die rasche Entschlossenheit die er so oft bewiesen, zeigte
sich auch diesmal aufs Glänzendste. Der Bischof von Olmütz und der
Herzog von Sachsen eilten in des Königs Namen nach Österreich um
die letzten Vorstellungen zu machen. Die Herzoge möchten doch die
Gesetze der Gerechtigkeit beobachten und das Entrissene zurück-
stellen. Der König wolle lieber sein Schwert in der Scheide ruhen
lassen, als es im Kampfe entblössen. Allein was geschehen sei, könne
er nicht so hinnehmen, die Herzoge sollten sich zur Rückgabe oder
zum Kriege bereit halten. Die Antwort der Herzoge lautete einfach
und entschieden : Sie wollten lieber den Krieg aufnehmen, als Kärnten
fahren lassen 2). Inzwischen hatte König Johann 's Aufgebot nicht
geringe Streitkräfte zusammengerufen. Auch war es ihm gelungen,
den König von Ungern auf seine Seite zu ziehen und mit ihm am
3. September auf dem Wissehrad ein Bündniss gegen Jedermann
abzuschliessen. Die Verzichtleistung auf den polnischen Königs-
titel von Seiten Johann's war die Lockspeise gewesen, mit der er den
König von Ungern verleiten konnte, seine früheren Verträge mit
Österreich so rücksichtlos zu missachten; die Einmischung der pol-
nischen Angelegenheiten verzögerte aber wohl auch den raschen
Ausbruch des Krieges gegen Österreich.
Die Könige von Ungern und Polen scheinen zu einer ausgie-
bigen Hilfe nicht eher geneigt gewesen zu sein , bis der Friede mit
Polen in allen Puncten festgestellt wäre. Wohl hauptsächlich um
zu derdesshalb verabredeten Zusammenkunft Zeit Zugewinnen, begab
sich Johann nach Regensburg zu Kaiser Ludwig, mit dem er am 16.
September einen Waffenstillstand bis Johannis des nächsten Jahres
abschloss, in den auch die Herzoge von Österreich eingeschlossen
waren 3). Während dieser Zeit sollte zu Regensburg ein Friede
verhandelt werden. König Johann benützte die Zeit des Waffen-
stillstandes, um während eines dreiwöchentlichen Aufenthaltes in
1) Alb. Arg. ap Urst., tora II, p. 125.
2) Joh. Vict., p. 420.
3) Chron. Aul. Reg-., p. 486. Vergl. Buchner, 5, p. 459.
Ober die Vereinigung Kärntens mit Österreich. «4o
Ungern mit den Königen von Ungern und Polen sich vollständig zu
einigen *).
Indessen schlichen die Friedensverhandlungen zu Regenshurg
ihren langsamen Gang; mit Streitigkeiten, wer in den Waffenstill-
stand eingeschlossen sei, wer nicht, wurde die Hauptsache verzögert,
bis es sich endlich herausstellte, dass die Verhandlungen zu keinem
Resultate führen könnten. Darüber waren drei Monate vergangen,
und das Jahr 1335 ohne weitere Erfolge für ein oder die andere Partei
abgelaufen.
Zu Anfang des Jahres 1336 begab sich nun Kaiser Ludwig
nach Wien, vermuthlich um gemeinschaftlich mit den Herzogen den
Kriegsplan gegen Böhmen zu berathen. Ehrenvoll wurde der Kaiser
aufgenommen, aber die Orgeln schwiegen überall während der Anwe-
senheit des Gebannten. Nach mehrfachen Verhandlungen kehrte der
Kaiser wieder nach München zurück 2).
Inzwischen hatte Johann von Böhmen erreicht, was er durch
die Abschliessung des Regensburger Vertrages erzwecken wollte,
und hielt demnach nicht mehr für nöthig, den Ablauf des Waffen-
stillstandes derauf den 24. Juni festgesetzt war, abzuwarten, sondern
brach schon im Monat Februar am Tage des h. Mathias (25. Februar)
von Prag auf, und fiel in Österreich ein. Die ganze Zeit der Fasten
und Ostertage hindurch verwüstete er nun mit Feuer und Schwert
die Gegenden nördlich an der Donau 3).
Inzwischen hatte auch Otto aus Österreichern, Steirern , Kärnt-
nern und Krainern ein nicht unbedeutendes Heer aufgebracht, mit dem
er dem Könige von Böhmen gegenüber ein Lager schlug. Allein
während er durch mehrere Tage vergebens die Ankunft des Kaisers
erwartete, der inzwischen Baiern noch nicht verlassen hatte4),
rückten im feindlichen Lager Hilfs truppen der Ungern ein, und Johann
von Böhmen Hess zum Angriff rüsten.
*) Chron. Aul. Reg., p. 489. Vita Car. IV., p. 230.
2) Joh. Vict., p. 420. Vergi. Böhmer, Reg. 1722, 1723, p. 107.
3) Chron. Aul. Reg., p. 490. Joh. Vict., p. 420.
4) Der Herzog war früher aufgebrochen , als es mit dem Kaiser verabredet worden
war. Es folgt dies aus einer späteren Stelle des Joh. Vict., p. 421. Duces Impe-
ratoris accipiunt ambassatam, admirantis, quod contra statulum et extra placitos
dies dux Otto egressus fuerat ad bellandum.
i6*
244 Karl Stögmaun.
8
Da, plötzlich mitten in der Nacht, floh Herzog Otto von panischem
Schreck ergriffen, mit einigen Wenigen heimlich gegen Wien. Man
hatte ihm den Verdacht eingeflösst, dass Verrath in seinem eigenen
Heere sich eingeschlichen habe, dass einige Grosse die Absicht hätten,
in der Schlacht zum Feinde überzugehen, und desshalb schon die
ungrischen Feldzeichen bei sich verborgen hätten, ja dass man ihm,
dem Herzog, selber nach dem Leben strebe. Der dadurch bewirkten
Flucht des Führers folgte die Auflösung und Zerstreuung des ganzen
Heeres, ungestraft verwüstete nun König Johann das österreichische
Gebiet, eroberte mehrere feste Plätze, machte bedeutende Gefangene,
und kehrte dann, nachdem er an mehreren Orten Besatzungen zurück-
gelassen, nach Prag zurück, um dort das Gold zur Fortsetzung des
Krieges zu erpressen J).
!) Joh. Vict., p. 420. Chron. Aul. Reg. 490. Etwas confus: Joh. Vitodur, p. 1824. Ganz
eigenthümlieh ist der Bericht des Chronicon Zwetlense; ap. Pez, I, p. 539. A. U.
1336. Johannes Rex ßohemie iterum jam tertia vice accepta occasione, collecto
exercitu, volebat Austriam intrare ; Rex vero Ludvicus, congregato exercitu magno,
Duces nostros juvando, volehat superius de Waharia Bohemiam intrare, cui Rex
Bohemie primo cum suo exercitu occurit. Cumque vidisset fortitudinem adversariorum,
fugit, non Valens faciem Regis Ludevici sustinere, descenditque per terram suam,
castra metatus est juxta Znoymani Dux autem Otto cum maxima multitudine peditum
venit in occursum ejus. Cumque in crastino essent pugnaturi , nescio quo consilio
occulto inter se decreto factum est, ut rex Bohemie retro se in Bohemiam fugeret
Dux autem noster cum omnibus fugit, suis non retro respicientibus.
Der erste abweichende Punct dieser Erzählung, die Flucht Johann's vor Lud-
wig, beruht auf einer offenbaren Zeitverwechslung; der Bericht des Joh. Vict. und
die Regesten beweisen , dass Ludwig erst später (Juli) aus Baiern aufbrach. Der
gegen die Böhmen sehr eingenommene Chronist machte aus dem spätem Rück-
zuge des Königs eine Flucht, die er noch obendrein zu einer ganz unmöglichen
Zeit geschehen lässt. Auch der zweite Punct, die Flucht der Böhmen aus dem
Lager, ist eine Erfindung des Chronisten, zu der ihn sein durch den Triumph der
Feinde über Otto 's Flucht beleidigter Patriotismus verleitet haben mag. Das Factum
ist mehr als unwahrscheinlich, dass ein ganzes Heer die Flucht ergreift, das eben
erst bedeutende Verstärkungen erhalten hat. Auch hätte Joh. Vict. ein so wichtiges
Ereigniss nicht verschwiegen. Weiter berichtet nun der Chronist von Zwetl, der
König sei von der Flucht zurückgekehrt, habe Guntharsdorf, Mauerperg, Weiger-
werch erobert, Seefeld nach vierwöchentlicher Belagerung eingenommen und
sei durch Schwaben heimgekehrt.
So bestimmt diese Angaben lauten, so können sie doch nicht vollkommen
richtig sein. Die nächtliche Flucht der Österreicher fällt auf den 24. April; der König
kam nach Prag am 24. Mai , folglich blieben für die eben erzählten Ereignisse
30 Tage. Nimmt man davon die 28 Tage , die die Belagerung Seefelds dauerte,
weg, so bleiben für den Rückzug, die Wiederkehr aus Böhmen, die Eroberung der
drei anderen Plätze und den Rückzug nach Prag nicht mehr als — zwei Tage. Man
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. 245
Auch des Königs Sohn Karl hatte von Tirol aus den Krieg gegen
den Grafen von Görz, den Bundesgenossen der Österreicher, mit Glück
geführt *).
Herzog Otto aber wurde von seinem Bruder zürnend empfangen,
und klagend rief der kranke aber geistesstarke Fürst , dass seinem
Hause eine solche Schmach noch nie wiederfahren2).
Am 21. Juni verliess der König Prag, wo er durch Gewalttätig-
keiten aller Art an 20.000 Mark Silber zusammengebracht hatte,
und zog neuerdings nach Österreich, wo er mit den Königen von
Ungern und Polen bei Marcheck sich vereinte 3). Die österreichi-
schen Herzoge hatten ebenfalls ein Heer gerüstet, zu dem sich dies-
mal auch Herzog Albrecht begab, seine Krankheit nicht achtend, um
eine Wiederholung der Ereignisse des frühern Feldzuges zu ver-
hüten *). Auch König Ludwig war endlich im Juli mit einem Heere
aufgebrochen, und bedrohte Niederbaiern, das Land des dem Böhmen-
könige verwandten und verbündeten Herzogs Heinrich. Auf diese
Nachricht eilte Johann aus Österreich über Budweis und Camb nach
Straubing seinem Eidame zu Hilfe, dessen Land inzwischen auf
eine kaum je erhörte Weise verwüstet worden war 5), und lagerte
sich bei Landau an der Isar, wo er sich aufs Beste verschanzte.
Ludwig schlug zwischen dem Cistercienserkloster Adlersbach und dem
Donaustrome sein Lager, in das bald die österreichischen Herzoge
über Passau heranrückend einzogen. Zwölf Tage vergingen so unter
täglichen kleinen Gefechten; am 13. brach Ludwig plötzlich auf, und
zog über Passau nach Linz , vorzüglich durch die österreichischen
Herzoge bewogen, die von Oberösterreich aus einen Einfall in Böhmen
beabsichtigten. König Johann zögerte noch einen Tag zu Landau, um
abzuwarten, wohin der Kaiser sich wenden würde; dann zog er in
Eilmärschen denselben Weg, den er gekommen war nach Böhmen
zurück 6). Da änderte noch einmal Ludwig's wankelmüthiger Sinn
kann es demnach nicht wagen, diesen Bericht in allen Einzelheiten für glaubwür-
dig hinzunehmen.
i) Vita Car. IV., p. 251.
2) Joh. Vict., p. 420.
3) Chron. Aul. Reg., p. 491.
4) Joh. Vict., p. 421.
5) Chron. Salisburg. Pez I, p.4U. Pas Jahr ist irrig 1337 angegeben.
6) .loh. Vict.. p. 422, Chron. Aul. Reg. p. 492, 493. Job. Vitod, p. 1827.
240 Karl St ög mann.
und seine Habgier unvermuthet den Gang der Ereignisse, der sich
für Österreich so günstig gestaltet hatte, denn auch die Ungern hatten
das Marchfeld verlassen, und sich über die Grenze zurückgezogen *).
Nun aber verlangte Ludwig von den Österreichern die Verpfändung
mehrerer fester Plätze in Oberösterreich. Nicht leicht konnten die
Herzoge ein solches Zugeständniss machen , und damit einen baieri-
schen Fürsten festen Fuss fassen lassen in einer Provinz, die beinahe
immer ein Zankapfel zwischen Baiern und Osterreich gewesen war.
Daher antworteten sie: „Sie könnten diese bis dahin immer ungetheilte
Provinz auch nicht um einen Fleck Landes verkürzen , anderswo
würden sie sich seinen Ansprüchen nach Verdienst bereitwillig zeigen."
Ludwig mochte die Forderung gestellt haben, weil er hoffte, aus der
Notwendigkeit seines Bündnisses für Österreich Vortheil ziehen zu
können, mehr vielleicht noch, weil es ihm überhaupt um einen Vor-
wand zu thun war, dieses Bündniss selbst aufzulösen, das ihm den
Österreichern zu viel Vortheil zu gewähren schien. Eine völlige Besie-
gung des Luxemburgers hätte die österreichische Macht zu einer nur
zu gefährlichen Höhe erhoben, und lag daher nicht in der Absicht
des Kaisers.
So brach er denn mit seinem ganzen Heere nach Baiern auf.
Der Herzog Ulrich von Würtemberg und der in diesem Kriege zum
Markgrafen erhobene Graf von Jülich folgten ihm; die Herzoge sahen
sich von ihren Bundesgenossen verlassen 2).
Der Erfolg des fortgesetzten Krieges war durch diese Vorfälle
für die Herzoge mindestens ein sehr unsicherer geworden. Aber auch
König Johann war nicht abgeneigt, diesen Krieg zu beenden. Es fehlte
ihm an Geld; sein vorzüglichster Feind war Ludwig, nicht die
Österreicher.
Die ungünstigen Nachrichten die er von seinem Sohne Karl
erhielt, mögen ihn noch mehr in dieser friedlichen Gesinnung bestärkt
haben 3). So trafen die Wünsche der Gegner in der Hauptsache
zusammen; in den einzelnen Puncten aber war es schwer, eine
Einigung zu erzielen. Desshalb nahmen die zuerst zu Linz angeknüpften
*) Verschiedene Angaben hierüber hat Joh. Vitod, p. 1824.
2) Chron. Aul. Reg-., p. 493. Joh. Vict., p. 422.
3J Vita Car. quarti, p. 251, 252. Trident und das Etsehthal war von den Italienern
bedroht.
Über die Vereinigung- Kärntens mit Österreich. 247
Friedensverhandlungen nur einen langsamen Verlauf. Ohne Resultat
schied man von Linz. Bei einer neuen Zusammenkunft zu Freistadt
an der Donau zwischen Grein und Ips trat Albrecht's Gemahlinn
Johanna als Vermittierinn auf, und bewirkte wirklich am 4. September
einen vorläufigen Friedensschluss i). Die genaueren Puncte des-
selben wurden im nächsten Monate bei einer neuen Zusammenkunft
zu Enns festgestellt, wo endlich am 9. October der Friede definitiv
abgeschlossen wurde, unter folgenden Bedingungen.
Johann von Böhmen leistet für sich und seine Erben, insbesondere
für seinen Sohn Johann, dessen Gemahlinn Margaretha und ihre
Schwester Verzicht auf das Herzogthum Kärnten , Krain und die
March. Ausgenommen sind dieBezirke jenseits derSachsenburch, die
dem Erzstift Salzburg gehören, dann der dem Lande Tirol einverleibte
Theil an der Drave, endlich das Schloss Aufienstein, und was die
Herren Konrad von Auffenstein und Liebenberg besitzen. Der König
und sein Sohn verpflichten sich endlich, bis zum Feste des heiligen
Georg, d. i. den 24. April alle Briefe und Urkunden zurückzugeben,
die sie über die besagten Länder besitzen. Der Erzbischof von Salz-
burg, die Gräfinn Beatrix von Görz und Graf Albrecht von Görz
werden an ihren Rechten unbeschädigt verbleiben.
Dagegen entsagen die österreichischen Herzoge zu Gunsten
Johann's von Tirol feierlich allen Ansprüchen auf Tirol, und werden
gleichfalls alle darauf bezüglichen Urkunden bis 24. April des näch-
sten Jahres ausliefern. Znaim, das dem Herzog Otto für den Braut-
schatz seiner Gemahlinn verpfändet ist, wird dem König von Böhmen
zurückgegeben, und ihm überdies Laa und Waidhofen sammt dem
Schlosse für 10.000 Mark Prager Groschen verpfändet 2).
Im folgenden Jahre 1337 bestätigte König Karl von Ungern
den Frieden zu Enns 3).
Somit war der Streit um Kärnten in der Hauptsache abge-
schlossenworden. Kraftlos und darum unbedeutend waren die Versuche
i) Joh. Vict., p. 422. Chron. Aul. Reg. p. 493. Ziemlich unklar: Job. Vitodur, p. 1824.
2) Alle diese Bedingungen sind in einer Reihe von 8 Urkunden ausgestellt zu Enns,
während des 9., 10. und 11. Octobers, verzeichnet. (Vergl. Steyrer, col. 97, 98.
Liinigl, p. 1015. Lichnowsky, Regesten 1081 — 1086 inclus.) Die Rückgabe von
Znaim findet sich als Bedingung angegeben in der Vita Car. IV., p. 252. Die Ver-
pfändung von Laa und Waidhofen als Friedensbedingung erhellt aus einer Urkunde
von 1341.
•') Steyrer, col. 117.
248 Karl Stögmann.
von Seite der Söhne König Johann's, den Kampf noch einmal zu
erneuern. Zwar erklärten sie die Verträge ihres Vaters mit den öster-
reichischen Herzogen für ungiltig, und schwuren im Vereine mit den
tirolischen Herren nicht anzulassen, bis sie Kärnten wieder gewonnen
hätten1); allein alle Versuche, ihre Pläne zu verwirklichen, miss-
langen. Im August 1338 begab sich Herzog Albrecht selbst nach
Kärnten, und ordnete die Angelegenheiten des Landes 2). Den
Landesherren, Rittern und Knechten wurden ihre Freiheiten bestätigt;
ebenso erhielt Klagenfurt die Bestätigung seiner hergebrachten
Stadtrechte3); ein Gesetz verbot alle Zweikämpfe im Lande*).
So zeigte sich Albrecht als kräftiger Beherrscher des Landes, dem
zu widerstehen nur fruchtlos sein konnte. Dennoch gab Markgraf
Karl erst am 15. December 1341 seine Einwilligung in den Ennser
Vertrag 5); Johann und Margaretha gaben sie nie. Desshalb behielten
auch die österreichischen Herzoge Laa und Waidhofen, das sie dem
Ennser Vertrage gemäss, an Johann von Böhmen hätten verpfänden
müssen, mit ausdrücklicher urkundlicher Bewilligung des Königs6),
und trösteten sich über die Drohungen Johann's und Margarethens,
wie der Abt von Victring meint, mit den Worten des Virgil:
„Grandia saepe quibus mandavimus ordea sulcis Infelix lolium
et steriles naseuntur avenae."
Werfen wir nun noch einen Blick auf die dargestellten Ereig-
nisse zurück, so können wir sagen:
Die Erwerbung Kärntens war das Resultat verwickelter politi-
scher Combinationen. Die besonnene, ausdauernde Politik Herzog
Albrecht's siegte über die ränkevolle List , wie über die glänzende
Tapferkeit Johann's von Böhmen.
Die Vereinigung Kärntens ist ein Sieg der Habsburger in ihrem
Kampfe mit dem Hause Luxemburg, ist ein Sieg der Idee, die das
ganze Haus der Habsburger leitete, in besonnenem, kräftigen Fort-
schritte, langsam, aber sicher ein grosses mächtiges Österreich zu
begründen.
i) Joh. Vict., p. 424.
2) Joh. Vict., p. 429.
3) Lichnowsky, Reg. 1170, 1171, 1172.
4) Steyrer, col. 121.
5) Steyrer, eol. 130.
6) Steyrer, col. 129.
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. ä49
Urkunden - Beilagen.
I.
König Rudolf belehnt auf Bitten seiner Söhne Albreeht und Rudolf den
Grafen Meinhart von Tirol mit dem Herzogthume Kärnten, welches er
früher seinen Söhnen verliehen hat, und welches ihm nun diese zurücksagen.
Zugleich bestimmt er das Verhältniss des neu ernannten Herzogs zu Krain,
und zu den Herzogen von Osterreich. Augsburg, am 1. Februar 1286.
Rudolfus dei gratia Romanorum Rex, Semper Augustus Omnibus
Im perpetuum. Ex Augustalis benevolentie largitate providere consue-
vit benemeritorum fide'ium suorum praeclara meritagraciosisamplecti
favoribus et condignis bonorum insigniis munißce premiare, quod
exemplo ceteri provocati, ad devotionem Imperio debitam feruentiori-
bus animis se disponant. Eapropter noverit presens etas etfuturi tem-
poris succesiva posteritas, quod Illustres Albertus et Rudolfus, Duces
Austrie et Stirie, Domini Carniole, Marcbie et portus Naonis, prinei-
pes et filii nostri dilecti apud Augustam in nostra presentia constituti
Celsitudini nostre devotis preeibus institerunt, quatenus Principatum
sive Ducatum terre Karintbie, quo ipsos iam dudum cum ceteris Du-
catibus videlieet Austrie et Stirie supradictis de consensu prineipum
Electorum. Jus in Electione Romani Regis habentium inuestiuisse re-
coligimus in Augusta in manus nostras libere resignatum speetabili
viro Meinhardo, Comiti Tyrolensi et beredibus suis conferre ac ipsum
de eodem solleinpniter investire de Regali nostra Clemencia dignare-
mur. Nos igitur prelibati Comitis merita, grata quoque, que nobis et
Imperio Romano frequenter impendit obsequia, et que adbuc impen-
dere poterit graeiora benignius intuentes et sollertiusadvertentos quod
crescente numero Imperii prineipum Romanorum vires Imperii sui ro-
boris pariter et decoris suseipiunt incrementum, memoratum Meinbar-
dum pro se et suis heredibus de Ducatu predicto terre Karinthie, in
manus nostras per filios nostros, Duces predictos libere resignato ad
devotam ipsorum instanciam adiuneta sollempnitate debita et consueta
curauimus inuestire Eundem cum suis beredibus, qui sibi in eodem
Ducatu successerint Juri honori et titulo ceterorum Imperii prineipum
perpetuo ascribentes. Sed ne ex infeodatione predieta lnter prefatum
Albertum filium nostrum suosque successores in Ducatibus sive Do-
minus supradictis ex una et Jamdictum Mcinbardum Ducem suosque
250 Karl Stögmaim.
Successores in Ducatu Karinthie ex parte altera ulla in posterum dis-
sensionis materia valeat suboriri tarn ipsi Alberto quam dicto Mein-
hardo ac successoribus eorundem Imperpetuum taliter providemus hoc
expressius attestantes, quod ex collacione Ducatus terre Karinthie
perNos ipsi DuciMeinhardo nunc facta eidem Meinhardo vel suis suc-
cessoribus in eodem nulluni ius penitus in terris Carniole et Marchie.
Sclavonice, que vulgo Windisrnarch dicitur, acquiratur, quin pocius
dicte terre cum Ministerialibus, Castris, Civitatibus, Advocatiis prediis
ac ceteris suis pertinenciis universis libere apud filium nostrum pre-
dictum, suosque Successores remaneant cum omni Juris plenitudine,
sicut eidem per Nos iam pridem apud Augustam Sceptro nostro regio
sunt collate. Salvis nichilominus ipsi Alberto filio nostro suisque Suc-
cessoribus universis castris, civitatibus Ministerialibus ac ceteris bonis
et Juribus quocumque nomine censeantur, si quas vel si quae in dictis
terris Carniole et Marchie Sclavonice ab olim principes sive Duces
Karinthie quocumque jure vel titulo possederint. Ad que dictus Dux
Meinhardus suique Successores nullum omnino Juris aut facti respec-
tum habebunt. Ducatum quoque terre Karinthie Dux Meinhardus aut
sui heredes cum omnibus illis Juribus et honoribus possidebunt, sicut
ipsum Illustres quondam Bernhardus et Ulricus Duces Karinthie Illu-
strium virorum Leupoldi et Friderici Ducum Austrie et Stirie tempo-
ribus possederunt eotamen semper excepto, quod si quas Civitates,
Castra, bona vel iura quocunque nomine censeantur Duces Jamdicti
Karinthie in terris Carniole et Marchie supradictis sicut premisimus,
tenuerunt salva et integra filio nostro Alberto ac Successoribus suis
remaneant et ab ipso terrarum suarumDominio nullo umquam tempore
sequestrentur. In Ducatu quoque terre Karinthie omnia illa jura que
Leupoldus et Fridericus principes supradicti tarn in hominibus quam
in bonis inibi tenuerint filius noster predictus suique successores
Austrie et Stirie Duces similiter et pari Jure per omnia possidebunt
Preterea Dux Meinhardus predictos Ministeriales filii nostri in se et in
suis Castris in bonis ac Juribus, que in Karinthia possident, non gra-
vabit in aliquo contra iusticiam nee artabit, nee eciam Castra vel pos-
sessiones eorum, quoque ea iure possideant, comparabit, Idipsum
quoque quoad omnes filii nostri Ducatus et terras Dux predictus fide-
liter observabit. Qua lege eciam filium nostrum restringimus vice
reeiproea ut nee ipse videlicet in Ducatu Karinthie possessiones aut
Castra Ministerialium dicti Ducis Meinhardi quocumque ad ipsos iure
Über die Vereinigung Kiirntens mit Österreich. 25 I
spectantia comparare presumat. Universis itaque Nobilibus , Ministe-
rialibus, Militibus, Clientis, Civibus ac Ceteris qui predicto Ducatui
fidelitatis bomagio ac debite servitutis obsequio astringantur per ipsum
Ducatum Karintbie constitutis Auetoritate presentium districte perci-
piendo mandamus quatenus dicta Meinbardo tamquam suo vero Duci
et Domino devotione debito intendentes integra suiiuraDucatus cidem
exbibeant et assignent. In quorum omnium memoriam et robur per-
petuo valiturum presens scriptum exinde conscribietMajestatis nostre
sigillo iussimus communiri. Testes bujus rei sunt Venerabiles Ru-
dolfus Salzburgensis Archiepiscopus, Cancellarius noster, Henricus
Basiliensis, Wernbardus Pataviensis , Henricus Ratisponensis, Rein-
potoAysfetensis, HartmannusAugustensis, Hartnidus Gurcensis, Cbun-
radus Cbimensis et Cunradus Lavantensis Ecclesiarum Episcopi Nec-
non Illustres Ludovicus Comes palatinus Reni et Henricus frater suus
Duces Bavarie, Fridericus Lantgravius Turingie et Nobiles viriBurc-
hardus comes de Hoenbergb Rudolfus et Henricus fratres Comites de
Monteforti et Fridericus Burggravius de Nurenberk et aliquam plures
fide digni Signum Serenissimi domini Rudolf! Regis Romanorum In-
dictissimi Datum Auguste Kalendis Februarii Indictione XIV Anno
domini MCCLXXXVI Regni vero nostri tertio decimo.
K. k. g. A. P. 0. Sig. pend.
Willebrief Herzog Albrecht's von Sachsen zur Belehnung Meinhart's von Tirol
mit Kärnten, auf Ansuchen der Herzoge von Österreich, welche dieses Land
zum Lehen haben, es aber zurücksagen. Nürnberg, 28. März 1285.
Albertus dei gratia Dux Saxonie, Angarie et Westfalie burg-
graviusque Magdeburgensis omnibus inperpetuum. Imperii celsitudo
decoris tociens pociora sue subsistentie fulcimenta recipit, et vires
forciores assumit quociens numerus principum, quibus idem Imperium
quasi collumpnis egregiis potenter innititur adaugetur. De quorum
utique multitudine Imperialis excellencia tanto sublimior conspicitur,
quanto in eisdem principibus firmitate prestabili solidior invenitur —
qua Igitur Illustres principes domini Albertus et Rudolfus, Duces
Austrie et Stirie pertinuerunt de nostro beneplacito et consensu pro-
cedi, quod Serenissimus dominus noster Romanorum Rex Inclitus de
Ducatu Karintbie. quem ab eo iidem principes tenent in feoduin ad
resignationem ipsorum liberamSpectabilem virum dominum Meinbardum
252 KariStögmann.
comitem Tyrolensem , quem adornat generosi sanguinis altitudo,
quemque prout cognovimus ex praeclare fame praeconio attolit rerum
oppulentia et potestas infeodet et clarescere faciat in catervaprincipum
honore et gloria principatus nos decus et decorem Imperii amplec
tentes, Considerantes eciam idem sacrum Imperium comitis eiusdem
posse servitiis salubrius ad iuvari, predictorum Ducum Austrie preci-
bus inclinati nostrum ad hoc benevolum adbibemus consensum, quod
praefatus Comes per ipsum dominum nostrum Regem infeodetur de
Ducatu Karintbie prenotato et insigniter honore et scemate principa-
tus numero Imperii principum aggregetur. In cuius nostri consensus
evidens testimonium presens scriptum sigillo nostro fecimus commu-
niri Datum Nurenberch IVKalendis aprilis Anno domini MCCLXXXV.
K. k. g. A. Orig. P. Sig. pend.
III.
König Rudolf bestimmt zur Erhaltung des Friedens zwischen seinem Sohne
Albrecht und dem Grafen Meinhart von Tirol, dass dem Letzteren aus der
Belehnung mit Kärnten kein Recht auf Krain erwachsen solle. Augsburg,
22. Januar 1286.
Rudolfus dei gracia Romanorum rex semper Augustus universis
Imperii Romani fidelibus presentes litteras inspecturis vel et audituris
gratiam suam et omne bonum. Perpetue pacis et amicicie federa inter
Illustrem Albertum Ducem Austrie et Slirie dominum Carniole, mar-
chie et Portus-naonis principem et filium nostrum dilectum ex una et
spectabilem virum Meinhardum comitem Tyrolensem socerum suum
ex parte altera vigore perpetuo affectantes tarn filio nostro predicto
quam ipsi comiti in futurum taliter providemus hoc expressius atte-
stantes. Quod ex collacione Ducatus sive principatus terre Karintbie
quo dicti comitis titulum ampliare disponimus eidem in terris Carniole
et Marcbie Sclavice que vulgo Windischmarch dicitur, nullum jus
penitus acquiratur quam pocius dicte terre cum ministerialibus castris
civitatibus, bonis, bominibus, advocatiis et ceteris suis pertinenciis
universis libere apud filium nostrum predictum permaneant cum omni
juris plenitudine sicud eundem jampridem apud Augustam sceptro
nostro Regio inuestiuisse recolimus de eisdem salvis per omnia
filio nostro predilecto castris, ciuitatibus, ministerialibus ac ceteris
bonis et juribus quocunque nomine censeantur. At que in terris pre-
dictis scilicet Carniole et Marchie ab olimprincipessiveduces Karintbie
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. Üi53
quocunque jure vel titulo possederunt ad que dictus comes praeter
collaeionis seu infeodacionis ducatus Karinthie nullum unquam juris
aut facti respectum habebit saluo tarnen eo dumtaxat comiti memorato
quod ipse comes sepe dictas terras Carniolam et Marcbiam Sclavicam
quas pro quadam summa pecunie seu argenti sibi jam dudum assigna-
vimus obligatas tarn diu quietepossideatquousquedictasumriia pecunie,
que nostris ac fiiii nostris predilecti literis sibi desuper traditis est
expressa, eidem plenarie fuerit persoluta. Qua solucione completa
dicteTerread filium nostrumAlbertum vel suos heredes cum omnibus
pertinenciis suis et juribus sicut superius est expressum libere reuer-
tentur. Ducatum quoque Karinthie dictus comes Meinhardus cum
omnibus illis juribus ac honoribus possidebit sicut ipsum illustres
quondam Bernhardus et Ulricus duces Karinthie Illustrium virorum
Liupoldi et Friderici ducum quondam Austrie et Stirie temporibus
possederint. Eo tarnen excepto, quod si quas civitates castra bona
vel jura, quocumque nomine censeantur, duces jam dicti in terris
Carniole et Marchie supradictis sicut praemisimus tenuerunt integra
filio nostro remaneant et ab ipso terrarum suarum dominio nullatenus
sequestreutur. In ducatu quoque Terre Karinthie oumia illa jura que
predicti principes Liupoldus et Fridericus tarn in hominibus quam in
bonis inibi tenuerunt filius noster predilectus siiniliter et pari jure per
om'nia possidebit. Procetera comes predictus ministeriales filii nostri
predicti in se et in suis castris bonis ac juribus inKarinthiaconstitutis
non gravabit in aliquo contra justiciam nee artabit nee et castra vel
possessiones eorum quocumque ea jure possideant comparabit nisi ad
hoc filii nostri ducatus et terras comes idem iidelis obseruabit. Qua
lege et vice reeiproea filium nostrum astringimus et nee ipse videlicet
in ducatu Karinthie possessiones et castra miuisterialium comitis prae-
libati quocumque ad ipsos jure speetancia comparare presumatabsque
ipsius comitis beneplacito et consensu. Ut autem premissa omnia rata
et inconuulsa perpetue observentur sicut a partibus in nostra presentia
sunt firmata presentes literas nostre ac parcium ipsarum sigillis pro-
vidimus muniendas. Datum Auguste X. Kalenda februarii anno doniini
millesimo ducentesimo oetagesimo sexto. Indicatione XVI Regi vero
nostri anno XIII 1286.
K. k. g. A. Orig. P. Sig. pend.
254 Karl Stögmann.
IV.
Bischof Berthold von Bamberg verspricht dem Grafen Meinhart von Tirol die
Belehnung mit allen Lehen der Kirche von Bamberg in Kärnten, sobald die
Herzoge von Österreich, Albrecht und Budolf sie aufgeben werden. Villach,
17. Decemher 1283.
Nos Bertoldus dei gratia Babenbergensis episcopus presentibus
protestamur quod pre oculis habentes et digna consideratione recen-
sentes diversa promotionum et amicitiae servicia, que dilectus avuncu-
lus noster Meinbardus comes Tyrolensis nobis et nostre eeclesie exhi-
buit ab antiquo et que potest in posterum exbibere, hanc, sibi ut fides
fidei et meritum merito respondeat, promissionem faeimus versa vice.
Quod generaliter omnia bona per ducatum Karinthie quocumque
censeantur nomine que consanguinei nostri dilecti Albertus dux
Austrie et Stirie illustris et Rudolfus frater ejusdem carissimi domini
nostri Rudolfi incliti Romanorum regis liberi a nobis habent in feodo,
quandocunque iidem fratres vel alter eorum de eonsensu et bona
voluntate alterius fratris sui eadem feoda resignaverit, ipsa feoda
singula et universa dicto Meinhardo avunculo nostro comiti Tyrolensi
libere conferemus. In cujus rei testimonium et majoris roboris firmi-
tatem presentes literas conscribi ac nostri sigilli munimine jussimus
communiri. Datum Villaci anno domini millesimo ducentesimo octua-
gesimo tertio XV Cal. Januar.
K. k. g. A. Orig. P. Sig. pend.
V.
Die Herren von Sichirberk versprechen mit dem Schlosse Sichirberk dem
Grafen Meinhart so zu dienen, wie dem Herzog von Kärnten.
Ego offo de Lanstrost Gerlochus filius domini Ottonis. Nikolaus
de Sichirberk. Gerlochus castellanus de Sichirberk scire volumus
universis, quod fide data promisimus, quod de omnibus juribus, que
ab antiquo tempore apud Ducem Karinthie usque hie sunt devoluta
parati sumus obedire domino nostro venerabili comiti Meinhardo cum
Castro Sichirberk. Quod si ratum non teneremus, omnia jura nostra
amisisse profiternur. Ad huius rei duraturam memoriam presentem
cedulam sigilli domini Oftbnis feeimus communiri.
K. k. g. A. Orig. P. Sig. pend.
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. Üd55
VI.
Meinhart von Zenzleinsdorf und seine Gemahlinn von Trabiich bekennen, dass
sie ihre Mauth zu Trahuch verkauft haben an Heinrich von Phannynberch,
und sagen diese Mauth dem König Rudolf auf.
Ego Meinhardus de Zenzleynsdorf et uxor mea Gertrudis de
Trabuch ac liberi nostri notum fieri cupimus universistampresentibus
quam futuris quod nostram Mutam in Trabuch, quam nobis nostri
praedecessores bereditarie reliquerunt, et quam in feudo tenemus a
domino terre, Comiti Heynrico de Pbannynberch vendidimus omni eo
jure, sicut babuimus eam usque modo in perpetuo possidendam, et
quod dictam Mutam volumus prefatam domino nostro Inclito Rudolfo
regiRomanorum per dominum Syfridum deChrotendorf ita quod supra
dictam conferre debeat memorato comiti Heinrico de Phannynberch
et ut ita facta sint presentibus profitemur. In cuius rei testimonium
presentes literas scribi fecimus et Sigilli nostri munimine roborari
pro habundanti testimonio et cautela.
K. k. g. A. Orig. P. Sig. pend.
VII.
Pfalzgraf Ludwig von Baiern verbürgt sich für den Verkauf der Moosbur-
gischen Güter an Meinhart von Tirol. Augsburg, 29. Dec. 1283.
Nos Ludwicus dei gracia comes palatinus Reni Dux Bavarie
notum facimus presentium inspectoribus universis, quod cum dilectus
fidelis noster vir nobilis Ulricus dictus de Lapide junior, avunculus
et heres viri nobilis Chunradi quondam comitis Mosburgensis junioris
viro nobili affini nostro Karissimo Meinhardo comiti Tyrolensi vendidit
et tradidit, omnia bona, res et homines, que predictus comes Mosbur-
gensis babuit et possedit infra montes tempore mortis sue, et idem
Ulricus prefato affini nostro omnium premissorum constitueiit seauc-
torem et de attendenda et adimplenda auclorisazione et warandia
memorata nos (idejussores dederit, comiti prelibato, sepedicto affini
nostro presentium auctoritate promittimus, quod sive promissa infra
biennium ab ipso in jure evicta fuerint, vel dictus Ulricus interim
requisitus a comite prefato warandiam negaverit de predictis eodem
affini nostro pro ipso Ulrico tenebimur ad solutionem ducentarum
viginti marcarum ad valorem X iibrarum Veronensium pro una earum
marca qualibet estimata. In qua solutione si negligentes fuerimus
dilectus fidelis noster Heinricus de Wittigave, fratres de Tainingen,
256 Karl Stögmann.
Otto de Wittelzhoven etHeinricusDrengerius quos dicto affini nostro
prae eo fidejussores dedimus Monaci Yel apud Wiltaim moniti ob-
stagia subintrabunt nunquam abinde exituri, donec ipsi affini nostro
de ante dicta Peonnia plene fuerit satisfactum. Et si predicti fideles
nostri in altero premissorum locorum se in obstagia non receperint
sicut superius est pretactum affinis noster Meinhardus babebit liberam
facultatem nostra pignora occupare non amplius quam pro quantitate
pecuniae saepefatae. In cuius rei testem presentes tradimus nostri
sigilli robore communitas. Datum Auguste Anno Domini Millesimo
ducentesimo octogesimo sexto tertiis Kalendis Januarii.
K. k. g. A. Orig. P. Sig. pend.
Till.
Graf Berthold von Eschenloch verpfändet um 120 Mark Pfennige alle seine
Güter im Ennsthale an Meinhart, Herzog von Kärnten. Augsburg, 1286.
Nos Bertholdus comes de Escbenloch tenore presentium profi-
teinur et innotescere volumus universis quod Domino nostro Meinbardo
Illustri Duci Karinthie de Tyrol et GoricieComiti inCentum et viginti
Marcis novorum denariorum, qui vigintinariinuncupanlur, remanserimus
debitores, pro qua summa pecunie ipsi Domino nostro, Duci Karinthie
omnes possessiones nostras cum bominibus et bonis nostris singulis
in valle Eniiit positas titulo pignoris obligavimus hoc adjecto quod si
voluerimus vendere vel alienare alias a nobis per formam contractus
aliquando ipsa bona quod tunc ipsi domino nostro Duci venditionem
vel alienationem hujus modi et non alii faciemus. Testes sunt vir
nobilis Albero de Wangav, dominus Heinricus de Auenstein, Henricus
dictus Menscliel civis de Inspruck et dominus Sifridus Capellanus et
quam plures alii tide digni. In cuius rei Testimonium presentem sibi
iiteram dedimus sigilli nostri muniinine consignatam.
Datum in Augusta, Anno domini MCCLXXXVI.
K. k. g. A. Orig. R. Sig. pend.
IX.
Meinhart von Zenzleinsdorf bekennt, dass er dem Grafen Meinhart abgetreten
sein Recht auf den Hof von Reivantz bei dem Werthe in Kärnten um 300 Mark
Silbers. St. Veit in Kärnten, St. Nicolausabend 1283.
Ich Meinbart von Zenzleinsdorf begib mit disem brive allen den
di nu sint un nach uns chomen daz ich mit gutem willen und an allen
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. <££)7
Zvanchsal minem herrn dem hohen graven Meinharten von Tyrol
gegeben hau allez daz reht, daz ih han gehabt in dem hoove ze
Reivunz bei dem Wertse ze Chernden, und an dem guote, daz dar zu
höret un han un dar auff bereiget drey hundert March silbers unt daz
diseo gift stact unt veste sei hat her Haertneit von Wiidony sein In-
sigl haben heizzen und ich das meine und er diesen brif und sint des
gezeugen her Dithalm von Vilalt, her Haertneit von Wiidony, her
Heinrich von Rotenburg der Hofmeister des hoves ze Tyrol, her
Julian von Seburch der wiztum ze Chernden, her Heinrich von Gesierr
her Vridreich von Arpuchel, her Heidenreich von Heile! k und andre
bidere leute. Oitz ist geschehen ze sanct Veit ze Chernden nach
Christes geburt Tausent iar zwaihundert iar an dem drei unt achze-
gistemjar an sanct Nicolaus abend, auch begih ich des daz ich von
minem Herren graven Meinharte der dreyhundert March silbers
enphangen han um reht als vor geschriben stet.
K. k. g. A. Orig. R. Sig. pend.
X.
Graf Meinhart von Tirol bestätigt dem Kloster Michelstetten in Krain das
Recht Wein und Lebensmittel zollfrei durch sein Gebiet zu führen. Laibach,
9. December 1283.
Nos Meinhardus Tyrolis et Goricie comes Aquilegensis Tritlen-
tinus ac brixinensis ecclesiarum Advocatus tenore presentium prote-
stamur et patere volumus tarn presentibus quam futuris , quod viso
audito et plenius intellecto tenore privilegii continens donationes,
jura et libertates Cenobii Santimonialium in Michlstetten in terra
Carniole ordinis scilicet Auguste ipsum vidimus Privilegium non can-
cellatum, non abolitum non aliqua sui parte viciatum. Undeutadvotum
dictarum sanctimonialium et earundem pauperum quietis tranquillitas
non tepeat sed pocius roburetur ipsis et dicto Coenobio easdem
donaciones jura et libertates jnxta dictorumprivilegiorum continentiam
duximus tenore presentium liberaliter contirmandam. Ex propria
nostra liberalitate erga dictum Coenobium motivis certis et zelo pie-
tatis sit monialibus ibidem deo et beate Marie Virgini famulantibus
concedimus ut vinum et singula ac universa victualia ad prebendam
dictarum dominarum et earundem familiam pertinentia debeant per
omnes nostri territorrii districtus sine omni telonei et mute exactione
vel alia qualibet vexatione libere pertransire. In huijus igitur conlir-
Sitzb. d. nhil.-hist. Cl. XIX. Bd. II. Htt. J7
258 Karl Stögma nn.
mationis et^gratie per nos faeite eisdem plenam et perpetuam firma-
tionem presens ipsis scriptum dari mandavimus nostri sigilli caractere
consignatum actum et datum laibaci Anno Domini Millesimo, ducen-
tesimo octogesimo tercio. None Decemhrc exeunte.
Auguste Indictione undecima.
K. k. g. A. Orig. P. Sig. pend.
XI.
Kaiser Ludwig und Otto von Österreich einigen sieh über die Ernennung von
7 Schiedsrichtern, und geloben, fest an ihrem Ausspruche zu halten, wenn sie
nicht früher etwas anderes schon beschlossen haben. Augsburg, 23. November
1330.
Wir Ludowich von Gotts genaden, Römischer Cheyser ze allen
ziten merer des RichsVeriehen offenbar an diesem brief und tun chunt
allen den die in sehent hörent oder lesent, dazz wir uns mit unserm
lieben Oheim und Fürsten Otten Hertzogen ze Osterrich und ze Steyr
zu den Teydingen, die wir nächst mit einander gehabt und gevestint
haben vriuntlich und lieplich nu vereinet und verbunden haben , und
auch vereinen und verbinden die weil wir leben für uns selber und
für unser süne und erben und er für sich und für seinen Bruder Herzog
Albrechten unserm Oheim und seine Chinder herwidermit unser beider
briefen umb alle die stoezz und auf lauf die ietzu zwischen uns sind
oder furbass geschechen mochten umb swelherlei sachen datz möcht
gesein oder ob wir vil leicht an ettlichen stuchen, die wir in enden
sullen, zechurz theten dez si däucht, oder si gen uns an den, daz si
uns enden sollten, das uns däucht, dazz wir jetzu beydersaite siben
Wir drey auz irm Rat, daz sint der Edel Man Ulrich graf vonPfannen-
berch, und sind die vesten Ritter Hanns derTruchtsaetzz vonDiezzen-
hofen und Joban der Truchtsaetzz von Waltburch und unser vorge-
nanter Oheim Drei aus unserm Rat Daz sind der Edel man Graf
Berchtolt von Greyspach von mansteten genant von Neyffen. Und die
vesten Ritter Heinrich von Gumpenberg und Vitztum in obern Bayern
und Hainrieb, der Preysinger von Wolenzsach unser Hofmaister. Und
den sibenten zu einem ober manne daz ist Graf Rudolf von Hochen-
berg unser lieber Oheim genomen haben. Und neman über aller unser
sache, als hier geschrieben stendet. Und den geben wir vollen gewalt
dar über mit unser beyden briefen: Also daz wir nicht anders umb
dieselben stoezz und auflauf dies yatzu zwischen uns sind oder noch
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. 259
geschaehen moechten , oder ob wir gen einander ze enden haben,
zechurtz thaten als vor geschriben stet, zetun noch zehandeln sollen
haben. Dann swaz die sieben dar über sprechent oder machent
oder der merer teil under in des süllen wir ze baydar seitte gehor-
sam sain ez sei denn ob wir sein von selbe under uns über ain
chomen mögen friuntlich und gütlich geschieht auch daz icht niwer
sache odar auflauf umb welcherlei dinch oder untate daz geschaech
von unser baider diener wegen das wir auch selber oder unser baider
Amptläut nicht dauz getragen mochten darumb sol dehein stoezz oder
auflauf an unsern Teidingen noch zwischen uns enochunsern diennern
geschehen sunder sullen wir oder uns beider Amptlaeut datz an die
vorgenanten siben bringen. Und swaz die oder der merez teil dar
über sprechent oder machent des sullen wir gehorsam sein und soll
also beleiben. Waer auch daz der sechser ainer ab gieng so sullen
wir einen als guten auz irm ambt an sainer stat nemen und geben ob
er an den unsern Drein ab gat die wir genomen haben. Oder ob einer
dabai nicht gesain moecht an geuert get er aver under den drein die
unser vorgenant oheim aus unserm rat genomen, habent ab so sullent
si einen als guten auz unserm Rat an sein stat nemen und geben.
Waer auch daz der graf Rudolf der der sibent ist abgieng des Got
nicht gebe, so sullen wir und unser oheim einen mit ein ander an
sein stat gaben, bey unsern Eyden, die wir geschworen haben der
uns al nutz sei. Möchten wir des aber nicht über ein chommen so
sullent sich darumb die sechs die vorgeschoben stende samenen und
ze chauffen chommen ze Auspurch oder ze Regenspurch und den
Uberman nemen an aufschup. und sullen wir beider seitte dann den
haben als den forener sibenten man. Swo man ouch den sibener bedarf
umb deheinerli sache oder bunt der wirs selber oder unser beyder
Amptläut nich über ein chomen moechten als vorgeschriben stet so
sollen die siben zesamen chomen ze Auspurch, ze Preysach oder ze
Chostantz. swo si dann ein teil under in hin fordert, dem sein dann
not ist und sullen dan daz richten aber nach dein Ayde als sie
geschworn habent. Und daz gehaizzen und geloben wir mit guten
treuen auf den Ait dem wir dem Rieh geschworn haben, und unser
sun margraf Ludewig von Rrandenburch bei seinem ayde allez staet
ze behalten. Und gehaizzen für unsern sun hertzog Stephen, daez er
daez auch sweren sol, swen er zu seinen tagen chumt. Auch geheizzt
es unser vorgenant Oheim Hertzog Ott für sein sune. daz si daz alles
17 *
260 Karl Stög mann.
sweren sullen swenn sie zu irn tagen chement. Ez sullen auch dise
gaegenTaidunch unsern fernernTeydungen verbuntnuzzen und briefen
immer ein Bestettigung und ein bevestigung sein, und an nichten
schedlich oder widerwaertieh sein. Und der über ze Urchund geben
wir in disen brief mit unserm cheyserlichen Insigel versigelten. Da
man zalt von Christus geburd Draitzehenhundert Jar. Dar noch in
dem Dreitzigsten Jar in dem sechszehenden Jar unsers reichs und in
dein Driten des Cheysertums.
K. k. g. A. Orig. P. Sig. pend.
XII.
Kaiser Ludwig befiehlt dem Konrad von Auffenstein, die Herzoge von Öster-
reich als seine rechten Herren in Kärnten zu erkennen, weil er ihnen dies
Herzogthum verliehen habe. Linz, 1. Mai 1335.
Wir Ludewig von Gotes genaden Römischer Keiser ze allen
ziten merer des richs entbieten dem vesten mann Cliunraden von
Aufenstein unserm üben getrieven unser huld und alles gut. Wirlazzen
dich wizzen daz uns und dem riebe daz Herzentum ze Chaernden von
unserm Oeheim herzog Heinrich Saelig von Chernden ledig worden
ist. und wan wir an gesehen haben die manichfaltigen dienst und
triew die unser liebe Oeheim und Fürsten Albrecht und Otto Herczogen
ze Osterreich her getan habent und auch noch getan muegen und
sullen. Darauz haben wir in und iren Erben dazselbe Hertzenturn
verlihen ze richtem leben freylich und ledichlich ze haben. Und dar
umb gebieten wir dir vestichlich bei unsern und des Richs huldendaz
du in fürbaz wartent und gehorsam seist an alle Widerrede in allen
Sachen als deinem rechten heren und Herczogen in Chärnden. Geben
ze Lyncz an Sand Walburgen Tag in dem ainen und zweintzigsten
jar unsers Richs und in dem Achten des Keisertums.
K. k. g. A. Orig. P. Sig. pend.
XIII.
Konrad von Auffenstein und seine Söhne erkennen die Herzoge von Österreich
als ihre rechten Herren. Bleiburg, im November 1335.
Ich Chunrad von Aufenstein marschall in Chaernden und wir
Fridreich und Chunrat seine sün veriehen offenlich mit diesem brief
und tun chunt allen den die in sehent hörent oder lesent, daz unser
lieber Swager und Oheim her Otte von Lichtenstain Chamerer in
Über die Vereinigung Kärntens mit Österreich. 261
Steir von dem vollen gewalte so wir im mit priefen und mit unsern
triwen geben haben uns betaidingt hat mit den edlen und hoch-
gebornen Fürsten Herczog Albert und Herczog Otten ze Österreich und
ze Steir unsern gnaedigen Herrn daz wir die Hertzoge von Österreich
erchennen und halten schullen ze rechten herrn und Herczogen
des landes ze Chernden und schullen auch alle unsere leben die wir
haben von demHerzogentum ze Chernden von denselben unsern herren
enphahen als von einem herzogen ze Chernden, und schullen auch
in schweren triwe und warheit ze leisten und auch ze dienen mit leib
und mit gut und mit vesten als unsern herrn und berczogen in Chernden
an alles gevaerde. und des ze einer offenen urchund und Sicherheit
geben wir den egenanden unsern herren den Herczogen diesen brief
versigelten mit meinem des vorgenanden Chunrad anhangendem In-
sigel und wirFridreich undChunrat sein sün nicht haben aigen insigel
der geben ist ze Pleiburch nach Christes gepurd Dreyzehen hundert
jar im fünf und dreyzzigsten jar des Mittwochens nach Sand Florianstag.
K. k. g. A. Orig. P. sig. pend.
262
B o 1 1 e r.
Vorgelegt:
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums.
Von dem c. M., Hrn. Prof. Boller.
(Fortsetzung.)
Bägyad „ermatten". Suomi vaipu = lappisch vabbet „ermat-
tet niedersinken, müde oder matt werden", Mandiu J
T
(fa^abi)1) „etr e tres-fatigue", f | (faxame de^ebi) 1) „etre
■i,
accable de lassitude et de sommeil; tomber de som-
meil et de lassitude".
Baj „Zauber etc." Türkisch cl (bagh) „lier", jUl> (bagh-
lamaq) „lier, ensorceler", Jrl (baimaq) „fasciner" 2). Vgl.
das slawische KaraTH „incantare".
Bämul „gaffen, staunen". Mongolisch J (gbai/axo) 3)
„sich verwundern, beschauen". Suomi kumma „sich ver-
wundern, anstaunen", kummastele = ihmettele „sich wun-
dern", wotjakiscb pajmo *) „sich wundern", Mandzu $ (fai-
dzuma) 5) „prodige, chose extra ordinai re" etc. s. älmel.
Ban „bedauern, bereuen". Mongolisch "f (gbom/o)«)
\
„sich grämen, sich abhärmen," "<f (ghomudal 7) „Unzu-
1
i) Amyot, Dict. Tart. Mantch. III, p. 129. 2) Sitzungsb. Bd. XVII, p. 318, s. v. baj.
3) Schmidt, Lex. p. 190, a. 4) Wied em ann , Wotj. Gramm, p. 341, b. 5) Amyot,
Dict. Tart. Mantsch. III, p. 141. 6) S ch m i dt, Lex. p. 202, a. 7) Ebendas. 203, b.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verhums. ä()U
friedenheit, Verdruss, Kränkung, Reue ",^ (gemsikü) <)
„bereuen, Reue haben", Mandzu J? (xorome) 3) „etre cha-
•li
gr in, äff] ige, triste; se repentir; se vouloir du mal
d'avoir fait quelque chose"; Suomi katu „bereuen"*).
Vgl. bänt.
Ba-n-ik „umgehen, behandeln". Das Inchoativ (Reflexiv?)
zu baj (vgl. szan), Suomi vaiva „Mühe". Schwerlich darf man an
Mandzu rf (o-me) 3) „faire, oper er" denken.
Ban-t „kränken, beleidigen". Causalform zu bän.
Bänya „Bergwerk". Mandzu £ (fenijeme) 3) „ramasser
st
Ji
dans un meine lieu les terres des mines pour en tirer le
metal, fondre la mine". Die gleichbedeutende Mandzu -Form
4 (venijeine)4) „faire fondre de Tor, de T argen t" geht auf 4,
i
(veine) 5) „fondre (intr.) " = jakutisch yji 6) „schmelzen,
thauen" zurück. Hängen beide mit olvad zusammen? Vgl. fem
und das slawische 6aHa „ balneum".
Bär „obgleich". Aus bajar7).
•i
!) S e h in i d t , p. 198, a. 2) Arayot, Dict. Tart. Mantch. I, p. 427. 3) Ebendas.
III, p. 132. 4) Ebendas. p. 229. 5) Ebendas. p. 239. 6) Böhtlingk, Lex. p. 44, b.
7) Sitzungsb. Bd. XVII, p. 227, s. v. bar.
*) Wegen der Vertretung b = gh vergl. Sitzungsb. Bd. XVII s. v. barany, boldog. Man
hat an diesem Lautwechsel um so weniger Anstand zu nehmen, als er sich auch auf
dem Gebiete der indogermanischen Sprachen (keltisch, germanische Dialekte) findet
und selbst auf dem engen Räume der griechisch-lateinischen Wortvergleichung längst
beobachtet und als Thatsache hingenommen war. "■& (gh) und <D verhalten sich genau
r
wie g und b; Sanskrit IfJ (gä) = p\; jp^{ (garbha) = ßp^<pos, J\X (guru) = lat.
gravis = griech. ß«p'j? ; J[J fgo) = lat. bos = griech. ßoü? (Pott, Etymologische
Forschungen I, p. 8G, 87J. Gleiches gilt von der Vertretung O Ol) & ('/.) = p, f,
wenn man Sanskrit äff (ka) lat. quo, griech. jco-To«; Sanskrit TJy ~\ (pnncan) =
lat. quinque = griech. iteyts = goth. fiinf; Sanskrit <! ^f (iks') „schauen" =
griech. 8mou,oi etc. zusammenstellt.
N N
264 Boller.
Bäräny „Lamm". Mongolisch f (^orighun) id.1).
1
Bätor „kühn, muthig". Mongolisch tf (baghadur) 3) „ein
1
tapferer Mann, ein Held, m u t h v o 1 1. "
Beka „Frosch, Kröte". Mandzu 4 (vaksan)3).,grenouil le
1
ou plutöt crapaud" 4 (vakdza^ön)4) „bomme qui a le ven-
tre gros", türkisch ^cb , j*i (bagbyr) 5) „flanc" (vgl. begyek,
Bauch). Hieher gehört offenbar das ableitungslose Sanskrit yjcfi
(bheka) „Frosch" als Lehnwort.
Beke „Friede". Türkisch J^l (baris) «) „paix, pacifie",
wotjakisch woz 7) „ Friede, Sicherheit", mongolisch^ (dzuki-
1
J;'X°) 8) »ordnen, übereinkommen",^ (dzukira^o) 8) „zur
l
Verträglichkeit zurückkehren", Suomi sopu „Überein-
stimmung, Eintracht, Verträglichkeit".
Bekö, beklö „Fusseisen, Fessel". Türkisch-persisch ß-^y
*sy (bouqaghy) 9) „ceps, fers aux pieds".
Belädi „ein armer Blinder". Mandzu — mongolisch ?
(balai) „verfinstert, blind". Gehört zu Mandzu % (biyarisame)10)
%
„voir trouble, avoir les yeux offusques", Suomi pi-miä
i) Sitzungsb. Bd. XVII, p.319,s. v.barany. 2) S ch m id t , Lex.p. 98, b. 3)Amyot,
Dict. Tart. Mantch. III, p. 228. 4) Ebendas. p.229, 5) Sitzungsb. Bd. XVII, p. 350, s. v.
mely. 6) Kieffer et ß. I, p. 172, b. 7) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 339, a.
8) Schmidt , Lex. p. 308, a. 9) K ief f e r e t ß. I, p. 244, a. 10) Amy o t, Dict.
Tart. Mantch. 1, p. 548.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. -Cüö
„dunkel, finster", pimittä „blind machen", ostjakisch
petlem *) „dunkel", mongolisch ? (barui) 2) „etwas dunkel
X
oder finster" etc., Wurzel ba-r, bo-r, bü-r, bi-r.
Belyeg „Zeichen". Mongolisch J (belke)3) „Zeichen",
türkisch J^L (bilki) '*), jakutisch öäliä s), tscheremissisch päle id.
Vergl. türkisch Jl^I* (belurrnek) „apparaitre, etre vu".
Ber „Lohn, Zins". Suomi vero „Grundzins, Steuer", ja-
kutisch öiäp 6) „geben, hingeben", türkisch-tatarisch jL^j
(birmek) Ju^ (vermek)'), Mandzu ^ (bume) ») „donner«,
tscheremissisch pu-e9)„do" — Mandzu §>" (bureme)10)„promettre,
i
<^
donner", mongolisch % (bari^o) 1J) „ darbringen", ostjakisch
1
meje 13) „geben".
Bir „können, vermögen, besitz en". Wotjakisch byg-alo13)
„vermögen, können". Vergleicht man bi-r-alom „Beich" mit
dem Denominative jL>L (bilämäk)14) „herrschen", so wird man
einen Zusammenhang zwischen bir und türkisch Jb (bek) „Fürst"
nicht unwahrscheinlich finden, ja beide auf eine gemeinsame Grund-
anschauung zurückführen können. Die Wurzel für die erste Bedeu-
tung, falls dieselbe sich nicht aus der zweiten entwickelte, ist wohl
in dem Mandzu rf1 (mu-teme) 15) „pouvoir, avoir de la capa-
cite pour les affaires" enthalten. Vgl. Suomi mahta und s.
unter mü.
i) Castre'n, Ostj. Gramm, p. 93, b. 2) Sc h m i dt , Lex. p. 102, b. 3) Ebend.
p. 105, c. 4) Böhtlingk, Lex. p. 134, a. 5) KiefferetB. II, p. 227, b. 6)Böht-
lingk, Lex. p. 138, b. ') Böhtlingk, Lex. p. 137, b. 8) A m y o t, Dict. Tart.
Mantch. I, p. 591. 9) Castren, Gramm. Tscher. p. 69, b. 10) Amyot, Dict. Tart.
Mantch. I, p. 582. *») Schmidt, Lex. p. 101, c. 12) Castren, Ostj. Gramm, p.87, b.
13) Wiederaann, Wotj. Gramm, p. 300, a. *4) B ö h 1 1 i ng k. Lex. p. 139, b. 15) Amyot,
Dict. Tart. Mantch. II, p. 415.
266 Boller.
Bö „reich, weit". Mandzu ? (bajen) J) „riebe" = mon-
golisch ? (bajan)3) „reich, R ei cht h um, Wohlstand", türkisch
At (bai) „riche", ostjakisch poi id.; Mandzu 4 (fulu) 3) „beau-
coup" türkisch Jy *) „ample, large, copieux", mongolisch
3 (olan)5) „viel". Vgl. das indogermanische Sanskrit 3^7 (puru)
= griechiscb noXö-g, gotbisch filu „ viel ".
Bor „Haut, Fell". Mongolisch ^ (arisun) <*) „Haut, Fell".
I
Bü „Gram, Kummer, Schwermuth". Mongolisch $ (buki-
\
nidultai) 7) „beunruhigend, ängstlich, s c h wermiit big",
(buda^o)8) „trauern, sich grämen, missmuthig werden",
1
Suomi mureb, mürbe' = finnmärkisch- lappisch moras „Traurig-
keit, Gram".
Büza „Weitzen". Mongolisch §> (boghotai) 9) „Weitzen"
= türkisch-tatarisch ^IjJkj (boghdai) „froment".
Bü „Zauber". Türkisch iy (beugu)10) .c^ (boughou) „ma-
gie, charme", mongolisch jp (böge)11) „Zauberer", Mandzu £
(fa) 12) „en chantement".
Büz „Gestank". Mandzu 4 (fungsun) 13) „puan t eur",
t
tscheremissisch pos H) „foetor", Suomi haisu id.
1) Amyot, Dict. Tart. Mantch. II, I, p. 312. 2) Schmidt, Lex. p. 103, a.
3) Amyot, Dict. Tart. Mantch. III, p. 202. 4) K i ef f e r etß.I, p. 245, h. 5)Schmidt,
Lex. p.55, a. 6) Ebendas.p. 15, a. 7) Ebendas. p. HO, b. ») Ebendas. p. 117, b. 9) Ebend.
p.lil, c. 10)Kieffer et B. I, p. 245, b. ") Sit/.ungsber. Bd. XVII, p. 323, s. v. bü.
i2) Amyot, Dict. Tart. Mantch. 111, p. 129. ") Ebendas. II, p. 212. *4) Castren,
Gramm. Tscher. p. 69, a.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. äOi
Csä „links". Mandzu f (X1ISXU) *) »,a gauche" = linnmär-
zc-
kisch-lappisch guro id. (vgl. bal) 2) neben mongolisch 1 (dz
gün)3) „links", lappisch, Enare-Dialekt cize 4) (=Suomi vasen,
vgl. cääce neben vesi). Vgl. slawisch moyn, griechisch ay.ex.16g,
Sanskrit H3EJ (savya).
Csäb „Anlock im g". Schwedisch-lappisch caje-tet, finnmävkisch
c'aje-dattel „f 0 r (Vre", Suomi hou-kutus „ A n r e i t z u n g, Lockung".
Offenbar zu Mandzu-mongolisch \ (dzali) 5) „Betmg, Arglist"
= magyarisch csal gehörig. Vgl. Mandzu f (^öbin) °) „arti-
fice pour attraper le bien des autres", £ (koiton) 7) „arti-
=1
i
fice, tromperie", f (koiman) ') „trompeur, seducteur",
s
■ I
denen jedoch auch Suomi juopo, juopo „täuschen, verleiten,
locken", entsprechen kann (vgl. csel, csin).
Csäkö „Tschako". Mongolisch J (dogholgha)8) „Helm",tür-
i
kisch Aij^L (thoulgha)9) (t = ,j — c für dz) „casque".
Csampas „krummbeinig". Gehört zu mongolisch "£ (gha-
V.
dzi^o) lü) „ k r u m m werden", türkisch jj! (qyjyq) „s c h i e f",
magyarisch görbe11)» Suomi keikka „aufwärts oder zurück-
gebogen", kampura „krumm, schief, verbogen".
Csärnporü „sauer". Tscheremissisch sapan 12) = Suomi hapan,
also = mit savanyü gleichen Ursprungs. Den Lippennasal zeigt syrjä-
nisch som 13) „acidus".
!) Arayot, Dict. Tart. Mantch. I, p. 418. 2) Sitzungsb. Bd. XVII, p. 319, s. v. bal.
3) Schmidt, Lex. p. 299, a. 4) Lönnrot: Überden enare-lappischen Dialekt, p.220.
5) Schott: Über das Altaische etc. p. 139. Schmidt, Lex. p. 29G, b. Amyot, Dict.
Tart. Mantch. II, p. 481. 6) Amyot, Dict. Tart. Mantch. I, p. 48S. 7) Ebendas. I,
l>. 439. 9) Schmidt, Lex. p. 279, c. 9) K i e f f e r et li. III, p. 203, a. i») Schmidt,
Lex. p. 195, a. «) Sitzungsb. Cd. XVII, p. 338, s. v. görbe. 12J Cnstreii, Gramm.
Tscher. p. 71, a. 13) Gas treu, Gramm. Syrj. p. 15S, 1>.
268 Boller.
Csecs „Blattern, Pocken". Türkisch jl^- (tchetchek) *)
„fleur, petite veröle", mongolisch )j (cecek)2) „Blume,
^1
Blüthe" in 9 Jj (budagha cedek)*) „di e natürlichen Pocken".
u
Daher das Suomi kukka „Blume".
Cseve „Spule, Bohre". S. csö.
Csel „Posse". Mandau 1 (jobo)«*) „badin", türkisch
J^o jjJly (jobandurmaq) 5) „belustigen, erheitern".
Csin „Streich, Unart". Suomi juoni „Streich, Bänke,
List", aber kujet „scherzhafte Geberde, Posse", kujeet
„Schalks streiche".
Csoka „Kuss". Wotjakisch cup6) „Kuss", türkisch Jl<y>.
(tscheupmek) 7) „baiser".
Csotar „Schabracke". Türkisch jjLW (tchapraq) 8) „housse
de cheval". Die gleichbedeutende Form l\> (üapyq) zeigt, dass
die Wurzel in jA (iapmaq = Irlä qapmaq) liege. lX ist begrifflich
= jli (qapaq) = tatarisch jlilä (qapqaq) = jakutisch xannax 9)
„Deckel". Csotar zerlegt sich demnach in cso (= csap für jap) +
Suffix tär (fa -f ghar).
Csöva „Zunderwerk". Syrjänisch cak 10), „fomesignia-
rius", türkisch «lä (qav)11) „ama dou ", jakutisch Ktia 12) „Feuer-
schwamm", Suomi pakkula „Zunder, Feuerschwamm". Vgl.
mongolisch "f (ghal)13) „Feuer".
Csö „Spule, Bohre." Mongolisch f (^obogha) **) „Was-
s er röhre", türkisch j^>-(tsehibouq) 15), „baguette, tuyau de
i) Kieffer et B. I, p. 367, b. 2) Schmidt, Lex. p. 322, c. 3) Ebend. p. 118,a.
4) Amyo t. Dict. Tart. Mantch. II, p. S69. 5) Schott: Über das Altaische etc. p. 123.
6) Wiedemann, Wotj. Gramm. p. 302. 7) Ki ef f er etB. I, p. 399, b. 8)Ebe»das.p.350,b.
9) Böhtl ingk, Lex. p. 78, b. 10)Castren, Gramm. Syrj. p. 159, b. ")Kieffer
et B. II, p. 429, a. i2) Böhtlingk, Lex. p. 60, b. 13) Schmidt, Lex. p. 192, b.
") Ebend.p. 163, c. 15) Kieffer et B. I, 366, a.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. 2G9
pipe, pipe". Offenbar eine weiche Form, dem harten csavar, türkisch
,Lj (juvar) ') „cylindrisch", lappisch jörba gegenüber. Suomi kelnä
„Spindel = mongolisch 3 (ig) id. zeigt zu kouru „Rinne"
dasselbe Verhältniss.
Csöd (csüd), „Concu rs, Gant". Allem Anscheine nach die
weiche Form zu csoport, syrjänisch cjukar 2) „collectio",
mongolisch^ (cighul^o) 3) „sich versammeln, sichansam-
<
■ j
-
mein". 'Jf (ghu-rayo) *) „sich versammeln", enthält offenbar
h
die einfachste Form der Wurzel, zu der folglich auch magyarisch
gyül, gyüjt so wie Suomi jouko „Haufe" gehören. Die weiche Form
liegt in mongolisch "9 A (kükü-dzi irekü) 5) „zu Haufen kom-
men, in Menge kommen".
Csödör „Hengst". Mongolisch 1 (adzirgha) 6) , Mandzu f
(adziryan) 6) , türkisch y^n \ (aighyr), jakutisch axbip. Schott4)
hat die Zusammensetzung aus ad (türkisch o! at) „Pferd" und
erkek (türkisch jlfjl) = irgi , irga, irgan , yr „Männchen der
Thiere", erwiesen. Das magyarische Wort ist demnach bis zur
Unkenntlichkeit verstümmelt.
Csör „Schnabel". Mongolisch f (chosighun)7) „Schnabel,
1
Vorgebirge, Vordertheil eines Fahrzeuges", neben t
%
(yabar) „Nase, Vorsprung" =* Mandzu «T" (oforo)id. =magya-
risch orr 8).
i) Schott, Über das Altaische etc. p. 107. 2) Castren, Gramm. Syrj. p. 159, a.
3) Schmidt, Lex. p. 327, a. 4) Ebendas. p. 109, b. 5) Ebendas. p. 177, b.
6) Schott, Über das Altaische etc. p. 94, 96. 7) Schmidt, Lex. p. 176, c. 8) Schott,
Über das Altaische etc. p. 68.
270 Boller.
Csücs „Spitze". Türkisch -^J (oudj) Q „extremite, fin.
pointe", Mandzu <T* (udzan) 2) „cime des arbres, extre-
^
mite des branches; 1 e b o u t, 1 e commencement". Der
Anlaut ist, in Vergleich mit jakutisch tööö 3) „Spitze, Gipfel =
türkisch ky (tübe), magyarisch teto, ostjakisch tej 4), U. Surg. toi,
0. Surg. tui „das Oberste, die Spitze", deren Wurzel in dem
mongolischen f (debcikü) 5), i (deg-deikü) 6) „in die Höhe
schi essen, emporwachsen" liegt, und die wohl insgesammt
der weichen Reihe angehörten, ursprünglich t=j = dz=c gewesen.
Die Form csüp zeigt, dass der Auslaut dieser Bildungen der Ablei-
tung anheimfalle.
Csüf „garstig, abscheulich; Spott". Mongolisch^
n
(dzibegürgel) 7) „Abscheu, Widerwille", wotjakisch dzob8)
„unrein, T r übe, Schmutz, G r ä u e 1 ", dzizi 8) „schmutzig",
dzozan 8) „Vorwurf, Kränkung".
Di „Kraft, Vermögen". Mongolisch ^ (kücün) 9) „Kraft,
Macht, Stärke", wotjakisch jun 10) „Kraft, Stärke", Suomi voi-
maid. Das Mandzu ^ (kulu)11) „fort, robuste" lässt über die Wurzel
keinen Zweifel. Wegen der Vertretung d=j vergl. mongolisch j?
1
(^ozighun) 13) „Wallnuss" = türkisch jj>~ (dzevz) =jJs (qoz)
= magyarisch diö; mongolisch"? (kelen) is) „Zunge, Sprache =
türkisch Jj (dil) *) etc.
!) Sitzungsb. ßd. XVII, p. 381. 2) Amyot, Dict. Tart. Mantch. I, p. 32.
s) Castle n, Ostj. Gramm, p. 98, b. *)Böhtlingk, Lex. p. 99, b. 5) Schmidt,
Lex. p.274,b. 6) Ebend. p. 276, a. 7) Schmidt, Lex. p. 301, c. 8) Wiedemann,
Wotj. Gramm, p. 303, b— 304, a.b. 9) Schmidt, Lex. p.188, b. 10) Wie dem au n, Wotj.
Gramm, p. 308, a. ll) Amyot, Dict. Tart. Mantch. III, p. 98. 12) Ehendas. p. 176, c.
13) Sitzungsb. B. XVII, p. 356, s. v. nyelv.
*) Wie die Zischlaute, Assibilaten und Palatalen selbst aus Zahnlauten entspringen können,
so gehen sie, auch wenn sie anderen Ursprungs, in diese über, wenn sieh eine
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. & 7 I
Dij „Preis, Lohn, Lösegeld". Ostjakiseh tm J) „Preis",
syrjänisch don 2) „pretium", Suomi lunasta3), lappisch loneste
„loskaufen, auslösen, erlösen", jakutisch TO.iyi 4) „aus-
lösen, loskaufen", mongolisch ^ (cenekü) 5) „einen Werth
Q>
angeben, schätz en, gleichstellen", ^ (ceng) 5j „ein f est-
gesetzter Preis, Taxe", tscheremissisch tär 6) „pretium".
Del „Mittag". Mandzu £ (dulin) 7) „lamoitie,le
iL
milieu; midi", mongolisch £ (duli) „Mitte der Tages- und
Nachtzeit", türkisch 'hy (tüs) etc. 8). Vergl. dazu Mandzu
£ (dubi) „ la mo itie ".
Döl „sich lehnen". Jakutisch ripiä9) „stützen", xipäöil 9)
„ Stütze", mongolisch J (tüsikü) 10) „sich stützen, sich auf
etwas lehnen".
Döl^dül „fallen, umfallen, stürzen". Türkisch jW%.>
(düsmek) u), J^s^y (tüsmek)11)» jakutisch Tye11) „von einer
Höhe herabfallen", Mandzu £ (tu^eme) 12) „tomber, choir".
-n
(•
Dözs „Zecher, Schwelger". Suomi tuhla „schwelgen,
verschwenden ".
Du „Raub, Beute". Türkisch xjh (dhoiium) 13) „butin",
Mandzu ? (tapcin)14) „butin que Ton fait sur les ennemis".
Sprache derselben wieder entledigt. Vgl. das Alt- und Neupersische d an der Stelle
von Zend » (= Sanskrit ^", h, jf, dz): JUmO (dest) = -«<?>-»0"C (zasta) =
Sanskrit es, ^-^ (hasta).
XJ Castren, Ostj. Gramm, p. 99, a. 2) Castren, Gramm. Syrj. p. 130, b.
3) Sitzungsb. Bd. XVII, p. 347, s. v. lakik. 4) Böhtlingk, Lex. 98, a. 5) Schmidt,
Lex. p. 320, c. 6) Castren, Gramm. Tscher. p. 73, b. 7) Amyot, Dict. Tart. Mantch.
II, p. 320. 8) Schott, Über das Altaisehe etc. p. 129; Sitzungsb. Bd. XVII, p. 45.
s. v. ejt. 9) Schmidt, Lex. p. 2G3 , a. 10) Böhtlingk, Lex. p. 108, a.
ll) Ebendas. Lex. p. 113, a. 12) Amyot, Dict. Tart. Mantch,. II, p. 296. ") Kief-fer
et B. II, p. 205, b. "_) Amyot, Dict. Tart. Mantch. II, p. 194.
272 Boller.
Dücz „Stütze". Suomi tuki, id. Vergl. tamasz *)•
Dül „verwüsten, verhören". Denominativ zu du. Vergl.
jedoch türkisch o& (talan) 2) „ butin, proie ", J*ÜU (talamaq) 3)
„piller", wotjakisch talalo *) „rauben".
Düs „sehr reich". Suomi tavara, lappisch davarak „Reich-
thum", mongolisch i (davar) 5) „Vermögen, Eigenthum",
1
wotjakisch uzyr 6).
Ebred „erwachen". Mandzujf (keteme)7) „s'e veiller",
■».
-^
Suomi hava, lappisch cabbo-t 8) id, türkisch J^jljl (ouüarmaq) 9)
„ eveiller ".
Ed „Süsse". Syrjänisch cjöskyd = wotjakisch ceskyd 10),
lappisch njalgis11) „süss". Vgl. fz 12) „Geschmack".
Eg „Himmel". Türkisch .i)jf(gueuk) 13) „ciel".
Eg „brennen". Türkisch jjil (i'aqmaq) 14) „brüler, allu-
mer"= lappisch cakk-at, mongolisch <j (cucali) 15) „der Feuer-
brand", % (curki^o) 16) „brennen, durchbrennen".
Eh „Hunger; hungerig; nüchtern". Syrjänisch cyg 17)
„fames", lappisch naelggo „hungerig", Suomi nälkäise id. inord-
vinisch vac „hungern" (Ev. Üb.), jakutisch äc 18) „hungern;
hungerig, ausgehungert", anim 18) „nüchtern", türkisch
-».] (äc) „ h u n g e r i g ". Vgl. xapj^wi = xoprwi „hungern".
Ej „Nacht". Suomi yö, lappisch igja, ostjakisch äT 19), tsche-
remissisch jut, jakutisch t^h2»), Mandzu f (tobori)21) , mongolisch
l
i) Sitzungsb. Bd. XVII, p. 379, s. v. tamasz. 2) Ki ef f e r et B. I, p. 323, b. 3) Eben-
das. p. 273, a. 4) Wi ed emann, Wotj. Gramm, p. 331, b. 5) S ch m i d t, Lex. p. 238, b.
6) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 336, b. 7) Amyot, Dict. Tart. Mantch. 111, p. 19.
8) Stoekfleth, Norsk-Lapp. Ordbog. p. 38, a. 9) Kieffer et B. I, p* 144, b.
10) Castren, Gramm. Syrj. p. 159, b. ") S tockfleth, Norsk-Lapp. Ordb. p. 697, b.
*2) Sitzungsb. Bd. XVII, p. 344 s. v. i'z. 13) Kieffer et B. II, p. 666, b. 14) Ebendas.
p. 1242, b. 15) Schmidt, Lex. p. 3S4, c. 16) Ebendas. p. 334, b. i7) Castren,
Gramm. Syrj. p. 139, c. 18) B öbtlingk, Lex. p. 12, a. 19) Sitzungsb. Bd. X, p. 35.
20) Böhtlingk, Lex. p. 112, b. 21) Amyot, Dict. Tart. Mantch. II, p. 276.
*\
Vergleicheade Analyse des magyarischen Verbums. £> i »i
J (söni) !) id. Vergl. türkisch j^Cy^j (seui'unmek)2), jlr^j (seun-
mek) 2) „s' eteindre" = mongolisch t (sünükü)3) „erlöschen"
i
== magyarisch szünik , welche die Reflexivform zu türkisch jX^L
(sinmek)4) „se d ig er er" darstellen. Demnach verhält sich ej
zur Wurzel szü(-n) wie Sanskrit f^flftT (ni?ä) „nox", vv% zu 7f$j
(na?) „zu Grunde gehen".
Ek „Schmuck". Mongolisch^ (kege) 5) „hübsch, zier-
lieh", bulgarisch kice 6) „zier en", jakutisch maprä7) „Putz",
Suomi ko-ria „Schmuck".
Ek „Keil, Accent". Mongolisch 1 (aghuldzar) «) „spitz
zulaufend, spitzig, Vereinigung zweier Wege".
El „leben". Suomi elä, syrjänisch ola, ostjakisch yAe 9) etc.,
mordvinisch erä. An Letzteres schliesst sich einerseits türkisch ^ o
(diri) „vif, vivant", das sichtlich zu jakutisch tmh 10) „Athem",
TWHHäx11) „belebt, lebend" gehört, andererseits Mandzu 4,
■ i
i
(veidzume) 13) „vivre", t (vei-^un) is) „vif, vivant". Mord-
vinisch er-ä zeigt den Weg, auf dem der Anlaut sich verlor. El
gehört daher zu le-lek und stammt mit diesem von leh-el. Als
gemeinsame Wurzel muss demnach d-g aufgestellt werden. Die
Mandzu-Formen f (sukdun) „halitus" (= türkisch jj^o [soluq]
„haieine") und j{ (edun) „ventus" hängen auf ähnliche Weise
zusammen.
*) Schmidt, Lex. p. 372, I.. ?) Kieffer et B. I, p. 712, b. 3) Schmidt,
Lex. p..372, c. 4) Kieffer et B. 1, p. G82, b. 5) Schmidt, Lex. p. 148, b.
6) Cankof, Gramm, d. bul. Spr. p. 17S,b. ?) Bühllingk, Lex. p. 66, b. 8) Schmidt,
Lex.p. 7, h. 9) Sitzungsb. Bd. X, p. 52. 10) Kie f f er et B. I, p. 570, a. ") Bühl-
lingk, Lex. p. 102, a. i2) Amyot, Diet.Tart.Mantch. II!, p. 233. ") Ebendas. p. 236.
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XIX. Bd. IL Mit. 18
274 Boller.
El „Schneide, Schärfe". Mongolisch .3 (ir) 9 „Schärfe,
Schneide", Mandzu ^< (dzejen) 2) „le tranchant, le tran-
chant d'un couteau, d'une hache."
Emik „wachen". S. ebred.
En „ich". Türkisch -y (ben), ^ (men, min), jakutisch mih,
mandzu - mongolisch i? (bi), Suomi minä, lappisch, mordvinisch
mon etc.
Enek „Gesang". Ostjakisch äpa 9 „Gesang", äpre 9
„singen", jakutisch wpwa9 „Lied, Gesang", türkisch y (ir) 5)
„chant, chanson". Mandzu;?' (irgebun) 6) „c armen", £
(irgebume) 6) „cantare". Ist die Zusammenstellung richtig, dann
muss r ausgefallen sein und n als Wurzelexponent gefasst werden :
e(r)-n-ek „cantata". Vgl. hangya „Ameise" mit türkisch &s£j\3
(qaryndze) 9 und s. u. kemlel.
Ep „ganz, unversehrt; heil, gesund". Türkisch cl
(i'agh) 8) „ entier, sain", mongolisch ^ (co^om) 9) „gerade,
1
just, bestimmt; (epen) ganz, accurat, genau". Gh = v=p
wegen des Auslautes.
Epit „bauen". Türkisch lc\, (i'apmaq) i0) „bätir, con-
struire".
Er „erreichen, reifen. Mit vocalischem Anlaute finden
sich wotjakisch iriwyl n) „Gewinn", Mandzu ^ (izime) 13) „etre
ä la veille de quelque chose; en avoir assez", mongolisch
fj (irekü) J9 „kommen", türkisch >^L>j\ (ermek, irmek) 14) „par-
i) Schmidt, Lex. p. 39, b. 2) Amyot, Dict. Tart. Manteh. II, p. 493.
3) Castre'n, Ostj. Gramm, p. 80, a. 4) B öhtlingk, Lex. p 32, a. 5) Kief fer et B.
I,p. 1SS, a. 6) V. d. Gabe lentz, Elem. de la Gramm. Manteh. p. 92. 7) Kieffer et B.
II, p. 417, b. 8) sitzungsb. Bd. XVII, p. 527, s. v. egesz. 9) Schmidt, Lex. p. 332, a.
10) Kieffer et ß. II, p. 1243, a. «•) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 306, b.
12) Amyot, Dict. Tart. Manteh. I, p. 153. 13) Schmidt, Lex. p. 38, c. 14) Kieffer
et B. I, p. 25, b.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. 271)
venir, atteindre", t*L^y (jUyl) (irichmek) *) „arriver,
atteindre; murir". Den angegebenen Bedeutungen entsprechen
zwei mit Consonanten anlautende Wurzeln; mongolisch ^ (kiirkii)
%
„gelangen, erreichen, genug sein" = Suomi kerki „hin-
kommen, hinreichen" und türkisch J**o (deimek) „attein-
dre, toucher, par venir" = jakutisch tu3) = mordvinisch
(Ev. Üb.) sa-ms „kommen", Suomi saa „erreichen", sa-ttu
„anrühren, treffen." Da die finnischen Sprachen sonst diesen
Begriff durch eine consonantisch beginnende Wurzel (Suomi saa,
syrjänisch sua, ostjakisch jede) bezeichnen , so bleibt wenigstens die
Möglichkeit offen, er an eine der beiden Wurzeln tu oder kü-r derart
zu knüpfen, dass diese jenes iz, ir als Wurzelexponenten zu sich
nehmen. Vgl. das Terminativsuffix -ig = k(a)-)-si aus deg.
Er „Ader, Quelle". Mandzu jt(sekin) 3) „source d'eau",
<~
'£ (seri)*) „source d'eau, origine", mongolisch i (ezi)5)
„Ursprung", ^> (ekin) 6) „Anfang; Ursprung eines
Flusses"; Suomi hetet „Quellader", tungusisch jukte7), njauta
„Quelle".
Erdem „Verdienst". Mandzu rf1 (erdemu)s) „vertu, habi-
\
lite", mongolisch^ (erdem)9) „Verdienst, Tugend, Talent".
^?
Gehört zu erö. Vergl. ereny und s. reny.
Er-ez „fühlen". Die verwandten Sprachen bieten eine
Doppelreihe von Ausdrücken für den Begriff des Bewusstwerdens,
des Empfindens sowohl als des Wahrnehmens. Zur einen gehören
mongolisch ^> (kürüleeküi) 10) „das Fühlen, das Gefühl",
!) Kieffer et B. I, p. 15!>, b. 2) Bühtlingk, Lex. p. 103, b. •') Amyot, Dict.
Tart. Mantch. II, p. 41. 4) Ebendas. p. 147. 5) Sc hm i d t, Lex. p. 35, b. 6) Ebendas.
p. 26, a. 7) Schott, Über das Altaische etc. p. 103. 8) Amyot, Dict. Tart. Mantch.
I, p. 120. 9) Schmidt, Lex. p. 33, a. M>) Schmidt, Lex. p. 186, a.
18°
276 Boller.
lappisch gallat1), guldalet „f>le", Suomi hurmeet, hermut „Sinnes-
werkzeuge", aber koke „befühlen, versuchen", syrjänisch
kuz'a 2) „intelligo"; zur anderen türkisch L»Lo (synamaq) 3),
jl»<»J (denemek)4) „eprouver, essayer", wotjakisch sedis'ko 5)
„fühlen, merken", jeto6) „anrühren, berühren", Mandzu ^
(centeme) 7) „eprouver quelque chose, examiner si une
chose est bonne ou m au vaise" = jakutisch nrnm 8) „Befüh-
lung, Betastung, Untersuchung", Suomi tunte = lappisch
dovdat „fühlen", Inchoativ zu türkisch J^J> (doui'maq) 9) „s'ap-
percevoir, comprendre".
Er-t „verstehen". Mongolisch rj (erkicekü)10) „verstehen,
l
begreifen ", jakutisch icrr ii) „hören, verstehen ", lappisch
jierbme = miella „der Sinn".
Esz „Verstand". Wotjakisch wiz 12) „Verstand, Weis-
heit, Einsicht", türkisch ^.ojl (ous) 13), osttürkisch „j \ (is)
„intelligence, esprit", mongolisch 3 (u^a^o) 14) „ver-
stehen, fassen, begreifen".
Etek „Speise". Mongolisch Jj (idegen) 15) „Speise", tür-
\
kisch jirl (etmek) 16) „Brot", neben der Wurzel jJL>, (jemek) 16),
jakutisch ciä 17) „essen", Suomi syö etc.
r
Ev „Jahr". Suomi vuote, mongolisch \ (dzil)1»), türkisch-
tatarisch Jj (jil), jakutisch cmji, ijmji 19), Mandzu \. (se)30) „annee,
äge".
t) Stockfleth, Norsk. Läpp. Ordbog-, p. 215, a. 2) Castre'n, Gramm. Syrj.
p. 145, a. 3) Kieffer et B. II, p. 122, a. 4) Ebendas. I, p. 535, a. 5) Wiede-
mann, Wotj. Gramm, p. 330, a. 6) Ebendas. p. 307, a. 7) Amyot, Dict. Tart.
Mantch. II, p. 445. 8) Böhtlingk, Lex. p.l21,b. 9) Ki eff er et B. I, p. 566, a.
10) Schmidt, Lex. p. 321, c. ") Sitzungsb. Bd. XVII, p. 233, s. v. e'rt und Nachtrage
p. 392. 12) Wied emann, Wotj. Gramm, p. 338, b. 13) Sitzungsber. Bd. XVII, p. 244.
s. v. ösmer. 14) Seh m id t , Lex. p. 47 , b. 15) Sc hmi d t, Lex. p. 40, c. *6) Schott,
Über das Altaische etc. p. 81. 17) Böhtlingk, Lex. p. 165, b. 18) S c h m i d t, Lex.
p. 304, a. «) Böhtlingk, Lex. p. 124, a. 2») Amyot, Dict. Tart. Mantch. II, p. 33.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. C i 7
Faj „Schmerz, schmerzen". Suomi pakko „ Schmerz",
türkisch ^^\ (aghry) <) „douleur", tatarisch^ \ (auru) a).
Farad „ermüden, sich bemühen". Türkisch jljy (i'oroul-
maq) 3) „sefatiguer, etre las, fatigue", mongolisch <
(cocaghayo) '*) „ermüden", Suomi puuja = puuha „mühsam
arbeiten, viel Mühe haben, sich bemühen", syrjänisch
mydzja 5) „fatigor", und unter weicher Form jakutisch äpäi 6)
„Mühe, Anstrengung, Beschwerde".
Fä-zik „frieren, kalt sein". Ostjakisch nöTaje 7) „kalt
werden, frieren", Suorni palele „Kälte empfinden, frieren",
Mandzu^» (peikun) §) „froid , le fr oid". Die Wurzel pak (fagy)
x:
liegt offenbar auch in dem Mantlzu f (pakdzame) 9) „geler, se
l
cailler, congeler", Suomi paa-ta „sich verbärten, zusam-
menbacken und ankleben" = pah-ta „gerinnen".
Fek „Halfter, Zaum". Mongolisch f (xadzaghur) ™)
„Pferdezaum", türkisch ^-fy (jugen) „Zügel", Suomi johta
„lenken" J1).
Fei „Hälfte", Suomi puoli, ostjakisch pelek12) etc., türkisch
J\y (beulmek)13) „partager, diviser".
Fei „fürchten". Suomi pelka, mordvinisch päl(ä)14), Mandzu
3 (ol^ome)15) „craindre, avoir peur", mongolisch <j (uuli-
j! i
^o) ,6) „sich fürchten, erschrecken".
i) Kieffer et B. I, p. 64, b. 2) Sitzungsb. p. 330, s. v. faj. 3) Kieffer et B.
II, p. 1287, b. 4) Schmidt, Lex. p. 334, c. 5) Castren, Gramm. Syrj. p. 146, b.
6)BöhtIingk, Lex. p. 17, a. ?)Castre'n, Üstj. Gramm, p. 93, a. 8)Amyot, Dict.
Tart. Mantch. 111, p. 331. 9) Ebendas.p. 524. »«) Schmidt, Lex. p. 145, a. ") Schott,
Über das Altaische etc. p. 107. 12J Sitzungsb. B. X. p. 54. 13) K i e f f e r et B. I, p. 247, b.
»*) Sitzungsb. B. X, p. 52. 15) Amyot, Dict. Tart. Mantch. I, p. 212. 16) Schmidt,
Lex. p. 44, a.
278
B o 1 1 e r.
Fem „Metall". Mandzu«! (veme) *) „fo ndre", 4 (vembu-
me)1) „fondre du metal au feu", vgl. bänya.
Feny „Glanz". Mandzu 4 (fosome)2) „briller d'eclat", ^
t
<.
(foson)2) „clarte", türkisch J^j (parlamaq) s) „briller", Suomi
paista „scheinen, leuchten".
Fer „Platz, Raum haben". Das Denominativ zu Mandzu $?
(ba)*) „Heu, en droit" = mongolisch j§ (bai)5).
Fereg „Wurm". Mongolisch
(XoroXa0 6) »Wurm, In-
sect".
Ferfi „Mann". Syrjänisch veräs 7) „vir", mongolisch J> (ere)8)
„Mann, männlich, mannhaft" jakutisch äp 9) = türkisch jl, j*
(er) „Mann; Kraft, Ausdauer". Also gleichstämmig mit erö,
das wahrscheinlich wie die gleichen türkisch -mongolischen Formen
einst einen consonantischen Anlaut besass.
Fesü „Kamm". Ostjakisch kundzep 10) „Kamm", bulgarisch
ras-cesuvam11) „kämmen", Suomi harja, tscheremissisch serge.
Feszek „Nest". Suomi pesä 13) etc., Mandzu 4 (feje) 13),
türkisch Ij^jJ (üouva) 14) „nid".
Fo „Haupt". Suomi pää, jakutisch 6äc15), türkisch J^l (bas)
„Kopf".
Fo, föz „kochen, sieden". Syrjänisch pua 16) „coquo",
Mandzu 4 (fujeme) 17) „b o u i 1 1 i r", aber $ (budzume) 1S)
l
< -
i) Amyot, Dict. Tart. Mantch. III, p. 239. 2) Am yo tili, p. 183. 3) Rief fer
et B. I, p. 203, a. 4) Amyot, Dict. Tart. Mantsch. I, p. 505. 5) Sitzungsber. B. XVII,
p. 234. s. v. fer. 6) Ebendas. p. 335, s. v. fojt 7) Castren, Gramm. Syrj. 163, a.
8) Schmidt, Lex. p.30,b; Schott, Über das Altaische etc. p. 96. 9) Böhtlingk,
Lex. p. 16, a. 10) Castren, Ostj. Gramm, p. 86, b. ") C ankof, Gramm, der bulg.
Spr. p. 203, a. 12) Sitzimgsb. Bd. X, p. 292. ") Amyot, Dict. Tart. Mantch. III,
p. 156. 14) Kieffer et B. II, p.l298,a. 15) Bö htlingk, Lex. p.l31,b. 16) Castren,
Gramm. Syrj. p. 153, a. i?) Amyot, Dict. Tart. Mantch. III, p.205. 18) Ebendas. I, p. 576-
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbuuis. 279
„faire cuire quelque chose", mongolisch $> (bucal^o)1)
„kochen, sieden."
Fü „blasen". Ostjakisch pü(e) 2) „blasen", Suonii puhu id.
Mandzu "t (^udzuku) 3) „soufflet de forge".
i
Ful „ersticken, ersaufen". Reflexiv zu dem Transitiv
fojt4), wie gyül zu gyüjt etc. Vgl. Mandzu £ (fazime) 5) „se pen-
dre, s' e trangier".
Für „bohren". Türkisch Jr>jy (bourmaq) 6) „tourner,
percer avec la tariere", mongolisch 1 (öröm)7) „Bohrer".
1
Fü „Gras". Ostjakisch pum8), S. D. pom „Gras", mongolisch
fo (ebiisün) 9) „Gras, Kraut", türkisch Ojl (ot) 10) „herbe,
herbage, paturage", syrjänisch bydmala n) „cresco".
Füz „Weide". Suomi paju, syrjänisch badj 12), Mandzu <|
1
(fodoxo)13) „saule".
Füz „schnüren, nesteln, reihen, fassen". Mongolisch
\ (dzalgha/o) 14) „anreihen, a n k n ü p'f e n , eines zum Andern
I
thun", Suomi jatka „zufügen, verlängern, fortsetzen".
Gät „Damm, Deich". Mongolisch t (^asija) 15) „Damm,
Abdämmung", ¥ (^aghalda) 16) „Absperrung, Verdäm-
i) Schmidt, Lex. p. 119, a. 2) Castreu, Ostj. Gramm, p. 93, b. 3) Amyot,
Dict. Tart. Mantch. HI, p. 119. 4) Sitznngsher. Bd. XVII, p. 334. s. v. fojt. 5) Amyot,
Dict. Tart. Mantch. III, p. 132. 6) Kieffer et B. I,p. 236,b. 7) Schmidt, Lex. p.73,a.
8) Castre'n, Ostj. Gramm, p. 94, a. 9) Schmidt, Lex. p. 24, a. ">) Kieffer et B.
I. Bd. 118, b. ") Castren, Gramm. Syrj. p. 138. a. 12) Sitzungsb. Bd. X, p. 281.
13) Amyot, Dict. Tart. Mantch. III, p. 185. 14) Kieffer et B. I, p. 245, a.
i5) Schmidt, Lex. p. 297, a. 16) Schmidt, Lex. p. 145, c.
280
Boller.
mung",Mandzu f (kaku)1) „digue". Vgl. mongolisch "f (ghai-
la^o)3) „hindern, hinderlich sein", Suomi jassakka „Hin-
derniss".
Gäz „Furt". Jakutisch Kac s) „waten", türkisch jX,X (gueteh-
v
mek)*) „passer, traverser, franchir; depasser, devan-
c er", mongolisch"^ (ghadulxo) 5) „über einen Fluss setzen".
Suomi kahla „waten", syrjänisch keja 6) „vado".
Gege „Kehlkopf". Mongolisch f (chagholai) 7) „Kehle,
- j
-6
Gurgel", Suomi kaula „Hals".
Gern „Seh lag bäum". Gehört zur Wurzel von gät.
Gep „Maschine". Aus dem Türkischen jcl (iapmaq) „faire,
operer; construire etc." S. epit.
Gor „gross, lang". Suomi kaiho, kaihura „schmächtig,
lang, gestreckt", jakutisch xopoi „in die Höhe schiessen,
lang werden", ^opoghor „in die Höhe geschossen, lang
von Wuchs", mongolisch f (^angghaghar) 8) „lang und hager
von Wach sthum ". Wegen des Ausfalles von ngh vgl. tschu-
waschisch sor = i^.o (sonra) „nach ", tora = ^J., (tanry) 9)
„Gott".
Göböly „Mastvieh". W^otjakisch kwajto 10) „mästen".
Weiche Form zu hizakodik ?
Gög „Hochmuth". Mahdzu i (küva) „auguste", £
i)Arayot, Tart. Mauteh. I, p. 339. 2) Schmidt, Lex. p. 190, b. 3)Böht-
lingk, Lex. p. 56, b. 4) Kieffer et B. II, p. SU, a. 5) Schmidt, Lex. p. 194, b.
6J Castre'n, Gramm. Syrj. p. 143, b. 7) Schmidt, Lex. p. 165, a. 8) Ebend. p. 127, b.
9) Schott, Über das Altaische, p. 105. 10) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 514, a.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. /iOl
(küvasa)1) „presomptueux, qui se vante", türkisch «jJliy (guv-
enmek)2) „se vanter, se glorifier", Suomi kehu „sich prah-
len, rühmen". (Vgl. kerkedik.) Gehört zu kevely.
Goz „Dampf". Wotjakisch kwaz 3) „Luft, Wetter", Suomi
kaase4) „nebeliger Dunst", jakutisch üic 5) „starker, dur ch-
d ringender Rauch".
Gyäm „Stütze". Mandzu £ (tajame) 6) „s'appuyer, se
\
confier", türkisch ^,l>ta (daiamaq) 7).
Gyär „Fabrik". Syrjänisch kar(a)8) „facio", türkisch Jc\j\i
(i'aratmaq) „creer".
Gyäsz „Trauer, Leid". Türkisch ^l (las) 9) „ d e u i 1 " .
Vergl. offjls (qazghu) = J&i (qaighu) 10) „chagrin, tristesse",
Mandzu <f (^ozi^on) „affliction, pleurs de tristesse;
douleur, amertume", mongolisch "f (ghasal^o) n) „jammern,
trauern".
Gyava „feig, unbehilflich". Türkisch jJbjf (guevsek) ia)
„lache, mou; effemine, poltron", mongolisch 1 (dzügelen) 13)
1
„weich, sanft, schwach, weibisch, dumm", Suomi kehno
„debilis, nequam". Vgl. Suomi pelkuri „feig", mongolisch
(5(alus^o) 14) „sich fürchten, verzagen, zurückweichen"
(^alini^ai) 15) „nachlässig, träge, abgeneigt, unlustig
^>
i) Amyot, Dict. Tart. Manteh. I, p.468. 2) Kie f f e r et B. II, p. 673, a. 3)Wie-
demann, Wntj. Gramm, p. 314, a. 4) Magyar Nyelveszet II. Füz. p. 85, b. BJ Böht-
lingk, Lex. p. 33, a. 6J Amyot, Dict. Tart. Manlch. II, p. 206. 7) SiUgsb. Bd. XVII,
p. 379, s. v. taniasz. 8) Castren, Gramm. Syrj. p. 143, a. 9)Kieffer et B. II,
p. 1249, b. ") Ebendas. II, p. 541, a. «) Schmidt, Lex. p*. 196, a. «) Kieffer etB.
II, p.66S,a. 13j Schmidt, Lex. p.313, c. 14J Ebend. p. 136, c. 15) Ebendas. p. 136, b.
282 Boller.
zur Arbeit", wotjakisch kurdes *) „furchtsam", türkisch J^<$jji
(qorqmaq) 2) „avoirpeur, craindre".
Gyek „Eidechse". S. gyi'k.
Gyekeny „Binsenmatte, Matte". Mongolisch ij (cikir-
n
L
sun) 3) „eine von Binsen oder Bast gewebte Matte", ostja-
kisch jegan 4) U. S. jekü „Schilfmatte" (vgl. kaka), wotjakisch
jaby, kaby, kab „Matte".
Gyep „Rasen". Jakutisch Kbipwc5) „Rasen", mongolisch 3
(dzim) 6) „ausgestochener Rasen", türkisch j\S (kesek) 7)
„gazon".
Gyer „schütter, dünn, licht". Syrjänisch gezäd 8) „rarus,
hauddensus", Mandzu f (^arpa^ön)9) „rare, clairseme",
Suomi harva, „undicht, selten".
Gyi'k „Eidechse". Türkisch^(kieler) 1°), wotjakisch kengal11),
mongolisch 3* (kürbel)13)id. Suomi sise-lisko, sisa-lisko, sisär-lisko,
\
syrjänisch dzjodzjuu 13) „ lacerta agilis", ostjakisch cacT, S.
caca-F, 14) „Eidechse".
Gyogyit „heilen". Wotjakisch katjalo15) „heilen", Suomikostu
„genesen".
Gyöz „siegen". Jakutisch Kwai 16) „siegen", Suomi voi-tta.
Gyii-1 „sich versammeln", gyüj-t „sammeln". Suomi
joukko „Haufe, Versammlung", mongolisch "t (ghura^o) 17)
„sich versammeln". Vgl. csöd.
i) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 312, b. 2) Kieffer et B. II, p. 320, b.
3) Schmidt, Lex. p. 326, b. 4) Castren, Ostj. Gramm, p. 83. 5) Böhtlingk, Lex.
p. 64, a. 6) Schmidt, Lex. p. 303, c. 7) Kieffer et B. II, p. 606, a. 8)Castren,
Gramm. Syrj. p. 140, a. 9) Amyot, Dict. Tart. Mantch. I, p. 374. 10) Kieffer et
B. II, p. 626, a. ") Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 300, a. 12) Schmidt, Lex.
p. 208, b. i3) Castren, Gramm. Syrj. p. 139, a. 14) Castren, Ostj. Gramm,
p. 96, a. 15) W i e d e m a n n , Wotj. Gramm, p. 309, a. 16) B ö h 1 1 i n g k, Lex. p. 60, b.
l?) Sitzungsb. Bd. XVII, p. 235, s. v. gyöz.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. CO 6
Gyür „kneten". Mongolisch 3> (kübürlekü) ') „kneten
f
(Teig) , durchrühren« = 1 (dzughuraxo) 2) „einrühren,
<
r
-
zurechte machen" (Teig).
Gyü-1 „brennen«, gyüj-t „anzünden". Wotjakisch dzualo
„brennen", syrjänisch özta „accendo".
Gyülöl „hassen". Suomi viha, syrjänisch oz (Ev. Üb.), mon-
golisch 3 (üsikü)s) „hassen", Mandzu t (sejeme) *) „hair".
Gyürü „Ring". Türkisch ^j (jüzük) „bague, anneau",
tschuwaschisch sürü5) „Ring", ostjakisch TyjiT«) „Fingerring."
Gyüszü „Fingerhut". Türkisch Ju£j (iuksuk)') „de ä
c o u d r e ", jakutisch cfryn 8) id. mongolisch £ (chorobci) 9),
Mandzu f (sorko) 10) id.
Häbor „Aufruhr". Mongolisch^ (kimural) ") „Aufruhr,
I
Aufstand".
Hag „steigen, treten, schreiten". Jakutisch xäM 12)
„schreiten, im Schritt gehen", ostjakisch xat^en 13)
„Treppe", syrjänisch kaa14) „scando", tscheremissisch kuz(e)15),
mongolisch^ (kiskikü) 16) „treten, gehen, steigen".
%
Haj „Schmeer". Jakutisch xaca 17) „Rauchfett", Suomi
kuu, syrjänisch cög 18) etc.
i) Schmidt, Lex.p.207, b. 2) Sitzungsb. Bd. XVII, p.339, s. v. gyur. 3)Schmidt,
Lex. p. 78, a. 4) A m y o t , Dict. Tart. Mantch. II, p. 39. 5) Schott, Über das Al-
taische etc. p. 163. 6) Castren, Ostj. Gramm, p. 100, a. ?) Kieffer et B. II,
p. 1293, a. 8) Böhtlingk, Lex. p. 162, b. 9) Schmidt, Lex. p. 171, a. 10) Schott,
Über das Altaische etc. Nachträge p. 146. ll) Schmidt, Lex. p. 156, a. 12) Böht-
lingk, Lex. p. 79, a. 13) Castren, Ostj. Gramm, p. 82, a. 14) Castren, Gramm.
Syrj. p. 143, a. 15) Castren , Gramm. Tscher. p. 65, a. 16) Schmidt, Lex. p. 201, a.
17) Böhtlingk, Lex. p. 84, b. i8) Sitzungsber. Bd. XVII. Nachtrag p. 391,
8. v. agy.
284
B o 1 1 e r.
[
Häkk „Phlegma". ) Mongolisch jf (xakiru^o) J)
Häkog „sich räuspern". ( f)
„ausspeien, den Schleim aus dem Halse aus- |
werfen".
Häl „übernachten". Ostjakisch xö/^e , türkisch ^cß (qon-
maq) 2) id.
Häla „Dankbarkeit". Slawisch XBaaa 3) „Iaus.gratia-
rum actio", jakutisch xajagaa *) „Lob, Ruhm", Mandzu
(^uksime) 5) „se louer extremement de quelque chose", f
\
f (^uksime gönime) 5) „avoir un coeur reconnaissant;
reconnoitre ". Mandzu ^ (kija kijame)6) „approuver, louer".
l
Gehört zu köszön, Suomi kiitä „danken".
Hälö „Netz, Garn". Ostjakisch xö^ap 7) „Netz", mongolisch
"t (ghabci^o) 8) „mit dem Netze fischen",^ (^aghadusun) 9)
„Fischreusen", ^ (gülmi) 10) „das grosse Netz, Fisch-
netz = jakutisch iliM, türkisch - tatarisch «A> L lo. u), wot-
jakisch kaltom la) „Zugnetz".
Halyog „Staar,Augenfell". Suomi kaihi, kaihet „derStaar",
silmän kalvo „das Augen feil". Die Suomi-Wörter bezeichnen wie
*) Schmidt, Lex. p. 130, c. 2) Sitzungsber. Bd. XVII, p. 364, s. v. ölt und 386,
s. v. vendeg. 3) Miklosich , Lex. ling. slov. p. 192, b. 4) Böh tlin g k , Lex. p. 80, a.
5) Amyot, Dict. Tart. Mantch. 1, p. 125. 6) Ebendas. I, p. 55. 7) Castren, Ostj.
Gramm, p. 82, a. 8) Schmidt, Lex. p. 202, c. 9) Ebendas. p. 131, b. 10) Eben-
das. p. 207, c. ") Böhtlingk, Lex. p. 38, a. 12) W ie de ma nn, Wotj. Gramm,
p. 309, a.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. 28b
kaiha „ Dun kelheit, Schatten" = kalvet „schattiger Ort",
türkisch ,)S3jf (gueulge) ») „ o m b r e " , Mandzu "•£" (^elmen) 2)
„ombre".
Harn „Pferdegeschirr". Mongolisch i (/om) 3) „Kummet,
Unterlage für die Last der Kamele" = Mandzu f (komo) *)
h
(kobcime) 5) „bäter ou seller un cheval ou toute autre
bete", türkisch »^(guvem) 6) „armure de cheval, barde".
Harn „Schale, Balg, Oberhaut".]
Hämlik „ sich schälen, häuten".) Wotjakischköm7)„Rinde".
Hämöz „schält ab". )
Mandzu £ (X°X°) 8) »gousses de haricots etc." mong. f
1
(^aghudasun) 9) „Baumrinde". Die Wurzel liegt in mongolisch
jt (Xüghur^o) 10) „abreissen, sich losreissen", jakutisch
xaja 1J) = mongolisch ^ (^agnu) „entzwei". Vgl. mong. f
(^alisun) 12) „Schale, Spreu, Haut, Membran", jakutisch
xaTbipMK 1S) „Rinde, Fisch schuppe" = türkisch ^5 ,1a (qai'ri)
= karej = mongolisch t (^airasun) 13) („Fisch schuppe ").
I t
Häny „werfen; sich erbrechen". Mongolisch t (^a-
h
JaX°.) u) «werfen, schmeissen, wegwerfen"; daher mit
*) Kieffer etB.I,p.669,b. 2) Amyo t, Dict.Tart. Manteh. III,p.52. 8) Schmidt,
Lex. p. 166, b. 4) Amyot, Dict. Tait. Mantch. I, p. 424. 5) Kieffer et B. II,
p.673, b. «) Ebendas. p. 482. 7) Wiederaann , Wotj. Gramm, p. 311, b. 8) Amyot.
Dict. Tart. Mantch. I, p.449. 9) Böhtlingk, Lex. p.76,b. i°) Schmidt, Lex. p. 132, c.
") Böhtl ingk. Lex. p. 80, a. ™) Schmidt, Lex. p. 136, a. ") Böhtlingk,
Lex. p. 76, b. *4) Schmidt, Lex. p. 144, b.
286 Boller.
hajit gleichstämmig *). Suomi ku'o „sicherbrechen, speien",
aber freq. kakaise id.
Hany „wie viel ", jakutisch xaja3) „welcher" (relativ),
xa^ia „wie viel" (rel. und interrog.).
Harit „wälzen; abwenden, ableiten". Jakutisch
KÖHyö 3) „entfernen, fern halten, abweichen", KÖfiypyT
„zur Seite schieben, wegwälzen", mongolisch "f (ghar^o)4)
„hinausgehen, herauskommen".
Harom „drei". Mongolisch "t (ghorom) 5), Suomi kolme etc.
1
Hat „Rücken", jakutisch KÖ^yc 6) „Rücken", Suomi selkä
(1 = 5).
Häz „Haus", ostjakisch xot, xaT „Zelt, Haus". Suomi
koti, tscheremissisch kuda „domus", slawisch xbiaia, Xbi3a, tlu-st*
„domus".
Hej „Schale, Rinde", mit harn gleichstämmig.
Heja „Stock- Tauben falke, Habich t", syrjänisch kalja 7)
„falco milvus", lappisch kuolek.
Hev „Hitze". Ostjakisch ^odzem 8) „heiss ", mongolisch t
(^alaghun) 9) „heiss, Hitze = Mandzu £ (^al^ön) 10) „ cha-
leur; chaud", Suomi kuuma „heiss", türkisch jL>J> (gueinuk)11)
„fievre c hau de".
Hezag „Lücke, Zwischenraum". Mongolisch *\ (dzabsar)13)
„Zwischenraum", Suomi vaihet „was zwischen ist, Zwi-
schenraum", wohl gleich jakutisch xajarac „Loch", und mit
diesem zur Wurzel welche mongolisch ^agh-ara^o, ^agh-ar^o liegt
gehörend.
*) Sitzimgsb. Bd. XVII, p. 339, s. v. hajo und 341, s. v. hajt. 2) Böhtlingk,
Lex. p. 80, a. 3) B. p. 36, b. 57, a. 4) Schmidt, Lex. p. 193, c. 5) Hunfalvi.
6) B öhtl ingk, Lex. p. 57, a. 7) Castren, Gramm. Syrj. p. 143, a. 6) Castren,
Ostj. Gramm, p. 82, b. 9J Schmidt, Lex. p. 135, b. 10) Amyot, Dict. Tart.
Mantch. III, p. 419. ") Rief f er et B. II, p. 675, b. **) Schmidt, Lex. p. 293, b.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. 287
Hi „rufen". Suomi huu-ta. Mandzu £ (chülame) *) „appe-
1
ler", türkisch J*,*S (qyghyrmaq) 2) „appe ler quelqu'un,
c rier ".
Hi „Mangel". Suomi kaipa „vermissen", mongolisch
(XorXak) 3) „Mangel", türkisch Jl$1 (eksik) *) „deficit, de-
faut, manoue".
Hid „Brücke". Mongolisch 2 (kegiirge) 5), J (kügürge) 6),
$ I
Suomi silta.
Hig „flüssig". Wotjakisch kizer' 7) „dünn, flüssig", mon-
golisch ^ (singgen) s) „dünn, flüssig" (vgl. wegen s=h unter
hügy).
Hirn „Stickerei". Persisch-türkisch Ui^(kiem^a) 9) „damas,
etoffe ägrandes fleurs", mongolisch f (^argham) 10) „Blu-
menstickerei auf Stoffen".
Hfr „Ruf, Nachricht". Mandzu J (kebu)») „nom, repu-
tation", türkisch-tatarisch cj\ (at), jakutisch äT „Name", äTTäx,
„berühmt". Gehört obgleich weich, wahrscheinlich zu hi, wie dem
Mandzu "J, das harte f zur Seite geht. Vgl. indessen noch Suomi
kuulisa „berühmt".
Ho „Mond". Suomi kuu, mordvinisch koo 12).
Ho „Schnee". Türkisch jlä (qar)13), mongolisch i (casun) 14),
!) Amyot, Dict. Tart. Mantch. I, p. 489. 2) Sitzungsber. Bd. XVIF, p. 342, s. v. In'.
3) Schmidt, Lex. p. 171, c. 4) Kieff er etB.I, p. 79, b. 5) Schmidt, Lex. p. 149, a.
6) Ebendas. p. 182, b. ?) Wiedem a im , Wotj. Gramm, p. 310, b. 8) Schmidt, Lex.
p. 3S2, c. «) K i e f f e r et B. II, p. 637, a. i°) S c h m i d t . Lex. p. 142, a. «) A m y o t,
Dict. Tart. Mantch. III, p. 18. 12) sitzungsb. Bd. X, p. S4. 13) Kieffer et B. II,
p. 415, b. *4) Schmidt, Lex. p. 320, b.
288 Boller.
finnmärkisch (lappisch) vasso *) „sno", aber schwedisch -lappisch
wuop 2) „tiefliegender Schnee".
Hödol „hui d igen". Jakutisch wTWKTä 3) „achten, ver-
ehren", mongolisch f (chutuk) „Ehrwürdigkeit".
1
Hölyag „ d i e B 1 a s e ". Türkisch cJjJ» (qovouq), jakutisch
xaöax4) „Blase im Körper", türkisch j*j\Js (qabarmaq) 5),
„se gonfler, enfler", Mandzu 4 (fuka) 6) „vessie", syrjänisch
gadj 7), wotjakisch piu8), lappisch puojek.
Hon „Achsel". Mandzu f (ojC0)9) u»d ^ (o) „aisselle",
jakutisch xohhox 10) „Gegend unter dem Arm, Achselhöhle",
türkisch J^SJ (qoltyq) „ai sselle", Suomi kain-alo.
Hö „Hitze", s. hev.
Hölgy „Braut, j u n g e s Frauen zi mm er". Türkisch jj"
(sie) (guelin) ") „epouse, fiancee, belle fille".
Hölgy „Hermelin". Mandzu ^ (ul^u) I2) , Suomi kärppä,
ostjakisch coc !3), mongolisch jj (ujeng) 14).
Hos „Held". Türkisch -». J (qoteh), Jjlo-y (qotchaq)15) „Sol-
dat c o u r a g e u x ", jakutisch xocvh 16) „ v e r w e g e n , k ü h n ",
xocyH äp „Held", tscheremissisch kostan17) „audax."
Hügy „Urin". Suomi kusi, türkisch jJjuj > j\jJu*i (sidik)18),
jakutisch Ik 18), mongolisch $ (sigesü) 18) „Urin", Mandzu £ (si-
1 \
deme) „pisser".
4) Stockfleth, Norsk. läpp. Ordbog-. p. 628, b. 2) Schott, Über das Altaische etc.
p. 112. 3) Bühtlingk, Lex. p. 30, b; Sitzungsber. Bd. XVII, p. 343. s. v. hodol.
4) Böhtlingk, Lex. p. 86, b. 5) Kieffer et B. II, p. 433, a. 6) Amyot, Dict.
Tart. Mantch. III, p. 193. 7) Castre'n, Gramm. Syrj. p. 139, b. 8) Wiedemann,
Wotj. Gramm, p. 310, b. 9) Amyot, Dict. Tart. Mantch. I, p. 186. 10) Böht-
Iingk, Lex. p. 86, b. ") Kieffer et B. p. 629, b. 12) Amyot, Dict. Tart.
Mantch. I, p. 270. 13) Castre'n, Ostj. Gramm, p. 96, b. 14) Schmidt, Lex. p. 76, b.
15) Kieffer et B. II, p. 317, a. «) Böhtling-k, Lex.jp. 89, a. ") Castren,
Gramm. Tscher. p. 64, b. ™) Bühüingk, Lex. p. 34, a.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. 289
Hüsz „zwanzig". Wotjakisch - syrjänisch kyzj *) „viginti."
Das mongolische f (^or-in) zeigt, dass ^or = hüsz die Zehn noch
nicht enthalte (in = türkisch j j (on) == Mandzu % (dzuan),
mongolisch i (arban)). Das mongolische ^or ist vielmehr = <p
(Xas) 3) »ein Paar" = syrjänisch gozja 3) „par, bini".
Hüz „ziehen". Ostjakisch Kece(ivi) S.D. Kocce(ivi)*) „reissen,
ziehen", wotjakisch kysko 5) „ziehen", lappisch keset, Mandzu
£ (goc'ime) 6) „tirer, attirer".
Hü „treu". Lappisch jakke-t „ tro ", mordvinisch käm-ams
„glauben" (Ev. Üb.), Suomi uskollise „treu", Mandzu t
"1
1
(akdame) 7) „avoir confiance en quelqu'un, le croire",
mongolisch ij (itegekü) s) „glauben, vertrauen".
Hü-s „kühl". Suomi kylmä, syrjänisch ködzyd 9) „frigidus",
wotjakisch kün 10) „kalt", mongolisch küidiin, id. keco ") „frieren
kalt werden". Vgl. fäzik.
Ij „Bogen". S. fv.
Iny „Zahnfleisch". Suomi Ten, Plur, ikenet, mongolisch
.f h (siki mi^an) ia) „das Zah nf leise h in den Zwischen-
L
räumen der Zähne"; Mandzu 2^ (xeXere) 13) » geneive".
Ir „schreiben". Suomi kirjoitta „schreiben, zeichnen",
türkisch J^l ('iazmaq)i*) „ecrire", Mandzu l;j (nirume)15) „pein-
1
dre, d essin er".
!) Castre'n, Gramm. Syrj. p. 146, b; Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 31S, a.
2) Schmidt, Lex. p. 176, b. 3) Castren, Gramm. Syrj. p. 140, a. 4) Castre'n,
Ostj. Gramm. p.8ö,b. 5) Wiederaaui, Wotj. Gramm. p.31S, a. 6) Amyot. Dict. Tart.
Mantch. p. 440. 7) Bbendas. I, p. 70. 8) Schmidt, Lex. p. 40, c. 9) Castren,
Gramm. Syrj. p. 146, b. 10) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 313, b. UJ Ebendns. p. 309, b.
12) Schmidt, Lex. p. 3Ö6, a. ") Amyot, Dict. Tart Mantel). III, p.40. «) Sitzungsb.
Bd. XVII, p. 238, s. v. ir. 15) Amyot, Diel. Tart. Mantch. I, p.316.
Sitzh. d. phil.-hist. Cl. XIX. Bd. II. Hfl;, ig
290 Boller.
fr „Salbe". Suomi ihra, mongolisch f (sürcikü) *) „be-
n
u
streichen".
Iv „Bogen". Suomi joutsi, syrjänisch vudz'2), lappisch juoks,
ostjakisch jögot.
Iz „Geschmack". Syrjänisch vidi „kosten", türkisch „>U
(däd) 3), „gout, saveur".
Iz, „Gelenk". Türkisch j)| (an) 4) „ articu l ati o n, jo in-
t u r e " , jakutisch cycyöx 5) „Gelenk".
Jar „gehen". Türkisch J^y!« (varniaq) 6), jakutisch 6ap 6)
und ijapöai 7) .A gehen", tscheremissisch kast(a) 8) „eo, pro-
ficiscor", lappisch vadze-t, ostjakisch jäna(m) 9), Mandzu-mon-
golisch *1 (jabu)(o) 10) „gehen", das somit die Wurzel enthält.
Jatek „Spiel". Ostjakisch jant-kem, jantchem H) „spielen",
wotjakisch sudo 12) „spi elen", Suomi soitta, mongolisch £ (-/u-
sung) 13) „Spiel, Scherz", ||
(naghad^o) u) „spielen,
scherzen", türkisch ^jl (o'ioun, oiun) 15) „jeu, raillerie".
Jeg „Eis". Ostjakisch jenk, Mandzu 1 (dzu^e)16) „glace".
Jö „gut", Job „rechts". In ersterer Bedeutung mongolisch
t (sain)17) „gut, schön; edel", ostjakisch jem18), jemm „gut,
schön", Suomi hyvä, jakutisch yTyö , türkisch ^^ (ejü) 19); in der
zweiten jakutisch yHa „recht, rechte Seite", Suomi oikia,
i) Schmidt, Lex. p. 375, b. 2) Castren, Gramm. Syrj. p. 164, b. 3) Kieffer
et B. I, p. 500, a; Sitzungsber. Bd. XVII, p. 344, s. v. l'r. 4) Ki effer et B. I, p. 77, a.
5) BöhUing-k, Lex. p. 174, a; Sitzungsber. Bd. XVII, p. 344; s.v. l'r. 6) Ebendas.
p. 128, a. 7) Ebendas. p. 123, a. 8) C a str en, Gramm. Tscher. p. 63, a. 9) Castren,
Ostj. Gramm, p. 83, a. 10) Schmidt, Lex. p. 287, a. A1) Castren, Ostj. Gramm,
p. 83, a. 12) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 331, a. 13) Sc hm i dt, Lex. p. 177, a.
14) Ebendas. p. 80, c. 15) Kieffer et B. I, p. 146, b. 16) Amyot, Dict. Tart.
Mantch. II, p. 531; Sitzungsber. Bd. X, p. 59. 17) S chmid t, Lex. p. 336, c. 18) Castren,
Ostj. Gramm, p. 83, b. 19) Hunfalvi a' Török, Mag-y. es Finn. szök* egybehas. p. 139.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. 2t) 1
türkisch clo (sagh) *) „droit", mongolisch^ (ici) 2) „rechts,
rechte Seite".
Jos „wahrsagen". Mongolisch ^ (dzung) 3) „Vorher-
sagung, Wahrsagung", tscheremissisch muzeda*) „vaticinor,
pr aedic o".
Jö „kommen". Ostjakisch jive „kommen", Mandzu 2
(dzime) 5) „venir", tscheremissisch so(a) 6) „in oo", (Ev. Üb.)
„kommen", Suomi tu-le.
Käba „blöde, stumpfsinnig", käbit „bethören, be-
täuben". Mongolisch^ (^oirghu)7) „ g ed ankenlos, unfähig
I
seine Gedanken oder Meinung auszudrücken."
Käcs „S chmidt" =kovacs.
Kämva=käva „Einfassung, Kreuz". Mongolisch f (^a-
silak) 8) „die hölzerne Einfassung eines Brunnens, Ein-
fassung oder Kasten". Gehört daher mit gät zur Wurzel Mandzu
(käme)9) „environner, entourer, enfermer".
Känya „Weihe, Geier". Belius hat damit bereits das
böhmische käne10), russisch kanjuk10) zusammengestellt. Vgl. jedoch
auch syrjänisch kalja11), „falco rnilvus", lappisch kuolek, die wir
zu heja gestellt haben.
Kar „ Arm". Mongolisch "f (ghar) 12) „die Hand; der
ganze Arm", türkisch Jj (qol) 13) „bras"; syrjänisch s"oj;
gehört wohl zur Wurzel syrjänisch ka-r „facio". Vgl. Sanskrit kara
cFH" „Hand".
*) Hu n fal vi a' Török, Magy. es Finn. saült' egybehas. p. 139. 2) Schmidt, Lex.
p. 312, c. 3) Ehendas. p. 42, a. 4) Ca st r eil, Gramm. Tscher. p. 67, a.
5) Amyot, Dict. Tart. Mantch. II, p. ülö. 6) Castren, Gramm. Tscher. p. 71, b.
7) Schmidt, Lex. p. 1GU, a. 8) Ebendas. p. 140, a. 9) Amyot, Dict. Tart. Mantch. I,
|. :!39. i") Gyarmathi, All'init. ling. hung. pag. 33Ö, 348. ll) Castren, Gramm.
Syij. p. 143. a. *2) Schmidt, Lex. p. 193, a. 13) Kieffer et B. II, p. 526, a.
19 •
292
Boller.
Kar „Schaden". Mongolisch £ (/oorla^o) j) „schaden,
1
Verderben bringen", jakutisch xopon „Einbusse erleiden",
xopoMijy2) „Einbusse, Verlust, Na cht heil" (dem wieder
(XoroX°) 3) »sich verkleinern, sich
zunächst mongolisch i
r
vermindern" entspricht), türkisch jjb (iazyq) 4) „dommage,
perte causee".
Karoly „Sperber, Vogelfalke". Ostjakisch ^ardzagan 5)
„Habicht, Taubenfa I ke", mongolisch t (^arcaghai) 6)
„Habicht", tatarisch «ü^lä (qarcagha) ?) , jakutisch Kblp^ <),
Kbipowi 7) „Habicht", ^ (kirghui) 7) „der kleine Habicht".
h
Karomol „fluchen". Suomi kiro „Fluch, Schwur", mon-
golisch t (xai'iJaX0) 8) »fluchen, schimpfen, schmähen",
Mandzu 4 (firume) 9) „faire des imprecations contre
quelqu 'un. ".
Kavit „belfern". Mongolisch^ (dzangghora^o) 10) „im
<
r
<?>
Zorne schreien und schimpfen", Suomi karju, syrjänisch
gorzja ") „clamo, vociferor".
i) Schmidt, Lex. p. 160, c. 2) B ö htlingk, Lex. p. 87, b. 3) S chmid t, Lex.
p. 170, c. 4) Kieffer et ß. II, p. 1248, b. 5) Castre'n, Ostj. Gramm, p. 82, a.
6) Schmidt, Lex. p. 142, b. 7) Ebendas. p. 138, a. 8) Ebendas. p. 140, b.
9) Amyot, Dict. Tart. Mantch. I, p. 178. *°) Schmidt, Lex p. 293, c. «)Castren,
Gramm. Syrj. p. 140, a.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. /CU»5
Kej „Lust, Wonne". Syrjänisch gaz 1) „laetitia", mon-
golisch 1 (daugha) 2) „Zeitvertreib, Ergötzlichkeit", 1
(dzughan) s) „Aufheiterung, Lustpartie", tscheremissisch
(Ev. Übers.) susu „froh; Freude", Suomi hupa.
Kek „blau". Türkisch .Jjf(gueiik) 3) „bleu turquoise",
mongolisch j*> (kiike) 4).
Kern „Spion". Türkisch jUjjf (gueuzlemek) 5V jLrj^'(gueu-
zetmek) 6) „observer; surveiller; guetter". Diese Formen
gehen zurück auf jjT(geuz) = jjT(gueur), und erstere ist sicher
ein Denominativ (vgl. szem-lel) von jjT(gueuz) 6) „Auge ". Wollte
man das magyarische Wort eben dahin zurückführen, dann müsste
man eine dazwischen liegende Nominalform (gueuzem) voraussetzen.
Z fällt schon im Türkischen aus wie jakutisch KyT 7) „erwarten"
neben KÖcyT s) „erwarten, gewärtig sei n" = türkisch £cj>
(kutmek)7), Ji^(guimek) 9) „attendre, pati enter" beweist.
Wie verhält sich nun mongolisch J? (ketekü) 10) „ s p i o n i r e n,
'S)
kundschaften" zu diesen Bildungen? Liegt eine einfachere Form
zu Grunde, entsprechend dem harten mongolischen t (xaraX°) u)
n
4
„sehen, schauen", Mandzu £ (karame) 13) „monter sur im
■n
lieu eleve pour decouvrir quelque chose" f $ (karun
i
cuo^a) 1S) „soldats qu'on envoie ä la decouverte; espi-
ons", welche dann (J [üdzikü] = jLjjf [Jloj/]) den Anlaut
i) Ebendas. p. 139, b. 2) Schmidt, Lex. p. 308, b. 3) Kieffer et B. II,
p. 666, b. 4) Schmidt, Lex. p. 181, a. 5) K i e f f er et B. II, p 662, a. <*) Ebendas.
p. 666, b. 7) ßöhtlingk, Lex. p. 72, b. 8) Ebendas. p. 60, b. 9) Kief.feret
B. III, p. 673, b. i°) Sch.nidt, Lex. p. 192, b. ") Ebend. p. 139, a. 12) Amyot,
Dict. Tart. Mantch. I, p. 34t 1S) Ebendas. p.347.
294 Boiler.
bewahrt hätte ? Mongolisch t (xa'X°) 0 „nachforschen,
i
untersuchen, erforschen", Mandzu t (kaibume) 2).
Ken „Schwefel". Mongolisch^ (kügür)3), türkisch ^^
(keukurd) *) „souffre".
Keny „Willkür". Türkisch LwT(könül) 5) „coeur, es-
prit; volonte, courage", Mandiu i\ (c'ix;0 6) » volontiers,
<.
volontieren! ent ".
Kep „Bild". Mongolisch^ (keb) 7) „Form, Vorbild",
jakutisch mäö 8) „Form, Gestalt", Suomi kuva, wotjakisch kern9)
„Abbild, Vorbild".
Ker „bitten, begehren".] Die verwandten Sprachen bilden
Kerd „fragen". > eine grosse Anzahl von Formen,
(Keres „suchen".) J welche sich alle auf eine Wur-
zel ka- (ba-), ke- (be-, e-), ki-, ko- zurückführen lassen. Mandzu ?
(baime)10) „eher eher, demanderune chose qu'on a perdue"
% (baicame)11) „demander, s' in form er de quelque chose",
I
mongolisch"^ (ghuju^o)12) „bitten, erbitten", magvarisch koldus
l
„Bettler" (aus dem Intensiv), syrjänisch kora 13) „rogo", tschere-
missisch kice 14) „ r o g o , o r o " , jakutisch KÖp/ryö 15) „suchen,
bitten, fordern", Suomi kysy „fragen, suchen, bitten",
mongolisch^ (eriku) 16) „suchen, erfragen, forschen", J*
(beterikü) 17) „suchen, nachsuchen". Die Bezeichnungen der
!) Ebend. p. 125, a. 2) Amyot, Dict. Tart. Mantch. I, p. 571. 3) Schmidt,
Lex. p. 162, b. 4) Ki ef f er et ß. II, p. 620, a. 5) Kiefferet B. II, p.668, a; Sitzungsb.
Bd. XVII, p. 241 , s. v. ke'ny. 6) Amyot, Dict. Tart. Mantch. III, p. 448. 7) Schmidt,
Lex. p. 147, c. 8) Böhtlingk, Lex. p. 66, b. 9) Wie dem an n, Wotj. Cramm.
p. 309, b. 10) Amyot, Dict. Tart. Mantch. I, p. 515. ") Ebendas. p. 517. *2) Schmidt,
Lex. p. 206, a. 13)Castren, Gramm. Syrj. p. 144, a. 14) Ca stren, Gramm. Tscher.
p.64,a. 15)Böht ingk, Lex. p. 59,b. «) Schmidt, Lex. p.31,b. *7J Ebend. p. 106, b.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. «');)
Begriffe „suchen"- und „bitten" sind demnach wohl erst später in
einander aufgegangen und einzelne erhaltene Formen zeigen noch
die ehemalige Sonderling.
Kereg „Rinde, Kruste, Borke". Suomi kuori „Rinde,
Schale, Kruste", tscheremissisch kargac, syrjänisch kyrs, Mandzu
f (kövalame) •) ,, oter l'e corce " = £ (^övalame) = f ("^öva-
kijame) 3) = f (^ovamijame) 2) „peler un fruit, un arbre".
1 '
1
mongolisch f (xaghor^o) 3) „sich trennen, sich ablösen,
3,
in Stücke zerfahren, gehen". Vgl. harn.
Kerked „sich prahle n". Mongolisch 3> (kügürgekü) *)
n
3
„prahlen", Suomi kerska. Vgl. gög.
Kes „ Messer ". Ostjakisch kedze 5), U. S. käcek, 0. S. köcek,
Mandzu |>* (xuezi) "«) „petit couteau."
I
Kesö „spät". Mongolisch t (^oina) 7) „nachher, zurück,
L
hinter; später", £ (xodzim) 8) „spät, verspätet", Mandzu
f (koitame) 9) „ e t r e long-temps; t a r d e r b e a u c o u p ",
syrjänisch sjor 10) „sero", jakutisch xqjyT ") „später", türkisch
J. guetch „ tard ".
i) Amyot, Dict. Tart. Mantch. I, p. 468. ~) Ebendas. p. 495. 3) Schmidt, Lex.
p. 131, I). 4) Ebendas. p. 182, c; Sitzungsber. Bd. XV11. p. 242, s. v. ke'rkedik.
5) Castren, Ostj. Gramm, p. 83, b. 6) Amyot, Dict. Tart. Mantch. III, p. 122;
Sitzungsber. Bd. X, p. 60. 7) Schmidt, Lex. p. 159, c. 8) Ebendas. p. 17;>, c.
9) Amyot, Dict. Tart. Mantch. I, p. 444. 10) Castre'n, Gramm. Syrj. p. ISO, b.
") Böhtlingk, Lex. p. 87, a.
296 Boller.
Kesz „fertig". Mongolisch^" (küöekü) *) „ganz oder völlig
-$>
sein; zum Schlüsse kommen; einholen" Vgl. jedoch
das slawische totobi» „paratus".
Ket „zwei". Suomi kaksi, türkisch \,\ (ikki), mongolisch
f (x°Jar3)» Mandzu^ (däue) 3).
Keve „Garbe". Suomi kupo 4), mongolisch*^ (dzeüdzi) 5)
„Bündel, Garbe".
Kez „ Hand". Suomi käsi (käde), tscheremissisch kit (kiit) 6),
türkisch J| (el), jakutisch ill 7) = Mandzu kala.
Kfgyö „Schlange". Wotjakisch köj 8) „Schlange", tschere-
missisch kiske 9) „anguis", Suomi kyy.
Kisert. Missverstandene Zusammensetzung.
Kivän. Ebenso. Vgl. vägy.
Köbor „herumstreichen d". Mongolisch «* (kübükü)10)
„herumziehen, nirgends Aufnahme finden", türkisch
ij>jLtL(khovarda) n) „vagabond".
Kör „Krankheit". Tscheremissisch karste 13) „ a egroto ",
ostjakisch kedze, ködze 13) „krank", wotjakisch kyl 14) „Krank-
heit", mongolisch^, (cilegekü)15) „erschöpfen", 31 (cilegetäi)15)
4
„krank, kränklich", Suomi kipu „Krankheit".
Kö „Stein". Suomi kivi16), wotjakisch kö 17)> jakutisch Kaja 18)
„Fels, Felsgebirge", türkisch U (qyja) 18) „ Stein ", mongo-
lisch t (x^ta) 19) „Fels" (der harte) = Mandzu £ (xata) ao)
i) Schmidt, Lex. p. 177, e. 2) Schm i dt, Gramm. §. 76. 3)Gabelentz,
Gramm. Mandsch. p. 38. 4) Magyar Nyelve'szet, II, p. 86, a. 5) S c hmi dt, Lex. p. 299, b.
6) Sitzungsber. Bd. X, p.5i. 7) Sitzungsber. Bd. XVII, p. 363, s. v. oit. 8) Wiede-
mann, Wotj. Gramm, p.301, b. 9) Castren, Gramm. Tscher. p.64, a. 10) Schmidt,
Lex. p. ISO, b. ") Kieffer et B. I, p. 489. 12) Castren, Gramm. Tscher. p. 63, a.
13) Castren, Ostj. Gramm, p. 85, b. 14) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 314, b.
15) Schmidt, Lex. p. 328, b. 16) Sitzung-sber. B. X, p. 52. 17) Wiedemann,
Wotj. Gramm, p. 311, b. 18) Böhtlingk, Lex. p. 80, a. 19) Schmidt, Lex. p. 142, b.
20) A my ot , Dict. Tart. Manteh. II, p. 388.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verhums. Zui
„pierre qui a une pointe ou dessus; sonimet, pic, les
pierr es de la montaigne qui sont les plus hautes".
Küt „Brunnen, Quelle". Mongolisch g (^uttuk) »)
„Brunnen", türkisch j;J (qoi), *J> (qoui'ou) 2) „puits", Mandzu
^ (kuc'in) 3) „puits ou l'on prend de l'eau", Suomi kaivo
„Brunnen", kaiva „graben", ostjakisch xaiHe(ivi) *), syrjänisch
kodja 5) „fodio".
Küld „senden". Tscheremissisch kolt(e)6) „mitto", jakutisch
üt7) (il^iäöm „mitto") „führen, tragen", mongolisch % (ile-
gekü) 8) „senden, schicken", wotjakisch isto 9) id.
Lab „Fuss ". S. lep.
Läbb „schweben". ) Mongolisch f (dabi^o) „flat-
Läng „Flamme, Lohe". ( J
ter n " = jakutisch /iai, Suomi liehu „flattern, flackern". Läbb
und läng verhalten sich zur harten Form dai, wie lebb und leng zur
weichen däi 10) , mit dem Unterschiede, dass erstere die organische
Länge bewahrt haben. Mandzu J (dame) 1J) wird vom Wehen des
"Windes und der Flamme gebraucht. Ebenso das mongolische 2
i
(degdzikü) 12) „sich erheben zum Fliegen oder Auffluge,
in Brandgerathen, auflodern". Vgl. Sanskrit ^rf^FT (an-ila)
„Feuer" und ^jq^r (an-ala) „Wind" von ^q (an) „wehen".
Lägy „weich, mild". Mongolisch | (talbighu) 13) „locker,
lose, sanft, mild, nachgebend", Suomi lievä, lieviä „los,
gelinde, leicht"; wotjakisch nebyt n), tozy 15) „weich".
i) Amy ot, Diet. Tart. Mantch. II, p. 176, c. 2) Kieffer et B. II, p. 541, a.
3) Amyot, Dict. Tart. Mantch. III, p. 491. 4) Castien, Ostj. Gramm, p. 80, a.
5) Castren, Gramm. Syrj. p. 144, a. 6) C as tr e n, Gramm. Tscher. p.64, b. 7) ß ö h t-
lingk,Lex. p. 38, a. 8) Schmidt, Lex. p. 37, c. 9) Wiedemann, Wotj. Gramm,
p. 306, b. 10) Sitzungsber. Bd. XVII, p. 243, s. v. leng. ") Amyot, Dict- Tart.
Mantch. II, p. 223. la) Schmidt, Lex. p. 277, a; 313, c. 13) Ebeudas. p. 233, a.
14) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 319, a. *5) Ebendas. p. 333, b.
298 Boiler.
Lat „sehen". ) Mandzu | (duvame) *) „re gar der,
Lätszik „scheinen". ( 1
examiner", wotjakisch caklako 3) „ansehen, beschauen,
betrachten, beachten, R ü c k s i c h t n e h m e u — besuchen"
(lätogat).
Läz „Aufruhr; Fieber". Wotjakisch tyskaskon 3) „Auf-
ruhr, Streit, Zwietracht".
Le=Lev „Brühe". Suomi liemi4).
Leg „Luft". 1 Gehören insgesammt zu leh-el. Vergl. jaku-
Lel „Geist". ( tisch twh 5) „Athem, Seele", ostjakisch
Lelek „Seele". ) ttt 6) „Geist, Athem".
Legy „Fliege". Mongolisch % (ilagha) 7) „Fliegen".
Lep „Milz". Wotjakisch lab8) id. türkisch j^lU (thalaq) 9),
Mandzu ? (delixun) 10) „rate", mongolisch ? (deligün)11) „Milz".
Lep „schreiten, steigen". Wotjakisch Togo12) „schrei-
ten, gehen ", syrjänisch tecjala 13) „gradior, passus facio",
Suomi as-kalet „Schritt", türkisch o| (adum) = ostjakisch jära.i.
L6 „Pferd". Ostjakisch Tay14), U. S. 'gayx, S. S. t,ox, tür-
kisch ol (at).
Log „oscilliren". Mongolisch 'jj (naighu^o) 15) „das Hin-
u n d Herbewegen" (n = 1).
Lö „schi essen". Wotjakisch ibo 16) id., syrjänisch lyja 17).
Lud „Gans". Tscheremissisch loda „anas", ostjakisch tvht18),
S. toht „ Gans".
Mäj „Leber". Suomi maksa 19), ostjakisch MvroT.
i) Amyot, Dict. Tart. Mantch. II, p. 302. 2) Wiedemann, Wotj. Gramm,
p. 300, b. 3) Ebendas. p. 334, a. 4) Sitzungsber. B. X, p. 302. 5) B öh tlingk, Lex.
p. 102, a. 6) Castren, Ostj. Gramm, p. 99, a. 7) Schmidt, Lex. p. 37, a;
Sitzungsher. Bd. XVII, p. 348, s. v. le'gy. 8J Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 316, a.
9) Kieffer et B. II, p. 184, b. 10) Amyot, Diet. Tart. Mantch. II, p. 242. ") Schmidt,
Lex. p. 277, a. 13) Wied e mann, Wotj. Gramm, p. 316. a. 13) Castren, Gramm.
Syrj. p. 161, a. 14) Castren, Ostj. Gramm, p. 8S, a. 15) Schmidt, Lex. p. 78, c.
i6) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 306, a. 1?) Sitzungsber. Bd. XVII. p. 346, s. v. lakik.
18J Castren, Ostj. Gramm, p. 100, a. 19) Sitzungsber. Bd. X, p. 51.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. ä9«'
Märt „tunken, tauchen". Türkisch irt» (banmaq) ')
„tremper".
Mas „ander, sonstig".Suomi muu, syrjänischmukad-)„al in s."
Meh „Biene". Tscheremissisch mychs 3) „apis". Suomi
mehiläinen (aus dem Indogermanischen?).
Melto „würdig". Jakutisch MäHbi*) „Ehrenbezeugung,
Bevorzugung".
Mely „tief". Ostjakisch MeT 5) id.
Mereg „Gift, Galle". Suomi myrkki „Gift".
Miv = mü „Arbeit, Kunstwerk". Mandzu f (müden)6)
„pouvoir, capacite. Art; les six arts".
Mülik „vergehen, vor üb ergeh en". Mongolisch 'j (nük-
?
c'ikü) 7) „vorbeigehen, vorübergehen " (m=n).
Näsz „M i t g i f t". Etwa durch Versetzung das mongolische 3
o
(indzi) 8) „Mitgift, Aussteuer" (vgl. nevet und mongolisch
3 (inijekü) 9) „lachen").
Negy „vier". Syrjänisch nolj, türkisch 0;jJ>(deurt) 10), mon-
golisch % (dürben)n), Mandzu % (douin)<2).
Nep „Volk". Gehört zu nö.
Nev „Name". Indogermanisches Element, das in die finnischen
Sprachen übergegangen.
Nez „schauen". Suomi näke, mordvinisch nej. Mongolisch
'X (iiidün) 1;) „Auge", ^ (nidülekü) l4) „b 1 i c k e n, gucken,
i- \
schauen", $ (nighor) 15) „Gesicht, Antlitz".
*) Kieffer etB. I, p. 184, b; SiUungsber. Bd. XVII, p. 349, s. v. mely. 2) Castren,
Gramm. Syrj. p. 149, a. 3) Castren, Gramm. Tscher. p. 67, a. 4) Böhtlingk,
Lex. p. 147, a. 5) Sitzungsb. Bd. XVII, p. 349, s. v. mely. 6JArnyot, Dict. Tart.
Mantch. II, p. 416. 7) Schmidt, Lex. p. 96, a. 8J Ehend. p. 36, b. 9) Ebendas. p. 36, a.
l0) Kasembeg, Ed. Zenker, p. ö4, il) Schmidt, Mong. Gramm, p. 48. 12) Ga-
be Jen tz, Elem. de )a Gramm. Mandsch. p. 28. 13) Schmidt, Lex. p. 89, a.
14) Ebendas. p. 90, a. 15) Ebendas. p. 87, b; Schott, Über das Altaische etc. p. 123.
300 Boiler.
Nö „wachse n ". Ostjakisch enme *) S. D. änme „w a c h s e n",
mongolisch '4 (nemekü) 2) „vermehren, sich vermehren".
Nö „Weih, Gattinn". Ostjakisch hch »), U. S. ne, 0. S. m
„verheurathetes Weib", Suomi naise „Mädchen, Jung-
frau; (verheurathetes) W ei b", nai „u x o r e m ducere",
syrjänisch nyy4), lappisch nieidda 4) „virgo, filia", mon-
golisch lJ (naidzinar) 5) „Weib".
„
t>
Nyaj „ H e e r d e ". Mongolisch f (sürük) 6) „ H e e r d e ",
\
osmanisch jjj^j (süri) 7), jakutisch yöp 7) „Heer de".
Nyäjas „ f r e u n d 1 i c h , höflich". Mongolisch 'jj (nairtai) 8)
„einstimmig, friedlich, vergnüglich", jakutisch iai 9)
„freundlich gesinnt gegen Jedermann sein".
Nyäl „Speichel". Suomi sylky, tschuwaschisch cjinrre 10).
Nyi-1 „sich öffnen". ) Mandzn *3 (dzuvame11) „faire une
Nyi-t „öffnen". j %
ouverture q u e 1 q u e p a r t ".
Nyir „scheeren". Syrjänisch syra 12) „ton dre".
Nyül „Hase". Mongolisch i (taulai) 13) „Hase".
i.
Nyülik „sich dehnen". Syrjänisch (Ev. Üb.) njuzöd, mon-
golisch f (suba^o)14) „in die Länge ziehen, verlängern".
Nyüz „schinden". Lappisch nuow, jakutisch cyl 15).
!) Castren, Ostj. Gramm, p. 80, b. 2) Schmidt, Lex. p. 85, c. 3) Castren,
Ostj. Gramm, p. 89, a. 4) Castren, Gramm. Syrj. p. ISO, b. 5) Schmidt, Lex.
p. 79, c. 6) Ebendas. p. 374. 7) B öh tlin g k , Lex. p. 47, a. 8) Sc h m i d t , Lex.
p. 79, b. 9) Böhtlingk. Lex. p. 34, a. 10) Sitzungsber. Bd. XVII, p.357, s. v. nyelv.
ii) Amyot, Dict. Tart. Mantch II, p. 534. 1*) Castre'n, Gramm. Syrj. p. 128, b;
Sitzungsb. Bd. XVII, p. 358, s. v. nyir. 13) Schmidt, Lex. p. 227, b; Sitzungsber.
Bd. XVII, p. 362, s. v. nyül. i4) Schmidt, Lex. p. 365, b; Sitzungsber. Bd. XVII,
p. 358, s. v. nyelv. 15) Böhtlingk, Lex. p. 173, b; Sitzungsber. Bd. XVII, p. 358, s.
v. nyelv.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verhums. 301
Nyü „Made". Mongolisch t (ötiin) J) „Maden , Würmer".
n
Ö alt". )
a ' , IMandzu 1*. (fe)2) „ancien, vieux".
Ocs „alt, abgetragen". ( <-
On „Zinn; Blei". Tscheremissisch vulna 3), Mandzu £ (toyo-
f
Ion) *) „etain«. ^
r m
Ov „verhüten, beschützen". Türkisch J^us (qorou-
maq) 5) „defendre, proteger"., wotjakisch wozo „bewahren",
syrjänisch vidzja 6) „custodio, servo", Suomi viitso, tschere-
missisch orole 7) „custodio".
M
0 „er, sie, es". Suomi se, ostjakisch Te-Ma, syrjänisch syja.
Or „Wache". Wotjakisch karaul „Wach t er" = mongolisch
(^araghul) 8) „Wache, Aufsicht", Suomi varova „vorsieh-
i
%
tig", J? (^araghu) 9) „aufmerksam, besorgt, vorsichtig".
-i
1
h
Es sind also in 6v und or zwei, wenigstens in ihrer Entwicklung
verschiedene Wurzeln in einander geflossen, von denen die eine auf
die Vorstellung des Einschliessens, die andere auf die des Umschauens
zurückgeht.
Orül „wahnsinnig, rasend .werden". Türkisch j^y
(qoudouz, qodoz) enrage , jakutisch Kbi^wi „toben, wüthen".
Vgl. Karo = mongolisch t (ghadusun), "? (ghaeugha) „Pfahl,
tjf (ghadusun), "$ i
I i
Pfosten".
Osz „Herbst". Suomi syys, finnmärkisch -lappisch euofe,
türkisch jX(gueuz) 10), jakutisch Kyc 10) id.
Osz „grau". Mongolisch $ (buru)11), Mandzu 4, (ven-
dze^e) «) „gris". ^
^Schmidt, Lex. p. 75, c. 2) Am yot, Dict. Tart. Mantch. I, p. 152. 3) Castren,
Gramm. Tscher. p. 74, b. 4) A m y o t, Dict. Tart. Mantch. II, p. 27t. 5) Kieffer et
B. II, p. 521, b. 6) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 339, b, a. 7) Castre'n, Gramm.
Syrj. p.163, a. 8J Castren, Gramm. Tscher. p. 68, a. 9j S c hm i d t , Lex. p. 139, b.
10) Böhtlingk, Lex. p. 74, b. «) Schmidt, Lex. p. 115, b. «) Amyot, Dict.
Tart. Mantch. III, p. 238.
302 Boller.
Öz „Reh". Mongolisch £ (dhfcör) *)■
Pähol „schlagen". Syrjänisch pesa a) „verbero", Suomi
piekse. Vgl. das slawische biith „percutere", Eimb „f lag eil um".
Pälcza „Stock". Slawisch na.»ma. Vgl. mongolisch -£ (bi-
i-
laghu)^) „ein Stock, ein Prügel", wotjakisch body *) (magya-
risch bot).
Pota „Knoten, Auswuchs". Türkisch jly (boudaq) 5)
„noeud dans un poutre" (vgl. bötyök), Mandäu | (fusxu) 6)
„noeud qui vient aux branches, au tronc de l'arbre".
Rag „kauen, nagen". Mongolisch *j (dzadzilxo) 7)
„kauen", wotjakisch siisko 8) id.
Ra, reä „auf". Mongolisch % (degere) ») „oben, über",
türkisch^ (üz) in £^\ (üst) „dessus", ^ (üzre) „en haut".
Raz „schütteln". Ostjakisch cepre „geschüttelt wer-
den", also Versetzung statt resg, wotjakisch sezgalo „schütteln".
Recze „Ente". Wotjakisch vaci, c'oz 10) „Ente".
Reg „lange". } Mongolisch A (er-te)11) „früh, vormals,
Regen „alt", j
vorzeiten, die Vorzeit", tscheremissisch ir 13) „mane, tem-
pus matutinum", lappisch aru „zeitig".
Rem „Schreck". Nomen actionis zu riin riad „erschrecken".
Reny „Tugend". Ist ereny mit Verlust des Anlautes , daher
gleichstämmig mit erdem. Die Länge gehört dem Suffixe an wie in
aräny. Vgl. feny und wegen des Abfalles legy, remeny, ret.
Ret „Wiese". Türkisch ^(uru) 's) „Ort wo Futtergras
wächst, Wiese, Weideplatz", tungusisch or^o, orokto , rokta
1) Schmidt, Lex. p. 314, c. 2) Ca s t re n , Gramm. Syrj. p. 152, a. 3) Schmidt,
Lex. p. 107, b. 4) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 299, a. 5) Kieffer et B. I,
p. 234, b. «) Amyot, Diet. Tart Mantch. III, p. 214. 7) Schmidt, Lex. p. 298, c.
8) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 362, b. 9) S c hmidt , Lex. p. 275, a. «•) Wiede-
mann, Wotj. Gramm, p. 352, a. ") Schmidt, Lex. p. 53, a. *2) Castren,
Gramm. Tscher. p. 62, a. *3) Schott, Über das Altaische etc. p.97.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. 303
„Gewächs", mongolisch < (orghu;/o) *) „wac hsen, aufgehen,
<b
sprossen", lappisch riat3) „pratum". Suomi ruohokko, ruohosto
„grasiger Ort" (ruoho „Gras").
Ri „weinen". Indogermanisches Element hei den Magyaren
und Tscheremissen. Vgl. bulgarisch revü 3) „ weinen, heulen "
aus pw^aTH.
Rez „Kupfer". Türkisch!» (jez) 4), ^ (jes) 4), mongolisch
*1 (dzes) 5) „Erz, Kupfer", wotjakisch irgon6), Suomi vaski.
Also r=j (?).
R6 „einschneiden, einkerben". Tscheremissisch rae 7)
„caedo, seco", Suomi raan.
Rüt „hä ss lieh". Suomi rietas „ schmutzig, schändlich,
hässlich". Vgl. das slawische Epn/ViKTb „foedus".
Ruh „Krätze". Bulgarisch sjiigü 8) „Krätze', slawisch
Cßp'LB'B id.
Sär „Koth". Mongolisch jt (sibar) 9) „Koth, kothige
t>
Erde, Morast", jakutisch cäx 10) „Koth".
Särga „gelb". Türkisch^loCsary)11), mongolisch $ (sira) la).
Säs „Riethgras". Wotjakisch s'as ls), Suomi sara 14).
Säska „Heuschrecke". Suomi sirkku 15) „Heuschrecke",
mongolisch^ (carcagher) 16) „Heuschrecke".
%
Säv, Sävoly „ Streif, Strieme". Mongolisch $ (sighur)17)
türkisch jXo>» (tchizmek) 18) „tirer des lignes".
*) S c b midt, Lex. p. 57, c. 2J G ya rm a th i , Affin, ling. hungar. p. 81. 3)Cankof,
Gramm. d.Bulg. Spr. |>.203,a. 4) Sehott, Über das Altaische etc. p. 139. 5) Schmidt,
Lex. p. 301, a. 6J Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 306, b. 7) Castr.en, Gramm. Tscher.
p. 70, a. 8) Cankof, Gramm, d. Ba%. Spr. p. 216, c. 9) Sehmi.lt, Lex. p. 354,a.
10) Böhtl ingk, Lex. p. 152, a. ") S chot t , Über das Altaische etc. 18) Schmidt,
Lex. p. 360, b. 1S) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 330, a. 14) Magyar. Nyelv. II,
p.89, a. 15) Ebendas. 16) Schmidt, Lex. p. 319, e. 17) Schmidt, Lex. p. 356. e.
18) Kieffer et B. I, p. 376, b.
304 Boiler.
Se „Bach". Wotjakisch sür ») „Bach, kleiner FIuss",
ostjakisch cänä türkisch J^«j sep. id.
v
(Ki)-ser „begleiten". Mongolisch | (dagha^o) 3) „folgen,
begleiten", Mandzu £ (da^ame) 3) „ad herer aux volontes
I
de quelqu'un, suivre quelqu'un", Suomi seuraa „folgen,
begleiten".
Ser „schmerzen". Suomi särke „Schmerz erregen,
schmerzen".
Serv „ Leib schaden, Bruch". Gehört mit dem Vorigen
entweder als Denominativ zu seb, türkisch \, (iara) *) „blessure,
plaie", mongolisch^ (sir^a) 5) „Wunde, Verletzung", oder
wie das tscheremissische sertnje 6) „laedo, offe ndo" wahrschein-
licher macht, zu mongolisch | (daghari^o) 7) „auf etwas
stossen, gegen etwas anrennen, etwas streifen; mit
Worten beleidigen; treffen (be s chä dig e n)". In ersterer
Beziehung 2^j[> (i'armaq) 8) „se fendre, etre fendu", wohl
als weiche Form zu hasit gehörig.
Sik „eben, flach, glatt". Suomi siliä „glatt, eben".
Sinlik „siechen". Wotjakisch condo 9) „mager werden",
mongolisch^ (sighu^o) 10) „ganz abmagern", mordvinisch
(Ev. Üb.) sev-ems, sevne-ms „verzehren".
Sip „Pfeife". Türkisch ^dä-o (syqlyq) ") „sifflet, coup
de sifflet", mongolisch 3 (dzimbur) ia) „Pfeife".
4) Wie dem ann, Wotj. Gramm, p. 331, a. 2) Schmi d t. Lex. p.266, a. 3)Amyot,
Dict. Tart. Mantch. II, p. 198. 4) KiefferetB.il, p. 1262, a. 5) Schmidt, Lex.
p.362,b. 6) Ca stre'n, Gramm. Tscher. p.71,a. 7) S c h in i d t, Lex. p. 266, c. 8) K i e f-
fer et B. I, p. 1247, b. '■>) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 301, a. 10) Schm i d t,
Lex. p. 356, c. «) Ebendas. p. 114, b. 12) Schmidt, Lex. p. 304, a.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums.
305
Sir „Grab". Tscheremissisch siger (Ev. Üb.) „Grab", mon-
golisch f (suburghan) *) „Grabmal, Grabpyramide".
1
Sir „weinen". Tscheremissisch saarakte a) „fleo", lappisch
cierrot, ostjakisch jlce 3) „weinen".
So „Salz '\ Jakutisch Tyc 4) , türkisch jy (tüz) 4) , Suomi
suola 5) etc.
Solyom „Falke". Türkisch «jl^^ (doghan) 6), jls^U (thoghan)
„fauc on".
Süly „Last". Wotjakisch sekyt 7) „schwer", ostjakisch Tä-
r,epT, S. D. T^ö^epT id. Mongolisch J (taughai) 8) „Gewicht zum
■
Abwägen". Gehört als harte Form zu teher.
Sürü „dicht". Türkisch ^ß (qo'i) 9) „epais".
Szäguld „g alop piren". Mongolisch £ (labdul^o) 10) „in
Galopp rennen", Mandzu
(torime) 11) „galoper", Suomi
laukka „Galopp".
Szaj „Mund". Suomi suu i3), ostjakisch TyT etc.
Szal „Faden, Faser, Halm". Ostjakisch tet i3) „Faden",
mongolisch 3 (utasun) „Faden" — hingegen ^ (kilghasun) i4)
1
„Pferde haar e , grobe, einzelne Haare".
Szall „steigen, sich begeben". Türkisch I^iili (qalq-
maq) 15) „se lever, partir" etc. Vgl. unter häg.
l) Ebendas. p. 367, a. 2) Castren, Gramm. Tscher. p. 70, b. 3) Castre'n,
Ostj. Gramm, p. 84, a. 4) Böhtliugk, Lex. p. 110, a. 5) Sitzungsber. Bd. X, p. 289.
6) Kieffer et B. I, p. 556, a. 7) Wiedemaun, Wofj. Gramm, p. 526, b. 8) Schmidt,
Lex. p. 227, b. 9) Kieffer et B. II, p. 333, b. ") Schmidt, Lex. p. 279, a.
n) Am yot, Dict. Tart. Mantch. II, p. 280. X2j Sitzungsb. Bd. X, p. 292. 13) Ebendas.
14) Schmidt, Lex. p. 59, c. is) Ebendas. p. 1Ö6, c; Sitzungsb. Bd. XVII, p. 372,
s. v. szüz.
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XIX. Bd. II. Hft. 20
306 Boller.
Szäm „Zahl". Türkisch ^lo (sa'i) *) „nombr e", mongolisch 4
(togha)*) „Zahl", Mandzu £ (ton)») „nombre".
Szan „Schlitten", mongolisch 4 (cana)4) „Schneeschuhe,
Schlitten", Mandzu "f*' 0(unc'u) 5) »traineau pour courir
sur la glace", wotjakisch dody 6) id.
Szan „bedauern". Jakutisch cäHapijä7) „trauern", ostja-
kisch iua^a^e8), uiara^e „bedauern, beklagen". (Vgl. das
gleichstämmige sajnal.)
Szan „sich entschliessen". Türkisch Jfrlo (sanmaq) 9)
„ p e n s e r d e u r e r , s o u h a i t e r " , mongolisch f (sana^o) 10)
„denken, gedenken", Mandzu f (same)11) „savoir" (enthält
die Wurzel) jakutisch caHä „Absicht" 13) etc.
Szänt „pflügen". Türkisch ^Lo (sapan) „charrue", Mandzu
v
m (andza) „charrue", mongolisch 1 (andzusun) „Pflug"
L
Suomi kyntä „pflügen".
Szär „Schaft", Röhre; Stengel, Halm". Mongolisch
£ (dürei) 1S) „Stiefelschaft", Suomi sääri „Wade", läbszar).
i
Szäraz „trocken". Ostjakisch copoM14), mongolisch
ä
i
A
(Xa'
ghorai) 15).
Szärny „Flügel". Mongolisch £ (sibaghun) 16) „Vogel'
t
!) Kieffer et ß. II, p. 89, b. 2) Schmidt, Lex. p. 246, c. 3) Amyot, Dict.
Tart. Mantch. II, p. 286. 4) Schmidt, Lex. p. 316, a. 5) Amyot, Dict. Tart.
Mantch. III, p. 324. 6) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 302, b. 7) B ö h 1 1 i n g' k ,
Lex. p. 134, 1»; Sitzungsber. Bd. XVII, p. 136, s. v. gyanakodik. 8) Ca streu. Ostj.
Gramm, p. 96, a. 9) Kieffer et B. II, p. 88, b. «) Schmidt, Lex. p. 337, b.
") Amyot, Dict. Tart. Mantch. II, p. 32. 12) Sitzungsber. Bd. XVII, p. 236, s. v.
gyanakodik und p. 392, Nachtrag. 13) Schmidt, Lex. p. 285, a. 14) C a s t r e' n, Ostj.
Gramm, p. 96, b. f6) Schmidt, Lex. p. 132, b ; Sitzungsber. Bd. X, p. 53 und Bd. XVII,
p. 372, s. v. szüz. 16) Schmidt, Lex. p. 354, a.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums.
307
tschuwaschisch sönat *), türkisch Jallä (qanat) , jakutisch Kbina-r a)
„Flügel". Mandiu £ (gasxa)3) „oiseau".
Szäz „hundert". Türkisch jy (Tu z) ,, cent", Mandzu |
- 3;
(tangghu) *), id. Mongolisch ^ (dzaghun) 5) „hundert".
Szedül „schwindeln". Mongolisch | (tencirekü) 6) „schwin-
'u
1
dein, den Schwindel bekommen " = Suomi heidy-tha, tr.
Szegyen „Schande, Scham". Tscheremissisch vezl(a) 7)
„pudet m e ", Suomi häpiä, jakutisch cäT s) „Schande, sich
schämen", mongolisch"^ (ghotoburi)9) „Schande, Schmach".
c
I)
r
Szel „Wind". Suomi tuuli10), türkisch Jj (Tel) „vent", mon-
golisch f(salkin)11) „Wind".
Szel „Rand, Bord, Küste". Ostjakisch myi1 13) „Rand",
jakutisch kwtw 13) „ Ufer, Ran d".
Szeled „sich zerstreuen". ) Mandzu £ (tendeme)14) „se-
Szet „aus einander". l -%
parer. diviser", i (tel^eme)15) „separer, diviser, se se-
!
parer" (| (tel^e) 16) = telek „piece de terre", zugetheiltes
->>
Stück), mordvinisch (Ev. Üb.) sinde-ms „brechen".
!) Schott, Über das Altaische etc. p. 99. 2) Sitzungsher. Bd. XVII, p. 372, s. v.
sziiz. 3) Amyot, Dict. Tart. Mantch. I, p. 378. 4) A my o t, Dict. Tart. Mantch. II,
p.i89. 5) Schmidt, Lex. p. 295, a. 6) Ebendas. p. 240. 7) Castre'n, Gramm.
Tscher. p. 74, a. 8j Böhtlingk, Lex. p. 153, a. 9) Schmidt, Lex, p. 205, c.
10) Sitzungsber. Bd.X, p.54. il) Schmidt, Lex. p. 343, a. la) Castle n, Ostj. Gramm,
p. 97, b. I8) Böhtlingk, Lex. p. 62, a; Sitzungsher. Bd. XVII, p. 372, s. v. sziiz.
14) Amyot, Dict. Tart. Mantch. II, p. 251. 15) Ebendas. p. 257. 16) Ebendas.
p. 256.
20 •
308 Boller.
Szep „schön". Lappisch coabbe, wotjakisch ceber, Mandzu
* (sabume) 9 „voir", t (sabi) J) „chose extraordinaire
i
q u i est de bon a ug u r e et belle ä voir", mongolisch "<£
(ghova) 3) „ansehnlich, schön".
Szerdek „saure Milch". Jakutisch Täp s) „gesäuerte,
gekochte Milch", mongolisch $ (tarak) 4) „gesäuerte Milch
nach Abkochung derselben".
Szi „saugen, ziehen". Türkisch J^o (sormaq) 6) „sucer,
absorber", tscheremissisch sopsa 6) „traho, sugo" == szorp,
das aus szop -\-r entstanden.
Szij „Riemen". Tscheremissisch sist (Ev. Üb.) „Riemen".
Szin „Farbe". Mongolisch £ „Farbe, Wasserfarbe"
(sir) 7). Vergleiche 1 (öngge) 8) „Farbe, Aussehen".
Szit „schüren". Mongolisch ^ (silegebur) 9) „Schürholz,
Feuerhaken".
Szi'v „Herz". Suomi sydäme 10), mongolisch f (sedkil)11)
gehört zu mongolisch i (serekü) 13) „im Vor aus wissen, ver-
stehen = Mandzu £ fsereme)13) „savoir, etreeclaire, etre
i
i n s t r u i t , s a v o i r d e j ä", türkisch jL^*j (sezmek) l4) „ c r o i r e,
penser, juger, discerner". Daher mit sej-dit gleichstämmig.
Szö „Wort". Suomi sana, türkisch j^j (seuz) 15).
!) Amyot, Dict. Tart. Mantch. tt, p. 13. 8) Schmidt , Lex. p. 201, 1>. 3) B ö h t-
lingkv Lex. p. 92, a. 4) Schmidt, Lex. p. 233, c. 5) KiefferetB II, p.l29,a.
6) Gast r e n , Gramm. Tscher. p. 72, a. ?)Sc h m i d t, Lex. p. 360, b. 8) Ebendas. p. 64, b.
9) Ebendas. p. 358, c. 10) Sitzungsber. Bd. X, p. 54. Il) Schmidt, Lex. p. 305, b.
12) Ebendas. p. 349, c. ») Amyot, Dict. Tart. Mantch. II, p. 42. 14) Kieffer et
ß. I, p. 670, h. 15) Kieffer et B. I, p. 708, a.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verhums. 309
Ször „zerstreuen, worfeln". Mongolisch! (tar^a^o) *)
„sich zerstreuen", tscheremissisch sab „ausstreuen" — tür-
kisch J^jjU? (savourmaq) 2) „vanner".
Szölö „Traube". Türkisch Jdlo (salqoum) 3) „grappe".
Ször „Haar". Suomi tukka „Stirnhaar", türkisch jL" (tük)
„Haar, Wolle". Vgl. indess Suomi karva „Th i erh aar".
Szörny „Scheusei". Mongolisch^ (s'ighudburi) *) „Scheu-
sal, Gegenstand des Abscheues", ;f (sighudal)*) „Abscheu,
l
Wid er will e".
Szür „stechen". Mandzu £ (tokome)5) „piquer, piercer",
lappisch suogge „durchbohren", türkisch X?yo (soqmaq) 6)
„piquer".
Szücz „Kürschner". Wotjakisch suba 7) „ Pelz ", jakutisch
coh8) „Pelz", tobolsk. jy^'on)5) „Fell", oj& (ton), oy „Pelz".
Szük „eng. dürftig". Suomi soukka „eng", mongolisch^
%
(cighul) 9) „eng, knapp, dürftig", türkisch j^ä-o (syqmaq)10)
„presser, serrer, mettre ä l'etroit".
Szünik „aufhören". Mongolisch f (sünükii) n) „ v e r-
-&
löschen, ein Ende nehmen", türkisch j\iy^(su'i'tinmek) 12)
= jAiyj (seunmek) „s'etei ndre". Vgl. ej.
t) Schmidt, Lex. p. 235, a. 2) Sitzungsher. Bd. XVII, p. 369, s. v. szür;
Kieffer et B. II, p. 58, b. 3) Ebendas. p. 86, h; Sitzungsber. Bd. XVII, p. .'570. s. v.
BZÖlö. 4) Schmidt, Lex. p. 357, a. 5) Amyot, Dict. Tart. Mantcb. II, p. 2f>0.
6) Kieffer et B. II, p. 131, b. 7) Wiedemann, \V,,lj. Gramm, p. 331, a. 8) Böht-
ling-k, Lex. p. 160, a. 9) S c h m i d t , Lex. p. 326, c. *°) K i ef f er et B. II, p U5,a.
") Schmidt, Lex. p . 372, c. 12) Kieffer et B. I, p. 712, b.
310 Boiler.
Sziir „seihen". Mongolisch f (sixaX°) 0 » d u r c h"
-
seihen", türkisch jl^ (seuzmek) 3) „filtrer".
Szüz „Jungfrau", türkisches j (qyz) „fille", jakutisch
KblC 3).
Tag, tägas „geräumig", türkisch jL (iaz) *) „plaine,
etendue", tscheremissisch (Ev. Üh.) sar „ausbreiten", Suomi
lavia, laaja „weit".
Täj „Gegend, Landschaft" = türkisch jl.
Tämad „entstehen, aufstehen". Türkisch J^y (dogh-
maq) 5) „naitre, selever".
Tämasz „Stütze". Mandzu J (dajame) 6) „s'appuyer, se
h
l
confier, s'appuyer contre quelque ch ose", türkisch J^lb
(daiamaq) 7) „etager*.
Täp „Nahrung". Ostjakisch Täirre, S. D. T^TnTe 8) „ernäh-
ren", mongolisch J (tedzijekü) 9) „ernähren, aufziehen".
T^[ „offen, öffnen". Mongolisch | (tair/o) 10) „öffnen",
Tat)
%
eröffnen.
Tär „Magazin". Ostjakisch Tynac11) „Magazin".
Tärs „Genosse". Syrjänisch jort«) „socius", jakutisch
Aogop 13) „Gefährte, Freund", ostjakisch TÖroc l4) „Freund",
tscheremissisch tos 15), türkisch J*\* (das), wotjakisch joz 16) „Ge-
fährte, Verwandter". Vgl. das slawische ^poynb.
i) Schmidt, Lex. p. 355, b. 2) Kieffer et B. I, p. 709, a; Sitzungsb. Bd. XVII,
p. 371, s. v. sziir. 3) Böhtlingk, Lex. p. 65, b ; Sitzungsber. Bd. XVII, p. 371, s. v.
szüz. 4) Kieffer et B. II, p. 1248, b. 5) K i e f f e r et B. I, p. 200, a; Sitzungsb.
Bd. XVII, p. 378, s. v. ta'mad. 6) Arayot, Dict. Tart. Mantch, II, p. 206. 7) Sitzungsb.
Bd. XVII. p. 379, s. v. tamasz. 8) Castren, Ostj. Gramm, p. 98, a. 9) Schmidt,
Lex. p. 245, a. ") Schmidt, Lex. p. 227, b. ll) Castren, Ostj. Gramm, p. 100, a.
12) Castren, Gramm. Syrj. p. 142, a. «) B ö h tl i n gk , Lex. p. 115, b. «) Castren,
Ostj. Gramm, p. 99, b. 15) Castre'n, Gramm. Tscher. p. 73, b. 16) Wiedemann,
Wotj. Gramm, p. 308, a.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums.
311
Tav „fern". Jakutisch Taijbic1) „hinausgehen", Tac2) „Aus-
senseite", (weich) jakutisch Tai3) „fortgehen, abtreten",
Mandäu £ (tule)*) „dehors".
Teboly „Irrsinn". (Ostjakisch Teöe5) „irre gehen"; Mandzu
Tev „Irrthum". ) i (tabarame) 6) = £ (tasärame) 6), se
r
tromper, faire une eh ose pour l'autre."
Tel „Winter". Suomi talvi7), Mandzu f (tovori)8), türkisch
u*J>' u«ä (qys) 9) „hiver", jakutisch kwc9).
Ter „Raum, Platz; hineingehen, Platz haben; frei,
weit". Weiche Formen zu tag. Türkisch^ (ier) 10) , wotjakisch
terysko u) „Platz finden".
Ter „eben". Türkisch j^3 (duz) „uni, egal, plat," mongo-
lisch | (ceksi)11) „gleich, gerade, ohne Krümmung",
A
ostjakisch Terec „flach, platt". Suomi tasa id.
Terd „Knie". Mandzu £ (topkija) *2) „genou", £ (tujame)13)
1
„courber, plier, tordre; courber les genoux."
Tet „That". Suomi teko „That, Werk".
T6 „See". Ostjakisch xey 14), U. S. tovx, 0. S. tox „Land-
see", mongolisch \\ (naghor) 15) „See, Teich".
To ) „Stamm, Stock". Suomi tyvi16), jakutisch TÖHypräc17)
Torzs i „Baumstumpf".
!) Böhtlingk, Lex. p. 90, a. 2) Ebendas. p. 93, a. 3) Ebendas. p. 94, a.
4) Amyot, Dict. Tart. Mantch. II, p. 291. 5) Castre'n, Ostj. Gramm, p. 98, b.
6) Amyot, Dict. Tart. Mantch. II, p. 177. 7) Sitzungsber. B. X, p. 51. 8) A in y 0 t,
Dict.Tart.Mantch.il, p. 316. 9) Böhtlingk, Lex. p. 65, a. l") Kieffer et B. II,
p. 1262, a. ll) Wiedemann, VVotj. Gramm, p. 333, a. 13) S c h in i d t , Lex. p. 241, c.
13) Amyot, Dict. Tart. Mantch. II, p. 295. 13) Ebendas. p. 295. 14) Castre'n,
Ostj. Gramm, p. 99, a. 15) Schmidt, Lex. p. 81, a. 16) Sitzungsb. Bd. X, p. 283.
17) Böh tlingk, Lex. p. 99, a.
312 Boller.
Tözs „Handel, Handlung". Ostjakisch Täm1) „Waare",
Tv/^e2) u. S. "gy^e „kaufen".
Tül „jenseits K. Mongolisch i (daba^o) 3) „hinüber-
*)
ziehen oder steigen".
Tür „Satteldru ck". Mongolisch i (tagharai) *) „eine
n
geriebene Wunde" (z. B. vom Sattel), „Schwielen".
Türok „Trappe", mongolisch | (tughuduk 5), d. i. tüduk)
„der grosse Trappe".
Tu „Nadel". \ Jakutisch tik 6) „stechen, nähen", tiir-
Tüdz „steppen". ( kisch jUj tikmek.
Tüz „Feuer", tungusisch toggo7), togo, tua, Mandzu %
1
(tu[v]a)s), türkisch jj (od)9).
Tyük „Henne". Ostjakisch TaBax 10) „Huhn", türkisch Ji^^
(thaouq, thavouq) n) „poule", mongolisch | (takija) 12) „die
Henne, das Hüh nervieh".
Üj „Finger", ostjakisch Tyi 13), u. S. Toi? Mongolisch rf
q
1
(choroghon) 14) „Finger, Zehe", Suomi suormi.
Uj „Ärmel", türkisch JXj (iiin)15) „manche", mongolisch j*
()<;ancui) 16) „Ärmel eines Kleidungsstückes", syrjänisch
sos 17), lappisch sasse, Suomi hiha.
i) Castren, Ostj. Gramm, p. 98, a. 2) Ebendas. p. 99, b. 3) Schmidt, Lex.
p.264, c. 4) Schmidt, Lex. p. 266. 5) Schmidt, Lex. p. 250, c. 6) Böhtlingk,
Lex. p. 104, a. 7) S chott , Über das Altaische otc. 8) A m yo t , Dict. Tart. Mantch. II,
p. 302. 9) Kieffer et B. 1, p. 122, b. ") Castren, Oslj. Gramm, p. 98, a. ") Kief-
feretB. II, p. 163, a. i2) Schmidt, Lex. p. 230, a. «) C a s tr en, Ostj. Gramm,
p. 99, b. 14) Schmidt, Lex. p.l71,a. lä) Ki e ff e r et B.II, p. 1299, b. 16) Schmidt,
Lex. p. 128, a. ir) Castre'n, Gramm. Syrj. p. 157, b.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verhums. 313
Üj „neu" Suomi uusi (uude), ostjakisch jl^en1), je^en „jung,
neu", mongolisch ;f (sine)2) „neu", jakutisch caija3), türkisch
ul iana 3), id. Jana, IJC>. (dzana)3), osmanisch \> (ieni) 4), vgl.
mongolisch t (sonin) 5) „neu", frisch".
Un „ü b e r d r ü s s i g w e r d e n". Mandzu "$ (kusun) «) „nausee,
<.
repugnance, ennui", türkisch J^lojl (ousanmaq) 7) „s'en-
nuyer, avoir degout", Suomi inho „Ekel", lappisch unokas
„ab geneigt".
Ür „Herr". Wotjakisch kuzo 8) „Herr, Hausherr«, Mandzu
JP ^(bo-i chodzi) 9) „maitre de la maison".
Ut „Weg", Tungusisch hokta, oot, ot *°), Suomi tie, türkisch
JjJ (iol) i!) „voie, chemin route", Mandzu *i (dzu^on) la)
l
„chemin".
Uz „jagen, treiben, verfolgen". Wotjakisch tuzon *3)
„Verfolgung", mongolisch ^ (cügegekß)1*) „vertreiben, ver-
o
jagen, verfolgen".
Väd „Klage, Anklage". Mandzu Z (ppsan) 15) „accu-
/>
sation, delation", 4 (vakalan) *«) „accusation ", türkisch
J«^y (qolamaq)») „accuser, denoncer", Suomi kaipa'.
*) Castre' n, Ostj. Gramm, p. 84, a. 2) Schmidt, Lex. p. 332, a. 3) Böht-
lingk, Lex. p. 152, b. 4) Kieffer et B. II, p. 127, h. 5) Schmidt, Lex. p. 363, b.
6) Amyot, Dict.Tart.Mantch.IlI, p. 97. ') K i e f fe r et B. I, p. 134, a. ») Wiede-
mann, Wotj. Gramm, p. 313, a. 9} Ai.iyot, Dict. Tart. Mantch. I, p.56i. 10) Scho U,
Über das Altaische etc. p. 103. ") Kieffer et B. II, p. 1293, a. «•) A m y o t , Dict.
Tart. Mantch. II, p. 323. ") Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 333, b. i") Schmidt,
Lex. p. 333. ^) Amyot, Dict. Tart. Mantch. I, p. 418. iß) Ebendas. III, p. 218.
1?) Kieffer et B. II, p. 312, b.
314
B o 1 1 er.
Vag „schneiden, hauen, schlachten". Wotjakisch cogo1)
„abhauen ". Mongolisch 3 (uktal^o) 3) „schneiden, ab-
schneiden".
Vägy „sich sehnen, verlangen". Mandzu 5* (kitume) 3)
„soupirer apres quel que chose", wotjakisch utis'jalo*) „ver-
langen", Suomi pyytä1 = lappisch bivddet „begehren, ver-
langen", mongolisch "? (ghaghuldza^o) 5) „aus Mangel und
Noth begierig sein, schmachten", "f (ghaghulkila^o) 5)
„begierig sein, heftiges Verlangen haben", türkisch J^l
(onamaq) 6) „souhaiter", s. ki-vän.
Valik „sich scheiden, verändern".) Jakutisch yxiapbii7)
Valt „wechseln, ablösen". j „sich verändern,
durch einen andern ersetzt werden" = mongolisch 3
i
u!bari^o)8) id. Vgl. lappisch molssot „atvexle".
Väläsz „Antwort". Suomi vasta1 „antworten" (vasta'a „ent-
gegnen"), mongolisch £ (tus) 9) „gegenüber", jakutisch tvc10)
„die vor Einem liegende Seite", Tocyi11) „begegnen, ent-
gegen halten*.
Välaszt „wählen". Entweder zu välik (väla d -f- 1) gehörig
oder = jakutisch Taji la), tatarisch l*%& (sai'Iamaq) „wählen".
1) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 301, a. 2) Schmidt, Lex. p. 50, b.
3)Amyot, Dict, Tart.Mantch. I, p. 49. 4) W i ed e ma n n , Wotj. Gramm, p. 336, a.
5) Schmidt, Lex. p. 192, a. 6J K ie ff er et B. 1, p. 144, b. 7) ßöhtlingk, Lex.
p. 45, a. 8) Schmidt, Lex. p. 64, b; Sitzungsb. Bd. XVII, p. 364, s. v. va'lik.
9) Schmidt, Lex. p. 255, b. 10) B öhtli ngk , Lex. p. 110, a. ") Ebendas. p. 98, b.
*2) Ebendas. p. 93, a.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. O 1 O
Väj „aushöhlen, graben". jSyrjänisch volala *), dola =
Välu „Wassertrog". > Suomi, lappisch vuole, Man-
Väpa„Hühlung, Concavität".) dzu £ (falome)8) „sculp-
£
ter", türkisch Jcjt (oi'maq) 3) „sculpter, ciseler, creuser un
concombre".
Vall „Schulter". Suomi olka, ostjakisch BäH 4), tscheremis-
sisch pulos 5), slawisch miHuixa „humeri".
Vall „gestehen". Jakutisch oi.iiH 6) „gestehen, ein-
gestehen, anerkennen".
Ki-väu „wünschen". Türkisch lcJ\ (onarnaq) 7) „sou-
haiter, desirer".
Vär „warten, erwarten ". Wotjakisch woz'mas'ko 8)
„erwarten", Suomi varto, tscheremissisch vodc 9), türkisch lcj\
(onmaq) 10) „attendre".
Väszon „Leinwand". Mandzu ^ (dzoton) 11), mongolisch j]
4
(dzotong) 13) „Leinwand", persisch - türkisch C/S (keten) 13)
„lin", tscheremissisch etin l4) „linum".
Ved „Schutz, beschützen". Mongolisch | (tedkükü)15)
„schützen, in Schutz nehmen", Suomi turva\
Veg„Ende". Wotjakisch pun16) „Ende, Grenze", syrjänisch
pom17) „finis", Mand&u 4 (vadzime) 18) „achever, terminer
■ i
quelque chose."
*) Castren, Gramm. Syrj. 2) Amyot, Dict. Tart. Mantch. III. 3) Kieffer
et B. I, p. 146, a. 4) Castren, Ostj. Gramm, p. 102, b. 5) Castren, Gramm.
Tscher. p. 69, b. 6) Böhtlingk, Lex. p. 140, a. ?) Kieffer et B. I, p. 144, b.
8) Wiedem ann, VVotj. Gramm, p. 339, a. 9) Castren, Gramm. Tscher. p. 74, b;
Sitzungsber. Bd. XVII, p.385, s.v. ve'r. 10) Kieffer et B. I, p. 144, b. ") Amyot,
Dict. Tart. Mantch. II, p. 517. 12) Schmidt, Lex. p. 311, c. «) K i ef f e r et B. II,
p. 567, b; Sitzungsber. Bd. XVII, p. 385, s. v. va'szon. 14) Castren, Gramm.
Tscher. p. 62, a. 15) Schmidt, Lex. p. 244, c. 16) W i e d e in a n n , Wotj.
Gramm, p. 325, a. i7) Castren, Gramm. Syrj. p. 152, h. 18) Amyot, Dict.
Tart. Mantch. III, p. 224.
316 B oll er.
Vekony „dünn, schwach, schlank". Ostjakisch BäraT,
S. Böro^ „dünn", syrjänisch vösnid J), mollis, wotjakisch vesci 2)
„schmal, dünn".
Vel „meinen". Wotjakisch poto 3) „meinen, wollen".
Ven „alt, betagt". Suomi vanha, lappisch ponje, syrjänisch
vaz,*), türkisch jji^liy (bunamys)5) „hochbetagt.",
Ver „Blut". Suomi veri e), jakutisch xäH 7), mongolisch )[
(cisun) 8).
Ves „meisseln, stechen, graben". Mandzu9 (kejeme) 9)
1
„eise ler sur du bois, eise! er du bois", mongolisch f
(sujuci)10) „Meissel, Stemmeisen", Suomi veistä „schnitzeln,
behauen". Vgl. slawisch BaiaTH „sculpere".
Vet „fehlen, verschütten". Suomi vika „Schuld, Fehler",
türkisch ?~jo (soutch) ")> mongolisch \ (d&ala) *3) „Vergehen,
Verbrechen, Schuld", tscheremissisch suluk13) „peccatum"-
Vi „kämpfen, fechten". Mongolisch % (bari-Hu^o) l4)
4
H
*>
„kämpfen, ringen, sich balgen" (sich wechselseitig fassen).
Viz „Wasser". Suomi vesi (vede), tscheremissisch vid15),
türkisch yo (su), mongolisch \ (usun) 16).
Vö „Eidam". Mongolisch V (bukduxo)17) „sich verloben",
4
Suomi vävy, ostjakisch neij, S. D. bo^18).
*) Castren, Gramm. Syrj. p. 166, h. 2) Wiedemann, Wotj. Gramm, p. 338,
a. 3) Ebendas. p.324, a. 4) Ca stren , Gramm. Syrj. p. 162, b. 5) Sc h o 1 1 , Über
das Altaische etc. p. 138. 6) Sitzung-sb. Bd. X, p. 52 und XVII, p. 387, s. v. ve'r.
7) B ö h tl i d g k , Lex. p. 77, a. 8) S c h m i d t , Lex. p. 330, b. 9) A m y o t , Oict. Tart.
Mantch.III,p.23. 10) S ch m id t , Lex. p. 372, b. «) Kieff er et B. II. i2)Schmidt,
Lex. p. 288, b. ") Castren, Gramm. Tscher. p. 70, b. *4) Schmidt, Lex. p. 102, a.
15) Sitzungsb. Bd. X, p. 52, 16) Schmidt, Lex. p. 61, c. 17) Ebendas. p. 112, a.
18) Castren. Ostj. Gramm, p. 102, b.
Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums. »317
Nachtrag.
Zu al. Das türkische Jl (al) J) „tromperie" kommt dem
magyarischen Worte, zu dem auch die Sitzungsb. Bd. X, p. 290
s. v. ylala angeführten Formen gehören, am nächsten. Die Verei-
nigung mit pöjalo etc. erhält durch die lappischen Bildungen, finnmär-
kisch-lappisch boassto = schwedisch-lappisch posto, poito „falsch"
(poito - jubmel „Abgott", al-isten) neben bsettolas id. noch
weitere Berechtigung.
Zu älok. Da das esthnische wand = türkisch jj| (and) == mon-
golisch | (andaghar) 2) , Suomi vala, neben der Bedeutung „Eid-
i
schwur" welche allen angeführten Bildungen zukommt, auch die
besondere „Fluch" besitzt, so wird man atok richtiger hieher
beziehen, wodurch die missliche Annahme einer zweifachen Ent-
wickelung der in karomol liegenden Wurzel entfällt.
Zu csel, csin. Den anlautenden Guttural bewahren die mongo-
lischen Formen f? (genedekü) 3) „sich irren, sich versehen,
^
-i
eine Dummheit begehen", ,9 (genedelge) 3) „Täuschung,
I
Betrug
Zu csöka. Suomi suu-tele „küssen" gehört schwerlich zu
suu, sondern ist vielmehr cup -f- tele.
Zu ei „Schneide". Wesentlich für die Ermittelung der
Wurzel ist das türkische Jl (i'alym, i'alum)4) „ trän c haut d'un
s a b r e , d'un couteau".
Zu er „Ader". Der Mangel einer ausreichenden Begründung
in den verwandten Sprachen lässt wenigstens an die Möglichkeit
denken, in er ein Lehnwort zu suchen. Vgl. das schwedisch-lappische
ora „vena", dänisch aare, schwedisch äder, althochdeutsch adara.
Doch stehen für die magyarische Form bedeutende lautliche Schwie-
rigkeiten zu beseitigen.
i) Kieffer et B. I,p.83,a. 2) Scho 1 1 , über das Altaische etc. p. 85. 8) Schmidt,
Lex. p. 196, c. 4) Kieffer et B. II, p. 1254, a.
3 1 <S Boller. Vergleichende Analyse des magyarischen Verbums.
Zu erez. Man darf bei der Zusammenstellung auch Suomi aisti
„Empfindungsvermögen", aistin (aistime) „Sinneswerk-
zeug", lappisch aiccet „fornemme" nicht übersehen.
Zu fer. Vgl. Suomi mahta „Raum haben".
Zu gyäsz. Die von Schott *) aufgestellte und auch von mir
nicht abgewiesene Vergleichung mit mongolisch "f (ghasalang)
li
„Jammer, Unglück, Elend", so einladend sie ist, muss auf-
gegeben werden, wie schon das Bestehen der beiden Formen ^jL
(las) und JeJ> (qaiglm) neben einander wahrscheinlich macht. Gyasz
ist vielmehr auf das vollständigere Mandzu |, (düsame) 3) „p ort er
■ i
ledeul.etre endeul, etre dans 1 a d o u 1 e u r , d a n s I a tris-
tesse, avoir du malheu r" zurückzuführen.
Zu häm. Die angenommene Gleichstämmigkeit der Wörter häm,
hej und kereg ist sehr unsicher, und darum auch das Versehen,
welches die zu häm gehörigen Formen unter kereg und umgekehrt
stellte, sehr störend. Ich sondere jetzt kereg mit seinen Nebenformen
zu denen man Sitzgsb. Bd. X, p. 54 s. v. kuori vergleiche, von häm
und hej. Mit Letzterem stelle ich zunächst türkisch ;~i (gabouq) 3)
„ecorce; cosse, gousse; coquille; c roüte" = Mandzu &
(X°X°) 4) »gousses deharicots, fevesetc." und führe diese
sammt den unter kereg zusammengestellten Bildungen auf die Wurzel
welche in dem Mandzu £ (^ozime) 5) „e nv el o pp e r" liegt, zurück.
I
Endlich bemerke ich nachträglich zu der Sitzb. B. XVII, p. 345
(vgl. Nachtrag p. 393) gegebenen Vergleichung von kulcs mit Suomi
sulke, dass letzteres dem Suomi | (tülkigür) 6) „Schlüssel" ent-
4J
%
spreche, wodurch jeder Anknüpfungspunkt an eine ural-altaische
Wurzel wegfällt.
*) Schott, Überdas Altaischeetc. p. 109. 2) A m y o t , Dict. Tart.Mantch. II, p.291.
3) K ie f fer et B. II, p. 440, b. 4) A in y o t , Dict. Tart. Mantch. I, p. 449. 5) Ebend.
6) Schmidt, Lex. p. 260, c.
Verzeichnis« der eingegangenen Druckschriften. 319
VERZFJCHMSS
DER
EINGEGANGENEN DRUCKSCHRIFTEN.
(FEBRUAR.)
Akademie, k. preuss. d. Wissensch. Monatsbericht, Dee. 1855.
Anzeiger f. Kunde d. deutsch. Vorzeit. 1855, Nr.12; 1856, Nr. 1 ; 4<"
Archiv d. Mathematik u. Physik. Von Grunert. Bd. 25, Hft. 1—4.
Austria. Jahrg. 8. Hft. 1—7.
Beretning om Bodsfaengslets Virksomhed. i. A. 1854. Christiania
1855; 8<>-
Boscha, J., Proeve eener oplossing van een vraagstuk betreffende
de electrische Telegrafie. Amsterdam 1855; 80-
Cimento, il nuovo. November 1855.
Clement, Pierre, Portraits historiques.
Cornet, Enrico, Le guerre dei Veneti nell* Asia 1470 — 74. Vienna
1856; 8o-
Cos mos. Vol. 7, livr. 22—25. Vol. 8, 1 — 8.
Dudik, B., Iter Romanum. 2 Vol. Wien 1855; 8°-
b'(Sl»ert, ggvfftto*, ©tc (Sutturfortfd)ritte 9M)ven3 unb Öftetreicfytftf)*
<5d)feften8 «., tuät)tenb ber legten lOO^afyre. SBrünn 1855; 8"-
Flora. 1855. Nr. 37-48.
Forening physiographiske i Christiania: Nyt Magazin for Natur-
videnskaberne. Vol. 1 — 8. Christiania 1837—55; 8°-
Förstema n n's, Altdeutsches Namenbuch, Bd. I, Lief. 8, 9.
$ranfl, £ubto.$(ng., Snfcfyriften beä alten jitbifcfyen griebfyofeS in 3Bten.
Sßten 1855; So-
Frei bürg i. Br. Universitätsschriften aus dem Jahre 1855.
Gesellschaft, k. k. mährisch -schlesische, des Ackerbaues etc.
Mittheilungen. 1855; Nr. 27—50.
320 Verzeichniss der eingegangenen Druckschriften.
Girard, Charles, Description of new Fishes. Boston 1854; 8°-
£atyn, Gtyrift. Wrtd), ©efdjtcfete ber ße§er im Mittelalter. S3b. 1—3.
(Stuttgart 1854—50; 8»-
Hailager, F., und Brandt, Fr., Kong Christian denFjerdes norske
Lovbog of 1604. Christiania 1855; 8<>-
£otmboe, @.5l., £)aä ättefte SKünjwcfcn Sdortocgcn«. 6t>rift.l854;8°-
Jahrbuch, neues, für Pharmacie und verwandte Fächer, Bd. IV,
Hft. 3, 4.
J aks ehitsch, Vlad., Statistique de Serbie. Livr. 1 . Belgrad 1856 ; 8°-
Kjerulf, Theodor, Das Christiania - Silurbecken chem.-geogn.
untersucht. Christiania 1855; 4°-
Königsberg, Universitätsschriften 1854.
Nachrichten, astronomische, 997 — 1009.
Nissen, Hartvig, Beskrivelse over Skotlands almue skolevsesen.
Christiania 1854; 8<>-
Peretti, Paolo, Cianogeno idrosolforato rinvenute nella espirazione
dei colerosi nel sangue e nelle ossa dei medesimi morti nello
stadio algido. Roma 8°*
«Prcflet, 9Ji. 51. §., Sabettarifcfyer ©runöriß ber (Sxpnimtntal > $^ftf.
(Smben 1856; gol.
— Die Temperatur von Emden. Emden 1856; Fol.
— (Die arttfymetifdje <§<$)äbe.
3ftiebl t>. Seuenftern, Sftecenfton üon: £offmann'g Anleitung
jum ©ebvaudje beS 9ted)iten * <3d)teberi unb 0i eiö , Sefyrbud) ber
©eometrie.Oettfdjriftbeäofterreic^tf^enSngenieur'SSereing, 1855.)
Salmaigirje. Kristiania 1854; 8°-
® e g c f f e r , «.$$. »on, SDag alte ©tabtrecfyt fcon Sujern, SBafet 1 855 ; 8°-
Stift eis er Norske. Bd. I, Hft. 2; Bd. II, Hft. 1. Christiania 1854; 8°-
Stimpson, VVn., Description of sorne of the new Marine Inverte-
brata from the Chinese and Japanese Seas. Boston 1854; 80,
Vereeniging v. Nederlandsch Indie, T. Natuurkund. Tjidschrift.
Deel IX. Afler 5, 6.
Weinhold, Karl, Altnordisches Leben. Berlin 1856; 8°-
Sßurjbad) ö. Sannenberg, (Sonftant, 23tbttograpf)ifd) = ftattftifdje
Überftcfyt ber Literatur beS öfterr. ÄaiferftaateS t>om 1. Jänner Big
31. ©ecember 1854. 2Öten 1856; 8°-
Zerrenner, Karl, Die national-ökonomische Bedeutung der Krim.
SITZUNGSBERICHTE
DER KAISERLICHEN
IMDKIIIE DER WISSENSCHAFTEN
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE CLASSE.
ZWANZIGSTER BAND.
WIEN.
AUS DER K. K. HOF- UND STAATSDRUCKEREL
IN COMMISSION BEI W. BRAUMÜLLER, BUCHHÄNDLER DES K. K. HOFES UND DER
K. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
1856.
SITZUNGSBERICHTE
DER
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHEN CLASSE
DER KAISERLICHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
ZWANZIGSTER RAND.
Jahrgang 1856. Heft I. eis III.
(Mit 1 Caftl.)
— *^sJS-o®>®js^*—
WIEN.
AUS DER K. K. HOF- UND STAATSDRUCKEREI.
IN COMMISSION BEI W. BRAUMÜLLER, BUCHHÄNDLER DES K. K. HOFES UND DER
K. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
1856.
INHALT.
Seite
Sitzung vom 5. März 1856.
Jaec/er, Ein Beitrag zur Privilegiumsfrage 3
Sitzung vom 12. März -1856.
Wolf, Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. Mit einer
literar-historischen Einleitung über die Volkspoesie in Portugal und
Catalonien 17
Sitzung vom 26. März 1856.
Chmel, Das Recht des Hauses Habsburg auf Kärnten 169
Sichel, Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. (Beitrag zur
Geschichte Mailands im XV. Jahrhundert) 185
Verzeichniss der eingegangenen Druckschriften 261
Sitzung vom 9. April 1836.
Roessler, Beitrage zur Staatsgeschichte Österreichs aus dem G. W. von
Leibniz'schen Nachlasse in Hannover 267
Sitzung vom 16. April 1856.
Aschbach, Die römischen Legionen prima und seeunda Adjutrix. Geschichte
ihrer Entstehung — ihre früheren Stationen und endlichen festen
Standlager in Niederpannonien 290
Sitzung vom 23. April 1836.
Schmidt, #Der Mons Cetius des Ptolemäus 338
Dümmler, Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien (549 — 928) 353
Verzeichniss der eingegangenen Druckschriften 431
Sitzung vom 7. Mai 1856.
v. Karajan, Bericht über die Thätigkeit der historischen Commission der
kais. Akademie der Wissenschaften während des akademischen Ver-
waltungsjahres 1854 auf 1855 437
— Bericht über die Thätigkeit der Commission zur Herausgabe der
Acta conciliorum sa'euli XV während des akademischen Verwal-
tungsjahres 1854 auf 1855 459
v. Schlecht a-Wssehrd, Bericht über die vom September 1854 bis September
1855 zu Konstantinopel erschienenen orientalischen Werke . . . 460
Sitzung vom 21. Mai 1856.
Arneth, Vortrag bei Überreichung zweier Werke von Vicomte Emanuel
de Rouge und Professor Roth. (Mit 1 Tafel) 471
Pfizmaier , Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche von dem
Friedensschlüsse von Sung bis zur Versammlung der Reichsfiirsten
in Schin. (Vom Jahre 545 bis 538 vor Christo) 486
Verzeichniss der eingegangenen Druckschriften 551
SITZUNGSBERICHTE
DER
KAISERLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE CLASSE.
XX. BAND. I. HEFT.
JAHRGANG 1856. — MÄRZ.
SITZUNG VOM 5. MÄRZ 1856.
Gelesen :
Ein Beitrag zur Privilegiiimsfr age.
Von dem w. 31. A. Jaeger.
Nach den vielen und gründlichen Abhandlungen welche die
neuere Forschung über die Privilegiumsfrage zu Tage gefördert,
scheint es heinahe ein überflüssiges Unternehmen zu sein, den
Gegenstand noch einmal zur Sprache zu bringen. Was lässt sich
nach den Untersuchungen Hormayr's und Moritzens, Watten-
bach's und ChmeTs wohl etwa noch Neues bringen? Ist der
Reichthum der Quellen nicht erschöpft? Ist nicht Alles, was die
historische Combination errathen und vermuthen konnte, ans Licht
gezogen, und weiter als bis zur blossen Wabrscheinlichkeit — bis
zur urkundlichen Gewissheit erhoben worden? Das scheint keinem
Zweifel unterliegen zu können. Allein bei näherer Betrachtung zeigt
sich die Frage doch mir nach einer Seite hin als vollkommen erledigt,
nach einer andern kann die Untersuchung noch nicht in jeder Bezie-
hung für abgeschlossen und über jeden Zweifel hinaus für entschieden
erklärt werden. Wir Mandeln im vollen Tageslichte über die Frage,
ob eine Fälschung stattgefunden habe: offen hingegen ist noch zur
Stunde die Frage, wann und durch wen die Fälschung geschehen?
In dieser Beziehung trübt noch mancherlei Nebel den klaren Blick,
und die Frage wurde neuerdings eine um so offenere, als unser
verehrtes Mitglied R. B. Chmel in seiner neuesten Arbeit, in der Ein-
leitung zu dem II. Bande, I. Abth. der „Monumcnta Habsburgiea," von
t"
/jr Jaeger.
seiner früheren Ansicht abgehend, geneigt zu sein scheint, die Quelle
der Fälschung anderswo zu suchen als in der Ottokarischen Kanzlei.
Die Frage über die Zeit und den Urheber der Fälschung kann ferner
auch desswegen als eine olTene betrachtet werden, weil die bisherigen
gegen Dr. Wattenbach und Friedrich Böhmer gerichteten
Untersuchungen nicht in eine directe Widerlegung ihrer Behauptungen
eingingen, sondern den Vorwurf der Fälschung von dem Herzoge
Rudolf IV. nur indirect dadurch ablenkten, dass sie ihn in seiner
ganzen Schwere auf ein früheres Jahrhundert und auf eine
andere Persönlichkeit übertrugen. Es stehen sich also dermalen
die zwei entgegengesetzten Behauptungen bezüglich der Frage,
ob die Privilegiums-Fälschung unter Ottokar oder Rudolf geschah,
so gegenüber, dass die Hypothese Chmel's etwas schwankend
wurde, Böhmer's und Watten bach's Behauptung hingegen,
dass die Fälschung von dem Herzoge Rudolf IV. 1358 oder 1359
ausgegangen sei, unverändert hei ihrer ursprünglichen Schärfe
verharrt.
Reim Durchblättern des Muratoriscben Sammelwerkes der Script,
rer. italic. stiess ich auf eine Urkunde, von der ich glaube, dass sie,
wenn sie auch die Zeit und den Urheber der Fälschung zu bezeichnen
nicht vermag, doch den positiven Reweis herzustellen geeignet
ist, dass Herzog Rudolf nicht der Fälscher war, sondern
d a s s d i e Privilegien im Jahre 1336, a 1 s o d r e i Jahre vor
Rudolfs Geburt ») schon e x i s t i r t e n , und bereits damals
als alte Vorrechte der österreichischen Herzoge
bezeichnet wurden. Das betreffende und, wie ich glaube, für
die vorliegende Frage höchst wichtige Document findet sich in der
Chronik des Gualvaneo de la Flamina bei Muratari Script, rer. italic.
Tom. XII, p. 1015 u. s. w. 3). Gualvaneo de la Flamma schrieb eine
Geschichte der Visconti von 1328 bis 1342, welche die Regierungs-
zeit Azzo's, Luchino's und des Erzbischofes Giovanni, jedoch nicht
vollständig umfassf. Seine Glaubwürdigkeit wird von Muratori hoch
*) Rudolf wurde geboren 1. November 1339. Kurz, Öster. unter Rudolf, p. 6.
2) Die Regesten Lichnowsky's weisen auf diese interessante Urkunde schon bin;
aber weder Chrael noch Wattenbach berücksichtigten sie, und doch liegt in
ihr, wie der Text oben darthun wird, eine so grosse Beweiskraft!
Ein Beitrag zur Privileg-iumsfrage. 5
angeschlagen; denn als Caplan und Secretär des regierenden Erz-
bisehofes Giovanni, und als ein Mann der am mailändischen Hofe
lebte, war er unstreitig in der Lage, sich die genaueste Kenntniss
der Ereignisse seiner Zeit, seines Vaterlandes und seiner Fürsten zu
verschaffen. Seine Chronik führt bei Muratori den Titel: Gualvanei
de la Flammet , Ord. Praedicat. opuseuium de rebus gestis ab
Azone , Luchino et Johanne Vicecomitibus ab anno 1328 usque ad
annum 1342 nunc primum in luceni editum e MS. codice Biblioth.
Ambrosianae. Intet- einer Capitelaufschrift, unter welcher sicher
Niemand eine die österreichischen Privilegien betreffende Urkunde
suchen würde, nämlich in dem Capitel „de stratis et cloacis (urbis
ßfediolanensisj" findet sich nun das oben erwähnte für unsere
Frage so wichtige Document. Ehe ich jedoch die Urkunde selbst
mittheile, stelle ich die hauptsächlichsten Gründe die Böhmer
und Wattenbach für die Autorschaft des Herzogs Rudolf
bezüglich der Privilegiumsfälschung und für die Annahme des
Jahres 1358 oder 1359 als Fälschungsjahres vorbringen, in
gedrängtem Überblicke zusammen, weil dann die Beweiskraft des
genannten Documentes um so schlagender hervortreten und dar-
thun wird, dass die Gründe der beiden Gelehrten nicht stich-
hältig sind, und die scheinbar von ihnen gewonnenen Resultate
von selbst wegfallen.
Friedrich Böhmer bemerkt in seinen Kaiser -Regesten bei
Gelegenheit, wo er der Bestätigung des Privilegiums majus durch
Friedrich II. erwähnt i): „Dieses Privilegium ist eine Yerunechtung
des vorhergehenden (minus) , welche gleich einigen anderen
Urkunden unter Herzog Rudolf IV. von Österreich im Jahre 1358
oder 1359 (wesshalb es denn auch keine älteren Abschriften
gibt) entstanden ist; in der äussern Form täuschend, im Inhalt
läppisch u. s. w."
„Diese, wie Dr. Wattenbach sie nennt 3), von Böhmer mit
gewohnter Schärfe und Präcision ausgesprochenen Andeutungen" ver-
folgt nun der zweitgenannte Gelehrte, und bemüht sich, wie er selbst
versichert, sie in seiner Abhandlung über die österreichischen
l) (tegesta Imperii von 1198 — 1234, p. 199.
-) Archiv für Rande österr. Gescbiehtsquelten, Bd. VIII. S. 9:;.
ß Jaeger.
Freiheitsbriefe weiter auszuführen und fester zu begründen J).
Dr. Wattenbach sucht, wenn auch in einer etwas andern Auf-
einanderfolge seiner Gedanken als wie ich sie hier gebe, vor
Allem zu beweisen, dass alle österreichischen Privilegien „genau
mit einander zusammenhängen" S. 82, „zu einem Com-
plexe von Urkunden gehören, der zusammen ein eng
geschlossenes Ganzes bildet" S. 95; „dass es da-
her noth wendig sei, die Untersuchung auf die ganze
Reihe von Urkunden auszudehnen, anstatt, wie gewöhn-
lich geschehen ist, das Privilegium majus allein zu
betrachten" S. 82.
Consequent mit diesen Behauptungen, die unbedingt zuge-
geben werden müssen, da die fraglichen Privilegien wirklich
alle mit einander stehen oder alle mit einander fallen , stellt
Dr. Wattenbach S. 94 die weitere Behauptung hin, „dass das
Privilegium des Königs Heinrich (VII.) vom 24. August
1228 nicht vor dem Majus entstanden sein könne,
weil es die Existenz desselben voraussetzt," folglich da nach
Böhmer's Behauptung welche Dr. Wattenbach weiter auszu-
führen und fester zu begründen unternahm, das Majus erst 1358
oder 1359 entstand, ebenfalls erst in diesen Jahren nach der
Fabricirung des Majus sein Dasein erhalten haben müsse. So irrig,
wie das bei Muratori aufbewahrte Document später zeigen wird,
Böhmer's und Wattenbach's Annahme der Jahre 1358 oder 59
als Entstehungszeit des Privilegiums von 1228 genannt werden muss,
so vollkommen richtig ist die Behauptung, dass dieses Privilegium
das Majus voraussetze, daher nicht vor ihm entstanden sein könne.
Diese Versicherung Dr. Wattenbach's verdient nicht blos unsern
vollen Beifall, sondern der Zweck meiner Untersuchung verlangt
sogar, dass wir etwas näher darauf eingehen, denn es leuchtet von
selbst ein, dass, wenn einerseits erwiesen und zugegeben ist, dass
das Privilegium von 1228 zum Majus sich verhalte wie das Abgeleitete
zum Ursprünglichen, und wenn andererseits der Beweis hergestellt
werden kann, dass das Privilegium von 1228 lange vor dem Jahre
l) Die Österreich. Freiheitsbriefe. Prüfung ihrer Echtheit und Forschungen über ihre
Entstehung in dem (Anmerkung 2) genannten Sammelwerke.
Ein Beitrag- zur Privilegiumsfrage. 7
1358 oder 1359 vorhanden war, nothwendig auch das Ursprüngliche
lange schon vor dem Abgeleiteten, oder mit anderen Worten, das vom
Freiheitsbriefe des Königs Heinrich vorausgesetzte Privilegium majus
lange schon vor den Jahren 1358 oder 1359 vorhanden gewesen
sein muss, folglich Böhmer's und Wattenbach's Behauptung
sich nicht halten kann.
Das Privilegium König Heinrich's (VII.) vom 24. August 1228
lässt sich auf vier wesentliche Puncte zurückführen:
Erstens wird darin festgesetzt, dass Jedermann den Herzogen
von Österreich und Steier Länder und anderes mit voller Bechtsgil-
tigkeit legiren, schenken, verpfänden und verkaufen könne, und zwar
mit dem Beisatze, dass wenn ein solcher Kauf, eine solche Schenkung,
Verpfändung oder ein solches Vermächtniss sich so plötzlich ereignete,
dass die königliche Hoheit um die Bestätigung unmöglich aufgesucht
und angegangen werden könnte , den Herzogen von Österreich
desswegen kein Nachtheil in ihren Rechten entstehen solle. —
Vergleicht man diesen Punct mit dem Majus, so muss er offenbar eine
nähere Bestimmung der §•§. 18 und 2 dieses letzteren Privilegiums
genannt werden, indem im §. 18 gesagt wird, dass die Herzoge von
Österreich ihre Freiheiten und Vorrechte auf alle noch zu machenden
Erwerbungen ausdehnen dürfen, wodurch ihnen ja eo ipso auch das
Erwerbungsrecht für die Zukunft eingeräumt wurde. Der Zusatz,
dass sie in solchen Fällen , wo der Eile wegen die Zustimmung
des Reichsoberhauptes nicht eingeholt werden könne, auch ohne
dessen Einwilligung zur Erwerbung schreiten dürfen, scheint eine
Beziehung zum §. 2 des Majus zu haben, in welchem hinsichtlich
des Empfanges der Belehnung etwas Ähnliches enthalten ist.
Der bequemeren Vergleichung wegen setze ich die betreffenden
Stellen aus dem Privilegium vom Jahre 1228 und aus dem Majus
in den Anmerkungen unter dem Texte neben einander 1). Viel
!) Aus dem Privileg. Heinrichs vom J. 1228. „Primo quodsi aliquis alicui
Dueum Austrie et Styrie . . . suarum Terrarum Provineias et talia cetera, quocun-
que nomine . . . censeantur , que auf. a Hegali magnifieentia , seu a Principibus
spiritualibus eoneessionis, eollaeionisve oflieio derivarentur. legare, dare, obligare,
vendere contingeret, eosdem gvendilores sive obligateres, Hegalis nostra majestas
nee aliquis hominum aliqualiter valeat impedire. Quodsi autem eadem veuditio.
obligatio, daeio, legacio evenire contingeret tarn repente, quo«! nee Regia snblimitas,
nee horummodi coilatores possent aliquatenus requiri , Dueibus Austrie ... in
8 Jaeger.
klarer und unbestreitbarer tritt die Beziehung des Freiheitsbriefes
König Heinrieh's auf das Majus in den drei folgenden Puncten
hervor.
Im zweiten Puncte des Privilegiums vom Jahre 1228 beurkundet
König Heinrich dem Herzoge Leopold eine Sentenz der Wahlfürsten
des Reiches, die dem Herzoge von Österreich das Recht einräumt,
sein e Belehnun g zu Pferd zu empfangen, eine Sentenz die
auf Grund älterer Briefe des Herzogs gesprochen wurde. — Diese
Stelle des Privilegiums vom Jahre 1228 bezieht sich unstreitig und
offenbar auf den §.13 des Majus, welcher den Herzogen von Öster-
reich dieselbe Befugniss zuerkennt *).
Im dritten Puncte gestattet König Heinrich den Herzogen von
Österreich , das Diadem seiner königlichen Krone auf
ihrem Herzogs hüte zu tragen, ein Vorrecht welches ebenfalls
in dem §. 13 des Majus schon enthalten war, und im Privilegium
von 1228 höchstens dahin näher bestimmt wird, dass die im Majus
genannte Zinkenkrone „sertivm pimiituni" die Königskrone sei,
„nostrae regalis coronae diadema" 3).
eorum Juribas ob hoc nulluni eveniat penitus detrimentum." — Aus dem Majus
(§. 18): „Volumus etiam ut si districtus et diciones dicti ducatus ampüati fuerint
ex hereditatibus , donaeionibus , empeionibus, deputationibus veJ quibusvis aliis
devolucionum successionibus prefata jura privilegia et iadulta ad augmentum dicti
dominii Austrie plenarie referantur." (§. 2) „. . . in terra Austrie sibi debent sua
feoda conferri . . . quod si denegaretur, ab imperio requirat . . . literatorie Irina
vice, quo facto juste sua possidebit feoda sine offensa irnperii ac si ea corporaliter
conduxisset." —
1) Die Stelle des Privilegiums von 1228 lautet: „Etiam idem . . . prineeps Leopoldus
dux Austrie et Styrie coram nostre majestatis oculis et Eleetorum Romani regni
culininis inquisitione et sententia obtinuit presollerü , secundum suarum antiquarum
literarum recitationem, omnia sua .Iura seu feoda, eujuscunque sint conditionis, i n
Equo residens recipiat, talibus collationibus inagnitice preditatus." — Die Stelle
des Majus (§. 13): „Dux Austrie principali ainictus veste . . . equo assidens...
conducere ab imperio feoda sua debet."
2) Das Privilegium von 1228: „Preterea, eidem illustrissimo Principi Leopoldo . . .
cunctisque suis sequacibus haue largiter concedimus dignitatem, u t in s u i P r i n c i -
patus pilleo nostre Regalis corone Diadema solemniter ferre
possit." — Das Privilegium Majus (§. 13):. „Dux Austrie principali amictus veste
superposito ducali pilleo circumdato serto pinnito baculum habens
in manibus equo assidens . . . conducere . . . feoda sua debet." — über die Zinken-
krone , und über die deutsche Königskrone vergl. Schrötter's und Raiich's
Österr. Geschichte II. Bd., pag. 45, 211 und 507.
Ein Beitrag zur Privilegiumsfrage. 9
Viertens bestätigt das Privilegium vom Jahre 1228 alle Rechte,
Freiheiten, Gnaden und alle guten althergebrachten Gewohnheiten
der Herzoge von Österreich und gestaltet deren Ausdehnung auch
auf alle noch zu erwerbenden Besitzungen, was wieder ein Punct des
Majus ist, der dasselbe besagt i).
Die Behauptung Dr. Wa ttenbach's , dass das Privilegium
König Heinrich's vom Jahre 1228 das Majus voraussetze, folglich
nicht vor ihm entstanden sein könne, hat demnach ihre volle nicht
zu bestreitende Richtigkeit, und der ganze Freiheitsbrief vom Jahre
1228 erscheint nur als eine Bestätigung und nähere Bestimmung
einiger Puncfe des Majus.
Dr. Wattenbach drängt hierauf seine Behauptung , dass die
Privilegien im Allgemeinen, nicht etwa blos das eine oder das andere,
nicht vor den Jahren 1358 oder 1359 entstanden seien, mit der
Versicherung, „dass von keinem der fraglichen Privilegien eine
Abschrift bestehe, die über das Jahr 1300 hinaufgehe" S. 87, und
legt eben seine ganze Untersuchung darauf an, „ob sich ihre Existenz
mit den geschichtlichen Vorgängen der Jahre 1058 bis 1359
vereinigen lasse" S. 81. Er kehrt dann S. 94 wieder speciell zu dem
Privilegium König Heinrich's ddo. 24. August 1228 zurück, und
beweist, dass es mit nichten aus der Zeit Ottokar's herrühren könne,
„weil Ottokar nicht Österreich sondern Böhmen als sein Hauptland
ansah , hinsichtlich Österreichs sich mit dem Belehnungsbriefe
Richard's begnügte, folglich, wenn er geglaubt hätte noch weiterer
Urkunden zu bedürfen, er sich die Rechte doch wohl für Böhmen
würde ausgesucht haben, namentlich die schöne Bestimmung
in Heinrich's (VII.) Urkunde über das Recht, Erwer-
bungen von Ländern ohne Einwilligung des Reiches
zu mach e n" S. 94.
l) Das Privilegium von 1228 : „ . . . volente.s, largius omnes suas terras seil ditiones,
districtus et cetera, ad hujusmodi pertinentia, vel que in posterum poterint
obtinere, habere euueta jura, libertates, gratias bonasque eonsuetudines , quas
duces olim terrarum jam dictaritm pie recordationis in commendabilem ex aotiquis
consuetudinem perduxeruut, aut que reeenter a nostre manibua excellentie susce-
perunt." — Das Majus (§. 18): „Volumus etiam ut si districtus et ditiones dieli
ducatus ampliati fuerint . . . prefata jura privilegia et indulta ad augmentum
dicti dominli Austrie plenarie ref'eiantur."
10
J a e ff e r.
Von diesem Gedanken Anlass nehmend, geht sofort Dr. Watten-
hach auf den eigentlichen Kern seiner Behauptungen über, nämlich:
dass sowohl das Privilegium Majus, als auch wegen des innigen
Zusammenhanges mit demselben insbesondere das vom Jahre 1228
von dem Herzoge Rudolf IV. bei Gelegenheit und zum Zwecke der
Erwerbung Tirols gefälscht worden sei. „Das Vorrecht, Länder auch
ohne Bestätigung vom Reiche erwerben zu können, sagt Dr. Watten-
bach S. 83, ist hier — in dem Privilegium von 1228 — so vorsichtig
und mit so vielen Einzelheiten abgefasst, dass darin ganz augen-
scheinlich die Beziehung auf einen bestimmten Fall
h e r v o r t r i 1 1." Welches dieser bestimmte Fall sei , deutet
Dr. Wattenbach an derselben Stelle an: „Dieses Vorrecht,
sagt er, fand bei der Erwerbung Tirols seine Anwendung;
es wird aber durch Cap. 10 der goldnen Bulle in ähn-
licher Weise der Krone Böhmens beigelegt." Mit diesen
Worten wollte Dr. Watten bach, wenn ich ihn richtig verstehe,
doch nichts anderes sagen, als: das Vorrecht Länder ohne Bestätigung
vom Reiche erwerben zu können, wurde in der goldenen Bulle
eigentlich nur der Krone Böhmens beigelegt, aber vom Herzoge
Rudolf von dort in sein Privilegium herüber genommen, und auf die
Erwerbung Tirols angewendet.
Was hier nur durch Combination aus den nicht ganz klaren
Worten Dr. Watte n b ach's abgeleitet werden muss, ist im §. V
seiner Abhandlung über die österreichischen Freiheitsbriefe unum-
wunden und unzweideutig ausgesprochen. Es ist ja Aufgabe dieses
Paragraphen nachzuweisen, dass eben Herzog Rudolf IV. der Fälscher
des Majus, und wegen des früher von Dr. Wattenbach erwiesenen
genauen Zusammenhanges aller Privilegien, auch der Fälscher der
übrigen unechten Stücke, speciell des vom Jahre 1228 sei, und dass
diese Fälschung 1358 oder 1359 stattgefunden habe.
Ich werde die Beweise die Dr. Wattenbach auf 10 Octav-
seiten für seine Behauptung herbeibringt, nicht wiederholen; sie sind
sämmtlich aus den Beziehungen der österreichischen Fürsten zur
goldenen Bulle und zu Karl IV., aus dem Charakter Rudolfs IV., aus
dessen Beziehungen zu Tirol, und ganz insbesondere aus dem Um-
stände abgeleitet, dass vor dem Jahre 1358 weder Citate noch
Abschriften der unechten Privilegien gefunden werden, mit dem Jahre
1359 aber, wo es sich um die Erwerbung Tirols handelte, auf einmal
Ein Beitrag zur Privüegiumsfrage.
in Titeln, Siegeln, Ansprüchen und Urkunden des Herzogs Rudulf
Citate und Hinweisungen auf die falschen Privilegien zum Vorschein
kommen.
Gehen wir nun über zu der bei Muratori aufbewahrten Urkunde,
vergleichen wir sie mit den Argumenten Dr. Watt enbach's, und
wir werden sehen, wie sie zu ganz anderen Behauptungen berechtigt,
als dieser Gelehrte und Fr. Böhmer aufgestellt haben.
Die wichtige Urkunde findet sich, wie ich schon früher bemerkte,
in der Chronik des Gualvaneo de la Flamma bei Muratori
Script, rer. italic. XII, p. 1015. Gualvaneo berichtet, dass in dem
Kriege des Königs Johann von Böhmen mit den Herzogen Albrecht und
Otto von Österreich wegen der Erwerbung Kärntens der Visconte
Bruzio , erstgeborner Sohn des edlen Visconte Luchino , Herrn der
Stadt Mailand, den österreichischen Herzogen eine Hilfsschaar von
200 Helmen nach Deutschland zugeführt habe. Er macht uns hierauf mit
dem nicht zu meinem Zwecke gehörigen Streite bekannt, der zwischen
Ludwig dem Baier und Bruzio wegen des Verbotes entstand, dass
im deutschen Heere und Lager keine andere Fahne wehen dürfe, als
die kaiserliche und österreichische. Bruzio war entschlossen, eine
solche Schmach der Mailänder Fahne mit dem Schwerte abzu-
wehren, hätte Ludwig das Verbot nicht zurückgenommen. Dann geht
Gualvaneo auf die eigentlich hiehergehörige Stelle über. „Am
Schlüsse des Krieges, erzählt er, schlug Herzog Albrecht den Visconte
Bruzio zum Ritter, und als er ihm für die geleisteten Dienste Burgen
und grosse Geldsummen antrug, wies Bruzio alles Angebotene zurück,
und erbat sich nur eine besondere grosse Gnade, nämlich das Recht,
eine goldene Krone auf seinem Hute tragen zu dürfen.
Die Herzoge von Österreich, überrascht durch dieses Begehren,
willigten nur mit grosser Schwierigkeit ein, weil dieses Vorrecht
nur den Herzogen von Österreich vor Zeiten als grosse Gnade und
Auszeichnung eingeräumt worden war. Der Inhalt des hierüber dem
Visconte ausgestellten Privilegiums lautete: „Wir Albrecht und
Otto, Herzoge von Österreich etc." und weiter unten:
„verleihen dem tapfern Kriegsmanne Visconte Bruzio,
und der ganzen Viseontischen Sippschaft, jenen
Gliedern dieses Hauses nämlich, die von Matteo und
Uberto abstammen, das Vorrecht, eine goldene Krone
auf ihrem Hute, auf dem Helme, in den Fahnen und
12 J a e g e r.
Schilden tragen zu dürfen, aber nur unter dem Titel
eines Lehens;" — und am Schlüsse der Urkunde: „Gegeben
zu Wien im Jahre des Herrn M. CCC. XXXVI. am Abend
des eilf Tausend Maidtages1)."
Das ist die wichtige Urkunde die Gualvaneo uns aufbewahrt
hat, und ich nehme nun die von Dr. Wattenbach zu einem andern
Zwecke S. 96 gebrauchten Worte, und frage: „Ist das nicht ein
förmliches Citat des Majus und des Privilegiums von 1228, welche
demnach damals, d.h. 1336, also drei Jahre vor der Geburt des
Herzogs Rudolf existirt haben müssen? Und wenn das richtig ist,
wie steht es mit den Beweisen und Behauptungen Böhmer's und
Wattenbach's , dass das Majus erst 1358 oder 1359 fabricirt
!) Gualvaneus de la Flamma: „Isto tempore cum Joannes res Boemiae bellum facere
vellet cum Alberto et Ottone Ducibus Austrie propter quamdam suceessionem Ducatus
Karinthiae, Bnizius Vicecomes cum CC militibus illuc perrexit in auxilium Ducum
Austriae. Cum autem ad campum procederet utraque acies, per Ludovicum Bavariae
Imperii Usurpatoren» statutum fuit, ut nullus prineeps aut praelatus vexillum erechim
ad bellum deferret, excepto supradicto Ludovico et Ducibus Austriae. Quod cum
omnes principes vexilla deposuissent, solus Bruzius Vicecomes ad bellum processit
cum suo vexillo erecto. Ludovicus autem Bavariae auctoritate imperiali ei praecepit,
quod vexillum deponeret, qui magno usus animo respondit: „In Lombardia cum ipse
Ludovicus contra illos de domo mea saepius dimicaverit, nunquam vexillum Viee-
comitum depositum fuit, nee per ipsum superari potuit. Nee etiam modo ego, qui
non ut ejus hostis hue veni , vexillum deponam. Quod si contra ine gladium erexerit,
cum g-ladio evaginato vexilli meijura defendam." Et sie cum vexillo erecto ad bellum
processit. Et licet nihil de belli fine actum fuerit, supradictus Albertus Dux Austriae
ipsum Bruzium militem accinetum fecit. Cum autem ei castra aut maguas peeunias
elargiri voluisset, ipse Bruzius omnia respuit ; sed posse coronain auream
super caput Bidriae sive Briviae*) deferre ex maxima gratia
postulavit: quod ipsi Duces Austriae cum magna difficultate coneesserunt, quia
hoc solisDucibusAustriae quondampromagno munereconeessum
fuit. Tenor privilegii talis est: „Mos Albertus et Otto Duces Austriae etc."
iufra: „Bruzio Vicecomiti, viro strenuo militi concedimus , totique parentelae
Vicecomitum, videlicet illis , qui de Matthaeo et Uberto nati descenderunt , quod
coronam auream possint portare super caput Biverae in galea , et bandereis , et
clypeis titulo feudali etc." et Infra: „Data Viennae anno Domini M. CCC. XXX. VI. in
vigilia XI mille Virginum." — Fuit autem istud Privilegium duobus sigillis penden-
tibus communitum. — Hie Bruzius fuit nobilis militis Luchini Viceeomitis Domini
Civitatis Mediolanensis primogenitus , qui de Alamannia exiens , Mediolanum cum
gloria ad patrem rediit. Muratori Script, rer. italic. Tom. XII, p. 1013.
*) Biilria oder Brivia ist nach Du Cange soviel als Biber = Castor ; Caput bidriae soviel als
Biber-Castor-Hut.
Eil) Beitrag zur Privileg iumsfrage. 1 3
wurde, und das Privilegium von 1228 nicht vor dem Majus, also
ebenfalls erst 1358 oder 1359 entstanden sein konnte? Oder
wollte man etwa annehmen, die „arch i val isch en Studien
Rudolfs" haben sich auch auf die Archive der Visconti und auf
die Handschriften der Ambrosianischen Bibliothek erstreckt? Dass
Gual van eo, der unter dem Erzbischofe Visconte Giovanni von
1349 bis 1354 am mailündischen Hofe lebte, das Original unserer
Urkunde in Händen hatte, bezeugen die Schlussworte seines Berichtes:
„Fuit autem istud Privilegium duobus sigillis pendentibus com-
munitum."
Es steht demnach Angesichts dieser entscheidenden Urkunde
fest, dass das Privilegium vom Jahre 1228, und weil dieses nach
Dr. Wattenbach's eigenen Beweisen das Majus voraussetzt, auch
dieses im Jahre 1336, und zwar, wie Gual van eo mit den Worten
„quia hoc solis Ducibus Austriae quondam pro magno munere
concessum fuit" aufs Unzweideutigste ausspricht , als ein altes
Privilegium der Herzoge von Österreich vorhanden war, folglich
Herzog Rudolf weder der Fälscher des Majus, noch des vom Jahre
1228 war und sein konnte.
Wollte man dieses neu gewonnene Resultat mit Rücksicht
auf Dr. Wattenbach's Abhandlung weiter verfolgen, so Hessen
sich eine Menge nicht uninteressanter Folgerungen bezüglich des
Details seiner Beweisführung daraus ableiten; ich beschränke mich
jedoch zum Schlüsse nur auf ein paar Bemerkungen.
1. Dr. Watt enb ach behauptet S. 87, dass von keinem der
fraglichen Privilegien eine Abschrift bestehe, die über das Jahr 1360
hinaufgeht: ich frage, was ist der Brief bei Gualvaneo vorn Jahre
1336 anders als die Abschrift eines Punctes des Freiheitsbriefes
König Heinrich1s vom Jahre 1228?
2. Dr. Wattenba eh versichert S. 102, dass Herzog Rudolf
trotz der zu Esslingen erfahrenen Demüthigung es nicht über das
Herz bringen konnte, von dem Prunke zu lassen, mit deiner
sich selbst in jenen Privilegien ausgestattet hatte; und
Fried. Böhmer wird unter dem läppischen Inhalte des Privilegium
majus wohl auch die Königskrone auf dem Herzogshute verstanden
haben. Ich setze diesen Äusserungen der beiden Gelehrten nur die
Frage gegenüber: Wie kam der Visconte Bruzio 1336 auf den
Einfall, mit Zurückweisung aller ihm angebotenen Belohnungen vom
14 Jaeger.
Herzoge Albrecht sich nur das Vorrecht zu erbitten, auf seinem Hute
eine goldene Krone tragen zu dürfen? Sah er so etwas auf dem
österreichischen Herzogshute? Und wenn er so etwas sah, war
dann die Krone die er auf dem österreichischen Herzogshute
erbli-ckte, eine andere als die welche die Herzoge „verinög eines
schon vor Zeiten ihnen a I lein ertheilten Privilegium s"
trugen? Und war diese durch ein so ausschliessendes Privilegium
nur ihnen bewilligte Krone eine andere, als die welche wir aus den
Privilegien kennen? Machten aber in diesem Falle die Herzoge
Albrecht und Otto nicht schon 1336 öffentlich Gebrauch vom
Privilegium Heinrich's und Friedrich's?
3. Dr. Wattenbach kommt zweimal auf die Behauptung
zurück, dass durch das Privilegium vom Jahre 1228 den Herzogen
von Österreich das Vorrecht eingeräumt wurde, Länder und Anderes
zu erwerben, auch ohne Bestätigung vom Reiche, Das
erste Mal S. 83, wo er das Privilegium König Heinrich's auf dessen
wesentliche Puncte zurückführt; das zweite Mal S. 94, wo er zu
beweisen sucht, dass die ersten vier Privilegien nicht zur Zeit Ottokar's
entstanden, indem dieser König sich die Rechte doch wohl direct
für Böhmen und nicht für Österreich würde ausgesucht haben,
namentlich die schöne Bestimmung in Heinrich's (VII.)
Urkunde über das Recht, Erwerbungen von Ländern
ohne Einwilligung des Reiches zu machen.
Wer diese in der vorliegenden Fassung formulirten Behauptungen
liest, kann nicht anders als glauben, die Urkunde von 1228 enthalte
wirklich eine Bestimmung welche den Herzogen von Österreich
ein unbedingtes Recht einräumt, sich Länder legiren, verpfänden,
schenken und verkaufen zu lassen, auch ohne Bestätigung
und Einwilligung des Reiches; mit anderen Worten, er muss
glauben, sie wären durch diese Urkunde ermächtigt gewesen, überall
zuzugreifen um ihre Macht durch Erwerbungen zu vergrössern,
ohne sich um Kaiser und Reich im Geringsten kümmern
zu müssen, ja selbst gegen den Willen des Reiches.
Liest man die Urkunde selbst, so findet man von einem solchen
unbeschränkten Erwerbungsrechte nicht ein Wort darin. Die
hieher gehörige Stelle lautet wie folgt: „Wenn Jemand , wessen
Ranges er sei, den Herzogen von Österreich und Steier Theile seiner
Länder (suarum terrarum provincias) und anderes dergleichen, wie
Ein Beitrag zur Privilegiumsfrage. 1 5
das genannt Averde, das in Bezug auf Verleihung von der
königlichen Würde oder von geistlichen Fürsten
abhängig ist, iegiren, schenken, verpfänden oder verkaufen wollte,
diesen Verkäufer oder Verpfänder soll weder Unsere königliche
Majestät noch jemand Anderer daran hindern können. Wenn aber
dieser Verkauf , diese Verpfändung, Schenkung oder Legirung so
plötzlich sich ereignen sollte, dass weder Unsere königliche Hoheit
noch die denen das Recht solcher Verleihung zusteht, ganz und gar
nicht aufgesucht und angegangen werden könnten, so soll desswegen
(ob hoc) den Herzogen von Österreich in ihren Rechten kein Nachtheil
erwachsen" *).
Heisst das: „Die Herzoge von Österreich haben das Recht
Erwerbungen zu machen auch ohne Bestätigung und Ein-
willigung des Reiches?" Liegt in diesen Worten der Urkunde
ein so allgemeines, das Reich beseitigendes Erwerbungsrecht, wie
Dr. Wattenbach es formulirt? Oder besagt nicht der zweite Theil
der citirten Urkundenstelle, dass die Herzoge nur in jenen Fällen, in
welchen es ihnen unmöglich ist, die Einwilligung des römischen
Königs oder derer denen das Verleihungsrecht zusteht, einzuholen,
und wo Gefahr im Verzuge für die Erwerbung wäre, auch ohne
vorläufige Bewilligung zugreifen dürfen? Geht aber daraus nicht klar
hervor, dass in allen anderen Fällen, wo keine Gefahr im Verzuge ist,
die Herzoge verpflichtet seien, die Einwilligung des Reichsoberhauptes
oder der berechtigten Collatoren vorerst nachzusuchen? Die Urkunde
König Heinrich's gab also den Herzogen von Österreich kein unbe-
dingtes Recht, Erwerbungen zu machen, wann und wo es ihnen
beliebte ohne Bestätigung und Einwilligung des Reiches,
sondern machte alle Erwerbungen von der vorläufigen Zustimmung
des Reichsoberhauptes abhängig, und gestattete die Erwerbung ohne
diesen vorläufigen Consens nur in Fällen, wo es im Drange der Zeit
unmöglich war, diesen einzuholen. Dr. Wattenba ch trug daher
einen Sinn in die Urkunde hinein, der in ihrem Wortlaute nicht liegt,
Offenbar seiner Hypothese zu Liebe, dass Herzog Rudolf eines solchen
Privilegiums bedurft habe, um Tirol auch gegen den Willen Kail's IV.
seinem Hause zuzuwenden.
*) Siehe den lateinischen Text oben S. 7, Anmerkung 1.
16 J a e g- e r. Ein Beitrag zur Privilegiumsurkunde.
Ähnliche Beweisführungen Dr. Wattenbach's könnten
mehrere nachgewiesen werden; doch es genüge an dem durch
Gualvaneo's Urkunde und Zeugniss gewonnenen Resultate, wel-
ches, wenn es auch die Frage über die Zeit und den Urheber
der Fälschung nicht zum Abschlüsse zu bringen vermag, doch den
Beweis unumstösslich herstellt, dass unter Herzog Rudolf IV. die
Fälschung nicht geschah.
Ferd. Wolf. Proben portugiesischer und catalanisdier Volksromanzen. 17
SITZUNG VOM 12. MÄRZ 1856.
Gelesen:
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen.
Mit einer literarhistorischen Einleitung über die Volkspoesie in Portugal und Catalonien.
Von dem w. M. Ferdinand Wolf.
Das Volk der pyrenäischen Halbinsel ist als ein sehr poetisch
gestimmtes und begabtes berühmt; wer auch nur die Spanier und
ihre Literatur vom Hörensagen kennt, denkt doch sogleich ihrer herr-
lichen Romanzen, ihrer reizenden Volkslieder, die ja in allen gebil-
deten Sprachen Europa's Übertragungen und Nachahmungen gefunden
haben. Ist dochz.R. unter uns Herders Bearbeitung derCid-Romanzen
wenn auch nicht ein Volksbuch im eigentlichen Sinne, so doch ein
Lieblingsbuch aller Gebildeten geworden. So sehr dies aber von der
Volkspoesie in der castilischen Mundart oder spanischen Schrift-
sprache gilt, so wenig sind die Volkslieder in den übrigen Sprachen
und Mundarten der Halbinsel ausserhalb derselben bisher bekannt
geworden ; kaum dass in einem oder dem andern Reisewerke
gelegentlich einmal einer andalusischen Romanze, eines galicischen
Tanzliedes, u. s. w. gedacht wird; kaum dass selbst die Fachge-
lehrten, besonders wenn sie Land und Volk nur aus Büchern kennen
gelernt haben, mehr als solche fragmentarische Kenntniss davon haben;
ja ein so tüchtiger Gelehrter wie Hr. Bell ermann, der sich nicht
nur mit der portugiesischen Poesie gründlich beschäftigt, sondern
auch lange Zeit im Lande selbst gelebt hat, spricht z. B. den Portu-
giesen fast alle eigentümliche Romanzenpoesie ab (s. dessen: Die
alten Liederbücher der Portugiesen, Berlin 1840, 4'.°, S. 21).
Sitzb! <1. phil.-hist. Cl. XX. Bd. 1. Hft. 2
18 Ferdinand Wolf.
Wie kann man aber auch Ausländern daraus einen Vorwurf
machen, wenn die Nationalen selbst bisher sich so wenig darum
gekümmert haben, wenn gerade bei den Gelehrten der Halbinsel selbst
erst in neuester Zeit mehr Sinn für Volkspoesie erwacht ist, wenn es
bisher dort an den rechten Leuten gefehlt hat, das im Munde des
Volkes lebende Wort und Lied zu beachten, zu sammeln, treu und
rein aufzuzeichnen und mitzutheilen?
Erst seitdem wir Deutsche — und wir dürfen uns mit Fug dessen
rühmen — die Volkspoesie überhaupt nicht nur ästhetisch sondern
auch wissenschaftlich gewürdigt, zum Gegenstande gelehrter For-
schung gemacht haben, seitdem Engländer und Franzosen unserem
Beispiele gefolgt sind , haben auch die Südländer derselben mehr
Aufmerksamkeit zugewandt, haben sich auch in Spanien und Portugal
Gelehrte und Dichter gefunden, die es nicht unter ihrer Würde
hielten, den noch jetzt im Munde des Volkes lebenden Liedern
und Sagen zu lauschen, sie mit dessen Worten niederzuschreiben und
in eigenen Sammlungen herauszugeben.
Und siehe da, nun sich die rechten Leute gefunden, die es ver-
standen, in den Wald zu rufen, hat auch der Wald geantwortet, mit
reichen, wunderbaren Stimmen, von da geantwortet, wo man ihn
längst für immer verstummt geglaubt! —
So bedurfte es nur eines so tüchtig geschulten, poetisch begabten
und mit deutscher Forschung vertrauten Gelehrten, wie des Catalanen
Don Manuel Milä y Fontanals, Professors an der Universität zu
Barcelona *), um uns zu zeigen, dass die Catalanen noch jetzt,
wie zur Zeit der Berengare, ein ebenso sangreiches als betriebsames
x) Geboren zu Villafranca del Panades den 14. Mai 1818, studirte er auf der Universität
von Barcelona die Rechtswissenschaften, worin er den Grad eines Licentiaten erhielt;
widmete sich aber dann hauptsächlich dem Studium der Literaturgeschichte und beson-
ders der Geschichte der Poesie. Im Jahre 1846 wurde er zum Professor der Literatur-
geschichte an der Universität von Barcelona ernannt. Ausser dem obenerwähnten ver-
dienen von seinen Werken angeführt zu werden ein : Compemlio del arte poetica
(1843), seine Ausgabe vom Conde Lucanor des Infanten Don Juan Manuel , und eine
Sammlung kleiner Aufsätze (opiisculos) die er schon im Jahre 1838 herausgab. Auch
hat er mehrere Übersetzungen bekannt gemacht, und z. B. von seiner Kenntniss der
deutschen Sprache durch eine gelungene metrische Übersetzung vonGöthe's Ballade:
„Der König von Thule", in dem vorliegenden Werke (S. 23) eine Probe gegeben. —
Vergl. Juan C o r m i n a s, Suplemento a las Memorias para ayudar a formar un Diccio-
nario critico de los escritores catalanes .... que en 1836 publicö . ... D. Felix
Torres A mal. Burgos, 1849, 4., pag. 17ß und177.
Proben portugiesischer und calalanischer Volksronianzen. 1 [)
Volk sind , und er hat in seinem Werke : Observaciones sobre la
poesia populär, con muestras de romances catalanes ineditos (Barce-
lona 1853, in 4'.°) uns nicht nur treffliche Bemerkungen über Volks-
poesie überhaupt, eine geschichtliche Übersicht und eine Charakteristik
der catalanischen insbesondere, sondern auch eine Sammlung von
Bomanzen, Liedern und Märchen aus dem Munde des catalanischen
Volkes geboten, die des Schönen und Merkwürdigen viel enthält.
So hat es freilich des bedeutendsten Dichters der neueren Zeit
in Portugal, des leider vor Kurzem gestorbenen, auch als Staatsmann
hinlänglich bekannten J. B. de Almeida-Garrett, bedurft, um
die Portugiesen selbst auf den Schatz alter, echter, heimischer
Bomanzen aufmerksam und dafür empfänglich zu machen, den ihnen
der am Alten festhaltende Landmann und der liedertreue Hirte
bewahrt hatte, während die Gebildeten, dies echte Gold mit dem
nationalen Gepräge vornehm ignorirend, französischen Flitter nach-
zuahmen und einzubürgern suchten. Dass die Portugiesen auch
Bomanzen, ihnen eigenthüm liehe, alte echteVolksromanzen
besitzen, darunter welche die zu den schönsten aller Nationen
gehören, wird Niemand mehr in Abrede stellen, dem der von Almeida-
Garrett nun herausgegebene Bomanceiro (Thl. I, 3. Aufl., Lis-
sabon 1853; Th. II, III, ebend. 1851; — oder der „Obras" de
Garrett IV., XIV. und XV. Theil) bekannt geworden ist.
Da aber die beiden vorgenannten Werke in Deutschland kaum
dem Namen nach bekannt geworden sein dürften, weil bei dem man-
gelhaften buchhändlerischen Verkehr mit der Halbinsel nur ein gün-
stiger Zufall die Einsicht und Benützung von derlei Werken ver-
schafft, so glaube ich — dem in Bezug auf die genannten diese Gunst
geworden (das Werk des Hrn. Milä y Fontanals verdanke ich der
gütigen Aufmerksamkeit des Verfassers) — sie selbst an diesem Orte
zum Gegenstande einer ausführlicheren Besprechung um so mehr
machen zu dürfen, als sie nicht nur dem Freunde der Volkspoesie,
sondern auch dem wissenschaftlichen Forscher auf diesem Gebiete
eine reiche Ausbeute gewähren.
Das östliche und das westliche Küstenvolk der pyrenäischen
Halbinsel, die Catalanen und die Portugiesen, haben in Bezie-
hung auf die Entwickelung ihrer Nationalliteraturen einen vielfach
9 »
20 Ferdinand Wolf.
analogen Gang genommen. Catalonien und Portugal wurden selbst-
ständige Staaten unter süd französischen Dynastien. Die Grafen
von Provence und von Burgund führten in diesen beiden Küsten-
ländern der Halbinsel frühzeitig französische Sitten, Sprache und
Kunstdichtung ein; Spuren dieses Einflusses zeigen sich bekanntlich
nicht nur in der Bildung der limousinisch-catalanischen und galicisch-
portugiesischen Sprache, sondern eben so sehr in der frühen Ent-
wickelung einer höfischen Kunstlyrik nach dem Muster der provenza-
lischen zu Barcelona wie zu Lissabon. Ja, galicische Trovadores und
catalanische Meistersänger sind in der höfischen Kunst (dreita manera
de trobar) und in dem „fröhlichen Wissen" (gay saber) die Vor-
bilder und Lehrer selbst der castilischen Kunstdichter geworden,
die sich anfangs in dieser Art von Dichtung sogar der galicischen
Sprache bedienten, und selbst noch im Cancionero general des
Hernando del Castillo finden sich Gedichte in der valencianischen
Mundart. Aber in Catalonien wie in Portugal wurde eben durch diese
frühzeitige Entwicklung einer aus der Fremde stammenden und aus-
ländischen Mustern nachgebildeten Kunstpoesie die Bildung einer
aus dem vaterländischen Boden der Volkspoesie unmittelbar entspros-
senen, echt nationalen Dichtung zurückgedrängt und aufgehalten; in
diesen beiden, durch fremde Herrschaft und fremde Kunst zum Theil
entnationalisirten Küstenländern der Halbinsel musste das spanische
Nationalbewusstsein erst wieder durch den eigenthümlichen Reiz der
genuinen Tochter des heimischen Bodens, der aus der Volkspoesie
unmittelbar hervorgegangenen und daher, trotz aller fremden Ein-
flüsse, volksthümlich gebliebenen und selbstständig in voller Schöne
entfalteten castilischen Dichtung geweckt und gehoben werden.
In Catalonien und Portugal war die eigentliche Volkspoesie, in schar-
fer Trennung von der Kunstpoesie, ja von dieser zürückgestossen
und verachtet, durch Jahrhunderte ganz sich selbst überlassen, und
fristete, fast ohne alle literarische Cultur, fast zur mundartlichen
Pöbelpoesie herabgesunken, ein unscheinbares kümmerliches Dasein.
Denn hier war es nicht in dem Masse, wie in Castilien und Aragon,
ein Volk von Rittern die ihre eigenen oder die Thaten ihrer
Ahnherrn selbst in Romanzen besangen oder von ihren Juglares sich
vorsingen Hessen; hier ward nicht, wie in Castilien im 16. Jahrhun-
dert, das Nationalbewusstein durch die Gründung der spanischen Mon-
archie und die Entdeckung einer neuen Welt neuerdings so mächtig
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 2 1
aufgeregt, dass diese alten volksmässigen Nationalgesänge wieder
hoch zu Ehren kamen, dass man sie fleissig sammelte, in die Wette
druckte, Gelehrte und Kunstdichter sie nachzuahmen und zu vervoll-
kommnen suchten und das Romanzenmachen sogar eine höfische Mode
wurde, aber auch aus den Romanzen das National-Drama hervorging.
Herr Milä hat daher nicht ganz Unrecht, wenn er wiederholt
behauptet, auch die spanischen (genauer die castilischen) Romanzen
seien nur die Nachklänge von Ritter -Epen (Cantares de gesta)
oder richtiger von Nationalliedern eines ritterlichen Volkes; nur irrt
er darin, wenn er jene Dichtungen und Gesänge ursprünglich für
grössere, nach Art der französischen Chansons de geste abgefasste
Gedichte hält, aus deren Bruchstücken sich später die Romanzen
gebildet und in viel niedereren Sphären erst die eigentlich volks-
liedermässige Form angenommen hätten. Denn es kann nach den bis-
her angestellten Untersuchungen über denBildungsprocess der volks-
mässigen Epen wohl kaum mehr bezweifelt werden, dass naturgemäss
überall und jederzeit der breiteren Entfaltung und rein epischen Ge-
staltung ein epischer Lyrismus, die kurze fragmentarische Form des
eigentlichen Volksliedes vorausgehen musste, die, wenn sie auch aus
so frühen Zeiten sich nicht überall mehr urkundlich nachweisen lässt,
doch noch in häufigen Spuren in den auf uns gekommenen volks-
mässigen Epen seihst deutlich erkennbar bleibt und sich in ihrer
meist diaskeuastischen Zusammensetzung und Verschmelzung charak-
terisirt. Hingegen haben nicht immer die lyrisch-epischen Volkslieder
sich zu eigentlichen Epen entfaltet und gestaltet, weil nicht überall die
diesen Bildungsprocess bedingenden Verhältnisse eintraten. Dass und
warum dieses Nichteintreten namentlich bei den Völkern der pyre-
näischen Halbinsel der Fall gewesen sei, habe ich an einem andern Orte
(s. Wiener Jahrb. d. Lit., Bd. 117, S. 87 ff.) nachzuweisen ver-
sucht; um so weniger kann man daher hier die Romanzen als aus
der Auflösung oder Zersetzung grösserer Epen hervorgegangen an-
sehen; aber hier, besonders bei den castilischen Romanzen kann man
vielleicht besser als sonstwo nachweisen, wie das Volk dem sie
ihre Entstehung verdanken, keineswegs blos in den niederen
Sphären zu suchen sei, wie es vielmehr das Volk im politischen
Sinne, das ritterliche, eben aus dem hohen und niedern Adel be-
stehende, mit dem ungläubigen Eroberer durch Jahrhunderte um
die Erhaltung des heimatlichen Bodens und des angestammten
22 Ferdinand Wolf.
Glaubens ringende, dadurch und durch seine Theilnahme an der Regie-
rung in den Cortes zum Selbstbewusstsein gekommene Volk war, das
seinen Charakter, seine Geschicke und Thaten in den Ausbrüchen
seiner Begeisterung und seiner Gefühle, in den Romanzen zu ob-
jectiviren und idealisiren, kurz auch poetisch zu gestalten suchte.
Darum — und nicht etwa, weil sie aus Ritter-Epen hervorgegangen
sin(l _ tragen die alten spanischen Romanzen einen durchaus ritter-
lichen Charakter , und es ist ein grosser Irrthum anzunehmen , dass
ihre ursprüngliche Abfassung dem Volke angehöre, das man ge-
wöhnlich im Gegensatz zu den gebildeten Classen der Gesellschaft
so nennt1). Den schlagendsten Beweis dagegen liefert der grosse
Unterschied zwischen jenen alten echten Romanzen des ritter-
lichen Volkes in Spanien und den späteren sogenannten Vulgär-
Romanzen, die in der That nur von dem oder für das niedere
Volk, den von den gebildeten Classen im verächtlichen Sinne: „Volk"
oder vielmehr Pöbel (vulgo) genannten untersten Schichten der Ge-
sellschaft gesungen und gedichtet wurden. (S. die treffliche Charak-
teristik der Vulgärromanzen und Proben davon in Duran's zweiter
Ausgabe seines Romancero gener al, und den hier angedeuteten Unter-
schied zwischen ihnen und den alten Volksromanzen weiter ausge-
führt in meiner Einleitung zur Primavera y Flor de Romances;
pag. XXXIV— XXXVII.)
Allerdings verbreiteten sich jene alten Volksromanzen auch bis
in die niederen Kreise, ja lebten zeitweise ausschliessend im Munde
dieses Volkes fort, das sie freilich auch häufig nach seiner Weise
entstellte; doch gilt das Letztere vielmehr von den zu vulgären oder
Blinden-Rornanzen (Romances de ciegos) herabgesunkenen casti-
lischen, als von jenen Überresten der alten, die sich nur in portugie-
sischer oder catalanischer Zunge mehr erhalten haben, unter denen,
wie wir sehen werden, es manche gibt, die fast ihre ursprüngliche
Reinheit bewahrt haben, eben weil hier das Volk kein fortdichten-
des, sondern nur ein den fremden überkommenen Schatz bewahren-
des war.
1) Insofern kann man Herrn Mild Reeht geben , wenn er sagt (pag. 72) : „Por la
misma epoca (zur Zeit der Einführung der provenzalischen Kunstpoesie in Cata-
lonien) se difundio tambien la poesfa narratira caballeresca que se cantaba
para el pueblo asi como para los grandes y a' la cual aquf como en los
deraas puntos atribuimos los primeros germenes de las canciones tradicionales."
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromnn/.en. 23
Die Entwicklung und Darstellung der portugiesischen und cata-
lanischen Volkspoesie ist daher nicht nur an und für sich, sondern
auch in Bezug auf die castilische Romanzen -Poesie von höchstem
Interesse, das nach besten Kräften zu befriedigen ich, meinen beiden
Gewährsmännern folgend, einen Umriss der Geschichte und Charak-
teristik der Volkspoesie in jenen beiden Ländern den aus ihr mit-
zutheilenden Proben vorsetzen will.
Dass auch in jenem Theile der pyrenäischen Halbinsel, welcher
den Namen Portugal führt, wie in den übrigen romanischer Zunge
das lyrisch-epische Volkslied, und zwar in einem dem jetzigen Vers-
masse der Redondilien (versos redondillos, nicht zu verwechseln mit
den coplas de redondilla) sehr analogen, kurz dass eine den jetzt
sogenannten Romanzen homogene Dichtungsgattung auch dort
überhaupt die älteste, primitive Poesie war, ist wohl kaum zu
bezweifeln, und auch Hr. Almeida-Garrett spricht sich mit Be-
stimmtheit dafür aus 1). Dass es aber an Documenten, an auf uns
gekommenen authentischen Überresten jener alten primitiven Volks-
dichtungen auch in Portugal fehlt, ist — abgesehen von den allge-
meinen, in der Natur der Sache liegenden Ursachen des Mangels an
Documenten der Art fast bei allen Nationen (vgl. z. B. Fauriel, Hist.
de la poesie provencale, Tome II, pag. 310) — hier um so leichter
zu erklären durch den oben bemerkten Bildungsgang der National-
*) A. a. 0. Tomo I, pag. 5: „A nossa poesia primitiva e eminentemente nacional, a que
do principio e, para assim dizer, do primeiro balbuciar de nossa lingua, nos foi com-
mum com todos os outros povos que mais ou menos tiveram eommunhäo com a lingua
provencal, primeira culta da Europa depois da invasäo septentrional, foi seguramente
o romance historico e ca valheresc o, ingenua e ruda expressäo do enthu-
siasmo de um povo guerreiro." Und pag. 9: „Depois de muitas tentativas, de exame
longo e reflectido , eu por mim convenci-me de que o metro proprio e natural de
nossa lingua para este genero de poesia , e para todos os generös populäres,
näo era o hendecasyllabo , o que dizemos vulgarmente heroico. Os portuguezes säo
uma nagäo poetica , a sua lingua naturalmente se presta e spontanea se ofl'erece a's
formas e cadencias metricas; os nossos mais rudos camponezes improvisam ein seus
seröes e festas com uma facilidade que deve espantar os extrangeiros: mas observe-se
que o metro d'estes improvisos e sempre sem excepcäo alguma o da redondilha
de oito syllabas, rara vez o da endexa , acaso faräo os versos compostos visivel-
mente de dois inetros, isto e, os alexandrinos ou dittos de arte-maior. A causa e
obvia; aquella e a medicäo mais natural que lhes ofl'erece a musica da lingua."
24 Ferdinand Wolf.
Literatur, durch ihre frühzeitige Entwickelung zu einer höfischen
Kunstlyrik unter dem Einflüsse der provenzalischen, durch die hier
so zeitlich eingetretene scharfe Trennung der Kunst- von der Volks-
poesie, deren Producte daher hier um so weniger der schriftlichen
Aufzeichnung werth gehalten wurden *). Dazu kam noch, dass die
Portugiesen, insoferne auch sie an den allgemeinen Angelegenheiten
der pyrenäischen Halbinsel theilnahmen, wie an den Glaubenskrie-
gen u. s. w., von der selbstständiger und reicher entwickelten
castilischen Volkspoesie nicht nur die Stoffe, sondern auch schon
frühzeitig, wie wir sogleich zeigen werden, die fertigen Lieder in
der Mundart ihrer Nachbarn herübernahmen, und daher weni-
ger wie diese veranlasst waren, selbstständige Sammlungen davon
zu veranstalten.
Wohl glaubt Hr. Garrett (II, pag. XXXI) einige der mündlich
erhaltenen Romanzen „ohne allzusehr irre zu gehen (sem grande
risco de errar)" noch der Zeit Königs Johann I. von Portugal zu-
schreiben zu dürfen; aber das kann höchstens von ihrer ursprüng-
lichen Abfassungszeit gelten; der Form nach, in der sie auf uns
gekommen, stammen sie eben so gewiss erst aus der ersten Hälfte
des 16ten oder höchstens dem Ende des 15ten Jahrhunderts, als
die berühmten sogenannten Trovas dos Figueiredos, die man für
das älteste Document der portugiesischen Romanzen-Poesie hat aus-
geben wollen 3).
So sind denn die uns erhaltenen ältesten Muster derselben von
unzweifelhafter Echtheit und bestimmtem Datum die in G i 1-
V i c e n t e's Werken vorkommenden ; theils von seiner eigenen
Composition, theils von ihm nur überarbeitete volksmässige, theils
freilich nur in ihren Anfangsversen von ihm angeführte echte Volks-
4) Doch könnte man allerdings die in galicischer oder alt-portugiesischer Mund-
art gedichteten Ca'ntigas des Königs Alfons X. von Castilien besonders in formeller
Hinsicht für Romanzen, und daher auch für die ältesten Denkmaler der portugiesischen
Romanzen-Poesie gelten lassen.
2) Vgl. B e 1 1 e r m a n n a. a. 0. , S. 2 u. 3 ; — und meine Recension von dessen Schrift
in der Allgem. Hallischen Literaturzeitung, Mai 1843, Sp. 84. —
Hr. Garrett sagt davon (1, pag. 1-1): „As trovas dos Figueiredos, apezar do tarn
suspeito testimunho de Fr. Bernardo de Brito , creio , por conviccäo intima, que
säo das mais antigas composicöes poeticas da lingua que chegaram ate nos. Näo
alludo porem a epochas tarn remotas e incultas." — Allerdings eine ebenso sub-
jective als vage Kritik.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 4 0
romanzen. Unter diesen letzteren sind schon mehrere ganz auf uns
gekommene castilisehe Romanzen, und, wie aus Gil-Vicente's
Anführung erhellt, auch in dieser Sprache in Portugal in Umlauf
gekommen *)• Bekannt ist, dass auch Gil-Vicente selbst ganze Dra-
men in dieser Sprache dichtete, worin auch Romanzen vorkommen,
wie die in die meisten spanischen Romanceros übergegangene aus
dessen Don Duardos (Obras. Hamburgo 1834, Tomo II, pag. 249),
von der Hr. Garrett aber auch eine noch aus dem lßten Jahrhundert
herstammende portugiesische Version mittheilt, die von der
castilischen etwas abweicht (a. a. 0. III, 131). Portugiesische Ro-
manzen, freilich schon im mehr kunstmässigen Style und pastoriler
Gattung (nach Art der lyrischen Kunstromanzen im Cancionero
general), dichtete Gil-Vicente's Zeitgenosse, der sentimentale Minne-
sänger Bernardim-Ribeiro (in dessen Saudades; eine davon:
Ao longo de uma ribeira, auch in den datirten Ausgaben des Can-
cionero de romances, und alle drei bei Garrett, III, pag. 139 — 163).
Daraus erhellt jedenfalls, dass fast zu gleicher Zeit wie in Casti-
lien, zu Anfang des 16. Jahrhunderts, nur wohl hauptsächlich durch
castilischen Einfluss, auch in Portugal die volkstümlichen Ro-
manzen nicht nur wieder mehr Beachtung, sondern auch ihre For-
men bei den Kunstdichtern selbst Eingang und Nachahmung fanden.
Dass aber in Portugal dies weniger ein Antrieb und Ausdruck des
wieder stärker erwachten Nationalbewusstseins war als in Castilien,
und besonders in der portugiesischen Kunstpoesie mehr eine Folge
des Einflusses und der Nachahmung der castilischen, zeigt eben
ihre Aufnahme der Romanzen in letzterer Sprache und deren
*) Vgl. Garrett (III, pag. 126 — 129) ; — P i d al's Einleitung zur Madrider Ausgabe
des Cancionero de Baena, pag. LXIII. — Von bekannten und ganz erhaltenen
castilischen Romanzen werden von Gil-Vicente angeführt und dadurch für
deren Alter ein bestimmtes Datum gegeben, in dessen im Jahre 1521 aufgeführter
Comedia: Rubena (in der Hamburger Ausgabe seiner Werke: Bd. II, S. 11)
Benita (criada). Dejame cantar primero:
Tiempo era cubullero
que se nie acorta el vestir.
Ebenda (S. 27) unter den von der Amme (ama) gekannten Volksliedern :
Em Paris estuva Donalda
Vamonos, dijo mi tio.
Muliana, Muliana (d. i. Moriana).
26 F e r d i n a n cl W o 1 f.
Anwendung, wenn die portugiesischen Hofdichter selbst Romanzen
dichteten, wie überhaupt der Gebrauch der castilischen Sprache bei
den portugiesischen Dichtern von jener Zeit an und gerade in den
eigentlich nationalen Dichtungsgattungen und den volkstümlichen
Formen aus der gleichen Ursache, dem überwiegenden Einflüsse der
aus volksthümlicher Basis entwickelten und früher zu den volksmässi-
gen Formen zurückgekehrten castilischen Poesie, hervorgegangen
ist (vgl. meine Anzeige von Bellermann's erwähnter Schrift,
a. a. 0., Sp. 107). Ja noch am Schlüsse des 16. Jahrhunderts war
es bei den Galanen und Damen von Lissabon eine Modesache, zur
Unterhaltung der höfischen Kreise castilische Romanzen zu sin-
gen *), die später erst, nachdem sie in jenen Kreisen aus der
Mode gekommen, auch in den niederem Schichten sich verbreiteten
und dann, in die portugiesische Sprache übertragen, sich nur mehr
im Munde des Volkes erhielten2). Das Volk aber, weniger durch
den, seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in der Kunstpoesie vor-
herrschenden Einfluss der classisch- italienischen Schule der echt
nationalen Poesie entfremdet, cultivirte vorzugsweise die aus Casti-
lien stammenden lyrisch -epischen Romanzen, bürgerte sie auch
der Sprache nach bei sich ein, und besang selbst nach ihrem Muster
die Grossthaten und das tragische Ende seines geliebten National-
helden, des Königs Sebastian, während die Kunstdichter nach dem
Vorgange ihrer spanischen Kunstgenossen vorzugsweise nur mehr
pastorile und moriske Romanzen dichteten3). Letzterer Art
x) S. Jorge Ferreira, Aulegraphia, act. II. sc. 9 (in der Ausg. von 1619, fol. 66vo),
welcher da die für die Geschichte der portugiesischen Literatur sehr merkwürdige
satyrische Bemerkung macht: „Naö ha entre n6s quem perdoe a hüa troua portu-
gueza, que muytas vezes he de vantagem das castelhanas que se tem aforado
comnosco e tomado posse do nosso ouvido." Ebenda, Act III. Sc. 1, gibt er ein
Beispiel davon, das ich bei Mittheilung der portugiesischen Romanze: „Von dem
Fräulein das in den Krieg zieht," anführen werde.
2) So sagt selbst Garrett (III. pag. 63): „Assim andava pois este romance (die in der
vorhergehenden Anmerkung erwähnte), extrangeiro , e portal prezado na alta
sociedade portugueza; ate que, descendo dos salöes para oterreiro, a popula-
ridade o naturalizou. Era castelhano no papo, foi-se fazer portuguez
na aldea."
3) S. Garrett (II. pag. XXXIII) : „Temos muitos romances, lendas e canpöes d'esta
epocha , tanto escriptos corao conservados pela tradipäo oral. Mas no reinado de
D. Joäo III. a affectacäo bucolica invade o proprio romance, que despe a malha e
depöe a lanca para vestir o surräo e impunhar o cajado de pastor. 0 gösto populär,
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 27
sind die bekannten Nachahmungen der morisken Romanzen von
Francisco Rodrigues Lobo und Francisco Manuel de
Mello. Aber auch in Portugal, und in Portugal um so mehr, als
hier in Klima und Temperament die bukolische Poesie von jeher
homogene Elemente fand, wurden die Schäferromanzen die
beliebteste Gattung in den gebildeteren Kreisen. Allerdings wurden
diese nicht nur der morisken sondern auch der Schäferromanzen bald
satt, weil sie eben nur Masken der wechselnden Mode waren, und
die Romanzenpoesie suchte hier, bevor sie vom Hofe und aus der
eleganten Gesellschaft gänzlich verbannt wurde, ihr Scheinleben wie
durch Selbstverspottung zu fristen, indem sie zuletzt die Maske des
Lustigmachers vornahm, den nachgemachten maurischen Alfange
und den ebenso künstlich geglätteten Hirtenstab mit der Pritsche des
Truao und der Geissei des Satyrs vertauschte, und sogar im bur-
lesken Gewände auftrat. In dieser Gestalt finden wir die Roman-
zen der Kunstdichter zu Ende dieser Epoche in den bändereichen
Sammlungen jener Zeit, wovon z. B. die unter dem pretiösen Titel:
„Phenix renascida" erschienene einige curiose Muster enthält.
Auf das von den gebildeten Kreisen sich immer schärfer tren-
nende Volk hatten diese Romanzen-Moden wenig Eindruck gemacht;
es sah sie fast ohne Theilnahme und mit Gleichgiltigkeit entstehen
und vergehen; „denn diese Romanzen," sagtGarrett sehr tref-
fend, „sprachen nicht zu seinem Herzen, nicht zu seinen Leiden-
schaften, trösteten es nicht in seinem Unglück, belebten nicht seine
Hoffnungen. Da aber kein Volk ohne Poesie lebt, so suchte und fand
sie unser Volk da, wo wahrlich weder die Grossen noch die Gelehr-
ten jener Zeit sich einbildeten, dass sie wäre; aber sie war da, die
wahrhafte, die einzig nationale jener Zeit, die der Trovas und
Prophecias, die dem Volke sprachen von einem Befreier, von
einem Rächer, von einem Erlöser, den die Vorsehung der portugie-
sischen Nation bewahrt hätte, und in dem sich die in seiner Einbil-
dung fortlebenden und ersehnten Versprechen des Sieges von Ourique
erfüllen würden."
mal satisfeito com a escola classka dominante, lanca-seno romance castelhano,
cuja sinceridade e rudeza epica Ihe agrada mais. Muitos romances castellia-
nos se nacionalizam entre nos."
„0 geuio cavalheresco de D. Sebastiäo , a calamidade nacional da sua pcrda däo
outra vez lom e vida ao romance liistorico e aventureiio."
28 Ferdinand Wolf.
So stammen aus jener Zeit die berühmten „Prophecias" von
Bandarra i); diese und ihnen ähnliche prophetische Gesänge von
des portugiesischen Volkes neu erwachendem Ruhme und der Ab-
schüttelung des spanischen Joches machen nebst den nun mehr als
je zahlreichen Wunderlegenden (lendas de milagres) und geistlichen
Liedern (cancoes ao divino) die einzig echte Volkspoesie jener
Zeit aus.
Zwar entstanden nach dem Siege über die spanische Usurpa-
tion neuerdings historische Romanzen die diesen Sieg und des
Volkes Antheil feierten; aber sie waren nicht eigentlich mehr volks-
mässige , sie gingen nicht von dem Volke aus , sondern wurden von
Dichtern von Profession gemacht um ihm zu schmeicheln und den
Feind zu verhöhnen, und unterscheiden sich daher durch Styl, Ton
und Colorit schon gar sehr von den alten echten Volksromanzen 3).
Diese historisch-panegyrischen Romanzen glichen entweder gereim-
ten Zeitungsberichten und Bulletins, ganz in der Art so vieler spani-
schen Romanzen aus der Zeit KarPs V. und Philipp's II., oder sie
waren, rührten sie von eigentlichen Kunstdichtern her, durch all
den gesucht dunklen Schwulst des Culteranismus und Gongorismus
entstellt, die damals auch in der portugiesischen Kunstpoesie herrsch-
ten; ja bis auf die metrische Form verleugneten nun auch in Por-
tugal die Romanzen die echte Nationalität und wahre Volkstümlich-
keit, indem sie die indigenen Redondilhos mit den italienischen
Hendecasyllabos vertauschten, gleich den sogenannten Romances
heröicos der Spanier.
So hatte seit dem 17. Jahrhundert die portugiesische Poesie
mit der spanischen all die Extravaganzen der Überreiztheit und zu-
nehmender Impotenz getheilt, und dem andern Extrem , einer farb-
losen, nüchternen,, mattherzigen Pseudo-Classicität, die Alleinherr-
schaft eingeräumt 3), ohne dass, wie in Spanien, auch in Portugal die
!) Vgl. über den Schuhflicker von Trancoso , Goncalo Annes de Bandarra, den
Hans Sachs und Jakob Böhme der Portugiesen, Barbosa-Machado, Bibl. lusit.
s. v. Goncalo Annes; — und Ferdinand Denis, Resume de l'hist. litt, du
Portugal. Paris 1826. 12°. pag. 216 et 217.
2) „Näo e o povo," sagt Herr Garrett von diesen Romanzen, „que conta as suas
victorias, säo os poetas que querem cortejar o povo no dia da sua gloria e que o
näo sabem fazer senäo com grosseiros motejos aos inimigos vencidos."
3) Herr Garrett sagt sehr gut und energisch: „Madrid e Lisboa rivallizavam a quäl
havia de proscrever e escarnecer mais a sua verdadeira poesia nacional. A falsa
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 29
wahre Nationalpoesie, die aus den Romanzen hervorgegangene, sich
naturgemäss im Drama eoncentrirt, selbstständig entwickelt und
üppig entfaltet hätte, weil in Portugal eben das Vorwiegen der volks-
thümlichen Elemente auch in der Kunstpoesie von Anfang an gefehlt
hatte, wie ich wiederholt bemerkt habe.
Als die noch später hinzutretende Fremdherrschaft der Fran-
zosen und Engländer in Portugal politisch wie literarisch vollendet
und unbestritten war, als sich die auf Bildung Anspruch machenden
Classen ihrer alten volksthümlichen Dichtung und nationeilen Formen
schämten, blieb der genuinen Tochter des Landes, der Romanze,
freilich keine andere Zufluchtsstätte mehr, als der Heerd des Land-
manns, als die Barke des Fischers, als die Hütte des Hirten, als das
Volk, das der alten, heimischen Sitte und Einfalt treu geblieben
war, in seiner Einfalt fremde Mode und Herrschaft hasste, in seiner
Treue die Lieder der Väter barg und bewahrte, barg und bewahrte
was die Gebildeten vergassen und verachteten, nun doppelt verach-
teten, seit sie vergessen wollten, dass auch ihre Väter in diesen
Liedern Ruhm und Trost fanden, dass sie die Sitten und Thaten,
Freuden und Leiden auch ihrer Ahnherrn besangen, dass auch
ihre Vorältern durch Interessen und Leidenschaften , in Sein und
Denkweise noch enge mit dem Volke verbunden waren, auf das
die Epigonen nun so vornehm herabsahen.
„Ja dies gemeine Volk allein, dies Volk der Felder (So o povo
-povo, o povo dos campos)," sagt Hr. Garrett sehr schön, „die
am wenigsten gebildeten Classen der Gesellschaft protestirten
schweigend gegen diesen ungerechten Missbrauch eines gerechten
Sieges (der Classicität), indem sie, wie die Hymnen einer verfehm-
ten Religion, jene ursprünglichen Gesänge längst vergangener Zeiten
im Gedächtnisse bewahrten und unter sich wiederholten, welche die
Schul- Gelehrten verachteten und verfolgten, sie in dem allgemeinen
Anathema mit einbegreifend, das doch nur die entarteten Nachahmer
und Verderber derselben verdient hatten."
Doch dies war ja so ziemlich überall das Geschick der echten
National- oder sogenannten Volkspoesie, in Folge der einseitig culti-
virten Studien des classischen Alterthums und der zu Schablonen
e ridieula imitaeäo da antiguidade classica, amaneirada pelas regras francezas,
dominava tudo."
30 Ferdinand Wolf.
missbrauchten classischen Formen ohne Rücksieht auf den ganz
heterogenen Zeit- und National-Geist, auf die ungeheure Kluft zwi-
schen der antiken und modernen Welt. Nur erwachte hier früher,
dort später das National -Bewusstsein in solcher Stärke, dass man
sich erinnerte, es habe ja einst auch schon in der eigenen Literatur
Ausdruck gefunden, dass man es nicht mehr für kindischen Aber-
glauben hielt, diese alten National -Geister heraufzubeschwören,
dass man sich selbst nicht mehr schämte, sie in ihren letzten
Zufluchtstätten, in den Ruinen des Mittelalters, in den Sennen- und
Köhler-Hütten der Alpen und Wälder aufzusuchen, und wenn sie dann
auf die Beschwörung des rechten Meisters wirklich erschienen, er-
schienen in ihrer einfachen, wenn auch oft ungefügen Grösse und in
verwildertem Aussehen, vor ihnen nicht zurückschreckte, in ihnen
die Geister der eigenen Ahnen ehrend anerkannte, ja ihnen dieselbe
kritische Pflege und Säuberung wie den Genien des classischen
Alterthums angedeihen Hess, und sie aus der Gelehrten -Stube end-
lich in die Salons der feinen Gesellschaft und die Paläste der Aristo-
kratie wieder einführte, aus denen sie vielleicht ursprünglich hervor-
gegangen waren.
Diese gewiss nicht anti-demokratische Reaction ging bekannt-
lich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von England und
Deutschland aus, und ist erst in unseren Tagen über Frankreich auch
nach Spanien und Portugal gedrungen. Doch behauptet Hr. Garrett,
so bereitwillig er auch den Einfluss der deutschen Kritik anerkennt,
dass dieser in Spanien viel bedeutender und unmittelbarer auf die
Wiederbeachtung und Wiederbelebung der alten Volkspoesie einge-
wirkt habe, als in Portugal *).
!) Wohl bekennt er : Quasi se podia dizer destruida toda a nacionalidade, apagados os
Ultimos vestigios originaes da nossa poesia, quando no fim do primeiro quartel
d'este seculo essa influencia da renascenca alleman e ingleza se comecou a fazer
sentir."
Doch fügt er hinzu : „Assini como na resistencia ao dominio da espada franceza,
osportuguezes foram mais ajudados pelos seus antigos alliados, os ingleses, e o resto
d'Hespanha luctou mais de proprio marte e por singular esforco seu : tambem no
sacudir o jugo academico extrangeiro e em proclamar a independencia da litteratura
patria, os castelhanos foram poderosamente auxiliados pelos ingleses e allemäes,
especialmente e largamente pelos Ultimos: a nös ninguem nos ajoudou, ninguem
comhateu a nosso lado , ninguem nos ministrou armas, inunicöes, soccurro o mais
niinimo."
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. O 1
Wohl zunächst von dem Lande, von dem alle grösseren politi-
schen wie literarischen Revolutionen Europa's ausgehen, von Frank-
reich aus verbreitete sich auch die unter dem Namen desRomanticis-
mus bekannt gewordene, gegen die jahrhundertlange Usurpation des
Pseudo-Classicismus gerichtete über die pyrenäische Halbinsel, und
in Portugal stellte sich eben der Herausgeber dieses Romancero, Hr.
Garrett, selbst an die Spitze derselben, und pflanzte siegreich,
weil er eben ein grosser Dichter und wahrhaft begeistert war, die
National-Fahne auf; denn der echte berechtigte Romanticismus
ist ja nur die Rückkehr zur Volkstümlichkeit, die zeitgemässe Wie-
derbelebung und freie Fortentwickelung der nationeilen Eigenthüm-
lichkeit und Selbstständigkeit.
Schon in den Jahren 1825 und 1826 trat Hr. Garrett mit
seinen, in diesem Geiste geschaffenen Gedichten: „DonaRranca" und
„Camoes" auf; im J. 1828 wagte er es, noch um einen Schritt wei-
ter zu gehen, und bearbeitete die ihm bekannt gewordenen Rruch-
stücke alter echter Volksromanzen, auf die er schon damals seine
Aufmerksamkeit gerichtet hatte, in den episch -beschreibenden Ge-
dichten: „Adozinda" und „Rernal-Francez", freilich noch mehr in
der Art und unverkennbar nach dem Muster von Walter Scott's
Lays. Seitdem, besonders seit 1834 setzte er mit allem Eifer eines
begeisterten Patrioten und Dichters, mitten unter den Stürmen und
Wechselfällen der politischen Umgestaltungen seines Vaterlandes,
an denen er selbst den lebendigsten Theil nahm und von ihnen oft
sehr unsanft an ferne Gestade und in die Fremde getrieben wurde,
trotz manchen herben Verlusten des bereits Gesammelten, seine
Romanzen -Ernte fort, theils unmittelbar auf Feld und Wiese, aus
dem Volksmunde *)» theils von gleichgesinnten Freunden unter-
stützt, theils durch glückliche Funde in alleren Aufzeichnungen be-
günstigt. Unter diesen letzteren erwähnt er besonders eines Exem-
plars der Ribliotheca portug. des Rarbosa Machado das im Resitze
des bekannten portugiesischen Gelehrten Oliveira (des Verfassers
*) So erzählt er Z. B. von einer Quelle dieser Art, die bekanntlich überall zu den
frischesten und reichhaltigsten gehört (Tomo I. pag\ XVI).
Foi o caso que umas criadas velhas de minha mäe e uma nuilata brazilcira de
niinba irman appareeeram sabendo varios romances que eu uäo tinha, e muitas varia-
das liccöes de outros que eu sim tinha, porem mais iucompletos. Assim se additou
copiosamente o men R o m a n c e i r n.
32 Ferdinand Wolf.
der Memorias) war, und auf dessen Ränder und die eingehefteten
leeren Blätter dieser viele alte Lieder und Romanzen gesehrieben
hatte, die er handschriftlich in Portugal und Holland, vorzüglich bei
den aus Portugal stammenden Juden im letzteren Lande aufgezeichnet
gefunden und copirt hatte.
So sah Hr. G. sich endlich im Stande seinen lange geheg-
ten Wunsch ins Werk zu setzen und die Herausgabe eines portugie-
sischen Romanceiro zu beginnen. Als ersten Theil desselben, und
gleichsam als, den Übergang von der Kunst- zur eigentlichen
Volkspoesie bildende Einleitung Hess er im J. 1843 zu Lissabon
die zweite, vermehrte Ausgabe seiner oberwähnten Bearbeitungen
echter Volksromanzen erscheinen, die er „Romances da renascenca"
selbst genannt hat. In dritter, abermals vermehrter Ausgabe erschie-
nen sie 1853, nachdem er im J. 1851 im 2. und 3. Bde. die Ausgabe
der Originale, der echten Volksromanzen begonnen hatte.
Er wollte die ganze Sammlung in fünf Büchern herausgeben,
und zwar sollte :
Das erste Buch die erwähnten Romances da renascenca nebst
seinen Studien über die portugiesische Volkspoesie enthalten;
das zweite die alten Ritter- und sagenhaften Ro-
manzen;
das dritte die legendenartigen und prophetischen
Romanzen (Lendas e prophecias);
das vierte die eigentlich historischen;
und das fünfte die übrigen in den früheren Rubriken nicht
untergebrachten mehr rein lyrischen Roman zengattungen (Ro-
mances varios, comprehendendo todos os que näo sao epicos ou
narrativos).
Von diesen fünf Büchern liegen in den erschienenen drei
Bänden aber nur das erste und zweite vor.
Das erste Buch, oder der erste Band enthält nur acht von
Garrett nach Volkssagen und Bruchstücken von echten Volksroman-
zen bearbeitete episch -beschreibende Gedichte; nämlich ausser
den erwähnten beiden, Adozinda und Bernal- Francez, noch: Noite
de San' Joao; 0 Anjo e a Princeza; 0 chapim d'elrei; Rosalinda;
Miragaia und As Pegas de Cintra; nebst den von einigen gemachten
englischen und französischen Übersetzungen, von Adamson, Fournier
und Zanole.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. dt)
Der zweite und dritte Band begreifen das zweite Buch
oder die alten Ritter- und sagenhaften Romanzen, mit einer literar-
historischen Einleitung.
Leider hat der frühzeitige Tod des begabten Herausgebers ihn
gehindert sein Werk selbst zu vollenden, und es bleibt nur zu hoffen
und zu wünschen, dass ein von gleichem Nationalgefühl beseelter und
mit demselben Tact für Volkspoesie begabter Fortsetzer sich finden
möge, der die gewiss reichen von G. hinterlassenen Sammlungen
auch in dessen Geiste zu benützen und bekannt zu geben verstehe.
Ich habe mich bei meinen Proben natürlich nur auf den zweiten
und dritten Band beschränkt, die (33) echte Volksromanzen (nebst
der erwähnten Romanze „Dom Duardos" von Gil-Vicente und den
drei Romanzen des Bernardim Ribeiro: „A Ama" ; — Avalor; und
„Cuidado e Desejo") enthalten, von Hrn. G. grossentheils aus dem
Volksmunde selbst gesammelt, mit gewissenhafter Treue aufgezeich-
net und mit den abweichenden Lesarten der verschiedenen Provin-
zen ausgestattet, unter welchen die nördlichen, besonders Beira-
baixa, gewöhnlich die besten lieferten. Er hat überdies den einzelnen
Romanzen schätzbare Einleitungen , über ihre Quellen , Parallelen,
u. s. w., vorgesetzt und sie mit sprach- und sacherklärenden Anmer-
kungen versehen.
Aus einer dieser Einleitungen (zur Romanze von Bernal-Fran-
cez, im 2. Bde. S. 122 ff.) will ich hier noch mittheilen, was er im
Allgemeinen über die im Portugiesischen gebräuchlichen Benen-
nungen verschiedener volksmässiger Dichtgattungen und ihre Vor-
tragsweise sagt.
Die lyrisch -epischen zum Absingen oder Erzählen be-
stimmten Volkslieder heissen auch im Portugiesischen gewöhnlich:
„Romance" oder „Rimance"; „Xäcara" aber, wenn sie eine
eigentlich dramatische, auf die Darstellung berechnete Form
bekommen haben 1). „Aber diese beiden Arten", setzt Hr. G. hinzu,
erscheinen sehr oft verbunden, und daraus entsteht die Romance-
Xäcara, in welcher der epische Ton vorherrscht ohne jedoch das
dramatische Element auszusehliessen; oder die Xäcara-Romance,
in welcher dem Dialog nur durah ganz kurze Erklärungen (indicacoes),
*) Im Spanischen werden bekanntlich die Gauner- und Zigeuner-Romanzen: Jiicarai
genannt, von .) a q u e , valenton, rulian.
Sitzh. d. phil.-hist. Cl. XX. ßd. I. Hfl. 3
34 Ferdinand Wolf.
gleichsam Rubriken oder Bülmenweisungen (quasi rubricas ou direc-
coes de sceua) nachgeholfen wird, die in seltenen Zwischenräumen
der Dichter selbst vorbringt (que faz o poeta a raros intervallos) l).
„So trägt das Volk, in den vielen Dingen der Art die es erzäh-
lend darstellt (recita), die Reden in Versen und singend vor (diz
as fallas ein verso e cantando) , und die erzählenden Erläuterungen
(asindicacuesnarrativas) in Prosa, ohne sich streng an einen bestimm-
ten Text zu halten und mit grössserer oder geringerer Ausführlich-
keit, je nach dem Talent und derBeredtsamkeitdes Vortragenden2)."
„Die Romance und die Xäcara befolgen in der Regel dasselbe
metrische Gesetz, der durchgehenden (fixo) Con- oder Assonanz
und der achtsylbigen Verse 3). Die sogenannten Romances hen-
decasyllabos aus dem Ende des 17. Jahrhunderts sind eine voll-
ständige Entartung; und daher gingen sie unmittelbar dem
Verfall dieser Dichtgattung voraus."
Die unter dem Namen: Soläo schon von Bernardim-Ribeiro
und Sa- de-Miranda erwähnte volksmässige Liedergattung ist nach
Hrn. Garrett zwar eine epische, in der jedoch die Erzählung trau-
riger Begebenheiten häufig von lyrischen Klagen unterbrochen wird,
und worin jene mehr nur als Folie dieser dient 4).
x) Dies erinnert an die Art der ältesten französischen Mysterien , z. B. des de la Resur-
rection du Sauveur; vgl. Du-Meril, Origines latines du theatre moderne. Paris
1849, 8., pag. 70. — Übrigens seheinen mir diese Benennungen und Distinctionen in
Xacara -Romance und Romance -Xacara mehr von Hrn. G. erfundene, theoretische,
als wirklich in der Praxis begründete und im Volksmunde gangbare Namen für Misch-
gattungen zu sein ? —
2) Auch bei anderen Nationen findet sich diese Art, Volkslieder mit Einleitungen oder
Erläuterungen in Prosa vorzutragen , z. B. bei den Schweden (vgl. Mohnike,
Volkslieder der Schweden. Berlin 1830, 8., S. 205, 216, 234), Schotten (vgl. Mo-
therwell, Minstrelsy. Glasgow 1827, in -4. pag. XIV — XVI.), u. s. w. Jedesfalls
aber vielmehr eine Entartung späterer Zeit , in welcher die Lieder im Volks-
bewusstsein schon verdunkelt oder nur mehr fragmentarisch erhalten waren, daher
solcher Nachhilfe bedurften.
3) „Ausnahmsweise trifft man auf Romanzen die man bei uns ein endexas (wie im
Spanischen Endechas) heisst, die nach Einigen aus den 12 sylbigen Alexandrinern her-
vorgingen, nach Anderen aus sechssylbigen Versen bestehen, indem sie die Halbverse
für ganze annehmen (und diese letztere Ansicht ist unbezweifelt die richtige, wie im
Spanischen die versos de arte mayor aus den versos de redondilla menor gebildet
worden sind; vgl. meinen Aufsatz über die Romanzenpoesie a. a. 0. Bd. 117, S. 100)."
4) Eu inclino-me a creer que o solao e um canto epico ornado, ein que as effusöes
lyricas aecompanham a narrativa de tristes successos, mais para gemer e chorar söbre
elles, do que para os contar ponto por ponto.
Proben portugiesischer und calalanischer Volksromauzen. 35
Die Benennungen Cantiga und Canta r sind allerdings auch
im Portugiesischen wie im Spanischen so allgemeine genetische
Bezeichnungen wie unser Lied; aber doch wird Cantiga mehr von
rein lyrischen, Ca ntar hauptsächlich von lyrisch-epischen Liedern
gebraucht, während Cancao, wie das spanische Caneion, die
specielle Bedeutung eines nach bestimmten Regeln gemachten ku nst-
mässigen Strophen -Liedes rein lyrischen Inhalts hat1).
Die Barcas sind, wie die italienischen Barcarolen, Schiffer-
lieder, oft mit Wechsel -Strophen und Chören, und es gibt auch
Barcas ao divino, religiöse, nach der Form und den Melodien
solcher volksmässiger gemachte Lieder.
Die Chacota endlich war, nach den Beispielen zu urtheilen
die man in den Stücken Gil-Vicente's davon findet, eine im IS. und
16. Jahrhundert übliche Art von volksmässigen Scherz- und Spott-
liedern (cantiga de rir e brincar) und findet sich oft am Schlüsse
der Entremezes und Farsas, um mehrstimmig (a vozes) gesungen zu
werden.
In Catalonien hatte, wie ich bereits bemerkte, die Volks-
poesie ein ähnliches Schicksal und, besonders in ihrer frühesten Ent-
wicklung, aus analogen Ursachen wie in Portugal. Auch hier wurde
sie durch die sehr frühzeitige Einführung und Bildung einer f r e m d e n
Kunstlyrik, jener der provenzalisch-limousinischen Troubadours, zu-
rückgedrängt und in ihrer selbstständigen reicheren Entfaltung
gehemmt oder doch vernachlässigt.
Dass vor der Einführung der Troubadourspoesie auch hier eine
indigene, echt volksmässige Poesie in der Landessprache bestanden
habe, lässt sich wohl schon aus den in der Natur der Sache liegen-
den Gründen nicht bezweifeln, und wird noch überdies durch einige
freilich nur, wie sehr begreiflich, sparsame Zeugnisse unterstützt.
So hat der um die Poesie des Mittelalters hochverdiente Hr.
Edelestand Du-Meril in der kais. Bibliothek zu Paris eine aus dem
Kloster von Santa Maria de Ripoll in Catalonien stammende Hand-
*) Cancä o Ininbem e termo g-enerico, masinculca mai s artificio do que a cantiga
e o cantar: entre nds designa inais strictamente a oJe romautica da meia-edade
com eertaa f6rmulaa de metro e dirisoes reguläres de strophes.
3*
36 Ferdinand Wolf.
schrift aus dem 13. Jahrhundert aufgefunden, die ausser vielen auf
jenes Kloster bezüglichen Urkunden und lateinischen Gedichten auch
ein Bruchstück eines lateinischen Gedichtes vom Cid enthält, das
jedesfalls bedeutend älter als die Handschrift ist , und so wie es
durch seinen Fundort auf Ca talonien hinweist, aus Form, Ton,
Art der Darstellung und einigen Ausdrücken und Anspielungen
schliessen lässt, dass es volks massigen Ursprungs und wahr-
scheinlich aus bald nach dem Tode des besungenen Helden abgefassten
Volksliedern in der Landessprache hervorgegangen sei *)•
Noch ebenfalls vor dem 13. Jahrhundert entstanden sind ein
paar von Herrn Mila (pag. 66 — 68) aufgeführte Epistola? farcitse
und Hymnen, die Villanueva in catalanischen Klöstern aufgefunden
hat, und die theilweise oder ganz in der catalanischen Mundart des
Sprachzweiges von Oc und, wie alle Kirchenlieder der Art, in ganz
volksmässigen Formen abgefasst sind 3).
*) S. die Ausgabe dieses Gedichtes mit trefflicher Einleitung- in : Poesies populaires
latines du moyen age, par M Edelestauddu Meril. Paris 1847, 8., pag.
284 ff., vgl. Mila a. a. 0. pag. G3.
2) Dass neben diesen eigentlichen Kirchenliedern bei kirchliehen Festen und Hoffeier-
lichkeiten auch andere, mehr weltliche, und wahrscheinlich in der Vulgarsprache
von den Juglares oder vom Volke selbst gesungen wurden , bezeugt eine von
D. Mariano Soriano Fuertes (in seiner soeben erschienenen: Historia de
la musica espaiiola desde la venida de los Fenicios hasta el afio de 1850. Madrid y
Barcelona 18S5, Tomo I , p. 12ä y 126) aus einer Handschrift (El manuscrito
que se cita existia eil poder de D. Miguel de Manuel, bibliotecario que tue de
S. Isidro el Real de Madrid , segun Teixidor de quien tomamos esta noticia) mit-
getheilte Stelle:
Este principe (D. Ramon Berenguer IV.) se caso en la ciudad de Lerida con doiia
Petronila reina de Aragon , celebrandose los desposorios en la iglesia catedral
con la pompa y magestad digna de tales consortes. El autor de un manuscrito que
refiere lo suntuoso de estas bodas, dice : que en la catedral se canto el Tedeum
Laudamus por un sin numcro de cantores; que el principe y la reina fueron
al ternplo acompanados de la mayor parte de prelados y nobleza de Cataluna y
Aragon, precedidos de un gran coro de juglares y juglaresas, cantores y cantoras,
como tambien de muchas danzas, enlre las cuales hace particular mencion de uiia
compuesta de moros y cristianos que figuraban un refiido combate: danza que
aun se conserva en nuestros dias en algunos pueblos de Espana El
autor del manuscrito citado dice: que por cuautas partes viajaba Berenguer IV.,
se le recibia con aclamaciones acompanadas de canticos 6 de alabanzas ; que los
pueblos cercanos a los caminos por donde transitaba , se quedaban desiertos en
cuanto sabian que su amado principe habia de pisar sus terminos : hasta los monges
y solitarios, dejahan sus escondrijos para teuer el honor de eelebrar sus triunfos
y victorias, cantnndole alegres canciones tanto cn idioma catalan como
en latin."
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 37
Ein ausdrückliches Zeugniss von der Existenz eines weltlichen
Volksliedes aus der der Einführung der Trouhadourspoesie vor-
hergehenden Zeit gibt einer der ältesten catalanischen Trouhadours
selbst, Guillermo de Berg ad an, ein Zeitgenosse Königs Al-
fons II. von Aragon, in seinem Liede:
Chanson ai comensada
que sera. loing chantada
en est son v elh antic
que fetz N'Ot de Moncada
ainz que peira pausada
fos el cloquer de Vieh.
Zugleich ist sehr merkwürdig, dass dieses , nach einer alten hei
der Grundsteinlegung des Glockenthurms von Vieh gesungenen Volks-
weise gemachte Lied offenbar auch noch dessen metrische Form
bewahrt hat, die, wie ich an einem andern Orte (Über die Lais, S.
17 ff., besonders S. 34) gezeigt habe, eine echt volksmässige ist,
nämlich die der sechszeiligen Strophe mit rime couce! —
Auch andere Gedichte dieses Troubadours, sowie überhaupt
die Gedichte der ältesten Troubadours, tragen deutliche Spuren von
ihrer Bildung nach volksmässigen Rhythmen und ihrem Zusammen-
hange mit einer vorausgegangenen Volkspoesie, wie z. B. die
häufige Anwendung eigentlicher Refrains und refrainartiger Wieder-
holungen, welcher Zusammenhang durch die so häufig erwähnten
Juglares, besonders die fahrenden und die im Dienste der Communen
stehenden, auch wohl später noch unterhalten wurde.
So erzählt Don Pedro der III. von Catalonien oder der IV. von
Aragon, mit dem Beinamen el Ceremonioso, in der ihm selbst zuge-
schriebenen Chronik, wie bei dem Aufstande der Valencianersich
ein Barbier, genannt Gonzalbo, erfrecht habe, sich zwischen ihn
und die Königinn zu drängen und sie zum Tanze zu zwingen, indem
er ein gewiss volksmässiges Tanzlied wie zum Spotte dazu sang,
wovon der König die beiden Verse anführt :
Mal aja qui s'en yrä
Encara ni encara i)
*) Entre los quals hi hac un barber qui havia nom Gonsalbo, ab cuutre
CCCC homens de sos secaces, veneb ballar :il< Irompes e ab tabals al oostre real
38 Ferdinand Wolf.
Aber schon unter dessen Sohn und Nachfolger, Don Juan I.,
trat ein viel entschiedenerer Bruch und schärferer Gegensatz zwi-
schen der Kunst- und Volkspoesie ein. Denn die eben durch diesen
König in Catalonien eingeführte, erkünstelte Nachblüthe der echten
Troubadourspoesie , die gelehrt- zünftige von Toulouse oder das so-
genannte „fröhliche Wissen" (Gay saber),sah, wie unser Meister-
gesang, viel spröder als der ritterliche Minnegesang auf die Volks-
poesie herab, und blähte sich eben , wie ein echt bürgerlicher Par-
venü, mit seiner Schulweisheit gewaltig auf, dem von ihm mit zur
Schau getragener Verachtung behandelten Volksgesang gegenüber.
Wenn daher natürlich auch nicht anzunehmen ist, dass der
Volksgesang hier gänzlich verstummte, so findet man in den Schrift-
werken des 14. und lo. Jahrhunderts seiner höchstens nur gedacht
um ihn zu proscribiren, oder um durch in seiner Art und nach
seinen Weisen gemachte geistliche Lieder die weltlichen zu ver-
drängen *).
Wohl kommen in den höfisch -zünftigen Liederbüchern jener
Zeit, wie z. B. in den zu Paris und Zaragoza handschriftlich auf-
bewahrten catalanischen Cangoners, Gedichte unter dem Namen
„Rom an c" aufgeführt vor; aber dies sind ebensowenig lyrisch-
epische Volkslieder oder Romanzen , oder überhaupt volksmässige
Gedichte, als die grösseren castilischen Rittergedichte aus dem
13. und 14. Jahrhundert die ebenfalls sich„Romance" nennen; denn
e volguessem o no haguera ä ballar ab ells Nos e la Reyna. E lo dit Gonsalbo
mese en mig de Nos y de la Reyna e dix aquesta cansö :
Mal aja qui s'en yra
Encara ni encara
Angeführt bei M i 1 a , pag. 78-
1) So heisst es z. B. in den Synodal- Constitutionen von Lerida vom J. 1321 (Villa-
nueva, Viajes a las iglesias de Espana, Tomo XVII.): „Quod in ecclesia vel
cementeriis coree vel ludi non fiant . . . quia plerique in festorum vigiliis et ipsis
festis ac diebus Dominicis . . . non verentur in ipsis earuraque cementeriis coreas
facere disolutas , et interdum canere cantilenas ae multas insolentias perpe-
trare."
Und in einer Handschrift des 14. Jahrb., welche geistliche Gedichte und Lieder,
auch in lemosinischer Sprache, enthält, heisst es (ebenda Tomo VII.): „Quia
interdum peregrini , quando vigilant in ecclesia Beatas Mariaj de Monserrato , va-
dunt cantare et trepudiare et etiam in platea de die , et ibi non debeant nisi
honestas et devotas cantilenas cantare: idcirco superius ac inferius aliqua; sunt
scripta."
Proben portugiesischer und catalaniseher Volksromanzen. o"
bekanntlich führten seihst damals noch diesen ursprünglich ganz gene-
rischen Namen für alle Gedichte in den romanischen Vulgär-
sprachen, d. i. Romances, insbesondere die grösseren erzäh-
lenden und von Kunstdichtern herrührenden *).
Ausser den in der Natur der Sache liegenden Gründen und die-
sen spärlichen historischen Zeugnissen , haben wir dennoch ein
Kriterium, und zwar eines der sichersten, für das hohe Alter und
die selbstständige Bildung des catalanischen Volksgesanges: die
metrischen Formen der noch jetzt im Munde des Volkes fort-
lebenden Lieder. Wir finden nämlich unter diesen noch mehrere die
nicht das Mass und die Reimweise der castilischen Romanzen haben,
sondern aus zweit heil igen, ein reim igen (oder assonirenden)
Langzeilen bestehen, und dadurch noch offenbar auf ihren
Ursprung und ihren Zusammenhang mit den alten provenzalisch-
limousinischen Rhythmen hinweisen. So findet sich die normal -
epische zweitheilige zehnsylbige Langzeile (vgl. Diez, Alt-
romanische Sprachdenkmale, S. 76 ff.) mit der Cäsur nach der
vierten (wenn männlich) oder fünften (wenn weiblich) Sylbe ;
wie z. B.
Un pomaret | n'hi tinc plantat,
Que de pometas | n'es carregat.
*) Vgl. Du-Meril a. a. 0. pag. 294 — 295: und meine Abhandlung über die Roman-
zenpoesie der Spanier, a. a. 0., Bd. 117, S. 82—84.— Auch Hr. Mila (pag.
83) sagt: El nombre de Romans, limitado ya al parecer a la relacion ver-
sificada de un acontecimiento contemporaneo, hallase tambien en el
cancionero de Zaragoza aplicado a una poesi'a de Francisco Ferrer. La versifica-
cion de las dos poesi'as (nämlich von dieser und einer andern von ihm angeführ-
ten Dichtung des Joan Fogassot aus dem Pariser Canconer, die ebenfalls sich :
Romang nennt , und : fet. . . . sobre la preso ö detencio del Illustrissim senyor
don Carlos princep de Viana etc.) nada tiene que ver con la del roman-
ce castellano." — Ja noch heutzutage heissen in Catalonien die dort heimi-
schen eigentlich volksmiissigen und daher mündlich fortgepflanzten und stets nur
zum Gesänge bestimmten Lieder ganz allgemein: Cansü, während man mit
dem Namen: „Romanso" die auf fliegenden Blättern gedruckten, von den
Blinden zum Verkauf ausgebotenen und daher zum Lesen bestimmten Gedichte,
allerdings oft Vulgär -Romauzen , bezeichnet. (S. Mila', pag. 91: y nötese que
como en tiempo de Bergadan y del rey Don Pedro el Ceremonioso se Uama
todavia canso toda poesfa cantada y tradicional, reservandose el nombre
romance, romanso, para los pliegos vendidos por los ciegos y en las esqui-
nas.")
40 Ferdinand Wolf.
Oder mit der Cäsur nach der sechsten (wenn männlich)
oder siebenten (wenn weiblich), wie im provenzalischen Girart
von Roussillon (D i e z , a. a. 0. S. 89 — 90) :
A la boca del mar | n'hi ha una donsella ,
Tira una pedra al aigua | toca l'amor:
Oder dem provenzalischen zehnsylbigen lyrischen Verse
analog gebildet (Diez, a. a. 0. S. 93), wiewohl selten und fast
nur in Refrains:
Ay que no n'sap j de viure, viure, viure.
(Vgl. über die Ausbildung dieses Verses in der catalani-
sehen Kunstpoesie : D i e z , a. a. 0. S. 98.)
Auch von der weiteren Fortbildung der zehnsylbigen epischen
Langzeile zum zwölfsylbigen Vers oder dem französischen
Alexandriner finden sich noch Beispiele in catalanischen Volkslie-
dern *), wie:
AI hostal de la Peyra | tres ninas van anä.
Dass aber in den Mundarten des occitanischen Sprachgebietes
dieser zehnsylbige epische Langvers ein uraltes, seit dem 10. Jahrh.
nachweisbares und echt Volks massiges Mass gewesen sei, kann
nach den trefflichen Untersuchungen von Diez (a. a. 0. S. 113)
nicht mehr bezweifelt werden; dessen Vorkommen in noch fortleben-
den catalanischen Volksliedern lässt daher jedesfalls auf deren for-
mellen Zusammenhang mit einer bereits vor dem Einflüsse der
castilischen selbstständig ausgebildeten, rhyt h misch und melo-
disch aus eigenthümlichen Elementen hervorgegangenen und schon
typisch gewordenen Volkspoesie zurückschliessen ; wenn man auch
diese erste Epoche derselben, die etwa bis an das Ende des
t) Sind schon diese alexandrinerartigen Verse (von 12 — 14 Sylben) eine nicht ohne
Einfluss der Kunstpoesie entstandene Fortbildung der rein volksmässigen zehn-
sylbigen epischen Langzeile (vgl. Diez, a. a. 0. S. 130), so sind noch weniger
als eigentliche und ursprünglich volksmässige Masse die in ein paar catalanischen
Volksliedern vorkommenden Langzeilen zu betrachten, die aus Hemistichen von
acht bis neun Sylben, und einem refrainartig angehängten von fünf
bestehen, wie in dem Liede vom Grafen Arnaldo (Mila', pag. 136):
Tota sola feu la vetlla | muller leal,
wo auch in der That das zweite Hemistich immer refrainartig wiederholt wird.
Proben portugiesischer und eatalaniseher Volksromanzen. 41
15. Jahrhunderts reichte , wegen Mangel an Documenten, nur eine
hypothetische, oder mit Hrn. Mila die juglar eske nennen
wollte i).
„In das 16. und 17. Jahrhundert, sagt Hr. Mila, fallt die
zweite Periode der catalanischen Volksdichtung, die, ihrer Bildung
nach der castilisehen Roma nzen -Poesie." Auch die Catalanen
nahmen nach ihrer Einbürgerung in die grosse spanische Monarchie
natürlich Theil an dem neuen Aufschwung des National-Gefühls in
der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, der aus den oben bemerkten
Ursachen aber von Castilien ausging, in Folge dessen die casti-
lische die Hof- und Schriftsprache, und vorzugsweise die castilische
Romanzen -Poesie das Organ des nationellen Bewusstseins wurde;
so zwar , dass nicht nur die Sprachen der anderen Kronländer zu
provinciellen Dialekten, sondern selbst die in ihnen altheimischen
volkstümlichen Dichtungsformen zu mehr secundären und localen
wurden. Die castilische Romanzenform fand aber im Catalanischen
um so leichter Eingang, als ihre Grundrhythmen, besonders der
der achtsylbigen Redondillos , hier in den indigenen Elementen
durchaus kein Hinderniss, ja längst vorbereitete Analogien vorfan-
den3). Daher sind nicht nur die castilisehen Romanzen seit jener
Zeit auch in Catalonien sehr beliebt geworden und in Umlauf
gekommen, wie die im Laufe des 16. Jahrhunderts so häufig zu Bar-
celona und Valencia aufgelegten Romanzen -Sammlungen beweisen;
daher haben sich nicht nur mehrere alte Romanzen in castilischer
Sprache hier im Volksmunde erhalten (Hr. Mila gibt davon drei
*) Hr. Mila construirt sie also (pag. 93):
1. 6 epoca de los j u gla r es = siglos XIV y XV. Corriendo estos, los jugla-
res debieron conservar fragmentos anteriores, componer otros nuevos, 6 acaso
tomar asuntos de otros paises , y si no inventar las melodias existentes , propa-
gar los principales tipos de miisica catalana De esta epoca
deben haber quedado aunque con carnbios parciales las eanciones compuestas en
metros distintos del romance casteliano, o cuando menos la tradi-
cion de estos metros; al par que algunos de los pocos vestigios historicos que
no se lian borrado de nuestra poesia.
2) So sagt auch Hr. Mila (pag. 91):
„ . . . el asonante debiö naeer aqui (im Catalanischen) como alli (im Casti-
lisehen) del antiguo sistema de versificacion monorrima, y el octosilabo si
no es tan esencial a la fräse catalana como a' la castellana , en manera alguna
repngna ;! la primera, existiendo de la epoca provenzal algunos versos con el
aire y brio de nuestras redondillas nacionales."
42 Ferdinand Wolf.
Beispiele, wovon ich die beiden echt volksmässigen: Romance de]
rey moro , und Las dos hermanas, in der Primavera, Tcmo II.
no. 129 y 130, wieder abgedruckt habe), ja wurden schon damals
Romanzen in dieser Sprache in Catalonien selbst gedichtet
(man s. nur z. B. die offenbar in Catalonien entstandenen Romanzen
vom Grafen von Barcelona und der Kaiserinn von Deutschland , die
von Galceran de Pinos, u. s. w.); sondern auch schon im 16. Jahrb.
findet man in cata la n i s eher Sprache und in cas tili sehen
Formen abgefasste Gedichte (wie einige Lieder in S erafi's Poesfas
in der Form der castilischen Letrillas; die catalanische Romanze in
sechssylbigen Redondillos von den Comendadores de Cördoba, und
mehrere Letrillas, Villancicos und Canciones nach Art der castili-
schen in catalanischer Sprache in dem zu Barcelona erschienenen
Cancionero, llamado Flor deenamorados des Juan de Linares, u. s. w.);
sondern es tragen auch, wie wir sehen werden, mehrere von Hrn.
IMila aus dem Volksmunde mitgetheilte catalanische Romanzen noch
deutlich die Spuren ihres hohen Alters und castilischen Ur-
sprungs, und ein grosser Theil derselben ist schon ursprünglich in
der gewöhnlichen castilischen Romanzenform abgefasst. So
bürgerte sich diese Form auch in Catalonien so sehr ein, dass die
in den indigenen Formen erhaltenen catalanischen Romanzen mehr
wie Ausnahmen erscheinen, und selbst Hr. Milä sich zu der Äusse-
rung veranlasst findet (pag. 90) : „A primera vista y con aparente
razon se diria que nuestra poesia populär debiö su origen ä los
romances castellanos, etc.", eine Ansicht die er freilich und
mit Recht als irrig zurückweist.
Doch kann man nur aus diesem vorwiegenden Einflüsse der
castilischen auf die catalanische Volkspoesie mehrere Erscheinungen
erklären, die sonst räthselhaft blieben; wie das fast gänzliche Feh-
len von historisch -sagen haften Romanzen in der letzteren;
nur dadurch erklärbar, dass die Romanzen der Art, besonders wenn
sie Gegenstände allgemeineren , nationellen (im Gegensatze zum
provinciellen) Interesses behandelten, auch hier und schon ursprüng-
lich in castilischer Sprache abgefasst wurden, und dass durch diesen
Gebrauch die gänzlich in Vergessenheit kamen, welche einst in der
Landessprache Sagen von mehr rein localem Interesse besangen;
denn es ist doch wohl kaum zu bezweifeln, dass bei dem bekannten
Sagenreichthum Cataloniens , von welchen sich viele auf andere
Proben portugiesischer und catalaniseher Volksromanzen. 4 3
Weise (z. B. in Chroniken, u. s. w.) erhalten haben, auch, einst
wenigstens, Volkslieder davon existirt haben *).
Die dritte Epoche des catalanischen Volksgesanges beginnt
nach Hrn. Mila mit dem 18. Jahrhundert, und reicht bis auf unsere
Tas'e. Er nennt sie: „eminente mente populär", insoferne in
dieser Epoche die eigentlich catalanischen Volkslieder rein traditio-
nell blieben, nur im Volksgesange fortlebten, und einen nicht
i) Hr. Milä der auch diese räthselhafte Erscheinung- bemerkt hat, ohne jedoch
einen Erklärungsgrund dafür anzugeben, weist mehrere solcher Sagen aus ande-
ren Quellen nach (pag\ 95 — 97). Wir inachen darunter, als von allgemeinerem
mythologischen Interesse, auf die auch hier vorkommende Sage vom „wilden
Jäger" (El viento del cazador) aufmerksam; auf die von den „Tö c ht er n des
Königs Her ödes" („de la danza aerea a que estan condenadas las Herodia-
das por la muerte del Baulista," wovon sich wenigstens eine Art von Refran er-
halten hat, das wie der Anfang eines Volksliedes klingt: „Las fillas del
rey Herodes — ballan que mes ballarän) ; — auf die mit dem Grafen Wifred I.
oder Ramon Berenguer III. von Barcelona in Verbindung gebrachte Drachen-
sage (el vencedor del Drach), die verbreitetste, auch auf mehreren Kirchen
Cataloniens abgebildete Sage ; ein Drachenbild wurde auch bei mehreren feierlichen
Processionen unter Absingen von darauf bezüglichen Liedern herumgetragen , z. B.
1601 am Feste des heil. Ramon de Penafort zu Villafranca del Panades, und dazu
das Lied gesungen:
Cosa primera De boca y nas
Viu que venia Llansaba foch
De compania Ballant un poch
Ab avalots Tots sis plegats
Cinch diablots Ben enramats
Un bell d r a c a s Tots de cuets
Man hat allerdings eine Sammlung catalaniseher Sagen unter folgendem Titel, den
ich seiner Merkwürdigkeit wegen ganz hieher setzen will:
Hazanas y Recuerdos de los Catalanes , 6 Coleccion de leyendas relativas a los
hechos mas famosos, a las tradiciones masfundadas, y a las empresas mas cono-
eidas que se eneuentran en la historia de Cataluna , desde la e'poca de la domina-
cion arabe en Barcelona , hasta el enlace de Fernando el Catolieo de Aragon
con lsabel de Castilla.
Obra escrita, a imitacion de ciertas baladas que compusieron en aleman , Goethe,
Klopstoch (sie) , Schiller, Burger y Korner (sie), por D. Antonio de Bofa-
rull y Broea, oficial del Real y general Archivo de la Corona de Aragon.
Barcelona 1846, in 8. —
Allein die auf dein Titel erwähnte Nachahmung ist in der That eine wahre Parodie ;
die Sagen, übrigens in einer aufgedunsenen, lächerlich carikirten Prosa, etwa
im Styl Victor Hugo's gegeben , sind durch novellistische Verbalhornung ganz
entstellt, und in dieser Gestalt für den wissenschaftlichen Forscher ganz unbrauch-
bar. Hätte Hr. Bofarull — wenn er Deutsche nachahmen wollte — doch die Sagen
der Brüder Grimm sich zum Muster genommen! —
44 Ferdinand Wolf.
nur von der Kunst- sondern auch von der Vulgär -Poesie verschie-
denen Charakter bewahrten.
Denn seit der scharfen Trennung der gebildeten Classen von
dem was man nun „Volk" (vulgus) nannte, eine Trennung die
hier um so schärfer sich bemerklich machte, als die Schrift- und
höhere Conversationssprache der Gebildeten auch hier die casti-
lische wurde, hatte dieses Volk auch in Catalonien neben der aus
dem früheren Nationalleben und seinem eigenen intimsten Gemüths-
leben hervorgegangenen Poesie noch eine besonders auf dasselbe
berechnete, ihm von Sängern oder Dichtern von Profession mund-
gerecht gemachte halb volks-, halb kunstmässige Dichtung erhalten,
die man zum Unterschiede von der echten, reinen Volkspoesie ganz
gut die „Vulgär- oder Bänkelsä nger- Poesie" genannt hat.
Diese ist — wie der halb verbildete, halb verwilderte Pöbel im
Unterschiede von „Volk" — sich wohl überall sehr ähnlich, und auf
die in Catalonien, besonders durch die gedruckten Flugblätter und
die Ausrufer an den Strassenecken und auf den Märkten verbreitete
passt um so mehr die treffliche Charakteristik die Dur an (Roman-
cero generali 2. edic, Tom . I, pag. XXVIII sig. , — vgl. auch
meine Bemerkungen über diese Romanzen-Gattung in den Wiener
Jahrbüchern d. Lit., Bd. 1 14, S. 66 ff.) von der castilischen
V u 1 g ä r - P o e s i e (Romances vulgares) gegeben hat, als eben ein
grosser Theil jener Flugblätter nur einen Nachdruck der castili-
schen Originale enthält, die in catalanischer Sprache abgefassten
sich aber höchstens dadurch von ihren castilischen Vorbildern unter-
scheiden, dass sie die Entartung noch überbieten, noch prosaischer,
noch roher, kurz noch vulgärer sind *)•
*) So sagtauch Hr. Mila (pag. 94), von den modernen, für den Druck bestimmten,
besonders in fliegenden Blättern in Catalonien verbreiteten Romanzen und Gedichten :
los Ultimos pertenecen casi sin escepcion a la poesia vulgär, es decir,
a la que mas rastrera y al mismo tiempo menos ingenua que la populär descubre pre-
tensiones de ingenio y de artificio, y adolece, ora de completa idiotez ora de enfa-
dosa pedanteria." — Die k. k. Hofbibliothek besitzt, in einem Quart-ßändchen zu-
sammengebunden, mehrere solcher in Catalonien gedruckter Flugblätter und die
blosse Angabe ihrer Überschriften wird geniigen , um ihren Inhalt und ihren Geist
zu charakterisiren: 1) Gustos Colloqui, entre un enamorat lacayo, y una hermosa
cuynera, en que, despues de alguns requiebros, refereix ella sos treballs, y las rare-
sas de una mestressa. — 2) Trobos discretos, para cantar los galanes a sus damas. —
3) Decimas burlescas a' un assumpto llepol (dieser leckere Gegenstand ist — la
merda ! — ). — 4) Desenganys, y avisos pera despertar al pecador. — 5) Virtuts
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 45
Die echte Volkspoesie — von den sogenannten Gebildeten
verachtet oder doch lange vernachlässiget, durch das Geschrei der
Bänkelsänger vom „lauten Markte" verscheucht, nie zum Lesen
oder nur zum blossen „Sagen" bestimmt, sondern stets mit dem
Gesänge entstanden, mit den „Weisen" auf das Innigste verbunden,
— diese von dichterisch Erregten und Begabten, nicht mit künst-
lerischem Bewusstsein und in künstlerischer Absicht in einem glück-
lichen Augenblicke geschaffenen, naturwüchsig emporgeschossenen,
von Gleichgestimmten mit, nach- und fortgesungenen Lieder hatten
sich auch in Catalonien auf die Berge und in die Wälder geflüchtet
und tönten nun nur leise und verschämt in den ländlichen Hülten und
in den Kinderstuben nach. In diesen letzteren vornämlich hat auch
Hr. M il a sie erlauscht und ihnen und fahrenden Sängerinnen, die
zum Danke für das in den Gehöften (musias) erbettelte Brod und die
Herberge durch solche Lieder die dafür noch empfänglichen Land-
leute erfreuen, hat er den grössten Theil des von ihm so glücklich
wieder zu Tage geförderten Schatzes altheimischer und so lange nur
im Verborgenen fortlebender Volkspoesie zu danken J).
del cagar (mit entsprechendem Holzschnitt). — 6) Relacio nova de Ia batalla san-
grienta donada per las pussas armadas a la bayoneta, alla' en lo camp de la pell. —
7) Rahonament y coloqni nou, en el que es refereix eis grans casos que li pasa'ren
a Neio el tripero, natural de Valencia, fill del. carrer de Caiiete, chie mölt habil
pera el es tu di o de la uiia, en lo denies que vora el euriös Lector en esta Pri-
mera part. — Seg-oua pari — 8) Dialogo espirituäl entre lo fill prodieh y
son pare. — 9) Representaeio y conversio de la Semaritana. Interlocutores : Jesus,
Judas, San Pere, San Joan, La Semaritana. — 10) Lo estudiant magich , ö l'aniina
del senor Libori. — Personas: M arch, marit. L aya, muller. Don Joan. Estu-
dian. — 11) Ganso novament treta per animar los Catalans en defensa de la fe, y
son Rey, y perseguir los Francesos convencionals ab tot esfors, y valor. Composta
ab quartillas. — 12) Canso de la mala dona, y del hon Janot. — 13) Goigs del glo-
rios apostol Sant Pau. — 14) Goigs del glorios prothomartyr Sant Esteve.
*) Hr. Mila' hat über diese seine Quellen mit so anmuthiger Naivetat berichtet, dass
ich ihn selbst sprechen lasse (pag. 89—90) : „Los ciegos, que son los actuales can-
torcs de profesion la (la poesi'a tradicional y populär en todo el rigor de la palabra)
olvidaron completamentepor coplas modernas, vulgares y faltas de valor poe'lico:
solo de algunas mendigas hemos sabido que al mismo tiempo que de recitaciones pia-
dosas se ayudaron de dos ö tres cantos populäres para excitar y recompensar la
hospitalidad de las masias. Aun mas que populär es dicha poesi'a infa ntil , pues
si los campesinos stielen silvar 6 lalarear sus tonos y cantan con alguna frecuencia
las canciones mas modernas, no solo para si sino a veces en coro y acompanandose
con el agudo son de la dulzaina ; si las mujeres en especial recuerdan las canciones
con Singular complacencia, habiendolas que se envanecen del crecido nunieio que
46 Ferdinand Wolf.
Diese, wie gesagt, mit dem Gesang entstandenen und im
Gesänge fortlebenden Lieder erhalten freilich erst ihren ganzen Reiz,
wenn man sie singen hört, oder doch wenigstens ihre Melodien ken-
nen lernt. Diese Melodien, versichert Hr. Mila, haben einen ganz
eigenthümlichen Charakter und für den Eingebomen einen unwider-
stehlichen Zauber. „Es ist" sagt er, „als wenn dem der diese
Melodien hört, sich das Leben verjüngte, als wenn die Gegenstände
die das durch sie gehobene, veredelte und idealisirte Wort besingt,
vor ihm in ihrer Frische und Schöne erstünden , als wenn man sie
zum ersten Male vor sich sähe, oder wie mit den magischen Rosen-
wolken der Kindheit leicht verhüllt (ö velados con los mdgicos ce-
lajes de la infuncia)." Leider hat er die Melodien nicht beigegeben.
Sie werden auch unter Begleitung von Instrumenten vorgetragen,
wie von der Taröta oder Dolsaina (einer Art Huboe), vorzüglich
aber der Gra 1 1 a (verwandt mit den in den altfranzösischen Chan-
sons de geste oft erwähnten graisles, clairon) und der Manxa
borrega oder Sac dels gemecs oder auch noch, wie ehemals,
Cornamusa genannt, womit man besonders die epischen Lieder
begleitet.
Die Lieder dieser Gattung, die eine epische Grundlage haben,
wiewohl meist schon märchenhaft verallgemeint oder sagenhaft loca-
lisirt, tragen noch offenbar das Gepräge frühen Ursprungs; denn
trotz den unverkennbaren Umgestaltungen die sie, wie alle blos
traditionell fortgepflanzte Poesie der Art, au erleiden hatten, weisen
eben so wenig zu übersehende Spuren in Auffassung des Gegen-
standes, Anschauungsweise, Sitte, Ausdruck und selbst in der Sprache
(in der sich noch so manche Wörter finden, die sogar ihre unmittel-
bare Abstammung aus dem Provenzalischen erkennen lassen wie :
aymar, aymador, nina u, s. w.), auf ihre Entstehung und Abfassung
in einer noch durchaus ritterlich gesinnten Zeit zurück. Dies wird
noch bemerkbarer, wenn man mit ihnen die wenigen eigentlich
historischen in dieser Periode selbst entstandenen Lieder
conserva su memoria (er führt ein Weib aus Espluga de Francoli an, die ihm einige
vierzig- solcher Lieder vorsang), coinunmente solo se les da importancia para en-
tretener a los niüos, siendo las generaciones infantiles las que se
las transmiten, y sonando comprendidas a medias, en sus labios inocentes, que puri-
fican lo que aquellas poesi'as pueden tener de sobrado ingenuo y desnudo."
Proben portugiesischer und catalaniseher Volksromanzen. 4 i
vergleicht, wie einige aus dem spanischen Successionskriege, an dem
Catalonien bekanntlich einen so grossen und tragischen Antheil nahm,
aus der Zeit der ersten französischen Revolution, aus dem Unabhän-
gigkeitskriege gegen Napoleon bis herab zum jüngsten Successions-
Streit, zu den Guerillas-, Contrahandisten- und Räuberliedern, die
alle in Geist und Ton so weit von jenen ritterlichen abstehen , als
unsere von jener Zeit, und fast nur mehr durch den Gegenstand von
den eigentlich vulgären sich unterscheiden.
Überdies sind noch die besten unter diesen historischen Liedern
jene die in der N a ti o n alspr ache, der castilischen, oder doch
in der castilischen Romanzenform abgefasst sind; ein neuer Beweis
jenes oben bemerkten Einflusses der castilischen Volkspoesie, als des
eigentlichen Organs des Nationalbewusstseins *).
Viel poetischer ist eine andere Gattung der in neuerer Zeit
entstandenen Lieder, welche in kleinen Genre-Bildern Sitten
des Landes oder merkwürdig gewordene Ereignisse oder Züge aus
dem täglichen Leben schildern (Canciones de costumbres moder-
nus) 2).
Natürlich fehlt es auch nicht an legendenartigen, und
darunter sind einige mit ganz eigenthümlichen, echt volksmässigen
und ein hohes Alter beurkundenden Zügen.
Neben diesen , mit mehr oder minder objectiver Grundlage,
besteht wie überall, ein grosser Theil der catalanischen Volkslieder
aus rein lyrischen, geistlichen (Weihnachtslieder) und welt-
lichen (unter diesen auch satyrischen) Inhalts.
*) Dies gesteht selbst Hr. Mild zu, indem auch er bemerkt (pag. 94): „Los moderuos
que pertenecen a esta clase (de los h i st o rie o s) tocan en lo vulgär y son desco-
loridos y prosaicos cuando dejan la versificacion del r o ma nee, mien-
tras si la adoptan, aunque carecen de merito, eonservan a' lo menos la marcha viva
y ra'pida y la intencion pintoresca".
2) In einer dieser Romanzen: „El fusilero" (der Musketier) , nennt sich der Held
derselben, ein Musketier der von seiner Geliebten scheiden muss, weil er Ordre
bekommen, sich in Barcelona einzuschiffen, im Eingang und am Ende selbst als
Verfasser, das einzige Beispiel einer solchen Bekennung der Autorschart :
Una canso vull cantar — no hi ha molt que s'ha dietada,
treta de dos fusellers — que :i Camprodon habitaban.
La canso qui treta l'ha — la cansö qui l'ha dietada,
es un fadri fuseller — servidor del rey d'Espana.
Die Romanze ist übrigens schon mehr im Bänkelsängerton.
48 Ferdinand Wolf.
Eine besondere Erwähnung verdienen die Tanzlieder (Dau-
ms). Es ist Sitte in Catalonien an grossen Festtagen, besonders an
den Namensfesten der Heiligen grössere dramatische Tänze auf-
zuführen, in welchen das Leben des gefeierten Heiligen, oder Siege
der Christen über die Mauren oder Türken , namentlich auch die
glücklich abgeschlagenen Türkenbelagerungen Wiens; aber auch
manchmal das Leben berüchtigter Räuber (bandoleros) dargestellt
werden. Aber diese Dramen mit Tanz und Gesang rühren doch schon
von Dichtern von Profession her, sind blosse Gelegenheitsgedichte
ohne poetischen Werth, kurz, mehr Producte der Vulgär-Poesie.
Hingegen gibt es auch kleinere Lieder zu ländlichen, geselligen
oder Kinder-Tänzen, und diese sind ganz gewiss eigentliche Volks-
lieder und haben sowohl dramatische als auch noch epische Ele-
mente *).
i) Da diese Liedchen in der Übersetzung- ihren grössten Reiz verlieren, auch sehr kurz
sind, so will ich die vier von Hrn. Mihi (pag. 173 y 174) mitgetheilten im Origi-
nale hersetzen.
1) El labrador.
El meu pare quant llauraba
feya aixis,
feya aixis :
s'en douaba un cop al pit,
y s'en giraba.
Treballeu, treballeu, .
que la cibada culliriau,
treballeu, treballeu,
que la cibada cullireu.
El meu pare quant sembraba etc.
Der Tanz, zu dem dieses Liedchen gesungen wird , ist ein Rundtanz (danza en
rueda), das Segment eines Cirkels beschreibend und innehaltend, um die verschie-
denen Arbeiten des Landmannes nachzuahmen.
2) La nina de Puigcerdä".
Si passa el port, nineta, passa ei port.
— No'l voli pas passar,
ay mare, mare, mare,
no'l voli pas passar
el port de Puigcerdä'.
Si passa el port, nineta, passa el port.
— No'l voli pas passar
el port tota soleta,
noT voli pas passar
si'l meu galan no hi va etc.
Wird zu gewissen Tänzen in Puigcerdä' und Andorra gesungen.
Proben portugiesischer und catalanisclier Volksromanzen. 4«)
In der neuesten Zeit entstehen und verbreiten sich unter dem
Volke höchstens noch einige Liebes- oder Spottlieder, die natürlich
meist von den Betheiligten selbst herrühren.
HerrMilä hat daher seinen „Romancerillo catalan"
in folgende Sectionen abgetheilt:
1 . Romantische Lieder (canciones romuncescas ) , mär-
chen- und sagenhaft und darunter die ältesten Ursprungs, die schön-
sten und eigentümlichsten.
3. La embajadadelRey moro.
Aqui fenvio la conversa,
la conversa del Rey moro.
£Öe dos hijas que tu tienes
si me quieres dar la una?
— Si las tengo, no las tengo,
no las tengo para dar.
Si las tengo, no las tengo,
no las tengo para ti.
— Tres passos n"hi fet enrera,
no se el Rey si 'en dira res.
— Torna, torna, escudereta,
la mes linda t'en dare ;
la mes linda y la mes guapa,
la mes guapa del roser.
— Ben serä, ben contemplada,
en cadira d'or sentada ;
dormira en brassos del Rey. —
A Dios perla y clavell.
Die Kinder stellen tanzend und singend dieses kleine Drama dar.
4. La i da del Rey.
AI carrer del vidre
n'hi plantan una oliba
fresca y pulida,
pulida com un sol.
Sera per inaravella,
s'il fill del Rey la vol. —
Tocan a la marcha,
qu'el Rey ha de marchat'.
— No ploris, Marieta,
que luego tornara'.
T'en portara un manto
de vint y eine colors,
manto snln-e manto,
coral sobre coral,
al cap de la Marieta
la Corona real.
Ebenfalls von Kindern unter Tanz und Gesang dramatisch dargestellt.
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XX. Bd. 1. Hft. \
50 Ferdinand Wolf.
2. Geistliche Lieder (Canciones religio sas) ; legenden-
artig, aber in Geist und Ton volksmässig.
3. Historische Lieder (Canciones histöricas).
4. Banditen-Lieder (Canciones de bandidos).
5. Lieder aus dem Alltagsleben (Canciones de costum-
bres modemas; genreartige Sittenbilder^.
6. Rein lyrische Lieder (poesias Uricas).
7. Tanzlieder (Danzas, die oben mitgetheilten vier^-
Natürlich sind in diesen Abtheilungen die Grenzen nicht immer
scharf eingehalten, namentlich in der ersten, dritten und fünften, die
Lieder enthalten, die man ebenso gut der einen wie der andern
zutheilen könnte.
Noch hat Hr. Milä seiner Liedersammlung einen Anhang in
(castilischer) Prosa beigegeben, der Proben von in Catalonien ver-
breiteten K in de r- Märe he n (enentos infantiles, in Catalonien
Rondallas, manchmal mit dem Zusätze: de la bora del foch, d. i.
vom Herdrand oder der Ofenbank, genannt^ und Bemerkungen über
den dort noch herrschenden Volksaberglauben enthält. Ich glaube
den Forschern in diesem Fache einen Dienst zu erzeugen, wenn ich
auch daraus das Bemerkenswertheste hier mittheile.
Der Glaube an Hexen (brujas) und Zauberer (hechiceros)
ist in Catalonien noch nicht gänzlich ausgerottet. So erzählt Hr.
Milä, dass er ein unlängst zum Danke für die Rettung eines Kindes
angefertigtes Gemälde gesehen habe, darstellend, wie es die Hexen
in der Sylvester-Nacht durch das Fenster zu entführen versuchten,
und dass ihm ein altes Weib erzählt habe, wie ihr behextes Kind
Nachts von einer lauten, unheimlichen Stimme gerufen wurde, und
als man durch gewisse Beschwörungsformeln die es quälende Hexe
zwang, von ihm abzulassen, diese plötzlich am Fusse der Treppe
sich zeigte, die unmittelbar zu dem Herde (kogar) führte, wo die
Entzauberung (ensalmo) vorgenommen wurde. Die Zauberer unter-
scheiden sich von gewöhnlichen Quacksalbern dadurch, dass sie die
Krankheiten im voraus verkünden (adivinar) , und die sogenannten
Segensprecher (saludadores, ein auch im übrigen Spanien
verbreiteter Aberglaube, s. das Wörterbuch der span. Akademie u.
d. W.^ sind Personen die in der Christnacht geboren wurden, ein
Mal am Gaumen und die Kraft haben, von der Hundswuth zu heilen.
Wenn die Berge in Nebel gehüllt sind, sieht man deutlich hindurch
Proben portugiesischer und catalanischer Volksroinanzen. 3 1
gespenstige Wesen (Fantasmas), wiosie mit ausgespreitefen Füssen
auf zwei Fichtenbäumen stehen. Kobolde (Follets) scheuern des
Nachts die Häuser und züchtigen faule Mägde, und trotzdem, dass
sie sehr klein sind, erscheinen sie manchmal in solcher Menge, dass
sie auch dem Beherztesten Angst einjagen. Hingegen findet sich
weder in dem Aberglauben noch in den Kindermärchen des catala-
nischen Volkes die geringste Spur von eigentlichen Feen , was um
so mehr zu verwundern ist, als ihre Stammgenossen und Nachbarn,
die Provenzalen, nicht arm an Feensagen sind *).
Unter den von Hrn. Mila mit lobenswerther Enthaltsamkeit und
Treue mitgetheilten Kindermärchen treffen wir fast lauter alte Be-
kannte, aber doch hin und wieder mit eigentümlichen Zügen.
I. Die beiden Mädchen (Las dos ninas). Ein Weib hatte
eine Tochter und eine Stieftochter. Letztere schickte es die Heerde
zu hüten, und da das Mädchen sehr brav und fromm war, so betete
es während dem Hüten. Als es eines Tages heimgekehrt war, nah-
men sie eines seiner Lämmer, schlachteten es und die Stiefmutter
befahl dem Mädchen, dessen Eingeweide zu reinigen, sich aber
wohl zu hüten, auch nur ein Stückchen davon fallen zu lassen. Beim
Beinigen Hess es jedoch ein Stückchen fallen; da erblickte es einen
Bauer der auf dein Felde arbeitete, zu diesem ging es und sprach:
„Bauer, guter Bauer, möge Gott eure Arbeit segnen! habt ihr nicht
ein Stückchen Eingeweide gesehen, das den Bach hinabtrieb?" —
Der Bauer antwortete: „Begebt euch zu jenem alten Männchen." —
Das Mädchen ging zu dem alten Männchen und fragte es: „Altes
Männchen, gutes altes Männchen, möge Gott euch ein frohes Alter
verleihen! habt ihr nicht ein Stückchen Eingeweide gesehen, das
den Bach hinabtrieb?" — Das alte Männchen antwortete ihm: „Geht
zu jenem alten Weibchen." — „Altes Weibchen, gutes altes Weib-
chen, möge Gott euch ein frohes Alter verleihen ! habt ihr vielleicht
ein Stückchen Eingeweide gesehen, das den Bach hinabtrieb?" —
Die Alte antwortete: „Nein Mädchen, doch tritt herein." Das Mäd-
chen trat in das Haus der Alten, die ihm das Schönste was man in
*) So führt Hr. Mila selbst, ein Beispiel davon an indem er bemerkt (pag. 188): „Die
Provenzalen haben oder hatten eine Sage von einem gewissen Brincan, der das
Feenland besucht halte. Diese Sage hat sich zwar in Catalonien nicht erhalten; aber
doch bezieht sich darauf die Redensart: er weiss mehr als Brican (sähe mas que
Brican)."
4*
52 Ferdinand Wolf.
Gold und Silber sehen konnte, zeigte und es aufforderte, daraus zu
wählen, und das Mädchen nahm das am wenigsten Werthvolle. Da
sprach die Alte: „Merk auf, Mädchen, wenn du dich ein wenig von
hier entfernt haben wirst, wirst du einen Esel wiehern hören ; hüte
dich umzuschauen, hast du dich etwas weiter entfernt, wirst du ein
Glöckchen anschlagen hören: dann schau' in die Höhe." — So that
das Mädchen und als es aufschaute, fiel ihm ein goldenes Sternchen
auf die Stirne. Es kehrte nach Hause und als seine Stiefschwester
es so schön sah, wollte sie auch Eingeweide reinigen gehen. Sie
schlachteten ein Lamm, nahmen die Eingeweide heraus und gaben
sie ihr zum Reinigen; doch auch sie Hess ein Stückchen hinabfallen.
Da sah sie den Bauer der auf dem Felde arbeitete, ging zu ihm
und sprach: „Bauer, schlechter Bauer, möge Gott üblen Erfolg
eurer Arbeit geben! habt ihr nicht ein Stückchen Eingeweide ge-
sehen, das den Bach hinabtrieb ?" Der Bauer antwortete: „Geht zu
jenem alten Männchen." — Sie ging zu ihm und sagte : Alter,
schlechter Alter, möge Gott euch ein übles Alter bescheren ! habt
ihr nicht u. s. w. ?" — Der Alte erwiderte: „Geht zu jenem alten
Weibchen." — Sie ging zu ihr und sprach: „Alte, schlechte Alte,
möge Gott euch ein übles Alter bescheren! habt ihr u. s. w.?" —
Die Alte antwortete: „Nein Mädchen, doch tritt herein." — Sie trat
in das Haus der Alten die ihr das Schönste, was man in Gold und
Silber sehen konnte, zeigte und sie daraus wählen hiess. Sie nahm
das Beste. Da sprach die Alte zu ihr: „Merke auf, Mädchen, wenn
du von hier etwas entfernt bist, wirst du ein Glöckchen anschlagen
hören; schau1 aber ja nicht in die Höhe, bist du etwas weiter ge-
kommen , wirst du einen Esel wiehern hören ; dann erhebe das
Haupt." — So that das Mädchen und als es das Haupt erhob, fiel
ihm eine Eselspfote auf die Stirne *).
II. DertreueGe f ä h r t e (el baen companeroj. Ein Königs-
sohn hatte einen Gefährten, und die beiden liebten sich sehr. Der
Königssohn wollte sich mit einer Princessinn eines fernen Reiches ver-
mählen und machte sich auf, sie zu suchen, mit grossem Gefolge und
i) Verwandt mit dem deutschen Märchen: „Die drei Männlein" (s. Grimm, Kinder-
und Hausmärcheii, Nr. 13) ; — und noch näher mit B asi I e-s „Le tre fiate" (Penta-
merone III, 10), im Catalanischen aber nur Bruchstück.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 53
von seinem Freunde begleitet, die Meere durchschiffend. Sie wurden
an dem Hofe des Vaters der Princessinn sehr gut aufgenommen und
führten sie frühlichen Muthes mit sich heim. In einer heiteren Nacht
stand der treue Gefährte wachend auf dem Verdecke des Schiffes, in
dem sie fuhren, und während alles um ihn im tiefsten Schweigen
versunken war, vernahm er eine Stimme welche sagte: Wer das
erfährt und es sagt, wird bis au den Gürtel in Marmor verwandelt
werden : am Hochzeitstage wird ein wunderbarer , überaus schöner
Vogel. erscheinen, der wird der Braut sehr gefallen, aber er wird
sie mit seinem Schweife verwunden." — Bald darauf hörte der
treue Gefährte eine andere Stimme die drohte mit der Ankunft eines
andern furchtbaren Thieres und dass der, der dies höre und es sage,
sich in Marmor bis an den Hals verwandeln werde. Und zum dritten
Male drohte eine Stimme mit dem Kommen eines schrecklichen Thie-
res, und dass wer dies vernommen und es sage, sich ganz in Marmor
verwandeln werde. Das Schiff brachte sie glücklich nach dem Lande
des Königssohnes ; sie traten in seinen Palast und die Hochzeit wurde
gefeiert. Da erschien der wunderbare Vogel und als die Braut ihn
ergreifen wollte, zog der treue Gefährte das Schwert und tödtete
ihn; dasselbe that er mit den beiden andern Thieren , als er aber
das letzte tödtete, verwundete er zugleich, ohne es zu wollen, und
nur leicht die Princessinn. Da wurde er zum Tode verurtheilt
und am Fusse des Galgens sagte er nun was er gehört habe, man
erkannte seine Unschuld; aber er war allmählich in Marmor verwandelt
worden *).
III. Das Bohr des Sand-Flusses. (La cuiia del riu de
urenas.) Ein Mann hatte einen wunden Fuss und sagte zu seinen
drei Söhnen, dass er den zu seinem Erben ernennen werde, der ihm
die Blüthe der Bracken-Distel (la flor del peniccdt, eryngium cam-
pestre) bringe, die zu seiner Heilung nöthig sei. Die beiden älteren
zogen mitsammen Eines Weges um sie zu suchen, und Hessen den
jüngsten allein gehen. Dieser kam zu einem Garten, bat um die Blüthe
und man gab sie ihm, aber man schärfte ihm sehr ein , sie ja ver-
borgen zu halten; denn wenn seine Brüder davon Kunde erhielten,
würden sie ihn tödten. Er verbarg sie in seine Strümpfe; aber seine
*) Offenbar ein sehr unvollständiges Bruchstück des deutschen Märchens : »Der getreue
Johannes" (Grimm, a. a. 0. Nr. 6).
54 Ferdinand Wolf.
Brüder durchsuchten ihn und fanden sie. Da machten sie eine Grube
am Sand-Flusse und gruben ihn ein. Es geschah aber , dass eines
Tages ein Schäfer seines Vaters da vorbeikam , der seine Lämmer
auf die Weide trieb ; der riss mehrere der dort wachsenden Rohre
aus, machte sich daraus eine Flöte und begann darauf zu spielen. Da
sang die Flöte :
Schäfer, gutes Schäferlein,
du der mich zum Spiel geschaffen,
bin arn Sandfluss eingegraben,
wegen jener Distelblüthe*
wegen meines Vaters Füsse,
dass er nicht mehr leiden müsse i).
Der Schäfer ging zu seinem Herrn, blies auf der Flöte und sie
wiederholte dieselben Worte; da begaben sie sich zum Sandfiusse,
rissen die Rohre aus, deren Wurzeln sie mit schönen Haaren ver-
mengt fanden, und als sie noch tiefer gruben, fanden sie den von
seinen Brüdern eingegrabenen Sohn noch lebend. Die Brüder wurden
hingerichtet, der aber, der die Blüthe der Bracken-Distel gefunden
hatte, wurde von seinem Vater zum Erben ernannt 2).
IV. Die drei Liebes-Pomeranzen. (Las tres naranjas
del amor). Ein Königssohn bat einst seinen Vater, dass er ihm er-
laube, die drei Liebes-Pomeranzen suchen zu gehen. Der König er-
laubte es ihm. Der Königssohn zog fort und kam zu einem Hause und
frag, ob man ihm sagen könne, wo die drei Liebes-Pomeranzen zu
finden seien. Der Herr des Hauses erwiderte, er möge nur weiter
ziehen und werde dann zu einem andern Hause kommen, in dem ein
seiniger Bruder lebe, der ihm Auskunft über die Pomeranzen geben
werde. Er zog weiter, fand das andere Haus und dessen Herr sagte
ihm, er solle in den Garten eintreten , wo er einen Riesen finden
werde, der die drei Pomeranzen hüte, und wenn er sehe, dass der
*) Pastoret, bon pastoret,
tu que'in tocas, tu que'm menas,
so colgat al Riu de arenas,
per la flor del penicalt,
per la earaa del meu pare
que li feya tan de mal.
2) Auch dieses Märchen hat gemeinsame Grundlag« und Züge mit den deutschen vom
„Wasser des Lehens" und vom „singenden Knochen" (G rimm, a. a. 0. Nr. 28 und
97 und die Anmerk. im 3. lide. zu Nr. 28).
Proben portugiesischer und catalauischer Volksromanzen. 55
Piese die Augen offen habe, könne er sicher sein, dass dieser
schlafe, wenn er sie aber geschlossen habe, so sei es eben so gewiss
dass er wache. Er trat in den Garten und fand glücklicher Weise
den Riesen mit offenen Augen. Da nahm sich der Königssohn die
drei Pomeranzen und zog fröhlich von dannen; denn wenn auch der
Riese dann erwachte, so war es zu spät, und er konnte ihn nicht
mehr einholen. Auf der Mitte des Weges angekommen, öffnete der
Königssohn eine der Pomeranzen und ein wunderschönes Fräulein
sprang daraus hervor, das bereit war, sich mit ihm zu vermählen.
Dieses frug ihn, ob er ihm Wasser geben könne, und als es hörte,
dass er dies nicht könne, war es alsogleich todt. Der Königssohn
zog ein Stück weiter, öffnete die zweite Pomeranze, und es geschah
dasselbe. Er kam endlich zu einer Quelle, versah sieh mit Wasser
und öffnete die dritte Pomeranze, und auch aus dieser sprang ein
wunderschönes Fräulein, bereit sich mit ihm zu vermählen. Es be-
gehrte Wasser, der Königssohn reichte es ihm und als er es sich
gewonnen sah, schlug er ihm vor, an der Quelle zu warten, während
er einen Wagen zu holen ginge. Während das Fräulein nun wartete
geschah es, dass eine Negerinn dahin kam, um ihre Krüge zu füllen,
und als sie vom Wasser wiedergespiegelt die Schönheit jenes Fräu-
leins sah, glaubte sie ihr eigenes Bild darin zu erblicken , zerbrach
die Krüge und sprach : „So gut bekam mir das Gehen nach der
Quelle!" (tan bonita ir ä la fuente!). Aber bald sah sie, dass sie
sich getäuscht habe, als sie jenes Fräulein gewahr wurde, das auf
einer Bank sass und sich die Haare kämmte. Die Negerinn bot sich
an, es zu kämmen. Die Dame nahm es an und die Verrätherinn stiess
ihr eine grosse Nadel (parpal) in den Kopf, wodurch sie in eine
Taube verwandelt wurde. Der Königssohn kehrte zurück und als er
die Negerinn traf, sagte er zu ihr :„So schwarz bist du geworden?"
Diese aber antwortete: „Die Sonne und der Nachthimmel verdun-
keln sich oft (El sol y el sereno vuelven morenoj." Sie steigen in
den Wagen, kommen zum Palaste, die Diener eilen herbei um ihnen
beim Aussteigen zu helfen , sie begeben sich nach dem Säle und
setzen sich zum Mahle. Die Taube war ihnen gefolgt, immer den
Königssohn umkreisend und als sie sie beim Mahle sah, nahm sie
etwas aus dem Teller des Königssohnes und beschmutzte das Haupt
der Negerinn (iba . . . ü ensuciarse en la cabeza de la negra). Der
Königssohn fragte: Woher mag wohl dieses Täubchen gekommen
56 Ferdinand Wolf.
sein? Hat es etwa einer der Diener gebracht?" — Wiewohl ihn nnu
die Negerinn abzuhalten suchte, es zu berühren, so liebkoste er es
doch, indem er mit der Hand ihm das Köpfchen streichelte. Da fand
er die grosse Nadel, zog sie heraus und alsbald bekam die Princessinn
ihre erste Gestalt wieder und der Königssohn erkannte sie sogleich.
Das Fräulein erzählte ihm Alles was vorgefallen, und er rief die
Diener, damit sie die Negerinn ergriffen und zum Tode führten *)-
V. Die jüngste Tochter (La hija menor). Ein Vater
liebkoste einst seine drei Töchter und fragte sie, wie sie ihn liebten.
Die Älteste antwortete : „Wie das Brod.« Die mittlere sagte: „Wie
den Wein." Die jüngste aber erwiederte: „Wie das Salz in den
Speisen." Über die letzte Antwort erzürnte der Vater so sehr, dass
er seinen Dienern befahl, die jüngste Tochter zu tödten und dass sie
zum Beweise der Ausführung seines Befehles ihm ein mit ihrem Blute
angefülltes Fläschchen und ihre grösste Zehe (el dedo mas grueso
de supicj bringen sollten. Den Dienern erbarmte aber das Mädchen,
sie schlachteten ein Huhn und füllten mit dessen Blute das Fläsch-
chen, schnitten dem Mädchen die grösste Zehe ab und Hessen sie
in der Einsamkeit. Sie kam zu einem Bauernhause, wo man sie als
Gänsehirtinn aufnahm, ihr Holzschuhe und ein Kleid aus Holzspänen
gab, und sie nur die „Hölzerne" (la fustots) nannte. Aber sie be-
wahrte im Verborgenen ein Kleid von Gold und Canarien-Getieder
und zog es an, wenn sie im Walde die Gänse hütete. Diese ver-
riethen es ihren Herrenleuten indem sie schnatterten: „Oc, oc, oc,
die Hölzerne hat ein Kleid von Gold." Aber die Leute wollten es
nicht glauben, und wann ein Salzkörnchen ins Feuer fiel und spra-
zelte, sagten sie: „Das ist eine Laus von der Hölzernen". Da trafs
sich, dass ein Königssohn durch diesen Wald zog und sich in das
Mädchen verlieble. Sie feierten ein grosses Hochzeitsfest und luden
dazu ihren Vater ein, dem sie eine köstliche Speise vorsetzten in der
aber das Salz fehlte. Sie frugen ihn, wie ihm die Speise geschmeckt
habe, und er antwortete, vortrefflich, nur hat das Salz darin gefehlt,
was doch das Beste ist. Da gab sich ihm die Braut zu erkennen und
ihr Vater verschwand (se desvaneciü) 2).
1) Offenbar aus derselben Quelle mit Basile*s: „Le tre cetre" (Pentamerone, V, 9) ;
aber mit anderem Schlüsse.
2) Man erkennt auch in diesem fragmentarischen Märchen noch einige der Grundziige
des im Deutschen viel vollständiger erhaltenen: „Die Gänsehirtinn am Brunnen".
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromnn/.en. J) j
VI. Aschenputtel (La cenicienta). Ein Weib hatte eine
Tochter; diese behandelte sie sehr übel. Eines Tages Hessen sie sie
zu Hause mit einem Sack Hirse und einem andern mit weissen kleinen
Bohnen (judiasj um sie auszuhülsen. Sie begann bitterlich zu
weinen und wusste sich nicht zu helfen. Da Hess sich eine Heilige
zu ihr herab und trug sie was ihr fehle. Das Mädchen erklärte es
ihr; die Heilige aber sagte, sie wolle seine Arbeit verrichten und gab
ihm eine Mandel. Diese brach das Mädchen auf und fand darin ein
Kleid von Gold. Das zog es an und lief damit in die Messe, kehrte
jedoch sehr schnell nach Hause zurück, damit die Stiefmutter und
Stiefschwester es nicht überraschen. Der Königssohn der auch in
der Kirche war, wurde von des Mädchens Schönheit sehr einge-
nommen; aber Niemand konnte ihm Auskunft über dieses Mädchen
geben. Die Stiefmutter und die Schwester kamen nach Hause und
sprachen: „Ach wärst du mit uns in der Messe gewesen, was für
eine wunderschöne Dame hättest du dort gesehen !" Das Mädchen
aber entgegnete : „Vielleicht wohl, vielleicht auch nicht, vielleicht
war ich 's selbst (Tal vez st, tat vez no, tal vez era yo)." — Sie
riefen darauf: „Schweig, schweig Aschenputtel, Feuerfächer (ceu-
drosa, ventafbchsj." — Des andern Tags trugen sie ihr auf, einen
Sack Reis zu reinigen und gingen auf einen Ball (sarao). Das Mäd-
chen begann wieder zu weinen ; aber dieselbe Heilige kam zu ihm
und gab ihm eine Nuss, indem, sie wieder seine Arbeit auf sich nahm.
Das Mädchen erbrach die Nuss und fand darin ein Kleid mit Glöck-
chen (wi rcstido de campanitas, das deutet auf hohes Alter des
Märchens^. Es begab sich auf deo Ball; der Königssohn näherte sich
ihm, tanzte mit dem Mädchen und frug es, wo es her sei. Es ver-
weigerte ihm dies zu sagen und lief schnell fort um von der Stief-
mutter nicht überrascht zu werden. Als die Beiden zu Hause an-
langten, sagten sie zu ihr: „Ach wärst du mit uns gewesen, was
für eine schöne Dame hättest du da gesehen!" — Das Mädchen aber
antwortete: „Vielleicht wohl, vielleicht auch nicht, vielleicht war
ich's seihst." — Worauf sie entgegneten: „Schweig, schweig
Aschenputtel, Feuerfächer!" — Bei der Eile, mit der sie den Ball
verlassen hatte, hatte sie eines ihrer Sehnlichen vergessen; der
(Grimm, Kinder- und Hausmiirehen, 6. Aufl., 1850, Bd. II, >Tr. 179, besonders
S. 4ÄS.)
58 FerdinaudWolf.
Königssohn hob es auf und Iiess verkünden, dass man allen Mädchen
dieses Sehnlichen anprobiren werde um zu erfahren, welchem es
gehöre. So kamen sie durch Aschenputtels Strasse ; ihre Schwester
zeigte sich und probirte das Schühchen , aber da es so ausseror-
dentlich klein war, konnte sie den Fuss nicht hineinbringen. Man
frug nach dem andern Mädchen im Hause, aber sie und ihre Mutter
sagten, es sei unnöthig, dem Aschenputtel den Schuh anzuprobiren.
Da erschien es selbst in dem Kleide mit den Glöckchen, man er-
kannte es und vermählte es mit dem Königssohne 1).
VII. Das jüngste Kind (El hijo menor). Ein Vater und
eine Mutter geriethen in die grössteArmuth und konnten ihre Kinder
nicht mehr ernähren. Der Vater sprach: „Tödten wir sie!" Aber
die Mutter sagte: „Besser ist es noch, wir setzen sie in einem Walde
aus." — Die Kinder schliefen, mit Ausnahme des jüngsten das Alles
mitangehört hatte. Das sprang aus dem Bette und begab sich zum
Giessbache, um sich die Taschen mit blanken Kieselsteinen zu füllen.
Des andern Tages sagten sie den Kindern, dass sie nach Holz gehen
wollten und gaben einem Jeden eine Brodrinde. Die beiden älteren
Kinder gingen voraus, aber das jüngste blieb hinter Vater und Mutter
zurück und bezeichnete im Gehen den Weg indem es die Steine
auswarf. Als die Eltern sie im Walde hatten, Avussten sie es so an-
zustellen, dass sie sich davon schleichen konnten und die Kinder
sich selbst überliessen. Die beiden älteren weinten; aber das jüngste
sprach: „Habt keine Angst, wir linden schon wieder nach Hause,
wir werden uns schon zurecht finden." — Sie gingen den Kiesel-
steinen nach und gelangten nach Hause, wo sie die Mutter trafen die
sich entschuldigte so gut sie konnte. Des andern Tags wurden die
Kinder in einen noch entlegeneren Wald geführt; aber sie fanden
auf dieselbe Weise wieder nach Hause. In der dritten Nacht hatten
die Eltern Verdacht gegen das jüngste Kind gefasst, schlössen die
Thüre der Schlafstube ab und nahmen den Schlüssel zu sich , damit
es nicht aus dem Hause kommen könne. Als sie des andern Morgens
wieder in den Wald zogen, bestreute das jüngste Kind statt mit
Steinen mit Brodkrumen den Weg, indem es die Brodrinde die es
!) Nicht nur mit dem allbekannten, überall verbreiteten Märehen vom „Aschenputtel"
sondern noch mehr mit dem deutschen von „Allerlei Raub" ist diese catalanische
Version verwandt (s. Grimm, a. a. 0. Nr. 21 und 65).
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. h9
mitbekommen, zerbröckelte. Aber die Vögel frassen die Krumen
und die Kinder konnten nun nicht den Weg Dach Hause finden. Sie
blieben die Nacht über auf einer Fichte, um gegen die Wölfe
geschützt zu sein. Von da aus sahen sie ein Licht, sie gingen
darauf zu , kamen zu einem Hause und pochten an dessen Thüre.
Eine Frau öffnete sie ihnen, die sie fragten ob sie sie aufnehmen
wolle. Sie antwortete, dass ihr Mann ein Riese sei und die Kinder
fresse. Die Kinder aber drangen in sie und baten, sie möge sie im
Schranke verstecken. Die Frau gab nach, und schärfte ihnen ein,
dass, wenn sie drei Schlüge auf die Thüre hören würden, sie sich
nicht muksen sollten; aber schon beim Eintritt rief ihr Mann: „Hier
riechts von Christen-Fleisch!" — Die Frau suchte es ihm Anfangs
auszureden: am Ende, aber gestand sie und bat ihn nur bis zur Nacht
der Kinder zu schonen. Der Riese antwortete: „Es mag drum sein."
Die Kinder hörten dies und schliechen sich aus ihrem Schlupfwinkel.
Sie fanden in einem Rette drei Riesenmädchen in rosenrothen Klei-
dern. Die nahmen sie aus dem Rette, schlössen sie in den Schrank
und legten sich in das Rett, indem sie ihre rosenrothen Kleider
anzogen und ihre Rosenkränze aufsetzten. Der Riese aber ging
zum Schranke und frass seine drei Töchterchen. Während dem ent-
flohen die Kinder durch das Fenster; als aber der Riese das Rett
seiner Töchter leer fand , errieth er den ihm gespielten Streich und
machte sich auf die Kinder zu verfolgen, indem er einen Stiefel
anzog mit dem man bei jedem Schritte drei Wegstunden zurücklegte.
Doch wussten die Kinder ihm auszuweichen bis er ermüdete und
einschlief. Da näherte sich ihm das jüngste, zog ihm den Stiefel aus,
und alle drei steckten sich hinein indem sie riefen: „Wach auf, wach
auf, du wirst uns doch nicht mehr einholen." — Der Riese erwachte;
aber sie liefen viel schneller als er. — In der Zwischenzeit hatten
die Eltern der Kinder ihr Loos etwas verbessert und beweinten sie
nun und klagten: „Ach wenn wir doch unsere Kinder wieder haben
könnten!" — Da traten die Kinder ein, ganz vergnügt. Sie verkauften
den Stiefel um einen hohen Preis und waren von nun an reich 1).
*) Der Eingang- dieses Märchens hat gemeinsame Züge mit dem deutschen von i
„Hanse! und Grethel", der Sehluss ist mit dem vom: „Däumling" verwandt
(G r i m m , a. a. O. Nr. 15 und Nr. 37 und 4j).
60 Fördinand Wolf.
VIII. Die schöne S t i e f t o c h t e r (La hermosa hijastra).
Es war einmal eine sehr schöne Frau die eine Stieftochter hatte.
Eines Tages kämmte sie sich und gedachte ihrer Schönheit, da
erschien ihr ein böser Geist (un espiritu maloj und sagte zu ihr, dass
es eine noch schönere als sie gebe , und dies sei ihre Stieftochter.
Voll Neides befahl die Frau ihren Dienern , dass sie das Mädchen
in einem Walde tödten, und zum Beweise des vollzogenen Befehls
ihr ein Fläschchen mit dessen Blut angefüllt bringen sollten. Die
Diener aber erbarmten sich des Mädchens und tödteten an dessen
Stelle einen Hund, füllten mit seinem Blute das Fläschchen und über-
liessen das Mädchen ihrem Schicksal im Walde. Als aber nach acht
Tagen die Frau sich wieder kämmte, nun sich für die schönste hal-
tend, siehe da erscheint der böse Geist ihr abermals und wiederholt,
dass es eine noch schönere gehe, und dies sei ihre Stieftochter.
Die Frau rief sehr erzürnt ihre Diener, befahl ihnen von Neuem
das Mädchen zu tödten und zum Beweis des vollzogenen Befehls das
Fläschchen zugestopft mit einer der grossen Zehen des Mädchens zu
bringen. Die Diener gingen in den Wald, schnitten dem Mädchen
eine grosse Zehe ab; tödteten es aber nicht. Das Mädchen flüchtete
sich nun auf den Gipfel eines Baumes und von da aus sah es , wie
sich aus der Erde ein grosser Stein erhob aus dem vier Männer
herauskamen. Nach einer Weile näherte sich das Mädchen dem Steine
und sprach: „Stein, öffne dich." — Der Stein öffnete sich, und das
Mädchen trat in eine geräumige Höhle in der jene vier Männer wohn-
ten. Es brachte da alles in Ordnung, kehrte aus, flickte die Wäsche,
machte den Tisch zurecht und verliess dann die Höhle. Die vier
Brüder waren darüber sehr erstaunt und verabredeten, dass des
folgenden Tags einer von ihnen zurückbleiben sollte um aufzupassen.
Des andern Tags sah das Mädchen von dem Gipfel seines Baumes
aus, dass blos drei herauskamen; es unterliess dennoch nicht in die
Höhle zu gehen. Es fand den schlafend der aufpassen sollte; und
nachdem es wieder alles in Ordnung gebracht, kämmte es den
Schläfer und begoss ihm die Haare mit wohlriechendem Wasser.
Den nächsten Tag blieb aber ein anderer Bruder zu Hause der nicht
einschlief und das Mädchen überraschte, während es das Haus in
Ordnung brachte. Er machte ihm nun den Vorschlag bei ihnen zu
bleiben , und sie wollten es wie eine Schwester ansehen und zu
ihrer Hauswirthinn machen. Das Mädchen willigte ein und verbrachte
Proben portugiesischer und catalaniacher Volksromanzen. ß 1
eine geraume Zeit da sehr zufrieden und sehr geliebt von seinen
neuen Brüdern. Als es aber eines Tages eben mit Nähen sieh
beschäftigte, kam auch zu ihr der böse Geist in der Gestalt eines
alten Weibes und trug ihm einen Ring zum Kaufe an. Das Mädchen
lehnte es ab; um so mehr drang nun die Alte in es, ihr einen
Pantoffel abzukaufen, sodass es endlich darauf einging. Kaum hatte es
aber diesen angezogen, so blieb es verzaubert und als die vier
Brüder heimkamen, fanden sie es wie todt. Sie machten einen Sarg aus
Krystall, legten das Mädchen hinein und warfen ihn in den Strom. In
diesem fischten täglich zwei Jünglinge, und der jüngere rief einst,
er habe einen sehr schweren Gegenstand bekommen. Beide strengten
sich an, ihn herauszuziehen, in der Meinung dass es ein sehr grosser
Fisch sei , und endlicJi gelang es dem älteren. Als sie nun den
krystallenen Sarg sahen, trugen sie ihn nach Hause, wo sie ihn in
einem Gemach einsperrten , in das sie Niemand hineinliessen. Eines
Tags Hessen sie es jedoch offen stehen: ihre Mutter trat ein, erblickte
den Sarg und das Mädchen das darinnen lag, und als sie den schö-
nen Pantoffel bemerkte, zog sie ihn dem Mädchen vom Fusse, und
da wurde dieses wieder lebendig. Die beiden Brüder kamen nach
Hause, und die Mutter warf ihnen nun vor, dass sie ihr den Eintritt
verweigert hätten ; doch sie freuten sich sehr als sie das Mädchen
lebend sahen und der ältere vermählte sich mit ihm *) .
IX. Der entzauberte Königs söhn (El liijo del rey,
desencantado) . Ein Vater hatte drei Töchter die er eines Tages
bevor er auf den Markt ging, fragte, was er einer jeden mitbringen
solle. Die älteste sagte, ein Kleid von Gold; die mittlere, ein Kleid
von Silber; und die jüngste die er am wenigsten liebte, antwortete,
dass sie dem Königssohne vermählt werden wolle. Alle riefen da:
„Seht mal die Rotznase (miren la mocosilla) , die sich mit dem
Königssohn vermählen will!" — Da befahl der Vater seinen Dienern,
seine jüngste Tochter zu tödten; doch diese erbarmten sich ihrer
und überliessen sie im Wald ihrem Schicksale. Als sie sich nun
im Wald allein sah, weinte sie; es überkam sie die Nacht und als
sie überlegte wo sie Schutz suchen solle, sah sie zwei Lichterchen
die sich ihr näherten, und eine grosse Hand (manota) die sie zu sich
winkte; nach einigem Zögern näherte sie sich ganz furchtsam, und
*) In diesen allerdings rohen Umrissen ist doch noch unser schönes Märchen vom
„Schneewittchen" (Grimm, a. a. 0. Nr. 53) zu erkennen.
62 Ferdinand Wolf.
traf mit einem Wolf zusammen; als ihr aber dieser kein Leid that,
entschloss sie sich ihm zu folgen, und sie kamen zu einer dunklen Höhle
in welcher ein Loch war durch das sie krochen, und dann sich in
einem schönen Palaste befanden, bedeckt mit Gold und Edelsteinen.
Ein Tisch präsentirte sich vor dem Mädchen und eine Hand zeigte
sich , die ihm mit den schmackhaftesten Speisen aufwartete. Nach
der Mahlzeit ergriff dieselbe Hand eine Fackel und leuchtete ihm
nach der Schlafstätte. Des andern Tags beim Erwachen fand sie
neben dem Bette ein neues Kleid, und als sie sich angekleidet hatte,
beschloss sie den Palast zu besichtigen. Sie kam zu einer Thüre mit
einer Überschrift die sagte: „Alles kannst du besichtigen nur nicht
den grünen Schrank;" aber das reizte gerade ihre Neugierde ihn
zu öffnen, und sie fand darin einen grossen Papagei (Loro) der
zu ihr sprach: „Pack dich, pack dich, Gänschen, und gib den
Hühnern Kleie (anda, anda, bachillera, d dar salvado d las gal-
linas)." — Da schlug sie die Thüre zu und that den ganzen Tag nichts
als weinen, bis mit einbrechender Nacht jener Wolf mit den Lichter-
chen wieder zu ihr kam und sie fragte, warum sie so traurig sei
und ob sie den grünen Schrank geöffnet habe. Sie verneinte es zwar;
aber der Wolf drang in sie und endlich musste sie es ihm gestehen.
Da sagte ihr der Wolf: „Gut denn, merk auf, öffne ihn morgen
wieder, und wenn der Papagei zu dir spricht: Pack dich, pack dich,
Gänschen, und gib den Hühnern Kleie , so antworte ihm : „Schweig,
schweig, kleiner Papagei (lorito), denn aus deiner Haut wird man
ein Kleidchen und aus deinen Federn ein Kisschen machen für die
Wiege unseres Kleinen." — Sie that also, und der Papagei zog sich
zurück. Dann sagte der Wolf zu dem Mädchen: „Nun merk wohl
auf, heute Nacht mache ein tüchtiges Feuer an , schlachte mich
und wirf mich hinein." — Das Mädchen erwiderte, es könne ihm
kein Leid anthun. Aber der Wolf bestand darauf, dass es thue wie er
gesagt; dass es jedoch vorher noch ihm den Leib öffne, aus welchem
eine Taube, und aus dieser ein Ei herauskommen werde, und wann
es seinen Körper ins Feuer geworfen haben werde, solle es dieses
Ei zerbrechen. Das Mädchen that ganz so wie er gesagt, und da
stieg aus dem Ei der Königssohn der verzaubert worden war, und
mit diesem vermählte sich das Mädchen *).
1) Auch in diesem Märchen sind noch einige Züge des deutschen vom „Löweneckerchen"
(Grimm, a. a. 0. Nr. 88) zu erkennen.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen.
63
Herr Mild theilt noch einige Märchen -Bruchstücke mit, die
aber so dürftig sind, und so wenig bemerkenswerthe Züge enthalten,
dass ich nur auf eines verweisen will, in dem sich noch eine Version
unseres Märchens vom „Vogel Greif" (Grimm, Ausgabe von 1850,
Nr. 165) erkennen lässt.
Bevor ich Proben von den portugiesischen und catalanischen
Romanzen mittheile, will ich noch jene zusammenstellen, deren
castilische Originale sich vollständig erhalten haben, von denen es
daher genügt, die ihnen eigentümlichen Züge zu bemerken.
Die den Romanzen - Anfängen vorgesetzten Numern beziehen
sich auf deren Abdruck in der von mir und Herrn Prof. Konrad Hof-
mann herausgegebenen Primaoera y Flor de romances.
151) A cazar va el caballero. Im Portugiesischen: „0 ca-
cador"; ganz abgedruckt in der Primavera.
191) A caza va el emperador. — Fm Portugiesischen: „Dom
Claros d'Alem-Mar", oder „Dom Carlos", sehr volksmässig
und in vielen Versionen. Der Eingang weicht von der castilischen
Romanze ab; die portugiesische beginnt nämlich mit dem Schwur des
Dom Claros, Claralinda müsse sein werden trotz ihrer Klugheit. Er
schleicht sich daher als Weberinn verkleidet bei ihr ein und weiss sie
dahin zu bringen, ihn über Nacht in ihrer eigenen Schlafkammer zu
beherbergen (in diesem Zuge hat die portug. Version viele Ähnlich-
keit mit den dänischen und schwedischen Balladen von Habor und
Signil; vgl. Dumeril, Hist. de la poesie scandinave, pag. 330).
Er beruhigt am Morgen die Geliebte, indem er sich zu erkennen gibt
und sich mit ihr zu vermählen verspricht. Doch verlässt er sie. Nach
einiger Zeit werden die Folgen dieses nächtlichen Besuches sichtbar
und Claralinda's Vater ruft acht Monate darnach ihr einst über Tische
zu; „Claralinda, Claralinda, wie unanständig nimmst du dich in dieser
Kleidung aus ! " Sie will allerdings die Schuld davon auf das schlecht
gemachte Kleid schieben; aber der Vater lässt bewährte Meister der
Schneiderkunst kommen, und sie fällen einstimmig das Urtheil, dass
die Mache des Kleides nicht die Schuld daran trage i). Da verurtheilt
1) Aos sette para oito mezes
o pae a mesa a jantar :
— Claralinda, Claralinda,
que feio e o teu trajar ! —
64
Ferdinand Wolf.
der Vater sie, des andern Morgens verbrannt zu werden. Sie findet
nun einen Pagen der die Nachricht von ihrer Nolh dein Grafen
Claros bringt u. s. w., wie im Castilischen ; doch ist die Erkennungs-
scene zwischen ihr und dem als Mönch verkleideten Grafen viel aus-
führlicher und von graziöser Naivetät *) ; und auch der Schluss ist
hier etwas anders, indem der Graf die Infantinn aus dem Kerker ent-
führt. — Im Catalanischen hat sich ebenfalls eine Version von dieser
Romanze erhalten, wovon Herr Milä aber nur ein Bruchstück mit-
theilt (pag. 122)2).
— Nao diga tal, seuhorpae;
ninguem Ihe oija tal fallar;
näo sou eu, e da vasquinha
que e mal feita e da mau ar. —
!) Deixaram-n*o ao bom do frade
para a infanta confessar.
Mal se eile viu so com ella,
de amores Ihe foi fallar:
— Venha ca, minha meniiia,
que a quero confessar;
no primeiro mandamento
um beijinho nie hade dar. —
— Näo permitia Deus do ceo
nem os sanctos do altar!
onde Claros pös a bocca
näo nie hade um frade beijar.
— Venha ca, minha menina,
que a quero confessar:
Mandou chamar alfaiates
para se desinganar :
disseram ums para os outros :
— Näo tem falta a saia tal.
no segundo mandamento
um abrajo me hade dar. —
— Vai-te na nia hora, frade.
que a mim näo hasde chegar;
que a mim uiiiica chegou hörnern,
se näo — inda mal pezar!
senäo so esse Dom Claros.
Dom Claros o d'Alem - mar,
que, por meus grandes peccados,
por eile vou a queimar! —
Dom Claros que tal ouvin.
näo pode o riso occultar.
— Por esse riso que dais,
sois Dom Claros d'AIem - mar . . .
2) Da das catalanische Bruchstück dieser so berühmten Romanze doch ein paar eigen-
thiimliche Züge enthält, so will ich es hersetzen :
El rey se n'estaba en taula — y sa filla esta mirant.
Er lässt sie in einen Thurm sperren:
Si ya Chan baixada a' veurer — caballers y nobles damas,
hi son anadas tambe — las monjas de Santa Clara.
Com las monjas son tan bonas — pape y ploma li donaban,
y ab sang de la seba llengua — ella si ha escrita una carta.
Quant la carta estingue feta — im ausseilet ne passaba.
— No'in dirias aussellet — ahont tenias la Jornada?
— Jornada de quinse lleguas — de Don Carlos en la casa.
— No'm dirias aussellet — si m'hi vols porta'una carta?
— Be pot ser, linda senyora, — que ya per voste volaba. —
Quant ne va arribar alli — troba al compte que dinaba :
— Den lo guart, lo senyor compte — aqui li porto una carta. —
AI Ilegir el sobrescrit — cau en terra y s'en desmaya.
— Nos desmayi, el senyor comte — no te de que desmayarse,
que n'esta ya ences el foch — per cremar la bona infanta. —
Der Graf eilt nun in das Kloster, nimmt zwei Verkleidungen mit, wovon er eine
anzieht und mit der anderen die Infantinn rettet.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 65
173) Asentado estd Gaif'eros. — Im Portug. : „Dom Gaife-
ros", alt und volksmässig, im Ganzen mit der castilisehen Romanze
zusammenstimmend; doch fehlen im Portug. schon einige schöne
Züge, wie der Monolog Gaiferos' auf seiner Fahrt nach Sansuena, die
Rede der Melisenda vor der Flucht und das Zusammentreffen mit
Montesinos.
170) A tan alta va la luna. — Im Portug.: „0 conde d'AUe-
manha" (Allamanha, oder Äramenha , nach einigen Lesarten; im
Castilisehen führt die Romanze auch den Titel : Romance de Valdo-
vinos, wiewohl der Name im Texte nicht vorkommt und er \mv „el
buen conde aleman" genannt wird) ; eine der volksmässigsten und
verhreitetsten in Portugal, und noch vollständiger erhalten als im
Castilisehen; so ist *es hier klarer motivirt, dass die Infantinn den
Buhlen ihrer Mutter nur desshalb beim Vater anklagt, ihr seihst
gewaltsam ihre Ehre haben rauben zu wollen , um die Schande ihrer
Mutter zu verschweigen und doch den Schuldigen strafen zu machen;
und während die castilische Romanze mit dem Urtheil des Vaters
abbricht, lässt die portugiesische Mutter und Tochter dessen Vollzug
mit ansehen und dabei ein Zweigespräch halten, worin sie sich gegen-
seitig den Tod des von beiden geliebten Verführers vorwerfen. Aber
gerade von diesem Schlüsse gibt es im Portugiesischen zahlreiche
Varianten oder vielmehr mitunter sehr modernisirte Versionen. Übri-
gens ist es bemerkenswerth, dass auch im Portug. gerade an dersel-
ben Stelle die Assonanz variirt, wie im Castilisehen; wie es über-
haupt ein sehr merkwürdiger Zug ist, dass die portug. Versionen in
der Regel die Assonanz - Vocale ihrer castilisehen Origi-
nale beibehalten haben.
155) Caballero, si d Francia ides; — und 156) Caballero de
lejas tierras ; — im Portug. : „Bella Infanta", ist die vollstän-
digste Version und wohl nach der ältesten Grundlage; denn hier wird
die Sage noch in die Zeit der Kreuzzüge verlegt. In ihrem Carlen
sitzt die Infantinn. ihre Haare mit einem Goldkamm kämmend, und
sieht sehnsüchtig nach dem Meere; sieht eine stattliche Flotte landen
und den Capitän sich ihr nahen. Sie fragt ihn, ob er im heiligen
Lande (na terra que Dem pisava) ihren Gemahl getroffen hübe. Er
verlangt die Angabe der Merkmale, woran er zu erkennen sei. Sie
gibt als solche an: sein weisses Ross mit goldenem Sattel, und auf
der Spitze seiner Lanze trug er das Kreuzeszeichen (a cruz de
Sitzb. <1. phil.-hist. Cl. XX. Bd. I. Hit. 5
66 FerdinandWolf.
Christo levava.) Daran glaubt er zu erkennen, dass ihr Gemahl den
Heldentod gestorben sei, den er gerächt habe. Als sie nun in Klagen
über ihr Witthum und ihre drei verwaisten und unvermählten Töchter
ausbricht, fragt er sie, was sie dem gäbe, der ihn ihr hieher brächte.
Sie bietet Gold und Silber und all ihren Reichthum. Das verschmäht
er. Eben so vergeblich bietet sie ihm ihre drei Mühlen, wovon die
eine Gewürznelken, die andere Zimmt, die dritte köstliche Ölfrucht
mahlt1); die Ziegel ihres Daches, die von Gold und Elfenbein sind2);
endlich selbst ihre drei Töchter, die eine solle ihm die Schuhe,
die andere die Kleider reichen, und die Schönste von allen seine
Bettgenossinn sein3). Er will nur sie selbst als Preis dafür neh-
men. Da erwidert sie entrüstet: „Einen Ritter der durch solch Begeh-
ren seine niedrige Herkunft verräth (que tarn villäo e de st), lass ich
durch meine Knechte (villoes) ergreifen und an dem Schweife meines
Pferdes um meinen Garten schleifen. Vasallen, meine Vasallen kommt
mir nun zu Hilfe!" — Worauf er sich zu erkennen gibt, sprechend:
„Dieses Rings mit sieben Steinen, den ich mit dir einst theilte, wo
ist dess andere Hälfte? denn die meine, sieh sie hier!" Da ruft sie:
„So viel Jahre hab' ich verweint, so viel Angst zitternd erlitten!
Möge Gott dir es verzeihen, Gemahl, dass du mich dem Tode nahe
gebracht!" — Diese Romanze ist, wie Herr Garrett sagt, die ver-
breitetste unter dem Volke in Portugal und fast ganz in dramatischem
Dialog abgefasst. Ausser vielen Varianten gibt er eine etwas moder-
nisirte Version aus der Provinz Minho. — Die ihr zu Grunde liegende
Idee ist aber auch bei den meisten Nationen sehr volksmässig und in
1) — De tres moinhts que teuho,
todos tres t'os dera a ti ;
um moe o cravo e a cannella,
outro moe do gerzerli :
ricca farinha que fazem !
Tomara - os elrei p'ra si.
2) — As telhas do meu telhado,
que säo de oiro e marfim.
3) — De tres filhas que eu tenho,
todas tres te dera a ti:
uma para te calcar,
outra para te vestir,
a mais formosa de todas
para comtigo dormir.
Probeu portugiesischer und catalaniacher Volksromanzen. 67
Volksliedern besungen worden. So gibt Herr Milä zwei catalanische
Versionen davon: „Biancaflor" und „La vuelta del pere-
grino." In der ersteren ist Blancaflor's Gemahl nach Frankreich
gezogen, kehrt zur See zurück und von der am Hafen sehnsüchtig
Harrenden nicht erkannt und nach ihrem Gatten befragt, sagt er ihr,
er habe ihn gesehen, und bringe ihr von ihm den Befehl, sich einen
anderen Geliebten zu suchen, denn man habe ihm die Tochter des
Königs von Frankreich zur Gemahlinn gegeben. Worauf sie sehr
schön erwidert: „Möge es dem wohlbekommen, der sie genommen, und
übel dem, der sie ihm gegeben (ben haja qui presa l'ha — mal haja
qui li ha donadaj", sieben Jahre habe sie als glücklich Vermählte
(dona bencasada) auf ihn gewartet, sieben andere wolle sie als ver-
lassenes Witfräulein (viudeta enviudada) noch ferner auf ihn warten ;
kehre er auch nach diesen sieben Jahren nicht zu ihr zurück, so
wolle sie Nonne werden. Hierauf folgt die Erkennungsscene i). — In
der anderen catalanischen Version: „Die Heimkehr des Pilgers"
ist der Eingang reizend: Eine schöne Frau schläft im Schatten einer
Fichte , der Schatten aber verkürzt sich {las ombretas er an alias)
und die Sonne schien ihr auf den Busen. Ein Bitter kommt vorbei,
will sie nicht wecken; wirft ihr einen Veilchenkranz auf den Busen.
Die Veilchen waren frisch, die Frau erwacht. Sie fragt, wer ist der
Ritter der meinen Schlaf gestört? Er antwortet: Bin kein Ritter, bin
ein armer Pilger. — Sie fragt: was es Neues in dem Lande gebe
woher er gekommen? — Er antwortet: die Neuigkeit die ich bringe,
Frau, ein Pilger ist dort gestorben. — Auf ihre Fragen nach dessen
Aussehen beschreibt er ihn; sie erkennt darin ihren Mann, und will,
ihn nochmals zu sehen, dahin ziehen. Er stellt ihr vor, es sei wohl
hundert Meilen weit, und der Weg sehr schlecht. Sie besteht aber
darauf, und sollte es auch ihr Leben kosten. Da gibt er sich ihr zu
erkennen. — Schon in dieser Version ist die Sage aus den höheren,
königlichen und fürstlichen Kreisen in niederere verpflanzt; noch
mehr ist dies in den offenbar späteren Volksliedern der Engländer,
!) Im Original sehr naiv:
Allavors lo seu marit — li va don:!' un' abrasada.
— Perdoni lo meu marit — si he faltat en cap paraula.
— Perdoni la meha esposa — del temps que ;! mi m'aguardaba.
— Perdoni lo meu marit — si n'he estada mal criada.
— Ben criada, Blancallor, — de hou pare y bona mare.
5"
68
F e r (1 i u a u d Wolf.
Holländer und Deutschen der Fall, die damit verwandt sind (s. die
englische Ballade vom grauen Bruder, in: „Altschott, und alt-
engl. Volkshalladen." Bearbeitet von Doenniges, S. 147; —
Willems, Oude Vlaemsche Liederen, S. 219; — und Simrok,
Deutsche Volkslieder Nr. 84 und 85. — Vgl. auch Oskar Schade,
Volkslieder aus Thüringen, im Weimar. Jahrb. Bd. III, Nr. 4,
„Geprüfte Treue"). —
154) De Francia partiö la nina. Die portugiesische Version :
A infeiticada steht dem wahrscheinlich französischen Originale
noch näher als die castilische. Auf ein solches Original deutet der
Eingang der castilischen Romanze, der Schauplatz heider Versionen,
die Nähe von Paris, der an die Leichtfertigkeit der Fabliaux
streifende Ton und der in der portugiesischen noch mehr hervor-
tretende Feenglaube. Durch den Schluss worin der Ritter und das
Fräulein sich als Geschwister erkennen, nähert sich die portugie-
sische der asturischen Version: Don ßueso (Du ran, Romancero
general, 2a ed. Tom. I. pag. LXV.), und im Portugiesischen gibt es
davon mehrere Versionen die diese Sage mit der oben erwähnten:
Nr. 151, verschmelzen.
En el mes era de Abril; die oben erwähnte, castilisch und por-
tugiesisch abgefasste Romanze aus Gil Vicente's Don Duardos
(und, weil nicht eigentlich volksmässig, nicht in die Primavera auf-
genommen). Herr Garrett hat die portugies. Version nach Oliveira's
Aufzeichnung gegeben, der sie aus einer Handschrift des 16. Jahr-
hunderts genommen haben will. Sie stimmt fast wörtlich mit der
castilischen in Gil Vicente's Stück, und die in die spanischen Roman-
ceros übergegangene castilische Version hat nur ein paar unbedeu-
tende beschreibende Interpolationen.
138) Galiarda, Galiarda; und 139) Esta noche , cab aller os ;
— mit dem in diesen beiden Romanzen behandelten Stoffe ist der
einer portugiesischen verwandt, welche Herr Garrett aus einigen
Versionen aus Tras-os-montes unter dem Titel: „Albaninha"
herausgegeben hat. Sie ist fast ganz in dramatischem Dialog
abgefasst. — „Albaninha, Albaninha," ruft der Ritter, der in den
castilischen Romanzen Florencios heisst, hier aber nicht genannt
wird, „Tochter des Grafen Alvar, könnt ich dich nur drei Stunden
zu meinem Willen haben!" — Darauf antwortet sie doppelsinnig:
„Wenig Zeit sind wohl drei Stunden, doch d'rauf folgt das
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 69
Rechnungabstatten *)." Er schwört hoch und theuer, diese Sitte
unedler Knechte (villoes) sei ihm fremd; möge man ihn mit diesem,
oder einem noch schärfer schneidenden Schwerte zerhauen, wenn er
eine Dame die sich ihm vertraut habe, dem Gespötte preisgebe (me
forgabarj. Doch kaum hat der Morgen gegraut, spricht er auf öffent-
lichem Spaziergange zu den drei ßrüdern Albaninha's, Arm in Arm
mit ihnen lustwandelnd: „Diese Nacht, ihr Ritter, wisst, hab ich
der Jagd obgelegen; in meinem Leben habe ich keine so vergnügte
Nacht zugehracht. Es war ein gar feines Häschen, habe nie eines
solche Sprünge machen sehen; nach drei Stunden scharfen Jagens
konnte ich es noch nicht ermüden." — Da sagten die Brüder zu ein-
ander: Das ist 'ne lust'ge Weis1 zu spotten! geht es etwa auf unsre
Weiber? oder zielt er auf unsre Schwestern?" — Der Jüngste
aber, klugen Sinnes, sagte: „Merkt ihr nicht, dass es Albaninha
ist, die der Verräther zum Gespötte machen will?" Da zogen sich
die drei bei Seite und beriethen sich; die beiden älteren sprachen:
„Sollen wir sie tödten?" — Doch der jüngste fragte dagegen: „Sol-
len wir sie nicht vermählen?" — „Ja! " riefen da alle, und die Aus-
steuer die sie zu bekommen hat, wir wollen sie ihr auszahlen." —
Sie gingen zu Albaninha und fanden sie in Vorbereitung zum Hoch-
zeitsfesle (de voda a forum achar) ; zwei Dienerinnen kleideten sie
an, zwei machten ihren Kopfputz zurecht. Sie redeten sie an: „Alba-
ninha, Albaninha, Tochter des Grafen Alvar! Den Bart deines Vaters,
des Grafen, wie gut wusstest du ihn in Ehren zu halten! " — Drauf
sie:,, Den Bart meines Vaters, des Grafen, trachtet ihr ihn in Ehren
zu halten; zahlt mir nur aus meine Aussteuer; denn nun geh ich,
mich zu vermählen." —
185 a) En los campos de Alventosa ; — im Portugies. „Dom
Beltrao." Hier fehlt der, wohl aus der Romanze von Gaiferos in
der castilischen eingeschaltete Monolog des seinen Sohn aufsu-
chenden Vaters, statt dessen ein Gespräch zwischen ihm und Hirten
bei denen er nach dem Sohne fragt, und zur Antwort erhält, dass
sie ihn nicht gesehen haben. Die Zeichen die er dem Mauren von
seinem Sohne gibt, sind im Portugies. etwas abweichend von denen
l) — POUCO tempo sao (res lioras,
mas vi'in depois o contar.
Contar heisst: Rechnung ablegen und erzählen.
70 Ferdinand Wolf.
in der castilischen Romanze1)» und den merkwürdigen Zusatz am
Schlüsse der portugiesischen habe ich bereits in der Primavera
mitgetheilt.
161) Levantöse Gerineldo. — Im Portugies. „Reginaldo,"
oder nach anderen Versionen: „Generaldo," „Girinaldo" und „Egi-
naldo," auch mit dem Beisatze „o atrevido" 3). Die meisten portu-
gies. Versionen davon stimmen im Wesentlichen mit der älteren casti-
lischen, der aber Eingang und Schluss fehlt; den Eingang hat die
jüngere castilische Version gemeinsam mit der portugiesischen; unter
der letzteren haben aber die aus der Provinz von Ribatejo vor dem
Schlüsse eine Episode eingeschoben, die ihnen eigenthümlich ist und
sich auch durch andere Assonanz unterscheidet. Reginaldo wird näm-
lich von dem Vater der Infantum, der sich nicht entschliessen kann,
das Todesurtheil seiner Vasallen an ihm vollziehen zu lassen, einst-
weilen in einen Tburm eingesperrt. Nach Jahr und Tag besucht ihn
seine Mutter, bricht in Klagen über sein und ihr Schicksal aus und
bittet ihn, ihr noch zum Tröste das Lied vorzusingen, d;is sein Vater
in jener St. Johannisnacht sang, in der auch er ein Gefangener wurde;
auch der König hört Reginaldo's Gesang mit an , und er klingt ihm
so bezaubernd wie Engel- oder Sirenensang. „Nicht die Engel im
Himmel, nicht die Sirenen im Meere singen also," ruft die Infantinn,
„sondern der Ärmste den ihr zum Tode verurtheilt habt." — Da
widerruft der König das Urtheil, und gibt ihn seiner Tochter zum
Gemahl3). — Man sieht, dass auch die Katastrophe der portu-
l) — Brancas säo as suas armas,
o cavallo tremedal.
Na ponta de sua lanca
levava um branco sendal,
que lifo bordou sua daina
bordado a ponto real.
2) Dass er unter diesem Beinamen sogar sprichwörtlich geworden sei, habe ich an einer
Stelle von Lope de Vega's „Comedia de la reina Dona Maria" nachge-
wiesen (s. Sitzungsber. Bd. XVI, S. 261).
3) Da diese Episode, wenn auch vielleicht eine spätere Interpolation , doch sehr schön
ist, so will ich sie im Originale hersetzen:
Ja o mettem n'uma torre, Veio a mae de Reginaldo
ja o väo incarcerar. o seu filho a visitar:
Mas anno e dia e passado, — Filho, quando te pari
e a sentenca por dar. com tanta dor e pezar,
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen.
71
giesischen Romanzen bei weitem schöner und einfacher ist, als die
abenteuerlieh verbalhornte der jüngeren castilischen , inderderEin-
fluss der italienischen Rittergedichte unverkennbar ist.
190) Media noche era por Mio. — Im Portugies. „Clara-
linda;" gibt das castilische Original nur in dürftigen Umrissen
Mieder, wiewohl in lebendigem Dialog und mit anmuthiger Natürlich-
keit. Der Hauptnachdruck ist hier auf die indiscrete Zuträgerei des
Angebers (der hier ein Page des Königs ist) und dessen Bestrafung
gelegt, so dass selbst die einfachste Version mit der Epimythe
schliesst:
E ninguem mais n esta cörte
se atreva a mexericar.
era um dia como este,
teu pae estava a expirar.
Eu eo"as lagrymas dos olhos,
filho, te estava a lavar:
eabellos d'esta cabeca
com elle3 te fui limpar.
E teu pae ja na agonia,
(jue me estava a incommendar :
emquanto fosses piqueno
de bom insino te dar,
e depois que fosses grantle
a bom senhor te intregar.
Ai de mim, triste viuva,
que te näo soube criar !
A elrei te dei por amo,
que melhor näo pude aehar:
tu vais dormir co"a infanta
de teu senhor natural !
Perdeste a cabeja, filho,
que elrei t'a manda cortar!
Ai! raeu filho. antes que morras,
quero ouvir o teu cantar.
— Como beide eu cantar, mi madre,
se me sinto ja finar?
— Canta, meu (ilhinho, canta
para haver niinha bencao,
que me estou lembrando agora
de teu pae n'esta prisäo.
Canta-me o que eile cantava
Man vergleiche damit die unten mitzuthei
des Gesanges."
na noite de San'Joäo;
que tantas vezes m'o ouviste
cantar c'o meu coraeäo.
— Um dia antes do dia
que e dia de San'Joäo,
me incerraram n'estas grades
para fazer penacäo.
E aqui estou, pobre coitado,
mettido n1 esta prisäo,
que näo sei quando o sol nasce,
quando a lua faz seräo.
De suas varandas altas
elrei estava a escutar:
ja se vai onde a princeza,
pela mäo a foi buscar :
— Anda ouvir, 6 minha filha ,
este tarn lindo cantar,
que ou säo os anjos no ceo,
ou as sereias no mar.
— Näo säo os anjos no ceo,
nem as sereias no mar,
mas o triste sein Ventura
a quem mandais degollar.
— Pois ja revogo a sentenca
e ja o mando soltar;
prende-o tu, infanta, agora,
pois comtigo bade casar.
ende catalanische Romanze: „Die Macht
72 Ferdinand Wolf.
131) Mi padre era de Ronda; im Portugies. „0 captivo."
Diese bedeutend modernere portugiesische Nachbildung ist allerdings
schon so verändert, dass sich nur aus einzelnen, aber wörtlich
stimmenden Stellen noch das castilische Original erkennen lässt, das
Herrn Garrett entgangen ist , wiewohl auch ihm viele Castilianismen
in der Sprache aufgefallen sind. Der Anfang der portugies. Version
stimmt noch am meisten mit der älteren castilischen (der Eingang in
der von Timoneda gegebenen, um das Benehmen des Gefangenen
gegen seine Herrinn zu motiviren, fehlt auch in der portugies.), wie-
wohl gerade hier die Modernisirung recht kenntlich hervortritt, denn
der Christen-Sclave wird hier sogar zu einem „Hamburger" gemacht:
Eu vinha do mar de Hamburgo ,
oder nach einer anderen Lesart:
meu pae era de Hamburgo,
minha mae de Hamburgo era.
Er wird zwar von Mauren geraubt, aber an einen Juden ver-
kauft auf dem Markte von Säle. Dieser behandelt ihn eben so hart
wie der moro perro in der castilischen Romanze, was fast mit den
Worten derselben erzählt wird ; aber die „buena ama," hier die
„patroa bella," ist die Tochter des Juden, die sich in ihn verliebt
hat, und von da an weicht die portugies. Version gänzlich von der
castilischen ab. „Die schöne Juden-Tochter," fährt hier der Chri-
sten - Sclave in seiner Erzählung fort, „gab mir von dem weissen
Brode das sie selbst ass, gab mir alles was ich wünschte, und mehr
als ich je mir zu wünschen erlaubt hätte: denn in der Jüdinn Armen
weinte ich — doch nicht um sie. Sie sprach dann zu mir: — Weine
nicht, Christ, zieh heim nach deinem Lande. — Wie soll ich heim-
ziehen, Herrinn, fehlt es mir doch an Gelde. — Brauchst du ein
Pferd, geb ich dir meine Stutte; bedarfst du eines Schiffes, will ich
dir meine Caravelle geben. — Nicht um ein Pferd handelt's sich, nicht
darum, schöne Herrinn, denn Mazagao ist weit von hier, und erst in
Ceuta herrscht die Sprache Castiliens *). Noch brauch' ich ein Schiff,
denn ich will nicht entfliehen; da würde ich ja deinen Vater des
!) Que estii longe Mazagao,
Ceuta tem voz de Castella.
Darnach ist diese Version jedesfalls erst nach der Mitte des 17. Jahrhunderts ent-
standen.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. i o
Geldes berauben, das er für mich gegeben hat. — So nimm denn diesen
ßeutel Christ, gewirkt aus gelber Seide; meine Mutter, als sie starb,
setzte mich zu dessen Herrinn ein. Gehe hin, zahle damit dein Löse-
geld; und den Frauen deines Landes erzähle dann von der Liebe
der «liidinn, und wie viel die mehr werth ist, als ihre Liebe.
Bald !) darauf kam der Patron nach Hause. — Ihr kommt zur
guten Stunde, Patron; für euer Kommen sei Gott gelobt; denn so
eben erhielt ich Botschaft, dass mein Lösegeld angelangt sei. —
Christ, Christ, was sagest du! Bedenk dich; denn das ist ja wirres
Zeug2). Wer sollte dir so viel Geld gegeben haben, um dich los-
kaufen zu können? — Zwei Schwestern gewannen es für mich, eine
andere hat es für mich bewahrt3), und ein Engel des Himmels
brachte es mir, ein Engel, von Gott gesandt. — Sprich, Christ, sage
mir, willst du nicht deinen Glauben abschwören? Denn dann will ich
dich zu meinem Eidam machen, zum Herrn all1 meiner Habe. —
Nimmer will ich Jude werden, nimmer ein Türken-Renegat, und nie
will ich Herr sein über all' deine Habe; denn ich trage in meiner
Brust Jesus, den gekreuzigten. —
— Was*) hast du, Tochter Rachel? Sprich, geliebte Tochter,
ist es um des verfluchten Christen willen, dass du also unglücklich
wurdest? — Mein Vater, lass den Christen, lass ihn; nein, er schul-
det mir nichts; wohl schuldet er mir die ßlüthe meines Körpers;
aber freiwillig ward sie ihm gegeben 5).
Da Hess er (der Vater) ihr einen Thurm erbauen aus köstlichem
Gestein (de pedraria lavrada) ; damit die Mauren nicht sprächen: —
Die Jüdinn ist entehrt. — „Laute, meine Laute (violla), hier magst
du hängen bleiben; denn dort zieht fort meine Liebe, durch jene
salzige Fluth !" —
l) liier varürt die Assonanz.
'•*) Olha que e inuito cruzado.
•') Outra m'o tinha guardado;
aber fast scheint mir die dazu gegebene Variante besser:
que por mim stau a soldado,
die sieh für mich um Lohn verdingt haben.
4) Wieder Assonanz -Wechsel.
5) Mi ii pae, deixe o christäo, deixe,
que eile nüo nie deve nada:
deve-ine a flor de inen COrpO ;
nias de vontade fui dada.
74 Ferdinand Wolf.
130) Moro, si vas d la Espana; — im Portugiesischen:
„Rain ha e captiva"; stimmt nicht nur im Wesentlichen des Inhalts
mit der castilischen Romanze, sondern hat auch mehrere Stellen mit
ihr wörtlich gemein und, was besonders zu beachten ist, dieselbe
Assonanz (in i- a). Von einzelnen abweichenden Zügen sind bemer-
kenswerth: dass der Graf der auch im Portugiesischen: „conde
Flores" heisst, auf der Rückkehr seiner Pilgerfahrt nach Santiago
in Galicien von den Mauren erschlagen wird, die, um ihrer Königinn
eine Christen-Sclavinn zu bringen, zu Meer und zu Lande Raubzüge
unternommen hatten, und nun die Gräfinn gefangen nehmen. Dass die
Königinn eineChristinn zurSclavinn haben wollte, wird hier durch ihre
Furcht motivirt, die Maurinnen könnten ihr Zaubertränke beibringen *).
Als die Gräfinn sich zur Küchenmagd erniedrigt sieht, ruft sie aus:
„Ich empfange die Schlüssel, Herrinn, zu meinem grossen Unglück;
einst eine angetraute Gräfinn (condessa jurada), nun eine Küchen-
magd." In der Anrede an das Kind das sie für das ihre hält, wodurch
sie von der Königinn erkannt wird, sagt sie hier sehr schön: „Töchter-
chen meines Herzens, womit soll ich dich taufen? Meiner Augen
Thränen mögen dir als geweihtes Wasser dienen! Nennen will ich
dich Rranca Rosa, ßranca Flor d' Alexandria; denn so nannte man
einst eine Schwester die ich hatte; Mauren nahmen sie gefangen am
Tage der ßlumen-Ostern (Paschoa florida, Pfingsten^, als sie Rosen
brach im Rosengarten den mein Vater hatte". — Die Königinn, als
sie dies hört, bricht in Weinen aus, und ruft ihren Dienerinnen zu:
„Dienerinnen, meine Dienerinnen, haltet mir jene Sclavinn in Fähren
(regalem-me e'sta captivaj; ja, wäre ich nicht ans ßett gefesselt,
würde ich sie selbst bedienen (eu c que a serviriaj".
Nachdem sie sich jene Worte von der Sclavinn hat wiederholen
lassen, sagt sie zu ihr: „Wenn du nun deine Schwester sähest, wür-
dest du sie wieder erkennen?" — „Ja", antwortete diese, sähe ich
sie nackt bis zum Gürtel (da cintura para cimaj; denn unter der
linken ßrust hatte sie ein dunkles Mal". — Da ruft die Königinn:
„Weh über mich, Ärmste, weh mir Unglücklichen, ich hiess mir eine
Sclavinn suchen und sie brachten mir meine Schwester!"
l) Que me näo fio de moiras
näo me dem feiticaria.
Proben portugiesischer und eatalaniseher Volksromanzen. 7 O
Der nun folgende Schluss ist der portugiesischen Version eigen-
tümlich; denn sie fährt nun also fort:
„Kaum waren darnach drei Tage verflossen, so starb die Tochter
derKöniginn; darob weinte dieGräfinnFlores, da sie sie für ihr eigenes
Kind hielt; darob weinte noch mehr die Mutter, da ihr Herz ihr die
Wahrheit verrieth. Da gestanden auch die Dienerinnen, wie die Kinder
in der That vertauscht worden waren. Die Mutter, den Sohn im
Arme, dachte vor Freude zu sterben. Kaum waren drei Stunden dar-
nach verflossen , sprach die eine (Schwester) zur anderen: „Lass
uns nach Portugal heimkehren, nach dem Lande das Gott gesegnet". —
Sie rafften vielen Reichthum zusammen an Gold und edlem Gestein.
In einer gesegneten Nacht entflohen sie aus dem Maurenlande. Sie
landeten in dem ihren, in der Gegend von Sancta Maria1); begaben
sich dann in ein Kloster und legten an einem Tage das Gelübde ab".
Herr Mila, der die castilische Romanze aus mündlicher Über-
lieferung zuerst bekannt gemacht hat, gibt auch eine catalanische
über denselben Gegenstand. Sie weicht viel bedeutender von der
castilischen ab. Der Jäger der Königinn von der Türkei (reina de
Turquia) jagte einst Tag und Nacht ohne auf Wild zu treffen; da
kam er in einen Baumgarten , in dem war ein rother Brustbeerbaum
(ginjolerj und unter dem sass eine schöne Dame, gekleidet in Gold-
und Silberstoff und mit einem Hemd von holländischer Leinwand, das
mehr als hundert Ducaten werth war. Die brachte er als Gefangene
der Königinn. Als diese ihre Schönheit sah, befahl sie ihren Dienern,
sie lebendig zu verbrennen (la cremin vivaj: — „Denn wenn der
König sie sähe, könnte er sich in sie verlieben; dann würde sie die
Königinn, ich die Sclavinn". — Darauf antwortet ihr eine Alte: „Köni-
ginn, ich will euch einen Rath geben, von den wenigen die ich noch
habe; heisst sie am Meeresstrand die Wäsche waschen, während sie
dabei hin und her geht, wird sie ihre weisse Farbe verlieren." —
Doch schön ging sie hin ; noch schöner kam sie zurück. Der König hiess
sie nun bleiben, um seinen Töchtern Unterhaltung zu machen. Eines
Tages wiegte sie die kleinste, dabei sprechend: — „Ach Tochter,
meine Tochter, hätte ich dich doch in meiner Heimat, ich Hesse dich
*) Terra de Saneta Maria hiess einst der District zwischen Douro und Vouga, der nun
„Terra da Feira" heisst. Das lässt auf ein hohes Alter der Abfassung dieser Version
schliessen.
76 Ferdinand Wolf.
dann taufen von einem Frater, und gäbe dir den Namen: Dona Isabel de
Castilla; denn icb hatte eine Schwester die diesen Namen führte". —
Die Königinn lag im Bette, und hörte sie diese Worte sprechen. Sie
sagt zum Könige: — „Herr und König, habt ihr gehört, was so eben
die Sclavinn sagte?" — „Sollte dich das ärgern, Königinn, will ich
soffleich sie verbrennen lassen". — „Das werdet ihr wohl bleiben
lassen; denn ihr würdet mich dadurch tödten. Spricht sie wahr, so
haben wir Schwestern uns gefunden, und wir waren zusammen im
Palaste, im Palaste von Castilien". —
Mit dieser allerdings schon sehr abgeschwächten Version sind
verwandt die schwedischen, dänischen und schottischen Balladen von
„Schön Anna;" — die niederländische: „Schön Adelheid"; und die
deutsche: „Die wiedergefundene Königstochter" (s. Arwidson,
Svenska Fornsänger, Tbl. I, S.291, Nr. 42; — Hoffmann, Nieder-
ländische Volkslieder, Nr. 11, 2. Ausgabe, S. 46; — Simrock,
a. a. 0. Nr. 20). Mit Recht hat Herr Du-Meril (I. c. pag. 335)
bemerkt, dass alle diese Versionen aus einer gemeinsamen Quelle
geflossen sind, für welche man, als die älteste bis jetzt bekannte
Bearbeitung, wohl das Lai del Freisne ansehen kann.
163) Retraida estd la infanta; — die portugiesische Version:
„Conde Yanno" (aber auch hier unter dem Namen: „Conde
Alarcos" oder „Anardos" bekannt, und nur in den von der spani-
schen Grenze entferntesten Gegenden „Yanno" oder auch: „Dom
Du arte" und „Conde Alberto" genannt) ist ganz in der Prima-
vera mitgetheilt.
Auch eine catalanische Version existirt davon , die Herr M i 1 ä
unter dem Titel: „El conde Fioris" veröffentlicht hat. Sie ist gegen
die anderen eine farblose Skizze; enthält aber doch ein paar bemer-
kenswerthe eigenthümliche Züge. Als nämlich der Graf, mit des
Königs Befehl seine Gemahlinn zu tödten, tief erschüttert heimgekehrt
ist, und sich endlich mit ihr zu Bette begeben hat, dringt sie noch-
mals in ihn, ihr den Grund seines tiefen Schmerzes (agonla) der ihn
nicht schlafen lasse, zu sagen. Da antwortet er ihr: — „Gräfinn, der
König trug mir auf, ihm lebendiges Blut zu bringen (que U portes yo
sang viva). — Gehe denn in den Stall hinab und schlachte das gute
Pferd das dort ist. — Weib, das kann nicht sein; denn der König
würd' es erkennen. Der König hat mir befohlen, dass wir uns trennen,
dass eines von uns beiden sterben müsse und wir also getrennt
Proben portugiesischer und cataluniscliei* Volksromanzen, i t
würden. — Graf, für dich will ich sterben, Graf, für dich möcht ich
sterben. Steige die Treppe hinab und bringe jenes feine Gewebe
(telas finas) das ich wirkte als ich noch Mädchen war; und in dieses
Gewebe eingehüllt ist ein Büschel Kraut das helfen wird (y en mitiv
d" aquellas telas — rihiha un brot de medicina; — das ist wohl eine
Andeutung, dass sie schon als Braut sich auf eine solche Katastrophe
vorbereitet hatte?). — Während er ihr damit den Tod gibt, kommt
ein Page des Königs an, der ihm zuruft: „Graf, tödte dein Weib,
wenn du es noch nicht getödtet hast". —
Endlich hat Herr Garrett eine portugiesische Bearbeitung der
Romanzen von Valdovinos und dem Marques de Mantua mit-
getheilt, die eine eigentliche Xäcara, eine zur dramatischen
Aufführung bestimmte enkyklische Romanze ist, und in welcher
die Handlung und der dramatische Dialog nur durch einen kurzen
erzählenden Prolog eingeleitet werden. Sonst sind die Beden der
Handelnden immer überschrieben: „Falla o Marquez", diz Valdo-
vinos u. s. w. Selbst Bühnenweisungen kommen vor, z. B. Vetn o ermi-
tdo e o pagem; aqui expira Valdovinos e diz o Marquez; aqui
levam a Valdovinos d ermida. E entra o imperador, o conde Gana-
ldo, e diz o imperador ; aqui se vai Ganaldo; e veem dois embai-
xadores mandados pelo marques de Mantua, chamados Dom Bei-
tritt e duque Amao: e virao vestidos de dö: e diz Beltrdo ; ir-se-ha
Dorn Reinaldos, e vem a imperatriz vestida de dö, c diz o Impera-
dor; aqui se vai o imperador ; e vird Reinaldos com o algoz, o
quäl trard a cabeca de Dom Carloto, e diz Reinaldos etc. Daher
führt diese Xacara auch in den fliegenden Blättern manchmal den
Titel: „Tragedia". Sie ist ganz in Redondillas und Quintillas abge-
fasst. Herr Garrett setzt ihre Abfassung spätestens in das 15. Jahr-
hundert, jedesfalls liegen ihr aber die berühmten castilischen Romanzen
zu Grunde.
Die nachstellenden Proben portugiesischer und catalanischer
Romanzen machen durchaus keinen Anspruch, für eigentlich
dichterische Übersetzungen zu gelten; ich habe mich nur bestrebt
— meiner geringen Reproductionskraft und technischen Fertigkeit
wohl bewusst — die Originale Vers für Vers mit möglicher Wort-
treue wiederzugeben. Daher habe ich auch die in der Regel durch-
78 Ferdinand Wolf.
gehende Assonanz, deren schwierige Durchführung ohnehin zu ihrer
geringen Vernehmbarkeit im Deutschen in keinem Verhältnisse steht,
nur in ein paar Stücken ausnahmsweise beobachtet; statt deren die
in unseren Volksliedern gebräuchliche Reimweise anzuwenden, schien
mir eine grössere Entstellung des nationalen Charakters als die gänz-
liche Reimlosigkeit. Ich bin zufrieden, wenn diese Versuche die Schön-
heiten der Originale so wenig verdunkelt hätten, dass Dichter in
der vollen Bedeutung des Wortes dadurch angeregt würden, sie
nachzudichten, und wenn meine Vorarbeit ihnen dabei von
einigem Nutzen sein könnte.
Bei jeder Romanze habe ich den Titel und die Anfangsverse im
Originale beigefügt; letztere sind zur Angabe der Assonanz (wenn
sie wechselt wird dies am betreffenden Orte stets bemerkt) und be-
sonders bei den catalanischen die, wie gesagt, nicht alle im gewöhn-
lichen spanischen Romanzenmaass abgefasst sind, auch zur Bezeich-
nung des Metrums und des Rhythmus nothwendig und werden meinem
Versuche sie nachzubilden, zur Controle und Berichtigung dienen.
I. Portugiesische Romanzen.
1. Dom Aleixo *)•
„Waren unser einst drei Schwestern,
glichen alle drei aufs Haar uns ;
unterwies die ein1 die andYe
in dem Kochen, in dem Sticken".
Da begab die jüngst1 von ihnen
eines Nachts sich , zum Vergnügen,
mit zwei angebrannten Fackeln
unter die Orangen-Bäume.
Trug die Kleider eines Pagen
den man ihr getödtet hatte;
*) Titel gleichlautend.
Nos eramos tres irmans,
todas tres de um egualhar.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 79
seinen golcTnen Dolch im Gürtel,
seine Stiefel, reich betresset,
wandelt sie hinab die Strasse,
wandelt dann hinauf sie wieder.
— Von den Schwestern die hier weilen,
welche möcht' ich wohl zur Liebsten? —
„Doch wir drinnen, auf dem Söller,
lachen nur ob ihren Scherzen."
Ausgelöscht hat sie die Fackeln,
und der Mond ist aufgegangen;
als sie an dem Thor vorbeikam,
wendet abwärts sie die Augen,
sieht da einen Eremiten
sitzend auf der Bank am Eingang.
— Was ist euer Thun hier, Vater,
euer Thun an diesem Orte? —
Es erhob der Eremit sich,
ohne Antwort dVauf zu geben ....
Steht vor ihr in solcher Höhe,
hoch, so hoch, fast zum erschrecken.
— Bist du etwa gar der Böse,
will ich dich beschworen haben.
Bist du eine arme Seele,
will ich dich erlösen helfen.
— Weder bin ich jener Böse
den du zu beschwören hättest;
noch die Seele eines Sünders
die du zu erlösen brauchtest.
Bin der Geist des Dom Aleixo
Der zu warnen dich gekommen:
ihrer sieben auf dich lauern
um die Eck', an jenem Thore,
schwören bei dem heiTgen Gotte
dich des Lebens zu berauben.
— Nun so schwör1 ich auch bei Gott denn,
schwöre bei der heil'gen Jungfrau 4)
l) Hier wechselt die Assonanz.
80 Ferdinand Wolf.
wären ihrer nochmals sieben,
würcT ich nicht zurück mich wenden.
Holla, holla, hört ihr Ritter!
Lasst nicht Feigheit euch verhindern
greifet frisch nach eu'ren Schwertern !
Nach dem meinen werd' ich greifen.
Sollte Einer keines haben,
will ich meines gern ihm leihen;
denn mit meinem gold'nen Dolch hier
werd1 ich schon mein Leben schützen. -
Kaum sind diese Wort' gesprochen,
so enthüllt der Eremit sich,
schliesset sie in seine Arme
mit dem grössten Ungestüme. . . .
Da den Dolch von blankem Golde
den sie trug in ihrem Gürtel,
bohrt so tief sie in die Brust ihm,
dass er todtwund niederstürzte.
— Wer erschlug dich, Dom Alcixo?
Wer erschlug dich, o mein Lehen?
— Du erschlugst mich, meine Herrinn,
Niemand sonst vermocht es hätte.
Heb" dich weg, Dona Maria,
wohl beschuht und schlecht gekleidet,
magst du noch so sehr nun weinen,
deine Seele bleibt verloren.
2. Silvaninha *).
Durch des Schlosses ob're Hallen
wandelt einstens Silvaninha,
eine gold'ne Laut1 im Arme;
o wie trefflich d'rauf sie spielte,
und wenn trefflich d'rauf sie spielte^
sang sie schöner noch Romanzen.
') Titel gleichlautend.
Passeiava-se Sylvana
pelo eorredor acinia.
Proben portugiesischer und catalaniseher Vrolksronianzen. ö 1
Ihr zur Seite schritt der Vater,
immer heft'ger in sie dringend:
— Wirst, Silvana, nie du 's wagen
eine Nacht mein Bett zu theilen?
— Sei es eine, mögen's zwei sein,
sei's, mein Vater, gar alltäglich;
aber — jene Pein der Hölle,
wer wird sie für mich erleiden?
— Das werd' ich, werd1 ich, Silvana,
dulde ja schon jetzt sie täglich. —
Es entfernte sich Silvana,
tief betrübt war sie gegangen;
traf zusamm mit ihrer Mutter
an dem Eingang der Capelle.
— Was ist dir, mein Kind Silvana,
sprich, was fehlt dir, meine Tochter?
— Hätt1 ich nimmer solchen Vater,
war' ich nimmer seine Tochter!
Denn verbot'ne Lieb1 er fordert
von mir täglich, meine Mutter.
— Kehre, Tochter, kehr1 nach Hause,
in ein weisses Hemd dich kleide,
dessen Kragen sei von Goldstoff,
feinem Silber dessen Ärmel l).
Sollst dann in mein Bett dich legen,
und in deinem will ich liegen ....
Möge dann die heil'ge Jungfrau
uns beschützen, Sanct Maria! —
*) Veste uma alva camisa,
que o cabecäo seja de oiro,
as mang'as de prata fina.
Über diese aus dem Oriente stammende und durch das ganze Mittelalter dauernde
Sitte, Hemden aus Seide mit Gold- und Silberstickereien am Kragen, den Schössen
und Ärmeln zu tragen, deren auch in den catalanischen Romanzen erwähnt wird,
vgl. Francisque Michel, Recherche« sur le commerce, la fabrication et l'usage
des etofl'es de soie, d'or et d'argent etc. Paris 18154, in 4to, Tome II, pag\ 2Ü4 — 2.'»6.
Sitzh. d. phil.-hist. Cl. XX. Bd. I. Ilft. G
82
Ferdinand W o I f.
Um die mitternächt'ge Stunde
hat ihr Vater sie umfangen.
— Hätte ich gewusst Silvana,
dass dir Keuschheit fremd geworden '),
hält' für dich die Pein der Hölle
nie zu dulden ich verheissen.
— Die du hältst, ist nicht Silvana;
die ist's die sie dir geboren,
die gebar auch Dom Alardos,
deiner Reiter kühnen Führer,
die gebar auch den Dom Pedro,
den Gebieter deines Fussvolks,
die gebar auch die Silvana
um die buhlt ihr eig'ner Vater.
— Weh dem eine Tochter worden,
die verräth den eig'nen Vater!
— Weh auch der ein Vater worden,
der entehrt die eig'ne Tochter! —
In den Thurm schliesst er die Tochter,
dass nicht Sonn', nicht Mond sie schaute;
gaben ihr das Brod nach Unzen .
und das Wasser karg bemessen.
Als nun sieben Jahr verflossen,
sehet da den Thurm sich öffnen. . . .
Und es zeiget sich Silvana
an dem Fenster in der Höhe 3);
trifft ihr Blick auf ihre Mutter
die an einem Kissen nähte.
— Seid gegrüsset , meine Mutter,
meine vielgeliebte Mutter!
Bitte euch beim Gott des Himmels
gebt mir einen Krug voll Wassers ;
denn das Leben mir entfliehet,
denn die Seele mir verschmachtet.
*) Se eu soubera, Sylvana,
que estavas tarn eorrompida.
2) Assonanz -Wechsel.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksroman/.en. 83
— Gab1 es wahrlich dir nur, Tochter,
hätt1 ich's erst durch Salz verdorben.
Leb' seit mehr denn sieben Jahren
nur um dich in schlechter Ehe.
Denn dein Vater hat geschworen
bei dem Kreuze seines Schwertes :
wer zuerst dir Wasser reiche
soll darob den Kopf verlieren. —
Und es zeiget sich Silvana
an noch höh'rem Fenster wieder;
trifft ihr Blick auf ihre Brüder,
die mit Rohrspiel sich vergnügten.
— Seid gegrüsset, meine Brüder,
meine vielgeliebten Brüder!
Bitte euch beim Gott des Himmels
gebt mir einen Krug voll Wassers;
denn das Leben mir entfliehet,
denn die Seele mir verschmachtet.
— Gäben wahrlich dir's nur. Schwester,
hätten wir 's zuvor vergiftet;
denn der Vater hat geschworen
bei dem Kreuze seines Schwertes:
wer zuerst dir Wasser reiche,
soll darob den Kopf verlieren. —
Und es zeiget sich Silvana
an noch höh'rem Fenster wieder;
trifft ihr Blick auf ihren Vater
der im Wein die Freude suchte.
— Seid gegrüsset, o mein Vater,
o mein vielgeliebter Vater!
Bitte euch beim Gott des Himmels,
gebt mir einen Krug voll Wassers;
denn das Leben mir entfliehet,
denn die Seele mir verschmachtet.
Und von heute an und für der
will ich eure Buhlinn werden.
84 Ferdinand Wolf.
— Auf, herbei, ihr meine Pagen !
Diener all1 ihr meines Hauses!
Bringt, ihr Eine, Krug' von Golde,
bringt, ihr And're, Krug' von Silber.
Wer zuerst ans Ziel gekommen,
hat ein Rittergut gewonnen ;
wer der zweite aber nachkommt,
hat sich um den Kopf verkürzet. —
Wohl beeilten sich die Diener; . .
doch — Silvana hat geendet
in der heifgen Jungfrau Armen ;
ihre Leiche trugen Engel.
— Fahre wohl, o Silvaninha!
Silvaninha meiner Seele!
Deine Seele fährt zum Himmel,
und die meine bleibt verloren 1).
1) Diese Romanze ist eine der verbreitetsten und ältesten in Portugal; dass sie schon
in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in portugiesischer Sprache verbreitet war
und für eine alte galt, beweist eine Stelle in Francisco Manuel de Mello's
(f 1GG6) Comedia: „Fidalgo aprendiz", Jornada segunda;
B r i t e s.
Entoay, por meu prazer,
qualquer coisa.
Gil.
Sem guitarra ?
B rites.
Eylla; tomay.
Gil.
„Passeava-se Sylvana
por um corredor um dia "
B r i t es.
Ay senhor! eu taao queria
senäo lettra castelhana.
Gil.
Cantarey algaravia,
se mandays; pois que quereis?
B r i t e s.
Uma lettra nova quero
Herr M i I a' gibt (pag. 122 — 123) das nachstehende Bruchstück einer catalanisehen
Romanze, das offenbar einer Version dieser portugiesischen angehört, und bemerkt
dazu, dass auch „versiones semi-castellanas" in Catalonien davon verbreitet seien.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 85
3. Bernal-Francez *).
— Wer pocht an an meine Pforte?
Wer poclit an, wer fordert Einlass?
— Bin Bernal-Francez, Senhora,
eure Pforte, Liebste, Öffnet.
— Ach! Bernal-Francez, wenn's der ist,
öffne gern ich ihm die Pforte;
isfs jedoch ein andrer Bitter,
mag er sich von hinnen trollen. —
„Als ich trat aus meiner Kammer,
hab' die Schlepp' ich mir zerrissen:
als ich niederstieg die Treppe,
fiel der Schuh mir von dem Fusse;
Das Bruchstück beginnt mit der Einsperrung der Tochter in den Thurm :
Pera menjar li donaren — sols tonyina y carn salada,
y per beure li donaren — aigua de Ia mar salada.
Passa un dia, passan dos, — passa tota Ia semana.
Ella de set que tenia — treu el cap a' la ventana,
y de aili sas germanas veu — qu'en coixinet d'or brodaban.
— ^ Germanas, las ma germanas, — si'm voleu da' un canti d'aigua?
Que ia boca se m'aseca, — la garganta se m'abrasa.
— No la beuras, tu inaldita, — no la beuras, tu malvada!
Si creguessis al teu pare, — no t'en faltaria d'aigua. —
Margarita torna a dins, — tristeta y desconsolada.
Ya baixa un angel del cel, — y li obra un'altra ventana,
y de all i en veu los germans — que ab pilotas d'or jugaban.
— i 0 germans, los meu germans — si'm voleu da' un canti d'aigua ? etc.
Margarita torna a dins, — tristeta y desconsolada.
Ya'n baixa un angel del cel, — que li obra un'altra ventana,
que de alli veu a' son pare — que ab forquilla d'or menjaba.
— Ay pare, lo meu bon pare, — si'm voleu da un canti de aigua? — etc.
— Prompte, prompte, eis mens criats, — prompte a' darli un canti d'aigua,
que'l que primer sera alli, — te una Corona guanyada. —
Quant son al cap de l'escala, — Margarita ya linaba.
Eis angels li feyan llum, — la Verge l'amortellaba,
y en el cuarto del seil pare — eis dimonis y ballaban.
Herr fiarrett hat die obige Romanze in seinem schon 1828 herausgegebenen Gedichte :
„Adozinda" bearbeitet, obwohl er damals ebenfalls nur Bruchstücke davon kannte.
*) Titel gleichlautend (wortlich: Bernhard der Franzose).
Quem bäte a' minha porta,
quem bäte, oh! quem \sta alli ?
86
Ferdinand Wolf.
bei dem Offnen meiner Pforte
hat man mir das Licht verlöschet. . .
Fasste ihn dann an den Händen,
führte ihn nach meinem Garten,
machte ihm ein Bett von Rosen
und ein Kissen von Jasminen,
wusch ihn mit dem Thau der Blumen,
bettet1 ihn an meiner Seite
— Mitternacht ist schon vorüber,
und du bleibst von mir gewendet!
Was ist dir, mein Allerliebster?
Hab' dich nimmer so gesehen !
Wenn du meine Diener fürchtest,
werden nicht hieher jetzt kommen;
wenn du meine Brüder fürchtest,
sind nicht hier zu dieser Stunde;
zitterst du vor meinem Gatten,
der zog fort in ferne Lande,
fiel der Mauren List zum Opfer;
dieses ist mir kund geworden.
— Fürchte nimmer deine Brüder,
weiss, dass sie auf meiner Seite;
fürchte auch nicht deine Diener
die mich mehr als dich noch lieben ;
zitt're nicht vor deinem Gatten,
hab' vor ihm wohl nie gezittert
Zitt're du nun, falsche Schlange!
Er ist's, den du hast zur Seite.
— Ach! wenn du es bist, mein Gatte,
lieb1 dich mehr ja als mich selber! ....
Ach! des Traums, des bösen Traumes
den ich eben hier erst hatte! ....
Lass uns aufsteht, o mein Gatte!
Lass mich geh'n mich anzukleiden,
— Schweig', o schweig', du falsche Schlange;
denn du täuschest mich nicht also.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 87
Für dein Aufsteh'n kommt kein Morgen;
ich werd1 sorgen dich zu kleiden:
werd' 'nen rothen Rock dir geben,
und von Cannesin die Jacke,
und zum Halsband eine Klinge.
Hast es selbst gewollt nicht anders. —
— Lass mich jetzt von hinnen ziehen;
denn , gehüllt in meinen Mantel,
will ich meine Dame sehen,
sehen, ob sie mein gedenke.
— Deine Liebste, mein Gebieter,
todt ist sie, hab's selbst gesehen,
und was sich an ihr mir zeigte,
will ich jetzo dir beschreiben:
trug 'nen Rock von rother Farbe,
und von Carmesin die Jacke,
und zum Halsband eine Klinge;
alles nur für dich aus Liebe.
Und die Glocken die ihr thronten,
zog sie ja mit eig'nen Händen ;
hab' die Bahr' die sie getragen,
selbst mit schwarzem Tuch verhangen ;
und der Sarg der sie umschlossen,
war von Elfenbein und Golde.
Das Geleit ihr gaben Mönche,
ihre Schar war zahl- und endlos ;
folgten ihr wohl sieben Grafen,
und der Ritter mehr als tausend.
Weinten sehr die Fräulein alle;
doch die Pagen gingen lachend.
Haben sie zur Erd bestattet
in der Kirche Sanct Aegidi. —
„Kaum sind diese Wort' gesprochen,
stürzt' wie todt ich hin zu Boden.
Erst nach vieler Stunden Ablauf
kehrte mir Bewusstsein wieder.
88 Ferdinand Wolf.
Rafft' mich auf zu ihrem Grabe,
dort wollt' ich dem Tod mich weihen. .
— Öffne dich, o heil'ges Grab, mir!
Berge mich an deiner Seite! —
Da aus düst'rer Grabestiefe
hört' ich eine Stimm' entsteigen :
— Lebe, lebe du mein Ritter,
lebe; — ich bin ja gestorben !
Hab die Augen die dich schauten
schon mit Erde überdecket,
und der Mund der dich geküsset,
hat Geschmack und Reiz verloren.
Sieh', das Haar mit dem du spieltest,
liegt zerfallen mir zur Seite,
und der Arm der dich umfangen,
sieh' , ist nichts mehr als Gebeine.
Lebe, lebe du mein Ritter;
denn verlebt hab' ich mein Leben!
Und das Weib dem du vermählst dich,
lass, wie mich, es Anna heissen:
wenn du dann zu dir es rufest,
wirst du meiner dich erinnern.
Sage ihr von uns'rem Lieben,
dass ihr Warnung sei mein Ende;
und wenn sie dir Töchter brächte,
besser sie als mich dann lenke :
sich um Männer nicht verderben,
wie ich mich um dich verdorben ')•
1) Auch diese Romanze ist nach Herrn Garretfs Zeugniss, und noch mehr nach inneren
Kriterien, eine der volkstümlichsten und ältesten; aber er hatte darin geirrt, sie für
das ausschliessende Eigenthum der Portugiesen zu halten, und hat nun seihst bemerkt,
dass der zweite Theil derselben (von dem Verse an: „Lass mich jetzt von hinnen
ziehen") sich auch in einer castilischen Version erhalten hat, die anfängt:
En los tiempos que me vi
(s. Dur an, Romancero general. 2a ed. Tomo I, pag. 158; — und meine Abhandlung
über die Prager Sammlung, a. a. O. S. 276, wo ich ein abweichendes Bruchstück der-
selben aus einer Glosse mitgetheilt habe). Diese Version ist allerdings viel jünger
und schon kiuislmiissig überarbeitet. Aber Herr M i 1 a' , dem von der portugiesischen
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 89
4. Der gefangene Graf, oder Gottes Gericht J)-
Ein Gefangner ist der Graf nun,
ein Gefang'ner, wohl verschlossen;
nicht gefangen wegen Raubes,
nicht, weil er gemordet hätte :
weil ein Fräulein er geschändet,
die gepilgert nach Santiago;
g'nügt ihm nicht sie zu entehren,
gab sie Preis auch seinem Diener.
Überfiel sie im Gebirge,
ganz entfernt von jedem Wohnort;
Hess für todt sie dorten liegen,
ohne Mitleid, ohne Pflegung.
Und sie weint' drei Tag1, drei Nächte,
hätte wohl geweint noch länger,
wäre Gott bereit nicht immer
Schutz den Leidenden zu bringen.
Romanze nur einige Verse bekannt geworden sind, theilt auch (pag. 116 — 117) eine
catalanische Version aus dem Volksmunde mit, unter dem Titel : „La condesa".
Doch enthält auch sie nur den zweiten Theil und die ursprüngliche Sage schon so ver-
dunkelt, dass es nicht der Buhle, sondern der Gemahl der Gräfinn ist, der von seinem
Diener ihren nicht gewaltsamen Tod erführt , zu ihrem Grabe eilt und von ihrem
Geiste angeredet wird. Sie beschwört ihn, sich wieder zu vermählen bei seiner Liebe
zu ihr (casat per l'amor de mi), seine Gattinn dann so zu achten, wie er sie geachtet
habe; die Kinder aber, die er mit ihr gehabt, in ein Kloster zu bringen, damit sie
nicht erfahren, was es heisse in der Welt leben (no aprenguin, el mon que cosa vol
dir), und nur im Gebete mögen sie ihr Leben zubringen (fes-los dir lo Pare-Nostre
— el vespre y el demati).
Die erwähnte moderne Überarbeitung des Herrn G a rre tt trägt den Titel des
Originales, und ist von John Adamson zweimal ins Englische und von Isidoro
G il ins Spanische übersetzt worden, welche Übersetzungen auch im Romanceiro
wieder abgedruckt sind (die ältere englische nach Garrett's Bearbeitung im ersten
Theil, und die spätere nebst der spanischen als Anhang der Volksromanze im zweiten).
Die Original-Romanze hat Herr Garrett nun vollständig nach Oliveira's Aufzeichnung
und nach mündlicher Überlieferung mitgetheilt. — Vgl. dazu : T a 1 v j (Frau R o b i n-
son), Versuch einer geschichtlichen Charakteristik der Volkslieder germanischer
Nationen. Leipzig 1840, 8, S., 141.
*) Justica de Dens, nach der Version von Beiralta, welche die vollständigste ist;
nach der von Tras-os-montes : „0 C o n de p r e s o".
Preso vai o conde, preso,
preso vai a bom recado.
f)0 Fe r (I i n a n ä W o I f.
So kam dieses Wegs ein Alter,
war ein alter, armer Krieger,
weiss wie Schnee an Bart und Haaren,
und sein Schwert dient ihm zum Stabe;
Muscheln auf dem Pilgerkleide,
Muscheln um den Rand des Hutes.
Nähert sich der armen Pilg'rinn,
voller Liebe, voller Güte:
— Meine Tochter, weine nicht mehr,
hast genug geweint nun, Tochter!
Jener schurkenhafte Ritter
ist ffefansfen, wohl verschlossen. —
Und der gute alte Krieger
nimmt mit sich das arme Mädchen ;
gehen an den Hof des Königs
der den Grafen hielt gefangen.
— Fordre auf dich, guter König,
bei dem heiligen Apostel,
dieser die zu ihm gepilgert,
nun ihr gutes Recht zu wahren.
Göttlich Recht sühnt's durch die Ehe,
durch den Tod der Menschen Satzung.
Adels-Vorrecht darf nicht gelten
wo Gott selbst beleidigt wurde. —
Sprach der König zu den Räthen
mit. dem Ausdruck schweren Kummers:
— Will den Fall ohn1 alles Zögern
alsogleich entschieden sehen. —
Anbetrachts des Falls der vorliegt,
wird zu Recht bekannt nach Urlheil :
dass er sich mit ihr vermähle ,
und wenn nicht, — enthauptet werde.
— Wohl , so sei es, sprach der König,
lasst den Büttel herbescheiden :
mit dem Kopf hab' er's zu Missen,
oder ihr die Hand zu reichen.
— Schwert und Büttel mögen kommen, —
ruft zurück der Angeklagte,
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 9 1
— lieber tausend Tode sterben,
als entehrtes Leben führen! —
Hört nun, was der Alte sagte,
unser guter alter Kriegsmann :
— Pflegt des Rechtes schlecht, Herr König,
schlecht habt ihr den Fall entschieden:
muss vorerst sich ihr vermählen,
und darauf enthauptet werden.
Blut tilgt nur der Ehre Flecken,
aber wäscht nicht rein von Sünde. —
Kaum dass er dies Wort gesprochen,
wirft er von sich seinen Degen ,
legt hinweg die Pilger- Zeichen,
legt hinweg die Krieger- Waffen,
und in beugen Bischofs Kleidung
schaut man ihn ganz umgewandelt:
seine Mitra glänzt von Steinen ,
und von purem Gold sein Krummstab.
Nimmt die Hand der armen Pilg'rinn.
hat des Grafen Hand ergriffen :
— Durch das Wort das ich nun spreche,
hab' ich ehlich. euch verbunden. —
Alle die dies sahen, weinten,
weinte mehr als all' der Schuld'ge;
weinend um den Tod er flehte,
um entehrt nicht fortzuleben.
Da versöhnt den reu'gen Sünder
nun mit Gott der heil'ge Bischof.
Trugen ihn für todt von hinnen,
brauchten nicht des Büttels Hilfe:
Gottes Urtheil an ihm kund ward;
endet früher als die Stunde.
Doch sich seiner SeeP erbarmend
hat ihr Heil erfleht Sanct Jakob;
denn — kein and'rer war der Pilger,
und der Bischof und der Kriegsmann »).
*) „Unter den Volksromanzen unserer Halbinsel«, sagt Hr. Garrett, „gibt es
wenige ansprechendere als diese. Wo sie entstanden ist, weiss ich Dicht; aber
92 Ferdinand Wolf.
5. Der Graf Nillo •).
Herr Graf Nillo, Herr Graf Nillo
führt sein Pferd hin zu dem Bade;
Mährend seinen Durst das Pferd löscht,
stimmt er an ein schönes Liedchen.
Ob der Nacht die eingefallen,
kann der König ihn nicht sehen.
in den castilisehen Sammlungen findet sie sieh flicht". — Dieses Urtlieil seheint mir
in jeder Hinsieht einer Beschränkung zu bedürfen; denn der Ton in dieser Romanze
ist hei weitem nicht so frisch, ihre Darstellung nicht so dramatisch- lebendig, wie
in den meisten übrigen, und das legenden artige Element in ihr hat das
volksthümliehe schon abgeschwächt. Aber auch unter den c as t i I is c h e n Romanzen
ist eine, die offenbar ein Bruchstück davon, und zwar von einer viel älteren,
noch frischeren und volkstümlicheren Version ist, die in der Pr im a v er a , unter
N. 137 mitgetheilte 2. Romanze: del conde Lomhardo , die anfängt: En aquellas
perias pardas. Die legendenartige Verbindung mit dem Apostel St. Jakob fehlt
allerdings in der castilischen ; aber sie fehlt auch, wie Hr. Garrett selbst angibt,
in der Version von Tras- os- montes , in der blos das Verbrechen des Grafen und
seine Verurtheiluiig erzählt wird, und die damit schliesst , dass er in folgenden
Versen noch seinen letzten Willen erklärt:
— Nicht begrabt mich in der Kirche ,
nimmer in geweihter Erde;
sondern dort auf jenem Anger
wo gehalten wird der Jahrmarkt.
Unbedeckt lasst mir das Haupt dann
und die Hare schön geflochten;
gebet zu des Kopfes Kissen
mir den Sattel meines Pferdes.
Und die Wand'rer mögen sprechen :
Weh dir armen , unglücksePgem ,
bist an Liebes - Weh gestorben ,
das ein Weh ist zum verzweifeln.
Mit dieser Romanze verwandt ist eine andere portugiesische die Hr. Garrett
unler dem Titel: „Aaromeira", die Pil gerinn, herausgegeben hat, und die
fast wie die castilische anfängt :
Por aquelles montes verdes.
In der Nähe einer Einsiedelei überfällt der Ritter die Pilgerinn ; sie ringt mit ihm
mit der äussersten Anstrengung ihrer Kräfte um ihre Ehre: schon ist sie dem
Unterliegen nahe ; da ersieht sie den Dolch in seinem Gürtel und durchbohrt ihn
damit. Der Sterbende beschwört sie, seine Schmach nicht bekannt zu machen und
seiner nicht zu spotten. Sie verweigert dies; doch ruft sie den Eremiten herbei,
dass er für die arme Seele bete und die Leiche in geweihter Erde begrabe.
\) Conde Nill o.—
Conde Nillo, conde Nillo
seu cavallo vai banhar.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 93
Die Inf antin n aber weiss nicht,
soll sie lachen, soll sie weinen.
— Schweige, meine Tochter, horche,
wirst ein schönes Lied dann hören :
Engel singen's in dem Himmel
oder die Siren" im Meere t).
— Weder Engel in dem Himmel,
weder die Siren' im Meere;
Herr Graf Nillo ist's, mein Vater,
der mit mir sich will vermählen.
—Wer spricht mir vom Grafen Nillo,
wer erkühnt sich ihn zu nennen,
diesen meutrischen Vasallen
dem Verbannung ich verhängte?
— Herr, die Schuld ist nur die meine,
mich nur musst dafür du strafen.
Nimmer kann ohn' ihn ich leben ....
Ich war's die ihn rufen lassen.
— Schweig, verrätherische Tochter,
wolle selbst nicht dich entehren.
Noch bevor der Morgen anbricht,
siehst du ihn zum Richtplatz führen.
— 0! der Henker der ihn tödtet,
wird auch mir den Tod bereiten;
in das Grab das ihm sich öffnet,
wird man mich zu legen haben. —
— Wem erdrönet diese Glocke?
wem gilt ihrer Klänge Drönen?
Herr Graf Nillo ist gestorben;
die Infantinn liegt im Sterben.
Schon geöffnet steh'n die Gräber
und schon senkt man sie hinunter;
ihn am Eingang in die Kirche ,
sie am Fuss des Hochallares.
!) Vgl. oben die Bemerkung-en über die Romanze von Gerineldo, in welcher
wörtlich dieselbe Stelle vorkommt.
94 Ferdinand Wolf.
Spriesst Cypresse aus dem einen,
ein Orangebaum aus dem and'ren ;
wächst die eine, wächst der and're,
küssen sich mit ihren Spitzen.
Als vernommen dies der König,
lässt sogleich die Bäum' er fallen.
AdMig Blut träuft aus dem einen,
königliches aus dem and'ren:
eine Taub' entfleugt dem einen,
eine Ringeltaub1 dem and'ren *)•
Setzt der König sich zum Mahle;
brachten ihn sodann zu Bette.
— Fluchen muss ich solcher Minne ,
fluchen muss ich solchem Liehen !
Nicht im Leben, nicht im Tode,
nie vermocht1 ich sie zu trennen.
'I In einer anderen von Hrn. Garrett mitgetheilten portugiesischen Romanze:
„A pe regrin a" , die Wanderinn, reist die von ihrem Geliebten verlassene
Princessinn diesem nach, findet ihn in dem Schlosse einer Dame; aber bereits mit
ihr vermählt. Aus Schmerz darüber stirbt sie in seinen Armen , und auch er
überlebt sie nicht lange. Die verwitwete Dame liisst beide am Meeresufer begraben ;
auf dem Grabe des Ritters wächst ein Fichtenwald (pinheiral), auf dem der
Princessinn Geröhricht (canavial). Die Dame lässt alles Rohr abschneiden ; aber
die Wurzeln trieben immer wieder von Neuem , und des Nachts hörte die Dame
das Rohr seufzen. — In der catalanischen Romanze: „Don Luis" (bei Mila,
pag. 108) entsteigen den Gräbern der Gatten ein Tauber und eine Täubinn.
Diese Metempsychosen, als Symbole der über das Grab hinausdauernden Liebe,
kommen in den Volksliedern der meisten Nationen vor, ohne dass man dess-
halb an eine eigentliche Entlehnung zu denken hätte. Vgl. Du-Meril, a. a. 0.
pag. 331, 332;— Ko berstein und Cassel: „Über die in Sage und Dichtung
gangbare Vorstellung von dem Fortleben abgeschiedener Seelen in der Pflanzen-
welt „in Hoffmann's und Schade's Weimar. Jahrbuch für deutsche Sprache
und Literatur. Heft I. und IL; — und den Nachtrag dazu in Herrig's Archiv
für das Studium der neueren Sprachen und Literatur Bd. XVII, Heft 4, S. 444.
— Über das Erscheinen abgeschiedener Seelen in der Gestalt von Thieren, namentlich
in Vogelgestalt, vgl. „Des Gervasius von Tilbury Otia imperialia. In einer
Auswahl neu herausgegeben von Felix Liebrecht." Hannover 1856, in -8. S. 115.
Hr. Garrett bemerkt, dass Nillo kein portugiesischer und überhaupt kein
romanischer Name sei ; er ist es auch in der That nicht , sondern stammt in
dieser Form aus dem Norden, etwa durch die Normannen eingeführt, von
N i I a u s, Niels, d. i. Nikolaus.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksroinanzen. 1LH
6. Dom Joäo ').
Von den Grenzen von Castilien
Trauerkund ist eingetroffen :
dass Dom Joäo kehrt heim erkranket;
schweres Leid für seine Liebste!
Drei Doctoren sind entboten
die im besten Rufe stehen,
und der ihm das Leben friste,
reiche Zahlung soll dem werden.
Langen ein die beiden jünger'n,
sagen , nichts sei zu befürchten ;
endlich kommt der reifst' an Jahren,
spricht mit Täuschung fremder Stimme :
— Habt drei Stunden noch zu leben,
und die ein' ist halb verflossen ;
diese nützt zum Testamente ,
für der Seele Heil zu sorgen ;
weiht die zweit1 den Sacramenten ,
dann ist sie verwandt am besten;
in der dritten nehmet Abschied
von der Liebsten eures Herzens.—
Während dieser Red1 ist Dona
Isabel hinzugetreten.
Ihr zu wendet er die Augen,
doch mit schon getrübtem Rlicke:
— 0, wie gut, dass du gekommen,
meine Liebste, wie ersehnet!
wie hat mich verlangt zu sehen
dich in dieser schweren Stunde !
— Ich vertrau' der heil'gen Jungfrau,
komme mit dem festen Glauben,
dass sie mich erhör', dich rette,
dass dein Übel weichen werde.
1) Titel gleichlautend.—
L:t das bandas de Castella
triste nova era che^ada.
96 Ferdinand Wolf.
— Sollt' ich jemals mich erholen,
meine vielgeliebte Rose,
dann im Beete meines Busens
würdest wurzeln du für immer;
mit des Erzbischofes Segnung
und geweihten Wassers Sprengung,
mit der heil'gen Kirche Stola
an mein Herz dann festgebunden. —
Während dieser Wechselreden
kam hinzu auch seine Mutter:
— Was meinst du, mein Sohn, Geliebter
dieser tief betrübten Seele ?
— Meine, Mutter, ich soll sterben
und dies Leben geh' zu Ende.
Nur drei Stunden mir noch bleiben,
und die ein' ist halb verflossen.
— Sohn den ich trug unterm Herzen,
denk' in dieser schweren Stunde,
ob nicht Schuld dich noch verpflichte
einer Dam' von edlem Stamme?
— Mutter, ja, ich schulde, schulde . . .
Mög's vor Gott zu schwer nicht wiegen !
Hab' in übler Stund' geraubet
Dona Isabel die Ehre.
Doch vermach' ich tausend Duros i)
ihr, dass sie sich mag vermählen.
— Sohn, nicht zahlen kann man Ehre,
tausend Duros sie nicht kaufen.
— Mehr' sie denn noch um zweihundert
und das Kreuz an meinem Schwerte.
— Sohn, nicht zahlen kann man Ehre,
alles Geld ist nichts dagegen.
— Will sie jenen drei Doctoren
bestens anempfohlen lassen;
bind' es, Mutter, auf die Seel' euch,
dass ihr wohl sie schützen möget.
i) Im Original: „Cruzados".
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 9 7
Wer sich will mit ihr vermählen,
soll ein Landgut mit gewinnen;
und wer dies zu thun sich weigert,
soll den Kopf darob verlieren.
— Sohn , nicht zahlen kann man Ehre,
noch mit Gütern sie erkaufen.
Wenn du diese Dame liebtest,
hinterlasse sie nicht ehrlos!
— Nun so leg ich diese kalte
Hand in ihre, mir so theu're.
Von Dom Joao ist sie nun Witwe ;
Gräfinn wird sie fürder heissen.
7. Morena J).
Trat an's Hausthor der Morena,
der Morena , schlecht vermählet.
— Öffne mir das Thor, Morena,
öffne mir's , beim Heil der Seele !
— Kann ich öffnen dir die Thüre,
Frater Joao, mein vielgeliebter,
wenn das Kind mir säugt am Busen,
und der Mann mir liegt zur Seite?
Über diesen Wechselreden
wacht der Mann auf; und er fragt sie :
— Weib , was hat dies zu bedeuten?
Wem nur gelten deine Worte?
— Sprach sie zu der Magd die backet,
sehend dass sie Brodteig knetet,
wenn es Milchbrod was sie knete,
mög' sie wen'ger Wasser nehmen.
— Auf, mein Weib, verlass das Bett nun,
gehe, für dein Haus zu sorgen.
*) „A Morena«; eigentlich: die Brünette, wie eine Maurian.
Fui-me a jiorla da Morena,
da Morena mal casada.
Sitzb. d. phil.-hist. C!. XX. Bd. I. Ilft. „
98 Ferdinand Wolf.
Schicke deine Knecht' nach Holze,
lass die Sclaven Wasser holen.
— Mach dich auf, auch du, mein Eh'herr,
zieh zu jagen aus im Walde;
denn nie sich'rer ist die Beute,
als wenn noch der Morgen grauet.
Und es ziehet aus der Gatte;
die Morena aber schmückt sich
mit dem coschenillen Mantel,
jede Ell' zu zwölf Testonen 1),
an dem Fuss straff angezogen
Strümpfe von fleischfarbner Seide,
in der Hand ihr Musselin-Tuch,
das sie fast am Boden nachschleppt2).
G'raden Weg's zum Kloster geht sie ;
schon erreicht hat sie die Pforte.
Bruder Joao, der ist der Pförtner,
der erfasst sie an den Händen,
zieht sie fort zu seiner Zelle,
nimmt sie tüchtig in die Beichte,
und die Busse die er auflegt,
hilft er ihr gleich mitverrichten.
Aus dem Kloster aber tretend,
Kommt entgegen ihr der Gatte.
— Woher kommst du, meine Gattinn?
woher kommst du, freudestrahlend?
— Eine neue Messe hört* ich,
eine Messe, schön gesungen.
Bruder Joao war's der sie sagte,
hat damit mich wohl getröstet.
— Da muss ich dich jetzo trösten
mit der Spitze dieses Schwertes. —
Stiess es tief ihr in den Busen;
streckt sie nieder, wohl getroffen.
1) „Testöes", eine Münze, so genannt, weil ein Haupt (testa) auf ihr abgebildet ist
2) Sua bengalla na mäo
mie mal no ehäo Ihe tocava.
Proben portugiesischer und calalanischer Volksromanzen. 99
— Nichts ist mir am Tod gelegen;
nichts mich kostet es zu sterben.
Leid thut miVs nur um mein Kindlein
das der Brust noch nicht entwöhnt ist.
— Wärst du wirklich brav als Mutter,
wärst du nie so schlecht als Gattinn,
hättest nicht gehabt zu sterben
dieses unheilvollen Todes ! —
Hingetragen nach dem Kloster,
senkten sie in's Grab die Leiche.
Bruder Joao hat drob — gelächelt;
und ihr Mann war's der geweint hat.
8. Helene *)•
— Ach! wie mich die Sehnsucht dränget
nach dem Hause meines Vaters!
Wie die Wehen schmerzhaft drängen;
und der Mutter muss ich harren !
— Wenn dich nun die Sehnsucht dränget,
geh' und stille ihre Plagen;
nicht so gross sind jene Schmerzen;
mach dich auf den Weg zum Vater.
— Und wer wird das Mahl bereiten
wenn des Nachts kehrt heim der Gatte ?
— Werd' ihm schon ein Mahl bereiten
von dem was er selbst erjaget,
und vom Brod und meinem Weine
nehm' er was ihm dann behaget.
— Wo verweilt mein Weib Helene,
hat vergessen sie des Mahles?
— Ach! dein Weib, mein Sohn, Helenen
wirst vergeblich du erharren;
*) „Helen a'
— Ai! (jue saudades nie apertam
|>ela easa de meu pae !
100
F er di na nd Wolf.
kehrte heim zu ihren Eltern,
könnt' s bei uns nicht mehr ertragen ;
schalt mich eine alte Hündinn,
dich den Sohn von solcher Alten.
— 'Raus , mein Ross von Andalusien,
sollst im Nu mir sein gesattelt;
und dies Weib, bei Gott ich's schwöre,
soll es theuer mir bezahlen.
Frohe Botschaft, theurer Eidam,
ich euch mitzutheilen habe:
habt ein Söhnlein, und so schönes,
gleicht den Engeln des Altares.
— Frohe Botschaft habt gegeben,
schlimme sollt von mir erhalten:
dass die Mutler die's geboren,
nicht die ist die es soll warten.
Mach dich auf von hier, Helene,
zu begleiten deinen Gatten.
— Wöchnerinn seit einer Stunde!
Wohin bringt ihr nun die Arme?
— Auf so kurzem guten Wege
hat sie nicht viel zu ertragen,
und mein Ross von Andalusien
schneller geht's als Mondes-Strahlen.
— Geh' es, wie es nimmer gehe !
Wohin bringt ihr nun die Arme?
— Sprecht nicht weiter, meine Mutter,
schon sollt ihr geschwiegen haben;
denn das Weib, das angetraute,
hat des Manns Gebot zu achten.
Reichet mir nur meinen Gürtel,
um damit mich warm zu halten;
um noch mehr mich einzuhüllen,
reicht mir jene dichte Jacke.
Und nun gebt mir noch mein Söhnchen,
mich verlangt es zu umarmen.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen 101
Ach! mein Söhnchen, dieser Küsse
kannst du denken noch nach Jahren?
Ruft sie, Mutter, ins Gedächtniss
ihm, wenn machtig er der Sprache.
— Was sind das für Worte , Tochter ?
— Mutter, es sind Trost-Gedanken.
Auf so kurzem, guten Wege
habe ich nichts zu hefahren,
und das Ross von Andalusien
schneller geht's als Mondes -Strahlen.—
Ja, das Ross von Andalusien
schneller ging's als Mondes-Strahlen;
doch der Weg, er starrt von Felsen,
und es gleitet, droht zu fallen.
Eilen vorwärts, eilen vorwärts,
spricht kein Wort das Ein' zum Andern.
Schon beginnt ihr Leib zu schwellen,
und die Hand' ihr zu erkalten.
Als des Berges Spitz' erreichet,
ruft sie : Weh ! — zum Tod ermattet.
— Warum rufst du Weh, Helene,
dieses Seufzen was soll's sagen?
— Dass das Leben mir verrinnet
und dass ich dem Ende nahe.
Wöchnerinn seit einer Stunde,
fühl' ich mich in Blut gebadet. —
Auf die Erd' muss er sie legen,
kann zu Ross sich nicht mehr halten.
'S ist des Todes eis'ger Schauer
der sie drängt zum End\ dem nahen.
— Wem vermach'st du dein Geschmeide,
der dir's wissen wird zu Danke?
— Ich vermach* es meinen Brüdern,
gönnst du ihnen diese Gabe.
— Wem vermach'st du dieses Kreuz hier,
und die Stein' im gold'nen Bande?
\ 02 Ferdinand Wolf.
— Dieses Kreuz sei meiner Mutter,
zu ihm bef sie für mich Arme;
doch die Steine wird sie missen,
die magst du für dich behalten;
lasse deren mehr sich freuen,
schenkst du einst sie einer And'ren.
— Und dein liegend Gut, wem schenkst du's,
dass er treu es dir verwalte ?
— Das vermach1 ich dir, mein Eh'herr,
wolle Gott, dir komm's zu statten.
— Und wem lassest du dein Söhnchen,
dass er dessen treulich warte?
— Deiner Mutter, und Gott gebe,
dass sie Liebe zu ihm fasse.
— Nimmer lass' es dieser Hündinn,
fähig dir es nachzuschlachten.
Lass' es lieber deiner Mutter,
die wird es getreulich warten;
mit den Thränen ihrer Augen
wird sie es gewisslich waschen,
und das Tuch vom eignen Haupte
nimmt sie , besser es zu warmen. —
Als sie diese Worte hörte,
kehrte Lebenslust der Armen;
doch die Stimm' in ihrem Busen
kann zum Mund nicht mehr gelangen.
Da sagt sie ihm mit den Augen,
dass sie ihm verziehen habe.
— Nicht Verzeihung mir, Helene,
Gott wird nimmer dir willfahren.
Ach! ihr Schmerzen all1 der Hölle,
ja, ich fühle schon euch nahen;
denn zum Himmel seh1 ich kehren
meinen Schutzgeist, mich verlassen.
Fluch den Zungen der Verräther
und den Ohren die sie fanden,
hab zu Lieb den bösen Zungen
meinen Engel selbst geschlachtet.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksroinanzen. 1U»>
Sieben Jahr und einen Tag mehr
will ich durch die Länder wandern,
und an Rom's hochheil'ger Pforte
will ich auf den Knien harren.
Hier will ich, ein heilig Kloster
gründend, diesen Ort bewahren,
jeden Tag mit sieben Messen,
je an eigenem Altare.
Wer es schauet, wird dann sprechen:
Hier hat er die Sund1 begangen,
hier auch büssend sie bereuet;
Gott mög' seiner Seele gnaden.
9. Das Schiff Cathrineta »)•
Seht das Schiff hier, Cathrineta;
viel war1 davon zu erzählen !
Eine Märe zum Erschrecken
wollt vernehmen nun ihr Herren.
War vor mehr als Jahr und Tagen,
dass sie d'rauf das Meer durchschifften;
hatten schon nichts mehr zu nagen,
hatten schon nichts mehr zu beissen.
Warfen Sohlen in die Salzbrüh/ 2)
um sie andYen Tags zu essen ;
1) „A na u Cathrinela." —
La vem a nau Cathrineta
que teni muito que contar!
Herr Garrett halt den Namen des Schiffes: „Cathrineta" für ein Diminutiv
von Ca Uterina d.i. S an c ta- C a t h er ina. Es ist die einzige Schiffer-Romanze
die ihm bekannt geworden ist, worüber auch er sich mit Recht verwundert, bei einer
Nation von Seefahrern wie die Portugiesen! — Desshaib, und des dämonischen
Elementes wegen das auch nur äusserst selten in den Romanzen der Halbinsel vor-
kommt, habe ich sie hier mitgetheilt, was sie sonst ihres geringen poetischen Wertlies
wegen kaum verdient hätte.
2) Deitarani solla de molho (?),
para o outro diajantar;
mas a solla era tani ri.ja,
que a quo poderam tragar.
1 04 Ferdinand Wolf.
doch zu hart die Sohlen waren,
konnten sie hinab nicht schlingen.
Loosen, wen's von ihnen treffe
auf der Schlachtbank zu verbluten:
auf den Capitain des Schiffes
ist das Todesloos gefallen.
— Klimm, erklimme, mein Matrose,
jenen Mast, den allerhöchsten.
Siehst du nicht die sparfschen Küsten
oder Portugals Gestade?
— Sehe weder span'sche Küsten,
weder Portugals Gestade;
seh' blos sieben blanke Schwerter,
dich zu tödten alle dreuend.
— Auf, hinauf denn du, mein Lugmann1),
klimm1 auf jenes Topp, das höchste.
Siehst du nicht die span'schen Küsten
oder Portugals Gestade?
— Späher -Lohn hab1 ich verdient mir,
Capitain, ja wohl verdient mir:
sehe schon die span'schen Küsten,
seh" schon Portugals Gestade.
Mehr noch seh' ich, seh' drei Mädchen
unter dem Orangen-Baume:
seh' die Eine sitzend kochen,
wie die And're spinnt am Rocken,
von den drei'n die Allerschönste,
die steht weinend in der Mitte.
— Alle drei sind meine Töchter,
0, wer lässt mich sie umarmen!
Von den drei'n die Allerschönste
soll mit dir sich dann vermählen.
— Nimmer avüI ich eure Tochter ;
theuer kam sie euch zu stehen !
— Nun so schenk' ich so viel Geld dir,
dass du nimmer es kannst zählen.
V) Gageiro.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 105
— Euer Geld, das will ich auch nicht;
sein Gewinn auch kam euch theuer.
— Sollst denn haben meinen Schimmel
der fand seines Gleichen niemals.
— Mögt behalten eu'ren Schimmel
des Dressur kam euch zu theuer.
— Nun, so geb' ich Cathrineta,
dieses Schiff dir ganz zu eigen.
— Cathrineta will ich auch nicht;
nicht versteh* ich es zu lenken.
— Was verlangst du dann, mein Späher,
welchen Lohn soll ich dir geben?
— Capitain, nur deine Seele,
um sie mit mir fortzuführen.
— Heb' dich weg von mir, o Dämon!
der du wolltest mich versuchen.
Gott nur eigen ist die Seele,
und den Leib geh' ich dem Meere. —
In die Arm' nahm ihn ein Engel,
liess ihn nicht im Meer ertrinken.
Ein Gebrüll' entfuhr dem Dämon,
dass aufheulten Fluth und Winde.
Und des Nachts fand Cathrineta
an der Küste man geborgen.
10. Gnimari).
War die schönste aller Jungfrau'n
die es gab in jenem Lande,
so voll Reizes, so voll Geistes
war zu finden keine and're.
*) Dona „Cuimar" nach der Version von Extremadura; Dona „Ag-ueda" nach der
von Alemtejo.
Era a inenina mais linda
que n' aquella terra havia.
1 0 ß F er d i n ;i n <1 W o I f.
Liebt Dom Joao sie recht von Herzen,
liebt sie über alle Massen;
seine Lieb' ihr zu beweisen
lässt ihn Tag und Nacht nicht ruhen.
Ist auch ein gar schmucker Junker,
mehr als alle ihrer würdig.
Aber and'rem Rathc folgend,
will der Vater jener Jungfrau,
reich vermählt will er sie wissen
einem Kaufherrn jenes Ortes;
schätzt gering der Liebe Rechte,
achtet nicht auf ad'lig Wesen.
Als Dom Joao dies kund geworden,
fehlt nicht viel, er war' gestorben.
Zieht hinaus, weit, weit von hinnen,
saget nicht wohin er ziehe.
Zog so fort drei ganze Monde,
ja drei Monde, wie bewusstlos;
denn das Leben war zur Last ihm,
konnte kaum es mehr ertragen.
Lässt sein Pferd dann wieder satteln,
achtet nicht was er beginne;
folget blindlings allen Strassen,
unbewusst wohin er ziehe.
Lenker ist das Pferd geworden,
ihm gehorchet nun der Reiter.
Land um Land durchzieht er also;
doch erkennt er keins von allen.
So kehrt er zurück zur Heimath;
wo er sei, jedoch nicht wissend.
Eines Maitags Morgens war es,
alles Feld ringsum in Riüthe,
Vögel stimmen ihren Sang an,
lächelnd winkt die grüne Wiese;
doch von dort, dem Stadt-Rereiche,
hört man Trauerruf ertönen:
Sterbgeläut der Glocken war es,
und der Clerisei Gesänge,
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 107
und des Adels und des Volkes,
wie sie aus der Kirche kamen. . . .
Durch das Thor Dom Joao einreitet,
reitet fort von Gass' zu Gasse;
kommt zu seiner Dame Gasse,
ohne dass er sie erkannte.
Und am Hause, und am Fenster
wo er sie zu sehen pflegte,
Alles ist da schwarz verhangen,
schwarz, so schwarz, als schwarz nur möglich.
Rufen hiess er eine Dona,
seiner Dam1 Gefährtinn war es.
— Saget mir um Gott, Senhora,
seid so höflich mir zu sagen,
diese tiefen Trauerzeichen
für wen tragt ihr sie , wer ist es ?
— Trage sie für meine Herrinn
Dona Guimar de Mexia;
denn bei Gott ist ihre Seele,
in der kalten Erd' ihr Körper.
Nur für euch, Dom Juao, für euch nur
ist aus Liebe sie gestorben. —
Als Dom Joao dies hat vernommen,
stürzt wie todt er hin zur Erde;
doch der Schmerz war ein so grosser,
dass durch dessen Kraft er fortlebt.
Keine Thräne weint sein Auge,
und sein Mund blieb fest verschlossen.
Rings erwartend harrt die Menge,
was er nun beginnen werde.
Ganz in Schwarz er sich nun kleidet,
schwarz, so schwarz, als schwarz nur möglich.
Schreitet hin gerad zur Kirche
wo sie seine Dam1 begraben.
— Bitte, Sacristan, inständig,
ja bei Gott und Sanct Maria,
bitt1 ich dich, sei mir behilflich
dieses frische Grab zu öfl'uon. —
108
Ferdinand Wolf.
Sah sie da in ganzer Schöne,
so wie sonst er sie gesehen ;
selbst gestorben und begraben
hatte sie nicht ihres Gleichen.
Auf die Erd1 beugt er die Kniee,
himmelwärts die Arme hebt er,
schwört bei Gott und seiner Seele,
dass er nimmer sie verlasse.
Reisst heraus den Dolch von Golde
den er trug in seinem Gürtel,
um im Tod' sie zu begleiten,
da er's nicht gekonnt im Leben.
Doch nicht wollt1 die heil'ge Jungfrau,
Gottes Mutter Sanct Maria,
dass verderbe seine Seele,
und aus Liebe so verderbe.
Da durch Gottes hohen Rathschluss
sah ein Wunder man geschehen:
die Verblich'ne reicht die Rechte
dem Geliebten ihres Herzens,
öftnet ihre holden Augen,
und ihr Mund, er lächelt wieder.
Wiederkehrt mit aller Liebe
die nie floh, entfloh'nes Leben.
Gingen nun den Vater holen
den beinah' der Schmerz getödtet.
Freunde kommen und Verwandte,
alle voll der grössten Freude ;
danken all' der heil'gen Jungfrau,
deren Werk es wohl gewesen.
Sie Dom Joao erhält zur Gattinn,
die er sich so wohl verdient hat1).
!) Über denselhen Gegenstand hat Hr. Mila (pag. 125— 127) eine castilische
Romanze mitgetheilt u. d. T. : „La amante resucitada", die wiederaufer-
standene Geliebte. Sie ist aber schon mehr im Tone der modernen Vulsrär-
Romanzen abgefasst; bis zum Schlüsse stimmt sie in den Hauptzügen ganz mit der
portugiesischen , nur dass natürlich der Schauplatz nach Barcelona verlegt ist,
Don Juan nicht weiter als bis Perpiiian kommt und, viel prosaischer, die Reise und
Proben portugiesischer und eatalanischer Volksromanzen. 109
11. Dona Ausenda1).
Vor der Thür' Dona Ausenda's
wuchs ein Kraut mit Wunderkräften:
wenn ein Weib es nur berührte,
fühlt es gleich sich guter Hoffnung.
Thai es einst Dona Ausenda
in 'ner unheilvollen Stunde;
kaum es ihre Hand berührt hatt'
fühlt sie gleich sich guter Hoffnung 3).
Setzt ihr Vater sich zu Tische,
und sie kam mit grosser Eile
ihm den Wasch-Napf darzureichen,
wie es guter Tochter ziemlich,
Als er scharf in's Aug' sie fasste,
färbte Röthe ihre Wangen.
die Umkehr mit vollem Bewusstsein macht. Am Schlüsse wird das Legendenartige
noch mehr hervorgehoben; denn die Virgen del Remedio (Maria-Hilf) rettet Don
Juan als ihren besonderen Verehrer der keinen Tag und keine Nacht vorübergehen
lässt, ohne das Ave Maria zu beten. Hauptsächlich aber unterscheidet sich die casti-
lische dadurch von der portugiesischen, dass als Don Juan mit der vom Tode erweckten
Geliebten (hier Maria gehejssen) aus dem Grabe in die Welt zurückkehrt und sie nach
seinem Hause führen will, ihnen der hier bereits mit ihr vermählte Kaufmann begegnet
und Don Juan fragt, wer die Dame sei die er führe und die er für seine Gattinn halten
müsste, wenn diese nicht so eben begraben worden wäre. Darauf antwortet ihm
Don Juan: „Dein war sie; nun ist sie mein". Sie kommen vor Gericht, und das
UrtheiJ wird gefällt: „Dass sie dem Don Juan nun ihre Hand zu reichen habe, der sie
so wohl verdient hat." — Vorzüglich durch diesen letzten Zug, den Streit um die
Wiederauferstandene, schliefst sich die castilische Version noch näher an die zahl-
reichen novellistischen und dramatischen Bearbeitungen dieses Gegenstandes an;
denn fast bei allen Nationen, von B a n d e 1 1 o 's Novelle (II. 41) und der von M a n n i
(Le veglie piacevoli , Vol. 6) wie eine wahre Begebenheit erzählten Geschichte der
Ginevra Amieri von Florenz an, bis zu den Novellen von L eop. S chefe r (Gene-
vion von Toulouse) und C. Paul (Dr. Faust P ach ler, Die Frau von Bouisseur),
und dem Drama von Leigh Hunt(A Legend of Florence) hat diese schöne Sage ihr
poetisches Recht geltend gemacht.
*) Titel gleichlautend. — Vom Volksmunde auch in „Dona Ausencia" witzig verstümmelt.
A porta de Dona Ausenda
estä uma herva fadada.
2) Ahnliche Wunderwirkung kommt vor in der berühmten Romanze von Don Tristan
(P r i in a v e r a, no. 146) , und in Basile's Märchen : „La schiavottellaii (P e n t a m e-
ron e, II, 8).
110 Ferdinand Wolf.
— Was ist das, Dona Ausenda?
Ei bei Gott, du wirst ja Mutter!
— Sprecht nicht also, mein Herr Vater,
Täuschung ist's verpfuschten Rockes!
Mich verführte nie die Liebe,
mir hat Gunst kein Mann zu danken. —
Da Hess rufen er zwei Schneider
die den besten Namen hatten:
— Prüfet diesen Rock mir, Meister,
ob in seinem Schnitt ein Fehler? —
Einer prüft ihn, und der And're:
Dieser Rock ist frei von Fehlern,
und dass schlank nicht seine Taille,
trägt das Fräulein, nicht der Rock Schuld.
— Beichte denn, Dona Ausenda.
Büssest Morgen schon im Feuer *)•
— Ach wie traurig ist mein Schicksal !
Ach wie traurig, weh mir Armen!
Ohne je die Lieb' zu kennen
muss entehrt, weh mir, ich sterben! —
Riefen dann den Eremiten
von der Brück' AlliviadaV,
war ein Mönchlein, schien bei Jahren;
trafen ihn schon auf dem Wege.
Kaum gelangt er zu der Thüre,
stürzt er auf das Wunderkraut sich,
schneidet ab es an der Wurzel,
birgt es in des Ärmels Falten.
— Beugt das Knie, Dona Ausenda,
um zu beichten eure Sünden
Gott und seiner heil'gen Mutter.
— Vater, niemals kannt1 ich Liebe,
mir hat Gunst kein Mann zu danken;
bösen Geistes Listen sind es,
dass ich, Jungfrau, Mutter wurde.
') Eine ganz ähnliche Stelle haben wir oben in der portugiesischen Version der Romanze
vom C on de Claros (Dom Claros d'Alem-mar) bemerkt.
Proben portugiesischer und catalaniseher Volksromanzen. 111
— Und seit wann ist's denn, Senhora,
dass ihr diese Bürde fühlet?
— Heute g'rade sind's neun Monde,
dass ich unter jenem Strauche
in der Nacht des heil'gen Johann
sorglos mich dem Schlummer hingab.
Fühlte da den Duft der Blumen
und des überthauten Strauches,
fühlte mich so überglücklich,
so voll Seligkeit und Wonne,
dass mir Leid that das Erwachen,
als das Morgenroth ich schaute.
— Nehmt dies Kräutlein hier, Senhora,
arg gefeit ist dieses Kräutlein;
doch indem ich es nun segne,
wird es wandeln sich in Heilkraut.
— Ach, und dieser Duft, mein Vater,
ganz wie der von jenem Strauche! —
Sprach nichts mehr Dona Ausenda,
ward vom Schlafe überwältigt.
Denn noch eine Gabe hatte
jenes Kraut, die Zaubergabe
dass, berührt ein Weib es, schwanger,
gleich es los ward seiner Bürde.
So auch ohne Schmerz und Leiden
zu gar segensreicher Stunde
brachte sie zur Welt ein Kindlein,
wohl geboren, wohl gediehen.
L In dem Ärmel barg's der Bruder,
ging, und sprach kein Wort mehr weiter.
Schon erwacht Dona Ausenda,
fühlt sich jeder Last entledigt,
alles des was ihr geschehen,
kann sie kaum sich mehr entsinnen,
dünkt ihr fast ein böser Traum nur
der die Sinne ihr verwirrte.
Bufet da nach ihren Fräulein,
rufet da nach ihrer Wärt'rinn,
\\2 Ferdinand W olf.
kleidet sich auf's Ällerschmuckste
in den Rock von schlankster Taille;
ging entgegen ihrem Vater,
den sie fand im Vorhof draussen,
sorgend für des Holzes Schichtung,
das den Tod ihr sollte bringen.
— Seht mich, Vater, zu Gebot1 euch,
schon bereitet und gebeichtet,
mögt an mir denn euren Willen,
Vater, nun vollziehen lassen. —
Wiederholt er sie betrachtet,
wie so schlank und drall geworden,
und ihr Leib, wie zierlich wieder,
und der Rock, wie angegossen.
— Welches Hexen-Werk, o Tochter,
hatte also dich verzaubert?
Und wie hob sich die Verwünschung,
dass ich nun, wie sonst, dich schaue?
— War wohl eines Zaubers Wirkung,
oder Gab' gefeiten Krautes,
bannte ihn wohl jener Bruder
von der Brück' Alliviada's.
— Meiner ganzen Habe Hälfte,
ja die wohlgezählte Hälfte
soll dem guten Eremiten
nun von Stunde angehören. —
Kaum sind diese Wort' gesprochen,
sieh, da stand der Eremite.
— Nehm', Herr Graf, die Schenkung gerne,
wenn die Hälfte wohl gezählet
auch in sich begreift Ausenda,
wenn ihr sie mir gebt zum Weibe. —
Lachten all1 da ob des Bruders;
doch , ohn' weiter was zu sagen,
streift er Kutte und Kapuz' ab,
richtet das gebeugte Haupt auf,
war zu schau'n ein schmucker Junker,
und von adeligem Wesen.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 1 o
War, für wahr, der Graf Ramiro,
ihrer nächsten Nachbarn einer.
Legt' zur guten Stund' Ausenda
ihre Hand aufs Zauberkräutlein!
12. Das Fräulein das in den Krieg zieht ')•
— Krieg ist wieder angekündet
zwischen Aragon und Frankreich.
Weh mir, dass ich schon zu alt bin,
kann nicht milzieh'n, nicht mehr kämpfen.
Habe Kinder, sieben Kinder;
aber keinen Sohn darunter! —
Antwort d'rauf gibt ihm die ält'ste
Tochter, ganz entschloss'nen Sinnes:
— Bringt ein Pferd und gebt mir Waffen,
will den Sohn euch wohl ersetzen.
— Hast ja Augen allzu feurig,
Tochter, werden dich erkennen.
i) Donzella que vai aguerra.
Ja se apregoam as guerras
entre Franca e Aragäo.
Den obigen Titel führt diese Romanze nach der vollständigsten Version die Herrn
Garrett von den Azorisehen Inseln zukam ; in Versionen aus anderen Provinzen hat
sie die Titel : „Dona Leonor", „Dom Joäo", „Dom Carlos" etc. Doch ihr
ursprünglicher Titel unter dem sie schon im 16. Jahrhundert bekannt war, ist: „0
rapazdo CoudeDaros". So nennt sie J or ge F e r r e i r a in der oben (S. 26)
aus dessen „Aulegraphiau angeführten Stelle, woraus zugleich hervorgeht, dass
sie ursprünglich in cas ti lischer Sprache abgefasst und in den höfischen Krei-
sen beliebt war. Ich will nun jene nicht nur für diese Romanze, sondern für die Ge-
schichte der Romanzenpoesie in Portugal überhaupt sehr merkwürdige Stelle aus der
Aulegraphia (act. III, sc. 1) im Original hersetzen. Zwei galante Hofherren, Dinardo
Perreira und Grasidel de Abreu, die schon mit Ungeduld das Serviren des Diners
erwarten, suchen sich die Zeit durch Witze- uud.Ylusikmachen zu verkürzen; Dinardo
sagt da: Ora poys que assi te tocarey : O rapaz do Conde Daros.
(canta) Pregonadas son las guerras
de Francia contra Aragon.
iCömo las haria, triste,
viejo, cano y pecador?
Das Absingen castiliseher Romanzen war also damals am Hofe von Lissabon fashio-
nabel. Die portugiesische Volks-Romanze wurde zuerst von .1. M, da Costa e
Silva durch den Druck bekannt gemacht in seinem Gedichte dein sie zur Grundlage
diente: „Isabel ou a heroina de Aragäo" (Lisboa 1832).
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XX. Bd. I. Hft. 3
114 F e r d i n a n d W o 1 f.
— Geh1 ich durch der Krieger Reihen,
werd' ich sie zu Boden schlagen.
— Hast doch auch zu breiten Nacken *),
Tochter, werden dich erkennen.
— Gebt mir nur gewichfge Waffen,
werden ihn schon enger drücken.
— Hast doch allzu volle Brüste,
Tochter, werden dich erkennen.
— Gebt ein Wams mir das gut schliesset,
wird verhüllen mir die Brüste.
— Hast doch allzu kleine Hände,
Tochter, werden dich erkennen.
— Gebt mir Handschuh' nur von Eisen,
und sie scheinen rechten Masses.
— Hast ja Füsse gar so zarte,
Tochter, werden dich erkennen.
— Steck' in Stiefel sie mit Sporen,
Berge d'rin sie aller Augen. —
— Ach, Herr Vater, ach, Frau Mutter!
Grosses Leid trag' ich im Herzen;
denn des Grafen Daros Augen
Frau'n- nicht Männer-Augen sind es.
— Lad1 ihn ein, mein Sohn, zu gehen
mit dir in den Apfelgarten-);
wenn ein Weib er wirklich wäre,
langt vor allem er nach Rosen. —
Doch das Fräulein, weil es klug ist,
greift sogleich nach den Reinetten:
— 0, welch' köstliche Reinetten!
ihr Geruch erfreuet Männer.
Duft'ge Rosen sind für Damen,
wer sie ihnen bringen könnte!
i) Tendes-los hombros mui altos.
2) Assonanz-Wechsel.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 1 \ 5
— Ach, Herr Vater, ach, Frau Mutter!
Grosses Leid trag ich im Herzen;
denn des Grafen Daros Augen
Frau'n- nicht Männer-Augen sind es.
— Lad1 ihn ein, mein Sohn, zu kommen
und das Mahl mit dir zu theilen;
wenn ein Weib er wirklich wäre,
wird er niedern Stuhl sich wählen. —
Doch das Fräulein, weil es klug ist,
setzt sich auf der höchsten einen.
— Ach, Herr Vater, ach, Frau Mutter!
Grosses Leid trag ich im Herzen ;
denn des Grafen Daros Ausen
Frau'n- nicht Männer-Augen sind es.
— Lad' ihn ein, mein Sohn, zu gehen
mit dir zu des Marktes Buden;
wenn ein Weib er wirklich wäre,
wird er nach den Bändern langen. —
Doch das Fräulein, weil es klug ist,
wählt zum Ankauf einen Dolch sich :
— Ha! wie ist der Dolch so trefflich,
um sich Mann gen Mann zu wehren!
Schmucke Bänder sind für Damen;
wer sie ihnen bringen könnte!
— Ach, Herr Vater, ach, Frau Mutter!
Grosses Leid trag ich im Herzen ;
denn des Grafen Daros Augen
Frau'n- nicht Männer-Augen sind es.
— Lad' ihn ein, mein Sohn, zu kommen
mit dir, in dem Strom zu schwimmen;
wenn ein Weib er wirklich wäre,
Weist die Ladung er zurücke. —
Doch das Fräulein, weil es klug ist,
Fängt schon an sich zu entkleiden
Bringt ihr da ihr Page ein Schreiben,
Liest es kaum, beginnt zu weinen.
— Nachricht ist mir zugekommen,
Nachricht die mich sehr bekümmert,
116 Ferdinand Wolf.
dass gestorben meine Mutter,
dass dem Tode nah' mein Vater.
Höre wie in meiner Heimat
Grabesglocken schon ertönen,
und das Weinen zweier Schwestern
glaub" von hier ich zu vernehmen.
Steigt zu Pferd, zu Pferd, mein Ritter,
wollt ihr heimwärts mich begleiten. —
Langen an bei einem Schlosse;
steigen alsogleich vom Pferde.
— Bringe, Vater, einen Eidam,
solltet ihr genehm es halten;
war mein Hauptmann in dem Kriege,
wollte mir von Liebe sprechen
Liebt er jetzt noch mich, wie damals,
muss er bei dem Vater werben.
Sieben Jahr' dient' ich im Kriege,
habe Sohnes Stell1 vertreten *) ;
keiner hat erkannt mich jemals,
meinen Hauptmann ausgenommen ;
der erkannt' mich an den Augen,
aber wahrlich an nichts and'rem! —
13. Der Mäher2).
Einst von Rom ein Kaiser hatte
eine Tochter, Frucht der Liebe,
liebt' so masslos sie, so masslos,
dass sie ganz verzogen wurde.
*) Rückkehr zur ersten Assonanz.
2) „0 cegador". —
0 imperador de Roma
tem uma fiiha bastarda.
Nach der Version von Beiralta, der Hr. Garrett gefolgt ist. In der Version von
Tras-os-montes führt die Romanze den Titel: „A filha do imperador de
Rom a", und sie weicht auch sonst vielfach von der hier gegebenen ab. Hr. Garrett
hat nur einige der anstössigsten Stellen die er überdies für spätere Interpolationen
hält, weggelassen. Aber auch so, wie sie vorliegt, hat die Romanze ganz den frivolen
Charaktereines franzosischen Fabliau und stammt vielleicht auch aus dieser Quelle?
Proben portugiesischer und catalanischer Volksroman/.pn. 1 1 i
Warben um sie Grafen, Herren,
Männer, die von Stand und Anseif n;
sie hingegen, stolz und spröde,
weiss an jedem was zu tadeln:
der zu jung, zu alt der and're,
ganz und gar ist jener bartlos,
und an Muth scheint's dem zu fehlen,
um das Schwert, wie's ziemt, zu führen.
Spricht der Vater lächelnd zu ihr:
— Dafür wirst du büssen müssen!
Seh' fürwahr dich schon als Liebste
eines, der die Schweine hütet. —
Morgens am St. Johanns-Tage,
Morgen, wann so süss es dämmert,
zeiget sich in aller Frühe
die Infantinn auf dem Söller:
und drei Mäher sieht sie kommen,
emsig fördernd ihre Arbeit,
von den drei'n der allerkleinste
ist es der am meisten fördert.
Trägt ein Band an seinem Hute
das von Seid' und Gold gewirket,
und die Sens' mit der er mähet,
leuchtet wie das pure Silber.
In sein zierlich schmuckes Wesen
hat verliebt sich die Infantinn.
Und der Mäher mähet, mähet
und er weiss wohl was er mähte!
Kommt da ihre kluge Amme
der sie ganz sich anvertraute:
— Siehst du, Amme, jenen Mäher,
emsig fördernd seine Arbeit?
Grafen, Herzoge und Ritter,
keiner reicht an diesen Mäher !
Geh', ruf zu mir im Geheimen
ihn, dass Niemand darum wisse.
— Guter Mäher, komme mit mir,
meine Herrinn will dich sprechen.
\ [ 3 F e r d i n n n d W o 1 f .
— Nichts von deiner Herrinn weiss ich,
noch wozu sie mich will rufen?
— Mäher, Glückskind, allzu niedrig
hast die Blicke du gerichtet.
Heb' empor die Augen, schaue
jenen Stern des lichten Morgens!
— Seh' die Sonne die dort aufgeht,
sehe nicht den Stern des Morgens.
— Sonne oder Stern, kommst mit du?
— Geh' schon; denn wer's kann, gebiete. -
Gingen durch ein Hinterpförtchen,
denn das Thor war noch verschlossen.
In der Kammer der Princessinn
fand sich ein der gute Mäher.
— Was nun, Herrinn, was nun wollt ihr?
denn auf euren Ruf nur kam ich.
— Wissen will ich, ob du Muth hast
meine Arbeit auszurichten?
— Muth zu allem, allem hab' ich,
scheue mich vor keiner Arbeit.
Sprecht nun, Herrinn, welche Arbeit?
und wo soll ich sie verrichten?
— Nicht im Wald und nicht im Thale,
nicht im Brachfeld und Gehäge.
Mäher, 's ist — in meinen Armen;
denn ich glüh' für dich in Liebe! —
Es verging der Tag, der ganze,
wohl der grösste Theil der Nacht auch,
und der Mäher mähet, mähet, ....
und er weiss wohl was er mähte!
— 0 genug, genug schon, Mäher;
schon gethan ist deine Arbeit.
Geh' nun, eh' mein Vater kommet
mit des Morgens erstem Grauen. —
Kaum sind diese Wort' gesprochen,
Kommt der Vater an das Bette.
— Mit wem sprichst du, meine Tochter,
schon so früh bei Tages Anbruch ?
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 1 <?
— Sprech' mit dieser meiner Amme,
die mich in Verzweiflung- bringet,
hat das Bett so schlecht bereitet,
dass es mich nicht schlafen lassen.
— Deine Amme ist wohl die hier
deren Bart so dicht sich zeiget?
Hurtig kleid' sich an das Frauchen;
denn noch eh' der Morgen grauet,
will durch den Barbier des Büttels
ich sein Kinn geschoren sehen. —
Doch der Mäher ganz gelassen
dieses Urtheil hat vernommen.
Lest mit einer Hand das Kleid an,
mit der anderen die Schuhe;
springet in des Hauses Mitte,
Als wenn nichts geschehen wäre.
— Mag nun der Barbier nur kommen,
mit dem Messer wohl geschliffen.
Wollen sehen, wer dem Herzog
von der Lombardei den Bart nimmt ! —
Eilt der Kaiser, ganz zufrieden,
auf der Stell' sie zu vermählen.
Wollt1 nicht Herren sie, noch Grafen,
Männer nicht von Stand' und Anseh'n;
wollte nur allein den Mäher
der dem Mäh'n so fleissig oblag *)«
l) Im Original ist noch eine Art von Epimythe angehängt, die aber gewiss ein
späterer Zusatz eines Bänkelsängers ist. Sie lautet:
Hätt' ein Sehweinhirt auch sein können,
der entehrt sie hätt' gelassen ....
War zum Glück ein hoher Herzog,
Herrscher von gar grossem Rufe.
So ist Alles in der Welt nur Zufall,
und der Zufall fiel zum Heil aus.
Verwandt mit dieser ist die c a t a I a n i s ch e Romanze : „Los tres tarn bo res"
(Mila\ pag. 121); doch benimmt sich hier die Princessinn die sich in einen der
drei Trommler verliebt, anständiger; denn wiewohl auch sie ihn zu sich gerufen,
besteht sie doch darauf, dass er vor Allem hei ihren Eltern um sie werbe. Er
wird vom König natürlich mit Verachtung abgewiesen und mit dein Tode bedroht;
gibt sich aber dann als den Sohn des Königs von England zu erkennen, und als
120 Ferdinand Wolf.
14. Die Braut von der Küste1).
— Schütz' euch Gott noch fürder, Muhme,
fleissig spinnend an dem Rocken.
— Ei, willkommen mir, Herr Ritter,
dessen Rede so manierlich.
— Fort zu böser Stunde zog er,
Muhme, kehrte heim zu böser;
Niemand will ihn mehr erkennen,
hat sich wohl gar sehr verändert !
Besser wär's als solche Rückkehr
hätten Mauren ihn getödtet.
— Ach! du bist es, Herzens-Neffe,
bist es, das ist deine Sprache!
Siehst nicht diese Augen, Söhnchen,
die vom Weinen fast erblindet!
— Und mein Vater, meine Mutter?
Muhme, möchte sie umarmen!
— Ach! dein Vater starb, mein Neffe,
deine Mutter ward begraben.
— Muhme, sprecht, und meine Flotte
der ich hier gebot zu bleiben?
— Deine Flotte, lieber Neffe,
sandt' in See sie der Grenz-Hauptmann 2).
— Was ist's, Muhm1, mit meinem Pferde
das ich hier zurückgelassen?
— Dieses Pferd, mein lieber Neffe,
hiess der König weg es nehmen.
— Was ist's Muhm', mit meiner Dame
die hier blieb mich zu beweinen?
man ihm nun mit Freuden die Hand der Princessinn bewilligen will , antwortet
er: — Ich will nicht eure Gnade, noch eure Tochter; denn in meinern Lande gibt
es viel Schönere.
*) „A noiva arraiana".
Deus vos salve, minha tia,
na vossa roca a fiar.
2) 0 fronteiro
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 1 Zl
— Deine Dame macht heut Hochzeit,
Morgen wird sie sich vermählen.
— Und wo weilt sie? sagt mir, Muhme!
denn dahin will ich auch gehen.
— Neffe, nimmer sag ieh's, nimmer;
denn sie könnten dich dort tödten.
— Werden mich nicht tödten, Muhme,
weiss mich mit Manier zu nehmen,
und wo die Manier nicht ausreicht,
soll das Schwert zu Hilfe kommen. —
— Gott zum Gruss, euch von der Hochzeit,
wohl bekomm' euch ihre Freude !
— Seid willkommen, edler Ritter,
lasst mit uns zum Mahl euch nieder.
— Nicht verlangt mich's nach der Hochzeit,
nicht verlangt mich's nach dem Mahle;
mich verlangt's die Braut zu sprechen,
meine nahverwandte Base. —
Als sie nun herbei gekommen,
überfluthet ganz mit Thränen,
Wehe ! als sie sah den Ritter,
wollt' sie sterben, wollt' vergehen.
— Wenn du weinst ob meinem Anblick,
will ich mich alsbald entfernen ;
wenn du weinst des Aufwands wegen,
bin ich dir dafür Bezahler.
— Zahlen sollt' es mit dem Leben
wer mich hintergehen wollte,
als im Land jenseits des Meeres
für gestorben sie dich gaben.
Mögen sie nun Hochzeit halten,
wohl das Mahl sich schmecken lassen ;
doch von meiner ersten Liebe
soll das Herz mir Keiner wenden! —
122 Ferdinand Wolf.
— Komm' ein Richter von Castilien,
Portugals Alcalden einer!
Und will Recht mir hier nicht werden,
soll es dieses Schwert mir schaffen *)•
15. Die goldene Schnur2).
Zieht der Hauptmann da vorüber
in den Krieg mit seinen Truppen:
war n Recruten, an zweihundert,
war'n zweihundert Frischgeworb ne.
Wenn auch alle traurig gehen,
einer war es mehr als alle,
lässt den Säbel niedrig schleppen,
schlägt zu Boden seine Blicke.
Da auf ihres Weges Mitte
wendet sich an ihn der Hauptmann:
— Mein Soldat, warum so traurig?
Dieses Trauern, wem soll's gelten ?
*) Auch mit dieser ist eine c ata 1 a niseh e Romanze, die von: „Don Luis" (Mila,
pag. 107) offenbar aus derselben Quelle geflossen; nur dass die catslanische , als
eine spätere, alles schon in viel niederere Kreise herabzieht, und am Schlüsse eine
tragische Wendung- nimmt. Don Luis ist ein auf die Galeeren Verbannter, und
erhält nach siebenjähriger Strafarbeit mit der Bedingung Erlaubniss in die Heimat
zurückzukehren, dass er binnen drei Stunden über das Meer rudere; er braucht
aber nur anderthalb dazu; eilt nach dem Hause seiner Muhme, und es folgt ein
ganz ähnliches Gespräch zwischen dieser und ihm, wie im Portugiesischen. Hier
ist es aber nicht blos die Geliebte , sondern seine Gattinn die sich eben wieder
vermählt hat. Er verlangt von der Muhme den Hut und die Guitarre, deren er sich
sonst bediente, und weckt durch seinen Gesang die Neuvermählten. Der Mann er-
wacht zuerst und ruft: „Wach auf mein Leben, wenn du einen schönen Gesang
hören willst; das ist Sirenen-Sang, oder kommt von einem Fische wie er im
Meere umherkreist (Sentireu cant de sirena — o peix que roda pel mar)". —
Sie erkennt aber sogleich die Stimme ihres früheren Gatten , und als der zweite
sich bereit macht den ersten zu ermorden . erklärt sie ihm : „Wenn du jenen
tödten willst, so fange lieber gleich mit mir an-'. — Er aber tödtet jenen um
Mitternacht, und sie bei Tagesanbruch. Beide werden in der Kirche von Santa-
Maria zu Barcelona begraben; seinem Grabe entsteigt ein Tauber, dem ihren eine
Täubinn (vgl. oben die Anmerkung zur Romanze: Der Graf Nillo).
2) 0 cordäo do oiro. —
La' se vai o capitäo
c'os seus soldados a' guerra.
Proben portugiesischer und catalaniseher Volksromanzen. ] 4J
— Nicht dem Vater, nicht der Mutter,
einer Schwester nicht, die mein war* ;
gilt der Frau die ich verlassen
dort allein in meiner Heimat.
Diese Schnur von feinem Golde,
hundert Unzen schwer, doch schwerer1)
wird sie mir, da ich sie trage,
nicht beim Abschied ihr zurückliess.
— Geb\ Soldat, dir sieben Tage,
dass du heimkehrst sie zu sehen :
wenn du sie in Thränen findest,
magst bei ihr du sieben Jahr1 sein ;
doch wenn nicht, — hast du zur Rückkehr
auch nicht eine Stunde Frist mehr. —
Wie da ganz vergnügt und freudig
mein Soldatlein nun davonsprang!
Nicht die Heerstrass' er dahin zog,
nahm viel kürz're Seitenwege;
und vor Mitternacht noch pochte
er am Thore seines Hauses.
— Wer pocht nun an meinem Thor an,
pocht und pocht mit solcher Hast an?
— Ein Soldat ist's, liebes Frau'chen,
der vom Krieg euch bringet Nachricht.
— Hol' der Henker solche Nachricht
und noch mehr den Überbringer!
Geh', steh1 auf mein Vielgeliebter,
zeige dich an jenem Fenster,
jage den Soldaten fort mir,
zu so übler Stund1 gekommen !
— Freund, ihr seid hier irrgegangen
mit der Nachrieht aus dem Kriege ;
lasst.uns schlafen nun in Ruhe,
da wir ihrer wohl bedürfen. —
Der Soldat trollt sich von hinnen,
schneller als er hergekommen.
1) que seile arrateis hem pesa ; arratel, ein Gewicht von 16 Unzen.
124 Ferdinand Wolf.
— Wohl ergeh' es meinem Hauptmann
der mir solches Wohl erwiesen !
Ei, was siehen Tage Urlaubs ! . . .
Sieben Stunden nicht es brauchte
um vom Heimweh mich zu heilen,
mich von allem Gram zu lösen !
Nehmt hier, nehmt, mein lieber Hauptmann,
diese Schnur von feinem Golde
die nun nicht mehr mich belastet;
meine Frau hat's nicht mehr nöthig;
sorgen doch für sie die Vettern.
— Deine Frau hat — Vettern also,
und du gingst von ihr bekümmert! —
II. Gatalanische Romanzen.
a) Romantische.
1. Das Vögelchen *).
Am obern Rand von jener Wies1
ein Apfelbaum gepflanzet ist.
(Refr. Ach! der weiss nicht zu leben, leben, leben.
Ach! der weiss nicht zu leben, zu lieben!)
Von Äpfelchen erdrücket schier,
so rosenroth wie keine hier,
auch weiss und gelb die Halbscheid, ist.
Ein Vögelchen ganz oben sitzt,
wie pures Gold sein Schnabel glitzt,
die Flügeichen halb golden sind,
das Schweifchen ganz, ja bis zur Spitz.
Ein Jägersmann zum Ziel es nimmt.
— Ach! Jägersmann, schiess nicht auf mich,
vom König bin ich sehr geliebt,
J) „La a vec ill a". —
A qui a' dalt — en aquest prat.
Proben portugiesischer und eatalanischer Volksromanzen. 125
die Kön'ginn liebt mich mehr wie nichts,
ich ess1 und trink an ihrem Tisch,
ich schlafe stets in ihrer Mitt1. —
Der Jägersmann es dennoch schiesst.
Der Seeleut' Klag' die Luft durchdringt:
— 0 weh! woher dies Blut nun fliesst?
Kommt es vom Feld? kommt's wohl vom Krieg?
kommt's aus der Erd1? des Meeres Tief?
Wohl gar von ihm, der Vögel Zier?
0 weh! wird des der König inn1,
Des Jagers Tod ist dann gewiss.
2. Der Rönigssohn J).
Im Mädehen-Schloss da waren (aber ach!)
ihrer drei, ja drei,
die eine seicht die Wäsche, (aber ach!)
bleicht die and're sie,
die dritte sammelt Veilchen (aber ach!)
für den Königssohn.
Mit einem gold'nen Apfel (aber ach!)
kommt der Königssohn2),
er zielt mit einem Steinchen (aber ach !)
trifft die Liebste wohl,
er trifft sie wohl getroffen (aber ach !)
in des Herzens Mitt'.
— That, Liebchen, ich dir wehe, (aber ach!)
denke, doch wohl nicht?
— Ein wenig, nicht zu sehr, doch (aber ach!)
in des Herzens Mitt'.
— That, Liebchen, ich dir wehe, (aber ach !)
heilen werd' ich dich 3),
1) „El hijo del Key". —
AI castell de Jas ninetas — (mes ay) tres eran, tres.
2) Die Assonanz wechselt.
3) Wieder Assonanz-Wechsel.
126 Ferdinand Wolf.
in Frankreich gibt's viel Ärzte, (aber ach !)
heilen wohl auch dich.
Viel Geld hab' ich im Beutel, (aber ach!)
gnug sie zu bezahl'n.
In meines Vaters Garten (aber ach !)
ist ein Wunderkraut,
es heilt das Liebeswehe, (aber ach !)
geht's zu suchen hin. —
Als nun darnach sie suchen, (aber ach!)
hört man Sterbgeläut1).
Gestorben ist Mariechen, (aber ach!)
Woll1 ihr Gott verzeih'n!
Wo machen wir ihr Grab wohl? (aber ach!)
unter dem Balcon?
Nicht da, nicht unterm Fenster (aber ach!)
noch am Hinterthor;
an 'nem Sprach-Gitterlein nur; (aber ach!)
beten dann für sie
Vermochten nicht zu beten; (aber ach!)
Weinen, Klagen war's 2).
3. Der Seemann 3).
An des Meeres Ufer sass
ein holdes Mädchen,
sticket emsig auf ein Tuch
die schönsten Blumen.
1) Abermals wechselt die Assonanz.
2) Die letzten vier Verse sind auch im Original hart und dunkel :
^Ahont li faran Teusolta? — (mes ay) sota'l balcö.
Ni eu balco ni en finestra — (mes ay) ni en finestro
sino en una reixeta — (mes ay) fent oracio ;
I'oracio que ya'n feyan — (mes ay) llantos y plors.
Man fügt dieser Romanze auch manchmal noch folgenden Schluss bei
Esta canso qui l"ha treta — no es home, no,
es una doucelleta — de Mataro,
te la boca xiqueta — com un piny6,
la cabellera llarga — fins al talo.
3) „El marinen)". —
A la hora de la mar — n'hi ha una dnncella.
Proben portugiesischer und cafalanischer Volksromanzen. 127
Als gestickt die Hälfte war,
da fehlt die Seide.
Sieht wie naht ein Schiff, und ruft :
— Sieh da, ein Segel !
Seemann, guter Seemann, sprich,
du bringst wohl Seide ?
— Welcher Farbe wollt ihr sie,
weiss' oder rothe?
— Will von röthlicher sie wohl,
das ist viel schöner,
will von röthlicher sie nur,
's ist für die Kön'ginn.
— Kommt denn mit mir in das Schiff
und nehmt euch diese. —
Kaum betraten sie das Schiff,
lichtet's die Segel.
Stimmt der Seemann einen Sang
an, eine Märe.
Bei des Seemannes Gesang
schlief ein das Mädchen.
Fand, als es erwachet, fern
sich von der Heimat.
— Seemann, guter Seemann, bringt,
o bringt an's Land mich !
denn der Seeluft Wehen macht
mir viele Schmerzen.
— Dieses werd' ich, traun, nicht thun!
Ihr sollet mein sein.
— Unser sind der Schwestern drei ;
bin ich die schönste.
Ist die eine Herzoginn,
die and're Gräfinn,
und ich ärmste bin das Weib
nur eines Seemanns!
Kleidet sich die ein1 in Gold,
in Seid' die and're,
und mir ärmsten ward ein Kleid
von woH'nem Zeuge!
128
Ferdinand Wolf.
— S' ist von Wollzeug wahrlich nicht,
s' ist auch von Seide;
seid nicht eines Seemanns Weih;
ihr seid ja Kön'ginn ;
denn von Englands König bin
ich Sohn und Erbe;
sieben Jahr1 durchzog die Welt
ich euch zu suchen1).
4. Der Hochzeitsschmuck a).
Waren mal drei Mädchen, sassen
alle drei auf einer Bank,
alle drei da nur besprachen
ihrer Liebsten Wiederkehr.
(Refr. Wie der Zweig das Laub beweget säuselnd,
wie sich säuselnd wiegt am Zweig das Laub.)
Antwort gibt darauf die Ält'ste:
— Meiner zögert wohl ein Jahr. —
Antwort gibt darauf die Mittlre :
— Meiner zögert nicht so lang. —
Ging die Jüngste an das Fenster,
ihren Liebsten kommen sieht,
welchen trug ein grüner Sattel,
und zwei Diener ihm voran.
Waren ihre ersten Worte:
— Wesshalb zögerst du so lang? —
Ihre nächsten Worte waren :
— Was bringst du mir für 1nen Schmuck?
— Ob der Schmuck den ich dir bringe,
dir genehm sei, weiss ich nicht;
*) Einige Ähnlichkeit damit hat die schwedische Ballade: „Den Ulla Batsman"
(s. Mohnike, Volkslieder der Schweden. Berlin 1830, 8., S. 89 „der kleine
B oo tsm ann").
2) „Las joyas de boda". —
Si u'eran tres doncelletas,
assentadas en un banc.
Proben portugiesischer und calalanisdier Volksronianzen. 129
von Valencia nicht Pantoffel,
keine Schuhe, keine Strumpf;
er ist keines Goldschmieds Arbeit,
und kein Christ hat ihn gemacht;
machte ihn ein Mauren-König,
ist von Gold und von Demant,
und der Gürtel den ich bringe,
ist von Perlen und Brillant,
einer Mauren Kön'ginn Arbeit,
brauchte dazu sieben Jahr.
Sagten mir, du sollst ihn tragen
dreimal nur in einem Jahr:
einmal an dem Fastnacht-Sonnta»
dann am Sanct Johannistag;
und das dritte Mal zu Pfingsten,
wann die Rosen wieder blüh'n. —
5. Amelia's Testament1).
Schwer erkranket ist Amelia,
gibt kein Mittel mehr dagegen;
sie zu sehen kommen Grafen,
Grafen, Kön'ge und ßarone.
(Refr. All mein Herzblut stocken
macht ein Strauss von Nelken.)
Kommt zu ihr auch ihre Mutter,
stellt davon sich überraschet.
— Tochter, meine Tochter, sage
welches Übel dich befallen?
— Meine Mutter, meine Mutter,
d u kennst nur zu wohl mein Übel !
) „El testamento de Amelia".
L'Amelia esta' malaita
que no hi ha nies reraey.
Terrae»T«eiJs mLdir R0,n:T h3t *" Schwedisc"e ™ksüed: «Der K.einen
icsiament (s. Mohnike, a. a. 0. S. S).
Sitzb. d. ohil.-hisf. ci. XX. Bd. !. Hft.
1 30 Ferdinand Wolf.
Gaben mir ja gift'ge Kräuter *),
weil ich ihn zum Gatten wählte,
gaben mir ja gift'ge Kräuter,
Mutter, wirst bald todt mich sehen.
— Beichte denn, o meine Tochter!
und empfang' die letzte Zehrung;
wann du diese hast empfangen,
wirst das Testament du machen.
— Hab' in Frankreich sieben Schlösser,
alle steh' n mir zu Gebote :
drei den Armen ich vermache,
ja, den Armen und den Pilgern,
und das vierte bleib' den Mönchen
um des Allerbarmers willen;
all1 die and'ren dem Don Carlos,
meinem vielgeliebten Bruder.
— Was vermachst du mir dann, Tochter,
mir, was willst du hinterlassen?
— Euch, o Mutter, hinterlass ich,
euch empfehl1 ich meinen Gatten.
6. Die Studenten von Tolosa 2).
Auf der hohen Schul1 Tolosa's
waren drei Studenten einst,
um Capläne auch zu werden
machten sie die Studien mit.
Lernten da drei Mädchen kennen,
ja, der schmucksten Mädchen drei;
machen sich mit ihnen Kurzweil,
treiben wohl ein loses Spiel;
doch die Mädchen nehmen1s übel,
wenden sich an das Gericht.
!) Matsiuas.
2) „Los estudiantes de Tolosa". —
A la vila de Tolosa
n'hi ha tres estudiants.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 1 3 1
Nach Verlauf kaum einer Stunde
setzt man die Studenten fest.
Der von ihnen war der Jüngste,
weinte drob fast Tag und Nacht;
und der Älteste ihn tröstet :
— Lieber Bruder, wein' nicht so,
denk' an Frankreich, unsern Bruder
der im Dienst Herzogs Bohan *);
wenn er hört' was uns geschehen,
kam hieher er augeublicks,
und erschlug' den Vogt und Bichter,
alle ihre Schreiber mit. —
An *nem grossen Gitterfenster
hat der Bichter sie behorcht.
— Schweiget, Schweiget, ihr Gefang'ne,
werdet bald von hier geholt. —
Schon des Nachmittags um zwei Uhr
zeigt man's ihnen schwarz auf weiss2);
schon des Nachmittags um vier Uhr
schleppt man sie zum Richtplatz hin.
Während man sie auf- und losknüpft,
ist ihr Bruder angelangt.
Fragt sogleich die Frau des Wirthes :
— Wesshalb ist solch' grosser Lärm ?
Drei Studenten , o die Ärmsten !
richten sie hier mit dem Strang.
— Schweiget, schweiget still, Frau Wirthinn,
meine Brüder sind all' drei.
Wollt mir sagen nur, Frau Wirthinn,
wie komm' ich am schnellsten hin?
— Eilet hin durch jene Strassen,
oder über Wies' und Feld. —
Schnell steigt er vom schwarzen Bosse,
schwingt sich auf ein weisses Boss,
») In einigen Versionen heisst der rächende Bruder : Rey Duran oder Don Rolan.
z) ya'Is en donan pape' hiane, d. i. das Urtheil.
132 Ferdinand Wolf.
und das Ross, es sprenget also,
dass die Steine Funken sprüh'n.
Aus der Scheide reisst sein Schwert er,
stosst den Sporen in das Ross.
— Aus dem Weg, ihr schwangYen Frauen,
augenblicklich aus dem Weg!
dass das Kind euch unterm Herzen
nicht darob zu Grunde geh'. —
Angelangt am Fuss des Galgens,
hört er schon ihr letztes Ach,
Mit der Schneide seines Schwertes
ihren Strick er rasch zerhaut;
küsset sie auf jede Wange:
— Rrüder, gnädig sei euch Gott !
Gott befohlen , Stadt Tolosa,
wirst wohl denken noch an mich! —
Und er gibt die Stadt Tolosa
Preis dem Feuer und dem Schwert:
von dem Blute des Herrn Richters
werden ihre Strassen roth,
in dem Blute jener Mädchen
wird man Pferde schwimmen seh'n.
— Gott befohlen , Stadt Tolosa,
hält' ich nimmer dich gekannt! —
7. Der Pilger1).
— Nach Sanct Jakob will ich geh'n,
nach Sanct Jakob von Galicien,
mit dem Stabe in der Hand,
und dem Rosenkranz im Gürtel. —
Als sie schon der Stadt genaht,
ganz in ihrer Nähe waren,
*) „El romero". —
A S. Jaume vuy anar.
a S. Jaume de Galicia.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 133
kamen sie zu einer Herberg,
dient darin ein junges Mägdlein,
dieses sprach zu jenem Pilger:
— Küsse mich, sei doch nur höflich.
— Das lehrt nicht des Herrn Gebot,
noch Sanct Jakob von Galicien. —
Nimmt die Magd 'nen gold'nen Becher,
schiebt ihn in des Pilgers Tasche,
und als sie zum Mahl sich setzen,
wird vermisst der gold'ne Becher.
— Ei wo ist der gold'ne Becher,
des Herrn Obeims Trinkgeschirr?
— Den, sagt d'rauf die Magd der Herberg,
hat der junge Pilgersmann.
— Häng' man micb noch diesen Tag,
habe ich den gold'nen Becher. —
Und nach strengem Richterspruch
ward gehängt er diesen Tag noch.
Trotz dem unterliess die Fahrt
nicht sein Vater, noch die Mutter.
Als sie aber rückgekehrt,
wollen ihren Sohn sie sehen.
Und die Pilg'rinn sagt dem Pilger,
dass den Sohn sie sehen wolle.
— Wohin willst du , närrisch Weib,
wohin willst, mein Weib, du gehen?
Siehst du ihn auch nur von fern,
wirst zu weinen du beginnen. —
Und als sie von fern ihn sah,
weint' sie schon als sollt" sie sterben.
Hielt Sanct Jakob ihn am Fuss,
an dem Kopfe Sanct Maria,
und die Engel rings um ihn
hatten sich ihm beigesellet.
— Höret Mutter, meine Mutter,
eines möchf ich euch wohl sa<ron :
dass ihr geht den Richter rufen,
ruft den Richter dieser Stadt an,
134 Ferdinand Wolf.
werdet finden ihn verspeisend
einen Hahn und eine Henne;
kommt ihr dann vor ihm zu steh'n,
sprecht zu ihm ganz höflich also:
„Gott beschütz' euch, mein Herr Richter,
euch sammt eurer ganzen Sippe,
geht zu lösen meinen Sohn,
denn zum Leben kam er wieder".
— Pack hinweg dich, närrisch Weib,
sprich mir nicht von solchen Possen!
S o lebt wieder euer Sohn
wie der Hahn und diese Henne. —
Es beginnt der Hahn zu kräh n,
aus der Schüssel steigt die Henne.
Ist fürwahr ein Wunder Gottes,
seiner demuthsvollen Mutter.
Lösten da den Jüngling ab,
und die Magd ward aufgehänget,
doch bevor ward sie gestäupt; —
hätte mehr noch wohl verdienet j).
1) Diese Romanze gehört eigentlich zu den legendenartigen. — Herr Edelestand
du Meril hat (in der Anzeige von Mila"s Werk, im Athenaeum francais
1855, Nr. 22, pag. 457) von dieser Legende ein italienisches Mirakelspiel ange-
führt, unter dem Titel : „La Rapresentatione (Vuno miracolo di Tre Pelle-
grini che andavano a S. Jacopo di Galitia, nuovamente ristampata". — In
Firenze, Tauno del Nostro Signore MDLV in 4. 6 Blatter. — Das Wunder wird
folgendermassen dargestellt:
El Podestä risponde:
Che sia il vero, mene maraviglio,
et che lui viva et fia tanto giulivo,
tanto puö esser quanto il gallo cotto,
il quäle e qui, sucitasse di botto. —
II gallo resucita etc. . . .
Dasselbe Wunder kommt auch in einem bretonischen Volkslied vor: „Not re-
Dame du Folgoat" ( Villemarque, Barzas-Breiz. 4. ed. Paris 1846, 8.
Tome II, pag. 81). Dass die Quelle dieser Wundersage wahrscheinlich ein apo-
kryphes Evangelium gewesen sei , scheint eine Stelle in der Chanson de geste
von Ogier de Danemarche par Raimbert de Paris (Paris 1842, 8.
Tome II, pag. 485, Vers 11615 — 11627) anzudeuten, worin in einem Gebete
Ogier's von Herodes gesagt wird , dass er an die Geburt eines Königs der Juden
nur dann habe glauben wollen, wenn der Hahn den er so eben verspeist hatte,
sich wiederbefiedere und wiederbelebe ; was denn sogleich geschah.
Proben portugiesischer und catalaniseher Volksromanzen. 135
8. Die Tochter des Mallorkaners *)•
Klein . so klein hat man vermählet
von Mallorca's Herrn die Tochter,
noch so klein, dass sie nicht konnte
selbst sich Schuh1 und Kleid anziehen.
(Refr. Wer was Liebes hat, verlässt es,
wer es nicht hat, will es haben.)
Ihr Gemahl hat sie verlassen,
dass sie grösser werden könne :
in den Krieg ist er gezogen,
kehrt vor sieben Jahr1!! nicht wieder.
Sieben Jahre sind verflossen,
ihr Gemahl ist heimgekehrt;
pochen schon an ihrem Pförtlein :
— Arciseta, komm1 zu öffnen. —
Es erscheint statt ihr die Mutter
an dem Fenster ganz verweint.
— Wie soll Arciseta öffnen?
Ist ja hier nicht mehr zu finden!
Hat entführt der Mauren-König
sie nach seinem Mauren-Schloss.
— Mutter, holet mir den Mantel,
holt den Reise-Mantel mir;
denn die Welt will ich durchziehen,
mir erbettelnd Rrod und Wein.
Gebt mir nicht den schönsten Mantel,
auch den seid'nen gebt mir nicht;
gebt den schlechtesten von allen
die zu tragen ich gepflegt. —
Sah sie schon an jenem Fenster,
wie mit Nähen sie sich müh't,
ihre Nadel ist von Silber,
feinem Gold der Fingerhut.
*) „La hijii del Mal lorquin". —
Tant petita l'han casada
la filln del mallorquf.
136 Ferdinand Wolf.
— Wollt erbarmen euch , Arcisa,
nicht des armen Pilgersmanns ?
— Kommt um neun des Morgens wieder,
Morgen um die neunte Stund;
dann hab' ich nur zu gebieten
über Alles was hier ist. —
Das vernimmt der Mauren-König
der im Garten sich ergeht.
— Sei barmherzig doch, Arcisa,
mit dem armen Pilgersmann;
ihm bereit1 den Tisch mit Weisszeug
und mit gutem Brod und Wein. —
Während sie den Tisch bereitet,
sich ein Seufzer ihr entringt.
— Wesshalb seufzet ihr, o Herrinn!
wem wohl dieser Seufzer galt?
— Guten Grund hab' ich zu seufzen,
da ihr wurdet mein Gemahl.
— Willst du folgen mir, Arcisa,
willst du, Holde, mit mir flieh'n?
— Ei, Herr Graf, seid des versichert;
wären wir schon unterwegs!
Ihr begebt euch nach dem Stalle,
holet euch das beste Ross;
ich will in die Kammer gehen,
und die besten Kleider hoTn. —
Als der Maure das gewahr wird,
war Arcisa schon entfloh'n.
— Wärst hier nie hereingekommen,
hätte ich dich nur erkannt ! —
Schnell begibt er sich zum Stalle,
Sattelt sich das beste Ross.
Doch als er gelangt zum Wasser,
bricht die Brücke mitt* entzwei.
— Ha! nun seh' ich's wohl, o Bettler,
dass sie dir, nicht mir bestimmt war! —
Proben portugiesischer und catalaniseher Volksromanzen. 137
9. Der Ritter von Malaga *).
Gott befohlen Malaga,
Stadt des Reichthums und des Glanzes!
Wandelt einst in ihr ein Ritter,
wirbt um eine edle Dame;
doch ihr Vater sie -verweigert
dem der ihr der liebste Werber.
Einen Thurm liess er errichten,
d'rin sie abgesperrt zu halten,
hart am Meer, auf einem Berge,
an der See jenseit'gem Ufer.
Tage kamen, Nächte schwanden,
späht die Dame durch das Fenster:
sieht den guten Grafen kommen,
sieht das Licht das ihn geleitet.
Da erhebt ein Sturm sich jählings,
hat das Licht ihm ausgelöschet.
— Weh mir Armen, weh mir Ärmsten!
weh , ertrunken ist der Gute ! —
Während sie noch also wehklagt,
klimmt die Stieg' herauf der Liebste.
— Guter Graf, Herr meines Lebens,
welcher Leiden seid ihr Ursach !
— Ach, die meinen sind noch grösser;
denn schon weilt' ich in der Hölle,
um dich, Liebste, seh'n zu können,
gab ich hin mich den Dämonen! —
Hand an Hand sich fest erfassend,
gaben Preis sie sich der Salzfluth.
*) «El caballero de Ma'laga.«
lAy i? Deu, ciutat de Ma'laga,
ciutat rica y abundatita !
138 Ferdinand Wolf.
Mütter, die ihr Töchter habet,
gebt sie denen die sie lieben,
und nicht also macht sie leiden
in dem Leben dies- und jenseits »).
10. Die Gefangenen von terida 3).
Im Gefängniss Lerida's
die dort Gefangenen all*,
hundertfunfzig an der Zahl,
sie sangen all' ein Lied.
Eine Dam' hört ihnen zu,
im Rücken jener Thür\
Die Gefangnen hatten's doch
bemerkt, und hielten inn'.
— Ihr Gefangne, wessbalb wollt
ihr weiter singen nicht?
— Wie, Senora, singen soll'n
wir in so schwerer Haft,
ohne Speis und ohne Trank ,
als einmal nur des Tags?
Möchten sie das einemal
uns geben nur genug!
— Singt, Gefangene, o singt!
ich bring' es euch gewiss. —
Zu dem Vater sie nun geht,
verlangt ner Bitf Gewähr.
— Meine Tochter Margareth,
was willst von mir gewährt?
— Vater, lieber Vater mein,
des Kerkers Schlüssel gebt.
i) Offenbar verwandt mit unserem Volksliede: Von zwei Königskindern , und
wie dieses wurzelnd in der Sage von Hero und Leander. — Vgl. J. V. W.
Schmidt, Taschenbuch deutscher Romanzen (Berlin 1827), S. 269 ff.; ■
Oskar Schade, Volkslieder aus Thüringen, im III. Bd. des Weimar. Jahrb. Nr. 1.
„Nach Liebe Leid".
2) „Los p res os de Lerida." —
Ä la preso de Lleyda — tots los presos hi son.
Proben portugiesischer und catalaniecher Volksromanzen.
— Meine Tochter Margareth,
die kann ich nicht gewähr'n.
Morgen ist das End' der Woch',
da soll'n sie hangen all1.
— Vater, lieber Vater mein,
den Liebsten mir nicht hängt!
—Meine Tochter Margareth,
dein Liebster, welcher ist's?
—Vater, liebster Vater mein,
der grösst1 und schmuckste ist's.
—Meine Tochter Margareth ,
der muss der erste dran.
—Vater, lieber Vater mein,
da hängt mich gleich dazu!
— Meine Tochter Margareth,
das lass ich wahrlich sein ! —
Silbern ist das Dreigerüst,
die Stricke sind von Gold,
jede Spitz' des Galgens ziert
ein duft'ger Blumenstrauss.
Jeder der vorüberkommt,
verspürt den Wohlgeruch;
sagt 'nen Vater -Unser dann
fürs armen Liebsten Heil 1)-
11. Don Juan und Dona Maria 2).
Der Dona Maria Mutter
und die Mutter des Don Juan
schliefen beid' in einer Wiege,
eine Amme nährte beid1;
139
4) Ähnlichen Stoff behandelt die französische „C h a n s o n" die M armier (und
nach ihn) auch Hr. M i 1 a' , nag. 46) aus der Franche-Comte in seinen „Chansons
du Nord" raitgetheilt hat, sie fangt an:
Qui veut oui'r une chanson, c'est la (ille d"un geolier
une chanson nouvelle, qui est amoureuse d'un prisonnier.
2) „Don Juan y Dona Mar { a." —
La mare de D. Juan
tambe de Dona Maria.
1 40 Ferdinand Wolf.
wuchsen auf zusamm die beiden,
von der Lieb' zugleich besiegt *).
Don Juan ist fortgezogen
in's castilische Gebiet.
— Mutter ach ! du meine Mutter ,
kehrt Don Juan wohl bald zurück?
— Tochter ach! du meine Tochter,
was willst du, dass ich dir sag1?
Will dir einen Rath wohl geben,
einen Rath von mir vernimm:
mögest auf das Feld wohl gehen,
um zu säen Salz und Mehl ;
wann du Salz und Mehl siehst wachsen,
kehret wieder heim Don Juan.
— Mutter, das soll mir wohl sagen,
dass ich ihn nie wieder seh*!
Reicht den Wanderstab mir Vater,
Mutter, gebt ein Pilgerkleid;
denn die weite Welt durchziehen
will ich in dem Pilgerkleid. —
Ist gewandert hundert Meilen
fand kein Dorf, fand keine Stadt.
Endlich kam sie zu 'nem Brunnen,
gar lebend'gen Wassers Born.
Sah da sieben Wäscherinnen ,
wuschen an des Königs Hemd.
— Gott beschütz' euch Wäscherinnen.
— Seid willkommen, Pilgerinn.
Ei, für wahr, sie gleicht ja völlig
dem Gemälde von Marie ,
der Marie die Don Juan's ist,
Tag und Nacht er nach ihr seufzt,
1) Hr. Mil a selbst bemerkt , dass der Eingang dieser Romanze dunkel oder unvollständig
sei; denn so wie er vorliegt, kann er doch nur die Bedeutung haben, dass die
beiden Mütter von Jugend auf als innige Freundinnen zusammenlebten , wahrend
das Nachfolgende keinen Bezug mehr daraufnimmt.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 141
deren Bild in seinem Zimmer,
deren Zug in's Herz er grub.
— Wahrlich nicht, ihr Wäscherinnen,
nie ward ich Marie genannt,
meine Mutter nannf mich Thekla,
als ich noch ganz klein und jung war,
armer Leute Kind hin ich nur,
fristeten das Leben kaum;
in die weite Welt fort zog ich,
um zu suchen Arbeit mir.
— Welche Arbeit könnt verrichten
ihr wohl, schöne Pilgerinn?
— Kann mit Gold und Silber sticken,
wenn ich Gold und Silber hab',
kann zuschneiden auch und nähen
gutes, feines Linnenzeug.
— Dort in dem Palast des Königs
findet Arbeit sich genug.
— Gott beschütz' euch, Kön'ginn- Mutter.
— Seid willkommen, Pilgerinn.
Ei, für wahr, sie gleicht ja völlig
dem Gemälde von Marie,
der Marie die Don Juan's ist,
Tag und Nacht er nach ihr seufzt ,
deren Bild in seinem Zimmer .
deren Zug' in's Herz er grub.
— Wahrlich nicht , o Kön'ginn - Mutter ,
nie ward ich Marie genannt,
meine Mutter nannt' mich Thekla,
als ich noch ganz klein und jung war,
armer Leute Kind bin ich nur,
fristeten das Leben kaum;
in die weite Welt fort zog ich ,
um zu suchen Arbeit mir.
— Welche Arbeit könnt verrichten
ihr wohl, schöne Pilgerinn?
— Kann mit Gold und Silber sticken ,
wenn ich Gold und Silber hab',
142 Ferdinand Wolf.
kann zuschneiden auch und nähen
gutes , feines Linnenzeug. —
Tragen nun ihr auf zu sticken ,
Arheit für ein Jahr und Tag;
und das erste was sie stickte,
war ein Hemd für Don Juan.
Stickt' Don Juan auf die Manschetten ,
auf die Kehrseite Marie ,
auf den unteren Rand der Schösse
mahlte sie den Morgenstern.
Als Don Juan nun heimgekommen ,
fällt ihm auf das weisse Hemd.
— Sprecht, o schöne Kön'ginn, wer hat,
wer gesticket dieses Hemd ?
— Ich, Don Juan, hab es mit diesen
schönen Händen selbst gestickt.
— Ei das lügt ihr , schöne Kön'ginn,
hättet nimmer das erdacht.
Dieses Hemd hier hat gesticket
eine schöne Pilgerinn. —
Und das Pferd er schnell sich sattelt,
sie zu treffen will er seh'n.
Und er fand sie, eingeschlafen,
auf das Pferd er rasch sie hebt.
— Gott zum Grusse, schöne Kön'ginn,
hier hast du die Pilgerinn,
wirst sie fürder so ansehen
als wenn sie dir Tochter war'. —
12. Don Juan und Don Ramon 1).
Don Ramon und Don Juan
kehren heim von einein Jagdritt,
hoch zu Rosse Don Juan ,
Don Ramon vom Pferde stürzet.
*) „Don Juan y Don Ramon." —
Don Juan y Don Ramon
venian de ia eassada.
Proben portugiesischer ui'd catalanisclier Volksromanzen. 1 4-«J
Sie die Mutter kommen sieht
über einen grünen Acker,
sammelnd Malven, Veilchen auch,
um zu heilen ihre Wunden.
— Was fehlt dir, mein Sohn Ramon ?
Deine Farbe ist erblichen !
— Mutier, Hess zur Ader mir;
doch der Aderlass schlug schlimm an.
— 0 verflucht sei der Barbier
der solch' Aderlass dir machte!
— Sprecht, o Mutter, keinen Fluch ;
denn es naht mein letztes Stündlein.
Tragen ich wohl und mein Pferd
neun und zwanzig Lanzenstiche :
trafen neun davon das Pferd,
mich die andVen all' die fehlen.
Heute Nacht noch stirbt das Pferd,
Morgen ich in aller Frühe.
Wollt beerdigen das Pferd
in des Stalles bestem Platze,
und beerdiget dann mich
in der Kirch' von St. Eulalia;
leget auch mir auf das Grab
einen Degen quer darüber.
Fragen sie, wer mich erschlug:
's war Don Juan, mein Jagdgefährte. —
13. Die Macht des Gesanges1).
Don Francisco sass gefangen,
in dem Kerker eingesperrt;
ach! wie trauert seine Mutter,
da sie hört, dass er in Haft.
Diese Romanze stammt von Mallorea ; schon D. J. M. Qu adr ad o hatte in den:
Recuerdosy bellezas de Espafia; Mallorca, pag. 330 und 336 sie
nebst einer eastilischen Übersetzung mitgetheilt.
*■) „El poder del canto."
S'en estaba Don Francisco
tancat dius de la pres<5.
144 Ferdinand Wolf.
Kaufet ihm eine Guitarre
die zu seinem Sang er stimm1.
— Hast du sie dann wohl gestimmet,
singe auch ein Lied dazu.
— Welches Lied soll ich nur singen,
sagt, was sing' ich für ein Lied?
— Das dein Vater einst gesungen
in der Nacht vor Himmelfahrt. —
D'rob die Vögel in den Lüften
halten ein in ihrem Flug,
und die Kinder in der Wiege
lullet sein Gesang in Schlaf J)>
und der Kön'ginn Pagen alle
rühren sich nicht von der Stell1;
ihn vernommen hat die Kön'ginn
von dem höchsten Söller dort,
fragt sogleich die Pagen alle:
— Wer ist jener Sänger wohl?
— Don Francisco ist der Sänger
der in dem Gefängniss sitzt. —
Ohne Zaudern ruft die Kön'ginn:
— Den wünscht' ich mir wohl zum Sohn !
Ohne Zaudern die Infantum :
— Will ihn, Mutter, zum Gemahl! —
Ohne Zaudern geh'n die Pagen
ihn zu holen aus der Haft.
Doch er gab darauf zur Antwort:
nie geh' er von hier, o nie!
denn es geh' kein schmuckres Leben,
als zu sein in solcher Haft2).
i) Über solche Wirkung des Gesanges, vgl. Holland, zur Gudrun, in Pfeif fer's
„Germania", Jahrg. I. 1836. Hft. 1. S. 124.
2) Que no hi ha nies galan vida
qu'estar taneat en presö.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromänzen. 1 4r5
14. Dou ftiiillcriiio's Heimkehr 1).
Einen Ruf erliess der König,
rufen durch das ganze Land :
Dass die Rittersleute alle
möchten auszieh' n in den Krieg;
und auch so der Don Gnillermo,
der auch solle mit auszieh'n,
der gewann so gutes Frauchen;
lassen ihn nicht des sich freu'n.
Er empfahl sie seiner Mutter,
die wird sie behüten wohl,
sie nicht Arbeit machen lassen,
die sie nicht verrichten könnt'.
Leichte Arbeit sie nur machte,
wie das Plätten, Sticken, Näh'n;
sollte sie 's nicht freu'n zu sticken,
nehme sie den Strumpf zur Hand;
wenn auch Stricken sie nicht freue,
lasse man sie gar nichts thun.
Doch des andern Tags, schon Morgens
macht man sie zur Schweinemagd.
— Schweinemägdlein, Schweinemägdlein,
Zeit ist's, mach dich auf den Weg,
lege ab den Rock von Seide,
den von FlockwolP ziehe an.
Bringst mir sieben Spindeln Garnes
und ein Bündel Holz dazu.
— Schwiegermutter , Schwiegermutter ,
wohin soll' ich geh'n an's Werk ?
— In den Eichwald Don Guillermo's ,
seinen schönen Eichenwald. —
Als sie einst, ganz einsam, singet,
sieht drei Ritter sie sich nah'n.
*) „Lavuelta de l). Guillermo."
El rey n'ha fet fe*una erida .
unas eridas n'ha fet fe\
Sitzb. d. |>hil.-hist. Gl. XX. ßd. I. Mit. 10
] 46 Ferdinand Wolf.
Siigt Guillermo zu den and'ren:
Dünkt mich, meine Frau zu seh'n.
— Gott beschütze dich, o Hirtini) !
— Ritter, Gott sei auch mit euch!
— Schweinehirtinn , Schweinehirtinn ,
heimzukehren ist es Zeit!
— Muss drei Spindeln voll noch machen
und ein Bündel Holz dazu. —
Mit der Schneide seines Schwertes
macht er ihr ein Bündel Holz ,
solch Geräusch er dabei machte ,
dass entlief ein junges Schwein.
— SageHirtinn, sage Hirtinn,
wo find' ich hier Herberg wohl?
— In des Schwiegervaters Haus geht,
gut zu leben dort man pflegt,
mit Kapaunen und mit Hennen
und 'nein fetten Hühnchen auch.
— Geh'n wir, geh'n wir denn, o Hirtinn!
heimzukehren ist es Zeit.
— Gehe nicht ins Haus zum Schlafen ,
werd' mich davor hüten wohl.
— Dennoch wirst du hingeh'n, Hirtinn,
nehme dich in meinen Schutz.
Sprich , o Hirtinn , sprich , o Hirtinn ,
was gibt man dir dort zum Mahl ?
— Einen Laib vom Gerstenbrode,
hätt1 ich des nur auch genug!
— He, Frau Wirthinn , he, Frau Wirthinn
wer speist wohl mit mir zu Nacht?
— Unser Mägdlein mag das thuen;
meiner Tochter ich's verwehr'.
— Sieben Jahr ass ich am Tisch nicht,
nicht am Tisch, am Tischlein nicht;
sondern stets nur unter'm Tische ,
als wenn ich ein Jagdhund war'.
— Sagt, Frau Wirthinn, sagt Frau Wirthinn,
wer dem Ritter leuchten wird?
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromaqzen. 14-7
— Unser Mägdlein mag das thuen;
meiner Tochter icb'a verwehr'.
— Sprecht, Frau Wirthinn, sprecht, Frau Wirfhinn,
wer wird wohl mein Bettgenoss?
— Unser Mägdlein mag das werden;
meiner Tochter ich's verwehr'.
— Ehe ich dahin ihm folge,
stürz1 ich mich zum Fenster 'naus.
Sieben Jahr' schlief ich im Bett nicht,
nicht im Bett, im Bettlein nicht;
sondern auf dem Band des Herdes,
als war' ich 'ne Aschenkatz. —
An des Schlafgemaches Schwelle
einen Bing er ihr da gab.
Und sie schliessen zu die Thüre,
und begeben sich zu Bett.
Andren Tags, in aller Frühe
schon die Schwiegermutter rief:
— Auf, steh' auf, du Schweinemägdlein,
grunzen ja die Schwein' schon sehr!
Bringst mir sieben Spindeln Garnes
und ein Bündel Holz dazu.
— Schickt darnach nur eure Tochter;
meinem Weib1 ich das verwehr1.
Wäret ihr nicht meine Mutter ,
traun, ich euch verbrennen Hess1,
und die Asche die ihr gäbet,
sollt' ein böser Wind verweh' n *)•
*) Damit hat das bretonische Volkslied : „L'epouse du C r o i s e " (V i 1 1 e m a r q u e,
1. c. Tome I, pag. 240) im Wesentlichen und in einzelnen Zügen so viele
Ähnlichkeit, dass man wohl auf eine gemeinsame Quelle, wahrscheinlich eine
altfranzösische, schliessen könnte, um so mehr als die catalanischc Version das
normale auslautende a in e abgeschwächt hat wie statt : anar, deixar, mit ja, etc.
and, deixe, mitje , etc., und zwar gerade in den Assonanzen.
10
148
F e r d i n a n d W o I f.
h) Legendenartige.
15. Die heilige Magdalena *).
Magdalena kämmt die Haare
sich mit einem gold'nen Kamm :
während sie sich also kämmet
tritt zu ihr die Schwester Martha.
— Sagemir doch, Magdalena,
warst du heut schon in der Messe ?
— Schwester, nein, noch war ich nicht,
hab' gedacht daran nicht einmal.
— Gehe hin, geh, Magdalena,
wirst dich wahrlich dort verlieben;
predigt dort ein junger Mann ,
Schade, dass er Frater wurde! —
Magdalena eilt hinauf
um den schönsten Schmuck zu nehmen,
nimmt da ihre gold'nen Ringe,
Ohrgehänge und Braceletten,
nimmt den Schmuck von feinem Gold
der zur Busenzierde dient,
auch den goldgestickten Mantel
dessen Schlepp den Boden fegt.
An dem Eingange der Kirche
lässt sie ihre Magd' und Diener.
Dass sie besser hör1 die Predigt,
setzt sie sich ganz nah' der Kanzel.
Schon der Predigt erste Worte
trafen Magdalena's Herz;
als die Red' die Mitt* erreicht,
stürzt ohnmächtig sie zusammen.
Dann legt sie von sich die Ringe,
die Gehänge, die Braceletten,
i) „Santa Magdalena".—
Magdalena 's pentinaba
ab una pinta dauvada.
Proben portugiesischer und catalaniseher Volksromanzen. 14«'
und den Schmuck von feinem Gold
legi sie hin sich vor die Füsse.
Als die Predigt nun geendet,
kehrt zurück auch Magdalena.
Ad dem Ausgange der Kirche
fand sie einen Büsser steh'n.
— Kannst du, Büsser, mir wohl sagen,
wo der gute Frater weilt?
— Jesus sitzet nun hei Tische,
dort hält jetzt er seine Mahlzeit. —
Dorthin geht auch Magdalena,
setzt sich zu des Tisches Füssen.
Mit den Thränen ihrer Augen
netzet sie die Füsse Christi,
mit den Flechten ihrer Haare
trocknet sie die Füsse Christi.
Und die Knochen die er wegwirft,
sammelt sie vom Boden auf.
Da wird Jesus des gewahr
und er fragt sie alsogleich :
— Was suchst du hier, Magdalena,
was führt dich nun her zu mir?
— Dich , o Jesus , suche ich hier,
ob du willst mich Beichte hören.
— Was hast du mir wohl zu beichten,
was zu beichten hast du mir?
— Was ich dir zu beichten habe,
"s ist mein früh'res sünd'ges Leben.
— Gebe dir es abzubiissen
sieben Jahr' in Waldes-Wildniss,
nährend dich von Gras und Fenchel,
nährend dich von bitfren Kräutern. —
Nach der sieben Jahre Ablauf
kehrt zurücke Magdalena.
Auf des Weges Mitt' gekommen
fand sie eine klare Quelle,
mit dem Wasser dieser Quelle
wäscht sie ihre Hände rein.
150 Ferdinand Wolf.
— Hände, wer euch sah, und jetzt sieht,
wie habt ihr euch arg verändert! —
Da hört eine Stimm1 sie sagen:
„Magdalena, du bist sündig!"
— Engel mein, hab' ich gesündigt,
sei mir neue Buss' gegeben.
— Kehre, kehre, Magdalena,
sieben Jahr' in Waldes-Wildniss. —
Nach Verlauf der vierzehn Jahre
hat geendet Magdalena;
unter lautem Sang der Engel
wird sie himmelwärts gehoben;
Engel leuchten ihrer Leiche
und Maria hüllt sie ein.
16. Der König Herodes i).
Gottes heil'ge Mutter schnitt einst zu und nähte,
machte selbst die Hemdchen für Maria's Söhnchen.
Während sie sie zuschnitt, während sie sie nähte,
unter ihrer Kammer grossen Lärm sie hörte.
Und sie fragt die Nachbarinnen:
— Nachbarinnen, was soll das?
— Herrinn, 's ist der Fürst Herodes
der umzingelt hält die Stadt;
alle Kinder die er findet,
will er tödten lassen all*»
— Nie soll meinen Sohn er finden
gut verborgen ich ihn halt1.
— Gehen wir, Joseph, o Iass uns, mein Gemahl,
nach Ägypten flieh'n, hier haben wir nicht Rast!
Lassen wir dies Haus und was uns hier genährt.
Dass Herodes komm1, hab sagen ich gehört. —
l) „El rey Herodes." — ■
La mare de Deu — tallaba y cusia.
In dieser Romanze variirt Rhythmus und Assonanz, und nach dem strophischen
Parallelismus zu sehliessen , könnte ihr eine Sequenz zu Grunde liegen. — Ich
habe mich bemüht sie so gut als möglich nachzubilden, und die schwierige Form
möge die Härte und Ungefügigkeit des Ausdrucks entschuldigen.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen.
Als sie auf des Weges Mitte,
trafen sie auf einen Mann.
— Was tragt ihr hier wohl, Maria,
was verhüllt ihr also tragt?
— Trage hier ein Päckchen Weizen,
Weizen von der besten Art.
— Wollt ihr mir ihn wohl verkaufen,
oder geben nur als Pfand?
— Will ihn weder euch verkaufen,
noch verpfänden ich ihn kann;
denn durch dieses Päckchen Weizen
wird erlöst das Welten-All. —
Auf der Eselinn sie reitend weiter ziehn,
folgend dem Geleis auf einer Heerstrass hin,
Engel hatten sie, die Vöglein auch umschwebt,
dass das gute Kind Jesus nicht werd' entdeckt.
So ziehn sie des Wegs, gar sehr von Angst gequält,
trafen einen Mann der Weizen ausgesät.
— Mann, ihr guter Mann, ihr guter Sämann sprecht,
habt ihr eine Garb1 in der ich mich verberg1?
Guter Sämann , guter Sämann,
von der guten Weizen-Saat,
wollt 'ne Garbe ihr mir geben,
dass ich mich dVinn bergen kann?
— Wie wollt ihr 'ne Garbe haben,
da zu sä'n ich kaum begann?
— Geht die Sichel nur zu holen,
reif zum Schnitte steht es dann. —
Als der Sämann wiederkehret,
kornvoll', trockne Halm' er fand.
In der nächst gemachten Garbe
sich die Jungfrau da verbarg.
Kaum verging "ne Stund, als angezogen kam
eine Häscher-Schar, sie suchend überall,
sprechen zu dem Mann der dem Schnitt ging nach :
— Mann, ihr guter Mann , ihr guter Schnitter, sprecht,
saht ihr wohl ein Weib das den Erlöser trägt?
151
1 52 Ferdinand Wolf.
Antwort gibt er d'rauf: — Hier ein's vorbei wohl zog,
während ich da weilt' beim Schnitte dieses Korns. —
Einer zu der Schar da sagt: — Die sind es nicht;
kehren wir nach Haus mit allen die hier sind.
Nahmen einen Weg der uns nichts eingebracht,
hatten viele Müh'; doch keinen Fund gemacht *).
17. Der heilige Ranion von Pefiafort 2).
Einen Rosenbaum pflanzt1 die Mutter Gottes;
aus dem grossen Baum spross hervor ein Sehössling,
spross hervor Ramon, Sohn von Villafranca3).
Kön'ge beichten ihm, Könige und Päpste.
Hört 'nen König Beicht, der in Sund1 versunken,
gross ist dessen Sund1, sich Ramon entsetzet.
— Weinet nicht, Ramon, Sünde ist 'mal Sünde;
gebt ihr Ablass nicht, so verderbt ihr Spanien. —
Geht zur Bucht Ramon sich ein Schiff zu miethen,
er zum Schiffer spricht: — Wollet ihr mich führen? -
Doch der Schiffer sagt, dass verbot der König
ihm, zu leih'n sein Schiff Mönchen und Caplänen.
den Scholaren nicht mit den langen Kutten.
!) Herr Mihi bemerkt hiezu : „Manche Versionen geben als Fortsetzung' oder viel-
leicht als Ergänzung- dieser Romanze die merkwürdige Sage: dass das Repphuhn
und die Münze (menta) den Versteck der Maria verriethen, wesshalb das erstere
dazu verdammt wurde, dass sein Kopf nicht essbar sei, und die zweite , dass sie
keine Körner trage :
Calla, calla la perdiu, — malehit sera"l teu cap. . .
Calla, la menta xarraira — que n'etsmenta y mentiras,
y que mentre'n siguis menta — floriras y no granaras."
2) „San Raimundo de Pefiafort". —
La Mare de Deu — un roser plantaba.
In den Recuerdos y Bellezas de Espatta, Abtheilung: Mallorca, wird pag. 335,
eine von dieser etwas abweichende Version gegeben. Eine castilische findet
sich bei Duran, Rom. gen. Nr. 1225, von Gabriel Laso de la Vega. Die
Legende von diesem Heiligen und dem Könige von Aragon, Jaime el conquistador,
bildet ein Gegenstück zu der von Johann von Nepomuk und dem König Wenzel
von Böhmen. Ramon wurde 1456 selig gesprochen; und bei der Feier seiner
Seligsprechung im J. 1601 sind wohl alle diese Romanzen entstanden. Die oben
gegebene catalanische ist zugleich eines der beliebtesten Wiegenlieder.
3) Das Geschlecht der Herren von Penyafort war jedesfalls in Villafranca ansässig,
indem dort eine Strasse den Namen derselben führt.
Proben portugiesischer und eatalanischer Volksromanzen. j 53
Wirkt da Sanct Ramon, gottbegnadigt, Wunder:
wirft sein Kleid aufs Meer, ihm als Schiff zu dienen,
und den Hirtenstab pflanzt er auf als Mastbaum,
und das Scapulier schwellet er zum Segel,
macht die heil'ge Schnur zur sehr heil'gen Flagge.
Sieht's der Monjuich, meldet an ein Schiffchen,
und die Seeieut all' eilen auf die Mauern:
— Jesus! was ist das? Bark' oder Galeere?
Keine Barke ist's, keine Kriegsgaleere;
es ist Sanct Ramon , der gewirkt ein Wunder.
Im Kathrina-Dom läuten sie die Glocken.
c) Historische.
18. Die Dame von Aragon *).
Ist 'ne Dam' in Aragonien,
ist wie eine Sonne schön,
und goldgelbes Haupthaar hat sie
das ihr an die Fersen reicht.
(Refr. Ach! wie lieb Agna Maria!
eine Herzens-Räuberinn !)
Kämmte sie da ihre Mutter
mit 'nem kleinen Kamm von Gold,
jedes Haar ist eine Perle,
jede Perl' ein gold'ner Ring,
jeder Gold-Ring ist ein Gürtel,
ihr den ganzen Leib umschlingt.
Ihre Schwester flicht zu Zöpfen
diese Haare zwei zu zwei,
ihre Pathinn salbt sie ein ihr
mit 'nem Öl neunfachen Dufts,
ihre Schwäg'rinn sie ihr bindet
mit 'nein Band, neunfarbig ist's,
1 I ,.La dama de Aragon".
A Arag6 n'hi ha una dama
qu'es bonica cum im sol.
\ 54 Ferdinand Wolf.
und ihr Bruder sie betrachtet
mit so siegesreichem Blick,
sie betrachtet und mit sich führt
auf die Mess1 von Aragon.
AU' die Bing1 die sie da ankauft
ihr entfallen aus dem Tuch;
ihre Diener die ihr folgen,
heben auf sie zwei zugleich.
— Bruder, geh'n wir in die Messe,
geh'n das Hochamt wir zu h^r'a. —
Als sie in die Kirche traten,
die Altar' Gold wiederstrahl'n.
Als das Weihwasser sie nehmen,
wird die Schal1 zum Blumenkelch.
Wie die Dame sie ersehen,
machen sie ihr alsbald Platz ;
Damen auf die Erd1 sich setzen,
sie auf einen Stuhl von Gold.
Der Caplan der liest die Messe,
finden kann er keinen Text,
der Scholar der ihn bediente,
weiss nicht mehr zu respondirV
Wessen ist wohl jene Dame
von der solcher Glanz ausstrahlt?
„Frankreichs Königs Tochter ist sie,
Schwester des von Aragon;
wollt ihr mir vielleicht nicht glauben,
seht euch ihre Schuh' nur an:
werdet sehen die drei Lilien
und das Wappen Aragons1)-"
!) Diese Romanze, obwohl ich sie mit Herrn Mila unter die historischen gesetzt
habe, ist doch wohl eine romantische; denn nur der Schluss könnte glauben
machen, dass sie sich auf eine historische Person beziehe; aber selbst Herrn
Mila ist es nur mit einer sehr gezwungenen Deutung des: „Frankreichs Königs
Tochter" als einer politischen Adoptiv-Tochter , gelungen, unter der Dame von
Aragon die Schwester Don Pedro's III. von Aragon und die fiemahlinn Philipp's
des Kühnen von Frankreich darin zu sehen. — Mit dieser Romanze hat viele
Ähnlichkeit die castilisehe: En Sevilla est.ä una hermita (P r i m a v e r a,
Nr. 143).
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 1 JO
19. Die Amme des Infanten *).
In des Königs Palast dort
wird ein Festmahl abgehalten,
Niemand blieb davon zurück
als die Amin' mit dem Infanten.
Der Infant wollt' schlafen nicht,
nicht im Stuhl, nicht in der Wiege,
nur im gold'nen Wiegelein
das die Amme ihm bereitet.
Grosses Feuer facht die Amm1
an vom grünen Eichenholze.
An des Feuer-Herdes Rand
ist die Amme eingeschlafen.
Als die Amme dann erwacht',
fand vom Kind sie nichts als Asche,
Rief die Amm' in grosser Angst:
— Steht mir bei, o heil'ge Jungfrau!
Rettet mich nicht eure Hilf,
werd' von allen ich verabscheut,
von den Grafen und Barons,
all den hochgebor nen Herren.
Jungfrau, schafft ihr mir das Kind,
lass 'ne Goldkron' ich euch machen,
eurem hochgepries'nen Sohn
eine Krön' von feinem Silber. —
Trat des Königs Diener ein:
— Was fehlt euch denn, meine Amme?
— Hab verlor'n das Wickelzeug,
in des Königs Haus das beste.
— Seht hier Amme, hier ist Geld,
kauft ein and'res in der Bude.
— Wickelzeug wie ich's verlor,
nicht verkauft man's in der Bude.
l) „La nodriza del infantc". —
All:! al palacio del rey
im »ran Convit n"lil lialiia.
1 5G Ferdinand Wolf.
— Seht hier Amme, hier ist Geld,
kaufet ein's beim Silberhändler,
findet ihr's dort nicht von Gold,
kaufet ein's von feinem Silber. —
Als sie ist auf Mitte Wegs,
findet sie da Sanct Maria.
— Jungfrau schafft ihr mir das Kind,
lass 'ne Goldkron ich euch machen,
eurem hochgepries'nen Sohn
eine Krön' von feinem Silber.
— Kehr zurück in den Palast,
sei nicht mehr so sehr betrübet ;
findest dorten den Infant,
ganz allein mit seinem Spielzeug1).
20. Die Gefangennehmung des Königs vou Frankreich 2).
Frankreichs Konig zog aus einstmal
an 'nein Montag, Morgens früh,
zog aus einst zu nehmen Spanien;
und die Spanier fingen ihn.
Setzten in stockfinst'ren Kerker
ihn, wusst' nicht, war's Tag war's Nacht.
wenn nicht an 'nem einz'gen Fenster,
auf den Weg ging's nach Paris.
Steckt den Kopf hinaus zum Fenster,
einen Wandrer kommen sieht.
— Guter Wandrer, guter Wandrer,
was sagt man von mir in Frankreich?
— Sagen in Paris und Frankreich,
dass ihr todt oder gefangen.
!) Auch diese Romanze die Herr Mila ebenfalls unter die historischen gereiht hat.
ist doch wohl eine romantische oder vielmehr eine legendenarligo. Sie ist n<»]>st
der von St. Ramon das beliebteste Wiegenlied in Catalonien.
2) „La prision del r e y de Francia".
Ya parti lo rey de Fransa
hu dilluns nl demati.
Proben portugiesischer und cätalanischer Volksromanzen. 10/
— Wandrer, kehr zurück nach Frankreich.
bringe Botschaft hin von mir,
sage meiner theuren Gattinn,
lösen mich von hier sie komm1.
Ist nicht Geld genug in Frankreich,
gehe man nach Sanct Denis,
und verkauf das gold'ne Kissen,
und verkauf die Lilien-Blum'.
Ist nicht Geld genug im Beutel,
gehe man nach Sanct Patriz ')•
21. Die Dame von Rens3).
Aus der grossen Stadt, aus Bens
waren alle fortgefloh'n,
ausser einer edlen Dame
deren Mann gefangen sass.
Sie ging zu dem Commandanten,
zu dem Herren aus Madrid.
— Gott zum Grass, Herr Commandant,
wollt hefrei'n ihr meinen Mann?
— Ei, beweint ihr, edle Dame,
euren Mann und seine Lieb1?
— Ja fürwahr, Herr Commandant,
meinen Mann und seine Lieb'.
— Seid nicht bange, edle Dame.
Morgen seh't ihr ihn gewiss. —
Als sie spähend stand am Fenster,
sieht sie bringen ihren Mann.
') Offenbar «'in Spottlied auf des Königs Franz !. von Frankreich Gefangenschaft in
Spanien. Die letzten Verse, besonders das Zuhilferufen des zaubermächtigen
Patrizius, verspotten wohl seinen Geldmangel. — So frisch die catalanische , so
prosaisch ist die cas tili sehe Romanze auf denselben Gegenstand (s. Du ran,
I. c. Nr. 1141).
3) „La dania de Reus".
A la gran vila de Reus
tota la gent ha fugit.
\ 58 Ferdinand Wolf.
— Wär't verstummt ihr, Commandant!
Werdet denken meiner noch !
Ihr habt meinen Stolz geraubt mir,
ihr liesst hängen meinen Mann !
— In dem Heer hab' ich drei Söhne,
wählet euch den besten aus,
und wenn diese euch missfallen,
werd' ich selber euer Mann. —
Einst kehrt aus der Messe heim sie,
tritt der Commandant zu ihr :
— Habet Mitleid, edle Dame,
habet Mitleid doch mit mir!
— Hab' das Mitleid das ihr hattet,
als ihr meinen Mann liesst hängen.—
Ein Pistol sie schnell hervorzieht,
drückt es ab mit rascher Hand »)•
22. Bach's von Roda Tod2)-
Ach, Stadt Vieh, befiehl dich Gott!
wohl verdientest du zu brennen !
Hingest auf 'nen Cavalier ,
ja den edelsten der Ebne.
(Refr. Mutter Gottes, schütze uns!
du, o von Roser und Carme !
Du, glorreicher Dominik,
an des Tag sie ihn aufhingen!)
Hiessen niedersteig'n Herrn Bach,
weil ein Freund nach ihm verlange;
war kaum unten angelangt,
banden sie ihn fest mit Stricken ,
i) Herr Mihi bezieht die in dieser Romanze erzählte Begebenheit auf die Zeit des
spanischen Successionskrieges zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, als sich nament-
lich in Catalonien die Parteien mit der grössten Erbitterung verfolgten.
2) „La muerte de Bach de Roda".
;Ay a Deu ciutat de Vieh,
be'n mereixes ser cremada!
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 1 5 J
und an eines Rosses Schweif
nach Stadt Vieh sie ihn da schleiften.
Liessen künden einen Ruf:
„Zimmerleuf ihr und Baumeister,
baut 'nen neuen Galgen auf
an der Höh' von Devalladas."
Zimmerleut' antworten drauf,
sei kein tauglich Holz vorhanden.
Sagt darauf der General:
„Reisset nieder ein paar Häuser."
Reissen aus viel Lichterpfähl,
auch die silbernen Laternen;
liessen einen Ruf ergeh'n :
alle Thore zuzuschliessen.
Schon die Thor' geschlossen sind,
als Pardon kommt; doch zu spät nun!
denn sie greifen, binden ihn,
schleppen ihn hinaus zum Galgen.
Als er das Gerüst bestieg ,
sagte er noch diese Worte:
— Als Verräther nicht ich sterb',
noch als Haupt 'ner Räuberbande ;
nur weil künden ich gewollt:
ganz noch fühl' das Vaterland sich.
Dieses Kästchen hier von Gold
soll Pater Ramon von Carme
der Gewissensrath mir ist,
als Erinnerung behalten.
Nicht zu sterben schmerzt es mich,
noch, dass schmählich ist mein Ende ;
aber dass ich Töchter hab\
alle drei mit Heirathsbriefen *),
und sie doch nicht lassen kann
alle drei auch wohl versorget'-).
i) Totas tres son encartadas. Wozu die Erklärung' Herrn MilsTs: „encartadas por
comprometidas para casarse en cartas ö escrihiras nupeiales".
2) Diese Romanze ist echt historisch und nach Herrn Milä gleichzeitig mit der besun-
genen Begebenheit. D. Francisco Masian Bach von Roda war einer der ersten
| ß 0 Ferdinand Wolf.
d) Räuberromanzen.
23. Die Magd des Gasthauses zu La Peyra *)•
Ins Schenkhaus von La Peyra eintraten Damen drei;
(Hollaho, Holla!)
fragten da des Hauses Frau, was gibt es zu supier'n?
— 's gibt da Thunfische mit Fett, und Repphühner mit Speck. —
Zwei der Damen assen da, die dritte wollt' es nicht,
allzumüde fühlt sie sich und will zur Ruhe geh'n.
— Nimm du, Mädchen, hier das Licht, und geh' sie zu begleit'n.—
'ne Verräth'rinn ist die Magd, belauscht sie durch die Wand.
Haben kurze Hosen an und an der Seit' Pistoi'n.
Geht die Magd zum Herrn hinab: — Heut Nacht sie uns beraub1:!.
Lest zur Ruh' euch, meineFrau, heutNacht will wach ich bleib'n. —
'ne Verräth'rinn ist die Magd, zu horchen passt sie auf.
Als es zwei geschlagen hatt', die Räuber niederstieg'n.
Als sie kamen in die Küch' , die Magd zu schnarchen schien,
träuften da drei Tropfen Wachs ihr auf die Brust herab,
'ne Verräth'rinn ist die Magd, sie schnarcht und schnarcht noch mehr.
Einer zu dem And'ren sagt, — sie schläft ganz wohl und fest. —
Werfen einen Kinder-Arm in's Feuer da hinein:
„Wer nun wach ist, schläft nicht ein, und nicht erwacht, wer
schläft3)."
Schreiten nun zur Thür hinaus, und machen einen Pfiff.
Doch das Mädchen, das ist klug, und schliesst die Thüre ab.
— Öffnest, Mädchen, du die Thür, geb' hundert Thaler dir.
unter den Einwohnern Vich's, die sieh für das Haus Österreich erklärten, am 20. Juli
1703. Er kämpfte an der Seite seines berühmten Landsmannes Jose Mas im Succes-
sionskriege, und wurde nach der Einnahme von Barcelona und Vieh in der Nähe des
letzteren Ortes, auf dem Vorplatze von Devalladas, mit mehreren anderen Edelleuten
und Anhängern der österreichischen Partei hingerichtet, die zugleich die Landes-
Privilegien gegen die Cenlralisation vertheidigt hatten.
») „La criada del hostal de la Peira". —
AI hostal de la Peyra — tres damas van anar (oleta-ola'j.
2) Vgl. über diesen allgemein verbreiteten Diebs - Aberglauben : Job. Praetorium
„Philologemata abstrusa de pollice; in quibus singularia animadversa vom Diebs-
daume etc." Lipsia; 1677 in 4., pag. 153 sqq.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksromanzen. 101
— Nicht für hundert, fünfzig mehr, die Thür1 sich öffnet euch.
— Willst du jenen Kinder-Arm mir geben -wohl heraus?
— Streck' die Hand hier durch die Thür1, geh dann dir jenen Arm. —
'ne Verräth'rinn ist die Magd, haut ihm die Hand wurzab.
— Dirne, lass gesagt dir's sein, das zahlst du mir noch sehr,
ja mit deiner Adern Blut wasch1 ich die Hand mir rein !
Und du, Wirth von La Peyra, sei dess wohl eingedenk;
denn die Magd die du da hast, kannst hoch du halten sehr,
hat beschützt das Leben dir, und vor dem Raub dein Haus:
von drei Söhnen die du hast, gib einen ihr zur Wahl.
24. Der Erbe des Galgens ')•
— Als ich war noch klein, ganz klein,
da beschenkte mich die Mutter,
manches Spielzeug sie mir gab,
manche weich gekäute Nüsse;
legte mich dann auf das Bett,
dass ich schlief und nicht mehr weinte.
Spann* am Rocken mit sieb'n Jahr,
und mit neun ich Wolle kratzte;
doch mit zwölf ich zog auf Raub,
ein Geschäft das nicht gesetzlich,
doch mit zwölf ich zog auf Raub,
führt mit fünfzehn schlechtes Leben ;
doch mit achtzehn beichtet' ich
einem Frater der gepredigt.
Als die Beicht' im besten Zug,
spricht er schlecht von den Kam'raden.
Eines Tags im Gottes-Haus
streck' ich mit 'nem Schuss ihn nieder,
eines Tags im Gottes-Haus
während er die Messe ablas.
l) „El heredero de la horca". —
Quant yo u'era petitet,
la niare ni'en regalaha.
•Sitzt.. (1. phil.-hist. Cl. XX. Bd. I. Hft. ü
162 Ferdinand Wolf.
„ — Greifet den Verräther, greift,
ihm komm' nicht zu Gut die Kirche!" —
Mir kam nicht die Kirch' zu Gut,
nicht die heiligen Reliquien.
Nicht darauf verlies ich mich,
meinen Beinen traut' ich besser,
über eine Wand ich sprang,
hatt wohl sieben Ellen Höhe;
doch all' das war nur ein Spass
gen den Fluss unt' viere tief.
Unter einem Mühlen-Rad
barg ich mich, das Leb'n zu retten.
Um die Stund der Mitternacht
pocht' am Thor ich meiner Mutter.
— Woher kommst du, o mein Sohn?
Schlimme Kunden laufen um jetzt,
sage, schlugst 'nen Priester todt,
während er die Messe ablas?
— Mutter, glaubet nicht daran
seht doch, haben euch belogen;
wäre wahr das was man sagt,
blieb' ich hier nicht mehr in Spanien. —
Während diesem Zwiegespräch
ist ein Schreiben eingetroffen,
dieses Schreiben ging an ihn,
an die Mutter nur die Aufschrift:
„Woll'n zum Erben machen ihn
in der Eb'ne von Cerdana,
und auf einer Anhöh1 dort
hast ein Haus schon ganz bereitet,
hat drei Pfähle dieses Haus,
ohne Dach und ohne Wände,
scheint die Sonn' darauf am Tag
und bei Nacht der klare Mondschein,
komm' von welcher Seit' er woll' der Wind *)>
immer trifft er dich ins Antlitz."
l) Auch im Original ist dieser Vers zu lang:
Vingui d'alla 'hont vingni el vcnl.
Proben portugiesischer und catalanischer Volksroinanzen. 163
e) Genreartige (de eoslumbres modernus).
25. Die Entführung *)•
Nicht in kleinen Häusern, nicht in grossem Haus
ist wie Pepa eine, preisen alle sie.
(Refr. Lieblich ist die Rose, lieblicher der Zweig.)
Wie auch all1 sie preisen, geb'n ihr keinen Mann.
Geht da zu dem Bache, eine Schürz zu wasch'n,
um recht schmuck zu gehen an dem Weihnachtstag.
— Was machst du hier, Pepa, was machst du hier doch?
— Wasche meine Wäsche, und die Schürze auch,
um recht schmuck zu gehen an dem Weihnachtstag. —
Er erfasst und schwingt sie auf das Pferd hinauf,
grün ist dessen Sattel und das Pferd ist weiss.
Sie die Strassen LIeida's seufzend nun durchzieht.
— Warum weinst du, Pepa, warum weinst so sehr?
= — Wein' um meine Eltern, um die Brüder mein,
nehmen's sich zu Herzen, sterben sicher drob.
— Lass sie immer sterben, graben sie schon ein,
haben neue Gräber, müssen sie einweih'n,
auf der Gräber jedes setzen sie 'nen Zweig,
Fratres und Capläne beten dann für sie.
26. Die todte Braut 3).
— War am Tag' des Sanct Joan,
an dem hochgehalten Festtag,
(Refr. Stadt Ripoll , ade, ade,
in der Mitt' von zwei Gewässern!)
leg den Sattel auf das Pferd,
reite straks auf das Gebirge,
!) „El rapto«. —
A la torre xica — a ia torre gran.
2) „La m u e r t e de I a n o v i a". —
El dia de San Joan,
n'es diada scnyalada.
ii
1 (3 4 Ferdinand Wolf.
mit dem schwarzen Band am Hut
und den sammtbesetzten Schuhen.
Als ich auf der halben Höh',
hör 'ne Stimm1 ich , fein und klar,
wende wieder mich zurück,
seh1 sie hinter einem Strauche.
In Galopp setz' ich das Pferd,
schnurstraks gings nach ihrem Hause.
Doch auf halbem Wege schon
hör1 von dort ich Glocken-Läuten.
Kommt entgegen mir ein Freund.
— Für wen läuten sie die Glocken?
— Will dir's sagen wohl, mein Freund,
's ist für deine Vielgeliebte.
— Steh' mir Gott bei! kann das sein?
sah' sie vor 'ner Viertelstunde. —
In Galopp setz1 ich das Pferd,
schnurstraks ging's nach ihrem Hause.
Als ich in der halben Gass',
seh' die Thor ich halb geschlossen,
auf dem Söller schwarzes Tuch.
Kehrt sich mir das Herz im Leib um ;
stürme rasch die Trepp" hinauf,
als war1 ich der Herr des Hauses.
Stürm' hinauf den ersten Gang,
stürm1 hinauf der Treppe zweiten,
als den dritten ich erreicht,
find ich sie im — Leichentuche.
Schon zu Füssen ihr ich knie,
schon enthüll1 ich ihr das Antlitz.
— Nicht berühr mich, mein Gemahl,
weil verdammet ich dann würde.
Geh1 in das Gewölb hinab,
findest dorten meine Mutter,
dass die Schlüssel sie dir geb1,
sag', die Schlüssel meiner Truhe,
und in deren mittleren Fach
findest du die Ohrgehänge,
Proben portugiesischer und catalaniscber Volksromanzen. 165
und in deren unterm Fach
findest du den Ring von Silber,
findest einen Ring von Gold
mit drei engverschlung'nen Steinen,
und die Haub' von rothem Netz
findest du auch in der Truhe.
Rufe dann die Zimmerleut',
sag1, dass einen Sarg sie machen,
sie ihn etwas grösser machen,
dass wir beide Platz d'rin finden.
27. Maria Aügeleta J).
— Geh1 Maria in den Garten,
nimm da Abschied von den Pflanzen,
auch von deinem Lieblingsbaum2)
den du jeden Tag begössest.
(Refr. Sag1, ihr Nelken, euch ade,
euch ihr Rosen, Waldviolen!)
Heben nun sie auf ein Pferd,
geben eines ihrer Mutter.
Zieh'n die Diener dann voran,
Vater, Mutter zuletzt folgen.
Als sie auf dem halben Weg:,
kommt ein schmucker Mann zu ihnen.
— Wollt ein wenig ihr verzieh'n,
nur um euch ein Wort zu sagen?
Hättet ihr ein weisses Pferd,
zog' ich mit, euch zu begleiten?
— Rrauchen keinen Diener mehr,
haben g'nug uns zu begleiten. —
') „Angelet»". —
2) Im Original steht:
Angelet«, ves al hört,
despedeixte de las plantas-
Y tambe del mar du ixe (?).
106 Ferdinand Wolf.
Gibt ihr dann 'nen Nelkenstrauss,
wie man gibt ein Angedenken.
Kaum sie an den Nelken roch,
fängt Maria an zu weinen.
Beim Einritt in Tarragona
zog sie Vieler Blick1 auf sich,
wissen nicht, soll'n sie nach ihr seh'n,
nach dem Schmucke den sie trug;
heben nun sie von dem Pferd1,
heben auch herab die Mutter.
Da eilt sie die Trepp1 hinauf,
wirft sich auf das Buhbett hin.
Ihre Mutter sie vermisst,
schnell die Treppe sie hinaufsteigt.
— Was fehlt dir, Maria Engel,
dass so sehr erzürnt du bist?
0 hätt1 ich verfolgt den Buben
der im Strauss dir Gift wohl reichte !
— Hat mich nicht vergiftet, nein,
da mein Herz sich d'ran erfreute. —
Auch ihr Vater sie vermisst,
schnell die Treppe er hinaufsteigt.
— Was fehlt dir, Maria Engel,
dass so sehr erzürnt du bist?
0 hätt' ich verfolgt den Buben
der im Strauss dir Gift wohl reichte!
— Hat mich nicht vergiftet, nein,
da mein Herz sich d'ran erfreute. —
Auch ihr Bruder sie vermisst,
schnell die Treppe er hinaufsteigt.
— Was fehlt dir, Maria Engel,
dass so sehr erzürnt du bist?
0 hätt1 ich verfolgt den Buben
der im Strauss dir Gift wohl reichte !
— Hat mich nicht vergiftet, nein,
da mein Herz sich d'ran erfreute.
— Kennst du jenen Herren wohl
der sich hier ergeht im Saale?
Proben portugiesischer und cntalanischer Volksromanzen. 107
— Kenn' nicht solchen Erzverräther;
ach! mein Lehen geht zu Ende! —
Um die Stund' der Mitternacht
legt Maria ihre Beicht' ab ;
um ein Uhr nach Mitternacht
sie empfängt die letzte Ölung;
um zwei Uhr nach Mitternacht
ist bei Gott schon ihre Seele.
28. Die Tochter des Landmanns ').
Es war 'mal ein Landmann der hatte eine Tochter,
er wollte sie nicht geb'n den Jungen seines Fleckens.
(Refr. Der Apfelbaum verblüht, die Rose sich entfaltet.)
Wollt sie 'nein Franzmann geb'n vom Lande der Gabachen 3),
Hess sie vor Hunger sterben, vor Kälte in der Bude,
schickt sie auch nach dem Wald', zu holen Holz von Eichen.
Beim Eintritt in den Wald sticht sie sich an 'nein Dornstrauch.
Da stösst sie aus 'nen Schrei: — Hilf mir, Jungfrau Maria!
wenn du mir jetzt nicht hilfst, bin Morgen nicht mehr lebend!
Dies ihr Geliebter hört bis in des Fleckens Mitte.
Gleich sattelt er das Pferd und legt ihm um die Zügel;
eilt schnurstraks in den Wald, dahin wo weilt das Mädchen.
■ — Willst, Mädchen, kommen mit, geh' ich dir das Geleite.
Von Schlössern drei die mein, zur Herrinn dich werd1 machen:
das ein1 in Valencia, das and're in Castilien,
das dritte ist mein Herz, das hält dich hoch am meisten.
29. Das zweifelhafte Versprechen 3).
Ach! ihr Mädchen von dem Flecken,
und auch ihr vom Aussenwerk!
*) „La iiija del labrador". —
N'hi habia im pages — que'n tenia una filla.
2) Gabacho (s|>r. Gabatscbo), Schimpfname der eingewanderten Franzosen in
Spanien.
:1 ) „ I, a |> r o m e s a d u d o s a". —
|Ay las noyas de In vila
> tambe las del rabal
1 uö Fercl. Wolf. Proben portugiesischer und catalanlseher Volksroraanzen.
Wie ihr früh auf seid des Morgens,
zu dem Schürzen-Waschen eilt! —
Während sie die Schürzen waschen,
kommt ein schmucker Bursch vorbei.
— Hier will ich mich wohl verweilen;
und du, Mädchen, gibst mir nichts?
— Wollt ihr etwa diese Schnur hier,
oder dieser Schürze Band?
— Nichts will ich als jene Böse
die ihr an dem Busen tragt.
— Kommt Sanct Peter Abends wieder,
oder Morgens von Sanct Juan,
werden dann die Rosen blühen
für euch — oder einen sonst.
J o s e p !i C h m e I. Das I« e c Ii t des Hauses Habsburg auf Kärnten. 109
SITZUNG VOM 20. MÄRZ 1850.
Gelesen:
Das Recht des Hauses Habsburg auf Kärnten.
Von dem w. M. Hrn. Regiernngsrath Joseph Chmel.
In dem „Vorbericht" zum zweiten Bande der ersten Abtheilung
der Monumenta Habsburgica, S. XXI, habe ich in der Vertheidigung
meiner Ansicht über das grosse Privilegium von 1156 auch Folgendes
geäussert: „Kaiser Ludwig der Baier fand es für gut, bei Gelegenheit
der Erledigung des Herzogthums Kärnten, worauf die österreichischen
Herzoge von Zeit der ersten Belehnung (1282) her die gerech-
testen Ansprüche hatten und das sie nur temporär abgetreten
hatten, den österreichischen Herzogen, mit denen vielfache Unter-
handlungen gepflogen wurden , in ihr eigenes Gebiet nachzu-
ziehen."
Diese Äusserung scheint die nächste Veranlassung gewesen zu
sein zu einer Abhandlung eines jungen Mannes, die in einer der
letzten Classen-Sitzungen unserer Akademie vorgetragen wurde.
Der Verfasser, Herr Stögmann, ein talentvoller und eifriger
Zögling unseres neu gegründeten Seminars für österreichische
Geschichte, bestrebte sich in dem ersten Theile seiner Abhandlung
nachzuweisen, „dass die ziemlich allgemein verbreitete Annahme,
der Rückfall Kärntens an Österreich nach Aussterben des Meinhard'-
schen Mannsstammes sei ausdrücklich bedungen gewesen, sich
historisch nicht erweisen lasse." — Im zweiten Theile wird die
„eigentliche Geschichte des Heimfalles (?) Kärntens an Österreich
durchgeführt."
170 JosephChmel.
„Es ergibt sich demnach (nach Stögmann's eigenen Worten)
aus der ganzen Darstellung, dass die Erwerbung Kärntens betrachtet
werden muss als das Resultat höchst verwickelter, politischer
Combinationen. Die besonnene ausdauernde Politik Herzog Albrecht's
siegte. Die Bedeutung dieses Sieges liegt aber nebst der dadurch
gewonnenen Machtvermehrung auch noch in dem Umstände, dass
dieser ganze Streit um Kärnten betrachtet werden muss als ein
Moment des grossen Kampfes der Häuser Habsburg und Luxemburg,
eines Kampfes , der auf Österreichs Geschicke den bedeutendsten
Einfluss ausübt." (Wiener Zeitung 1856, Nr. 66, S. 814.)
Ich sehe mich veranlasst, meine obige Ansicht von dem Recht
des Hauses Habsburg auf Kärnten zu erläutern und zu begründen.
Ich leugne nicht, dass die Erwerbung Kärntens durch die „besonnene
ausdauernde Politik Herzog Albrecht's" gefördert wurde, ich behaupte
aber, der B e sitz von Kärnten, mithin seine Erwerbung, müsse
eine solidere Basis haben, als blosse „politische Combina-
tionen." — Ich begnüge mich nicht mit einem blos facti sehen
Besitze, Kärnten gehörte dem Hause Habsburg auch de jure.
Wäre die Erwerbung Kärntens nur das Resultat „höchst ver-
wickelter, politischer Combinationen", hätte das Haus Habsburg nicht
das begründetste Recht auf Kärnten gehabt, so würde der Besitz
des Herzogthums kein rechtlicher, sondern nur ein fac tischer
sein, und das wäre eine höchst unerfreuliche Anomalie , eine uner-
quickliche Ausnahme in der Geschichte des Hauses Habsburg, die
von Rudolf I. bis Maria Theresia bei allen Erwerbungen eine recht-
liche Basis uns vorführt und bietet.
Herr Stögmann glaubt zwar, die Herzoge von Österreich hätten
auf Kärnten zu Gunsten Meinhard's ganz unbedingt verzichtet,
und es sei mithin die Erwerbung im Jahre 1335 durchaus in keinem
Zusammenhange mit dem früheren Besitze durch die Belehnung im
Jahre 1282, er hat aber meines Erachtens bei dieser Behauptung
etwas sehr Wesentliches ausser Acht gelassen.
Wäre die Verzichtleistung unbedingt gewesen, hätten sich
die Herzoge aller Ansprüche, ja ihres eventuellen Bechtes auf Kärnten
begeben, so hätte die Verleihung Kärntens im Jahre 1335 als erle-
digtes Bei ch sieben rechtlich nur erfolgen können, wenn die Kur-
fürsten des Reiches dazu ihre förmliche Einwilligung aufs Neue durch
Willebriefe gegeben hätten. Diese fehlen aber gänzlich, es ist nicht
Das Recht des Hauses Habsburg- auf Kärnten. 171
die mindeste Spur, dass solche existirt haben oder auch nur zur
Sprache gekommen seien.
Man brauchte sie auch gar nicht, die ursprünglichen Willebriefe
zur Zeit der ersten Belehnung reichten aus. Die Kurfürsten hatten
ein für alle Mal eingewilligt, dass König Rudolf I. die Reichslehen,
welche König Ottokar nach und nach an sich gezogen und die durch
seine Energie und Umsicht dem Reiche erhalten wurden, seinen
Söhnen verleihen könne. Darunter war auch Kärnten. Die Beleh-
nung auch mit diesem Herzogthume fand Statt, bei Gelegenheit der
Belehnung mit Österreich, Steiermark, dem Lande Krain und der
Mark. Diese Thatsache bezeugt König Rudolf selbst in seinem
Lehenbriefe für Meinhard vom 1. Februar 1286: „Quo (Ducatu terre
Karinthie) ipsos (filios nostros) iamdudum cum ceteris Ducatibus uide-
licet Austrie et Stirie supradictis de consensu Principum Electorum
ius in electione Romanorum Regis habentium investiuisse recoligimus
in Augusta". — Wir wollen hier nicht das bereits Bekannte und öfter
Besprochene auch von Herrn Stögmann mit Sorgfalt Zusammenge-
stellte wiederholen.
Bekanntlich drohte diese Belehnung mit Kärnten, das Graf
Meinhard von Görz und Tirol mit Gut und Blut dem Reiche erhalten
hatte und als Reichsverweser verwaltete, ein bitteres Zerwürfniss
zwischen König Rudolf (mit seiner Familie) und seinem treuesten
Freunde und Anhänger, dein Schwiegervater seines ältesten Sohnes
Albrecht, herbeizuführen.
Die Lage war schwierig, Rudolf war Meinharden vielfach ver-
pflichtet, Kärnten war ihm in Aussicht gestellt, er hatte grössere
Summen darauf verwendet.
König Rudolf, der ohnehin bekanntlich in der zweiten Hälfte
seiner Regierung an den meisten und angesehensten Kurfürsten
nichts weniger als gute Freunde hatte, da diese Herren die allmähliche
Erstarkung des Reichsoberhauptes durch Begründung einer kräftigen
Hausmacht fürchteten und daher auch geneigt waren, selbst Rebellen
zu unterstützen, musste alles Mögliche thun, die guten Freunde sich
zu erhalten und nicht etwa die Zahl seiner Gegner zu vermehren.
Auf der andern Seite wäre es aber wohl eine unzeitige Gross-
muth gewesen, eine Selbsta ufopferu ng, wenn Rudolf und sein
Haus das so wichtige Kärnten, das zur Arrondirung der übrigen
Länder unerlässlich war, worin seine Söhne bereits nicht unbe-
deutende Besitzungen (als Lehen) besassen, so ganz und gar ohne
alle Entschädigung aufgegeben hätten.
Das sieht dem klugen, dem kräftigen KönigRudolf nicht gleich,
eben so wenig dem noch entschiedeneren und energischen Erst-
gebornen, Herzog AI brecht, der, wie seine ganze Regierungs-
sreschichte beweist, auf seine Gerechtsame, auf seine Stellung volles
Gewicht legte.
Leider ist uns die Geschichte des dreizehnten und vierzehnten
Jahrhunderts nur höchst fragmentarisch und lückenhaft überliefert,
magere, meist wenig unterrichtete Chronisten geben uns ungenü-
gende Andeutungen, höchstens von Resultaten die augenfällig
waren. Wie sich die Verhältnisse gestalteten, die Motive, die eigent-
lichen Absichten, die wirksam gewesenen Kräfte, Ansichten , Veran-
lassungen zur Entwiekelung derselben bleiben uns verborgen. Die
damalige Zeit überhaupt schrieb wenig, handelte desto mehr; — zu-
dem ist wohl Vieles von dem was etwa niedergeschrieben wurde
von gut Unterrichtelen, verlorengegangen, namentlich Brie fe oder
Berichte. Um desto mehr Gewicht ist auf Urkunden zu legen,
die noch am besten gehütet und erhalten wurden, wenn sie auch
meist kurz und wohl nicht ohne Absicht dunkel gehalten sind. — Man
muss sie mithin erläutern.
Wir wissen über das Verhältuiss der in die Kärntner Angelegen-
heit Verflochtenen in den Jahren 1283, 1284, 1285 so gut als nichts.
Factisch war Graf Meinhard der Regiments -Verweser, die österrei-
chischen Herzoge übten wohl keinerlei Acte der Herrschaft aus,
wenigstens nach dem bisherigen Stande der Geschichtsforschung :
aber dass sie ihr durch die Belohnung zu Augsburg am 27.December
1282 erhaltenes Recht auf Kärnten sogleich wieder aufgegeben
hätten, weil die Belehnungs-Urkunde nur die Belehnung mit Öster-
reich, Steier, Kram und der Mark aufführt, ist ganz unmöglich.
Ohne Zweifel wurde in der ersten Ausfertigung auch Kärnten aufge-
führt und erst später, nach getroffener Ausgleichung mit Meinhard.
eine zweite Urkunde ausgefertigt, in welcher Kärnten nicht erwähnt
ist, um des Friedens willen; die erste Urkunde wurde sodann natürlich
cassirt.
Wäre die Resignation der österreichischen Herzoge auf Kärnten
sogleich erfolgt, so hätte das Ganze der kärntnerischen Angelegenheit
einen Aufschub erleiden müssen, der unstatthaft war. Es hätte sogleich
Das Recht des Hauses Habsburg auf Kärnten. 173
neuer Unterhandlungen mit den Kurfürsten bedurft, deren Einwilli-
gung zur Creirung eines neuen Herzogs neben den so eben zur
Herzogswürde erhobenen Königssöhnen gewiss nicht so schnell zu
erlangen war !
Es war vielmehr ein jahrelanger Conflict der Interessen, und die-
selben fanden ihre Ausgleichung gewiss nicht leicht und nicht
schnell *).
Der sicherste Beweis , dass die Resignation auf Kärnten erst
spät, kurz vor Meinhard's Belehnung (1. Februar 1286) stattge-
funden, sind die Worte im Willebriefe des Kurfürsten Albrecht
von Sachsen, der am 29. März 1285 ausgestellt ist, und welche
die beiden Herzoge von Österreich noch als wirkliche Besitzer
Kärntens auffahren: De Ducatu Karinthie, quem ab eo (Romanorum
Rege) iidem principes tenent in feodum. —
Die Resignation fand unter der Bedingung Statt, dass Kärnten
nur dem Grafen Meinhard von Tirol verliehen werde , das war die
conditio sine qua non. Ganz natürlich!
Ich begreife nicht, dass man sich die Sache gar so einfach und
leicht genommen hat.
Die Herzoge leisteten etwa Verzicht auf Kärnten, so recht gross-
müthig, wie ein reicher Mann in einem Augenblick der Laune auch
eine grössere Summe wohl hinwirft, um etwa Ruhe zu haben gegen
ungestüme Bitten und Forderungen?
Betrachten wir uns die Sache etwas näher. Vielleicht gibt uns
die Urkunde der Belehnung Meinhard's vom 1. Februar 1286 selbst
einen Anhaltspunct.
Zuerst fällt mir auf, dass die ganze Angelegenheit zunächst we-
niger wie eine lediglich dem Grafen Meinhard von Tirol erwiesene
Gnade und Gunst behandelt wird, als eine auch und zwar vorzugs-
weise Begünstigung der Österreich] s eben Herzoge, der Söhne
des Königs.
Die Söhne haben gebeten, Kärnten , worauf sie aus freiem
Antrieb resignirten, dem Grafen Meinhard zu verleihen.
Der urkundliche Ausdruck ist ganz eigenthümlich: „. . . nouerit
presens etas et futuri temporis successiua posteritas, quod Illustres
'(Eist 1284 nach der Geburt eines Sohnes (Rudolf) resp. Enkels ward man
dazu geneigt.
174 JosephChmel.
Albertus et Rudolfus Duces Austrie etStirie, DominiCarniole, Marchie
ac Portus Naonis, Principes et filii nostri dilecti, apud Augustam in
nostra presentia constituti, Celsitudini nostre deuotis precibus
institerunt (es waren also inständige Bitten, nicht etwa eine
missmuthige Fügung in ein nothwendig gewordenes Aufgeben gewisser
Rechte), quatinus Principatum siue Ducatum terre Karinthie ....
Spectabili viro Meinhardo Comiti Tyrolensi et heredibus suis
conferre, ac ipsum de eodem sollempniter inuestire de Regali nostra
dementia dignaremur." — Der Ausdruck wiederholt sich kurz darauf
„ad deuotam ipsorum instantia in."
Geht daraus klar hervor, dass die Schlichtung dieser Angelegen-
heit und die Bevorzugung Meinhard's durch die Erhebung zum Herzog
von Kärnten bei vorausgegangener Verzichtleistung der früher recht-
mässig belehnten österreichischen Herzoge zur vollen Zufriedenheit
aller dabei Betheiligten erfolgt sei, so ist es noch auffallender, dass
sich die Herzoge auch um die unerlässlich nöthige Einwilligung der
Kurfürsten selbst beworben haben.
Es ist zwar bisher nur ein einziger Willebrief bekanntgeworden,
der des Kurfürsten Albrecht von Sachsen, vom 29. März 1285 (k. k.
geh. Hausarchiv, s. Lichnowsky, Regesten I, 105), es heisst aber darin
ausdrücklich: „Quia igitur Illustres principes, domini Albertus et
Rudolfus, Duces Austrie et Stirie petiuerunt, de nostro benepla-
cito et consensu procedi, quod Serenissimus dominus noster Romano-
rum Rex Inclitus, de Ducatu Karinthie .... spectabilem virum
dominum Meinhardum .... infeodet . . . ." und sodann: „predic-
torum Ducum Austrie precibus inclinati, nostrum ad hoc beniuolum
adhibemus consensum.
Ist das nicht ein deutlicher Reweis, dass dieseResignation sowie
die Belehnung Meinhard's mit Kärnten im besonderen Interesse der
österreichischen Herzoge geschehen sei?
Ich bemerke bei dieser Gelegenheit übrigens , wie es allerdings
auftauend ist, dass bisher nur ein einziger Willebrief bekannt
geworden und zwar der eines Fürsten der in besonderer Verbän-
dung mit dem Hause Habsburg gestanden, denn Kurfürst Albrecht
von Sachsen war König Rudolfs Schwiegersohn, dessen Tochter
Agnes er seit 1276 zur Gemahlinn hatte. —
Röhmer bemerkt bei Gelegenheit der Belehnung Meinhard's
(Regesten K. Rudolfs S. 130, Nr. 859): „Zu dieser Belehnung
Das Recht des Hasses Habsburg auf Kärnten. 1 i J)
haben ohne Zweifel die Wahlfürsten Willebriefe gegeben, doch
finde ich nur den des Herzogs Albrecht von Sachsen d. d. 29. März
1285 erwähnt. Lichnowsky, Regesten I, 105."
Auch der Umstand ist auffallend, dass König Rudolf, der doch
von der ersten Relehnung seiner eigenen Söhne sagt, dass sie mit
Bewilligung der „Priucipum Electorum jus in electione Romanorum
Regis habeutium" geschehen sei, in seinem Lehenbriefe für
Meinhard von dieser zweiten Einwilligung der Kurfürsten nichts
erwähne ! —
Allerdings war König Rudolf um diese Zeit mit mehreren Kur-
fürsten auf sehr gespanntem Fusse, wie wir bereits bemerkten; wir
halten aber dafür , dass die Willebriefe zur Giltigkeit einer Reichs-
belehnung nicht unerlässlich seien.
Im schlimmsten Falle, wenn selbst die anderen Kurfürsten
protestirt hätten gegen diese Resignation der österreichischen
Herzoge und die Erhebung Meinhard's, wäre das Recht der Habs-
burger auf Kärnten nicht fraglich, weil dann sogleich die frühere
Belehnung vom Jahre 1282 als rechtlich giltig wieder eingetreten
wäre.
Höchstens wären dann Meinhard und seine drei Söhne bis zum
Jahre 1335 uiirechtlich im Besitze Kärntens gewesen, was wohl
Niemand behaupten dürfte. —
Was nun aber bedeutet die Belehnungsurkunde Meinhard's vom
Jahre 1286 und in welcher Verbindung steht sie mit den habsbur-
gisch-österreichischen Herzogen ? - —
Ich behaupte mit voller Zuversicht , dass die aus freiem Antriebe
erfolgte Resignation der habsburgisch- österreichischen Herzoge in
Betreff Kärntens ihrem Rechte auf Kärnten keinen Eintrag gethan,
dass, obschon sie sich nicht mit ausdrücklichen Worten den
„Heimfall Kärntens nach Aussterben der männlichen
Erben Meinhard's" ausbedungen haben, doch Kärnten ihnen
eventuell gehört habe und zwar mit einem ausdrücklichen Worte
der Urkunde selbst.
Wem wurde Kärnten verliehen? „Spectabili viro Meinhard o
Comiti Tyrolensi et heredibus suis."
Zu diesen „heredib us" Meinhard's, des neuen Herzogs von
Kärnten, gehörte aber auch El isa beth seine älteste Tochter, die
Gemahlinn des ältesten der beiden österreichischen Herzoge,
17ß Joseph Chmel.
Albrechts; derselbe Albrecht also welcher in Gemeinschaft mit
seinem Bruder Rudolf auf Kärnten zu Gunsten seines Schwieger-
vaters resignirt hatte, erhielt für seine Gemahlinn und ihre
Kinder das eventuelle Erbrecht.
Ja Elisabeth war eine Erbtochter und zwar hatte sie das
Erbrecht auf alle Besitzungen ihres Vaters, mithin auch auf Tirol.
Das war allerdings die äusserst günstige Sachlage welche die
Ausgleichung erleichtert ja möglich gemacht hatte, oder glaubt
man etwa, einem Fremden hätten die österreichischen Herzoge
ihr Recht cedirt? —
Wahrlieh das hiesse mehr als Schwäche, das wäre dem
klugen Rudolf nicht zu verzeihen gewesen!
Ich zweifle keinen Augenblick, dass bei dieserGelegenheit eine
Erbverbrüderung zwischen M e i n h a rdund seinen Kinde r n
und dem Hause Habs bürg abgeschlossen wurde, wodurch
sich beide Theile wechselseitig ihre Lande bei Abgang der Kin-
der männlichen Geschlechtes bei einem der Contrahenten ver-
schrieben.
Es ist dieses abzunehmen aus den späteren Thatsachen, wie
wir sehen werden. Sie musste abgeschlossen werden, um die Lande
nicht in ganz fremde Hände kommen zu lassen.
Durch diese Resignation und die darauf erfolgte Belehnung
Meinhard's und seiner Erben mit Kärnten ward nicht blos der
gute Freund des Vaters, der Schwiegervater des ältesten
Sohnes, die Familieneintracht geschont und bewahrt, sondern das
Haus Habsburg hatte auch die Anwartschaft nicht blos auf Kärnten
was es schon hatte, sondern auch auf Tirol was es noch nicht
hatte, erlangt. Es war ein Meisterwerk der Klugheit des Stifters
des Hauses Habsburg! —
Nicht 1359 oder 1363 erst ward Tirol für Österreich gewon-
nen, sondern schon 1286 ward dazu der Grund gelegt. Zwar hat
uns die Sorglosigkeit und Geringschätzung, mit welcher leider in
der Regel (Sorgfalt gehörte zu den Ausnahmen, wenigstens bei
nicht - geistlichen Archiven) alte Documente behandelt wurden,
wenn man sie nicht eben brauchte, den Verlust dieser Erbver-
brüderungs- Documente verursacht, dass sie aber existirten , dass
sie im Momente der Entscheidung pmducirt und geltend gemacht
wurden, ist nicht zu bpzwoifelri.
Das Recht des Hauses Habsburg auf Kärnten. 177
Wir nähern uns der Zeit, in welcher der „Heimfall" Kärn-
tens an das Haus Habsburg, wie selbst Herr Stögmann (natürlich
unbewusst) sich äusserte, stattfand.
Wir kommen vom Jahre 1286 auf das Jahr 1330. Im Jahre 1286
waren die „Heredes" des Herzogs Meinhard von Kärnten, Grafen
von Tirol, zunächst seine sechs Kinder, die vier Söhne Otto, Albrecht,
Ludwig und Heinrich und seine zwei Töchter Elisabeth und Agnes.
Im Jahre 1330 lebte von den Söhnen nur noch Heinrich, der
Exkönig von Böhmen; der im Jahre 1292 verstorbene Sohn Albrecht
hatte eine Tochter Margarethe hinterlassen, die an den Burggrafen
Friedrich IV. von Nürnberg vermählt und Mutter mehrerer Kinder
war. Der Sohn Ludwig war unvermählt im Jahre 1305 gestorben,
von dem im Jahre 1310 verstorbenen Otto waren vier (unvermählte?)
Töchter zurückgeblieben, eben so hatte der noch lebende Heinrich
nur zwei Töchter Margarethe und Adelheid.
Die Tochter Agnes welche an den Landgrafen Friedrich von
Thüringen vermählt war, ist schon vor dem Vater im Jahre 1293
gestorben.
Die Tochter Elisabeth, Witwe des römischen Königs Albrecht I.,
war im Jahre 1313 gestorben, von ihren 12 Kindern lebten im
Jahre 1330 noch die zwei Söhne Albrecht und Otto, Herzoge von
Osterreich, und die zwei Töchter Elisabeth, Herzoginn von Lothringen,
und Agnes, verwitwete Königinn von Ungern.
In Betreff Kärntens das durch keine Frau regiert werden
konnte, waren also die einzigen successions fälligen Erben die
zwei österreichischen Herzoge Albrecht und Otto, erst nach ihnen
und ihren Söhnen wären die Urenkel Meinhard's, die Burggrafen
von Nur nberg successionsfähig gewesen.
Hinsichtlich Tirols das zum Theile auch durch eine Erb-
tochter an die Grafen von Görz gekommen war (Adelheid, ver-
mählt seit 1 24S mit Grafen Meinhard von Görz, dem Vater des Her-
zogs Meinhard), wären wohl vielleicht an und für sich alle Kinder
ohne Unterschied des Geschlechtes erbfähig gewesen, es hätten mit-
hin die Töchter der Söhne Albrecht, Otto und Heinrich eben solche
Ansprüche gehabt als die Söhne der Tochter Elisabeth, wenn nicht
durch eine specielle Übereinkunft (eben die höchst wahrscheinliche
Erbverbrüderung) auch hier die männlichen Erben aus dem
Hause Habsburg den Vorzug gehabt hätten.
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XX. Bd. I. Hft. 12
178 Joseph Chrael.
Übrigens wurde von allen Töchtern der Söhne Meinhard's
eine einzige als Erbtochter betrachtet und zwar die wohlbekannte
Margaret ha mit dem späteren hässlichen Beinamen Maultasche,
König Heinrich's von Böhmen Tochter. Ihre Hand ward schon früh-
zeitig Gegenstand vielfacher Intriguen, die Häuser Luxemburg und
Witteisbach suchten in ihren Häuptern, König Johann von Böhmen
und Kaiser Ludwig, für einen ihrer Söhne ihren Besitz zu erringen.
Wir enthalten uns, diese theilweise schmählichen, jedenfalls
eitlen Bestrebungen weiter zu verfolgen, wir wollen ja hier nur das
hervorheben, was das Becht der Habsburger auf Kärnten wie auf
Tirol beleuchtet.
Hatte Heinrich's Tochter Margareth irgend ein Recht als
weiblicher Sprosse und Erbe Meinhard's, so hatte dasselbe Recht
(nur früher) auch schon Meinhard's Tochter Elisabeth, die Gattinn
König Albrecht's; gesetzt den Fall, es wäre auch keine Erbverbrü-
derung zwischen Herzog Meinhard und den österreichischen Herzogen
abgeschlossen worden, die Söhne der Tochter hatten jedenfalls den
Vorzug vor der Tochter des Sohnes, denn stets hatte der Mann
im Lehenwesen den Vorzug vor dem Weibe, das nur ausnahmsweise
Lehen ihrem Gatten zubringen konnte. Dem ungeachtet suchte be-
sonders König Johann von Böhmen der Luxemburger die Anwartschaft
auf Kärnten und Tirol seinem Hause zu sichern.
1327 hatte Kaiser Ludwig bei seinem Durchzuge nach Italien
dem König Heinrich von Böhmen die Erbfolge in seinen Ländern auch
für seine Töchter und die Töchter seines Bruders zugesichert und
diese Zusage bei der Rückkehr im Jahre 1330, 6. Februar, zu Meran
wiederholt *).
i) In der Urkunde vom 6. Februar 1330 heisst es (K. Ludwig): „das wir seinen Töch-
tern, die er ietz hat, oder die im gott noch geit und seines Bruedern Tochter, i
„alle die Lehen verliehen haben und verleichen, die unser vorgenanter Oheim
„inne hat von dem Reich, es seie zu Kerndten, oder in der Grafschaft
„z e Tyrol, oder wie sie genant, als es sein Vatter Herzog Meinhard an ihn j
„bracht hat, und auch das er seitmal gewunnen hat mit so getaner beschaidenhait,
„ob das Gott geit, das unser vorgenanter oheim Sune gewünnet, die sollen die ;
„vorgenante Lehen erben, und die Töchter nicht, wer aber das die Sune abgien-
„gen ohne Erben, und das die Süne Töchter Hessen, die sollen es auch erben,
„als vorgeschriben stehet , und wofer auch wer, das unser vorgenanter Oheim .
„die vorgenante Lehen dheinen seinen aiden, oder seines Brüdern aiden, den er j
„iezt hat oder noch gewünnet, vermachen oder verschreiben wolte, das soll uns
Das Recht des Hauses Habsburg auf Kärnten. 179
Dagegen hatte schon 1324 am 25. April (aus Luxemburg)
König Johann von Böhmen den Vorschlag gemacht, eine der Töchter
Heinrich' s solle einen der Söhne Johann' s heirathen, für seine Ansprü-
che auf Böhmen erhalte Heinrich 30.000 Mark, auch wolle er Johann
ihm zur abermaligen Vermählung und zwar dieses Mal mit Beatrix
von Savoyen Vorschub leisten.
Im Jahre 1327 wurde der erst fünfjährige Sohn König Johanns,
Johann Heinrich, nach Innsbruck gebracht und dessen Heirath mit
der achtjährigen Margareth festgesetzt.
Die Heirath mit Beatrix von Savoyen war aber durch österrei-
chische Vermittlung 1328 zu Stande gekommen, da König Johann
sich zurückgezogen, aus Furcht, Heinrich könnte noch männliche
Erben erhalten.
Er drang im Jahre 1330 bei seiner unvermutheten Ankunft in
Tirol (im September) auf die Vollziehung der Vermählung der
Kinder.
Dadurch war aber die Gunst des Kaisers verscherzt, so hatte er
es nicht gemeint, als er im selben Jahre (s. oben) dem Exkönig von
Böhmen die oben angeführte Urkunde ausstellte.
Er zog also die Begünstigung zurück, durch welche ohnehin die
wohl verbrieften und anerkannten Rechte der sämmt liehen Erben
Meinhard's, namentlich der österreichischen Herzoge, so auffallend
beseitigt wurden.
Ohnehin nöthigte den Kaiser seine politische Lage, sich den
Letzteren möglichst zu nähern, und wir finden also im selben Jahre
1330 (November) specielle Verhandlungen zwischen Kaiser Ludwig
und den Herzogen Albrecht und Otto von Österreich, nachdem bereits
im August vorher durch Vermittlung desselben Luxemburgers (König
Johann von Böhmen), der ein Meister in diplomatischen Unterhand-
lungen und Täuschungen war, die vollständigste Ausgleichung statt-
gefunden.
„gunsf, will, und worth seil), und sollen auch wir im die band darumb raiehen.
„und doch also, das dis unser getreuer Oheim tun soll mit unserni
„rat und wissen-'. Steyerer Comm. Alberti II, p. 78, 79. Offenbar wollte
Kaiser Ludwig- diese Lande in seine Familie bringen, daher er mit Umgehung aller
früher Berechtigten die Töchter Heinrich's oder seines Bruders Albrecht für erb-
fähig erklärte und ihren Ehegatten die Lande verleihen will, natürlich wenn
diese Eidame ihm genehm sind.
12*
180 Joseph Chmel.
Es war den österreichischen Herzogen welche ohne Zweifel in
Erfahrung gebracht, wie sowohl der Kaiser als König Johann von
Böhmen ihrem Hause die Lande Kärnten und Tirol zuzuwenden
bemüht seien, besonderes Anliegen, sich ihre wohlerworbenen Rechte
auf die Lande zu sichern. Es war um diese Zeit schon höchst wahr-
scheinlich geworden, dass Heinrich von Kärnten - Tirol ohne männ-
liche Erben abgehen werde , sie mussten sich mithin für den ein-
tretenden Fall den guten Willen des Reichsoberhauptes zum voraus
beurkunden lassen, sie bei ihrem Rechte auch zu erhalten.
Wir zweifeln keinen Augenblick, dass Kaiser Ludwig, wenn
ihm nicht der ränkevolle Luxemburger zuvorgekommen wäre, den
österreichischen Herzogen durchaus jegliche Anwartschaft auf Kärn-
ten und Tirol versagt haben würde, nur der Umstand machte ihn
geneigt, das Recht der Söhne Elisabeth's, Meinhard's Erbtochter,
anzuerkennen.
Herzog Otto von Österreich der die österreichischen Interessen
bei der tödtlichen Erkrankung seines Bruders Albrecht zu vertreten
hatte, brachte auch den Kaiser dahin, dass alle noch bestehenden
Differenzen, alle gegenseitigen Ansprüche deren es aus der früheren
Zeit der Rivalität zwischen den beiden Gegenkönigen so manche gab,
auf freundschaftliche Weise durch Schiedsrichter, auf welche beide
Theile compromittirten, geschlichtet und entschieden werden sollten.
Diese Schiedsrichter, sechs mit einem Obmann , waren aus den
Räthen der Fürsten gewählt. Natürlich hatten diese Compromiss-
richter nur zu untersuchen und zu bestimmen, was beiden Parteien
recht und billig sei. Ein Schiedsgericht untersucht nur den Stand
der Dinge und was jede Partei für sich an Rechtsgründen vor-
bringt, das wird geprüft und das Gewicht derselben beurtheilt.
Wenn nun diese sieben Schiedsrichter welche ihrer Stellung
nach nicht die geringste Gewalt über die Parteien hatten, in einer
Urkunde vom 26. November erklärten „daz unser über vorgenant
Herre Cheiser Ludowig von Rom, nu angans (das heisst: nöthiger
Weise) dem obgenanten Hertzog Otten von Osterrich und von Styr,
und sinem bruder Hertzog Albrechten, und iren chinden , daz Her-
tzentum und daz Land Chernden verschriben sol ze lihen, an allen
furzuch, wenne der Hochgeborn furste, Hertzog Heinrich von Kern-
den, abget und stirbet" — so muss man nicht etwa glauben, dass
diese sieben Schiedsrichter jetzt erst den österreichischen Herzogen
Das Recht des Hauses Habsburg auf Kärnten. 181
das Recht auf Kärnten gegeben haben, weil es der Kaiser so
haben wollte und dass sich mithin das ganze Recht des Hauses Habs-
burg auf die zufällige Laune des Kaisers Ludwig basire und dass mit-
hin die wirkliche Relehnung im Jahre 133S auf diesem Compromiss
vom 26. November 1330 beruhe. Das ist geradezu absurd.
So kann über ein deutsches Reichslehen, über ein Her-
zogthum nicht verfügt werden, und zwar von so untergeordneten
Personen ! —
Der Ausspruch der Compromiss richte r will nur sagen:
Das Recht der österreichischen Herzoge auf Kärnten ist klar, es ist
so begründet (natürlich auf Beweisstücke und Urkunden welche von
den österreichischen Räthen producirt wurden) , dass der Kaiser
nothgedrungen schon jetzt urkundlich versprechen müsse, ihnen nach
dem Tode Herzog Heinrich's von Kärnten dieses Herzogthum zu ver-
leihen.
Wie kann man nur einen Augenblick zweifeln , dass die öster-
reichischen Herzoge das ausgesprochenste Recht auf Kärnten nach-
gewiesen haben mussten, wenn die Schiedsrichter solchen Ausspruch
fällten. Kaiser Ludwig war wohl am wenigsten geneigt, den habs-
burgisch-österreiehischen Herzogen etwas einzuräumen, worauf sie
kein Recht hatten. Eine solche Begünstigung ist von einem Rivalen
(und das war das Haus Witteisbach dem Hause Habs bürg
gegenüber) ganz undenkbar.
Dass aber in der kärntnerischen Angelegenheit wirklich
urkundliche Beweise, ohne Zweifel schon bei dieser Gelegenheit des
Schiedsgerichtes, vorgebracht wurden, ist wohl einleuchtend.
Einer der unterrichtetsten und beachtenswerthesten gleichzei-
tigen Chronisten sagt es ausdrücklich, Peter von Zittau, Abt von
Königssaal *).
') Peter von Zittau, Abt von Königssaal (zwischen den Jahren 1294 — 1338)
„einer der eigenthümlichsten und merkwürdigsten Chronisten Böhmens" wie
Palacky in seiner „Würdigung der alten böhmischen Geschichtsschreiber" (Prag
1833) S. 120 sagt.
Er war von Vielem was er erzählt, Augenzeuge. Er war im Jahre 1309
Capellan des ersten Abtes von Königssaal, Konrad aus Erfurt, der sich für die
Princessinn Elisabeth (die letzte Premyslidinn) und für die Aufnahme der Lüzel-
burger in Böhmen so thiitig erwies ; Peter begleitete ihn auf seinen Reisen nach
Deutschland in den Jahren 1309 und 1310, war Augenzeuge aller Verhandlungen
zu Heilbronn, Frankfurt, lleimbacb und Speier vor uml bei der Vermählung der
182 Joseph Chmel.
Wir wollen die ganze Stelle, welche in mehrfacher Beziehung
von Interesse ist, hier anführen, sie bezieht sich auf die wirkliche
Acquisition von Kärnten im Jahre 1335 , kann aber schon hier, wo
es sich um urkundliche Begründung des habsburgischen Beeil-
te s handelt, zur Sprache kommen.
Ich bemerke voraus, dass Abt Peter die Verhältnisse besonders
des luxemburgischen Hauses vortrefflich kannte , folglich sein Zeug-
niss auch als das eines Unbefangenen doppeltes Gewicht habe.
„Eodem anno (1335) mense Martio mortuus est Dux Heynricus
Karynthie, Comes Tyrolis, qui propter hoc quod in Bohemia pro tem-
pore negligenter fuerat, consuevit se Begem Bohemie in suis epistolis
usque ad suum obitum nominare. De isto Duce in primo volumine plu-
rima sunt conscripta, quo mortuo mox Albertus et Otto Duces Austrie
böhmischen Elisabeth mit Kaiser Heinrich's VII. Sohne Johann, wodurch die Dyna-
stie der Lüzelburger zum Besitz des böhmischen Thrones gelangte; 1311 war er
mit dem jungen König Johann in Brunn, bei der mährischen Huldigung, auch 1312
mit der Königinn Elisabeth in Mähren ; 1313 begleitete er den König, als er nach
Italien seinem Vater Heinrich nachziehen wollte , und nachdem dieser Zug durch
die Nachricht von Heinrich's Vergiftung bei Siena rückgängig geworden war,
befand er sich beim Rückzüge der Armee, dann mit dem Abte Konrad zu Ehren-
fels auf einer Botschaft zum Erzbischof von Mainz ; darauf mit in Coblenz bei
der zwischen Ludwig dem Baier und Friedrich dem Schönen von Österreich strei-
tigen Kaiserwahl.
1316 wurde er Abt seines Klosters. — Er war aber um diese Zeit auch
Hausfreund und Beichtvater des weiblichen Theils der königlichen Familie ; er
genoss das Vertrauen vieler fürstlichen Personen in hohem Grade, und wir
sehen ihn häufig als Theilnehmer an fürstlichen Hochzeiten und bei anderen hoch-
festlichen Ehrentagen. — Mit König Johann war er in vielfachem Verkehr.
Meinert sagt von diesem Chronisten (Palacky, S. 133) : „Indem Peter die böh-
mische Geschichte wieder lehrte, den Blick gleichsam über die Grenzgebirge
ihres Landes zu erheben, und sich dadurch selbst zu verstehen , gewinnt das im
Ganzen düstere Gemälde der Zeit, das er „nicht eben mit Wohlgefallen"*) vor
uns aufrollt, einen Reichthum und eine Mannigfaltigkeit, die nur durch die
Glaubwürdigkeit des Inhaltes übertroffen werden. Er erzählt
nichts , als was er entweder selbst gesehen , oder wovon er sonst Gewissheit
hat" — durch Urkunden die er häufig beibringt; er erzählt freimüthig , gründ-
lich und mit einer Anschaulichkeit, die eben so sehr die Frucht seiner Verhält-
nisse und des tiefen Gemüthes, womit er seine ganze Zeit aufgefasst, als der
Bildung ist, die er sich insbesondere durch die Lesung deutscher Dichter
erworben."
*) Er sagt, Dobner V, S. 34G: „Quecunque Iiactenus hie notavi , non itlco scribere euravi,
quia mihi ex hoc delectatio aliqua fuerit, sed ut qnilibet , qui ista Iegerit, inte'lig-at
quam subito raundus, et coneupiseentia eius transeat."
Das Recht des Hauses Habsburg auf Kärnten. lOii
ipsius avunculi (vielmehr er war ipsorum avunculus!) accedentes
ad Ludwjcum Babarum ab eo Ducatum Carintbie in feodo rece-
perunt, asserentes quod idem Ducatus de jure esset ad Imperium
devolutus, eo quod esset a Duce predicto tantum filia, sed non aliquis
heres masculinus derelictus; ipsi quoque prefati Duces A u-
strie quedam privilegia produxerunt, per que se
habere ad Ducatum Caryntbie ius ostende runt. Johan-
nes vero secundogenitus filius Johannis Begis Bohemie gener dicti
Henrici, Ducis Karinthie, eui prius fere omnes nobiles de Ducatu
Karintbie, et Comitia Tyrolis homagium fecerant, dictis Ducibus
Austrie, qui exercitu magno venerant, non poterat resistere, quamvis
ibidem in illo esset tempore. Igitur cogitur de Ducatu cedere et in
sola Comitia Castro Tyroli cum suis fidelibus permanere. Hec una cau-
sarum extitit, propter quam Jobannes Boemie in Bohemiam venit de
Gallin, et contra Ludwicum et Duces Austrie expeditionem, ut dictum
est, fieri ordinavit; dixit enim predicta fieri in preiudicium suum, et
sui filii obprobrium, et contemptum." — Chronicon Aulae Begiae bei
Dobner, Monumenta Historica Boemiae etc. Tom. V. p. 487.
Abt Peter von Königssaal , der Vertraute des luxemburgischen
Hauses, führt also an, dass die österreichischen Herzoge (die näch-
sten männlichen Erben des Hingeschiedenen) ihr Becbt auf Kärnten
durch einige Privilegien (Urkunden) nachgewiesen haben. Diese
Stelle lässt sich nicht missverstehen, ich lege kein grösseres Gewicht
darauf, als auf Worte eines Chronisten oder selbst eines Geschichts-
schreibers gelegt werden kann. Der Compromiss-Spruch im Jahre
1330 kann es nicht sein, der begründet kein Recht, er kennt nur das
bereits begründete an.
Diese Privilegien können nur solche Documente gewesen sein,
welche das Successionsrecht der österreichischen Herzoge (als
männlicher Erben) nach dem Tode Herzog Heinrich's von Kärnten
evident nachweisen, und das konnte nur eine Erbverbrüderung die mit
Ausschluss der weiblichen Nachkommen die successionsfähigen
männlichen Erben zur Nachfolge berief.
Es ist hier nicht der Ort, den weiteren Verlauf dieser Angele-
genheit zu erörtern, da ohnehin bekannt ist, dass Kaiser Ludwig
den österreichischen Herzogen im Jahre 1335 nicht blos Kärnten
verlieh, sondern auch Tirol, dass das letztere Land jedoch für dieses
Mal nicht bleibend gewonnen wurde , da die Tiroler für die
184 Joseph Chmel. Das Recht des Hauses Habsburg auf Kärnten.
Tochter Heinrich's, die jugendliche Margareth, mit Gut und Blut
einstanden.
Das thaten sie aber wohl desshalb, weil Kaiser Ludwig sich
einen Theil des nördlichen Tirols zueignen wollte und dies zur Be-
dingung der Verleihung gemacht hatte.
Eine solche Zerstückelung des Landes duldeten sie nicht.
Dass der Luxemburger Karl am Ende diese Verleihung Kärn-
tens bestätigte, die nach seiner Erklärung durch Kaiser Ludwig's
Lehensbrief noch nicht rechtskräftig gewesen sein soll, weil Ludwig
als gebanntes Beichsoberhaupt nichts Giltiges vornehmen konnte,
dass er am Ende auch die Erwerbung Tirols auf den nämlichen
Bechtstitel hin dem Hause Habsburg bestätigte, ist doch wohl nur
der Macht des urkundlichen Bechtes zuzuschreiben, was Habs-
burg für sich hatte.
Das Becht des Hauses Habsburg war also das Erbrecht, wel-
ches feierlich anerkannt war in der Urkunde K. Budolfs I. vom
1 Februar 1286, da das Herzogthum Kärnten dem Grafen Mein-
hard von Tirol und seinen Erben verliehen wurde.
Nach dem Tode seiner Söhne waren seine Enkel die unstrei-
tig nächsten und in Bezug auf Kärnten das ein Mannslehen war,
die unbestritten allein su cces sionsf ähigen Erben; das waren
aber die österreichischen Herzoge, die Enkel K. Budolfs I., die Habs-
burger Albrecht und Otto (mit ihren Söhnen).
Hinsichtlich Tirols hatten die Enkel zum mindesten gleichen
Anspruch als wie die Enkelinnen, die Töchter der Söhne.
Selbst im Falle, es wäre keine Erbverbrüderung abge-
schlossen worden, die doch beinahe gewiss stattfand.
Darum bleibe ich bei meinem ersten Satze : Die österreichi-
schen Herzoge hatten auf Kärnten die gerechtesten An-
sprüche und wenn sie im Jahre 1286 Kärnten dem Freunde ihres
Vaters, dem Schwiegervater eines aus ihnen, temporär abtraten,
so behielten sie doch die Anwartschaft darauf als seine Erben,
die ihnen auch v e rbri e f t ward.
S i c k e I. Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. 185
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen.
Beitrag zur Geschichte Mailands im XV. Jahrhundert.
Von Dr. Th. Sickel.
In einer Abhandluag von mir über die Erwerbung Mailands
durch Franz Sforza, welche im XIV. Bande des Archivs für Kunde
österreichischer Geschichtsquellen adgedruckt worden ist, sprach
ich schon mein Bedauern darüber aus , dass das von mir damals
benutzte Material in den Mailänder Archiven mehrfach Lücken ent-
hält und mich oft bei Aufklärung der wichtigsten Begebenheiten in
Stich gelassen hatte. So hatte ich unter den Papieren aus der Zeit
der Ambrosianischen Bepublik nichts mehr gefunden, was über die
Beziehungen der damaligen Mailänder Begierung zu anderen Staaten
hätte Aufschluss geben können und hatte mich mit den dürftigen
Notizen begnügen müssen, welche die sonst so trefflichen Mailänder
Chronisten über diesen Punct überliefert haben. Weitere Forschun-
gen welche ich seitdem an anderen Orten habe anstellen können,
haben mich in den Stand gesetzt, gerade zur Aufklärung dieser Be-
ziehungen neues Material beizubringen, und namentlich hat mich
eine in Genf aufbewahrte Sammlung von Actenstücken aus den Jah-
ren 1447 — 1449 von der früher mir entgangenen Bedeutsamkeit der
Unterhandlungen überzeugt, welche zwischen der Ambrosianischen
Republik und dem Hause Savoyen gepflogen worden sind. Es beßn-
det sich nämlich in dem Genfer Cantonalarchive (Affaires etrangeres
Nr. 24) ein Folioband mit dem Titel: „Recueil de lettres entre le
Pape Felix et son fils au sujet de la ligue de Milan", 320 Seiten
stark. In demselben sind 60 meist gut erhaltene Schriftstücke (das
von neuerer Hand vorgeschriebene Register zählt nur 59 auf,
indem es eine Numer zwischen 14 und 15 übergeht) zusammenge-
bunden, die sieh mit wenigen Ausnahmen auf die angegebene Ligue
beziehen. Theils sind es Originalstücke, theils gleichzeitige Copien,
186 S i c k e i.
theils Entwürfe; die letzteren nur mit grosser Mühe zu entziffern.
Schon vor einer Reihe von Jahren waren Turiner Gelehrte auf diese
Sammlung aufmerksam geworden und hatten für die dortige histori-
sche Commission eine Abschrift nehmen lassen , welche aber abhan-
den kam, ehe sie veröffentlicht werden konnte. 1851 erschien dann
im VIII. Bande des Archivs für schweizerische Geschichte eine Ab-
handlung des Herrn Prof. Gaullieur in Genf, welche den Inhalt dieser
Schriftstücke in ziemlich ausführlichen Analysen wiedergab, eine
verdienstvolle Arbeit, zu der auch ich nur wenige Zusätze und
Berichtigungen beibringen kann , nachdem es mir eben durch des
II. Gaullieur freundliche Vermittlung gestattet gewesen ist , die Ori-
ginale einzusehen und durchzuarbeiten. Darin läge also noch keine
Berechtigung, denselben Gegenstand noch einmal zu behandeln. Der
Herr Verfasser hatte aber, seinen eigenen Worten nach, die Absicht,
nur die Puncte zu erwähnen, welche auf die Geschichte von Genf
und der Schweiz Bezug haben , und obschon seine Arbeit dann mehr
geboten hat, als die Ankündigung erwarten Hess, sind in ihr doch
viele für die Geschichte Italiens wichtige Ergebnisse dieser Schrift-
stücke übergangen worden. Namentlich blieb es für die Mailänder
Geschichte noch übrig, diesen zum Theil nicht mit Daten versehenen
Schriftstücken den rechten Platz in der chronologischen Reihenfolge
anzuweisen, sie ferner durch tieferes Eingehen in die sonstigen Mai-
länder Quellen mit deren Ergebnissen in Verbindung und so in das
rechte Licht zu setzen. Das ist die Aufgabe welche ich mir zunächst
für diese Vorlesung gesteckt habe, und bei deren Lösung ich zugleich
Gelegenheit finden werde, die Resultate meiner Forschungen in ande-
ren Archiven über denselben Gegenstand einzuflechten.
Zuvor möge es mir aber vergönnt sein, zum besseren Verständ-
niss der weitern Darstellung Ihnen das Bild der Personen zu verge-
genwärtigen, welche die Hauptrolle in den Beziehungen der Mailän-
der Republik zu dem Hause Savoyen gespielt haben, namentlich das
Bild des Herzogs Amadeus VIII. von Savoyen.
Sobald Amadeus nach der etwas unruhigen Regentschaft seiner
Grossmutter Anna von Bourbon 1398 die Zügel der Regierung selbst
ergriffen hatte, trat sein Bestreben, das von seinen Vorfahren begon-
nene Werk fortzusetzen, deutlich an den Tag. Es galt die einzelnen
kleinen Herren welche sich inmitten der gräflichen Besitzungen noch
unabhängig behauptet hatten, in ein Lehensverhältnisshineinzuzwingen,
Die Ambrosianisclie Republik und das Haus Savoyen. 187
und die einzelnen freien Gemeinden weiche sich noch in jenen Gegen-
den erhalten hatten, der gräflichen Gewalt zu unterwerfen. Savoyen
und Piemont welches letztere J) seit dem Tode Ludwig's von Achaja
(Dec. 1418) Amadeus zugefallen war, sollten einen in sich möglichst
abgerundeten Staat bilden. Für entsprechende Organisation der
Regierung und für die Gesetzgebung entwickelte Amadeus eine grosse
Thätigkeit: ihm verdankte das Land neue Statuten, eine Art Hypo-
thekenordnung, eine ziemlich geordnete Finanzverwaltung, vielfache
Verbesserung der Münze, Einsetzung von Behörden für Strassen-
und Brückenbau 2). Der Stadt Turin widmete der Graf besondere
Aufmerksamkeit, hob die dortige Universität, beförderte die Ent-
wicklung der Gewerbe und suchte namentlich die Tuchfabrication
durch allerlei Begünstigungen in den Stand zu setzen mit der lom-
bardischen zu concurriren 3). Grösserer Wohlstand sollte die Bürger
für das allmähliche Eingehen ihrer alten Freiheiten entschädigen.
Übrigens waren sie es nicht allein , welche den Druck der stärkeren
Regierung empfanden. Der Adel musste sich ebenfalls fügen. Ein
Glück für das Land , dass Amadeus der Rivalität zwischen savoyi-
schen und piemontesischen Edeln Schranken zu setzen und den alten
Streitigkeiten zwischen ihnen Einhalt zu gebieten wusste. Zu stän-
dischen Beralhungen, bei denen der Adel den Haupteinfluss ausübte,
Hess es der Graf nur im äussersten Falle kommen, und wurden die
Stände zusammenberufen, so wurden sie doch nur das Werkzeug des
das ganze Land beherrschenden Willens des Grafen. Auch der
Geistlichkeit war Amadeus ein gestrenger Herr. Allerdings folgte
auch er dem Beispiele anderer Fürsten , stiftete Klöster und stattete
einzelne, wie das zu Ripaille, grossmüthig aus. Aber auch die Geist-
lichen mussten sich dem weltlichen Regimente , so weit es das all-
gemeine Interesse erheischte, unterwerfen. In Turin wurden sie
durch einen Beschluss des herzoglichen Rathes, der „super iniquitate
superbia et immoderata avaritia cleri et presbiterorum civitatis Tau-
rinensis" betitelt war, gezwungen zu den Communallasten beizu-
steuern4). Was die Reformation der Geistlichkeit betraf, so hatte sich
*) Datta, storia dei Prineipi d'Acaja. Torino 1832, I, p. 335.
2) D. Maebanaei Ep. in Monum. Iiistoriae patriae. 1. 763 seq.
3) Paralipomeni di storia Pietnontese per cura di Searabelli (nach den Forsebungen
vom Mareh. F. Carrone) im Areh. storieo llaliano, vol. 13, p. 240.
4) Searabelli, 1. e. p. 276.
188 Sickel.
der Graf schon zur Zeit desKostnitzerConcils lebhaft für sie interessirt,
und als der dort gefasste Beschluss, alle zehn Jahre Provincialconcile
zur Hebung der sich einschleichenden Missbräuche abzuhalten, nicht
zur Ausführung kam, Hess er sich vom Papste autorisiren (Bulle vom
8. Mai 1429), die Kirche und Geistlichkeit in seinen Landen einer
Reform zu unterwerfen. So gegen alle streng und gerecht erhielt Ama-
deus Ruhe und Frieden im Lande und förderte den allgemeinen Wohl-
stand. Während die Nachbarländer unter der Last ununterbrochener
innerer Kriege seufzten, während im angrenzenden Frankreich ergrei-
fende und trotzige Klagelieder, wie sie uns Monstrelet aufbewahrt
hat1)» von Mund zu Munde gingen, gedieh das von Natur nicht einmal
begünstigte Land des Grafen in solchem Masse, dass Olivier de la
Marche3) es als das reichste, sicherste und wohlbebauteste preist.
„Von den seinen war er sehr geliebt", sagt auch die lateinische
Landeschronik von Amadeus, und wenn sie hinzufügt: „und von den
Nachbarn gefürchtet", bezeichnet sie eben so richtig des Grafen Ver-
hältniss zu den Nachbarfürsten. Eben die Befestigung und Regelung
der Gewalt im innern Staatswesen verlieh dem Hause Savoyen hin-
längliche Macht, seiner Politik nach aussen hin Nachdruck zu verleihen.
Dazu kam des Grafen Einsicht und Klugheit, seine Gewandtheit und
Geschmeidigkeit, seine Festigkeit und zähe Ausdauer in der Verfol-
gung des einmal vorgesteckten Zieles. Inmitten der Zerwürfnisse
welche in Frankreich zwischen den Häusern Valois, Bourbon, Orle-
ans und Burgund ausgebrochen waren, inmitten der in jedem Augen-
blicke sich neu gestaltenden Parteiverbindungen, wusste er leidliche
Beziehungen zu allen französischen Fürsten zu unterhalten, wusste
jeden durch Verbindung mit seinen Gegnern einzuschüchtern,
wusste jedem Zugeständnisse zu entlocken, wusste sich hier eine von
Alters her streitige Herrschaft sichern zu lassen, wusste dort seine
Anerkennung als Lehnsherr durchzusetzen. Am wichtigsten in dieser
Hinsicht war für Amadeus, dass Karl VII. ihm die Oberlehnsherrschaft
über Saluzzo abtrat3). Seine Erfolge steigerten dabei sein politisches
Ansehen in solchem Grade, dass er in den wichtigsten Streitfragen
als Schiedsrichter oder Vermittler angerufen wurde. Zur grössten
*) I. eap. 274. — cf. aneh Chartier, quatlrilogue invectif.
9) I. eap. 6.
3) Searabelli, I. c. pag. 18ä.
Die Amhrosianische Republik und das Haus Savoyen. 189
Ehre gereichte es dem damals (1410) noch jungen Grafen, den Frie-
den von Wincestre *) zu Stande gebracht zu haben. Ebenso gelang
es ihm später zu wiederholten Malen Waffenstillstand zwischen König
Karl und Philipp von Burgund zu vermitteln und allmählich die Ver-
söhnung vorzubereiten, welche endlich im Frieden von Arras besie-
gelt wurde und Frankreich vom Rande des Abgrundes rettete. Nur
übertreiben die Geschichtsschreiber Savoyens 3) den Einfluss , den
Amadeus auf den Abschluss dieses letztern Friedens ausgeübt hat, und
übersehen, dass sein guter Wille und seine Bestrebungen nicht eher
wirkliche Erfolge erzielt hatten, als bis das Eingreifen gebieterischer
Thatsachen und Verhältnisse zum Frieden zwang. Immerhin war
während der französisch-burgundischen Kriege Amadeus' Ansehen so
gestiegen, dass seine Gesandten auf dem Basler Concil den burgun-
dischen den Vortritt streitig zu machen versuchen konnten. Freilich
gaben die Burgunder nicht nach, deren Fürsten schon nach königli-
chem Range trachteten, während das Haus Savoyen erst vor wenig
Jahren zur herzoglichen Würde gelangt war.
Die Erhöhung des Grafen Amadeus zum Herzog (19. Februar
1416) 3), die mit ihr zusammenhängende Bestätigung des Reichs-
vicariats, dieErtheilung des jus de non appellando (25. August 1422)
waren für Amadeus ebenso viele politische Erfolge, welche ihm dann
den Weg zu neuen bahnten. Was er der Gunst des Kaisers Sigis-
mund verdankte, machte er namentlich gegen die Schweizerrepubli-
ken geltend. Als Reichs vicar hatte er einen Rechtstitel mehr sich in
die Angelegenheiten des Wallis zu mischen und die dort zwischen
dem Bischof, dem Adel und den Gemeinden ausgebrochenen Händel
zu seinem Vortheile auszubeuten. Schwerer noch lastete auf der Stadt
Genf der immer wachsende Einfluss des Grafen*). Bald stützte er
sich bei Geltendmachung seiner Ansprüche auf des Kaisers Autorität,
bald nahm er zum Papste Martin V. den er sich verpflichtet hatte,
seine Zuflucht. Des letzteren Intervention verdankte er bei Gelegen-
heit einer bischöflichen Vacanz einen Vertrag 5) , durch den er
1) Monstrelet I. cap. 71.
2) z. B. Guichenon II. pag-. 37 seq.
3) Guichenon, preuves pag. 2ö2.
4) Spon, hist. de la rille et de letal de He'neve I. 2. — Cibrario in Mein, dell'
Acad.di Torino, serie II. vol. 6.
5) 1427, Searanelli, 1. c. pag-. 202.
190 S i c k e I.
allerdings die Schirmvogtei aufgab, dafür aber und gegen unbedeu-
tende Geldentschädigung die vollfreie Herrschaft über die Vorstadt St.
Gervais und über die Burg auf der Rhone-Insel erwarb; so Herr der
halben Stadt, konnte ihm die andere Hälfte nicht mehr entgehen.
Wichtiger für die Schriftstücke die ich zu analysiren habe,
sind die Beziehungen des Herzogs Amadeus zu seinen italienischen
Nachbarn. Noch galten die Grafen vonMaurienne in Italien als fremde
Eindringlinge, aber sie selbst hielten sich schon für berufen, einen
grösseren Staat in Überitalien zu bilden. Wie sie sich Saluzzo zu
unterwerfen wussten, erwähnte ich schon. Die Markgrafen von Mon-
ferrat sollten in gleiche Abhängigkeit gebracht werden. Bald wurden
ihnen einzelne Landstriche in offenem Kriege entrissen, bald mussten
sie savoyische Hilfe oder Vermittlung mit Abtretung anderer erkau-
fen, für andere mussten sie die Lehnsherrlichkeit des Herzogs aner-
kennen 9- Mehr aber noch lockten Amadeus die reichen Städte und
Gefilde der Lombardei. Die bald übermüthig kühne, bald ängstlich
zaghafte , immer unsichere Politik des Herzogs Filippo Maria von
Mailand bot die beste Gelegenheit, sich nach dieser Seite hin zu ver-
größern. Die wirklichen Erfolge waren zwar noch gering, aber die
Bestrebungen des Herzogs Amadeus, die kühnsten Hoffnungen, das
letzte Ziel seiner Politik, dessen Verfolgung seitdem wie eine Pflicht
fortgeerbt ist im Hause Savoyen , treten in allen Verhandlungen klar
zu Tage, welche er mit oder gegen Mailand gepflogen hat. Ich hebe
nur die wesentlichsten Momente hervor. Im September 1423 2)
wurde zwischen Savoyen und Florenz ein Bündniss gegen Filippo
Maria geschlossen (auch die Schweizer hoffte man mit in dasselbe
hineinzuziehen), in welchem die Republik auf alle Eroberungen in der
Lombardei verzichtete und sie dem Herzoge in Aussicht stellte. Durch
die Abtretung von Vercelli wandte Visconti noch die ihm von Savoyen
drohende Gefahr ab. Schon wenige Jahre darauf (11. Juni 1426)
kam es aber zu einem neuen Vertrage 3) zwischen Venedig, Florenz
und Savoyen, der wenigstens bis ein Jahr nach dem Tode des Her-
zogs von Mailand dauern sollte. Nach demselben sollte das Herzogthum
*) Ben. di San Giorgio u. Scarabelli, pag. 267.
2) Simonetta, de rebus gestis Fr. Sfortiae I. II. — Scarabelli, pag. 209.
3) Gnichenon, preuves pag. 263, und der Wortlaut des Theilungsvertrags bei Scara-
belli, 1. c. pag. 211.
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen.
191
Mailand ganz verschwinden, und bei der zwischen den contrahiren-
den Mächten im voraus verabredeten Theilung hatte sich Amadeus
das beste Theil ausbedungen: alles Gebiet von der piemontesischen
Grenze bis an den Tessin und jenseits noch Mailand und Pavia mit
allen Dependenzen. Der Kaiser vermittelte zwar nochmals zwischen
den Herzögen von Mailand und Savoyen; aber jener musste in den
beiden Verträgen vom 2. Februar und 2. December 1427 *) die Ab-
tretung von Vercelli und aller seit seinem Regierungsantritte von Sa-
voyen gemachten Eroberungen bestätigen; zugleich drang ihm Ama-
deus seine älteste Tochter Maria zur Frau auf. in Folge dieser
schlau berechneten Verbindung nahm Amadeus' Politik eine neue
Wendung an. Allerdings beauftragte er seine Gesandten, den Vene-
tianern und Florentinern, welche ihr früheres Bündniss mit Savoyen
durch diese Heirath bedroht glauben mussten, die Erklärung abzuge-
ben, „dass die Heirath nicht gegen die gemeinschaftliche Ligue Ver-
stösse und in keinem Falle ein Hinderniss sei, auch in Zukunft Krieg
mit Mailand zu beginnen , dass es schon andere Beispiele der Art in
der Geschichte der Familie gebe" 2). Diese beruhigende Erklärung
sollte aber offenbar nur den Übergang zu einer neuen Haltung vermit-
teln und hielt Amadeus nicht ab, im weiteren Verlaufe die Partei des
Visconti gegen die beiden Republiken zu ergreifen. Nur seinen eige-
nen Wünschen blieb Amadeus dabei treu. Sein altes Ziel, die Erobe-
rung der Lombardei, wollte er jetzt durch den Herzog von Mailand
aufgedrungene Freundschaft zu erreichen suchen. Denn zum Schutze
der Viscontischen Staaten und gleichsam als Gegenleistung für im
Nothfall zu leistende Hilfe brachte Amadeus eine Schenkung unter
Lebenden zwischen sich und dem kinderlosen Filippo Maria zur
Sprache. Als seine im Sommer 1434 nach Mailand geschickten Ge-
sandten immer wieder auf diesen Vorschlag zurückkamen, sah sich
der dortige Herzog genöthigt durch seine Räthe den Gegenvorschlag
machen zu lassen, er wolle einen von Amadeus' Söhnen adoptiren und
im Fall, dass er ohne eigene legitime Kinder zu hinterlassen sterbe,
diesem Adoptivsöhne Genua, Savona, Asti, Tortona, Alessandria, Parma
und Piacenza mit ihren Gebieten zufallen lassen. In dem schliesslich
vereinbarten Vertrage (von Filippo Maria am 17. October, von Amadeus
1) Guichenon, hist. vol. II, pag-. 41 und preuves pag\ 344. — Andreas Billius, I. VI.
2) Scarabelli, I. c. p. 222.
192 Si cke I.
am 8. November beschworen) war aber weder von Schenkung
noch von Adoption die Rede , in der Hauptsache wurde nur der Ver-
trag von 1427 erneuert und demselben einige Territorialbestimmun-
gen zu Gunsten Savoyens hinzugefügt1)- Wahrscheinlich hatte der
Umstand, dass Amadeus seine letzten Absichten diesmal zu deutlich
durchblicken Hess, die Mailänder von grösseren Zugeständnissen
abgehalten. Dass die ganzen Verhandlungen in das tiefste Geheim-
niss gehüllt waren — so dass die gleichzeitigen Mailänder gar keine
Kenntniss von ihnen gehabt zu haben scheinen und ebenso wenig spä-
tere Historiker, bis Carrone den Schleier gelüftet2) — ersparte dem
Herzoge von Savoyen die Schmach einer auf diplomatischem Felde
erlittenen Niederlage und that seinem auf die offenkundigen Erfolge
gegründeten politischen Rufe keinen Abbruch.
Fassen wir also das Bisherige noch einmal zusammen, so kön-
nen wir im Grossen und Ganzen Amadeus1 Politik als von glücklichem
Erfolge gekrönt bezeichnen. Indem seine Zeitgenossen eben so
urtheilten, musste sie allerdings die Nachricht überraschen, dass sich
Amadeus der fürstlichen Gewalt begeben und als Eremit nach Ripaillc
zurückgezogen habe. Aber hätten sie und viele der späteren Histori-
ker die Bedeutung dieses Schrittes nicht überschätzt, wären sie der
angeblichen Abdankung des Herzogs auf den Grund gegangen, so
würden sie sich die Mühe erspart haben, unhaltbare Erklärungsver-
suche aufzustellen. Die meisten früheren Schriftsteller (A. Sylvius,
Wanderburch, ßzovius, Monod, Sala, Doni d'Altidio, Guichenon)
schreiben den Entschluss des Herzogs tief religiöser, devoter Gesin-
nung zu und stellen dem entsprechend sein Leben in Ripaille als
streng ascetisch dar. Der Tod seiner Gemahlinn Maria von Burgund
(von dem aber Cibrario 3) in neuester Zeit nachgewiesen hat, dass
er schon in das Jahr 1422 fällt), der Tod seines ältesten Sohnes
(2. Aug. 1432) sollten sein Gemüth tieferschüttert, das Attentat auf
ihn, dessen Galois de Sure 1434 beschuldigt wurde, sollte ihm
die Vergänglichkeit dieses Lebens zum Bewusstsein und ihn zum
1) Scarabelli, I. c. pag. 267.
2) Nur dem burgundischen Hofe scheinen die Verhandlungen nicht unbekannt
geblieben zu sein, und daher mag Olivier de la Marche 1. cap. 6 seine Nach-
richt haben; nur irrt er, wenn er glaubt, dass es wirklich zur Verschiebung
Mailands an Savoyen gekommen sei.
3) Cibrario, opusculi, Torino 1841: Cronologia rettificata.
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. 193
Entschluss gebracht haben, sich von der Welt und ihrem Treiben
zurückzuziehen. Sein der Kirche ergehener Sinn, seine Fürsorge
für dieselbe werden ferner von diesen Schriftstellern angezogen, die
zum Theil, namentlich Wanderburch *)♦ was m Amadeus' Innerm vor
sich gegangen sein soll, mit langen ebenso umvahren als unschönen
Reden ausschmücken. Aber es ist schwer mit dem was wir von dem
Leben des Herzogs vor und nach seinem Eintritt in Ripaille wissen,
zusammenzureimen, dass einzelne Unglücksfalle in seiner zahlreichen
Familie in solchem Grade auf ihn gewirkt und dass Überdruss an der
Welt ihn in stilles selbstbeschauliches Leben getrieben habe. Hatte
er sich doch auch früher eines frommen Gelübdes, des einer Wallfahrt
nach dem gelobten Lande2), ein Gelübde, auf dessen Erfüllung seine
Zeit noch so grossen Werth legte, ohne Bedenken überhoben, als die
Pflichten des weltlichen Fürsten ihn im Vaterlande zurückhielten.
Vielleicht können wir auch einen Schluss auf die Geistesrichtung 3)
des Herzogs aus den Büchern ziehen, welche er für seine Bibliothek
erwarb; Carrone4) führt aus den in Turin erhaltenen Rechnungen als
solche folgende auf: eine Bibel und den Trojanerkrieg in französischer
Sprache, den Thesaurus, die Geschichte der Römer und Carthager,
die neun alten Philosophen, Seneca's Briefe, Dante, die Kriege
Frankreichs und Englands, die Statuten der Lombardei, die Cento
Novelle in lombardischem Dialekt. Ein angehender Eremit würde
wohl in anderen Büchern Nahrung für seinen Geist gesucht haben.
Finden sich nun in den früheren Jahren des Herzogs keine
Spuren dieser ihm angedichteten Neigung zu beschaulichem Leben,
so widerlegt vollends, was wir von der Lebensweise Amadeus' und
seiner Gefährten in Ripaille wissen, die aufgestellte Behauptung
eines streng ascetischen Wandels. Amadeus hat in dieser Hinsicht
nichts gemein mit seinem Zeitgenossen Bruder Klauss. Während
dieser sich seine Hütte am felsigen Ranft aufbaute inmitten damals
unwegsamer Wildniss , prangte des Herzogs Eremitage in freund-
licher Gegend in aller Pracht jener Zeit. Das Schloss zu Ripaille, an
*) Sabaudorum ducum bist, gentilitiae 1. II, pag. 120 seq.
2) Cibrario, Economia politica vol. II, pag-, 17.
3) Sauli, condizione degli studj nella Savoja, in Mem. dell'Acead. di Torino, s II.
vol. VI. pag. 126 sequ. — Über den Kunstsinn des Herzogs cf. Cibrario, studj
storici, Tor. 1851, pag. 321.
4) Scarabelli, I. c. pag. 248.
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XX. Bd. I. Hft. 13
194 Siekel.
den wohnlichen Ufern des Genfersees, von herrlichem Eichen- und
Kastanienwald umgeben, war schon in früheren Zeiten ein Lieblings-
aufenthalt des Grafen von Savoyen *). Amadeus verlebte dort einen
Theil seiner Jugendjahre, vergrösserte später das alte Schloss,
legte bei ihm längs der Dranse einen weiten Wildpark an , stiftete
daselbst die Augustinerabtei zu N. Dame de St. Maurice, an die sich
dann später die Eremitage anschloss. Schweizer Chroniken schildern
letztere als eine Art Burg, deren einzelne Thürme und Flügel eben
so viele Wohnungen für die einzelnen Ordensbrüder bildeten; jeder
Flügel war von einem Garten umgeben und enthielt allerlei Gemächer
und eine Einrichtung , deren Bequemlichkeit auch einem Fürsten
nichts zu wünschen übrig Hess. Die Kleidung unserer Eremiten ahmte
auch nur in der Farbe und dem Schnitt des Gewandes — grauer eng
anliegender Rock mit Kutte — die wirklicher Einsiedler nach, und
zu ihm und dem knotigen Stock passte gar wenig das Purpurbarett,
der goldgestickte Gürtel und das goldene Ordenskreuz 2). Anstatt
Wurzeln und Quellwasser, fügt Monstrelet hinzu, Hessen sie sich den
besten Wein, das schönste Fleisch vorsetzen; und wer noch an dem
guten Leben zweifeln sollte, das die Brüder von Ripaille führten, den
verweisen wir auf die in Turin aufbewahrten Küchenrechnungen 3),
nach denen alle Delicatessen jener Zeit für den Tisch von Ripaille
angekauft wurden. Amadeus hatte auch hinlänglich für den Unterhalt
in Ripaille gesorgt: 10,000 Gulden waren für ihn ausgesetzt, zu denen
noch die Einkünfte des Bisthums Genf kamen, aus dem er den recht-
mässigen Inhaber Franz Miez verdrängt hatte und in dem er sich seit
des letztern Tode (1440) behauptete 4). So Hess sich schon leben „in
einem Paradiese von Vergnügungen", wie Maehanaeus sagt 5); so
konnte schon bei den damals noch in strenger Zucht aufgewachsenen
Schweizern Amadeus in den Ruf eines Schwelgers kommen; so
konnte das sprüchwörtliche „faire Ripaille" entstehen, lange bevor
Voltaire in seinen Briefen über den Genfersee den wunderlichen
Amadeus mit den Worten geisselte:
„Tu vecus en vrai sage, en vrai voluptueux".
1) Chron. du Conte Ronge in Monum. hist. patriae p. I. col. 590. Wurstisen.
Basler Chron. ed. 1765, pag. 386.
2) A. Sylvius ad Petrura Noxetanum. — Monstrelet II, eap. 168 u. a.
3) Scarabelli, 1. c. pag. 251.
4) Levrier, Ies Contes du Genevois II. pag. 30 seq.
5) Machanei Epit. hist. in Mon. hist. patriae I , col. 614.
Die Ambrosianische Republik und «las Haus Savoyen. 1 95
Dies weltliche Treiben in der Eremitage hängt nun auch damit
zusammen, dass Amadeus keineswegs, wie es darzustellen versucht
worden ist, auf die Betheiligung an den Welthändeln verzichtet hatte.
Der Wortlaut des Patents vom 7. November 1434, durch welches
der Herzog seinen Sohn Ludwig, Prinz von Piemont, zum Statthalter
einsetzt *), lässt in dieser Hinsicht keine Zweifel zu. Amadeus bindet
in demselben seinen Sohn nicht allein an Vorschriften, welche er ihn
bei der Regierung streng zu beobachten ermahnt, sondern macht die
Ausübung der herzoglichen Gewalt zum Theil von seiner Zustim-
mung abhängig, zum Theil reservirt er sich dieselbe ganz. Der Zu-
stimmung des Vaters bedurfte es zur Abschliessung oder Aufkündi-
gung von Verträgen, zu Kriegserklärungen, zur Veräusserung von
Domänen, zu Änderungen in der Münzwährung, zur Ertheilung von
geistlichen Ämtern und Pfründen. Die Steuern sollten ausschliesslich
von des Vaters Schatzmeister eingezogen werden, und die etwanige
Erhebung zu gräflichen und markgräflichen Würden behielt der alte
Herzog sich allein vor. Um im Übrigen des Statthalters Regierung
möglichst überwachen zu können, Hess Amadeus seinen Sohn meisten-
theils in Thonon, also in seiner Nähe, residiren. Die Staatshandlungen
fuhren denn auch fort im Namen von Amadeus zu geschehen, dessen
Name sich auch als alleinige Unterschrift unter vielen Documenten
befindet. Ich führe nur einige Belege an. Ende 1436 liess Amadeus
durch seine Abgeordneten einen seit langer Zeit mit Bourbon streitigen
Punct die Herrschaft Dombes betreifend beilegen3). Ein Jahr darauf
vermittelte er die Heirath zwischen Johann von Cypern und Amadea
Yon Monferrat3). Der Geleitsbrief für den Kaiser und die Patriarchen
des Morgenlandes , welche aufgefordert nach Basel zu kommen,
Savoyen hätten berühren müssen, war von Amadeus ausgestellt4).
Die Verhandlungen mit Venedig im Jahre 1437 führte der alte Herzog
ausschliesslich, empfing die Briefe und Gesandtschaften des Dogen
und ordnete seinerseits Gesandte an ihn ab 5). Von den inneren
Angelegenheiten die von Amadeus ausgingen, führe ich nur die
Reorganisation des Appellhofes an6). Carrone weist sogar einzelne
!) Guichenon, preuves 353. — Monstrelet. II, cap. 168.
2) Guichenon, bist, de Bresse.
3J Ben. S. Giorgio pag. 324.
4) MS. lat. Nr. 27 auf der Genfer Cantonalbibiiothek.
5) Guichenon, hist. de Savoie, pag. 59 und preuves.
6) Scarabelli, I. c. pag. 274.
13*
196 Sicke .
Regierungsacte nach, welche Amadeus gegen den Willen und die
Bitten seines Sohnes vornahm.
Die angebliche Abdankung, der vermeintliche Überdruss des
Eremiten Amadeus an Ausübung weltlicher Gewalt sind also darauf
zurückzuführen, dass der Herzog der alltäglichen minder bedeuten-
den Geschäfte überhoben sein wollte, an allen wichtigen Angelegen-
heiten dagegen nach wie vor den lebhaftesten Antheil nahm, für sie
mit seinen Ordensbrüdern den höchsten Rath *) bildete und in ihrer
Leitung sogar eine grosse Thätigkeit entwickelte. Weder die irdi-
sche Richtung, noch den weltlichen Inhalt seines Lebens hatte Ama-
deus durch seinen Eintritt in Ripaille aufgegeben : nur unter anderer
Form, in anderer Kleidung und mit anderem Namen lebte er dort als
Grosser und als Fürst fort. Bedarf dieser Schritt der sich somit nur
auf Äusserlichkeiten bezieht, noch einer Erklärung, so möchte ich ihn
auf eine gewisse romantische Neigung des Herzogs zurückführen.
Savoyen hat im XV. Jahrhundert vieles mit anderen Grenzprovinzen
und Ländern Frankreichs gemein, namentlich mit Burgund. Durch
das Gefühl des Gegensatzes zu den thatsächlichen Verhältnissen, in
welchen sich die neue Zeit ankündigte, und zu den Ideen, als deren
Träger Frankreich in die Schranken trat, wurde grade an den Gren-
zen dieses Reiches das Bestreben angeregt, der Neugestaltung ent-
gegenzutreten und zu diesem Behufsich mit Bewusstsein in die For-
men vergangener Zeiten zurückzudenken und sie mit einem gewissen
Schein der Realität zu umkleiden. Es würde über die hier mir
gesteckte Aufgabe hinausgehen, durchzuführen , wie in beiden Län-
dern, in Rurgund und in Savoyen, diese Romantik alle Richtungen
des Lebens durchdrang, namentlich an den Höfen der Fürsten, an
denen der frühere nur noch in veralteten Institutionen und Sitten
fortlebende Geist und der neue erst nach entsprechenden Formen
ringende am meisten aufeinanderstiessen. In Burgund entstand auf
diesem Boden der goldene Vliessorden , an die Stelle der abhanden
gekommenen Bittertreue und Bitterehre Fictionen derselben setzend,
dabei mit ganz weltlichen Formen, denn seine Mitglieder waren auf
dem Schlachtfelde aufgewachsen und ergraut und sollten jeder Zeit
zu neuem Kampfe gerüstet sein. In Savoyen, von ähnlichen Einflüssen
*) Cibrario, studi storici pag. 318 seq.
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. 1 {)(
getrieben, stiftete Amadeas die Brüderschaft der Eremiten von
St. Maurice, auch insofern ein Ritterorden, als seine Mitglieder die
Ahnenprobe zu bestehen hatten , sonst die Formen geistlicher Orden
nachahmend. Die Wahl dieser letzteren mag allerdings durch den fried-
lichen, schlicht frommen aber doch jedes höheren religiösen Schwunges
baaren Sinn des Herzogs bestimmt worden sein, und dadurch, dass Ama-
deus, der den damaligen Verfall der Kirche und ihrer Träger aus der
Nähe geschaut hatte und an den mühsamen Versuchen sie zu läutern ein
lebhaftes Interesse nahm, durch den Schein solcher Formen eine
der früher ehrwürdigsten kirchlichen Institutionen wieder zu heben
gedachte. Dass es aber auch nur eine Fiction war, in der sich Ama-
deus gefiel, sahen wir schon; kein Gelübde im alten Sinne band die
Brüder, welche sich lediglich zur Beobachtung rein äusserlicher
Formen verpflichteten und sonst in jeder Beziehung in weltlichem
Treiben und Trachten verharrten.
Allerdings ist noch eine andere Erklärungsweise versucht
worden, welche dem Eintritte des Herzogs in die Eremitage eine viel
grössere Tragweite geben würde, und zu welcher sich noch in neuester
Zeit der von mir oft angeführte Carrone hingeneigt zu haben
scheint. Mit Berufung auf einzelne Stellen älterer zum Theil dem
XV. Jahrhundert angehöriger Geschichtsschreiber wird nämlich
behauptet, durch den Eintritt in eine Art von geistlichen Orden habe
sich Amadeus den Weg bahnen wollen zu seiner später wirklich
erfolgten Papstwahl, womit dann zusammenhängt, dass die letztere
auf einer fein angelegten, Jahre lang vorbereiteten Intrigue beruht
haben und namentlich durch Bestechung der Basler Väter zu Stande
gekommen sein soll. Obgleich diese Behauptung die von mir versuchte
Auffassung nicht geradezu ausschliessen würde , wage ich ihr nicht
beizustimmen, so lange sie nicht schlagender, als bisher geschehen
ist, begründet sein wird. Wir berühren hier einen der wichtigsten
Momente der Geschichte der Kirche und der Geschichte des XV.
Jahrhunderts, über welche einUrtheilzu fällen erst möglich sein wird,
wenn reichlicheres, namentlich urkundliches Material vorliegen wird.
Die Chronisten erscheinen mir in allem was sich auf die Kirchen-
spaltung und das Basler Concil bezieht, schlechte Gewährsmänner zu
sein. Die Laien unter ihnen sind nicht genug über die geheimen Trieb-
federn und Vorgänge innerhalb der kirchlichen Parteien unterrichtet
oder scheuen sich, was sie wissen und meinen, auszusprechen. Der in
198 Sickel.
alter Zucht und Ehrfurcht aufgewachsene de la Marche spricht sich *)
eben hei Gelegenheit des damaligen Schisma's in bezeichnender
Weise aus. „Ehe man an den Namen und Ruf so heiliger und hoher
Person in der Christenheit rührt, soll unser Verstand stillhalten vor
Angst, die Zunge stammeln aus Furcht, die Tinte vertrocknen, das
Papier bersten, die Feder sich krümmen aus Sorge um die Gefahr
zu fallen und zu verfallen in Ungehorsam und falsch Zeugniss, zuwi-
der dem Gebot und Geheiss unserer heiligen , heilsamen Mutter und
Quelle, der siegreichen Kirche; also flehe ich zu dem der da wacht
über alle Guten und Glaubigen, um Muth, dass er mich schütze und
bewahre, solche Dinge zu berühren und etwas niederzuschreiben,
was gegen die Ordnung und mein Gewissen wäre." Eine gleiche
Scheu finden wir allerdings bei dem Florentiner Poggio nicht; er
beschuldigt Papst Felix wenigstens indirect, indem er die Wahl dem
Einfluss des Geldes des letzten Visconti zuschreibt. Vergessen wir
aber nicht , dass Poggio an und für sich seiner leidenschaftlichen
Polemik wegen wenig zuverlässig ist, dass er der Verwandte, Ver-
traute und einstige Secretär von Nikolaus V. war und dass er somit
hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit in Bezug auf die Geschichte des
Schisma's auf gleicher Stufe steht mit den dem geistlichen Stande ange-
hörigen Anhängern der römischen Päpste. Deren Zeugniss über dieVor-
gänge in Basel kann aber ebenso wenig massgebend sein, als anderseits
das Schweigen welches die dem Concil zugethanen Berichterstatter
über alles beobachten, wasAmadeus' Charakter verdächtigen könnte.
Von den Chronisten endlich aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts,
mögen sie nun Laien oder Geistliche sein, können wir ebenfalls über
die geheimen Vorgänge in den beiden Lagern keinen besondern
Aufschluss erwarten; denn indem die Spaltung schliesslich durch
Compromiss zwischen Nikolaus und Felix ausgeglichen wurde, indem
jener die von seinem Gegner vorgenommenen Handlungen bestätigte
und ihn selbst mit allen Ehren überhäufte, wurde es allen welche es
mit der Wiedervereinigung aufrichtig meinten, zur Pflicht, den Schleier
des Vergessens über das Vergangene zu breiten. Fragen wir weiter nach
dem Zeugniss der Urkunden, so enthalten sie vielmehr eine Wider-
legung, als eine Bestätigung der Behauptung, dass Amadeus' Eintritt
in Bipaille auf die Papstwahl berechnet gewesen sei. Der ziemlich
») 1. I, cap. 6.
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. 1 90
lebhafte Briefwechsel zwischen Papst Eugen und Amadeus *), des letz-
teren Parteinahme für jenen in den ersten Jahren des Concils lassen
den Herzog eher als gehorsamen Sohn, denn als Mitbewerber erschei-
nen. Als dann seit 1435, also nach dem Eintritt in Ripaille, die Span-
nung zwischen dem Concil und dem Papste zunahm, hielt Eugen den
alten Herzog noch für seinen treuesten Anhänger und Anwalt (Corre-
spondenz bis Juli 1439 bei Guichenon 1. c.) , und als das Concil am
25. Juni 1439 die Absetzung Eugen's aussprach, [protestirte gegen
dieselbe gerade Amadeus am entschiedensten (20. Juli). Neben die-
sem seinem offen zu Tage liegenden Verhalten müsste also der Herzog
Eugen gegenüber eine geradezu entgegengesetzte geheime Politik
verfolgt haben. Es wiederspräche das allerdings weder Amadeus'
Charakter, noch dem Geiste der Zeit, aber es wäre voreilig, es behaup-
ten zu wollen auf blosse Andeutungen parteiischer Chronisten hin und
ohne ein einziges urkundliches Zeugniss dafür beibringen zu können.
Aus diesem Grunde müssen, wie ich glaube, die betreffenden Fragen
als noch offene behandelt werden, bis reichlicheres und zuverlässi-
geres Material über die Geschichte des Basler Concils, wie es die
kaiserliche Akademie in Aussicht gestellt hat, gestattet, sich ein be-
stimmteres Urtheil über die Vorgänge und Persönlichkeiten zu bilden.
Ich würde auch dieser Erörterung über die Glaubwürdigkeit der
bisher über jene Ereignisse vorliegenden Berichte und Zeugnisse nicht
bedurft haben, wenn ihnen nicht rückwirkende Kraft auf die Deutung
des Eintritts von Amadeus in Ripaille zugeschrieben worden wäre; denn
die eigentliche Geschichte des Papstes Felix berührt nicht mehr die
von mir zu besprechenden Begebenheiten der Jahre 1447 — 1449.
In ihnen erscheint Amadeus höchstens dem Titel nach noch als Papst,
seine Rolle ist die des Seniors des Hauses, des politischen Rathgebers,
und es genügt also , die Daten der in diese Zeit fallenden Abdankung
festzustellen. Nach den auf dem Lyoner Tage erfolgten Verabredun-
gen2) musste sich Felix dazu bequemen3) am 11. December 1447
*) Guichenon, hist, p. 63 sequ.; preuves pag. 302 sequ. — und Actenstücke des
Basler Concils in der Genfer Bibliothek, MS. lat. Nr. 27.
2) Wichtiges Material für die Geschichte dieses Tages enthält die auf der kaiserl.
Bibliothek zu Paris aufbewahrte Colleclion Legrand, in vol. I. (Pieees originales)
und in vol. II. (P. historiques).
3) Chron. lat. Sabaudiae in Monum. hist. patriae I. col. 620: „renuntiato potius
cohacta dici meruit, quam alias." — Guichenon, preuves pag. 320.
200 S i c k e 1.
seine bedingungsweise Abdankung zuzusagen. Nachdem die Gesandten
von Nikolaus und vom Dauphin die Erfüllung der Bedingungen *)
gewährleistet hatten (4. April 1449), erfolgte Felix' förmliche Ab-
dankung am 7. April und mit dem Schluss des Concils von Lausanne
die Wiederherstellung der Kircheneinheit.
Indem Amadeus' Sohn Louis in den Mailänder Angelegenheiten
nur die zweite Rolle spielt, kann ich in Bezeichnung seines Charak-
ters und seiner Stellung kürzer sein. Louis besass weder die Ein-
sicht noch den Ernst seines Vaters; wandelbar in seinen Neigungen
und Entschlüssen2) erlahmte er, sobald sich der Ausführung seiner
Pläne Schwierigkeiten in den Weg stellten. So täuschte er die Hoff-
nungen, mit denen das Land seinen Regierungsantritt begrüsst
hatte3). Nachdem er nämlich unter des Vaters Leitung seit 1435
die Verwaltung geführt hatte, war er nach der Wahl des alten Her-
zogs zum Papst, im April 1440, mit der vollen herzoglichen Gewalt
bekleidet worden. Von diesem Augenblicke an übten die Cyprioten,
welche mit der Herzoginn Anna von Cypern an den Hof gekommen
waren 4), einen unheilsamen Einfluss aus. Nur auf die Interessen ihres
Heimatlandes bedacht, sogen sie Savoyen und Piemont aus, um
Gelder nach Cypern zu schicken. Die herzoglichen Finanzen verschlim-
merten sich mit jedem Tage, das Land verarmte 5). Zugleich hatten
die Cyprioten ein lustiges, leichtsinniges Leben bei Hofe eingeführt, in
dem Louis selbst sich mehr gefiel, als in Regierungsgeschäften. Tänzer,
Gaukler, Sänger, Spieler waren des Herzogs liebste Gesellschaft; er
hätte lieber ein Schloss verloren, als einer Belustigung entsagt. Was
seines Amtes war, überliess er unterdessen seinen oft wechselnden
und willkürlich schaltenden Günstlingen. Als der Missmuth über
dies Treiben einmal zum Ausbruch kam, wurde zwar eine Commis-
sion ernannt zu Untersuchungen und zur Reform der Justiz; indem
es aber dem Herzog an Ernst und Kraft gebrach, das begonnene
*) Ein Empfehlungsschreiben von Amadeus ddo. Genf 18. October 1448 (in Mohr's
Schweiz. Regesten, vol. 1. Priorat der St. Petersinsel im Bieler See Nr. 20) regt
die Frage an, wie , falls die dort angegebene Jahreszahl richtig ist , es kommt,
dass Amadeus schon damals den bescheideneren Titel : „Bischof von Sabina , Car-
dinal und päpstlicher Legat" angenommen hat.
2) Chron. lat. Sab. 1. c. col. 615.
3) Macbaneus in Monum. hist. patriae 1. col. 770.
4) Cibrario, opusculi, cronologia rettificata.
5) Chron. lat. Sab. I. c. col. 617.
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. 201
Werk durchzuführen, gaben die halben Massregeln nur demHass und
Neid der Parteien neue Nahrung. Ein Theil des savoyischen Adels,
durch Zurücksetzung gekränkt, suchte bei Karl VII. Schutz *); andere,
weil sie ihren Rath geringschätzt sahen , zogen sich mürrisch vom
Hofe und den Geschäften auf ihre Güter zurück; andere wieder
wandten sich mit ihren Klagen an den alten Herzog. Des letzteren
noch immer überwiegender Einfluss mochte auch das Regieren
erschweren, so wie anderseits des Herzogs Beziehungen zu den übri-
gen Mächten durch Felix1 Stellung als Gegenpapst immer mehr ver-
wickelt wurden. Louis vermochte weder seinen Vater zur Abdankung
zu bewegen, auf der Kaiser Friedrich und Karl von Frankreich
bestanden, noch konnte er sich entschliessen, dessen Partei aufzu-
geben. Nikolaus V. erklärte desshalb schon das ganze savoyische
Erbtheil für an Frankreich verfallen 2) und predigte einen Kreuzzug
gegen Amadeus und Louis. Der Kaiser, durch die Verlängerung des
Schisma's und durch Savoyens Eingriffe in Schweizer Angelegen-
heiten erbittert, verweigerte Louis die Anerkennung als Herzog3).
Karl VH. wurde durch die enge Verbindung des Herzogs mit dem
Dauphin verstimmt. So schwand in wenigen Jahren das Ansehen und
der Einfluss hin, zu denen Amadeus1 klügere und glücklichere Politik
Savoyen erhoben hatte. Und dennoch hielt auch Louis an dem Lieb-
lingsgedanken seines Vaters fest, an den Absichten auf dieLombardei.
Zwar bot sich kein Anlass mit dem Mailänder Schwager zu brechen
und im Kriege neues Gebiet zu erobern; aber für den vorherzu-
sehenden Fall des unbeerbten Todes des Herzogs Filippo Maria
schloss auch Louis, gleichwie Amadeus, mehrere Bündnisse ab. In
einem zu Thonon am 12. Juni 1436 getroffenen Übereinkommen 4)
wurde mit den jüngeren Monferrats eine einstige Theilung der Lom-
bardei verabredet. Später als sich Louis und der Dauphin wieder
genähert hatten, entwarfen sie ebenfalls im Februar 1445 in Genf
einen Vertrag5), der auf Eroberungen in Italien berechnet war und
in dem sich Herzog Louis den Mailänder Staat ausbedung.
*) Dupleix, bist, de France, pag. 82.
2) Lünig, Cod. dipl. it. sect. II, 43.
3) „Ludovico se pro duce gerenti" und ähnliche Ausdrücke in den Briefen des Kaisers,
in Chmel's Regesten.
4) Scarabelli, I. c. pag. 271.
5) ScarabeUi, I. c. pag. 310.
202 S i c k e i.
Zwei Jahre darauf trat nun wirklich der lange vorhergesehene
Fall ein. Mit dem Tode FilippoMaria's, am 13. August 1447, erlosch
der Mannsstamm der Visconti. „Dieser Todesfall — meldeten kurz
darauf die kaiserlichen Gesandten in Mailand an ihren Herrn *) —
ruft grosse Bewegungen hervor , zu denen Italien an und für sich
hinneigt, und die jetzt mehr denn je dadurch verschlimmert werden,
dass alle Parteien: Deutsche und Italiener, Franzosen und Spanier,
des letzten Herzogs Erbschaft beanspruchen; denn so glücklich gele-
gen ist die Lombardei, so reiches Land, so üppiger Boden, dass sie
alle anlockt." Die Mailänder selbst aber, des Druckes und der Will-
kür müde, welche die letzten Herzoge ausgeübt hatten, hatten vom
ersten Tage an die Freiheit ausgerufen und das Gemeinwesen, dessen
Unabhängigkeit sie zu vertheidigen entschlossen waren, dem Schutze
des heiligen Ambrosius anempfohlen. Guelfen und Ghibellinen hatten
sich einmüthig verständigt. Die Organisation der Behörden und
Gerichte wurde vor der Hand beibehalten. Nur wurde dem Rathe der
900, welcher schon früher für städtische Angelegenheiten bestanden
hatte, die Verwaltung des Staatsvermögens, die Beschlussnahme über
Steuern und die Aufsicht über deren Verwendung zugewiesen. Neben
ihm entstand der kleine Rath der 24 (je vier von den sechs Thoren
oder aus den sechs Stadttheilen) , aus deren Mitte wieder zur Aus-
übung der obersten bisher herzoglichen Gewalt die sechs Capitäne,
Conservatoren und Defensoren der Freiheit zunächst auf drei Monate
gewählt wurden3). So lange nicht Parteileidenschaft aufloderte,
konnte das innere Regiment seinen geregelten Gang fortgehen. Aber
andere Fragen stellten gleich die junge Ambrosianische Republik auf
eine harte Probe. Die Venetianer waren schon vor des Herzogs Tode
auf Mailänder Gebiet erschienen und bedrohten zunächst den Bestand
des Staates. Die Gefahr war so gross, dass man eilig Francesco
Sforza, obgleich er selbst Erbansprüche auf das Herzogthum erhob,
herbeirufen und ihm unter Abschluss einer vortheilhaften Condotta
die Vertheidigung des Vaterlandes anvertrauen musste3). In jedem
Prätendenten, unter denen nächst Sforza Alfons von Aragonien und
*) Chmel, Materialien 1, CXI, h.
2) Arehivio civico di Milano , Reg-. A. u. B. ad 1448; einzelnes auch im Gesandtschafts-
bericht bei Chmel I. c.
3J Arch. civico Reg-. B. f. 16 v. Wo nicht besondere Citate angegeben sind , folge ich
den Mailänder Chronisten : Simonetta, Corio und Cagnola.
Die Ainbrosianische Republik und das Haus Savoyen. £\J d
Herzog Karl von Orleans am meisten zu fürchten waren, drohte ein Feind.
Es war auch fraglich, ob die übrigen Städte und Gebiete der Lombardei,
welche von dem Visconti beherrscht worden waren , sich dem Regi-
mente der Hauptstadt unterwerfen und die von ihr beanspruchte Lan-
deshoheit anerkennen würden. Crema, Parma, Como, Novara hatten
sich freilich schon günstig erklärt; auch das entfernte Chiavenna *)
huldigte, als Baldessare Vertemate das weisse Fähnlein mit dem
rothen Kreuz und darüber das Wort „Libertas" dorthin brachte, und
nahm einen Mailänder Vogt auf. Aber Lodi, der Hauptstadt gefährlich
nahe, war von der gueliischen Partei bestimmt worden , sich dem
Banner von St. Marcus zu unterwerfen (schon am 17. August); Pia-
cenza folgte seinem Beispiele bald nach. Im Parmesanischen ver-
suchten die Este und die Correggi das Joch Mailands abzuschütteln
und machten selbst auf Parma Anschläge. Im Norden des Herzog-
thums schwankte alles. Die kleinen Herrn an den Seen: die Rusca
in Lugano, die Borromeo in Arona u. s. w. suchten sich frei zu
machen. Ins Liviner- und Palenzerthal fielen die Urner ein2), ohne
bei den unschlüssigen Vögten Widerstand zu finden, und erneuerten
mit ihren welschen Brüdern die alten Bünde. Von Westen her war
die Hauptstadt ebenso bedroht. Nachdem die Parteien in Pavia lange
geschwankt, ergab sich die Stadt am 8. September dem Grafen Fran-
cesco. Wenn auch Genua, wie es dem Kaiser versprochen3), sich
ruhig verhielt, so überschritten doch die Fieschi und Fregosi auf
eigene Hand das Gebirge und bemächtigten sich einzelner Ortschaf-
ten. Von Asti aus drohte Frankreichs Macht, vom sterbenden Her-
zoge selbst herbeigerufen. Denn als er sich in seinem letzten Lebens-
jahre von allen Seiten bedrängt sah, hatte er sich erboten , wenn
Karl VII. ihm Hilfe schicke, die Grafschaft Asti, einst der Valentina
Visconti als Heirathsgut zugeschrieben, ihrem Erben Karl von
Orleans auszuliefern. Die Übergabe erfolgte auch wirklich am 12.
August — also am Tage vor Viseonti's Tode — durch den herzog-
lichen Statthalter Tomaseo Tebaldo zu Händen des vom König gesand-
ten Gouverneurs Dresnay. Durch diese Festsetzung in Asti wurde
Orleans, der Mailand als Weiberlehen betrachtete und so als nächster
Erbe das ganze Herzogthum forderte, besonders gefährlich. Sein
') Spreeher, Pallas 1. 3, pag. 95 ; Guier (selbst Podesta in Plurs) Rhaetia 1.11.
2) Tschudi II, 518.
3) Brief vom 4. Oct. 1447, in ChmePs Materialien I, CX11.
204 S i c k e I.
königlicher Vetter trat nun auch als Chef des Hauses für diese An-
sprüche ein und rief, sie zu verfechten, schon am 3. September 1447
in gebieterischem Tone den Herzog Louis von Savoyen auf *). Auf ein
Schreiben ähnlichen Inhalts vom Herzog von Burgund an Sforza habe
ich früher aufmerksam gemacht 2). Auch Orleans suchte durch Dres-
nay den Grafen für seine Sache zu gewinnen s). Mit den wenigen
Truppen, mit denen der französische Gouverneur nach Asti gekom-
men war, versuchte er unterdessen schon einen Einfall ins Alessan-
drinische. So lange die Mailänder ihm nur Boten und Briefe entge-
gensetzen konnten, machte er Fortschritte, denn bei den Guelfen hatte
der Name Frankreich guten Klang und von allen waren die Fran-
zosen gefürchtet, deren Treiben die italienischen Chronisten der Zeit
nicht grausam genug schildern können. Als aber das kleine Bosco
ihnen Widerstand leistete, fand die Bepublik Zeit Truppen gegen
sie unter Coglione und Astorre auszuschicken. Am 17. und 18. October
kam es zu einem Zusammenstoss, in welchem die Franzosen gänz-
lich geschlagen und auf Asti zurückgeworfen wurden; ihr Führer
Dresnay wurde gefangen und nach Mailand gebracht. Herzog Karl4)
hatte sich unterdess selbst mit einiger burgundischer Mannschaft
aufgemacht und hielt am 26. October seinen feierlichen Einzug in
Asti. Dort erwartete er zunächst den Erfolg der Unterhandlungen
die er durch seine Gesandten in Mailand pflegen liess 5), bereitete
sich aber zugleich für den Fall vor, dass er seine Anerkennung als
Herzog von Mailand erzwingen müsse, und suchte sich durch ein
Bündniss vom 15. December der Hilfe des Markgrafen Johann von
Monferrat zu versichern6). Gerüchtweise hiess es auch, gegen Mit-
fasten werde seinem Vetter Orleans der Dauphin zu Hilfe kommen,
der gleichzeitig in Venedig in Unterhandlung stand über eine Con-
dotta 7) , welche er in Italien und namentlich wohl gegen Mailand
übernehmen wollte.
Im Westen war endlich Mailand von Savoyen bedroht, das jetzt
den von seinen Fürsten lange ersehnten Augenblick gekommen sah.
i) Recueil de lettres entre le P. Felix etc. Nr. I.
2) In meiner Abhandlung' im Archiv, Bd. XIV.
3) Bericht der kaiserl. Gesandten I. c.
4) 0. de la Marche I, cap. 17.
5) Bericht der kaiserl. Gesandten, bei Chmel I. c.
6J Ben. da S. Giorgio, pag\ 331.
7) Libri secretonim consilii rog-atornm ad 1447, im Arch. ai Frari in Venedig-.
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. £\)ö
Auf die erste Kunde von des Herzogs Tode fielen savoyische Truppen
ins Gebiet von Alessandria ein und bemächtigten sich der Ortschaften
Confluenza (das Caspar Schlick zu Lehen trug), Valenzia, Borgo,
Bassigrnana u. a. Von Vercelli aus durchstreiften andere das Novarese
und Lomellin. Savoyische Agenten drangen noch weiter vor, bis nach
Pavia, und suchten das Land bald durch Verheissung von Abgaben-
freiheit, bald durch Drohungen zur Unterwerfung zu bringen. Auch
in diesen Gegenden waren es die Mailand feindlichen Guelfen welche
zu Savoyen hinneigten ; die Ghibellinen aber , von Sforza durch
Alberto Maleta und Giovanno Bizio ermuthigt, widersetzten sich nach
Kräften der Unterwerfung unter Herzog Louis und behaupteten sich
in den wichtigsten Puncten des Lomellin, in Vighevano und Mortara.
Louis der in der Hoffnung von dem ganzen Lande als Herr ausge-
rufen zu werden nach Vercelli gekommen war, überzeugte sich bald,
dass ohne bedeutende Truppenmassen nichts auszurichten war, zog
sich nach der Niederlage der Franzosen bei Bosco, welche den Mai-
ländern freiere Hand gab , vorläufig zurück und versuchte zunächst
mit der Bepublik zu unterhandeln.
So standen die Sachen in jenen Gegenden, als die kaiserlichen
Gesandten in der zweiten Hälfte des October nach Mailand kamen.
Kaiser Friedrich hoffte nämlich dasHerzogthum als erledigtes Beichs-
lehen einziehen zu können und hatte diese seine Absicht dem ge-
sammten Volk von Mailand schon durch ein Schreiben vom 1. Sep-
tember kund gethan *). Einige Wochen darauf trafen seine Gesandten
in der Lombardei ein, unter ihnen der Bischof von Seckau, Graf
C. Schlick und A. Sylvius, der in seinem Pentalogus schon seit Jahren
die Politik vorgezeichnet hatte , welche sein Herr beim Tode des
letzten Visconti zu befolgen haben würde. Sie fanden die Stadt
welche sich von allen Seiten bedrängt sah, nicht abgeneigt, sich dem
Kaiser als Schirmherrn zu unterwerfen. Aber über die Form der
Unterwerfung, das Verhältniss der Lombardei zur Hauptstadt, das
Mass der zu gewährenden Freiheit, den Charakter und die Höhe der
zu leistenden Abgaben, über die vom Kaiser beanspruchte Hilfe
konnten sich Friedrich's Oratoren mit den Gewalthabern der Bepublik
so wenig einigen, dass sie, ohne irgend etwas entschieden zu haben,
!) Chmei, Materialien Bd. 1, CXI, a, und A. Sylvius, hist. Frid. in Kollarii Anal. vol. II.
pag. 146 seq.
206 S i c k e I.
am 10. November ihre Rückreise antraten, in dem trefflichen Berichte
dieser Gesandten, den ich schon erwähnt habe, zeigen sie sich auch
gut von den vielfach sich durchkreuzenden Intriguen der Parteien in
Mailand unterrichtet. Nur das Treiben der savoyischen Gesandten
scheinen sie nicht ganz durchschaut zu haben. Während sie nur von
einem Waffenstillstände wissen , der zwischen der Ambrosianischen
Republik und Louis abgeschlossen war, hatten sich die Unterhand-
lungen schon um ein Schutz- und Trutzbündniss gedreht, das bald
nach der Abreise der Oratoren und nachdem die Aussicht auf wirksame
und sofortige Hilfe von Seiten des Kaisers geschwunden war, zum
Abschluss kam. Louis besass in Mailand eine warme Fürsprecherinn
und Verfechterinn der Ansprüche seines Hauses in seiner Schwester,
der verwitweten Herzoginn Maria. Sforza's Anhänger selbst schildern
sie als eine sittsame, ehrwürdige Dame von anspruchslosem, beschei-
denem Wesen; dies und ihr eheliches Unglück1) mochten ihr viele
Herzen zugewandt haben. Wie wir sie nun im Folgenden rastlos
thätig sehen werden, an einer Verbindung Mailands mit Savoyen zu
arbeiten, so erscheint sie auch hier schon als Unterhändlerinn des
Vertrages vom 17. November 14472), im Namen des Herzogs von
seinem Rathe Andreas Malet mit den Capitanen und Defensoren der
Freiheit abgeschlossen. In der Hauptsache ist der Vertrag nur eine
Erneuerung des 1434 zwischen den Herzögen von Mailand und
Savoyen beschworenen, nur dass jetzt an die Stelle des verstorbenen
Herzogs Filippo Maria die Ambrosianische Republik als zu Schutz und
Trutz verbündeter Alliirter tritt; ausserdem werden dem Herzoge
Louis die in den letzten Wochen gemachten Eroberungen gewähr-
leistet. Dem Kaiser welchem an demselben Tage vom Mailänder
Regiment die Einnahme von Piacenza gemeldet wurde3), wurde der
Abschluss dieses Bündnisses verheimlicht.
Die so zuerst eingeleitete Verbindung nahm noch im Laufe des
Winters einen engeren Charakter an.
t) Searabelli, 1. c. pag. 238 seq.
2) Recueil de lettres entre le P. Felix etc., im Genfer Archiv Nr. II. Indem H. Gauliieur
unter dem Vertrage falschlich 1446 gelesen hat, zieht er daraus die irrlhiimliche
Folgerung, dass es in Mailand schon vor dem Tode des Herzogs eine geschlossene
republikanische Partei gegeben habe und dass dieselbe in der Voraussicht dieses
Todesfalles schon Verbindungen mit den benachbarten Mächten eingegangen sei.
3J Chmel, Materialen Nr. CXXI.
Die Ambrosianische Republik und da-s Haas Savoyen. <£U7
In Mailand war der erste Jubel über die „aus der Verbannung
heimgekehrte" Freiheit bald verrauscht und die alten Reibungen
zwischen Guelfen und Ghibellinen brachen von Neuem aus. Jene
drängten zum Frieden mit Venedigs zunächst drohender Macht, diese
widersetzten sich der Annahme der allerdings günstigen Bedingungen
und förderten dadurch, ohne es zu wollen, die Interessen Sforza's
der allein bei der Fortsetzung des Krieges gewinnen konnte. Ein
erster Versuch sich mit Venedig zu verständigen war schon im
October 1447 gemacht1), scheiterte aber an den Ansprüchen Mai-
lands auf Lodi und Piacenza. Als nun letztere Stadt im November
erobert worden war, kam es in Bergamo zu neuen Friedensunterhand-
lungen auf Grund des damaligen Besitzstandes. Man war dem Abschluss
ganz nahe, als es den Ghibellinen und Sforzeschi gelang, das Volk
aufzuwiegeln , dadurch ihre Gegner einzuschüchtern 2) und den
Abbruch der Verhandlungen zu erzwingen. Jedenfalls musste man
sich nun für den Beginn des Frühjahres zu neuem Kriege rüsten.
Vom Kaiser geschützt zu werden war so wenig Aussicht, dass man
die ihm versprochene Absendung von Gesandten an ihn von Tag zu
Tag hinausschob. Dem tüchtigsten Feldherrn der Republik, dem
Grafen Sforza, musste man misstrauen und wagte nicht ihm die übri-
gen Condottieri unterzuordnen, wodurch allein Einheit und Nachdruck
in die Kriegführung hätte gebracht werden können. Mailand sah sich
also nach anderer Hilfe um und hoffte sie bei Savoyen zu finden. Der
grosse Rath bevollmächtigte Thomas Morone und Nicoiao Arcimbaldo 3)
mit dem Herzog Louis die weitere Ausführung des abgeschlossenen
Bündnisses zu verabreden, und am 3. März 1448 4) verpflichteten sich
die Parteien , durch einen neuen Vertrag zu gegenseitiger Hilfslei-
stung gegen ihre Feinde und zur Stellung von 1000 Berittenen und
eben so viel Fussvolk auf die Dauer von drei Monaten; 40 Tage 5)
*) Bericht der kaiserl. Gesandten, bei Chmel 1. c.
2) Storia di Brescia in Muratori Script. Rer. Ital. col. 846. Dem Volke wurde der Abbruch
der Verhandlungen am 15. Mai verkündigt: Arch. civico di Milano Reg. C. Gride.
3) Recueil de lettres entre le P. Felix etc. Nr. IV.
4J Das Genfer Schriftstück trägt das Datum „3. Martij" und nicht „3. Maij" wie H.
Gauliier gelesen hat und wie, wahrscheinlich nach ihm, auch Cibrario angegeben
hat in seinem neuesten Werke Origini e progresso delle instituzione della Monar-
chist di Savoja, Tor. 1834, 1, pag. 102.
5) Und ;>OTage für die von jenseits der Berge zu stellende Mannschaft, eine durch die
Verhältnisse gebotene Bestimmung, die in allen derartigen Verträgen mit italieni-
schen Staaten wiederkehrt.
208 S i c k e 1.
nach der Aufforderung sollte die Hilfsmannschaft gestellt werden.
Etwaige Eroherungen sollten zu gleichen Theilen gemacht werden;
dem Herzog wird wiederholt der damalige Besitzstand gewährleistet.
Wichtig ist, dass Louis in einem ergänzenden Instrumente von glei-
chem Tage einen Vorbehalt aussprach für alle Rechte der Krone
Frankreichs und des Herzogs von Orleans, der noch immer in Asti
verweilte und von dort aus durch Secundus de Nattis mit Mailand
unterhandelte *)•
Herzog Louis war aber damals gar nicht im Stande Hilfe zu
leisten, er selbst hatte vollauf zu thun, in der Schweiz mit dem öster-
reichischen Freiburg im Uechtlande begonnene Händel durchzu-
fechten.
Vergeblich war auf mehreren Tagen im vergangenen Sommer2)
versucht worden, die obwaltenden Streitigkeiten beizulegen, Ende
1447 war es zu offenen Feindseligkeiten zwischen Savoyen und Frei-
burg gekommen. Seit letzteres von Herzog Albrecht von Österreich
die angerufene Hilfe erhalten hatte , sah sich auch Louis nach Bun-
desgenossen um und fand sie ohne grosse Mühe in den noch vom
Züricherkrieg her unwilligen und seitdem vielfach gereizten Bernern;
am 4. Jänner 1448 sandten auch sie an Freiburg den Fehdebrief.
Herzog Albrecht wirkte nun wieder beim Kaiser aus, der Louis wegen
seiner Haltung in den kirchlichen Angelegenheiten zürnte, dass der-
selbe die Sache des treuen Freiburg als Reichssache erklärte und
seinem Bruder das Reichsbanner und Mandate sandte 3). Zur Aus-
führung kamen die kaiserlichen Befehle allerdings auch diesmal
nicht, aber sie schüchterten doch Herzog Louis ein und bestimmten
ihn, die von Frankreich und Burgund angebotene Vermittlung anzu-
nehmen, durch deren Gesandte am 16. Juli 1448 der Frieden von
Murten zwischen Freiburg und Österreich einerseits, Savoyen und
Bern andererseits zu Stande kam.
Aus den Bestimmungen des Vertrages erwähne ich nur,
dass Freiburg sich verpflichtete, dem Herzog Louis für Unkosten
binnen vier Jahren die Summe von 40,000 Gulden zu entrichten,
welche demselben dann bei seinen Unternehmungen in Italien zu
Statten kam.
i) Ventura, 1. c. col. 835.
2) Alt, hist. des Helvet. 4, 107.
3) Chmel, Regesten und Materialien ad 1448.
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. 209
Während des Freiburger Krieges war indessen der Herzog von
Savoyen, um Mailand im Auge zu behalten, in Piemont geblieben J) und
hatte von dort aus mit seinem Vater über die lombardischen Angelegen-
heiten correspondirt. Denn ohne Felix' Zustimmungen hätte Louis
nicht gewagt, sich in grössere Unternehmungen einzulassen, und ohne
dieselbe hätte er auch weder den Adel noch das Land zur Mit-
wirkung vermocht. Bald nach Abschluss des Vertrages vom 3. März
schickte also Louis eine Abschrift desselben durch Jaques de Clare-
mont an seinen damals in Lausanne residirenden Vater. Dieser, durch
die eben sehr lebhaften Unterhandlungen über seine Abdankung im
höchsten Grade in Anspruch genommen und sehr wohl von der Gefahr
unterrichtet2), welche seinem ganzen Hause drohte, seitdem sich
Frankreich entschieden auf die Seite des Papstes Nikolaus gestellt
hatte, verhehlte seinem Sohne nicht, dass ihn die neuen Verwick-
lungen, in die sich Louis stürzte, mit Besorgniss erfüllten und dass er
ihn kaum der voreilig übernommenen Aufgabe gewachsen glaube3).
Frankreich — fürchtete der Papst — werde durch den Vorbehalt zu
Gunsten Orleans noch nicht hinlänglich beruhigt sein, alle andern Prä-
tendenten aber, namentlich auch der Kaiser, gegen Savoyen aufge-
bracht sein. Aber auch bei Felix wurden alle diese Bedenken dadurch
aufgewogen, dass die Erwerbung der Lombardei sein eigener Lieb-
lingsgedanke war, und so munterte er den Sohn vielmehr noch auf,
indem er ihm seinen Bath ertheilte und seine Hilfe in Aussicht stellte.
„Da die Mailänder," schreibt er, „sich nicht mit Worten abfinden
lassen werden , gilt es ernstlich zu rüsten und vor allen Dingen Geld
zu schaffen. Die gewöhnlichen Abgaben werden dazu nicht hinreichen:
also solle der Herzog die Salzsteuer von Nizza verpfänden, seine und
seiner Frau Kostbarkeiten und Schmuck verwerthen: finde sich in
Piemont kein Geld zu leihen, so solle es in Genf versucht werden."
Felix macht alle die an seinem Hofe namhaft, die im Stande sein
werden Geld vorzuschiessen, er selbst will das Seinige thun, wenn
auch Louis Opfer bringt. Da Felix" Einfluss noch immer überwiegend
war, hatte er auch bereits an die Greyers, Entremonts, Menthone
und andere Vasallen in Savoyen und der Waadt geschrieben und sie
aufgefordert, mit ihren Mannen nach Piemont zu ziehen.
1) Cf. die Aetenstücke aus dieser Zeit bei Guiclienon.
2) d'Achery Spicil. III, 770.
3) Recueil de lettres entre le P. Felix, Nr. V.
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XX. Bd. I. Hft. 14
210 S i c k e I.
Zur Ausführung dieser Massregeln kam es aber im Sommer
1448 noch nicht. Die Republik bestand wahrscheinlich damals nicht
auf der Ausführung der Vertragsbestimmungen vom März, denn Sforza
machte, allen Intriguen zum Trotz, täglich mehr Fortschritte, trieb
die venetianischen Truppen Schritt für Schritt vom Mailänder Gebiet
zurück und wandte so die zunächstliegende Gefahr ab. Als er endlich
am 15. August 1448 bei Caravaggio einen glänzenden Sieg über die
Venetianer erfocht , schien die Ambrosianische Republik über alle
Gefahr glücklich hinaus und feierte den Triumph mit Festlichkeiten
und Jubelklängen *)• Aber bald darauf traf die Kunde vom Vertrag
von Rivoltella (18. October) ein. Graf Francesco ging in das Lager
der besiegten Venetianer über und schickte sich an, mit ihrer Hilfe
seine nun offen eingestandenen Ansprüche auf das ganze Herzogthum
geltend zu machen. Und als nun alle Bemühungen der Mailänder,
Sforza durch Bitten und Versprechungen wieder für sich zu gewinnen,
erfolglos blieben, sahen sich die Capitäne der Freiheit mehr denn je
von aller Hilfe verlassen, schauten sich nach allen Seiten nach Bun-
desgenossen um und schickten in ihrer Noth Gesandte an den Kaiser,
an Alfons, an Karl VII. und den Dauphin, an Philipp von Burgund, an
Herzog Louis von Savoyen. In diese Zeit, also Ende October, glaube ich
auch die drei nächstfolgenden Schriftstücke der Genfer Correspon-
denz (Nr. VI — VIII) setzen zu müssen. Zunächst finden wir dort
einen Brief Louis' , den Jean de Compeys an Felix in Genf zu über-
bringen hatte2). Der Herzog meldet, dass Sforza, von Venedig
und Florenz unterstützt, zur Eroberung von Mailand ausgerückt sei
(auch die Chronisten erzählen, dass er bei seinem Abzüge vonBrescia
die Hauptstadt habe angreifen wollen, jedoch durch die unterdess
erfolgte Unterwerfung Lodi's unter das republikanische Regiment
bestimmt worden sei, sich erst gegen diese Stadt zu wenden) und dass
er, der Herzog, es unter solchen Umständen für nöthig erachtet,
2000 Berittene, 4000 Fussvolk und 200 Bogenschützen an den Gren-
zen aufzustellen; auch habe er vermittelt, dass Jean de Challant mit
burgundischen Truppen in Mailands Dienste getreten sei. — Compeys
fügte im Namen seines Herrn zu diesen Meldungen weitere geheime
*) Arch. civico di Milano, Reg. Litterarum f. 93 v.
2) J. de Compeys wurde allerdings schon im Juli einmal von Turin nach der Schweiz
gesandt (Müller, Schweiz. Geschichte, Bd. IV, cap. o) ; der Brief kann aber erst im
October geschrieben sein und muss einer zweiten Reise angehören.
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. 211
Erklärungen1) die zuerst davon Zeugniss ablegen, dass Louis auf
dem eingeschlagenen Wege zur Herrschaft über Mailand zu
gelangen hoffte. Täuschte sich der Herzog dabei selbst oder täusch-
ten ihn seine Anhänger und Unterhändler in Mailand über die dort
herrschende Stimmung, seinen Vater Hess er wissen, „wenn er von
der Stadt noch nicht zum Herrn erkoren und noch nicht als solcher
ausgerufen sei, so geschehe es nur, um ehrenhalber das republika-
nische Regiment noch eine Zeit lang bestehen zu lassen. Er brauche
aber nur seine Macht zum Schutze Mailands zu entwickeln und die
ganze Last des Krieges auf sich zu nehmen, um seine letzten Wünsche
in Erfüllung gehen zu sehen." Louis selbst gesteht jedoch ein, dass es
ihm an Geld und Truppen dazu fehle und dass er sich fürchte, den Zorn
des Kaisers, die Feindschaft von Orleans, Sforza und aller andern
Prätendenten auf sich zu ziehen, Erhalte also bis jetzt die Mailänder
mit halben Versprechen hin und unterhandle unterdessen mit Venedig
und Sforza, um womöglich durch Einverständniss mit diesen seine
Besitzungen zuvergrössern, ohne ihren jetzigen Bestand zu gefährden
und ohne sich in unerschwingliche Kosten zu stürzen. Doch rüste er
für alle Fälle, habe schon sein ganzes Habe zu Geld gemacht und
allen seinen Credit aufgeboten; der Ertrag reiche aber zur Besoldung
der Truppen so wenig aus, dass er seinen Vater um SO, 000 Ducaten
bitte, für die das Land jenseits der Alpen als Pfand dienen möge.
Papst Felix antwortet auf diese Eröffnungen 2) durch denselben
Compeys, dass er die Sachlage aus der Ferne nicht hinlänglich
beurtheilen könne, es aber jedenfalls für erforderlich halte, eine
grössere, möglichst gut disciplinirte Truppenmasse aufzustellen.
Die erbetenen Subsidien könne er nicht geben, indem er selbst
einer Anleihe wegen sich nach Brügge habe wenden müssen.
Während nun Louis selbst noch schwankte, waren seine Unter-
handlungen mit Mailand Sforza nicht entgangen. Derselbe beeilte
sich desshalb die Gebiete welche im Westen des Herzogthums sich
noch zur Ambrosianischen Republik hielten, unter seine Botmässig-
keit zu bringen , und rüstete sich zugleich die Savoyischen Truppen
zurückzuschlagen, falls sie den Mailändern zu Hilfe eilen wollten.
Er nahm zu diesem Zwecke die ihm schon lange angebotenen Dienste
1) Recueil de lettres etc. Nr. VII.
2) Recueil de lettres etc. Nr. VIII.
14
212 S i c k e I.
Wilhelms von Montferrat an und schloss mit ihm am 1. November
1448 zu Casolate eine Condotta ab, oder vielmehr eine Ligue *) ;
denn die Condottieri jener Zeit begnügten sich nicht mehr mit blossem
Gewinn an Sold, sondern trachteten danach, durch ihrDienstverhält-
niss Herrschaften zu erwerben 3). Wie nun Louis seine Eroberungs-
pläne auf den Untergang des Grafen Francesco baute, so schaltete
dieser seinerseits in der Hoffnung endlichen Siecres nach Belieben
mit den italienischen Besitzungen des Hauses Savoyen und verfügte
über sie zu Gunsten des jüngeren Monferrat. Denn nicht allein die zu
Mailand gehörige Stadt und das Bisthum von Alessandria, nicht allein
das Gebiet vonTanaro, sondern auch Stadt und Bisthum Turin bisSusa,
Ivrea, Valperga — kurz ganz Piemont versprach Sforza dem Mark-
grafen Wilhelm zu Lehen zu geben und wollte für dieselben den
Lehnseid erst fordern, wenn er selbst Herr von Mailand geworden
wäre. Folgen von eigentlicher Bedeutung hatte allerdings dieser
Vertrag eben so wenig, als ähnliche gegen Sforza's Macht gerichtete;
aber deutlich genug spricht sich in ihm der von vielen nationalen
Fürsten Italiens gehegte Wunsch aus, die Savoyischen Herzoge über
die Alpen zurückzudrängen.
Bei der blossen Annäherung von Sforza's Hauptmacht wankten
übrigens in der westlichen Lombardei schon Viele die es bisher mit
der Bepublik gehalten hatten. Die reich begüterten Visconti unter-
warfen sich dem Grafen; die Busca folgten ihnen bald nach. Aus der
Brianza, von Lugano, Varese, vom grossen See eilten Abgeordnete in
Sforza's Lager ihm zu huldigen. Nur die Städte Lecco, Como, Bel-
linzona blieben in jenen Gegenden Mailand treu. Dagegen unterwarf
sich zum grossen Theil das flache Land von Novara jenseits des
Tessin, so dass fast nur die Stadt noch widerstand. Ende November,
nachdem in Mailand Karl Gonzaga zum Oberfeldherrn ernannt worden
war 3), war es noch gelungen von der Hauptstadt Verstärkung nach
Novara zu werfen, und obgleich die auch von Savoyen angebotene
Besetzung der Stadt und Burg abgelehnt worden war, rechnete man
im Nothfall auf die Hilfe der Savoyischen Truppen, welche die Sesia
überschritten hatten und südlich von Novara bei Vighevano sogar bis
J) Der Wortlaut bei Ben. San Giorgio, pag. 332.
2) Cf. Canestrini, della milizia ital. im Aren, storico ita!. vol. XV, pag'. 82.
3) Grida vom 15. Nov. 1448 im Areh. civico di Milano, Reg. C.
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. 61d
zum Tessin vorgedrungen waren *). Um ihren Streifzügen ein Ende
zu machen, schickte Sforza seinerseits noch im November Truppen
unter Mathes Campano ins Lomellin und Novarese ab und begab
sieh endlieh selbst von Lodi aus vor Novara, um es zur Unterwer-
fung aufzufordern. Bartoloineo Visconti, Bischof daselbst, im Jahre
zuvor Vorkämpfer und Wortführer der Freiheit in Mailand 2), dann
an ihr verzweifelnd und seitdem ein eifriger Anhänger Sforza's3),
vermittelte die Übergabe der Stadt, welcher auch die Burg bald
folgte. Was in der Umgegend noch Widerstand geleistet hatte, ergab
sich nun fast ohne Schwertstreich. Nur in Bomagnano suchte sich
eine ausgesuchte Savoyische Schar (angeblieh 3000 Mann) die vor
wenigen Tagen eingerückt war, zu behaupten, wies Sforza's Auffor-
derung sich zurückzuziehen mit schnöden, prahlerischen Worten
zurück und wich erst nach hartnäckigem Kampfe. «letzt erhob sich
im Lomellin das Volk selbst gegen die hie und da (Vighevano, Sali
u. a.) noch befindlichen piemontesischen Besatzungen; jenseits des Po
erzwangen die Ghibellinen in Tortona4) die Unterwerfung unter den
Grafen und in Alessandria die Unterwerfung unter Wilhelm von Mont-
ferrat, der laut des mit Sforza geschlossenen Vertrages am 1. Jänner
1449 von der Stadt Besitz ergriff5). So war bis Neujahr der ganze
Westen des herzoglichen Gebiets dem Grafen unterthan geworden
und das Savoyische Hilfsheer über den Grenzfluss, die Sesia, zurück-
geworfen. Ein Angriff auf piemontesisches Gebiet lag augenblicklich so
wenig in Sforza's Plänen, dass er seinem Heere besonders einschärfte,
sich aller Feindseligkeiten gegen das Nachbarland zu enthalten.
Die Nachricht von diesen Ereignissen hatte Vaultier Chabod im
Auftrage des Herzogs Louis an Felix zu überbringen6).
Derselbe sollte dem Papte zunächst für seine Geldsendungen
danken und für die Mühe die er sich gab, Gendarmen aus Savoyen
zu schicken. Den Fall von Novara schrieb der Herzog lediglich
dem Umstände zu, dass die Bürger seine Besatzung nicht hatten ein-
lassen wollen; wenn Bomagnano gefallen, so sei es ebenfalls die
*) Vendizotti, de fatti Veneti I. 5>22.
2) Bericht der kaiserl. Gesandten bei Chmel. 1. c.
3) Documente in meiner Abhandlung im Archiv.
4) Decembrio, Vita Fr. Sfortiae in Muratori Script. Rer. Ital, XX. col. 1041.
5) fihilini, Annales Aless. ad 1448 — und Ben. San Giorgio p. 336i
6) Recueil de lettres etc. Nr. IX.
214 Sickel.
Schuld der Mailänder welche überhaupt wenig von Kriegführung
verständen. Graf Francesco erhalte jetzt die ihm von Venedig und
Florenz zugesicherte Hilfe. Er (Louis) habe sich eben nach Piemont
begeben, um der Stadt Mailand näher zu sein, in der er viel Einver-
ständnisse habe. Wenn der Graf auch unter Androhung schwerer
Strafen verboten, Einfälle in Piemont zu machen, so traue er dem
wenig. Übrigens fahre er fort, mit Sforza zu unterhandeln, der
geneigt scheine, Novara mit seinem Gebiete an Savoyen abzutreten,
wenn ihm freie Hand in Betreff Mailands gelassen werde. Papst Felix
möge rathen, ob dies Anerbieten anzunehmen sei, falls sich die übri-
gen Aussichten zerschlügen. Auch Louis habe nämlich seine guten
Verbindungen in Mailand, die er der Vermittlung des Abts von Casa-
nova verdanke; auch die Herzoginn von Mailand nehme sich der
savoyischen Interessen warm an. Die Mailänder selbst wollten nicht
gern Krieg führen, sondern ihm gegen Zahlung von jährlichen Sub-
sidien von 100,000 Ducaten die ganze Last aufbürden und ihn unbe-
schadet ihrer Freiheit und Unabhängigkeit zum Protector machen.
Einen Vertrag dieses Inhaltes, von Casanova vorgelegt, habe er sich
jedoch geweigert zu unterzeichnen. Sie hätten freilich darauf erklärt:
wenn sie nicht binnen vierzehn Tagen unterstützt würden, müssten
sie sich Sforza unterwerfen; desshalb habe der Herzog neuerdings
seinen Rath Merlot noch nach Mailand geschickt, um sie zum Aus-
harren zu ermuthigen. Er wolle sie ja gern schirmen, nur müssten sie
ihn zu ihrem Herrn erwählen: als solcher wolle er weder ihre
Freiheit beschränken, noch Abgaben von ihnen verlangen, sondern
nur den rechten Titel und die Huldigung , damit er bei seinen
Freunden und in seinem Lande wirksame Unterstützung seiner
Pläne finde.
Der Mailänder sonstiges Gesuch, ihnen eine angesehene Per-
sönlichkeit als Vitzdom zu schicken, habe er mit der Aufforderung
zurückgewiesen, bis zu seiner eigenen Ankunft der Herzoginnwitwe
gehorsam zu sein. Übrigens stehe er mit Francesco Piccinini in Un-
terhandlung, der für 10 bis 12,000 Ducaten zu ihm übergehen wolle.
Sollten ihn die Mailänder nun wirklich zu ihrem Herrn erwählen, so
bitte er Felix, ihm mit seinem Rathe beizustehen und ihm Geld zu
verschaffen um 18,000 Mann in Sold nehmen zu können: drüben in
Italien wolle jeder für seine Dienste bezahlt werden. Nochmals bitte
er also um 50,000 Ducaten , mit deren Hilfe er bestimmt darauf
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. it 1 5
rechne, die Oberhand über Sforza zu bekommen und seine Pläne auf
Italien durchzusetzen.
In der Antwort *) welche Chabod an den Turiner Hof zurück-
brachte, versicherte Felix nochmals, dass er augenblicklich nicht im
Stand sei, weitere Vorschüsse zu machen. So sehr er die Fortschritte
Sforza's bedauere, so wisse er keinen andern Rath zu geben, als den,
gegen des Grafen Verbindung mit Venedig und Florenz zu arbeiten.
Um die Mailänder von einer Unterwerfung abzubringen, müssten sie
jedenfalls durch Vermittlung des Abts von Casanova mit Worten hin-
gehalten werden. Unter allen Umständen müssten sie die ganze Last
eines Krieges auf sich nehmen, und ehe sie darauf keine bestimmte
Antwort gegeben , liesse sich weder mit ihnen, noch mit dem Grafen
eine feste Verabredung treffen3).
In beiden Briefen welche sich dadurch unterscheiden, dass der
besonnene in Politik ergraute Amadeus sich weniger Täuschungen
hingab, als sein Sohn, spricht sich übrigens ein im allgemeinen rich-
tiges Verständnis der Dinge, wie sie waren, aus. Die Ereignisse eben
dieses Monats December, in den beide Schreiben zu setzen sein
werden, zeigten das Unvermögen der Republik, einem Gegner gegen-
über, wie Sforza war , die ihr zugehörigen selbst von Parteien zer-
rissenen Gebiete zu behaupten, und die Unzulänglichkeit der halben
Hilfe, wie sie Savoyen bis jetzt gewährt hatte. Richtig war aber
auch, dass der Herzog eine grössere und äusserste Anstrengung nur
dann machen konnte, wenn ein reeller Gewinn in Aussicht stand:
i) Recueil de lettres etc. Nr. X.
2) In diesem Briefe und in dem vorausgegangenen des Herzogs Louis sind folgende zwei
Stellen zu beaeliten. Louis schreibt: „Item si notre dit Pere sera content que mon
dit Seigneur, s'il se vat assez puissant, oste lespine de son jardin auant quelle croisse
ou puisse plus poindre et attentis attendendis", worauf Felix antwortet : „Touchant
Particle doster lespine du jardin semble que pour le present il nest point temps den
parier." II. Gaullieur bemerkt dazu, dass ein Sohn Sforza's von den Mailänder Re-
publikanern ermordet sei, und ist geneigt aus obigen Stellen die Absieht herauszu-
lesen, Sforza's Nachkommen ans dem Wege zu räumen. Von der angeblichen Ermor-
dung eines Sohnes von Sforza habe ich aber nirgends etwas finden können und
bezweifle die Richtigkeit dieser Angabe. Auch sonst ist mir nichts bekannt geworden,
was jene von IL Gaullieur versuchte Deutung unterstützen könnte. Würde man nicht
mit ebenso viel Recht bei dem Worte epine an die Partei-Intrigiien am Turiner Hofe
und an eine in dieselbe verwickelte Persönlichkeit denken können? Jedenfalls wird
es gerathen sein, bis andere Nachrichten eine Aufklärung geben, solche mysteriöse
Äusserungen auf sich beruhen zu lassen und sich davor zu hüten, an ihre höchst
unsicheren Auslegungen irgend welche Folgerungen zu knüpfen.
216 S i c k e 1.
Erhöhung des Hauses Savoyen durch Einverleibung der Lombardie
oder wenigstens durch wesentliche Gebietsvergrösserung. Mit blossem
Söldncrgolde, wie es Mailand bot, konnte der Herzog wohl einzelne
Condottieri mit ihren Truppen erkaufen, aber nicht sein Land auf-
bieten. Denn in demselben herrschte noch im Gegensatz zu dem
übrigen Italien die alte Heerverfassung *); das Heer bestand aus der
von den Domanialgütern aufgebotenen Mannschaft, aus Vasallen und
ihren Hintersassen, aus den von den Communen zu stellenden Mannen
(je einer auf das Haus) — damit im Zusammenhange die Verpflich-
tung sich selbst im Felde zu erhalten und die beschränkte Dauer der
Dienstzeit. Ein solches Heer war, wenn ihm nicht ein höheres be-
geisterndes Ziel vorgesteckt wurde, bei grösseren stetigen Unter-
nehmungen einem rein mechanisch zusammengesetzten , aber durch
einen Willen zusammengehaltenen und geleiteten, wie Sforza's
Söldnermacht war, nicht gewachsen; ein solches Heer war zu gut
und zu stolz, um blossen Sold zu dienen. Fand so der Unternehmungs-
geist der savoyischen Fürsten seine Schranken an der Leistungs-
fähigkeit des Landes und diese wieder an der Weigerung der Mai-
länder grössere Zugeständnisse zu machen, so waren andererseits
die Defensoren der Freiheit berechtigt und verpflichtet, alle Herr-
schergelüste, unter welchem Namen sie auch sich verbergen mochten,
zurückzuweisen. In den Städten Italiens lebte noch in frischer Er-
innerung fort, wie selbst temporäre Herrn und Capitäne sich allmäh-
lich zu unumschränkten Machthabern aufgeworfen, wie die Visconti
in Mailaud, die Gonzaga in Mantua, die della Scala in Verona zur
Gewaltherrschaft gelangt, und unter den Mailänder Bürgern war die
der Visconti noch in zu lebhaftem Andenken, als dass man nicht
ebenso gefürchtet hätte, den Namen Savoyen anzurufen, als den
Namen Sforza's. EinEinverständniss aus beiderseitigem freien Antriebe
hervorgegangen konnte somit nicht zwischen der Ambrosianischen
Republik und dem Hause Savoyen zu Stande kommen, und die ganze
Verhandlung die wir noch kennen lernen werden, läuft darauf hinaus,
dass die eine Partei die andere zu überlisten, sich ihrer zu bedienen
und es ihr dann nicht zu danken trachtete.
In den zuletzt erwähnten Briefen war von einem Vertrage die
Rede, den der Abt von Casanova vermittelt hatte und den Louis sich
1J Canestrini, della milizia italiana, I. c. pag. 12ö.
Die Amljiosianisclie Republik und das Flaus Savoyen. 217
weigerte zu unterzeichnen. Wir begegnen liier zum ersten Male die-
sem Abte von Casanova, Agosto da Lignano, einem unermüdlichen,
rührigen Piemontesen, der sich damals die Erhöhung des Hauses
Savoyen ebenso angelegen sein Hess, als dreissig Jahre später die
des Burgunderherzogs *), einem Diplomaten zweiten Ranges, der sich
in allen Lagen gleich bleibt: hastig und rastlos, keck und verwegen,
gutmüthig und leichtgläubig, ungeschickt und unglücklich. Schon
seit einiger Zeit spielte er den Unterhändler zwischen der Republik
und Savoyen, und trat endlich, als im November die Unterhandlungen
einen ernsteren Charakter annahmen, als bevollmächtigter Gesandter
Piemonts in Mailand auf. Er wies sich als solcher durch ein in aller
Form ausgestelltes und von den Mailändern in Ordnung befundenes
Mandat 2) aus und brachte auf Grund seiner Specialvollmacht am
6. December 1448 ein Bündniss zu Stande. Seinen wesentlichen
Inhalt kennen wir schon aus dem obigen Briefe des Herzogs an sei-
nen Vater; ich hebe also aus ihm nur noch eine Bestimmung hervor,
weil sie bezeichnend für die Innigkeit der beabsichtigten Verbindung
ist, und weil sie eine sonst unverständliche Angabe der Chronisten
erklärt3). Die Parteien verpflichteten sich nämlich, „zum Zeichen
wahrhafter Einigung oder vielmehr Einheit und Freundschaft ihre
Wappen und Bannerzeichen in einander überzutragen, d. h. ins Geviert
zu stellen , so dass in zwei Vierteln, nämlich in einem oben und in
einem unten das Wappen des genannten Herrn Herzogs sei, d. h.
das weisse Kreuz in rothem Felde, und in den beiden andern Vierteln
das Wappen der genannten Stadt, d. h. das rothe Kreuz in weissem
Felde." — Als nun aber dieser Vertrag nach Turin gebracht wurde,
weigerte sich Louis, wie wir sahen, ihn zu ratificiren, und sandte
seinen Rath Merlot zu den Mailändern, sie von dieser Weifferumr
und ihren Gründen in Kenntniss zu setzen und ihnen wo möglich
grössere Zugeständnisse abzulocken.
In dem Berichte den Merlot später über seine Gesandtschaft erstat-
tete4) wird ausdrücklich gesagt, dass der Abt von Casanova vom Her-
zoge zum Abschluss des Vertrages vom 6. December bevollmächtigt
1) Monum. Habsburg. I, a. a. 0. ladt, Burgunderkriege I, pag. 161. Guiehenon II,
pag. 139.
2) Recueil de lettres etc. Nr. XVII und XVIII.
3) 0. de la Marelie I, 17; Corio sfor. di Milano, p. V, u. a.
4I Recueil de lettres etc. Nr. XVIII.
218 Sickel.
war, und dass ihm, nach den Äusserungen derHerzoginn von Mailand,
nur vorgeworfen werden könnte, sich leichtfertig, aber ohne böse
Absicht zu solchen Bestimmungen herabgelassen zu haben; es scheint
daher fast, als habe die Vollmacht für den Abt grössere Tragweite
gehabt, als Louis nachträglich seinem Vater gegenüber eingestehen
wollte1).
Jedenfalls besass Casanova noch immer das Vertrauen des Her-
zogs und wurde schon bald darauf wieder, um von Neuem zu unter-
handeln, nach Mailand geschickt. Hin und herreisend zwischen Turin
und Mailand fiel er endlich auch einmal den gräflichen Truppen in
die Hände. Sforza sollte geäussert haben, er wäre seit zwei Monaten
Herr von Mailand, wenn der Abt es nicht hintertriebe, hielt denselben
aber wohl nicht für eine so wichtige und so gefährliche Person; denn
nach kurzer Haft inPavia liess er ihn ungehindert nach Turin Weiter-
reisen. Zu derselben Zeit2) wurden übrigens auch zwischen Louis
und Sforza noch Unterhandlungen gepflogen, aber der savoyische Agent
Mercenier fand den Grafen durch die letzten Erfolge so kühn gemacht,
dass er von den früher angebotenen Gebietsabtretungen nichts mehr
wissen wollte.
In Mailand wurde auch, wie Louis seinem Vater durch Bonnivald
meldete, von allen und mit allen unterhandelt; auch eine zweite kai-
serliche Gesandtschaft fand sich um Neujahr 1449 daselbst ein. Denn
nach der Vereinigung Sforza's mit Venedig hatten sich die Mailänder
in ihrer Bedrängniss noch einmal an Friedrich gewandt und ihn durch
Briefe und Botschaften aus der Gleichmütigkeit aufgerüttelt, mit
der er den Angelegenheiten in Oberitalien zuschaute. Jetzt schickte
er3) Härtung von Kappel und Johann Hinderbach ab, um das Volk
wiederholt aufzufordern, sich der kaiserlichen Herrschaft zu unter-
werfen und in kaiserlichen Schutz zu treten. Die Ankunft der Ge-
sandten fiel aber in den unglücklichsten Augenblick: alle Ordnung
schien damals aufgelöst und gerade die dem Kaiser feindlichste Partei
war eben an das fiuder gekommen. Gegen Gonzaga nämlich, der
seine Stellung als Oberfeldherr nur zu selbstischen Zwecken auszu-
beuten trachtete, hatten sich die Häupter der Ghibellinen vereinigt
1) Recueil de lettres etc. Nr. XXII.
2) Recueil de lettres etc. Nr. XI.
3) A. Sylvius hist. Frid., png. 147.
Die Ambrosianische Republik und das Maus Savoyen. 219
und, weil sie die revolutionäre Bewegung immer bedenklicher um
sich greifen und alle Gewalt in die Hände der zünftischen Bürger
fallen sahen, beschlossen, die Stadt dem Grafen zu ühergehen. Auf
ihre Aufforderung hin hatte sich Sforza auch nach Unterwerfung von
Novara wieder Mailand genähert und bei Landriano aufgestellt. Der
verabredete Plan wurde aber verrathen, und die Häupter der Ver-
schwörung, von denen sich nur wenige durch Flucht retten konnten,
büssten dieselbe theils mit dem Tode, theils mit Verbannunsr nach
Como, Arona oder Turin. Mit dem Sturz der Ghibellinen ging nun
eine Umgestaltung des Regimentes Hand in Hand: der kleine Bath
bestand hinfort nur noch aus zwölf Mitgliedern, unter denen sich
einzelne angesehene Guelfen, wie Trivulzio und InnocenzoCotta, meist
aber nichtadelige, früher kaum gekannte Emporkömmlinge, wie Appi-
ano und Ossona, befanden. Mit diesen Gewalthabern — eine Zusam-
menberufung des grossen Bathes der 900 wurde den kaiserlichen
wie allen andern Gesandten als unzulässig verweigert — vermochten
Kappel und Hinderbach nichts abzuschliessen und kehrten so unver-
richteter Dinge wieder heim. Die augenblicklich herrschende Faction
neigte jedoch sonst stark zu Friedensunterhandlungen hin. Nach
Venedig wurde Henrico Panigarola mit Vollmacht vom 8. Jänner 1449
abgesandt *)• Die Anträge eines Orators des Königs Alfons (wahr-
scheinlich derselbe Louis Sescasses, der um diese Zeit auch in Turin
erschien) wurden mit Dank entgegengenommen.
Namentlich suchte aber die Bepublik sich noch enger an den
Herzog von Savoyen anzuschliessen und kam ihm , als er sich hart-
näckig weigerte den früher von Casanova abgeschlossenen Vertrag
zu ratificiren mit neuen Zugeständnissen entgegen. Die Verhandlun-
gen sollten diesmal in Turin geführt werden, wohin die Capitäne
Antonio da Babbia deputirten 3).
Der Gesandte wurde feierlich und mit allen Ehren empfangen und
darauf anMerlot und denCardinal vonCypern gewiesen, um mit ihnen
zu unterhandeln. Auch Antoine Bolomyer, der besondere Vertrauens-
mann des alten und des jungen Herzogs, wurde, um an denBerathun-
gen Theil zu nehmen, schleunigst aus Savoyen herbeigerufen, Babbia
hatte übrigens nur bedingte Vollmacht. Die misstrauischen und auf
1) Meine Abhandlung- im Archiv, Doc. XIV.
2) Arn 2. Februar in Turin. Guichenon II, 8ö, und Ueeueil de lettres etc. Nr. XX.
220 S i c k e 1.
Wahrung ihrer Freiheit eifersüchtigen Mailänder hatten es vorbehal-
ten, dass der Vertrag noch einmal von den Capitänen geprüft und
von den 900 ratificirt werden sollte. Sonst war aber Rabbia ermäch-
tigt zuzugestehen, dass dem Herzog die unbeschränkte Oberleitung
desKrieges;anvertraut, dass ihm das Gebiet bis zum Tessin abgetreten
und dass ihm und seinen Nachfolgern ein Tribut von der Stadt zuge-
sichert werde *)•
Über die Verhandlungen auf Grund dieser Puncte, über die
Aufnahme derselben am Turiner Hofe und über die Ereignisse, welche
mit den Berathungen zusammenfielen und auf sie einwirkten, geben
uns mehrere Briefe aus dem Monat Februar Aufschluss. Als Rabbia
in Turin eintraf, erhielt der Herzog einen vom 27. Jänner 1449 da-
tirten Brief seines Vaters2), in welchem dieser ihn darin bestärkte,
höhere Anforderungen an Mailand zu stellen undihmdenRath ertheilte,
jedenfalls Sforza so lange mit Scheinverhandlungen hinzuhalten , bis
mit der Republik definitiv abgeschlossen und die Rüstungen beendigt
seien. — Ein Brief des Herzogs an seine Schwester vom 6. Februar 3)
spricht zuerst die lebhafte Freude aus über das Misslingen der letzten
Anschläge der Ghibellinen und des Grafen auf die Stadt. Louis setzt
dann nochmals aus einander, in wiefern die Bestimmungen des Casa-
nova'schen Vertrags für ihn unwürdig und unmöglich sind und dass
er ihn desshalb habe zurückweisen müssen.
„Die Mailänder," fährt er fort, „schlagen meine Freundschaft
und die für sie schon gebrachten Opfer nicht hoch genug an : ich
habe auf meine eigenen Kosten bereits 12.000 Mann aufgestellt, deren
Zahl durch die täglichen Zuzüge von jenseits immer mehr anwächst.
Darauf muss in dem neuen Vertrage den so eben Rabbia mit meinen
Räthen vorbereitet, Rücksicht genommen werden. In demselben soll
wo möglich Venedig mit inbegriffen werden, in der Weise, dass die
Adda als Grenze zwischen den beiden Republiken und der Tessin als
Grenze zwischen Mailänder undSavoyischem Gebiet bezeichnet werden.
Wollen die Mailänder mich nicht zu ihrem Herrn machen, so müssen
sie mir wenigstens diese Gebietsabtretung und die Zahlung eines
jährlichen Tributs zugestehen. Besser aber wäre es jedenfalls, sie
*) Reeueil de lettres etc. Nr. XXV.
2) Recnei! de lettres etc. Nr. XII.
3) Reeiieil de lettres etc. Nr, XX.
üie Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. 2*£1
wählten mich unter massigen Bedingungen zu ihrem Herrn: mein
Vater, mein Land, meine Freunde werden mich dann wirksamer
unterstützen. Sucht sie also darin zu bestärken, dass sie mir noch
weiter entgegenkommen; sobald ich ihren guten Willen erkenne,
werde ich mit ganzer Macht den Krieg beginnen."
Die ernstlichen Absichten des Herzogs liessen auch seine in der
That beträchtlichen Rüstungen nicht mehr bezweifeln. Rabbia sprach
daher in einem Schreiben an die Capitäne vom 6. Februar *) die
beste Zuversicht aus. Aber eine andere Frage war, ob die grösste
Machtentwicklung Savoyens im Stande sein würde, die Republik
gegen die vereinigte Macht Venedigs und Sforza's zu schirmen, und
diese Frage wurde durch den Grafen Sforza selbst in Mailand in
Anregung gebracht.
Wir erwähnten schon, dass er den Abt von Casanova aufgefan-
gen hatte; es war ihm eben so gut bekannt, dass noch andere Agenten
an einem Bündnisse arbeiteten und zwischen Turin und Mailand hin-
und hergingen, welche letztere Stadt er seit Mitte Jänner so eng um-
schlossen hatte, dass nur die Porta Nuova und die Strasse nach
Monza noch offen waren 2). Er Hess also den damaligen Inhabern des
Regiments unter Berufung auf seine eigenen Ansprüche Vorstellungen
gegen das mit Savoyen beabsichtigte Bündniss machen, bezeichnete
des Herzogs Versprechen als prahlerisch, unausführbar und unwirk-
sam und erbot sich freies Geleit nach Turin zu geben, wenn man sich
von der Lage der Dinge überzeugen wolle.
Diese Warnungen Sforza's fanden allerdings kein Gehör, moch-
ten aber doch dazu beitragen, dass die Capitäne die Savoyischen
Anerbietungen mit grösserer Vorsicht prüften und die Aufforderung
Louis' ihn zum Herzog zu machen entschieden zurückwiesen.
Am 10. Februar hatte unterdess Louis in versammeltem Rath
die schwebenden Verhandlungen von Neuem zur Sprache gebracht3).
Zunächst wurde ein Vertragsentwurf vorgelegt, den Louis Sescasses
im Namen des Königs Alfons nach Turin gebracht hatte und der ein
enges Schutz- und Trutzbündniss zwischen Savoyen und Aragonien
gegen alle ihre Feinde und zugleich zur Aufrechthaltung der
!) Recueil de letlres etc. Nr. XIX.
2) Recueil de Iettres etc. Nr. XIII.
3) Recueil de lettres etc. Nr. XIV.
222
S i c k e 1.
Ambrosianischen Republik in Aussicht stellte *). Der Vorschlag hatte
zwei bedenkliche Seiten. Savoyen hätte durch Annahme desselben ent-
schieden Partei gegen Anjou ergriffen und somit auch gegen Karl VII,
dessen Wünschen und Plänen man ohnedies schon durch das Mailänder
Bündniss zu nahe trat; zweitens wäre der Bund mit Alfons zugleich
gegen Venedig gerichtet gewesen , welches der Herzog vielmehr in
sein Interesse und in den Mailänder Vertrag mit hineinzuziehen
bedacht war. So blieben die Anträge Alfons' vor der Hand unberück-
sichtigt. Dagegen wurde hinsichtlich der Verhandlungen mit der
Ambrosianischen Republik der Beschluss gefasst, nochmals die Auf-
forderung ergehen zu lassen, die Stadt Mailand möge Louis herzog-
liche Gewalt und herzoglichen Titel mit voller Herrschaft und Blut-
bann ertheilen , dann verpflichte er sich , sie bis zum Juli von allen
ihren Feinden zu befreien. Diese in nacktesten Worten formulirte
Bedingung wurde Jean de Marquisey beauftragt den Capitänen vor-
zulegen.
Noch weiter tragende Pläne, noch kühnere Hoffnungen beschäf-
tigten in denselben Tagen Herzog Louis und seinen Hof. In einem
Briefe an den Papst Felix vom 12. Februar2) meldet er zunächst aus
der Lombardei, dass in der Woche zuvor Graf Sforza mit ganzer
Macht auf Mailand gezogen und schon die Thore der Vorstädte ein-
genommen habe (wahrscheinlich dieselbe Unternehmung, bei der
auch Gonzaga die Hände mit im Spiel hatte), mit ihm sei auch Dame
Blanche nebst ihren Kindern gewesen. Die Mailänder habe aber die
Anwesenheit von Sforza's Familie so wenig gerührt, dass sie sogar
voller Erbitterung und Wuth einen Ausfall gemacht und die Sfor-
zeschi mit bedeutendem Verlust zurückgeschlagen hätten. Tags darauf
am 6. Februar sei der Piemontese Micheletto mit andern Condottieren
übergegangen in Folge der mit ihm abgeschlossenen Condotta, welche
ihm 12.000 Ducaten und eine Besitzung in Piemont zusage. Geld thue
jetzt vor allem Noth, so dass Louis den Vater wiederholt um die
bewussten 50,000 Ducaten bitte. Übrigens sei nach den neuesten
Nachrichten das Mailänder Volk ihm mehr denn je gewogen. Dazu
fügt dann der Herzog das Gerücht, der König vonCypern sei gestorben,
1) Recueil de lettres etc. , pag. 77 , zwischen Nr. XIV und Nr. XV, in dem Register
übergangen.
2) Recueil de lettres etc. Nr. XIII.
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. 4»d
die Insel in gross ter Spaltung. Eine Partei wolle ihn oder eines
seiner Kinder zum König ausrufen und es komme nur darauf an,
Abgeordnete hinzusenden. Nun sei auch Raphael Adorno augenblick-
lich bei ihm, mache ihm Aussicht auf die Herrschaft von Genua
und verspreche ihm. von dieser Stadt aus Galeeren nach Cypern zu
schicken und dort Louis1 Sache zu verfechten. Gelinge der An-
schlag auf diese Republik, so sei er, Louis, als König von Cypern
zugleich des Tributs enthoben, welchen die Insel an Genua zu
zahlen habe.
Schon zwei Tage darauf, am 14. Februar, schickte der Herzog
seinem Vater neue Nachrichten aus Mailand zu1)- Sforza berannte fast
täglich die Stadt, und hätte sie, wenn nicht Monza widerstanden, gänz-
lich umzingelt. Durch Micheletto ermuthigt, gaben die Capitäne Gon-
zaga den Befehl von Monza aus, in das er sich einige Nächte zuvor
geworfen hatte, einen grösseren Ausfall zu machen, welcher auch
Dank der verräterischen Haltung des älteren Piccinini gelang. Erst
nachdem Sforza selbst herbeigeeilt war, konnten seine Truppen ihre
frühere drohende Stellung wieder einnehmen. Die Lage der Mailän-
der hatte sich so um nichts gebessert, aber auch ihr verzweifelter
Muth war noch derselbe. An diese Meldungen knüpft Louis neue
Klagen über die Geldnoth, welche Micheletto's Übergang nur
gesteigert hatte. Alles bis auf das Geschmeide der Herzoginn war
verkauft und verpfändet.
In der Antwort auf die letzten Briefe 2) offenbart Papst Felix
seine Überlegenheit in politischer Einsicht und seine ruhige berech-
nende Mässigung. Er findet es schon sehr gewagt, dass Louis den
Mailändern versprochen hat, sie bis zum Juli von ihren Feinden zu
befreien; die Zeit sei zu kurz. Aber die Mailänder Angelegenheit sei
jetzt die Hauptsache und erfordere alle Aufmerksamkeit und Anstren-
gung. Desshalb sei das weitere Ziel das sich der Sohn hinsichtlich
Genua's und Cyperns auf blosse Gerüchte, auf die trügerischen Aner-
bieten eines Adorno hin vorgestellt habe, so lange nicht zu verfolgen,
als die nächstliegende Aufgabe nicht gelöst sei. Auch das spanische
Bündniss sei zu verwerfen : Alfons stehe Savoyen nicht so nah, als
1) Recueil de leüres etc. Nr. XV.
2) Nur im Entwurf erhalten: Recueil de lettres etc. Nr. XVI.
224 S i c k e I.
das stammverwandte französische Haus und sei anderseits zu fern, um
wirksame Hilfe leisten zu können.
Am 28. Februar nun, wahrscheinlich nachdem von Mailand eine
abschlägige Antwort auf die zuletzt von Marquesey überbrachten
Vorschläge eingelaufen war, versammelte Louis im bischöflichen
Palaste zu Turin seine Räthe und die einflussreichsten Männer des
Landes (den Cardinal von Cypern , Louis Batard d'Achaja, Chou-
taigne, Challand, Varax, Lornay u. a.), um einen endgiltigen Be-
schluss in der Mailänder Angelegenheit zu fassen •)• Antonie Bolomyer
hatte zu diesem Behufe in einer Denkschrift 3) die Gründe zusammen-
gestellt, „welche den Herzog und seine Rathgeber bestimmt hatten,
die Partei der Mailänder zu ergreifen." Der Frieden, heisst es in
derselben, würde sicherer und vorzuziehen sein, wenn nicht beson-
dere Umstände in Betracht kämen. Auf verschiedene Versuche, ein
Einverständniss mit Sforza und Venedig herbeizuführen, sei keine
bestimmte Antwort erfolgt. Dagegen sage der Graf laut, dass er
dem Herzoge nach der Eroberung von Mailand den Krieg erklären
und ihn über die Alpen zurückwerfen wolle; seinen Leuten habe er
reiche Beute und Land in Piemont versprochen und sich gerühmt,
bis St. Michaelstag in St. Michael (in Savoyen jenseits des M. Cenis)
zu sein. Schon sein jetziges Benehmen offenbare, wie er gesonnen
sei: er habe die Ehre der Herzoginn von Mailand nicht geschont,
und verlange Vercelli zurück. Übrigens sei er von den Unterhantl-
lungen Savoyens mit Mailand hinlänglich unterrichtet und beklage
sich laut über dieselben. Offenbar werde er daher als Herr von Mailand
nicht Frieden halten , und so habe der Herzog nicht mehr freie Wahl
zwischen Krieg und Frieden , sondern müsse angreifen oder sich
wehren. Für jenes spreche aber die Kampfbereitschaft des piemon-
tischen Heeres, die Kriegslust der Mailänder, die Verheissungen
Aragons. Jedenfalls, wenn nicht die schon gebrachten schweren
Opfer vergeblich sein sollten, müsse, ehe die Franzosen kämen,
gehandelt werden. Auch den Mailändern sei man eine offene Kriegs-
erklärung schuldig. Sie hätten der Savoyischen Allianz wegen andere
vorteilhafte Anerbietungen ausgeschlagen und wären nach den
Berichten der Herzoginn und Micheletto's bereit, Louis vor Ostern zu
i) Recueil de lettres etc. Nr. XXII.
2) Reeueil de lettres etc. Nr. XXIV.
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. 225
ihrem Herrn zu machen. Wolle man die Republik nicht zwingen,
sich andern, wohl gar Sforza in die Arme zu werfen, so müsse der
von Rabbia vorgelegte Entwurf angenommen werden. Jedenfalls
werde dadurch, abgesehen von der Herrschaft über Mailand, alles
Land bis zum Tessin gewonnen und die Herzoginn von Mailand aus der
Gefahr errettet, in der sie zur Schande des Hauses Savoyen schwebe.
Schlügen auch jetzt die Absichten auf das Mailänder Herzogthum
fehl, so eröffne eine entschiedene Parteinahme die Aussicht auf die
Zukunft, nach dem Tode Sforza's. Auch würde es dem Herzoge und
dem Adel zur Unehre gereichen, das einmal begonnene Unternehmen
aufzugeben. Es wäre sonst auch zu fürchten, dass sich sogar Sforza
mit Rene und Genua zu einem Angriffe auf Nizza vereinigten. End-
lich könnte sich auch der Herzog nicht mehr ohne Einwilligung der
Republik und ohne Zustimmung des Vaters vom Kriege lossagen,
während ein neuer Vertrag zugleich den von Casanova abgeschlos-
senen unvorteilhaften Bund rückgängig machen würde. Es bleibe
nur die Wahl, ruhig zuzuschauen, wie Mailand in des Grafen Gewalt
komme, oder entschieden für die Republik Partei zu ergreifen. Er
stimme für das letztere und dafür, die Gelegenheit mitzunehmen,
wenigstens einige Erwerbungen zu machen.
Die Gründe Bolomyer's gaben den Ausschlag im Rathe des Her-
zogs, und so kam es am 6. März 1449 zum Abschluss eines neuen
Bündnisses1), dessen wesentliche Bestimmungen sich in Folgendem zu-
sammenfassen lassen. Der frühere Vertrag vom December wird für null
und nichtig erklärt. Sechs Tage nachRatification des neuen verpflichtet
sich der Herzog mit seiner ganzen Macht den Krieg gegen Sforza zu
beginnen und namentlich sofort zu versuchen, Proviant in die Stadt zu
schaffen. Ihrerseits verpflichtet sich die Stadt, gleichfalls den Krieg
zu eröffnen und ihre Truppen mit den herzoglichen zu vereinigen.
Was der Herzog dem Grafen abnimmt, wird er, so weit er es
nicht vor dem Tode des Herzogs Filippo Maria besessen hat, der
Stadt abtreten. Der Herzog von Savoyen verpflichtet sich die Un-
abhängigkeit der Republik gegen Jedermann, mit Ausnahme der
Krone Frankreichs, zu schützen. Zur Entschädigung für solche
Dienste und ihren Kostenaufwand tritt Mailand die Stadt Novara und
ihr Gebiet bis zum Tessin mit allem Zubehör und allen Rechten ab
J) Reeueil de lettres etc. Nr. XXV.
ftitzb. d. phil.-hist. Ol. XX. Bd. 1. Hfl. 15
226 S i c k e 1.
und verpflichtet sich zu ihrer Eroberung mitzuwirken. Ausserdem
bezahlt Mailand dem Herzoge und seinen zwei nächstfolgenden
Erben in sechsmonatlichen Raten einen jährlichen Tribut von 25.000
guten, vollwichtigen Ducaten, und der Herzog rechnet sogar auf
Erhöhung dieser Summe im günstigsten Fall. Keine Partei darf ein-
seitig Frieden schliessen mit Sforza. Der Vertrag bleibt in Kraft
und verpflichtet zu gegenseitiger Hilfsleistung auf die Dauer der
Regierungszeit des jetzigen Herzogs und seiner zwei Nachfolger.
Mailändischer Seits muss der Vertrag vom Rath der 900 ratificirt
werden.
In Mailand verfehlte die Kunde vom Abschluss dieses Vertrages
nicht die grösste Freude hervorzurufen und allen Muth anzufachen.
Von dem allgemeinen Jubel fortgerissen, Hessen selbst die Defen-
soren der Freiheit ihre Bedenken fallen, ratificirten den Bundesver-
trag und erwiesen dem Herzoge Ehren, wie sie nur einem wirklichen
Herrn zukamen. Louis1 Wappen wurde an den Thoren und den öffent-
lichen Gebäuden aufgestellt *). Eine Grida 2) stellte jede Schmähung
des Herzogs einer Majestätsbeleidigung gleich und forderte auf jeden
anzugeben, der öffentlich oder heimlich über das Savoyische Bünd-
niss murre oder der Ehre des Herzogs zu nahe trete. Die Stadt
machte auch ihrem Versprechen gemäss neue Anstrengungen. Am
30. März erfolgte ein allgemeines Aufgebot3), das sich in den nächsten
Wochen bei mehreren Ausfällen auszeichnete, und als es Ende April
Melegnano zu entsetzen galt, an 20.000 Mann stark im Felde
erschien. Herzog Louis wurde von den in Mailand ergriffenen Mass-
regeln durch eine Gesandtschaft in Kenntniss gesetzt, welche aus
Pietro Donsio, Giovanni di Casale und Micheletto bestand und am
Freitag vor Palmsonntag (4. April) in Turin ankam. Sie brachten
allerdings die Nachricht, dass die Neunhundert welchen auch die
Ratification des Vertrages vom 6. März vorbehalten war, zwei Be-
stimmungen desselben, die Unabhängigkeit des Grafen Borromeo
betreffend, verworfen4) hatten; gaben aber dem Herzoge die
besten Versicherungen von der Liebe und Anhänglichkeit der
1) Oe la Marche I, eh. 17, und Mailänder Chronisten.
2) Grida vom 28. März 1449, im Arch. civieo di Milano, Reg. C. f. 61 v.
3) Grida, ibidem.
4) Reeueil de lettres ete. Nr. XLV1I
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyeu. 2ä7
Mailänder und sl eilten eine förmliche Unterwerfung der Stadt unter
sein Scepter in nahe Aussicht ; nur ermahnten sie ihn auch von
Neuem, kräftigen Beistand zu leisten *).
In Lausanne dagegen, von Seiten des Papstes Felix, fand das
ßiindniss vom 6. März entschiedene Missbilligung. Jacques de Lor-
nay war der erste, welcher Kunde von demselben an den päpstlichen
Hof brachte und zugleich Mannschaft und Gelder aus der Waadt
herbeischaffen sollte. Statt irgend etwas in dieser Hinsicht auszu-
richten, erhielt er von Amadeus ein wenig erfreuliches Antwort-
schreiben an den Herzog Louis. Bei dem ersten entscheidenden
Schritte nämlich, den der junge Herzog in der Mailänder Angelegen-
heit gethan hatte, offenbarte es sich, dass Felix noch immer in
wichtigen Dingen die oberste Leitung, die letzte Entscheidung bean-
spruchte. Nicht allein, dass er sich bitter beklagte2), dass der Ver-
trag ohne seine förmliche Zustimmung abgeschlossen war; von die-
sem Augenblicke an griff er trotz der Sorgen und Mühen, welche
ihm die bevorstehende endliche Beilegung der Kirchenspaltung ver-
ursachte, eigenmächtig, ohne Einverständniss mit seinem Sohne,
fast ohne dessen Wissen in die politischen Angelegenheiten Savoyens
ein, ganz in der Weise, wie er es sich einst vor fünfzehn Jahren
vorbehalten hatte. Wir werden sehen, wie er in der nächsten Zeit
mit der Stadt Mailand, mit Sforza, mit dem Herzog von Orleans in
directe Unterhandlungen tritt, wie er sich selbst in die Führung des
Krieges mischt, welcher in Folge des Mailänder Bündnisses ausbrach.
Die Missbilligung des Vertrages stützte sich in dem dem Jac-
ques de Lornay anvertrauten Antwortschreiben zunächst darauf, dass
Felix ihn für unausführbar hielt. Hatte auch er selbst sein Lebe-
lang nach Erwerbung der Lombardei getrachtet, so hatte er doch
die Verfolgung dieses Lieblingsplanes immer den Umständen ange-
passt und sich erst auf die Hilfe von Venedig und Florenz, später auf
die Zustimmung des letzten Herzogs zu stützen gesucht. Sein Sohn
hatte den unterdess schwieriger gewordenen Verhältnissen in keiner
Weise Bechnung getragen und wollte seine von den Mailändern nur
halb und ungern anerkannten Ansprüche gegenüber der vereinten
Macht von Sforza, Venedig und Florenz geltend machen. Felix
1) Reeueil de lettres etc. Nr. XXXI.
2) Recueii de lettres etc. Nr. XXVI.
15
228
S i c k e 1.
erschien jeder derartige Versuch um so weniger ausführbar, als zur
selben Zeit Savoyen selbst durch schlechtes Regiment, namentlich
durch die Spaltungen im Adel zur Ohnmacht herabgesunken war.
Nachdem der Hof einige Jahre zuvor dem Unwillen des Adels den
Kanzler Guillaume Bolomyer hatte opfern müssen, war in Jean de
Compeys Herrn von Torrens ein nener, noch eigenmächtigerer Günst-
ling der Herzoginn und des Herzogs emporgekommen. Ihm gegen-
über bildete sich aus dem Adel Savoyens und der Waadt eine um so
geschlossenere Partei, als sie an dem gleichfalls mit dem Turiner
Regiment unzufriedenen Amadeus einen Rückhalt fand. An ihrer
Spitze standen die einflussreichsten Männer in Savoyen: der Marschal
Jean de Seyssel, Herr von Barjat und Francois de la Palu, Herr von
Varembon. Ein Jahr später bildeten sie mit den ersten Familien des
Landes eine förmliche Ligue gegen Compeys und seinen Anhang,
welche alle staatlichen Bande aufzulösen drohte; aber auch schon
1449 war die Spaltung so gross geworden, dass sie ein energisches
Auftreten des Herzogs nach aussen hin, eine Machtentwicklung, wie
sie das Mailänder Bündniss voraussetzte, unmöglich machte. Dass
gerade Compeys nun durch seine Stellung am Hofe berufen worden
war, den Vertrag mit der Ambrosianischen Republik zur Ausführung
zu bringen, vermehrte noch die Bedenken des Papstes und hielt die
ihm feindliche Partei des Adels von wirksamer Unterstützung des
Unternehmens zurück. Amadeus machte ferner in seinem Schreiben
dem Herzog Louis den Vorwurf, in dem eben abgeschlossenen Ver-
trage die Bechte des Hauses Orleans nicht gewahrt und sich dadurch
einen neuen Feind zugezogen haben. War nun auch allerdings in die-
ser Hinsicht ein Fehler gemacht worden, so beging Felix in demsel-
ben Augenblicke einen noch grösseren, indem er ohne Wissen seines
Sohnes mit dem Bastard von Orleans Mailands wegen Unterhand-
lungen anknüfte. Der Herzog von Orleans hatte sich nämlich *) seit
seinem Aufenthalt in Asti überzeugt, dass er weder durch Unterhand-
lungen zur Herrschaft über Mailand gelangen, noch mit seiner gerin-
gen Macht seine Anerkennung als Herzog erzwingen würde, und
hatte sich desshalb an den französischen Hof in Lyon begeben und
seinen königlichen Vetter mit Bitten bestürmt, ihm ein Heer zur
l) A. Chartier, histoire de Charles VII ad 1448, und Olivier de la Marone 1, eh. 17
und 21.
Die Ambrosinnische Republik und das Haus Savoyen. ZZv
Eroberung der Lombardei zur Verfügung zu stellen. König Karl hatte
seine Hilfe auch zugesagt, wollte die Mailänder Angelegenheit jedoch
erst nach Beilegung der Kirchenspaltung in Angriff nehmen. Nun
wurde aber der Bastard von Orleans Graf Dunois an die Spitze einer
Gesandtschaft gestellt welche der König in den ersten Monaten des
Jahres 1449 nach Lausanne an Felix schickte, um mit demselben die
über dessen Abdankung gepflogenen Unterhandlungen zum Abschluss
zu bringen. Natürlich benutzte der Bastard der im März in Lausanne
eintraf, diese Gelegenheit, um mit Felix zugleich die Mailänder An-
gelegenheit zu besprechen und ihm in derselben Zugeständnisse
abzulocken , welche wir im weiteren Verlauf kennen lernen werden.
Indem Herzog Louis von diesen Unterhandlungen erst durch Jacques
de Lornay erfuhr, war nicht er, sondern Amadeus selbst dafür ver-
antwortlich, dass Savoyens Stellung nach dieser Seite hin immer
schwieriger und verwickelter wurde.
Dagegen Hess es sich Amadeus angelegen sein auf eine Aus-
söhnung des Adels hinzuwirken. Am 28. März schickte er durch
Jean Lyobard einen Brief an Herzog Louis *), in dem er auf die
Notwendigkeit hinwies, ehe an eine ernstliche Unternehmung und
Eroberung der Lombardei zu denken sei, der Spaltung zwischen den
Grossen des Landes ein Ende zu machen. Er kündigte zugleich an,
dass auf seine Veranlassung Barjat und Varembon sich an den Turiner
Hof begeben würden , wo dann eine Aussöhnung mit der Compeys1-
schen Partei stattfinden sollte. Mit ernsten Worten ermahnte er
seinen Sohn ihnen einen besseren Empfang zu bereiten, als einigen
andern Rittern Savoyens, die von der Aussicht auf den bevorste-
henden Krieg gelockt, sofort nach Piemont geeilt waren, daselbst
aber eine kalte, fast schnöde Aufnahme gefunden hatten.
Leider fanden diese gutgemeinten Rathschläge kein Gehör. Louis,
ganz unter dem Einflüsse der Herzoginn und deren Günstlinge,
verbat sich sogar, wie wir aus einem späteren Briefe erfahren 3),
die Ankunft der Herrn von Barjat und Varembon und verzichtete
lieber auf die Hilfe seiner Savoyischen Vasallen. Dagegen hätte
der Herzog gern seine alten Bundesgenossen von Bern zu Hilfe
gerufen, von deren Kriegstüchtigkeit er sich viel versprach,
!) Recueil de lettres etc. Ni>. XXVII.
2) Recueil de leltres etc. Nr. XXVIII.
230 S i e k e I
und bat seinen Vater desshalb mit ihnen zu unterhandeln. Amadeus
war jedoch anderer Meinung. Einmal sind ihm die Berner zu entfernt
von Italien; dann hat der Herzog auch nicht das Geld sie zu besol-
den. Drei Schweizer-Compagnien würden monatlich 18,000 Gulden
beanspruchen, das heisst ebensoviel als die ganze Armee des Her-
zogs zu erhalten kostet. Obendrein wären die Berner, was ihre Be-
zahlung anbetrifft, sehr schwierig und würden sie nicht vollständig
zufrieden gestellt, so würden sie leicht aus guten Freunden Feinde.
So äusserten sich wenigstens zwei Berner Abgesandte, die sich gerade
damals in Kirchenangelegenheiten am Hofe Felix* befanden. Auch
würden die Schweizer Bedenken tragen, fügte der Papst hinzu, in
Savoyische Dienste zu treten, so lange die Spaltung im Adel fort-
dauere und das ganze Unternehmen scheitern zu machen drohe.
Mit dieser Antwort auf Louis' Vorschläge übersandte ihm
Felix zugleich einen vorläufig mit dem Bastard von Orleans
entworfenen Vertrag1) folgenden Inhaltes: Die Herzöge von
Orleans und Savoyen verpflichten sich zu beiderseitigem Wohl und
Nutzen zur gemeinschaftlichen Eroberung aller Städte , Plätze
und Herrschaften die dem letztverstorbenen Herzoge von Mai-
land unterthan waren. Nur die Stadt Mailand soll vor der Hand
ausgeschlossen bleiben und über sie erst in besseren Zeiten,
dann aber auch zu beiderseitigem Vortheil der zwei Herzöge
verfügt werden. Alles eroberte Land soll zu gleichen Theilen
unter sie getheilt werden. Nur Novara nebst seinem Gebiete soll
dem Herzog von Savoyen im voraus zugesichert bleiben und ebenso
dem Herzog von Orleans Alessandria mit Zubehör oder ein anderes
entsprechendes und an die Grafschaft Asti grenzendes Gebiet. Die
Kosten der Unternehmung sollen zu gleichen Theilen getragen und
was von dem einen mehr verausgabt würde, schliesslich von dem
andern ersetzt werden. Den Erfolg zu sichern soll der König von
Frankreich 4000 Berittene unter dem Marschall de la Ferte nach Asti
senden und sie in seinem Namen am Kriege theilnehmen lassen. Die-
selben sollen dem Herzog Louis ebenso zur Eroberung des ihm im
voraus zugesicherten Gebietes mit verhelfen , als die Savoyischen
Truppen zur Eroberung des Orleans'schen Antheils mitzuwirken
hätten.
1) Recueil de lettres etc. Nr. XXIX.
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. 4>o\
Es liegt auf der Hand, in welchem Grade dieses wenn auch nur
vorläufige Übereinkommen die Pläne des Herzogs Louis und sein mit
Mailand schon geschlossenes Bündniss durchkreuzte. Dass die Frage,
wem einst die Stadt Mailand zufallen solle, noch offen gelassen war,
genügte nicht; die Vereinbarung mit Orleans und das Bündniss vom
6. März konnten nicht mit einander bestehen. Offenbar erkannte auch
Felix das letztere als ohne seine Zustimmung abgeschlossen gar nicht
an und wollte seinen Sohn zum Verrath an seinen Mailänder Freun-
den zwingen.
Es war aber zu spät zu gemeinschaftlichem Handeln mit Orleans:
Savoyen war bereits in Krieg mit Sforza verwickelt. Der Herzog
unterhandelte allerdings bis in den April1) hinein mit dem Grafen
Francesco, aber lediglich zum Schein. Seine an der Grenze aufge-
stellten, schlecht disciplinirten Truppen unternahmen schon im Jänner
einzelne Streifzüge in das Gebiet von Novara3). Und kaum war am
6. März das Bündniss mit der Ambrosianischen Republik zu Stande
gekommen, so fielen grössere Truppenmassen, ohne zuvor den Krieg
zu erklären, in die Lombardei ein. Das schutzlose Lomellin wurde in
wenig Tagen unterworfen. Um dieselbe Zeit, Mitte März, machte Jean
de Compeys der sich den Oberbefehl vorbehalten hatte, den Versuch
Novara von Vercelli aus nächtlich zu überrumpeln 3). Durch List und
Verrath war es seiner ausgesuchten Schar auch schon gelungen in
die Stadt einzudringen, als sich die kleine Sforzische Besatzung,
unter Guido d'Assisi und dem Stradioten Lucas, sammelte und den
Feind zurückschlug. Das flache Land aber blieb den beutelustigen
Savoyern preisgegeben , bis Sforza auf die erste Kunde von diesen
Einfällen Hilfe schicken konnte. Christophoro Taurello und Angelo
Labello ordnete er nach dem Lomellin , seinen Bruder Corrado und
Christophoro diSalerno nach Novara ab, alle mit dem gemessenen Be-
fehle sich nur defensiv zu verhalten. Sforza lag es aus vielen Gründen
daran einem förmlichen Kriege mit Herzog Louis auszuweichen. Viel-
leicht Hess er sich auch wirklich durch des Herzogs Scheinunterhand-
lungen täuschen und gab sich dem Wahne hin, jene feindlichen Ein-
fälle geschähen nicht auf Louis' sondern auf Amadeus' Befehl. Letz-
teren betrachtete er als den eigentlichen Leiter der Savoyischen
1) Reeueil de lettres etc. Nr. XXXII.
2) Corrispondenza ducale 144!) im Anh. di S. Fedele in Mailand.
3) Maehanaeus in Mon. hist. patriae I, col. 773.
232 S i c k e I.
Politik und sandte desshalb Giovanni Alboni aus Pavia an ihn ab, um
sich darüber zu beschweren, dass der Papst seinen Sohn ohne allen
Anlass, ohne allen Rechtsgrund zum Kriege anstachle *)• Die Ant-
wort von Felix ist bezeichnend für sein ganzes heuchlerisches Trei-
ben. Er habe, schreibt er, seine ganze Aufmerksamkeit den geistlichen
Dingen, dem Heil und Wohl der römischen Kirche zugewandt und
alle weltliche Gewalt der Leitung seines Sohnes anvertraut. Derselbe
sei es seiner und seines Hauses Ehre schuldig , treu an dem jüngst
mit Mailand abgeschlossenen Bunde festzuhalten und die gemein-
schaftliche Sache in weiterem Kriege zu verfechten. Was er bereits
erobert habe wieder herauszugeben, wie es Sforza verlange, sei kein
Grund vorhanden. Denn das habe Louis von seinen Vorfahren gelernt,
nie zurückzugeben, was einmal erobert sei, vielmehr noch mehr von
denen zu verlangen, die Frieden von ihm begehrten.
Sobald Graf Francesco diese Antwort empfangen und sich von
der Unmöglichkeit überzeugt hatte den Frieden mit Savoyen zu
erhalten, ergriff er schnell energische Massregeln und sandte bedeu-
tende Verstärkungen unter Alberto da Carpi und Coglione an die
piemontesische Grenze. Die dem letztern Condottiere untergeordneten
Truppen welche das Gebiet von Novara besetzen sollten, nahmen
eine eigenthümliche Stellung ein, die aber ganz dem Geiste der vene-
tianischen Politik entsprach. Gerade die Geschichte dieses Jahres
bietet mehrere Belege dafür dar , dass die Republik von S. Marco
sich da, wo es ihr Interesse erheischte, durch kein Versprechen, durch
keinen Vertrag binden liess. Diese Treulosigkeit in einzelnen kriti-
schen Momenten suchte die Signoria aber dadurch zu bemänteln,
i) Nach Simonetta 1. XVII. Wie es schon Simonetta's Stellung am Mailänder Hofe wahr-
scheinlich macht, hat er sich bei Abfassung- seiner Geschichte amtlicher Quellen,
namentlich der herzogliehen Correspondenz bedient. Ich habe vielfach Gelegen-
heit o-ehabt, die Analysen von Schriftstücken die er mittheilt, mit den noch erhal-
tenen Originalen zu vergleichen und habe sie meist wortgetreu gefunden, so dass
ich kein Bedenken trage, da, wo wie hier die Originale verloren gegangen sind,
Simonetta zu folgen. Überhaupt ist, was er gibt, im allgemeinen zuverlässig; seine
Parteilichkeit besteht nur darin, dass er das Wichtigste mit Stillschweigen über-
o-eht, sobald es den Ruhm seines Herrn und Gebieters beeinträchtigen könnte.
Ausserdem Hessen ihn hier und da seine Quellen im Stich, so z. B. bei allen Ver-
handlungen der Republik mit anderen Staaten. Dasselbe gilt von Corio, der unter
ganz gleichen Verhältnissen gearbeitet hat; das Decret, durch welches Corio vom
Herzo<>- Ludovico Moro autorisirt wurde für sein Geschichtswerk die Acten des her-
zoglichen Archivs zu benutzen, ist noch erhalten und befindet sich jetzt in der Samm-
lung des Cav. Morbio in Mailand.
Die Ambrosianiscbe Republik und das Haus Savoyen. Cfto
dass sie im Allgemeinen das Princip der Vertragstreue mit Entschie-
denheit aufstellte, selbst durchführte und andern gegenüber behaup-
tete. Sie hielt für gewöhnlich mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit an
dem Buchstaben der Bestimmungen fest, und wusste so einzelnen
schreienden Verletzungen zum Trotz den Ruf der Zuverlässigkeit zu
behaupten. In dem hier vorliegenden Falle lag ein strenges Festhalten
an dem Wortlaute der Verträge obendrein im Interesse der Republik
und wurde um so entschiedener und unverhohlener geltend gemacht.
Der zwischen Venedig und Sforza abgeschlossene Vertrag von Rivol-
tella sicherte nämlich diesem venetianische Hilfe zur Verteidigung
seiner Besitzungen und zur Eroberung des ihm zugestandenen Viscon-
ti'schen Erbtheiles zu. Daraus abgeleitet erkannte die Signoria ihre
Verpflichtung an, was Sforza beanspruchen konnte, auch gegen An-
griffe von Savoyischer Seite her zu vertheidigen, verweigerte aber
jede weitere Mitwirkung, jedes aggressive Vorgehen gegen Herzog
Louis. Demgemäss hatte Coglione als venetianischer Condottiere
Befehl, das Sforza zukommende Gebiet von Novara gegen die Einfälle
der Piemontesen sicher zu stellen, die Grenze selbst aber nicht zu
überschreiten. Nur so erklärt sich, was wir weiter von der Kriegs-
führung in jenen Gegenden zu erzählen haben , nur so werden die
zwischen Venedig und Savoyen gewechselten Briefe verständlich.
Sforza, der überhaupt mit der venetianischen Politik innig ver-
traut war und jetzt beständig einen venetianischen Legaten, Giacomo
Antonio Marcello, zur Seite hatte und durch ihn aufs Genaueste von
den Absichten der Signoria unterrichtet wurde, begnügte sich auch
mit der in diesem Falle dem Vertrage von Rivoltella gegebenen Aus-
legung. Herzog Louis aber, obschon auch er durch den Abt von Casa-
nova mit Venedig in Verbindung war, verstand die Haltung der Re-
publik nicht, verstand nicht einmal, dass sie ihm günstig war, und
ergriff, bis ihn ein besonderes Schreiben von Marcello aufklärte,
ganz verkehrte Massregeln gegen die venetianischen Kaufleute welche
sein Land passirten. Marcello schrieb desshalb unterm 4. April 1449
aus Sforza's Lager an den Herzog *), dass die Signoria der alten
Freundschaft mit dem Hause Savoyen eingedenk auch jetzt nichts
gegen diePerson und das Land des Herzogs unternehmen wolle, noch
werde, dass sie aber, wie es ihr eigenes Interesse erheische und die
») [ieciieil de lettre« etc. Nr. XXXVI.
234
S i c k e I.
vertragsmässige Verpflichtung, das Sforza zukommende Gebiet gegen
Einfälle von Piemont her zu schirmen entschlossen sei. In einem
Schreiben ähnlichen Inhalts vom 14. April erläuterte Bartolomeo
Coglione die ihm von derSignoria ertheilten Befehle, und endlich ver-
sicherte der Venner der Justiz der florentinischen Republik, welche
damals ganz dieselbe Politik befolgte wie Venedig, dass auch sie
nicht den Bestand Savoyens zu gefährden beabsichtige *).
Coglione beschränkte sieh nun auch wirklich auf die Verteidi-
gung des Gebietes von Novara und säuberte es möglichst von den
über die Sesia einfallenden Savoyischen Truppen. Corrado und die
übrigen Condottieri Sforza's brauchten sieh darauf nicht zu beschrän-
ken, verfolgten die Feinde über den Grenzfluss und streiften bis vor
die Thore von Vercelli, wobei sich allerdings zuweilen auch Vene-
tianische Söldner beutelustig und Coglione's Befehlen zuwider
anschlössen. Durch diese Streifzüge gelang es Corrado endlich, Com-
peys mit dem Kern der Savoyischen Macht über die Sesia herüber-
zulocken und nun mit Coglione vereint über ihn herzufallen. Com-
peys selbst, der Urheber und Leiter des ganzen Unternehmens, fiel
dabei in die Hände der Venetianer und blieb einige Monate lang in
Gefangenschaft, so dass er an dem weiteren Kriege nicht theilneh-
men konnte.
Von diesen Vorfällen unterrichtete der Herzog seinen Vater
durch Ant. de Labalme z). Louis beklagte sich dabei auch über die
Ungleichheit des Kampfes, indem er den 12,000 Mann Sforza's kaum
die Hälfte entgegenstellen konnte und obendrein nur junge, der Kriegs-
kunst der Italiener wenig erfahrene Mannschaft. Dieselbe wollte auch
nur gegen regelmässige Soldzahlungen dienen. Besonders unzuverläs-
sig waren die Picardischen Bogenschützen, welche durch Vermittlung
des Herzogs von Burgund in Savoyische Dienste getreten waren. Auf
Mailands Unterstützung glaubte sich Louis wenig verlassen zu können.
Ihre geringe Infanterie genügte kaum die noch behaupteten Städte
Como, Crema, Lodi und Monza zu besetzen. Die Bürger selbst
erschienen ihm nicht kriegserfahren. Louis befand sich daher nicht
in der Lage seinen kühnen Eroberungsplan auszuführen, sah viel-
mehr sein eigenes Land von der Übermacht Sforza's bedroht. Seine
i) 10. April 1449 im Recueil de lettres Nr. XXXV.
2) In der Woche vor Ostern. Recueil de lettres Nr. XXXI und XXXII.
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. 235
einzige Rettung war, Sforza seine Führer abtrünnig zu machen und
in Savoyische Dienste zunehmen. Aber dazu fehlte es wieder an Geld,
wenn sich nicht Felix dazu verstand, die schon oft erbetene Summe
von 50,000 Ducaten herbeizuschaffen. Herzog Louis verheimlichte
seinem Vater auch nicht, dass seine Ohnmacht ihn um das Vertrauen
der Mailänder bringen müsse, und dass wenn nicht schleunig Rath
geschafft würde, das ganze Unternehmen scheitern würde. Von den
mit Sforza noch immer fortgesetzten Unterhandlungen versprach er
sich keinen Erfolg und ahnte schon, dass er bei dem Versuche den
schlauen Italiener zu überlisten zuletzt selbst überlistet wurde. Dar-
über, dass Felix direct mit dem Grafen Francesco verhandelte, ohne
Wissen und ohne Einverständniss mit seinem Sohne, sprach sich die-
ser ziemlich unwillig aus. Seinerseits meldete er alles was er that:
dass er den Abt von Casanova nach Venedig geschickt hatte, um wo
möglich eine Verständigung mit der Signoria herbeizuführen , dass
er Gaspard de Mazin beauftragt hatte, in Genua auszukundschaften,
ob Sforza dort Verbindungen habe, dass Nicod de Menthone Unter-
handlungen pflog, um für den Ertrag der Salzsteuer von Nizza Gelder
aufzunehmen. Am Schlüsse seines Briefes kommt der Herzog noch
einmal darauf zurück, Berner Hilfe anzurufen und seinen Vater zu
bitten, er möge dieselben so schnell als möglich kommen lassen.
An die Stelle des gefangenen Compeys war unterdess Micheletto
de Piemonte getreten. Früher selbst im Dienste von Sforza hatte er
sich unter diesem einen gewissen militärischen Ruf erworben; dann
zu der Mailänder Republik übergegangen, hatte er dort das Vertrauen
der Capitane der Freiheit gewonnen und eignete sich so besonders
dazu, den Oberbefehl und zugleich die Vermittlung zwischen dem Her-
zoge und seinen Mailänder Bundesgenossen zu übernehmen. Bezeich-
nend ist, dass Micheletto den alten Herzog als die eigentliche Seele
des ganzen Unternehmens, als den berechtigten Leiter der savoyischen
Politik betrachtete, an ihn ebenso wie an Louis Bericht erstattete und
von ihm Rath und Befehle ei.nholte; bezeichnend ist die Art, wie er
sich dabei über des jungen Herzogs Antheil an dem Vorhaben aus-
spricht. Am 15. April schrieb er von Vercelli aus an Amadeus1) : „Die
Einwohner dieser Stadt sind in hohem Grade unzufrieden mit der
schlechten und unpassenden Leitung der Angelegenheiten und mit
*) Recueil de lettres etc. Nr. XXX.
236 S i c k e 1.
den Erpressungen der Soldaten. Schlecht bezahlt, plündern diese die
eigenen Unterthanen des Herzogs aus." Micheletto hatte nur mit gros-
ser Noth einige Ordnung herstellen und durch Versprechen pünct-
licher Besoldung der Desertion vorbeugen können. Er erklärt offen,
dass er den ganzen Krieg gegen Sforza missbillige und wünscht nur
dass er ein gutes Ende nehme. Graf Francesco habe schon eine
bedeutende Macht, allein 5000 Berittene, an der Grenze aufgestellt,
während der Herzog über geringe kriegsuntüchtige Mannschaft
gebiete. Es müsse also entweder mit Sforza Frieden gemacht oder die
savoyische Armee schleunigst vermehrt werden. — In einem zweiten
Schreiben von demselben Tage meldet Micheletto1)» dass er selbst
in Mailand gewesen ist und dort mit der Herzoginn gesprochen hat.
Eine Verständigung mit Sforza scheint ihm nicht mehr möglich, da
dieser zu sehr gegen Savoyen aufgebracht ist und über das herzog-
liche Haus sich in so spöttischer und verächtlicher Weise ausgelas-
sen hat, dass es gar nicht zu wiederholen ist. Da der Krieg also
unvermeidlich ist, bittet Micheletto den Papst seinen ganzen Einfluss
aufzubieten, damit der Herzog endlich geeignetere Massregeln ergreife.
So habe er auch jetzt noch Aussicht Herr von Mailand zu werden,
wie Michelletto selbst aus dem Munde des Volkes in der Stadt und
auf dem Lande gehört habe. Noch behaupte die Bepublik einige
wichtige Plätze, könne aber ohne energische Hilfe sich nicht lange
mehr halten.
Die Lage Mailands war auch im höchsten Grade misslich. Ob-
schon das Heer, mit dem Sforza die Stadt bedrängte, durch die
Absendung von Truppen an die piemontesische Grenze bedeutend
vermindert war, genügte es noch immer dazu Mailand fast ringsum
einzuschliessen , und es handelte sich allein noch um den Besitz von
Monza das, wie wir sahen, Gonzaga um jeden Preis zu vertheidigen
angewiesen war. Schwerlich wäre ihm dies aber gelungen , wenn
Sforza nicht im entscheidenden Momente, als er eben den Sturm
dieses Platzes angeordnet hatte, von den beiden Piccinini im Stich
gelassen worden wäre. Das für sie glückliche Ereigniss meldeten die
Capitane der Freiheit dem Herzoge in einem Briefe vom 15. April 2) :
*) Reeueil de lettres etc. Nr. XXX.
2) Reeueil de lettres etc. Nr. XXXIII. Der Brief ist unterschrieben: Raphael , d. i.
Jacobus da Cambiago Rafaele , der im Reg^ civico A. im Mailander Stadtarchiv
mehrmals als Capitaneo della libertä vorkommt.
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. 237
„Wir verzweifelten schon an unserer Rettung, schrieben sie, als es
die Vorsehung den Brüdern Piccinini eingab den Grafen zu verlassen
und in unsern Dienst zu treten zur Vertheidigung unserer goldenen
Freiheit. Diesen Morgen sind sie mit ihren gesammten Truppen zu uns
übergegangen und haben auf ihrem Wege die Vorposten Sforza's über-
fallen und in die Flucht gejagt. Jetzt ist der Augenblick gekommen,
in dem eure Herrlichkeit ihrerseits im Felde erscheinen und jenseits
des Tessin den Krieg beginnen muss, während wir unsererseits hier
alles aufbieten werden. So wird Sforza überrascht und bedrängt nicht
widerstehen können" *).
Diese Hoffnungen waren allerdings übertrieben. In Mailand
fehlte es an Geld die Piccinini, wie man es versprochen hatte, zu
bezahlen a). Der Mangel an Lebensmitteln war in der Stadt schon so
gross, dass Weizenbrod nicht mehr verkauft werden durfte und den
Truppen vorbehalten war, für diese aber auch nur noch auf sieben
Tage ausreichte; mit den Vorräthen von Roggen und Hirse glaubte
man noch einen Monat auszukommen. Aber mit den Truppen der Pic-
cinini konnte man wenigstens für den Augenblick wieder im Felde
erscheinen, und so wurde beschlossen den Versuch zu machen, Crema
das die Venetianer seit einigen Wochen hart bedrängten, zu entsetzen.
Am 18. April brachen also die Piccinini von Mailand in der Richtung
von Lodi auf und zwangen dadurch nicht allein die Venetianer zum
Rückzug von Crema, sondern bemächtigten sich auch Melegnano's.
Sforza wurde dadurch genöthigt von Monza abzulassen und die Wie-
dereroberung von Melegnano zu versuchen. Hier südlich und nur
wenige Meilen von Mailand schien es zur Entscheidung kommen zu
sollen. Die Bürger machten einen verzweifelten Versuch und zogen
*) Dieser Brief macht es unzweifelhaft, dass die Piccinini am iS. April von Sforza
abfielen und nicht am 25., wie sämmtliehe Mailänder Chronisten berichten. Es liegt
auch auf der Hand, wie diese zu ihrer falschen Angabe gekommen sind, und be-
zeichnet dieser Fall zugleich die Art und Weise, wie Corio, Cagnola U. a. für die Ge-
schichte dieser Zeit Simoneita nachgeschrieben haben. Simonetta 1. 18 setzt diese
Vorfalle nämlich „biduo post dominicam resurrectionem" und hat einige Zeilen
zuvor offenbar geschrieben „ad decimum septimum Kaleiulas Majas", was beides
mit dem 15. April übereinstimmt. Nun ist aber in den älteren Zarotus"schen Aus-
gaben beim Druck „decimum" ausgefallen und nur „septimum" stehen geblieben,
was alle späteren veranlasst hat, die Vorfälle dieses Tages auf den 25. April zu
setzen.
2) Cf. den Brief des Terminals im Arch. civico di Milano, abgedruckt in Verri II,
p. 335.
238 S i c k e I.
in einer Stärke aus, wie sie in dem ganzen Kriege noch nicht im
Felde erschienen war. Piccinini eilte mit 30,000 Mann zum Entsatz
von Melegnano herbei: zum grossen Theil Mailänder Bürger, einige
Tausend Soldtruppen und eine verhältnissmässig grosse Zahl von
Schützen welche, wie es scheint, aus der Schweiz zu Hilfe gekom-
men waren. Das Heer der Republik war aber zu wenig im Krieg
erfahren und geübt, als dass es Francesco Piccinini bätte wagen kön-
nen, es mit Sforza's Truppen aufzunehmen. Als dieser sich also durch
die Übermacht nicht schrecken liess und festen Fusses die Schlacht
erwartete, zogen die Mailänder unverrichfeter Dinge wieder heim
und gaben Melegnano auf, das sich am 1. Mai dem Grafen wieder
unterwarf.
Unterdessen war es auch an der piemontesischen Grenze zur
Entscheidung gekommen. Am 19. April hatte Herzog Louis von Turin
an seinen Vater gemeldet *) , dass es gelungen war die Piccinini zu
gewinnen und dass ihr Abfall Sforza's drohende Pläne vereitelt
hatte. Louis bat darum dringend, unter diesen günstigeren Umständen
nicht mit dem Herzog von Orleans abzuschliessen; dagegen unter-
handelte er noch immer mit Sforza und erwartete eben von ihm eine
Antwort auf seine Anträge. Eines war dem Herzog klar geworden:
dass er mit der Macht seines Landes, mit seinem Vasallenheere die
Absichten auf Mailand nicht durchsetzen konnte, dass er durchaus die
italienischen Condottieri mit Geld für seine Sache gewinnen musste.
Er war also bereit die äussersten finanziellen Massregeln zu ergreifen.
Da ihm nun die ßanquiers nicht einmal gegen acht Procent leihen
wollten, schlug er vor einen Theil seines Landes zu verpfänden; zur
Auslosung würde genügen, was er in der Lombardei zu erobern hoffte
und was ihm die Republik als Tribut zu zahlen hätte. Eine Nachschrift
des Briefes dringt noch angelegentlicher darauf, sofort Geld herbei-
zuschaffen; denn eben ist die Nachricht eingetroffen, dass die Feinde
Roinagnano und was sonst im Lomellin und um Novara noch zu Sa-
voyen gehalten hatte, wiedererobert haben und nun Piemont selbst
bedrohen.
So sah sich der Herzog von Savoyen zum Handeln gezwungen,
ehe er selbst seine Rüstungen für genügend erachten konnte. Die
Mahnung der Mailänder, die Meldung dass sie in diesen Tagen in
l) Recueil de lettres etc. Nr. XXXIV.
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. CoJ
Masse ausziehen wollten, drängten gleichfalls zum Kriege. Zunächst
wurde daher die Eroberung von Borgomainero im Agognathale
beschlossen, welche, wie man hoffte, eine allgemeine Erhebung der in
der Umgebung des Langensees zahlreichen guellischen Partei zur
Folge haben würde. Am 20. April brach die Savoyische Hauptmacht
unter Gaspar de Varax, Jacques Challand, Jacques de Lornay von der
Sesia auf und zog über das Gebirge in das Agognathal. Zufälliger
Weise hatten an diesem Tage Corrado Sforza, Giacomo di Salerno
und Coglione einen Streifzug in dieselbe Gegend und einen Angriff
auf Carpigniano unternommen, so dass die beiden feindlichen Heere
unweit Borgomainero unerwartet aufeinanderstiessen. Das Gefecht,
das sich zwischen ihnen entspann, das bedeutendste in diesem Kriege
zwischen Sforza und Savoyen, ist von den italienischen Schriftstel-
lern der Zeit mit besonderer Ausführlichkeit beschrieben , weil
sich in demselben die Verschiedenheit der Heeresordnung, der
taktischen Aufstellung und Bewegungen und der Kriegsgebräuche
am meisten offenbarte.
Italienischerseits befanden sich dort nämlich Soldtruppen zu Pferd
und zuFuss. Das savoyische Heer bestand fast ausschliesslich aus berit-
tenen, schwerbewaffneten Hommesd'armes, noch in Lanzen im alten
Sinne eingetheilt. Die damals aus England nach Burgund und Frank-
reich übertragene Sitte, volle Lanzen zu bilden und in jede einen oder
zwei berittene Bogenschützen einzureihen, hatten die Savoyer noch
nicht in ihr Heerwesen völlig aufgenommen, versuchten aber gerade
jetzt sie in gewissem Grade nachzuahmen. Die Burgunder im Solde des
Herzogs waren nämlich Bogenschützen aus derPicardie, wo sich diese
neue englische Kampfesweise am schnellsten ausgebildet hatte. Beritten
waren dieselben nur um sich schneller fortbewegen zu können; im Ge-
fecht selbst sassen sie ab und mischten sich zu Fuss entweder unter die
Schwerbewaffneten oder nahmen seitwärts der Schlachtlinie möglichst
gedeckte Flankenstellung ein. Als sich nun hier auf der Ebene bei
Borgomainero die beiden Heere plötzlich auf dem Marsche begeg-
neten, kam es zuerst zu keiner besonderen Formation. Die Piemon-
tesen stürzten sich gleich in dicht geschlossenem Geschwader auf
die kaum entwickelte Schlachtreihe der Italiener und brachten sie zu
theilweisem Weichen. Die Herzogliehen machten dabei „mala guerra",
ein Wort das allein genügte den italienischen Söldnern Schrecken
einzujagen; auch flohen beim ersten Angriff ganze Scharen vom
240 S i c k e 1.
Schlachtfelde und brachten nach Novara voreilig die Kunde einer
Niederlage. Die Piemontesen hatten aber nach dem ersten Stoss den
Angriff aufgegeben. Die kleine Zahl der Gegner machte sie stutzig:
hinter ihr in dem dichten Walde vermutheten sie eine grössere Schar
und fürchteten bei weiterem Vordringen in einen Hinterhalt zu gera-
then. Also zogen sie sich zurück und stellten sich selbst einen Angriff
abzuwarten in eng geschlossenem Ringe, in sogenanntem Igel auf. Die
Bogenschützen aber sassen ab, schafften die Pferde seitwärts ins Ge-
büsch, vertheilten sich vor den Berittenen, schlugen die Spitzpfähle,
welche sie von den Engländern gelernt hatten mit sich zu führen, vor sich
kreuzweise ein, verbanden sie mit Stricken und bildeten so einen Ver-
hau, hinter dem sie einigermassen geschützt ihre Pfeile auf die Geg-
ner abschössen. Die Italiener stutzten beim Anblick dieser ihnen
neuen Stellung; bei ihrer numerischen Schwäche und ihrer Furcht
vor der mala guerra wagten sie nicht anzugreifen und konnten sich
doch wieder nicht zu schimpflichem Rückzuge entschliessen. In zwei
Gewalthaufen vertheilt warteten sie so fast bis zur Dämmerung. Noch
immer vermochten sich ihre Führer nicht zu einem Entschlüsse zu eini-
gen, als endlich ein piemontesisches Geschwader sich von demBinge
loslöste und in dichtgeschlossenen Reihen auf den einen Gewalthaufen,
den Christophoro di Salerno befehligte, eindrang. Die Italiener aber
hielten diesmal Stand , und als das Geschwader sich auf den Ring
zurückzog, rissen Christophoro's Beredtsamkeit und neu erwachte
Kampfeslust die Sforzeschi fort und beide Gewalthaufen formirten
sich zum Angriff auf den Ring. Während das Fussvolk sich der Pferde
der Bogenschützen bemächtigte, sprengten die Reitergeschwader im
vollsten Trabe von beiden Seiten auf die Piemontesen ein und machten
durch schnellen Angriff die Kunst der Picardischen Schützen nutzlos.
Der Ring jedoch weicht und wankt nicht; die Glieder theilen sich
aber auch nicht zu freier Kampfbewegung. Bei wiederholtem An-
prall der Sforzeschi sind auf beiden Seiten die Lanzen schon zer-
schellt; jetzt greifen diese zu den Hiebwaffen, gegen die die Savoyi-
scheBüstung nicht hinlänglichen Schulz gewährt, das italienische Fuss-
volk eilt noch mit Lanzen versehen herbei und drängt auf den Igel ein,
der seiner Wehr beraubt ist. Der Ring wird endlich durchbrochen,
die dichte Aufstellung nützt nun nichts mehr, sondern hindert nur
die freie Bewegung ; so unterliegen die schwerfälligen Hommes-
d'armes im eigentlichen Gemenge der grösseren Geschicklichkeit
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. 241
ihrer Gegner. Die Italiener hatten zwar beim Angriff Gleiches mit
Gleichem vergelten wollen und ihre Hauptleute auch den bösen Krieg
verkündet, aber von ihrer milderen Sitte und ihrer Gewinnsucht
beherrscht, machten sie doch, was nicht entrinnen konnte, nur zu
Gefangenen. Unter diesen befanden sich die drei Führer des her-
zoglichen Heeres und eine Menge Edelleute.
Wenige Tage darauf (26. April) schrieb Herzog Louis an Ama-
deus *) : „Heiliger Vater, ich empfehle euch die Angelegenheiten mei-
nes Landes diesseits und melde euch mit grosser Betrübniss, wie am
letzten Dinstag die Herren de Varax, de Challand und de Montillier
mit ihrem Gefolge von etwa 1000 Pferden gegen Borgoinainero zogen.
Trotz ihrer Tapferkeit konnten sie es nicht einnehmen. Und als sie
nun zurückkehrten, begegneten sie den Truppen Sforza's. Nach lan-
ger Wehr und langem Kampf blieben zwölf von den unsrigen und
wohl sechzig von den Feinden. . .und schliesslich wurden Varax,
Challand, Montillier mit zweihunderten gefangen ..." Diese Nieder-
lage hatte den kleinmüthigen Herzog gänzlich umgewandelt. Wäh-
rend er kurz zuvor in froher Aussicht auf Sieg abgelehnt hatte,
gemeinschaftliche Sache mit Orleans zu machen , schrieb er jetzt :
„ich erwartete täglich die Abgeordneten des lieben Vetters von Orle-
ans und höre nun, dass sie heimgekehrt sind, worüber ich sehr ver-
wundert bin, da sie mir eine Allianz und 4000 Berittene als Hilfe
angeboten hatten . . . Wollten sie nur eitle Versprechen geben , so
würde der Bund mit ihnen nur Schaden und Verlegenheiten brin-
gen... Schwierigkeiten mit den Mailändern könnten nur insofern
entstehen, als ich ihnen alles Land jenseits des Tessin herauszugeben
versprochen habe, aber sie würden sich dazu verstehen, dem Herzoge
von Orleans einige Plätze abzutreten , wenn er zu ihrer Eroberung
mit beitragen wollte. Nur müsste die Hilfe ohne Verzug geleistet
werden." Der Brief erwähnt dann noch der Anwesenheit eines Ge-
sandten von Sforza, Alberto Bolando, der als erste Bedingung für
Friedensunterhandlungen eine Familienverbindung vorschlug — eine
Bedingung die dem Herzog so anmassend erschien, dass er sie gar
nicht für ernstlich hielt und in dem Orator nur einen Kundschafter
sah. Am Schlüsse konnte Louis noch die eben eingelaufene Nachricht
*) Reeueil de lettre* etc. Nr. XXXVII.
Sitzb. d. phil.-hist.Cl. XX. Bd. I. Hfl. jü
242 S i c k e I.
mittlieilen, dass es dem Herrn von Varax gelungen war, sich mit
geringer Summe loszukaufen und der Gefangenschaft zu entrinnen.
Amadeus hatten, wie wir sahen, die Mailänder Verwickelungen
seit ihrem Anbeginn grosse Sorge gemacht, welche sich beim Empfang
jeder dieser Briefe steigerte. Da nun die kirchlichen Angelegenheiten
jetzt endlich geordnet waren, da seit dem 25. April auch das
Lausanner Concil seine Sitzungen geschlossen hatte, vermochte
Amadeus den italienischen Verhältnissen grössere Aufmerksamkeit
zuzuwenden. Erbeauftragte daher zwei seiner Vertrauten, den Bischof
von Lausanne und den Präsidenten Jacques de la Tour, welche zu
Papst Nikolaus reisen und von ihm die Ausstellung und Ausfertigung
des Amadeus zugesicherten Breve's erbitten sollten, sich zunächst
nach Turin zu begeben und ihn genauer von dem Stand der Dinge
daselbst zu unterrichten. Am 2. Mai bei Hofe angekommen, berich-
tete der Präsident am 6. Mai 1449 '). Der Herzog willigte in den
Vorschlag seines Vaters ein, die Häupter des Adels nach Genf kom-
men zu lassen, wo Amadeus zwischen ihnen richten und eineRachtung
zu Stande bringen wollte; nur war die Ausführung so lange nicht
möglich, als Jean de Compeys, der Führer der einen Partei, sich noch
in Gefangenschaft befand. Indem de la Tour beauftragt worden war,
dem Herzog nochmals Amadeus1 Missfallen an dem ohne seine Zustim-
mung abgeschlossenen Mailänder Bündnisse auszudrücken, entschul-
digte sich Louis mit der damaligen zur Entscheidung drängenden
Lage der Dinge: Antonio Rabbia habe zu jener Zeit von Mailand
Befehl gehabt mit Sforza abzuschliessen, falls sich der Herzog nicht
binnen sechs Tagen für sie erkläre ; jedes Zaudern würde ihn also
isolirt haben. Der Präsident hatte dann darauf gedrungen, durch
eine Verständigung mit Sforza dem Kriege ein Ende zu machen, da
derselbe jenseits der Alpen nichts weniger als beliebt sei. Louis hatte
wie gewöhnlich darauf geantwortet, dass Sforza sich nicht zu ernst-
lichen Unterhandlungen verstehen wolle. Auch de la Tour liess sich
in dieser Hinsicht von der in Turin herrschenden Stimmung fortreis-
sen, sprach sich für Fortsetzung des Krieges aus und erörterte vor
Allem die Massregeln die desshalb zu ergreifen sein würden. Es han-
delte sich namentlich wieder darum Geld herbeizuschaffen. Die
M Recueil de lettres etc. Nr. XXXIX.
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. 243
Finanznoth hatte schon die absonderlichsten Vorschläge *) hervor-
gerufen. Ich übergehe sie hier, so bezeichnend sie auch für die dama-
ligen Staats wirtschaftlichen Zustände in Savoyen sind, und hebe nur
hervor, dass sie den Credit des Herzogs als völlig erschöpft erschei-
nen lassen und dass die ihm gestellten Bedingungen der Art waren,
dass sich Amadeus veranlasst sah an den Rand eines dieser Vor-
schläge zur Verbesserung der Finanzen eigenhändig zu schreiben :
„Solche Bestimmungen sind unehrenhaft und unzulässig, sind also
zu streichen". Amadeus hielt es für zweckmässiger, einzelne Besitzun-
gen in der Waadt und Burgund mit Vorbehalt des Rückkaufs zu ver-
äussern und unterhandelte desshalb mit dem Herrn von Neuenburg.
Indem der Herzog von Neuem den Wunsch geäussert, Berner in seine
Dienste zu nehmen, hatte de la Tour zwar die schon früher erwähn-
ten Einwendungen wiederholt, hatte aber auch zugleich einige Hoff-
nung gemacht, dass Amadeus, wenn er selbst nach Piemont käme,
sich von Schweizer Söldnern begleiten lassen würde , eine Aussicht
die den Herzog Louis mit grosser Freude erfüllte, denn der Berner
Kriegstüchtigkeit wurde schon damals in Italien gefürchtet. Da Ama-
deus noch immer Mailands wegen mit dem Hause Orleans in Unter-
handlung stand, bat sein Sohn dringend, in einen etwanigen Vertrag
nichts aufzunehmen, was der Ehre Savoyens in den Augen der Mai-
länder schaden könnte.
Die Anwesenheit des Präsidenten de la Tour in Turin (vom 2.
bis 17. Mai) hielt übrigens den Herzog Louis und seine Räthe nicht
ab, gleichzeitig nach zwei Seiten hin Unterhandlungen anzuknüpfen,
welche sich mit einander schlecht vertrugen und vor denen Amadeus
mehr als einmal gewarnt hatte. Ich erwähnte schon früher, dass
König Alfons in der Person des Ludovico Sescasses einen Geschäfts-
träger am Savoyischen Hofe hielt und durch denselben ein Bündniss
gegen Venedig, Florenz und Sforza hatte beantragen lassen. Nach
einem uns erhaltenen Entwürfe 3) wurde demselben am 11. Mai 1449
folgende Antwort ertheilt : „Herzog Louis habe des Königs Aner-
bietungen mit Dank aufgenommen und geprüft. Eine Subsidie von
100.000 Ducaten werde ihm willkommener sein, als Hilfsmannschaft.
Der Herzog verfüge bereits über 15.000 Mann in bester Ordnung
1) Recueil de letties Nr. XXXVIII u. XLII.
2) Recueil de lettres etc. Nr. XLIV.
16
244 S i c k e I.
theiis Italiener, theils Burgunder; ausserdem erwarte er an 10.000
Berner. Hinsichtlieh des Zweckes eines Bündnisses komme es
zunächst darauf an, die Stadt Mailand von ihrem Bedränger Sforza
zu hefreien. Wolle sie dann Louis zum Herzog machen, so solle
König Alfons sich damit zufrieden erklären. Ebenso werde jener sich
damit einverstanden erklären, wenn Mailand den König als Herrn
erwähle, und Louis suche für diesen Fall nur darum nach, in dem
Besitz der von ihm in der Lombardei zu Lehen getragenen Ortschaften
bestätigt zu werden. Ausserdem beanspruche er auf Lebenszeit von
Mailand einen jährlichen Tribut von 200.000 Ducaten." Das auf die-
sen Grundlagen vorgeschlagene Bündniss sollte bis zur gänzlichen
Vernichtung des Grafen Francesco dauern. Wir werden weiter sehen,
dass dieser Entwurf bei dem später wirklich mit dem Könige abge-
schlossenen Vertrage gar nicht in Betracht kam, müssen hier aber
schon darauf hinweisen, dass er in geradem Widerspruch zu einem
an demselben Tage mit dem Dauphin verabredeten Bündnisse stand.
Um dieselbe Zeit waren nämlich der Bastard von Armagnac und
La Tonniere als Gesandte des Dauphin in Turin angekommen. Der
letztere scheint allerdings damals weniger denn je daran gedacht zu
haben, seine abenteuerlichen Pläne zu Unternehmungen in Italien
wieder aufzunehmen; sein Versuch sich mit dem Herzog Louis zu
verbinden mochte durch näher liegende Zwecke veranlasst worden
sein. Schon damals mit seinem Vater gespannt, suchte der Dauphin
sich in und ausserhalb Frankreichs Hilfe für alle Fälle zu sichern
und strebte desshalb danach den Herzog Louis durch ein enges
Bündniss und wo möglich durch ein Ehegelöbniss an sich zu fesseln.
Das Dauphine, welches derKönigssohn ganz selbstständig beherrschte
und dessen Interessen er eifrig wahrnahm, konnte durch engen An-
schluss an das Nachbarland nur gewinnen und fand an ihm im Noth-
fall einen Bückhalt. Die Gesandten waren also beauftragt 1) eine
Hilfe von 200 bis 300 Lanzen anzubieten, 2) den Abschluss eines,
im Entwurf vorgelegten Vertrags vorzuschlagen, und 3) eine per-
sönliche Zusammenkunft des Dauphin mit dem Herzog und dessen
Töchtern zu beantragen. Der betreffende Entwurf *) gehört nicht
hieher, indem er der Hauptsache nach darauf berechnet ist die Ver-
hältnisse zwischen Savoyen und dem Dauphine möglichst zu regeln;
1) Recueil de lettres etc. Nr. XL1.
Die Ambrosianische Republik and das Haus Savoyen. <c4-;i
aber er schloss doch auch ein allgemeines Bündniss zwischen den
beiden Fürsten mit ein und vertrug sich insofern nicbt mit dem gleich-
zeitig in Berathung genommenen Aragonesischen Bündnisse *)•
Die Lage der Dinge in der Lombardie hatte unterdessen schon
mehrfach wieder gewechselt. Piccinini hatte freilich keine Schlacht
wagen können, Melegnano war von Neuem in Sforza's Hände gefallen,
die Piemontesen waren zurückgeschlagen und das ganze Gebiet von
Novara unter des Grafen Botmässigkeit zurückgekehrt; aber in den-
selben Tagen hatten sich die Guelfen von Vighevauo erhoben, die
Sforzeschi überwältigt, savoyische Besatzung aufgenommen und sich
von Neuem für die Ambrosianische Bepublik erklärt. Andere Ort-
schaften im Lomellin waren gefolgt. Bassignano und Borgofranco 3)
am Po waren den Herzoglichen übergeben worden. Hätten an Louis'
Hofe nicht Bathlosigkeit und Unentschlossenheit geherrscht, wäre
seine Armee nicht entmuthigt und in Auflösung begriffen gewesen,
hätte es ihm nicht an Geld gefehlt, Sforza's Condottieri die ihre
Dienste anboten, in Sold zu nehmen, so hätte dieser Augenblick nicht
unbenutzt vorübergehen dürfen. Sforza erkannte mit seinem raschen
Blick sofort die Gefahr. Vighevauo mit seiner Umgebung in Feindes-
häuden schnitt die Verbindung zwischen Pavia und Novara ab und
eröffnete zugleich den savoyischen Truppen den Weg nach Mailand.
Melegnano war also kaum erobert, so brach der Graf mit seiner
ganzen Macht nach dem Lomellin auf und befahl auch Coglione sich
dorthin zu wenden. Begengüsse hatten jedoch die Flüsse angeschwellt
und erst nach langem Hin- und Hermarsch konnten seine Truppen
vor dem stark befestigten Vighevanö eintreffen. In diese Tage fällt
auch die Verhaftung des Guglielmo di Monferrato, den Sforza seit
einiger Zeit in Verdacht hatte, wie die Piccinini, zu Mailand oder
Savoyen übergehen zu wollen3) und den er desshalb vorzog in Pavia
*) Indem die vom Dauphin angebotene Hilfe gegen Sforza nicht geleistet wurde und die
weiteren Verhandlungen zwischen ihm und dem Herzog die Mailänder Verhältnisse
nicht berühren, glaube ich sie hier übergehen zu können und verweise für sie auf
Gaullieur I. c.
*) Recueil de lettres etc. Nr. XLI.
') So bei Simonetla I. XV11I, bestätigt durch des Herzogs Louis Briefe. Benevuto di
San Giorgio in der Cron. ital. p. 336 (u. ebenso in der Chron. lal.) gibt freilich
ein anderes Motiv an: „Bianca, moglie di esso conte, dal cui amore il S. Guglielmo
era stimulato" etc. — Das Datum 1. Mai bei S. Giorgio ist offenbar falsch: cf.
auch Carreto Thron, di Monferrat in Mon. bist, patriae ad 144(1.
246 S i c k e 1.
festnehmen zu lassen. Der Widerstand nun, den Vighevano leistete, hielt
des Grafen ganze Macht wochenlang bis zum 3. Juni auf, und wenn
ihn auch Herzog Louis nicht zu henutzen wusste, so bot er doch dem
Alberto da Carpi, der bei Novara zur Deckung der Grenze zurückge-
lassen war, Gelegenheit zu Savoyen überzugehen und gab Mailand
auf einige Zeit freie Hand. Namentlich gelang es der republikanischen
Partei im Norden der Lombardei, wie es scheint im Einverständniss
mit den Schweizern, einen neuen Aufstand gegen Sforza zu veran-
lassen 1). Piccinini zog, während Sforza vor Vighevano lag, die Olona
bis Seprio hinauf. Gleichzeitig kamen die Urner und selbst Unter-
waldner über den Gotthard, stürmten Castiglione im Livinerthal und
erzwangen den Übergang über Ponte Tresa, wo damals die Haupt-
strasse nach der Lombardei durchführte. So ging Sforza die ganze
Landschaft um und zwischen den Seen verloren; nur Rusca und
Ventimiliano in Canturio blieben ihm treu. Nach der Einnahme von
Vighevano sah er sich also genöthigt, sich nach dieser Seite zu
wenden, eroberte Castello S. Giorgio und Castiglione am Olona und
überliess es dann, indem er sich selbst nach S. Angelo zwischen Pavia
und Lodi begab 3), dem älteren San-Severino und Ventimiliano den
dortigen Aufstand zu dämpfen. Am 20. Juli kam es noch einmal zu
einem blutigen Zusammenstoss mit den Schweizern, darauf kehrten
das Luganerthal, die Umgebung des Comersees mit Ausnahme von
Como und das untere Valtellin unter Sforza's ßotmässigkeit zurück.
Die Schweizer geriethen mit ihren eigenen Freunden, denMailändern,
in Streit, bedrohten Belinzona und licssen sich nur durch Zugeständ-
niss von Zollfreiheiten wieder beschwichtigen.
1) Das folgende gebe ich nur als einen Versuch, die unklaren und zum Theil sich
widersprechenden Angaben von Simonetta 1. XIX, Corio p. V, und Tschudi II.
1)28 u. 535 in Einklang zu bringen. Er beruht darauf, dass ich nach dem Vor-
gänge von J. von Müller zwei Castiglione unterscheide: das eine, welches Tschudi
erwähnt und der Einsiedeiner Geschichtsfreund (VI. 177), in der Nähe von Arbedo,
dort wo sich an dem Vereinigungspunct der Gotthard- und Bernhardinstrasse ein
altes herzogliches Schloss befand, und das andere, von Simonetta und Corio
erwähnt, in der Grafschaft Anglera, unweit Seprio an der Olona. Stammsitz des
Mailänder Gesehleehls Castiglione, von dem Cardinal Brando erbaut.
2) Wohl in der ersten Woche des Juli. Sforza gebrauchte nach Simonetta fünf Tage
zu diesem Zuge. Auf ihm scheint er Vighevano berührt zu haben, von wo er am
7. Juli nach Florenz schreibt (cf. im Archiv für Kunde österr. Gesch. I. c. doc.
VIII.), ein Brief, der nicht mehr in die Zeit der Belagerung von Vighevano fallen
kann, da sieh dies am 3, Juni ergibt,
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. 247
Wie gesagt, liess Herzog Louis diese Zeit, Mai bis Juli, unbenutzt
verstreichen. Aber er und sein Vater unterbandelten damals gerade sehr
lebhaft über die Mailänder Angelegenheiten. Ende Mai begaben sich
Guillaume de Luyrieux dela Cueilleund der Bischof von Turin in Louis'
Auftrage zu Amadeus und brachten ihm zunächst eine Antwort in
Bezug auf die Abdankung des Papstes und seine jetzige Stellung als
Cardinallegat *). Dann hatten sie über die Lage der Dinge in der
Lombardei zu berichten. Die alten Klagen über Sforza's Hartnäckigkeit,
Feindschaft, Drohungen, über seine Anmassung eine Familienverbin-
dung zu verlangen wiederholen sich in der den Gesandten ertheil-
ten Instruction. Die Versuche des Herzogs sich seinem Vater gegen-
über über die Zuständein Turin zu rechtfertigen: über die schlechte
sorglose Behandlung der wichtigsten Geschäfte, den fortdauernden
Hader der Parteien, die schlechte Verwendung der den Ländern
abgedrungenen Subsidien, offenbaren nur die Bathlosigkeit Louis'.
Bei dem gänzlichen Geldmangel mussten die Anerbieten zurückge-
wiesen werden, welche täglich von den besten Condottieri einliefen.
Der Marchese Ferrara, Carlo Gonzaga, Torelli, die Campofregosi
stellten der Reihe nach ihre Bedingungen zu Condotten. Aber nur mit
Alberto da Carpi wurde abgeschlossen, ohne jedoch seine Forderun-
gen befriedigen zu können. Die letzte Hilfe erwartete der Herzog
von diplomatischen Unterhandlungen. Burgundische und Orleans'sche
Gesandten sollten in Turin eintreffen. Der Abt von Casanova hielt
sich noch immer in Venedig auf und hatte endlich von der Signoria
die Antwort erhalten, sie sei geneigt einen allgemeinen Frieden abzu-
schliessen auf folgender Grundlage : Mailand solle unabhängig bleiben,
aber gewisse Plätze an Venedig, andere an Sforza abtreten; ausserdem
müsse der Papst die Republik von ihren dem Grafen gegenüber im
Vertrag von Rivoltella übernommenen Verpflichtungen freisprechen.
Solchen Dispens auszuwirken hatte der Herzog bereits den Präsi-
dent von Chanibery beauftragt. Der letztere sollte ausserdem, ehe er
sich mit dem Bischof von Lausanne, wie ihnen Amadeus befohlen,
nach Rom zum Papst Nikolaus begeben würde, mit dem Könige Alfons
zusammentreffen und mit ihm über das beabsichtigte Bündniss ver-
handeln.
') Recueil de lettres Nr. XI. I.
248 S i c k e 1.
Einige Wochen darauf, am 14. Juni, schrieb dann *) Herzog
Louis an seinen Vater: „Der Geldmangel steigert immer mehr meine
Noth: die Gensdarmen ohne Geld und ohne Proviant haben die
Grenze verlassen und sind bei Turin, wo ich sie unterhalten muss,
denn die Bauern widersetzen sich ihnen Lebensmittel zu geben.
Andere Söldner desertiren und entfliehen heimlich und nächtlich.
Allerdings haben mir Piemont und die alten Lande 20.000 Gulden
Subsidien bewilligt, aber vor Michaelis wird das Geld nicht einkom-
men. Von den Grenzlandschaften lässt sich gar nichts erwarten, denn
sie sind von der Armee stark beschädigt und ausgesogen worden.
Alberto daCarpi habe ich in Dienst nehmen müssen, weil er drohend an
der Grenze stand und sonst meinem Lande grossen Schaden zugefügt
hätte. Aber ich habe ihm nur 2000 Ducaten zahlen können und weiss
nicht, woher dieinwenigTagen fälligen 8000 für ihn nehmen. Er steht
jetzt mit seiner Mannschaft bei Gatinara (an der Sesia). Stadt und
Gebiet von Vercelli sind aber noch immer bedroht und sind verzwei-
felt, dass sie im Stiche gelassen werden. Ich habe also eben beschlos-
sen alle meine Leute zusammenzuraffen. Schickt nur, heiliger Vater,
von drüben den Herrn you Varembon mit möglichst starker Schar,
sorgt aber auch drüben für seinen und seiner Leute Sold. Mit
Sforza der jetzt Vighevano genommen, lässt sich nicht unterhan-
deln. Dagegen sind die Gesandten von Burgund und Orleans ein-
getroffen und haben mir Vorschläge hinsichtlich Mailands gemacht;
die Mailänder Oratoren haben aber nicht eher darauf eingehen
wollen , als bis sie von ihren Capitänen Bescheid und Befehl er-
halten".
Bei der Bathlosigkeit welche am Hofe und im herzoglichen Bathe
herrschte, kann es uns nicht wundern, dass Amadeus von der natür-
lichen Sorge für das Wohl seines Hauses getrieben, sich nach und
nach wieder der obersten Leitung aller Staatsgeschäfte bemächtigte.
Wir sehen ihn um diese Zeit oft ganz direct in die wichtigsten Ange-
legenheiten eingreifen. Gesandten welche sein Sohn an irgend einen
Hof abordnete, gab Amadeus noch seinerseits geheime Instructionen
und band sie an dieselben mit ernsten Drohungen: „Unseren und des
ganzen Landes Unwillen werdet ihr euch zuziehen, wenn ihr euch
von diesen meinen Vorschriften entfernt; mit eurer Person und eurer
l) RppiipM de lettres etc. Nr. XLVIII.
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. 240
Habe haftet ihr mir dafür" *). Was der Cardinallegat mit seinen Räthen
und Ordensbrüdern beschlossen hatte, ging dem Herzog als ein Befehl
zu, den er ohne daran zu ändern auszuführen hatte. So wurde auf die
vom Bischof von Turin gebrachte Botschaft dem Herzoge am 14. Juni
ein vom gesammten Rathe in Lausanne unterzeichneter Beschluss
als Antwort zugeschickt 3), dem ich folgende Stellen entnehme: „Wäre
dem heiligen Vater in der Mailänder Angelegenheit immer die reine
Wahrheit gesagt worden, so würde alles besser gegangen sein. Auf die
von Sforza in Vorschlag gebrachte Heirath darf unter keiner Bedingung
eingegangen werden, sie würde dem Hause Savoyen zur Schande
gereichen. Was Sforza's Krieg mit Mailand anbetrifft, hätte Gott
gewollt, dass wir, ehe eine Verbiudlichkeft der Republik gegenüber
übernommen, den Rundesvertrag gesehen hätten. So löblich es war der
Herzoginnwitwe Schutz angedeihenzu lassen, so wenig war es nöthig
desshalb Krieg anzufangen. Und sollte dieser um Mailands willen
begonnen werden, so hätte die Republik auch seine ganze Last auf
sich nehmen müssen. Mit den Condottieren des Grafen jetzt zu unter-
handeln hilft nichts, so lange man nicht Geld hat sie in Sold zu nehmen,
und um der fremden Hauptleute willen darf man die seinen nicht
zurücksetzen und aller Hilfsmittel entblössen. Es wäre wohl schön
das Haus Savoyen und seine Herrschaft zu vergrössern, aber dazu
muss es einen guten Anlass geben, dazu muss man Geld haben und
eine tüchtige wohldisciplinirte Armee. Hinsichtlich der Subsidien, so
hat man in Savoyen einen Gulden für jede Feuerstelle bewilligt, die
Ämter haben sich aber ausbedungen, dass das Geld in die Hände des
heiligen Vaters gegeben werde, um zum Resten und für die Angelegen-
heiten des Herzogs verwandt zu werden. Plätze unter Vorbehalt der
Einlösung zu verpfänden wäre ganz gut, wenn man Jemand dazu bereit
ünden könnte; aber niemand will sich bei solchen Zuständen und wenn
Wort und Treue schlecht gehalten werden, darauf einlassen. Wie die
Dinge jetzt stehen, ist es am besten mit Venedig und dem Papst zu
unterhandeln und dazu tüchtige Botschafter auszusuchen. Veneti-
anische Kaufleute festzuhalten war ein grober Fehler der nicht
wieder begangen werden darf".
M Recueil de lettres etc. Nr. LVIH.
2) Rpoupil de lettres etc. Nr. XLV.
250 S i c k e 1.
Die Härte und Strenge dieses gebieterischen Bescheides wurde
wo möglich noch in den Instructionen verschärft, welche Luyreux
und der Bischof von Turin bei ihrer Bückreise von Lausanne nach
Piemont erhielten 1). Sie sollten darauf dringen, dass sofort mit Sforza
Frieden geschlossen würde, wenn es irgend mit Ehren, ohne Opfer
und mit Zustimmung Mailands geschehen könnte. Sie sollten ferner
auf Beilegung der Streitigkeiten zwischen dem Adel bestehen, welche
vom Anfang an diesem Kriege eine unglückliche Wendung gegeben;
nöthigenfalls sollte Jean de Compeys der sich um diese Zeit aus der
Gefangenschaft losgekauft hatte, gezwungen werden sich auf seine
Besitzungen in der Waadt zu begeben und dort eine Zeit zu bleiben.
Den Streifzügen welche dem Kriege weitere Ausdehnung gaben, sollte
Einhalt geboten werden und alle Unternehmungen möglichst einge-
schränkt werden. Hätte der Herzog in früheren Zeiten des Vaters
Bathschläge befolgt und sich unnützer Ausgaben enthalten, so würden
die Dinge heute besser stehen; alles was bis jetzt ausgegeben, hätte
der Verherrlichung und Vergrösserung des Savoyischen Hauses nicht
genützt; vor Allem müsse Louis seiner Frau und seinen Genossen
Beschränkungen auferlegen. Und obschon es seiner Heiligkeit und
ihrem Alter besser anstehe in Buhe zu leben , so wolle Sie der Zeit
Rechnung tragen, die viel erheische und Gesetze vorschreibe, und
zum Trost des Volkes nach jenseits kommen.
Wahrscheinlich noch vor der Rückkehr des Bischofs von Turin
aus Lausanne hatte Herzog Louis einen neuen Boten, Andre Mallet,
an seinen Vater abgeordnet, um nochmals die Noth und Gefahr Pie-
monts vorstellen und um Hilfe aus Savoyen bitten zu lassen 2). Aus
seinen Instructionen führe ich nur an, dass Louis, von dem Umschwung
der Stimmung in Venedig 3) unterrichtet, Lust hatte den Krieg von
Neuem zu beginnen oder sich venetianischer Vermittlung zu bedienen.
Allenfalls meinteer, liesse sich mit Sforza ohne Zustimmung von Mai-
land Frieden schliessen, indem der Ralh der neunhundert seiner Zeit
nicht alle Bestimmungen des Vertrags vorn 6. März ratificirt habe
und somit der ganze Vertrag an Verbindlichkeit verliere; aber es
wäre misslich darauf gestützt einen Vertragsbruch zu begehen, denn
1) P.ecueil de lettres etc. Nr. XLVI.
2) Recueil de lettres etc. Nr. XLVII.
s) Ausführlich dargestellt in meiner Abhandlung im Archiv etc. b. XIV.
Die Ambrosianische Repulilik und das Haus Savoyen. 2o 1
so leicht würde dann Niemand wieder sich mit Savoyen verbünden
wollen. Louis wusste auch, dass die Republik von S. Marco durch
den Markgrafen von Mantua mit Alfons in Unterhandlungen stand.
Er selbst hatte sich mit den Orleans'schen Gesandten noch nicht einigen
können. — Mallet erhielt zugleich eine Schrift *) , in der sich die
herzoglichen Räthe gegen die Vorwürfe Amadeus' zu vertheidigen
suchten; aber siemussten in ihr doch selbst eingestehen, dass Piemont
verloren sei, wenn nicht Hilfe aus Savoyen komme.
Auf die gestrengen Rriefe welche der Turiner Bischof mit-
brachte, erfolgten dann von Seite des Herzogs zwei Antworten, aus
denen ich nur, was sie Neues enthalten, anführe. Der Herzog gibt 2)
seinem Vater eine Liste der noch kämpf- und dienstfähigen Mannschaft,
in die er aber auch Hauptleute aufnimmt, die gar nicht in seinem,
sondern in Mailands Sold standen. Er selbst klammerte sich jetzt, wie
an die letzte Hoffnung, an die Ankunft seines Vaters an, denn er ver-
sprach sich von ihm nicht allein Rath, sondern auch Hilfe an Mann-
schaft und Geld. Die Unterhandlungen mit den Gesandten von Bur-
gund und Orleans waren indess fortgesetzt. Die Mailänder hatten
endlich ihre Bedingungen gestellt und zwar dahin, dass Orleans ihnen
3000 Berittene zu Hilfe schicken solle, wofür sie ihm Alessandria und
Tortona anboten, Novara solle Louis erhalten; alles andere Land soll
zwischen die drei Cuntrahenten getheilt werden. Indem nun aber der
Herzog von Orleans von Mailand noch Subsidien verlangte, halte man
sich bisher nicht einigen können. Was ausserdem die Verhandlungen
in die Länge zog, war, dass die Deputirten der Republik nur sehr
beschränkte Vollmacht hatten und wegen jedes neuen Vorschlages bei
den Capitänen der Freiheit wieder anfragen mussten.
So erfahren wir aus dem zweiten Antwortschreiben des Herzogs3),
das Philibert de Menthone und Pierre d'Annecy Anfang Juli nach Lau-
sanne zu bringen hatten, dass wegen der Unenlschlossenheit der Mai-
länder Oratoren die anderen Unterhändler auf eigene Hand vorwärts
gegangen waren und zwei Entwürfe aufgesetzt hatten, von denen der
eine allerdings den Mailändern den Beitritt noch offen liess, der andere
aber sie gar nicht mehr als Milcontrahentcn erscheinen liess. Der
1) Recueil de lettres etc. Nr. XI. VIII.
2) Recueil de lettres etc. Nr. Uli.
B) Recueil de lettres He. Nr. (,.
252 Sickel.
letztere wich in einigen Puncten von dem früher zwischen Amadeus
und dem Grafen Dunois stipulirten Vertrag ab; desshalh wagten jetzt
die Turiner Räthe nicht mehr ihn anzunehmen, ohne ihn vorher dem
alten Herzoge, „dem die Ehre der Unterhandlung zukomme", zur Prü-
fungvorgelegt zu haben. Dieser Entwurf J) nun lautete seinem wesent-
lichen Inhalte nach: „Zum beiderseitigen Vortheil u. s. w. schliessen
die beiden Herzöge von Orleans und Savoyen ein Bündniss zu gemein-
schaftlicher Eroberung aller vom letztverstorbenen Herzog von Mai-
land besessenen Städte und Landschaften. Ausgeschlossen bleibt vor
der Hand die Stadt Mailand und was sie selbst noch inne hält. Alle
Eroberungen werden zu gleichen Theil getheilt mit Vorbehalt von
Novara für Herzog Louis und von Alessandria oder Pavia für Herzog
Charles. Es wird Anderen der Beitritt zu diesem Bündnisse offen
gelassen und es kann ihnen ein entsprechendes Gebiet zugesichert
werden. Alles dies geschieht aber mit vollem Vorbehalt der Rechte
welche das Haus Orleans auf das Herzogthum Mailand hat, und ohne
eine Verzichtleistung auf diese Rechte vorauszusetzen. Auch erfolgt
die Eroberung der von Sforza besetzten Gebiete im Namen des Königs."
Die Überbringer dieses Entwurfes hatten zugleich nochmals die
Bedrängniss der Mailänder Republik zu schildern, welche sie zwang
in Unterhandlungen mit Sforza und Venedig einzutreten, wovon der
Herzog sie durch eine Micheletto anvertraute Botschaft und durch
neue Verheissungen baldiger Hilfe abzuhalten suchte. Endlich erfah-
ren wir hier zuerst von den Bemühungen des schon erwähnten
Bischofs von Novara, Bart. Visconti, einen Frieden zwischen Savoyen
und Sforza zu vermitteln.
Amadeus1 Antwort 3) auf diese Mittheilungen ist ebenso wohl-
wollend, als seine früheren Briefe streng: seine Eitelkeit war befrie-
digt und seine Sorge gemindert, sobald ihm das letzte entscheidende
Wort zugestanden wurde; seine Antwort gibt auch wieder Zeugniss
von seinem politischen Scharfblick und seiner ruhigen Überlegung.
„Der Vorbehalt, schreibt er, des Herzogs von Orleans für seine Rechte
als Erbe der Visconti ist unzulässig, ihn zugestehen hiesse sich ver-
geblich abmühen und unabsehbaren Streitigkeiten aussetzen. Auch
ist es unmöglich ein Bündniss wider den Willen und mit Ausschluss
1 ) Hecueil de lettres etc. Nr. LI.
~) Recueil de lettres etc. Nr. LI II.
Die Ambrosianische Republik und das Haus Savoyen. 6ÖO
der Mailänder einzugchen, denn ihr würdet dadurch Mailand und
Sforza. Venedig, Alfons, kurz ganz Italien gegen euch in die Schran-
ken rufen, eine Macht gegen die grössere Kräfte als die eurigen
vergeblich ankämpfen würden. Allerdings ist es auch richtig, dass
die Interessen und Wünsche Orleans, hinter dem der König von
Frankreich steht, berücksichtiget werden, aber es Hesse sich entgeg-
nen, dass Savoyen Ehren halber ohne die Republik sich in nichts
einlassen kann, und unterdessen müsste vor allen Dingen dem Krieg
ein Ende gemacht und ein Friede zu Stande gebracht werden , der
als vollbrachte Thatsache den Ansprüchen Orleans entgegengehalten
werden könnte."
Unterwarf sich nun Herzog Louis, wie wir aus diesen Verhand-
lungen mit Orleans sehen, in ihnen der wohlbegründeten Anforderung
seines Vaters, in allen wichtigen Dingen zu Rathe gezogen zu werden,
so scheint er doch gleichzeitig nach einer andern Seite ganz auf
eigene Hand gehandelt zu haben. Als im Mai .Taques de la Tour von
Louis beauftragt war mit dem König von Aragon zu unterhandeln,
hatte Amadeus es zur besonderen Redingung gemacht, dass ohne
seine Zustimmung nichts abgeschlossen werde i). Seitdem erwähnt
nun keiner der zwischen dem Herzoge und seinem Vater gewech-
selten und uns erhaltenen Rriefe des Königs Alfons, und doch wurde
am 27. Juni 1449 zu Castelnuovo bei Neapel von Nicod. de Menthone
ein Bündniss zwischen Louis und Alfons abgeschlossen2) zu gegen-
seitigem Schutze, zur Aufrechthaltung und Verteidigung der Ambro-
sianischen Republik und zur gänzlichen Vertreibung und Vernich-
tung des Grafen Francesco.
Es war dies neue Bündniss offenbar nicht in Einklang mit Ama-
deus' jetzigen Absichten, die lediglich auf Wiederherstellung des
Friedens und auf ehrenvollen Rückzug aus der leichtsinnig herauf-
beschworenen Gefahr hinausliefen. Amadeus selbst hatte zwar zuerst
den Plan gefasst die Macht seines Hauses in Italien auszudehnen und
hatte seit langen Jahren die Ausführung vorbereitet. Aber hatte ei-
sern ehrgeiziges Streben, seine kühnen Entwürfe ganz aufgegeben,
seit die Jahre seine Kraft gebrochen, seine politische Erfahrung aber
geschärft, oder opferte er die Ausführung seiner Lieblingsgedanken
1) Reeiieil de leltres etc. Nr. XLV.
2) Gedruckt bei Guicbenon v. 4. p. 1, p. 3GJ.
254 S i c k e 1.
nur der Einsicht, dass sein Sohn dazu unfähig, dass der Staat dazu
jetzt zu schwach war: in jenen Augenblicken fasste er seine Aufgabe
entschieden als eine friedliche auf und von einer Erwerbung der Lom-
bardei oder eines Theiles derselben ist bei Amadeus nicht mehr die
Rede. Den besten Beweis dafür geben uns zwei Actenstücke, an deren
Abfassung die bischöflichen Räthe des Cardinallegaten und die mit
ihrem Fürsten ergrauten Ordensbrüder von St. Maurice Antheil
hatten. Zunächst besitzen wir noch das mit sämmtlichen Unter-
schriften versehene Originalprotokoll *) der zu Evians am 24. Juli
1449 gehaltenen „Berathung und endgiltigen Beschlussfassung. •*
In ihr wird zuvörderst im Interesse der Angelegenheiten des Her-
zogs und zur Beruhigung des Volkes die Reise Amadeus' nach Pie-
mont befürwortet, es aber doch in sein Belieben gestellt, ob er sich
den Beschwerden solcher Reise unterziehen will. Indem er in jedem
Falle mit dem erforderlichen Gelde ausgerüstet sein muss, wird vor-
geschlagen von den Ämtern Subsidien einzuziehen und Gelder auf
Pfandschaft aufzunehmen. Es wird vorgeschlagen auf den 31. die
Herren von Orange undNeufchatel und Berner Abgeordnete nach Lau-
sanne zu berufen, damit ihnen Amadeus das Land während seiner
Abwesenheit anempfehlen und ihrer Obhut anvertrauen kann. In An-
betracht des Standes und der Würde des Cardinallegaten erscheint
es den Räthen angemessen, dass er als Friedensvermittler nach Pie-
mont gehe und daher ausser seinem gewöhnlichen Gefolge keine
Gensdarmen mit sich führe; dennoch müsse man sich mit dem Adel
und den Freunden, namentlich mit den Bernern verständigen, damit
für den Nothfall eine angemessene Macht in Bereitschaft gehalten
werde. Was in Bezug auf einen Frieden mit Sforza zu thun sei,
solle nicht eher entschieden werden, als bis Amadeus an Ort und
Stelle von der Lage der Dinge habe Kenntniss nehmen können, und
es solle nur dem Herzog geschrieben werden, sich ebenfalls bis zu
diesem Augenblicke jedes entscheidenden Schrittes zu enthalten.
Wesshalb die Ausführung dieser Beschlüsse aufgeschoben wurde,
erfahren wir nicht. Am 17. August fand aber in Genf eine neue Be-
rathung über die Mailänder Angelegenheiten Statt, von der wir eben-
falls noch das Protokoll2) mit Bemerkungen von Amadeus' Hand
i) Recueil de lettres etc. Nr. L1V.
2) Recueil de lettres etc. Nr. LVII.
Die Amhrosianische Republik und das Haus Savoyen. £5«)
besitzen. In demselben ist von der in kürzester Zeit bevorstehenden
Abreise die Rede, welche dem Herzoge und den bei ihm befindlichen
Gesandten nach Turin und derHerzoginn Marie nach Mailand gemel-
det werden soll. Es heisst in ihm weiter: „Da der heilige Vater
entschlossen ist die Berner mit sich nach Italien zu nehmen, muss,
indem die Zeit drängt und sie einen Monat zur Rüstung gebraueben,
ihnen sofort geschrieben werden, wenn es nicht überhaupt vorzuziehen
ist, die Mannschaft nur aus und in Italien anzuwerben. Alberto da
Carpi und Micheletto di Piemonte, die man ohnedies nicht zwingen
muss um ihres Unterhaltes willen wieder zum Feinde überzugehen,
würden die erforderliche Anzahl von Truppen stellen können. Die
12.000 Ducaten welche bereit gehalten werden müssen, sollen auf
die herzoglichen Kleinodien aufgenommen werden. Auch die Her-
zoginn von Mailand soll durch eigenhändiges Schreiben ihres Vaters
gebeten werden, in Mailand Geld aufzutreiben." Amadeus billigte
diese Beschlüsse mit Ausnahme dreier Puncte: die Berner wollte er
mit sich führen, ebenso den Adel Savoyens und der Stadt Waadt,
den Fremden wollte er aber keine Soldzahlungen bewilligen. Und auf
die Anfrage der Räthe hinsichtlich dieser Puncte bestimmte schliess-
lich der Cardinallegat, dass er von Bern die von dem Berner Abge-
ordneten bewilligte Mannschaft mitnehmen wolle, dass sie sich bis
zum 10. September in Ivrea einfinden solle, wohin er sich selbst
zunächst begeben werde, und dass von den Edelleuten ihn so viele
als möglich begleiten sollen.
Kehren wir zu Mailand zurück, wo unterdessen die Gewaltherr-
schaft von Appiano und Ossona, nachdem sie sich sechs Monate be-
hauptet, gestürzt worden war. Der alles Einflusses beraubte Adel,
namentlich der ghibellinische, hatte sich endlich ermannt und am
1. Juli die Wiederherstellung des Regiments von 1447 mit zwei-
monatlichen Wahlen durchgesetzt. Appiano und Ossona wanderten
in den Kerker. Die Chronisten bezeichnen, ich weiss nicht ob mit
Recht, die neuen Capitanei als Sforza's Sache zugethan, jedenfalls
wagten sie aber nicht ihre Hinneigung zu ihm an den Tag zu legen
und beauftragten nur den seit Jänner in Venedig befindlichen Henrico
Panigaroia lebhafter in die Signoria zu dringen, dass sie zum Ab-
schluss eines Friedens die Hand biete.
Um dieselbe Zeit erschien in Mailand zum dritten Mal
eine kaiserliche Gesandtschaft: Aeneas Sylvius und Härtung von
256 S i c k e I.
Cappel1)- Da gerade in den Alpenthälern seit dem Einfalle der Schwei-
zer der Krieg wüthete, gelangten sie nur mit Mühe nachComo und fan-
den dann wieder neue Schwierigkeiten, durch die von Sforza besetzte
Landschaft nach der Hauptstadt zu kommen. Aeneas der uns selbst
von dieser Gesandtschaft berichtet, scheint die Stellung der Parteien,
wie er sie jetzt vorfand, nicht recht verstanden zu haben. „Das Re-
giment, sagt er, war wieder in die Hände des Adels übergegangen,
was dem Grafen zu Statten kam, denn die welche nach kaiserlicher
Herrschaft trachteten, waren in das Gefängniss geworfen". Daraus
aber allein, dass die damaligen Capitane des Kaisers Anträge zurück-
wiesen, geht weder als nothwendige Folgerung hervor, dass sie zu
Sforza hinneigten, noch anderseits, dass die eben gestürzte Partei
den Kaiser hätte anerkennen wollen. Appiano und Ossona, die jetzt im
Kerker schmachteten und nun von ihm als Freunde kaiserlichen Regi-
ments bezeichnet wurden, waren ja nach Sylvius' eigener vorherge-
hender Erzählung daran Schuld , dass die zweite Gesandtschaft
Friedrich's an die Mailänder am Anfange des Jahres nichts ausgerichtet
hatte. Es gab in Mailand überhaupt keine kaiserlieh gesinnte Partei,
höchstens Agitatoren welche, wie Gonzaga, die Anwesenheit der Ora-
toren benutzen wollten, um zur Durchsetzung ihrer Pläne Unruhe und
Aufstände hervorzurufen. Und auch als Nothbehelf in der Bedrängniss
war bei der herrschenden Stimmung eine scheinbare Unterwerfung
unter das Reich nur denkbar, wenn den Mailändern ihre Forderungen
und zugleich wirksame Hilfe hätten zugestanden werden können. Jenes
wiesen die Gesandten zurück, über diese konnte das Volk sich auch
nach Sylvius' schönen und übertriebenen Verheissungen nicht täuschen.
Allerdings kamen die Unterhändler der Republik jetzt in ihren Anträ-
gen dem Kaiser mehr entgegen, als zwei Jahre zuvor, aber immer
nicht genug, als dass die Gesandten auf dieselben hätten eingehen
können. So reisten des Kaisers Botschafter nochmals unverrichteter
Dinge ab, fanden auch bei Sforza den sie im Lager besuchten, jetzt
gesteigerte Ansprüche und trafen Ende August wieder am kaiserlichen
Hofe in St. Veit ein *).
Unterdessen hatten sich die Capitane der Ambrosianischen Re-
publik am 29. Juli noch einmal in ihrer Noth an Herzog Louis von
*) Aeneas Sylvius, hist. Frid. p. 147.
2) Chmel's Regesta Friderici.
Die Ainluosianische Republik und das Haus Savoyen. 257
Savoyen gewandt mit folgendem Schreiben1): „Durchlauchtigster
Fürst. Obschon wir eure Ermahnungen von besonderer Theilnahme
und Freundschaft eingegeben wissen, können wir sie nicht mehr an-
gemessen finden. Wir haben unsere Freiheit zu vertheidigcn keine
Mühe, kein Opfer gescheut, wir haben unzählige Niederlagen, Brand
und Verwüstung unserer Äcker, Verheerung unseres Landes, Belage-
rungen und alles Leid muthig ertragen. Aber unsere Mitbürger und
unser Volk waren -bei allen Opfern durch die Hoffnung auf Hilfe von
eurer Herrlichkeit aufrecht erhalten. Sie lebten in festern Vertrauen
auf die Versprechungen, Verpflichtungen und Ermutigungen eurer
Briefe und Botschaften. Doch die Zeit ist verstrichen und die Hilfe
nicht gekommen. Wiil also eure Herrlichkeit den Muth dieses Volkes
noch aufrecht und sie in Hoffnung erhalten, so gilt es ohne allen Verzug-
Beistand zu leisten nicht mit Worten, sondern mit Thaten. Der Verzug
hat uns vernichtet. Allzu feindselig verwendet der Graf, unser gemein-
samer Gegner, unser Getreide zum Unterhalt der seinen, verhindert
uns auszusäen, was Alles nicht geschehen wäre, wenn wir zeitig unter-
stützt worden wären. Unsere Noth wird jetzt noch zunehmen, wenn
wir bei weiterem Ausbleiben der Hilfe weder Weinlese halten noch
die Äcker für das nächste Jahr bestellen können. Aus Mitleid mit
unserer Lage möge uns also eure Herrlichkeit die immer verspro-
chene Hilfe senden. Die Ehre des Hauses Savoyen steht dabei auf
dem Spiel. Und eure Herrlichkeit möge nicht vergessen, dass wir
nicht allein in Gefahr schweben, sondern auch ihre Länder gleiches
Loos erwartet, wenn wir unterliegen."
Vergebliches Bitten. Auch das neueste mit Alfons zu Mailands
Befreiung abgeschlossene Bündniss blieb unausgeführt. Der Herzog
war nicht im Stande der Bepublik zu helfen, und seines Vaters Ge-
bot Frieden zu halten befolgte er um so williger, als sein eigener
Math und seine Eroberungslust vor den Schwierigkeiten die sich
entgegenstellten , zu Schanden geworden waren.
Der Stadt welche sich um dieselbe Zeit auch an Alfons und
den Papst vergeblich gewandt hatte , sollte von anderer Seite wenig-
stens auf einige Zeit Hilfe kommen. Sforza allerdings, den wir zu-
letzt im Juli in die Gegend von Lodi zurückkehren sahen, hatte
auch dort Fortschritte gemacht, Pizzighetone, Melzi und Vimercato
x) Recueil de lettres etc. LVI.
Sitzli. d. phil.-hist. Ol. XX. Bd. I. Hfl. 17
258 Sickel.
eingenommen und belagerte dann Cassano an der Adda, obgleich in
seinem Heere Krankheiten wütheten und auch ihm das Geld, seine
Truppen zu besolden, mangelte. Günstiger noch gestaltete sich seine
Lage durch Gonzaga's Übergang.
Als nämlich am 1. September neue Capitane in Mailand zu wählen
waren, gewannen wieder die guelfische und die Volkspartei die Ober-
hand, selbst Appiano und Ossona wurden befreit und sassen nochmals
im Rathe. Diese Umwälzung und die gleich wieder beginnende Ver-
folgung der gestürzten Ghibellioen bestimmten Gonzaga, der an der
Sache der Republik verzweifelte, seinen Frieden mit Sforza zu
machen *). Am 11. September ging er in des Grafen Lager über und
überlieferte ihm Lodi und Crema. Dass Sforza letztere Stadt vertrags-
mässig an Venedig abtrat, trug vermuthlich mit dazu bei, die dortige
Signoria zum Frieden geneigt zu machen. Ich habe an anderm Orte 3)
erzählt, wie sich dort allmählich ein Umschwung in der Stimmung
vorbereitet hatte, wie trotz Sforza' s Einrede zwischen den beiden Re-
publiken unterhandelt worden war, wie indem Augenblick dergrössten
Gefahr Mailand durch den Vertrag vom 24. September gerettet wurde.
An demselben Tage, an welchem dem Mailänder Volke von der Frei-
treppe des Palastes herab die frohe Friedensbotschaft verkündet
wurde, am 30. September, schrieben die Capitane an den Herzog von
Savoyen folgenden Brief3): „Durchlauchtigster Fürst und Herr, den
wir wie einen Vater ehren. Da wir den Antheil kennen, den ihr an
allem was unsrer Stadt Gutes und Böses widerfährt, nehmt, so thun
wir euch kund, dass die Venetianer uns auf Betrieb Panigarola's den
Frieden anbieten. Er schreibt uns, dass er die Signoria endlich be-
reit findet, mit uns und mit Einschluss des Grafen Francesco eine
Ligue zu machen." (Folgen die von Venedig zuerst vorgeschlagenen
Territorialbestimmungen, ziemlich gleichlautend mit denen im Doc. IX
meiner früheren Abhandlung 1. c.) „So hart diese Bedingungen sind,
können wir sie jetzt nicht verwerfen, da die uns versprochene Hilfe
1 ) Mandatum Francesei de la Capra procuratoris in capitulis cum M. Carlo Gonzago,
Laude 2. September 1449 im Mailänder Arch. di S. Fedele, Trattati.
~) In meiner Abhandlung- im Archiv für Kunde österr. Geschichtsquellen. Ich habe
zu den dortigen Angaben nur hinzuzufügen, dass nach gleichzeitiger Copie in den
Comniemoriali des Arch. ai Frari , die von Sforza nicht anerkannte Ratification
seines Bündnisses mit Venedig und Mailand am 12. October 1449 erfolgt war.
3) Recueil de lettres etc. Nr. LV.
Die Ambrosianiscbe Republik und <l;is Haus Savoyen. Cö>)
ausbleibt, da Verrath unter uns auftaucht und uns schon Pizzighetone,
Lodi, Crema hat verlieren lassen. Unser Feind lagert mit aller Macht
tausend Schritte vor der Stadt und berennt täglich die Vorstädte.
Unser Volk ist allen Schrecken der Noth ausgesetzt. Wir wissen
noch nicht, ob dieser von Venedig vorgeschlagene Friede von un-
serm Gegner angenommen werden wird, aber wir glauben eurer
Herrlichkeit davon Kenntnis« geben zu müssen, damit sie sich danach
richten und bestimmen könne, ob wir sie in den Vertrag mit auf-
nehmen sollen" II. s. w.
Auch dieser Brief bestätigt, dass die Republik von S. Marco
mit dem Vertrage vom 24. September einen auch Sforza mit um-
fassenden Frieden abschliessen, die näheren Gebietsbestimmungen
aber erst mit diesem vereinbaren wollte und dass sie sich mit der
Ambrosianischen gegen Sforza erst verbündete , als dieser die ihm
gebotenen Bedingungen hartnäckig zurückwies. Er bestätigt endlieh
auch, dass es die Signoria auf einen allgemeinen Italischen Frieden
abgesehen hatte, wie ihre Abgeordneten dem Grafen eröffneten1)
Mailand betrachtete also den Herzog von Savoyen noch immer als
Verbündeten und gedachte ihn in den Friedensvertrag mit einzube-
greifen, während in Turin die einstige Allianz vergessen war, sobald
sie keine Aussicht mehr auf Eroberung und Erweiterung der Macht
eröffnete. Im Herbst war Amadeus wirklich über die Alpen nach
Piemont gekommen; wie er einst zwischen fremden Fürsten und
Staaten als Vermittler aufgetreten war, wollte er jetzt in den Sohn
dringen, Frieden zu schliessen3). Zu Feindseligkeiten war es bei der
gänzlichen Auflösung des piemontesischen Heeres schon seit langer
Zeit nicht mehr gekommen, im October wurde nun auch ein Waffen-
stillstand zwischen dem Herzog und Grafen ratificirt s). Alberto da
Carpi und der Bischof von Novara, dem Sforza in Melegnano am
4. November Vollmacht ertheilt hatte, arbeiteten seitdem eifrig an
dem Friedenswerke. Ungeduldig nach der Waadt zurückzukehren
beschleunigte auch Amadeus nach Kräften den Abschluss, mehr auf
den Frieden selbst bedacht, als auf die Verbindlichkeiten gegen
*) Doe. XV in meiner Abhandlung' I. c.
'-) Epit. hist. Machanaei in Mon. bist, patriae vol. 1 775.
3) Doc. XV1I1, XIX, XX in meiner Abhandlung I. c. Fälschlich vermuthete ich früher
in dem Datum der letzten Numer: Z7. December 1450 einen Schreibfehler; es ist
1450 more italico zu verstehen.
17*
200 S i c k e I. Die Ambiosianische Republik und das Haus Savoyen.
Mailand, welche sein Sohn durch einen von ihm nie anerkannten
Bund übernommen hatte. Am 27. December 1449 wurde der Friede
Yon den Bevollmächtigten unterzeichnet und wenige Wochen darauf
von beiden Fürsten ratificirt. Die Grenze zwischen beiden Gebieten
blieb nach diesem Vertrage die welche bei dem Tode des letzten
Visconti bestanden hatte, so dass die Erledigung des Mailänder Herzog-
thums Savoyen keinen Gewinn gebracht hatte. Dagegen musste Herzog
Louis das Bündniss mit der Ambrosianischen Republik opfern, dem
Grafen guten wahren Frieden zusagen, versprechen den Gegnern
seines neuen Bundesgenossen auf keine Weise Vorschub noch Hilfe
zu leisten und ruhig zusehen, dass Mailand nach langem verzweifelten
Kampfe sich doch endlich unter das Scepter Sforza's beugte.
Verzeichnis.* der eingegangenen Druckschriften. ^G 1
VERZEICIIIVISS
DER
EINGEGANGENEN DRUCKSCHRIFTEN.
MÄRZ.
Sluftria, 23o$cnfdjrift für 9JoIfg»trt$fd)aft unb ©tattfltf. Sa^rg. 8.
Nr. 1 — 12.
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— Description du musee lapidaire de la ville de Lyon. Lyon
1846 — 54; 4«-
granfl, Subto. 3t., 9lad) bei* ßerftörung. ^eurätfdje (Siegten. Sttfytbv&i*
fd)er SRa^btlbung t>on ©r. 9». Se ttert§. SEBtcn 1850; 12°-
|y r i e § , Sftarttn, Slnleftung jutn Sabafiftau unb bte Fermentation be§
ZabaU. Stuttgart 1856; S°-
Froriep, St., ©fc Rettung ber (Sretfnen. Sern 1856; 8°-
Greifs wald, Universitäts-Schriften aus dem Jahre 1855.
Grunert, Archiv der Physik etc. Tbl. 26, Nr. 1.
Guggenbühl, J., Raccolta di relazioni, lettere ed articoli diversi
ect. concernenti lo stabilimento delT Abendberg ect. per la cura
e l'educazione dei Fanciulli crelini. Genova 1854; 80,
— Die Heilung und Verhütung des Cretinismus und ihre neuesten
Fortschritte. Bern 1853; 4»-
Istituto, I. R. Lombardo di scienze, Giornale Nr. 43, 44.
— I. R. Veneto, Memorie. Vol. 5.
— Atti delle Adunanze, Serie III, T. 1 — 3, Append. 1, 2.
Itzigsohn, Armin, De fabrica sporae Mougeotiae genuflexae. Neu-
dam 1856; So-
Jahrbuch, Neues, der Pharmacie etc. Bd. IV, Nr. 5, 6.
Kopp, Geschichtsblätter aus der Schweiz. Bd. II, Heft 3.
SNaga&tn, StfeneS, lauft&tfd)e8, 33b. 32, £efti— 4.
Marignac, C, Recherches sur les formes cristallines de quelques
composes chimiques. Geneve 1855; 40,
Mignard, Dicouverte d' une ville Gallo -Romaine dite Laudunum.
Paris 1854; 4°-
eingegangenen Druckschriften. 2ß3
Mittheilungen der k. k. Centralcommission zur Erforschung und
Erhaltung der Baudenkmale. Jahrg. I, Nr. 1—5.
Nachrichten, astronomische, 1009 — 1014.
Reichsanstalt, k. k. geologische, Jahrbuch. Bd. VI, Nr. 3.
Scoutetten, Une visite a 1* Abendberg. 2. ed. Bern 1856; So-
Society, Linnean, Transactions. Vol. 21, p. 4.
— Proceedings Nr. 66.
25 er ein, tytftortfdjer, für SifeberiJAtent, SBerl&anblungen. 23b. IV, £eft 3.
Verein, siebenbürg., für Naturwissenschaften zu Hermannstadt.
Verhandlungen, Bd. VI.
Vi e rtel j ah rs -Seh rift für wissenschaftliche Veterinärkunde. Bd.
VII, Heft 1.
Weitenweber, Willi., Denkrede auf Prof. Frz. Ad. Petrina.
Prag 1856; 4°-
Zerrenn er, Karl, Die Anwendung der Gasfeuerung beim Glas-
hüttenbetriebe zu Tscheitsch in Mähren. Wien 1856 ; 80,
Berichtigung.
Im Verzeichnisse für den Monat December vorigen Jahres ist zu lesen :
Slfcfcfcad), Sofeplj, ©efdjicfcte jfcu'fer (©igmunbS. 33 t er Sänbe. Hamburg
1838 — 1845; 8°-
statt :
Stfdjbadj, %o)epi), ©efdjidjtc Äaifer ©igntunbS. 2)vei SÖcmbe. Hamburg
1838 — 1841; 8°-
SITZUNGSBERICHTE
DER
KAISERLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE CL ASSE.
XX. BAND. IL HEFT.
JAHRGANG 1856. — APRIL.
18
267
SITZUNG VOM 9. APRIL 1856.
Vorgelegt :
Beiträge zur Staatsgeschichte Österreichs aus dem G. W.
von Leibnix sehen Nachlasse in Hannover.
Von Dr. Eniil F. Roessler in Göttingen.
Als ich vor einigen Monaten unter den Handschriften der königl.
Bibliothek zu Göttingen einen nicht unbedeutenden Vorrath bisher
unbekannter Leibniz^eher Schriften aufgefunden hatte, ward mir
auch durch eine besondere Vergünstigung des königl. hannoverschen
Ministeriums eine genauere Durchsicht des Nachlasses Leibnizens
auf der königl. Bibliothek zu Hannover gestattet.
Schon im Vorhinein konnte ich eine Ausbeute erwarten, da nur
ein Theil dieses umfangreichen literarischen Schatzes vollkommen
durchgeordnet und verzeichnet ist. Aus der Beihe verschiedener
wichtiger, bisher unbekannten Arbeiten Leibniz's, welche ich als
ein freudiges Ergebniss dieser Durchforschung der nachgelassenen
Handschriften betrachten kann, will ich hier Einer hohen kaiserlichen
Akademie nur von einer, für die Geschichte Österreichs wichtigen,
fast planmassig von dem grossen Manne angelegten Sammlung über
die Zustände und Verhältnisse Österreichs im Anfange des XVIII. Jahr-
hunderts berichten, und diese einer besonderen Fürsorge empfehlen.
Die sie bildenden Actenstücke sind die Frucht seines mehrmali-
gen Aufenthaltes in Wien und einer eingehenden Beschäftigung mit
den österreichischen Zuständen ; besonders stehen sie in Verbindung
mit seiner letzten Anwesenheit in den Jahren 1712 — 1714, worüber
18"
äOÖ Roessler.
jüngsthin ein hochverehrtes Mitglied der kaiserlichen Akademie durch
mehrere treffliche Abhandlungen ein neues Licht verbreitet hat.
Seit jenen Jahren trat Leibniz mit dem kaiserlichen Hofe in eine
nähere Verbindung; er genoss das Vertrauen der einflussreichsten
Staatsmänner , und auch nach seiner Abreise von Wien bis an seinen
Tod hielt er die Hoffnung fest, nach Österreich berufen zu werden
und in eine Wirksamkeit zu kommen, welche er als Lohn seines reichen
Lebens und als eine Anerkennung seiner hohen Verdienste ansehen
konnte; darum wurde auch unablässig die Correspondenz mit Wien
unterhalten und jene Materialien vervollständigt.
Überblicke ich diese reichen neuen Quellen zur österreichischen
Geschichte, welche fast sämmtlich eigenhändig von Leibniz geschrie-
ben sind, so kann man diese vollen Früchte des Geistes und Strebens
des grössten Mannes seiner Zeit nicht allein als willkommene neue
Zeugnisse seiner Wirksamkeit betrachten, sondern sie verdienen als
Monumenta Austriaca in eminentem Sinne eine besondere Wür-
digung. Eine bisher nur wenig bekannte Seite seines folgenreichen
Wirkens tritt hier vollkommen klar und bestimmt zum ersten Male in
den Vordergrund. Der Name dieses grossen Genius ist durch diese
Denkmäler für alle Zeit mit der Geschichte der geistigen Cultur
Österreichs verwebt ; von einem grossartigen Gesichtspuncte aus
sieht er die Zukunft des österreichischen Hauses und Staates voraus,
mit seinem nie getrübten echten Patriotismus knüpft er die Hoffnungen
der deutschen Nation an die Kräftigung und Erstarkung der inneren
und öffentlichen Verhältnisse Österreichs. Wir treffen auf Aussprüche
einzelner, für seine Zeit oft zu kühner Ideen der Neugestaltung, auf
fruchtbare Keime der Entwicklung, welche wir erst in unseren Tagen
zur Reife gelangt sehen. Wenngleich die Denkschriften und Arbeiten
über die Zustände des Reiches und der österreichischen Erblande den
Mittelpunct des neuen geschichtlichen Stoffes ausmachen, so muss
dieser nicht minder durch den Briefwechsel und andere Actenstücke
welche jene Arbeiten vorbereiten, ergänzt werden.
In dieser Weise kann ich nach einer vorläufigen Kritik einen
Überblick des mir zu Gebote stehenden Materials in folgender Weise
geben :
1. Eine Reihe von Schreiben und Eingaben Leibnizens an den
Kaiser und dessen Staatsminister über seine Stellung am Hofe in
ausführlichen Concepten und Entwürfen.
Beiträge zur Staatsgesehichte Österreichs etc. 269
2. Briefe und Berichte desselben an den kurhannover'schen
und Braunschweig- Wolfenbüttel'schen Hof über die Zustände in Wien.
3. Seine Correspondenz mit den bedeutendsten Staatsmännern
und Gelehrten Österreichs. Dieser umfangreiche Theil des Leib-
niz'schen Nachlasses ist ein fast völlig unbekannter Vorrath von
Briefen des Prinzen Eugen von Savoyen , des Fürsten von Lichten-
stein, der Grafen Bonneval, Harrach, Sinzendorf, Seilern, Jörger,
Schlick u. s. w. Fast den meisten der Briefe ist das Concept der Ant-
worten auch beigelegt.
4. Denkschriften und Promemoria über die Zustände Deutsch-
lands, welche Leibniz zum Theil im Auftrage des Kaisers über die
politischen Tagesfragen für die verschiedenartigen Zwecke arbeitete.
Diese höchst bedeutenden staatsrechtlichen Ausführungen sind
durch die grossartigen Anschauungen der politischen Zustände des
Beiches und der Erblande von grösstem allgemeinen Interesse und
werfen auf mehrere noch dunkle Puncie der Zeitgeschichte ein neues
Licht.
5. Entwürfe und Vorschläge über die einzelnen Angelegenheiten
und Verhältnisse der Erblande und des Beiches. In dieser Beihe von
Actenstücken lassen sich viele eigenhändige längere und kürzere
Aufsätze aufnehmen, welche sich mit den verschiedenartigen Proble-
men des damaligen geistigen und materiellen Lebens beschäftigen.
Hieher zählt der bereits bekannte Plan der Gründung einer kaiser-
lichen Akademie der Wissenschaften in Wien; doch neben diesen
noch eine Anzahl anderer Projecte über mannigfaltige cammerali-
stische Gegenstände. Am lehrreichsten sind die Vorschläge zur
Hebung der gesammten materiellen Verhältnisse des Staates, die
Beurtheilung einzelner Finanzmassregeln, Vorschläge einer zweckmäs-
sigen Besteuerung, einer Verbesserung der Kriegs -Verfassung, Gedan-
ken über die Änderung der Urbarial -Verhältnisse, Aufhebung der
Frohnen und Leibeigenschaft. Allerorts sind auch statistische Angaben
des bisherigen Zustandes hinzugefügt, so dass dadurch diese Stücke
eine sehr willkommene und neue Quelle zur Kenntniss der damaligen
Landeszustände werden. Neben Plänen welche auf grossartige Um-
staltungen der inneren Verhältnisse absehen, finden wir den wunder-
bar organisirenden schöpferischen Geist der mit seiner eminenten
Universalität auch anscheinend minder wichtige Fragen des indu-
striellen Lebens beachtete, auch mit Projecten, wie z. B. über eine
270 • Roessler.
neue Art der Beleuchtung Wiens , über die Anlegung von Kornmaga-
zinen, über die Einführung neuer Färbestoffe, über die Einrichtung
von Werk- und Arbeitshäusern in Österreich beschäftigt, und keine
Seite welche die Hebung des geistigen Lebens und der Wissenschaft,
die Pflege und Aufklärung der Geschichte des Hauses und Reiches
betrifft, Hess er unbeachtet; wir finden Vorschläge eines Collegii
historici, einer Ausgabe der Chroniken, der Anlegung eines Haus-
archives u. s. w.
6. Unter dem Namen „Wiener Personalien " vereinigte ich ein-
zelne kleinere handschriftliche Bemerkungen über die bedeutenderen
Persönlichkeiten Wiens. Diese kurzen Schilderungen voll Frische und
Lebendigkeit gewähren uns ein lebenstreues Bild des damaligen
Wiener Verkehrs.
7. Actenstücke, Berichte und andere Mittheilungen, von dem
Kaiser und den Ministern als Materiale für die ihm übertragenen Aus-
arbeitungen an Leibniz übergeben.
8. Die wöchentlichen Belationen des kurhannover'schen Ge-
sandten in Wien durch eine Reihe von Jahren, welche sich Leibniz
zur Information über die Verhältnisse des Hofes verschaffen konnte.
Nur so und im Allgemeinen kann ich vorläufig auf den Vorrath
von Geschichtsquellen über die Staats geschichte Öster-
reichs in den ersten Decennien des XVIII. Jahr hu nd er ts,
welche mir zur Benützung überlassen sind, und welche ich bereits
zu bearbeiten begonnen habe, berichten.
Die Zeit welcher diese Actenstücke ihren Ursprung verdanken,
ist eine Periode der Neugestaltung Österreichs nach schweren äus-
seren und inneren Kämpfen. Kaiser Karl VI. und dessen Minister
sahen in Leibniz den erfahrenen gereiften Staatsmann, dem sie fast
alle Fragen der neuen Organisation und der Feststellung der Politik
nach Aussen vorlegten. Mit einer seltenen und überraschenden Liebe
wendete er sich diesen Fragen zu, in der Hoffnung, nun in grössere
Verhältnisse des Staatslebens eingreifen zu können.
(Aus dem reichen Materiale wählen wir hier auf den Bath eini-
ger Freunde drei Stücke aus, um den Charakter jener Stoffe erken-
nen zu lassen. Vor Allem eine der ersten Eingaben Leibnizens an den
Kaiser, welche als eine Selbstschilderung seines thatenreichen
Lebens — er war schon in das 67. Jahr getreten — ein besonderes
Interesse gewährt, und eine zweite in der er dem Kaiser verschiedene
Beiträge zur Staatsgeschichte Österreichs etc. 271
Vorschläge macht und ober seine Anstellung am kaiserlichen Hofe
als Reichshofrath spricht, die dritte handelt von dem Reichskriege
gegen Frankreich).
I. Leibniz an Kaiser Karl VI.
(Januar 1713.)
Schilderung seines bisherigen Lebens,— seine Studien, — Aufenthalt in Mainz, —
Leben und Wirken in Hannover, — Leistungen im Gebiete der Geschichte, —
Bergwerkssachen, Analysis infiniti, — Societät der Wissenschaften in Berlin, —
Vertheidigung der christlichen Religion, — Theodicee, — Unionsbestrebungen, —
Correspondenz mit den Jesuiten in China, — neue politische Memoires, — Beur-
theilung einer neuen Machina astronomica, — kurze Notizen über verschiedene
Projecte welche noch weiter ausgeführt werden sollten.
Es hat der Zustand meines halses, der mir fast das reden ver-
bothen, nicht zugelassen, dass ich ehe umb die allergnädigste Audienz
ansuchen dürffen, die ich doch so lange gewünschet habe, und umb
deren willen ich bey dieser Jahreszeit eine grosse reise übernommen.
Und erfreue mich von herzen, dass ich noch endtlich das glück erle-
bet, einem hohen potentaten auffzuwarten, bey dem macht liecht und
güthe mit gleichen schritten gehen, zu dessen dienste ich alle arbeit,
die ich zeit meines lebens gethan, zu wiedmen verlange.
Damit nun E. Kayserl. Mayt. besser nachricht von meinen prae-
stitis und praestandis haben möchten, so hab ich unlängst durch dero
leib Medicum Gar eil i etwas zu E. M. hohen banden überreichen las-
sen, darinn enthalten ein allerunlerthänigstes Memorial, meine wenige
Person betreffend, eine gewisse Schrifft, so ich auf vornehmer leute
in Holland begehr vor E. Mt. rechte aufgesetzet, und von Spanien
nicht wenig approbiret worden; eineFabulam moralemüber die gegen-
wartige Conjimcturen in England und Holland, die E. M. hof-Canzler
Graf von Seilern nach seinem Sinn gefunden. Und eine Epistel
die ein gelehrter Man von der Societät der Scienzen zu Berlin
geschrieben, darauss zu ersehen, dass man (mir) deren praesidium
aufgetragen, weil man dafür helt, dass ein und andres von mir
entdecket worden. Ein buch in folio , sub nomine Codicis juris
gentium, darinn ich viel wichtige unbekannt stuck in publicis,
darauff einige praetensiones illustres beruhen, der weit mit-
getheilet, wird E. M. oberst hofmeister F. von Lichtenstein
überliefert haben.
272 Roessler.
Und weil ich die fruchte aller meiner arbeiten E. Mt. zu con-
feriren geneigt, so kan nicht umbhin etwas davon zu berühren, damit
E. M. besser urtheilen können, ob und worinn ich Dero nüzlich seyn
möge.
Als ich bey gar früher Jugend das doctorat auff der Universität
erlanget und hernach reisen wollen, bin ich zu Maynz von dem Chur-
fiirsten zu Maynz, Johann Philipp von S c hö n b orn, in dienst behalten
worden, theils wegen eines Methodi juris, davon ihm ein büchlein
dediciret, theils weil ich damahls bereits in chymicis etwas gethan
gehabt, davon S. Churfstl. gnaden ein grosser liebhaber gewesen, und
haben sie mich zum Revisionsrath in einem tribunal gemacht, welches
anstatt der appellationen nach Speyer aufgericht, ungeacht ich evan-
gelischer Religion gewesen, ich habe alda mit einem hofrath an einer
gewissen emendatione juris prudentia arbeiten sollen, deren der Chur-
fürst als Erz-Canzler des reichs sich angenommen, die aber durch
seinen tod unterblieben, da ich dann meine reise fortgesetzt, in Frank-
reich mich auf Mathesin sehr geleget und durch neue sehr applaudirte
entdeckungen es dahin gebracht, dass ich nicht nur mitglied der
Königl. Academien in Frankreich und England worden, sondern man
mich auch mit einer ansehnlichen pension in Frankreich behalten wol-
len. Als mich Herzog Johann F riedr ich zu braunschweig der Kay-
serin Amalia Mt. sl. Vater in seine dienste beruffen und zu dero Hofrath
gemacht, daneben auch mir deroßibliothec zu beobachten aufgetragen.
Dessen Bruder und successor herzog Ernst Augustus Heinrich
Churfürst hat mich nicht allein bey diesen behalten, sondern hernach
auch zu geheimten Justizrath erkläret, von den gemeinen Canzley
laboribus dispensiret und mir Historiam et jura domus zu untersuchen
aufgetragen , worüber ich eine eigne reise nach Beyern und Italien
gethan und viel rare sachen nicht nur zu dienst des hauses Braun-
schweig, sondern auch des Kaysers und reichs zusammenbracht und
sind darüber sowohl meine 2 Volumina Codicis juris gentium als auch
2 volumina Accessionum Historicarum und 3 volumina Scriptorum
Brunsvicensium illustrantium in druck kommen. Ich habe inzwischen
auch gelegenheit gehabt der Bergwerkssachen zu untersuchen und in
Mathematischen entdeckungen fortgefahren; wie ich dann eine ganz
neue Analysin infiniti entdecket, dadurch finitae quantitates entdecket
werden, darüber ein vornehmer Französcher Marquis einen ganzen
commentarium gemacht und mir die ehre der inventionmit grossem lob
Beiträge zur Staatsg-eschichte Österreichs etc. Z i O
beygeleget, die Engländer auch sich deren cum elogio bedienet. Und
als der König in Preussen eine last bezeiget eine societät der wissen-
schafften zu stifften, habe ich einen Vorschlag gethan aus einem calen-
der privilegio und andern dergleichen den ersten fundum dazu zu
nehmen, so auch geschehen und ist mir das praesidium darüber auf-
getragen worden, zumahl da die gemahlin des jezigen Chörfürsten
zu Braunschweig Durchl. frau Schwester, eine fürstin von vortreffl.
Verstand, mich offt gern bey sich haben wollen, dass ich offt zu Ber-
lin seyn müssen.
Lud als ein gewisser berühmter Franssoss ßayle genant, dessen
diclionarium criticum und andere Schrifften sehr gelesen worden,
sich aus einem unlöbl. absehn bemühet, hin und wieder in seinen
Schrifften etwas gegen die christl. religion einzustreuen und sonder-
lich die lehre von der gerechtigkeit und güthe Gottes, libero arbitrio
und grafia divina anzugreifen, und gar der Manichaer alten lehre von
einem guthen und bösen principio aufwärmen wollen, habe ich auff
der Königin begehren unter dem nahmen Theodicee (das ist von
de-rgöttl. gerechtigkeit) ein werck herausgegeben, welches von vor-
nehmen Theologis, der dreyen Reichs-Beligionen, höchlich approbiret
worden. Ein jesuiter ist begriffen es in latein zu übersezen , ein
Evangelischer und verschiedene reformirte Theologi habens öffentlich
gerühmet.
Als auch der vorige sowohl als der iezige Bischoff zu Neustad
auff des glorwürdigsten Keysers Leopoldi anregung dahin sich beden-
ken wolte, wie eine mässigung der Religions-controversionen und der
daraus entstehenden Verbitterung getroffen werden möchte und zu
dem ende mit herzog Johann Fridrich, Churfüsten Ernst
August und des letzten churfürstl. Theologis conferiret, ist alles
durch meine Hand gangen und wird der noch lebende Bischoff Graf
zu Buchaim bezeigen, dass der primariat Theologus des orths alles
mit mir communiciret. Wie ich dann auch eine conferenz darüber mit
dem päbstl. nuntio nunmehr Cardinal Doria gehabt, der sich sehr ver-
gnügt darüber bezeiget.
Zugeschweigen meiner correspondentz mit denen jesuitern in
China, die mir verschiedene rare Sachen herausgeschickt ; wie ich
dann hingegen durch meine erfindung verursachet, dass die bedeutung
der urältesten Chinesischen zeichen, die die Chinesen schon zu Con-
futii zeiten nicht mehr verstanden, entdecket worden.
274 Roessler.
Aus diesem allen nun, weil ein mehreres anzuführen zu lang
fallen wolte, können E. M. am besten urtheilen, ob und worinn ich
etwa dienlich seyn köndte.
Die zeit alliier nicht so wenig als thunlich zu verlieren, als der
Reichs vice Canzler mir ein buch communieiret intituliret: Soupirs
de TEurope, gegen die heutige perniciosen Friedensconsilia, samt
einen spöttischen brief den ein franzos dagegen geschrieben, habe
ich in kürze, aber verhoffentlich bündige, antwort dagegen gemacht,
darinn sein unfug ihm in lachen gezeigt wird. Und stehet darum ob
ich es E. K. M. allerunterthsenigst praesentiren darff, samt einem
project einer vorrede so ich nach Spanien geschickt an den von
Imhoff, wenn mein büchlein pro juribus S. M.etwa in Spanische über-
setzt wieder herauskommen solte.
Ich habe die Machinam astronomicam gesehen und befinde, dass
der Autor, welcher ein discipul des P. Orbani , meines besondern
guthen freundes gewesen, überaus grossen fleiss angewendet und ver-
hoffentlich auch etwas guthes ausgerichtet. Sich dessen zu versichern,
müssen einige Excerpta aus seinen Ephemeribus gemacht, und an
diejenigen, die die ihrige per calculos und feder gemacht, mitgetheilt
werden, umb zu sehen, ob sie zusammentreffen. Im übrigen will ich
zu einer andern zeit melden , wie etwas viel leichters und doch weit
vollkommners zu machen, dadurch nicht allein die Ephemerides nach
den tafeln zu verfertigen, sondern die rechnung mit dem himmel
besser zu conferiren. Sonsten weil man ein congregation
(Das Nachfolgende sind nur unzusammenhängende
N otiz en.)
Wegen des Herzogen Anton Ulrich zu Wolfenbuttel Durchlaucht . . .
pise causa? stipendia .... ob sie wohl gebraucht.
Anatomie in Wachs von Paris — Frere jaques dass er jemand in-
formire ....
Instruction der maitres des requetes die in die Provinzen geschickt
worden.
Caroli IV diarium perpetuum aller Reihen, als burgundischer fran-
zösisch.
Wenn der Friede bey holland unvermeidlich, meint S. Durchlaucht
es stünde zu versuchen, ob dem Herzog von Savoyen Catalonien
anstatt Sicilien zu wege zu bringen damit die Catalonier nicht
ihren Feinden sacriticirt werden.
Beiträge zur Staatsgeschiehte Österreichs etc. 2/5
Wenn der Krieg fortzusetzen, auff mittel zu gedenken die den feind
unverhofft,
was der Czar gezeiget.
Anticapitulatio perpetua.
Grosse anständige privilegien für eultura scientiarum.
Gelder durch Leibrenten.
Arithmetica politica.
Caroli Mag. conjunetio Rheni & Danubii.
II. Leibniz an Kaiser Karl VI.
(1713.)
Sein Verhältniss zu den Staats-, Polizei- und Kriegssachen, — Staatstafeln,
— politica arithmetica, — Reichshofrathsstelle, — Gehalt. — Geschichte des
Kaisers, — Landesbeschreibungen. — Sociefset der Scienzen in Wien, — Einrich-
tung derselben, — Namen einzelner Gelehrten und Liebhaber der Wissenschaften
in den Erblanden, — Schreiben des Kaisers an den Kurfürsten von Braunschweig,
— Verhältniss zu dem Kaiser von Russland, — Friedens -Verhandlungen in
Berlin.
Hahe mich zuförderst in unterthänigkeit zu bedanken, dass E.
Kayserl. Mayt. den grund zu erfüllung meines Wunsches legen wol-
len, weicher darinn bestehet, dass ich als ein treuer patriot E. Mt.
als dem überhaupt des Vaterlandes mit denen fruchten meiner viel-
jährigen Meditationen und erfindungen die wenige übrige Zeit meines
lebens dienen möge.
Vielfeltige öffentliche Schrifften der gelehrtesten leüte in Europa
geben zeügniss, dass ich viel neues und wichtiges entdecket, circa
jura imperii, circa Historiam, in juris prudentia, in physica, in Mathesi.
Ich habe aber noch viele andere, so ich nicht bekand gemacht, betref-
fend Staats-, polizey- und kriegessachen; wie ein grosser potentat zu
einer gründlichen information des zustandes seiner lande und folglich
des Vermögens und der mängel gelangen, auch ein Breviarium seines
imperij in form von Tabellen vor sich haben könne; wie die Arith-
metica politica wohl anzubringen, dass man nicht nur die zahl, son-
dern auch nahrung und mittel überschlagen könne; wie die gesundheit,
erhaltung und nahrung der menschen besser zu besorgen ; vornehm-
lich aber wie die Schuldenlast förderlichst abzuwelzen und die finan-
zen auss der Unordnung zu bringen; auch durch neue inventa res
4it O Roessler.
militaris in andern stand zu sezen und ehe die sach gemein, die feinde
zu surprenniren.
E. K. Mt. haben selbst ein grosses liecht in allen dingen, Sie
haben aber leüte nöthig, die ihnen die arbeit erleichtern und die
materiell in kurze extracte und quintessenzen bringen, damit Sie alles
besser übersehen und sich entschliessen können. Und finden sie viel-
leicht offtmahls von denen selbst hinderniss die ihnen am besten an
band gehen solten , als welche änderungen und Verbesserungen nicht
geneigt, dadurch ihre labores gehäuffet, ihre Emolumente aber ver-
mindert würden, zumahl die wenigsten leüte sich gern die mühe geben
wollen, die dinge gründlich zu untersuchen. Weil ich aber von Jugend
auff unnothige gesellschaften und die meisten lustbarkeiten vermieden
und stets in laboribus et meditationibus begriffen gewesen und ohne
rühm zu melden grosse information von allen regierungssachen habe,
so hoffe ich E. Mt. nüzlich an band zu gehen und ihro die arbeit zu
erleichtern.
Weil nun E. M. zeit vor sie und das gemeine wesen kostbar
wegen der grossen und vielen geschaffte die dero obliegen, die mei-
nige zeit aber ich auch zu rathe halten muss, weil ich deren vermuth-
lich nicht viel übrig habe, E. Mt. auch vielleicht so wohl meinen
guthen willen als auch mein geringes vermögen, wo nicht in capaci-
tüt, doch in laboriosität und fleiss, aus den bisherigen gehabten alier-
gnädigsten Audienzen spühren können, so wäre es nun an dem, ob
bey dieser Audienz zu gewissen allergnädigsten resolution zu gelan-
gen und etwas festzustellen, damit ich gewisse mesuren nehmen und
meine Sachen darnach einrichten, auch förderlichst zu meinem zweck
gelangen könne: E. Mt. würckliche nüzliche Dienste zu leisten.
Zuförderst muss unterthänigst nachfragen, ob E. Mt. in gnaden
erlauben, dass ich directe et non per interpositas personas meine
Angelegenheit Dero antragen dürffe. Weil ich befunden, dass alles
langsam hehrgangen, wenn es durch mittels leüte geschehen sollen.
Man hat mir zwar einrathen wollen, ich solle mich mit dem bereits
erhaltenen aniezo vergnügen und damit wegziehen, hiernach
aber durch patronen und correspondenz das übrige ausszumachen
suchen. Alleine wo es E. Mt. gnädigst erlauben, so wünsche bey
meiner jetzigen gegenwart ein vor alle mahl die sach in solchen stand
zu sezen, dass ich anstalt zu meiner förderlichsten transplantation
machen könne.
Beiträge zur Staatsgeschichte Österreichs. 277
E. Mt. haben mir wegen der Reichshofrathsstelle bereits 2000 fl.
verwilliget1)" Und wenn ich gleich nicht alliier wäre, so würde ich
durch labores pro Historia et juribus imperii, so ich zu haus unter
banden habe, solche verhoffentlich verdienen. Der scienzien zu ge-
schweigen. Ein mehrers, fast 3000 fl. geniesse ich zu hause, also
wenn ich in meiner bisherigen ruhe verbliebe hätte ich fast 5000 fl.
daher kan nicht wohl mich hieher transplantiren , noch mit decoro
hier subsistiren, als wenn E. Mt. mir zuförderst besoldung in gnaden
verwilligeu wollen. Was ich habe, ausser der nothdurfft, wende ich
gemeiniglich auff studia, inventiones et experimenta, also in der that
ad bonum publicum et pias causas.
Damit ich aber auch alhäer meine zeit nüzlich zu E. Mt. dienst
brauche und alles ordentlich fassen möge; so bedüncket mich nöthig
zu seyn, dass ich einen gewissen zutritt bey E. Mt. hätte und etwa
wöchentlich einmahl wenigstens zu gewisser zeit erscheinen dürffe,
und S. Mt. Histori von Zeiten zu zeiten , wenn alles in frischem
gedächtniss, zu entwerffen hätte; zu welchem Ende E. Mt. mir die
Schrifften mittheilen und mittheilen lassen köndten . die zu solcher
arbeit dienlich wären.
Ueberdiess wäre nöthig, dass S. Mt. genaue beschreibungen dero
grossen lande inachen Hessen, massen wie dann dazu nüzliche vor-
schlage zu thun, wie nicht allein sonderliche art von Iand Charten,
(doch nicht pro publico) sondern auch andre richtige nachrichtung
zu haben, wozu die Instruction dienen kan, so einsmahls der könig in
Frankreich denen in die provinziell geschickten commissarien gege-
ben. Und hoffe ich bey dieser sach direction nüzlich zu seyn, weil
*) Am Rande findet von seiner Hand sich nachstehende Übersicht seiner Einnahmen:
1300 Besoldung
100 auf pferde
125 poslgeld
100 hausmiethe
175 holz und liecht
1800 rthlr. Hanover
400 „ Wolfenbiittel
600 - Berlin
2800 rthlr. oder 4200 fl. vorher
2000 „ Reichshofrath
2000 „ Czaar
8200 11. Summa
278 R o e s s 1 e v.
sowohl die polizey und finanzen , dass ist nahrungs- und Cameral
sachen, als auch die scienzen dadurch befördert würden.
Bey denen scienzen selbst hoffe ich auch nicht wenig zu E. K.
Mt. gusto zu contribuiren ; und köndte die sach nach denen mir be-
kandten Modellen der königl. Englischen, Französischen und Preussi-
schen Societäten (von welchen allen ich ein glied von der letzten
aber director bin) gefasset, das beste darauss genommen und vor-
handenes verbessert werden.
Solche Societät köndte dienen:
1. Die bissherige Wissenschaft der menschen so in büchern
vorhanden, zu concentriren.
2. Die Wissenschaften die bey den menschen vorhanden aber
nicht in bücher bracht, auch ad perpetuam rei memoriam in schrillten
zu fassen, durch beschreibung der künste, Handwercker und profes-
sionen, samt denen terminis artium.
3. Neue experimenta, observationes und entdeckung anzustellen.
4. Allerhand propositiones zu examiniren, damit E. M. die pro-
ponenten dahin weisen köndte, wie der könig in franckreich mit der
Academie des sciences zu thun pfleget.
5. Es köndten auch gewisse praemia inventoribus gesezet und
zu dem ende nüzliche problemata proponiret werden, cum praemio
vor die so sie leisten würden.
Den rechten grund aber dazu zu legen , wäre nöthig ein fundus
welcher von der Hof-Cammer nicht dependire, damit die progressus
studiorum den Cameral Difficultäten nicht unterworffen seyn möge:
Solches würde durch gewisse privilegia und andern dergleichen E.
Mt. unschädlichen Concessiones geschehen können. Ich habe bey der
königl. Preüssischen Societät den fundum der Calender vorgeschlagen,
so gleichwohl jährlich in allen landen 3 a 4000 überschuss thut,
würde in E. M. landen mehr als noch eins so hoch gehen; der wäre
pro observatorio et re Astronomica , mathematische instrumente und
dergleichen. Ein andrer fundus köndte kommen von vergleichung
maass und gewichts, samt der inspection darauff, damit K. M. und das
publicum sowohl als privati nicht vervorlheilet werden.
Ein fundus zu einem werckhause mechanischer inventionen und
Modellen köndte kommen von einrichtung der feuer sprüzen samt
einer behörigen feuerordnung in allen städten und flecken. Da dann
nüzliche anstalt zu machen, ohne übermässige kosten dazu zu gelangen.
Beiträge zur Slaatsgescliichte Österreichs etc. <t i t)
Zu physicis, medicis und einem Iaboratorio köndte dienen ein
perpetuum collegium sanitatis, so durch alle Erblande seine corre-
spondenz hätte und mit der societate scientiarum diessfals in grosser
connexion und communication stünde, und zu besserer bestreitung der
experimentorum und observationum köndte dienen , die dem werck
angehoffete inspection der armenhäuser und dazu gewidmeter funda-
tionen; auch privilegia vor olitäten und gebrandte wasser und der-
gleichen labores chymicos, insofern sie von den Apothekern selbst
nicht verrichtet werden. Es wäre auch vor die Cultur der teütschen
spräche zu sorgen, deswegen ich viel Untersuchung gethan und ein
grossen apparatum habe.
In genere köndte die societät der scienzen eine inspection haben
über die stipendia und andre fundationes, so zu aufnähme der studien
gemeynet, damit -er wohl angeleget und weitere ingenia angezogen
würden, die bey den scienciis nüzlich zu gebrauchen. Es wären auch
künfftig die geistlichen beneficia , die in E. Mt. collation stehen,
solchen leüten zu Zeiten zu verleihen, davon etwas ad progressus
scientiarum zu liotfen. Man köndte auch ausserlesene leüte von ver-
schiedenen orthen kommen lassen, wie mir dann unter den Jesuitern,
Dominikanern und andern, wackere leüte bewust, auch der P-
Augustin delle Scuole pie nicht zu verachten.
Es köndten auch membra honoraria seyn wie in Franckreich,
nehmlich vornehme praelaten und Cavallieri, und muss ich bekennen,
dass ich hier unter den Cavallieren mehr solide Wissenschaft gefun-
den, als bey denen, so profession von Erudition machen; allen gehet
zweifelsohne vor der Graf von Schlick; ich habe auch überaus
grosses vergnügen bey dem graf Jörg er gefunden, nicht weniger
bey dem graf von Sinzendorff, bey der Kayserin Amalia, zu
geschweigen des fürsten Anton von Liechtenstein, Graf von
Rapp ach, graf von Salm, und anderer die sich in chymicis delec-
tiren. In dem lande ist der graf von Her berstein, appellations rath
zu Prag, ein excellenter Mathematicus. Sonsten sind hier einige feine
leüte in studien, die hrn. Gareil i, vater und söhn, der hr. Da van-
za tisch bey dem hr. graf Stella, den ich sehr rühmen bohre. Der
Bibliothecarius Gentilotti, derArchitectus Fischer, dessen Sohn
sich wohl anlasset, der Antiquarius Heraeus, die landmesser Mari-
noni (Marignoni) und Müller. Es sollen auch guthe optici hier seyn.
Sonderlich wären leute nöthig, die den Wasserbau wohl verständen.
280 R o e s 8 1 e r.
Wenn nun diese meine künfftige objecta festgestellt so hätte
ich auff meine abreise zu gedencken und selbige zu beschleunigen,
damit ich desto ehe zurückkommen könne; solches zu befördern
würde ohnmaassgeblich ein handschreiben von E. K. Mt. an den Chur-
fürsten von Braunschweig nöthig seyn, daraus der Churfürst abneh-
men könne, dass meine subsistenz alliier nicht allein E. Mt. lieb
sey, sondern auch dem Churfürsten selbst zu dienst gereichen
köndte.
Gegen des Herzogs von Wolfenbüttel Durchlebt, hat der Czaar
von seiner negotiation mit E. Mt. gedacht und mündtlich bezeiget,
wie lieb ihm seyn würde, wenn S. D. dazu contribuiren köndte; Sie
haben mir darauff davon geschrieben und aufgetragen Dero guthe
officia ferner darinn anzubieten. Nun erinnere sich E. Mt. dass in
meinem von dem herzog überbrachten schreiben schohn bereits der-
gleichen enthalten und der Czaar den herzog deswegen ersuchet;
stünde also dahin, ob ich E. M. einen erspriesslichen dienst alliier
vor meiner abreise erweisen köndte, zumahl ich mit dem
familiär und derselbe weiss, dass der Czaar und der herzog confidenz
zu mir haben.
Jederman verlanget den frieden, ich auch, möchte aber dabey
wünschen, dass er mehr honorabel und sicher vor E. Mt. , das Reich
und ganz Europa seyn möchte. Und bin ich in gedancken , wo es
möglich wäre, Holland von einer unzeitigen Signatur abzuhalten, solte
man es an nichts erwinden lassen. Auff solchen fall solte ich glauben,
dass noch zeit wäre, bey dem könig in Preüssen etwas fruchtbarliches
auszurichten und vermittelst desselben und der bereits gewissen die
übrigen alle zur Leistung des contingents zu bringen. Ich bin mit dem
könig selbst und seiner gemahlin familiär. Und habe sonderlichen zutritt
bey dem ober praesident Dan keim ann allezeit gehabt, der sehr
wohl gesinnet. Vielleicht köndte auf solchen fall ich auch einen nach-
drücklichen handbrief von S. Mt. nach Berlin überbringen und viel-
leicht mehr aussrichten als eine kostbare Ambassade.
Beiträge zur Staatsgeschichte Österreichs etc. «oi
III. Leibniz an Kaiser Karl Tl.
(Im Frühjahre 1713.)
Die Fortsetzung des Reichskrieges gegen Frankreich, — politische Zustände im
Reich, — Stimmung der Reichsstände, — Vermehrung des Reichs-Contingents,
— Die Könige von Polen und Dänemark, — Verhältniss des Königs von Preussen
und des Kurfürsten von Braunschweig, — Mithilfe von England und Holland, —
Allianz mit Russland, — Kriegsnothdurft, — Geldmittel — directe und indirecte
Steuern, — Neue finanzielle Hilfsquellen, — Leibrenten, — Die Anschaffung von
Naturalien und Kriegsmaterialien, Getreide, dessen Zufuhr, Brandwein, Feld-
chirurgen und Apotheken, — Bekleidung und Munition der Soldaten, — Ordi-
nari, — Bereitschaft für den Krieg, — Extraordinaria, — Geheimnisse, —
Kriegslisten.
Die heroische Erschliessung kayserlicher Mt. den krieg mit
dem Reich gegen Franckreich fortzusezen, damit die Ehre
Teütscher Nation und die Wohlfahrt des Vaterlandes errettet werde, ist
höchlich zu lohen. Sie erfordert Muth und verstand in hohem grad.
Gott hat dem Kayser beides verliehen. Ein ieder getreuer wohlgesinn-
ter patriot soll das seinige beytragen nach dem er kan, bonis fortunae,
corporis, animi, das ist mit darschuss, mit der band, mit nachdenken;
ich kan meinen eifer am besten mit dem letzten zeigen; nachdem ich
von jugend auf in Staats-, Polizey- und kriegs-sachen, von vornehmen
Ministris und Generalen beygezogen worden. Mein guther wille wird,
wo nicht lob, doch entschuldigung verdienen.
Es ist aufs förderlichste alle das jenige zu veranstalten, was zu
einem so grossen vorhaben gegen einen so mächtigen und geschwin-
den feind von nöthen, so theils erfordert handlung mit andern, theils
bestehet in kayserl. Mt. eigner macht. Handlung mit andern geschieht
im Reich und mit den aussländern. Reym Reich ist gestalten sachen
nach wenig zu thun, als per potentiores, wollen diese den reichsschlüs-
sen genau nachkommen, und neue zulängliche Reichsconcluse befördern,
wird es an execution nicht fehlen. Das Reich s-contingent wäre a
triplo ad quadruplum zu erhöhen und noch dazu ein beständiger geld-
beytrag ausszuwerften. Die Könige zu Pohlen und Dennemark wegen
ihrer Reichslande, scheinen uns versichert, weilen Sie wohl sehen,
dass durch den allgemeinen frieden mit franckreich ihre Schwedische
Eroberung in gefahr sey, der König zu Preussen scheint wohl geneigt
und unschwehr zu gewinnen. Mir ist bekand sein sonderlicher Eifer
vor die Ehre des Vaterlandes Teütscher Nation. Das Chur- und fürstl.
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XX. Bd. II. Hft. -J9
282 R o e s 8 I e i.
haus Braunschweig wird sowohl dienliche reichsschlüsse befördern,
als sich denen so zu inachen, ein gniigen zu thun, so wenig küufftig
als bisshero entbrechen. Die noch übrige Churfürsten, das ist die
beyden geistl. mit Chur Pfalz werden gern beytreten zumahl wenn sie
den ernst sehen, Sie müssen sich sonst für verlohren achten.
Es wären auch noch einige puncte wegen Werbungen, Pferde-
handel, Münzwesen, Kornkauf und dergleichen im Reich festzustellen
und deswegen mit den potentioribus abrede zu nehmen, davon hernach.
Kayser Leopoldus hat sich hey wichtigen begebenheiten dieses
weges per potentiores glücklich bedient und bey seinem ersten krieg
mit Franckreich vermittelst Chur Brandenburg und des hauses Braun-
schweig, das Beicli zur ruptur bracht. Er hat sich auch zu Zeiten
dazu grosser fürsten und vornehmer herrn mit grossem nacbdruck
gebrauchet an die hofe zu gehen und alda die herren selbst zu gewin-
nen, den fürsten Johann Georg von Auhalt- Dessau, den Margra-
fen Hermann von Baden, den fürsten von Wal deck. Weil der
gleichen her ren ganz andern eingang haben als sonst abgesandte.
Dieses könclte aniezo zum Exempel dienen.
Aussländer mit denen noch etwas zu thun wären der Czar und
Holland. Mit England selbst wie übel es sich auch gehalten, wäre
nicht gänzlich abzubrechen, sondern ein schein von verständniss zu
erhalten. Denn in grosse geschaffte müssen die leidenschaften des
gemüths, als Rachgier, verdruss, ungedult nicht einfliessen. Und muss
man den König in Franckreich hierin zum Exempel nehmen. Fas est
et ab hoste doceri. Auss England und Holland können Privat-Per-
sonen auf annehmliche weise mit ansehnlichen geldsummen an band
gehen. Der Englische hof kan der Crone Franckreich ein und andres
beybringen , weil er sowohl die Nation als Hannover noch in etwas
feyern muss. In Holland sehen viele den bösen frieden nicht gern und
wer nicht umbgekaufft. wird dem Kayser und Beich alles guthes gön-
nen dürffen, also die Holländer nicht nur den Burgundischen Creiss.
sondern auch den Nieder- Rhein, wo nicht in allem doch grossen
theils verwahren und diessfalls hey Franckreich sorge tragen. Es ist
auf alle weise dahin zu trachten, dass Holland bey fürwehrenden frie-
den ziemlich armirt bleibe, denn so muss Franckreich auch aus Vor-
sorge mehr völeker gegen sie halten. Und bey etwa anständigen Ver-
änderungen können sie bald wieder beytreten. Damit Sie nun an
manschafft sich nicht zu viel enthlössen, können diese zwene gründe
Beiträge zur Staatsgeschichte Österreichs <■!<■. 283
dienen: dass sie in bereitschafft seyn, sich entgegen zu sezen, erst-
lich wenn Franckreich und das Englische Ministerium den praeten-
denten einführen wollen, so des Staats verderben wäre, vors andere,
wenn (da Gott vor sey) Franckreich gegen das Reich zu glücklich
seyn und alzu weit gehen solte.
Mit dem Czar köndte eine defensiv Allianz gemacht werden
gegen männiglich, doch also dass Sie gegen Orient nicht statt haben
solle, als biss der Czar mit der Pforte einen frieden oder langen still-
stand getroffen. Und weil er mit den Königen zu Pohlen und Dene-
marck in genauer Verbindung, diese aber dem Reich wegen restiren-
der Contingenzen verhafftet; köndten Sie vom Czar ein corpus über-
nehmen und dem Reichs-Commando untergeben, deme zum theil vom
Reich brodt verschaffet, das übrige von diesen beyden Cronen geleistet
würde. Diese aber hingegen im besitz der Schwedischen lande mit
leistung des Contingents vom Reich gelassen, biss Sie und das Reich
mit der Crone Schweden wegen der zugefügten schaden nach billig-
keit verglichen. Dem Czar köndte zugleich mit dem ceremonial
wie andern mächtigen Cronen, gefüget werden. Der Czar und die
beyden Könige werden sich aniezo vergnügen , wenn dieses alles mit
dem Kayser geschlossen wird, obschohn solche Puncta noch nicht
ans reich gebracht wurden, und kan es mit den königen und durch
Sie am besten auch beym Czaar zu werck gerichtet werden.
Ich komme nun auf das so kayserliche Mt. selbst vor sich zu
thun recht und vermögen haben. Zum krieg sind nöthig leüte, pferde,
geld, species (das ist naturalien oder artilicalien) und endtlich der
gebrauch. Die leute belangend, weil man der nicht wohl zu viel haben
kan, wäre so viel thunlich zu übernehmen, fremde oder sonst nicht
anständige Werbungen im Reich zu verhindern, was andere abdancken,
zu nehmen wo es zu erhalten,
wobey keine zeit zu versäumen. Vortrefliche generale, officiere, inge-
nieurs , wjeren bey zu ziehen. Rey den trouppen , sonderlich bey der
Artillerie die menge solcher handwercksleüte die dazu nüzlich, als
zimmer leüte, Schmiede, Wagner, Maurer, Müller, Racker, Brauer,
Rrandtwein-Rrenner. Pferde wären auch nach nothdurfft bey zeiten
aufzukauffen, wo es mit vortheil zu thun.
Geld ist zu erlangen durch Reytrag und Darlehn. Beytrag ist
zweyerley, Hülff und Erstattung, llülff deutlich und stillschweigend,
deutlich durch contribution und Licente. Unter dem nahmen der
19*
äS4 R o e s 8 I e r.
Contribution begreiffe Kopf- samt Vermögenssteuer, bufengelder,
Rauch- Zinss und was sonst auf liegende güther geschlagen wird,
auch was man von Einkommen, Besoldung und verdienst fordern
möchte. Wohin des Vaubans dixme gehohret.
Contribution giebt ieder en gros, aber Licente en detail und
nicht so mercklich , auch zum theil freywillig, sind also angenehmer,
doch die ungelegenheit dabey, dass Sie nach gemeiner weise alzu-
viel bedienten erfordern. Dagegen hat man an einigen orthen die
Licent nur auf wenig species, als körn- oder Mehlzinss oder tranck-
steüer geschlagen. Dadurch aber nur necessaria, nicht aber zugleich
commoda et superflua beschwehret worden, da doch diese am meisten
zu beschwehren. Es solte aber auch vielleicht zu diesem solche an-
stalt zu treffen seyn , dass viele bediente nicht nöthig. Sonderlich
aber wolte rathen, dass Brandtwein und taback hoch beschwehret,
doch den Soldaten ein gewisses frey passirt würde. Eine sonderliche
art der Licente sind die Loterien, da wird etwas auff der Leutelust
geschlagen, die Sie bey der hoffnuug des gewinns empfunden. Wäre
in kayserlichen Erblanden auch zu versuchen. Mit denen sind Tanz
und Spielgelder verwandt.
Erstattung wäre zweyerley von vergangenen und vom künff-
tigen. Erstattung des vergangenen köndte bey dieser hohen noth-
durfft von denen füglich gesucht werden können, so des publici unbillig
genossen. Hieher gehohren domania, zumahl non onerose alienata
peculatus und andre misshandlungen oder malversations, wobey aber
nicht auf Schwedisch sondern mit grosser aequanimität zu verfahren.
Hiemit wären verwand poenalia und andere Fiscalische Jura.
Zu Erstattung des künfftigen wäre vor die dinge zu fordern,
so man dein publico zum besten vornehmen wolte; dahin gehöret das
Assecurations Werck; darunter begriffen feuer-casse, anstalt zu Ver-
hütung der land-schäden, feuer und passgeld. Es ist auch solches
der Ursprung der Mauth, welche in sicherheil und Unterhaltung der
Strassen ihren Ursprung haben. Diese wäre bey den speciebus minus
necessariis auch zu erhöhen und da sonst etliche guthe anstalten pro
bono publico zu machen, konnte die Herrschaft etwas desswegen
fordern.
Es köndten auch privilegia gratiae, so theils in dignitate, rang,
titeln, ehrenzeichen bestünden, gegen geld. doch auf eine geziemende
anständige weise, überlassen werden.
Beiträge zur Staalsg'eschichte Österreichs etc. 4O0
Bisher deutliche hülfte: es wäre aber auch einig übrig eine
geheime unvermerkte hülfte, dadurch das publicum Millionen ohne
sonderbare beschwehrung der unterthanen erhalten konnte, bestünde
in einer ganz sonderbaren billigen und löblichen Münz-anstalt, so
Kavserl. Mai. nicht allein in ihren Erblanden vornehmen, sondern
auch mit den vornehmsten Reichsständen einrichten und zu einer all-
gemeinen Reichs sache machen köndten, welches ein eigen bedenken
verdient.
Darlehn wäre in und ausser landes zu suchen, aber beydes
gegen leidliche Zinsen. Innerhalb landes wäre mutuum theils voluii-
tarium, theils einigermassen necessarium, und dieses letztere köndte
einigen aufgebürdet werden, die aus vorhergehendem Capite der
Erstattung verhafftet beydes mutuum ist zweyerley, beständig und
vergehend oder ä fond perdu. Die beständigen zinsen solten billig
nicht über fi pro 100 gehen und welche capitalia höher gehen, wären
durch andere abzutragen, so mit bessern conditionen zu negotiiren;
auch die bisherige usuraria pravitas, wo sie alzu hoch gangen, aus
obigem capite zu ahnden.
Vergehende Zinsen oder ä fond perdu sind diejenigen so auff
gewisse jähre oder auf ein oder mehrer menschen leben gerichtet
und damit aufhören, so man leibrenten nennet. Auff gewisse jähre
sind einige capitalia unlängst in England und Holland, zum theil
vermittelst Loterien erhalten worden. Durch diese art hat offtmahlen
der berühmte pensionarius de Wit den Staat von Holland auss den
schulden zu reissen gesuchet. Und solte ich dafür halten, dass die
orthe, wo viel geistliche, so mehr auf ihre bequemligkeit als erben
zu sehen pflegen, als die Kayserliche Erblande zu leibrenten am
bequemsten. Weswegen annehmliche Vorschläge zu thun wären.
Ausser landes könnte man Zinsen aus England, Holland und
Genua negotiiren, weilen contanten an diesen orthen in menge. Wo
contanten da sind die interessen klein und legen die leüte daselbst ihre
Gelder gern uinb 5 oder 6 pro 100 an, wenn sie gesichert. Sicherheit
wäre ihnen theils durch fidejussores als landschafften, theils durch
würkliche Antichretische einräumung eines guthes oder Rente zu
verschaffen, wozu die so genannten Lombards oder Lehn-banken
zu ziehen. Den Eng- und Holländern köndte aus denen dem Kayser
überbleibenden Spanischen Niederlanden, den Genuesern auss Ungarn,
Napolis und Mayland damit geholffen werden. Ob auch die Juden
286 Roessler.
mit nuzen beyzuziehen und ihnen zu mehrer annehmligkeit einige
gnaden zu ertheilen, stünde zu überlegen.
Es köndten auch ansehnliche Summen durch einen fürsten von
Credit als mediatorem negotiiret werden. Hiezu wäre im Reich
niemand bequemer als der Churfürst zu Braunschweig, der Kayserl.
Maj. und dem Reich sehr devot und in guthen oeconomischen Credit
stehet. Dem köndte man zum Unterpfand die einkünffte des Bistums
Hildesheim einräumen, und da solches über verhoffen durch die
französische obermacht endtlich evincirt werden solte, annehmliche
Mittel aussfinden ihn anderwerts zu vergnügen.
Nach geld und volck kommen Naturalien und artificialien oder
species ex naturalibus parabiles. Zu erhaltung und zum streit so vor
Menschen und Vieh bei Armeen zu verschaffen, und zwar den Men-
schen unterhalt, nehmlich vietus et amictus, Leibesnahrung, Arzney
und Kleider, leibesnahrung, speise und trank, dazu auch arzney zu
dessen erhaltung zu ziehen. Zur Speise vornehmlich Korn und die-
ses ist der Hauptpunct. Getränk will rechnen Brandtewein und Tabac.
Korn, so bey den Armeen nöthig, ist vornehmlich Rocken, gersten
und haber, wiewohl auch der weizen nicht ganz auszusezen. Weil
nun darinn das vornehmste lebensmittel, so wäre ohne die geringste
versäumung der zeit sowohl in den Erblanden als anderswo die noth-
durfft zu veranstalten. In den Erblanden wären ohnverzüglich der
vorhandene vorrath in publico et privato zu untersuchen, was im
lande nöthig zu überschlagen, und weil grosse Steigerung zu besorgen,
denen dardanariis und kornjuden vorzubeugen; auf gewisse Taxen
secundum gradus zu denken, die aussfuhr zu beschränken, da nöthig
auff zukauff des Korns zu gedenken. Mit andern Teütschen für-
nehmen fürsten und ständen auch wohl Creisen wegen dieses wichtigen
Punctes förderlichst zu communiciren; leüte so im proviant-wesen
erfahren, darüber mündtlich und schrifftlich zu vernehmen, aus ihren
bedenken das beste ziehen.
Hiezu gehohret die einrichtung der zufuhr , damit solche frey
sey ohne Mauth und andre beschwehrungen, auch zu land und wasser
leicht geschehe. Darunter begreiffe die Verbesserung des fuhrwesens
(dabei viel zu erinnern) nicht weniger als der rechte gebrauch der
Schiffart auf den Ströhmen, alwo dahin zu sehen, ob nicht die Donau
mit dem Rhein, nach Caroli M. versuch, welcher der leichteste
scheint und in kurzer Zeit zu vollstrecken. Wie es denn von Carolo
Beiträge zur Staatsgesehichte Österreichs etc. 287
M. in einem jähr so weit bracht worden, dass er den neuen Canal
würcklich befahren.
Der Trank wird zum theil aus körn bereitet, als aus welchem
hier und brandtwein gemacht wird, wiewohl diesen auch die Wein-
hefen geben. Die ganze brandtweinfabrick, als woran ein grosses
sowohl wegen ertrags als menschlicher gesundheit gelegen und
wobey grosse Missbräuche eingeschlichen, köndte die hohe herr-
schafft mit guthem Recht an sieh ziehen, sonderlich in kriegszeiten,
zumahl der brandtwein mehr eine arzney als nahrung seyn sollte,
und daher dessen Gebrauch bei dem landmann in den bierländern,
da er überhand nimt, billig einzuschränken und nur bey denen Sol-
daten zu favorisiren, als welche sich offt mit wasser behelffen müssen,
daher dafür halte, es solte die sach also gefasset werden, dass einem
ieden Soldaten ein trank brandtwein ohne entgelt abgefolget würde.
Es sollte auch an orthen da das wasser nicht gut, svorauss der meiste
Untergang der mannschafft entstehet , das wasser in grosse gefässe
gebracht werden, dass es sich wenigst sezen könne, wo man es nicht
durch Sand saigen kann. Und aus solchen gefässen so unter der
erde an einem reinen orthe bedeckt ständen, köndte es ohne entgelt
aussgezapfet werden.
Und weil zu der leibeserhaltung auch die arzney gehöret, wäre
hochnöthig bei den Völkern zu haben die menge von guthen chirurgis
und deren gesellen, wohlbestelte Feld-Apotheken, alles unter aufsieht
erfahrener Medicorum, und geistlicher leüte, Capuziner oder sonst
ßarfüsserordens, die vor der armen Soldaten leib und seele zu sorgen
hätten.
Weil auch bei stürmen und schlachten sonderlich auf einmahl viel
menschen leiden, dass die Chirurgen mit pflaster und arzneyen kaum
zureichen, wäre bey Zeiten diessfals auf guthe anstalt zu denken, des-
gleichen auch weil diarrhoeae und dysenteriae sehr einreissei), wäre
ein vorrath von jpecacuanha und dergleichen nöthig, auch sonst
remedia contra morbos castrenses hauptsächlich anzuschaffen.
Die Kleider der Kaiserlichen Soldaten solten billig in den Erb-
landen aus Erbländischer wolle, leder, linnen und hanf bereitet
werden. Worin eine grosse wirthschafft stehet. Man muss auch auf
die güthe und dauer sehen, daher die zeuge billig geköpert seyn,
nach art der Sarge de Nismes , die die Cramers und Schneitier nur
deswegen auss der Mode bracht, weil sie zu lang gedauert. Hüte,
288 R o e s s 1 e r.
Schuhe und strumpfe hätten auch eine sonderbare güthe nöthig,
damit dem armen Soldaten die schwehren marsche so viel möglich
erleichtert würde. Wovon dienliche Proben bereits geschehen.
Das Vieh betreffend, wobey neben pferden und Eseln eine menge
Ungarischer ochsen zu wünschen, wäre nöthig glatt und rauh futter.
Das glatte futter ist aber beym körn begriffen. Rauhes futter oder
fourrage müssen die örther selbst dargeben, wo die armeen stehen,
wiewohl vermittelst der Ströhme auch ein merkliches von andern
orthen beizuschaffen.
Zum streit gehohren offensive gewehr und munition; defensive
wappen und was sonst zur bedeckung nöthig. Offensiva auch wappen
schild, Harnisch und was zur bedeckung nachzuführen rechnet man
mehr zur Artillerie; was aber an der stelle zu nehmen, als Erde,
steine, palissaden, schanzkörbe, etc. gehohret auch zur fortißcation.
Und weil nicht nur auf marsch oder zug, lager und schlachten,
sondern auch auf belagerungen zu gedenken, müsse alles was nach-
geführet werden inuss, bey Zeiten nothdürfftig angeschafft werden.
Und weil nun das Schiesspulver das kräfftigste bewegungsmittel,
so uns die natur gegeben, wäre für allen dingen ein Überfluss
von Schiesspulver und folglich von Salpeter anzuschaffen, dann an
kohlen fehlet es nicht, an schwefel nicht leicht. Salpeter ist das
wichtigste ingrediens , daher man Jessen so viel thunlich im land
bereiten lassen und ein grosses quantum zuzukauffen hätte. Und
halte ich vor rathsam eine guthe quantität des Salpeters von den
ostindischen Compagnien aufs allereheste zu erhandeln, damit Frank-
reich solche nicht wegnehmen auch die wahre nicht zu sehr ver-
theuert werde. Es wäre auch zu veranstalten , dass förderlichst eine
guthe Parthey tauglich gewehr und guthe küriss verfertigt werden.
Zu Proviand und Artillerie-wesen wird die zufuhr zu land und
wasser erfordert. Die lebensmittel und andre nothdurfft müste frey
und ohne zolle oder mauth zubracht werden. Zu Land ist das wagen-
werck wohl zu besorgen, dabey nicht wenig zu erinnern. Sonderlich
aber wären die ströhme mit schiffen und flössen wohl zu gebrauchen.
Und unter andern dahin zu sehen, ob nicht die Donau mit dem Rhein
zu vereinigen und zwar nach Caroli M. versuch, welcher der leich-
teste scheinet, und in kurzer zeit zu vollstrecken, wie es dann Caro-
lus M. in einem jähre so weit gebracht, dass er den neuen Canal
würcklich beschiffet.
Beitrage zur Staatsgesehichte Österreichs etc. 289
Die anstalt bestehet in ordinario et extraordinario , das ordina-
rium in Bereitschaft und Operationen, Bereitschaft in Wirthschaft und
kriegesdisciplin. Operation bey Armeen, detachements und partheyen
in lagerung, zug oder marsch, aetionen, belagerungen. Von allen
diesen dingen wären genaue Verfassungen und Instructionen dienlich,
nicht nur vor die so gebraucht werden, und ofFt nicht die völlige
erfahrung haben, sondern auch, weil zu Zeiten geschieht, dass einem
verständigen und erfahrenen Man nicht alles im nothfall beyfallet,
also dienlich der unvollkommenheit des menschlichen gemüths durch
Tabellen, indices und Agenda zu heißen.
Extraordinarium bestände in neuen erfindungen , welche von
erfahrenen und ingeniösen Personen an band gegeben köndte. Und
nicht allerdings zu verachten , sondern zu Zeiten einen nützlichen
gebrauch haben köndte. Und wäre dergleichen von vortreflicher
nutzbarkeit den feind zu surpreniren und in Verwirrung zu bringen,
daher ganz geheim zu treiben. Und weil mir leüte bekand die solche
vortheil erfunden, von denen ein grosses zu hoffen, wird solches
ein Eignes bedenken erfordern. Wie ich dann dafür halte , dass
nächst Gottes hiilff, vortreffligkeit des Generals und tapferkeit der
trouppen , die grösste Hoffnung eines glücklichen Success auf
solche mittel und wege zu bauen, deren sich der feind nicht ver-
muthet.
290 As c h I) a c h.
SITZUNG VOM 16. APRIL 1856.
Gelesen $
Die römischen Legionen prima und secunda Adjutrix.
Geschichte ihrer Entstehung — ihre früheren Stationen und endliehen festen Standlager in
Niederpannonien.
Von dem c. M., Hrn. Prof. Dr. J. Asch b ach.
Die beiden Legionen I Adjutrix und II Adjutrix gehören nicht zu
den ältesten Kaiserlegionen : ihre Entstehung fällt zwar noch in das
erste christliche Jahrhundert, aber nicht vor dem Abgange des Kai-
sers Nero. Sie wurden beide kurze Zeit nacheinander, die eine von
Kaiser Galba, die andere von Vespasianus und zwar aus Schiffs-
soldaten gebildet. Sie kamen beide wenige Jahre nach ihrer
Errichtung an den Rhein, wo sie aber nur vorübergehend unter
dem flavischen Kaiserhause ihre Standquartiere hatten. Von der Zeit
des Kaisers Trajan an finden wir sie beide in Niederpannonien an
der Donau, wo sie dann mehrere Jahrhunderte hindurch in densel-
ben Standlagern verblieben.
Die beiden Schwesterlegionen bilden wichtige Glieder in der
Reihe der römischen Legionen. Um ihre Stellung und ihren Zusam-
menhang mit den übrigen römischen Truppenkörpern gehörig zu
erläutern , ist es nöthig einen Rück auf den Bestand der Kaiserlegio-
nen und der übrigen römischen Streitkräfte im ersten christlichen
Jahrhundert überhaupt zu werfen1).
l) Eine wichtige Quelle für das römische Heerwesen im eisten Jahrhundert der Kaiser-
zeit war das jetzt leider verlorene 22. Buch der römischen Geschichte Appians,
worin die Stärke der Heeresmacht der Römer, ihr Einkommen von jedem unter-
worfenen Volke und ihr Aufwand auf die Land- und Seemacht darg-eleg-t war. Appian.
bist. Rom. praef. c. 15.
Die römischen Legionen prima und seeunda Adjutrix. 291
Als Augustus die Alleinherrschaft erlangt hatte, errichtete er 25 *)
stehende Legionen, welche in die ihm besonders vorbehaltenen Grenz-
provinzen unter Legaten oder Militär-Statthaltern in bestimmten
Standlagern veitheilt wurden zur Bewachung und Verteidigung des
Reiches gegen auswärtige Feinde2). Die Legionen waren grössten-
theils aus derjenigen Streitmacht römischer Bürger 3) gebildet, welche
dem Augustus die Siege im Kampfe mit seinem Rivalen Marcus An-
tonius erfochten hatte. Aber auch von den Antonischen Legionen
hatte er mehrere, die zu ihm übergegangen waren , bestehen lassen.
Dagegen waren die übergetretenen Legionen des Triumvirs Lepidus
mit Ausnahme von einer oder zwei sämmtlich aufgelöst worden. Den
fünf übernommenen Legionen Avurden die Standquartiere in Asien
undAgypten angewiesen und die früher geführten Benennungen gelas-
sen. Es waren die III Cyrenaica, die III Galüca, die IV Scythica, die
VI Ferrata und X Fretensis. Dagegen diejenigen Legionen, die Augu-
stus von seiner frühern Streitmacht beibehielt, verlegte er in die
abendländischen Grenzprovinzen; von Nordafrika und Spanien im
äussersten Westen ausgehend, zogen sich die Grenzwachen in den
Standlagern durch Gallien, die beiden Germanien, dann längs der
Donau hinab bis zu den Küsten des schwarzen- Meeres. Die abend-
ländischen Legionen wurden nach Ziffern von I — XX benannt und um
sie von den gleich bezifferten orientalischen zu unterscheiden oder
um sie durch ehrende Prädicate auszuzeichnen, erhielten die meisten
) Dio' Cass. Hist. Rom. LV, 23. Tpia fis Stj tots xai sixoai a-potTo;rs3a, ^ , a>; -(z z~zy,:
Xifooat, T.i-i-s xai sixoai iroXiTixa i-zpi'fz-rj.
2) Appian. hist. Rom. praef. c. 7. Tv ts apx"hv l> xtfxXcp jtepixd&T)vceti [AS-faX-n? axpaTO-
tcsooi? xai (S'jXaauo'jjt -rfjv toottjvSs fijv xai ftaXajaav u>j7isp -/copiov. Herodian.hist.il. 11.
'Ef oö Ss eis t6v Ssßaaxov TCspüjXOEv -j] p.ovapy_ta cppoupia 6i xai TToa-co-soa tt)?
äp/7)? itpoußäXstO 7t<jTa>j.<uv xs ij.z-(iftzii xai xäfppwv ?j dpiüv TipoßXr1p.a3tv sp^p-o)
-z Y'fl "«'■ S'J^ßa-u) 'rpa^a? ttjv ap-/7],i üjyjpu'jsato. Cf. Dio. Cass. LH, 22 u. 27. Ael.
Aristid. in Romam orat. ed. Jebh. T. I, p. 216.
3) In den beiden ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit wurden nur römische Bürger in
die Legionen aufgenommen, daher bei den griechischen Schriftstellern die ßenennunsr
a-paT'^soa oder jxpaTEÜp.a-a TtoXiTixa (bürgerliche Heere) für die Legionen im
Gegensatz zu den nicht-bürgerlichen Auxiliartruppen. (Vgl. Stewech. Comment. ad
Veget. de re milit. II, c. 2.) Manche neuere Schriftsteller, wie W alter Rom. Rechts-
gesch. I, S. 410, beachten diesen sichern historischen Punct nicht. Wenn bei Hero-
dian. hist. Rom. II, 11 die Legionssoldaten genannt werden jucM^opoi tel ^tjtoi«
oinrjpealo« «pcrritÜTai, so enthält diese Angabe keinen Widerspruch: denn die Legio-
näre dienten auch für einen bestimmten Sold, und sie konnten in so fern wohl p.i:r9ö-
ipopoi genannt worden.
292 Aschbach.
noch besondere Beinamen. Zur Belohnung vorzüglicher Tapferkeit
war der Beiname Augusta der I, II, III und VIII Legion ertheilt
worden; der VI, XIVund XX, welche glänzende Siege erfochten hatten,
ward das ehrende Prädicat Victrix gegeben; hei der XIV wurde es
durch die Vorsetzung des Wortes Martia noch verstärkt; bei der XX
ward zur Erinnerung an ihren siegreichen Legaten Valerius Messala
durch Hinzufügung des Beinamens Valeria eine besondere Auszeich-
nung ertheilt. Nach dem Gotte Apollo, dessen Geschossen man im
Kriege plötzlichen Tod und Untergang zuschrieb, wurde die XV Apol-
linaris genannt. Ob die XII Legion schon unter Augustus den Beina-
men Fulminata oder Fulminatrix geführt, ist nicht mit Bestimmtheit zu
ermitteln. Jedenfalls aber hatte sie ihn schon unter Nero. Zuverlässig
ist es, dass die VII und XI Legion, die erst unter Kaiser Claudius die Bei-
namen Claudia Pia Fidelis erhielten, früher nur die Zahl ohne irgend eine
andere Bezeichnung geführt hatten ; höchst wahrscheinlich war dasselbe
auch der Fall bei der XVI, XVII. XVIII und XIX Legion. Erst später
erhielt die XVI den Beinamen Gallica nach dem Lande Gallien und die I,
die früher Augusta geheissen, wurde nach ihrem Standquartier in Nie-
dergermanien Germanica genannt. Die IV und V Legion führten den
Beinamen Macedonica, weil sie früher in Macedonien gestanden, die
IX hiess Hispana nach den Hispaniern, aus welchen sie ausgehoben
worden. Die drei Legionen X, XIII und XIV wurden Gemina bei-
genannt, weil eine jede von ihnen aus Bestandtheilen zweier früherer
Legionen zusammengesetzt war1).
Die anfängliche Vertheilung der 20 abendländischen Legionen
in die occidentalischen römischen Provinzen in solcher Weise, dass die
Legionen mit niederen Nummern im äussersten Westen, die mit den
höheren Zahlen im Osten an der Donau und die mit den mittleren am
Bhein und den Alpenländern standen, erlitt zuerst durch den grossen
illyrischen Krieg, dann durch die Niederlage des Varus im Tento-
burger Walde eine gänzliche Änderung. Ein fast vollständiger Wech-
sel der Legionen in den Standlagern trat ein; dazu kam, dass die
drei mit Varus zu Grunde gegangenen Legionen, die XVII, XVIII
l) Über die Augusteischen Legionen handelt vornehmlich Dio Cass. LV, 23. Dass die
Legio I früher den Beinamen Augusta geführt habe, ist aus Dio. Cass. LV1, ii zu
schliessen.
Die römischen Legionen prima und seeunda Adjutrix. -t,t>>
und XIX !) nicht wieder hergestellt wurden. Man betrachtete diese
ZifTern als Unglückszahlen. Augustus errichtete als Ersatz für die
abgegangenen Truppenkörper die V Alauda, die XXI Rapax und die
XXII Dejotariana, wovon die erstere den Donau-Legionen, die zweite
den Rheintruppen, die dritte aber dem orientalischen Heere zugetheilt
wurde2).
Wie Augustus in seinen letzten Regierungsjahren die Legionen
vertheilt hatte, so verblieben sie in den ihnen zugewiesenen Stand-
lagern durch die ganze Regierung des Tiberius und Caligula bis in
die ersten Jahre der Herrschaft des Claudius. In Nordafrika stand die
III Augusta; in Spanien lagen die IV Macedonica, die VI Victrix und
die X Gemina ; am Rhein waren in Ober- und Nieder-Germanien acht
Legionen aufgestellt: die I Germanica, die II Augusta, die V Mace-
donica, die XIII und XIV Gemina, die XVI Gallica, die XX Valeria
Victrix und die XXI Rapax; in Pannonien und Noricum befanden sich
drei Legionen: VIII Augusta, IX Hispana und XV Apollinaris; in Mö-
sien zwei: V Alauda und XII Fulminata; in der Nähe von Dalmatien
ebenfalls zwei, die VII und XI, beide später Claudia beigenannt. Die
übrigen sechs Legionen befanden sich im Orient: zwei in Ägypten
die III Cyrenaica und XXII Dejotariana und die vier anderen am Eu-
phrat und in Syrien: III Gallica, IV Scythica , VI Ferrata und X
Fretensis 3).
1) Dass es diese drei Legionen waren, ist sicher und kann vollständig- nachgewiesen
werden. Die Meinung, welche P fi tz n er , (Jesch. der Kaiserlegionen von August.
his Hadr., aufgestellt hat, dass mit Varus die Legionen I, V und XIX untergegangen
und sie sämmtlich wieder hergestellt worden, ist ganz unstatthaft. Urlichs und
Grotefend (in den Jahrb. des Ver. v. Alterthumsfreund. im Rheiul. IX, p. 134 und
X(, p. 80) haben eine gute Widerlegung dieser unrichtigen Ansicht geliefert.
2) Grotefend hat in Betreff der an die Stelle der untergegangenen Varianischen
Legionen errichteten neuen eine abweichende Ansicht aufgestellt, die wir nicht
theilen. Der berühmte Epigraphiker B o r gh e s i hat in dieser Streitfrage schon das
Richtige getroffen.
3) Taeit. Annal. IV, 5. Praecipuum Iihenum juxta, commune in Germanos Gallosque
subsidium , octo legiones erant. Hiapaniae, recens perdomitae, tribus habebantur.
Mauros Juba rex acceperat donum populi Romani. Cetera Africae per duas legiones
parique nuinero Aegyptus. Dehinc initio ab Syria usque ad Humen Euphrateo
qualuor legionibus coercita ripamque Danubii legioiium duae in Pannonia, duae
in Moesia attineb.uit: totidem apud Dalmatiam localis, quae posita regionis a tergo
Ulis ac si repenlinum auxilium Italia posceret, band proeul accirentnr. In der Zeit,
welche hier Tacitns vor Augen hat (im 9. Regierungajahre des Tiberius) war gerade
aber nur voriibergeheiid die Legion IX Hispana aus Pannonien nach Afrika gezogen
294 Aschbach.
Nachdem Kaiser Claudius die neue Eroberung Britannien als
Provinz dem römischen Reiche beigefügt und zur Behauptung der
Insel daselbst vier Legionen die Standquartiere angewiesen hatte,
mussten, um nicht durch den Abgang mehrerer Legionen vorn Rhein
und von der Donau die Grenzbewachung an diesen Strömen zu schwä-
chen, neue Legionen errichtet werden. So' kam es, dass die Zahl der
Legionen auf 28 vermehrt ward. Kaiser Claudius errichtete die XV
Primigenia und XXII Primigenia zur Verstärkung der Rhein-Legionen1)
und Nero stellte zum Schutze der Alpenländer und Italiens die I Italica
her2). Dieser Kaiser, der grössere Streitkräfte in den illyrischen Pro-
vinzen zusammenzog, eines Theils um die kriegerischen Bewegungen
der Völker an der untern Donau in Zaum zuhalten, anderen Theils um
den orientalischen Legionen Verstärkungen zukommen zu lassen zum
Behuf einer kräftigeren Kriegsführung in Armenien, hatte einige
Dislocationen der abendländischen Legionen vorgenommen.
In Afrika verblieb die III Augusta, aber aus Spanien wurden zwei
Legionen die IV Macedonica und X Gemina gezogen, nur die VI
Victrix behielt ihr altes Standquartier auf der pyrenäischen Halbinsel.
Britannien, welches seit der Regierung des Claudius von vier Legio-
nen , II Augusta , IX Hispana , XIV Gemina und XX Valeria Victrix
bewacht wurde, musste die XIV Gemina abgeben. Am Rhein lagen
nur 7 Legionen: I Germanica, IV und V Macedonica, XV und XXII
Primigenia, XVI Gallica und XXI Rapax: es konnte aber als achte
noch dazu die von Nero neu errichtete I Italica gerechnet werden,
welche vorerst an der Rhone stationirt war. Viel bedeutender waren
die Veränderungen im Wechsel der Standlager der Donaulegionen.
Pannonien bekam ganz neue Legionen, die vom Rhein gezogene XIII
Gemina und die früher in Dalmatien gestandene XI Claudia; Mösien,
wo bis dahin die V Alauda und XV Apollinaris gelegen , erhielt zur
Besatzung die pannonische Legion VIII Augusta und die dalmatische
worden, daher werden in der Taciteischen Stelle in Pannonien statt drei nur zwei,
dagegen in Nordafrika zwei Legionen statt einer angegeben. Die Vertheilung- der
einzelnen Legionen in den Provinzen lässt sich vornehmlich aus Tacitus, aber auch
aus manchen andern Quellen mit einiger Sicherheit nachweisen : es ist aber hier
nicht der Ort, auf diesen Punct näher einzugehen.
*) Borg-hesi (Inscr. del Reno p. 179).
2) Sueton. Nero c. 19. Conscripta ex ltalicis senum pedum tironibus nova legione,
quam Magni Alexandri phalangem appellabat. cf. Tacit. Hist. I, c. 59. Dio Cass. LV, 24.
Die römischen Legionen prima und secunda Adjutrix. <^Uo
Legion Ml Claudia. In Dalmatien selbst aber nahm die aus Britan-
nien gezogene XIV Gemina ihr Standlager, wozu bald noch aus Spa-
nien die X Gemina kam. Aus der Reihe abendländischer Legionen
schieden und zu den orientalischen Kriegen verwendet wurden die V
Alauda, XII Fulminata und XV Apollinaris. Es war somit die römi-
sche Streitmacht im Orient, die früher nur 6 Legionen , die vier
syrischen III Gallica, IV Scythica, VI Ferrata und X Fretensis und
zwei ägyptischen III Cyrenaica und XXII Dejotariana gezählt hatte,
auf neun Legionen erhöht worden *).
Die Legionen hatten in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit
eine Stärke von 6000 Mann zu Fuss ; dazu gehörten aber ausserdem
noch 600 bis 800 Reiter2). Die grösseren Legions-Reiterabthei-
lungen wurden Vexillationes genannt3).
Die Legionen waren aber nicht die einzigen stehenden Truppen-
körper im römischen Reiche, sie bildeten allerdings den Kern der
1) Für die Verkeilung der Legionen unter Nero ist Tacitus in verschiedenen Stellen der
Annalen und in den Historien Hauptquelle ; dazu ist noch Flavius Joseph, de hello
Judaic. lib. II, c. 16, §. 4, wo eine interessante Darlegung der römischen Streitkräfte
gegeben wird, zuzufügen. — Wir haben leider bis jetzt noch keine Geschichte der
römischen Legionen in der Kaiserzeit. Einige Vorarbeiten sind dazu allerdings
geliefert. Dahin gehören : Lebeau in den Mem. de Pacad. des inscript. T. XXV,
p. 464. Eckhel, doctr. Nun», vet. VIII, p. 492. Grotefend, Zeitschr. f. die
Alterthums-Wissen. 1840, Nr. 79 — 81 und ausführlicher in P a u l y 's Realencyclop.
der class. Alterth. W. (Art. Legionen) IV, 856 IT. Pfitzner, Comment. quot qui-
busque numeris insignes legiones inde ab Augusto usque ad Vespasian. priuc. in
Orientem tetenderint. Neobrand. 1844. Pfitzner, allgem. Gesch. der Kaiser-
lesionen v. Ausustus bis Hadrian in der Zeitschr. f. Alterthums-Wiss. 1846, Nr. 1 ff.
Böcking, in der Annotatio ad Notit. dignitat. Imp. Korn, 2Tom. Bonn. 1839 — 18Ö3.
Über die rheinischen Legionen insbesondere: Borghesi, in den Annali dell' in-
stitut. archeol. T. XI, p. 128 sqq. (Rom. 1839). Klein, über die Legionen, die in
Obergermanien standen. Mainz 1853, 4°. H. Meyer, Geschichte der XI. und XXI.
Legion in d. Mittheil, der antiquar. Gesellschaft in Zürich. Bd. Vll, Zürich 1833, 4°.
S. 123 ff. und dazu Klein in den Bonner Jahrb. des Vereins v. Alterlhumsf. Hft. XXII,
S. 109 ff. Bonn 18Ö5.
2) Veget. de re milit. II, 2 und besonders 6. Legio habet pedites sex milia eentum,
equites septingentos viginti sex. Minor ilaque numerus armatorum in una legione
esse non debet. .Major autem interdum esse consuevit, si non tantum unam cohortem,
sed etiam alias iniliarias fueiit jussa suscipere. Cf. Jo. Laurent. Lyd. de magistrat.
I, 46 u. III, 3. Auch in den Inschriften kommen häufig die equites legionis vor. Es
ist daher die Meinung neuerer Schriftsteller (z. B. Lange bist, niutat. rei mil. Born.
Gott. 1846) zu verwerfen, dass die Legionen in der Kaiserzeit nur die Hilfsreiterei
der Alae gehabt hüllen.
3) Inschrift bei Murat. 881, 3. Vexillationes Leg. I et II Ailjutric. Jo. Laur. Lyd. de
magistrat. I, 46, gibt der Vexillalio eine Stärke tun .'JOD Reitern.
290 Aschbach.
römischen Streitkräfte an den Grenzen ; aber zu jeder Legion gehörten
eine Anzahl leichter Hilfsvölker zu Pferd und zu Fuss. Diese waren
nicht aus der bürgerlichen Bevölkerung ausgehoben, sondern aus den
dem Römerreiche unterworfenen Völkern und Stämmen, wornach sie
auch gewöhnlich benannt wurden *). Zu der Legion gehörten in der
Regel zwei oder drei Regimenter oder Alae von berittenen Hilfsvölkern.
Selten war nur eine Ala beigegeben2). Ihre Stärke war gewöhnlich
600 Pferde3), seltener 1000. Im letzten Falle hiess sie eine ala
milliaria. Ähnlich war es in Betreff der Abtheilungen der Hilfsvölker
zu Fuss, welche Auxiliar-Cohorten oder einfach Cohorten genannt
wurden, und aus 500 bis 1000 Mann bestanden. Kleinere selbst-
ständige Corps unter 500 Mann führten den Namen Numerus , wel-
ches Wort eigentlich die allgemeine Bezeichnung für eine bestimmte
Truppenabtheilung, also auch selbst für die Legion und Cohorte war.
Es gab Auxiliar-Cohorten, die auch eine besondere Abtheilung Reiter
hatten, oder die zur Hälfte aus Fussvolk und zur Hälfte aus Reiterei
bestanden; solche hiessen Cohortes equitatae im Gegensatz zu den
gewöhnlichen Cohortes peditatae, welche letztere keine Reiter hatten 4).
Es entschied einzig das Bedürfniss, wie viele Cohorten von Hilfsvöl-
kern der Legion beizugeben waren. Höchst selten finden wir zwei
oder drei Cohorten zugetheilt , in der Regel waren es 5, 6 bis 8 5).
i) Siieton. Oct. c. 49. Ex militaribus copiis legiones et auxilia provinciatim distribuit
Tacit. Ann. IV, 5. Apud idonea provinciarum sociae triremes alaeque et auxilia cohor-
tium : neque multo secus in iis virium. Cf. Tacit. Agricol. c. 24. Tacit. Ann. XIV, 38,
Hist. I, 69, II, c. 89, IV, 70, V, 1. Vellej. Paterc. II, 112 u. 113. Sueton. Octav. c.23.
2) Nach Vellej. Palerc. II, 117, waren bei den drei Varianischen Legionen nur
3 Alae und 6 Cohorten, u. Sueton. Oct. c. 23 nennt dieselben omnia auxilia.
3) Jo. Laurent. Lyd. de magistr. I, 46.
4) In den Inschriften werden häufig die Cohortes equitatae und peditatae (wie z. B. die
Coli. I. Thracum equitata bei Cardiuali dipl. u. 334, Coh. III, Thrac. equitat. Gruter.
480, 6. 524, 2) genannt: auch kommt es nicht selten vor, dass in denselben von
equites der Cohorten gesprochen wird. Flav. Joseph, de bell. Jud. III, 4, 2 spricht
von Auxiliar-Cohorten, wovon jede 600 Mann zu Fuss und 120 Reiter hatte. In den
Militärdiplomen werden manchmal neben einander Cohorten mit derselben Ziffer und
mit demselben Namen genannt, z. B. Coh.I Alpinorum et I Alpinorum, Coh. I Mon-
tanorum et 1 Montanorum (Arneth, Mil. Dipl. I et III). Aus anderen Inschriften
erfahren wir, dass es eine I Alpinorum equitata und eine I Alpinorum pedilata gab
(Arneth, I.e. T. XI, p. 67. Coh. I Alpinor. equitata. Cardinali dipl. T. XXIII.
Coh. I Alpinor. ped. Cardinali liest unrichtig pedemontanorum).
5) Zu der leg. XIV Gemina gehörten um das J. 70 nach Chr. als auxilia octo Batavorum.
Cohortes. Tacit. Hist. I, 69. Sueton. Vespas. c. 4. Additis ad copias duabus.
Die römischen Legionen prima und secunda Adjutrix. 207
Ja es findet sich, dass der Legion III Augusta in Afrika im J. 69 n. Chr.
5 Alae und 19 Auxiliar-Cohorten beigegeben waren1), dass demnach
zu den 7000 Legionären an 14.000 bis 15.000 Mann Auxiliartruppen
kamen.
Gewöhnlich wechselten die Alae und Cohortes auxiliariae die
Standquartiere zugleich mit der Legion, wozu sie gehörten. Oft aber
verblieben sie auch in ihren Lagern stehen und wurden dann beim
Truppenwechsel anderen Legionen zugetheilt 3). Übrigens gehörten
in solchen Provinzen , wo zwei oder mehrere Legionen lagen und
unter einem Legatus Augusti standen, die Auxiliartruppen nicht einer
einzelnen Legion, sondern dem ganzen Provincial-Exercitus an. Auch
waren die Auxiliartruppen nicht in dem Legions -Lager stationirt,
sondern sie hatten abgesondert ihre eigenen Standlager, welche als
einzelne vorgeschobene Posten in Bezug auf das Hauptlager der
Legion betrachtet werden konnten.
Eine ganz eigenthümliche Stellung zwischen den Legionen und
den Auxiliartruppen hatten die bürgerlichen Cohorten der italienischen
Freiwilligen. Sie wurden Cohortes Italicae voluntariorum civium
; Romanorum oder einfacher Cohortes voluntariorum, auch Cohortes
I voluntariae genannt. Es kommt ferner die Bezeichnung Cohortes
ingenuorum mit und ohne den Zusatz civium Romanorum vor. Sie
bestanden aus italienischen Bürgern, die ohne zum Kriegsdienst
verpflichtet zu sein , freiwillig als leicht bewaffnete in der Reihe der
Auxiliartruppen dienten, aber in ihre Mitte auch Nichtbürger von den
Bundesgenossen aufnahmen, welche dann in der Kategorie der übrigen
Auxiliartruppen sich befanden und erst nach langjähriger Dienstzeit
legionibus, octo alis, cohortibus decem. Nach Fi. Joseph, de beil. Judaic. III, 4, 2
gehörten zur V. u. XV. Legion 18 Cohorten Hilfsvölker, wozu später noch weitere
zehn Cohorten kamen.
*) Tacit. Hist. II, 58.
a) Tacit. Annal. IV, 5 sagt, dass er die Stärke und Vertheilung der Auxiliar-Truppen
in dem römischen Reiche nicht genau angeben könne: cum ex usu temporis, huc illuc
mearent, gliscerent numero et aliquanto minuerentur. Ähnlich Dio. Cass. LV. 24
2u|;.|j.ay_<.xa xod tte^öjv xäi ititcsujv xai kocjtüiv ojaoT^tiTS tjv — oü ydp ix1" T° äxpißf.?
eitceTv. Eine Schrift, worin eine genaue Übersicht der römischen Auxiliar-Cohorten
und Alen geliefert wird, fehlt bis jetzt. Vorarbeiten zu einem solchen Werke
finden sich bei Böcking Ar.uot. ad Notit. Dignit. Imp. und bei Cardinali im
elenco delle ale e delle coorti sociali desunto dalle antiche inscrizioni in den
Memorie Rom. di antichita. Vol. III, p. 215. Es lässt sich Cardinali's Ver-
zeichniss noch sehr vervollständigen.
Sitzb. d. phii.-hist. Cl. XX. Bd. II. Hft. 20
298 Asch b ach.
das Bürgerrecht erhielten. Nach der Zahl der römischen Tribus
gab es 35 Cohortes Voluntariorum. Drängte sich eine grössere
Anzahl Freiwilliger herbei, so wurde die Zahl 35 doch nicht über-
schritten, sondern es gab doppelte und dreifach gleichbezifferte
Cohortes voluntariae mit besonderen Beinamen, wie z. B. die Coli. I
Voluntariorum Campanorum neben einer Coli. I Italica civium Roma-
norum ingenuorum und einer Coli. I Italica civium Romanorum
equitata bestand. In ähnlicher Weise verhielt es sich mit den Reiter-
Regimentern oder Alae der italischen oder römischen Bürger;
jedoch war deren Zahl eine viel geringere. Einer jeden Legion oder
doch jedenfalls einem jeden Provincial-Exercitus waren eine oder
mehrere Cohortes voluntariorum civium Romanorum zugetheilt; so
finden wir in Spanien vier solcher Cohorten, sieben am Rhein:
ausser der Coli. I voluntaria civ. Rom. equitata die Coli. III, IV, XV,
XXIV, XXVI, XXXII ; — in Pannonien lagen zwei Cohortes volunta-
riorum, nämlich die I voluntaria Campanor. und die XVIII voluntaria
civium Romanorum , und daneben noch eine Ala civium Roma-
norum *).
Ausser den ständigen Grenztruppen der Legionen und Auxiliar-
völkerund neben den Cohorten der Voluntarii gab es aber auch noch in
Italien selbst eine stehende Truppenmacht. Es war dieselbe aus Kern-
truppen gebildet, welche vorzüglich aus dem mittlem Italien und den alt-
römischen Colonien ausgehoben wurden und theils in der Hauptstadt
standen, theils aber bei derselben ihr festes Lager hatten. Sie konnten,
da sie nur aus Bürgern zusammengesetzt waren, als die bürgerliche
Leibwache des Kaisers gelten. Die vor Rom gelagerten neun (später
zehn) Cohorten Messen prätoris che, die drei (später vier) in der
Stadt befindlichen städtische (cohortes urbanae), die zum Dienst
in der Nacht verwendeten sieben Cohorten wurden Bürgerwächter
A) Es ist hier nicht der Ort näher in diesen Theil des römischen Heerwesens einzu-
gehen: es gibt über denselben fast noch gar keine Vorarbeiten. Das was Mari nid
Cardinali, Borghesi, Kellermann, Zumpt darüber gesagt haben, ist zu I
unvollständig und ungenügend, ja theilweise sogar unrichtig. Wenn man einige
wenige Stellen bei Vellejus Paterculus, Tacitus u. A. ausnimmt, so geben uns die jj
römischen Schriftsteller keine Nachrichten über die Cohortes voluntariorum: man
muss daher die Nachrichten über sie aus den zerstreuten Inschriften, die ihrer
gedenken, sammeln. Übrigens sind die Auxiliar-Cohorten mit dem Zusätze civium
P.omanorum nicht mit unseren Cohortes voluntariae civium Romanorum zu ver-
wechseln. Es sind beide durchaus von einander unterschieden.
Die römischen Legionen prima und secunda Adjutrix. /Call
(Vigiles) genannt. Da jede dieser Cohorten 1000 Mann zählte, so
waren sie sämmtlich milliariae 1). Diese Cohorten wurden nie in
Legionen vereinigt.
Ausser der städtischen Leihwaehe hatte der Kaiser noch Leihwäch-
ter sowohl zu seiner persönlichen Bewachung, wie auch zu besonderen
Dienstleistungen. Diese in der nächsten Umgebung des Kaisers befind-
lichen Truppen waren weder Römer noch Italiener, sondern aus den
Auxiliartruppen oder von bundesgenössischen Völkern entnommen ;
sie wurden bei ihrer Aufnahme in den Dienst mit dem römischen
Bürgerrechte beschenkt; ein Theil derselben, die als kaiserliche
Leibwächter (custodes corporis Augusti) dienten, waren in die Colle-
gia Germanorum, zuweilen auch Batavorum genannt, eingereiht, die
zum Dienst des Kaisers verwendeten berittenen Ordonanzen bildeten
den Numerus equitum singularium Augusti 3).
Es erübrigt noch von der Seemacht der Römer zu sprechen.
Wie die römische Landmacht im Allgemeinen in eine italische und
provinziale zerfiel, so war es auch mit den Seestreitkräften der Fall,
nur waltete hier der Unterschied vor, dass die Hauptstärke nicht an
*) Tacit. Annal. IV, 5. Quamquam insideret urbem proprius miles, tres urbanae, novem
praetoriae cohortes. Sueton. Oetav. 49. Certum numerum partim in urbis, partim
in sui custodiam allegit. Neque tarnen unquam plus quam III cohortes in urbe esse
passus est easque sine castris : reliquas in hiberna et aestiva — dimittere assuerat.
Dio Cass. (LV. 24) classificirt die bürgerlichen Truppen in die itoXixixa axpotx&TisSa
an den Grenzen, d. i. Legionen, in das städtische Heer (äaxixiv axpocxsupLa, d. i. Prä-
torianer, städtische und nächtliche Cohorten) und endlich in das Trabanten-Corps
(Sopu'popixrjv, d. i. Singulares und Custodes corporis Augusti). In Betreu" der prä-
torischeu und städtischen Cohorten berichtet er: Ot xs a(D|j.axo'.p'JXaxsc;, pvipioi öv-s?,
xotl Sexa/f, -zz-zaf\).i'i'ji xat ol xfj; toXeu); (ppoupoi exaxi;y_i).ioi xs övxe; xat xsxpayf)
v£v£(j.s(Asvot. Vom Kaiser Vitellius wurden die prätorischen Cohorten auf sechzehn,
die städtischen auf vier vermehrt. Die Cohortes urbanae führten als Fortsetzung
der prätorischen die Ziffern X, XI und XII, später XI, XII, XIII und XIV, wie aus den
Inschriften ersehen werden kann. Die Inschriften, die Cohortes urbanae mit Zahlen
von I — IX erwähnen, sind falsch. Orelli Inscr. Nr. 3422. — Über die Vigiles, deren
sieben Cohorten so in die vierzehn Quartiere von Rom vertheilt waren, dass je zwei
Quartiere einer Cohorte zur Bewachung zugewiesen waren, besitzen wir das treffliche
Werk von Kellermann: Vigilum Rom. latercula duo. Rom. 1836, fol. Cf. Dio
Cass. LV, 26. Appian. de bell. civ. p. 746.
2) Tacit. Annal. I, 24, XIII, 18. Dio Cass. LV, 24. Eevot xe brnsTs SüiXexxoi , ot; xo tu>v
BaxaoOtov 4it6 tijs Baxo'ja; xfj? £v x^> "P^vüs V7JOOU övop.a , oxi Srj xpaxisxot liraE'Jiiv
elai — oö |Asvxot 4pi*(*6v äxpiß?) — eItieiv 8uv«[j.ai. Über die equites singulares hat
vortrefTlich gehandelt Henzen in der Abhandlung sugli equiti singolari degli lmpe-
ratori Rom. in den Aunali deü' Instit. archeolog. T. XXII, p. 53.
20 •
300 A s c h b a c h.
den Grenzen versammelt war, sondern sich an den italischen Küsten
befand. Die apenninische Halbinsel wurde von den beiden prätorischen
Flotten, diezuMisenum undRavenna stationirten, bewacht1)- Eine jede
zählte mehrere Hundert Schiffe, unter denen die LiburnenundBiremen
(mit 2 Ruderbänken) und die Triremen (mit drei Ruderbänken) wohl
die grössere Zahl ausmachten, aber es befanden sich darunter auch ziem-
lich viele der grössten Art von Kriegsschiffen (Quadriremen, Pente-
ren undSexeren) 2). Die Bemannung der Schiffe zerfiel in die Schiffs-
mannschaft, Matrosen und Ruderknechte (classiarii) und in die Schiffs-
soldaten (classici); oft werden aber auch beide Kategorien mit dem
gemeinschaftlichen Namen classici bezeichnet3). Die Schiffssoldaten
waren in zwei sogenannte classicae legiones eingereiht, die eine
für die misenische, die andere für die ravennatische Flotte4). Die
Schiffs-Legionäre aber waren in Bezug auf Stellung, Rechte und son-
stige Verhältnisse wesentlich von den gewöhnlichen Legionären ver-
schieden ; sie waren keine römischen Bürger und hatten eine viel
längere Dienstzeit. Erst nach 26 Dienstjahren ward ihnen die Entlas-
sung (missio honesta) mit dem römischen Bürgerrecht als Belohnung
ertheilt 5). Wie die Spanier, Bhätier, Gallier, Noriker vorzüglich
l) Suetoii. Oct. c. 49. Ciassem Miseni et alteram Ravennae ad tutelara superi et inferi
maris collocit. Tacit. Aun. IV, S. Italiam utroque mari duae classes , Misenum apud
et Ravennam praesidebant — valido cum remige. Dio Cass. LV, 24 Kai a'j[j.|j.a/ixa
xai tis^üjv xat Lmtsiuv xal vatniLv öaao7)TCOxs t)v . Veget. de re mil. IV, c. 31 [V, c. 1].
Apud Misenum et Ravennain singulae legiones cum classibus stabant. Cf. Böcking
Annot. ad dignit. Imp. II, 991 u. 1011.
2) Über die Anzahl und die Namen der Schiffe von den beiden prätorischen Flotten
handeln mehrere italienische Alterthurasforscher, aber nicht in erschöpfender Weise.
Gori Insc. Elrusc. III, p. 6 und Marini frat. Arv. II, 408 geben einen nur sehr
unvollständigen Schiffs-Katalog; Vernazza dipl. di Adrian, p. 79 führt fünf und
vierzig Schiffe der Misenischen Flotte namentlich an; vollständiger ist das Verzeich-
niss, welches Cardinali aus fast zwei hundert Steininschriften gibt, das früher in
den Memor. Rom. antiq. I. 2, p. 60, später in den Diplom, militar. p. 7 abgedruckt
ist, aber aus dem Werk Mommsen's über die lateinischen Inschriften des König-
reiches Neapel sehr vermehrt werden kann. Man vergl. auch Ruhnken, de tutel. et
insignib. nav. Rom. p. 267.
3) Maffe i Mus. Veron. p. 347 unterscheidet mit Recht die beiden Ausdrücke: Classiarii
sunt x6 voc'jtixöv, milites classis sunt ETußäxai; classiarii in na vi operantur, nos
eos vocamus l'equipage du vaisseau, milites classis de navi pugnant et ubi
necesse fuerit, exscensionem faciunt, hos nuncupamus les soldats de marine.
4) Veget. de re milit. IV, c. 31 [V, c. 1].
5) Die Prätorianer hatten eine 16jährige, die Legionäre eine 20jährige, die Auxiliar-
Truppen eine 25jährige Dienstzeit; letztere empfingen dann mit ihrer Entlassung
Die römischen Legionen prima und secuoda Adjutrix. 301
tüchtiges Fussvolk, die Bataver, Numidier, Britten, Pannonier, Thra-
cier die besten Beiter zu den Auxiliartruppen stellten, so lieferten die
Inselbewohner im Mittelmeer, ferner die Dalmatiner, Phönicier, Ägyp-
ter und Kleinasiaten hauptsächlich vortreffliche Schiffsmannschaften.
Wie die Prätorianer vor den Legionen, den stehenden Armeen in den
Grenzprovinzen, mancherlei Privilegien voraus hatten , so erfreuten
sich auch die Classici auf den beiden prätorischen Flotten vieler Vor-
rechte vor den Provincial-Flotteii, den sogenannten triremes sociales.
Die misenische Flotte hatte ihre besonderen Stationen an den Küsten
Nordafrika's, Spaniens, Galliens, Siciliens, Sardiniens und Corsika's;
ihr lag ob die stete Verbindung mit diesen Ländern und Inseln zu
unterhalten. Die östlichen Küstenländer des Mittelmeeres waren zu
gleichem Zwecke der ravennatischen Flotte zugewiesen *).
Unabhängig von den beiden prätorischen Flotten waren die dem
Legions-Commando unterstehenden besonderen Provincialtlotten in den
vom Mittelmeere getrennten Gewässern oder auf den grossen Grenz-
strömen ; sie bestanden grösstenteils aus kleineren und mittleren
Kriegsschiffen, Liburnen und Triremen. Im Canal und an der Küste
Britanniens befand sich die gallische und britannische Flotte,
auf dem Bhein die germanische, auf der Donau die pannonische und
mösische, auf dem schwarzen Meere die pontische, auf dem Euphrat
die syrische, auf dem Nil die ägyptische3).
Im Ganzen belief sich die gesammte stehende Streitmacht
welche die Bömer in den ersten Jahrhunderten der Kaiserherrschaft
unterhielten, auf mehr als 600.000 Mann Bewaffneter3) und auf über
1000 Kriegsfahrzeuge.
(missio honesta) das römische Bürgerrecht. Die Seetruppen waren demnach am un-
günstigsten gestellt. Vergl. Cardinali diplom. militar. und Walter's Rom.
Rechtsgesch. I, 411.
*) Veget. de re milit. 1. c. Misenatium classis Galliam, Hispanias, Mauritaniam, Africam,
Aegyptum, Sardiniam atque Siciliam hahebant in proximo. Classis autem Ravennatium
Epiron, Macedoniam, Achaiam, Propontidem, Pontum, Orienten) , Cretam , Cyprum
petere directu navigatione consueverat.
2) Cardinali (dipl. milit. p. 281) hat am besten über die römischen Provinzialflotten,
und zwar nach Inschriften gehandelt: über die Donauflotten ist O rel 1 i nr. 3061 und
Bock ing in der Annotat. ad Notit. dignit. Imp. zu vergleichen. Seit Vespasian's Zeit
führte sowohl die pannonische wie die mösische Flotte den Beinamen Flavia.
3) Agathias in der bist. Rom. V. 13, wo er über den Verfall des Kriegswesens in der
Zeit des Kaisers Juslinian spricht, und angibt, dass damals die stehenden Armeen
302 A s o h b a c li.
Die gelieferte allgemeine Skizze von den römischen Streitkräf-
ten in der ersten Zeit der Kaiserherrschaft vorauszuschicken war
nothwendig, um die Geschichte der Entstehung der beiden Legionen
I und II Adjutrix, die mit der Land- und Seemacht in Verbindung
standen, in ein helleres Licht zu stellen.
Es war im Jahre 68 unserer Zeitrechnung, als sich auf allen
Seiten der Aufstand gegen die Tyrannei des Kaisers Nero erhob.
Zuerst kam ihm die Kunde von der Empörung des Vindex in Gallien,
dann erhielt er die Nachricht von dem Abfalle des spanischen Statt-
halters Servius Sulpicius Galba. Nun erst erwachte Nero aus seiner
bisherigen Sicherheit und Sorglosigkeit und traf ernstliche Rüstungen
gegen die Aufstände. Bereits zeigte sich auch der Geist des Ungehor-
sams und des Widerstandes in und bei Rom unter denPrätorianern und
städtischen Cohorten. Da der Kaiser so plötzlich in Italien selbst von
dem Anfruhr sieb bedroht sah, so zog er eiligst die Seesoldaten (milites
classici) mit einen» grossen Theil der Schiffsmannschaft oder Ruderer
(classiarii) von den beiden prätorisehen Flotten in die Nähe der
Hauptstadt. Die gerade auf Schiffen der ravennatischen Flotte nach
dem Oriente unterwegs befindlichen abendländischen Legionstruppen
wurden schleunigst zurückgerufen. Die milites classici der miseni-
schen Flotte Hess Nero schnell die Schiffe besteigen und nach Spanien
übersetzen, um Galba's Abfall zu züchtigen; und da die Aufrührer von
Gallien aus drohten über die Alpen nach Italien einzubrechen und
sie bei Rom eintreffen konnten, ehe die an den Grenzen stehenden
Legionen zur Hilfe zu eilen im Stande waren, so wurde nicht nur
der noch in Italien anwesende Theil der Seesoldaten in die Haupt-
stadt gezogen, sondern auch die grosse Masse der Ruderknechte und
Schiffsleute beider prätorisehen Flotten zu einer legio classica oder
legio classicorum eingerichtet. Um diese Seetruppen und Schiffs-
mannschaften zum eifrigen Kampfe anzuregen und zu grösserer An-
hänglichkeit für seine Person zu gewinnen, versprach der Kaiser, sie
zu wirklichen Legions-Soldaten zu erheben, ihnen vor der beendigten
Dienstzeit das römische Bürgerrecht zu schenken nebst allen damit
in Verbindung stehenden Vortheilen und Privilegien. So lange sie
zusammen nur 130,000 Bewaffneter g-ezählt hätten, fügt, indem er einen Blick auf
die früheren Zeiten der römischen Kaiserherrschaft wirft, hinzu : Asov i<; rcsvxe xoei
xejsapdxovTa xai sjaxoaia? -/tXicioa; |xa^iu,(uv äv6p(I>v -rjv SXtjV ä-(s.iptaBai 6Öva|UV etc.
Die römischen Legionen prima und secunda Adjntrix. 303
aber noch nicht den Legions-Adler und die anderen Feldzeichen hatten,
so lange ihnen nicht ein bestimmtes Lager mit den dazu gehörigen
Ländereien an der Grenze des Reiches in irgend einer Provinz zuge-
wiesen war, konnten sie sich noch nicht als wirkliche Legion betrachten,
sie waren nur in der Form einer Legion von der Flotte dem Land-
heere zur Unterstützung auf unbestimmte Zeit beigegeben und konn-
ten daher, wenn die Erfüllung des kaiserlichen Versprechens durch
äussere Umstände verhindert war, wieder in ihre alten minder gün-
stigen Verhältnisse zurückversetzt werden *).
In wenigen Wochen hatten sich wichtige Ereignisse gedrängt.
Der Abfall von Nero hatte sich von den westlichen Provinzen bald
nach Italien, ja bis nach Rom selbst verbreitet und war sogar in das
Lager der Prätorianer gedrungen. Indem der Kaiser den Annius Ru-
brius Gallus mit einem Theile der misenischen Flotte und der dazu
gehörigen zahlreichen Schiffsbemannung nach Spanien abschickte,
um dort den Aufstand Galba's zu unterdrücken, erklärte sich der
Senat, durch den Abfall der Prätorianer ermuthigt, gegen Nero. Bald
kam auch die Kunde, dass die nach Spanien abgesandten Seetruppen,
anstatt die Empörung auf der pyrenäischen Halbinsel zu unterdrücken,
zu Galba, der zum Kaiser ausgerufen worden, übergegangen wären3).
Die herbeigezogenen Seesoldaten und Ruderknechte, welche Nero in
Rom hatte, waren nicht stark genug seinen wankenden Thron zu stützen.
Nero's Sturz erfolgte und der allgemein gehasste Tyrann endete (9. Juni
68) durch Selbstmord sein Leben, noch ehe die in Rom befindlichen
Schiffsmannschaften zu einer wirklichen Legion eingerichtet waren.
Dagegen hatte Galba in Spanien rasch gehandelt. Auf der pyrenäischen
Halbinsel befand sich damals nur eine einzige Legion, die VI Victrix,
*) Tacitus hat am Schlüsse des IG. Buches der Annalen , das verloren ist, ohne Zweifel
von diesen Vorgängen ausführlich gehandelt. Jetzt müssen wir uns mit einigen
kurzen Andeutungen und Notizen über die Sache an verschiedenen Stellen seiner
Historien begnügen, besonders I, 6: (Legione) remanente ea, quam e classe Nero
conscripserat. Damit stimmen überein Sueton. Galb. c. 12: (classiarios), quos Nero
ex remigibus justos milites fecerat — und Plutarch. Galb. c. 15: OOxot (oi epe'-et'.)
o'tjCjov, 6.5? st; iv TayiJ-a 6 Nsp(uv ouXXo/iaa?, a-e'fTjVö a-cpaTiujTa?.
2) Dio Cass. LXI1I, 27. (Nspujv) ht' foteivoo? (Galbum et Rufum) 'Poüßpiov TaXXov xctl
SXXou« tivoi; 'iizt\>;\izi. Zonaras , der noch einen vollständigeren Dio Cassius vor sich
halte (wir besitzen von ihm hier nur des Xiphilinus Auszug), berichtet: „Als Nero
erfuhr, dass Petronius, de"n er mit dem grössten Theile des Heeres gegen die Empörer
geschickt hatte, auf Galba's Seite übergetreten war, so verzweifelte er an dem Glücke
der Waffen etc."
304 Aschbach.
mit zwei Alen und drei Cohorten Auxiliartruppen. Diese Streit-
macht hatte den Impuls zur Erhebung Galba's gegeben, indem sie ihn
zum Kaiser ausgerufen *). Er errichtete aus solchen spanischen Pro-
vincialen, die römische Bürger waren, sich sogleich eine zweite
Legion, welcher er die Numer VII gab und die man nach ihrem
Errichter auch die legio VII Galbiana nannte. Aus den kriegerischen
Stämmen der Spanier und Lusitanier hob er junge Mannschaften zum
Kriegsdienste aus und bildete sich aus ihnen eine Anzahl von Auxiliar-
Cohorten und Alen2). Aber er constituirte noch eine weitere Legion
aus den zu ihm übergetretenen Classicis der misenischen Flotte;
diese neue Legion sollte aber nicht blos ein legio classica , sondern
eine wirkliche Landlegion sein mit allen ihr zukommenden Vorrechten
und Privilegien. Sie erhielt die Numer I und den Beinamen Adjutrix,
weil sie den beiden anderen Legionen zur Hilfe und Unterstützung
von der Flotte aus beigegeben war. Von den griechischen Schrift-
stellern wird Adjutrix zur Bezeichnung desselben Sinnes durch die
Worte vj emxovpuog 3) und v? ßovj.$6s*) oder v ßorJSov<;<x5') — die
Helfende — übersetzt.
Somit hatte die legio I Adjutrix nicht Nero in Rom , sondern
Galba in Spanien, und zwar aus misenischen Flottensoldaten und
Ruderknechten gebildet, welche sichere historische Thatsache man in
neuester Zeit hat bestreiten wollen 6). Hätten wir noch den Schluss
*) Sueton. Galb. c. 10. Tstcit. Hist. 1, 16 in der Rede des Galba : Nero, quem non ego
cum una legione, sed sua immanitas, sua luxuria cervicibus publicis depulere ; und
IV, 16 : (Cerialis) proprios inde stimulos legionibus admovebat: — principem Galbam
sextae legionis auctoritate factum.
2) Sueton. Galba c. 10. (Galba) e plebe provinciae (Hisp. Tarrag.) legiones et auxilia
conscripsit super exercitum veterem legionis unius duarumque alarum et cohortium
trium. Der Passus „e plebe provinciae legiones conscripsit" ist nicht genau: er geht
nur auf die leg. VII Galbiana, nicht auch auf die leg. 1 Adjutrix, die aus Misenischen
classicis gebildet war.
3) Dio Cass. LV, 24.
4) Plutarch. Galb. c. 12. Ptolem. Geogr. II, c. 14 [15J.
5) Jo. Laurent. Lyd. de magistrat. III, 3. tö itp<I>xov zif^a. t4 ßorjöoüv.
6) Gegen Gr o tef eu d, der den Galba für den Errichter der I. Adjutrix hält, erklärt
sich Fr. Ritter in den Jahrb. des Vereins f. Alterthumsfr. im Rheinl. XV, 113 ff.
Seine Gründe, die er für seine Ansicht, dass Nero der wahre Schöpfer unserer Legion
sei, vorbringt, lassen sich wohl widerlegen. Grotefend hat über diesen Punct
besonders in der Schrift: Gruss an H. L. Ahrens. Hannov. 1849 und in den Jahrb.
d. Ver. f. Alt. im Rheinl. XVII, p. 209 ff. gehandelt. Wenn wir ihm auch in dem
streitigen Hauptpuncte beistimmen , so treten wir doch nicht in allen Stücken seinen
Behauptungen bei.
Die römischen Legionen prima und seeunda Adjutrix. OUO
des 16. Buches der Taciteischen Annalen, so würden wir über die-
sen Punct ausführliche Kunde haben. Aber selbst bei diesem Verluste
fehlt es uns nicht an anderen Nachrichten, woraus sich beweisen lässt,
dass Galba der Errichter der Legion war. Denn erstlich sagt es Dio
Cassiusauf alte Nachrichten gestützt, ausdrücklich1), dann aber erfah-
ren wir bei Tacitus aus einer Stelle in den Historiis , wo er von dem
Marsche Galbas aus Spanien nach Italien spricht, dass ein Theil seiner
Truppen früher gewöhnt gewesen auf den Flotten Campanien und Grie-
chenland zu besuchen 3). Dass aber nicht etwa von Nero schon förmlich
die legio classica errichtet worden und sie als I Adjutrix zu Galba
übergetreten sei , dieser Ansicht widerspricht die ausdrückliche An-
gabe Sueton's, dass Galba in Spanien neue Legionen errichtet
habe 3). Sprechen wir ihm aber die Errichtung der legio I Adjutrix
ab, so kann nur von einer neuen Legion, der VIIGalbiana, die Rede
sein. Nicht zu übersehen ist auch der Umstand, dass der Führer der
Misenischen Flotten-Abtheilung, der die milites classici nach Spanien
übersetzte, nämlich Annius Rubrius Gallus, bald als Legat der I Ad-
jutrix erscheint und wir somit einen weiteren Fingerzeig auf den
engen Zusammenhang jener Classici mit unserer Legion erhal-
ten*). Nähere Aufklärung gibt dann auch das erste Auftreten Galba's
in Rom.
In Folge der Aufforderung des Senats eilte er über die Pyrenäen
durch Gallien nach Italien. In Spanien hatte er die legio VI Victrix
mit ihren wenigen Auxiliartruppen zurückgelassen. Er führte nur die
beiden neugebildeten Legionen I Adjutrix und VII Galbiana mit zahl-
reichen Auxiliartruppen nach Italien. Als er daselbst angekommen
war (im Herbste 68) , fand er schon Alles zu seinem günstigen Em-
pfang vorbereitet. Auch die Prätorianer hatten sich für ihn erklärt;
ein eigentlicher Kampf um den Kaiserthron war in Italien nicht zu
*) Dio Cass. LV, 24. '0 TaXßa? xi-:t irpioTov to 'Etuxouoixov auv^xai-s.
2) Tacit. Hist. I, 23. Labores itinerum, inopia commeatuum , duritia imperii atrocius
aecipiebantur, cum Campaniae lacus et Achaiae urbes classibus adire soliti, Pyrenaeum
et Alpes et immensa viarum spatia aegre sub armis eniterentur. Wie beiden Le-
gionen, so fand auch bei den beiden prätorisehen Flotten ein häufiger Wechsel in
Betreff der Stationen der Mannschaften Statt, so dass eine Versetzung von der
Ravennatischen Flotte zur Misenischen ganz gewöhnlich war. Die Schiffsmann-
schaften lernten dadurch alle Gewässer des Mittelmeeres kennen.
3) Sueton. Galb. c. 10.
4) Tacit. Hist. 1, 87, 11, 51 und vorzüglich 11, 11 u. 23.
306 A seh b ac h.
führen. Galba sandte daher die VII Galbiana unter ihrem Legaten
Antonius Primus nach Dalmatien, um diese von Truppen enthlösste
Provinz zu sichern; er wollte sie nicht in ein entfernteres Stand-
lager schicken, um auf alle Fälle gerüstet zu sein und eine ganz
ergebene Streitmacht in der Nähe zu haben. Dagegen die I Adju-
trix behielt er in seiner Umgebung und an ihrer Spitze und
mit zahlreichen spanischen und lusitanischen Hilfsvölkern näherte
er sich Rom. Ein Widerstand bei seinem Einzüge in die Haupt-
stadt war kaum zu befürchten; dennoch bezeichnete der neue
Kaiser seine Ankunft daselbst mit einem grossen Blutbad. Die durch
Nero's letzte Anordnungen nach Rom gebrachte Menge von milites
classici und Ruderknechten, die nicht mehr wie der Tyrann ihnen ver-
sprochen, in eine förmliche Legion hatten eingereiht werden können,
zog meist waffenlos zu vielen Tausenden dem Kaiser bis an die Mil-
vische Brücke entgegen. Sie trugen ihm ihre Bitte vor, er möge sie
in gleicher Weise, wie er ihre Kameraden von der misenischen Flotte
in eine Land-Legion der I Adjutrix eingereiht habe, zu Legionären
aufnehmen, sie demnach zu einer besonderen Legion mit Numer,
Adler *) , Feldzeichen und Standlager einrichten. Galba aber sah
keinen Grund, diese Schiffsmannschaften, die Nero noch zuletzt als
Werkzeuge seiner Grausamkeit hatte verwenden wollen, zu belohnen.
Auch schien es ihm ein Zeichen von Schwäche ablegen, wenn er
dem unbegründeten Begehren Folge gebe. Nach seiner Entscheidung
sollten sie wieder zu ihren Schüfen zurückkehren und so schlug er in
bestimmter Weise ihr Ansuchen ab. Als aber die Bitten mit tumultua-
rischem Geschrei und drohenden Geberden wiederholt wurden , gab
der Kaiser seiner mitgebrachten zahlreichen spanischen Reiterei
Befehl die Lärmenden und Drohenden, die den Weg versperrten,
auseinander zu jagen und niederzumachen. So kamen an 7000 Clas-
sici um, und selbst von denen, welche dem Gemetzel entgangen
x) Plin. hist. nat. X, S. Veget. de re mil. II, 6. Aquila praeeipuum Signum in Romano
est semper exercitu et totius legionis insigne. So lange eine römische Heeresabtheilung
nicht den Adler hatte, konnte sie noch nicht als eigentliche Legion gelten , auch
selbst, wenn sie schon vorläufig den Namen Legion führte. Unter dem Legionsadler
verstand man ein kleines Tempelchen mit einem goldenen Adler auf einer langen
Stange, die in einem spitzigen Schaft auslief, so dass sie in den Boden gesteckt wer-
den konnte; nur wenn die ganze Legion ausrückte, wurde auch der Adler mit-
genommen. Cf. Dio Cass. XL, c. 18.
Die römischen Legionen prima und seeunda Adjutrix. oU7
waren, wurde ein Theil hingerichtet, der Rest von einigen Tausenden
aber unter strenge Bewachung gestellt *).
Allerdings hatte Galba durch dieses erste entschiedene Auftre-
ten sich überaus gefürchtet gemacht; jedoch war das über die Massen
blutige Verfahren gegen grösstentheils Waffenlose nicht geeignet ihm
die Anhänglichkeit der Römer zu gewinnen. Sie sahen bald ihre
Stadt mit zahlreichen Truppen angefüllt; es waren daselbst nicht nur
die von Nero noch zurückgerufenen Abtheilungen verschiedener
Legionen, die nach Asien hatten überschifft werden sollen, eingetrof-
fen (sie zögerten nicht, Galba als ihren Kaiser anzunehmen) — son-
dern auch viele andere Truppen, die Galba aus Spanien und Gallien mit-
gebracht hatte, waren den Römern ein ungewohnter Anblick. Vorzüglich
zahlreich aber waren die Scharen der früheren Schiffsmannschaften,
welche die Stadt anfüllten; denn nicht nur befand sich dabei die
legio I Adjutrix, die wegen ihrer Entstehung von Classicis der mise-
nischen Flotte, auch legio Classica genannt ward, sondern auch die
Trümmer der sogenannten Nero'schen legio Classica, die mehr als
decimirt war. Zur Unterscheidung von der letztern wird die erstere
von Tacitus mit dem Beinamen Hispana genannt, weil sie Galba aus
Spanien mitgebracht hatte2). Ihre Soldaten waren aber keines-
*) Sueton. Galb. c. 12. Nam cum classiarios, quos Neros ex remigibus justos milites
fecerat, redire ad pristinum statum cogeret, recusantes atque insuper aquilam et
signa pertinacius flagitantes, non modo immisso equite disjecit, sed decimavit
etiam. Ausführlicher noch erzählt Plutarch. Galb. c. 15. Ou-zoi (ol ips-at),
oO; eis '£•> zii^a 6 Nepiüv a'jXXoyiaas dmeepißve oTpattiÖTas e&opüßouv ßorj inr)U.eta
t<J> TaYlAaTi xai ycupav al-oüv-e?. 'Eviwv 6e xai xäi jxayaipas J7taaau.syu>v, exeXeoss to'Js
Imteis ep-ßaXeiv aöxois 6 TaXßa;. Tacit. Histor. an verschiedenen Stellen I, 31, 1, 6.
(Introitus [Galbae] in urbem , trucidatis tot millibus inermium militura) , 1, 37 in
der Rede Otho's an die Truppen : Horror animum subit, quotiens recordor feralem
introitum — cum in oculis urbis decumari deditos juberet, quos deprecantes in
fidem acceperat. Dio Cass. LXIV. c. 3 nennt anstatt der Classici unrichtig Bopuipopot
(Leibtrabanten des Nero). '£>s 5'oiix eTiei&cmo , dXX'e&op'ißouv, icp-rjxe atpiai to iTpaTsyp.«
xai ol |xsv Ttotpay_pf(|J.a es eiitaxtx/iXio'js d-efravov, ot Ss xai iastoc toüto oexaTSU&s'y'es.
2) Tacit. Hist. I, 6. Inducta legione Hispana, remanente ea , quam Nero e classe con-
scripserat, plena urbs exercitu insolito : multi ad h'oc numeri e Germania ac Britannia
et Illyrieo. Man streitet darüber, was für eine Legion in vorstehender Stelle unter
legione Hispana zu verstehen sei. Natürlich kann hier nicht die Rede von der
IX Hispana sein, die damals in Britannien lag. ßorghesi meint, Tacitus bezeichne
damit die spanische Legion VI Victiix, die den Galba zuerst zum Kaiser ausgerufen
hatte und unter remanente ea (legione) wäre die Leg. I Adjutrix zu suchen. Diese
Auffassung ist sicher ganz unrichtig. Denn die VI Victrix war in Spanien in ihrem
Standlager zurückgeblieben und die I Adjutrix war nicht die von Nero conscribirte
30ö Aschbach.
wegs Spanier, sondern meist aus den östlichen Küstenländern des
Mittelmeeres.
Über diesen Punct erhalten wir sichere Andeutungen durch die
beiden Militär-Diplome, worin Kaiser Galba Veteranen der legio I
Adjutrix die honesta missio mit dem römischen Bürgerrechte und dem
Connubium ertheilt. Beide Diplome sind von demselben Tage, dem
22. December, im ersten Regierungsjahre Galba's erlassen, als
C. Bellicus Natalis und P. Cornelius Scipio Asiaticus Consuln
waren. Es war dieses im J. 68 unserer Zeitrechnung. Es scheint,
dass eine grosse Anzahl solcher Diplome an Veteranen der genannten
Legion damals gegeben worden, wodurch Galba das den neuen
Legionären ertheilte Versprechen alsbald erfüllte. Aus den Namen
und dem Vaterlande der angegebenen Soldaten und der unterschrie-
benen Zeugen, welche letztere ohne Zweifel der Legion ange-
hörten oder doch angehört hatten, ersehen wir, dass sie Klein-
asiaten (Phrygier, Lydier, Maeonier, Ephesier) oder Syrier (beson-
ders Antiochener) waren.
Diese Militär-Diplome sind aber in mehrfacher Hinsicht höchst
merkwürdig; sie sind unter den fünfzig Militär-Diplomen, welche
uns bekannt geworden, mit Ausnahme eines ähnlichen von Vespa-
sian, die einzigen ihrer Art. Bei der honesta missio für die Legions-
Soldaten wurde sonst nicht das römische Bürgerrecht mit dem Connu-
bium ertheilt , weil ein Legionär schon römischer Bürger war.
Nur für die in den Auxiliar-Cohorten und Alen dienenden Nicht-
bürger hatte eine Bürgerrechtsertheilung Sinn. Bei den Soldaten der
Legio I Adjutrix aber musste eine Ausnahme stattfinden , weil
sie vorher auf der Flotte gedient hatten , zu welchem Dienste
Nichtbürger genommen wurden. Da aber die römische Civität nicht,
wie sonst bei den Auxiliartruppen der Fall war, auf Grund fünf
und zwanzigjähriger Dienstzeit ertheilt und dieses auch ausdrück-
lich in dem kaiserlichen Diplom der honesta missio erwähnt ward,
so konnte diese Form bei den eigentümlichen Verhältnissen der
Legionäre der I Adjutrix nicht beobachtet werden. Wir finden daher
legio classica, die sich bei Galba's Einzug1 zu Rom befand. In fast gleicher Weise
wie Borghesi fasst auch Ritter a. a. O. die Sache auf. Statt Hispana liest er
Hispanica. Gegen Ri tter's Ansicht ist Grotefend, der ganz richtig unter der Legio
Hispana die legio I Adjutrix versteht, in den Jahrb. des Ver. der Alterthumsfr. im
Rheinl. XVII. 209 ff. aufgetreten.
Die römischen Legionen prima und secunda Adjutrix. öUtl
auch eine andere ganz besondere Fassung gewählt , nämlich ohne
Erwähnung der Dienstzeit *)•
l) Die beiden Militär-Diplome des Kaisers Galba für Veteranen der leg. I Adjutrix wur-
den zu Castello a mare gefunden: das eine im J. 1688, das andere im J. 1728; jenes
wird gegenwärtig in Florenz im Museum Mediceum aufbewahrt; das zweite befindet
sich jetzt zu Verona Im Museum de' Marchesi Dionigi. Beide Diplome haben durch
den Druck veröffentlicht Maffei im Mus. Veron. p. 98 und p. 485; Muratori,
p.CCCVI, 3. und CCC, 4; Gori J. Etr. Vol. I, 257. III, 144; M a rini frat. Arval. 449
u. 450; Vemazza, dipl. di Adrian, p. 51 sqq. ; Cardinali dipl.miIit.Tav.il.
p. XVI, Tav. III. p. XVIII; Spangenberg, Tab. jur. Rom. T. II ■. III. — Auch bei
Orelli Nr. 737 ist das erste Diplom gedruckt. Den ausführlichsten Coramentar
über beide Diplome hat C a r d i n a 1 i in dem angeführten Werke geliefert p. 38 u. 49 ff.
Das im Jahre 1688 aufgefundene Diplom lautet:
(Ganze innere Seite.)
SER GALBA IMPERATOR CAESAR AVGVST
PONTIF MAX TRIB POT COS DES IT
VETERANIS QVIMILITAVERVNTIN LEGIONE
T ADIVTRICE HONESTAM MISSIONEM ET
CIVITATEM DEDIT QVORVM NOMINA SVB
SCRIPTA SVNT 1PS1S LIBERIS POSTERISQVE
EORVM ET CONVB1VM CVM VXORIBVS
QVAS TVNC HABVISSENT CVM EST CIVITAS
IIS DATA AVT SIQVI CAELIBES ESSENT CVM
IIS QVAS POSTEA DVXISSENT DVM TAXAT
SINGVLI SINGVLAS A D
XI KAL 1AN
C BELLICO NATALE
PCORNELIO SCIPIONE
D10MEDI ARTEMONIS F
PHRYGIO
DESCRIPTVM ETRECOGNITVM EXTABVLA AE
NEA QVAE FIXA EST ROMAE IN CAPITOLIO
IN ÄRA GENTIS IVLIAE
Die vordere äussere Seite wiederholt wörtlich den Inhalt der ganzen inneren Seite
mit Ausnahme des Wortes PHRYGIO; wofür sich findet PHRYGLAVDIC.
Die andere äussere Seite enthält die 7 Zeugen :
TI IVLIVS PARDALA SARD
CIVLI CHAR MI SARDIAN
TI CLAVDI QV1FID1NI MAO
NIAN
C IVL CF COL LIBON SARD
TI FONTEIVS CERIALIS SARD
P GRALTI PF AEM PROVIN
CIAE
IPESIVS
M ARRI RVFI SARD
310 Asch 1) ach.
Ein zweiter Umstand, der nicht weniger der I Adjutrix eine
eigentümliche Stellung unter den Legionen anwies, war der, dass
sie anfänglich kein bestimmtes Standlager in einer römischen Grenz-
provinz hatte. Galba mag ihr versprochen haben , dass sie nach
Beendigung des Bürgerkrieges eines von den beiden damals freien
Standlagern in Spanien erhalten sollte. Dass dieser Kaiser aber
sogleich nach seiner Ankunft in Italien der Leg. I Adjutrix ihr Stand-
quartier in Pannonien angewiesen habe, wie neuere Schriftsteller
behaupten i), ist unrichtig; sie haben die Worte des Dio Cassius, der
von seiner Zeit (um 200 nach Chr.) spricht3), falsch verstanden.
Wir haben auch noch eine Kupfermünze vom Kaiser Galba,
die ohne Zweifel auf unsere I Adjutrix zu beziehen ist. Der Avers
Das im Jahre 1728 aufgefundene Diplom gibt in der ganzen innern Seite denselben
Wortlaut wie das andere Diplom : nur kommt natürlich ein anderer Soldaten- Name
vor, nämlich: MATHAIO POLAI F SVROS (es ist zu lesen SYRO) und der Schluss
lautet auf der ersten Seite: EX TABVLA QVAE FIXA EST ROiMAE IN CAPITOLIO
AD ARAM.
Auf der zweiten äussern Seite finden sich die Namen der sieben Zeugen :
C. IVLIVS AG RIPPA APAMM
C NILVS IACE OS ANTIO
L VEL1NA NAVTA ANTIOC
Tl CLAVDIVS CHAEREA ANTIO
L CORNELIVS OPTATVS ANTIOC
L SECVRA ALEXANDRVS VET
ERANVS
M VALERIV S DI0D0RVS
VETERANVS
Was in beiden Diplomen besondere Beachtung verdient, sind die Namen und das
Vaterland der verabschiedeten Soldaten und der Zeugen, welche letztere sicher früher
verabschiedete Veteranen der leg. I. Adjutrix waren. In dem ersten Diplom haben wir
den verabschiedeten Soldaten Diomedes, Sohn des Artemon , aus dem phrygischen
Laodicea oder Laudicia gebürtig. Unter den Zeugen finden sich vier Sardiani, worunter
nicht Sardinier, die im Lateinischen gewöhnlich Sardi, Sardonii und Sardinenses
genannt werden, sondern vielleicht die Sardiaei oder Sardiotae, eine dalmatische
Völkerschaft, verstanden werden könnten. Cf. Plin. III, 22; Strabo VII; Ptol.
Geog. II, 16, 8. Richtiger aber dürfte es sein, unter Sardiani Einwohner der lydischen
Stadt Sardes zu verstehen : nicht nur passt die Form Sardianus, die sonst nicht für
Sardiaeus oder Sardiota vorkommt, für Sardes , sondern es stimmt auch mit den
übrigen Zeugen, die sämmtlich Kleinasiaten sind: denn der Ti. Claudius, Quinti
filius , Idinus ist ein Maeonier aus Maeonia in der Nähe von Sardes , und der
P. Graltius, Publii filius von der tribus Aemilia , ist ein Provinziale aus Ephesus,
denn statt IPESIVS ist zu lesen EPESIVS oder EPHESIVS. Dagegen in dem 2. Diplom
ist sowohl der verabschiedete Soldat Mathäus , Sohn des Poläus, ein Syrier, wie
auch fünf Zeugen, wovon einer aus Apamea und vier aus Antiochia.
*) Cardinali (p. 39) u. A.
2) Dio Cass. LV, 24.
Die römischen Legionen prima und seeunda Adjutrix. ö 1 1
der Legionsmünze zeigt das rechtsgekehrte belorherte Haupt Galba's
mit der Legende:
SER. GALBA IMP. CAES. AVG. TR. P.
(d. i. Servius Galba Imperator Caesar Augustus tribunicia potestate).
Die Kehrseite gibt einen Legions-Adler zwischen zwei Legionszeichen;
am Rande links den Buchstaben S, rechts den Buchstaben C (d. i.
SenatusConsulto); die mit Halsketten, Kronen und anderen Decoratio-
nen der militärischen Tapferkeit behangenen Stäbe der drei Signa
stehen auf Schiffsschnäbeln, die beiden Legionszeichen haben auf
ihrer Spitze eine Hand — es finden sich hier die Symbole oder
Embleme der ursprünglich aus Classicis gebildeten, dem Landheere
zur Hilfe und Unterstützung beigegebenen Leg. I Adjutrix *).
Die Regierung Galba's war nur von sehr kurzer Dauer. Schon
nach wenigen Monaten erfolgte sein Sturz durch die Umtriebe Otho's,
der die Missgriffe Galba's benützte, mit Hilfe der von ihm gewonne-
nen Truppen den Kaiserthron (15. Jan. 69 n. Chr.) zu besteigen.
Nicht allein die Prätorianer waren von Galba abgefallen, auch die
Leg. I Adjutrix folgte dem treulosen Beispiele der Kaisergarde. Seit-
dem Galba bei seinem Einzüge in Rom ein so grosses Blutbad unter
ihren früheren Flotten-Cameraden hatte anrichten lassen , war sie
gegen ihn mit Unwillen erfüllt; sie zögerte daher auch nicht den
meuterischen Prätorianern beizutreten und nach der Ermordung
Galba's dem neuen Kaiser sogleich den Eid der Treue zu schwören2).
Die bis zu dieser Zeit in Gefangenschaft gehaltenen Überreste der
neronianischen legio Classica wurden nunmehr in Freiheit gesetzt und
nicht auf die Flotte zurückgeschickt, sondern wie Landtruppen inLe-
gions-Cohorten eingereiht und auch den anderen in Born befindlichen
Classicis (ausNero's Zeit) in Aussicht gestellt, in jene aufgenommen
zu werden 3).
*■) Die Münze ist beschrieben und abgebildet bei Grotefend Gruss an H. L. Ahrens.
Hannov. 1849, S. 8 ff. Über die Signa militaria spricht Plin. hist nat.X. c.S. Cf. Ez.
Spanheim de praestant et usu numismat. p. 558 ed. Amst. 1671 und Stewech. ad
Veget. de re milit. p. 56.
2) Tacit. Hist. I, 31. (Galba) legioni classicae diffidebatur, infestae ob caedem com-
militonum , quos priino statim introitu trucidaverat Galba. — Legio classica nihil
cunctata Praetorianis adjimgitur. c. 36. Postquam (Otho) universa classicorum legio
saeramentum ejus accepit.
3) Tacit. Hist. I, 87. (Otho) reliquos caesorum ad pontem Milvium et saevitia Galbae in
custodiam habitos , in numeros (i. e. cohortes) Iegionis composuerat, facta et ceteris
312 Asch b ach.
Da Otho somit die neronianische legio Classica wiederherstellte
als besonderes Land-Corps und die Leg. I Adjutrix wegen ihrer Ent-
stehung aus Classicis nicht selten auch legio Classica genannt wurde,
so gab man, um Verwechselungen zu verhüten , der Legio I Adjutrix
die Bezeichnung Legio I Classica oder Classicorum, oder überhaupt
legio Prima1), der andern die Benennung legio Classica oder legio
e classicis, ohne weiteren Beisatz.
Es versteht sich von selbst, dass durch neue Truppenaushebungen
die Lücken in der Bemannung der beiden prätorischen Flotten, die
durch die Entfernung so vieler Tausende von classici entstanden
waren, wieder ausgefüllt wurden.
Dem Kaiser Otho war nicht beschieden lange in Buhe der Herr-
schaft sich zu erfreuen. Kaum hatte er den Thron bestiegen, so kam
ihm schon die Nachricht zu, dass die Legionen am Bhein den Vitel-
lius zum Kaiser ausgerufen hätten (am 1. Jan. 69) und sie in grosser
Heeresmacht nach Italien zögen, um mit gewaflheter Hand ihn in die
Herrschaft einzusetzen. Unter den Truppen, welche Otho den über
die Alpen ziehenden vitellianischen Legionen entgegensandte, befand
sich auch unsere Leg. I Adjutrix. Ibrem früheren Legaten Annius
Bubrius Gallus war damals im Commando Orphidus Benignus gefolgt.
In der Nähe von Cremona bei Bedriacum kam es zwischen den vitel-
lianischen und othonianischen Streitkräften zur blutigen Schlacht.
Es war hier das erste Mal, dass die Legio I Adjutrix ins Treffen geführt
wurde. Sie brannte vor Kampfbegier und konnte kaum den Moment
erwarten, wo sie sich auf den Feind stürzte. Ihr gebührte auch der
Preis der Tapferkeit und der unerschrockensten Ausdauer. Sie
durchbrach mit unwiderstehlichem Ungestüm die Beihen der Legio
XXI Bapax und erbeutete im blutigsten Kampfe deren Adler. Dieser
schimpfliche Verlust spornte die Vitellianer zu den ausserordentlich-
sten Anstrengungen an; sie erneuerten den Angriff auf die I Adjutrix,
tödteten deren Legaten Orphidius Benignus uud erbeuteten mehrere
spe honoratioris in posterum militiae. Von diesen Classicis ist die Rede auch hei
Tacit. Hist. II. 11. Classicorum numerus ingens, und III, 55. Secuta est e classicis
legio.
*) Tacit. Hist. II, 1. Ex ipsa urhe — equitum vexilla cum legione prima. II, 23. Gallus
legionem primam in auxilium Placentiae ducehat. cf. II , 17. II, 24. Dextra fronte
prima legio incessit. II, 67. Prima classicorum legio in Hispaniam missa. In allen
diesen Stellen ist sicher von der leg. I Adjutrix die Rede.
Die römischen Legionen prima und secunda Adjulrix. 313
Fahnen und Legionszeichen ')• Die Schlacht ging für Otho ver-
loren. Da er die Niederlage nicht überleben wollte, so stürzte
er sich in sein eigenes Schwert und endete durch Selbstmord
(16. April 69), nachdem er nur drei Monate die Herrschaft geführt
hatte.
Die othonianischen Legionen unterwarfen sich dem Sieger
Vitellius. Dieser traute der I Adjutrix nicht ganz; auch war ihm die
grosse Anhänglichkeit die sie überall für die Sache Otho's an den
Tag gelegt hatte, wohl bekannt geworden2). Er entfernte daher die
Legion aus Italien nach Spanien, wo er ihr das Standlager anwies.
Dort, meinte Vitellius, sollte sie im Friedenslager allmählich ihren wil-
den Sinn mildern und seiner Herrschaft gefügiger werden 3). Dage-
gen die andere legio Classica die Otho errichtet hatte , behielt er in
Italien bei sich; er wähnte, diese Truppen würden ihm besonders treu
und ergehen sein. Wie sehr er sich in dieser Erwartung täuschte,
zeigte sich bald.
Die orientalischen Legionen welchen auch die Donau-Legionen
beitraten, erkannten die Herrschaft des Vitellius nicht an , sie riefen
(am 1. Juli 69) den Fiavius Vespasianus zum Kaiser aus der, ehe er
aus dem Oriente selbst in Italien eintraf, dahin seine Legaten mit
den Donau-Legionen vorausgeschickt hatte , zur Bekriegung seines
Rivalen.
*) Taeit. Hist. II, 23 sagt: Aegre coercitam legionem (I Adjutr.) et pugnandi ardore
usque ad seditionem progressam. Dass sie den Kern und die Hauptstärke des otho-
nianischen Heeres gebildet habe, wird Hist. III, 13 angegeben. Von der Schlacht bei
Bedriacum berichtet Taeit. Hist. II, 43 : E parte Othonis prima Adjutrix non ante in
aciem deducta, sed ferox et novi decoris avida. Primani, stratis una et vicesimanorum
principiis aquilam abstulere. Quo dolore accensa legio impulit rursum primanos,
interfecto Orphidio ßenigno legato et plurima signa vexillaque ex hostibus rapuit.
Ausführlicher noch lautet die Erzählung bei Plutarch, Oth. c. 12. Mövoct 6: Süo
Xeysiovs; (üut<u y^P tö T<iY|A<xToc 'Piupoüoi xaXo'Jjiv) s-ixXrjjiv yj piv O'JiteXXiou "Apira£,
■i) OE Odtovoc B'jy;i}o; — v6p.tp.6v Tiva päyjfjv a'jpzsaoüja ^a).\oifirfi'ri , k^.i:/yi~'t iroXuv
Xpovov. Oi psy oyv "O&or/os ävops? 7)3av süptuiTCii xai ÖYceSoi. ~o).s'po'j 5s xcu päyr,; tots
npiuTTjV --\yj.i X.ap.ß<4vovTEc Es wird dann erzählt, wie sie die -popcr/oi der leg. XXI
Rapax tödteten und deren Adler erbeuteten, aber diese Legion den Angriff erneuerte :
-'*/ ts -psjßs'j-Tjv (Legaten) toj T^pa-o? 'Op«pt8iov sxtsivav xod noXXa -iöv o^psiuiv
Tjpitctja;.
2) Taeit. Hist. IL 86. Pro Othone adversa Vitellio fnerat. III. 13. A prima Adjntrice
legione, quae memoria Othonis infensa Vitellio.
3) Taeit. Hist. II, 07. Prima classicorum legio in llispaniam missa. ul pace et QUO
mitesceret.
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XX. Bd. II. Hft. 21
314 A s c h b a c h.
Nachdem die ravennatische Flotte von Vitellius abgefallen war1)
und die illyrischen Legionen fürVespasianus den Sieg in der Schlacht
hei Cremona erfochten hatten, schien schon die Herrschaft des Vitel-
lius erschüttert. Noch war aber nicht Alles verloren, da der grössere
Theil der abendländischen Provinzen und Legionen auf seiner Seite
stand. Jedoch die schwelgerische Üppigkeit und die Trägheit des
Vitellius zeigten vollständig seine Unfähigkeit in stürmischer Zeit
das Regiment zu führen. Die Umtriebe und Thätigkeit der Gegner
gewannen täglich mehr Boden: in Spanien war es nicht schwer, die
Legio IAdjutrix die dem Vitellius ohnehin feindlich gesinnt war, ron ihm
abzuziehen; diesem Beispiele des Abfalles folgten sogleich die beiden
anderen in Spanien liegenden Legionen VI Victrix und X Gemina 2),
bald auch die vier britannischen Legionen II Augusta, IX Hispana, XIV
Gemina und XX Valeria Victrix. Als auch die misenische Flotte für die
vespasianische Partei sich erklärt hatte 3), war des Vitellius Herr-
schaft auf dem Mittelmeer vernichtet. Um das weitere Vordringen
der vespasianischen Legionen von Oberitalien aus gegen Rom zu ver-
hindern, hatte Vitellius mit fast sämmtlichen prätorianischen Cohor-
ten und der ganzen batavischeu Reiterei die vonOtho errichtete legio
Classica an den Apenninus gesendet 4). Sie sollte eine feste Stellung
bei der Coloniestadt Narnia in Umbrien nehmen. Anstatt dem Feinde
gegenüber die wichtige Festung zu behaupten, gingen die vitelliani-
schen Truppen treulos über, wobei sich die legio Classica als Preis
ihres Abfalles 5) besondere Rechte und Vortheile von Vespasianus
ausbedungen zu haben scheint.
Wie Nero nicht als Schöpfer der Legio I Adjutrix angesehen
werden kann, obschon er die Classici von der misenischen Flotte
zuerst wie Legions-Soldaten verwendete, so dürfen auch Otho und
Vitellius welche Classici von beiden prätorischen Flotten zur
ij Tacit. Hist. 11, 100. III, 12.
2) Tacit. Hist. 11, 86. Scriptae in Hispaniam ad priraanos epistolae, quod legio — pro
Othone adversa. III, 13. Cuncta ad victoris (Vespasiani) opes conversa, initio per
Hispaniam a prima Adjutrice legione orto, quae — decimam quoque ac sextam traxit.
3) Tacit. Hist. 111, 57.
4) Tacit. Hist. Hl , 55. Vitellius — Julium Priseuni et Alphenum Varum cum XIV
Praetoriis cohortibus et omnibus equituni aus obsidere Apeuninum jubet. Secuta
e classicis legio.
5) Tacit. Hist. 111, 58, 61, 63 und besonders 67: Audita defectionis legionis (classicae)
cohortiumque quae se Narniae dederunt.
Die römischen Legionen prima und secunda Adjutrix diO
Vermehrung ihrer Streitkräfte herbeizogen und als eine legio Classica
ihrer Landmacht zntheilten, nicht als Errichter einer neuen Legion
betrachtet werden. Denn diese zweite legio Classica des Otho wie
des Vitellius war keine förmliche stehende Legion römischer Bürger
mit einem bestimmten Standlager, sie war nur für die Dauer des
Krieges zu einem bestimmten Zwecke in der Form einer Legion
errichtet; sie war in Cohorten und Centurien abgetheilt und hatte
auch Führer wie die eigentliche Legion, aber es fehlten ihr dennoch
die wesentlichsten Merkmale und Bedingungen einer Legion.
Kaiser Vespasian war es, der aus den von Vitellius abgefallenen
Classicis der ravennatischen Flotten welche nach dem Beispiele der
von Galba zur legio I Adjutrix erhobenen misenischen Classici den
günstigeren Legionsdienst verlangten i), eine förmliche Legion bil-
dete, zu deren Vervollständigung auch ein Theil der übergetretenen
vitellianischen legio classica verwendet wurde. Die Soldaten der
neuen Legion welche II Adjutrix hiess mit den Beinamen Pia Fidelis 2),
bekamen somit sogleich das römische Bürgerrecht; die Veteranen
wurden mit allen Bechten der Legionäre entlassen und als römische
Bürger in bestimmte Coloniestädte eingewiesen. Die Legion selbst
erhielt den Adler und die anderen Feldzeichen 3) und es ward ihr ein
Standlager mit dazu gehörigen Ländereien zugetheilt. Es scheint,
dass ihr sogleich nach ihrer Errichtung ein pannoniscb.es Standquar-
tier zugewiesen wurde. Ihre Truppen waren meist aus Pannoniern und
Dalmatiern zusammengesetzt4), ihr Abgang von der Flotte ward auch
zunächst durch neuausgehobene Dalmatier ersetzt5}. Wie sich aus
*) Tacit. Hist. III, 50. Ad has copias e classicis Raveimatibus legionariam militiarn
poscentibus optimus quisque adsciti.
2) Dio Cass. LV. 24. Oöeanooiavö? xö Beörepov tö 'Emxoiipixöv to i-i Ilavvoviq rj xcitu).
Tacit. Hist. IV, 68. E recens conscriptis seeunda legio. Vorzüglich aber ist hier
Ouelle das unten mitgetheilte Militardiplom Vespasian's für Soldaten der Leg. II
Adjutrix Pia Fidelis.
3j Tacit. Hist. V, 16. Cerialis in der Rede an die Legionen vor der Schlacht gegen
die Bataver: illa primum acie seeundanos nova signa novamque aquilam
dicaturos.
4j (Tnter den sieben Zeugen des Militärdiploma von Vespasian (s. folg. S., Note 1) befinden
sich fünf Dalmatier : drei von Salona , einer von Jadera (Zara) und einer von
»dinurn (.NadinJ, in dem andern vespasianischen Militardiplom fs. S. 317, Note 1)
sind sämmtliche sieben Zeugen Dalmatier: drei aus Jadera, zwei aus Salona, zwei
aus Epitaurus und Risinum (Ra^usa).
5J Tacit. Hist. III, 50. Ciassem Dalmatae sopplevere.
21
Oib Aschbacli.
einem Militärdiplome des Kaisers Vespasianus vom 6. März d. J. 70
unserer Zeitrechnung für Soldaten der II Adjutrix ersehen lässt, wur-
den die welche eine zwanzigjährige Dienstzeit zurückgelegt hatten,
als Veteranen in allen Ehren entlassen1): denn die Dienstzeit der Le-
gionäre dauerte blos 20 Jahre, dagegen die der Seesoldaten 26 Jahre.
Daher heisst es auch in einem andern Diplom des Kaisers Vespasian
vom 5. April des J. 71 für Veteranen auf der ravennatischen Flotte,
die in pannonische Coloniestädte eingewiesen wurden , dass sie das
J) Dieses vespasianische Militärdiplom , welches zu Resina in Caropanien im J. 1746
gefunden worden ist und gegenwärtig- im Mus. Hercul. zu Neapel aufbewahrt wird,
ist unter andern veröffentlicht in den Bronzi delle antiehita d'Ercolano T. I, p. XL,
bei Marini frat. Arv. p. 452, und bei Cardinali dipl. mil. Tav. IV, p. XIX. mit
Commentar p. 63 sqq. Es lautet die ganze innere Doppelseite, und die zweite
äussere Seite, welche die Zeugen, die fast sämmtlich Dalmatier sind, gibt, wie folgt :
IMP VESPASIANVS CAESAR AVG
TRIBVNIC POTEST COS TT
VETERANIS QVI MILITAVERVNT IN LEGIONE
TT ADIVTRICE PIA FIDELE QVI VICENA
STIPENDIA AVT PLVRA MERVERANT
ET SVNT DIMISSI HONESA MISSIONE
QVORVM NOMINA SVBSCRIPTA SVNT IP
SIS LIBERIS POSTERISQVE EORVM CIVI
TATEM DEDIT ETCONVBIVM CVM VXORI
BVS QVAS TVNC HABV1SSENT CVM EST
CIVITAS IIS DATA AVT SIQVI CAELIBES
ESSENT CVM IIS QVAS POSTEA DVXISSENT
DVMTAXAT SINGVLI SINGVLAS
A D NON MART
IMP VESPASIANO CAESARE AVG IT
CAESARE AVG F VESPASIANO COS
T I PAG V LOC XXXXVI
NERVAE LAIDI F DESIDIATI
DESCRIPTVM ET RECOGNITVM EX TABVLA
AENEA QVAE FIXA EST ROMAE INCAPI
TOLIO IN PODIO ARAE GENTIS IVLIAE
C HELVI LE PIDI SALONI
TANI
Q PETRONI MVSAEI IADES
TIM
L VALERI ACVTI SALONIT
M NASSI PHOEBI SALONIT
L PVBLICI GERMVLLI
Q PVBLICI MACEDONIS
NEDITANI
Q PVBLICI CRESCENTIS
Die römischen Legionen prima und secunda Adjutrix. öl/
Bürgerrecht mit dem Connubium nach zurückgelegter sechs und zwan-
zigjähriger Dienstzeit erhielten1). Übrigens ersehen wir auch sonst
aus Inschriften , dass die entlassenen Veteranen der II Adjutrix in
pannonische Coloniestädte als römische Bürger deducirt, d. i. ein-
gewiesen wurden 3).
So lange noch Vespasianus mit Vitellius um die Herrschaft zu
kämpfen hatte — der Sturz des letzteren erfolgte erst im December
des J. 69 — und so lange der gefährliche batavische Aufstand unter
Civilis am Niederrhein dauerte, konnte von der legio II Adjutrix das
ihr zugewiesene pannonische Standlager nicht bezogen werden. Da
Vespasian nach Befestigung seiner Herrschaft in Italien und in Bom,
grössere Truppenmassen am Bhein zusammendrängte, so kamen dahin
fast zu gleicher Zeit auch die beiden Legionen I und n Adjutrix 3).
1) Dieses zweite vespasianische Diplom , welches zu Salona gefunden , und lange in
Rom im Mus. Barberin. aufbewahrt wurde, ist jetzt in Berlin. Es ist ziemlich oft
gedruckt, nicht nur in den Sammlungen der Militärdiplome, wie bei Cardinali
Tav. V, sondern auch bei Gruter 573, 1 ; bei Morcelli de stilo p. 191;
Vernazza memorie della R. Acad. di Torino T. XXIII u. A. Der Anfang lautet:
Irap. Caesar Vespasianus Aug. Pont. Max. Tr. Pot. TT. Imp. VL P. P. Cos. TU.
Desig. IUI. Veteranis qui militaverunt in classe Ravennate sub Sex. Lucilio Basso
qui sena et vicena stipendia aut plura meruerunt et sunt deducti in Pannoniam etc.
Non. April. Caesare Aug. F. Domitiano Cn. Pedio Casto Cos. Piatori Veneti F.
Centurioni Maezeio (die Mazaei waren eine pannonische Völkerschaft an der Grenze
von Dalmatien. Plin. VI, 22; Dio Cass. LV, 32).
2) Eine im Jahre 1843 aufgefundene Steininschrift, welche in der Zeitschrift für
Geschichte von Steiermark IV, 209 mitgetheilt ist, lautet:
C • CORNELIVS • C • F
POM • DERT • VERVS
VET • LEG TT • ADI
DEDVCT-C • V • T • P (i. e. Colonia Ulpia Trajana Poetoviensis)
MISSION • AGR • II
MILIT • B • COS
ANNOR • L ■ H - S • E
TEST • FIER • IVS
HERES
C • BILLIENVS VITALIS
FC
3) Die Stelle in Tacit. Hist. IV, 68 ist in Betreff der Zahlen sehr corrumpirt. Es
wird dort von Vespasians Truppensendung an den Rhein gesprochen : Legiones
viclrices sexla (für VI ist zu lesen XI) et octava , Vitelliauorum una et vicesima,
e recens conscriptis secunda (i. e. II Adjutrix), Penninis Cottianisque
Alpibus, pars monte Grajo, traducuntur : XIV legio e Britannia, sexta et decima
(für X ist 1 zu lesen i.e. I Adjulrix) ex Hispania accitae. Erst später wurde
die X Gemina aus Spanien an den Rhein gesendet. Tacit. Hist. V, 19. XIV legio
318 A s c h b a c h.
Die erstere verliess ihr spanisches Standlager J), um nie wieder
dahin zurückzukehren, die andere welche in der ersten Zeit ihrer
Errichtung in lllyrien gestanden, sollte nur vorübergehend die Lücken
ausfüllen, welche theils durch den Untergang, theils durch die Auf-
lösung rheinischer Legionen entstanden waren.
Vespasian setzte die Zahl der Legionen auf dreissig fest. Er
ordnete von Neuem das römische Kriegswesen, steuerte der Zügel-
losigkeit der Soldaten, organisirte mehrere Legionen ganz neu und
gab ihnen theilweise auch andere Benennungen und andere Stand-
lager. Am wenigsten änderte er im Oriente, wo er die fünf alten
in superiorem provinciam Gallo Annio missa, Cerialis exercitum clecima ex Hispania
legio supplevit. Klein (über die Legg. in Obergerm. S. 2t) erklärt sich ohne
Grund dagegen, dass die 1 Adjutrix schon unter Vespasian an den Rhein gekommen.
!) Die zu Tarragona in Spanien gefundene Inschrift, welche Gruter 529, 5 und
Mural. 795, 3 geben, rührt wohl nicht aus der Zeit des Aufenthaltes der 1 Adjutrix
in Spanien her, denn es wird in derselben auch die leg. II Trajana (Leg. II ■ TR)
erwähnt, die erst um dreissig .lahre später errichtet ward. Aus der Inschrift aber
lässt sich ersehen , dass römische Bürger aus pannonischen Coloniestädten in der
I Adjutrix dienten, denn es wird M. Aurelius Lucilius, einer von den kaiserlichen
Trabanten (Singularibus) , der in verschiedenen Legionen als Hastatus Primus
gedient hatte, als von Petavio (Pettau) gebürtig angegeben. Die Inschrift lautet:
M • AVR • M- F | LVCILIO PETAVIONI | EX SINGVLARIBVS IMP | LEG -I • ADIVTJ
LEG • II • TR | LEG • VIII ■ AVG | LEG • XIII • GEM | LEG • VII • CL | HAST • PR |
ANNOR • LX | STIPENDIOR • XXXX | VLPIA FAVEiNTINA | VXOR ET HEUES |
MARITO PiENTISSIMO | ET INDVLGENTISS1MO | FACIVND ■ CVRAVIT. —
Aus der Zeit des Aufenthalts in Spanien rührt her die Inschrift bei Gruter 383, 7
(Murat. t5, 7), die in Sevilla gefunden worden: M • CALPVILNIO MF | GAL •
SENECAE FABIO | TVRPIONI SENTINATIANO PRAEF | CLASSIS PR ■ MISEN |
PRAEF | CLASSIS PRAET • RAVEN | PROC ■ PROVINCIAE LVSITAN • ET VETTO-
NIAE | PP • LEG • I • ADIVTRICIS ORDO D • C • R • M | M • CALPVRVIVS SENECA |
HONORE VSVS | IMPENSVM REMISIT.— D ■ C- R M bedeutet Decurionum Coloniae
Romulae (i. e. Hispalis) Mandavit. —
Aus der Zeit, wo die I Adjutrix in Spanien stationirte , rührt vielleicht auch
folgende Inschrift:
D M
T • FL • ANTONINO
PPLEG T- ADIVTRI
EXN • PRINC • CL
QVIVIXIT-ANN.LXX
FILI -PATRI-BM
(in Neapel im Mus. Borbon. bei Mommsen Inscr. Reg. Neap. N. 2666).
Dass auch die bei Gruter 193, 3 (Mu rat. 874, 4) und Kellermann Vigil.
N. 41 mitgetheilten Inschriften aus dieser Zeit sind, könnte bestritten werden.
Dagegen ist die bei Vicque in Spanien gefundene und von Murat. 523, 5 mil-
getheilte Inschrift offenbar aus dieser Zeit.
Die römischen Leg-'onen prima und seeunda Adjutrix. 31«)
Legionen (III Cyrenaica, III Gallica, IV Scythica, VI Ferrata und
X Fretensis) nebst den zwei später hinzugefügten XII Fulminata
und XXII Dejotariana in ihren Standquartieren Hess : nur mit einer
Legion, der XVI Flavia, die er neu aus der früh er n XVI Gallica
bildete, vermehrte er die orientalischen Streitkräfte, indem er die-
selbe nach Syrien legte. In Nordafrika verblieb die III Augusta.
Dagegen wurden im Abendlande grosse Veränderungen vorgenommen.
Von den 21 europäischen Legionen kam nur eine nach Spanien; es
war die VII Galbiana, die aus Pannonien gezogen und mit den gerin-
gen Überresten der im batavischen Kriege zu Grunde gegangenen
XV Primigenia vereinigt als legio VII Gemina Felix in der Nähe
der galicisch-asturischen Gebirge stationirte und den Grund zu der
spätem spanischen Stadt Leon (Legione) legte. In Britannien
verblieben die drei alten Legionen II Augusta, IX Hispana und
XX Valeria Victrix. Da von den alten Rhein-Legionen drei (IV Mace-
donica, XV Primigenia und XVI Gallica) im Krieg zu Grunde gegangen
oder aufgelöst worden waren, so mussten zu den noch bestehenden
vier I Germanica , V Macedonica , XXI Rapax und XXII Primi-
genia neue hinzukommen. So lange der batavische Krieg gedauert
hatte, wurden am Rhein die aus anderen Provinzen herbeigezogenen
Legionen I und II Adjutrix, die VI Victrix, die VIII Augusta, die
X Gemina, die XI Claudia und XIV Gemina verwendet. Die
II Adjutrix war das erste Mal, seit ihrem Bestehen, am Niederrhein in
die Schlacht geführt worden und hatte ihren neuen Adler und ihre
neuen Feldzeichen durch den tapfersten Kampf eingeweiht *). Ihr
Standlager hatte sie eine Zeit lang zu Batavodurum3) (Duurstede in
der Provinz Utrecht), was kein eigentliches Legionslager, sondern
nur ein früheres Standquartier von Auxiliartruppen war. Nach der
völligen Unterdrückung des batavischen Aufstandes verminderte
Vespasian die Zahl der Rhein-Legionen auf acht. In Niedergermanien
stationirten I Germanica, V Macedonica, VI Victrix und XXI Rapax;
nach Obergermanien kamen zu der früher daselbst liegenden XXII
A) Taeit. Hist. IV, 68. V. lö.
2) Tacit. Hist. V, 20. Praesidia — legionum uno die Civilis — invaserit , decimam
legionem Arenaci, secundam Batavoduri. Ein Fragment von einer am Rhein gefun-
denen Steininsehrift, welche der II Adjutrix erwähnt, gibt Fuchs Gesch. v. Mainz
I, 123 u. Steiner, Cod. inscr. n. 377. MIL . . II ADI.
320 A s c h b a c h.
Primigenia die I Adjutrix in Moguntiacum *), die VIII Augusta in
Argentoratum und die XI Claudia in Vindonissa*). Die übrigen neun
Legionen wurden für die Bewachung Illyriens und der Donauländer
bestimmt; fünf für die von den Daciern und Sarmaten sehr bedrohten
unteren Donaugegenden : I Italien , IV Flavia (errichtet von Vespasian
an der Stelle der IV Macedoniea), V Alauda , VII Claudia und XV
Apollinaris; vier für die oberen Donauländer Pannonien und Noricum :
die X, XIII und XIV, sämmtlich mit dem Beinamen Gemina, und die
II Adjutrix »).
Unter Titus und Domitian kamen keine Errichtungen neuer
Legionen vor; die Standquartiere der Truppen blieben auch im Ganzen
dieselben. Doch fielen unter Domitian einige Veränderungen vor.
i) Dieses zeigen die in Mainz gefundenen zahlreichen Steininschriften und Stempel-
zeichen der 1 Adjutrix. Vgl. Steiner, Cod. inscr. tat. Rhen. I, N. 395—401, und
S. 321, Note4; ferner Gruter 389, 1; 478,6; 516, 1; M u r a t. 550, 2; 1106,
3; 2028, 6; 2029, 4; Donati 284, 8; 293, 2; 469,2; 473, 3; Maffei, M. V.
244 3- 451 6. u. 7. Klein in der oben angeführten Schrift über die Legionen in
Obergermanien S. 21 gibt an, dass Stempel- und Backsteine von der I. Adjut. bei
Mainz, Wiesbaden, Hedernheim, Bergzabern, Rottenburg gefunden worden, und dass
es von keiner Legion in Mainz so viele Steine der Legionscenturien gäbe als gerade
von dieser; noch gegenwärtig seien einige Stadtthore damit geziert und er gibt
S. 22 einige an. Grabsteine von Soldaten der I Adjutrix führt er in Allem zehn an.
Unrichtig aber sind folgende Angaben Kleines: „dass die I. Adjutrix schon unter
Vespasian hierher (nach Moguntiacum) kam, möchte ich nicht annehmen, eher unter
Trajan sie scheint nicht lange am Rhein gestanden zu haben. — Die Denkmäler,
die sie in den rheinischen Gegenden zurückgelassen hat, gehören also in die Zeit
von etwa 100—150".
2) Zeitweise ward die I Adjutrix mit der XI Claudia am Oberrhein verwendet, wie aus
einem bei Baden gefundenen Fragment einer Inschrift zu schliessen ist. Leicht-
len 's Forschungen I, S. 55 und S teiner, Cod. Inscr. II, Nr. 829:
. . MP • NERVA • TRA
. . . PONTIF • MAX
. . . G • I • ADI . . . EG • XI . C
3) Das Jahr, in welchem die II Adjutrix nach Pannonien in ihr schon früher bestimmtes
Standlager kam, lässt sich nicht ermitteln : jedenfalls aber war es noch unter Ve-
spasian's Regierung sogleich nach Beendigung des batavischen Aufstandes. Dass
die Legion noch bis auf Trajan's Zeit am Rhein gestanden, wie einige Neuere be-
haupten, ist sicher eine unrichtige Ansicht. Aus dieser ersten Zeit des Aufenthaltes
der II Adjutrix in Pannonien mag die sehr verstümmelte Inschrift (bei Murat. 765,5)
herrühren, welche Mommsen Inscr. regn. Neap. N. 383 nach eigener Besichtigung
sehr verbessert und vervollständigt hat; es wird darin von einem Tribunus militum
seeundae Adjutricis Piae Fidelis gesprochen, der Bello Suebico et Sarmatico mit
mehreren Ehrenzeichen beschenkt worden war. Allerdings könnte die Inschrift auch
der Zeit des Marcus Aurelius angehören.
Die römischen Legionen prima und secunda Adjutrix. 321
Die Rhein-Legion I Germanica erlitt eine schwere Niederlage, sie
wurde dann neu organisirt und erhielt die Benennung I Min er via.
Die legioV Alauda in Mösien ging mit ihrem Legaten im Kriege gegen
die Dacier zu Grunde, sie wurde nicht mehr hergestellt; in ihr
Standquartier kam vom Rhein her die V Macedonica. Die in einem
orientalischen Kriege vernichtete legio XXII Dejotariana erhielt auch
keinen Ersatz; somit war unter Kaiser Domitian der Bestand der
Legionen auf 28 herabgesunken *).
Erst der Kaiser Trajan ergänzte die Zahl der Legionen wie-
der auf dreissig. Er errichtete für die in das mösische Standlager
der untergegangenen V Alauda gekommene V Macedonica die XXX
Ulpia Victrix und wies ihr am Niederrhein das frühere Standquartier
der V Macedonica an und für die abgegangene XXII Dejotariana
wurde in Ägypten die II Trajana errichtet ").
In seinen beständigen Kriegen mit den Germanen, Sarmaten
und Daciern beschäftigte Trajan seine Legionen ununterbrochen.
Unter Domitian schon und unter Nerva hatte die Rheinlegion I Adju-
trix mit den Sueven und anderen Germanen zu kämpfen , wie wir aus
Inschriften ersehen 3); ihre Ergänzungen erhielt sie meist aus Panno-
nien und Dalmatien, wie sich ebenfalls aus den bei Mainz und in den
Rheingegenden gefundenen Inschriften nachweisen lässt 4). Ihre
!) Tacit. Agrieol. c. 41. Ea insecuta sunt rei publicae tempora, quae sileri Agrieolam
nonsinerent: tot exereitus in Moesia Daciaque et Germania Pannoniaque temeritate
aut per ignaviam ducum amissi : tot militares viri cum tot cohortibus expugnati et
capti: nee jam de limite Imperii et dpa, sed de hibernis legionum et possessione
dubitatum.
2) Dio Cass. LV, 24.
3) Die in Portugal gefundene Inschrift, welche Gruter 368, 3 und Masdeu hist.
critic. de Espana VI, N. 921 geben, gehört hieher:
Q- ATTIO T-F | MAEC • PR1SCO | AEDII VIR-QVINQ | FLAM • AVG -PONTIF |
PRAEF-FABR | PRAEF-COH-I- HISPANORVM | ET COH TlVIONTANORVM | ET
COH -I-LVSITANOR | TRIB • MIL | LEG-F-ADIVTR | DONIS DONATO | AB IMP-
NERVA | CAESARE AVG • GERM^ BELLO SVEBIC | CORONA AVREA | HASTA
PVRA | VFXILLO | PRAEF | ALAE T AVG ■ THRACVM | PLEBS VRBANA.
Die Bemerkung von Klein (über die Legionen in Obergerman. a. a. 0.) über
diese Inschrift ist nicht richtig. „Grotefend bei Pauly S. 869 will dies aus
einer Inschrift Gruter 368, 3 folgern, weil hier eines Belli Suebic. Erwähnung ge-
schieht, an welchem ein Centurio derselben unter Nero (?) Theil nahm; allein
dort ist nach Gudius B aetic. zu lesen."
4) Steiner, Cod. Inscr. I, Nr. 361, 363, 326, 333, 334, 336, 337,343, 333. Klein
gibt auch eine Anzahl solcher Inschriften.
322 Aschbach.
Soldaten waren besonders aus den pannonischen und dalmatischen
Coloniestädten Savaria (Stein am Anger), Apros, Jadera und Äquum;
vielleicht hatte mancher von ihnen schon auf den prätorischen Flotten
gedient, wozu ja Dalmatien vorzüglich Mannschaften lieferte.
Trajan drängte wegen seiner schweren Kriege mit den Daciern
im Anfange des zweiten Jahrhunderts die römischen Streitkräfte an
der untern Donau zusammen. Für die Bewachung der Rheingrenze
und des Limes Romanus von der Donau bis an die Lahn erachtete er
vier Legionen ausreichend; so verblieben nur noch die I Minervia
und XXX Ulpia Victrix in Niedergermanien, und die VIII Augusta
und XXII Primigenia in Obergermanien. Von den übrigen vier Le-
gionen kam die VI Victrix nach Britannien in das Lager der IX Hispana,
welche mit der XXI Rapax zur Bewachung Rliätiens und der obern
Donau verwendet wurde, indem die beiden anderen Legionen IAdju-
trix und XI Claudia Trajan an die untere Donau zog und damit seine
Streitkräfte im Kriege gegen die Dacier verstärkte1). Auch die pan-
nonische Legion II Adjutrix wohnte den dacischen Feldzügen bei3),
und die I Adjutrix später auch der parthischen Expedition 3).
1) Die zu Nismes gefundene Inschrift, welche Borghesi Inscr. del Ueno (Annali XI,
p. 147) mittheilt, gehört der trajanischen Zeit an :
T. Julio Sex. F. Volt. Maximo Ma . . . Brocchio Servilian Aquadron ... | L.
Servilio Vatiae Cassio | Leg. Aug. IUI Flaviae Leg. Aug. Leg. I Adjut. | Juridico
Hisp. citerioris Baeticae don. | hello Dacico coronis murali et vallari et . . [arg.]
| vexillo Trib. mil. Leg. V. Macedonic. Seviro [eq.] | Rom. Turm. T X viro stlitibus
dijudic. Calagurritani ex Hispauia citeriore Patrono.
2) Nach einer Inschrift bei Marini Fr. Arv. II, 530. Orell. N. 3048. T ■ AVRIDIO •
P • F • NICEPHORO | PRIMIPILO LEG ■ II • ADIVT • IN | BELLO CONTRA | DACOS
AB INVICTISSIMO IMP ■ NO | STRO TRAIANO | FELICITER PATRATO CAS
| TRENSI CORONA DONATO | ET IN OBDINEM EQV1T • RO | MAN • ADSCITO L ■
GALERIVS VAFER ET | C • CESIVS LISIMACVS II ■ VIR | HVIVS MVNICIPI
PATRON | B • M • P • C ■ VI • KAL ■ IVLII.
3) Dieses zeigt eine bei Nola in Campanien gefundene Inschrift, welche G ruter 1096,
Kellermann Vig. N. 34 und correcter Mommsen Inscr. regn. Neap. N. 1947
geben. Für XVTTi FIRM ist zu lesen XVI FLFIRM und für LEG TT GALL ist zu
setzen LEG DI GALL. Die Inschrift lautet:
CN • MAR CIO
CN • FIL • GAL •
PLAETORIO CELERI
QVAEST •TTVIR £ ■ LEG ■ VIT GEMINA
£ -TEG • XVIII FIRM
DONIS DONATO A DIVO
TRAIANO IN BELLO PARTHIC
CORONA MVRALI TORQVIBVS
Die römischen Legionen prima und secunda Adjutrix. 323
Nach der glücklichen Beendigung des dacischen Krieges wurde
zur Bewachung der neueroberten Provinz Dacia die V Macedonica
und die früher in Pannonien gelegene XIII Gemina verwendet; die
XI Claudia erhielt ihr Standlager in Mösien, aber die I Adjutrix
kehrte nicht mehr an den Bhein zurück, sondern sie kam in das frei-
gewordene Standlager der XIII Gemina 1) nach Pannonien , wo sie
nun bleibend stationirte. Diese grosse römische Provinz welche im
Norden und Osten von der Donau, im Süden von der Save, im Westen
vom Mons Cetius (Kahlenberg) und den norischen (steirischen) Ge-
birgen begrenzt wurde, zu manchen Zeiten aber diese Gebirgszüge
mit Noricum bis an die Enns in sich schloss 3), theilte Kaiser Trajan
zuerst in zwei Provinzen in Ober- und Niederpannonien, welche der
Baabtluss theilweise von einander schied 3).
Indem in den beiden oberpannonischen Donau-Lagern zuVindo-
bona (Wien) undCarnuntum (Petronell) die X Gemina und XIV Ge-
mina standen , hatten in Niederpannonien die beiden Legionen I
und II Adjutrix ihre Standquartiere und zwar zu Bregetio (d. i.
Szüny, oberhalb Gran) die Legio I Adjutrix, und zu Acinquum
ARMILLIS PHALERIS £ • LEG ■ Ü GALL
£ • LEG • XlTTl GEM ■ MART • VICTR
£ LEG- VTI CL -P-F- £ • LEG T- ADI • PF PPLEG
EIVSDEM PRAEPOSITO NVMEROR
TENDENTIVM IN PONTO AB
SARO TRIB • COH • IT VIG •
PATRONO COL ■
D D
*) Früher hatte die XIII Geraina ihr Winterlager zu Petovio (Pettau) gehabt. Tacit.
Hist. III, 1. Später war es an die Donau nach Bregetio verlegt worden.
2) Die genaueste Begrenzung Pannoniens gibt Ptolem. Geogr. II, c. 14 u. 15.
3) Noch unter Titus und Domitian kommt von einer Theilung Pannoniens in zwei Pro-
vinzen keine Spur vor. In den Militärdiplomen dieser beiden Kaiser für Truppen, die
in Pannonien lagen, heisst es einfach: et sunt in Pannonia. (Vgl. Arneth zwölf Mil.
Dipl. Nr. III u. IV, p. 33 u. 39.) Erst von Trajan wurde Moesia wie Pannonia in
zwei Provinzen , in die obere und untere, getheilt. (Vgl. Arneth I. c. T. V, p. 43
in Betren" Mösiens, und ein Militärdiplom Trajans v. J. 114 für Truppen in Pannonia
inferiore Sitzungsber. der phil.-hist. Classe der Wiener k. Akad. d. W. Bd. XI.) Ptole-
mäus in der Geogr. I. c. gibt die Trennung in die zwei Provinzen an. Wenn auch
zeitweise unter Antoninns Pius wieder eine Vereinigung stattfindet, so ist doch von
Marcus Aurelius an bis auf Diocletian Pannonien in das obere und untere getheilt.
Unter Hadrian war Aelius Verus vor dem Jahr 136 Pannoniis dux ac rector impositus,
mox consul creatus; vgl. Spartian. vif. Ael. Ver. c. 3.
324 A s c h I) a c h.
(Altofen) die II Adjutrix; sie blieben daselbst Jahrhunderte hin-
durch !).
An bestimmten Angaben der alten Quellen über die Stand-
quartiere unserer beiden Legionen in Niederpannonien im zweiten
Jahrhundert fehlt es nicht. Es geben darüber Zeugniss vier ziem-
lich gleichzeitige Quellen, zwei davon nennen uns genau mit Namen
die Standlager, eine dritte bezeichnet nur die Provinz und endlich die
vierte reiht die Legionen überhaupt nur zu den pannonischen. Begin-
nen wir mit der allgemeinsten Notiz und schreiten wir dann zu den
specielleren Angaben.
Man hat ein altes Legionen- Verzeichniss das offenbar aus
der Mitte des zweiten Jahrhunderts herrührt. Auf einer kleinen
runden Marmor-Säule die sich früher auf dem Capitolium zu Rom
befand, jetzt aber im vaticanischen Museum aufbewahrt wird, finden
sich die Namen der Legionen aufgezeichnet. Man hat früher den
Werth dieses wichtigen Verzeichnisses weniger schätzen können,
weil man die drei Columnen in welche die Namen gereiht sind, über-
sah und die Namen daher irrthümiich in eine verkehrte Verbindung
brachte, so dass man die eilf Zeilen von je drei Legionen-Namen
nach einander las, anstatt dass man die drei Columnen besonders
hätte berücksichtigen sollen, mit Ausnahme der letzten (eilften) Zeile
die ein späterer Zusatz ist mit drei neben einander zu lesenden
Legionen-Namen. Offenbar gibt der capitolinische Legionen-Katalog
den Bestand der Legionen in den ersten Jahren des Marcus Aurelius,
*) Es ist hier nicht der Ort, über die beiden oberpannonischen Standlager Vindobona
und Carnunturn näher zu sprechen. Doch müssen wir bemerken , dass über die
römische Stadt Carnuntum eine gelehrte Abhandlung von E. v. S acken erschienen
ist (Sitzungsb. der phil.-hist. Cl. der Wiener k. Akad. der W. Bd. IX, S. 660). Das
im Itinerar. Antonini und in der Notitia dignit. Imp. genannte Bregetio, welches
Ammian. Marcel 1 in. Bregitio schreibt, Ptolemäus aber Bps-foctTiov, Aurelius
V i c.to r Bergentio , Jornandes Brigitio , lag am südlichen Donauufer im Lande
der Aravisci. C e 1 1 a r i u s setzt den Ort an die Stelle des heutigen Gran ; Mannert
und die neuesten Herausgeber des Itinerar. Antonini, Parthey und Pinder be-
stimmen als Lage die Gegend von dem Marktflecken Szöny in der Mitte zwischen
Gran und Komorn. — Acincum oder Acinquum (so in den Inschriften, im Itiner. An-
tonin. , Ammian. Mar cell in. und in der Notit. Dign. Imp.) wird vonPtolem.
Geogr. II, i S "AxootjTcov und in der Tabula Peutinger. Aquincum genannt. Diese am
rechten Donauufer gelegene Römer -Colonie ist an der Stelle des heutigen Markt-
flecken Altofen (Buda vetus) zu suchen , wo zahlreiche Spuren römischer Nieder-
lassung aufgefunden wurden und Inschriften von der leg. II Adjutrix auf das Stand-
lager derselben hinweisen.
Die römischen Legionen prima und secunda Adjutrix. 32 D
also in einer Zeit wo bereits die beiden Legionen IX Hispana und
XXI Rapax schon zu Grunde gegangen waren. Da es noch unter
Kaiser Hadrian (bis 138) dreissig Legionen gegeben1), durch den
Abgang jener beiden Legionen aber, die nicht mehr im Katalog vor-
kommen, der Bestand auf 28 herabgesunken war, so muss die Auf-
stellung der Säuleninschrift nach Hadrian's Zeit fallen. Sie kann aber
nicht nach der Regierung des Marcus Aurelius gemacht worden
sein , denn sonst müssten die von diesem Kaiser neu errichteten
beiden Legionen II und III Itaüca an ihrer Stelle eingereiht sein.
Sie finden sich zwar auf der Inschrift angegeben, aber als späterer
Zusatz in der dritten Columne zu Ende; eine noch spätere Zugabe
ist die Beifügung der drei parthischen Legionen welche Kaiser Sep-
timius Severus um 200 n. Chr. errichtete. In dem ursprünglichen
capitolinischen Katalog kamen daher nur 28 Legionen -Namen vor
und zwar in der ersten Columne zehn, in der zweiten ebenfalls zehn
und in der dritten nur acht Namen. Die Reihenfolge ist eine geogra-
phische. Nach den Provinzen worin sich die Standquartiere der
Legionen befanden, werden letztere genannt. Nach dieser Anordnung
wird im Norden mit den drei britannischen Legionen (II Augusta, VI
Victrix, XX Valeria Victrix) begonnen, es wird dann zu den vier
rheinischen (VIII Augusta, XXII Primigenia, I Minervia, XXX Ulpia)
übergegangen; es folgten weiter die vier pannonischen (I Adjutrix,
X Gemina, XIV Gemina, II Adjutrix), dann die sechs dacisch-mösischen
1) Spartian. vit. Adrian, c. 14. (Adrianus Imp.) qui habet triginta legiones. Über die
letzten Standquartiere der beiden Legionen IX Hispina und XXI Rapax und die Zeit
ihres Abganges herrscht ziemliche Dunkelheit. Dass die IX Hispana noch unter
Hadrian existirte, ist keinem Zweifel unterworfen. Einen Beweis dafür liefert die
Inschrift auf den Consul L. Burbulejus (im Anfang der Regierung des K. Antonius
Pius), vgl. B or gh e si sopra un' inscrizione del console L. Burbulejo. Napoli 1838
und eine andere Inschrift bei Renier, Inscr. Rom. de l'Algier. Paris 1853. Livr. I, p. 5.
Ob diese Legion in Britannien oder in Palästina oder an der oberen Donau in Rhatien
zu Grunde gegangen, darüber kann gestritten werden. Noch mangelhafter sind die
Nachrichten über die XXI Rapax nach Vespasian's Zeit. Weder Urlichs, noch
Meyer, noch Klein, die über sie gehandelt haben, können eine bestimmte
Hinweisung geben, wo sie zuletzt gestanden und wann sie ihren Untergang gefunden.
Sicher ist es, dass sie unter Septimius Severus nicht mehr existirt hat, aber auch
unter M. Aurelius und in der Zeit des Ptolemäus war sie nicht mehr vorhanden.
Unter Hadrian aber kann ihre Existenz noch behauptet werden. Dass sie aber schon
Domitian ganz aufgelöst habe, wie Meyer a. a. 0. S. 142, nach Grotefend's
früherer Meinung behauptet, ist offenbar eine unrichtige Ansicht die sich auf falsche
Voraussetzungen stützt.
326
Aschbach.
(IV Flavia, VII Claudia, I Italica, V Macedonica, XI Claudia,
XIII Gemina); es wird hierauf zu den orientalischen Legionen fort-
geschritten; zuerst werden die zwei kappadocischen (XII Fulminata
und XV Apollinaris) , dann die vier syrischen (III Gallica, IV Scy-
thica, XVI Flavia, VI Ferrata) nebst der einen palästinischen
(X Fretensis) und der einen arabischen (III Cyrenaica) genannt.
Ferner werden in Afrika zuerst die ägyptische (II Trajana), dann
die nordafrikanische (III Augusta) angeführt. Den Schluss des Cyclus
macht endlich die eine spanische (VII Gemina) 1).
Bestimmter und genauer als der capitolinische Legionen -
Katalog lautet der Bericht bei Dio Cassius der in seiner römischen
Geschichte eine Übersicht der alten bis auf seine Zeit (von 180 — 230)
noch vorhandenen 19 Augusteischen und der später gebildeten Legio-
nen angibt. Er nennt ausdrücklich bei jeder Legion den Errichter und
*) Die capitolinische Marmor-Inschrift mit dem Legionen-Katalog' gibt Gruter doppelt
313, 3 mit 11 Zeilen und Nr. 513, 2, wo aber die 9. Zeile mit den Namen von drei
Legionen fehlt. So auch bei Orelli: das vollständige Verzeichniss Nr. 3369, das
mangelhafte Nr. 3468. Den correctesten Abdruck hat B o rghesi Inscriz. del Reno
(Annali dell' Institut, di Corrispond. archeol. T. XI, Rom. 1839, p. 176) geliefert.
Darnach geben wir hier den Katalog :
11 • AVG
VI • VICTR
XX • VICTR
VIII • AVG
XXH • PRIM
I • MINER
XXX • VLP
I • ADIVT
X • GEM
XIIH • GEM
I • PARTH
II • ADIVT
IUI • FLAV
VII • CLAVD
I • ITALIC
V • MACED
XI • CLAVD
XIII ■ GEM
XII • FVLM
XV • APOL
III • GALLIC
II • PARTH
IUI • SCYTH
XVI • FLAV
VI • FERRAT
X • FRETE
III • CYREN
II • TRAIAN
III • AVG
VII • GEM
II • ITAL
III • ITALIC
III • PARTH
Wir verdanken Borghesi der diese Inschrift wiederholt genau besichtigte, wesent-
liche Berichtigungen einiger Irrthiimer, die in den früheren Abdrücken sich einge-
schlichen hatten: an der Stelle, wo Bu rghesi ganz richtig XIIH • GEM gefunden,
geben Gruter und Orelli früher XIII ■ GEM und umgekehrt für XIII ■ GEM wurde
XI1I1 • GEM gelesen. Durch diese falschen Lesungen aber wurden die pannonischen und
dacischen Legionen untereinander geworfen. Dass aber bei Aufzählung der pannoni-
schen Legionen nicht wie bei der Angabe der ober- und niedergermanischen Legionen
geschehen ist, die niederpannonischen von den oberpannonischen gesondert gestellt
worden sind, mag darin seinen Grund haben, dass zu Zeiten und zwar gerade unter
Antoninus Pins, als die Inschrift gemacht ward, die beiden Provinzen als Gesammt-
Pannonien unter einem Statthalter vereinigt waren und daher kein Grund war die
I und II Adjutrix wie die X und XIIH Gemina besonders zusammenzureiheu.
Die römischen Legionen prima und secunda Adjutrix. *)£ /
die Provinz , worin sich ihr Standlager befand. Von den vier pan-
nonischen Legionen meldet er:
„Die zehnte, aus zwei Legionen und desshalb die doppelte
genannt, in Oberpannonien."
„Die vierzehnte oder doppelte in Oberpannonien."
„Galba errichtete die erste Helfende in Niederpannonien."
„Vespasian, die zweite Helfende in Niederpannonien".
Diese Angaben sind dahin zu berichtigen, dass Galba undVespa-
sian die Legionen nicht in Niederpannonien errichtete, sondern die
Worte des Dio Cassius sind so zu verstehen, dass Galba die I Adju-
trix die zur Zeit des schreibenden Dio Cassius in Niederpannonien
lag, errichtete, und Vespasian die II Adjutrix die damals ebenfalls
dort ihr Standquartier hatte. Dass dieses die richtige Auslegung ist,
zeigt auch die Fassung der Angabe bei der X und XIV Geniina die
auch nicht vom K. Augustus in Oberpannonien errichtet wurden *).
Eine dritte Quelle, und zwar speciell für die namentlichen Stand-
lager unserer beiden Legionen in Niederpannonien ist Claudius Ptole-
mäus in seinem geographischen Werke das um die Mitte des zweiten
Jahrhunderts verfasst ist. Er gibt die von Trajan getroffene Einthei-
lung in Ober- und Niederpannonien an und bei Aufzählung der Donau-
städte in diesen beiden Provinzen nennt der freilich arg corrumpirte
Text uns die Standlager der X und XIV Gemina in Oberpannonien,
und bei der Stadt Bregaetium findet sich die leg. I Adjutrix beige-
schrieben , bei Atjuincum in Niederpannonien aber nur eine Legion
ohne Nummer und Beinamen. Sicher ist. da der Zusatz ß" ßor^öc
(II Adjutrix) durch die Nachlässigkeit der Abschreiber ausgefallen2).
i) Dio Cass. LV, 23 und 24.
2) Da bei Ptolemäus noch keine Spur von den beiden durch Marcus Aurelius zum
Schutz für Noricum und Rhätieu errichteten Legionen II und III Italica vorkommt, so
ist daraus zu schliessen, dass die Abfassung seiner Geographie nicht nach dem
Schlüsse der Regierung dieses Kaisers (also nicht nach 180) fallen kann. Imlib. II,
c. 14 [15] nennt Ptolemäus in Oberpannonien folgende Donaustädte:
' [ouXipßova
Kapvou?
Xsyiiov io r;p|Aavixr(
Xsp-oßotXos
32ö Aschbach.,
Zur Rectification des comimpirten ptolemäischen Textes kann
das Itinerarium Antonini Augusti dienen, welches freilieh manche
spätere Zusätze erhalten hat, dessen erste Anlage aber, wenn nicht der
zweiten Hälfte des zweiten, doch jedenfalls dem Anfange des dritten
Jahrhunderts angehört, wenn unter Antoninus Augustus Caracalla zu
verstehen ist. Sie ist eine wichtige Quelle nicht nur für die Kennt-
niss der Richtung der römischen Heerstrassen, sondern auch der
Militärstationen, indem hei den Orten wo Legions -Standlager sich
befanden, die Namen der Legionen beigeschrieben sich finden. Da
beiLauriacum(Lorch) inNoricum beigeschrieben ist Leg. III (es muss
gelesen werden Leg. II I. i. e. Leg. Illtalica) — so ist die Abfassung
des Itinerars ohne Zweifel eine jüngere als die der ptolemäischen
Geographie und des capitolinischen Legionen -Katalogs. Die Reifü-
gung von den Zusätzen Legio I Jovia und Legio II Herculea bei
Städten an der untern Donau gehört einer spätem Hand an aus dem
Ende des dritten, oder Anfange des vierten Jahrhunderts. Wichtig
und in Niederpannonien c. 15 [16] gibt er folgende Donaustädte an:
KoupToc
Aovfiwjvi
2aXo6a
Ts'j-roßoupYiov
Käpius
Kopvaxov
'Axouiyxov
'Axo6|xiyxov Xsy'wv
SocXTvov
'PlTTlOV
Ao'jajriviov
Ta'jpoupov 7J Taypouvov
In diesen Ptolemäischen Angaben sind ausser anderen [rrthümern vorzüglich
dreierlei Unrichtigkeiten hervorzuheben. Erstlich sind die Grenzen von Ober- und
Niederpannonien nicht genau beobachtet, indem die Stadt Bregaetion . die eine
niederpannonische war, zu Oberpannonien gerechnet wird. Zweitens sind mehrere
Städtenamen ganz unrichtig- und verstümmelt geschrieben, statt Oüivooßova ist das
corrumpirte IoyXioßova, statt XspouXaxa das entstellte Xsp-oßaXci<; u. s. w. genannt.
Drittens sind die Legionsangaben entweder nicht zu den Orten wozu sie gehören,
geschrieben, oder sie enthalten Unrichtigkeiten und sind mangelhaft. Diese Irrthiimer
mögen nicht auf Rechnung dec Ptolemäus, sondern seiner Abschreiber zu
setzen sein. Zu 'IooXiößov« (für OüivGoßova) ist zwar richtig die X. Legion bei-
geschrieben, aber mit entstellten Beinamen, statt Xsy'wv 8exaxi) rep|i«vix^ muss es
heissen Xsyiiuv Ssxdrr) Tsixivt). Nicht zu «PXsÜov sondern zu KapvoD? (Carnuntum)
gehört der Zusatz: Xsy'u>v 18 rspixavixY) , wo aber wieder dieselbe Verwechselung
vorkommt, indem Tspixavix^ anstatt rs(j.ivr) gesetzt ist, denn es ist die Rede vor der
XIV Gemina. Bei ßpeY«itiov (Bregetio) ist der Zusatz Xsyi<uv d ß^So; (|eg-. I Ad-
jntrix) an der rechten Stelle. Dagegen musste nicht bei 'AxoufUYxov (Aeimineum),
sondern bei 'Axoüiyxov (Aquincum) der Beisalz Xsy1iuv stehen , und zwar noch mit
Hinzufügung des ausgefallenen ß' ßrjT/!}o<; (II Adjutrix).
Die römischen Legionen prima und secunda Adjutrix. 320
für unsern Zweck ist das was bei den pannonischen Städten sich
beigeschrieben findet, nämlich
bei Vindobona leg. X Gem.
bei Carnuntum leg. XIIII Gem.
bei Bregetio leg. I Adiut.
bei Aquinquo leg. II Adiut. *)
So lange das römische Reich im Abendland bestand, blieben die-
selben Legionen in Pannonien in ihren alten Standlagern. Selbst als
das Land in der Zeit des Diocletianus und Constantinus des Grossen
eine neue Eintheilung in drei abgesonderte Provinzen erhielt,
änderten nicht die beiden Legionen I und II Adjutrix ihre Stand-
lager. Nach der neuen Eintheilung des römischen Reiches durch
Konstantin den Grossen , welche sich unverändert bis in das fünfte
Jahrhundert erhielt, gehörte Pannonia zu dem abendländischen Uly—
ricum das unter dein Praefectus Praetorio Italiae stand. Es zerfiel
in die nördliche Consularprovinz Pannonia Prima worin auch Nori-
cum bis an den Inn mit inbegriffen war, und das von den drei Legio-
nen X Gemina , XIV Gemina und II Italica bewacht wurde ; dann in
Pannonia Secunda oderRipariensis, auch Savia genannt, welches den
Süden des Landes in sich fasste , wo die beiden von Diocletian
errichteten Legionen V Jovia und VI Herculea stationirten, und end-
lich in das östliche Pannonien Valeria Ripensis, wo unsere beiden
Legionen I und II Adjutrix noch die Standlager Bregetio und
Acinquum mit einer Anzahl anderer festen Positionen inne hatten 2).
Dass trotz der verheerenden Hunnen- und Gothenzüge in Pan-
nonien nach dem Abzüge der barbarischen Völker im Anfange des
sechsten Jahrhunderts die Grenzfesten an der mittlem Donau mit
1) Die beste Ausgabe mit kritisch revidirtem Texte von dem Itinerarium Antonini
Augusti haben Parthey und Pin der, Berlin 1848, geliefert.
2) Die im Anfange des V. Jahrhunderts abgefasste Notitia dignitatuin Imperii gibt über
die spätere Eintheilung Pannoniens (vgl. B ö c k i ng, annotat. c. 31 — 33 ad Notit.
II, p. 96, 145, 661, 692, 1194) und über die Stationen der I und II Adjutrix Auskunft.
Die Angaben daselbst lauten :
Praefectus Legionis I Adj ut ri eis cohortis V partis superioris Bregetione.
Praefectus Legionis II Adjutricis cohortis partis superioris Aliscae.
Praefectus Legionis II Adjutricis partis inferioris Florentiae.
Praefectus Legionis II A dj u t r i c i s tertiae partis superioris Acinco.
Praefectus Legionis II Adjutricis in castello contra Tautantum.
Praefectus Legionis II Adjutricis Lussonio.
Praefectus Legionis (II Adjutricis) Transacinco.
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XX. Bd. II. Hft. 22
330 Aschbach.
ihren Legionen noch in den Händen der Römer waren, erhellt aus
manchen Überlieferungen, Nach dem Untergange des abendländi-
schen Römerreiches kam Pannonien zu dem byzantinischen Reiche;
Kaiser Justinian hatte grpsse Schwierigkeit, es gegen die Germanen,
die Heruler und Gepiden, welche öfters in des Kaisers Dienste tra-
ten, zu behaupten. Selbst als die Gepiden Pannonien besetzt hatten,
behaupteten sich noch die Legionen in ihren festen Standlagern. Da
Justinian dieselben doch als verlorene Posten ansah , so gab er sie
endlich ganz auf. Um die Freundschaft der Langobarden und ihren
Beistand gegen die Gepiden zu gewinnen, beschenkte er jene die
damals in Rugiland nördlich von der Donau und Oberpannonien oder
Pannonia Prima gewohnt hatten, mit der norischen Hauptfestung
(Lauriacum) und mit den pannonischen Standlagern. So kam Panno-
nien bald ganz in die Gewalt der Langobarden *), und als sie nach
der Besiegung der Gepiden (068) nach Italien zogen, nahmen die
an die Theiss neu eingewanderten Avaren das Land in Besitz. Die
Spuren der beiden Legionen I und II Adjutrix sind dann vollständig
verschwunden.
Obschon die beiden niederpannonischen Legionen I und II Ad-
jutrix in der römischen Kriegsgeschichte der späteren Kaiser sicher
eine sehr bedeutende Rolle gespielt haben , so finden wir bei den
Schriftstellern des dritten und der folgenden Jahrhunderte doch nur
selten eine ausdrückliche Erwähnung unserer Legionen2). Sie wer-
den unter dem Narnen der pannonischen Heere, mit ihren beiden
Schwesterlegionen X und XIV Gemina in Oberpannonien , oder mit
den an der untern Donau stationirten zusammen als illyrische oder
i) Proeop. de hello Gothic. III, 33.
2) Ael. Spartian. in vit. Adrian, c. 2. (Adrian.) trihunus secundae Adjutricis legionis
creatus — — extremis jam Domitiani temporibus. Capitolin. vit. Pertinac. c. 2.
(Pertinacem) Marcus Imperator — primae legioni regendae imposuit, statimque
Rhelias et Noricum ab hostibus vindicavit. Es ist hier wohl die I Adjutrix und nicht
die I Italica gemeint, die in Mösien stand. Dagegen gehören die Primani, von welchen
Capitolin. vit. Clod. Albin. c. 6 angibt, dass sie unter den Clodius Albinus ge-
standen, offenbar der 1 Italica an, besonders da sie mit den Quartani (IV Flavia)
zusammengestellt werden, da diese letztere Legion auch in Mösien stand. Die spä-
testen ausdrücklichen Erwähnungen von der I Adjutrix finden sich nach früheren
Kaisergesetzen im Cod. Theodos. in 1. fi. C. Cod. Justin, lib. XII. tit. 37. 1. 6. u.
tit. 53. 1. 3. u. hei Jo. Laurent. Lyd. de magistrat. Rom. III. 2. u. von der IIAdjutrix
in Cod. Justin, lib. X. tit. 52. I. 1. L. I. C. de prof. et med. X.
Die römischen Legionen prima und secunda Adjutrix. 331
Donau-Legionen im Allgemeinen genannt1). Diese Legionen -waren es,
welche vor allen andern den grossen Marcomannenkrieg unter Mar-
cus Aurelius durchzufechten hatten ; sie waren es, welche den Kaiser
Septimius Severus erhohen und ihm die Siege über seine Rivalen
verschafften. Sie waren die Stütze des Kaisers Maximin, und obschon
auch in der Zeit der dreissig Tyrannen einige Gegenkaiser an der Donau
auftraten, so hielten doch die meisten treu an Gallienus, dem recht-
mässigen Herrscher. In den Zeiten des K. Probus, wie auch unter
der Regierung des Galerius wurden sie zur Cultivirung und Urbar-
machung des Landes verwendet. Sümpfe und Seen wurden ausgetrock-
net, Canäle angelegt, Wälder ausgerottet und mancherlei neue Anpflan-
zungen, darunter auch der Weinreben gemacht. In den Zeiten der
Völkerwanderung, der Einbrüche der Hunnen, Vandalen, Rugier,
Gothen, Heruler waren es ebenfalls die Donau-Legionen welche den
ersten und heftigsten Stoss auszuhalten hatten.
Müssen wir beklagen, dass uns die Schriftsteller so wenig spe-
ciell über die Legionen I und II Adjutrix in Niederpannonien berich-
ten, so sind wir doch über ihre militärische Wirksamkeit und Anwe-
senheit in Illyrien nicht ganz ohne Nachricht gelassen. Eine Menge
von Legions-Ziegeln und Stein-Inschriften welche grösstenteils in
der Nähe ihrer Standlager gefunden worden sind, und eine Anzahl
von Legions-Münzen geben uns Nachrichten, oder doch wenigstens
Fingerzeige und Andeutungen von ihrem frühern Dasein und Schaf-
fen in Pannonien. Aus diesen Quellen nur erfahren wir auch die
weiteren Beinamen unserer beiden Legionen. So lange die I Adju-
trix noch nicht in Niederpannonien stand , führte sie keine weitere
Bezeichnung2), indem die Schwester-Legion II Adjutrix sogleich bei
ihrer Errichtung die Ehren-Beinamen Pia Fidelis erhielt3). Seit-
dem aber Trajan die beiden Legionen in Niederpannonien unter dem
Commando eines und desselben Legatus Augusti vereinigte, führ-
ten sie beide gleichmässig dieselben Beinamen. Doch fehlen in
*) Herodian. an mehreren Stellen seiner römischen Geschichte, besonders üb. II.
c. 9. fll. III. 10. VI. 7. VII. 2. u. 3. Zosim. III. 11.
2) Dieses lässt sich daraus schliessen, dass in keiner einzigen Inschrift der I Adjutrix
aus dem ersten Jahrhundert die Beinamen Pia Fidelis vorkommen.
3) Dieses erscheint aus Vespasian's Mflitärdiplom vom .1. 70 für Veteranen der Leg-. II
Adjutrix Pia Fidelis, vgl. oben.
22»
332 Aschbach.
manchen späteren (chronologisch-bestimmbaren) Inschriften *) entwe-
der die Prädicate Pia Fidelis, oder sie wurden gewöhnlich nur durch
die Buchstaben P. F. angedeutet2): sie kommen aber nicht vor auf
den silbernen Münzen welche der Kaiser Septimius Severus auf
unsere beiden Legionen schlagen Hess 3). Auf den bei Mainz gefun-
denen Legions -Ziegeln und Inschriften der I Adjutrix findet sich nie
der Beisatz P. F., sondern nur einfach die Bezeichnung LIA, oder
LEG I A- oder LEG ■ I AD oder vollständiger ADIV, ADIVT und
ADIVTB 4). So auch auf den bei Ofen in Ungern gefundenen Steinen,
aber häufig noch mit Hinzufügung von P F 5). Ähnlich sind die
Legionsbezeichnungen der II Adjutrix6).
1) Z. ß. in der Inschrift (bei Chandl er, Inscr. Ant. p. 93, 6) von Ael. Valerianus Bf.
Trib. Leg. I Adj. v. J. 243 p. Ch. Arriano et AIO (lies PAPO) COS. Eine andere
v. J. 191 Aproniano et Bradua Cos. bei Steiner N. 712: Avitus Savaria ex
aquilifer. Leg. I I Adjutricis. Eine dritte v. j. 229 : Leg-. H. AD • P • F • S • V • L • M •
IMP • D -N • SEVE • ALEX • T • CASS ■ DIONE COS (bei Orelli Nr. 1177).
2) Munt. 812. 7.
D • M | FABIO MAX1MO | QVI VIXIT ANN. XLVIO | JVL1A ENTITIA | CONJVCI
F • C • LEG . TA • P • F VEXIL ■ TRES. Es ist zu lesen LEG T • A • P • F i. e. Leg.
I Adjutr. Piae Fidel. Auch in der bei Wien gefundenen, bei M ura t. 796, 1 mit-
getheilten Inschrift, worin vorkommt:
M • AVR • VALENTI 2- LEG ■ TA ■
ist für TA zu lesen I • A i. e. I Adjutr.
3) Der Avers mit dem belorberten Haupte des Kaisers und der Legende:
IMP • CAE • L • SEPT • PERT ■ AVG
(i. e. Imperator Caesar Lucius Septimius Pertinax Augustus) und auf dem Revers:
LEG • I • ADIVT . TR • P • COS oder
LEG • II • ADIVT • PR • P • COS
(i. e. Leg. I [II] Adjutr. Tribunit. potestat. Consul.) Cf. Eckhel doctr. num. Vet.
T. VII, 168.
4) Vergl. Steiner, Cod. Inscript. lat. Reni N. 362. I. 395— 401. 437. 526. 533. 536.
537. 545. u. ff. vgl. oben S. 321, Note 2.
5) Orelli Nr. 3550. D. M | MEMORIAE QVONDAM | Q -NVMITORII FELICIS £ LEG-
I ADI | PF- VIXIT ANNIS LX STIP ■ XL | AELIA SABINA CONIVGI | PIENTIS-
SIMO F. C. Auffallend ist es, dass in folgender Inschrift (bei Orelli 4974) die
Beinamen fehlen, da doch die darin genannten anderen Legionen sie haben:
ABXOBAE | C • ANTONIVS | SILO £ • LEG • I • AD | IVTRICIS ET LEG ■ II ■
ADIVTRICIS ET LEG ■ III • AVG | ET LEG • IUI ■ F • F | ET LEG • XI • GL • P • F |
ET LEG • XXII P-FD|VSLLM-
6) Die Stelle, wo das Standlager Bregetio gewesen , ist noch nicht genau ermittelt;
ist sie einmal genau bestimmt, so lassen sich wohl noch manche Spuren römischer
Alterthümer an der Lagerstätte auffinden. Gerade Legionsziegeln von der II Adjutrix
könnten auf die Spur der Lagerstätte führen.
Die römischen Legionen prima und secunda Adjutrix. 333
Unter Elagabal führte die I Adjutrix die Beinamen bis Pia
Fidelis1)» und unter Galiienus werden ihr auf Legions-Münzen die
Prädicate VI-PYIF (d. i. sextum Pia et sextum Fidelis) gegeben,
welche auch der II Adjutrix ertheilt werden, aber auch mit einer
Steigerung septimum Pia et septimum Fidelis. Aus diesen gallieni-
schen Legionsmünzen erfahren wir, dass ausser dem Adler die I Ad-
jutrix den Steinbock und den Pegasus, die II Adjutrix den Pegasus
und den Storch geführt hat2).
Zu den beiden Beinamen Pia Fidelis erhielten von einzelnen
Kaisern die beiden niederpannoiiischen Legionen auch noch weitere
Beinamen, um ihre Treue und Anhänglichkeit an das kaiserliche
Haus besonders zu belohnen. Es sind vorzüglich Septimius Severus
und die Nachfolger aus seiner Familie gewesen, welche nicht blos
unseren, sondern auch den meisten anderen Legionen Bezeichnungen
nach dem kaiserlichen Namen ertheilten und dadurch uns einen Fin-
gerzeig geben, aus welcher Zeit die Inschrift rührt, worin die mit
einem solchen Beinamen ausgezeichnete Legion genannt ist. Denn
ein solcher Beiname war nur für die Dauer der ßegierung desjenigen
Kaisers ertheilt, der ihn gegeben hatte. Septimius gab den Beinamen
Severiana, der gewöhnlich abgekürzt, ja selbst nur durch den einzigen
Buchstabens angedeutet wurde 3); Caracalla dessen kaiserlicher
!) DEO SOLI ELAGABAL
AM MVNATI • MIL ■ LEG • I • AD
BIS P • FD • CON
(Eck hei, doet. num. vet. VII, 405. Orelli, N. 3390.) CON ist nicht Constans,
ein weiterer Beinamen der Legion , sondern constituit, wie dieses Wort in In-
schriften öfter abgekürzt wird.
2) Eck hei, doct. num. Vet. T. VII, p. 402.
3) Der Beiname Severiana ist in folgenden Inschriften vollständig ausgeschrieben:
1. In einer bei Ofen gefundenen Inschrift, welche Murat. 70, 7 mittheilt:
SILVANO AVG | AVR L F PORVS VET | ALAE II AVR VALES | MIL LEG Ü
ADIVTR | SEVERIANAE . . | ET AVR SEVERA FILIA
2. In einer Inschrift bei 0 r el 1 i 3393, die ebenfalls bei Ofen gefunden worden :
LEG II ADI P F SEVERIANA. Die unten S. 334, Note 2, mitgetheilten In-
schriften, worin unsere Legionen den Beinamen Severiana führen , sind wohl nicht
hieher zu rechnen, indem sie nach der beigefügten chronologischen Angabe in die Zeit
des Severus Alexander gehören, der vielen Legionen auch den Beinamen Severiana
mit und ohne die Beifügung von Alexandriana gab. Klein (in den Bonner Jahrb.
XXII. S. 119) behauptet, Severiana sei als Beiname der Legionen meistens voll-
ständig ausgeschrieben oder mit SEVER oderSEV bezeichnet, nur höchst selten, fast
in zweifelhaften Fällen erscheine es nur mit S. Iliezu nahm er als Beweis die Inschrift
334 Aschbach.
Name Antoninus war, ertheilte den Beinamen Ant oniniana, der
in der Regel ebenfalls nicht ausgeschrieben , oft nur durch den
einzigen Buchstaben A angezeigt ward *) ; ob auch von Severus
Alexander unseren beiden Legionen, wie einigen andern Legionen der
Doppelbeiname Severiana Alexandrina, wofür gewöhnlich nur
die Chiffern S A geschrieben wurden, beigelegt wurde, ist höchst
wahrscheinlich. Unter seiner Regierung führten aber unsere beiden
Legionen I und II Adjutrix auch den Beinamen Severiana 2), nach
seinem eigentlichen Namen Severus,.
bei 0 r e 1 1. Nr. 1177, wo anstatt LEG • II • AD • P • F • S • VLM gelesen werden müsse :
AD • P • F • V • SLM. In der Inschrift bei Grut. 24, 6. Orel li Nr. 1307 bedeutet
LEG • I • AD • P • S nicht Leg. I Adjutrix Pia Severiana , sondern Leg. I Adjutrix
pecunia sua.
*■) Eine bei Raab gefundene Inschrift vom Jahr 207 n. Chr. (Apro et Maximo coss.) gibt
Grut. 103, 6:
VICTORIAE | AVGG NN | ET LEG I | ADI P F | ANTONINIANAE j P MARCIVS
P F | SEXTINIANVS | EPHESO | P P D D | DEDICANTE | EGNATIO | VICTORE |
LEG AVGG | PR PR | ET CL PISONE | LEGATO LEG | V IDVS IVNIAS APRO ET
MAX COSS.
Eine andere bei Ofen gefundene Inschrift geben G r u t e r 1068. 2 und 0 r e 1 1 i
Nr. 2129:
DIS M1LITARIBVS
ET GENIO LOCI PRO
SALVTE ET REDITV
IMP • CAES • M • AVR.
ANTONINI PH INVICTI AVG ■ CLOD
MARCELLINVS S • C • TRIB • MIL • LEG ■ II
A • P • F • ANT • TRANSLAT
EX LEG • X • FR • ANT ■ NV
MINI EIVS SEMPER
DEVOTISSIMVS
2) Dieses lässt sich aus zwei Inschriften vom J. 228 nach Chr. (Modesto et Probo
Coss.) nachweisen: die erstere ist bei Ofen gefunden und findet sich bei Grut er
169, 7 raitgetheilt :
SCHOLA SPECVLATORVM LEGIONVM
F ET Ü ADIVTRICVM PIARVM FIDELIVM
SEVERIANARVM REFECTA PER EOSDEM
QVORVM NOMINA INFRA SCRIPTA SVNT
DEDICANTE FL AELIANO LEG AVG PR PR
KAL OCTOB MODESTO ET PROBO COS [Es folgen dann die Namen].
Die andere Inschrift ist bei Waizen in Ungern gefunden und steht bei Sestin.
Viaggio p. 239 :
AESCVLAPIO | ET HYGIAE | AVG . . . AVR ARTEMIDORVS BF LEG LEG | II
ADP F S | AGENS CC | V S L M | MODESTO | ET PROBO COSS
Die römischen Legionen prima und secunda Adjutrix. 33ö
Von dem Kaiser Gordian III. führte die II Adjutrix den Beinamen
Gordiana1) und unter K. Claudius Gothicus auch den Zusatz sex-
tum Pia sextum Fidelis Cons tans Claudiana2). Dass die
I Adjutrix den Ehrennamen V i c t r i x geführt habe , wie man in
einer Inschrift aus dem Ende des ersten Jahrhunderts hat finden
wollen, hat sich unrichtig erwiesen, indem das Wort Victrix auf dem
Steine gar nicht vorkommt , und nur die unrichtige Lesung des
Schlusses von dem Worte ADIVTR zu dem Irrthume Veranlassung
gegeben hat3).
Weder die I Adjutrix noch die II Adjutrix haben den Ehren-
namen Augusta geführt *), nur in falschen Inschriften wird er ihnen
beigelegt. Die Behauptung5), dass die II Adjutrix auch II Flavia
genannt worden sei, ist eine irrige; denn die Legio II Flavia ist eine
von unserer II Adjutrix ganz verschiedene; sie ist erst von Constan-
tinus errichtet und nach seinem Beinamen Flavius genannt worden.
Noch ist zu bemerken, dass es nicht mehr als zwei Legionen
gab, die den Beinamen Adjutrix führten; es ist eine falsche Inschrift,
welche eine Legio IV Adjutrix nennt6).
!) LEG • II • ADI • P • F • GORDIANA (Orell. Nr. 339S) ; und eine andere ebenfalls
zu Altofen gefundene Inschrift hei Reines. Inscr. 316. N. 39: IMP ■ CAESARI M \
ANTONIO GOR | DIANO PIO FEL | INVICTO AVG | PONTIFICI MAX | TRIB ■
POTEST • fil COS • PROCOS • PI | L • II • ADI • P • F | GORDIANA | NVMI |
MAIESTATIQVE 1 EIVS.
2) Die zu Buda (Ofen) gefundene Inschrift Schoen visner iter p. Pann. II, 186.
Eckhel D. N. Vet. VII, 405. Orell. Nr. 1024 u. 4985: IMP • CAES • M ■ AVREL|
CLAVDIO GERMANICO | P • F • INVICTO AVG | PONT • MAX • TRIB • POT • 111 •
COS • PRO | COS • P • P • LEG • II • ADI | TT • P ' ■ vT • F • CONSTANS | CLAVDIANA
NVMINI MA | IESTATIQVE | EIVS DICATISSIMA.
3) Q. Petronius C. F. | Modestus P • P • BIS | LEG • XU ■ FVLM • ET LEG ■ I • ADIVT |
VICTR • Trib. Mil. COH. V Vig | Tr. Coh. XU Vrb. Tr. Coh. V Pr. Proc. | Divi
Nervae et Imp. Caes. | Nervae Trajani Aug. Germ. | Provinc. Hispaniae citer.
Asturicae et Galaeciarum Flamen Divi | Claudi dedit idemque dedicavit. Diese In-
schrift wurde bei Triest gefunden: sie ist abgedruckt, bei Grut. 193, 3. Murat.
874,4. Kellermann, Vig. N. 41. Aber bei Kandier, Inscr. dei tempi Romani
rinvenute neu' Istria. Trieste 1835, N. 44 befindet sich ein genauerer Abdruck : da
wird gelesen LEG • 1 ■ ADIVTRIC . also ohne VICTR. Vor Modestus ist auch PVP
d. i. die tribus Pupiena angegeben.
*) Murat. 818, 1. MIL • LEG ■ 11 • ADIVTRIC • AVG. [Bertoli antich. di Aquil. N. 180-].
Bei Murat. 729, 4 ist A. A. nicht Adjutrix Augusta, sondern Adjutrix Autoniuiana
zu lesen.
5) Steiner, cod. inscr. Rheni ed. I, p. 211.
6) Murat. 287, 2. Mommsen, Inscr. regn. Neap. stellt sie mit Recht unter die
Inscr. spur. N. 232.
336 Aschbach.
Wir haben noch eine ziemlich grosse Anzahl von Stein-Inschriften
die unserer beiden Legionen erwähnen : ihre Zahl geht weit über
hundert. Von der I Adjutrix aber haben sich mehr erhalten als von
der II Adjutrix. Die meisten sind in Ungern gefunden worden, was
leicht daraus erklärt werden kann, dass die beiden Legionen in
Niederpannonien am längsten ihre Standquartiere gehabt haben.
Aber auch in den Rheingegenden, in Italien und in Spanien sind
nicht wenige gefunden worden. Besonders interessant müssen uns
die Inschriften sein , welche Personen nennen , die in der einen
oder der andern Legion ein höheres Militäramt bekleidet haben.
Jedoch ist die Zahl der Inschriften, die uns Legaten oder Legati
Augusti nennen nur gering1)» auch über deren Stellvertreter die
Legions - Präfecten (praefecti legionis oder praefecti castrorum) 2)
sind nur wenige Inschriften vorhanden. Viel grösser ist die Zahl
über dieTribuni militum 3), die Primipili4) und die übrigen Centurio-
nes5) oder Hauptleute. Aber auch in Bezug auf die niederen Militär-
t) Legaten der I Adjutrix: Orelli N. 822. Labus diss. p. 35. Arneth, Beschreibung
des Münz- u. Antiken-Cab. p. 32. Henzen, Jahrb. d. Vereins v. A. Fr. im Rhein).
XIII, 67. Roulez Magistrats Rom. de la Beig. in den Mem. de l'aead. de Brux. XVII,
24, über den Legatus Leg. I Adjutr. A. Platorius Nepos. — Gruter 24, 6 und
Orelli Nr. 1307 über den Leg. Leg. I Adj. L. Antonius Sabinianus. — Borghesi,
Annali dell' Inst, archeol. XI, p. 147, über den Leg. Augusti Leg. I Adjutr. C.
Julius Maximus Brochus. — Murat. 517, 4. Inschr. auf den Leg. Leg. II Adjutr.
Q. Ranius Honoratianus.
2) Von der I Adjutrix : Gruter 345, 3 = M a f f e i M. V. 242, 3 u. O r e 1 ! i Nr. 2695 ;
Maffei, A. C. L. 346, 2 = Orelli Nr. 2731.— Von der II Adjutrix: Gruter
1069, 11.
3) Von der I Adjutrix: Gruter 368, 5 = 493, 1; 381, 1 = Marini, fr. arv. p. 793;
Gruter 436, 7 = Mommsen, I. R. N. N. 1426; Maffei, M. V. 365, 2 =
Don ati 295, 4. Von der II Adjutrix: Gruter 392, 7 = Orelli 3898; Gruter
1068, 2 = Orelli 2129; Gruter 356, 1 = Orelli 890; Gruter 348, 1 =
Orelli 2258; Sestini Viagg. 254 = Orelli 1458; Sestini 257 = Marini,
F. A. p. 145 u. Orelli 1665; Fabrett. 10, 554 = D o na ti VI, 42 u. Mor c eil.
de stil. LXVIIII.
4) Von der I Adjutrix: Gruter 383, 7 = Murat. 15, 7; Gruter 387, 8 = Orelli
3445; Gruter 193, 3 = Murat. 874, 4 u. Kellerma nn, Vig. N. 41 : besser bei
Kandier, Inscr. N. 44 ; Masdeu, bist, de Esp. V. N. 411; Mommsen, I.
R. N. 2666. — Von der II Adjutrix: Gruter 21, 9. = Marini, F. A. p. 530
u. Orelli 3048.
5) Von der I Adjutrix: S e s t i n. V. p. 274 = Orelli 3550; Maffei, M. V. 461,
2; Orelli 4974; Murat. 823, 5; 796, 1; 1019, 4. Gruter 541, 6; 1096,
6 = Kellermann, Vig. N. 34; Mommsen, I. R. N. 1947. — Von der II Ad-
jutrix: Gruter 387, 8 = Orelli 3445; Orelli 4962 u. 4974.
Die römischen Legionen prima und secunda Adjutrix. ö37
ämter und die bevorzugten Stellungen der Soldaten fehlt es nicht an
Inschriften von unseren beiden Legionen; es werden darin genannt
aquiliferi *), imaginiferi 2), signiferi 3), armorum custodes4), bene-
ticiarii 5), speculatores6), veterani 7) , dnplarii 8), equites 9) u. s. w.
Bei weitem die grösste Zahl der Inschriften aber betreffen gewöhn-
liche Soldaten 10),
Es erübrigte noch die zu unseren beiden niederpannonischeu
Legionen gehörigen Auxiliartruppen zu besprechen. Dieser ziemlich
umfassende Gegenstand aber, der einen wesentlichen Theil des
Exercitus Pannonicus in sich begreift, soll in einer andern beson-
dern Abhandlung erörtert werden.
1) Von der I Adjutrix: Steiner, Cod. Inscr. Rh. N. 712.
2) Von der II Adjutrix: Murat. 86, 11.
3) Von der I Adjutrix: Sestin. p. 281 = Orelli 3531.
4) Von der II Adjutrix: Murat. 855, 1.
5) Von der I Adjutrix: Ch and ler, Inscr. Ant. 93, 8. Von der II Adjutrix: Sestini
p. 259.
6J Von der I et II Adjutrix: Gruter 169, 7.
7) Von der I Adjutrix : Gruter 478, 6 ; von der II Adjutrix : S e s t i n. 250 = Orelli
1234. Murat. 70, 7. Zeitschr. für d. Gesch. v. Steiermark IV, 209.
8) Von der I Adjutrix: Sestin. p.281 = 0relli 3531. Von der II Adjutrix: Sestini
p. 239.
9J Von der II Adjutrix: Sestin. p. 262 = Orelli 1792.
10) Die Zahl der Inschriften von gewöhnlichen Soldaten ist ziemlich gross; sie sind abge-
druckt bei Gruter, Muratori, Sestini, Maffei, Orelli, Steiner u. A.
338 A. Schmidl.
SITZUNG VOM 23. APRIL 1856.
Gelesen:
Der Mons Cetius des Ptolemäus.
Von Dr. A. Schmidl.
Die Bearbeiter der Geographia veterum scheinen in sehr vielen
Fällen zweierlei übersehen zu haben, und zwar vorerst, dass nicht
sowohl von einer „Geographie der Alten" im Allgemeinen, sondern nur
von der „geographischen Ansicht der Alten in dieser oder jener
Epoche" gesprochen werden sollte. Die ausserordentlichen Ent-
deckungen welche, im 16. Jahrhundert sowohl wie in unseren Tagen,
die Kenntniss einzelner Erdtheile so plötzlich nicht nur erweiterten
sondern geradezu umgestalteten, kommen im Alterthum freilich nicht
vor, wo keine Nordpol-Expeditionen und keine wiederholten Expedi-
tionen in das Innere von Afrika u. s. w. zunächst zu wissenschaft-
lichen Zwecken vorgenommen wurden. Aber die Kenntniss einzelner
Länder so wie die Vorstellung von der Erdoberfläche überhaupt war
dennoch zu verschiedenen Zeiten eine sehr verschiedene, je nach
den fortschreitenden Forschungen sowohl als nach den wissenschaft-
lichen Darstellungen derselben. Wie verschieden ist nicht die Dar-
stellung des Eratosthenes von jener des Ptolemäus u. s. w.,
welche Verschiedenheiten zeigt die Peutinger'sche Tafel von dem
Antoninischen Itinerar! Bei der Erörterung einer Frage die sich
auf die alte Geographie bezieht, ist also wesentlich erst die Zeit
zu bestimmen, für welche man Aufklärung sucht, und es ist zur
erschöpfenden Darstellung nöthig die Phasen nachzuweisen, welche
die Darstellung eines Objectes in den verschiedenen Epochen bei
den alten Schriftstellern durchgemacht hat.
Der Mons Cetius des Ptolemäus.
339
Ein zweiter Umstand der oft übersehen wurde und hauptsäch-
lich zu der Verwirrung beigetragen hat, in welcher so viele Partien
der alten Geographie sich befinden, ist das Übertragen moderner
Ansichten, neuerer Kenntnisse auf die Darstellung des alten Schrift-
stellers, indem man sich abmüht, dessen Angaben mit den neuesten
Erfahrungen und Beobachtungen in Übereinstimmung zu bringen.
Als wenn Strabon und Ptolemäus nicht eben so gut die einzig
richtigen Schilderungen geliefert hätten, wenn sie die Hilfsquellen
des jetzigen Forschers gehabt hätten. Die Angaben der Alten sind
allerdings sehr oft irrig, aber es handelt sich darum nachzuweisen,
wie der alte Autor in seiner Zeit, von seinem Standpuncte aus, mit
seinen Hilfsmitteln den Gegenstand erfassen konnte und musste, und
da wird man alsbald finden, dass der richtige Blick, die scharfe
Beobachtungsgabe und klare, präcise Darstellung welche wir an den
Classikern mit Recht rühmen, auch nur in den seltensten hieher
gehörigen Fällen sich vermissen lassen. Nur wenn man sich in das
Alterthum zurückversetzt, wird man seinen Überlieferungen gerecht
werden, wenn man aber Ptolemäus mit unseren Generalstabs-
karten in der Hand lesen und nach ihnen commentiren will, so wird
man wohl zumeist als Resultat nur das erhalten, was Ptolemäus
nicht gemeint hat und nicht gemeint haben kann.
Diese Betrachtungen dringen sich denn auch jedem Unbefan-
genen auf, der sich mit den geographischen Darstellungen der öster-
reichischen Länder beschäftiget, wie sie bei den alten Autoren vor-
kommen, und ein schlagendes Beispiel, wie an sich klare Verhältnisse
verwirrt werden, wie Unrecht man den Classikern thut, wenn man
sie desshalb des Irrthums zeiht, weil ihre Ansicht nicht mit der
jetzt bekannten Wirklichkeit übereinstimmt, gibt der Mons Cetius
und die Montes Cetil.
Der Mons Cetius wird allgemein als die Grenze von Noricum
und Pannonia angegeben. M anner t gibt (III, 612) als Resultat der
Meinungen der Alten folgendes :
„Pannonia wurde begrenzt auf der Westseite durch den Berg
Cetius oder die Bergkette welche von der Save an, westlich neben
Cilley unter dem neuen Namen Trojaner Berg gegen Norden steigt
und endlich unter dem Namen Calenberg westlich von Wien an
der Donau sich endigt. Weil die Gegend um Aemona von pannoni-
schen Völkern besetzt war, so wurde die Grenzlinie längs der Save
340 A. Schmidl.
bis zu dieser Stadt gezogen (welche auf der Grenzscheide zwischen
Italien, Pannomen und Noricum stand) und liegt von da gerade öst-
lich, längs einem Theil der Carvanka und längs der albanischen
Berge, welche Fortsetzung der Alpen in ansehnlicher Höhe südlich
unter der Save gegen Morgen fortstreicht."
Weiterhin äussert Mannert gelegentlich von Cetium :
„Cetium 24 Mill. nach der anderen Angabe desitiner. 30 Mill.
vom vorigen Orte (nämlich Vindobona) und 22 Mill. vom folgenden
(nämlich Donau aufwärts) Arlape. .. .Die Lage desselben muss man
der Stadt Crems gegenüber, beim Kloster Gottvich, oder bei Mau-
tern suchen. Die Peutinger'sche Tafel nennt wohl auch ein Cetium,
versteht aber dadurch Kaienberg, am Berge gleichen Namens
westlich von Wien, wo er die Grenzen der beiden Provinzen machte,
daher sie auch die Entfernung von Vindobona nur auf 6 Mill. ansetzt."
Wir werden in der Folge sehen, dass Mannert — dessen
grosse Verdienste in Abrede zu stellen Niemand beifallen wird —
hier seine Ansicht den Alten unterlegte und damit eine ganze Kette
von Irrthümern behauptet. Nicht anders erging es auch Hormayr.
Nachdem er die erste der entscheidenden Stellen bei Ptolemäus
citirt hat, folgert er dergestalt *):
„Nach genauen neuen Aufnahmen zieht sich diese Grenzscheide
(nämlich Mons Cetius) also: mit dem Kahlen- und Leopoldsberge an
der Donau endigend, steigt der Gebirgszug von dieser über den
Hermanns-Kobel" und so führt dieselbe Hormayr weiter über den
Bosskopf, Biederberg, Hochstrass, Schöpfel, Harraseck, Gschaid,
Hochkogl, Steinleiten, Amas-Kogel, Baxalpe, Semering, Wechsel.
„Der österreichische Schneeberg hat keine unmittelbare Verbindung
mit dem Semmering oder wie des Lazius Angabe glauben lässt mit
der Prein. Sollte dennoch die alte Grenze Noricums und Oberpan-
noniens (was wohl in jener Zeit kaum so genau geschieden werden
dürfte?) von Gschaid nach dem Schneeberg hingegangen sein, so hätte
sie sich wohl längs der Schwarza bis Glocknitz gezogen, und sich
von da über Schottwien nach dem Semmering gewendet, oder wäre
zwischen der Baxalpe und dem Schneeberg über die Schwarzau
nach der Prein emporgestiegen, um dann dem Höhenzuge weiter zu
folgen."
1) Wien, seine Geschicke und seine Denkwürdigkeiten, X, 121.
Der Mons Cetius des Ptolemäus. 341
„Das Letztere scheint wahrscheinlicher als das Erstere; jedoch
fiel, aller Wahrscheinlichkeit nach, der Schneeberg schon ganz nach
Oberpannonien und die Grenze blieb dem Höhenzuge durchaus ge-
treu. Es ist dieser Zug zu ausgezeichnet in Beziehung auf den
ganzen Gebirgsstock und zu sehr in die Augen fallend, als dass ein
Soldatenauge — und das hatten die Römer fürwahr; ein Hannibal,
ein Viriath, ein Hermann, mussten es ihnen lassen — eine andere
Grenze wählen konnte;" Hormayr führt dann die Grenze über den
Pfaff, die Spitaler und Preduler Alpen, Teichalpe, Schocket, über die
Muhr, den Platsch, über die Pettauer Berge, „über die Drau und Dran
nach dem Potschberge (vorzugsweise Caravanka) bei Gonowitz, folgt
seiner Verbindung mit dem Wald-Bacher, der gegen die Sau ab-
fällt, und nun dem linken Ufer bis an den Dran = Traianerbere1.
einen Zweig der Neutbaler Alpen (Trajani montes). Die meisten
Altertumsforscher lassen die fragliche Grenze der Sau noch weiter
folgen , in der Gegend des heutigen Krainburg über sie gehen , sich
auf das Suchagebirg heben, wo am Fusse desselben (Na Bazha)
die dreifache Mark, Noricums, Pannoniens und Italiens (Carnia's,
des alten cisalpinischen Galliens) zusarnmenfloss."
Auf den ersten Blick geht aus dieser Darstellung schon hervor,
dass Hormayr einen fortlaufenden „Höhenzug" in dieser Richtung
als die Grenzlinie bezeichnend annimmt, das heisst denn wohl im
Jahre 1823, in welchem Hormayr schrieb, so viel als „Wasser-
scheide", wie damals die Wasserscheiden-Theorie am schönsten
blühte, und dass er seiner Idee einer „Grenzlinie" zu Liebe einen
Höhenzug (unbeschadet des Durchbruchs der Flüsse) annahm , wie
er in der Natur nicht existirt. Fehlte er schon darin, so beging er
den zweiten grössern Fehler, diesen seinen Irrthum so hinzustellen,
als hätten ihn die alten Geographen ihm überliefert.
Wir wollen nun sehen, was diese alten Schriftsteller, unsere geo-
graphischen Ahnen, über den fraglichen Gegenstand uns wirklich
überliefert haben, und wie das Überlieferte zu verstehen sei.
Strabon kennt den Mons Cetius selbst dem Namen nach nicht.
Zwei seiner Darstellungen beziehen sich auf unsern Schauplatz. „Den
See (Bodensee) berühren auf geringe Weite die Rhaitier, auf grössere
hingegen die Helvetier und Vindeliker. Nach diesen gegen Morgen
folgen die Noriker und die Wüste der Bojer, bis zu den Pannoniern.
Alle diese Völker, zumeist aber die Helvetier und Vindeliker bewohnen
342 A. Schmidl.
Bergebenen. Die Rhaitier und Noriker reichen bis an die Übergänge
der Alpen und ziehen sich gegen Italien hinüber, jene der Insubrer
berührend, diese die Karner und die Gegenden um Akyleia" *).
„Beschreiben wir nun zuerst das Iilyrische , den Istros und
diejenigen Alpen berührende Bergland , welche von dem Landsee
zwischen den Vindelikern, Rhaitiern und Helvetiern beginnend zwi-
schen Italia und Germania liegen. Einen Theil dieses Landes ver-
wüsteten die Daker, als sie die .... keltischen Völker der Boier
und Taurisker bekämpften das Übrige besetzen die Pannonier,
bis an Segestike und den Istros gegen Norden und Osten; auf
den andern Seiten erstrecken sie sich weiter."
Dieses „sich weiter erstrecken" gegen Süd und West muss die
Pannonier zu Grenznachbarn der Noriker machen, von denen wir
oben gehört haben dass sie „bis an die Übergänge der Alpen reichen"
und „die Karner und die Gegenden umAquileja berühren"; Strabon
gibt aber keine Grenzlinie zwischen beiden Völkern an, wenn
auch die Wohnsitze der von ihm bezeichneten Völker solche Umrisse
erhalten haben, dass sie ethnographisch genommen wohl ausreichen.
Ein Jahrhundert später als der amasische Altvater der Geographie
zieht aber Claudius Ptolemäus schon bestimmtere Grenzlinien und
sagt zuversichtlich:
Tb Ncopixbv nepiopiCezocc änb pev dooecoq atvcp nozapcp, dreh
Se äpxzcov pepec zoo Aa.vooßloo zep dnt'j ai'voo nozapoo pe'/pi too
Ketioo opooz ob deove [ine/ei poipa^J lp X' — pz y .
Anb §e ävazoXcov aozip zw Kezloj opec ' änb de peaypßptaz.
zip ze bnb zb elptjpevov opoq pepec rjyc IJavvovia? zrj<; ävo). oö zb
doapixojzazov nepa<z ine/ei poifpaz] Ä? — p.£ y
H ITawovca y ävco nepiopl^ezai änb pev doaeox: zip Keziw
opec xal ix pipooq zip Kapoodyxa. änb de pr^-qpßplaq zqz ze
lazpiaq xal zys 'IXXopcooz pepec xazä napäXXyXov ypappyv zyv änb
zoo ecpyuevoo doapcxcozdzoo nepazoz dcä zoo'AXßavoo bpooz, peypc
zöjv ßeßlcov öpiwv xal zoo öpioo zijc xdzco Ilawoviat; o ine/ec
poipas pa X' — ps y .
Anb de äpxzaiv, zip elp~qp£v(p opec zoo Ncopcxoo, xal zip zoo
Aavooßioo pepec zip änb Kezc'oo öpoos pey^pc riyc xazä zbv Apa-
ßcbva nozapbv exzponr^q ijq ij ftiocs ine/ec uoepaz pa — p£ yö.
1) Buch VII. Absch. 1, §. 5, nach Croskurd.
Der Mons Cetius des Ptolemäus. o4«J
„Noricum wird auf der Westseite durch den Innfluss begrenzt;
auf der Nordseite durch den Theil der Donau, welcher vom Inn bis
zum Berg Cetius reicht. 37° 30' L. — 46" 50' Br. Auf der Ostseite
durch den Berg Cetius selbst, und auf der Mittags — durch den
Theil von Oberpannonien, welcher unter dem eben genannten Gebirg
ist, dessen westliches Ende unter 36° L., — 45° 20' Br., die Mitte
aber unter dem 37<> L., — 45° 40' Br., liegt »).
Oberpannonien wird begrenzt gegen Westen durch den Berg
Cetius und zum Theil auch durch den Karvankas; gegen Mittag durch
einen Theil von Istrien und Illyrien nach einer Parallel -Linie,
welche von den eben genannten westlichen Grenzen anfängt und über
den Berg Albanus fortläuft bis zu den Bebischen Bergen , und den
Grenzen Unferpannoniens zwischen dem 41° 50' L., — 45° 20' Br.
Gegen Mitternacht ist die Grenze Noricum, und der Theil der Donau
welcher zwischen dem Berge Cetius an der Mündung des Flusses
Arabo, liegt unter dem 41° L., — 47° 40' Br."
Ein geographischer Autor kann wohl keinen besseren Commentar
haben als gleichzeitige Karten, die nach seinen Angaben verfertigt
wurden. Ich sage gleichzeitige, weil die Erfahrung uns hinlänglich
gezeigt hat, dass spätere Karten, in welchen man die späteren
Erfahrungen und Entdeckungen mit den weit älteren Angaben des
Autors combinirt, nur zu Verwirrung Anlass geben können, und uns
am wenigsten ein Bild der Anschauungsweise mittheilen, die zur
Zeit des Autors von diesem oder jenem Lande gang und gebe war.
Ein Blick auf die modernen Karten welche neueren Ausgaben des
Ptolemäus beigesellt sind, gibt den Beweis für das Gesagte.
Aber zum Glück sind Karten auf uns gekommen, welche schwer-
lich jünger sind als die Arbeit des Ptolemäus selbst. Es sind
das die dem Agathodämon zugeschriebenen Karten2), deren
*) Über die Einwohner Deutsehlands im zweiten Jahrhundert der christlichen Zeitrech-
nung, namentlich über Sachsen und Baiern nach Claudius Ptolemaeus. Von Andr.
Buchner, München 1839; 4°.
2) Einige der besten Handschriften des Ptolemäus enthalten 27 Karten, ausser einer
allgemeinen, 10 von Europa, 4 von Afrika, 12 von Asien, mit der besondern
Bemerkung, dass sie von dem Alexandriner Agathodämon verfertigt sind. Es liegt
somit die Annahme nahe, dass der Mechaniker Agathodämon, als Zeitgenosse
des Ptolemäus, unter seiner Leitung sie gemacht habe, nicht der Grammatiker
gleichen Namens, der im 5. Jahrhundert lebte. (Vergl. Schö 1 1, Geschichte der griech.
Literatur, II. 752.) Wer nur einen Begriff von Kartenzeichnung (noch dazu in der
344 A. Schmidt.
Originale wahrscheinlich sogar unter des Ptolemäus Leitung selbst
für ihn angefertigt wurden, keinesfalls aber viel jünger sind. Hätten
wir Text und Karte in der ursprünglichen Gestalt! Aber bekanntlich
gehören die Texte der ältesten Geographen gerade zu den fehler-
vollsten und Ptolemäus insbesondere entbehrt noch immereiner
tüchtigen kritischen Recension. Die vorhandenen Karten desAgatho-
dämon sind bei den erhaltenen Handschriften natürlich Copien,
im frühern oder spätem Mittelalter gemacht, und an der Peutinger'-
schen Tafel haben wir ein Beispiel mit welchen Unmöglichkeiten
ein mittelalterlicher Copist seine Arbeit vermehrte, im Glauben sie
zu verbessern; wir sind daher berechtiget die Agathodämon'schen
Karten mit einigem Misstrauen zur Hand zu nehmen, aber sie werden
uns dennoch zweierlei Dienste leisten:
1. Zu zeigen, wie — von Entstellungen abgesehen — des
Autors geographische Anordnung zu seiner Zeit verstanden wurde;
2. Ob vielleicht schon in früher Epoche — wenigstens zur
Zeit des Copist en — Auslegungen des Textes vorhanden waren,
welche den Sinn nicht richtig gaben und vielleicht gerade die Quelle
von Fehlern geworden sind, die sich dann in der Deutung der Ansicht
des Classikers immer weiter fortgepflanzt haben.
Die Wiener k. k. Hofbibliothek besitzt bekanntlich einen der
vorzüglichsten Codices des Ptolemäus, welchem denn auch die
Karten des Agathodämon beigegeben sind (hier Agathosdämon
genannt) in einer Ausführung die schwerlich in einem andern Codex
übertroffen wird.
Von diesen Karten enthält die fünfte europäische den für uns
interessanten Schauplatz.
Wir sehen nördlich den Verlauf des Donaustromes, südlich
den Verlauf eines zusammenhängenden Gebirges welches westlich
den Namen Karawanken, östlich des Albe n-Gebirges führt.
Südlich vom Donaustrome, aber nicht unmittelbar an
demselben, erhebt sich ein Massengebirge , von Nordost nach Süd-
west streichend, unser xercov ojooc , Mons cetius.
Wir müssen die naive Zeichnung desselben etwas näher ins
Auge zu fassen , uns nicht der Mühe verdriessen lassen , denn bei
damaligen Zeit) hat, wird gewiss keinen Augenblick zweifeln, ob er einen „Me-
chaniker" oder einen „Grammatiker" als Verfertiger jener ältesten Karten anneh-
men soll.
Der Mons Cetius des Ptoleraäus. 345
der Gewissenhaftigkeit mit der die Alten das mittheilten, was und
wie sie es eben wussten, andererseits bei der offenkundigen Naivetät
ihrer Darstellungen ist an ihren Zeichnungen jeder Strich von
Bedeutung. Betrachten wir die Zeichnung unseres Mons Cetius
genau, so sehen wir, dass an demselben gegen Osten und gegen
Süden ein Abtall angedeutet ist, gegen Westen aber nicht
und eben so wenig gegen Norden. Was will das sagen? Offen-
bar nichts anderes als dass gegen Osten und gegen Süden das
Ende des Gebirges, sein Abfall gegen die Ebene dem Autor
bekannt war, gegen Nord und West aber nicht. Gegen West
konnte das auch nicht sein, denn dieser Mons Cetius ist selbst nichts
anders als der östliche Abfall der Alpen, dessen Verlauf nach
Westen freilich damals nicht bekannt war — doch ich will meiner
Endfolgerung nicht vorgreifen. Der begrenzende Querstrich des
cetischen Gebirgspolygon gegen Norden ist aber einerseits nicht
buchstäblich zu nehmen, da die Gebirgszeichnungen der Alten
bekanntlich perspectiviscb — wenn auch im kindlichen Sinne — zu
nehmen sind; durch diesen scharfen Querstrich ist also allerdings
ein Abfall und noch dazu ein plötzlicher angedeutet. Aber von
Wichtigkeit für uns ist andererseits der Umstand , dass die Strom-
linie der Donau damals nicht dem jetzigen rechten oder südlichen
Ufer zunächst, sondern mehr am linken, nördlichen, also am
Bisamberge vorüber führte , wohin sie in späterer Zeit bekanntlich
wieder vorzudringen suchte.
Der genau bezeichnete Abfall des Mons Cetius gegen Süden aber
ist ein Beweis, dass der Autor ihn als ein von den Karawanken g e-
trenntes Gebirge kannte, in dessen nächster Nähe er jedoch endete.
Erwähnung verdienen noch die drei am Mons Cetius entspringen-
den Flüsse, sie sind sämmtlich so gezeichnet, als ob sie am äusser-
sten Abfall des Gebirges gegen die Ebene zu entsprängen. Warum?
Weil der Autor ihren w ahren Urs p r u n g im Innern des Gebirges
nicht kannte, und dieser Umstand ist für mich entscheidend, er
beweiset nämlich, dass zur Zeit des Ptolemäus das Innere des
Mons Cetius nicht bekannt war 1)-
*) Das heisst mit anderen Worten im 2. Jahrhundert, ßrelimer's Annahme, dass
Ptolemäus ein Tyrisches (also älteres) Kartenwerk (des Marinus?) vor sich gehabt
habe, ist durch Heeren längst widerlegt (Ideen III, 383 und De fontibus geogr.
Sitzb. d. pbil.-bist. Cl. XX. Bd. II. Hft. 23
346 A. Schmidl.
Um unsere Aufgabe vollständig zu lösen, dürfen wir aber die
etwaigen Varianten dieser Karte nicht vernachlässigen, und zwar
müssen wir auf die ältesten Ausgaben zurückgehen, da den späteren
schon Karten beigegeben wurden, die nicht mehr Copien jener des
Agathodämon sind, sondern nach Ansicht des Herausgebers mehr
oder weniger rectificirte.
Die älteste Ausgabe unseres Autors ist bekanntlich eine latei-
nische Übersetzung welche aber keine Tafeln enthält. Dieselbe
Übersetzung, mit Verbesserungen von Domizio Calderino, Romae
1478, enthält die frühesten Copien der 27 Tafeln, von Arnold
Buckinck. Sind diese Copien aus dem (römischen) Codex getreu,
was ich natürlich nicht beurtheilen kann . so geben sie ein ganz
anderes Bild unseres Mons Cetius, so verschieden von jenem in dem
Wiener Codex, dass die Vermuthung nur zu nahe liegt, Buckinck
habe die naive Bergzeichnung die der römische Codex ähnlich mit
dem Wiener haben dürfte, verbessern wollen. Statt der Platte
welche wir im Wiener Codex vor uns sehen, ist das Gebirge hier
schon perspectivisch aus Gipfeln übereinander aufgebaut. Abgesehen
von dieser sein sollenden Verbesserung zeigt die Zeichnung noch
zwei andere wesentliche Verschiedenheiten. Im Wiener Codex ist
das Gebirge an der Ostseite etwas gegen Osten ausgebaucht, bei
Buckinck gerade das Gegentheil. Im Wiener Codex ist die Breite
fast gleich von Nord nach Süd, bis auf einen massigen Vorsprung im
Südwest; bei Buckinck ist gerade in dieser Gegend das Gebirge
auffallend schmäler gezeichnet, dagegen im Norden gegen die Donau
zu überwiegend breiter. — Dieselbe Zeichnung finden wir auch in
der Ausgabe von 1513, nur plumper; der Zeichner war nicht so
geschickt wie Buckinck.
Ein weiterer wesentlicher Umstand ist aber die verschiedene
Stellung der Schrift. Im Wiener Codex beginnt die Schrift xiztov
öpoc; am Südende des Gebirges und ist ganz ausgeschrieben bis gegen
das Nordende. Bei Buckinck steht die Schrift Cetius Mons in der
Mitte der Zeichnung, in der Ausgabe von 1513 am äussersten Nord-
ende gegen die Donau zu : Die alten Chartographen hatten noch
Ptolem.). Wären die Ptolemäischeu Karten aber auch vom Grammatiker A g a t h o-
il ä ni o n, so würde daraus nur folgen, dass auch im !>. Jahrhundert das Innere des Mons
Cetius nicht besser bekannt war als im zweiten.
Der Mons Cetius des Ptolemäus. 347
kein so complicirtes reiches System von conventioneilen Zeichen für
die verschiedenen topographischen Verhältnisse zu Gehote, wie die
jetzigen Ingenieur-Geographen, sie wussten aber durch so einfache
Mittel geographische Momente zu bezeichnen, dass sie darin den
Neueren oft als Muster dienen könnten, die bis zur Verwirrung
Symbol auf Symbol häufen. Ich erinnere nur an den glücklichen Ge-
danken der Peutinger'schen Tafel den Übergangspunct, die Fürth
eines Flusses ganz einfach dadurch zu bezeichnen, dass eben nur an
solchen Puncten der Name des Flusses beigesetzt ist.
Wir dürfen daher keineswegs glauben, dass die Stellung
der Schrift bei unserem Mons Cetius eine gleichgiltige sei. Im
Wiener Codex ist sie offenbar die richtige, das heisst dem Sinn des
Ptolemäus entsprechend, und sonach heisst bei ihm das ganze Ge-
birge von den Karawanken bis zur Donau cetisches Gebirg. Der
Endpunct desselben gegen die Donau zu ist durchaus unbenannt, und
die Stellung der Schrift in den beiden erwähnten Ausgaben offenbar
unrichtig, in der Ausgabe von 1513 ist sogar ganz willkürlich der
Endpunct des Gebirges mit Mons Cetius benannt. Das wäre aber
offenbar das heutige Kahlengebirge und ich stehe nicht an zu be-
haupten, dass nur diese wil 1 kür 1 ich e Änderung derKarten-Copisten
zu der irrigen Behauptung Veranlassung gegeben hat:
der Kahlenberg sei insbesondere der Mons Cetius der Alten und inso-
ferne unterschieden von dem weiteren Verlaufe des Gebirges, als der
„Montes Cetil".
Ptolemäus spricht auch immer nur von dem ganzen Gebirge
und seine Grenzbestimmung hat auch nur dadurch einen Sinn. Nur
die flüchtigste Lesung des Textes kann den Mons Cetius auf den
Kahlenberg beziehen, denn die Worte „Ober-Pannonien wird begrenzt
gegen Westen durch den Ber# Cetius" können unmöglich auf den
einzelnen Kahlenberg bezogen werden, weil unmittelbar darauf die
Worte folgen „und zum Theil auch durch den Karwankas" was
Ptolemäus unmöglich sagen konnte, wenn er nicht das ganze Gebirge
eben von der Donau bis zu den Karwanken unter dem Namen ceti-
sches Gebirge begriffen haben wollte *).
') Wie es mit der Kenntniss unseres Vaterlandes selbst bei unseren nächsten Nach-
barn aussieht, ist Buehnei's oben citirte schätzbare Arbeit wieder ein schlagender
23*
348 A. Schmidl.
Die 8 Bücher der Geographie des Ptolemäus waren bekannt-
lich durch fast 14 Jahrhunderte hindurch das einzige systematische
Handbuch der Erdkunde und sie sind auch so sehr die vornehmste
Quelle der Geographie der Alten, dass wir selbst unserm Mons Cetius
nach ihnen nicht weiter mehr begegnen. Des Ptolemäus Quel-
len waren Handelsnachrichten, Mitteilungen Alexandrinischer Kauf-
leute und nur daraus erklärt es sich, dass er aus Gegenden von
Europa , die keine hervorragenden politischen Schauplätze waren,
bessere und reichhaltigere Nachrichten gibt, als selbst Plinius und
Tacitus, wie dies namentlich mit den Nordküsten unseres Erdtheils
der Fall ist, über den der Bernsteinhandel fast allein Licht verbrei-
ten konnte.
Wir finden also unsern Mons Cetius nirgend wo anders erwähnt,
weder vor Ptolemäus durch Pomponius Mela und Plinius1)»
noch späterhin durch Fibius Sequester, den ersten christ-
lichen Geographen Aethicus, selbst nicht im 10. Jahrhundert durch
den kaiserlichen Statistiker Constantinus Po rphyro gen. in
seiner Militär-Geographie de thematibus imp. Orient, et occident. ;
nicht das Antoninische Itinerar und nicht die Notitia utriusque imperii
nennen unsern Mons Cetius, als dessen alleinige Quelle daher Ptole-
mäus gelten muss 2).
Mit den Karten des Agathodämon nehmen wir auf längere
Zeit Abschied von den karthographischen Darstellungen des Alter-
thums überhaupt, und von systematischen sogar für immer. Die
nächste uns vorkommende Karte ist bekanntlich eine „Administrativ-
ßeweis, inilem er in einer seiner Noten zu obigen Stelleu sagt: „Karvankas, heut
zu Tage Karst (!), ein Zweig der venetischen oder julischen Alpen in Illyrien,
im Triester Kreis (!)."
1) A tergo Carnorum et Japydum , qua se fert magnus Hister, Raetis junguntur
Norici. Oppida eorum Virununi, Celeia , Teurnia, Aguntum , Vianiomina, Claudia
Flavium Solvense. Noricis junguntur lacus Peiso , deserta Boiorum; jam tarnen
colonia divi Claudii Saharia et oppido Scarabantia Julia habitantur.
Inde glandifera Pannoniae, qua miteseentia Alpium juga per medium lllyricum
a septentrione ad meridiem versa molli in dextra ae laeva devexitate considunt
quae pars mare Hadriaticum spectat, appellatur Delmatia et lllyricum supra dictum
Ad septentriones Pannonia vergit, finitur inde Danuvio. In ea coloniae Aemona,
Siscia, Amnes clari et navigabiles in Danuvium defluunt Draus e Noricis violentior,
Savos ex Alpibus Carnicis placidior, 120 m. p. intervallo etc. etc. Plinius Natu-
ralis historiae lib. III. cap. 24, 23 (ed. Jul. Sillig Vol. I, p. 267 s. s.).
2) Wie denn auch Mannert, Hormayr etc. keinen andern alten Autor dafür citiren.
Der Mona Otitis dos Ptolemäus. 34-0
Karte", wie wir heut zu Tage sagen, nämlich die Strassenkarte des
römischen Reiches , welche wir unter dem Namen der Tabula Peu-
tingeriana kennen. Dieser kostbare Schatz der k. k. Hofbibliothek
in Wien liegt zwar von Scheyb — mit Mannert's Einleitung —
in einer kritischen Ausgabe vor uns, aber eines geographischen
Commentars entbehrt bekanntlich auch dieses herrliche Document
noch immer.
Sehen wir uns auf der Peutinger'schen Tafel nach dem Ptole-
mäischen Mons Cetius um , der dort in so imposanter Gestalt uns
entgegentrat, so vermissen wir ihn, zu unserem Erstaunen ganz
in der Bedeutung die er dort hatte. Der Raum welcher von dem
Ptolemäischen Gebirge — mit allen ihm jedenfalls zuzuschreibenden
Verzweigungen — erfüllt wird , ist auf der Peutingerischen Tafel
durch 4 Gebirge in weiten Abständen begrenzt.
1. Ostsüdost von Viudobona steht ein Gebirge dem ein FIuss
ohne Namen entspringt, der sich bei Saldis mit einem zweiten
Flusse vereinigt und dann Drinumfi. genannt wird. Dass mit Erste-
rem die Drau, mit Letzterem die Save bezeichnet wird, kann keinem
Zweifel unterworfen sein. Als Ursprung der Drau wird demnach
auch hier das cetische Gebirge angegeben , der Ursprung der Save
wird aber schon südwestlich von Nauportum verlegt.
2. Östlich von Steinamanger ist ein kleineres Gebirge ver-
zeichnet, das wohl nur auf den Bakonyer Wald gedeutet wer-
den kann.
3. Weit im Westen finden wir dann das Gebirge, aus dem die
Wippach (fl. frigidum) entspringt , die julischen Alpen , und
4. endlich südöstlich vom Vorigen den Karst.
Aus der Constellation des Ganzen geht wohl unstreitig hervor,
dass das erstgenannte namenlose Gebirge unser Mons Cetius sei.
Es darf uns nicht abschrecken, dass die Peutinger'sche Tafel
unrichtig das Gebirge von Vindobona weg nach Südost streichen
lässt, indess Agathodämon dasselbe richtig von Vindobona nach
Südwest verzeichnet. Agathodämon zeichnete nämlich als wissen-
schaftlicher Geograph, der Verfasser des Peutinger'schen Originals
hingegen als Marschcommissär; aber gerade in dieser Eigenschaft ist
er für uns lehrreich genug. Die geographische Position der Gebirge
konnte ihm gleichgiltig sein, die Züge der Hauptstrassen
aber nicht. In Bezug aber auf den Verlauf der Strassen ist das
350 A. Seh midi.
Gebirge nicht störend auf dieser Karte, die ja ohnedies ihrer Bestim-
mung gemäss als bequem der Höhe nach zu übersehende Wandkarte
in einen langen aber schmalen Streifen ausgezogen wurde und daher
alle Positionen von West gegen Ost verlängert oder verrückt. Mass-
gebend ist der Umstand, dass Carnuntum im Nordost und Virunum
(die Tafel schreibt bekanntlich irrig Carnunto und Varuno) im Süd-
west des Gebirges verzeichnet sind. Aus dieser Stellung geht unzwei-
felhaft hervor, dass dieses Gebirge nur der Mons Cetius des Ptole-
mäus sein könne. Dass nur die Drau und nicht auch die Save in der
Tafel im cetischen Gebirge entspringt, wie bei Ptolemäus, ist
eben nur ein Beweis, dass der Ursprung der letzteren schon genauer
bekannt war, jener aber nicht.
Ich habe im Vorhergehenden mich bemüht zu zeigen, was Ptole-
mäus unter Mons Cetius verstanden haben wollte, es ist nun die
Frage zu beantworten, welches Gebirge wir uns als dasjenige vor-
stellen müssen, das diesem Mons Cetius entspricht. Ein erster Blick
auf unsere Karten zeigt schon, dass in der von Ptolemäus angege-
benen Richtung kein Gebirge existirt, dass der Raum desselben viel-
mehr, nicht wie bei ihm von Nord nach Süd, sondern von West nach
Ost durch die Ketten der Alpen erfüllt wird, und zwar sowohl durch
die Nordalpen, als die Central-Alpen und selbst einen Theil der Süd-
alpen. Jedes Bemühen die Grenzlinie von Noricum und Pannonien
durch einen fortlaufenden Höhenzug zu bezeichnen, wird also immer
missglücken, weil in der genannten Bichtung kein ununterbrochener
Höhenzug existirt, ein Umstand, der freilich erst durch neuere Unter-
suchungen sich herausgestellt hat. Die Details mit welchen z. B.
Hormayr sich abmühte, sind natürlich falsch und nur von einigen
Widerlagen und Armen der genannten verschiedenen Gebirge
lässt sich nachweisen, dass sie mit der Grenzlinie zusammentreffen.
Eine solche Grenz 1 in ie aufzustellen kam aber Ptolemäus auch gar
nicht in den Sinn, er zeichnete ein breites Massengebirge als
Grenze im Allgemeinen hin, und gab dadurch unzweifelhaft zu erken-
nen, dass er eine Linie weder aufstellen konnte noch wollte.
Und liegt dies nicht in der Natur der Sache? Zahllose Thäler
und Schluchten der norischen Gebirge (so wollen wir einmal statt
Mons Cetius sagen) münden gegen das pannonische Flachland hin —
wer kann da wohl etwas anderes sagen, als: „bis zu den Eingängen
der Gebirge, vielleicht auch etwas ihren Ostabhang hinauf sassen
Der Mons Cetius des Ptolemäus. «j 5 1
pannonische Stämme; weiter einwärts im Gebirge auf den Höhen
beginnt nori seh es Gebiet". Eine natürliche feste Grenze, wie z.B. das
Erzgebirge, die Tauern sind u. s. w. gibt es da nicht, jede Grenzlinie
ist in dieser Richtung eine conventioneile, wie auch heut zu Tage
zwischen Steiermark und Ungern, zahllose Thal er und Schluchten
quer übersetzend; die Natur hat kein anderes Verhältniss
geschaffen als ein mannigfaches Ineinandergreifen.
Dass Ptolemäus nicht mehr und Besseres gab als er eben
konnte, wird ihm wohl Niemand zum Vorwurf machen, aber wenn seine
Angabe auch nicht strenge als richtig sich herausstellt, so verlohnt es
doch der Mühe, zu untersuchen wie er denn zu seiner Ansicht gekommen
ist ? Die Itinerarien geben uns den Aufschluss. Die grosse römische Heer-
strasse führte nämlich nicht durch Steiermark, wie in unseren Tagen
Heerstrasse und Eisenbahn, sondern sie führte von Pettau aussen
herum an den östlichen Abfällen der Alpen hin, durch das viel weg-
samere pannonische Hügel- und Flachland hinauf an die Donau nach
Carnuntum, Yindobona und dann in das Ufernoricum. Durch die
Alpenthäler führten nur Seitenstrassen. Auf der grossen Strasse aber
von Pettau über Steinamanger, Ödenburg nach Hainburg (Sabaria,
Scarabantia, Carnuntum) ist man fast immer in einer solchen Entfer-
nung von den Gebirgen, dass die Mündungen der Thäler und Schluchten
zum grössten Theile verschwinden, die Thalwände als zusammen-
schliessend sieh darstellen und die verschiedenen, hier gegen die
Ebene auslaufenden Gebirge, als ein zusammenhängendes
Ganzes sich darstellen, das allerdings im Allgemeinen dieBich-
tung des Ptolemäischen Mons Cetius hat. Nehmen wir ein Beispiel
aus unserer Nähe. Selbst in der Entfernung der alten Posistrasse
verschwinden die Eingänge der Thäler der Wien, Liesing, des Möd-
linger Baches, der Schwechat, Triesting u. s. w., so dass sich die
Gebirgsausläufer als ein von Nord nach Süd ziehender Gebirgsrücken
darstellen, was doch nicht der Fall ist. Weiter südlich, in Unter-
steiermark (einst pannonisch) ist dies noch mehr der Fall. Im Alter-
thum, wo dichtere Bewaldung auch der Vorberge dies Verhältniss
noch scheinbarer machen musste, war daher nichts natürlicher als
sich das Gebirge in der Bichtung von Nordost nach Südwest als ein
zusammenhängendes Rücken- oder Masse ngebirge
vorzustellen, wie wir bei Ptolemäus den Mons Cetius aufge-
fasst finden.
352 A. Schmidl. Der Mons Cetius des Ptolemäus.
Als Resultat meiner Untersuchung stellt sieh demnach Folgendes
heraus :
t. Für die Erklärung des Mons Cetius ist Ptolemäus allein
massgebend.
2. Er stellt sich denselben als ein Massengebirge vor, an dessen
Ostrande Pannonien beginnt, in dessen Innerem Noricum liegt, ohne
aber eine bestimmte Grenzlinie aufzustellen.
3. Alles Gebirge zwischen der Donau und den Karavvanken
längs der pannonischen Ebene herab, nannte Ptolemäus Mons
Cetius; die Vindicirung dieses Namens für das Kahlengebirge ins-
besondere ist eine Erfindung der späteren Zeit, durch irrige Copie
der Karten des Agathodämon veranlasst.
4. Es ist eine vergebliche Mühe, im Verlaufe der Alpenketten
den Zug des Ptolemäischen Mons Cetius nachweisen zu wollen; Alles
was man in dieser Beziehung sagen kann, ist: Ptolemäus verstand
unter Mons Cetius die östlichsten Alpen, zwischen der Donau und
den Karawanken.
Ernst D iim ml er. Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmalien. 353
Vorgelegt s
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien.
(549 — 928.)
Von Dr. Ernst Düiimiler.
VORWORT.
Die Geschichte Dalmatiens seit der Aufnahme seiner slawischen
Bewohner ist häufiger behandelt worden, als man nach der Wichtigkeit
des Volkes für die herrschenden Nationen Europa's erwarten sollte
und es könnte daher vielleicht überflüssig erscheinen , dass hier
wiederum bekannte Dinge von Neuem erörtert werden. Dennoch
glaubte der Verfasser der ursprünglich nur mit der Absicht an's
Werk ging, die vorübergehende Verbindung dieses Ländchens mit
der Weltmonarchie Karl's des Grossen näher zu prüfen , dass sich
auch sonst durch schärfere Sichtung des Überlieferten an seinen Vor-
gängern im Einzelnen Manches würde berichtigen und nachtragen
lassen, wenngleich im Ganzen zu dem Material nichts wesentlich
Neues hinzugefügt werden konnte. Aus diesem Grunde wurde trotz
jenes Bedenkens die vorliegende Arbeit unternommen , für deren
geringen Inhalt übrigens der geringe Umfang zur Entschuldigung
dienen mag.
Unter den früheren Bearbeitungen der croatisch- dalmatischen
Geschichten verdient noch immer die grösste Beachtung das Werk
des Joh. Lucius aus Trau de regno Dalmatiae et Croatiae libriVI,
wovon unsers Wissens die erste Ausgabe zu Amsterdam im J. 1668
erschien (wiederholt in J. G. Schwandtner scriptores rerum
Hungaricar. Vindobonae 1746, tom. III). Dieses Buch bildet in jeder
Hinsicht die Grundlage aller späteren Leistungen auf demselben
Felde, durch umfassende Gelehrsamkeit und scharfe Prüfung der
Thatsachen — bei deren Erzählung nur eine bessere Gliederung des
Ganzen zu wünschen wäre — ist es ebenso ausgezeichnet, wie durch
die Fülle der hier zum ersten Male abgedruckten Urkunden , zu wel-
chen sich auch mehrere Geschichtsschreiber gesellen, namentlich
3 5 4 E r n s t D ii m m I e r.
die historia Salonitana des im J. 1268 verstorbenen Arehidiaeonus
Thomas von Spalato. Eine Ergänzung des urkundlichen Materials
lieferte besonders noch der gleichfalls überaus fleissige Jesuit
Daniel Farlati in seiner illyrischen Kirchengeschichte (Ulyricum
sacrum, Venetiis 175 1 fol. I — VII). An Urtheil aber steht er Lucius
durchaus nach; er ist weitschweifig und sehr unkritisch und berührt
die politischen Verhältnisse überhaupt nur beiläufig, so dass er als
Herausgeber bei weitem mehr Dank verdient, denn als Geschichts-
forscher. Einen nicht unwichtigen Beitrag zu den Quellen lieferte die
von Zanetti im J. 1765 zum ersten Male unter dem falschen Namen
des chronicon Sagornini herausgegebene venetianische Chronik des
Diaconus Johannes, der sie in den Jahren 980 bis 1008 zum Theil
nach älteren schriftlichen Aufzeichnungen verfasste. Da die meisten
Nachrichten welche der um dreihundert Jahre jüngere Andreas
Dandolo über die Slawen in Dalmatien gibt, wörtlich aus seinem
Vorgänger herübergenommen sind , so hätte dieser statt jenes stets
benutzt werden müssen, doch ist dies in Bezug auf Dalmatien bis auf
die neueste Zeit noch von Niemand geschehen, obgleich wir jetzt im
siebenten Bande der Monumenta Germaniae eine sehr gute Ausgabe
der venetianischen Chronik von Pertz besitzen.
Für die Fortsetzung der aligemeinen Welthistorie (Band 491',
Halle 1798) übernahm Job. Christ, von Engel ausser der
Geschichte Ungerns auch die seiner Nebenländer, insbesondere Dal-
matiens. An seinem Werke ist die vorausgeschickte ausführliche
Geographie und Statistik des Landes recht brauchbar, während die
ziemlich flüchtig componirte Erzählung selbst mehr einem Auszuge
aus Lucius und Farlati als einer selbständigen Arbeit gleicht. Er
fing bereits an , die byzantinischen Quellen die für die ältere Zeit in
erster Linie stehen, nicht im Urtexte nachzuschlagen, sondern die von
Joh. Gotthilf Stritter im Auftrage der Petersburger Akademie
geordneten lateinischen Übersetzungen (memoriae populorum olim
ad Danubium . . . incolentium e scriptoribus historiae Byzantinae erutae
et digestae, tom. II. Slavica, Petropoli 1774) daraus zu benutzen. Dies
Verfahren aber muss durchaus als unkritisch verworfen werden, weil
lediglich nach diesen aus ihrem Zusammenhange gerissenen Bruch-
stücken sich die Glaubwürdigkeit jeder einzelnen Nachricht unmöglich
genügend bestimmen lässt Hierzu ist vielmehr eine zusammenhän-
gende Leetüre jedes Schriftstellers in seiner Ursprache unbedingt
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 355
nothwendig. Auch in P. J. Safarik's mit Recht berühmtem Werke
über slawische Alter thüm er (deutsch von Mosig von Ähren fehl,
Leipzig 1843) mnss man unterscheiden zwischen dem worauf
im Grunde hauptsächlich seine Absicht gerichtet war, d. h. den
Erörterungen über die ursprünglichen Wohnsitze, die Verfassung
und Eintheilung der einzelnen Slawenstämme, und zwischen der Über-
sicht ihrer Geschichte. Während er in ersterer Beziehung über Dal-
matien das von Lucius bereits Beigebrachte bedeutend erweitert und
äusserst schätzbare Erläuterungen gibt, ist er dagegen in letzterer
Hinsicht von seinen Vorgängern sehr abhängig und folgt insbesondere
bei den Serben undCroaten fast ganz dem Buche Engefs, wobei denn
so manche Irrthümer unvermeidlich sind.
Dass für die Erforschung der dalmatischen Geschichte noch
Einiges zu thun übrig geblieben, zeigte in neuester Zeit eine zu Ber-
lin erschienene Doktordissertation von Herrn. Leop. Krause (Res
Slavorum imperiorum occidentalis et orientalis confinio habitantium
saeculo IX. pars I, 1854), worin namentlich durch eine eingehende
Kritik des Kons tantin Po rphyrogenitus mehrere Punete neu
und mit Erfolg ergründet worden sind. Krause erwarb sich auch
das Verdienst näher nachzuweisen (was Engel S. 446 bereits
behauptete), dass der Priester von Dioklea (regnum Slavorum) aus
dem XII. Jahrhundert und der mit ihm grösstenteils gleichlautende
Marcus Marulus (gesta regum Dalmatiae etCroatiae), mit denen noch
Farlati sehr unglückliche harmonistische Versuche anstellte, in die
Zahl jener halb aus Sagen, halb aus kecken Erdichtungen zusammen-
geflickten Zwittergeburten gehöre, wie deren u. a. auch die Ungern
und die Cechen in ihrem anonymen Notar und ihrem Hajek aufzu-
weisen haben. Man kann sie daher, doch auch nur mit der grössten
Vorsicht, allenfalls für die Sagengeschichte und für geographische
Bestimmungen, aber sicherlich nie zur Erkenntniss historischer That-
sachen benutzen.
Die nachstehende Abhandlung schlägt nun den Weg ein, dass
darin zuerst von der Verwüstung Dalmatiens gehandelt werden soll,
die von den ersten slawischen Ankömmlingen ausging, dann von der
Besitznahme durch die Croaten und Serben. Es folgt eine Über-
sicht der Verkeilung des Bodens unter seine alten und neuen Bewoh-
ner, nachdem zwischen ihnen ein friedliches Übereinkommen wieder
geordnete Zustände herbeigeführt hatte. Nach einer völligen Lücke in
OOD ErnstDiimmler.
der Überlieferung von mehr denn hundert Jahren schliessen sich
daran unsere überaus dürftigen Nachrichten über die Festsetzung der
fränkischen Herrschaft in Dalmatien , unter welcher wir auch das
Christenthum nach früheren allmählichen Anfängen unter den Croa-
ten überall herrschen sehen. Durch die Ausbreitung der Bulgaren
wird sodann eine bedeutende Verminderung der croatischen Macht
bewirkt und die Anfälle der Sarazenen führen schliesslich zur Rück-
kehr unter die byzantinische Oberhoheit. Durch die Bemühungen des
Papstes wird Croatien nach seinem Abfall wenigstens der römischen
Kirche erhalten, während Serbien von Thronstreitigkeiten zerrissen
mehr und mehr seinen geistigen Schwerpunct in Konstantinopel
findet. Hierdurch werden auch die römischen Dalmatier zum erneu-
ten Anschluss an den päpstlichen Stuhl bewogen und das einigende
Band einer einheitlichen Kirchenverfassung umschlingt beide Völker
indem es die Grundlage ihrer allmählichen Verschmelzung bildet. Die
weitere Entwickelung des dalmatisch-croatischen Königthums, der
traurige Verfall des Volkes in staatlicher, wie in sittlicher Hinsicht
zur Zeit des ersten Kreuzzuges liegen ausserhalb unserer Aufgabe,
die wesentlich in der ersten Hälfte des X. Jahrhunderts abschliesst.
Halle a. S. d. 22. März 1856.
Der Verfasser.
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 35 /
I. Verwüstung und Eroberung Dalmatiens durch die Slawen.
Unsere Kenntniss von der ältesten Geschichte der illyrischen
Slawen verdanken wir fast ausschliesslich dem Kaiser Konstantin VII.
Porphyrogenitus, der in seinem Werke von der Verwaltung des Rei-
ches (Cap. 29 bis 36) sowohl von der Lage und den Verhältnissen
derselben im J. 949 n. Chr. Geb., als auch von ihrer Einwanderung
und ihren früheren Geschicken handelt. Wegen dieses Alleinstehens
unserer Quelle lassen sich deren Nachrichten über die Slawisirung
Dalmatiens nur zum Theile durch andere Zeugnisse bewahrheiten
oder widerlegen , und die Entscheidung über ihre Glaubwürdigkeit
muss desshaib theils von ihrem innern Charakter, theils von dem des
Schriftstellers überhaupt abhängen. Das ganze Buch dem unsere
Kunde entspringt, trägt aber ebenso wie die gesammte schriftstel-
lerische Thätigkeit des Kaisers das Gepräge vollkommener Geist-
losigkeit und eines rein mechanischen Sammlerfleisses. Er widmete
dasselbe seinem Sohne dem Kaiser Romanus II. zu dem Behufe, ihm
Belehrungen über alle, das römische Reich rings umschliessende Bar-
baren zu geben, über ihre Macht und Ausdehnung und insbesondere
über den Nutzen oder Schaden der von ihnen zu erwarten wäre1).
Die für diesen Zweck brauchbaren Nachrichten welche Konstantin
besass , prüfte er aber weder durch Vergleichung noch verarbeitete
er sie zu einem zusammenhängenden Ganzen, sondern er stellte sie
wie in einem Collectaneum einfach neben einander, ohne sich durch
Widersprüche stören zu lassen. Daher kommt es denn, dass er zu
gleicher Zeit und vielleicht im nämlichen Capitel ein sehr zuver-
lässiger und ein ganz 'unzuverlässiger Gewährsmann sein kann, je
nach der Beschaffenheit der Quelle welcher er blindlings folgt. Da
über die Dinge die er vorzugsweise berücksichtigt, die früheren
byzantinischen Geschichtsschreiber sehr wenig enthielten, so wurden
diese auch von Konstantin fastgar nicht benutzt3), vielmehr scheint das
*) Constantin. de administr. iraperio ed. Bekker p. 66.
2) Cap. 17 bis 22 und 25 sind aus der Chronographie des Theophanes abgeschrieben,
wie Konstantin seihst angibt, ui;d in den Cap. 23 und 24 werden mehrere alle
Geographen wie Apollodor, Artemidor, Charax u. a. citirt.
3 5 ö Ernst Diimmler.
Meiste was er meldet, entweder aus den Berichten der byzantinischen
Gesandten über die fremden Völker oder aus den Erzählungen von
Botschaftern, Geissein oder Kaufleuten geschöpft zu sein, die sich aus
deren Mitte in Konstantinopel aufhielten *). In der Natur einer solchen
auf blos mündlichen Erkundigungen beruhenden Kenntniss liegt es,
dass sie über die gleichzeitigen Zustände der Völker zuverlässig und
meist befriedigend ist, über ihre Vergangenheit aber nur aus sagen-
haften Überlieferungen besteht, die zudem noch durch griechische
Auffassung öfter getrübt sind. Wie wenig Konstantin aber geeignet war
die letzteren selbständig zu berichtigen oder zu ergänzen, ergibt sich
aus seiner grossen Unwissenheit in der älteren byzantinischen Ge-
schichte selbst, soweit er sie nicht aus schriftlichen Quellen schöpfte.
So leitet er u. a. den Namen der Stadt Dioklea von dem des Kaisers
Diokletian ab 3), obgleich es sich in der That gerade umgekehrt ver-
hielt. Attila den er König der Avaren nennt, lässt er in Oberitalien
mit den Franken kämpfen und bis nach Born und Calabrien vordrin-
gen3); ferner verwechselt er gar die Kaiserinn Irene (780 — 802)
mit Sophia, der Gemahlinn Justin's II. (f 574) und stellt den Patri-
cius Narses mit dem Papste Zacharias (742 — 751) als Zeitgenossen
zusammen *). Endlich wird die Theilung des langobardischen Herzog-
thums Benevent in die FUrstenthümer Benevent und Capua i. .1. 848
von ihm um hundert Jahre zu früh angegeben 5) und statt Sikenolf
und Badelchis fälschlich Siko und Sikard zugeschrieben u. s. f.
Über die Eroberung Dalmatiens durch die Slawen enthält nun
Konstantin zwei in einigen Nebenpuncten von einander abweichende
Erzählungen6), deren Hauptinhalt folgender ist: „Dalmatien wurde
durch Diokletian mit einer Colonie von Bömern bevölkert7), deren
Hauptort Salona war, eine Stadt halb so gross wie Konstantinopel
') Von dem gesandtschaftlichen und Handels-Verkehr mit den Barbaren ist häufig- die
Rede, z. ß. p. 68, 69, 72, 74, 184 u. s. f. Cap. 26, welches von der Abstammung-
des Königs Hug-o von Italien handelt, macht, verglichen mit der Antapodosis des
Liudprand von Cremona , ganz den Eindruck, als wäre der Inhalt desselben aus
des letzteren Bericht geflossen, da er !I49 als Gesandter in Konstantinopel verweilte.
2) Cap. 29, 35 (p. 126, 162).
3) Cap. 28 (p. 123).
4) Cap. 27 (p. 119).
5) Ebendas. (p. 120).
«) Cap. 29 und 30 (p. 126, 141).
7) Vgl. Cap. 33, 35, 36 fp. 160, 162, 163).
Über die älteste Geschichte der Slawen in Ualmatieu. 31)9
und mit kaiserlichen Palästen und einem Hippodrome geschmückt *).
Von dort zogen alljährlich zu Ostern tausend Reiter aus ganz Daltna-
tien nach der Donau, um die Übergänge üher den Strom gegen jed-
weden Feind zu bewachen. Als diese eines Tages, neugierig wer dort
drüben wohnen möchte, über den FIuss setzten und während eines
Auszuges der Männer nur Weiber und Kinder vorfanden-), machten
sie grosse Beute an Menschen und Vieh und kehrten damit ungestraft
nach Salona heim. Die Avaren oder Slawen von ihrem Zuge wieder-
kehrend beschlossen wegen jener Plünderung Rache zu nehmen. Sie
legten den römischen Reitern bei ihrem zweiten Einfall einen Hin-
terhalt und nahmen sie sämmtlich gefangen oder hieben sie nieder.
Auf ihr Befragen erfuhren sie den Ort, von wo jene ausgezogen und
die Zeit wann ihre Heimkehr erwartet würde. Dies benutzend legten
die Avaren die Kleider und Waffen der in ihre Hände gefallenen Römer
an, zogen in dieser Verkappung ohne Schwierigkeiten durch den Eng-
pass von Klissa und eroberten das unvorbereitete Salona durch plötz-
lichen Überfall. Dies war der Anfang ihrer Einwanderung in Dal-
matien; denn da ihnen das Land gefiel, nahmen sie es nach und nach
für ihre Heerden in Besitz und beschränkten die Römer auf weniere
Seestädte und Inseln. Als so Dalmatien grösstenlheils verödet lag,
wandte sich ein Geschlecht der Croaten oder Chorwaten die jenseits
der Karpathen sassen, mit seinem Volke Hilfe suchend, an den Kaiser
Heraklius und erhielt von ihm das Land der Avaren südlich der Donau
überwiesen. Sie vertrieben diese und wurden Unterthanen der
Römer. Ihrem Beispiele folgten etwas später ihre früheren Nachbarn,
die Serben, die sich anfangs in der Provinz Thessalonich nieder-
liessen. Dann, nachdem sie schon über die Donau wieder zurückge-
kehrt waren, ward ihnen gleichfalls avarisches Gebiet südlich von
den Croaten angewiesen, wo auch sie als Unterthanen des griechischen
Kaisers wohnten."
Dieser Bericht Konstantins setzt zwei Eroberungen Dalmatiens
durch die Barbaren voraus, welche gänzlich von einander zu trennen
1) Cap. 29, 30, 31 (p. 126, 141, 149). Prokopius (de hello Gothico I, c. 7, p. 38
ed. Bonn.) lässt die Vorstadt von Salona sich bis zu dem Engpass von Klissa aus-
dehnen, 4000 Schritte von der Stadt.
2) Nach der andern Version im Cap. 29 sind die Avaren wehrlose und friedliche Hirten
die erst, durch die viele Jahre Wodurch fortgesetzten Plünderungen der Römer zum
Widerstände gereizt werden.
O U 0 Ernst Dümrah'r.
sind. Die erste welche er bald den Äraren *) , bald den Slawen
zuschreibt, scheint er in die zweite Hälfte des V. Jahrhunderts zu
setzen, weil er im J. 449 Salona zerstört werden lässt2); doch liegt
es auf der Hand, wie unrichtig diese Angabe ist, die nur aus irgend
einem Missverständnisse entsprungen sein kann, da man um diese Zeit
von Slawen an der Donau noch ganz und gar nichts wusste. Eben so
wunderlich ist die Verwechselung der Slawen mit den von ihnen völlig
verschiedenen, wahrscheinlich türkischen Avaren, die sich am besten
als Vereinigung abweichender Berichte erklärt. Überhaupt trägt die
ganze Erzählung Konstantin1s einen durcbaus sagenhaften Charakter
an sich, so besonders die beiderseitige Unkenntniss der Römer und
Avaren, wer wohl am andern Ufer der Donau wohnen möchte; ferner
auch die Überrumpelung Salona"s, denn nichts ist gewisser, als dass
nicht die Römer sondern die Avaren die ersten Angreifer waren, und
keinenfalls ist Salona unter den Städten zuerst gefallen. Dagegen
darf allerdings an der Tlmtsache festgehalten werden, dass schon vor
dem Einbrüche der Croaten und Serben Dalmatien eine theihveise
Verödung erfahren habe, denn über diese lassen sich auch noch
andere besser beglaubigte Zeugnisse beibringen. Als die Römer den
Gothen Dalmatien das ihnen als eine der wichtigsten Provinzen des
Westens3) galt, so eben entrissen hatten, wurde dasselbe schon wie-
der von den Einfallen der Slawen heimgesucht, unter denen wir wohl
keine anderen verstehen dürfen, als den weitverbreiteten Stamm der
Winden oder Slovenen. Bei ihren Einbrüchen wird zuerst vorzugsweise
Thracien genannt, sei es, dass sie dort am häutigsten und schlimm-
sten hausten, oder dass man in Konstantinopel die Züge die in die-
ser Richtung stattfanden am meisten der Beachtung werth hielt. Doch
wird uns allerdings bereits im J. 549. während noch Totila, der
Gothenkönig, um den Besitz Italiens stritt, von einem verheerenden
Vordringen der Slawen durch lllyricum bis nach Durazzo Meldung
i) In Cap. 29 nennt er sie sOvr, SxXctßmxä . . 5-riva xsi 'Aßapoi IxoXoOvxo, in den
Cap. 30 — 33, 33, 36 spricht er dagegen überall nur von Avareu als den früheren
Besitzern Dalmatiens.
2) Cap. 29 (p. 137) rechnet er 500 Jahre von der Auswanderung eines Theiles der
Salonitaner nach Ragusa bis auf seine Zeit (949 n. Chr. Geb.) , doch könnte die
Zahl verderbt sein.
3) Prokopius (de bello Gothico I, 13 ed. Dindorf p. 80) sagt von Dalmatien: tö
t^c emcepiac ).E>.oyi— ai xpärot, und Konstantin (c. 30. p. 141): Sv8o?öxepov tum
£XX(Ov ZTr.zr,iu>-t &£|xaT<ov tö toioürov ft£\irt JTJyyavsj.
Über die älteste Geschichte der Slawen in Üalinatien. ö ;) 1
gethan1)- Im J. 551 setzten wiederum 3000 Slawen über die Donau,
die unter der Bevölkerung von Thracien undlllyrien ungestraft wüthe-
ten 2). Ähnliche Schaareu verwandten Ursprungs kehrten schon im
folgenden Jahre wieder, und als sie in der Richtung nach Thessa-
lonich auf Widerstand stiessen, zogen sie über die Berge nach Dal-
matien3). Sie überwinterten diesmal sogar auf römischem Grund
und Boden und man hegte die Vermuthung, dass König Totila in sei-
nem Verzweiflungskampfe gegen die römische Übermacht mit Geld
diese wilden Horden gedungen habe , um durch sie einen Theil der
römischen Streitkräfte im Osten zu beschäftigen4). Hiernach würde
sich die später verbreitete Sage 5), dass die Croaten mit den Gothen
zugleich unter Totila's Führung von Polen ausgezogen seien , viel-
leicht als eine entstellte Überlieferung erklären lassen, zumal da
Erinnerungen an die Herrschaft der Gothen sich in Dalrnatien sehr
wohl erhalten konnten.
So lange die Langobarden und Gepiden noch an der Donau sassen
— jene in beiden Pannonien, diese in Dacien und in der Gegend von
Sinnium — war es fast ganz von dem Willen dieser Völker abhängig,
ob sie den Slawen die nur nahe der Mündung die Donau berührten,
den freien Durchzug durch ihr Gebiet nach den illyrischen Gegenden
gestatten wollten oder nicht, und so wurden diese z.B. im J. 552 von
den mit Byzanz verfeindeten Gepiden selbst über die nördlichen Pro-
vinzen des römischen Reiches losgelassen6). Einen völligen Wechsel
in diesen Verhältnissen führte seit 565 das Auftreten eines neuen
*) Procop. de hello Goth. III, 29 (p. 397): 'IX.'X.upioös arorrat; axP1 'Eitioapicuv
eopaaav «vrjxeaTa IpY<* ....
2) A. a. 0. c. 38 (p. 441—444).
3) C. 40 (p. 430).
4) P. 454.
5) Thomas archidiacon. c. VII (p. 541); Presbyter Üiocleas c. III (p. 477 in
Schwandtner , scriptor. rer. Hungaricar. III). Jener erzählt, Totila mit seinen
Gothen hätte einen Theil von Salona, sowie des diokletianischen Palastes zerstört.
Salona wurde in der That unter Vitigis von den Gothen belagert und Totila schickte
ebenfalls eine bedeutende Streitmacht zur Wiedereroberung Dalmatiens ab, die sieg-
reich bis Salona vordrang (Procop. I, 16, III, 35). Ein Rest von gothischer Be-
völkerung erhielt sich auch noch dort unter römischer Herrschaft (Procop. I, 7,
p. 38) und so mag jene wunderliche Sage von der Abstammung der Croaten von den
Gothen entstanden sein.
6) Procop. IV, 25 (p. 591). Justinian wollte desshalb mit den Gepiden einen Bundes-
vertrag schliessen.
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XX. Bd. II. Hft. 24
36/£ Ernst Dümmler.
und bis dahin unbekannten Volkes, der Avaren, herbei, die im Bunde
mit den Langobarden bald dem gepidischen Reiche ein Ende machten
und nach dem Abzüge jener nach Italien auch in den Besitz Pannoniens
nachrückten. Von ihnen hing es fortan ab, ob die griechischen Nordpro-
vinzen von der Geissei des Krieges verschont bleiben oder schlimmere
Plagen als bisher erdulden sollten, denn die meisten der Donauslawen
mussten sich unter ihr Joch beugen und nur in dem dacischen Ge-
birgslande behauptete sich noch ein Rest unabhängiger Slawen die
aber zunächst mehr Thracien als Illyrien bedrohten J). Im Ganzen war
es für den byzantinischen Kaiser eine äusserst unheilvolle Verän-
derung, dass an die Stelle deutscher Stämme die sich gegenseitig
befeindeten und desshalb wechselweise Freundschaft mit dem griechi-
schen Reiche halten mussten, jetzt ein dem letzteren durchaus feind-
liches Barbarenvolk trat, welches die Slawen bei ihren Einfällen viel-
mehr antrieb als zurückhielt. Schon im J. 568 als Bai'an2), der erste
bekannte Khakhan der Avaren, Sirmium belagerte, das er als Hinter-
lassenschaft der Gepiden in Anspruch nahm, entsandte er von dort
10.000 kutrigurische Hünen, d. h. Bulgaren über die Sau, um die
römische Provinz Dalmatien zu verheeren. Seitdem durch den Aus-
zug der Langobarden die letzte Scheidewand gefallen war, welche
die Slawen noch von dem ehemals römischen Noricum und von
Istrien trennte, wurden auch diese Länder eine Zielscheibe ihrer An-
griffe; um das J. 592 findet der erste feindliche Zusammenstoss zwi-
schen ihnen und den Baiern statt3) und 598 wünschte Papst Gregor
der Grosse4) dem Exarchen Kallinikus von Italien noch zu einem
Siege über die Slawen Glück. Da sie um dieselbe Zeit von der untern
Donau aus Thracien und Illyrien zu überschwemmen fortfuhren5),
so konnte Dalmatien, in welchem die nach beiden Richtungen unter-
v) Vgl. Zeuss, die Deutschen und die Nachbarstämme |). 623, Aum. 2 und Sa fa r i k,
siaw. Alterth. II, 153—158.
2) Menander Protector (in Fragment» historicor. Graec. ed. Müller IV, p. 233).
3) Zeuss. die Deutschen, p. 616.
4) Mansi collectio concilior. X, p. 117.
5) Zeuss, p. 596. Im Mai 591 schrieb Gregor I. noch an die illyrischen Bischöfe,
dass sie die Amtsg-enossen quos a propriis locis hostilitatis f'uror expulerat auf-
nehmen und verpflegen sollten, im März 592 aber an den Präfecten Jobinus von
Illyricum : Gaudemus quod eminentiae vestrae regimine afflietae dominus voluit
provinciae eonsulere, ut quam ex una parte flayello barbaricae vastationis
ulcerat, haue ex alia per eminentiam vestram curet. (Mansi IX, 1065, 1093.)
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 363
nommenen Züge gleichsam wie in einem Winkel zusammenstiessen,
unmöglich verschont bleiben. Dennoch ersehen wir aus dem Brief-
wechsel des Papstes mit den dalmatischen Bischöfen1), dass bis
zum Ausgange des VI. Jahrhunderts noch ganz geordnete kirchliche
Zustände daselbst stattfanden, und es ist wohl von dem üppigen Leben
der dortigen Prälaten3), aber nicht von feindlichen Bedrängnissen
die Bede. Zum ersten Male spricht Gregor I. im Juli 600 dem
Erzbischof Maximus von Salona sein Beileid über die von den Slawen
erduldeten Drangsale aus und seine Besorgnisse für die Zukunft,
weil dieselben schon durch Istrien sich den Zugang nach Italien zu
bahnen gesucht hätten 3). Auch wird uns etwa ein Jahr zuvor
ein Einfall der Avaren in das nördliche Dalmatien gemeldet4),
auf welchem ihr Khakhan zuerst die Stadt Bankeis in seine Gewalt
brachte und ausserdem noch 40 römische Burgen verwüstete. Die-
ser Zug steht indessen ganz vereinzelt da, und so ward auch in
dem Frieden 5) den die Römer und Avaren im Jahre 600 schlössen,
die Donau als die beiderseitige Grenze anerkannt und den ersteren
das Recht zugestanden, zur Bekämpfung der Slawen dieselbe zu über-
schreiten. Die jetzt folgende Periode der byzantinischen Geschichte,
die Regierung des elenden Kaisers Phokas war ohne Zweifel für die
Grenzlande die unheilvollste, doch gibt uns kein gleichzeitiger
Geschichtschreiber davon näheren Rericht und wir müssen uns mit
allgemeinen Andeutungen 6) des hereinbrechenden Unterganges
begnügen. Um das Jahr 610 kämpften Baiern und Slawen an der obern
Drau mit einander7), an der obern Sau in Carniola, dem spätem
!) Vgl. .Taffe regesta pontificum Romanor. Nr. 721—723, 742,749, 810—811 u. s. f.
2) Vgl. z. B. Mansi IX, 1090; X, 329.
3) Mansi X, p. 231: Et quidem de Sclavorum ijente, quae vobis valde imminet,
t'ffllgor vehementer et conturbor. Affllgor in his quae jatn in vobis patior:
conturbor quia per Istriae aditum jatn Italiam intrare coeperunt.
4) Theophylact. Simocatta historiar. VII, c. 12 (ed. ßekker p. 291). Safari'k (II,
238) zieht statt Bankeis die Lesart Balea vor und erklärt es als Belaj südlich von
Karlstadt, das recht gut passen würde.
5) Theophylact. Sim. VII, c. 15 (p. 299).
6) Theophanes (ed. Classen p. 461): 'HpaxXiio; Ss, 6 ßasiXs'Jc ßotaiXsyjac süps jtapa).E).u-
p.c'va -ä trifi ltoXiieia; Tiu|j.ai(jov npaY^axa • ttjv te y<*P Eöp<birj]v oi ßdpßapoi ('Aßapsic?)
spv;p.u)iav xai tt,v 'Aalav oi Ilspaai kölsöh xa-ijTpi'}av ; vgl. Nicephori hreviariuni (ed.
Bekker p. 3). Phokas vermehrte hei seinem Regierungsantritte sogleich die her-
kömmlichen Jahrgelder der Avaren (Theoph. p. 451).
7) Paulus Diaconus IV, 40.
24*
364 Ernst Dum ml er.
Krain erscheinen die letzteren schon ganz heimisch1) und bei Innichen
stellt sich ihre Grenze gegen Baiern fest. Mit den Langobarden
bewahrte der Avarenkhan lange Zeit hindurch das in Paunonien ange-
knüpfte freundschaftliche Verhältniss. So geschah es, dass im Jahre
602 das griechische Istrien von beiden Völkern gemeinsam , so wie
von den unter avarischem Oberbefehle fechtenden Slawen durch
Rauben und Brennen verheert wurde, und dass im zweiten Jahre dar-
auf die letzteren auf Gebeiss des Khakhans den König Agilulf bei der
Eroberung der Stadt Cremona unterstützten 2). Dennoch löste sich
nach einigen Jahren der ewige Bund der zwischen Avaren und Lan-
gobarden geschlossen worden, und im J. 610 überschwemmten die
ersteren das Herzogthum Friaul mit zahllosen Scbaaren; da Herzog
Gisulf im Kampfe geblieben war, stand ihnen mitAusnahme mehrerer
festen Burgen das ganze Land weit und breit offen und auch die
Hauptstadt Cividale fiel in ihre Hände3). Istrien wurde dann bald
wieder im J. 61t von den Slawen auf klägliche Weise verwüstet4).
Wenn man bedenkt, dass diese bei ihren ersten Einfällen mit grosser
Grausamkeit verfuhren und Tausende von römischen Einwohnern, zum
Theil auf martervolle Weise durch Keulenschläge, durch Pfählen,
durch Kreuzigen, Verbrennen u. s. f. hinschlachteten, unzählige in
die Gefangenschaft fortschleppten und durch die von ihnen bewirkte
allgemeine Unsicherheit der Strassen die Bebauung der Äcker ver-
hinderten 5), so wird man geneigt sein, der Erzählung Konstantins e)
von einer fast gänzlichen Verödung Dalmatiens vollen Glauben beizu-
messen. Nur die festen Küstenstädte und die Inseln, unzugängliche
Felsen und Lagunen mögen hiervon eine Ausnahme gemacht haben.
') Ders. IV, 39; VI, 51; vgl. Zeuss,p. 617. Das Concil von Grado sollte aber nicht
/,uin Beweise angeführt werden, dass im Jahre 579 die Bisthümer Tiburnia und Cilli
noch existirt hätten, da von Ruheis die Unechtheit seiner angeblichen Acten langst
erwiesen ist (s. Mansi IX, p. 928).
2) Paulus Diac. IV, 24, 28; vgl. Zttiss, p. 735.
3) A. a. O. IV, 37.
4) A. a. 0. IV, 41.
5) Procop. de hello Goth. III, 29, 38, 40 (p. 397, 443, 455); historia arcana c. 18
(p. 103) , wo gewiss übertrieben die Zahl der bei jedem Einfall der Barbaren
getödteten oder mitgeschleppten Römer auf mehr als 200,000 angegeben wird.
6) De adm. imp. c. 31 (p. 148) : Trapct 8s tü>v 'Aßap«uv exoiioydsvTe; ol aüxol 'Pcup-ävoi . . .
cti xouTiuv IpTjpirji xa&earrjxaai xü'P*1'' C. 33 (p. 166): rcapa x<I>v 'Aßapcov aixp.aX<u-
xiafkiaa -rj ts x^P0 xo" 6 tgcjtt); Xa6c xo mxpawxv rjprjixüjxai. Vgl. c. 35, 36 (p. 162,
163).
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 3G5
Eine wirkliche Eroberung des Landes durch die Avaren , mit deren
Beistimmung die Slawen jene Züge unternahmen, wird uns sonst
nirgends gemeldet und möchte wohl auch überhaupt sehr zweifel-
haft sein, weil die einzelnen Umstände die unser Gewährsmann
davon erzählt, der Wahrheit durchaus nicht entsprechen. Slawische
Verwüstungen unter avarischem Schutz bilden wahrscheinlich die
einzige ^tatsächliche Grundlage seines Berichtes. Selbst wenn es
richtig wäre, dass noch in der Mitte des X. Jahrhunderts Überreste
der Avaren sich in Dalmatien vorfanden1), würde eine solche verein-
zelte Colonie sich auch recht wohl ohne die Beherrschung des gan-
zen Landes denken lassen, und zudem fehlt es für jene Nachricht an
jeder anderweitigen Bestätigung.
Auf jenen ersten Sturm von Seiten der Slovenen folgte ein
zweiter, der von den nahe verwandten Stämmen der Croaten und
Serben ausging. Diese drangen wie ein Keil zwischen die Winden
in Kärnten und Pannonien und die in Thracien und Mösien ein und
rissen beide für immer aus einander, so dass ihre Entwickelung seit-
dem ganz gesonderte Bahnen einschlug 3). Die Urheimat der Cro-
aten und Serben bleibt auch nach der anscheinend ganz genauen
Beschreibung Konstantin's ziemlich dunkel, denn was er über Weiss-
serbien jenseits Ungerns erzählt, beruht offenbar, wie zuerst Z euss 3)
erkannte, auf einer Verwechselung der Süd- mit den Nordserben oder
Sorben die aber einer ganz andern Sprachfamilie angehören. Sein
*) Const. c. 30 (p. 144) : xai etoiv äxjiT)v sv Xpwßatia; ix tcju; tujv 'Aßapiov xai y1"
Yviuoxovtcu 'Aßapst? rJvTS?. Safari'k (II, 278) will darunter die heutigen Morlaken
verstehen wegen einiger abweichender Sitten derselben, die Engel (allgem. Welt-
historie Bd. 49b, p. 231 — 234) für tatarisch hielt, allein es ist doch sehr unwahr-
scheinlich, dass, während der Kern des avarischen Volkes an der Donau nach mehr
als zweihundertjähriger Herrschaft spurlos verschwand , in Dalmatien , wo sie
höchstens zwei Jahrzehnte walten konnten, sich ein Rest bis auf den heutigen Tag
erhalten haben sollte.
2) Miklosich, vergleich. Grammatik der slaw. Sprachen (p. VII) „jene Slawen, aus
deren Verschmelzung mit den fremden Bulgaren das Volk der späteren Bulgaren
hervorgegangen, waren gleich den ältesten slawischen Metanasten im Westen ein
Zweig des slovenischen Stammes." Vgl. Ko pitar, Ursprung der slaw. Liturgie (bei
Chmel, d. Österreich. Geschichtsforscher Ic, p. 508).
3) Die Deutschen, p. 610. Engel (a a. O. p. 455) hält in der That die Sorben in
der Lausitz für die Stammväter der Serben! Aus wirklicher Tradition scheint die
Nachricht (c. 33, p. 160) zu stammen, dass der Fürst der (serbischen) Zachlumer
Michael sein Geschlecht von den Anwohnern der Weichsel hergeleitet habe.
366 Ernst Dümmler.
Gross- oder Weiss-Croatien an der Nordseite der Karpathen nordöst-
lich von Böhmen darf vielleicht eher für begründet erachtet werden,
da auch später ») der croatische Name noch in der Gegend von Kra-
kau vorkommt, doch hat freilich im Verlaufe der Zeit die polnische
Nationalität ihn dort vollständig verdrängt. Immerhin mag man
annehmen, dass jene beiden Völker in dem Flachlande der Weichsel
und Oder längere Zeit ihre Sitze aufgeschlagen hatten, ehe sie nach
dem Süden aufbrachen.
Sehr zweifelhaft bleibt nun, wie wir uns ihre Wanderung von
jenseits der Karpathen nach der Donau denken sollen, denn was uns
darüber mitgetheilt wird , hat wenig das Ansehen einer glaubhaften
Geschichte. Schon die Erzählung von den Serben3), einem so mäch-
tigen und ausgedehnten Volksstamme, dass sie anfangs in der kleinen
Provinz Thessalonich Platz gefunden, dann über die Donau zurück-
gekehrt und von Neuem eingefallen seien, „bedarf keiner weiteren
Widerlegung". Sehr unwahrscheinlich ist es aber auch, dass jene
beiden Völker oder eigentlich nur ein Theil von ihnen 3) als Feinde
sich durch das avarische Reich durchgeschlagen haben sollten, das
sie doch unzweifelhaft passiren mussten, um dann zu den Römern
überzutreten, zumal da Heraklius trotz der wiederholten Treulosigkeit
des Khakhans durchaus mit den Avaren Frieden zu halten suchte*).
Vielnäher liegt daher die Annahme, dass auch dieCroaten und Serben
wie alle slawischen Völker rings umher unter avarischer Herrschaft
standen und mit Bewilligung ihrer Herren den Slovenen nachfolgend
das von diesen verödete Dalmatien und Mösien in dauernden Besitz
nahmen. Allerdings muss die Begierung des Kaisers Heraklius als
der richtige Zeitpunct dieser Eroberung festgehalten werden, denn
Papst Johann IV. 5), ein geborner Dalmatier (640 — 642) schickte
*) Safari k II, 244, 389, 393. Auch Thomas von Spalato c. VII (p. 541) lässt die
Croaten de partibus Poloniae herkommen , und Laonicus Chalkokondylas im
15. Jahrh. (lib. 1, ed. Bekker p. 34) : „tu; svioi (tpaaiv) äitö Tfj? izipa-i toO 'Iaxpou
E7t' EJyaTtOV TTJS E'jpiÜltT); , &7t6 TS KpOOCTta? X«i IlpOUatÜiV TÜ)V I? TClV äpXTlI)OV <I)XSC(VOV
xal 2ap|j.G<Tias ttjs vDm fj'jxiu 'Piosia? xaXo'jjj.svrJ;."
2) Const. c. 32 (p. 152), vgl. Zeuss p. 612, Anm. 2.
3) Von den Croaten war es nur (J-ict yEvsa oiayujpia&siaot e£ airnüv . . . p-sia tou Xaoü
aÜTtüv (p. 143) und von den Serben to xoü Xaoü . . . ^ixiau (p. 152).
4) Theophanes, p. 464—466. Nicephori breviarium p. 14, 20, 27.
5) Vita Joannis IV bei Anastasius de vitis pontific. Romanor. ed. Blanchini, Romae
1718, I, p. 123.
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 367
gerade am Ende derselben den Abt Martin nachlstrien und Dalmatien,
um daselbst Reliquien zu sammeln und die christlichen Gefangenen
durch Lösegeld aus der Gewalt der Heiden zu befreien. Unter die-
sen Umstünden wurden durch die Thaten der Zerstörung, mit denen
die Croaten und Serben ihr Reich begründeten, nicht die Avaren
getroffen, sondern die Reste der römischen Revölkerung und deren
bis dahin noch verschont gebliebene Stüdte. Und so schreibt auch
Konstantin '), wie er denn oft Widersprechendes ohne Arg berichtet,
die Vernichtung von Epidaurus, sowie der übrigen Städte, also auch
dieSalonas, den Slawen zu, die zu seiner Zeit noch im Lande
wohnten, d. h. den Serben und Croaten. Wir dürfen daher diese
Völker ebenso gewiss für feindliche Eindringlinge halten , wie ihre
Vorgänger die Slovenen, und auch in viel späterer Zeit fuhren sie
ja noch fort sich als Seeräuber furchtbar zu machen. Erst als das
avarische Reich sank und durch die Rekehrung zum Christenthum
mildere Gesinnungen ihnen allmählich eingepflanzt wurden, fand ein
Anschluss an den byzantinischen Kaiser Statt. Indem dieser dann auf
die Wiedereroberung des Landes verzichtete, konnte sich sehr leicht
die Meinung bilden, als habe er dasselbe von vornherein den Slawen
zur Rewohnung angewiesen. War demnach der wirkliche Sachver-
halt einmal in Vergessenheit gerathen, so hielt es nicht schwer, die
Croaten gerade als die Refreier Dalmatiens von der Zwingherrschaft
der Avaren darzustellen, um sie so den Römern gegenüber im günstig-
sten Lichte zu zeigen. Eine solche Auffassung römisch gesinnter
Croaten dürfte dem Rerichte Konstantin's2) zu Grunde liegen und
seine Abweichungen von der Wahrheit vollständig erklären. Die
Namen der von ihm erwähnten Führer gehören 3) unstreitig der
1) Cap. 29 (p. 136): e-ei6t), -rpixa -i Xoiita ixparqfrnaav x«3Tpa -apa t<I>v SxXäßcuv tüv
üvtcuv ev ~.u> Nfum Expo-/)»7) xai tö toioötov xAoTpOM (sc. Epidaurus). Fallmerayer
(Gesch. der Halbinsel Morea p. 160) entnahm diese Notiz aus Konstantin und glaubte
ihn zu berichtigen, indem er für jene Zerstörung das Jahr S49 statt 449 ansetzte,
allein Epidaurus existirte noch am Ende des VI. Jahrhunderts, wie zwei Briefe
Gregor's 1. aus den Jahren 592 und 597 beweisen (Mansi IX, 1119; X.93: habitatores
Epidauriensis civitatis) .
2) Auf diese Quelle führen besonders auch die Worte über den Wunderthäter Martin
(c. 31, p. 150) 8v xocL Xiyooaw oi «Orot XpwßaTOi Sa'J|Aa-a txava itonjffat, also sicher-
lich croatische Gewährsmänner.
3) Cap. 30 (p. 143). Fünf Brüder und zwei Schwestern werden daselbst genannt.
Die letzteren beiden Tuga und liuga lassen sich mit der cechischen Libusa und der
polnischen Wanda vergleichen.
368 Ernst Dümmler.
croatischen Stammsage an, wofür besonders der Umstand spricht,
dass darunter der Volksname Chrovatos vorkommt, ganz entsprechend
dem Cech der Böhmen und dem Lech der Polen.
II. Yertheilung Dalmatiens nach der slawischen Eroberung.
Über die Wohnsitze die durch die Einwanderung der Croaten
und Serben diesen in Dalmatien und Mösien zufielen, sowie über die
Orte die den alten Einwohnern verblieben, erhalten wir erst aus dem
IX. bis X. Jahrhundert genauere Kunde , doch darf im Allgemeinen
wohl angenommen werden, dass seit dem Ende des siebenten in dieser
Hinsicht sich wenig verändert habe , weil von da an meist friediche
Verhältnisse obwalteten:
I. Die römischen oder romanisirten Bewohner des Landes, in
soweit sie nicht unter slawische Botmässigkeit geriethen, nannten sich
selbst noch fortwährend Romanen J) und behielten die lateinische
Sprache bei. Von dem alten Liburnien , d. h. dem Lande zwischen
der Arsa und Kerka, behaupteten sie die vier nördlichen grossen
Inseln Veglia, Arbe, Cherso und Lussin2), welche letzteren beide
nur durch einen schmalen Meeresarm getrennt, gemeinsam unter dem
Namen Opsara oder Absaros begriffen werden. Die gleichnamige
Stadt, das heutige Ossero , lag auf Cherso. Auf dem Festlande von
Liburnien blieb den Römern nur die alte und ansehnliche Hafenstadt
Jadera, von Konstantin mit willkürlicher Änderung Diadora genannt,
während die Slawen den Namen später in Zadar 3) und die Italiener
in Zara verwandelten. Eine Zerstörung durch die Croaten erfuhr
i) Cap. 29 (p. 12S, 128), 33 (p. 160), 35 (p. 162). Konstantin unterscheidet sie
durch die Bezeichnung 'Pio^ävoi von den Griechen, die er stets Tio|j.eüoi nennt.
Auch Einhard (ann. 817) heiss* die römischen Dalmatier Romani.
2) Konstantin erwähnt (p. 128, 140) •*] "Äff*»), t) BsxXa xai tö "Ctyapa als Städte,
doch führte gerade Lussin von der gegenüberliegenden Stadt bis zum Anfange
dieses Jahrhunderts den Namen Ozora , Ossero, und da es durch eine Brücke mit
Cherso zusammenhängt, so konnte es füglich als eine und dieselbe Insel betrachtet
werden, daher auch die Alten beide unter der Benennung der Apsyrtides zusammen-
fassten.
3) Diese Form findet sich zum ersten Male in dem Briefe des Papstes Johann VIII. vom
10. Juni 879, der bestimmt ist habitatoribus Spalatensis civitatis atque Zada-
rensis (bei Mansi collectio conciliorum XVII, p. 129).
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. Ol) 9
Jadera niemals1) und wenn bei Thomas von Spalato2) von einer sol-
chen die Rede ist, indem die Wiedererbauung der Stadt flüchtigen
Salonitanern zugeschrieben wird, so scheint diese Nachricht nur dar-
aus entstanden zu sein, dass man den Namen Jadera von dem des
Flusses Jader bei Salona abzuleiten suchte. Die südlicher liegenden
liburnischen Inseln, die anfänglich den vertriebenen Römern zur
Zuflucht gedient haben mochten, wie Ulbo, Selva, Pago, Meleda u. a.,
waren in Konstantin^ Zeit ganz entvölkert und enthielten nur ver-
lassene Ortschaften, dagegen fristete noch eine andere römische
Gemeinde auf dem kleinen Eilande3) Levigrad (jetzt Vergada) zwi-
schen Pasman und Morter ihr Dasein.
In Dalmatien im engern Sinne, d. h. dem Küstenstriche von der
Kerka bis Durazzo rettete sich von den alten Städten nurTragurium,
jetzt Trau und von den Slawen Troghir benannt, indem seine Bewoh-
ner sich auf die gegenüberliegende kleine Insel Bua zurückzogen, die
nur durch eine schmale Landzunge wie durch eine Brücke mit dem
Festlande verbunden war4). Sehr zweifelhaft ist es, ob wir Cattaro,
das Dekatera des Konstantin5) und Kotor der Slawen, auch hier
1) Konstantin (p. 139) bezeugt dies ausdrücklich, indem er Zara älter sein lässt
als Rom. Konr. Mann ert (Geographie der Griechen und Römer VII, p. 329 — 332)
zweifelt auch nicht, dass sein Diadora das Jadera der Alten sei, identificirt aber
dennoch beide mit dem südlicher liegenden ßielograd, auf welches ihm die von
Plinius (111, 22) angegebenen Entfernungen besser zu passen schienen. Hierzu
verleitete ihn der Name Zara vecchia , der in neuerer Zeit Bielograd von den
Schiffern beigelegt worden ist. Allein Zara hiess nicht nur während des ganzen
Mittelalters gewöhnlich noch Jadera, sondern hat auch die bedeutenderen römischen
Alterthiiroer (vgl. Joa. Lucii de regno Dalmatiae et Croatiae I. 1, c. 5, p. 53 — 54)
und zudem kennt Konstantin C. 31 (p. 151) schon das croatische BsVrrpaoov
neben dem römischen Diadora.
2) Cap. IX. (bei Schwandtner III, p. 545).
■) Const. de adm. imp. c. 29 (p. 140): sie Itspov vtjoiov (la-ri to xdj-pov) Tö Ao'ju,-
ßpixdTOM; vgl. Johannis chronicon Venetum (Pertz, monum. Germaniae SS. VII, 32),
wo dem venetianisehen Dogen Petrus Urseolus a. 998 auf der Fahrt von Bielograd
nach Trau Levigradae insulae Colones . . oecurrentes saemmentu prompte
fecerunt. Der Name ist an beiden Orten offenbar derselbe und nur im griechischen
Munde etwas umgemodelt; auch die schleunige Unterwerfung lässt auf römische
Abkunft der Bewohner schliessen. Die Lage von Vergada, welches Joa. Lucius
(I, c. 14) für Lumbrikat nahm , passt vollkommen auf den Bericht des Johannes
über die Fahrt des Dogen. Die Vermuthungen von Farlati (lllyric. saerum I. 222)
und von Pertz (a. a. 0. Anm. 4) sind daher zurückzuweisen.
4) Vgl. K. Mannert a. a. 0. p. 337.
5) De adm. imp. c. 29 (p. 139). Er übergeht es p. 128, wo er die Städte der Römer
aufzahlt.
d70 Ernst Dümmler.
anreihen dürfen, da sein Name von keinem der Alten genannt wird *)
und eher der slawischen Sprache anzugehören scheint2). Die Stadt die
auf der einen Seite vom Meere, auf der andern von hohen Bergen
umschränkt ist3), mag daher ihre Entstehung wie ihre Benennung
gleichfalls erst den slawischen Verwüstungen zu verdanken haben.
Ausserdem wurden sicher durch die flüchtigen Römer die beiden
Städte Spalato oder Aspalathos und Ragusa oder Rausium neu
gegründet. Nach der Einnahme Salona's durch die Croaten, so erzählt
der Archidiaconus Thomas4) , hatten sich die Einwohner grössten-
teils auf die zunächst gelegenen Inseln Solta , Brazza, Lesina u. a.
geflüchtet und erst nach einiger Zeit unter Führung eines gewissen
Severus sich nach dem festen Lande zurückgewagt , wo ihnen aber
die Trümmer ihrer Vaterstadt keinen sichern Aufenthalt gewährten.
Gewiss ist, dass ein Theil der Saionitaner sich nach dem 3 — 4 Mil-
lion entfernten und durch die dazwischen aufgehäuften Felsen schwer
zugänglichen Palaste Diokletian's begab. Dieses grossartige Bauwerk
das aus einer ganzen Reihe einzelner, getrennter Gebäude bestand,
bildete ein regelmässiges Viereck dessen Seiten je 220 Fuss in der
Länge massen, und wurde durch eine aus Quadersteinen wohlgefügte
Mauer und viele Thürme verwahrt. Aus diesem Palatium Diokletiaifs
entwickelte sich die Stadt Spalato, die allmählich aus seinem Um-
kreise herauswuchs5). In gleicherweise wurde von den vertriebenen
Einwohnern von Epidauros das später so berühmte Ragusa, slawisch
Dubrownik, gegründet, in welchem sich auch eine Anzahl von Bür-
gern aus Salona niederliess 6). Das Gebiet aller dieser Städte schloss
*) Das Kärraprj; des Prokop (de aedific. IV, 4, p. 281) gehört nicht hieher, weil es
nach seiner Aussage in Dardanien lag.
2) Vgl. z. B. to Kdxspa in Bosnien (de adm. imp. c. 32, p. 139).
3) Coust. a. a. 0. sl? xo ty}; &a).dja7)c <jupndT)p<D[j.tx laxt xb xdaxpov l'/si 8s tö xoioüxov
xaixoGv xOxXov a'JT'jüi opir) u'jajXa, üjjxs jiovu) xü> xaXoxatpiip ßXsrcsiv xov tjXiov x. x. X.
Vgl. dazu Banduri p. 338 und 346.
4) Cap. VIII und IX (p. 543—546).
5) Const. c. 29 (p. 137—138); Farlati Illyric. sacr. III. 1— 3 ; K. Ma n n er t VII, p.324.
6) Const. p. 136. Ragusa soll nach seiner Gründung noch eine dreimalige Erweite-
rung erfahren hahen wegen der Zunahme der Bevölkerung. Thomas von Spalato
(c. VIII, p. 544) lasst Epidaurus von herbeiziehenden Römern zerstört werden, die
alsdann mit den vertriebenen Bürgern gemeinsam Ragusa erbauen. Noch fabel-
hafter erzählt die Sache der Priester von Dioklea (c. XX, p. 487), der in auffallender
Übereinstimmung mit Konstantin gleichfalls Lausium als ursprünglichen Namen der
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. o ( 1
nach dem festen Lande zu höchstens die nächsten Dorfschaften ein,
da alles Andere den Slawen unterthan war, die nöthigen Lebensmittel
mussten daher zum Theil aus den vorliegenden Inseln herbeigeschafft
werden, bis auch deren Besitz mehr und mehr bedroht wurde *)•
Die oberste Civil- und Militärverwaltung des römischen Dalma-
tiens lag in den Händen eines byzantinischen Statthalters der unter
dem Titel eines Proconsuls oder Strategen2) in Zara seinen gewöhn-
lichen Sitz hatte 3). Wie man Dalmatien stets als einen Theil Italiens
betrachtete 4), so stand der Stratege dieser Provinz ohne Zweifel
auch unter dem Exarchen von Ravenna , so lange dies nicht in die
Herrschaft der Langobarden und Franken übergegangen war. Die
Abhängigkeit der Dalmatier von dem Kaiser in Konstantinopel,
der ihnen gegen ihre Feinde ohnehin sehr ungenügende Hilfe
gewährte, beschränkte sich wohl auf die Zahlung eines jährlichen
Tributes und das Aufbringen von Schiffen und Matrosen, wenn
diese für einen Krieg erfordert wurden 5), während in ihren inneren
Angelegenheiten die Städte nach einer freien Municipalverfassung,
in der Art Venedigs, sich selbst regierten 6). Nicht diese schwachen
politischen Bande die die dalmatischen Städte und Inseln noch mit
Byzanz verknüpften, gaben der römischen Nationalität daselbst Halt
und Festigkeit, sondern vielmehr die bei weitem stärkeren kirchlichen,
von denen später zu reden sein wird.
Stadt angibt. Vgl. auch das Chronicon Salernitan. c. 88 (Pertz SS. Hl, 512), wo
als Gründer von Ragusa ein Theil der Römer selbst bezeichnet wird , die unter
Konstantin nach Byzanz übersiedelnd beim Slawenlande Schiffbruch litten.
1) Const. c. 30 (p. 146). Hiermitsind keineswegs, wie Safafik (slaw. Alterthümer
II, p. 304) annimmt, die vier grossen nördlichen Inseln im Quarnerobusen gemeint,
auf denen selbst sich römische Städte befanden, sondern die kleineren Inseln nahe
der Küste, wie Uglian, Zirona, Solla u.a., welche zur Zeit Konstantin's unbebaut
und von Einwohnern verlassen waren, nach seiner eigenen Aussage p. 140: toc 6s
XoiTrä itaiv äoixYjxa, r/ov-a tpr^öxaazpa.
2) Const. p. 146: tu) a-pa-T]-^ , wo auch der jährliche Tribut erwähnt wird; de
caerimoniis aulae ßyzantinae II, c. 50, 52 (ed. Reiske p. 697, 713, 728); Brief
Gregor's 1. MarceUino pi-oeonstili Dalmatiae (Mansi X, p. 112).
3) Einhardi, annal. 821: Fortunalus . . . veniens . . . Jaderam Dalmatiae civitatem,
Johanni praef'ecto provinciae illius fugae suae causas aperuit.
4) Const. de thematibus 1. 11 (p. 57): t) Ss AaX|j.a~ia t/jc 'IiaXia; sali "/ujpa. \rgi. Joa,
Lucius I, c. 6 (p. 60).
5) Dies lehrt die Erzählung bei K o n s tan t in (c. 29, p. 231), woselbst die Ragusaner
im J. 870 ßaaiXr/7) xeXsoasi die croatischen und serbischen Hilfsvölker nach Bari
übersetzen.
«) Vgl. Farlati HI, p. 4.
d 7 St E r n s t D ü m in 1 e r.
II. Die Croaten sassen hinter den Römern längs der Meeresküste,
soweit sie durch die dalmatischen Städte von dieser nicht ausge-
schlossen wurden, vonAlbona oder dem Flusse Arsa, der alten Grenze
Istriens, im Norden beginnend bis zur Mündung der Cettina süd-
wärts *). Undeutlicher sind ihre Grenzen nach dem Binnenlande zu
und lassen sich daselbst nur annähernd bestimmen. Im Süden reich-
ten sie über die Cettina noch etwas hinaus , da zwei ihrer Gaue,
Chleviana und lmota, jetzt Liwno undlmoschi, jenseits derselben zu
suchen sind. ImNordosten erscheint Plewa, jetzt Pliwa an dem gleich-
namigen Nebenflusse des Werbas als der am weitesten vorgeschobene
Posten der uns aber kaum berechtigt, mit Safarik2) den Lauf des
Werbas als ihre Grenze anzusetzen, denn in dem ganzen weiten
Räume zwischen diesem Flusse , der Sau und der Unna werden uns
keine anderen croatischen Orte oder Gaue genannt. Im Nordwesten
wo Croatien in den Gebirgen sich noch oberhalb Istriens landeinwärts
erstreckt haben soll , dürfen wir es etwa bis zu den Quellen der
Kulpa ausdehnen, allein auch hier sind uns nördlich von einer zwi-
schen Zengg und Sluin gezogenen Linie keine Ortschaften bekannt.
Der eben beschriebene Umfang ergibt sich aus den vierzehn von
Konstantin namentlich aufgeführten Gauen Croatiens, mit denen die
von ihm erwähnten Städte grossentheils zusammenfallen3). Wenn er
nun hiermit auch die Grenzen desjenigen croatischen Staates richtig
angibt, der zu den dalmatischen Römern in näherer Beziehung und
Verbindung stand, so scheint doch einerseits auch dieser in früheren
Zeiten eine weitere Ausdehnung besessen zu haben, andererseits
wurden nicht immer alle Croaten von ihm eingeschlossen, und jene
Angaben bedürfen daher in beiden Fällen einer Vervollständigung.
Konstantin*) erzählt nämlich selbst, das croatische Reich sei ehedem
i) Const. c. 30 (p. 146).
2) Slaw. Alterth. II, 294—298.
3) C. 30, 31 (p. 145, 151). Schon Lucius (I, c. 13, p. 77) bemerkt hierüber: In
relatis zwpaniis maritimae ut plurimum regiones numerantur , ideo vel duces
s. bani a Porphyrogenito nominati maritimam tantum Croatiam possederunt,
vel ipse in rebus occidentalibus purum versatus multa omisit. Aus Einhard
(ann. 819) ergibt sich nur, dass das Gebiet der Croaten im Norden nicht über die
Kulpa hinausgereichl haben könne. Aus der Urkunde Tirpimir's vom J. 852 (bei
Schwan dtner 111,99), wo es von Spalato heisst: quae metropolis usque ripam
Danubii et pene per totum regnum Croatiae , lässt sich keineswegs schliessen,
dass auch das letztere von der Donau begrenzt worden.
4) C. 31 (p. 151).
Über die älteste Geschichte der Slawen in Daimatien. »373
bei weitem mächtiger gewesen als zu seiner Zeit, denn es habe einst-
mals 60.000 Reiter und 100.000 Fussgänger stellen können, dazu
an grösseren Fahrzeugen, sogenannten Sagenen 80 zu je 100 Mann,
und an kleineren sogenannten Konduren 100 zu je 10 — 20 Mann. Die
Verminderung dieser Streitkräfte die nur bei der Zahl der Sagenen
näher bestimmt wird, indem er diese auf 30 sinken lässt, setzt Kon-
stantin in die Mitte des IX. Jahrhunderts und leitet sie aus den zer-
störenden Wirkungen eines Bürgerkrieges her. Wegen jener für den
geringen Fläehenraum und die gebirgige Natur des Landes übermässig
grossen Zahlen ist man indessen versucht, ihre Verringerung nicht
blos inneren Wirren, sondern auch einer bedeutenden Landabtretung
zuzuschreiben. Kaum aber möchte es zur Erklärung jener früheren
Streitmacht genügen, wenn wir die Mündung des Werbas in die Sau
als äusserste Nordostgrenze des alten Croatiens annähmen, vielmehr
scheint es fast nothwendig, auch Bosnien nicht als ursprünglich ser-
bisches Gebiet gelten zu lassen, sondern als eine ehemalige Erwer-
bung der Croaten. In Wahrheit wird dasselbe, wenn es auch schon
im X. Jahrhundert einen Bestandteil von Serbien bildet, doch noch
als eine besondere Landschaft davon unterschieden, deren Bewohner
ihre eigenen Sitten hatten, wie sie auch später meist ihre eigenen
Fürsten gehabt haben i). Die Berechtigung zu diesen Vermuthungen
gewährt uns die Nachricht2), dass die Croaten bei ihrer Einwan-
derung sich keineswegs auf Daimatien beschränkt, sondern sich
von dort auch nach Illyrien und Pannonien ausgebreitet hätten, wo
von ihnen ein besonderer Staat unter eigenen Fürsten gegründet
worden sei. Von Pannonien kann hier nur der äusserste Theil von
Unterpannonien, das sogenannte Syrmien zwischen der untern Sau
und der Donau, in Betracht kommen 3), in welchem die Bevölkerung
1) Konstantin (c. 32, p. 159) nennt neben Serbien xö ytuptov Bo'awva mit zwei
Städten; Joh. Kinnaraus, ein Zeitgenosse des Kaisers Friedrich 1. sagt, nachdem er
die Drina als Grenze gegen Serbien angegeben (historiar. ed. Meineke III, 7, p. 104) :
eoxi 8s t) Bo'j&va du Ttj> Sspßiiuv äp/^o'jTtävuj xal auT7) si'xouaa, dXX' s&vo; Iota Tiapa
taUTTj xai 5<üv xal dp-/_o'|j.svov.
2) Konstantin c. 30 (p. 144). Auch in dem Theophanes continuat. V, 52 (ed.
Bekker p. 288) wird von den Serben und Croaten geredet als von tü>v iv ilawo-
via xal AaX(j.aTta xai xü)v ETtexsiva toutujv 6iaxsi|Jt.£vu>v 2x'j!}ü>v.
3) So urtheilte schon Zeuss (pag. 612), indem er an das Frankochorion der Byzantiner
dachte. Diese Gegenden sind jetzt mit serbischen Flüchtlingen bevölkert und von
dort breitet sich zum Nachtheile der slovenischen Mundart die serbische immer weiter
überSlavonien aus. Im Jahre 1024 aber befand sich zu Sirmium ein croatischer Befehls-
3/4 E r n s t D ü m m I e r.
und die Beherrscher öfter gewechselt haben, während die bei wei-
tem grössere Hälfte desselben, das heutige Slavonien und Provinzial-
Croatien, soviel wir wissen, stets von Slovenen bewohnt war. Wenn
dem so ist, so wird mit Illyrien im römischen Sinne das Land
gemeint sein, welches Dalmatien einschliessend *) sich im Norden
und Osten bis zur Sau und Drina ausdehnte , also vornehmlich
Bosnien. Darunter verstehen wir das Flussgebiet der Bosna östlich
von der Drina begrenzt, durch welches die Verbindung zwischen
Croatien und Syrmien vollkommen hergestellt wird. Hiernach dür-
fen wir uns nicht wundern, wenn Konstantin über die Sitze der
pannonischen und illyrischen Croaten gar nichts Näheres mitzu-
theilen weiss, weil ja zu seiner Zeit dieselben bereits in andere
Hände übergegangen und theils von den Serben, theils von den Bul-
garen in Besitz genommen waren. Jene auffallend hohe Angabe
der Streitmacht aber mag sich aus einer Zeit herschreiben, welche
das Hinterland mit den Küstenbewohnern vorübergehend zu Einem
Beiche vereinigt sah.
v
Das dalmatische Croatien zerfiel in vierzehn Zupen oder Gaue,
in deren jedem sich in der Begel eine befestigte Stadt 3) oder Burg
zum Schutze des Landes und zur Zuflucht für das wehrlose Volk
befand. Unter diesen grösseren Orten waren wohl Nona (das Aenona
der Alten) und Bielograd die bedeutendsten und dienten desshalb den
haber Sermon oder Cismigus, nach dessen Ermordung' die Stadt in die Hände der
Griechen fiel (Georg. Cedrenus histor. eompend. tom. II , p. 476 ; Lupus Protospata-
rius s. a. bei Pertz SS. V, pag. 57) und im Jahre 1154 heisst es von jener Gegend
bei Joh. Kinnamus (III, c. 10, p. 114): rp ouv iosTv . . . xoi rjv "Iaxpo? xai 2äos
TOTa|ACii . . . £7ti 06vvi%7)? a'JTOji-txTiCo'jat vvjaOM . . . XEVOUuivqv TCÖtjav xai xaxoixcov Jitavi-
tjcuaav.
1) Ich schliesse mich hier der Ansicht Krause's (p. 4 — 5) an, der u. a. noch geltend
macht, dass die Franken von den Serben als von einer Nation sprechen, die sie
nur vom Hörensagen kennen (Einhard, ann. 822) und dass Bulgaren und Croaten
mit einander Krieg führen, ohne dass der Serben als eines zwischen ihnen woh-
nenden Volkes irgend Erwähnung geschieht (Const. c. 32, p. 150 — 151). Auch
die Ausdehnung der Metropolitanrechte Spalato's könnte dafür sprechen. Äusserst
v v
unwahrscheinlich ist die Vermuthung Safarik's (II, p. 279, 343), in dem kleinen
Kraubatgau in Steiermark jene von Dalmatien ausgegangene croatische Colonie zu
suchen, da Konstantin nicht daran dachte, auf das ehemalige Noricum und damalige
Slavinien noch den Namen IUyricum auszudehnen.
2) Vgl. Palacky, Geschichte von Böhmen, 1, p. 174 — 176. E i n h a r d erzählt von
dem von dem Feinde Überfallenen Croatenfürsten (s. a. 819) : omnia Sita castellis
inclusit. Die Namen der Städte fallen zum Theil mit denen der Zupen zusammen.
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 375
Fürsten gewöhnlich als Sitze. An der Spitze der Verwaltung stan-
den in den Gauen die Zupane, den deutschen Grafen entsprechend,
und nur die drei nördlichsten Gaue Karbava, Licca und Gutziska
erkannten in dem Banns ein gemeinsames Oberhaupt an, dessen
Würde, wenn sie auch fremden Ursprungs sein sollte, doch schwer-
lich auf die Avaren zurückgeführt werden kann J). Bei dem ursprüng-
lichen Vorwiegen der Vielherrschaft und der Spaltung unter allen
slawischen Völkern 2) darf man in demBan und den Zupanen auch für
die ersten Zeiten der Niederlassung in Dalmatien unabhängige
Häuptlinge des Volkes erblicken, unter denen allmählich erst der
Grosszupan3) von einem blossen Vorrange zu einer wirklichen Ober-
herrschaft gelangte. Da Monarchien unter den Slawen sich überall
erst durch fremde Einwirkung gebildet haben, so ist es sehr wahr-
scheinlich , dass der byzantinische und zum Theil wohl auch der
fränkische Einfluss bei den Croaten in dieser Beziehung den Aus-
schlag gegeben haben. Die strenge Erblichkeit des Thrones konnte
auch im IX. Jahrhundert noch nicht recht durchgeführt werden und
eine Volkswahl war bei jeder Erledigung desselben nothwendig *).
Der Grosszupan umgab sich bald mit einer Reihe von Hofbeamten,
mit einem Pfalzgrafen, Marschalk, mehreren Kämmerern, einem Mund-
schenken, Waffenträger u. s. f., bei denen eine Nachbildung frän-
kischer Einrichtungen 5) unverkennbar ist.
III. Die Serben stehen, obgleich viel zahlreicher als die Croaten,
doch in den ersten Jahrhunderten nach ihrer Ansiedelung hinter
diesen zurück, weil sie von vornherein in viele gesonderte Unter-
abtheilungen zerfielen und erst später zur Bildung einer einheitlichen
*) Dies glaubt Safari k (II, 278, Anm. 2; 290, Anm. 3), allein ßaian findet sich nicht
bei den Avaren als eine dem Khakhan untergeordnete Würde , sondern ist vielmehr
nur der Eigenname des ersten und berühmtesten Khakhans seihst. Baiavo? 6 tüv
'Aßaptuv Xaydvos heisst er bei Menander p. 263 u. a. a. 0. Vgl. Liudprand,
antapodosis 111, 29, wo Etaianus als bulgarischer Eigenname vorkommt.
2) S. die Zeugnisse bei Safaf l'kll, 661, 664. Vgl. Einhard, ann. 789 über die Wilzen.
3) Safaf fk 11,290, Anm. 3. Auch die Benennung Croatorum iudex kommt dafür vor
in Johannis chronic. Venet. p. 30, sowie die Zupane überhaupt öfter hulices heissen.
4) Im Jahre 821 wird nach Einhard (ann. s. a.) der Neffe des verstorbenen Fürsten
petente populo zum Nachfolger eingesetzt. Im IX. Jahrhundert wechselten die
Dynastien öfters.
5) S. die Urkunde des Herzogs Muncimir vom J. 892 (bei Farlati III, 82), unter welcher
sich die Unterschriften des Jupano Cavullario, des Jup. Camerario, des Jitp.
Pincemario, des Jup. Armigeri u. a. linden.
3 f 6 K r n 8 t l> ii m m I <* r.
Macht gediehen. Von dem Theile des Volkes, der östlich von jenen
zwischen der Drina und Morava und über diese hinaus sass und
später sich auch über Bosnien ausbreitete, treten uns mit grösserer
Deutlichkeit nur an der Donau die Stämme der Ostabotriten oder
ßranitzewzer und der Timotschaner entgegen •), von denen diese
Anwohner des Timok waren, jene um die Mündungen der Morava in
der Landschaft Braniczewo wohnten. Viel besser bekannt sind die
Küstenserben in Dalmatien, die südlichen Nachbarn der Croaten, die
sich wiederum in vier verschiedene Stämme theilten.
A) Die Narentaner führten ihren Namen vom Flusse Narenta und
werden auch Paganer genannt3), weil sie am längsten der Taufe wider-
strebten. Sie nahmen in zwei Gauen den schmalen äusserst felsigen
Küstensaum von der Mündung der Cettina bis zur Narenta ein , und
erstreckten sich mit dem dritten, dem von Duwno (dem alten Delmi-
nium), ziemlich tief ins Binnenland hinein. Ausserdem gehörten ihnen
die fruchtbaren und weidereichen Inseln Kurzola, Meleda, Brazza und
Lesina oder Hvar. Als Seefahrer ausgezeichnet wurden sie durch
ihre häufigen Bäubereien, durch welche sie die ganze nördliche
Hälfte des adriatischen Meeres unsicher machten, der Schrecken
aller ihrer Nachbarn. Wenn die Slawen 3) die ums J. 633 mit zahl-
reichen Schiffen bei Sipontum landeten und dem Leben des Herzogs
Aio von Benevent ein Ende machten, Narentaner waren, so müssen
sie ihr Räuberhandwerk schon sehr früh angefangen haben. Sie
bewirkten hierdurch namentlich eine zunehmende Verödung der dal-
v
matischen Inseln*). Die drei südlichsten von diesen, Lissa, Cazza
4) Ich folge hier Zeuss p.614, während Safaffk (II, p. 208— 209) anderer Ansicht ist,
indem er jene Stämme noch den bulgarischen Slawen beizählt und daher die Morava
als ursprüngliche Ostgrenze der Serben ansetzen will. Zeuss (a. a. 0.) weist noch eine
Reihe von Gaunamen im Innern Serbien aus dem IX. Jahrhundert nach, die ich hier
wegen ihrer Dunkelheit übergehe.
2) Konstantin nennt den Fluss Naro der Alten 'Opövxios (c. 30, p. 145) und das Volk
Tfl 'Pu)(j:ata)v SiouUxtü) 'Apo'jvTavoi (c. 29, 36, p. 128, 129, 163), wofür in dem Theo-
phanes continuat. V, 52 irrig 'Pevcavoi gesetzt ist. Johann von Venedig dagegen schreibt
stets Narrentani (Pertz, SS. VII, p. 16, 17, 20, 22, 24, 31,32). Das Wort
pagani (pogani) bedeutet auch in slawischer Sprache Heiden. Über ihre Wohnsitze
vergl. Safarikll, p. 266 ff., der aber die von ihm behauptete Ausdehnung südlich
von der Narenta nachzuweisen vergessen hat.
3) Paulus Diaconus IV, 46: Sclavi cum multitudine navium.
4) Const. c. 30 (p. 146), vgl. c. 29 (p. 140).
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 3/7
und Lagosta *) werden von Konstantin von der Botmässigkeit der
Narentaner ausdrücklich ausgenommen, so dass es den Anschein
gewinnt, als seien sie noch unter römischer Hoheit verbliehen, allein
Lissa finden wir später wenigstens unter croatischer Herrschaft, wess-
halb es ums Jahr 996 von den Venetianern verwüstet wurde2), und
Lagosta wurde ebenso wie Curzola als berüchtigtes Seeräubernest
zwei Jahre später von dem Dogen Peter Urseolus mit grosser An-
strengung erobert 3). Daher muss es sich damals gleichfalls im
Besitze der narentanischen Slawen befunden haben.
B) Die Zachlumer4) oder Chulmer stiessen im Süden an die
Narentaner und reichten von der Narenta bis in die Gegend von
Ragusa, das auf der Grenze ihres Gebietes lag. Sie erstreckten
sich ziemlich weit ins Binnenland bis nach Dobar, südöstlich von
Liubinje und bis zur Buna, einem Nebenflusse der Narenta auf der
linken Seite. Die bekannteste unter ihren Städten war Stagno am
Anfange der Halbinsel Sabioncello. Das Fürstenthum der Zachlumer,
welches von einem jetzt verschollenen Berge Chlum den Namen
hat, erscheint unter den südserbischen Landschaften als die bedeu-
tendste und umfangreichste.
C) Die Trawunjer oder Terwunjer 5) sassen an der Küste von
Ragusa bis Cattaro und reichten ebenfalls ziemlich weit ins Innere,
doch sind nach dieser Seite hin ihre Grenzen sehr unsicher. Ihnen
gehörte die Stadt Trebinje , die vielleicht ihren Namen bewahrt,
und der kleine Bezirk Canale oder Konawlje, d. h. der in einer
Halbinsel endigende Küstensaum unmittelbar südlich von Ragusa,
!) Cap. 36 (p. 164) ia Xöapa, das sonst nicht genannt wird, passt am besten auf die
Insel quae vocatur Caza, das heutige Cazza zwischen Lissa und Lagosta, in Johannis
chronicon Vcnetum s. a. 998 (p. 32) erwähnt.
2) Ebenda p. 30 unam illorum civitatem que Issa nominahatur , doch will Joa. Lucius
dafür Cissa lesen (1. II, c. 4, p. 114), welchen Namen die Insel Pago bei Carlopago
früher führte (s. 1. III, c. 12, p. 277).
3) Joh. chron. Venet. (p. 32 — 33) improbos Ladaestinae insulae habiiatores.
4) Const. c. 30, 33 (p. 146, 160) vgl. Safari'k II, p. 263—266, Thomas von Spalato
c. XIII. (p. 548) nennt es Chulmiae ducatus und der Fürst Michael heisst in einem
Schreiben Johann's X. (Farlati III , 93) Chulmorum dux. Die späteren Könige von
Ungern nannten sich nach der Eroberung Dalmatiens auch Culme dux (s. Joa. Lucius
III, c. 13, p. 234).
5) Const. c. 30, 34 (p. 145, 147, 161) ; id. de caerimon. aulae Byzant. II, 48 (ed. Ileiske
p. 691), wo neben einander der äfc/tov -ü>v TpaJV/JMiüv und toü KbvAXtj erwähnt wer-
den, wahrscheinlich nur irrthümlich. Vgl. Safarik II, p. 210 — 212.
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XX. Bd. II. Hft. 25
378 Ernst Du mm ler.
der später von dieser Stadt gekauft wurde. Auch in ihrem Lande
befanden sich sehr viele befestigte Plätze.
DJ Die Diikljaner führten ihren Namen von der Stadt Dioklea,
dem Geburtsorte der Mutter des Kaisers Diokletian, die an der
Mündung der Zeta in die Moratscha nördlich von Podgoritza gelegen
war. Zu Konstantins Zeiten lag dieselbe in Trümmern, ohne dass
wir angeben könnten, wann sie zerstört worden sei J); im XII. Jahr-
hundert aber wird Dioklea wieder als ansehnliche Stadt erwähnt2).
Das Gebiet der Diikljaner, dieser südlichsten unter den Serben, fällt
beinahe ganz mit dem heutigen Montenegro zusammen und füllte
am Meeresufer den Raum zwischen Cattaro und Antivari, der illyri-
schen Grenzstadt aus. Im Süden wurden sie von der byzantinischen
Provinz Dyrrhachium 3) eingeschlossen, die aus einem Theile des
alten Epirus gebildet war.
Die Verfassung der Serben *) scheint ganz die nämliche gewe-
sen zu sein wie die der Croaten. Auch ihre Zupane erkannten als
gemeinsames Oberhaupt (als Ältesten) den Grosszupan an, der zu
Desniza an der untern Drina in den ältesten Zeiten seinen Sitz hatte.
Doch konnte derselbe keinesweges seine Oberhoheit über die ein-
zelnen Häuptlinge überall auf die Dauer geltend machen, die wilden
Narentaner zumal bildeten während des IX. Jahrhunderts einen ganz
selbständigen Staat, und auch die Fürsten der übrigen Küstenserben
strebten nach gleicher Unabhängigkeit die ihnen vorübergehend
wenigstens zu Theil wurde.
In den Kämpfen zwischen Römern und Slawen, welche durch
den Einbruch der Croaten hervorgerufen waren, muss endlich ein
Stillstand eingetreten sein und ein gegenseitiges friedliches Überein-
kommen stattgefunden haben, durch welches sich die Grenzen in der
!) Const. c. 30, 33 (p. 143, 162). Er nennt es ein spy^oxaatpov , weil er aber bei
demselben Volke eine Stadt AoxXa gleichfalls erwähnt, hält Safarfk (II, 273)
beide für identisch und stellt jene Zerstörung' gänzlich in Abrede, nicht ohne
Wahrscheinlichkeil.
2) Joh. Cinnamus V, 11 (p. 249) AioxXsia-s itöX« ™spt9<xvT)s. Bei Nicephor. Bryennius
111, 1 (p. 100) kommen die AioxXsI; vor.
3) Bei Konstantin (pag. 143) sind zi xaj-sXXtcc -vi A'jppa/io.j, welche im Süden auf
die Dukljaner folgen, nicht die Städte unterhalb Dratsch, wie S afaf lk a. a. 0.
übersetzt, sondern die Städte des Themas Dyrrhachium, d. h. Lesch, Olgun und
Antivari.
4) Safarik II, p. 249, 234.
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 379
zuvor entwickelten Weise für die verschiedenen Nationalitäten auf
immer feststellten. Man darf aber nicht glauben, dass wenige Jahre
hierzu genügt hatten, oder gar dem Kaiser Heraklius das Friedens-
werk selbst zuschreiben, denn zu dieser Annahme kam Konstantin nur
durch seine von vornherein unrichtige Ansicht von der Einwanderung
der Slawen als einer friedlichen. Suchen wir nun nach einem Zeit-
puncte, in welchen mit der grössten Wahrscheinlichkeit das Ende des
Krieges um den Besitz Dalmatiens verlegt werden könnte, so bietet
sich uns als besonders hierzu geeignet das Jahr 678. In diesem
schloss nach Beendigung des gefahrvollen sarazenischen Krieges der
Kaiser Konstantin II. Pogonatus Friede mit den Avaien und wie es
unbestimmt heisst, mit allen gegen Westen das Reich umgrenzenden
Völkern 1). Bei dieser Gelegenheit also, zu einer Zeit, da die Avaren
wegen des hereinbrechenden Verfalles ihres Reiches aufgehört hat-
ten, ein Schrecken der Römer zu sein, wurden, so scheint es, auch
die nordwestlichen Grenzen geordnet, indem man die Serben und
Croaten gegen Anerkennung der byzantinischen Oberhoheit im Besitze
des eroberten Landes Hess und ihnen so unter ihren eigenen Fürsten
eine fast unabhängige Stellung 2) einräumte.
Ihre Aufnahme in den römischen Staatsverband bildete den Über-
gang zu ihrer Aufnahme in die christliche Kirche, welche Konstantin
ebenfalls noch unter Heraklius vor sich gehen lässt 3). Diese Nach-
richt muss sicherlich als irrig verworfen werden, da nicht daran zu
denken ist, dass auf die noch nicht vollendete Eroberung unmittelbar
die Bekehrung gefolgt sei. Auch deutet Konstantin selbst einen grösse-
ren Zwischenraum (von etwa 30 Jahren) zwischen beiden Ereignissen
*) Nicephori breviar. p. 37: 6 -cwv 'Aßipcov f^ep-nw xati oi iizixuva apyovTs; xwv repö«
Süaiv ■iwpaxet|j.svu>v s&vüjv suchten den Frieden nach; bei Theophanes (p. 544)
sind es die pf^s? igap^ot xs xal xäataXooi xai oi s^yio-aid xfa r^itZ _^v ^ai,t i^üv.
Die gleiche Vermuthung hegte schon Joa. Lucius I., c. 10 (p. 71). Thomas
von Spalato (c. X, p. 546) weiss von einem auf kaiserliches Geheiss geschlos-
senen Frieden.
2) Die Ansicht Konstantin's, dass die Croaten und Serben zuerst Unterthanen des
römischen Reiches gewesen und dann abgefallen seien,, hängt mit seiner irrigen
Meinung über ihre friedliche Einwanderung eng zusammen, da ein wirkliches
Unterthanenverhältniss gewiss nie stattgefunden hat. Daher erklärt es sich, dass er
c. 29 (p. 128) den Abfall sogleich änö tt); paaiXsia; 'HpaxXsto>j toö ßaadscu; "Pu>p.aiiov
datirt, während er sonst eine spätere Epoche dafür annimmt, über die hernach zu
handeln sein wird.
3) Cap. 31, 32 (p. 148, 133).
25'
380 E r n s t D ü m m 1 e r.
an, indem er zur Zeit der Taufe Porga über die Croaten regieren
lässt und zur Zeit der Einwanderung dessen Vater. Auf einem Miss-
verständnisse beruht es aber, wenn derselbe Schriftsteller erzählt.
Heraklius habe aus Rom Priester kommen lassen, die die Croaten und
Serben getauft und ihnen einen Erzbischof, Bischöfe und Priester
gesetzt hätten. Den wahren Sachverhalt erfahren wir aus dem Archi-
diakonus Thomas von Spalato J), der über die kirchlichen Angelegen-
heiten seines Landes bisweilen gute Nachrichten aufbewahrt hat.
Nach ihm wurde allerdings ein päpstlicher Legat, Johann von Ra-
venna, nach Dalmatien abgeordnet, um die verfallenen kirchlichen
Ordnungen nach der allgemeinen Zerrüttung aller Verhältnisse da-
selbst wieder herzustellen. Er bewirkte die Übertragung des erz-
bischöflichen Sitzes von dem zerstörten Salona nach Spalato, das zur
Metropole für Dalmatien und Croatien erhoben wurde, und ward selbst
zum ersten Erzbischof des neuen Sitzes erwählt, wo er den Tempel
des Jupiter zu einer Kirche der Jungfrau weihte und die Reliquien
der Märtyrer Anastasius und Domnus dann aus Salona in dieselbe
übertrug 2). Dort genossen sie bald die gleiche Verehrung wie an
ihrer früheren Ruhestätte. Da die neue Metropole in alle Rechte der
alten eintrat , so wurden dem Erzbischofe von Spalato 3) auch die
Bischöfe des oberen und unteren Dalmatiens als Suffragane unter-
geordnet; dies waren die Vorsteher der Kirchen Ossero, Veglia, Arbe,
Zara, Ragusa, Cattaro. Unsicher ist die Ausdehnung des Erzbisthumes
Spalato im Norden, wo die Donau als Grenze angegeben wird und es
i) Cap. XI (p. 546— 547).
2) Thomas archidiaeon. c. XI, XII (p. 547). Konstantin c. 29 (p. 137—138)
erwähnt auch die Kirche, wo der h. Domnus ruht, sowie den h. Anastasius , doch
lässt er die erstere nicht aus einem Zeustempel, sondern aus dem xoitüjv Diokle-
tian's hervorgehen.
3) Thom. archid. c. XV. (p. 550). Nach ihm soll das Erzbisthum Salona ultra Alpes
ferreas usque ad confinia Zagrabiae reichen. In ähnlicher Weise dehnt derselbe
Schriftsteller die Grenzen Croatiens aus ab aquilone a ripa Danubii usr/ue ad
mare Dalmaticum , doch hatte er hierbei zunächst nur die zweite Hälfte des
X. Jahrhunderts, die Zeit Dirzislav's, im Auge. Herzog- Tirpimir sagt in seiner
Urkunde vom J. 852 (Schwandtner III, 99) von Spalato: quae metropolis us-
que ripam Danubii et pene per totutn regnum Croatiae. Da das Erzbisthum
Salzburg nur bis zur Einmündung der Drau in die Donau reichte und zum Patriarchat
von Aquileja nur Kärnten im Süden der Drau gehörte, so mag das Land zwischen
Drau und Sau vielleicht zum Erzbisthum Salona gerechnet worden sein, bis es im
J. 870 Iladrian II. mit dem pannonischen Bisthum des h. Methodius verband.
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. OO 1
sich bis in die Gegend von Agram erstrecken sollte. Auch musste ja
dieses ganze Gebiet erst durch die Predigt erobert werden. Mit die-
ser machte der Erzbischof Johannes sogleich einen Anfang und wenn
wir dem Berichte Konstantins glauben dürften, so wären seine Be-
mühungen die den günstigsten Erfolg gehabt haben sollen , durch
einen ganz eigentümlichen Vertrag *) gesichert worden. Auf Geheiss
des Papstes, so meldet unser Gewährsmann, verpflichteten sich die
Croaten urkundlich und unter den heiligsten Eiden, für welche sie
den Apostel Petrus zum Zeugen anriefen, niemals die Länder Anderer
mit Krieg zu überziehen, sondern stets mit allen Nachbarn Frieden
zu halten. Würden sie dagegen in ihrem Lande von anderen Völkern
angegriffen, so solle Gott ihr Vorkämpfer sein und der heilige Petrus
ihnen den Sieg verleihen. Dieser Nachricht die ganz den Charakter
sagenhafter Überlieferung trägt, könnte vielleicht ein durch Johannes
von Ravenna als päpstlichen Abgesandten zwischen Römern und Sla-
wen vermittelter Friedensvertrag als Thatsache zu Grunde liegen,
in welchem diese sich verpflichteten, jene in dem ihnen verbliebenen
Gebiete nicht ferner zu belästigen , sondern fortan Frieden mit ihnen
zu halten. Jedenfalls betrachteten aber die Croaten den heiligen
Petrus später als den besonderen Schutzpatron2) ihres Landes, der
es lieber sähe, dass sie sich auf dessen Vertheidigung beschränkten,
als dass sie Angriffskriege führten. — Zur näheren Alismittelung des
Jahres, in welchem das Erzbisthum Salona zu Spalato erneuert wurde,
fehlt es an allen sicheren Anhaltspuncten 3) , doch darf man dieses
Ereisrniss wohl noch in das siebente Jahrhundert setzen.
*) Cap. 31 (p. 149).
2) Hierauf beziehen sich wohl auch die Worte Johann"s VIII. an Sedeslav (Mansi
XVII, 119) ut pro amore sanctorum apostolorum Petri ac Pauli praefec-
torum v estrorum pruesentem legatum . ■ . incolumem venisse faciatis etc.
3) Farlati (III, p. 19.) folgt der Autorität eines aus dem römischen Archive ent-
nommenen Kataloges der Erzbischöfe von Salona, nach welchem Johannes ab anno
650 usque ad annum circiter 680 der Kirche vorstand , allein in diesem sehr
jungen Kataloge sind für die ältere Zeit höchstens die Namen der Erzbischöfe
glaubwürdig und nichts weiter. Krause (p. 8 — 9) schliesst scharfsinnig aus den
Worten des Thomas von Spalato (c. XII , p. 347) quamvis adhuc aliqui super-
essent, qui locum sciebant, tanicn non facile discerni poterat , unde corpus
b. Domnii tolleretur, dass zwischen der Zerstörung Salona's und der Übertragung
jener Reliquien etwa öO bis 60 Jahre verflossen seien, sein Gewährsmann aber, der
erst im Jahre 1200 das Licht der Welt erblickte, steht diesen Ereignissen doch
allzufern, als dass man derartige Berechnungen auf ihn begründen könnte.
382 Ernst Dümmler.
III. Dalmatien unter fränkischer Herrschaft.
Die Verbindung zwischen der dalmatischen Küste und den gegen-
überliegenden Gestaden Italiens, mit dem stets ein sehr lebhafter
Verkehr statthatte *) , vermittelte für den Landweg die Halbinsel
Istrien, die auch in ihrer Bevölkerung einen Übergang bildet, denn
während das Innere von einem Gemisch von Slovenen und Croaten
bewohnt war 2), erhielt sich in den Seestädten die römische Nationa-
lität. Ehe daher die fränkische Einwirkung auf Croatien sich erstrecken
konnte, musste zuerst Istrien dem Abendlande gewonnen werden. Im
Jahre 776 fiel das langobardische Herzogthum Friaul durch die Er-
stürmung der Städte Cividale und Treviso zum zweiten Male und dies-
mal für immer in die Hände der Franken s); bis zum Timavo rückten
sie ihre Grenzen vor und setzten an die Stelle des gestürzten Herzogs
Hrodgaud einen fränkischen Markgrafen Marcarius. Die griechischen
Kaiser betrachteten diese unmittelbare Nachbarschaft des Franken-
reichs 4) nicht ohne ernstliche Besorgnisse , zumal da Istrien der
römischen Kirche angehörte 5) und also in geistlicher Beziehung
schon der Anziehung des Westens ausgesetzt war. Als daselbst im
Jahre 778 ein istrischer Bischof Mauricius im Auftrage Karl's des
Grossen 6) einige dem römischen Stuhle zustehende Einkünfte ein-
treiben wollte, hielt man ihn für einen Sendboten des Frankenkönigs,
der gekommen sei, die Einwohner zum Abfall von ihrem rechtmässigen
Herrn zu verleiten; er wurde desshalb von den Griechen und der
!) Diesen bezeugt auch die in der Chronik von Salerno c. 88 — 89 (PertzSS. 11),
512) aus dem Ende des X. Jahrhunderts aufbewahrte Sage, wonach Ragusa von
der Mannschaft von zwei römischen SchifTen gegründet wurde, die auf dem Wege
nach Konstautinopel dort zurückblieben. Diese Römer von Ragusa kehrten später
wegen der Unsicherheit ihres Wohnsitzes nach Italien zurück und gründeten zuerst
Mein, dann Eboli und endlich Amalfi.
2) Miklosich, vergleich. Grammatik d. slavv. Sprachen p. VIII. Safari'k (II, 301)
erklärt es als allgemein bekannt, dass die heutige slawische Bevölkerung Istrieus
ihrer Mundart nach zu den alten Croaten gehöre.
3) Muratori, Geschichte von Italien (Leipzig 1746) IV, p. 416—418.
4) Einhai-di vita Karoli M. c. 16: Erat enim semper Romanis et Graecis Fran-
corum suspecta potentiu. ■ . .
5) Vita Hadriani I (Anastasius de vitis pontif. Romanor. ed. Blanchini I, p. 2ä0). Carolus
Francorum rex ascribi inssit . . . praefato pontifici . . . provincias Venetiarum
et Histrium.
6) Das Schreiben Hadrian's über diesen Vorfall bei Mansi XII, 773.
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 383
ihnen anhängenden Partei geblendet und aus dem Lande gejagt. In
dem folgenden Jahrzehent waltete indessen zwischen beiden Reichen
noch durchaus ein freundschaftliches Verhältniss ob, das sogar durch
ein Ehebündniss zwischen dem jungen Kaiser Konstantin IV. und der
Prinzessin!) Hrotrud besiegelt werden sollte. Die hierüber getroffene
Verabredung wurde erst im Jahre 788 durch die Schuld der herrsch-
süchtigen Kaiserinn Irene *) in schroffer Weise gebrochen und in
Unteritalien sofort der Krieg eröffnet, um bald mit einer schimpflichen
Niederlage der Griechen zu enden. In dieses erste Jahr des Aus-
bruches der Feindseligkeiten 2), und sicherlich nicht eher, fällt wahr-
scheinlich die Eroberung Istriens durch die Franken. Sie konnte
damals um so leichter vollbracht werden, weil ohnehin in diesem
Jahre an der Grenze Friauls ein Heer gegen die Avaren, Thassilo's
Bundesgenossen, im Felde stand 3). Istrien behielt seinen eigenen
Herzog (dux) der unter die Oberaufsicht des Markgrafen von Friaul
gestellt wurde, und zahlte die nämlichen Abgaben die früher von
Konstantinopel aus erhoben worden (344 Mark), fortan den fränki-
schen Herrschern 4). Schon 3 Jahre später, als König Pippin von
Italien in das Reich der Avaren eindrang und dieselben am 22. August
791 in einem glücklichen Treffen besiegte, wird mit besonderer Aus-
zeichnung 5) des Herzogs (Johannes) von Istrien gedacht.
*) Einhardi, ann. 788 : Constantinus imperator propter negatam sibi regis filiam
iraius. Vgl. Theophanis chronographia (ed. Classen p. 718), wo Irene beschuldigt
wird, dass sie >jJ3aatx . . . tt]v -po; -oy; OpccYY^'-1» ffUvetXXoqpijv ihren Sohn Konstantin
wider seinen Willen mit Maria, einem Mädchen kx tüv 'Ap^sviaxiLv, vermählt habe.
2) Eine ähnliche Vermuthung hegte schon Joh. G. Eckhart (commentarii de reb.
Franciae orient. I, 737), indem er sich auf das chron. Moissiac. s. a. 789 bezog,
woselbst die Absendung von drei Patriciern zur Unterwerfung Italiens erwähnt
wird. Damit sind aber dieselben Kämpfe gemeint, die die Annal. Laurissenses rnai.
und Theophanes richtiger ins Jahr 788 setzen.
a) Muratori, Gesch. v. Italien IV, 453, vgl. Ann. St. Emmerammi mai. 788 (Pertz
SS. I, 92) : Huni ad Furyali und Alcuini epist. ad Colcum lectorem (ed. Frohen. 1,6).
4) Andreae Danduli chron. (Muratori scriptor. rer. Halicar. XII, col. 155) 1. VII, c. 15,
P. VIII : Provinciae quoque Istriue ab imperio Constantinopolituno subtraetae
Joannes per Carolum dux ordinatus est etc. Nach einer urkundlichen Aufzeich-
nung, vgl. Hegel, Gesch. d. Slädteverf. v. Italien I. p. 235. Jene Erwähnung gehört
in das Jahr 807, da hinzugefügt wird: Eodem anno luna tertio obseurata est
et sol semel (v. Einhard ann. 807).
5) S. Karl's Brief an Fastrada in Sirmondi concilia Galliae 11, 158: dux de Hlstria,
ut dictum est nobis , quod ibidem bene fecit ille cum suis hominibus. Vgl.
ann. Lauresham., 791 (Pertz SS. I, 84). £>ed et ille tunc eius exercitus quem
384 E r n s t D ii m m 1 e r.
Der Herzog Erich, der nach Marcarius etwa seit 788 die Mark-
grafschaft Friaul verwaltete *), ein Strassburger von Geburt, soll auch
die Croaten dem Frankenreiche unterworfen haben, freilich wohl nur
zu sehr loser Abhängigkeit. Schon im Anfange des Jahres 796 wird
ein slawischer Fürst Wonomir genannt, der demselben auf einem mit-
ten im Winter ins Avarenland unternommenen Zuge Heerfolge lei-
stete 2) : er könnte Grosszupan von Croatien gewesen sein, wie ja
auch der Name Zwonimir später noch von croatischen Königen geführt
wird. Eben so nahe liegt es jedoch, ihn für einen Fürsten der Slove-
nen zwischen Sau und Drau zu halten , die durch die Zerstörung des
avarischen Reiches ihre Unabhängigkeit erlangten. Gleich unsicher
ist die Entscheidung der Frage, gegen welche Slawen im Jahre 797
Pippin mit den Baiern und einem Theile der Langobarden zu Felde
zog, um ihr Land zu verwüsten 3); die Erwähnung der ersteren lässt
aber schliessen, dass sie mehr auf der deutschen Seite zu suchen sind,
wie auch aus der Verbindung ihres Abfalles mit dem der Avaren her-
vorgeht; vermuthlich ist ein Theil der auch später noch aufsässi-
gen4) Winden in Kärnten und Krain gemeint. Dagegen scheint aller-
dings Erich im Kampfe mit den Croaten seinen Tod gefunden zu
haben; denn er fiel im Herbste 799 bei der Belagerung von Tersatto,
unfern Fiume, durch Pfeilschüsse und Steinwürfe von den Städtern
erschlagen 5). Die endgiltige Anordnung und Abgrenzung dieser süd-
Pippinus filhis eins de Italia transmisit , ipse introivit in lUyricum et inde in
Pannonia etc. Krause (p. 16 — 17) schliesst aus diesen Worten zu voreilig,
dass Pippin zuerst die Croaten als Unterthanen der Avaren angegriffen habe, denn
offenbar war sein Zug gleichfalls nur gegen die Avaren in Pannonien gerichtet.
*) Erich (Aericus) wird zuerst erwähnt in einem Briefe Alkuin's an ihn c. 787 — 788
(Alcuini opera ed. Frobenius I, 4).
2) Ann. Lauriss. maior. 796: Heirichus dux Foroiulensis missis hominibus suis
cum Wonomyro Sclavo in Pannonias hringum . . . spoliavit.
3) Ann. Alamann. 797 (Pertz SS. I, 47, 48): super Sclavos; Ann. Guelferbyt. P. II,
797 (p. 45): in Wenedum.
4) Nach Einhard (ann. 820) hatten sich die Carniolenses und pars Carantanorum
zugleich mit Liudewit empört.
5) Ann. Guelferbyt. 799; Ann. Einhardi, 799: iuxta Tarsaticam, Liburniae civi-
tatem; Einhardi vita Karoli M. c. 13; Paulini patriarchae Aquileiensis versus de
Herico duce (in Einhardi vita Karoli ed. Pertz p. 37). Der letztere scheint ihm
ausdrücklieh die Unterwerfung der Croaten zuzuschreiben, indem er von ihm sagt :
Barbaras gentes domuit sevissimas .... Dalmatiarum quibus obstat ter minus,
freilich könnten damit auch nur die Avaren gemeint sein. Liburniam atque Dal-
matiam zählt im Allgemeinen zu den von Karl unterworfenen Ländern Einhard:
vita K. M. c. IS.
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalraatien. Oo5
östlichen Marken des Frankenreiches erfolgte im August des Jahres
803 bei einem Aufenthalte des Kaisers in Regensburg i) , wo ausser
den Avaren auch verschiedene slawische Stämme durch Gesandt-
schaften ihre Huldigung darbrachten. Die Croaten wurden unter die
Obhut der Markgrafen von Friaul gestellt 2) , mit denen sie bei der
Theilung der fränkischen Monarchie an das Königreich Italien über-
gingen. Ihre Verpflichtungen werden sicherlich in nichts anderem
bestanden haben, als in der Anerkennung der fränkischen Oberhoheit
und in der Darbringung freiwilliger Geschenke.
Die Venetianer und die römischen Bewohner Dalmatiens, die
sich jetzt von allen Seiten von Unterthanen oder Schutzverwandten
des Frankenreiches umschlossen sahen, fassten, diesem Drucke nach-
gebend, im Jahre 805 ebenfalls den Entschluss, den mächtigen Kai-
ser Karl zu ihrem Herrn zu erwählen, und so erschienen bald nach
Weihnachten dieses Jahres zu Diedenhofen 3), wo sich der Hof gerade
aufhielt, die beiden Dogen von Venedig, Obelierius und Beatus, so
wie der Herzog Paulus von Zara und Donatus, der Bischof dieser
Stadt, als Gesandte der Dalmatier, um unter Überreichung glänzen-
der Geschenke ihre Unterwerfung anzukündigen. Der Kaiser, obschou
er erst vor drei Jahren zu Königshofen einen förmlichen Frieden mit
den Griechen geschlossen 4) , nahm die Huldigung ihrer bisherigen
Unterthanen bereitwillig an und verfügte sogleich das Weitere über
') Ann. Juvavens. mai., 803: Carolus in Baiouria mense August o ,• Guelferbyt. S03:
Imperator . . . ad Reganespuruc; Einhardi , 803: dispositis Pannoniarum
causis ; Mettenses, 803: ad Regenesburch Mutti quoque Sclavi et Huni . .
se . . . imperatoris dominio subdiderunt ; Ann. Lobienses , 803: Pannonia
cum finitimis regnis sub ditione imperatoris redacta est; Ann. Laurissens.
min. (803) (Pertz SS. I, 87, 43, 191, II, 195, I, 35).
2) Einhardi, ami. 817: Cadolah (Herzog- von Friaul) ad quem illorum (sc. Dal-
matinorum) confinium cura pertinebat. Unter den Flüssen, die über den Tod
Erich'fl trauern sollen , nennt Panlinus auch die Corca , bei welcher man an die
Kerka denken könnte, wahrscheinlich aber ineint er die Gurk, die sich in die Sau
ergiesst (Corcora der Alten).
3) Einhardi, ann. 806 . . . Et facta est ibi ordinatio ab imperatore de ducibus et
populis tarn Veuetiae quam Dalmatiae. Kurz zuvor wird erwähnt (.loh. chron.
Venet. p. 14) , dass die venetianischen Dogen eine Flotte ad Vahnaciarum pro-
vinciam depopuhuidam absandten, vielleicht um die Dalmatier zu zwingen, dass sie
mit ihnen gemeinschaftliche Sache machen möchten.
4) Ebenda. 802—803; Ana. Guelferbyt., 802; Ann. Lauriss. min. 33, 35; Theophanes
p. 737, 742.
386 Ernst Dümmler.
die Regierung und die inneren Einrichtungen Venetiens und Dalma-
tiens. Im folgenden Jahre schickte der griechische Kaiser Nikephorus
eine Flotte unter dem Patricius Niketas ab, um das Verlorene wieder
einzubringen *). Dieser befestigte zunächst Venedig von Neuem im
Gehorsam , indem er dem Dogen Obelerius die Würde eines Spatha-
rius (d. h. kaiserlichen Schwertträgers) verlieh und sich von den
Einwohnern Geissein ihrer Treue stellen Hess. Mit diesen kehrte er
im Anfange des Jahres 807 nach Konstantinopel zurück, nachdem mit
König Pippin ein Waffenstillstand bis zum August abgeschlossen wor-
den war. Erst zwei Jahre später wurde vonByzanz eine zweite Flotte
unter einem Admiral Paulus abgeschickt2), die erst in Dalmatien,
dann in Venedig anlegte und daselbst überwinterte. Ein Theil der-
selben erlitt bei einem Angriffe auf die Insel Comacchio durch die
fränkische Besatzung dieses Ortes eine Niederlage welche die Grie-
chen zur Anknüpfung von Friedensunterhandlungen geneigt machte.
Sie scheiterten an der Treulosigkeit der venetianischen Dogen welche
sie nicht blos zu hintertreiben wussten, sondern sogar das Leben des
griechischen Admirals bedrohten. Als dieser desshalb nach Hause
zurückgekehrt war, belagerte König Pippin Venedig zu Lande und
zu Wasser 3) im Jahre 810 und eroberte einen Theil der Stadt,
namentlich die Insel Malamocco, während sein mittelst einer Schiff-
brücke auf Rialto unternommener Angriff durch einen Sturm vereitelt
*) Einhardi, ann. 806 — 807. Johannis chron. Venet. p. 14. Auch das kirchliche Ober-
haupt Venedigs , der Patriarch Fortunatus von Grado, war sieh wahrscheinlich der
Mitschuld an dem Abfalle der Stadt bewusst, weil er nicht wagte Nicetae patricii
adventum praeslolari , sondern nach dem fränkischen Italien floh, wo ihm der
Kaiser , da er propter persecutionem Graecorum seu Veneticorum exul sei,
das ßisthum Pola zu seinem Unterhalte anweisen wollte. Vgl. den Brief des Papstes
Leo III. an Karl bei Mansi XIII, 975—976.
2) Einhardi, ann. 809.
3) Ebenda, 810.. subiectaque Venecia ac ducibus eius in deditionem acceptis,
eandem classem ad Daltnacia" litora vastanda misit. Auch Konstantin
(c. 28, p. 124) weiss, dass Pippin 6 Monate lang von 'AsißoXo? (Albiola) aus die
Insel Malamocco belagerte, bis die Venetianer zuletzt ßiaodevxes .... ärco t^;
ftfowiau; oxXtjceiu; Frieden schlössen. Johannes von Venedig (p. 14) lässt ihn mit
grosser Schwierigkeit nach Albiola gelangen und dort durch die Dogen eine Nieder-
lage erleiden, sicque predictus rex confusus recessit. Am ausführlichsten ist
Andreas Dandolo (chron. üb. VII, c. 13, P. XXIII, col. 123), nach welchem die
Venetianer Mathemaucensi urbe relicta in Rivoaltum venerunt und bei einem
dorthin versuchten Übergänge Pippin eine Niederlage beibrachten. Diese Nach-
richt scheint zuverlässig zu sein.
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 387
ward. Auch schickte er eine Flotte ab, um die Gestade des griechi-
schen Dalmatiens zu verwüsten, die aber der in Korfu stationirte
Admiral zu schleuniger Heimkehr nöthigte. Der am 8. Juli 810 uner-
wartet früh erfolgende Tod des kriegerischen Königs Pippin machte
diesen Verwickelungen ein schnelles Ende, da der Kaiser, hoch-
bejahrt wie er war, selbst wenig Neigung mehr hatte, mit den
schwachen Anfängen einer fränkischen Flotte den ungleichen Kampf
mit den zur See ihm weit überlegenen Griechen aufzunehmen. Im
October wurde daher zu Aachen mit dem byzantinischen Gesandten
Arsaphius vorläufig ein Vertrag verabredet *) und sogleich allen
Eroberungen auf griechischem Gebiete entsagt. Der förmliche Ab-
schluss des Friedens erfolgte im Jahre 812, nachdem zuvor Bischof
Haito von Basel an der Spitze einer fränkischen Gesandtschaft 2) die
Unterhandlungen in Konstantinopel zu Ende geführt. Die Gesandten
des Kaisers Michael überbrachten 3) die von ihm vollzogene Friedens-
urkunde nach Aachen, laut welcher Karl auf Venetien und Dalmatien
verzichtete, dafür aber als Kaiser anerkannt und mit dem Titel Basi-
leus begrüsst wurde. Die Venetianer durften ungehindert im fränki-
schen Reiche Handel treiben und hatten dafür nur ein jährliches
Schutzgeld an dessen König zu entrichten '*). Die Croaten wurden
*) Einhardi, ann. 810 . . Aicifcro Venetiam reddidit. Johann von Venedig (p. 15)
erwähnt ebenfalls , dass ein nuntius Constantinopolitanus nomine Ebersapius
(i. e. Arsaphius) die beiden venetianischen Dogen absetzte und verbannte, was
Einhard s. a. 811 erzählt. Vgl. auch den Brief KaiTs au den Kaiser Nikephorus
in Alcuiui opera ed. Proben. II, 560.
3) Einhardi, ann. 811; Ann. Alamann. Weingart., 811; Herimann. Augiens., 811;
Monach. Saugall. gesta Karoli M. II, c. 6 ; Visio Wettini metr. bei Mabillon acta
sanctor. ordinis S. Benedicti saec. IVa, p. 274.
3) Einhardi, ann. 812. Denselben Frieden meint Einhard in der vita Karoli M.
c. 14. Histriam quoque et Liburniam atque Dalmatiam (sc. perdomuit) ex-
ceptis maritimis civitatibus , quas ob amicitiam et iunetum cum eo foedus
Constantinopolitanum imperatorem habere permisit und ebenda c. 16 : Cum
quibus . . . foedus firmissimum statuit , ut nullet inter partes cuiuslibet scandali
remaneret occasio. Die Verzichtleistung auf Venedig und die dalmatischen Städte
ist hiernach klar, ebenso nach den Annalen die Anerkennung KaiTs als Kaiser:
Imperatorem eum et Basileum appellantes, nachdem dieser eorum contumaciam
tnagnunimitate überwunden hatte (nach der vita Karoli M. c. 28) , vgl. Theo-
phanis chronogr. p. 770, wo Karl, früher nur (p. 736) 6 tujv OpdYYiuv p*j£ genannt,
plötzlich pcuiXeO; heisst.
4) Const. de adra. imp. c. 28 (p. 124); Andreae Danduli chrou. col. 151, 163, 176 ;
vgl. Archiv für ältere deutsche Geschichtsk. III, 578.
388 Ernst Diimmler.
durch diesen Frieden nicht, berührt, sondern verblieben auch ferner-
hin unter fränkischer Oberhoheit, und wenn berichtet *) wird, dass
Ludwig der Fromme auf dem Reichstage zu Paderborn im Juli 815
die Gesandten aller Ostslawen und ihre Huldigungen zu seinem Regie-
rungsantritte empfing, so sind ohne Zweifel auch die dalmatischen
Slawen mit einbegriffen. Obgleich durch den Frieden von 812 aller
Grund zu ferneren Streitigkeiten aus dem Wege geräumt sein sollte,
traf doch schon im Jahre 817 wieder ein Gesandter 2) des Kaisers
Leo's des Armeniers ein, um im Namen der dalmatischen Römer
Reschwerde über die Verletzung ihrer Grenze zu erheben; diese
wurden desshalb durch eine Vernehmung der Einwohner Dalmatiens
an Ort und Stelle, welcher sich der Markgraf Kadolaus von Friaul,
nebst einem gewissen Albgar und dem griechischen Gesandten unter-
zog, aufs Genaueste festgestellt und bestimmt.
Im Herbste des Jahres 818, als Ludwig der Fromme auf der
Reise nach Aachen begriffen, sich gerade in Heristall aufhielt, begeg-
neten ihm dort die Gesandten mehrerer slawischer Völker 3), nament-
lich der Timotschaner die die bulgarische Herrschaft, unter der sie
früher gestanden, mit der fränkischen vertauschen wollten, indem sie
*) Einhardi, ann. 815: omnes orientalium Sclavorum primores etlegati.
2) Einhardi, ann. 817: ratio inter eum (sc. Cudolaum) et plurimos et Romanos
et Sclavos pertinebat. Die vita Hludovici lmperatoris c. 27, welche den Einhard
benutzt, sagt deutlicher Legatio . . . erat de finibus Dalmatorum, Romanorum
et Sclavorum.
3) Einhardi, ann. 818. Bei den Worten: legati Rornae ducis Guduscanorum et
Timocianorum , qui nuper a Bulgarorum societate desciverant et ad nostros
fines se contulerant , simul et IÄudewiti etc. interpungire icl; mit Zeuss (die
Deutschen p. 614) hinter Guduscanorum, denn es ist ganz klar, dass die Timot-
schaner mit Borna nichts zu thun hatten, da sie auch im Jahre 819 als selbständiges
Volk sich mit Liudevvit verbinden (Timocianorum . . populurn, qui . . . ad im-
peratorem venire ae dicioni eius se permittere gestiebat etc.^. Die Guduskaner
waren von Borna , dem dux Dahnaciae oder dux Dalmatiae atque Liburniae
neuerdings unterworfen und desshalb schickte er a. 818 ihre Gesandten nach Heristall,
damit auch sie dem Kaiser huldigten , dem er schon länger unterthänig war. Als
sie 819 Borna in der Schlacht im Stiche lassen, wird er auxilio . . . praetoria-
norum suorum beschützt, d. h. von den Croaten, über die er ursprünglich herrschte.
Es liegt sehr nahe an die croatische Zupa Gutziska zu denken (s. oben S. 375),
die mit Licca und Karbava unter einem Baue stand, also vielleicht damals dem
Grosszupan noch nicht gehorchte. Das domum regressi des Einhard von einer
Schlacht an der Kulpa 819 steht dieser Annahme nicht im Wege, wie Krause
(p. 20) glaubt, denn Gutziska , das bei Ottocac an dem Flusse Gatzka zu suchen
v v f
ist (Safari k II, 296), braucht durchaus nicht bis zur Kulpa gereicht zu haben,
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. «>o«J
zugleich ihre "Wohnsitze wechselten, ferner des Croatenherzogs Borna
und des Fürsten der pannonischen Slovenen Liudewit, der zu Sissek
am Einflüsse der Kulpa in die Sau seinen Sitz hatte l). Der letztere
führte bei Ludwig Klage über das übermüthige Benehmen und die
Grausamkeit des Grenzgrafen Kadolaus, worin sich bereits seine
Absicht zur Empörung aussprach , und ging im folgenden Jahre zu
offenem Abfalle über. In dem mehrjährigen Kriege der sich hieraus
entspann und nach Kadolaus' Tode im Jahre 819 von seinem Nach-
folger Balderich weiter geführt wurde, leistete Borna 3), wie es
scheint ganz aus eigenem Antriebe und zu eigenem Vortheile, dem
fränkischen Beiche wesentlichen Beistand. Schon im ersten Jahre
rückte er von Süden her mit einem grossen Heere dem mit den
Timotschanern und einem Theile der kärntnerischen Winden ver-
bündeten Liudewit entgegen, weil ihn aber die Bewohner der Zupanie
Gutziska im Stiche Hessen, erlitt er an der Kulpa eine Niederlage, in
welcher auch sein Verbündeter Dragamosus fiel, und entkam nur
unter dem Schutze seiner Leibwache. Sein Gegner verwüstete hier-
auf im December das Gebiet der dalmatischen Croaten, während Borna
sich in seine festen Burgen zurückzog. Indem er aber von dort den
Feind den er in offenem Felde nicht bestehen konnte, mit leichten
Truppen beständig belästigte und neckte, zwang er ihn, mit grossem
Verluste das Land wieder zu räumen 3). Diesen glücklichen Erfolg,
so wie die kurz zuvor stattgehabte Wiederunterwerfung der abtrün-
nigen Gutziskaner liess Borna dem Kaiser durch hierzu abgesandte
Boten anzeigen. Im Beginne des Jahres 820 erschien er sogar 4) in
eigener Person am kaiserlichen Hoflager zu Aachen und ertheilte seine
Bathschläge hinsichtlich der Fortsetzung des Krieges gegen Liudewit.
Noch drei Feldzüge der umfassendsten Art mussten wider ihn unter-
nommen werden, ehe Liudewit sich entschloss, sein Land zu verlas-
sen und nach Serbien zu entweichen5), wo er sich hinterlistiger
*) Vgl. über diesen Abschnitt die südöstlichen Marken, p. 2o — 27.
2) Borna hegte sicherlich die Absicht, sich im Norden erobernd auszubreiten , daher
unterwarf er die Guduskaner und bewog sogar Liudewit's Schwiegervater Draga-
mosus, sich ihm anzusehliessen.
3) Einhardi, arm. 819.
4) Einhardi, ann. 820.
5) Ebenda, 822 . . Liudewitus , Siscia civitate relicta ad Soruhos , f/uae natio
magnam Dalmaliae partem obtinere diciiur, fugiendo se contulit, et uno ex
390 ErnstDümmler.
Weise der Burg eines dortigen Häuptlings bemächtigte. Im Herbst
des Jahres 823 traf endlich die Nachricht von dem Tode dieses
gefährlichen Feindes ein1), es hatte ihn nämlich Liudemusl, der
Oheim des Herzogs Borna, bei dem er in Daimatien eine Zuflucht
gesucht, nach kurzem Verweilen aus dem Wege räumen lassen. So
war mit Hilfe der Croaten vornehmlich eine Empörung unterdrückt
worden, bei der es sich, wie das Aufgebot so bedeutender Streit-
kräfte beweist, um die Verwirklichung grossartiger Pläne, vielleicht
um die Stiftung eines grossen Windenreiches an der Donau gehandelt
hatte. Auch die Griechen scheinen diesem Unternehmen nicht abhold
gewesen zu sein, wie man daraus schliessen darf, dass der Patriarch
Fortunatus von Grado a), ein Mann von sehr veränderlicher und
unruhiger Sinnesart, Liudewit beim Bau seiner Festen mit Maurern
und Zimmerleuten unterstützte. Wegen dieser Parteinahme zur Bechen-
schaft gezogen, entfloh er im Jahre 821 zu dem griechischen Strate-
gen Johann nach Zara und von dort nach Konstantinopel; griechische
Gesandte führten ihn später im Jahre 824 nach Unterdrückung des
Aufstandes zurück. Bald zeigte es sich, dass die fränkische Herrschaft
an der untern Donau im vollen Umfange wieder hergestellt sei, denn
auf einem Beichstage den Kaiser Ludwig am Anfange des Winters
822 zu Frankfurt hielt, empfing er nicht nur Gesandtschaften der
v
Cechen, Mähren und Avaren , sondern sogar der Ostabotriten 3) oder
Branitschewzer (Prädenecenter), der unmittelbaren Nachbarn der
Bulgaren am nördlichen Ufer der Donau.
Auch Konstantin der den Abfall der Croaten ganz irrig unter
die Begierung Michael's (II.) des Stammlers (820 — 829) setzt4),
ducibus eorum a quo receptus est per dolum inierfecto civitatem eins in suam
redegit dicionem.
*) Einhardi, 823: relictis Sorabis cum Dalmatiam ad Liudemuhslum avunculum
Bornae ducis etc.
2) Einhardi, ann. 821 . . Fortunatus . . . cum . . . apud imperatorem fuisset accu-
satus , quod Liudewitum ad perseverandum in perfidia qua coeperat horta-
retur ■ . . dam navigavit , veniensque Jaderam Dalmaciae civitatem, Johanni
praefecto provinciae illius fugae suae causas aperuit, vgl. s. a. 824. Schon
Leo Hl. schreibt im Jahre 806 über Fortunatus an Karl (MansiXIII, p. 976) non
audivimus de eo sicut decet de archiepiscopo, neque de purtibus Franciae, ubi
eum beneficiastis.
3) Einhardi, ann. 822, 824.
4) De adm. imp. c. 29 (p. 128), wo er sich freilich nicht ganz bestimmt ausdrückt!
|j.aXiaTa o£ ixi MiyarjX , loa e£ 'A|ioptou toi TpauXoü . . . toc exsIjs s9vt), gi ts Xpcu-
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 391
hat von ihrer Verbindung mit dem Frankenreiehe dunkle Kunde erhal-
ten. Er erzählt J), die Frauken wären gegen die ihnen unterworfenen
Croaten mit solcher Grausamkeit verfahren, dass sie ihre Säuglinge
den Hunden zum Frasse vorgeworfen. Darob hätten die Croaten sich
empört und ihre fränkischen Gebieter ermordet. Ein grosses Heer
sei darauf aus dem Frankenreiche gegen sie zu Felde gezogen, dem
in siebenjährigen harten Kämpfen die Croaten den Sieg abgewonnen,
indem sie zuletzt den Anführer Kotzilin mit allen seinen Leuten nie-
derhieben und so ihre Freiheit retteten. Es leuchtet ein, wie unbe-
gründet diese ganze, offenbar aus croatischem Munde stammende
Erzählung ist; unter Porinus, d. h. Borna, soll jener Abfall erfolgt
sein und doch bestieg nach seinem Tode im Jahre 821 sein Neffe
Ladaslav 2) den Thron nur mit Zustimmung des Kaisers Ludwig als
seines Oberlehnsherrn und noch über ein halbes Jahrhundert ver-
ging, ehe die Croaten sich wirklich aus ihrer Verbindung mit den
Franken lösten, die sich allmählich und unvermerkt schon gelockert
hatte. Die angebliche Grausamkeit der Franken 3), die in so grellen
Farben gemalt wird, und der siebenjährige (soll heissen fünfjährige)
Krieg mit ihnen beruhen auf einer Verwechselung der pannonischen
Slovenen mit den dalmatischen Croaten, die um so leichter vor sich
gehen konnte, da ja Borna selbst in jenen Kämpfen, freilich auf frän-
kischer Seite, eine wichtige Rolle spielte. Der Tod Kotzilin's, d. h.
des Markgrafen Kadolans. wurde zwar durch ein kaltes Fieber *) und
ßa-ot -/cai. SspßXfji . . . f&y'jtiav) iBiöpuftpoi xoi aiiToxscpaXoi. Dagegen wird im Theo-
phan. continuat. II, c. 28 und V, c. 52 (p. 84, 288 ed. Bekker) der Abfall jener
Völker ausdrücklich unter Michael von Amorium gesetzt, und damit zugleich eben
so ungenau die Eroberung Calabriens und Langobardiens verbunden, die erst unter
Theophilus begann. Der Irrthum K o ns tant in 's ist offenbar daher entsprungen,
dass er die Trennung der dalmatischen Slawen vom byzantinischen Reiche mit der
der dalmatischen Römer, die etwa unter Michael III. eintrat, vermischte und ver-
wechselte.
*) De adm. imp. c. 30 (p. 144). In derselben Weise wie hier geschieht, beurtheilte ich
diese Erzählung schon in den südöstlichen Marken (p. 79 — 80), worauf auch Krause
(p. 49 — 53), ohne meine Schrift zu benutzen, die gleiche Ansicht zu begründen suchte.
2) Einhnrdi, ann. 821 . . imperutore consentiente . . Ladasclavus successor ei con-
stitutus est. Das Gleiche folgt aus der Datirung der Urkunde Tirpimir's vom
4. März 852 : regnante in Italiu piissimo Lothurio Fruncorum rege.
3) Vgl. Einhardi, ann. 818 (Liudewitus): Cadolaum . . . crudelitatis atqueinsolcntiue
aecusare conabatur.
4) Einhardi, ann. 819: Cadolah . . febre correptus deeessit. Kotzilin scheint mir
Entstellung aus Kadolah, denn wenn es auch, wie Krau se meint, gleich Kotzel
392 E r n s t D ii m m I e r.
nicht durch das Schwert herbeigeführt, allein er fiel doch in die Zeit
des Krieges und zudem könnte eine Erinnerung an das gewaltsame
Ende seines Vorgängers Erich mitgewirkt haben.
Während sonach diese Erzählung Konstantins durchaus die
Gestalt der Sage an sich trägt, in der die geschichtlichen Thatsachen
zur Unkenntlichkeit entstellt sind , liegt vielleicht einer andern
sich unmittelbar daran schliessenden Nachricht etwas Wahrheit zu
Grunde. Nach errungener Unabhängigkeit, so fährt er fort, habe
Borna zum Papste nach Rom geschickt, der auf seine Bitte Bischöfe
absandte, das croatische Volk zu taufen. Der Widerspruch welcher
zwischen dieser Angabe und der ersten unter den Fürsten Porga
gesetzten Taufe stattfindet ist nicht so gross, wie er aussieht, wenn
wir bedenken, dass im VII. Jahrhundert zunächst nur die römische
Kirchenprovinz Salona wiederhergestellt und damit erst der Anfang
zur Bekehrung der Croaten gemacht wurde. Nehmen wir an, dass
diese im Beginne des IX. Jahrhunderts in der Hauptsache vollendet
war , so hat es nichts Auffallendes , wenn die Croaten durch ihre
engere Verbindung mit dem fränkischen Reiche hierzu veranlasst,
sich wegen ihrer kirchlichen Ordnungen unmittelbar an den Papst
wandten. Auch finden wir in der That in der zweiten Hälfte des
IX. Jahrhunderts *) einen croatischen Bischof von Nona, welcher mit
dem römischen Stuhle in unmittelbarem Verkehre stehend, sich nicht
in Abhängigkeit von dem Erzbischofe von Salona begeben will.
Die Einsetzung dieses Bischofs, die ausdrücklich dem Papste 2)
Hezilo, Heinrich wäre, so haben wir damit noch immer nicht den Namen Erich
(Aericus), welcher von Heinrich durchaus unterschieden werden muss.
!) Dies bezeugt das Bruchstück eines Briefes in Gratiani decretum p. III, Dist. I, c. 8 :
Nicolaus papa electo et clero Nonensis ecclesiae. Ecclesia id est catholicorum
collectio quomodo si?ie apostolicae sedis instituetur nutu, quando iuxta Sacra
decreta nee ipsa debet absque praeeeptione papae basilica noviter construi
quae ipsam catholicorum intra semetipsam amplecti catervam dignoscitur?
Thomas von Spalato (c. XIII, p. 548) sagt , dass nach der Bekehrung' der Croaten
ausser den dalmatischen Bisthümern, in Sclavonia der episcopus Delmitanus und
Sciscitanus eingesetzt wurden. Er verwechselt aber die Zeiten und nennt bischöf-
liche Kirchen die nur vor der slawischen Eroberung existirten , denn Delmiuni
(jetzt Duwno) ist nach ihm selbst (c. I, p. 533) ein Ort ubi antiqua moenia
ostenduntur ibique fuisse Delmis civitas memoratur , und Sissek (Segestica,
Siscia) gehörte gar nicht zu Croatien, sondern zu Slavonien, auch wird in keiner
von beiden Städten während des IX. Jahrhunderts ein Bischof erwähnt.
2) Johann VIII. schrieb 879 an Theodosius von Nona (Mansi XVII, 124) : toio corde
totaque voluntale ad gremium sedis apostolicae, unde antecessorcs tut divinae
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 393
zugeschrieben wird, könnte man demnach auf die ZeitBorna's zurück-
führen und dadurch die Bekehrung der Ooaten vollendet werden
lassen.
Die Erzbischöfe von Spalato, denen diese Spaltung von Dalma-
tien sehr gefährlich zu werden drohte, wussten bald die croatischen
Fürsten wieder für sich zu gewinnen. Ladaslav's Nachfolger Moislav,
mit welchem der venetianische Doge Peter Tradonicus zu San Mar-
tino auf Cherso 839 einen Friedensvertrag schloss 1). ordnete bereits
an, dass von dem herzoglichen Hofe Klissa der von ihm gegründeten
Kirche des h. Georg zu Sussuratz bei Spalato die Zehnten gezahlt
würden 3). Von seinem Nachfolger Tirpimir hat sich vom 4. März
852 die erste croatische Urkunde erhalten, datirt nach der Regierung
des Königs Lothar in Italien, in welcher er nicht nur jene Verpflich-
tung bestätigt, sondern auch die gedachte Kirche seinem geliebten
Gevatter, dem Erzbischofe Petrus von Salona, zu ewigem Besitze
schenkt3). Der erzbischöflichen Kirche von Spalato, der Metropole
des ganzen croatischen Reiches bis zum Ufer der Donau, werden
zugleich alle früheren Erwerbungen bestätigt, weil Petrus den Her-
zog Tirpimir bei der Erbauung und Ausstattung eines Mönchsklosters
das er nach gemeinsamem Beschlüsse aller Zupane anlegte, mit einem
Darlehen von eilf Pfund Silbers unterstützt hatte.
legis dogmatu mellifl.ua cum sacrae institutionis forma summique sacerdotii
honorem sumpserunt , redeas.
') .loh. chrou. Venet. p. 17: ubi ad locum qui vocatur sancti Martini curtis per-
veniret , paeem cum illoram principe Muisclavo nomine firmavit. Das Jahr
(das dritte des Dogen Peter, d. h. 839) kann unmöglich richtig' sein, wenn man,
wie nach Joa. Lucius (Hb. II, c. 2, p. 100) alle Neueren gethan haben, die Urkunde
Tirpimir's ins Jahr 837 setzt. Aber man kann jenen Vertrag- Peter's mit Moislav auch
nicht nach 836 verlegen , und Tirpimir erst nachher zur Regierung kommen lassen,
weil es in seiner Urkunde heisst: ego . . . meis cum omnibus zuppanis constru.ri
monasterium ibique catervas fratrum adhibui , quorutn sedulis votis . . . nos
immunes redderet Deo peccatis. Zur Errichtung eines Klosters gehörte ein längerer
Zeitraum als wenige Monate. Da die 15. Indiction während der Regierung Lothar's
auch in das Jahr 852 fiel, so nehme ich keinen Anstand dieses zu wählen, weil da-
durch die obigen Schwierigkeiten ganz fortfallen. Die unterlassene Nennung des
Königs Ludwig II. von Italien hat nichts zu bedeuten, und der römische Katalog der
Bischöfe von Salona (Farlali I, 334) schöpfte aus denselben Quellen wie wir und
besitzt daher keine eigene Beweiskraft.
2) Quas decimas antecessor noster Mislavo dare coepit.
3) Schwandtner, Script. III, 99 ; Farlati III, 51 flg. mit brauchbaren Erläuterungen.
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XX. Bd. II. Hft. 26
394 ErnstDümmler.
Um diese Zeit trat auch ein Franke *) aus der Diöcese von Aqui-
leja, Namens Martin auf, der völlig lahm sich von vier Männern tra-
gen Hess und obgleich er ein Laie war, doch viele Wunder vollbracht
haben soll. Wahrscheinlich wollte er die Neubekehrten im Glauben
stärken und zu friedlichem Verhalten gegen ihre Nachbarn ermah-
nen. Da die kirchlichen Verhältnisse Dalmatiens noch immer etwas
schwankend und ungeordnet waren, so konnten herumziehende Geist-
liche dort eher als anderwärts einen gesicherten Aufenthalt finden.
Daher sehen wir auch den wegen seiner Prädestinationslehre überall,
zuletzt auch aus Friaul, vertriebenen 3) Mönch Gottschalk endlich im
Jahre 849 in diesen Gegenden 3) noch eine Zuflucht suchen. Auf
Tirpimir folgte in der Regierung sein Sohn *) Kresimir.
Unter den zahlreichen serbischen Stämmen, von denen nur die
Anwohner der Donau vorübergehend unter die fränkische Herrschaft
geriethen, treten in der ersten Hälfte des IX. Jahrhunderts am mei-
sten die Narentaner als kühne Seeräuber hervor. Hierbei kam es
ihnen sehr zu statten, dass die Natur selbst ihr Land durch schroffe
Felsen vor Angriffen von der See aus geschützt und die Mündungen
der Narenta durch gefährliche Sandbänke für grössere Fahrzeuge
unzugänglich gemacht hatte. Obgleich ein Gesandter von ihnen 5),
den sie ums Jahr 823 an den venetianischen Dogen Johannes Parti-
cipatius schickten, sowohl selbst die Taufe annahm, als auch mit
Venedig einen Frieden abschloss, war dieser doch von sehr geringer
Dauer, denn wenige Jahre später wurden venetianische Kaufleute auf
der Rückkehr von Benevent von den Narentanern gefangen genommen
und getödtet. Um diesen Friedensbruch zu bestrafen, stach der Doge
Petrus Tradonicus 839 mit einer Anzahl von Kriegsschiffen gegen
*) Const. de adm. imp. c. 31 (p. 149): äuö Opc^ia« tt)? ixe-ra^u Xpcoßa-ias xat Bsvs-ic«;,
d. h. aus Krain, Istrien oder Friaul.
2) S. den Brief des Erzbischofs Hrabanus von Mainz: Heberardo comiti (an den Mark-
grafen Eberhard von Friaul) in Sirmondi opera varia ed. Veneta II, col. 1019—1026.
3) Prudentius ann. Bertin., 849 : Godescalcus . . . Dalmatiam Pannoniam Noreiam-
que adorsus (Pertz SS. I, 443).
4) Const. de adm. imp. c. 31 (p. ISO). Farlati (III, 84), dem auch Safafi'k (II,
288) folgt, verwirrt die Reihenfolge der croatischen Herzoge völlig, indem er
Kresimir erst c. 900 nach Muncimir zur Regierung kommen lässt. Konstantin
bezeichnet ihn (Kpac7T)pipr)) als Sohn Tirpimir's und denkt sich ihn offenbar als dessen
unmittelbaren Nachfolger.
5) Joh. chron. Ven. p. 16: missus Sclavomm de insula Narrentis.
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 395
das Slavvenland in See und nachdem er mit Moislav den erwähnten
Vertrag eingegangen, wandte er sich nach den narentanischen Eilan-
den und schloss mit dem Fürsten dieses Volkes 1) Drosaik abermals
Frieden der von ebenso geringer Wirkung war, wie der frühere.
Nach etlichen Jahren 2) lief daher Petrus zum zweiten Male gegen den
slawischen Häuptling Liudit aus, durch den er eine Niederlage und
einen Verlust von hundert Mann erlitt, so dass auch fernerhin den
Räubereien der Narentaner kein Einhalt geschah.
Die kleine Landschaft Terwunja wurde gegen die Mitte des
Jahrhunderts zu einem selbständigen Fürstenthume erhoben 3),
indem der serbische Grosszupan Wlastimir dem terwnnischen Zupan
Krai'nas, dem er seine Tochter vermählt, zur Auszeichnung volle
Unabhängigkeit verlieh.
IV. Einwirkungen der Bulgaren und Sarazenen : Rückkehr zum griechi-
schen Reiche.
Durch den Sturz der Avarenmacht an der Donau traten zum
ersten Male die durch die Bulgaren in Einem Reiche vereinigten Sla-
wen in nähere Berührung mit den abendländischen Nationen, indem
sie das alte Daeien östlich von der Theiss und nördlich von der Donau
aus der Hinterlassenschaft der Avaren sich aneigneten *). Bald wur-
den die Bulgaren die unmittelbaren Grenznachbarn der Franken, als
*) Joh. chron. Ven. p. 17 . . : pertransiens ad Narrentanas insulas, cum Drosaico
Marianorum iudice . . fedus instituii. Die eigenthümliche Bezeichnung des
narentanischen Fürsten Drosaik erinnert an Thomas von Spalato, c. XIII (p. 348)
und c. XV (p. 330) : cum tota Maronia et Chulmiae ducatu, wo gleichfalls die
narentanische Küste, die sogenannte Primorie gemeint ist. Eine zweite Benennung
des Volkes (vielleicht gleich Meeranwohner) scheint hier zu Grunde zu liegen, blosse
Entstellung des Namens (von Naro, Naronia) ist kaum wahrscheinlich.
2) Joh. chron. Ven. a. a. 0. Es geschah wohl gegen 840, denn gleich darauf wird die
Sonnenfinsterniss vom 3. Mai 840 erwähnt.
3) Const. de adm. imp. c. 34 (p. 161). KraTnas war ein Sohn des ßelai, von ihm
stammte Phalimer und von diesem Tzutzimer. Y,aav o; oi -f/s TEpßouviai; ap/ov7s;
äst Crai'j vjv Xöfov tou Spxovxos SepßXia; , fügt K. hinzu, und scheint damit anzudeuten,
dass nach Tzutzimer die serbische Oberhoheit von den terwunjisehen Fürsten wieder
anerkannt wurde.
4) Die südöstlichen Marken des fränkischen Reiches p. 9 — 10. Aach Ropitar (Glagolita
Clozianus p. XII) gehört der Name !*t\sth plane et unice et in specie dem bulgarisch-
slawischen Dialekt an, zum Beweise der Ausbreitung dieses Stammes bis dorthin.
26»
396 Ernst Dümmler.
diese sich nicht mehr mit dem Besitze Pannoniens begnügten, son-
dern auch die serbischen Stämme an beiden Ufern der Donau, die der
Mündung der Drau gegenüber beginnend bis zum Timok sich aus-
dehnten, ihrem Reiche hinzuzufügen wussten 1). Das bulgarische Volk
stand damals auf einer sehr hohen Stufe der Macht und zeigte sich
unter Krum den Griechen furchtbar. Der Kaiser Nicephorus blieb
gegen diesen im Kampfe, Michael kehrte ruhmlos heim und schon
bedrohten sie Konstantinopel; Krum's Nachfolger Mortago oder Omor-
tag aber (seit 815) schloss mit Leo dem Armenier, dessen Tapfer-
keit er achtete, einen dreissigjährigen Frieden und hielt Freundschaft
mit ihm. Dafür konnte er nun seine Aufmerksamkeit dem Westen
um so ungestörter zuwenden, und als auf gütlichem Wege die Fran-
ken ihre Herrschaft über die Ostabotriten, die er seine Unterthanen
nannte, nicht aufgeben wollten, führte er in den Jahren 827 — 829
einen Krieg gegen das fränkische Reich an der Drau, durch den er
nicht blos seine Ansprüche 2) durchsetzte , sondern wahrscheinlich
auch die Slovenen im südlichen Unterpannonien und die dortigen
Croaten eine Zeitlang seinen Geboten unterwarf 3). Mortago's Nach-
folger Presiam kehrte seine Waffen gegen die Serben und wollte
deren Fürsten Wlastimir zu seinem Vasallen machen, allein er wurde
in dreijährigen Kämpfen mit grossem Verluste zurückgeschlagen 4).
Presiam's Sohn Bogoris oderBorises, später Michael genannt, der
gegen das J. 845 den bulgarischen Thron bestieg 5), gedachte gegen
*) Die südöstlichen Marken, p. 27—29.
2) Dies folgt vorzüglich daraus, dass in der zweiten Hälfte des IX. Jahrhunderts Bel-
grad eine bulgarische Stadt war: Johann VIII. erwähnt in einem Briefe an König
Michael vom J. 878 (Mansi XVII, p. 64) das Bisthum Belgrad als zu dessen Beiche
gehörig und c. 886 findet sich ttj BsXecYpaScuv ein imocrtpdTTjYos des Bogoris nach der
Vita St. Clementis c. 16 (ed. Miklosich p. 22), vgl. Safari k II, 177.
s) In den südöstlichen Marken (p. 29) habe ich mit allzugrosser Bestimmtheit be-
hauptet, dass die Pannonia Savia längere Zeit unter bulgarischer Herrschaft verblieb,
denn auch ohne den Besitz jenes Landes waren im Süden der Sau die Bulgaren die
Nachbarn der Croaten, so lange die Serben sich noch nicht zwischen beide Völker
eingeschoben hatten. Ich stimme daher jetzt Krause (p. 26— 27) bei, welcher
Liudewit's Nachfolger Ratimar (838) unabhängig von den Bulgaren sein lässt.
*) Const. de adm. imp. c. 32 (p. 154): fHXcuv aüxou; inraxaSai. Von den Vorgängern
Wlastimir's ßoiseslav, Rodoslav, Prosegois kennt Konstantin nur die Namen.
5) Krause (p. 26) bezieht die Gesandtschaft der Bulgaren, die nach Ruodolf (Ann.
Fuld., 845) König Ludwig in diesem Jahre zu Paderborn empfing, auf den Regie-
damit
stimmt.
rungsantritt des Bogoris. Vgl. Theophan. continuat. IV. 13 (p. 462), der
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. o97
die Croaten auf Eroberungen auszugehen , doch endigte dieser Krieg
nach Konstantin^ Bericht *) mit einem Frieden der alles beim Alten
liess und freundschaftliche Beziehungen zwischen beiden Völkern
herbeiführte. Diese Angaben lassen vielleicht eine Ergänzung zu,
wenn man damit zusammenhält, was uns sonst von demselben Schrift-
steller über die gleichzeitige innere Umwandlung Croatiens gemel-
det wird. Bis auf Kresimir, den Sohn Tirpimir's, lässt er jene über-
aus grosse Macht der Croaten reichen, wonach sie nicht weniger als
160.000 Mann ins Feld zu stellen vermochten. Auf Kresimir folgte
sein Sohn Miroslav der schon nach vierjähriger Begierung von dem
Bane Pribunia ermordet und gestürzt wurde. In der Zeit innerer
Verwirrung und Spaltung, die hieraus erfolgte, soll dann jene
grosse Verminderung der croatischen Streitkräfte stattgefunden haben.
Sie erklärt sich aber, wie schon oben bemerkt wurde, viel leichter
und natürlicher durch eine Abtretung an Land, und so mag denn die
Vermuthung nicht zu kühn erscheinen2), dass durch jenen Krieg
des Königs Bogoris Bosnien von den Bulgaren erobert worden sei.
Vielleicht sträubte sich das Nationalgefühl der Croaten die dem
Kaiser Konstantin von allen diesen Dingen erzählten, eine solche
Eroberung offen einzugestehen, durch welche sie seit jener Zeit auf
das Küstenland beschränkt blieben.
Später muss freilich Bosnien in serbischen Besitz übergegangen
sein, in welchem es sich auch zu den Zeiten Konstantin^ befand, und
zwar dürfen wir diesen Wechsel aller Wahrscheinlichkeit nach noch
unter Bogoris selbst setzen. Als dieser nämlich, um die Niederlage
seines Vaters zu rächen»), die drei Söhne Wlastimir's Muntimir,
Stroimir und Goinik mit Krieg überzog, wurde er völlig geschlagen
und sein ältester Sohn Wladimir gerieth sogar in die Gefangenschaft
der Serben. Um ihn zu lösen musste er einen sehr nachtheiligen
») De adm. irap. c. 31 (p. löOJ.
2) Vgl. Krause p. 29. Derselbe beruft sich auch darauf, dass Georg Cedrenus (II.
p. 476) die Bosniaken Croaten zu nennen schiene. Dort aber ist nur nach der Unter-
werfung Bulgariens ganz allgemein von ti 8(topo I8vr) -<>>' Xopßatüiv die Rede, von
deren Fürsten einer zu Sirmium herrschte.
3) Const. de adm. imp. c. 32 (p. 154), wo Zeile 18 v. oben unstreitig für BXatrc^p-epov
zu verbessern ist BV*8ij|iepov , dem. so hiess nach den übrigen Quellen (Ann. Puldens.
892; Vita S. Clementis c. 19 ed. Miklosich; Georg. Monachus de Michaele et
Theodora c. 8) der älteste Sohn des Bogoris.
39$ Ernst Uii mm ler.
Frieden schliessen, in welchem er ohne Zweifel den serbischen Für-
sten auch Land abtrat. Die Vermuthung, dass dies Bosnien gewesen
sei, erhält dadurch ein grösseres Gewicht, dass nach einem Briefe
des Papstes Johann's VIII. *) der serbische Staat unter Muntimir der
bald seine beiden Brüder vertrieb, sich bis zur Donau ausdehnte und
dort an Slavonien grenzte.
Während so die Macht der Croaten durch die Bulgaren bedeu-
tende Einbusse erlitt und nie wieder ihre frühere Höhe erreichte,
wurden auch die römischen Dalmatier durch einen neu auftauchenden
Feind aufs Schlimmste heimgesucht. Die afrikanischen Sarazenen von
Kairwan, die seit dem Jahre 827 mit der Eroberung Siciliens sich
beschäftigten, begannen jetzt auch das ad riatische Meer unsicher
zu machen und wurden bald für die fränkischen und venetianischen
Kaufleute eine noch grössere Plage als die räuberischen Narentaner.
Unter mehreren Führern2) von denen uns Kalfo und Saba namhaft
gemacht werden, überfielen sie auf 36 Schiften im J. 840 zuerst das
obere Dalmatien und plünderten daselbst die Städte Budua, Rosa3)
l) Bei Timo» imago anthjuae Hungariae p. 143: Monternero duci Sclavoniae , er
wird darin aufgefordert ad Pannoniensium . . . dioecesim zurückzukehren, welche
bis nach Syrmien reichte. Safafi'k (II, 288, Anm. 2) bezieht diesen Brief ganz
irrig auf den Croaten Muncimir.
8) Constantin. de thematib. p. 61 , de adm. iinp. c. 29 (p. 130) ; Theophan. contin. V.
c. 53 (p. 289). Alle früheren Bearbeiter (z. B. Safarik II, 275) setzen dies Er-
eigniss in die Jahre 867 oder 868, weil Konstantin es in die Zeit des Begierungs-
antrittes des Basilius verlegt. Hiermit im Widerspruch lässt er aber auch jene
Plünderungen der Einnahme von Bari (a. 841) vorangehen und dies führt, da die
Belagerung \on Bagusa 15 Monate gedauert haben soll, auf das Jahr 840. Offenbar
passt dies viel besser zu den darauf folgenden Kämpfen der Venetianer mit den
Sarazenen und zu den Namen der Führer. Kalfon oder Calfo (KocXtpou?) hiess nach
dem Chronic. Casinense c. 8 (b. Pertz SS. III, p. 225) und nach Erchempert c. 16
(ib. p. 246) der König, welcher Bari 841 eroberte, und Saba (2<xßa) befehligte
nach dem Chronic. Venetum p. 17 zu Tarent. 2oX8ov6t, der 871 Bari vertheidigte,
ist irrig mit jenen beiden zusammengestellt. Eben so unrichtig wird die erst im
Jahre 870 erfolgende Absendung des Nicetas (s. unten) auf die Abwehr der Sara-
zenen bezogen, während sie vielmehr gegen die Slawen gerichtet war. Konstantin
ist über den ursächlichen Zusammenhang wie über die Zeitfolge dieser Begeben-
heiten gleich unklar.
9) 'Püjiaa ist vielleicht Porto Böse an der Einfahrt in den Busen von Cattaro gegenüber
Castelnovo, keinenfalls aber Bisano, das damals Bhiziniiim, 'P'asva hiess. Unter dem
Ta AExatepa xö xcxtu) ist der unmittelbar am Meere gelegene untere Theil der Stadt
gemeint, welche von hohen Bergen umgürtet wird, auf denen sich noch heute
eine sehr feste Burg befindet.
Hier die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 399
und das untere Cattaro; dann versuchten sie sogar die Hauptstadt
dieser Gegenden, Ragusa, einzunehmen und belagerten es 15 Monate
hindurch. Die Bürger wandten sicli in ihrer Bedrängniss nach Kon-
stantinopel um Hilfe; als die Sarazenen die ohnehin wenig Fort-
schritte gemacht hatten, durch Überläufer erfuhren, dass griechische
Schiffe im Anzüge seien, hoben sie die Belagerung auf und segelten
nach der gegenüberliegenden apulischen Küste. Dort eröffneten sich
ihnen viel lockendere Aussichten, da auf Geheiss des Fürsten Radel-
chis von Benevent der Gastalde Pando von Bari sie zum Beistande
herbeirief1)- Noch im J. 841 überrumpelten sie in einer Unstern Nacht
Bari, in dessen Nähe sie gelagert waren, und bald gelang ihnen auch
die Einnahme Tarent's. Beide Städte dienten nun als Stützpuncte für
alle ferneren Unternehmungen, und die inneren Fehden der Fürsten
von Benevent und Capua boten eine vortreffliche Gelegenheit, unge-
straft Apulien und Calabrien weit und breit zu verwüsten. Im J. 846
kämpften sie bereits auf der Tiberbrücke mit den Römern und nur
die Dazwischenkunft des Herzogs Wido von Spoleto rettete die
ewige Stadt.
Das byzantinische Reich , unter der schwachen Regierung
Michael's III. oder vielmehr seiner Mutter Theodora, blieb unthätig
gegenüber allen den Unbilden die seinen Unterthanen durch die
Muselmänner widerfuhren 3). Ein Patricius Theodosius 3) wurde nur
l) Nach dem Chron. Casin. (a. a. 0.) lud Radelchis transmariaos Saracenos ein, ver-
muthlich von Ragusa's Belagerung'. Konstantin la'sst sie mit Unrecht 40 Jahre über
Langobardien herrschen , da es vielmehr nur 30 Jahre der Fall war. Joh. chron.
Venet. p. 19: quam . . civitatem (sc- Barim), Bandone eiusdem civitatis gastal-
dio agente , Sarracenorum gens per annos circiter 30 tenuerunt , ebenso
Chronic. Casin. c. 4 (p. 223) : per annos ferme triginta.
a) Const. c. 29 (p. 128 — 129) : tt}? . . . tü>v 'Pcop-aiiuv ßccsiXeicc; oia -wi xdxe xparoüv-
t(dv vü>9poTTjTa xai octpe'Xeiav eis to pvvjSev Trapci-av [uxpoü 6s!v ivaTcoveuadcri}; . . oi ~-x
tt); AEXp.a-ic:; xdorpa olxoüvxee fefÄvaatv «ixoxeipaXot etc. Diese Schilderung bezieht
sich auf die ganze Periode von Michael II. bis Michael III. (820 — 867), welchen
letzteren Konstantin (Tlieophan. contin. V. 53, p. 289) ebenfalls 6 tpaüXoi; ßasiXeu;
nennt, und in der That mag auch die Losreissung der dalmatischen Römer in diese
Zeit fallen.
3) Johann, chron. Venet. p. 17. Tarent fiel etwas später als Bari in die Hände der
Sarazenen (Chron. Casin. c. 4, c. 17), daher diese Seeschlacht wohl nicht vor 843
gesetzt werden kann. Die Worte: ad Tarantum , vbi Saba ■ . . cum maximo
exercitu manebat lassen aber auch die Auslegung zu, dass Saba etwa erst in der
Belagerung Tarent's begriffen war, welches fame obsessa genommen wurde, und
das führt auf 842.
400 Ernst Dum ml er.
ohne Heer nach Venedig geschickt, um den Dogen Petrus Tradonicus
dem er die Würde eines Spatharius überbrachte, zu einem Kriegs-
zuge gegen die Ungläubigen anzuspornen. Dieser lief wirklich mit
einer Flotte von 60 Schiffen gegen den Fürsten Saba in Tarent aus,
allein die Venetianer erlitten eine völlige Niederlage in welcher der
grösste Theil von ihnen gefangen genommen oder getödtet wurde.
Die Feinde säumten nicht lange für diesen Angriff Rache zu nehmen;
sie fuhren diesmal bis nach der Stadt Ossero, die sie gerade am
zweiten Osterfeiertage verbrannten, das gleiche Luos erfuhr Ancona,
und auf dem Rückwege ward noch eine Anzahl venetianischer Kauf-
fahrer genommen. Nicht glücklicher waren die Venetianer zwei
Jahre *) später, als abermals die Sarazenen bis in den Quarnero-
Busen vordrangen; bei der kleinen Insel Sansego westlich von Lussin
wurde die venetianische Flotte zum zweiten Male vollständig besiegt.
Auch in der Folgezeit dauerten diese Leiden noch fort, wiewohl der
Kaiser Ludwig II. der im J. 848 die Sarazenen aus Benevent ver-
trieb, und der Markgraf Eberhard von Friaul, ein Sprössling des alten
Salierlandes, dem Übel kräftig zu steuern suchten2). Die Slawen
fuhren ebenfalls in ihrem früheren Handwerk fort; ums Jahr 846
verwüsteten sie die venetianische Insel Caorle , nachdem sie zuerst
die Absicht gehegt hatten, sich der Stadt Venedig selbst zu bemäch-
tigen 3) , und der venetianische Doge Ursus sah sich genöthigt den
Croatenherzog Domagoi, den nächsten4) der nach Miroslav genannt
*) Chron. Venet p. 17 — 18. In dem bis 963 teichenden Chron. Siculum (Muratori SS,
Ib, col. 24Ö) werden zwei Einnahmen Ragusa's durch die sicilischen Sarazenen, 848
und 867, erwähnt, unter denen, wenn sie überhaupt begründet sind, wir uns wohl
nur vorübergehende Plünderungen zu denken haben.
2) Vgl. die Verse über ihn in der Historia ecclesiae Cisoniensis (bei Dachery spicilegium
II, p. 878), in denen es heisst: Qui Sclavos fortes, Numidas Maurosque feroces
Saepe triumphavit, interfecit, spoliavit. Nur der ersteren gedenkt Andreas von
Bergamo c. 13 (p. 238): Multa futiguüo Langobardi et oppressio a Sclavorum
gens sustinuit , usque dum imperator Foroiulanorum Ebherardo principem
constituit. Eberhard gelangte nicht, wie Krause (p. 30) glaubt, c. 860 zu seiner
Markgrafschaft, sondern noch vor 840, vielleicht 828 unmittelbar nach Balderich.
Theganus (Pertz SS. II, 603) erwähnt 836 einen Eberhardus fidelis als Abgesandten
Lothar's aus Italien und dieser nennt selbst Evherardum fidelem comitem nostrum
in einer Urkunde vom 1. Sept. 841 (oder 844), in welcher auch der Doge Petrus
schon spatarius heisst, bei Muratori Script, rer. IUI. XII, col. 176 (Böhmer, regesta
Carolor. Nr. 372).
3) Joh. chron. Venet. p. 18.
4) Ebenda p. 19.
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 4Ü 1
wird, durch Absendung einer Kriegsflotte um 865 zur Ruhe und zum
Frieden zu zwingen.
Alle diese Unfälle ereigneten sich unter der schlaffen Regierung
Michaela III. welcher, in unwürdige Ausschweifungen versenkt, die
Anwohner des adriatischen Meeres völlig sich selbst iiberliess und
ihnen allen Beistand gegen ihre Feinde versagte. Erst im J. 867
bestieg in Basilius dem Macedonier wieder ein thatkräftiger und ein-
sichtsvoller Regent den byzantinischen Thron , unter welchem auch
die Dinge im unteren Italien bald eine bessere Wendung nahmen.
Die vereinten Kräfte des morgenländischen und abendländischen
Kaiserthumes sollten jetzt Apulien und Calabrien Jen Händen der
Ungläubigen wieder entreissen, und zunächst ihre Hauptfeste Bari
durch Sturm erobern i). Schon im J. 869 begann die Erschliessung
dieser Stadt2), zu welcher von byzantinischer Seite ein Patricius mit
400 Schiffen eintraf, doch kehrte der letztere bald nach Korinth
zurück, als von Neuem Uneinigkeit zwischen beiden Reichen aus-
brach. Ernstlicher wurde die Belagerung im Jahre 870 in Angriff
genommen und zwar zunächst nur von einem fränkisch-langobar-
dischen Heere unter Kaiser Ludwig II. 3). Mit diesen vereinigten
sich auf sein Geheiss auch die Streitkräfte der Südserben und Croa-
ten welche von eigenen und ragusanischen Schiffen über das Meer
geführt wurden4). Während man so mit dem Kampfe um Bari beschäf-
tigt war, ereignete sich, dass die Gesandten des Papstes Hadrian'sII.
die Bischöfe Donatus von Ostia, Stephan von Nepi und der Diakonus
Marinus, welche der Synode zu Konstantinopel im J. 869 — 870 bei-
gewohnt hatten, ohne allen Schutz in Durazzo entlassen, narentani-
schen Piraten in die Hände fielen5); sie wurden vollständig aus-
1) Constant. de adra. imp. c. 29 (p. 130); Theophan. contin. V, c. SS (p. 293) Tgl.
Muratori, Geschichte von Italien (Leipzig 1747) V, p. 90—91.
2) Hincmar. ann. Bertiniani, 869 (Pertz SS. I, 481, 485).
3) S. den Brief Ludwig's II. an Basilius in dem Chronic. Salernitan. c. 107 (Pertz SS.
III, 52S) : diu demorante stolo fraternitatis tu e etc.
4) Kons ta n tin (p. 131 u. Theoph. cont. a. a. 0.) lässt ßocaiXoqj xsXsuasi die Streit-
macht der Slawen zu dein von Ludwig' herbeigeführten Landheere stossen ; dieser
dagegen in dem angeführten Briefe spricht von den Sclavenis nostris cum navibns
suis apud Baritn in procinetu communis utilitutis consistentibus et nichil ad-
versi sibi aliunde imminere putuntibus.
5) Vita Hadriani U (ed. Blanchini I, o. 432) : in Sclavorum dedueti manus, vgl. den
Brief Hadrian's an den Kaiser Basilius (Mansi XVI, 206) : Apocrisiarios quoque
nostros , super quorum nihilominus reversione scripsistis , licet sero , post
402
Ernst D ii in in I e i
geplündert und sogar der Concilienaeten beraubt, es bedurfte erst
einer päpstlichen und kaiserlichen Verwendung, um sie aus ihrer
Gefangenschaft zu befreien. Diesen Unfall wusste der Kaiser Basilius
sehr geschickt dazu zu benutzen, um in Dalmatien seine Herrscher-
rechte wieder in Erinnerung zu bringen. Ais er nämlich im Spät-
herbst 870 nach langem Harren endlich die erwartete Hilfe unter
dein Patricius Georgius nach Bari sandte , schickte er zugleich einen
zweiten Patricius, Niketas Ooryphas, zur Bedeckung des adriatischen
Meeres ab, welcher zur Strafe für jene Plünderung der päpstlichen
Gesandten in dem Gebiete der Südserben viele Orte zerstörte und
die Bewohner als Gefangene fortführte *)• Nachdem Bari unter sehr
geringer Mitwirkung der Griechen am 2. (oder 3.) Februar 871 end-
lich gefallen a) und nach dreissigjähriger Entfremdung unter die
Herrschaft der Franken zurückgekehrt war, führte Ludwig II. in
einem Schreiben an Basilius die bitterste Beschwerde über jene von
Niketas verübten Verwüstungen, durch welche seine slawischen
Unterthanen ungerecht betroffen worden wären und noch dazu wäh-
rend dieselben sich mit der Belagerung Bari's beschäftigten. Diese
Klagen konnten nicht viel Erfolg haben, da Ludwig gleich darauf
in die Gefangenschaft des Fürsten Adelgis von Benevent gerieth und
tnulta tarnen pericula , depraedationes atque propriorum hominum trucida-
tionem, nudos tandem recepimus . . omnes stupefacti mirantur ■ . . quod ita
dispositionis vestrae constitntio improvide prodire potuerit, ut in barbarorum
gladios, nullo imperii vestri fidti praesidio , niiseranter inciderint. Ähnlich
Ludwig1 II.: decuerat excellentiam tuam ita munitos eos remittere, ut nullus
vel piratarum vel aliorum pravorum i?icursus inciderent . . . Nee tarnen,
quae praefati venerabiles apoerisiarii perdiderunt , hactenus restituta sunt.
1) Kaiser Ludwig II. schreibt (a. a. 0.): Ceterum fraternitatis tuae dilectionem
rogamus nullam Nicetae patricio molestiam irrogare pro eo quod nostrum
tarn insolenter offenderit animum . . . Et Niceta quidem patricius, Hadriano
loci servatore cum classibus destinato, aeeepta quasi pro kuiusmodi re occa-
sione , multas praedas ab ipsis Sclavenis abstulit et quibusdam castris dir-
ruptis, eorum homines captivos adduxit . . . tuam nolumus ignorare frater-
nitatem , super castra nostra dirrupta et tot populis Sclaveniae nostrae
in captivitate sine qualibet parcitute subtractis, supra quam dici possit animum
nostrum commotum.
2) Ann. ßenevent., 871; Andreas Bergomas c. 15; Erchempert. c. 33; Chronica
ßenedicti; Johann, chron. Venetum (Pertz SS. III, 174, 236, 232, 203, VII, 19).
Der letztere gibt den 2. Februar als Tag der Einnahme an , Lupus Protospatarius
(ib. V, 32) s. a. 868 den 3. Die Beihilfe der Griechen erwähnt von den abend-
ländischen Quellen nur die Chronik von Salerno c. 107 (p. 321, 327), vgl. c. 103
(p. 319).
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 403
seine Unternehmungen gegen die Sarazenen nicht zu Ende zu füh-
ren vermochte. Den sarazenischen Verwüstungen in Dalmatien war
daher mit der Einnahme von Bari keineswegs für immer ein Ziel
gesetzt: schon im März 872 kamen wieder muhammedanische Räu-
ber1), diesmal von der Insel Kreta, und verheerten ausser anderen
Orten auch die Stadt Brazza, von wo sie mit unermesslicher Beute
heimkehrten. Im Jahre 875 wagten sie sogar einen Angriff auf
Grado und plünderten dann, als sie auf zu kräftigen Widerstand sties-
sen, die Inselstadt Comacchio 2). Nicht minder setzten die Croaten
jetzt im Vereine mit den Narentanern3) ihre Räubereien fort, von
welchen im J. 875 vier istrische Städte Umago, CiUanuova, Cervere
und Rovigno hart betroffen wurden4). Als sie es von dort sogar auf
Grado abgesehen hatten, kam der venetianische Doge Ursus Partici-
patius mit dreissig Schiffen schnell der bedrohten Stadt zu Hilfe und
brachte den Slawen eine so vollständige Niederlage bei, dass fast
Niemand von ihnen lebend sein Vaterland erreichte. Die croatischen
Gefangenen setzte der siegreiche Doge ohne Lösegeld in Freiheit
und nach dem Tode Domagoi's, der im J. 876 erfolgte, wurde mit
seinen Söhnen ohne Schwierigkeit der Friedensvertrag erneuert, der
früher zwischen Venedig und den Croaten bestand. Die Narentaner
wurden in diesen Frieden nicht aufgenommen und auch noch ferner
von Venedig bekämpft; der schmähliche Sclavenhandel 5), welchen
des Gewinnes halber venetianische Kaufleute mit ihnen getrieben
hatten, ward vom Dogen mit Beistimmung des Volkes und der Geist-
lichkeit unter harten Strafen verboten.
Jetzt endlich war der Zeitpunct gekommen , die byzantinische
Herrschaft am adriatisch£n Meere wieder zur vollen Geltung zu
bringen, so wie sie in Unteritalien durch die Besetzung Barfs eben
!) Joh. chron. Venet. p. 19: Braciensem eiusdem provinciae urbem = der Insel
Brazza (?).
2) Daselbst p. 19—20; Andreas Bergomas c. 17 (p. 237).
3) S. den Brief Johann's VIII. : Domasol duci glorioso (Mansi XVII, 243) : Praetcrea de-
votionis tuae Studium exhoriamur, ut contra marinos latrunculos, f/ul sab prae-
textu tui no m i n i s in christicolns debacchantur. tunto vehementius accendatur,
f/uunto Worum pravitute famam tui Hominis obfuscutam fuisse coynoscis etc.
4) Joh. chron. Ven. p.20: Sclavorum pessime yentes et Dalmacianorum; mit den letz-
teren sind unfraglich die Croaten gemeint. Domagoi wird wegen seiner Räubereien
auch Sclavorum pessimus dux geninnt.
5) Andreae Danduli chronic, lib. VIII, c. 4, P. XXIII (Muratori XII, col. 186) mercatores
Veneti lucri cupidi u pirutis et latrunculis tnuncipia comparabant etc.
404 Ernst Dümmler.
neue Stärke gewonnen hatte1), denn das zwischen ost- und west-
fränkischen Bewerbern schwankende Italien konnte keinen ernstlichen
Einspruch erheben und die Markgrafen von Friaul suchten mehr ihre
ehrgeizigen Pläne auf die Königskrone zu verwirklichen, als die
Grenzen sorgsam zu hüten. Während der venetianische Doge Ursus
durch die Verleihung des ehrenvollen Titels eines Protospatharius
enger an den byzantinischen Hof gekettet wurde2), erhob sich in
Croatien Sedeslav, ein Nachkomme Tirpimir's, mit kaiserlichem Bei-
stande zum Besitze der höchsten Gewalt und jagte die Söhne
Domagoi's im J. 877 aus dem Lande. Er ging selbst nach Kon-
stantinopel und liess sich dort vom Kaiser Basilius die ihm durch
Volkswahl bereits übertragene Herzogswürde bestätigen. Mit ihm
zugleich unterwarfen sich die Häuptlinge der Narentaner, Zachlumer
und der übrigen Südserben 3) ; auch die Römer schickten eine
Gesandtschaft, um ihr früheres Unterthanenverhältniss zu erneuern,
und ihre Bischöfe — wenn sie nicht schon früher vom Papste
abgefallen waren, schlössen sich wenigstens damals dem Patriarchen
von Konstantinopel an4). Um das Verhältniss der verschiedenen
Bevölkerungen zu einander endgiltig zu ordnen, wurde bestimmt,
l) Ann. Benevent., 876; Lupus Protospatar., 875; Erchempert. c. 38. Die Einwohner
riefen Gregorium baiulum imperiale Graecorum qui tunc in Odronto de gebot aus
Furcht vor den Sarazenen freiwillig- herbei.
3) Johann, chron. Venet. p. 21 : His diebus Sedeselavus, Tibimiri ex progenie, impe-
riali fultus praesidio Constantinopolim veniens Sclavorum ducatum arripuit,
filiosque Domogoi exilio trusit. Eo videlicet tempore domnus Ursus dux ab impe- .
rialibus internunciis protospatharius effectus etc.; darauf scheinen sich die Worte
Konstantin^ (de adm. imp. c.29, p. 129) zu beziehen : itpoeßdXeto ei; aiiTouc (i. e. Scla-
vos) äpyovxo? , oö; ixstvot tj&sXov xai rcpoexptvov , fatö ysvzök; -Jj; sxeivoi i)f&xwv xai
lorspfov (sc. Tirpimiri), vgl. Theoph. contin. V, 34 (p. 292).
3) Konstantin (a.a.O.) setzt ohne nähere Bestimmung des Jahres die Wiederunterwer-
fung der Slawen vor den Fall von Bari und stellt sie als eine Folge der Entsetzung
Ragusa's dar. Sicherlich wusste er nur, dass es unter Basilius geschah und mit der
Wiedererlangung der Herrschaft auf dem adriatischen Meere in Verbindung stand,
woraus er sich das Weitere combinirte. Ebenso lässt er ja auch Bari schon 871 an die
Griechen übergehen , während dies doch erst nach dem Tode des Kaisers Ludwig IL
im December875 erfolgte! Wir dürfen daher unbedenklich der venetianischen Chronik
so wie der inneren Wahrscheinlichkeit folgen.
4) Johann VIII. schrieb im Jahre 879 u. a. an die Bischöfe und Bewohner der römischen
Städte (Mansi XVII, 129): Reminisei namque debetis . . . quanta postmodum nunc
usque sustiuueritis adversa , cum ab ea (sc. Romana ecclesia) vos quasi alienos
separare non dubitastis. Diese Worte lassen auf eine längere Entfremdung als von
877 bis 879 sehliessen.
Über die älteste Geschichte der Slawen in Daimatien. 405
dass die römischen Städte und Inseln dem byzantinischen Strategen
zu Zara künftig nur eine ganz geringe Abgabe zu zahlen hätten , als
Zeichen, dass sie noch dem Reiche angehörten »)• Den grössten Theil
ihres bis dahin entrichteten Tributes sollten sie dagegen fortan den
Slawen entrichten 2) , damit sie fürder von diesen unbelästigt die
Feldmarken um ihre Städte und die dazu gehörigen Inseln in
Sicherheit bebauen dürften. Dieser Verfügung gemäss zahlte Spa-
lato den Croaten jährlich 200 Goldstücke, Zara 110, Ossero, Arbe,
Veglia und Trau je 100, wozu noch Lieferungen an Wein und
anderen Erzeugnissen kamen. Ragusa das , auf der Grenze von
Chulmia und Terwunja gelegen, mit seinen Weinbergen in beide
Gebiete hineinragte, zahlte an den Fürsten eines jeden von beiden
36 Goldstücke. Zu demselben Mittel entschlossen sich , wir wissen
nicht ob zu jener Zeit oder erst später, auch die Venetianer 3); um
der lästigen Dränger los zu werden, entrichteten sie gleichfalls den
croatischen Grosszupatien einen jährlichen Tribut. Da die Narentaner
und auch manche von den übrigen Südserben noch immer ungetauft
waren , so schickte bei dieser Gelegenheit der Kaiser Rasilius *)
mit seinem Rotschafter zugleich griechische Geistliche nach Daima-
tien, um den dortigen Heiden die Taufe zu spenden. So war durch
kluge Renutzung der Umstände die byzantinische Oberhoheit in ganz
Daimatien neuerdings zur Anerkennung gebracht, allein sie beruhte
auf sehr schwachen Grundlagen und es hing fast ganz von dem Gut-
dünken des jedesmaligen Grosszupans und seiner Partei ab, ob sie
einen Kaiser zu bedürfen glaubten oder nicht. Mit der fränkischen
Herrschaft freilich war es wohl#für immer vorbei.
!) Da nach Constantin. de caeriin. aulae Byz. II, SO (p. 697) die Strategen des Westens
kein Gehalt empfingen oioc ti ).ap.ßävsiv ocütou? a-'j ttüv iotiuv aü-üJv t}e|jic<"ucuj s'jvry&sta;
xa-'ixo;, so bildete das ßpa/ii ti, welches die Dalmatier auch ferner noch dem Strategen
zahlten, vielleicht dessen Besoldung. Seinen Sitz zu Zara bezeugt auch die Urkunde
a. 1067 bei Schwandtner III, 123.
2) Const. de adm. imp. c. 30 (p. 146 — 147). Er übergeht hier wie p. 128 Levigrad und
Cattaro, jenes wohl wegen seiner Geringfügigkeit, dieses vielleicht desshalb, weil es
schon serbische Bevölkerung aufgenommen. Vgl. Zeuss, die Deutschen, p. 616.
3) Joh. chron. Venet. p. 29, 30. Petrus Urseolus a. 991 solitum censum primus dare
interdixit, worauf die Croaten anfangen Herum censum, inportune ducis exiere
(i. e. exigere).
4) Theoph. cont. V, 54 (p. 291): „Upsts S'J&sük p-etä xai ßaaiXixou dcv&piurcou <jüv aii-co!;
(sc. legatis Sclavorum) i"-a-i-j-z0.vi.u Es ist nicht daran zu denken, dass darunter der
Erzbischof Methodius von Pannonien gemeint sei. wie Farlati (III, 66) und Krause
(p. 41) ohne allen Grund annehmen.
406 Ernst Dümraler.
V. Einwirkung der römischen Kirche ; schwankender Znstand der
Slawen.
Die zweite Hälfte des IX. Jahrhunderts zeigt uns ganz im Gegen-
satz zu dem Sinken der karolingischen Königsmacht einen grossartigen
Aufschwung des Papstthums welches jene bald zu überflügeln drohte.
Während es sich mit den pseudoisidorischen Decretalien neue und
bis dahin unerhörte Gerechtsame zu erkämpfen suchte und im skan-
dinavischen Norden so eben die ersten Glaubensboten seine Herrschaft
weiter trugen , trachtete es zugleich danach , im Osten gegen den
Patriarchen von Konstantinopel die alten Grenzen in weitester Aus-
dehnung herzustellen , wie sie einst unter Gregor dem Grossen
bestanden hatten. Denn zu seiner Diöcese war das ganze IHyricum
im vollen Umfange gezählt worden , in welchem es bis nach Kreta
reichte, und der Erzbischof von Thessalonich, dessen Stelle seit
Justinian der von Justiniana prima vertrat, empfing von Rom sein
Pallium, um als Vicarius des apostolischen Stuhles der illyrischen
Kirchenprovinz vorzustehen. Der Einbruch der östlichen Barbaren im
VII. Jahrhundert und der Streit um die Verehrung der Bilder hatten
alle diese Beziehungen zerrissen. Papst Nikolaus war der erste, der
sie wieder anzuknüpfen suchte, indem er im Jahre 860 von Kaiser
Michael III. forderte *)> dass wie vor alten Zeiten der Erzbischof von
Thessalonich als Vicar des römischen Stuhles für Epirus , IHyricum,
Macedonien, Thessalien, Achaia, Dacien und Mösien angesehen würde.
König Bogoris von Bulgarien, der erst durch griechische Geistliche
getauft worden war, wandte sich im Jahre 866 an Nikolaus, der ihm
zwei Bischöfe zur Bekehrung seines Volkes schickte und es der
römischen Kirche unterwarf. Die Brüder Konstantin und Methodius
aus Thessalonich, die Übersetzer der heiligen Schrift in die slawische
Sprache und Lehrer des mährischen Volksstammes, wurden von
Nikolaus1 Nachfolger Hadrian II. in Rom durch einige Zugeständnisse
vollständig gewonnen und für Methodius im Jahre 870 ein neues
mährisch-pannonisches Erzbisthum3) an Stelle des untergegangenen
1) .Taffe regesta, Nr. 2021. Dalmatie» gehörte nicht zu diesem kirchlichen Verbände, da
der Erzbischof von Salona unmittelbar unter dem Papste stand, wichtig aber war es
als Übergang nach lllyrien.
2) Vgl. meine Abhandlung: die pannonische Legende vom h. Methodius, p. 35 — 45.
Über die älteste Geschichte der Slawen in Ualmalien. 40 i
Bisthums Sirrnium errichtet. Durch ihn und seine Jünger sollte die
ganze Slawenwelt an der Donau, die theils noch heidnisch, theils sehr
ungenügend christlich war, im römischen Sinne völlig bekehrt wer-
den, indem die als Ausnahme gestattete Anwendung der Landes-
sprache beim Gottesdienste auf die slawischen Nationen eine mächtige
Anziehung übte. Auch an den Fürsten Muntimir von Serbien schrieb
desshalb Johann VIII. *) : „Folge der Gewohnheit deiner Vorfahren
und suche, soweit es dir möglich ist, zurpannonischen Diöcese zurück-
zukehren. Und weil jetzt, Gott sei Dank dafür, vom Stuhle Petri
ein Bischof dorthin ordinirt ist, wende dich wieder an seine väter-
liche Fürsorge."
An die Croaten erging keine ähnliche Aufforderung, denn sie hatten
bereits ihren eigenen Bischof der mit Nikolaus I. in unmittelbarem
Verkehre stand, und das Becht des Erzbischofs von Salona als des
Metropoliten von ganz Dalmatien war unbestritten. Das nähere Ver-
hältniss Borns zur dalmatischen Kirche hatte sich aber seit längerer
Zeit gelockert und auch die croatische Geistlichkeit mit ihrem beson-
deren Oberhaupte war unter Sedeslav mindestens ebenfalls dem
Patriarchen von Konstantinopel zugefallen. Noch im Anfange des
J. 879 richtet Johann VIII.3) an Sedeslav nur die höfliche Bitte,
seinem nach Bulgarien reisenden Gesandten freien Durchzug durch
sein Gebiet und sicheres Geleit zu gewähren, in einem Tone der
auf ein näheres Verhältnis zwischen beiden durchaus nicht schliessen
lässt. Noch in demselben Jahre aber, in welchem jener Abgesandte
zum König Michael ging, um ihm die Bückkehr zur römischen Kirche
annehmlich zu machen, die er seit 870 verlassen hatte3), trat auch
in Croatien ein völliger Umschwung ein. Sedeslav wurde gestürzt
und an seine Stelle drängte sich *) sein Mörder Branimir oder Brenamir.
*■) Timou imago antiquae Hungariae, 143.
2) Mansi XVII, 119: Dilecto filio Sedesclavo glorioso comiti Sclavorum. Quin fama
tuaf dilectionis atque boniiutis et religionis in Deum ad nos usqne pervenit, con-
fidenter yloriae tiiae praecipimus etc. Das Datum dieses Briefes wird mit Unrecht
auf den 2. Mai bezogen. Vgl. J a f f e regesta p. 260 und 280.
3) Vita Hadriani II. (Muratori III", 268).
4) .loh. chron. Ven. p. 21 : Hin diebus quiäam Selavvs nomine Brenamir, interfeclo
Sedescavo ipshis dacatum usurpavit. Johann VIII. schreibt ihm [dilecto filio Bra-
nimir: Mansi XVII, 125), dass er schon am Himmelfahrtslage 879 (21. Mai) für
ihn und sein Volk vor St. Peter's Altare gebetet habe, also fällt seine Erhebung in das
Frühjahr.
■408 Ems t Dum ml er.
Dieser im Vereine mit dem Diakonus Theodosius der gerade um
die nämliche Zeit zum Bischof von Nona erwählt war, zog es vor,
sich wiederum dem Papste anzuschliessen, und beide bezeugten
ihm durch eigene Schreiben *) ihre Ergebenheit welche etwa im
Mai 879 der Priester Johann von Venedig nach Rom überbrachte.
Dorthin hatte demselben schon der mächtige Mährerherzog Suato-
pluk Aufträge übergeben, wie denn Johann an allen diesen slawischen
Höfen wohlbekannt gewesen zu sein scheint und öfter in Unter-
handlungen thätig war2). Johann VIII., voll Freude über dieses
glückliche Ereigniss, ermunterte den croatischen Fürsten und sein
Volk3) nachdrücklich auf dem eingeschlagenen Wege auszuharren,
und forderte zugleich den Diakonus Theodosius auf4), nirgends
anderswo als in Rom die Bischofsweihe nachzusuchen. Seine
hierauf bezüglichen Briefe vertraute der Papst jenem Priester
Johann an , den er zugleich als seinen Gesandten mit neuen Auf-
trägen 5) an den König Michael von Bulgarien schickte. Ferner gab
er ihm aber auch ein Schreiben vom 10. Juni an die abtrünnige
römische Geistlichkeit Dalmatiens und an die Bewohner von Spalato,
Zara und der übrigen Städte mit6), um diese zu ihrer Pflicht
1) Ihren Inhalt ersehen wir aus den drei Antwortsehreihen des Papstes hei Mansi XVII.
124—126, vom 4. und 7. Juni 879.
2) Nach den Ann. Fuldenses, 874 (P e r t z SS. I, 388) vermittelte in diesem Jahre den Frie-
den zwischen König- Ludwig und Suatopluk als legationis princeps ein Johannes pres-
byler de Venetüs und in dem Schreiben Johann's VIII. an Suatopluk vom 14. Juni 879
(ßoczek, codex diplomat. Moraviae 1,40) heisst es : Johanne presbytero vestro,
quem nobis misistis, referente didicimus etc. In dem Briefe an Branimir bezeichnet
er ihn als Johannem venerabilem presbyterum communem fidelem und sagt über
ihn quia hunc ipsum Johannem presbyterum tibi et nobis verum fidelem in Omni-
bus esse cognoscimus.
3) Johann VIII. schrieb : omnibus venerabilibus sacerdotibus et universo populo u. a.
quia velut carissimi filii ad sanctam Romanam ecclesiam, unde parentes vestros
melliflua sanctae praedicationis dogmata suscepisse agnoscitis , toto animo tota-
que voluntate redire cupiatis . . . magna sumus repleti laetitia. Et ideo brachiis
extensis vos amplectimur . . . si vos haue . . . sponsionem vestram usque ad finem
sinceriter habueritis et fideliter tenueritis.
4) Ideo monemus sagacitatem tuam, ne in quatnlibet partem aliam declines, et con-
tra sacra venerabilium patrum instituta episcopatus yratiam reeipere quaeras . • .
sed toto corde . . . ad gremium sedis apostolicae . . . redeas etc.
5) Vgl. den Brief des Papstes an Michael vom 8. Juni 879 (Mansi XVII, 129).
6) Reverendissimis et sanetissimis episcopis Vitali Jadrensi , Dominico Absarensi
ceterisque episcopis Dahnatinis seu Joanni archipresbytero sanctae sedis Salo-
nitanae , omnibusque sacerdotibus et senioribus populi habitatoribus Spalatensis
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 409
zurückzurufen. Da um diese Zeit gerade das ErzbisthumSalona erledigt
war und eine neue Wahl noch nicht stattgefunden hatte, so gebot
Johann unter Androhung des Bannes, dass der Neugewählte das Pal-
lium nur von ihm empfangen solle und verhiess seinen kräftigen Bei-
stand, im Falle die Bischöfe Furcht vor den Griechen oder vor den
wankelmüthigen Slawen hegten 1) und desshalb nicht zu Born zurück-
zukehren wagten.
Bei den Croaten fanden die Wünsche und Forderungen des
Papstes ein sehr geneigtes Gehör, denn Theodosius erschien nach
einiger Zeit selbst in Born, um dort seine Bischofsweihe zu empfangen
und versicherte Johann aufs Neue der Ergebenheit seines Fürsten
Branimir ~). Dieser wurde daher jetzt vom Papste ersucht, seine
Bevollmächtigten nach Born zu entsenden, damit der päpstliche Stuhl
mit diesen über alle kirchlichen Angelegenheiten das Nähere ver-
handeln und dann mit ihnen einen Beauftragten nach Croatien schicken
könne, der das gesammte Volk von Neuem nach alter Weise zum
Gehorsam gegen die römische Kirche verpflichte. Auch diesem Ver-
langen scheint vollständig entsprochen worden zu sein, da wir auch
Stephan VI. (885—891) in der Stellung eines Oberhirten denselben
Bischof Theodosius von Nona darüber zurechtweisen 3) sehen, dass
er seinen barbarischen Pfarrkindern Bigamie erlaubt habe.
civitatis utque Zadarensis ceterarumque civitatum (Mansi XVII, 129). Darin
sagt der Papst u. a., dass er pro assidua gentium persecutione nunc usque impe-
diti erst jetzt einen Brief an sie richten könne, und dass er an den Presbyter Johann
fidelem familiärem nostrum auch noch mündliche Aufträge ertheilt habe, wegen
deren sie ihm Glauben schenken sollten.
l) Porro si aliquid de parte Gruecorufn vel Sclavorum super vestra ad nos rever-
sione vel consecratione aut de pallii perceptione dubitatis, scitote pro certo etc.
a) Die Ankunft des Theodosius in Pioin erwähnt der Papst in einem Schreiben an Michael
(sicut nobis retulit Theodosius venerabilis episcopus) und an Branimir E.vcellen-
tissimo viro Branimero glorioso comiti et dilecto filio noslro atque Omnibus
religiosis sacerdotibus et honorabilibus iudicibus (i. e. zuppanis) cunctoi/ue
populo, worin es heisst : mandamus ut revertente ad vos dilecto episcopo vestro
idoneos legatos vestros praesentialiter ad nos diriyere non praetermittatis . . .
ut nos cum Ulis missum nostrum dirigamus ad vos, quibus secuudum morem et
consuetudinem ecclesiae nostrae universus populus vester fidelitatem promittat.
(Mansi XVII, 209, 211.) Beide Briefe setzt Jaffe (regesta p. 287) ins Jahr 880.
3) Ivonis decretum VIII, c. 39: Stephanus V. Theodosio episcopo. Nunquidne duabus
simul sponsis nubere barbaricam gentem instruis? Nunquidne sacramenlum
ecclesiae exponentem uposiolum non legisti, erunt duo in carne unu ? an for-
sitan tui Codices falso tres in carne una asserunt? Desine iam tali tabescere
ignavia et disce paternis obedire regulis . . .
Sit/.b. <1. phil.-hist. Ol. XX. P.d. II. Hft. 27
410 Ernst Dümmler.
Die Ermahnungen welche Johann VIII. an die römische Geist-
lichkeit Dalmatiens richtete, hatten dagegen nicht sogleich den
erwünschten Erfolg. Vielleicht war es in der That die Furcht vor
den Griechen, welche den neugewählten Bischof Marinus vonSpalato1)
bewog, sich nicht, wie ihm aufgegeben worden, das Pallium von Rom
zu holen, sondern sich in ganz ordnungswidriger Weise2) von dem
Patriarchen Walbert von Aquileja weihen zu lassen. Denn dieser,
obgleich er ein Glied der römischen Kirche war, stand dennoch mit
dem Patriarchen Photius von Konstantinopel, der sich an die Stelle des
rechtmässigen Ignatius eingedrängt, in freundschaftlichem Verkehr3),
und es ist gar nicht unwahrscheinlich, dass er ausdrücklich von ihm
beauftragt wurde, in seinem Namen Marinus zum Erzbischof von
Spalato zu ordiniren. Die weitere Entwickelung dieser Verhältnisse
ist unbekannt und erst im zweiten Jahrzehnt des X. Jahrhunderts
finden wir plötzlich den römischen Bischof als unbestrittenes Ober-
haupt der dalmatischen Kirche anerkannt.
Durch die Entfremdung des Erzbischofs von Spalato von der
vonBranimir ergriffenen Partei, sowie durch seinen engeren Anschluss
an Rom gedachte der Bischof Theodosius von Nona eine ganz unab-
hängige Stellung einzunehmen und selbständig dem Kirchenwesen
Croatiens vorzustehen» indem er seinen Metropoliten auf die römischen
Einwohner beschränkte, daher wies ihn schon Stephan VI. an4), sich
!) Thomas archidiacon. c. XIII (p. 548): Marinus archiepiscopus fuit tempore Caroli
regis et Branimiri ducis Sclavoniae. Wenn diese Nachricht, wie es fast scheint,
auf einer Urkunde beruht, so kann man aus der Erwähnung Karl's des Dicken schlies-
sen, dass derselbe von Branimir dem Namen nach noch als Oberherr anerkannt wurde.
2) Ivonis decretum V, c. 13: Stephanies V. papa Walberto patriarchae. Miramur
prudentiam Uiam Cumensi ecclesiae denegare consecrare pastorem, cum te
iam ad hoc provocatum noveris apostolica exhortatione . . . Desine iam cuius-
piam zelo electum a clero et expetitum a popido Liutvardum Cumensis eccle-
siae antistitem protelare: qnia si protelaveris et enm consecrare iam ioties
monitus non maturaveris , quam ad nos venerit , procul dubio consecratus
abibit, quia licet apostolica auctoritate id facere valeamus, tuo tarnen incita-
mur exemplo , qui transgressis terminis tibi commissis in ecclesia Salonensi
episcopum ordinäre ad indecentiam sedis apostolicae praesumpsisti, quod quan-
tae praevaricationis sit, ipse perpende.
3) Vgl. Farlati III, p. 78 — 79, der sich theils auf ein Schreiben Johann's VIII. an
Walbert vom 27. Mai 877 stützt, theils auf einen Brief des Photius archiepiscopo
Aquileiae videlicet Venetiarum bei Baronius s. a. 883.
4) Ivo VIII, c. 59 : . . . disce paternis obedire regidis, ne inveniaris statutos a patri-
bus terminos transgredi , vel per ambitionem de maiori ad muiorem transire
ecclesiam, quod tentantem laica etiam communione sacri privant canones.
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalraatien. 411
innerhalb der ihm vom Gesetze vorgezeichneten Schranken zu halten
und nicht aus Ehrgeiz nach einer höheren Rangstufe zu streben,
wenn er nicht Gefahr laufen wolle , gänzlich von der Kirchengemein-
schaft ausgeschlossen zu werden. Nachtheilig für diese Bestrebun-
gen war die Umwälzung, durch welche nach Branimir wiederum ein
Sprössling der alten Herzogsfamilie, Muncimir, der jüngere Sohn
Tirpimir's, den Thron bestieg, der, indem er sich Herzog von Gottes
Gnaden nannte J), weder die fränkische noch die byzantinische Ober-
hoheit anerkennen wollte. Dem Vorbilde seines Vaters folgend, zeigte
er sich dagegen dem Metropoliten von Salona geneigt. Als daher im
J. 892 des Theodosius Nachfolger, der Bischof Aldefreda von Nona,
die Kirche des h. Georg zu Sussuratz als sein Eigenthum in Anspruch
nahm, indem er behauptete, dieselbe sei vonTirpimir dem Erzbischof
Petrus von Spalato nur zu lebenslänglicher Nutzniessung verliehen
worden, da entschied Muncimir zu Gunsten des Erzstiftes Salona,
dem er die besagte Kirche zurückgab2), unter den stärksten Ver-
wünschungen wider diejenigen welche etwa in Zukunft diesen Besitz
antasten würden. So war der Bischof von Nona mit der Forderung
zurückgewiesen, dass alle Kirchen die nicht unmittelbar Eigenthum
der Römer wären 3), zu seiner Diöcese gehören müssten.
Noch undeutlicher als die kirchlichen Verhältnisse Dalmatiens sind
für die letzten zwei Jahrzehnte des IX. Jahrhunderts die politischen.
In diesen trat dadurch eine wichtige Veränderung ein, dass die
Magyaren, auf derselben Strasse herbeiziehend wie einst die Avaren,
nicht blos das grossentheils bulgarische Daeien in Besitz nahmen,
sondern auch das fränkische Pannonierf, mit welchem sie gleichfalls
das Land zwischen Sau und Drau verbanden *). Weiter nach Süden
Diese Worte sind in ihrer Abgerissenheit etwas dunkel und ich habe bei ihrer
Auslegung' schon auf die im nächsten Abschnitte zu behandelnden Streitigkeiten
zwischen den Bisehöfen von Spalato und Nona Bezug genommen.
1) Muncimir divino munere iuvutus Croatorum (lux (Schwandtner III , 105;
Farlati III, 82).
2) Volo ut nullus deinceps de successoribus meis, de potestate Spalatensiutn eccle-
siae subtrahere uudeat .... sed iuxta priseam consuetudinem , ut donatam a
patre rneo recolimus, et mox per praesens Privilegium denuo mancipumus, ut
omnino subiaceat dictae ecclesiae iure: qui x>ero postmodiim avaritiae faciblts
uecensus, atque in superbiae cornibus elevatus statuta nostra parvipendens etc.
3) Diesen Anspruch erhob er wenigstens im Anfange desX..lahrh., s. den folg. Abschnitt.
4) Constant. de adm. imp. c. 40 (p. (74): jiX7]aia£o'j3i 6s tote Toöpxo« • . . npo; 6e -ri
[Aearjp.ßfiiM'jv oi Xpubßercoi; c. 13 (p. 81) ol 6s Xpcußocxoi npos tä 8pt] toT; Toüpxot? ^apa-
27*
41 Z Ernst Du ramler.
sind sie jedoch sicherlich nicht vorgedrungen *) und Croatien diente
sogar wegen seiner gesicherten Lage vielen der ihrer Heimath
berauhten Mährer8) als Zuflucht vor den Ungern. Indem die letzteren
aber wiederholentlich nach Italien zogen und die Wege dorthin
unsicher machten, wurde Croatien von der Verbindung mit demselben,
die sonst wohl eher wieder anzuknüpfen gewesen wäre, gänzlich
abgeschnitten und blieb sich durchaus selbst überlassen. Tamislav,
der Grosszupan, der zunächst nach Muncimir um 914 erwähnt wird3),
legte sich daher, wenn uns nicht eine falsche Lesart täuscht, sogar
schon den Königstitel bei*). Auch er gehörte wahrscheinlich dem
Geschlechte Tirpimirs an5) und stand, wie Sedeslav, mit Konstan-
tinopel in freundschaftlichen Beziehungen , wodurch er vom Kaiser
als besondere Auszeichnung die Consulwürde erlangte6).
Die Narentaner setzten ihr früheres Räuberhandwerk auch noch
fort, nachdem sie auf Veranstaltung des Kaisers Basilius sämmtlich
die Taufe empfangen hatten. Als daher Karl der Dicke zu Ravenna
xeivrai; c. 42 (p.l?7) xoroixoüot u.i-/ o! ToDpxoi nspoftev toj Aavooßetas itoTapoü . . .
d'/.'/.i xai ivöev jjlesov toO Aavoüßsa); xai -o3 2äßa noxiaoO.
1) Der sog. anonyuius Belae regis notarius de gestis Hungarorum erzählt (c. XLII)'
dass Arpad's Feldherren Lelu. Bulsuu und Botond et tdvitatem SpaJetensem cepe-
runt et tot am Crouutiam sibi subiugaverunt, und von Arpad's Sohne Zulta lässt
er (c. LVII) die Grenze des neuen Reiches bestimmen: ab occidente usque ad
»iure, ubi est Spalatina eivitas. Dies, wie das meiste was er berichtet, sind
Fabeln, die auf der Anschauung einer viel späteren Zeit beruhen. Wir ersehen
vielmehr aus den Verhandlungen mit dem Bischof von Nona im Jahre 928 (Farlati III,
p. 103), dass den Croaten damals auch Sissek gehörte, welches ihnen wohl bei
der Eroberung Slavoniens durch die Ungern zugefalleu war.
2) Const. c. 41 (p. 176): oi JnioXei^OevTEi; -roO X.ao5 SiEaxopitiaihqcrav -y.-.ys^, ,-.--z ■.:- -a
itapaxEip.eva iure,, eis ~t -vj; BooXfdpou; in Toäpxau; za; Xpcußixous xai eU ~.i >.v.-i
i&vn.
3) Thomas archidiaconus c. XIII (p. 548) : Joannes arehiepiseopus fttit anno domini
914 tempore Tamisltivi dtteis.
4) In den Acten des Xationalconcils a. c. 925 heisst er Chroatorum rex und Johann X.
schrieb ihm: dilecto filio Tamislao regi Croatorum (Fa r 1 a t i III, p .92, 94). Die
Sache hat nichts Unwahrscheinliches.
5) Konstantin (c. 29, p. 129), nachdem er erzählt, dass Basilius den Croaten erlaubt
habe, aus dem Geschlecht it- exeTvoi r^i-wi xai iz-.tyt'y> sich einen Fürsten zu
wählen (d. h. Sedeslav aus dem Geschlechte Tirpimir's) , fügt hinzu: xct;. ix-tota
p-s/v. -oO yöv ix tiüv ao-d)-; ^eveÖN ytvovxai Sp^ovxeg ei; a&xoü; (sc. Croatos Serblos-
que), xai oöx i\ i-iyj.%.
6) In den Concilacten von Spalato heisst es von ihm : consulatum peragente in
provincia Chroatorum et Dalmatiurum finibus Tamislao rege (a. a. 0.). Auch
die dalmatischen Römer wurden als seine Unterthanen betrachtet, weil sie ihm ja
Tribut zahlen mussten.
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dnlmatien. 4- 1 «>
im Jahre 879 am 11. Jänner mit Ursus Participatius den längst
bestehenden Vertrag zwischen den Venetianern und seinen italienischen
Unterthanen abermals auf fünf Jahre erneuerte *) , fügte er noch die
Clausel hinzu, dass beide Theile nicht blos den Slawen die ihnen
durch Seeraub beschwerlich fielen, einmöthig Widerstand leisten,
sondern sie auch in ihrem eigenen Lande angreifen sollten. Die
Venetianer wenigstens handelten diesem Vertrage gemäss, indem
ihr Doge Petrus Candianus I. gegen die Narentaner ein Heer aus-
schickte, und da dieses ohne Erfolg zurückkehrte, im August 887 in
eigener Person mit zwölf Schiffen gegen die Feinde auslief. Bei einem
Orte der Mucules genannt wird, kämpfte er 2), obrleich mit gerin-
ger Mannschaft, anfangs glücklich gegen sie und zerstörte fünf von
ihren Schiffen, endlich aber, indem die Narentaner mit grosser Über-
macht über ihn herfielen, wurde er am 18. September mit sieben
Begleitern erschlagen, während die übrigen glücklich entrannen. Um
917 als in Serbien nach Verdrängung der Söhne Muntimir's dessen
Neffe Peter regierte, erkannten die Narentaner die Oberhoheit dieses
Fürsten 3) an und verhielten sich seitdem etwas friedlicher.
Im Beginne des zehnten Jahrhunderts tritt unter den Südserben
vornehmlich die früher wenig genannte Landschaft Zachlumia unter
ihrem Fürsten Michael, dem Sohne Wyschewit's, hervor*). Von den
Serben desBinnenlandes ganz unabhängig, unterhielt derselbe längere
Zeit ein freundschaftliches Verhältniss mit dem tapfern und kriegs-
lustigen Bulgarenkönig Simeon, dem jüngeren Sohne des Bogoris.
Ihm lieferte er im Jahre 912 den Sohn des venetianischen Dogen
Ursus Participatius IL, Petrus, aus, den er auf der Bückreise von
Konstantin opel arglistig gefangen genommen und seiner reichen Habe
!) Andreae Danduli chron. lib. VIII, c. 3, P. XXX (col. 187): . . insiituit, nt contra
Sclavos, qui utrosque maritimis latroeiniis nitebantur invadere, debeunt una-
nimiter et concorditer non solutn resistere , sed etiam invudere. Vgl. Archiv
für altere deutsche Geschichtsk. IV, 174.
2) Johann, chron. Venet. p. 22 . . . ad montem Seavoram perveniens in loco qui
vocatur Mucides e.vivit. Nach Joa. Lucius I. II, c. 2 (p. 103) läge dieser Ort
in der Nähe von Zara, und hiesse jetzt Ponta Micha, doch kann diese Bestimmung
kaum richtig- sein, da er ohne Zweifel im Gebiete der Narentaner gesucht werden muss.
3) Const. c. 32 (p. 136) . . ei; llccfaviav ttjv xixs Ttapa xoü äp-/ovtos SepßXias Sictxpa-cju-
4) Ebenda c. 33 (p. 160) . . Mi^a-hX toü 'jiol zw BoiNxeßoÖTCT] toö äp/ovio« tüjv Z«/-
Xouimov . . Wyschewit ist nach Safari k (II, 233) der Sohn Wyscha (d. h. Wy-
scheslav's), also war Michael der Enkel Wyscha's.
414 Ernst Dämmler.
beraubt hatte1); sein Vater musste ihn erst durch Geschenke aus der
bulgarischen Gefangenschaft loskaufen. Als im J. 917 der Stratege
des Themas Dyrrhachium Leo Rhabduchus in der Landschaft Narenta
mit dem serbischen Fürsten Peter geheime Unterhandlungen
anknüpfte2), theilte Michael dem König Simeon mit, es sei darauf
abgesehen, den Grosszupan Peter durch Geschenke zu bewegen,
dass er mit den Ungern vereinigt das bulgarische Gebiet überfiele,
sowie denselben von der andern Seite gerade in den Petschenegen
Feinde erweckt werden sollten3). Auf diese Vorbereitungen folgte am
20. August die furchtbare Niederlage der Griechen am bulgari-
schen Achelous. Wahrscheinlich durch dieses Unglück ihrer Waffen
bewogen, welches die siegreichen Bulgaren alsbald bis vor Konstan-
tinopel führte , suchten die Byzantiner in dem Fürsten von Chulmia
sich einen Freund und Bundesgenossen zu gewinnen und verliehen
ihm die Titel eines Proconsuls und Patricius4), die noch keiner
seiner Vorfahren besessen. Michael fühlte sich mächtig genug,
um am 10. Juli 926 die Stadt Sipontum 5) (beim heutigen Manfre-
donia) an der gegenüberliegenden apulischen Küste zu erobern. In
seinem Ländchen bestand zu Stagno, vielleicht erst seit seiner
!) Joh. chron. Venet. p. 23. Petrus hatte vom Kaiser Leo die Würde eines Proto-
spatharius und reiche Geschenke erhalten. Qui dum Chroatorum fines rediens
transire vellet , a Michahele Sclavorurn duce fraude deceptus etc. Die Ver-
wechselung- der Zachlumer mit den Croaten, deren sich unsere Quelle hier schuldig
macht, hat Lucius (1. I, c. 1, p. 95) u. a. irre geführt und ihn den Michael für
einen croatischen Fürsten halten lassen. Aus dem Folgenden : His autem diebus
defuncto Leone imperatore, ergibt sich das Jahr 912.
2) Const. c. 32 (p. 156) : ij-rjXox'jit/jCJa; 6s npöc xouxo Mi/a-fjX 6 apy_u>v xd>v ZayXoupiiDv
s>-r;voas 2up.£iuv Tij) Bo'jXYapcuv äpxovct, ö'xi x. x. X. Das Jahr folgt aus dem Zusätze:
eys'vETo 8s xotl xctxet xov xaipöv exeTvov xai itüXsp.os sls 'A/sXibv p.Exajju xtöv 'Piop-otiiov
xal xü)v BouXYotpiuv , denn diese Schlacht fand am 20. August der 5. Indiction, d. h.
des Jahres 917 Statt, nach Theophan. continuat. 1. VI, c. 10 (p. 389).
3) Theophan. continuat. 1. VI, c. 7, 10 (p. 387, 390).
4) Const. c. 33 (p. 160) -q fevza xou ävöuTtdxou xotl naxpixlou Miy_a/)X . . . Nach Cou-
stant. de caerimon. aulae Byzant. II, 48 (p. 691) lautete die gewöhnliche Aufschrift
in kaiserlichen Briefen : eL; xiv apy/jvxot xiüv ZayXoup.(uv.
5) Ann. Benevent., 926 Michael rex Sclavorurn comprehendit Sypontum, id.
Lupus Protospatarius, 926; Ann. Barenses, 928: Hoc anno comprendit Michael
rex Sclavorurn civitatem Sipontum mense Julio die sanctae Felicitatis Ilferia
indictione 15 (i. e. 10. Juli 926: Pertz, SS. III, 175, V, 54, 52). Safarik
(II, 256) , der diese Nachricht aus Lupus Protospatha kannte, redet von einem
Zuge Michael's in die Walachei !
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 4rl O
Zeit1), ein eigenes Bisthum das zur Kirchenprovinz Salona zählte,
und auch den Päpsten a) war der Herzog der Chulrner keineswegs
unbekannt.
Serbien im Binnenlande wurde um diese Zeit der Einwirkung
des Abendlandes und seines geistlichen Oberhauptes mehr und
mehr entzogen und byzantinischen Einflüssen weiter eröffnet. Mun-
timir hatte seine Macht und Alleinherrschaft begründet , indem er
seine beiden jüngeren Brüder Stroimir und Goinik mit den Waffen
überwand und als Gefangene nach Bulgarien schickte3). Hieraus
entspannen sich endlose Verwirrungen und Fehden, denn als ums
Jahr 89 1 4) auf Muntimir sein ältester Sohn Pribeslav mit zwei jün-
geren Brüdern folgte, kehrte Peter, der Sohn Goinik's, aus Croatien
zurück, wo er Zuflucht gefunden , und vertrieb seine drei Vettern
nach einjähriger Regierung. Während er sich selbst der Herrschaft
bemächtigte, flohen jene nach Croatien. Der zweite von ihnen,
Branus, der ums J. 89o mit gewaffneter Hand in Serbien einfiel,
wurde besiegt, gefangen und geblendet. Nicht besser erging es
einem anderen Vetter Peter's, Klonimir, dem Sohne des nach
Bulgarien verbannten Stroimir; obgleich er mit seinen Mannen
schon in Desniza, der Hauptstadt Serbiens, eingedrungen war,
wurde er dennoch besiegt und getödtet im J. 897, und Peter blieb
jetzt 20 Jahre hindurch im unbestrittenen Besitze der Herrschaft,
indem er dem Namen nach die Oberhoheit des byzantinischen Kaisers
Leo anerkannte und mit dem mächtigen Bulgarenfürsten Simeon,
dessen Sohn er sogar aus der Taufe hob, Frieden hielt. Die Anzeige
v
welche der zachlumische Zupan Michael dem letzteren machte von
*) Thomas archidiaconus c. XV (p. SSO). In Stagno nihilominus fuit episcopatus,
suuque parochia erat comitatu Ckulmiae. Im J. 928 wird zum ersten Male der
(bischöflichen) eeelesia Stagnensis gedacht (Farlati III, 103).
2) Auf dem Nationalconcil von Spalato heisst es : Michaele in suis finibus praesi-
dente duce und Michael, cum suis proceribus tritt neben Tamislav gleichbe-
rechtigt auf. Johann X. schrieb ihm c. 923: Michaeli excellentissimo duci Chul-
morum. (Farlati III, 92, 94.)
3) Für die serbischen Geschichten dieser Zeit ist die einzige Quelle Konstantin de
adm. imp. c. 32 (p. 153 — 138). Unter den Serborum proceribus, die neben den
Croaten auf dem Concil von Spalato erscheinen (Farlati III, 92), sind ohne Zweifel
die Zachlumer (und Terwunjer) gemeint.
4) Die Jahre lassen sich nach der chronologisch feststehenden Schlacht am Achelos
rückwärts berechnen, wie dies auch Safarik (II, 250—231) gethan hat. Die
Epoche des Kaisers Romanus I. (920—944) bestätigt diese Berechnung.
416 Ernst Du mm ler.
einem heimlichen Einverständnisse zwischen ihm und den Byzantinern
zum Nachtheile Bulgariens, bewog Simeon, den Herzog Peter unter
Versicherungen der Freundschaft hinterlistig ergreifen und im Kerker
tödten zu lassen. Die ihm entrissene Herzogswürde übertrug er dar-
auf an Paulus, den Sohn des geblendeten Branus, der im Jahre 917
mit einem bulgarischen Heere nach Serbien zurückkehrte. Da er als
Bundesgenosse der Bulgaren den Griechen feindlich gesinnt war , so
stellte im J. 920 der Kaiser Bomanus Lecapenus einen neuen Thron-
bewerber gegen ihn ins Feld in der Person des Zacharias, eines
Sohnes des vertriebenen Pribeslav, der bis dahin in Konstantinopel
gelebt. Derselbe erlitt jedoch durch Paulus eine Niederlage und wurde
den Bulgaren als ihr Gefangener übergeben. Als diese sich drei
Jahre später aber selbst mit ihrem früheren Schützling Paulus ent-
zweiten, benutzten sie ihrerseits den Zacharias um jenen zu stürzen,
derselbe trug auch in der That diesmal den Sieg und die Herrschaft
davon. Seiner früheren Freundschaft mit den Griechen und ihrer
Huld eingedenk zog er es vor, auch fernerhin den Kaiser Bomanus
als seinen Oberherrn anzuerkennen und sich nicht vor den Bulgaren
zu beugen. Sogleich musste er ihre Feindschaft erfahren , aber das
Heer das Simeon unter Marmais und Theodor Sigritzi gegen ihn
gesandt, erlitt eine Niederlage und die Häupter der beiden Anführer
sowie ihre Waffen gelangten als Siegeszeichen nach Konstantinopel
dem Zacharias sich stets gehorsam erwies.
Während so in Croatien und Chulmien bei politischer Unabhän-
gigkeit der Herrscher ein erneuter Anschluss an die römische
Kirche stattfand , trat Serbien in politischer wie in kirchlicher
Beziehung in einen engeren Verband mit dem byzantinischen Beiche,
wozu auch der völlige Abfall der bulgarischen Fürsten vom römischen
Bischof das Seinige beitragen musste.
VI. Kirchliche Einigung der Römer and Slawen; Schicksale der
slawischen Liturgie.
Durch eine glückliche Fügung der Umstände lichtet sich für
das zweite Jahrzehent des X. Jahrhunderts einigermassen das
Dunkel das sonst über die kirchlichen Zustände des croatischen Volkes
in älterer Zeit verbreitet ist , und zuverlässige Zeugnisse gewähren
uns eine unerwartet reichhaltige Belehrung. Durch die äusserst
Über die älteste Gpscliichte der Slawen in Dalmatien. 417
mangelhafte Art in der sie von unwissenden Abschreibern überliefert
sind !)' leidet wohl hie und da ihr Verständniss, nicht aber ihrWerth,
irgend wesentlichen Abbruch. Diese Stücke bestehen in den Acten
eines Provinzialconcils der gesammten dalmatischen Kirche, in vier
hierauf bezüglichen päpstlichen Schreiben und einem kurzen Aaszuge
aus den Verhandlungen einer zweiten dalmatischen Synode, sämmtlich
enthalten in einer handschriftlichen Geschichte von Salona. In diesen
Schriftstücken tritt mit voller Schärfe und Entschiedenheit der Gegen-
satz der römischen zur croalisch-serbischen Bevölkerung von Dalmatien
hervor, indem beide durch ihre besonderen geistlichen Oberhäupter
vertreten sind, denen gegenüber die Fürsten wie es scheint ein unpar-
teiisches Verhalten beobachten. Der Streit hat sich jetzt zu einer
bestimmteren Gestalt ausgebildet, es handelt sich nicht mehr um die
Frage des Anschlusses an Rom oder an Konstantinopel , da das erstere
allein und unbestritten herrscht, sondern theils um die Durchführung
einer einheitlichen Kirchenverfassung für beide Bevölkerungen, theils
um die Anwendung der slawischen Sprache im Gottesdienste.
Wann die slovenische Liturgie bei den dalmatischen Slawen Ein-
gang gefunden, wird in den Quellen nirgends näher angegeben.
Unmittelbar durch den persönlichen Einfluss des h. Methodius kann
es nicht der Fall gewesen sein, weil die Croaten gar nicht zu seiner
Diöcese gehörten und ihm nach dieser Seite hin nur auf Serbien ein-
zuwirken verstattet war. Mit grosser Wahrscheinlichkeit wird sich
dagegen der Beginn der Ausbreitung dieser wichtigen Neuerung
von den Mährern und Slovenen zu den stammverwandten Croaten
in die Zeit die dem Tode des Methodius zunächst folgte, verlegen
lassen. Die fränkische oder lateinische Geistlichkeit in Mähren unter
der Führung des Bischofs Wiching von Neutra, welche dem Griechen
und seinen Jüngern stets aufsässig gewesen war, brachte es unter
seinem Nachfolger Gorasd, einem Mährer von Geburt, dahin, dass im
*) Farlati der sie zuerst bekannt gemacht , vertheidigt sie (Illyric. sacr. ÜI, 84 flg.)
mit Eifer und Erfolg gegen Joa. Lucius der sehr voreilig den Stab darüber brach,
indem er sie kurzweg für fieta et suppositiiia erklärte. Die Bezeichnung als
>'ationalconcil ist nicht gerechtfertigt, da nur der Erzbischof von Salona mit seinen
Suffraganen zugegen war und die Metropole Dioklea oder Antivari überhaupt noch
nicht existirte. Die Annahme Krause's (p. 7, 14), dass nach der Zerstörung
Salona's für das obere Dalmatien der Bischof \on Dioklea (Doeleatinac civitatis:
Maiisi X, 329) eine Zeit lang Metropolit gewesen sei, ist gleichfalls völlig uuer-
weislich.
418 Brnat Dfi ■ m I e r.
J. 886 die gesammte griechisch-slawische Geistlichkeit »us den
Lande gewiesen wurde, indem man ihre Abweichungen in der Lehre
und im Ritus schon als ketzerisch anzusehen begann 1)- Me meisten
dieser Priester deren Zahl beim Tode des Methodius zweihundert
betragen haben soll2), schlugen die Strasse nach dem Süden ein und
zerstreuten sich dort in verschiedenen Richtungen*). Nur ein kleiner
Theil von ihnen, der h. Clemens mit seinen Genossen, gelangte nach
Bulgarien, dem Lande ihrer Sehnsucht *), and bürgerte dort mit der
slovenischen Liturgie die Ansichten der griechischen Kirche ein, so
dass seitdem hei den Bulgaren kein Schwanker! mehr eintrat. Natür-
lich ist es, dass andere von jenen Vertriebenen sieh auch nach Serbien
und Croatien wandten 5), die eine ebenso nahe Zuflucht boten. Die
slovenische Liturgie und Bibelübersetzung die sie mitbrachten, stimmte
freilich mit der Mundart der Croaten keineswegs ganz überein, allein
sie war ihnen doch ohne Zweifel verständlich und mussteihr Ohr viel
heimischer berühren, als die fremdartigen Laute der lateinischen oder
griechischen Sprache. So ist es nicht zu verwundern, dass unter
Begünstigung des Bischofs von Nona der slawische Gottesdienst sich
die Herzen des Volkes mit dem glücklichsten Erfolge eroberte. Frag-
licher erscheint das Verhalten der Forsten Tamislav und Michael die
wohl nicht unbedingt als Gönner dieser Neuerung auftraten ; viel-
leicht waren auch sie dem Fremden holder als dem Einheimischen und
dünkte sie die lateinische Sprache heiliger zu sein als die slawische,
■i Vgl. hierüber Wattenbach : Beitrage w Geschichte der christlichen Kirche in
Mahren und Böhmen |>. 24 — 29 und wegen des Jahres die pannonisebe Legende
vom h. Methodius [>. 'J4 — ">'■'>.
2) Vita St. Clementis <■. VI (p. 11). c XI (p. 17). Doch werden gewiss nicht alle
den Lateinern beharrlich Widerstand geleistet haben.
') Vita St. Clementis c. XIII (p. 19) : npomüyzavi fowreiv SXXov 4XX<r/o5 -''■,> icopä to8
l<rtpou tzpür» ttapiSwxa ■ ; c. XIV. SXXoe -j/fj/'.'j bttonäprpcn , fap -■,",-.: 8<5£ov, Iva
xal itXeio) i /,/•■, - piXißtoai.
4j A. a. 0. Bov;r. •;. BooX-rapiav vn. Michael hatte sich mit Eifer der
griechischen Kirche angeschlossen und sein jüngerer Sohn Sirneon war griechisch
gebildet (Lindprand antapod. I. III. c 29).
">) In dem croatischen König Snetopelek des Presbyter Dioeleas (regnum Slavor. c. IX.
X, p. 480) der in Gemeinschaft mit dem Philosophen Konstantin in Dalmatien das
Christenthnm eingeführt haben soU, ist unschwer der Mährerherzog Suatoplna im
erkennen, an dessen Namen sich der Ursprung der slovenischen Liturgie knüpfte.
Man sieht daraus, dass eine dunkle Erinnerung an den Weg auf dem sie eingewandert
war. sich auch in Dalmatien erhalten hatte.
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatlen. 419
wie jenen Herzog Suatopluk l) der die Bedenken welche ihm die
slovenische Liturgie erregte, eigens dein Papste mittbeilen liess.
Indem nun der Bischof von Nona sieh der volkstümlichen Form
des Gottesdienstes gewogen zeigte und sie allmählich in fast allen
croatischen Kirchen durchdrang, musste er jetzt um so mehr als das
alleinige geistliche Oberhaupt der Croaten und Südserben angesehen
werden. Er konnte die römischen Bischöfe die die fremde Kirchen-
sprache beibehielten , ganz auf ihre Slädte und Inseln beschränken
und brauchte sich wenig um die angesprochene Oberhoheit des
Metropoliten von Salona zu bekümmern. Diese für die römische Geist-
lichkeit so äusserst nachtheiligen Verhältnisse bewogen sie nach
langer Entfremdung2) in Rom Abhilfe zu suchen, auf dessen Beistand
nicht minder auch ihr Gegner, der croatische Bischof, zählte; denn
während jene sich fern gehalten oder gar der griechischen Kirche
zugeneigt hatten, war er stets mit seinem Fürsten ein treuer Anhän-
ger des apostolischen Stuhles geblieben. Daher wandten sieh ums
Jahr 92o die Herzoge Tamislav von Croatien und Michael vonZachul-
raien, der Erzbischof Johann von Spalato und die Bischöfe Forminus
von Zara, Gregor von Nona, sowie die übrigen an den Papst
Johann X und baten ihn zur Abstellung aller Missstände Legaten
nach Dalmatien zu senden und über die streitigen Puncte der
Lehre ihnen Unterweisung zu Theil werden zu lassen s). Diesen
Wünschen entsprechend schickte der Papst , ein Mann der bei
schlechten Sitten von sehr entschlossenem Charakter war, die bei-
den Bischöfe Johann von Ancona und Leo von Präneste als seine
Bevollmächtigten nach Croatien, indem er ihnen zwei Schreiben
mitgab. Das erste an den Erzbischof Johann von Salona und seine
SufFragane gerichtet4), enthielt lebhafte Vorwürfe, dass sie in ihrer
lJ S. Wa tte n bac h 's Beiträge, p. 26.
2) Johann X. begann daher sein Schreiben mit den Worten: Cum religio vettrae
dilectionis per tot unnorum curricula et mensium spatia sanctum Bomanam et
apostolicam utque universalem ecclesiam . in cuius cathedra Deo auctore nos
pruesidemus, visitare neglexit, omnino miramur.
•*) Farl ati III, 92 Praefatio der Synode. Als streitig betrachteten sie vornehmlich die
Anwendung einer andern als der lateinischen oder griechischen Sprache beim
Gottesdienste, denn von Abweichungen in der Lehre ist sonst nicht die Rede.
4J Paria ti III, 93 . . . Et qwa f'mna revelante cognovimus per confinia veatrae
paroehiue aliain doctrinam puflulare , quae in sacris voluminibus non re/>e-
ritur, vobis tacentibus et consentientibm valde doluimus .... Vnde hortautur
420 Ernst Dümmler.
Provinz eine Lehre duldeten , die aller Beglaubigung durch die
heilige Schrift ermangle. „Ferne sei es, so heisst es darin, dass
ihr die Lehre des Evangeliums und die Bücher der Kirchengesetze,
sowie die Vorschriften der Apostel verlassend, zu der Lehre des
Methodius euch wendet, den wir in keiner Schrift unter den heiligen
Vätern genannt finden." Er ermahnte sie daher, im Vereine mit
seinen Legaten dergleichen Abweichungen im Slawenlande auszutil-
gen und sich zu bemühen, dass die Messe dort so gefeiert würde,
wie überall in der katholischen Kirche, d. h. in lateinischer Spracdie.
Johann X. theilte also ganz die schon im J. 885 von Stephan VI.
ausgesprochene Auffassung !), wronach Methodius wegen seiner von
der römischen Kirche abweichenden Ansichten über das Ausgehen
des h. Geistes und über die Fasten als Irrlehrer verworfen und die
slawische Liturgie auf das Entschiedenste verdammt wurde.
Der zweite Brief2) den die päptlichen Legaten mitbrachten,
war von Johann hauptsächlich für seinen „geliebten Sohn" den
König Tamislav sowie für den „ausgezeichnetsten" Herzog Michael
bestimmt und begann mit der Behauptung, dass die Slawen als die
eigensten Söhne der römischen Kirche schon in den Zeiten der
Apostel mit der Milch des Glaubens genährt worden seien. Wie nun
in jüngerer Zeit durch Gregor 1. die Sachsen ebendaher nicht blos
die römische Kirchenlehre, sondern auch die römische Kirchen-
sprache 3j empfangen hätten, so fordere er sie gleichfalls auf, wie
von ihrem Vermögen so dessgleichen von ihren Kindern Gott den
Zehnten darzubringen und dieselben vom zartesten Alter an für das
Studium der römischen Wissenschaft zu bestimmen. „Denn, so fährt
er fort, welcher besondere Sohn der römischen Kirche , wie ja ihr
vos dilectissimi , ut cum nostris episcopis . . . iuncti cuncta per Sclavinieam
terram audacter corrigere satagatis : ea videlieet ratione , ut nullo modo ab
illorum supradictorum episcoporum doctrina in alir/uo deviare praesumatis.
Ita ut secundum mores Romanae ecclesiae Sclavinorum terra ministerium
sacrificii peragant, in Latina scilicet lingua non autem in extraneu, qitia
nutlus filius aliquid lor/ui debet vel sapere , nisi ut mater ei insinuaverit , et
quia Sclavi specialissimi filii sanctae Romanae ecclesiae sunt, in doctrina
matris permanere debent.
V) Wattenbach's Beiträge p. 27—28, 46—47.
2) Farlati III, 95.
3J Doctrinam pariter et litterar um studia in ea videlieet lingua, in qua illorum
mater apostolica ecclesia infulata manebut.
Ül>er die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 421
seid, kann Freude daran finden, in barbarischer, d. h. in slawischer
Sprache Gott dasMessopfer zu weihen?" Vielmehr sollten sie gehor-
sam den Anordnungen der römischen Bischöfe Dalmatiens und seiner
Legaten die lateinische Sprache für alle gottesdienstlichen Handlungen
anwenden.
Nachdem die beiden Abgesandten die dalmatischen Städte bereist
und mit den Fürsten Zusammenkünfte gehalten hatten, beriefen sie
zur vollständigen Erfüllung ihrer Aufgabe ein Concil ') nach Spalato,
zu welchem sich bis nachCattaro hin alle dalmatischen Bischöfe ein-
fanden. Nur Ein Kanon 2), unter denen die dort beschlossen wurden
der zehnte, beschäftigte sich mit der slawischen Sprache und bestimmte,
dass kein Bischof die slawischen Priester zu höheren Graden beför-
dern solle; diejenigen die bereits zu Klerikern oder Mönchen
geweiht seien , dürften zwar in ihrem Stande verharren , aber in
der Kirche keine Messe lesen ausser im Falle der Noth, wenn kein
anderer Priester vorhanden sei. Alle übrigen Verfügungen des Concils
betrafen entweder die noch sehr mangelhafte Kirchenzucht oder die
Kirchenverfassung. Gleich im Anfange wurde festgesetzt, dass, weil
der h. Domnus von Petrus selbst abgesandt sei, um in Salona zu pre-
digen, dem Orte wo seine Gebeine ruhten, auch der Vorrang vor
allen übrigen dalmatischen Kirchen gebühre. In allen den Städten
wo einst ein Bisthum bestanden, sollte auch jetzt wieder ein Bischof
eingesetzt werden, insofern Geistlichkeit und Volk dazu in hinrei-
chender Zahl vorhanden wären. Die Bischöfe von Bagusa undCattaro,
die zusammen an die Stelle des ehemaligen Bischofs von Epidaurus
getreten waren 3) , hätten ihre Diöcesen um die sie haderten, gleich-
*) Farlati III, 96, vgl. p. 92 : Quiqtie pervenientes dicti episcopi ... congregatis
in Spalato episcopls et iudicibus celeberrimum eoncilium peregere. Unter den
iudices sind wieder die Zupane zu verstehen, an welche auch Johann X. sein
Schreiben zugleich gerichtet hatte (verum etiam et Omnibus zupanis ciiuctisque
sacerdotibus et universo popido per Sclavoniatn et Dalmatium commorantibus) .
2) Ut nullus episcopus nostrae provinciae andeat in quolibet gradu Slavinica
lingua promovere ; tarnen in clericatu et monaehatu Üeo deservire. Nee in
sua ecclesia sinat cum missas fueere, praeter si necessitatem sacerdotian
haberet per supplicatiouem a Romano pontifice licentiam ei sacerdotalis
ministerii tribuat.
3) So verstehe ich den can. VIII : De episeopis llagusitano et Cutharitano, guorum
manifeste una sedes dignoscitur , ipsam dioceesim aequa linier inter se divi-
dant. Die una sedes kann nur Epidaurus gewesen sein, dessen vertriebene Be-
wohner Ragusa erbauten. Meine oben (S. 370) ausgesprochene Verinuthung von
einer neueren Gründung Cattaro's empfangt hierdurch Bestätigung.
4:22 Ernst Dümmler.
massig zu theilen. Kein Bischof darf die ihm vorgeschriebenen
Grenzen überschreiten und in einen fremden Sprengel eingreifen.
Auch der Bischof der Croaten ist wie die übrigen dem gemeinsamen
Metropoliten von Salona unterworfen und dieser daher berechtigt, für
die ganze Kirchenprovinz geistliche Amtshandlungen vorzunehmen.
Wenn dennoch der König mit seinen Zupanen sich dieser Bestimmung
nicht fügen wollte, so hätte er und sein Bischof die ganze Verant-
wortung zu tragen für etwaige Abweichungen im Dogma, und die
römische Geistlichkeit wolle hierfür keine Mitschuld auf sich nehmen.
Einige andere Kanones bezogen sich auf die öffentliche Sittlichkeit
des noch sehr rohen Volkes; sie verhängten Strafen gegen die häufig
vorkommenden Ermordungen, verboten das Verstössen der Ehefrauen,
ausser im Falle der Hurerei, und den Genuss von Kirchengütern
durch Laien. Auch die Erziehung1) der Knaben für wissenschaftliche
Studien, d. h. zur Erlernung der Kirchensprache und des lateinischen
Bitus wurde besonders anempfohlen und gebilligt.
Nachdem die Synode, d. h. lediglich die römischen Bischöfe mit
den Legaten alle diese Beschlüsse gefasst, schickte sie dieselben
durch einen Priester Peter von Spalato zur Genehmigung an den
Papst2). Aber auch der Bischof Gregor von Nona säumte nicht seine
vermeintlichen Ansprüche auf den Primat in Dalmatien durch eigene
Abgesandte in Born geltend zu machen, und so erfolgte nicht die von
Seiten der Römer erwartete und gewünschte Antwort, sondern
Johann X. forderte vielmehr im Jahre 926 den Erzbischof Johann von
Spalato auf3), entweder in eigener Person mit seinem Gegner in Rom
zu erscheinen, oder einen Suffragan als Bevollmächtigten zu senden,
!) Can. XIV . . ut haeredes suos servos suos litterate (corr.-rarum) studiis
tradant, quicumque ehrisiianitatem perfeetam habere cupiunt. Ut Uli eos
(sc discipulos) instanter corripiant et ipsi eos (sc. magistros s. presbyteros)
libenter exaudiant, non ut peregrinos sed ut proprios.
2) Farlati III, 97: cuncta per ordhiem sancta synodus Romano pontifici confir-
manda per dicios suos legatos episcopos et Petrutn presbyterum Spalatensem
insertis litteris nuntiare decrevit.
3) Farlati 111,101. Er spricht von der maxima murmiiratio, die sich in dem Synodal-
schreiben zeigte und schliesst: Sed quia minime res praelibata tumidtuantibus
vobis finiri vuluit, nihil dignum religionis ecclesiastica dogmata sumere potuit,
in welchen Worten man den Einfluss der einseitigen und parteiischen Darstellung
des Bischofs von Nona erkennt: qui sibi vindicare cupiens primatum Dalma-
ttarum episcoporum , hoc quod non expediebat contra dictam synodum in
unribus apostolicis iniustum iniecif certamen (Farlati III, 97).
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 423
damit durch den apostolischen Stuhl ihr Streit endgiltig entschieden
werden könnte. Die übrigen Capitel der Synode dagegen wurden
bestätigt.
Wahrscheinlich weil jener Aufforderung nicht von beiden Sei-
ten vollständig entsprochen ward, dauerte der Zwist noch zwei Jahre
hindurch fort1)» bis er abermals durch einen päpstlichen Gesandten
geschlichtet wurde, der aus einer ganz andern Veranlassung nach
Croatien gekommen war. Der König der Bulgaren Simeon hatte
nämlich nicht eher geruht, als bis es ihm doch zuletzt gelungen war,
den ihm feindlichen Serbenfürsten Zacharias zu stürzen a). Er
schickte ein zweites Heer unter Knin, Himnik und It ;boklia gegen ihn
aus, welches von einem neuen Thronbewerber Tzeslav, dem Sohne
Klonimir's, begleitet war. Zacharias wagte dieser Streitmacht gar
keinen Widerstand entgegenzusetzen, sondern entwich nach Croa-
tien. Simeon berief hierauf die serbischen Zupane sämmtlich zu
einer Versammlung, unter dem Vorgeben, seinen Schützling Tzeslav
förmlich von ihnen zum Grossfürsten wählen lassen zu woilen. Nach-
dem er sie so durch ein eidliches Versprechen getäuscht, Hess er
sie insgesammt als Gefangene abführen und ergriff darauf ungehindert
von ganz Serbien Besitz, dessen Bevölkerung zum grossen Theile
nach Croatien flüchtete3). Auch dieses gedachteSimeon jetzt entwe-
der zu unterwerfen oder für die Aufnahme der Serben zu bestrafen;
er schickte im Frühjahr 927 seinen Feldherrn Alogobotur gegen die
Croaten *), die ihn aufs Haupt schlugen und seine Truppen grössten-
1) Farlati III, 103: Unde frequenter ea(n)dem poscentibus nobis definitionem
reeipere . . . qnae sequuntur epistolae ad nos post biennium devenerunt.
Dies geschah, wie sich aus dem Folgenden ergibt, im Jahre 928, daher musste
der zuvor erwähnte Brief 926 gesetzt werden , und die Synode von Spalato , die
wohl einige Monate früher statthatte, wahrscheinlich in die zweite Hälfte des
Jahres 925.
2) Const. de adm. imp. c. 32 (p. 1S8).
3) Auch nach Konstantinopel flüchteten viele, welche der Kaiser Romanus svouc;«; xol
E'yEpYETTjaa? später zurückschickte. Von diesen ohne Zweifel liess Konstantin sich
die ungeheure Übertreibung aufbinden, Simeon habe Serbien dermassen zur Wüste
gemacht, dass Tzeslav c. 934 zurückkehrend nur 50 Männer ohne Weib und Kind
dort vorfand , die ihr Leben von der Jagd fristeten!
4) So erzählt Konstantin de adm. imp. a. a, 0. , dagegen soll nach dem Theophan. con-
tinuat. I. VI, c. 20 fp. 411) am 27. Mai der 15. Indiction (d. h. im J. 927) Simeon
selbst gegen die Croaten zieheiu! , von ihnen besiegt, seine sämmtlichen Truppen
eingebüsst haben. Auf denselben Tag aber verlegen Symeon Magister (p. 740) und
424 Ernst Dümmler.
theils vernichteten. Da um dieselbe Zeit am 27. Mai Simeon selbst
starb und unter seinem Sohne Peter der ihm nachfolgte, der bulga-
rische Name plötzlich seine Furchtbarkeit verlor, so machten
unmittelbar darauf die Ungern und die Croaten mit einem Theile
der Serben l) zur Rache für jenen Angriff einen feindlichen Ein-
fall in Bulgarien. Bald aber kam dennoch ein Friede zwischen
beiden Völkern zum Abschluss, welchen die päpstlichen Legaten,
der Bischof Madalbert und ein Herzog Johann vermittelten a).
Wahrscheinlich waren dieselben abgesandt, um wieder eine kirch-
liche Verbindung zwischen Rom und Bulgarien anzubahnen, die
freilich in keiner Weise zu Stande kam , da Peter durch seine Ver-
mählung mit der griechischen Prinzessinn 3) Maria, der Tochter des
Christophorus, gleich darauf in ein sehr enges Verhältniss zum
byzantinischen Hofe trat.
Nachdem die päpstlichen Abgeordneten das Friedenswerk vollen-
det hatten, berief Madalbert die dalmatischen Bischöfe und croatischen
Fürsten wiederum zu einer Synode nach Spalato. Auf dieser wurden
alle alten Gerechtsame und Privilegien der einzelnen dalmatischen
Kirchen , vor allen der des b. Domnus neuerdings anerkannt und
bestätigt. Die Bisthümer sollten sämintlich in ihren ursprünglichen
Grenzen unter dem Primate von Spalato wieder hergestellt werden,
und zwar erscheinen als Suffragane für das croatische Dalmatien
Arbe, Veglia, Ossero und Zara4), für das serbische aber Stagno,
Bagusa und Cattaro. Da die Kirche zu Nona vor Alters nicht ihren
Georgius Monaehus (p. 904) den Tod Simeou's, obgleich der Fortsetzer des Theo-
phanes, den sie übrigens ausschreiben, hierfür (c. 21) gar keinen Tag angibt. Viel-
leicht darf man dies dahin vereinigen , dass jene Niederlage »nd der Tod Siineon''s
allerdings an einem Tage erfolgten , dass aber dieser eis BciX-fapia-; starb, während
nur sein Feldherr in Croatien gesehlagen wurde.
*) Theoph. continuat. VI, 22 (p. 413) Tot xiSxXtp ouv Iövy) . . . . oi ts Xptußäxov ol Toupxoi
xai ol XoiTtoi . . .
z) Farlati III, 103: Bulgariam petentes Romanorum legati Madalbertus venera-
bilis episcopus et Joannes dux illustris du.v Cumas (diese Worte waren auch
dem Herausgeber räthselhaft) . . . sicut Ulis opus iniunctum apostolica iussione
fuit, Bulgariam perrexerunt; r/uique peracto negotio pacis inter Bulgaros et
Croatos etc.
3) Theoph. contin. 1. VI, c. 22 — 23 (p. 414); Liudprand. antapodosis I. HI, c. 38;
legatio c. 19. Am 8. October 927 wurden sie getraut.
4) Zu Trau scheint damals kein Bisthum bestanden zu haben; erst zum Jahre 998
wird ein Bischof dieser Stadt genannt in der venetianischen Chronik, p. 32.
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 425
eigenen Bischof hatte , sondern zur Diöcese Zara gehörig nur von
einem Erzpriester verwaltet wurde, so sollte auch dies Verhältniss
zurückgeführt werden. Dem Bischof Gregor Hess man zur Entschä-
digung die Wahl zwischen drei ehemals bischöflichen Kirchen *)
die sich durch die Zahl ihrer Geistlichen und ihre Volksmenge
auch wiederum dazu eigneten, Bischofssitze zu sein, zwischen
Skradin (Scardona), Sissek und Delmina. Wenn derselbe mit einer
von diesen drei Diöcesen nicht zufrieden, sie alle zusammen
übernehmen wolle, so würde dies nur zu seinem eigenen und zum
Verderben des ihm anvertrauten Volkes gereichen, da bei der
ungeheuren Ausdehnung ihres Sprengeis Ein Bischoi nicht im Stande
sei, seinen geistlichen Pflichten innerhalb desselben genügend nach-
zukommen. Alle diese Satzungen wurden durch den Bischof Madal-
bert abermals dem Papste zur Bestätigung vorgelegt und dieser
— seit dem Juli 928 Leo VI. — säumte nun nicht2), sofort dem Erz-
bischof Johann von Salona das Pallium zuzusenden. In dem Begleit-
schreiben3) welches insbesondere an die Bischöfe Forminus von
Zara und Gregor von Nona gerichtet war, forderte er sie ernstlich
zum Gehorsam gegen ihren Metropoliten auf und zur Beschränkung
l) FarJati III, 103: cum sint utrinque omnes populatae et Deo adiuvante sacer-
dotum et plebium copiam liabentes proponatur sive in Scardonitanu ecclesiu
vel Sisciuna aut eerte in Delminensi ecelesia (sc. ei ut episcopus sit). Safa-
rik (II, 289) sagt sehr ungenau, es wären drei neue Bisthiimer in Skradin, Sis-
sek und Duwno gegründet worden, während doch in Wahrlieit zunächst nur von
Einem die Rede ist. Ebenso verwechselt Thomas von Spalato (c. XIII, p. 548) die
Zeilen, indem er die römischen Bisthiimer Siseia und Delminium noch bis unter
die Herrschaft der Croaten bestehen lässt. Nur von ihrer Wiederherstellung war
die Rede.
-) Divinu uuctoritate et sancti Petri per suas litteras et paüii missione conjir-
mata. Daraus, dass die letzte Entscheidung- erst von Leo VI. (also nach dem Juli
928) gefällt ward, ergibt sich, dass die von Madalbert abgehaltene Synode jeden-
falls ins Jahr 928 gesetzt werden muss.
:i) Farlati III, 106 (auch hei Ughelli Italia sacra V, p. 1457, aber noch fehlerhafter):
. . . Gregorium vero, qui probitate (corr. opporlunitate) temporis in Croatorum
terra episcopus effectus est , praecipimus in sola Scardonituna ecelesia tan-
tummodo ministrure , uüenas parochias ei praecipimus nullo modo amplius
usurpare. Erst nach der Zerstörung- Bielograd's durch die Venetianer im Jahre
112(1 verlegte dessen Bisehof seinen Sitz nach Skardona (2x6p5ova). Auch Thomas
von Spalato weiss von den Streitigkeiten mit dem Bisehof von Nona (c. XVI, p. 555) :
restauratus est episcopatus Noncnsis (a. 1074) cuius episcopus Gregorius tiud-
las olim molestias Joanuem Spalatensem archiepiscopum austinere /'reit, debi-
tam ei subtruhendo obedientiam, et sibi ius metropoliticum indebite vendicando.
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XX. Bd. II. litt, 28
426 E r n s t D ii m in I e r.
auf die ihnen von Alters zustehenden Diöcesangrenzen. Der croa-
tische Bischof Gregor aber, der nur durch die Gunst der Zeit-
verhällnisse emporgekommen, solle sich mit der Kirche Scardona
allein genügen lassen.
Während der serbische Staat nach seiner völligen Vernich-
tung, im J. 934 durch Tzeslav mühsam wieder hergestellt wurde *)
und seitdem ein gehorsamer Vasall des byzantinischen Reiches blieb,
gelangte Croatien unter den Nachfolgern Tamislav's, besonders unter
Kresimir II. a), und seinem Sohne Dirzislav 3) zu hoher Macht und
Bliithe und breitete sich nach beiden Seiten im Norden wie im
Süden über die benachbarten Landschaften aus. Die Narentaner,
gegen welche der Doge Petrus Candianus III. 4) zweimal seine Gom-
baren auslaufen liess, weil sie nach wieder erlangter Unabhängigkeit
ihre Räubereien erneuerten, mussten sich unter die croatische Herr-
schaft beugen und nicht minder die kurz zuvor noch so mächtigen
Zachlumer 5). Ebenso fiel das Land zwischen Sau und Drau, das
alte croatische Gebiet Syrmien, wieder den Grosszupanen der Croa-
ten zu und zugleich auch ein grosser Theil von Slavonien. Unter
Dirzislav der den Königstitel in Dalmatien dauernd einführte,
reichten die Grenzen des Reiches von Kärnten und Istrien auf der
einen und der Donau auf der andern Seite im Süden bis nach Ragusa,
i) Constant. de adm. imp. c. 32 (p. 158 — 159): xal &icb xüiv idousiwv öwpeuiv toö
ßa;ji).su)<; xtuv 'P(D|xcua>v j'jaTY)aa|j.svo; xal evotxiqaas tt)v yiopav <b<; i-i npätepov ecmv
ÜäotctoiyiJ-svo; SotAoupSTCÜJ; to> ßaatXEt 'Pu)|xaicüv (sc. TCsia&Xaßos)'
2) Vgl. die Urkunde Kresimir's III. vom Jahre 1069 (Schwandtner III, 123), worin
er von den gestis proavi Cresimiri maioris. . .et filii eins Dirzislavi spricht.
3) Er wird erwähnt in zwei Urkunden von den Jahren 994 und 1000 (Farlati III,
p. 111 — 112); vgl. Thomas archidiacou. c. XIII (p. 548): Martinus archiepiscopus
fuit anno dorn. 970 tempore Theodosii imperatoris et Dircislavi regis ; ... ab
isto Dircislavo caeteri successores eins reges Dalmatiae et Croatiae appellati
sunt; recipiebant enhn dignitatis insignia ab imperatoribus Constantinopoli-
tanis et dieebantur eorum eparchi sive patritii. Habebant namqtte ex suc-
cessione saae originis patrnm et proavorum dominium regni Dalmatiae et
Croatiae.
4) Johannis chron. Venet., p. 24. Der erste Angriff geschah im Jahre 948 (sexto sui
ducatus anno), der zweite vor 959, in welchem Petrus starh. Die Venetiauer
kehrten federe firmato ad propria zurück, also bildeten die Narentaner damals
noch einen unabhängigen Staat.
5) Thomas archid. c. XIII: Istaque fuerunt regni eorum confinia . . . ab aquilone
vero a ripa Danubii usque ad mare Dahnaticum cum tota Muronia et Chul-
miae ducatu. Das Bisthum Knin reichte (e. XV) usque ad Dravum fluvium.
Safafik (II, 291) bezweifelt die Abhängigkeit der Südserben.
Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien. 4^ (
welches seitdem auch die Markscheide der croatischen und serbischen
Nationalität wurde «)• Auf diesen glänzenden Aufschwung folgte aber
ein schnelles Sinken , als der tapfere venetianische Doge Petrus
Urseolus dem König Dirzislav den bis dahin üblichen Zins kündigte2)
und nachdem er schon vorher das Räubernest Lissa zerstört, im
J. 998 durch einen grossen Seezug 3) alle dalmatischen Römer und
sogar die croatische Hauptstadt Bielograd zur Anerkennung seiner
Oberhoheit bewog. Auch die Narentaner züchtigte er durch die
Unterwerfung der Inseln Kurzola und Lagosta. Hiermit begann die Ein-
mischung der Fremden, bald der Venetianer, bald der Griechen bald
der Ungern für das Schicksal des croatischen Volkes entscheidend
zu werden, und Croatien gelangte seitdem nie wieder zu einer selb-
ständigen Macht und Bedeutung, zumal da die Serben '*), durch römi-
sche Elemente nicht zersetzt , bald eine viel grössere Volkskraft
entwickelten und ihren Nachbarn durchaus den Vorsprung abge-
wannen.
In den kirchlichen Verhältnissen Dalmatiens drangen allmählich
jene Bestimmungen durch, welche die beiden Synoden von Spalato
beschlossen hatten. Die Diöcesen der römischen Bischöfe umfassten
in der That auch croatisches Gebiet, wie denn z. B. die von Spalato
v
selbst sich auch über die Zupanien Cettina, Hlivno , Karbava u. a.
erstreckte 5). Auch ward das Bisthum Nona längere Zeit hindurch
wirklich aufgehoben und scheint erst im J. 1074 durch Gregor'sVII.
Legaten, den Erzbischof Gerald von Sipontum, förmlich wiederher-
4) Miklosich, vergleich. Grammatik p. VIII, doch sind „die Grenzen nach keiner
Seite hin genau ausgemittelt".
2) Joh. chron. Venet. p. 29, 30.
3) Ebenda p. 31 — 33. Vorher waren nur die Jateranenses cives dem Dogen unter-
worfen. Die Croatorum ac Narentunorum principe» werden neben einander
genannt, doch können sehr wohl die letzteren die Vasallen der ersteren gewesen
sein. Der ungenannte Croatorum rex, der seinen Bruder Surigna entfernt hatte,
muss Dirzislav sein. Der Doge nannte sich seitdem (p. 35) Venetieorum ac
Dalmaticorum dux.
4) Schon gegen die Mitte des XI. Jahrhunderts gründete Michael unter den Siid-
serben ein Reich, wahrscheinlich zu Duklia, und wurde auch von Gregor VII. als
V V .
König anerkannt (Safarik II, 252).
5) Thomas archidiac. c. XV (p. 550) : Ecclesia nempe metropolis has sibi voluit
parochias retinere . . . comitatum Cetinae , Cleunae , Clissae , Masaarum,
Almissum et Corbaviam ei ultra Alpes ferreas usque ad confinia Zagrabiae
totamque Maroniam. Vgl. Farlati III, 13.
28'
428 Ernst Dämmler.
gestellt worden zu sein *)■ Inzwischen hatte sich freilich zu Knin
ein neuer croatischer Bischof erhoben mit einem sehr weit ausge-
dehnten Sprengel, welcher den königlichen Hof auf allen seinen Reisen
begleiten musste2), und auch zu Bielograd wurde ein eigenes Bis-
thum errichtet3). Die Gründung einer neuen Metropole zu Antivari
für die Südserben, welche Alexander II. im J. 1067 bestätigte4),
entzog dem Erzbischof von Salona den südlichsten Theil seines Spren-
geis, für welchen schon seit dem Ende des X. Jahrhunderts der
Bischof von Ragusa die erzbischöfliche Würde5) angestrebt hatte.
Der slawische Gottesdienst behauptete sich durch die Neigung
des Volkes auch noch nach dem Verbote Johann's X., so dass im XI.
Jahrhundert ein abermaliges Einschreiten nöthig schien. Im J. 1059
als Kresimir III. in Croatien regierte 6) und der Erzbischof Johann
der Kirche Spalato vorstand, hielt der Abt Mainard von Pomposia,
später Cardinal von S. Rufina, als Legat des Papstes Nikolaus II. eine
Provinzialsynode ab 7), in welcher u. a. festgesetzt wurde , dass in
Zukunft Niemand mehr in slawischer Sprache die Feier der Sakra-
mente begehen dürfe, sondern nur in griechischer oder lateinischer,
und dass kein slawischer Priester fortan die Weihe empfangen solle.
„Denn, so fährt unser Berichterstatter fort, man behauptete, dass
die gothische Schrift von einem gewissen Ketzer Methodius erfunden
i) Thomas archid. c. XVI. (p. 555). Das Jahr folgt aus Jaffe regesta Nr. 3604.
Auf der Versammlung, die Kresimir III. im .1. 1069 zu Noua hielt (in nostro Nonensi
cenaculo) , tritt als Bischof des Ortes noch der von Zara auf, doch findet sich
ein Bischof von Nona bereits im J. 1072 genannt (S chw an dtn er III, 125, 164).
-) Thomas archid. c. XV (p. 550): regalis erat episcopus et regis curiam seque-
batur eratque unus ex principibus aulae.
3) Ebenda.
4) Thomas archid. p. 549, vgl. die Bulle Alexander's : Schwandtue r III, p. 149
(Jaffe regesta Nr. 3422, wo sie erst in das richtige Jahr gewiesen wird) und den
Presbyter Diocleas c. XII (p. 483).
5) In Johannis chron. Venet. p. 33 wird a. 998 der Ragusiensis arcMepiscopus
erwähnt, obgleich ihm Spalato tocius Dahnaciae Metropolis ist. In einem Schreiben
Gregor's VII. an den König der Serben Michael vom J. 107S ist die Rede von
dem Streite zwischen den Erzbischöfen von Spalato und Ragusa, der in Rom ent-
schieden werden soll (Schwan dtn er III, 142).
°) Kresimir III. schenkte im Febr. 1059 coram apoehrisario S. R. ecclesiae vene-
rabili abbate Maynardo misso a Nicoiao sanclissimo papa dem Kloster des h.
Johannes zu Bielograd die Insel Zuri. Da schon der Erzbischof Laurentius zugegen
war, so muss die Synode vorher stattgefunden haben , denn sie versammelte sich
noch bei Lebzeiten seines Vorgängers Johann (vgl. Jaffe' regesta Nr. 3509).
') Thomas archidiae. c. XVI (p. 552—553).
Über die älteste Geschichte der Slawen iii Dalmatien. 420
sei, welcher als ein Betrüger in derselben slawischen Sprache vieles
gegen die katholische Glaubensregel schrieb; desshalb soll er auch nach
göttlichem Gericht durch einen plötzlichen Tod bestraft worden sein."
Dieser höchst wunderlichen und ungerechten Auffassung des h.Metho-
dius, welche als weitereAusbildung der früheren von VViching aufge-
brachten Verdächtigungen erscheint, liegt ersichtlich nichts anderes zu
Grunde als eine Verwechselung zwischen ihm und dem Bischof Vulfila,
dem Erfinder der gothischen Schrift, in welcher derselbe allerdings
manches wider den orthodoxen Glauben schrieb. In ähnlichem Sinne
war ja in Dalmatien die Ansicht verbreitet, arianische Gothen seien
die Stammväter der Croaten gewesen *). Die Beschlüsse des von Mäi-
nard abgehaltenen Concils, welche noch Alexander II. auf einer
römischen Synode bestätigte 3), erfüllten die slawischen Priester mit
grosser Betrübniss, denn ihre Kirchen wurden geschlossen und sie
mussten den gewohnten Gottesdienst einstellen. Dennoch drang
dieses Verbot noch nicht vollständig durch und im J. 1248 erlaubte
Innocenz IV. dem slawischen Bischöfe von Zengg auf sein Gesuch 3),
dass in den Kirchen wo es herkömmlich sei, der Gottesdienst in der
slawischen Sprache abgehalten werden dürfe. Als Urheber ibrer
eigenen Schrift aber bezeichneten die croatischen Priester nicht mehr
den h. Methodius dessen Urtheil einmal gesprochen war , sondern
den h. Hieronymus selbst, und die Schrift welche Innocenz erlaubte,
ist nicht die von Konstantin erfundene Kyrilliza, sondern die ihrem
Ursprünge nach räthselhafte Glagoliza. In dieser Form behauptete
sich die slawische Liturgie4) bis auf den heutigen Tag.
i) Vgl. oben S. 36i.
2) Ivonis decret. IV, c. 139: Notifieamus omnia capitula, qtiae per eonfratres
nostros, venerabilem Mainardum sc. coUuterulem episcopum nostrum et Jo-
hannern archiepiscopum nostrum in Spalalo aliisque civitatibus sunt statuta etc.
Von dieser Bestätigung- weiss auch Thomas von S|ta!alo (p. 553 — SS4), der hier-
durch verführt wurde, die Synode unter Alexander II. und den Erzbischof Laurentins
zu setzen.
3) FarlatiUI, 143 (aus Raynaldus) ... in Ulis dumtaxat partibus, ubi de consue-
tudine observatur praemissa.
4) Vgl. Kopitar, Ülagolitn Clozianus p. XIII— XVIII.
430 Ernst Diimmler. Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien.
REGENTENTAFEL.
Grossiiipane Croatiens.
(Zuonimir 796 ?).
Borna (Porinus) 818 f 821.
Ladaslav 821.
Muislav (Mislavo) 839.
Tirpimir 852.
Kresimir I.
Miroslav, 4 Jahre lang.
Pribunia.
Domagoi c. 865 -{-876.
Söhne Domagoi's 877.
Sedeslav 877—879.
ßranimir(ßrenamir)879, 880.
Muncimir 892.
Tamislav 914, 926.
Kresimir II.
Surigna (Kresimir III ?).
Dirzislav 970, 994, 1000.
Gross&npane Serbiens.
Boiseslav.
Rodoslav.
Prosegois.
Wlastimir.
Muntimir, Stroimir, Goinik.
Muntimir allein c. 872 f c.891.
Piibeslav, Branus, Stephan.
Peter c. 892—917.
Paulus c. 917—923.
Zacharias c. 924—927.
(Serbien bulg. c. 927— 934).
Tzeslav c. 934.
Chanen. Könige Bulgariens.
Krum e 802—815.
Mortago (Omortag) 815,827.
Presiam.
Bogoris (Michael) c. 844-889.
Wladimir 889—893.
Simeon 893—927.
Peter 927—968.
Roman, Peter, 968—971.
(Bulgarien griech. 971-976).
STAMMBAUM
der serbischen Fürsten nach Konstantin Porphyrog. c. 32.
Boiseslav.
1
I
Rodoslav.
1
Prosegois.
1
Wlastimir.
Muntimir.
Stroimir.
1
Klonimir
Bulg
arin.
Goinik
1
Pribeslav.
1
Branus.
!
Paulus.
Stephan.
Peter.
Zacharias.
Tscheslav.
Verzeichiiiss der eingegangenen Druckschriften. 4rOi
VERZEICHNIS
DER
EINGEGANGENEN DRUCKSCHRIFTEN.
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Zeitschrift. Bd. 5, 6.
Sfßagner, 3)?., unb «Sdjetjer ßatl, Steifen tn 0iorbamerifa in ben
Sauren 1852 unb 1853. 3 SBbe. «eipjtg 1854; 8°-
Waldheim, Fischer de, Rapport sur les travaux de la societe Imp.
des Naturalistes de Moscou. Moscou 1856; 4°-
Wolf, Fernando y Hofmann, Conrado, Primavera y flor de
Romances 6 coleccion de los mas viejos y mas populäres roman-
ces castellanos. 2 Vol. Berlin 1856; 8<>-
/
SITZUNGSBERICHTE
DER
KAISERLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE CL ASSE.
XX. BAND. III. HEFT.
JAHRGANG 1856. — MAI.
29
437
SITZUNG VOM 7. MAI 1856.
Gelesen :
Bericht über die Thätigkeit der historischen Commission der
kais. Akademie der Wissenschaften während des akademi-
schen Verwaltungsjahres 1854 auf 1855.
Vorgetragen in der Classensitzung vom 7. Mai 1856 von dem Bericht-
erstatter derselben Th. G. v. Rarajan.
Meine Herren !
Im Sinne des §. 28 unserer Geschäftsordnung erstatte ich heute
den mir obliegenden Bericht über die Leistungen Ihrer historischen
Commission während des akademischen Verwaltungsjahres 1854 auf
185o. An die Spitze desselben stelle ich den Überblick des materi-
ellen Umfanges der im Laufe des Jahres von der Commission zu-
standegebrachten Veröffentlichungen. Ein Paar Bände derselben sind
allerdings noch nicht ausgegeben, im Drucke aber schon so weit vor-
geschritten, dass ihr Erscheinen in Kurzem zu gewärtigen ist. Sie
müssen aber den Leistungen des Vorjahres entschieden zugeschrieben
werden, weil ihre Abfassung sowohl wie die Prüfung der ein-
gelieferten Arbeit jener Zeit angehört, und auch deren Druck über-
wiegend in ihr bewerkstelligt wurde.
Im Laufe dieses Jahres sind nun nicht weniger als neun starke
Octavbände geliefert worden, im Gesammtiunfange von beiläufig 320
Bogen, zum Theile sehr engen Druckes. Von diesen entfallen auf
unsere Fontes rerum Austriaearum' fünf Bände, nämlich in der
Reihe der ersten Abtheilung der zweite, in jener der zweiten
29*
438 v- Karajan.
Abtheilung der achte, zehnte, eilfte und zwölfte ; in der Reihe der Bände
unseres 'Archives' der vierzehnte und fünfzehnte; von den 'Monu-
mentä habsburgica' Abtheilung I, Band 2, endlich vom 'Notizenhlatte'
Band 5. In diesem Jahre sind somit im Ganzen um drei Bände mehr
geliefert als im Vorjahre, zudem mehr als in irgend einem der
vorausgegangenen sieben Jahre des Bestehens Ihrer historischen
Commission.
Der Inhalt dieser Bände, dessen ist sich die Commission bewusst,
wird weder an innerem Gehalte, noch an Vielseitigkeit dem in frü-
heren Jahren Gelieferten nachstehen. Die sachliche Durchordnung
desselben, zu der ich gleich übergehen werde, lässt darüber keinen
Zweifel.
Mit den von der verehrten Classe für den Lauf des Jahres
bewilligten Geldmitteln wurde gewissenhaft hausgehalten, so dass
irgend eine nennenswerthe Überschreitung der gewährten Ausmasse
in keiner der Abteilungen zu befürchten ist.
Ich halte es für zweckmässig, bei der Durchordnung des ver-
öffentlichten Stoffes genau den Gang meiner früheren Berichte ein-
zuhalten, wäre es auch nur, um Vergleiche und Anknüpfungen
an die Abtheilungen der früheren Berichte zu vermitteln oder zu
erleichtern.
Das Stammland der Monarchie,
Österreich unter der Enns,
ist was die allgemeine Landesgeschichte betrifft, durch zwei
Arbeiten bereichert worden. Erstens durch eine Mittheilung Dr. H.
Zeibig's: Beiträge zurGeschichte der ständischen Verhältnisse Öster-
reichs unterder Enns in den Jahren 1510 bis 1540, aus einer Samm-
lung von gedruckten Original-Ausschreibender niederösterreichischen
Stände im Stifts-Archive zu Kloster-Neuburg. Im Notizenblatte Nr. 13
auf S. 297 bis 303, dann Nr. 14 auf S. 316 bis 325. Zweitens durch
den Abdruck von 44 Briefen und Urkunden zur Geschichte der Ver-
waltung des Landes und des ungrischen Einfalles der Jahre 1476
bis 1478. Er findet sich durch Regierungsrath Chmel eingerückt in
den Monum. habsb. Abtheilung I, Bd. 2 auf S. 516 bis 634.
Die bedeutendste Bereicherung hat aber im Laufe des Jahres
die Geschichte der geistlichen Körper Schäften dieses Kron-
landes erfahren; denn mit rühmlichem Eifer haben die drei ältesten,
Bericht über die Thätigkeit der historischen Commission etc. 430
noch bis zur Stunde erhaltenen geistlichen Stiftungen des Babenber-
gischen Hauses den reichen Vorrath ihrer Archive der Wissenschaft
erschlossen und den willkommenen Stoff Ihrer historischen Commis-
sion zur Verfügung gestellt. Dadurch wurde es möglich, drei Bände
unserer Fontes mit dieser für die Geschichte des Stammlandes so
nöthigen Ausbeute zu füllen.
Band VIII der Fontes enthalt das lang ersehnte älteste Saalbuch
des Benedictiner- Stiftes Göttweig, mit Erläuterungen und einem
diplomatischen Anhange veröffentlicht durch Willi. Karlin , Mitglied
dieses Stiftes. Die Erläuterungen , 379 an der Zahl , zeugen von
grossem Fleisse und Sachkenntniss. Der Anhang enthält die ältesten
und wichtigsten Urkunden des Stiftes aus den Jahren 1083 bis 1300,
achtzig an der Zahl, begleitet von sehr brauchbaren Registern.
Band XI der Fontes, bis auf das Register fertig gedruckt, bringt
eine Sammlung von 345 Urkunden des Stiftes Heiligenkreuz, gröss-
tentheils ungedruckt und aus den Jahren 1136 bis 1299, heraus-
gegeben von dem Hofmeister des Stiftes P. T. Weiss, das erste über-
haupt erschienene Urkundenbuch dieses Stiftes. Ein folgender Band
soll die Urkunden des vierzehnten Jahrhunderts enthalten.
Band X der Fontes endlich, dessen Erscheinung durch Über-
siedlung und Erkrankung des Herausgebers etwas verzögert wird,
bringt nicht weniger als 300 bisher ungedruckte Urkunden des Stifts-
Archives zu Kloster-Neuburg aus dem zwölften bis fünfzehnten Jahr-
hundert. Die Bearbeitung desselben wurde durch das fleissige Mit-
glied dieses Stiftes Dr. H. Zeibig an die Commission eingesandt.
Dieser überraschend neue Vorrath geschichtlichen Stoffes, noch neben
den Veröffentlichungen unseres verstorbenen corresp. Mitgliedes M.
Fischer, erklärt sich aus dem Umstände, dass sich Fischer grössten-
theils auf die Mittheilung von Original-Urkunden beschränkte, und
die in den Saalbüchern eingetragenen vorerst nicht lieferte, während
Dr. Zeibig nachträglich überwiegend solche sammelte.
Ausser diesen drei grösseren Mittheilungen sind hier noch zwei
kleinere einzureihen; erstens fünf Urkunden zur Geschichte des
Nonnenklosters S. Niklas zu Wien aus den Jahren 1277, 1283,
1287 und 1289, welche P. T. Weiss im Anhange zum eilften Bande
der Fontes auf den Seiten 311, 313, 314, 317 und 320 veröffent-
lichte; dann ebenda auf Seite 322 die Urkunde Nr. XXII vom
1. Februar 1296, betreffend das Nonnenkloster St. Peterinder Sperre
440 V. Karaja».
zu Wiener-Neustadt, und zwar eine Schenkung des Richters daselbst,
Heinrich Leubel, über eine Baadstube in der Stadt und ein Grundstück
zu Solenau.
Die Geschichte des Städtewesens in diesem Kronlande ist
auch sonst nicht leer ausgegangen.
Zur Geschichte Wiens z. B. sind nicht weniger als sechs Bei-
träge aufzuführen. Im Allgemeinen eine Mittheilung Chmers: 'Zur
Geschichte der Stadt Wien aus Wiener Stadtrechnungen der Jahre
1368 bis 1403' aus einer Handschrift der k. k. Hofbibliothek; im
Notizenblatte Nr. 14, S. 325 bis 328; Nr. 15, S. 350 bis 352;
Nr. 16, S. 365 bis 376; endlich in Nr. 17 auf S. 391 bis 400.
Ferner aus dem magistratischen Archive der Hauptstadt mitge-
theilt durch A. Camesina : 'Die Ordnung im Pilgrimshause zu Wien',
aufgesetzt am 23. April 1423 durch den Rector der Wiener Univer-
sität Narciss Hercz von Berching, dann den Landes-Hubmeister und
Kellermeister, im Notizenblatte Nr. 18, S. 419 bis 424. Aus dem
Archive des Stiftes Heiligenkreuz mitgetheilt durch P. T. Weiss im
Anhansre zu Band XI der Fontes auf S. 321 eine Urkunde Nr. XXI
CT
vom 21. April 1292 betreffend den Wiener Bürger Heinrich Kastner
und Gertrud dessen Hausfrau.
Auch das geistige Leben dieser Stadt wird durch ein paar Auf-
sätze beleuchtet. So jenes der Wiener Hochschule durch eine
Abhandlung des corresp. Mitgliedes Fried. Firnhaber über das Ver-
hältniss der Universität zur Constanzer Kirchenversammlung unter
dem Titel: 'Petrus de Pulka, Abgesandter der Wiener Universität
am Concilium zu Constanz'. Mit 34 ungedruckten Belegstücken. Im
Archive Bd. XV, S. 1 -bis 70.
Anziehend sind auch die biographischen Mittheilungen über den
Gründer der ersten öffentlichen Bibliothek zu Wien (im Jahre 1678),
Johann Joachim Enzmüller Grafen und Herrn zu Windhaag, in dem
Aufsatze F. X. Pritz's: 'Beiträge zur Geschichte von Münzbach und
Windhaag in Oberösterreich im einstigen Machlandviertel'. Archiv
Bd. XV, S. 133 bis 184.
Neue und verlässliche Anhaltspuncte zur Geschichte des Han-
dels und der Gewerbe zu Wien liefert endlich folgende Mittheilung
weil.A. M. Böhm's : Verhandlungen bezüglich des Geschäftsbetriebes
ausländischer Kaufleute in Wien und diesfällige Verordnung Kais.
Maximilians I. vom 22. Jänner 1515, nach einem Codex der n. Ö.
Bericht über die Thätigkeit der historischen Commission etc. 441
ständischen Bibliothek'. Im Archive Bd. XIV, S. 261 bis 304. In
dieser Deduction sind übrigens eine Menge einzelner Briefe, Ver-
ordnungen u. s, w. aus früherer Zeit enthalten, die der noch im
Argen liegenden Geschichte des Handels und Verkehrs in unseren
Gegenden sehr zu statten kommen.
Als letzter Beitrag zur Geschichte des Städtewesens in diesem
Kronlande ist hier noch anzureihen eine Ausarbeitung weiland Willi-
bald Leyrer's, Stifts-Archivars zu Kioster-Neuburg, mit der Über-
schrift: 'Zur Geschichte der landesfürstlichen Stadt Eggenburg im
vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderte' mitgetheilt von Dr. H.
Zeibig im Notizenblatte Nr. 15 auf S. 343 bis 349.
Für die Geschichte des Kronlandes
Österreich ob der Enns
sind vier einzelne Arbeiten aufzuzählen. Erstens für die allge-
meine Landesgeschichte: Zwanzig Briefe und Actenstücke,
die allgemeinen Landesangelegenheiten, sowie jene der Verwaltung
und des Güterbesitzes betreffend, sämmtlich dem Jahre 1478 ange-
hörig und aus dem Originale des k. k. Haus-, Hof- und Staats-Archivs,
mitgetheilt vom Regierungsrathe Chmel in Monum. habsb. Abthei-
lung I, Bd. 2 auf Seite 636 bis 689.
Derselbe Gelehrte lieferte auch zwei Beiträge zur Finanz g e-
schichte dieses Kronlandes durch Mittheilung des Urbariums der
Pfarre Althaim oder Mauernberg vom Jahre 1682, aus dem Originale
des Consistorial-Kanzlei-Archives zu Linz, im Notizenblatte Nr. 18,
S. 430 bis 432 und Nr. 19, S. 455 bis 456. In denselben beiden
Numern des Notizenblattes brachte Chrnel auch das Zehend-, Dienst-
und Sammlungs-Register der Pfarre Gallneukirchen von gleichem
Jahre und aus gleicher Quelle.
Die Geschichte der geistlichen Körperschaften des
Landes wird aber bereichert durch den schon oben erwähnten Auf-
satz F.X. Pritz's: 'Beiträge zur Geschichte von Münzbach und Wind-
haag in Oberösterreich im einstigen Machland-VierteP, Archiv Bd. XV,
S. 133 bis 184, welcher nebst manchem Andern auch die Stiftungen
des Dominicaner-Möndiklosters St. Joachim zu Münzbach und des
Nonnenklosters zu Wmdhaag ausführlich darstellt.
442 v. Karajan.
Das Erzherzogthum Osterreich
und zwar die Geschichte seines Regentenhauses betreffen fol-
gende Mittheilungen.
Zuerst die Geschichte des Hauses der ßabenberger ein Aufsatz
weiland A. M. Böhm's mit der Überschrift: 'Eine neue ßabenberger
Urkunde', nämlich die Bestätigung einer Schenkung an das Kloster
Lambach durch Herzog Heinrich II., geschehen zu St. Polten im Jahre
1162. Aus einer Abschrift des n. ö. ständischen Archives veröffent-
licht im Notizenblatte Nr. 20 auf S. 470 bis 472.
Eine zweite Urkunde eines Gliedes des Hauses der ßaben-
berger ist die yon P. T. Weiss im Anhange zu Band XI der Fontes
aus dem Stifts-Archive zu Heiligenkreuz veröffentlichte Urkunde Nr. II
aufS. 294, durch welche Herzog Friedrich II. am 22. Juli 1232
der Abtei Maria-Zeil , das Dorf Taubitz und ein halbes Lehen zu
Felling als Geschenk übergibt.
Zur Geschichte des zweiten Regentenhauses und namentlich in
Bezug auf das Verhältniss dieses Kronlandes zu demselben dienlich
sind zweiundsechzig Urkunden der Jahre 1473 bis 1477, welche
R. R. Chmel aus den Originalen des geh. Haus-, Hof- und Staats-
Archives im zweiten Bande der ersten Abtheilung der Monumenta
habsburgica auf den Seiten 223 bis 308 veröffentlichte.
Als ein Beleg zur Finanzgesc hiebt e des Landes im drei-
zehnten Jahrhundert ist zu erwähnen das von demselben Gelehrten
aus dem gleichzeitigen Originale des geh. Haus-, Hof- und Staats-
Archives mitgetheilte : 'Rationarium AustriacunT. Aus der Zeit Otto-
kar's II. Dasselbe ist etwas älter als das bei Rauch in den 'Scriptores'
mitgetheilte und steht im Notizenblatte Nr. 14, S. 333 bis 336;
Nr. 15, S. 353 bis 360; Nr. 16, S. 377 bis 384; Nr. 17, S. 401
bis 408; Nr. 18, S. 425 bis 428.
Endlich für die Geschichte des Gemeindewesens zu beach-
ten sind manche Nachweisungen in Karl von Sava's : 'Beiträge zur
Siegelkunde Österreichs ob und unter der Enns', im Notizenblatte
Nr. 8 auf S. 177 bis 180. Dort finden sich nämlich Berichtigungen
und Zusätze zu jenem Theile von Melly's grösserem Werke über
Siegelkunde, der von jener der österreichischen Städte und Märkte
handelt.
Bericht über die Thätigkeit der historischen Commission etc. 443
Das benachbarte Kronland
Salzburg
und zwar in Bezug auf die G e s c h i c h t e des B i s t h u m s wird er-
läutert durch die Fortsetzung des gelehrten Streites zwischen Prof.
Dr. K. Tang] zu Graz und dem Freiherrn v. Ankershofen zu Klagen-
furt, Dämlich über die Frage : 'Ob der Salzburger Erzbischof Gebe-
hard der Gurker Kirche Friesach entzogen und Erzbischof Thiemo
ihr selbes vorenthalten habe'? Von Dr. Karlmann Tangl. Im Archive
Bd. XIV, S. 389 bis 399.
Zur Geschichte der geistlichen Körp er seh aften jenes
Gebietes aber zu beachten sind die vom Begierungsrathe Chmel mit-
getheilten Auszüge aus dem 'Liber delegationum seu traditionum rerum
Salzburgensium canonicorum'. Aus einer Handschrift des geh. Haus-,
Hof- und Staats-Archives im Notizenblatte Nr. 20, S. 472 bis 480;
Nr. 21, S. 506 bis 512; Nr. 22, S. 523 bis 544; Nr. 23, S. 554
bis 576; endlich Nr. 24, S. 596 bis 608.
Tirol.
Die Staats- und Kirchengeschichte dieses Kronlandes
zugleich beleuchten die von dem wirkl. Mitgliede Prof. Alb. Jäger
ausgearbeiteten : 'Begesten und urkundliche Daten über das Verhält-
niss Tirols zu den Bischöfen von Chur und zum Bündnerlande von den
frühesten Zeiten des Mittelalters bis zum Jahre 1665'. Abgedruckt im
Archive Bd. XV auf S. 337 bis 387. Sie umfassen über fünfhundert
Numern, und sind zumeist aus handschriftlichen Quellen geschöpft.
Das Begen ten haus im fünfzehnten Jahrhundert betreffen
57 Actenstücke welche Begierungsrath Chmel aus dem geh. Haus-,
Hof- und Staats-Archive unter dem Titel : 'Zur Geschichte Herzogs
Sigismund's von Österreich aus den Jahren 1470 bis 1477', und ein
Nachtrag dazu, das Jahr 1478 umfassend, in den Monum. habsb.
Abtheilung I, Bd. 2 auf den Seiten 131 bis 220, darnach 429
bis 512 veröffentlicht hat.
Die Geschichte des Deutschordens in Tirol aber beleuch-
ten mehrere Berichte von Deutschordens-Gliedern an den Hochmeister
in Preussen aus verschiedenen Theilen dieses Kronlandes und den
Jahren 1386, 1420, 1423 und 1514. Sie finden sich abgedruckt aus
dem Königsberger Ordensarchive in dem Aufsatze unseres corresp.
444 v. Karajan.
Mitgliedes Johannes Voigt: 'Urkundliche Mittheilungen aus dem
deutschen Ordens-Archive zu Königsberg', im Notizenblatte Nr. 5,
S. 102, 107 und 109, dann Nr. 18, S. 412 bis 419.
Für die Geschichte des Gemeindewesens endlich zu beach-
ten sind die Beschreibung und Nachweisung über einige Gemeinde-
siegel Tirols, welche in Melly's Beiträgen zur Siegelkunde theils feh-
len, theils Berichtigung bedürfen, mitgetheilt von Karl von Sava im
Notizenblatte Nr. 8, S. 181 bis 183.
Steiermarks
allgemeine Landesgeschichte, und im Besonderendessen
Handel, Gewerbe, Steuerwesen, Begalien , Behandlung der Juden
u. s. w. erläutern siebenundzwanzig Urkunden und Briefe aus dem
Jahre 1478, welche aus Originalien und Abschriften des k. k. geh.
Haus-, Hof- und Staats-Archives Regierungsrath Chmel im 2. Bande
der 1. Abtheilung der Monumenta habsburgica und zwar auf den
Seiten 691 bis 838 veröffentlichte.
Einen Beitrag zur Geschichte der geistlichen Körper-
schaften des Landes bildet die von P. T. Weiss im Anhange zum
eilften Bande der Fontes auf S. 294 rnitgetheilte Urkunde Nr. II,
durch welche Herzog Friedrich II. von Österreich am 22. Juli 1232
dem Stifte Maria-Zeil das Dorf Taubitz und ein halbes Lehen zu
Felling schenkt.
Die Angelegenheiten des deutschen Ordens während des
sechzehntem Jahrhunderts beleuchtet ein Schreiben des Comthurs
zu Gross-Sonntag und Graz an den Grossmeister in Preussen vom
24. November 1513, welches das corresp. Mitglied Johannes Voigt
aus dem Königsberger Archive im Notizenblatte Nr. 9 auf S. 199
bis 201 mittheilt.
Als Belegstücke für die Geschichte des Gemeindewesens
in Steiermark sind endlich anzusehen die durch Karl von Sava gelie-
ferten Beschreibungen und Nachweisungen mehrerer bisher gar nicht
oder nur mangelhaft erörterter Siegel steirischer Gemeinden, im
Notizenblatte Nr. 8 auf den Seiten 180 und 181.
Kärnten.
Die allgemeine Landesgeschichte befördern die durch
Gottlieb Freiherrn von Ankershofen gelieferten 'Urkunden-Regesten zur
Bericht über die Thatigkeit der historischen Commission etc. 4-4 ö
Geschichte Kärntens'. Zweiundneunzig an der Zahl beleuchten sie
sämmtlich den Zeitraum der ersten fünfundzwanzig Jahre des drei-
zehnten Jahrhunderts. Sie stehen im Archive Band XIV auf den Seiten
1 1 1 bis 145. Ihnen schliessen sich Nachträge an zu den in früheren
Bänden des Archives gelieferten Regesten und zwar für die ältesten
Zeiten bis zum Schlüsse dez zwölften Jahrhunderts. Sie füllen, 44
an der Zahl, die Seiten 149 bis 160 desselben Bandes.
Die Landesverteidigung, den Bauernaufruhr, die Besitzverhält-
nisse u. s. w. betreffen neunzehn Urkunden des Jahres 1478, welche
Regierungsrath Chmel aus den Originalien des k. k. geh. Haus-,
Hof- und Staats-Archives im zweiten Bande der eisten Abtheilung
der Monumenta habsburgica auf den Seiten 840 bis 887 veröffent-
licht hat.
Für die Regenten geschichte des Landes im eilften Jahr-
hundert gibt Aufschluss ein bisher unbeachteter gleichzeitiger Brief
über die Absetzung des Herzogs Adalbero von Kärnten im Jahre 1035.
Aus einer Handschrift des Vaticans mitgetheilt von dem correspond.
Mitgliede Dr. J. Fr. Böhmer zu Frankfurt a. M. im Notizenblatte
Nr. 22 auf S. 520 bis 522.
Theile der Kirchengeschichte des Landes beleuchten,
erstens ein längerer Aufsatz Dr. Jac. Stepischneg's unter dem Titel:
'Georg III. Stobaeus von Palmburg, Fürstbischof von Lavant'. Nach
seinem Leben und Wirken geschildert (f 23. Oct. 1618), ein nicht
unwichtiger Beitrag zur Geschichte der Gegenreformation, abge-
druckt im Archive Bd. XV, S. 71 bis 132; und die schon oben er-
wähnte polemische Untersuchung des Dr. K. Tangl: 'Ob der Salz-
burger Erzbischof Gebehard der Gurker Kirche Friesach entzogen,
und Erzbischof Thiemo ihr selbes vorenthalten habe?' Im Archive
Bd. XIV auf den Seiten 389 bis 399.
Endlich lässt sich auch auf einen kleinen Beitrag zur Kriegs-
geschichte Kärntens hinweisen, ich meine auf ein Schreiben des
obersten Feldhauptmannes Grafen Niklas von Salm an den Landes-
hauptmann von Kärnten aus Jastrawetzka in den windischen Landen
vom 10. September 1522, das Aufgebot gegen die Türken betreffend.
Auch dieses Stück wurde durch das corresp. Mitglied Johannes Voigt
aus dem Königsberger Ordensarchive eingesandt und im Notizen-
blatte Nr. 9 auf den Seiten 201 und 202 abgedruckt.
446 v. Karaj an.
Krain
und zwar dessen allgemeine Landes g esc hichte betreffen
sieben Urkunden über Rechtsstreitigkeiten, Abgaben und Besätzver-
hältnisse aus den Jahren 1473 bis 1478, welche Regierungsrath
Chmel aus den Originalien des geheimen Haus-, Hof- und Staats-
Archives in den zweiten Band der ersten Abtheilung der Monumenta
habsburgica einrückte und zwar auf die Seiten 888 bis 921.
Als Beigabe zur Geschichte des Gemeindewesens sind aber
zu beachten die Beschreibung und Nachweisung eines Siegels der
Gemeinde Landstrass, mitgetheilt von Karl von Sava im Notizen-
blatte Nr. 8 auf Seite 183. Gleiches gilt von
(jörz
dessen Geschichte des Gemeinde wesens einen gleichen Beitrag
von demselben Verfasser erhielt, nämlich die Beschreibung eines
Siegels der Landeshauptstadt und zwar aus dem vierzehnten Jahr-
hundert. Es bildet diese Mittheilung wie mehrere ähnliche bereits
aufgezählte eine Ergänzung zu Melly's grösserem Werke über die
Siegelkunde, und findet sich im Notizenblatte Nr. 8 auf S. 183.
Ganz in derselben Weise ist auch die Geschichte des Kronlandes
Dalmazien
und zwar dessen Gemeindewesen durch die Beschreibung eines
Siegels der Stadt Ragusa aus dem vierzehnten Jahrhundert von dem-
selben Verfasser ergänzt worden. Sie wurde ebenfalls im Notizen-
blatte Nr. 8, Seite 183 eingerückt.
Ungleich reicher bedacht und zwar durch den Beginn einer
eigenen umfangreichen Sammlung von Urkunden muss das Kronland
Venedig
genannt werden. Für die Geschichte der äusseren Verhältnisse,
namentlich die Beziehungen dieser einstigen Republik zum Oriente
baben nämlich die Professoren Dr. Tafel und Thomas inf zwölften
Bande unserer Fontes eine eigene Sammlung begonnen, welche in
ihrem ersten Bande die Jahre 814 bis 1205 umfasst, und für diese
Periode bereits 160 Belegstücke in berichtigten Texten liefert. Bei
jedem Documente findet sich die Nachweisung seiner früheren Drucke,
Bericht über die Thätigkeit der historischen Commission etc. 447
wenn solche vorhergingen, sowie die nöthigen Erläuterungen und
Berufungen auf die Handschriften aus denen geschöpft wurde. Der
zweite Band der Sammlung ist in der Handschrift bereits eingeliefert
und dessen Druck begonnen.
Für die Kir che ngesc hieb te des Kronlandes von Bedeutung
muss die Nachweisung des geschichtlichen Stoffes genannt werden,
welchen eine fortgesetzte Sammlung von Regesten liefert zur Geschichte
der Patriarchen von Aquileja. Sie wurde durch J. Valentinelli schon
vor zwei Jahren im Notizenblatte begonnen und im Jahre 1855 des-
selben fortgeführt. Sie ist namentlich zweien Handschriften der
Marciana zu Venedig entnommen, welche von den frühesten Zeiten
beginnen und herab bis ins sechzehnte Jahrhundert reichen. In die-
sem Jahre allein wurden bei 219 Numern geliefert und zwar in fol-
genden Blättern: in Nr. 8 auf den Seiten 169 bis 176; in Nr. 10 auf
S. 217 bis 222; in Nr. 12 auf S. 268 bis 277; endlich in Nr. 19
auf S. 451 bis 455. Die Sammlung soll fortgesetzt werden. Am
Schlüsse derselben scheint eine chronologische Durchordnung des
Gelieferten unerlässlich.
Lombardie.
Zur Kenntniss des historischen Material es dieses Kron-
landes hat Dr. Th. Sickel einen Beitrag geliefert in einem Schreiben
über das Mailänder Staatsarchiv, dem bald eine nachträgliche Erläu-
terung folgte. Ersteres im Notizenblatte Nr. 1 auf S. 9 bis 11, letz-
tere ebenda in Nr. 24 auf Seite 590 bis 594.
Von demselben Gelehrten wurde eine wichtige Untersuchung
zur al lg em einen Landesgeschichte geliefert, nämlich dessen
Beiträge und Berichtigungen zur Geschichte der Erwerbung Mai-
lands durch Franz Sforza, mit einem Anhange von 22 ungedruckten
Belegstücken der Jahre 1448 und 1449 aus dem Mailänder Staats-
Archive. Diese Arbeit findet sich im Archive Band XIV auf den
Seiten 191 bis 258.
Für die Geschichte des Regentenhauses der Sforza ist end-
lich noch ein kleiner Beitrag hier anzureihen, ich meine die Acten-
stücke zur Geschichte Corsica's unter rnailändischer Oberherrschaft.
Fünfzehn Briefe von Galeazo Maria Sforza, Herzogen von Mailand,
und seinem Kanzler Cicco Simnnetta vom Jahre 1473. Diese wurden
aus den Originalen des Archives von San-Fedele in Mailand mitgelheilt
448 v. Karajan.
von Prof. Joseph Müller in Pavia und Archivar Ludwig Ferrario in
Mailand, und finden sich im Notizenblatte Nr. 3, S. 65 bis 72; Nr. 6,
S. 131 bis 136; endlich in Nr. 22 auf S. 522 bis 523.
Das Kronland
Böhmen
muss im Laufe dieses akademischen Jahres neben dem Erzherzog-
thume Österreich und Venedig in den Veröffentlichungen der histo-
rischen Commission als am reichsten bedacht genannt werden. An
einzelnen Beiträgen sind nämlich hier allein achtzehn aufzuführen,
und wir werden gleich hören, welche Bedeutung ihnen einzuräumen ist.
Was vor Allem die äusseren Verhältnisse dieses Kron-
landes betrifft, in der Zeit in der es noch ein selbstständiges Beich
bildete, so ist hier einer Arbeit Dr. Jos. Fiedler's zu gedenken, über-
schrieben: 'Böhmens Herrschaft über Polen. Ein urkundlicher Bei-
trag'. Es enthält diese Untersuchung unter Anderm als Belegstücke
vier ungedruckte und wichtige Urkunden aus dem k. k. geh. Haus-,
Hof- und Staats-Archive, die zum ersten Male in ihrer ganzen Bedeu-
tung erwogen und erläutert werden. Sie findet sich im Archive
Bd. XIV, S. 163 bis 188.
Für die all gemeine Landesgeschichte von Wichtigkeit
sind vor Allem vier Quellenschriftsteller, herausgegeben von dem
corresp. Mitgliede Prof. Konst. Hötler. Zuerst das sogenannte Chro-
nicon Pragense, die Jahre 824 bis 1419 umfassend, mit wichtigen
Angaben namentlich für die spätere Zeit, so über Johannes von
Pomuk zu welcher Stelle der Excurs des Herausgebers in der Erläu-
terung zu vergleichen ist. Diese Quelle findet sich abgedruckt im
2. Bande der ersten Abtheilung der Fontes auf S. 3 bis 6.
Dann ein 'Chronicon Lipsiense' überschriebener Annalist der
Jahre 1348 bis 1411 aus einer Handschrift der Universitäts-Biblio-
thek zu Leipzig herausgegeben und bisher ungedruckt. Ebenda auf
Seite 6 bis 12.
Dann das sogenannte Chronicon Viennense1 aus der Hand-
schrift der k. k. Hofbibliothek zum ersten Male gedruckt im selben
Bande der eben bezeichneten Sammlung auf S. 1 und 2. Es umfasst
die Jahre 1367 bis 1405, und enthält namentlich in Bezug auf die
Entstehung der Husitischen Bewegungen manche bemerkenswerthe
Angaben.
Bericht über die Thätigkeit der historischen Commission etc. 44 J
Endlich eine bisher ungedruckte Wittingauer Chronik eines
Augenzeugen der Jahre 1419 bis 1439, herausgegeben aus einer
Handschrift des fürstlich Schwarzenberg'schen Archives zu Wittingau
im zweiten Bande der ersten Abtheilung unserer Fontes auf den
Seiten 50 bis 65.
Schon diese Quellen, ungleich mehr aber noch die folgenden
beleuchten die Anfänge und den Verlauf der Husitischen Bewegungen,
gehören somit der Kirchengeschichte wie der allgemeinen
Landesgeschichte zu gleichen Theilen an.
Vor Allem zu erwähnen ist des 'Petrus de Mladenowicz Historia
de factis et actis Magistri Johannis Hus Constaneiae'. Herausgegeben
von K. Höfler im 2. Bande der 1. Abtheilung der Fontes auf Seite
111 bis 320.
Mladenowicz war bisher nur aus einer deutscheu Umarbeitung,
nicht Übersetzung, des sechzehnten Jahrhunderts bekannt, die zu-
dem noch in tendenziöser Weise abgefasst, wie der Herausgeber
meint von Ulrich von Hütten bewerkstelligt war. Mladenowicz hat
unter vielem Andern äusserst wichtigem auch eine Vertheidigungs-
rede Husens bewahrt, die dieser zu Konstanz halten wollte, und von
der er sich einen vollständigen Sieg erwartete, auf die er daher auch
seine ganze geistige Kraft verwandte. Diese Bede ist bis zur Stunde
noch nirgends veröffentlicht worden. Durch den echten Mladenowicz
wird für die Geschichte Husens geradezu neuer Boden gelegt.
Eine nicht minder wichtige Quelle für dieselbe Periode der
böhmischen Geschichte muss das Werk des Magister Laurentius de
Bfezina (auch Brezowa) genannt werden unter dem Titel: De gestis
et variis accidentibus regni Bohemige', 1414 bis 1422. Höfler theilt
es nach fünf Prager Handschriften und einer zu Breslau mit im sel-
ben Bande unserer Fontes auf Seite 321 bis 527. Utraquist vom
reinsten Wasser, ist aber Meister Laurenz in Vielem gut unterrichtet
und wenn er auch unverholen überall Partei nimmt, so gehört er
doch nichts desto weniger zu den bedeutendsten Quellen dieser Zeit
und Gegenden. Sein Werk war bisher nur bruchstückweise heraus-
gegeben.
Von demselben Verfasser lieferte Höfler ein lateinisches Spott-
gedicht auf die Deutschen nach dem grossen Siege der Böhmen bei
Taus am 14. August 1431 in dem nämlichen Bande auf Seite 596
bis 620. Es trägt die Überschrift: 'Carmen insignis coronse
450 v. Karajan.
Bohemise' und befindet sich handschriftlich in der Universitäts-
Bibliothek zu Prag. Es zählt im Ganzen 1635 Verse.
Auf Seite 528 bis 534 desselben Bandes veröffentlichte Höfler
die Schrift eines Ungenannten: 'De origine Taboritarum et de morte
Wenceslai IV, Begis Bohemia3\ und zwar aus einer Basler Hand-
schrift die bisher völlig unbekannt war. Ferner auf Seite 565 bis
596 aus einer Pariser Handschrift: 'Andres Batisbonensis Dialogus
de Husitis', geschrieben im Jahre 1430, bisher ebenfalls ungedruckt.
Endlich auf den Seiten 541 bis 564 eine Streitschrift unter dem Titel :
'Sermones ad Bohemos' verfasst von einem Katholiken vor dem Jahre
1419, bestehend aus 890 lateinischen Versen gegen die Husiten
und erhalten in einer Handschrift des böhmischen Museums zu Prag.
Zu diesem Gedichte fügte Höfler noch ein Paar Anhänge aus anderen
Handschriften und Hess demselben auf Seite 621 bis 632 aus einem
Codex des Prager Domcapitels eine zweite Streitschrift eines Unge-
nannten folgen mit der Überschrift: 'Inveetiva contra Husitas, scripta
post annum 1432'.
Mehr über die Ereignisse dieser Zeit in Prag selbst berichtend
sind folgende Quellenschriften der Höfler'schen Sammlung zu nennen.
Auf den Seiten 65 und 66 ein kurzes aber nicht unwichtiges 'Chro-
nicon capituli metropolitani Pragensis annorum 1318 usque 1439',
aus einer Handschrift der Bibliothek dieses Capitels, ferner ein sehr
bedeutendes 'Chronicon universitatis Pragensis, 1348 usque 1413'
ajiß der, soviel bis jetzt bekannt, einzigen Handschrift der k. k. Hof-
bibliothek zu Wien, Nr. 7650, auf Seite 13 bis 47 zum ersten Male
herausgegeben. Dann gleichfalls aus einer Handschrift dieser Biblio-
thek, Nr. 3282, ein Chronicon Palatinum' überschriebenes Jahrbuch,
die Zeit von 1346 bis 1348 umfassend, bisher ungedruckt, beson-
ders die Vorgänge in Prag erzählend und eingereiht auf den Seiten
47 bis 50. Darnach ebenda S. 78 bis 102 aus einer Handschrift der
Hofbibliothek zu Darmstadt ein eben solches mit der Überschrift :
'Chronicon veteris collegiati Pragensis, 1419 usque 1441'. Endlich
auf den Seiten 67 bis 78 die höchst wichtige, hier zum ersten Male
veröffentlichte Chronik des Prager Stadtschreibers Procop, verfasst
ums Jahr 1476, welche einen äusserst lehrreichen Bückblick auf den
Beginn und die allmähliche Entwickelung des Husitismus gewährt. Sie
erscheint hier zum ersten Male vollständig aus einer Handschrift des
Wittingauer Archives. Prof. Höfler hat seiner Einleitung die Erklärung
Bericht über die Thätigkeit der historischen Commission etc. 451
mancher im Texte vorkommenden böhmischen Ausdrücke beigegeben.
Nicht unerwähnt darf übrigens hier gelassen werden , dass Prof.
Höfler bei den eben aufgezählten wichtigen Veröffentlichungen für
die Geschichte Böhmens aufs Bereitwilligste von Herrn Palacky unter-
stützt wurde, der manche der hier mitgetbeilten Quellen mühsam,
behufs seiner böhmischen Geschichte, gesammelt hatte. Auch dem
Secretär des böhmischen Museums Hrn. Nebesky verdankt diese
Quellensammlung erwünschte Bereicherung.
Ausserdem oben besprochenen Aufsatze Dr. Fiedler's und einem
kleineren gleich zu erwähnenden zur Geschichte dieses Kronlandes
befinden sich alle übrigen hier aufgezählten Stücke in dem von Prof.
Höfler gelieferten Bande, dem zweiten der ersten Abtheilung unserer
Fontes, zugleich dem zweiten der Geschichtsschreiber, dem in: Laufe
des nächsten Jahres schon ein dritter folgen wird.
Zur Geschichte des Gemein de wesens dieses Kronlandes füge
ich hier noch einen kleinen Beitrag Karl von Sava an, nämlich die
Beschreibung und Nachweisung mehrerer sehr alter und anziehender
Siegel böhmischer Gemeinden im Notizenblatte Nro. 8 auf Seite
184, und in Nr. 13 auf den Seiten 303 bis 307.
Die Kronländer
Mähren und Schlesien
haben in Beziehung auf die Geschichte ihres Gemeindewesens
in derselben Numer des Notizenblattes durch denselben Verfasser
eine ähnliche Bereicherung erhalten.
Ingern.
Für die Geschichte der äusseren Verhältnisse dieses
Kronlandes während seiner Selbstständigkeit im fünfzehnten Jahr-
hunderte hat Begierungsrath Chmel im zweiten Bande der ersten
Abtheilung der Monumenta babsburgieaauf den Seiten 1 bis 128 fünfzig
Belegstücke aus den Originalen des geh. Haus-, Hof- und Staats-
Archives mitgetheilt. Sie erläutern namentlich das Verhältnis s Ungerns
zum deutschen Reiche, und insbesondere zu Österreich unter Mathias
Corvin in den Jahren 1472 bis 1477, und werden in demselben
Bande auf den Seiten 516 bis G34. ebenfalls durch Chmel mittle-
theilt, von einer zweiten Beihe von Briefen und Geschäftsschriften
aus gleicher Quelle gefolgt, welche speciell den Einfall und die
Sitzh. d. phil.-hist. Gl. XX. Bd. III. oft. 30
452 v- K ar a j an.
Besetzung Österreichs durch Corvin schildern, das ist die Ereignisse
der Jahre 1476 bis 1478.
Zur Kenntniss der inneren Verhältnisse des Landes wäh-
rend einer viel späteren Periode geben sehr anziehenden Aufschluss
die durch das corresp. Mitglied Fr. Firnhaber im Notizenblatte Nr. 1
auf Seite 11 bis 24, dann in Nr. 2 auf S. 36 bis 48 veröffentlichten
drei Actenstücke zur Geschichte der Serben in der Woiwodina aus
den Jahren 1755, 1776 und 1782.
Auch die Geschichte der geistlichen Körperschaften
dieses Kronlandes ist durch einen zwar kleinen, aber in frühe Zeiten
hinaufreichenden Beitrag von P. T. Weiss aus dem Stiftsarchive von
Heiligenkreuz bereichert worden. Er enthält im eilften Bande unserer
Fontes auf den Seiten 293, 295, 307, 312 und 316 fünf Urkunden
aus den Jahren 1224, 1233, 1237, 1277 und 1285, welche die
Abtei Marienberg (Bors monostra) bei Güns betreffen.
Zur Kenntniss des Gemeinde wesens endlich ist die Beschrei-
bung und Nachweisung einiger mittelalterlicher Siegel ungrischer
Städte und Märkte hier anzureihen, welche Karl von Sava im Notizen-
blatte Nr. 19 auf den Seiten 442 bis 447 geliefert hat.
Siebenbürgen.
Die Geschichte der ältesten Zeit dieses Kronlandes beleuch-
tet ein Aufsatz des corresp. Mitgliedes J. K. Schuller im vierzehnten
Bande unseres Archives auf Seite 97 bis 107 unter der Überschrift:
'Siebenbürgen vor Herodot und dessen Zeitalter'.
Zur Kenntniss des mittelalterlichen Genieindewesens muss
aber aufgeführt werden die schon öfters erwähnte Arbeit Kari's von
Sava, die Beschreibung und Nachweisung einiger mittelalterlicher
Siegel, welche auch eine Reihe solcher von siebenbürgischen
Gemeinden auf den Seiten 443 und 444 des Notizenblattes schildert.
Auch des Grossherzogthumes
ftrakau
Städtewesen wird durch den eben erwähnten Aufsatz Sava's in
Beziehung auf zwei mittelalterliche Siegel der Hauptstadt dieses
Kronlandes beleuchtet. Die Schilderung und Nachweisung derselben
findet sich auf Seite 447 in Nr. 19 des Notizenblattes.
Bericht über die Thiitig-keit der historischen Coinmission etc. 4 Od
Österreichische Monarchie.
Nach der Aufzählung der für die Geschichte der einzelnen
Kronländer gelieferten Arbeiten sind endlich auch jene zu erwähnen,
welche mehrere Kronländer zugleich oder die Gesammtmonarchie
zum Gegenstande haben.
Für die Kenntniss des historischen Material es dieser
Länder ist vor Allem ein Aufsatz des corresp. Mitgliedes Dr. Watten-
bach aufzuführen unter dem Titel: 'Iter Austriacum", eine Schilde-
rung der in Wien, Pesth, Klagenfurth und Laibach durch diesen
Gelehrten geprüften geschichtlichen Handschriften. Sie steht im
Archive Band XIV auf den Seiten 3 bis 29. Von da an bis ans Ende
des Aufsatzes folgt eine eingehende Untersuchung über Briefsteller
des Mittelalters , in welcher manche Handschriften in Bibliotheken
des Kaiserstaates näher gewürdigt werden.
Der Geschichte der ältesten Zeiten der Monarchie gewidmet
ist die Fortsetzung der unter dem Titel: 'Beiträge zu einer Chronik
der archäologischen Funde in der österreichischen Monarchie', von
dem wirklichen Mitgliede J. G. Seidl, schon seit einer Reihe von
Jahren fortgesetzten Berichte. Sie steht auf den Seiten 239 bis 336
des fünfzehnten Bandes des Archives.
Die äusseren Verhältnisse der Monarchie namentlich zu
Ungern, Frankreich, dem Papste u. s. w. im Jahre 1478 lassen
fünfundzwanzig Briefe auswärtiger Regenten an Kaiser Friedrich III.
und andere Potentaten erkennen , welche Regierungsrath Chmel im
zweiten Bande der ersten Abtheilung der Monumenta habsburgica auf
den Seiten 3 i 1 bis 332 zum Gerneingute gemacht hat. Speciell aber die
Verhältnisse zum deutschen Reiche beleuchten weitere dreiundfünf-
zig Briefe und Acten, wie jene ersten aus den Originalen des geh.
Haus-, Hof- und Staats-Archives durch Chmel mitgetheilt, ebenda auf
Seite 335 bis 388.
Zur allgemeinen inneren Geschichte der Monarchie und vor
Allem zu jener des Regen ton hauses von Bedeutung ist die Fort-
führung der Untersuchung über die Haus- Privilegien, die in dem von
Wattenbach gelieferten Aufsatze Iter Austriacum' abermals angeregt
wurde, im vierzehnten Bande des Archives Seite 3 bis 6, und in
der Einleitung zum zweiten Bande der ersten Abtheilung der Monu-
menta habsburgica durch Regierungsrath Chmel ausführliche Erwi-
derung fand.
30 •
454 v. Ka rajan.
Spätere Zeiten des Regentenhauses beleuchtet das durch Dr.
Otto Stobbe im Archive, Band XIV, auf den Seiten 307 bis 385 aus
einer Erlanger Handschrift des vierzehnten Jahrhunderts mitgetheilte
Formelbuch: 'Summa curia? Begis' aus der Zeit König Rudolfs I.
und Albrecht's I. Ferner eine Reihe von Fürstenbriefen des fünfzehn-
ten Jahrhunderts aus der Zeit Kaiser Friedrich's III., theils aus den
Originalen desReichsarchives zuMünchen, theils aus Abschriften des
germanischen Museums zu Nürnberg, mitgetheilt vom Regierungsrath
Chmel als Fortsetzung einer schon im Vorjahre begonnenen Reihe, im
Notizenblatte Nr. 4, S. 83 bis 88; Nr. 7, S. 138 bis 160; Nr. 9,
S. 202 bis 208; Nr. 10, S. 222 bis 232; Nr. lls S. 249 bis 256;
endlich in Nr. 12 auf S. 278 bis 280. Gleichem Zwecke dienen 34
Briefe und Actenstücke über die Verhältnisse Erzherzogs, nacbmals
Kaisers Maximilian I. zu den Niederlanden aus dem Jahre 1478,
mitgetheilt von Chmel im zweiten Bande der ersten Abtheilung der
Monuinenta habsburgica auf den Seiten 391 bis 426. Endlich 55
Belegstücke aus den Originalen des geh. Haus-, Hof- und Staats-
Archives zur Geschichte der österreichischen Vorlande, und nament-
lich des Regenten derselben Herzogs Sigismund von Österreich wäh-
rend der Jahre 1470 bis 1478, in derselben Sammlung auf den
Seiten 131 bis 220, darnach 429 bis 512, mitgetheilt durch Regie-
rungsrath Chmel.
Die Staats- und Kirchen -Geschichte der Monarchie
betreffen die von Dr. Beda Dudik im Archive Band XV, auf Seite
185 bis 238, gelieferten 'Auszüge aus päpstlichen Begesten für
Österreichs Geschichte. Gesammelt in Rom im Jahre 1853'. Sie
umfassen die Jahre 1308 bis 1604, im Ganzen 105 Numern. Von
diesen sind in einem Anhange 44 Urkunden vollständig mitgetheilt.
Anzufügen ist hier auch schon der oben berührte Aufsatz Dr. Jakob
Stepischneg\s, 'Georg III. Stobaeus von Palmburg, Fürstbischof von
Lavant', Archiv XV, S. 71 bis 132, weil er die kirchlichen Ver-
hältnisse Österreichs, Steiermarks , Kärntens, Krains u. s. w. am
Ende des sechzehnten Jahrhunderts behandelt.
Die Besitz-, Handels- und Gewerbe-Verhältnisse, somit die
Finanzgeschichte der Monarchie im fünfzehnten Jahrhundert
berühren sieben Urkunden und Briefe über die Verhältnisse der
Juden in Steiermark, Kärnten und Krain, dann über Steuerwesen,
Besitz -Streitigkeiten, die Erbauung und Erhaltung kaiserlicher
Bericht über die Thätigkeit der historischen Commission etc. 451)
Schlösser und Burgen und Ähnliches, mitgetheilt vom Regierungsrath
Chmel in den Monum. habsburg. Abtheilung I, Bd, 2, S. 929 bis 947,
sowie eine zweite Veröffentlichung desselben unter dem Titel : 'Liber
delegationum seu traditionum rerum Salzburgensium canonicorum'
aus einer Handschrift des 12. und 13. Jahrhunderts im Notizenblatte
Nr. 20, S. 472 bis 480; Nr. 21, S. 506 bis 512; Nr. 22, S. 523
bis 544; Nr. 23, S. 554 bis 576; endlich Nr. 24, S. 596 bis 608.
Über die Besitzungen geistlicher Körperschaften im
Bereiche der Monarchie ist im Laufe des Jahres nur ein einziger
Beitrag geliefert worden, nämlich durch Chmel eine Zusammenstel-
lung aus einer Handschrift des dreizehnten Jahrhunderts über die
Besitzungen des Benedictiner-Klosters Nieder-Altaich in der Passauer
Diöcese. Sie bildet eine Fortsetzung früherer Mittheilungen im Jahr-
gange 1854 desselben Notizenblattes, und findet sich in Nr. 4, S. 89
bis 96; Nr. 5, S. 113 bis 120; Nr. 6, S. 137 bis 144; Nr. 7,
S. 101 bis 168; Nr. 8, S. 185 bis 192; Nr. 9, S. 209 bis 216;
Nr. 10, S. 233 bis 240; Nr. 11, S. 257 bis 267; Nr. 12, S. 281
bis 288; Nr. 13, S. 309 bis 312; endlich Nr. 14, S. 329 bis 336.
Zur Geschichte des deutschen Ordens im Kaiserreiche sind
anzuführen: Verschiedene Schreiben von Deutschordensgliedern an
den Grossmeister in Preussen, den Jahren 1411, 1414, 1416,
1418, 1420, 1444, 1451, 1452, 1455, 1470, 1472, 1478, 1494
und 1499 angehörig, aus mehreren Ländern des Kaiserreiches, mit-
getheilt durch das corresp. Mitglied Johannes Voigt aus den Origi-
nalen des Königsberger Archives, im Notizenblatte Nr. 5, S. 102
bis 112 und Nr. 9, S. 195 bis 199.
Als ein Beitrag zur Geschieht e des Adels in den österrei-
chischen Ländern kann eine Mittheilung A. M. Böhm's im Notizen-
blatte Nr. 21, S. 496 bis 506 angesehen werden, nämlich die Schil-
derung mehrerer österreichisch-böhmischer Grenzfehden zu Ende des
fünfzehnten und Anfange des sechzehnten Jahrhunderts, sowie des-
selben Verfassers 'Beiträge zur österreichischen Siegellvunde, nach
Originalen und handschriftlichen Quellen, grösstenteils des nieder-
österreichisch -ständischen Archives, abgedruckt im Notizenblatte
Nr. 24 auf den Seiten 594 bis 596, da in demselben die Wappen
mehrerer Geschlechter der Monarchie erörtert werden.
Auch ein Schärflein zur Biographie berühmter Männer des
Kaiserreiches findet sich im Notizenblatte Nr. 18 auf Seite 428 bis
4J)6 v. K a r a j a n.
430, mitgetheilt durch Chmel, nämlich eine Messestiftung in der
Schlosscapelle zu Wildenau, welche eigenhändig durch Aeneas
Silvius Piccolomini , damals Pfarrer zu Aspach in Österreich, am
13. September 1445 bestätigt wird. Das Original befindet sich in
dem Consistorial-Archive zu Linz.
Schlüsslich ist noch auf eine Mittheilung zur Geschichte eines
ehemaligen Bestand t heiles der Monarchie, nämlich der soge-
nannten Vorlande derselben hinzuweisen, auf dieschon oben erwähn-
ten Actenstücke zur Geschichte der Verhältnisse der österreichischen
Vorlande zum deutschen Reiche und zu Österreich in den Jahren
1470 bis 1478, mitgetheilt in zwei Reihen durch Regierungsrath
Chmel im zweiten Bande der ersten Abtheilung der Monumenta
habshurgica, auf den Seiten 131 bis 220 und 429 bis 512, im Ganzen
55 Briefe und Urkunden.
Von der Monarchie zum Nachbarlande
Baiern
übergehend sind drei Mittheilungen beachtenswerth, alle drei den
Besitz geistlicher Körperschaften in Baiern betreffend.
Erstens die Verleihungsurkunde eines Besitzes des Bisthums Regens-
burg auf österreichischem Boden, nämlich die Belehnung Stephan's
von Maissau mit dem Schlosse Kopfstetten bei Eckartsau durch
Bischof Heinrich von Regensburg vom 26. Jänner 1286, mitgetheilt
durch P. T. Weiss im Anhange zu Band XI der Fontes unter Nr. XVI
auf Seite 316; dann die fortgesetzte Nachweisung der Besitzungen
des Benedictiner-Klosters Nieder-Altaich in der Salzburger Diöcese
durch Begierungsrath Chmel im Notizenblatte Nr. 4, S. 89 bis 96 ;
Nr. 5, S. 113 bis 120; Nr. 6. S. 137 bis 144; Nr. 7, S. 161 bis 168;
Nr. 8, S. 185 bis 192; Nr. 9, S. 209 bis 216; Nr. 10, S. 233 bis
240; Nr. 11, S. 257 bis 264; Nr 12, S. 281 bis 288; Nr. 13,
S. 309 bis 312; endlich Nr. 14, S. 329 bis 336; endlich von dem-
selben Gelehrten die Veröffentlichung eines dem zwölften bis drei-
zehnten Jahrhundert angehörigen Liber delegationum, seu tradi-
tionum rerum Salzburgensium canonicorum', welcher die Besitzungen
dieser Geistlichen in Baiern und Österreich aufzählt , mitgetheilt im
Notizenblatte Nr. 20 auf S. 472 bis 480; Nr. 21, S. 506 bis 512;
Nr. 22, S. 523 bis 544 ; Nr. 23, S. 554 bis 576, und Nr. 24,
S. 596 bis 608.
Bericht über die Thätigkeit der historische!) Commissinn etc. 4b 7
Deutschland.
Zwei urkundliche Mittheilungen Chmel's sind es, beide im zweiten
Bande der ersten Abtheilung der Monumenta habsburgica stehend,
welche auf die allgemeinen politischen Verhältnisse des
ehemaligen römischen Reiches deutscher Nation sich beziehen;
erstens 50 Actenstücke zur Beleuchtung der Beziehungen Ungerns
zum deutschen Reiche und insbesondere zu Österreich während der
Jahre 1472 bis 1477 auf Seite 1 bis 128, und dreiundfünfzig Briefe
und Actenstücke Kaiser Friedrich's III. an einzelne Reichsstände aus
dem Jahre 1478 auf den Seiten 335 bis 388, beide den Originalen
des k. k. Haus-, Hof- und Staats-Archives entnommen.
Als in ihren Ausgangspuncten die politischen Grenzen Deutsch-
lands überschreitend müssen schlüsslich noch zwei Arbeiten aufge-
führt werden, erstens als die
Schweiz
in Bezug auf Staats- und Kirchengeschichte berührend die
durch das wirkliche Mitglied Prof. Albrecht Jaeger im Archive,
Band XV, S. 337 bis 387 mitgetheilten Regesten und urkundlichen
Daten über das Verhältnis« Tirols zu den Bischöfen von Chur und zum
Bündnerlande von den frühesten Zeiten des Mittelalters bis zum Jahre
1665, über fünfhundert Numern füllend, von denen die meisten aus
ungedruckten Quellen geschöpft sind, und zweitens die auf die
Niederlande
und deren Rege ntenha u s bezüglichen, durch Chmel im zweiten
Bande der ersten Abtheilung der Monumenta habsburgica aus den
Originalen des k. k. Haus-, Hof- und Staats-Archives, auf den Seiten
391 bis 426 veröffentlichten 34 Briefe und Actenstücke über die
Verhältnisse der Niederlande zu Kaiser Friedrich III. und darnach
zum Erzherzoge und nachmals Kaiser Maximilian I. aus dem Jahre
1478.
Werfen wir, an den Schluss unseres Berichtes gelangt, einen
prüfenden Blick auf die lange Reihe der hier aufgezählten stofflichen
Mittheilungen sowohl wie kritischen Arbeiten, so treten uns aus der
bunten Fülle des Ganzen vor Allem drei gewaltige Gruppen entgegen.
Erstens die glänzende Bereicherung der Quellen zur Geschichte des
Stammlandes der Monarchie, dann jene für die Geschichte Böhmens
45 S v. Karajan.
während der erschütternden husitisehen Bewegungen, endlich drittens
die Sammlung- und Sichtung1 des bis jetzt nach allen Richtungen hin
zerstreuten StoiTes zur Geschichte Venedigs in seinen Beziehungen
zum Oriente. Diese drei Wahrnehmungen allein schon neben der
sonstigen Beschaffenheit des Gebotenen lehren, dass sich der Charak-
ter der durch die Commission veröffentlichten Arbeiten und Stoff-
Sammlungen immer mehr und mehr vielseitig gestalte, und nach und
nach alle Länder des weiten Kaiserreiches in ihren geschichtlichen
Interessen gleichmässig zu vertreten, der grossen Idee des Gesammt-
staates auch in ihren Veröffentlichungen Ausdruck zu verleihen suche.
Es kann zudem selbst von dem ungenügsamsten Tadler nicht mehr
geleugnet werden, dass sich hier ein gewaltiges Bestreben geltend
mache, dass in diesen Sammlungen, die dermal bereits die Zahl von
siebenunddreissig Bänden erreicht haben, durch allseitiges unver-
drossenes Zusammenwirken, durch die von der Akademie jedem ern-
sten Forscher uneigennützig gewährten Unterstützungen sich ein
mächtiger Bau erhebe, der auf festen Grundlagen ruhend auch dau-
ernde Ergebnisse verheisse.
Es gereicht dabei der Commission zur wahren Freude, öffentlich
aussprechen zu können, dass die Theilnahme an ihren Bestrebungen
nicht nur nicht erkalte, sondern dass sich allenthalben in den einzel-
nen Kronländern tüchtige Kräfte zu gemeinschaftlichem Wirken immer
mehr und mehr anschliessen, so z. B. im Laufe der letzten Zeit in
Böhmen Palacky, Höfler, Wocel, Xebesky, in Venedig und der Lom-
bardie Valentinelli, Müller, Ferrario, in Kärnten Stepischneg, in
Österreich Karlin und Weiss, jener zu geschweigen, welche schon
früher mit der Commission im Wechselverkehre standen.
Diese hat übrigens die vor Jahren begonnenen Arbeiten am Atlasse
Alt-Österreichs, am Codex diplomaticus Austrise inferioris auch während
des abgelaufenen Jahres nicht ausser Acht gelassen, sondern mit
den dermal zu Gebote stehenden, leider geringen Kräften das Mög-
liche zu leisten gesucht.
Die Commission glaubt wie bisher, so auch in Hinkunft auf die
kräftige Unterstützung der verehrten Classe hoffen zu dürfen, und
wird es an sich nicht fehlen lassen, den ihr dadurch erwachsenden
Verpflichtungen auf das Gewissenhafteste nachzukommen.
Bericht über die Herausgabe der Acta concilioruro saeculi XV. 459
Bericht über die Thätigkeit der Commission zur Herausgabe
der Acta conciliorum stecuii XV während des akademischen
Ver waUu ngsjahres 1854 auf 1855.
Erstattet in der Classen-Sitzung vom 7. Mai 1850 durch das
\v. M. Th. G. von Karajan.
Meine Herren!
Die Thätigkeit der Commission zur Herausgabe der Concilien-
Acten des fünfzehnten Jahrhunderts musste sich im Laufe des Ver-
waltuugsjahres 1854 auf 1855 lediglich auf die Fortsetzung des
bereits weit vorgeschrittenen Druckes des ersten Bandes ihrer Ver-
öffentlichungen, auf die Verfassung der erforderlichen Register, end-
lich der Biographien der einzelnen Schriftsteller beschränken. Dies
geschah aus doppeltem Grunde. Erstens, weil die verwendbaren
Arbeitskräfte nur dazu ausreichten, und zweitens, weil die der Com-
mission zur Verfügung gestandenen Geldmittel für den Lauf des
Jahres im Ganzen 698 fl. 23 kr. kaum an Anderes denken liessen,
als auf die Honorirung der bis zur Vollendung des Bandes zu liefern-
den Arbeiten.
Diese nun ist aber in ganz Kurzem zu erwarten. Bereits ist der
ganze Text 109 Bogen in Kleinfolio fertig gedruckt, die Register im
Satze, 3 Bogen vollendet, der Abdruck der Biographien, deren voll-
ständige Manuscripte bereits vorliegen, und etwa 4 — 5 Bogen im
Drucke liefern werden, in Angriff genommen. Es ist daher zu
hoffen, dass der erste Band noch im Laufe dieses Monates längstens
im nächsten .werde ans Licht treten können.
Nach dem von der Commission vorlängst gefassten Beschlüsse
soll im Laufe des Jahres 1855 auf 1856 für den zweiten Band die
Geschichte des Basler Concils, verfasst durch den Augenzeugen
Johannes de Segovia, und in einem herrlichen Exemplare hand-
schriftlich an der k. k. Hofbibliothek erhalten, in Angriff genommen
werden. Dasselbe umfasst zwei tüchtige Bände in Folio, und wird
einen ganzen Band, wenn nicht mehr, der Veröffentlichungen der
Commission füllen. Mit der Abschriftnahme soll nach Vollendung des
ersten Bandes begonnen weiden.
460 v. Schlechta-Wssehrd.
Vorgelegt:
Bericht über die vom September 1854 bis September 18oo zu
Konstantinopel erschienenen orientalischen Werke.
Von dein c. M. Freiherrn Ottokar M. v. Schlechta-Wssehrd.
Als Nachtrag zu den im Laufe des islamitischen Jahres 1270
hier erschienenen Lithographien *) kommt noch folgende zu bemerken:
Kitäbi Fal 3), d. h. Buch der Wahrsagung, von Dschafer
Ssadik. Ein Octavheft von 48 Seiten, aufgelegt in der Steindruckerei
des hiesigen Fortifications-Institutes (Monat Silkide o. J. — August
1854). Es enthalt die türkische Übertragung des gleichnamigen
arabischen Originales. Dieselbe wurde auf Befehl Sultan Murad des
Zweiten angefertigt, wofür die veralteten Bedeformen genügsamen
Beweis liefern. Die ersten drei Seiten geben die Gebrauchsanwei-
sung; den Best füllen kabbalistische Kreise und Tabellen, welche
denjenigen der glaubt „eine Frage an das Schicksal frei zu haben,"
sich der Beihe nach zuschicken und deren letzte endlich dem Geplag-
ten in vier meistentheils dunklen Versen Befriedigung seiner Neu-
gierde gewahrt. Die einzelnen Spalten der Tabellen welche, je
nach Beschaffenheit der gestellten Frage , einzusehen sind, werden
durch Würfel bestimmt, worauf die Zahlen, statt in Ziffern, in Buch-
staben (Ebdsched Hewes) notirt sein sollen. Im Nothfalle können
solche Würfel auch durch die Hände ersetzt werden, wo dann die
Gesammtzahl der von zwei Personen gleichzeitig ausgestreckten Fin-
ger die Numer der einzusehenden Tabelle angibt.
Das Ganze hat in so fern Interesse, als es beweist, welch'
ferner Vergangenheit das Urbild jener vielfältigen Copien angehört,
die später in Europa unter verschiedenen Titeln und veränderten
Formen als Gesellschafts- und Kinderspiele so grosse Verbreitung
gefunden haben.
i) Siehe das Juliheft des Jahrganges 1855 der Sitzungsberichte der philos.-histor. Classe
der kaiserl. Akademie der Wissenschaften, XVII. Bd., S. 157 ff. (Auch besonders
abgedruckt.)
2
Bericht über die zu Konstantinopel erschienenen orientalischen Werke. 461
Im Laufe des Jahres d. H. 1271 erschienen hier nachstehende
Blei-Druckwerke.
Nr. 309. Osmanische Geschichte von Chairullah Efendi *)• Das
vorliegende achte Bändchen 3) derselben, 176 Seiten stark, erschien
Mitte Rebi-ulewwel o. J. (December 1854) und beschreibt in zwei
Abschnitten (Fassl) die mit der Regierung Sultan Mohammed des
Eroberers gleichzeitigen Weltereignisse, dessen Verwaltung, die
Eroberung Konstantinopels, Serbiens und Moreas, die Feldzüge
gegen Scanderbeg u. s. w. Seite 85 findet sich eine Stelle die,
soviel dem Berichterstatter bekannt, bisher in keiner europäischen
einschlägigen Geschichte aufgeführt erscheint und als charakteristisch
für die Persönlichkeit des genannten Sultans hier erwähnt zu werden
verdient. Sie lautet wörtlich :
„Als Sultan Mohammed (nach Besichtigung des eroberten
„Byzanz) in sein Zelt zurückkehrte, zog ihm das Corps der Ulema
„entgegen welche, im Einverständnisse mit dem Grosswefir Chalil
„Pascha, für Aufschiebung der Belagerung gestimmt hatten. Sie
„priesen Gott dafür, dass er ihr Gebet erhört und dem Sultan das
„schwierige Unternehmen erleichtert habe. Der Sultan hingegen,
„welcher, mancher früherer Ungebührlichkeiten halber, gegen die
„Gesetzgelehrten aufgebracht war, gab seinem Ärger freien Lauf und
„antwortete: Euch habe ich nichts zu danken, zum Siege verhalf
„mir einzig und allein dieser da, wobei er auf den in seinem Gürtel
„steckenden Säbel deutete. Die Ulema verstummten."
Nr. 310. Biographien berühmter europäischer Staatsmänner 3),
ein Octavband von 202 Seiten , aufgelegt in der hiesigen Staats-
druckerei Mitte Schaban (April 1855). In der Vorrede erzählt der
Verfasser, Abro Sohak, Armenier von Geburt und Beamter im Über-
setzungsbureau der Pforte, der sich selbst als „unbedeutender,
armseliger und mangelvoller Unterthan" betitelt, dass er, um
einen schwachen Beweis seiner Bewunderung für die täglich fort-
schreitende Civilisirung seines Vaterlandes abzulegen, und zugleich
a) Der Inhalt der sieben vorhergehenden wurde bereits früher beschrieben.
462 v. S c hie ch t a-Ws s ehr d.
einheimischen Ministem nützliche Vorbilder zu liefern, die Absicht
hege , monatlich je einen Band Biographien berühmter Staatsmänner
des Abendlandes erscheinen zu lassen, wozu mittelst des vorliegen-
den ersten Theiles der Anfang gemacht werde. Dieser enthält in türki-
scher Übersetzung nach Amadee, Bastide, Capefigue u. s. w. die
Lebensbeschreibungen Talleyrand's , des Fürsten Metternich, Lord
Wellington^, Grafen Nesselrode's und Lord Palmerston's, dessen
lange Parlamentsrede über die Beziehungen Englands zum Conti-
nente, gleichfalls ins Türkische übertragen, den Schluss bildet.
Unschöne Porträte der beschriebenen Persönlichkeiten sind in Holz-
schnitt beigegeben.
Die Übersetzung, obwohl im Ganzen vorzüglich, leidet stellen-
weise an dem Fehler, in welchen europäisirte Morgenländer wie auch
europäische Übersetzer aus dem Orientalischen so häufig verfallen;
sie will zu getreu sein , nimmt mehr auf den Ausdruck als auf den
Geist der Sprache Bücksicht und wird daher oft unverständlich.
Nr. 311. Kitab ol Kuduri *), Ende Silkide (August 1855),
in obiger Anstalt aufgelegt, Octavband von 156 Seiten, durchaus
arabisch, enthält in 43 Büchern das dogmatische Werk über
die religiösen Vorschriften des Islams vom Scheich Ebul Hasan
Elkuduri aus Bagdad. Commentirende Glossen laufen neben dem
Texte auf den Bändern fort.
Nr. 312 Chul äset ul - Munschiat3), d. h. Ausgewählte
Schriftmuster, ein Klein-Octavband von 119 Seiten, ohne Datum,
aufgelegt in der Druckerei der türkischen Privat-Zeitung, verfasst
von Ahmed Said Efendi, Schreiber im Cuntrolorainte der grossh.
regulären Truppen, enthält Formulare von Epitheten, Bittschriften,
Briefen und Documenten aller Art in türkischer Sprache, wobei, wie
es in einer Bandglosse zur Vorrede heisst, mit Vermeidung aller
veralteten Ausdrücke, vornehmlich auf dasBedürfniss und die Schreib-
weise der Gegenwart Bedacht genommen worden ist.
Nr. 313. Hadiket-ul- Wufera, d. h. Garten der Wefire, ein
Kleiu-Octavband von 292 Seiten , aufgelegt in der genannten
Privat-Druckerei ohne Angabe des Monates der Veröffentlichung.
Das in türkischer Sprache abgefasste Werk, welches übrigens bereits
x) ^j-^1 ^l^ 8) o£~i! L^^U.
Bericht über die zu Konstantinopel erschienenen orientalischen Werke. 463
in der Hammer-Purgstall'schen Sammlung in der k. k. Hofhibliothck
zu Wien handschriftlich existirt, zerfällt in 4 Theile, deren jeder
abgesondert pagioirt ist. Der erste und umfangreichste enthält die
Biographien der osmanischen Grosswefire seit dem ersten derselben
(Alajeddin Pascha) bis zu Rami Mehmed Pascha unter Sultan Mustafa
dem Zweiten. Seite 130 gibt Aufschluss über den Autor dieses
1. Theiles Osmanfade Taib Efendi.
Derselbe, Sohn eines unbedeutenden aber vermögenden Pforten-
beamten, studirte die Gesetzwissenschaften, bekleidete zu wieder-
holten Malen Professorstellen in verschiedenen Akademien (Medrese)
und erreichte endlich durch die Gunst des damaligen Grosswefirs
Damad Ibrahim Pascha die einträgliche Stelle eines Kadhi von Kairo,
als welcher er im Jahre d. H. 1036 (1724) mit Tod abging.
Der zweite Theil (86 Seiten) setzt die Biographien bis Said
Mehmed Pascha unter Sultan Osman III. fort. Dessen Verfasser nennt
sich Dilaweragafade Omer und bekleidete unter Mustafa dem Dritten
die Würde eines Reis Efendi.
Der dritte Theil (50 Seiten) aus der Feder Ahmed Dschawid
Beys, eines Seraibeamten unter S. Selim dem Dritten, führt die
Lebensbeschreibungen bis Jusuf Sia Pascha weiter, unter dessen
Grossvvefirat, mit Beiziehung englischer Hilfe, Ägypten den Fran-
zosen abgenommen wurde.
Der vierte Anhang endlich schliesst sichdem vorigen unmittelbar
an und endet mit der Biographie des tragischen Alemdar Mustafa
Pascha, des unfreiwilligen Mörders und zugleich Rächers seines Herrn
und Gönners Selim des Dritten. Verfasser dieses letzten Theiles ist
ein gewisser Abdulfettah Schäfkät aus Bagdad.
Nr. 314. Tarichi Dschewdet1), d. i. Geschichte, verfasst
von Dschewdet. Von diesem vorzüglichen Werke über die Begeben-
heiten des osmanischen Beiches seit dem Frieden von Kainardsche
(1188) (1774) sind bisher 2 Bände erschienen, in deren nähere
Besprechung der Beferent nicht eingeht, weil der Inhalt derselben
bereits in Hammer - Purgstall's bezüglichem Berichte 2) ausführlich
geschildert worden ist.
*) 03j> <£jU
2) Im Novemberhefte des Jahrganges 1853 der Sitzungsberichte der philos.-histor.
Gasse der kaiserl. Akademie der Wissenschaften , XVIII. Bd., S. 3. (Auch besonders
abgedruckt.)
464 v. Schlechta-Wssehrd.
Ahmed Dschewdet, deren Verfasser, ist gegenwärtig Kadhi von
Galata und bekleidet gleichzeitig den Posten eines Reichsgeschichts-
schreibers oder Staatschronisten der h. Pforte. Sein Werk will er,
wie auch im Vorworte gesagt ist, bis zur Epoche der Janitscharen-
Vertilgung fortführen. Der dritte Band befindet sich unter der Presse.
Lithographien.
Multeka elebhur *), d. h. Zusammen flu ss der Meere.
Ein Band von 215 Seiten Octav, in der Staatsdruckerei Anfangs
Redscheb vollendet, enthält den arabischen Text dieses berühmten
Compendiums islamitischer Dogmatik und Rechtsgelehrsamkeit sammt
commentirenden Randglossen, von Ibrahim El-Halebi. Schrift und
Steindruck sind von besonderer Zierlichkeit.
Netaidsch ul-Efkiar2), d.h. Denkresultate, Octavband von
219 Seiten, Mitte Redscheb in obiger Anstalt erschienen, umfasst
zwei arabische Commentare des gleichfalls in arabischer Sprache
abgefassten grammatikalischen Werkes Mehmed Birgewi's, betitelt 3):
„Aufhellung der Geheimnisse." Der erstere dieser beiden Commentare
läuft regelmässig auf der Mitte des Blattes fort und hat zum Ver-
fasser Scheich Mustafa Ibn' Hanife, beigenannt Ethwa.
Der Autor des zweiten, in Form von Randglossen neben dem
mittleren Texte umherlaufenden, nennt sich Scheich Mehmed Ibn'
Ahmed Seinifade. Sein Werk führt den Titel Feth - ulesrar, d. h.
Erschliessung der Geheimnisse. Mehmed Birgewi oder Birgeli lebte
bekanntlich unter der Regierung Suleiman des Grossen und verfasste
unter andern auch einen islamitischen Katechismus, welcher noch
gegenwärtig die Grundlage des Primär- Schulunterrichtes im osmani-
schen Reiche bildet.
Meli ah u Im iah 4), d. h. Reiz der Wasser, Heft von 22 Seiten,
vollendet in der Staatsdruckerei am 15. Redscheb (4. April 1855),
verfasst im Jahre 1216 (1801 — 1802) vom Sohne des Scheich-
ul-islam Aaschir Efendi, dem gegen Ende 1226 (zweite Hälfte
Decembers 1811) gestorbenen Seriasker von Rumelien Elhadsch
Mehmed Hafid Efendi. Der Abhandlung gehen auf drei Seiten drei
Lobgedichte voraus. Über denselben prangt ein Holzschnitt, zwei
i> ^i\ j±. 2) ysli\ gc a) j\j^i\ j\^\ 4) »ui *V
Berieht über die zu Konstantinopei erschienenen orientalischen Werke. 46S
von Bäumen beschattete Fontainen darstellend, eine Anspielung auf
den Inhalt des gepriesenen Productes. Nicht minder passend beginnt
die Abhandlung selbst mit jenem Koran-Verse *) der, ein arabisches
Seilenstück zu dem hellenischen „Towp npayp.dT(jw aotarov," im
Oriente fast jeden öffentlichen Brunnen schmückt und wohl auch im
Occidente über dem Eingange zu Kaltwasser-Heilanstalten zu prangen
verdiente, dem Eintretenden Leben und Gesundheit verheissend.
Hierauf erzählt der Verfasser, wie ihm sein Aufenthalt in einem
Landhause auf der reizenden. Höhe von Dschamlidsche am asiati-
schen Ufer des Bosphorus den Gedanken eingab, die als vorzüglichst
gerühmten Brunnen und Quellen der Umgegend Konstantinopels mit-
telst der Wasserwage und des Thermometers zu untersuchen und
das Ergebniss seiner Experimente in der gegenwärtigen Schrift
niederzulegen. Als über jedes irdische Gewässer erhaben, preist
er zuvörderst das Wasser des heiligen Brunnens Semfem in Mekka,
dessen wunderbare Köstlichkeit und Heilkraft nicht minder durch
eine Überlieferung aus dem Munde des Propheten als durch die
Erfahrung der davon schlürfenden Pilger bewiesen und gerühmt wird.
Das seiner Ansicht nach zunächst beste , weil leichteste und
geschmackvollste Wasser ist das Begenwasser. Von diesem behaup-
tet der Verfasser auf Grundlage persönlicher Versuche, dass solches
im April gesammelt, sich in reinen und sehr scharfen Essig ver-
wandelt, wenn man davon 10 Okka (beiläufig 22ya W\ Pfde.)in einem
Gefässe durch 40 Tage aufbewahrt, nachdem man 25 Drachmen
Rosinen, in ein Säckchen gebunden, während des bemerkten Zeit-
raumes darin liegen gelassen hat. An das Regenwasser reiht sich
jenes der Ströme und Quellen. Das Ideal allen Wassers aber wäre
jenes, in welchem sich folgende acht Bedingungen vereinigt fänden:
Steiniges Bett, starker Fall, Leichtigkeit und Fähigkeit zu schnellem
Erwarmen und Erkalten, rasches Ausströmen, Mächtigkeit und Fülle
wodurch die Aufnahme schädlicher Bestandteile verhindert wird,
guter Geschmack, langes Binnen, und hochgelegener, der Luft und
Sonne zugänglicher Ursprung, endlich Fluss von Süden nach Norden,
oder von Westen nach Osten. Die meisten dieser Kriterien sind dem
Wasser des Niles eigen, daher dieser auch vorzugsweise den
') "^^ ^^ ^P **' sj^ LLä-s.- d.h. Durch das Wasser geben allem Sein wir Leh
en.
466 >'. Schlechta-Wssehrd.
Beinamen des „gesegneten" verdient. Diesem Ideal am nächsten kommt
destillirtes Wasser, hierauf natürliches Quellwasser, dann Röhren-
und Cisternenwasser welches jedoch, seiner Absperrung halber, und
namentlich im Winter, wegen des damit sich mengenden Schnees
als Trunk eben nicht anzurathen ist, dann Brunnenwasser welches
meistentheils dieselben Nachtheile hat. Noch schädlicher ist Teich-,
Sumpf- , salziges , bitteres , warmes schwefel- und sonst mineral-
hältiges Wasser welches letztere, kalt getrunken, nachtheilig wirkt.
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen geht der Verfasser auf die
Beschreibung der einzelnen beliebtesten Quellen in der Nähe Kon-
stantinopels über. Diese sind der Reihe nach: Die Quelle von
Tschamlidsche, die der begeisterungstrunkene Autor als Padi-
schah der Gewässer begrüsst; leider verträgt ihr Wasser den Trans-
port nicht. Kestane suju, d. h. Kastanienwasser, eine Quelle auf
dem europäischen Ufer des Bosphorus, nahe bei Bujukdere. Kai'sch
bunari, d. h. Riemenquell, eine Stunde oberhalb Scutari, wo in
neuester Zeit die britischen Schwadronen ihre Pferde tränkten. Die
Quelle von Sultan tsehiftligi auch in jener Gegend. Das Wasser
von Kara kulak in dem schattigen Thale von Cbunkiar Eskelesi
(Kaiserscala) in Asien, gegenüber von Bujukdere. Das Wasser von
Kuskuli, auf einer asiatischen Anhöhe. Die Quelle von Miri achur
Köschki(d. h. vom Kiosk des Stallmeisters) im Thale der europäischen
süssen Wasser, wenig geschätzt. Gümisch suju, d. h. Silber-
wasser, in Asien bei Sultanie am Bosphorus. Tokmak suju bei
Stenia in Europa. Das Wasser von Haikali , 3 Stunden von Konstan-
tinopel. Tscheke suju bei Nikomedien; das Wasser dieses Quells
wird als Geschenk nach Konstantinopel gebracht. Nerchdschi
suju am europäischen Ufer des Bosphorus. Turundschli suju,
2 Stunden ausserhalb der Hauptstadt. Kirk dscheschme, d. h. die
vierzig Quellen. Das Wasser von Nafir Aga bei Ejub, auch
B üründs chikl i Ajasma, d. h. Schleier - Weihquell genannt.
Tholaji oder Dolaji bunari bei dem alten Schlosse auf der
asiatischen Seite des Bosphorus.
Schliesslich werden noch einige Verhaltungsmassregeln in Bezug
auf das Wassertrinken überhaupt angedeutet, worauf historische Daten
über den Bau einiger Fontainen und mehrere Chronogramme folgen, wo-
mit das Büchlein schliesst. Wie wichtig gutes Trinkwasser für eine Nation
ist, welcher ihr religiöses Gesetz geistige Getränke untersagt, bedarf
Bericht übei die ^11 Koustautinopel erschieueuen orientalischen Werke 4u7
keiner Erwähnung. Der Koran verheisst den Gläubigen als eine der
köstlichsten Gaben der ihnen bevorstehenden Seligkeiten „einen rei-
nen Trunk. u Ausserdem schreiben die Morgenländer dein Wasser
weit grössere Einwirkung auf die Gesundheit zu als dies in Europa
angenommen wird. Der Ausdruck für „Acelimatisirung" lautet im
Orientalischen „Vertrautwerdung mit Wasser und Luft." Es kann
daher nicht Wunder nehmen, dass die eben besprochene Broschüre
für die muselmanische Bevölkerung mehr Interesse hat und in zahl-
reicheren Exemplaren abgesetzt wird als so manches andere Press-
erzeugniss , welcher Umstand auch die ihm geweihte längere
Besprechung entschuldigen möge.
Ein 38 Seiten starkes Octavheft, am lö. Bedscheb in der Staats-
druckerei erschienen. Dasselbe führt keinen Titel und enthält die
poetischen und prosaischen Leistungen eines osmanischen Gesetz-
gelehrten Namens Mehmed Aarif Efendi , der im Jahre 1262
(Februar 1849) als Titular-Kafiasker in Brussa mit Tod abging.
Seine Biographie welche jedes weitere Interesse entbehrt, bildet
den Eingang des Büchleins, worauf zwei Briefe des Verstorbenen
in türkischer Prosa, und ein Vorwort aus seiner Feder zu einem aus
dem Englischen übersetzten geographischen Werke , als Muster sei-
nes ungebundenen Styles folgen. Die nächsten zwanzig Seiten ent-
halten Gedichte vermischten Inhalts; den Schluss bildet ein kurzer
Diwan. Dichterischen Werth hat das Ganze so wenig, dass der
Beferent sich vergeblich bemühte eine Stelle aufzufinden, die verdient
hätte in Übersetzung der Aufmerksamkeit des deutschen Lesers
empfohlen zu werden.
Chat im et ul E schär i), d. h. Schlussfolge der Dichtungen,
ein Band von 460 Seiten farbigen Papieres, herausgegeben in der
lithographischen Anstalt des hiesigen Fortifications-Corps. Die ersten
drei Blätter enthalten Lobgedichte zu Ehren des Verfassers und sei-
nes Werkes. In der Vorrede wird bemerkt, dass schon der Prophet
den hohen Werth der Poesie anerkannte, indem er dem Dichter Kab
Ihn* Sobeir zur Belohnung für ein ihm vorgelesenes Gedicht sein
eigenes Kleid zum Geschenk machte, und zwar dasselbe welches
noch gegenwärtig im alten Serai alljährlich einmal der Verehrung
Sitzb. d. phil.-hiflt. Cl. XX. Cd. III. Ilft. 31
408 v- Sch leeht a-Wssehrd.
der Gläubigen ausgesetzt wird. Daher hätten auch die osmanischen
Herrscher jederzeit der Poesie ihren besonderen Schutz angedeihen
lassen und zum Theil auch selbst der edlen Versekunst gehuldigt,
als da Ahmed III., Selim III. u. a. m. Aus demselben Grunde sei man
auch immer bemüht gewesen die Biographien osmanischer Dichter
nebst Blüthenlesen aus ihren Leistungen mittelst eigener Sammel-
werke (Teskere) der Nachwelt zu bewahren. Die beiden jüngsten
dieser Teskere von Mirfafade Salim und Ssefai Efendi gingen nicht
über das Jahr 1135 m. Z. (1723) hinaus, wesshalb Fathin Efendi.
der Verfasser , auf Anrathen einiger ausgezeichneter Männer, es
unternommen habe , jene Encyklopädien bis zum heutigen Tage fort-
zusetzen. Diese Fortsetzung bildet den Inhalt des gegenwärtigen
Buches. Die einzelnen Dichter folgen sich in alphabetischer Ordnung
nach dem Anfangsbuchstaben ihrer Namen an einander gereiht. Jeder
Biographie geht eine Gedichtprobe, länger oder kürzer, voraus; die
Sprache (türkisch) ist schwungvoll und gewählt. Die meisten Staats-
männer und hohen Würdenträger der Pforte haben in ihren Musse-
stunden auch Poesie, oder, wie die Araber diese so sinnig benen-
nen, „erlaubte Magie-' getrieben und erscheinen desshalb gleichfalls
biographisch geschildert, was dem Werke gewissermassen auch einen
politisch-historischen Werth verleiht. Fathin Efendi bekleidet ein
unbedeutendes Amt und lebt in kümmerlichen Verhältnissen. Der
letzte Vers des vierzeiligen Chronogramms, womit er seine Leistung
beschliesst, und worin gesagt ist, „dass sein Werk besonders schön
gedruckt sei ," ist leider der Wahrheit nicht gemäss , da die
Lithographie zu den schlechtesten der hier erschienenen gezählt
werden muss.
Medschmäi M u nschiat J)< d. b. Sammlung von Schrift-
mustern, ein Octavheft von 150 Seiten, aufgelegt in der Lithographie
der grossen Kaserne in Pera, hat einen gewissen Ahmed Said Efendi
zum Verfasser der Concipistendienste in der Controlorkanzlei für die
regulären Truppen versieht. Die Hässlichkeit und Fehlerhaftigkeit der
Schrift und Lithographie sind des geschmacklosen Inhaltes würdig.
Taabirname 2), d. h. Buch der Traumdeutung, eine Broschüre
in Klein-Octav von 64 Seiten; der Druckort ist nicht angegeben.
*) OU^o 7*«sS- 2) AäU/UäJ
Eforichi Sber die zu Konstantinopel erschienenen orientalischen Werke 469
Der türkische Text ist durchaus mit Vocalzeichen versehen, was
anzudeuten scheint, dass die Arbeit für den Volksgehrauch bestimmt
ward, ihr vollständiger Titel lautet: „Traumauslegungsbuch des Pro-
pheten (Frieden über ihn), welches als Randglosse zu dein berühm-
ten Traumdeutungsbuche Muhaijeddin Arabi's beigefügt worden ist."
Inder Vorrede wird dieselbe als eine Übersetzung, zusammengetragen
aus Ibn' Serin (Seirein?) und mehreren anderen einschlägigen Pro-
ducten, bezeichnet. Als Einleitung folgt eine kurze Abhandlung über
Träume im Allgemeinen. Diese sind bedeutungsvoll oder nicht. Von
den bedeutungsvollen gibt es drei Gattungen : Tebschir, nämlich
Freudiges ankündigende, Tahrir, d. i. warnende, und IIb am, d. i.
inspirirte Träume. Alle drei sind von Gott gesendet. Träume ohne
Bedeutung sind ebenfalls dreifacher Kategorie, nämlich Chäbi
himmet, d. i. durch moralische Aufregung, Chäbi illet, d. i.
durch Krankheit, Chäbi scheitan, d. i. durch Einflüsterungen des
Dämons hervorgerufene Träume. An diese allgemeinen Bemerkungen
reihen sich 53 Abschnitte enthaltend die Auflösungen der Traum-
räthsel je nach dem geträumten Gegenstande. Die Randglossen geben
weitere Anleitungen über die Traumarten und deren Deutung. Dem
Büchlein ist ein Verzeichniss auf 6 Seiten angehängt, welches Auf-
schluss über die Bedeutung des Gliederjuckens gibt, einer andern
Gattung Aberglaubens, die im Oriente sehr verbreitet ist und wohl
auch in Europa unter dem Landvolke zahlreiche Bekenner zählt. Die
erste Spalte bezeichnet den Leibestheil in dem sich das Jucken fühl-
bar macht, die fünf übrigen Spalten bestimmen das entsprechende
Ereigniss welches durch das Jucken angekündigt wird, und zwar
nach fünf verschiedenen Autoritäten : Dschafer Ssadik, Danial oder
Daniak, Sulkarnein, Selman, Ssoheib.
Tarichi Ali Osman li Ssolakfade *)> d. h. Geschichte der
osmanischen Dynastie von Ssolakfade, Klein-Folioheft von 83 Seiten,
eine Art Prachtausgabe, indem die Titel und bemerkenswerthesten
Stellen durchgehends mit Bronzefarbe und theilweise in goldene
Vignetten gedruckt sind. Die lithographische Anstalt, aus der die-
selbe hervorgegangen, ist nicht angegeben. Das vorliegende Heft
enthält übrigens nur einen Abschnitt der benannten Geschichte, denn
31
470 v. Sclilechta-Wssehrd. Bericht über die zu Konstantinopel ersch. Werke.
es schliesst bereits mit der Regierung Sultan Bajefid Jildirims, wah-
rend Ssolakfades Werk bis zum Jahre 1054 (1644) fortläuft. Ham-
mer-Purg stall welcher es benützte, nennt es „das brauchbarste aller
Compendien osmanischer Geschichte." Mehmed Hemdemi Ssolakfade
mit dem Beinamen Miskali, ward in Konstantinopel geboren, wo er
auch, nach Einigen im Jahre 1060 (1649) nach Anderen 8 Jahre
später, gestorben ist. Mit dem Rufe des Geschichtsschreibers ver-
band er jenen eines Dichters und Musikers.
Arne th. Vortrag bei Überreichung zweier Werke etc. 471
SITZUNG VOM 21. MAI 1856.
Gelesen:
Vortrag des Regierungsrathes Arnelh, bei Überreichung
zweier Werke von Vicomte Emmanuel de Rouge und
Professor Roth.
(Mit 1 Tafel.)
Der Vicomte Emmanuel de Rouge hat mir folgendes Werk für
die kaiserl. Akademie der Wissenschaften zugestellt:
Notice sommaire des Monumens Egyptiens exposes dans les
Galeries du Musee du Louvre par le Vicomte Emmanuel de Rouge,
Membre de l'Institut, Conservateur honoraire des Monumens Egyptiens
au Musee du Louvre. Paris 1855.
Indem ich die Ehre habe, diese Muster-Notiz über eine so grosse
Sammlung, wie die der ägyptischen Alterthümer im Louvre, zu über-
geben, kann ich nicht umhin einige Bemerkungen über diese treff-
liche Arbeit beizufügen.
Es ist Ihnen bekannt, dass in Frankreich ungemein viel Material
für ägyptische Alterthumskunde, insbesondere seit der Expedition
nach Ägypten durch Napoleon im Jahre 1798 — 1800, zusammen-
gebracht wurde; es ist Ihnen ferner bekannt, welch' ungemeines
Prachtwerk *) Napoleon über Ägypten in alterthümlicher wie natur-
geschichtlicher Beziehung veröffentlichen Hess. Ein Theil der
*) Description de Pl£gypte. Eines der schönsten Prachlwerke, dessen erste von Napoleon
im Jahre 1809 veranstaltete Auflage sehr selten und anfangs sehr kostbar war, so dass
Pancoucke später die Erlaubniss ansuchte und erhielt, die Platten zu einer /.weilen
bequemeren und wohlfeileren Auflage benutzen zu dürfen.
472 Arneth.
Alterthümer fiel nach der Schlacht bei Aboukir als Siegesbeute in die
Hände der Engländer; unter diesen war der Schlüssel zum Lesen
ägyptischer Schriften, der Stein von Rosette mit zweisprachiger
Inschrift. — Ein Engländer Young fand zuerst das Mittel, diesen
Schlüssel zu gebrauchen; der Franzose Champollion jedoch er-
öffnete damit ein weites Feld von Entdeckungen. Diesen scharf-
sinnigen Mann sandten die Bourbons nach Ägypten, um die geistigen
Eroberungen Napoleon's fortzusetzen. Karl X. liess eine Reihe von
Zimmern des Louvre prachtvoll für die Aufnahme ägyptischer Alter-
thümer herrichten. Unter der gegenwärtigen Regierung wurden
treffliche Erdgeschosse für die grossen und schweren Monumente und
im ersten Stocke für die leichteren mehrere Säle in Stand gesetzt,
so dass jetzt die Räumlichkeiten des grossartigen Louvre für die
ägyptischen Alterthümer zu den schönsten und zweckmässigsten
gehören, die man wünschen kann, obschon sie für die neuen Erwer-
bungen, die Mariette, mit kaiserlichen Mitteln in Ägypten durch
die glücklichsten Ausgrabungen begünstigt, in überraschender Menge
zusammenbrachte, nicht mehr hinreichen. In der That, nirgends als
in London und in Paris kann so an den wirklichen Monumenten der Ver-
gleich von denen Chaldäa's wie Ägyptens gemacht werden , obschon
die in London von Ninivc u. s. w. aufgestellten ungleich merkwürdiger
sind als die in Paris. Vielleicht kann ich Zeit finden, Ihnen einiger-
massen den Anblick vor Augen zu führen, den im brittischen Museum
der richtig ausgeführte Grundsatz, dass nur das Sammeln heisst, dass
ähnliche Dinge zusammengestellt werden , hervorbringt ; denn hier
stehen reihenweise alle grossen Monumente des alten Ägyptens, alle
grossen Monumente Chaldäa's, Lyciens und Griechenlands und zwar
das Vollendetste, besonders von Letzterem, beisammen. Die Monumente
des menschlichen Geistes in diesen vier Epochen und vier Ländern
bilden den grössten wie unerreichbaren Schmuck in dieser Gattung
Denkmale im brittischen Museum.
Das häufig übersehene, jedoch nichts desto weniger grosse
Verdienst der Ordner grosser öffentlicher Anstalten besteht in der
Feststellung von richtigen Principien der Ordnung. Ähnliche Grund-
sätze gelten bei Bibliotheken, Archiven, Naturalien-, Bilder- und
Münz-Sammlungen; zur Aufstellung von Systemen in diesen Fächern
gehört offenbar eine gewisse Schärfe des Geistes und Folgerichtig-
keit des Denkens, wie Beharrlichkeit in der Ausfüllung. Eben diese
Vortrag: bei Überreichung' zweier Werke ele. 47 d
Eigenschaften werden von Ordnern archäologischer Sammlungen
erfordert, aber alle müssen von einem gewissen Gefühle für Schön-
heit, diesem Quell der das menschliche Herz am meisten ansprechen-
den Hervorbringungen, durchdrungen sein, so wie die archäologischen
nicht selten einen so grossen Kreis von Jahrtausenden umfassen, als
Archive und Bibliotheken von Jahrhunderten.
Vicomte Rouge hat insbesonders den Schönheitssinn im über-
raschenden Masse bei der Aufstellung der ägyptischen Alterthümer
im Louvre an den Tag gelegt; indem er das ganze Gebiet der
ägyptischen Archäologie beherrscht, hat er die vorhandenen Gegen-
stände wissenschaftlich gesondert und dann mit dorn ihm eigenen
Kunstsinn und unglaublicher Detailausführung zur Anschauung ge-
bracht, und um diese Anschauung auch weiteren Kreisen mitzutheilen,
das Ihnen vorliegende Werk verfasst.
Erdgeschoss wie erster Stock gehören zu den günstigsten Loca-
litäten in Bezug auf Licht und sonstige Zurichtung, fast könnte die im
ersten Stock für zu prächtig angesehen werden, es waren jedoch vor-
handene Räume, in welche die Alterthümer gebracht werden mussten
und diese gewiss sehr heikliche Aufgabe hat Vicomte Rouge trefflich
gelöst.
Die Arbeit muss man sehen , um sie zu beurtheilen , die aber,
die ich Ihnen vorzulegen die Ehre habe, werde ich nun in ihre
Hauptfächer auflösen, um Ihnen einen Begriff zu geben, welch" schönes
Resumc von grossen Anstrengungen dieselbe enthält.
Wie sehr ich den Grundsatz billige, den der Verfasser aus-
geführt, habe ich wohl in manchen meiner literarischen Versuche
dargethan, den Grundsatz nämlich: in der Einleitung den Standpunct
anzugeben, auf welchem die Wissenschaft, um die es sich handelt,
jetzt steht. Auf eine ähnliche Weise ist auch der Verfasser des
vorliegenden Werkes verfahren; er hat in der Vorrede über die
ägyptische Archäologie überhaupt gesprochen, über Cham p oll ion's
grosse Verdienste, wie auch über die des mit königlicher Munificenz
durch Lepsius herausgegebenen Prachtwerkes und der Arbeiten
Brugsch's, die sich insbesondere auf demotische Schrift beziehen.
Auf diese Einleitung folgt eine trefflich geschriebene Übersicht
der auf Monumente gestützten Geschichte Ägyptens, in welcher auf
die häufigen Verbindungen zwischen Israel und Ägypten, auf die
Herrschaft des letztern über Mittel -Asien durch mehr als fünf
474 A r n e t h.
Jahrhunderte, daher auch der häufige Verkehr zwischen Ägypten,
Assyrien und Phönizien, hingewiesen wird.
Auf die Ühersicht der Geschichte folgt die der Zeitrechnung,
über die es unmöglich ist bestimmte Thatsachen anzugeben.
Die Beschreibung beginnt mit den im Saale Heinrich's IV. zu
ebener Erde aufgestellten Sphinxen, Statuen, Statuetten und Gruppen.
Besonders merkwürdig sind in diesem Saale der Koloss von Seti IL,
Enkel des Sesostris, und die Sphinxe, von denen eine Rarases-
Meiamoun, den Sesostris der Griechen, die andere Menephtah, den
Sohn des Sesostris, vorstellen.
Hier findet sich auch eine treffliche Sammlung von Stelen, Bas-
reliefs und Sarkophagen, in denen auf dem Grunde gewöhnlich die
Göttinn der Unterwelt eingearbeitet ist, auf welcher die Mumie ruhte.
Ich gebe Ihnen hier1) eines der schönsten Bilder des Amenthes
auf den schönsten der bisher bekannt gewordenen Sarkophage,
welcher ein Geschenk des Herrn Hofrathes Anton Bitter v. Laurin,
sich im k. k. Museum im untern Belvedere befindet und füge Ihnen
die Erzählung des Vorganges bei, wie ich auf die Entdeckung dieser
ungemein trefflichen Darstellung des Amenthes kam.
Sie erinnern sich meiner Beschreibung des Sarkophages. die
ich die Ehre hatte Ihnen am 26. Jänner 1853 vorzutragen2). Sie
können sich meine Freude vorstellen, meine damals ausgesprochene
Ansicht bestätiget zu finden, dass dieser Sarg der schönste an Arbeil
sei, der bisher bekannt geworden; denn nicht nur ward diese Ver-
rnuthung durch die Besichtigung der ähnlichen Monumente in Berlin,
London und Paris, sondern auch durch Herrn Mariette bekräftigt,
der mich im Hofe des Louvre zu Paris mit den Worten begrüsste:
Vous avez le plus beau sarcophage egyptien qui existe. (Ich setze
hinzu : wir haben auch den schönsten griechischen, und den Entwurf
eines der schönsten cinquecentistischen für Kaiser Maximilian I.
von Collin, sämmtliche im untern Belvedere.)
Als der ägyptische Sarkophag aufgestellt wurde, zeigte es sich
bald, dass der unterste Theil mit einem vom hölzernen Sarge welcher
im steinernen eingeschlossen war, noch erübrigten, mit Asphalt be-
festigten Brett zugedeckt sei. Nach der Schönheit der Arbeit dos
*) Siehe die Tafel.
a) Sitzungsberichte der k- Akademie der Wissenschaften, .lanner 1853
Vortrag bei Überreichung zweier Werke etc. 475
ganzen Sarkophages zu urtheilen, zweifelte ich keineswegs, dass auf
dem Steinboden ebenfalls das Bild des Amenthes eingearbeitet sein
werde. Da jedoch auf einem andern, gleichfalls von Herrn v. Laurin
herrührenden, schönen Sarkophage dies nicht der Fall war, so blieb
die Möglichkeit noch immer übrig, dass dies auch hier nicht ge-
schehen sei. Der vielen anderwärtigen Arbeiten wegen, da über-
dies das einmal entfernte Brett nicht wieder auf den Asphalt auf
ähnliche Art zurückzubringen wäre, wenn, wider Vermuthen, keine
Figur sich darunter befände, Hess ich die Sache auf sich beruhen.
Als Graf Rouge hier ankam und ich ihm mit dem grössten Ver-
gnügen die k. k. ägyptische Sammlung zeigte und ihm gestattete,
so viel er wollte, davon abzuzeichnen, befragte ich ihn um seine
Meinung, ob er auch, wie ich, die Vermuthung hege, dass am
Grunde die Gestalt des Amenthes eingegraben sei; Graf Rouge
bestärkte mich in meiner Ansicht, und so Hess ich Asphalt und
Mumienbrett mit Behutsamkeit himvegnehmen, worauf diese vorzüg-
liche Vorstellung des Amenthes zum Vorschein kam. Der Name und
die Würden des Bestatteten sind sowohl auf den Seiten des Amenthes,
wie auf dem hölzernen Brett und dem Sarge selbst angebracht, also
eine merkwürdige Bestätigung, dass alles zusammengehört habe. Die
Befestigung der Mumie auf dem Boden des Sarkophages mittelst
Asphaltes und einer dichten Oberlage Peches, das heiss auf den
Asphalt gegossen wurde, wornach man den hölzernen Sarkophag mit
der eingeschlossenen Mumie darauf legte, wie die verbrannte Rück-
seite beweiset, ist bisher nicht beobachtet worden.
Ausser diesem Sarkophage fand Herr v. Rouge in der k. k. ägyp-
tischen Sammlung noch vorzüglich eine Pyramide aus Kalkstein des
Sesostris sehr merkwürdig. Er kömmt darauf vor mit dem Namen
Ramses-Meiamoun oder auch einfach Ses; daraus erhellt, dass Ses
der populäre Name des grossen Eroberers war.
Man kennt einen Cartousch, auf dem man Seson liest und manch-
mal Sesonre. Diesen Cartousch, schrieb mir Herr v. Rouge, wusste man
früher nicht zu bestimmen. Er gehört jedoch, nach dieser Pyramide
zu urtheilen, dem Ramses-Meiamoun, daher der Name Sesostris bei
den Griechen. Die Form Sesoosis (Zzaooioig) bei Diodor — 34 a —
entspricht den von Seson ohne der Endung re. Obschon der Graf
Rouge alle grösseren Anstalten der Art kennt, so schrieb er mir doch :
„Votre cabinet m'a interessä an dernier point". Besonders war es
476 Arneth.
ein Papyrus der seine Aufmerksamkeit auf sich zog, von welchem
ich ihm eine sorgfältig gemachte Durchzeichnung schickte , so wie
vor Kurzem eine von Herrn Rath, Director des Museums Sr. Durch-
laucht des Fürsten Metternich zu Königswarth , sehr schön ausge-
führte Photographie und Durchklatschung einer der, man kann fast
sagen, Wunder der ägyptischen Kunst auf einer Stele, welche Sen-
dung die Bekanntschaft des Herrn v. Rouge mit mehr als 500 Stelen,
auf angenehme Weise vermehren wird.
Um wieder zum Werke des Herrn v. Rouge zurückzukehren, so
will ich Sie noch aufmerksam machen, dass im Erdgeschosse noch
ein Saal den Ausgrahungen des Herrn Mariette bestimmt ist, welcher
die Katakomben des Apis bei Aboukir fand , wo diese Stiere von
Memphis begraben wurden.
Der Dienst des Apis als zweiter Gottheit von Memphis dauerte
von den ältesten Zeiten bis zur Cleopatra und ihrem Sohn Caesarion,
da der erste Gott in Memphis Ptah hiess. Aus Osiris-Apis machten
die Griechen Serapis oder todter Apis, da jeder Todter dem Osiris
verglichen wurde — daher Osiris-Apis oder Sarapis.
Es findet sich hier auch die Grabschrift auf den Apis, welchen
Cambyses verwundete, als er zornig über den verfehlten Zug gegen
die Äthioper zurückkehrte und Memphis im Freuden -Taumel über
den gefundenen Apis sah. 518 vor Christo.
Treffliche Sachen enthält der Saal der Monumente der ersten
Dynastien Ägyptens.
Auf der Stiege welche das Erdgeschoss mit dem ersten Stocke
verbindet, sind einer der Löwen des Serapeums und schöne sehr grosse
Canopus Vasen aufgestellt, welche der erstgeborne Sohn des Sesostris-
Scha- ein -tarn dem Apis widmete; ferner mehrere Statuen, zwei
schöne Sarkophage und zwei Pyramiden.
Im ersten Stocke empfängt der I. oder der historische Saal den
Besucher.
Ungemein reich ist in diesem Saale die Sammlung von Gold-
gegenständen, obschon im Juli 1830 viele abhanden kamen. Auf
rothen Carneolen ist der Name Scha-em-tam des Sohnes Ramses II.
Aus der Feinheit dieser Arbeiten sieht man, wie gross die Kunstfer-
tigkeit der Ägyptier, die zur Zeit des Moses so treffliche Dar-
stellungen in Gold und in die härtesten Steine einzuschneiden wussten,
und wie begreiflich es daher wird, dass Moses die Namen der zwölf
Vortrag bei Überreichung zweier Werke etc. 477
Stämme Israels auf zwei Schildern in zwölf Steine eingegraben unter
dem Namen Urirn und Thumim auf der Brust trug *)•
Der zweite Saal ist für die Alterthümer des häuslichen Lehens
in Ägypten bestimmt. Der Mensch sieht so gerne die Beweise, dass
er mehr oder minder immer der nämliche war, dass nur Modificationen
eintreten, dass das Wesen aber sich gleich bleibt — wir sehen diese
Erscheinung mit besonderem Vergnügen auf alten Monumenten , und
mit um so grösserem, je älter diese sind. In der Abtheilung der Kämme
mussten gerade die schönsten unter die assyrischen eingereiht werden,
weil sie erwiesenermassen, obschon in ägyptischen Gräbern gefunden,
doch aus Assyrien stammen , woraus ersichtlich wird, dass die Damen
der damaligen Zeit den assyrischen Gebräuehen und Industriezweigen
huldigten. Wie anziehend sind z. B. auf griechischen Vasen Lebens-
weisen, welche den unseren gleichen ; so auch die Instrumente aller
Art auf den römischen Familien-Münzen. Bei den Monumenten Ägyp-
tens wächst die Theilnahme uin so mehr, weil sie eine unendliche
Zeit von uns trennt, und weil die Email-Arbeiten die hier vorkommen,
zu dem Schönsten was jetzt gemacht werden könnte, zu rechnen sind,
wie Ringe und Siegel die trefflichsten Muster abgeben können. Bronze-
Arbeiten gleichen den besten unserer Art in Stahl und Eisen, wie
kleine Messer und grössere zum Bart abnehmen, die in Gestalt wie
die englischen aussehen.
Der dritte Saal ist für die Gegenstände welche zur Bestattung
gehören, bestimmt.
Dem Ceremoniell bei Begräbnissen und den diesfälligen religiösen
Anschauungen verdanken wir den grössten Theil der ägyptischen
Monumente.
„Line grande doctrine" — sagt der Vicomte de Rouge — „domine
tout le Systeme funeraire des anciens Egyptiens, et presida, depuis
les temps les plus recules, ä tous les rites qui aecompagnaient l'em-
baumement et la sepulture, ainsi qu' ä tous les emblemes qui couvrent
les cercueils et les sculptures des tombeaux; c' est l'immortalite de
Tarne. Cette immortalite etait plus specialement promise aux ämes
qui auraient ete reconnues vertueuses par Osiris, juge des enfers.
Elles devaient rejoindre leur corps et Tanimer dune nouvelle vie
que la mort ne pourrait plus atteindre. L'ensemble de cette doctrine,
l) Bell er mann, Urim nml Thumim, Berlin 1824.
478 ■ Arneth.
vraiment nationale en Egypte, ressort clairement de ce que nous
pouvons deja comprendre dans les textes du rituel funeraire. Ce livre
sacre dont chaque momie devait porter un exemplaire plus ou moins
complct, contient une serie dhymnes, de prieres et d'instructions,
dont une partie est specialement destinee aux diverses ceremonies
des funerailles. On y trouve aussi les doctrines dont la connaissanee
etait regardee comme necessaire a Tarne humaine pour jouir de tous
les biens attaches a la proclamation de sa vertu. Le chapitre II est
consacre ä la vie qui commence apres la rnort, et le chapitre XLIV
enonce formellement que cette nouvelle vie ne sera plus sujette a la
mort. "
„Tel est donc le principe general qui a regi tous les rites fune-
raires des anciens Egyptiens, et sans nier los raisons sanitaires que
le climat justifie si hicn, cette croyance a certainement exerce la
plus grande influence sur la coutume d'ernbaumer les corps, pour les
conserver autant que possible dans leur integrite."
„Suivant la promesse contenue dans le chapitre LXXX1X du
rituel funeraire. Tarne justifiee, une fois parveoue ä une certaine
epoque de ses peregrinations, devait se reunir ä son corps, pour
n' en plus etre Jamals separee."
So bedeutend auch die Kenntnisse über ägyptische Mythologie
erweitert worden sind, so sind wir doch noch weit entfernt, sie zum
Abschlüsse bringen zu können. Die Namen von einer grossen Menge
mythischer Wesen sind gelesen; nicht so leicht aber ist der Zusam-
menhang zwischen denselben anzugeben.
An der Spitze des ägyptischen Mythus steht der Cultus der
Sonne welche jeden Tag entstehen macht, indem sie sich aus dem
nächtlichen Himmel emporschwingt, und daher, so zu sagen, jeden
Tag aus sich selbst gebiert; sie war unter dem Namen Ra in ganz
Ägypten verehrt, indess so viele andere mythische Wesen in
verschiedenen Städten und zwar blos in diesen ihre Verehrung
hatten. Ptah war vorzüglich zu Memphis in Verehrung, sein Sohn
Imhotep ist die Gestalt welche eine aufgeschlagene Rolle auf den
Knieen hält; in Paris ist eine Statue desselben von Granit, auf der
aufgeschlagenen Rolle steht sein Name.
Hermonlhis verehrte den Mond. Auf anschauliche Weise be-
schreibt Hr. v. Rouge Anhour und Moui, Ma, Selk-und, Pacht, von
der in allen Museen mehr oder minder treffliche Statuen vorkommen;
Vortrag bei Überreichung aweier Werke etc. 47 J
ferner beschreibt Rouge die Statuen von Nowre-Atoum, Hobs, Ilathor,
deren Köpfe, wie die Säulen-Capitäle ihrer Tempel, fast immer mit
den Ohren einer Kuh versehen sind. Auch Netpe erscheint oft in
den Sarkophagen als die Gestalt welche sich über die Mumien aus-
streckt. Die Vorstellungen des Sev sind sehr selten ; desto häufiger
die des Osiris und der Isis, und ihrer Schwester Nephthys, welche
ein Körbchen über einem Hause auf dem Kopfe trägt ; der durch
den Schakals - Kopf charakterisirte Gott ist Anubis, er kömmt so
häufig vor, wie die vier Söhne des Osiris: Amset, Hapi, Tiou-
Mautew, Kevah-Senouw; gleichfalls kömmt häufig vor das Bild des
Thoth, des Schreibers der Götter und des Herren des göttlichen
Wortes; so auch das Bild des Horus, des Sohnes Osiris und der Isis;
über die verschiedenen Functionen desselben wie über Bes schreibt
Hr. v. Rouge sehr unterrichtend.
Die grösste Belehrung gewährt freilich das vorliegende Buch
erst dann , wenn man es in den Räumen des herrlichen Louvre mit
den Monumenten selbst vergleicht und dem Verfasser dankt, dass er
eine so lichtvolle Aufstellung in den Gegenständen wie in der gelehrten
Beschreibung, die Ergebnisse einer tiefgehenden Gelehrsamkeit die
er sowohl hier wie in anderen Werken *) vielfach erprobt bat , mit
gefälliger Darlegungsweise verbindet und zum Nutzen den solche
Anstalten leisten können, am kräftigsten beigetragen, ja diesen Nutzen
allein ermöglicht hat.
Bewundernswerth ist aber das Talent des Verfassers in der
belehrenden Aneinanderknüpfung der verwandten Dinge, ungemein
sinnreich die Benützung jedes Umstandes, um das Monument so
angenehm als möglich für den Beschauer und so lehrreich als mög-
lich für den Forscher zu machen.
Der Hr. Vicomte Emmanuel de Rouge hat in der That den
grössten Antheil daran, wenn der Zweck den die Gründer solcher
Anstalten vor Augen haben, im reichsten Masse erfüllt wird — der
i) a) Explication d'une Iuseription egyptienne, prouvant que les auciens Egyptiens ont
conmi la generation eternelle du fils de Dien. (Annales de Ja philosophie chretienne
1851.)
b) Notiee sur an manascrit egyptien en ecriture hieratique, e'crit sous le regne de
Merienpbthah, fils du granä" Ramses vers le XV«' siecle avnnl l'ere chretienne.
(Athenaenm francais. irc anfeee 1852.)
c) Notiee de quelques textes hieroglyhiques recemment publica par M. Greene par
M. le Vicomte de Rouge. (Extrait de l' Athenaenm francais) Paris 1855.
480 A r ii e t h.
Zweck Dämlich: Belehrung zu gewähren, die Wissenschaft, die
Kunst, die Industrie, die Vaterlandsliebe zu fördern, dass diese indirect
die Zinsen des Capitales welches die Anschaffung solcher Anstalten
benöthigte, im reichsten Masse eintragen.
Kaum wird wo anders als in Frankreich und England es so klar,
dass öffentliche Anstalten für Wissenschaft und Kunst, unter denen
die Sammlungen vielleicht den ersten Rang einnehmen, zugleich auch
die Symbole der Macht und Einheit eines Staates sind , und dass sie
den Nationalreichthum wesentlich fördern, indem sie den Producten
aller Art die besten Vorbilder zeigen ; oder kann man glauben, dass in
London 2,000.000 Menschen (von Christabend 1850 bis Christabend
1851 sogar 2,527,216) das britische Museum jährlich ohne Nutzen
besuchen *), oder dass in Paris seit Colbert, d. i. seit 200 Jahren
die öffentlichen Sammlungen in den bequemsten Räumen zur freiesten
Benützung fruchtlos offen stehen? Schon hat im Jahre 1850 Hr. H.
Brugsch3) dem Hrn. Vicomte einen Tribut seiner Hochachtung
gebracht.
Es gewährt mir ein lebhaftes Vergnügen, in obigen Worten den
Hrn. Vicomte de Rouge ein Zeichen der Anerkennung zu geben, wie
sehr er immer das Studium der ägyptischen Alterthümer durch sein
Wirken begründet und fördert.
Ausser dem Werke des Hrn. Vicomte de Rouge habe ich noch
folgendes von Hrn. Prof. Roth zu überreichen:
„Die Proclamation des Amasis an die Cyprier bei der Besitz-
nahme Cyperns durch die Ägypter um die Mitte des sechsten Jahr-
hunderts vor Christi Geburt. Entzifferung der Erztafel von Idalion
in des Herrn Herzogs von Luynes „Numismatique et Inscriptions
Cypriotes" von Dr. E. M. Roth, ordentlichem öffentlichen Professor
der Philosophie und des Sanskrit an der Universität zu Heidelberg.
Paris, Henri Plön; Heidelberg bei C. Mohr. 1855."
!) British Museum. An Account of the Incomeand E xpen di tu r e of the British
Museum, for the Financial Yenr ended 31. March 1855; of the Estimated
Charges and Expenses for the Year ending 31. March 1856, and Sinn
necessary to Discharge the saine : Numbcr of Persons adniitted and Progress of
Arrangement. (Lord Seymour) ordered by the House of Commons, to be printed.
18. April 1835.
a) Übersichtliche Erklärung ägyptischer Denkmäler des königl. neuen Museums zu
Berlin. 1830.
Vortrag bei Überreichung zweier Werke «•!<• 4ö I
Es ist gerade ein Jahr, dass der gelehrte Verfasser des oben
angeführten Werkes dasselbe dem Herrn Herzoge von Luynes wid-
mete. In der Widmung sprach Professor Roth seinen Dank gegen
den Herzog aus, den er bat, ihm die Typen zu der herauszugeben-
den Schrift zu leihen; der Herzog aber Hess das Werk mit der ihm
eigenthümliehen Grossmuth sogleich drucken und schön ausstatten,
wie ich es hier Ihnen im Namen und auf Ersuchen des Verfassers
vorzulegen die Ehre habe. Professor Roth schrieb mir : „Wie Sie aus
der Vorrede" — zu vorliegendem Werke — „ersehen werden, habe
ich diese Arbeit, obgleich sie ein an sich selbst höchst interessantes
Document betrifft, doch vorzugsweise in der Absicht unternommen,
eine Probe von der wissenschaftlichen Entzifferungs- Methode zu
geben , die ich auch bei der Lesung und Übersetzung der Hierogly-
phen anwende, und die mich zu einer grammatisch und philologisch
eben so sicheren Interpretation hieroglyphischer Texte geleitet hat,
als sie nur immer bei einem griechischen oder lateinischen Schrift-
steller möglich ist." . . . „Ich entschloss mich, durch die Entziffe-
rung eines (mit den Hieroglyphen) verwandten , in ebenfalls ganz
unbekannten Charakteren geschriebenen Documentes eine Probe
meiner Methode zu geben, aus der man ersehen könnte, wie weit
meiner Behauptung Vertrauen zu schenken sei. Ich hoffe, dass meine
Arbeit den strengsten Anforderungen der Kritik genügen wird , denn
ich habe sie gerade zu diesem Zwecke mit einer so gewissenhaften
Vollendung bis in die kleinsten grammatischen Details ausgeführt,
wie sie sonst bei solchen, gewöhnlich sehr hypothesenreichen For-
schungen wohl selten stattfindet."
Indem ich hier, mit Übergehung der Entzifferung der Schrift-
zeichen, die Inschrift von Idalion, von Herrn Roth ins Deutsche über-
setzt mittheile, deren Facsimile der Herzog von Luynes in seinem
sehr schönen und gelehrten Werke „Numismatique et Inscriptions
Cypriotes." Paris 1852. tabl. VIII et IX mit grosser Sorgfalt veröf-
fentlichte, glaube ich Sie hinreichend auf selbe aufmerksam zu
machen :
„Entnommen wird die Angst, verscheucht der Greuel der Ver- 1
Wüstung durch diese Bekanntmachung der Hauptstadt. Genug ist's
der Strafe, genug hat diese Insel gezittert vor der Verwüstung; und
wieder aufgerichtet j erhebt »ich Salamis zur Beseitigung der Angst. 2
Genug ist's der Busse, die Herzen der Verächter schreckt der
482 A r ii e l h.
3 Bundesvertrag der Hauptstadt und schneidet ab die Furcht, | den Quell
der Unterjochung. Genug ist die Insel zertreten. Gegen sich seihst
wüthete die Insel, gegen ihr eigenes Innere. Nun naht ihre Freude.
4 Wiederhergestellt | hat Ägypten das Bündniss, die Hoffnung des armen
zerrütteten Amathus, Idalion und Salamis. Genug der Busse ist dieser
ii Bundesvertrag | der Insel, der zertretenen Insel. Er ward geordnet als
Hoffnung einer Ordnung von dauerndem Bestand, und wieder aufge-
6 richtet hat Ägypten die heruntergesunkene Insel, | die Insel von Sala-
mis. Genug hat Amathus gezittert. Eine Anordnung zur Freude, ein
7 Ausfluss der Gnade ist diese Verbindung; sie ward errichtet | als eine
Anordnung zur Freude, zur Beschirmung und Integrität der Insel
von Salamis. Genug der Busse ist dieser Bundesvertrag. Genug zer-
8 treten ist die Insel, | die Insel von Amathus. Siehe, Bedauern erregte
Salamis, Bedauern die Insel, die arme Insel. Nun ist ein Ende
9 gemacht dem Frevel und der Drangsal, | der Ursache der Verwüstung
dieser Insel und ihrer Zerrüttung unter Thränen und erbarmenden
Wehklagen. Genug ist's der Verwüstung. Gekommen ist derSchlussj
in der Kriegsleiden , neues Leben empfangen Salamis und die Städter.
Siehe, die Zerstörte lebt wieder auf, ja, neues Lehen gibt der Bun-
M desvertrag | der zerrütteten Insel, neues Leben der Verwüsteten und
der Zerstörten. Er schneidet ab die Furcht und Angst der bedräng-
12 ten Insel. Und es beschirmt | Ägypten ihre Integrität; ja durch Ägyp-
ten wird ihre Integrität beschirmt. Beweis ist der Bundesvertrag der
13 Insel; der zertretenen Insel, | der ihr Ruhe verkündigt und freudigen
Abschluss, und Beschirmung einer freudebringenden Ordnung; ein
14 Ausfluss (der Gnadeist dieses Bündniss, eine Anordnung) | dieses
Vertrages zwischen der Hauptstadt Ägyptens und der zertretenen
15 Insel, und er vertilgt die Furcht von Idalion und Salamis. | Genug ist's
der Busse. Er errichtet eine Ordnung von Bestand und Hoffnung, eine
10 Ordnung der Freude, die da vertilgt die Unterdrückung | der Gewalt,
und Salamis schützt. Genug der Busse ist dieser Bundesvertrag. |
17 Errichtet ward er als eine Anordnung der Freude, als eine Stütze
von Amathus. Siehe, Mitleid erregt Salamis, Mitleid und Erbarmen
18 der Frevel; | Mitleid die Verwüstung und Entheiligung und Zerstörung
unter Thränen, die Ungerechtigkeit einer erbarmenswerthen Drang-
19 sal. Genug ist's der Zerstörung. | Herbeigekommen ist der Schiusa
der Kriegsleiden und es hört auf das Weinen, die Angst und der
20 Mord und die Vertilgung. Genug ists der Angst, | Gebrochen wird der
Vortrag bei Überreichung sweier Werke >'tc. 4ö»J
Schrecken des Frevels und die Furcht der Zerrüttung. Genug ist's
der Drangsal und des Kampfes der Insel. Unvergällt soll die Freude
sein, | und der Hader gestraft nach ägyptischem Gesetze. Wiederauf- 21
leben soll der Elende, und aufhören das Wehklagen , die Angst, die
Beraubung und Plünderung, | ein Ende nehmen die Rache. Genug ist's 22
der Verwüstung. Herbeigekommen ist der Schluss der Kriegsleiden,
Wiederaufleben sollen Salamis | und die Städter. Siehe, fern sei Tau- 23
schung, es lebt in Wahrheit wieder auf (Salamis nämlich); ja neues
Leben erhält durch den Bundesvertrag die verwüstete Insel | durch 24
diesen Bundesvertrag Amathus.' Siehe, es schirmt Achme die zerrüttete
Insel, es beschirmt Ägypten ihre Integrität, | durch Ägypten wird ihre 25
Integrität beschirmt. Beweis ist der Bundesvertrag, der ihr Ruhe
verkündigt, und einen freudebringenden Abschluss und die Beschir-
mung einer freudebringenden Ordnung, | die da aufhebt die Unter- 26
drückung der Gewalt. Er beschirmt das Ansehen (des Gesetzes)
und hemmt die Ausübung der Bedrängungen; er hemmt und schneidet
ab die Bedrückung | von Salamis. Genug ist's der Busse, des Nieder- 27
brennens der abgeschnittenen Saat. Bedauern erweckt die Ausdeh-
nung | der Verwüstung. Überdruss erregte der Hauptstadt die Angst 28
der Gemüther, die Ausrottung der Städter. Siehe, | sie gewährt 29
Schutz, ja, sie vertilgt die Angst der Gemüther, belebt die Hoff-
nung des Volkes, erbarmt sich des Zagenden | und vertilgt das Weh- 37
klagen; genug ist die Insel zerrüttet. Sie hebt auf, was erpresst hat
die Gewalt der Unterdrückung und des Raubes; genug und hinrei-
chend ist die Insel verheert, j Sie gewährt Heilung (und) lässt wieder 38
aufleben die gänzlich niedergesunkene Hoffnung der armen Insel; sie
tilgt die Angst der Gemüther."
Es würde die Grenzen des Berichtes weit überschreiten, wenn
ich Auszüge aus der „grammatischen Begründung der vorhergegan-
genen Übersetzung", aus der „Sacherklärung der Inschrift" geben
wollte.
Bei dieser Gelegenheit kann ich wirklich nicht umhin, Sie
aufmerksam zu machen, welche grosse Verdienste der Herzog von
Luynes sich um Wissenschaft und Kunst schon seit geraumer Zeit
erwirbt.
Seit dem Wiederaufleben der Wissenschaft und Kunst werden
wenige Privaten mehr dafür gewirkt haben als eben der Herzog; er
hat selbst die trefflichsten Werke verfasst, sie im Drucke heraus-
SiUb. d. phil.-hist. Cl. XX. Bd. III. Hft. 32
484 Am eth.
gegeben1), er hat die Herausgabe anderer Werke2) aufs Gross-
müthigste unterstützt oder möglich gemacht, er besitzt selbst die treff-
lichsten Sammlungen in allen Richtungen, er beschenkte die öffent-
lichen Institute mit den kostspieligsten Monumenten, wie erst jüngst
das Louvre mit dem Sarkophage des Esmunazar, Königs von Sidon,
worüber er zugleich ein sehr schönes Werk veröffentlichte. Wie gross-
artig die Anschauungsweise der antiken Kunst von Seite des Herzogs
von Luynes ist, hat er gewiss durch so viele Werke an den Tag
gelegt, insbesondere aber auch, wie er keine Kosten scheut, um
diese zu bethätigen, dass er nach den Ideen die er sich von der
Bildsäule der Pallas auf der Akropolis zu Athen machte, dieselbe im
dreifach verjüngten Massstabe ausführen Hess. Die Wissenschaft und
Kunst nicht blos der antiken Welt, sondern auch des Mittelaltersund
der neueren Zeit, in dieser auch durch die interessanteste Vereinigung
mit der Industrie, finden in dem Herzoge von Luynes einen der
grössten Beförderer, auf den nicht leicht ein anderer Name besser
passt, als dessen Begriff mit dem Worte Mäcen ausgedrückt wird.
Leider besitze ich zu wenig Kenntnisse, um Ihnen das grosse
Verdienst des Herrn Herzogs von Luynes in allen Beziehungen zu
schildern, noch weniger, um die des Herrn Professors Roth hinläng-
lich zu beschreiben, und bekenne um so leichter über das vorliegende
Werk mich alles Urtheils zu enthalten, da unser grosse Orientalist
mir mit nachahmenswerthem Beispiele, diese Sache der Zeit zu über-
lassen, vorgegangen ist.
*) a) Me'taponte. Paris 1833, Fol., mit 10 Kupfertafeln.
b) Etudes numismatiques sur quelques types relatifs au eulte d'Hecate. Paris 1835, 4.
c) Description des Vases peints. Mit 43 Kupfertafeln. Paris 1840, Fol.
d) Choix des raedailles grecques. Paris 1840. Mit 17 Kupfertafeln, Fol.
e) Essai sur la Numismatique des Satrapies et de la Phenicie sous Ies rois Achae-
menides. Paris 1846, 4.
f) Supple'ment ä TEssai. Planches XVII. 4.
g) Numismatique et Inscriptions Cypriotes. Paris 1852, 4.
h) Memoire sur le Sareophage et Plnscription funeraire d'Esmunazar, roi de Sidon.
Paris 1856, 4.
~) a) Recherehes sur Ies monuments et 1' histoire des Normands et de la Maison de
Souahe dans 1'Italie meridionale. Publiees par Ies soins de Mr. le Duc de Luynes,
Membre de l'Academie des Inscriptions et Belles-Lettres. Texte par Hui Mar d-
Breholles, Traducteur de Matthieu Paris. Dessins par Victor Bai ta rd
Architecte. Paris 1844, Fol.
b) Die Proclamation des Amasis etc. etc.
Aenetk. Amenti.es auf dem Boden eines ägypt. Sarkophage« in (l.kk.aaypi.S.-imiuluii'j".
SiUuRg«li.lk.Atai.d.lCphilo8rhi8tor.Cl.XXJi.S.Heft.t856.
Vortrag bei Überreichung zweier Werke etc. 4oO
Diese Zeilen waren schon lange geschrieben, um dem Wunsehe
des Herrn Einsenders nachzukommen , Ihnen das genannte Werk
zu überreichen, als ich auf andere Lesearten des merkwürdigen
Monumentes von Dali aufmerksam gemacht wurde. Wie der Herzog
von Luynes Herrn Professor Ewald in Göttingen aus Liebe zur
Wissenschaft und Wahrheit photographische Abbildungen des Sarges
des Esmunazar mittheilte, mit gleicher Liebe zu beiden theile auch
ich die Titel dieser Werke mit, wenn sie auch auf ganz andere Re-
sultate führen als das überreichte Buch, es sind diese die Arbeiten
des Herrn Professors Ewald1).
*) Götting. gel. Ang. 1835, 177. St., 1836. 3 St. Den ersteren geantwortet von Hrn.
Roth, Heidelberger Jahrb. d. L. 1836. Nr. 1.
Erklärung der grossen phönikischen Inschrift von Sidon und einer ägyptisch-
aramäischen, mit den zuverlässigen Abbildern beider v. H. Ewald. Göttingen 183(i.
32°
486 Dr. Pfizmaier.
Vorgelegt :
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche von dem
Friedensschlüsse von Sung bis zur Versammlung der Reichs-
fürsten in Schin. {Vom Jahre ö4rS bis 538 vor Christo.)
Von dem w. M., Herrn Dr. Pfizmaier.
VORWORT.
Der im letzten Jahre des vorhergehenden Zeitraumes abgeschlos-
sene Vertrag von Sung hatte zum Zweck, den seit langer Zeit gestör-
ten inneren Frieden in China wieder herzustellen. Zugleich enthielt
er die Bestimmung, dass die Oberherrschaft fortan von den zwei Rei-
chen Tsin und Tsu gemeinschaftlich geübt werden solle. Die Folge
davon war , dass die Reichsfürsten sich beinahe ausschliesslich um
die Gunst des für den Augenblick mächtigeren Tsu bewarben, wäh-
rend das um diese Zeit an innerer Zerrüttung leidende Tsin von ihnen
vernachlässigt wurde. Die Behandlung der kleinen Reiche von Seite
der Träger dieser Hegemonie war, nach den hier verzeichneten Bei-
spielen zu schliessen, übermüthig genug. So wurde der Gesandte von
Tsching an der Grenze des Reiches Tsu zurückgewiesen und ihm
bedeutet, dass sein Gebieter, der Fürst von Tsching, persönlich zu
erscheinen habe. Tse-tschan, Prinz von Tsching, erhielt in Tsin
ein schlechtes Wohngebäude und wurde nicht vorgelassen. In der
Versammlung von Kue (541 vor Chr. Geb.), bei welcher jedoch nur
die Gesandten der Reichsfürsten erschienen, wurde der Vertrag von
Sung erneuert. Gegenstand einer eigenthümlichen Behandlung wurde
hier wieder das Reich Lu. Dasselbe hatte sich nämlich durch seinen
Angriff auf Khiü eines Bruches des Reichsfriedens schuldig gemacht.
Der Prinz von Tsu stellte dafür einen Antrag auf Hinrichtung des
Gesandten von Lu, ein Schicksal, welchem derselbe nur durch Für-
sprache Tschao-wu1s, Regierungsvorstehers von Tsin, entging. Im
achten Jahre des Friedens endlich (538 vor Chr. Geb.) hielt Tsu in
Tsin um dieErlaubniss an, die Reichsfürsten für sich allein nach Schin
berufen zu dürfen, woselbst die Versammlung derselben auch stattfand,
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. 487
und in Folge dessen die früher mit Tsin getheilte Oberherrschaft aus-
schliesslich an Tsu überging.
Die übrigen hier verzeichneten Begebenheiten beziehen sich auf
innere Angelegenheiten der Reiche Lu, Tsching und Tsi.
£p£ FJ^i 53, das Jahr des Cyklus (545 vor Chr. Geb.). Acht-
undzwanzigstes Regierungsjahr des Fürsten Siang von Lu.
In diesem Jahre starben der Himmelssohn, König Ling und
Khang, König von Tsu.
Yeo-ke geht als Gesandter nach Tsu.
„Der Fürst von Tsai reiste nach Tsin. Der Fürst von Tsching
hiess Yeu-ke sich begeben nach Tsu."
Die Folge des im vorigen Jahre abgeschlossenen Vertrages von
Sung war, dass die Reichsfürsten von nun an sich um die Gunst des
Reiches Tsu bewarben , während sie den Himmelssohn und den Hof
des früher die Oberherrschaft übenden Reiches Tsin vernachlässigten.
In diesem Jahre erschien der Fürst von Tsai noch an dem Hofe von
Tsin; die Fürsten von Lu, Sung, Tschin, Tsching und Hiü jedoch
erschienen in eigener Person an dem Hofe von Tsu. Nur das Reich
Tsching wollte, wie hierzu ersehen, sich anfänglich durch einen
Gesandten vertreten lassen. Yeu-ke ist Tse-tai-scho.
„Er gelangte an den Han. Die Menschen von Tsu wiesen ihn
zurück."
Der Fluss Hau bildete damals die Grenze des Reiches Tsu im
Norden.
„Sie sprachen: Nach dem Vertrage von Sung beschämt der
Landesherr in der That uns in eigener Person."
In dem Vertrage von Sung wurde bestimmt , dass die Reichs-
fürsten persönlich an dem Hofe eines der beiden die Oberherrschaft
ausübenden Reiche erscheinen.
„Da jetzt du, mein Sohn, gekommen, so lässt unser Landesherr,
o mein Sohn, dir sagen, dass einstweilen du mögest zurückkehren."
„Wir werden entsenden einen Eilboten, damit er frage in Tsin,
und werden es euch dann melden."
488 '"■• Pfizmaier.
Tsu will in Tsin anfragen lassen, ob der Fürst von Tsching in
eigener Person erscheinen solle oder nicht. Das Ergebniss werde es
dann nach Tsching melden.
„Tse-tai-scho sprach : In dem Vertrage von Sung befiehlt euer
Landesherr, dass man leiten solle die kleinen Reiche. Hierauf heisst
er sie auch festsetzen ihre Landesgötter, in Ruhe halten und besänf-
tigen die Menschen ihres Volkes, vermittelst der Gebräuche empfan-
gen die Ruhe des Himmels."
„Dieses sind die Vorschriften eures Landesherrn, und auf die-
sem beruht die Hoffnung der kleinen Reiche."
„Unser Landesherr hat desswegen mich Ke entsandt, damit ich
reiche die Felle und Seidenstoffe."
-^ Ke ist Tse-tai-scho's Name.
„Weil das Jahr nicht leicht, erkundige ich mich bei dem unter-
sten Leiter der Geschäfte."
Der Fürst von Tsching war durch die in seinem Lande herr-
schende Hungersnoth verhindert worden persönlich zu erscheinen.
Der Gesandte spricht hier von dem Leiter der Geschäfte, weil er auf
den König von Tsu nicht offen anzuspielen wagt.
„Jetzt hat der Leiter der Geschäfte einen Refehl und sagt: Was
habt ihr zu verkehren mit der Regierung? Ihr müsset absenden euren
Landesherrn."
Die Grossen des Reiches Tsching seien nicht befugt, mit der
Regierung des Reiches Tsu zu verkehren.
„Er verlasse die Hut eurer Grenzen. Er übersetze die Berge
und die Flüsse. Er treffe auf Reif und auf Thau. Alles dieses, um zu
erfüllen den Wunsch unseres Landesherrn."
„Das kleine Reich setzt eben nur auf euren Landesherrn seine
Hoffnung. Darfes etwas anderes, als dem Befehle nur gehorchen?"
„Nichts ist, was nicht nach den Worten der Urkunde des Ver-
trages, dass es einen Bruch bewirkte in der Tugend eures Landes-
herrn."
„Aber dem Leiter der Geschäfte bringt uns keinen Nutzen."
Dieses gegen den Wortlaut des Vertrages , in welchem dem
Obigen zufolge gesagt wird , dass Tsu die kleinen Reiche leiten, d. i.
für ihren Nutzen sorgen solle.
„Die kleinen Reiche fürchten sich. Wäre dieses nicht , welche
Mühe würden sie wohl scheuen?"
Notizen stiis der Geschichte der chinesischen Reiche etc. 489
„Tse-tai-scho kehrte zurück und meldete den Vollzug des Be-
fehles."
„Er sprach zu Tse-tschen: Der Fürst von Tsu wird sterben!"
„Er ordnet nicht die Regierung, nicht die Tugend, und er hat
eine blinde Begierde nach den Fürsten des Reichs, um durchzudrin-
gen mit seinen Wünschen. Wird er wohl noch lange begehren können?"
Khang, König von Tsu, starb auch wirklich in diesem Jahre.
Tse-tschan errichtet vor der Hütte keinen Ertlwall.
„Tse-tschan stand als Minister zur Seite dem Fürsten von Tsching
und reiste mit ihm nach Tsu."
„Er errichtete vor der Hütte keinen Erdwall."
Es wurde erwartet, dass Tse-tschan vor dem Weichbilde
der Hauptstadt von Tsching einen Erdwall mit Stufen errichten werde,
um daselbst wie auf einem Altare zu opfern, was jedesmal geschah,
wenn der Landesherr die Reise nach einem fremden Hofe antrat.
Statt dessen Hess Tse-tschan nur eine Hütte von Gräsern bauen.
„Der äussere Diener sprach: Einst, wenn die früheren Grossen
des Reichs als Minister zur Seite der früheren Landesherren auszogen
nach einem Reiche der vier Gegenden, unterliessen sie es niemals,
einen Erdwall zu errichten."
Der äussere Diener hiess in Tsching ein Angestellter , dessen
Aufsicht die zum Opfern bestimmten Hütten und Erdhöhlen anver-
traut waren.
„Jetzt baust du eine Hütte von Gräsern. Wäre es nicht möglich,
dass dieses nicht geschehe?"
„Tse-tschan sprach: Wenn der Landesherr eines grossen Reiches
sich begibt in ein kleines Reich, so errichtet man einen Erdwall.
Wenn der Landesherr eines kleinen Reiches sich begibt in ein grosses
Reich, so baut man eine Hütte von Gräsern, sonst nichts. Wozu
brauchte man wohl einen Erdwall?"
„Ich Kiao habe es gehört: Wenn der Landesherr eines grossen
Reiches sich begibt in ein kleines Reich , so gibt es dabei fünf gute
Dinge."
Kiao ist Tse-tschan's Name.
„Man ist grossmüthig bei dessen Schuld. Man verzeiht dessen
Fehler. Man kommt ihm zu Hilfe bei Unglück und Betrübniss. Man
490 °r. Pfizmaier.
belohnt dessen Tugend und Gesetzlichkeit. Man belehrt es über das
was es nicht versteht."
Das so eben Angegebene sind die fünf guten Dinge.
„Das kleine Reich wird nicht ermüdet. Es erschliesst sein Herz
und unterwirft sich, als kehrte es nach Hause."
„Desswegen baut man einen Erdwall, damit man in das Licht
stelle seine Verdienste."
„Man verkündet es offenbar den Nachkommen, damit sie nicht
lass werden in ihrer Tugend."
„Wenn der Landesherr eines kleinen Reiches sich begibt in ein
grosses Reich, so gibt es dabei fünf schlechte Dinge."
„Man bekennt seine Schuld. Man bittet wegen seiner Gebrechen.
Man übt dessen Regierung. Man führt ein dessen Ämter und Ab-
gaben."
Das kleine Reich richtet sich in seinen inneren Angelegenheiten
nach dem Reispiele des grossen.
„Man leistet Folge dessen Befehl über die Zeit."
Wenn das grosse Reich einen Befehl hinsichtlich einer Zusam-
menkunft oder eines Besuches an dem Hofe ertheilt, so leistet das
kleine Reich Folge. Das so eben Angegebene sind die fünf schlechten
Dinge.
„Ist dieses nicht der Fall, so vermehrt man die Seide und die
Seidenstoffe, um Glück zu wünschen bei dessen Wohlergehen, und
seine Trauer zu bezeugen bei dessen Widerwärtigkeiten."
So oft dem grossen Reiche Glück zu wünschen oder Beileid
zu bezeugen ist , gibt das kleine Reich eine grössere Menge von
Geschenken.
„Alles dieses ist ein Unglück für das kleine Reich. Warum sollte
man bauen einen Erdwall, um in das Licht zu setzen sein Unglück?"
„Bei demjenigen was man zu verkünden hat den Söhnen und
Enkeln, ist es wohl erlaubt, nicht in das Licht zu setzen das Unglück."
Ngan-tse verweigert die Annahme einer Stadt.
„Bei der Empörung der Familie Thsui verlor man sämmtliche
Prinzen."
Im fünfundzwanzigsten Jahre des Fürsten Siang von Lu tödtete
Thsui-tschü den Fürsten Tschuang von Tsi, worauf sämmtliche
Prinzen von Tsi in die Verbannung gingen.
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. 4J1
„Als die Familie Khing in die Verbannung ging, rief man sie
insgesammt zurück."
Im Winter dieses Jahres wurde Khing-fung, der Genosse
Thsui-tschü's, vertrieben und floh nach Lu.
„Man beschenkte Ngan-tse mit Pi-tien. Der abhängigen Städte
waren sechzig."
Hp ^ Ngan-tse ist 4[h ^P ^ Ngan-ping-tschung.
S? Jfcfl Pi-tien ist eine der Hauptstädte von Tsi, zu welcher
sechzig kleinere Städte und Flecken gehörten.
„Er nahm es nicht an."
„Tse-wei sprach: Die Reichthümer sind etwas was die Menschen
wünschen. Warum wünschest du sie allein nicht?"
F? ^ Tse-wei ist das Haupt der von dem Fürsten Hoei
von Tsi abstammenden Familie jsj fe Heu-kao.
„Jener antwortete: Die Städte des Geschlechtes Khing genüg-
ten dem Wunsche. Desswegen ging es in die Verbannung."
„Meine Städte geniigen dem Wunsche nicht. Wenn man sie
vermehrt durch Pi-tien, so genügen sie dem Wunsche."
„Wenn sie dem Wunsche genügen, so gehe ich in die Ver-
bannung in nicht langer Zeit. In dem Auslande kann ich nicht regie-
ren eine einzige meiner Städte."
„Dass ich Pi-tien nicht annehme, geschieht nicht, weil ich die
Reichthümer hasse, sondern weil ich fürchte, die Reichthümer zu
verlieren."
„Auch sind die Reichthümer gleich den Seidenstoffen welche
eine Breite besitzen. Indem man sie auf ein Mass bringt, bewirkt
man, dass sie sich nicht lösen."
„Das Volk lebt im Überflusse und bedient sich des Vortheils."
Das Volk wird hier ebenfalls mit den Seidenstoffen verglichen.
„Hier ist die strenge Tugend, damit sie ihm eine Breite gebe.
Sie bewirkt, dass er sich nicht lostrennt. Dieses heisst: eine Breite
geben dem Vortheil."
„Ist der Vortheil übermässig, so geht er verloren."
„Ich wage es nicht, Begier zu haben nach Vielem. Dieses heisst:
eine Breite geben."
492 "'• Pfiamaier.
P T 54, das Jahr des Cyklus (544 vor Chr. Geb.). Neun-
undzwanzigstes Regierungsjahr des Fürsten Siang von Lu.
Dieses Jahr ist das erste Regierungsjahr des Königs |j| King
von Tscheu und des Königs ^ yM Kia-ngao von Tsu. In dem-
selben starb ferner Fürst Hien von Wei, und Fürst Yü-tsai vonU wurde
durch einen Eunuchen getödtet, wobei als bemerkenswerth hervor-
zuheben, dass der Name dieses Mannes, seiner niedrigen Stellung
willen, in der Geschichte absichtlich nicht genannt wird. Nach dem
Kue-yü war er ein Eingeborner des Reiches Yue, der von dem Fürsten
Yü-tsai bei der Rekriegung dieses Reiches gefangen genommen, von
diesem zur Rewachung der Schiffe verwendet wurde. Als der Fürst
eines Tages die Schiffe besichtigte, tödtete ihn der Eunuche mit
einem Schwerte, eine That deren Reweggrund Rache gewesen.
Ki-tscha sieht die Musikwerkzeage.
„Der Prinz Ki-tscha kam, sich zu erkundigen."
M, ^ Ki-tscha ist der Sohn des Fürsten Scheu-mung von U.
Derselbe erschien in diesem Jahre an dem Hofe von Lu.
„Er bat, sehen zu dürfen die Musik der Tscheu."
König Tsching vonTscheu hatte dem Reiche Lu gleich bei dessen
Gründung die Musik des Himmelssohnes geschenkt, aus welchem
Grunde in Lu sowohl die Werkzeuge als auch die Weisen der Musik
der Tscheu vollständig erhalten waren.
„Man Hess die Künstler für ihn singen die Lieder des Südens
von Tscheu und Schao."
Die Lieder des Südens von Tscheu heissen die von dem Fürsten
von Tscheu, Minister des Königs Tsching, gesammelten Lieder aus
Tscheu und dessen angrenzenden Gebieten. Die Lieder des Südens
von Schao wurden ebenfalls von dem Fürsten von Tscheu gesammelt,
und stammen aus Schao, dem Lande welches der Fürst von Schao,
ein anderer Minister des Königs Tsching, besessen.
„Er sprach: 0 wie schön! Im Anfange machte er sie zum Fuss-
gestell. Er kam noch nicht so weit."
Schon König Wei hatte vermittelst dieser Lieder die Umbildung
des Volkes begonnen, jedoch in Folge der Unordnungen des Königs
Tschheu von Schang waren die Wohlthaten der Umbildung noch nicht
der ganzen Welt zu Theil geworden.
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. 4.L>
„So bestrebte er sich und zürnte nicht."
Aus den Tönen dieser Musik lässt sich erkennen, dass König
Wen sich die Regierung angelegen sein liess, und von der Leiden-
schaft des Hasses frei war.
„Sie sangen für ihn die Lieder aus Poei, Yung und Wei."
Poei, Yung und Wei waren zur Zeit des Sturzes der Dynastie
Schang drei verschiedene Reiche. Als bald nachher Khang-scho, der
jüngere Bruder des Königs Wu von Tscheu , mit dem Reiche Wei
belehnt wurde, beherrschte er diese drei Reiche zugleich unter dem
gemeinschaftlichen Namen Wei. Obgleich diese Lieder hier ohne
Unterschied zusammengestellt werden, wird doch angenommen, dass
deren Melodien verschieden gewesen seien, was übrigens nicht zu
ermitteln.
„Er sprach : 0 wie schön! Welch' eine Tiefe!"
„Es sind diejenigen welche trauern, aber nicht ermüden."
Unter den Beherrschern des Reiches Wei führte Fürst Siuen
einen unordentlichen Lebenswandel, Fürst I wurde von den nördlichen
Barbaren getödtet. Das Volk trauert zwar in diesen Liedern , aber
es ermüdet nicht in seinem gerechten Wandel.
„Ich habe gehört: Die Tugend Khang-scho's und des Fürsten
Wu von Wei war so beschaffen. Es sind diese Lieder aus Wei !"
Fürst Wu war der neunte Beherrscher des Reiches Wei nach
Khang-scho. Nur dadurch, dass diese beiden Fürsten ihr Volk in
einem hohen Grade umbildeten, war dieses im Stande, solche Lieder
hervorzubringen.
„Sie sangen für ihn die Lieder des Königs."
Der König ist der König Ping von Tscheu, der seinen Wohnsitz
nach Wang-tsching (der Stadt des Königs) verlegte, und dessen
neunund vierzigstes Regierungsjahr das erste des Fürsten Yin von
Lu. Der Köni^ steht hier für dessen Reich.
„Er sprach: 0 wie schön! Sie sind kummervoll, aber frei von
Furcht."
Das Volk trauert wegen des Unterganges der Tscheu, aber im
Hinblick auf das Vermächtniss der früheren Könige fürchtet es sich
nicht.
„Dieses ist der Osten der Tscheu!"
Es lässt sich erkennen, dass diese Lieder nach der Übersiede-
lung der Tscheu nach Osten gedichtet wurden.
494 fr. Pfizmaier.
„Sie sangen für ihn die Lieder aus Tsching."
„Er sprach: 0 wie schön! Jedoch ist es schon zu weichlich.
Das Volk erträgt es nicht. Dieses ist sein früherer Untergang!"
Die Musik des Reiches Tsching war weichlich, ebenso die in
diesem Reiche gedichteten Lieder. Der Prinz tadelt dessen schwache
Regierung und erkennt aus diesen Liedern, dass Tsching schon einmal
zu Grunde gegangen, indem nämlich zur Zeit der Übersiedelung der
Tscheu nach Osten auch Wu , Fürst von Tsching, nach dem neuen
Tsching übersiedelte.
„Sie sangen für ihn die Lieder aus Tsi."
„Er sprach: 0 wie schön ! Welch' eine Fülle! Ein grosser Wind
fürwahr ! "
Der Wind ist die Kraft der Umbildung in diesen Liedern.
„Der als Grenzmarke setzte das östliche Meer, es ist er, der
grosse Fürst! Das Reich lässt sich noch nicht ermessen!"
Der erste Landesherr von Tsi war Liü-wang, der grosse Fürst
von Tscheu. Derselbe hatte das Meer als Grenze seines Reiches im
Osten bestimmt. Der Prinz meint, dass Tsi vielleicht wieder zu seiner
früheren Grösse gelangen werde.
„Sie sangen für ihn die Lieder aus Pin."
„Er sprach! 0 wie schön! Was für ein Umfang!"
„Hier ist Freude ohne Ausgelassenheit. Dieses ist der Osten
des Fürsten von Tscheu!"
Pin ist das Stammland der Tscheu. Diese Lieder entstanden zu
der Zeit, als der Fürst von Tscheu gegen den Osten zog, um daselbst
die Bildung zu verbreiten.
„Sie sangen für ihn die Lieder aus Thsin."
„Er sprach: Dieses nennt man die Töne der Hia. Was angehören
kann den Hia, besitzt die Grösse. Es ist das Gelangen zu der
Grösse!"
Das Reich Thsin war unter den westlichen Barbaren gegründet.
Erst zur Zeit Ytb |fe Thsin-tschung's, der durch König Siuen von
Tscheu neu eingesetzt wurde, fing es an sich zu vergrössern und
erhielt die Töne der Hia, d. i. die Musik des Mittelreiches. Die
Bedeutung des Wortes W Hia ist „gross".
„Dieses ist das alte Land der Tscheu!"
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. 4-«»b
Fürst Siang, der Enkel Thsin-tschung's, begleitete der König
Ping bei dessen Übersiedelung nach Osten und erhielt dafür das
ganze Gebiet der westlichen Tscheu.
„Sie sangen für ihn die Lieder aus Wei."
Das Reich ;r&J Wei wurde schon von dem Fürsten Hien von
Tsin vernichtet und mit dem letztgenannten Reiche vereint, daher
vermuthet wird, dass die Lieder aus Wei sämmtlich dem Reiche Tsin
angehören.
„Er sprach: 0 wie schön! Wie gemessen diese Töne! Sie sind
gross und doch gefällig."
In den jetzt vorhandenen Liedern aus Wei wird gewöhnlich die
Kargheit gerügt, daher der Ausdruck : „Sie sind gross und doch
gefällig" nicht zu erklären.
„Sie sind eingeschränkt und wandeln mit Leichtigkeit."
Wei war ein unfruchtbares, von Bergen eingeschlossenes Land,
dessen Wege gleichwohl sehr bequem waren. Die Bewohner schätzten
die Sparsamkeit.
„Unterstützt man dieses durch die Tugend, so ist man ein
erleuchteter Gebieter."
Ebenso kann man ein weiser Landesherr sein, wenn Sparsam-
keit der Stamm und Tugend die Stütze desselben ist.
„Sie sangen für ihn die Lieder aus Thang."
}=£? Thang: ist der alte Name des Reiches Tsin.
„Er sprach: 0 wie tief diese Gedanken! Sie haben das Volk
das hinterlassen das Geschlecht Thao-thang."
Thao-thang ist der Kaiser Yao, der den Fürsten von Tsin sein
Volk hinterlassen. Tsin ist nämlich das alte Land des Kaisers Yao,
der ursprünglich Fürst von Thang gewesen.
„Wäre dieses nicht, warum gälte ihr Kummer so dem Fernen?"
„Wer sonst als die Nachkommen der vollendeten Tugend, ist
dergleichen im Stande?"
„Sie sangen für ihn die Lieder aus Tschin."
„Er sprach: Ein Reich ohne Gebieter, kann es wohl lange
bestehen ?"
Die Töne des Reiches Tschin waren unordentlich und zeugten
von vollkommener Rücksichtslosigkeit, daher der Ausdruck: Ein
Reich ohne Gebieter.
496 Dr- Pfizmaier.
„Von den Liedern ans Knai bis zn den folgenden enthielt er
sich des Tadels."
Die Künstler sangen noch die Lieder der Reiche g K Knai und
Tsao, über welche der Prinz ihrer Unbedeutendheit wegen keinen
Tadel aussprach.
„Sie sangen für ihn die kleinen regelmässigen Lieder."
Die regelmässigen Lieder sind Gesänge mit regelmässiger Musik.
Man unterscheidet die kleinen regelmässigen Lieder welche bei Em-
pfangsfeierlichkeiten, und die grossen welche bei Zusammenkünften
an dem Hofe gesungen wurden.
„Er sprach: 0 wie schön! Sie haben Sehnsucht, aber sie neigen
sich nicht zum Abfall. Sie grollen, aber sie sagen es nicht mit Worten."
Das Volk sehnt sich nach den Königen Wen und Wu, aber es
denkt nicht an Empörung. Es ist über die gegenwärtige Regierung
ungehalten, aber es weiss sich zu massigen.
„Dieses ist die Winzigkeit der Tugend der Tscheu. Es ist noch
immer das Volk das hinterlassen die früheren Könige!"
Dieses war noch das Volk welches die besseren Könige der
Dynastie Yin hinterlassen hatten, daher die Tugend der Tscheu sich
noch nicht entwickeln konnte.
„Sie sangen für ihn die grossen regelmässigen Lieder."
„Er sprach: 0 wie mächtig! Was für ein Einklang!"
„Sie sind gebogen, aber von Leib gerade."
Die Musik zu diesen Liedern enthält halbe Töne, ist aber doch
regelmässig.
„Dieses ist die Tugend des Königs Wen!"
„Sie sangen für ihn die Lobpreisungen."
Man unterscheidet dreierlei lobpreisende Gedichte: diejenigen
der Tscheu, des Reiches Lu und der Schang.
„Er sprach: 0 wie vollendet!"
„Sie sind gerade, aber nicht schroff. Sie sind gebogen, aber
nicht verkrümmt. Sie sind einander genähert, aber sie drängen sich
nicht. Sie sind von einander entfernt, alter sie trennen sich nicht."
Das Obige bezieht sich auf die Töne dieser Musik, das Folgende
mehr auf den Geist derselben und die ihnen zu Grunde gelegten Worte.
„Sie wandeln umher, aber sie schweifen nicht aus. Sie sind
schwankend, aber nicht gedrückt. Sie sind traurig, aber nicht miss-
muthig. Sie sind freudig, aber nicht ausgelassen."
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. 497
„Sie sind bedürftig, aber nicht dürftig. Sie sind umfangreich,
aber nicht gedehnt."
„Sie geben, aber sie verschwenden nicht. Sie nehmen, aber sie
begehren nicht. Sie weilen, aber sie stocken nicht. Sie wandeln, aber
sie verlieren sich nicht."
„Die fünf Tone sind in Einklang. Die acht Winde sind gleich-
förmig."
Die acht Winde heissen sämmtliche Töne der Tonleiter.
„Die Abschnitte haben ihr Mass. Die Weisen haben ihre Ord-
nung. Hierdurch besitzen sie gemeinschaftlich die vollkommene
Tugend."
Die Tugend der oben genannten drei Lobpreisungen ist eine
und dieselbe.
„Er sah die Tänzer der bildlichen Schalmei und der südlichen
Pfeife."
Die bildliche Schalmei und die südliche Pfeife sind die Gegen-
stände welche die Tänzer in den Händen hielten, und welche zugleich
zwei Tänzen den Namen geben. „Die bildliche Schalmei" heisst der
kriegerische Tanz, „die südliche Pfeife" der zierliche Tanz, und
beide gehören zu der Musik des Königs Wen.
„Er sprach: 0 wie schön! Er ist noch immer in Betrübniss!"
König Wen ist in Betrübniss, weil seine Begierung noch nicht
vollständig geordnet ist.
„Er sah die Tänzer der grossen Kriegskunst."
„Die grosse Kriegskunst" hiess ein Tanz, der zu der Musik des
Königs Wu gehörte.
„Er sprach: 0 wie schön! Die Vollkommenheit der Tscheu ist
so beschaffen!"
„Er sah die Tänzer der fortgesetzten Beschützung."
„Die fortgesetzte Beschützung" ist ein Tanz der zu der Musik
des Königs Thang gehört. Durch den Namen wird angedeutet, dass
Thang die Tugend des grossen Yü fortzusetzen im Stande war.
„Er sprach: Die höchstweisen Männer sind gross, doch sie
haben noch immer die erröthende Tugend. Ein Höchstweiser zu sein,
ist schwer!"
König Thang war zwar gross, aber er mochte über seine Tugend
erröthen, weil er durch Eroberung zur Herrschaft gelangt war.
„Er sah die Tänzer der grossen Hia."
498 l>r. Pfizmaier.
„Die grosse Hia" ist die Musik Yü's, des Gründers der Dynastie
Hia.
„Er sprach: 0 wie schön! Er bemühte sich und rühmte sich
nicht der Tugend. Wer sonst als Yü ist im Stande, dieses zu üben?"
„Er sah die Tänzer der fortsetzenden Schalmei."
„Die fortsetzende Schalmei" heisst eine Tonweise des Kaisers
Schün.
„Er sprach: 0 welche vollendete Tugend! Sie ist gross in der
That! Wie der Himmel der Alles überwölbt, wie die Erde die Alles
in sich fasst!"
„Wäre es auch die vollkommenste Tugend, es ist keine welche
dieser noch zu nahe getreten!"
„Das Sehen hat hier ein Ende. Gibt es noch eine andere Musik,
ich getraue mich nicht, um sie zu bitten."
ip /§ 55, das Jahr des Cyklus (543 vor Chr. Geb.). Dreis-
sigstes Regierungsjahr des Fürsten Siang von Lu.
Dieses Jahr ist das erste Regierungsjahr der Fürsten ^ Siang
von Wei und H4^ BR I-moei von U.
Tse-tschan verniuthet den Untergang des Reiches Tschin.
„Tse-tschan von Tsching reiste nach Tschin zur Durchsicht des
Vertrages."
Im fünfundzwanzigsten Jahre des Fürsten Siang von Lu war
Tsching in das Reich Tschin eingefallen und hatte dessen Unter-
werfung erzwungen. In diesem Jahre erfolgte die Durchsicht des
damals zwischen den beiden Reichen geschlossenen Vertrages.
„Er kehrte zurück und meldete den Vollzug des Befehles."
„Er sprach zu den Grossen des Reichs : Tschin ist ein ver-
lorenes Reich. Es lässt sich mit ihm nicht verkehren."
„Es sammelt das Getreide. Es befestigt seine Aussenwerke. Es
verlässt sich auf diese zwei Dinge und beruhigt nicht sein Volk."
„Sein Landesherr ist ein schwacher Setzling. Die Prinzen sind
ausgelassen. Der Thronfolger ist gemein. Die Grossen des Reichs
sind stolz."
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. 4»'J
„Die Regierung hat viele Thore, und es grenzt an grosse Reiche.
Kann es wohl anders als verderben?"
„Es dauert nicht länger als zehn Jahre."
Im achten Jahre des folgenden Fürsten Tschao von Lu wurde
Tschin durch Tsu vernichtet, was genau im zehnten Jahre nach der
hier erzählten Begebenheit erfolgte.
Schin-wn-yü vermuthet, dass Prinz Wei nicht entkommen werde.
,,Der Prinz Wei von Tsu tödtete den grossen Anführer der
Pferde Wei-yen und nahm Besitz von dessen Haus."
Der Prinz a Wei war der Sohn des früheren Königs Kung
und Regierungsvorsteher von Tsu. |4 '0f, Wei-yen führt den
Namen von der Familie -^£ Wei, welche jedoch in Tsu zu der
— 1 1~
Familie -fp. Thsien gehörte.
„Schin-wu-yü sprach: Der Sohn des Königs wird gewiss nicht
entkommen."
-=jp "fpH ffl Schin-wn-yü gehörte zu der Familie -T* j31
Thsien-yin von Tsu.
„Die guten Menschen sind die Stammältern der Reiche. Der
Sohn des Königs steht als Minister im Dienste des Reiches Tsu. Den
Guten sollte er angedeihen lassen die Pflege. Er aber behandelt sie
grausam: er bringt Unglück über das Reich."
Weil Prinz Wei die Guten welche die Stammältern der Reiche
sind, entfernt, bringt er Unglück über das Reich Tsu.
„Auch ist der Vorsteher der Pferde die Seite des Vorstehers
der Regierung, und beide gehören zu den vier Gliedern des
Königs."
Der Anführer des Streitwagen ist der Genosse des Regierungs-
vorstehers. Die höchsten Minister heissen die Arme und Schenkel
des Landesherrn.
„Er sagt sich los von den Stammältern des Volkes. Er entfernt
eine Seite seines Leibes. Er mäht ab die Glieder des Königs und
bringt Unglück über dessen Reich. Es gibt keine Vorbedeutungen so
schlimm wie diese: wie könnte er wohl entkommen?"
Prinz Wei, der spätere König Ling von Tsu, wurde im drei-
zehnten Jahre des nachfolgenden Fürsten Tschao von Lu getödtet.
Sitzh. d. phil.-hist. Cl. XX. Bd. III. Ilft. 33
500 l>r. Pfizmaier.
Tse-tschan verweigert die Ibernahme der Regiernng.
„Tse-pi von Tsching übertrug Tse-tschan die Regierung."
f\5* Hp Tse-pi verzichtete zu Gunsten Tse-tschan's auf die
Stelle eines Regierungsvorstehers von Tsching.
„Dieser weigerte sich und sprach: Das Reich ist klein und
bedrängt. Die Geschlechter sind gross, der Günstlinge viele. Es
lässt sich nicht regieren."
„Tse-pi sprach: Ich Hu stelle mich an die Spitze und gehorche.
Wer würde es dann wagen, sich dir zu widersetzen? Du stehst uns
zur Seite als guter Minister."
/Jp Hu ist Tse-pi's Name. Dieser will den Ministern mit seinem
Beispiele im Gehorsam gegen Tse-tschan vorangehen. Letzterer stände
dann als Minister dem Landesherrn zur Seite.
„Ein Reich ist durchaus nicht klein. Das kleine kann dem
grossen dienen. Das Reich wird hierdurch grossmüthig bedacht."
„Tse-tschan führte die Regierung."
Er unternahm hierauf die Regierung an Tse-pi's Stelle.
„Er hatte Pe-schf zur Verwendung und machte ihm ein Ge-
schenk mit einer Stadt."
^7 iH Pe-schf ist der Fürstenenkel hH Tuan. Tse-tschan
wollte Pe-schf bei der Regierung verwenden und gab ihm zu ver-
stehen, dass er (Pe-schf) seine Dienste nicht umsonst leisten werde.
„Tse-tai-scho sprach: In einem Reiche nehmen Alle Theil an
dem Reiche. Wie kommt es, dass man ihn allein beschenkt?"
„Tse-tschan sprach: Keine Wünsche haben, ist in der That
unmöglich. Alle erhalten was sie wünschen, wofür sie nachgehen
ihren Geschäften und Eifer zeigen bei ihren Werken."
„Sind es denn nicht wir welche verrichtet haben die Werke?
Sind sie wohl zuzuschreiben den Menschen?"
„Warum sparen wir die Stadt? Wohin sollte die Stadt wohl
wandeln?
Die Stadt wird immer dem Reiche Tsching verbleiben.
„Tse-tai-scho sprach : WTie verhält es sich aber mit den Reichen
der vier Gegenden?"
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. oO 1
„Tse-tschan sprach: Wir stellen uns ja Niemanden entgegen,
sondern wir entsprechen nur einem Wunsche. Was könnten die
Reiche der vier Gegenden uns vorwerten?"
„In dem Buche von Tsching ist es enthalten: Bei dem Beruhigen
der Reiche und Häuser muss der Anfang gemacht werden mit den
Grossen."
Das Buch von Tsching enthielt Regierungsgrundsätze für das
Reich Tsching. Unter den Grossen werden hier die angesehenen
Geschlechter verstanden.
„Wir beruhigen vorerst die Grossen und warten auf das was
sie uns leisten."
In demselben Sinne wurde oben gesagt, dass sie „Eifer zeigen
bei ihren Werken."
„Pe-schf fürchtete sich jetzt und gab die Stadt zurück. Hierauf
gab man sie ihm endgiltig."
„Tse-tschan Hess den Hauptstädten und abhängigen Städten
zukommen ihre Auszeichnung."
Nachdem Pe-schi die Stadt wieder angenommen, wurden sämmt-
liche grössere und kleinere Städte des Reiches nach Rangstufen geordnet.
„Höhere und Niedere erhielten ihre Kleidung."
Ebenso unterschieden sich der Fürst, die Reichsminister, die
Grossen des Reichs und die Staatsdiener durch die Farbe ihrer
Kleidung.
„Die Felder erhielten Erdwälle und Wassergräben."
Die Felder des Volkes wurden auf diese Weise abgegrenzt.
„Die Hütten und Brunnen erhielten Genossenschaften von fünf
Menschen."
Die Brunnen sind die an den Brunnen gelegenen Felder. Die
fünf Menschen welche diese Genossenschaften bildeten, sollten sich
wechselseitig schützen.
„Diejenigen unter den Grossen welche redlich waren und
sparsam, beschenkte er nach Umständen."
„Diejenigen welche hoffährtig waren und verschwenderisch,
bestrafte er nach ihrer Schuld."
„Fung-khiuen wollte opfern und bat, jagen zu dürfen."
73: ||y Fung-khiuen ist EJ-lf H? Tsehc-tschang, der Sohn
des Fürstenenkels Tuan. Er wollte das erlegte Wild zum Opfer
verwenden.
33 *
502 Dr. Pfizmaier.
„Jener erlaubte es nicht und sprach : Nur der Landesherr bedient
sich des Wildes. Die Gesammtheit beschränkt sich auf das Vorräthige."
Tse-tschan meint, dass nur der Landesherr sich des auf der Jagd
erlegten Wildes zum Opfer bedienen dürfe. Alle übrigen Personen neh-
men die eben vorhandenen , mit Heu oder Körnern gefütterten Thiere.
„Tse-tschang zürnte. Er zog sich zurück und rief seine Leute
zu den Waffen."
Er berief die seiner Person zugetheilten Krieger, um Tse-tschan
anzugreifen.
„Tse-tschan floh nach Tsin. Tse-pi hielt ihn zurück und
entfernte Fung-khiuen. Fung-khiuen floh nach Tsin."
Tse-tschan wollte anfänglich nicht gegen Fung-khiuen auf-
treten, daher seine Flucht. Fung-khiuen flieht jetzt, weil er von
Tse-pi vertrieben wurde.
„Tse-tschan bat wegen seiner Felder und Dörfer."
Er bat den Fürsten von Tsching, die Besitzungen Fung-khiuen's
nicht einziehen zu lassen.
„Nach drei Jahren gestattete er ihm die Heimkehr. Er gab ihm
zurück die Felder und Dörfer sanimt deren Erträgniss."
„Nachdem er die Regierung ein Jahr geführt, priesen ihn die
Menschen mit den Worten:
„Die Kleider und die Mützen jetzt.
Wir halten sie alle verschlossen.
Die Felder, wo wächst das Korn und der Hanf.
Fünf Menschen sind ihre Genossen.
Was sollte Tse-tschan's Leben droh'n?
Wir sind ihm zu helfen entschlossen."
Dieses und das unten folgende gemeine Volkslied wurde damals
in Tsching gesungen. Tse-tschan hatte Unterschiede der Kleidung
eingeführt, wesswegen diejenigen welche sich eine ihnen nicht
gebührende Kleidung angemasst hatten , dieselbe jetzt zurücklegen
mussten.
„Nachdem er sie drei Jahre geführt, priesen sie ihn wieder mit
den Worten:
„Wir haben Söhn' und Brüder wohl,
Doch Tse-tschan kann sie belehren.
Wir haben Felder mit Korn und mit Hanf,
Doch Tse-tschan lässt es sich mehren.
Wenn Tse-tschan sollte sterben einst,
Wer könnt' uns Gleiches gewähren?"
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. 503
7^ Q 56, das Jahr des Cyklus (542 vor Chr. Geb.). Ein
und dreißigstes Regierungsjahr des Fürsten Siang von Lu.
Mo-scho weiss die Gesetzlosigkeit des Fürsten Tschao im Toraas.
„Der Fürst verschied in dem Palaste von Tsu. Tse-ye starb."
Fürst Siang von Lu war in diesem Jahre nach Tsu gereist und
starb in dem für ihn daselbst, erbauten Palaste. Der Thronfolger
tri--/ ' ^
5^-p ~f- Tse-ye wurde zum Landesherrn erhoben, starb jedoch
schon im Herbste, im neunten Monate des Jahres und drei Monate
nach dem Tode seines Vaters an den Folgen der Traurigkeit.
„Man erhob den Prinzen Tschheu."
Der Prinz Zffl Tschheu ist der Sohn des Fürsten Sianer, der
spätere Fürst JJJ7? Tschao, dessen Mutter ||| Mis Tsi-kuei, die
jüngere Schwester ||| ^ King-kuei's, einer Tochter des Hauses Tsi.
„Mo-scho wünschte es nicht."
Mo-scho ist Scho-sün-piao.
„Er sprach: Der Thronfolger ist gestorben. Gibt es einen
jüngeren Bruder geboren von derselben Mutter, so erhebt man ihn."
„Gibt es keinen solchen, so erhebt man den älteren."
In diesem Falle wird der von einer Nebengemahlinn geborene
älteste Sohn eingesetzt.
„Sind die Jahre gleich, so wählt man den Weiseren."
„Sind die Ansprüche gleich, so brennt man die Schildkröten-
schale. Dieses ist die alte Sitte."
Wenn das Alter und die Vorzüge der von einer Nebengemahlinn
geborenen Söhne einander gleich sind, so nimmt man seine Zuflucht
zur Wahrsagung.
„Jener war kein Sohn einer ersten Gemahlinn : wozu braucht man
den Sohn ihrer jüngeren Schwester?"
Die Mutter des Prinzen Tse-ye war King-kuei, welche nicht die
erste Gemahlinn des Fürsten Siang, daher hätte unter sämmtlichen
Söhnen dieses Fürsten der älteste gewählt werden sollen.
„Auch ist dieser Mensch in der Trauer und ist nicht traurig. Er
gerieth in Betrübniss und zeigt ein heiteres Angesicht. Dieses heisst
gesetzlos sein."
504 Dr. IMizniaiei.
„Unter den gesetzlosen Menschen gibt es wenige welche nicht
Unheil stiften."
„Erhebt man ihn wirklich, so bereitet er Kummer der
Familie Ki."
Die Familie 3^- Ki ist der erste Reichsminister Ki-sün, der
das Meiste zur Einsetzung des Fürsten Tschao beigetragen.
„Wu-tse horte ihn nicht. Hierauf erhob mau ihn endgiltig."
Wu-tse ist Ki-wu-tse, d. i. Ki-sün. Er setzte zuletzt die
Erhebung des Fürsten Tschao durch.
„Bis zur Zeit des Begräbnisses wechselte er dreimal die Trauer-
kleider."
Der neue Fürst Tschao war die Hauptperson bei dem Begräb-
nisse des Fürsten Siang. Bis zu der Zeit wo dasselbe gefeiert wurde,
hatte er dreimal die Trauerkleider zerrissen und sie mit neuen ver-
tauscht.
„Der Besatz der Trauerkleider war wie bei den ursprünglichen
Trauerkleidern."
Der Besatz der zerrissenen Trauerkleider blieb ganz und hatte
das Aussehen wie an neuen Kleidern.
„Um diese Zeit war Fürst Tschao neunzehn Jahre alt. Er hatte
noch immer den Sinn eines Knaben."
Obwohl erwachsen, spielte er und war muthwillig wie ein Kind,
wesswegen die Trauerkleider zerrissen.
-Die Weisen erkannten hieraus, dass er kein srutes Ende
nehmen könne."
Fünf und zwanzig Jahre spater wollte Fürst Tschao die Familie
Ki ausrotten und floh, als ihm dieses misslang, in das Reich Tsi.
Tse-tschan zerstört die Ringmauer des Wohngebäades in Tsin.
-In dem Monate in welchem der Fürst starb, stand Tse-tschan
als Minister zur Seite dem Fürsten von Tsching und reiste mit ihm
nach Tsin."
Der Fürst von Lu starb im Sommer, dem sechsten Monate des
Jahres.
„Wegen unserer Trauer hatte ihn der Fürst von Tsin noch nicht
empfangen."
Notizen aus «1er Geschiebte der chinesischen Reiche etc. 505
Die Fürsten von Lu und Tsin gehörten zu der Familie Ki, dess-
wegen nahm der Fürst von Tsin an dem Tode des Fürsten Siang von
Lu besondern Antheil.
„Tse-tschan Hess die Hingmauer seines Wohngebäudes voll-
ständig niederreissen und brachte herein Wagen und Pferde."
„Sse-wen-pe stellte ihn zur Rede."
JP ^ -^- Sse-wen-pe ist o^J -J- Sse-kiai, dessen Name
auch U^ — |— Sse-kiai geschrieben wird. Derselbe ist ein Anderer
als der früher vorgekommene. Fan-siuen-tse, dessen Name ebenfalls
£j -j- Sse-kiai.
„Er sprach: Weil in der niedrigen Stadt Regierung und Strafe
nicht geordnet, wimmelt es bei uns von Räubern. Wir können nichts
thun für die Angehörigen des Fürsten des Reichs, welche sich auf
einem Resuche befinden bei unserem Landesherrn."
„Dess wegen heissen wir die abgeordneten Menschen fest ver-
wahren das Haus, wo die Gäste wohnen, höher bauen dessen Thore,
stärker aufführen dessen Ringmauern, um keinen Kummer zu bereiten
den gastenden Gesandten."
„Jezt hast du, mein Sohn, sie niedergerissen. Ist dein Gefolge
auch im Stande sich zu schützen, wie wird es sich verhalten mit den
übrigen Gästen ?"
„ Weil unsere niedrige Stadt die Herrinn des Vertrages, bessern
wir aus , befestigen und decken mit Stroh die Mauern. So erwarten
wir unsere Gäste."
„Wenn du jetzt alles niederreissest, wie können wir entgegen-
kommen dem Refehle? Unser Landesherr heisst mich Kiai hinsicht-
lich des Refehles bitten."
tä Kiai ist Sse-wen-pe's Name.
„Jener antwortete: Weil unsere niedrigen Städte beengt und
klein, sind wir eingeschlossen von grossen Reichen welche strafen
und Forderungen stellen zur Unzeit."
„Desswegen getrauten wir uns nicht in Ruhe zu verweilen. Wir
suchten vollständig hervor unseren niedrigen Tribut und kamen, uns
einzufinden bei den Angelegenheiten der Zeit."
„Es trifft sich , dass der Leiter der Geschäfte eben nicht bei
Müsse, und wir erhielten noch keine Zusammenkunft. Auch bekamen
506 l)r- Pfizmaier.
wir nicht zu hören den Befehl , wir wissen noch nicht die Zeit der
Zusammenkunft."
„Wir wagen es nicht, die Geschenke zu übersenden. Wir
wagen es auch nicht, sie auszustellen."
„Wenn wir sie übersenden, so sind es Erzeugnisse aus den
Vorrathshäusern eures Landesherrn. Ohne dass wir sie vor euch
dargelegt, wagen wir es nicht, sie zu übersenden."
„Wenn wir sie ausstellen , so fürchten wir die unzeitige Ein-
wirkung von Hitze und Feuchtigkeit, wodurch sie faulen und wurm-
stichig werden. Hierdurch würden wir verdoppeln die Schuld der
niedrigen Städte."
„Ich Kiao habe gehört: Als Fürst Wen gewesen der Herr des
Vertrages, waren Palast und inneres Gebäude unansehnlich."
Kiao ist Tse-tschan's Name. Fürst Wen von Tsin bewohnte
Iren
Iren
für seine Person einen niedrigen und kleinen Palast.
„Es gab keine Terrassen mit Fernsicht, keine Warten. Dagegen
vergrösserte man die Wohngebäude der Fürsten des Reichs."
Die Gebäude in welchen die zum Besuche kommenden Reichs-
fürsten einkehrten, wurden im grösseren Massstabe aufgeführt.
„Ihre Wohngebäude waren gleich den Schlafgemächern des
Fürsten."
Der die Schlafgemächer enthaltende Theil des Palastes war
durch seine Grösse ausgezeichnet.
„Die Vorrathshäuser und die Ställe wurden vollkommen her-
gerichtet. Der Vorsteher des Landes ebnete bei Zeiten die Wege.
Der Maurer bewarf bei Zeiten mit Mörtel den Palast und das Innere
der Wohngebäude."
„Wenn die Reichsfürsten als Gäste ankamen, so stellte der
Mann der Felder ein Leuchtfeuer in den Vorhof."
Der Mann der Felder hiess ein Angestellter der die Felder und
das Weichbild beaufsichtigte.
„Die dienenden Menschen machten die Runde um den Palast.
Wagen und Pferde erhielten ihren bestimmten Platz. Das Gefolge
der Gäste wurde abgelöst. Der Ausschmücker des Wagens bestrich
die Achsen mit Fett."
„Die Trabanten, die Rinderhirten und Pferdeknechte, ein jeder
hatte im Auge seine Angelegenheiten."
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. 507
„Die Genossen der hundert Obrigkeiten, ein jeder legte dar
seine Gegenstände."
Die zum Empfang der Gaste dienenden Gegenstände wurden
Yor den Obrigkeiten ausgelegt.
„Der Fürst hielt die Gäste nicht auf, und diese versäumten auch
nicht ihre Geschäfte."
Da die Gäste bald wieder abreisen konnten, so erlitten ihre
Geschäfte keine Unterbrechung.
„Kummer und Freude hatte er mit ihnen gemein. Stiess ihnen
etwas zu, so untersuchte er es. Er belehrte sie über das was sie
nicht wussten, und kümmerte sich um das was ihnen fehlte."
„Die Gäste kamen als kehrten sie nach Hause."
Die Gäste fühlten sich gleich bei ihrer Ankunft in ihren Woh-
nungen heimisch.
„Sollten sie statt dessen Unglück gehabt haben und Betrübniss?
Sie fürchteten nicht die Räuber und waren auch nicht in Besorgniss
wegen Hitze und Feuchtigkeit."
„Jetzt hat der Palast von Tung-Ti im Umfange mehrere Meilen,
aber die Fürsten des Reichs wohnen bei einem Trabanten."
$T §F5 Tun&-ti' cler auf dem gleichnamigen Gebiete erbaute
abgesonderte Palast, welchen damals die Fürsten von Tsin bewohn-
ten. Das den Fürsten des Reichs angewiesene Wohngebäude kam an
Grösse kaum dem Hause eines Trabanten gleich.
„Das Thor fasst nicht die Wagen, und es ist unmöglich hinüber
zu setzen."
„Diebe und Räuber gehen öffentlich umher, und die Pest des
Himmels wird nicht abgehalten."
„Der Empfang der Gäste geschieht zur Unzeit, der Befehl dazu
ist uns unbekannt."
„Wenn ich überdies nicht zerstört hätte die Mauern , wir
könnten nirgends bergen die Geschenke, und ich würde noch ver-
doppeln unsere Schuld."
„Ich wage zu bitten den Leiter der Geschäfte, dass er befehle
hinsichtlich des Ortes wo wir wohnen sollen."
„Hat euer Landesherr auch die Trauer wegen Lu, so ist dieses
auch der Kummer unserer niedrigen Städte."
Tsching gehörte so wie Tsin und Lu zu der Familie Ki und
hatte daher gleiche Ursache zur Trauer.
508 Di\ Ffizmaier.
„Wenn wir dazu kommen, die Geschenke darzulegen, so bauen
wir die Ringmauer und reisen weiter. Es wäre Gnade von eurem
Landesherrn. Würden wir es wagen, diese Mühe zu scheuen?"
Die Gäste aus Tsching würden sich in diesem Falle gerne her-
beilassen, die zerstörte Ringmauer wieder aufzubauen.
„Wen-pe meldete den Vollzug des Refehles."
„Tsehao-wen-tse sprach: Es ist die Wahrheit."
Tschao-wen-tse ist Tschao-wu.
„Wir besitzen in derThat nicht die Tugend, und wir bestimmen
die Ringmauer eines Trabanten zur Aufnahme für die Fürsten des
Reichs. Dieses ist eine Schuld unsererseits."
„Man hiess Sse - wen - pe sich entschuldigen wegen Unauf-
merksamkeit."
„Als der Fürst von Tsin den Fürsten von Tsching empfing,
that er ein Übriges bei den Gebräuchen. Er bezeugte in hohem
Grade seine Freundschaft bei der Feierlichkeit und Hess ihn zurück-
kehren."
„Hierauf baute man ein Wohngebäude für die Fürsten des
Reichs."
„Scho-hiang sprach: Die Rede darf nicht aufgegeben werden,
wie hier zu ersehen."
„Tse-tschan besass die Gabe der Rede: die Fürsten des Reichs
vertrauten ihm. Wie könnte man die Rede aufgeben?"
Tse-tschan lässt die Schule des Districtes nicht niederreissen.
„Die Menschen von Tsching lustwandelten in der Schule des
Districtes und sprachen über die Lenker der Regierung."
„Jen-ming sprach zu Tse-tschan: Wie wäre es, wenn wir die
Schule niederreissen Hessen?"
„Tse-tschan sprach: Warum dieses? Die Menschen verlassen
den Hof am Morgen und am Abend und lustwandeln."
Die Bewohner von Tsching , welche am Hofe Geschäfte hatten,
pflegten, nachdem sie denselben verlassen, in der Schule des Districtes
zu lustwandeln.
„Sie besprechen, was an den Lenkern der Regierung gut ist
und was nicht. Was sie gut finden , mögen wir ausüben. Was sie
schlecht finden, mögen wir verbessern. Sie sind also unsere Lehrer:
warum sollten wir die Schule niederreissen lassen?"
Notizen aus der Geschichte iler chinesischen Iteiche etc. öU«f
„Ich habe gehört: Redlichkeit und gute Thaten beeinträchtigen
den Hass. Ich habe nicht gehört : Anwendung der Strenge tilgt den
Hass. Wie sollte man ihm nicht wehren können ohne Übereilung?"
„Es ist gerade so, als ob man aufhalten wollte einen Fluss.
Er macht einen grossen Einriss in dasjenige was sich ihm entgegen-
stellt. Die Menschen welche er zu Grunde richtet, sind viele."
„Wir sind nicht im Stande zu helfen. Wir müssen machen
kleine Einrisse und bewirken einen Abzug. Wir müssen die Reden
anhören und sie für eine Arznei halten."
„Jen-ming sprach: Ich Mie weiss es jetzt und auch später,
dass man dir, mein Sohn, in Wahrheit dienen kam . Ich der kleine
Mensch besitze in der That keine Fähigkeiten. Wenn du wirklich
also handelst, so wird das Reich Tsching dir in der That vertrauen:
wie wären es allein die zwei oder drei Minister?"
„Tschung-ni hörte diese Worte und sprach: Aus diesem habe
ich es ersehen. Wenn die Menschen sagen sollten, dass Tse-tschan
nicht menschlich, so glaube ich es nicht."
Tschung-ni (Confucius) der die hier angeführten Worte Tse-
tschan's in späterer Zeit hörte, war in diesem Jahre zehn Jahre alt.
Tse-tschan heisst Tse-pi von der Verwendung Yin-bVs abstehen.
„Tse-pi wollte Yin-ho eine Stadt regieren lassen."
rl ^P' Yin-ho, ein Grosser des Reiches Tsching, sollte Statt-
halter in einer Stadt werden, welche zugleich dessen Eigenthum
geworden wäre.
„Tse-tschan sprach: Er ist zu jung. Ich weiss noch nicht, ob
wir es dürfen oder nicht."
„Tse-pi sprach : Er ist ehrerbietig. Ich liebe ihn : er wird sich
nicht gegen uns auflehnen."
„Wir lassen ihn sich dahin begeben und lernen. Er wird auch
genesen und verstehen zu regieren."
Dass Yin-ho nicht zu regieren versteht, wird als eine Krankheit
betrachtet. Wenn man ihn sich in die Stadt begeben und daselbst
die Regierung lernen Hesse, so würde er gleichsam von seiner
Krankheit genesen.
„Tse-tschan sprach : Es darf nicht sein. Wenn die Menschen
andere Menschen lieben, so trachten sie, ihnen Nutzen zu bringen."
.)
1 0 Dr. Pfizmaier.
„Wenn du jetzt, mein Sohn, einen andern Menschen liebst, so
thust du dieses, indem du ihn regieren lassest."
„Dieses ist so viel, als wenn Jemand noch nicht im Stande
wäre das Schwert zu halten, und man ihn hiesse etwas zerhauen.
Er wird Beschädigungen erleiden in der That mancherlei."
„Indem du einen Menschen liebst, wirst du ihn beschädigen,
sonst nichts. Wer würde trachten wollen, von dir geliebt zu werden?"
„Du bist für das Reich Tsching der Grundbalken. Wenn der
Grundbalken bricht, so stürzen auch die Querbalken. Ich Kiao werde
hierdurch zerschmettert. Darf ich es wagen, nicht frei heraus zu
reden?"
„Du besitzest einen schönen Seidenstoff. Du lassest nicht die
Menschen an ihm das Zuschneiden lernen."
„Die grosse Stadt einer grossen Obrigkeit, sie ist ein Schirm-
dach unseres Leibes, und wir heissen einen Lernenden sie zuschnei-
den: ist sie nicht auch mehr als ein schöner Seidenstoff?"
„Ich Kiao habe gehört: Man lernt, und dann erst tritt man in
die Regierung. Ich habe noch nicht gehört, dass Jemand durch das
Regieren gelernt hätte."
„Wenn du wirklich also handelst, so wird jener gewiss Schaden
erleiden."
„Es verhält sich wie bei der Jagd. Wenn man gewohnt ist mit
Pfeilen zu schiessen, den Wagen zu lenken, so ist man im Stande,
die wilden Thiere zu erlegen. Wenn man noch nicht fähig ist, den
Wagen zu besteigen, mit Pfeilen zu schiessen, den Wagen zu lenken,
so ist Stürzen, Zerschellen und Umschlagen zu befürchten : wie hätte
man Zeit, zu denken an das Erlegen?"
„Tse-pi sprach : 0 wie trefflich! Ich Hu besitze keinen Scharf-
sinn."
„Ich habe gehört: Der Weise bemüht sich, kennen zu lernen
das Grosse und das Ferne."
„Ich der kleine Mensch bemühte mich, kennen zu lernen das
Kleine und das Nahe."
„Was mich den kleinen Menschen betrifft: Die Kleider welche
anliegen meinem Leibe, ich lernte sie kennen und richtete auf sie
mein Augenmerk."
„Die grosse Stadt einer grossen Obrigkeit, die ein Schirmdach
meines Leibes, ich glaubte sie fern und schätzte sie gering."
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. 511
„Wenn deine Worte nicht gewesen , so hätte ich dieses nicht
erkannt."
„In früheren Tagen sagte ich: Du regierst das Reich Tsching.
Ich regiere mein Haus und bilde mir ein Schirmdach. Dieses ist
wohl möglich."
„Jetzt und für die Folge weiss ich, dass ich diesem nicht
gewachsen. Von nun an bitte ich , und beträfe es auch mein Haus,
dir gehorchen zu dürfen und dem gemäss zu handeln."
„Tse-tschan sprach : Die Herzen der Menschen sind einander
nicht gleich, gerade so wie ihre Gesichter. Wie dürfte ich dafür-
halten, dass dein Gesicht gleich meinem Gesichte?"
Wenn das Innere sich nach den Gesichtszügen beurtheilen lässt,
so ist anzunehmen, dass Tse-pi's Seele mit derjenigen Tse-tschan's
nicht durchaus gleich. Tse-tschan könne daher dessen häusliche
Angelegenheiten nicht mit seinen eigenen in Übereinstimmung
bringen.
„Jedoch, was ich in meinem Herzen halte für gefährlich, dieses
werde ich dir noch melden."
Tse-tschan werde auf die häuslichen Angelegenheiten Tse-pi's
nur dann Einfluss üben, wenn für diesen eine Gefahr vorhanden ist.
„Tse-pi hielt ihn für redlich, desswegen übertrug er ihm die
Regierung."
„Tse-tschan war hierdurch im Stande, das Reich Tsching zu
regieren."
l'e-kung-tho spricht über Würde und Anstand.
„Der Fürst von Wei befand sich in Tsu."
Derselbe war an dem Hofe von Tsu erschienen und noch nicht
zurückgekehrt.
„Pe-kung-wen-tse beobachtete Würde und Anstand des Ling-
yin's Wei."
^C a£ jzf H ^ Pe-kung-wen-tse ist ßfr ^ zj \^ Pe-kung-
tho, ein Prinz des Reiches Wei. Der Prinz [§ Wei war der Ling-
yin (Regierungsvorsteher von Tsu).
„Er sprach zu dem Fürsten von Wei: Der Ling-yin gleicht
einem Landesherrn. Er wird eine besondere Absicht hegen."
Jj}2 Hr. Pfizmaier.
Er wird sich gegen den Landesherrn empören oder ihn tödten.
„Wenn er seine Absicht auch erreichen sollte, er ist nicht im
Stande ein gutes Ende zu nehmen."
„In einem Gedichte heisst es :
Den Anfang wohl ein Jeder hat,
Doch Wen'ge sind, die können enden."
„Ein gutes Ende ist in der That schwer. Der Ling-yin wird
dem Unglück nicht entkommen."
„Der Fürst sprach: Woher weisst du dieses?"
„Jener antwortete: In einem Gedichte heisst es:
Wer Würde nur und Anstand achtet,
Das Volk als Muster ihn betrachtet."
„Der Ling-yin ist ohne Würde und Anstand. Das Volk hat an
ihm kein Muster."
Wen-tse meint, der Ling-yin hahe wohl Würde und Anstand,
wie sie sich für einen Landesherrn, nicht aber wie sie sich für einen
Minister geziemen.
„Wer für das Volk kein Muster ist und doch in seiner Stellung
über dem Volke, der kann kein gutes Ende nehmen."
Wenn der Ling-yin einmal der Landesherr werden sollte, so
befände er sich in seiner Stellung über dem Volke.
„Der Fürst sprach: 0 wie trefflich! Aber was nennst du Würde
und Anstand?"
„Jener antwortete: Was die Würde besitzt und Ehrfurcht ein-
flössen kann, nennt man Würde."
„Was den Anstand besitzt und Gestalt empfangen kann , nennt
man Anstand."
„Der Landesherr hat Würde und Anstand eines Landesherrn.
Seine Minister haben Ehrfurcht vor ihm und lieben ihn. Sie nehmen
ihn zum Muster und geben ihm eine Gestalt. Desswegen ist er im
Stande, zu besitzen sein Reich und sein Haus. Sein vortrefflicher
Name überdauert die Geschlechtsalter."
„Der Minister bat Würde und Anstand eines Ministers. Seine
Untergebenen haben Ehrfurcht vor ihm und lieben ihn. Desswegen
ist er im Stande, sich zu behaupten in seinem Amte, zu bewahren
sein Geschlecht, einzurichten sein Haus."
„Diesem gemäss abwärts verhält es sich so bei Allen. Hierdurch
können Höhere und Niedere sich wechselseitig sichern."
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. ölo
„In den Gedichten von Wei heisst es:
Die Würde ganz, der Anstand wird besessen,
Es lässt sich nicht ermessen."
„Es wird gesagt: Landesherr und Minister, Höhere und Niedere.
Vater und Sohn, älterer und jüngerer Bruder, Angehörige und Fremde.
Grosse und Kleine, für alle giht es Würde und Anstand."
Dieses die Erklärung der obigen Verse welche andeuten, dass es
für jeden Menschen einen besonderen Anstand gibt, die Abstufungen
dieser Eigenschaften daher unzählig sind.
„In den Gedichten von Tschheu heisst es:
Wodurch der Freund dem Freunde steht zur Seite :
Durch Würde nur, durch Anstand er ihn leite."
„Es wird gesagt: Zwischen Freund und Freund ist es Sitte,
einander zu belehren durch Würde und Anstand."
Dieses die Erklärung des in den obigen Versen enthaltenen
Wortes „leiten".
„Das Buch der Tscheu verzeichnet die Tugenden des Königs
Wen. Es sagt: Die grossen Beiche hatten Ehrfurcht vor seiner Macht.
Die kleinen Reiche liebten seine Tugend."
„Es wird gesagt: Sie haben Ehrfurcht vor ihm und lieben ihn."
„In einem Gedichte heisst es:
Die ohne Wissen, ohne Seh'n,
Zum Muster nehmen sie den Kaiser in den Höh'n."
Diese Verse beziehen sich auf den König Wen, der nicht seine
eigene Erkenntniss zu Grunde legt, sondern die Ordnung des Himmels
zum Muster nimmt.
„Es wird gesagt: Sie nehmen ihn zum Muster und geben ihm
eine Gestalt."
„Tschheu hielt den König Wen gefangen sieben Jahre. Die Für-
sten des Reichs folgten ihm alle in das Gefängniss. Tschheu fürchtete
sich hierauf und entliess ihn. Dieses lässt sich nennen: sie
liebten ihn."
„König Wen bekriegte das Reich Thsung. Er bespannte die
Streitwagen zweimal: da unterwarf es sich und ward sein
Diener."
„Die Barbaren des Südens und des Ostens führten einer den
anderen, damit sie sich unterwerfen. Dieses lässt sich nennen : sie
haften vor ihm Ehrfurcht."
Jj|4 Dl- Pfizma-ier.
„Die Verdienste des Königs Wen, die Welt dichtet auf sie
Lieder, sie singt und tanzt sie. Dieses lässt sich nennen: sie nahmen
ihn zum Muster."
„Die Handlungen des Königs Wen, bis auf den heutigen Tag
sind sie ein Gesetz. Dieses lässt sich nennen: sie gaben ihm Gestalt."
„Desswegen , wenn der Landesherr sich befindet auf dem
Throne, so kann er Ehrfurcht einflössen. Sein Gewähren und seine
Nachsicht kann ihm Liebe erwerben. Sein Vortreten und sein Zurück-
treten kann massgebend sein. Sein Umherwandeln lässt sich zum
Muster nehmen. Seine Haltung lässt sich betrachten. Was er thut,
kann dienen als Gesetz. Sein tugendhafter Wandel kann Gestalt
empfangen. Die Töne seiner Stimme können als Musik dienen. Seine
Bewegungen besitzen Anmuth. Seine Worte besitzen glänzenden
Schmuck."
„Solchergestalt überragt er sein Volk. Dieses nennt man : Würde
und Anstand besitzen."
£t| fj^ S7, das Jahr des Cyklus (541 vor Chr. Geb.). Erstes
Regierungsjahr des Fürsten Tschao von Lu.
In diesem Jahre tödtete der Prinz Wei den König Kia-ngao von
Tsu und bestieg den Thron an dessen Stelle.
Tse-yü gestattet Tsu nicht, der Tochter mit Waffen entgegen zu ziehen.
„Wei, Prinz von Tsu, erkundigte sich in Tsching."
Tsu traf die Vorbereitungen für die Versammlung der Reichs-
fürsten in Kue und schickte zu diesem Behufe den Prinzen Wei als
Gesandten nach Tsching.
„Zugleich vermählte er sich mit einer Tochter aus dem
Geschlechte des Fürstenenkels Tuan."
Der Fürstenenkel Fl? Tuan ist Pe-schf, ein Grosser des
Reiches Tsching.
„U-khiü war dessen Genosse."
U-khiü ist Tsiao-khiü. Er war dem Gesandten zugetlteilt.
„Nachdem jener sich erkundigt, wollte er mit einem Heere der
Tochter entgegen ziehen."
„Tse-tschan war desswegen besorgt."
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. 5 1 ■)
Er fürchtete in Wirklichkeit einen Einfall in das Reich Tsching.
„Er hiess Tse-yü es verweigern."
Tse-yü war damals in Tsching der Mann des Verkehres mit den
Gesandten.
„Dieser sprach: Weil unsere niedrigen Städte beengt und klein,
sind sie nicht geeignet zur Aufnahme eures Gefolges. Wir bitten eure
Befehle an einem Altare hören zu dürfen."
Der Prinz Wei möge ausserhalb der Stadt einen Altar von Erde
errichten und daselbst seine Vermählung feiern.
„Der Ling-yin hiess den grossen Haushofmeister Pe-tschheu-li
antworten : Eurer Landesherr beschämt mit Gerchenken unseren
Grossen des Reichs. Namens Wei."
„Er spricht zu Wei: Ich werde bewirken, dass das Geschlecht
Fung zur Beruhigung für dich besitzt dein inneres Haus."
Das Geschlecht ^ Fung ist das Geschlecht des Fürsten-
enkels Tuan. Der Fürst von Tsching macht dem Prinzen Wei gleich-
sam ein Geschenk mit der Tochter des Hauses Fung.
„Wei breitet selbst die Matte, meldet es in dem Ahnentempel
der Könige Tschuang und Kung, und kommt zu euch."
Der König Tschuang von Tsu ist der Grossvater des Prinzen
Wei, der König Kung dessen Vater. Ehe der Prinz nach Tsching reiste,
hatte er in dem Ahnentempel geopfert und sein Vorhaben gemeldet.
„Wenn man ihn beschenkte auf dem Felde, so würde man das
Geschenk eures Landesherrn übergeben den Pflanzen und den
Halmen."
„Unser Grosser des Reichs würde nicht in eine Reihe gestellt
werden mit den Ministern des Reichs."
„Es ist nicht allein dieses. Man heisst auch Wei hintergehen
seine früheren Landesherren."
Da der Prinz sein Vorhaben früher in dem Ahnentempel gemeldet,
so würde er, wenn die Feier nicht in dem Ahnenteinpel des Hauses
Fung vollzogen würde, die Geister seiner Ahnherren betrogen haben.
„Er wird es nicht dahin bringen, unseren Laudesherrn vorzu-
stellen. Er kann auf keine Weise zurückkehren. Mögen die Grossen
des Reichs dieses bedenken."
Wenn der Prinz sich vor seinen Ahnherren biossgestellt hätte,
so würde er seines Ranges als erster Minister verlustig werden. Er
könnte nicht mehr nach Tsu zurückkehren.
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XX. Bd. III. Hft. 34
■)\ ß Dr. Pfizmaier.
„Tse-yü sprach: Unser kleines Reich ist ohne Schuld. Das Ver-
trauen ist in der That seine Schuld."
„Wenn wir das Vertrauen haben wollten, dass das grosse Reich
uns werde beruhigen und dass ihr keineswegs im Verborgenen heget
ein Herz für das Unheil, in Folge dessen ihr Anschläge machet gegen
uns , so würde unser kleines Reich sich irren in Hinsicht seines Ver-
trauens und zur Warnung dienen den Fürsten des Reichs. Es wird
bewirken, dass Niemand ist, der euch nicht zürnt."
„Dass man sich widersetze dem Befehle eures Landesherrn,
und dass etwas verschlossen werde und unterlassen, wird von uns
befürchtet."
„Wäre dieses nicht, so gehörten unsere niedrigen Städte den
Hütern eurer Wohngebäude. Dürften wir es wagen, zu schonen den
Ahnentempel des Geschlechtes Fung?"
„U-khiü erkannte, dass man sich vorgesehen. Er bat, mit
I
gesenkten Bogengehäusen einziehen zu dürfen."
Indem die Krieger die Bogengehäuse gesenkt hielten, zeigten
sie, dass sich in ihnen keine Bogen befinden.
„Man bewilligte es. Jene zogen ein und entfernten sich wieder."
„Hierauf begaben sie sich zu der Zusammenkunft nach Kue."
Das Gebiet |fc| Kue befand sich in dem Reiche Tsching.
Rhi-wa belehrt Tschao-wa über die Treoe.
„Bei der Versammlung in Kue suchte man hervor den Vertrag
von Sung."
Bei dieser Versammlung waren die Reichsfürsten durch ihre
Gesandten vertreten. Der Zweck war die Erneuerung des vor fünf
Jahren abgeschlossenen Vertrages von Sung.
„Khi-wu sprach zu Tschao-wen-tse : Bei dem Vertrage von
Sung erreichten die Menschen von Tsu ihre Absicht gegenüber
Tsin."
ytp lijjj Khi-wu ist der Sohn Khi-hfs. Bei dem Beschwören
jenes Vertrages erhoben die Abgesandten von Tsu den Anspruch,
dass ihnen gestattet werde, von dem Blute des Opferthieres zuerst zu
kosten, worauf die Abgesandten von Tsin ihnen wichen.
„Jetzt ist der Ling-yin treulos. Den Fürsten des Reichs ist
dieses bekannt."
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. öl i
„Wenn du dich nicht hütest, so fürchte ich, dass es wieder
so kommen wird wie in Sung".
„Die Treue Tse-mo's ward gepriesen von den Fürsten des
Reichs. Gleichwohl hat er Tsin betrogen und beschimpft. Um wie viel
mehr ist dieses zu erwarten von dem Ärgsten unter den Treulosen?"
Tse-mo ist Khie-kien, der im vorhergehenden Jahre Ling-yin
von Tsu gewesen. Bei der Abschliessung des Vertrages von Sung
trugen er und die Seinigen unter den Kleidern Panzer. Der Ärgste
unter den Treulosen heisst hier der Prinz Wei, der gegenwärtige
Ling-yin von Tsu.
„Wenn Tsu noch einmal seine Absicht durchsetzen sollte gegen-
über Tsin, so wäre dieses eine Schande für Tsin."
„Du stützest das Reich Tsin und bist der Herr des Vertrages
bis auf den heutigen Tag durch sieben Jahre."
Tschao-wu wurde im fünfundzwanzigsten Jahre des Fürsten
Siang von Lu der Regierungsvorsteher von Tsin.
„Du hast zweimal versammelt die Fürsten der Reiche, dreimal
versammelt die Grossen der Reiche."
Im fünfundzwanzigsten Jahre des Fürsten Siang von Lu war die
Versammlung der Reichsfürsten in Y|| B& 1-1, im sechsund-
zwanzigsten Jahre in yffil y{§ Tschen-yuen. Bei der Versammlung
von Sung im siebenundzwanzigsten Jahre des Fürsten Siang waren
die Reichsfürsten durch ihre Gesandten vertreten, ebenso bei der
zweiten Versammlung von Tschen-yuen im dreissigsten Jahre des
Fürsten Siang und bei der in diesem Jahre stattfindenden Versamm-
lung von Kue.
„Du brachtest zur Unterwerfung Tsi und die nördlichen
Barbaren."
Im achtundzwanzigsten Jahre des Fürsten Siang von Lu erschie-
nen der Fürst von Tsi und die nördlichen Barbaren an dem Hofe
von Tsin.
„Du beruhigtest das östliche Hia."
Durch die Unterwerfung des Reiches Tsi und der nördlichen
Barbaren wurden auch die Reiche des Ostens beruhigt.
„Du machtest ein Ende den Unordnungen in Thsin."
Im sechsundzwanzigsten Jahre des Fürsten Siang von Lu schlössen
Thsin und Tsin nach langjähriger Fehde mit einander Friede.
34 «
5J 8 Dr- Pfiz maier.
„Du bautest die Stadtmauern von Tschüu-yü."
Im neunundzwanzigsten Jahre des Fürsten Siang von Lu über-
siedelte der Fürst von Khi nach -^p yg Tschün-yü, dessen Mauern
Tsin bauen liess.
„Die Krieger in dem Heere sind nicht gebrochen. Reich und
Haus sind nicht erniedrigt. Das Volk bedient sich keiner Schmäh-
worte. Die Fürsten des Reichs hegen keinen Groll. Der Himmel
schickt keine grossen Wetterschäden."
„Dieses verdanken wir deiner Thätigkeit. Du besitzest einen
vortrefflichen Namen, dass du aber den Besehluss machest durch die
Schande., dieses wird von mir Wu befürchtet."
,tp Wu ist Khi-wu's Name.
„Du, mein Sohn, kannst nicht anders als dich hüten."
„Wen-tse sprach: Ich Wu habe das Geschenk erhalten."
itt" Wu ist Tschao-wen-tse's Name. Das Geschenk sind Khi-
wu's Worte.
„Wohl hatte Tse-mo zur Zeit des Vertrages von Sung den Willen
Unheil zu bringen über die Menschen. Ich Wu hatte den Willen
menschlich zu sein gegen die Menschen. Hierdurch hat Tsu belei-
digt das Reich Tsin."
„Jetzt habe ich Wu noch immer diesen Willen. Wenn Tsu sich
wieder befassen sollte mit dem Trug, so bringt es uns keinen
Schaden."
„Ich Wu halte mich an die Treue und mache sie zur Grundlage.
Ich stelle sie voran und übe sie."
„Es ist wie bei einem Ackermann. Er jätet und er pflügt. Ereig-
net sich auch Misswachs, es kommt gewiss wieder ein fruchtbares
Jahr."
„Auch habe ich gehört: Wer fähig ist der Treue, wird den
Menschen nicht unterliegen. — Ich bin ihrer noch nicht fähig."
Das einzige was Tschao-wu befürchtet, ist, dass er die Treue
noch nicht vollständig üben könne.
„In einem Gedichte heisst es:
Von denen die nicht trügen, nicht verletzen,
Sind Wen'ge die als Muster nicht zu schätzen."
„Dieses heisst: die Treue. Wer im Stande ist zu sein ein Muster
der Menschen, der wird den Menschen nicht unterliegen."
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. 519
„Mein Kummer ist, dass ich ihrer nicht fähig. Wegen Tsu bin
ich ohne Sorge."
„ Wei, Ling-yin von Tsu, bat um die Herbeischaffung des Opfer-
thieres. Man möge lesen die alte Urkunde und sie legen auf das
Opferthier, nichts weiter."
Der Prinz verlangte, dass man die Urkunde des früheren Ver-
trages von Sung ablese und sie auf das Opferthier lege, ohne das Blut
zu kosten, was einem Eidschwur gleichgehalten werden solle. Er
glaubte nämlich, dass die Abgesandten von Tsin jetzt ihrerseits
Ansprüche erheben würden, das Blut zuerst kosten zu dürfen.
„Die Menschen von Tsin gewährten es."
Tschao-wen-tse bittet am Verzeihung für Scho-sün-piao.
„Ki-wu-tse bekriegte Khiü. Er eroberte Yün."
Ki-wu-tse ist Ki-sün-su von Lu. e&K Yün , eine Stadt des
Reiches EEJ Khiü, auf welche Lu damals Anspruch machte.
„Die Menschen von Khiü meldeten es bei der Zusammenkunft."
Die Zusammenkunft ist die Versammlung von Kue.
„Tsu meldete es nach Tsin mit den Worten: Bei dem Hervor-
suchen des Vertrages haben wir uns noch nicht zurückgezogen, und
schon macht Lu einen Angriff auf Khiü."
„Es durchkreuzt den ordnenden Vertrag. Wir bitten, dessen
Abgesandten zu strafen."
Der Prinz Wei meldet dieses Tschao-wu. Scho-sün-piao befand
sich um diese Zeit als Abgesandter von Lu bei der Versammlung.
Tsu verlangte, dass der Abgesandte wegen der Schuld seines Landes
hingerichtet werde.
„Lo-hoan-tse stand zur Seite Tschao-wen-tse's. Er wollte von
Scho-sün eine Belohnung begehren und bat für ihn."
~F fe. ^rc L°-h°an-tse ist mf^-p ^ Lo-wang-fu, der als
zweiter Abgesandter von Tsin dem ersten Abgesandten Tschao-wu
zur Seite stand.
„Er liess bitten um einen Gürtel. Jener gab ihn nicht."
Da Wang-fu nicht sagen konnte, dass er von Scho-sün-piao eine
Belohnung begehre, so liess er diesen Wunsch nur durchblicken,
indem er ihn um einen Gürtel bat
520 Dr« Hfizmaier.
„Liang-khi-khing sprach : Durch das Geschenk umgibst du mit
einem Gehäge deinen Leib. Warum möchtest du es sparen?"
[jh^ Ml ¥& Liang-khi-khing war ein Angestellter in dem
Hause Seho-sün-piao's.
„Scho-sün sprach: Die Versammlung der Fürsten des Reichs
hat zum Zwecke den Schutz der Landesgötter. Wenn ich durch ein
Geschenk der Schuld entkomme, so wird Lu gewiss ein Heer erhalten.
Ich würde ihm dann Unglück bringen: was wäre dieses für ein
Schutz?"
Wenn Scho-sün seine Verzeihung durch ein Geschenk erkaufen
sollte, so würde das Reich Lu des Vertragsbruches beschuldigt und
zur Strafe dafür von der bewaffneten Macht des Reichsfürsten ange-
griffen werden.
„Die Menschen besitzen die Mauern der Häuser, um zu verbergen
ihr Böses. Wenn die Mauern bersten, wessen Schuld ist dieses?"
„Wenn ich Schutz brächte und dann Böses thäte, so thäte ich
noch etwas Ärgeres als dieses."
Wenn die Mauern nicht schützen können, so liegt die Schuld an
ihnen selbst. Wenn Scho-sün durch den Vertrag das Reich Lu zu
schützen suchte und ihm auf die angegebene Weise wieder Unglück
brächte, so hätte er eine grössere Schuld als die Mauern welche
bersten.
„Bin ich auch unwillig über Ki-sün, was hat das Reich Lu
verschuldet?"
Ki-sün war es, der Scho-sün durch seinen Angriff auf Khiü in
Schuld verwickelt.
„Ich Scho ziehe hinaus, Ki bleibt. Dieses ist etwas Herkömm-
liches: wem sollte ich ferner grollen?"
Als Scho- sün aus Lu fortzog, Hess er Ki-sün die Stelle eines
ersten Reichsministers versehen, der das Land zu verwalten hatte.
„Übrigens begehrt Fu eine Belohnung. Wenn ich sie ihm nicht
gebe, so nimmt die Sache kein Ende."
Ffl'tf- Fu ist Lo-wang-fu's Name.
„Er Hess den Abgesandten kommen."
Der Abgesandte ist der zweite Abgesandte Wang-fu.
„Er zerriss den Stoff seines Kleides und gab es ihm mit den
Worten: Der Gürtel ist zu eng."
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. ÖZ\
Er zeigte hierdurch, dass er Wang-fu nicht verstehen wolle.
„Tschao-meng hörte dieses und sprach : Am Rande des Ver-
derbens nicht vergessen auf das Reich, ist die Redlichkeit."
„Rei dem Gedanken an das Unglück sich nicht hinwegsetzen
über das Amt, ist die Treue."
Das Amt Seho-sün-piao's erforderte es, sich zu der Versammlung
nach Kue zu begeben. Er that dieses, obwohl er wissen konnte, dass
ihm daselbst ein Unglück begegnen werde.
„Rei der Sorge für das Reich vergessen auf den Tod, ist die
Lauterkeit."
„In seinen Rathschlüssen diese drei Dinge voransetzen, ist
die Gerechtigkeit."
„Wer im Resitze dieser vier Dinge, darf man diesen wohl
strafen?"
„Hierauf bat er für ihn in Tsu und sprach : Ist Lu auch schul-
dig, sein Leiter der Geschäfte vermeidet nicht das Unglück. Er hat
Ehrfurcht vor eurer Macht und achtet eure Refehle."
„Wenn du ihm verzeihst, so mag es sein, dass du hierdurch
aufmunterst die Minister der Rechten und der Linken."
„Wenn yoii deinen sämmtlichen Angestellten diejenigen welche
daheimbleiben, nicht vermeiden den Wust der Geschäfte, diejenigen
welche hinausziehen, nicht vermeiden das Unglück, was für eine
Retrübniss könnte es noch geben?"
„Wodurch die Retrübniss entsteht: es ist der Wust der
Geschäfte, wenn man ihn nicht ordnet, das Unglück, wenn man es
nicht abwehrt. Aus diesen Ursachen kommt sie über uns."
„Wenn Jemand fähig ist dieser zwei Dinge, wesswegen sollte
man sich noch betrüben?"
Die zwei Dinge sind : der Wust der Geschäfte und das Unglück
nicht vermeiden.
„Wenn wir nicht beruhigen diejenigen welche ihrer fähig,
welche Menschen würden uns wohl folgen?"
„Von Scho-sün-piao von Lu lässt sich sagen, dass er ihrer
fähig: ich bitte ihm zu verzeihen, um zu beruhigen diejenigen
welche ihrer fähig sind."
„Du hältst die Zusammenkunft und verzeihst denjenigen welche
schuldig. Du belohnst ferner diejenigen welche weise. Wer unter
den Fürsten des Reichs hätte hieran keine Freude? Sie werden ihre
,r)22 Dr. Pfi zmaie r.
Hoffnung setzen auf Tsu und sich ihm anschliessen. Sie werden
blicken auf das Ferne, als wäre es das Nahe."
„Die Städte an den Grenzen sind einmal auf dieser Seite, das
andere Mal auf jener. Wie könnte es hier eine Beständigkeit geben?"
„Man kümmert sich um das Grosse und setzt zurück das Kleine:
hierdurch eignet man sich zu einem Herren des Vertrages. Wozu
solltest du auch diese Dinge brauchen?"
Ein Reich welches die Oberherrschaft ausübt, hat nicht nöthig,
bei Kleinigkeiten, wie dieser Streit um eine Grenzstadt, als Schieds-
richter aufzutreten.
„Einfälle an den Grenzen: wo ist das Reich, in welchem diese
nicht vorkämen? Von denjenigen welche die Herren des ordnen-
den Vertrages, wer ist im Stande, hier zu schlichten ?"
„Wenn U oder Po eine Rlösse geben, wie wären die Leiter der
Geschäfte in Tsu fähig, Rücksicht zu nehmen auf den Vertrag?"
Das Reich ^- U lag im Norden, das Reich tt^fe Po im Süden
von Tsu. Dem Friedensschlüsse von Sung zum Trotz würde Tsu,
wenn es könnte , Gebietsteile dieser beiden Reiche an sich reissen.
„Dass Tsu nichts wissen möge von den Grenzangelegenheiten
des Reiches Khiü, die Reichsfürsten hiermit nicht behelligt werden,
ist dieses nicht auch möglich?"
„Der Streit zwischen Khiü und Lu um Yün schreibt sich her
von den frühesten Tagen. Wenn er nur keinen grossen Eintrag thut
den Landesgöttern, so brauchen wir nicht einzuschreiten."
„Wenn wir die Behelligung fernhalten, die Guten mit Gross-
muth behandeln, so werden Alle wetteifern in Thätigkeit. Mögest du
dieses wohl bedenken."
„Er wiederholte seine Bitte nachdrücklich."
„Die Menschen von Tsu gewährten es. Hierauf verzieh man
Scho-sün."
Der Fürst Lieu-ting kommt zu dem Schlüsse, dass Wa-tse nicht das
Jahr erreichen werde.
„Der Himmelskönig hiess den Fürsten Lieu-ting bewillkommnen
Tschao-meng an dem Ying."
Tschao-meng, d. i. Tschao-wu-tse kehrte von der Versammlung
in Kue nach Hause. Als er zu dem Gebiete des Flusses fi|j Ying
n-
Notizen aus der Geschichte <ler chinesischen Reiche etc.
o23
gelangte, entsandte König King, der Himmelssohn, einen der drei
Regierungsvorsteher von Tscheu, den Fürsten ^ ^lj Lieu-ting,
auch genannt W J^l] Lieu-hia, um ihn zu bewillkommnen.
„Sie bezogen ein Haus im Norden des Lo."
Der Mj: Lo war ein Fluss des Reiches Tscheu.
„Lieu-tse sprach: Wie herrlich die Verdienste Yii's! Seine
glänzende Tugend dringt in die Ferne."
Hp- J^ll Lieu-tse ist Lieu-ting. Rei dem Anblick des Flusses
Lo denkt er an die Verdienste Yii's, der diesem Flusse seinen Lauf
gegeben. Die Ferne heissen die späteren Geschlechter welche dieser
Wohlthat theilhaftig werden.
„Wenn Yü nicht gewesen, hätten wir wohl unsere Gestalt
bekommen?"
Ohne Yü gebe es in diesem Lande nur Schildkröten , es hätte
keine Menschen mehr hervorgebracht.
„Ich und du, wir tragen Mützen und Kleider mit bläulichen
Säumen, damit wir regieren das Volk und überwachen die Fürsten
des Reichs. Dieses bewirkte die Kraft Yii's."
„Warum setzest du nicht auch fort in die Ferne die Verdienste
Yii's und bist ein grosses Schirmdach für das Volk?"
„Jener antwortete : Ich, der alte Mann, fürchte verwickelt zu
werden in Schuld. Wie wäre ich im Stande mich zu kümmern um
das Ferne?"
„Menschen meines Gleichen begnügen sich mit ihrem Gehalte.
Am Morgen denke ich nicht an den Abend: wie könnte ich denken
an die Dauer?"
„Lieu-tse kehrte zurück und erzählte es dem Könige."
„Er sprach: Was das Sprichwort sagt: „„Im Alter sei man
weise, und das hohe Alter wird uns zu Theil"", dieses lässt sich
anwenden auf Tschao-meng."
„Er ist der erste Reichsminister in Tsin und ist vorgesetzt den
Fürsten des Reichs, aber er stellt sich in die Reihe der kleinen
Reamten."
Er thut das Letztere, indem er sich mit seinem Gehalte
begnügt.
„Am Morgen denkt er nicht an den Abend: er verlässt die
Götter und die Menschen."
524 Dl- Pfizmaier.
Indem er nicht für den Abend sorgt, denkt er nicht an die
fernen Geschlechter und ist kein Schirmdach für das Volk. Das Volk
ist der Hauswirth der Götter. Indem er also das Volk verlässt, ver-
lässt er auch die Götter.
„Die Götter zürnen , das Volk fällt von ihm ab : wie könnte er
wohl lange bestehen? Tschao-meng wird kein zweites Jahr erreichen."
„Wenn die Götter zürnen, so trinken sie nicht das Opfer. Wenn
das Volk abfällt, so besorgt es nicht seine Angelegenheiten."
„Opfer und Angelegenheiten werden ausser Acht gelassen: wie
sollte er noch übrig bleiben?"
Tschao-wu starb wirklich im Winter dieses Jahres.
Tse-tschan vertreibt Tse-nan.
„.Die Schwester Siü-ngu-fan's von Tsching zeichnete sich durch
Schönheit aus."
4M 35. ^7^ Siü-ngu-fan, ein Grosser des Reiches Tsching.
„Der Fürstenenkel Tsu freite um sie."
Der Enkel des Fürsten Mo von Tsching führte den Namen
Ö Tsu. Sein Jünglingsname ist Fjq -p Tse-nan."
„Auch der Fürstenenkel He Hess mit Gewalt einen Vogel
übergeben."
Der Fürstenenkel 0|| He führte den Jünglingsnamen 4!Zf Hp
Tse-si. Er trat ebenfalls als Freier auf, indem erSiü-ngu-han zwang,
eine wilde Gans anzunehmen.
„Fan fürchtete sieb und meldete es Tse-tschan."
411
Fan ist Siü-ngu-fan's Name.
„Tse-tschan sprach: Es ist, weil das Reich ohne Regierung.
Du brauchst dich desswegen nicht zu kümmern. Sie werden nur
thun, was du wünschest."
„Fan wendete sich an die zwei Söhne. Er bat sie, die Tochter
wählen zu lassen. Beide willigten ein."
„Tse-sf erschien in reichem Schmucke, breitete die Geschenke
aus und entfernte sich."
„Tse-nan erschien in Kriegskleidern. Er seboss einen Pfeil nach
rechts und links, sprang auf den Wagen und entfernte sich."
„Die Tochter hatte sie von dem Gemache gesehen und sprach:
Tse-si ist wirklich schön, aber Tse-nan ist ein Mann. Der Mann ein
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. ö4Ö
Mann, das Weib ein Weib: dieses nennt man die Übereinstim-
mung."
„Hierauf gelangte sie in die Familie Tse-nan's."
„Tse-sf zürnte. Er nahm ein Bogengehäuse, kleidete sich in den
Panzer und besuchte Tse-nan. Er wollte ihn tödten und dessen Gattinn
rauben."
„Tse-nan wusste dieses. Er ergriff eine Lanze und vertrieb ihn.
Als sie zu einem Durchgang kamen , stiess er ihn mit der Lanze.
Tse-si ward verwundet und kehrte zurück."
„Er meldete es den Grossen des Reichs und sprach. Ich be-
suchte ihn in Freundschaft. Ich wusste nicht, dass er eine andere
Absiebt habe. Desswegen wurde ich verwundet."
„Die Grossen des Reichs pflogen darüber Rath."
„Tse-tschan sprach: Das Recht ist auf beiden Seiten gleich. Hat
aber die Schuld der Jüngere und Niedere, so ist die Schuld bei Tsu."
Aus diesem Ausspruche geht hervor, dass, wie schon oben an-
gedeutet worden, die Regierung des Reiches Tsching schwach war
und Tse-tschan nicht die Macht zu strafen besass.
„Hierauf Hess er Tse-nan fest nehmen und gab ihm einen
Verweis."
„Er sprach: Der grossen Gebote in den Reichen sind fünf: du
hast sie sämmtlieh übertreten."
„Man fürchte die Macht des Landesherrn. Man gehorche seiner
Regierung. Man ehre die Höheren. Man diene den Älteren. Man
schütze die Verwandten. Durch diese fünf Dinge regiert man die
Reiche."
„Jetzt ist der Landesherr in dem Reiche , und du machst
Gebrauch von den Waffen : du fürchtest nicht seine Macht."
„Du übertrittst die Gesetze des Reichs : du gehorchst nicht
der Regierung."
Dieses that Tse-nan, indem er Tse-sf tödten wollte.
„Tse-sf ist der höhere Grosse des Reichs. Du bist der niedere
Grosse des Reichs, aber du hast dich vor ihm nicht gedemüthigt: du
ehrst nicht die Höheren."
„Du bist der Jüngere, und hast keine Scheu: du dienest nicht
dem Älteren."
„Du verletzest mit den Waffen deinen älteren Vetter: du
schätzest nicht die Verwandten."
526 Dr. V fizmaier.
„Der Landesherr iässt dir sagen: Ich bringe es nicht über mich
dich zu tödten. Ich begnadige dich zu der Verbannung."
„Mögest du es dir angelegen sein lassen, schleunigst auszu-
wandern, damit du nicht verdoppelst deine Schuld."
„Er bestimmte Tse-nan zur Auswanderung."
Tsc-tschan von Tsching bespricht die Krankheit des Fürsten von Tsin.
„Der Fürstenenkel Kiao reiste nach Tsin, um sich zu erkundigen.
Zugleich fragte er wegen der Krankheit."
Der Fürstenenkel f^ Kiao ist Tse-tschan. Fürst Ping von
Tsin war um jene Zeit erkrankt.
„Scho-hiang fragte ihn seinerseits und sprach: Unser Landes-
herr ist schwer erkrankt. Der Mann der Schildkröte sagt: Sche-tschin
und Tai-thai suchen ihn heim."
Durch das Brennen der Schildkrötenschale erfuhr man, dass
zwei Götter Namens /'fr -||- Sche-tschin und JäjA ^ Tai-thai
den Fürsten mit einer Krankheit gestraft haben.
„Die Geschichtschreiber kennen sie nicht. Ich erlaube mir zu
fragen: was für Götter sind diese?"
„Tse-tschan sprach: Einst hatte das Geschlecht Kao-sin zwei
Söhne. Der ältere hiess Ngö-pe, der jüngere hiess Sche-tschin."
Kao-sin ist der Kaiser Ku. tä fh^l Ngö-pe, der Name des
älteren Sohnes.
„Sie wohnten in Kuang-lin."
i\j\\ Jfllf Kuang-lin, der Name eines Gebietes.
„Sie konnten sich nicht mit einander vertragen. Täglich suchten
sie hervor die Lanzen, um einander zu bekriegen."
„Der nachfolgende Kaiser missbilligte dieses. Er versetzte
Ngö-pe nach Schang-khieu."
Kaiser Yao hiess den älteren Sohn seinen Wohnsitz auf dem
Gebiete j^ [tri Schang-khieu nehmen.
„Er hiess ihn vorstehen dem grossen Feuer."
Ngö-pe wurde der Vorsteher des dem Sternbilde J|| Schin
dargebrachten Opfers. Dieses Sternbild heisst das grosse Feuer und
befindet sich in dem vierten Zeichen des Thierkreises.
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. »>27
„Die Menschen von Schang setzten sieh daselbst fest. Desswegen
ist das grosse Feuer das Sternbild der Schang."
Der Ahnherr der Dynastie Schang wurde mit Schang-khieu
belehnt, worauf diese Dynastie dem hier genannten Sternhilde opferte.
„Er versetzte Sche-tschin nach Ta-hia."
yg y^ Ta-hia, das ursprüngliche Gebiet des Reiches Tsin,
auch nji -jp^ Tsin-yang genannt.
„Er hiess ihn vorstehen den drei Sternen."
Sche-tschin wurde der Vorsteher des dem Sternbilde Jfö San
„den drei Sternen" dargebrachten Opfers. Dieses Sternbild befindet
sich in dem neunten Zeichen des Thierkreises.
„Die Menschen von Thang setzten sich daselbst fest. Sie unter-
warfen sich und dienten den Hia und den Schang."
Das Gebiet Ta-hia wurde das Reich P| Thang, welches unter
den Dynastien Hia und Schang durch eigene Fürsten regiert wurde.
„Der Landesherr ihres letzten Geschlechtsalters hiess Thang-
scho-yü."
Dieser Jv& /KU* p? Thang -scho-yü ist der letzte seines
Hauses und ein anderer, als der gleich unten vorkommende Thang-
scho-yü, der Gründer des neuen Hauses Thang.
„Als Yf-kiang, die Gemahlinn des Königs Wu, mit Tai-scho
schwanger war, träumte ihr, dass der Himmelskaiser zu ihr sprach:
Ich gebe deinem Sohne den Namen Yü. Ich werde ihn betheilen mit
Thang. Ich werde ihn zugesellen den drei Sternen und gedeihen
lassen seine Söhne und Enkel."
Diese Worte spricht der Gott des Himmels, ifp ffl Yi-kiang
ist die Tochter des grossen Fürsten (Tai-kung) von Tsi und Gemahlinn
des Königs Wu von Tscheu. /JA? "^ Tai-scho (der grosse Oheim)
ist der Bruder des Königs Tsching, als Landesherr genannt
1W- ^A Scn°-yu von Thang-
„Als er geboren ward, enthielt seine Hand eine Schrift welche
besagte: Yü."
Die Linien seiner Hand bildeten das Schriftzeichen Ji& Yü.
„Diesem gemäss gab man ihm den Namen."
„Hierauf vernichteteKönig Tsching das Reich Thang und belehnte
Tai-scho. Desswegen sind die drei Sterne das Sternbild von Tsin."
528 Dr- Pttzmaier.
Der Sohn Scho-yü's verwandelte den Namen des Reiches Thang
in Tsin. Da das Reich Tsin aus dem Reiche Sche-tschin's hervor-
gegangen, so sollte den drei Sternen eigentlich von Tsin geopfert
werden.
„Betrachtet man es von dieser Seite, so ist Sche-tschin der
Gott der drei Sterne."
Dieses die Aufklärung über den ersten der zwei Götter, der zu
Folge Sche-tschin, ein in Tsin einheimischer Gott, der Vorsteher
des für die drei Sterne bestimmten Opfers. Auf den Himmelskarten
steht in dem Zeichen |+J Schin, dem neunten des Thierkreises, das
Bild der drei Sterne, diesem zunächst das Sternbild Sche-tschin.
„Einst hatte das Geschlecht Kin-thien einen Abkömmling Namens
Moei."
Kin-thien ist der Kaiser Schao-hao. Einer seiner Nachkommen
führte den Namen Wjt Moei.
„Er wurde der Vorsteher der bläulichen Tiefen."
Moei war die höchste der den Gewässern vorgesetzten Obrig-
keiten.
„Er ging voran Yün-ke und Tai-thai."
Von den zwei Söhnen Moei's hiess der ältere ~k$L Tj* Yün-ke,
der jüngere Tai-thai.
„Tpi-thai war im Stande zu übernehmen dessen Amt."
Dieser Sohn führte das Amt des Vaters fort.
„Er brachte in Lauf die Flüsse Fen und Thao."
Yjrf* Fen und ^Jk Thao Messen zwei Flüsse des späteren
Reiches Tsin.
„Er dämmte die grossen Sümpfe und Hess zurückbleiben das
Land Tai-yuen."
[i3 ~^r Tai-yuen (die grosse Ebene) ein Gebiet des späteren
Tsin-yang.
„Der Kaiser benützte seine vortrefflichen Eigenschaften und
belehnte ihn mit dem Flusse Fen."
Der Kaiser Tschuen-hiu belehnte Tai-thai mit dem Lande des
oben genannten Flusses Fen.
„Schin, Sse, Jao und Hoang bewahrten in der That dessen
Opfer. "
Notizen aus der Geschichte «1er chinesischen Reiche etc. 5<dd
Die vier Reiche j/J^Q Schin, jjjj[ Sse, j§=Jao und § Hoang
wurden von den Nachkommen Tai-tlnus beherrscht, welche so wie
dieser dem Flusse Fen opferten.
„Jetzt ist Tsin der Vorsteher des Fen, und es hat jene ver-
nichtet."
Das Reich Tsin besitzt jetzt dasGeliiet des FlussesFen, nachdem
es die vier genannten Reiche ihrer Unabhängigkeit berauht.
„Betrachtet man es von dieser Seite, so ist Tai-thai der Gott
des Flusses Fen."
Dieses die Aufklärung über den letzteren der zwei Götter, der
zu Folge Tai-thai, ein ebenfalls in Tsin einheimischer Gott, der
Vorsteher des für den Fluss Fen bestimmten Opfers.
„Jedoch diese zwei Götter haben nichts zu thun mit dem Leibe
des Landesherrn."
„Sind es Götter der Berge und Flüsse, so erscheinen die Land-
plagen der Überschwemmung, der Dürre, der Pest und der Seuchen.
In diesem Falle bringt man ihnen das Opfer."
Die Heimsuchung solcher Götter hat die hier genannten Übel
zur Folge. Man legt dann Seide und Schilfrohr nieder, baut einen
Tempel und bittet um die Abwendung des Übels.
„Sind es Götter der Sonne, des Mondes und der Sterne, so
kommen Schnee, Reif, Wind und Regen zur Unzeit. In diesem Falle
bringt man ihnen das Opfer."
Das Opfer ist dasselbe, wie bei den Göttern der Berge und
Flüsse.
„Was den Leib des Landesherrn betrifft , so kommen auch in
Betracht Ausgehen und Heimkehren, Speise und Trank, Kummer und
Freude. Was sollten die Götter der Berge, der Flüsse und der
Gestirne noch bewirken ?"
Tse-tschan meint, dass die Krankheit des Fürsten von Tsin haupt-
sächlich in dessen ungeregelter Lebensweise ihren Grund habe.
„Ich Kiao habe es gehört: Der weise Herrscher besitzt vier
Tageszeiten."
„Am Morgen hört er die Meldungen in Sachen der Regierung.
Am Mittag befasst er sich mit Nachforschungen. Am Abend verfertigt
er die Erlässe. In der Nacht gönnt er dem Leib Ruhe."
„Durch dieses beschränkt er auf ein Mass und bringt in Umlauf
seine Lebensgeister. Er lässt es nicht zu, dass etwas sich verstopfe,
530 Dr. Pfizmaier.
sich verschliesse, sich ansammle oder stocke, wodurch blossgelegt
würde sein Leih."
Wenn die Lebensgeister nicht in Umlauf gebracht werden, so
geschieht hierdurch der Ernährung Eintrag, die Rippen und andere
Knochen des Körpers kommen in Folge der Abmagerung zum Vor-
schein.
„Wenn dieses Herz nicht munter, so bringt es Verwirrung in
die hundert Ordnungen."
„Geschieht es jetzt nicht, dass er die vier Tageszeiten macht zu
einer einzigen? Hierdurch ist seine Krankheit entstanden."
„leb Kiao habe ferner gehört: Der innere Palast hat nichts zu
thun mit den Familien gleichen Namens. Sie bewirken Verküm-
merung."
Der Landesherr soll keine Gemahlinnen nehmen, welche mit ihm
den gleichen Familiennamen führen.
„Ihre Neigung hat sich früher schon erschöpft. Sie erzeugen
dann wechselseitig Krankheiten. Darum hat ein weiser Herrscher vor
diesem Abscheu."
Personen von gleichem Familiennamen empfinden ohnedies zu
einander grosse Neigung. Wenn sie sich noch mit einander vermählen,
so entsteht ein Übermass dieser Neigung, was Krankheiten und
einen frühen Tod zur Folge hat.
„Desswegen heisst es in den Denkwürdigkeiten: Wenn man eine
Nebengemablinn kauft und nicht weiss ihren Familiennamen, so brennt
man die Schildkrötenschale."
Wenn man in diesem Falle ein glückliches Ergebniss erhält, so
hat sie einen fremden Familiennamen.
„Dass diese zwei Dinge vermieden werden, war ein Gegenstand
der Sorgfalt für die Alten."
Die zwei Dinge sind die Vermengung der vier Tageszeiten und
die Vermählungen zwischen Personen mit gleichem Familiennamen.
„Die Unterscheidung der Familiennamen bei Männern und
Weibern bildet einen grossen Abschnitt der Gebräuche."
„Jetzt hat euer Landesherr in dem inneren Palaste wirklich
vier Töchter der Familie Ki : wäre wohl dieses nicht die Schuld?"
Die Fürsten von Tsin gehörten ebenfalls zu der Familie f/E Ki.
„Wenn die Ursache diese beiden Dinge, so ist es nicht möglich
ihn zu heilen."
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. 1)31
„Wenn die Töchter der Familie Ki in Abschlag kämen, so wäre
es noch immer möglich. Wo nicht, so wird er die Krankheit gewiss
zunehmen lassen."
„Der Fürst von Tsin hörte die Worte Tse-tschan"s und sprach :
Er ist ein Weiser, der sich um die Sache annimmt."
„Er beschenkte ihn reichlich."
Der Arzt Ho bespricht die Krankhnl des Pursten von Tsin.
„Der Fürst von Tsin begehrte einen Arzt von Thsin. Der Fürst
von Thsin entsandte den Arzt Ho, damit er sehe, was ihm fehle."
T^P Ho ist der kleine Name des Arztes.
„Dieser sprach: Die Krankheit ist unheilbar. Sie entsteht,
indem man naht dem inneren Hause des Weibes, eine Krankheit
gleich dem Wurmfrass."
„Sie stammt nicht von den Dämonen, nicht von der Nahrung.
Es ist Verwirrung mit Verlust des Verstandes. Der vortreffliche
Minister wird sterben. Der Befehl des Himmels lautet nicht günstig."
„Der Fürst sprach: Darf man denn dem Weibe nicht nahen?"
„Jener antwortete: Man bringe es auf ein Mass. Die Musik
der früheren Könige brachte hierdurch auf ein Mass die hundert
Angelegenheiten. Darum gibt es die fünf Masse."
Die fünf Masse sind die fünf Töne der Musik.
„Langsamkeit und Geschwindigkeit, Anfang und Ende passen
zu einander. Von den mittleren Tönen steigt man abwärts."
Wenn die mittleren Töne bereits gespielt worden, so geht das
Musikstück zu Ende.
„Nachdem man fünf Töne abwärts gestiegen , rührt man nicht
mehr die Saiten."
„Es gibt zwar ausschweifende Töne welche die Hand ermü-
den. Sie überwuchern das Herz und stopfen das Ohr voll. Sie
machen vergessen Gleichmass und Einklang. Der weise Herrscher
hört diese nicht an."
„Bei den Gegenständen ist es dasselbe. Gelangt man zur Ermü-
dung, so gibt man es auf. Man gibt keinen Anlass zur Entstehung
von Krankheiten."
„Der Weise beschäftigt sich mit Laute und Cither wegen der
Angemessenheit und des Masses , nicht aber um sein Herz überwu-
chern zu lassen."
Sitzb. d. phil.-hist. Cl. XX. Bd. III. Hfl. 35
532 Dr- Pfizmaier.
„Der Himmel besitzt sechs Seelen. Sie steigen hernieder und
bringen hervor die fünf Arten des Geschmacks."
Diese sechs Seelen werden gleich unten verzeichnet. Die fünf
Arten des Gescbmacks entsprechen den fünf Grundstoffen. Der
Geschmack des Wassers ist salzig, der Geschmack des Feuers bitter,
der Geschmack des Holzes sauer, der Geschmack des Metalls scharf,
der Geschmack der Erde süss.
„Diese erschliessen sich und bewirken die fünf Farben."
Die Farbe des Salzigen ist schwarz, die des Bitteren roth, die
des Saueren blau, die des Scharfen weiss, die des Süssen gelb.
„Diese bestätigen sich und bewirken die fünf Töne."
Unter den fünf Tönen der Tonleiter ist die schwarze Farbe der
Ton Yü, die rothe Farbe der Ton Tschhing, die grüne Farbe der
Ton Kio, die weisse Farbe der Ton Schang, die gelbe Farbe der
Ton Kung.
„Werden sie ausschweifend, so bringen sie hervor sechs Arten
von Krankheiten."
„Die sechs Seelen heissen: der Urstoff der Finsterniss , der
Urstoff des Lichts , Wind, Regen, Nacht und Tageshelle."
„Vertheilt bewirken sie die vier Jahreszeiten. Geordnet bewirken
sie die fünf Masse."
Die vier Jahreszeiten bringen in ihrer Ordnung die Masse der
fünf Grundstoffe hervor. Der Frühling ist dem Holze vorgesetzt, der
Sommer dem Feuer, der Herbst dem Metall, der Winter dem Was-
ser, indem einem jeden dieser Grundstoffe zweiundsiebenzig Tage
zugetheilt werden. Die Erde beherrscht von einer jeden der vier
Jahreszeiten achtzehn Tage, was im Ganzen ebenfalls zweiund-
siebenzig Tage beträgt.
„Überschreiten sie das Mass , so bewirken sie Unglück in der
Natur."
„Ist der Urstoff der Finsterniss ausschweifend, so entstehen
Krankheiten der Kälte."
„Ist der Urstoff des Lichtes ausschweifend, so entstehen Krank-
heiten der Hitze."
„Ist der Wind ausschweifend , so entstehen Krankheiten der
Hände und Füsse."
„Ist der Regen ausschweifend, so entstehen Krankheiten des
Bauches."
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. 533
„Ist die Nacht ausschweifend, so entstellen Krankheiten der
Verwirrung."
Die Nacht ist für die Ruhe bestimmt. Bei zu häufigem Umgang
mit Weihern bringt (nach der oben gebrauchten Ausdrucksweise)
der Wurmfrass Verwirrung über die Gedanken.
„Ist die Tageshelle ausschweifend, so entstehen Krankheiten
des Herzens."
Der Tag ist für die Verrichtung der Geschäfte und zum Nach-
denken bestimmt. Eine übermässige Anstrengung in dieser Hinsicht
erschöpft das Herz.
„Das Weib ist ein Geschöpf des Urstoffes des Lichts und ihre
Zeit ist die Nacht."
Weil das Weib dem Manne gewöhnlich folgt, ist sie ein
Wesen des Lichtprincips. Ihre Zeit ist die Nacht, weil der Umgang
mit ihr in der Nacht zu geschehen pflegt.
„Findet bei ihr Ausschweifung Statt, so bringt sie hervor innere
Hitze und die Krankheit der Verwirrung durch den Wurmfrass. "
Nach dem Obigen erzeugt der Urstoff des Lichts, wenn er das
Mass überschreitet, Krankheiten der Hitze, die Nacht im Übermasse
erzeugt Krankheiten der Verwirrung.
„Jetzt beobachtest du, o Herr, kein Mass und keine Zeit: konn-
test du anders, als in diesen Zustand gerathen?"
„Er trat hinaus und brachte die Meldung Tschao-meng."
„Tschao-meng sprach : Wen verstehst du unter dem vortreff-
lichen Minister?"
„Jener antwortete: Du, o Gebieter, bist damit gemeint."
„Du, o Gebieter, stehst zur Seite in der Regierung des Rei-
ches Tsin bis zu dem heutigen Tag acht Jahre. In dem Reiche Tsin
ist keine Empörung. Unter den Reichsfürsten ist keine Abtrünnigkeit.
Man kann dich wohl den Vortrefflichen nennen."
„Ich Ho habe es gehört: Die grossen Minister der Reiche
rechnen sich zur Ehre ihr vollkommenes Glück, sie unterziehen sich
ihren grossen Pflichten."
„Wenn Unglück hereinbricht und sie nicht im Stande sind es zu
ändern, so müssen sie auf sich nehmen das Verderben."
„Jetzt ist euer Landesherr gelangt zur Ausschweifung, und hat
sich zugezogen eine Krankheit. Er wird nicht fähig sein zu sorgen
für die Landesgötter: welches Unglück ist wohl grösser?"
35*
534 Dr- Pl'iz maier.
„Du, o Gebieter, kannst ihn nicht abhalten: aus diesem Grunde
habe ich es gesagt."
Desswegen hatte der Arzt gesagt: Der vortreffliche Minister
wird sterben.
„Tscho-meng sprach: Was nennst du den Wurmfrass?"
„Jener antwortete: Dasjenige was entsteht aus Versunkenheit
im Übermasse, aus Verwirrung und Unordnung."
„In der Schrift bilden Schüssel und Insecten den Wurmfrass."
Das Zeichen ^% Ku mit den verschiedenen Bedeutungen
„Wurmfrass, Kornwurm, Verwirrung, Geschäfte" ist zusammen-
gesetzt aus ^ tschung „Insecten" und JUL Ming „Schüssel". Es
zeigt somit eine Schüssel, in welcher die schädlichen Insecten
gesammelt werden.
„Die fliegenden Insecten des Getreides sind ebenfalls der
Wurmfrass."
Es wird geglaubt , dass das lange aufbewahrte Getreide sich in
fliegende Insecten verwandle, welche mit 30* Ku „Kornwurm",
ursprünglich ebenfalls Wurmfrass, bezeichnet werden.
„In den Verwandlungen der Tscheu ist es enthalten: Das
Weib bringt in Verwirrung den Mann."
Dieses unter dem Diagramma „der Kornwurm", wobei dem Zei-
chen $?% Ku die Bedeutung „Verwirrung" zukommt.
„Der Wind macht fallen auf den Bergen."
Das Diagramma zeigt unten den Wind, oben den Berg. Der
Wind weht an dem Fusse des Berges und bewirkt den Fall der
Bäume und Pflanzen.
„Dieses bedeutet der Wurmfrass. Der Gegenstand ist überall
derselbe."
Das für Wurmfrass gebrauchte Zeichen hat somit die drei ver-
schiedenen oben angegebenen Bedeutungen.
„Tschao-meng sprach: Du bist ein vortrefflicher Arzt."
„Er behandelte ihn mit Auszeichnung und Hess ihn heimkehren."
Ping, Fürst von Tsin, starb übrigens erst zehn Jahre später, im
zehnten Jahre des Fürsten Tschao von Lu.
gl ^ 58, das Jahr des Cyklus (S40 v. Chr. Geb.). Zweites
Begierungsjahr des Fürsten Tschao von Lu.
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. o3o
Dieses Jahr ist das erste Regierungsjahr des Königs ^t Ling
von Tsu.
Scho-kiung erkundigt sich in Tsin anter Beobachtung der Gebräuche.
„Scho-kiung erkundigte sich in Tsin. Er erwiederte den Besuch
Siuen-tse's."
*7 'J^ Sc,10"k'un^ ist der Solin ^ /h? Seho-lao's , ein
Grosser des Reiches Lu. Han-siuen-tse war früher nach Lu gekom-
men, um sich zu erkundigen.
„Der Fürst von Tsin Hess ihn an dem We'chbilde der Stadt
bewillkommnen."
Wenn ein Gast des Landesherrn erwartet wurde, so wurde den
Gebräuchen gemäss ein Reichsminister entsendet, um ihn an den
Grenzen des Weichbildes der Stadt zu bewillkommnen.
„Jener lehnte es ab und sprach: Mein Landesherr hiess mich
Kiung kommen, um fortzusetzen die alte Freundschaft."
„Er sagte mit Bestimmtheit: Du darfst nicht als Gast auftreten."
Der Fürst von Lu hatte Scho-kiung verboten, sich nach den für
einen Gast geltenden Gebräuchen behandeln zu lassen.
„Wenn ich mit meinem Auftrage durchdringe bei dem Leiter
der Geschäfte, so sind unsere niedrigen Städte schon belohnt genug."
„Darf ich es wagen, zu beschämen den Abgesandten des Weich-
bildes ? Ich bitte, es ablehnen zu dürfen."
„Man bereitete für ihn ein Wohngebäude. Er lehnte es ab und
sprach: Mein Landesherr hiess mich untergeordneten Diener kom-
men, um fortzusetzen die alte Freundschaft. Wenn die Freundschaft
geschlossen, die Sendung erfüllt, so ist dieses ein Glück für mich.
Darf ich es wagen, Schande zu bringen über das grosse Wohn-
gebäude?"
„Scho-hiang sprach: Tse-scho-tse kennt die Gebräuche!"
~F 'R^ ~P Tse-scho-tse ist Scho-kiung.
„Ich habe es gehört: Redlichkeit und Treue sind die Werk-
zeuge der Gebräuche. Erniedrigung und Nachgiebigkeit sind die
Vorsteher der Gebräuche."
„In seiner Rede vererass er nicht auf das Reich. Dieses ist Red-
lichkeit und Treue."
536 Dr. Pfizmaier.
Scho-kiung hatte in seiner Rede die alte Freundschaft der zwei
Reiche erwähnt.
„Er setzte voran das Reich, sich selbst setzte er nach. Dieses
ist Erniedrigung und Nachgiebigkeit."
Scho-kiung sprach zuerst von dem Lohn der niedrigen Städte,
d. i. des Reiches Lu, hieraufsagte er, was für ihn selbst ein Glück.
„In einem Gedichte heisst es:
Wer Würde nur, wer Anstand überwacht,
Der bat es halb zur Tugend schon gebracht."
„Der Meister steht schon nahe der Tugend!"
Ngan-ying reist als Gesandter nach Tsin, nm zu bitten nm die Fort-
setzung des inneren Hauses und bespricht die Regierung des Reichs.
„Der Fürst von Tsi entsandte Ngan-ying, damit er bitte um die
Fortsetzung des inneren Hauses in Tsin."
Mm. tfp Ngan-ying ist Ngan-ping-tschung von Tsi, auch
Ngan-tse genannt. Um diese Zeit war fjPr: /JA Schao-kiang, die
Gemahlinn des Fürsten von Tsin, eine Tochter des früheren Fürsten
von Tsi gestorben. Fürst King lässt hier den Fürsten Ping von Tsin
bitten, eine andere Tochter des Hauses Tsi zu wählen.
„Er sprach: Mein Landesherr heisst mich Ying sagen: Ich
wünsche zu dienen eurem Landesherrn. Am Morgen und am Abend
ermüde ich nicht. Ich wollte darreichen den Tribut ohne Zeit zu ver-
lieren. Da ereignete sich vieles Unglück für das Reich und das
Haus, desswegen bin ich nicht dazu gekommen."
„Die werthlose Tochter des früheren Landesherrn in erster
Linie wurde bestimmt für den inneren Palast."
Schao-kiang war die Tochter des früheren Fürsten von Tsi von
dessen Hauptgemahlinn.
„Sie erleuchtete meine Hoffnungen. Da hatte auch sie kein
Glück. In einem frühen Alter erlag sie ihrem Schicksal."
Schao-kiang war in der Rlüthe ihrer Jahre gestorben.
„Ich habe meine Hoffnung verloren. Wenn euer Landesherr
nicht vergessen sollte die Freundschaft des früheren Landesherrn,
wenn er in Güte berücksichtigen wollte das Reich Tsi, wenn er mich
beschämen wollte und meiner sich erbarmen, wenn er Segen begeh-
ren wollte von dem grossen Fürsten, dem Fürsten Ting, überglänzen
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. 53 i
unsere niedrigen Städte, beruhigen unsere Landesgötter, so haben
wir noch immer Töchter des früheren Landesherrn in erster Linie,
so wie Muhmen, ältere und jüngere Schwestern welche er hinter-
lassen."
Der grosse Fürst und Fürst Ting waren früher Beherr-
scher des Reiches Tsi.
„Sie gleichen eben Menschen."
Da der Fürst von Tsi die Schönheit dieser Töchter nicht rühmen
will, so vergleicht er sie mit gewöhnlichen Menschen.
„Wenn euer Landesherr nicht verlassen wollte unsere niedrigen
Städte, sondern prüfen lassen wollte und wähle1, damit bestimmt
würde eine fürstliche Gemahlinn, so setzte ich auf dieses meine Hoff-
nung."
„Han-siuen-tse hiess Scho-hiang antworten: Es ist der Wunsch
unseres Landesherrn. Unser Landesherr kann sich nicht allein unter-
ziehen den Angelegenheiten seiner Landesgötter, er hat noch keine
Gefährtinn. Er lebt in der Zeit der Trauerkleider und Trauermützen,
dess wegen wagte er es noch nicht, darum zu bitten."
Da Fürst Ping sich eben in der Trauer um Schao-kiang befand,
so konnte er seine Angelegenheiten nicht selbst besorgen und auch
nicht Tsi durch eine Bitte zuvorkommen.
„Wenn euer Landesherr mich beschämte mit einem Befehle, so
wäre keine Gnade grösser als diese."
„Wenn er in Güte berücksichtigt unsere niedrigen Städte, wenn
er beruhigt das Reich Tsin und ihm schenkt eine Gebieterinn des
inneren Palastes, wie käme dieses zu Gute mir allein? Sämmtliche
Minister würden in derThat theilhaftig seiner Wohlthat. VonThang-
scho abwärts würden Alle in der That es schätzen und sich Glück
wünschen."
Die Geister der früheren Landesherren von Tsin, deren erster
Thang-scho gewesen, würden hierüber ihre Freude bezeugen.
„Nachdem die Vermählung zu Stande gekommen, empfing Ngan-
tse die Ehrenbezeugungen."
Für Ngan-tse wurde die einem Gaste zukommende Festlichkeit
veranstaltet.
„Scho-hiang folgte ihm zu dem Feste. Sie sprachen miteinander."
Scho-hiang machte bei diesem Feste den Wirth.
„Scho-hiang sprach: Wie steht es um das Reich Tsi?"
538 Dr- Pfizmaier.
„Ngan-tse sprach: Dieses ist sein letztes Geschlechtsalter. Ich
habe sonst keine Kunde."
„Tsi gehört bereits dem Geschlechte Tschin. Der Fürst ver-
lässt sein Volk und heisst es sich unterwerfen dem Geschlechte
Tschin."
Der Prinz King-tschung von Tschin war im zweiundzwanzig-
sten Jahre des Fürsten Tschuang von Lu nach Tsi geflohen und
hatte daselbst das Geschlecht |K| Tschin gegründet. Diesem
Geschlechte wendeten sich die Bewohner von Tsi jetzt zu, woraus
Ngan-ying erkennt, dass die gegenwärtige Dynastie des Reiches Tsi
bald untergehen werde.
„Die vier alten Masse von Tsi sind eine Metze, ein Viertel, ein
Scheffel, ein Malter."
„Vier Mässchen bilden eine Metze. Ein jedes vervierfacht sich
und steigt bis zu dem Scheffel. Zehn Scheffel bilden einen Malter."
Nach dem in Tsi üblichen Masse für Getreide bildeten vier
Mässchen eine Metze, vier Metzen ein Viertel, vier Viertel einen
Scheffel, zehn Scheffel einen Malter, Namen welche jedoch den chi-
nesischen j=i Teu, |m Ngeu, |j£ Fu, JgJ Tschung nur annä-
hernd entsprechen.
„Das Geschlecht Tschin steigt bei drei Massen immer um eines.
Ein Malter ist daher schon gross."
Nach dem Masse dessen sich das Geschlecht Tschin bediente,
sind fünf Mässchen des Reiches Tsi eine Metze, fünf Metzen ein Vier-
tel, fünf Viertel ein Scheffel. Ein Malter der übrigens auch nur zehn
Scheffel enthielt, war daher im Verhältnisse zu dem Masse des Rei-
ches Tsi schon bedeutend gross.
„Mit dem Masse seines Hauses beschenkt es, jedoch mit dem
Masse des Fürsten nimmt es ein."
„Die Bäume des Gebirges, welche auf den Markt kommen, sind
nicht theurer als im Gebirge. Die Fische, die Seekrebse und Austern
sind nicht theurer als an dem Meere."
„Das Volk theilt in drei Theile seinen Verdienst. Zwei Theile
kommen zu dem Fürsten, jedoch für Kleidung und Speise verwendet
es einen einzigen."
„Was der Fürst sammelt, fault und wird wurmstichig, doch die
dreierlei Greise frieren und hungern."
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. Oü"
Die Gegenstände welche in den Vorrathshäusern des Fürsten
vonTsi aufgespeichert liegen, gehen häufig zu Grunde, während er die
Greise seines Reiches weder mit Reis noch mit Kleidungsstoffen
betheilt. Die dreierlei Greise sind nach Einigen die Personen des
hohen, des mittleren und niederen Alters, nach Anderen sind es die
Greise aus dem Stande der Ackersleute, der Handwerker and Kaufleute.
„Auf den Märkten des Reichs sind die gewöhnlichen Schuhe
wohlfeil, die Schuhe für Menschen ohne Füsse sind theuer."
Den Namen oTfl Yung, ursprünglich „hüpfen", führte damals
in Tsi eine besondere Art Schuhe zum Gebrauche für Personen,
denen zur Strafe die Füsse abgeschnitten worden waren. Dass diese
Schuhe im Preise hochstanden, war ein Zeichen, dass es damals in
Tsi viele Menschen gab, welche diese Strafe erlitten hatten.
„Die Menschen des Volkes sind voll von Schmerz, und jenes
lindert vielleicht ihren Schmerz."
Das Volk erwartet Linderung seiner Schmerzen von dem Ge-
schlecbte Tschin.
„Sie lieben es gleich dem Vater und der Mutter und kehren
sich ihm zu wie fliessendes Wasser. Sollte es auch nicht gewinnen
wollen das Volk, wie könnte es diesem ausweichen?"
„Khi-pe, Tschhe-ping, Yü-sui und Pe-hi, sie stehen zur Seite
dem Fürsten Hu. Tai-ki befindet sich bereits in Tsi."
46 & Khi-pe itk jj|~ Tschhe-ping, J^ |^ Yü-sui und
Mv 4M Pe-hi waren Ahnherren der Fürsten von Tschin. Fürst
^ü Hu gehörte zu den Nachkommen dieser vier Männer und war
der erste Landesherr des Reiches Tschin. ~hj& /\^ Tai-ki ist die
Tochter des Königs Wu von Tscheu und Gemahlinn des Fürsten Hu.
Ngan-ying meint, die gegenwärtige Dynastie Tsi werde zu Grunde
gehen und das Geschlecht Tschin an ihrer Stelle das Reich Tsi
beherrschen. Die vier genannten Ahnherren von Tschin stehen ihrem
Abkömmling, dem ersten Landesherrn von Tschin helfend zur Seite,
und der Geist der Fürstinn Tai-ki befinde sich bereits in Tsi.
„Scho-hiang sprach: Es ist wahr. Für das Haus unseres eigenen
Fürsten ist jetzt ebenfalls das letzte Geschlechtsalter."
„An die Streitwagen werden keine Pferde gespannt. Die Reichs-
minister haben nichts zu thun bei den Heeren."
540 Dr- Pfizmaier.
Die Reichsminister waren inTsin zugleich Anführer eines Heeres.
Dieselben haben jetzt kein Heer zu befehligen, woraus sich schliessen
lässt, dass Tsin schwach ist und keine Feldzüge unternehmen kann.
„Wenn der Fürst in den Wagen steigt, so hat er keine
Menschen. Wenn die Sehaaren sich in Reihe stellen, so haben sie
keinen Anführer."
Der Fürst kann nicht den geeigneten Mann zum Wagengenossen
finden, die Kriegsschaaren von hundert Mann besitzen keinen fähigen
Anführer.
„Das gewöhnliche Volk ist erschöpft und niedergeschlagen,
aber in dem Palaste nimmt überhand die Verschwendung. Die auf den
Strassen verhungern, blicken aufeinander, aber dasBesitzthum seiner
Weiber wird immer ansehnlicher."
„Das Volk hört den Befehl des Fürsten, als wollte es entrinnen
den Räubern und den Feinden."
„Luan, Khie, Siü, Yuen, Ku, Tu, Khing und Pe sind gesunken
und befinden sich unter den Schergen und Trabanten."
Die acht Familien Ifl Luan, ^R Khie, ?3j- Siü, JH Yuen,
^fij* Ku, Äff Tu, pst Khing und YP Pe gehörten zu den ange-
sehensten Geschlechtern des Reiches Tsin. Dieselben sind jetzt
herabgekommen und verrichten die niedrigsten Dienste.
„Die Regierung ist bei den Pforten der Häuser."
Die Regierung ist zersplittert und unter den verschiedenen
grossen Häusern getheilt.
„Das Volk hat nichts, woran es sich halten könnte. Der Landes-
herr bessert sich nicht mit den Tagen. Durch die Freude spricht
er Hohn dem Kummer."
„Das Haus des Fürsten ist erniedrigt: wie könnte dieses währen
durch Tage?"
Die Erniedrigung des fürstlichen Hauses kann von keiner
langen Dauer sein.
„Die Inschrift auf dem Dreifusse der Verleumdung lautet: Wenn
der Tag noch dunkel, die grosse Klarheit."
Es ist unbekannt, wer den liier genannten Dreifuss gegossen,
oder die Inschrift verfasst. Der Sinn der Inschrift ist: Der Herrscher
über Menschen steht täglich frühe auf und erleuchtet hierdurch auf
eine grossartige Weise seine Tugend.
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. O-t 1
„Die späteren Geschlechter sind fahrlässiger, um wie viel mehr
derjenige der sich nicht bessert mit den Tauen? Kann er wohl
lange bestehen?"
„Ngan-tse sprach: Was gedenkst du zu thun?"
„Scho-hiang sprach : Die fürstlichen Geschlechter von Tsin sind
erstorben. Ich He habe es gehört: Wenn das Haus des Fürsten
erniedrigt werden soll, so stürzen zuerst die Linien und Geschlechter
als Zweige und Blatter, hierauf folgt ihnen der Fürst nach."
E4V He ist Yang-sche-he's, d. i. Scho-hiang's Name.
„Meine Linie zählte eilf Geschlechter, von diesen ist nur das
Geschlecht Yang-sehe noch vorhanden."
Scho-hiang gehörte zu dem Geschlechte "^ + Yang-sche,
dessen Ahnherr der Sohn eines Fürsten gewesen. Die übrigen von dem
nämlichen Ahnherrn abstammenden Geschlechter waren damals nicht
mehr vorhanden. Welcher Fürst jedoch der Stifter dieser Linie
gewesen, ist unbekannt.
„Ich He besitze auch keinen Sohn. Das Haus des Fürsten ist
gesetzlos, es wäre ein Glück, wenn er stürbe. Wie könnte er wohl
das Opfer erhalten?"
Das Haus des Fürsten werde keine Nachkommen haben und ihm
könne von diesen nicht geopfert werden.
Pigan-ying tadelt die vielen Strafen.
„Vor diesem wollte Fürst King das Haus Ngan-tse's umtauschen."
„Er sprach : Dein Haus ist nahe dem Markte. Es ist feucht,
eng, unruhig und staubig, du kannst in ihm nicht wohnen. Ich bitte
dich, dir dafür ein helles und hochgelegenes gehen zu dürfen."
„Jener weigerte sich und sprach: Deine früheren Diener,
o Herr, hatten darin Platz."
Die früheren Diener sind Ngan-tse's Vorfahren welche dieses
Haus bewohnten.
„Ich bin nicht würdig, ihnen nachzufolgen. Es ist von mir schon
eine Anmassung."
Ngan-tse hält es schon für eine Anmassung, dass er als Unwür-
diger das Haus seiner Vorfahren bewohnt.
„Auch indem ich, der kleine Mensch, nahe dem Markte bin,
bekommeich am Morgen und am Abend was ich wünsche. Ich, der
542 Dr. Pfizmaier.
kleine Mensch, ziehe davon meinen Nutzen. Darf ich den Bewohnern
der Strassen wohl lästig fallen?"
Ngan-tse verschmäht es, ein Haus in einer Strasse zu beziehen.
„Der Fürst lachte und sprach: Da du dem Markte nahe wohnst,
merkst du dir auch die Preise?"
„Jener antwortete: Ich habe schon davon Nutzen gezogen: wie
sollte ich sie mir nicht merken?"
„Der Fürst sprach: Welche Gegenstände sind theuer, welche
wohlfeil ?"
„Um diese Zeit verhängte Fürst King viele Strafen, es gab Leute,
welche Schuhe für Menschen ohne Füsse verkauften. Desswegen
antwortete jener: Die Schuhe für Menschen ohne Füsse sind theuer,
die gewöhnlichen Schuhe sind wohlfeil."
„Er hatte dieses schon dem Landesherrn gesagt, desswegen
erwähnte er es in seiner Unterredung mit Scho-hiang."
Die Unterredung Ngan-tse's mit Scho-hiang steht in dem vorher-
gehenden Abschnitte.
„Fürst King verminderte aus diesem Grunde die Strafen."
„Die Weisen sprachen: Die Worte der menschlichen Menschen,
wie ausgedehnt ihr Nutzen!"
„Ngan-tse sprach ein einziges Wort, und der Fürst von Tsi
verminderte die Strafen."
„In einem Gedichte heisst es:
Der Weise sich zum Werk des Segens wende,
Dann nimmt das Unglück wohl ein schnelles Ende."
„Dieses lässt sich von ihm sagen."
„Als Ngan-tse sich nach Tsin begab, bestimmte ihm der Fürst
ein anderes Haus. Als er zurückkehrte, war es schon vollendet."
„Nachdem er sich bedankt, riss er es nieder und baute die
Häuser der Strasse gerade so, wie sie früher gewesen. Hierauf liess
er sie durch den Schaffner des Hauses zurückgeben."
Fürst King hatte die Häuser der Strasse niederreissen lassen,
um für das Haus Ngan-tse's Platz zu gewinnen. Nachdem dieser sein
eigenes Haus zerstört, liess er die Häuser des Volkes wieder auf-
bauen und gab sie ihren früheren Eigenthümern zurück.
„Auch berief er sich auf ein Sprichwort: Nicht wegen des
Hauses brennt man die Schildkrötenschale, nur wegen der Nachbarn
brennt man die Schildkrötenschale."
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. 543
Der Sinn des Sprichwortes ist: Die Menschen suchen nicht
durch Wahrsagung zu erfahren , oh ihr Haus glückbringend sein
werde, sondern ob sie daselbst mit dem Nachbarn leben können.
„Die zwei oder drei Söhne haben schon früher die Schildkröten-
schale gebrannt wegen der Nachbarn. Der Schildkrötenschale zuwider
handeln, bringt kein Glück."
Die zwei oder drei Söhne sind die früheren Bewohner der
Strasse. Indem sie durch das Brennen der Schildkrötenschale hin-
sichtlich der Nachbarn ursprünglich ein glückliches Ergebniss erhalten
und man sie jetzt ihre Wohnung wechseln lässt, setzt man sich in
Widerspruch mit diesem Ergebniss der Wahrsag mg.
„Der Weise lässt sich nicht zu Schulden kommen, was zuwider
den Gebräuchen. Der kleine Mensch lässt sich nicht zu Schulden
kommen, was kein Glück bringt."
Den Gebräuchen zuwider handelt man, indem man die früheren
Wohngebäude des Volkes niederreissen lässt.
„Dieses sind alte Vorschriften: darf ich ihnen wohl zuwider
handeln?"
j£ 2§ 60, das Jahr des Cyklus (538 vor Chr. Geb.). Viertes
Regierungsjahr des Fürsten Tschao von Lu.
Nin-scho-tsi spricht über drei Dinge, bei welchen keine Gefahr.
„Der Fürst von Tsu hiess Tsiao-khiü reisen nach Tsin und
ersuchen wegen der Fürsten des Reichs."
Ling, König von Tsu wollte eine Zusammenkunft der Reichs-
fürsten veranstalten. Der Abgesandte Tsiao-khiü sollte hierbei die
Einwilligung des Reiches Tsin nachsuchen.
„Der Fürst von Tsin wollte es nicht gestatten."
„Der Anführer der Pferde Heu sprach: Es darf nicht sein."
Der Anführer der Streitwagen fe Heu ist ^j( Tj^ -J£ Niü-
scho-tsi. Er meint, der Fürst von Tsin dürfe das Ansuchen nicht
zurückweisen.
„Der König von Tsu ist hochmüthig. Der Himmel will ihn viel-
leicht durchsetzen lassen seinen Willen, um zu verstärken sein Gift
und ihm hernieder zu sr-nden die Strafe. Man kann es noch nicht
wissen."
544 Dr- Pfizmaier.
„Ob er ihn befähigen werde, ein gutes Ende zu nehmen, kann
man ebenfalls noch nicht wissen."
„Tsin und Tsu werden nur gestützt von dem Himmel, sie dürfen
nicht mit einander streiten."
Beide Reiche sind einander an Macht gleich, und dasjenige
welches von». Himmel begünstigt wird, erlangt die Herrschaft über
die Reichsfürsten , desswegen dürfen sie einander diese Oberherr-
schaft nicht streitig machen.
„Mögest du, o Herr, es gewähren und ordnen die Tugend, indess
du wartest auf das, wohin er sich wendet."
„Wendet er sich zur Tugend, so werden selbst wir ihm dienen,
um wie viel mehr die Fürsten des Reichs?"
„Macht er den Übergang zu Ausschweifung und Unterdrückung,
so wird Tsu ihn verlassen : mit wem brauchten wir noch zu streiten?"
„Der Fürst sprach: Tsin hat drei Dinge, bei welchen keine
Gefahr: was für ein Gegner könnte ihm wohl erwachsen?"
„Das Reich besitzt steile Anhöhen und erzeugt viele Pferde."
Dieses die zwei ersten Dinge, bei welchen keine Gefahr.
„Tsi und Tsu haben vieles Unglück."
In den mächtigen Reichen Tsi und Tsu ereignen sich Empörung
und Fürstenmord, während Tsin von diesen Übeln verschont bleibt.
Dieses das dritte, bei welchem keine Gefahr.
„Wer für sich diese drei Dinge hat, wohin sollte er sich wen-
den, ohne zu siegen?"
„Jener antwortete: Sich verlassen auf steile Anhöhen und
Pferde, und rechnen auf das Unglück der benachbarten Reiche, dieses
sind drei gefahrbringende Dinge."
„Die vier Felsengebirge, die drei Pässe, die Mauern des Yang,
das grosse Haus, die Berge King und Tschung-nan sind die steilsten
Aiihöhen der neun Provinzen."
Von den vier Felsengebirgen fej* UU Sse-yo ist das östliche
der (Jj ^E Thai-schan, das südliche der |_|_| /^f Heng-schan , das
westliche der (Jl EffiE Hoa-schan, das nördliche der |Jj M3 Hoan-
schan. Die drei Passe ^ "Z^ San-thu sind die Gebirge ^t y^
Thai-hang, $cr j|§=n Hoan-yuen und J4fy ife Hiao-tschhi. Eben so
sind Namen von Gebirgen T/TJ^ I|J| Yang-tsching (die Stadtmauer des
Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc. .)4.)
Princips Yang) ä> /$. Thai-schi (das grosse innere Haus) []_ 7t (I
King-schan und nFJ th Tschung-nan.
„Es gab daselbst mehr als eine Familie."
In diesen durch natürliche Bollwerke geschützten Gegenden
hatten mehrere Familien Reiche gegründet. Sie gingen aber sämmt-
lich zu Grunde, wenn sie nicht die Tugend besassen.
„Die nördlichen Gebiete der Provinz Ki bringen Pferde hervor.
Es gibt daselbst keine Reiche im Aufschwung."
An der nördlichen Grenze der Provinz ^b Ki lag das Reich
>p£ Yen.
„Indem man sich auf steile Anhöhen und Pferde verlässt, darf
man sich nicht für gesichert halten. Von Alters her ist es so
gewesen."
„Desswegen trachteten die früheren Könige zu ordnen den
Klang der Tugend und boten sie den Göttern und Menschen. Ich
habe nicht gehört, dass sie nach steilen Anhöhen und Pferden
getrachtet hätten."
„Auf das Unglück der benachbarten Reiche darf man nicht
rechnen."
„Einige hatten vieles Unglück und sicherten ihr Reich. Sie
erweiterten noch ihre Grenzen."
„Andere hatten gar kein Unglück und richteten zu Grunde ihr
Reich. Sie verloren noch den Wohnsitz, den sie besassen. Wie könnte
man rechnen auf das Unglück?"
„Tsi hatte das Unglück mit Tschung-sün, und es gewann den
Fürsten Hoan. Bis auf den heutigen Tag ist es seine Zuversicht."
-Hb Im Tschung-sün heisst der Fürstenenkel Wu-tschin, der
im neunten Jahre des Fürsten Tschung von Lu den Fürsten Siang
von Tsi tödtete. Die Folge dieses Ereignisses war die Einsetzung des
Fürsten Hoan und die Oberherrschaft des Reiches Tsi.
„Tsin hatte das Unglück mit Li und Pei, und es gewann den
Fürsten Wen. Hierdurch wurde es der Herr des Vertrages."
Im neunten Jahre des Fürsten Hi von Lu tödtete Li-khe den
Thronfolger Tscho. Der Genosse Li-khe7s war jpR Jv Pei-tsching.
„Wei und Hing hatten gar kein Unglück. Die Feinde richteten
sie ebenfalls zu Grunde."
546 Dr- Pfizniaier.
Im ersten Jahre des Fürsten Min von Lu vernichtete Wei das
Reich Hing , im zweiten Jahre desselben Fürsten vernichteten die
nördlichen Barbaren wieder das Reich Wei.
„Dess wegen kann man auf das Unglück der Menschen nicht
rechnen."
„Wer auf diese drei Dinge sich verlässt und nicht ordnet die
Regierung sammt der Tugend, der geht zu Grunde unverzüglich: wie
wäre er noch im Stande zu siegen? Mögest du, o Herr, es gewähren."
„Tschheu beging Ausschweifungen und Grausamkeiten. König
Wen war gütig und verträglich. Die Yin gingen hierdurch zu
Grunde. Die Tscheu kamen hierdurch empor. Wie hätten sie gestrit-
ten um die Fürsten des Reichs?"
König Wen brachte sein Reich nur auf die angegebene Weise
zum Aufschwung, nicht aber, indem er mit König Tschheu um die
Oberherrschaft über die Reichsfürsten stritt.
„Hierauf gewährte man dem Gesandten von Tsu."
Schin-fung spricht über den Hagel.
„Es war ein grosser Hagel. Ki-wu-tse fragte Schin-fung: Kann
man dem Hagel Einhalt gebieten?"
ti=i Etl Schin-fung, ein Grosser des Reiches Lu. Ki-wu-tse
ist Ki-sün-su, der erste Reichsminister von Lu.
Zu diesem Ereigniss bringt Hu-ngan-kue im Wesentlichen fol-
gende Erklärung: Wenn die Luft der beiden Naturprincipe Yin und
Yang sich gleichmässig verbreitet, so entstehen Reif, Schnee, Regen
und Thau. Verbreitet sie sich nicht gleichmässig, so bewirkt sie ein
widerspänstiges Wetter. Zu diesem gehören Stürme mit Finsterniss,
Stürme mit Staub, Hagel. Das Yin welches das Yang einschüchtert,
ist das Bild eines Ministers der sich Eingriffe in die Rechte des
Landesherrn erlaubt. Um diese Zeit hatte sich Ki-sün-su alle Gewalt
in dem Reiche Lu und namentlich den alleinigen Refehl über das
Heer angemasst. Als warnende Winke zeigten sich hierauf in Lu
binnen wenigen Monaten mehrere ungewöhnliche Naturerscheinungen.
Schin-fung war eigentlich ein Schützling Ki-sün-siTs, wesshalb an-
genommen wird , dass er über den Gegenstand nicht entschieden
sprechen wollte. Er schob daher die Schuld auf die Aufbewahrung
des Eises und äusserte noch verschiedene andere irrige Meinungen,
Notizen ans der Geschichte der chinesischen Reiche etc. 54-7
während seine Absicht war, dem Fürsten Tschao Furcht einzuflössen,
damit er die Gebräuche beobachte und die Regierung verbessere.
„Jener antwortete : Die höchstweisen Menschen sind in der
Höhe, sie besitzen keinen Hagel. Und wenn sie ihn auch besässen,
sie bewirken kein Unglück der Natur."
Die Geister der weisen Landesherren welche in dem Himmel
sind, haben keinen Hagel den sie schicken könnten. Angenommen
jedoch, sie besässen einen Hagel, so würden sie durch ihn kein
Unglück anrichten.
„Ehemals, wenn die Sonne stand auf der nördlichen Bahn,
sammelte man das Eis.
Im zwölften Monate der Dynastie Hia, dem zweiten der Dyna-
stie Tscheu (d. i. von Mitte December bis Mitte Jänner) tritt die
Sonne in die Sternbilder rf=" Khieu (die Anhöhe) und fih Wei (der
Abgrund), welche Sternbilder des nördlichen Himmels sind.
„Wenn sie stand auf der westlichen Bahn und am Morgen war
das Sichtbarwerden, nahm man es hervor."
Im dritten Monate der Dynastie Hia, dem fünften der Dynastie
Tscheu (d. i. von Mitte März bis Mitte April) tritt die Sonne in die
Sternbilder j&n Mao (die Mütze) und S Pi (das Hasennetz),
welche Sternbilder des westlichen Himmels sind. Um dieselbe Zeit,
im Frühlingsanfang ist das Sternbild ^ Khuei (die Hüftbeine) im
Osten sichtbar.
„Zur Zeit, wo man es sammelte, halten die tiefen Berge, die
erschöpften Thäler den Urstoff der Finsterniss gefangen und ver-
schliessen die Kälte. Aus diesem Grunde nimmt man es hinweg."
Indem man das Eis, in welchem das Princip. der Finsterniss sich
ansammelt, fortschafft, leitet man die Stoffe dieses Princips ab, damit
es in der Natur keinen Schaden anrichte.
„Zur Zeit, wo man es hervornahm, gibt es an dem Hofe Ein-
künfte und Bangstufen, Bewirthungen von Gästen, Trauerfälle und
Opfer. Aus diesem Grunde bedient man sich dessen."
Bei allen hier gedachten Gelegenheiten macht man von dem
Eise Gebrauch, das übrigens nicht dem Landesherrn allein vorbe-
halten werden darf.
„Wenn man es aufbewahrt, nimmt man schwarze Binder,
schwarzes Getreide und opfert sie dem Vorsteher der Kälte."
Sitzh. d. phil.-hist. Cl. XX. Bd. III Hft. 36
548 Dr. Pfizmaier.
Der Vorsteher der Kälte ist ein Gott der Finsterniss, darum
werden ihm schwarze Gegenstände gewidmet. Bei der Einsammlung
des Eises opfert man diesem Gotte.
„Wenn man es hervornimmt, verfertigt man Bogen aus Pfirsich-
holz und Pfeile aus Hagedorn. Man vertreibt mit ihnen das Unglück
der Natur."
In dem Augenblicke wo man das Eis vertheilen will, sucht man
durch Schiessen mit den hier genannten Bogen und Pfeilen das durch
das Eis entstehende natürliche Unglück zu bannen.
„Man opfert der Kälte und bewahrt es. Man beschenkt mit
Lämmern und eröffnet es."
So wie bei der Aufbewahrung des Eises dem Vorsteher der
Kälte geopfert wird, so werden im zweiten Monate der Dynastie
Hia diejenigen Personen welche das Eis erhalten, mit Lämmern
beschenkt, worauf erst die Eisgruben geöffnet werden.
„Der Fürst macht zuerst davon Gebrauch. Wenn das Feuer
hervortritt, ist es vollständig vertheilt."
Der Landesherr, als der Geehrteste, benützt das Eis zuerst.
Im dritten Monate der Dynastie Hia (d. i. von Mitte April bis Mitte
Mai) wird der Feuerstern, d. i. der Planet Mars zuerst sichtbar.
Um diese Zeit muss das Eis an alle Personen welche dasselbe zu
erhalten haben, vollständig vertheilt sein.
„Bei der Aufbewahrung sei es verborgen. Bei dem Gebrauch
werde es allgemein."
„Dann gibt es irn Winter keinen austretenden Stoff des Lichts."
Der Winter ist dann nicht warm.
„Im Sommer keinen versteckten Stoff der Finsterniss."
Der Sommer ist dann nicht kalt.
„Im Frühling keine kältenden Winde, im Herbst keinen bitteren
Begen."
„Der Donner rollt, aber es schlägt nicht ein. Es gibt keinen
verderblichen Beif, keinen Hagel. Pest und Krankheiten steigen nicht
hernieder. Das Volk stirbt keines ungewöhnlichen Todes."
„Jetzt sammelt man das Eis der Flüsse und der Teiche. Man
verwirft es, ohne sich dessen zu bedienen."
Man sammelt nicht das Eis der Berge und Thäler. Da ferner
der Landesherr das Eis für sich selbst behält und andere von dem
Gebrauche desselben ausschliesst, so wird es weggeworfen und
Notizen aus der Geschiehte der chinesischen Reiche etc. 549
nicht vollständig unter die Diener des Landesherrn vertheilt. Diesen
Umstünden wird , wie gleich unten zu ersehen, von Schin-fung das
Unglück in der Natur, namentlich der Hagelschaden zugeschrieben.
„Der Wind überschreitet nicht das Mass, aber er tödtet. Der
Donner rollt nicht, aber es schlägt ein. Der Hagel bewirkt in der
Natur Unglück: könnte man ihm wohl Einhalt gebieten?"
Der Fürst von Tsu versammelt die Rcichsfürsten in Schin.
„Der Fürst von Tsu versammelte die Reichsfürsten in Schin."
ph Schin, eine Stadt des Reiches Tsu. Dieses die erste Ver-
sammlung der Reichsfürsten, welche Tsu für sich allein bewerk-
stelligte, nachdem es von Tsin hierzu die Erlaubniss erhalten. Rei
der ersten durch König Tschuang veranstalteten Versammlung von
Schin-ling gehorchten Tsu blos die Reiche Tschin und Tsching.
Bei der gegenwärtigen Versammlung von Schin betheiligten sich im
Ganzen zwölf Reiche, es erschienen nämlich daselbst die Fürsten
von Tsai, Tschin, Tsching, Hiü, ^ Siü, Theng , £|[ Schün, £J]
Hu, V^jT Tschin, dem kleinen Tschü, der Thronfolger von Sung,
ferner die östlichen Rarbaren des Flusses '^|g Hoai.
„Tsiao-khiü sprach zu dem Fürsten von Tsu: Ich habe gehört :
Die Reichsfürsten kennen nicht die Unterwerfung. Den Gebräuchen
wird zu Theil die Unterwerfung."
„Jetzt hast du, o Herr, das erste Mal gewonnen die Fürsten des
Reichs : mögest du dein Augenmerk richten auf die Gebräuche. "
„Ob die Oberherrschaft zu Stande kommen werde oder nicht,
hängt ab von dieser Versammlung."
„Der Fürst von Tsu stellte den Reichsfürsten zur Schau den
Hochmuth."
„Tsiao-khiü sprach: Rei der Angelegenheit der sechs Könige,
der zwei Fürsten wurden überall den Reichsfürsten zur Schau
gestellt die Gebräuche."
Die Angelegenheit der sechs Könige heissen das Opfer von
Wo-thai unter König Khi, der Refehl von King-pd unter König
Thang, die Versammlung von Meng-thsu unter König Wu, die Früh-
lingsjagd von Khi-yang unter König Tsching, der Hof in Fung-kung
unter König Khang, die Versammlung von Thu-schan unter König
36'
1)50 Dr. Pfizmaier. Notizen aus der Geschichte der chinesischen Reiche etc.
Mo. Die Angelegenheit der zwei Fürsten heissen der Heereszug von
Tschao-ling unter dem Fürsten Hoan von Tsi, die Versammlung von
Tsien-tu unter dem Fürsten Wen von Tsin.
„Die Fürsten des Reichs achteten aus diesem Grunde die
Befehle."
„Khie von Hia veranstaltete die Versammlung von Jing. Min
fiel von ihm ab."
König Khie versammelte die Reichsfürsten in dem Reiche An Jing.
Bei dieser Gelegenheit empörte sich der Fürst des Reiches ^j|; Min.
„Tschheu von Schang veranstaltete die Frühlingsjagd von Li.
Die östlichen Barbaren fielen von ihm ab."
&L Li war ein Reich der östlichen Barbaren.
„Yeu von Tscheu schloss den Vertrag von Thai-schf. Die Bar-
baren des Westens und des Ostens fielen von ihm ab."
König Yeu Hess die Reichsfürsten in dem Gebirge ^ ^
Thai-schi (das grosse innere Haus) einen Vertrag beschwören.
„Es wurde überall den Reichsfürsten zur Schau gestellt der
Hochmuth. Die Fürsten des Reichs verachteten aus diesem Grunde
die Befehle. "
„Jetzt zeigst du, o Herr, den Hochmuth: sollte es wohl nicht
sein, dass du nichts ausrichtest?"
„Der König hörte ihn nicht."
„Tse-tschan besuchte Tso-sse und sprach: Ich bin ohne Sorge
wegen Tsu. Es ist hochmüthig und sträubt sich gegen den Tadel.
Es kann nicht länger als zehn Jahre dauern."
Tse-tschan meint, das Reich Tsu werde sich nicht länger als
zehn Jahre im Besitze seiner Macht befinden.
„Tso-sse sprach: Es ist wahr. Wenn der Hochmuth keine zehn
Jahre währt, so dringt dieses Laster nicht in die Ferne. Wenn man in
die Ferne dringen lässt den Hochmuth, dann erst wird man verlassen."
„Bei dem Guten ist es eben so. Wenn die Tugend dringt in
die Ferne, dann erst erfolgt der Aufschwung."
Verzeichniss der eingegangenen Druckschriften. •).) 1
YKttZEICHNISS
DER
EINGEGANGENEN DRUCKSCHRIFTEN.
MAI.
Akademie, k. bayerische, Abhandlungen der philosophischen Ciasse.
Bd. 8, Abtb. 1.
— ^Bulletin unb ©ete^rte Slnjeigen. 23b. 41.
Akademie, k. preussische. Monatsbericht. März und April.
Annalen der k. k. Sternwarte in Wien. Dritte Folge, Bd. 5.
Annuaire de l'institut des provinces de France. 1856.
5t nj et gen, ©ötttngtfdje, geteerte. Safyrgcmg 1855.
Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit. 1856, Nr. 4, 5.
Berlin, Universitätsschriften aus dem Jahre 1855.
Caumont, Statistiques routieres de la Basse -Normandie. Paris
1855; 8°-
— Rapport sur divers monuments et sur plusieurs excursions archeo-
logiques. Paris 1856; 8°-
Ciconj, Giov. SulPorigine ed incremento di Udine. s. 1. et d.; S°-
Cicogna, II ricco non e piü felice del povero. Venezia 1855; 8°-
Clibborn, E., An essay on the probability of Saul Beniah ect.
Huving been the Hycsos rulers ect. s. 1. et d.; 8°-
Colla, A„ ulteriori notizie intorno ai pianeti Circe, Leucotea, Ata-
lante e Fides, e sulla 3 Cometa del 1555 etc. Parma 1856; 8<"
Cosmos. 1856, Nr. 17—21.
Dana, second supplem. to Mineralogy. Cambridge 1855; 8°-
— Address before the american association for the advancement of
science. Cambridge 1856; 8°*
Davidson, Thomas, Classification der Brachiopoden. Deutsch be-
arbeitet mit einigen neuen Zusätzen versehen von Ed. Suess.
Wien 1856; 4<>-
552 Verzeichniss der
D'Escayre de Lauture, etc., Memoire sur le Soudan. Cahier 2. 3.;
8o.
Förster, Bauzeitung 1856. Hft. 2, 3.
Gesellschaft, medicin. - physic, zu Würzburg. Verhandlungen.
Bd. VI, Hft. 3.
Göttin ger Universitäts-Schriften aus dem Jahre 1855.
Grimani, Marco Antonio, Relazione del Podestä di Padova, dal 6
Nov. al 28. Febb. 1554. Venezia 1856; &P-
Grimani, Pietro, due discorsi pronunziati del popolo dal seren.
Doge di Venezia, il 1 Giuglio 1741. Venezia 1856; 8°-
Grimani, Franc, Relazione storico politiche delle isole del mare
Jonio suddite della serenissima repubiica di Venezia. Venezia
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Hausmann, Joh., Friedr., Über die durch Molecularbewegungen
in starren leblosen Körpern bewirkten Formveränderungen.
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Kokscharow, Nicolai v., Materialien zur Mineralogie Russlands.
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Pamatky, arehaeologicke. Dil II. 1.
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/
MHi '.. . \„ j £B2 1 f*&
AS Akademie der Wissenschaften,
142 Vienna. Philo sophi sc h-Histo-
A53 rische Klasse
Bd. 19-20 Sitzungsberichte
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