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Full text of "Sämtliche Dialoge; in Verbindung mit Kurt Hildebrandt, Constantin Ritter und Gustav Schneider;"

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In Verbindung mit 


Kurt Hildebrandt, Constantin Ritter 
und Gustav Schneider 
Lubersetzt] 


herausgegeben 


und mit Einleitungen, Literaturübersichten, 
Anmerkungen und Registern versehen von 


OTTO AP EZZ 


BANDI 


VERLAG VON FELIX MEINER IN LEIPZIG 


ΒΤ ΑΤΟΝ 


SAMTLICHE DIALOGE 


BANDI 


Vorwort und Einleitung zur (Gesamtausgabe 
von Otto Apelt. — Protagoras — Laches und 
Euthyphron — Apologie undKriton — Gorgias 


VERLAG VON FELIX MEINER IN LEIPZIG 


Alle Rechte, 
einschließlich des Übersetzungsrechtes, 
vorbehalten 


Druck von C, Grumbach in Leipzig. 


# 7 


Übersicht der Gesamtausgabe. 


Band I: Vorwort und Einleitung zur Gesamtausgabe. Von Otto 
Apelt. — Protagoras — Laches und Euthyphron — Apo- 
logie und Kriton — Gorgias, 

: Menon — Kratylos — Phaidon — Phaidros. 

„ ΠῚ: Euthydemos — Hippias I/II und Ion, Alkibiades I/II — 

Gastmahl — Charmides, Lysis, Menexenos. 

„ IV: Theätet — Parmenides — Philebos, 

„ ὙΥὉ: Der Staat. 

„ VI: Timaios und Kritias — Sophistes — Politikos — Briefe, 

„ VII: Gesetze — Register der Gesamtausgabe. 


5 
-- 
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Einleitung zu Platons Sämtlichen Dialogen. ΔΑ 


Digitized by the Internet Archive 
in 2011 with funding from 
University of Toronto 


http://www.archive.org/details/smtlichedialogO1plat 


Vorwort. 


Es war im Jahre 1909, also vor nunmehr zehn 
Jahren, daß seitens des damals noch Dürrschen Ver- 
lags die Aufforderung an mich herantrat, die Besorgung 
einer neuen Auflage der Kirchmannschen Übersetzung 
und Bearbeitung des Platonischen Theätet zu über- 
nehmen. Von der Absicht einer Gesamtausgabe der Pla- 
tonischen Werke war bei diesen Verhandlungen nicht 
die Rede. Allein es blieb nicht bei dem Theätet. Viel- 
mehr tat mir Herr Felix Meiner, der nach Dürrs baldigem 
Tode den Verlag der Philosophischen Bibliothek über- 
nommen hatte, nach Erscheinen des Theätet den Wunsch 
einer Fortsetzung meiner Tätigkeit für den Verlag kund, 
ein Wunsch, der sich, wie mir erst allmählich durch be- 
stimmtere Mitteilungen klar wurde, immer fester zu dem 
Plan einer Gesamtausgabe Platons ausgestaltete.e Man 
würde also sehr irregehen, wenn man mich für den eigent- 
lichen Vater des nunmehr vollendeten Werkes ausgeben 
wollte. Dies ist so wenig der Fall, daß nicht einmal 
das Verdienst einige andere Kräfte zur Mitarbeit ge- 
wonnen zu haben auf meine Rechnung zu setzen ist. Ich 
meinerseits bin nur den immer erneut an mich gerichte- 
ten Aufforderungen des Verlegers zur Fortsetzung meiner 
Beteiligung an dem Unternehmen nachgekommen, dabei 
nur in der Auswahl der Dialoge mir die freie Hand 
wahrend. Was die Beteiligung anderer an der Arbeit 
betrifft, so blieb das ausschließlich Sache des Verlegers; 
ich habe dabei keinerlei Initiative ergriffen, nur etwaige 

| ἀπ 


IV Vorwort. 


darauf bezügliche Anfragen und Anliegen des Verlegers 
beantwortet und ihm bei jeder Gelegenheit zu erkennen 
gegeben, daß mir die Mitarbeit anderer durchaus will- 
kommen sei. So sind denn die drei nicht aus meiner 
Feder stammenden Bändchen (Gastmahl, übersetzt von 
Kurt Hildebrandt, Phaidros, übersetzt von Constantin 
Ritter, Laches und Euthyphron, übersetzt von Gustav 
Schneider und herausgegeben von dessen Schüler Benno 
von Hagen), von deren Verfassern einer — der verdiente 
G. Schneider in Gera — leider inzwischen bereits aus 
dem Leben geschieden ist, ohne jeden Einfluß meiner- 
seits, sei es auf die Übersetzung selbst sei es auf Druck- 
legung oder Revision, entstanden. Es ist also keine bloße 
Redensart, wenn ich sage: Ich war bei dem Unternehmen 
nicht der Treibende sondern der Getriebene. Aber einmal 
von der Strömung erfaßt, ließ ich mich, das gestehe 
ich, immer williger von ihr tragen, wie es denn auch 
wenig für meine Herzensbeteiligung sprechen würde, wenn 
sich beim rüstigen Fortschreiten eines Unternehmens, 
dessen Hauptlast auf meinen Schultern ruhte, nicht auch 
mein Interesse dafür gesteigert hätte, und dies um so 
mehr als die Aufnahme, die das Werk bei der Lesewelt 
fand, keine unfreundliche war. Ich fühlte mich je länger 
je mehr mit dem Unternehmen verwachsen, so daß es 
mir nicht als Anmaßung erschien, entsprechend dem 
Wunsche des Verlegers, dem nunmehr vollendeten Ganzen 
eine kurze Einleitung voranzuschicken, von der ich nicht 
sagen kann, ob oder inwieweit die Mitarbeiter meinen 
darin sich kundgebenden Standpunkt teilen, wie ich denn 
auch für dieses Vorwort die alleinige Verantwortung 
trage. Daß die Beteiligung mehrerer an der Arbeit unter 
den bezeichneten Umständen einige Ungleichmäßigkeiten 
innerlich wie äußerlich zur Folge gehabt hat, wird 
man, denke ich, begreiflich und verzeihlich finden. 


Vorwort. V 


Mir selbst ist dabei bedauerlich nur das Fehlen der 
Literaturübersicht zum Gastmahl, zum Laches und Eu- 
thyphront!). Denn diese Übersichten, deren Zusammen- 
stellung, nebenbei bemerkt, keine ganz mühelose Sache 
ist, haben für den Zweck, dem diese Gesamtüber- 
setzung — wie aus der Einleitung erhellt — vorwiegend 
gewidmet ist, eine nicht nur ganz nebensächliche Bedeu- 
tung: sie sollen dem Leser, der das Bedürfnis nach wei- 
terer Forschung in sich spürt, einen wie ich glaube nicht 
unwillkommenen Wegweiser für eigenes Eindringen in 
die Sache bieten. 

Was den von mir für die Übersetzung eingehaltenen 
Standpunkt anlangt, so seien mir folgende Bemerkungen 
gestattet. Ein Übersetzer ist nicht gerade auf Rosen ge- 
bettet: Traduttori tradıtori, sagt der Italiener mit einem 
launigen, nicht unzutreffenden Wortspiel. Zahlreich ge- 
nug sind in der Tat die Klippen, die der Übersetzer zu 
meiden hat. Das Ideal wäre meines Erachtens im all- 
gemeinen eine Übersetzung, die den Leser ganz vergessen 
ließe, daß er es nur mit einer Übersetzung zu tun habe. 
Allein das dürfte in voller Bedeutung nur für die freien 
Schöpfungen der Dichtkunst gelten, nächstdem vielleicht 
für historische Werke höheren Stils oder geistreicher 
Mitteilungsgabe wie bei den Biographien Plutarchs. So- 
bald es sich um Werke wissenschaftlicher Untersuchung 
handelt und sei es auch in der Kunstform des Dialogs 
wie es hier der Fall ist, wird man sich mit bescheideneren 
Leistungen begnügen müssen. Hier kommt es auf pünkt- 
liche Wiedergabe oft verwickelter Gedankengänge, nicht 
selten auch auf den unmittelbaren Wortlaut an, der 
strenge Beachtung erheischt. Im Widerstreit also ästhe- 


ı) Diesem Übelstand ist inzwischen für Laches und Euthy- 
phron durch Herrn Dr. v. Hagen, für das Gastmahl (vgl. Anhang 
zum Platon-Index) durch mich abgeholfen worden. 


VI Vorwort. 


tischer und sachlicher Rücksichten wird stets den letzteren 
der Sieg zufallen müssen. Allein es sei ferne von mir, 
damit eine sklavische Unterwürfigkeit unter die sprach- 
liche Form des Originals zu befürworten. Jeder gute 
Schriftsteller — und man hat es hier mit einem der besten 
zu tun — verbindet mit seinen Worten auch einen ver- 
nünftigen und verständlichen Sinn. Auf die Wiedergabe 
dieses vernünftigen Sinnes kommt es an und zwar mit 
denjenigen Mitteln der Übertragungssprache, welche ge- 
eignet sind, diesen Sinn klar hervorleuchten zu lassen. 
Möglichst leichte Verständlichkeit, unbedingtes Entgegen- 
kommen gegenüber dem Auffassungsbedürfnis und der 
Auffassungsfähigkeit des Lesers verbunden mit gebüh- 
render Rücksicht auf die Forderungen guten Geschmackes, 
das seien die Richtlinien für die Übersetzung. Unsere 
Regel wird also lauten: ‚„Sinngetreu — immer! Wort- 
getreu — solange es sich mit dem Genius unserer hei- 
mischen Sprache und der Rücksicht auf Verständlichkeit 
verträgt!“ Wir dürfen der Form des Originals nicht 
größere Zugeständnisse machen als es sich mit dieser 
Rücksicht verträgt. 

Schleiermacher dachte etwas anders darüber. ‚Der 
Leser“, sagt er in seiner Abhandlung über die verschie- 
denen Methoden des Übersetzens (Sämtl. Werke 3. Abt. 
2. Bd. p. 227), „soll nicht rein Heimisches in der Über- 
setzung vor sich sehen, sondern sich erinnert fühlen, 
daß er Fremdes vor sich hat. Diese Methode läßt 
den Leser ahnden, daß sie nicht ganz frei gewachseh, viel- 
mehr zu einer fremden Ähnlichkeit hinübergebogen sei, 
und man muß verstehen, dieses mit Kunst und Maß zu 
tun, ohne eigenen Nachteil und ohne Nachteil der Sprache; 
dies ist vielleicht die größte Schwierigkeit, die unsere 
Übersetzung zu überwinden hat.“ Er betrachtet es als 
eine Art notwendiger Erniedrigung, als eine Entsagung, 


Vorwort. vil 


die der Übersetzer seiner richtig erfaßten Aufgabe schul- 
dig ist, als ein Opfer, das er der Sache bringt, wenn er 
sich so weit wie nur irgend möglich an die Form des 
Originals anschmiegt. „Denn wer“, so fragt er, „wird 
sich gerne gefallen lassen, daß er für unbeholfen gelte, 
indem er sich befleißigt der fremden Sprache so nahe 
zu bleiben als die eigene es nur erlaubt?“ Was den Geist 
unserer Sprache am schärfsten von der Platons scheidet, 
das ist neben der Partikelfülle vor allem der Periodenbau. 
Und hierin hat es Schleiermacher allerdings mit seiner 
Nachahmungskunst zu wahrer Virtuosität gebracht. Er 
weiß den verschlungenen Windungen Platonischer Pe- 
rioden mit ihren kühnen Abbiegungen von der Regel der 
Konstruktion, diesen interessanten Zeugen des Kampfes 
zwischen psychologischen und grammatischen Momenten, 
mit einer Folgsamkeit nachzugehen, die in ihrer Art volle 
Bewunderung verdient. Aber wäre das wirklich der Tri- 
umph der Übersetzungskunst? Doch wohl nur dann, wenn 
diese Kunst nicht störend und erschwerend auf die Auf- 
fassung des Inhalts wirkte. Denn wäre das wirklich eine 
berechtigte Forderung, daß der Leser auch schon durch 
die Form stets an das Original als an ein Fremdes er- 
innert werde? Sollte, wo es sich um wissenschaftliche 
Untersuchungen handelt, dieser rein formale Gesichts- 
punkt nicht völlig zurückstehen hinter dem des sachlichen 
Verständnisses? Schleiermacher hält sich in der genannten 
Beziehung allerdings noch gerade innerhalb der Grenze 
des sprachlich Möglichen, läßt aber den Leser oft genug 
so nahe unmittelbar an der Grenze hinwandeln, daß er 
— der Leser — befürchtet schon beim nächsten Schritt 
die Grenze zu überschreiten, also in eine Stimmung gerät, 
die der Auffassung des Inhaltes eher abträglich als zu- 
träglich ist. Ich habe hier den umgekehrten Weg ein- 
geschlagen wie Schleiermacher: ich habe mich bemüht die 


VIII Vorwort. 


großen Perioden sinngemäß zu zerlegen und aufzulösen 
und bedaure nur, dies nicht noch durchgreifender getan 
zu haben als es geschehen. Ebenso hätte ich mit der 
Partikelfülle hier und da noch etwas unbarmherziger ver- 
fahren sollen als es der Fall gewesen. Nicht mit Unrecht 
hat man mir einen zu häufigen Gebrauch des verbindenden 
„nun“ vorgeworfen. Ich bitte also den freundlichen Leser, 
diese Konterbande ab und zu in Gedanken zu konfiszieren. 

Ein Gesamtregister wird dieser Gesamtausgabe folgen 
teils als hoffentlich nicht unwillkommenes sachliches 
ÖOrientierungsmittel für die Platonischen Schriften über- 
haupt teils als Ergänzung der Spezialregister, auf die 
ich erst im Verlaufe der Arbeit größere Sorgfalt ver- 
wendet habe. Auch eine Liste von Berichtigungen ist 
am Schlusse angefügt, auf die ich wegen einiger störenden 
Versehen nicht verfehle besonders aufmerksam zu machen. 


Dresden, den 12. Juni 1919. 


Otto Apelt. 


Einleitung. 


Einer neuen Übersetzung der gesamten Platonischen 
Schriftenmasse, wie sie mit vorliegendem Werke der 
deutschen Lesewelt geboten wird, dürfte es kaum erspart 
bleiben ein oder der anderen Stimme wenn nicht des 
Widerspruches so doch einer gewissen Verwunderung zu 
begegnen. Haben Schleiermacher, Müller, Susemihl mit 
ihren Gesamtübersetzungen, neben denen eine zahlreiche 
Reihe von Einzelübersetzungen einherging, dem Be- 
dürfnis nicht schon fast mehr als Genüge getan? Oder 
hat etwa der Platonismus neuerdings bei uns einen so 
mächtigen Aufschwung genommen, daß dem schwellenden 
Herzensdrang, daß der erhöhten Sehnsucht nach Platon 
auch durch neue Mittel gedient werden müßte? Weder 
die eine noch die andere Frage läßt sich so schlechthin 
mit einem Ja oder Nein beantworten. Beide Fragen 
hängen zusammen, sie stehen in einem gewissen Ver- 
hältnis der Wechselwirkung miteinander: gute Über- 
setzungen fördern das Interesse für die Sache, ein ge- 
steigertes Interesse anderseits wirkt belebend auf das Be- 
dürfnis nach Übersetzungen und damit zugleich auf die 
Bereitschaft ihm entgegenzukommen. Der eigentliche 
Schwerpunkt aber liegt dabei offenbar in dem sachlichen 
Interesse, in der Bedeutung, die der Platonismus in den 
geistigen Strömungen der Gegenwart für sich bean- 
spruchen darf. Über die Berechtigung und das Maß 
dieser seiner Ansprüche kann er sich aber nur ausweisen 
teils aus den Schriften seines Urhebers als der unmittel- 
baren und lebendigen Zeugen seiner Geisteskraft teils aus 
den Wirkungen, die er im Laufe der Geschichte auf 


X Einleitung, 


den geistigen Fortschritt der Menschheit ausgeübt hat. 
Wir werden gut tun, zunächst einige Augenblicke bei 
dem letzteren Punkte zu verweilen und, wenn auch nur in 
dem flüchtigsten Umriß, unter Hervorhebung der mar- 
kantesten Züge des Platonischen Philosophems, ein Bild 
der geschichtlichen Schicksale des Platonismus zu ent- 
werfen, um dann den Blick auf die Gegenwart zu wenden; 
denn die Vergangenheit gibt Aufschluß über die Wir- 
kungsfähigkeit der fraglichen Sache überhaupt, sie wirft 
mithin ein Licht auf ihre mögliche Bedeutung für alle 
Zeiten. Angenommen also auch, die Stimmung unserer 
Zeit für Platon wäre eine sehr kühle, ja eine völlig ab- 
lehnende, so läge doch eben in den Tatsachen der Ver- 
sangenheit eine Aufforderung den zerrissenen Faden 
wieder anzuknüpfen. Dazu bedürfte es nun allerdings 
keiner neuen Übersetzung. Aber vielleicht liegt die Sache 
anders und zwar so, daß nach einer gewissen Seite hin 
sich doch das Bedürfnis nach einer solchen geltend macht. 

Von seiner Geburtsstunde ab hat der Platonismus 
nicht aufgehört ein bedeutsames Moment in der Geistes- 
geschichte der Menschheit zu bilden. Er hat Gedanken, 
Anschauungen und Empfindungsweisen in Umlauf gesetzt, 
die, einmal gefunden und kundgegeben, darauf angelegt 
scheinen sich immer wieder in dieser oder jener Gestalt 
geltend zu machen. Die ihm innewohnende erweckende 
und zündende Kraft hat sich im Laufe der Jahrhunderte 
und Jahrtausende niemals ganz verleugnet. Sie hat ihre 
stärkeren, sie hat ihre schwächeren Perioden, aber auch 
die ihr ungünstigsten Zeiten, die Perioden ihres schein- 
baren völligen Verschwindens, lassen, näher zugesehen, 
erkennen, daß der Funke auch unter der Asche noch 
fortglimmt. Dabei ist es charakteristisch, daß sich die 
Einwirkungen der Platonischen Philosophie — im Gegen- 
satz zu denen der peripatetischen — nicht auf das streng 
veıstandesmäßige Geistesgebiet, auf das Wissen, beschrän- 
ken. Platon hat zum Aufbau nicht nur eines Systems 
der Folgezeit den erheblichsten Beitrag geliefert; aber 


Einleitung. XI 


diejenigen, welche ihm die Bausteine zu ihren Philoso- 
phemen entlehnten, fühlten sich dazu nicht bloß durch 
ihren Erkenntnistrieb angeregt und getrieben: es ist in 
der Regel der ganze Mensch, der durch ihn erfaßt und 
fortgerissen wird. Nicht bloß die Wissenskraft sondern 
auch die Willenskraft, nicht bloß der Verstand sondern 
auch Herz und Gemüt stehen unter dem Banne seiner 
Geistesmacht. 

Die Entdeckungen, mit denen Platon die Philosophie 
ebensosehr vertieft wie bereichert hat, verteilen sich auf 
das Gebiet der Ethik, Logik, Psychologie, Physik und 
Metaphysik, bleiben aber nicht isoliert nebeneinander 
stehen, sondern schließen sich zu einer großartigen 
Weltansicht zusammen, die nicht verfehlen konnte einer- 
seits lebhafte Bewunderung und Beifall zu erwecken, 
anderseits aber auch den Zweifel und Unglauben heraus- 
zufordern nicht bloß zu kräftigem Widerspruch sondern 
auch zu scharfem Hohn und beißendem Spott. In Sachen 
der Ethik war es der leuchtende Gedanke von dem selb- 
ständigen Werte der Tugend, der, gegründet auf die 
Wesenseinheit des Guten und Schönen, seiner Ethik das 
Gepräge nicht des starren Pflichtgebotes sondern einer 
Art ästhetischer Notwendigkeit verlieh, die, obschon dem 
Zuge griechischen Geisteslebens nichts weniger als fremd, 
doch eben erst in dem durch Sokrates zur Liebe für die 
Philosophie erweckten Platon ihren vollgültigen wissen- 
schaftlichen Vertreter fand. Die Griechen hatten für alles 
Schöne in Natur und Kunst ein scharfes Auge und feines 
Gefühl. Allein die Frage nach einem Zusammenhang 
ästhetischer Natur- und Kunstbetrachtung mit der eigenen 
Seelenschönheit lag ihnen im allgemeinen noch fern. Aber 
es ist, als ob Platon von diesem Zusammenhang schon 
eine Ahnung gehabt hätte. Auch Sokrates setzte bereits 
das Schöne dem sittlich Guten gleich, doch spielte dabei 
das ästhetische Moment kaum mit herein. Der entschei- 
dende Punkt für diese Gleichstellung blieb dem Sokrates 
doch immer ihre gemeinsame Beziehung auf das Nützliche, 


ΧΙ Einleitung. 


eine Auffassung, die auch bei Platon noch keineswegs 
völlig verwischt ist, aber doch ihre nähere Bestimmung 
weit entschiedener und durchgebildeter als bei Sokrates 
im Sinne einer den höchsten sittlichen Anforderungen ent- 
sprechenden Seelenverfassung erhielt. Er gab dem So- 
kratischen Satz τὸ ἀγαϑὸν καλόν ἔστιν „Das Gute ist 
schön“ erst seine volle Bedeutung. Er machte ihn zum 
eigentlichen Losungswort der strengeren griechischen 
Ethik, wie er denn für alle Zeiten den Grundzug wahrer 
Ethik bilden wird. Das Geistigschöne und das an sich 
Gute (die Tugend) ist eins und dasselbe. Ihre Wesensein- 
heit gibt sich unmittelbar kund in dem gleichmäßigen 
Anspruch beider auf unbedingtes Wohlgefallen. Was hat 
es aber damit für eine Bewandtnis? Wie es scheint, die 
folgende: Dem Guten liegt stets die Vorstellung eines 
Zweckes zugrunde, denn gut ist was einem Zwecke ent- 
spricht. Es ist also ein Reich der Zwecke, auf welches 
uns das Gute hinweist. DasGute an sich setzt demnach 
auch einen Zweck an sich voraus und das führt zunächst 
zwar auf die Idee der persönlichen Würde, weiterhin 
aber auch auf die Idee eines rein auf sich selbst ruhenden 
geistigen Weltzweckes, den wir ahnen, nicht aber auf 
deutliche Begriffe bringen können. Dies ist der Punkt, 
wo sich Tugendhaftigkeit (das Gute an sich) und Schön- 
heit begegnen. Denn das Schöne gibt sich als solches 
eben dadurch kund, daß es rein um seiner selbst willen 
gefällt, also seinen Zweck nur in sich selbst trägt: es 
ist Zweck nicht für mich, sondern für sich. Das Gute 
an sich aber bezieht sich eben auf nichts anderes als auf 
einen solchen rein objektiven nicht subjektiven Zweck, 
es ist also auch schön. Wir ahnen im Weltganzen ein 
Reich uns unbegreiflicher geistiger Zwecke, als dessen 
irdische Zeugen uns die schönen Gebilde der Natur und 
der Kunst entgegentreten. Unsere ganze ästhetische Welt- 
ansicht hat also, wissenschaftlich genommen, ihren Ur- 
sprung in dem Geistigschönen, also in dem an sich Guten 
als dem Quellpunkte jener Zweckvorstellung. Erfahrungs- 


Einleitung, ΧΠ|Ι 


mäßig aber und historisch bildet den Ausgangspunkt zu 
dem Bunde des Schönen und Guten nicht das an sich 
Gute, sondern das Schöne so wie es sich uns in der Sinnes- 
anschauung darstellt als der durchweg ersten Erweckerin 
unserer Aufmerksamkeit und unseres Nachdenkens. Und 
wenn nicht alles trügt, war dies auch der Weg, auf dem 
Platon zu seiner Gleichstellung des Schönen und Guten 
kam. Von richtigem Gefühle geleitet, übertrug er ohne 
eigentliche Deduktion das spezifische Merkmal des sinnlich 
Schönen, nämlich die ihm wohlbekannte und geläufige 
Eigenschaft desselben, durch sich selbst rein für sich 
genommen unbedingtes Wohlgefallen zu erwecken, mit 
vollem Rechte ohne weiteres auf das sittlich Gute, dessen 
Anspruch auf allgemeines Wohlgefallen keinem denkenden 
Menschen zweifelhaft sein kann. (Vgl. Phaedr. 250B. D.) 

Die klare Erkenntnis von dem selbständigen inneren 
Werte und der Schönheit des sittlich Guten nun ver- 
bindet sich bei Platon alsbald mit metaplhysischen Er- 
wägungen. Die Tugend in ihrem Kampf mit den natür- 
lichen sinnlichen Trieben wies, wie er erkannte, auf etwas 
. hin, was jenseits aller Sinnlichkeit liegt: sie trug die 
deutlichen Kennzeichen höherer, himmlischer Abkunft in 
sich. So wurden ihm die im menschlichen Leben wir- 
kenden sittlichen Mächte zu untrüglichen Zeugen einer 
höheren, rein geistigen Welt, deren Dasein sich ihm auf 
Grund hinzutretender Erwägungen erkenntnistheoreti- 
scher und logischer Art!) als ein immer melır gesichertes 
und schließlich in seinen Augen unumstößliches Resultat 
seines Nachdenkens darstellte. Alles Sinnenfällige trägt 
in seiner Wandelbarkeit die Spuren des Vergänglichen, 
Hinfälligen, Nichtigen in sich: nur der Geist, nur das 
Geistige genügt den Anforderungen an ein wirkliches 
Sein. Kein Olymp, kein Elysium, kein Paradies, wenn 
auch mit aller Pracht sehnsuchtsvoller Phantasie aus- 
gemalt, hält den Anforderungen philosophisch aufgeklärter 


») Vgl. meine Plat. Aufs, p. 1 


xIV Einleitung. 


Vernunft stand. Nur in der Anerkennung einer rein 
geistigen Welt kann die menschliche Vernunft wahre Be- 
friedigung finden. Die Ideenwelt, dieser „überhimmlische 
Ort“, durchwaltet und durchleuchtet von der Idee des 


Guten — der Gottheit —, ist die wahre Heimstätte. 
unseres Geistes wie alles rein geistigen Lebens über- 
haupt. 


Die Gedankenarbeit, die den Platon zur Annahme 
dieser seiner Ideenwelt führte, stellt sich dem Betrachter 
zugleich als das folgerechte Ergebnis der ganzen voran- 
gegangenen Geistesbewegung auf philosophischem Gebiete 
dar. Die Ausbildung seiner Ideendialektik hielt ihn in 
beständiger Fühlung mit allen Standpunkten der bis- 
herigen Philosophie, in deren Kritik er die ganze Schärfe 
sowohl wie auch Fruchtbarkeit seines Geistes bekundet. 
Indem er jedem der bisherigen Systeme einerseits seine 
Fehler und Einseitigkeiten nachwies, anderseits aber auch 
das relativ Berechtigte darin anerkannte, bestimmte er 
einem jeden gleichsam die Stelle, die ihm im Ganzen des 
großen Gebäudes zukam. Sein Standpunkt war nicht der 
der reinen Abweisung, der völligen Negation der bis- 
herigen Errungenschaften auf diesem Gebiete, sondern 
der ihrer richtigen Abschätzung und teilweisen Verwer- 
tung für den eigenen Bau. Aber je sichtbarer die An- 
regungen sind, die er durch die philosophischen Vorgänger 
erhielt, um so mehr überrascht uns das Originelle der 
Lösung aller bisherigen Rätsel.e Und noch größer viel- 
leicht mochte diese Überraschung für seine Zeitgenossen 
und Landsleute sein als für uns, die wir durch die christ- 
liche Anschauungsweise an den Gedanken der Nichtigkeit 
alles Irdischen und einer höheren Heimat unseres Geistes 
gewöhnt sind. Wie mochten seine Landsleute erstaunen, 
wenn er als erster unter den Griechen, gestützt allein 
auf das gute Recht und die Macht seines Denkens, die 
Kühnheit hatte, die paradoxe Ansicht zu verfechten, daß 
der Boden, der uns trägt, daß die Luft, die wir atmen, 
daß das Wasser, das wir trinken, mitsamt unserem Leibe, 


Einleitung. XV 


dieser gehenden, atmenden, trinkenden Körpermasse nichts 
wirklich Seiendes, nichts Wesenhaftes sind. Eine völlige 
Umkehrung der natürlichen und den Menschen sich von 
selbst aufdrängenden Weltansicht: die Wirklichkeit wird 
zum Schattenbild, ein unsichtbares Etwas zur Wirk- 
lichkeit. 

Die Erhabenheit dieser alles Irdische wie ım Fluge 
hinter sich lassenden Lehre verlieh in Verbindung mit 
der Hoheit der Platonischen Ethik dem Platonismus einen 
Glanz, der seinem Urheber schon bald den Beinamen 
des Göttlichen verschaffte. Aristoteles, sein großer Schü- 
ler, im Punkte der Ideenlehre aber sein zäher Gegner, 
begab sich mit Verwerfung dieser Lehre auch des An- 
spruches auf weithin in die Augen fallende Sichtbarkeit 
seiner eigenen unermüdlichen Forscherarbeit, denn was 
bot die peripatetische Philosophie, das die Aufmerksam- 
keit und Teilnahme der gebildeten Welt in dem Maße zu 
erwecken geeignet gewesen wäre wie die Platonische 
Ideenlehre? Aber im eigentlichen Sinne populär geworden 
ist auch die Platonische Lehre niemals. Es ist eine be- 
zeichnende und auf den ersten Blick vielleicht auffallende 
Tatsache, daß es den Philosophemen des Platon und Ari- 
stoteles, dem Höchsten und Größten, was der philoso- 
phische Geist der Griechen hervorgebracht hat, in der 
griechischen und römischen Welt nicht beschieden war 
auf den Volksgeist im großen zu wirken. Näher zu- 
gesehen liegen die Gründe nicht fern. Die Unterlagen, 
auf denen diese Forschungen ruhten, waren zu breit; die 
Gedanken zu tief und zu fein, als daß sie von großen 
Kreisen hätten aufgefaßt werden können. Dazu kam, daß 
hier die philosophische Forschung, wenn sie auch keines- 
wegs dem Bestreben auf Leben und Staat einzuwirken 
entsagte, doch streng methodisch ihren Weg selbstän- 
dig für sich ging, nur die Wahrheit im Auge. Platon 
verlangte, daß man zwanzig Jahre auf das Studium 
der Philosophie verwenden solle und dieser Forderung 
war Aristoteles getreulich nachgekommen. Ein so langes 


xVI Einleitung. 


und gründliches Studium wird aber immer nur die Sache 
einiger weniger sein. Eine solche Philosophie war nicht 
geeignet weder zur Verteidigung noch zur Bekämpfung 
der positiven Religion, die als Ausgangspunkt für philoso- 
phisches. Interesse zunächst den Gesichtskreis der Menge 
bestimmte. Das größere Publikum verlangte eine ein- 
fachere und faßbarere Lehre — eine Popularphilosophie, 
die selbst mit Partei nahm für oder wider die positive 
Religion. Eine solche fand man in den Schulen des Epi- 
kur und der Stoa. Diese beiden Schulen teilen sich jetzt 
in die Herrschaft über die griechische Bildung. Sie re- 
präsentieren den Gegensatz zwischen Freigeistern und 
Orthodoxen in der griechischen Welt, zwischen sittlicher 
Indulgenz und sittlichem Heroismus. Ihre Formeln waren 
verständlich für den Staatsmann, für den Kriegshelden, 
für den Kaufherrn und Gutsherrn und je mehr die Be- 
friedigung am Öffentlichen Leben in der hellenischen Welt 
seit den Zeiten der Diadochenkriege schwand, um so 
größer mußte die Nachfrage nach einer dem Leben eine 
bestimmt gerichtete Haltung gebenden Philosophie werden. 
Aber bei den tieferen Geistern blieben doch Platon und 
Aristoteles die eigentlich klassischen Vertreter der grie- 
chischen Philosophie und hörten nicht auf als solche sich 
auch nicht nur durch die Jahrhunderte der römischen 
Kaiserzeit hindurch zu bewähren sondern auch weiterhin 
durch das Mittelalter hindurch bis in die Neuzeit herein 
einen herrschenden Einfluß auf die Geister auszuüben. 

Dabei drängt sich die Bemerkung auf, daß sich die 
Platonische Philosophie mehr der hellenischen, die Aristo- 
telische Philosophie mehr der arabischen und westeuro- 
päischen Welt annehmbar machte. In der Tat war die 
Platonische Philosophie, in der sich Reichtum der Phan- 
tasie mit Schärfe des forschenden Verstandes in so glück- 
licher und bezeichnender Weise vermählte, von Haus aus 
eine berufenere und vollgültigere Vertreterin griechischer 
Geistesart als die Aristotelische, die, abgesehen von dem 
einen Punkt der substantiellen Formen, frei von jeder 


Einleitung. XVII 


Anwandlung nach der Seite geheimnisvoller Mystik hin 
unentwegt der Fahne des kühlen und nüchternen Ver- 
standes folgte und sich eben dadurch mehr der westeuro- 
päischen Welt, den Romanen, Germanen und spanischen 
Arabern empfahl, die, einer mehr verstandesmäßig prak- 
tischen Lebensauffassung zugetan, auch für die Wissen- 
schaft vor allem dem Verstandeselement huldigten. Platon 
selbst war sich zwar immer der Grenzen zwischen Wahr- 
heit und Dichtung, zwischen Dialektik und Mythos be- 
wußt geblieben, aber erregbaren und phantasiereichen Ver- 
ehrern bot er nur zu leicht die Handhabe zu mystischen 
Auslegungen und ausschweifender Schwärmerei. Alexan- 
dria und späterhin Byzanz waren die Hauptsitze der 
platonisch gerichteten führenden Geister. Philon, die 
Neupythagoreer, die Gnostiker entlehnten dem Platon 
in verschiedenem Umfang und verschiedener Tendenz 
nicht wenige Bausteine zur Errichtung ihrer Lehrge- 
bäude. Vor allem aber waren es die Neoplatoniker, die 
sich in mannigfachen Versuchen abmühten die Platonische 
Geisteswelt in ihrem Verhältnis zur Sinnenwelt in ein 
. Dämonen- und Geisterreich umzuwandeln, das, in sich 
systematisch abgestuft von der Gottheit herab bis zur 
Sinnenwelt, die Phasen des Hervorganges oder Aus- 
flusses des Sichtbaren aus dem Unsichtbaren, der Welt 
aus der Gottheit, darstellte. Die Beschaffenheit der 
gleichsam noch flüssigen, nach Inhalt und Form nicht 
systematisch festgelegten und mannigfacher Deutungen 
fähigen Platonischen Gedankenwelt kam diesem Beginnen, 
wie schon angedeutet, halbwegs entgegen. Vor allem 
war es der Dialog Timaios, der mit seinem großartigen 
Mythos von der Weltseelenschöpfung das willkommene, 
fügsame und biegsame Material zu diesen Phantas- 
men bot. | 

Auch Aristoteles. hatte seinen Anteil an dem Lehr- 
betrieb der Neoplatoniker. Aber, bezeichnend genug, 
nimmt er neben Platon doch nur eine dienende Stellung 
ein. Die Schüler lernten beim Aristoteles, ihre höhere 

Einleitung zu Platons Sämtlichen Dialogen. B 


XVAII Einleitung. 


Weisheit aber suchten und fanden sie bei Platon. Ari- 
stoteles war ihnen gut genug, das Handwerkszeug zur 
Aufführung ihres Baues zu liefern, das Baumaterial 
selbst entlieh man in der Hauptsache dem Platon. Auch 
den christlichen Kirchenvätern imponierte Platon mehr 
als Aristoteles. Wie hätten sie sich auch des Eindrucks 
erwehren können, daß die Platonische Philosophie die 
Brücke bilde von den Griechen herüber zum Christentum. 

Anders gestaltete sich das Verhältnis des Einflusses 
dieser beiden größten philosophischen Geister des Alter- 
tums auf die Gedankenbewegung der fortschreitenden 
Menschheit in den Zeiten der Scholastik, wie sie in den 
Klöstern und auf den Universitäten des Abendlandes 
blühte. Platons Stern erbleicht und nur im Osten, vor 
allem in Byzanz, findet sein Studium noch eine Stätte. 
Um so heller strahlt des Aristoteles Stern. Es ist, als 
ob die höhere oder geringere Schätzung des einen und 
des anderen in den Augen der Welt auf einer Weclisel- 
seitigkeit beruhte ähnlich derjenigen, die sich zwischen 
den beiden Schalen der Wage vorfindet: wenn die eine 
sinkt, steigt die andere und umgekehrt. Gleichwohl war 
die Herrlichkeit des Aristoteles auch hier nicht frei 
von einem anhaftenden Schatten. War er doch nicht der 
Schöpfer der Dogmen, zu deren Stütze und Schutz man 
ihn machte. Er selbst hätte jede Gemeinschaft mit diesen 
Glaubensartikeln weit von sich gewiesen, die, erwachsen 
auf dem Boden der mehr oder weniger sagenhaften Über- 
lieferung des Urchristentums ihre Feststellung den Be- 
ratungen der Konzilien und der Weisheit der Kirchen- 
väter verdankten. Immerhin ist die Stellung, die er 
hier einnimmt, eine überaus hervorragende, weit erhaben 
über die Rolle, die er bei den Neoplatonikern gespielt 
hatte. Die Unfehlbarkeit seiner Logik sollte die gesamte 
Laienwelt vor Zweifel und Mißtrauen gegen die Dog- 
men der Kirche bewahren, sein Name war gleichsam das 
Siegel, das den verpflichtenden Artikeln des christlichen 
Glaubens aufgedrückt ward. 


Einleitung. XIX 


Für Platon scheint da neben Aristoteles kein Raum 
mehr zu bleiben. Zwar steht er zu Anfang des zwölften 
Jahrhunderts noch in hohen Ehren, gefeiert namentlich 
von Abälard als „größter der Philosophen und erster 
Führer“. Allein es gehört schon eingehenderes Studium 
dazu, um auch für die Blütezeit der Scholastik die Spuren 
noch fortlebender Verehrung für ihn aufzudecken.!) Aber 
sie finden sich. Selbst in der Zeit der Hochseholastik ist 
Platon nicht völlig vergessen, wenn auch im wesentlichen 
zurückgedrängt in die Heimstätten der mystischen Rich- 
tung. Da führt er ein stilles, aber keineswegs unwirk- 
sames Dasein. Um so glänzender gestaltet sich die Reha- 
bilitation, die ihm gleich zu Beginn der Renaissance durch 
das Auftreten des Gemistios Plethon und Bessarion im 
Abendland und vor allem durch Marsilius Ficinus be- 
schieden war. Durch des letzteren umfassende Über- 
setzerarbeit und sonstige gelehrte Tätigkeit ward er wie 
zu neuem Leben erweckt, und hier zeigt sich wie auch 
schon bei den Neoplatonikern der starke Unterschied in 
dem persönlichen Verhältnis, das zwischen den Jüngern 
und Meistern beiderseits herrscht: die Aristoteliker sehen 
in Aristoteles den unbedingten Herrscher im Reiche des 
Wissens; bei den Platonikern aber steigert sich die Be- 
geisterung für ihren Meister fast bis zur Anbetung und 
zum Gottesdienst. Platon hat eine geheime magnetische 
Kraft. Er zieht den ganzen Menschen zu sich empor; 
die Wirkung seines Geistes äußert sich als die einer 
Lebensmacht, die des Aristoteles als die einer Wissens- 
macht, die nach der Seite religiöser Innerlichkeit und der 
Gefühlswelt hin ohne stärkeren Einfluß bleibt. Aber 
der glänzenden Erneuerung des Platonismus gelang es 
doch nicht die Herrschaft des Aristoteles in den Kloster- 
schulen und auf den Universitäten zu brechen. Diese 
dauert noch lange, weit über das fünfzehnte Jahrhundert 


1!) Vgl. Cl. Bäumker, Der Platonismus im Mittelalter. Festrede 
München 1916. 
B* 


EX Einleitung. 


hinaus, wenn auch nicht mehr in der alten Unbedingtheit. 
Denn die seit Kopernikus sich mächtig entwickelnde 
Naturforschung, die unabhängig von philosophischen Vor- 
urteilen es wagte den Blick frei auf die Natur selbst 
zu richten, rüttelte mehr und mehr an den Grundfesten 
der scholastisch-aristotelischen Philosophie. Wollte die 
aufstrebende induktive Naturwissenschaft sich bei den 
Zeitgenossen zur Geltung bringen, so konnte sie das nur 
im Kampfe gegen den die Schule beherrschenden Aristo- 
teles. Für Platon stand in dieser Beziehung die Sache 
ganz anders. Der große Schritt von der spekulativen zu 
der induktiven, empirischen Naturforschung geschah eher 
mit als gegen Platon, indem Keppler auf den Pythagoras 
und die im Timaios vertretene Sphärenharmonie zurück- 
griff. Mochten an den kühnen Ausführungen des Plato- 
nischen Timaios Spekulation und Phantasie auch einen 
ungleich größeren Anteil haben als Beobachtung und Er- 
fahrung, so hatte der mathematische Geist, der in ihm 
waltete, doch eine weit nähere Verwandtschaft mit dem 
Charakter der neuen Naturforschung als die substantiellen 
Formen des Aristoteles. Aber so bedeutend und über- 
wältigend die Entdeckungen von Männern wie Keppler 
und Galilei auch waren, die Aristoteliker ließen sich aus 
ihrem Besitz so leicht nicht verdrängen. War doch dieser 
Besitz in der Tat ein verjährt geheiligter; denn die Herr- 
schaft der Kirchenlehre stützte sich nicht zum wenigsten 
auf die Autorität des Aristoteles. Noch das siebenzehnte 
Jahrhundert mußte vergehen, ehe die Herrschaft des Ari- 
stoteles auf den Universitäten gebrochen war. 

Seit den Zeiten des Ficinus gab es an manchen 
Lehrstätten wohl auch Platoniker, die wir zum Teil in 
heftige Kämpfe mit den Äristotelikern verwickelt sehen. 
Dabei macht sich nicht selten wie schon bei Ficinus 
selbst eine Auffassung des Platonismus geltend, die ihn 
in bedenkliche Gemeinschaft bringt mit den Träumereien 
und Schwärmereien des Mystizismus, sei es des neoplato- 
nischen oder theosophischen oder neueren naturphiloso- 


Einleitung. XXI 


phischen, eine Richtung, deren Spuren sich noch in 
unseren Tagen nicht ganz verwischt haben. Mit der all- 
mählich größeren Verbreitung der Platonischen Schriften 
durch den Druck trat aber doch der echte Platon wieder 
bestimmt genug hervor, und er, der nicht neoplatonisch 
umgedeutete, feiert mit Aristoteles eine Art Versöhnung 
in dem Philosophem des großen Leibniz, das die grund- 
legenden Gedanken beider in neuer Wendung bis zu einem 
gewissen Grade vereinte. Die Monadenlehre zeigt ihre 
Verwandtschaft mit Platons Ideenlehre in der Forderung 
einfacher Substanzen; Platon findet diese in seinen Ideen, 
Leibniz in seinen einfachen vorstellenden Wesen (Mona- 
den); und wenn Leibniz aus diesen auch die Körper 
sich zusammengesetzt denkt, also das Geistige zum Be- 
stimmenden für die Körperwelt macht, so liegt darin eine 
eigenartige Erneuerung der substantiellen Formen des 
Aristoteles. In des letzteren Spuren aber bewegt sich 
auch die gesamte Dialektik der Monadenlehre. Denn sie 
stellt sich klar als die reife Frucht des logischen Dog- 
matismus dar, d. h. derjenigen Methode, zu der Aristoteles 
den ersten Anstoß gegeben hatte. Bei seinen vielfachen 
Bemühungen nämlich um Aufhellung und Feststellung 
der Prinzipien war es dem Aristoteles nicht gelungen 
über die Grundsätze der Logik hinauszukommen. Für 
die Erklärung der Naturerscheinungen bot seine Philo- 
sophie keine allgemeinen Gründe; seine Physik besteht 
so gut wie seine Metaphysik nur in Beweisführungen 
aus Begriffserklärungen, also nur in der Methode der 
logischen Entwickelung aus gegebenen Begriffen. Alle 
eigentliche, d. h. auf die Feststellung der notwendigen 
und allgemeinen Wahrheiten gerichtete Wissenschaft 
(ἐπιστήμη) besteht ihm in analytischen Sätzen; synthe- 
tische Regeln haben in seinem System keinen Platz; ganz 
ähnlich wie Platons Dialektik sich ausschließlich in De- 
finitionen und Einteilungen nach Gattung und Arten, also 
in Erörterung analytischer Begriffsverhältnisse bewegt, 
nur daß dem Aristoteles der systematische Überblick über 


XXII Einleitung. 


diese ganzen logischen Operationen zu Gebote stand, der 
dem Platon noch fehlte. Welches sind nun die nach Ari- 
stoteles aus der Vernunft (νοῦς) entspringenden Prin- 
zipien des apodiktischen Wissens? Aristoteles nennt als 
solche den Satz des Widerspruchs und den Satz des aus- 
geschlossenen Dritten, die bekannten Grundsätze der 
Logik. 

Diese Lehre erhält durch Leibniz ihre vollendete 
Ausbildung: die notwendigen Wahrheiten beruhen ihm 
sämtlich auf Demonstration durch Schlüsse unter Zu- 
srundelegung von Begriffszergliederungen, die nach Ari- 
stotelischer Methode auf dem Prinzip lediglich logischer 
Widerspruchslosigkeit beruhen. Die ganze Ausführung 
bewegt sich also in analytischen Urteilen, denen nur 
dadurch der Schein eines eigenen Gehaltes gegeben 
wird, daß die leeren Formen der Vergleichung, die 
Reflexionsbegriffe, wie sie von Kant genannt wurden, 
hier mit den Gehaltsbestimmungen unserer Erkenntnis 
verwechselt werden. Die synthetischen Urteile a priori 
aus bloßen Begriffen als der eigentliche metaphysische 
Gehalt unserer Vernunft entzogen sich in ihrer Bedeutung 
dem Scharfblick der großen Denker bis auf Kant. Er war 
es, der durch Entdeckung derselben der Metaphysik erst 
ihre sichere Bahn anwies. Hier gilt es nur in der Kürze 
einen Blick auf sein Verhältnis zu Platon zu werfen. 

In einer bemerkenswerten Stelle der Kritik d. r. V. 
äußert sich Kant in bestimmter Beziehung auf Platon 
dahin, „daß es gar nichts Ungewöhnliches sei sowohl im 
gemeinen Gespräche als in Schriften durch die Verglei- 
chung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen 
Gegenstand äußert, ihn sogar besser zu verstehen 
als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff 
nicht genügsam bestimmte und dadurch bisweilen seiner 
eigenen Absicht entgegen redete oder auch dachte“. Da- 
mit ist das Verhältnis des Kantischen transzendentalen 
Idealismus zu der Platonischen Ideenlehre auf das tref- 
fendste angedeutet; die letztere verhält sich zu dem 


Einleitung. ΧΧΠῚ 


ersteren wie die Ankündigung zur Verwirklichung, wie 
der verheißende Traum zur Erfüllung. Schon frühzeitig 
kam Platon zu der Überzeugung, daß der denkende 
Mensch keine volle Befriedigung finden könne in der 
bloßen Auffassung der Sinnenwelt als dem einzig mög- 
lichen Gegenstand der Erkenntnis: in ihrem rastlosen 
Werden und Vergehen, so meinte er, sei sie geradezu 
das Widerspiel der Möglichkeit wissenschaftlicher Er- 
kenntnis. Im Namen der Vernunft also forderte er die 
Anerkennung einer höheren, geistigen Welt, einer Welt 
des wahren Seins, die in ihrem unabänderlichen Bestande 
allein imstande sei der Grundbedingung jeder denkenden 
Betrachtung Genüge zu tun. Die Träger dieser geistigen 
Welt waren ihm die Ideen, diese ewig sich gleichbleiben- 
den geistigen Wesen. In ihnen meinte er die allein mög- 
lichen Gegenstände einer wissenschaftlichen, d. h. untrüg- 
lichen und unumstößlichen Erkenntnis gefunden zu haben. 
Indem er nun die Rangstufen unserer Erkenntnisweisen 
— der empirischen, der mathematischen und der noe- 
tischen (philosophischen) — in genauen Parallelismus 
stellte zu den Gegenständen unserer Erkenntnis, verlor 
die empirische Erkenntnis für ihn jede wissenschaftliche 
Bedeutung. Hierin liegt, bei gleicher Grundtendenz, der 
große Unterschied in dem Unternehmen Kants und dem 
Platons. Platon konnte es nach dem damaligen Stande 
der Wissenschaft ohne Bedenken wagen die Materie, die 
Masse, für nichtig zu erklären, indem er an ihre Stelle 
den bloßen Raum setzte; darum kann er die Gegenstände 
der Sinnesanschauung ohne weiteres als wesenlose Schat- 
tenbilder betrachten. Kant dagegen hatte mit den nicht 
abzuweisenden großen Errungenschaften der neueren Na- 
turwissenschaft zu rechnen. Zwischen Platon und Kant 
liegen die epochemachenden Entdeckungen Newtons. 
Newtons Naturphilosophie gründete sich gerade auf die 
reale Existenz der Materie und auf die Beharrlichkeit 
(Anfangslosigkeit und Endlosigkeit) der Masse. Diesen 
in sich festgegründeten und von Kant innerhalb seiner 


ΧΧΙΥ Einleitung. 


Grenzen mit vollster Überzeugung anerkannten Natu- 
ralismus als eine bloß menschliche Vorstellungsweise nach- 
zuweisen war eine weit schwierigere Aufgabe als die 
Platons. Um so höher ist es ıhm anzurechnen, daß es 
ihm gelang Platon mit Newton zu versöhnen. Der tran- 
szendentale Idealismus ist nämlich nur die schulgerechte 
Rechtfertigung der Platonischen Lehre, daß der Mensch 
in seiner sinnlich angeregten Erkenntnis nur eine Erschei- 
nung der Dinge erblickt, über welche er kraft der For- 
derungen der Vernunft das Wesen der Dinge an sich 
selbst erheben müsse. Dabei erhält das Wissen einen 
ganz anderen Platz als bei Platon: es muß es sich ge- 
fallen lassen Arm in Arm zu gehen mit der Empirie, 
also platonisch genommen sich tief zu erniedrigen. Denn 
die von Kant vertretene Geisteswelt liegt nicht im Be- 
reiche des Wissens sondern im Bereiche des Glaubens. 
Alles Wissen bezieht sich auf die Sinnenwelt und nur auf 
sie. Das ist das wohlbekannte Kantische Gesetz der 
Immanenz aller menschlichen Erkenntnis. Die mensch- 
liche Erkenntnis empfängt alle ihre Gegenstände ver- 
mittelst der Sinnesanschauung und es gibt keine von der 
Anschauung unabhängige, d. i. selbständige gedachte 
Erkenntnis. Wir erkennen im reinen Denken keine 
neuen Gegenstände, keine intelligibelen Verstandeswesen, 
sondern nur die notwendigen Bedingungen (die Verbin- 
dungsformen) für das. Wirkliche oder für die Sinnes- 
wesen. Je stärker sich in dieser Hinsicht der Gegensatz 
zwischen Platon und Kant geltend macht, um so näher 
rücken sich beide durch die Stellung, welche den sitt- 
lichen Überzeugungen in den Lehren beider angewiesen 
ist. Nach Platon wird die Welt der Ideen von der Idee 
des Guten beherrscht; von ihr — der Gottheit — emp- 
fängt sie ihre eigentliche Weihe. Etwas Ähnliches will 
Kant mit seiner Lehre vom Primat der praktischen Ver- 
nunft: die Herrschaft der Idee des Guten. An sie knüpft 
sich seine Lehre von dem religiösen Glauben der prak- 
tischen Vernunft. Diese Lehre vom Primat der prak- 


Einleitung. XxXV 


tischen Vernunft als der Gewährleistung für die objektive 
Gültigkeit der Ideen ist zwar nicht das letzte Wort in 
dieser Angelegenheit — denn soll es eine objektive Gül- 
tigkeit der Ideen geben, so muß sie auch spekulativ 
begründbar sein — aber dieser Fehler Kants hat durch 
Fries seine Verbesserung gefunden, und so ist und bleibt 
der transzendentale Idealismus die wahre Lösung des 
Platonischen Problems. 

Mit Kants Tode stehen wir an der Schwelle des- 
jenigen Zeitalters, das wir, wenn auch nur in weiterem 
Sinne, schon als das unsrige bezeichnen dürfen. Für den 
Platonismus kennzeichnet sich dieser Zeitpunkt durch 
eine Belebung, die in ihren Nachwirkungen fortdauert 
bis auf den heutigen Tag. Das Todesjahr Kants (1804) 
war das Geburtsjahr der Übersetzung der Platonischen 
Werke durch Schleiermacher. Sie wirkte, was das all- 
semeinere Interesse für Platon anlangt, wie ein erwecken- 
der Frühlingshauch auf weite Kreise der Gebildeten in 
Deutschland ein. Nicht als ob nicht schon manche An- 
sätze zu einer eingehenderen Beschäftigung mit den Pla- 
tonischen Schriften vorhanden gewesen wären. Im Ver- 
laufe des achtzehnten Jahrhunderts hatte sich die Be- 
kanntschaft mit Platon und das Bedürfnis danach zu- 
sehends gesteigert. Nicht bloß die Fachgelehrten, auch 
Männer von Geist überhaupt wie namentlich der Magus 
des Nordens, Hamann, waren in ein enges, inneres Ver- 
hältnis zu Platon getreten, und gegen Ende des Jahr- 
hunderts blieb sogar das gesellige Leben nicht unberührt 
davon. „Es entstanden“. so berichtet H. Steffenst), „ge- 
sellige Kreise, die es liebten ihren Gesprächen und Briefen 
einen platonischen Anstrich zu geben. Auch Frauen nah- 
men an dieser Beschäftigung teil; sie gehörten sämtlich 
zu den höheren Klassen der Gesellschaft.“ Noch zu Leb- 
zeiten Kants, in der ersten Hälfte der neunziger Jahre, 
erschien das vierbändige Werk Tennemanns „System 


1) H. Steffens, Was ich erlebte. Breslau 1840 8. VIII, 380. 


XXVI Einleitung. 


der platonischen Philosophie“, das bei vertrauter Bekannt- 
schaft mit der bisherigen Literatur eine eingehende Dar- 
stellung und Beurteilung der gesamten Schriftstellerei 
Platons gibt, nicht ohne Berücksichtigung des Lebens- 
ganges Platons sowie der Frage nach der mutmaßlichen 
Reihenfolge seiner Schriften. Kommt hier die vielseitige 
und freie Gedankenbewegung Platons für die Leser auch 
nicht zu ihrem vollen Rechte, muß sie es vielmehr sich 
gefallen lassen nach rein systematischen Gesichtspunkten 
zergliedert und dadurch vielfach zerpflückt und zerrissen 
zu werden, wobei überdies der durchgeführte einseitig 
Kantische Standpunkt der Beurteilung mitunter zur Ver- 
kennung der eigentlichen Voraussetzungen und Absichten 
Platons verleitet, so sind das Ausstellungen, die dem 
hohen Werte dieses Buches für seine Zeit keinen Eintrag 
tun; Ja in gewissem Betracht hat das Werk auch für 
unsere Zeit noch seine Bedeutung oder könnte sie wenig- 
stens haben, als Warnung nämlich und Gegengewicht 
gegen die rein historische und genetische Betrachtungs- 
weise, die man jetzt gern als die allein berechtigte gelten 
lassen möchte. Ü 

Auch eine Gesamtübersetzung der Platonischen 
Schriften ins Deutsche hat es gegen Schluß des acht- 
zehnten Jahrhunderts neben manchen Einzelübersetzungen 
schon gegeben.t) Aber eine wirklich befruchtende Wirkung 
hervorzurufen war erst der Arbeit Schleiermachers vor- 
behalten. In ihm vereinigte sich philologische Schulung 
und Schärfe mit philosophischem Blick und reger Kom- 
binationsgabe in einem Maße, das ihn wie kaum einen 
anderen berufen erscheinen ließ zu einer treuen und 
authentischen, dazu mit den nötigen Orientierungsmitteln 
als da sind Einleitungen und Anmerkungen ausgestat- 
teten Übertragung der Platonischen Schriftenmasse. Ist 


1) Plato’s Werke. Übersetzt von Kleuker. Lemgo 1778—97. 
6 Bde. Ich habe mich nach dieser Übersetzung umgetan, sie aber 
nicht zu Gesicht bekommen. 


Einleitung. XXVI 


das große Werk auch nicht völlig durchgeführt — es 
fehlen die Gesetze und der Timaios — so reichte doch 
das Gebotene hin, um den Platon eine Art Auferstehung 
feiern zu lassen. Die vielseitigen persönlichen Beziehun- 
gen Schleiermachers waren dabei nicht ohne Einfluß so- 
wohl nach seiten der Entstehung wie nach seiten der 
Verbreitung des Werkes. In philologischen Kreisen kein 
Fremdling, erfreute er sich namentlich der regen Beihilfe 
des neben Böckh weitaus hervorragendsten unter den 
philologischen Platonikern, des trefflichen L. Heindorf. 
Anderseits trugen seine Beziehungen zu: den Roman- 
tikern nicht wenig dazu bei seinem Werke das Interesse 
zahlreicher Gebildeter zuzuwenden. Böckh feierte in einer 
begeisterten Anzeige die nicht hoch genug zu schätzenden 
Verdienste des Übersetzers und Immanuel Bekker sah sich 
durch Schleiermacher zu seiner großen kritischen Ge- 
samtausgabe des Platon veranlaßt, die in der Anordnung 
der Schriftenmasse den Fingerzeigen des Übersetzers 
folgte. Der Geist der Platonischen Philosophie mit ihrem 
mächtigen Flügelschlag aufwärts vom Irdischen dem Him- 
mel zu fand lebhaften Widerhall in der Brust manches 
edeln Jünglings. 


Von dem Staube nur entlehnt 

Ist was hier auf Erden zieret. 

Drum, vom Schimmer nicht verführt, 
Schau hinauf zum ew’gen Glanz, 
Der die reine Seele ganz 

Dem Vergänglichen entführet. 


So lautet der poetische Gruß, mit dem der junge, ganz 
in die Platonische Philosophie versunkene Neander von 
einem poetischen Freunde gefeiert. ward.!) 


1) Vgl. Varnhagen v. Ense, Denkwürdigkeiten N. F. 4, 464. 
Daß übrigens gegenüber der enthusiastischen ersten Aufnahme der 
Schleiermacherschen Übersetzung sich doch auch bald schon manche 
Bedenken regten, dafür ist besonders charakteristisch eine Außerung 
Varnhagens in seinen Tagebüchern (13, 229f.). Sie verdient es als 
die eines namentlich nach der formellen Seite hin besonders zu- 


XXVIII Einleitung. 


Man bemühte sich fortan eifrig um Aufhellung der 
Platonischen Denk- und Darstellungsweise, in letzterer 
Beziehung namentlich um die Einsicht in das Wesen 
des Dialogs als derjenigen Kunstform, die dem Platon 
als einzig geeignetes Mittel zum Ausdruck seines philoso- 


ständigen Beurteilers hier mitgeteilt zu werden: „Mitten im Ge- 
dränge von Büchern, die ich lesen will oder soll, wandelt mich die. 
Lust an wieder einmal den Schleiermacherschen Platon zu lesen. 
Vor fünfzig Jahren in Halle wollt’ ich mit Gewalt mir einbilden, 
hier sei das Höchste von Weisheit, das Anmutigste von Sprache, 
wiewohl natürlich mein Sinn widersprach; es wollte mir nie gelingen 
anhaltend diese Bände, sooft ich sie auch zur Hand nahm, durch- 
zuarbeiten, wie dies Harscher, Marwitz und andere taten, mit wahrem 
Vergnügen darin zu lesen; ich suchte bisweilen diese Schreibart 
— natürlich die Schleiermachersche, denn die Platonische lag ver- 
steckt unter ihr — nachzubilden, was mir besser gelang als gefiel. 
Später verlor sich diese Beschäftigung und selbst Fr. A. Wolfs Eifer 
für den Platon führte mich nicht auf diesen zurück, Heute nahm 
ich nun den Sophisten, das Symposion und den Staatsmann wieder 
vor, las die Einleitungen und hin und wieder den Text. Es kann 
mir nicht einfallen die große weltgeschichtliche Bedeutung des Platon 
zu verneinen, die Tiefe und Schönheit dieses außerordentlichen 
Geistes zu leugnen, aber das war mir vollkommen klar, daß seine 
Darstellung, seine dialogische Beweisführung und sein ganzer Vor- 
trag uns in keiner Weise mehr genügt, daß wir einer anderen Art 
und Führung bedürfen und in der Tat weiter sind, im Fordern nicht 
nur sondern auch im Leisten. Auch haben die Nachahmungen Pla- 
tonischer Dialoge bei uns nie Glück gemacht, die Schleiermacher- 
schen sind — wie jetzt allgemein gefunden wird — geziert und 
schwächlich, die Delbrückschen ermüdend, die Solgerschen todlang- 
weilig; auch Jacobi und Fichte haben sich in dieser Gattung ver- 
sucht, aber nur mäßig und darum mit geringem Schaden. Schleier- 
machers Verdienst bei seiner Übersetzung liegt im dialektischen 
Scharfsinn und in der philologischen Kenntnis und Sorgfalt; in 
betreff der Sprachbildung ist ihr Wert gering, der Ausdruck oft 
schwerfällig, ungeschickt gerade da, wo er geschickt sein wollte. 
Zu diesem vollen Bekenntnis bin ich nun gelangt; ich erinnere 
mich, daß schon Rahel weder die Dialoge Platons noch Schleier- 
machers Redeweise gelten ließ, zu meiner damaligen großen Em- 
pörung! Heute, während meine Augen auf den alten, so sehr einst 
verehrten Büchern ruhten, erwehrt’ ich mich eines Schauerns jener 
Zeit, aber mein Urteil wurde von diesem Gefühl nicht bestochen.“ 


Einleitung. XXIX 


phischen Standpunktes erscheinen mußte. Hand in Hand 
damit ging das lebhafte Bestreben, zu einem immer ge- 
naueren Verständnis der einzelnen Schriften sowohl für 
sich wie nach seiten ihrer gegenseitigen Beziehungen zu 
gelangen. Das mußte unausbleiblich auf die Frage nach 
ihrer Zeitfolge führen. Diese Frage, schon von Tenne- 
mann berührt und mit einem Lösungsversuche bedacht, 
war durch Schleiermacher nach neuen, tieferen, auf 
Sinn und Wesen der ganzen Platonischen Schriftstellerei 
gerichteten Gesichtspunkten behandelt worden. Auf das 
eigentümliche dieser Gesichtspunkte und der darauf ge- 
gründeten Gesamtauffassung der Platonischen Schriftstel- 
lerei näher einzugehen ist hier nicht der Ort. Es konnte 
einem Meister der Dialektik, als welcher sich Schleier- 
macher einem jeden bald zu erkennen gibt, sehr wohl 
begegnen sich derart in die Maschen des eigenen Ge- 
dankennetzes, mit dem der Gegenstand umschlungen ward, 
zu verfangen, daß darüber das unmittelbare Recht der 
Sache selbst mehr oder weniger verdunkelt ward. Be- 
griffsverhältnisse und daran sich knüpfende Gedanken- 
. zusammenhänge mögen in sich noch so konsequent, noch 
so zwingend sein, es fragt sich immer, ob der Ausgangs- 
punkt d. h. der zur Grundlage gewählte Begriff auch 
wirklich der Sache selbst entspricht, aus welcher ent- 
nommen zu sein er den Anschein erweckt. In dieser Be- 
ziehung war Schleiermacher vor Selbsttäuschungen nicht‘ 
gesichert. 

Je mehr diese Frage nach der Zeitfolge der Dialoge 
sich in den Vordergrund schob, um so mehr mußte sie 
zu einer Spezialität der Philologen werden. Denn die 
psychologischen Erwägungen über den möglichen Werde- 
gang des Philosophems erwiesen sich ebenso wie die rein 
philosophischen Kriterien als zu unsicher und schwankend, 
um zu einer Vereinigung der Ansichten zu führen. Es 
blieben also, wie man allmählich erkannte, neben den 
wenigen fest gegebenen historischen und literargeschicht- 
lichen Anhaltspunkten nur die sprachlichen Kriterien als 


ΧΧΧ Einleitung. 


mögliches objektives Entscheidungsmittel übrig, und da- 
mit wurde die „platonische Frage“, als welche man jetzt 
die Sache analog der sog. homerischen Frage bezeichnete, 
mehr und mehr eine besondere Provinz der Philologie, 
die sich der regsten Fürsorge von seiten der Philologen 
erfreute. Es diente dieser Methode zu besonderer Emp- 
fehlung, daß ihre Ergebnisse mit den historisch oder 
literargeschichtlich gesicherten Tatsachen nicht in Wider- 
spruch standen. So darf man denn als ziemlich gesichertes 
Ergebnis dieser Bemühungen die Annahme einer Dreizahl 
von Gruppen betrachten, in welche die gesamte Plato- 
nische Schriftmasse sich gliedert, eine Annahme, zu der 
übrigens schon gewisse Ansichten der früheren, vorsta- 
tistischen Zeit in ziemlich genauer Übereinstimmung mit 
den sprachstatistischen Feststellungen gelangt waren. 
Das Ziel, das den Philologen, soweit sie nicht bloße 
Arbeitsbienen für Einsammeln und Ordnen des sprach- 
statistischen Materials waren, dabei vorschwebte, war das, 
ein lebendiges Bild der inneren Entwickelung des großen 
Philosophen zu gewinnen. Ein Ziel von zweifelhaftem 
Wert. Das Problem der inneren Entwickelung eines reich 
angelegten Geistes, an dessen Lösung in den verschie- 
densten Fällen die gelehrte Forschung unserer Zeit mit 
Vorliebe ihre Kräfte setzt, birgt große Schwierigkeiten 
in sich, selbst bei vorhandener überströmender Fülle zu- 
verlässigen Materials, etwa wie bei Goethe. Darf man 
hoffen, jene geheimen treibenden Momente, die ihrem 
Träger selbst oft unbewußt in der Tiefe seines Gemütes 
wirken, zu enthüllen und der Betrachtung bloßzustellen? 
Das eigentliche Geheimnis der Entfaltung des Genius 
wird ewig bleiben was es eben ist — ein Geheimnis. 
Das Motivieren hat sein Gutes und seine Berechtigung: 
es vertieft die Darstellung, macht sie unter Umständen 
fesselnder und eindringlicher; aber es hat seine Grenzen 
und darf nicht gar zu der Einbildung führen, als könnte 
man dem Genius sein innerstes Geheimnis ablauschen. 
Und im besten Falle der Gewinn? Die wenig beneidens- 


Einleitung. IT 


werte Freude an der unfruchtbaren Erkenntnis, daß es 
dem Genius doch niemand nachmachen kann! Gilt dies 
für die Beschäftigung mit den großen Geistern der neue- 
ren Zeit, wieviel mehr für die Erkenntnis der Genien des 
Altertums, das seinerseits diesem ich möchte sagen senti- 
mentalen Zuge unserer Zeit völlig fremd gegenübersteht. 
Denn nicht nur in der Poesie, auch in der literargeschicht- 
lichen Forschungsweise und auf noch anderen Gebieten tritt 
uns der Gegensatz des Naiven und Sentimentalen entgegen: 
man hielt sich im Altertum an das Tatsächliche und 
Augenfällige, das man zwar reichlich mit Anekdoten ver- 
setzte, aber nicht zum Ausgangspunkt verwickelter psy- 
chologischer Betrachtungen machte. Die Alten würden 
nur mit einigem Erstaunen die dicken Bücher durchblät- 
tern, die den Analysen der großen Geister der Neuzeit 
gewidmet sind. Man denke zuweilen an das kräftige 
Wort Erwin Rohdes: ‚Der Teufel hole das ‚historische 
Begreifen‘ großer Genien!“ 

Sicherer als über die innere Entwickelung des großen 
Philosophen läßt sich mit Hilfe jener Gruppeneinteilung 
. über den Werdegang seiner Philosophie urteilen; denn 
da kommt es auf das Vergleichen wissenschaftlicher Tat- 
sachen an, nicht auf das Erraten von Motiven. Aber 
auch dieser Gesichtspunkt tritt für unseren Zweck jetzt 
zurück. Denn hier haben wir es nicht zu tun mit der 
Genesis des Platonischen Philosophems, sondern mit dem. 
Philosophem selbst nach Wesen, Charakter und Wir- 
kungsweise. Uns gilt es vor allem das Bleibende in dieser 
Philosophie, das ewig Wirksame in ihr von dem Ver- 
gänglichen zu scheiden, denn es handelt sich für uns um 
den Platonismus überhaupt. Dieser Platonismus also — 
so fragen wir und damit kommen wir auf unser eigent- 
liches Anliegen — welche Rolle spielt er in den geistigen 
Strömungen der Gegenwart? Wie weit wirkt er über- 
haupt noch und wie weit kann er wirken? Soviel scheint 
mir klar: die wissenschaftliche Fortbildung der Philo- 
sophie als solcher hat von ihm nichts mehr zu erwarten. 


SEAT Einleitung. 


Was er in bezug auf Weltansicht, Erkenntnistheorie und 
Ethik Grundlegendes und Wertvolles bietet, ist längst 
Gemeingut der strengeren Philosophie geworden. Hat 
also die Philosophie dem Gehalte nach von dem Platonis- 
mus keine Bereicherung, keine Reform zu erwarten, so 
kann er doch auf den akademischen Lehrbetrieb, wie 
dieser sich in den philosophischen Seminarien nach dem 
Muster der philologischen mehr und mehr entwickelt, 
einen sehr wohltätigen Einfluß ausüben. Er kann 
durch die Vielseitigkeit und Krait der Gedankenbewe- 
gung, wie sie in seinen vornehmsten Urkunden, den 
Platonischen Dialogen, zum Ausdruck kommt, durch die 
Hoheit und Entschiedenheit seiner Ethik, durch die Er- 
habenheit und Pracht seiner Mythen verbunden mit der 
Fülle von Ironie, Witz und Geist, die aus allen Dialogen 
hervorleuchtet, belebend auf den philosophischen Unter- 
richt wirken, kann gleichsam die Temperatur desselben 
erhöhen. In dieser Beziehung ist es kein unerfreuliches 
Zeichen der Zeit — und darin liegt zugleich die Ant- 
wort auf die gleich zu Anfang aufgeworfene Frage — 
daß gerade für solchen Betrieb sich das Bedürfnis nach 
einer neuen Bearbeitung der Platonischen Schriften fühl- 
bar machte, ein Bedürfnis, dem unsere Arbeit an erster 
Stelle zu dienen bestimmt ist. Dies platonische Ingrediens 
der philosophischen Belehrung läßt nach Quantität und 
Qualität eine sehr mannigfache Behandlungsweise zu. 
Man kann markante Stellen einzelner Dialoge zum Gegen- 
stand unmittelbarer gemeinsamer Lektüre machen, man 
kann einen ganzen Dialog der häuslichen Durcharbeitung 
überweisen zu Referat und Gegenreferat, man kann 
mehrere Dialoge in bezug auf bestimmte Gesichtspunkte 
nach Übereinstimmung und Diskrepanz vergleichen lassen, 
kann einzelne Lehren, auch einzelne Sätze in Zusammen- 
stellung mit verwandten Anschauungen neuerer Philo- 
sophen kritisch prüfen lassen usw. 

Gilt es also, den Wert, welchen die Fühlung mit 
Platon für die philosophische Bildung nach ihrer allge- 


Einleitung. XXXII 


meinsten Bedeutung hat, zu bestimmen, so kann man 
sagen, daß sie unserer wenn auch nicht altersgrauen, so 
doch mit einer Fülle schwieriger Abstraktionen beschwer- 
ten und dadurch bis zu einem gewissen Grade erstarrten 
Philosophie ein Element der Erfrischung und gleichsam 
Verjüngung beigibt, nicht in dem Sinne, daß die Philo- 
sophie selbst zurückgeschraubt werden sollte auf den 
Standpunkt vergangener Jahrtausende, wohl aber in dem 
Sinne, daß uns die Schwierigkeiten vergegenwärtigt 
werden, die der forschende Geist zu überwinden hatte, 
um sich, vorsichtig tastend, zu dem jetzigen Stand der 
philosophischen Angelegenheiten emporzuarbeiten. Eben 
in der Ausbildung und Gewinnung jener Abstraktionen 
besteht zum größten Teil die Jahrtausende umfassende 
Arbeit der Philosophie. Mit bestimmten Kunstausdrücken 
bezeichnet und meist schon durch die Schulsprache der 
Scholastik gewissermaßen geheiligt, beherrschen diese Ab- 
straktionen die philosophische Sprache und werden als 
bekannt vorausgesetzt, dem Kundigen zur größten Er- 
leichterung für weitere Forschung, dem Unkundigen und 
Anfänger aber eine nicht geringe Erschwerung; denn er 
muß sich erst mühsam losreißen von der natürlichen Auf- 
fassungs- und Ausdrucksweise, die das gewöhnliche Leben 
beherrschen. Bei Platon ist das alles noch im Werden 
begriffen. Er steht, kann man sagen, eben gerade auf 
der jugendlichen Übergangsstufe vom Konkreten zum All- . 
gemeinen. Nicht als ob er uns die Lektüre seiner 
Schriften besonders leicht machte: er will verstanden 
sein, er bietet uns oft Gedankengänge schwierigster Art, 
er fordert die volle Anspannung unserer geistigen Kraft, 
ja er macht uns mitunter mißmutig und widerspenstig 
und stellt unsere Geduld auf die härteste Probe. Aber 
wäre das etwa unjugendlich? Hören wir darüber Platons 
eigene Worte: „Gerade der Jugend gehören alle großen 
und gehäuften Anstrengungen.“ So heißt es in der Re- 
publik (536E). Worauf es ankommt ist doch vor allem 
dies, daß die Schwierigkeiten nicht in dem abstrakten 
Einleitung zu Platons Sämtlichen Dialogen. C 


XXXIV Einleitung. 


Charakter der Darstellung liegen. Platons philosophische 
Sprache hält, noch flüssig, beweglich und bildsam, eine 
frei schwebende Mittellinie ein zwischen volkstümlicher 
Anschaulichkeit und mehr abstrakter Färbung des Aus- 
drucks. Er kommt also dem Anfänger halbwegs entgegen 
auf der steilen Bahn, die von der naiven zur abstrakten 
Auffassungsweise führt. Dies zeigt sich wie im einzelnen 
an den Abstraktionen, so auch in seinen großen Gesamt- 
ansichten. Auch da erscheint bei ihm alles noch in der 
Unbefangenheit einer gewissen Jugendfrische: das Ziel 
wird erkannt, aber die Wege, die dahin führen, bleiben 
noch unsicher, werden aber gleichwohl mit dem uner- 
schrockenen Wagemut der Jugend zuversichtlich betreten. 
Dies läßt sich am besten erläutern an seiner Hauptlehre, 
an der Ideenlehre, auf die wir in dieser Beziehung noch 
einmal einen kurzen Blick werfen wollen. 

Platon war durchdrungen von der Macht und Bedeu- 
tung der Begriffe; es war ıhm klar, daß sie uns un- 
entbehrlich seien für jede über die bloße Sinnesanschauung 
sich erhebende Erkenntnis; sie waren ihm die Wegweiser 
zu etwas Höherem als dem, was die sinnliche Wahr- 
nehmung bietet. Aber dabei fühlte er doch auch dunkel 
den Mangel an realem Gehalt, der ihnen, für sich ge- 
nommen, anhaftete. Tatsächlich schweben sie ja, wie uns 
die gesunde Logik sagt, als bloße Begriffe, d. h. los- 
gerissen von der Anschauung, der sie durch Abstraktion 
entstammen, gleichsam frei in der Luft, und erst ihre 
Wiederverbindung mit den Gegenständen der Anschauung 
wie sie sich im Urteil vollzieht, gibt ihnen ihre Bedeutung 
für unser Denken. Diesen logischen oder wenn man will 
zugleich auch psychologischen Sachverhalt verkannte Pla- 
ton. Dieser Sachverhalt nimmt bei ihm eine mehr oder 
weniger mystische Form an. Nur in sekundärem Sinne 
stammen für ihn nach dem Phaidon (T4Aff.) die Be- 
griffe aus der Anschauung. Die Anschauung der sinn- 
lichen Einzeldinge weckt in uns nur die Wiedererinne- 
rung an die göttlichen Urbilder. Der Begriff stammt ihm 


Einleitung. XXXV 


eigentlich nicht aus der Sinnesanschauung, sondern ist 
Reflex der einstmals von uns geschauten Idee. Denn das 
schöne Einzelding kann auch wieder häßlich, das Warme 
auch wieder kalt werden, kurz die Einzelgegenstände 
geben in ihrer Wandelbarkeit keinen festen Anhalt zur 
Begriffsbildung. Auch Platon also suchte nach einem 
Gegenstand der Begriffe; aber er fand ihn nicht rück- 
wärts in den Gegenständen der empirischen Anschauung, 
sondern aufwärts in einer rein geistigen Anschauung, die 
gleichwohl an die Gegenstände der sinnlichen Anschauung 
gebunden blieb. Denn die Begriffe haben nach ihm zu 
ihrem Objekt die wesenhaften Urbilder der sinnlichen 
Anschauung, die ihnen gegenüber zur Wesenlosigkeit her- 
absinkt. Platons Ideenwelt ist also nicht die von den 
Schranken der Sinnlichkeit schlechtweg befreite Welt son- 
dern die idealisierte Sinnenwelt selbst — eine eigenartige 
Wiederholung der Sinnenwelt, wie Aristoteles die Sache 
ganz richtig bezeichnete — idealisiert nach Maßgabe der 
Gattungen und Arten, wie sie in den Begriffen vorge- 
stellt werden. 

Platon hatte also mit der großartigen Konzeption 
seiner Ideenwelt den Grundgedanken des transzendentalen 
Idealismus richtig erfaßt: er schied das wahre Wesen 
der Dinge von ihrer Erscheinung. Aber nach dem Stande 
der philosophischen Angelegenheiten überhaupt und vor 
allem nach dem Grade der Ausbildung der Abstraktionen, 
an den die damalige Zeit noch gebunden war, vermochte 
er die Bedeutung dieses Unterschiedes in seiner vollen 
Schärfe noch nicht zu erkennen und geriet demnach mit 
der dialektischen Ausführung und Begründung der Lehre 
ın unüberwindliche Schwierigkeiten. Es bedurfte noch 
einer jahrtausendelangen Entwickelung der philosophi- 
schen Vorstellungsweisen, ehe diese Unterscheidung in 
ihrer wahren wissenschaftlichen Gestalt hervortreten 
konnte; es bedurfte erst der Unterscheidung der empi- 
rischen Begriffe von den bloßen Reflexionsbegriffen so- 
wie von den metaphysischen Grundbegriffen, vor allem 

: C* 


XXXVI Einleitung. 


aber der großen Entdeckungen des transzendentalen Leit- 
fadens und der Kategorientafel, ehe es zu einer wissen- 
schaftlich befriedigenden Ideenlehre kommen konnte. Je 
mehr aber Platon selbst schon sich der Unzulänglichkeit 
seiner Dialektik bewußt war gegenüber den das Wesen 
der Ideen und ihr Verhältnis zur Sinnenwelt betreffenden 
Fragen, die wie sie ihm selbst sich aufdrängten so von 
seinen Gegnern ihm entgegengehalten wurden, desto mehr 
müssen wir den Mut bewundern, mit dem er den Grund- 
gedanken ergriff und ungeachtet aller Bedenken und Ein- 
wände zu vertreten nicht müde ward. Eben in der mit 
rascher Zuversicht ergriffenen Idealisierung der sinn- 
lichen Anschauungen, in dieser vergeistigenden Wieder- 
holung der Sinnenwelt, mit deren zu geistigen Wesen 
erhobenen Formen er sein mit scharfem Seherblick er- 
schautes überirdisches Reich zu füllen und zu beleben 
wußte, gibt sich jener Zug kühner Jugendfrische kund, 
auf den oben hingewiesen ward. Der transzendentale 
Idealismus ist die Frucht einer schon weit entwickelten 
Philosophie; er steht in der vollen Tageshelle der Wissen- 
schaft: Platons Ideenlehre kündigt, dem Morgenrot glei- 
chend, den kommenden Tag erst an. Platon focht voll 
edler Zuversicht für eine gute Sache, aber mit noch un- 
zureichenden Waffen. Es wird immer lehrreich und för- 
derlich sein vom erreichten Ziel den Blick rückwärts zu 
wenden auf die ersten Versuche des Aufstiegs zur Höhe. 

Man hat der Platonischen Ideenlehre in neuerer — 
denn schon Tennemann vertrat in seiner Weise diesen 
Standpunkt — und neuester Zeit eine Auslegung gegeben, 
mit der die hier vertretene Ansicht nicht in Einklang 
steht. Indem man in der ganzen Auffassung der soge- 
nannten Platonischen Ideen als selbständiger Substanzen 
nichts weiter sah als die verhängnisvolle Folge des tiefen 
Mißverständnisses, das angeblich dem Kampfe des Ari- 
stoteles gegen die Ideenlehre zugrunde lag, vindizierte 
man den Platonischen Ideen eine rein logische Bedeutung: 
sie sind nicht von den Begriffen als deren Gegenstände 


Einleitung. XXXVII 


abzulösen, sind keine eigenen Wesenheiten, sondern die 
Normen der Denknotwendigkeit, die Formen der Gesetzlich- 
keit für das Sein der Dinge nach Maßgabe des Verstandes, 
der allein das wahre Sein bestimmt. Der Idealismus 
Platons bestünde demnach in nichts anderem als in der 
Verlegung des wahren Seins aus der Sinnesanschauung 
in das Reich des reinen Verstandes, keineswegs aber in 
der Hypostasierung der Begriffe, d. h. der Anerkennung 
der Ideen als selbständiger Wesen. 

Um sich zu entschließen, dem Aristoteles ein so fun- 
damentales Mißverständnis des Platon zuzutrauen wie 
es dieser Ansicht als Voraussetzung zugrunde liegt, würde 
man wenigstens den Nachweis verlangen, daß man in 
der nachplatonischen Zeit in der Akademie selbst und 
auch in den übrigen Philosophenschulen einer ganz ande- 
ren Ansicht über die Platonische Ideenlehre huldigte als 
in der peripatetischen Schule. Sieht man sich aber danach 
um, so findet man, daß nicht nur ein so namhafter Ver- 
treter der Akademie selbst wie Xenokrates Zeugnis ab- 
legt für die Richtigkeit der Aristotelischen Auffassung, 
sondern daß auch die Stoiker keine andere Auffassung 
von den Platonischen Ideen hatten. Man kann mit einiger 
Zuversicht behaupten, daß das ganze Altertum in Platon 
den Vertreter der Ansicht von den Ideen als geistigen 
Substanzen sah, indem die Neoplatoniker, wenn sie hier 
und da die Ideen als Gedanken der Gottheit betrachteten, 
dies auf ihre eigene Rechnung taten. Und die Plato- 
nischen Schriften selbst sind nicht danach angetan von 
dem Leser diesen Eindruck abzuwehren. Sooft es auch 
scheinen mag, daß Platon das wahrhafte Sein einfach den 
Begriffen (dem Allgemeinen) zugesprochen habe, so ist 
dies doch nie seine eigentliche Meinung. Das Seiende, 
das ὄν, ist durchaus nicht mit der Erkenntnis (ἐπιστήμη) 
des Seienden identisch; das zeigt auf das klarste der 
Phaidon (47 Bf.): wir erkennen das Seiende durch die 
Begriffe (d. ἢ. in der Form der ἐπιστήμη), das ὄν aber 
besteht nicht in den Begriffen. Immer schwebt dem 


XXxXVIl Einleitung. 


Platon als eigentliches Objekt der Erkenntnis die selb- 
ständige Geisteswelt vor, welche allein unwandelbar ewig 
besteht und in vollem Sinne nur von der göttlichen 
schauenden Vernunft erkannt werden kann (vgl. Parm. 
1340). Die Gegenstände dieser göttlichen Erkenntnis 
sind die Ideen, deren Erfassung unserem menschlichen 
Verstande hienieden zwar nicht verschlossen, aber nur 
in beschränktem Maße vergönnt ist (Phaid. 79C). Wären 
die Begriffe schon das wahrhaft Seiende selbst, so wäre 
uns dies letztere auch vollständig begreiflich. Tatsächlich 
verhelfen sie uns nur zu einer beschränkten Erkenntnis, 
indem sie durch ihre Beziehung auf das anschaulich Er- 
kannte die Auffassung des wahrhaft Seienden vermitteln. 
Wer kann den Phaidros, wer den Phaidon (79C), wer 
den ersten Teil des Parmenides lesen, ohne die Unter- 
scheidung zwischen Begriff und Idee, zwischen Erkennt- 
nismittel und Gegenstand der Erkenntnis anzuerkennen? 
Wird nicht im Parmenides (132BÜ) auf das bestimmteste 
die Vorstellung abgewiesen, als wären die Ideen etwa nur 
Gedanken in uns und nicht vielmehr selbständige Wesen? 
Doch wir laufen Gefahr in eine Polemik einzutreten, 
die uns an sich ganz fern liegt. Es kam uns nur darauf 
an, unseren Standpunkt kurz zu kennzeichnen in einer 
Frage, die bei Erörterung der aktuellen Bedeutung des 
Platonismus nicht umgangen werden konnte. Im übrigen 
prüfe jeder selbst und entscheide sich demgemäß. 
Indem wir, den unterbrochenen Faden wieder auf- 
nehmend, zur Besprechung der aktuellen Bedeutung des 
Platonismus zurückkehren, glauben wir zu der Behaup- 
tung berechtigt zu sein, daß seine innere Verwandtschaft 
mit dem Wesen edler Jugendlichkeit auch den einzigen 
Berührungspunkt desselben mit der Gegenwart bildet, 
von dem eine unmittelbare Einwirkung auf diese aus- 
gehen kann. War Platons unmittelbarer Einfluß im we- 
sentlichen auf die Jünglinge seiner Akademie beschränkt, 
so ist der Platonismus für seine lebendige Fortwirkung 
auf unsere akademische Jugend angewiesen. Sie ist es, 


Einleitung. XXXIX 


die, wenn anders ihr die ihr so oft nachgerühmte Be- 
geisterungsfähigkeit nicht abhanden kommt, die Flamme 
auf dem Altar des Platonismus immer wieder von neuem 
erstehen lassen kann; von da aus kann ein Widerschein 
davon wohl auch in weitere Kreise dringen, von einer 
unmittelbaren Wirkung aber auf die Seele unseres Volkes 
im Großen kann keine Rede sein, selbst dann nicht, wenn 
man den Platonismus nicht im wissenschaftlichen Sinne 
sondern nur als dauernde Stimmung der Seele, als Dis- 
position des Geistes in der Richtung auf ein höheres als 
das sinnliche, in materiellen Interessen befangene Leben 
deutet. Denn diese Stimmung in den weitesten Kreisen 
des Volkes zu erwecken ist ja die vornehmste Aufgabe 
der Kanzel, der zudem eine dem Volke weit verständ- 
lichere Sprache zu Gebote steht. Es bedarf dazu keines 
Platonismus, wohlverstanden keines ausdrücklichen. Faßt 
man aber den Platonismus zugleich im Sinne bestimmter 
Einzellehren, so könnte er allerdings als schärfster War- 
ner auftreten gegen so manche Verirrungen und Vorur- 
teile unserer Zeit, wenn nicht der Radikalismus der von 
Platon selbst gewählten Gegenmittel seine Stimme wir- 
kungslos verhallen ließe. Handelt es sich also hier nicht 
einmal um Möglichkeiten sondern um bloße Wünsche, so 
lohnt es sich doch die Aufmerksamkeit auf die Sache hin- 
zulenken und wenigstens die zwei wesentlichsten Mah- 
nungen, die er in dieser Beziehung an uns richtet, zur 
Sprache zu bringen, wäre es auch nur, um die Kluft zu 
kennzeichnen, die zwischen unserem Volksgeist und dem 
Platonismus liegt. | 

Platon hat mit seinem großen Werk über den Staat 
bei den Historikern und Politikern. — praktischen sowohl 
wie theoretischen — unserer und der neueren Zeit über- 
haupt wenig Eindruck gemacht. Grotius, Pufendorf, 
Montesquieu, Treitschke und wie sie heißen mögen, haben 
wenig Veranlassung gefunden sich auf ihn zu berufen. 
Sehr begreiflich. Denn wenn Platon selbst am Ende des 
neunten Buches sagt: „Auf Erden findet er (der Ideal- 


XI; Einleitung. 


staat) sich nirgends. Aber im Himmel ist er vielleicht 
als Muster hingestellt für den, der ihn anschauen und 
gemäß dem Erschauten sein Inneres gestalten will,‘ so 
dürfte dies den meisten mehr als eine Vertröstung auf 
das tausendjährige Reich und das unaufhörliche Hal- 
leluja der Apokalypse erscheinen denn als eine An- 
weisung auf Rettung der lebenden und leidenden Mensch- 
heit. Gleichwohl ist es keine müßige Sache, die Er- 
innerung an seine schärfsten Mahnungen aufzufrischen 
und sie im Lichte der Gegenwart kurz zu betrachten. 

Jeder Leser der Platonischen Republik weiß, daß das 
Herz des ganzen Werkes der Gedanke bildet, zu einer 
wirklichen Gesundung des staatlichen Lebens könne es 
nur dann kommen, wenn entweder die Könige Philo- 
sophen oder die Philosophen Könige würden. Überträgt 
man dies hohe Wort in die Sphäre und Sprache des ge- 
wöhnlichen Lebens, so enthält es die Mahnung, daß die 
Herrschaft keinem anderen gebühre als dem wahrhaft Ein- 
sichtigen. Der Beachtung dieser Mahnung ist keine Zeit 
in höherem Maße bedürftig als die unsere. Denn welche 
Zeit hätte sich mehr der Achtung vor dem Worte ent- 
schlagen: ‚Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen‘? 
Wann hätte man größeren Wert gelegt auf das bloße Ab- 
zählen der Stimmen? Des Majoritätsprinzips Kann aller- 
dings keine entwickelte menschliche Gesellschaft ent- 
behren. Aber schon bei kollegialischen Entscheidungen, 
wo dies Prinzip vor allem hingehört und unentbehrlich 
ist, ist es nicht frei von Bedenken. „In publico consilio“, 
sagt der jüngere Plinius (epist. II, 12) „mihil est tam in- 
aequale quam aequalitas ipsa,; nam cum sit impar prudentia, 
par ommnium jus est“. Heutzutage ist der Haupttrumpf, 
den man für alle großen Entscheidungen des öffentlichen 
Lebens ausspielt, die Massenabstimmung. Nos numerus 
sumus. Gewiß soll jeder Erwachsene an der Wahl der 
Volks- und Gemeindevertreter Anteil — ob den gleichen, 
bleibe dahingestellt — haben: das ist nicht mehr als 
recht und billig. Daß aber die Exekutive in ihren Spitzen 


Einleitung. ΧΙ 


auf die Wahl aus dem Kreise der Volksvertreter be- 
schränkt sein soll, widerstreitet ebenso den Forderungen 
des einfachen Menschenverstandes wie die als fast selbst- 
verständlich geltende Annahme, daß das Mandat als 
Volksvertreter auch schon der genügende Ausweis sei 
zur Leitung wichtiger Teile der Staatsverwaltung. Wir 
müssen uns darein finden, daß für Besetzung der höchsten 
Posten die unverfälschte Parteigesinnung und Programm- 
treue an erster Stelle, das Maß der Sachkenntnis und 
Erfahrung erst an zweiter in Frage kommt. Man meint 
wohl, in der allgemeinen Schulbildung liege eine aus- 
reichende Gewähr für die Fähigkeit zu politischer Be- 
tätigung. Für die zu Wählenden ist dies gewiß nicht 
der Fall, für die Wähler vielleicht. Aber ist ihre — 
der letzteren — Seele auch unbefangen genug, um sich 
bei Wahl der Volksvertreter, die man bei dem jetzigen 
Stande der Dinge in gewissem Sinne doch schon fast als 
Regenten bezeichnen kann, lediglich von der Rücksicht 
auf das Wohl des Ganzen leiten zu lassen? Sprechen 
nicht Selbstsucht, Standes-, Berufs- und Parteiinteressen 
. dabei oft genug das erste Wort? Wie wenige können, 
wie wenige wollen unterscheiden zwischen politischem 
Egoismus und unbefangener staatsmännischer Einsicht 
der ihnen sich vorstellenden Kandidaten. Blindes Partei- 
interesse, Ehrgeiz, Liebedienerei gegen die Instinkte der 
Masse, umhüllt von dem Schein der Volksfreundlichkeit- 
siegen nur zu leicht über die unparteiische, wahre Sach- 
kenntnis und über den ehrlichen Willen, nur dem Wohl 
des Ganzen zu dienen. Diese Sachkenntnis aber, welche 
Vertrautheit mit der Mannigfaltigkeit der in unserem 
hochentwickelten und vielverzweigten Staatsleben zu- 
sammenwirkenden Kräfte setzt sie voraus! In Platons 
Idealstaat ist unerläßliche Vorbedingung für Ausübung 
der Regententätigkeit eine vieljährige, umfassende philo- 
sophische Schulung, die zugleich auch eine Zeit der sitt- 
lichen Prüfung ist, denn nach Platonischer Anschauung 
ıst höchste Einsicht undenkbar ohne wahren Adel der 


ZI Einleitung. 


Gesinnung. Die große Masse des Volkes, der dritte 
Stand, ist von jedem Anteil an der Regierung ausge- 
schlossen. Das mag ebenso herzlos scheinen wie bequem 
für Erledigung der schriftstellerischen Aufgabe, die sich 
Platon gestellt hatte. Allein bei Entwurf eines reinen 
Ideals ist es erlaubt alle möglicherweise störenden Ele- 
mente auszuscheiden. Ganz anders im „Gesetzesstaate‘“, 
in welchem sich Platon mehr zum Standpunkte der Wirk- 
lichkeit herabläßt. Hier zeigt Platon ein sehr lebhaftes. 
und tiefgreifendes Interesse dafür, alle Bürger zu reger 
Teilnahme an dem staatlichen Leben heranzuziehen. Aber 
diese Tendenz ist durchweg verbunden mit der pein- 
lichsten Sorge für angemessene Abstufung des Einflusses 
der Stimmen bei den vielen verschiedenen Wahlen, nach 
Maßgabe der intellektuellen und sittlichen Bildung der 
Abstimmenden. Da zeigt sich Platon geradezu als ein 
Virtuos in der Kunst des Durchsiebens. Wer eine Ge- 
schichte der Wahlmethoden, der wirklich geschichtlich 
erprobten sowie der nur theoretisch vorgeschlagenen, 
schreiben oder einen Entwurf zu einer Übersicht über 
alle überhaupt möglichen Arten von Wahlverfahren 
machen wollte, dem würden Platons ‚Gesetze‘ eine reiche 
Fundgrube bieten. Anfang und Ende aller seiner Wahl- 
weisheit ist immer dies, der Einsicht und sittlichen Ge- 
diegenheit zum Siege zu verhelfen. 

Der zweite bedeutsame Mahnruf, der aus den poli- 
tischen Schriften Platons zu uns tönt, ist der, nichts zu 
verabsäumen, was dazu beitragen kann die innere Ein- 
heit des Volkes herzustellen, den Gemeinschaftssinn aller 
Bürger soviel wie möglich zu beleben und zu kräftigen. 
Platon kennt nichts Wichtigeres als dies und was wäre 
in der Tat auch wichtiger? Und welchem Volke täte die 
Beachtung dieses Mahnrufes mehr not als gerade dem 
unseren? An die Stelle der früheren politischen Zerrissen- 
heit ist seit Gründung des neuen Reiches die verhängnis- 
vollere soziale Spaltung getreten, die uns jetzt zur Ohn- 
macht verurteilt gegenüber einer Welt von äußeren Fein- 


Einleitung, XLIII 


den. Aber wie sehen wir uns enttäuscht, wenn wir uns 
in seinem Idealstaat nach den Mitteln umtun, mit denen 
er den Fluch der Uneinigkeit zu bannen sucht. Manches 
davon wird der heute herrschenden Partei nicht mib- 
fallen. Aber jedes feinere Gemüt wird sich verletzt fühlen 
durch die Gewaltmittel, mit denen Platon die natürlichen 
Grundlagen des geselligen Menschenlebens zu vernichten 
die Kühnheit hat, und die schon im Altertum den ent- 
schiedensten Widerspruch erfuhren. Nicht als ob es an 
sich völlige Unmöglichkeiten wären, mit denen er uns 
da entgegentritt — man könnte sich unter gewissen Kau- 
telen, namentlich unter dem Schutze religiöser Weihen 
ein staatliches Gesamtfamilienleben wie er es aufbaut, 
immerhin irgendwo als durchführbar vorstellen —, aber 
es ist nicht Blut von unserem Blute, das in den Adern 
dieser Volksgenossen nach Platons Willen fließen soll, 
und es wird immer merkwürdig bleiben, daB Aristoteles, 
der Makedonier, einen klareren Blick und empfänglicheren 
Sinn hatte für Bedeutung und Wert des Familienlebens, 
dieser natürlichen Wurzel aller geselligen Tugend, als 
Platon, der Athener. 

An sich wesentlich anders als im Idealstaat, aber 
was die Anwendbarkeit auf uns anlangt nicht viel besser 
steht es in diesem Punkte mit dem ‚„Gesetzesstaat“. Auch 
hier wird Platon nicht müde Mittel und Wege zu suchen 
zur Steigerung des Zusammengehörigkeits- und Verwandt- 


schaftsgefühls. Und zwar sind es hier vor allem Religion 


und Kultus, die als Spender und Schutzmächte aller 
volkstümlichen geselligen Festesfreude den Bund der 
Herzen begründen und festigen sollen. Gewiß ein herrlicher 
und schöner Zug, der, in vollem Einklang mit der tief- 
gewurzelten Anschauungsweise der Griechen überhaupt 


und begünstigt durch den verhältnismäßig kleinen Um- ᾿ 


fang der Platonischen Volksgenossenschaft, sich an seinem 
Orte als äußerst wirksam darstellen muß und für Platons 
staatsmännischen Standpunkt um so bezeichnender ist 
als Platon in Sachen der. Religion den volkstümlichen 


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XLIYV Einleitung. 


Anschauungen nicht ohne ein gewisses Nachlassen in 
der Strenge seiner eigenen religionsphilosophischen Über- 
zeugung entgegenkommen konnte. 

Wenden wir von da den Blick auf unsere eigenen 
religiösen Angelegenheiten, so bietet sich uns ein Bild 
von ganz entgegengesetzter Art. Wohnt der Religion im 
Platonischen Gesetzesstaat eine politisch einigende Kraft 
inne, bewährte sich diese Kraft durch die allgemeine 
Verehrung des nationalen Tempelheiligtums zu Delphi 
sogar für ganz Griechenland als ein Gegengewicht gegen 
die politische Eifersucht und Zerrissenheit der griechi- 
schen Stämme, so hat bei uns umgekehrt die Religion 
durch die Trennung der Kirchen und die Spaltung des 
Grlaubenssystems nicht wenig dazu beigetragen wie den 
Bau unserer gesamten Bildung so die Einheit der Nation 
zu zerreißen. Und was insbesondere das Verhältnis der 
Demokratie zu den religiösen und kirchlichen Fragen 
anlangt, so gewahren wir wiederum bei uns, wenigstens 
in den evangelischen Teilen Deutschlands, das volle Wi- 
derspiel zu den entsprechenden Erscheinungen in Grie- 
chenland. Bei den Griechen war die Demokratie in ihren 
guten Zeiten im eigensten Interesse des Staates die starke 
und eifersüchtige Hüterin des Kultus und der Religion. 
Bei uns geht die demokratische Strömung durchaus gegen 
jeden Zusammenhang zwischen Kirche und Staat. Im 
Namen der Freiheit, des Fortschrittes, der ungehemmten 
Aufklärung fordert die Demokratie mit aller Entschieden- 
heit die endgültige Trennung von Kirche und Staat. 
Gewiß sind Toleranz und Glaubensfreiheit nichts weniger 
als bloße leere Schlagwörter. Sie haben, wie die Sachen 
bei uns nun einmal liegen, ihre gute Berechtigung. Allein 
sie sind weit entfernt den denkbar glücklichsten Zu- 
stand in religiöser Beziehung überhaupt zu bezeichnen. 
Dieser wäre nur dann erreicht, wenn wir sagen könnten: 
„Wir glauben alle an einen Gott; was aber die Sym- 
bole, die Sinnbilder dieses Glaubens, die geweihten Ge- 
bräuche des Kultus anlangt, die ein Werk des Ge- 


Einleitung. XV 


schmacks und weder von göttlicher Anordnung noch eine 
Folge der Denknotwendigkeit sind wie die Idee der Gott- 
heit selbst, so hat der im Volke waltende Gemeingeist die 
Kraft, jeden guten Bürger dahin zu bringen, daß er sich 
diesen geweihten Gebräuchen seines Vaterlandes und 
seiner Gemeinde anschließt und nicht eigensinnig seine 
Hausgötter für sich haben will. Ist doch die religiöse 
Lehre selbst etwas anderes als die Sinnbilder dieser 
Lehre.“ Dies etwa ist die ideelle Entscheidung der 
Frage, wie sie ein hervorragender Denker des vergan- 
genen Jahrhunderts, J. Fr. Fries, in seiner Religions- 
philosophie gibt. Und wer weiß, ob nicht Platon gege- 
benen Falles dieser Entscheidung beigetreten wäre, mag 
auch der große Wellenschlag der Zeit noch so entschieden 
auf eine ganz andere Richtung hinführen. 

Wir sehen also: was die großen Volksströmungen 
anlangt, so bewegen wir uns in einem dem Platonismus 
gerade entgegengesetzten Fahrwasser. Das darf uns aber 
nicht irremachen an dem guten Rechte der Philosophie. 
Sie verkündigt die Wahrheit um der Wahrheit willen, 
‚froh, wenn sie willige Hörer findet, aber nicht gewillt 
um die Gunst der Menge zu buhlen. Sie läßt die Glocke, 
die zu ihrer Kirche ruft, ertönen, auch wenn sie sich 
sagt, daß sich niemand einfinden wird. Sie scheut nicht 
den Kampf gegen die Sünden und Verirrungen der Zeit, 
aber sie steht auf höherer Warte als auf der Zinne der - 
Partei; sie sorgt nicht für den Tagesbedarf, sie hat es 
nicht zu tun mit dem Gestern und Heute, überhaupt 
mit keinem Ziele, das nur einer bestimmten Zeit an- 
gehört. In dieser Beziehung fällt der Platonismus zu 
einem guten Teile mit der Philosophie selbst zusammen. 
Er wird so wenig untergehen wie diese, er wird seine 
stärkeren, er wird seine schwächeren Zeiten haben. Bei 
allem Wechsel aber seines Einflusses wird er doch immer, 
solange es noch Universitäten bei uns gibt, die unsere 
Jugend zu etwas Höherem heranzubilden sich zutrauen 
als zu gelehrtem Banausentum, sich wirksam erweisen 


XLVI Einleitung. 


durch jenen jugendlichen Zug, der ihm innewohnt, ver- 
bunden mit jener Triebkraft hinauf in die Höhe, die 
sein innerstes Wesen bildet. Sind es doch gleichsam die 
Naturlaute des Idealismus, die uns mit elementarer Kraft 
aus den Dialogen Platons entgegentönen, in ihrer Wir- 
kung vergleichbar dem Rauschen des Eichwaldes oder 
dem Brausen der Meeresbrandung: sie stimmen das emp- 
fängliche Gemüt unwillkürlich zur Ehrfurcht vor etwas 
das höher steht als diese unsere an die Schranken von 
Raum und Zeit gebundene Welt. 

Platon war Dichter genug, um die bezeichnend- 
sten Züge seiner Philosophie in einer mythischen 
Göttergestalt zu versinnbildlichen, die geradezu zum 
Symbol seiner Philosophie selbst geworden ist und die 
nicht aufhören wird von den gebildeten Bekennern aller 
Religionen den Symbolen des eigenen Glaubens würdig 
an die Seite gestellt zu werden: es ist der Eros, der 
jugendliche Gott der Schönheit und der Liebe, durch 
Platon verklärt zum Mittler zwischen Himmel und Erde, 
zwischen irdischer und ewiger Schönheit. Solange er noch 
gilt, so lange wird auch der Platonismus nicht untergehen. 
Er, der Eros, ist es, der nicht nur den sinnlichen, sondern 
auch den geistigen Zeugungstrieb in uns einsenkt, der 
die in der Brust des edleren Menschen schlummernden 
Keime des Wahren, Guten und Schönen zum Leben er- 
weckt, der die Ahnung des Göttlichen und eines höheren 
geistigen Daseins, das als dunkle Erinnerung an ein frühe- 
res, himmlisches Leben unserem Geiste innewohnt, zur 
Liebe steigert und das Herz mit Sehnsucht nach dem 
Unendlichen erfüllt, dergestalt, daß der von ihr Ergrif- 
fene keine höhere Aufgabe kennt als die innerlich ge- 
schaute Schönheit auch schon in das endliche Dasein 
hineinzubilden. Und nicht genug damit: nicht nur dem 
menschlichen Herzen ist er der Förderer und Schutzgeist 
alles Schönen, er durchwaltet, wie Platon durch des 
Eryximachos Mund im Gastmahl andeutet, auch ordnend, 
schützend und erhaltend das Weltall. Ist doch das Welt- 


Einleitung. XLVil 


all für Platon nichts anderes als der schönheitstrahlende 
Abglanz des Ewigen. Wer wäre also mehr berufen zum 
Schutze dieser sichtbaren Schönheit, als der Mittler 
zwischen Himmel und Erde, die Gottheit der Schönheit 
und Liebe? So wird Eros folgerichtig zum welterhaltenden 
und weltengestaltenden Gott, der es zu keinem Weltunter- 
gang, zu keinem Chaos der Zertrümmerung und Vernich- 
tung kommen läßt, denn das wäre nichts anderes als eine 
Verwirklichung des Unschönen. In diesem Sinne hat 
ihn uns, den Platon gleichsam ergänzend, jener deutsche 
Philosoph, dessen wir kurz vorher schon gedachtent), ın 
Worten vor Augen gestellt, die den Beschluß dieser 
meiner anspruchslosen Bemerkungen über den Platonis- 
mus bilden mögen: „Dem Leben ist nur die Schönheit das 
Himmelsband, welches das Irdische an das Ewige an- 
knüpft; nur in den Gestalten dieser allgegenwärtigen 
Schönheit schauen wir den Endzweck der Dinge selbst 
an. Es ist der schönste und der lebendigste unter den 
Göttern, an den wir hier glauben, dem wir vertrauen, in 
dessen Hand wir das Schicksal der Menschen wissen, der 
. älteste unter den Göttern und ewig der jüngste, der 
weltenerschaffende, herrliche Eros. Eros, der in sanfterer 
Laune sorgsam der Blüten pflegt, ihnen die reiche zier- 
liche Form gestaltet und die glänzenden Farben malt, der 
aber auch in Purpur gekleidet Sturm und Wetter über 
die Erde führt, oder wie einst auf das Gebot korinthischer- 
Weiber sich in die Scharen der Kämpfer stürzt, sie mit 
kühnerem Siegesmuterfüllt. Uns hat er als das Vornehmste 
auf der Erde gehalten, den Menschen zu seinem Liebling 
erkoren. Sollte er wohl, was er mit so großer Sorge sich 
langsam heranbildete, so schnell wieder vergessen oder 
vorübergehen lassen? Wir glauben es nicht! Und wenn 
er es täte, so würde doch aus den Trümmern der ver- 


1 J. F. Fries, Vorlesungen über Sternkunde p. 333f., bei Ge- 
legenheit der Erörterung über den möglichen Untergang unseres 
Sonnensystems, 


XLVIII Einleitung. 


gangenen Schöpfung sich nur um so herrlicher die neue 
Jugend der wiedergeborenen Schönheit entfalten. Es ist 
wie in jener indischen Dichtung, der Gott der Zerstörung 
auch der Schöpfer der Welt. Es erscheint die Geschichte 
der Welt. in immer wechselnden Umformungen, aber in 
jede Umwandlung tritt mit gleichem Glanze die heilige 
Schönheit, denn wie bei Phidias’ Meisterwerk, an dem 
Throne des ewigen Vaters tanzen die Horen den Tanz 
der ewigen Freude.“ | 


PLATONS DIALOG 
PROTAGORAS 


ÜBERSETZT UND ERLÄUTERT 


VON 


OTTO APELT 


ZWEITE DURCHGESEHENE AUFLAGE 


DER PHILOSOPHISCHEN:- BIBLIOTHEK 
BAND 175 


FELIX MEINER IN LEIPZIG. 1922 


Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, vorbehalten. 


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Inhaltsverzeichnis. 


Seite 
ie ὡς re ΟΠ ΟΣ 
. Übersicht über die Literatur . . . . . 80--81 
. Inhalt und Gliederung des Dialogs . . . 32—36 
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Einleitung. 


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Die Zeit, in welcher sich Platon das vorliegende 
Gespräch gehalten denkt, läßt sich aus den dafür mab- 
gebenden Andeutungen mit ziemlicher Sicherheit bestim- 
men. Es ist die Zeit kurz vor Ausbruch des Peloponne- 
sischen Krieges, also etwa das Jahr 432v.Chr. Wenn 
man dabei einen etwas gewagten Anachronismus mit in 
Kauf nehmen muß, so kann sich daran nur der trockene 
Rechner stoßen, nicht der auf Kunstgenuß bedachte Leser; 
denn dieser sagt sich, daß dergleichen Seitensprünge el- 
nem Dichter nicht nur erlaubt, sondern als Zeichen wahrer 
poetischer Kraft unter Umständen besonders hoch anzu- 
rechnen sind. Und daß Platon am wenigsten geneigt war, 
auf dies Recht zu verzichten, ist aus seinen übrigen Dia- 
logen zur Genüge bekannt. Was aber die Zeit der Ab- 
fassung anlangt, so dürfte der Protagoras wohl der erste 
größere Dialog sein, den Platon der Öffentlichkeit über- 
geben hat. Hatte Schleiermacher den Phaidros mit 
einer Bestimmtheit an den Anfang gestellt, die selbst 
Männern wie Böckh und Immanuel Bekker dermaßen im- - 
ponierte, daß sie sich jeden Zweifels an der Berechtigung 
dieser Feststellung entschlugen, so hat die Folgezeit 
gerade diesen Dialog mit ebenso großer Bestimmtheit und 
dabei mit weit besserem Rechte ein ganzes Stück abwärts 
gerückt. Auf die somit freigewordene Stalle des Anfangs 
der platonischen Schriftstellerei hatte nunmehr, unter den 
größeren Dialogen wenigstens, keiner einen näher liegenden 
Anspruch als der Protagoras. Für sein Erstgeburtsrecht 
zeugt denn zur Zeit auch manche gewichtige Stimme. Ob 
ihm dies Recht im strengsten Sinne, d. h. unter Ausschluß 
irgend welchen kleineren Dialogs, der ihm etwa als Plänk- 

Apelt, Platon Protagoras. Phil. Bibl. Bd. 175. 1 


2 Einleitung. 


ler voranginge, zukommt, lasse ich dahingestellt!). So 
viel aber ist auch mir wahrscheinlich, daß der Protagoras 
der erste größere Dialog und derjenige ist, mit dem er 
sich in vollem Sinne vor dem Publikum als Vertreter 
und Fortbildner der sokratischen Philosophie gewisser- 
maben legitimieren wollte. 

Wenn man. jetzt auf Grund der sprachstatistischen 
Untersuchungen die platonischen Schriftwerke mit einiger 
Sicherheit auf drei Perioden verteilt, so steht die Zuge- 
hörigkeit des Protagoras zur ersten Periode außer Zweifel. 
Lassen uns aber die sprachlichen Kriterien, diese objek- 
tivsten Zeugen für die hier in Frage stehende Chronologie, 
nur im allgemeinen den Zeitraum erkennen, dem der 
Dialog angehört, so fehlt es uns nicht an Mitteln, mit 
einiger Wahrscheinlichkeit auch den relativen Zeitpunkt 
zu bestimmen, in den wir ihn zu setzen haben. Es sind 
das teils sachliche Beziehungen zu anderen DUEeN, teils 
Beobachtungen logischer Art. 

Was das erstere anlangt, so handelt es sich vor allem 
um die Tugendlehre. In ihrer entwickelten Gestalt, wie 
sie uns in der Republik entgegentritt, kennt diese Lehre 
nur die Vierzahl der Tugenden, die vier bekannten Kar- 
dinaltugenden, während sich im Protagoras diesen als fünfte 
noch bestimmt die Frömmigkeit (ὁσιότης) beigesellt. Diese 
Fünfzahl der Tugenden ist nun im Euthyphron bereits 
aufgegeben, indem da die Frömmigkeit als in’ der Gerech- 
tigkeit aufgehend dargestellt wird. Die vier übrigen 'Tu- 
genden aber werden in der Republik keineswegs schlecht- 
weg als Einheit hingestellt, werden vielmehr“ geschieden 
voneinander behandelt nach‘ Maßgabe: ihres Verhältnisses 
zu den Teilen der Seele: Wohl: liegt ihnen 'ein einheitliches 
Prinzip zugrunde, ‘das Prinzip nämlich der. verständigen 
Selbstbeherrschung:; die Einheit der ‚Tugenden, soweit man 


!) Damit meine ich nicht Dialoge wie: ἀδὰ Inehen oder den 
Charmides (vgl, Arnim, Pl. Jugdiall. 18. ), wohl aber einen Dialog 


wie den Ion, der vielleicht der Abschiedsgruß Platons an die Poesie 


ist. Vgl. Einleitung zur Übers. des Ion, Bd. 1723, p. 101 


Einleitung. 3 


von einer solchen reden kann, besteht in der Herrschaft 
des Verstandes (λόγος) über alle Regungen des begehrlichen 
wie des eiferartigen Seelenteiles. Es gibt hier also zwar 
auch eine Einheit der Tugenden, aber sie besteht nicht in 
dem bloßen Vorhandensein der Einsicht, sondern in der 
Einwirkung derselben auf die Mannigfaltigkeit der Seelen- 
regungen. Im Protagoras wird die Verschiedenheit der 
Teile der Tugend dem Wortlaut nach geradezu geleugnet, 
während der höheren Idee der Tugend gemäß, die übrigens 
auch in diesem Dialog erkennbar genug durchschimmert, 
doch nur gesagt werden kann, daß in der Einheit des 
Tugendlebens kein Teil ohne Verbindung mit dem anderen 
sei. Im Protagoras scheint demgemäß ebenso wie im 
Laches und Charmides die Meinung, daß alle Tugend 
in der Erkenntnis des Guten bestehe, noch das letzte Wort 
zu sein, ein Standpunkt, der sich noch ganz sokratisch 
ausnimmt. Denn Xenophon sowohl (Memor. III, 9) wie 
Aristoteles (Eth. Nic. VI, 1144 26 ff.) schreiben dem So- 
krates die Lehre von der Einheit der Tugend zu, dergestalt, 
daß alle Tugend in der Erkenntnis des Guten bestehe. Wir 
haben es also mit einer Ansicht zu tun, die hinter der aus- 
gereiften Ansicht Platons ein ganz erhebliches Stück zu- 
rücksteht. Wenn er sich im Protagoras polemisch gegen 
die Teilungen der Tugend wendet, so bekämpft er damit 
einen Standpunkt, den er späterhin selbst vertritt, nur 
daß. ihm diese Teilungen allerdings einen ganz anderen 
Sinn haben, als den Sophisten. Für ihre Auffassung der 
Sache nämlich würde man besser von Vereinzelung der 
Tugenden, als von Teilungen der Tugend reden. Denn 
ein innerliches Band, welches die einzelnen Tugenden 
zur Einheit zusammenschließt,. kennen sie nicht; sie lassen 
sich ‘vielmehr nur von τοίη äußerlichen Gesichtspunkten 
‚leiten:: was für sie Wert hat, ist allein der unmittelbare 
Nutzen für das praktische Leben. 

Daneben kommt in Betracht das Verhältnis des Guten 
zum Angenehmen, das sich Sokrates 351 C ff. bemüht als 
ein Verhältnis der Identität darzustellen. Mit dieser Dar- 

| 1* 


4 Einleitung. 


stellung hat es nun zwar seine eigene Bewandtnis. Näher 
zugesehen nämlich läuft das Ganze auf nichts anderes 
hinaus, als auf eine Sonderung der guten, sittlich lobwür- 
digen von der sittlich verwerflichen Lust, oder, wie man 
im platonischen Sinne auch sagen könnte, der wahren Lust 
von der falschen, ein Standpunkt, der im Grunde der 
nämliche ist, wie der späterhin im Philebos vertretene, 
nur daß in unserem Dialog Sokrates zum Zwecke der. 
an sich unmöglichen Argumentation durch eine Art Eska- 
motage den Begriff der Lust auf die löbliche Lust ein- 
zuschränken und die verwerfliche Lust als etwas über- 
haupt nicht Lustvolles hinzustellen weiß. So allein kann 
er das schwere Kunststück fertig bringen, Tapferkeit und 
Wissen zu einer Einheit zu verschmelzen. Daß die Schalk- 
haftigkeit dabei nicht unbeteiligt ist, zeigt sich schon darin, 
daß der Satz von der Gleichheit des Guten und Angenehmen 
ganz in der Geschmacksrichtung der Sophistik liegt. Für 
den Protagoras also ist der Satz ein Köder, auf den er 
unter anderen Umständen unbedenklich anbeißen würde, 
während er jetzt, angesichts der unangenehmen Überra- 
schungen, die ihm der bisherige Gang der Unterredung 
gebracht hat, nichts Gutes wittert und darum seine Zu- 
stimmung nur mit einiger Reserve gibt, die um so possier- 
licher wirkt, als sie sich in sittlicher Ziererei gefällt. 
Diese Ironie konnte Platon seinem Sokrates leihen,. ehe 
er sich in seinen Schriften auf seine wahre Meinung fest- 
gelegt hatte, wie es im Gorgias (495 A ff.) geschieht, nicht 
aber nachher!). Wir werden also auch damit auf eine 
verhältnismäßig frühe Zeit der Abfassung unseres. Dia- 
loges hingewiesen. 

Was aber den anderen Punkt, nämlich: ‚die, logische 
Frage anlangt, so handelt es sich da um die: Lehre von 
der Opposition der Begriffe, ein Kapitel der Logik, mit 
dem sich Platon sein Lebtag viel beschäftigt hat, ohne 


nn nn -.. . 


1) Weiteres über diesen Punkt siehe in den Anmerkungen zu 


551 ΟΥ̓. 


Rinleitung. ΠῚ 


damit je ganz ins Reine zu kommen. Ich verweise darüber 
auf meine Platonischen Aufsätze p. 260 ff. Immerhin zeigt 
sich Platon in späteren Schriften mehrfach besser orientiert, 
während er hier den Sokrates mit einer so schwachen 
Dialektik auftreten läßt, daß es fast scheinen könnte, als 
hielte er wider besseres eigenes Wissen an dieser sokra- 
tischen Dialektik fest, nur um den Sokrates in seiner 
Eigenart darzustellen. 

Sind wir demnach berechtigt, den Protagoras an den 
Anfang der platonischen Schriftenreihe zu stellen, so ver- 
knüpft sich damit unwillkürlich die Vorstellung einer be- 
stimmten Bedeutung desselben hinsichtlich seines Verhält- 
nisses zum Publikum. Was wir nämlich von derjenigen 
Schrift, mit der sich Platon in großem Stile beim Publikum 
einführte, zu erwarten hätten, wäre doch etwa folgendes: 
Aufklärung des Publikums über den bisherigen Entwick- 
Jungsgang und dermaligen Stand der die Zeit bewegenden 
philosophischen Fragen unter scharfer Kennzeichnung 
des vom Publikum meist völlig verkannten Gegensatzes 
zwischen Sokrates und den Sophisten, anderseits Andeu- 
᾿ tungen über die ihm selbst als Vertreter und Fortbildner der 
Sokratik gewordene Mission, also ein Blick rückwärts auf 
die Vergangenheit (Rechenschaftsbericht als Hauptthema) 
und ein Blick vorwärts (Programm). Es erhebt sich also 
die Frage, ob und wie diese Erwartungen mit dem Zwecke 
des Dialogs, so, wie er sich aus der Betrachtung des 
Gedankengehaltes und der Szenerie ergibt, in Einklang 
stehen. | 

Von Anfang bis zu Ende ist zwar in der Hauptsache 
neben Sokrates nur Protagoras Träger des Gespräches — 
so daß es begreiflich ist, wenn manchen das Absehen des 
ganzen Dialogs nur auf ihn gerichtet schien —, indes schon 
die Szenerie scheint darauf hinzuweisen, daß es sich keines- 
wegs bloß um die persönliche Niederlage des Protagoras 
handelt. Denn neben ihm stehen als hochangesehene, wenn 
auch nicht in gleichem Maße gefeierte Häupter der So- 
phistik Hippias und Prodikos auf der Bühne, und zwar 


6 Einleitung. 


nicht als reine Statisten, sondern auch als eingreifend in 
die Unterhaltung, zwar nur an wenigen, aber doch ent- 
scheidenden Stellen; und besonders am Schluß hat Platon 
sehr wirksam dafür gesorgt deutlich erkennen zu lassen, 
daß er ihre Sache nicht von der des Protagoras getrennt 
wissen will. Aber dies ganze Beisammensein der Sophisten 
überhaupt zeugt an sich schon für die Absicht Platons 
mit der Sophistik als solcher abzurechnen. Sokrates hat 
gewiß im Laufe seines Lebens sich oft genug mit jedem 
einzelnen dieser berühmten Vertreter der Sophistik berührt, 
aber er hat niemals diese erlauchte Versammlung der So- 
phistenhäupter so beisammen gesehen, wie sie uns hier 
im Hause des Kallias vorgeführt werden. Wer sie zusam- 
mengebracht und dem Sokrates Gelegenheit gegeben hat 
sich mit ihnen in der hier geschilderten Weise zu messen, 
das ist nicht Kallias: es ist niemand anders als Platon 
selbst. Schon die Unstimmigkeiten in Sachen der Chrono- 
logie weisen deutlich genug auf die dichterische Freiheit 
hin, mit der Platon sein Werk konzipiert hat. Wenn er 
also neben Protagoras auch die anderen Häupter derälteren 
Sophistik erscheinen läßt, so wird man nicht fehlgehen mit 
der Annahme, es handle sich hier nicht bloß um Protagoras, 
sondern um die Sophistik überhaupt. Protagoras ist nur 
der Wortführer einer ganzen Gruppe von Männern, die 
seit mehr als einem Jahrzehnt das geistige Leben Griechen- 
lands und nicht am wenigsten Athens beherrschten und 
ihm ihren Stempel aufdrückten. Daß dem so ist, dafür 
spricht besonders noch der Umstand, daß sich Protagoras 
in unserem Dialog nirgends auf Lehren beruft, die uns 
als ihm spezifisch zukommende bekannt sind. Was in Son- 
derheit seine wohlbekannte, alle Objektivität der Erkenntnis 
leugnende Erkenntnistheorie anlangt, so könnten wir in dem 
von ihm hier eingenommenen Standpunkt eher einen Ab- 
fall von dieser seiner Lehre als eine Vertretung derselben 
erkennen; denn in unserem Dialog glaubt er doch an eine 
objektive Erkennbarkeit der Tugend; sonst könnte er sie 
nicht für lehrbar erklären. Er stellt sich hier also ganz 


Einleitung. 7 


unbefangen auf den Standpunkt der anderen Sophisten, 
die, unbekümmert um Einheitlichkeit ihres Lehrzieles und 
strenge Konsequenz der Gedanken, das Hauptgewicht dar- 
auf legten, durch angenehmen und gefälligen Wechsel viel- 
seitiger Leistungen die Jugend und das Publikum über- 
haupt zu ergötzen und anzuregen: Schaustellungen ihrer 
Redegewandtheit verbunden mit Anweisungen zur Erlan- 
gung rhetorischer Fertigkeit wechselten bei ihnen mit Pro- 
ben sinnreicher Erzählungskunst; als Würze des Mahles 
durften aber auch Dichterstellen nicht fehlen; denn auf 
ihre Kunst der Erklärung von Dichterwerken taten sie 
sich um so mehr zugute, ein je ergiebigeres Feld dies für 
allerhand Spiele des Witzes und der Spitzfindigkeit war. 
Dies waren die drei Hauptseiten ihrer Lehr- und Vortrags- 
tätigkeit, und eben diese sind es, die sich auch bei Prota- 
goras hier einander ablösen, wenn auch in bezug auf die 
erste und dritte nicht mit dem gewohnten Glück. Kein 
Zweifel also: Platon will uns ein Bild der Sophistik über- 
haupt geben. 

Weiter aber ergibt sich für den Leser alsbald die 
- Erkenntnis des scharfen Gegensatzes, in welchem Sokrates 
zu dieser Sophistik steht sowohl hinsichtlich der Methode 
wie des Gehalts seiner Lehre. Durchweg stellt der Dialog 
die streng wissenschaftliche Methode der Prüfung, wie sie 
die Sokratische Art der Gesprächsführung zeigt, in wirk- 
samen Kontrast zu den oberflächlichen und mehr blenden- 
den als überzeugenden Unterredungs- oder besser Über- 
redungskünsten der Sophisten. Alle Darbietungen des Pro- 
tagoras erweisen sich als ebenso viele Abweichungen von 
der Methode wirklich wissenschaftlicher Diskussion. Immer 
wieder muß er, wie ein eigensinniges Kind, es sich gefallen 
lassen, von Sokrates auf den nach dessen Ansicht einzig 
richtigen Weg der Erörterung zurückgewiesen zu werden, 
und so bescheiden und entgegenkommend Sokrates auch 
sonst durchweg dem Protagoras gegenüber auftritt, in 
diesem Punkte ist er unerbittlich: die Untersuchung muß 
sich strengstens an das Thema halten und darf keinen 


8 Einleitung. 


Schritt vorwärts tun ohne sich der Berechtigung desselben 
bewußt zu sein. Sie muß sich also in der Form knapper 
Fragen und Antworten vollziehen, denn diese arbeiten 
einer durchgängigen scharfen Kontrolle am ehesten in die 
Hand. Davon läßt er sich kein Jota abhandeln. Nur das 
durch die innere Notwendigkeit der Gedankenfolge Be- 
stimmte findet Gnade vor seinen Augen; alles Abspringen 
vom Thema, alle Willkür, aller bloße Unterhaltungskitzel, 
alle Schönrednerei, alles Beifallshaschen fällt bei ihm der 
Verdammnis anheim, sei es der ausdrücklichen, wie die 
Spielerei der Dichterauslegung, sei es der stillschweigenden, 
durch bloßes Ignorieren des Vorgebrachten markierten, 
wie die Wortmacherei, mit der Protagoras 334A ff. den 
Hörern Sand in die Augen streuen will. 

Worin aber besteht, so fragen wir, diese Notwendig- 
keit der Gedankenfolge, diese unerschütterliche Objektivi- 
tät der Untersuchung (Aöyos), auf die sich Sokrates in 
den platonischen Dialogen so oft und so gern beruft? Das 
wird sich am einfachsten in Verbindnug mit dem Gehalte 
seiner Lehre erläutern lassen. 

Werfen wir zu dem Ende einen Blick auf die Ge- 
schichte der früheren griechischen Philosophie, so be- 
merken wir, daß von allen teils einander ablösenden teils 
nebeneinander hergehenden Philosophemen es nur eines 
ist, welches Ansätze zeigt zu einer reinen Begriffsphilo- 
sophie. Es ist das der Eleaten. Alle Philosophen vor So- 
krates sahen ihre Aufgabe darin, sich nach Maßgabe ihrer 
Einsicht das Weltbild verstandesmäßig zurechtzulegen, d.h. 
die verwirrende Mannigfaltigkeit der Erscheinungen auf 
eine erklärende Einheitsformel zurückzuführen. Dabei zeigt 
sich eine Stetigkeit und, wenn man so sagen darf, Regel- 
rechtigkeit des Fortschrittes, die von der besonderen An- 
lage oder auch Prädestination des griechischen Volksgeistes 
für Philosophie beredtes Zeugnis ablegt. Denn sie ent- 
spricht durchaus den natürlichen Bedingungen des mensch- 
lichen Geisteslebens. Der menschliche Geist besitzt drei 
verschiedene Errkenntnisweisen: die empirische, die mathe- 


Einleitung | Ω 


matische und die philosophische. Die erste trägt den Cha- 
rakter der Zufälligkeit, die zweito den der Notwendigkeit, 
aber dies nur mit Hilfe der reinen Anschauung, die dritte 
gleichfalls den der Notwendigkeit, aber aus blolem Denken 
ohne Zutun der Anschauung. Es liegt nun in der Natur 
dieser Erkenntnisweisen, daß wir uns zuerst der empirischen 
Erkenntnisweise bewußt werden; ihr folgt die mathema- 
tische, und dieser dann die philosophische. Und genau 
dies ist die Stufenfolge, in der sich die erste Entwicklung 
der griechischen Philosophie vollzieht. Die Ionier suchten 
die Erklärung des Weltganzen von der Seite der Empirie, 
die Pythagoreer von der Seite der Mathematik, die El:aten 
endlich von der Seite der philosophischen Erkenntnis. 
Fanden die ersten den Anfang oder einheitlichen Erklä- 
rungsgrund alles Werdens in irgend etwas Stofflichem, so 
war es für die Pythagoreer die Zahl, in der das Wesen 
der Dinge beschlossen lag; den Eleaten dagegen, die allen 
Wechsel des Werdens sowie alles Auseinanderfallen in 
Teile als trügerischen Schein verwarfen, galt nur das vom 
Geiste Erkennbare, nur das rein Gedachte (νοούμενον), und 
‘ dies fanden sie in dem All der einen Weltkugel, das 
jedem Wechsel, jeder Mannigfaltigkeit der Teile unzu- 
gänglich, nicht geschaut, sondern nur mit dem Gedanken 
erfaßt wird. Sie ist nicht geworden, sie wird nicht, sondern 
sie ist. Sie ist das Seiende, und nur das Seiende ist; 
ein Nichtseiendes gibt es nicht, denn das Nichtseiende ist 
nicht. So treiben sie mit diesem abstraktesten aller Begriffe, 
den wir haben, ein dialektisches Spiel, das sich in lauter 
analytischen, d. h. zwar notwendigen, aber unsere Er- 
kenntnis nicht erweiternden, sondern sie nur aufklärenden 
Sätzen vollzieht. Jeder Entwicklungsfähigkeit mangels ei- 
nes gegliederten Stoffes für die Anwendung bar und ledig, 
dreht sich diese Dialektik nur im Kreise herum. So wird 
die Philosophie gleichsam auf ein totes Gleis geschoben. 
Nur nach der negativen, d. h. polemischen Seite hin, im 
Kampfe nämlich gegen die Gültigkeit der Erscheinungs- 
welt konnte die Eleatische Schule weiterhin ihre Kraft 


10 Rinleitung. 


bewähren und das führte zunächst zu jenen scharfsinnigen 
Trugschlüssen, die, auf der Antinomie des Stetigen und 
des Einfachen beruhend, ein wirkliches Rätsel der mensch- 
lichen Vernunft berühren, weiterhin aber zu Spitzfindig- 
keiten, die als willkommenes Erbstück auf die Sophistik 
übergingen. Gleichwohl bleibt doch Parmenides derjenige, 
der für.die Philosophie die rein gedachte Erkenntnis als 
das ihr eigentümliche Gebiet sozusagen erobert hat. Wir 
sind imstande durch Denken die Begriffe miteinander in 
eine Verbindung zu bringen, deren Gültigkeit für jeder- 
mann einleuchtend und unwiderleglich ist; das ist die 
Lehre, die wir dem Philosophem des Parmenides entnehmen 
können. | 

Nur soweit brauchen wir der vorsokratischen Philo- 
sophie nachzugehen, um nun wieder zu Sokrates zurück- 
kehren zu können. In einer bekannten Stelle des Phaidon 
läßt Platon den Sokrates erzählen, daß er in jungen Jahren 
nicht verabsäumt habe sich eingehend mit der Naturphilo- 
sophie der Physiologen zu beschäftigen. Aber je tiefer 
er in ihre Geheimnisse einzudringen gesucht habe, um so 
mißtrauischer sei er gegen die Möglichkeit geworden auf 
diesem Wege zu einer wirklichen Befriedigung des Wissens- 
dranges zu gelangen. Und in der Tat: von zwingender 
Sicherheit der Erkenntnis konnte hier nicht die Rede sein. 
Unbefriedigt und voller Mißmut kehrte also Sokrates ‘allen 
Versuchen der Welterklärung und der äußeren Natur den 
Rücken, überzeugt, die Götter hätten es den Menschen 
versagt darüber ins Klare zu kommen. Aber erfüllt von 
philosophischem Drang, wie er war, gab er die Sache 
der Philosophie nicht etwa verloren, sondern wandte den 
philosophischen Erkenntnistrieb einem Gebiete zu, das die 
frühere Philosophie nur nebenbei zum Gegenstand der 
Forschung gemacht und soweit dies — bei den Pythago- 
reern und Demokrit nämlich — geschehen war, ohne 
wissenschaftliche Grundlage gelassen hatte. Sokrates war 
der erste, der die praktische . Philosophie nicht nur in 
den Kreis der wissenschaftlichen Forschung mit hinein- 


Einleitung, 11 


zog, sondern sie zum alleinigen Zweck der philosophischen 
Forschung machte. Dabei aber war sein Hauptabsehen 
auf eine Art der Behandlung gerichtet, die dasjenige bieten 
sollte, was die von ihm zur Seite geschobene Naturphilo- 
sophie in so empfindlicher Weise vermissen ließ, nämlich 
volle Evidenz, mithin unwidersprechliche Sicherheit der 
Behauptungen. Kraft seiner wahrhaft philosophischen Be- 
gabung war er frühzeitig aufmerksam geworden auf die 
ewig gültigen, weil im Wesen der Vernunft selbst begrün- 
deten Anforderungen an die sittliche Ausbildung der Men- 
schen. Das gute Recht dieser Anforderungen wissenschaft- 
lich zu unumstößlicher Geltung zu bringen war ihm eine 
um so dringendere Herzensangelegenheit, je mehr die laxe 
Moral der herrschenden Sophistik die alte, unbefangene 
Sitteneinfalt zu untergraben drohte. Dem Leichtsinn der 
sophistischen Welt- und Lebensansicht den Ernst der Ideen 
des Schönen und Guten entgegenzusetzen, das ward ihm 
mehr und mehr zur Lebensaufgabe. Wie aber war es 
möglich, diesen Ideen wenn nicht zur Herrschaft, so doch 
wenigstens zu unentrinnbarer Anerkennung zu verhelfen ? 
᾿ς Nur dadurch, daß er ihr gutes Recht zum Ergebnis zwin- 
gender Beweisführung machte. Das führte ihn auf den 
Begriff des Wissens, des Wissens in seiner schärfsten 
Bedeutung; denn was ist Wissen anderes als Überzeugung 
mit völliger Gewißheit? Und was ist imstande uns diese 
Gewißheit zu gewähren? Als Antwort ergab sich ihm: 
„Nichts anderes als eine Behandlung und Verbindung der 
Begriffe, deren Zwang sich kein vernünftig denkender 
Geist entziehen kann.“ Die Sophisten sahen im Urteil 
nur den Ausdruck menschlicher Willkür; dagegen macht 
Sokrates geltend, daß es neben aller Willkür auch eine 
feste Gesetzmäßigkeit des Denkens gibt, kraft deren wir 
befugt und ermächtigt sind auch notwendige allgemeine 
Urteile zu fällen. Es sind das die Definitionen und die 
Folgerungen durch analytische Begriffsoperationen. Daß 
das Güte auch schön sei, daß Unrecht leiden besser sei 
als Unrecht tun u. dgl. ließ sich auf diesem Wege unwider- 


19 Einleitung. 


leglich erweisen!). Damit werden wir, so scheint es, in 
gewisser Weise wieder an die Eleaten zurückgewiesen. 
Ihre analytischen Sätze und ihr hypothetisches Folgerungs- 
verfahren, wie es von Zenon geübt ward, könnte dem 
Sokrates bis zu einem gewissen Grade als Vorbild für 
seine Methode gedient haben. Ganz undenkbar wäre das 
nicht. Die Schriften des Parmenides und Zenon waren 
dem Sokrates sicher nicht unbekannt. Versichert uns doch 
Xenophon (Mem. I, 6, 14) ausdrücklich, daß Sokrates mit 
seinen Freunden ‚die Schätze der alten Weisheitslehrer“ 
eifrig durchforscht habe; und noch mehr will es besagen, 
daß Platon selbst uns eine Andeutung solchen Zusammen- 
hanges gegeben hat in seinem Dialog Parmenides, in 
welchem er, wenn auch gegen alle Chronologie, den noch 
sehr jungen (σφόδρα γέον 127c) Sokrates sich nicht nur 
mit Zenon, sondern auch mit Parmenides unterreden läßt. 
Gilt dieser ganze Dialog auch in der Hauptsache dem 
Verhältnis des Platon selbst zur eleatischen Schule und 
deren Fortsetzung, der megarischen Schule, so macht doch 
dies wenn auch nur erdichtete Beisammensein des Sokra- 
tes mit den Eleaten, wobei Platon den Sokrates bei den 
Eleaten gewissermaßen in die Schule gehen läßt, es wahr- 
scheinlich, daß er damit eine gewisse Beeinflussung des 
Sokrates durch die Eleaten habe andeuten wollen. Doch 
dem mas sein wie ihm wolle Hat sich Sokrates mit der 
Lehre der Eleaten vertraut gemacht, so hat er doch nur 


1 Dagegen erhebt sich ein berechtigter Einwand. Mit analy- 
tischen Urteilen ganz allein nämlich kommt man nicht von der Stelle. 
Der Anfang aller wirklich gehaltvollen Erkenntnis liegt in der An- 
schauung und Erfahrung. Die Schlüsse und Schlußketten also wer- 
den, wenn sie einen fruchtbaren Gehalt haben sollen, von allge- 
meinen Erfahrungsurteilen ausgehen, die aber der Art sein müssen, 
daß sie für jedermann ohne weiteres einleuchtend sind. So finden 
wir es denn auch bei Sokrates und Platon, die z. B. mehrfach von 
Sätzen ausgehen wie diesem: „Alle Menschen meiden von Natur 
den Schmerz und suchen die Lust.“ Oder: „Die Feigen freuen sich 
beim Abzug der Feinde mehr als die Tapferen.“ (Gorg 498)’ 
Daneben analytische Urteile wie „Die Tugend ist lobwürdig“ u. ἃ. 


Einleitung. 13 


so viel aus ihr entnehmen können, daß es notwendige Be- 
sgriffsverbindungen (nämlich analytische Urteile) gibt. Zu- 
dem kommt Parmenides über die identischen Urteile, also 
die, sachlich genommen, unfruchtbarste Art von analy- 
tischen Sätzen, nicht hinaus. Jeder weiteren Entfaltung 
einer Begriffsphilosophie hatte er durch seine starre Ein- 
seitigkeit den Boden entzogen. Dagegen fand Sokrates 
in den ethischen Begriffen, diesem wichtigen Teile der 
philosophischen Begriffswelt, ein weites Feld zur Ent- 
wicklung der Begriffsphilosophie. Zugleich war damit der 
Sache der Philosophie überhaupt am besten gedient. Denn 
sollte die Begriffsphilosophie als allgemeine Methode der 
Philosophie sich Eingang und Geltung verschaffen, so 
mußte sie zunächst an den gemeinverständlichsten Bstrach- 
tungen der praktischen Philosophie eingeübt werden. Erst 
galt es auf dem Boden der praktischen Philosophie be- 
sonnener wissenschaftlich denken zu lernen; dann konnte 
man mit besseren dialektischen Waffen sich wieder der 
philosophischen Betrachtung des Weltganzen zuwenden. 
So ward Sokrates, indem er der Begründer der Begriffs- 
‘ philosophie auf ethischem Gebiete ward, in gewissem Sinne 
der Begründer der Philosophie als selbständiger Wissen- 
schaft überhaupt. 

Betrachten wir nun im Lichte dieser Ausführungen 
den Inhalt unseres Dialoges, so ist ersichtlich, daß es sich 
in demselben nach Inhalt und Methode um nichts Geringe- 
res handelt, als um das eigentliche Lebenswerk des Sokra- 
tes. Daß Tugend Wissen sei und zwar ein Wissen des 
Schönen und Guten im Unterschied von bloßem. Fach- 
wissen, das ist die Lehre, die: hier mit einer der Inten- 
tion nach zwingenden, wenn auch tatsächlich noch nicht 
fehlerfreien Dialektik zu entwickeln: ach ‘Sokrates be- 
müht zeigt. 

Daß diese Lehre sh tatsächlichen Verhältnissen un- 
seres Seelenlebens nicht genügend Rechnung trägt, liegt 
klar zutage. Dem eigenartigen wissenschaftlichen Interesse, 
das dem letzten Teile des die Einheit von Tapferkeit 


14 Einleitung. 


und Wissen erhärtenden Nachweises zukommt, wird man 
es zugute halten, wenn wir einen Hauptpunkt dieser schwie- 
rigsten Partie des ganzen Werkes in etwas eingehenderer 
Weise aufzuklären suchen: In der darauf bezüglichen Be- 
weiskette bildet ein wichtiges Glied die Bekämpfung der 
landläufigen Ansicht, der gemäß zwischen Handeln und 
Wissen sehr häufig ein großer Widerstreit besteht. 
Πολλοὶ γιγνώσκοντες τὸ βέλτιστον — heißt es in dem Sinne 
der Menge 352D — οὐκ ἐϑέλουσι πράττειν, ἐξὸν αὐτοῖς, 
ἀλλὰ ἄλλα πράττουσιν „viele besitzen zwar die Erkenntnis 
dessen, was für sie das Beste ist, wollen es aber trotzdem 
nicht tun, obschon sie es könnten, sondern entscheiden sich 
für ihr Tun anders.“ Warum? „Weil oft die Lustbegier 
auch über den das Bessere wissenden Menschen herrscht“ 
(ou ἣ ἡδονὴ πολλάκις κρατεῖ καὶ τοῦ εἰδότος ἀνϑρώπου). 
Von dem historischen Sokrates ist es nun bekannt genug; 
daß er die unbedingte Herrschaft des Verstandes über das 
Handeln nicht nur als Forderung aufstellt; sondern daß 
ihm diese Herrschaft auch überall da schon gewährleistet 
erscheint, wo der Verstand zu einem sicheren und wirk- 
lichen Wissen gelangt ist. Einen Zwiespalt, einen Kampf 
zwischen den verführerischen Antrieben sinnlicher Lust 
und dem Gebote des im Besitze wirklichen Wissens be- 
findlichen Verstandes kennt er. überhaupt nicht, erkennt 
ihn wenigstens nicht an. „Es drängt sich“, sagt. Aristo- 
teles (Eth. Nic. 1145®21 ff.) in bezug darauf sehr treffend, 
„die Frage auf, wie jemand die richtige Ansicht haben und 
doch ..der Selbstbeherrschung ermangeln kann. Bei richtiger 
Erkenntnis, behaupten manche, sei es unmöglich. : Denu 
daß trotz. des. Besitzes .des Wissens etwas anderes im 
Menschen... die. Herrschaft. haben und solche Erkenntnis 
nur wie einen Sklaven hinter sich herschleppen sollte, 
das hielt Sokrates für etwas Ungeheuerliches. Sokrates 
bestritt demgemäß diese Ansicht durchaus. Solchen Mangel 
an Willensstärke gebe es nicht. Denn wenn jemand im 
Handeln wider das, was ihm am meisten fromme, verstoße, 
so geschehe es niemals wissentlich, sondern immer nur 


Einleitung. 15 


aus Mißverstandt).“ In unserem Dialoge nun wird jene 
landläufige Ansicht von dem häufigen Zwiespalt zwischen 
Wissen und Handeln durch eine äußerst künstliche Ar- 
gumentation zurückgewiesen mit dem Ergebnis, daß ein 
Überwundenwerden durch die Macht der Lust (τῆς ἡδονῆς 
ἡττᾶσϑαι) unter solchen Umständen (d. ἢ. bei vorhandenem 
Wissen) nichts anderes sei als Unwissenheit (duadia). 
Ein sonderbares und schwerbegreifliches Verhältnis! Trotz 
Wissens des Besseren und Besten, soll es Unwissenheit 
sein, was unsere Niederlage gegenüber den Lüsten veran- 
laßt. So sokratisch sich hierbei auch der Satz ausnimmt, 
daß Unwissenheit die Schuld daran trägt, so wenig verträgt 
sich doch hier dieser Satz mit der Voraussetzung, die 
mit ihm verbunden ist. Denn sie führt zu der absurden 
Behauptung, daß Wissen nichts anderes ist als Unwissen- 
heit. Wenn nämlich Überwundenwerden durch die Lust- 
begier in Verbindung mit dem Wissen des Besseren 
Unwissenheit ist, dann ist eben auch Wissen nichts anderes 
als Unwissenheit. 

Anders steht die Sache für Platon: Bei ihm gibt 
es — und auf diese Unterscheidung ist er sehr bald ge- 
kommen, wenn sie auch im Protagoras noch nicht aus- 
drücklich zur Geltung kommt — neben der ἐπιστήμη, 
dem Wissen, noch die ἀληϑὴς δόξα, die wahre Meinung, 
oder wie wir im Gegensatz zu Platon, der sie eben von 
der ἐπιστήμη sehr bestimmt trennen muß, sie bezeichnen 
könnten, ein Wissen niederen Grades, das sich in unserem 
Falle nicht durch die Materie des Urteils, d. h. nicht 
durch den Inhalt des Wissens unterscheidet, sondern nur 
durch den minderen Grad. der Beständigkeit des Wissens. 
Damit ist die Möglichkeit eines Gegensatzes innerhalb des 
Verstandesgebietes. gegeben, : nämlich eines ‚Gegensatzes 
zwischen einem unerschütterlichen (ἐπιστήμη) und einem 
mehr oder weniger unbeständigen Wissen (δόξα). Gehen 

1) Hier bezieht sich Aristoteles zwar auf unseren Dialog 


(852 BC), doch läßt er deutlich genug erkennen, daß er damit ZU- 
gleich den historischen Sokrates meint. 


16 | Einleitung. 


wir also auf jene Formel zurück, so wird ihr zufolge nun 
nicht mehr die Unwissenheit über das eigentliche Wissen 
siegen, sondern nur über die δόξα, so daß das eigentliche 
Wissen gar nicht mit in Konkurrenz kommt. Tatsächlich 
steht nun die Annahme, daß Platon an unserer Stelle 
stillschweigend von dieser Unterscheidung Gebrauch ge- 
macht und so den Schluß von seinem Standpunkt aus 
einigermaßen annehmbar gemacht habe, in bestem Einklang 
mit einer bemerkenswerten Stelle der Gesetze, die (689 A) 
folgendermaßen lautet: „Wenn einer, was ihm als schön 
und gut erscheint, nicht liebt sondern haßt, dagegen, was 
er für verwerflich und ungerecht hält, liebt und gern hat, 
so nenne ich dies die größte Unwissenheit. Diese Un- 
stimmigkeit zwischen verstandesmäßiger Meinung (τὴν 
κατὰ λόγον δόξαν) einerseits und Schmerz und Lust an- 
derseits erkläre ich für die größte Unwissenheit deshalb, 
weil sie dem angehört, was die Hauptmasse der Seele 
ausmacht. Denn Schmerz und Freude nehmen in ihr einen 
Platz ein, so groß wie der, den das Volk und die große 
Menge im Staate einnimmt.“ Hier bedient sich also Platon 
ausdrücklich des Ausdrucks δόξα, während er, und zwar 
gewiß absichtlich — um ihm nicht eine ihm nieht geläufige 
Unterscheidung zu leihen — den Sokrates an unserer Stelle 
(352 D£ff.357C) nur von Leuten reden: läßt, die εἰδότες 
oder γιγνώσκοντες τὰ βέλτιστα ‚der Lust unterliegen. Die 
Stelle der Gesetze ist ein unzweideutiges Zeugnis dafür, 
daß Platon bis an sein Ende an jener im Protagoras ver- 
tretenen Ansicht festgehalten und sich späterhin nur deut- 
licher ausgedrückt hat: Und irre ich: nicht, so bezieht sich 
auch auf Platon dasjenige, was Aristoteles, im Anschluß 
an die oben mitgeieilten Worte über Sokrates, von solchen 
berichtet, die ‚behaupten, der -Genußsüehtige werde von 
seinen Gelüsten eben deshalb beherrscht, weil er kein wirk- 
liches Wissen besitze, sondern eine bloße δόξα (Meinung). 
„Ist es aber eine bloße Meinung und kein Wissen“, so 
fährt Aristoteles fort, „und ist es keine gesicherte, sondern 
nur eine unbefestigte Meinung, die den Gelüsten sich 


Finleitung 17 


entgegenstellt, so ist da, wo starken Begierden gegenüber 
jemand seiner Denkweise nicht treu bleibt, ein nachsichtiges 
Urteil wohl am Platze“. Damit vergleiche man die zahl- 
reichen Stellen, an denen Platon vom Protagoras ab bis 
an sein Ende Lust und Schmerz als die mächtigsten Trieb- 
federn menschlichen Handelns anerkennt und ihre richtige 
Leitung als das wesentlichste Stück jeder Erziehung hin- 
stellt. Wenn also Moliere (Misanthr. I, 1) den Alceste zu 
Philinte sagen läßt 

Wie sehr ich auch sie liebe, bin ich doch . 

Der Erste, sie zu sehn, und zu verdammen. 

Doch trotz dem Allen, — was ich auch nur sage, — 

Fontzückt sie mich. Ich weiß es, ich bin schwach; 

All ihre Fehler seh’ ich, tadle sie, 

Und mag ich wollen oder nicht, ich kann 

Nicht von ihr lassen: ihre Anmut ist 

Stärker als ich. 
so würde Platon nicht abgeneigt gewesen sein, dem darin 
sich kundgebenden Standpunkt eine gewisse Berechtigung 
einzuräumen, würde aber dem Alceste etwa folgende Zu- 
rechtweisung gegeben haben: Hättest du bei Zeiten deine 
‘ ‚Willenskraft durch gute Gewöhnung und Selbstzucht ge- 
steigert, so würdest du auch zu einer Wissenskraft gelangt 
sein, die dich vor diesem inneren Zwiespalt und dieser 
kompromittierenden Lage geschützt hätte. Sokrates dagegen 
würde für den Standpunkt des Alceste gar kein Verständnis 
gehabt und ihn etwa mit den Worten abgefertigt haben: 
Nein, mein Alceste, dein vorgebliches Wissen ist nichts 
als blauer Dunst, ist eitel Unwissenheit. Lerne richtig 
denken und erwirb dir auf diesem Wege ein richtiges 
‚Wissen; dann bist du aller solcher nichtigen Entschuldi- 
gungsversuche überhoben; denn TIGHEIBYE Wissen bedeutet 
Ra richtiges Handeln. 

Wir haben also alle Ursache, zwischen dem wahren 
Sokrates und seinem Konterfei, ἃ. ἢ. dem platonischen 
Sokrates, an dieser Stelle des Dialogs wohl zu unter- 
scheiden. Wie kommt es aber, daß uns ihn Platon hier 
als Urheber einer so fragwürdigen Schlußfolgerung vor- 

Apelt, Platon Protagoras. Phil. Bibl. Bd. 175. ΄ 2 


BP 0 Vi 


18 Einleitung. 


führt? Kam es ihm nicht, dem früher Gesagten zufolge, 
gerade in diesem Dialog darauf an das Bild des Sokrates 
in seiner Reinheit erstrahlen!) zu lassen? Gewiß, das 
wollte er; aber daneben wollte er ihn doch auch gegen 
ganz bestimmte Vorwürfe verteidigen, die vielfach be- 
stimmend gewesen waren und es noch waren für die 
Stimme der öffentlichen Meinung. Viele hielten ihn nur 
für einen sophistischen Sonderling, der durch seine ba- 
rocken Behauptungen und Ansichten nicht nur zur Spott- 
sucht sondern auch zum Ärgernis Anlaß gab. Zu diesen 
Ansichten gehörte vor allem auch sein immer wiederholtes 
Hauptdogma von dem Wissen als der nicht nur unerläß- 
lichen, sondern auch einzigen Bedingung des richtigen 
Handelns. Das erschien der großen Menge als offensicht- 
liche Querköpfigkeit. Demgegenüber mußte Platon darauf 
bedacht sein, dem Sokrates wenigstens dadurch ein ver- 
ständigeres und verständlicheres Aussehen zu verleihen, 
daß er ihn in die Lage bringt, der Menge auf ihren sachlich 
ja durchaus berechtigten Einwurf eingehend zu antworten 
und ihr den womöglich evidenten Beweis für die Richtig- 
keit seiner paradoxen Ansicht zu liefern. Daraus eben 
erklärt sich die vielen Lesern so auffällige Tatsache, daß 
in dieser schwierigsten Partie gerade der großen Menge 
ein so weitgehender Anteil an der Diskussion eingeräumt 
wird. Auf die Berichtigung des Urteils der großen Menge 
über Sokrates kam es ihm eben an. Was aber die Art 
des Beweises anlangt, so durfte derselbe um sich als so- 
kratisch darzustellen, keine spezifisch platonischen Unter- 
scheidungen enthalten. Die Hervorhebung des Unterschiedes 
zwischen ἐπιστήμη und δόξα mußte also wegbleiben. Daher 
die Schiefheit desselben. 


!) Natürlich nicht in rein realistischem Sinne — das wäre dem 
Platon unmöglich gewesen wie auch unvereinbar mit den Forde- 
rungen dialogischer -Kunst. Immerhin fehlt es nicht an Spuren, die 
zeigen, daß er sich hier mehr als in anderen Dialogen bemüht hat 
dem historischen Sokrates Rechnung zu tragen. Was die apologe- 
tische Tendenz anlangt, so versteht sie sich eigentlich von selber. 


Einleitung. 19 


Mit alledem wird übrigens nichts geändert an dem, 
was zu Anfang über die Spuren früher Abfassungszeit 
des Dialoges bemerkt worden ist. Die eigenartige Doppel- 
stellung Platons einerseits zu dem historischen Sokrates, 
anderseits zu dem Sokrates als dem Hauptträger seiner 
Dialoge überhaupt, also als dem Sprachrohr für die spe- 
zifisch platonische Gedankenwelt läßt mannigfache Mi- 
schungsverhältnisse zu. Im allgemeinen läßt sich doch 
aber sagen: je deutlicher in einem Dialog die Rücksicht- 
nahme auf den historischen Sokrates noch hervortritt, um 
so frühzeitiger ist er anzusetzen. 

Wenn nun der Erweis des Satzes von der Tugend 
als Wissen des Guten und Schönen, im engen und strengen 
Sinne des Sokrates, das eigentliche Ziel des Dialoges 
ist, so ist klar, welche Bedeutung das für die Charakte- 
ristik des Gegensatzes zwischen sokratischer und sophi- 
stischer Weisheit hat. Es ist recht eigentlich der Kern 
der sokratischen Lehre, der uns in diesem Satze darge- 
boten wird, nicht nur nach der theoretischen, sondern 
auch nach der praktischen Seite hin. Denn Wissen und 
᾿ς Wollen, Wollen und Handeln fallen für Sokrates in Eins 
zusammen. ‚Welche Kluft zwischen ihm und den Sophisten 
tut sich da auf! Eine Kluft, so groß wie zwischen Schein 
und Wahrheit. Bei ihnen ein loses und lockeres Gedanken- 
spiel, bei Sokrates stets ein straffer, einheitlicher, in sich, 
geschlossener Gedankengang, bei ihnen Rhetorenkünste 
und schillernde Anweisungen zur Erlangung einer ver- 
dächtigen Lebensklugheit, bei Sokrates feste Maximen der 
Lebensweisheit, bei ihnen Kenntnisse äußerlicher Art, bei 
Sokrates Anregung zur Erkenntnis des eigenen Inneren, 
um aus ihm die Ideale zu schöpfen, deren Verwirklichung 
allein das wahre Lebensglück verbürgt. Dadurch ward 
die schärfste Scheidewand gezogen zwischen Sokrates und 
den Sophisten. Auf das Lebenswerk des Sokrates ward 
damit ein helles Licht geworfen. Und das eben war es, 
worauf es dem Platon in einer Schrift, mit der er sich 
selbst beim Publikum einführen wollte, vor allem an- 

2* 


30 Einleitung. 


kommen mußte. Es galt das Bild desjenigen Mannes, in 
dessen Geiste weiterzuwirken er sich zur Lebensaufgabe 
gemacht hatte, von dem Nebel abenteuerlicher Vorstel- 
lungen, mit dem es umgeben war, zu befreien und dem irre- 
geführten Publikum, das den Sokrates für einen Sophisten, 
ja für der größten einen hielt, die Augen gründlich zu 
öffnen. ἢ 

Neben der Erörterung des Begriffes der Tugend spielt‘ 
die Frage nach ihrer Lehrbarkeit in unserem Dialoge 
nur eine bescheidene Rolle. Anfänglich im Vordergrund 
stehend wird sie bald völlig zurückgedrängt, um erst 
am Schluß wieder aufzutauchen, aber auch da nur, um 
zu einigen kurzen Bemerkungen Anlaß zu geben. Der 
Leser ist, auf den ersten Blick wenigstens, einigermaßen 
erstaunt, hier das Ergebnis der langen und anscheinend 
mit dem Anspruch auf endgültige Erledigung der Sache 
auftretenden Untersuchung wieder in Frage gestellt zu 
sehen: das Wesen der Tugend soll einer abermaligen 
eingehenden Prüfung unterworfen und erst auf Grund 
dieser neuen Prüfung auch die Frage ihrer Lehrbarkeit 
entschieden werden. Im sokratischen Sinne wenigstens, 
so sagen wir uns doch, ist der Tugendbegriff in er- 
schöpfender Weise dargestellt und damit auch die Frage 
der Lehrbarkeit in bejahendem Sinne beantwortet. Denn 
daß über die Lehrbarkeit der Tugend, falls sie Wissen 
ist, kein Zweifel obwalten kann, das wird, wie es an 
sich schon klar ist, so noch auf das Ausdrücklichste 
durch den Dialog Menon bestätigt. Man hat zwar ein- 
gewendet, in der Apologie (196 ff.) lehne Sokrates es 
ausdrücklich ab ein Tugendlehrer zu sein; allein das 
tut er da nur im Gegensatz zu den Sophisten, und zwar 
mit vollem Recht. Denn weder ist die Tugend, die er 
lehrt, die Tugend der Sophisten, noch seine Art zu lehren 
überhaupt ein Lehren im Sinne der Sophisten und der 
großen Menge. Seine Lehrweise besteht nicht darin, daß 
er, wie die Sophisten, empirische Kenntnisse gleichsam 
als fertige Waren den Hörern überliefert, sondern darin, 


Einleitung. 21 


daß er sie anleitet den Blick auf die in ihrem eigenen 
Innern verborgenen Wahrheits- und Wissensschätze zu 
richten, sie an das Licht des Bewußtseins emporzuheben 
und sich so zu Herren der in ihnen selbst schlummernden 
Gedankenwelt zu machen; denn es sind nicht vom Zufall 
abhängige (empirische), sondern notwendige, im Geiste 
eines jeden ursprünglich schlummernde Wahrheiten, mit 
denen es seine Lehre zu tun hat. Er ist nur — so wie 
er sich selbst im Theätet schildert — der Geburtshelfer, 
der seine Jünger von ihren eigenen Gedanken entbindet, 
nicht der Übermittler von außen an sie herangebrachter 
'Wissensschätze. Mit einem Wort: es ist die Selbst- 
erkenntnis, die in ihnen zu wecken er als das ihm von 
der Gottheit anvertraute Amt ansieht. Erkenne dich selbst, 
γνῶϑι σεαυτόν, das ist ihm das Losungswort für seine 
Sendung. Kein platonischer Dialog, der nicht Zeugnis 
ablegte von dieser Kunst des Sokrates; das klassische 
Musterbeispiel dafür aber, von ihm selbst als solches 
hervorgehoben, findet sich im Menon: die Lösung des 
Problems der Quadratverdoppelung, die der dienende 
Bursche selbst finden muß, wenn auch geleitet von So- 
krates. Bonitz dürfte also in seiner Weise wohl recht 
haben, wenn er sich über den Schluß des Gespräches 
folgendermaßen äußert: „Diese Äußerung macht den Leser 
auf den Zusammenhang der verschlungenen Verhandlung 
aufmerksam, und wir deuten nach bekannter platonischer 
Weise die Forderung des Erneuerns der Untersuchung und 
des Sokrates unverhohlene Aufdeckung eines Widerspruchs 
mit sich selbst wohl nicht unrichtig, wenn wir das Gegen- 
teil darin lesen, nämlich daß zur Auffindung des Begriffs Ὁ 
der Tugend Wesentliches durch den Dialog geleistet, und 
daß in Platons eigener Überzeugung jener aufgezeigte 
Widerspruch gelöst ist.“ Gewiß: wer den Dialog nicht 
mit etwas anderen Augen ansieht als die übrigen Dialoge, 
der kann kaum anders als dieser Deutung beistimmen. 
Wer ihn aber, wie es im Verlaufe unserer Erörterung 
geschehen ist, im Lichte einer besonderen Beziehung zu 


29 Einleitung. 


der persönlichen Lage des Verfassers betrachtet, und in 
ihm die Rechtfertigung seines schrittstellerischen Auf- 
tretens vor dem Publikum überhaupt zu finden glaubt, 
der wird geneigt sein in der Aufforderung zu einer neuen 
Untersuchung den Hinweis darauf zu erblicken, daß die 
sokratische Tugendlehre noch nicht das letzte Wort in 
dieser Sache 5611), Danach hätten wir es denn zu tun 
mit einer Ankündigung von seiten — nicht des Sokrates, 
sondern — Platons selbst zur weiteren Ergründung des 
Wesens der Tugend, die von Sokrates zwar in der Haupt- 
sache richtig erkannt, aber nach ihren sonstigen Merk- 
malen und Beziehungen noch nicht erschöpfend bestimmt 
worden sei. Das würde also, wie zu unserer ganzen Auf- 
fassung des Dialoges, so insbesondere zu unserer obigen 
Bemerkung?) über den Zwiespalt zwischen Handeln und 
besserem Wissen vortrefflich stimmen. 

Was aber den Widerspruch anlangt, der zwischen 
der anfänglichen (319 Bff.) Ableugnung der Lehrbarkeit 
der Tugend durch Sokrates und seiner Stellung zur Sache 
hier am Schlusse des Dialogs obzuwalten scheint, so wird 
sich auch da vielleicht ein anderer Standpunkt der Be- 
trachtung und Beurteilung gewinnen lassen, wenn wir 
zuvor erst einen Blick werfen auf die künstlerische Kom- 
position des Werkes und zwar nicht bloß mit Rücksicht 
auf das fertige Ganze, sondern auch hinsichtlich der Motive 
und Stimmungen, die dabei im Spiele waren. Welchen 
Anteil hat — das ist hier die zunächst sich aufdrängende 
Frage — die Dichternatur des Verfassers an der Ent- 
stehung des Werkes und welchen Einfluß hat sie auf 
die Behandlung und Gestaltung des Stoffes gehabt? 

Neben dem erschütternden Schicksal des Sokrates, 
dem schmerzlichsten äußeren Erlebnis Platons, steht als 
vielleicht schmerzlichstes inneres Erlebnis sein Verzicht 
auf die Poesie als Lebensberuf. Es war für ihn ein 


nn ----.ο-.ς-..-. 


2) Vgl. auch 357B εἰσαῦϑις σκεψόμεϑα. 
2) Vgl. 5. 14 


Einleitung. τ᾽ 23 


geradezu heroischer Entschluß, der Poesie, dieser seiner 
angebeteten Geliebten, zu entsagen zugunsten der im 
Grunde so trockenen, dabei aber doch so überwältigenden 
Weisheit des Sokrates. Lange noch zitterte die Erregung 
in seiner Seele nach und gewiß war ihm jede Möglichkeit 
willkommen, dem gewaltsam zurückgedrängten, aber doch 
keineswegs vernichteten Trieb wenigstens ein bescheidenes 
Maß der Betätigung zu gewähren. Unter den vielen Grün- 
den, die ihn bestimmten für seine wissenschaftliche Schrift- 
stellerei die Form des Dialoges zu wählen war dies, wenn 
vielleicht auch nicht der oberste, so doch’ gewiß einer. 
Sind wir nicht ganz in die Irre gegangen mit unserer 
Annahme, daß Platon bei dem ersten größeren Dialog, 
mit dem er vor die Öffentlichkeit trat, vor allem das 
Bedürfnis hatte, durch eine rückwärts gewendete Betrach- 
tung das Bild seines geliebten Lehrers hinsichtlich der 
Stellung, die er in der großen Geistesbewegung der ver- 
gangenen Jahrzehnte eingenommen hatte, von den Flecken 
zu reinigen, mit denen Unverstand, Spottsucht und böser 
‚Wille es entstellt hatten, so konnte er für seine dialogische 
Kunst keine dankbarere Aufgabe finden als die, einen 
kulturgeschichtlich hochbedeutsamen Vorgang, die Ent- 
wicklung eines neuen Zeitgeistes in den Rahmen eines 
Gemäldes zusammenzudrängen; denn das Gesetz des Dia- 
loges ließ keine historische, sondern nur eine dramatische 
Darstellung zu, in diesem Falle eine besonders schwierige 
Aufgabe; aber je schwieriger sie war, um so mehr mußte 
sie ihn reizen. Wie aber konnte er hier das Kunststück 
‚Tertig bringen, ein geschichtliches Nacheinander in ein 
anschauliches zeitliches und räumliches Nebeneinander um- 
zusetzen? Nur dadurch, daß er den Sokrates mit den 
führenden Häuptern der Sophistik ‚unmittelbar konfron- 
tierte und zum Thema der Diskussion diejenige Frage 
machte, die den eigentlichen Kern des Gegensatzes zwischen 
den beiden Hauptparteien dieser denkwürdigen Epoche 
bildet. Diese Aufgabe hat Platon mit unnachahmlicher 
Kunst gelöst. Mit echt dichterischer Intuition hat er uns 


N VRR ΝΣ 
--. 


“ὦἝ τσ στ π΄. 


94 Einleitung. 


den Geist der Zeit in concreto nahe gebracht durch Hervor- 
zauberung eines Bildes der Zeit, so treffend, so lebendig, 
anschaulich und fesselnd, daß der Beschauer, wenigstens 
was das Szenische anlangt, nur schwer sich davon trennen 
kann. Schon die Wahl der für die Szenerie maßgebenden 
Personen verrät die Hand des Meisters und zwar hier 
bemerkenswerterweise ebenso nach der negativen wie nach 
der positiven Seite hin. Mancher wird nämlich fragen: 
Wenn wirklich die Sophistik als solche durch die Dar- 
stellung getroffen werden sollte, wo bleibt dann Gorgias, 
diese hochragende Gestalt der Sophistenwelt? Offenbar 
hat ihn Platon mit vollem Bedacht ausgeschlossen. Gor- 
gias, der radikalste unter den älteren Sophisten, vor 
dessen — wenigstens theoretischem — .Nihilismus weder 
das Sprechbare, noch das Erkennbare, noch endlich selbst 
das Seiende irgendwie Gnade fand, ist doch zugleich der 
ehrlichste und offenste unter ihnen, indem er sich ohne 
Scheu zu dem bloßen Schein bekennt im Gegensatz zu 
dem Sein. Ausdrücklich lehnt er es ab als Lehrer der 


. Tugend zu gelten (Meno 95C. Phil.58 A) und will nichts 


weiter sein als Lehrer der Beredsamkeit. In einer Ver- 
sammlung also, in der die Lehrbarkeit der Tugend als 
sophistische These den Gegenstand der Verhandlung bildet, 
wäre Gorgias ein Saul unter den Propheten gewesen. 
Zudem wußte jeder Gebildete, daß er, der Sizilianer, 
erst im Jahre 427v.Ch. zum erstenmal nach Athen ge- 
kommen war und zwar als Gesandter zu flüchigem Aufent- 
halt, also erst geraume Zeit nach der fiktiven Zeit unseres 
Dialogs. Das wäre also ein zu gröblicher Verstoß wider 
die Chronologie gewesen, als daß ihn selbst der in dieser 
Beziehung so kühne Platon hätte wagen können, wie denn 
auch das zufällige Zusammentreffen aller vier Häupter 
der Sophistik im Hause des Kallias eine zu starke Zu- 
mutung an die Gläubigkeit der Leser gewesen wäre. Aber 
auch abgesehen davon wäre das Hereinziehen des Gorgias 
kein Gewinn für das Gemälde gewesen. Zwei Haupthelden 
konnte das poetische Bild nicht wohl vertragen. Ein 


Einleitung. 25 


Hippias und Prodikos konnten immerhin hinter Protagoras 
zurücktreten, aber eine Erscheinung von dem Glanze und 
der Macht des Gorgias konnte, einmal eingeführt, nur in 
gleicher Linie neben Protagoras stehen. Kurz, das Ge- 
mälde wäre überladen und der inneren Einheit beraubt wor- 
den. Vielleicht schwebte dem Platon auch damals schon der 
Gedanke an einen besonderen Dialog vor, in dem er sich 
den Sokrates mit dem Gorgias messen zu lassen gedachte. 
Jedenfalls tat er wohl daran, sich auf die drei Gewählten zu 
beschränken und dies um so mehr, als sie ja die geborenen 
Vertreter des engeren Griechenlands, die Sophisten Alt- 
griechenlands waren. 

In welchem Maße aber hat es Platon verstanden, 
seinen erkorenen Sophistenhelden, den Protagoras, vor 
uns aufleben zu lassen! Über welche Plastik der Dar- 
stellung, über welchen Farbenreichtum verfügt er in 
der Schilderung desselben: Wie ein geborener Fürst er- 
teilt Protagoras gnädig Bescheid, von allen hochverehrt 
und ehrfurchtsvoll bewundert. Auch Sokrates läßt es an 
Zeichen der Achtung und Anerkennung nicht fehlen. Und 
- wenn er ihm eine empfindliche Niederlage bereitet, so ge- 
schieht es doch mit so viel Reserve, daß Protagoras seine 
Haltung alsbald wiedergewinnt und mit vollendeter Schau- 
spielerkunst die Miene des Gönners annimmt. 

Sein Meisterstück aber hat Platon in der Zeichnung 
des Sokrates geliefert. Wie treffend weiß er die un- 
beugsame Beharrlichkeit desselben in Verfolgung seines 
wissenschaftlichen Zieles zur Anschauung zu bringen, wie 
drastisch weiß er seinen Geist, seinen Witz, seine Ironie 
bei ausgesuchtester Ritterlichkeit seines Verhaltens vor 
uns spielen zu lassen. Wie versteht es Sokrates, die 
Pillen zu versüßen, die er dem Protagoras zu schlucken 
gibt, wie spielt er mit ihm, ohne daß jener es merkt. 
Man beachte besonders.den Kunstgriff, mit dem er gegen 
das Ende hin ihn scheinbar zu seinem Bundesgenossen 
gegen die große Menge macht, während er tatsächlich 
nichts anderes ist als der Gesinnungsgenosse eben dieser 


26 Einleitung. 


Menge. Auch seines mäeutischen Amtes waltet Sokrates 
in unserem Dialoge ebenso treu wie sonst. Aber da er 
es hier nicht wie sonst gewöhnlich mit Jünglingen zu 
tun hat, sondern mit einem Manne, der, wie Protagoras 
selbst von sich nicht ohne einige Übertreibung versichert 
(3170), „schon sein Vater sein könnte“, so ist es kein 
Wunder, daß seiner Kunst trotz mancher tatsächlichen Er- 
folge doch ein unzweideutiger und vom Gegner anerkannter 
Enderfolg nicht beschieden ist. 

Was uns nun in der Schilderung des Sokrates auf- 
fällt, ist, daß er gleich zu Anfang (314B, vgl. 317C) und 
zwar aus seinem eigenen Mund als junger Mann!) be- 
zeichnet wird, obschon er nach der fiktiven Zeit des 
Gesprächs bereits etwa 37 Jahre zählt. Das geschieht 
gewiß nicht ohne Absicht, und damit stehen wir an dem 
Punkte, von dem aus wir wieder zurückgreifen können 
zum Ausgangspunkte dieser Bemerkungen über die Kunst 
der Komposition, zu dem Widerspruch nämlich, der 
zwischen der anfänglichen Stellung des Sokrates zu der 
Frage der Lehrbarkeit der Tugend (319B) besteht und 
dem, was sich am Schluß des Dialoges darüber ergibt. 
Wollte Platon wirklich sein Kunstwerk so aufgefaßt' 
wissen, daß Sokrates eben jetzt im Verlaufe dieses Dia- 
loges sich erst seine Ansicht über das Wesen der Tugend 
als Wissen ἢ bildet? Und doch! Diese Ansicht ist ja 


1 Ich wüßte nicht, daß eine ähnliche Hervorhebung jüngeren 
Alters des Sokrates sonst noch in den Dialogen vorkäme, aus- 
genommen den Dialog Parmenides (i27C. 136E). Da liegt aber der 
ganz besondere Fall vor, daß es gilt, eine chronologische Unmög- 
lichkeit (nämlich eine Unterredung zwischen Parmenides und So- 
krates) soweit es sich irgendwie machen zu lassen schien, noch als 
möglich erscheinen zu lassen. Das Alter des Sokrates ist in den 
Dialogen’ selbstverständlich je nachdem sehr verschieden; in etwa 
dem gleichen Alter wie hier erscheint er im Ersten Alkibiades, 
sonst meist in mehr oder weniger höheren Jahren, so daß wir ihn 
uns im allgemeinen als älteren Mann denken. Vgl. Euthyd. 293 B. 

2) Dies Wissen als Tugend zeigt, daß man es bei Sokrates mit 
der bekannten Beschränkung seines Wissens auf die Unwissenheit 
nicht allzu wörtlich nehmen darf; denn sonst würde die Kunst seiner 


Kinleitung. 27 


eben die notwendige Voraussetzung zu ihrer Lehrbarkeit. 
Wollte er also wirklich glauben machen, Sokrates habe 
so plötzlich, so im Handumdrehen, die Farbe gewechselt 
in einer Frage, die für ihn geradezu eine Lebensfrage 
war? Das doch wohl nicht. Man hat wohl gemeint, die 
anfängliche Stellungnahme des Sokrates sei nichts als 
Ironie. Weit gefehlt! Ironie und zwar ganz handgreif- 
liche Ironie ist vielmehr das bald darauf (328 E) abge- 
legte Bekenntnis, er sei durch des Protagoras Ausfüh- 
rungen nunmehr eines Besseren belehrt. Diese ganz 
offensichtliche Ironie läßt keinen Zweifel darüber, daß 
jene angebliche Ironie tatsächlich völliger Ernst ist. 
Denn sind beide als Ironie gemeint, so können sie als 
solche nicht nebeneinander bestehen: die eine macht die 
andere tot. Andere haben gemeint, bei seiner Ableugnung 
der Lehrbarkeit schwebe dem Sokrates nicht die eigent- 
liche Tugend vor, sondern die politische Tugend im Sinne 
des Dialoges Menon. Das läßt sich eher hören, kommt 
aber im Dialog selbst in keiner Weise zum Ausdruck, 
denn Sokrates redet zwar zu Anfang (319 A) auch von 
. πολιτικὴ τέχνη, markiert aber durchaus keinen Unterschied 
von der sittlichen Tugend, ebensowenig wie dies Prota- 
goras tut. Und was den Schluß anlangt, so verbietet 
uns dieser sogar, einen Unterschied anzunehmen, denn 
da spricht Sokrates einfach von der Lehrbarkeit der Tu- 
gend. Hätte er selbst jenen Unterschied im Sinne gehabt, - 


Mäeutik, die ihm so gut wie anderen zum Wissen verhilft, in ein 
sehr zweifelhaftes Licht gestellt werden. Vielmehr liegt diesem Be- 
scheidenheitsbekenntnis nur folgender Sinn zugrunde: für ihn ist 
das Wissen nicht ein ruhender Besitz, sondern ein beständiges, sich 
immer wieder erneuerndes Suchen nach Wahrheit, ein beständiges 
Wiedererwerben auch des schon einmal Errungenen, Er gibt dies 
Errungene nie als fertige Münze in den Verkehr, sondern prägt die 
Münze immer wieder aufs neue — ein beständiges inneres Werden, 
gleichsam ein vergeistigter Heraklitismus Nicht unmittelbar in der 
Sache selbst, wohl aber in der sie begleitenden Seelenstimmung 
trifft damit Lessings berühmter Ausspruch im Anti-Göze vom Be- 
s.tze der Wahrheit und vom Suchen nach ihr zusammen, 


28 Einleitung. 


so hätte er überhaupt nicht von einem. Widerspruch re- 
den können. Versuchen wir es also mit einer anderen 
Lösung der Aporie. 

Ein ganz anderes Gesicht nämlich gewinnt die Sache, 
wenn man den Dialog in der oben beschriebenen Weise 
als poetisches Bild für diese ganze Kulturepoche ansieht. 
Der verdächtig rasche Übergang von einem Glaubens- 
bekenntnis zu dem entgegengesetzten ist dann nur der 
poetische Reflex eines geschichtlichen Nacheinander, das 
als solches zu schildern Platon durch die dramatische 
Form der Darstellung verhindert war. Er bedarf eines 
Hilfsmittels, um den wahren Hergang der Sache, der 
tatsächlich außerhalb des Dialoges liegt, während Sokra- 
tes in die Lage kommt, innerhalb des Dialoges Stellung 
zu der Sache zu nehmen, wenigstens anzudeuten. So 
hilft er sich denn mit dem Hinweis auf die Jugend des 
Sokrates; eben an der Wende der Jahre zum Mannes- 
alter angelangt, soll Sokrates den Eindruck erwecken, 
als stünde er sozusagen mit einem Fuße noch in der 
Jugend. Damit wendet sich Platon gewissermaßen an 
die Phantasie des Lesers mit der Aufforderung, an die 
Stelle des dramatisch allein möglichen Zeitpunktes, 
einen Zeitabschnitt zu setzen, welcher Raum läßt für eine 
gewisse Entwicklung. Über die von den Sophisten erst 
aufgebrachte und durch sie in bejahendem Sinne ent- 
schiedene Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend mag 
sich der damals eben dem Knabenalter entwachsene So- 
krates zunächst den Kopf überhaupt noch nicht zerbrochen 
haben. Sodann aber, durch die Berührung mit der So- 
phistik zum Nachdenken darüber angeregt, mag er an- 
fangs wohl der Ansicht gewesen sein (vgl.319B), die 
Tugend, nämlich das, was man eben Tugend nannte, d.h. 
die politische Tugend, 'sei einfach eine gute Gabe der 
Natur oder ein Geschenk Gottes (wie es der Schlußab- 
schnitt des Menon schildert); weitere Prüfung der Sache 
aber mag ihn dann zu einer ungleich tieferen und strenge- 
ren Auffassung des Tugendbegriffes geführt haben, zu 


Einleitung. 29 


der Überzeugung nämlich: alle Tugend hat zur unent- 
behrlichen Voraussetzung ein durchgebildetes Wissen; 
Tugend und Wissen des Schönen und Guten sind Wechsel- 
begriffe. Wie nun der denkende Bildhauer oder Maler 
für seine an den Augenblick gebundene Darstellung einer 
Handlung den, mit Lessing zu reden, fruchtbaren Mo- 
ment wählt, so wählt hier Platon für sein poetisches 
Gemälde in seiner Weise eben auch diesen fruchtbaren 
Moment, der uns nicht ganz ausschließlich an die un- 
mittelbare Gegenwart fesselt, sondern uns auch einen 
Blick auf die Vergangenheit frei läßt. Er kann nach den 
Gesetzen des dramatischen Dialogs das Vorausgegangene 
nicht als solches schildern — denn im Drama kann zwar 
manches erzählt werden, was außerhalb des Dramas liest, 
aber vollziehen kann sich nur, was unmittelbar zu ihm 
gehört —, weist aber, indem er uns seinen Sokrates hier 
gerade an der Wende des Alters vorführt und darauf 
ausdrücklich aufmerksam macht, mit dieser andeutenden 
Abbreviatur deutlich genug auf eine längere Vergangen- 
heit zurück. 

Der Protagoras ist in bezug auf Szenerie, Kompo- 
sition und Charakteristik ein Kunstwerk echtester Art. 
‚Wiederholtes Lesen mindert nicht, sondern steigert nur 
das Interesse und erfüllt uns mit Bewunderung für die 
Genialität des Verfassers, die ihn als dramatischen Dich- 
ter befähigt hätte, die größten Triumphe zu feiern. Was 
er uns hier, im Protagoras, bietet, war in seinen Augen 
gewiß nur ein matter und schwacher Abglanz vollen 
dichterischen Schaffens, und doch ist es wie Empfindung 
vollen dichterischen Sonnenglanzes, was wir angesichts 
der mimischen Vollendung des Werkes an uns erfahren. 
Gleichwohl darf weder der poetische Glanz noch die dem 
Ganzen zugrunde liegende Hoheit der sittlichen Anschau- 
ung uns hinwegtäuschen über die logischen Schwächen 
und dialektischen Spitzfindigkeiten des Werkes, mögen 
diese nun auf des Sokrates oder auf des Platon Rechnung 
zu setzen sein. So bereitwillig ich also zugebe, daß für 


᾿ 


80 Einleitung. 


Primaner der erste Teil des Werkes eine durchaus an- 
gemessene Lektüre ist, so wenig möchte ich dem Urteil 
Westermayers beitreten, der den Protagoras einem jeden 
Jüngling. als eine Art Vademecum mit auf den Lebens- 
weg geben möchte ἢ). 


Übersicht über die Literatür. 


Von Ausgaben nenne ich außer den Gesamtausgaben von 
Bekker, Ast, Schanz und Burnet die Ausgaben von 
Heindorf, Plat. Dialogi tres. Berlin 1810, . 

Sauppe, 4. Aufl. Berlin 1884. 
Stallbaum- Kroschel, Platonis Protag. Lpz. 1882. 
Deuschle-Nestle. Neu bearb. 6. Aufl. Lpz. 1910, 


Von Übersetzungen: 
Schleiermacher, Platos Werke 2, Aufl. 1, 1, Berlin 1817, 
Müller, mit Einleitung von K. Steinhart. Lpz. 1851. 
Susemihl, Metzlersche Sammlung. Stuttgart 1868, 
Griechisch und Deutsch, bei Engelmann Lpz. 2. verb. Aufl. 1877. 
Schmidt, K. E. A, Platos Protag. u. Phaidon. Prenzlau 1838. 
Preisendanz, Protagoras, Theätet. Jena 1910, 


Erläuterungsschriften: 

Aars, J. Das Gedicht des Simonides in Pls. Prot. Ösrikienik 1888, 
in Forhandlingen in Videnskabs in Christania 1888 No. 5. 

Apelt,O. Philol. Anzeiger (1883) XIII, 106 ff. 

Arnim, H. v. Pis. Jugenddialoge. Lpz. 1914. 

Ast, F. Pis. Leben u. Schriften. Lpz. 1816, p. 56. [burg) 1881. 

Bertram, H. Pils. Alk. I, Charmides, Protagoras. Prg. Pforta (Naum- 

Biese, R. Zu Pils. Prot. Prg. Essen 1903. Erweitert in „Kultur- 
wissenschaftl. Weltanschauung“ (Halle 1909) p. 231—299. 

Böhme, J. Zur Protagorasfrage. Prg. Hamburg 1897. 

Bonitz, H. Plat. Studien. 3. Aufl. Berlin 18%6, p. 254—269. 

Ekker, A. Specimen in Prot. apud Plat. fabulam de Prometheo. 
Utrecht 1822. 

Fehmer, G. Pils. Prot. Gymn.-Prg. Zeitz 1839. 20 8. 

Fries, J. F. Beitr. zur Gesch. d. Phil. Heidelberg 1819 (zur Gesch. 
der Ethik) p. 20 ἢ | 

Gercke, A. Eine Niederlage des Sokrates. N. Jahrb. f. cl. Altert. 
21 (1918) 145—191. Ä 

Gomperz, Th. Griech. Denker. Lpz. 1902, p. 250—264. 


) A. Westermayer, ZweiKapitel aus einer NER NE das Plat, 
ae Nürnberg 1880, p. 10. 


Einleitung. 31 


Großmann, A. Die philos. Probleme ἃ, Ρ]8, Prot. Neumark (West- 
preußen) 1888, 

Grote, G. Plat. and the other compan, of Socr. London 1867, 

Hannwacker, Ph. Pls. Prot. Prg. Kempten 1871. 

Heidhues, B. Das Gedicht des Simonides im Prot. Bonn 1890. 

Heinrich, C. F. Locus corruptus in Prot. Kiel 1813, 

Hermann, K. F, Gesch, u, Syst. der pl. Phil. Heidelberg 1839, 457 ff 

Heyne, Ch. G. Opusc, I, 160f. (über das Gedicht des Simonides) 

Jakob, J. Studien zu Pls. Prot. Prg. Aschaffenburg 1904. 

Illmann, Ph. Die Phil. des Prot. nach Plato. Friedland 1908. 

Joyau, E. De Plat Prot. Paris 1879. [865 ff. 

Jurenka, H. Des Sim. Lied im Prot. Ztsch. f. öster. Gym. 1906. 

Karlowa, O0. Zu Pls. Prot. Prg. Pleß 1896. 

Kirschstein, H Über Pis. Prot. Prg. Gumbinnen 1871. 

Kleemann,Äug. Plat. u. Prodikos. Wiener Eranos, p. 33—54. 

Kleist, H. v. Die methodol. Bedeutung des pl. Prot. Philol. 39 
(1879) 1—32. 

Kroschel, J. S. Zur Chronol. des pl. Prot. Ztsch. f. ἃ. G. XI (1857) 
561—567. — De temporibus rerum, quae in Ph. Prot. habentur, 
constit. Erfurt 1859. 

Meinardus, Wie ist Pls. Prot. aufzufassen? Prg. Oldenburg 1865. 

Münscher, W. Gliederung des pl. Prot. Prg. Janer 1883, 

Nattmann, W. De Plat. Prot. Prg. Emmerich 1854. 

Pestalozzi, H. Zur Auffassung von Pis. Prot. Diss. Zürich 1918, 

- Pohlenz, M. Aus Pils. Werdezeit. Berlin 1913, p. 77—113. 

Raeder, H. Pis. phil. Entwicklung. Lpz. 1905. 

Ramorino, F. In Pl. Prot. explanationes. Turin 1880. 

Reber, J. Das Lied des Simonides. Ztsch. f. ἃ. G. XX. 

Richter, α, F. De loco Plat. in Prot. Lpz. 1742. 

Schirlitz, C. Zitsch. f. Gym. 30 (1876), 401—406. (li. P. 1901 

Schirlitz, ©. Tapferkeit u. Wissen in Pils. Prot. Prg. Stargard " 

Schmied, F. Über die Rede des Prot. bei Pl. Prg. Teschen 1873. 

Schöne, R. Über Pis, Prot, Lpz. 1862. 

Socher, J. Über Pis. Schriften. München 1820, p. 226 ff. 

Spielmann, L, Prot. im Hause des Kallias, Pro, Sarnen 1878. 

Stocks, J. L. The arg. of Pl. Prot. u γῆ re Class. Quart. 7, 
p. 100—104. 

Vahlen, J. Opusc. acad. Lpz. 1907. I, 418 ἢ. 

Waldeck, Analyse des pl. Prot. Corbach 1868. 

Weteker, F. ἃ. Kleine Schriften II, 395 £. 

Westermayer, A. Der Mythus in Pils. Prot. Nürnberg 1877. 

Westermayer, A. der Prot. des Pl. Erlangen 1882. 

Wilamowitz, U. v. Sappho und Simonides. Berlin 1913. 159. 
— Platon, Berlin 1920, 


Inhalt und Gliederung des Dialogs. 


Einleitung zu des Sokrates Erzählung. 
309 A—310A (c. 1). 


Von einem Bekannten befragt, woher er denn komme, berichtet 
Sokrates, er habe soeben ein längeres Gespräch mit Protagoras gehabt. 
Der Bitte des Freundes, darüber des Näheren Auskunft zu geben, 
ist er sofort bereit zu willfahren. 


Erzählung des Sokrates. 
310A—362A (c. 2—40). 


I. Vorgespräch mit Hippokrates. 
310A—314C (c. 2—5). 


Noch bei tiefem Morgengrauen wird Sokrates von dem ihm 
herzlich zugetanen Hippokrates, einem tüchtigen, bildungseifrigen 
Jüngling aus guter Familie, aus dem Schlafe geweckt und mit. der 
Bitte bestürmt, ihn mit Protagoras bekannt zu machen, der seit 
kurzem in der Stadt und zwar im Hause des Kallias weile. Noch 
ist es aber, wie Sokrates erklärt, zu früh am Tage, um dort vorzu- 
sprechen. Er unterhält sich also, im Hofe auf und ab gehend, mit 
dem Jüngling über die Absichten und Wünsche, die ihn zum Prota- 
goras treiben und deren Erfüllung er so eifrig erstrebt. Hippokrates 
gibt darüber Auskunft. Auf die Frage aber, was denn ein Sophist 
eigentlich sei, bleibt er die Antwort schuldig. Sokrates warnt ihn vor 
den (Gefahren, denen die Bildungsuchenden von seiten der Sophisten 
ausgesetzt seien. Inzwischen ist die Zeit so weit vorgerückt, daß man 
in das Haus des Kallias eintreten kann. 


II. Unterhaltungen mit den Sophisten. 
3140—362A (c. 6—40). 


1. Des Protagoras Auftreten und Reden. 
3140—328D (c. 6-17), ἡ 
a) Schilderung der Szene und Beginn des Gespräches. 
314 C—317E (c. 6-8). 
Beim Eintritt in die große Säulenhalle im Inneren des Hauses 
bietet sich dem Auge ein fesselndes und belebtes Bild: auf der einen 
Seite, der Eingangsseite, Protagoras mit einer ganzen Schar von 


Inhalt und Gliederung. 33 


Verehrern auf und ab wandelnd, auf der gegenüberliegenden Seite 
Hijpias auf bohem Sessel, in einem geöffneten Seitengenach der 
kränkliche Prudikos, noch zu Bette liegend. Nachdem die beiden 
Eintretenden unbemerkt die Szene eine Zeitlang übersclaut haben, 
treten sie an den Protagoras heran; Sokrates trägt ihm das Anliegen 
des Hippokrates vor und richtet die Bitte an ihn, ihm Auskunft zu 
geben über das, was die Jugend von den Sophisten Förderndes zu 
erwarten habe. Protagoras erklärt sich bereit vor der ganzen Ver- 
sammlung darüber Bescheid zu geben. Er ergelit sich zunächst in 
einem Preise seiner Kunst, die bis auf Homer und Hesiod zurück- 
gehe und nur deshalb nicht offen als sophistische Kunst hervorge- 
treten sei, weil man vor Verdächtigungen und Mißgunst von seiten 
der Machthaber nicht gesichert gewesen sei; er sei der erste, der 
es gewagt habe, sich oflen einen Sophisten zu nennen. — Nunmehr 
wird auf den Wunsch des Kallias die gesamte anwesende Gesellschaft — 
auch den Prodikos nicht ausgenommen — zu gemeinsamer Sitzung 
auf der von Hippias eingenommenen Seite der Halle vereinigt, 


b) Begründung der Frage. 317 E-320C (ec. 9—10). 


Sokrates richtet nun an den Protagoras die Frage, worin der 
Nutzen bestehe, der dem Hippokrates aus seinem Umgang mit ihm 
erwachsen werde. Antwort: Besserung von Tag zu Tag, sowie 
wachsende Brauchbarkeit und Tüchtigkeit für Haus- und Staatsver- 
waltung (319 A). Das, meint Sokrates, seien Dinge, die seiner bis- 
 herigen Ansicht nach nicht lehrbar seien. Seine Gründe: 1) bei 
Behandlung politischer Angelegenheiten lassen die Athener in den 
Volksversammlungen jedermann zu Worte kommen, während sie bei 
Beratungen technischer Art, wie z. B. bei Bauangelegenheiten, nur 
die Baumeister und sonstigen Sachverständigen sich als Ratgeber 
gefallen lassen. 2) Auch die besten Staatsmänner sind nicht imstande . 
ihren Söhnen diejenige Tüchtigkeit beizubringen, durch die sie selbst 
ihrem Staate sich nützlich erweisen. Protagoras möge ihn, so bittet 
er, von seinen Zweifeln befreien. 


c) Mythos und Rede des Protagoras. 320 C—328D (e. 11—17). 


Des Protagoras Ausführungen gliedern sich in folgender Weise: 
1) Die Gründe, warum die Athener in politischen Angelegenheiten 
jeden Bürger mitsprechen lassen. 2) Die Feststellung, daß diese 
politische Tüchtigkeit lehrbar sei. 3) Die Gründe, warum ungeachtet 
aller staatlichen und elterlichen Bemühungen die Söhne trefflicher 
Väter doch aus der Art schlagen. 

Mit dem ersten Punkt findet er sich durch einen Mythos ab, dem- 
zufolge durch Prometheus den Menschen zwar mit dem Feuer auch 
die technische Fertigkeit mitgeteilt worden sei, nicht aber die zur 

Apelt, Platon Protagoras. Phil. Bibl, Bd. 175, 5 


34 Platons Dialoge. 


Erhaltung und Gesittung des Menschengeschlechts unentbehrliche 
staatliche Tugend (Bürgertugend). Dem drohenden Untergange des 
Menschengeschlechtes zu steuern, habe dann Zeus durch Hermes 
Recht und Scham an alle Menschen ohne Ausnahme austeilen lassen. 
Dies der Grund dafür, daß in staatlichen Dingen jedermann mit- 
sprechen kann (323 0). 

Den zweiten Punkt erledigt er durch den Hinweis darauf, daß 
die Athener, so nachsichtig sie auch sind gegen angeborene Mängel 
sonstiger Art, in Sachen der Sittlichkeit und der Tugend doch 
nichts verabsäumen, um auf die Besserung derer hinzuarbeiten, die 
es in dieser Beziehung an sich fehlen lassen (324 D). 

Der dritte Punkt aber wird aufgeklärt durch den Nachweis, 
daß man falsche Ansprüche an die Leistungstähigkeit der Menschen 
macht. Da nämlich alle Menschen von vornherein Anteil an der 
politischen Tugend haben, so scheint es, als ob die, welche in der 
weiteren Ausbildung dieser Tugend hinter anderen zurückbleiben, 
überhaupt der Tugend bar seien (328 D). 


2. Erstes Gespräch zwischen Protagoras und Sokrates. 
828 Ὁ---888) (c. 18—25). 


Sokrates, anscheinend, wie alle übrigen auch, ganz entzückt von 
dem Vortrag des Protagoras, erlaubt sich über „eine Kleinigkeit“ um 
Aufklärung zu bitten, nämlich wie es sich mit den verschiedenen 
Namen für die Tugend verhalte. Sind das eben nur verschiedene 
Namen tür dieselbe Sache, oder sind es Bezeichnungen für ihrem 
Wesen nach (also qualitativ) verschiedene Teile der Tugend, ähnlich 
dem Verhältnis der verschiedenen Teile des Gesichtes zueinander? 
Protagoras zögert keinen Augenblick sich für das letztere zu erklären. 
Da weiß ihn Sokrates eines Besseren zu belehren, indem er ihm 
dartut, daß nicht nur die Frömmigkeit wesensgleich sei mit der 
Gerechtigkeit, sondern daß auch Besonnenheit (σωφροσύνη) und 
Weisheit (σοφία) auf eins hinauskommen. Und schon ist er auf 
dem besten Wege auch die Gerechtigkeit und Weisheit als Einheit 
zu erweisen, als er sich durch des Protagoras Verhalten genötigt 
sieht diesen Beweis abzubrechen (333 E). 

Protagoras nämlich, schon längst merklich verstimmt durch die 
Wendung, die das Gespräch unmittelbar nach dem großen Triumph, 
den er gefeiert, genommen hat, sucht sich durch leeren, aber die 
Sache nicht ungeschickt verschleiernden Wortschwall aus der Schlinge 
zu ziehen, ein Manöver, das Sokrates mit der Erklärung beantwortet, 
er habe nicht Zeit noch länger hier zu verweilen. Nur den dringenden, 
mit vermittelnden Vorschlägen verbundenen Bitten der Anwesenden 
gelingt es endlich, ein Übereinkommen zustande zu bringen, dem- 
gemäß Protagoras sich bereit erklärt, zunächst die Rolle des Fragenden 
zu übernehmen und weiterhin wieder zu der des Antwortenden zurück- 


Inhalt und Gliederung. 35 


zukehren (838 E). Bei dieser Gelegenheit kommen auch dio anderen 
beiden Sophistenhäupter, und zwar in durchaus charakteristischer 
Weise nacheinander zu Wort. 


8. Erklärung des Simonideischen Gedichten. 
338E—348A (c. 26-32). 


Protagoras, nunmehr als Fragender der Leiter des Gerpräches, 
gibt diesem eine überraschende Wendung: an die Stelle der begriff- 
lichen Erörterung setzt er die Dichtererklärung, ein Steckenpferd 
der Sophisten. Man glaubt zuerst, damit werde der Faden der 
Untersuchung ganz abgerissen; allein Protagoras versichert, daß es 
sich in dem von ihm zur Besprechung gewählten Gedicht — einem an 
den thessalischen Fürsten Skopas gerichteten Liede des Simonides — 
auch um die Tugend handle. Und zwar handelt es sich, wie weiterhin 
durch Sokrates festgestellt wird, nicht nur um Erwerb und Besitz 
der Tugend, sondern auch um ihr Verhältnis zum Wissen. Sokrates 
nämlich ist es, der, nachdem erst Protagoras einen Widerspruch des 
Dichters mit sich selbst festzustellen gesucht hat, seinerseits die 
Erklärung des ganzen, ihm wohlbekannten Gedichtes selbst in die 
Hand nimmt und in zusammenhängender ausführlicher Darstellung 
darzutun sucht, daß das ganze Gedicht, in dessen zweiter Strophe 
der Dichter auf einen bekannten Spruch des Pittakos Bezug nimmt, 
nichts anderes sei als eine Bekämpfung eben dieses Pittakos durch 
den Simonides, darauf berechnet ihm den Rang abzulaufen. Bei 
‘ dieser Erklärung nun versteht es Sokrates, den Simonides zum Be- 
kenner der nämlichen Ansicht über das Verhältnis der Tugend zum 
Wissen zu machen, die er selbst vertritt. Nachdem Sokrates geendet, 
möchte nun Hippias gar zu gern auch seinerseits eine Erläuterung 
dieses Liedes vortragen, wogegen indes Alkibiades erfolgreichen Ein- 
spruch erhebt. Sokrates aber verfehlt nicht, dies ganze Geschäft der 
Dichtererklärune für eine müßige Spielerei zu erklären, die nichts‘ 
mit wissenschaftlicher Erkenntnis gemein habe. 


4. Zweites Gespräch zwischen Protagoras und Sokrates. 
348B—360E (ὁ. 32—39). 


_ Indem sich nun Protagoras, wenn auch mit einigem Widerstreben, 
wieder zur Rolle des Antwortenden bequemt, lenkt Sokrates die Unter- 
suchung auf den Punkt zurück, wo sie durch die Gedichterklärung 
abgebrochen worden war, Nach kurzer Rekapitulation richtet er an 
den Protagoras die Frage, wie er sich nunmehr zu der Sache stelle. 
Protagoras erklärt, er wolle gegen die Einheit von Frömmigkeit, Be- 
sonnenheit und Gerechtigkeit mit der Weisheit nichts mehr einwenden, 
um so entschiedener müsse er sich aber gegen die Einheit der Tapfer- 
keit mit der Weisheit erklären. Denn Tapferkeit finde sich oft genug 

ΜΝ 


98 Platons Dialoge. 


gerade bei solchen Leuten, die aller übrigen Tugenden bar seien. 
Dagegen zeigt Sokrates, daß Tapferkeit stets etwas Schönes sei. Voraus- 
setzung aber zur Tapferkeit sei Kühnheit. Kühnheit ohne Wissen aber 
sei Tollheit, also häßlich (schimpflich); also kann Tapferkeit nicht ohne 
Wissen sein. Gegen diese Schlußfolgerung macht Protagoras einen 
nicht unberechtigten Einwand, worauf Sokrates diesen Beweisgang 
fallen läßt (351 B), um einen anderen Weg einzuschlagen. Mit Hilfe 
des (in gewissem Sinne den Sophisten abgeborgten) Satzes von der 
Identität des Angenehmen und Guten zeigt er, daß da, wo man es. 
in der Hand hat zwischen Gutem und Schlechtem zu wählen, nur 
der Unwissende das Schlechte wählen wird (womit zugleich die Ent- 
scheidung gegeben ist über die landläufige Meinung, daß viele sich 
von der Lust als dem in gegebenem Falle Schlechteren überwältigen 
lassen, trotz aller Kenntnis des Besseren und trotz der Macht, dies 
Bessere auch zu tun). Der Wissende dagegen wird stets das Gute 
wählen, denn er ist im Besitze derjenigen Kunst, durch die wir das 
Gute gegen das Schlechte richtig abzuschätzen (also auch das Schöne 
und Gute, diese Quelle der höchsten Lust, richtig zu bewerten) ver- 
mögen, d.h, er ist im Besitze der Meßkunst. Die Tapferkeit nun 
bewegt sich auf dem Gebiete des Gefahrvollen (Furchtbaren) und 
dessen Gegenteils, Da sie aber Tugend ist, so muß sie sich not- 
wendig auf das Schöne und Gute beziehen, Das Schöne und Gute 
also im Gebiete des Furchtbaren und seines Gegenteiles richtig zu 
erkennen und darüber Bescheid zu wissen, ist unerläßliche Bedingung 
für den, der als tapfer gelten will. Und so wäre denn die Tapfer- 
keit nichts anderes als ein Wissen des wahrhaft Furchtbaren und 
Nichtfurchtbaren, d.h. desjenigen, welches mit dem Schönen und 
Guten in Einklang oder in Widerspruch steht. 


5. Schluß. 361 A-8624 (e. 40). 


Sokrates kann nicht umhin, seine Verwunderung auszusprechen 
über den Gang der Verhandlung, welche die Anfangsstellung beider- 
seits in ihr Gegenteil umgewandelt habe. Er, der zu Anfang die 
Lehrbarkeit der Tugend bestritten habe, sei jetzt zum Vertreter ihrer 
Lehrbarkeit geworden insofern als er den Nachweis geführt habe, 
daß sie ein Wissen sei; Protagoras dagegen, der sie zu Anfang. für 
lehrbar erklärt habe, scheine jetzt für das Gegenteil einzutreten, da 
er sie nicht als ein Wissen gelten lassen wolle. Es sei also dringend 
zu wünschen, das Wesen der Tugend zum Gegenstand weiterer gemein- 
samer Forschungen zu machen. Protagoras, rasch sich fassend, be- 
glückwünscht den Sokrates zu seinem Forschungseifer und stellt ihm 
eine ruhmvolle Zukunft in Aussicht. 


Platons Protagoras. 


Personen im einleitenden Gespräch Sokrates und ein Freund, in 
den erzählten Gesprächen Hippokrates, Sokrates, Protagoras, 
Alkibiades, Kallias, Kritias, Prodikos, Hippias, 


1. Der Freund!). Woher des Weges, Sokrates? 
Gewiß nicht anderswoher als von der Jagd auf des Alki- 
biades Schönheit! In der Tat, ein schöner Mann — so 
erschien er mir auch jüngsthin als ich seiner ansichtig 
ward —, aber eben doch ein Mann, Sokrates, unter uns 
gesagt, und bereits so herangereift, daß der Bart ihm 
kräftig hervorsproßt. 

Sokrates. Mag sein, aber was verschlägt denn das? 
Du bist ja doch des Lobes voll für den Homer?°), und 
dieser erklärte doch die erste Zeit des Bartsprossens für 
die lieblichste Zeit der Jugend, die Zeit also, in der 
jetzt Alkibiades steht. 

Der Freund. Wie steht es also jetzt? Kommst 


du von ihm? Und wie hält es der junge Mann mit dir? 


Sokrates. Ganz nach Wunsch, denk’ ich, und be- 
sonders auch am heutigen Tage°). Denn er trat lebhaft 
für mich ein und warf sich für mich ins Zeug®). Und 
so komme ich denn eben auch von ihm. Doch seltsam, . 
was ich zu berichten habe: war er nämlich auch zugegen, 
so schenkte ich ihm doch keine Aufmerksamkeit, ja ver- 
gab nicht selten ganz, daß er überhaupt da war. 

Der Freund. Was wäre denn so Wichtiges mit 
dir und ihm vorgefallen? Denn du hast doch gewiß nicht 
eines anderen schöneren Mannes Bekanntschaft gemacht, 
wenigstens hier in Athen nicht. 

Sokrates. Doch, und zwar eines weit schöneren. 

Der Freund. Wie sagst du? Eines Atheners oder 
eines Fremden? | 

Sokrates. Eines Fremden. 


38 Platons Dialoge. 


Der Freund. Woher denn? 

Sokrates. Aus Abdera. 

Der Freund. Und so schön kam dir der Fremde 
vor, daß er dir schöner. erschien als des Kleinias Sohn ? 

Sokrates. Wie sollte, mein Trefflicher, dem Aus- 
bund aller Weisheit?) nicht auch der Vorzug der Schön- 
heit zukommen ἢ 

Der Freund. War es denn, Sokrates, irgend ein 
Weiser, mit dem du zusammen gewesen bist und von 
dem du jetzt zu uns‘) kommst? | | 

Sokrates. Ja, mit dem größten Weisen unserer 
Zeit wenigstens’), wenn anders Protagoras dir als solcher 
gilt. | 
Der Freund. Welche Überraschung! Protagoras 
also weilt hier ? 

Sokrates. Ja, schon seit vorgestern. 

Der Freund. Und du kommst eben von einer Zu- 
sammenkunft mit ihm? | | 

Sokrates. Allerdings, und wieviel gab’s da zu sagen 
und zu hören! 


διὺ 5 


Der Freund. Und du erzählst uns nichts von diesem 


Beisammensein? Das mußt du. Wenn dich nichts ab- 
hält, so heiße den Burschen hier aufstehen und laß dich 
unverzüglich an seinem Platze hier nieder. 

Sokrates. Sehr gern, und ich werde es euch Dank 
wissen, wenn ihr mir zuhört. 

Der Freund. Und wir dir erst recht, wenn du 
uns Bericht erstattest. 

Sokrates. So wäre also der Dank ein gegenseitiger®). 
Nun, so höret denn. 


Sokrates erzählt. 


2. Vergangene Nacht beim ersten Morgengrauen klopfte 
Hippokrates, der Sohn des Apollodoros und Bruder des 
Phason, sehr heftig an meine Tür; sobald man ihm 
geöfinet hatte, stürmte er sofort zu mir herein und rief 
mit lauter Stimme: Sokrates, wachst du oder schläfst du? 


Protagoras. 39 


Ich aber erkannte ihn an der Stimme und versetzte: 
das ist Hippokrates®)! Du bringst doch nicht etwa schlimme 
Botschaft!) ? 

Nein, erwiderte er, nur gute. 

Das läßt sich hören, sagte ich. Worum handelt sich’s 
aber und weshalb erscheinst du so in aller Frühe? 

Protagoras, sagte er, ist angekommen und dabei trat 
er dicht an mich heran. 

Schon vorgestern, erwiderte ich; und du hast es eben 
erst erfahren ? 

Ja, bei den Göttern, versetzte er, erst gestern Abend. 
Dabei tastete er an meinem Bettgestell herum, ließ sich 
zu meinen Füßen darauf nieder und berichtete wie folgt: 
Allerdings erst gestern Abend, denn ich kam erst sehr 
spät aus Oinoe!!) zurück. Mein Sklave Satyros nämlich 
war mir davongelaufen, und ich wollte dir von meiner 
Absicht ihn zu verfolgen auch Mitteilung machen, vergaß 
es aber über einer andern Angelegenheit. Als wir aber 
nach meiner Rückkehr die Abendmahlzeit eingenommen 
hatten und uns zur Ruhe begeben wollten, da teilte mir 
mein Bruder mit, Protagoras sei angekommen. Und erst 
wollte ich gleich noch zu dir eilen, besann mich indes 
eines Besseren, da die Nacht schon zu weit vorgerückt war. 
Sobald ich mich aber durch den Schlaf genügend gestärkt 
fühlte nach der vorangegangenen Anstrengung, erhob ich 
mich sofort und eilte hierher. 

Da ich nun seinen starren Willen und sein aufge: 
regtes Wesen kenne, richtete ich an ihn die Worte: Was 
verschlägt dir denn das? Protagoras hat dir doch nicht 
etwa ein Leid angetan? 

Da lachte er auf und sagte:. Ja, bei den Göttern, 
mein Sokrates, daß er seine Weisheit für sich behält und 
mich nicht weise macht. 

Aber, beim Zeus, versetzte ich, wenn du ihm Geld 
zahlst und ihn dadurch günstig stimmst, dann wird er auch 
dich weise machen. 

Wäre es doch, erwiderte er, o Zeus und ihr Götter, 


40 Platons Dialoge. 


damit getan! Weder mit meinem eigenen Vermögen noch 
mit dem meiner Freunde sollte dann gegeizt werden. Aber 
eben deshalb erscheine ich jetzt bei dir: du sollst für mich 
ein gutes Wort bei ihm einlegen. Denn ich bin einerseits 
noch zu jung, anderseits habe ich den Protagoras noch 
niemals weder gesehen noch gehört; denn ich war noch 
ein Knabe, als er das vorige Mal hier war. Aber alle, 
mein Sokrates, preisen den Mann und erklären ihn für 
den kundigsten Redner. Doch nun unverzüglich auf zu 


ihm, damit wir ıhn noch zu Hause antreffen. Sein Quar- 


tier hat er als Gast, wie ich höre, bei Kallias!”, dem 
Sohne des Hipponikos. Aber nun nicht länger gezögert! 

Ich aber erwiderte: Noch ist es nicht Zeit für dort; 
es ist noch zu früh. Laß uns vielmehr, nachdem wir uns 
erhoben, hier im Hofe auf und ab wandelnd verweilen, 
bis es Tag geworden ist; dann wollen wir hingehen. Denn 
Protagoras bleibt meist zu Hause; also sei außer Norge: 
wir werden ihn aller W ahrscheinlichkeit nach zu Hause 
antrelfen. | 

3. Darauf erhoben wir uns und wandelten im Hofe 
auf und ab. Mir aber kam es darauf an die Willenskraft 
des Hippokrates zu erproben'2); ich nahm ihn also scharf 
aufs Korn und fragte ihn: Sage mir, Hippokrates, wenn 
du jetzt drauf und dran bist dieh an den Protagoras zu 
wenden und ihm Geld zu zahlen für die dir zu leistenden 
Dienste, was für eine Vorstellung machst du dir da von 
ihm und was willst du durch ihn werden? Gesetzt z. B. 
du dächtest dich an deinen Namensvetter Hippokrates!#) 
aus Kos, den Asklepiaden, zu wenden und ihm Lehrgeld 
zu zahlen für deine Ausbildung, und es fragte dich einer: 
Sage mir, Hippokrates, was ist denn eigentlich an dem 
Hippokrates, dab du dich veranlaßt findest ihm Lehrgeld 
zu zahlen? Wie würde dann deine Antwort lauten ? 

Ich würde sagen, erwiderte er, er ist ein Arzt. 

Und was willst du durch ihn werden?) 

Ein Arzt, erwiderie er. _ 

Und gesetzt, du dächtest dich an Polykleitos!) aus 


811 St 


12 St. 


Protagoras. 41] 


Argos oder δὴ Pheidias, den Athener, zu wenden und 
ihnen Geld zu geben für deine Ausbildung, und es [ragte 
dich jemand, was sind denn Polykleitos und Pheidias 
für Leute, daß du willens bist ihnen dies Geld zu geben ? 
Was würdest du da antworten ἢ 

Ich würde sagen: Sie sind Bildhauer. 

Und was willst du selbst werden ? 

Oifenbar ein Bildhauer. 

Gut denn, sagte ich. Nun aber wollen wir uns jetzt 
an den Protagoras wenden, ich und du, und ihm Lehrgeld 
anbieten für dich, fest entschlossen, wenn unser Vermö:zen 
ausreicht und wir ihn dadurch für uns gewinnen, es daran 
zu geben, wo nicht, auch noch das unserer Freunde mit 
zu verwenden. Gesetzt nun, es fragte jemand uns, die wir 
uns so eifrig um die Sache bemüht zeigen: Sagt mir 
doch, Sokrates und Hippokrates, was ist denn eigentlich 
Protagoras, daß ihr Willens seid, ihm Geld zu geben? 
Was würden wir ihm antworten? Welche Bezeichnung 
ist für den Protagoras neben seinem eigentlichen Namen 
noch üblich, wie man den Pheidias als Bildhauer bezeichnet 
und den Homer als Dichter? 

Als Sophisten bezeichnet man den Mann, mein So- 
krates, erwiderte er. 

Als einem Sophisten also wollen wir ihm unser Geld 
geben, indem wir uns an ihn wenden? 

Jawohl. 

Wenn nun jemand noch die weitere Frage an dich 
richtete: Du selbst aber, was willst du denn werden, 
wenn du dich dem Protagoras anvertraust ? 

Da errötete er — denn schon fing es an zu dämmern, 
so dab man seine Gresichtsiarbe erkennen konnte — und 
sagte: hält man sich an das Bisherige, dann will ich 
offenbar ein Sophist werden. 

Wie, sagte ich, bei den Göttern, schämst du dich 
nicht, vor ganz Griechenland als Sophist zu erscheinen 16) ἢ 

Ja, beim Zeus, mein Sokrates, wenn ich sagen soll, 
wie mir's ums Herz ist. 


49 Platous Dialoge. 


Aber vielleicht, mein Hippokrates, bist du der Mei- 
nung, die Belehrung durch den Protagoras werde keine 
so fachmäßige sein, sondern mehr der allgemeinen Bil- 
dung dienen, wie die durch Schreiblehrer, Musiklehrer 
und Turnlehrer. Denn all diesen Unterricht erhieltest 
du nicht zum Zwecke kunstmäßiger Ausbildung, um selbst 
darin Meister zu werden, sondern zum Zwecke der höheren 
Bildung überhaupt, wie sie einem selbständigen und freien 
Manne wohl ansteht!?). 

Ganz entschieden, erwiderte er, scheint mir der Tehr. 
gang beim Protagoras mehr von dieser Art zu sein. 


4, Bist du dir auch nun bewußt, was zu tun du jetzt 
im Begriff stehst, oder merkst du es nicht? sagte ich. 

Worauf zielt das hin? 

Daß du im Begriff bist deine Seele einem Manne 
anzuvertrauen, der, wie du sagst, ein Sophist ist. Weißt 
du denn überhaupt, was ein Sophist ist? Das sollte 
mich doch wundern. Und doch, wenn du dies nicht weißt, 
so weißt du auch nicht, wem du deine Seele anvertraust, 
weißt nicht, ob es damit gut. oder schlecht bestellt ist. 

Ich glaube wenigstens es zu wissen, erwiderte er. 

So sage denn, was ist denn deiner Meinung nach 
ein Sophist ἢ δ 

Ich denke, erwiderte er, er sei, entsprechend seinem 
Namen, der des Wissenswerten Kundige®). 


Das kann man doch, versetzte ich, auch von den 
Malern und Baumeistern sagen, daß sie es sind, die des 
Wissenswerten kundig sind. Aber gesetzt, es fragte uns 
einer: „Worauf bezieht sich denn das Wissenswerte, dessen 
die Maler kundig sind?“ so würden wir ihm antworten: 
„Auf das, was zur Herstellung von Gemälden wissens- 
wert ist“ und so weiter auch in den übrigen Fällen. Wenn 
nun aber einer fragte: „Aber der Sophist — worauf 
bezieht sich das Wissenswerte, dessen er kundig ist?“ 
was würden wir ihm dann antworten? „Welches Gebiet 
‚beherrscht er?“ ‘Was wäre darauf zu sagen’? 


813 St, 


Protagorus, 43 


Er sei, Sokrates, Meister der Kunst, andere zu ge- 
wandten Rednern zu machen. 

Vielleicht, versetzte ich, würden wir damit nichts 
Unrichtiges sagen, aber die Sache doch nicht erschöpfen. 
Denn unsere Antwort macht noch die weitere Frage nötig 
nach dem Gegenstand, auf den sich die Beredsamkeit 
bezieht, für welche der Sophist die Leute geschickt macht. 
So macht z.B. der Zitherspieler die Leute geschickt dazu 
über den nämlichen Gegenstand auch zu reden, dessen 
er sie kundig macht, über das Zitherspiel nämlich. Nicht 
wahr ? | 

Ja. 

Gut. Aber der Sophist nun, worüber zu reden macht 
er die Leute geschickt? Doch offenbar über dasselbe, 
dessen er selbst kundig ist. 

So scheint es. 


Was ist es nun, worauf sich die Sachkunde des 
Sophisten selbst bezieht sowie seine Einwirkung auf den 
Schüler ? 


Beim Zeus, versetzte er, darauf muß ich die Antwort 
schuldig bleiben. 

5. Darauf sagte ich: Wie nun? Sagst du dir auch, 
welcher Gefahr du deine Seele preiszugeben im Begriff 
bist? Mübtest du deinen Leib irgend jemandem anver- 
trauen, von dessen Behandlung die künftige Tauglichkeit 
oder Untauglichkeit desselben überhaupt abhinge, so wür- 
dest du zweifellos reiflichst erwägen, ob du ihm dein 
Vertrauen schenken dürftest oder nicht, und würdest deine 
Freunde und Verwandten herauziehen und tagelang dich 
angelegentlich mit der Sache beschäftigen. Und hier, wo 
es sich um ein Gut handelt, das in deiner Schätzung 
höher steht als der Körper, und von dessen gelungener 
oder verfehlter Ausbildung dein ganzes Glück oder Leid 
abhängt — hier hast du weder deinen Vater noch irgend 
einen von uns, deinen Freunden, zu Rate gezogen darüber, 
ob du deine Seele diesem Ankömmling aus der Fremde 


44 Platons Dialoge. 


anvertrauen sollst oder nicht. Nein! Gestern Abend hast. 
du, wie du sagst, davon gehört, und heute erscheinst du. 
in aller Frühe ohne eine Erwägung oder Beratschlagung 
darüber anzustellen, ob du dich ihm anvertrauen sollst 
oder nicht, sondern bist bereit dein und deiner Freunde 
Vermögen daran zu setzen, schon völlig fertig mit deinem 
Entschluß, dich unter allen Umständen an den Protagoras 
anzuschließen. Und doch kennst du ihn weder, deiner 
eigenen Versicherung zufolge, noch hast du jemals mit ihm 
gesprochen, und du nennst ihn einen Sophisten, was aber 
ein Sophist eigentlich ist, darüber bist du offenbar in 
Unkenntnis und doch willst du dich ihm anvertrauen. 
Als er dies vernommen, erwiderte er: Du scheinst 
mit deinen Darlegungen allerdings recht zu haben, Sokrates. 
Ist nun nicht, mein Hippokrates, der Sophist eine 
Art Großhändler oder auch Krämer mit Waren, die der 
Seele zur Nahrung dienen? Mir wenigstens will es so 
vorkommen, als wäre er so etwas!?). 
Worin aber, Sokrates, besteht denn die Nahrung der 
Seele ἢ | 
In Kenntnissen doch wohl, erwiderte ich. Und man 
hüte sich wohl, mein Freund, daß uns der Sophist nicht 
täusche mit der Anpreisung seiner Waren, wie es bei den 
Händlern mit leiblicher Nahrung üblich ist, beim Kauf- 
mann und Krämer. Denn was von ihren dargebotenen 
Waren wirklich tauglich oder untauglich ist für den Kör- 
per, das wissen weder sie selbst — preisen aber alles an 
beim Verkauf — noch ihre Käufer, es müßte denn einer 
gerade ein Turnmeister?°) oder Arzt sein. Ebenso treiben 
es nun auch die Händler mit Wissensvorräten: von Stadt 
zu Stadt umherziehend bieten sie im Groß- und Klein- 
verkauf jedem Kauflustigen ihre Waren dar und preisen 
alles an was sie verkaufen; und doch, mein Bester, dürften 
gar manche von ihnen nicht wissen, was davon der Seele 
zuträglich oder schädlich ist. Und das. gleiche gilt auch 
von den Käufern, es müßte denn einer gerade. ein Seelen- 
arzı sein. Gehörst du also etwa zu denen, die über Taug- 


814 St, 


Protagorns. 45 


lichkeit und Untauglichkeit auf diesem Gebiete ein zu- 
ständiges Urteil haben, dann kannst du ohne Gefahr von 
Protagoras wie von jedem anderen Kenntnisse einhandeln. 
Wo nicht, so warne ich dich, mein Bester, nicht ein 
gewagtes Spiel zu treiben mit dem Kostbarsten, was du 
hast. Denn weit größer ist die Gefahr bei Einkauf von 
‚Wissensvorräten als von Speisevorräten. Speisen und 
Getränke nämlich kann man, wenn man sie von einem 
Krämer oder Kaufmann eingehandelt hat, in besonderen 
Gefäßen forttragen und bevor man sie durch Trinken 
oder Essen in den Leib aufnimmt, im Hause stehen 
lassen und unter Zuziehung eines Sachverständigen sich 
Rats erholen, was davon sich zum Essen oder Trinken 
empfiehlt und was nicht, und wieviel und wann; mit 
dem Kauf hat es also hier keine weitere Gefahr. Kenntnisse 
aber kann man nicht in einem besonderen Gefäße weg- 
tragen, sondern hat man einmal den Kaufpreis erlegt, 
so muß man sie unmittelbar in die Seele aufnehmen und 
sich mit ihrem Besitze abfinden, gleichviel ob es einem 
zum Schaden oder zum Nutzen ausschlägt. Das laß uns 
denn auch mit Männern, die älter als wir sind, erwägen; 
denn wir sind noch zu jung?!), um über eine so Wichtige 
Frage ein entscheidendes Urteil zu haben. Zunächst indes 
wollen wir, unserem Vorhaben entsprechend, hingehen 
und den Mann anhören; haben wir ihn gehört, so wollen 
wir dann auch mit anderen zu Rate gehen. Denn Prota- 
goras ist nicht der einzige, den wir dort treffen: auch 
Hippias??) aus Elis ist dort, und irre ich nicht, auch 
Prodikos®®) von Keos, und noch viele andere weise Männer. 

6. Darüber einverstanden machten wir uns nun auf 
den Weg. Als wir aber auf den Platz vor dem Haus 
gekommen waren, machten wir halt, weil begriffen in 
einer Unterhaltung über eine Frage, auf die wir unterwegs 
zu sprechen gekommen waren. Um nun die Erörterung 
nicht abzubrechen, sondern sie vor unserem Eintreten zu 
Ende zu führen, blieben wir auf dem Vorplatz stehen und 


‚setzten die Unterredung fort, bis wir zum Einverständnis 


40 Platons Dialoge. 


gelangt waren. Der Türhüter, ein Verschnittener, hörte, 
wie es schien, unser Gespräch. Allem Anschein nach aber 
ist er wegen des Zudranges der vielen Sophisten auf die 
Besucher des Hauses übel zu sprechen. Kaum nämlich 
hatte er auf unser Klopfen die Tür geöffnet und uns 
erblickt, so rief er: „Aha, wieder Sophisten! Mein Herr 
hat keine Zeit.“ Dabei faßte er die Tür mit beiden Händen 
zugleich und warf sie mit voller Wucht wieder zu. Wir. 
wiederholten nun unser Klopfen. Er aber erwiderte hinter 
der zugesperrten Tür: Ihr Kerle, habt ihr denn nicht 
gehört, daß mein Herr keine Zeit hat? | 

Aber, mein Bester, entgegnete ich, wir wollen ja 
gar nicht zum Kallias, sind auch keine Sopbisten. Also 
nur ruhig Blut! Unser Besuch gilt nur dem Protagoras, 
den wir zu sehen wünschen. Melde uns ihm also. Nur 
mit größtem Widerstreben öffnete uns der Mensch dann 
endlich die Tür. | 

Wir traten nun ein. Unser Blick fiel zunächst auf 
den Protagoras, der in der Säulenhalle auf und ab wandelte; 
neben ihm aber schritten auf der einen Seite Kallias, 
des Hipponikos Sohn, und sein Bruder von mütterlicher 
Seite Paralos:*), der Sohn des Perikles, und Charmides>), 815 st, 
der Sohn des Glaukon, auf der anderen Seite der andere 
Sohn des Perikles, Xanthippos, und Philippides, des Philo- 
melos Sohn, und Antimoiros aus Mende®), der namhafteste 
Schüler des Protagoras, der sich fachmäßig von ihm aus- 
bilden läßt, da er Sophist werden will. Die sich hinten 
anschließende Schar derer, die der Unterhaltung lauschten, 
bestand, wie es schien, zum größten Teile aus Fremden, 
wie sie Protagoras aus allen von ihm berührten Städten 
mit sich führt — denn er lockt sie mit seiner Stimme 
wie Orpheus, und sie folgen dem Zauber seines Gesanges —, 
doch fanden sich auch einige Einheimische in dem Chor. 
Bei den Bewegungen dieses Chores machte es mir besondere 
Freude zu beobachten, wie geschickt und behutsam sie es 
vermieden, dem Protagoras vorn in den Weg zu treten; 
sooft nämlich er und seine Begleiter kehrtmachten, 


Protagoror. 47 


traten die stummen Zuhörer mit allem Anstand und in 
bester Ordnung auf beide Seiten auseinander, schwenkten 
im Kreise herum und reiheten sich dann immer wieder 
hinten mit unfehlbarer Sicherheit δὴ 37). 

7. „Jenem zunächst erblickt’ ich“, mit Homer zu 
reden®®), den Hippias aus Elis. Er saß in dem gegenüber- 
liegenden Säulengange auf einem hohen Lehnsessel. Rings 
um ihn aber saßen auf Bänken Eryximachos®), des Aku- 
menos Sohn, Phaidros®°) von Myrrhinus, Andron®!), des 
Androtion Sohn, und von Fremden einige Landsleute 
des Hippias sowie noch einige andere. Wie es schien, 
legten sie dem Hippias allerlei astronomische Fragen über 
die Natur und die himmlischen Erscheinungen vor, er aber 
erteilte von seinem erhabenen Sitze aus einem jeden Aus- 
kunft und erörterte ihm den fraglichen Gegenstand. 

„Auch den Tantalos schaut’ ich“). Denn wirklich 
war auch Prodikos von Keos da, und zwar befand er sich 
in einem Gemach, das vordem dem Hipponikos als Vor- 
ratskammer diente, jetzt aber wegen der Menge der unter- 
zubringenden Gäste von Kallias ausgeräumt und zur Unter- 
kunft für Fremde eingerichtet worden war. Prodikos 
lag noch zu Bett, eingehüllt in Pelze und Decken in 
großer Fülle, wie ein Blick darauf zeigte. Neben ihm 
aber saßen auf den nahestehenden Ruhebetten Pausanias?®) 
aus Kerameis und neben dem Pausanias ein angehender 
Jüngling von trefflichen und guten Anlagen, wie mir 
schien, von Ansehen jedenfalls sehr schön. Habe ich recht 
gehört, so war sein Name Agathon, und es würde mich 
nicht wundern, wenn er der Geliebte des Pausanias wäre. 
So viel also von dem Jüngling®). Außerdem sah man 
noch die beiden Adeimantos, den Sohn des Kepis und 
den Sohn des Leukolophides3) und einige andere. Den 
Gegenstand ihrer Unterhaltung aber vermochte ich von 
draußen nicht zu erkunden, so dringend ich auch wünschte 
den Prodikos zu hören — denn der Mann scheint mir ein 

316 st. wahrer Ausbund von Weisheit zu sein und gottähnlich —, 
doch wegen seiner tiefen Stimmlage war es mir bei dem 


48 Platons Dialoge. 


in dem Gemache herrschenden Geräusch nicht möglich, 
seine Worte deutlich zu verstehen. 

Wir waren kaum erst eingetreten, da fanden sich 
hinter uns noch Alkibiades ein, der Schöne — wie du 
ihn nennst und das mit Recht, wie ich meine — und 
Kritias3®), des Kallaischros Sohn. 

8 Wir blieben denn nach unserem Eintreten noch 
eine kleine Weile stehen, betrachteten uns den Schauplatz 
und traten dann an den Protagoras heran, den ich mit den 
Worten begrüßte: Du bist es, Protagoras?”), den aufzu- 
suchen wir hierher gekommen sind. 

Wollt ihr mich, erwiderte er, allein sprechen oder im 
Beisein der anderen ? 

Uns, versetzte ich, soll das gleich sein. Vernimm denn 
den Zweck unseres Kommens und prüfe selbst. 

Was ist es also, was euch veranlaßt hat hierher 
zu kommen ὃ | 

Mein Begleiter Hippokrates hier ist geborener Athener, 
Sohn des Apollodoros, Glied einer großen und begüterten 
Familie; er selbst aber steht seiner Begabung nach meines 
Erachtens hinter keinem seiner Altersgenossen zurück. So 
ist er denn, wie mir scheint, von dem Verlangen beseelt, 
im Staate eine hervorragende Rolle zu spielen. Dies glaubt 
er am besten erreichen zu können, wenn er bei dir in die 
Lehre geht. Nun also prüfe, ob du glaubst darüber mit 
uns allein oder im Beisein der anderen verhandeln zu sollen. 

Dank dir, mein Sokrates, erwiderte er, für deine wohl- 
angebrachte Rücksicht auf mich. Denn wer als Fremdling 
grobe Städte besucht und in ihnen die tüchtigsten Jünglinge 
zu bestimmen sucht, ihren Umgang mit den anderen, seien 
es Verwandte oder Fernerstehende, Ältere oder Jüngere, 
aufzugeben und sich ihm anzuschließen in der Hoffnung 
durch seinen belehrenden Umgang sittlich gefördert zu 
werden, der hat alle Ursache vorsichtig zu sein bei seinem 
Auftreten. Denn nicht geringer Neid und sonstige Feind- 
schaft und Anschläge aller Art erwachsen ihm daraus. 
Darum behaupte ich denn auch, die Sophistik sei eine 


eo. 
. 


Protagoras. 49 


schon von alters her geübte Kunst, nur dal ihre Vertreter 
unter den Männern der Vorzeit aus Furcht vor dem An- 
stößigen derselben einen schützenden Vorwand suchten. 
Demgemäß steckten sich denn die einen hinter den Deck- 
mantel der Poesie, wie Homer, Hesiod, Simonides, andere 
hielten es mit weihevollen Bräuchen und Sehersprüchen wie 
Orpheus und Musaios®®) und ihre Anhänger, einige sogar, 
wenn ich recht beobachtet habe, mit der Gymnastik, wie 
Ikkos®) aus Tarent und Herodikos*) aus Selymbria, ur- 
sprünglich aber aus Megara, der noch heute hinter keinem 
anderen Sophisten zurücksteht. Die Musik aber nahm euer 
Mitbürger Agathokles“) zum Vorwand, ein hervorragender 
Sophist, und Pythokleides“) aus Keos und noch viele 
andere. Alle diese bedienten sich, wie gesagt, aus Furcht 
vor Mißgunst dieser Künste als Deckmantel. Ich aber 
befinde mich, was diesen Punkt anlangt, mit ihnen nicht 
im Einvernehmen. Denn ich glaube, sie haben ihren Zweck 
ganz und gar nicht erreicht. Sehe ich nämlich recht, so 
entzieht sich ihre Absicht doch nicht der Wahrnehmung 
der Machthaber in den Staaten, um deren willen sie sich 


ja doch dieser Vorwände bedienen; denn die große Menge®°) 


merkt so gut wie gar nichts, sondern tanzt einfach nach 
der Pfeife der Machthaber. Sich also aufzumachen, um 
davonzulaufen und es doch nicht durchführen zu können, 


sondern sich dabei ertappen zu lassen, ist eine große . 


Torheit, auch wenn es sich um einen bloßen Versuch han- 
delt, und führt nur dazu, daß man sich die Menschen noch 


mehr zu Feinden macht; denn sie halten einen solchen 


Menschen abgesehen von allem anderen auch noch für einen 
Bösewicht. Ich habe also einen Weg eingeschlagen, der 
gerade das Gegenteil davon ist: ich räume offen ein ein 
Sophist zu sein und die Menschen durch Bildung zu fördern 
und ich ‚denke, es ist dies eine bessere Art von Vorsicht 
als jene, nämlich es offen einzugestehen anstatt es zu 
leugnen. Und auch sonst bin ich noch auf mancherlei 
Vorsichtsmaßregeln bedacht gewesen, so daß mir, Gott sei 


Dank, mein freies Eingeständnis ein Sophist zu sein nicht 


Apelt, Platon Protagoras. Phil, Bibl. Bd. 175, 4 


δ0 Piatons Dialoge. 


zum Schaden gereicht. Und doch übe ich meine Kunst 
schon eine lange Reihe von Jahren; denn die Summe der- 
selben ist groß genug, um dem Alter nach Vater eines 
jeden von euch sein zu können“). Demnach ist es mir 
weitaus das Erwünschteste im Beisein aller hier Anwesen- 
den über euer etwaiges Anliegen mit euch zu verhandeln. 

Ich merkte wohl, es liege ihm daran, sich vor dem 
Prodikos und Hippias ins rechte Licht zu setzen und da- 
mit groß zu tun, daß wir uns als Verehrer von ihm ein- 
gefunden hätten. So erwiderte ich denn: Also nicht ge- 
säumt! Laßt uns sofort den Prodikos und Hippias und 
ihre Genossen herbeirufen, auf daß sie uns zuhören. 

Recht so, versetzte Protagoras. 

Wünscht ihr also, ließ sich da Kallias vernehmen, 
daß wir einen Sitzungsraum herrichten, damit ihr euch 
sitzend unterhalten könnt? 

Das fand allgemeine Zustimmung. Wir warteten gar 

nicht erst auf die Diener, sondern legten gleich selbst alle 
voll freudigen Eifers, in Erwartung der Reden weiser 
Männer, Hand an die Bänke und Sessel und richteten . 
uns neben dem Hippias ein; denn dort fanden sich ja schon 
Bänke vor. Inzwischen waren auch Kallias und Alki- 
biades mit dem Prodikos, den sie führten, nachdem sie 
ihm von seinem Lager aufgeholfen hatten, nebst den Ge- 
nossen desselben zur Stelle gekommen. 
‘9. Als wir uns alle niedergelassen, hub Protagoras 
an: Jetzt sind wir nun alle beisammen, und so kannst du, 
mein Sokrates, dich nunmehr des Näheren auslassen über 
die Sache deines jungen Freundes, deren du kurz zuvor 
Erwähnung tatest. 

Ich erwiderte: Weshalb ich hierher komme, darüber 318 S 
habe ich mich schon vorhin erklärt und es bedarf nur 
einer kurzen Wiederholung. Hippokrates hier ist von dem 
Verlangen beseelt dein Schüler zu werden; er möchte also, 
wie er sagt, gern wissen, was er von dem Zusammensein 
mit dir zu erwarten hat. Das ist es, was ich für ihn 
' zu sagen habe. 


Protagorns. 51 


Darauf versetzte Protagoras: Mein junger Freund, 
was du durch den Umgang mit mir gewinnen wirst, ist 
dies, daß du gleich am ersten Tage, wo du mit mir 
zusammen bist, als ein besserer Mensch zu den Deinigen 
heimkommst, und am nächsten Tage desgleichen und dab 
du so an jedem Tage an Tüchtigkeit zunimmst. 

Diese Auskunft gab mir Anlaß zu folgender Erwide- 
rung: Mein Protagoras, was du da sagst, ist durchaus 
nichts Außergewöhnliches, sondern ziemlich selbstverständ- 
lich; denn auch du würdest ungeachtet deines stattlichen 
Alters und deiner hohen Weisheit an Tüchtigkeit zu- 
nehmen, wenn jemand dich unterwiese auf einem Gebiete, 
das dir noch unbekannt ist. Aber bleibe nicht bei dieser 
Art des Antwortens, sondern stelle dir z. B. vor, unser 
Hippokrates hier sähe sich auf einmal von einem ganz 
anderen Verlangen befallen, nämlich von dem, bei dem 
jungen, seit kurzem hier weilenden Maler Zeuxippos aus 
Heraklea®*) sich in die Lehre zu geben. Käme er nun zu 
diesem so wie jetzt zu dir, und vernähme er von ihm 
dasselbe wie jetzt von dir, nämlich daß er mit jedem Tage 
‘des Zusammenseins an Tüchtigkeit zunehmen und Fort- 
schritte machen werde, so würde er weiter fragen: Worin 
meinst du, werde ich tüchtiger werden und Fortschritte 
machen ? und darauf vom Zeuxippos die Antwort erhalten: 


„In der Malerei“. Und wenn er beim Thebaner Ortha- 


goras“) Unterricht nehmen wollte und von ihm die gleiche 
Antwort bekäme wie von dir und darauf die weitere Frage 
an ihn richtete: Worin werde ich denn täglich tüchtiger 
werden durch den belehrenden Umgang mit dir? so würde 
jener antworten: „im Flötenspiel“. So also antworte auch 
du dem Jüngling und mir, der ich in seinem Namen 
folgende Frage an dich richte: Wenn Hippokrates durch 
seinen Umgang mit dem Protagoras gleich am ersten 
Tage, wo er mit ihm zusammen ist, als besserer Mensch 
von dannen gehen und an jedem weiteren Tage in gleicher 
‘Weisse Fortschritte machen wird, worin wird er denn 
besser und in welcher Hinsicht? 
ΔῈ 


ee ec ee «ττᾳ«“«““ο“ο«“οροαἴΦοτοπ 


Platons Dialoge. 


wi 
IV 


Als Protagoras diese meine Worte vernommen, er- 
widerte er: Du bist ein geschickter Frager, Sokrates, 
und mir macht es Freude einem geschickten Frager zu 
antworten‘). Schließt sich Hippokrates an mich an, so 
wird es ihm nicht so ergehen, wie es der Fall sein würde, 
wenn er den Umgang mit irgend einem anderen Sophisten 
aufsuchte. Die anderen nämlich treiben ein schädliches 
Spiel mit den jungen Leuten. Denn eben erst den Künsten 
des Schulwissens“) glücklich entronnen, werden die Jüng- 
linge durch sie wider ihren Willen wieder in diese Fach- 
künste zurückgeworfien und müssen es sich gefallen lassen 
in Rechenkunst, Astronomie, Geometrie und Musik unter- 
richtet zu werden“) — dabei warf er einen Seitenblick 
auf den Hippias5)) —, wenn aber Hippokrates zu mir 
kommt, so wird er nichts anderes lernen als worauf es 
ihm ankommt. Was aber bei mir erlernt wird, ist Wohl- 
beratenheit einerseits in den persönlichen Angelegenheiten, 
also Kunde dessen, wie das Haus am besten verwaltet 
wird, anderseits in den öffentlichen Angelegenheiten, also 
die möglichst große Befähigung die Staatsangelegenheiten 
durch Wort und Tat zu leiten. 

Fasse ich deine Worte, erwiderte ich, auch richtig 
auf? Irre ich nämlich nicht, so meinst du damit die Staats- 
kunst und machst dich anheischig deine Schüler zu guten 
Staatsbürgern zu machen. 

Damit triffst du, mein Sokrates, genau das, wozu ich 
mich anheischig mache. 

10. Da hast du ja, entgegnete ich, einen wahren Zau- 
berstab in der Hand, wenn du ihn wirklich in der Hand 
hast. Denn ich will völlig offen gegen dich sein und 
nur sagen, was ich wirklich denke. Ich nämlich, mein 
Protagoras, war des Glaubens, dies sei nicht erlernbar°%); 
aber wie könnte ich deinen Worten den Glauben versagen ? 
Die Gründe aber, die mich bestimmen dies nicht für eine 
Sache zu halten, die erlernt werden und den Menschen 
durch Menschen beigebracht werden kann, bin ich schuldig 


dir darzulegen. Ich halte nämlich in Übereinstimmung 


319 5 


Protsgoras. 53 


mit den übrigen Hellenen die Athener für gescheite Leute. 
Nun sehe ich, daß diese, wenn wir zur Volksversammlung 
zusammentreten und der Staat in Bausachen etwas unter- 
nehmen will, die Baumeister als Ratgeber über die zu 
errichtenden Gebäude auftreten lassen, in Schiffsbauange- 
legenheiten dagegen die Schiffsbaumeister, und so auf 
allen anderen Gebieten, wo es sich um Dinge handelt, 
die ihrer Meinung nach erlernbar und lehrbar sind. Nimmt 
sich aber ein anderer heraus ihnen Rat zu erteilen, der 
ihrer Ansicht nach kein sachverständiger Werkmeister 
ist, so lassen sie sich das nicht gefallen, mag er auch noch 
so schön und reich und hochwohlgeboren sein, sondern 
lachen ihn aus und machen Spektakel, bis er entweder 
selbst, niedergedonnert durch den Lärm, von seinem Ver- 
suche zu reden absteht oder die Polizisten ihn von der 
Rednerbühne herunterziehen oder gar hinausbefördern auf 
Geheiß der Prytanen:). Bei allem also, wo es ihrer 
Meinung nach auf kunstmäßige Fachbildung ankommt, 
schlagen sie dies Verfahren ein; wenn es sich dagegen 
um eine Maßregel allgemeiner Staatsverwaltung handelt, 
80 tritt jedermann bei ihnen als Ratgeber zur Sache auf, 
gleichviel ob Zimmermann, ob Schmied oder Schuster, 
ob Kaufmann oder Schifisherr, ob reich oder arm, ob 
von hoher oder niederer Geburt, und niemand ergeht sich 
gegen ihn wie gegenüber den Vorgenannten in Lästerungen 
darüber, daß er ohne jede Sachkenntnis und ohne jede 
Schulung durch einen berufenen Lehrer sich anmaßt als 
Ratgeber aufzutreten; denn sie halten das offenbar nicht 
für lehrbar. Und das bezieht sich nicht etwa bloß auf 
die allgemeinen Staatsangelegenheiten: auch in den per- 
sönlichen Angelegenheiten sind die einsichtsvollsten und 
tüchtigsten Bürger nicht imstande diese ihre Tüchtigkeit 
auf andere zu übertragen. Denn Perikles, der Vater 
dieser Jünglinge hier,: hat sie in allem, wobei es auf 
Unterweisung durch Lehrer ankommt, gut und trefflich 
heranbilden lassen, was aber das Gebiet seiner besonderen 
st. eigenen Einsicht anlangt, so bildet weder er selbst sie 


54 Platons Dialoge. 


heran, noch vertraut er sie einem anderen an, sondern wie 
frei weidendes Herdengetier streifen sie, sich selbst über- 
lassen, umher, um auf gut Glück der Tüchtigkeit teil- 
haftig zu werden). Oder nimm den Kleinias®), den 
jüngeren Bruder unseres Alkibiades hier: ihn trennte 
der nämliche Perikles als Vormund, aus Furcht, er könnte _ 
vom Alkibiades auf schlechte Wege gebracht werden, von 
diesem und gab ihn zur Erziehung in das Haus des 
Ariphron5); doch ehe noch sechs Monate abgelaufen, 
gab er ihn dem Alkibiades zurück, da er nichts mit ihm 
anzufangen wußte. Und so könnte ich dir noch viele andere 
nennen5°), die, selbst hervorragend durch Tüchtigkeit, nie- 
mandem zur Besserung verhelfen konnten weder von ihren 
Angehörigen noch von Fremden. Ich also, mein Protagoras, 
kann im Hinblick auf diese Tatsachen nicht glauben, daß 
die Tugend lehrbar sei. Da ich dich aber dies behaupten 
höre, werde ich unsicher und glaube, daß doch etwas daran 
ist; denn ich bin überzeugt, daß du eine reiche Erfahrung 
besitzest, viel gelernt und manches selbst erfunden hast. 
Kannst du uns also in einleuchtender Weise nachweisen, 
daß die Tüchtigkeit (Tugend) lehrbar ist, so enthalte uns 
diesen Nachweis nicht vor, sondern gib ihn uns. 

Gut, mein Sokrates, versetzte er, er soll euch nicht 
vorenthalten werden. Aber soll ich euch, als älterer den 
jüngeren, den Nachweis geben durch Mitteilung eines 
Mythos, oder durch eine begriffsmäßige Erörterung ? 

Darauf riefen ihm viele der ringsumher Sitzenden 
zu, er möge es damit halten wie er wolle. 

So scheint es mir denn, erwiderte er, verlockender 
euch einen Mythos vorzutragen. 

11. Es war einmal eine Zeit”), wo es zwar Götter gab, 
aber noch keinerlei Art von sterblichen Wesen. Als aber 
für diese die vom Schicksal bestimmte Zeit ihrer Erzeugung 
gekommen war, da formen die Götter im Inneren der Erde 
sie aus einer Mischung von Erde und Feuer und allem, 
was sich dem Feuer und der: Erde durch Mischung bei- 
gesellt. Als es nun so weit war, daß diese Geschöpfe au 


21 St. 


Protagoras, δὶ 


das Tageslicht emporkommen sollten, gaben sie dem Prome- 
theus und dem KEpimetheus den Auftrag sie auszustatten 
und einem jeden die ihm nötigen Kräfte zuzuteilen 58), 
Epimetheus aber weiß durch Bitten den Prometheus zu 
bewegen ihm die Austeilung allein zu überlassen. Habe 
ich sie vollzogen, fügte er hinzu, so magst du sie nach- 
prüfen. Seine Bitte findet Erhörung und er nimmt die 
Verteilung vor. Dabei verfuhr er so: einigen verlieh er 
Stärke ohne Schnelligkeit, die Schwächeren hinwiederum 
versah er mit Schnelligkeit, den einen gewährte er Waffen, 
für die anderen, denen er eine wehrlose Natur gab, ersann 
er irgend ein anderes Schutzmittel. Denjenigen nämlich 
von ihnen, die er mit kleiner Gestalt bekleidete, schenkte 
er Flügel zur Flucht oder unterirdische Wohnstätte; den- 
jenigen dagegen, die er durch Größe auszeichnete, gewährte 
er eben durch diese ihre Größe auch Sicherheit. Und so 
vollzog er die Austeilung aller übrigen Gaben mit aus- 


gleichender Gerechtigkeit. Bei diesem Verfahren war er 


aber mit aller Vorsicht darauf bedacht, daß keine Gattung 
etwa dem Untergange geweiht wäre. Nachdem er ihnen 
nämlich ausreichenden Schutz gegen die Vernichtung im 
Kampfe miteinander gewährt, sann er darauf ihnen den 
Wechsel der Witterung erträglich zu machen. Zu dem 
Ende umkleidete er die einen mit dichten Haaren und 
starken Fellen, hinreichend zum Schutze gegen die Winter- 
kälte und geeignet auch zur Abwehr der Hitze; und wenn 
sie sich ihrer Lagerstätte zuwandten, so sollten eben diese 
Schutzmittel ihnen zugleich als eigene und von der Natur 
selbst mitgegebene Decke dienen; ihr Fußwerk aber sicherte 
er teils durch Hufe, teils durch starke und blutlose Häute. 
Des weiteren sodann verschaffte er ihnen Nahrung, den 
einen diese den anderen jene, den einen die Kräuter der 
Erde, anderen Früchte von Bäumen, wieder anderen Wur- 
zeln; und einigen sollten andere Tiere zur Nahrung dienen; 
die Zahl dieser reißenden Tiere schränkte er auf ein 
geringes Maß ein, wogegen die ihnen zur Beute dienenden 
mit großer Fruchtbarkeit bedacht wurden, um die Gattung 


un 


56 Platons Dialoge. 


vor dem Untergang zu bewahren. Epimetheus nun, mit 
Blindheit geschlagen, bemerkte nicht, daß er seinen Vorrat 
an schutzkräftigen Gaben schon völlig aufgebraucht hatte, 
ehe noch das Menschengeschlecht ausgestattet war, das 
nun allein noch übrig war; so war er denn ratlos, was 
er mit ilınen aniangen sollte. Wie er so nicht ein und 
nicht aus wußte, nahet sich ihm Prometheus in der Ab- 


sicht, die Verteilung nachzuprüfen. Alle anderen Geschöpfe 


nun findet er wohl versehen mit allem Nötigen, den 
Menschen aber nackend, ohne Schutz für die Füße, ohne 
Decke und Wehr. Und schon war auch der vom Schicksal 
bestimmte Tag erschienen, an dem auch der Mensch aus 
der Erde ans Tageslicht hervortreten sollte. In seiner 
Bedrängnis und Ratlosigkeit über das Schutzmittel, das 
er für den Menschen ausfindig machen sollte. stiehlt nun 
Prometheus die kunstreiche Weisheit des Hephaistos und 
der Athene mitsamt dem Feuer — denn ohne Feuer konnte 
sich niemand in den Besitz dieser Weisheit setzen und 
sie sich nutzbar machen — und so beschenkt er den damit 
den Menschen. Dadurch gewann denn der Mensch zwar 
die zur Erhaltung des Lebens nötige Einsicht, auer ἀκ 
staatsbürgerliche hatte er noch nicht. Denn sie war hoch 
oben in der Hut des Zeus; und in die Burg, die hohe 
Behausung des Zeus einzudringen war auch dem Prome- 
theus nicht möglich, zumal sie auch außerdem noch durch 
furchtbare Wachen gesichert war’). Wohl aber gelingt 
es ihm, heimlich in die gemeinsame Behausung der Athene 
und des Hephaistos einzudringen®), diese Werkstätte für 
ihre Kunstliebe. Da stiehlt er die Feuerkunst des Hephai- 
stos und die anders geartete Kunst der Athene und macht 
sie dem Menschen zum Geschenk. Und damit wird der 
Grund gelegt zu der leiblichen Wohlfahrt des Menschen, 
den Prometheus aber traf später infolge der Torheit des 
Epimetheus, wie die Sage erzählt, die Strafe für den 
Diebstahl. 

12. Da aber der Mensch nun göttlicher Güter teil- 
haftig geworden war, war er erstens unter allen Geschöpfen 


332 St 


Protagoras, 57 


wegen dieser Verwandtschaft mit den Göttern das einzige, 
das an Götter glaubte, und machte sich daran den Göttern 
Altäre und Standbilder zu errichten. Ferner schied und 
gliederte er auch bald die Laute der Stimme und ges'altete 
sie zu Worten; auch Wohnstätten, Kleider, Schuhe und 
Nahrung aus der Erde wußte er sich zu schaffen. So 
ausgerüstet wohnten die Menschen anfangs noch zerstreut, 
und Städte gab es noch nicht. Sie wurden daher eine Beute 
der wilden Tiere, weil sie ihnen durchweg an Kraft unter- 
legen waren; denn ihre kunstmäßige Geschicklichkeit bot 
ihnen zwar für den Lebensunterhalt hinreichende Sicherung, 
für den Kampf aber gegen die wilden Tiere war sie un- 
zureichend. Denn noch fehlte ihnen die staatsbürgerliche 
Kunst“), von der die Kriegskunst einen Teil ausmacht. 
So waren sie denn von dem Wunsche beseelt sich zusammen- 
zutun und zu sichern durch Gründung von Städten. 
Jedesmal aber, wenn sie sich zusammentaten, kam es zu 
Vergehungen und Beleidigungen gegeneinander, denn noch 
waren sie nicht im Besitz der staatsbürgerlichen Kunst; 
sie zerstreuten sich also bald wieder und fielen so dem 
- Verderben anheim. Dem Zeus also ward bange un das 
Menschengeschlecht, dessen völliger Untergang sich vor- 
zubereiten schien; darum entsandte er den Hermes als 
Bringer der Scham und des Rechtes an die Menschen, auf 
daß durch diese den Staaten Ordnung und freundschaft- 


licher Zusammenhalt zuteil werde. So fragt denn Hermes 


den Zeus, auf welche Art er Recht und Scham an die 
Menschen verleihen solle. Soll ich mich hierbei, fragt 
er, nach dem Muster richten, das die Verteilung der 
Künste bietet? Diese Verteilung ist folgender Art: ein 
Einzelner, der im Besitz der ärztlichen Kunst ist, reicht 
aus für viele Laien, und so steht es auch mit den anderen 
Werkmeistern. Soll ich es nun mit der Gründung von 
Recht und Scham unter den Menschen ebenso halten, 
oder soll ich sie an alle austeilen? An alle, erwiderte 
Zeus, und jeder soll daran teil haben. Denn nie wird 
es zum Bestehen von Staaten kommen, wenn nur wenige 


58 Platons Dialoge, 


jener Güter teilhaitig sind wie bei den anderen Künsten. 
Ja, du sollst in meinem Namen das Gesetz geben, dab, 
wer nicht imstande sei sich Scham und Recht zu eigen 
zu machen, dem Tod verfallen sei; denn er ist ein Geschwür 
am Leibe des Staates. 

So kommt es denn, mein Sokrates, und aus diesen 
Gründen leitet es sich her, daß wie alle anderen Menschen 
so auch die Athener, wenn es sich um bewährte Tüchtig- 
keit in der Baukunst oder einer anderen Fachkunst han- 
delt, meinen, nur einige wenige seien zu Ratgebern be- 
rufen; und wagt sich einer als Ratgeber hervor, der 
nicht zu diesen wenigen gehört, so lassen sie sich das 
nicht gefallen, wie du sagst, und zwar mit Recht nach 
meiner Meinung. Wenn sie ‘dagegen zu einer Beratung 
zusammentreten, zu der die Voraussetzung nur staats- 
bürgerliche Tüchtigkeit überhaupt bildet, wobei es also 
eben ganz auf Gerechtigkeit und Besonnenheit ankommt, 


da lassen sie sich mit Recht das Auftreten eines jeden 


gefallen, weil jedermann dieser Tüchtigkeit teilhaftig sein 
muß, wenn es überhaupt Staaten geben soll. Das, mein 
Sokrates, ist der Grund für die fragliche Sache. 

Damit du aber nicht meinest, es sei nur darauf abgelegt 
dich zu täuschen, so vernimm auch noch den folgenden 
Beweis für die Behauptung, daß die Menschen durchweg 
g'aubcn, jedermann habe Anteil an der Gerechtigkeit und 
der sonstigen staatsbürgerlichen Tugend. Auf allen anderen 
Gebieten nämlich verhält es sich mit der Tüchtigkeit so 
wie du sagst: wenn einer sich für einen guten Flötenspieler 
ausgibt oder für einen Meister in sonst einer Kunst, ohne 
es zu sein, so lacht man ihn entweder aus oder ärgert sich 
über ihn, ja die eigenen Angehörigen kommen und setzen 
ihm den Kopf zurecht wie einem Wähnwitzigen; handelt 
es sich aber um Gerechtigkeit und um die sonstige bürger- 
liche Tugend, so mag einer noch so allgemein als unge- 
rechter Mann bekannt sein, man hält trotzdem, wenn 
er in Gegenwart vieler von ‚sich selbst die Wahrheit 
sagt, das, was man in jenem Falle für geboten und ver- 


523 St, 


824 St 


Protugoras. ζ0 


nunfigemäß hielt, in diesem Falle für Verrücktheit, denn 
man sagt, jeder müsse sich selbst für einen gerechten 
Mann ausgeben, gleichviel ob er es wirklich ist oder 
nicht, und wer sich nicht für gerecht erkläre, der sei 
nicht bei Sinnen, denn jeder ohne Ausnahme müsse irgend- 
wie an der Gerechtigkeit Anteil haben, wenn er über- 
haupt in Gemeinschaft mit anderen leben wolle“). 

15. Dies mag genügen zum Nachweis, dab man mit 
Recht, wo es sich um diese Tugend handelt, sich jeden 
als Ratgeber gefallen läßt, da man einem jeden seinen An- 
teil daran zuschreibt. Daß man aber anderseits auch nicht 
glaubt, sie sei ein bloßes Geschenk der Natur oder stelle 
sich von selbst ein, sondern sie müsse durch Belehrung 
erworben werden, und wer ihrer teilhaftig werde, der 
habe dies nur seinem regen Bildungseifer zu verdanken, 
Was will ich dir nunmehr darzutun suchen. Wo es sich 
nämlich um menschliche Schwächen und Gebrechen handelt, 
Cie man auf Rechnung der Natur oder des Zufalls setzt, 
da fühlt sich niemand zum Zorne veranlaßt gegen die 
damit Behafteten, auch kommt man ihnen nicht mit Mah- 
nungen, Belehrungen und Strafe, um sie zu bessern, 
sondern man hat Mitleid mit ihnen. Wie wäre z.B. 
jemand so unvernünftig, gegen häßliche oder kleine oder 
schwächliche Menschen sich ein derartiges Verhalten zu 
erlauben? Denn man weiß, dächt’ ich, daß Eigenschaften 
dieser Art den Menschen von Natur oder durch Zufall 
zuteil werden, die Vorzüge sowohl wie die gegenteiligen 
Fehler. Ganz anders sieht es mit allen den menschlichen 
Vorzügen, die man für Früchte des Fleißes, der Übung 
und der Unterweisung ansieht: wenn einer diese nicht 
besitzt, sondern die gegenteiligen Fehler, dann führt das 
zu Zornesausbrüchen, Strafen und Mahnungen. Und zu 
diesen Fehlern gehört als einer auch die Ungerechtigkeit 


‚und die Gottlosigkeit; wie überhaupt alles was der bür- 


gerlichen Tugend entgegengesetzt ist; und hier zürnt denn 
auch jeder jedem und läßt seine Mahnungen über ihn 
ergeben, olienbar in.der Überzeugung, daß sie ein durch 


60 Platons Dialoge 


Strebsamkeit und Belehrung zu erwerbendes Gut ist. Du 
brauchst, mein Sokrates, dein Augenmerk nur auf die 
Bestrafung der Übeltäter zu richten und dich zu fragen, 
was es damit auf sich habe: da wirst du alsbald die 
Lehre daraus ziehen, daß die Menschen die Tugend für 
ein Gut halten, das man sich erwerben kann. Straft ja 
doch niemand den Missetäter im Hinblick darauf und 
um deswillen, weil er sich vergangen hat — denn das 
Geschehene kann er nicht ungeschehen machen — son- 
dern um des künftigen willen, auf daß weder der Täter 
selbst wieder Unrecht tue noch ein anderer, der Zeuge 
seiner Züchtigung wars). Und wenn er so. denkt, so 
hält er die Tugend für ein durch Erziehung erlangbares 
Gut; denn er straft der Abschreckung wegen. Dieser 
Ansicht sind nun alle, welche Strafen verhängen, sei 
es im eigenen Hause oder im Staate. Überall aber in 
der Welt straft und züchtigt man diejenigen, die man 
eines Frevels für schuldig hält und nicht am wenigsten 
geschieht dies in Athen von seiten deiner Mitbürger. Hat 
es damit seine Richtigkeit, so gehören demnach auch 
die Athener zu denjenigen, die da glauben, die Tugend 
lasse sich erwerben und durch Lehre gewinnen. Dab 
deine Mitbürger also mit Recht in staatsbürgerlichen An- 
gelegenheiten sich den Rat eines Schmiedes und Schusters 
geiallen lassen und daß sie die Tugend für etwas halten, 
das lehrbar und durch eigenes Bemühen erreichbar ist, 
das ist dir nun, mein Sokrates, zur Genüge dargetan, 
wie es mir wenigstens scheint. 

14. Noch bleibt nun die heikele Frage zu lösen, 
die sich auf die durch Tüchtigkeit hervorragenden Männer 
bezieht. Wie kommt es, so frägst du‘), daß die tüchtigen 
Männer ihren eigenen Söhnen alles das beibringen, wo- 
bei es auf die Unterweisung durch Lehrer ankommt, und 
ihnen die Pforten der Weisheit öffnen, dagegen auf dem 
Felde, wo ihre eigentliche Stärke und Tüchtigkeit liegt, 
sie nicht über die Stufe zu .erheben wissen, auf der 
auch jeder beliebige andere steht? Was nun diesen Punkt 


25 St. 


Protagorns,. 61 


anlangt, mein Sokrates, so will ich dir nicht wieder mit 
einer Märchenerzählung antworten, sondern mit einer 
sachlichen Erörterung. Sieh dir nämlich die Sache von 
folgender Seite an. Gibt es oder gibt es nicht ein Gut, 
dessen sämtliche Bürger teilhaftig sein müssen, wenn ein 
Staat Bestand haben soll? Hierin oder sonst nirgends 
liegt der Schlüssel zur Lösung deines Bedenkens. Ver- 
stehe dich einmal zu der Annahme: es gibt ein solches 
einzigartiges Gut, und dies ist weder die Baukunst noch 
die Schmiede- oder Töpferkunst, sondern die Gerechtigkeit, 
die Besonnenheit und Frömmigkeit, oder mit einem Wort 
die Mannestugend. Ist es nun diese, deren alle teilhaftig 
sein müssen, und mub jedermann, auch wenn er etwas 
anderes erlernen oder vollbringen will, es stets nur im 
Bunde mit dieser tun, nie aber ohne sie — wo nicht, 
so muß man den Betreffenden, gleichviel ob Knabe, Mann 
oder Weib, so lange belehren und züchtigen, bis er sich 
infolge der Züchtigung bessert, ist ihm aber durch Züch- 
tigung und Belehrung nicht beizukommen, so muß man 
ihn als unheilbar aus der Stadt verbannen oder töten — 
wenn es sich also dermaßen verhält, und wenn trotz 
dieses Sachverhaltes die durch Tüchtigkeit hervorragenden 
Männer ihre Söhne zwar auf allen anderen Gebieten un- 
terweisen lassen, auf diesem aber nicht, so betrachte 
dir die wunderliche Lage, in der sich die tüchtigen Männer 
befinden. Denn daß man die Sache allgemein sowohl 
im persönlichen wie im öffentlichen Leben für lehrbar 
hält, haben wir dargetan; doch trotz dieser ihrer Lehr- 
barkeit und der Möglichkeit sie durch sorgfältige Er- 
ziehung einem mitzuteilen, lassen sie nun ihre Söhne 
zwar in allem anderen, wo im Falle der Unwissenheit 
von Todesstrafe nicht die Rede ist, unterweisen; hin- 
gegen da, wo Unwissenheit und Mangel an sittlicher 
Bildung für ihre Söhne Todesstrafe und Verbannung und 
außerdem auch noch Vermögenseinziehung, kurz und gut 
den Ruin ganzer Familien zur Folge hat, darin sollen 
sie sıe nicht unterrichten lassen und nicht ihre ganze 


-.-ο-..... 


62 Platous Dialoge. 


Sorge ihnen zuwenden? Das sollte man ihnen doch zu- 
trauen, mein Sokrates. | 

15. Gleich nach der Geburt der Kinder beginnen 
sie doch mit deren Erziehung und stehen ihnen solange 
sie leben, mit ihren Lehren und Verwarnungen zur Seite. 
Sobald das Kind die gehörten Worte versteht, sind Amme, 
Mutter, :. Aufseher und der Vater selbst wetteifernd be- 


müht, das Kind so wohlgesittet wie möglich zu machen, 


indem sie alles, was.es tut und spricht, mit ihren Lehren 
begleiten und ihm Anweisung geben: das ist recht, 
das unrecht, das schön, das häßlich, dies gottgefällig, 
dies gottlos, das mußt du tun, das dagegen lassen. Und 


folgt es willig, dann gut; wo nicht, so renkt man es 


wie verbogenes und gekrümmtes Holz durch Drohungen 
und Schläge wieder gerade. Wenn sie sie dann in die 
Schule schicken, so verlangen sie von dem Lehrer weit 
dringender, daß er auf gute Führung ihrer Kinder bedacht 
sei als auf Lesen, Schreiben und Zitherspiel. Die Lehrer 
aber haben darauf acht, und sind die Kinder so weit, 
daß sie die Buchstaben erlernt haben und Geschriebenes 
demnächst so gut verstehen werden wie vordem die münd- 
liche Rede, so legen sie ihnen auf den Schulbänken die 
Werke guter Dichter zum Lesen und Auswendiglernen 
vor, in denen sich viele gute Lehren finden, auch viele 
eingehende Schilderungen und Verherrlichungen und Lob- 
preisungen trefilicher Männer‘) vergangener Zeiten; denn 
ihnen soll der Knabe nacheifern und ihnen ähnlich zu 
werden bestrebt sein. Und ein ähnliches Ziel verfolgen 
auch die Lehrer des Saitenspiels; denn ihr Absehen ist 
auf Maß und Sittsamkeit gerichtet, sowie darauf, daß 
die Knaben nicht auf falsche Wege geraten. Zudem legen 
sie ihnen, wenn sie das Zitherspielen erlernt haben, auch 
ihrerseits Werke von Dichtern vor, und zwar von anderen 
Dichtern, nämlich von Iyrischen, sie der Melodie an- 
passend, und sie verabsäumen nichts, um den Seelen der 
Knaben den Sinn für Takt und Harmonie fest einzu- 
prägen, auf daß sie sanfter, taktvoller und, harmonischer 


326 St. 


Protegoras. 65 


werden und dadurch tauglicher zum Reden und Handeln; 
denn das ganze Leben der Menschen bedarf einer wohl 
abgemessenen und harmonischen Gestaltung‘). Außerdem 
schicken 'sie die Knaben auch noch zum Turnlehrer in 
die Schule, auf daß sie, körperlich gedeihend und ge- 
kräftigt, einer edlen Sinnesart huldigen und nicht in die 
Lage kommen wegen körperlicher Unzulänglichkeit im 
Kriege und bei ihren sonstigen Betätigungen zaghaft zu 
versagen. Und diejenigen, die am meisten vermögen, fol- 
gen auch am ausgiebigsten diesen Grundsätzen; am meisten 
aber vermögen die Reichsten, und deren Söhne sind es 
denn auch, die zuerst unter ihren Altersgenossen in die 
Schule eintreten und zuletzt aus ihr ausscheiden. Sind 
sie aber aus der Schule entlassen, so zwingt sie der Staat 
sich mit den Gesetzen genau bekannt zu machen und 
ihre Lebensführung nach ihnen zu regeln, auf daß sie 
in ihren Handlungen nicht blindlings ihrem eigenen Willen 
folgen. Vielmehr soll es dabei ganz ähnlich hergehen 
wie beim Elementarlehrer, der mit dem Griffel den noch 
nicht schreibfertigen Kindern Linien zieht und sie zwingt 
' sich mit ihren Schreibversuchen nach diesen Linien zu 
richten: so hat auch der Staat als Richtschnur die Ge- 
setze aufgestellt, diese Geistesdenkmale trefflicher alter 
Gesetzgeber, und zwingt einen jeden nach ihnen sein 
Amt zu führen und sich führen zu lassen; und wer sich 
dem nicht fügt, den trifft Strafe. Für diese Strafe ist 
bei euch wie auch vielfach anderwärts der Name Zurecht- 
weisung (εὔϑυνα) üblich, weil das Recht den geraden 
Weg anweist. Angesichts nun dieser umfassenden per- 
sönlichen und staatlichen Fürsorge für die Tugend wun- 
. derst du dich, mein Sokrates, und kannst dich nicht darein 
finden, daß die Tugend lehrbar sei? Nein, nicht das 
ist Grund zur Verwunderung, sondern weit mehr müßte 
man sich wundern, wenn sie nicht lehrbar wäre. 
‚16. Wie kommt es nun, daß so oft tüchtige Väter 
schlecht geratene Söhne haben? Auch darüber laß dich 
belehren. Es ist dies nämlich nichts Wunderbares, wenn 


64 Platons Dialoge 


anders ich in meiner früheren Ausführung”) die Wahr- 
heit sagte, mit der Behauptung nämlich, es dürfe, wenn 
ein Staat Bestand haben soll, sich niemand der Gemein- 
schaft mit dieser Sache, nämlich der Tugend, entziehen. 


327 St. 


Denn wenn es sich damit so verhält, wie ich sage — das 


aber ist über jeden Zweifel erhaben —, so überlege dir 
die Sache mit Hilfe eines Beispiels, das von irgend einer 
anderen Beschäftigung oder Wissenschaft hergenommen 
ist. Setze den Fall, es könnte kein Staat Bestand haben, 
wenn wir nicht alle Flötenbläser wären, soweit dies für 
einen jeden seiner Fähigkeit nach möglich wäre, und 
es unterwiese darin ein jeder den anderen sowohl da- 
heim wie auch von Staats wegen, sparte auch nicht mit 
Vorwürfen gegen den Stümper in dieser Kunst und wäre 
in bezug auf sie ebenso neidlos und mitteilsam, wie es 
derzeit jeder in Beziehung auf Rechtlichkeit und Ge- 
setzlichkeit ist, für die es kein Geheimhalten gibt wie 
bei den übrigen Künsten — denn Gerechtigkeit und Tu- 
gend, dächt’ ich, bringt uns gegenseitigen Nutzen, wes- 
halb denn jeder gern dem anderen Auskunft und Be- 
lehrung erteilt über Recht und Gesetz — gesetzt also, 
wir zeigten auch in der Flötenkunst diese neidlose Be- 
reitwilligkeit zu gegenseitiger Belehrung, glaubst du etwa, 
Sokrates, die Söhne der guten Flötenspieler würden dann 
wohl in höherem Grade gute Flötenspieler werden als 
die der schlechten? Ich glaube es nicht, sondern wessen 
Sohn von der Natur mit der besten Anlage für das 
Flötenspiel ausgestattet wäre, der würde sich auch durch 
seine Fortschritte einen Namen machen, der nicht Be- 
anlagte dagegen würde im Dunkel bleiben und oft genug 
würde es vorkommen, daß der Sohn eines guten Flöten- 
spielers ein schlechter, der Sohn eines schlechten dagegen 
ein guter Flötenspieler würde Aber so viel ist gewiß: 
sie alle würden doch immer noch ausreichend Flöten- 
spieler sein im Vergleich zu denen, die dem Flötenspiel 
als vollständ’ge Laien gegenüberstünden und gar nichts 
davon verstünden. So sei überzeugt, daß auch in unserer 


σε 


Protagoras, 65 


jetzigen Welt der scheinbar ungerechteste Mensch inner- 
halb der gesetzmäßig erzogenen Menschheit immerhin noch 
gerecht und ein Mitarbeiter an der Gerechtigkeit sein 
dürfte, wenn man ihn mit Menschen vergleicht, die von 
Erziehung nichts wissen, keine Gerichte, keine Gesetze, 
keinen Zwang kennen, der sie nötigt sich unter allen 
Umständen der Tugend zu befleißigen, sondern die in 
völliger Wildheit leben, ähnlich denen, welche der Dichter 
Pherekrates#) vorm Jahre am Lenäenfest auf die Bühne 
brachte. Gerietest du unter Menschen dieser Art, wie 
jene Menschenfeinde, die mit jenem Chor zusammentrafen, 
dann würdest du geradezu beglückt sein, wenn du etwa 
auf einen Eurybatos und Phrynondas*°) stießest und wür- 
dest in Wehklagen ausbrechen vor Sehnsucht nach der 
Schlechtigkeit deiner Mitbürger. So aber bist du eben 
verwöhnt, Sokrates, weil jedermann ein Lehrer der Tu- 
gend ist, soweit er dazu fähig ist, und willst keinen dafür 
gelten lassen. Es ist etwa so, als suchtest du nach einem 


. Lehrer im Griechischsprechen%): es würde sich keiner 


finden, und ähnlich, glaube ich, würde es dir ergehen, 


- wenn du einen Lehrer suchtest für Söhne von Handwerkern 


in der nämlichen Kunst, die sie schon von ihrem - Vater 
erlernt haben, soweit die Fähigkeit dieses ihres Vaters. 
und der Kunstgenossen des Vaters dazu reichte: es würde, 
mein Sokrates, nicht leicht sein einen Lehrer für sie zu 
finden, während sich für die noch völlig Unkundigen 
mit größter Leichtigkeit ein solcher finden würde. So 
steht es denn auch mit der Tugend und mit allem anderen. 
Man muß schon zufrieden sein, wenn unter uns einer 
auftritt, der sich besser als andere auf fördernde Be- . 
lehrung in der Tugend versteht. Und von diesen glaube 
auch ich einer zu sein und halte mich vor anderen dazu 
berufen, den Menschen in ihrem Streben nach dem Schönen 
und Guten nützlich zu sein, und das Lehrgeld, das ich 
dafür fordere, ist eher zu niedrig als zu hoch, auch nach 
der Ansicht der Schüler selbst. Daher habe ich für die 
Einziehung des Lehrgeldes mir folgendes Verfahren zu- 
Apelt, Platon Protagoras. Phil, Bibl, Bd. 175. 5 


N 


f 


66 Platons Dialoge. 


recht gelegt: hat jemand meinen Unterricht genossen, 
so zahlt er, wenn er einverstanden ist, den von mir 
geforderten Betrag; wo nicht, so verfügt er sich in einen 
Tempel, erklärt eidlich,. wie hoch er den Wert meines 
Unterrichts schätzt und erlegt die entsprechende Summe’”*). 

So habe ich dir denn, mein Sokrates, nicht nur durch 
eine erfundene Erzählung, sondern auch durch einen sach- 
lichen Nachweis dargetan, daß die Tugend etwas Erlern- 
bares ist und von den Athenern auch dafür gehalten wird, 
und ferner, daß es nicht zu verwundern ist, wenn trefi- 
liche Väter schlechte Söhne und schlechte Väter treffliche 
Söhne haben. Haben doch auch des Polykleitos Söhne, 
die Altersgenossen des Paralos und Xanthippos hier’?2), 
nichts von dem Talent ihres Vaters geerbt und so steht 
es auch mit den Söhnen von Meistern anderer Künste. 
Aber den Söhnen des Perikles hier darf man noch nicht 
einen derartigen Vorwurf machen. Denn sie geben der 
Hoffnung noch Raum, da sie noch jung sind. 

17. Damit beschloß Protagoras seine nach Umfang 
und Inhalt so reichhaltige Rede. Und ich blickte noch 
lange Zeit ganz entzückt auf ihn hin in der Erwartung, 
er würde noch weiter reden, voller Begierde ihn zu hören. 
Als ich aber denn doch merkte, daß er wirklich geschlossen 
hatte, sammelte ich mich endlich wieder, so schwer es 
mir auch wurde, und sagte zum Hippokrates gewendet: 
‚Wie dankbar bin ich dir, du Sohn des Apollodoros, daß 
du mich veranlaßt hast mit hierher zu kommen. Denn 
ich erachte es für einen großen Gewinn das gehört zu 
haben, was ich eben vom Protagoras vernommen habe. 
War ich doch bisher der Meinung, es sei nicht mensch- 


liche Fürsorge, durch welche die Guten gut würden; 


jetzt aber bin ich davon überzeugt. Nur eine Kleinig- 
keit?®) ist mir noch im Wege, über die mich Prota- 
goras leicht aufklären wird, da er mir ja über so vieles 
Aulfschluß gegeben hat. Wenn sich nämlich jemand über 
eben diese Fragen mit einem: unserer Volksredner unter- 


halten wollte, so würde er vielleicht auch solche Reden 399 : 


Protagoras. 67 


zu hören bekommen, sei es von Perikles oder einem an- 
deren bedeutenden Redner. Wenn er aber daran noch 
weitere Fragen knüpfen wollte, so wissen sie, den Büchern 
gleich, weder zu antworten noch selbst zu fragen, sondern 
wenn einer auch nur die kleinste nachträgliche Frage 
über das Vorgetragene an sie richtet, dann gleichen diese 
Redner den Erzplatten, die, wenn man sie anschlägt, lange 
noch nachklingen und forttönen, so lange man-sie nicht 
mit kräftigem Griffe anfaßt’‘); denn auch sie machen, 
nach einer Kleinigkeit gefragt, ihre Antwort zu einer 
wahren Dauerrede. Unser Protagoras hier aber versteht 
sich nicht nur darauf lange, schöne Reden zu halten, 
wie das Gehörte sie zeigt, sondern auch auf Fragen kurz 
zu antworten, und wenn er selber fragt, mit Geduld die 
Antwort abzuwarten, ein Vorzug, der nur wenigen be- 
schieden ist. Jetzt nun, mein Protagoras, fehlt nur noch 
eine Kleinigkeit. Ich werde also vollständig befriedigt 
sein, wenn du. mir folgende Frage beantwortest. Du be- 
hauptest, die Tugend sei lehrbar und ich glaube dir das; 
denn wem sollte ich sonst glauben, wenn ich dir nicht 
‚glaube? Worüber ich aber bei dieser Behauptung. nicht 
recht hinwegkomme, darüber mußt du meine Seele be- 
ruhigen. Du sagtest nämlich, Zeus habe den Menschen 
die Gerechtigkeit und Scham gesandt, und mehrfach wurde 
in deinen Ausführungen behauptet, die Gerechtigkeit, 
Besonnenheit und Frömmigkeit bildeten zusammen eine 
Einheit, nämlich die Tugend”). Darüber nun gib mir 
genauen Aufschluß, ob die Tugend zwar eine Einheit 
ist, aber doch nur so, daß die Gerechtigkeit, Besonnen- 
heit und Frömmigkeit Teile von ihr sind’), oder ob die 
eben genannten Tugenden alle nur verschiedene Namen 
sind für die eine und gleiche Sache. Das ist es, was 
ich noch vermisse. | 

18. Nun, mein Sokrates, erwiderte er, darauf ist die 
Antwort leicht gegeben: die Seelenbeschaffenheiten, nach 
denen du fragst, sind Teile jenes Einen, nämlich der 
Tugend. "Ἢ [51 

5* 


08 Flatons Dialoge. 


Verhält es sich nun, versetzte ich, mit diesen Teilen 
so wie mit den Teilen des Gesichtes, mit Mund, Nase, 
Augen und Ohren, oder unterscheiden sich diese Teile 
so wie die Teile des Goldes durch nichts weder voneinander 
noch von dem Ganzen als durch Größe und Kleinheit Ὁ 

Es ist, Sokrates, wie mir scheint, ein Verhältnis 
der ersteren Art, also wie das der Teile des Gesichts 
zum ganzen Gesicht. 

Wie steht es nun? fuhr ich fort. Terlangen die Men- 
schen von diesen Teilen der Tugend die einen diesen, 
die anderen jenen Teil, oder kommt man, wenn man 
einen erlangt hat, notwendig zugleich in den Besitz aller ἢ 

Durchaus nicht, erwiderte er, denn viele sind tapfer, 
aber dabei doch ungerecht, und anderseits gerecht, dabei 
aber doch nicht weise. | 

Also auch das sind Teile der ΤΠ fuhr ich fort, 
Weisheit und Tapferkeit? 

Eben diese erst recht, versetzte er. Und die ‚Weis- 
heit ist der allerwichtigste dieser Teile. 


530 S 


Jeder dieser Teile aber ist, fuhr ich fort, etwas 


Besonderes, von dem anderen Verschiedenes? 

Ja. 
Hat auch jeder seine eigene Bestimmung und Wir- 
kungsweise, wie die Teile des Gesichtes? Das Auge ist 
doch seiner Beschaffenheit nach etwas anderes als die 
Ohren und die Bestimmung beider ist nicht dieselbe; 
und auch von den übrigen Teilen ist keiner dem anderen 
gleich weder seiner Wirkungsweise nach noch in den 
sonstigen Beziehungen. Steht es nun auch so mit den 
Teilen der Tugend, daß sie einander nicht gleichen, weder 
an sich noch ihrer Bestimmung nach? Oder bedarf es 
da überhaupt erst noch einer Frage, wenn sie doch mit 
dem Musterbeispiel in Einklang bleiben sollen ? 

Ja, in der Tat verhält es sich damit so, erwiderte er. 

Und ich fuhr nun fort: keiner der Teile der Tugend 
gleicht also dem anderen; keiner gleicht also der Ein- 


Protagoras. 69 


sicht (Weisheit), keiner der Gerechtigkeit, keiner der 
Tapferkeit, keiner der Besonnenheit, keiner der Frömmig- 
keit. 

Nein, sagte er. 

Wohlan, sagte ich, laß uns gemeinsam die Eigenart 
eines jeden betrachten. Und der Anfang mag folgender 
sein: Ist die Gerechtigkeit ein bestimmtes Etwas oder 
kein solches? Mir scheint es so, wie aber dir? 

Auch mir, erwiderte er. 

Wie nun, wenn jemand an mich und dich die Frage 
richtete: Protagoras und Sokrates, sagt mir doch, ist 
mit diesem bestimmten Etwas, der Gerechtigkeit, wie ihr 
es eben nanntet, eben dieses Merkmal verbunden, gerecht 
zu sein’), oder ungerecht? Ich würde ihm antworten: 
gerecht. Und wie würdest du dich entscheiden ? Ebenso 
oder anders? 

Ebenso, versetzte er. 

Die Gerechtigkeit ist also ebensoviel wie Gerecht- 
sein, würde ich dem Frager zur Antwort. geben; und 
du nicht gleichfalls ? 

Ja, sagte er. 

Wenn er uns nun weiter fragte: Nicht wahr, auch 
eine Tugend der Frömmigkeit gibt es doch nach euerer 
Behauptung? so würden wir das zugeben, dächt’ ich. 

Ja, versicherte er. 

Ist auch diese euerer Meinung nach ein bestimmtes 
Etwas? Würden wir das zugeben oder nicht? 

Auch das würden wir zugeben. 

Ist nun dieses bestimmte Etwas an und für sich 
seiner Natur nach so beschaffen, daß es gottlos ist, oder 
so, daB es fromm ist? Wenn er so fortfahren wollte, 
dann würde ich, entrüstet über solche Frage, ihm zu- 
rufen: „Schweig still, du Elender; wenn die Frömmig- 
keit selbst nichts Frommes ist, was soll denn dann sonst 
noch fromm sein?“ Und du, würdest du nicht ebenso 
antworten ? | | | 

Ganz entschieden, versicherte er. 


70 Platons Dialoge. 


19: Wenn. er nun darauf uns weiter fragte: "Wie 
hieß es denn kurz vorher? Habe ich etwa nicht richtig 
gehört? Irre ich nicht, so behauptetet ihr doch, die Teile 
der Tugend verhielten sich so zueinander, daß keiner 
dem anderen gleiche. Darauf würde ich ihm antworten: 
Im übrigen hast du richtig gehört, wenn du aber meinst, 
ich hätte dies behauptet, so hat dich dein Gehör darin 
betrogen. Denn Protagoras hier war es, der dies be- 
hauptete, ich war nur der Fragende. Wenn er also sagte: 
Ist es wahr, Protagoras, was dieser da sagt? Bist du 
es der da behauptet, die Teile der Tugend glichen ein- 
ander nicht? Ist das deine Ansicht? Was würdest du 
ihm antworten ? τ ᾿ 

Ich könnte nicht anders, Sokrates, als es ihm ein- 
räumen. | 

Was also, mein Protagoras, werden wir ihm nach 
diesem Zugeständnis antworten, wenn er folgendermaßen 
zu fragen fortführe: So ist also die Frömmigkeit nicht 
von der Art, daß sie etwas Gerechtes ist, und die Ge- 
rechtigkeit nicht von der Art, daß sie etwas Frommes 


ist, sondern etwas Nichtfrommes; und die Frömmigkeit 


etwas was nicht gerecht, also ungerecht ist, und die Ge- 
rechtigkeit etwas Gottloses? Was sollen wir ihm darauf 


antworten? Ich für mein Teil wenigstens würde erwidern, 


sowohl die Gerechtigkeit sei etwas Frommes wie auch 
die Frömmigkeit etwas Gerechtes’s). Und auch in deinem 
Namen würde ich, deine Erlaubnis vorausgesetzt, die 
nämliche Antwort geben, daß die Gerechtigkeit entweder 


dasselbe ist wie die Frömmigkeit oder ihr so ähnlich 


wie nur möglich, und daß es nichts gibt, was der Frömmig- 
keit seinem Wesen nach so verwandt wäre wie die Ge- 
rechtigkeit und der Gerechtigkeit so verwandt wie die 
Frömmigkeit. Entscheide dich nun, ob du gegen diese 
Antwort etwas einzuwenden hast oder ob auch du so 
denkst. 

Mir scheint, erwiderte er, mein Sokrates, die Sache 
denn doch nicht selbstverständlich genug zu sein, um 


332 St. 


Protagoras. 11 


einzuräumen, daß die Gerechtigkeit etwas Frommes und 
die Frömmigkeit etwas Gerechtes sei, sondern es scheint 
mir dabei noch ein Unterschied vorzuliegen. Doch was 
kommt es darauf an? sagte er; denn wenn es dir beliebt, 
mag uns auch die Gerechtigkeit als fromm und die 
Frömmigkeit als gerecht gelten. 

Mir nicht, versetzte ich; denn ich lege für die Un- 
tersuchung gar kein Gewicht auf dies „wenn es dir be- 
liebt“ oder „wenn es dir so scheint“, dagegen alles Ge- 
wicht darauf, daß das wirkliche Ich und Du der Prüfung 
unterworfen werde. Wenn ich aber sage Ich und Du, 
so meine ich damit die Sache selbst; diese nämlich wird 
am besten geprüft, wenn man dies ‚Wenn aus ihr aus- 
scheidet 9), 

Nun, es gleicht, sagte er, die Gerechtigkeit in der 
Tat in gewisser Beziehung der Frömmigkeit; denn in 
irgend einer Beziehung gleicht jedes Ding dem anderen®®). 
Gleicht doch in gewisser Beziehung auch das Weiße dem 
Schwarzen und das Harte dem Weichen und so weiter 
bei allen auch noch so scharfen Gegensatzpaaren. Und 
auch die Teile des Gesichtes, von denen wir seiner Zeit 
behaupteten, sie hätten jeder seine besondere Bestimmung 
und seien einander nicht gleich — auch sie sind in 
gewissem Sinne sich ähnlich und gleichen einander. Mit- 
hin könntest du auf diese Art, wenn es dir so beliebte, 
auch von allen diesen Gesichtsteilen beweisen, daß sie 
einander gleich seien. Allein es ist nicht statthaft, Dinge, 
die bloß eine gewisse Ähnlichkeit haben, darum schon 
ähnlich zu nennen — ebensowenig wie unähnlich solche, 
die nur eine gewisse Unähnlichkeit haben — auch wenn 
die Ähnlichkeit nur eine ganz entfernte ist. 

Da sagte ich verwundert zu ihm: Verhält sich wirk- 
lich das Gerechte und Fromme so zueinander, daß sie 
nur eine entfernte Ähnlichkeit haben? 

Das nicht, doch verhält es sich damit auch nicht so, 
wie du anzunehmen scheinst. 

Nun gut, sagte ich, so laß uns denn diese Frage, 


79 | Platons Dialoge. 


da sie dir unbequem zu sein scheint, fallen und uns der 
Betrachtung einer anderen von deinen Behauptungen zu- 
wenden. 

20. Dir ist doch das Wort „Unverstand“ (ἀφροσύνη) 
bekannt ? 

Jawohl. 

Das gerade Gegenteil davon ist doch die Weisheit 
(σοφία) ὃ 

So scheint es mir, erwiderte 6181). 

Wenn die Menschen nun richtig und in einer en 
nützlichen Weise handeln, a sie dir dann auf 
Grund solcher Händlunpsweise besonnen zu sein (σωφρο- 
veiv) oder das Gegenteil? 

Besonnen, erwiderte er. 

Besonnen sind sie doch wohl durch Besonnenheit ? 

Notwendig. 

‚Wer nun nicht recht handelt, handelt doch unver- 
ständig, und wer so handelt, ist doch nicht besonnen ἢ 

Einverstanden, erwiderte er. 

Dem -besonzem handeln“ (σωφρόνως πράττειν) at 
also doch als Gegenteil gegenüber das „unverständig han- 
deln“ (ἀφρόνως πράττει») 6 

Er gab es zu. 

Die unverständigen Handlungen werden nun doch 
aus Unverstand begangen, die besonnenen dagegen auf 
Grund der Besonnenheit ὃ 

Er räumte es ein. 

Wird nicht, wenn etwas mit Kraft vollbrachb wird, 
kräftig gehandelt, und wenn mit Schwäche, dann schwäch- 
lich®)? 

Er war einverstanden. 

Und wenn mit Schnelligkeit, dann schnell, und wenn 
mit Langsamkeit, dann langsam? 

Er gab es zu. 

Und bei gleicher Handlungsweise ist der Grund da- 
zu doch auch derselbe und bei entgegengesetzter der ent- 
gegengesetzte ἢ 


Protagoras 73 


Er stimmte zu. 

Nun wohl also, sagte ich, gibt es denn ein Schönes ? 

Er gab es zu. 

Ist diesem etwas anderes entgegengesetzt als das 
Häßliche ? 

Nein. 

Und ferner ein Gutes? 

Ja. 

Ist diesem etwas anderes entgegengesetzt als das 
Schlechte) ? 

Nein. 

Und gibt es ferner einen hohen Ton? 

Ja. 

Und diesem ist doch nichts ‚anderes entgegengesetzt 
als der tiefe Ton? 

Nichts anderes. 

Bei Gegensätzen also, sagte ich, steht dem einen 
immer nur eines als Gegenteil gegenüber und nicht vieles? 

Er erklärte sich einverstanden. 

Wohlan denn, fuhr ich fort, lab uns unsere Zuge- 
. ständnisse zusammenfassen und im ganzen überblicken. 
Wir haben doch zugestanden, daß einem immer nur eines 
und nicht mehreres entgegengesetzt ist?) ἢ 

Das haben wir. 

Und daß entgegengesetzte Handlungsweisen auf ent- 
gegengesetzte Gründe zurückzuführen sind? | 

Ja. 

Auch haben wir doch zugestanden, daß die unver- 
ständige Handlung der besonnenen entgegengesetzt sei? 

Ja. 

Und daß die besonnene Handlung- das Werk der 
Besonnenheit sei, die unverständige das des Unverstandes? 

Er gab es zu. 

Wenn also die Handlungsweise οὐ νην Aıt 


ist, wird sie doch das Werk des Gegenteils sein? 
Ja. | 


74 Platons Dialoge. 


Sie ist aber in dem einen Fall. das Werk der Be- 
sonnenheit, in dem anderen das Werk des Unverstandes ? 

Ja. 

Also liegt doch eine Entgegensetzung vor? 

Gewißb. | 

Und dies doch infolge der gegenteiligen Ursache? 

N Ὁ 

Also ist der Unverstand das Gegenteil der Besonnen- 
heit ? 

Allem Anschein nach. 

Erinnerst du dich nun, daß wir im Vorigen darüber 
einverstanden waren, der Unverstand sei das Gegenteil 
der Weisheit®5) Ὁ 

Er gab es zu. | 

Und daß Einem immer nur Eines entgegengesetzt sei? 

Ja. 

Welche dieser Behauptungen also, Protagoras, sollen 
wir aufgeben ? Den Satz, daß Eines nur Einem entgegen- 
gesetzt sei, oder die Behauptung, Besonnenheit und Weis- 
heit seien zwar beide Teile der Tugend, seien aber von- 


=> 


einander verschieden und nicht nur verschieden, sondern 


auch unähnlich sowohl an sich wie ihrer Bestimmung 
und Wirkungsweise nach, wie die Teile des Gesichtes? 
Welchen von beiden sollen wir nun aufgeben? Denn 
diese beiden Sätze geben zusammen keine gute Musik; 
sie stimmen nicht und harmonieren nicht miteinander. 
Wie könnten sie auch miteinander stimmen, wenn Eines 
nur Einem entgegengesetzt sein darf, aber nicht Mehreres, 
und anderseits als Gegenteil des Unverstandes, dieses Ei- 
nen, sich nicht nur Weisheit, sondern auch Besonnenheit 
erweist? Ist es nicht so, Protagoras, sagte ich, oder ver- 
hält es sich anders? 

Er räumte es ein, wenn auch mit sichtlichem Un- 
behagen. 

Also wären die Weisheit und die Besonnenheit wohl 
Eines®)? Und schon vorher erwiesen sich uns die Ge- 
rechtigkeit und die Frömmigkeit als nahezu dasselbe. Auf 


“ 


Protagoras, 75 


denn, mein Protagoras, laß uns nicht müde werden, son- 
dern auch das Übrige noch in Erwägung ziehen. Scheint 
dir ein Mensch, der gesetzwidrig handelt, besonnen zu 
sein, insofern er so handelt®”)? 

Ich würde mich doch schämen, erwiderte er, dies 
zuzugeben, mag es auch Leute genug geben, die dies 
behaupten. 

Soll ich mich, fuhr ich fort, mit meiner Rede an 
diese wenden, oder an dich? 

Wenn es dir recht ist, erwiderte er, so wende dich 
zunächst gegen diese weit verbreitete Behauptung. 

Nun, mir soll es nichts ausmachen, wenn du nur 
antwortest, magst du nun jener Ansicht beistimmen oder 
nicht. Denn mir kommt es vor allem auf strenge Prüfung 
der Sache an; doch ist es vielleicht nicht ausgeschlossen, 
daß dabei meine, des Fragenden, und deine, des Ant- 
wortenden persönliche Meinung zutage gefördert wird. 

Zunächst nun stellte sich Protagoras spröde; es 
handele sich da, gab er vor, um eine heikele Frage. 
Dann aber verstand er sich doch dazu zu antworten. 
| 21. Also zurück nun, sagte ich, zum Ausgangspunkt! 

Glaubst du, daß es Leute gibt, die bei voller Besonnen- 
heit unrecht tun®®) ἢ 

Meinetwegen, erwiderte er. 

Besonnenheit heißt doch bei dir so viel wie gut 
bei Verstande sein? | 

Ja. 

Gut bei Verstande sein heißt aber hier doch nichts 
anderes als daß man mit seinem Unrechttun wohlberaten 
sei ἢ | 

Meinetwegen, sagte er. 

Ist das der Fall, fragte ich, wenn es ihnen gut 
geht auf Grund ihres Unrechttuns, oder wenn schlecht? 

Wenn gut. 

Damit erklärst du also, daß es gewisse Dinge gibt, 
die gut sind? 

Allerdings. 


70 Platons Dialoge. 


Ist nun, fuhr ich fort, dasjenige Βαϊ, was den 
Menschen nützlich ist? 

Nun, beim Zeus, erwiderte er, ich wenigstens nenne 
auch manches gut, was nicht für die Menschen nützlich 
istS9), 

Da wollte es mir scheinen, als sei Protagoras übeler 
Laune und kämpfe mit sich und habe sich schon in 
Positur gesetzt zum Antworten. Da ich ihn also in 
solcher Verfassung sah, fragte ich vorsichtig mit ge- 
dämpfter Stimme: 

Meinst du damit, was nur keinem Menschen nütz- 
lich ist, oder was überhaupt gar nicht nützlich ist? 
Und nennst du auch dergleichen gut?‘ ἢ 

Nein, durchaus nicht, versetzte er; aber ich kenne 
vieles Gute, was für die Menschen nutzlos ist, Speisen, 
Getränke, Heilmittel und sonst tausenderlei anderes, da- 
neben auch wieder solches, was ihnen nützlich ist, und 
noch anderes, was für sie keines von beiden ist, wohl 
aber nützlich für Pferde, anderes wieder nur für Rinder 
und wieder anderes für Hunde; einiges für keinen von 


334 S 


allen diesen, wohl aber für die Bäume. Noch anderes 


ist zwar gut für die Wurzeln der Bäume, dagegen schäd- 
lich für ihre Triebe; so ist z. B. der Mist gut als Bei- 
gabe für die Wurzeln aller Pflanzen, läßt du es dir 
aber beikommen ihn auf die Sprossen und die jungen 
Schößlinge zu werfen, so richtet er alles zugrunde. So 
ist ja auch das Öl für alle Pflanzen grundverderblich 
und auch den Haaren der Tiere im höchsten Maße schäd- 
lich, nur den Haaren der Menschen nicht, denen es viel- 
mehr ebenso wie ihrem übrigen Körper wohl bekömm- 
lich ist. Ja, das Gute ist so vielseitig und mannigfaltig, 
daß es auch beim Menschen zwar für die äußeren Teile 
des Körpers zuweilen gut ist, für die inneren aber wieder 
höchst schädlich. Daher verbieten denn auch alle Ärzte 
den Kranken die Verwendung des Öles, abgesehen von 
einer winzigen Dosis bei dem, was sie genießen wollen, 
nämlich nur gerade genug, um dem Unbehagen bei den 


35 St. 


Protagoras. 17 


durch die Nase vermittelten Empfindungen bei Speisen 
und Zukost vorzubeugen?!). 

22. Als er damit geendet, lohnten ihm die Anwe.- 
senden mit reichem Beifall für seine schönen Worte. 
Ich aber erklärte: Mein Protagoras, ich gehöre zu den 
vergeßlichen Menschen 93) und wenn mir einer lange Reden 
hält, so vergesse ich, wovon eigentlich die Rede ist. Wie 
du nun, wenn ich etwa schwerhörig wäre, es für deine 
Schuldigkeit halten würdest, falls du dich mit mir unter- 
halten wolltest, lauter zu reden als zu den anderen, so 
mußt du jetzt, da du es mit einem Vergeßlichen zu tun 
hast, deine Antworten beschneiden und dich kürzer da- 
mit fassen, wenn ich dir folgen soll. 

Was soll das heißen, diese Aufforderung kurz zu 
antworten? Soll ich, sagte er, etwa kürzer antworten 
als nötig ist? 

Nein, behüte, erwiderte ich. 

Sondern soviel als nötig ist? fragte er. 

Ja, versetzte ich. 

Soll ich nun so viel antworten wie mir nötig scheint 
oder wie dir? 

Ich habe doch gehört, erwiderte ich, du seiest selbst 
imstande und könntest auch einem anderen die Kunst 
beibringen sowohl lange Reden zu halten, nach Belieben 
so lang, daß der Stoff nie ausgeht, wie auch anderseits 
wieder so kurz, daß niemand sich kürzer fassen kann 
als du. Willst du dich also mit mir unterreden, so 
mußt du dich mir zuliebe an die letztere Redeweise hal- 
ten, die kurze®®). 

Mein Sokrates, versetzte er, ich habe mich schon 
vielen Menschen zum Redekampf gestellt; hätte ich es 
aber so gemacht wie du es von mir forderst, hätte ich 
die Unterredung also so geführt, wie sie der Gegner 
von mir geführt zu sehen wünschte, dann wäre ich so 
unbedeutend geblieben wie jeder beliebige andere und 
des Protagoras Name hätte keinen ge Klang 
unter den Hellenen. 


78 Platons Dialoge. 


Ich war mir schon längst klar darüber, daß er mit 
seinen Antworten selbst nicht zufrieden war und daß 
er sich nicht entschließen würde aus freien Stücken als 
Antwortender die Unterredung weiter zu führen. Über- 
zeugt also, daß es nicht meines Amtes sei der Zusammen- 
kunft länger beizuwohnen, sagte ich: 

Glaube mir nur, Protagoras, auch mein Herz hängt 
nicht daran, der Unterredung einen deinen Wünschen. 
nicht entsprechenden Verlauf zu geben, sondern ich werde 
sie nur dann weiter führen, wenn du es für gut be- 
findest sie so zu führen, daß ich zu folgen imstande 
bin. Bist du ja doch, wie es von dir heißt und wie 
du auch selbst erklärst, imstande sowohl in langer wie 
in kurzer Rede die Unterhaltung zu führen, denn du 
bist ja ein weiser Mann. Aber ich kann diese langen 
Reden nicht fassen, so sehr ich auch wünsche, ich könnte 
es. Du aber, der du in beiden Sätteln gerecht bist, 
solltest uns nachgeben, um die Fortführung der Unter- 
redung zu ermöglichen. So aber, da du dich nicht dazu 
verstehen willst und ich eine Abhaltung habe und nicht 
in der Lage wäre längeren Reden von dir bis zu Ende 
zuzuhören — denn Geschäfte rufen mich ab von hier — 
verabschiede ich mich von hier, obschon ich nicht un- 
gern auch diese deine Redeleistungen mit anhören würde. 

Mit diesen Worten erhob ich mich um fortzugehen. 
Noch aber hatte ich mich nicht völlig erhoben, da fabte 
mich Kallias mit seiner Rechten an der Hand, mit der 
Linken aber hielt er mich an diesem meinem Mantel 
hier®) fest und sagte: 

‚Wir lassen dich nicht fort, mein Sokrates, denn 
wenn du dich entfernst, hat die Unterhaltung für uns 
nicht mehr das gleiche Interesse. Ich bitte dich also 
bei uns zu bleiben; denn es gibt niemanden, dem ich 
lieber zuhören möchte als dir und dem Protagoras, wenn 
es sich um dergleichen Unterredungen handelt. Also sei 
. 80. freundlich und erfülle unseren Wunsch. 

Da sagte ich — und zwar war ich bereits aufge: 


cr 


Protagoras, 79 


standen um mich zu entfernen —: Immer, lieber Sohn 
des Hipponikos, bewundere ich deine Liebe zur Weis- 
heit und auch jetzt lobe ich sie und weiß sie zu schätzen. 
Gern würde ich dir also willfahren, wenn es mir nur 
möglich wäre deine Bitte zu erfüllen. Allein jetzt steht 
die Sache so, als bätest du mich, mit dem Krison”) 
aus Himera, dem vollkräftigen Läufer, gleichen Schritt 


.zu halten, oder es mit irgend einem Dauerläufer oder 


Schnelläufer im Laufen aufzunehmen und ihm zur Seite 
zu bleiben. Meine Antwort würde dann lauten: Noch 
viel mehr als du es für mich wünschst, wünschte ich 
wohl selbst für mich es mit diesen Läufern aufnehmen 
zu können, allein meine Kraft reicht nicht aus; willst 
du also mich und den Krison durchaus zusammen laufen 
sehen, so mußt du diesen bitten sich zu mir herabzu- 
lassen, denn ich kann nun einmal nicht schnell laufen, 
wohl aber kann er langsam laufen. Wünschst du also 
mich und den Protagoras zu hören, so mußt du diesen 
bitten mir jetzt in. der gleichen Weise zu antworten, 
wie er mir zu Anfang antwortete, nämlich nur kurz 


‘ und nicht mehr als das Gefragte unmittelbar erfordert. 


Wird es anders gehalten, wo bleibt dann der Unterschied 
in den Arten der Unterredung? Denn meines Erachtens 
ist es ein anderes sich miteinander wissenschaftlich zu 
unterhalten und ein anderes, lange Reden zu halten. 

Aber du sagst dir doch, erwiderte er, mein Sokrates, 
Protagoras hat wie es scheint ganz recht, wenn er sich 
für die Art der Unterredung ebenso volle Freiheit aus- 
bedingt wie er sie gewährt. 

23. Da griff Alkibiades ein mit den Worten: das 
trifft nicht zu, Kallias, was du da sagst. Denn unser 
Sokrates hier räumt rückhaltlos ein, er verstehe nichts 
von der Kunst der Langrednerei, und er überläßt darin 
dem Protagoras willig den Vorrang; was aber die Unter- 
redungskunst und die Fertigkeit anlangt, Rechenschaft 
zu geben und zu fordern, so müßte es meines Erachtens 
doch nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn er darin 


80 Platons Dialoge. 


irgend einem Menschen den Vorrang einräumt. Wenn 
nun auch Protagoras einräumt es in der Unterhaltungs- 
kunst mit Sokrates nicht aufnehmen zu können, so ist 
Sokrates befriedigt. Macht er aber auf diese Kunst auch 
seinerseits Anspruch, so soll er die Unterhaltung in der 
Form von Frage und Antwort führen und nicht auf 
jede Frage hier eine langausgesponnene Rede halten, 
womit er es ja doch nur auf das Beiseiteschieben der 
Gründe abgesehen hat; denn er will nicht Rechenschaft 
geben, sondern zieht die Sache nur in die Länge, bis 
die meisten Zuhörer vergessen haben, wovon eigentlich 
die Rede war. Denn Sokrates — dafür stehe ich ein — 
wird nie den springenden Punkt vergessen, mag er auch 
immerhin scherzen und sagen, er sei vergeßlich. Mir 
also scheint des Sokrates Verlangen das billigere zu sein, 
denn es soll hier jeder offen seine Meinung kund- 
geben ®). | 

Nach dem Alkibiades ließ sich, wenn ich nicht irre, 
Kritias vernehmen mit folgenden Worten: Mein Pro- 
dikos und Hippias, mir will es scheinen als neige sich 
Kallias auf die Seite des Protagoras, Alkibiades aber 
ist zu leidenschaftlich in allen seinen Regungen. ‚Wir 


aber wollen uns nicht mit in den Streit mischen weder 


zugunsten des Sokrates noch des Protagoras, sondern 
wollen gemeinsam beide bitten die Unterhaltung nicht 
vorzeitig abzubrechen. 


Auf diese Worte erwiderte Prodikos°”): Du scheinst 


mir recht zu haben, Kritias; denn die Anwesenden müssen 
zwar für beide Unterredner unparteiische (κοινούς) Hörer 
sein, aber nicht gleiche (ἴσους). Denn das bedeutet nicht 
dasselbe; unparteiisch nämlich hören muß man beide, 
aber nicht beiden denselben Wert beilegen, sondern dem 
Einsichtigeren den größeren, dem Unwissenderen den 
geringeren. Ich nun meinerseits, mein Protagoras und 
Sokrates, erwarte von euch so viel gegenseitige Nach- 
giebigkeit, daß ihr über die fraglichen Punkte zwar dis- 


putiert (ἀμφισβητεῖν), euch aber nicht verzankt (£oilew); 


337 St. 


Protagoras. 81 


denn disputieren können auch Freunde mit Freunden in 
voller Eintracht, aber sich miteinander verzanken, das 
ist Sache von Gegnern und Feinden. Und von solchem 
Geiste getragen, wird auch unsere Unterhaltung den besten 
Verlauf nehmen. Denn auf diese Weise werdet einerseits 
ihr, die Redenden, vor uns, den Hörern als Richtern 
eueren Wert erkannt sehen (εὐδοκιμεῖν) und nicht mit 
bloßem Lobe abgespeist werden (dnaweiodaı) — das 
erstere nämlich vollzieht sich in den Seelen der Hörer 
ohne trügerisches Spiel, das letztere aber oft nur im 
Munde solcher, die wider besseres Wissen die Unwahrheit 
sagen — anderseits werden so auch wir, die Hörer, die 
reinste Freude empfinden (εὐφραίνεσϑαι), nicht aber bloß 
den Genuß einer angenehmen Empfindung haben (Höeodaı). 
Denn reine Freude empfindet, wer lediglich durch den 
Geist etwas lernt und sich einer Einsicht teilhaftig macht, 
im Genusse des Angenehmen aber schwelgt, wer lediglich 
vermittelst des Körpers sei es seiner Eßlust frönt oder 
sich sonst einer angenehmen Empfindung hingibt. | 

Diese Worte des Prodikos nahmen viele der An- 
‚wesenden mit lebhaftem Beifall auf. 

24. Nach dem Prodikos aber ergriff der weise Hippias 
das Wort und sagte: Ihr Männer, die ihr hier beisammen 
seid, ich halte uns alle für verwandt und zueinander 
gehörig und für Mitbürger, und zwar von Natur (φύσει), 
nicht durch Gesetz?) (νόμῳ); denn das Ähnliche ist mit . 
dem Ähnlichen von Natur verwandt, das Gesetz dagegen, 
dieser Tyrann der Menschen, erzwingt vieles auch wider 
die Natur. Es wäre doch nun eine Schande, wenn wir, 
innig vertraut mit dem Wesen der Dinge, wir, die weisesten 
Männer ganz Griechenlands und als eben solche jetzt 
hier zusammengekommen in der S'adt, die recht eigentlich 
der geistige Mittelpunkt Griechenlands ist, und innerhalb 
dieser Stadt selbst wieder in ihrem glänzendsten und ge- 
segnetstem Hause — wenn wir nichts dieser Erhabenheit 
Würdiges vorführen, sondern uns wie die kleinlichsten 
Menschen nur miteinander herumstreiten wollten. ‚So bitte 

Apelt, Platon Protagoras. Phil. Bibl, Bd, 175. 6 


-,---....-- -- 


82 Platons Dialoge. 


ich denn und rate euch, mein Protagoras und Sokrates, euch 
auf einer mittleren Linie zusammenzufinden, indem wir 


als Schiedsrichter euch dazu behilflich sind; also einer- 888 


seits darfst du nicht zu großes Gewicht legen auf jene 
strenge und kurz gegliederte Form der Unterredung, soweit 
es dem Protagoras nicht erwünscht ist, sondern mußt 
etwas nachgiebig sein und der Rede die Zügel schießen 
lassen, auf daß sie einen um so großartigeren und präch- 
tigeren Eindruck auf uns mache, anderseits darfst aber 
auch du, Protagoras, nicht alle Segel beisetzen und die 
Gunst des Fahrwindes rücksichtslos ausnutzen, um ins 
offene Meer der Reden zu enteilen, und darfst das Land 
nicht ganz aus den Augen verlieren, sondern beide müßt 
ihr einen Mittelweg einschlagen. So also macht es und 
folget meinem Rat: wählet euch einen Kampfrichter, 
Ordner und Vorsitzenden, der darüber wachen soll, 


daß jeder von euch beiden das rechte Maß der Rede 
einhalte. 


25. Das gefiel den Anwesenden und alle gaben ihren 
Beifall kund; Kallias aber erklärte, er werde mich nicht 
gehen lassen, und sie baten einen Obmann zu wählen. 
Da erklärte ich denn, es sei ein unwürdiges Beginnen 
einen Kampfrichter für die Verhandlung zu wählen. Denn 
entweder ist der Gewählte uns nicht gewachsen: dann 
wäre es doch ein Mißverhältnis, daß der Schlechtere über 
die Besseren die Aufsicht führt; oder er ist uns gleich: 
auch dann hat es damit nicht seine Richtigkeit; denn 
wer uns gleich ist, der wird auch in seinen Leistungen 
uns gleichen, so daß also seine Wahl sich als überflüssig 
erweisen würde. Aber das ist auch wohl nicht euere 
Absicht; vielmehr werdet ihr einen erwählen, der uns 
überlegen ist. Aber in Wirklichkeit, glaube ich, ist es 
euch. ganz unmöglich, irgend einen zu wählen, der an 
Weisheit unserem Protagoras hier überlegen wäre; wählt 
ihr aber einen, der um nichts besser ist als er, den ihr aber 
für besser ausgebt, so ist auch das ein Makel, den ihr 
ihm (dem Protagoras) damit aufdrückt, daß ihr ihm wie 


Protagorns. 83 


einem Taugenichts einen Aufseher gebt; denn was mich 
anlangt, so macht mir das nichts aus. Doch erkläre ich 
mich, um unserer Unterhaltung und Verhandlung den 
gewünschten Fortgang zu sichern, zu folgendem Verfahren 
bereit: Wenn es Protagoras ablehnt zu antworten, so 
mag er fragen und ich werde antworten, wobei ich zugleich 
versuchen werde ihm klar zu machen, daß der Antwortende 
auf die von mir bezeichnete Art antworten muß); und 
wenn ich ihm dann alles beantwortet habe, was ihm zu 
fragen beliebt, dann soll er mir wieder in gleicher Weise 
Rede stehen; und sollte er dann nicht geneigt scheinen, 
sich in seinen Antworten streng an die Fragen zu halten, 
dann wollen wir, ich und ihr, gemeinsam an ihn die 
Bitte richten, die ihr an mich richtet, unsere Unterhaltung 
nicht zu vereiteln. Und dazu ist es nicht nötig einen 
Einzelnen zum Aufseher zu ernennen, sondern ihr werdet 
alle gemeinsam dieses Amtes walten. 

Damit waren alle einverstanden. Protagoras nun 
sträubte sich allerdings zuerst, gleichwohl ließ er sich 
aber doch dazu nötigen sich bereit zu erklären zu fragen 


‚ und, wenn dies in ausreichendem Maße geschehen sei, 


wieder seinerseits mit kurzen Antworten Rede zu stehen. 
Er begann nun also etwa auf folgende Art zu fragen. 
26. Meines Erachtens, sagte er, ist für die Bildung 
des Menschen nichts wichtiger als dies, daß er in den 
Werken der Dichter gründlich bewandert sei. Darunter. 
verstehe ich aber, daß er imstande sei das von den Dichtern 
Vorgetragene daraufhin zu beurteilen, ob es wohlgelungen 
ist oder nicht, und daß er sich auf die Einzelerklärung 


. verstehe wie auch darauf, etwaige Fragen zu beantwor- 


ten100), Und so wird denn auch jetzt meine Frage zwar 
den nämlichen Gegenstand betreffen, der das Thema unserer 
jetzigen Untersuchung bildet, nämlich die Tugend, aber 
doch so, daß die Sache jetzt in das Gebiet der Poesie 
hinübergespielt wird. Das ist der einzige Unterschied. 
Es sagt nämlich bei irgend einer Gelegenheit Simonides!0) 
zu Skopas, dem Söhne des Thessaliers Kreon!) 

| . 


I; 


84 Platons Dialoge, 


Zwar ist es schwer, ein braver Mann zu werden, wahrhaft brav, 
An Hand und Fuß und Geist ein ganzer Mann, ein Mann, der 
keinem Tadel Zulaß beut. 
Kennst du dies Lied, oder soll ich es dir ganz hersagen ? 
Ich 'erwiderte: Das ist nicht nötig, denn ich kenne 
es und habe mich eingehend mit dem Liede beschäftigt!®). 
Das lob’ ich mir, erwiderte er. Hältst du es nun 
für wohlgelungen und richtig, oder nicht? | 
Für durchaus wohlgelungen, versetzte ich, und richtig. 
Hältst du es für wohlgelungen, wenn der Dichter 
sich selbst widerspricht ? 
Das nicht, erwiderte ich. 
So sieh dir denn das Lied genauer an. 
Aber, mein Bester, ich habe es ja zur Genüge durch- 
dacht. 
Weißt du also auch, daß der Dichter im weiteren 
Verlaufe des Liedes etwa folgendes sagt: 
Auch Pittakos!%), so dünkt mich, hat nicht recht mit seinem Wort, 


So weisheitsvoll der Mann auch war: schwer ist's, so sagt’ er, 
ehrenhaft und brav zu sein. 


Merkst du, daß der Dichter hier in einer Person sowohl | 


diese Aussage macht wie auch jene frühere’? 

Das weiß ich, sagte ich. | 

Scheint dir nun dies beides sich miteinander zu ver- 
tragen ? 

Mir wenigstens scheint es so. Dabei konnt’ ich mich 
allerdings der Befürchtung nicht entschlagen, daß er doch 


vielleicht recht hätte. Ich fuhr also fort: Aber dir scheint 


es nicht so? 

Wie könnte ich denn auch glauben, daß, wer dies 
beides behauptet, mit sich selbst in Übereinstimmung sei? 
Ging er doch zunächst von der Ansicht aus, es sei schwer 
in Wahrheit ein braver Mann zu werden und wenige 
Verse weiter hat er das schon wieder vergessen und tadelt 
den Pittakos, der ganz das Nämliche behauptet, wie er, 
nämlich daß es schwer ist, brav zu sein, erklärt also den 
für unglaubwürdig, der das Nämliche * behauptet wie er, 


0 St. 


+ 


Protagoras. 85 


Und doch ist ja klar: wenn er den tadelt, der das Gleiche 
behauptet wie er, so tadelt er auch sich selbst; mithin 
hat er entweder mit seiner früheren oder mit seiner späteren 
Behauptung unrecht. 


Durch diese Ausführung rief er bei einer großen 
Zahl der Hörer stürmischen Beifall hervor. Und mir 
ward es zuerst, als er diese Worte geäußert und die an- 
deren ihm lebhaften Beifall gespendet hatten, ganz schwarz 
vor den Augen und schwindelig, als hätt’ ich von einem 
guten Faustkämpfer einen betäubenden Schlag erhalten; 
dann aber wende ich mich — dir die Wahrheit zu gestehen, 
um Zeit zu gewinnen zum Nachdenken über die eigentliche 
Meinung des Dichters!®) — an den Prodikos, rief ihn 
bei Namen und sagte: 

Mein Prodikos, Simonides ist ja doch dein Mitbürger; 
du bist es ihm also schuldig ihm Beistand zu leisten. 
Ich möchte dich also zu Hilfe rufen, wie bei Homer:%) 
der vom Achilles bedrängte Skamander den Simoeis zu 
Hilfe ruft mit den Worten 


Bruder, wohlan! Die Gewalt des Mannes da müssen wir beid’ izt 
Bändigen. 
So rufe denn auch ich dich zu Hilfe, auf daß uns Pro- 


tagoras nicht den Simonides zu Boden werfe. Denn zur 
Ehrenrettung des Simonides bedarf es deiner feinen Kunst, 


durch die du „wollen“ (βούλεσϑαι) und „begehren* (ἐπι- 


ϑυμεῖν) unterscheidest als nicht zu: verwechselnde Be- 
griffe, wie du denn eben erst vieles Schöne dergleichen 
uns vorgeführt hast. So erwäge denn auch jetzt, ob du 
meine Ansicht teilst. Simonides befindet sich, wenn ich 
recht sehe, keineswegs in Widerspruch mit sich selbst. 
Doch du, mein Prodikos, mußt zunächst deine Meinung 
darüber äußern. Scheint dir Werden und Sein das Näm- 
liche zu bedeuten oder etwas Verschiedenes? 

Etwas Verschiedenes, beim Zeus, erwiderte Prodikos. 

Hat nun nicht, fuhr ich fort, Simonides in den ersten 
Versen seiner eigenen Meinung Ausdruck gegeben, näm- 


88 Platons Dialoge. 


lich der, es sei schwer in Wahrheit ein wackerer Mann 
zu werden!)? | 

Du hast recht, Sr Proaikel 

Den Pittakos aber, fuhr ich fort, tadelt er nicht, 
wie Protägoras meint, insofern als er dasselbe sagt wie 
er, sondern etwas anderes. Denn Pittakos bezeichnete es 
nicht wie Simonides als schwer wacker zu werden, son- 
dern wacker zu sein. Nun ist aber doch, mein Protagoras, 
nach dem Zeugnis unseres Prodikos hier, Sein und Werden 
nicht dasselbe. Ist aber Sein und Werden nicht dasselbe, 
dann widerspricht sich Simonides auch nicht. Und viel- 
leicht billigt unser Prodikos hier mit vielen anderen die 
Ansicht des Hesiod1%), es sei schwer ein wackerer Mann 
zu werden, denn vor die Tugend hätten die Götter den 
Schweiß gesetzt; hätte man aber den Gipfel derselben 
erklommen, dann sei es leicht sie zu besitzen, so schwer 
es auch war sie zu erwerben. 

27. Prodikos nun hielt nicht zurück mit seinem Lobe 
dessen, was ich gesagt hatte. Protagoras aber bemerkte: 
deine Rechtfertigung, mein Sokrates, ist noch fehlerhafter 
als das, was du damit rechtfertigen willst!0), | 

Ich erwiderte: Da habe ich mir übel mitgespielt wie 
es scheint, mein Protagoras. Ich mache mich lächerlich 
wie etwa ein Arzt: ich suche zu heilen und mache die 
Krankheit nur schlimmer !!°). 

Ja, so verhält es sich in der Tat, sagte er. 

Inwiefern denn also? versetzte ich. 

Es wäre doch, fuhr er fort, ein starkes Stück von 
Unwissenheit bei einem Dichter, wenn er es für solch 
ein Kinderspiel erklären wollte im Besitze der Tugend zu 
bleiben, was doch, wie jedermann glaubt, schwieriger ist 
als sonst irgend etwas. 

Beim Zeus, entgegnete ich, ein wahres Glück ist es, 
daß unser Prodikos hier den Verhandlungen beiwohnt. 
Denn in der Tat, mein Protagoras, darf man wohl sagen, 
die Weisheit des Prodikos!!!) habe schon von alters her 
etwas Göttliches an sich, indem sie entweder mit Simo- 


Protagoras,. 87 


nides beginnt oder noch älteren Ursprungs ist. Du aber, 
so wohlbewandert auf vielen anderen Gebieten, bist auf 
diesem Gebiete offenbar ein Laie, anders als ich, der ich 
als Schüler dieses unseres Prodikos ein Eingeweiheter bin. 
So scheinst du denn auch jetzt nicht zu erkennen, daß 
Simonides diesen Ausdruck „schwer“ vielleicht gar nicht 
so verstand, wie du ihn verstehst, sondern es mag damit 
bei dir eine ähnliche Bewandtnis haben wie bei mir mit 
dem Ausdruck „gewaltig“ (δεινός), wegen dessen unser 
Prodikos hier mir so oft den Kopf zurechtsetzt. Jedesmal 
nämlich, wenn ich zu deinem oder irgend eines anderen 
Lobe sage: Protagoras ist ein weiser und gewaltiger 
Mann, fragt mich unser Prodikos hier, ob ich es nicht 
unerlaubt finde das Gute „gewaltig“ zu nennen. Denn 
das Gewaltige, sagt er, ist etwas Schlimmes; wenigstens 
sagt gegebenen Falles niemand ,„o des gewaltigen Reich- 
tums“, „o des gewaltigen Friedens“, „o der gewaltigen 
Gesundheit“, wohl aber „o der gewaltigen Krankheit“, 
„o des gewaltigen Krieges“, „o der gewaltigen Armut‘, 
zum Beweis, daß das Gewaltige etwas Schlimmes ist. 
. Vielleicht also verstehen nun auch die Keer und Simonides 
unter „schwer“ (χαλεπόν) entweder etwas Schlimmes oder 
sonst etwas anderes was dir unbekannt ist. Fragen wir 
also den Prodikos, denn er ist der rechte Mann uns über 
den ‚Wortschatz des Simonides Auskunft zu geben. 


Was verstand, mein Prodikos, Simonides unter dem. 


Ausdruck „schwer“ ἢ 

Etwas Schlimmes, entgegnete er. 

Deshalb eben tadelt er auch, sagte ich, mein Prodi- 
kos, den Pittakos, der da sagt, es sei schwer brav zu sein, 
nämlich als hätte er ihn so verstanden als wollte er 
sagen: es ist schlimm brav zu seint!2). 

Was sollte denn auch, erwiderte Prodikos, Simonides 
anderes meinen als dies, mein Sokrates? Er wirft dem 
Pittakos vor, er verstehe nichts von der Kunst die Worte 
richtig zu unterscheiden, denn er sei ein Lesbier und in 
fremder Mundart erzogen. 


Platons Dialoge. 


OD 
ee) 


Da hörst du nun, sagte ich, mein Protagoras, den 
Prodikos hier. Hast: du etwas dagegen zu sagen? 

Protagoras erwiderte: Daran ist gar nicht zu denken, 
daß es sich so verhalte, mein Prodikos; vielmehr weiß 
ich, daß auch Simonides unter „schwer“ das verstand, 
was wir anderen darunter verstehen, nämlich nicht das 
Schlimme, sondern das was nicht leicht, sondern mit 
großen Anstrengungen verbunden ist. 


Nun, auch ich glaube, versetzte ich, mein Protagoras, 


daß es Simonides so meint, und daß unser Prodikos das 


auch weiß; er scherzt nur und will dich wie scheint 
nur auf die Probe stellen, ob du deine Behauptung auch 
aufrecht zu erhalten imstande bist; denn daß Simonides 
das „Schwere“ nicht in dem Sinne von „schlimm“ nimmt, 
dafür bietet den schlagenden Beweis der gleich folgende 
Ausspruch. Er sagt nämlich 


Dem Gott allein kommt diese Ehre zu. 


Er will also offenbar nicht sagen, es sei schlimm brav 
zu sein — denn dann könnte er nicht unmittelbar darauf 


sagen, der Gottheit allein komme dies zu, auch könnte 


er nicht von einem Ehrenpreis sprechen, der dem Gotte 
allein zuzuerteilen sei. Denn sonst würde Prodikos den 
Simonides als einen frechen Gesellen kennzeichnen und 
nicht als einen Keer!!?). Aber was meiner Meinung nach 
Simonides mit diesem Liede eigentlich beabsichtigte, das 
will ich dir darlegen, und das kann dir als Probe dienen 
dafür, wie es mit meiner „Dichterkenntnis“, wie du es 
nennst!!#), steht; ist es dir aber lieber, so werde ich dir 
zuhören. | | 

Kaum hatte Protagoras diese meine Worte vernommen, 
so sagte er: Wenn es dir recht ist, übernimm du das 
Wort, mein Sokrates. Prodikos aber und Hippias r Bun 
mir lebhaft zu und ebenso die anderen. 

28. Ich werde also, hub ich an!%), versuchen ch 
darzulegen, was ich über dies Lied denke. Der Trieb 
nach Weisheit hat unter den Hellenen seine älteste und 


342 St, 


Protagoras. 89 


fruchtbarste Stätte in Kreta und Lakedaimon, und dort 
zulande finden sich auch die meisten Sophisten. Aber 
sie halten damit hinter dem Berge und stellen sich un- 
wissend, um es nicht offenbar werden zu lassen, daß sie 
an Weisheit allen Hellenen überlegen sind, ganz ähnlich, 
wie jene alten Sophisten, von denen Protagoras sprach 18), 
Sie wollen vielmehr den Schein wahren als läge ihre 
Überlegenheit nur in Kampfestüchtigkeit und Tapferkeit, 
denn sie sagen sich, wenn ihre Stärke auf jenem Grebiete 
bekannt würde, dann würde alle Welt sich eben darauf, 
auf die Weisheit nämlich, werfen. So aber halten sie ihre 
wahre Liebhaberei geheim, wodurch sie denn die Lakonen- 
tümler (Spartanerfreunde) in den Städten gründlich hinters 
Licht geführt haben; denn diese gefallen sich darin den 
Spartanern nachzuäffen, indem sie sich im Faustkampf 
die Ohren zerschlagen!!?), ihre Arme mit Boxriemen um- 
wickeln, in Leibesübungen sich nicht genug tun können 
und kurze Mäntel tragen, als ob darin das Geheimnis 
der Überlegenheit der Lakedaimonier über die anderen 
Hellenen liege. Und wie halten es die Lakedaimonier 
tatsächlich? Wenn sie einmal recht ungezwunger und 
offen mit ihren heimischen Sophisten verkehren wollen 
und die Heimlichkeit des Verkehres ihnen lästig wird, 
greifen sie zu der Maßregel der Fremdenvertreibung: sie 
weisen sowohl die Lakonentümler wie auch sonst in der 
Stadt weilende Fremde aus und verkehren nun unbemerkt . 
von den Fremden mit ihren Sophisten; sie selbst aber 
erlauben, ebenso wie die Kreter, keinem ihrer jungen 
Leute fremde Städte aufzusuchen; denn sie dürfen der 
heimischen Lehrweise nicht entfremdet werden. Und es 
finden sich in diesen Staaten nicht nur Männer, die stolz 
sind auf ihre geistige Bildung, sondern auch Frauen. 
Daß ich aber die Wahrheit sage und daß die Lakedaimonier 
trefflich geschult sind für philosophische Auffassung der 
Dinge sowie für treffenden Ausdruck, das könnt ihr aus 
folgendem entnehmen. Läßt man sich mit einem Lake- 
daimonier in ein Gespräch ein, sei es auch der Geringsten 


90 Platons Dialoge. 


einer, so wird man finden, daß seine Äußerungen zwar 
überwiegend einen unbedeutenden Eindruck machen, daß 
er aber dann auf einmal, wo die Gelegenheit sich gerade 
bietet, einen eindrucksvollen, kurzen und kraftvollen Aus- 
spruch wie ein geschickter Speerschütze entsendet, so daß 
der Mitunterredner ihm gegenüber geradezu zum Kinde 
herabsinkt. Es fehlt nun weder unter unseren Zeitge- 
nossen noch unter den Altvorderen an solchen, die zu 
eben dieser Erkenntnis gekommen sind, daß die eigentliche 
lakonische Sinnesart weit mehr auf Weisheit gerichtet 
ist als auf Leibesübungen. Denn sie sagten sich, daß die 
Fähigkeit solche Aussprüche zu tun, nur Männern zu- 
kommt, die auf der Höhe geistiger Bildung stehen. Zu 
ihnen gehörten Thales von Milet, Pittakos von Mytilene, 
Bias von Priene, unser Landsmann Solon, Kleobulos von 
Lindos, Myson aus Chen und als siebenter galt neben 
ihnen der Lakedaimonier Chilont18). Sie alle waren Nach- 
eiferer und Verehrer und Schüler lakedaimonischer Bil- 
dung, und die einem jeden von ihnen zugeschriebenen 
denkwürdigen Sprüche lassen erkennen, daß ihre Weisheit 


343 St 


von dieser Art war. Diese ihre Sprüche ließen diese 


Männer auf gemeinsam gefaßten Beschluß als Erstlings- 
gabe ihrer Weisheit zu Ehren des Apollon im Tempel 
zu Delphi anbringen, wodurch sie denn allbekannt wurden 
wie das „Erkenne dich selbst“ und das „Nimmer zu viel“. 

Was will ich nun also damit sagen? Daß dies das 
Charakteristische war für die Philosophie dieser Männer 
der alten Zeit, eine gewisse lakonische Kürze. Und 
so war denn auch vom Pittakos noch besonders dieser von 
den Weisen hoch gepriesene Spruch in aller Munde „Ein 
braver Mann zu sein ist schwer“. Simonides nun, ehr- 
geizig auf Weisheitsruhm bedacht, sagte sich, daß, wenn 
er diesen Spruch gleichsam wie einen hervorragenden 
Gegner im Ringkampf zu Fall brächte und den Sieg 
davontrüge, er selbst in der damaligen Welt zu hohem 
Ruhm gelangen würdet). Gegen diesen Spruch also ist 
sein ganzes Gedicht gerichtet: in der bezeichneten Ab- 


+ 


Protagoras. 91 


sicht wollte er mit diesem Liede auf hinterlistige Weise 
jenen Spruch zunichte machen. Das steht mir ganz fest!?0), 

29. Laßt uns also alle gemeinsam das Gedicht be- 
trachten und sehen, ob ich recht habe. Gleich der An- 
fang des Liedes würde sich als sinnlos erweisen, wenn 
der Dichter weiter nichts sagen wollte als es sei schwer 
ein guter Mann zu werden und dem ungeachtet doch 
noch das „Zwar“ hinzugefügt hätte. Denn dies Wort 
ist doch völlig zwecklos eingefügt, wenn man nicht an- 
nimmt, Simonides wende sich damit gleichsam Streit 
suchend gegen den Spruch des Pittakos. Während nämlich 
Pittakos behauptet „Schwer ist's brav zu sein“, sagt er, 
dem widersprechend: Nein! sondern ein guter Mann zu 
werden, das ist schwer, Pittakos, „wahrhaft schwer“ — 
nicht „wahrhaft gut“, denn der Dichter denkt nicht an 
eine solche Wortverbindung, die ja doch voraussetzen 
würde, es gebe gewisse Menschen, die in Wahrheit gut 
wären und wieder andere, die zwar gut, aber nicht wahr- 
haft gut wären, denn das wäre albern und eines Simonides 
nicht würdig; vielmehr muß man eine Wortversetzung 


.des „wahrhaft“ in dem Gedichte annehmen!2t), indem man 


sich die Sache folgendermaßen vorzustellen hat: Pitta- 
kos wird gleichsam selbstredend eingeführt, wie er seinen 
Ausspruch tut, und Simonides antwortet ihm darauf. 


. Jener sagt: ‚„Höret, ihr Menschen, es ist schwer brav 


zu sein“, und dieser antwortet „Du hast unrecht, Pitta- . 
kos; denn wahrhaft schwer ist nicht dies, gut zu sein, 
sondern ein guter Mann zu werden, an Hand und Fuß 
und Geist ein ganzer Mann, der keinem Tadel Zulaß 
beut“. So erweist es sich, daß das „Zwar“ ganz sach- 
gemäß eingefügt und das „wahrhaft“ richtig nachgestellt 
ist122), Und alles was folgt, zeugt für die Richtigkeit 
dieser Auffassung. Denn man könnte gar manche Er- 
läuterung geben zu jedem einzelnen Satze dieses Gedichtes 
zum Beweise seiner durchgehenden Trefflichkeit; zeugt 
es doch von bestem Geschmack und hervorragender Sorg- 
falt. Doch würde es zu weit führen es in dieser Weise 


99 Platons Dialoge. 


durchzusprechen. Nur den Grundgedanken des ganzen 
Gedichtes wollen wir uns klar machen und sein eigent- 
liches Absehen, das eben zweifellos durchweg darin be- 
steht, den Ausspruch des Pittakos zu widerlegen. 

30. Denn nur wenige Zeilen weiter sagt er, was 
man in Prosa so ausdrücken würde: ein guter Mann zu 
werden ist in Wahrheit zwar schwer, aber doch immer- 
hin möglich, eine Zeitlang nämlich; aber, wenn man es 
geworden, in dieser Seelenverfassung auch dauernd zu 
beharren und ein guter Mann zu sein, wie du behauptest, 
Pittakos, das ist unmöglich und dem Menschen uner- 
reichbar, nur eine Gottheit hat auf diese Ehre Anspruch, 

Doch der Mensch kann dem Schlechten sich nimmer entziehn 

Wenn unbezwingliches Leid ihn beugt. 
Wen nun trifft unbezwingliches Leid bei der Leitung 
eines Schiffes? Offenbar nicht den Unkundigen; denn 
dieser liegt immer danieder. Wie man nun einen bereits 
Daniederliegenden nicht noch niederwerfen kann, wohl 
aber einen noch Stehenden, so daß man ihn zum Liegen 
bringt, was bei dem ersteren ausgeschlossen war, so kann 
den Kampfesfähigen wohl auch unbekämpfbares Leid 
daniederwerfen, den des Kampfes aber überhaupt Un- 
kundigen nicht. So kann den Steuermann?) ein herein- 
brechender gewaltiger Sturm kampfunfähig machen, wie 
auch den Landwirt die Ungunst der Witterung ratlos 
machen kann und ähnlich den Arzt. Denn der brave 
Mann kann auch schlecht werden, wie auch von einem 
Dichter bezeugt wird mit den Worten 

Aber ein wackerer Mann wird schlecht und wieder auch 686] 139). 
Der Schlechte dagegen kann nicht schlecht werden, 
sondern er muß es jederzeit sein. Wenn also den Wohl- 
beratenen, Einsichtsvollen und Guten ein unabwendbares 
Unheil niederwirft!2), dann kann er nicht anders als 
schlecht sein; du aber, Pittakos, behauptest, es sei schwer 
wacker zu sein; in der Tat aber ist es schwer, es zu 
werden, aber doch möglich,. es (immer) zu sein aber 
unmöglich. 


ὃ St, 


Protagoras. 93 


Denn wer recht handelt, der ist ein guter Mann, 
Wer schlecht, ein schlechter 136), 

Welche Tätigkeit verhilft uns nun zu den Elementar- 
kenntnissen (Lesen und Schreiben) und macht einen Men- 
schen tüchtig darin? Doch offenbar das Erlernen der- 
selben. Und welche Tätigkeit macht einen zu einem guten 
Arzt? Offenbar das Erlernen der Krankenbehandlung. 
„Und schlecht, wer es schlecht macht“. Wer wird nun 
wohl ein schlechter Arzt? Offenbar nur ein solcher, der 
überhaupt ein Arzt ist, sodann auch nur ein guter Arzt. 
Denn nur ein solcher kann auch schlecht werden, wir 
aber, wir Laien in der Heilkunst, können niemals durch 
unrichtiges Handeln weder Ärzte noch Baumeister noch 
sonst etwas dergleichen werden; wer aber überhaupt nicht 
Arzt werden kann durch unrichtiges Handeln, der kann 
offenbar auch kein schlechter Arzt dadurch werden. So 
kann denn auch der gute Mensch wohl einmal schlecht 
werden, sei es infolge zunehmenden Alters oder einer 
Krankheit oder sonst welchen Zufalls (der den Geist 
trübt), — denn des Verstandes beraubt zu werden, darauf 


. allein geht jede schlechte Handlungsweise zurück — 


der schlechte Mensch aber kann niemals schlecht werden, 
denn er ist es ja jederzeit, sondern wenn er schlecht 
werden soll, so muß er zuvor erst gut geworden sein. 
Also auch dieses Stück des Liedes läuft darauf hinaus, 
daß es nicht möglich ist ein guter Mensch zu sein, näm- 
lich dauernd gut, wohl aber möglich, gut zu werden 
und ebenso auch schlecht zu werden. 
Am längsten aber die Besten, sie, der Götter Lieblinge. 


31. Alles dies ist also zur Bekämpfung des Pittakos 
gesagt, wie die weiter folgenden Verse ‚noch deutlicher 
zeigen. Denn da heißt 65:31): 

Drum sei ferne von mir dem Unmöglichen nachzugehen, 

Nie werd’ ich meines Lebens Teil vergebens vergeuden an eitele 
Hoffuung, 

Nie spähen nach dem Mann, der fleckenlos ist unter allen, die wir 


der weiten Erde Frucht genießen, 
Erst müßt’ ich ihn finden, dann ihn euch künden, 


a4 Platons Dialoge. 


So eindringlich und folgerecht kämpft er durch das ganze 


Gedicht hindurch gegen den Spruch des Pittakos an 


Alle lob’ ich und lieb ich, 
So einer nicht völlig!) 
Schimpfliches tut; mit dem Verhängnis kämpfen auch Götter nicht. 


Auch dies ist gegen den nämlichen Spruch gerichtet. 


Denn so ungebildet war Simonides nicht, sich als Lob- 


redner eines jeden auszugeben, der freiwillig kein Un- 


recht tut, als gäbe es überhaupt Leute, die freiwillig 
unrecht tun. Denn ich möchte wohl meinen, daß kein 
einsichtiger Mann glaubt, irgend ein Mensch tue frei- 
willig unrecht oder begehe Schimpfliches und Schlechtes 
aus freien Stücken; vielmehr wissen sie recht wohl, daß 
alle, die Schimpfliches und Schlechtes begehen, dies un- 
freiwillig tun!2). Und so erklärt sich denn auch Simo- 
nides nicht für einen Lobredner solcher, die freiwillig 
nichts Böses tun, sondern dieses ‚freiwillig‘ bezieht sich 
nur auf ihn selbst. Er glaubte nämlich, daß ein fein 
gebildeter Mann oft sich selbst mit Gewalt zwinge, je- 


mandes Freund und Lobredner zu werden, wie nicht. 


selten ein Mensch das Unglück hat eine Mutter, einen 
Vater, ein Vaterland oder sonst dergleichen zu haben, 
was nicht nach seinem Herzen ist. Sind es nun übel 
gesinnte Leute, denen so etwas begegnet, so lassen diese, 
meinte er, mit einer gewissen Freude ihr Auge auf der 
Schlechtigkeit ihrer Eltern oder ihres Vaterlandes ruhen, 
weisen recht geflissentlich tadelnd darauf hin und ergehen 
sich in Klagen darüber; denn dadurch, meinte er, wollen 
sie nur ihre Mitmenschen davon abbringen ihnen selbst 
ihre Herzlosigkeit gegen die Ihrigen vorzuwerfen und 
ihnen aus der Vernachlässigung derselben ein Verbrechen 
zu machen; darum steigern sie denn ihren Tadel gegen 
sie ins Maßlose und lassen es nicht genug sein mit den 
schon vorliegenden unvermeidlichen Feindseligkeiten, son- 
dern fügen ihnen auch noch selbstgeschaffene hinzu; 
dagegen fühlen sich, so meinte er, die gutgesinnten Men- 
schen gedrungen einen Schleier über dergleichen zu brei- 


346 S 


Protagoras, 95 


ten und mit Lob nicht zu kargen, und wenn sie über 
ihre Eltern oder ihr Vaterland infolge erlittener Unbill in 
Zorn geraten sind, dann suchen sie ihre innere Ruhe wieder- 
zugewinnen und eine versöhnliche Stimmung zu erzeugen, 
indem sie sich selbst zur Liebe und zum Lobe der Ihrigen 
zwingen. Auch war sich, glaub’ ich, Simonides bewußt, 
auch selbst mehr als einmal einen Tyrannen oder sonst 
einen Mächtigen gelobt und gepriesen zu haben, nicht 
dem eigenen Trieb, sondern der Not gehorchend. Dies 
gibt er denn auch dem Pittakos zu verstehen, indem 
er sagt: Ich, o Pittakos, tadele dich nicht aus Tadel- 
sucht; denn 

Mir ist's genug, wenn einer schlecht nicht ist, 

Und nicht vermessen frevelt; 

So er, ein wackerer!®) Mann, das Recht nur kennt, dies Heil der 

Ihn werd’ ich nimmer tadeln. [Staaten: 

Von Tadelsucht weiß ich mich frei. 

Ist doch der Toren Schar unübersehlich 
so daß, wer am Tadel seine Freude hat, an ihnen seinem 
Drang vollauf Genüge tun kann. 


Alles, wahrlich, ist schön, dem Schimpfliches fern bleibt. 


Dies meint er nicht so, als wollte er etwa sagen: Alles 
wahrlich ist weiß, dem nichts Schwarzes beigemischt ist!3!), 
denn das wäre höchst lächerlich; vielmehr will er damit 
sagen, daß er auch das Mittelmäßige gelten läßt ohne 
es zu tadeln. Und ich, sagte 61.133), suche nicht „einen 
ganz fleckenlosen Menschen unter allen, die wir der weiten 
Erde Frucht genießen, erst finden müßte ich ihn, dann 
ihn euch künden“; denn dann würde ich überhaupt nicht 
dazu kommen jemanden zu loben. Nein, mir genügt’s,» 
wenn einer nur die Mitte hält und nichts Schlechtes begeht, 
denn ich „liebe und lobe alle‘ — und hier bedient er sich 
auch der Mytilenäischen Mundart, denn Pittakos ist es 
ja, zu dem er die Worte spricht, „ich lobe und liebe jeden 
freiwillig — hier, hinter „freiwillig“ ist mit der Stimme 
innezuhalten!3) —, der nichts Schimpfliches tut“, doch 
gibt es auch solche, die ich mit Widerstreben lobe und 


& 


96 Platons Dialoge. 


liebe So würde ich dich, Pittakos, gewiß nicht tadeln, 


wenn du auch nur etwas einigermaßen Vernünftiges und 


Wahres vorbrächtest. Wie steht es aber in er Tat? 


Über die wichtigsten Dinge trägst du die ärgsten Un- 
wahrheiten vor er bildest dir doch ein die Wahrheit 
zu sagen: darum tadele ich dich!%). 

32. Dies scheint mir, mein Prodikos und Protagoras, 


sagte ich, das Absehen des Simonides bei Abfassung 


dieses Gedichtes gewesen zu sein. 

Da sagte Hippias: Trefflich, mein Sokrates, scheinst 
du mir deinerseits das Lied erläutert zu haben; doch, 
fuhr er fort, habe auch ich darüber einen gar nicht üblen 
Vortrag in Bereitschaft, den ich euch nicht vorenthalten 
werde, wenn es euerem Wunsche entspricht. 

Da erklärte Alkibiades: Ja, mein Hippias, aber ein 
andermal; jetzt ist es recht und billig, festzuhalten an 
dem Übereinkommen, das Protagoras und Sokrates mit- 
einander getroffen haben: nämlich, wenn Protagoras fort- 
fahren will mit dem Fragen, so soll Sokrates antworten, 


‚847 St 


oder wenn er dem Sokrie antworten will, so soll dieser _ 


fragen. 

Darauf bemerkte ich: Ich meinerseits lasse dem 
Protagoras die Wahl, was ihm lieber ist; ist es ihm 
aber recht, so lassen wir jetzt die Erörterungen über 
Lieder und Gedichte fallen, dagegen möchte ich die Fragen, 
über die ich zuerst mit dir verhandelte, mein Protagoras, 
mit dir des Weiteren erörtern, um zu einem Abschluß 
darüber zu gelangen. Denn diese Erörterungen über Poesie 
scheinen mir eine starke Ähnlichkeit zu haben mit den 
Trinkgelagen unbedeutender Alltagsmenschen. Da diese 
nämlich ihre Unterhaltung beim Becher nicht durch sich 
selbst und ihre eigene Stimme und Rede bestreiten können 
infolge ihrer mangelhaften Bildung, so schrauben sie die 
Preise für die Flötenbläserinnen in die Höhe:#): um 
hohen Preis mieten sie sich die fremde Stimme der Flöten 
und deren Stimme ist es dann, durch die sie sich mit- 
einander unterhalten. Wo aber wohl erzogene und ge- 


Protagoras. 97 


bildete Trinkgenossen beisammen sind, da siehst du dich 
vergeblich um nach Flötenbläserinnen, Tänzerinnen oder 
Lautenschlägerinnen; vielmehr sind sie sich selbst genug 
zur Unterhaltung durch ihre eigene Stimme ohne diese 
Possen und Kindereien; mit vollem Anstand wechselt 
bei ihnen Rede und Gegenrede, mögen sie dem Becher 
auch noch so stark zusprechen. Daher bedürfen denn 
auch Zusammenkünfte!3) wie die unsern hier, wenn sie 
als Teilnehmer Männer haben, wie die meisten von uns 
zu sein sich rühmen#*), keinerlei fremder ‚Stimme und 
keiner Dichter, die man ja doch über das was sie sagen 
nicht fragen kann, wie denn auch von denen, welche 
sich auf sie als auf Zeugen berufen, meistens die einen 
diese, die anderen jene Deutung von Dichterstellen vor- 
bringen, ohne über die strittige Sache entscheidende Be- 


weise geben zu können). Verständige Männer also 


wollen von derartigen Unterhaltungen nichts wissen, son- 
dern den Stoff für ihre Gespräche aus sich selber schöpfen 


.und auf eigenen Beinen stehen, indem sie in Rede und 


Gegenrede ihre geistige Kraft gegenseitig erproben 139). 


‘Ich sollte meinen, solchen Männern müßten wir beide 


nacheifern: mit Beiseiteschiebung der Dichter müssen wir, 
auf uns selbst gestellt, unsere Sache gegeneinander führen 
und so die Wahrheit und uns selbst erproben. Und willst 


du noch weiter der Fragende sein, so stelle ich mich 


dir als Antwortender zur Verfügung; ist es dir aber 
lieber, so stelle du dich mir zur Verfügung, um unsere 
inzwischen abgebrochene Untersuchung zu Ende zu führen. 

Auf diese und andere ähnliche Aufforderungen von 
mir blieb Protagoras eine klare Antwort schuldig, was 
von beiden er tun wolle. Da sagte Alkibiades, den Blick 
auf Kallias gerichtet: Mein Kallias, scheint dir auch 
jetzt noch Protagoras recht zu handeln, wenn er sich 
einer klaren Auskunft darüber entzieht, ob er Rede stchen 
will oder nicht? Ich halte das nicht für recht. Nein. 
Entweder muß er sich auf die Unterredung einlassen oder 
erklären, daß er nicht gewillt dazu ist, damit einerseits 

Apelt, Platon Protagoras, Phil. Bibl. Bd. 175. 7 


98 Platons Dialoge. 


wir wissen, woran wir mit ihm sind, anderseits Sokrates 
sich mit einem anderen unterreden kann, oder ein an- 
derer, der Lust dazu hat, mit einem anderen. Durch 
diese Worte des Alkibiades sowie die Bitten des Kallias 
und so ziemlich aller Anwesenden fühlte sich Protagoras 
: doch, wie mir schien, in seiner Ehre getroffen und ent- 
schloß sich, wenn auch schweren Herzens, zur Fortsetzung 
der Unterredung mit der Aufforderung ihn zu fragen, 
da er zu antworten bereit sei. | 

33. So hub ich denn an: Mein Protagoras, glaube 
nicht, daß, wenn ich mich mit dir unterrede, dies in 
anderer Absicht geschieht als der, dasjenige zu ergründen, 
worüber ich selbst gegebenen Falles in Unklarheit bin. 
Denn mir scheint Homer PN recht zu haben mit seinem 
Spruche #0) 


Wo Zween wandeln zugleich, da bemerket der Ein’ und der Andre. 


Denn so vereint sind wir Menschen alle schlagfertiger 
zu jeglichem Werk wie auch zu Rede und Entschluß. 


Doch der Einzelne, wenn er bedacht hat, 


sucht alsbald allenthalben nach einem, dem er die hs 
mitteilen!#) und mit dem er zu einem festen Ergebnis 
gelangen kann; und er ruht nicht eher, als bis er einen 
solchen trifft. Und so möchte denn auch ich mich lieber 
mit dir als mit irgend einem anderen unterreden, aus 
keinem anderen Grunde als weil ich überzeugt bin, daß 
du, wie über die anderen Fragen, über die ein tüchtiger 
Mann sich naturgemäß berufen fühlt Betracktungen an- 
zustellen, so besonders auch über die Tugend am besten 
nachforschen wirst. Denn wer sollte dieser Erwartung 
sonst entsprechen, wenn nicht du? Hältst du dich doch 
einerseits selber für einen auf der Höhe sittlicher Bildung 
stehenden Mann, so wie es auch manchen anderen gibt, 
der selber durchaus tüchtig ist, ohne aber doch andere 
dazu machen zu können“), Du aber bist sowohl selbst 
tüchtig wie auch imstande andere tüchtig zu machen, 
und bist darin deiner selbst so sicher, daß, während an- 


Protagoras. 99 


dere diese ihre Kunst geheim halten, du dich in ganz 


St. Griechenland als Sophisten, wie du dich ganz offen nennst, 


ausrufen ließt, dich also als einen Lehrer der Bildung 
und Tugend zu erkennen gabst. Auch bist du der erste, 
der Bezahlung dafür gefordert hat!#). Wie konnte ich 
also davon absehen, dich zu dieser Untersuchung über 
die Tugend heranzuziehen und dich zu fragen und mir 
von dir Rats zu erholen? Ganz unmöglich! Und so 
will ich denn jetzt die Punkte, über die ich dich zu 
Anfang befragte, aufs neue von Anfang an mir teils von 
dir wieder in Erinnerung bringen lassen, teils sie gemein- 
sam mit dir weiter erwägen. Die Frage drehte sich aber, 
wenn mir recht ist, um folgende Punkte: Sind Weisheit, 
Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Frömmigkeit, 
diese fünf Namen, nur Namen für eine einzige Sache 
oder liegt jedem einzelnen dieser Namen eine besondere 
Wesenheit!4#) und Sache zugrunde, die ihre eigene Be- 
stimmung und Wirkungsweise hat, verschieden von der 
der anderen? Deine Meinung ging nun dahin, sie seien 
nicht bloße Namen für eine einzige Sache, sondern jeder 
‘dieser Namen habe seine Beziehung auf eine besondere 
Sache, alle aber seien sie Teile der Tugend, aber nicht 
so wie beim Golde, wo die Teile sowohl untereinander 
wie auch mit dem Ganzen gleichartig sind, sondern so 


wie beim Gesicht, dessen Teile sowohl untereinander wie _ 


auch mit dem Ganzen ungleichartig sind, indem ein jeder 
seine besondere Bestimmung und Wirkungsweise hat. Nun 
erkläre dich darüber, ob du hierin noch der nämlichen 
Ansicht bist. Denkst du aber darüber jetzt irgendwie 
anders, so gib darüber genau Auskunft; denn ich nehme 
es dir nicht für ungut, wenn du dich jetzt irgendwie 
anders entscheidest, würde mich vielmehr gar nicht wun- 
dern, wenn deine damaligen Äußerungen nur den Zweck 
gehabt hätten mir auf den Zahn zu fühlen. 

34. So erkläre ich dir denn, Sokrates, erwiderte er, 
daß dies alles allerdings Teile der Tugend sind und daß 
vier von ihnen einander ziemlich ähnlich sind, die Tapfer- 


100 Platons Dialoge. 


keit aber ganz wesentlich von ihnen allen verschieden 
ist. Folgende Betrachtung aber wird dir zeigen, daß ich 
recht habe. Du wirst viele Menschen finden, die in 
hervorragendem Maße ungerecht, gottlos, zügellos und 
unverständig, dabei aber doch ganz außerordentlich tapfer 
sind. 

Halt, sagte ich, diese Bemerkung verdient näher ins 
Auge gefaßt zu werden. Hältst du die Tapferen für 
kühn oder für etwas anderes!) ἢ 

Ja, erwiderte er, sogar für Draufgänger in Lagen, 
wo die meisten aus Angst sich nicht vorwagen. 

Wohlan denn, erklärst du die Tugend für etwas 
Schönes und bietest du dich als Lehrer derselben an 
in dem Sinne, daß sie etwas Schönes sei? 

Gewiß, etwas ganz unvergleichlich Schönes, sonst 
müßte ich ja von Sinnen sein. 

Ist nun, fuhr ich fort, ein Teil von ihr häßlich 


(verwerflich), ein anderer aber schön (löblich), oder ist 


sie durchweg schön? 

Durchweg schön im allerhöchsten Sinne. 

Weißt du nun, was für Leute kühn in die ξωνούς 
hinabtauchen ? 

Ja, die Taucher. 

Doch wohl weil sie sich auf die Sache verstehen. 
Oder aus einem anderen Grunde? 

Nein; weil sie sich darauf verstehen. 

Und was für Leute sind kühn im Reiterkampf? Die 
geübten Reiter oder die des Reitens Unkundigen ? 

Die geübten Reiter. 

Und was für Leute sind kühn im Schildkampf? Die 
geübten Schildkämpfer oder die, welche es nicht sind? 

Die geübten Schildkämpfer. Und so sind auch auf 
allen anderen Gebieten, fuhr er fort, wenn du einmal 
darauf aus bist, die Sachkundigen kühner als die Un- 
kundigen und, wenn sie gehörig in die Lehre gegangen 
sind, auch kühner als sie selbst, nämlich kühner als 
damals, wo dies noch nicht der Fall war. 


Protagoros. 101 


Hast du aber auch schon, erwiderte ich, Leute ge 
sehen, die all solcher Kenntnisse ledig waren und trotz- 
dem gegebenen Falles immer kühn losstürmten ? 

Gewiß, sagte er, und wie kühn! 

Also sind wohl diese kühnen Stürmer auch tapfer? 

Dann, erwiderte er, wäre es in der Tat schlimm 
bestellt mit der Tapferkeit: sie wäre etwas Häßliches, 
denn diese Leute sind ja rein wahnwitzig. 

Wie lautet nun, versetzte ich, deine Meinung über 
die Tapferen ? Sind sie in deinen Augen nicht die Kühnen ? 

Ja, das sind sie auch jetzt noch‘), erwiderte er. 

Und wie nun? fuhr ich fort. Wenn diese nun in 
solcher Weise kühn sind, dann sind sie doch offenbar 
nicht tapfer, sondern toll? Nach deiner vorigen Behaup- 
tung“) aber sind doch im Gegensatz zu der jetzigen 
Behauptung die Einsichtigsten diejenigen, die auch die 
Kühnsten sind, und wenn die Kühnsten, dann doch auch 
die Tapfersten, eine Ansicht, nach welcher also die Weis- 
heit Tapferkeit wäre? 

Nicht richtig, mein Sokrates, gibst du wieder, was 
ich sagte und dir antwortete. Von dir gefragt, ob die 
Tapferen kühn sind, erklärte ich mich einverstanden 143). 
Ob aber auch die Kühnen tapfer sind, danach ward ich 
nicht gefragt; denn hättest du die Frage mir vorhin 
vorgelegt, so hätte ich geantwortet: „nicht alle“. Was 
aber mein Zugeständnis anlangt, nämlich daß die Tapferen 
kühn seien, so hast du dessen Richtigkeit in keiner Weise 
widerlegt. Weiter zeigst du, daß die Sachkundigen so- 
wohl sich selbst wie auch andere, Nichtkundige, an 
Kühnheit übertreffen und glaubst damit die Tapferkeit 
una die Weisheit als ein und dasselbe zu erweisen. 
Mit solchem Verfahren aber könntest du auch zu der 
Ansicht kommen, die (körperliche) Stärke sei Weisheit. 
Denn wenn du gemäß diesem Muster von Schlußverfahren 
mich fragen wolltest, ob die Starken auch leistungsfähig 
sind, so würde ich mit Ja antworten; sodann, ob die 
der Ringkunst Kundigen leistungsfähiger sind als die 


102 Platons Dialoge. 


darin Unkundigen, und auch leistungsfähiger nach be- 
standener Lehrzeit als sie selbst es vorher waren, so 
würde ich mit Ja! antworten. Auf dieses mein Zuge- 
ständnis hin wärest du, unter Einhaltung ganz der näm- 
lichen Schlußweise, zu der Behauptung berechtigt, nach 
meinem Zugeständnis sei die Weisheit Stärke. Ich aber 
gebe auch hier durchaus nicht zu, daß die Leistungsfähigen 
stark seien, wohl aber, daß die Starken leistungsfähig 
sind. Denn Leistungsfähigkeit und Stärke sind nicht ein 
und dasselbe, vielmehr kann die Leistungsfähigkeit ihren 
Ursprung auch in guter Einsicht haben, wie auch in 
Raserei oder in Zorneserregung, die Stärke dagegen nur 
in natürlicher Anlage und guter Ernährung. Und so 
ist denn auch in jenem Falle Kühnheit und Tapferkeit 
nicht dasselbe Es gilt also wohl der Satz, daß die 
Tapferen kühn sind, nicht aber der, daß die Kühnen 
auch alle tapfer sind. Denn Kühnheit kann den Menschen 
erwachsen sowohl aus kunstmäßiger Übung wie aus 
Zorneserregung und Raserei, wie die Leistungsfähigkeit; 


Tapferkeit dagegen aus natürlicher Anlage und richtiger 


Bildung der Seele.- 

35. Bist du der Meinung, sagte ich, Protagoras, 
daß die Menschen teils ein gutes, teils ein trübseliges 
Leben führen!) ἢ 

Er gab es zu. 

Hältst du es nun für ein gutes Leben, wenn der 
Mensch in Trübsal und Schmerz lebt? 

Er verneinte es. 

Wie aber, wenn er nach einem angenehmen Leben 
aus demselben abscheide? Hat er dann nicht deines 
Erachtens ein gutes Leben geführt? 

Das sollt’ ich meinen, erwiderte er. 

Ein angenehmes Leben also ist gut, ein unangenehmes 
vom Übel (schlecht). 

Ja, sagte er, wenn man sein ἼΔΗΙ in der Freude 
am Schönen dahinbringt. 

Wie nun, mein Protagoras? Du hältst doch nicht 


351 8 


Protagoras. 103 


auch, wie die meisten, gewisse Annehmlichkeiten für 
schlecht und gewisse Widerwärtigkeiten für gut? Ich 
meine es mit meiner Frage nämlich so: Ist das An- 
genehme nicht auch gut eben insofern es angenehm ist, 
also ohne alle Rücksicht auf anderweitige Folgen? Und 
sind nicht ebenso die Widerwärtigkeiten vom Übel 
(schlecht) eben insofern als sie widerwärtig sind'!50) ? 

‘Ich weiß nicht, Sokrates, erwiderte er, ob ich so 
schlankweg in dem Sinne wie du fragst auch antworten 
darf, daß alles Angenehme auch gut und alles Unan- 
genehme auch vom Übel (schlecht) sei; doch scheint es 
mir nicht nur für die jetzige Antwort sondern auch 
im Hinblick auf mein ganzes sonstiges Leben sicherer 
folgendermaßen zu antworten: Das Angenehme ist zum 
Teil nicht gut und das Unangenehme zum Teil nicht vom 
Übel, zum Teil aber auch das erstere gut, das letztere 
vom Übel und drittens beide zum Teil keines von beiden, 
weder schlecht noch gut. 

Nennst du aber nicht, erwiderte ich, angenehm das, 
was Teil hat an der Lust oder Lust erzeugt? 

Allerdings. 

Wenn ich also frage, ob das Angenehme, insofern 
es angenehm ist, nicht auch gut ist, so heißt das so viel 
als: Ist die Lust selbst nicht ein Gut? 

Laß uns, erwiderte er, mein Sokrates, den von dir 
immer empfohlenen Weg!) einschlagen, nämlich die- 
Sache genau prüfen und wenn deine so erörterte These 
mit der Vernunft zu stimmen scheint und Angenehm 
und Gut sich als ein und dasselbe erweisen, dann werden 


wir uns darauf einigen; wo ah so werden wir sie 


2 St, 


nicht gelten lassen. 
Willst du nun, fragte ich, die Führung bei der 
Erörterung übernehmen, oder soll ich der Führende sein ? 
An dir ist es, erwiderte er, die Führung zu über- 
nehmen; denn du bist ja der Urheber der Untersuchung. 
Wohlan denn, sagte ich, werden wir nicht auf 
folgende Weise zur Klarheit über die Sache gelangen ? 


104 Platons Dialoge. 


Angenommen, es sollte einer einen Menschen aus seinem 
Äußeren auf seine Gesundheit hin prüfen oder für irgend 
welche sonstige körperliche Leistungsfähigkeit, ohne doch 
zunächst von ihm mehr zu sehen als das Gesicht und 
was von den Händen aus dem Gewande hervorragt, so 
wird er doch wohl sagen: Mach keine Umstände, ent- 
blöße mir auch deine Brust und den Rücken und lab 
sie mich sehen, damit ich genauere Einsicht erlange. 
So etwa vermisse auch ich etwas für unsere Untersuchung. 
Nachdem ich (im allgemeinen) aus deiner Antwort deine 
Ansicht über das Gute und Angenehme kennen gelernt 
habe, möchte ich etwa folgende Aufforderung an dich 
richten: Laß dich nun dazu herbei, Protagoras, mir 
auch in bezug auf folgenden Punkt deine Gedanken zu 
enthüllen: Wie denkst du über die Erkenntnis (ἐπιστήμη) ὃ 
Teilst du auch hier:52) die Ansicht der meisten Menschen 
oder etwa nicht? Die meisten nämlich halten von der 
Erkenntnis nicht viel; sie meinen, sie sei nichts Starkes, 
Leitendes, Gebietendes und sie wollen sie nicht als etwas 
von dieser Art anerkennen, behaupten vielmehr, es komme 
oft genug vor, daß der Mensch die Erkenntnis zwar 
besitze, daß aber nicht sie über ihn die Herrschaft habe, 
sondern irgend etwas anderes, bald Zorn, bald Lust, bald 
Unlust, zuweilen auch leidenschaftliche Liebe und oft- 
mals Furcht!5), kurz sie denken von der Erkenntnis 
nicht besser als wie von einem Sklaven!5): in solchem 
Maße lassen sie sich von allen übrigen Seelenzuständen 
herumzerren. Denkst du nun auch ähnlich über sie, oder 
ist die Erkenntnis in deinen Augen etwas Schönes und 
berufen zur Herrschaft über den Menschen dergestalt, 
daß wer das Gute und Böse richtig erkennt, schlechter- 
dings durch keine Gewalt dazu gebracht werden kann 
etwas anderes zu tun als was die Erkenntnis gebietet, 
da es eben keine bessere Gehilfin für den Menschen gibt 
als die Einsicht? 

Ich teile, erwiderte er, mein Sokrates, deine Ansicht, 
ja es würde, wenn für irgend jemanden so für mich 


er 


Protagoras. 105 


geradezu schmählich sein, wollte ich nicht Weisheit und 
Erkenntnis für das Mächtigste erklären von allem, was 
dem Menschen zuteil werden kann 155). 

Das heißt, versetzte ich, recht und wahr gesprochen. 
Nun weißt du aber doch, daß die meisten Menschen von 
dieser unserer Ansicht nichts wissen wollen sondern be- 
haupten, daß viele, die das Bessere recht wohl kennen, 
es doch nicht tun wollen, obschon sie es könnten, son- 
dern sich für ihr Tun anders entscheiden; und alle, 
die ich nach dem Grund dafür fragte, behaupten, es 
sei entweder Lust oder Unlust oder was ich sonst vor- 
hin in dieser Beziehung anführte!5), unter deren ob- 
siegender Gewalt die Betreffenden so handelten. 

Nun, von den Menschen, versetzte er, mein Sokrates, 
bekommt man auch sonst genug zu hören was nicht 
richtig ist. 

Wohlan denn, so versuche, im Bunde mit mir die 
Menschen eines Besseren zu belehren und ihnen klar 
zu machen, was es eigentlich auf sich hat mit dem was 
ihnen da widerfährt und was sie als ein Überwunden- 


.werden durch die Lüste bezeichnen, infolgedessen sie 


nicht das Bessere tun trotz richtiger Erkenntnis desselben. 
Denn wenn wir zu ihnen sagten: „Ihr habt nicht recht, 
ihr Leute, sondern seid im Irrtum“, so würden sie uns 
vermutlich fragen: Nun, Protagoras und Sokrates, wenn 
das, was uns da widerfährt, nicht ein Überwundenwerden - 
durch die Lust ist, was ist es denn dann und wie nennt 
ihr es? Das müßt ihr uns sagen. 

Was brauchen wir uns, mein Sokrates, an die Mei- 
nung der Leute zu kehren, die a was ihnen gerade 
in den Mund kommt!5?) ἢ 

Irre ich nicht, erwiderte ich, so kann’ uns das förder- 
lich sein für Bestimmung des Verhältnisses, in dem die 
Tapferkeit zu den übrigen Teilen der Tugend steht. Bist 
du also gewillt an unserem eben getroffenen Abkommen 
festzuhalten, dem zufolge ich die Führung haben soll, 
so mußt du mir folgen auf dem Weg, der meiner Meinung 


106 Platons Dialoge. 


nach am besten zur Klärung der Sache führt; willst 
du das aber nicht, so lasse ich die Sache fallen, wenn 
es dir recht ist. | 

Nein, sagte er, du hast recht; fahre nur fort wie 
du begonnen. 

36. Wenn also, sagte ich, die Leute uns abermals 
fragten: Wofür erklärt ihr das, was wir ein Überwunden- 
werden durch die Lüste nannten? so würde ich ihnen 
folgende Antwort geben!5): So merket denn auf; denn 
ich und Protagoras, wir werden versuchen es euch klar 
‚zu machen. Ihr meint doch, liebe Leute, solche Nieder- 
lage erleide man auch in Lagen wie der, wo ihr, wie 
häufig, durch den verführerischen Reiz von Speisen, Ge- 
tränken und Liebeslust bewältigt, ungeachtet der Erkennt- 
nis ihrer Verwerflichkeit, euch gleichwohl dem Genusse 
derselben hingebt? Ja, würden sie da sagen. Wir würden 
sie dann doch wohl weiter fragen: Inwiefern aber meint 
ihr, daß sie verwerflich seien ? Etwa weil ein jeder dieser 
Genüsse für den Augenblick diese Lust gewährt und 


angenehm ist, oder weil er für die Folgezeit Krankheiten 


erzeugt oder Armut und manche andere derartige Übel 
mit sich führt? Oder gesetzt auch, er hätte für die 
Folgezeit keine derartige Wirkung, sondern gewähre nur 
Lust, wäre er dann auch vom Übel, welcher Art auch 
immer er sei? ‚Würden sie dann wohl, Protagoras, eine 
andere Antwort geben als die, sie seien nicht wegen 
der Lust, die sie im Augenblick gewähren, verwerflich, 
sondern wegen der späteren Folgen, nämlich der Krank- 
heiten und sonstiger Übel? 

Ich glaube wohl, antwortete Protagoras, daß die 
Leute so antworten werden. 


Was nun Krankheiten erzeugt, erzeugt doch auch 


Unlust, und was Armut hervorruft, ruft ‚doch gleich- 
falls Unlust hervor? 

Protagoras stimmte zu. 

Offenbar also, liebe Leute, sind doch in eueren 
Augen, wie ich und Protagoras behaupten, diese Genüsse 


Protagoras. 107 


'54 St. nur deshalb vom Übel, weil sie in Unlust enden und 
uns anderer Genüsse berauben ? Das würden sie zugeben. 

‚Wir waren beide darüber einverstanden. 

Wenn sie nun wieder nach dem Entgegengesetzten 
fragten: Ihr Leute, wenn ihr anderseits wieder behauptet, 
das Gute sei (unter Umständen) unangenehm, habt ihr 
dann dabei nicht Dinge im Auge wie turnerische An- 
strengungen und ärztliche Behandlung mit Brennen, 
Schneiden, Arzeneien und Fasten, Dinge also, von denen 
ihr euch sagt, daß sie zwar einerseits gut, anderseits 
aber doch auch übel sind? Das würden sie doch zugeben ? 

Er stimmte bei. 

Nennt ihr sie nun um deswillen gut, weil sie für 
den Augenblick die stärksten Schmerzen und Qualen ver- 
ursachen, oder weil in der Folgezeit aus ihnen Gesund- 
heit erwächst und körperliches Wohlbefinden und Rettung 
der Staaten aus Gefahren und Erweiterung ihrer Herr- 
schaft (über andere) und Reichtum? Sie würden das 
letztere für richtig erklären, sollte ich meinen. | 

Er stimmte bei. 

Aus keinem anderen Grunde also nennt ihr diese 

. Dinge doch gut als weil sie schließlich lustvolle Zustände 
und Abwendung und Vertreibung der Unlust zur Folge 
haben? Oder könnt ihr als Ausschlag gebend für die 
Bezeichnung dieser Dinge als guter irgend etwas anderes 
anführen als Lust und Unlust? Nein! würde ihre Ant- 
wort lauten, glaube ich. 

Das glaube auch ich, sagte Protagoras. 

Also jaget ihr doch der Lust nach als etwas Guten 
und die Unlust meidet ihr als ein RR. 

Er stimmte bei. | 

Was ihr also für ein Übel haltet das ist eben nichts 
anderes als die Unlust, und für ein Gutes nichts anderes 
als die Lust; denn ihr erklärt ja doch sogar den vor- 
handenen Lustzustand selbst für ein Übel, wenn er uns 
größerer Annehmlichkeiten beraubt als die sind, welche 


108 Platons Dialoge. 


er selbst bietet, oder wenn er Unlust zur Folge hat, deren 
Maß das Maß der in ihm enthaltenen Lust übertrifft. 
Denn wäre es wirklich ein anderer Grund, aus dem ihr 
den Lustzustand als ein Übel bezeichnet und hättet ihr 
dabei irgend ein anderes Ziel im Auge, dann wäret ihr 
auch imstande es uns anzugeben; aber das wird euch 
nicht möglich sein. 


Auch meiner Meinung nach nicht, sagte Protagoras. 


Steht es nun anderseits nicht ebenso mit dem eigent- 
lichen Schmerz- und Unlustgefühl? Ihr nennt doch dann 
den Unlustzustand selbst gut, wenn er uns entweder von 
größerer Unlust befreit als die ist, welche er selbst mit 
sich führt, oder wenn er uns Annehmlichkeiten verschafft, 
die mehr besagen als die augenblickliche Unlust? Denn 
wenn euch für euere Bezeichnung der vorhandenen Un- 
lust als einer guten etwas anderes als Ausschlag gebend 
gilt als das was ich dafür ausgebe, dann müßt ihr auch 
imstande sein es anzugeben; aber das wird euch nicht 
möglich sein. | 

Da hast du recht, sagte Protagoras. 


Wenn ihr mich nun, fuhr ich fort, weiter fragtet, 


ihr Leute!5%): Weshalb überhaupt machst du in dieser 
Sache soviel Worte und Umstände? so würde ich ant- 
worten: Habet Nachsicht mit mir. Denn erstens ist es 
nicht leicht das eigentliche Wesen dessen darzulegen, was 
ihr ein Überwundenwerden durch die Reize der Lust 
nennt, sodann aber ist gerade dies der Angelpunkt, um 
den sich die ganze Beweisführung dreht. Aber auch jetzt 
steht es euch noch frei, euere Behauptung zurückzunehmen, 
wenn ihr das Gute als etwas erklären könnt, das irgend- 
wie verschieden ist von der Lust oder das Schlechte 
(Übel) als etwas, das verschieden ist von der Unlust!#0). 
Oder genügt es euch euer Leben in angenehmer Art 
hinzubringen ohne Unlust? Ist dies aber der Fall und 
könnt ihr nichts anderes als gut oder übel bezeichnen 
als was in Lust oder Unlust endet, so laßt euch nun 
folgendes gesagt sein. Ich versichere euch nämlich: 


355 St. 


N SR DE ein ua ei 


Protagoras. 109 


Wenn sich dies so verhält, dann macht ihr euch lächerlich 
mit euerer Behauptung, der Mensch entscheide sich, ver- 
führt und geblendet durch die Reize der Lust, in seinem 
Tun nicht selten für das Schlechte trotz der Erkenntnis, 
daß es schlecht sei, während es doch in seiner Macht 
stünde es zu unterlassen; und ebenso mit der anderen 
Behauptung, der Mensch wolle das Gute nicht tun trotz 
Erkenntnis desselben, weil er sich der Lust des Augen- 
blicks gefangen gebe1#t), 

37. Daß dies aber lächerlich ist, wird sich mit voller 
Klarheit ergeben, wenn wir auf den Gebrauch der vielerlei 
Namen als da sind „angenehm“ und „unangenehm“, „gut 
und schlecht (übel)“ verzichten und uns vielmehr, da 
es, wie erwiesen, sich nur um zweierlei handelt, auch 
nur zweier Namen dafür bedienen, und zwar zuerst der 
Namen gut und schlecht (übel), weiterhin sodann wieder 
der Namen angenehm und unangenehm, Dieses fest- 
gestellt, wollen wir also sagen: Der Mensch, ob er gleich 
das Schlechte als Schlechtes erkennt, tut es dennoch. 
Wenn uns nun jemand fragt: Warum denn? so wer- 


‘ den wir antworten: Weil er sich überwinden lädt. — 


‘Wovon denn? wird jener uns fragen. — Wir aber dürfen 
nun nicht mehr antworten ‚von der Lust“, denn sie führt 
ja nunmehr einen anderen Namen, nämlich den des Guten. 
Also müssen wir jenem antworten und sagen: Weil er 
überwunden ist. — Nun, wovon denn? wird er fragen. — 
Vom Guten, ja beim Zeus. — Sollte nun unser Frager 
etwa ein Spötter sein, so wird er in Lachen ausbrechen 
und sagen: Was ihr da sagt, ist wahrlich zum Lachen, 
daß ein Mensch, der das Schlechte als solches erkennt, 
obschon er es nicht tun sollte, es dennoch tut, weil er 
überwunden wird vom Guten. — Etwa, wird er fragen, 
weil dem Guten in eueren Augen der Sieg über das 
Schlechte nicht gebührt? Oder gebührt ihm doch dieser 
Sieg? — Darauf werden wir offenbar antworten müssen: 
Weil er ihm nicht gebührt; denn sonst würde der, 
von dem wir sagen, er lasse sich von den Reizen der 


110 Platons Dialoge. 


Lust überwinden, keinen Fehltritt begehen. — Unter 
welcher Voraussetzung aber, wird er vielleicht {ragen, 
steht denn das Gute hinter dem Schlechten oder das 
Schlechte hinter dem Guten zurück? Doch wohl nur 
dann, wenn das Schlechte größer (mächtiger) ist, das 
Gute dagegen kleiner (machtloser) oder wenn des Ersteren 
mehr, des Letzteren weniger ist? — Wir werden uns 


damit einverstanden erklären müssen. — Offenbar also, 


wird er nun sagen, bedeutet dies euer „Überwunden- 
werden“ nichts anderes als dies: gegen geringeres Gute 
mehr Schlechtes in Kauf nehmen. — Damit also hat 
es diese Bewandtnis. Nunmehr wollen wir uns hinwie- 
derum der anderen Ausdrücke bedienen, nämlich der 
Namen „angenehm“ und „unangenehm“ für die nämlichen 
Dinge. Der Mensch also, sagen wir nun, tut — vorhin 
sagten wir das Schlechte, jetzt aber müssen wir sagen — 
das Unangenehme, obschon er es als solches erkennt, 
überwunden von dem Angenehmen, das offenbar nicht 
wert war zu siegen. Und welche andere gegenseitige 
Wertabschätzung von Lust und Unlust gibt es denn als 
die nach dem Mehr- oder Minderbetrag der einen gegen 
die andere, das heißt danach, auf welcher Seite das 
Größere und Kleinere, das Mehr oder Weniger, das dem 
Grade nach Höhere oder Niedere liest. Denn wollte 
einer einwerfen: Aber es ist doch, Sokrates, ein erheb- 
licher Unterschied zwischen dem augenblicklich Ange- 
nehmen und demjenigen Angenehmen oder Unangenehmen, 
das erst in der Folgezeit liegt, so würde ich antworten: 
Aber was ist es anderes als Lust und Unlust, worin er 
liegt? Denn worin sollte er sonst liegen? Nein, wie 
ein des Wägens kundiger Mann mußt du das Angenehme 
und das Unangenehme, sowohl das nahe wie das ferne, 
übersichtlich zusammenordnen und auf die Wage legen 
und mir dann sagen, welche von beiden Seiten im Über- 
gewicht ist. Denn wenn du Angenehmes gegen Ange- 
nehmes wägst, dann mußt du das Größere und Mehrere 
wählen, wenn aber Unangenehmes gegen Unangenehmes, 


356 St. 


Protazroras. 111 


dann das Kleinere und Geringere; und wenn Angenehmes 
gegen Unangenehmes, so kommt es darauf an, ob das 
Unangenehme überwogen wird von dem Angenehmen oder 
das Angenehme von dem Unangenehmen; in ersterem 
Falle muß man tun, was diesem Verhältnis entspricht), 
gleichviel ob es sich um ein Näheres oder um ein Ferneres 
handelt, im letzteren Falle nicht. So und nicht anders 
verhält es sich doch damit, ihr Leute? würde ich sagen. 
Ich bin meiner Sache ganz sicher, sie würden nichts 
anderes zu sagen wissen. Ἶ 

Damit erklärte sich auch Protagoras einverstanden. 

Da sich dies nun so verhält, so beantwortet mir 
folgendes, werde ich sagen. Erscheinen euerem Gesicht 
die nämlichen Größen in der Nähe größer, in der Ferne 
kleiner, oder nicht? — Ja, werden sie sagen. — Und 
‚das Dicke und die Menge ebenso? Und die gleichen Töne 
aus der Nähe stärker, aus der Ferne schwächer? — Auch 
das werden sie bejahen. Hinge nun euer Wohlergehen 
davon ab, daß ihr die großen Entfernungen für euer 
Handeln wähltet, die kleinen aber miedet und unbeachtet 
‘ ließet, worin müßtet ihr dann das Heil eueres Lebens 
finden? In der Meßkunst!s) oder in der Macht des Schei- 
nes? Oder würde uns die letztere nicht irre führen und 
zur Folge haben, daß wir oftmals die wahren Verhältnisse 
völlig verdrehen und dann Reue empfinden über unser 
Tun sowie über unsere Wahl des Großen und Kleinen, 
während die Meßkunst dies Trugbild seiner Macht ent- 
kleiden und durch klare Feststellung des wahren Tat- 
bestandes unserer an dieser Wahrheit festhaltenden Seele 
zur Ruhe verhelien und so zur Heilbringerin für unser 
Leben werden würde? Würden die Leute zugeben, daß 
uns bei dieser Annahme die Meßkunst zum Glücke ver- 
helfen würde oder etwa irgend eine andere Kunst? 

Nein, die Meßkunst, räumte er ein. 

Und wie, wenn von der Wahl des Geraden und 
Ungeraden (der Zahlen) das Heil unseres Lebens abhinge, 
so dab es auf die richtige Wahl der höheren oder tieferen 


119 Platons Dialoge. 


Zahl ankäme sowohl im Verhältnis einer jeden von beiden 
Arten zu sich selbst!#) wie der einen Art zur anderen, 
mag es sich nun um Nahes oder Fernes handeln, worin 
würde dann das Heil unseres Lebens liegen? Nicht in 


irgend einer Art von Erkenntnis? Und wäre sie nicht: 


auch eine messende Kunst, da es sich dabei um Mehr- 
betrag oder Minderbetrag handelt? Und da es hier Ge- 
rades und Ungerades ist, worauf sie sich bezieht, kann 
es dann wohl eine andere sein als die Rechenkunst? 
Das würden uns die Leute doch wohl zugeben; oder 
nicht? 

Auch Protagoras war der Ansicht, sie würden es 
zugeben. 

Gut denn, ihr Leute. Da sich aber das Heil des 
Lebens uns als abhängig erwies von der richtigen Wahl 
der Lust und Unlust nach Maßgabe des Mehr oder Weniger 
und des Größeren und Kleineren, mag es nun ferner sein 
oder näher, erscheint da nicht auch sie (die Wahl) erstens 
als eine Meßkunst, da Überschuß, Mangel und gegenseitige 


Gleichheit den Gegenstand ihrer Erwägungen bildet? — . 


Ganz unbedingt. — Ist sie aber eine Meßkunst, dann 
doch notwendig auch eine Kunst und ein Wissen? — 
Dem werden sie beistimmen. — Welcher Art nun diese 
Kunst und dies Wissen sind, das wollen wir ein andermal 
untersuchen. Die Tatsache aber, daß sie ein Wissensfach 
ist, reicht hin zu dem Beweise, den ich und Protagoras 
führen müssen zur Beantwortung der Frage, die ihr an 
uns richtet.. Eure Frage aber ward, wenn ihr euch er- 
innern wollt, damals aufgeworfen, als wir zwei miteinander 
überein kamen1#), daß nichts mächtiger sei als das Wissen, 
und daß, wo dies ist, es auch stets die Herrschaft hat 
sowohl über die Lust wie über alles andere. Ihr dagegen 
behauptetet, gar oft bemächtige sich die Lust der Herr- 
schaft über den Menschen, auch wenn er das Bessere 
wisse; da wir euch das nun nicht zugaben, so richtetet 
ihr an uns die Frage: „Nun Protagoras und Sokrates, 
wenn dieser Vorgang nicht ein Überwundenwerden durch 


Protagoras. 113 


‚die Lust ist, was soll er denn sonst sein und wofür erklärt 


ihr ihn denn? Das saget uns.“ Hätten wir nun damals 
euch gleich erwidert, er wäre Unwissenheit, dann hättet 
ihr uns ausgelacht; wenn ihr uns aber jetzt auslacht, 
dann lacht ihr damit auch euch selber aus; denn auch 
ihr. habt eingeräumt, daß, wer in der Wahl von Lust 
und Unlust, das heißt von Gutem und Schlechtem, fehl- 
geht, dies aus Mangel an Erkenntnis tut, und nicht bloß 
im allgemeinen an Erkenntnis, sondern, wie ihr des 
Näheren euch belehren ließet, auch an Meßkunde. Eine 
ohne Erkenntnis vollzogene fehlerhafte Handlung aber, 
das wißt ihr auch wohl selbst, hat ihren Grund in der 
Unwissenheit. Mithin ist das Überwundenwerden durch 
die Lust eben nichts anderes als die größte Unwissenheit '!%), 
Als Arzt für sie kündigt sich Protagoras an, sowie auch 
Prodikos und Hippias. Ihr aber haltet die Sache für 
etwas anderes als Unwissenheit und nehmt deshalb weder 
selbst Unterricht bei den Lehrern alles dessen, d. h. bei 
diesen unseren Sophisten, noch schickt ihr euere Söhne 
zu ihnen, als ob es sich um Dinge handelte, die nicht 


‘ lehrbar wären, sondern sitzt auf eueren Geldsäcken und 


gebt: nichts heraus für sie, womit ihr denn euch Ἄραρ Ἀπ 
wie auch dem Staate übel: mitspielt. 

38. So also würden wir den Leuten geantwortet haben. 
Nun aber frage ich nächst dem Protagoras auch euch, 
Hippias und Prodikos — denn an der Untersuchung sollt 
auch ihr teilnehmen — ob ihr meine Ausführungen für 
wahr oder für unwahr haltet”), 

Allen schien das Gesagte ganz unwidersprechlich wahr. 
Ihr räumet also ein, sagte ich, daß das Angenehme gut 
ist und das Unangenehme vom- Übel. Von seinen Wort- 
unterscheidungen aber bitte ich den Prodikos jetzt ab- 
zusehen; denn magst du es nun angenehm (A6%) nennen, 
oder ergötzlich (τερπρόν) oder erfreulich (zaoıöv) oder 
wonach und wie immer du es zu benennen Lust hast, 
mein bester Prodikos, die Wahl des Ausdrucks steht dir 
frei für deine Antwort auf meine Frage. 

Apelt, Platon Protagoras. Phil. Bibl. Bd. 175, ὁ 8 


114 Platons Dialoge. 


Da lachte Prodikos auf und gab seine Zustimmung, 
ebenso auch die anderen. 

| Wie aber, meine Freunde, sagte ich, steht es nun 

mit dem Folgenden? .Sind nicht alle Handlungen, die 

diesem Ziele, nämlich einem schmerzlosen und angenehmen 

Leben zustreben, auch schön (löblich), und ist nicht jede 

schöne Handlung auch gut und nützlich? 

Sie stimmten bei. | 

Wenn also das Angenehme gut ist, so tut niemand, 
der weiß oder glaubt, daß anderes besser ist als das, was 
er zunächst vorhat und was er auch tun kann, das 
Schlechtere, wenn es doch in seiner Macht steht das 
Bessere zu tun!#); und das Unterliegen im Kampf mit 
sich selbst ist nichts anderes als Unwissenheit, wie die 
Herrschaft über sich selbst nichts anderes ist als Weis- 
heit!6®), 

Damit waren alle einverstanden. 

Wie nun? Was versteht ihr unter Unwissenheit? 
Doch wohl dies, daß man über wichtige Dinge Talscher 
Ansicht und im Irrtum ist? 

Auch damit erklärten sich alle einverstanden. 

Nicht wahr, fuhr ich fort, dem Schlechten wendet 
sich doch niemand freiwillig zu noch auch dem was er 
für schlecht hält, wie es denn allem Anschein nach über- 
haupt nicht in der menschlichen Natur liegt sich dem 
zuwenden zu wollen, was man für schlecht hält, und 
nicht vielmehr dem Guten. Sieht man sich aber genötigt 
von zwei Übeln das eine zu wählen, so wird niemand das 
größere wählen, wenn es ihm frei steht das geringere zu 
wählen. | 

Mit alledem waren sie sämtlich einverstanden, 

‘Wie nun? fuhr ich fort. Ihr kennt doch die Aus- 
drücke Bangigkeit und Furcht und ihr versteht doch wohl 
darunter dasselbe wie ich? — Dich habe ich dabei im 
Auge, mein Prodikos. Ich verstehe darunter die Erwartung 
eines Übels, ihr mögt das. nun Furcht nennen oder 
᾿ς Bangigkeit. 


Protagoras. 115 


Protagoras und Hippias nun hielten das für die rich- 
tige Erklärung von Bangigkeit und Furcht, Prodikos wollte 
sie aber nur für die Bangigkeit (δέος) gelten lassen, nicht 
für die Furcht (φόβος). 

Aber darauf, sagte ich, mein Prodikos, kommt es 
nicht an, wohl aber auf das Folgende: wenn das Vorige 
wahr ist, wird da irgend ein Mensch sich dem zuwenden 
wollen, wovor er Furcht hat, wenn es ihm doch freisteht, 
sich auch anderswohin zu wenden? Oder ist das nach 
dem Zugestandenen unmöglich? Denn wovor er Furcht 
hat, das hält er zugestandenermaßen für schlecht, und was 
er für schlecht hält, dem wendet sich aus freien Stücken 
niemand zu und wählt es nicht. 

Auch dem stimmten alle bei. 

39. Dies also vorausgesetzt, fuhr ich fort, mein Pro- 
dikos und Hippias, mag nun unser Protagoras die Richtig- 
keit seiner früheren Antwort verteidigen — ich meine 
damit nicht die allererste!7%), die er gab; denn da erklärte 
er von den fünf vorhandenen Teilen der Tugend sei keiner 
von der gleichen Beschaffenheit wie der andere, sondern 


: jeder habe seine eigene Bestimmung und Wirkungsweise —, 


nicht dieses also meine ich, sondern was er später!’t) 
sagte. Denn später gab er zu, die vier anderen ständen 
einander ziemlich nahe, der eine aber, die Tapferkeit näm- 
lich, stände den anderen ganz fern. Als Beweis dafür 
gab er mir folgendes an: „Du wirst, Sokrates, Menschen 
finden, die höchst gottlos, ungerecht, zügsllos und un- 
wissend, dabei aber doch sehr tapfer sind; daran kannst 
du erkennen, daß die Tapferkeit sich von den anderen 
Teilen der Tugend scharf unterscheidet.“ Gleich damals 
wunderte ich mich nicht wenig über diese Antwort, noch 
mehr aber im Verlaufe meiner Verhandlung mit euch. 
Ich fragte ihn also, ob er die Tapferen für kühn erkläre; 
er aber antwortete: Ja, und noch für mehr, für Drauf- 
gänger. Erinnerst du dich, Protagoras, daß du diese Ant- 
wort gabst? (349 e). 

Er gab es zu. 

8* 


116 Platons Dialoge. 


Auf denn, versetzte ich, sage uns, was ist es denn, 
worauf die Tapferen so scharf losgehen? etwa auf das, 
worauf die Feigen? 

Nein, sagte er. 

Also auf anderes. 

Ja, sagte er. 

Gehen die Feigen auf das Ungefährliche los, die 
Tapferen aber auf das Furchtbare? 

So lautet Bniheinkin die Rede der Leute, mein So- 
krates. 

Du hast recht, erwiderte ich, aber nicht danach frage 
ich, sondern worauf nach deiner Meinung die Tapferen 
losgehen. Etwa auf das Furchtbare, in der Überzeugung, 
daß es furchtbar sei, oder auf das Nichtfurchtbare ἢ 

Davon, versetzte er, hat sich aber das erstere in 
deinem Nachweis soeben als unmöglich erwiesen 173). 

Auch damit hast du recht. Hatte es also mit diesem 
Beweis seine Richtigkeit, so geht niemand auf das los, 
was er für furchtbar hält; denn das Unterliegen im Kampf 
mit sich selbst ist, wie sich herausgestellt hat!?5), nichts 
anderes als Unwissenheit. 

Er räumte es ein. 

Aber worauf sie Mut haben, darauf gehen hinwiederum 
alle los, Feige wie Tapfere und, die Sache so genommen, 
gehen beide, Feige und Tapiere, auf dasselbe los. 

Aber, versetzte er, Sokrates, das Draufgehen von 
Feigen und Tapferen sieht doch im bezug auf das Ziel 
im vollsten Gegensatz zueinander. Nimm z. B. gleich 
den Krieg: da sind die einen doch bereit loszugehen, 
die anderen richt. 

Und wie steht es dabei mit dem Losgehen? Ist es 
schön (löblich) oder häßlich (verwerflich)? 

Schön, erwiderte er. 

Und wenn schön, dann doch auch gut, wie wir im 
Verlaufe unserer Untersuchung gemeinsam feststellten 114) ; 
denn wir kamen überein, daß alle schönen Handlungen 


auch gut seien. 


}0 St. 


Protagoras, 117 


Du hast recht, und das ist meine von jeher fest- 
stehende Meinung. 

Recht so, erwiderte ich. Aber welche von beiden 
wollen deiner Meinung nach nicht in den Krieg ziehen, 
ob es gleich schön ist und gut? 

Die Feigen, antwortete er. 

Und ist es, versetzte ich, wenn anders es schön und 
gut ist, nicht auch angenehm ὃ 

Wenigstens haben wir uns darüber geeinigt, erwi- 
derte er. 

Erkennen nun etwa die Feigen das Schönere, Bessere 
und Angenehmere als solches und wollen sie trotzdem 
nicht an dasselbe herangehen ? 

Aber auch das dürfen wir nicht zugeben, wenn wir 
nicht unsere früheren Zugeständnisse zunichte machen 
wollen. 

Wie aber steht es mit dem Tapferen? Geht er etwa 
nicht auf das Schönere, Bessere und Angenehmere aus!?5) ἢ 

Dagegen, versetzte er, wäre jeder ‘Widerspruch ver- 


. geblich. 


Überhaupt also geben sich die Tapferen, wenn sie 
sich fürchten, nie einer schimpflichen (häßlichen) Furcht 
hin, und es ist kein schimpflicher Mut, wenn sie mutig 
sind 110) 

Allerdings, sagte er. 

Wenn aber nicht schimpflich (häßlich), dann doch 
löblich (schön)? Und wenn schön, dann auch gut? 

Ja. 

Mithin trifft für die Feigen sowie für die Tollkühnen 
und Rasenden das Gegenteil zu: ihre Furcht sowie ihre 
Tollkühnheit ist doch wohl häßlich und schimpflich ? 

Er gab es zu. 

Worin sonst aber: wäre ὅδε Grund für diesen Mut 
zum Häßlichen und Schlechten zu suchen als in Un- 
verstand und Unwissenheit ? 

So ist es, sagte. er. 


118 Platons Dialoge. 


Und wie nun? Was die Feiglinge zu Feiglingen 
macht, nennst du das Feigheit oder Tapferkeit ἢ 

Ich kann es nicht anders als Feigheit nennen, sagte er. 

Hai es sich aber nicht gezeigt, daß ihre Feigheit 
ihren Grund in der Unkenntnis des Furchtbaren hat? 

Allerdings, sagte er. 

Diese Unwissenheit also ist es doch, die sie zu Feig- 
lingen macht? 

Er gab es zu. 

Was sie aber zu Feiglingen macht, das ist doch 
deinem Zugeständnis zufolge die Feigheit? 

Er ne zu. 

Also muß doch die Unkenntnis des Furchtbaren und 
Nichtfurchtbaren Feigheit sein? 

Er nickte zu. | 

Tapferkeit ist doch das Gegenteil von Feigheit ἢ 

Ja, sagte er. 

Nun ist doch die Kenntnis des Furchtbaren und 
Nichtfurchtbaren das Gegenteil von der Unkenntnis dieser 
Dinge. 

Auch jetzt nickte er noch. 

Und die Unkenntnis hiervon ist doch Feigheit? 

Da nickts er nur mit sichtlichem Widerstreben. 

Die Kenntnis also des Furchtbaren und Nichtfurcht- 
baren ist Tapferkeit und demnach das Gegenteil von der 
- Unkenntnis dieser Dinge? 

Hier konnte er sich auch zum Zunicken nicht mehr 
entschließen und schwieg. 

Da sagte ich: Wie, Protagoras, weder ein Ja noch 
ein Nein hast du auf meine Frage? 

Führe die Sache selber zu Ende, erwiderte er. 

Nur eines möchte ich erst noch von dir hören, er- 
widerte ich, ob du nämlich immer noch wie zu Anfang 
der Ansicht bist, daß es höchst unwissende, dabei aber 
doch höchst tapfere Leute gibt”), 

Du scheinst, sagte er, es dir nun einmal in den 
Kopf gesetzt zu haben, daß ich dir antworten soll. So 


13 


er 


Protagoras. 119 


will ich dir denn den Willen tun und sage also, dab 
es mir nach dem Gange der Untersuchung unmöglich 
erscheint. 

40. Alle diese meine Fragen, erwiderte ich, sind 
lediglich darauf zurückzuführen, daß ich ergründen möchte, 
was es eigentlich mit der Tugend auf sich hat und was 
die Tugend selbst ihrem ‘Wesen nach ist. Denn soviel 
weiß ich: ist dies nur erst vollständig aufgeklärt, dann 
wird auch ein helles Licht fallen auf das, worüber wir 
beide, ich und du, uns in so langer Verhandlung er- 
gangen haben, ich als Vertreter der Ansicht, die Tugend 
sei nicht lehrbar, du als Verfechter ihrer Lehrbarkeit. 
Und es will mir vorkommen als träte der Ausgang unserer 
Verhandlungen gleichsam als Ankläger und Spötter gegen 
uns auf!?8); wäre er der Sprache mächtig wie ein Mensch, 
so würde er sagen: „Ihr seid doch wunderliche Leute, 
du Sokrates und Protagoras! Du, Sokrates, der du zuvor 
behauptetest, die Tugend sei nicht lehrbar, trittst jetzt 
mit vollem Eifer für das Gegenteil ein und suchst zu 
zeigen, daß all die bewußten Dinge, also Gerechtigkeit, 


. Besonnenheit und Tapferkeit, ein Wissen seien, ein Stand- 


punkt, der die Tugend aufs Entschiedenste zu etwas 
Lehrbarem machen würde. Denn wäre die Tugend etwas 
anderes als ein Wissen, ein Standpunkt, den Protagoras 
zu vertreten bemüht war, dann wäre sie offenbar nicht 
lehrbar. So aber, wenn sie sich durchweg als Erkenntnis. 
darstellen sollte, worauf du hinaus willst, Sokrates, ‘wäre 
es doch wunderbar, wenn sie nicht lehrbar sein sollte. 
Protagoras dagegen, früher der Verfechter ihrer Lehr- 
barkeit, scheint jetzt im Gegenteil dafür einzutreten, sie 
sei so ziemlich alles andere eher als. Erkenntnis und dann 
würde sie eben nimmermehr lehrbar. 561} 119)... Ich nun, 
mein VProtagoras, bin angesichts dieses völligen Durch- 
einanders aller dieser Dinge von dem lebhaftesten Drang 
nach Aufklärung darüber erfüllt. Ginge es also nach 
meinem Wunsch, so würden wir nach dem Abschluß 


‚dieser Erörterung uns auch der Untersuchung über das 


190 Platons Dialoge. 


Wesen der Tugend selbst zuwenden und von neuem zu 
ergründen suchen, ob sie lehrbar ist oder nicht lehrbar, 
auf daß uns nicht etwa jener Epimetheus (der Hinter- 
herdenker), der uns nach deiner Darstellung®) schon bei 
der Verteilung schlecht wegkommen ließ, auch in un- 
serer Untersuchung uns durch täuschenden Trug übel 
mitspiele. Eben auch in deiner Erzählung hat mir 
Prometheus (der Vorausdenker) besser gefallen als Epi- 
metheus. Ihn nehme ich mir denn zum Vorbild's!) und 
eben weil ich im voraus auf das Glück meines ganzen 
Lebens bedacht bin, beschäftige ich mich mit all diesen 
Dingen und möchte, wenn du nur wolltest, wie ich gleich 
zu Anfang sagte!®), am liebsten sie mit dir gemeinschaft- 
lich durchforschen. 

| Da sagte Protagoras: Ich lobe deinen Eifer, mein 
Sokrates, und die Art, in der du das Gespräch durch- 
geführt hast. Denn ich glaube auch sonst kein übeler 
Mensch zu sein, aber Neid liegt mir ferner als irgend 
jemandem. Habe ich mich doch über dich schon gegen 


gar manchen dahin geäußert, dab ich dich von allen, 


mit denen ich in Berührung komme, am meisten schätze, 
und besonders noch von allen in deinem Alter 1585): und 
ich stehe nicht an zu sagen, daß es mich nicht wundern 
würde, wenn du einer von den namhaften Weisen werden 


würdest. Über die genannten Fragen aber wollen wir 


ein andermal, wenn es dir recht ist, verhandeln; jetzt 
aber ist es hohe Zeit uns anderem zuzuwenden. 

Ja, versetzte ich, so soll’s gehalten werden, wenn du 
so meinst. Auch für mich ist es längst schon Zeit dem 
bewußten Geschäft nachzugehen; bin ich doch nur dem 
schönen Kallias zu Gefallen hier geblieben. 

Nach diesem Austausch von Rede und Gegenrede 
gingen wir von dannen. 


Anmerkungen 


zum Protagoras. 


1) 5. 87. Der Freund, dem Sokrates das Gespräch erzählt, und 
mit ihm dies kurze \Vor- oder Rahmengespräch, hätten, so meinen 
manche (wie Hirzel, Der Dialog 1, 214, 1, vel. auch Pohlenz, Aus 
Pl.'s Werdezeit, p. If), auch ebensogut wegbleiben können; wie 
beim Lysis und beim Staate (den Charmides darf man nicht mit 
anführen wegen 154B ὦ ἑταῖρε, 1550 ὦ φίλε, 1551 ὦ yervada) hätte 
Platon sich die Erzählung des Sokrates entsprechend der im allge- 
meinen üblichen literarischen Eı zählung-form an das Publikum über- 
haupt gerichtet denken können. Das mag im großen und ganzen 
zutreffen; denn irgend etwas für die Sache Wesentliches würde uns 
dadurch nicht entzogen worden sein. Allein bei Platon, gwi nil 
molitur inepte, hat man sich in solchem Falle immer zu fragen, ob 
er sich dadurch nicht irgendwelchen, wenn auch an sich unbeden- 
tenden Vorteil für die Darstellung hat sichern wollen. Achtet man 
nun etwas genauer auf das einzelne, so zeigt sich deutlich, daß Pl. 
dieses Vorgespräch durchaus nicht als ein ohne weiteres ablösbares 
Glied des ganzen betrachtet hat; vielmehr weiß er daraus gewisse 
wirksame Züge dramatischer Art für die Darstellung zu g-winnen. 
Man lese z. B. 335 Ὁ καί μου ἀνισταμένου ἐπιλαμβάνεται ὃ [Καλλίας τῆς 
χειρὸς τῇ δεξιᾷ, τῇ δ᾽ ἀριστερᾷ ἀντελάβετο τοῦ τρίβωνος τουτουί, 80 
setzt dies τουτουΐ nicht den Leser, sondern den unmittelbaren Hörer, 
ἃ. ἢ. den Freund, den ἕταῖρος als anwesend voraus und jeder fühlt 
die dramatische Lebendirkeit, die darin liegt. Und wenn Sokrates 
sich 889 ΕἸ mit den Worten ἔπειτα, ὥς γε πρὸς σὲ (nämlich den £raioos) 
eiojodaı τἀληϑῆ direkt an ihn wendet, so liegt darin, wie man 
angesichts der Wichtigkeit dieser Ste'le zugeben wird, ein ganz be- 
sonders wirksamer Zug mimischer Kunst. Auch schon ganz un- 
scheinbare kleine Einstreuungen, wie ὡς Ey@uaı 336D, deuten darauf 
hin, daß Sokrates seinen £raioos immer im Sinne behält, daß also 
Platon auch selbst einiges Gewicht darauf legt. Es wird sich weiter- 
hin (315E) Gelegenheit bieten, auf die Sache zurückzukommen. 
(Vgl. Anm. 34.) Hier genügt es zu .betonen, daß Pl. eben noch den 
stärksten Drang nach dramatischer An-chaulichkeit hat, dem die 
gewählte Form mehr entsprach als diejenige, für die er sich später, 
bei schon größerer Entfernung von dem ihm so tief in die Seele 
schneidenden Verzicht auf den Dichterberuf entschied. Man geht 
also vielleicht nicht irre, wenn man auch darin ein Anz-ichen be- 
sonders früher Entstehung des Protagoras sieht. Vgl. Anm. 94 und 105. 

3) S. 87. „Dem erst keimet der Bart, im holdesten Reize der 
Jugend.“ Od. 10, 279. Il. 24, 348. 

8) S. 37. Man vergegenwärtige sich, was Sokrates an diesem 
‘einen Tage leistet: noch vor Tagesanbruch aus dem Schlafe ge- 


122 Protagoras. 
rüttelt, führt er ein eingehendes Gespräch mit dem jugendlich un- 
gestümen Hıppokrates, tritt dann mit diesem in das Haus des Kallias 
ein und bestreitet dort stundenlang fast allein mit Protagoras die 
Kosten einer für jeden anderen wenigstens nicht leichten Uhnter- 
haltung, woranf er sich entfernt, aber nur, um alsbald dem £raioos 
den ganzen Hergang wieder zu erzählen, also doch wieder eine mehr- 
stündige und nach gewöhnlichem Maßstabe anstrengende Leistung. 
Für jeden anderen wäre das, οἷοι νῦν βοοτοί εἶσιν, eine kaum zu be- 
stehende Kraftprobe gewesen, seinem Sokrates aber durfte Platon so 
etwas immerhin zumuten, 

4. S. 37. Vgl. 336B und 348B, an welchen Stellen Alkibiades 
bedeutsam in das Gespräch eingreift. | 

δὴ) S.38. Die Handschriften haben σοφώτατον, wofür die Heraus- 
geber σοφώτερον eingesetzt haben. Doch macht Kroschel neben 
anderen Gründen mit Recht darauf aufmerksam, daß der Superlativ 
wohl eine Anspielung darauf ist, daß Protagoras geradezu αὐτὴ σοφία 
„die Weisheit selbst“ genannt ward nach Diog. Laert. IX 50. 

6) 8. 38. Mit dem ἡμῖν wird wohl angedeutet, daß der ἕταῖρος 
noch einige Bkannte um sich hat; denn schwerlich wird es sich 
bloß um die Gemeinschaft mit dem Sklaven handeln. 

Ἢ 8. 38. Diesen Ruhm, mag er auch im Munde des Sokrates 
mit einiger Ironie gewürzt sein, konnte dem Protagoras niemand 
streitig machen. Er war in der Tat, als Begründer der Soplistik, 
in gewissem Sinne der geistige Führer des damaligen Griechenland, 
Geboren in Abdera um 480 v. Chr. machte er sich bald durch viel- 
seitige Bildung und glückliche Verwertung derselben im Liehrberuf 
einen großen Namen als Sophist, wie er sich selbst als erster nannte. 
Er kam 451 v. Chr. nach Athen, wo er bald auch dem Perikles nahe 
trat. Er hat dann noch öfter, auch zu längerem Aufenthalt, Athen 
aufgesucht. Wegen seiner Schrift über die Götter angeklagt, ward 
er aus Athen vertrieben und fand auf der Überfahrt nach Sizilien 
im Jahre 411 v. Chr. seinen Tod. Die Vielseitigkeit seiner Bildung 
spiegelt sich in dem Umfang und der Mannigfaltigkeit seiner Schrift- 
stellerei wieder, von der uns aber nur geringe Reste geblieben sind. 
S. Diels, Frg. ἃ. Vorsokr. II, 536—543. Was ihm in der Geschichte 
der eigentlichen Philosophie einen Platz anweist, ist seine an die 
heraklitische Lehre sich anlehnende Erkenntnistheorie (Relativität 


aller Erkenntnis), die Pl. im Theaitet eingehend kritisiert. Für 


unseren Dialog kommt sein spezifischer wissenschaftlicher Standpunkt 
nicht in Betracht. 

8) S. 88. Eine sprichwörtliche Wendung. 

9) S. 39. Von Hippokrates wissen wir nichts weiter, als was 
uns Sokrates hier von ihm erzählt. 


10). S, 39. Dies Vorspiel des Dialogs hat als solches seine volle 


Berechtigung. Es soll uns ein anschauliches Bild geben einerseits 
von der Macht der Sophistik über die Gemüter, namentlich der 
Jugend, anderseits von dem schillernden, schwer faßbaren und be- 
stimmbaren Wesen dieser Kunst. Was das erstere anlangt, so ist 
Hippokrates nur instar omnium: ein wahrer Heißhunger nach Bil- 
dung und Aufklärung hatte sich der griechischen Welt bemächtigt, 


'wie er kaum seines gleichen hat und in der Folgezeit vielleicht nur 


ἣ 
| 
ἢ 
ἡ 
Ἵ 


a απ. ψν σου 


Anmerkungen. 123 


überboten wird durch Erscheinungen, wie sie sich im Mittelalter an 
den Namen des Abälard knüpfen. Als dieser berühmte Meister der 
Dialektik vor den Bischöfen in die Einsamkeit entweichen mußte, 
strömten, wie es heißt, von allen Seiten lernbegierige Schüler herbei. 
„Sie verließen Städte und Schlösser, um in der Einöde zu wohnen, 
erbauten sich statt prächtiger Häuser kleine Zelte, ernährten sich 
statt mit köstlichen Speisen von den Kräutern des Feldes und 
trockenem Brote, rüsteten sich statt weicher Lager Heu und Stroh 
zu und errichteten statt der Tische Erdhaufen.*“ Ahnliche Opfer zu 
bringen ist auch unser junger Hippokrates bereit. Sein und seiner 
Freunde Vermögen gilt ihm nichts gegen die Befriedigung seines 
Geistesdranges. 

11) 5, 89. Es gab ein Oinoe in der Nähe von Marathon; ein 
zweites an der böotischen Grenze. Welches gemeint sei, läßt Pl. 
dahingestellt. 

12) S. 40, Kallias, Sohn des reichen Hipponikos, durch seine 
Mutter verwandt mit Perikles, gehörte zu einer der angesehensten 
und glänzendsten Familien Athens. Damals erst etwa zwanzig Jahre 
alt, spielte er in Athen doch schon eine große Rolle als Haupt- 
förderer der neuen geistigen Strömung, sowie als gastfreier, ja ver- 
schwenderischer und leichtsinniger Hausherr, Auch zu staatlichen 
Diensten ließ er sich späterhin mehrfach verwenden. Als Platon 
seinen Dialog veröffentlichte, war er noch am Leben, hat a!so die 
Freude gehabt, sich durch ihn verewigt zu sehen. In seinen äußeren 
Verhältnissen ging er aber mehr und mehr zurück, und starb nach 
8370 v. Chr. in dürftiger Lebenslage. Denn dem maßlosen und un- 
sinnigen Aufwand, den er fortgesetzt trieb, war selbst ein so ge- 
. waltiges Vermögen wie das seinige auf die Dauer nicht gewachsen. 

1) ἃ. 40. Nämlich, ob es ihm auch wirklich ernst mit der 
Sache sei. ᾿ 

14). S. 40. Der berühmte Arzt und Begründer der wissenschaft- 
lichen Medizin. Er hielt sich damals: vielleicht in Athen auf. 

15) S. 40. Polykleitos aus Sikyon war wie sein Rivale Phei- 
dias Schüler des Ageladas in Argos. Meist in Argos lebend, ver- 
fertigte er für den dortigen Heratempel ein berühmtes Kolossalbild _ 
der Göttin. Er war nicht nur Meister der Bildhauerkunst, sondern 
auch Baumeister und Ciseleur. Auch als Schriftsteller machte er 
sich einen Namen durch Veröffentlichung des ersten Lehrbuches der. 
Bildhauerkunst unter dem Titel „Kanon“. 

16) 5. 41, Das deutet auf eine sehr entschiedene Entwertung 
des an sich durchaus ehrenwerten Namens „Sophist“ (νοὶ. 312C 
σοφιστής = τῶν σοφῶν ἐπιστήμων) schon für die Zeit vor dem pelo- 
ponnesischen Kriege hin. Bei allem Ansehen der älteren Sophisten 
konnte es doch nicht ausbleiben, daß die Ausnutzung ihrer Kunst 
zu schnödem Gelderwerb ihrem Beruf einen untilgbaren Makel an- 
heftete. Die höhere, jenseits der Eliementarschule zu erwerbende 
Geistesbildaung sollte nach 'der auch durch die Sophisten nicht aus- 
gerotteten Anschauung der Griechen eine Frucht freien Gedanken- 
austausches sein, beruhend auf einem aus rein menschlichem und 
sachlichem Interesse hervorgegangenen gegenseitigen Geben und 
Nehmen. 


124 Protagoras, 


ı) S. 42. Das stimmt nicht ganz mit 318E; doch handelt es 
sich nur um eine Verschiebung des Gesichtspunktes, aus dem die 
Sache betrachtet wird. 

18) 5. 42. Damit ist allerdings diejenige Seite der Sophistik 
hervorgehoben, die sich als ihr nächstliegendes und klarstes Ziel 
darstellt. . | 

19) S. 44, Hierzu vgl. Soph. 223 Ὁ ἢ. 

2) S. 44. Von dem Lehrmeister der Gymnastik forderte Platon, 
wie viele Stellen zeigen, weit mehr als die Kenntnis der rein mecha- 
nischen Seite der Körperübung; er sollte bis zu einem gewissen 
Grade vertraut sein mit der Natur des Leibes und der für ihn er- 
sprießlichen Diät. 

21) 8,45. Da sich Sokrates im weiteren Verlauf des Dialogs 
ganz auf der Höhe seiner Kunst zeigt, so bedarf es da immer einigen 
Besinnens, um sich gegenwärtig zu halten, daß er uns hier in ver- 
hältnismäßiger. Jugend vorgeführt wird. Vol. 81:10 und Einleitung 
p. 26ff. Vgl. auch Anm. 183. 

22) S. 45. Hippias von Elis war jünger als Protagoras. Er 
gehörte zu den namhaftesten Sophisten; an Eitelkeit übertraf er sie 
alle. Mit einer Fülle von Kenntnissen auf allen möglichen Wissens- 
und Kunstgebieten, besonders auch auf dem der Astronomie, verband 
er große Gewandtheit im Vortrag sowie ein sicheres und selbst- 
bewußtes Auftreten. Mehrfach war er auch politisch tätig für seine 
een namentlich als Gesandter in Sparta. Vgl. Bee Beitr. 
z. Gesch. ἃ. er. Phil. 367—393. 

"ἢ τ 45. Prodikos aus Keos war etwa gleichaltrig Gi Hip- 
pias. Sein Hauptgebiet war die Synonymik. Von dieser seiner 
Spezialität gibt uns der Dialog mehrfache Proben. Seinen Fünfzig- 
drachmenvortrag über Synonymik hat Sokrates, wie er uns Krat. 
884 B sagt, selbst mit angehört. Von seinen schriftstellerischen Ar- 
beiten war am bekanntesten der Herakles am Scheideweg (vgl. Xen. 
Mem. II, 1, 21). 

34) S. 46. Paralos und Kallias waren Söhne derselben Mutter, 
die nach Trennung ihrer Ehe mit Hipponikos den Perikles geheiratet 
hatte, aus welcher Ehe Paralos stammte, 

25) S. 46. Charmides, bekannt aus dem nach ihm benannten 
Dialog, war der Oheim Platons, nämlich der Bruder seiner Mutter 
Perıktione. 

26) S.46. Mende war eine Kolonie der Eretrier am thermäischen 
Meerbusen in Thrakien. 

"ἢ 8. 47. Die den Protagoras umgebende Schar bewegt sich 
in ähnlich strenger Ordnung wie der Chor auf der Bühne, daher 
auch die Bezeichnung Chor (χορός). 

38) 5, 47. Vgl. Hom. Od. XI, 600f. Wenn sich Platon hier, 
wo es sich um Aufzählung und kurze Kennzeichnung einiger bedeu- 
tender Männer handelt, einer Form der Aufzählung bedie nt, die sich 
an das elfte Buch der "Ollyssee, an die Schilderung des Eintritts des 
Odysseus in die Unterwelt anlehnt, so ist das weiter nichts als eine 
die Darstellung belebende launige Citierweise, etwa wie wir bei ge- 
geb:nem Anlaß, wenn wir z. Β. einen Lehrer die Schüler seiner 
Klasse durchzählen sehen, sagen würden „er zählt die Häupter seiner 


Anmerkungen. 125 


Lieben“, ohne dabei im geringsten an eine ins einzelne gehende 
Analogie mit der betreffenden Situation des Dichtwerkes zu denken. 
Allein man hat aus dieser harmlos scherzenden Aufzählungsweise 
wer weiß was für tiefsinnige Anspielungen herausgelesen. Schon 
Aristides, der bekannte Rhetor der Kaiserzeit, hat den Anfıng zu 
solch beziehungsreicher Ausdeutung gemacht. In neuerer Zeit aber 
war es der treffliche Welcker, der, ein Freund sinniger Gedanken- 
spiele und von einem gewissen schöpferischen Trieb nach Ergänzung 
und Zusammenschluß des abgerissen Überlieferten beseelt, in unsere 
Stelle alles Mögliche hineingeheimniste, eine Tendenz, deren 
phantasiereichster Vertreter dann weiter F. Dümmler wurde (Aka- 
demika, p. 40). Die richtige Auffassung der Stelle verdanken wir 
der nüchternen Interpretationskunst Vahlens (Opusc. ac, I, 476ff.). 

22) S. 47. Eryximachos ist der aus dem Symposion als 
„Schlucksenbekämpfer“ bekannte Arzt. 

80 δ᾽ 47. Von ihm hat der Dialog Phaidros seinen Namen, 

81) 5, 47. Dieser Andron wird auch Gorg. 4870 erwähnt und 
zwar als ein Genosse des Kallikles. 

»2) S. 47. Od. XI, 581f. 

33) S. 47. Bekannt aus dem Symposion als einer der Redner 
über den Ἔρως. Bezeichnend für ihn ist in seiner Rede namentlich 
die Stelle 181 ἢ. 

s) S. 47. Es handelt sich um den aus dem Symposion be- 
kannten Dichter Agathon, Hier erscheint er noch als angehender, 
dem Sokrates noch unbekannter Jüngling. Das weiterhin so wohl- 
bekannte Verhältnis des Pausanias zu Agathon wird hier von Platon 
zum Gegenstand einer scherzhaft geheimnisvollen Vermutung ge- 
. macht, Die Sache war pikant genug, um bei ihr einen Augenblick 
zu verweilen, was sonst bei keiner der hier aufgeführten Personen 
geschieht. Es ist ein kleines neckisches Spiel, das Pl. hier mit dem 
Leser treibt, oder, besser gesagt, ein Spiel, das er den Sokrates mit 
seinem Hörer, dem äzaioos, treiben läßt. Daraus erklären sich auch 
die auf den ersten Blick. etwas auffälligen, den Herausgebern sehr 
unbequemen und von Kroschel voreilig aus dem Text ganz aus- 
geschiedenen Worte, mit denen er die kleine Episode ab-chließt: . 
τοῦτ᾽ ἦν τὸ μειράκιον „damit genug von dem Jüngling“. So spricht 
Sokrates zu dem £raioos, etwa im Stile jener Tragödien des Euri- 
pides, die mit den an das Publikum gerichteten Worten endigen: 
τοιόνδ᾽ ἀπέβη τόδε πρᾶγμα. Vgl. Anm.1. Die Herausgeber und Er- 
klärer haben eben vergessen, daß Sokrates bei seiner Erzählung 
auch sein ganz bestimmtes Publikum hat, nämlich den ἑταῖρος mit 
seinen Genos-en. . 

35) S. 47. Nur von dem Sohne dieses Leukolophides wissen 
wir etwas näheres durch Xen. Hell. I, 4, 21, nämlich daß er im 
Jahre 407 v. Chr. mit Alkibiades Feldherr der Athener war. 

36) S. 48. Der als Politiker und Dichter wohlbekannte Ver- 
wandte des Platon, | 

37) 3. 48. Gegensatz: „und nicht Kallias, der Wirt.“ Damit 
wird man an die drastische Szene mit dem groben Türhüter er- 
innert, der ihnen den Eintritt zum Kallias verwehrt, zum Prutagoras 
aber gestattet hatte. 


— u ὦ. ὦ.» Ὁ 


— “ὦ | 


128 Protagoras. 


88) Κ, 49, Alle diese Dichter konnten, wie auch die gleich- 
folgenden Vertreter anderer Künste, als Sophisten — dies Wort in 
seiner alten, makellosen Bedeutung genommen — bezeichnet werden, 
denn sie alle sind in gewissem Sinne Aufklärer, Lehrer der Lebens- 
weisheit, und Protagoras macht sich selbst kein geringes Kompliment 
damit, daß er sich ihnen ohne weiteres als Kollege anreiht. 

3) 5. 49. Ein berühmter, auch in den Gesetzen (VIII, 839 Ef.) 
erwähnter Athlet. 

40) 5. 49. Herodikos, bekannt aus der Republik (406 Aff.) als 
Erfinder einer neuen Krankheitsbehandlung, ist‘ wohl zu unter- 
scheiden von einem andern Arzt dieses Namens, nämlich von dem 
Bruder des Gorgias, der im Dialog Gorgias erwähnt wird. 

4) 5. 49. Agathokles war der Lehrer des berühmten Dämon 
in der Musik. 

42) S. 49. Pythokleides wird als Musiklehrer auch erwähnt im 
ersten Alkibiades 118C. 

#5) S. 49. Diese wegwerfende Art, von der großen Masse zu 
sprechen, wiederholt sich auch gegen den Schluß des Gespräches hin 
352E und 353A, während er doch 322Ef. vor der demokratischen 
Weisheit der Athener einen ziemlichen Respekt kund gibt. 

“) S. 50. Dies gilt wohl nur im Verhältnis zu allen denen, 
die hier unmittelbar um ihn versammelt sind. Hippias und Prodikos 
kommen nunmehr erst dazu. Man braucht also in den Worten, ab- 
gesehen von Sokrates (vgl. Anm. 21), keine Übertreibung zu sehen. 

S. 51. Wahrscheinlich ist damit, wie man vermutet hat, 
der bekannte Maler Zeuxis gemeint, denn dieser stammt aus Heraklea, 
während von einem Maler Zeuxippos aus Heraklea sonst nichts be- 
kannt ist. Zeuxis ist wahrscheinlich nur Nebenform zu dem volleren 
Zeuxippos. 

46) 8. 51. Wahrscheinlich Flötenspieler und Lehrer des Epa- 
minondas, | 

42) S. 52. Das erste unter höflicher Anerkennung sich ver- 
steckende Zeichen einer gewissen Bangigkeit vor der dialektischen 
Gewandtheit des Sokrates. 

#) S. 52. Vgl. Anm. 17. 

4) S. 52, Protagoras hatte ein eigenes Buch „über die Ring- 
kunst* περὶ πάλης geschrieben (vgl. Soph. 232D), indem er diese 
Künste als minderwertig hinzustellen suchte. Vgl. Arist, Met. 9982 3f. 
und Diels Frg. ἃ. Vorsokr. 113, 538. 

5) S. 52. Hippias bildete sich ein, ein Meister dieser Künste, 
namentlich der Astronomie zu sein. Es hätte ihm gewiß einige 
Überwindung gekostet, die hier ihm gereichte Pille ruhig zu ver- 


‚schlucken. 


Ἷ S. 52. Vgl. die Einleitung, p. 22 und 268. 

δ) 8. 53. Die den Vorsitz führende Abteilung des Rates. 

δ) S. 54. Diese Κἰασθ wiederholt sich in verstärkter Form im 
Menon 94Bf. An unserer Stelle mußte sich Sokrates vorsichtiger 
ausdrücken, denn die Söhne des Perikles sind ja anwesend. Daß der 
eine von ihnen :mißraten war, erzählt Plutarch, Perikl. c. 36. 

54) S, 54. Kleinias, der Bruder des Alkibiades, wird im ersten 


Alkibiades 118E von diesem selbst als ein Narr bezeichnet. 


Anmerkungen. 127 


δ) 8. 54. War der Bruder des Perikles. 

56) 8. δά, Wio er es Menon 93D. tut, 

ὅ) 8. 54. Dieser Mythus ist eine sinnreiche Nachahmung pro- 
tagoreischer Erzählungskunst. Was seine Beziehung zu der angeblich 
protagoreischen Schrilt Περὶ τῆς ἐν ἀοχῇ καταστάσεως „über die An- 
fünge der menschlichen Gesellschaft“ betrifit, so vgl. Diels Frg. d. 
Vors.®? II, 539, 

88) S. δῦ. Etwas abweichend hiervon heißt es im Politikos 
2740: „So wurden uns denn die sagenberühmten Geschenke von den 
Göttern gespendet zugleich mit der notwendigen Belehrung und 
Unterweisung, das Feuer von Prometheus, die Künste von Hephaistos 
und seiner Kunstgenossin Athene, Samen und Pflanzen von anderen.“ 

5) S, 56. Diese furchtbaren Wächter sind Bia (Gewalt) und 
Koaros (Kraft). 

60) S. 56. Ist Wiederaufnahme des schon Gesagten. 

61) S. 57. Der Feuertechnik verdankt der Mensch die Haupt- 
fortschritte der materiellen Kultur, aber Gesittung und Zivilisation 
stehen auf einem anderen Blatt. 

62) ὦ, 59. Dieser Standpunkt ist der empirisch allerdings ge- 
gebene; hier aber erscheint er beinahe im Lichte moralischer Not- 
wendigkeit. 

63) S. 60. Diese nur auf Besserung und Abschreckung ab- 
zielende Straftheorie scheint ganz in Einklang zu stehen mit dem 
damals herrschenden Zeitgeist, während für die früheren Rechts- 
anschauungen die Ideen der Vergeltung und Sühne maßzebend ge- 
wesen waren. Wenn Platon diese Theorie hier dem Protagoras in 
den Mund legt, so gibt er doch damit zugleich seiner eigenen Mei- 
‚nung Ausdruck. Genau in Übereinstimmung mit unserer Stelle heißt 
es z. B. in den Gesetzen 934 AB: „Man straft nicht um der be- 
gangenen Übel willen, denn das Geschehene läßt sich nun doch ein- 
mal nicht ungeschehen machen.“ Gleichwohl drängt sich gelegent- 
lich auch ihm wieder unwillkürlich der Gedanke von Vergeltung 
und Sühne auf. So beherrscht dieser Gedanke z. B. die Ausführung 
Gorg. 476 ΑΕ Dazu vgl. Stellen wie Rpl. 613 A. Lepg. 864 E. 
872 Df. Vor allem spiegelt sich auch in den Unterweltsmythen der 
Gedanke der Notwendigkeit der Vergeltung ab, man müßte denn 
diese Hadesstrafen manchen ausdrücklichen Versicherungen des Pl. 
zum Trotz lediglich als Besserungsmittel auffassen, nämlich vom 
Standpunkt der Seelenwanderung aus, Vgl. meine Plat. Aufs. 189 [ἢ 

6) S, 60. Vel. 819 Et. ἘΠῚ 

65) 5, 62. Was bei uns für den Unterricht die Bibel, das war 
für die Griechen der Homer, ὶ 

66) S. 63. Das ist ganz platonisch, nur ohne den Hintergrund 
platonischer Gedankentieie. 

6) 5, 64. Vgl. 323 A: 

68) S. 65. Pherekrates war einer der Meister der alten Ko- 
mödie. Wir wissen aus Athen. V, 218D, daß seine „Wilden“, ἄγριοι 
an den Lenäen (Kelterfe-t zu Ehren des Dionysos) im Jahr 421 v. Chr. 
aufgeführt wurden. Das paßt zwar nicht zu der fiktiven Zeit 
(432 v. Chr.) unseres-Dialogs, bildet aber auch durchaus kein Hin- 
dernis für diese Annahme; denn Pl. macht damit nur von seinem 


198 Protagoras. 


guten Dichterrechte Gebrauch. Das Zusammentreffen in die Wildnis 
entwichener Kulturmenschen mit einer Rotte von Kalıbanen, das 
dem Stück als Motiv zugrunde lag, mag einen sehr dankbaren und 
ereötzlichen Komödienstoff abgegeben haben. Kulturüberdruß kuriert 
durch Kalıban! | | 

69) S. 65. Eurybatos. und Phrynondas waren berüchtigte Schur- 
ken und als solche in der ganzen Griechenwelt sprichwörtlich ge- 
worden. Verglichen mit jenen Unholden (den Kalıbanen) nehmen 
sie sich aber immerhin noch wie gesittete Menschen aus. 

70) S. 65. In diesem Sinne beruft sich der junge Alkihiades im 
Ersten Alkibiades I11A auf das griechische Volk als seinen Lehrer 
im Griechischsprechen mit folgenden Worten: „So hab ich unter 
anderem auch das Griechischsprechen von der großen Menge gelernt 
und ich wüßte dafür keinen anderen Lehrer von mir zu nennen, 
sondern bekenne mich als Schuldner eben derer, die du als nicht 
ernsthafte Lehrer bezeichnest.“ 

71) S. 66. Was hier Protagoras nur als Auskunftsmittel für 
strittige Fälle bezeichnet, wird von Aristoteles (Eth. Nic. IX, 11642 24 ff.) 
zur Regel gemacht, wenn er sagt: „Wenn Protagoras jemand in 
irgendeinem Fach unterrichtet hatte, so hieß er, wie man sagt, den 
Schüler abschätzen, wieviel ihm das Gelernte wert erscheine, und 
soviel ließ er sich dann bezahlen.“ Man denke auch an das be- 
kannte Dilemma des Euathlos in seinem angeblichen Streit mit 
Protagoras über die Bezahlung bei Gellius N. A. V, 10. 

12) S. 66. Vgl. 319 Ef. und Anm. 53, 

23) S, 66. Dieses schalkhafte σμεκρόν τι, diese „Kleinigkeit“ 
gehört in das Register der beliebten ironischen Spielereien des So- 
krates. Vgl. Apol. 21 D ἔοικα γ᾽ οὖν τούτου γε σμικρῷ τινε αὐτῷ 
τούτῳ σοφώτερος εἶναι, ὅτι ἃ μὴ οἷδα οὐδὲ οἴομαι εἰδέναι. Symp. 2010 
ἀλλὰ σμικρὸν ἔτι εἶπέ. Gorg. ὅμως ὑπόμνησόν με σμικρόν. Phil. 200 
σμικρὰ ἄττα τοίνυν ἔμπροσϑεν ἔτι διομολογησώμεϑα. 

14) S. 67. Durch diese scharfe Absonderung von den Volks- 
rednern macht Sokrates dem Protagoras ein Kompliment, das seine 
Wirkung nicht verfehlt. Denn Protagoras, dieser vortreffliche Lang- 
redner, bequemt sich nun, vor der Hand wenigstens, zu kurzen 
Antworten. | 

25) S. 67. Vgl. 323A und E und 325A. 

26) 8, 67. Dieses von Protagoras adoptierte Glied des Dilemmas 
wird dann seinerseits wieder zerlegt in qualitative und quantitative 
Verschiedenheit, 

7) 8. 69. Das αὐτὸ τοῦτο gehört, wie Stallbaum richtig er- 
kannt hat, zu dem unmittelbar folgenden δώκαιον. Es ist damit noch 
nicht etwa die Absonderung der Idee gemeint, sondern nur die des 
bestimmenden begrifflichen Merkmals. Übrigens ist wohl zu be- 
achten, daß Pl. nirgends sagt, ἡ δικαιοσύνη δικαία ἔστιν, so wenig 
wie ἡ öouörns 6ola ἐστίν, sondern nur ἥ δικαιοσύνη δίκαιόν ἔστιν 
und ἡἣ öoioıns ὅσιόν ἔστιν 880 DE. Er fühlt offenbar durch, daß mit 
der er-teren Fassung der Satz den Anschein eines rein kategorisclen 
Urteils bekäme, welches doch nicht seine Meinung ist. Vielmehr 
handelt es sich der Intention nach um einen .Ansatz zur Beeritfs- 
erklärung, also zu einem konjunktiven Urteil. Von dem Begriff 


Anmerkungen. 129 


der Gerechtigkeit kann man nicht sagen, daß or gerecht sei, 80 wenig 
wie von dem Begriff der Bewegung, dab er sich bewege. In einem 
kategorischen Urteil kann man sich als Subjekt des Prädıkuts ger echt 
nur entweder einen gerechten Menschen oder eine gerechte Hand- 
lung denken. Bei Platon schweben die Urteile (Sätze) hier wie auch 
in den späteren Schriften olt in einer unbestimmten Mitte zwischen 
bloßen Vergleichungsformeln und Urteilen. 

18) S. 70. Dieser Schluß beraht auf der Verwechselung von 
Entgegensetzung und Verschiedenheit. Weil δώκαιον nicht ἀνόσιον 
sei, darum — so wird angenommen —, sei δώεαιον auch nicht ver- 
schieden von ὅσιον, Dann könnten auch, da das Runde nicht Nicht- 
krumm ist, Rund und Krumm nicht verschieden sein und ebenso 
könnten, um ein später (346 D) angeführtes Gegensatzpaar hier zu 
erwähnen, Weiß und Schwarz, weil sie sich nicht kontradiktorisch 
entgegengesetzt sind, auch nicht voneinander verschieden sein. Be- 
grifie können verschieden sein und bald verbunden, bald getrennt 
vorkommen, ohne entgegengesetzt zu sein. 

19). S, 71. Dies schöne Bekenntnis zur reinen Wahrheit findet 
sich in mancherlei Variationen in den platonischen Schriften. 
Vgl. 888 C. 

80) S. 71. Vgl. Parm. 148A. Im Parmenides 148 A wird dieser 
Satz in der jenem Dialog eigenen Weise aus dem vorausgesetzten 
Satze gefolgert, daß das ἕν von allem anderen verschieden sei. 

81) S. 72. Mit diesem Zugeständnis ist, wie das folgende zeigt, 
Protagoras bereits gefangen. Hätte er sich die Sache besser über- 
legt, so hätte er seine Zustimmung nicht gegeben. Denn tatsächlich 
handelt es sich hier gar nicht um das reine Gegenteil, sondern nur 
um eine gontradictio in adjecto. Tatsächlich nämlich steht dem 
'Unverstand, der ἀφροσύνη, als reines Gegenteil nicht die σοφία 
(Weisheit) gegenüber, sondern die Verständigkeit, also τὸ εὖ φρονεῖν 
oder 7 φρόνησις; und erst das εὖ φρονεῖν teilt sich seinerseits in . 
σοφία und σωφροσύνη (vgl. 330 D τὸ σωφρονεῖν = εὖ φρονεῖν) als seine 
Unterarten. Es steht also σοφία nicht in direktem Gegensatz zu 
ἀφροσύνη, sondern nur in mittelbarem. Es handelt sich also um 
contradictio in adjecto. . 

88, S. 72. Zu dieser Induktion, die das Entsprechungsverhältnis 
von Ursache und Wirkung zum Gegenstand hat, vergleiche man die 
ähnliche Induktion Gorg. 476 Bft. 

85) S. 73. Hier zeigt sich, daß Pl. noch keine genügende Vor- 
stellung hat von dem Unterschied zwischen konträrem und kontra- 
diktorischem Gegensatz, Mit den Gesetzen der Begriffsopposition ist 
Pl. niemals zu vollständiger Klarheit gekommen. Das war erst dem 
Aristoteles beschieden, Vgl. meine Plat. Aufs. 260f. 

8) S. 73. Es wird hier vom Endpunkt rückwärts zum Aus- 
gangspunkt hin rekapituliert. 

55) S. 74. Vgl. 332A. 

8) S. 74. Der Beweis hat also, um seine Gliederung von 
333 A ab scharf und übersichtlich zu kennzeichnen, folgenden Verlauf 
genommen: 

1. Es wird als selbstverständlich zugestanden, daß der ἀφροούνη 
die σοφία entgegengesetzt sei. 
Apelt, Platon Protagoras. Phil. Bibl. Bd. 16. Ὁ 9 


-«- αν. ...... — 


130 Protagoras. 


2. Es wird der Gegensatz 332 B als kontradiktorischer Gegensatz 
durch das σωφρονεῖν und οὗ σωφρονεῖν, σωφρόνως πράττειν und 
οὗ σωφρόνως πράττειν festgestellt. 

8. Für οὐ σωφρόνως wird eingesetzt ἀφρόνως und weiter für 
σωφρόνως und ἀφρόνως σιράττειν eingesetzt ὑπὸ σωφροούνης 
und ὑπ᾽ ἀφροσύνης πράττειν. Dadurch werden σωφροσύνη (Be- 
sonnenheit) und ἀφροσύνη (Unmverstand) als Gegensatzpaar 
charakterisiert (während vorher nur von dem σωφρόνως und 
ἀφρόνως πράττειν die Rede war). 

4. Es wird weiter induktorisch gezeigt, daß bei solcher Entgegen- 
setzung jeder einzelne Begriff immer nur ein Gegenteil hat. 

5. Resultat: wenn also einerseits dem Beweis zufolge der 
ἀφροσύνη die σωφροσὕνη als Gegenteil gegenübersteht, ander- 
seits der Voraussetzung zufolge der ἀφροσύνη als Gegen- 
teil die σοφία gegenübersteht, so müssen σωφροσύγη und σοφία 
dasselbe sein, denn zu einem Begriff kann es nur ein Gegen- 
teil geben. | 

5) S. 75. Das Ziel des damit beginnenden Beweises ist offenbar 
die Identität von Gerechtigkeit und Weisheit. Das weitere s. Anm. 89. 

8) S. 75. Zur Illustration dessen verweist Kroschel sehr passend 
auf eine Stelle des Isokrates (15, 242). Da heißt es: „Die Syko- 
phanten tun gut daran und handeln (in ihrem Sinne) besonnen 
(σωφρονοῦσιν), wenn sie gegen alle diejenigen Lehrvereine scharf zu 
Felde ziehen, in denen ihrer Meinung nach die Teilnehmer sittlich 
gebessert werden; denn dadurch erwachsen ihnen (den Sykophanten) 
nur um so grimmigere und schwierigere Gegner ihrer eigenen ruch- 
losen Anschläge.“ | 

89) S. 76. Protagoras wittert seine Niederlage und Sokrates 
merkt, daß er unmutig wird. Er macht zwar noch einen Versuch 
den Beweis fortzuführen; da aber Protagoras durch eine lang aus- 
gesponnene, nur. scheinbar zur Sache gehörende Antwort aus- 
zuweichen sucht, bricht er kurzweg den Beweis ab. Wie würde 
sich, fragen wir nun, dieser Beweis weiter gestaltet haben? Man 
kann ihn, denk’ ich, sich selbst rekonstruieren und zwar ganz auf 
dem Boden des bisher im Dialog Zugestandenen, weshalb denn Pl. 
auch ruhig die Ergänzung dem aufmerksamen Leser überlassen 
konnte. Der Beweisgang ist folgender: 

1. Feststellung des Gegensatzes zwischen ἀδικία and σωφροσύνη. 
Nämlich σωφρονεῖν — εὖ φρονεῖν — ὠφέλιμα (ἀγαϑά) ποιεῖν, 
während ἀδικεῖν —= βλαβερὰ ποιεῖν. (Hier bricht Pl. ab.) 

2. Feststellung des (kontradiktorischen) Gegensatzes zwischen 
ἀδικία und δικαιοσύνη. 

3. Es kann (nach dem Vorigen 888 48) je ein: Begriff nur je 

„ein Gegenteil haben, . 
4. Also ist — auf Grund von Nr. 1-— σωφροσύνη = δικαιοσύνη. 
5. Da aber σωφροσύνη (wie früher bewiesen) — σοφία, 80 ist 
auch δικαιοσύνη = σοφία. Auf Zurückführung nämlich aller 
Tugend auf σοφία. geht ja das Ganze aus. 
90) S. 76. Für Sokrates laufen ἀγαϑόν und Buhnir ganz 
parallel neben einander (Xen. Mem. IV, 6, 8 und andere Stellen); 
was aber Platon anlangt, so vgl. meine Plat. Aufs. p- 216. 


Anmerkungen. 131 


9) S, 77. Kroschel macht in seiner Ausgabe bei dieser Stelle 
darauf aufmerksam, daß der Zusatz von Öl nicht der Milderung des 
Geruches, wie es hier heißt, sondern des Geschmackes der 
Speisen dient, bei uns sowohl wie bei den Alten, wie für die letzteren 
durch viele Stellen bezeugt wird. 

92) S. 77. Vergeßlichkeit ist das letzte, was Sokrates sich vor. 
werfen könnte, Vgl. Symp. 194A ἐπιλήσμων uevräv εἴην, el — οἰηϑείην- 
Um so drolliger nimmt es sich aus, wenn er bier und im Menon 710 
(οὐ πάνυ εἰμὲ μνήμων) und Phaedr. 235D sich als vergeßlich hinstellt. 

9) S. 77. Ahnlich Hippias im Hipp. Min. 363 ἢ, 

%) S, 78. Diese Worte setzen die Gegenwart des &zaipog un- 
mittelbar voraus, sonst hätte das zovzovi keinen Sinn. Vgl. Anm. 1. 

9) S, 79. Krison aus Himera war ein berühmter Wettläufer, 
der dreimal hintereinander in Olympia siegte, 

96) S, 80. Eine für den jugendlichen Alkibiades höchst be- 
zeichnende Auslassung. Man denke sich den Jüngling vor dieser 
erlauchten Versammlung: Freimut verbunden mit treffendem Urteil 
spricht aus jedem seiner Worte. Dabei übernimmt er gleichsam an 
Stelle des Sokrates, dessen Ritterlichkeit jede persönliche Schärfe 
meidet, die Kritik des Protagoras, der sich durch einen wobltönenden 
Wortschwall aus der Affäre zu ziehen versucht hat. 

9) S. 80. Scharfe Unterscheidung sinnverwandter Wörter 
(Synonymik) war die Hauptstärke und besondere Liebhaberei des 
Prodikos, auf die Platon nicht nur in unserem Dialoge noch mehr- 
mals, sondern auch in andern Dialogen nicht ohne einen Stich ins 
Lächerliche zu reden kommt. 

98) S. 81. Damit wird ein Gegensatz berührt, der zuerst in 
sophistischen Kreisen aufgestellt und lebhaft diskutiert, damals die 


Geister stark beschäftigte, die Gegenüberstellung nämlich von φύσις 


und »öuos, von Natur und Satzung, die sich auf mancherlei Gebiete 
erstreckt. Vgl. Gorg. 488 Bff. und die Anm. 90 in meiner Über- 
setzung des Gorgias. 

99) S. 83. So sind diese Worte zu übersetzen und zu kon- 
struieren: χρῆναι hängt von δεῖξαι ab und nicht von φημί, denn sonst 
dürlte nicht ὡς sondern müßte πῶς stehen. 

100) S. 83. Protagoras, durch den ersten dialektischen Waffen- 
gang mit heiliger Scheu vor der Schlagfertigkeit des Sokrates er- 
füllt, und dabei doch sich seiner Verpflichtung bewußt die Unter- 
haltung fortzuführen, spielt nun die Sache auf ein Gebiet hinüber, 
auf dem er sich dem Sokrates ganz entschieden überlegen glaubt, 
auf das Gebiet der Dichtererklärung. Das war ein beliebter Tummel- 
platz sopliistischer Weisheit und Eitelkeit... Die Vieldeutigkeit und 
Dunkelheit dichterischer Ausdrucksweise und Gedankenverbindung 
gaben den Verächtern ernster Wahrheit und strenger Logik die beste 
und willkommenste Handhabe zur Befriedigung ihres Dranges nach 
bloßer Rechthaberei sowie zur Schaustellung ihrer Vertrautheit mit 
der Dichterwelt. Es wird also mit dieser Wendung des Gesprächs 
zugleich eine sehr charakteristische Seite der Sophistik. vorgeführt 
und zwar in sehr geschickter Weise; denn wenn Protagoras aus- 
drücklich erklärt, daß damit der Gegenstand der Untersuchuug (die 
Tugend, ἀρετή) nicht etwa- aufgegeben werde, so wird dadurch für 

9% 


> 


139 Protagoras. 


den Dialog überhaupt diese Partie von dem leicht sich aufdrängenden 
Verdachte befreit, etwa ein hors d’oeuvre zu sein. 

10) S, 83. Simonides von Keos, 556—468 v. Chr., war einer 
der gefeiertsten griechischen Dichter, dessen Stärke auf dem Gebiete 
des Epigramms und der chorischen Lyrik lag. Die dichterische Ver- 
herrlichung der Großtaten des Perserkrieges machte ihn geradezu 
zum Nationaldichter Griechenlands. Er war kein seltener Gast an 
Fürstenhöfen. So weilte er wiederholt bei Hipparch, bei den Aleuaden 
und Skopaden in Thessalien und zuletzt, seit 476 v. Chr., bei Hieron 
in Syrakus. | 

102) 5, 83. Man kann sich die Sache im wesentlichen mit 
Wilamowitz so vorstellen: dem am Hofe des Skopas in Krannon 
weilenden Dichter ward es nahe gelegt, den Skopas, seinen Gast- 
herrn, als einen ἀνὴρ ayados (oder ἐσϑλός) in einem Liede zu feiern. 
Er kam dadurch in einige Verlegenheit; denn Skopas war nichts 
weniger als ein Tugendheld. Allein Simonides, weltklug und ge- 
witzigt wie er war, auch schon gewöhnt an ähnlichen Huldizungs- 
zwang (wie Sokrates 346 B zu verstehen gibt), wußte der Sache die 
Wendung zu geben, daß er, anknüpfend an ein Wort des Pittakos, 
des bekannten Herrschers von Mytilene, eines der sog. sieben Weisen, 
den dauernden Besitz der Tugend als etwas den Menschen überhaupt 
Versagtes und nur den Göttern Vorbehaltenes hinstellt und sich des 
weiteren über die an einen Menschen zu stellenden sittlichen An- 
forderungen in nachsichtigstem Sinne ausläßt. Das hieß bei Lichte 
besehen nichts anderes als: „Skopas ist ein ganz gewöhnlicher 
Dutzendmensch.* Aber durch die Blume gesprochen, wie es hier 
der Fall ist, nahm es sich doch etwas anders und feiner aus. Und 
wenn das Gedicht mit Blaß und Wilamowitz für ein Tischlied 
(Skolion) zu nehmen ist, so war schon durch die Situation dafür 
gesorgt, daß der Stachel als solcher nicht allzuschwer empfunden 
ward. Jedenfalls wußte Simonides ziemlich genau, wie weit er in 
dieser Beziehung gehen konnte, Was Sinn und äußere Gestaltung 
des Liedes anlangt, so hat sich seit Schleiermacher eine Reihe von 
Gelehrten nicht ohne Erfolg um beides bemüht; namentlich ist es 
gelungen, die Scheidung des dem Dichter selbst Gehörenden von 
den Erläuterungen des Sokrates scharf zu trennen. Zuletzt hat 
Wilamowitz das Gedicht einer scharfen Beleuchtung unterzogen 
(Sappho und Simonides, Berlin 1913, 8. 159ff.), die manche Auf- 
klärung gebracht hat, aber auch manchem Zweifel Raum läßt. Sehr 
richtig sieht er davon ab, überall den präzisen Wortlaut des Liedes 
wiederherstellen zu wollen, Daß das Lied, so wie es uns vorgeführt 
wird, ein in sich abgeschlossenes Ganze darstellt, hat Blaß richtig 
erkannt, Das ist deshalb wichtig, weil wir von des Simonides Lyrik 
im Gegensatz zu der ziemlichen Fülle der Überlieferung auf epi- 
srammatischem Gebiet sonst nichts Vollständiges besitzen. Ferner 
aber wird dadurch auch festgestellt, daß unser Lied nichts zu tun 
hat mit demjenigen Simonideslied auf einen Skopas, an das sich nach 
Cicero de or. 11, 86 und Quintilian XI, 2 die bekannte Fabel von 
den Dioskuren als Retter des Simonides aus Todesgefahr knüpft. 


Von den Dioskuren ist in unserem Liede nicht die Rede. 


108) Κα), 84. Protagoras wird in seinem Interesse das Gegenteil 


Anmerkungen. 138 


gewünscht haben, denn sein Triumphgefühl mußte dadurch eine Ab- 
schwächung erlahren, aber auch wir werden diesen Wunsch wenig- 
stens insoweit teilen, als, wenn er erfüllt gewesen wäre, uns auch 
die schmerzlich vermißten fehlenden Zeilen von Protagoras wären 
mitgeteilt worden. In dieser Lücke muß, wie Wilamowitz bemerkt, 
die Anrede an Skopas gestanden haben. Außerdem muß aber, denk 
ich, am Ende auch irgendeine negative Bestimmuug gestanden haben, 
an welche sich das folgende οὐδέ anschließt. 

104) $, 84. Pittakos von Mytilene wurde in den Zeiten schwerer 
Parteikämpfe, unter denen seine Vaterstadt litt, zum Alleinherrscher 
ernannt, eine Stellung, die er nach zehnjäbriger Herrschaft (589 bis 
679 v. Chr.) freiwillig niederlegte. 

106) S. 85. Diese Worte sind an den Freund (ἑταῖρος) gerichtet, 
dem er das Ganze erzählt. Vgl. Anm. 1. 

1086) S, 85. Il. 21, 308. 

107) S, 86. Zwischen γέγνεσϑαι und sivar macht schon das ge- 
wöhnliche Sprachgefühl einen Unterschied, ob aber auch zwischen 
ysv&odaı und δἶναι, ist fraglich, und der Umstand, daß sich Sokrates 
dabei nicht auf die Anwesenden überhaupt, sondern auf den Spezia- 
listen Prodikos beruft, spricht eher dagegen als dafür. Gleichwohl 
könnte ja Simonides seinerseits auch wider das gewöhnliche Sprach- 
gefühl den Gegensatz im Sinne des Sokrates beabsichtigt haben. 
Das bleibt aber unsicher. 

108) S. 86. Hes. W. u. T. 287. 

109) S. 86. Mit anderen Worten: Du willst den Simonides recht- 
fertigen, der angeblich meine, es sei nicht schwer die Tugend zu 
besitzen. Aber diese deine Rechtfertigung taugt nichts, denn sie 
‚verstößt gegen die allgemeine Meinung, mit der sich Simonides nicht 
in Widerspruch gesetzt haben wird. Hesiod ist hier also nicht zuständig. 

110) S. 86. Das ist sprichwörtliche Wendung. 

111) S, 86. Diese Weisheit des Prodikos ist die Kunst der Wort- 
unterscheidung (Synonymik); sie wird mit neckischer Anspielung auf 
des Protagoras frühere Auslassung (316 D) über das hohe Alter der 
Sophistık mindestens auf den Simonides zurückgeschoben, der ja nach 
Sokrates zwischen ἔμμεναι und γενέσϑαι unterscheidet. 

112) S. 87. Bei den Attikern steht es mit χαλεπός wie mit δεινός : 
es ist zweideutig und bedeutet bald „schwer“, bald „schlimm*, Simo- 
.nides versteht es nach Prodikos in letzterem Sinn und deutet danach 
das Wort des Pittakos. 

118) S, 88, Die Keer standen in dem Ruf besonderer Sitten- 
strenge. Ein Ausspruch also wie der: „es ist schlimm tugendhaft 
zu sein“ ist einem Keer (wie Simonides) nicht zuzutrauen. 

114) 5, 88. Vgl. 338 E περὲ ἐπῶν δεινὸν εἶναι. 

115) S. 883. Die nun folgende umfangreiche Ausführung ist eine 
Art Gegenstück zu der langen Rede des Protagoras p. 316 Df. Auch 
Sokrates kann lange Reden ‚halten; aber bei ihm ist das eine Aus- 
nahme, bedingt durch die besonderen Umstände; an sich perhorres- 
ziert er die Kunst der Langrednerei, die den Sophisten gerade der 
Gipfel aller Leistungen ist. Auch diese lange Rede trägt in jedem 
Satz das Gepräge sokratischen Geistes. Scherz und Ernst spielen 
wunderbar durcheinander. 


ΡΣ τσ 


νύ Zu u 


TIEREN T MN . 


134 | Protagoras. 


16) S. 89. Das ist das neckische Echo zu 316 Df., jener Stelle, 
in der Protagoras seine Ansicht über das hohe Alter der Sophistik 
entwickelt. 

112) 8. 89. Vgl. Gorg. 515E. Über die Ohren ging es beim 
Boxen ganz besonders her. Gemeint sind die in Athen und anderen 
Städten sich findenden Lakonerfreunde. 

118) 5, 90. Das sind die sog. sieben Weisen Griechenlands, deren 
Siebenzahl feststeht, während die Namen Schwankungen zeigen. So 
findet man an Stelle des hier genannten Myson aus Chen gewöhnlich 
Periander von Korinth. Ihre Kernspräche sollen sie in der Vorhalle 
des delphischen Tempels auf Säulen haben eingraben lassen. 

119) S. 90. So hat er nach Diog. Laert. I, 90 auch ein Epigramm, 
des Kleobulos bekämpft. 

120) $, 91. Ist die nun folgende Erklärung des Gedichtes auch 
weder in des Sokrates noch in des Platon Sinne durchweg ganz ernst 
zu nehmen, macht sie vielmehr auch ihrerseits wie die Sophisten von 
der Freiheit Gebrauch, dem Dichter gelegentlich fremde Ansichten 
und eigene Lieblingsgedanken unterzuschieben, so weht bier doch 
unverkennbar ein ganz anderer Wind als dort. Was die hier ein- 
gehaltene Erklärungsweise kennzeichnet, ist nicht wie bei Protagoras 
und den Sophisten überhaupt ein Aufgreifen von Einzelheiten ver- 
bunden mit einem Haschen nach Sensation, sondern ein straffer Zug 
in der Richtung auf einheitliche Erfassung des Ganzen: dem, ver- 
meintlich wenigstens, erkannten Grundgedanken muß sich alles ein- 
zelne unterordnen, wenn es dabei auch nicht ganz ohne Gewalt ab- 
geht. Entbehrt doch dies ganze Bemühen um Dichtererklärung nach 
des Sokrates eigener Versicherung 847 E des wissenschaftlichen 
Charakters, da man sich um Dinge streitet, bei denen ein entschei- 
dender Beweis überhaupt ausgeschlossen ist. _ 

151) S, 91. Das ist des Sokrates und nicht des Simonides Mei- 
nung, wie der Schluß des Gedichtes zeigt, wo für den guten Mann 
ein großer Spielraum nach der unteren Grenze zu gelassen wird. 

122) S. 91. Nämlich nicht vor, sondern hinter ἀγαϑόν. | 

123) S, 92, Vgl. Epist. VII, 851 DE. g 

134) S. 92. Den Dichter dieses Verses, der auch bei Xenophon 
Mem. I, 2, 20 angeführt wird, können wir nicht angeben. 

125) S, 92. Dabei denkt Simonides an tief erschütterndes Un- 


‚glück überhaupt, dessen umstimmendem Einfluß, wie er meint, sich 


auch der Bestgesinnte nicht entziehen kann; Sokrates dagegen denkt 
dabei seiner tief gewurzelten Überzeugung gemäß ausschließlich an 
geistige Umnachtung als an das einzige Unglück, das imstande ist 
die Tugendhaften von dem rechten Wege abzulenken. Denn Un- 
wissenheit ist im Grunde die einzige Quelle der Schlechtigkeit. 
Vgl. Legg. 689 Af. 984 ΑΓ, Polit. 223DE α. ὅ. 

126) S, 98. Bei dem εὖ πράττειν und κακῶς πράττειν hat man 
bier nicht an die den Griechen allerdings dafür geläufige Bedeutung 
des Wohl- und Übelbefindens zu denken, sondern an das Gut- und 
Schlechthandeln im moralischen Sinn, in welcher Bedeutung es den 
Griechen natürlich auch nicht fremd war. Vgl. z. B. Gorg. 507 C. 
Menex, 236 E. Arist. Etb. Nic. 109923. Plut. Quomodo adul. 66 A. 
Daß es die moralische Bedeutung ist, auf die es hier wie im ganzen 


Anmerkungen. 135 


Gedicht ankommt, zeigt unter anderem auch die darauf bezügliche 
Bemerkung bei Polybios 29, 78: ὥστε καὶ λίαν ἀληϑὲς galveodar τὸ 
δηϑὲν ὑπὸ Σιμωνίδου ,χαλεπὸν ἐσϑλὸν ἔμμεναι“, ἔχειν μὲν γὰρ ὁρμὰς 
εἰς τὰ καλὰ καὶ μέχρι τινὸς ἀντιποιήσασϑαι τούτων εὐμαρές, ὁμαλίσαι δὲ 
καὶ κατὰ πᾶσαν περίστασιν ἐπίμονον γίγνεσθαι τῇ γνώμῃ, μηδὲν τοῦ καλοῦ 
καὶ τοῦ δικαίου προὐργιαίτερον τιϑέμενον, δυσχερές. 

122) Κὶς, 98, Nicht persönlich auf Pittakos (wenn natürlich auch 
auf seinen Ausspruch) wird der unbefangene Leser das nun Folgende 
beziehen, sondern auf den Adressaten des Gedichtes, auf den Skopas, 
dem Simonides damit in leicht verschleiernder Form sein Siiten- 
zeugnis ausstellt. 

138) S, 94. Hier habe ich in der Übersetzung von der gewalt- 
samen, gleich im folgenden begründeten Interpunktion des Sokrates 
abgesehen, weil sie sich im Deutschen noch viel unnatürlicher aus- 
nehmen würde als im Griechischen. 

122) Κ᾽ 94. Hier schiebt Sokrates, offenbar nicht in vollem Ernst, 
seinen Grundsatz von der Unfreiwilligkeit des Unrechttuns dem 
Simonides unter oder will, genauer gesprochen, nicht zugeben, dab 
ein Mann wie Simonides darüber habe anders denken können als er, 
Sokrates. 

150) S. 95. Ein „wackerer Mann“ entspricht dem griechischen 
ὑγιὴς ἀνήρ. Wenn Wilamowitz Ὁ. 177 behauptet, ὑγιής pflege nicht 
auf das moralische Gebiet übertragen zu werden, so ist er im Irrtum. 
Man vgl. Stellen wie Plat. Phaed. 89 D ἡγήσασϑαι παντάπασί τε ἀληϑῆ 
εἶναι καὶ ὑγιῆ καὶ πιστὸν τὸν ἄνϑρωπον, ἔπειτα ὀλίγον ὕστερον εὑρεῖν 
τοῦτον πονηρόν τε καὶ ἄπιστον καὶ αὖϑις ἕτερον. 

181) S. 95. Wäre nämlich alles, was nicht schwarz ist, weiß, so 
. stünden Schwarz und Weiß in kontradiktorischem und nicht, wie es 
tatsächlich der Fall ist, in konträrem Gegensatz. Vgl. Anm. 78. 
Hier zeigt sich also Sokrates besser orientiert als 331 Af. 

132) S. 95. Auf das Tempus (ἔφῃ Imperfektum, während sonst 
immer mit dem Präsens φησί zitiert wird,) ist hier genau zu achten. 
Denn Wilamowitz weist p. 163 mit Recht darauf hin, daß dies für 
die Anordnung der Gedichtteile von Wichtigkeit ist. Die hier an- 
geführten Worte, auf die nur zurückgewiesen wird, haben bereits 
345 C ihre Stelle im Gedicht angewiesen erhalten. 

185) S. 95. Sokrates will also ἑκών zu Zralvnu (= ἐπαινῶ ist 
„Mytilenäische Mundart“) gezogen wissen, nicht zu ὅστις ἔοδῃ. Vgl. 
Anm. 129. | | 

184) 5. 96. Als Ganzes stellt sich uns demnach das Gedicht in 
folgender Gestalt dar: 


An Skopas. 


Zwar ist es schwer ein braver Mann zu werden, wahrhaft brav, 
An Hand und Fuß und Geist ein ganzer Mann, ein Mann, der 
keinem Tadel Zulaß beut 
(Es fehlen fünf Zeilen) 


Auch Pittakos, so dünkt mich, hat nicht recht mit seinem Wort, 
So weisheitsvoll der Mann auch war. Es lautet: „Schwer ist es 
| ein ehrenhafter Mann zu sein.“ 


136 Protagoras. 


Denn Gott allein kommt diese Ehre zu, doch der Mensch kann 
dem Schlechten sich nimmer entziehn, 

Wenn unbekämpfbares Leid ilın beugt. 

Denn wer recht handelt, der ist ein guter Mann, 

Wer schlecht, ein schl»chter, 

Am längsten aber die Besten, sie, der Götter Lieblinge. 


Drum sei es ferne von mir, dem Unmöglichen nachzugehen. 
Nie werd’ ich meines Lebens Teil vergebens vergeuden an eitele 
| Hoffnung, 

Nie späh’n nach dem Manne, der fleckenlos ist unter allen, die 
wir der weiten Erde Frucht genießen. 

Erst ihn finden müßt ich, dann ihn euch künden, 

Alle lob’ ich und lieb’ ich, 

So einer nicht willig 

Schimpfliches tut; mit dem Verhängnis kämpfen auch Götter richt. 

Mir ist’s genug, wenn einer schlecht nicht ist 

Und nicht vermessen frevelt, 

So er, ein wackerer Ma:n, das Recht nur kennt, dies Heil der 
Staaten; 

Ihn werd’ ich nimmer tadeln; 

Von Tadelsucht weiß ich mich frei. 

Ist doch unübersehbar die Schar der Toren. 

Alles, wahrlich, ist schön, dem Schimpfliches fern bleibt. 


185) S, 96. Ganz dem entsprechend wird im Symposion 176 E 
noch vor Beginn der eigentlichen Unterhaltung die eben eingetretene 
Flötenbläserin entfernt auf des Eryximachos Vorschlag, der folgender- 
maßen lautet: „Ich schlage vor die Flötenspielerin sich empfehlen 
zu lassen, mag sie sich selbst spielen oder, wenn sie will, den 
Weiberu nebenan, auf daß wir den heutigen Tag mit Wechselreden, 
beisammen sind.“ 

136) 8, 97. Eine Personifikation, wie sie Platon liebt (vgl. Symp. 
218 A, wo die λόγοι personifiziert werden); noch drastischer läßt er 
am Schluß (361 A) die ἔξοδος τῶν λόγων selbst als Person auftreten. 

187) 8, 97. Das ist wohl nicht ohne Beziehung auf die selbst- 
bewußten Worte des Hippias 337 D gesagt. üb 

138) $, 97. Damit ist der Dichtererklärung das endgültige Urteil 
gesprochen, Sie hat mit wissenschaftlicher Untersuchung nichts 

emein. 

; 188) S, 97. Der Prüfstein der Wahrheit liegt nicht in äußeren 
Zeugnissen, sondern in unserem eigenen Inneren. Frage den eigenen 
aufrichtig suchenden Verstand, wenn du über Fragen der Ethik und 
der Philosophie ins Reine kommen willst. Eine andere Quelle der 
Erkenntnis gibt es dafür nicht. Alle philosophische Erkenntnis ist 
im letzten Grunde Selbsterkenntnis, wie Sokrates richtig behauptet. 
Ein echt philosophisches Glaubensbekenntnis! Das Selbstvertrauen 
der Vernuuft ist die Voraussetzung aller Wahrheitsforschung. 

140) S. 98. Vgl. Il. 10, 2248. . 

141) S, 98. Damit erhält die Sache eine etwas andere Wendung 
als bei Homer. 


Anmerkungen, 137 


143) S. 08, In den „Gesetzen“ 730 E wird es geradezu als eine 
Forderung hingestellt, daß der Mensch die tugendhuften Eigenscliaften 
nicht nur selbst habe, sondern sie auch auf andere übertrage. 

143) S. 99. Vgl. 828BC, auf welche Stelle hier ironisch an- 
gespielt wird. 

144) 3, 99. Griechisch ἴδιος οὐσία. Die Anwendung dieses Aus- 
drucks in einem so frühen Dialog zeigt, daß dem Platon das Wort 
οὐσία in seiner philosophischen Bedeutung schon vollkommen geläufig 
war. Vgl. z. B. auch Crat. 401] Ὁ. Wenn also im größeren Hippias 
dies Wort mehrfach in seiner philosophischen Bedeutung vorkommt, 
so sieht man darin sehr mit Unrecht ein Zeichen der Unechtleit des 
Dialogs. | 

145) S, 100. Des Sokrates Fassung der Frage läßt es im Unklaren, 
wie sich hier Sıbjekt und Prädikat zueinander verhalten, ob es ein 
Verhältnis der Einordnung (Unterordnung) oder der Gleichheit ist. 
Wie das Folgende zeigt, scheint dem Sokrates dabei ein Gleiclıheits- 
verhältnis vorzuschweben, wie denn eigentliches Urteil und Gleich- 
heitsformel bei Platon vielfach durcheinander gehen. Vgl. Anm. 77. 
Jedenfalls hätte Protagoras gut getan, gleich hier das wahre Ver- 
höltnis der beiden Begriffe festzustellen, wie er es dann 350 D tut. 
Dann hätte er sich den Vorwurf des Widerspruchs mit sich selbst, 
den Sokrates nun in kaptiöser Logik ihm nachweist, er-part. Wenn 
nun Protagoras 350 Of. den Sokrates eines Besseren zu belehren sucht, 
so hat er an sich ganz recht (wie denn Sokrates 351 B den ein- 
geschlagenen Weg verläßt und einen ganz neuen einschlägt). Allein 
Platon verfehlt nicht, ihn auch hier in sehr zweifelhaftem Lichte er- 
scheinen zu lassen, indem er ihn seine ganz richtige These (die 
Unzulässigkeit einfacher Umkehrung eines allgemeinen bejahenden 
Urteils) durch ein Beispiel erläutern läßt, das, rein logisch genommen 
an sich gleichfalls einwandfrei, doch insofern ganz mal & propos ist, 
als die Stärke (ἐσχύς) mit der Weisheit (σοφία) gar nichts zu tun hat, 
während die Külinheit eben, soweit sie mit der Tapferkeit zusammen- 
gebt, auch mit der Weisheit verwandt ist. Auf diesen Zusammen- 
hang mit der Weisheit aber kam hier alles an. Es scheint also, 
Platon hat diesen Abschnitt überhaapt nur eingefügt, um den Mangel 
an Gedankenzucht auf seiten des Protagoras anschaulich zu machen, 
und zwar in einer Weise, die etwas an 334 Aff. erinnert. In beiden 
Fällen nämlich handelt es sich um eine Ablenkung von der Sache. 
War es aber dort eine absichtliche Ablenkung, darauf berechnet, 
sich aus der Verlegenheit zu ziehen, so ist es hier eine unabsicht- 
liche Ablenkung von der Sache, die nur dazu führt ihn bloßzustellen. 

146) S. 101. Mit Bezug auf 349 E. ᾿ 

147) S, 101. Nämlich 350 A. Year 

148) S. 101. Vgl. Arist. Eth. Nic. 1116b 25f#. — Wenn Platon 
hier den Beweis fallen läßt, so scheint es fast, als markiere er damit 
die Grenze zwischen dem historischen und dem platonischen Sokrates, 
welcher letztere nunmehr zu Worte kommt. 

149) S, 102. Die hiermit anhebende neue Argumentation zum 
Erwägen der Einheit von Tapferkeit und Weisheit (σοφία) ist so 
künstlich und verwickelt, daß es sich empfiehlt den Beweisgang 
zunächst im ganzen nach seinen entscheidenden Momenten kurz zu 


138 Protagoras, 


überblicken. Worauf Sokrates hinaus will, das ist die Bestimmung 
des Wesens der Tapferkeit in dem Sinne, daß sie Einsicht, Erkenntnis 
(ἐπιστήμη oder σοφία, denn beide Ausdrücke sind hier für Sokrates 
gleichbedeutend) sei. Das Hauptstück und zugleich Hauptkunststück 
dieser Schlußfolgerung ist der an sich schwache, dialektisch aber 
geradezu raffinierte Nachweis der Identität der Begriffe „Angenehm* 

und „Gut“. Der Begriff des Angenehmen (und Unangenehmen), der 
„Lust“ (ἡδονή) und „Unlust“ (λύπῃ) ist ihm gleichsam der Mittel- 
begriff, durch welchen Einsicht und Tapferkeit zusammengebracht 
werden. Und zunächst kommt es darauf an, Lust und Einsicht nicht 
als Widersacher hinzustellen, wie es gemeinhin geschieht, sondern 
als einträchtig zusammengehend. Mit dem Maße der Lust und Un- 
Just nämlich mißt schließlich der Mensch alles, Es kommt aber bei 
diesem Messen alles darauf an, ob es kunstgerecht geschieht oder 
willkürlich. Nur wer sich auf die strenge Meßkunst versteht, hat 
den richtigen Maßstab für Abschätzung des wahren Wertes der Lust 
mit ihren mannigfachen Abstufungen und gegenseitigen Verhältnissen 
in der Hand; die Meßkunst bezeichnet hier die Erkenntnis der 
wahren Lust. Dabei stellt sich klar heraus, daß die wahre Lust eben 
nichts anderes ist als die Freude am Schönen und Guten. Angenehm 
und gut sind ein und dasselbe, ebenso gehen unangenehm und 
schlecht zusammen. Damit hat Sokrates gewonnenes Spiel. Bei der 
Tapferkeit nämlich handelt es sich um das Bestehen von Gefahren, 
also von etwas der gewöhnlichen Auffassung nach Unangenehmem. 
Denn Gefahr ist gemeinhin ein Gegenstand der Furcht, Furcht aber, 
als Erwartung eines Schlimmen, ist immer ein störendes und un- 
angenehmes Gefühl, für den Feigen sowohl wie auch für den 
Tapferen, wenn er überhaupt Furcht hat. Ist das letztere aber der 
Fail, so ist seine Furcht offenbar etwas ganz anderes als die des 
Feigen (und Nicht-Tapferen). Was für den letzieren furchtbar, ist 
es nicht auch für den ersteren. Der Tapfere zieht z.B. willig, ja 
freudigen Mutes in den Kampf für Rettung des Vaterlandes, der 
Feige sucht sich ihm am liebsten ganz zu entziehen. Was macht 
nun den Tapferen fähig und willig zu solcher Handlungsweise? 
Nichts anderes als die richtige Abschätzung des wahrhaft Angeneh- 
men und Unangenehmen, d. h. nach dem Vorigen, des Guten und 
Schlechten in bezug auf Gefahr und Drangsal. Er ist im Besitze 
der richtigen Meßkunst, d. h. der richtigen Einsicht in das Wesen 
des Schönen und Guten (vgl. 359D. 360 AB verglichen mit 358 E), 
er ist also der berufene Richter über das wahrhaft Furchtbare. 
Kennt er also seinerseits überhaupt keine Furcht? Gewiß, auch er 
kennt sie, aber es ist das diejenige Furcht, der allein etwas sittlich 
Erhebendes und Schönes innewohnt, die Furcht nämlich vor dem 
Schimpflichen, vor der Schande. Auch diese Furcht ist als Furcht 
eben etwas Unangenehmes. Aber der Tapfere überwindet diese 
Furcht, indem er dem Ehrenhaften unbedingt den Vorzug gibt, ein 
Verhalten, das ihm die Quelle innerster Befriedigung wird. Platon 
hat die Frage „Was fürchtet der Tapfere* nicht ausdrücklich selbst 
beantwortet, sondern ihre Beantwortung dem Leser überlassen, der 
nur genau hinzusehen braucht, um sie alsbald zu geben, wo nicht, 


. sie sich ans Aristoteles holen kann, Eth. N. 1145b 7f. 1115a 12. 


Anmerkungen. 139 


Im vulgären Sinne könnte man also wohl auch sagen, der wahrhaft 
Tapfere konnt überhaupt keine Furcht. Vgl. Phard, 68 D. 

160) S, 108. Protagoras unterscheidet also zwischen Angenehm 
und Gut, im Sinne der großen Menge, die das Gute zwar für löblich, 
aber durchaus nicht immer für angenehm erklärt. Das ist auch im 
Grunde Platons eigene Meinung, wie er sie im Gorgias (495 Off.) 
auf das Bestimmteste entwickelt. Aber hier im Protagoras nimmt 
er behufs Durchführung seiner These einen Standpunkt ein, der mit 
dem im Gorgias entwickelten und verfochtenen in Widerspruch zwar 
nicht steht, aber doch zu stehen scheint. Näher zugesehen nämlich 
steht die Sache so: um das Gute mit dem Angenehmen zu identi- 
fizieren, beschränkt Pl. den Begriff der Lust auf die von der Ver- 
nunft gebilligte, also gute Lust, indem er alle bloß dem flüchtigen 
Sinnengenuß dienende Lust mittelst Einführung der Meßkunst, d.h. 
der richtigen Erkenntnis, als unterwertige Lust, als bloße Scheinlust 
bei Seite schiebt, Damit nähert er sich in bemerkenswerter Weise, 
wenn auch ohne die umfangreichen psychologischen Vorbereitungen, 
über die er späterhin gebieten konnte, demjenigen Standpunkt, den 
er dann im Philebos zur Darstellung brachte. Wie hier im Prota- 
goras erkennt er auch dort nur die aufreiner Erkenntnis beruhende 
Lust als wahre Lust an, während er alle andere Lust, vor allem die 
Sinneslust, zur bloßen Scheinlust degradiert und sie dadurch, sozu- 
sagen annulliert. Die Unterscheidung von guter und schlechter Lust 
findet sich im Protagoras so gut wie im Gorgias; im Gorgias aber 
wird die Sinnenlust als etwas Positives stehen gelassen und nicht 
wie im Philebos und in unserem Dialog als etwas sozusagen Nega- 
tives behandelt. Es ist also im Grunde derselbe Wein, nur unter 
.einer anderen Etikette. Im allgemeinen spitzt sich die Ethik des 
Platon ganz darauf zu, nur das tugendhafte und in reiner Erkenntnis 
sich bewegende Leben auch als angenehm anzuerkennen, eine Lehre, 
der zuliebe er bekanntlich selbst die Staatslüge nicht scheut. Rpl. 
414 Cff. Vgl. Legg. 668 Afi. 732 Ef, In diesem Sinne ist Platon 
sein Lebtag Hedoniker gewesen. 

151) S. 103. z. B.349E. Crat. 384 BC. Gorg. 459 Ο. Es scheint, 


als läge darin eine Andeutung, daß Protagoras sich nicht zum ersten - 


Male mit Sokrates unterrede. 

152) 5, 104. Nämlich wie 351 C die Ansicht über das Verhältnis 
des Angenehmen zum Guten. 

153) δ, 104. Vgl. Eurip. Hippol. 874 

154) S. 104. Auf diese Stelle bezieht sich offenbar, was Aristo- 
teles Eth. Nic. 1145b 22 sagt: „Das trotz des Besitzes richtiger Er- 
kenntnis etwas anderes im Menschen die Herrschaft haben und 
solche Erkenntnis wie einen Sklaven hinter sich her- 
schleppen sollte, das hielt Sokrates für etwas Ungeheuerliches.“ 


155) S. 105. Daß Protagoras nicht umhin konnte, vor der „Er- 
kenntnis“ und „Weisheit“ seine tiefe Verbeugung zu machen, war 
klar; Sokrates macht ihn also dadurch auf höchst schlaue Weise 
eine Zeitlang zu seinem guten Kameraden, der im Wortgefecht mit 
der großen Menge mit ihm an einem Strange zieht. 

156) S, 105. Nämlich-oben 852 Β. 


gen --. 


eg er 


140 | Protagoras. 


151) S. 105. Auch schon 317 A natte sich Protagoras wegwerfend 
über die große Menge geäußert. Vgl. Anm. 48. 

168) S. 106. Arnim macht (Platos Jugenddialoge p. 14ff.) ganz 
richtig aufmerksam auf die Verwandtschaft der nun folgenden plato- 
nischen Ausführungen mit Phaed. 68 Cff., eine Beziehung, auf die 
auch ich bereits hingewiesen hatte in den Anmerkungen zu meiner 
Phaidonübersetzung (p. 138, Anm. 26). Dabei ist aber zu beachten, 
daß hier im Protagoras dies Tauschgeschäft, diese „Bilancierung* 
der sinnlichen Lüste miteinander nur das Vorspiel bildet zu der 
ethischen Wendung, die dadurch vorbereitet wird. Der ἐπιστήμη 
nämlich als der sittlich entscheidenden Instanz wird im Phaidon 
zwar auch gedacht und zwar unter dem Namen der Münze (νόμισμα), 
für die man alle Tugenden eintauschen kann, aber sie bleibt im 
Hintergrunde stehen; im Protagoras dagegen wird sie unter dem 
Namen der Meßkunde in ihrer Wirksamkeit vorgeführt, wodurch an 
die Stelle des bloßen Tausches der Sinneslüste nach Maßgabe ihrer 
Größe untereinander der Gegensatz der wahren (von der Vernunft 
gebilligten) und der falschen, der guten und der verwerflichen Lust 
tritt. Vergleicht man die .beiden Stellen genauer, so sieht man, daß 
im Phaidon die ganze Rechnung angestellt ist mit dem Blick nach 
unten hin, im Protagoras mit dem Blick auf die Höhe. Im Phai«on 
denkt man vor allem an Beispiele wie das des raffinierten Wüst- 
lings, der sich in kluger Berechnung seiner sinnlichen Leistungs- 
fähigkeit seine Kraft aufspart für den stärkeren Sinnengenuß und 
darum den augenblicklich sich darbietenden leichteren Sinnenzenuß 
nicht Macht über sich gewinnen läßt. Anders hier. Vgl. 360.A. 


150) S. 108. Bemerkenswert ist hier der Übergang in ein direktes . 
Gespräch mit den Leuten selbst — offenbar eine Steigerung der 
dramatischen Lebendigkeit. 

160) S. 108. Es ist schon früher (vgl. Anm. 77 und 145) bemerkt 
worden, daß die Dialektik des Sokrates eine unklare Mitte einhält 
zwischen Urteil und Gleichheitsformel. Hier zeigt es sich nun klar, 
daß, wenn man die Sache in die präzise Urteilsform bringt, dem 
Sokrates eigentlich als Ziel vorschwebt nicht das Urteil τὸ ἡδύ ἔστιν 
üyadöv, sondern τὸ ἀγαϑόν ἔστιν ἧδύ. Wäre dem nicht so, so würde 
ja τὸ ἡδονῆς ἥττω εἶναι eher ein Lob als ein Tadel sein. Im Grunde 
glaubt er nur daran, daß das Gute stets auch angenehm ist, ein Satz, 
an dem Platon selbst immer festgehalten hat; hier aber, wo er ge- 
nötigt war, das „Angenehme“ zum Hebel der ganzen Argumentation 
zu machen, weiß er mit schillernder Dialektik diesen Satz als ein 
Identitätsverhältnis hinzustellen. 


161) S, 109. Das heißt hier soviel als: „weil er den augen- 
blicklich angenehmeren (nämlich schmerzlosen) Zustand einem, wenn 
auch bald vorübergehenden und dauerndes Wohlbefinden verbürgenden 
Schmerzgefühl vorzieht.* | 

162) 5, 111. D.h, man muß das tun, was mehr Angenehmes als 
Unangenehmes bietet. 

163) S, 111. Diese von Platon -oft und nachdrücklich hervor- 
gehobene Kunst ist nichts anderes als die in bestimmter Richtung 


wirkende ἐπιστήμη. Die Erkenntnis des rechten Maßes ist die Haupt- 


Anmerkungen. 141 


bedingung jeder ethischen Vollkommenheit. Vgl. Pol. 284 Eff., wo 
das hier (857 B) gegebene Versprechen eingelöst wird. 

164) κα, 112. Also des Geraden zum Geraden und des Ungeraden 
zum Ungeralden. 

166) S, 112. Vgl. 852 Oft. 

166) S, 113, Das verträgt sich zwar nicht mit dem Satze πολλοὺς 
φασι γιγνώσκοντας ra βέλτιστα οὐκ ἐθέλειν πράττειν ἐξὸν αὐτοῖς 
(852 E u. ὅ.), für Sokrates aber verschwindet der Widerspruch, weil 
ein Wissen, das nicht die Kraft hat das ihm entsprechende Handeln 
unmittelbar zu bewirken, nur ein Scheinwissen ist. 

161) S. 113. Platon bewährt sich als voller Herrscher im Reiche 
‚ dramatischer Kunst, wenn er hier die anderen anwesenden Sophisten 
unmittelbar mit zur Teilnahme an der Debatte heranzieht. Er gibt 
dadurch deutlich zu erkenren, daß die Niederlage des Protagoras 
zugleich der Sophistik überhaupt gelten soll. Die ritterliche Art, 
in der dies geschieht, entspricht ganz dem sonstigen Auftreten des 
Sokrates. | 

168) S, 114. Die Hss. haben: οὐδεὶς εἰδὼς ἄλλα βελτίω εἶναι ἢ ἃ 
ἑποίει καὶ δύναται, ἔπειτα ποιεῖ ταῦτα, ἐξὸν τὰ βελτίω. Hier geben 
die meisten Herausgeber den verdorbenen Text in der von Schleier- 
macher verbesserten Gestalt ἃ ποιεῖ, καὶ δυνατά. Allein ποιεῖ für 
ἐποίει ist paläographisch unwahrscheinlich und δυνατά wird durch 
das folgende ἐξὸν τὰ βελτίω unnötig gemacht... Mir will es richtiger 
erscheinen zu schreiben ἃ Erıvoei (vgl. 811 Β) καὶ δύναται (vgl. 335 C), 
„was er (zunächst) beabsichtigt und was er auch in seiner Macht 
hat.“ Aus ἐπινοεῖ oder ἐπενόει, wie man auch schreiben kann, konnte 
bei folgendem ποιεῖ leicht Exoisı werden; eine weitere Anderung 
. erübriet sich dann. | 

1609) 5. 114. Damit ist die entscheidende Wendung auf das sittlich 
Schöne und Gute hin vollzogen. Demnach handelt es sich nun nicht 
mehr um einen Kampf und Tausch der sinnlichen Lüste unter ein- 
ander, sondern um einen Kampf des Guten mit dem Schlechten, des 
Sittlichschönen mit dem Schimpflichen, des καλόν mit dem αἰσχρόν. 

170) S. 116. Vel. 329 Dff. 

21) 8. 115. Vgl. 349 Bff. _ 

122) S. 116. Vgl. 3590 ἐφ ἅπερ οἱ δειλοί; Οὐκ ἔφη, Οὐκοῦν 
ἐφ᾽ ἕτερα. 

128) S. 116. Vgl. 858C. 

124) S. 116. Vgl. 358B. 

125) S. 117. Darin liegt, wenn auch nicht ausdrücklich hervor- 
gehoben, doch implieite die Sonderung alles bloßen Fachwissens von 
der Einsicht in das Wesen des Schönen und Guten. Die technische 
Kenntnis gewisser Gefahrengebiete, von der früher (349 Eff.) die 
Rede war, kann nun nicht mehr als das eigentlich Entscheidende 
gelten, sondern nur der Besitz jener königlichen Wissenschaft, die 
allen anderen Künsten erst ihren Wert und ihre Bedeutung zuweist, 
die Kenntnis des Schönen und Guten, ἢ 

1160) 5, 117. Das stimmt im Resultat ganz mit dem, was wir 
aus der Nikomachischen Ethik als Lehre des Aristoteles kennen: 
der Tapfere kennt nur eine Furcht, die Furcht vor der Schande, 
und das ist eine edele Furcht. Das καλόν ist die einzige Triebfeder 


149 Protagoras. 


für die wahrhaft Tapferen. Οὗ Arist. Eth. Nie. 11158 12f. Aber 
während bei Begründung dieser schönen Lehre durch den plato- 
nischen Sokrates sowohl die Logik wie die Psychologie zu kurz 
kommt, weiß Aristoteles der richtigen Sache auch die richtige Be- 
gründung zu geben. 

1) 8.118. Vgl. 359B. 

118) S. 119. Eine Personifikation, nicht kühner, als sie auch 
sonst bei Platon vorkommt. Vgl. Anm. 136. 

12) $8. 119. Protagoras also hat ursprünglich den richtigen Stand- 
punkt, ist sich aber der Gründe für denselben nicht bewußt gewesen. 
Das wird mit großer Kunst und Feinheit, d.h. mit richtiger Eekonung 
für den Protagoras zum Ausdruck gebracht. 

180) S. 120. Vgl. 820 Dff., besonders 321 CD. 

181) S, 120. Damit macht Platon den Menschen selbst zum 
Schöpfer seines Heils. Vgl. meine Plat. Aufs. p. 84ff. 

182) S. 120. Vgl. 820 Β. 

#8) S. 120. Vgl. Einleitung p. 26 Anm. 1. 


Register. 


A. 
Abdera 38 (Heimat des Prota- 


goras). 

Abschreckungstheorie 60. 127. 

- Achilles 85. 

Adeimantos, Sohn des Kepis 47. 

Adeimantos, Sohn des Leukolo- 
phides 47, 125. 

Acathokles aus Athen 49. 126. 

Agathon 47. 125. 

Ahnlichkeit der Dinge 71f. 

Akumenos 47 (Vater des Eryxi- 
machos). 

Alkibiades 37f. 48. 54. 79f. 96 
97. 131. 

Anachronismen 1. 

Andron 47. 125. 

Androtion 47 (Vater des Andron) 

Angenehm (ἡδύ) 3f. 103f. (Ver- 
hältnis zum Guten). 

Antimoiros 46 (Schüler des Prota- 
goras). 

Apollodoros 88 (Vater des Hippo- 
krates). 

Apollon 90. 

Apologie 20. 

ΤΕ 54 (Bruder des Perikles). 
127 


Aristoteles 14. 16. 128. 139. 

Arzt und ärztliche Kunst 40. 44. 
57. 93. 104. 113. 

Astronomie 52. 

Athen, Athener 37. 53 (gescheit). 

58. 60, 66. 81 (geistiger Mittel- 
punkt Griechenlands). 

Athene 56. 


B. 


Bangigkeit (δέος, dist. φόβος) 1148, 
Baumeister 42. ὅ8, 58. 93.. 


Begriffsphilosopbie 8, 

B-lehrung 60ff. 

Besonnenheit (σωφροσύνη) 58. 61. 
72ff. 75. s. Tugend. 

Bezahlung der Sophisten 65f. 99. 

Bias von Priene 90. 


©. 


Charmides 46 (Sohn des Glaukon). 
124. 

Chilon der Lakedaimonier 90. 

Chorgefolge des Protagoras 46f. 

Chronologisches 1, 


D. 


Delphi, Tempel 90. 

Demokrit 10. 

Dialektik 884, 

Dichter, Dichtererklärung 62, 88 
126. 131f. 


E. 


Bleaten 8 ἢ, 

Elis, Heimat des Hippias 45. 47. 

Entgegensetzung von Begriffen 
72ff. 129. 

Epimetheus 5öff. 120. 

Erkenntnis (ἐπιστήμη) 104 Ε΄. (Ver- 
hältnis zum Handeln). 

Erkenntnisweisen 8f. 

Eryximachos 47; 

Erziehung 61f. | 

Eurybatos 65 (Verbrecher). 128. 

Euthyphron, Dialog 2. 


Ἐς 


Fachbildung 53. 58 (opp. Staats- 
kunst), 

Fehler 59%f, (verzeihliche und straf- 
bare). 


144 


Feigheit (δειλία) 116 ff. 

Feuerraub 56 (durch Prometheus) 

Flötenspiel 51. 58. 64f. 96. 

Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit 
des Handelns 114. 

Freund des Sokrates 37f. (dem 
der ganze Hergang von Sokr. 
erzählt wird). 

Frömmigkeit (ὁσιότης) 2. 61. 69 
(Beweis ihrer Einheit mit der 
Gerechtigkeit). 

Furcht (φόβος) 1148 


&. 


Gegensatzpaare 71. 

Geometrie 52. 

Gerade und ungerade 111. 

Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) BEE. 
(jeder legt sie sich zu). 61. 64f. 
69ff. (Verhältnis zur Frömmig- 
keit), 

Geschehenes nicht ungeschehen 
zu machen 60. 

Gesetz (νόμος) und Natur (φύσις) 
81 


(esetzgeber, alte 63. 

Gesetzwidrigkeit 75. 

Glaukon 46(Vater des Charmides). 

Gleichheit der Dinge 71f. 

Gorgias 24f. 

Gott, Götter 54ff. 88. 

Gotilosigkeit (ἀσέβεια) 59. 

Griechen, Griechenland 41. 53. 
77. 88 ἢ. 

Griechisch sprechen 65. 

Gut und angenehm in ihrem Ver- 
hältnis zueinander 3f. 73. δ. 
103ff. Das Gute und Schöne 
114. 1161, 

Gymnastik 42. 44. 124. 


H. 


Handlungsweisen 72f. 93. 104, 
(und Erkenntnis). 

Hausverwaltung 52. 

Hellenen s. Griechen. 

Hephaistos 56. 

Hermes 57. 


Register. 


An von Selymbria 99 (Arzt). 

Hesiod 49. 86. 

Hippias 37. 45. 47. 50. 81f. 88. 
96. 113. 115. 124. 

Hippokrates Sohn - „Apollodoros 
37. Ir ff. 48. δ0 ἢ. 6 

Hippokrates der hie 40. 

Fl po τ, Vater des Kallias 40. 
41. 

ἌΣ "zn, 41. 49. 85. 98. 124 
(Homerzitate). 


Ι. 


Ikkos von Tarent 49, 
Ionier (Philosophen) 9. 


RK. 


Kallias 6. 37. 46ff. 78H. 123. 
Kampfrichteramt 82f. 
Kardınaltugenden 2f. s. Tugend. 
Kanfmann 44 f. 53. 

Keos (Insel) und Keer 49. 47. 87. 
88 (als ernst und ehrbar be- 
kannt). 133. 

Kepis 47, 

Kerameis 47 (attischer Demos). 

Kinder und Lehrer 62f. 

Kleinias 38 (Vater des Alkibiades) 


| Kleinias 54 (Bruder des Alkibia- 


des). 126. 

Kleinigkeit (σμικρόν τὴ 66f. 128. 

Kleobulos von Lindos 90. 

Kos, Insel 40 (Heimat des Hippo- 
krates). 

Krämer 44f. 

Kreon, thessalischer en 83 
(Vater des Bkopap)ı 

Kreta 89. 

Krieg 117ff. 

Kriegskunst 57 (Teil der Staats- 
kunst). 

Krison von Himera 79 (Wettläufer). 

Kritias 37. 48. 

Kühnheit (940005), Tollkühnheit 

- 101£. 117 (Verhältnis zur Tapfer- 
keit). 

Kürze, lakonische 90. 


Register. 


L. 


Lakedaimonier 89 f. 

Lakonisten, Lakonentümler 89, 
134. 

Leben, gutes und schlimmes 102, 
108. 114. 

Lehrbarkeit der Tugend 5iff. 

Lehrer und Kinder 62 ἢ, 

Lehrgeld an dieSophisten 65f. 99. 

Leistungsfähigkeit (δύναμις) 102 
(dist. Stärke ἰσχύς). 

Lenärvnfest 65. 

Lessing 29. 

Leukolophides 47. 125. 

Logik 4f. 

Logos (Aöyos, zwingende Gedanken- 
folge) 8, 

Lust (ἡδονή) 14ff. 1041. 188, 


M. 


Malerkunst 42. 51. 

Mannestugend 61. 

Megara 49. 

Megariker (Philosophen) 12. 

Meinung, wahre (ἀληϑὴς δόξα) 15 ff. 

Mende 46(Heimat des Antimoiros). 

. Menge, die große 49. 104ff. 126, 

Menon, Dialog 20. 21. 

Menschenschöpfung (Mythos) 54f. 

Meßkunst (ueronuxn) 110ff. 112 
(ἐπιστήμη). 113. 

Mist 76 (Nutzen und Schaden). 

Moliere 17. 

Moment, der fruchtbare 29. 

Musaios 49. 

Musik 52. 62f. 

Musiklehrer 42. 

Myrrhinus 47 (Heimat des Phai- 
dros). 

Myson aus Chen 90. 

Mythos von Prometheus 54f. 

Mytilenäische Mundart 95. 


N. 
Nützlichkeit (ὠφέλιμον) 76£.: 


®. 


Oinoe 39. 123. 
Öl 76 (Schädlichkeit und Nützlich- 
keit). 131. 


Apelt, Platon Protagoras. Phil, Bibl. Bd. 175. 


145 


Opposition der Begriffe 4f. 72. 
Orpheus 40, 49. 
Örthagoras von Theben δ], 


P. 


Paralos, Sohn des Perikles 46, 53. 
66. 124, 

Parmenides 10. 12f, 

Parmenides, Dialog 12, 

Pausanias 47. 

Perikles 46. 53f, 66. 67. 

Personifikation (der Rede) 119, 
142. 

Pferde 76. 

Phaidros 47, 

Phason 38 (Bruder des Hippo- 
krates), 

Pheidias 41 (Bildhauer), 

Pherekrates, Komödiendichter 65. 
127£. 

Philippides, Sohn des Philomelos 
46 


Philosophie 8ff., praktische 10f. 
Phrynondas 65 (Verbrecher). 128. 
Pittakos 84ff, 90, 133. 
Platon 22, 
Polykleitos, Bildhauer 40f. 66. 123. 
Prodikos 37. 45. 47. 80f. 85ff. 113. 
114f. 124, 131. 188. 
Prometheus 55ff. 120, 
Protagoras 6. 38. 46ff. 49 (nennt 
sich zuerst einen Sophisten). 
65f. (Lehrgeld). 99. 113. 115. 
122. 
Prytanen 53. | 
Pythagoreer 9f. 
Pythokleides aus Keos 49. 126. 


RR. 


Ratgeber 53. 58. 
Rechenkunst (λογιστική) 52. 
Reden 77ff. (lange und kurze), 
Reiterkampf 100, 

Republik, Dialog 2. 


S. 


Sache und Person 71. 129. 
Satyros, Sklave des Hippokrates 
39. 


10 


146 Register. 


Schein 111 (und Ermst). 
Schifisbaukunst 53. 
Schiffsherr 53. 
Schildkampf 100. 
Schmiedekunst 53. 60. 61. 


Tugend, Tugendlehre 2f. 13ff. 
20ff. 26ff. 5iff. (im Sinne des 
Protagoras). 67ff. (Einheit und 
Vielheit). 99. 119f. 

Türhüter im Hause des Kallias 46. 


Schöne, das (τὸ καλόν) 73f. 100. | Turnlehrer 42. 44. 63. 


114 (Verhältnis zum Guten). 
Schreiblehrer 42. 
Schulwissen 52. 
Schusterhandwerk 53. 60. 
Re für die Geschöpfe 
δδ1. 
Seele (ψυχή) 44f. (ihre Nahrung). 
Sein und Werden 9. 86f. 91f. 
Selbstbeherrschung 114. 


'Simoeis 85 (Fluß). 


Simonides von Keos 49. 83ff. 132. 

Skamander 85 (Fluß). 

Skopas, thessalischer Dynast 83ff. 

Söhne und Väter 60ff. (Erziehung). 

Sokrates 7ff. 14. 18ff. 26ff. (sein 
Alter). 52 (geschickter Frager). 
77 (Vergeßlichkeit). 80. 88ff. 
(als Dichtererklärer). 103 (sein 
stets empfohlenes Verfahren). 
121f. (Tagesleistung). 

Solon 90. 

Sophisten, Sophistik 5ff. 19f. 41ff. 
44f. 48ff. (Verhältnis zu den 
Machthabern). 89f.(spartanische 
Sophistik). 65. 99. 123. 134. 

Sprichwörtliches 38. 90. 

Staat, Staatskunst 52. 53. 57. 

Steuermann 9. 

Straftheorie 60. 127. | 

Szenerie des Dialogs 5f. 22ff. 122f. 


T. 
Tantalos 47. 
Tapferkeit (ἀνδρεία) 13H. (und 
Wissen). 68. 100ff. 115#. 
Taucher 100, 
Teilungen der Tugend 68ff. 
Textkritisches 122. 125. 147, 
Tbales von Milet 90. 
Todesstrafe 61. 
Tollkühnheit 117, 
Töpferkunst 61. 
Trinkgelage 96. 


U. 


Ubel (κακόν) 101 ἢ. 
UÜberwundenwerden durch die 
Lust 105£f. | 
Unangenehm, Unannehmlichkeit 

101 | 

Unfreiwilligkeit im Handeln 114f. 

Ungerade und gerade 111f. (Zah- 
len). 

Ungerechtigkeit 59. 100. 

Unlust 107. 

Unrechttun 94. 

Unterhaltung 96 (anständige). 

Unwissenheit 113 (die größte). 
114 def. 116. 1118. 

Urteile 9f. (analytische). 101£. 
(Umkehrung der U.). 128f. (U. 
und Vergleichungsformeln). 137. 
140. 


Υ. 


Väter und Söhne 60f. 654} 

Verbannung 61. 

Vergleiche 46 (Orpheus). 47 (Tan- 
talos). 62 (verbogenes Holz). 
63 (Linienziehen). 64f. (Flöten- 
bläser). 67 (Erzplatten). 68 (Ge- 
sicht). 90 (Speerschütze). 96 
(Trinkgelage). 104 (Sklaven). 
113 (Arzt), 

Vergleichungsformeln s. Urteile. 

Verschiedenheit und Entgegen- 
setzung 129, 

Volksredner 66f. 

Volksversammlung 53. 58. 


WW. 
Weisen, die sieben 90, 134. 
Weisheit (σοφία) 68. 72f. (opp. 


ἀφροσύνη). 114. 
Weisheitstrieb 88f. 


Register. | 147 


Werden und 2. he 2. 

Wilde (Kannibalen) 65. 

Wissen (ἐπιστήμη) 18, (und Tu- | Zanren 111 (gerade und ungerade), 
end). 14f. (und Handeln), 104 ff. Zeus B6f. 67. 
(Verhältnis zur Lust), 112 (als Zeuxippos aus Heraklea 51 (Ma- 


eßkunst). 137f. ler). 126. 
x Zimmermannskunst 53. 
Ι Zitherspiel 43. 62. 


Xanthippos 46 (Sohn des Perikles). | Züchtigung 60f. 
53. 66. Zurechtweisung 63. 


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PLAIONS DIALOGE 


LACHES UND EUTHYPHRON 


ÜBERSETZT UND ERLÄUTERT VON 
GUSTAV SCHNEIDER ὦ 


HERAUSGEGEBEN VON 
BENNO VON HAGEN 


ZWEITE DURCHGESEHENE AUFLAGE 


DER PHILOSOPHISCHEN BIBLIOTHEK BAND 178 
LEIPZIG 1922 / VERLAG VON FELIX MEINER 


Alle Rechte, einschliesslich des Übersetzungsrechts, vorbehalten 


Herrn 


Schulrat Professor Dr. Sedlmayer 


in Wien 
in Freundschaft und Verehrung 


gewidmet 


Vorwort. 


_ --ὄ-ς-ς. --.ἕἔ.--- -- 


Am Abend des 10. Dezember 1917 ist Gustav 
Schneider, 77 Jahre alt, an einem Gehirnschlag, ohne 
vorangegangene Krankheit oder Ermüdung, in seiner Vater- 
stadt Gera (Reuß) gestorben. Wenige Minuten, bevor der 
noch sehr rüstige alte Herr in einen Vortrag gehen wollte, 
befiel ihn ein leichtes Unwohlsein. „Es wird gleich vor- 
über sein“, sagte er der besorgten Gattin, die ihm auch 
in seinen Arbeiten die treuste Gefährtin gewesen ist. Es 
waren seine letzten Worte. Auf seinem Schreibtische lag 
das Manuskript, an dem er die letzten Jahre — die Kriegs- 
jahre — fast Tag für Tag gearbeitet hatte, zum Drucke 
fertig. Er hat oft mit mir von diesem Manuskripte ge- 
. sprochen, nie so, als ob es seine letzte Arbeit sein würde. 
Auf einsamen Gängen im Forste von Klosterlausnitz hat 
er mir Stunden lang seine Auffassung des „Laches“ vor- 
getragen. Gerade der Krieg mit seinen ungeheuren Ver- 
änderungen und Forderungen belebte Schneiders Gedanken- 
arbeit, so daß man sich freuen darf, daß er den „Laches“ 
im Kriege übersetzte und erklärte. Der „Euthyphron“, 
eine Lieblingsschrift des Dahingegangenen, die ich einst 
als Primaner in einem besonderen Zirkel mit dem verehr- 
ten Lehrer zum ersten Male lesen durfte, hat das Beste 
von Schneider empfangen: die Weihe und Reife des 
Alters, das nötig ist, in die tiefsten Gänge religiösen Den- 
kens vorzudringen. Auch glaube ich, Schneiders Auffas- 
sung des Euthyphron wird dazu beitragen, daß man den 
logischen Abschnitten dieser wenig beachteten Schrift die 
Würdigung schenkt, die ihnen bisher oft versagt wurde. 
Er hat das Werk nicht mehr drucken dürfen, aber sein 
Name, hochgeachtet in Wissenschaft und Leben, wird in 


VI Vorwort. 


der Platoübersetzung der „Philosophischen Bibliothek“ mit 
Dank und Anerkennung genannt werden. 

Professor Constantin Ritter in Tübingen hat die Güte 
gehabt, einige Richtlinien für die Drucklegung des Wer- 
kes zu geben. Das Manuskript war in der Tat zu um- 
fangreich, die Einleitungen mußten z. T. erheblich ge- 
kürzt werden. Ich hoffe, bei der nicht leichten Aufgabe 
richtig verfahren zu haben. Pietät gegen den Mann und 
sein Werk, Achtung vor seinem Fleiße und Scharfsinn, 
Rücksicht auf die Zeitumstände und nicht zuletzt auf 
den Rahmen der von Apelt gelieferten Platoübersetzungen 
der „Philosophischen Bibliothek“ — all diese Gesichts- 
punkte mußten für meine Arbeit maßgebend sein. Streich- 
ungen in den Einleitungen waren ebenso unvermeidlich 
wie hier und da kleine Zusätze oder Änderungen. An 
der Übersetzung habe ich dagegen nur an wenigen Stellen 
verbessert. 

In dankbarem Gedenken an den Entschlafenen, der 
mir ein väterlicher Freund war, lasse ich die beiden Ju- 
gendwerke Platos hinausgehen, in deutschem Gewande. 
Was Tapferkeit und Frömmigkeit ist, läßt sich nicht auf 
eine gelehrte Formel bringen, aber die Gedanken Platos er- 
weisen sich auch heute noch fähig zu befruchten und wert 
zu reifen. Mögen sie empfängliche Seelen finden und das 
Chaos des Weltbrandes überdauern! Dann war auch 
Gustav Schneiders Arbeit nicht vergeblich. 


Jena, am 23. Oktober 1918. 


Benno v. Hagen. 


Vorwort zur 2. Auflage. 


Gustav Schneider, der am heutigen Tage sein 81. Lebens- 
jahr vollendet haben würde, hatte in seinem Manuskripte 
keine Literaturübersicht zu den beiden Dialogen hinter- 
lassen. Dem Wunsche des Verlages, eine solche nachträg- 
lich anzufertigen, bin ich bereits 1920 gefolgt, in der Über- 
zeugung, damit eine Lücke auszufüllen, die dem letzten Werke 
des verdienten Platonforschers etwa Abbruch tun könnte 
In dem von Apelt besorgten Platon-Index (Bd. 182) wurde 
diese Literaturübersicht hinter dem Gesamtregister auf 
S. 159—164 abgedruckt. Nunmehr hat sie eine Verbesse- 
rung erfahren und ihren Platz in diesem Bande hinter 
‚den Anmerkungen zum Euthyphron auf S. 109 
bis 114 gefunden. Dadurch wurde eine Anderung der 
Seitenzahlen, die manche weitere Korrektur bedingt hätte, 
vermieden. Herrn Professor Dr. Rudolf Klussmann in 
München für wiederum bewiesene Hilfsbereitschaft herz- 
lichst zu danken, ist mir auch an dieser Stelle ein Bedürf- 
nis. Sonst habe ich nur da gebessert, wo es unbedingt er- 
 forderlich war. 


Jena, am 23. Oktober 1921. 


Benno v. Hagen. 


Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

1. Allgemeine Einleitung zu beiden Dialogen . , . 1-3 
2. Lachs , . ».. ste lt a Ξ 
ἃ, Zinleitung sy Le. 0a, Bra age ET Tal 6) 
ὃ, Übersetzung .: Ὁ „4,08 ma u. a 0  νΝ 

0. Anmerkungen. . . s\“.a.nme 0er Le a 
3. Euthyphron . ᾿ς, u... se a) Bel Re AS ae 
». anleitung u... 0 rna ie ba Dein ae 


b. Übersetzung. . Sys wesen ae a 
6. Anmerkungen . . ... u... Sa nr 
4. Literaturübersicht . . N  οο 


5. Register zu beiden Dialogen. . . . . . 2.2... 115-118 


Allgemeine Einleitung 


zu baden Dialogen. 


Die Bedeutung der Dialoge Laches und Euthyphron 
für ihre Zeit und für uns; 


In beiden Dialogen, im Laches sowohl als im Euthy- 
phron, haben wir im wesentlichen die Sokratische Weise zu 
forschen und zu lehren vor uns, die sich ganz besonders im 
Gegensatze zur Sophistik herausgebildet hat. Nach der 
Grundanschauung der Sophistik ist der Mensch, der ein- 
zelne Mensch, das Maß der Dinge, und es gibt keine allge- 
mein gültige Wahrheit. Das gilt von dem Gebiete der 
Wissenschaft, der Ethik und der Religion. Demgegenüber 
ist der Grundgedanke, auf dem die Sokratisch-Platonische 
Philosophie beruht, der: Es gibt eine Wahrheit, und sie ist 
in einem jeden von uns ein und dieselbe; sie ist uns mit 
der Vernunft gegeben. Also ist der Mensch allerdings, wie 
Protagoras lehrte, das Maß der Dinge, aber nicht der ein- 
zelne Mensch, sondern der Mensch als vernünftiges Wesen. 
In und mit der Vernunft ist uns die Wahrheit gegeben, 
zunächst unbewußt, wir müssen uns ihrer erst bewußt 
werden. Dies geschieht durch ernstes Suchen und For- 
schen, und da sie in allen Menschen gegeben ist, besonders 
durch gemeinsames Suchen und Forschen im Verein mit 
anderen. Daß die Wahrheit a priori in dem Menschen ist, 
das gilt namentlich auch von den ethischen Wahrheiten. 
Darum kann der Mensch wissen, was sittlich gut ist, und 
kann es auch wollen. So ist die Tugend „kein leerer 
Schall“ und „der Mensch ist frei geschaffen, ist frei und 
würd’ er in Ketten geboren“. Da diese Freiheit auf dem 
Apriori der ethischen Begriffe beruht, so ist sie transzen- 

Platon Laches und Euthyphron. Phil. Bibl. Bd. 178. 1 


2 Allgemeine Einleitung. 


dentaler Art. Das alles offenbart uns so recht der Dialog 
Laches, der nach alter Bezeichnung eine mäeutische 
Schrift ist. Der Euthyphron aber zeigt deutlich, dab 
ernstes Nachdenken über ethische Begriffe σὰ Gott hin- 
führt. Eine Feststellung des Begriffs der Frömmigkeit 
ist, wie uns dieser Dialog lehrt, nicht möglich ohne die 
Erkenntnis, daß das Wesen der Gottheit einheitlich und 
heilig ist, daß ein Gott ist und ein heiliger Wille let. 
So haben wir Schillers drei Worte des Glaubens auch 
bei Plato und zwar schon im Laches und Euthyphron. Zu 
diesen drei Worten kommt bei Plato noch ein viertes 
hinzu. Mit dem Glauben an die Wahrheit in uns verbindet 
sich die Gewibheit, daß Geist in uns ist, und da dieser 
nur göttlichen Ursprungs sein kann, der Glaube an seine 
Unsterblichkeit. Dieser Glaube wird weder im Laches 
noch im Euthyphron ausgesprochen, aber er folgt aus der 
beiden Dialogen zugrunde liegenden Überzeugung, dab die 
Wahrheit in uns ist, mit innerer Notwendigkeit. 

Durch eine eingehende und gewissenhafte Betrachtung 
des Inhalts unserer beiden Dialoge gewinnen wir einen 
sicheren Boden für die Widerlegung der alten und neuen 
Sophistik und bahnen wir uns den Weg zu dem Ver- 
ständnis der Platonischen Ideenlehre und damit auch zu 
dem Verständnis der christlichen Weltanschauung. Nach 
(Goethe brauchen wir, um die Bibel zu verstehen, Plato und 
Aristoteles, Aristoteles aber ist und bleibt Platos Schüler. 
Platos Weltanschauung ist Idealismus. Hat doch dieser 
seinen Namen und seinen wesentlichen Inhalt von Plato. 
Idealismus aber und Christentum stehen zu einander nicht 
im Gegensatze. 

Es ist eine weitverbreitete Meinung, Plato schwebe 
immer in höheren Sphären und bleibe der Wirklichkeit 
fern. Das ist ein großer Irrtum. Plato richtete seinen Blick 
fest auf die Wirklichkeit und hatte ein gutes Verständnis 
für sie. Das sehen wir auch hier. Im „Laches“ sind es 
zwei angesehene Feldherren, die uns sagen, was sie unter 
Tapferkeit versichen, und damit wesentlich zur Gewinnung 


Allgemeine Einleitung. 3 


des Begriffs dieser Tugend beitragen, und was sie sagen, 
das entspricht ihrem historischen Charakter. Um seine 
Auffassung von dem ‚Wesen der Frömmigkeit festzustellen, 
entwickelt Plato im ‚„Euthyphron“ ihren Begriff im Gegen- 
satze zu den Anschauungen der altgläubigen Partei in 
Athen. Vor allem aber müssen wir an Sokrates denken. 
In der Apologie hat Plato im wesentlichen ein Bild des 
historischen Sokrates geben wollen, und wir finden bei ihm 
die schönste Betätigung der Tugenden der Tapferkeit und 
der Frömmigkeit, so wie sie im Laches und im Euthyphron 
bestimmt werden, so daß die entsprechenden Abschnitte 
der Apologie unbedingt für die Erklärung dieser beiden 
Dialoge herangezogen werden müssen. Darum ist es auch 
notwendig, daß wir uns mit dem Leben und dem Wesen 
der in den Dialogen als Unterredner auftretenden Personen 
bekannt machen. Wenn Plato bei seinen ethischen Unter- 
suchungen und Forschungen sich an Leben und Wirklich- 
keit anschloß, so hat dies seinen letzten Grund darin, daß 
nach seiner Überzeugung die Wahrheit in allen Menschen 
ist, weil Geist vom Geiste Gottes in ihnen lebt. Diese un- 
erschütterliche Überzeugung aber, daß Göttliches in uns 
wohnt, ist die Grundlage aller Religion. 


1% 


Einleitung 
zum Laches. 


1. Die Überschrift des Dialoges. 


‘Wenn Plato unseren Dialog nach einem der an der 
Untersuchung Beteiligten benennen wollte, so hatte er nur 
die Wahl zwischen den beiden Feldherren Nikias und 
Laches. Obwohl von diesen Nikias als Denker der Be- 
deutendere ist und zur Lösung der gestellten Aufgabe mehr 
beiträgt als Laches, hat Plato unseren Dialog doch nicht 
„Nikias“ benannt, denn er wollte, daß seine Leser mit- 
denken und mitforschen und so zu einer selbständigen 
Überzeugung von dem vorliegenden Gegenstande kommen 
sollten. Und so wollte er ihnen auch nicht durch die Über- 
schrift des Dialogs eine Weisung geben, bei wem sie in 
erster Linie die Wahrheit zu suchen hätten, sondern er 
hob durch den Namen, den er seiner Schrift gab, gerade 
den Mann hervor, der zu Nikias’ und Sokrates’ Grundan- 
schauung vom Wesen der Tapferkeit, daß sie Erkenntnis 
und Wissen sei, im Gegensatze stand, und lenkte die Auf- 
merksamkeit des Lesers auf dessen Standpunkt hin. Gerade 
der Umstand, daß Laches’ Standpunkt der des philoso- 
phischen Laien ist, berechtigte Plato dazu, der Schrift 
seinen Namen zu geben. Laches sagt selbst (194a), er habe 
keine Ubung im Philosophieren (ἀήϑης γ᾽ εἰμὶ τῶν τοιού- 
τῶν λόγων). Sokrates aber erblickte seine Lebensaufgabe 
darin, Laien zu philosophischem Denken zu erziehen, auf 
dem unsicheren Boden ethischer Anschauungen ein festes 
Fundament zu bauen: gerade Männer ohne geschultes 
Denken, aber mit starken Lebenserfahrungen (wie L. sie 
hatte) zur Erkenntnis der ethischen Begriffe zu führen, 


Einleitung. 5 


war sein Ziel. Selbstverständlich gab auch das Wesen des 
Laches eine gewisse Berechtigung dazu, die Schrift nach 
seinem Namen zu nennen. Der Dialog handelt im wesent- 
lichen von der Tapferkeit. Dabei denken wir alle zunächst 
an kriegerische Tapferkeit, und ein Vertreter dieser Tugend 
war Laches in ganz hervorragender Weise. Er war aber 
nicht nur ein tapferer Soldat, sondern überhaupt ein Mann 
von tüchtigem Charakter, der den Mut der sittlichen Über- 
zeugung im vollsten Maße besaß und damit tapfer war im 
Sinne unseres Dialogs, wenn er auch den Begriff der 
Tapferkeit nicht definieren konnte. Dazu kommt sein fort- 
gesetztes Streben nach sittlicher Vervollkommnung. Dab 
Plato einem solchen Manne solche Anerkennung zollte, 
daß er mit seinem Namen einen Dialog benannte, beweist 
sein tiefes Verständnis für die Forderungen des Lebens. 


2. Die Echtheitsfrage. 


Das Mißverhältnis zwischen Einleitung und eigent- 
licher Abhandlung hat neben dem Mangel einer ausdrück- 
lichen Beglaubigung des Dialogs durch Aristoteles und 
der scheinbaren Ergebnislosigkeit der wissenschaftlichen 
Untersuchung dazu geführt, den Platonischen Ursprung 
der Schrift zu bestreiten. Das Haltlose der beiden letzten 
Argumente hat Bonitz mit voller Sicherheit nachgewiesen, 
dagegen läßt er „das Mißverhältnis der umfangreichen Ein- 
kleidung zu dem wissenschaftlichen Gehalte“ bestehen und 
bemüht sich darzutun, daß dies noch kein Beweis für die 
Unechtheit des Dialoges sei (Plat. Studd.? S. 226). 


3. Die Personen des Gespriches. 


Laches, aus dem Demos Αἰϊξωνή, befehligte mit Cha- 
roiades eine aus zwanzig Schiffen bestehende Expedition, 
die Athen gegen Ende des Sommers 427 unternahm, um 
den Leontinern gegen die Angriffe der Syrakusaner und 
änderer dorischer Städte auf Sizilien zu Hilfe zu kommen. 
Nach dem bald eingetretenen Tode des Charoiades führte 


6 Einleitung. 


er allein den Oberbefehl. Das der Stadt Messana (jetzt 
Messina) benachbarte Mylä zwang er nach einem ent- 
scheidenden Siege über die messenischen Hilfstruppen 
durch einen energischen Angriff zur Übergabe und zum 
Anschlusse an Athen, worauf sich auch Messana ergab und 
Geiseln stellte. Hierauf unternahm er eine Landung im 
Gebiete der Lokrer in Italien, besiegte sie und nahm ein 
befestigtes Lager oder Kastell derselben am Halex ein. 
Noch einige andere Landungen waren von gutem Erfolge 
begleitet. Im Jahre 425 wurde er abberufen. In der für 
die Athener so unglücklichen Schlacht bei Delion kämpfte 
er als Hoplit mit, nahm aber an der wilden Flucht seiner 
Landsleute nicht teil, sondern zog sich an der Seite des 
Sokrates tapfer kämpfend zurück. Im Jahre 421 gehörte 
er zu den Männern, die den sogenannten Frieden des Ni- 
klas und die darauf folgende Bundesgenossenschaft mit 
Sparta im Namen des athenischen Volkes beschworen. Im 
Jahre 418 befehligte er mit Nikostratos das von Athen den 
Argivern zu Hilfe gesandte Heer. Es kam zur Schlacht 
bei Mantinea, in der das verbündete Heer der Athener und 
Argiver eine schwere Niederlage erlitt und beide Feld- 
herren fielen. 

Nikias, der Sohn des Nikeratos, war neben Perikles 
Strateg und wurde als solcher von ihm hochgeschätzt. 
Außer militärischer Tüchtigkeit besaß er eine gute attische 
Bildung und war als ein Mann von vortrefflichem Cha- 
rakter und maßvollem Sinne bekannt. Sein Reichtum gab 
ihm die Möglichkeit, Wohltätigkeit in großem Stile zu 
üben, Widersacher durch Geschenke zu beschwichtigen 
und durch glänzende Freigebigkeit bei seinen Leistungen 
für den Staat die Gunst des Volkes zu gewinnen. Nach 
dem Tode des Perikles wurde er der Führer der gemäßigten 
Partei und war fünf Jahre nach einander Feldherr. Im 
fünften Jahre des peloponnesischen Krieges, im Jahre 427, 
eroberte er die vor dem megarischen Hafen Nisäa gele- 
gene kleine Insel Minoa. Im Jahre 426 führte er eine 
Flotte von 60 Schiffen nach Melos, um diese Insel zum 


Einleitung. 7 


Anschlusse an die attische Bundesgenossenschalt zu zwin- 
gen. Da ihm dies nicht gelang, wandte er sich rasch nach 
dem Euböischen Meere, schiffte seine zweitausend Ho- 
pliten bei Oropos aus, rückte in Böotien ein, schlug im 
Verein mit einem attischen Landheere die Tanagräer nebst 
den thebanischen Hilfsvölkern und unternahm zuletzt noch 
einen Streifzug längs der lokrischen Küste. Im Jahre 425 
zog er an der Spitze einer nicht unbedeutenden Flotte und 
Streitmacht zu Fuß und zu Roß gegen die korinthisch- 
argivische Küste und besetzte die Halbinsel Methone. Im 
Sommer des folgenden Jahres (424) besetzte er die Insel 
Kythera, plünderte unmittelbar darauf die Küstenstädte 
Lakoniens, nahm die argivische Grenzstadt Thyrea ein und 
kehrte mit reicher Beute heim. In dem darauf folgenden 
Jahre eroberte er auf der Pallenischen Halbinsel die Stadt 
Mende zurück und schloß Skione ein. 

Trotz allem Glücke, das seine Unternehmungen be- 
gleitete, sah Nikias in dem Kriege ein Unglück. Er blieb 
ein Freund des Friedens und auf seine Herstellung bedacht. 
Er galt für das Haupt der Friedenspartei in Athen. Daher 
betrachtete man auch den im Jahre 421 zwischen Athen 
und Sparta geschlossenen Frieden als sein Werk und 
nannte ihn den Frieden ces Nikias. Dieser Friede kam 
aber nie zur vollen Ausführung. Der auf seine Wahrung 
gerichteten Politik des Nikias erstand ein gefährlicher 
Gegner in dem jungen, von Ehrgeiz beherrschten Alki- 
biades. Schon im nächsten Jahre (420), setzte dieser ein 
Bündnis Athens mit Argos, Mantinea und Elis durch, das 
die Aufhebung des Friedens mit Sparta zur Folge haben 
mußte. 

Die Sizilische Expedition wurde gegen den Rat und 
Willen. des Nikias beschlossen und 'er selbst mit seinem 
Nebenbuhler Alkibiades und mit Lamachos an die Spitze 
gestellt (415). Der von Alkibiades entworfene Feldzugs- 
plan wurde angenommen, aber seine wirksame Durch- 
führung durch die bald eintretende Abberufung des Alki- 
biades gehemmt. Nikias führte den Krieg nicht in dessen 


8 Einleitung. 


kühnem Sinne, sondern mit zaudernder, nur Schritt für 
Schritt vorrückender Bedächtigkeit und ließ so dem Feinde 
Zeit, durch bessere Rüstung zu erstarken und spartanische 
Hilfe an sich zu ziehen. Doch besiegte er die Syrakusaner 
in mehreren Treffen, rückte im nächsten Jahre (414) 
wieder gegen Syrakus und machte in der Belagerung der 
Stadt wichtige Fortschritte Schon stand ihre Übergabe 
bevor, als durch die Ankunft des Spartaners Gylippos eine 
gänzliche Veränderung der Verhältnisse eintrat. Nikias 
selbst wurde von einer schmerzhaften Nierenkrankheit er- 
faßt, die ihm zeitweise die Führung des Oberbefehls un- 
möglich machte. Daher sandte er ein eigenhändiges Schrei- 
ben mit einem ausführlichen Berichte über die Lage nach 
Athen und gab der Bürgerschaft anheim, entweder Flotte 
und Heer zurückzurufen oder eine neue Macht zu senden, 
so groß wie die erste. Auf jeden Fall aber solle man ihn 
seines Feldherrnamtes entbinden. Dies taten die Athener 
nicht. Sie stellten ihm zwei Feldherren an die Seite und 
sandten unverzüglich Eurymedon mit zehn Schiffen und 
mit Truppen und Geld nach Syrakus, um das dort stehende 
Heer zu ermutigen. Im nächsten Jahre (413) erschien De- 
mosthenes mit dreiundsiebzig neuen Trieren, fünftausend 
Schwerbewaffneten und mit einer großen Anzahl leichter 
Truppen jeder Art. Trotzdem gestalteten sich die Verhält- 
nisse für die Athener immer ungünstiger, sodaß selbst ein 
so kühner und tüchtiger Feldherr wie Demosthenes drin- 
gend zum Abzuge riet. Aber Nikias widersetzte sich hart- 
näckig diesem Schritte, und als er sich schließlich von 
seiner Notwendigkeit überzeugte und die letzten Vorbe- 
reitungen dazu getroffen wurden, da trat plötzlich eine 
Mondfinsternis ein. Eine solche Naturerscheinung unter 
solchen Verhältnissen erschien ihm und dem Heere als 
ein Wahrzeichen der Götter, dessen Mißachtung ein Frevel 
wäre. Er hörte auf die Mahnung der Seher, die erklärten, 
die Abfahrt dürfe erst nach einem vollen Mondenumlaufe 
also nach siebenundzwanzig Tagen angetreten werden. 
Thukydides (VII, 50) hat ihn deshalb getadelt und Piate 


Finleitung. 9 


billigte diese Kritik. In unserem Dialoge (p. 198 of.) lißt er 
mit deutlicher Beziehung auf Nikias’ Zaghaftigkeit den So- 
krates von der Feldherrnkunst — in wahrhaft klassischer 
Weise — sagen: „sie glaubt nicht der Kunst des Wahr- 
sagers eine Magd sein zu sollen, sondern eıne Herrin, in 
dem Bewußtsein, daß sie besser Bescheid weiß um die Vor- 
kommnisse im Kriege, die gegenwärtigen sowohl als die zu- 
künftigen. Und das ist auch die gesetzliche Ordnung, dab 
nicht der Seher dem Feldherrn gebiete, sondern der Feld- 
herr dem Seher“. | 

Infolge der von Nikias verschuldeten Verzögerung 
gestalteten sich die Verhältnisse so, daß der Abzug zu 
Lande angetreten werden mußte, obwohl ein solcher fast 
aussichtslos war. Die Feldherren ordneten den Zug und 
teilten ihn in zwei Heerhaufen. Den ersten führte Nikias, 
die Nachhut Demosthenes. 

Das athenische Heer zog sich zurück, verfolgt von un- 
säglichen Widerwärtigkeiten, gepeinigt von Hunger und 
Durst. Von den Feinden umringt und ihren Geschossen 
wehrlos preisgegeben, muß sich der Heerhaufen des Demos- 
thenes, sechstausend an Zahl, dem Gylippos ergeben. Immer 
noch aufrecht, überall ordnend und mahnend, macht Ni- 
kias die größten Anstrengungen, um das nächste der pa- 
rallelen Küstentäler, das Tal des Asinaros, zu erreichen. 
Dort kommen sie in die schrecklichste Lage. Jede Ord- 
nung löst sich auf, und der Feind richtet unter den er- 
schöpften Mannschaften ein furchtbares Blutbad an. Jetzt 
mußte Nikias alle Hoffnungen aufgeben, noch einen Teil 
des Heeres zu retten. Er ergab sich Gylippos unter der 
Bedingung, daß er dem Morden Einhalt tue und das Leben 
der Übriggebliebenen schone. Mit ihm selbst möge er ver- 
fahren, wie er wolle. Die Masse der Gefangenen, etwa 
siebentausend, wurde in die Steinbrüche eingesperrt, wo sie 
zum großen Teile elend umkamen. Die beiden Feldherren 
wurden in der Volksversammlung zum Tode verurteilt, 
kamen aber ihrer Hinrichtung zuvor, indem sie selbst Hand 
an sich legten 


10 Einleitung. 


Dieses Ende des Nikias bezeichnet Thukydides (VII, 
86) im Hinblick auf die Tüchtigkeit seines Charakters, um 
dessenwillen er ihn über alle seine Zeitgenossen stellt, als 
ein im höchsten Grade unverdientes. Und auch wir be- 
klagen das Los des trefflichen Mannes, der einem von ihm 
mißbilligten Unternehmen zum Opfer fiel und einen schmäh. 
lichen Tod erlitt. 

Lysimachos war der Sohn des berühmten Aristeides 
und Melesias der Sohn des Thukydides, nicht des Ge- 
schichtschreibers, sondern jenes Thukydides, der lange Zeit 
dem Perikles als Parteiführer gegenüberstand, bis er durch 
den Ostrakismos aus Athen verbannt wurde. Außerdem 
sind bei dem Gespräche noch beider älteste Söhne gegen- 
wärtig, von denen jeder den Namen seines berühmten 
(sroßvaters trägt. 

Der Sokrates des Gesprächs erscheint gegen fünfzig 
Jahre alt, die beiden Feldherren sind nach Kap. V, 181d 
etwas älter. Noch älter sind Lysimachos und Melesias. Sie 
halten sich von der Teilnahme an den Erörterungen fern, 
und Lysimachos, der von beiden immer noch der geistig 
regere ist, begründet dies mit seiner groben Vergeblichkeit, 
die er Kap. XV, 189c für eine Folge seines Alters erklärt. 
Eine chronologische Schwierigkeit liegt darin, daß Lysi- 
machos und Melesias, des Aristides und des Thukydides 
älteste Söhne, wie ungefähre Altersgenossen eingeführt 
werden (s. Bonitz, Plat. Studd.3, S. 222 Anm.). Aber wenn 
Plato es für angemessen hielt, in diesem Punkte gegen die 
Chronologie zu verstoßen, so müssen wir dem Dichter in 
ihm diese Freiheit gestatten und können es auch, denn der 
Sache wird damit kein Schade zugefügt und die Gestaltung 
der Szenerie wird auf diese Weise einfacher und harmo- 
nischer. 


4. Die Übereinstimmung von Wissen und Wollen. 


Die uns im Laches entgegentretende Auffassung von 
dem Wesen der Tapferkeit, nach der sie Wissen ist, ruht 


Einleitung 11 


auf dem Glauben an eine Übereinstimmung zwischen 
Wissen und Wollen, zwischen Denken und Handeln. In 
uns wohnt das Verlangen nach der Erkenntnis des Wahren 
und Guten. „Alle Menschen verlangen von Natur nach 
dem Wissen“, sagt Aristoteles am Anfange seiner Meta- 
physik. In uns wohnt aber auch das Verlangen, das als 
wahr und gut Erkannte zu tun. Nach Protagoras 358 0 
liegt es offenbar nicht in der Natur des Menschen, dem 
nachzugeben, was er für böse hält, anstatt dem Guten. Wir 
denken auch an das schöne Wort des Aristoteles: „Wir 
beschäftigen uns mit Ethik nicht, um zu wissen, was 'Tu- 
gend ist, denn das brächte uns keinen großen Gewinn, son- 
dern um tugendhaft zu werden.“ Das Wissen auf seiner 
Höhe ist Weisheit. Wir nennen aber den nicht einen Wei- 
sen, der das als wahr und gut Erkannte nicht tut. Erinnern 
wir uns dabei auch des Platonischen Wortes, daß wir Rei- 
nes nur mit Reinem, also die Wahrheit nur mit reinem 
Sinne zu erfassen vermögen. „Selig sind, die reines Her- 
zens sind, denn sie werden Gott schauen.“ Ist aber die 
Reinheit des Herzens die Voraussetzung für die Erkenntnis 
der Wahrheit, so folgt ihr die Betätigung wie von selbst. 

Dieses Verhältnis zwischen Wissen und Wollen zeigt 
sich in der Tugend der Tapferkeit am kraftvollsten. Sie 
ist Wissen vom Guten und Bösen, und fordert mit aller 
Entschiedenheit den Kampf für das Gute und gegen das 
Böse, vor allem gegen alle bösen Mächte in uns, gegen die 
bösen Triebe, Lüste und Begierden, die uns, tragen wir 
nicht den Sieg über sie davon, um das Heil der Seele 
bringen. Sie gebietet uns den Kampf für unsere sittlichen 
Überzeugungen und gibt uns die Καα zu solchem Kampfe. 
So beruht die Tapferkeit durchaus auf sittlicher Grund- 
lage. Das gilt auch von der Tapferkeit, die sich im Kriege 
bewährt. Wir gedenken des in unserem Dialoge angeführ- 
ten Beispieles von einem Feldherrn, der mit seinen Leuten 
in ungünstiger Stellung einem an Zahl und militärischer 
Tüchtigkeit weit überlegenen Feinde standhält und nicht 
weicht. Das ist nicht Tapferkeit, sondern Torheit, wenn 


19 Einleitung. 


dieses Ausharren keinem höheren Zwecke dient, wird aber 
zu ruhmvoller Tapferkeit, wenn Feldherr und Soldaten der 
Überzeugung sind, daß nur durch ihr Ausharren auf dem 
gefährdeten Posten und durch ihre Aufopferung das Vater- 
land gerettet werden kann. Die Übereinstimmung von 
Wissen und ‚Wollen, auf der die Tugend der Tapferkeit be- 
ruht, spiegelt sich so recht in der Gesinnung des So- 


krates wieder. Rastlos sucht er nach der Erkenntnis der 


ethischen Wahrheiten, aber nicht blos um der Erkenntnis 
willen, sondern um sein ganzes Leben nach ihnen zu 
gestalten. In ergreifender Weise kommt diese Tapferkeit 
im XVI. Kapitel der Apologie zur Darstellung. 


>. Die Zeit der Abfassung des Laches. 


Das in unserem Dialoge vorgeführte Gespräch müssen 
wir in der Zeit gehalten denken, die zwischen der in ihm 
wiederholt erwähnten Schlacht bei Delion (425) liegt und 
der Schlacht bei Mantinea, in der Laches fiel (418). Was 
nun die Zeit der Abfassung betrifft, so erscheint es als ge- 
wiß, daß der Laches bald nach dem Protagoras entstanden 
ist. Aber wann ist nun dieser geschrieben? Die Beant- 
wortung dieser Frage hängt mit der Beantwortung der 
Frage nach dem Ziele zusammen, das Plato mit der Ab- 
fassung dieses Dialogs verfolgte. Nach meiner Überzeu- 
gung kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Plato mit 
diesem Dialoge seine Stellung den Sophisten, namentlich 
ihrem glänzendsten Vertreter Protagoras gegenüber kenn- 
zeichnen und so seinem eigenen Wirken den Weg bereiten 
wollte. Er hat dies getan, ohne ungerecht zu werlen. Der 
Charakter des Dialogs Protagoras ist keineswegs durch- 
gehends polemisch; er durfte und konnte es auch nicht 
sein. Der ganz ungemeine Beifall, den die Sophisten, vor 
allen Protagoras in weiten Kreisen des Volkes fanden, war 
ja gar nicht zu begreifen, wenn an ihnen alles falsch und 
verkehrt war. Wenn Protagoras den ethischen Charakter 
der Erziehung und des Unterrichtes hervorhebt, wenn er 


Kinleitung. | 13 


die Bedeutung der Harmonie für die Gestaltung des ganzen 
Lebens stark betont, so waren das Anschauungen, die von 
den Pythagoreern stammten und denen Plato selbst, wie 
auch der Dialog Laches zeigt, vollkommen zustimmte. Es 
waren dies der Seele des griechischen Volkes gemäße An- 
schauungen. So hat Plato das an der Lehre des Protagoras 
Richtige klar herausgestellt, er wollte aber auch gegenüber 
der Begeisterung weiter Kreise für diese moderne Weisheit 
seine Mitbürger zu einer besonnenen Prüfung dieser ihm 
doch recht gefährlich scheinenden Richtung hinführen und 
wollte dartun, daß die Wahrheit in ihrem Grunde nicht 
bei Protagoras, sondern bei Sokrates zu suchen ist. An 
diesen schließt sich auch der lehrhafte Inhalt des Dialogs 
eng an. Alle Bildung beruht auf ethischer Grundlage. Da- 
her kommt es vor allem darauf an, daß das Wesen der 
Tugend erkannt und diese Erkenntnis zur Tat wird. Alle 
Tugend, auch die Tapferkeit, ist Wissen des Guten und 
Betätigung dieses Wissens. Und auch die Sokratische 
Methode der Belehrung ist die richtige. Ich glaube, dab 
durch diese Auffassung von der Aufgabe des Dialogs, den 
H. v. Arnim (Platos Jugenddialoge 1914, S. 1—37) ein 
äußerst kompliziertes Gebilde nennt, auch die Frage der 
Abfassungszeit ihre Erklärung findet. Zu dieser Auf- 
fassung stimmt es auch vollkommen, wenn derselbe Ge- 
lehrte a Dialoge einen „programmatischen Charakter“ 
beilegt und ihm der Zeit der Abfassung nach von allen 
platonischen Schriften nur die Apologie vorausgehen läßt. 
Hiermit gehört auch der Laches in die erste Zeit der 
schriftstellerischen Tätigkeit Platos. 


Platons Laches. 


Personen des Gespräches: Lysimachos, Melesias, Nikias, 
Laches, die Söhne des Lysimachos und Melesias, Sokrates. 


Erstes Kapitel. 


Lysimachos. Ihr habt den Mann in schwerer 
Rüstung!) kämpfen sehen, Nikias und Laches. Weshalb 
wir aber, ich und Melesias hier, euch aufgefordert 
haben, mit uns diesem Schauspiele beizuwohnen, das 
haben wir nicht gleich damals gesagt, wollen es euch 
aber jetzt sagen. Denn euch gegenüber halten wir eine 
ofiene Aussprache für geboten. Es gibt ja Menschen, die 
sich über solche?) lustig machen, und die, um ihre Meinung 


gefragt, nicht sagen mögen, was sie denken, sondern um 


den, der sie um Rat fragt, auszuhorchen, anders reden, 
gegen ihre Überzeugung. Von euch aber haben wir die 
Ansicht gewonnen, daß ihr imstande seid, das Richtige 
zu finden, und habt ihr es gefunden, unumwunden eure 
Meinung sagen werdet, und so haben wir euch zu einer 
Beratung zugezogen über Dinge, über die wir uns mit 
euch aussprechen wollen. 

Der Gegenstand nun, dem ich eine so lange Einleitung 
vorausschicke, ist folgender. Das hier sind unsere Söhne. 
Der da ist der Sohn dieses Mannes und heißt nach seinem 
Großvater?) Thukydides, und der da ist meiner. Auch 
er trägt den Namen seines Großvaters, meines Vaters; 
wir nennen ihn nämlich Aristeides. Es ist nun unser 
fester Entschluß, für sie soviel als nur möglich zu sorgen, 
und es nicht zu machen, wie die Mehrzahl der Väter, die 
Söhne, nachdem sie zu Jünglingen herangewachsen sind, 
sich selbst zu überlassen, daß sie tun, was ihnen gefällt, 


178 St. 


173 St. 


Laches. | 15 


sondern wir wollen jetzt erst recht anfangen, für sie zu 
sorgen, soweit wir nur irgend können. Da wir nun wissen, 
daß ihr auch Söhne habt, haben wir euch zu einer Be- 
sprechung eingeladen. Denn wenn überhaupt jemand, so 
habt ganz gewiß ihr darüber nachgedacht, durch welche 
Erziehung sie recht tüchtige Männer werden können, 
Wenn ihr aber etwa eure Aufmerksamkeit doch nicht 
hierauf gelenkt haben solltet, so wollten wir euch darauf 
hinweisen, daß man so etwas nicht außer acht lassen darf, 
und euch auffordern, gemeinsam mit uns für die Söhne 
in der rechten Weise zu sorgen. 


Zweites Kapitel. 


Wie wir nun zu diesem Entschlusse gekommen sind, 
lieber Nikias und Laches, das sollt ihr vernehmen, muß 
ich auch dabei etwas weiter ausholen. Ihr wißt ja, ich 
und Melesias hier nehmen die Hauptmahlzeit zusammen 
ein*) und unsere Jungen essen bei uns mit. Wie ich nun 
gleich zu Anfang meiner Rede sagte, werden wir uns 
ganz offen gegen euch aussprechen. Jeder von uns beiden 
kann den jungen Leuten von seinem Vater viele rühm- 
liche Taten erzählen, was die alles im Kriege vollbracht 
haben und was alles im Frieden bei der Verwaltung der 
Bundesangelegenheiten?) und unseres städtischen Gemein- 
wesens, von eigenen Taten aber weiß keiner von uns zu 
berichten. Deshalb schämen wir uns einigermaßen vor 
diesen und klagen unsere Väter an, daß sie uns in den 
Tag hineinleben ließen, sobald wir zu Jünglingen heran- 
gewachsen waren, während sie für andere sich abmühten, 
und den jungen Leuten da führen wir ebendas zu Gemüte 
und sagen ihnen, wenn sie sich gehen ließen und nicht 
auf uns hörten, so würden sie keinen Ruhm ernten, hielten 
sie aber auf sich, so würden sie sich wohl der Namen 
würdig machen, die sie tragen. Sie erklären nun, sie 
wollten es so machen, und also denken wir darüber nach, 
durch welche Unterrichtsgegenstände oder Beschäftigungen 


16 Platons Dialoge. 


sie recht tüchtige Männer werden können. Es hat uns 
nun einer auch auf diese Kunst hingewiesen, mit dem Be- 
merken, es wäre eine schöne Sache für einen Jüngling, 
das Fechten in voller Rüstung zu erlernen. Und er rühmte 
diesen Mann, dessen Schaustellung ihr eben mit angesehen 
habt, und dann forderte er uns auf, einer solchen einmal 
beizuwohnen. Es erschien uns nun nötig, selbst hinzu- 
gehen, um den Mann zu sehen, und auch euch mitzunehmen 
als gemeinsame Zuschauer und zugleich als Ratgeber und 
Helfer bei der Fürsorge für die Söhne, wenn euch das so 
recht ist. 

Das ist es, was wir mit euch besprechen wollten. Es 
liegt nunmehr an euch, uns Rat zu erteilen sowohl hin- 
sichtlich dieser Kunst, ob man sie nach eurer Ansicht 
erlernen muß oder nicht, als auch hinsichtlich anderer 
Unterrichtsgegenstände, im Falle ihr in der Lage seid, 
einem Jünglinge irgend einen Unterrichtsgegenstand oder 
eine Beschäftigung zu empfehlen. Und auch über die 
gemeinsame Fürsorge teilt uns eure Ansicht mit, wie ihr 
es damit halten wollt. 


Drittes Kapitel. 


Nikias. Lysimachos und Melesias, ich lobe eure 
Absicht und bin bereit mitzuhelfen; dasselbe nehme ich 
auch von Laches an. 

Laches. Ganz recht, mein Nikias. Denn was 
Lysimachos soeben von seinem und des Melesias Vater 
sagte, das trifft meines Erachtens wie bei jenem so auch 
bei uns zu und bei allen, die ihre Tätigkeit dem Staate 
widmen. Im ganzen ergeht es ihnen so, wie unser 
Nikias sagt, sowohl hinsichtlich ihrer Söhne als alles 
anderen, was sie persönlich angeht: das wird gering ge- 
schätzt und vernachlässigt. Damit also hast du voll- 
kommen recht, mein Lysimachos. Daß du aber für die 
Erziehung der jungen Leute uns zu Rate ziehst, Sokrates 
dagegen, der doch hier ist, nicht, das nimmt mich wunder. 


180 St 


Laaches. 17 


Denn erstens ist er dein Gaugenosse®), sodann weilt er 


immer da, wo etwas von dem zu finden ist, was du für 


1 St. 


die jungen Leute suchst, ein Unterrichtsgegenstand oder 
eine löbliche Beschäftigung‘). 

Lysimachos. Wie sagst du, mein Laches?’ Hat 
sich denn der Sokrates hier je um so etwas gekümmert? 

Laches. Ganz gewiß, mein Lysimachos. 

Nikias. Das könnte ich dir ebenso gut sagen wie 
Laches. Hat er mir doch selbst erst neulich für meinen 
Sohn als Lehrer in der Musik Agathokles’®) Schüler 
Damon”) empfohlen, einen ganz vortrefflichen Mann, der 
es wert ist, nicht nur auf dem Gebiete der Musik Lehrer 
solcher jungen Leute zu sein, sondern auch auf allen 
anderen Gebieten, wo du es nur wünschest. 


Viertes Kapitel. 


Lysimachos. Sokrates, Nikias und Laches, ihr 
könnt es mir schon glauben, wer so alt ist wie ich, der 
kennt die jüngeren Leute gar nicht mehr; infolge unserer 
Jahre verbringen wir ja die meiste Zeit daheim. Doch 
solltest auch du, Sohn des Sophroniskos, imstande sein, 
mir, deinem Gaugenossen, einen guten Rat zu geben, so 
mußt du es tun. Das ist nur recht und billig, denn 
schon vom Vater her bist du uns befreundet. Ich und 
dein Vater waren ja immer gute Freunde, und bis zur 
letzten Stunde seines Lebens ist zwischen uns auch nicht 
die leiseste Verstimmung eingetreten. Doch da fällt mir 
soeben bei der Rede dieser Männer etwas ein. Die 
Knaben hier gedenken in ihren Gesprächen daheim häufig 
eines Sokrates und rühmen ihn sehr, doch habe ich sie 
noch nie danach gefragt, ob sie damit den Sohn des 
Sophroniskos meinten. — Hört mal, ihr Jungen, sagt 
mir: Ist das da der Sokrates, den ihr jedesmal dabei im 
Sinne hattet? 

Die Söhne. Ganz gewiß, lieber Vater, der ist es. 

Lysimachos. Brav, mein Sokrates, bei der Hera, 

Platon Laches und Euthyphron. Phil. Bibl. Bd. 178. 2 


18 Platons Dialoge. 


daß du deinen Vater, den trefflichsten Mann von der 
Welt, in Ehren hältst, ganz besonders auch dadurch, daß 
du mit allem, was du bist und hast, uns zugehören willst, 
gleich wie wir, mit allem, was wir sind und haben, dir 
zugehören werden °P). 

Laches. .Ja, ja, mein Lysimachos, laß nicht von 
dem Manne! Habe ich ihn doch auch sonst gesehen, wie 
er nicht nur seinem Vater Ehre machte, sondern auch 
seinem Vaterlande. Bei dem fluchtartigen Rückzuge von 
Delion ging er mit mir zurück, und ich kann dir sagen, 
hätten auch die anderen sich so wacker zeigen wollen, so 
stünde unsere Stadt groß da und hätte nicht damals eine 
solche Niederlage erlitten. !)) 

Lysimachos. Mein Sokrates, das ist fürwahr ein 
schönes Lob, das dir von Männern gespendet wird, denen 
man vertrauen kann, und zwar gerade auf dem Gebiete, 
auf dem sich ihr Lob bewegt. Wisse nun wohl, ich höre 
es gern, daß du in hohem Ansehen stehst; sei aber auch 
du überzeugt, daß ich zu deinen besten Freunden gehöre. 
Allerdings hättest du schon früher unaufgefordert bei 
uns aus- und eingehen und uns als deine guten Freunde 
betrachten sollen, sowie das recht ist; nun aber, von dem 
heutigen Tage an, nachdem wir miteinander persönlich 
bekannt geworden sind, unterlaß das ja nicht, sondern 
halte dich zu uns und pflege die Bekanntschaft mit uns 
und diesen jungen Leuten, damit auch ihr!?) unsere 
Freundschaft!?) aufrecht haltet. Gewiß wirst du das 
tun, und wir werden dich immer wieder daran gemahnen. 
\Was meint ihr!*) aber über den Gegenstand, von dem 
wir ausgingen? Wie denkt ihr darüber? Ist die Erlernung 
der Kunst, in schwerer Rüstung zu kämpfen, für Jüng- 
linge erfordert oder nicht? 


Fünftes Kapitel. 


Sokrates. Nun, mein Lysimachos, ich werde es 
versuchen, sowohl hierüber einen Rat zu geben, wenn ich 


2 St. 


Lacher, 19 


irgend wie kann, als auch sonst alles zu tun, wozu du 
mich aufforderst. Als das Richtigste jedoch erscheint es 
mir, daß ich, als der Jüngere und Unerfahrenere, zu- 
nächst höre, was diese Männer sagen, und von ihnen 
lerne, wenn ich aber etwas anderes zu sagen habe, als 
sie sagen, erst dann dich und sie zu belehren und zu 
überzeugen suche Doch, mein Nikias, warum redet 
denn nicht einer von euch beiden? 

Nikias. Daran hindert uns nichts, mein Sokrates. 
Nach meiner Ansicht ist es allerdings für die jungen 
Leute in mehr als einer Hinsicht von Vorteil, diese Kunst 
zu verstehen. Schon das ist gut, daß sie die Zeit nicht 
mit anderen Dingen hinbringen, mit denen die jungen 
Leute sich bekanntlich gern die Zeit vertreiben, wenn 
sie nichts zu tun haben, sondern mit etwas, wodurch sie 
auch eine bessere Lieeibesbeschaffenheit gewinnen müssen; 
denn diese Leibesübung steht hinter keiner anderen zu- 
rück und ist auch nicht mit geringerer Anstrengung ver- 
bunden, und zugleich ziemt sie neben der Übung im 
Reiten einem freien Manne ganz besonders. Denn für 
den Kampf, in welchem wir die rechten Kämpfer sind, 
und für die Art des Kampfes, die uns zur Aufgabe ge- 
stellt ist!®), üben allein die sich in der rechten Weise, 
die sich in diesen Kriegswerkzeugen!®) üben. Sodann 
wird diese Kunst auch in der Schlacht selbst manchen. 
Vorteil bringen, wenn es gilt in Reih und Glied zu 
kämpfen zusammen mit vielen anderen. Den größten 
Vorteil jedoch bietet sie, wenn sich die Reihen lösen, 
und es nun nötig ist, im Kampfe von Mann gegen Mann 
entweder verfolgend einen anzugreifen, der sich verteidigt, 
oder auch fliehend sich gegen den Angriff eines anderen 
zu wehren. Wer diese Kunst versteht, der erleidet durch 
einen einzelnen ganz gewiß keinen Schaden, vielleicht 
auch nicht durch eine Mehrzahl, sondern ist durch sie 
unter allen Umständen im Vorteile. Außerdem weckt 
auch ein solcher Besitz das Verlangen nach einer anderen 
schönen Kunst; denn in einem jeden,.der gelernt hat in 


20 Platons Dialoge. 


schwerer Rüstung zu kämpfen, regt sich wohl auch das 
Verlangen nach der sich hieran anschließenden Wissen- 
schaft der Taktik, und wenn er diese erfaßt und eifrig 
sich mit ihr beschäftigt hat, dann richtet sich wohl sein 
Streben auf das gesamte Gebiet der Kriegskunst. Und 
so ist es nunmehr offenbar, daß die hiermit zusammen- 
hängenden Wissenschaften und Tätigkeiten, zu denen 


diese Kunst hinführt, insgesamt schön sind und ihre 


Erlernung und Ausübung für einen Mann hohen Wert 
hat. Wir müssen aber noch einen nicht unwesentlichen 
Zusatz machen, daß nämlich diese Fertigkeit jeden Mann 
im Kampfe bedeutend mutiger und tapferer macht, als 
er es sonst wäre. Wir wollen es aber auch der Er- 
wähnung nicht für unwert erachten, wenn es auch in den 
Augen mancher etwas recht Geringfügiges ist, daß diese 
Kunst ihm auch eine schönere Haltung gibt, da, wo es 
gut ist, daß der Mann eine schönere Haltung zeigt, näm- 
lich da, wo eine solche zugleich geeignet ist, ihn den 
Feinden furchtbarer erscheinen zu lassen. 

Mein Lysimachos, ich bin wie gesagt, tatsächlich 
der Überzeugung, daß man die jungen Leute in dieser 
Kunst unterrichten muß, und meine Gründe dafür habe 
ich dargelegt. Wenn aber Laches etwas dagegen zu sagen 
hat, so werde ich ihn meinerseits gern anhören. 


Sechstes Kapitel. 


Laches. Es ist gewiß mißlich, mein Nikias, von 
irgend welcher Kunst zu sagen, man brauche sie nicht 
zu lernen; denn es erscheint als ein Vorzug, sie alle zu 
verstehen. Und so muß man denn auch diese Führung 
schwerer Waffen erlernen, wenn sie wirklich eine Kunst 
ist, wofür sie ihre Lehrer ausgeben, und als welche sie 
Nikias darstellt. Wenn sie aber keine Kunst ist, sondern 
diejenigen, die sich für ihre Lehrer ausgeben, uns etwas 
vormachen, oder wenn sie zwar eine Kunst ist, jedoch 
nicht eine von besonderer Wichtigkeit, wozu braucht man 


88 St. 


Laches,. 9] 


sie dann zu erlernen? Ich rede aber so von ihr, indem 
ich dabei folgendes im Auge habe. Wenn an der Sache 
etwas wäre, so wäre sie meines Erachtens den Lakedämo- 
niern nicht unbekannt geblieben, deren ganzes Dichten und 
Trachten im Leben darauf gerichtet ist, das zu erforschen 
und zu betätigen, durch dessen Kenntnis und Betätigung 
sie allen anderen im Kriege überlegen werden. Wäre 
nun an dieser Kunst etwas und wären die Spartaner 
trotzdem nicht auf sie aufmerksam geworden, so kann 
doch diesen ihren Lehrern nicht eben diese Tatsache un- 
bekannt sein, daß jene unter allen Hellenen am meisten 
Fleiß auf derartige Dinge verwenden, und daß wer bei 
ihnen auf diesem (febiete Ansehen gewonnen hat, auch 
bei anderen das meiste Geld einheimsen wird, gerade so 
wie ein Tragödiendichter, der bei uns Ruhm geerntet 
hat. Daher geht einer, der ein guter Dichter zu sein 
vermeint, nicht draußen im Bogen um Attika herum, um 
seine Kunst in anderen Städten vorzuführen, sondern eilt 
spornstreichs hierher und zeigt sie den Leuten hier. 
Ganz natürlich. Diesen Hoplomachen aber ist, wie ich 
sehe, Lakedämon ein unnahbares Heiligtum, in das sie 
auch nicht die Spitze des Fußes setzen, sondern sie um- 
gehen diese Stadt und führen ihre Kunst lieber allen 
möglichen anderen vor und am liebsten solchen, denen 
nach ihrem eigenen Zugeständnisse auf dem (zebiete des 
Krieges viele überlegen sind. 


Siebentes Kapitel. 


Sodann war ich, mein Lysimachos, bei gar nicht 
wenigen von ihnen im Ernstfalle zugegen, und ich sehe 
immer wieder, was das für Leute sind. Wir brauchen 
dabei gar nicht weit zu gehen. Denn gerade als hätten 
sie es darauf abgesehen, hat von allen, die das Fechten 
in schwerer Rüstung geübt haben, niemals auch nur ein 
einziger im Kriege sich ausgezeichnet. Und doch gehen 
auf allen anderen Gebieten die Berühmten aus denen 


29 Platons Dialoge. 


hervor, die sich auf dem entsprechenden Gebiete geübt 
haben. Diese aber sind, wie es scheint, im Gegensatz 
zu allen anderen mit ihrer Kunst vollständig verunglückt. 
So habe ich denn auch von Stesileos, dem ihr soeben 
mit mir zuschautet, wie er vor einer so großen Menge 
seine Künste zeigte und so viel Rühmens von sich machte, 
bei anderer Gelegenheit eine richtigere Anschauung ge- 


wonnen, als er in Wirklichkeit eine wirkliche Probe 


seiner Geschicklichkeit ablegte, allerdings gegen seinen 
Willen. Als nämlich das Schifi, auf dem er als Seesoldat 
diente, mit einem Lastschiff zusammenstieß, kämpfte er 
mit einer Sichellanze, selbstverständlich einer ganz be- 
sonderen Waffe, wie er ja auch selbst etwas ganz Be- 
sonderes war. Anderes nun von dem Manne zu erzählen, 
lohnt nicht, wohl aber, was bei dem feinen Gedanken 
mit der Sichel an der Lanze herauskam. Während er 
kämpfte, blieb sie irgendwo in dem Takelwerke des Last- 
schiffes hängen und verfing sich. Stesileos nun zerrte, 
um sie los zu bringen und vermochte es nicht. Es glitt 
aber das eine Schiff an dem. anderen hin. Eine Weile 
nun lief er auf seinem Schiffe neben her und hielt die 
Lanze fest. Als aber das eine Schiff über das andere 
hinaus kam und ihn mit fortzog, während er die Lanze 
festhielt, ließ er die Lanze durch die Hand gleiten, bis 
er nur noch das äußerste Ende des Schaftes in der Hand 
hatte. Es erhob sich aber wegen seiner Stellung Ge- 
lächter und Händeklatschen von den Leuten auf dem 
Lastschiffe, und als einer einen Stein auf das Deck ihm 
vor die Füße warf und er infolgedessen die Lanze los- 
ließ, da nun konnte auch die Mannschaft auf dem Kriegs- 
schiffe sich des Lachens nicht mehr enthalten, als sie 
sahen, wie seine Sichellanze an dem Lastschiff in den 
Wanten in der Luft schwebte. 

Es mag jawohl etwas an der Sache sein, wie Nikias 
meint; was ich aber mit angesehen habe, damit steht es 
ganz RB: im wesentlichen so. 


184 St. 


Laaches. 3 


Achtes Kapitel. 


Wie ich nun gleich von vornherein sagte, mag diese 
Übung eine Kunst sein, die aber nur so geringe Vorteile 
bietet, oder mag sie keine Kunst sein, und die Menschen 
sagen nur so und geben sie für eine Kunst aus, in beiden 
Fällen lohnt der Versuch, sie zu erlernen, nicht. Denn 
es ist in der Tat meine Ansicht: meint ein Feiger, er 
verstehe sie, so wird er, dadurch dreister geworden, nur 
noch mehr seine wahre Natur offenbaren; ist es aber ein 
Tapferer, so passen die Menschen auf ihn auf, und er 
wird sich auch durch einen kleinen Mißgriff schlimmen 
Tadel zuziehen; denn der Anspruch auf den Besitz einer 
solchen Kunst erregt Neid. Wenn er daher durch seine 
Geschicklichkeit nicht wunder wie hoch über allen anderen 
steht, so kann er unmöglich dem Fluche der Lächerlich- 
keit entgehen, wenn er behauptet im Besitze dieser Kunst 
zu sein. So ungefähr, mein Lysimachos, steht es nach 
meiner Ansicht mit dem Eifer für diese Kunst. Wir 
dürfen aber, wie ich dir gleich anfangs sagte, auch 
unseren Sokrates nicht bei Seite lassen, sondern müssen 
ihn bitten, er wolle uns mit seinem Rate beistehen und 
uns sagen, wie er über den vorliegenden Gegenstand denkt. 

Lysimachos. Nun, ich bitte dich darum, mein 
Sokrates. Es sieht mir ja auch so aus, als ob unsere 
Beratung eines Schiedsrichters bedürfe. Denn stimmten 
diese beiden Männer überein, so würden wir einen 
solchen nicht so nötig haben. Nun hat aber, wie du 
siehst, Laches seine Stimme gegen Nikias abgegeben. Es 
ist also gut, auch von dir zu hören, welchem von den 
beiden du zustimmst. ν 


Neuntes Kapitel. 


Sokrates. Wie, mein Lysimachos? Was die Mehr- 
zahl von uns gut heißt, an das willst du dich halten? 

Lysimachos. Was soll man denn sonst auch tun, 
mein Sokrates? 


24 Platons Dialoge. 


Sokrates. Wirst du es auch so machen, mein 
Melesias? Wenn du dich wegen der Leibesübungen 
deines Sohnes zu beraten hättest, worin er sich üben soll, 
würdest du da auch auf die Mehrzahl von uns hören oder 
auf den, der unter einem guten Turnlehrer ausgebildet 
worden ist und geübt hat? 


krates. 

Sokrates. Ihm wirst du also lieber folgen als uns 
vieren? 

Melesias. Doch wohl. 

Sokrates. Was richtig entschieden werden soll, 
das muß ja, denk ich, auf Grund von Sachkenntnis ent- 
schieden werden und nicht durch Stimmenmehrheit. 

Melesias. Ganz gewiß. 

Sokrates. Also müssen wir auch jetzt zunächst 
eben dies ins Auge fassen, ob von dem Gegenstande 
unserer Beratung einer von uns ein fachmännisches Ver- 
ständnis besitzt, oder nicht; und wenn es einen solchen 
unter uns gibt, so müssen wir auf diesen hören und alle 
anderen beiseite lassen; wenn nicht, so müssen wir nach 
einem anderen suchen. Oder meint ihr, du und Lysi- 
machos, daß für euch jetzt etwas Geringes auf dem 
Spiele steht und nicht vielmehr ein Besitztum, das unter 
allen euern Besitztümern das höchste ist? Denn je nach- 
dem, mein’ ich, die Söhne tüchtig werden oder das Ge- 
genteil davon, wird es auch mit dem ganzen Hause des 
Vaters bestellt sein, je nachdem die Söhne geraten. 

Melesias. Sehr richtig. 

Sokrates. Also müssen wir mit großer Umsicht 
dabei zu Werke gehen. 

Melesias. Ganz gewiß. 

Sokrates. In welcher Weise würden wir in Hin- 
sicht auf das, wovon ich eben sprach, die Erwägung an- 
stellen, wenn wir ausfindig machen wollten, wer unter 
uns auf dem Gebiete der Leibesübungen die beste fach- 


gemäße Ausbildung besitzt? Ist es nicht einer, der sie 


Melesias. Selbstverständlich auf diesen, mein So- 


185 St. 


Laches, 25 


erlernt und geübt hat und auch gute Lehrer eben darin 
hatte? 

Melesias. Mir scheint das richtig. 

Sokrates. Würden wir nicht vorher noch ins Auge 
fassen, was denn das ist, wofür wir die Lehrer suchen? 

Melesias. Wie meinst du das? 


Zehntes Kapitel. 


Sokrates. Vielleicht wird dies auf-folgende Weise 
deutlicher. Meines Erachtens haben wir uns noch gar 
nicht darüber verständigt, was denn der eigentliche Ge- 
genstand unserer Beratung ist, und fragen schon, wer 
von uns darin Fachmann ist und um dieses Gegenstandes 
willen Lehrer gewonnen hat, und wer nicht. 

Nikias. Erwogen wir denn nicht, ob unsere jungen 
Leute den Kampf in schwerer Rüstung erlernen sollen 
oder nicht? 

Sokrates. Ganz gewiß, mein Nikiass. Doch wenn 
einer darüber nachdenkt, ob er eine Augensalbe ein- 
streichen soll oder nicht, was meinst du, hat da seine 
Erwägung die Salbe zum Gegenstande oder die Augen? 

Nikıias. Die Augen. 

Sokrates. Und auch wenn jemand darüber nach- 
denkt, ob er einem Rosse einen Zügel anlegen soll oder 
nicht, und wann er ihn anlegen soll, dann bildet doch 
wohl das Roß den Gegenstand seiner Überlegung und 
nicht der Zügel ? 

Nikias. Richtig. 

Sokrates. Mit einem Worte also, wenn jemand 
etwas um einer Sache willen in Erwägung zieht, so bildet 
den Gegenstand der Überlegung das, um des willen er 
die Betrachtung anstellte, und nicht das, was er um einer 
anderen Sache willen untersuchte. 

Nikias. Unbedingt. 

Sokrates. Er muß nun auch in Erwägung ziehen, 
ob sein Berater die rechte Ausbildung hat hinsichtlich 


296 Platons Dialoge, 


der Behandlung des Gegenstandes, um des willen wir die 
Erwägung anstellen, die wir anstellen. 

Nikias. Gewiß. 

Sokrates. Sagen wir nun nicht, daß wir jetzt über 
einen Unterrichtsgegenstand nachdenken um der Seele der 
jungen Leute willen? 

Nikias. Jawohl. 


Sokrates. Also müssen wir erwägen, ob einer von 


uns die rechte Ausbildung hat hinsichtlich der Behandlung 
der Seele und imstande ist, sie richtig zu behandeln, und 
wer darin gute Lehrer gehabt hat. 

Laches. Wie, mein Sokrates? Hast du noch nicht 
erlebt, daß Leute ohne Lehrer in manchen Dingen eine 
bessere Ausbildung erlangt haben als andere mit Lehrern? 

Sokrates. Gewiß, mein Laches.. Du würdest aber 
nicht geneigt sein, ihrer Versicherung, sie seien gute 
Werkmeister, Glauben zu schenken, wenn sie nicht in der 
Lage wären, dir ein wohlgelungenes Werk aufzuweisen, 
eines oder mehrere. | 

Laches. Hiermit allerdings hast du recht. 


Elftes Kapitel. 


Sokrates. Lieber Laches und Nikias! Erfüllt ven 
dem Wunsche, die Seelen ihrer Söhne möchten so gut 
als möglich werden, haben Lysimachos und Melesias uns 
zur Beratung zugezogen. Im Falle wir also hierzu in der 
Lage zu sein glauben, müssen wir ihnen auch nachweisen, 
wer unsere Lehrer gewesen sind, die zunächst selbst 
gute Männer waren und die Seelen vieler jungen Leute 
herangebildet haben, sodann aber auch uns wirklich unter- 
richtet haben. Sagt aber einer von uns, er habe keinen 
Lehrer gehabt, so muß er auf jeden Fall in der Lage 
sein, sich auf eigene Leistungen zu berufen und nach- 
zuweisen, welche Athener oder Fremde, Sklaven'”) oder 
Freie durch ihn nach übereinstimmendem Urteile gut ge- 
worden sind. Steht uns aber von alledem nichts zu Ge- 


186 St, 


Laches,. | 27 


bote, so müssen wir euch ersuchen, euch nach anderen 
umzusehen, und dürfen da, wo es sich um die Söhne 
befreundeter Männer handelt, uns nicht in die Gefahr 
begeben, sie zu verderben, und damit uns dem schlimmsten 
Vorwurfe von seiten ihrer nächsten Angehörigen aussetzen. 
Was nun meine Person betrifft, Lysimachos und Melesias, 
so erkläre ich zunächst, daß ich hierin keinen Lehrer ge- 
habt habe. Und doch liegt mir die Sache von Jugend 
auf sehr am Herzen. Aber ich bin nicht in der Lage, 
den Sophisten Honorar zu bezahlen, die doch die einzigen 
waren, die öffentlich sich für fähig erklärten, mich zu einem 
edlen und guten Menschen zu machen; aus eigener Kraft aber 
diese Kunst aufzufinden, bin ich jetzt noch außerstande'°). 
Wenn aber Nikias oder Laches sie selbst gefunden oder 
von anderen erlernt hat, so soll mich das nicht wundern; 
denn sie sind vermögender als ich, so daß sie bei anderen 
Unterricht darin nehmen konnten, und zugleich älter und 
konnten sie daher bereits selbständig auffinden. Sie er- 
scheinen mir also fähig, einen Menschen zu erziehen. Sie 
würden sich ja auch niemals mit solcher Sicherheit darüber 
aussprechen, welche Beschäftigungen für einen jungen 
Menschen nützlich, welche schädlich sind, wenn sie sich 
hierüber nicht ein ausreichendes Wissen zutrauten. 

In allem anderen habe ich volles Vertrauen zu 
diesen Männern; daß sie aber in ihren Ansichten aus- 
einandergehen, darüber muß ich mich wundern. Ich 
richte also meinerseits die folgende Bitte an dich, mein 
Lysimachos: Gleichwie soeben Laches dich aufforderte, 
mich nicht loszulassen, sondern zu fragen, so mahne auch 
ich jetzt dich, Laches und Nikias nicht loszulassen, sondern 
sie zu fragen, indem du also sprichst: Sokrates erklärt, 
er verstehe sich nicht auf die Sache und sei auch nicht 
imstande zu entscheiden, wer von euch beiden recht hat: 
denn in solchen Dingen sei er weder selbständiger Forscher 
noch Schüler irgend eines gewesen. Ihr aber, mein 
Laches und Nikias, ein jeder von euch beiden sage uns, 
wer der größte Meister hinsichtlich der Jugenderziehung 


98 Platons Dialoge, 


ist, zu dem ihr in Beziehung gekommen seid, und ob 
ihr euer Wissen von einem anderen erlernt oder durch 
eigenes Nachdenken gefunden habt, und wenn ihr es er- 
lernt habt, wen jeder von euch zum Lehrer gehabt hat, 
und wer ihre Berufsgenossen sind, auf daß wir, im Falle 
ihr durch eure Tätigkeit für den Staat!?) ganz in Anspruch 
genommen seid, zu ihnen gehen und sie durch Geschenke 


137 St. 


oder freundliche Worte oder durch beides bewegen, für 


unsere und für eure Söhne zu sorgen, daß sie nicht mißb- 
raten und ihren Vorfahren Schande machen. Wenn ihr 
aber durch eigenes Nachdenken zu solcher Kenntnis gelangt 
seid, so nennt uns Beispiele von jungen Leuten, die ihr 
schon in eure Obhut genommen und aus unnützen zu 
edlen und guten Menschen gemacht habt. Denn wenn 
ihr jetzt euern ersten Anfang mit der Erziehung machen 
wollt, so bedenkt ja: nicht an einem Karier”®) macht 
ihr euern ersten Versuch, sondern an euern Söhnen und 
den Söhnen eurer Freunde, und seht zu, daß es euch 
nicht so ergeht, wie es im Sprichwort heißt, daß ihr 
die Töpferei mit der Tonne?!) beginnt. NSagt also, was 
ihr hiervon zu besitzen und beanspruchen zu können ver- 
meint, was nicht. Hiernach, mein Lysimachos, frage sie 
und laß die Männer nicht los. 


Zwölftes Kapitel. 


Lysimachos. Trefflich, ihr Männer, scheint mir 
Sokrates zu reden. Ob ihr aber willens seid, euch hier- 
über fragen zu lassen und Rede zu stehen, das müßt ihr 
natürlich selbst entscheiden, Nikias und Laches. Mir und 
Melesias würde es selbstverständlich eine Freude sein, 
wenn ihr alle Fragen des Sokrates eingehend erörtern 
wolltet. Habe ich doch auch gleich von vornherein meine 
Rede mit der Erklärung begonnen, daß wir euch deswegen 
zur Beratung gezogen haben, weil wir meinten, selbstver- 
ständlich lägen euch solche Dinge am Herzen, namentlich 
da ‘eure Söhne, ebenso wie die unseren, nachgerade in 


Laches, 29 


das Alter kommen, wo sie erst recht erzogen werden 
müssen. Wenn es euch also nichts ausmacht, so sprecht 
und betrachtet die Sache gemeinsam mit Sokrates, indem 
ihr euch gegenseitig Rede und Antwort steht. Auch das 
sagt ja dieser Mann ganz richtig, daß wir jetzt über das 
höchste aller Güter beraten, das wir besitzen. So seht 
nun zu, ob es euch nötig erscheint, so zu verfahren. 

Nikias. Mein Lysimachos, du scheinst mir in der 
Tat Sokrates nur von seinem Vater her zu kennen, und 
mit ihm nur zusammengewesen zu sein, als. er noch Knabe 
war, wenn er etwa mit seinem Vater, inmitten der Gau- 
genossen in deine Nähe kam, bei einem Feste oder sonst 
bei irgendeiner Versammlung der Gaugenossen. Seitdem 
er aber älter geworden ist, bist du offenbar mit dem 
Manne nicht zusammengekommen. 

Lysimachos. Wieso denn, mein Nikias? 


Dreizehntes Kapitel. 


Nikias. Du scheinst nicht zu wissen, daß, wer mit 
Sokrates in Berührung kommt und sich in ein Gespräch 
mit ihm einläßt, daß der, mag auch wirklich vorher die 


. Unterredung mit etwas ganz anderem begonnen haben, 


188 St, 


unbedingt von ihm in einem fort im Gespräche so lange 
herumgeführt wird, bis er sich in die Notwendigkeit ver- 
setzt sieht, Rechenschaft von sich zu geben, wie er jetzt 
lebt, und wie er die verflossene Jiebenszeit hingebracht 
hat; wenn er aber einmal dahinein geraten ist, daß ihn 
dann Sokrates nicht eher losläßt, als bis er diese ganze 
Prüfung gut und schön vollendet hat. Ich bin an die 
Weise dieses Mannes gewöhnt und weiß, daß man sich 
dies einfach von ihm gefallen lassen muß; außerdem weiß ich 
auch recht gut, daß es mir ebenso ergehen wird, und lasse es 
mir gern gefallen. Es ist mir ja eine Freude, mein Lysi- 
machos, mit diesem Manne zu verkehren, und ich halte 
es für gar kein Unglück, wenn wir darauf aufmerksam ge- 
macht werden, inwiefern wir nicht recht gehandelt haben 


390 Platons Dialoge, 


oder nicht recht handeln, sondern unbedingt wird in Zu- 
kunft mit reiflicherer Überlegung verfahren, wer dem nicht 
aus dem Wege geht, sondern, entsprechend dem Worte 
Solons, willens ist und darauf bedacht zu lernen, solange 
er lebt, und nicht meint, das Alter bringe uns auch ohne 
unser Zutun Verstand. Mir ist es in der Tat gar nichts 
Ungewohntes und anderseits gar nichts Unerwünschtes, von 
Sokrates geprüft zu werden, auch wußte ich schon längst 
sehr wohl, wenn Sokrates dabei ist, werde das Gespräch 
nicht die jungen Leute zum Gegenstande haben, sondern 
uns selbst. Also wie gesagt, was mich betrifft, so steht 
dem gar nichts im Wege, daß wir mit Sokrates verkehren 
ganz so, wie er will; was aber Laches anlangt, so siehe 
zu, wie er sich zu der Sache stellt. 


Vierzehntes Kapitel. 


Laches. Lieber Nikias! Mein Verhältnis zu den 
Reden ist ein einfaches; wenn du aber willst, ist es nicht 
ein einfaches, sondern ein zweifaches. Ich könnte jawohl 
manchem als Freund der Reden erscheinen und anderseits 
als ihr Feind. Wenn ich nämlich einen Mann über Tu- 
gend oder über irgendeine Weisheit reden höre, der in 
Wahrheit ein Mann ist und das Recht hat so zu reden, 
wie er redet, dann freue ich mich über die Maßen, voll 
Bewunderung zugleich über den Redenden und über seine 
Reden, daß sie so zueinander passen und stimmen. Und 
ein solcher scheint mir durchaus der wahre Tonkünstler 
zu sein, der zum schönsten Einklange nicht etwa eine 
Lyra gestimmt hat, überhaupt nicht Instrumente der Kurz- 
weil, sondern in Wahrheit sein eigenes Leben harmonisch 
gestaltet hat übereinstimmend in Wort und Werk?”), ge- 
radezu in dorischer Tonart und nicht in ionischer, ich 
meine aber auch nicht in phrygischer noch Iydischer”®), 
sondern in der Tonart, welche die einzige hellenische ist. 
Ein solcher macht mir Freude, wenn er seine Stimme er- 
hebt, und läßt mich einem jeden als Freund der Reden 


9 St. 


ΙΔ θ8.,. 21 


erscheinen. So begierig nehme ich ihm die Worte von 
dem Munde. Wenn sich aber einer in entgegengesetzter 
Weise verhält, über den ärgere ich mich, und zwar um 
so mehr, je besser er zu reden scheint, und ein solcher 
läßt mich als einen Feind der Reden erscheinen, 

Sokrates’ Reden kenne ich nicht aus Erfahrung, son- 
dern zunächst habe ich, wie ich meine, seine Taten kennen 
gelernt, und da habe ich ihn als einen Mann erfunden, 
berechtigt zu schönen Worten und zu jeglichem Freimut 
in der Rede. Wenn er nun auch noch diese Gabe be- 
besitzt, so ist er mein Mann, und von einem solchen lasse 
ich mich mit Freuden prüfen, und es verdrießt mich gar 
nicht, noch in meinem Alter von ihm zu lernen, sondern 
ich stimme Solon bei, doch mit dem einen Zusatze: alternd 
wünsche ich noch vieles zu lernen, doch nur von tüchtigen 
Männern. Denn das muß mir Solon zugestehen, daß auch 
der Lehrer selbst gut sein muß, wenn ich nicht mit Wider- 
willen lernen und infolgedessen ungelehrig erscheinen soll. 
Ob aber der Lehrer jünger ist oder noch nicht berühmt 
oder sonst etwas an sich hat, das kümmert mich ganz 
und gar nicht. 

Dir also, mein Sokrates, stelle ich mich zur Verfügung. 
Lehre mich und prüfe mich, was und wie du willst, und 
lerne von mir, was anderseits ich weiß. So stehst du bei 
mir seit jenem Tage, an dem du im Verein mit mir dich 
durchkämpftest und eine vollgültige Probe deiner Tapfer- 
keit ablegtest. Sag also, was dir lieb ist, ohne jede Rück- 
sicht auf unser Alter”®). 


Fünfzehntes Kapitel. 

Sokrates. Allem Anscheine nach werden wir euch 
nicht Mangel an Bereitwilligkeit vorwerfen können, uns 
zu raten und die Sache mit uns zu erwägen. 

Lysimachos. So kommt es denn auf uns an?®), 
mein Sokrates. Ich rechne dich nämlich zu uns. Er- 
wäge also an meiner Stelle zum Wohle der jungen Leute, 
was wir von diesen Männern zu erfragen haben, und lege 


32 Platons Dialoge. 


deine Ansicht in gemeinsamer Eröterung mit ihnen dar. 
Denn infolge meines Alters vergesse ich schon das Meiste 
von dem, wonach zu fragen ich mir vorgenommen hatte, 
und anderseits auch das, was ich gehört habe; wird aber 
dazwischen von anderen Dingen geredet, dann ist mein 
(Gedächtnis ganz dahin. Sprecht ihr also und erörtert 
untereinander die Aufgabe, die wir euch gestellt haben; 
ich dagegen werde zuhören und werde sodann im Verein 
mit Melesias tun, was ihr für richtig haltet. 

Sokrates. Nikias und Laches! wir müssen Lysi- 
machos und Melesias den Willen tun. Wenn wir nun so- 
eben daran gingen zu erwägen, wer unsere Lehrer für einen 
solchen Bildungsgang gewesen sind, oder welche anderen 
wir besser gemacht haben, so wäre es vielleicht nicht übel, 
auch solche Prüfungen mit uns anzustellen; doch glaube 
ich, auch die folgende Art der Betrachtung führt zu dem- 
selben Ziele und ist doch wohl noch gründlicher. Wenn 
wir nämlich von irgend etwas wissen, daß es ein anderes, 
dem es sich zugesellt, besser macht, und wir auch im- 
stande sind zu bewirken, daß es sich dem anderen zuge- 
sellt, so kennen wir doch offenbar diese Sache selbst, 
über die wir Rat geben sollen, wie man sie am leichtesten 
und besten erwerben könne. Vielleicht nun versteht ihr 
nicht, was ich meine; ihr werdet es aber auf folgende 
Weise leichter verstehen. Wenn wir wissen, daß Sehen, 
das den Augen sich zugesellt, die Augen besser macht, 
denen es sich zugesellt, und wir außerdem imstande sind 
zu bewirken, daß es sich den Augen zugesellt, so wissen 
wir doch offenbar, was das Sehen selbst ist, hinsichtlich 
dessen wir Ratgeber sein sollen, wie man es am leichtesten 
und besten erwerben könne. Denn wenn wir nicht ein- 
mal das wissen, was Sehen oder Hören. eigentlich ist, so 
können wir schwerlich als Ratgeber in Betracht kommen 
und als Ärzte für Augen oder Ohren, wenn es sich darum 
handelt, auf welche Weise jemand am besten Gehör und 
Gesicht erlangen könne. | 

Laches. Das ist wahr, mein Sokrates. 


190 St 


Laches, 23 


Sechzehntes Kapitel. 


Sokrates. Laden nun nicht auch jetzt, mein Laches, 
uns diese beiden Männer zu gemeinsamer Beratung ein, 
auf welche Weise sich den Seelen ihrer Söhne "Tugend 
zugesellen und und sie besser machen könne? 

Laches. Jawohl. 

Sokrates. Muß uns nun nicht wenigstens das zu 
Gebote stehen, daß wir wissen, was denn Tugend ist? 
Denn wenn wir überhaupt nicht wüßten, was Tugend 
eigentlich ist, auf welche Weise könnten wir wohl jemand 
Rat darüber erteilen, wie er sie am besten erwirbt? 

Laches. Meines Erachtens auf keine, mein Sokrates. 

Sokrates. Also meinen wir, zu wissen, was sie ist. 

Laches. Gewiß meinen wir das. 

Sokrates. Nun vermögen wir von dem, was wir 
kennen, doch wohl auch zu sagen, was es ist. 

Laches. Warum denn nicht? 

Sokrates. Mein Bester, laß uns nun nicht die 
Tugend gleich in ihrem ganzen Umfange zum Gegenstande 
unserer Betrachtung machen; denn das wäre vielleicht 
eine zu umfassende Aufgabe; sondern zunächst wollen wir 
bei einer Art von ihr zusehen, ob wir fähig sind, sie zu 
verstehen. So wird uns aller Wahrscheinlichkeit nach die 
Untersuchung leichter werden. | 

Laches. Mein Sokrates, wir wollen es so machen, 
wie du es willst. 

Sokrates. Welche von den Arten der Tugenden 
könnten wir herausnehmen? Offenbar doch die, auf welche 
die Erlernung der Kunst in schwerer Rüstung zu kämpfen 
hinzuweisen scheint? Nach der herrschenden Anschauung 
ist das doch wohl die Tapferkeit. Nicht wahr? 

Laches. Ganz gewiß ist das die herrschende Ansicht. 

Sokrates. Gehen wir also zunächst daran, mein 
Laches, zu sagen, was denn Tapferkeit ist. Sodann wollen 
wir im Anschluß hieran auch betrachten, auf welche Weise 
sie den Jünglingen zu eigen werden kann, soweit dies 

Platon Laches und Euthyphron. Thil..Bibl. Bd. 178. εἰ 


34 Platons Dialoge. 


durch Ubungen und Unterricht möglich ist. Also ver- 
suche, wie gesagt, zu erklären, was Tapferkeit ist. 


Siebzehntes Kapitel. 


Laches. Beim Zeus, mein Sokrates, das ist nicht 
schwer zu sagen. Wenn einer entschlossen ist, in Reih 
und Glied standhaltend 55) sich gegen die Feinde zu wehren 
und nicht flieht, der ist gewiß ein tapferer Mann. 

Sokrates. Wohl gesprochen, mein Laches. Aber 
vielleicht habe ich mich nicht deutlich ausgedrückt, und 


so bin ich schuld daran, daß du nicht die Antwort ge- 


geben hast, die ich bei meiner Frage im Sinne hatte, 
sondern eine andere. 

Laches. Wie meinst du das, mein Sokrates? 

Sokrates. Ich will es deutlich machen, wenn ich 
kann. Tapfer ist wohl auch der, den du so nennst, näm- 
lich der, der in Reih und Glied standhaltend gegen die 
Feinde kämpft. 

Laches. Gewiß ist das meine Ansicht. 

Sokrates. Auch meine. Aber was wird nun der 
sein, der fliehend mit den Feinden kämpft und nicht stand- 
haltend? 

Laches. Wie? flichend ὃ 

Sokrates. Wie wohl auch von den Skythen??) ge- 
sagt wird, sie kämpften ebensowohl fliehend als verfolgend, 
und Homer irgendwo°°) zum Lobe der Rosse des Aeneas 
gesagt hat, sie verstünden es, gar rasch vorwärts und 
rückwärts zu verfolgen und zu fliehen. Und auch Aeneas 
selbst hat er in dieser Hinsicht gerühmt, daß er sich auf 
die Flucht verstehe, und hat ihn fluchtverständig genannt. 

Laches. Ganz richtig, mein Sokrates. Er redete 
nämlich von Streitwagen. Und auch deine Bemerkung 
über die Skythen gilt von Reitern. Denn deren Reiterei 
kämpft so, das schwerbewaffnete Fußvolk der πὰ 
aber so, wie ich sage. 

Sokrates. Vielleicht mit Ausnahme des Fußvolkes 
der Lakedämonier. Denn von den Lakedämoniern heißt 


191 St, 


lachen. 35 


es, sie hätten bei Platää, als sie an die Schildträger heran- 
gekommen wären, nicht standhalten und gegen sie kämpfen 
wollen, sondern wären geflohen; als sich aber die Reihen 
der Perser gelöst hätten, hätten sie geradeso wie Reiter 
kehrtgemacht und gekämpft, und so hätten sie die Schlacht 
dort gewonnen”). 

"Laches. So ist es. 


Achtzehntes Kapitel. 


Sokrates. Das also ist es, was ich eben sagte: [οἷ 
bin schuld daran, daß du nicht richtig geantwortet hast; ich 
hatte nämlich nicht richtig gefragt. Wollte ich dich doch 
nicht nur nach den Tapferen bei den Schwerbewaffneten 
fragen, sondern auch nach den Tapferen bei der Reiterei 
und auf dem gesamten Gebiete des Krieges, und nicht 
bloß nach den im Kriege Tapferen, sondern auch nach 
den in den Gefahren des Meeres Tapferen, und naclı allen, 
die in Krankheit und Armut und in dem politischen Leben 
tapfer sind, und außerdem anderseits nicht nur nach allen, 
die in Trübsal tapfer sind, oder in Ängsten, sondern 
auch gegen Begierden oder Lüste wacker ankämpfen, 
mögen sie nun standhalten oder fliehen und dann kehrt- 
machen. Es sind ja wohl manche, mein Laches, auch in 
solchen Lagen tapfer. 

Laches. Durchaus, mein Sokrates. 

Sokrates. Also tapfer sind diese alle, aber die einen 
bewähren ihre Tapferkeit in Freuden, die anderen in 
Leiden, andere gegenüber Begierden und wieder andere 
gegenüber Ängsten, die anderen Eger zeigen Feigheit 
in ebendiesen Lagen. 

Laches. Ganz gewiß. 

Sokrates. Und was bedeutet denn ein jedes der 
beiden Worte? Danach fragte ich. Versuche also noch 
einmal zunächst von der Tapferkeit anzugeben, wodurch 
sie in allen diesen Beziehungen ein und dasselbe ist. 
Oder verstehst du noch nicht, was ich meine? 

Laches. Nicht so recht. 


Γ᾽ 


δὲ 


90 Platons Dialoge. 


Neunzehntes Kapitel. 


Sokrates. Nun ich meine das so, wie wenn ich 19 St, 
fragte, was denn Geschwindigkeit ist, die wir beim Laufen 
zeigen und beim Spiel auf der Kithara und beim Sprechen 
und beim Lernen und bei vielen anderen Handlungen, 
und die wir nahezu bei jeder Tätigkeit bekunden, die über- 
haupt der Rede wert ist, bei den Verrichtungen der Hände, 
der Schenkel, des Mundes und der Sprachorgane, des 
Denkens. Ist das nicht auch deine Meinung? 

Laches. Ganz gewiß. 

Sokrates. Wenn mich nun jemand fragte: „Sokrates, 
was verstehst du unter dem, was du bei allen möglichen 
Tätigkeiten Geschwindigkeit nennst?* so würde ich ihm 
antworten: „Das Vermögen, in kurzer Zeit viel auszu- 
richten, nenne ich Geschwindigkeit beim Sprechen und 
beim Laufen und bei allen anderen Tätigkeiten. 

Laches. Und damit hättest du ganz recht. 

Sokrates. Versuche also auch du, mein Laches, die 
Tapferkeit in dieser Weise zu bestimmen, was das sich 
gleichbleibende Vermögen ist, das in Lust und in Leid 
sich zeigt und in allen Verhältnissen, in denen wir es so- 
eben fanden, und das dann Tapferkeit heißt. 

Laches. Nun, es scheint mir eine gewisse Beharr- 
lichkeit der Seele zu sein, wenn ich das DER Wesen 
der Tapferkeit angeben soll. 

Sokrates. Gewiß ist das nötig, wenn wir uns auf 
die gestellte Frage Antwort geben wollen. Das aber ist 
mir klar: meines Erachtens erscheint dir auf keinen Fall 
jegliche Beharrlichkeit als Tapferkeit. Ich schließe das 
aus folgendem. Ich weiß ja recht gut, du rechnest die 
Tapferkeit zu den ganz schönen Dingen. 

Laches. Vielmehr, glaube es nur, zu den schönsten. 

Sokrates. Ist nun nicht die auf Einsicht beruhende 
Beharrlichkeit. schön und gut? | 

Laches. Gewiß. 

Sokrates. Wie steht es aber mit einer Beharrlich- 


98 St. 


Lachen. 37 


keit, die der Einsicht bar ist? Ist diese nicht im Gegen- 
satze zu jener schädlich und unheilvoll? 

Laches. Jawohl. 

Sokrates. Wirst du nun so etwas schön nennen, was 
unheilvoll und schädlich ist? 

Laches. Das wäre gewiß nicht recht, mein Sokrates. 

Sokrates. Also wirst du auch nicht zugeben, daß 
ein solches Ausharren Tapferkeit ist, da es ja nicht schön 
ist, während die Tapferkeit etwas Schönes ist. 

Laches. Das ist wahr. | 

Sokrates. Nach dem, was du sagst, wäre also das 
vernünftige Ausharren Tapferkeit. 

Laches. Offenbar. 


Zwanzigstes Kapitel. 


Sokrates. Laß uns nun zusehen, worauf sich das 
vernünftige Ausharren richten muß. Auf alles Mögliche, 
auf Großes wie auf Kleines? Zum Beispiel, es zeigt sich 
jemand ausharrend in der vernünftigen Verwendung von 
Geld, da er weiß, daß er durch die Verwendung mehr 
gewinnen wird. Möchtest du den tapfer nennen? 

Laches. Ich denke gar nicht daran. 

Sokrates. Also ein anderes Beispiel! Es ist einer 
Arzt und sein Sohn oder sonst wer, der von einer Lungen- 
entzündung befallen ist, bittet ihn, er möge ihm zu trinken 
oder zu essen geben, er aber läßt sich nicht bewegen, son- 
dern verharrt bei seiner Weigerung? 

Laches. Auch das ist auf keinen Fall Tapferkeit. 

Sokrates. Doch nehmen wir einen Mann an, der 
im Kriege ausharrt und zur Schlacht entschlossen ist, auf 
Grund vernünftiger Erwägung. Er weiß nämlich, daß noch 
andere ihm zu Hilfe kommen werden, und daß er gegen 
einen Feind zu kämpfen hat, der an Zahl und Tüchtig- 
keit hinter seinen Mannschaften zurücksteht; außerdem 
hat er auch eine stärkere Stellung. Wirst du nun diesen, 
der auf Grund solcher Einsicht und solcher Hilfsmittel 


38 Platons Dialoge. 


ausharrt, für tapferer erklären, oder den, der in dem gegen- 
überstehenden Lager entschlossen ist, der Gefahr zu 
trotzen und auszuharren? 

Laches. Den in dem gegen her Lager, 
dünkt mich, mein Sokrates. 

Sokrates. Aber doch ist gewiß sein Ausharren un- 
verständiger als das Ausharren des andern. 

Laches. Damit hast du recht. | 

Sokrates. Und so wirst du also auch weniger &e- 
neigt sein, den, der im Besitze der Reitkunst in der Reiter- 
schlacht ausharrt, für tapferer zu erklären als den, der ohne 
diese Kunst ausharrt. 

Laches. Meine Ansicht ist das. 

Sokrates. Ebenso wirst du auch von dem denken, 
der im Besitze der Schleuderkunst oder der Kunst des 
Bogenschießens oder sonst einer Kunst ausharrt. 

Laches. Gewiß. 

Sokrates. Und so wirst du auch alle, die entschlossen 
sind, in einen Brunnen hinabzusteigen und zu tauchen 
und bei diesem oder sonst einem Werke der Art auszu- 
harren, ohne daß sie darin geübt sind, tapferer nennen 
als die darin Geübten. 

Laches. Was könnte denn einer dagegen sagen, 
mein Sokrates? 

Sokrates. Nichts, wenn anders das seine Ansicht ist. 

Laches. Meine Ansicht ist das allerdings. 

Sokrates. Und doch ist es weniger vernünftig, wenn 
solche sich in Gefahr begeben und darin standhaft aus- 
harren, als wenn die es tun, die im Besitze der erforder-- 
lichen Geschicklichkeit sind. 

Laches. Es scheint so. 

Sokrates. Hat sich uns nun nicht in dem Vorher- 
BehEBGER die unvernünftige Kühnheit und Beharrlichkeit 
als häßlich und schädlich erwiesen? 

Laches. Gewiß. 

Sokrates. Die Tapferkeit aber erklärten wir über- 
einstimmend für etwas Schönes, 


4 St. 


Laches, 39 


Laaches. So war es. 

Sokrates. Jetzt aber erklären wir dagegen wieder, 
jenes Häßliche, das unvernünftige Ausharren, für Tapferkeit. 

Laches. Es scheint so. 

Sokrates. Meinst du nun, daß wir etwas Richtiges 
sagen? 

Laches. Beim Zeus, mein Sokrates, das glaube ich 
nicht. 


Einundzwanzigstes Kapitel. 


Sokrates. Wir sind also wohl beide, ich und du, 
nicht dorisch gestimmt, wie du dich ausdrücktest, mein 
Laches; denn unsere Taten stimmen nicht mit unseren 
Reden überein, und im Hinblick auf unser Tun kann wohl 
einer mit Fug und Recht sagen, daß Tapferkeit in uns 
wohnt, im Hinblick auf unsere Reden aber glaube ich, 
kann er das nicht, wenn er unser Gespräch jetzt mit an- 
gehört hat. 

Laches. Damit hast du ganz recht. 

Sokrates. Wie nun? Dünkt dich das eine Ehre, 
daß es so mit uns steht? 

Laches. Ganz und gar nicht. 

Sokrates. Willst du nun, daß wir dem aufgestellten 
Satze wenigstens insoweit folgen? 

Laches. Was meinst du mit „insoweit“, und welches 
ist der Satz, dem wir folgen sollen’? 

kestes; Der Satz, der uns ausharren heißt. 
Wenn es dir also recht Wr so wollen auch wir bei der 
Untersuchung verbleiben und ausharren, damit nicht gar 
die Tapferkeit selbst uns verlache, daß wir sie nicht tapfer 
suchen, wenn am Ende doch vielleicht. Beharrlichkeit au 
sich δερδοιϊοῖς: sein sollte. 

Laches. Ich bin entschlossen, mein Sokrates, nicht 
vor der Zeit abzulassen; doch bin ich an solche Unter- 
suchungen nicht gewöhnt. Aber es hat mich im Hinblick 
auf deine Worte sogar ein gewisser Ehrgeiz erfaßt, und 
es ärgert mich wirklich, wenn ich so wenig imstande bin, 


40 Platons Dialoge. 


zu sagen, was ich denke. Ich glaube nämlich zu wissen, 
was die Tapferkeit ist; seltsamerweise aber ist sie mir 
soeben entschlüpft, so daß ich sie nicht mit Worten er- 
fassen kann und sagen, was sie ist. 

Sokrates. Ein guter Weidmann, mein Lieber, muß 
doch dem Wilde nachlaufen und darf nicht ablassen? 

Laches. Ganz gewiß. 

Sokrates. Willst du nun, daß wir auch Nikias hier 
zur Jagd einladen? Vielleicht kommt er eher auf die 
rechte Spar als wir. 

Laches. Jawohl. Wie sollte ich denn nicht? 


Zweiundzwanzigstes Kapitel. 


Sokrates. Wohlan denn, mein Nikias, hilf, wenn 
du irgendwie kannst, befreundeten Männern, die bei einer 
Untersuchung, gleich Schiffern auf stürmender See, um- 
hergetrieben werden und sich nicht zu helfen wissen. 
Du siehst ja, wie ratlos wir sind. Darum sage, was du 
unter Tapferkeit verstehst, und befreie uns damit aus 
unserer Not und begründe deine eigene Auffassung in 
eingehender Erörterung. 

Nikias. .Nun gut! Schon seit geraumer Zeit habe 
ich den Eindruck, mein Sokrates, daß ihr nicht in der 
rechten Weise das Wesen der Tapferkeit zu bestimmen 
sucht; denn von einem richtigen Satze, den ich sonst schon 
von dir gehört habe, macht ihr keinen Gebrauch. 

Sokrates. Von welchem Satze denn, mein Nikias? 

Nikias. Oft habe ich dich sagen hören, auf dem 
(Gebiete sei ein jeder von uns gut, auf dem er das nötige 
Wissen besitze; auf welchem Gebiete er aber unwissend 
seiÄ, auf dem sei er untauglich. 

Sokrates. Beim Gonsı mein Nikias, hiermit sagst 
du allerdings die Wahrheit. 

Nikias. Also ist der Tapfere, wenn anders er gut 
ist, selbstverständlich ein Wissender. 

Sokrates. Hast da’s gehört, mein Laches? 


195 St. 


Lachen, 41 


Laches. ‚Jawohl, aber ich verstehe nicht recht, was 
er meint. 

Sokrates. Ich aber glaube es zu verstehen, und 
der Mann scheint mir die Tapferkeit für eine Art von 
Wissen zu erklären. 

Laches. Was für ein Wissen sollte denn das sein, 
mein Sokrates? 

Sokrates. Du richtest diese Frage doch wohl an 
unseren Freund da? 

Laches. Gewiß. | 

Sokrates. Wohlan also, Nikias, sage ihm, welche 
Art von Wissen nach deiner Erklärung Tapferkeit ist. 
Denn das Wissen des Flötenbläsers ist doch wohl nicht 
Tapferkeit? 

Nikias. Auf keinen Fall. 

Sokrates. Gewiß auch nicht das Wissen des Zither- 
spielers. 

Nikias. Nimmermehr. 

Sokrates. Nun, was für ein Wissen ist denn die 
Tapferkeit, oder was ist ihr Gegenstand? 

Laches. In der Tat, ganz richtig fragst du ihn, mein 
Sokrates, und er mag nur sagen, welche Art von Wissen 
er meint. 

Nikias. Ich für meine Person meine das Wissen 
von dem, was zu fürchten ist und was nicht zu fürchten 
ist im Kriege sowohl als in allen anderen Verhältnissen. 

Laches. Was für ungereimtes Zeug der redet, mein 
Sokrates! 

Sokrates. WVorauf bezogst du diese Bemerkung, 
lieber Laaches? | 

Laches. Du fragst, worauf? Wissen hat doch wohl 
mit Tapferkeit nichts zu tun. 

Sokrates. So denkt Nikias allerdings nicht. 

Laches. Ganz gewiß nicht, beim Zeus. Daher kommt 
ja auch sein törichtes Gerede. 

Sokrates Wir wollen ihn also belehren nicht 
schelten, 


49 Platons Dialoge. 


Nikias. Nein, mein Sokrates. Das will Laches 
nicht, vielmehr ist er meines Erachtens darauf aus, auch ich 
soll als einer dastehen, der nichtiges Zeug redet, weil er 
soeben sich selbst in ähnlichem Lichte gezeigt hat. 


Dreiundzwanzigstes Kapitel. 


Laches. Allerdings, mein lieber Nikias, und ich 


werde versuchen, es zu beweisen. Nichtig ist deine Rede; 
denn gleich zum Beispiele, sind es bei Krankheiten nicht 
die Arzte, die wissen, was gefährlich ist? Oder glaubst 
du, die Tapferen verstehen sich darauf? Oder meinst du 
mit den Tapferen die Arzte? 


Nikias. Ich denke gar nicht daran. 


Laches. Und auch die Landwirte nicht, denke ich. 
Trotzdem kennen diese doch wohl die Gefahren bei dem 
Landbau, und so wissen auch alle anderen, die ein gemein- 
nütziges Geschäft betreiben, was bei ihrem Berufe gefähr- 
lich, was nicht gefährlich ist. Aber deswegen sind sie 
noch lange nicht tapfer. | 


Sokrates. Wie denkst du über das, was Laches 
sagt, Nikias? In der Tat scheint es etwas für sich zu 
haben. 

Nikias. Es hat ja auch etwas für sich, aber freilich 
wahr ist es nicht. 

Sokrates. Wieso denn? 


Nikias. Weil er meint, die Ärzte wüßten bei den 
Kranken noch etwas anderes, als was für sie gesund, was 
ungesund ist. Und doch reicht deren Wissen wohl nur 
so weite. Ob aber für einen die Gesundheit mehr zu 
fürchten sei als die Krankheit, glaubst du, mein Laches, 
daß das die Arzte wissen? Meinst du nicht, daß es für 
viele Kranke besser ist nicht wieder aufzukommen als auf- 
zukommen? Denn das sage mir: Behauptest du, es sei 
für alle besser zu leben, und nicht für viele der Tod ein 
Gewinn? 


Ὁ 


96 St. 


Liaches, 43 


Liaches. Das glaube ich allerdings. 

Nikias. Meinst du nun, die, für die der Tod, und 
die, für die das Leben ein Gewinn ist, haben ein und das- 
selbe zu fürchten? 

Laches. Das glaube ich nicht. μ 

Nikias. Diese Kenntnis also gestehst du den Ärzten 
zu oder sonst einem, der ein (Gewerbe treibt, außer dem, 
der sich auf das, was zu fürchten, und das, was nicht zu 
fürchten ist, versteht, und den ich tapfer nenne? 


Sokrates. Verstehst du, Laches, was er meint? 


Laches. Jawohl. Die Seher meint er, mit den 
Tapferen. Denn wer sonst könnte wissen, für wen es 
besser ist zu leben oder tot zu sen? Nun aber, Nikias, 
wie steht es mit dir? Bekennst du, daß du ein Seher bist 
oder weder ein Seher noch tapfer? 


Nikias. Wie? Meinst du nun wieder, dem Seher 
komme es zu, das Gefährliche zu kennen und das Unge- 
fährliche? 

Laches. Freilich. Wem denn sonst? 


Vierundzwanzigstes Kapitel. 


Nikias. Weit mehr dem, den ich im Sinne habe, 
mein Bester; denn der Seher braucht nur die Anzeichen 
zu kennen von dem, was kommen wird, 561 es dab einem 
der Tod bevorsteht oder Krankheit oder Verlust des Ver- 
mögens, sei es Sieg oder Niederlage im Kriege oder in 
einem anderen Kampfe. Was aber hiervon zu erleiden 
oder nicht zu erleiden besser ist, wie könnte das Urteil 
hierüber einem Wahrsager mehr ED als jedem be- 
liebigen anderen’? 

laaches. Mein Sokrates, ich verstehe nicht, was der 
eigentlich sagen will. Denn weder den Seher noch den 
Arzt noch sonst wen erklärt er für tapfer und geht mit 
der Sprache nicht heraus, wen er unter dem Tapferen ver- 
steht. Es wird wohl ein Gott sein, den er damit meint. 


44 Platons Dialoge. 


Ich habe tatsächlich den Eindruck, Nikias kann sich nicht 
entschließen, ehrlich zu bekennen, daß seine Rede nichtig 
ist, und windet sich nach rechts und links, um seine Ver- 
legenheit zu verdecken. Nun aber waren auch wir, ich 
und du, soeben wohl imstande, uns so zu winden, wenn 
wir es erreichen wollten, daß wir uns nicht zu wider- 
sprechen schienen. Wenn wir nun vor Gericht stünden, 
so hätte solches Verfahren einen Sinn; so aber, wozu soll. 
man sich bei einer solchen Unterredung ganz unnütz mit 
leeren Redensarten herausputzen ὃ 

Sokrates. Auch ich wüßte nicht wozu, mein Laches. 
Doch laß uns zusehen, ob nicht Nikias meint, er sage 
etwas Stichhaltiges und rede nicht, nur um zu reden. Wir 
wollen ihn also eingehend fragen, was denn seine Ansicht 
ist, und wenn es sich herausstellt, daß er etwas Richtiges 
sagt, so wollen wir ihm beipflichten, wo nicht, ihn belehren. 

Laches. Also frage du ihn, mein Sokrates, wenn 
du Lust hast zu fragen; ich habe, BR ich, schon genug 
gefragt. 

Sokrates. Ich sehe für mich kein Hindernis; denn 
die Fragen werden gemeinsam in deinem und in meinem 
Namen gestellt werden. 

Laches. Ganz gewiß. 


Fünfundzwanzigstes Kapitel. 


Sokrates. Mein Nikias, gib also mir oder vielmehr 
uns Bescheid; ich und Laches führen ja die Untersuchung 
gemeinsam. Du sagst, Tapferkeit sei ein Wissen von dem, 
was zu fürchten hd was nicht zu fürchten ist? 

Nikias. Gewiß. 

Sokrates. Dieses Wissen aber ist nach deinen Er- 
klärungen sicherlich nicht Sache eines jeden Mannes, da 
ja weder der Arzt noch der Seher es hat, und darum auch 
nicht tapfer ist, wenn er nicht eben dieses Wissen zu seiner 
Kunst hinzugewonnen hat. Sagtest du nicht so? 

Nikias. Ganz gewiß sagte ich so, 


197 St. 


Laches. 40 


Sokrates. Also wird in Wirklichkeit nicht jede Sau, 
wie es im Sprichwort heißt®"), das wissen und wird dem- 
nach auch nicht jede Sau tapfer sein. 

Nikias. Ich denke nicht. 

Sokrates. Selbstverständlich, mein Nikias, glaubst 
du also auch von der Krommyonischen Sau®*) nicht, daß 
sie tapfer gewesen sei. Und das sage ich nicht zum Scherz, 
sondern meines Krachtens darf, wer diese Ansicht hat, 
durchaus keinem wilden Tiere Tapferkeit zuerkennen, oder 
er muß zugeben, daß manches wilde Tier so weise sei, 
daß das, was nur wenige Menschen wissen, weil es so 
schwer zu erkennen ist, ein Löwe oder Panther oder irgend- 
welches Wildschwein weiß. Also muß man ganz unbedingt 
sagen, daß der Löwe seiner Natur nach sich zur Tapfer- 
keit ebenso verhält wie der Hirsch, der Stier ebenso wie 
der Affe, wenn man den Begrift der Tapferkeit so be- 
stimmt, wie du es tust. 

Laches. Bei den Göttern! das ist ganz richtig, 
mein Sokrates. Und so beantworte du, lieber Nikias, uns 
ganz aufrichtig die Frage: Meinst du, diese Tiere, denen 
wir alle übereinstimmend Tapferkeit zuerkennen, seien 
weiser als wir, oder hast du den Mut, im Gegensatze zu 
allen Menschen ihnen auch die Tapferkeit abzusprechen ? 

Nikias. Lieber Laches, Tiere nenne ich überhaupt 
nicht tapfer, noch sonst ein Wesen, das aus Unverstand 
nicht fürchtet, was zu fürchten ist, sondern furchtlos und 
unvernünftig, Oder meinst du etwa, ich nenne auch alle 
Kinder tapfer, die aus Unverstand nichts fürchten? Viel- 
mehr glaube ich, furchtlos und tapfer ist nicht ein und 
dasselbe. Und ich meine, Tapferkeit und Umsicht finden 
sich nur bei ganz wenigen, Verwegenheit aber, Kühnheit 
und Furchtlosigkeit gepaart mit Unbesonnenheit bei 
einer ganz großen Zahl von Männern, Frauen, Kindern 
und Tieren. Die nun, die du mit der Mehrzahl der 
Menschen tapfer nennst, nenne ich verwegen, tapfer aber 
die vernünftigen, und von diesen eben rede ich. 


46 Platons Dialoge. 


Sechsundzwanzigstes Kapitel. 


Laches. Sieh nur, Sokrates, wie fein der sich sicht- 
lich mit diesen Worten, wie er vermeint, herausstreicht; 
die aber, die alle übereinstimmend für tapfer erklären, 
diese unterfängt er sich um diese Ehre zu bringen. 

Nikias. Das liegt mir fern, guter Laches; sei unbe- 
sorgt! Ich erkläre ja, daß du weise bist und gewiß auch 
Lamachos®”), insofern als ihr tapfer seid, und noch andere 
Athener in großer Zahl. 

Laches. Ich will nur gar nichts erwidern, obschon 
ich wohl etwas erwidern könnte, damit du nicht noch sagst, 
ich sei so ein rechter Aixoneer°?). | 

Sokrates. Laß es nur gut sein, mein Laches. Du 
scheinst mir nämlich nicht gemerkt zu haben, daß er diese 
Weisheit von unserm Freunde Damon hat, Damon aber 
verkehrt viel mit Prodikos, der bekanntlich in dem Rufe 
steht, von allen Sophisten solche synonyme Unterschiede 
am besten festzustellen ἢ). | 

Laches. Es ziemt ja auch eher einem Sophisten, 
mein Sokrates, sich mit solchen Feinheiten abzugeben, 
als einem Manne, den der Staat einer leitenden Stellung 
für würdig hält. | 

Sokrates. Ganz gewiß steht es, mein Trefflicher, 
einem Manne in höchster Stellung wohl an, im Besitze 
der höchsten Erkenntnis zu sein. Nikias aber scheint 
mir es zu verdienen, daß wir zusehen, was er denn im 
Auge hat, wenn er den Begriff der Tapferkeit in dieser 
Weise bestimmt. 

Laches. Sieh also selbst zu, mein Sokrates. 

Sokrates. Das will ich tun, mein Bester. Glaube 
jedoch nicht, daß ich dich von der Teilnahme an dem 
Gespräche entbinden werde Drum merk auf und denke 
mit mir den Erörterungen nach. 

Laches. Das wird gewiß. geschehen, wenn du es 
für nötig hältst. 


Liaches, 47 


Siebenundzwanzigstes Kapitel. 


Sokrates. Das tue ich allerdings. Du aber, mein 
Nikias, gib uns noch einmal von Anfang an Bescheid. 


. Weißt du noch, daß wir die Tapferkeit bei Beginn 


unserer Erörterung so betrachteten, daß wir in ihr eine 
Art der Tugend sahen ? 

Nikias. Gewiß. 

Sokrates. Hast du nun nicht auch bei deiner Ant- 
wort sie als Art gedacht, in der Annahme, 65 gäbe eben 
auch noch andere Arten, die alle zusammen Tugend heißen? 

Nikias. Wieso denn nicht? 

Sokrates. Verstehst du nun darunter dieselben 
Arten wie ich? Ich nenne nämlich Tugend außer der 
Tapferkeit die Mäßigung und die Gerechtigkeit und noch 
einige andere Eigenschaften dieser Art. Du nicht auch? 

Nikias. Ganz gewiß. 

Sokrates. Halt einmal! Hierüber sind wir ja 
einig; das zu Fürchtende aber, und das, was nicht zu 
fürchten ist, wollen wir genau ins Auge fassen, damit 
du nicht irgend welche anderen Dinge darunter verstehst 
und wir wieder andere. Was wir nun dafür halten, das 
wollen wir dir darlegen. Stimmst du uns nicht bei, so 
kannst du uns eines Besseren belehren. Wir glauben 
nämlich, das zu Fürchtende sei das, was eben Furcht. 
erregt, das nicht zu Fürchtende aber das, was keine 
Furcht erregt. Furcht aber erwecken, meinen wir, nicht 
vergangene und nicht gegenwärtige Übel, sondern er- 
wartete; denn Furcht ist die Erwartung eines zukünftigen 
Übels. Ist das nicht auch deine Auffassung, mein Laches? 

Laches. Ganz gewiß, lieber Sokrates. 

Sokrates. Unsere Ansicht hast du also gehört, 
mein Nikias, daß wir nämlich für das zu Fürchtende die 
bevorstehenden Übel erklären, für das nicht zu Fürchtende 
aber das, was nicht schlimm oder sogar gut sein wird. 
Denkst du hierüber so, oder bist du anderer Meinung? 

Nikias. Ich denke so. 


48 Platons Dialoge. 


Sokrates. Und das Wissen hiervon nennst du 
Tapferkeit? 
Nikias. Ganz gewiß. 


Achtundzwanzigstes Kapitel. 


Sokrates. Laß uns nun noch erwägen, ob du und 
wir in Hinsicht auf ein Drittes übereinstimmen. 

Nikias. Was wäre denn das? Ä 

Sokrates. Ich will es eben sagen. Ich und Laches 
sind der Ansicht: Bei allem, wovon es eine Wissenschaft 
gibt, ist diese nicht eine andere von ihm als einem Ge- 
wordenen, d. h. ein Wissen, wie es geworden ist, und 
eine andere von ihm als einem Werdenden, d.h. ein 
Wissen, wie es wird, noch eine andere, wie das noch 
nicht Gewordene am besten werden kann und werden 
wird, sondern die Wissenschaft von ihm ist ein und die- 
selbe. Was zum Beispiel das der Gesundheit Zuträgliche 
anlangt, so betrachtet das für alle Zeitabschnitte keine 
andere Wissenschaft als die Wissenschaft des Arztes, die 
nur eine ist für Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. 
Und in bezug auf die Erzeugnisse des Bodens verhält sich 
die Landwirtschaft ebenso. Was aber den Krieg betrifft, 
so legt ihr wohl selbst Zeugnis dafür ab, daß die Feld- 
herrnkunst am besten alles vorbedenkt, namentlich das 
was kommen wird, und sie glaubt nicht der Kunst des 
Wahrsagers eine Magd sein zu solien, sondern eine 
Herrin, in dem Bewußtsein, daß sie besser Bescheid 
weiß um die Vorkommnisse im Kriege, die gegenwärtigen 
sowohl als die zukünftigen. Und das ist auch die ge- 
setziiche Ordnung, daß nicht der Seher dem Feldherrn 
gebiete, sondern der Feldherr dem Seher. Wollen wir 
das so annehmen, mein Laches ? 

Laches Jawohl. 

Sokrates. Wie nun? Stimmst du uns bei, mein 
Nikias, daß auf dieselben Gegenstände sich ein und die- 
selbe Wissenschaft versteht, mögen sie nun der Zukuntt, 
der Gegenwart oder der Vergangenheit angehören? 


199 St 


Laches. 49 


Nikias. Gewiß; das ist ja meine Ansicht, mein 
Sokrates. 

Sokrates. Nun ist, mein Bester, auch die Tapfer- 
keit ein Wissen von dem, was zu fürchten und nicht zu 
fürchten ist, wie du sagst. Nicht wahr? 

Nikias. Ja. 

Sokrates. Von den Dingen aber, die zu fürchten 
und von denen, die nicht zu fürchten sind, haben wir die 
übereinstimmende Auffassung gewonnen, daß die einen 
zukünftige Güter, die anderen zukünftige Ubel sind. 

Nikias. Gewiß. 

Sokrates. Und ebenso darüber, daß das Wissen 
von denselben Dingen ein und dasselbe ist, sie mögen nun 
in der Zukunft liegen oder sich sonst verhalten, wie sie 
wollen. 

Nikias. >So ist es. 

Sokrates. Also ist die Tapferkeit nicht bloß eine 
Wissenschaft von Dingen, die zu fürchten und die nicht 
zu fürchten sind; denn sie versteht sich nicht bloß auf 
die Güter und Übel in der Zukunft, sondern auch in der 
Gegenwart und in der Vergangenheit und in jeglichem 
Verhältnisse, gerade so gut, wie alle anderen Wissenschaften. 

Nikias. Offenbar. 


Neunundzwanzigstes Kapitel. 


Sokrates. Deine Antwort umfaßte also, mein 
Nikias, etwa ein Drittel der Tapferkeit, und doch fragten 
wir nach der ganzen Tapferkeit, was die wäre. Und 
jetzt nun ist, wie es scheint, nach deiner Erklärung die 
Tapferkeit nicht nur die Kenntnis des zu Fürchtenden 
und des nicht zu Fürchtenden, sondern wie jetzt wieder 
deine Erklärung lautet, dürfte die Kenntnis des Guten 
und des Bösen fast in seiner Gesamtheit und in allen 
seinen Beziehungen Tapferkeit sein. Willst du nun 
diese Anderung? Oder wie denkst du, mein Nikias? 

Nikias. Ich bin für die Anderung. 

Sokrates. Glaubst du nun, du Wunderbarer, ein 

Platon Laches und Euthyphron. Phil. Bibl. Bd. 178. 4 


50 Platons Dialoge. 


solcher ermangele irgendwie der Tugend, der ja das Gute 
alles und in aller Hinsicht kennt, wie es entsteht, ent- 
stehen wird und entstanden ist, und das Böse in gleicher 
Weise? Und von ihm meinst du, es fehle ihm an der 
Mäßigung oder der Gerechtigkeit und Frömmigkeit, von 
ihm, dem einzigen, dem es gegeben ist, Göttern und 
Menschen gegenüber sich vor dem Bösen zu hüten und 


das Gute zu erwerben, da er allein das rechte Verhalten 


zu ihnen kennt? 

Nikias. Du scheinst mir etwas zu sagen, mein 
Sokrates. 

Sokrates. Also umfaßt das, was du jetzt sagst, 
mein Nikias, nicht einen Teil der Tugend, sondern die 
gesamte Tugend. 

Nikias. Es ist wohl so. 

Sokrates. Und doch sagten wir, die Tapferkeit sei 
nur eine von den Arten der Tugend. 

Nikias. Allerdings sagten wir das. 

Sokrates. Nach dem aber, was wir jetzt sagen, 
scheint es nicht so. | 

Nikias. Es sieht nicht so aus. 

Sokrates. Also haben wir den Begriff der Tlapfer- 
keit nicht gefunden. 

Nikias. Wohl nicht. 

Laches. Und doch, du lieber Nikias, glaubte ich, 
du werdest ihn finden, da du auf mich mit meinen So- 
krates gegebenen Antworten so verächtlich herabblicktest. 
Auf jeden Fall erfüllte mich große Hoffnung, du werdest 
mit Hilfe der von Damon stammenden Weisheit das 
Wesen der Tapferkeit auffinden. 


Dreißigstes Kapitel. 
Nikias. Recht so, mein Laches! Du meinst, es sei 


weiter nichts, daß du eben selbst als einer dastandest, 


der von der Tapferkeit nichts weiß, sondern du richtest 
dein Augenmerk nur darauf, ob auch ich in solchem 
Lichte erscheinen werde, und allem Anscheine nach wird 


200 St. 


Laches, Sl 


es dir gar nichts ausmachen, wenn du mit mir zusammen 
nichts weißt von Dingen, für die jeder Mann, der sich 
irgend welchen Wert beimißt, Verständnis haben sollte. 
Du scheinst mir nun in der Tat es so zu machen, wie es 
die Menschen gewöhnlich machen, und nicht auf dich zu 
blicken, sondern auf andere. Ich aber meine, über die 
(Gegenstände unserer Erörterung habe ich jetzt gar nicht 
übel gesprochen, und sollte etwas davon nicht vollkommen 
genügend dargelegt sein, so werde ich es später verbessern, 
sei es im Verein mit Damon, über den du wohl ver- 
meinst dich lustig machen zu dürfen, obgleich du den 
Damon noch nie zu Gesicht bekommen hast, oder auch 
mit anderen. Und wenn ich über diese Gegenstände zu 
voller Gewißheit gelangt bin, dann werde ich auch dich 
belehren und werde dir nichts vorenthalten; denn du 
scheinst es mit Recht sehr nötig zu haben, noch zu lernen. 

Laches. Du freilich bist ein weiser Mann, du guter 
Nikias. Gleichwohl gebe ich unserem Lysimachos und 
Melesias den Rat, dich und mich bei der Erziehung der 
jungen Leute aus dem Spiele zu lassen, aber den Sokrates 
da, wie ich gleich anfangs sagte, nicht loszugeben. Und 
ich würde ganz ebenso handeln, wenn auch meine Söhne 
in dem entsprechenden Alter wären. 

Nikias. Auch ich stimme dem zu, daß wir nach 
keinem anderen suchen, im Falle Sokrates bereit ist, sich. 
der jungen Leute anzunehmen. Ich würde ja auch meinen 
Nikeratos ihm am liebsten anvertrauen, wenn er das 
wollte. Indes er verweist mich jedesmal an andere, wenn 
ich meines Jungen bei ihm nur mit einem Worte Er- 
wähnung tue; er selbst aber will nicht. Doch sieh zu, 
mein Lysimachos, ob Sokrates vielleicht dich eher erhört. 

Lysimachos. Das wäre gewiß nur recht und billig, 
mein Nikias: denn auch ich würde für ihn vieles mit 
Freuden tun, was ich für sehr viele andere nicht tun 
möchte. Wie meinst du nun, mein Sokrates? Wirst du 
unsere Bitte erhören und den jungen Leuten mit dazu 
helfen, möglichst gute Menschen zu werden? 


59 Platons Dialoge. 


Einunddreißigstes Kapitel. 


Sokrates. Das wäre ja schrecklich, mein Lysi- 
machos, wollte man einem nicht mit dazu helfen, möglichst 
gut zu werden. Hätte es sich nun bei unseren eben ge- 
führten Unterredungen herausgestellt, daß ich im Besitze 
des erforderlichen Wissens wäre, diese beiden aber nicht, 


so wäre es richtig, gerade mich zu dieser Aufgabe heran- 


zuziehen; nun aber sind wir ja alle gleich ratlos gewesen. 
\Yje könnte man also einem von uns den Vorzug geben 
und wem? Nach meiner Überzeugung in der Tat keinem. 
Unter diesen Umständen seht zu, ob euch mein Rat etwa 
der Beachtung wert erscheint. Ich erkläre es für not- 
wendig, liebe Männer — es bleibt ja ganz unter uns —, 
daß wir alle gemeinsam vor allem für uns selbst einen 
möglichst guten Lehrer suchen, denn den brauchen wir, 
sodann auch für die jungen Leute, ohne mit Geld zu 
sparen, noch mit sonst etwas, uns aber in unserm jetzigen 
Zustande zu belassen, dazu rate ich nicht. Lacht uns 
aber einer aus, daß wir in unserm Alter noch in die 
Schule gehen wollen, so müssen wir uns meines Erachtens 
auf Homer berufen, der sagte, Blödigkeit bei einem be- 
dürftigen Manne sei nicht gut?’). Und wenn einer seine 
Bemerkungen darüber macht, so wollen wir uns darum 
nicht weiter kümmern, und wollen gemeinsam für unser 
und der jungen Leute Wohl Sorge tragen. 

Lysimachos. Mir gefällt deine Rede wohl, mein 
Sokrates, und wie ich der Alteste bin, so will ich am 
eifrigsten mit den jungen Leuten zusammen lernen. Doch 
tu mir den Gefallen und komm morgen früh in mein 
Haus; komm aber ja, damit wir hierüber beraten; für 
jetzt aber wollen wir unser Zusammensein aufheben. 

Sokrates. Ja, das will ich tun, mein Lysimachos! 
ich werde morgen zu dir kommen, so Gott will. 


«-----....-..... ne nennt 


201 St. 


Anmerkungen 


zum Laches. 


1) S.14. „in schwerer Rüstung“, in der vollen Ausrüstung des 
Schwerbewaffneten, des Hopliten, also augetan mit Harnisch, Helm, 
Beinschienen und Schild, mit Schwert und Lanze. 

2) S.14. „solche“. Gemeint sind solche, die offen und ehrlich 
alles sagen, was sie in ihrem Innern bewegt (vulgär: „die dumm 
genug sind und den Leuten alles auf die Nase binden“). 

8) 5, 14, Den ältesten Sohn nach dem Großvater zu nennen 
war üblich. 

4) S.15. Das taten sie freiwillig, nicht zufolge staatlicher An- 
ordnung wie in Sparta, wo auch die Anwesenheit der jungen Söhne 
unzulässig gewesen wäre. 

5) 8.15. Bei den Taten im Kriege ist vorzugsweise an Ari- 
stides zu denken, während sich Thukydides namentlich als Partei- 
führer und Sprecher in der Volksversammlung auszeichnete. Bei 
dem Hinweis auf Verwaltung der Bundesangelegenheiten tritt uns 
wiederum Aristides vor die Seele mit seinen Verdiensten, die er 
sich um die Gründung des delischen Bundes und die Verwaltung 
des Bundesschatzes erworben hat. 

6) 8.17. „Gaugenosse“. Kleisthenes teilte, nach Abschaffung 
der vier ionischen Phylen, den Staat Athen in zehn neue Phylen 
und löste damit den alten Staatsorganismus vollständig und für alle 
Zeiten auf. Die Phylen teilte er in Demen, Bezirke, Gaue, nach 
der Ortlichkeit, dem demokratischen Prinzipe entsprechend. Die Zahl 
der Mitglieder der einzelnen Demen war daher verschieden. Es gab 
große und kleine Demen. Die Anzahl der Demen betrug 174. 
Jeder Bürger mußte zu einem Demos gehören. Im Alter von 17 bis 
18 Jahren wurde ein jeder bei seinem Demos in das Anfıaozıröv 
γραμματεῖον, das Verzeichnis der athenischen Bürger, eingeschrieben, 
zwei Jahre später in den πέναξ ἐκκλησιαστικός, in die Liste der zur 
Teilnahme an den Volksversammlungen Berechtigten eingetragen, wo- 
durch er das Recht zu dieser Teilnahme erhielt. Verbunden waren 
die einzelnen Mitglieder des Demos (δημόται) durch gemeinschaftliche 
Sacra (ἱερὰ δη μοτικά). Sie hatten ferner gemeinschaftlichen Gemeinde- 
besitz, Gemeindegefälle, Gemeindeabgaben. Zur Besorgung der 
Gemeindeverwaltung hatten die Demen eigene Beamte, namentlich 
einen Vorsteher (δήμαρχος) und einen Verwalter (ταμίας), letzteren 
besonders für die Geldangelegenheiten. 


54 Laches. 


) 5. 17. Gemeint sind die Gymnasien und Palästren. 

5 S.17. Agathokles aus Athen wird auch von Protagoras in 
dem gleichnamigen Dialog (316E) unter den Männern, die als Lehrer 
höherer Geistesbildung sich auszeichneten, neben Pythokleides aus 
Keos als berühmter Musiker genannt. 

?) S. 17. Damon wird neben dem berühmten Philosophen 
Anaxagoras als Lehrer und Freund des Perikles angeführt. 

10) Κ΄. 18, Sokrates hält das Andenken seines Vaters dadurch 
in Ehren, daß er die Freundschaft fortsetzt, die zwischen diesem und 
Lysimachos bestand. 

11) S,18. Alkibiades machte die Schlacht bei Delion als Reiter 
mit und konnte so Sokrates, der als Hoplit kämpfte, gut beobachten. 
In seiner Lobrede auf Sokrates im Gastmahl 220Eff. widmet er 
dessen Verhalten Worte höchster Anerkennung. Bei der allgemeinen 
Auflösung und Flucht ging Sokrates ohne Hast zurück im Verein 
mit Laches, den er an Besonnenheit weit übertraf, Festen Blickes 
schaute er um sich auf Freunde und Feinde, so daß es schon aus 
weiter Ferne einem jeden klar war: wer sich an den macht, der 
findet sehr kräftigen Widerstand. — Die Niederlage der Athener war 
schwer und von sehr nachteiligen Folgen. 

12) S.18. „auch ihr“. Sokrates und die beiden jungen Leute. 

15) 8.18. „unsere Freundschaft“, Die Freundschaft, die zwischen 
Lysimachos und Sophroniskos, dem Vater des Sokrates, bestand. 

14) 5.18. „Was meint ihr.“ Angeredet sind Sokrates und die 
beiden Feldherren. 

15) 8.19. Bei den griechischen Heeren fiel die Hauptaufgabe 
des Kampfes dem schwerbewafineten Fußvolke zu. 

16) 5, 19. „in diesen Kriegswerkzeugen“. In den schweren 
Be in den Waffen der Hopliten. 

1) 5, 26, Nach Plato hat sich unsere Fürsorge für das geistige 
Wohl unserer Mitmenschen auch auf Freunde und Sklaven zu er- 
strecken. | 

13) δὶ τ, Sokrates erklärt sich also noch für zu jung hierzu. 
Bei vergleichender Betrachtung der chronologischen Verhältnisse in 
unserem Dialoge erscheint Sokrates als ein Mann von ungefähr 
fünfzig Jahren. Unwillkürlich stellen wir uns ihn aber hier und da 
etwas Jünger vor. Möglich, daß dies von Plato gewollt ist. Auf 
jeden Fall müssen wir ihm eine solche dichterische Freiheit ein- 
räumen. 

19) S.28. In Athen bildeten die Strategen die oberste Militär- 
behörde, der außer dem Kommando über Heer und Flotte alle 
Militärangelegenheiten oblagen, die bei uns unter das Oberkommando 
und das Kriegsministerium verteilt sind. Auch waren die Strategen 
Vorstände der Gerichte, vor denen bürgerliche Prozesse über Leistungen 
für Militärzwecke verhandelt wurden. 

20, $.28. „an einem Karier“. Die Karier standen in dem Rufe 
der Treulosigkeit und Käuflichkeit und wurden mit den Kretern und 
Kappadokiern zu den „drei schlechtesten Kappa, zu den τρία κάππα 
κάκιστα gezählt, daher ist ἐν τῷ Kapl hier soviel als in vili corpore. 

21) S.28. „mit der Tonne“. Der Sinn des Sprichwortes ist: 
‚nit dem Größten und Schwersten den Anfang machen‘. Den 


Anmerkungen. 55 


Athenern lag ein Sprichwort von der Töpferkunst nahe, weil diese 
dort in großer Blüte stand. 

3) 5, 80, Die Stelle ist etwas freier übersetzt, da der Text 
nicht feststeht. Überliefert ist: καὶ κομιδῇ μοι δοκεῖ μουσικὸς ὅ τοι- 
odros εἶναι, ἁρμονίαν καλλίστην ἡρμοσμένος οὐ λύραν οὐδὲ παιδιᾶς 
ὄργανα, ἀλλὰ τῷ ὄντι ζῆν ἡρμοσμένος οὗ αὐτὸς αὑτοῦ τὸν βίον σύμφωνον 
τοῖς λόγοις πρὸς τὰ ἔργα. Mit οὗ ist nichts anzufangen. Es scheint 
aus εὖ verderbt zu sein. Dieses wird man am besten mit ζῆν ver- 
binden. Dann ergibt sich folgender Gedanke: „Und ein solcher 
scheint mir durchaus der wahre Tonkünstler, der nicht etwa eine 
Lyra, überhaupt nicht Instrumente der Kurzweil zur schönsten Har- 
monie gestimmt hat, sondern er scheint mir in der Tat ein schönes 
Dasein zu führen, da er sein Leben harmonisch gestaltet hat, über- 
einstimmend in Wort und Werk.“ 

38) S.30, Die dorische T'onart war ruhig und männlich, die 
ionische weich und mild, die phrygische leidenschaftlich, die Iydische 
unmännlich und weichlich. 

241) S.31. „ohne jede Rücksicht auf unser Alter“. Gesagt im 
Hinblick auf Sokrates’ Erklärung 181D: „Als das Wichtigste jedoch 
erscheint es mir, daß ich als der Jüngere und Unerfahrenere zunächst 
höre, was diese Männer sagen und von ihnen lerne“ usf. Vgl. auch 
Anm. 18. 

25) 5.31. „So kommt es denn auf uns an“. Sokrates hat den 
beiden Feldherren ihre Bereitwilligkeit bezeugt, Rat zu geben und 
die Sache gemeinsam zu erwägen. So kommt es nun darauf an, 
daß auch Melesias, Lysimachos und Sokrates dieselbe Bereitwilligkeit 
zeigen. 

” 36) 8,34. „In Reih und Glied standhaltend“. Laches hat die 
griechische Kampfweise im Auge, welche nur die Linientaktik der 
Phalanx kannte und ihre Stärke in dem schwerbewaffneten Fußvolk 
hatte. Vgl. auch Apol. 2810) u. Ὁ. 

27) 5. 84. „Wie von den Skythen gesagt wurde“. Dasselbe be- 
richten spätere Schriftsteller von den Parthern. Vgl. Horaz Od. 1 
19, 10: Scythas et versis animosum equis Parthum. 

38) 8.54. „Homer irgendwo“. Ilias 22] ἢ, Vgl. © 106. 

22) S.35. Nach den Worten unseres Dialogs muß es eine Über- 
lieferung gegeben haben, die ein solches Vorgehen der Spartaner in 
der Schlacht bei Plataeae berichtete, und hat Plato diese Über- 
lieferung für glaubwürdig gehalten. Herodot allerdings in seiner 
Erzählung vom Hergange der Schlacht (IX 59—63) berichtet von 
einer solchen Taktik der Spartaner nichts, Dagegen würde die Be- 
merkung des Sokrates, abgesehen von den Worten: ἐπειδὴ πρὸς τοῖς 
ysgpopüooıs ἐγένετο ZU Herodots Schilderung der Taktik der Spartaner 
in den Thermopylen (VII 210f) passen. 

80) S.45. Das Sprichwort lautete: κἂν κύων κἂν Us γνοίη, „das 
weiß wohl auch ein Hund und ein Schwein“ von dem, was leicht 
zu erkennen und einzusehen ist. 

81) S. 45. Plutarch, Theseus Kap. IX sagt: Die krommyonische 
Sau, die man Phaia benannte, war kein gewöhnliches Tier, sondern 
streitbar und schwer zu besiegen. Theseus nahm den Kampf mit 
ihr auf und tötete sie. - Koouuvovia ist sie benannt von der Ebene 


5 6 Laches. 


im südlichen Teile von Megaris, die ihren Namen von einer be- 
festigten Ortschaft Koouuvov hat. 

82) S. 46. Lamachos war Feldherr der Athener zur Zeit des 
peloponnesischen Krieges und zeichnete sich durch seine ungestüme 
Tapferkeit aus, die keine Gefahr kannte. Dabei war er durchaus 
uneigennützig. Im Jahre 421 unterzeichnete er den Frieden des 
Nikias mit. 415 wurde ihm neben Nikias und Alkibiades der Ober- 
befehl bei der Expedition nach Sizilien anvertraut. Nach dem, was 
Plutarch Alkibiades Kap. 18 sagt, galt er trotz seines vorgerückten 
Alters für nicht weniger feurig und waghalsig als Alkibiades. Leider 
befolgte man seinen Krieesplan nicht, gerade auf Syrakus loszugehen 
und die erste Bestürzung zum Angriff zu benutzen. Er fiel vor 
Syrakus im J, 414, 

83) αὶ 46. Die Bewohner des Bezirkes Aixone galten für be- 
sonders schmähsüchtig. Gereizt ist Laches durch die Worte des 
Nikias: „Ich sage ja, daß du weise bist und Lamachos, einep ἐστὲ 
ardoetoı. Dieser Zusatz konnte heißen: „da ihr ja tapfere Männer 
seid“ und „wenn anders ihr tapfere Männer seid“. In dem ersten 
Sinne hat die Konjunktion εἴπερ Nikias gebraucht, in dem zweiten 
hat sie Laches verstanden. 

84) 5.46. Aus diesen Worten geht deutlich hervor, daß Piato 
die Kunst des Prodikos hochschätzte. Dasselbe geht aus der Ab- 
fertigung hervor, die Sokrates in dem unmittelbar Folgenden dem 
Laches wegen seiner Herabsetzung der Kunst des Prodikos zuteil 
werden läßt. 

35) S.52. Odyssee P XVII 345. Als Telemach den als Bettler 
an der Tür des Männersaales erschienenen Odysseus erblickt, ruft er 
Eumaios heran, gibt ihm Brot und Fleisch, daß er es dem Bettler 
bringe und ihn auffordere, alle Freier insgesamt anzubetteln. „Denn 
es ist nicht gut“, so fügt er hinzu, „daß Blödigkeit einem bedürftigen 
Manne beiwohne“, 


Einleitung 
zum Euthyphron. 


1. Die Frage nach der Echtheit des Dialoges. 


Schleiermacher hat vom Euthyphron durchaus keine 
hohe Meinung (Platons Werke I, 2; S.51ff.). Mit dem 
Laches und Charmides verglichen erscheint er ihm „als 
eine sehr untergeordnete Arbeit, weil nicht nur seine dürf- 
tige Bekleidung gegen den Reichtum und die Pracht jener 
beiden sehr nachteilig absticht, sondern auch sein innerer 
Gehalt mit jenen verglichen sich nicht viel besser aus- 
nimmt“. Er erklärt die vermeintlichen Mängel des Dialogs 
„aus der Verflechtung seines wissenschaftlichen Inhalts mit 
seiner apologetischen Tendenz und aus der Eilfertigkeit der 
Abfassung in der Zeit der Anklage des Sokrates“. Sehr 
skeptisch spricht sich auch Natorp aus (Platos Ideenlehre, 
S. 38 Anm.). Beide Urteile kommen einem Verdammungs- 
urteile recht nahe. Von den Gelehrten, die für die Echt- 
heit des „Euthyphron‘ eingetreten sind, ist besonders Her- 
mann Bonitz zu nennen, der in seinen „Platonischen Stu: 
dien“, 3. Aufl., 8. 277 ff. die Argumente Schleiermachers, 
soweit sie den Inhalt des Dialogs betreffen, überzeugend 
widerlegt hat. Was die Komposition anlangt, stimmt er 
ihm zu, daß sie hinter der anderer Dialoge zurückbleibe. 


2%. Die Personen des Gesprächs. 


Der Personen des Gesprächs sind nur zwei, Euthy- 
phron und Sokrates. Nach Andeutungen im „Kratylos“ 
hat sich Euthyphron auch mit sprachlichen Dingen be- 
schäftigt, namentlich mit etymologischen Untersuchungen. 


58 Finleitung. 


In unserem Dialoge erscheint er als Anhänger der streng- 
gläubigen Richtung in Athen. Er glaubte an die Mantik, 
vermeinte aber auch selbst ein großer Seher zu sein. Was 
er in den Volksversammlungen vorhergesagt hat, ist alles, 
wie er behauptet, eingetroffen. Er ist auch ein großer 
Theologe, der auf dem Gebiete der Religion Bescheid weiß, 
wie sonst keiner. So kennt er auch mehr Mythen als andere 
Menschen, ist also nach unserer Ausdrucksweise in der 
biblischen Geschichte außerordentlich bewandert, und was 
die Mythen von den Gröttern erzählen, das glaubt er auch, 
mögen es auch zum Teil sittlich noch so bedenkliche Dinge 
sein. Dem strenggläubigen Manne ist die Mythologie seines 
Volkes wie eine heilige Schrift. Was in ihr steht, muB ge- 
giaubt werden und wird von ihm geglaubt. Was die My- 
then von den Göttern und ihren Taten erzählen, ist ihm 
für sein eigenes Tun vorbildlich. Euthyphrons Handlungs- 
weise ist gerade da, wo er ganz besonders fromm zu han- 
deln glaubt, wo er im Hinblick auf das Tun des Zeus und 
aes Kronos gegen den eigenen Vater vorgeht, nicht fromm, 
sondern gegen alle Pietät und damit gottlos. Aber der 
Mythus ist ihm eine geheiligte Tradition, die von Men- 
schenwitz nicht angetastet werden darf. E. hält auch an 
dem Glauben fest, die durch Missetat entstandene Be- 
fleckung gehe von diesem auf alle über, die mit ihm in 
Berührung kommen, und in um so höherem Grade, je enger 
die Berührung sei, besonders innige Berührung aber finde 
bei denen statt, zwischen denen Herd- und Tischgenossen- 
schaft bestehe. Da nun der Sohn in solcher Gemeinschaft 
mit dem Vater lebt, so ist es gerade für ihn eine Pflicht, 
gegen den mordbefleckten Vater ein gerichtliches Ver- 
fahren zu veranlassen. E. tut dies mit gutem Gewissen. 
Nach seiner Überzeugung entsühnt er damit sich und auch 
den Vater, und erweist durch sein Vorgehen diesem in 
Wirklichkeit eine Wohltat. Sokrates behandelt den Eu- 
thyphron hier und da ironisch. Doch diese Ironie gilt im 
wesentlichen der maßlosen Einbildung des Mannes, nicht 
dem von ihm vertretenen Standpunkte. Die von E. geltend 


Finleitung. 59 


gemachten Anschauungen sind ja nicht sein persönliches 
Eigentum, sind auch nicht von Plato gemacht, sondern 
der Wirklichkeit entnommen, waren damals in Athen so- 
gar verbreitet. 

Um das Vorgehen E.'s gegen seinen Vater richtig zu 
beurteilen, müssen wir nach der Schwere der Schuld des 
Vaters fragen. In seiner Eigenschaft als Kleruch (,Losin- 
haber‘‘) bewirtschaftete E.’s Vater ein Gut auf Naxos — 
die Insel war 473 oder 472 in Abhängigkeit von Athen 
gekommen — und bei diesem Aufenthalte ereignete sich 
der Vorfall, den E. p. 4c ff. berichtet. „Der Getötete war 
ein Tagelöhner!) von mir, und als wir auf Naxos ein Gut 
bewirtschafteten, stand er dort bei uns für Lohn in Dien- 
sten. In der Trunkenheit nun erschlug er einen unserer 
Sklaven, der ihn gereizt hatte. Deshalb ließ ihn mein 
Vater an Händen und Füßen fesseln und in eine Grube 
werfen. Darauf schickt er einen Mann nach Athen, um 
beim Ausleger des heiligen Rechtes?) anzufragen, was er 
zu tun habe. In der Zwischenzeit kümmerte er sich ganz 
und gar nicht um den Gefesselten, da er ja ein Mörder sei 
und es also nichts ausmache, wenn er auch stürbe. Und so 
kam es denn auch. Infolge von Hunger, Frost und den 
Qualen der Fesselung stirbt er, bevor der Bote von dem 
Ausleger des heiligen Rechtes zurückkam“. Gewöhnlich 
erblickt man iu dem Verfahren von E.'s Vater fahrlässige 
Tötung, und in der Tat hat nach griechischem Sprachge- 
brauch das Wort φόνος auch diese Bedeutung. Doch dieser 
Auffassung steht hier folgendes entgegen. E.’s Vater weiß 
recht wohl, dab diese Behandlung des Tagelöhners dessen 
Tod herbeiführen konnte, ja bei einiger Dauer seiner qual- 
vollen Lage herbeiführen mußte. Er weiß das und spricht 
es auch aus. Aber es kommt ihm nichts darauf an. Der 
Mann mag immer sterben, er ist ja ein Totschläger. Wir 


ἢ Die Tagelöhner waren zwar frei, aber nicht viel höher ge- 
achtet als die Sklaven. 

?) Das delphische Orakel hatte in Athen drei ständige Ver- 
treter, die das heilige Recht auslegten. 


60 Einleitung. 


sehen also, er stellt sich den tödlichen Ausgang als mög- 
liche Folge seiner Handiungsweise vor und ist mit diesem 
Ausgange im voraus einverstanden. Demnach liegt nicht 
Fahrlässigkeit, culpa, vor, sondern eine böse Absicht, do- 
lus, deren Verwirklichung allerdings nicht geradezu er- 
strebt, aber den von dem Täter herbeigeführten Umständen 
überlassen wird. So hat sich der Vater E.’s eines dolus 
eventualis und damit des Mordes schuldig gemacht. Dieser 
mußte durch richterliches Einschreiten gesühnt werden. 
Einen Staatsanwalt gab es in Athen nicht. Also mußte die 
Anklage durch einen Bürger erfolgen. Für einen Er- 
schlagenen einzutreten, war das Recht und die Pflicht 
eines näheren Angehörigen. Für den Sklaven trat sein 
Herr ein. Für einen erschlagenen Fremden einzutreten, 
bestand keine Pflicht. Aber in seinem Eifer, alles Unrecht 
zu verfolgen, und in dem Glauben, damit ein der Gottheit 
wohlgefälliges Werk zu tun, nimmt er ein näheres Ver- 
hältnis zwischen sich und dem Tagelöhner an, ähnlich dem 
Verhältnisse zwischen dem Herren und dem Sklaven. „Der 
(retötete war ein Tagelöhner von mir“, sagt er, und bringt 
die Klage auf Mord bei dem Gerichte ein. Nicht nur sein 
Vater, sondern auch alle seine Verwandten sind über sein 
Vorgehen aufs äuberste empört. Doch E. sieht hierin nur 
ein widerspruchsvolles Verhalten. Daß Zeus, so sagte er, 
seinen Vater wegen begangener Verbrechen in Fesseln ge- 
schlagen und Kronos aus gleichem Grunde den seinigen 
entmannt!) hat, glauben die Menschen und sehen darin kein 
Unrecht, ihm aber zürnen sie, dab er gegen seinen Vater, 
der doch eine große Sünde begangen hat, gerichtlich vor- 
geht. Sokrates hatte geäußert, der Gretötete sei gewiß einer 
von Euthyphrons Angehörigen gewesen, denn wegen eines 
Fremden würde er doch nicht gegen den eigenen Vater mit 
einer Klage wegen Mordes vorgehen, aber Euthyphron er- 
klärt es geradezu für lächerlich, wenn einer meine, es 
mache einen Unterschied, ob der Getötete ein Fremder 


') Vgl. Hesiod, Theogonie 154ft. 


Einleitung, 61 


oder ein Angehöriger sei, und man müsse nicht lediglich 
darauf achten, ob der, der einen anderen getötet hat, ihn 
mit Recht getötet hat oder nicht. Und wenn er ihn mit 
Recht getötet hat, so muß man ihn in Ruhe lassen, wo 
nicht, gegen ihn gerichtlich vorgehen, besonders in dem 
Falle, daß man mit dem Missetäter unter demselben Dache 
wohnt und an demselben Tische ißt. Welche schrecklichen 
Taten diese falsche Auffassung von religiöser Pflicht ber- 
vorgerufen hat, namentlich wenn auch in dem Anders- 
gläubigen ein Missetäter erblickt wird, das lehrt die Ge- 
schichte, das zeigt auch das Schicksal des Sokrates, der 
nach jener Stelle unseres Dialoges hingerichtet wurde, weil 
ihn Mythen empörten, in denen den Göttern böse Taten 
nachgesagt wurden. Sehr zu beachten ist es, daß Plato 
diesen strenggläubigen Mann die Anklage des Sokrates un- 
bedingt verurteilen läßt mit den Worten: „Wer es unter- 
nimmt, dich, mein Sokrates, zu verderben, der rüttelt nach 
meiner Überzeugung geradezu an den Grundfesten des 
Staates“. 

 Euthyphrons zweite Definition, nach der das Fromme 
das Gott Wohlgefällige ist, enthält einen richtigen, auch 
uns vertrauten Gredanken, sagt aber nicht, was das Wesen 
der Frömmigkeit ausmacht. Was die vierte Definition an- 
langt, so ist es selbstverständlich, daß ein so gläubiger 
Mann wie E. auf die Wahrung der Kultusvorschriften 
hohen Wert legt. Diese Forderung stellte auch der athe- 
nische Staat, und Sokrates selbst beobachtete gewissenhaft 
die dahingehenden Vorschriften. So verlangt überhaupt 
jede Religionsgemeinschaft einen bestimmten Kultus. Bei 
den Griechen bestand solcher Kultus vor allem in Opfer 
und Gebet. | | 

Wir sehen, ein geistig minderwertiger Mensch ist E. 
keineswegs. Einen solchen konnte ja auch Plato gar nicht 
zum Vertreter der strenggläubigen Richtung in Athen 
machen, wenn er sich mit dieser auseinandersetzen wollte. 

Über Sokrates können wir uns kurz fassen. Die 
Frage, die uns der Euthyphron nahe legt, lautet: Wie stand 


62 Einleitung. 


Sokrates zur Volksreligion? Daß er nicht an Mythen 
glaubt, die mit der Heiligkeit des göttlichen Wesens in 
Widerspruch stehen, sondern solche Erzählungen zurück- 
weist, das läßt ihn Plato mit aller Bestimmtheit aus- 
sprechen. Dagegen ist von Göttern die Rede ohne eine 
Spur des Zweifels an ihrem Dasein, und in einer Weise, 
dab dabei nur an die Götter der athenischen Staatsreligion 
gedacht werden kann. Und in der Apologie, die wir mit 
Gewinn für das Verständnis zum Vergleich heranziehen, 
ist da, wo Sokrates von „dem Grotte“ spricht, an Apollo zu 
denken, der ihn für den weisesten aller Menschen erklärt 
hatte. Doch sind wir hierdurch keineswegs genötigt, So- 
krates eine polytheistische Weltanschauung beizulegen. 
Der einsichtsvolle und gottesfürchtige Mann, der mit Ernst 
darauf bedacht war, seine Mitmenschen, vor allem seine 
Mitbürger sittlich zu heben, wollte nicht gegen das Gebot 
des Staates handeln, der um seines Bestandes willen dar- 
über wachte, daß die von ihm anerkannte Religion unan- 
getastet blieb. Daher redete Sokrates von Göttern und 
schloß sich den Kultusbräuchen seines Volkes an. So 
spricht er auch in unserem Dialoge und in der Apologie 
von Göttern, und Plato mußte hier seinen Lehrer so 
sprechen lassen, der angeklagt war, daß er nicht an die 
Götter des Staates glaube; er hätte ja sonst diese Anklage 
bestätigt. Wir begegnen aber im Euthyphron einem Hin- 
weis darauf, daß das Wesen der Gottheit einheitlich gefaßt 
werden muß, wenn eine richtige Definition von dem, was 
Fromm ist, möglich sein soll. Die p. 7a von Euthyphron 
aufgestellte Definition: ‚Das Fromme ist das den Göttern 
Wohlgefällige“, wird p. 9e dahin verbessert, dab das 
Fromme das allen Göttern Wohlgefällige ist. Und ganz 
gewiß ist die Bestimmung, nach der Frömmigkeit ein 
Gottesdienst im vollen Sinne des Wortes ist, nur bei der 
Annahme eines einheitlichen heiligen Willens der Gottheit 
möglich, dagegen bei Anerkennung der bunten Götterwelt 
der Griechen, in der Zwiespalt und Feindschaft und vie] 
Unsittlichkeit herrscht, ein ganz unmöglicher Gedanke. Da 


Einleitung. 63 


E. an eine solche Welt von Göttern glaubt, so ist es ganz 
natürlich, daß er die letzte Frage, mit deren Beantwortung 
alles zum Abschlusse kommen soll, die Frage nach dem 
schönen Werke, bei dessen Ausführung der Mensch der 
Gottheit helfen soll, nicht beantworten kann. Die Apologie 
aber macht es für den aufmerksamen Leser deutlich genug, 
daß Sokrates in seinem Innern über der Volksreligion 
stand. Die Klageschrift des Meletos sagt deutlich, dab So- 
krates nicht an die Götter des Staates glaube, sondern an 
andere, neue göttliche Wesen. Wenn Plato seinen Lehrer 
gegen diese klar gefaßte Anklage nicht verteidigt, sondern 
Meletos diese Anklage verwandeln läßt in die Anklage des 
Atheismus, so wollte er ihn nicht dagegen verteidigen; er 
konnte das auch nicht, ohne unwahr zu werden und durch 
diese Unwahrheit zugleich seinen innigst verehrten Lehrer 
tief herabzusetzen. Anderseits konnte er den, im Grunde 
genommen, monotheistischen Standpunkt des Sokrates nicht 
bestimmt herauskehren, ohne damit seinen Anklägern in 
den Augen eines sehr großen Teiles der Athener recht zu 
geben. 


3. Die Aufgabe des Dialoges. 


Über das Ziel, das Plato mit der Abfassung der 
kleinen Schrift verfolgt hat, gehen die Ansichten der Ge- 
lehrten auseinander. Bei unbefangener Betrachtung er- 
scheint als Aufgabe des Dialoges die Feststellung des Be- 
griffes der Frömmigkeit. Aber hiervon abweichend hat 
man seinen Zweck in der Schilderung der sittlichen Zu- 
stände in dem damaligen Athen gefunden, ferner in seinen 
logischen Erörterungen, vielfach auch in einer Apologie 
des Sokrates. Auch hat man behauptet, der Dialog verfolge 
mehrere Zwecke nebeneinander. Zu der Annahme, der Dia- 
log habe es mit der Beantwortung der Frage nach dem 
Wesen der Frömmigkeit zu tun, stimmen Gang und Weise 
der Untersuchung. Auch entspricht die Wahl dieses The- 
mas durchaus der Aufgabe, die sich Plato unter dem Ein- 
flusse seines Lehrers Sokrates für seine früheste schrift- 


θά Einleitung. 


stellerische Tätigkeit gestellt hat. Sokrates hatte erkannt, 
daß unser sittliches Leben durch eine Anzahl von Be- 
griffen bestimmt wird, und daß für uns alles darauf an- 
kommt, zur Erkenntnis dieser Begriffe durchzudringen. 
An diesem Gedanken hat auch Plato festgehalten. Der 
wichtigste aber von allen solchen Begriffen ist der Begriff 
der Frömmigkeit insofern, als wir durch diese zugleich in 
ein unmittelbares Verhältnis zur Gottheit gesetzt werden. 
So war die Untersuchung dieses Begriffs für Plato schon 
an sich wertvoll und notwendig. Unsere Schrift begründet 
diese Notwendigkeit außerdem aus schlimmen Vorkomm- 
nissen im damaligen Athen, die mit irrigen Auffassungen 
vom Wesen der Frömmigkeit zusammenhingen. Diese 
falschen Auffassungen mußten untersucht und widerlegt. 
werden, damit ihre nachteiligen Wirkungen aufgehoben 
und der wahre Begriff der Frömmigkeit sichergestellt 
würde. Gerade durch die Untersuchung der bestehenden 
falschen Vorstellungen von dem Wesen der Frömmigkeit 
offenbart sich die Feststellung des Begriffs der Frömmig- 
keit immer wieder als die eigentliche Aufgabe des Dialogs. 

Die logischen Erörterungen sind nur Mittel zum 
Zweck. Die verhältnismäßig sehr ausgedehnte Darlegung 
der für die wissenschaftiiche Untersuchung zu verwenden- 
den Mittel erklärt sich daraus, daß die Abfassung des 
Dialogs in eine Zeit fällt, in der die wissenschaftliche 
Methode erst noch aufgefunden und festgestellt werden 
mußte. 

Wer den eigentlichen Zweck des Dialogs in einer 
Apologie des Sokrates findet, der kann sich darauf be- 
rufen, daß auf den Prozeß des Sokrates zu Anfang und 
zu Ende des Dialogs und auch sonst Bezug genommen 
wird. Aber bei der Anlage und Durchführung des ganzen 
Gesprächs nimmt dieses Moment nicht die erste Stelle ein; 
diese bleibt der Erörterung der Frage: Was ist Frömmig- 
keit? Sollte die Verteidigung des Sokrates die Hauptsache 
sein, so mußte sein Begriff der Frömmigkeit vollkommen 
klargestellt und sein frommes Tun vor Augen geführt 


Einleitung, 65 


werden, während das Methodologische zurücktreten mußte. 
Hätte Plato, wie Schleiermacher und andere glauben, den 
Dialog nach Einreichung der Klageschrift des Meletos 
geschrieben, um auf die Athener und namentlich auf die 
Richter zugunsten seines Lehrers einzuwirken, so hätte er 
ohne Frage seine Sache wenig geschickt angefangen. Die 
beiden eben angegebenen Forderungen mußten dann un- 
bedingt erfüllt werden, und gebieterisch erhebt sich die 
Frage: Was sollen dann die eingehenden und umfang- 
reichen logischen Erörterungen, die noch dazu anscheinend 
nicht einmal zum Ziele führen? Aber das bleibt bestehen: 
eine Bezugnahme auf die Anklage des Sokrates liegt klar 
vor, und indem Sokrates es ist, der den wahren Begriff 
der Frömmigkeit feststellt, ergibt es sich, daß der wegen 
Grottlosigkeit verklagte Mann im Besitze der wahren Fröm- 
migkeit ist. Diese Apologie ist zwar nicht die eigentliche 
Aufgabe des Dialogs, wohl aber etwas, was mit der Lösung 
dieser Aufgabe durch Sokrates von selbst eintritt, sie ist 
nach der Komposition des Dialogs nicht der Zweck des 
Ganzen, sondern eine Folge der Erreichung dieses Zweckes. 
Dieses Ergebnis ist von Plato sicherlich bei dem Entwurfe 
des Ganzen ins Auge gefaßt worden, und so kann es wohl 
als Nebenzweck bezeichnet werden. Aber ein Verständnis 
für solche Zusammenhänge kann nur von dem wissen- 
schaftlich gebildeten Leser erwartet werden, und so ist es 
eine unhaltbare Annahme, Plato habe die Schrift verfaßt, 
um durch Einwirkung auf das athenische Volk einen für 
Sokrates günstigen Ausgang des Prozesses herbeizuführen. 

Demnach ist und bleibt die eigentliche Aufgabe des 
Dialogs die Lösung der Frage: Was ist Frömmigkeit? Die 
Schilderung von Vorgängen im damaligen Athen enthält 
die Begründung für die Aufstellung dieses Themas, die 
Untersuchung und Widerlegung irriger Auffassungen vom 
‚Wesen der Frömmigkeit dient der Beseitigung des Falschen 
und Schädlichen und damit zugleich der Befestigung des 
Wahren und Heilsamen, die methodologischen Erörte- 
rungen sind Mittel .zum Zweck, und die Rechtfertigung 

Piaton Laches und Euthyphron. Phil. Bibl. Bd. 178. 5 


66 Einleitung. 


des Sokrates ist die Folge der von ihm selbst herbeige- 
führten Lösung der Aufgabe. 


4. Zeit der Abfassung. 


Unser Dialog verlegt das von Sokrates und Euthy- 
phron über das Wesen der Frömmigkeit geführte Gespräch 
in das Jahr 399, und zwar in die Zeit zwischen der Ein- 
bringung der Anklage gegen Sokrates und seiner Verur- 
teilung. Daß dies auch die Zeit der Abfassung unserer 
Schrift sei, ist zwar auch behauptet worden, es sprechen 
aber die gewichtigsten Gründe dagegen. Der Dialog kann 
erst nach dem Tode des Sokrates geschrieben sein und 
auch nicht ganz kurze Zeit nach diesem. Martin Schanz 
sagt in seiner Ausgabe des Euthyphron mit deutschem 
Kommentar auf Seite 15: „Die Stimmung Platos über den 
Prozeß des Sokrates ist im Euthyphron eine so resignierte, 
daß sich dieselbe aus der Zeit unmittelbar nach dem Tode 
des Sokrates nicht erklären läßt.“ Obwohl sich in unserem 
Dialoge hier und da auch ein bitteres Gefühl bemerkbar 
macht, werden wir doch gern zugestehen, dab die Grund- 
stimmung des Dialogs es verwehrt, seine Abfassung in 
die Zeit unmittelbar nach dem Toode des Sokrates zu setzen. 
Der Inhalt des Dialogs scheint uns sogar zu nötigen, 
seine Entstehung einer ziemlich späten Zeit zuzuweisen. 
Es kann, keine schönere Bestimmung von dem Wesen 
der Frömmigkeit geben als die im Euthyphron, und was 
noch wichtiger ist, die Ideenlehre in diesem Dialoge stimmt 
in ihren Grundzügen mit der im Timaeus!) vollkommen 
überein. Doch ist folgendes zu bedenken. ‚Wir können nicht 
annehmen, Plato habe begonnen, über Gott und Menschen 
zu schreiben und mit solchen Schriften vor sein Volk 
hinzutreten, ehe er zu einer für ihn in ihren Grund- 


1) Schneider hat den Nachweis dieser Behauptung in einem 
„Die Ideenlehre in Platons Euthyphron“ überschriebenen Abschnitte 
geliefert, dessen Umfang einen Abdruck an dieser Steile leider nicht 
erlaubte. | Der Herausgeber. 


Einleitung. 67 


zügen feststehenden Weltanschauung gekommen war. Bei 
seiner wunderbaren geistigen Kraft wird er dieses Ziel 
ziemlich früh, wohl noch vor seinem 30. Lebensjahr er- 
reicht haben. Wir können das um so eher annehmen, als 
sich seine Weltanschauung auf dem Grunde bereits voraus- 
'gegangener Weltanschauungen erbaut hat. Vorhergegangen 
ist ihm Heraklit, der nicht nur mit seiner Annahme eines 
ewigen Wechsels von Entstehen und Vergehen im Bereiche 
der Sinnenwelt, sondern auch mit seiner Lehre vom Logos 
einen großen Einfluß auf ihn ausgeübt hat. Voorangegangen 
sind ihm auch die Pythagoreer mit ihren tiefen ethischen 
und religiösen Gedanken. Vor allem aber müssen wir an 
Sokrates denken, dessen Lehre er die Grundzüge seiner 
ethischen und religiösen Anschauungen zu verdanken hatte. 
Demnach zwingt uns der bedeutende Inhalt des Euthy- 
phron nicht, seine Abfassung in eine späters Zeit der 
schriftstellerischen Tätigkeit Platos zu verlegen. Seinem 
Inhalte nach reiht sich der Euthyphron den Dialogen ein, 
die die Untersuchung der ethischen Anschauungen und 
die begriffliche Feststellung des Wesens der Tugend zum 
Gegenstande haben und damit in naher Berührung mit dem 
Sokratischen Suchen und Forschen nach der Erkenntnis 
der sittlich-religiösen Natur des Menschen stehen. Der 
Zeit der Entstehung nach sind ihm eine Anzahl Plato- 
nischer Schriften vorausgegangen. Mit Bestimmtheit läßt 
sich dies von der Apologie und dem Kriton, von dem 
Protagoras und dem Laches behaupten. 


δ᾽ 


Platons Euthyphron. 


Personen des Gespräches: Euthyphron, Sokrates. 


Erstes Kapitel. 


Euthyphron. Wie kommt es denn, Sokrates, daß du » st. 
deinen gewohnten Aufenthalt im Lykeion!) aufgegeben 
hast und nun hier bei der Halle des Basileus?) weilst? 
Du hast ja doch wohl nicht gleich mir einen Rechtsstreit 
vor dem Basileus? 

Sokrates. Die Athener nennen es allerdings, mein 
Euthyphron, nicht einen Rechtsstreit, sondern eine Krimi- 
nalklage3). 

Euthyphron. Was sagst du? Eine Kriminalklage 
hat einer gegen dich eingereicht? Denn das werde ich 
wohl nicht erleben, daß du gegen einen anderen mit einer 
Klage vorgehst. 

Sokrates. Gewiß nicht. 

Euthyphron. Aber ein anderer gegen dich? 

Sokrates. Freilich. | 

Euthyphron. Wer ist denn das? 

Sokrates. Ich kenne selbst den Mann fast gar nicht, 
Euthyphron. Wie mir scheint, ist es ein ganz junger und 
unbekannter Mensch. Sein Name ist meines Wissens 
Meletos®), und er gehört dem Bezirke Pitthos an. Viel- 
leicht kannst du dich auf einen Meletos aus diesem Be- 
zirke besinnen, auf so einen Menschen mit langem Haar, 
mit spärlichem Bart und einer Habichtsnase. 

Euthyphron. Ich erinnere mich nicht, mein So- 
krates. Doch was für eine Klage hat er denn gegen dich 
angestrengt ? 

Sokrates. ‘Was für eine, fragst du? Eine nicht ge- 
wöhnliche, wie mich dünkt; denn daß ein so junger 


Euthyphron. 69 


Mensch eine so bedeutende Sache versteht, das ist nichts 
Gewöhnliches. Er weiß nämlich, wie er behauptet, auf 
welche Weise die Jugend verderbt wird, und wer ihre 
Verderber sind. Auch scheint er recht weltklug zu sein, 
und da er meine Unerfahrenheit erkannt hat, geht er, 
gleich einem Kinde, das zur Mutter geht, zur Stadt, um 
mich als Verderber seiner Altersgenossen zu verklagen. 
Auch ist er meines Erachtens der einzige, der seine 
politische Tätigkeit in der rechten Weise beginnt; denn 
das ist das Richtige, zunächst dafür zu sorgen, daß die 
jungen Leute möglichst gut werden, gleichwie ein guter 
Landwirt natürlich zuerst für die jungen Pflanzen sorgt, 
danach auch für die übrigen. Und so jätet denn wohl auch 

3 St. Meletos zunächst uns aus, weil wir die keimende Jugend, 
wie er sich ausdrückt, verderben’). Hernach wird er 
offenbar für die älteren Leute sorgen, und so wird er für 
den Staat der Bringer sehr vieler und sehr großer Güter 
werden, ein Ausgang, wie er bei einem solchen Anfange 
selbstverständlich ist. 


Zweites Kapitel. 


Euthyphron. Das wünschte ich wohl, mein Sokra- 
tes! Ich fürchte aber, daß das Gegenteil davon eintritt; 
denn wie mich dünkt, beginnt er seine Verwüstung des 
Staates geradezu mit dem Heiligtume des Herdes, wenn er 
sich unterfängt, dir unrecht zu tun. Doch sage mir: Was 
tust du denn, dab er behauptet, du verderbest die jungen 
Leute? | 

Sokrates. Gar seltsam klingt es, mein Verehrter, 
wenn man es so hört. Er sagt nämlich, ich sei Erfinder 
von Göttern, und weil ich neue Götter erdichtete und an 
die alten nicht glaubte, eben deshalb hat er mich nach 
seiner Behauptung verklagt. 

Euthyphron. Ich verstehe, Sokrates! Das kommt 
gewiß daher, daß du sagst, die Gottheit offenbare sich dir 
bei jeder Gelegenheit‘). Er hat also diese Klage gegen dich 


70 Platous Dialoge. 


als einen Neuerer auf dem Gebiete der Religion anhängig 
gemacht, und so wendet er sich an das Gericht, um dich zu 
verdächtigen, wohl wissend, daß solche Verdächtigungen 
vei der Menge leicht Glauben finden. Denn”) auch mich, 
denke dir, verlachen sie wie einen, der nicht recht bei 
Verstand ist, wenn ich in der Volksversammlung über das 
göttliche Walten etwas sage und ihnen die Zukunft ver- 
künde, und doch ist unter allen meinen Voraussagungen. 
keine, die sich nicht bewahrheitet hätte. Aber gleichwohl 
sind sie auf uns alle neidisch, die solche Gaben besitzen. 
Drum soll man sich um sie gar nicht kümmern und ruhig 
seinen Weg gehen. 


Drittes Kapitel. 


Sokrates. Lieber Euthyphron, verlacht zu werden, 
das hat wohl nicht viel auf sich. Denn den Athenern 
macht es meines Erachtens nicht viel aus, wenn sie von 
einem glauben, er besitze ein außergewöhnliches Wissen?®), 
habe aber nicht die Absicht, seine Weisheit andere zu 
lehren; von wem sie aber meinen, er übertrage seine An- 
sichten auch auf andere, dem zürnen sie, sei es nun aus 
Neid, wie du meinst, oder aus irgendwelchem anderen 
Grunde. 

Euthyphron. Wie sie sich nun in der Beziehung 
mir gegenüber verhalten, das zu erproben, trage ich durch- 
aus kein Verlangen. 

Sokrates. Du stehst ja wohl in dem Rufe, daß du 
dich selten machst und nicht geneigt bist, deine Weisheit 
andere zu lehren; von mir aber glauben sie, wie ich 
fürchten muß, daß ich aus Menschenfreundlichkeit all mein 
Wissen jedermann verschwenderisch mitteile nicht nur un- 
entgeltlich, sondern indem ich mit Freuden noch zulegen 
würde, wenn mich einer nur anhören will. Wenn sie mich 
also, wie gesagt, auslachen würden, wie du das von dir 
behauptest, so wäre es recht hübsch, die Zeit unter Scherz 
und Gelächter vor Gericht zu verbringen; wenn sie aber 


er 


Euthyphron. 71 


Ernst machen, wie das dann ablaufen wird, das weiß außer 
euch Sehern kein Mensch. 

Euthyphron. Sokrates, vielleicht hat die ganze Sache 
nichts auf sich, sondern du führst deinen Prozeß nach 
Wunsch durch, und auch ich, wie ich denke, den meinen. 


Viertes Kapitel. 


Sokrates. Wie steht es denn nun mit deinem Pro- 
zeß, Euthyphron? Wirst du gerichtlich verfolgt, oder 
verfolgst du? | 

Euthyphron. Ich bin der Verfolgende. 

Sokrates. Und wen verfolgst du? 

Euthyphron. Einen, durch dessen Verfolgung ich 
wieder einmal den Glauben erwecke, ich sei nicht recht 
bei Sinnen. 

Sokrates. Wieso? Verfolgst du denn einen, der 
fliegen kann? 

Euthyphron. An Fliegen ist bei dem nicht zu 
denken. Es ist ja ein ganz alter Mann. 

Sokrates. Wer ist es denn ? 

Euthyphron. Mein Vater. 

Sokrates. Dein eigener Vater, mein Bester ὃ 

Euthyphron. Ganz recht. 

Sokrates. Worauf lautet denn deine Klage, und 
worum handelt es sich bei dem Prozesse’? 

Euthyphron. Um Mord°), Sokrates. 

Sokrates. Um Himmels willen! Ganz gewiß sehen 
die meisten Menschen die Berechtigung deines Verfahrens 
nicht ein. Es ist ja auch nicht Sache des ersten besten, 
hierbei das Richtige zu treffen, sondern das erfordert einen 
Mann, der wohl schon eine hohe Staffel der Weisheit er- 
klommen hat. | 

Euthyphron. Beim Zeus, fürwahr eine hohe, So- 
krates. 

Sokrates. Gewiß gehört der von deinem Vater Ge- 
tötete zu deinen nächsten Angehörigen. Das ist ja klar: 


79 Platons Dialoge. 


denn wegen eines Fremden würdest du doch wohl nicht 
mit einer Klage wegen Mordes gegen ihn vorgehen. 
Euthyphron. Lächerlich ist es, Sokrates, daß du 
meinst, es mache einen Unterschied, ob der Getötete ein 
Fremder ist oder ein Angehöriger, und man müsse nicht, 
vielmehr lediglich darauf achten, ob der, der ihn tötete, 
ihn mit Recht getötet hat oder nicht, und wenn mit Recht, 
es gut sein lassen, im anderen Falle gegen ihn vorgehen, 
gerade wenn der Täter dein Herd- und Tischgenosse ist. 
Denn die Befleckung wird gleichgroß!%), wenn du mit 
einem solchen zusammen bist, während du um die Sache 
weißt, und nicht dich und ihn durch gerichtliches Vor- 
gehen entsühnst. Der Getötete war nämlich ein Tagelöhner 
von mir, und als wir auf Naxos ein Gut bewirtschafteten, 
diente er dort bei uns um Tagelohn. In der Trunkenheit 
nun schlägt er einen unserer Sklaven tot, der ihn gereizt 
hatte. Darauf läßt ihn mein Vater an Händen und Füßen 
gefesselt in eine Grube werfen und schickt einen Mann 
hierher, um bei dem Ausleger des heiligen Rechtes an- 
zufragen, was er tun solle Während dieser Zeit kümmert 
er sich um den Gefesselten ganz und gar nicht, da er ja 
ein Mörder sei und gar nichts darauf ankomme, wenn er 
auch stürbe. Und in der Tat kam es auch so. Infolge von 
Hunger, Frost und der Fesselung starb er, bevor noch der 
Bote von dem Ausleger zurückkam. Deshalb sind mein 
Vater und alle meine Verwandten unwillig, daß ich für 
den Gretöteten mit einer Klage auf Mord gegen den eigenen 
Vater vorgehe, der ihn nicht getötet habe, wie sie sagen, 
und wenn er ihn auch zehnmal getötet hätte, so sei doch 
der Umgekommene ein Mörder gewesen, und um so einen 
brauche man sich nicht zu kümmern. Daß wegen eines 
solchen Menschen der Sohn gegen den eigenen Vater mit 
einer Anklage auf Mord vorgehe, sei einfach gottlos. Mein 
Sokrates! die wissen eben gar nicht, was vom religiösen 
Standpunkte aus beurteilt Fromm, was Grottlos ist. 
Sokrates. Du meinst also -wahrhaftig, lieber Euthy- 
phron, über die Gebote der Religion und über das, was 


ba 


Euthyphron, 73 


Fromm und was Gottlos ist, so genau Bescheid zu wissen, 
daß du bei einem solchen Hergange, wie du ihn schilderst, 
nicht fürchtest, mit einer gerichtlichen Verfolgung deines 
Vaters schließlich deinerseits eine gottlose Tat zu be- 
gehen ? 

Euthyphron. Ich wäre ja gar nichts nütze, Sokra- 
tes, und ein Euthyphron würde vor der großen Menge 
der Menschen nichts voraus haben, wüßte ich nicht auf 
diesem ganzen Gebiete genau Bescheid. 


Fünftes Kapitel. 


Sokrates. Wäre es da nicht das Beste für mich, 
trefflichster Euthyphron, ich würde dein Schüler und 
forderte vor der Verhandlung des Prozesses mit Meletos 
grade mit Bezug auf eben diese Fragen ihn zu einer Ver- 
ständigung auf mit der Erklärung, schon in früherer Zeit 
hätte ich hohen Wert auf theologisches Wissen gelegt, 
und so wäre ich denn jetzt, wo er behauptet, daß ich aus 
Leichtfertigkeit und Neuerungssucht auf dem Gebiete der 
Religion irregehe, in der Tat dein Schüler geworden, „und 
wenn du, Meletos“, so würde ich fortfahren, „zugestehst, 
daß Euthyphron auf diesem Gebiete weise ist und den 
rechten Glauben hat, so halte auch mich für rechtgläubig 
und ziehe mich nicht vor Gericht; im anderen Falle 
mache eher gegen ihn, der mein Lehrer ist, eine Klage 
anhängig als gegen mich, daß er nämlich die älteren Leute 
verderbe, mich und seinen Vater, mich durch seine Lehre, 
jenen durch Strafe und Züchtigung“, und wenn er auf 
mich nicht hört und von der Klage nicht abläßt oder statt 
meiner dich anklagt, ist es da nicht das Beste, ich sage 
vor Gericht genau dasselbe wie bei der Aufforderung zur 
Verständigung!!) ? 

Euthyphron. Wahrhaftig bei Zeus, ὁ Sokrates, 
wenn er sich wirklich unterfangen sollte, gegen mich mit 
einer Klage vorzugehen, so würde ich schon eine schad- 
hafte Stelle an ihm ausfindig machen, und es würde viel 


74 Platons Dialoge. 


früher über ihn vor Gericht verhandelt werden als über 
mich!?). 

Sokrates. Glaub mir, mein lieber Freund, das kenne 
ich und trage daher Verlangen, dein Schüler zu werden; 
denn ich weiß, daß wie mancher andere auch dieser Me- 
letos anscheinend für dich überhaupt keine Augen hat, 
während er mich so sicher und so leicht durchschaute, 
daß er mich der BetlDele angeklagt hat. 

Jetzt sage mir bei Zeus, was du eben noch genau zu 
wissen behauptetest: „Worein setzt du das Wesen der 
Frömmigkeit und der Grottlosigkeit bei Mord sowohl als 
bei anderen Vergehen? Oder ist das Fromme nicht bei 
einer jeden Handlung mit sich identisch, und das Gottlose 
anderseits das gerade Gegenteil von allem Frommen, sich 
selbst aber gleich und hat nicht alles, was gottlos sein soll, 
insofern als es gottlos ist, ein und dasselbe Wesen r“ 

Euthyphron. Ganz gewiß, lieber Sokrates. 


Sechstes Kapitel. 


Sokrates. Sage mir nun: Was verstehst du unter 
Fromm und was unter Grottlos ἢ 

Euthyphron. Ich sage also: „Fromm ist eben das, 
was ich jetzt tue, nämlich gegen einen Übeltäter, der sich 
durch Mord oder Tempelraub oder ein anderes Verbrechen 
solcher Art vergangen hat, gerichtlich vorzugehen, mag es 
nun der Vater oder die Mutter oder sonst wer sein; aber 
gegen ihn nicht vorzugehen ist gottlos.“ Denn merke auf, 
mein Sokrates, einen wie schlagenden Beweis ich dir da- 
für anführen werde, dab das die gesetzliche Weise zu 
handeln ist, einen Beweis, den ich auch schon anderen 
gegenüber dafür geltend gemacht habe, daß das rechte Ver- 
halten doch wohl darin besteht, daß man dem Frevler sein 
Unrecht nicht hingehen läßt, er sei auch, wer er sei. Ganz 
von selbst halten die Menschen Zeus für den besten und 
gerechtesten der Götter, und von diesem Gotte sagen "516 
übereinstimmend, er habe seinen eigenen Vater in Fesseln 6 5 


Eutliyphron. 75 


geschlagen, weil er seine Söhne verschlang ohne recht- 
lichen Grund, und dieser wiederum habe seinen Vater 
entmannt um eben solcher Taten willen‘); mir aber zür- 
nen sie, daß ich gegen meinen Vater gerichtlich vorgehe, 
der ein großes Unrecht begangen hat, und so widersprechen 
sie sich selbst in bezug auf die Götter und auf mich. 
Sokrates. Lieber Euthyphron, das ist wohl der 
Grund, zur Anklage gegen mich, daß es mich mit großem 
Unwillen erfüllt, wenn einer von den Göttern solche Dinge 
sagt. Und darum eben, so scheint es, wird mancher 
sagen, ich versündige mich. Wenn nun auch du, der auf 
diesem Gebiete ein so bedeutendes Wissen besitzt, an 
solche Dinge glaubst, so müssen wir zustimmen, denn 
was könnten wir dagegen sagen, wir, die wir selber zuge- 
stehen, hiervon nichts zu wissen!#)? Drum sage mir bei 
dem Gotte der Freundschaft): „Glaubst du wirklich an 
solche Vorkommnisse ?“ 
Euthyphron. Und an noch wunderbarere als diese, 
von denen die meisten Menschen gar nichts wissen. 
Sokrates. Also glaubst du, die Götter führen wirk- 
lich untereinander Krieg, und es kommen zwischen 
ihnen schreckliche Feindschaften vor und Schlachten und 
vieles andere solcher Art, wie es sich in den Erzählungen 
der Dichter findet und auf den Bildern, mit denen die 
guten Maler unsere Heiligtümer bemalt haben, und so 
ist denn auch das Gewand der Göttin, das an den großen 
Panathenäen auf die Akropolis gefahren wird, voll von 
solchen Stickereien!6). Sollen wir sagen, daß diese Ge- 
schichten und Darstellungen auf Wahrheit beruhen ? 
Euthyphron. Nicht allein von diesen soll das gelten, 
sondern, wie gesagt, wenn du willst, so werde ich dir noch 
vieles andere von den Göttern erzählen, was dich ganz 
gewib in grenzenloses Erstaunen versetzen wird. 


Siebentes Kapitel. 


Sokrates. Das sollte mich nicht wundernehmen. 
Doch das kannst du mir ein andermal erzählen, wenn wir 


76 Platons Dialoge. 


Zeit dazu haben; jetzt aber versuche mir das deutlicher 
anzugeben, wonach ich dich eben fragte. Denn vorhin, 
mein Freund, hast du mich nicht ausreichend belehrt, als 
ich dich fragte, was denn das Fromme sei, sondern hast 
mir gesagt, das eben sei fromm, was du jetzt damit tust, 
daß du deinen Vater wegen Mordes anklagst!?). 

Euthyphron. Und damit, Sokrates, sagte ich die 
Wahrheit. E- 

Sokrates. Vielleicht. Aber, lieber Euthyphron, du 
nennst ja noch viele andere Handlungen fromm. 

Euthyphron. So ist es ja auch. 

Sokrates. Erinnerst du dich nun, daß ich dich nicht 
dazu aufforderte, mich über eine oder zwei der vielen 
frommen Handlungen zu belehren, sondern über das Wesen 
selbst18), durch welches alles Fromme fromm ist? Denn 
du sagtest doch wohl, durch ein und dasselbe Wesen sei 
alles Gottlose gottlos und alles Fromme fromm. Erinnerst 
du dich nicht? 

Euthyphron. Gewib. 


Sokrates. Demnach belehre mich über dieses Wesen | 


selbst, was es denn ist, damit ich auf dasselbe hinblicke 
und es als Muster brauchen kann und so Handlungen von 
dir oder irgendeinem anderen, die ihm entsprechen, als 
fromm bezeichne, die aber, die ihm nicht entsprechen, 
nicht so nenne. 

Euthyphron. Wenn du das wünschest, werde ich es 
dir auch in dieser Weise darlegen. 

Sokrates. Gewiß ist das mein Wunsch. 

Euthyphron. Fromm ist also das den Göttern An- 
genehme, aber das ihnen nicht Angenehme ist gottlos. 

Sokrates. Sehr schön!), Euthyphron. Wie ich 
wünschte, daß du antworten möchtest, so hast du jetzt ge- 
antwortet, ob jedoch richtig, das weiß ich noch nicht; doch 
wirst du mich offenbar darüber noch belehren, daß, was 
du sagst, richtig ist. 

Euthyphron. Ganz gewiß, 


ER 


Euthyphron. 7 


Achtes Kapitel. 


Sokrates. Wohlan denn! Laß uns zusehen, wie es 
mit unserer Erklärung steht. Das den Göttern Angenehme 
und der den Göttern angenehme Mensch ist fromm, aber 
das den Göttern Verhaßte und der den Göttern verhaßte 
Mensch ist gottlos. Es ist aber das Fromme nicht dasselbe 
wie das Gottlose, sondern sein gerades Gegenteil. Ist es 
nicht so? 

Euthyphron. Auf jeden Fall ist so gesagt worden 30). 

Sokrates. Und scheint das Gesagte auch zutreffend ? 

Euthyphron. Ich glaube, mein Sokrates. 

Sokrates. Ist nun nicht auch das behauptet worden, 
mein Euthyphron, daß die Götter untereinander hadern 
und streiten und gegenseitige Feindschaft unter ihnen 
herrscht ? 

Euthyphron. Allerdings ist das gesagt worden. 

Sokrates. Auf welchem Gebiete aber, mein Bester, 
muß sich die Meinungsverschiedenheit bewegen, wenn sie 
Feindschaft und Ausbrüche des Zornes hervorrufen soll? 
Laß uns die Sache so betrachten! Wenn wir beide, ich 
und du, über eine Zahl verschiedener Meinung wären, 
welche von zwei Arten von Gegenständen in größerer An- 
zahl vorhanden seien, würde die Meinungsverschiedenheit 
in diesem Punkte uns zu Feinden machen und gegenein- 
ander aufbringen, oder würden wir vielmehr zur Auszäh- 
lung schreiten und so damit schnell ins Reine kommen ? 

Euthyphron. Ganz gewiß. 

Sokrates. Würden wir nun nicht auch, wenn wir 
über Größer und Kleiner verschiedener Ansicht wären, 
zur Ausmessung schreiten und so der Meinungsverschie- 
denheit ein rasches Ende bereiten ? 

Euthyphron. So ist es. 

Sokrates. Und über Schwerer und Leichter, denk 
ich, würden wir uns einigen, wenn wir zum Wägen 
schritten ? | 

Euthyphron. Warum denn nicht? 


78 Platons Dialoge. 


Sokrates. Worüber nun müssen wir verschiedener 
Meinung sein und aubßerstande, zu einer Entscheidung zu 
kommen, wenn wir einander feind werden und uns er- 
zürnen sollen? Vielleicht ist es dir nicht gegenwärtig; 
. drum will ich es sagen, und du magst zusehen, ob es 
folgende Dinge sind: das Gerechte und das Ungerechte, 
das Schöne und das Häßliche®!), das Gute und das Böse. 
Sind das nicht die Gegenstände, bei denen Meinungsver- 
schiedenheit und Unvermögen zu einer genügenden Ent- 
scheidung über sie zu kommen, dahin führen, daß wir ein- 
ander feind werden, im Falle wir es werden, ich und du 
und alle anderen Menschen? 

Euthyphron. Die Meinungsverschiedenheit, mein 
Sokrates, die sich auf diese Gegenstände bezieht, kommt in 
Betracht. 

Sokrates. Wie steht es nun mit den Göttern, mein 
Euthyphron ? Werden sie nicht, wenn sie überhaupt über 
etwas verschiedener Meinung sind2), eben hierüber ver- 
schiedener Meinung sein ? 

Euthyphron. Ganz unbedingt. 

Sokrates. Also halten nach dem, was du sagst, edler 
Euthyphron, auch von den Göttern die einen dies, die an- 
deren jenes für gerecht und ungerecht, und für schön und 
häßblich und für gut und böse. Denn sie würden sich 
wohl nicht entzweien, wenn sie nicht hierüber verschie- 
dener Ansicht wären. Meinst du nicht? 

Euthyphron. Du hast recht. 

Sokrates. Es lieben nun doch wohl auch jegliche 
eben das, was sie für schön und für gut und gerecht halten, 
das Gegenteil davon aber hassen sie? 

Euthyphron. Durchaus. | 

Sokrates. Ein und dasselbe halten also nach deiner 
Rede die einen für gerecht, die anderen für ungerecht, und 
indem sie darüber verschiedener Ansicht sind, entzweien 8 s 
sie sich und kämpfen sie miteinander. Ist es nicht so? 

Euthyphron. So ist es. 


Euthyphron. _ 79 


Sokrates. Ein und dasselbe also wird, wie es scheint, 
von den Göttern gehaßt und geliebt, und so wird ein und 
dasselbe den Göttern verhaßt und den Göttern angenehm 
sein. 

Euthyphron. Es sieht so aus. 

Sokrates. Und so wäre nach dieser Rede ein und 
dasselbe fromm und gottlos. 

Euthyphron. Es scheint so. 


Neuntes Kapitel. 


Sokrates. Also hast du nicht auf meine Frage ge- 
antwortet, du Trefflichster. Denn natürlich habe ich dich 
nicht nach dem gefragt, was als ein und dasselbe fromm 
und gottlos ist, und was den Göttern zugleich angenehm 
und auch verhaßt ist2®). Daher ist es hinsichtlich dessen, 
was du jetzt tust, wo du deinen Vater der Strafe überant- 
worten willst, gar nicht zu verwundern, wenn du mit 
diesem Beginnen etwas tust, was dem Zeus angenehm ist, 
dem Kronos aber und dem Uranos verhaßt, und dem He- 
phästos lieb, der Hera aber verhaßt®), und falls sonst einer 
von den Göttern mit einem anderen hierüber verschiedener 
Ansicht ist, du auch diesen in derselben Weise, je nach 
dem, was einer getan oder erlitten hat, Wohlgefälliges 
oder Verhaßtes tust. 

Euthyphron. Sokrates, ich glaube doch, darin 
stimmen alle überein, daß büßen muß, wer einen mit Un- 
recht getötet hat. | 

Sokrates. Wie denn? Hast du schon einmal irgend 
wen auf der ganzen Welt das bestreiten hören, daß, 
wer einen mit Unrecht getötet oder sonst irgendein Un- 
recht begangen hat, dafür büßen muß? 

Euthyphron. In Wirklichkeit hören sie gar nicht 
auf, das zu bestreiten, namentlich vor Gericht. Nachdem 
sie Unrecht über Unrecht begangen haben, tun und sagen 
sie alles Mögliche, um der Strafe zu entgehen. 

Sokrates. Gestehen sie denn auch ihr Unrecht ein, 


80 Platons Dialoge. 


und behaupten sie dann trotz des Eingeständnisses, dab 
sie nicht bestraft werden dürfen ? 

Euthyphron. Das allerdings nicht. 

Sokrates. Also tun und sagen sie nicht alles Mög- 
liche; denn das, denke ich, wagen sie nicht zu bestreiten, 
daß, haben sie unrecht getan, sie dafür auch büßen müssen, 
sondern sie behaupten, meine ich, kein Unrecht getan z 
haben. 

Euthyphron. Du hast recht. | 

Sokrates. Das also bestreiten sie nicht, daß, wer 
unrecht getan hat, dafür büßen muß; aber darüber rechten 
sie wohl, wer es ist, der unrecht getan hat und womit und 
unter welchen Umständen). 

Euthyphron. Ganz recht. 

Sokrates. Verhält es sich denn nicht mit den Göttern 
genau so, wenn anders die Götter über Recht und Unrecht 
uneins sind, wie deine Rede lautet, und behaupten nicht 
herüber und hinüber die einen von den anderen, daß sie 
ihnen unrecht tun, während die Beschuldigten es in Ab- 
rede stellen? Denn das, du Trefflichster, wagt wohl kein 
Gott und kein Mensch zu behaupten, daß, wer unrecht 
tut, nicht büßen müsse. 

Euthyphron. Jawohl, damit hast du recht, Sokrates, 
wenigstens in der Hauptsache. 

Sokrates. Über die Tat, denke ich, mein Euthy- 
phron, streiten in jedem Falle die, die da streiten, sowohl 
Götter als Menschen, wenn Götter überhaupt untereinander 
streiten; wenn sie über irgendeine Tat in ihrem Urteil aus- 
einander gehen, behaupten die einen, sie sei mit Recht 
vollbracht, die anderen, mit Unrecht. Ist dem nicht so? 

Euthyphron. Ganz gewiß. 


Zehntes Kapitel. 


Sokrates. Wohlan nun, lieber Euthyphron, belehre 
auch mich, auf daß ich weiser werde. Welchen Beweis 
hast Du dafür, daß alle Götter der Ansicht sind, der sei 


Euthyphron. 81 


mit Unrecht getötet, der als Tagelöhner zum Mörder ge- 
worden, gefesselt von dem Herrn des Getöteten, infolge der 
Fesseln starb, bevor der, der ihn gefesselt, von den Aus- 
legern des heiligen Rechtes erfuhr, was er mit ihm an- 
fangen solle, und daß es recht ist, daß für einen solchen 
der Sohn gegen seinen Vater gerichtlich vorgeht und ihn 
wegen Mordes verklagt?*)? ‘Wohlan! Versuche hierfür mir 
einen klaren Beweis zu erbringen, daß durchaus alle Götter 
dieses Verfahren für richtig halten. Wenn du mir das 
genügend nachweist, so werde ich nimmer aufhören, dich 
wegen deiner Weisheit zu preisen. 

Euthyphron. Diese Aufgabe führt doch wohl zu 
weit, wenn ich auch in der Lage wäre, dir dies ganz klar 
darzutun. 

Sokrates. Ich verstehe. Du redest so, weil ich in 
deinen Augen schwerer von Begriffen bin als die Richter; 
denn diesen wirst du offenbar den Nachweis führen, dab 
solches Tun ungerecht ist und alle Götter es hassen. 

Euthyphron. Ganz klar werde ich es ihnen bewei- 
sen, o Sokrates, wenn sie nur auf meine Worte hören. 


Elftes Kapitel. 


Sokrates. Sie werden schon auf dich hören, sofern 
ihnen deine Worte gefallen). Während deiner Rede aber 
kam mir folgender Gedanke, und ich erwäge ihn bei mir: 
„Wenn mich Euthyphron auch zehnmal zu der Erkenntnis 
bringen sollte, daß die Götter insgesamt eine solche Her- 
beiführung des Todes für ein Unrecht halten, was habe 
ich da durch Euthyphron an Erkenntnis gewonnen für die 
Beantwortung der Frage, was denn Fromm, was Gottlos 
ist? Denn der Gottheit verhaßt wäre offenbar diese Tat. 
Aber nicht hierdurch erschien soeben das Fromme und das 
Unfromme bestimmt?2). Denn das der Gottheit Verhaßte 
zeigte sich auch als der Gottheit Angenehm. Darum er- 
lasse ich dir diese Aufgabe, mein Euthyphron. Wenn du 
willst, mögen jene Tat alle Götter für ungerecht halten 

Platon Laches und Euthyphron, Phil. Bibl. Ba. 178. 6 


89 Platons Dialoge. 


und mögen sie alle hassen. Doch wollen wir jetzt unsere 
Erklärung dahin berichtigen, daß was alle Götter hassen, 
gottlos ist, was sie aber lieben, fromm, was aber die einen 
lieben und die anderen hassen, keines von beiden ist oder 
beides? Willst du, daß dies jetzt unsere Definition von 
Fromm und Gottlos sein soll? 

Euthyphron. Was hindert uns daran, lieber So- 
krates ὃ Ar 

Sokrates. Mich gar nichts, mein Euthyphron, aber 
gerade du fasse deine Aufgabe ins Auge, ob du bei dieser 
Annahme mir am leichtesten die versprochene Belehrung 
geben kannst. 

Euthyphron. Ich möchte sagen: Fromm ist das, 
was alle Götter lieben, und das Gegenteil davon, das, was 
alle Götter hassen, gottlos. 

Sokrates. Wollen wir nun nicht auch erwägen, 
lieber Euthyphron, ob dieser Satz richtig ist, oder wollen 
wir ihn auf sich beruhen lassen und so ohne weiteres mit 


uns und mit andern zufrieden sein, indem wir einfach Ja 


dazu sagen, wenn einer nur behauptet, etwas verhalte sich 
so und so? oder sollen wir näher zusehen, wie es mit dem 
steht, was einer sagt? 

Euthyphron. ‘Wir müssen näher zusehen; doch 
glaube ich, dab das jetzt Gesagte richtig ist. 


Zwölftes Kapitel. 


Sokrates. Bald, mein Guter, werden wir es besser 
wissen. Bedenke nämlich folgendes: Wird das Fromme 
von den Göttern geliebt, weil es fromm ist, oder ist es 
fromm, weil es geliebt wird ? 

Euthyphron. Ich weiß nicht, was du meinst, mein 
Sokrates. | 

Sokrates. So will ich versuchen, deutlicher zu sein. 
Wir reden von einem Getragenen und von einem Tragen- 
den, von einem Geführten und einem Führenden, von 
einem Gesehenen und einem Sehenden; und du verstehst, 


Euthyphron. 83 


daß alle diese Dinge voneinander verschieden sind, und 
inwiefern sie es sind. 

Euthyphron. Ich glaube es zu verstehen. 

Sokrates. Ist nun nicht auch etwas ein Geliebtes 
und das Liebende von ihm verschieden ? 

Euthyphron. Wie sollte es denn nicht? 

Sokrates. Sage mir nun, ist das Getragene, des- 
wegen weil es getragen wird, ein Getragenes, oder aus 
irgendwelchem anderen Grunde? 

Euthyphron. Nein, aus diesem Grunde. 

Sokrates. Und so ist denn auch das Geführte des- 
wegen, weil es geführt wird, ein Geführtes, und das Ge- 
sehene deswegen, weil es gesehen wird, ein Gesehenes? 

Euthyphron. Ganz gewiß. 

Sokrates. Also nicht weil es ein Gesehenes ist, des- 
wegen wird es gesehen, sondern im Gegenteil, weil es ge- 
sehen wird, deswegen ist es ein Gesehenes, und auch nicht 
weil es ein Geführtes ist, deswegen wird es geführt, son- 
dern weil es geführt wird, deswegen ist es ein Geführtes, 
und nicht weil es ein Getragenes ist, deswegen wird es 
getragen, sondern weil es getragen wird, deswegen ist es 
ein Getragenes. Ist dir deutlich, Euthyphron, was ich 
sagen will? Ich will nämlich folgendes sagen. Wenn mit 
einer Sache etwas vorgenommen wird oder sie etwas er- 
leidet2®), so wird nicht mit ihr etwas vorgenommen, weil 
sie etwas ist, mit dem etwas vorgenommen wird, sondern 
weil mit ihr etwas vorgenommen wird, ist sie etwas, mit 
dem etwas vorgenommen wird; und ebensowenig leidet 
etwas, weil es ein Leidendes ist, sondern es ist ein Lei- 
dendes, weil es etwas erleidet. Stimmst du dem nicht zu? 

Euthyphron. Gewiß. 

Sokrates. Ist nun nicht auch das Geliebte etwas, 
mit dem etwas vorgenommen wird oder das von einem 
etwas erleidet? 

Euthyphron. Sicherlich. 

Sokrates. Demnach verhält es sich auch hiermit 
ebenso, wie mit den vorhergehenden Dingen: nicht weil 

6* 


84 Platons Dialoge. 


es geliebt ist, wird es von denen geliebt, die es lieben, 
sondern weil es geliebt wird, ist es geliebt. 

Euthyphron. Ganz unbedingt. 

Sokrates. Was sagen wir denn nun über das 
Fromme, mein Euthyphron? Es wird doch wohl nach 
deiner Erklärung von allen Göttern geliebt? 

Euthyphron. Jawohl. 

Sokrates. Deswegen weil es fromm ist oder aus 
irgendwelchem anderen Grunde? 

Euthyphron. Nein, aus diesem Grunde. 

Sokrates. Also weil es fromm ist, wird es geliebt; 
es ist aber nicht deswegen fromm, weil es geliebt wird? 

Euthyphron. Offenbar. 

Sokrates. Aber das Gottgeliebte ist, weil es von 
den Göttern geliebt wird, ein von den Göttern (reliebtes 
und Gottgeliebtes3) ? 

Euthyphron. Wie sollte es nicht? 

Sokrates. Also ist Gottgeliebt nicht identisch mit 
Fromm, lieber Euthyphron, und auch Fromm nicht iden- 
tisch mit Gottgeliebt, wie du behauptest, sondern das eine 
ist von dem anderen verschieden. 

Euthyphron. Wieso denn, Sokrates? 

Sokrates. Weil wir einverstanden sind, daß das 
Fromme deswegen geliebt wird, weil es fromm ist, und 
nicht deswegen fromm ist, weil es geliebt wird. Nicht 
wahr? 

Euthyphron. Jawohl. 


|Dreizehntes Kapitel.] 


Sokrates. Daß aber das Gottgeliebte, weil es von 
den Göttern geliebt wird, eben infolge davon, daß es ge- 
liebt wird, gottgeliebt ist, aber nicht, weil es gottgeliebht ist, 
deswegen geliebt werde?). 

Euthyphron. Ganz recht. 

Sokrates. Wenn hingegen®?), mein lieber Euthy- 


ι1 St. 


Euthyphron. ΩΡ 


phron, Gottgeliebt und Fromm dem Begriffe nach dasselbe 
wären, so würde sich folgendes ergeben: Da das Fromme 
geliebt wird, weil es fromm ist, so müßte auch das Gott- 
geliebte geliebt werden, weil es gottgeliebt ist, und da das 
Gottgeliebte gottgeliebt ist, weil es von den Göttern ge- 
liebt wird, so müßte auch das Fromme fromm sein, weil 
es geliebt wird. Nun aber siehst du, daß gerade das Gegen- 
teil bei ihnen stattfindet, da sie durchaus voneinander 
verschieden sind. Denn das eine, das Gottgeliebte, ist, weil 
es geliebt wird, solcher Art, daß es geliebt wird, das an- 
dere aber, das Fromme, wird deswegen geliebt, weil es 
solcher Art ist, daß es geliebt wird). Und nun muß ich 
gestehen, es hat ganz den Anschein, als ob du, lieber Eu- 
thyphron, auf die Frage, was denn das Fromme sei, nicht 
geneigt wärest, mir sein Wesen zu enthüllen, sondern 
nur ein Leiden von ihm anzugeben und zu sagen, was 
diesem Frommen widerfährt, nämlich, daß es von allen 
Göttern geliebt werde, was aber sein Wesen ist, das solches 
bewirkt, das hast du noch nicht angegeben. Wenn es dir 
nun recht ist, so verbirg es mir nicht, sondern beginne 
noch einmal von vorn und sage, was denn das Fromme ist, 
daß es von den Göttern geliebt wird oder sonst etwas er- 
leidet; denn über dieses letztere, über das, was ihm wider- 
fährt, werden unsere Ansichten nicht auseinander gehen. 
Drum sage getrost: was ist Fromm, was Gottlos3#) ἢ 
Euthyphron. O Sokrates, ich vermag nicht in Worte 
zu fassen, was ich hierüber denke. Denn was wir auf- 
stellen, das geht jedesmal wie im Kreise herum und will 
nicht auf dem Platze bleiben, auf den wir es gestellt 
haben. | 
Sokrates. Was du sagst, mein Euthyphron, scheint, 
auf unsern Ahnherrn Daidalos>5) zu passen. Wenn ich das 
sagte und aufstellte, so würdest du dich wohl über mich 
lustig machen, dab also auch mir infolge meiner Verwandt- 
schaft mit jenem meine Gebilde in Worten davonlaufen 
und nicht da bleiben, wohin man sie gestellt hat. So aber 
sind ja die Sätze von dir, also muß der Scherz eine an- 


89 Platons Dialoge. 


dere Wendung nehmen. Denn du bist es, dem sie nicht 
standhalten wollen, wie du auch selbst merkst. 

Euthyphron. Nach meiner Meinung, o Sokrates, 
fordert das Gesagte so ziemlich denselben Spott heraus, 
denn nicht ich bin es, der diesen Kreislauf und diese 
Flatterhaftigkeit in unsere Sätze hineinlegt, sondern du 
scheinst mir der Daidalos zu sein; denn soweit es auf 
mich ankommt, blieben sie so, wie sie sind. 

Sokrates. Also scheine ich, mein Freund, jenen 
berühmten Mann in der Kunst weit zu übertreffen, inso- 
fern als der nur seine eigenen Werke so schuf, daß sie 
nicht an ihrem Platze blieben, während ich dieselbe Wir- 
kung außer bei meinen Werken, wie es scheint, auch bei 
den Werken anderer hervorbringe. Und gewiß ist das an 
meiner Kunst das Auffallendste, daß ich gegen meinen 
Willen ein großer Künstler bin. Denn daß die aufgestellten 
Sätze bleiben und fest begrünaet sein möchten, das wäre 
mir weit lieber, als zu der Kunst des Daidalos die Schätze 
des 'Tantalos3®) hinzuzugewinnen. Doch lassen wir das 
nun genug sein. Da du mir aber kein Freund von An- 
strengungen zu sein scheinst, werde ich selbst mich mit- 
bemühen, daß du mich über das Fromme belehrst. Er- 
matte nur nicht zu früh. Sieh denn, ob es dir nicht als 
notwendig erscheint, daß das Fromme seinem ganzen Um- 
fange nach gerecht ist3”). 

Euthyphron. Gewiß. 

Sokrates. Ist nun auch das Gerechte seinem ganzen 
Umfange nach fromm, oder ist zwar das Fromme seinem 
ganzen Umfange nach gerecht, das Gerechte aber nicht 19 s 
seinem ganzen Umfange nach fromm, sondern der eine 
Teil von ihm ist fromm, ein anderer Teil aber etwas 
anderes ? | 

Euthyphron. Lieber Sokrates, ich bin nicht im- 
stande, deinen Auseinandersetzungen zu folgen. 

Sokrates. Und doch stehst du mir nicht weniger an 
Jahren nach, als ich dir an Weisheit. Aber, wie gesagt, 
infolge der Fülle deiner ‘Weisheit scheust du die An- 


Euthyphron. 87 


strengung. Drum, du Glücklicher, nimm dich zusammen. 
Es ist ja auch gar nicht schwer, meine Worte zu ver- 
stehen. Ich meine nämlich gerade das Gegenteil von dem, 
was der Dichter®®) in den Versen gesagt hat: 

Zeus, der das alles vollbracht 

und das alles®®) gepflanzt hat, 

Willst du nicht nennen; denn 


da wo Furcht ist, waltet die 
Scham) auch. 


Ich weiche nun insofern von dem Dichter ab — soll ich 
dir sagen, in wiefern ὃ 

Euthyphron. Gewiß. 

Sokrates. Nach meiner Ansicht waltet nicht überall 
da, wo Furcht ist, auch Scham; denn viele, die Krank- 
heiten und Armut und vieles andere dieser Art fürchten, 
scheinen mir zwar diese Übel zu fürchten, keineswegs aber 
sich dessen zu schämen, was sie fürchten. Ist das nicht 
auch deine Meinung’? 

Euthyphron. Ganz gewib. 

Sokrates. Aber wo Scham ist, da ist, meine ich, 
auch Furcht; denn gibt es einen, der, wenn er eine Tat 
scheut und sich ihrer schämt, nicht zugleich in Furcht 
wäre und in Sorge vor dem Rufe der Schlechtigkeit ? 

Euthyphron. Ganz gewiß ist er in Sorge. 

Sokrates. Also ist es nicht richtig zu sagen: „denn 
wo Furcht ist, da waltet die Scham auch“, sondern wo 
Scham ist, da ist auch Furcht; nicht jedoch, wo Furcht 
ist, ist überall Scham; denn umfassender, denke ich, ist 
der Begriff der Furcht als der Begriff der Scham; denn 
die Scham ist ein Teil) der Furcht, gleichwie das Un- 
gerade ein Teil der Zahl, so daß nicht überall, wo eine 
Zahl ist, da auch ein Ungerades ist, wohl aber wo ein 
Ungerades ist, da auch eine Zahl ist. Nunmehr kannst du 
mir wohl folgen? 

Euthyphron. Gewiß. 

Sokrates. Ein solches Verhältnis nun hatte ich auch 
vorhin im Auge, als ich fragte: „Ist, wo Gerechtes ist, da 


88 Platons Dialoge. 


auch Frommes? Oder ist zwar da, wo Frommes ist, auch 
Gerechtes, aber wo Greerechtes ist, nicht überall Frommes, 
denn das Fromme ist ein Teil des Gerechten ?“ Wollen wir 
‘so sagen oder bist du anderer Ansicht? 

Euthyphron. Nein, so; denn deine Darlegung 
scheint mir richtig. 


Vierzehntes Kapitel. 


Sokrates. Betrachte denn das Weitere. Wenn das 
Fromme ein Teil des Gerechten ist, so müssen wir eben, 
wie es scheint, ausfindig machen, welcher Teil des Ge- 
rechten das Fromme wohl ist. Wenn du mich nun nach 
einem der eben genannten Gegenstände fragtest, z. B. 
welcher Teil der Zahl das Gerade sei und welche Zahl 
die gerade Zahl, so würde ich sagen: die, welche nicht dem 
ungleichseitigen Dreiecke entspricht, sondern dem gleich- 
schenkligen“2). Oder ist das nicht deine Ansicht? 

Euthyphron. Gewib,. 

Sokrates. Versuche nun auch du mich in dieser 
Weise zu belehren, welcher Teil des Gerechten das Fromme 
ist, damit wir auch Meletos sagen können, er solle uns 
nicht weiter unrecht tun und solle seine Klage auf Gott- 
losigkeit fallen lassen, da wir von dir bereits zur Genüge 
über das Wesen der Gottesfurcht und Frömmigkeit und 
ihres Gegenteiles belehrt worden seien. 

Euthyphron. Mir scheint also, mein Sokrates, der 
Teil der Gerechtigkeit Gottesfurcht und Frömmigkeit zu 
sein, der es mit der den Göttern zugewandten Sorge zu 
tun hat, der Teil aber, der es mit der Sorge für die 
Menschen zu tun hat, scheint mir der übrige Teil der Ge- 
rechtigkeit zu sein®#). 


Fünfzehntes Kapitel. 


Sokrates. Damit scheinst du mir recht zu haben, 
lieber Euthyphron; doch fehlt mir noch eine Kleinigkeit. 


Futhyphron, 8. 


ı3 85ι. Ich verstehe nämlich noch nicht, was du „Sorge“ nennst. 
Denn du meinst doch wohl nicht, von derselben Art wie 
die Sorge für andere Wesen, sei auch die den Göttern 
zugewandte Sorge. Wir sagen doch wohl“) — zum Bei- 
spiel sagen wir: nicht ein jeder versteht für Pferde zu 
sorgen, sondern der Stallmeister. Nicht wahr? 

Euthyphron. Ganz gewib.- 

Sokrates. Die Kunst des Stallmeisters besteht ja in 
der Sorge für die Pferde. 

Euthyphron. Sicherlich. 

Sokrates. Und so versteht auch für Hunde nicht ein 
jeder zu sorgen, sondern der Weidmann. 

Euthyphron. So ist es. 

Sokrates. Die Kunst des Weidmanns®>) besteht ja, 
meine ich, in der Sorge für die Hunde. 

Euthyphron. Jawohl. 

Sokrates. Und die Kunst des Rinderhirten in der 
Sorge für die Rinder. 

 Euthyphron. Gewib. 

Sokrates. Also besteht die Frömmigkeit und Gottes- 
furcht in der Sorge für die Götter, mein Euthyphron ? Ist 
das deine Meinung’? 

Euthyphron. Jawohl. 

Sokrates. Verfolgt nun nicht eine jede Sorge ein 
und dasselbe Ziel? Ich denke dabei an folgendes. Die 
Sorge bezweckt etwas Gutes und eine Förderung des 
Gegenstandes, für den sie sorgt, wie du ja siehst, daß die 
Pferde, für die die Kunst des Stallmeisters sorgt, davon 
Nutzen haben und besser werden. Oder scheint es dir 
nicht so? 

Euthyphron. Jawohl. _ 

Sokrates. Und so haben wohl auch die Hunde von 
der Kunst des Weidmanns Gewinn, und die Rinder von 
der des Rinderhirten und alle andern Tiere in gleicher 
Weise. Oder meinst du, daß die Fürsorge die Schädigung 
ihres Gegenstandes zum Ziele habe? 


20 Platons Dialoge. 


Euthyphron. Beim Zeus! Das glaub’ ich nicht, 

Sokrates. Sondern den Nutzen ? 

Euthyphron. Wie sollte sie nicht? 

Sokrates. Also ist auch die Frömmigkeit als Sorge 
für die Götter ein Nutzen für die Götter und macht die 
Götter besser? Und würdest du das gelten lassen, daß, 
so oft du eine fromme Tat vollbringst, du irgend einen 
der Götter besser machst ? | 

Euthyphron. Beim Zeus! Das mein’ ich nicht. 

Sokrates. Ich glaube auch nicht, Euthyphron, daß 
du das meinst. Ich bin wirklich weit davon entfernt. Des- 
wegen eben fragte ich auch, was du denn unter der Sorge 
für die Götter verstündest, da ich nicht annahm, daß du 
cine solche meintest. 

Euthyphron. Und das mit Recht, mein Sokrates; 
eine solche meine ich auch nicht. 

Sokrates. Nun gut! Aber was für eine Sorge für 
die Götter wäre denn nun die Frömmigkeit? 

Euthyphron. Genau dieselbe, wie die, die Sklaven 
ihren Herren zuwenden. 

Sokrates. Ich verstehe. Wie es scheint, ist sie eine 
Sorge, die sich in den Dienst der Götter stellt. 

Euthyphron. Ganz gewiß. 


Sechzehntes Kapitel. 


Sokrates. Kannst du nun wohl sagen, zur Hervor- 
bringung welches Werkes die im Dienste der Ärzte ste- 
hende Sorge dienstbar ist? Meinst du nicht, zur Hervor- 
bringung der Gesundheit? 

Euthyphron. Jawohl. 

Sokrates. Wie steht es denn nun mit der den Schiffs- 
baumeistern dienstbaren Sorge? Zur Hervorbringung wel- 
ches Werkes leiht sie ihre Dienste ἢ 

Euthyphron. Offenbar, lieber Sokrates, zur Her- 
vorbringung eines Fahrzeuges. 


14 St. 


Kuthyphron. ΟἹ 


Sokrates. Und die den Baumeistern dienstbare wohl 
zur Hervorbringung eines Hauses ? 

Euthyphron. Ja. 

Sokrates. Sage mir, mein Bester, zur Hervorbrin- 
gung welches Werkes leistet wohl die den Göttern dienst- 
bare Sorge Dienste? Offenbar weißt du das, da du be- 
hauptest, auf dem Gebiete der Religion von allen Men- 
schen am besten Bescheid zu wissen. 

Euthyphron. Und damit sage ich die Wahrheit, 
Sokrates. | 

Sokrates. Sage also beim Zeus, welches ist denn 
jenes ganz schöne Werk, zu dessen Hervorbringung uns 
die Götter als Gehilfen brauchen ? 

Euthyphron. Der schönen Werke, lieber Sokrates, 
die sie vollbringen, sind viele. 

Sokrates. Ihrer viele vollbringen ja auch die Feld- 
herren, mein Lieber! Gleichwohl könntest du leicht ihr 
Hauptwerk angeben, den Sieg im Kampfe. Oder nicht? 

Euthyphron. Wie so denn nicht? 

Sokrates. Viele schöne Werke bringen, glaub’ ich, 
auch die Landwirte hervor. Gleichwohl ist die Haupt- 
sache bei ihrer hervorbringenden Tätigkeit die Gewinnung 
der Nahrung aus dem Boden der Erde. 

Euthyphron. Sehr wohl. 

Sokrates. Wie aber nun? Was ist bei den vielen 
schönen Werken, die die Götter hervorbringen, die Haupt- 
sache bei ihrer Tätigkeit? 

Euthyphron. Schon kurz vorher sagte ich dir, 
Sokrates, dad es eine zu umfassende Aufgabe sei, genau 
zu erkennen, wie sich das alles verhält. Das jedoch sage 
ich dir ohne viele Worte, wenn einer es versteht, den 
Göttern Angenehmes zu sagen und zu tun in Gebet und 
Opfer, das sind die frommen Werke, und solches Tun 
erhält die Familien und das Gemeinwesen der Staaten. 
Das dem wohlgefälligen Tun aber entgegengesetzte Tun 
ist gottlos, und dies stürzt eben alles um und richtet alles 
zugrunde. 


92 Platons Dialoge, 


Siebzehntes Kapitel. 


Sokrates. Fürwahr, Euthyphron, wenn du nur woll- 
test, so hättest du mit viel weniger Worten, das haupt- 
sächlichste von den Werken angeben können, die in Frage 
kamen. Doch du bist eben nicht geneigt, mich zu belehren. 
Das ist ganz klar. Denn auch jetzt, wo du dicht davor 
standest, bist du wieder abgewichen, und doch, hättest du 
mir diese Antwort noch gegeben, so wäre ich bereits hin- 
reichend von dir über das Wesen der Frömmigkeit be- 
lehrt. So aber — es muß ja der Fragende dem Gefragten 
folgen, wohin der ihn führt — wie bestimmst du nun 
wiederum das Wesen von Fromm und Frömmigkeit? 
Nicht als eine Wissenschaft, wie man zu opfern und zu 
beten hat? 

Euthyphron. Jawohl. 

Sokrates. Ist nun nicht Opfern soviel als den 
(Göttern etwas schenken, Beten aber soviel als die Götter 
um etwas bitten ? 

Euthyphron. Gar wohl, o Sokrates. 

Sokrates. Nach diesem Satze wäre also die Fröm- 
migkeit ein Wissen, wie man die Götter um etwas bitten 
und wie man ihnen etwas schenken soll. 

Euthyphron. Ganz richtig, Sokrates, hast du meine 
Worte verstanden. 

Sokrates. Mein Lieber, ich bin ja ein Freund deiner 
Weisheit, und so achte ich auf sie und lasse mir keines 
deiner Worte entgehen. Doch sprich: Worin besteht denn 
dieser der Gottheit geweihte Dienst? Du meinst darin, dab 
wir von ihnen etwas erbitten und ihnen Gaben darbringen ? 

Euthyphron. Jawonhl. | 


Achtzehntes Kapitel. 


Sokrates. Ist nun nicht das die rechte Bitte, daß 
wir sie um das bitten, dessen wir von ihnen bedürfen ? 
Euthyphron. Was denn sonst? 


Euthyphron. . 93 


Sokrates. Und anderseits, das die rechte Gabe, daß 
wir ihnen als Gegenleistung das geben, was sie von uns 
brauchen ? Denn es wäre doch wohl nicht vernünftig, wenn 
man einem etwas gibt, ihm das zu schenken, dessen er gar 
nicht bedarf. 

Euthyphron. Da hast du recht, Sokrates. 

Sokrates. Also wäre die Frömmigkeit, lieber Eu- 
thyphron, die Wissenschaft von einer Art gegenseitigen 
Handels zwischen Göttern und Menschen. 

Euthyphron. Eine Handelswissenschaft ist sie, wenn 
es dir lieber ist, sie so zu nennen. 

Sokrates. Nun und nimmermehr ist mir etwas lie- 
ber, wenn es nicht wahr ist. Doch sage mir: Welchen 
Nutzen haben die Götter von den Gaben, die sie von uns 
empfangen? Was sie geben, ist ja jedem offenbar; denn 
alles Gute, das wir besitzen, kommt von ihnen. Welchen 
Gewinn aber haben sie von den Gaben, die sie von uns 


. empfangen? Sind wir etwa ihnen gegenüber bei dem 


Handel so im Vorteile, daß wir alles Gute von ihnen 
empfangen, sie aber von uns gar nichts? 

Euthyphron. Meinst du denn, mein Sokrates, daß 
die Götter Gewinn von dem haben, was sie von uns 
empfangen ? 

Sokrates. Was wären denn diese Gaben, mein Eu- 
thyphron, die wir den Göttern spenden ? 

Euthyphron. Was anderes, meinst du, als Preis 
und Ehrenerweisungen, und wie ich eben sagte, ein Wohl- 
gefallen 46) ἢ 

Sokrates. Wohlgefällig also ist das Fromme den 
Göttern, aber nicht nützlich und auch nicht lieb? 

Euthyphron. Meines Erachtens von allen Dingen 
ganz besonders lieb. 

Sokrates. Also ist, wie es scheint, das Fromme 
wiederum das den Göttern Liebe? 

Euthyphron. Ganz gewiß. 


94 Platons Dialoge. 


Neunzehntes Kapitel. 


Sokrates. Und bei einer solchen Erklärung kannst 
du dich noch wundern, wenn es zutage tritt, daß deine 
Sätze nicht an ihrer Stelle bleiben, sondern davon laufen, 
und willst von mir behaupten, ich sei der Daidalos, der 
macht, daß sie davonlaufen, während du selbst ein viel 
größerer Künstler als Daidalos bist und bewirkst, daß sie 
im Kreise herumlaufen ? Merkst du denn nicht, daß un- 
sere Erörterung im Kreise herumgegangen und auf die- 
selbe Stelle zurückgekehrt ist? Denn du erinnerst dich 
doch wohl, daß im Vorhergehenden uns die Begriffe 
Fromm und Gottgeliebt nicht als identisch erschienen, 
sondern als voneinander verschieden. Oder weißt du das 
nicht mehr? 

Euthyphron. Ich weiß es. 

Sokrates. Siehst du nun nicht, daB du das den 
Göttern Liebe als Fromm bezeichnest? Dieses kommt 
aber doch auf das Gottgeliebte hinaus? Oder nicht? 

Euthyphron. Ganz gewiß. 

Sokrates. Also war entweder vorhin das Ergebnis 
unserer Erörterung nicht richtig, oder wenn das richtig 
war, so ist unsere jetzige Erklärung nicht richtig. 

Euthyphron. Es scheint so. 


Zwanzigstes Kapitel. 


Sokrates. Also müssen wir mit der Betrachtung, 
was das Fromme sei, wieder von vorn anfangen; denn 
bevor ich das erkannt habe, werde ich freiwillig die Hände 
nicht in den Schoß legen. Drum halte mich deiner Be- 
lehrung nicht für unwert, sondern denke mit allem Ernste 
nach und sage mir nunmehr die Wahrheit. Denn wenn 
überhaupt jemand auf der Welt sie kennt, so kennst du sie, 
und so dürfen wir dich gleich Proteus“”) nicht eher los- 
lassen, als bis du sie gesagt hast. Denn wenn du nicht 
ganz genau wüßtest, was fromm und was gottlos ist, so 


‚6 St. 


Eutlyphron. ᾿ς 95 


hättest du dich ganz gewiß nun und nimmermehr unter- 
fangen, wegen eines Tagelöhners deinen alten Vater mit 
einer Klage auf Mord zu verfolgen, sondern du hättest 
die Götter gescheut und dich nicht der Gefalr ausgesetzt, 
damit ein Unrecht zu begehen, und hättest dich vor den 
Menschen geschämt. So aber weiß ich sehr wohl, du ver- 
meinst ganz genau zu wissen, was Fromm ist und was 
nicht. Demnach sage es mir und verbirg mir deine An- 
sicht darüber nicht. 

Euthyphron. Ein andermal also, mein Sokrates; 
denn jetzt muß ich rasch anderswohin, und es ist für 
mich hohe Zeit, weg zu gehen. 

Sokrates. Was tust du, mein Freund! Du willst 
auf und davon, nachdem du mich um die große Hoffnung 
gebracht hast, belehrt von dir über das, was Fromm und 
was nicht Fromm ist, würde ich den Prozeß mit Meletos 
los werden durch den Nachweis, daß ich auf dem Gebiete 
der Religion bereits durch Euthyphron zu ausreichender 
Erkenntnis gelangt bin und nicht mehr aus Unwissenheit 
nach eigenem Gutdünken handele und neue Wege ein- 
schlage, und würde so auch mein übriges Leben als 
besserer Mensch hinbringen. 


Anmerkungen 
zum Euthyphron. 


1) 8.68. Lykeion, ein dem Apollon Lykeios geweihtes Gym- 
nasium, im Osten der Stadt außerhalb der Mauern am Ilissos gelegen, 
mit Säulenhallen und schattigen Baumgängen. Hier hielt sich Sokrates 
gern auf und hier lehrte später Aristoteles. 

ὃ) 8.68. Die Halle des Basileus, die Königshalle, am Markte 
gelegen, war das Amtslokal des zweiten Archon. Als das Königtum 
in Athen abgeschafft wurde, trug man religiöse Bedenken, es auch 
in seiner hohenpriesterlichen Bedeutung abzuschaffen. Daher nannte 
man den zweiten Archon „König“, βασιλεύς. Vor diesen gehörten 
alle Rechtssachen, die Religion und Kultus betrafen, also auch die 
Klagen wegen Gottlosigkeit, die γραφαὲ ἀσεβείας, und die Klagen 
wegen Mordes, die γραφαὲ φόνου, die letzteren, weil bei ihnen vor 
allem die Blutrache in Betracht kam. Vor der Königshalle erscheint 
Eutbyphron als Kläger, Sokrates als Angeklagter. Der zweite Archon 
hatte nämlich in den bezeichneten Rechtsfällen den Prozeß ein- 
zuleiten, also die schriftlich abgefaßte Klage entgegenzunehmen, 
ebenso die Einrede des Angeklagten, den Kläger auf seine Anklage, 
den Angeklagten auf seine gleichfalls schriftlich eingereichte Einrede - 
zu vereidigen, die Zeugen zu verhören usw., sodann bei der Ver- 
handlung den Vorsitz zu führen, die Abstimmung vorzunehmen und 
für die Vollstreckung dieses Urteils zu sorgen. 

8) 8.68. „Rechtsstreit“, „Kriminaiklage“ sind gewählt für die 
Übersetzung der griechischen Wörter dixn und γραφή. Von diesen 
bezeichnet δίκη als genus jede Art der Klage oder des Prozesses, 
als species die Frivatklage, den Privatprozeß, causa privata, der als 
zweite Art der Klage die γραφή, die Öffentliche Klage, die causa 
publica, der Kriminalprozeß gegenübersteht. Bei Euthyphrons Vater 
handelt es sich um Mord, bei Sokrates um Gottlosigkeit. Da bei 
Mord und Gottlosigkeit das Interesse des Staates, ja sein Bestand 
in Frage kommt, so waren die sich auf diese Vergehen beziehenden 
Prozesse in Athen natur gemäß Öffentliche Klagen. Die öffentlichen 
Klagen waren schriftlich einzureichen, daher ihre Bezeichnung als 
γραφαί. 

*) 8.68. Die Hervorhebung, daß Meletos ein fast ganz un- 
bekannter junger Mensch sei, ist Ausdruck der Verachtung. Er war 
formell der Hauptankläger des Sokrates. Er reichte die Klageschriit 
ein, die von Anytos und Lykon mit unterschrieben war. Er war 
Dichter, und so erscheint er auch in der Apologie unter den drei 
Anklägern als. Vertreter der Dichter, während wir den Anytos als 
1% td der Handwerker und Lykon als Vertreter der Volksredner 
inden. 


Anmerkungen, 97 


δ 8.69. „Die keimende Jugend“, Meletos war Dichter. 

6) 8,69. 8 handelt sich um das bekannte δαιμόνιον des So- 
krates. „Das Göttliche“ bezeichnet in diesem Zusammenhange das 
(@öttliche im Menschen, das ist die Vernunft im Menschen, die 
ihren Grund und Ursprung in der göttlichen Vernunft hat. So 
wohnt die Gottheit in dem Menschen und offenbart in solcher 
Warnung ihre Fürsorge für ihn. Aber nur der Gute ist fähig, 
ihre Stimme zu vernehmen. Nach der vorliegenden Stelle sind 
Sokrates’ Außerungen über sein Daimonion fälschlich dahin ver- 
standen worden, daß er damit eine von den Göttern des Volks- 
laubens verschiedene Gottheit meine, Die Annahme, er denke 
abei an eine Mehrheit von Göttern, lag den Griechen bei ihrem 
polytheistischen Glauben nahe und wurde noch durch Sokrates’ Be- 
hauptung der Häufigkeit dieser ihm zuteil werdenden Offenbarung 
begünstigt. 

?) 8.70. Es handelt sich bei Sokrates und bei Euthyphron um 
eine Art von Offenbarung. Allerdings sind die beiden Arten von 
einander sehr verschieden. 

8) 8.70. Gemeint sind von dem Volksglauben abweichende 
Anschauungen auf religiösem Gebiete. 

9) S. 71. Das Wort φόνος umfaßt im attischen Rechte Mord, 
Totschlag, fahrlässige Tötung und Verwundung in tödlicher Absicht. 

10) S. 72. Euthyphron hält an dem alten Glauben fest, daß von 
dem durch ein Verbrechen unrein Gewordenen die Befleckung auf 
alle übergehe, die mit ihm in Berührung kommen, und zwar wird 
die Ansteckung um so größer, je inniger das Zusammensein ist. So 
wird der Herd- und Tischgenosse des Verbrechers schließlich ebenso 
unrein wie dieser selbst (ἴσον τὸ μίασμα γίγνεται) und kommt in 
gleiche Verdammnis. In solcher Lage ist der Sohn des Verbrechers, 
und darum muß dieser ganz besonders darauf bedacht sein, wieder 
rein von Schuld zu werden. Entsühnung kann er aber nur durch 
gerichtliche Verfolgung des Verbrechers herbeiführen. Durch eine 
solche entsühnt er sich und zugleich den Vater. So ist die Anklage 
im Grunde genommen auch für den Vater eine Wohltat. Darum 
trägt auch Euthyphron nicht das geringste Bedenken, gegen den 
eigenen Vater, mit einer Anklage auf Leben und Tod vorzugehen. 
Nach seiner Überzeugung ist sein Tun fromm, denn Frömmigkeit 
besteht in der Verfolgung des Unrechtes ohne Ansehen der Person, 
und ist heilsam zugleich für ihn und für den Vater. 

ı1) S.73. Sokrates erklärt es unter den obwaltenden Verhält- 
nissen für das Beste, zur Beilegung des gegen ihn anhängig gemachten 
Prozesses Meletos zu einem außergerichtlichen Verfahren aufzufordern. 
Euthyphron hat sich soeben einer ganz außergewöhnlichen Kenntnis 
auf dem Gebiete der Religion gerühmt. War dem wirklich so, und 
war nun Sokrates der Schüler Euthyphrons, so konnte sich Meletos 
beruhigen, wenn Euthyphron die Rechtgläubigkeit des Sokrates he- 
zeugte. Glaubte Meletos an diese nicht, so war es das Richtige, 
statt des irregeleiteten Schülers den Lehrer, der ihn irregeleitet 
hatte, zu verfolgen. Tat Meletos weder das eine noch das andere, 
so konnte Sokrates die Verwerfung seines Vorschlages, bei dem er 
sich auf das große Ansehen des Meletos berufen hatte, bei der 


Platon Laches und Euthyphron. Phil. Bibl. Bd. 178. 7 


98 Euthyphron. 


gerichtlichen Verhandlung gegen Meletos verwerten. Die Ironie, 
mit der ihn Sokrates behandelt, merkt Euthyphron in seiner Ein- 
bildung nicht. 

12) S, 74. Xenophon MemorabilienII 9 empfiehlt Sokrates seinem 
Freunde Kriton den Archedemös, einen armen, aber braven und des 
Rechtes kundigen Mann, der ihn vor den Verfolgungen seiner Feinde 
sicherstellen könne. Dieser machte die Vergehen und die Feinde 
der böswilligen Ankläger Kritons ausfindig, bedrohte nunmehr sie 
selbst mit gerichtlichen Anklagen und zwang sie so, von der Ver- 
folgung Kritons abzulassen. Bald baten Kriton auch viele seiner 
Freunde, daß erihnen Archedemos als Helfer gegen die Sykophanten 
überlasse. Man sieht, der Gottesmann Euthyphron weiß sich recht 
gut mit weltlichen Mitteln zu helfen und bildet sich hierauf auch 
etwas ein. 

13) Siehe S. 60 und Anmerkung dazu. 

14) S. 75. Unter Wissen versteht Sokrates ein begriffliches 
Wissen, also ein Wissen im Sinne von Wissenschaft. Diesem Wissen 
des Menschen sind Grenzen gezogen. Das ganze metaphysische 
Gebiet, also auch das Bereich des Göttlichen, liegt nach Sokrates 
jenseits dieser Grenzen. Durch seine Forschungen auf dem sittlichen 
Gebiete aber wurde er bei dem innigen Zusammenhange zwischen 
Ethik und Religion über diese Grenzen hinausgeführt; doch blieb 
er sich bewußt, daß es hier wohl ein Glauben gebe, aber nicht ein 
Wissen im strengen Sinne des Wortes, So wußte er nicht, daß die 
Seele unsterblich sei, aber er glaubte es. 

15) 8.75. Zeus führt als Beschützer der Freundschaft den Bei- 
namen φίλιος. Sokrates wendet sich mit diesen Worten an die 
Freundschaft des Euthyphron. 

6) S. 75. Das größte Volksfest der Athener waren die Pan- 
athenäen, Παναϑήναια τὰ μεγάλα. Sie wurden im dritten Jahre jeder 
Olympiade zu Ehren der Stadtschirmerin Athene (Adnvä ἡ πολιάς) 
gegen Ende des Monats Hekatombaion (= Mitte Juli bis Mitte 
August) mit großer Pracht begangen. Ihre Einsetzung wurde dem 
Erichthonios zugeschrieben. Das Fest hieß ursprünglich Adnvala, 
Theseus aber soll es als Bundesfest sämtlicher zu einem Staate ver- 
einigter Attiker eingesetzt und daher ihm den Namen “Παναϑήναια 
gegeben haben. Die drei ersten Tage des Festes waren musischen 
und gymnischen Wettkämpfen gewidmet. Der glänzendste Teil des 
Festes war der große Festzug, πομπή, am 28. Tage des Monats 
Hekatombaion, der seinen Weg nach der Akropolis nahm, um das 
uralte Standbild der Polias im Erechtheion mit einem neuen Pracht- 
gewande zu bekleiden. Von athenischen Jungfrauen, den ἐργαστῖναι, 
gearbeitet, zeigte es auf safranfarbigem Grunde in glänzenden 
Stickereien die Taten der Athene im Kampfe gegen die Titanen 
und Giganten. In Form eines Segels war es an einem Rollschiffe 
aufgehängt. Am Zuge der Bürgerschaft unter ihren Vorstehern, 
den Demarchen, beteiligte sich die junge ‚Mannschaft zu Fuß und 
zu Roß. Eine solche panathenäische πομπή stellte der zum guten 
Teile ag erhaltene Fries in der Cella des Parthenon dar. 

11) S.76. Diese Kritik hält sich an die ersten Worte der Er- 
klärung Kuthyphrons: „Das Fromme ist eben das, was ich jetzt tue“. 


Anmerkungen. 99 


Dagegen enthält das sich daran Anschließende ein Allgemeines, 
Nach ihm besteht die Frömmigkeit darin, daß man den Frevler ver- 
folgt ohne jedes Ansehen der Person, die Gottlosigkeit dagegen in 
der Unterlassung dieser Verfolgung. Hiermit wird das Wesen der 
Frömmigkeit in die Verfolgung gesetzt, und es wird als göttliches 
Gebot hingestellt, den Missetäter, selbst mit Hintansetzung aller 
Pietät, zu verfolgen, Plato verwirft diese Definition nicht nur aus 
dem formalen Grunde, den er angibt, sondern wesentlich um der 
Sache willen. Es soll aber auch gezeigt werden, wie bei ungenügender 
Form der wissenschaftlichen Erläuterung auch kein genügender Inhalt 
gewonnen wird, Die richtige Antwort auf die Frage nach dem 
Wesen der Frömmigkeit wird erst da gefunden, wo ihre Definition 
in korrekter Weise gesucht wird. 

18) S. 76. Den mannigfaltigen Eigenschaften gegenüber, die 
den einzelnen frommen Handlungen anhaften und die an dem Be- 
griffe Fromm gemessen, nicht als notwendig, sondern als zufällig 
erscheinen, ist das Fromme das Fromme selbst, αὐτὸ τὸ ὅσιον, 
ἃ. ἢ, das Fromme losgelöst von allen zufälligen Merkmalen, mit 
anderem Ausdrucke das Fromme an sich. Das Fromme an sich aber 
und der Begriff Fromm sind ein und dasselbe. 

19) δ, 10. Das Lob bezieht sich darauf, daß Euthyphron dem 
Verlangen des Sokrates entsprechend jetzt eine Antwort gegeben 
hat, die eine allgemeine Bestimmung enthält, 

20) S. 77. Überliefert ist: 

Eid. Οὕτω μὲν οὖν. 
Σω. Kai εὖ γε φαίνεταί εἰρῆσϑαι - 
| Eid. Δοκῶ, ὦ Σώκρατες, εἴρηται γάρ. 

Unmittelbar vorher hat Sokrates gesagt: „Das Fromme aber ist 
nicht identisch mit dem Gottlosen, sondern sein gerades Gegenteil; 
ist dem nicht so?* Demgegenüber wird man zunächst zu den Worten 
des Euthyphron: Οὕτω μὲν οὖν einfach ἐστέν ergänzen: „Allerdings 
ist es so.“ Aber dann fehlt der Zusammenhang mit dem Folgenden: 
„Und scheint es mit Recht gesagt zu sein?“ Die hierauf folgenden 
Worte des Euthyphron: „Ich glaube; denn es ist gesagt worden“, 
geben keinen Sinn. Weil etwuis gesagt worden ist, deswegen brauche 
ich es noch lange nicht zu glauben. Also müssen die Worte: εἴρηται 
γάρ an dieser Stelle unbedingt gestrichen werden. Dagegen muß 
eiontaı den Worten οὕτω μὲ» οὖν hinzugefügt werden. Auf die 
Frage des Sokrates: „Ist dem nicht so γα" antwortete Euthyphron: 
„Auf jeden Fall ist so "gesagt worden“. Er sagt dies mit Bezug auf 
Ῥ. δα, wo auf das bestimmteste ausgesprochen ist, daß Fromm und 
Gottlos zu einander im vollsten Gegensatze stehen. Naturgemäß 
schließt Sokrates hieran die Frage. ob denn dieser Satz auch als 
richtig erscheine. Euthyphron antwortet nicht recht zuversichtlich: 

„Ich glaube, mein Sokrates“. Er ahnt, daß er durch Anerkennung 
dieses doch unbedingt wahren Satzes in die Brüche kommt. Aber 
eine Anerkennung des Satzes ist es doch, und so fährt Sokrates 
ruhig fort: „Ist nun nicht auch das gesagt worden, daß die Götter 
miteinander streiten und hadern und daß gegenseitig Feindschaft 
unter ihnen besteht?“ Euthyphron antwortet: „Es ist ja gesagt“, 

εἴρηται ydo. 

7* 


100 Eutliyphron. 


Schanz in seiner Ausgabe des Euthyphron mit deutschem 
Kommentar bemerkt S. 41 zu der Stelle: „Das in den Handschriften 
nach δοκῶ, ὦ Σώκρατες überlieterte εἴρηται γάρ, welches von Maresch 
nach οὕτω μὲν οὖν gestellt wurde, erachte ich als eine irrtümliche 
Wiederholung des unten folgenden εἴρηται yao.“ Hiermit hat Schanz 
den einen Anstoß beseitigt, den anderen, den Mangel an innerem 
Zusammenhange zwischen den Worten des Euthyphron: οὕτω μὲν 
οὖν und den Worten des Sokrates Καὶ εὖ γε φαίνεται εἰρῆσϑαι hat er 
bestehen lassen. Übrigens dürfen wir nach diesen Worten nicht mit 
Schanz einen Punkt setzen. Daß sie eine Frage enthalten, beweist 
die Antwort des Euthyphron: „Ich glaube, mein Sokrates“. | 

21) S. 78. „Schön und Häßlich“ stehen hier zugleich im 
ethischen Sinne. Das Gute macht gleich dem schönen Kunstwerke 
einen wohltuenden und befriedigenden Eindruck und wird demnach 
wie etwas Schönes empfunden. Daher heißt ein Mann, der die 
Tugend, die ἀρετή des Mannes in vollkommener Weise zur Dar- 
stellung bringt, ein schöner und guter Mann, ἀνὴρ καλὸς κἀγαϑύός. 
Die Griechen sind eben ein Volk der Kunst, während dem Römer 
die Beziehung auf den Staat nahe liegt. Daher nennt dieser das 
sittlich Gute honestum, weil er an die Ehre und das Ansehen denkt, 
die sittliches Verhalten dem Bürger im Staate bringt, das honestum 
bringt die honores (vgl. unser „ehrbar“), und das sittlich Schlechte 
nennt er turpe, weil er an die Schande denkt, die es dem Manne 
bei seinen Mitbürgern einträgt. Da wo der Grieche die Erschei- 
nung eines Mannes als eine schöne empfindet, reden wir vielfach 
mit aristokratischer Anschauung von einer edelen Erscheinung (edel 
ursprünglich = adelig). | 

Nach Plato sind die drei höchsten Ideen das Wahre, das Gute 
und das Schöne. Da es sich hier um das ethische Gebiet handelt, 
so ist für das Wahre das Gerechte eingesetzt. 

22) S. 78, Daß die Götter über etwas verschiedener Meinung 
seien, ist die Annahme des Euthyphron, Sokrates kann es nicht 
glauben. 

23) S. 79. P. 8a: οὐ γὰρ τοῦτό γε ἠρώτων, ὃ τυγχάνει ταὐτὸ ὃν 
ὅσιόν τε καὶ ἀνόσιον, ὃ δὲ ἂν ϑεοφιλὲς 7), καὶ ϑεομισές ἐστιν, Statt des 
überlieferten ö schreibt Schanz a. ἃ. Ο. S. 44 ᾧ. „Sokrates hatte 
nach einer Definition des ὅσιον gefragt, durch diese Definition ist 
aber das ὅσιον und ἀνόσιον als identisch erschienen; sie ist also nichtig. 
Mit τοῦτό γε haben wir einen allgemeinen Ausdruck für die Defini- 
tion (λόγος) wie 72c. Bei der Lesart & entspricht der Satz genau 
dem vorausgegangenen. τὰ αὐτὰ = ταὐτὸν, ferner καὶ ὅσια καὶ ἀνόσια 
--- ὅσιόν τε καὶ ἀνόσιον, endlich τούτῳ τῷ λόγῳ —= ᾧ.“ Eine scharf- 
sinnige Erklärung, aber das überlieferte ö gibt einen guten Sinn. 
Sokrates hat nach dem gefragt, was fromm ist, und nach dem, was 
unfromm ist, aber nicht nach dem, was als ein und dasselbe zugleich 
fromm und unfromm ist, mit anderen Worten nach dem Begriffe 
Fromm und nach dem Begriffe Unfromm, aber nicht nach einem 
Begriffe, der Fromm und Unfromm zugleich in sich befaßt. 

2) S. 79. Von den Kämpfen zwischen Zeus, Kronos und Uranos 
hat Euthyphron p. 6a gesprochen. Vgl. S. 60 und 74f. Von Hera 
und ihrem Sohne Hephaistos wird Ilias XVIILI, 396ff. folgendes be- 


Anmerkungen, 101 


richtet: Hera warf ihren Sohn Hephaistos, weil sie ihn wegen seiner 
Lahmheit nicht sehen mochte, vom Olymp ins Meer binab, wo ihn 
Thetis und Eurynome aufnahmen. Um sich dafür zu rächen, schickte 
dieser der Hera aus der Tiefe des Meeres einen goldenen Thron 
mit unsichtbaren Schlingen, Als sie auf ihm Platz nahm, war sie 
gefesselt und wurde erst von Hephaistos selbst wieder befreit. 

25) S. 80. P. 84: καὶ πότε scil. δρῶν ἀδικεῖ, „unter welchen 
Umständen handelnd er unrecht getan hat.“ Es kommt z. B. außer- 
ordentlich viel darauf an, unter welchen Umständen einer einen 
anderen erschlagen hat, ob im Zustande der Notwehr, ob in trun- 
kenem Zustande wie jener Tagelöhner in unserer Schrift und 
gereizt usf. 

®) S. 81. Die Behandlung, durch die Euthyphrons Vater den 
Tod des Tagelöhners herbeiführte, ist, wie wir schon sahen, nach 
unseren juristischen Anschauungen Mord, wir würden aber in dem 
vorliegenden Falle mildernde Umstände annehmen. Diese liegen 
einmal in der Untat des Tagelöhners, sodann darin, daß Euthyphrons 
Vater, der Herr des Erschlagenen, nicht eigenmächtig gegen den 
Missetäter vorgehen, sondern die Weise, wie die Untat zu sühnen 
sei, den Auslegern des heiligen Rechtes überlassen wollte, Diese 
beiden Momente werden an unserer Stelle sehr zugunsten des Vaters 
hervorgehoben und sehr zuungunsten des Sohnes. Unter solchen 
Umständen mußte dieser von der Verfolgung des Vaters durch eine 
Kriminalklage unbedingt absehen, da ja eine gesetzliche Verpflich- 
tung für den Tagelöhner einzutreten für ihn gar nicht bestand und 
das Gefühl der Pietät ihn davon zurückhalten mußte, mit einer 
solchen Klage gegen den eigenen Vater vorzugehen. Aber die 
starre Konsequenz, mit der er seine Auffassung von dem Wesen der 
Frömmigkeit durchzuführen sich für verpflichtet erachtet, läßt bei 
ihm das natürliche Gefühl nicht aufkomınen. 

27) S. 81. Wörtlich: „wenn anders du ihnen schön (gut) zu 
reden scheinst.“ Das kann sowohl auf die Wahrheit des Inhaltes 
als auf die Schönheit der Form gehen. Wie uns auch die Apologie 
lehrt, sahen die athenischen Richter sehr auf diese und hatten es 
gern, wenn ihnen angenehme Dinge gesagt wurden, 

38) S, 81. Die folgende Stelle p. 9c hat große RER 
bereitet. Wir müssen sie daher eingehender betrachten. Sokrates hat 
an Euthyphron die Forderung gestellt nachzuweisen, daß alle Götter 
ein Verfahren wie das seines Vaters, wodurch der Tagelöhner den 
Tod fand, für ein Unrecht halten und infolge dessen Euthyphrons 
Vorgehen gegen seinen Vater billigen. Die Erfüllung dieser For- 
derung ist für Euthyphron eine Unmöglichkeit, darum läßt sie So- 
krates unter folgender Begründung fallen. Während Euthyphron 
redete, ist ihm der Gedanke gekommen, sollte ihm Euthyphron auch 
zehnmal beweisen, daß alle Götter die Tat seines Vaters für ein 
Unrecht halten, so ist er durch Euthyphron doch nicht darüber be- 
lehrt worden, was denn Fromm, was Gottlos ist. Das allerdings 
wäre durch den Nachweis, daß alle Götter die Tat von Euthyphrons 
Vater für ein Unrecht halten, erwiesen, daß sie der Gottheit ver- 
haßt wäre, „aber es hat sich eben gezeigt, daß hierdurch das Fromme 
und das Unfromme in seinem Wesen nicht. bestimmt ist; denn das 


102 Euthyphron. 


den Göttern Verhaßte hat sich auch den Göttern wohlgefällig er- 
wiesen,“ τὸ γὰρ ϑεομισὲς ὃν καὶ ϑεοφιλὲς ἐφάνη. Diese Worte erklärt 
Schauz für eingeschoben. Er bemerkt ἃ. ἃ. O. S.49 zu der Stelle: 
„Diese Worte sind, wie H. v. Kleist Philolog. 41 (1882) p. 355—359 
gezeigt hat, interpoliert; denn sie rekurrieren auf die zweite Defini- 
tion, allein hier handelt es sich um ein Zurückfallen in die erste, 
τούτῳ bezieht sich wie τούτου und αὐτὸ auf τὸ ἔργον, d.h. auf den 
durch die Fahrlässigkeit des Vaters des Euthyphro veranlaßten Tod 
des Arbeiters.“ Aber der den angefochtenen Worten unmittelbar 
vorhergehende Satz: ἀλλὰ γὰρ οὐ τούτῳ ἐφάνη ἄρτι ὡρισμένα τὸ ὅσιον. 
καὶ μή verlangt unbedingt eine Begründung, und diese Begründung 
muß um des ἄρτι ἐφάνη willen in einer kurz vorher gegebenen Fr- 
örterung enthalten sein. Wir finden sie p. 8a, wo Sokrates sagt: 
„Ein und dasselbe also wird, wie es scheint, von den Göttern ge- 
haßt und geliebt, und so wird ein und dasselbe den Göttern verhaßt 
und den Göttern wohlgefällig sein.“ — — „Und so würde nach 
dieser Rede (nach dem was Euthyphron von dem Hader und 
Streite unter den Göttern gesagt hat) ein und dasselbe fromm und 
unfromm sein.“ Auf dieses τούτῳ τῷ λόγῳ ist besonders zu achten, 
ebenso wie p. Te auf κατὰ τὸν σὸν λόγον in dem Satze: καὶ τῶν ϑεῶν 
ἄρα, ὦ γενναῖε Εὐϑύφροον, ἄλλοι ἄλλα δίκαια καὶ ἄδικα (von Schanz mit 
Recht hinzugefügt) κατὰ τὸν σὸν λόγον, καὶ καλὰ καὶ αἰσχρὰ καὶ ἀγαϑὰ 
καὶ κακά. Es wird eben betont, daß so falsche Gedanken nur'dann 
herauskommen, wenn man sich auf den Glaubensstandpunkt Euthy- 
phrons stellt. | | 
Sokrates fährt p. Ic fort: ὥστε τούτου ἀφίημί σε, ὦ Εὐϑύφρον. 
Nach Schanz „will Sokrates, daß bei der Bestimmung der Frömmigkeit 
von der Beurteilung des ἔργον, des Einzelfalles, nämlich des ϑάνατος 
des Arbeiters abgesehen werde.“ Diese Erklärung paßt nach meiner 
Überzeugung nicht in den Zusammenhang. Zu Anfang des Kapitels 
hat Sokrates sehr bestimmt die Forderung gestellt, Euthyphron solle 
nachweisen, daß alle Götter in dem Verfahren gegen den Arbeiter 
ein großes Unrecht erblicken, aber dann ist ihm der Gedanke ge- 
kommen, daß durch diesen Nachweis nur dargetan werde, daß jenes 
ἔργον den Göttern verhaßt, daß es ϑεομισές ist, Aber damit ist noch 
nicht bewiesen, daß die Tat eine gottlose Tat ist, denn auf dem 
ethischen Gebiete herrscht Uneinigkeit und Streit, und so erscheint 
das der Gottheit Verhaßte zugleich auch als der Gottheit wohl- 
gefällig. Darum gewinnen wir für die Feststellung des Begriffs 
Fromm und Unfromm durch den Nachweis, daß alle Götter eine 
Tat hassen, nichts. Darum mögen alle Götter, wenn es Euthyphron 
so will, jene Tat für ein Unrecht oder Verbrechen halten und mögen 
alle sie hassen. Das ist für die Feststellung der Begriffe Fromm 
und Unfromm gleichgültig. Aber die aufgestellte Behauptung be- 
darf noch einer ergänzenden Berichtigung. Was alle Götter hassen, 
mag für unfromm gelten, was alle lieben, für fromm. Wie steht es 
denn nun mit den Taten, die der eine Teil der Götter liebt, der 
andere haßt? Diese können nur entweder keines von beidem, also 
weder fromm noch unfromm sein, oder zugleich beides, zugleich 
fromm und unfromm. Ein Drittes gibt es nicht. Sind sie keines 
von beidem, so sind sie hinsichtlich einer ethischen Bewertung in- 


Anmerkungen. 103 


different, sind sie ἀδιάφορα, Aber es ist ausführlich und nachdrück- 
lich genug dargetan, daß die Streitigkeiten der Götter sich auf dem 
“ethischen Gebiete bewegen, und die angeführten Fälle von Haß und 
Feindschaft unter ihnen sind wahrlich nicht indifferenter Natur. 
Diese Bestimmung kommt also in Wegfall, ebenso die andere, denn 
dieselben Taten zugleich als fromme und als unfromme zu bezeich- 
nen, hat keinen Sinn, So ist klar und deutlich nachgewiesen, daß 
auf dem Boden, auf dem Euthyphron mit seinen strenggläubigen 
Genossen hinsichtlich des Wesens der Gottheit steht, eine Ethik 
überhaupt nicht erwachsen kann, am wenigsten ein gesunder Begriff 
der Frömmigkeit. Plato übt eine scharfe Kritik an den An- 
schauungen des Euthyphron von dem Wesen der Gottheit, aber 
diese Kritik gilt der gesamten strenggläubigen Partei und will zu- 
gleich dartun, wie großes Unrecht diese dem gottesfürchtigen So- 
krates mit der Anklage wegen Gottlosigkeit angetan hat, eine An- 
klage, die sich, wie unser Dialog erklärt, namentlich darauf stützte, 
daß der gottesfürchtige Mann durch jene Erzählungen von den 
Göttern mit großem Unwillen erfüllt wurde. 

30) S, 83. P. 106: εἴ τι γίγνεται ἤ τι πάσχει, οὐχ ὅτι γιγνόμενόν 
ἐστι, γίγνεται, ἀλλ᾽ ὅτι γίγνεται, γιγνόμενόν ἔστιν. — γίγνεσθαι ist hier 
Passivum zu ποιεῖν. Mit dem Frommen geschieht etwas, oder es 
wird mit ihm etwas vorgenommen. Dem entspricht das unmittelbar 
folgende πάσχει. Wenn wir es mit „leiden“ übersetzen, so ist dies 
in demselben Sinne zu verstehen, wie in „Leideform“. Bei den 
griechischen Grammatikern bezeichnet πάϑος das genus passivum, 
die beiden anderen διαϑέσεις sind ἐνέργεια (activum) und μεσότης 
(medium). τ 

80). S. 84. P.10d. Überliefert ist: ᾿Αλλὰ μὲν δὴ διότι ya φιλεῖται 
ὑπὸ ϑεῶν, φιλούμενόν ἐστι καὶ ϑεοφιλές. Schanz zeigt in ausführlicher 
Begründung, daß Bast mit vollem Rechte am Schlusse dieses Satzes 
τὸ ϑεοφιλές hinzugesetzt hat. Ich glaube, daß außerdem ὑπὸ ϑεῶν 
noch einmal gesetzt werden muß, so daß die Stelle lautet: Alla μὲν 
δὴ διότι γε φιλεῖται ὑπὸ ϑεῶν, ὑπὸ ϑεῶν φιλούμενόν ἔστι καὶ ϑεοφιλὲς 
τὸ ϑεοφιλές. 

81) S. 84, Der Satz schließt sich auf das engste an die un- 
mittelbar vorhergehenden Worte des Sokrates an. Hier ein neues 
Kapitel beginnen zu lassen steht im vollsten Widerspruche mit dem 
Zusammenhange der Beweisführung. 

82) S. 84, Das bereits gewonnene Ergebnis, daß Fromm und 
Gottgeliebt zwei verschiedene Begriffe sind, wird nun noch durch 
einen indirekten oder apagogischen Beweis dargetan, d.h. durch den 
Nachweis, daß die Annahme des Gegenteils oder auch alle anderen 
Annahmen als die in der Thesis enthaltene zu Unmöglichkeiten und 
Ungereimtheiten führen (deductio ad absurdum, ἀπαγωγὴ eis τὸ 
ἀδύνατον bei Aristoteles). Aus der Annahme, daß ϑεοφιλές und ὅσιον 
identische Begriffe seien, folgt, daß das, was von dem Frommen 
ausgesagt wird auch von dem Gottgeliebten gelten müßte, und das, 
was von dem Gottgeliebten ausgesagt wird, auch von dem Frommen 
gelten müßte. Richtig ist der Satz: Das ὅσιον wird geliebt, weil es 
ὅσιον ist. Wären nun ὅσιον und ϑεοφιλές gleichbedeutend, so könnte _ 
ich ϑεοφιλές für ὅσιον einsetzen und sagen: Das ϑεοφιλές wird ge- 


104 Euthyphron. 


liebt, weil es ϑεοφιλές ist. Ebenso verhält es sich mit dem Satze: 
Das ϑεοςριλές ist ϑεοφιλές, weil es von den Göttern geliebt wird. 
Setze ich hier für ϑεοφιλές ὅσιον ein, so ergibt sich der Satz: Das 
ὅσιον ist ὅσιον, weil es von den Göttern geliebt ist. Beide Male 
erhalte ich also bei der Gleichsetzung von ὅσιον mit ϑεοφιλές einen 
unmöglichen Gedanken. 

88) S. 85. P, 118: τὸ μὲν γάρ, ὅτι φιλεῖται, ἐστὶν οἷον pılsiodaı, 
τὸ δ᾽ ὅτι ἐστὶν οἷον φιλεῖσϑαι, διὰ τοῦτο φιλεῖται. „Denn das eine (das 
Gottgeliebte) ist, weil es geliebt ist, so geartet, daß es geliebt wird, 
das andere aber (das Fromme) wird darum geliebt, weil es so ge- 
artet ist, daß es geliebt wird.“ Also bei dem Gottgeliebten folgt 
daraus, daß es geliebt wird, nur daß es liebenswert ist, über sein 
eigentliches Wesen, über seine οὐσία erfahren wir nichts. Das 
Fromme dagegen ist so geartet, daß es geliebt wird, wird also um 
seines Wesens willen geliebt. Es fragt sich also, welches ist denn 
dieses Wesen, diese οὐσία, das Substanzielle an ihm, um dessent- 
willen es geliebt wird? Diese οὐσία hat Euthyphron nicht angegeben, 
sondern nur ein πάϑος, nur etwas, was es erleidet (p. 11b: πέπονϑε, 
gleich darauf: εἴτε φιλεῖται ὑπὸ ϑεῶν εἴτε ὅτιδὴ πάσχει), was ihm 
getan oder mit ihm vorgenommen wird, τί γίγνεται ἢ τί πάσχει (vgl. 
Anm. 29); er hat also, um mit Aristoteles zu reden, nur angegeben, 
was dem Frommen κατὰ συμβεβηκός, per accidens zuteil wird, 6 τῷ 
ὁσίῳ συμβαίνει. | 

Mit aller Bestimmtheit wird hier der Satz aufgestellt: Das 
Fromme ist der Art, daß es von den Göttern geliebt wird. Wir 
sind versucht, von hier aus gleich weiterzugehen und den Begrift 
der Frömmigkeit ’estzustellen. Wir können dies in voller Über- 
einstimmung mit Plato mit einigen wenigen Sätzen erreichen, Wenn 
das Fromme von der Art ist, daß es von der Gottheit geliebt wird, 
so muß es dem Wesen und Willen Gottes gemäß sein. „Gott aber 
war gut und wollte, daß alles soviel als möglich ihm ähnlich werde.“ 
Wer diesem Willen des guten Gottes entsprechend sein ganzes 
äußeres und inneres Leben gestaltet, der ist fromm und die Liebe 
Gottes wird ihm zuteil. Hierzu stimmt auch der Begriff der 
Frömmigkeit, wie ihn in unserem Dialoge nachher Sokrates fest- 
stell. Aber an unserer Stelle konnte er diesen sehr naheliegenden 
Abschluß noch nicht geben, denn hier hat er es noch mit dem 
Euthyphron zu tun, der an eine bunte, von Haß und Streit zer- 
rissene Götterwelt glaubt. So mußte der wahre Begriff der Fröm- 
migkeit auf anderer Grundlage erbaut werden. 

84) 5, 85. Die hier eingstretene Unterbrechung der Unter- 
suchung weist darauf hin, daß wir hier an einer bedeutsamen Stelle 
des Dialogs stehen. Sokrates nimmt alsdann die Leitung der dia- 
lektischen Erörterung in die Hand und bringt die Bestimmung des 
Wesens der Frömmigkeit zustande. 

5) S. 85. Daidalos, der berühmteste Künstler der mythi- 
schen Zeit. „Der Fortschritt gegen die ältesten Bilder bestand 
darin, daß Dädalus an seinen Statuen die Augen öffnete, so daß sie 
zu blicken, die Füße trennte, so daß sie zu schreiten schienen. 
Deshalb rühmt die Sage an diesen Statuen auch die große Lebendig- 
keit in verschiedenen Ausdrücken, z. B. daß Herakles mit einem 


Anmerkungen. 105 


Steine nach seinem Bilde warf, daß man sie binden muß, damit sie 
nicht davon laufen, und was dergleichen mehr ist, Daß von diesem 
Charakter der Lebendigkeit nur gegenüber der leblosen Steifheit 
der ältesten Bilder die Rede sein kann, versteht sich von selbst.“ 
Overbeck, Gesch. der Plastik I, 86. Wenn Sokrates ihn als seinen 
Ahnherrn bezeichnet, so hat das folgende Bewandtnis, Sokrates 
rechnete sich zu der Zunft der Bildhauer, als deren Begründer 
Daidalos betrachtet wurde. Indem nun die Berufsgenossenschaft als 
Geschlechtsgenossenschaft aufgefaßt wird, wird aus dem Begründer 
der Zunft der Ahnherr des Geschlechts. Vgl. Anm, 46 der Apelt- 
schen Übersetzung des Platonischen Menon, Bd. 153 der Philos, 
Bibl., 8. 87, 

36) S. 86, Tantalos, König von Phrygien, Sohn des Zeus und 
Tischgenosse der Götter, Vater des Pelops und der Niobe. Sein 
Reichtum war sprichwörtlich und ebenso die Qualen des Durstes, 
die er in der Unterwelt erlitt, weil er die Geheimnisse der Götter 
verraten hatte, 

87) S. 86. Anschauung und Sprachgebrauch der Hellenen setzten 
die Begriffe Gerecht und Fromm in nahe Beziehung; daher zieht 
Sokrates hier das Gerechte ohne weiteres heran. ls handelt sich 
jetzt darum, den Umfang des Begriffes Fromm und den Umfang 
des Begriffes Gerecht in ihrem gegenseitigen Verhältnisse fest- 
zustellen, um zu bestimmen, welcher der beiden Begriffe der Gat- 
tungsbegriff, welcher der Artbegriff ist. 

Dieser Abschnitt zeigt recht deutlich, eine wie hohe Bedeutung 
für die philosophische Betrachtung der Dinge Plato dem Sprach- 
gebrauche und dem Sprachbewußtsein beilegt. Beruht doch hierauf 
zu einem guten Teile das Werden seiner Ideenlehre. Die Sprache 
ist eben der unmittelbarste Ausdruck des Inhaltes unseres Geistes. 

38) δ, 87. Die nachfolgenden Verse sind aus den Kypria, einem 
Gedichte, welches die Begebenheiten, die der Ilias vorausgehen, 
schilderte. Seinen Namen hat das Gedicht davon, daß es auf der 
Insel Kypros entstanden ist. Der Verfasser war der älteren Zeit 
unbekannt, in der späteren Zeit wird das Gedicht dem Stasinos oder, 
Hegesias beigelegt. 

89) S. 87. „das alles“ kann auf die Gesamtheit der Dinge in 
der Welt hinweisen, so daß Zeus als der Schöpfer der Welt gemeint 
ist. Das ist das Wahrscheinliche. Aber da der Zusammenhang, in 
dem die Verse standen, nicht nachweisbar ist, so erscheint es nicht 
ausgeschlossen, daß im Vorhergehenden bestimmte Taten des Zeus 
erwähnt waren, die von seiner Furcht einflößenden Kraft und Ge- 
walt zeugten. 

40) S. 87. Der Dichter selbst hat αἰδώς offenbar in der Be- 
deutung „Scheu“ genommen. Wer Zeus fürchtet, der scheut sich, 
seinen Namen auszusprechen („wir sollen Gott fürchten und lieben, 
daß wir seinen Namen nicht unnützlich führen“); also wo Furcht ist, 
da ist auch Scheu. Plato nimmt aber αἰδώς hier in der Bedeutung 
„Scham“. Daher fügt er p. 12c zu αἰδούμενος noch καὶ αἰσχυνόμενος. 
Unter Scham aber versteht er „Furcht vor Schande“. Hiermit ist 
die Scham eine besondere Art von Furcht und ist demnach eine _ 
Spezies des Genus Furcht. 


106 Euthyphron. 


Es handelt sich darum, den Begriff des ὅσιον auf wissenschaft- 
lichem Wege zu gewinnen. Demnach kommt es vor allem darauf 
an festzustellen, daß δίκαιον der weitere, umfassendere Begriff ist 
und ὅσιον der engere, daß also δίκαιον sich zu ὅσιον verhält, wie das 
Genus zur Spezies. Hiermit ist die wissenschaftliche Grundlage für 
die Definition von Fromm und Frömmigkeit gewonnen, denn defi- 
nitio fit per genus proximum et differentiam specificam. 

Diese Erörterungen können leicht als umständlich, ja den Gang 
der Untersuchung hemmend erscheinen. Aber Plato hielt es mit 
Recht für nötig, zunächst die logischen Verhältnisse festzustellen, 
denn die Logik war damals noch im Werden. Es mußte ihm aber 
ganz besonders darauf ankommen, für das Wesen der Definition ein 
klares Verständnis bei seinen Lesern zu schaffen, denn gerade die 
Definition ist für die Erkenntnis des Wesens der Dinge von größter 
Bedeutung und bildete die Grundlage für den Aufbau seiner 
Ideenlehre. 

41) S, 87. „ein Teil“, μόριον. Es liegt hier eine räumliche An- 
schauung vor. Man denke sich δέος als Quadrat, von dem ein Teil 
αἰδώς ist. So ist da, wo αἰδώς ist, auch δέος, aber nicht überall, 
wo δέος ist, auch αἰδώς. Alle in diesem Abschnitte gebrauchten 
Bezeichnungen: πᾶν τὸ ὅσιον, πᾶν τὸ δίκαιον, ἵνα---ἔνϑα καί, ἐπὶ πλέον, 
πανταχοῦ, μόοιον, μέρος gehen auf den Umfang des Begriffs. Der 
weitere, umfassendere Begriff ist, da er weniger Merkmale hat, zu- 
gleich der allgemeinere, und insofern der engere Begriff unter ihn 
fällt und in seinem allgemeinen Wesen durch ihn bestimmt wird, 
der übergeordnete, der höhere. Bei der Definition, ὁρισμός, nun ist 
vor allem für den zu definierenden Begriff der nächst höhere, das 
genus proximum zu suchen. Als das genus proximum zu ὅσιον er- 
weist sich hier das δίκαιον. 

Schanz bemerkt S. 58 seiner Ausgabe zu dieser Stelle: „Die 
ganze spitzfindige Untersuchung hat nur formalen Wert.“ Von 
„Spitzfindigkeit“ kann ich hier nichts entdecken. Es werden ganz 
einfache logische Verhältnisse klargestellt, die für die Gewinnung 
einer richtigen Definition von grundlegender Bedeutung sind. Die 
Behauptung aber, diese ganze Untersuchung habe nur formalen 
Wert, würde Plato mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Seine 
Weltanschauung ist in seiner Ideenlehre gegeben, die Ideen aber 
sind Begriffe und diese können nur durch logisches Denken ge- 
wonnen werden. So können wir uns nur bei Kenntnis und Be- 
obachtung der logischen Verhältnisse und Gesetze zur Erkenntnis 
der Ideenwelt erheben, und damit ist die Logik für die Gewinnung 
einer idealen Weltanschauung von der größten Bedeutung. 

42) S, 88. Die Griechen stellen arithmetische Verhältnisse durch 
geometrische Figuren dar, so die gerade Zahl durch ein gleich- 
schenkliges, die ungerade durch ein ungleichseitiges Dreieck. 

48) 8. 88. τὸ πεοὶ τὴν τῶν ϑεῶν ϑεραπείαν. Nach dem Gange 
der Erörterung erwartet man zunächst τὸ περὶ τοὺς ϑεοὺς δίκαιον 
„Frömmigkeit ist das rechte Verhalten gegenüber den Göttern.“ 
Est pietas iustitia adversum deos. Da aber „rechtes Verhalten“ 
‚nur ein formaler Begriff ist, nach dessen Inhalte erst gefragt werden 
muß, so wird dieser Inhalt gleich dafür eingesetzt: Gerechtigkeit 


Anmerkungen. 107 


ist ϑεραπεία, ist Dienst, und je nachdem dieser sich auf die Götter 
oder auf die Menschen bezieht, ist sie Frömmigkeit oder Gerechtig- 
keit im engeren Sinne. So umfaßt die Gerechtigkeit als Genus die 
Frömmigkeit mit, anderseits tritt die Frömmigkeit als selbständige 
Tugend neben die Gerechtigkeit und hat ihren eigenen Namen, 
Daher erscheinen bei Plato bald vier, bald fünf Kardinaltugenden: 
Die fünf Tugenden sind δικαιοσύνη iustitia, εὐσέβεια pietas, σοφία 
sapientia, σωφροσύνη temperantia, ἀνδρεία fortitudo. Wird die εὐσέ- 
pe nicht mit genannt, so ist sie in der δικαιοσύνη mit inbegriffen. 

iesen Sprachgebrauch haben wir auch in der Bibel. „(Gerechtig- 
keit erhöhet ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben,“ 
„Der Gerechte erbarmt sich auch seines Viehes, aber der Gottlosen 
Herz ist unbarmherzig.“ Bei Plato ist, wie wir im Laches sahen, 
die Gerechtigkeit auch der Inbegriff aller Tugend, und auch in der 
Bibel finden wir das Wort in derselben Bedeutung. „Selig sind, 
die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen 
satt werden.“ Und wenn Gott als der Gerechte gepriesen wird, so 
ist damit gemeint, daß in ihm alle Tugend, alles Ethische in seiner 
höchsten Potenz und in seiner vollsten Reinheit gegeben ist. So 
beruht die Gerechtigkeit Gottes auf seinem heiligen Willen, und 
Gott der Gerechte ist nichts anderes als Gott der Heilige. 

4) S. 89. Sokrates will erst eine allgemeine Erklärung von 
dem Wesen der ϑεραπεία geben, bricht aber damit sofort ab, um es 
lieber an Beispielen klar zu machen. Der historische Sokrates liebt 
es, die Beispiele für seine Lehren dem gewöhnlichen Leben zu ent- 
nehmen. Pferde Esel, Hunde, sodann Schuster, Walker, Köche, 
Schmiede, Färber spielen in seinen Beweisführungen immer wieder 
eine Rolle. 

#5) 5, 89. „Die Kunst des Weidmanns,“ ἡ κυνηγετική. Die 
Etymologie des Wortes weist auf die große Bedeutung hin, die der 
Hund für die Jagd hatte. 

46) S. 95. Die schönste Erklärung der Bedeutung von Opfer 
und Gebet haben wir in dem Lieblingsverse Melanchthons Odyssee 
III, 48: πάντες δὲ ϑεῶν yareovo’ ἄνϑρωποι. Der Zusammenhang ist, 
folgender. Telemach und Pallas Athene in der Gestalt des Mentor 
kommen auf ihrer Fahrt nach Kunde von dem langabwesenden 
Odysseus nach Pylos, wo sie Nestor mit seinen Pyliern bei einer 
großen Opfermahlzeit antreffen. Sie werden auf das freundlichste 
begrüßt und zur Teilnahme am Opfermahl eingeladen. Peisistratos, 
Nestors jüngster Sohn, füllt einen goldenen Becher mit Wein und 
reicht ihn Pallas Athene mit den Worten: „Bete jetzt, o Fremd- 
ling, zum meerbeherrschenden Poseidon, denn zu seinem Opfermahle 
seid ihr grade gekommen. Aber wenn dü das Trankopfer dar- 
gebracht und zu ihm gebetet hast, wie es recht ist, dann gib auch 
diesem (Telemach) den Becher mit honigsüßem Weine, daß auch er 
ein Trankopfer darbringe; denn auch er betet, wie ich glaube, zu 
den Unsterblichen; es tragen ja alle Menschen Verlangen nach den 
Göttern.“ 

Nach diesen Worten Homers haben also Gebet und Opfer ihren 
Grund in dem Verlangen nach der Gottheit, d. h. in dem Verlangen, 
zu der Gottheit in ein näheres Verhältnis zu kommen, in eine Ge- 


108 Futhyphron. 


meinschaft zu ihr zu treten. Gewöhnlich übersetzt man nicht: „alle 
Menschen verlangen nach den Göttern“, sondern „alle Menschen 
bedürfen der Götter“, aber die eigentliche Bedeutung von χατέειν 
ist „verlangen“, und es ist auch gar kein Grund, von dieser Be- 
deutung hier abzugehen. 

41 5; 94. Proteus, ein weissagender Meergreis, der sich auf 
der Insel Pharos bei Agypten aufhielt und da die Robben der 
Amphitrite hütete, Des Mittags trieb er seine Herde gewöhnlich 
ans Ufer und ruhte mit ihr im Schatten der Felsen. Dabei überfiel 
ihn einst auf den Rat der Eidothea, des Proteus Tochter, Menelaos, 
mit seinen Gefährten in Robbenfelle gehüllt, und nötigte ihn, trotz- 
dem er sich in alle möglichen Gestalten verwandelte (eine aus der 
Vielgestalt des Meeres hergeleitete Eigenschaft) ihm zu weissagen, wie 
er nach Hause zurückkehren könne. Odyssee IV, 351ff. 


Übersicht über die Literatur 
zu 
Laches und Euthyphron.!) 
Von Benno v. Hagen in Jena. 


Außer den Texten in den Gesamtausgaben von J. Bekker, von 

Fr. Ast, von den Zürichern, von K. Fr. Hermann, von M. Schanz uud 

J. Burnet nenne ich folgende Ausgaben mit erklärenden Anmerkungen: 

Platonis Euthyphr., Apol, Crito, Phaedo explie. J. F. Fischer, 
Ed. 111. Leipzig 1783. 

Platonis Laches, Euthyphr., Apol. et Menex. Ed. Engelhardt. 
Berlin 1825. 

Laches in Band V, Euthyphron in Band VI der Ausgabe von 
G. Stallbaum mit lat. Kommentar. Erfurt und Gotha 1834 
und 1836. 

Platons Laches. MitEinl. u. Anm. von Ed. Jahn. Wien (1864) 1888, 

Platons Euthyphro with introduction and notes by William Arthur 
Heidel. New York (1903). 

Euthyphro and Menexenus. Ed. by T. R. Mills. Introduct. text, 
notes etc. London 1902. 

Euthyphro, Apology, Crito with introd., translat., notes by F. M. 
Stawell. Temple Greek and Latin Classics. London 1906. 
Quinque dialogi platonici: Euthyphr., Apol. Crito, Phaedo, 
Protag. Rec. et brevi adnotatione instruxit Henr. van Her- 

werden. Groningae 1906. 

Plato ex hermeneias kai diorthoseos Spyridonos Moraitou. Tom. 11. 
Periechon Euthyphrona, Lacheta . .. In griechischer 
Sprache. Konstantinopel (Leipzig 1908, B. Liebisch.). 

Plato, Euthyphro. With introd. and notes by St. G. Stock. 
Oxford 1909. 

Euthyphron für den Schulgebrauch herausgegeben von H. Ber- 
tram. 2. Aufl. von Joh. Nusser. Gotha 1903. 

Laches von denselben, ebenda 1904. 

Euthyphron f£. ἃ. Schulgebrauch erkl. von M. Wohlrab. 4. verb. 
Aufl. (1879) 1900. 

Laches für den Schulgebrauch erkl. von Christian Cron. 5. Aufl. 
Leipzig 1891. 

Euthyphron für den Schulgebrauch herausgegeb. von A. Th. Christ. 
Leipzig u. Wien, 5. Aufl. 1906. 


1) Die 1. Auflage brachte keine Literaturübersicht, da Gustav 
Schneider eine solche nicht hinterlassen hatte. Auf Wunsch des Ver- 
lages lieferte ich 1920 hinter dem von Apelt besorgten Gesamtregister 
des Platon-Index die Übersicht. Jetzt hat sie in verbesserter Gestalt 
hier ihren Platz gefunden; 


110 Übersicht über die Literatur zu Laches und Euthyphron. 


Laches von demselben 1904, 2, Abdruck 1920, 

Platons Laches und Euthyphron. Zum Gebrauch für Schüler 
herausgegeben von A.v. Bamberg. Bielefeld und Leipzig, Vel- 
hagen & Klasing 1903. 

Laches. ‚Scholarum in usum ed. Jos. Kräl. Ed. II. Leipzig und 
Wien 1902, neue Titelausgabe ebenda 1920. 

Platon. Auswahl für den Schulgebrauch hrsgegeb. von H. Röhl. 
Münster, Aschendorff 1910 (darin Laches). Komment. 1911. 

Von Übersetzungen nenne ich: 
A. Deutsche. | 

Platons sämtliche Werke. Übers. von Hieronymus Müller. Mit Einl. 
von K. Steinhart. 1. Band (Laches) 1850, 2. Band (Euthy- 
phron) 1851. 

Platons Werke. In 40 Bändchen. Stuttgart, Metzlers Verlag. 
2. Gruppe, 2. Bändchen: Hippias d. Kl. und Euthyphron über- 
setzt von L. Georgii, 2. Aufl. 1884. 5. Bändchen: Laches 
und Charmides, übers. von L. Georgii, 2. Aufl. 1882. 

Platons Laches oder von der Tapferkeit. Übersetzt von Friedrich 
Schleiermacher. Neun herausgegeben von Otto Güthling. 
Universalbibliothek 1785, Leipzig, Reclam (1883). 

Platons Euthyphron, Laches, Hippias. Deutsch von K. Preisen- 
danz. Jena, E. Diederichs 1908. 

Außerdem vgl. die Übersetzungen in der Langenscheidtschen 

Sammlung. | 

B. Ausländische. 
1. Dänische: 

Platon, Euthyphr. oversat af H. Holten-Bechtolsheim. Kopen- 
hagen 1916. 

2. Englische: 

Plato, Euthyphro and Laches. Litterally translated by John 
Gibson. London, J. Cornish & Sons (1890). 

The Trial and Death of Socrates being the Euthyphron, Apology, 
Crito and Phaedo of Plato. Translated into english by Frederick 
John Church. London and New York, Macmillan and Co. 1891. 

The dialogues of Plato translated into english with analysis and 
introductions by Benjamin Jowett. Oxford 1892. Vol. I (1892) 
Laches, vol. II (1892) Euthyphro. 

Euthyphro: Litterally translated by E. T. Pegg. London 1903. 

Euthyphro and Crito. Translated by St. G. Stock, London 1909. 

Plato with an english translation by Harold North Flowler and an 
introduction by Walter Rangeley Maitland Lamb. London. New 
York (1914. 1917) 1919. 1921. I. Euthyphro... (1914. 1917) 1919. 

3. Italienische: 

I dialoghi di Platone nuovamente volgarizza tida Eugenio Ferrai. 

4 voll. Padova 1873—1883. Vol. ILaches, Vol. II Eutifrone. 


Übersicht über die Literatur zu Laches und Euthyphron. 111] 


Dialoghi di Platone tradotti da R. Bonghi. 13 voll. 1880 ---1904, 
Vol. I (1880, 1901) Eutifrone ὁ della Santitä. Vol. XI (1903) 
Lachete ὁ della Fortezza. 

Platone. Lachete ὁ della fortezza. Dialogo tradotto da Attilio 
Gnesotto. Padova 189. 

Platone. Idialoghi. L’Eutifrone ossia del Santo. Nuovo volgarizza- 
mento con argumenti e note di Giuseppe Meini. Torino 1899, 

4. Schwedische: 

Valda skrifter af Platon i svensk Ööfversättning af Magnus 10 ἃ] 8 7ὕ, 
Stockholm 1870fi. 6 delen. 8, Euthyphron (1877), 4. Laches 
(1880). 

5. Spanische: 

Cinco diälogos de Platon. Darunter: El Eutifron. Tradueidos direec- 
tamente del griego, com argumentos y mnotas por Anacleto 
Longu& y Molpeceres. Madrid 18ξ0, 


Zur Erläuterung. 


Ambrosini, Antonio. Osservazione critiche al volgarizzamento dell’ 
Eutifrone di Platone di Ruggiero Bonghi. Fano: Stab. tip. Pas- 
qualis 1880 (12 S.). 

Apelt, Otto. Observationes criticae in Platonis dialogos. Progr. 
d. Gymn. Weimar 1880 (inest Laches). 

v. Arnim, Hans. Platos Jugenddialoge und die Entstehungszeit des 
Phaidros. Leipzig 1914. 

v. Bamberg, Alb. Platons Euthyphron. Entlassungsrede. Ostern 
1890. In des Verf. Ideale. Ausgew. Schulreden (Berlin 1906). 
5. 29—38. 

Becker, Theodor. Zur Erklärung von Platons Laches. In: Jahr- 
bücher f. elass. Philol. 121 (1880) S. 305—16. 

Berndt, Rich. Der innere Zusammenhang der in den platon. Dialogen 
Hipp. min., Laches, Charmides u. Lysis aufgewiesenen Probleme. 
Progr. Gymn. Lyck 1908, 

Bonitz, Hermann. Platonische Studien. 3. Aufl. Berlin 1886, darin: 
Zar Erklärung des Dialogs Laches (1871) S. 210—226. Ferner: 
Zur Erklärung des Dialogs Euthypuron (18%2) S. 227—242, 

Christ, Augustin Theodor. Beiträge zur Kritik des platon. Laches. 
Progr. d. deutschen Obergymnäasiums d. Kleinseite Prag 1895 
Ss. 3—24. Γ 

Cron, Christian. Der platon. Dialog Laches nach Form und Inhalt 
betrachtet. In: Sitzungsber. d. philos.-philolog. u. hist. Kl. d. 
K. bayr. Akad. ἃ. Wiss. zu München 18851 I p. 145—200. 

Cron, Christian. Zu Platons Laches (196d). In: Jahrb. f. class. 
Philol. 125 (1882) S. 182—184, 872. 

Cron, Christian. Zu Platons Euthyphron (l5e). In: Jahrb. f. class. 
Philol. 143 (1891) p. 169—176. 

van Deventer, Charles Marius. Piatonische studi&n. Amsterdam: 


112 Übersicht über die Literatur zu Laches und Euthyphron. 


S. L. van Looy. H. Gerlings 1896. Darin: De Euthyphron 
(p. 90 bis 109). 

Drachmann, Anders Björn. Til Platons Euthyphron. Nordisk Tids- 
skrift for Filologi 3. Raekke 14 (1905—1906) 8. 109—115. 

Eichler, .Hubert. Zu Platons Laches (196D). In: Jahrb. f. class. 
Philol. 123 (1831) S. 383—84. 

Falbrecht, Fr. Platons Euthyphron, eine methodische Präparation. 
In: Jahrbuch des Vereins für wiss. Pädagogik 35 (1906) 85. 40 
bis 116, nebst Erläuterungen dazu. Dresden 1906 8. 19—27. 

Gaumitz, Herm. Präparation zu Platons Euthyphron und Laches. 
2. Aufl. Hannover 1909. | 

Gillischewsky, Hugo. Platons Euthyphron als Schullektüre. Zeit- 
schr. f. d. Gymnasialwesen 59 (1905) S. 577—584. 

Gitlbauer, Michael. Textkrit. Bemerkungen zu Platons Laches. 
In des Verf.: Philolog. Streifzüge. Freiburg i. B. 1886. 

Gomperz, Theodor. Platons Euthyphron p. 3a in des Verf.: Une 
dizaine des notes critiques. In: Melanges Graux (Paris 1884) p. 49 
bis 53. Wiederholt in des Verf. Hellenika 2 (Leipzig 1912) p. 266 ff. 

Hammer-Jensen, Ingeborg. Apologien og Euthyph. Nordisk Tids- 
skrift for Filologi. 3. Raekke 14 (1905—06) S. 116—120. 

Hausenblas, Adolf. Zur Erklärung von Platons Laches. In: Ztschr. 
f. ἃ, österr. Gymn. 36 (1885) 5. 893— 907. 

Heidel, William Arthur. On Plato’s Euthyphro. In: Transactions 
and Proceedirgs of the American Philological Association 31 
(1900) 8. 162—181. | | 

Höttermann, Ernst. Platons Polemik im Euthyphron und Kratylos. 
(Zwei Analysen.) Ztschr. f. ἃ, Gymnasialwesen 64 (1910) 8. 65—89. 

Hoffmann, Max. Zur Erklärung plat. Dialoge. I. Laches u. Char- 
mides. II. Euthyphron. Ztschr. f. d. Gymnasialwesen 57 (1903) 
5, 525—537. 58 (1904) 8. 87—92. 

Holten-Bechtolsheim, H. Til Platons Euthyphron. Nordisk 
Tidsskrift for Filologi 4. Raekke 5 (1916—1917) 5. 22—24, 
Horn, Ferdinand. Platonstudien. Wien. F. Tempsky 1893. Die 
darin befindliche Analyse des Laches lobt Pohlenz, aus Platos 

Werdezeit S. 23 Anm. 

Horna, Konst. Krit. Miscellen zu Plato [Lach. 167e]. In: Philologus 
65 (1906) p. 156—57. 

Horneffer, Ernst. Platon geg. Sokrates. Interpretationen. Leip- 
zig 1904. (II. Laches.) Ä 

Jo&äl, Karl. Zu Platons Laches. Hermes 41 (1906) S. 310—318. Vgl. 
W. Dittenberger: Nikias und die Mantik. Ebenda 5. 473—475. 

Jo&l, Karl. Nochmals Platons Laches. Ebenda 42 (1907) S. 160. 

08], Karl. Der echte und der xenophonteische Sokrates. 1. Bd. 
(1893), 2. Bd. (Berlin 1901). 

v. Kleemann, Aug. Die Stellung des Euth. im Corpus plat. Progr. 
d. akad. Gymn. Wien 1903. 


Übersicht über die Literatur zu Laches und Euthyphron. 113 


v. Kleist, Hugo. Zu Platons Euthyphron p. 9e. In: Philologus 41 
(1882) 8. 8δῦ---889, 

v. Kleist, Hugo. Zu Platons Laches. In: Jahrb. f. class. Philologie 
145 (1892) Ss. 50—52. 

Koellner, Rudolf. Bemerkungen zu den Papyrusfragmenten des pla- 
ton. Laches. Philologus 58 (1899) 8. 312—314, 

Kohl, Otto. Platos Euth. in der Gymnasiallektüre. In: Nene Jahrb. 
f. Pädagogik XXI1 (1919) 44 8. 78—80. 

Kornitzer, Alois. Zur Definition der ἀνδρεία in Plätos Laches. 
In: Ztschr. f. ἃ. österr. Gymn. 66 (1915) 8. 973—74. 

Landwehr, Peter. Über die Echtheit des platon. Dialogs Laches 
und seine Verwendbarkeit im Gymnasialunterricht. Progr. des 
Gymn. Ravensburg 1895. 25 ἢ, 

Lechthaler, Isidor. Die ὁσιότης (Frömmigkeit) bei Plato mit Rück- 
sicht auf Schaarschmidts Athetese des Dialogs Euthyphron. Progr. 
des Gymn. Meran 1879 8. 3—52. 

Liebhold, Karl Julius. Zu Platons Euthyphron. In: Jahrb. f. class. 
Philologie 149 (1894) S. 318—-320. 

Lutostawski, Wincenty. Über die Echtheit, Reihenfolge und logi- 
sche Theorien von Platos drei ersten Tetralogien. In: Arch. 
f. Gesch. d. Philosophie 9 (1896) S. 67—114. 

Lutze, Heinrich. Zu Platos Laches. Progr. des Gymn. Sorau 1899. 
Mahaffy, John Pentland.. The Petrie Papyri: The „Laches“ of 
Plato. In: The Athenaeum 1892. Juli—Dez. S. 591, 818. 
Mahaffy, John Pentland.. An ancient papyrus fragment of the 
Laches of Plate. In: Hermathena 8 Nr. 19 (1893) S. 310 

bis 321. 

Martens, Ludwig. Die Platolektüre im Gymnasium. Progr. des 
Gymn. Elberfeld 1906. 

Mayer, Jak. Wie gestaltet sich die Zusammenfassung von Platons 
Dialog „Laches“ nach Herbartschen Grundsätzen? Lehrproben 
und Lehrgänge 64 (1900) S. 50—68. 

Meiser, Karl. Über Platons Euthyphron. ‚Progr. ἃ. Neuen Gymna- 
siums Regensburg 1901. 

Natorp, Paul. Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idea- 
lismus. Leipzig 1903 (Laches S. 18—21). 

Nusser, Johann. Inhalt und Reihenfolge von sieben platon. Dia- 
logen. Inaug.-Diss. von Würzburg und Progr. ἃ. Studienanstalt 
Amberg 1882. (Darin Laches und Euthyphron.) 

Nusser, Johann. Kritisch-Exegetisches zu Plato. In: Blätter ἢ, ἃ, 
Gymnasialschulwesen 40 (1904) S. 341—43. (Laches 182 A). 
Pater, Walter. Plato und der Platonismus. Aus dem Englischen 

übersetzt von Hans Hecht. Jena, E. Diederichs 1904. 

Poggi, Vincenzo. L’Eutifrone di Platone. Roma 1891. 

Pohlenz, Max. Aus Platos Werdezeit. Philolog. Untersuchungen. 
Berlin 1913 (Laches 8. 23—39). 


Platon Laches und Euthyphron. Phil. Bibl. Bd. 178. ὃ 


114 Übersicht über die Literatur zu Laches und Euthyphron. 


Prompt. Etude sur l’Euthyphron de Platon. In: Annales de philo- 
sophie chretienne. 57. annee. Nouv. ser. 14 (1886) 5. 297—312. 

Raeder, Hans. Platons philosophische Entwicklung. Leipzig 1905. 

Rieser, Otto. De Platonis Euthyphrone. Dissert. inaug. bernensis 
Frauenfeldae 1880, | 

Ritter, Constantin. Platon (München 1910). Darin: Laches S. 284 
bis 297. Euthyphron S. 363—368. 

Ritter, Constantin. Neue Untersuchungen über Platon. München 1910. 

Schanz, Martin. Plat. Laches 188D. In: Rhein. Mus. 41 (1836) 
Ss. 308—309. 

Schneider, Gustav. Schülerkommentar zu Platons Euthyphron. 
Leipzig, G. Freytag (1902) 1920. 

Schneider, Gustav. Der Begriff der Frömmigkeit in Lessings 
Nathan und in Platons Euthbyphron. In: Lehrproben und Lehr- 
gänge 83 (1905) S. 1—13. 

Schwartz, Eduard. Uber den hellenischen Begriff der Tapferkeit. 
Rede (z. Stiftungsfest d. Univ.) Straßburg 1915. 

Smyly, J. Gilbart. A new fragment of the Laches of Plato. Her- 
mathena 10 Nr. 25 (1899) 5. 407—408. 

Stich, Hans. Platons Laches als Lektüre der Oberklasse in der 
Kriegszeit. In: Blätter für das Gymnasialschulwesen 52 (1916) 
5. 115—118. 

Sumann, Josef. Beitrag zur Erklärung des platonischen Dialogs 
Euthyphron. In: Ztschr. f. d. österr. Gymnasien 45 (1894) 
S. 681-694. DAR. = 

Trubetzkoy, Sergei Fürst. Zur Erklärung des Laches (188 AB. 
194 CD). Hermes 40 (1905) 5, 636—638. 

Turner, Eduard. Quaestiones criticae in Platonis Lachetem. Disser- 
tationes philologicae halenses XVI 2 (1904). 

Verdam, H. D. De ordine, quo Platonis dialogi inter se succedunt. 
Mnemosyne 44 (1916) 8. 255—294. 

Wagner, Ernst. Ub. Platos Euthyphron, zur Frage seiner Echtheit 
u. z. seiner Erklärung. In: Festschr. z. 50 jähr. Doktorjubiläum 
Ludwig Friedländer dargebracht. Leipzig 1895 S. 438—455. 

Wagner, Josef. Zur Präparation von Platons ausgew. Dialogen. 
Für den Schulgebrauch herausgegeben. (II. Laches, III. Euthy- 
phron.) Wien 1886. 1888. 

Wecklein, Nicolaus. Plato Laches 5. 189C in: Rhein. Mus. 36 
(1881) S 144 vgl. auch Jahrbb. f. class. Philol. 125 (1882) 
S. 91—94 (zu Laches 185B). 

v. Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich. Platon. 1919. 2. Aufl. 1920. 

Wotke, Karl. Platons Laches 182 A. In: Wiener Studien 15 (1893) 
5, 305—306. 

Zingerle, Anton. Kleine philolog. Abhandlungen 4 (Innsbruck 1887) 
Ss. 13—74 (darin: Plato Lach. 187 E). 


men nn 


Register). 


Die Zahlen bedeuten die Seiten. 
(opp. = Gegensatz, def. = Definition der Begriffe.) 
(La. = Laches, Eu. = Euthyphron.) 


Activum (Tätigkeitsform) 82 ἢ. 103. | Begriffsabgrenzung 86f. 


Aeneas 34. 

Arzte 42. 48. 90. 

— für Augen und Ohren 32. 

Agathokles 17. 54. 

Aixone 5. 46. 56. 

Akropolis 75. 

Alkibiades 7. 54. 

Alter, Fortschritt und 80. 

—, Vergeßlichkeit im 32. 

Anklage durch einen Bürger 60. 

Anytos 96. 

Apollon 96. 

Apologetische Tendenz des Eu. 65. 

Apologie 3. 12. 62f. 

Archedemos 98. 

Argiver 6. 7. 

Aristeides 10. 14 53. 

Aristoteles 2. 11. 96. 103f. 

Arithmetische Verhältnisse 106. 

Artbegrift 105. 

Asinaros (Fluß) 9, 

Atheismus 62f. 

Athene 98. 

Attika’ 21. 

Aufgabe des Eu. 63ff. 

Augenheilung 25. 

Augensalbe 25. 

Ausbildung 26. 

Ausharren, vernünftiges 37. 

— im Kampfgetöse 38. | 

Ausleger des delphischen Rechts 
59. 72. 81. 


Basileus, Halle des 68. 96. 
Baumeister 91. 

Befleckung 58. 72. 97. 

Begriff, Untersuchung des B.s 63. 
Begriffe, ethische 2. 64. 78. 


Beharrlichkeit 36. 39, 

Berufsgenossenschaft 105. 

Beten 92. 

Beweis, indirekter (apogogischer) 
84. 108 ἢ 

Bibel 2. 11, 58. 107. 

Böotien 7, 

Böse opp. Gut 50. 78, 


Charoiades 5, 
Chronologie 10, 54, 
culpa 60, 


Daidalos 85. 86. 94. 104f. 
Daimonion 97. 

Damon 17. 46. 50. 51. 
deductio ad absurdum 103. 


' Definition 106. 


Delion 6. 12. 18. 

Demen (Verfassung) 53. 
Demokratisches Prinzip 53. 
Denken (und Handeln) 11. 
Dichter 75. 

δίκη 96. 

dolus eventualis 60. 
Dreieck 106. 


Echtheitsfrage des La. 5. 
— — Eu. 57 


Erziehung 14 fr. 


Etymologische Untersuchungen 57. 


Eurymedon, Feldherr 8. 
Euthyphron (Persönliches) 57 ff. 


Fachmann 2. 

Fahrlässigkeit 60. 

Fechtkunst 14. 16. 19—24, 
Feigheit opp. Tapferkeit 35f, 
Feldherrn 91. 
Feldherrnkunst 9. 48. 


1) Verfaßt vom Herausgeber Dr. Benno von Hagen in Jena, 


110 


Fesselung 59. 72. 81. 
Fliegerkunst 71. 
Flötenbläser 41. 

Form, Schönheit der 10]. 
Frauen 45. 

Freundschaft, Gott der 75. 
Friedenspartei 7. 
Frömmigkeit 50. 

Fromm an sich 99. 


Fromm (def.) 74. 76. 82ff, 88. 90f. 
[92£. 


Fromm opp. Gottlos 74, 
Furcht 47. 87. 105. 
Fußvolk 34, 


(astmahl δά. 

Gattungsbegriff &6ff. 105. 
Gaugenosse 17. 29. 53. 
Gegenleistung 93. 

Geld, Verwendung von 37, 
genus proximum 106, 
(Greometrische Figuren 106. 
Gerecht (Begriff) 86. 87f. 105f. 
(rerecht opp. Ungerecht 78. 
(serechtigkeit 47. 107. 
Gericht, Verhalten vor 79. 
Geschlechtsgenossenschaft 105. 
(reschwindigkeit 36. 
Gesundheit opp. Krankheit 42, 
Gewichtsbegriffe 77. 

Glauben opp. Wissen 98. 
(Goethe 2. 

(sott der Freundschaft 75. 
(Gottesdienst 92. 

(ottlos opp. Fromm 74. 
Grottlosigkeit 73, 

γραφή 960. 

(sut und Böse 50. 

Gut opp. Böse 78, 
Gutswirtschaft 59. 72. 
Gylippos 8. 

Gymnasien 54. 

(symnasion Lykeion 96. 


Habichtsnase 68. 

Häßlich opp. Schön 78. 100. 
Halex (Fluß) 6. 
Handelswissenschaft 93. 
Hauptwerk 91. 

Hera 79. 100£. 

Heraklit 67. 


Herdgenossenschaft 58. 61. 72. 97. 


Herodot 55. 


Register. 


Hephaistos 79. 101. 

Hesiod 60. 

Homer 34. 52. 5b. 56. 100f. 1078. 
Hoplomachen 21. 

Horaz 55. 

Hunde 89. 


Jagd, Bild von der 40. 
Ideenlehre 66. 106. 

Ilias 55. 100£. ie, 
Ilissos (Fluß) 96. 

Ironie 58. 94. 95. 98. 


Kardinaltugenden 107. 
Karier 28. 54. 

Kinder, Unverstand der 45. 
Klageschrift 63. 
Kleisthenes 53. 

Kleruch 59. 

Königtum 96. 

Krankheit opp. Gesundheit 42. 
Kratylos 57. 

Kriegskunst 20. 
Kriminalklage 68. 96. 101. 
Kriton 67. 98. 

Krommyon 56. 

Kronos 58. 60. 79. 100. 
Kultusvorschriiten 61. 
Kunst, Bild von der 86 
Kypria 105. 

Kythera 7. 


Laches (Persönliches) ὅ 1. 

Laienstandpunkt des La. 4, 

Lakedaimonier 21. 

—, Kampfesweise der 34f. 

Lamachos 7. 46. 56. 

Landwirte 42. 48. 69. 91, 

Leben opp Tod 42f. 

Lehrer, Alter des L.s 31. 

—, Notwendigkeit des L.s 52. 

—, gute 26. 

Lehrerpersönlichkeit 31. 

Lehrtätigkeit, Auffassung der 70. 

Leibesübung 19. 

Leideform (Passivum) 82f. 103. 

Leontiner 5. 

Logische Erörterungen 64. 106. 

Logoslehre 67. 

Lokrer 6. 

Lungenentzündung, Verhalten be, 
37. 


Register. 


Lykeion 68. 90, 
Lykon 96. 
Lyra 30. 
Lysimachos 10. 


Mäßigung 47. 

Maler 75. 

Mantik 58. 

Mantinea 6. 12. 

Maßbegriffe 77. 

Megaris 56. 

Mehrheit (Mehrzahl) 24. 

Melanchthon 107. 

Melesias 10, 

Meletos 63. 65. 68f. 73. 14, 88, 
οθδῖ. 97. 

Melos 6. 

Mende 7. 

Messana 6. 

Methode 64f. 

Methone 7. 

Mildernde Umstände 101. 

Militärbehörde, oberste 54. 

Minoa (Insel) 6. 

Mondfinsternis 8. 

Mord 60. 74. 81. 101. 

Musiklehrer 17. 54. 


Mylä 6. 
Mythen 58. 61. 75. 
Naxos 59. 72. 


Nebenzweck des Eu. 65. 
Neuerer, religiöser 70. 
Nierenkrankheit 8. 

Nikeratos 6. 51. 

Nikias (Persönliches) 6ft. 
Nikiasfrieden 6. 

Nikostratos 6. 

Nisaea 6. 

Nutzen opp. Schaden 90. 93. 


Odyssee 56. 107f. 

Offenbarung der Gottheit 69. 97. 
Opfern 92. 

Orakel zu Delphi 59. 

Oropos 7. | 
Orthodoxie in Athen 58. 102. 


Palästren 54, 

Panathenaeen 75. 98. 

Parthenon 98, 

Parther 55. 
Passivum (Leideform) 82 ἔ, 85. 103. 


117 


Pathos (πάϑος) 108. 

Perikles 6. 10. 

Perser 385. 

Pferde 25. 89. 

Phaia 55. 

Phalanx 55, 

Philosophie, 
sche 1. 

Pitthos 68. 

Plataeae, Schlacht bei 35. δῦ. 

Plutarch 55f. 

Polias (Athene) 98. 

Prodikos 46. 56. - 

Protagoras 1. 11. 12. 13. 67. 

Proteus 94. 108. 

Prozeß des Sokrates 66. 73. 

— des Eu. ?71£. 81. 

Prüfung durch Sokrates 29. 

Pythagoreer 67. 

Pythokleides 54. 


Quadrat 106. 


Räumliche Anschauung 106. 

Reiterei 84. 

Religiöser Standpunkt des Sokra- 
tes 62f. 

Rinderhirten 89. 

Rosse des Aeneas 34. 

Rückzugsstrategie 34. 


Sachkenntnis 24. 

Sau, krommyonische 45, bdf. 
Schaden opp. Nutzen 93. 

Scham 87. 105. 

Scheu 105. 

Schiedsrichteramt des Sokrates 23. 
Schiffsbaumeister 90. 

Schiller 11. 

Schön opp. Häßlich 78. 100. 
Schuldfrage 59. 72. 

Schule, Notwendigkeit der 52. 
See, Bild.von der stürmischen 40. 
Seher 43. 71. 

Sichellanze, Erfindung des Stesi- 
Sizilien 5, [leos 22. 
Sizilische Expedition 7. 

Skione 7, 

Skythen, Rückzug der 34. 
Sokrates im La, 10. 

— im Eu. 61—63. 

Solon 30f. 


Sokratisch-Platoni- 


118 


Sophisten, Honorar der 27. 

—, synonyme Unterschiede bei 
den 46. 

Sophistik, Grundanschauung 1. 

Sophroniskos, Vater des Sokrates 

Sorge (def.) 89. [17. 54. 

Spezies 106. 

Sprache 105. 

Sprachgebrauch von φόνος ὅθ, 97. 

Sprichwort 28. 45. 54. 55. 

Staatsanwalt 60. 

Staatsinteresse 96. 

Stallmeister 89, 

Steinbrüche 9, 

Stesileos 22. 

Stimmenmehrheit 24. 

Strafe 80. 

Streitwagen 34. 

Sykophanten 98. 

Synonyme Unterschiede 46. 

Syrakus 5. 8. 

Szenerie 10, 


Tagelöhner 59. 72. 81. 9. 


Register. 


Tonkünstler 30, 

Totschläger 59. 
Tragödiendichter in Attika 21. 
Trunkenheit 59. 72. 

Tugend, Arten der 88, 47. 50. 
—, Gesamtheit der 50. 
Turnlehrer 24, 


"Übereinstimmung zwischen Wissen 
und Wollen 10f. 

Überschrift 4, 

Umfang des Begriffs 86. 106. 

Ungerades 87. 

Ungerecht opp. Gerecht 78. 

Ungeschicklichkeit, körperliche 22. 

Unrecht 80. 

Unterricht 1588. 

Unverstand . von Kindern 
Tieren 45, 

Uranos 79. 100. 


und 


[818 (οὐσία) 104. 


Väter, Taten der 15. 
Vater und Sohn (Verhältnis) 71f. 
81. 


Taktik der Spartaner bei Plataeae |  Vergeßlichkeit im Alter 32. 


Tanagräer 7. 

Tantalosschätze 86. 105. 

Tapferkeit (def.) 84. 36. 41. 44. 49f. 

— im Kriege 35. 

— auf See 35. 

— bei verschiedenen Anlässen 35. 

Technik (des Reitens, Schießens 
usf.) 38, 

Teile des Begriffs 86f. 88. 

Tempelraub 74. 

Textkritisches 55. 99. 100. 1018, 

Theologenhochmut 58. 91. 103. 

Therapeia (ϑεραπεία) 106. 107. 

Thermopylä (Schlacht) 55. 

Theseus 98. 

Thukydides, Historiker 8. 10, 

--, Parteiführer 10. 

Thyrea 7. 

Tiere, Fürsorge für 89. 

—, Tapferkeit der 45. 

Timäus 66. 

Tischgenossenschaft 58. 61. 72. 97. 

ἐξ öpferkunst 55. 

Tötung, fahrlässige 59f. 

Tonarten (dorische, jonische usf.) 
30. 


[34f. Verlegenheit (des Nikias) 44. 


Verurteilung des Sokrates 66. 

Verwegenheit 45. 

Volksreligion, Stellung des So- 
krates zur 62. 

Voraussagungen 70. 


Wahrsager 9. 48. 
Weidmann 89. 107. 


Wesen der Frömmigkeit 93. 


Widerspruch, offensichtlicher 79. 
84f. 

Wirklichkeitssinn Platons 2. 

Wissen 40f. 49. 98. 

Wissen (def.) 48. 

Wissen opp. Glauben 98. 

Wissen und Wollen 10f, 

Wissenschaft des Arztes 48. 

Wohlgefallen 91. 9. 

Wollen und Wissen 10f. 


Xenophon 98. 


Zahl 87. 106. 

Zahlbegriffe 77. 

Zeit der Abfassung des La. 12, 
— — — des Eu. 66f. 

Zeus 58. 60. 74. 79. 87. 98. 100.105. 


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PLAION 
APOLOGIE DES SOKRATES 
UND KRITON 


ÜBERSETZT UND ERLÄUTERT 
VON 


ee APFERT 


ZWEITE, DURCHGESEHENE AUFLAGE 


DER PHILOSOPHISCHEN BIBLIOTHEK BAND 180 
LEIPZIG 1922 / VERLAG VON FELIX MEINER 


Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechte, vorbehalten. 


Inhaltsverzeichnis. 


1. Apologie des Sokrates . 
a. Einleitung 
b. Übersicht über die Llleniten. 
c. Inhalt und Gliederung . 
d. Übersetzung . 
e. Anmerkungen . 


L9 


. Kriton . 
a. Einleitung 
b. Inhalt und en 
c. Übersetzung . 
d. Anmerkungen 


3. Register zu Apologie und Kriton N 


Seite 

1—71 

1—16 
17—19 
20—22 
23—63 
64— 71 
72—105 
72—81 
82 
83—103 

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. 106—108 


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Einleitung 
zur Apologie. 


Nur wenigen Männern von weltgeschichtlicher Be- 
deutung ist ein Schicksal beschieden worden wie das des 
Sokrates. Er durfte ein langes, der innersten Über- 
zeugung von seinem einzigartigen Berufe durchaus ent- 
sprechendes und diesem Beruf unausgesetzt gewidmetes 
Leben durch einen Tod beschließen, der, wenn auch an 
sich noch so tragisch, ihm selbst doch eher als ein Glück 
denn als ein Unglück erschien: in voller Seelenruhe, 
in ungestörtem Gleichmut, ohne die mindeste Trübung 
seiner Stimmung geht er dem über ıhn verhängten Ende 
entgegen, seinen Freunden ein Tröster und Mahner, der 
Mit- und Nachwelt aber ein erhebendes und eindrucks- 
volles, immerdar wirksames Muster wahrer Seelengröße. 
Diese Wirkung aber auf die Nachwelt würde nicht so 
sicher, nicht so stark und nachhaltig gewesen sein, wenn 
nicht der Griffel Platons den Hergang der Sache seiner 
höheren Bedeutung nach in ergreifender und eindring- . 
lichster Weise verewigt hätte. Aus dem Dreigestirn von 
Schriften, die dem persönlichen Schicksal seines Lehrers 
gewidmet sind, hebt sich die Apologie als unmittelbarstes 
und lebendigstes Zeugnis für. die Geistesart des So- 
krates heraus, denn hier führt er allein in eigenster Sache 
das Wort. Das Bild, das wir dadurch von ihm erhalten, 
ist so eindrucksvoll, steht so in Einklang mit allem, 
was wir sonst von ihm wissen, ist in sich so geschlossen 
und einheitlich, gibt uns einen so würdigen Begriff von 
der Seelenstärke und unbeugsamen Willenskraft des Man- 
nes, daß wir unwillkürlich an seine Wirklichkeit glauben, 
uns wenigstens keinen anderen Sokrates vor den Richtern 

Platon Apologie und Kriton. Phil. Bibl. Bd. 180. 1 


2 Einleitung. 


wünschen möchten als diesen. Kein Wunder also, wenn 
nicht wenige Beurteiller im Anschluß an Schleier- 
macher die Meinung vertreten haben, die Apologie sei 
nichts anderes als eine getreue Wiedergabe der von So- 
krates vor den Richtern gehaltenen Rede. 

Daß diese Ansicht nicht unangefochten bleiben würde, 
ließ sich bei dem emsigen Forschungseifer und regen 
Spürsinn unserer Ältertumsforscher um so eher erwarten, 
als es sich hier um ein Ereignis handelt, das an sich 
der weitesten Teilnahme und Beachtung sicher sein kann 
— um ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung 
— anderseits um eine Frage, deren wenigstens streng 
philologische Beantwortung nicht lediglich auf der Plato- 
nischen Apologie selbst beruht; vielmehr liegt ein nicht 
unbedeutendes Aktenmaterial vor, das zur Vergleichung 
herangezogen werden muß, ein Aktenmaterial, das übri- 
gsens nur einen Teil bildet der üppig wuchernden Lite- 
ratur, die sich im Altertum sehr bald an den die Ge- 
müter mächtig erregenden Prozeß anschloß'). Es ist das 
erstens die Xenophontische. Apologie des Sokrates, so- 
dann das erste Buch sowie das Schlußkapitel der Xeno- 
phontischen Memorabilien, ferner die nur literarische An- 
klagerede des Sophisten Polykrates gegen Sokrates, von 
der sich nicht unbeträchtliche Spuren bei Libanius 
erhalten haben, sowie endlich die Entgegnung des Lysias 
auf die literarische Anklage des Polykrates. Von dieser 
ebenfalls rein literarischen Auslassung des Lysias läßt 
sich wenigstens so viel sagen?), daß man sie im Alter- 
tum weiterhin in Verkennung ihres rein literarischen 
Charakters für eine wirklich für Sokrates zum gericht- 


1) Die Xenophontische Apologie weist gleich im Eingang auf 
die Fülle dieser Literatur hin, und daß sie sich auch noch weiterhin 
vermehrte, sehen wir unter anderem daraus, daß noch der Phalereer 
Demetrius eine ἀπολογία Σωκράτους verfaßt hat, von des Libanius 
Apologie des Sokrates gar nicht zu reden. 

2) Vgl. Hirzel, Rhein. Mus. 42, 2398. Auch ein kleines Frag- 
ment der Lysiasrede ist erhalten, s. Schanz, Einl. zur Apol, p. 35 


Einleitung. 3 


lichen Gebrauch geschriebene Rede hielt, wie denn auch 
Polykrates seine Anklagerede dem Anytos in den Mund 
gelegt hatte. Da das zeitliche Verhältnis der einzelnen 
Aktenstücke zueinander manchem Zweifel unterliegt, so 
kann man leicht ermessen, daß sich hier ein weites Feld 
für Meinungsverschiedenheiten bietet. Die strittigen 
Punkte im einzelnen darzulegen würde für die Bedürf- 
nisse nichtphilologischer Leser wenig am Platze sein. 
Es genügt dafür auf die eingehenden Ausführungen von 
M. Schanz zu verweisen, die dieser in der Einleitung 
zu seiner erklärenden Ausgabe der Apologie (Lpz. 18953) 
gegeben hat. So viel scheint jedenfalls sicher, daß in 
der Platonischen Apologie die Anklage des Polykrates 
nicht berücksichtigt ist. Die Abfassung der ersteren liegt 
somit allem Anschein nach zeitlich vor der Anklage des 
Polykrates. Um so umstrittener ist das Zeitverhältnis 
nicht nur zwischen der Platonischen und der Xenophon- 
tischen Apologie, sondern auch zwischen der letzteren 
und den Memorabilien. Dazu kommt noch die Echtheits- 
frage für die Xenophontische Apologie; denn noch immer 
finden sich auffallenderweise Kritiker, welche diese 
Schrift dem Xenophon absprechen. 

Wir werden uns also die Freiheit nehmen, das philo- 
logische Beiwerk, mit dem die Frage belastet ist, beiseite 
zu lassen, werden vielmehr nur aus der Betrachtung der 
Schrift selbst und der für ihre Abfassung maßgebenden 
Umstände uns ein Urteil zu bilden suchen über ihren 
Charakter und ihre damit zusammenhängende historische 
Zuverlässigkeit. 

So viel wird jeder einsichtige Leser von vornherein 
zugeben, daß des Sokrates Rede nicht wortgetreu wieder- 
gegeben ist. Stenographische Wiedergabe der Gerichts- 
verhandlungen gab es nicht. Die Berichterstatter waren, 
soweit es sich nicht um geschriebene, also auswendig ge- 
lernte Reden handelt, auf ihr Gedächtnis angewiesen. 
In dieser Beziehung kann man nun zwar dem Platon, 
der, wie die Apologie selbst berichtet, der Verhandlung 

1 


4 Einleitung. 


beiwohnte, ein gut Teil mehr zutrauen als einem gewöhn- 
lichen Sterblichen. Allein eine wenn auch nur nahezu 
wörtliche Wiedergabe scheint doch ausgeschlossen an- 
gesichts der Tatsache, daß Redeweise und Darstellungs- 
art der Apologie sich durchaus nicht von der uns von 
den Dialogen her bekannten Manier des Platon unter- 
scheiden. Man wird sich demnach kaum des Eindrucks 
erwehren können, daß die sprachliche Einkleidung im 
wesentlichen auf niemandes anderen Rechnung zu setzen 
ist als auf die des Platon selbst. Und man wird vielleicht 
in bezug auf das Formelle der Darstellung noch einen 
Schritt weiter gehen und behaupten können, daß auch, 
was die Gruppierung des Stoffes, die Farbengebung und 
die Intensität der Beleuchtung in gewissen Partien an- 
langt, Platon sich manche Freiheit erlaubt haben mag '). 
Auch wird er weder alles, was über des Sokrates Lippen 
gegangen, dem Inhalte nach pedantisch wiedergegeben 
noch sich gescheut haben sich diesen oder jenen erläu- 
ternden oder erweiternden Zusatz zu gestatten. 

Allein mit allen diesen Zugeständnissen bleiben wir 
doch noch in erheblicher Ferne von dem Standpunkte der- 
jenigen, die in der Apologie nichts anderes sehen wollen 
als eine freie Schöpfung Platons. Nicht an die Richter 
soll nach dem Hauptvertreter dieses Standpunktes?) die 
Rede ihrer wahren Bestimmung nach gerichtet sein, son- 
dern an das gesamte hellenische Publikum; nicht auf die 
Widerlegung der Ankläger soll sie berechnet sein, sondern 
auf die Darlegung der göttlichen Mission des Sokrates 
als des berufenen Menschenprüfers; nicht sowohl um Ab- 
wehr der Verurteilung soll es sich handeln .als um den 
Gedanken, daß diese Verurteilung ungerecht war. Und 
die Rechtfertigung muß sich zu einer Charakteristik des 
verurteilten Weisen erweitern. Es soll in die Seele der 
Leser ein Bild des Märtyrers gesenkt und sein An- 

1) Hierzu vgl. das in der Anmerkung 40 zu dem 17. Kapitel 


(28Eff.) über die Komposition der Schrift Gesagte, 
3) M. Schanz a. a. OÖ. p. 69ff. 75, 91. 101. 


Einleitung. 5 


denken für alle Zeiten festgestellt werden. Diese Auf- 
fassung scheint eine Stütze zu finden in dem bereits an- 
gedeuteten Umstand, daß die Rede nicht eben den vollen 
Eindruck der Improvisation macht. Wäre sie eine reine 
Wiedergabe der wirklichen Rede, so würde das zur Vor- 
aussetzung haben, daß Sokrates wohl vorbereitet in die 
Gerichtsverhandlung eingetreten wäre, eine Voraus- 
setzung, die wenig zu dem Wesen des außerordentlichen 
Mannes stimmt und von Xenophon') ausdrücklich abge- 
wiesen wird. Gleichwohl läßt sich schwerlich bestimmen, 
wie weit es einem Sokrates gelingen konnte, ohne eigent- 
liche Ausarbeitung, jedenfalls aber doch nicht ohne einiges 
Überdenken der Sache, die ihn innerlich ja doch beschäf- 
tigen mußte, vor Gericht etwas vorzubringen, was Hand 
und Fuß hatte und auch einiges beitrug zu dem Eindruck, 
den die angeblich ganz freie Schöpfung Platons nach dem 
Urteil der Vertreter dieses Standpunktes dem Obigen zu- 
folge macht. 

Folgen wir der Ansicht dieser Kritiker, so würde 
sich Platon bei Abfassung der Apologie etwa in der Lage 
eines Dichters befunden haben, der gewisse Vorgänge des 
Lebens, die er beobachtet hat, zur Grundlage einer dra- 
matischen Dichtung macht. Um aber ein wirkliches 
Drama daraus zu machen, kann der Dichter nicht auf 
das Recht freier Gestaltung verzichten, denn das Leben. 
ist nie so gefällig, ihm den Stoff schon in der den An- 
forderungen der Kunst entsprechenden Präformation dar- 
zubieten. Mit dieser Freiheit nun hat es bei dem Dichter 
eben Keine Not; denn die Personen, um die es sich handelt, 
sind dem Publikum meist ganz unbekannt und er — der 
Dichter — hat kein Interesse daran, das Publikum auf 
sie als auf die Urbilder der Dichtung hinzuweisen; weit 
eher ist das Gegenteil der Fall. Ganz anders bei Platon. 
Er hatte es mit einer jedermann wohlbekannten Person, 
mit einer die ganze Bürgerschaft tief erregenden Sache 


1) Memor. IV, 8, 5. 


6 Einleitung. 


zu tun. Dem Auftreten des vielleicht volkstümlichsten 
Mannes Athens vor Gericht eine ganz andere Färbung zu 
geben, als ihr tatsächlich zukam, konnte selbst ein Pla- 
ton nicht ungestraft wagen. Daß die Apologie wohl nur 
wenige Jahre nach dem Tode des Sokrates abgefaßt ist, 
darüber herrscht ziemliche Übereinstimmung. Bei dem 
großen Aufsehen aber, das der Prozeß erweckt, und der 
Teilnahme, die er gefunden, war es selbstverständlich, 
daß ein wenn auch mit den Rechten literarischer 
Wiedergabe ausgerüsteter Berichterstatter sich keiner 
groben Verstöße gegen die Tatsachen schuldig machen 
konnte, ohne auf den stärksten Protest der Leser zu 
stoßen. Die fünf- bis sechshundert Richter, dazu das 
zahlreiche Publikum, das der Verhandlung mit Spannung 
gefolgt war, stellten eine Schutzmacht zugunsten des wirk- 
lichen Sachverhalts dar, gegen die schwerlich selbst der 
göttliche Platon aufgekommen wäre. Zudem war es in 
diesem Falle eine Art Ehrensache, den Sokrates in seiner 
eigentlichen Gestalt vorzuführen, ihm kein wesentlich ver- 
ändertes Gesicht zu verleihen; denn wurde hier bei so 
starker und aktueller Kontrolle ein ganz idealisiertes 
Bild gegeben, so konnte das bei dem besser unterrich- 
teten Publikum nur Befremden erwecken. Bedurfte es 
— so könnte man fragen — so starker Nachhilfe für 
den Sokrates, um sich literarisch vor dem Publikum sehen 
lassen zu können? | 

Vergleicht man die literarische Sachlage der Apo- 
logie mit der des Dialogs Phaidon, so springt der Unter- 
schied in die Augen. Dort eine gerichtliche Einzelrede, 
öffentlichen Charakters und für jedermann kontrollierbar, 
hier Unterhaltungen des Freundeskreises in der Abge- 
schiedenheit der Gefängniszelle, denen schon die dialogische 
Form eine Art Freibrief für eigenmächtige künstlerische 
Behandlung gab. Dort sachliche Gebundenheit, hier dich- 
terische Freiheit mit einziger Ausnahme der Erzählung 
der eigentlichen Todesszene. . 

Spricht also die ganze Sachlage bei Abfassung der 


Einleitung. 7 


Apologie dafür, daß Platon sich nur für die Form- 
gebung freie Hand vorbehalten hat, so fehlt es doch auch 
nicht an gewissen Einzelheiten, die als tatsächliche Be- 
stätigungen für diese Auffassung gelten können. So vor 
allem die Namennennung einer Reihe von anwesenden 
Freunden, auf die 33D ff. von Sokrates hingewiesen wird; 
ebenso 36 A die Bemerkung über die geringen Erfolge der 
persönlichen Bemühungen des Meletos zur Herbeiführung 
der Niederlage des Sokrates, die vielmehr als das Werk 
des Anytos und Lykon anzusehen sei; denn diese Be- 
merkung ergibt sich ganz unmittelbar aus der unleugbar 
tatsächlichen Situation. Anderseits wäre es kein Wunder 
gewesen, wenn bei den teilweise recht stürmischen Szenen 
der Verhandlung eine oder die andere Äußerung ungenau 
oder mißverständlich aufgefaßt worden wäre. Die Xeno- 
phontische Apologie sagt sehr richtig, jeder Gegenantrag 
trage in solchem Falle schon an sich ein gewisses Ein- 
geständnis der Schuld in sich; dementsprechend läßt sie 
ihren Sokrates überhaupt von Stellung eines Antrages 
absehen; kommt es aber zur Stellung eines solchen, so 
ist selbstverständlich ein Antrag logischer und besser 
als zwei oder drei. Es ist nun sehr wohl denkbar, daß 
Sokrates die stolze Bemerkung über Speisung im Pryta- 
neion als der einzig würdigen Erwiderung des Staates 
für seine Verdienste um die Bürgerschaft in seine Rede 
zwar habe einfließen lassen, aber als bloße Gewissens- 
schärfung für die Richter, ohne sie zu einem eigentlichen 
Antrag zu formulieren, und daß die darüber entstehende 
Unruhe eine irrtümliche Auffassung bei Platon und viel- 
leicht auch bei anderen hervorrief. 

Auch der Umstand, daß Sokrates sich ab und zu 
auf Dinge einläßt, die nicht unmittelbar den Wortlaut der 
Anklage zum Gegenstand haben, gibt keinen Grund zu 
der Annahme, das sei ein dem Sokrates nicht zuzu- 
trauendes Hineintragen ungehöriger Dinge in die an die 
Anklage gebundene Verteidigung; denn neben der eigent- 
lichen Anklage stehen doch im Gerichtsverfahren die 


Einleitung. 


ζο 


Reden der Ankläger, die manches enthalten mochten, was, 
ohne im strengen Sinne zur Anklage zu gehören, eine 
Entgegnung forderte. Mit besonderem Nachdruck hat 
man aber darauf hingewiesen‘), daß Sokrates, statt sich 
im eigensten Interesse mit der Abwehr der ihm zuge- 
schriebenen Vergehen zu begnügen, die Anklage geflis- 
sentlich erweitere; nötigt er doch den Meletos geradezu 
zu dem Bekenntnis (26 Β), daß er ihn (den Sokrates) für 
einen kompletten Atheisten halte. Das heiße doch, meint 
man, sich selbst die Grube graben, in die man hinein- 
gestürzt werden soll. Ganz abgesehen nun von der Frage, 
ob es nicht doch zuweilen im Interesse eines Angeklagten 
liegen kann, die Anklage nach dieser oder jener Seite 
hin zu erweitern, ist es gewiß bei niemandem weniger 
angebracht als gerade bei Sokrates, ihn zum achtsamen 
Befolger juristischer Technik und Taktik zu machen. 
Wenn irgend jemand, so war er der Mann, sich nicht 
an vermeintliche Regeln zu binden, sondern frank und 
frei den Eingebungen seines Geistes zu folgen. Aber liegt 
denn die Sache hier wirklich so, daß Sokrates sich einer 
starken Sünde wider den heiligen Geist der Rechtspraxis 
schuldig macht? Durch nichts kann man sich vor Gericht 
eine bessere Position verschaffen als dadurch, daß man 
den Gegner in recht ernste Widersprüche mit sich selbst 
verwickelt. Man macht ihn dadurch mundtot. Und das 
ist es, was Sokrates vollständig erreicht durch die an 
die Spitze gestellte Frage nach seinem Gottesglauben 
überhaupt. Die Anklage beruft sich zum Beweise ihrer 
Rechtsgültigkeit lediglich auf das δαιμόνιον des Sokrates. 
Es war also ganz richtig und sachgemäß, wenn Sokrates, 
um den Gegner in Widerspruch mit sich selbst zu brin- 


1) So Schanz ἃ. ἃ. Ὁ. p. 72: „In der Apologie tritt uns das 
Ungeheuerliche entgegen, daß der Angeklagte den Klagegrund zu 
seinen Ungunsten verschiebt. Während er nur der Einführung 
neuer Gottheiten beschuldigt wird, läßt er sich vom Meletos die 
Anklage dahin erläutern, daß er zum Atheisten gemacht wird, und 
verteidigt sich daraufhin gegen den Atheismus.“ 


Einleitung. 4 


gen und ihn dadurch matt zu setzen, sich zunächst nur 
streng an dieses Argument hielt. Auf Grund desselben 
konnte er schlagend beweisen, daß er alles andere eher 
als ein Atheist sei. Damit hatte er dem Meletos eine 
entscheidende Niederlage beigebracht: der Vorwurf des 
Atheismus, der zwar nicht einen Teil der gerichtlichen 
Anklage bildete, aber von Sokrates dem Meletos kluger- 
weise abgelockt worden war, war in sich zusammen- 
gebrochen, zusammengebrochen mit Hilfe gerade des ein- 
zigen Beweismittels, dessen sich der Gegner in der An- 
klage bedient hatte. Mehr allerdings als die Nichtig- 
keit dieser Beschuldigung konnte auf diesem Wege nicht 
bewiesen werden. Es blieb also noch die weitere Be- 
schuldigung bestehen, die sich auf das Verhältnis des 
Sokrates zu den staatlich anerkannten Gottheiten bezog. 
Hier konnte aber Sokrates ruhigen Blutes abwarten, ob 
die Gegner sich darauf überhaupt noch einlassen würden. 
Er hatte nur nötig auf das zu verweisen, was er bereits 
vorher (21Aff.) über sein inniges Verhältnis zum del- 
phischen Apollo vorgebracht hatte, als dessen eifrigsten 
Diener nicht nur er sich bekannte, sondern auch der Gott 
ihn anerkannte. Und was die spezifisch attischen Gott- 
heiten anlangt, so konnte er sich mit bestem Gewissen, 
wie er es auch in der Xenophontischen Apologie (8 11) 
tut, auf seine regelmäßige Teilnahme an allen öffentlichen 
Opfern wie auf seinen häuslichen Gottesdienst berufen !). 

1) Dies war ein sehr wesentliches Moment für den Nachweis 
der Rechtgläubigkeit, deren wachsamer Hüter, wenigstens in der 
klassischen Zeit, der Demos war. Das antike Demokratentum ist in 
politischen Meinungen, Wünschen und Bestrebungen ziemlich auf 
den nämlichen Ton gestimmt wie das moderne. Ganz anders aber 
steht es in Sachen der Religion; diese durchdrang im Altertum der- 
maßen das ganze staatliche und private Leben wie auch alle Ge- 
biete der Kunst, daß eine Abkehr von ihr oder gar eine Verun- 
glimpfung nicht viel weniger bedeutete als einen Bruch mit der Volks- 
gemeinschaft. Der religiöse Freisinn hat seinen Sitz nicht im Lager 
der Demokratie, sondern der Aristokratiee Männer wie Kritias 


sind ihre Bannerträger. Erst seit dem 4. Jahrhundert änderte sich 
das allmählich. 


10 Einleitung. 


Die Gegner hüteten sich denn auch sorglich vor weiterer 
Berührung dieser religiösen Fragen und darin liegt 
mittelbar zugleich ein wertvolles Eingeständnis ihrer 
wahren Beweggründe: die Verdächtigung der Recht- 
gläubigkeit des Sokrates war ihnen, wie es scheint, nur 
Vorwand für teils persönliche teils politische Gegner- 
schaft, die sich hinter der Anklage versteckte. 

Man kann sich ohne Bedenken alles, was Sokrates. 
in der Apologie vorträgt, recht wohl als von ihm erwähnt 
denken, mag es auch in anderer Form geschehen sein. 
Jedenfalis wird man dem Sachverhalt nicht gerecht, wenn 
man mit polizeimäßigem Spürsinn angebliche Sünden nach 
dieser Seite hin aufzudecken bemüht ist. So könnte es 
(nach 20Ef£.) scheinen, als hätte Sokrates, wie man das 
tatsächlich aus der Stelle herausgelesen hat, seine die 
Menschen zur Selbsterkenntnis anregende Tätigkeit erst 
von dem Zeitpunkt ab begonnen, wo ihm Chairephon den 
Spruch des deiphischen Gottes mitgeteilt hat. Allein näher 
zugesehen handelt es sich von da ab um das absichtliche 
Aufsuchen von Männern, die in dem Rufe besonderer 
Tüchtigkeit in irgendwelchem Fache stehen. Das schließt 
doch nicht aus, daß Sokrates schon vorher wie auch 
nachher seine Kraft und seine Zeit oft genug aufklären- 
den Unterhaltungen mit ihm sich beliebig zugesellenden 
Leuten gewidmet hat; tut er doch selbst (23C) des Um- 
standes Erwähnung, daß er bei Prüfung und Verhör 
der von ihm aufgesuchten Zelebritäten gewöhnlich eine 
Schar von Jünglingen als Gefolge um sich gehabt habe, 
denen diese Menschenprüfung, diese Demaskierung, nicht 
wenig Vergnügen bereitet habe. Es werden also hier 
seine gewöhnlichen Begleiter hinreichend scharf unter- 
schieden von jenen vermeintlichen Größen, die er eigens 
für seine besonderen Zwecke aufsucht. Schon lange also 
kann Sokrates den ungesuchten geistigen Verkehr mit 
allerhand Leuten gepflegt haben, die Wert legten auf 
seine Unterhaltungen, ohne daß das athenische Publikum 
sıch irgendwie darüber aufregte. 


Einleitung. ıl 


Was aber die aus Anlaß des delphischen Spruches 
erfolgende eigenartige Wendung in seiner Tätigkeit an- 
langt, die von ihm selbst als eigentlicher Grund zu der 
gegen ihn sich ansammelnden Feindschaft und Gehässig- 
keit bezeichnet wird (23 A), so sind es drei Berufsarten, 
die sich von des Sokrates Zudringlichkeit beunruhigt 
sehen: die Dichter, die Handwerker und die Staatsmänner 
(Redner). Und diese drei Gruppen sind es denn auclı, 
aus denen die Ankläger des Sokrates hervorgegangen 
sind: Meletos als Vertreter der gekränkten Dichter, Any- 
tos: als Vertreter der Handwerker, Lykon als der der 
Redner. 

Werfen wir, soweit es die Überlieferung gestattet, 
einen Blick auf diese Männer, um daran eine kurze 
Betrachtung über die Ursachen des denkwürdigen Pro- 
zesses zu knüpfen. Der Wortführer war Meletos, ein 
junger und wenig bekannter Mann, Dichter von Beruf 
wie sein Vater. Dieser sein Vater hatte, wenn auch 
nicht völlig talentlos, doch wegen seiner Tragödien den 
Spott des Aristophanes über sich ergehen lassen müssen. 
Neben Meletos trat als zweiter Ankläger, als Vertreter 
der Handwerker, der ungleich bedeutendere und politisch 
einflußreichere Anytos auf, der aus dem Dialog Menon 
als eifriger und leidenschaftlicher Gegner der Sophisten 
und Weisheitslehrer bekannt ist. Als Inhaber einer 
‘ großen Gerberei erfreute er sich eines ansehnlichen Wohl- 
standes, der ihm im Verein mit entschiedener politischer 
Begabung und reger Tatkraft die Wege geebnet hatte zu 
einer führenden Stellung im Staate an der Spitze der 
Demokratie, der er mit Leib und Seele ergeben war. Er 
hatte sich neben Thrasybulos und Archinos hervorragend 
verdient gemacht um Wiederherstellung der Demokratie 
durch den Sturz der Dreißig. Mit Sokrates, den er nicht 
umhinkonnte als einen: Vertreter der sophistischen Rich- 
tung anzusehen, hatte er sich wegen seines Sohnes über- 
worfen, dem er dem Rate und der Warnung des Sokrates 
zuwider den Weg zu höherer Geistesbildung verschlossen 


19 Einleitung. 


hatte, um ihn im eigenen Interesse am Gerbereigeschäfte 
festzuhalten, ein Verfahren, das sich bitter rächen sollte: 
der Sohn ergab sich dem Trunke und nahm ein trauriges 
Ende. Der Dritte im Bunde war Lykon, der Vertreter 
der Redner, über den wir im Grunde nicht mehr wissen 
als was wir aus der Apologie selbst entnehmen können. 
Denn was sonst über ihn — in einem Scholion zur Pla- 
tonischen Apologie — berichtet wird, ist wenig verläßlich. 

Könnte es hiernach scheinen, als wären für die An- 
klage persönliche Beweggründe und Berufsinteressen aus- 
schließlich maßgebend gewesen, so liegt doch in dem von 
Platon selbst angedeuteten (36.A) Umstand, daß bei äußer- 
lichem Zurücktreten in dem Anklageverfahren tatsächlich 
doch Anytos die eigentliche Führung in der Hand hatte, 
ein bedeutsamer Hinweis darauf, daß die Sache auch 
einen politischen Hintergrund wenigstens gehabt haben 
kann, wie dies schon oben in anderem Zusammenhange 
angedeutet ward. Der Prozeß fällt in eine Zeit, in der 
die politische Atmosphäre wie geladen war von elek- 
trischen Spannungen. Zwar hatte die demokratische 
Partei nach ihrem Siege in einer Anwandlung von poli- 
tischer Großmut oder vielleicht richtiger gesagt in kluger 
und wohlberechneter Mäßigung eine allgemeine politische 
Amnestieergehen lassen. Aber nicht lange, so tauchte der 
alte Groll wieder auf; das fortwirkende bittere Gefühl 
der Leiden, die der Frevelmut und die Grausamkeit der 
Tyrannen dem Demos auferlegt hatte, die unheilbaren 
Wunden, die so vielen Familien geschlagen worden waren, 
ließen, verschärft vielleicht durch mancherlei Umtriebe der 
(regenpartei, kein ruhiges gegenseitiges Vertrauen aufkom- 
men. Sykophantentum und demagogische Wühlereien waren 
wieder am Werke, kurz der finstere Geist der Rachsucht 
regte sich mächtig im Volke. Sokrates aber, obschon 
durchaus kein fanatischer Parteimann, ja sogar durch 
ein Gesetz der Dreißig damals in seiner gewohnten Tätig- 
keit wesentlich beschränkt, war gleichwohl in den Augen 
mancher demokratischen Führer, insbesondere des Any- 


Einleitung. 13 


tos, ein gefährlicher Sophist nicht nur, sondern auch Op- 
timat, der namentlich durch seine Beziehungen zu dem 
Haupte der Dreißig, zu Kritias, schweren Verdacht auf 
sich gelenkt hatte. Ihn aus dem Wege zu räumen mochte 
die demokratische Partei mithin einiges Interesse haben 
und die Religion zu Hilfe nehmen, wo die Politik wegen 
der Amnestie nicht herhalten konnte. 

Dem mag nun sein wie ihm wolle; für uns liegt die 
Bedeutung der Platonischen Apologie nicht in der Auf- 
klärung dieser Frage, sondern in dem erhebenden Ein- 
druck, den die Haltung des Sokrates gegenüber dem über 
ihn heraufziehenden Ungewitter macht. Seines Wertes 
und seiner Schuldlosigkeit sich vollkommen bewußt und 
durchdrungen von der unerschütterlichen Überzeugung, 
daß sein Schicksal in der Hand der gütig waltenden Gott- 
heit auf das beste gewahrt sei, sah er mit völligem 
Gleichmut dem Ausfall des Prozesses entgegen, nicht 
zwar seines gerichtlichen Sieges gewiß, desto gewisser 
aber seiner selbst und damit des moralischen Sieges. 
„Gern verzichtete er auf die kurze ihm noch etwa bevor- 
stehende Lebenszeit, um dauernd fortzuleben im An- 
denken aller kommenden Jahrhunderte. Sein Auftreten 
vor Gericht war nicht förderlich für seine Freisprechung, 
aber es hob, was mehr besagen will, den Menschen.“ 
So äußert sich ein berufener Beurteiler aus dem Alter- 
tum?) über den Sokrates der Apologie. Die unverbrüch- 
liche Selbstgewißheit, die völlige Sorglosigkeit um den 
Ausgang der Sache, die über alle irdischen Zufällig- 
keiten und Bedenken erhabene Sinnesart — sie sind es, 
deren ergreifende Darstellung der Platonischen Apologie 
ihren Wert für alle Zeiten, für die ganze gebildete 
Menschheit gegeben hat. Diese Darstellung mag im ein- 
zelnen nicht jede Äußerung des Sokrates mit akten- 
mäßiger Genauigkeit wiedergeben, mag nicht jedem klei- 
nen Wechsel in der Szenerie des gerichtlichen Dramas 


1) Quinctilian zu Anfang des 11. Buches seines bekannten Lehr- 
buches über Beredsamkeit. 


14 Einleitung. 


folgen, aber wir sind dessen sicher, daß sie uns den Ein- 
druck wiedergibt, den des Sokrates Auftreten vor Gericht 
auf jeden nicht völlig verblendeten oder stumpfsinnigen 
Zuhörer machen mußte: wie er unbekümmert um die üb- 
lichen Formen, voller Verachtung gegen die würdelosen 
Mittel der Mitleidserregung sich aus der Rolle des An- 
geklagten gleichsam zu der des Oberrichters erhebt, in- 
dem er den Richtern das schlaffe Gewissen schärft und 
sich durchweg zum Verteidiger der Gerechtigkeit und 
des wahren Interesses am Gemeinwohl macht. Die et- 
waigen Abweichungen, die sich Platon von dem wirk- 
lichen Auftreten des Sokrates gestattet, sind, wenn ich 
recht sehe, nur dazu bestimmt, Ersatz zu schaffen für 
den notwendigen Nachteil, in dem die literarische Wieder- 
gabe ihrem Wesen nach gegen den unmittelbaren Ein- 
druck der wirklichen Aktion stehen mußte. 

Fragen wir nun nach den wesentlichsten und zugleich 
für alle Zukunft vorbildlichen Zügen dieses Sokrates der 
Apologie, so möchte ich vor allem auf zwei Punkte. 
hinweisen: auf die starke Betonung seines Pflichtgefühls 
und auf sein unerschütterliches Gottvertrauen. 

Was das erstere anlangt, so wird man schwerlich 
irgendwo ein stärkeres und mannhafteres Zeugnis für 
die Macht des Pflichtbewußtseins finden als dasjenige, 
welches uns das siebzehnte Kapitel der Apologie bietet. 
Ein höheres Pflichtbewußtsein kann es nicht geben als 
das, welches den Schrecken des Todes nicht den min- 
desten Einfluß einräumt auf den durch das Ehrgefühl 
bestimmten Entschluß. In dem, was Sokrates uns in 
diesem Kapitel vorträgt, schließen sich Lehre und Tat, 
Wissen und Handeln zu einer Einheit zusammen, die an 
Wirkung auf den Leser kaum überboten werden kann. 
Man sieht, auch ohne den kategorischen Imperativ konnte 
sich im Altertum das Pflichtgefühl in einer Stärke zeigen, 
die hinter keiner Betätigung desselben in unseren Tagen 
zurücksteht. Wenn Kant in der Einleitung zur Logik 
sagt: „In der Moral sind wir nicht weiter gekommen 


Einleitung. 15 


als die Alten,“ so hat er mithin, was die Betätigung 
der Moral anlangt, ganz recht; was aber ihre philoso- 
phische Begründung anlangt, so ist er zu bescheiden, 
seiner außerordentlichen Verdienste darum zu gedenken '). 

Der andere Punkt betrifft die Zuversicht, mit der 
sich Sokrates dem gütigen Schutze der Gottheit anver- 
traut. Sie hängt eng zusammen mit dem Gedanken an 
ein Fortleben nach dem Tode, also mit dem Glauben an 
die Unsterblichkeit der Seele. Wenn Sokrates (400 ff.) 
über seinen Glauben in dieser Beziehung keine sichere 
Auskunft gibt, sich vielmehr in kühler Disjunktion ganz 
wie ein Unbeteiligter ausdrückt, so ist es voreilig, daraus 
zu schließen, daß er diesen Glauben nicht gehabt hätte. 
Man lese z. B. wie sich in einem anderen Falle Aristoteles 
(Pol. 126945) ausdrückt: eixös τε τοὺς πρώτους, εἴτε γη- 
yeveis ἦσαν εἴτε ἐκ φϑορᾶς τινος ἐσώϑησαν, ὁμοίους εἶναι 
καὶ τοὺς τυχόντας καὶ τοὺς ἀνοήτους. Hätten wir über die in 
diesen Worten berührte Frage nur diese Stelle, so würden 
wir meinen, daß für Aristoteles die Wagschalen der 
Disjunktion in vollkommenem Gleichgewicht ständen. 
Und doch wissen wir aus anderen Stellen ganz genau, 
daß Aristoteles das zweite Glied der Alternative”) für das 


1) Sokrates wußte so gut wie Kant, daß der Mensch durch 
seine Pflicht an Gesetze — und zwar nicht bloß positive Gesetze — 
gebunden sei. Wie erstaunt aber würde er gewesen sein, wenn er 
von Kant gehört hätte, daß der Mensch sittlich seiner eigenen und 
dennoch zugleich allgemeinen Gesetzgebung unterworfen sei und 
daß als notwendiger Zweck der moralischen Handlung die Menschen- 
würde anzuerkennen sei. Den Alten war die Pflichterfüllung eine 
Forderung, deren Mißachtung in Widerspruch stand nicht mit der 
objektiven Notwendigkeit der Handlung, sondern mit der subjektiven 
Anerkennung der Beelenschönheit als der Bedingung alles mora- 
lischen Handelns. 

2) Bei dieser Disjunktion handelt es sich um die Frage, ob das 
Menschengeschlecht durch generatio aequivoca aus der Erde ent- 
standen oder die ganze anbeginnlose Zeit hindurch auf der Erde 
weilend nur periodischen Katastrophen unterworfen sei. Aus Stellen 
wie De coel. 270b 12, Met. 1074b 10. Pol. 1329b 25 wissen wir, daß 
Aristoteles der letzteren Ansicht zugetan war. 


16 Einleitung. 


allein richtige ansah. Sokrates wahrte eben äußerlich 
vor den Richtern in dieser Frage den Schein reiner Ob- 
jektivität. Wer aber zwischen den Zeilen zu lesen ver- 
steht, der fühlt auch!) in der Apologie die wahre Mei- 
nung des Sokrates durch. So hört der etwas aufmerksame 
Leser aus den Worten 410 ἕν τι τοῦτο διανοεῖσϑαι AAndEs, 
ὅτι οὔκ ἔστιν ἀνδρὶ ἀγαϑῷ κακὸν οὐδὲν οὔτε ζῶντι οὔτε 
τελευτήσαντι οἴ π Mühe die Meinung heraus, daß der κακὸς 
ἀνήρ denn doch auf eine Strafe im Jenseits zu rechnen 
habe, daß es also eine Ewigkeit gibt. 

Diese Schlußpartie reiht sich würdig jenen Aus- 
führungen des siebzehnten Kapitels an. Sie entläßt uns 
mit dem sicheren und erhebenden Eindruck, daß echtes 
Selbstvertrauen und echtes Gottvertrauen zwei Seelen- 
mächte sind, die nicht in Widerstreit sondern in Einklang 
miteinander stehen. 


1 Mit diesem „auch“ wird, wie der Leser leicht erraten mag, auf 
den Phaidon hingewiesen, dessen Argumentation zwar selbstverständlich 
ganz dem Platon angehört, aber doch, künstlerisch genommen, ihrer 
Tendenz nach durchblicken läßt, daß Sokrates trotz mangelnden eigent-. 
lichen Wissensvondem@lauben andie Unsterblichkeit durchdrungen 
war; denn sonst hätte Platon es schwerlich gewagt, dem Sokrates diese 
ganze Beweisführung in den Mund zu legen. Man vergleiche dazu auch 
aus unserer Apologie die Stelle 29 AB, wo Sokrates so scharf wie mög- 
lich nur das sichere Wissen über das Jenseits in Abrede stellt und eben 
durch diese Schärfe um so bestimmter dem Glauben Zulaß gewährt. 


Übersicht über die Literatur 
für 
die Apologie und den Kriton. 
Mit Unterstützung von Rudolf Klußmann 


Außer den Texten in den Gesamtausgaben von I. Bekker, von Fr. 
Ast, von den Zürichern, von K. F. Hermann, von M. Schanz, von J. Bur- 
net, von H.N. Fowler (Pl. with an english translation. London. New 
York [1914. 17] 1919. 21. Bis jetzt 2 Bde.) u. von M. u. A. Croiset 
Sr (Euvres complötes. Texte &tabli et traduit. Paris 1920f. Bis jetzt 

2 Bde.) nenne ich folgende Ausgaben mit erklärenden Anmerkungen: 


Platonis dialogi quinque. Rec. notisque illustr. Nath. Forster (1745). 
Ed. II. Oxford 1765. 

Platonis dialogi IV. Euthyphr., Apologia, Crito, Phaedo graece. Rec., 
emend., explic. J. F. Fischer (1770). Ed. III. Lpz. 1783. 
Platonis dial. quatuor. [Crito]. Curavit I. E. Biester. Ed. V. Cura- 

vit Ph. Buttmannus. Berlin (1780) 1830. 


Literatur. 17 


Platonis dialogi quatuor. Scholarum in usum ed. L. F. Heindorfius. 
Berlin 1805. Ed. II. 1827. 

Platonis dialogorum delectus. Ex rec. et cum lat. interpret. Fr. 
A. Wolfii. Berlin 1812. 
Platonis dial. quatuor. Laches, Euthyphr., Apologia et Menex. Adno- 
tatione perpetua illustr. F. G. Engelhardt. Berlin 1825. 
Platonis Crit. cum comment. perpetuo et pleno in usum iuventutis 
scholast. ed. E. Loewe (Leo). Lpz. 1825. Ed. IL. 1833. 
Platonis Apol. et Crit. ed. G. Stallbaum. Gotha 1827. Ed. V. cur. 
M. Wohlrab. Lips. 1877. 

Platonis Apol. Crit. Phaed. ed. R. B. Hirschig. Utrecht 1853. 

The Apology of Pl. With a revised text and engl. notes a. a digest 
of platonic idioms by J. Riddel. Oxford 1867. 

Platonis Apol. Socr. With introduction, notes and appendices by 
J. Adam. Cambridge 1887. 

Platonis Crit. with introduction notes and appendix by J. Adam. 
Cambridge 1888. 

Platons Krito mit deutschem Kommentar von M. Schanz. Lpz. 1888. 

Platons Apologia mit deutschem Kommentar von M.Schanz. Lpz. 1893. 

Pl. The Apology of Socr. Edited by Adela Marion Adam. Cambridge 1914. 


Außerdem seien genannt die Schulausgaben von A. Ludwig 
(Wien 1856, 6. Aufl. 1879), Ch. Cron (Teubner 1857, 12. Aufl. 1912), 
H. Bertram (1882, 7. Aufl. 1913), E. Goebel (1883, 2. Aufl. 1893), 
A. Th. Christ (1889, 5. Aufl. 1908), A. v. Bamberg 1897f., Fr. Rö- 
siger (1902, 4. Aufl. 1919), B. Grimmelt (1907, 3. Aufl. 1920). 

Von Übersetzungen nenne ich: 
Plat. Werke. Übersetzt v. Fr. Schleiermacher. Berlin (1804—10). 

(Apol. Kr. I 2. 1855.) 

Pls. sämtl. Werke. Übersetzt von H. Müller, mit Einleit. von 

K. Steinhart. Lpz. 1850—73. (Apol. Kr. 2. 1851.) 

Pls. Werke. Apologie u. Krit. Übers. v.L. Georgii. Stuttgart (1857) 

5. Aufl. 1883. (Sammlung Osiander u. Schwab. I. Gruppe 6.) 
Pls. ausgew. Werke. 6. Apol. v.K. Prantl. Stuttg. K. Hoffmann. 1854. 
Apol. des Sokr. Übers. u. erläut. v. F. A. Nüßlin. Mannheim 1838. 

1848. 1862 (mit guten Anmerkungen). 

Platons Apologie, Kriton, Phaidon. Übers. v. H. Zimpel. Breslau 1888. 
Pls. Werke. Griechisch und Deutsch. Mit krit. u. erklär. Anmer- 

kungen. Leipzig: Engelmann. (T. 3. Apol. 4. Aufl. 1863. Teil 4 

Krito. 4. Aufl. 1855.) 

Pls. Verteidigung des Sokr. u. Kriton. Deutsch v. E. Horneffer. 

Leipzig 1909. | : 

Platos Verteidigungsrede des Sokr. Eingeleitet, übersetzt und erläu- 

tert von H. St. Sedlmayer. Wien 1899. 


Zur Erläuterung. 
Baumann, H.: Versuch einer Kritik über Pls. Apol. Gpr. Znaim 1868. 
Baur, F.Ch.: Das Christliche des Platonismus oder Sokrates und Chri- 
stus. Tübinger Ztschr. f£. Theol. 1837. Wiederholt in: 3 Abhand- 
lungen z. Gesch. der alten Philos. u. ihres Verhältnisses z. Christen- 
tum. Neu herausgeg. v. E. Zeller (Leipz. 1876) p. 223—376. 
Beyschlag, Fr.: Die Anklage des Sokr. Kritische Untersuchungen. 
Gpr. Neustadt a. d. Haardt 1900. 


Platon Apologie und Kriton. Phil. Bibl. Bd. 180. 2 


18 Literatur. 


Bonner, R. J.: The legal setting of Plato’s Apology. Class. Philol. 3 
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ῳ 


Inhalt und Gliederung 
der Apologie. 


A. Erste Rede. 17A-35E. ο. 1—25. 


a) Einleitung: 
Kennzeichnung des Gegensatzes zwischen den Reden der ΝΕ 
und der von ihm selbst zu erwartenden Rede nach Inhalt und 
Form: dort Lügen in rednerischem Aufputz, hier schlichte Wahrheit 
in einfachem Gewande. 17A—18A, c. 1. 


b) Widerlegung der früheren, nicht gerichtlichen 
Ankläger. 18A—24B. c. 2—10. 


Die Verleumdungen gehen auf meist schon weit zurückliegende 
Verunglimpfungen zurück, zu denen vor allem der Spott der Komö- 
diendichter das Seinige beigetragen. Sie lassen sich, wenn man sie 
in die Form einer gerichtlichen Anklage kleidet, folgendermaßen 
zusammenfassen: „Sokrates tut unrecht und treibt Unfug, indem er 
das Irdische und Himmlische erforscht, die schlechte Sache zur 
guten macht und dieses auch andere lehrt.“ Dies wird widerlegt 
durch Berufung auf alle seine bisherigen Zuhörer. 18A—20C., 
c. 2—4. 

Die eigentlichen Gründe des Hasses gegen ihn sind zurück- 
zuführen auf sein Verhalten gegenüber einem delphischen Orakel- 
spruch, der ihn für den weisesten Menschen erklärte. Fest über- 
zeugt von dem ihm anhaftenden völligen Mangel an wirklicher Weis- 
heit habe er, um den Sinn des Orakels zu ergründen, Gelegenheit 
gesucht, die namhaftesten Vertreter dreier Berufsklassen, nämlich 
der Dichter, der Handwerker und der Staatsmänner auf ihre Weis- 
heit hin einer gründlichen Prüfung zu unterwerfen, die ergeben habe, 
daß sie sich zwar weise dünken, es aber nicht sind. Diese Fest- 
stellung habe ihm nicht geringen Haß eingetragen. 20 D—23A. 
c. 9—8. 

Dieser Haß aber sei dadurch noch gesteigert worden, daß 
Jünglinge die sich ihm aus Wissenstrieb angeschlossen hätten, an 
dieser Menschenprüfung viel Wohlgefallen gefunden hätten und es 
sich nicht hätten versagen können, ähnliche Versuche auch ihrerseits 
anzustellen, So sei es gekommen, daß sich die drei Ankläger zu- 
sammengefunden hätten, Meletos als Vertreter der Dichter, Anytos 
der Handwerker, Lykon der Redner (Staatsmänner).. 23A—24A. 
c. 9—10. 


Inhalt und Gliederung. 2] 


c) Die gerichtliche Anklage. 24B-B5E. ο, 11—24. 


Ihr Wortlaut: „Sokrates frevelt dadurch, daß er die Jugend 
verdirbt und an die Götter des Staates nicht glaubt sondern an 
anderes neues Dämonentum.“ 

Dem ersten Vorwurf begegnet er durch den Hinweis auf die 
tatsächliche völlige Gleichgültigkeit des Meletos gegen alle Fragen 
der Jugenderziehung, die ihn jedes Rechtes auf Mitsprechen in 
diesen Dingen beraube, sodann durch die Bemerkung, daß er (So- 
krates) selbst sich den größten Schaden zugefügt haben würde durch 
Verführung der Jugend; denn von schlecht erzogenen Mitbürgern 
habe man nur Übeles zu erwarten. 24B—26A. c. 11—13. 

Zur Widerlegung des zweiten Vorwurfes veranlaßt Sokrates den 
Meletos auf Befragen das Bekenntnis abzulegen, daß nach seiner 
Ansicht Sokrates überhaupt nicht an Götter glaube. Das widerlegt 
Sokrates schlagend durch den Nachweis, daß die Tatsache seines 
Dämonenglaubens notwendig auch den Glauben an das Dasein von 
Göttern in sich schließe. Die Anklage falle also in sich zusammen 
und eine etwaige Verurteilung könne ihren Grund nicht in den Be- 
schuldigungen der Ankläger haben, sondern nur in dem Haß der 
großen Menge. 26B—28A, c. 14 und 15. 

Sokrates beantwortet nunmehr die von selbst sich einstellende 
Frage, warum er von einem so gehässigen und gefahrvollen Berufe 
nicht Abstand nehme. Das einmal als richtig Erkannte, meint er, 
muß man auch unbedingt zur Richtschnur seines Handelns machen, 
ein Grundsatz, von dessen Befolgung selbst keine Todesgefahr ab- 
lenken darf. Des zum Zeugnis beruft er sich auf bekannte Tat- 
sachen aus seinem Leben. Die Menschen zur Tugend und Wahr- 
heit zu führen sei, so meint er, der ihm von der Gottheit angewiesene 
Beruf und keine Todesfurcht könne ihn bewegen diesen seinen 
Posten zu verlassen, und dies um so weniger, als es ja gar nicht 
feststehe, ob der Tod nicht eher ein Glück sei als ein Unglück. 
28B—30B. c. 16 und 17. 

Den Athenern aber sagt er voraus, daß sie durch seine Ver- 
urteilung niemanden mehr schädigen würden als sich selbst, indem 
sie sich dadurch desjenigen Werkzeuges berauben, dessen sich die 
Gottheit bedient habe, um den Bürgern das Gewissen zu schärfen 
und sie zum Dienste des Guten anzuspornen, Es würde sich so 
leicht kein zweiter finden, der so unter völliger Hintansetzung seines 
persönlichen Vorteils dem Wohle des Ganzen sein Leben widme. 
300—31C. c. 18. | 

Daran schließt sich die Entwickelung der Gründe, die ihn von 
staatlicher Tätigkeit so gut wie ganz ferngehalten haben. Sein 
Dämonium sei es gewesen, das ihn davon zurückgehalten habe, und 
die Erfahrungen und Tatsachen des öffentlichen Lebens gäben den 
besten Beweis für die Richtigkeit dieses Rates. Wie ungerecht und 


99 Inhalt und Gliederung. 


verkehrt es sei, ihn der Verderbung der Jugend zu beschuldigen, 
beweise abgesehen von der Tatsache, daß er sich niemals zum eigent- 
lichen Lehrer der Jugend aufgeworfen habe, schon der Umstand, 
daß kein einziger von denen, die einst als Jünglinge ihm angehangen, 
sich jetzt irgendwie an der Klage gegen ihn beteiligte. 81 Ὁ --84 Β. 
c. 19—22. 

Wenn er es verschmähe, durch die üblichen Mittel das Mitleid 
der Richter zu erregen, so geschehe das nicht aus Hochmut, sondern 
aus Achtung vor der Würde und Ehre des Staates; auch würde es. 
unrecht und nur ein Zeichen eigenen Schuldgefühles sein, wollte er 
sich dazu hergeben, nach dieser Seite auf die Richter einzuwirken; 
denn das heiße nichts anderes als sie ihrem Eide untreu machen. 
340—35E. c. 23 und 24. 


B. Zweite Rede. 35E—38B. c. 25—28. 
(Nach der Verurteilung.) 


Nach Kundgebung seiner durch die Verurteilung nicht im 
mindesten getrübten Stimmung und seiner Verwunderung über die 
geringe Zahl derer, die gegen ihn gestimmt haben, stellt er seinen 
Gegenantrag gegen den Antrag des Meletos (Todesstrafe). Nicht 
UÜbeles sondern Gutes gebühre ihm für den einzigartigen Dienst, den 
er der Stadt geleistet: also Speisung im Prytaneion sei der würdige 
Entgelt für alle seine uneigennützigen Bemühungen. Eine Geld- 
strafe könne er aus eigenen Mitteln nicht aufbringen, aber mit 
Hilfe opferwilliger Freunde könne er dreißig Minen bieten, 


C. Dritte Rede. 38C0—42A. c. 29—33. 
(Nach Verkündigung des Todesurteils.) 


1. Ansprache an diejenigen Richter, welche ihn verurteilt 
haben: er selbst verliere, so sagt er, durch das Todesurteil nur eine 
kurze ihm sonst vergönnte Spanne Zeit; auf ihnen aber werde für 
immer der Vorwurf lasten, sich einer ungerechten Hinrichtung 
schuldig gemacht zu haben. Er habe jedes ungesetzliche Mittel zu 
seiner Rettung von sich gewiesen, sie dagegen hätten sich nicht 
gescheut der Schlechtigkeit zu huldigen. Doch werde es nicht an 
solchen fehlen, die sein Andenken von allen entstellenden Flecken 
reinigen würden. 38C—39D. c. 29 und 30. 

2. Ansprache an die ihm günstig gesinnten Richter: Sein 
Dämonium sei ihm Bürge dafür, daß seine Verurteilung ihm nicht 
zum Schaden gereiche. Der Tod sei auf keinen Fall ein Übel für 
einen frommen Mann. Seine Feinde fordere er, frei von jedem Zornes- 
gefühl, dazu auf, sich an ihm dadurch zu rächen, daß sie seine 
Söhne mit ebensolchen Mahnungen belästigten, wie er sie ihnen 
habe zuteil werden lassen. 39E—42A. c. 31—33. 


17 St, 


Platons Apologie 


oder 


Des Sokrates Verteidigungsrede'). 


1. Welchen Eindruck, meine athenischen Mitbürger ’?), 
meine Ankläger auf euch gemacht haben, weiß ich nicht; 
ich meinesteils stand so unter dem Bann ihrer Worte, 
daß ich mich beinahe selbst vergaß: so überzeugend klan- 
gen ihre Reden. Und doch, von Wahrheit war kaum eine 
Spur zu finden in dem was sie gesagt haben. Am meisten 
aber war ich erstaunt über eine von den vielen Lügen, 
die sie vorgebracht haben, über die Warnung nämlich, 
die sie an euch richteten, ihr solltet euch ja nicht von 
mir täuschen lassen, denn ich sei ein Meister der Rede. 
Daß sie sich nicht entblödeten dies zu sagen trotz der 
Gewißheit, alsbald durch die Tatsachen von mir wider- 
legt zu werden, wenn es sich nämlich nunmehr heraus- 
stellt, daß ich nichts weniger bin als ein Meister der Rede, 
das schien mir der Gipiel aller Dreistigkeit zu sein, es 
müßte denn sein, daß sie den einen Meister der Rede 
nennen, der die Wahrheit sagt. Denn wenn sie es so 
meinen, dann habe ich kein Bedenken, mich als Redner 
gelten zu lassen — nur eben nicht als einen von ihrer 
Art. Sie, die Kläger, haben, wie- gesagt, so gut wie 
nichts Wahres vorgebracht; von mir aber sollt ihr die 
volle Wahrheit vernehmen. Aber, beim Zeus, meine Mit- 
bürger, was ihr von mir zu hören bekommt, wird kein 
in Worten und Wendungen schön gedrechseltes und wohl- 
verziertes Redewerk sein wie das dieser Ankläger, son- 
dern ein schlichter Vortrag in ungesuchten Worten. Denn 
ich bin fest überzeugt von der Gerechtigkeit meiner 


24 Platon. 


Sache und keiner von euch möge mich anders als mit 
Vertrauen anhören. Es wäre doch auch in der Tat ein 
starker Verstoß, meine Mitbürger, wollte ich in diesen 
meinen Jahren vor euch auftreten wie ein Jüngling, der 
sich in künstlichem Redeschmuck gefällt. Und ich richte 
an euch, meine athenischen Mitbürger, recht dringend 
die folgende Bitte: wenn ihr von mir bei meiner Ver- 
teidigung die nämliche Redeweise vernehmt, deren ich 
mich auf dem Markt an den Wechslertischen) bediene, 
wo viele von euch mir zugehört haben wie auch ander- 
wärts, so wundert euch nicht und machet darob keinen 
Lärm. Es verhält sich damit nämlich folgendermaßen: 
Es ist heute das erstemal, daß ich vor Gericht erscheine, 
siebenzig Jahre alt. Ich bin also ein völliger Fremdling 
in der hier üblichen Redeweise. Gesetzt nun, ich wäre 
hier ein Fremder im eigentlichen Sinne, so würdet ihr 
es offenbar verzeihlich finden, wenn ich mich derjenigen 
Sprache und Redeform bediente, in der ich erzogen bin. 
So wende ich mich denn jetzt an euch mit der, wie mir 
scheint, nicht unbilligen Bitte: macht euch keine Ge- 
danken über meine Redeweise, gleichviel ob sie schlecht 
oder. gut ist; richtet vielmehr eueren Sinn und euere 
ganze Aufmerksamkeit darauf, ob, was ich sage, recht, 
ist oder nicht; denn das ist die Pflicht und Aufgabe 
des Richters, wie es die des Redners ist die Wahrheit 
zu sagen. 

2. An erster Stelle liegt es mir ob, meine athe- 
nischen Mitbürger, mich gegen die falschen Beschuldi- 
sungen früherer Zeit und gegen meine früheren An- 
kläger zu rechtfertigen, sodann gegen die späteren An- 
schuldigungen und Ankläger. Schon längst nämlich seit 
vielen Jahren haben euch zahlreiche Ankläger gegen mich 
in den Ohren gelegen, die nichts als Unwahrheiten vor- 
brachten, Leute, die ich mehr fürchte als den Anytos ἢ 
und seinen Anhang, so gefährlich diese auch sein mögen; 
gefährlicher, meine Mitbürger, sind doch jene, welche die 
meisten von euch schon von Kindheit an gegen mich ein- 


Apologie des Sokrates. 25 


zunehmen und als durchaus lügenhafte Ankläger euch 
weiszumachen suchten: „Es treibt hier ein gewisser So- 
krates sein Wesen, ein weiser Mann, der über die Himmels- 
erscheinungen nachgrübelt, auch alles Unterirdische auf- 
gespürt hat und die schlechte Sache zur guten zu 
machen®) weiß.“ Diese Leute, die solches Gerede ver- 
breiteten, sie sind meine wirklich gefährlichen Ankläger. 
Denn wer das hört, der ist der Meinung, daß solche 
Grübler auch an keine Götter glauben. Dazu kommt, 
daß die Zahl dieser Ankläger groß ist und daß sie ihr 
Geschäft schon lange Zeit treiben, ferner, daß ıhr, an die 
ihre Reden sich richteten, in einem Alter standet, dem 
die größte Vertrauensseligkeit innewohnt, denn ihr waret 
Knaben, nur einige bereits Jünglinge, und einen Anwalt 
für den Angeklagten gab es nicht — also ein ganz ein- 
seitiges Verfahren®). Und was das tollste ist, man kann 
nicht einmal die Namen dieser Leute erkunden und an- 
geben, es sei denn, daß ein oder der andere Komödien- 
schreiber ἢ darunter ist. Aber alle, die aus Neid oder 
Verleumdungssucht euch auf ihre Seite brachten, dazu 
auch solche, die selbst erst angestiftet andere anstifteten 
— ihnen allen ist sehr schwer beizukommen. Denn es 
ist gar nicht möglich, irgendeinen von ihnen hierher vor 
Gericht zu bringen und zu überführen. Es ist geradezu 
ein Kampf gegen Schatten, den ich führen muß, und 
meine Widerlegung verhallt in der Luft, denn es gibt 
niemanden, der antwortet. 

Stellet also euch eurerseits auf den Standpunkt, daß, 
wie ich sage, zwei Klassen von Anklägern gegen mich 
erstanden sind, erstens diejenigen, die jetzt mit ihrer 
Anklage hervorgetreten sind, sodann die früheren, von 
denen eben die Rede war; und ich darf wohl auf euer 
Einverständnis rechnen, wenn ich glaube, mich gegen 
diese letzteren an erster Stelle verteidigen zu müssen. 
Habt doch auch ihr den Anklagen dieser Leute früher 
Gehör geschenkt und in weit höherem Maße als denen 
der jetzigen. | 


928 Platon. 


Wohlan denn! So gilt es denn, mich zu verteidigen, 
meine Mitbürger, und zu versuchen, den Stachel der 
Verleumdung aus euerer Seele, die ihn so lange Zeit in 
sich geträgen, in so kurzer Zeit zu entfernen. Wohl wäre 
es mein Wunsch, es möchte dazu kommen und es möchte 
meine Verteidigung nicht erfolglos bleiben, sofern dies 
für euch und für mich von Segen ist. Allerdings halte 
ich das Beginnen für schwierig und verkenne nicht den 
eigentlichen Stand der Sache. Gleichwohl mag sie ihren 
Lauf nehmen wie es Gott gefällt: das Gesetz fordert Ge- 
horsam und die Verteidigung ist unabweisbare Pflicht. 

3. Werfen wir also den Blick rückwärts auf den 
- Ursprung der Beschuldigung, die zu meinem bösen Leu- 
mund geführt und die dann auch dem Meletos den Mut 
gegeben hat, diese Klage gegen mich anzustrengen. Gut 
denn. Was brachten also die Verleumder in ihren Reden 
gegen mich vor? Wir müssen sie wie gerichtliche An- 
kläger ansehen und ihre Beschuldigungen wie aus einer 
beschworenen Klageschrift verlesen lassen. Also: ,„So- 


19 St. 


krates frevelt wider die Gesetze und treibt Un-_ 


fug, indem er dem nachspürt, was unter der Erde 
ist und was am Himmel sich zeigt’), und die 
schlechte Sache zur guten macht, zudem auch an- 
dere in ebendiesen Dingen unterweist.“ So etwa 
lautet die Anklage. Ihr habt es ja selbst in der Komödie 
des Aristophanes gesehen: da schwebt ein gewisser So- 
krates in den Wolken hin und her, der sich für einen 
Luftwandler ausgibt und auch sonst allerhand albernes 
Zeug zu Markte bringt, lauter Dinge, von denen ich 
nichts, rein gar nichts verstehe. Wenn ich dies sage, 
so soll darin durchaus nicht eine Mißachtung solcher 
Weisheit liegen; es kann ja Leute geben, die in diesen 
Dingen ein wirkliches Wissen besitzen — möchte es mir 
erspart bleiben, vom Meletos mit einer so gefährlichen 
Anklage verfolgt zu werden®). —, doch wie gesagt, meine 
Mitbürger, ich verstehe von der Sache gar nichts. Als 
Zeugen rufe ich eine große Zahl von euch selbst auf 


) St. 


Apologie des Sokrates. 27 


und fordere euch alle, die ihr je meinen Unterhaltungen 
beigewohnt habt, auf, euere Erfahrungen darüber zu 
gegenseitiger Belehrung miteinander auszutauschen; nicht 
wenige von euch sind dazu in der Lage. Gebt euch denn 
einander Auskunft darüber, ob jemals einer auch nur das 
Geringste über dergleichen Dinge in meinen Unterredun- 
gen gehört hat. Daraus werdet ihr erkennen, dab es 
ganz ähnlich auch mit allem andern steht, was die große 
Menge von mir fabelt. 

4. Daran ist also nichts; und wenn ihr etwa von dem 
oder jenem vernommen habt, ich sähe es darauf ab Unter- 
richt zu geben und dafür Geld einzustreichen, so ist auch 
das nicht wahr, obschon es in meinen Augen sehrschätzens- 
wert ist, wenn man die Fähigkeit besitzt, andere zu 
unterrichten wie Gorgias!®) aus Leontini und Prodikos 
aus Keos undHippias aus Elis. Denn keinem von ihnen 
fehlt die Fähigkeit dazu: sie ziehen von Stadt zu Stadt 
und suchen die jungen Leute, die doch in der Lage 
wären, den belehrenden Umgang mit jedem beliebigen 
ihrer eigenen Mitbürger ganz umsonst zu genießen, für 
sich zu gewinnen, indem sie sie auffordern, den Umgang 
mit jenen abzubrechen und sich an sie anzuschließen 
gegen Bezahlung, mit der obendrein noch Dank ver- 
bunden sein soll. Übrigens gibt es jetzt hier noch einen 
anderen Weisheitslehrer, aus Paros'"), der, wie ich er-. 
fuhr, unter uns weilt. Ich begegnete nämlich einem 
Manne, der den Sophisten mehr Geld gezahlt hat als 
alle anderen zusammengenommen, dem Kallias!?), dem 
Sohne des Hipponikos. Mit ihm ließ ich mich in ein 
Gespräch ein. Er hat nämlich zwei Söhne und so 
sagte ich: Kung, 

„Mein Kallias, wenn deine Söhne Füllen oder Kälber 
wären, dann ließe sich gegen Lohn ein Wärter für sie 
finden, der sie zu trefflichen und guten Vertretern der 
ihrer Gattung zukommenden Tüchtigkeit zu machen hätte; 
es wäre das ein Pferdezüchter oder ein Landwirt. Bei 


dir aber handelt es sich um Menschen. Wen also ge- 


28 Platon. 


denkst du ihnen zum Erzieher zu geben? Wer versteht 
sich auf diese Art von Tüchtigkeit, die des Menschen 
und Bürgers? Denn du hast dir die Sache gewiß über- 
legt in Rücksicht auf deine Söhne. Gibt es einen sol- 
chen,“ fragte ich, ‚oder nicht?“ 


„Gewiß‘“, erwiderte er. 


„Wer ist es?“ fuhr ich fort, „und woher, und wie 
hoch ist der Preis?“ 


„Euenos,‘ erwiderte er, „aus Paros und der Preis 
fünf Minen.‘!?) 

Da pries ich den Euenos glücklich, wenn er wirklich 
diese Kunst innehat und so preiswert lehrt. Würde ich 
doch auch selbst mir darauf etwas zugute tun und mich 
damit brüsten, wenn ich mich darauf verstünde. Indes, 
ich verstehe ja nichts davon, meine Mitbürger. 


5. Vielleicht wird einer von euch erwidern: „Aber 
Sokrates, womit beschäftigst du dich denn eigentlich? 
Woher stammt denn all das verleumderische Gerede gegen 
dich? Doch nicht etwa daher, daß du nichts treibst, 
was von dem Tun und Treiben der anderen merklich 
abweicht? Wie hätte dann ein solcher Ruf und Leumund 
entstehen können? Ich müßte mich doch sehr täuschen: 
du treibst gewiß Dinge, die der großen Menge auffällig 
sind!*). Sage uns also, wie es damit steht, denn wir 
möchten kein leichtfertiges Urteil über dich fällen.“ 


Wer das sagt, scheint mir eine ganz berechtigte 
Forderung zu stellen, und ich werde versuchen euch die 
Gründe darzulegen, die für meinen Ruf und bösen Leu- 
mund bestimmend gewesen sind. So höret denn. Es werden 
manche von euch glauben, ich hätte es nur auf einen 
Scherz abgesehen; aber ihr dürft völlig überzeugt sein: 
ich werde euch die reine Wahrheit sagen. Ich bin näm- 
lich, meine Mitbürger, durch nichts anderes zu diesem 
meinem Ruf gekommen als durch eine bestimmte Art von 
Weisheit. Und was ist das für eine Weisheit? Vielleicht 
nichts anderes als schlichte Menschenweisheit. Denn in 


1 St. 


Apologie des Sokrates. 99 


der Tat scheint dies die Art von Weisheit zu sein, die 
mir eigen ist. Die vorhin von mir genannten Männer 
dagegen dürften wohl Vertreter einer Weisheit sein, die 
über menschliches Wissen hinausgeht; ich wüßte keine 
treffendere Bezeichnung dafür; denn ich verstehe mich 
nicht darauf, sondern wer dies sagt, der lügt und hat 
es dabei darauf abgesehen mich zu verleumden. 

Und nun, meine Mitbürger, laßt euch durch meine 
scheinbare Großsprecherei nicht zu lärmendem Wider- 
spruch reizen. Denn das Wort, das ich aussprechen will, 
stammt nicht von mir her, vielmehr werde ich es auf 
einen Urheber zurückführen, der eueren vollen Glau- 
ben verdient. Als Zeugen nämlich für meine Weisheit, 
für ihr Vorhandensein überhaupt wie für ihre Beschaffen- 
heit, will ich euch den Gott in Delphi stellen. Ihr 
kanntet ja doch den Chairephon’'?). Er war mein Freund 
von Jugend auf, war auch mit euch, der Volkspartei, be- 
freundet und floh mit euch aus der Stadt, wie er auch 
mit euch wieder zurückkehrte. Ihr kennt ja die Art des 
Chairephon, sein heftiges Losstürmen auf jedes erstrebte 
Ziel. So war er denn, als er einst nach Delphi kam, 
kühn genug, das Orakel darüber zu befragen — doch, 
wie gesagt, macht keinen Lärm, ihr Männer! Er fragte 
nämlich, ob jemand weiser sei als ich. Da tat nun die 
Pythia den Spruch, es sei niemand weiser als ich. Und 
darüber wird auch sein Bruder!®) hier Zeugnis ablegen, 
da jener selbst nicht mehr unter den Lebenden weilt. 

6. Vergeßt nun nicht, weshalb ich euch dies sage: 
ich will euch Aufklärungen geben über den Ursprung 
der Verleumdungen gegen mich. Nachdem mir nämlich 
der Bescheid zu Ohren gekommen, stellte ich bei mir 
folgende Erwägungen an. „Was mag der Gott wohl 
meinen und was für ein Rätsel gibt er da auf? Denn von 
Weisheit kann ich nicht die geringste Spur in mir finden. 
Was meint er also damit, wenn er mich für den Weisesten 
erklärt? Lügen wird er doch gewiß nicht, denn das 
widerspricht seinem Wesen.‘ So schwankte ich lange Zeit 


30 Ylaton. 


hin und her über den Sinn seines Spruches. Endlich 
schlug ich nach den allerschwersten Bedenken folgenden 
Weg ein zur Erforschung der Sache. Ich machte mich 
an einen der im Rufe der Weisheit stehenden Männer 
heran, um in ihm womöglich den lebendigen Gegen- 
beweis gegen den Spruch des Gottes zu finden, und dem 
Orakel darzutun: siehe, dieser da ist weiser als ich, und 
du hast doch mich dafür erklärt. Bei näherer Betrach- 
tung dieses Mannes nun und im Gespräch mit ihm — 
den Namen brauche ich nicht zu nennen; es war einer 
der Staatsmänner, mit dem mir bei näherem Einblick 
in sein Wesen solches begegnete — erhielt ich den Ein- 
druck, der Mann komme zwar vielen anderen Menschen 
und am allermeisten sich selbst weise vor, sei es aber 
durchaus nicht. Darauf suchte ich ıhm denn klarzu- 
machen, er bilde sich zwar ein, weise zu sein, sei es 
aber nicht. Die Folge davon war, daß ich mich ihm 
sowie vielen, die dabei waren, verhaßt machte; bei mir 
selber aber dachte ich im Weggehen: „Diesem Mann bin. 
ich allerdings an Weisheit überlegen; denn wie es scheint, 
weiß von uns beiden keiner etwas Rechtes und Ordent- 
liches, aber er bildet sich ungeachtet seiner Unwissenheit 
ein, etwas zu wissen, während ich, meiner Unwissenheit 
mir bewußt, mir auch nicht einbilde etwas zu wissen. 
Es scheint also, ich bin doch noch um ein kleines Stück 
weiser als er, nämlich um dies: was ich nicht weiß, 
das bilde ich mir auch nicht ein zu wissen.“ Darauf 
machte ich mich an einen anderen, an einen, der für noch 
weiser galt als jener, und der Eindruck war ganz cer 
nämliche. So machte ich mir auch ihn zum Feinde und 
noch viele andere. | 

7. Darauf machte ich nun förmlich die Runde und 
bemerkte überall mit Kummer und Besorgnis, daß ich 
mich nur verhaßt machte; gleichwohl dünkte es mich 
notwendig, die Widerlegung des Gottesspruches allen 
anderen Rücksichten voranzustellen. Um also den Sinn 
des Orakelspruches zu ergründen, glaubte ich mich an alle 


+ 


Apologie des Sokrates. 9] 


wenden zu müssen, die in dem Rufe standen, etwas zu 


. wissen. Und, beim Hunde”), meine Mitbürger — denn 


ich muß euch die Wahrheit sagen —, es war eine merk- 
würdige Erfahrung, die ich da machte: diejenigen, die 
sich des glänzendsten Rufes erfreuten, schienen mir bei 
meiner dem Gotte geweihten Prüfung es so gut wie an 
allem fehlen zu lassen, andere hinwiederum, die weniger 
geachtet waren, auf einer weit höheren Stufe der Ein- 
sicht zu stehen. So muß ich euch denn meine Wanderung 
vorführen, eine wahre Kette von Mühseligkeiten; denn 
das Orakel durfte doch am Ende nicht gar unwiderlegt 
bleiben. 15) 

Nach den Staatsmännern nämlich wendete ich mich 
zu den Dichtern, den Meistern der tragischen, dithyram- 
bischen und anderer Dichtung, überzeugt, mir hier den 
gleichsam handgreiflichen Beweis meiner geistigen Unter- 
legenheit im Vergleich mit ihnen holen zu können. So 
nahm ich denn diejenigen von ihren Gedichten vor, auf 
die sie, wie mir schien, den größten Fleiß verwendet 
hatten, und bat sie um Auskunft über den Sinn derselben, 
um gleichzeitig auch einen gewissen geistigen Gewinn 
davon zu haben. Ich schäme mich nun, meine Mitbürger, 
euch die Wahrheit zu sagen; und doch muß es sein: 
nahezu alle Anwesenden wußten besser als die Dichter 
Bescheid zu geben über die Werke, die diese selbst ver- 
faßt hatten. Es wurde mir also binnen kurzem klar, 
daß ihre Werke nicht Früchte der Weisheit?) sind, son- 
dern einer gewissen natürlichen Anlage und einer Be- 
geisterung, wie sie sich bei den Wahrsagern und Orakel- 
sängern findet. Denn auch diese sagen vielerlei Schönes, 
sind sich aber des eigentlichen Sinnes dessen, was sie 
sagen, nicht bewußt.?®) In ähnlicher Geistesverfassung 
befinden sich auch die Dichter, wie mir damals klar 
wurde. Zugleich bemerkte ich, daß ihre dichterische Be- 
gabung sie zu dem Glauben verleitet, auch in allen 
übrigen Dingen, von denen sie nichts verstehen, an Weis- 
heit alle anderen zu übertreffen. Ich machte mich also 


32 Platon. 


auch von ihnen los in der Meinung, ihnen in derselben 
Hinsicht überlegen zu sein wie den Staatsmännern. 

8. Schließlich machte ich mich an die Handwerker. 
Daß ich selbst nämlich so gut wie nichts wisse, das war 
mir völlig klar, bei diesen aber war ich meiner Sache 
ganz sicher: ich durfte auf viele schöne Kenntnisse bei 
ihnen rechnen. Darin täuschte ich mich denn auch nicht, 
denn sie wußten in der Tat Dinge, die ich nicht wußte; 
sie waren also insofern weiser als ich. Allein, meine 
Mitbürger, die guten Handwerker schienen mir an dem- 
selben Fehler zu leiden wie die Dichter: weil ein jeder 
von ihnen ein vortrefflicher Vertreter seiner Kunst war, 
machte er zugleich den Anspruch, auch sonst auf den 
wichtigsten Gebieten?!) allen anderen an Weisheit über- 
legen zu sein, eine Kurzsichtigkeit, die einen tiefen 
Schatten auf jene ihre Weisheit warf. Ich richtete also an 
mich selbst im Namen des Orakels die Frage, was ich 
vorziehen würde: der zu bleiben, der ich bisher war, 


also weder weise zu sein auf die Art dieser Handwerker 


noch auch ihren Unverstand zu teilen, oder aber beides 
mit ihnen zu teilen. Die Antwort, die ich mir und dem 
Orakel gab, lautete dahin, es sei besser für mich, zu 
bleiben wie ich bin. 

9. Dieses Prüfungsverfahren, meine Mitbürger, war 
für mich die Quelle vieler Feindschaften, und zwar von 
Feindschaften der gefährlichsten und schwersten Art: 
daher die zahlreichen Verleumdungen wider mich, daher 
der Ruf, in den ich kam, ein Weiser zu sein. Denn die 
Zuhörer sind in der Regel des Glaubens, ich selbst sei 
im Besitze der Weisheit, die ich durch Prüfung und 
Widerlegung anderer suche. In Wahrheit aber kommt, 
so scheint es, meine Mitbürger, diese Weisheit nur der 
Gottheit zu, und ihr Orakelspruch kann nur dieses be- 
sagen, daß die menschliche Weisheit herzlich wenig, Ja 
gar nichts bedeutet. Und allem Anschein nach gilt dieser 
Spruch nicht eigentlich dem Sokrates, sondern der Gott 
bedient sich meines Namens nur beispielsweise, als wollte 


23 | 


Apologie des Sokrates. 23 


er sagen: „Derjenige unter euch, ihr Menschen, ist der 
weiseste, der wie Sokrates erkannt hat, daß seine Weis- 
heit in Wahrheit keinen Heller wert ist.‘“ Dieses also im 
Sinne der Gottheit zu erforschen und zu ergründen, 
mache ich auch jetzt noch immer die Runde bei Bürgern 
und Fremden, wo ich einen für weise halte; stellt sich 
mir dies aber als nicht zutreffend heraus, dann mache ich 
mich zum Helfer des Gottes und erbringe den Nachweis, 
daß er nicht weise ist. Und diese Tätigkeit hat mir 
keine Zeit übriggelassen, mich irgendwie den staatlichen 
und häuslichen Geschäften zu widmen: der Dienst, den 
ich der Gottheit leiste, bringt tausendfältige Armut über 
mich. 

10. Dazu kommt noch folgender Umstand: es schließen 
sich mir Jünglinge, die als Söhne der wohlhabendsten 
Bürger sehr viel freie Zeit haben, freiwillig an, und 
diese finden nicht wenig Vergnügen daran, zuzuhören, 
wenn ich die Menschen ins Gebet nehme. Oft machen 
sie es mir auch nach und probieren an anderen ihre 
Überführungskunst??); und dabei finden sie gewiß mehr 
als genug Menschen, die da glauben, etwas zu wissen, 
tatsächlich aber wenig oder nichts wissen. So kommt 
es denn, daß die von ihnen Überführten gegen mich 
voller Zorn sind statt gegen sich selber und von einem 
gewissen Sokrates reden, einem gottlosen Menschen und. 
Verführer der Jugend. Und fragt man sie nach Be- 
weisen, also nach Taten und Lehre des Mannes, dann 
wissen sie nichts zu sagen, sondern sind wie vor den 
Kopf geschlagen; um aber nicht völlig ratlos zu scheinen, 
kramen sie die bekannten Schlagworte aus, die man ge- 
meinhin den Philosophen entgegenhält, nämlich er lehre 
die himmlischen Erscheinungen und die Dinge 
unter der Erde, lehre den Unglauben in bezug 
auf die Götter und lehre die Kunst, die schlechtere 
Sache zur besseren zu machen. Denn den wahren 
Grund ihres Hasses einzugestehen, das bringen sie nicht 
über sich; sie wollen nicht gestehen, daß sie durch So- 

Platon Apologie und Kriton. Phil. Bibl. Bd. 180. 3 


34 Platon. 


krates bloßgestellt werden als Leute, die vorgeben, etwas 
zu wissen, in der Tat aber nichts wissen. Bei ihrem 
vorauszusetzenden Ehrgeiz aber, bei ihrer Leidenschaft- 
lichkeit, ihrer großen Zahl, ihrem vollen Krafteinsatz und 
der Überredungskunst in ihren Aussagen wider mich ist 
es begreiflich, daß sie auch euer Ohr schon längst mit 
ihren leidenschaftlichen Verleumdungen gegen mich ge- 
wonnen haben. | 

Aus ihrer Mitte sind auch meine Ankläger Meletos, 
Anytos und Lykon®®) hervorgegangen, Meletos, um seinem 
beleidigten Herzen für die Dichter Rache an mir zu 
verschaffen, Anytos, um sich der Handwerker und Staats- 
männer, Lykon, um sich der Redner anzunehmen. Es 
würde mich also, wie schon zu Anfang bemerkt, wunder- 
nehmen, wenn es mir gelänge, in so kurzer Zeit den 
Eindruck dieser so mächtig angeschwollenen Verleumdung 
aus eueren Herzen zu verdrängen. Damit habt ihr, meine 
Mitbürger, die volle Wahrheit vernommen; ich habe euch 
nicht das geringste verschwiegen oder unterschlagen. 


Und doch weiß ich, daß ich mich eben dadurch verhaßt 


mache. Darin liegt denn zugleich der Beweis dafür, daß 
ich die Wahrheit sage und daß es mit der Verleumdung 
gegen mich und ihren Gründen so und nicht anders be- 
stellt ist. Und möget ihr nun jetzt oder in der Folge 
euch mit der Untersuchung der Sache beschäftigen, immer 
werdet ihr diese meine Auffassung bestätigt finden. 
11. Damit mag denn meine Rechtfertigung vor euch 
gegen die Anschuldigungen der ersten Ankläger abge- 
schlossen sein. Nunmehr will ich versuchen mich gegen 
Meletos, den Biedermann und Vaterlandsfreund, wie er 
sich nennt, und gegen die späteren Ankläger zu ver- 
teidigen. Wir müssen nämlich, als handelte es sich um 
ganz neue Ankläger, nunmehr die eidliche Klage auch 
dieser Leute?) vornehmen. Sie lautet etwa folgender- 
maßen: „Sokrates vergeht sich wider die Gesetze, 
indem er die Jugend verdirbt und nicht an die 
vaterländischen Götter glaubt, sondern einem 


24 Si 


Apologie des Sokrates, 35 


Glauben an eine neue Art von Dämonentum?”) hul- 
digt.‘ Das ist der Gegenstand der Anklage und wir 
wollen nun diese Anklage Punkt für Punkt einer genauen 
Prüfung unterwerfen. 


Zunächst stellt er mich als Frevler an der Jugend 
hin, die ich angeblich verderbe. Ich dagegen, meine Mit- 
bürger, werfe dem Meletos widergesetzliches Verhalten 
vor, weil er mit ernsthaften Dingen Scherz treibt 5), näm- 
lich leichtfertig seine Mitmenschen den Drangsalen ge- 
richtlicher Verfolgung preisgibt und sich anstellt als ginge 
er ganz auf in Eifer und Sorge für Dinge, um die er sich 
tatsächlich niemals auch nur einen Augenblick geküm- 
mert hat. Daß dem so ist, will ich versuchen auch 
euch?”) klarzumachen. 


12. Also Meletos, nun achtgegeben und geantwortet! 
Legst du nicht den größten Wert auf die sittliche Bes- 
serung der Jugend? 

Meletos. Gewiß. 

Sokrates. Nun, so sage hier vor den Richtern, wer 
macht sie denn besser ? Das weißt du ja doch offenbar, denn 
du hast ja ein so warmes Herz für sie. Hast du doch ihren 
Verführer in mir, wie du sagst, ausfindig gemacht und 
bringst mich vor die Richter und verklagst mich; nun 
nenne also auch den, der sie sittlich bessert, und gib 
ihn den Richtern mit Namen an.?®) — Siehst du, Me- 
tos, du schweigst und weißt nichts zu sagen. Und doch! 
Ist das nicht in deinen Augen eine Schande und der 
volle Beweis für meine Behauptung, daß du dich nie 
um die Sache gekümmert hast? So sage denn, mein 
Bester, wer macht sie denn besser? 

Meletos. Die Gesetze. | 

Sokrates. Aber das ist es nicht, was ich wissen 
will, sondern welcher Mensch — der freilich auch zuvor 
die Gesetze kennen muß. 

Meletos. Hier, die Richter, Sokrates. 

Sokrates. Wie sagst du, Meletos? Die hier Ver- 

; 5% 


36 Platon. 


sammelten sollen imstande sein, die Jugend zu erziehen? 
Sie sollen sie besser machen ?*®) 

Meletos. Unbedingt. 

Sokrates. Etwa alle oder nur einige von ihnen, 
andere wieder nicht? 

Meletos. Alle. 

Sokrates. Das heißt wohl gesprochen, bei der Hera! 
Über Mangel an guten Erziehern können wir uns also 
wahrlich nicht beklagen. Und nun weiter. Wie steht es 
mit den Zuhörern hier? Machen auch sie die Jugend 
besser oder nicht? 

Meletos. Auch sie. 

Sokrates. Und die Ratsherren? 

Meletos. Auch die Ratsherren. 

Sokrates. Aber, Meletos, die Männer der Volks- 
versammlung (die Ekklesiasten), verderben sie vielleicht 
die Jugend? Oder sorgen auch sie für deren Besserung? 

Meletos. Auch sie. 

Sokrates. Es scheint also, alle Athener sind be- 


müht um die sittliche Besserung der Jugend außer mir: 


ich bin der einzige, der sie verdirbt. Ist das deine Mei- 
nung? 

Meletos. Ganz entschieden. 

Sokrates. Damit hast du mir einen schweren Schlag 
versetzt. Doch antworte mir. Verhält es sich deiner 
Ansicht nach mit den Pferden ebenso? Sind es die 
Menschen insgesamt, die die Pferde besser machen, und 
nur ein einzelner, der sie verdirbt? Oder findet nicht 
das gerade Gegenteil statt, daß nämlich ein einzelner 
oder nur ganz wenige imstande sind, sie besser zu machen, 
nämlich die Pferdezüchter, während die meisten, wenn 
sie sich mit Pferden abgeben und sie brauchen, sie rui- 
nieren? Verhält es sich nicht so, Meletos, nicht nur bei 
den Pferden, sondern auch bei allen anderen Geschöpfen? 
Ja, so verhält es sich unzweifelhaft, möget ihr, du und 
Anytos, es nun zugeben oder nicht. Es wäre ja auch ein 
unerhörtes Glück für die Jugend, wenn es nur einen 


Apologie des Sokrates. 37 


gäbe, der sie verdirbt, alle andern aber sich ihr förder- 
lich erwiesen. Aber, mein Meletos, du läßt ja keinen 
Zweifel darüber, daß du dich nie um die Jugend ge- 
kümmert hast, und gibst klar zu erkennen, daß du in 
deinem Leichtsinn dir niemals irgendwelche Sorge dar- 
über gemacht hast, weshalb du mich eigentlich hier vor 
Gericht ziehst. 

13. Ferner sage uns, beim Zeus, Meletos, ist es 
besser unter braven Bürgern zu leben als unter bös- 
willigen? Antworte, mein Freund, es ist ja keine schwere 
Frage. Nicht wahr, die Böswilligen tun ihren Nächsten 
doch immer Böses, die Guten dagegen Gutes? 

Meletos. Gewiß. 

Sokrates. Gibt es nun irgend jemanden, der von 
seinen Bekannten lieber Nachteil als Vorteil haben will? 
Antworte, mein Bester. Das Gesetz fordert von dir eine 
Antwort ὅὃ. Gibt es jemanden, der Schaden haben will? 

Meletos. Gewiß nicht. 

Sokrates. Wohlan denn, ziehst du mich hier vor 
Gericht als einen, der absichtlich die Jugend verführt 
und sie schlechter macht, oder der es unabsichtlich tut? 

Meletos. Absichtlich, in meinen Augen wenigstens. 

Sokrates. Wie also, Meletos? Du bist so viel 
weiser in deinen jungen Jahren als ich in meinen hohen 
Jahren, denn du siehst schon ein, daß die Bösen ihren. 
Nächsten immer Böses tun, die Guten aber Gutes — 
und ich soll noch in so tiefer Unwissenheit stecken, daß 
ich nicht einmal dies weiß°"), daß, wenn ich einen durch 
meinen Umgang mit ihm zu einem verworfenen Menschen 
mache, ich mich in die Lage bringe, von ihm irgend- 
welchen bösen Streich fürchten zu müssen? Und einem 
solchen Unheil soll ich mich mit voller Absicht aus- 
setzen, wie du sagst? Nein, das glaube ich dir nicht, Me- 
letos, und vermutlich auch kein anderer Mensch: sondern 
entweder verderbe ich die Jugend überhaupt nicht, oder 


. wenn ich sie verderbe, dann unabsichtlich; in beiden 


Fällen also lügst du. Verderbe ich sie aber unabsicht- 


38 Platon. 


lich, dann fordert das Gesetz bei derartigen Verfehlungen 
keine gerichtliche Verfolgung, vielmehr soll man dann 
den Betreffenden beiseite nehmen zum Zwecke der Be- 
lehrung und Warnung. Denn kein Zweifel: wenn ich 
zu voller Einsicht gelangt bin, dann werde ich ablassen 
von dem, was ich unabsichtlich tue. Du aber hast jede 
Gelegenheit, mit mir zusammenzukommen und mich zu 
belehren, gemieden und hast dich nicht dazu entschließen 
können; statt dessen ziehst du mich hier vor Gericht, 
wohin dem Gesetze nach diejenigen gehören, die der Züch- 
tigung bedürfen, nicht aber der Belehrung. 

14. So viel, meine Mitbürger, liegt wohl nun klar 
zutage, daß, wie gesagt, Meletos sich keinen Deut um 
diese Dinge gekümmert hat. Gleichwohl sage uns doch, 
Meletos, auf welche Weise ich deiner Meinung nach 
die Jugend verderbe.. Deine Klageschrift gibt ja wohl 
genügende Auskunft darüber. Sie sagt, ich verderbe sie 
dadurch, daß ich sie lehre, nicht an die staatlich aner- 
kannten Götter zu glauben sondern an ein neues Dä- 
monentum anderer Art. Sind das nicht die Lehren, durch 
die ich deiner Meinung nach Verderben stifte? 

Meletos. Ja, das ist meine ganz entschiedene Mei- 
nung. 

Sokrates. Bei ebendiesen Göttern nun, Meletos, 
von denen jetzt die Rede ist, erkläre dich noch deutlicher 
gegen mich und die Anwesenden, denn ich vermag nicht 
klar zu sagen, was für eine Lehre du mir zuschreibst: 
lehre ich den Glauben an das Dasein von doch irgend- 
welchen Göttern, so daß ich selbst doch an das Dasein 
von Göttern glaube — also kein völliger Atheist bin 
und mich nicht dadurch schuldig mache —, nur eben 
nicht an das der staatlichen Götter sondern an andere, 
und besteht eben in diesem Umstande, in diesem Glauben 
an andere Götter mein angebliches Verbrechen, oder er- 
klärst du mich für völlig ungläubig in bezug auf die 
Götter und für beflissen, meinen eigenen Unglauben als 
Lehrer auch auf andere zu übertragen? 


27 St. 


Apologie des Sokrates. 39 


Meletos. Dies letztere behaupte ich: du glaubst 
überhaupt an keine Götter. 52 

Sokrates. Du wunderlicher Meletos, was willst du 
mit dieser Behauptung? Ich soll also wohl Sonne und 
Mond nicht für Götter halten wie die übrigen Menschen? 

Meletos. So ist es, beim Zeus, ihr Richter: er hält 
tatsächlich die Sonne für einen Stein, den Mond für 
eine Erde. 

Sokrates. Du meinst wohl, es sei Anaxagoras ἢ) 
den du als Angeklagten vor dir hast, mein lieber Me- 
letos, und denkst so geringschätzig von den Richtern 
und hältst sie für solche Fremdlinge in der Bücherwelt, 
daß sie nicht wissen sollten, daß die Bücher des Anaxa- 
goras von derartigen Äußerungen wimmeln? Also von 
mir lernen denn auch die jungen Leute diese Weisheit, die 
sie manchmal, hochgerechnet, für eine Drachme auf dem 
Markte an dem ÖOrchestraplatze°®*) kaufen können, um 
dann den Sokrates auszulachen, wenn er diese Weisheit 
als sein Eigentum in Anspruch nimmt, zumal es noch 
dazu so ungereimtes Zeug ist! Aber, beim Zeus, soll 
ich denn in deinen Augen wirklich ein so ausgemachter 
Gottesleugner sein? 

Meletos. Ja, beim Zeus, das bist du ohne jede 
Einschränkung. 

Sokrates. Das glaubt dir niemand, Meletos, und 
wenn ich recht sehe, glaubst du es selber nicht. Denn 
mir scheint dieser Ankläger, meine Mitbürger, ein durch 
und durch übermütiger und zuchtloser Gesell zu sein, der 
aus reinem Übermut, Frevelsinn und jugendlichem Mut- 
willen diese Klage eingereicht hat. Denn es will mir vor- 
kommen, als habe er es auf ein Rätsel abgelegt und 
mache nun die Probe: „wird der weise Sokrates wohl 
merken, daß ich mir mit ihm einen Scherz erlaube und 
mich mit mir selber in Widerspruch setze, oder werde 
ich ihn und die übrigen Zuhörer täuschen?“ Denn wie 
mir scheint, stellt dieser Ankläger in der Klageschrift 
Behauptungen auf, mit denen er sich selbst widerspricht, 


40 Platon. 


wie wenn er etwa sagte: „Sokrates ist schuldig, weil 
er nicht an Götter glaubt, sondern an Götter glaubt.“ 
Und was wäre das anders als ein Scherz? 

15. So erwägt denn, meine Mitbürger, mit mir, in- 
wiefern er sich meiner Meinung nach in solchen Wider- 
sprüchen bewegt. Du aber antworte uns, Meletos. - Ihr 
aber, vergesset nicht, worum ich euch gleich anfangs bat: 
enthaltet euch jeglichen Lärmens, wenn ich in meiner 
gewohnten Art spreche. 

Gibt es wohl, Meletos, irgendeinen Menschen, der 
zwar an menschliche Eigenschaften glaubt, an Menschen 
aber nicht glaubt? Antworten soll er, meine Mitbürger, 
statt immer wieder bloß aufzumurren! Gibt es einen, der 
nicht an Pferde glaubt, wohl aber an Eigenschaften von 
Pferden? oder der nicht an Flötenspieler glaubt, wohl 
aber an Eigenschaften von Flötenspielern? Nein, es gibt 
keinen, du Ehrenmann: wenn du nicht antworten willst, 
nun so sage ich es dir und den anderen Anwesenden. 
Aber auf das Folgende wenigstens gib Antwort: Gibt es 
jemanden, der zwar an Dämonentum glaubt, an Dämonen 
aber nicht glaubt? 

Meletos. Nein. 

Sokrates. Welche Wohltat, daß du dich endlich 
zu einer Antwort bequemt hast, wenn auch nur aus 
Achtung vor den Richtern. Du gibst also zu, daß ich an 
Dämonentum glaube und es auch lehre, gleichviel ob neues 
oder altes. Jedenfalls glaube ich an Dämonentum nach 
deiner ausdrücklichen Versicherung, wie du es ja auch 
in deiner Anklageschrift eidlich bezeugt hast. Glaube ich 
aber an Dämonentum, dann muß ich unbedingt auch an 
Dämonen glauben. Ist es nicht so? Ja, so ist es! Denn 
ich nehme an, daß du beistimmst, da du ja nicht ant- 
wortest. Die Dämonen aber — halten wir sie nicht ent- 
weder für Götter oder für Sprößlinge der Götter? Gibst 
du es zu oder nicht? 

Meletos. Gewiß. 

Sokrates. Wenn ich also, wie du zugibst, an Dä- 


σι 


Apologie des Sokrates. 41 


monen glaube, und die Dämonen eine Art Götter sind, so 
wäre das ja eben jenes Rätsel- und Scherzspiel, auf das 
du es nach meiner Behauptung abgelegt hast: denn ich, 
der ich nach deiner Aussage an keine Götter glaube, 
soll doch anderseits wieder an Götter glauben. Wenn 
es ferner wahr ist, daß die Dämonen Sprößlinge der 
Götter sind, nämlich unechte von Nymphen oder anderen 
Wesen, als deren Kinder sie in der Überlieferung ja 
auch gelten, wer in aller Welt möchte da an Kinder der 
Götter glauben, an Götter aber nicht? Das wäre ja doch 
gerade so ungereimt, als wollte jemand an Sprößlinge 
von Pferden und Eseln glauben, an Maulesel nämlich, 
nicht aber an das Dasein von Pferden und Eseln. Nein, 
Meletos, kein Zweifel: entweder wolltest du mit Ein- 
reichung dieser Klage mir einen Possen spielen, oder 
du konntest kein wahres Vergehen ausfindig machen, 
dessen du mich beschuldigen könntest. Daß du aber 
irgendeinen auch nur halbwegs vernünftigen Menschen 
überreden könntest, es könne ein und derselbe Mensch 
einerseits an Dämonentum und göttliche Wesen glauben 


. und anderseits wieder weder an Dämonen noch an Götter 


noch an Heroen glauben, das ist eine reine Unmöglich- 
keit. 8) 
16. Doch, meine Mitbürger, daß ich nicht schuldig 


. bin im Sinne der Anklage des Meletos, das bedarf meines . 


Erachtens keiner langen Ausführungen weiter zum Zwecke 
der Verteidigung, sondern das Gesagte genügt. Was 
aber einen schon früher berührten Punkt°®) anlangt, 
nämlich daß eine starke Feindschaft bei vielen erwachte, 
so ist dies ohne Zweifel wahr. Und dies ist’s, was mich zu 
Falle bringen wird, wenn ich nun einmal fallen soll, 
nicht Meletos oder Anytos, sondern der böse Leumund 
bei der Menge und deren Gehässigkeit. Dies hat schon 
viele treffliche Männer zu Fall gebracht und das wird, 
denk’ ich, auch in Zukunft so sein, und es hat keine 
Gefahr, daß es bei mir haltmache. 

Vielleicht könnte nun jemand sagen: „Und da schämst 


49 Platon. 


du dich nicht, Sokrates, einem Berufe nachzugehen, der 
dich nunmehr dem Tode in die Arme liefert? Ich aber 
würde ihm mit gerechter Entrüstung antworten: „Du 
irtst gewaltig, mein Bester, wenn du meinst, ein Mann, 
der auch nur etwas auf sich hält, solle ängstlich mit 
Leben oder Tod rechnen statt bei seinem Tun und Han- 
deln darauf zu sehen, ob er gerecht oder ungerecht han- 
delt und ob seine Taten die eines edeln oder eines ehr- 
vergessenen Mannessind. Denn nichtswürdig wären ja nach 
deinem Urteil alle die gottentstammten Helden, die vor 
Troja ihr Leben ließen, unter ihnen aber vor allen anderen 
der Thetis Sohn, der jegliche Gefahr für nichts achtete, 
wenn ihm etwas Schimpfliches zugemutet wurde. So be- 
sonders, als seine Mutter, sie, die Göttin, seinem Ver- 
langen, den Hektor zu töten, mit etwa folgenden Worten, 
glaub’ ich, entgegentrat: „Wenn du deines Freundes Pa- 
troklos Tod rächen und den Hektor töten willst, so mußt 
du selber sterben.‘‘ Denn, sagt 516 5), 
Nach Hektor sogleich ist der Tod dir bereitet. 


Er aber beantwortete diese Abmahnung sofort mit dem 
Ausdruck der Verachtung von Tod und Gefahr, denn als 
ein Feigling zu leben und seine Freunde nicht zu rächen 
schien ihm weit abschreckender. Er βαρὺ 35) 


Lieber stürb’ ich sogleich, 


nachdem ich den Frevler gestraft, damit ich nicht hier 
weile, dem Spotte ausgesetzt, 89) 
Bei den gewölbten Schiffen die Erde belastend. 


Von ihm glaubst du gewiß nicht, daß er sich um Tod 
und Gefahr bekümmert habe. Und so ist es in der Tat, 
meine Mitbürger: Wo einer sich selbst seinen Posten 
bestimmt hat, überzeugt, daß es keinen besseren Ent- 
schluß gebe, oder wo er seinen Posten von einem Vor- 
gesetzten angewiesen erhalten hat, da muß er ausharren 
und der Gefahr Trotz bieten und weder des Todes noch 
der Gefahr achten gegenüber der Schande.‘*°) 


5 


cr 


Apologie des Sokrates. 43 


17. Bedenket doch, meine Mitbürger: Als die Feld- 
herren, die doch nur ihr*') Menschen zu meinen Vor- 
gesetzten gewählt hattet, mir bei Potidaia, bei Amphi- 
polis, bei Delion meinen Posten anwiesen, da habe ich 
auf diesem Posten gleich den anderen ausgeharrt und 
dem Tode getrotzt. Wäre es da nicht unverzeihlich, wenn 
ich gegenüber der Weisung des Gottes, der, wie ich 
glaubte und annahm, mich aufforderte, mein Leben der 
Wahrheitsforschung sowie der eigenen Prüfung und der 
der anderen zu widmen — wenn ich da aus Furcht vor 
dem Tode oder vor wer weiß welchem anderen Schrecknis 
meinen Posten hätte verlassen wollen? Ja, wahrlich un- 
verzeihlich wäre das, und dann könnte man mich aller- 
dings mit vollstem Recht vor Gericht fordern wegen man- 
gelnden Götterglaubens, sofern ich dem Orakel nicht folge 
und den Tod fürchte und vermeine weise zu sein, ohne 
es doch zu sein. Denn den Tod fürchten, meine Mit- 
bürger, was ist das anders als sich dünken weise zu 
sein ohne es doch zu sein? Es heißt nämlich so viel 
wie sich einbilden zu wissen was man nicht weiß. Denn 
es weiß niemand vom Tode, ob er nicht vielleicht sogar 
das allergrößte Glück für die Menschen ist, und doch 
fürchtet man sich vor ihm, als wüßte man ganz genau, 
daß er das größte Übel sei. Und doch, was wäre dies 
anderes als jene verrufene Unwissenheit, die in der Ein- 
bildung besteht zu wissen was man nicht weiß? Dies 
aber, meine Mitbürger, ist der Punkt, in dem ich mich 
auch bei dieser Frage vielleicht von den meisten Men- 
schen unterscheide, und wenn ich wirklich sagen darf, 
ich sei in irgend etwas weiser als ein anderer, so wäre 
das eben darin, daß ich, nicht ausreichend bekannt mit 
den Dingen im Hades, mir auch nicht einbilde, ein 
Wissen davon zu besitzen. Gesetzwidrig handeln aber 
und dem Bessern — er sei nun Gott oder Mensch — 
den Gehorsam zu verweigern, das, weiß ich, ist nichts- 
würdig und schändlich. Niemals also werde ich statt der 
Übel, die ich als solche sicher kenne, Dinge fürchten 


44 Platon. 


oder meiden, von denen ich nicht weiß, ob sie nicht viel- 
leicht für uns ein Glück sind. Setzet einmal den Fall, 
ihr sprächet mich jetzt frei und das sei so zugegangen: 
ihr wäret nicht einverstanden gewesen mit Anytos *?), 
welcher erklärte, entweder hätte ich gar nicht vor Gericht 
gezogen werden dürfen, oder, nachdem dies einmal ge- 
schehen, sei es unumgänglich notwendig mich zum Tode 
zu verurteilen, denn, wie er begründend hinzufügte, wenn 
ich glücklich davonkäme, dann würden euere Söhne in 
tätiger Befolgung der Lehren des Sokrates dem vollen 
Verderben zugeführt werden. Darauf hättet ihr mir er- 
klärt: „Sokrates, jetzt zwar wollen wir dem Anytos nicht 
nachgeben, sondern sprechen dich frei, doch nur unter 
der Bedingung, daß du dich nicht mehr mit dergleichen 
Untersuchungen abgibst und der Weisheitsliebe frönst: 
wirst du dabei ertappt, dann ist dir der Tod gewiß.“ 
Wenn ihr also, wie gesagt, unter dieser Bedingung mich 
freisprächet, so würde ich euch erwidern: „Meine Mit- 
bürger, euere Güte und Freundlichkeit weiß ich sehr zu 
schätzen, gehorchen aber werde ich mehr dem Gotte als 
euch, und solange ich noch Atem und Kraft habe, werde 
ich nicht aufhören der Wahrheit nachzuforschen und euch 
zu mahnen und aufzuklären und jedem von euch, mit dem 
mich der Zufall zusammenführt, in meiner gewohnten 
Weise ins Gewissen zu reden: Wie, mein Bester, du, ein 
Athener, Bürger der größten und durch Geistesbildung 
und Macht hervorragendsten Stadt, schämst dich nicht, 
für möglichste Füllung deines Geldbeutels zu sorgen und 
auf Ruhm und Ehre zu sinnen, aber um Einsicht, Wahr- 
heit und möglichste Besserung deiner Seele kümmerst du 
dich nicht und machst dir darüber keine Sorge? Und 
bestreitet dies einer von euch und versichert, er sorge 
allerdings darum, so werde ich ihn nicht etwa sofort 
gehen lassen und mich entfernen, sondern ich werde ıhn 
ausfragen und prüfen und ins Gebet nehmen, und wenn 
ich den Eindruck gewinne, daß er ungeachtet aller Ver- 
sicherung keine Tugend besitze, so werde ich es an Vor- 


Apologie des Sokrates. 45 


St. würfen nicht fehlen lassen, daß er das Schätzenswerteste 
am geringsten achtet und das Wertlose höher.‘ *®) 

So werde ich’s mit jung und alt halten, wer mir 
auch immer in den Weg kommt, mit Fremden und Ein- 
heimischen, vor allem aber doch mit euch Einheimischen, 
denn ihr steht mir als stammverwandt näher. So näm- 
lich befiehlt es der Gott, dessen könnt ihr gewiß sein. 
Auch glaube ich, daß euch und euerer Stadt nie ein 
größeres Glück beschert worden ist als dieser mein dem 
Gott geweiheter Dienst. Besteht ja doch meine ganze 
Tätigkeit darin, daß ich in beständiger Wanderung euch 
mahne, jung und alt, weder das körperliche Wohl noch 
die Sorge für Hab und Gut höher zu stellen und eifriger 
im Auge zu haben als das Wohl der Seele und ihre 
möglichste Besserung. Denn, so lautet meine Rede, nicht 
aus Reichtum geht die Tugend hervor, sondern aus der 
Tugend der Reichtum **) und alle anderen menschlichen 
Güter im persönlichen wie im öffentlichen Leben. Wenn 
ich nun durch solche Reden die Jugend verderbe, dann 
müssen sie Ja wohl schädlich sein; wenn aber jemand 
sagt, ich lehre anderes als dieses, so ist das null und 
nichtig. Darum, meine Mitbürger, das versichere ich euch: 
folget dem Anytos oder folget ihm nicht, sprechet mich 
frei oder nicht, auf keinen Fall werde ich anders han- 

- deln, und müßte ich noch so oft den Tod über mich Ὁ 
ergehen lassen. 

18. Enthaltet euch, meine Mitbürger, jeder störenden 
Kundgebung und bleibet eingedenk meiner Bitte an euch, 
meine Worte nicht mit Lärm aufzunehmen sondern sie 
anzuhören; ihr werdet, denke ich, es nicht zu bereuen 
haben, wenn ihr ruhig zuhört. Ich habe euch nämlich 
noch einiges andere zu sagen, was euch vielleicht zu 
lärmendem Widerspruch reizen wird; doch lasset euch 
nicht dazu hinreißen. 

So lasset euch denn gesagt sein: Wenn ihr mich 
hinrichtet — und meine Schilderung hat euch gezeigt, 
wer ich bin —, so werdet ihr euch selbst größeren Scha- 


46 Piaton. 


den zufügen als mir: Mir wird Meletos so wenig ge- 
fährlich werden wie Anytos; steht das doch gar nicht 
in seiner Macht; denn es verträgt sich, dächt’ ich, nicht 
mit der göttlichen Weltordnung, daß der bessere Mensch 
von dem schlechteren Leid erfahre. Ja, mich ums Leben 
bringen, mich in die Verbannung treiben, mich der 
Bürgerrechte berauben, das kann er vielleicht; aber das 
mag er wie mancher andere vielleicht für ein großes 
Unglück halten: ich dagegen halte nicht dies für ein 
Übel, sondern weit mehr die Handlungsweise, in der er 
sich jetzt gefällt, indem er es unternimmt ungerechter- 
weise einen Menschen ums Leben zu bringen. 

Daher, meine Mitbürger, bin ich jetzt weit entfernt, 
um meiner selbst willen mich zu verteidigen, wie mancher 
wohl annehmen möchte, vielmehr gilt meine Verteidigung 
euch, um euch zu bewahren vor einer Versündigung an 
dem euch von Gott bescherten Geschenk, indem ihr über 
mich den Tod verhängt. Denn nehmt ihr mir das Leben, 
so werdet ihr nicht leicht einen anderen dieser Art fin- 


den, der, mag es auch lächerlich klingen, der Stadt ge- 


radezu als Zuchtmittel von der Gottheit beigegeben ist, 
als wäre sie ein großes, edles Roß, das aber eben wegen 
seiner Größe zur Trägheit neigt und der Anregung durch 
den Sporn*°) bedarf. So hat denn der Gott auch mich der 
Stadt beigegeben als einen Mann, der nicht müde wird 
euch zu wecken, zu mahnen, zu schelten, kurz, der den 
ganzen Tag euch überall auf dem Nacken sitzt. Ein 
anderer dieser Art wird euch so bald nicht wieder er- 
stehen, meine Mitbürger. Darum, wenn ihr mich hört, 
werdet ihr meiner schonen. Doch wer weiß! Ihr werdet 
vielleicht, ähnlich einem aus dem Schlummer Geweckten, 
in euerem Ärger auf mich losschlagen und vom Anytos 
verleitet mich ohne Bedenken zum Tode verurteilen, um 
dann euer weiteres Leben zu verschlafen, wenn euch nicht 
der Gott aus Erbarmen einen andern zusendet. Daß es 
aber die Gottheit ist, die mich euch als solchen Mahner 
beigegeben, das könnt ihr aus folgendem entnehmen. Es 


Apologie des Sokrates. 47 


sieht doch nämlich nicht wie menschliches Verhalten 
aus, daß ich meine persönlichen Angelegenheiten samt und 
sonders vernachlässigt habe und nun schon so viele Jahre 
der Verkümmerung meines Hauswesens ruhig zusehe, nur 
darauf bedacht, unablässig für euer Wohl tätig zu sein, 
indem ich mich an jeden einzelnen wende und ihm wie 
ein Vater oder ein älterer Bruder ins Gewissen rede, er 
solle sich ja der Tugend befleißigen. Und wenn ich von 
allem dem noch einen Gewinn hätte und meine Mah- 
nungen mir einigen Lohn einbrächten, so wäre mein Ver- 
halten vielleicht begreiflich. So aber seht ihr auch selbst, 
daß die Ankläger, die in allen übrigen Punkten bei 
ihrer Anklage nicht das geringste Schamgefühl zeigen, 
doch es nicht fertigbringen konnten, die schamlose Be- 
hauptung aufzustellen und einen Zeugen dafür beizu- 
bringen, ich hätte jemals mir einen Gewinn verschafft 
oder Bezahlung erbeten. Denn ich habe, denk’ ich, einen 
ausreichenden Zeugen dafür, daß ich die Wahrheit sage. 
Dieser Zeuge, wer ist es? — meine Armut. “ἢ 

19. Vielleicht könntet ihr es sonderbar finden, daß 
ich mit meinen Ratschlägen und meiner Vielgeschäftigkeit 
mich immer nur an einzelne wende, es aber nicht über 
mich gewinnen kann, Öffentlich in der Volksversammlung 
vor euch aufzutreten als Berater des Staates. Der Grund 
. liegt in einer Erscheinung, über die ihr mich oft genug . 
habt sprechen hören. Es ist dies ein gewisses göttliches 
und dämonisches Zeichen‘), was ja auch Meletos in 
seiner Klageschrift ins Lächerliche gezogen hat. Mich 
hat diese Erscheinung schon gleich von Kindheit auf 
begleitet: es ist eine Stimme, die sich immer nur in ab- 
mahnendem Sinne vernehmen läßt, um mich von einem 
Vorhaben abzubringen, niemals aber in zuredendem Sinne. 
Das ist es, was mich der staatlichen Tätigkeit fernhält. 
Und es scheint mir ein wahrer Segen, daß es das tut. 
Denn glaubet mir, meine Mitbürger: hätte ich schon 
frühzeitig mich mit politischen Angelegenheiten befaßt, 
dann wäre es längst mit mir vorbei, und ich hätte weder 


48 Platon. 


euch noch mir irgendwelche nützlichen Dienste erweisen 
können. Seid mir nicht gram, wenn ich euch die Wahr- 
heit sage: kein Mensch ist seines Lebens sicher, der euch 
oder einer anderen Volksmenge offen und ehrlich ent- 
gegentritt und allerlei Unrecht und Gesetzwidrigkeit im 
Staate zu verhindern sucht, sondern wer wirklich ein 
Vorkämpfer des Rechtes sein will, der muß, um auch 
nur kurze Zeit sein Leben zu fristen, schlechterdings sich 
auf den Einzelverkehr beschränken und auf die Beteili- 
gung an den Öffentlichen Angelegenheiten verzichten. 

20. Für diese Behauptungen will ich euch schlagende 
Beweise anführen, nicht Worte, sondern, worauf ihr so 
großes Gewicht legt, Tatsachen. Vernehmet also, was 
mir begegnet ist, um euch zu überzeugen, daß ich dem 
Rechte zuwider vor niemandem, er sei wer er wolle, zu- 
rückweichen werde aus Furcht vor dem Tode, mag dieser 
mir auch noch so stark drohen für den Fall, daß ich eben 
nicht nachgebe. Was ich euch vortragen werde, ist ärger- 
licher und unerquicklicher Art*°), aber es ist die Wahr- 
heit. Ich habe, meine Mitbürger, niemals eine andere 
amtliche Stellung im Staate bekleidet als die eines Rats- 
herrn.*”) Meine Phyle, die Antiochis, hatte gerade die 
Leitung der Geschäfte, als ihr die zehn Feldherren, die 
sich nicht um Rettung der Schiffbrüchigen nach der 
Seeschlacht (bei den Arginusen) bemüht hatten, alle 
zumal aburteilen wolltet, in ungesetzlichem Verfahren, 
wie ihr späterhin alle selbst erkanntet. Damals war ich 
der einzige Prytane, der sich gegen dieses gesetzwidrige 
Verfahren erklärte 55, und obschon die Stimmfübrer 
drauf und dran waren, meine Verhaftung und Abführung 
durchzusetzen, und ihr lärmend beistimmtet, glaubte ich 
doch lieber im Bunde mit Gesetz und Recht allen Ge- 
fahren trotzen zu müssen als aus Furcht vor Gefängnis 
oder Tod mich euch und eueren widergesetzlichen Be- 
schlüssen anzuschließen. Diese Vorgänge fallen in die 
Zeit, wo der Staat noch eine demokratische Verfassung 
hatte. 


ann 


Apologie des Sokrates, 49 


Als aber die Wendung zur Oligarchie eingetreten 
war, ließen die Dreißig mich nebst vier anderen in ihr 
Amtslokal (Tholos) kommen und gaben uns den Befehl, 
aus Salamis den dort heimischen Leon zur Stelle zu schaf- 
fen®®), um ihn hinzurichten, wie sie denn auch vielen 
anderen häufig derartige Befehle erteilten in der Absicht, 
möglichst viele zu ihren Mitschuldigen zu machen. Da- 
mals, darf ich sagen, habe ich nicht durch Worte, son- 
dern durch die Tat bewiesen, daß ich mich, derb her- 
ausgesagt, keinen Deut um den Tod kümmere, dagegen 
auf nichts mehr halte als darauf, nichts Ungerechtes und 
Sündhaftes zu begehen. Denn selbst jenes Schreckens- 
regiment konnte mich trotz all seiner Macht nicht dazu 
bringen, ein Unrecht zu begehen; nein, sobald wir die 
Amtsstätte verlassen hatten, machten sich die vieranderen 
alsbald auf nach Salamis und holten den Leon, ich aber 
eilte flugs wieder in meine Wohnung. Und wer weiß, 
ob ich nicht darüber mein Leben eingebüßt hätte, wenn 
jenes Regiment nicht über Nacht gestürzt worden wäre. 
Und diesen Vorgang werden mir viele von euch°®) be- 
stätigen können. 

21. Meint ihr nun wohl, ich hätte so viele Jahre 
durchhalten können, wenn ich mich der staatlichen Tätig- 
keit gewidmet und dabei als redlicher Mann mich immer 


zum Verfechter des Rechtes gemacht und darin, wie es 


P 
ἦτ 


sıch gehört, meine höchste Aufgabe erkannt hätte? Weit 
gefehlt, meine Mitbürger. Und wäre es bei einem anderen 


. Menschen etwa anders gewesen? 


Von mir wird man denn den Eindruck haben, daß 
ich mein lebelang immer der gleiche geblieben bin, 
sowohl was meine gelegentliche öffentliche Tätigkeit an- 
langt, wie in meinen persönlichen Angelegenheiten: nie- 
mals habe ich irgendeinem auch nur das Geringste wider 
das Recht eingeräumt, und dabei denke ich nicht bloß an 
die Bürger im allgemeinen, sondern auch an diejenigen, 
welche meine Verleumder als meine Schüler hinstellen. °?) 
Ich aber bin niemals jemandes. Lehrer gewesen. Wohl 

Platon Apologie und Kriton. Phil. Bibl. Bd. 180. | 4 


50 Platon. 


aber habe ich, wenn jemand Verlangen trug mich reden zu 
hören, in Ausübung meines eigenartigen Berufes mich 
niemals jemandem, gleichviel ob jung oder alt, versagt, 
auch verstehe ich mich zu solchen Unterhaltungen nicht 
etwa nur, wenn man mich dafür bezahlt, sonst aber nicht; 
nein, ob reich oder arm, ich lasse mich fragen, und wer 
will, kann antworten und hören was ich sage. Und ob 
nun ein solcher Frager ein tüchtiger Mann wird oder 
nicht, dafür bin billigerweise nicht ich verantwortlich, 
denn ich habe ja nie irgendeinem Unterricht versprochen 
oder erteilt, und behauptet etwa jemand, er habe von mir 
jemals beiseits etwas gelernt oder gehört, was nicht auch 
alle anderen hören konnten, so könnt ihr ee sein, 
daß er die Unwahrheit sagt. 

22. Aber wie kommt es, daß manche so lange Zeit 
gern mit mir Umgang pflegen? Ihr habt’s schon ge- 
hört°*), meine Mitbürger; ich habe euch die volle Wahr- 
heit gesagt: es macht ihnen Vergnügen zuzuhören, wenn 
die Leute ins Gebet genommen werden, die sich ein- 
bilden, weise zu sein, es aber nicht sind; denn das hat 
einen gewissen Reiz. Mir aber ist, wie gesagt, diese Auf- 
gabe von der Gottheit zugewiesen durch Orakel, durch 
Träume und durch alle möglichen Zeichen, durch welche 
der göttliche Wille U ae dem Menschen kundgegeben 
wird. 

Dies, meine Mitbürger, ist wahr und ist leicht zu 
erweisen. Wenn ich wirklich die jungen Leute teils 
verderbe teils verdorben habe, so müßten doch wohl einige 
ältere von ihnen, die nun in reiferen Jahren erkannt 
hätten, daß ich ihnen in ihrer Jugend irgend einmal 
einen verderblichen Rat erteilte, jetzt entweder selbst hier 
auftreten, um mich anzuklagen und Vergeltung zu üben, 
oder, falls sie sich dazu nicht verstehen wollten, dann 
müßte irgendeiner aus ihrer Verwandtschaft, Vater, Bru- 
der oder wer sonst von den Angehörigen, wenn ihren 
Verwandten von mir irgend etwas Schlimmes widerfahren, 
jetzt dessen eingedenk sein. Wirklich sind auch viele 


84 St. 


Apologie des Sokrates. 51 


von ihnen hier zur Stelle: ich sehe zunächst da den 
Kriton°®), meinen Alters- und Stammesgenossen, den Vater 
des Kritobulos dort; dann den Sphettier Lysanias, dort den 
Vater des Äschines; ferner den Antiphon hier, den Ke- 
phisier, des Epigenes Vater. Sodann andere, deren Brü- 
der in der geschilderten Art mit mir Umgang gepflogen, 
Nikostratos, des Theozotides Sohn, Bruder des Theo- 
dotos — und zwar ist Theodotos tot, der ihn also gewiß 
nicht zu meinen Gunsten beeinflußt haben kann — und 
hier Paralos, des Demodokos Sohn, dessen Bruder Theages 
war; dort auch Adeimantos, des Ariston Sohn, und sein 
Bruder, dieser Platon da, und Aiantodoros, von welchem 
Apollodoros dort ein Bruder ist. Und noch viele andere 
könnte ich euch nennen, von denen Meletos doch wenig- 
stens den einen oder den anderen in seiner Rede hätte 
als Zeugen anführen sollen. Hat er es aber bei jener Ge- 
legenheit vergessen, so hole er es jetzt nach — ich gebe 
ihm gern die Möglichkeit dazu?®) — und mache die ent- 
sprechenden Angaben darüber. Aber das gerade Gegen- 
teil findet statt: ihr findet, meine Mitbürger, sie sämt- 
lich bereit mir zur Seite zu stehen, mir, ihrem Verführer, 
der ihren Verwandten Böses angetan hat, wie Meletos 
und Anytos sagen. Die Verführten selbst könnten ja 
einen Grund haben, mir beizustehen; aber die nicht ver- 
führten, schon reiferen Männer, ihre Verwandten, welchen 
anderen Grund hätten sie wohl mir beizustehen als einzig 
den gerechten und billigen, daß sie wissen: Meletos lügt 
und ich sage die Wahrheit. 

23. Gut denn, meine Mitbürger. Was ich zu meiner 
Verteidigung vorzubringen habe, wäre etwa dies, wenn 
sich vielleicht auch noch ein oder das andere ähnlicher 
Art hinzufügen ließe. Vielleicht aber wird nun mancher 
von euch ungehalten sein, wenn er an sich selber zurück- 
denkt, wie er als Angeklagter in irgendeinem weit un- 
bedeutenderen Prozeß als diesem die Richter mit den in- 
ständigsten Bitten bestürmt hat unter einem Strome von 
Tränen und unter Hinweis auf seine eigens zu dem 

- 4* 


52 Platon. 


Zwecke der heftigsten Mitleidserregung mitgebrachten 
Kinder und seine sonstigen Verwandten und zahlreichen 
Freunde, während ich alle diese Mittel der Rührung ver- 
schmähe und dies in einer Lage, die allem Anschein nach 
die äußerste Gefahr in sich birgt. Wer weiß, ob nicht 
mancher, von solchen Gedanken erfüllt, sich in seiner 
Selbstgefälligkeit gegen mich gereizt fühlt und eben da- 
durch zur Erbitterung gegen mich hingerissen bei der 
Abstimmung sich von seinem Zorne reizen läßt. Sollte 
nun einer von euch so gesinnt sein — Ich glaube es zwar 
nicht, sollte es aber der Fall sein —, so dürften meines 
Erachtens folgende Worte gegen ihn am Platze sein: Mein 
Bester, ich habe auch wohl einige Verwandte, denn auch 
hier gilt das Wort Homers?’”), auch ich stamme nicht 


Vom Baume oder dem Felsen 


sondern von Menschen, auch ich habe also Verwandte 
und Söhne, meine Mitbürger, und zwar drei, einer schon 
ein Jüngling, zwei aber noch Kinder.°®) Doch gleichwohl 
habe ich keines von ihnen hierherbringen lassen, um mir 
unter Hinweis auf sie ein freisprechendes Urteil zu er- 
flehen. 

Und warum werde ich nichts dergleichen tun? Nicht 
aus übertriebenem Selbstgefühl oder aus Mißachtung 
gegen euch, meine Mitbürger, nein! Aber ganz abgesehen 
davon, ob ich den Tod verachte oder nicht — denn das 
ist eine andere Frage — erscheint es mir in Rücksicht 
auf den guten Ruf als eine Forderung des Anstandes 
an mich, an euch und an den ganzen Staat, daß ich mich 
nicht auf dergleichen Unfug einlasse, ich, ein Mann von 
so hohen Jahren und so bekanntem Namen, mag es auch 
mit diesem Namen, was seine Berechtigung anlangt, 
stehen wie es wolle; aber es ist nun einmal die fest- 
stehende Meinung: daß Sokrates vor den andern Menschen 
etwas voraus habe. Wenn also diejenigen unter euch, 
die in dem Rufe hervorragender Weisheit oder Tapfer- 
keit oder irgendwelcher sonstigen Tugend stehen, sich 


= 
ΡΥ 


Apologie des Sokrates. 53 


von dieser Seite zeigen, so ist das eine Schande. So habe 
ich oft genug gesehen, wie Leute von hervorragendem 
Ruf sich vor den Richtern ganz sonderbar anstellten, 
als meinten sie wer weiß welchen Schrecknissen preis- 
gegeben zu werden, wenn sie sterben müßten, geradeso 
als ob sie der Unsterblichkeit sicher wären, wenn ihr sie 
nicht zum Tode verurteiltet. Sie drücken, so dünkt mich, 
dem Staate ein Schandmal auf, und es könnte dann auch 
ein Fremder meinen, die an Tüchtigkeit hervorragenden 
Athener, denen ıhre Mitbürger selbst vor sich den Vor- 
zug geben bei Wahl der Obrigkeiten und Verteilung 
sonstiger Auszeichnungen, unterschieden sich nicht von 
den Weibern. Solches Verhalten also, meine Mitbürger, 
dürfen weder wir zeigen, die wir etwas in der Welt 
gelten, noch dürft ihr, wenn wir uns dessen schuldig 
machen, es zulassen; vielmehr müßt ihr gerade darauf 
Wert legen zu zeigen, daß ihr weit eher den verurteilt, 
der solche Rührszenen vor euch aufführt und die Stadt 
lächerlich macht, als den, der Ruhe und Anstand be- 
wahrt. 

24. Aber auch abgesehen von dem guten Ruf, meine 
Mitbürger, scheint es mir auch schon vom Standpunkte 
des strengen Rechtes verwerflich, die Gnade des Richters 
anzuflehen und durch Bitten die Freisprechung zu er- 
‘ wirken statt durch belehrende und überzeugende Auf- 
klärung. Denn nicht dazu hat der Richter seinen Platz 
eingenommen, um nach Gunst des Rechtes zu walten, 
sondern um unparteiisch den Sachverhalt festzustellen. 
Und durch seinen Richtereid hat er sich nicht verpflichtet, 
sich dem, dem er nach Gutdünken sein Wohlwollen 
schenkt, gnädig zu erweisen sondern sein Richteramt 
streng nach den Gesetzen auszuüben. Also weder wir 
dürfen euch daran gewöhnen, meineidig zu werden, noch 
dürft ihr euch daran gewöhnen: beide würden wir uns 
dadurch den Vorwurf der Gottlosigkeit zuziehen. Mutet 
mir also, meine Mitbürger, gegen euch nicht eine Art des 
Auftretens zu, die ich weder für ehrenhaft noch für ge- 


54 Platon. 


recht noch für fromm halte, zumal da ich, dem Himmel 
seis geklagt, vom Meletos hier der Gottesleugnung ge- 
ziehen werde. Denn kein Zweifel: wenn ich euch, die 
ihr durch euren Eid gebunden seid, durch berückende 
Rede auf meine Seite brächte und durch Bitten einen 
Druck auf euch ausübte, so würde ich euch ja lehren, 
nicht an das Dasein von Göttern zu glauben, und würde 
durch meine Verteidigung mich recht eigentlich selbst 
beschuldigen, daß ich nicht an Götter glaube. Aber das 
sei ferne von mir. Denn ich glaube an sie so fest, meine 
Mitbürger, wie keiner meiner Ankläger, und ich stelle es 
euch und der Gottheit anheim über mich zu richten, 
wie es sowohl für mich am besten sein wird wie auch 
für euch. °?) 


Nach der Verurteilung. 


25. Wenn ich nicht ungehalten bin, meine Mitbürger, 
über das von euch gefällte Verdammungsurteil, so hat 
das, abgesehen von manchen anderen Umständen, seinen 
Grund besonders darin, daß mir dies Urteil nicht un- 
erwartet gekommen ist; nein, weit eher wundere ich 
mich über die Zahl der Stimmen, die sich nach beiden 
Seiten hin ergeben haben. Denn ich hatte nicht auf einen 
so geringen Unterschied gerechnet sondern auf einen 
weit größeren. So aber hätten nur dreißig Stimmen 
anders fallen müssen, dann wäre ich freigekommen.°®) 
Zwar dem Meletos gegenüber bin ich meiner Ansicht nach 
auch so freigesprochen, und nicht nur dies, sondern es ist 
jedermann klar, daß, wenn nicht Anytos und Lykon als 
Ankläger gegen mich aufgetreten wären, er zu einer 
Geldbuße von tausend Drachmen verurteilt worden wäre, 
da er dann noch nicht den fünften Teil der Stimmen 
erlangt hätte.°!) | 

26. Der Kläger trägt auf Tod gegen mich an. Gut. 
Ich aber, welchen Gegenantrag soll ich, meine Mitbürger, 
stellen? Offenbar doch den Antrag auf die verdiente 
Strafe. Wie also? Was für eine Strafe oder Buße habe 


& 


6 


Apologie des Sokrates. 55 


ich dafür verdient, daß ich es mir beikommen ließ, mein 
lebelang nicht der Ruhe zu pflegen, sondern im Gegen- 
satz zu der großen Menge, unbekümmert um Gelderwerb, 
Hauswirtschaft, Heerführer- und Rednertätigkeit und son- 
stige amtliche Tätigkeit, um Geheimbünde, um Parteiungen, 
wie sie das Öffentliche Leben mit sich bringt — denn 
ich hielt mich in der Tat für zu gut, um mich meiner per- 
sönlichen Sicherheit zuliebe auf dergleichen einzulassen —, 
daß ich also unbekümmert um all dies einen Weg ver- 
schmähte, auf dem ich weder euch noch mir selbst irgend- 
welche ersprießlichen Dienste hätte leisten können? Da- 
für wählte ich einen anderen Weg: ich wandte mich per- 
sönlich jedem einzelnen zu, um ihm die meiner Meinung 
nach größte Wohltat zu erweisen; ich bemühte mich näm- 
lich, einem jeden von euch die Überzeugung beizubringen, 
daß er unrecht täte sich eher um sein Hab und Gut 
zu bekümmern als um sich selber und um die möglichste 
Förderung seiner sittlichen und geistigen Bildung. Eben- 
sowenig dürfe er eher Sorge tragen für die Angelegen- 
heiten des Staates als für den Staat selber und ebenso 
müsse er es in allen übrigen Dingen halten. Was soll mir 
nun verdientermaßen bei einer solchen Sinnesart wider- 
fahren? Etwas Gutes, meine Mitbürger, wenn der An- 
trag in Wahrheit dem Verdienste entsprechend gestellt 
werden soll, und zwar muß dies Gute von der Art sein, 
daß es auf meine Verhältnisse paßt. Was aber ist nun 
passend für einen Mann, einen Wohltäter euerer Stadt, 
der der Muße bedarf für seinen Beruf euch aufzurütteln 
und zu mahnen? Ich wüßte nicht, meine Mitbürger, was 
für einen solchen Mann passender wäre als die Speisung 
ım Prytaneion (Rathaus)°”); für ihn ist sie weit mehr 
angebracht als für Mitbürger von euch, die in Olympia 
mit dem Rennpferd oder dem Zweigespann oder dem Vier- 
gespann gesiegt haben. Denn diese verschaffen euch nur 
ein scheinbares Glück, ich dagegen ein wirkliches und 
echtes; auch bedürfen sie keiner Versorgung, ich aber 
bedarf ihrer. Soll ich also meinen Antrag stellen ent- 


56 F-jaton. 


sprechend dem, worauf ich rechtlichen Anspruch habe, so 
beantrage ich Speisung im Prytaneion. 

27. Vielleicht werden diese Worte einen ähnlichen 
Eindruck auf euch machen wie meine Äußerungen über 
die Mitleidserregung und das Flehen um Schonung, den 
Eindruck nämlich der Selbstüberhebung. Aber von Hoch- 
mut kann hier gar nicht die Rede sein, vielmehr steht es 
damit folgendermaßen. Ich bin überzeugt, daß ich nie- 
mandem vorsätzlich unrecht tue. Euch freilich überzeuge 
ich davon nicht, weil die Zeit gegenseitiger Aussprache 
für uns zu kurz war.°®) Denn es will mich bedünken, 
wenn bei euch die Bestimmung bestünde wie anderwärts, 
über Tod und Leben nicht bloß einen Tag zu Gericht zu 
sitzen sondern mehrere Tage‘), dann wäret ihr wohl 
überzeugt worden. So aber, bei so kurzer Zeit, ist es nicht 
leicht, sich von schweren Verleumdungen rein zu waschen. 
Überzeugt also, wie ich bin, niemandem unrecht zu tun, 
weise ich es weit von mir, mir selbst unrecht zu tun 
und mir selbst das Zeugnis auszustellen, irgendwelche 


37 St 


Strafe zu verdienen und einen dementsprechenden An- 


trag gegen mich selbst zu stellen. Welche Furcht “Ὁ 
sollte mich auch dazu treiben? Etwa, daß mich die Strafe 
trifft, die Meletos gegen mich beantragt, von der ich, wie 
gesagt, nicht weiß, ob sie ein Glück oder ein Unglück 
ist? Statt dessen sollte ich es mir einfallen lassen, etwas 
zu wählen, was, wie ich sicher weiß, ein Unglück ist? 
Worauf also sollte ich denn antragen? Etwa auf Ge- 
fängnis? Was soll mir das Leben im Gefängnis, wo ich 
nichts bin als der Sklave der jedesmaligen Behörde, der 
Elfmänner®®) nämlich’? Oder auf eine Geldstrafe und 
(Gefängnis bis zu ihrer Abzahlung? Aber das käme für 
mich auf dasselbe hinaus wie das vorige; denn ich habe 
keine Geldmittel, um die Schuld abzutragen. Oder soll 
ich den Antrag auf Verbannung stellen? Vielleicht näm- 
lich würdet ihr diesem Antrag beistimmen. Ich müßte 
doch wahrlich von einem unbändigen Lebensdrang beseeit 
sein, wenn ich so unvernünftig wäre, mir nicht folgende 


St. 


Apologie Jes Sokrates. 57 


Frage vorzulegen: „Euch, meinen Mitbürgern, war mein 
Treiben und Reden schon unerträglich; ıhr fandet es 
lästig und anstößig, so daß ihr jetzt trachtet, es los zu 
werden — und nun sollen fremde Leute sich leicht darein 
finden?“ Nun und nimmermehr, meine Mitbürger! Das 
wäre ein schönes Leben für einen Mann in meinen Jahren, 
in der Fremde zu weilen, von einer Stadt zur andern 
wandernd und nirgends geduldet. Denn glaubt mir, ich 
mag kommen wohin ich will, überall werden die jungen 
Leute mir zuhören, geradeso wie hier. Weise ich sie 
ab, so werden sie mich wegtreiben unter Beistand der 
für ihre Sache gewonnenen älteren Leute. Weise ich 
sie aber nicht ab, dann werden dies eben um ihretwillen 
ihre Eltern und Angehörigen tun. 

28. Nun könnte man vielleicht einwenden: „Aber 
Sokrates, könntest du es nicht über dich gewinnen schwei- 
gend und in Ruhe in der Fremde zu leben?“ Das ist der 
Punkt, den es am allerschwierigsten ist euch begreiflich 
zu machen. Sage ich nämlich, dies sei nichts anderes als 
Ungehorsam gegen die Gottheit und deshalb sei es mir 
unmöglich, mich still zu verhalten, so werdet ihr mir das 
nicht glauben als einem, der mit seiner wahren Meinung 
hinter dem Berge hält. Sage ich aber, daß es das größte 
Glück für den Menschen ist, sich Tag für Tag über die 


. Tugend zu unterhalten und über die weiteren Fragen, 


über die ihr mich reden hört als einen Prüfer und Er- 
forscher sowohl meiner selbst wie anderer, und daß ein 
Leben ohne Prüfung und Erforschung nicht lebenswert 
sei, so werdet ihr dieser meiner Rede noch weniger Glau- 
ben schenken. Es ist so wie ich sage, meine Mitbürger, 
aber es euch glaublich zu machen ist keine leichte Sache. 
Dazu kommt noch, daß ich nicht gewohnt bin, mir irgend 
etwas Schlimmes gegen mich selbst zuzumuten. Hätte ich 
nämlich Geld, so würde ich auf eine Strafsumme antragen, 
die ıch zahlen könnte, denn das würde ich nicht als 
Schädigung empfinden. So aber habe ich keines, ihr 
müßtet denn euere Forderung auf das wenige beschrän- 


583 Platon. 


ken, was ich zu zahlen imstande wäre; und das wäre etwa 
eine Mine Silber. So viel also beantrage ich. Platon aber 
hier, meine Mitbürger, und Kriton und Kritobulos und 
Apollodoros fordern mich auf, dreißig Minen zu bean- 
tragen, wofür sie selbst Bürgen sein wollen. So viel also 
beantrage ich, und diese Männer hier werden euch zu- 
verlässige Bürgen für diese Geldsumme sein. ”) | 


Nach der Strafbestimmung. 


29. Eine kurze Spanne Zeit ist es, meine athenischen 
Mitbürger, die mir ohne das von euch über mich ver- 
hängte Todesurteil noch zu leben vergönnt gewesen wäre. 
Um. dieser kurzen Zeit willen aber werdet ihr zu trauriger 
Berühmtheit gelangen und starken Beschuldigungen aus- 
gesetzt sein von seiten der schmähsüchtigen Gegner unse- 
rer Stadt, darüber, daß ıhr den Sokrates umgebracht habt, 
einen weisen Mann. Ja, einen weisen Mann werden sie 
mich nennen, wenn ich es auch nicht bin, sie, die euch 
lästern wollen. Hättet ihr nur ein kleines Weilchen 
warten wollen, so wäre euch euer Wunsch von selbst 
erfüllt worden. Denn ihr seht mir ja doch an, wie weit 
in meinen Jahren ich vorgerückt, wie nahe dem Tode 
ich bin. Doch das sage ich nicht zu euch allen sondern 
nur zu denen, die mich zum Tode verurteilt haben. Und 
an ebendiese richte ich noch die folgenden Worte: 

„Vielleicht glaubt ihr, meine Mitbürger, den Grund 
meiner Verurteilung in dem Mangel an Redebereitschaft 
finden zu müssen, durch die ich euch hätte umstimmen 
können, wenn ich entschlossen gewesen wäre alle Mit*el 
der Tat und des Wortes aufzubieten, um den Freispruch 
zu erwirken. Weit gefehlt! Ein Mangel war es aller- 
dings, der meine Verurteilung herbeiführte, aber nicht 
an Worten sondern an Dreistigkeit und Schamlosigkeit 
und an dem Willen, mit rednerischen Mitteln auf euch 
zu wirken, die eueren Ohren die liebsten sind: ich hätte 
mich aufs Wehklagen und Jammern legen und mich in 
Wort und Tat zu noch gar manchen Dingen verstehen 


Apologie des Sokrates. 59 


müssen, die meiner nicht würdig sind, wie ich behaupte, 
Dinge, die ihr freilich von den anderen zu hören ge- 
wohnt seid. Allein weder bei der Verteidigung selbst 
glaubte ich mir irgend etwas Unehrenhaftes erlauben 
zu dürfen zur Abwendung der Gefahr, noch auch gereut 
es mich jetzt, mich so verteidigt zu haben; nein, weit 
lieber will ich durch eine solche Verteidigung dem Tode 
geweiht sein als mir durch eine Verteidigung von jener 
Art das Leben erkaufen. Denn weder vor Gericht noch 
im Kriege, es handle sich nun um mich oder irgendeinen 
anderen, verträgt es sich mit der Ehre, nichts unversucht 


. zu lassen, um nur ja dem Tode zu entgehen. Denn auch, 


was die Schlachten anlangt, so zeigt sich oft deutlich 
genug, daß sich da mancher dem Tode entziehen kann 
durch Wegwerfen der Waffen sowie dadurch, daß man 
die Verfolger um Gnade anfleht. Und so gibt es noch 
gar mancherlei andere Mittel in jeder Art von Gefahr; 
kurz, man kann so dem Tode entfliehen, wenn man vor 
nichts Unehrenhaftem zurückscheut in Wort und Tat. 
Nein, meine Mitbürger, dem Tode zu entgehen, ist, denk’ 
ich, nicht schwer, weit schwerer dagegen ist es, der 
Schlechtigkeit zu entgehen; denn sie läuft schneller als 
der Tod. So bin denn auch ich jetzt als langsamer alter 
Mann von dem Langsameren (unter jenen beiden) ein- 


geholt worden, meine Ankläger dagegen, rüstige und 


flinke Leute, von dem Schnelleren (unter jenen beiden), 
von der Schlechtigkeit. Und so scheide ich denn jetzt 
von euch, des Todes schuldig erklärt von euch, sie aber 
der Niederträchtigkeit und Ungerechtigkeit überführt von 
der Wahrheit. Und ich belasse es bei diesem Spruch wie 
auch jene. Wer weiß denn: vielleicht sollte es so kommen, 
und ich glaube, es ist gut so.“ 

30. „Nun möchte ieh noch einen Blick in die Zukunft 
tun und euch, die ihr mich verurteilt habt, die euere 
voraussagen. Denn ich stehe bereits auf dem Punkte, 
wo die Menschen vornehmlich zu Weissagern werden, 
wenn sie nämlich unmittelbar an der Schwelle des Todes 


60 Platon. 


stehen.°®) So verkünde ich euch denn, ihr Männer, die 
ihr mich hingerichtet habt: es wird alsbald nach meinem 
Tode eine Strafe, eine weit schwerere, beim Zeus, über 
euch kommen, als ihr sie über mich durch das Todesurteil 
verhängt habt. Denn jetzt habt ihr das getan in dem 
Wahn, ıhr würdet nicht Rechenschaft geben müssen über 
euer Leben; es wird aber, so behaupte ich, sich ganz 
das Gegenteil davon für euch ergeben. Die Zahlderer, die 
von euch Rechenschaft fordern, wird größer werden: bisher 
habe ich sie zurückgehalten, ohne daß ihr es gewahr 
wurdet. Sie werden euch um so gefährlicher werden, 
je Jünger sie sind, und ihr werdet um so größeren Ärger 
davon haben. Wenn ihr nämlich glaubt, durch Hinrich- 
tung von Menschen den Schmähungen gegen eueren un- 
lauteren Lebenswandel Einhalt zu tun, so seid ihr im 
Irrtum. Denn ein solches Befreiungsmittel ist weder 
leicht möglich noch ehrenhaft, vielmehr ist das schönste 
und zugleich leichteste Mittei dies, nicht anderen das 
Dasein unmöglich zu machen sondern nach Kräften an 


der eigenen sittlichen Besserung zu arbeiten. Dies ist 


es, was ich euch, meinen Gegnern vor Grericht, weissage, 
und damit scheide ich von euch.“ 

31. Mit denen aber, die mich freigesprochen haben, 
möchte ich gerne noch ein Wort reden über die hier 
soeben erlebten Vorgänge, solange die Behörden noch 
durch ihre Geschäfte in Anspruch genommen sind und 
ich noch nicht nach meiner baldigen Todesstätte mich be- 
geben muß. Ich bitte also, ihr Männer, verweilet noch 
so lange. Es hindert ja nichts, uns miteinander zu unter- 
halten, solange es erlaubt ist. Denn euch als meinen 
Freunden will ich die eigentliche Bedeutung dessen, was 
mir heute widerfahren ist, dartun. Mir ist nämlich, ıhr 
Richter®) — denn euch darf ich mit Fug und Recht 
Richter nennen — etwas ganz Sonderbares begegnet. Die 
gewohnte prophetische Stimme, die dämonische °®), war 
in der ganzen letzten Zeit immer sehr rege und warnte 
mich auch bei ganz geringen Anlässen, wo ich etwa im 


40 | 


Apologie des Sokrates, 61 


Begriffe war, das Rechte zu verfehlen. Eben jetzt aber 
ist mir doch, wie ihr selbst seht, etwas widerfahren, was 
man wohl für der Übel größtes halten dürfte, wofür es 
denn auch allgemein gilt. Gleichwohl trat das göttliche 
Zeichen mir weder heute früh beim Verlassen meiner 
Wohnung warnend entgegen, noch bei meinem Gange 
hierher auf das Gericht, noch an irgendwelcher Stelle 
meiner Rede, wenn mir etwas auf der Zunge lag; und 
doch hat es bei anderen Gelegenheiten mich oft mitten im 
Satze aufgehalten. Heute aber ist es mir während des 
ganzen gerichtlichen Vorganges nirgends entgegengetreten 
weder bei meinem Tun noch bei meinen Reden. Was ich 
mir nun als Grund dafür denke? Ich will es euch sagen: 
was mir widerfahren, ist allem Vermuten nach ein Glück, 
und unmöglich können wir recht haben mit unserem 
Glauben, der Tod sei ein Unglück. Ich habe den schla- 
genden Beweis für diese Behauptung: unmöglich konnte 
mir das gewohnte Warnungszeichen ausbleiben, wenn 
mein Vorhaben nicht ein glückliches gewesen wäre. 
32. Auch von folgender Seite her wollen wir uns 
klarmachen, wieviel Ursache wir haben zu hoffen, daß 
der Tod ein Glück sei. Eines von zweien nämlich ist 
das Totsein: entweder ist es eine Art Nichtsein, so daß 
der Tote keinerlei Empfindung hat von irgend etwas, 
.oder es ist, wie der Volksmund sagt, eine Art Ver- 
pflanzung und Übersiedelung der Seele von hier nach 
einem anderen Ort. Im ersten Falle nun, wo von Emp- 
findung nicht mehr die Rede ist, sondern von einer Art 
Schlaf, der so tief ist, daß dem Schlafenden nicht ein- 
mal irgendein Traumbild erscheint, wäre der Tod ein 
wunderbarer Gewinn. Denn ich glaube, wenn einer eine 
solche Nacht, die ihm einen völlig traumlosen Schlaf 
gebracht hat, auswählte und ihr die übrigen Nächte und 
Tage seines Lebens gegenüberstellen müßte, um zu ent- 
scheiden, wie viele Tage und Nächte in seinem Leben er 
glücklicher verbracht habe als diese Nacht — ich glaube, 
dann wird nicht etwa bloßeinMann gewöhnlichen Schlages 


62 Platon. 


Sondern der Großkönig in eigener Person finden, daß 
diese sich sehr leicht zählen lassen im Vergleich zu den 


anderen Tagen und Nächten. Ist also der Tod von dieser 


Art, so nenne ich ihn einen Gewinn; denn die ganze 
Ewigkeit scheint dann eben nichts weiter zu sein als 
eine einzige solche Nacht. Ist aber der Tod gleichsam 
eine Art Auswanderung von hier nach einem anderen 
Ort und hat es mit dem, was der Volksmund sagt, seine 
Richtigkeit, daß dort alle Verstorbenen weilen, was gäbe 
es dann, ihr Richter, für ein größeres Glück als dieses? 
Denn findet einer bei seiner Ankunft im Hades, erlöst 
von diesen sogenannten Richtern, die wahren Richter, die 
dort, wie es heißt, Recht sprechen, Minos, Rhadamanthys, 
Aıakos und Triptolemos‘!) nebst den anderen Heroen, 
die ein rechtschaffenes Leben geführt haben, wäre das 
etwa eine Verschlechterung unserer Aufenthaltsstätte? 
Oder aber mit Orpheus, Musaios, Hesiod und Homer zu 
verkehren, wieviel würde mancher von euch dafür geben! 
Ich wenigstens wollte gern oftmals des Todes sein, wenn 
dem so ist. Ja, für mich hätte der Aufenthalt dort noch 
seinen ganz besonderen Zauber: denn wenn ich dann 
etwa dem Palamedes”??) begegnete und dem Telamonier 
Aıas oder wer sonst von den alten Helden durch un- 
gerechten Richterspruch den Tod gefunden, so wäre es 
für mich eine wahre Wonne, mein Geschick mit dem 
ihren zu vergleichen. Und dann noch die Hauptsache: 
seine Aufgabe darin zu sehen, daß man die dort Weı- 
lenden ausforsche und prüfe wie die Menschen hier auf 
Erden, wer von ihnen weise sei und wer es zu sein 
glaube, ohne es doch zu sein. Wieviel gäbe mancher dar- 
um, wenn er die Führer des großen Heeres vor Troja 
oder den Odysseus oder den Sisyphos‘?) oder tausend 
andere, die zu nennen wären, Männer und Frauen, ver- 
hören könnte! Mit ihnen dort sich zu unterhalten und 
zu verkehren und sie auszuforschen, welches überschweng- 
liche Glück wäre das. Und so viel wenigstens ist doch 
ganz sicher: dort verhängt man nicht wegen solcher Unter- 


mr 


Apologie des Sokrater. 63 


redungen die Todesstrafe. Denn wie in anderer Beziehung 
so sind auch darin die dort Weilenden glücklicher als 
die Erdenkinder hier, daß sie die ganze weitere Zeit hin- 
durch unsterblich sind, wenn der Volksmund recht hat. 

33. Aber auch ihr, meine Richter, sollt dem "Tode 
mit froher Hoffnung ins Angesicht schauen und eines 
als unverbrüchliche Wahrheit anerkennen, den Satz näm- 
lich, daß es für einen rechtschaffenen Mann kein Übel 
gibt, weder im Leben noch im Tode, und daß seine ὅδε! 
von den Göttern nicht im Stich gelassen wird. So ist 
auch mein Schicksal nicht ein bloßes Spiel des Zufalls, 
sondern ich zweifle nicht, daß es für mich das beste war 
schon jetzt zu sterben und aller Mühsal ledig zu werden. 
Darum hat mich auch die innere Stimme nicht gewarnt 
und ich meines Teiles hege keinen besonderen Groll gegen 
diejenigen, die mich verurteilt haben, und gegen meine 
Ankläger. Freilich wurden sie bei ihrer Verurteilung 
und Anklage nicht von der eben geschilderten Gesinnung 
geleitet, sondern von der Absicht mir wehe zu tun; 
und das darf nicht ungerügt bleiben. 

Um eines aber bitte ich sie noch: Wenn meine Söhne 
erwachsen sind, so übet Vergeltung an ihnen aus, ıhr 
Männer, indem ihr ihnen dasselbe Leid antut, das ich 
euch antat, sofern euch dünket, daß sie mehr auf Geld- 


.erwerb und sonstigen Tand bedacht sind als auf Tugend. 


Und bilden sie sich etwas ein auf Dinge, von denen sie 
nichts verstehen, so haltet nicht zurück mit euerem Tadel] 
gegen sie — wie ich damit nicht zurückhalte gegen 
euch —, wenn sie ihr Streben nicht auf das richten, was 
nottut, und wenn sie wähnen, etwas zu sein, während 
an ihnen rein gar nichts ist. Wenn ihr dies tut, dann 
ist mir volles Recht von euch geworden, mir und meinen 
Söhnen. | 

Aber nun ist es Zeit, daß wir gehen, ich um zu 
sterben, ihr um weiter zu leben. Wer von uns beiden 
dem besseren Lose entgegengeht, das ist allen verborgen, 
nur der Gottheit nicht. 


— - 


Anmerkungen 


zur Apologie. 


1) S. 23. Die Rede ward im Jahre 399 v. Chr. vor einem Ge- 
richtshof von etwa 500 ausgelosten Richtern (Heliasten) gehalten. 
Sie sondert sich nach Maßgabe des gerichtlichen Verfahrens in drei 
Teile: auf die eigentliche Verteidigungsrede folgt zunächst die Ent- 
scheidung über das Schuldig oder Nichtschuldig. Nach erfolgter 
Verurteilung — der Antrag der Kläger lautete auf Todesstrafe — 
stand dem Angeklagten das Recht zu, einen Gegenantrag zu stellen. 
Das bildet den Gegenstand der zweiten kurzen Rede des Sokrates. 
Nach erfolgter Verurteilung zum Tode hält dann Sokrates noch eine 
Ansprache zunächst an diejenigen Richter, die ihn verurteilt haben, 
sodann an diejenigen, die ihn freigesprochen haben. 

2) S.23. Bezeichnenderweise redet Sokrates die Richter nicht 
in der üblichen Weise ὦ ἄνδρες δικασταί (ihr Richter) an, sondern 
mit der allgemeinen Anrede ὦ ἄνδρες ᾿Αϑηναῖοι. Erst in der Schluß- 
rede, da, wo er sich an diejenigen Richter wendet, die ihn frei- 
gesprochen, bedient er sich der üblichen Anrede. Es gehört das 
mit zu jener μεγαληγορία, jenem etwas hochfahrenden, um seinen 
persönlichen Vorteil völlig unbekümmerten Ton, der in der Xeno- 
phontischen Apologie gleich zu Anfang als besonders charakteristisch 
für die Selbstverteidigung des Sokrates bezeichnet wird. Er macht 
sich selbst gleichsam zum Richter über sie, indem er ihnen die ihnen 
eigentlich zukommende Bezeichnung vorenthält. Vgl. Anm. 69. 

3) S, 24. Die Wechslertische, ἃ. ἢ. die Geschäftslokale der 
Wechsler, befanden sich auf dem Markte, also dem Hauptverkehrs- 
platze auch für die tägliche Unterhaltung. 

4) S.24. Uber Anytos 8. Einleitung S. 11. Diese Hervorhebung 
des Anytos ohne Nennung der andern Ankläger deutet auf die 
führende Rolle hin, die ihm tatsächlich bei diesem Prozesse zuk«m. 

δὴ) S. 25. Also „dem Unrecht zum Siege verhelfen“. Wörtlich: 
„die schwächere Sache zur stärkeren machen“, m, a. W. aus Schwarz 
Weiß machen. Der von Protagoras stammende Ausdruck ist zum 
Schlagwort geworden nicht bloß für die Sophistenkunst, sondern für 
das ganze Arsenal der Advokatenkniffe in der gerichtlichen Praxis. 

.6) S. 25. Griechisch: ἐρήμην κατηγορεῖν, ἃ. 1. anklagen ohne 
daß der Angeklagte sich vor Gericht einfindet, so daß ein Kontu- 
mazialurteil erlassen wurde. 

?) S. 25. An erster Stelle ist hierbei natürlich an Aristophanes 
zu denken, dessen „Wolken“, zuerst aufgeführt 423 v. Chr., den So- 
krates in stärkster Verzerrung als Grübler über die Geheimnisse der 


Anmerkungen. 65 


Natur auf der Bühne vorgeführt hatten. Aber auch andere nam- 
hafte Komiker wie Kratinos, Ameipsias und Eupolis hatten den So- 
krates auf die Bühne gebracht und lächerlich gemacht. Für einen 
Komödienschreiber gab es auch wohl kein dankbareres Objekt als 
die Figur des Sokrates. 

9) S. 26. Sokrates hatte sich zwar nicht mit den Naturerschei- 
nungen selbst, wohl aber in jüngeren Jahren mit den Schriften der 
Naturphilosophen eingehend genug beschäftigt, um ein Urteil darüber 
zu haben. Das bezeugt ausdrücklich Xenophon in den Memora- 
bilien I, 6, 14, daneben auch der Phaidon des Platon 96A ff. Aber 
das Urteil, das er darüber gewonnen, war ein durchaus ablehnendes: 
οὐδὲ γὰρ περὶ τῆς τῶν πάντων φύσεως ἧπερ τῶν ἄλλων οἱ πλεῖστοι 
διελέγετο. .. ἀλλὰ καὶ τοὺς φροντίζοντας τὰ τοιαῦτα umpaivovrag ἀπε- 
δείκνυεν. Nichts war also unsinniger als ihn für einen Anhänger der 
Naturphilosophie auszugeben. N 

9) S. 26. Hier liegt ein Fehler der Überlieferung vor und die 
führende Handschrift zeigt auch Spuren einer Verderbnis: das ὦ von 
πῶς steht in Rasur und von zweiter Hand ist ποτ᾽ übergeschrieben. 
Das führte mich auf die Vermutung (Fleckeis. Jahrb. 137, 1888, 160), 
es sei zu schreiben un ποϑ᾽ ὡς ἐγὼ ὑπὸ “Μελήτου τοσαύτας δίκας φύγοι 
„möchte er (nämlich der unmittelbar vorher erwähnte τις) vor ähn- 
lichen Anklagen bewahrt bleiben wie ich sie durch Meletos erfahre.“ 
Hinter das φύγοι könnte man noch den Dat. eth. vo: setzen. Anders 
sucht Schanz zu helfen — er schreibt ἥελήτων für Meintov —, ob 
richtig, bezweifle ich. 

10) S. 27. Den Lesern des Platon zur Genüge bekannt aus dem 
Dialog Gorgias. Den Athenern, auf die er durch die Kunst und 
Macht seiner Beredsamkeit einen sehr starken Einfluß ausübte, war 
er seit seinem ersten Aufenthalt in Athen (427 v. Chr.) bekannt, und 
zwar war es eine staatliche Sendung, die ihn als Vertreter seiner 
Vaterstadt Leontini auf Sizilien nach Athen geführt hatte. Die 
beiden anderen berühmten Sophisten kennt der Leser besonders aus 
dem Dialog Protagoras. 
| 11) S. 27. Das geht auf Euenos von Paros, dessen Platon auch 
im Phaidros 267 A und im Phaidon 60D nicht ohne einen ironischen 
Beigeschmack Erwähnung tut als eines erfinderischen Kopfes und 
Dichters. | 

ı2) S, 27. Kallias, der reiche und verschwenderische Sohn 
des Hipponikos, ist vor allem bekannt aus dem Dialog Protagoras, 
wo er als glänzender Wirt die berühmtesten Sophisten um sich ver- 
sammelt hat. j 

18) S. 28. Ein sehr bescheidenes Honorar im Vergleich mit 
dem, was ein Gorgias, Protagoras und Hippias forderte. 

14) 8. 28. Schanz streicht die Worte εἰ μὴ — οἵ πολλοί. Sie 
sind allerdings überflüssig, auch logisch störend, doch ist ein solcher 
Pleonasmus dem Griechischen nicht fremd, und wer sollte denn das 
Bedürfnis gehabt haben, die Worte hereinzubringen? Man könnte 
ja daran denken, für εἰ μὴ das graphisch naheliegende οἶμαι ein- 
zusetzen, dessen die grammatische Selbständigkeit des beigegebenen 
Satzes nicht störender Gebrauch zur Genüge bekannt ist; indes 
unbedingt nötig ist solche Anderung keineswegs, 


Platon Apologie und Kriton. Phil. Bibl. Bd. 180. 5 


® 


66 Apologie. 


15) S. 29. Chairephon, ein treuer Anhänger des Sokrates, 
allen Athenern wohlbekannt durch seine lange, hagere Figur, seine 
fahle Gesichtsfarbe und sein leidenschaftliches, stürmisches Wesen, 
war die Zielscheibe vielfachen Spottes von seiten der Komiker. 
Wegen seiner dünnen Stimme nannte man ihn „Fledermaus“. Er 
war also für Sokrates kein ganz ungefährlicher Freund; aber der 
Demos, als dessen Vertreter die Richter hier erscheinen, hatte doch 
allen Grund ihm dankbar zu sein wegen seiner entschieden volks- 
freundlichen Haltung in der kritischen Zeit der dreißig Tyrannen. 
Daran erinnert hier Sokrates die Richter mit Recht. Als Unter- 
redner tritt er auch auf in den Dialogen Gorgias und Charmides. 

1) Κ᾽ 29. Chairekrates. S. Xen. Mem. II, 3, 1. 

11 S. 31. Diese Beteuerungsformel hören wir auch sonst aus 
dem Munde des Sokrates, so namentlich Gorg. 482B. Sie verleugnet 
nicht einen Stich ins Lächerliche, wie sie sich denn auch bei den 
Komikern findet. 

18) S. 31. Unverkennbare Ironie. Allen auf Widerlegung des 
Orakels gerichteten Bemühungen des Sokrates zum Trotz behält das 
Orakel doch recht. 

19) S. 31. Vgl. dazu die ironische Bemerkung im Dialog Ion 
532D: „Weise mögt ihr wohl sein, ihr Rhapsoden und Schauspieler 
sowie diejenigen, deren Dichtungen ihr vortragt, meine 
Weisheit aber besteht nur darin, die schlichte Wahrheit zu sagen, 
wie es einem Laien ansteht.“ 

2) S. 31. Vgl. Tim. 71DE: „Kein Mensch, der voll bei Sinnen 
ist, ist eines gottbegeisterten und wahren Seherspruches fähig, aber 
die von einem Seher oder Verzückten getanen Aussprüche mit 
scharfem Verstande aufzufassen, das ist Sache eines Mannes, der im 
Besitze seiner vollen Geisteskraft ist; er ist es dann, der alle jene 
- hellseherischen Außerungen mit der Schärfe des Verstandes prüft 
und entscheidet, inwieweit und für wen sie Anzeichen eines künf- 
tigen oder vergangenen oder gegenwärtigen Unglückes oder Glückes 
sind: dagegen steht es dem noch im Traumzustand Befindlichen 
nicht zu, seine eigenen Traumgesichte und Außerungen zu beurteilen.“ 
Vgl. auch Ion 533C. 

31) S. 32. Nämlich in Sachen der Staatsverwaltung. Gevatter 
Schneider und Handschuhmacher traten in der Blütezeit der athe- 
nischen Demokratie nicht selten mit dem Anspruch auf, Orakel der 
Staatsweisheit zu sein. 

22) S. 33. Als gutes Beispiel dafür kann das von Xen. Mem.I, 
2, 40ff. mitgeteilte Gespräch zwischen dem jungen Alkibiades und 
seinem Vormund Perikles gelten, welch letzterer dabei einigermaßen 
ins Gedränge kommt. 

23) S. 34, Über die drei Ankläger vgl. Einleitung S. 11 ἢ. 

34) S. 34. Mit Rückbeziehung auf die fiktive erste Anklage 19B. 

25) S, 35. So habe ich das im Griechischen absichtlich als 
schillerndes Wort gewählte und weiterhin bald in adjektivischem 
bald in substantivischem Sinne gebrauchte δαιμόνια übersetzen zu 
sollen geglaubt; denn der Ausdruck Dämonentum kann alle diese 
Bedeutungen annehmen. Sokrates kommt weiterhin 31Cff. auf sein 
spezifisches Dämonium, die ihm innewohnende göttliche Stimme, zu 


Anmerkungen. 67 


reden. Auf dies Dämonium bezieht sich die Anklage des Meletos. 
Über das Wesen desselben vgl. meine Bemerkung zu der Übersetzung 
des Theätet S. 157 Anm. 18, 

360) 3, 35. Nämlich weil er, was an sich nur als Scherz auf- 
gefaßt werden kann, durch die Anklage zum bitteren Ernste gemacht 
hat: eine geradezu lächerliche Beschuldigung wird zur gefährlichsten 
Waffe gemacht. 

1) S, 35. Auch euch, nämlich: sowie es mir klar ist. 

38) S. 35. Dem Angeklagten stand das Recht zu, an den 
Kläger Fragen zu stellen, die een beantworten mußte. 

=) S. 36. Eine sehr wohlberechnete und wirkungsvolle In- 
duktion, die dazu führt, die gesamte Bürgerschaft Athens unter 
einen Hut zu bringen, um sie so dem einen Sokrates gegenüber- 
zustellen. Sie gibt dem so isolierten Sokrates die Handhabe zu 
einer weiteren Induktion, die schlagend den Standpunkt des Gegners 
als unhaltbar erweist. 

80) S, 37. Vgl. Anm. 28. 

sı) αὶ 37. Die von Meletos gegebene Antwort nämlich würde, 
wenn sie die Wahrheit besagte, das hier angedeutete Verhältnis als 
Folge in sich schließen. 

88) S. 39. Das widerlegt Sokrates im folgenden in bestimm- 
tester Form. Dagegen bleibt der auf den Glauben an die Landes- 
götter bezügliche Zweifel unerörtert, Sokrates hatte nicht nötig, 
darauf einzugehen, denn er hatte ja schon durch seine Erörterung 
über sein Verhältnis zu dem delphischen Apollo sich zur Genüge 
als einen Gläubigen erwiesen (21Aff.), auch wußte jedermann Be- 
scheid über seine Gewissenhaftigkeit in Erfüllung der Kultuspflichten, 
worüber ung Xenophon Auskunft gibt. Er konnte es also ruhig dem 
Meletos überlassen, durch Stellung einer Gegenfrage die Fortsetzung 
der Beweisführung herbeizuführen. Aber Meletos schwieg, wahr- 
scheinlich aus sehr gutem Grunde. Vgl. Einleitung S. 9f. 

88) S. 39. Anaxagoras, der berühmte Philosoph aus Klazomenä, 
der etwa 480 bis 450 in Athen lebte, hochgeschätzt von Perikles, 
. erklärte die Sonne für einen μύδρος διάπυρος, eine glühende Stein- 
masse, den Mond für eine Art Erde. 

84) S. 39. Diese vielumstrittene Stelle bezieht man am natür- 
lichsten auf einen Platz auf dem Markte, Orchestraplatz genannt, 
der einen Verkaufsstand für Bücher gehabt zu haben scheint. Der 
Preis der Bücher schwankte, wie es scheint, je nach den besonderen 
Verhältnissen. Früher ward die Stelle meist auf das Theater be- 
zogen, also auf irgendein Stück, in dem auf des Anaxagoras Natur- 
philosophie angespielt ward. 

3) S. 41. Die Stelle, obschon vielfach angezweifelt und durch 
Streichung des οὐ nach ὡς oder sonstige Konjekturen angeblich be- 
richtigt, ist m. E. richtig überliefert. Es handelt sich um eine an- 
scheinend überflüssige und störende Negation nach negativen Wen- 
dungen wie οὐδεμία μηχανή ἔστιν. Vgl. z. B. Herod. II, 181 ἔστι τοι 
οὐδεμία μηχανὴ un οὐκ ἀπολωλέναι κάκιστα γυναικῶν πασέων. Nur ist 
an unserer Stelle durch die Aufeinanderfolge zweier abhängiger 
Sätze eine Art Verschiebung eingetreten. 

860 S. 41. Vgl. 284. 


5* 


68 Apologie, 


8) S. 42. Il. 18, 96. 

8) ὃ, 42. Il. 18, 98. 

88. Ὁ 42. Il. 18, 104. 

40) S. 42. Das nun folgende siebzehnte Kapitel ist das für die 
Charakteristik des Sokrates wichtigste und eindrucksvollste der ganzen 
Apologie. Vgl. die Einleitung S. 14f. Vielleicht ist es kein bloßer 
Zufall, wenn dieser Abschnitt auch äußerlich die Mitte der Schrift 
bildet. Es gehen zwölf Stephanusseiten voraus und es folgen deren 
zwölf, ein Zeichen der Sorgfalt, die Platon der Form der Darstellung 
zugewandt hat. Daß er gegen solche anscheinende Außerlichkeit nicht 
gleichgültig war, scheint mir daraus hervorzugehen, daß sich auch 
in anderen seiner Schriften eine solche, ich möchte sagen zahlen- 
mäßige Abwägung — Pedanterie würde wohl mancher sagen — in 
der Stoffverteilung beobachten läßt. So steht z. B. genau in der 
Mitte der ganzen Republik (4730f.) derjenige Satz, der das eigent- 
liche Herz des ganzen Werkes bildet, der Satz nämlich von der 
Notwendigkeit der Vereinigung von Philosophie und staatsmännischer 
Tätigkeit als der Voraussetzung des Glückes der Staaten. Ahnliches 
gilt vom Theätet, dessen Mittelstück jener schöne Abschnitt bildet, 
der den Gegensatz schildert zwischen der Wonne des reinen Denkens 
und dem Drange des rastlosen Geschäftstreibens in den Gerichts- 
höfen. Zwar nur episodenartig eingefügt, bildet dieser Abschnitt 
doch nicht nur stilistisch zweifellos das Glanzstück, sondern auch 
inhaltlich als Ausblick auf die höchste Stufe der Erkenntnis in ge- 
wisser Weise geradezu den Gipfelpunkt des ganzen Werkes. Das 
Mittelstück des Phaidros ist die Palinodie mit ihren prachtvollen 
mythischen Schilderungen, und ‚ähnliche Beobachtungen lassen sich 
noch mehr machen, wie z. B. für den Timaios, in dessen Mitte die 
Elementenlehre steht, die, auf der Lehre von den Elementardrei- 
ecken ruhend, gewiß denjenigen Teil des Werkes darstellt, auf den 
das eigene erfinderische Denken Platons den meisten Anspruch hat. 

4 S. 43. Das „ihr“ geht auf die Richter als die Repräsen- 
tanten des Volkes wie 21A Χαιρεφῶν ὑμῶν τῷ πλήϑει ἑταῖρος ἦν. 
Die drei Schlachten, an denen Sokrates beteiligt war, fallen in die 
Jahre 432 v. Chr. (Potidaia auf der Halbinsei Chalkidike), 422 v. Chr. 
(Amphipolis am Strymon in Thrakien) und 424 v. Chr. (Delion in 
Böotien). Bei Potidaia hatte Sokrates (vgl. Symp. 220DE) dem 
Alkibiades das Leben gerettet, auch bei Delion hatte er sich be- 
sonders durch Tapferkeit ausgezeichnet. Der Schlacht bei Potidaia 
wird in Beziehung auf Sokrates auch im Eingang des Dialogs Crar- 
mides Erwähnung getan. 

#2) S. 44. Hier tritt Anytos deutlich als der eigentliche 
Treiber bei der Sache hervor. | 

#3) S. 45. Diese Stelle ist vielleicht mehr als manche andere 
danach angetan, uns fühlen zu lassen, wie erbitternd unter Umständen 
der Fragedrang des Sokrates auf die davon Betroffenen wirken 
mochte. Das Straßenleben der Südländer kommt durch klimatische 
Verhältnisse und durch die natürliche Beanlagung der Menschen 
dem Bedürfnis der Plauderei und des geselligen Gedankenaustausches 
ungleich stärker entgegen als das unsrige. Einen Sokrates in einer 
modernen nordischen Großstadt kann man sich kaum vorstellen 


Anmerkungen, 59 


Aber auch beim Südländer gibt es eine Grenze der Duldsamkeit in 
dieser Beziehung. 

“) S, 45. Das ist diejenige Seite sokratischer Weisheit, in 
deren einseitigem Verfolg Antisthenes zu seinem Standpunkt 
völliger Bedürfnislosigkeit, zu der Sinnesweise eines Alhafı gelangte: 


den wilden, guten, edlen 
Wie nenn’ ich ihn? Der wahre Bettler ist 
Doch einzig und allein der wahre König. 


„Sage du uns,“ heißt es im Xenophontischen Symposion 4, 34 aus 
dem Munde des Sokrates, „o Antisthenes, wie du bei all deiner 
Armut dazu kommst, auf Reichtum stolz zu sein.“ Und Antisthenes 
bleibt die Antwort darauf nicht schuldig. Sie ist sozusagen eine 
Predigt über das hier gegebene Textwort. 

#5) S, 46. So, und nicht in der Bedeutung „Bremse“ ist hier 
nach der ganzen Tendenz der Stelle das Wort μύωψ zu fassen, 

46) S. 47. Sokrates gibt weiterhin 38B selbst die Strafsumme, 
zu deren Erlegung er sich allenfalls verstehen könnte, auf eine 
Silbermine an, also auf noch nicht 100 Mark. Nach Libanius hatte 
er 100 Minen (5000 bis 6000 Mark), wovon er aber infolge der Unter- 
stützung eines Freundes alles bis auf 5 Minen verlor. Vgl. Xen. 
Dec. 2, 3. 

4 S. 47. Hierzu vgl. Anm. 25. 

48) S. 48. So glaube ich das schwierige Wort dızavıza wieder- 
geben zu sollen. Mangweilig", wie Schleiermacher übersetzt, ist 
nicht bezeichnend genug. 

4) S. 48. Die Verwaltung der laufenden Staatsgeschäfte lag 
in der Hand des Rates der Fünfhundert, zu dem jede der 10 Phylen 
50 durchs Los erwählte Mitglieder stellte. Jede Phyle führte während 
eines Zehntels des Jahres die Regierung (die Prytanie) und hatte 
zum Vorsitzenden einen durchs Los erwählten, täglich wechselnden 
Vorsitzenden (ἐπιστάτης). Diesem kam es zu, im Rate und in der 
Volksversammlung den Vorsitz zu führen. Sokrates gehörte zu der 

φυλὴ ᾿Αντιοχίς. 

, 50) S. 48. Es handelte sich um Bestrafung der wegen ver- ἡ 
absäumter Rettung der Schiffbrüchigen angeklagten Strategen in 
der Arginusenschlacht 406 v. Chr. Die Sache wurde unter Verstoß 
gegen die gesetzliche Ordnung an die Volksversammlung verwiesen 
und dort in stürmischer Verhandlung unter Verletzung der gesetz- 
lichen Vorschriften zuungunsten der Angeklagten durchgeführt, 
indem diese zum Tode verurteilt wurden. Sokrates hatte sich als 
ἐπιστάτης am Tage der Verhandlung geweigert, die Abstimmung vor- 
zunehmen. Die Angabe, alle zehn Feldherren seien verurteilt worden, 
ist ungenau. Nach Xenophon waren nur acht beteiligt, von denen 
sechs hingerichtet wurden, während zwei nicht nach Athen zurück- 
gekehrt waren. 

δι) S. 49, Diesen Vorgang erwähnt Platon auch im 7. Brief 
324Ef. Leon hatte sich vor den Dreißig nach Salamis geflüchtet. 
Unter denen, die ihn im Auftrag der Dreißig zurückholen sollten, 
befand sich auch ein Meletos, der aber sicher ein anderer war als 
unser Ankläger. 


70 Apologie. 


52) ᾿ς, 49. Ich folge hier K. F. Hermann, der ὑμῶν für ὑμῖν 
schreibt. 

55) S. 49. Dabei denkt Sokrates vor allem an Kritias und 
Alkibiades, deren Beziehungen zu Sokrates der Verleumdung reich- 
liche Nahrung gaben. | 

δὲ) 8. 50. Vgl. 23C. 

55) S. 51. Uber Kriton 8. den Dialog Kriton, Sein Sohn 
Kritobulos wird in mehreren Platonischen Gesprächen erwähnt; 
Lysanias ist der Vater des Sokratikers Aeschines, des Verfassers 
mehrerer sokratischer Dialoge. Antiphon ist nicht zu verwechseln 
mit dem berühmten Redner Antiphon, dem Rhamnusier. Von Niko- 
stratos und Paralos wissen wir nichts weiter. Adeimantos ist 
der bekannte Bruder des Platon. Aiantodoros ist uns sonst nicht 
bekannt, während sein Bruder Apollodoros als leidenschaftlicher 
Verehrer des Sokrates uns aus dem Phaidon und dem Symposion 
um so bekannter ist. 

56) S. 51. Der Redende durfte ohne seine Erlaubnis von dem 
Gegner nicht unterbrochen werden. 

δ) S. 52. Od. 19, 163. 

58) S. 52. Der erstere hieß Lamprokles, die beiden anderen 
Sophroniskos und Menexenos. 

59%) S. 54. Alle Prozesse zerfielen in ἀγῶνες τιμητοί und ἀτίμητοι 
d.h. solche, für welche die Strafe nicht vom Gesetze schon vor- 
gesehen, sondern erst von den Richtern abgeschätzt wurde, und 
solche, in denen die Strafe vom Gesetz vorgesehen war. Unser Fall 
gehört zu der ersten Art. Es tritt zunächst eine Pause ein, während 
deren die Richter, nachdem sie sich zurückgezogen, über die Schuld- 
frage abzustimmen haben, Bei Wiedereröffnung der Verhandlung 
stand es dem Angeklagten frei, im Falle der Verurteilung wie hier 
dem Strafantrag des Gegners einen nach seiner Ansicht angemessenen 
Strafantrag entgegenzustellen. Zwischen diesen beiden hatte der 
Gerichtshof dann zu wählen. 

60) S. 54. Diogenes Laertius berichtet (2, 41), die Zahl der 
verurteilenden Stimmen hätte 281 betragen. Rechnet man also 
500 Richter, so erklärten sich 219 für Schuldlosigkeit.e Da bei 
Stimmengleichheit Freisprechung erfolgte, die Zahl für Stimmen- 
gleichheit aber hier 250 betrug, so fehlten dem Sokrates zum Frei- 
spruch nur 31 Stimmen. Die Angabe von 30 Stimmen bei Pl. be- 
ruht also wohl bloß auf einer Abrundung, 

61) S. 54. Sehr richtig bemerkt Schleiermacher: „Niemand 
lasse sich von Fischers Berechnung dieser Sache verführen, welciie 
gewiß falsch ist. Denn ihm zufolge müßten die drei Ankläger, um 
nicht 1000 Drachmen zu erlegen, drei Fünfteile und also mehr der 
Stimmen gehabt haben, als um den Sokrates zu verdammen, Viel- 
mehr muß man denken, daß alle Stimmen dem Meletos als Haupt- 
ankläger zugute gerechnet wurden, daß aber Sokrates will zu ver- 
stehen geben, wenn ihm nicht Anytos und Lykon mit ihrer Partei 
Beistand geleistet hätten, er nur den dritten Teil der ihm wirklich 
zugefallenen Stimmen würde gehabt haben, und dann offenbar 
weniger als ein Fünftel.“ In diesem Falle nämlich mußte der 
Kläger bei öffentlichen Klagen 1000 Drachmen Strafe an den Staat 


Anmerkungen. 7] 


zahlen und verlor das Recht, künftig Klagen ähnlicher Art ein- 
zureichen; bei Klagen wegen Gottlosigkeit erfolgte dazu noch eine 
teilweise Ausschließung vom TTempelbesuch. 

62), S, δῦ. Das Prytaneion war ein Staatsgebäude am Nord- 
abhange des Burghügels, in dem die Prytanen und die Ehrengäste 
Athens speisten. Für einen Bürger war es eine hohe Ehre, der 
ständigen Teilnahme an dieser städtischen Tafel gewürdigt zu werden. 
Zu diesen Bevorzugten gehörten auch die olympischen Sieger. 

88) S, 56. Die Zeit zu den Reden wurde jeder Partei durch 
die Wasseruhr (κλεψύδρα) zugewiesen. 

%) S. 56. Das geht auf Sparta, wo der Rat der Alten über 
Todesverbrechen mehrere Tage beratschlagte. 

65) S., 56. Furcht nämlich vor etwas, was nach gewöhnlicher 
Meinung milder wäre als der Tod. Gerade den Tod fürchte ich 
ja nicht. 

60) S. 56. Der sehr wichtigen Behörde der Elfmänner lag die 
Aufsicht über die Gefängnisse und die Vollstreckung der Straf- 
erkenntnisse ob. 

0) δ, 58. Die Richter ziehen sich nun abermals zur Beratung 
zurück, worauf dann die Verkündigung der Strafe (Tod durch den 
Giftbecher) erfolgt. Darauf ergreift Sokrates zum dritten Male das 
Wort. Ob diese dritte Rede eine reine Fiktion des Platon sei, wie 
Wilamowitz annimmt, lasse ich dahingestellt. 

88) S, 60. Ein nicht bloß im Altertum (vgl. Hom. I. 16, 851ff. 
22, 358ff.) verbreiteter Glaube: mit dem Erlöschen des leiblichen 
Auges erhöht sich die Sehkraft des Geistes. 

62) S. 60. Zum ersten Male bedient er sich hier dieser vor 
Gericht üblichen Anrede, denn jetzt hat er es mit wahren Richtern 
zu tun. Vgl. Anm. 2. 

20) S. 60. Vgl. Anm. 2b. 

11 S. 62. Der gewöhnlichen Dreizahl der Totenrichter ist hier 
als vierter Triptolemos zugefügt, ein uralter attischer Herrscher. 

13) 8.62. Palamedes erscheint in den Homerischen Gedichten 
noch nicht. Nach den kyprischen Gedichten und den Tragikern 
wird er auf Veranlassung des Odysseus ungerechterweise zum Tode 
verurteilt und von dem Heere vor Troja gesteinigt wegen angeb- 
lichen Einverständnisses mit Priamos. Bei Aias handelt es sich um 
den Wettstreit um die Waffen des Achilles, die von Agamemnon 
nicht ihm sondern dem Odysseus zugesprochen wurden, was zum 
Tode des ersteren führte. - 

18). S. 62. Sisyphos, der Frevler, erscheint hier sonderbarer- 
weise in bester Gesellschaft neben Agamemnon und Odysseus. 


Einleitung 
zum Kriton. 


Der Kriton bildet das Mittelglied einer Trilogie, 
die, umfassend die Apologie des Sokrates, den Kriton 
und den Phaidon, sich als Ganzes ebenso von den übrigen 
Schriften des Platon abhebt wie sich ihre Teile auch ihrer- 
seits wieder scharf voneinander unterscheiden. Was das 
erstere anlangt, so tritt uns bei Platon sonst nirgends 
das rein persönliche Moment, das bloße Interesse an dem 
Schicksal, an den Lebensbegegnissen des Sokrates als 
der für die Darstellung bestimmende Gesichtspunkt ent- 
gegen. Hier dagegen ist es ersichtlich das persönliche 
Interesse, was dem Platon den Griffel geführt hat, die 
Absicht nämlich, das tragische Ende des geliebten Meisters 
in seinen ergreifenden Zügen zu schildern und damit zu- 
gleich, wie sich von selbst ergab, ein leuchtendes Denk- 
mal zu errichten als Ansporn zu allem Guten und Großen. 
Was aber das andere anlangt, das Verhältnis nämlich 
der drei Stücke zueinander, so ist das sie zusammen- 
haltende Band zwar sehr einfach in der natürlichen Folge 
der Ereignisse selbst gegeben, indem uns die Apologie 
das Bild der gerichtlichen Verhandlung vorführt, der 
Phaidon das Bild des sterbenden Sokrates und der Kriton 
als verbindendes Mittelglied die künstlerisch in einen 
Akt konzentrierte Darstellung derjenigen Vorgänge, die 
für die dreißigtägige Gefängniszeit des Sokrates an erster 
Stelle in Betracht kommen, nämlich die Bemühungen seiner 
Freunde, ihn dem Gefängnis und dem Tode zu entreibßen. 
Aber der Charakter der Darstellung ist doch in jeder 
der drei Schriften ein wesentlich verschiedener. Diese 
Verschiedenheit zeigt sich in einer sehr bestimmt her- 
vortretenden Steigerung der künstlerischen Freiheit, mit 
der Platon den Gegenstand behandelt. Gibt uns die Apo- 
logie ein in der Form zwar gehobenes, aber sachlich 11} 


Einleitung. 713 


wesentlichen treues Bild von dem Auftreten des So- 
krates vor Gericht, so zeigt der auch zeitlich von ihr 
um ein erhebliches Stück abzurückende Phaidon die wei- 
teste und künstlerisch freieste Ablösung von dem Boden 
der Wirklichkeit, an dem nur die ergreifende Schluß- 
partie, die Schilderung der Todesstunde selbst, festhält; 
im übrigen erscheint hier Sokrates geradezu in einer Art 
Verklärung als nicht nur überzeugter sondern auch über 
den ganzen Apparat der Ideendialektik gebietender Ver- 
fechter einer Unsterblichkeit, gegen die alle irdische Un- 
sterblichkeit, alles Fortleben im Andenken der Mensch- 
heit sich wie ein Stäubchen gegen das Weltall ausnimmt. 
Zwischen beiden steht der Kriton, zwar nicht in gleichem 
Abstande von beiden — denn er hat, was die Freiheit 
der Komposition ebenso wie die Zeit der Abfassung be- 
trifft, seinen Platz weit näher an der Seite der Apologie 
als des Phaidon —, aber doch eben als ein Zwischenglied. 

Mit sicherem künstlerischen Griff hat Platon es ver- 
standen, in diesem Dialog das Wesentliche der für das 
Schicksal des Sokrates bedeutsamen Vorgänge, die sich 
in der Zeit zwischen seiner Verurteilung und seinem 
Tode abspielten, in ein Bild zusammenzudrängen. Nichts 
aber war, wie schon bemerkt, in dieser Beziehung wich- 
tiger als die Bemühungen seiner Freunde, ihn aus dem 
Gefängnis zu befreien und an sicherer Stätte in der 
Fremde zu bergen. Ein Unternehmen, das auf den ersten 
Blick verwegener scheinen könnte als es tatsächlich war. 
Denn nicht nur, daß den Freunden des Sokrates alle 
Mittel zu Gebote standen, um die etwaigen Hindernisse 
wegzuräumen: auch ein großer Teil des nicht unmittel- 
bar beteiligten Publikums von Athen, ja sogar nicht 
wenige der ihm ungünstigen Richter hegten im stillen 
den Wunsch, den Justizmord, als welcher sich sehr bald 
die Verurteilung des Sokrates den ruhiger denkenden 
Bürgern darstellen mochte, verhindert und dadurch ihr 
Gewissen einigermaßen entlastet zu sehen. Und was den 
Freundeskreis betrifft, so spielte neben dem natürlichen 


74 Kriton. 


Wunsch der Rettung des Meisters für sie die Rücksicht 
auf die öffentliche Meinung keine geringe Rolle. Sie 
fühlten sich bedrückt durch den Gedanken, daß man es 
ihnen bei der angedeuteten Stimmung der öffentlichen 
Meinung als einen Mangel an Mut, Tatkraft und Opfer- 
willigkeit auslegen würde, wenn sie nicht alles daran- 
setzten ihren Meister in Sicherheit zu bringen. Daß sie 
es an Bemühungen in dieser Richtung nicht fehlen ließen, 
wird uns auch sonst zur Genüge bezeugt.!) Wenn Dio- 
genes Laertius?) die Sache so darstellt, als sei es Ae- 
schines gewesen, der den Sokrates zur Flucht gedrängt 
habe — Platon habe nur aus Abneigung gegen diesen 
und gegen dessen Freund Aristippos dem Kriton diese 
Rolle zugewiesen —, so will das wenig besagen. Kriton 
ist gewiß nicht der einzige gewesen, der diesen Plan eifrig 
betrieben hat; wenn sich Platon aber gerade ihn aus- 
gewählt hat zum Träger der Handlung, so beruht das 
nicht auf persönlicher Zuneigung oder Abneigung, son- 
dern auf künstlerischer Berechnung. Niemand aus dem 
Freundeskreise des Sokrates war hier mehr am Platze als 
Kriton, dieser langjährige, erprobte Freund des Meisters, 
der gerade alle diejenigen Eigenschaften in sich ver- 
einigte, auf die es dem Platon für die Zwecke wirk- 
samer Komposition hier ankam: aufrichtigste Hilfsbereit- 
schaft, entsprechende Wohlhabenheit und — was dem 
Platon hier für die künstlerische Situation besonders 
wichtig war — ein über das bescheidene Mittelmaß bür- 
gerlichen Verstandes nicht hinausgehender Grad von Ein- 
sicht; denn er brauchte zur glücklichen Durchführung 
seiner dichterischen Absicht vor allem einen Vertreter 
der Stimme des Publikums und dafür konnte er unter 
den Freunden des Sokrates kaum einen besseren finden 
als den treuherzigen, aber in seinem Urteil beschränkten 
und anlehnungsbedürftigen Kriton. Dabei hat Platon mit 


Apol. $ 23. Plut. adv. Col. c. 32. 
3) Diog. Laert. IlI, 36. 


Kinleitung. 75 


feinem künstlerischen Takt es doch vermieden, den So- 
krates gegen Kriton jenen ab und zu etwas ironischen 
Ton anschlagen zu lassen, der dem Leser aus dem Dialog 
Euthydemos wohlbekannt ist; denn das hätte hier dem 
Ernst der Lage und der Absicht des Platon wenig ent- 
sprochen. 

Diese Absicht aber, welche war es? Offenbar kommt 
es dem Platon an erster Stelle darauf an, die unverbrüch- 
liche Gesetzestreue seines Lehrers in das hellste Licht zu 
stellen. Angesichts des himmelschreienden Unrechtes, das 
ihm im Namen der Gesetze widerfahren war, sollte er als 
unbeugsamer Verfechter der Gerechtigkeit, als jener vir 
vustus et tenax propositi, von dem Horaz allem Anschein 
nach im Hinblick auf den Sokrates der Apologie und des 
Kriton singt, nicht etwa seine eigene Rettung, wohl aber 
die Ehrenrettung der Gesetze auf sich nehmen. Haben 
die Richter bei seiner Verurteilung sich durch äußere, 
konventionelle Rücksichten leiten und von der Pflicht 
strenger Gerechtigkeit abdrängen lassen, sind sie also 
den Gesetzen untreu geworden, so soll Sokrates, der 
Mißhandelte, weit erhaben über jede Anwandlung et- 
waiger Rachsucht oder auch nur des Zornes und der Auf- 
regung über das ihm Widerfahrene, den verletzten Ge- 
setzen gleichsam ihr gestörtes Ansehen wieder zurück- 
geben. Sokrates, der Geschmähte und von den Richtern 
Verkannte, erscheint so als das leuchtende Gegenbild zu 
der Verworfenheit der Richter. Die Richter sind die 
Verderber der Gesetze, Sokrates ist ihr Anwalt. Alles 
spitzt sich mit scharfer künstlerischer Berechnung zu 
auf den schließlichen Triumph der mit Füßen getretenen 
Gesetzesautorität. Richter, Publikum, Freunde — sie 
alle haben gegen die Gesetze gesündigt oder sündigen 
dagegen, sei es zum Schaden des Sokrates sei es zu 
seinem vermeintlichen Nutzen: die Richter durch ihren 
ungerechten Urteilsspruch, das Publikum durch seine 
Nachsicht gegen die widergesetzlichen Bemühungen um 
Befreiung des Sokrates, die Freunde durch ebendiese Be- 


76 Kriton. 


mühungen selber. Nichts tut mehr not, als daß den miß- 
achteten Gesetzen Genugtuung gewährt, ihr gutes Recht 
wieder zu Ansehen gebracht werde. Das aber konnte 
nicht drastischer geschehen als durch Einführung der 
Gesetze selbst als redender Personen. So und nur so 
konnte die eigentümliche Lage der Verhältnisse in ihrer 
ganzen Verkehrtheit und Widersinnigkeit mit überwälti- 
gender dramatischer Lebendigkeit zur Anschauung ge- 
bracht werden. Indem Platon den Gesetzen Odem und 
Sprache einhauchte, machte er sie nicht nur zu Menschen, 
sondern zu einer Art höherer Wesen, die sich sogar 
wieder in einen gewissen Gegensatz zu den Menschen 
stellen dürfen, wie dies höchst eindrucksvoll durch ihre 
an den Sokrates gerichteten Worte (04 Β) geschieht: „Nun, 
du gehst zwar jetzt hin, wenn du hingehst (nach dem 
Hades), als einer, der nicht von uns, sondern von Men- 
schen Unrecht erlitten hat.‘ 

Läßt Platon über das hiermit gekennzeichnete Haupt- 
absehen des Dialogs keinen Zweifel, so bietet sich ihm 
daneben Gelegenheit zur Einfügung dieses und jenes die 
Charakteristik des einzigen Mannes ergänzenden Zuges. 
In dieser Hinsicht kommt besonders in Betracht einmal 
seine Stellungnahme zur Öffentlichen Meinung, sodann 
die Kennzeichnung seiner außerordentlichen Heimatsliebe. 

Was die erstere betrifft, so ist es echt Sokratisch, 
wenn er es ablehnt der Meinung der großen Menge zu 
folgen, sofern diese in Widerspruch steht mit der Mei- 
nung der Sachverständigen als der allein maßgebenden 
Instanz. Doch ist es nicht ohne Interesse, damit zu 
vergleichen was Platon selbst in den Gesetzen gelegent- 
lich über diesen Punkt bemerkt. Im zwölften Buch 
(350C) heißt es da: „Es ist durchaus zu loben, wenn die 
meisten Staaten dazu aufmuntern, auf den guten Ruf 
bei der großen Masse der Menschen besonderen Wert zu 
legen.‘‘ Aber er lenkt doch unmittelbar darauf mehr oder 
weniger kräftig in das sokratische Fahrwasser ein, wenn 
er fortfährt: „Das richtigste und wichtigste freilich 


Einleitung. | 77 


ist es, daß man in Tat und Wahrheit ein tüchtiger Mann 
ist und nur in diesem Sinne ein ruhmvolles Leben er- 
strebt, nicht aber in anderem Sinne, wenigstens wenn 
man ein vollkommen tugendhaiter Mann sein will.“ Für 
Sokrates konnte in der eigenartigen Lage, in welcher 
er sich befand, nur der letztere Gesichtspunkt in Frage 
kommen. Er durfte und konnte hier nur an sein eigenes 
Gewissen appellieren und dieses redete vernehmlich genug. 

Was aber die Heimatsliebe anlangt, so konnte Platon 
deren Stärke bei Sokrates kaum glücklicher kennzeichnen 
als dadurch, daß er die Gesetze selbst (c. 14) sie her- 
vorheben und als einen Bund, den er mit ihnen, den 
Gesetzen, geschlossen, hinstellen läßt. Es zeigt sich bei dieser 
Sache, nebenbei gesagt, wieder der Vorteil, den Platon 
sich durch die Wahl eines so bescheidenen Geistes wie 
Kriton zum Mitunterredner im Dialog verschaffte In 
Kritons Munde ist die Aufforderung an Sokrates zur 
Gründung einer neuen Heimat noch am ehesten verständ- 
lich. Ihm steht der Vorschlag eines Heimatwechsels 
besser zu Gesicht als einem Aeschines oder Aristipp, die 
viel zu klug waren, um sich nicht zu sagen, dab eine 
solche Verpflanzung für jeden anderen eher denkbar sei 
als für einen Sokrates; einen kurzen Verzicht auf die 
Heimat mochten sie wohl für möglich halten, nicht aber 
eine dauernde Entfernung vom Vaterlande, wie sie Platon 
dem Kriton aus guten dichterischen Gründen vorschweben 
läßt. Jeder kluge Athener wußte, daß es heiße eine nor- 
dische Eiche in die Tropen verpflanzen, wenn man dem 
Sokrates zumuten wollte, dem heimischen Boden für 
immer zu entsagen. 

Es sei zum Schluß die aka noch auf 
einige Einwürfe hingelenkt, die man — die Sache vom 
Sokratischen, nicht vom Platonischen Standpunkt aus be- 
trachtet — wider den Gedankengehalt des Dialoges er- 
hoben hat.) Man hat gesagt, es sei unsokratisch, für 


1 Vgl. H. Gomperz, .Ztschr. für Phil. und philos. Kritik 109, 
. 178£, 


78 Kriton. 


die unbedingte Autorität der Gesetze einzutreten; sokra- 
tisch sei es, die Gesetze nur soweit anzuerkennen und 
für wahre Gesetze zu halten, als sie der Vernunft ent- 
sprechen, wie ja nach Sokrates das Unvernünftige über- 
haupt auf keinem Gebiete zu Recht bestehen könne. Darin 
liegt eine völlige Verkennung nicht des Sokratischen 
Standpunktes hinsichtlich des Rechtes der Abweisung 
überhaupt, wohl aber seiner Überzeugung von der Stellung 
des Bürgers zu den Gesetzen. Ohne Gesetze gibt es 
kein geordnetes Staatswesen. Jeder Bürger aber steht 
zu den Gesetzen in einem freiwilligen Unterwürfigkeits- 
verhältnis, welches noch verpflichtender ist als das der 
Kinder zu den Eltern (500, 50E); durch sein Verbleiben 
im Staat bei gegebener Möglichkeit ihn zu verlassen 
hat er sich mit eigenem Entschluß die Anerkennung der 
Gesetze zur unbedingten Pflicht gemacht. So berichtet 
denn auch Xenophon‘), das δίκαιον (das Recht, das Ge- 
rechte) falle dem Sokrates mit dem νόμιμον (dem Gresetz- 
mäßigen) zusammen, wenn es daneben auch für gewisse 
Verhältnisse ein δίκαιον φυσικόν, ein ursprüngliches, gött- 
liches Recht gebe, das durch ungeschriebene Gesetze 
(ἀγράφους νόμους) bestehe, wie das der Verehrung der 
Götter und Eltern, der Verpflichtung der Dankbarkeit, 
der Anerkennung der Blutschande zwischen Eltern und 
Kindern — kurz solcher Verhältnisse, die ins Gebiet des 
Religiösen hinüberspielen. Die Gleichstellung von δίκαιον 
und νόμιμον mag auf den ersten Blick sich bei Sokrates 
wie eine Inkonsequenz ausnehmen, indem darin ein Ver- 
zicht zu liegen scheint auf die Geltendmachung dessen, 
was die Vernunft selbst auf Grund ihrer unbedingten 
Machtvollkommenheit fordert. Näher zugesehen aber 
schließt sie auch nach dem Dialog selbst das Recht der 
Kritik keineswegs aus. Es wird vielmehr (51B, 51E) 
ausdrücklich gesagt, daß man entweder die Notwendig- 
keit einer Besserung gewisser Gesetze nachweisen oder 


1) Xen. Mem. IV, 4, 188. 


Einleitung. {9 


das durch sie Gebotene tun müsse. Hier läßt also das 
erste Glied der Alternative vollen Spielraum für die 
Kritik, nur daß sich diese Kritik nicht unmittelbar in 
Ungehorsam gegen die Gesetze umsetzen, sondern nur 
auf legalem Wege zu einer Umänderung derselben führen 
darf. Für die Möglichkeit aber, diesen legalen Weg mit 
Erfolg zu betreten, war in Athen hinreichend gesorgt. 
Zudem dürfte Sokrates ein ausreichend sicheres Gefühl 
dafür gehabt haben, daß ein radikaler Vernunftstand- 
punkt für die menschliche Gesetzgebung ein Ding der 
Unmöglichkeit sei. Eine naheliegende Überlegung zeigt, 
daß eine staatliche Gesetzgebung niemals darauf An- 
spruch machen kann, eine reine Vernunftgesetzgebung 
darzustellen. Keine staatliche Gesetzgebung kann mehr 
sein als ein Kompromiß zwischen der Einheit der Idee 
und der unendlichen Vielgestaltigkeit des Lebens. Das 
ideale Vernunftgesetz kann sich in dem trüben Medium 
der sinnlichen Erscheinung nie in seiner vollen Reinheit 
darstellen; alle philosophische Weisheit und philosophische 
Rechtslehre reicht nur aus, die Kriterien festzustellen, 
die für jede wirkliche Gesetzgebung maßgebend sein 
sollen, also die Richtung zu bezeichnen, in welcher sie 
sich im allgemeinen zu bewegen hat. Es kann hier nicht 
die Rede sein von einer unmittelbaren Herrschaft der 
‘Vernunft — denn die Idee des Rechtes gehört einer 
anderen Welt an als die positive Rechtsgestaltung, die nie 
einen anderen Charakter tragen kann als den des Em- 
pirischen und Historischen — sondern im besten Falle 
nur von einer unendlichen Annäherung, gleich der der 
Hyperbel an die Asymptote. Mag nun Sokrates diese 
Betrachtung angestellt haben oder nicht, jedenfalls geht 
sie aus der Natur der Sache selbst hervor und kommt 
seinem Standpunkt zugute. 

Ein weiteres Bedenken, das man gegen unseren Dia- 
log erhoben hat!), besteht darin, daß Sokrates sich hier 
mit voller Entschiedenheit gegen jede Form des ἀδικεῖν 

1). H. Gomperz ἃ. ἃ. Ο. 1715. ι 


80 Kriton. 


(Unrechttun) ausspricht'), also auch jede Betätigung der 
Vergeltung gegen die Feinde für unstatthaft erklärt 
(49B). Dies steht allerdings in schroffem Widerspruch 
nicht nur mit der Anschauung der Griechen überhaupt, 
sondern auch mit der des Sokrates, wie wir sie aus 
Xenophon’?) kennen. Rein für sich genommen, also ab- 
gelöst aus dem den Eindruck vielleicht mildernden Ge- 
dankenzusammenhang des Dialogs, zeugt dieser Stand- 
punkt von einer Friediertigkeit, die man einem Sokrates 
kaum zutrauen mag und die nur noch übertroffen wird 
von der Ethik der Evangelien, die ihren Gipfelpunkt 
in dem Spruche erreicht: „Schlägt dich jemand auf den 
einen Backen, so reiche ihm den anderen dar,‘ ein Spruch, 
der, wie ein bekannter Philosoph bemerkt, recht gut ist 
für jeden, der so klug ist, sich nicht auf den einen Backen 
schlagen zu lassen, aber für den, der das erste Unglück 
hatte, ein sehr bedenklicher Rat ist, der besser nicht be- 
folgt wird. Allein man hat doch einigen Grund, den 
hier anscheinend Sokratischen Satz im Lichte der ganzen 
im Dialoge vorliegenden Situation zu betrachten. Durch 
die Flucht aus dem Gefängnis würde sich Sokrates, wie 
der Dialog ausdrücklich hervorhebt (D0Aff.), zum aus- 
gesprochenen Feinde der Gesetze machen, denn das Ge- 
setz fordert, daß einmal gefällte gerichtliche Urteile als 
rechtsgültig anerkannt und vollstreckt werden müssen. 
Die Gegner in dem hier angenommenen — denn tat- 
sächlich sind es nach seiner Überzeugung (54B) gar nicht 
die Gesetze, von denen er Unrecht erfahren, sondern 
die Menschen (die Richter) — Feindesverhältnis wür- 
den sein die Gesetze einerseits, Sokrates anderseits. So- 

1) Unrechttun ist unter allen Umständen verwerflich. Darüber 
kann kein Streit sein. Es fragt sich nur, wie weit der Begriff de: 
Unrechttuns reicht. Recht und Unrecht setzen immer ein Verhältnis 
der Gegenseitigkeit unter den betreffenden Menschen voraus. Dem 
Rechte des einen entspricht die Verpflichtung des anderen. Diese 
Wechselbeziehung ist in der obigen Platonischen Fassung nicht 


beachtet. 
2) Mem. II, 6, 35. IIL 9 8, 


Kinleitung, 8] 


krates also würde durch seine Flucht den Gesetzen eineu 
schweren Schlag beibringen, er würde sich in hohem Maße 
ebendessen schuldig machen, was jener Satz von der 
durchgängigen Verwerflichkeit des ἀδικεῖν verbietet. Es 
ist klar: dem Platon kommt alles darauf an, den Sokrates 
in die Lage zu bringen, daß er die Unnatur und die Ver- 
werflichkeit des Widerstandes gegen die Gesetze so wirk- 
sam und grell wie nur möglich vor die Seele des Lesers 
stelle. Zu dem Ende läßt er ihn das Verhältnis zwischen 
sich und den Gesetzen zur Fiktion einer persönlichen 
Gegnerschaft zuspitzen, eine Fiktion, die ihm alle jene 
Vorteile bot, die das Lebendige stets vor dem Abstrakten 
hat. Das fingierte Mißverhältnis zwischen ihm und den 
Gesetzen wurde so bildlich zu einem persönlichen Kon- 
flikt, der mit voller dramatischer Lebendigkeit wirkt. 
Dies wirksame Bild eben ist es, zu dem sich Platon den 
Weg bahnt durch die möglichste Verallgemeinerung jenes 
Satzes von der Unstatthaftigkeit des Unrechttuns. Ohne 
Ausdehnung dieses Satzes auf die Rache auch gegen 
die Feinde hätte er sein drastisches Bild von den be- 
leidigenden und wieder beleidigten Gesetzen gar nicht 
durchführen können. Man mache sich den Zusammen- 
hang der zugrunde liegenden Gesichtspunkte klar: die 
Gesetze sollen als angebliche Beleidiger erscheinen, die 
- man nicht wieder beleidigen, an denen man sich nicht 
rächen darf. Zu dem Ende muß zunächst der Satz fest- 
gestellt werden, daß man sich überhaupt an niemandem 
rächen dürfe, sodann müssen die Gesetze personifiziert 
werden, denn unrecht tun ebenso wie unrecht leiden 
können nur Personen, nicht Sachen. . Die Personifikation 
der Gesetze also, diese künstlerisch hier dem Platon so 
wichtige Sache, hängt aufs engste zusammen mit der Auf- 
stellung des vielberufenen Satzes. Man hat also einigen 
Grund, diesen Satz hier mit etwas milderem Auge zu 
betrachten als wenn er als selbständige These für sich 
dastünde. 


Platon Apologie und Kriton. Phil. Bibl. Bd. 150, 6 


Inhalt und Gliederung 


des Kriton. 


Kriton, der sich in aller Frühe in der Gefängniszelle des So- 
krates eingefunden, fordert den erwachenden Sokrates zu endlicher, 
schleuniger Flucht auf, da die Ankunft des delischen Schiffes und 
damit die Hinrichtung unmittelbar bevorstehe. Alles sei zu seiner 
Rettung bereit und Sokrates dürfe seine Freunde nicht länger dem 
bei der großen Menge bereits erwachten Verdachte aussetzen, als 
hätten sie es an Opferwilligkeit fehlen lassen. 43A—46A. c. 1—5. 

Sokrates erklärt, von seinen stets als richtig erkannten Grund- 
sätzen auch jetzt nicht abweichen zu können. Das Urteil der großen 
Menge sei belanglos gegenüber dem Urteil der Sachverständigen. 
Nicht das Leben an sich sei das höchste Glück, sondern ein gutes 
und gerechtes Leben. Die Flucht aus dem Gefängnis wäre ein 
Frevel wider die Gesetze, denn diese fordern die Vollstreckung er- 
gangener Urteile. Unrecht tun aber sei unter allen Umständen un- 
zulässig, selbst als Vergeltung erfahrenen Unrechts. Auch ange- 
nommen also, die Gesetze hätten ihm unrecht getan, 80 sei er doch 
nicht befugt, sich an ihnen zu rächen. 46 B—49E. c. 6-10. 

Dies darzutun treten die Gesetze persönlich auf und legen die 
Gründe dar, die jede Auflehnung gegen sie als Unrecht und Frevel 
erscheinen lassen. Sie nämlich, die Gesetze, sind, wie sie nun selbst 
darlegen, die Begründer eines gesitteten staatlichen Lebens über- 
haupt und verlangen mit Recht eine Unterwürfigkeit, die noch 
bindender ist als die der Kinder gegen die Eltern. Indem sie es 
der Wahl eines jeden anheimstellen, die Stadt mit seiner Habe zu 
verlassen, legen sie dem in ihr Bleibenden die Pflicht des Gehorsams 
gegen sich auf. Niemand aber habe mit größerer Heimatliebe an 
Athen gehangen als Sokrates. 50 A—53A. c. 11—14. 

Zudem würde eine Flucht ihm gar keinen Vorteil bringen. Er 
würde seine Freunde nur dem Vorwurf der Gesetzesübertretung 
aussetzen, würde in wohlgeordneten Gemeinwesen als Untergraber 
gesetzlicher Ordnung einen schlechten Empfang finden, würde auch 
als Gast in Thessalien eine sehr schlechte Rolle spielen und seinen 
Kindern mehr schaden als nützen. 53A—54B. c. 15. 

Uber die Rücksicht auf das Leben gehe die auf die Gerechtig- 
keit, deren strenge Beachtung ihn auch zu der Hoffnung berechtige, 
im Hades eine wohlwollende Aufnahme zu finden, 

Der Macht dieser Gründe kann sich auch Kriton nicht ent- 
ziehen. 54 B—54E. c. 16. 


St. 


Platons Kriton. 


Personen: Sokrates, Kriton!), 


1. Sokrates. Wie, mein Kriton? Zu so ungewohnter 
Stunde du schon hier? Oder ist es nicht noch früh am 
Tage? ἢ | 

Kriton. Allerdings. 

Sokrates. Wie früh denn etwa? 

Kriton. Noch tiefe Dämmerung. 

Sokrates. Sonderbar, daß der Gefängniswärter sich 
dazu verstehen konnte dir Einlaß zu gewähren. 

Kriton. Wir sind schon miteinander bekannt, So- 
krates, infolge meiner häufigen Besuche bei dir, auch 
hat es an Erkenntlichkeit meinerseits ihm gegenüber 
nicht ganz gefehlt. 

Sokrates. Bist du eben erst gekommen oder bist 
du schon eine Weile hier? 

Kriton. Schon ziemlich lange. 

Sokrates. Wie kommt es dann, daß du mich nicht 


. gleich geweckt, sondern ruhig hier neben mir gesessen . 


hast? 

Kriton. Beim Himmel, Sokrates, in so leidvoller 
Lage auch noch des Schlafes beraubt zu werden, das wäre 
mir selber doch eine Qual. Doch nehme ich längst schon 


mit Erstaunen wahr, wie sanft du. schläfst, und wenn 


ich dich nicht weckte, so geschah das recht absichtlich, 
damit dir die Zeit angenehm verrinne. Oft genug habe 
ich auch schon früher, solange ich lebte, dich glücklich 
gepriesen ob deiner Gemütsart, niemals aber habe ich 
dich stärker bewundert als bei dem jetzt dich heim- 
suchenden Mißgeschick, ob der Gelassenheit nämlich und 
Ruhe, mit der du es trägst. 
u* 


84 Platon. 


Sokrates. Ja, mein Kriton, es würde mir doch 
auch schlecht anstehen in meinen alten Tagen, mich zu 
sträuben, wenn es nun ans Sterben geht. 

Kriton. Es gibt, mein Sokrates, genug Leute, die 
sich in deinen Jahren auch noch von ähnlichen Schick- 
salsschlägen betroffen sehen; allein ihr Alter bewahrt 
sie durchaus nicht davor, sich gegen das über sie herein- 
brechende Unglück zu sträuben. 

Sokrates. Du hast recht. Doch warum hast du dich 
so in aller Frühe eingefunden? 

Kriton. Ich bringe, Sokrates, eine schlimme Nach- 
richt, schlimm und bedrückend nicht für dich, wie mir 
scheint, wohl aber für mich wie für alle, die dir nahe- 
stehen; ja, ich wüßte keine andere, die für mich so be- 
drückend wäre. 

Sokrates. Und was wäre das für eine? Etwa die 
von dem Eintreffen des Schiffes aus Delos, dessen An- 
kunft für mich die Ankündigung des Todes bedeutet?) 

Kriton. Noch ist es nicht angelangt, aber irre ich 
nicht, so steht seine Ankunft noch heute bevor nach 
den Mitteilungen einiger Reisenden, die von Sunion hier 
eingetroffen sind, wo sie das. Schiff verlassen haben. 
Aus ihren Mitteilungen geht klar hervor, daß es heute 
einlaufen wird, und so wirst du denn, Sokrates, morgen 
dein Leben lassen müssen. | 

2. Sokrates. Nun, Glück zu, mein Kriton. Ist 
das der Wille der Götter, so mag es dabei sein Be- 
_ wenden haben. Allein ich glaube nicht, daß es heute 
schon eintreffen wird. 

Kriton. Was führt dich auf diese Vermutung? 

Sokrates. Du sollst es hören. Ich soll ja doch den 
Tod erleiden an dem Tage, der auf die Ankunft des 
Schiffes folgt. | 

Kriton. So lautet wenigstens der Spruch der zu- 
ständigen Behörde. | 

Sokrates. Nun, so glaube ich nicht, daB es am 
heutigen Tage eintreffen wird, sondern erst am folgenden. 


Kriton. SH 


Meine Annahme aber stützt sich auf einen Traum, den 
ich eben erst in dieser Nacht gehabt habe. Und so ist 
es, wie es scheint, ein wahres Glück gewesen, daß du 
mich nicht geweckt hast.*) 

Kriton. Und welcher Art war dieser Traum’ 

Sokrates. Es kam mir vor, als träte ein schönes, 
wohlgestaltetes Weib an mich heran, in weißem Ge- 
wande. Sie rief mich und sagte: Sokrates,?) 

Laß drei Tage vergehn, dann bist du im scholligen Phthia. 
Kriton. Ein absonderlicher Traum, Sokrates. 
Sokrates. Nun, mir wenigstens will es scheinen, als 

wäre er deutlich genug, Kriton. 

3. Kriton. Leider nur zu deutlich, allem Anschein 
nach. Aber, mein Teuerster, noch ist es Zeit: folge 
mir jetzt und rette dich. Denn stirbst du, so ist das 
mehr als ein Unglück für mich. Nicht genug nämlich, 
daß ich in dir eines Freundes beraubt werde®), wie ich 
nimmer einen wieder finden werde: ich werde auch bei 
vielen, die mich und dich nicht genau kennen, in den 
Verdacht geraten, ich hätte, obschon in der Lage, dich 
zu retten, wenn ich nur meinen Geldbeutel hätte öffnen 
wollen, mich dazu nicht entschließen können. Kann es 
aber eine schlimmere Schädigung des guten Namens geben 
als die Verdächtigung, man schlüge den Wert des Geldes 
. höher an als den der Freunde? Die große Menge wird . 
es nicht glauben, daß du selbst dich nicht hättest ent- 
schließen können von hier zu entweichen, wenn wir es 
mit allem Ernste betrieben hätten. 

Sokrates. Aber, mein trautester Kriton, wozu sich 
so viele Sorgen machen um die Meinung der Leute? Die 
Bestgesinnten, die vor den anderen Beachtung verdienen, 
werden ja doch die Sache so nehmen wie sie ihrem wirk- 
lichen Ablauf gemäß zu nehmen ist. ἢ 

Kriton. Aber du hast doch, Sokrates, ein Ein- 
sehen dafür, daß man sich auch um die Meinung der 
Leute kümmern muß. Gerade der vorliegende Fall läßt 
klar erkennen, daß die große Menge imstande ist einem 


86 Platon. 


das größte Leid zuzulügen — von kleinem gar nicht zu 
reden. 

Sokrates. Ach möchte doch, mein Kriton, die große 
Menge imstande sein einem das größte Leid zuzufügen, 
auf daß sie auch imstande wäre das größte Glück zu 
verleihen.°) Dann bliebe nichts zu wünschen übrig. So 
aber vermögen sie keines von beiden. Denn sie können 
weder Einsicht noch Unverstand austeilen, sondern hängen 
in ihrem Tun und Treiben ganz von den Launen des 
Zufalls ab. 

4. Kriton. Damit magst du denn recht haben. Aber 
nun, mein Sokrates, gib mir Auskunft auf folgende Frage: 
erfüllt dich dein etwaiges Entweichen von hier mit der 
Besorgnis, die zünftigen Angeber (Sykophanten) könnten 
mir und deinen anderen Freunden mit der Beschuldigung 
zu Leibe rücken, wir hätten dir von hier fortgeholfen, 
so daß wir uns in die Zwangslage gebracht sähen, ent- 
weder unser ganzes Vermögen oder wenigstens erhebliche 
Summen zu verlieren, oder auch noch außerdem Leid und 
Weh über uns ergehen zu lassen? Sollte dich eine Furcht 
dieser Art ängstigen, dann laß sie ruhig fahren. Denn 
wir sind es dir doch wohl schuldig dich zu retten und 
diese Gefahr auf uns zu nehmen, ja, wenn es sein muß, 
eine noch größere. Folge mir also und gib jedes andere 
Vorhaben auf. 

Sokrates. Allerdings hege ich Besorgnisse dieser 
Art, mein Kriton, aber auch noch manche andere. 

Kriton. So sage dich denn los von dieser Furcht; 
ist doch der Geldbetrag nicht groß, gegen welchen gewisse 
Leute bereit sind dich zu retten und von hier fortzu- 
bringen. Und was unsere zünftigen Angeber betrifit, 
so weißt du ja, sie sind leicht zu bestechen, und um sie 
mundtot zu machen, bedarf es keines großen Aufwandes. 
Zunächst steht dir nun mein Vermögen zur Verfügung, 
und ich sollte meinen, es reichte aus; für den Fall aber, 
daß du etwa aus sorglicher Schonung für mich glauben 
solltest, von der Benutzung meines Vermögens absehen 


.W® 
ey 


Kriton. 87 


zu müssen, sind unsere Gäste aus der Fremde bereit, 
den erforderlichen Aufwand zu bestreiten. Und einer 
von ihnen, Simmias aus Theben”), hat zu ebendiesem 
Zweck eine ausreichende Summe bereits mitgebracht. 
Aber auch Kebes und noch gar viele andere sind voller 
Bereitschaft. Also weder durch Furcht, wie gesagt, darfst 
du dich abhalten lassen unermüdlich an deiner Rettung 
zu arbeiten!®),, noch darfst du deine Äußerung vor Ge- 
richt, du würdest als Flüchtling in der Fremde nichts 
mit dir anzufangen wissen, dich weiter beunruhigen 
lassen. Denn auch anderwärts wirst du an zahlreichen 
Orten, in die du kommst, Leute finden, die sich deiner 
liebreich annehmen. Willst du aber nach Thessalien 
gehen, so habe ich dort Gastfreunde, die dich hoch in 
Ehren halten und dir Schutz gewähren werden; von 
keinem Thessalier also brauchst du ein Leid zu be- 
fürchten. 

5. Dazu kommt nun noch folgendes, mein Sokrates. 
Es will mir geradezu als ein Unrecht erscheinen, wenn 
du darauf hinarbeitest, dich preiszugeben trotz der vor- 
handenen Möglichkeit dich zu retten, und dir geflissent- 
lich ein Schicksal zu bereiten, wie es dir auch deine 
Feinde bereiten möchten und tatsächlich bereitet haben 
in der Absicht, dich zu verderben. Zudem versündigst 
du dich meines Erachtens auch an deinen Kindern, die 
du erziehen und heranbilden könntest, während du dich 
nun von ihnen trennen und sie verlassen willst!?), so daß, 
soweit es auf dich ankommt, ihr Schicksal dem Zufall 
preisgegeben ist. Was aber ihrer harret, ist vermutlich 
nichts anderes als das gewöhnliche Los der Waisen im 
Waisenstand. Entweder nämlich muß man sich das ehe- 
liche Glück ganz versagen oder sich mit ausdauernder 
Hingebung der Erziehung und Bildung seiner Kinder 
widmen. Du aber scheinst mir den bequemsten Weg 
zu wählen. Wählen aber soll man doch das, was ein 
braver und tapferer Mann wählen würde, zumal wenn 
man doch erklärt, man sei sein lebelang der Tugend be- 


δδ Platon. 


tlissen gewesen. So schäme ich mich denn in deinem wie 
in unserem, deiner Freunde, Namen, denn man könnte 
denken, der ganze Hergang der Sache sei eine Folge 
des Mangels an Tapferkeit unserseits, nicht nur das Er- 
scheinen vor Gericht, dem man recht wohl hätte aus- 
weichen können!?), sondern auch der Verlauf der Ge- 
richtsverhandlung und endlich dieser lächerliche Abschluß 
des ganzen Handels.!?) Vor all dem, wird man meinen, 
hätten wir die Augen verschlossen, indem wir nichts zu 
deiner Rettung unternahmen, so wenig wie du selbst, 
obschon es doch möglich und ausführbar war, wenn wir 
nur irgendwie unsere Schuldigkeit getan hätten. Über- 
lege dir, Sokrates: wird das nicht neben allem Unglück 
dir und uns auch noch Schimpf und Schande eintragen? 
Auf, entschließe dich, wenn noch möglich; denn es ist 
eigentlich gar keine Zeit mehr sich zu entschließen, der 
Entschluß muß schon gefaßt sein, und es gibt nur 
einen; denn in der kommenden Nacht muß alles getan 
sein. Zaudern wir aber noch, so ist es mit der Möglich- 


keit und Ausführbarkeit vorbei. So folge mir denn, So- 


krates, um jeden Preis und laß jeden anderen Gedanken 
fahren. 

6. Sokrates. Mein lieber Kriton, deine Hilfsbereit- 
schaft ist aller Anerkennung wert, vorausgesetzt, dab 
sie hier auch richtig und angebracht ist; wo nicht, so 
ist sie um so bedenklicher, je lebhafter sie ist. Es gilt 
also gemeinsam zu erwägen, ob ich so handeln soll oder 
nicht; denn nicht erst jetzt, sondern immer schon habe 
ich es so gehalten, daß ich keiner anderen Stimme meines 
Innern folge als der, die mir bei eingehender Erwägung 
als die beste erscheint. So kann ich mich denn von 
früher einmal ausgesprochenen Grundsätzen jetzt, wo 
mich dies Schicksal getroffen hat, nicht lossagen, viel- 
mehr sind sie in meinen Augen noch dieselben und ich 
achte und ehre sie ebenso wie früher. Können wir gegen- 
wärtig nichts Besseres vorbringen, so laß dir gesagt sein, 
daß ich dir nicht nachgebe, mag auch die Macht der 


Kriton. 89 


Menge durch noch stärkere Schreckmittel als bisher uns 
gruseln machen wie Kinder, durch Verhängung von Ge 
fängnis, Tod und Vermögensentziehung. Wie können wir 
also mit unseren Erwägungen am besten zum Ziele ge- 
langen? Wenn wir zunächst uns wieder dem Satze zu- 
wenden, den du über die Meinungen der Menge aufstellst. 
Wir fragen also, ob die immer wiederkehrende Behaup- 
tung, daß man auf gewisse Meinungen achten müsse, ΔῈ} 
andere wieder nicht, richtig oder falsch war. Oder war 
sie etwa richtig, solange der Tod noch nicht über mich 
verhängt war, während sich jetzt klar herausstellt, daß 
sie gar nicht ernst gemeint, sondern in Wahrheit nichts 
war als ein Spiel der Unterhaltung und eine Seifenblase’ 
Ich möchte also in Gemeinschaft mit dir, mein Kriton, 
untersuchen, ob der Satz jetzt, in meiner gegenwärtigen 
Lage, seine Geltung verlieren oder noch weiter gelten 
soll, ob wir ihn also fallen lassen oder ihm folgen sollen. 
Ich denke, bei Leuten, die auf ein selbständiges Urteil 
Anspruch machen, war der Satz, so wie ich ihn eben 
aussprach, stets in Geltung, daß man von den den Men- 
schen geläufigen Meinungen einigen volle Beachtung 
schenken müsse, anderen wieder nicht. Wie meinst du 
nun? Hat es damit nicht seine volle Richtigkeit? Denn 
nach menschlichem Ermessen hast du für morgen nicht 


- den Tod zu befürchten, und das vorliegende Mißgeschick 


kann dich nicht irremachen. Erwäge also: scheint dir 
der Satz nicht richtig zu sein, daß man nicht alle Mei- 
nungen der Menschen beifällig aufnehmen soll, sondern 
nur einige, andere wieder nicht? Was meinst du? Ist 
das nicht richtig gesagt? 

Kriton. Allerdings. RN 

Sokrates. Den sachgemäßen also muß man seinen 
Beifall geben, den verfehlten aber nicht? 

Kriton. Ja. | 

Sokrates. Sachgemäß sind aber doch die der Ein- 
sichtigen, verfehlt dagegen die der Unverständigen? 

Kriton. Gewiß. - 


90 Platon. 


7. Sokrates. Wie steht es nun ferner mit folgendem 
in unseren Gesprächen öfters aufgestellten Satz: Ein 
Mann, der nach allen Regeln der Kunst Leibesübungen 
treibt, - wird der wohl auf jedermanns Lob und Tadel 
und Urteil achten, oder nur auf das jenes Einen, des 
Arztes oder Turnmeisters nämlich? 

Kriton. Dieses Einen allein. 

Sokrates. Dieses einen Mannes Tadel und Lob muß 
für ıhn ausschlaggebend sein: seinen Tadel muß er fürch- 
ten, sein Lob dankbar begrüßen, nicht aber das der großen 
Menge. 

Kriton. Offenbar. 

Sokrates. In seinen Handlungen also ebenso wie 
in seinen Leibesübungen und in seinem Essen und Trin- 
ken muß er sich dem Urteil dieses Einen fügen, dieses 
Meisters und Sachverständigen, der ihm mehr gelten muß 
als die anderen alle zusammen. 

Kriton. Du hast recht. 

Sokrates. Versagt er aber diesem Einen den Gehor- 
sam und macht er sich nichts aus dessen Urteil und Lob, 
hält er es vielmehr mit den Meinungen der großen Menge, 
wird ihm das nicht zum Übel ausschlagen? 

Kriton. Unfehlbar. 

Sokrates. Worin besteht nun wohl dieses Übel? 
Was hat es für eine Beziehung und nach welcher Seite 
hin wird der Unfolgsame davon betroffen? 

Kriton. Offenbar an seinem Körper; denn diesen 
richtet er dadurch zugrunde. 

Sokrates. Ganz recht. Steht es nun nicht ebenso, 
mein Kriton, auch mit den übrigen Dingen? Steht es 
nicht, um nicht allesamt durchzugehen, ebenso mit dem 
Recht und dem Unrecht, dem Häßlichen und Schönen, 
dem Guten und Schlechten, worauf sich unsere jetzige 
Beratung bezieht? Müssen wir etwa dem Urteil der Menge 
folgen und. vor ihm Respekt haben, oder dem jenes Einen, 
des Sachverständigen — wenn es einen solchen gibt —, 
vor dem man mehr Achtung und Furcht haben muß 


σ 


Kriton. 4] 


als vor der ganzen Masse der übrigen? Denn folgen wir 
ihm nicht, dann kann es nicht ausbleiben, daß wir das- 
jenige zugrunde richten und entwürdigen, was durch Ge- 
rechtigkeit gehoben, durch Ungerechtigkeit aber zugrunde 
gerichtet wird. Oder sollte es ein solches überhaupt nicht 
geben? 

Kriton. Was wenigstens mich betrifft, so glaube ich 
an dessen Dasein, Sokrates. 

8. Sokrates. Nun gut. Laß uns also nun wieder an 
dasjenige denken, was durch Gesundheit gebessert, durch 
Krankheit dagegen zugrunde gerichtet wird, wenn wir 
uns nicht dem Urteil des Sachverständigen fügen. Lohnt 
es sich überhaupt noch zu leben, wenn dieses dem Unter- 
gang anheimgefallen ist? Es ist dieses aber doch wohl 
der Körper. Oder nicht? 

Kriton. Ja. 

Sokrates. Ist nun das Leben noch lebenswert mit 
einem verkommenen und zerrütteten Körper? 

Kriton. Nimmermehr. 

Sokrates. Sollte es dagegen der Mühe noch wert sein 
zu leben, wenn dasjenige zerrüttet ist, dem die Ungerech- 
tigkeit Schande und Schaden, die Gerechtigkeit dagegen 
Nutzen bringt? Oder sollen wir etwa denjenigen wie auch 


. immer zu benennenden Teil unseres Innern, der die Heim- 
. stätte ist der Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit, für be- 


langloser halten als den Körper? 

Kriton. Nimmermehr. 

Sokrates. Vielmehr für wertvoller? 

Kriton. Weitaus. 

Sokrates. In keinem Falle also, mein Bester, haben 
wir uns daran zu kehren, was die große Menge über 
uns sagt, sondern was jener Einzige, der über Recht 
und Unrecht genau Bescheid weiß, und was die Wahrheit 
selber sagt. Mithin gibst du zunächst der Sache von vorn- 
herein eine falsche Wendung dadurch, daß du forderst, 
wir sollten uns an die Meinung der großen Menge kehren 
hinsichtlich des Gerechten, Schönen und Guten und des 


9. Platon, 


Gegenteils. Ja, aber die große Menge ist doch machtvoll 
genug, uns das Leben zu nehmen? Dies dürfte wohl einer 
einwenden. 

Kriton. Das ist allerdings einleuchtend. Ja, so 
würde man sagen, Sokrates. Du hast ganz recht. 

Sokrates. Allerdings. Aber, mein Bester, nicht nur 
der eben besprochene Satz scheint mir noch seine frühere 
Geltung zu behalten, sondern du mußt auch noch den fol- 
genden Satz hinsichtlich seiner Geltung ins Auge fassen: 
„Nicht das Leben ist das zu erstrebende höchste Gut, 
sondern das gute Leben.‘ Steht dieser Satz noch in Gel- 
tung oder nicht? 12) 

Kriton. Ja, er steht noch in Geltung. 

Sokrates. „Gut“ aber und „schön“ und „gerecht‘ 
besagen dasselbe. Dieser Satz steht doch noch in Geltung. 
Oder nicht? 

Kriton. Ja. 

9. Sokrates. Auf Grund des Eingeräumten ist nun 
zu erwägen, ob mir ein Recht zusteht zu dem Versuche, 
von hier zu entweichen ohne Erlaubnis der Athener, oder 
ob ich kein Recht dazu habe. Und stellt es sich heraus, 
daß ich ein Recht dazu habe, dann wollen wir den Ver- 
such machen, wo nicht, so muß er unterbleiben. Was 
aber die Rücksichten auf Geldaufwand, auf böse Nachrede 
und Kindererziehung: anlangt, von denen du redest, so 
handelt es sich da vielleicht tatsächlich, mein Kriton, 
um Anschauungen von Leuten, die leichthin den Tod ver- 
hängen und den Toten dann wieder ins Leben zurück- 
rufen möchten, wenn sie dazu nur imstande wären, Leute 
ohne eine Spur von Verstand, eben echte Massenmenschen. 
Wir aber haben, im Einklang mit der Entscheidung der 
gesunden Vernunft, unser Augenmerk auf nichts anderes 
zu richten als auf die eben aufgeworfene Frage, ob wir 
gerecht handeln, wenn wir denen, die uns von hier fort- 
schaffen wollen, Geld zahlen und auch noch Dank hinzu- 
fügen, und wenn wir beide das Entweichen betreiben, du 
als Befreiender und ich als Flüchtling, oder ob wir in 


τ 


Kriton. 43 


Wahrheit wider das Recht handeln, wenn wir uns auf alles 
dies einlassen. Sollte es sich herausstellen, daß wir daran 
unrecht täten, dann darf es für uns, gegenüber der Ver- 
sündigung durch Unrechttun, gar nicht in Betracht kom- 
men, ob unser ruhiges Ausharren für uns den Tod oder 
sonst irgendwelches Leid mit sich bringt. 

Kriton. Du hast recht, Sokrates, wie mir scheint. 
Sieh nur zu, was wir zu tun haben. 

Sokrates. Gemeinsam zu erwägen, mein Bester, ist 
unsere Aufgabe, und hast du einen Einwand gegen meine 
Ausführungen vorzubringen, so rücke nur heraus damit, 
ich werde darauf eingehen; wo nicht, so höre endlich auf, 
mein Teuerster, mir immer wieder die nämliche Weisheit 
zu predigen, ich müsse von hier entweichen, im Wider- 
spruch zu dem Beschluß der Athener. Denn so sehr ich 
es zu schätzen weiß, daß du mir zuredest so zu handeln, 
so soll dein Rat doch nicht wider meinen Willen befolgt 
werden.!?) Gib nun also acht, ob gleich der Anfang der 
Untersuchung deinem Sinne entspricht, und versuche 


. meine Fragen zu beantworten nach bestem Wissen und 


Gewissen. 

Kriton. Das will ich versuchen. 

10. Sokrates. Wie steht es mit unserer Meinung 
über das Unrechttun? Darf man unter keinen Umständen 
freiwillig unrecht tun, oder darf man es unter gewissen _ 
Umständen, unter anderen wieder nicht? Oder ist das 
Unrechttun überhaupt durchweg weder gut noch schön, 
wie wir in früheren Gesprächen es oft festgestellt haben 
[und wie auch eben erst wieder behauptet ward 7} 1 Oder 
sollen alle diese früheren Feststellungen in diesen wenigen 
Tagen wie weggeblasen sein? Sollen also Männer so hohen 
Alters wie wir, mein Kriton, schon geraume Zeit ernst- 
haft miteinander Reden getauscht haben ohne zu merken, 
daß es reines Kinderspiel war, was wir trieben? Oder 
bleibt es unbedingt bei dem damaligen Spruch, mögen 
nun die Leute ja oder nein dazu sagen? Und ist das Un- 
rechttun, mag uns nun ein noch härteres Schicksal be- 


94 Platon. 


schieden sein als das gegenwärtige oder ein milderes, für 
den Frevelnden doch unbedingt verwerflich und häß- 
lich???) Soll dieser Satz gelten oder nicht? 

Kriton. Er soll gelten. 

Sokrates. In keinem Falle aa darf man unrecht 
tun? 

Kriton. Gewiß nicht. 

Sokrates. Also auch der, dem Unrecht widerfahren 
ist, darf nicht wieder unrecht tun, wie die meisten glau- 
ben; denn man darf ja eben unter keinen Umständen 
unrecht tun."®) 

Kriton. Nein, das darf man gewiß nicht. 

Sokrates. Und weiter. Darf man Böses zufügen, 
Kriton, oder nicht? | 

Kriton. Kein Zweifel, man darf es nicht, Sokrates. 

Sokrates. Wie nun? Böses zu erwidern, wenn einem 
Böses widerfährt, ist das, wie die meisten behaupten, 
recht oder unrecht? 

Kriton. Unrecht, ganz entschieden. 

Sokrates. Denn den Menschen Böses zufügen, heißt 
doch nichts anderes, als ihnen unrecht tun. 

Kriton. Du hast recht. 

Sokrates. Also weder erlittenes Unrecht vergelten 
noch Böses zufügen darf man irgendeinem Menschen, mag 
man auch noch so schwer von ihm zu leiden haben. Und 
sieh dich wohl vor, Kriton, ehe du zustimmst, auf daß 
du nicht gegen deine Überzeugung einstimmst: denn ich 
weiß: nur ganz wenige denken so und werden so denken. 
Für die Anhänger dieses Glaubens nun und ihre Gegner 
gibt es kein gegenseitiges Verständnis, sondern unver- 
meidlich nur gegenseitige Verachtung angesichts ihrer 
beiderseitigen Grundsätze und Entschließungen. Darum 
überlege denn auch du dir’s recht genau, ob du dich mir 
anschließen kannst und meine Ansicht teilst und ob wir 
zum Ausgangspunkt unserer Beratung den Satz machen, 
daß es niemals zulässig ist unrecht zu tun, noch auch 
Unrecht zu erwidern, noch wenn einem Böses widerfährt, 


Kriton. οὗ 


sich durch Erwiderung des Bösen zur Wehr zu setzen, 
oder ob du diesem Grundsatz nicht beitreten und ihn 
nicht teilen kannst. Mir allerdings steht dieser Satz 
wie schon früher so auch jetzt noch fest, aber du bist 
vielleicht anderer Ansicht. Darüber mußt du dich nun 
äußern und Aufklärung geben. Hältst du aber an dem 
Früheren fest, so höre nun das Weitere. 

Kriton. Ja, ich halte fest daran und bin der gleichen 
Ansicht. So laß denn hören. 

Sokrates. So sage ich nun das Weitere, oder frage 
vielmehr: Muß man, wenn man mit einem anderen einen 
rechtlichen Vertrag geschlossen hat, ihn auch einhalten, 
oder darf man sich trügerisch seiner Verpflichtung ent- 
ziehen? 

Kriton. Einhalten muß man Ihn. 

11. Sokrates. Von diesem Standpunkt aus betrachte 
nun dieSache. Wenn wir von hier entweichen ohne Geneh- 


. migung des Gemeinwesens, verüben wir dann Böses nach 


gewissen Seiten hin und zwar gegen solche, die es am 
wenigsten verdient haben, oder nicht? Und bleiben wir 
dem treu, was wir als gerecht anerkannt haben, oder 
nicht? 

Kriton. Ich bin nicht imstande, Sokrates, auf deine 
Frage zu antworten, denn ich verstehe sie nicht. 

Sokrates. Nun, betrachte es von folgender Seite. . 
Setze den Fall, wir wären im Begriff von hier davonzu- 
laufen oder wie man die Sache sonst benennen soll, und 
die Gesetze und das Gemeinwesen stellten sich uns in 
den Weg und fragten: „Sage mir, Sokrates, was läßt du dir 
einfallen zu tun? Gehst du nicht geradezu darauf aus, 
durch dieses dein Beginnen uns, die Gesetze, sowie das 
ganze Gemeinwesen zugrunde zu richten soweit es auf 
dich ankommt? Oder glaubst du an die Möglichkeit, daß 
ein Staat noch Bestand habe und vor dem Untergange 
bewahrt sei, in welchem die einmal gefällten gerichtlichen 
Urteile keine Kraft haben, sondern von Unberufenen wir- 
kungslos gemacht und vernichtet werden?“ Was werden 


98 Platon. 


wir, Kriton, auf diese und ähnliche Fragen antworten? 
Denn es ließe sich gar manches, zumal von einem ge- 
schulten Anwalt, zugunsten des mit Vernichtung be- 
drohten Gesetzes sagen, welches verordnet, daß die ein- 
mal gefällten Urteile in Kraft bleiben. Oder sollen wir 
ihm antworten: Der Staat hat uns ja doch unrecht getan 
und den Rechtsstreit nicht richtig entschieden?'?) Wird 
dıes unsere Antwort sein oder wie soll sie lauten? | 

Kriton. Dies wird sie sein, beim Zeus, mein So- 
krates. | 

12. Sokrates. Wie nun, wenn die Gesetze folgender- 
maßen sprächen: „War es denn dies, Sokrates, worauf 
sıch die Vereinbarung zwischen uns und dir bezog? 
Lautete diese nicht vielmehr dahin, du würdest dich ge- 
treulich den richterlichen Urteilen fügen, die vom Staate 
gefällt werden?“ Wenn wir uns nun mit dieser Abferti-. 
sung nicht zufrieden gäben, dann würden sie vielleicht 
sagen! „Laß dich durch unsere Rede nicht irremachen, 
Sokrates, sondern antworte, denn das Fragen und Ant- 
worten ist dir ja zur anderen Natur geworden. So sage 
denn: Was hast du denn uns und dem Staate vorzu- 
werfen, daß du uns aus dem Wege räumen willst? Waren 
wir es nicht fürs erste, die dir zum Dasein verhalfen? 
Hat nicht durch unsere Vermittlung dein Vater deine 
Mutter geheiratet und dir das Leben geschenkt? Sag an, 
was für Fehler hast du an uns, soweit wir es mit Ehe- 
verhältnissen zu tun haben, zu rügen? Was tadelst du 
an uns?‘ ?®) 

„Jch wüßte nichts zu tadeln‘“, würde ich antworten. 

„Aber soweit wir es mit der Erziehung und Heran- 
bildung der Neugeborenen, die auch dir zuteil geworden, 
zu tun haben, wie steht es da mit deinem Tadel? Oder 
haben wir, soweit wir uns auf dieses Gebiet bezogen, 
nicht alles in bester Weise geregelt, indem wir deinem 
Vater die Anweisung gaben, dich in den musischen und 
symnastischen Künsten unterrichten zu lassen?‘ ”’) 

„In bester Weise“, würde ich antworten. 


ad 


Kriton, 97 


„Gut! Nachdem du also geboren, erzogen und heran- 
gebildet worden bist, kannst du da etwa behaupten, du 
wärest nicht der Unserige als unser Sohn und Untertan, 
du selbst so gut wie deine Vorfahren? Und wenn dem so 
ist, wie kannst du dann glauben, es bestehe gleiches Recht 
zwischen dir und uns, und was wir gegen dich zu tun 
uns erlauben, das habest auch du das Recht uns zu 
tun? Besaßest du etwa gegen deinen Vater oder deinen 
Herrn — wofern du etwa einen solchen hattest — das 
gleiche Recht? Durftest du ihm etwa wieder ‘antun, was 
du von ihm zu leiden hattest? Durftest du seine etwaigen 
Schmähungen, seine Schläge und was sonst alles noch 


. von dieser Art in Betracht kommt, durch Gleiches er- 


widern? Nein! Und dem Vaterland und den Gesetzen 
gegenüber soll dir dies alles erlaubt sein? Wenn wir also 
über dich den Tod verhängen, weil unserer Überzeugung 
nach die Gerechtigkeit es so fordert, so willst auch du 
dir es zur Aufgabe machen, die Gesetze und das Vater- 
land nach Kräften deinerseits zu Fall zu bringen, und 
behaupten, du hättest das volle Recht so zu handeln, 
du, der sich rühmt, in Wahrheit nur im Dienste der 
Tugend zu stehen? Besteht deine Weisheit etwa darin, 
nicht zu wissen, daß das Vaterland in den Augen der 
Götter und aller Vernünftigen unter uns Menschen ehr- 


. würdiger und heiliger ist und in größerem Ansehen steht 


als Mutter und Vater und die sonstigen Vorfahren? und 
daß man ihm, dem Vaterlande, alle Ehrfurcht schuldig 
ist, und wenn es zürnt, ihm mehr nachgeben und freund- 
lich zureden muß als dem zürnenden Vater? Und daß man 
es entweder in überzeugender Weise eines Besseren be- 
lehren oder sich seinen Anordnungen fügen und über sich 
ergehen lassen muß was es uns etwa zu leiden auf- 
erlegt, ohne zu murren, mag es uns nun zu Schlägen oder 
zu Gefängnis verurteilen oder uns zum Kriegsdienst, 
zu Wunden und Tod entbieten? Dies sind unerläßliche 
Leistungen, die vom Recht gefordert werden: nicht wei- 
chen darf man, nicht wanken, noch seinen Posten ver- 
Platon Apologie und Kriton. Phil. Bibl. Bd. 180. 7 


98 Platon. 


lassen, sondern sowohl im Kriege wie vor Gericht und 
überall tun was der Staat und das Vaterland fordern, 
es sei denn, daß man es überzeugend eines Besseren be- 
lehre über das, was das eigentliche Recht fordert.?”) Ge- 
walt aber wäre eine Sünde schon gegen Mutter und 
Vater, wieviel mehr also noch gegen das Vaterland!“ 

Was sollen wir darauf erwidern, Kriton? Daß die 
Gesetze recht haben oder nicht? 

Kriton. Was mich anlangt, so stimme ich den Ge- 
setzen bei. 

13. Sokrates. ‚So erwäge denn, Sokrates,“ — so 
etwa würden die Gesetze vermutlich fortfahren — ‚ob 
wir die Wahrheit sagen mit der Behauptung, dein jetziges 
Unterfangen gegen uns sei nicht vereinbar mit der Ge- 
rechtigkeit. Denn wir, die wir dich erzeugt, aufgezogen, 
herangebildet und aller staatlichen Wohltaten ganz so 
wie auch alle anderen Bürger teilhaftig gemacht haben, er- 
teilen gleichwohl ausdrücklich durch öffentliche Erklä- 
rung jedem Athener, nachdem er in die Bürgerliste ein- 
getragen ist und sich mit den Verhältnissen des Staates 
sowie mit uns, den Gesetzen, bekannt gemacht hat, auf 
seinen Wunsch für den Fall, daß er mit uns nicht zu- 
frieden ist, die Erlaubnis, mit seiner ganzen Habe fort- 
zuziehen, wohin es ihm gefällt. Und keines von uns, 
den Gesetzen, hindert ihn oder verbietet ihm hinzuziehen, 
wohin er nur Lust hat, sei es nun in eine euerer Pflanz- 
städte, wofern wir und unsere Stadt ihm nicht gefallen, 
oder sonst wohin: er kann seinen Wohnsitz dahin ver- 
legen, unter Mitnahme seines Vermögens. Wer von euch 
aber hier verbleibt, wohlbekannt mit der Art unserer 
Rechtsprechung und unserer sonstigen Staatsverwaltung, 
der hat — so behaupten wir — dadurch bereits tatsäch- 
lich seine Verpflichtung anerkannt unseren Anordnungen 
Folge zu leisten, und wer ihnen nicht nachkommt, der 
— behaupten wir — macht sich eines dreifachen Ver- 
gehens schuldig: er versagt den Gehorsam erstens seinen 
Erzeugern, sodann seinen Erziehern und drittens uns 


δύ, 


Kriton. 99 


(den Gesetzen); denn trotz der anerkannten Verpflich- 
tung, uns zu gehorchen, leistet er uns weder Gehorsam 
noch belehrt er, wenn uns etwa ein Versehen begegnet, 
uns eines Besseren, obschon wir ihm die Möglichkeit dazu 
geben und nicht rücksichtslos fordern, daB er unseren 
Befehlen folge, sondern ihm die Wahl lassen: er kann 
entweder uns eines Besseren überzeugen oder uns Folge 
leisten; er aber tut keines von beidem. 

14. Alle diese Vorwürfe, behaupten wir, werden auch 
dich treffen, Sokrates, wenn du dein Vorhaben ausführst, 
und gerade dich nicht weniger sondern mehr als die 
anderen Athener.“ Wenn ich nun fragen wollte „Wes- 
halb denn?“, so würden sie vielleicht mit Recht mir vor- 
halten, daß ich in höherem Maße als die anderen Athener 
meine Anerkennung jener Verpflichtung kundgegeben 
habe. Sie würden nämlich sagen: 

„Wır haben schlagende Beweise dafür, daß du mit 
uns und dem Staate zufrieden warst; denn hättest du 
nicht ganz besonderes Wohlgefallen an ihm gehabt, so 
würdest du es den übrigen Athenern nicht so sichtlich 
ın der Vorliebe für das Verweilen in der Stadt zuvorgetan 
haben. Bist du doch niemals aus der Stadt herausge- 
kommen, weder zum Besuch eines auswärtigen Festspiels 
außer einmal nach dem Isthmos noch nach irgendeinem 


. anderen Ziele, ausgenommen die Teilnahme an Feldzügen; - 


auch sonst hast du es nicht wie andere Menschen gemacht, 
hast niemals eine Reise unternommen, hast niemals Ver- 
langen getragen andere Städte, andere Gesetze kennen zu 
lernen, sondern an uns und unserer Stadt Genüge gehabt. 
So entschieden gabst du uns den Vorzug und ließt erkennen, 
daß dein bürgerliches Leben mit uns (den Gesetzen) in Ein- 
klang stehen würde. Neben anderem hast du hier auch deine 
Familie gegründet, zum Zeichen, daß du an dem Staate 
dein Wohlgefallen hast. Zudem stand es dir ja noch im 
Verlaufe des Prozesses frei, den Antrag auf Verbannung 
zu stellen, wenn anders du wolltest; so hättest du damals 
mit Einwilligung des Staates tun können, was du jetzt 
: %- 


100 Platon. 


im Widerspruch zu seinem Willen beabsichtigst. Damals 
gabst du dir das Ansehen, als machte es dir nichts aus, 
wenn du sterben müßtest, gabst vielmehr, wie du er- 
klärtest, dem Tode den Vorzug vor der Verbannung. 
Jetzt aber achtest du dieser Worte nicht mehr und kehrst 
dich auch nicht, an uns, die Gesetze; denn du gehst dar- 
auf aus, uns zunichte zu machen, und handelst nicht 
anders wie der nichtswürdigste Sklave: du versuchst da- 
vonzulaufen im Widerspruch mit den Verträgen und 
dem Übereinkommen, nach welchem du als Bürger zu 
leben gelobt hast. Fürs erste also beantworte uns eben 
diese Frage, ob wir recht haben mit unserer Behauptung, 
du habest in der Tat und nicht bloß in Worten gelobt, 
dein bürgerliches Leben würde mit uns (den Gesetzen) 
im Einklang stehen, oder ob unrecht.“ 

Wie soll unsere Antwort darauf lauten, Kriton? 
Doch wohl zustimmend? 

Kriton. Notwendig, mein Sokrates. 

Sokrates. „Kein Zweifel also,“ — so würden sie 


fortfahren — „du vergehst dich gegen die Verträge, 


die du mit uns selbst abgeschlossen hast, und gegen deine 
Versprechungen, die du doch abgegeben hast ohne durch 
Zwang oder Arglist beeinflußt zu sein. Auch bist du 
nicht genötigt worden dich in kurzer Zeit zu entschließen, 
sondern siebenzig Jahre liegen hinter dir, in denen dir 
die Entschließung über dein Fortgehen freistand, wenn 
du mit uns nicht zufrieden warst und dir die Ab- 
machungen nicht gerecht erschienen. Du aber hast weder 
Lakedaimon noch Kreta?®) vorgezogen, die du doch bei 
jeder Gelegenheit als wohlgeordnete Staaten rühmst, auch 
keine der anderen hellenischen oder nichthellenischen 
Städte, sondern hast dich noch nicht einmal so lange von 
Athen wegbegeben wie die Lahmen und Blinden und son- 
stigen Krüppel. So ersichtlich hob sich dein Wohlgefallen 
an der Stadt und an uns, den Gesetzen, von dem der 
übrigen Athener 40.322) Und nun willst du trotzdem der 
Übereinkunft nicht treubleiben? Nimm Vernunft an, So- 


Kriton. 101 


krates, und folge uns! Dann wirst du dich wenigstens 
nicht lächerlich machen durch dein Entweichen aus der 
Stadt.“ 

15. „Denn überlege doch: wenn du dein Wort brichst 
und gegen deine Verpflichtungen verstößt, was wird dann 
daraus Gutes erwachsen für dich und deine Freunde? 
Denn so viel ist doch wenigstens ziemlich sicher, dab 
sie sich der Gefahr aussetzen auch selbst verbannt zu 
werden und auf ihre Vaterstadt verzichten zu müssen 
oder um ihr Vermögen zu kommen. Was dich selbst aber 
anlangt, so wird man, wenn du fürs erste eine der nächst- 
liegenden Städte aufsuchst, Theben oder Megara — beides 
wohlverwaltete Gemeinwesen —, dort einen Feind ihrer 
Staatsverfassung in dir zu sehen glauben, und alle, die 
ein Herz für ihre Vaterstadt haben, werden dich mit 
Mißtrauen betrachten und ihre Gesetze durch dich ge- 
fährdet glauben.» So wirst du deinen hiesigen Richtern 
nur zu größerem Ansehen verhelfen und ihr Urteil wird 
sonach den Anschein völliger Gerechtigkeit haben. Denn 
wer die Gesetze untergräbt, der wird entschieden auch 
dafür gelten, ein Verführer unverständiger Jünglinge zu 
sein. Wirst du also die wohlverwalteten Staaten und die 
von bester Ordnungsliebe beseelten Bürger meiden wollen? 
Und wirst du, wenn du es so hältst, das Leben auch noch 
für lebenswert halten? Oder willst du dich ihnen doch 
nähern und schamlos genug sein, dich mit ihnen in Unter- 
haltungen einzulassen — aber in was für Unterhaltungen 
denn, Sokrates? etwa solche wie hier, daß an Wert für 
die Menschen nichts über Tugend und Gerechtigkeit, über 
Ördnungsnormen und Gesetze gehe? Und glaubst du 
nicht, daß Sokrates da eine traurige Figur abgeben würde? 
Glauben wenigstens sollte man es.“ 

„Indes, du wirst wohl diese Gegenden meiden und 
dich nach Thessalien wenden, zu den Freunden des Kri- 
ton. Denn da geht es mehr als sonstwo wüst und zügel- 
ios her und vielleicht würde man dort mit Vergnügen 
deinen Erzählungen lauschen, wie du in lächerlicher Ver- 


109 Platon. 


kleidung aus dem Gefängnis entwichst, in einem um- 
geschlagenen Mantel oder einem Hirtenkittel oder einer 
anderen Umhüllung, deren sich Durchgänger zu bedienen 
pflegen, und mit unkenntlich gemachtem Gesicht. Daß 
aber du in einem Alter, das nur noch für kurze Lebens- 
zeit Aussicht bietet, dich nicht schämtest dich so gierig 
ans Leben zu klammern mit Übertretung der heiligsten 
Gesetze — wirst du das etwa von niemandem zu hören 
bekommen? Kann wohl sein! für den Fall nämlich, daß 
du niemanden durch Beleidigung reizest; im anderen Falle 
aber, Sokrates, wirst du genug zu hören bekommen was 
du mit Entrüstung von dir weisen wirst. So wirst du 
dir denn dein Leben sichern durch Kriecherei vor allen 
Menschen und durch untertänigen Gehorsam. Und dein 
Tun und Treiben in Thessalien, was wird es anderes sein 
als üppiges Schmausen, als ob du als geladener Gast dich 
von der Heimat dahin begeben hättest? Die schönen 
Reden aber über Gerechtigkeit und über die Tugend über- 
haupt, wo werden sie bleiben?“ 

„Doch, nicht zu vergessen, du willst ja um deiner 
Kinder willen leben, um sie zu erziehen und heranzu- 
bilden. Wie? Nach Thessalien willst du sie bringen, um 
sie zu erziehen und zu bilden, willst sie also zu Fremd- 
lingen machen, um sie auch noch mit dieser Wohltat 
zu beglücken? Oder .nein; denn das kommt wohl schwer- 
lich in Betracht. Werden sie aber hier erzogen, wird 
sich dann ihre Erziehung und Bildung besser gestalten, 
weil du überhaupt noch lebst ohne doch mit ihnen zu- 
sammen zu sein? Deine Freunde werden ja doch für sie 
sorgen. Werden sie etwa dieser Pflicht genügen, wenn 
du nach Thessalien wanderst, wenn aber nach dem Hades, 
dann nicht? Sie, die sich für deine. Freunde ausgeben, 
müßten doch keinen Pfifferling wert sein, wenn davon 
überhaupt die Rede sein könnte.“ 

16. „Nein, Sokrates, folge uns, deinen Erziehern. 
Achte weder Kinder noch das Leben noch sonst etwas 
höher als das Recht. Dann kannst du, wenn du nach 


54 | 


Kriton. 103 


dem Hades kommst, dich auf alles dies berufen zur Recht- 
fertigung vor den dortigen Herrschern. Denn weder hier 
auf Erden kann es dir oder sonst einem der Deinigen 
Vorteil bringen oder als gerecht oder gottesfürchtig er- 
scheinen, wenn du dein Vorhaben (der Flucht) weiter 
verfolgst, noch wird es dir nach deiner Ankunft im 
Jenseits dort Vorteil bringen. Nein, denn jetzt schei- 
dest du, wenn du scheidest, von hier als ein Mensch, 
dem Unrecht geschehen, nicht durch uns, die Gesetze, 
sondern durch Menschen. Scheidest du aber nach Ver- 
übung so schmählicher Wiedervergeltung und Rache, nach 
Bruch der von dir gegebenen Zusagen und des mit uns 
geschlossenen Übereinkommens, nach Vollführung von 
Freveltaten gegen diejenigen, die es am wenigsten ver- 
dienten, gegen deine Freunde, gegen dein Vaterland und 
gegen uns, so werden nicht nur wir, solange du noch auf 
Erden weilst, dir zürnen, sondern auch unsere dortigen 
Brüder, die Gesetze im Hades, werden dich nicht freund- 
lich empfangen; denn sie haben Kunde davon, daß du, 
soviel an dir lag, auf unsere Vernichtung hingearbeitet 
hast. Laß dich also nicht von Kriton verleiten seinem 
Rate vor dem unseren den Vorzug zu geben.“ 

17. Solches, mein lieber Freund Kriton, des kannst 
du gewiß sein, glaube ich zu hören, etwa so wie die kory- 
 bantisch Verzückten?®) die Flöten zu hören glauben. 
Auch in mir klingt der Schall dieser Reden und läßt 
mich nichts anderes hören. Sei also versichert, daß, was 
meine jetzige Ansicht betrifft, jedes Wort der Entgeg- 
nung von dir in den Wind gesprochen sein wird. Gleich- 
wohl laß dich vernehmen, wenn du ‚glaubst noch etwas 
erreichen zu können. 

Kriton. Nein, mein Sokrates, ich habe. nichts mehr 
zu sagen. 

Sokrates. So sei es denn abgetan, mein Kriton, 
und laß uns demgemäß handeln, da uns der Gott so leitet. 


Anmerkungen 


zum Kriton. 


ἢ S. 83. Kriton, ein braver Bürger und wohlhabender Land- 
wirt, war dem Sokrates als Alters- und Demengenosse (vgl. 33D 
ἡλικιώτης καὶ δημότης) innig befreundet und bereit kein Opfer zu 
scheuen, um ihn vor dem Tode zu retten. Von Gesinnung durch 
und durch lauter und edel, zählte er seiner geistigen Begabung nach 
doch nur zu den Durchschnittsmenschen, wie er denn in unserem 
Dialog sich geradezu als Vertreter der Volksstimme darstellt. 
Dem Ernst der Lage gemäß, die hier den Gegenstand des Ge- 
spräches bildet, zeigen die Ausführungen des Sokrates hier nichts 
von jener ironischen Färbung, an der es im Dialog Euthydemos 
gegen ihn nicht fehlt. Er hält sich streng an die Sache, läßt aber 
doch den Leser nicht im unklaren über den Abstand zwischen der 
eigenen Geisteshoheit und dem geistigen Niveau seines Freundes. 
Der Leser des Platon kennt den Kriton auch noch aus der Schluß- 
partie des Phaidon, wo er sich wie in unserem Dialog nicht genug 
tun kann in liebender Fürsorge für seinen Freund. 

2) S. 83. Die auch am Tage dunkele Gefängniszelle läßt Nacht 
und Tag nicht sicher unterscheiden. Vgl. Phaed. 116DE., ! 

8) S. 84. Nähere Auskunft darüber gibt der Phaidon (58A): 
„Es ist das Schiff, in dem der Überlieferung zufolge Theseus einst 
die sieben Opferpaare nach Kreta brachte und glücklich mit ihnen 
wieder heimkehrte. Damals hatten die Athener für den Fall, daß 
die Opfer gerettet würden, dem Apollo gelobt, jedes Jahr eine Fest- 
gesandtschaft nach Delos zu schicken.“ Das weitere darüber siehe 
daselbst. 

*) 5. 85. Denn er hat den Traum „eben erst“ gehabt, würde 
also darum gekommen sein, wenn er frühzeitiger aufgeweckt wor- 
den wäre. 

5) S. 85. Hom. 1]. 9, 363. 

6) S. 85. Die Übersetzung folgt der jetzt üblichen Text- 
gestaltung, nach der für das überlieferte σοῦ eingesetzt wird τοῦ und 
das δὲ nach Zu gestrichen wird. Ein minder gewaltsamer Vorsck!ag 
wäre vielleicht: ἀλλ᾽ ἄχαρι (für ἀλλὰ χωρὶς) μὲν σοῦ κ. τ. Δ. mit Bei- 
behaltung des δὲ nach ἔτι. 

?) 5. 85. Hierzu vgl. Einleitung S. 76f. und Gess. 646E. 

8) S. 86. Nach dem bekannten Satze des Aristoteles τῶν 
ἐναντίων ἡ αὐτὴ ἐπιστήμη, der übrigens auch schon dem Platon ge- 
läufig ist z. B. Phaed. 97D. Vgl. meine Plat. Aufs. S. 204 Anm. 

9) 5, 87. Simmias und Kebes sind die aus dem Phaidon 
wohlbekannten Verehrer des Sokrates, die, durch den Pythagoreer 
Philolaos dialektisch trefflich geschult, mit Sokrates in regem Ver- 
kehr standen. 


Anmerkungen. 105 


10) 8, 87. So dürfte das ἀποκάμῃς der Hss. zu verstehen sein, 
das von manchen Herausgebern ohne Not in ἀποκνήσῃς umgeändert 
worden ist. 

1) 8. 87. Nämlich infolge des Entschlusses zu sterben. 

12) S. 88. Man hätte schon vor Beginn der Verhandlung 
die Flucht bewerkstelligen können, die dann sogar gesetzlich ver- 
stattet war. 

13) δ, 88. Daß selbst die letzte Möglichkeit des Entweichens 
unbenutzt bleiben soll, erscheint dem Kriton als Gipfel der Ver- 
säumnis, als eine unverzeihliche Herausforderung des Spottes. 

1) 5, 92. Vgl. hierzu meine Plat. Aufs, 147 ff., besonders 156f. 

15) $S. 93. In der Auffassung und Wiedergabe dieser schwie- 
rigen und vielleicht nicht richtig überlieferten Stelle bin ich Schleier- 
macher gefolgt. 

1) S, 93. Die Worte scheinen einer auf 46B (τοὺς λόγους, 
οὗς ἐν τῷ ἔμπροσϑεν ἔλεγον, οὐ δύναμαι νῦν ἐκβαλεῖν) bezüglichen Rand- 
bemerkung ihren Ursprung zu verdanken, denn eine bestimmte Be- 
ziehung dafür findet sich in dem Vorausliegenden nicht. 

1) S, 94. Ahnlich Gorg. 508E, wenn auch nicht so ausdrück- 
lich wie hier. 

18) S. 94. Dazu vgl. Einleitung S. 79f. 

190) S. 96. Hiernach würden also Staat und Gesetze dem So- 
krates gegenüber als Beleidiger erscheinen. Aber selbst wenn man 
dies gelten ließe, so würde doch, dem Satze von der Unzulässigkeit 
der Wiedervergeltung zufolge, eine Rache an den Gesetzen durch 
Zuwiderhandeln gegen ihr Gebot unstatthaft sein. 

20) S. 96. Eine zusammenhängende Ehegesetzgebung gab es 
in Athen nicht, wohl aber mancherlei Bestimmungen über Rechts- 
gültigkeit der Ehen und über die rechtliche Stellung der Kinder, 

21) S. 96. Die Erziehung war in Athen grundsätzlich Privat- 
sache. Doch wurde die Verpflichtung der Kinder gegen die Eltern 
in wichtigen Punkten, z. B. was Unterstützung in Alter und Krank- 
heit durch die Kinder betrifft, gesetzlich davon abhängig gemacht, daß 
die Eltern den Kindern eine ordentliche Erziehung gegeben hatten. 

39) 5, 96. Zu Anfang eines jeden Jahres war der Volksver- 
sammlung Gelegenheit gegeben zu einer Revision etwa anstößiger 
Gesetze; über die gemachten Einwendungen und Vorschläge hatte 
dann eine Kommission von Nomotheten zu beraten und das Weitere 
zu veranlassen. | 

38) S. 100. Sparta und Kreta sind diejenigen Staaten, denen 
in den Platonischen Dialogen oft genug der Vorzug vor allen übrigen 
Staaten, nicht am wenigsten auch vor Athen, eingeräumt wird. 

3) S. 100. Die folgenden Worte δῆλον “ὅτε τίνι γὰρ ἂν πόλις 
ἀρέσκοι ἄνευ τούτων sind wohl mit Stephanus und Schanz als ein 
Glossem zu streichen. In der Übersetzung habe ich sie übergangen. 

25) S. 103. Den korybantisch Verzückten klingt die gehörte 
Musik noch lange in ihrem Inneren nach. So sind dem Sokrates 
die Worte der Gesetze noch lange in seiner Seele vernehmbar. 


Register 


zu 


Apologie und Kriton. 


A. 


Absichtliches Unrecht 37. 

Achilles 42, 

Adeimantos, Bruder Platons 51. 

Aiakos 62 (Totenrichter). 

Aiantodoros 5i (Freund des So- 
krates). 

Aias, Telamonier 62. 

Amphipolis 48 (Schlacht bei A.). 

Anaxagoras 39. 

Angeber, zünftige (Sykophanten) 
86 


Anklage 26f. (die ungerichtliche), 
34ff. (die gerichtliche). 

Ankläger, die früheren 24ff. Die 
jetzigen 34ff. 

Antiochis, attische Phyle 48. 

Antiphon, der Kephisier 51. 

Anytos 11ff. 24. 34. 36. 41. 44. 
45. 46. 51. 54. 

Apollodoros 51 (anwesend im Ge- 
richt). 58. 

Apollon s. Delphi. | 

Apologie, Xenophontische 2ff, 

Arginusenschlacht 48. 

Ariston 51 (Platons Vater). 

Aristophanes 26 (Wolken). 

Arzt 90. 

Aschines 51 (der Sokratiker). 

Atheismus, angeblicher des So- 
krates 25. 33. 38ff. 54. 

Athen, Athener 36 (als Erzieher 
der Jugend). 44. 92f. 99. 

Auswanderung aus Athen 98 (den 
Bürgern erlaubt). 


B. 
Bruder, der, des Chairephon 29. 


C©. 
Chairephon 29. 


D. 
Dämonen, Dämonentum 40f. 
Dämonium des Sokr. 47. 60f. 
Delion in Böotien 43 (Schlacht). 
Delos, Insel 84. 
Delphi 29 (der delphische Gott). 
Demodokos 51 (Vater des Paralos). 
Dichter 31f. (von Sokr. geprüft). 
Dreißig (die Tyrannen) 49. 


E. 
Eheglück 87. 
Ehre 59. 
Einbildung 43 (in bezug auf Wis- 
sen). 


Elfmänner 56. 
Elis 27 (Heimat des Hippias). 
Eltern und Vaterland 97£. 


Epigenes 51 (Sohn des Antiphon). 


Esel 41. 
Euenos aus Paros 27f. (Sopbist). 


F 


Flötenspieler 40. 103. 

Freiwilliges Unrecht 37. 93. 

Furcht vor dem Urteil der großen 
Menge 85ft. 


σι. 

Gefängniswärter 88. 

Gehorsam 43. 

Gerechtigkeit 91. 

Gerichtliche Lärmszenen 24. 29. 
40. 45. Rührszenen 5if. 58f. 
Gerichtliche Urteile bleiben in 
Kraft 96. 

Gesetze (νόμοι) 35 (als Verbesserer 
der Jugend). 53 (Richtschnur 
für die Richter). 95ff. (Personi- 
fikation der G.). 96 (Ehe und 
Erziehung betreffende G.). 

Gleichesmit Gleichem erwidern 97, 

Gorgias 27 (aus Leontini). 


Ρ 
| 
| 


Register. 


(tott 29 ff. (der delphische). 43. 44, 

Gut und Schlecht 90. 92 (Einheit 
des Guten, Schönen und Ge- 
rechten), 46. 

(Gymnastik 90, 


Hades 43. 103. 

Handwerker 32 (von Sokr. geprüft). 
Häßlich und Schön 90. 

Heroen 62. 

Hesiod 62. 

Hippias, der Sophist, aus Elis 27. 
Hipponikos 27 (Vater des Kallias). 
Homer 62. 

Homerzitate 42. 52. 85. 


ι ὦ). 


Induktion 36. 40. 
Jugend, Jünglinge33 ff. (Verhältnis 
zu Sokr.). 


K. 


Kallias, Sohn des Hipponikos 27. 

Kebes 87 (aus Theben). 

Keos, Insel 27 (Heimat des Pro- 
dikos). 

Kindererziehung 87. 102. 

Komödiendichter 25 (als Verleum- 
der des Sokr.). 

Körper und Seele 91. 

Korybantenverzückung 103. 

Kreta 100. 

 Kritobulos, Sohn des Kriton 51. 58. 

Kriton 51. 58. 83ff. (Mitunter- 
redner im Dialog Kriton). 


L. 
Lakedaimon 100. 
Lärmszenen s. Gericht. 
Leben und Tod 42 ff. (im Verhältnis 
zu Ehre und Pflicht). 91. 92. 
Leon aus Salamis 49. 
Leontini 27. 
Literatur 17ff. 
Lykon, Ankläger 12. 34. 54. 
Lysanias, der Sphettier 51. 


M 


Markt in Athen 24. 39. 
Massenmenschen 92. 


107 


Maulesel 41. 

Merara 101. 

Meletos 11. 26. 34ff. 46. 51. 54, 56. 

Menge, die große 27. 28. 36. 41. 
48. 55. 88 ἢ, 

Minos 62 (Totenrichter). 

Mond 39 (ein Stein). 

Musaios 62. 


N. 


Name, der gute 85. 
Nikostratos 51. 
Nymphen 41, 

®. 
Odysseus 62. 
Olympische Sieger 55. 
Orakel, delphisches 29ff. 43. 
Orakelsänger 31. 
Orchestraplatz 39. 
Orpheus 62. 


P. 


Palamedes 62. 

Paralos 51 (Sohn des Demodokos). 

Paros, Insel 27f. (Heimat des 
Euenos). 

Patroklos 42. 

Personifikation der Gesetze 95 f 

Pferd, Pferdezüchter 27. 36. 40. 
41. 46. 

Pflichten gegen das Vaterland und 
die Gesetze 9I6ff. 

Phthia 85. 

Platon 51 (als Zuhörer bei der 
Gerichtsverhandlung). 85. 

Polykrates der Sophist 2 ἢ. 

Potidaia 43 (Schlacht). 

Prodikos 27. 

Prüfungskunst des Sokrates 29 

Prytaneion 5öf. (Speisung im P.) 

Pythia 29. 

. BR. 

Recht und Unrecht 37. 43. 48. 
90. 92. 

Reichtum 45 (und Tugend). 

Rhadamanthys 62 (Totenrichter). 

Richter, Richteramt 35f. (als an- 
gebliche Erzieher der Jugend). 
53 (ihre wahre Pflicht). 

Ruf, der gute 52. 


108 


S. 


Sachverständige, der 89ff. (als 
allein zuständiger Berater). 

Salamis, Insel 49. 

Scheinweisheit 99 ἢ", 48, 

Schlachten 59 (geben Gelegenheit 
zur Lebensrettung). 

Schön und Häßlich 90. 

Seele und Körper 91. 

Sententiöses 46 (der bessere und 
der schlechte Mensch). 59 (Tod 
und Schlechtigkeit). 63 (Gott 
verläßt den Gerechten nicht). 
92 (lebenswertes Leben). 

Simmias aus Theben 87. 

Sisyphos 62. 

Sklavenstreiche 100. 

Sokrates, Selbstcharakteristik 23f. 
(als Redner). 27 (als angeblicher 
Lehrer, vgl.49f.) 58. 28ff. (seine 
Weisheit). 30ff. (Prüfungsver- 
fahren). 33 (Atheismus, vgl. 25. 
38f. 54). 33ff. (seine jungen 
Zuhörer). 43f. (Verächter der 
Todesfurcht, vgl. 49). 46 (ist ein 
Geschenk Gottes an Athen). 47 
(Vernachlässigung seines Haus- 
wesens. Armut, vgl. 57f.). 47 
(Verhalten zum Staat und den 
öffentlichen Angelegenheiten, 
vgl. 55). 47 (Dämonium. 60). 48 
(Vorkämpfer des Rechts). 5iff. 
(stolzes Verhalten gegen die 
Richter, keinFlehen um Gnade). 
δῦ. (seine Gegenanträge). 57 
(Abweisung der Auswanderung). 
85 (sein Traum im Gefängnis), 
88 ff. (sein Urteil über die öffent- 
liche Meinung). 96 (der geborene 
Frager und Antworter). 99 (Hei- 
matliebe). 101 ἢ, (Themata seiner 
Unterhaltungen). 102 (Verhält- 
nis zu seinen Kindern). 

Sonne 39 (ein Stein). 

Staatsmänner 30f. (von Sokr, ge- 
prüft). 

Sunion, Vorgebirge 84. 

Sykophanten 86 s. Angeber. 


Apologie und Kriton. 


τ. 


Theages 51 (Bruder des Paralos). 

Theben 87. 101. 

Theodotos 51 (Bruder des Niko- 
stratos). 

Theozotides 51 (Vater des Niko- 
stratos). 

Thessalien, Thessalier 87. 10] ἢ. 

Thetis 42 (Mutter des Achilles). 

Tod 43ff. (vielleicht das größte 
Glück). 

Todesfurcht 43. 52f. 59. 

Triptolemos 62 (Totenrichter). 

Troja 42. 62. 

Tugend 45 (und Reichtum). 

Turnmeister 90. 


τ. 


Überführungskunst 33. 

Unsterblichkeit 15f. 43. 53. 

Unrechttun unter keinen Umstän- 
den erlaubt 93f. 8, Unrecht, 
Freiwillig. 

Unwissenheit 43. 

Urteil der großen Menge 86ff. 


Υ. 


Vaterland 97ff. (Pflichten gegen 
dasselbe). 

Verbannung 99 (möglicher Antrag 
darauf). 

Verfehlungen 37f. (absichtliche 
und unabsichtliche). 

Vergleiche 25 (Kampf gegen 
Schatten). 27 (Füllen, Kälber). 
36 (Pferde). 46 (Roß, Sporm). 
47 (Vater). 100 (Krüppel). 108 
(Korybanten). 

Verkleidung 102 (Fluchtmittel)). 

Verleumdungen s. Anklagen. 

Verurteilung des Sokrates 54. 


ww. 


Wahrsager, Wahrsagung 31. 59f. 
Waisenstand 87. 

Wechslertische 24. 

Weisheit, wahre und falsche 29f. 


-| Weltordnung, göttliche 46. 


Druck von Ο. Grumbach in Leipzig. 


PLAIONS DIALOG 


GORGIAS 


ÜBERSETZT UND ERLÄUTERT 


VON 


ΑΘ APR BL4 


ZWEITE DURCHGESEHENE AUFLAGE 


DER PHILOSOPHISCHEN BIBLIOTHEK BAND 148 
LEIPZIG 1922 / VERLAG VON FELIX MEINER 


Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechta, vorbehalten 


Einleitung. 


Kein Geringerer als Aristoteles ist uns Gewährsmann 
für ein Geschichtchen, dem zufolge ein korinthischer Land- 
' mann, begeistert durch die Lektüre des platonischen 
Gorgias, seinen Acker und Weinberg habe fahren lassen, 
dem Schülerkreis des Platon beigetreten sei und fortan seine 
Seele zum Saatfeld für dessen Lehren gemacht habet). 
Der äußeren Beglaubigung dieser Erzählung steht ihre 
innere Wahrscheinlichkeit zur Seite. Denn in der Tat 
wird jeder nicht völlig unempfängliche Leser des Dialogs 
etwas von dieser aufrüttelnden, das Gewissen weckenden 
Kraft desselben an sich verspüren. Selbst in dem stumpfe- 
ren Gemüt wird das Gespräch wenigstens einen Stachel, 
einen gewissen Anreiz zur Besinnung auf unser besseres 
Ich zurücklassen. Der Dialog bekämpft die landläufige 
Rhetorik als hauptsächlichsten Träger des krankhaften und. 

: verblendeten Zeitgeistes, den von seinen Fehlern zu heilen ᾿ς 
und zu einer gesunden Lebensansicht zu bekehren das 
eigentliche Absehen des Werkes ist. Wenn das Gespräch 
an mehreren Stellen (503 Aff. 517 A) den Gedanken zum 
Ausdruck bringt, daß mit Verurteilung der tatsächlich 
im Schwange gehenden Rhetorik nicht der Stab über alle 
Rhetorik überhaupt gebrochen sei, sondern daß es auch 
eine gesunde und echte Rhetorik geben könne, die nur 
eben tatsächlich noch nicht vorhanden sei, so könnte man 
sich versucht fühlen, in dem Dialog selbst so etwas wie 
. ein Beispiel dieser echten Rhetorik zu sehen. Zwar scheint 


1) S. Arist. p. 1484b 15ff. der ΠΣ Ν᾽ ὙΊΩΣ θῖν und Frg. 64 
der Teubn. Ausg. ed. Rose. 


Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Rd. 148. 1 


2 Einleitung. 


die dialogische Form dies zu verbieten; doch sagt schon 
Sokrates selbst halb im Ernst halb im Scherz, daß er sich 
beinahe wie ein Volksreäner vorkomme, da er, die Schran- 
ken des gewöhnlichen Dialogs durchbrechend, sich in langen 
Reden ergangen habe (465E. 519DE, vgl. auch 4820). 
‚Was aber den Inhalt des Gespräches anlangt, so entspricht 
dieser von Anfang bis zu Ende in vollstem Maße den An- 
forderungen, die Sokrates als maßgebend für eine echte 
Rhetorik andeutet. Eine Verfechterin der sittlichen Be- 
stimmung des Menschen, eine Warnerin vor zu begehen- 
dem, eine Rächerin von begangenem Unrecht soll sie sein. 
Nach dieser Richtung hin uns lebhafte Antriebe zu geben 
ist ein unleugbares Verdienst des Werkes. Es gibt kein 
anderes platonisches Gespräch, das die gebietende Macht 
der sittlichen Ideen uns so scharf zum Bewußtsein brächte, 
keines, das uns so eindringlich ins Gewissen redete wie 
dies. Die siegreiche Durchführung der Sätze, daß Unrecht 
leiden besser sei als Unrecht tun und daß die Lust nicht 
zusammenfalle mit dem Guten, weckt in jedem das deut- 
liche Gefühl einer inneren Nötigung zur Anerkennung 
eines festen sittlichen Kerns der menschlichen Natur. 
Daß in dieser ethischen Wendung des Dialogs der 
eigentliche Zweck des Ganzen liegt, ist jetzt wohl allge- 
mein anerkannt. Allein erst allmählich, besonders wohl 
durch Schleiermacher, ist diese Erkenntnis durchge- 
drungen, während Cousin, Ast, Stallbaum und andere das 
eigentliche Thema des Gesprächs noch in der Bekämpfung 
der Rhetorik sahen. Bei der Rolle, welche die Rhetorik 
darin spielt, indem sie den ersten Teil ganz, den zweiten auf 
eine weite Strecke hin beherrscht, ist das begreiflich. 
Schon im Altertum gingen die Ansichten darüber ausein- 
ander. „Über den Zweck des Dialogs,“ sagt Olympiodor 
in seinem Kommentar (ed. A. Jahn in Jahns Archiv 
Suppl. 1848. XIV, p. 109), „dachten die einen so, die 
anderen so. Die einen nämlich behaupten, das.eigentliche 
Thema des Gesprächs sei die Rhetorik; darum geben sie 
ihm den Titel ‚Gorgias oder über die Rhetorik‘. Mit Un- 


Einleitung 3 


recht; denn sie übertragen das charakteristische Merkmal 
eines Teiles auf das Ganze; aus der Unterredung nämlich 
des Gorgias entlehnten sie den Zweck für das Ganze. 
ΟΠ Andere wieder behaupten, das Gespräch habe die Ge- 
rechtigkeit und Ungerechtigkeit zum Thema in dem Sinn, 
daß die Gerechten glücklich seien, die Ungerechten da- 
gegen unglücklich und elend, und je ungerechter einer 
sei, um so größer sei das Elend, dem er verfalle, und je 
länger er in der Ungerechtigkeit verharre, um 50 unglück- 
licher sei er, und die Unsterblichkeit häufe auf ihn voll- 
ends das äußerste Maß des Elends. Auch diese entnehmen 
den Zweck des Ganzen nur aus einem Teil, nämlich aus der 
Unterredung mit dem Polos. Noch andere behaupten, 
die Endabsicht des Dialogs sei die Betrachtung über die 
Gottheit. Auch diese nehmen nur auf einen Teil Rücksicht, 
nämlich auf den Mythos, in welchem, wie leicht zu sehen, 
der Gottheit gedacht wird. Diese Ansicht ist ganz be- 
sonders befremdend. Wir dagegen behaupten, daß der 
Dialog seine Endabsicht in der Erörterung der ethischen 
Grundwahrheiten habe, deren Anerkennung uns den Weg 
zeigt, auf dem wir zu einem glücklichen Leben in Ge- 
meinschaft mit unseren Mitbürgern gelangen können.“ 

Hier findet sich mit einer (abgesehen von der etwas 
zu niedrigen Einschätzung der zweiten Ansicht, die im 
- Grunde mit der eigenen Ansicht Olympiodors auf eins 
hinausläuft) sehr verständigen Kritik zugleich die richtige 
Ansicht über das Ganze verbunden. Denn die wahre 
und einzig würdige Lebensansicht und Lebensaufgabe über- 
zeugend zu kennzeichnen im Gegensatz zu den alle Sitt- 
lichkeit untergrabenden Tendenzen des herrschenden Zeit- 
geistes — das ist die bei näherem Eindringen in das Werk 
unverkennbare Absicht des Autors, und nur insofern als 
in der Rhetorik eigentlich das ganze Sündenregister der 
Zeit beschlossen lag, wird sie zum Gegenstand so ein- 
gehender und lebhafter Erörterungen gemacht. Es ist 
also das höchste praktische Problem selbst, es ist die 
Frage nach dem eigentlichen Zweck unseres Lebens, 

| μ᾿ 


4 | Einleitung. 


worauf der Dialog hinausläuft. Nicht die Rhetorik, das 
Idol der Zeit, sondern die auf dem Grunde der Philosophie 
zu erlangende Sittlichkeit ist das einzig würdige Lebens- 
ziel. So lautet die wider alle gegnerischen Argumente 
zum Siege geführte Antwort des Sokrates. 

Der starke Eindruck, den das Werk macht, beruht 
zum nicht geringen Teil auf der dialogischen Form. Das 
persönliche Element, das in ihr liegt, kann je nach der Art, 
in der es gehandhabt wird, den sachlichen Argumenten 
eine eigenartige Verstärkung geben. In unserem Dialog 
hat Platon mit besonderer Kunst und entsprechendem 
Erfolg davon Gebrauch gemacht. Sokrates bringt erst 
den Gorgias, dann den Polos zu Zugeständnissen, die eine 
Anerkennung der moralischen Anlage und Grundstimmung 
des Menschen enthalten. Indem nun erst Polos hinsicht- 
lich des Gorgias, sodann Kailikles hinsichtlich beider Ge- 
nannten mit der unwidersprochenen Behauptung hervor- 
treten, diese Zugeständnisse seien aus Scham gemacht 
worden, also aus Scheu, durch Äußerung einer anderen 
Meinung sich zu kompromittieren, wird uns auf eine 
höchst eindrucksvolle Weise die Unvermeidlichkeit der 
Anerkennung der sittlichen Bestimmung des Menschen zu 
Gemüte geführt. Denn diese Scham ist für den, der von ihr 
beherrscht wird, der, wenn vielleicht auch unwillkommene 
so doch unwiderlegliche Zeuge unseres natürlichen Ehr-. 
gefühls, dem zufolge wir es als einen Abbruch für unsere 
innere Würde empfinden, wenn wir uns zu Verfechtern der 
Ungerechtigkeit machen. Es liegt also darin das stille 
Bekenntnis, daß niemand Ehre und Gerechtigkeit, disse 
Eckpfeiler der Sittlichkeit, verleugnen kann, ohne sich vor 
sich selbst und vor anderen zu erniedrigen. 

Aber auch in anderer Beziehung fordert die künst- 
lerische Form des Werkes dazu auf, noch etwas bei ihr 
zu verweilen. Die Bitterkeit des Tones, in dem Platon 
in diesem Dialog sein Verwerfungsurteil gegen die athe- 
nische Demokratie und vor allem gegen ihre berühmtesten 
Leiter ausspricht, hat wohl zu der Meinung geführt, Platon 


Einleitung, ὁ 5 


habe dies Werk in besonders gereizter Stimmung ge- 
schrieben. Diese Bitterkeit mag ihren Grund wesentlich 
in den bestimmten Beziehungen des Dialogs auf das Schick- 
sal des Sokrates haben. An das tragische Ende seines ge- 
liebten Lehrers konnte Platon nicht ohne Ingrimm denken. 
Aber mochte sich diese Bitterkeit auch bei gegebenem 
Anlaß geltend machen, so beherrschte sie ihn doch keines- 
_ wegs völlig und störte ihn nicht in seinem geistigen 
Gleichgewicht. Der künstlerischen Vollendung seiner 
Arbeit hat sie so wenig Eintrag getan, daß wir, die Sache 
von dieser Seite betrachtet, eher auf eine Stimmung froher 
Schaffensfreudigkeit und glücklicher dichterischer Frei- 
heit schließen müßten als auf Verbissenheit und Be- 
fangenheit. Alles in diesem Werk ist hinsichtlich der 
Darstellungsform auf das feinste abgewogen, alles auf 
das genaueste und in ruhigster Erwägung berechnet, alles 
mit frischesten Farben gegeben. Jeder Fortschritt im 
Gedankengang bedeutet zugleich eine Steigerung des Inter- 
esses, indem die Erörterung fast unvermerkt von der mehr 
oder weniger zufälligen, weil nur durch die besondere 
Geschichte Athens bedingten Erscheinung der Rhetorik 
zu den ewigen Forderungen der Vernunft vordringend das 
eigene Lebensinteresse des Lesers auf das lebhafteste 
anzuregen weiß. Dieser Steigerung entspricht zugleich _ 
der Charakter der einander ablösenden Mitunterredner auf 
das beste. Der Dichter scheint hier mit dem Philosophen in 
‚Wettbewerb zu treten: reddere personae scit convenientia 
cuique. Die Person illustriert zugleich die Sache. Gor- 
gias, der würdige Greis, der, kein Freund des Unrechtes, 
es im Grunde mit seiner vielgerühmten Kunst ganz ehrlich 
meint, aber dabei doch eine gewisse Naivität in Auf- 
fassung sittlicher Fragen nicht verleugnen kann; Polos, 
der junge Stürmer und Dränger, der sich alles zutraut, um 
bald belehrt zu werden, daß er alles nur halb erfaßt und 
immer zu kurz denkt, dabei in Sachen der Sittlichkeit schon 
einen bedenklichen Grad von Leichtfertigkeit verrät; end- 
lich Kallikles, der vollendete Weltmann, geistreich und 


6 Einleitung. 


liebenswürdig, frivol und egoistisch, sich über alle Sitt- 
lichkeit als über kindisches Blendwerk souverän hinweg- 
setzend, bei aller Umschmeichelung des Volkes doch ein 
ausgemachter Verächter der Menschen, soweit sie nämlich 
zur Masse gehören. Dabei sind alle drei dem Sokrates 
von Herzen zugetan und von dem Glauben durchdrungen, 
daß sie es bei der Empfehlung ihrer Ansicht nur wohl mit 
ihm meinen. Und Sokrates? Er übertrifft sich fast 
selbst in der Unerschöpflichkeit seiner Mittel zur Durch- 
setzung seines Standpunktes. Nie gereizt oder unhöflich, 
geht er geduldig, wenn auch nicht ohne Ironie, auf alle 
Einfälle und Launen seiner Mitunterredner ein und weib 
einen nach dem anderen matt zu setzen durch die Kraft 
seiner Argumente und das Geschick in der Art ihrer Ver- 
wendung. Diese Argumente selbst lassen wir hier zunächst 
noch auf sich beruhen. Aber welche Abwechslung hat 
Platon hier seinem Sokrates in den Formen der Erörte- 
rung zu leihen gewußt! Bald läßt er ihn in der üblichen 
Weise als Frager auftreten, bald wird die bestimmende 
Rolle des Fragers an den Partner abgetreten. Ist der Gegner 
des Antwortens müde, weil er seine unvermeidliche Nieder- 
lage voraussieht, so zeigt sich Sokrates ironisch bereit 
die Unterredung überhaupt fallen zu lassen — das sicherste 
Mittel, die übrigen Anwesenden zum energischen Wider- 
spruch zu reizen und dadurch das verglimmende Feuer 
zu um so hellerer Flamme zu entfachen. Oder er nimmt 
zeitweise die Fortführung des Gedankenganges ganz auf 
sich und dies wiederum in doppelter Form: entweder in 
der ihm an sich wenig geläufigen Form der zusammen- 
hängenden Rede, oder indem er gewissermaßen zurück- 
fallend in seine Gewohnheit die eigene längere Ausein- 
andersetzung wieder zu einem fingierten Dialog umge- 
staltet, und dies in so lebhafter Weise, daß der abtrünnige 
Mitunterredner unversehens in die Falle geht, indem er 
durch das unwillkürlich gespannte Interesse sich ver- 
anlaßt sieht, in die Stelle des bloß fingierten Mitunter- Ὁ 
redners einzutreten. Ja die heitere, mit den Gegnern 


Einleitung. | 7 


spielende Laune des Sokrates steigert sich stellenweis 
sogar bis zum vollen Übermut (wie 480 1), so daß Kalli- 
kles nicht ohne Grund fragt, ob er es im Ernst meine 
oder im Scherz. Und doch ruht wieder über dem Ganzen 
der tiefste Ernst: in der Heiterkeit des Sokrates spiegelt 
sich nur das siegesfreudige Bewußtsein von der beglücken- 
den Kraft wahrhaft sittlicher Lebensauffassung wider. 
Gerade der oben berührte Umstand, daß es eigentlich 
alle Mitunterredner mit dem Sokrates ganz gut meinen, 
läßt die sittliche Größe des letzteren um so leuchtender 
hervortreten: er wünscht und sucht keine Rettung aus 
etwaiger Gefahr durch andere als dem Geiste strengster 
Sittlichkeit entsprechende Mittel. 

Man hat den Gorgias mehrfach geradezu mit einem 
Drama verglichen und diese Vergleichung im einzelnen 
durchzuführen gesucht. Wie wenig angebracht ein so 
durchgeführter Parallelismus ist, hat schon Bonitz in 
seiner trefflichen Abhandlung über unseren Dialog dar- 
getan. Aber etwas von dramatischer Wirkung wird man 
dem Werke nicht absprechen können. Der Dialog ent- 
läßt uns wie die echte Tragödie mit dem lebhaften Gefühl 
von der Überlegenheit des menschlichen Geistes über alle 
‚Widerstände und Hemmnisse des äußeren Lebens. 

Diese künstlerische Seite des Werkes hilft auch dazu, 
einen die kraftvolle Haltung des Ganzen einigermaßen 
beeinträchtigenden Zug etwas weniger fühlbar zu machen. 
So glänzend nämlich auch der Sieg ist, den die Sache 
der Philosophie davonträgt, so ist dieser Sieg doch nur. 
ein theoretischer. Nach der praktischen Seite hin läßt 
er uns unbefriedist. Denn er ist verknüpft mit dem 
Verzicht auf jede Beteiligung am öffentlichen Leben. 
Mag sich Sokrates auch (521D) den einzig wahren Staats- 
mann nennen, er steht mit seinen Schülern nach dem hier 
entwickelten Programm doch abseits von der großen Bühne 
des Lebens, wie im Schmollwinkel. Seine staatsmännische 
Rolle hat mit der gegenwärtigen Welt nichts gemein. 
„Ich gehöre nicht zu den Staatsmännern,‘“ so läßt er sich 


S Einleitung. 


(473E), in ganz anderem Sinne als soeben, über sich selbst 
vernehmen. Eine tiefe Kluft liegt zwischen ihm und dem 
Staate. „Du siehst doch,‘ sagt er zu Kallikles (500C), „daß 
sich unsere Unterredung um eine Frage dreht, die jeder 
auch nur einigermaßen einsichtige Mensch als die aller- 
wichtigste betrachtet, nämlich die, welches die richtige 
Lebensweise ist, ob die, zu der du mich aufforderst, dem 
eigentlichen Mannesberuf, der darin besteht, daß man 
vor dem Volke redet und die Rednerkunst übt und sich in 
den staatlichen Geschäften betätigt, wie ihr es jetzt tut, 
oder das der Philosophie gewidmete Leben, und wodurch 
sich dieses von jenem unterscheidet.“ Dies scharfe Ent- 
weder — Oder wirft Staat und Philosophie völlig ausein- 
ander. Der auf das Äußerste zugespitzte Gegensatz zwi- 
schen Rhetorik und Philosophie führt unausbleiblich zur 
Unnatur und Phantastik. Man glaubt sich bei diesen 
Ausführungen aus aller bürgerlichen Ordnung überhaupt 
herausgehoben. Auf friedlichem Wege zu seinem Recht 
zu gelangen scheint völlig ausgeschlossen. Gegen das 
Unrechtleiden gibt es (509Eff.) keinen anderen Schutz als 
Umpanzerung mit möglichst großer persönlicher Macht. 
Die Rhetorik ist im Grunde Negation jeder staatlichen 
Ordnung. An die Stelle des Staates tritt das bellum 
omnium contra ommes. Mit diesem Pseudostaat hat die 
Philosophie nicht die mindeste Gemeinschaft. 

Daß die Philosophie, wenn sie für das Öffentliche 
Leben wirksam werden soll, doch irgend einmal eingreifen 
müsse in diesen Sündenpfuhl, ist ein Gedanke, der nur 
mittelbar insofern hervortritt, als Kallikles (4860) den 
Sokrates zur Beteiligung am Staatsleben auffordert, eine 
Aufforderung, die Sokrates in eingehender Ausführung 
abweist. Wenn er nachträglich (521A. 521E) durch den 
Vergleich mit dem Arzte, der unter Kindern, die er be- 
handelt, durch den Koch angeklagt wird, sein Verhält- 
nis zum öffentlichen Leben doch in etwas anderem Lichte 
erscheinen läßt, so geschieht das eben nur im Bilde. 
Tatsächlich kehrt dieser platonische Sokrates dem Staate 


Einleitung, . Ω 


den Rücken. Der wirkliche Sokrates dachte sehr viel 
anders darüber. Er sah, wie Xenophon (Mem. I, 6, 15) be- 
richtet, seine Aufgabe gerade darin, möglichst viele 
Schüler für den Staatsdienst heranzubilden. Er sah in 
: dem bestehenden Staate nicht die Negation aller recht- 
lichen Ordnung, sondern, prinzipiell wenigstens, den Ver- 
treter der bürgerlichen Ordnung. Er glaubt an einen 
anderen Schutz gegen das Unrechtleiden als der platonische 
Sokrates. Bei Xenophon (Mem. II, 9, 1ff.) gibt er dem 
Kriton, der viel unter ungerechten Verfolgungen zu leiden 
hatte, den gut bürgerlichen Rat, sich an den Archedemos, 
einen des Rechtes kundigen braven Mann zu wenden, ein 
Rat, der den besten Erfolg hatte. 

Platon treibt hier wohl bewußt die Sache auf die 
äußerste Spitze, wie dies bei Kontrastierung gegnerischer 
Standpunkte zu geschehen pflegt. Das Bedürfnis einer 
Versöhnung zwischen Staat und Philosophie hat er natür- 
lich empfunden und die Synthese in der Republik voll- 
zogen, wenn auch nicht für die Wirklichkeit sondern 
für den Gedanken. In unserem Dialog aber stehen sich 
Philosophie und Staat anscheinend völlig unversöhnt und 
unversöhnbar gegenüber. Aber fallen sie theoretisch auch 
ganz auseinander, so wirkt doch die künstlerische Form, 
die Platon dem Ganzen gegeben, etwas mildernd und ab- 
schwächend auf diesen Gegensatz. Indem nämlich Platon - 
. im Bilde uns einige Hauptvertreter der herrschenden Tages- 
strömungen in lebhaftem Gedankenaustausche mit Sokrates 
vorführt, läßt er die kleine, prinzipiell abseits stehende 
Philosophengruppe doch in gewisser Weise in das Getriebe 
des öffentlichen Lebens eingreifen und stellt so wenigstens 
eine Art idealen Zusammenhangs her. 

In wie hohem Grade Platon in diesem Dialoge Künst- 
ler und Dichter, in wie geringem Grade dagegen Historiker 
sein will, zeigt die souveräne Art, wie er mit den Zeit- 
verhältnissen umspringt. Die gelegentlichen geschicht- 
lichen Anspielungen, die bestimmend sein könnten für 
die Zeit, in der man sich das Gespräch gehalten denken 


10 Einleitung. 


soll, lassen uns hin und her schwanken über einen Zeit- 
raum von etwa zwanzig Jahren. Weist uns die Er- 
wähnung des kürzlich erfolgten Todes des Perikles auf 
die Zeit etwa der ersten Anwesenheit des Gorgias in Athen 
um 427 v. Chr. hin, so würde anderseits, wollten wir die 
Sache ernst nehmen, der bestimmte Hinweis auf die 
Prytanie des Sokrates jede Ansetzung des Gespräches vor 
dem Jahre 406 v. Chr. strengstens verbieten. Dies nur einer 
der chronologischen Widersprüche, die der Dialog zeigt; 
sie sämtlich aufzuführen, lohnt nicht. Platon hat offenbar 
mit vollem Bewußtsein sich in diesem Punkte die größte 
poetische Freiheit gewahrt. Es genügt dies einfach fest- 
zustellen. 

Schwieriger gestaltet sich die Beantwortung der Frage 
nach der Zeit der Abfassung des Dialogs selbst. War 
man früher unter Berufung namentlich auf die schonungs- 
lose Härte des Urteils über die Führer der athenischen 
Demokratie geneigt das Werk möglichst nahe an den 
Tod des Sokrates heranzurücken, so hat seit einiger Zeit die 
vermutete Beziehung des Gespräches auf ein Pamphlet des 
Sophisten Polykrates, das sich der Fiktion bediente, den 
Anytos abermals als Ankläger des Sokrates mit einer 
Reihe von Beschuldigungen vorzuführen, nicht wenige 
Kritiker dazu geführt den Dialog eine Reihe von Jahren 
vom Prozeß des Sokrates abzurücken. Man ist nämlich 
imstande die annähernde Zeit dieses Pamphlets, von 
dessen Inhalt man sich aus Xenophons Memorabilien 
und aus einer Rede des späten Sophisten und Rhetors 
Libanius (Apologie des Sokrates) ein ungefähres Bild 
machen kann, wenigstens nach dem terminus a quo zu be- 
stimmen!). Es kann nämlich erst nach dem Wiederauf- 
bau der langen Mauern im Jahre 392 v. Chr. geschrieben 
worden sein, da dieser in ihm erwähnt war. Steht also der 


1) Ausführliches, darüber bei Schanz in der Einleitung zu der 
erklärenden Ausgabe der plat. Apologie, Lpz. 1893, p. 22ff. und 
A. Gercke in der Einleitung zu Sauppes Ausgabe des Gorgias, 
Berl. 1897, p. XLIIIff. 


Einleitung. 11 


Gorgias damit in Zusammenhang, so wird man seine Ver- 
öffentlichung nicht vor 390 v. Chr. ansetzen können. 
Allein die Kombinationen, auf denen diese Hypothese be- 
ruht, sind, nicht sowohl was den mutmaßlichen Inhalt des 
Pamphlets als was die Beziehungen des platonischen Gor- 
gias darauf anlangt, nicht allem Zweifel entrückt. Eine 
gründliche Auseinandersetzung mit der Rhetorik als an- 
geblich höchster Lebensweisheit — was sie in den Augen 
der Zeitgenossen war — würde Platon wahrscheinlich auch 
ohne Rücksicht auf ein derartiges Pamphlet unternommen 
haben. Sollte dasselbe aber einigen Einfluß auf die Ent- 
stehung des Dialogs gehabt haben, so hat es Platon ver- 
standen, die Spuren des Temporären und Zufälligen zu 
verwischen und seinem Werk einen Gedankengehalt von 
dauernder Bedeutung zu geben!). Darauf kam es ihm 
offenbar vor allem an und das ist ihm auch gelungen, 
selbst nach der negativen Seite hin; denn die Rhetorik 
wird, wenigstens in entwickelteren Staaten, immer, auch 
unter gesunderen Verhältnissen als denen des damaligen 
Athen, selbst da, wo die öffentliche Meinung sich be- 
stimmt für die dAndıwn ῥητορική entschieden hat, sich in 
gewissen Grenzen auch noch als wirksame Waffe des 
mehr oder minder krassen Egoismus behaupten. 

Auf alle Fälle wird man gut tun, wenn es sich um die 
zeitliche Einordnung des Gorgias handelt, sich auch noch 
nach anderen Kriterien umzusehen. Solche liegen einer- 
seits in dem sachlichen Verhältnis zu anderen Dialogen, 

1) Auffallend bleibt eigentlich nur der bissige Ausfall gegen 
die berühmten Führer der athenischen Demokratie, die man als 
Antwort auf deren Verherrlichung durch. Polykrates auffaßt. Aber 
notwendig ist diese Erklärung nicht, diese Verherrlichung war in 
Athen ziemlich allgemein. Und man beachte doch auch einerseits 
die hohe Wertschätzung, welche dem Aristides (526B) zuteil wird 
anderseits den Umstand, daß es sich hier ausschließlich um die Frage 
der moralischen Besserung der Bürger durch die Staatsmänner 
handelt. Denn dies ist die Frage, auf die Sokrates den Kallikles 
festgelegt hat. Die sonstige Befähigung derselben wird ja aus- 
.drücklich anerkannt (517Ab). Gerade die ausgesprochenermaßen 


rein ethische Wendung -der Beurteilung mußte auch an sich eine 
besondere Schärfe der Kritik mit sich führen: 


12 Einleitung. 


anderseits in den Ergebnissen der Sprachstatistik. In 
ersterer Hinsicht kommen namentlich der Protagoras und 
Menon in Betracht. Gegen den ersteren stellt sich der 
Gorgias rücksichtlich des Lehrgehaltes in gewissen Punkten 
als ein Fortschritt dar, während der Menon seinerseits 
wieder auf eine etwas spätere Entstehungszeit als die des 
Gorgias hinzudeuten scheint. Was aber die Sprachstatistik 
anlangt, so weist sie den Gorgias entschieden noch in 
die erste Periode der platonischen Schriftstellerei. Man 
sieht sich auf diesem Wege etwa zu demselben Resultat 
geführt, welches die angeblichen Beziehungen des Dialogs 
auf das Pamphlet des Polykrates ergeben. Dies mag jener 
Hypothese zur Empfehlung dienen. 

Über die Art des Beweisverfahrens, das in unserem 
Dialog einen breiten Raum einnimmt, werden die An- 
merkungen das Nötige beibringen. Hier sei nur so vie] 
bemerkt, daß sich darin nicht wenig Spitzfindiges und 
Willkürliches findet, daß aber das Anfechtbare nicht so- 
wohl in der logischen Konsequenz der Schlußfolgerungen, 
wie man wohl behauptet hat, als in der Formulierung 
der Prämissen, also in der Materie der Urteile liegt. Aber 
alle Schwächen dieser Art treten doch zurück hinter der 
siegreichen Kraft, mit der der Grundgedanke des Ganzen 
von der Sittlichkeit als führender Macht des Lebens zur 
Anerkennung gebracht worden ist. 


Inhalt und Gliederung des Gesprächs. 


Einleitung. 
(c.1.2. 447 A—448D). 

Sokrates, gewillt einen Vortrag des Gorgias anzuhören. 
den dieser in einer Halle hält, ist auf dem Markte durch 
seinen Schüler Chairephon aufgehalten worden und kommt 
mit diesem vor der Halle an, als der Vortrag gerade be- 
endet ist. Der eben heraustretende Kallikles, dessen Gast 
Gorgias während seines Aufenthaltes in Athen ist, er- 


Einleitung, 13 


klärt auf Befragen, daß Gorgias nicht abgeneigt sein werde, 
über das Wesen seiner Kunst, über das Sokrates Auf- 
klärung wünscht, ihm Auskunft zu geben. Nachdem man 
in die Halle eingetreten, fordert nach einem kurzen Vor- 
gespräch zwischen Chairephon und Polos, dessen vom 
Gegenstand abspringende Antworten das Mißfallen des 
Sokrates erregen, dieser den Gorgias selbst zur Unterredung 
mit ihm, dem Sokrates, auf. Gorgias erklärt sich bereit. 


Erster Hauptteil. 
Gespräch mit Gorgias (c. 3—15. 448E—461 B). 


1. Gorgias, der die Bitte des Sokrates, unter Ver- 
meidung langer Reden sich auf kurze Antworten zu be- 
schränken, nach Möglichkeit zu erfüllen verspricht, be- 
zeichnet seine Kunst zunächst als Rhetorik, eine Kunst, 
die er nicht nur selbst übe, sondern auch andere zu lehren 
imstande sei. Als Gegenstand dieser Kunst gibt er an 
„Reden“. Da aber, wie Sokrates bemerkt, auch andere 
Künste sich der Reden bedienen, kommt es auf eine nähere 
Bestimmung für die dem Bereich der Rhetorik angehörenden 
Reden an. Nach einigem Suchen wird als Ziel dieser Reden 
die ein bloßes Glauben, kein Wissen bewirkende Über- 
redung der Hörer, und zwar in großen Versammlungen 
der Bürger, als ihr Gegenstand aber die wichtigsten 
menschlichen Angelegenheiten, vor allem die Fragen über 
Recht und Unrecht festgestellt (456 A). Indem nun Gorgias 
die alles umfassende und beherrschende Macht seiner 
Kunst in längerer Ausführung preist, verwahrt er sich 
gegen etwaige Vorwürfe darüber, daß ein Mißbrauch dieser 
Kunst zu unlauteren Zwecken vonseiten der Jünger nicht 
ausgeschlossen sei. Komme ein unrechter Gebrauch vor, 
so treffe die Schuld nicht den Lehrer, sondern die Schüler 
c.3—11. 448E—457C. 


2. Darin glaubt Sokrates einen Widerspruch zu er- 
kennen. Ehe er indes mit dem Nachweis dafür hervortritt, 
sondiert er vorsichtig und höflich den Gorgias, ob dieser 


14 Einleitung. 


auch unbefangen genug sei, einen etwaigen Nachweis dieser 
Art ohne Unwillen aufzunehmen. Gorgias erklärt zwar 
ebenso unbefangen zu sein wie Sokrates, macht aber doch 
einen kleinen Versuch das Gespräch zum Abbruch zu 
bringen, der aber an dem energischen Widerspruch der An- 
wesenden scheitert‘ (408). Nunmehr weist Sokrates den 
Widerspruch in des Gorgias Ausführungen nach, indem 
er diesen zunächst sich selbst dahin berichtigen läßt, daß 
der Redner zwar in allen übrigen Gebieten mit der bloßen 
Fähigkeit zu überreden, also ohne eigenes Wissen, aus- 
komme, was aber die Fragen über Recht und Unrecht, 
Gut und Schlecht, Schön und Häßlich, also das eigentliche 
Gebiet der Rhetorik anlange, auch selbst ein Wissender 
sein und seine Schüler dazu machen müsse. Da nun 
der Wissende — nach sokratisch-platonischem Grundsatz — 
auch immer das Rechte tut, so ist es auch ausgeschlossen, 
daß der Redner jemals einen unrechten Gebrauch von 
seiner Kunst mache. Gorgias ist also mit sich selbst in 
einem Widerspruch befangen, dessen gründliche Auf- 
hellung, wie Sokrates meint, eine lange Untersuchung 
erfordern würde c.12—15. 4570—461C. 


Zweiter Hauptteil. 


Gespräch zwischen Sokrates und Polos 
(ec. 16—36. 4610 —481B). 


1. Polos, der jetzt in die .Stelle des Gorgias als Mit- 
unterredner eintritt, erklärt den angeblichen Widerspruch 
nur für eine Folge der falschen Scham, die den Gorgias 
zu dem Zugeständnis geführt habe, der Redner müsse 
selbst im vollen Besitz des Wissens über Recht und 
Unrecht sein. Sokrates begrüßt nicht ohne Ironie dies 
sein Eingreifen in die Verhandlung und läßt ihn die Rolle 
des Fragenden übernehmen. Aber da Polos sich auber- 
stande zeigt, streng bei der Sache zu bleiben, indem 
er die Frage nach dem Wesen der Rhetorik mit der nach 
ihrer Macht zusammenwirft, so sieht sich Sokrates ver- 


Einleitung. 15 


anlaßt, selbst in längerer Darlegung seine Ansicht über 
sie zu entwickeln. Er will sie nicht als Kunst gelten 
lassen, sondern nur als Erfahrenheit und zwar als eine 
Erfahrenheit in Erzeugung von Wohlgefallen und Lust. 
Sie gehört zu denjenigen Fertigkeiten, die es auf bloße 
Schmeichelei abgesehen haben. Es gibt nämlich wie für 
den Leib, so auch für die Seele neben den wahrhaft deren 
Bestes fördernden Künsten gewisse diesen parallel lau- 
fende Afterkünste, die unter dem Gattungsbegriff der 
Schmeichelei zusammenzufassen sind. Wie für den Körper 
neben der Gymnastik und der Heilkunst die Putzkunst 
und Kochkunst als schmeichlerische Afterkünste her- 
laufen, so für die Seele neben der Gesetzgebung und 
Rechtspflege die Sophistik und Rhetorik c.16—20. 461C 
bis 466A. 

2. Ohne sich auf eine Prüfung dieser Aufstellungen 
einzulassen spielt Polos gleich wieder seinen schon be- 
kannten Haupttrumpf aus, der in der Berufung auf die un- 
vergleichliche Macht der Redner besteht. Sokrates leugnet 
diese angebliche Macht gerade heraus und behauptet zum 
nicht geringen Erstaunen des Polos auf das bestimmteste, 
daß weder Redner noch Tyrannen tun, was sie wollen c. 21. 
22. 466 A—467C. 
| a) Diese seine Ansicht begründet Sokrates, nun wieder 

die Rolle des Fragenden übernehmend, durch die Unter- 
scheidung von bloßem Belieben (Gutdünken) und eigent- 
lichem Wollen, verbunden mit der Unterscheidung von 
Mittel und Zweck. Der eigentliche Zweck alles Handelns, 
m. a. W. der wahre Gegenstand unseres Wollens ist stets 
das Gute; aber da die Einsicht in dasselbe häufig mangel- 
haft ist, täuschen wir uns über den Zweck (über unseren 
wahren Vorteil) und verwechseln Mittel und Zweck. Nicht 
alles, was wir tun, wollen wir auch wirklich; wir tun 
es also dann aus bloßem Belieben, in der Meinung, damit 
unseren wahren Vorteil (das Gute) zu erreichen. Wenn 
nun die Macht der Redner darin besteht, durchzusetzen, 
was ihnen beliebt, so ist dies keine wahre Macht; denn 


16 Einleitung. 


diese besteht darin, zu erreichen, was man wirklich will 
(das Gute) c.23. 24. 467C—468E. 

b) Dem Polos, der sich von seinem Wohlgefallen an 
der Macht der Redner und Tyrannen nicht losreißen 
kann, stellt Sokrates die Behauptung entgegen, daß nur die 
gerechte Ausübung solcher Macht zu billigen sei, und 
als Polos ihm das vielbeneidete Glück des mazedonischen 
Archelaos als Beispiel für das Gegenteil entgegenhält, 
stellt er unter Hinweis auf das Unsachliche eines solchen 
angeblichen Beweises (471Eff.) den Gegensatz ihrer An- 
sichten dahin fest, daß Polos meine, Unrechtleiden sei 
schlimmer als Unrechttun, Unrechttun aber sei ein Übel 
nur dann, wenn es Strafe zur Folge habe, wogegen nach 
seiner, des Sokrates Ansicht einerseits Unrechttun schlim- 
mer sei als Unrechtleiden, anderseits Straflosigkeit nach be- 
gangenem Unrecht das allergrößte Übel sei c. 25—29. 
468 E—A730. | 

a) Der Beweis für die erste Behauptung wird einge- 
leitet durch das dem Polos abgewonnene Zugeständnis, 
daß das Unrechttun zwar besser, aber doch häßlicher sei 
als das Unrechtleiden; das Häßliche aber beruht entweder 
auf dem Schmerz oder auf dem Übel (κακόν), das damit 
verbunden ist. Da nun das Unrechttun dem, der es tut, 
keinen Schmerz bereitet, gleichwohl aber häßlich ist, so 
muß es notwendig ein Übel sein ο. 80. 31. 4730—475F. 

β) Der Beweis für die zweite Behauptung des Sokrates 
beruht auf dem Satz, daß die Strafe die rechtliche Wirkung 
des Unrechtes, also der Vollzug der Gerechtigkeit ist. 
Damit aber fällt sie durchaus in den Bereich des Schönen 
und Guten. Sie bessert den Frevler und erweist ihm daher 
eine Wohltat, wogegen der straflos Ausgehende, wie Arche- 
laos, weit unglücklicher ist als der der Strafe teilhaftig 
Gewordene ce. 32—35. 475 E—479E. 

3. Aus dem FErwiesenen werden nun, nicht ohne 
einen gewissen triumphierenden Übermut, die Konse- 
quenzen gezogen. Jeder Frevler muß, wenn er sein wahres 
Beste im Auge hat, nichts eifriger betreiben als seine 


Einleitung. 17 


eigene Bestrafung. Und die Rhetorik muß, wenn sie sich 
selbst recht versteht, nahezu den entgegengesetzten Stand- 
punkt einnehmen als den tatsächlich von ihr innegehaltenen 
c.36. 480 B—481B. 


Dritter Hauptteil. 

Gespräch mit Kallikles (c. 37—73. 481 B—527E.). 

Mit dem Eingreifen des Kallikles gewinnt das Ge- 
spräch alsbald eine weit umfassendere Bedeutung. Schlos- 
sen sich die bisherigen Ausführungen unmittelbar oder 
mittelbar an die Rhetorik als solche an, so erscheint 
nunmehr die Rhetorik nur noch als Vertreterin der einen 
von zwei Lebensanschauungen und Lebensaufgaben, 
zwischen denen es zu wählen gilt. Diese Wendung erhält 
das Gespräch durch die Einführung der Begriffe „Natur“ 
(φύσις) und „Satzung“ (νόμος), die beide, aber von ver- 
schiedenen Gesichtspunkten aus, für unsere Beurteilungen 
des sittlich Schönen und Häßlichen bestimmend sind. 
Indem Kallikles die Niederlage des Gorgias und Polos auf 
die geschickte Ausnutzung des gegenseitigen Verhältnisses 
dieser Begriffe durch Sokrates zurückführt, sieht er in ihm 
den gewandten Dialektiker, den Vertreter der Philosophie, 
die für die Jugendbildung wohl empfehlenswert sei, aber 
als Lebensberuf den Menschen schutz- und wehrlos und 
überhaupt untauglich mache für die Anforderungen des 
praktischen Lebens, in welchem ausschließlich das Recht 
des Stärkeren gelte. Diesen Anforderungen zu dienen sei 
der einzig würdige Mannesberuf: und darum die Beschäf- 
tigung mit Rhetorik und Politik die wahre Lebensauf- 
gabe, der auch Sokrates sich widmen. solle, entsagend 
dem verkehrten Lebensideal, der Philosophie (486D). Die 
Berechtigung dieser Mahnung gemeinsam mit Kallikles 
zu prüfen ist Sokrates um so williger bereit, als Kalli- 
kles, wie Sokrates nachweist, alle wesentlichen Eigen- 
schaften besitzt, die ein sicheres und endgültiges Ergebnis 
der gemeinsamen Untersuchung VerbiS OR c.37—4T. 481B 
bis 488B. 

Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148. 2 


18 Einleitung. 


1. Sokrates veranlaßt nun den Kallikles im Anschluß 
an dessen Behauptung über das Recht des Stärkeren zu 
Herrschaft und Vorteil über die Schwächeren sich des 
näheren über den Begriff des „Stärkeren‘ zu erklären 
und weist sowohl die Deutung, wonach es der physisch 
Stärkere, wie die zweite, wonach es der ‚‚Bessere“ sei, als 
widerspruchsvoll zurück. Die dritte Deutung aber, der 
gemäß es der Einsichtigere und, genauer bestimmt, der 
in Angelegenheiten des Staates Einsichtigere und Tat- 
kräftigere sei, führt zu der Frage, ob dieser Einsichtigere 
bloß über andere oder auch über sich selbst zu herrschen 
berufen sei (m. a. W. zu der Frage, wer denn eigentlich 
als wirklich einsichtig zu bezeichnen sei). Damit ist 
Kallikles an seiner verwundbarsten Stelle getroffen: 
Selbstbeherrschung ist in seinen Augen die krasseste Un- 
natur, uneingeschränkte Befriedigung aller Gelüste die 
eigentliche Tugend und Glückseligkeit (4920). Die ge- 
meinhin so genannte Tugend ist ihm nichts als mensch- 
lich. Satzung und Aberwitz. Dieser seiner Anschauung 
gibt Kallikles den kräftigsten Ausdruck und spricht damit, 
wie Sokrates richtig bemerkt, offen und zum Vorteil für 
die Untersuchung aus, was die meisten zwar denken, 
aber zu sagen sich scheuen c. 43—47. 488 B—492D. 

2. Die Haltlosigkeit des von Kallikles vertretenen 
Standpunktes sucht Sokrates zunächst durch teils von 
den Pythagoreern entlehnte teils eigene Gleichnisreden zu 
beleuchten, ohne den Kallikles zu bekehren, der dabei 
bleibt, daß die Befriedigung aller Begierden ohne Unter- 
schied ein glückliches Leben gewähre. Seine Ansicht 
läuft also auf nichts Geringeres hinaus als auf die Gleich- 
setzung der (sinnlichen) Lust mit dem Guten (495 A). 
Diese angebliche Identität des Angenehmen mit dem 
Guten widerlegt nun Sokrates so: 

a) Alle Lust, insofern sie Befriedigung einer Begierde 
ist, stellt eine Verknüpfung von Lust und Schmerz dar, 
denn Begierde für sich ist schmerzhaft, ihre Befriedigung 
also eine Vereinigung von Lust und Schmerz; mit dem 


Einleitung. 19 


Aufhören der Begierde hört aber auch die Lust auf. 
Eine solche Vereinigung und gleichzeitiges Aufhören findet 
aber beim Guten und Schlechten niemals statt, vielmehr 
wird man dieser nur im Wechsel miteinander, niemals 
aber zugleich, teilhaftig. Also sind Lust und Gutes nicht 
miteinander identisch, ebensowenig Schmerz und Schlechtes 
c.47—52. 490 E—497E. 

ß) Die Erfahrung zeigt, daß feige Leute sich beim Ab- 
zug der Feinde mehr freuen (größere Lust empfinden) als 
die Tapferen. Da nun früher (489E. 491 Bf.) die Tapferen 
von Kallikles als „gute‘‘ Männer bezeichnet worden waren, 
so ergibt sich daraus bei Voraussetzung der Identität von 
Gut und Lust der Widerspruch, daß die Feiglinge besser 
sind (weil sie mehr Lust empfinden) als die Tapferen c.52. 
53. 497 E— 499B. | 

Kallikles räumt nun als etwas angeblich ganz Seibst- 
verständliches, das er nur im Scherze verleugnet habe, 
die Unterscheidung der Lüste in gute und schlechte (nütz- 
liche und schädliche) und damit den Unterschied zwischen 
Gutem und Angenehmem (Lust) ein. Daraus zieht So- 
krates nunmehr die Folgerungen, nämlich den Gegensatz 
der beiden Lebensweisen. 

3. Das Ziel alles menschlichen Handelns ist danach 
_ nicht die Lust schlechthin, sondern das Gute. Um des 
Guten willen, wie schon im Gespräch mit Polos fest- 
gestellt ward, muß alles andere geschehen, nicht umge- 
kehrt; um des Guten willen also muß das Angenehme 
geschehen, nicht um des Angenehmen willen das Gute. 
Es gilt also zunächst den Unterschied zwischen den da- 
durch bestimmten zwei Lebensweisen. festzustellen und 
dann nach Maßgabe ihres Wertes die Entscheidung darüber 
zu treffen, welche dieser Lebensweisen man erwählen muß 
c.54. 55. 500A—500D. 

a) Aus der getroffenen Unterscheidung zwischen 
Gutem und Angenehmem folgt zunächst die Richtigkeit 
des früher gegen Polos entwickelten Gegensatzes zwischen 
eigentlichen Künsten, die auf richtiger Einsicht in das 

Ὁ: 


20 Einleitung 


wahrhaft Beste beruhen, und Afterkünsten, die auf 
loße Schmeichelei hinauslaufen und nicht auf Ein- 
sicht in das Beste, sondern auf bloßer Erinnerung 
beruhen. Zu den letzteren gehören außer den früher 
genannten auch Musik und Dichtung, soweit sie es 
nur auf Erweckung von Wohlgefallen, also auf die 
Lust abgesehen haben. Ferner die Volksrednerei, sofern 
sie nicht das wahre Beste der Bürger im Auge hat, was 
in Athen bisher noch nie der Fall gewesen ist (608 ΒΟ). 
Wie man sich aber die bisher vermißte wahre Rhetorik 
zu denken habe, wird nun von Sokrates entwickelt: die 
Seele besonnen und gerecht zu machen ist ihr eigentliches 
Ziel. Nur ein so geregeltes Leben hat wirklichen Wert. 
Zügellosigkeit ist der Verderb der Seele und Züchtigung 
das richtige Heilmittel dagegen. Das will dem Kallikles 
wenig einleuchten; da er sich aber dialektisch nicht da- 
gegen wehren kann, verweigert er die weitere Beteiligung 
am Gespräch (505E), so daß Sokrates nun eine Weile 
der alleinige Sprecher ist. Er zeigt, daß, wie Beson- 
nenheit die Grundlage des Guten und der Tugend und 
somit des Glückes, so Zügellosigkeit der sichere Weg zum 
Schlechten und Elend ist. Züchtigung der Begierde, d. h. 
Strafe, ist also das einzige Mittel zügellose Menschen vor 
dem Elend zu bewahren. Daraus folgt die Richtigkeit 
dessen, was früher gegen Polos über die Strafe als wahre 
Wohltat und über das Unrechttun im Vergleich zu dem 
Unrechtleiden behauptet wurde (608 Ὁ). Die Wehrlosigkeit 
also, meint Sokrates, die man ihm als schlimme Folge 
seiner Lebensansicht vorgehalten habe, sei kein wahrer 
Nachteil, denn der Unrechtleidende sei vor dem Unrecht- 
tuenden weitaus im Vorteil. Gegen das Unrechttun kann 
man sich auf ehrliche Weise schützen, nämlich durch Be- 
lehrung und Übung, gegen das Unrechtleiden dagegen nur 
durch möglichste Ansammlung von Macht, was nicht anders 
möglich ist als durch Anpassung an die Machthaber, 
also durch Verschändung der Seele und fortwährenden An- 
reiz zum Frevel. Der Verbrecher, der uns das Leben 
raubt, ist weit unglücklicher als das Opfer seines Ver- 


Einleitung. 9] 


brechens. Nicht möglichst lange zu leben, sondern tugend- 
haft zu leben ist das allein würdige Streben. Alle Künste, 
welche darauf berechnet sind uns vor Lebensgefahr zu 
schützen, sind nur von geringem Wert, verglichen mit 
jenem Ziel. Beispiel der Steuermannskunst (511 Dff.). 

Kallikles, der sich unwillkürlich schon wieder am (16- 
spräch beteiligt hat, gibt jetzt sein, wenn auch nur prinzipielles 
Einverständnis damit zu erkennen c. 55—69. 500 E—513C. 

b) Vor den der Schmeichelei dienenden Afterkünsten 
die Mitbürger zu bewahren und ihr wahres Bestes zu för- 
dern ist nur der imstande, der im Besitze wirklicher Ein- 
sicht in das Gute ist. Von den bisherigen Staatsmännern 
Athens läßt sich das nicht sagen. Keiner von ihnen hat 
es verstanden, seine Mitbürger moralisch besser zu machen, 
und oft genug haben sie sich über den angeblichen Un- 
dank ihrer Mitbürger zu beklagen gehabt, ganz ähnlich 
wie die Sophisten über den ihrer Schüler. Sophisten und 
Rhetoren (Staatsmänner) gehören überhaupt zusammen, 
nur daß die Sophisten an Wert eine Stufe höher stehen. 
Beide sind Vertreter der die Mitbürger in die Irre führen- 
den Lebensansicht. Soll man nun dieser folgen oder der- 
jenigen, die das wahre Seelenheil der Mitbürger im Auge 
hat? (521A). Kallikles entscheidet sich in Rücksicht nament- 
. lich auf die gerade dem Sokrates möglicherweise drohende 
Gefahr für das erstere. Allein Sokrates will davon nichts 
wissen. Welches Schicksal ihn auch treffen könne, er sei 
dagegen gefeit durch die Selbsthilfe, die er sich geleistet: 
durch die Selbstbewahrung von jeder Art von Unrecht. 
Auf Grund dessen könne er mit bestem Vertrauen den 
Weg in den Hades antreten c. 69—78. 513D—522E. 

c) Diese Überzeugung, daß der Tod ihm nichts anhaben 
könne, findet ihre Bekräftigung durch den Mythus vom 
Totengericht, dem zufolge die als rein befundenen Seelen 
zur Seligkeit eingehen werden. Mit einer kurzen Zusammen- 
fassung der Hauptergebnisse des Gesprächs und eindring- 
lichen Mahnung an den Kallikles zur Beherzigung dieser 
Ergebnisse schließt das Gespräch c. 78—83. 523 A—527E. 


Einleitung. 


IV 
IV 


Übersicht über die Literatur. 


Mit Unterstützung von Rudolf Klussmann, 


Von Ausgaben nenne ich: 


Platonis Dialogi selecti. Vol, II. Gorgias et Theaetetus ed. L. F. Hein- 
dorfius. Ed. Il. emend. Ph. Buttmannus. Berlin (1805) 1829. 

Platonis opera rec. α. Stallbaum. Gotha (Vol. II. 1: Gorgias [1828]. 
Editio III. 1861). 

Platons Gorgias. Erklärt von J. Deuschle und Chr. Oron, 5. Aufl. 
neu bearb. von W. Nestle. Lpz. (1859) 1909. 

Platons Gorgias. Herausg. von E. Jahn. Wien 1859. 

Platons Gorgias, Erklärt von H. Kratz. Stuttgart 1864. 

Gorgias. Expliqu& litteralement et annot& par Εἰ. Sommer et traduit 
en francais par F. Thurot. Paris (1864) 1896. 

The Gorgias of Plato with english notes, introd. and append, by 
Will. Thompson. London and New York (1871) 1894. 

Platonis Gorgias.... Emend. atque illustr. Edidit. R. B. Hirschig. 
Utrecht 1873. 

Platonis opera. Ed. M.Schanz. Vol. VIII. Lips. 1881. 

Platons Gorgias. Erklärt von C. Schmelzer. Berlin 1883. 

Platons Gorgias,. Erklärt von H. Sauppe. Hrsg. von A. Gercke. 
Berlin 1897. 

Gorgias. Kdition classigque par A. P. Lemercier. Paris 1899. 
Platons Gorgias, Mit Einl. und Kommentar f. ἃ, Gymnasialprima 
hrsg. von J. Stender. Halle 1900. 

Platonis opera. Recogn. J. Burnet. Tom. III. Oxford (1903). 
Platone. Il Gorgia. Commentato da D. Menghini. Milano 1912. 


Von Übersetzungen nenne ich: 


Platons Gorgias, Übersetzt von G. Schultheß, neu bearb. von 
S. Vögelin Zürich (1775) 1857. 

Platons Werke von Fr. Schleiermacher. II, 1. Berlin (1805) 1818. 
Mit Einleitung. 

Platons Werke, Übersetzt von H. Müller ‚ mit Einleitungen von 
Steinhart. II. Lpz. 1851. 

Platons Gorgias. Übersetzt von J. Deuschle. Stuttgart 1859, 

Platons Gorgias, Deutsch von C. Conz. (Stuttg. 1867.) Berlin 1907, 

Platons Gorgias und Menon. Ins Deutsche übertragen von K. Prei- 
sendanz. Jena 1908. 


Erläuterungsschriften. 


Anton, H.: Die Dialoge Gorgias und Phädrus. Ztschr. f. Philos. 
u. philos. Kritik. 35 (1859), S 8I—113. 

Apelt, O.: Plat. Aufsätze. Lpz. 1912, S. 157f. 192#f. 

Baar, A.: Darlegung der im pl. Dial. G. vorkommenden Argumen- 
tationen.u, ihrer Resultate. Gpr. Znaim 1873. 

Bake, J.: De Gorgiae Plat. consilio et ingenio. Schol. hypomn. 3 
(Lugd. Bat. 1844), p. 1—26. 

Baumann, H.: Kritik über Pl. Apologie u. Gorg. Prg. Staatsgymn. 
der inneren Stadt (Fichtegasse). Wien 1873. 

Böhringer, A.: Der plat. Gorgias. Prg. des Lyz. Karlsruhe 1870. 

Bonitz, H.: Platon. Studien. 3. Aufl. Berlin 1886. 


Einleitung, 23 


Cohn, @.: Plat, Gorgias. Ein kritisk Redegorelse for Tankegangen. 

Oron, Chr.: Beiträge z. Erklärung des plat. Gorgias. Lpz. 1870. 

—: Zur Frage nach der Gliederung des plat. Dialogs Gorgias. Jahrb. 
f. class, Phil. 133 (1886), S. 568—b»2. 141 (1890), 8. 208 ---281. 

Deuschle, J.: Dispositionen der Apol. u. des Gorgias v. Pl. u. lo- 
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Dörfler, J.: Die Orphik in Pl. Gorgias. Wiener Stud. 33 (1911), 
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Döring, A.: Die eschatolog. Mythen Platos. Arch. f. Gesch. d. 
Phil. 6 (1893), S. 475— 4%. | 

Dümmler, F.: Chronol. Beitr. zu einigen Plat. Dialogen aus den 
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Gomperz, H.: Sophistik und Rhetorik, Das Bildungsideal des εὖ 
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Horn, F.: Platonstudien. Wien 1893. ὃ. 57—103. 

Huit,C,: Le Gorgias. Comm. gramm. et litt£raire des chap. 37—83... 
Paris 1884. Ἢ | 

Hülsenbeck, J.: Über Pls. Gorgias u. Phaedrus. Gpr. Iglau 1869. 

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er 


Platons Gorgias. 


Die im Dialog auftretenden Personen sind: Kallikles, Sokrates, 
Cbairephon, Gorgias, Polos.!) 


Erstes Kapitel. 


Kallikles. Zu Streit und Kampf, mein Sokrates, 
kommt man wohl gern zu spät wie es heißt, aber nicht 
zum Feste, 

Sokrates. Kommen wir wirklich, mit dem Sprich- 
wort zu reden, nach?) dem Feste und haben nun das 
Nachsehen ? 

Kallikles. Und was für ein Fest, wie ausgesucht 
fein! Was hat uns Gorgias eben für eine Fülle von 
Herrlichkeiten zu hören gegeben. 

Sokrates. Daran, mein Kallikles, ist unser Chaire- 
phon hier schuld: er nötigte uns auf dem Markte zu 
verweilen. 

Chairephon. Das macht nichts aus, mein Sokrates. 
Ich werde es schon wieder gut machen; denn Gorgias 
ist mein Freund; er wird uns also eine Probe seiner 
Redekunst geben, wenn es gewünscht wird, sogleich, oder 
wenn es dir lieber ist, ein andermal. 

Kallikles. Wie, mein Chairephon ? Trägt Sokrates 
Verlangen, den Gorgias zu hören ? 

Chairephon. Das ist es ja gerade, was uns hierher 
geführt hat. 

Kallikles. Also begebt euch, wenn es euch beliebt, 
in mein Haus?); denn bei mir hat Gorgias sein Quartier, 
und er wird euch sicherlich eine Probe seiner Kunst 
geben. 


26 Platons Gorgias. 


Sokrates. Schön, mein Kallikles.. Aber wird er 
sich auch auf eine Unterredung mit uns einlassen wollen ? 
Ich möchte nämlich von ihm erkunden, was es mit der 
Kunst des Mannes eigentlich auf sich hat und worin das 
besteht, wozu er sich anheischig macht und was er lehrt. 
Den anderen Vortrag aber soll er, wie du sagst®), ein 
andermal zum besten geben. 

Kallikles.. Am besten ist's, ihn selbst zu fragen, 
mein Sokrates. Denn das gehörte ja als ein besonderes 
Stück mit zu seiner Prunkleistung. Er forderte nämlich 
alle die drinnen Weilenden auf, jede beliebige Frage an 
ihn zu richten, mit der Versicherung, er werde auf alles 
antworten. 

Sokrates. Vortrefflich! Mein Chairephon, du mußt 
ihn fragen. | 

Chairephon. Was soll ich ihn fragen ? 

Sokrates. Was er ist. 

Chairephon. Wie meinst du das? | 

Sokrates. Setze den Fall, er wäre ein Meister im Ver- 
fertigen von Schuhen; dann würde er dir wohl antworten: 
ein Schuhmacher. Oder verstehst du nicht, wie ich’s meine ? 


Zweites Kapitel. 


Chairephon. Ich verstehe und werde fragen. — 
(In der Halle.) Sage mir, mein Gorgias, behauptet Kalli- 
kles mit Recht, daß du auf jede Frage, die man an dich 
richtet, dich anheischig machst zu antworten ? 

Gorgias. Ja gewiß, mein Chairephon. Denn 6 
erst machte ich mich gerade dazu anheischig, und ich 
behaupte, daß mich seit vielen Jahren niemand nach 
etwas gefragt hat, worauf ich ihm die Antwort schuldig 
geblieben wäre. 

Chairephon. Also wirst du gewiß mit Leichtigkeit 
antworten, mein Gorgias. 


Zweites Kapitel. | 27 


Gorgias. Es steht dir frei, mein Ohairephon, einen 
Versuch zu machen. 

Polos. Beim Zeus, mein Ühairephon, ist es dir aber 
recht, so mache den Versuch mit mir. Denn Gorgias ist, 
wie es scheint, zu abgespannt; hat er doch eben einen 
langen Vortrag gehalten. 

Chairephon. Wie, mein Polos? Glaubst du besser 
zu antworten als Gorgias? 

Polos. Darauf kommt es nicht an, sondern nur 
darauf, dir befriedigend zu antworten. 

Chairephon. Allerdings. Aber da du es wünschst, 
so antworte mir. 

Polos. So frage denn. 

Chairephon. Das soll geschehen. Gesetzt, Gor- 
gias wäre ein Meister in der Kunst seines Bruders 
Herodikos5), wie würden wir ihn dann nennen, um ihn 
richtig zu bezeichnen ? Nicht ebenso wie jenen ? 

Polos. Gewib. 

Chairephon. Wenn wir also sagten, er wäre ein 
Arzt, so würde diese Bezeichnung doch zutreffend sein’? 

Polos. Ja. 

Chairephon. Wäre er aber kundig der Kunst, in 
der Aristophon, des Aglaophon Sohn, oder dessen Bruder‘) 
Meister sind, welches würde dann die richtige Bezeichnung 
für ihn sein’? 

Polos. ‚Maler‘ offenbar. 

Chairephon. Welches ist nun in Wirklichkeit die 
Kunst, deren er kundig ist, und wie werden wir ihn 
demgemäß richtig nennen ? 

Polos. Mein Chairephon, die Menschen gebieten 
über zahlreiche Künste, die auf Grund gemachter Er- 
fahrungen erfahrungsgemäß aufgefunden worden sind. 
Denn Erfahrung läßt unser Leben fortschreiten nach den 
Regeln der Kunst, Mangel an Erfahrung aber nur nach 
des Zufalls Gunst. In allen diesen Künsten sind Men- 
schen tätig in mannigfacher Verteilung an jede einzelne 
und in mannigfacher Abstufung der Fähigkeiten, in den 


98 Platons Gorgıas. 


besten aber die besten. Zu ihnen gehört auch unser 
Gorgias hier, und er ist Vertreter der schönsten unter 
den Künsten. 


Drittes Kapitel. 


Sokrates. Trefflich, mein Gorgias, scheint Polos 
für Reden gerüstet zu sein; aber was er dem Chairephon 
versprach, das hält er nicht. 

Gorgias. Wieso denn, mein Sokrates? 

Sokrates. Die ihm vorgelegte Frage läßt er, wie 
mir scheint, völlig unbeantwortet. 

Gorgias. Nun, so frage du ihn doch, wenn du willst. 

Sokrates. Nicht gern, falls du selbst geneigt sein 
solltest zu antworten; viel lieber nämlich würde ich dich 
fragen. Denn aus dem, was Polos gesagt hat, geht klar 
hervor, daß er sich mehr mit der sogenannten Rede- 
kunst als mit der Kunst der Unterredung befaßt hat. 

Polos. Wieso denn, mein Sokrates ? 

Sokrates. Weil du, mein Polos, auf die Frage des 
Chairephon, welcher Kunst Gorgias kundig sei, seine 
Kunst preist, als ob sie getadelt würde, aber die Frage, 
was sie ist, unbeantwortet gelassen hast. 

Polos. Habe ich nicht geantwortet, daß sie die 
schönste sei? 

Sokrates. Sicherlich. Aber niemand fragte nach 
dem Wie der Kunst des Gorgias, sondern nach dem 
Was, und wie man den Gorgias nennen müsse. Wie 85 
dir vorher Chairephon an die Hand gab und du ihm 
treffend und kurz antwortetest, so gib auch jetzt an, was 
seine Kunst ist und wie wir den Gorgias nennen müssen. 
Oder, mein Gorgias, sage du uns lieber selbst, welches 
die Kunst ist, deren du kundig bist, und nach der man 
dich demzufolge nennen muß: 

Gorgias. Die Rhetorik, mein Sokrates. 

Sokrates, Also einen Rhetor muß man dich nennen? 


Viertes Kapitel. 29 


Gorgias. Und zwar einen guten, mein Sokrates, 
wenn du mich denn nach dem benennen willst, was ich, 
mit Homer zu reden, mich rühme zu sein’). 

Sokrates. Das will ich. 

Gorgias. So tu es denn. 

Sokrates. Darf man dir die Fähigkeit zusprechen, 
auch andere dazu auszubilden ? 

Gorgias. Dazu mache ich mich anheischig nicht 
nur hier, sondern auch anderwärts. 

Sokrates. Würdest du dich entschließen, mein Gor- 
gias, die Art der Unterredung, wie wir sie jetzt führen, 
auch weiter innezuhalten im Wechsel von Frage und 
Antwort, jene langen Reden aber, wie sie auch Polos be- 
gann, für später aufheben ? Aber was du versprichst, mußt 
du auch halten und dich entschließen kurz auf die Fragen 
zu antworten. 

Gorgias. In manchen Fällen, mein Sokrates, ist 
es unvermeidlich in längerer Ausführung zu antworten. 
Indes werde ich versuchen mich so kurz wie möglich 
zu fassen. Denn auch das ist einer der Vorzüge, deren 
ich mich rühme, daß niemand die nämliche Sache kürzer 
ausdrücken kann als ich. 

Sokrates. Das ist es eben, worauf es jetzt an- 
kommt, mein Gorgias. So lege mir denn jetzt eine kunst- 
gerechte Probe eben dieser Fähigkeit ab, der Kunst kurz 
zu reden, später dann einmal von der Kunst, lang zu reden. 

Gorgias. Ja, das soll geschehen, und du wirst ge- 
wiß sagen müssen, daß du nie einen gehört hast, der 
sich kürzer gefaßt hätte. 


Viertes Kapitel. 


Sokrates. Wohlan denn! Du behauptest ja, der Rede- 
kunst kundig und imstande zu sein auch einen anderen 
zum Redner zu machen: also womit hat es denn die 
Redekunst eigentlich zu tun, wie z. B. die Weberkunst 
mit der Herstellung von Gewändern. Nicht wahr? 


30 Platons Gorgias. 


Gorgias. Ja. 

Sokrates. Und die Musik mit der Erfindung von 
Melodien ? | 

Gorgias. Ja. 

Sokrates. Wahrlich, bei der Hera, mein Gorgias, 
ich bewundere deine Antworten, du antwortest ja so kurz 
wie nur möglich. | 

Gorgias. Ja, mein Sokrates, ich glaube, ganz wie 
sich’s gehört. 

Sokrates. Recht so. Nun gib mir also in der näm- 
lichen Weise auch Auskunft über die Rhetorik: auf 
welches Wissensgebiet bezieht sie sich ? 

Gorgias. Auf Reden. 

Sokrates. Auf was für Reden, mein Gorgias? Etwa 
solche, die den Kranken Anweisung darüber geben, durch 
welche Lebensweise sie wieder gesund werden 753) können ἢ 

Gorgias. Nein. 

Sokrates. Also nicht auf alle Reden bezieht sich die 
Rhetorik. | | 

Gorgias. Gewiß nicht. 

Sokrates. Aber sie schafft doch die Fähigkeit zu 
reden. 

Gorgias. Ja. 

Sokrates. Und doch wohl auch das zu verstehen, 
worüber sie reden lehrt? 

Gorgias. Selbstverständlich. 

Sokrates. Gibt nicht die oben genannte Heilkunst 
die Fähigkeit zur Einsicht und zum Reden über die 
Kranken’? 

Gorgias. Ohne Widerrede. 

Sokrates. Also hat es doch, allem Anschein nach, 
auch die Heilkunst mit Reden zu tun? 

Gorgias. Ja. 

Sokrates. Doch wohl mit solchen, die sich auf die 
Krankheiten beziehen ? | 

Gorgias. Gewiß. 

Sokrates. Und hat es nicht auch die Gymnastik mit 


μῶν 


50 


Fünftes Kapitel. 41 


Reden zu tun, nämlich solchen, die sich auf gute und 
schlechte Beschaffenheit des Leibes beziehen ? 

Gorgias. Sicherlich. 

Sokrates. Auch mit den anderen Künsten, mein 
Gorgias, steht es ebenso: alle haben sie es mit Reden 
zu tun, die sich auf den Gegenstand beziehen, den eine 
jede von ihnen kunstmäßig behandelt. 

Gorgias. So scheint es. 

Sokrates. Wie kommt es nun also, daß du die 
anderen Künste, die es doch auch mit Reden zu tun 
haben, nicht als Redekünste bezeichnest, da du doch die- 
jenige als Redekunst bezeichnest, die es mit Reden zu 
tun hat? 

Gorgias. Weil sich, mein Sokrates, bei den übrigen 
Künsten beinahe die ganze Weisheit auf Handfertigkeit 
und dergleichen Leistungen bezieht, während bei der Rede- 
kunst dergleichen Handarbeit nicht in Frage kommt; 
vielmehr beruht da die ganze Leistung und die entschei- 
dende Wirkung auf Reden. Deshalb behaupte ich, daß 
es die Redekunst mit Reden zu tun hat, und das mit vollem 
Recht, wie ich meine. 


Fünftes Kapitel. 


Sokrates. Habe ich nun eine klare Vorstellung 
davon, was du unter ihr verstehst? Doch halt! gleich 
soll es mir deutlicher werden. Antworte nur. Es gibt 
doch Künste? Nicht wahr? 

Gorgias. Ja. I 

Sokrates. Alle Künste nun, glaube ich, zerfallen 
doch in solche, die ganz überwiegend auf Werktätigkeit 
beruhen und der Rede nur in geringem Maß oder, wie 
einige, gar nicht bedürfen — ihr Werk könnte auch in 
vollem Schweigen vollzogen werden — wie die Malerei 
und Bildhauerei und viele andere Künste. Diese Art von 
Künsten meinst du wohl mit denen, auf die sich die 
Redekunst nicht beziehen soll. Oder nicht? 


32 Platons Gorgias. 


Gorgias. Du hast völlig recht mit deiner Annahme, 
mein Sokrates. 

Sokrates. Eine zweite Art aber von Künsten sind 
diejenigen, deren Aufgabe ganz in der Rede besteht und 
die einer Werktätigkeit fast gar nicht oder nur in ganz 
geringem Maße bedürfen, wie Arithmetik, Rechenkunst, 
Geometrie, auch wohl Brettspiel®) und viele andere Künste, 
bei denen zum Teil Reden und Tun ungefähr im Gleich- 
gewicht stehen, während bei den meisten die Reden über- 
wiegen, so daß ihre ganze Leistung und die entscheidende 
Wirkung auf den letzteren beruht. Unter diese Art von 
Künsten rechnest du, wie es scheint, die Redekunst. 

Gorgias. Ganz recht. 

Sokrates. Aber von den genannten wenigstens wirst 
du doch keine, denke ich, als Redekunst bezeichnen wollen, 
obschon du dem Wortlaut nach diese Behauptung auf- 
stelltest, daß die sich durch Rede entscheidend betätigende 
Kunst Redekunst sei, so daß dir jemand, der dich etwa 
in der Unterredung schikanieren wollte, entgegnen könnte: 
Also die Arithmetik, mein Gorgias, erklärst du für Rede- 
kunst? Allein ich glaube, du erklärst weder die Arithme- 
tik noch die Geometrie für Redekunst. 

Gorgias. Und das mit vollem Recht, mein Sokrates; 
mit deiner Meinung triffst du durchaus die Wahrheit. 


Sechstes Kapitel. 


Sokrates. So tu du nun auch das Deinige und bringe 


deine Antwort auf meine Frage zu vollem Abschlub. 
Denn da die Redekunst eben zu denjenigen Künsten ge- 


hört, die sich überwiegend durch Rede betätigen, und es 


neben ihr noch manche andere dieser Art gibt, so ver- 
suche anzugeben, worauf sich die Reden, auf deren ent- 
scheidende Wirkung es ankommt, beziehen müssen, um 
als Leistung der Redekunst zu gelten?). Wenn mich z. B. 
jemand rücksichtlich einer der eben genannten Künste 


Sechstes Kapitel. 33 


fragte: Mein Sokrates, was ist die Arithmetik für eine 
Kunst?, so würde ich ihm entsprechend deiner obigen 
Antwort entgegnen, sie gehöre zu den Künsten, deren 
entscheidende Wirkung auf der Rede beruht. Und wenn 
er mich weiter nach dem Gegenstand fragte, auf den sich 
diese Kunst im Unterschied zu den anderen Künsten dieser 
Art beziehe, so würde ich sagen, auf das Gerade und 
Ungerade, rücksichtlich der Größe ihres jedesmaligen Be- 
trages. Und gesetzt, er fragte: Was verstehst du unter 
Rechenkunst?, so würde ich antworten: Auch sie gehört 
zu den Künsten, deren entscheidende Wirkung ganz auf 
der Rede beruht. Und wenn er weiter nach dem Gegen- 
stand fragte, auf den sie sich bezieht, so würde ich wie 
diejenigen, die in der Volksversammlung einen schrift- 
lichen Antrag stellen!%), sagen: „Im übrigen steht es 
mit der Rechenkunst ganz wie mit der Arithmetik.“ Denn 
sie bezieht sich auf das Gerade und Ungerade. Der Unter- 
schied aber besteht darin, daß die Rechenkunst ihr Augen- 
merk darauf richtet, wie es beim Ungeraden und Geraden 
hinsichtlich ihrer Menge teils im Verhältnis zu sich selbst, 
teils im gegenseitigen Verhältnis zueinander!!) steht. Und 
wenn mich jemand nach der Astronomie fragte und ich 
sagte: „Auch deren entscheidende Wirkung liegt ganz 
und gar in den Reden“, und er nun sagte: „Worauf be- 
ziehen sich diese, mein Sokrates?“, so würde ich sagen: 
auf die Bewegung der Sterne und der Sonne und des 
Mondes und das gegenseitige Verhältnis ihrer Geschwindig- 
keit. -: 


Gorgias. Und damit eh du ganz recht haben. 

Sokrates. Nun also, mein Gorgias, kommt die Reihe 
an dich. Denn auch die Rhetorik gehört ja zu den Künsten, 
die alles durch Rede bewirken und entscheiden. Nicht 
wahr ? 

Gorgias. Allerdings. 


Sokrates. So nenne denn den eitbnaks auf den 
sie sich im Unterschied von den übrigen dieser Art bezieht. 
Platon. Gorgias. Phil. Bihl. Bd. 148. 3 


84 Platons Gorgias. 


Was sind es für Dinge, auf die sich die Reden beziehen, 

deren sich die Rhetorik bedient? | 
Gorgias. Die wichtigsten und hervorragendsten 

menschlichen Angelegenheiten, mein Sokrates. 


Siebentes Kapitel. 


Sokrates. Aber, mein Gorgias, auch diese deine 
Antwort leidet an Unbestimmtheit und entbehrt noch der 
nötigen Klarheit. Denn vermutlich hast du doch bei den 
Trinkgelagen Leute jenes Trinklied!?) vortragen hören, 
in welchem sie singend aufzählen: Gesundheit ist das 
Beste, das zweite schön zu werden, das dritte, wie der 
Dichter des Liedes sagt, Reichtum ohne Betrug. 

Gorgias. Ja, das habe ich gehört. Aber wozu diese 
Anführung ἢ 

Sokrates. Weil alsbald die Meister dieser vom Lieder- 
dichter gepriesenen Herrlichkeiten als deine Rivalen auf- 
treten würden»), der Arzt und der Turnlehrer und der Er- 
werbsmann; und zuerst würde der Arzt sagen: Mein So- 
krates, Gorgias täuscht dich; denn nicht seine Kunst hat es 
mit dem für die Menschen wichtigsten Gut zu tun, son- 
dern die meinige. Wenn ich ihn nun fragte: Was bist 
du denn, daß du so redest? würde er wohl sagen: ein 
Arzt, Wie meinst du es also? Ist wirklich das Werk 
deiner Kunst das größte Gut? Selbstverständlich, würde er 
wohl antworten, mein Sokrates, denn ihr Werk ist doch 
die Gesundheit; was gäbe es aber für ein größeres Gut 
für die Menschen als die Gesundheit? Wenn dann nach 
ihm der Turnlehrer sagte: Wahrlich, mein Sokrates, auch 
ich würde mich wundern, wenn dir Gorgias seine Kunst 
als Erzeugung eines größeren Gutes nachweisen könnte 
als ich die meinige, so würde ich auch zu ihm sagen: 
Wer bist du denn, mein Bester? und was ist dein Werk? 
Turnlehrer, würde er erwidern, mein Werk aber besteht 
darin, die Menschen körperlich schön und kräftig zu 


Siebentes Kapitel. 35 


machen. Nach dem Turnlehrer aber würde der Erwerbs- 
mann — und ich glaube, mit gründlicher Verachtung 
aller anderen — sagen: Sieh doch zu, lieber Sokrates, ob 
du beim Gorgias oder bei irgendeinem anderen ein Gut 
entdecken kannst, das größer wäre als der Reichtum. Wir 
würden nun also zu ihm sagen: Wie? Bist du dessen 
Meister? Ja, würde er sagen. Und was bist du? Erwerbs- 
mann. Wie? würden wir sagen, ist in deinen Augen Reich- 
tum wirklich das größte Gut für die Menschen ? Selbst- 
verständlich, wird er erwidern. Indes, würden wir sagen, 
unser Gorgias hier tritt doch dafür ein, dab seine Kunst 
ein größeres Gut erzeuge als die deinige. Offenbar würde 
er darauf entgegnen: Und was ist dies für ein Gut? 
Gorgias mag antworten. — Wohlan denn, mein Gorgias, 
nicht nur jene mußt du dir als Fragende denken, sondern 
auch mich; also antworte: Was ist das, was du für 
das größte menschliche Gut erklärst und dessen du Meister 
zu sein behauptest ? 

Gorgias. Was tatsächlich, mein Sokrates, das größte 
Gut ist und den Menschen für ihre Person die Freiheit 
verschafft und zugleich einem jeden in seinem Staat die 
Herrschaft über andere 14). 

Sokrates. Was meinst du damit? 
| Gorgias. Die Fähigkeit, durch beredte Worte so- 
wohl vor Gericht die Richter zu überreden wie in der Rats- 
versammlung die Ratsherren und in der Volksversammlung 
die versammelte Gemeinde, wie auch in jeder anderen 
Versammlung, die sich aus Bürgern zusammensetzt, diese 
Bürger. Und auf Grund dieser Fähigkeit wirst du den Arzt 
in deiner Hand haben ebenso wie auch den Turnlehrer. 
Unser Erwerbsmann aber wird seine Schätze dann offenbar 
für einen anderen erwerben und nicht für sich, sondern 
für dich, der du das Wort beherrschst und die Massen 
zu überreden vermagst. 


a 


36 Platons Gorgias, 


Achtes Kapitel. 


Sokrates. Jetzt hast du, mein Gorgias, wie mir 
scheint, am treifendsten gezeigt, was für eine Kunst du 
eigentlich unter der Rhetorik verstehst, und irre ich nicht, 
so meinst du, daß die Rhetorik die Kunst der Überredung 


" 


ist und daß ihre ganze Wirksamkeit und ihre eigentliche 


Bedeutung darauf hinausläuft. Oder kannst du etwas gel- 
tend machen dafür, daß die Redekunst mehr vermöge als 
Überredung zu wirken in der Seele der Hörer ἢ 

Gorgias. Keineswegs, mein Sokrates, sondern mir 
scheint deine Bestimmung ganz zutreffend; denn dies ist 
die eigentliche Bedeutung derselben. 

Sokrates. Höre denn, mein Gorgias. Wenn irgend- 
einer, der sich mit einem anderen unterredet, von dem 
Wunsche beseelt ist den Kern der Sache, um die es sich 
handelt, richtig zu erfassen, so kannst du versichert sein, 
daß ich überzeugt bin, einer von diesen zu sein; ich 
denke aber auch du. | | 

Gorgias. Wo soll das hinaus, mein Sokrates ? 

Sokrates. Gleich will ich es dir sagen. Was die 
von der Rhetorik ausgehende Überredung, von der du 
sprichst, eigentlich ist und auf was für Dinge sie sich 
bezieht, das, glaube mir, weiß ich genau zwar nicht, doch 
eine Vermutung wenigstens habe ich darüber, was du wahr- 


scheinlich damit meinst und worauf sie sich bezieht. 


Nichtsdestoweniger werde ich dich fragen, was du eigent- 
lich unter der von der Rhetorik erzeugten Überredung 
verstehst und worauf sie sich deiner Meinung nach bezieht. 
Wenn ich nun selbst schon eine Vermutung darüber habe, 
weshalb will ich denn dann erst noch dich fragen und 
es nicht selber sagen? Nicht etwa deinetwegen, sondern 
im Interesse der Untersuchung, auf daß diese einen Fort- 
gang nehme, der uns den eigentlichen Sachverhalt mög- 
lichst klar stellt. Denn prüfe, ob ich dir nicht richtig 
zu verfahren scheine mit meiner Frage an dich. Gesetzt 
z. B. ich fragte dich, was für ein Maler Zeuxis!5) wäre, 


63 


Achtes Kapitel. . 97 


und du antwortetest, ein Bildermaler, würde ich dich dann 
nicht mit Recht fragen, was für Bilder er male? Oder 
nicht ? 

Gorgias. Allerdings. 

Sokrates. Doch wohl aus dem Grunde, weil es auch 
noch andere Maler gibt, die mancherlei andere Bilder 
malen. 

Gorgias. Ja. 

Sokrates. Gäbe es aber keinen anderen Maler als den 
Zeuxis, dann wäre an deiner Antwort nichts auszusetzen 
gewesen. 

Gorgias. Ganz recht. 

Sokrates. Wohlan denn, so gib nun auch Auskunft 
über die Rhetorik: Scheint dir die Rhetorik die einzige 
Kunst zu sein, die Überredung bewirkt, oder gibt es auch 
andere dergleichen Künste? Ich meine das so: Wer irgend- 
eine Sache lehrt, überredet der auch in bezug auf das, was 
er lehrt? Oder nicht? 

Gorgias. Doch, mein Sokrates! Er tut dies unter 
allen Umständen. 

Sokrates. So kommen wir denn wieder auf unsere 
obigen Künste zu reden. Belehrt uns nicht die Arithmetik 
und der Arithmetiker über die Größenverhältnisse der 

. Zahl? 

Gorgias. Gewib. 

Sokrates. Überredet er nicht also auch in Beziehung 
darauf? 

Gorgias. Ja. 

Sokrates. Also auch die Arithmetik ist eine Kunst 
der Überredung. 

Gorgias. So scheint es. 

Sokrates. Wenn uns also jemand fragte: Welcher 
Art ist diese Überredung und worauf bezieht sie sich? 
so werden wir ihm doch wohl antworten: Sie ist diejenige 
Überredung, die über die Größenverhältnisse des Geraden 
und Ungeraden belehrt. Und von allen den oben ge- 

st, nannten Künsten werden wir nachweisen können, daß 


38 . Platons Gorgias, 


sie Künste der Überredung sind und von welcher be- 
stimmten Art und worauf sie sich beziehen. Oder nicht? 

Gorgias. Ja 00 | 

Sokrates. Also ist die Rhetorik nicht die einzige 
Kunst, die Überredung erzeugt. 

Gorgias. Du hast recht. 


Neuntes Kapitel. 


Sokrates. Da sie also nicht die einzige ist, die 
dieses Werk vollbringt, sondern es auch andere von dieser 
Art gibt, so würden wir ganz ähnlich wie bei der Frage 
nach dem Maler mit Recht an den Betreffenden die 
weitere Frage richten: Welche Art von Überredung ist es, 
welche die Rhetorik bewirkt, und worauf bezieht sich die 
Kunst ihrer Überredung? Oder scheint dir diese weitere 
Frage nicht berechtigt? 

Gorgias. Doch. 

Sokrates. Antworte also, mein Gorgias, da auch du 
dieser Ansicht bist. ab, 

Gorgias. Ich meine also die Art von Überredung, 
mein Sokrates, die in den Gerichten und in anderen 
großen Versammlungen sich geltend macht, wie ich eben 
vorhin erst sagte, und der Gegenstand, mit dem sie es 
zu tun hat, ist das Gerechte und Ungerechte. 

Sokrates. In der Tat vermutete ich schon, daß du 
diese Art von Überredung meintest und daß dies ihr 
Gegenstand sei, mein Gorgias. Aber du darfst dich nicht 
wundern, wenn ich gleich nachher:s) wieder dich nach 
etwas frage, was an sich klar zu sein scheint und was 
ich trotzdem durch weiteres Fragen erkunde. Denn, wie 
gesagt, im Interesse des regelrechten Fortschrittes der 
Untersuchung frage ich und nicht deinetwegen, sondern 
damit wir nicht in die üble Gewohnheit fallen, einander 
Gedanken unterzuschieben und die nötigen Antworten 


Neuntes Kapitel. | 39 


vorwegzunehmen, vielmehr du deine Ansicht deiner Vor- 
aussetzung gemäß ganz nach Gefallen durchführen kannst. 

Gorgias. Daran scheinst du mir sehr wohl zu tun, 
mein Sokrates. 

Sokrates. Wohlan denn, so laß uns auch folgendes 
betrachten. Du kennst doch den Ausdruck „deutliche Er- 
kenntnis“ ? 

Gorgias. Ja. 

Sokrates. Und weiter den Ausdruck „für wahr hin- 
nehmen“ ? 

"Gorgias. Auch diesen. 

Sokrates. Scheint dir nun deutliche Erkenntnis und 
für wahr hinnehmen, oder, mit anderen Worten, Wissen 
und Glauben ein und dasselbe oder verschieden zu sein? 

Gorgias. Mir wenigstens, mein Sokrates, scheint es 
verschieden zu sein. 

Sokrates. Und das mit Recht; du kannst es aus 
folgendem erkennen. Wenn dich nämlich jemand fragte: 
Gibt es, mein Gorgias, einen falschen und einen wahren 
Glauben ἢ 11) so würdest du, glaube ich, sagen: Ja. 

Gorgias. Ja. 

Sokrates. Wie nun? Gibt es ein falsches und ein 
wahres Wissen ? 

Gorgias. Unmöglich. 

Sokrates. Offenbar also sind sie nicht ein und das- 
selbe. 

Gorgias. Sehr recht. 

Sokrates. Aber überredet (überzeugt) sind doch so- 
wohl die Wissenden wie die Glaubenden ὃ 

Gorgias. Allerdings. | 

Sokrates. Dürfen wir also zwei Babes von Über- 
redung annehmen, die eine, welche Glauben ohne deut- 
liche Erkenntnis, die andere, welehe Wissen schafft? 

Gorgias. Gewiß. 

Sokrates. Welche Art von Überredung bewirkt nun 
die Rhetorik vor Gericht sowie in den anderen großen 
Versammlungen in Beziehung auf Recht und Unrecht? 


ὃ ΄-. | Platons Gorgias. 


Diejenige, aus welcher der Glaube entspringt ohne das 
Wissen oder diejenige, aus der das Wissen hervorgeht? 
Gorgias. Offenbar, mein Sokrates, diejenige, aus der 
der Glaube hervorgeht. 
Sokrates. Also ist die Rhetorik, wie es scheint, eine 
Kunst der auf Glauben und nicht auf wirklicher Belehrung 


beruhenden Überredung hinsichtlich des Rechtes und Un- 


rechtes. 

Gorgias. Ja. 

Sokrates. Der Redner also vor Gericht sowie in 
den anderen großen Versammlungen gibt keine wirkliche 
Belehrung über Recht und Unrecht, sondern wirkt nur 
Glauben. Wie sollte er auch in so kurzer Zeit imstande 
sein eine so große Volksmasse über so wichtige Dinge 
zu belehren ? 

Gorgias. Nimmermehr. 


Zehntes Kapitel. 


Sokrates. Wohlan denn, laß uns zusehen, was wir 
uns eigentlich unter der Rhetorik denken. Denn ich ver- 
mag in der Tat selbst noch nicht klar zu erkennen, was 
ich eigentlich darunter verstehe. Wenn die Stadt eine 
Versammlung hält zur Wahl von Ärzten oder von Schiffs- 
bauern oder von einer anderen Gattung von Werkmeistern, 
dann wird doch offenbar der Redner nicht mitraten ἢ 
Denn selbstverständlich gilt es doch bei jeder Wahl den 
Kunstverständigsten zu wählen. Ebensowenig wenn es sich 
um die Erbauung von Mauern oder um die Einrichtung 
von Häfen oder Schiffswerften handelt; sondern da sind 
es die Bauverständigen, welche raten. Auch nicht, wenn 
über die Wahl von Feldherren oder den Aufmarsch gegen 
Feinde oder die Besetzung fester Plätze beraten wird; 
vielmehr werden da die der Strategik, nicht die der Rhetorik 
Kundigen raten. Oder wie denkst du darüber, mein Gor- 
gias? Denn da du dich selbst für einen Rhetor erklärst 


Zehntes Kapitel, 41 


und für fähig andere dazu zu machen, so ziemt es sich 
wohl die Aufgaben deiner Kunst von dir zu erkunden. 
Und du kannst glauben, ich handle dabei zugleich in 
deinem eigenen Interesse. Denn vielleicht ist unter den 
Anwesenden einer oder der andere, der dein Schüler, werden 
möchte, wie ich denn manchen, ja recht viele hier be- 
merke, die vielleicht aus bloßer Schüchternheit dich nicht 


fragen. Wenn du also von mir befragt wirst, so sieh das 


so an, als ob auch jene dich fragten. Nämlich: Welcher 
Gewinn, lieber Gorgias, wird uns erwachsen, wenn wir 
deine Belehrung genießen ? Über was für Dinge werden 
wir imstande sein der Stadt Rat zu erteilen; etwa ledig- 
lich über Recht und Unrecht oder auch über die von 
Sokrates eben berührten Gebiete? Versuche also ihnen 
zu antworten. 

Gorgias. So will ich dir denn, mein Sokrates, die 
ganze Bedeutung der Rhetorik klar enthüllen. Du selbst 
hast mir ja den Weg dazu gut vorgezeichnet. Was näm- 
lich die Schiffswerften, von denen du sprachst, und die 
athenischen Mauern und die Anlegung der Häfen an- 
langt, so weißt du ja doch, daß sie auf den Rat des 
Themistokles, zum Teil auch auf den des Perikles ge- 
baut wurden, nicht aber auf den der Werkmeister. 

Sokrates. Es wird dies, mein Gorgias, vom Themi- 


 stokles erzählt; den Perikles aber hörte ich selbst, als 


er uns den Bau der mittleren Mauer empfahl. 

Gorgias. Und wenn eine Wahl der Art stattfindet, 
wie du sie vorhin erwähntest, mein Sokrates, so sind es 
doch bekanntlich die Redner, die den Rat erteilen und mit 
ihren Vorschlägen darüber durchdringen. 

Sokrates. Das eben, mein Gorgias, erregt meine 
Verwunderung, und darum frage ich so beharrlich nach 
der eigentlichen. Bedeutung der Rhetorik!s). Denn so be- 
trachtet scheint sie mir beinahe eine übernatürliche Macht 


zu besitzen. 


49 Platons Gorgias. 


Elftes Kapitel. 


Gorgias. Wie erst, wenn du alles wüßtest, mein 
Sokrates, daß sie nämlich sozusagen alles, was die sämt- 
lichen Künste leisten, in sich zusammenfaßt und in ihre 
Gewalt zu bringen weiß. Ein schlagender Beweis dafür 
liegt in folgendem: Oftmals nämlich habe ich mit meinem 
Bruder!) sowie mit anderen Ärzten einen Kranken be- 
sucht, der sich weigerte, eine Arznei zu trinken oder sich 
von dem Arzt schneiden oder brennen zu lassen, und wenn 
der Arzt ihn nicht zu überreden vermochte, gelang es 
mir ihn zu überreden, durch keine andere Kunst als die 
der Rede. Ich behaupte ferner, daß, wenn ein Redner 
und ein Arzt in eine Stadt, es sei welche du willst, 
kommt und es gilt durch die Macht des Wortes in einer 
Volksversammlung oder in sonst irgendeiner Versamm- 
lung zu entscheiden, wer von beiden gewählt werden 
soll, der Arzt völlig unbeachtet bleibt, der Redegewandte 
dagegen gewählt wird, wenn er nur will. Und wenn der . 
redekundige Mann gegen irgendeinen anderen Werkmeister 
im Wettbewerb aufträte, so würde er seine Wahl eher 
durchsetzen als irgendein anderer. Denn es gibt nichts, 
worüber der Redner nicht gewinnender zu sprechen. ver- 
möchte als irgendeiner aus der Zahl der Werkmeister — 
vor der großen Menge nämlich. Dies also wäre die Be- 
deutung unserer Kunst nach Umfang und Beschaffenheit. 
Doch wäre es unrecht, mein Sokrates, von der Redekunst 
einen anderen Gebrauch zu machen als von jeder anderen 
Kampfkunst. Denn auch von der anderweitigen Kampf- 
kunst darf man nicht Anwendung gegen jedermann 
machen. Weil man Faustkampf und Pankration und 
Waffenkampf erlernt hat, wodurch man Freund und Feind 
überlegen ist, so darf man deshalb doch nicht etwa die 
Freunde schlagen oder stechen oder totschlagen. Und 
wenn es vorkommt, daß ein Mensch, der nach Besuch der 
Ringschule sich körperlich kräftig entwickelt und sich zum 
Faustkämpfer ausgebildet hat, nun seinen Vater und: seine 


er 


Zwölftes Kapitel, 43 


Mutter schlägt oder einen anderen von seinen Verwandten 
oder Freunden, so wäre es wahrhaftig unrecht, deshalb 
die Turnlehrer oder die Fechtmeister mit Haß zu ver- 
folgen und aus den Städten auszuweisen. Denn jene Meister 
lehrten ihre Kunst unter Voraussetzung ihrer rechtmäßigen 


: Verwendung gegen Feinde und Missetäter, zur Abwehr, 
nicht zum Angriff. Sie aber — jene Schüler — drehen 


die Sache um und mißbrauchen ihre Stärke und ihre Kunst. 
Nicht also die Lehrmeister sind Schurken noch auch die 
Kunst schuld oder verwerflich aus obigem Grunde, son- 
dern, wenn ich recht sehe, diejenigen, welche Mißbrauch 
damit treiben. Ebenso steht es auch mit der Redekunst. 
Denn der Redner vermag schlechtweg gegen alle und über 
alles zu sprechen, weiß also in großen Versammlungen, wenn 
er nur will, die Zuhörer besser für sich zu gewinnen, 
gleichviel um welchen Gegenstand es sich handelt. Aber 
nun und nimmermehr darf er doch deshalb etwa den 
Ärzten ihre Ehre rauben, weil er allerdings imstande 
wäre dies zu erreichen, und ebensowenig den anderen 
Meistern, sondern er darf, wie von der Kampfkunst über- 
haupt, so auch von der Redekunst nur den rechtmäßigen 
Gebrauch machen. Wenn aber einer, zum Redner aus- - 
gebildet, nun auf Grund der erlangten Fertigkeit und 
Kunst frevelhaft handelt, so darf man, denke ich, nicht 
den Lehrmeister mit Haß verfolgen und aus den Städten 
ausweisen. Denn er hat seine Kunst zu rechtmäßigem 
Gebrauch gelehrt, jener aber macht den entgegengesetzten 
Gebrauch davon. Also denjenigen, der Mißbrauch damit 
treibt, müßte man von Rechtswegen hassen und wegjagen 
und zum Tode verurteilen, nicht aber den Lehrmeister. 


Zwölftes Kapitel. 


Sokrates. Ich glaube, mein Gorgias, auch dir fehlt 
es nicht an Erfahrung in mancherlei Unterredungen und 


' du hast dabei wohl folgende Beobachtung gemacht: Nicht 


44 Platons Gorgias. 


leicht sind die Beteiligten imstande über den Gegenstand, 
auf dessen Erörterung sie sich eingelassen haben, durch 
feste Begriffsbestimmungen sich zu verständigen und sich 
gegenseitig belehren zu lassen und zu belehren und so 
in Frieden voneinander zu scheiden, sondern wenn sie 
über etwas streiten und der eine dem anderen Unrichtig- 


keit oder Unklarheit in seinen Behauptungen vorwirft, 


werden sie ärgerlich und glauben, daß sich der Gegner 
in seinen Aufstellungen nur von Gehässigkeit gegen sie 
leiten lasse, indem er rechthaberisch nur seinen Stand- 
punkt zu behaupten, nicht aber die vorliegende Sache 
selbst zu erledigen strebe. Und in manchen Fällen nimmt 
die Sache den widerwärtigsten Abschluß: sie trennen sich, 
nachdem sie einander geschmäht und sich gegenseitig 
Dinge gesagt haben, die auch den Unwillen der Zu- 
hörer erregen und sie mit Scham erfüllen darüber, daß sie 
sich dazu hergegeben haben, solchen Menschen zuzuhören. 
Weshalb nun sage ich dies? Weil das, was du jetzt 
sagst, mir durchaus nicht folgerichtig und im Einklang 
zu sein scheint mit dem, was du zuerst sagtest über die 
Redekunst. Ich scheue mich also dich zu widerlegen, aus 
Furcht, du möchtest glauben, daß ich nicht im Interesse 
der Sache und ihrer Klarstellung rede, sondern aus Recht- 
haberei gegen dich. Gesetzt nun, auch du gehörtest zu der 
Klasse von Menschen, zu denen ich gehöre, so würde 
ich dich gerne weiter fragen; wo nicht, so würde ich es 
lassen. Was sind das aber für Leute, zu denen ich gehöre ? 
Ich gehöre zu denen, die sich gerne widerlegen lassen, 
wenn ich etwas Unrichtiges behaupte, die aber ander- 
seits auch gern widerlegen, wenn ein anderer etwas Un- 
richtiges behauptet, auf keinen Fall aber zu denen, die 
sich weniger gern widerlegen lassen als selbst wider- 
legen. Denn ich halte das erstere in ebendemselben 
Maße für ein größeres Gut, als es ein größeres Gut ist 
selbst vom größten Übel befreit zu werden, als einen 
anderen davon zu befreien. Nach meinem Dafürhalten 
nämlich gibt es kein Übel für den Menschen, das so grob 


Dreizehntes Kapitel. 45 


wäre wie eine falsche Meinung über die jetzt von uns 
verhandelte Sache®%). Wenn du also auch deinerseits dich 
zu diesen Leuten rechnest, so lab uns die Unterredung 
fortsetzen; scheint es dir aber ratsam es zu lassen, so 
wollen wir die Sache auf sich beruhen lassen und der 
Unterredung ein Ende machen"). 

Gorgias. Nein, mein Sokrates, auch ich gehöre zu 
den Männern nach deiner Sinnesart. Vielleicht indes 
sollten wir Rücksicht nehmen auf das Interesse der An- 
wesenden. Denn als ihr hier erschienet, hatte ich schon 
lange Zeit hindurch den Anwesenden vielerlei vorgetragen, 
und jetzt müßten wir vielleicht noch eine weite Strecke 
zurücklegen, wenn wir die Unterredung fortsetzen. Wir 
müssen also auch gegen sie rücksichtsvoll sein und dürfen 
sie nicht festhalten, wenn sie irgendein anderes Geschäft. 
vorhaben. 


Dreizehntes Kapitel. 


Chairephon. Ihr selbst, mein Gorgias und Sokrates, 
vernehmt den lärmenden Widerspruch der Anwesenden, 
die gar zu gern hören möchten, was ihr etwa noch zu 
sagen habt. Auch ich selbst würde es tief bedauern, 
wenn mich ein dringendes Geschäft nötigen sollte auf 
ein Gespräch von solcher Bedeutung und solcher Art des 
Vortrags zu verzichten, um einer unaufschiebbaren Pflicht 
zu genügen. | | | 

Kallikles.. Wahrhaftig, bei den Göttern, mein 
Chairephon. Habe doch auch ich schon manchen Ge- 
sprächen beigewohnt, aber an keinem so viel Vergnügen 
gehabt wie an diesem. Was mich also anlangt, so könnt 
ihr euch bis zum Abend unterhalten, ohne daß meine 
Freude nachlassen wird. 

Sokrates. Nun, mein Kallikles, meinerseits steht 
nichts im Wege, wenn nur Gorgias dazu aufgelegt ist. 

. Gorgias. Es wäre doch am Ende eine Schande, 
mein Sokrates, wenn ich mich weigern wollte, nachdem 


8 


48 Platons Gorgias. 


ich selbst einen jeden aufgefordert habe mich zu fragen, 
was ihm beliebt. Wenn es denn diese hier wünschen, 
so setze die Unterhaltung fort und frage was du willst. 
Sokrates. So höre denn, mein Gorgias, was mir 
an deinen Behauptungen verwunderlich scheint. Denn 
vielleicht hast du ganz recht und ich verstehe dich nur 


nicht recht. Du erklärst, imstande zu sein einen zum 


Redner zu bilden, wenn er diese Kunst von dir lernen will ? 

Gorgias. Ja. 

Sokrates. Doch wohl so, daß er, mag der Gegen- 
stand sein welcher er wolle, vor der großen Menge Glauben 
findet, nicht belehrend, sondern nur überredend. 

Gorgias. Allerdings. 

Sokrates. Du behauptetest ja doch eben erst, daß der 
Redner auch in Fragen der Gesundheit sich mehr Glauben 
verschaffen wird als der Arzt. 

Gorgias. Gewib, wenigstens vor der großen Menge. 

Sokrates. Heißt nun nicht dies „vor der groben 
Menge“ so viel als „vor den Nichtkennern“? Denn er 
wird sich doch nicht vor den Kennern mehr Glauben ver- 
schaffen als der Arzt. 

Gorgias. Ganz recht. 

Sokrates. Wenn er sich mehr Glauben verschafft als 
der Arzt, so wird er doch dadurch glaubwürdiger als der 
Kenner. 

Gorgias. ΤῊΝ 

Sokrates. Ohne doch Arzt zu sein. Nicht wahr? 

Gorgias. Ja. 

Sokrates. Wer aber nicht Arzt ist, der ist doch 
wohl dessen unkundig, dessen der Arzt kundig ist. 

Gorgias. Offenbar. 

Sokrates. Der Nichtkenner würde also vor Nicht- 
kennern glaubwürdiger sein als der Kenner, wenn der 
Redner glaubwürdiger ist als der Arzt. Das ist doch die 
richtige Folgerung, oder was sonst ? 

Gorgias. Ja, hier wenigstens ist das die richtige 
Folgerung. 


459 


Vierzehntes Kapitel. 47 


Sokrates. Also auch hinsichtlich aller übrigen 
Künste verhält es sich mit dem Redner und der Redekunst 
ebenso: die Dinge selbst in ihrem eigentümlichen Ver- 
halten braucht diese Kunst nicht zu kennen, wohl aber 
muß sie über ein wohl ausgeklügeltes Überredungsver- 
fahren gebieten, das vor Nichtkennern den Schein erweckt, 
als wäre der Redner besser unterrichtet als die Kenner. 


Vierzehntes Kapitel. 


Gorgias. Ist das, mein Sokrates, nicht eine große Er- 
leichterung, wenn man nur diese eine Kunst und nicht 
auch die übrigen erlernt zu haben braucht, um in keiner 
Weise hinter den Meistern zurückzustehen ? 

Sokrates. Ob der Redner bei solchem Verhalten 
hinter den anderen Meistern zurücksteht oder nicht, werden 
wir weiterhin erörtern”), sofern es für unsere Unter- 
suchung förderlich ist. Jetzt aber wollen wir erst darüber 
ins klare zu kommen suchen, ob der Redekundige es 
mit Recht und Unrecht, Schändlich und Schön, Gut und 
Böse ebenso hält wie mit der Gesundheit und den Gegen- 
ständen der übrigen Künste, nämlich daß er die Sache 
selbst, also was gut ist und was böse oder was schön ist 
und was schändlich oder gerecht oder ungerecht, nicht 
kennt, wohl aber ein Überredungsverfahren in bezug auf 
sie alle in seine Gewalt gebracht hat, das unter Nicht- 
kennern den Schein erweckt, als wäre er, der Nichtkenner, 
besser unterrichtet als der Kenner. Oder ist die eigene 
Kenntnis hier unerläßlich und muß der, welcher die Rede- 
kunst von dir erlernen will, schon im Besitz dieser Kennt- 
nis zu dir kommen? Wo nicht, so wirst du, der Lehrer 
der Rhetorik, diese Dinge dem neu Eintretenden nicht 
beibringen — denn das ist nicht deine Sache —, wohl 
aber wirst du es dahin bringen, daß er vor der großen 
Menge das dahin Gehörige zu wissen scheint, ohne es 
zu wissen, und daß er gut zu sein scheint, ohne es zu 


48 Platons Gorgias. 


sein? Oder wirst du überhaupt nicht imstande sein, ihm die 


Rhetorik beizubringen, wenn er nicht schon vorher die 
Wahrheit über diese Dinge kennt? Oder wie verhält es 
sich damit, mein Gorgias? Ja, beim Zeus, lege uns die 
eigentliche Bedeutung der Rhetorik ganz unverhüllt, wie 
du eben sagtest (455D), dar. 


Gorgias. Nun, ich glaube, mein Sokrates, er wird, 


falls er nicht im Besitz dieser Kenntnis ist, auch dies 
von mir erlernen 35). 

Sokrates. Halt, deine Antwort genügt. Wenn du 
jemanden zum Redner gebildet hast, so muß er unbedingt 
Kenntnis haben von Recht und Unrecht, sei es von früher 
her sei es durch spätere Belehrung deinerseits. 

Gorgias. Allerdings. 

Sokrates. Wie nun? Wer das Baufach erlernt hat, 
ist doch ein Bauverständiger, oder nicht? 

Gorgias. Ja. 

Sokrates. Und wer die Musik erlernt hat, doch Ba 
ein Musikverständiger ? 

Gorgias. Ja. 

Sokrates. Und wer die Heilkunde erlernt hat, ein 
Heilkundiger ? Und dieselbe Regel gilt auch für die übrigen 
Fächer: in jedem einzelnen Fall ist der, welcher ein 
Fach erlernt hat, das, was die Kenntnis desselben aus 
ihm macht? 

Gorgias. a 

Sokrates. Ist nun nach dieser Regel nicht auch der, 
welcher das Recht erlernt hat, gerecht 36) 

Gorgias. Gewiß. 

Sokrates. Der Gerechte handelt aber doch gerecht ἢ 

Gorgias. Ja. 

Sokrates. Ist also der Redner nicht notwendig ge- 
recht und der Gerechte nicht notwendig gewillt gerecht 
zu handeln ? 

Gorgias. So scheint es wenigstens. 

Sokrates. Niemals also wird der Gerechte Unrecht 
verüben wollen. 


Fünfzehntes Kapitel. 49 


Gorgias. Unter keinen Umständen, 

[Sokrates. Der Redner aber muß demzufolge gerecht 
sein. 

Gorgias. Ja]®). 

Sokrates. Niemals also wird der Redner Unrecht 
zu tun gewillt sein. 

Gorgias. Gewiß nicht. 


= — 1 


Fünfzehntes Kapitel. 


Sokrates. Nun erinnerst du dich doch, daß du kurz 
vorher sagtest, man dürfe, wenn der Faustkämpfer seine 
Kunst unrechtmäßig anwende, dies nicht den Turnlehrern 
zum Vorwurf machen und sie nicht aus den Städten aus- 
weisen, ebensowenig dürfe man auch, wenn der Redner 
seine Redekunst unrechtmäßig verwende, dem Lehrer 
daraus einen Vorwurf machen und ihn aus der Stadt 
ausweisen, sondern nur den, der das Unrecht verübe und 
die Redekunst mißbräuchlich anwende? Ward dies be- 
hauptet, oder nicht? 

Gorgias. Ja. 

Sokrates. Jetzt aber erweist sich der nämliche Red- 

ner als ein Mann, der niemals Unrecht tut. Oder nicht? 

Gorgias. So ist es. 

Sokrates. Und in unseren ersten Aufstellungen, mein 
Gorgias, hieß es, dab die Rhetorik es mit Reden zu tun 
habe nicht über das Gerade und Ungerade, sondern über 
Recht und Unrecht. Nicht wahr? 

Gorgias. Ja. 

Sokrates. Damals nun, als du dies sagtest, nahm ich 
an, die Redekunst könne slies andere eher als etwas Un- 
gerechtes sein, da sie es in ihren. Reden ja immer mit 
der Gerechtigkeit zu tun hat. Als du aber kurz darauf 
sagtest, der Redner könne von der Redekunst auch einen 
'unrechtmäßigen Gebrauch machen, da wunderte ich mich 

st. und meinte, die Behauptungen stünden nicht im Einklang 
Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148. 4 


50 Platons Gorgias, 


miteinander. So tat ich denn, wie du dich erinnern wirst, 
die Äußerung, daß, wenn du es, wie ich, für einen Gewinn 
erachtetest widerlegt zu werden, es sich lohne die Unter- 
redung fortzusetzen, wo nicht, sie fallen zu lassen. Im 
weiteren Verlaufe aber unserer Betrachtungen wird nun 
hinwiederum, wie du selbst siehst, eingeräumt, der Rede- 
kundige könne unmöglich einen unrechtmäßigen Gebrauch 
von der Redekunst machen und könne nimmermehr Un- 
recht tun wollen. Über die Frage nun, wie es sich damit 
eigentlich verhält, völlig ins klare zu kommen, dazu 
bedarf es wahrhaftig, mein Gorgias, eines sehr ausführ- 
lichen Gedankenaustausches. 


Sechzehntes Kapitel. 


Polos. Wie, mein Sokrates? Denkst du auch wirk- 
lich selbst so über die Rhetorik, wie du jetzt sagst? Oder 
hat es damit deiner wahren Meinung nach nicht vielmehr 
folgende Bewandtnis: Weil Gorgias aus Schamgefühl dir 
einräumte, der redekundige Mann kenne das Gerechte und 
das Schöne und das Gute und werde, wenn der Schüler 
nicht schon im Besitze dieser Kenntnis zu ihm käme, 
selbst sie ihm beibringen, so ergab sich wohl infolge 
dieses Zugeständnisses ein Widerspruch in den Behaup- 
tungen, indem du selbst nach deiner beliebten Art die Sache 
zu so verfänglichen Fragen zuspitztest. Denn hältst du 
es für möglich, daß einer in Abrede stellen wird, er 
kenne sowohl selbst das Gerechte wie er es auch andere 
lehren könne? Aber die Sache so zuzuspitzen verrät einen 
starken Mangel an Ritterlichkeit. 

Sokrates. Mein schönster Polos, recht geflissentlich 
gehen wir darauf aus, uns Genossen und Söhne zu gewin- 
nen, damit, wenn wir selbst bei zunehmendem Alter in die 
Irre geraten, ihr Jüngeren uns beisteht und unserem Leben 
den fehlenden Halt gebt in Taten und Worten. So auch jetzt: 
Wenn ich und Gorgias in der Untersuchung fehl gehen, 


+ 


Sechzehntes Kapitel. 51 


so stehe du uns bei und mache den Fehler wieder gut. 
Das ist deine Pflicht. Und ich erkläre mich bereit, von 
dem, was eingeräumt worden ist, sofern es deiner Meinung 
nach nicht mit Recht eingeräumt worden ist, zurückzu- 
nehmen, was du verlangst, wenn du nur eine Bedingung 
einhältst. 

Polos. Und das wäre? 

Sokrates. Wenn du, mein Polos, deine Neigung 
zu langen Reden einschränkst, der du zu Anfang nachgabst. 

Polos. Wie? Soll es mir nicht frei stehen zu reden 
so viel ich will? 

Sokrates. Es stünde in der Tat schlimm um dich, 
mein Bester, wenn du nach Athen gekommen wärest, wo 
in ganz Griechenland die meiste Redefreiheit herrscht, 
und nun der einzige sein solltest, dem dieser Vorzug nicht 
zugute käme. Aber erwäge dagegen: Wenn du dich in 
langen Reden ergehst und nicht gewillt bist auf das Ge- 
fragte zu antworten, stände es dann nicht anderseits 
schlimm um mich, wenn es mir nicht {rei stehen soll 
fortzugehen und dich nicht anzuhören ? Aber wenn dir an 


. der bisherigen Untersuchung etwas gelegen ist und du 


gewillt bist ihr aufzuhelfen, so nimm, wie ich eben sagte, 
zurück was du willst, im Wechsel von Frage und Antwort, 
und mach es wie ich und Gorgias: widerlege und laß dich . 
widerlegen. Denn du behauptest doch wohl, was Gorgias 
versteht, auch deinerseits zu verstehen. Oder nicht? 

Polos. Jawohl. 

Sokrates. Forderst du also nicht auch deinerseits 
jeden auf, dich zu fragen was ihm beliebt, im Vertrauen auf 
deine Fertigkeit im Antworten ? | 

Polos. Allerdings. 

Sokrates. So tu denn auch jetzt was du lieber willst, 
frage oder antworte. 


4 


592 “ Platons (orgias,. 


Siebzehntes Kapitel. 


Polos. Gut, es soll geschehen. So antworte mir denn, 
mein Sokrates. Da Gorgias dir über das Wesen der Rheto- 
rik im unklaren zu sein scheint, so sage, wofür erklärst 
du sie denn ? 

Sokrates. Meinst du damit, für was für eine Kunst 
ich sie erkläre ? | 

Polos. Ja. 

Sokrates. Meiner Ansicht nach ist sie überhaupt 
keine Kunst, mein Polos, um dir die Wahrheit zu sagen. 

Polos. Aber was soll denn die Rhetorik deiner Mei- 
nung nach sein? 

Sokrates. Eine Sache, von der du in deiner kürz- 
lich von mir gelesenen Schrift behauptest, daß sie der 
Kunst zum Dasein verhelfe (8. 4480). 

Polos. Was meinst du damit? 

Sokrates. Eine gewisse Erfahrenheit. 

Polos. Eine Erfahrenheit also scheint dir die Rheto- 
rik zu sein? | 

Sokrates. Ja, wenn du nicht anderer Meinung bist. 

Polos. Erfahrenheit worin ? 

Sokrates. In der Erzeugung eines gewissen Wohl- 
gefallens und einer gewissen Lust. 

Polos. Also erscheint dir die Rhetorik doch als 
eine schöne Sache, als Fähigkeit nämlich, bei den Menschen 
Wohlgefallen zu erwecken ἢ 

Sokrates. Wie, mein Polos? Hast du denn von mir 
schon erfahren, wofür ich sie erkläre, daß du schon rach 
dem fragst, was erst nachher an die Reihe kommt, näm- 
lich ob ich sie nicht für etwas Schönes halte? 

Polos. Habe ich nicht erfahren, daß du sie für 
eine gewisse Erfahrenheit erklärst ? 

Sokrates. Willst du mir nun, da du das Wohl- 
gefallen so in Ehren hältst, einen kleinen Gefallen er- 
weisen ? 

Polos. Ja. 


εν 


St. 


Achtzehntes Kapitel: 53 


Sokrates. Frage mich jetzt, was für eine Kunst 
mir die Kochkunst zu sein scheint. 

Polos. So frage ich denn, was ist die Kochkunst 
für eine Kunst ? | 

Sokrates. Überhaupt keine Kunst, mein Polos®*). 

Polos. Nun was denn? Heraus damit. 

Sokrates. So sei’s denn gesagt: eine gewisse [r- 
fahrenheit. 

Polos. Worin? Heraus mit der Sprache. 

Sokrates. Es sei denn gesagt, mein Polos‘ iu der 
Erzeugung von Wohlgefallen und Lust. 

Polos. Sind denn aber Kochkunst und Redekunst 
ein und dasselbe ? 

Sokrates. Durchaus nicht; wohl aber jede ein Teil 
der nämlichen Tätigkeit. 

Polos. Und welche wäre das? 

Sokrates. Wenn es nur nicht gar zu unritterlich 
wäre die Wahrheit zu sagen. Denn ich trage des Gorgias 
wegen Bedenken mit der Sprache herauszugehen;; er könnte 
nämlich glauben, ich wollte seine Tätigkeit lächerlich 
machen. Ob nun die Redekunst, mit der Gorgias sich 
beschäftigt, das ist, was ich meine, weiß ich nicht; denn 
aus unserer eben angestellten Untersuchung ward uns 
nicht klar, wofür er sie eigentlich hält. Was ich aber 


᾿ς unter Redekunst verstehe, ist ein Teil einer Sache, die 


mit dem Schönen nichts gemein hat. 
Gorgias. Was für einer, mein Sokrates? Sage es 
ohne jede Scheu vor mir. 


Achtzehntes Kapitel. 


Sokrates. Also: Sie scheint mir, mein Gorgias, eine 
Tätigkeit zu sein, die zwar nicht kunstmäbig ist, aber 
einen mit einer gewissen Treftsicherheit ausgerüsteten, 
mutigen und für den Verkehr mit Menschen besonders 
beanlagten Geist verlangt. Ihrem eigentlichen Wesen nach 


54 Platons Gorgias,. 


nenne ich sie Schmeichelei?). Diese Tätigkeit scheint 
mir viele Teile unter sich zu begreifen; neben andern aber 
ist einer von ihnen auch die Kochkunst. Sie scheint zwar 
eine Kunst zu sein, meinem Dafürhalten nach aber ist 
sie keine Kunst, sondern eine Erfahrenheit und Geübtheit. 
Ihr rechne ich als einen Teil auch die Rhetorik zu und 
die Putzkunst und die Sophistik, vier Teile also, die sich 
auf eine entsprechende Zahl von Objekten beziehen. Wenn 
also Polos durch Fragen sich unterrichten will, so mag 
er frageh; denn noch hat er nicht erfahren, für welchen 
Teil der Schmeichelkunst ich die Rhetorik halte, vielmehr 
hat er nicht bemerkt, daß ich diese Frage noch gar nicht 
beantwortet habe, sondern kommt gleich mit der Frage, 
ob ich sie nicht für etwas Schönes halte. Ich aber werde 
ihm erst dann Auskunft darüber geben, ob ich die 
Rhetorik für etwas Schönes oder Häßliches halte, wenn 
ich ihm zuvor Auskunft darüber gegeben habe, was sie 
ist. Denn so und nicht anders gehört es sich, mein 
Polos. Willst du nun darüber Kunde haben, so frage, 
welchen Teil der Schmeichelkunst ich unter der Rhetorik 
verstehe. 

Polos. So frage ich denn, und du antworte, was 
für einen Teil. | 

Sokrates. Wirst du meine Antwort auch wohl ver- 
stehen? Die Rhetorik ist nämlich nach meinem Dafür- 
halten ein Schattenbild eines Teiles der Staatskunst. 

Polos. Wie nun? Erklärst du sie damit für etwas 
Schönes oder Häßliches? 

Sokrates. Für etwas Häßliches; denn das Schlechte 
nenne ich häßlich, da ich dir nun einmal antworten soll 
als wüßtest du schon, was ich meine. 

Gorgias. Aber auch ich, beim Zeus, mein Sokrates, 
verstehe nicht, was du meinst2®). | 

Sokrates. Sehr begreiflich, mein Gorgias; denn noch 
bin ich ja gar nicht zu einer deutlichen Erklärung ge- 
kommen, unser Polos hier aber ist jung und überstürzt 
sich. 


St. 


Neunzelhntes Kapitel. 55 


Gorgias. Überlaß ihn sich selbst und sage mir, was 
du mit deiner Behauptung, die Rhetorik sei ein Schatten- 
bild eines Teiles der Politik, eigentlich meinst. 

Sokrates. Nun, ich will versuchen klar zu machen, 
was mir die Rhetorik zu sein scheint; wenn es aber 
nieht zutreffend ist, so wird unser Polos die Widerlegung 
geben. Du unterscheidest doch zwischen Leib und Seele? 

Gorgias. Selbstverständlich. 

Sokrates. Jedes von beiden hat doch deiner Meinung 
nach auch seine besondere Art des Wohlbefindens? 

Gorgias. Gewib. 

Sokrates. Ferner auch ein Wohlbefinden, das nur 
scheinbar, aber nicht wirklich ist? Beispielsweise: Viele 
scheinen sich körperlich wohl zu befinden, denen niemand 
so leicht anmerkt, daß sie sich tatsächlich nicht wohl 
befinden, es müßte denn ein Arzt oder ein Lehrer der 
Gymnastik sein. 

Gorgias. Sehr richtig. 

Sokrates. Und nicht nur im Körper, behaupte ich, 
sondern auch in der Seele findet sich etwas, was den 
Schein des Wohlbehagens hier wie dort hervorbringt, im 
‚Widerspruch zu dem tatsächlichen Befinden. 

Gorgias. So ist es. 


Neunzehntes Kapitel. 


Sokrates. Wohlan denn; ich will dir, soweit es 
mir möglich, meine Meinung deutlicher zu machen 
suchen. Entsprechend den zwei Objekten gibt es meiner 
Meinung nach auch zwei Künste; diejenige, welche sich 
auf die Seele bezieht, nenne ich Politik, die auf den 
Körper bezügliche kann ich dir nicht so mit einem 
Namen bezeichnen, aber ich unterscheide an der einen 
Pflege des Leibes zwei Teile, nämlich die Gymnastik 
und die Heilkunde. Auf seiten der Politik aber entspricht. 
der Gymnastik die Gesetzgebung, der Heilkunde aber die 


56 Platons Gorgias. 


Rechtspflege. Beiderseits nun findet zufolge der Beziehung 
auf das nämliche Objekt eine gewisse Gemeinschaft statt, 
einerseits der Heilkunst mit der Gymnastik, anderseits 
der Rechtspflege mit der Gesetzgebung; gleichwohl aber 
unterscheiden sie sich voneinander. Dies wären also vier 
Künste, deren Sorge immer auf das wahre Wohl hier 


des Körpers dort der Seele gerichtet ist. Dies nimmt nun - 


die Schmeichelkunst wahr, nicht etwa auf Grund wirklicher 
Erkenntnis, sondern bloßer Mutmaßung, schleicht sich, 
sich vierfach teilend, in entsprechender Verhüllung in 
jeden dieser Teile ein und gibt vor das zu sein, wohin sie 
sich eingeschlichen hat; dabei kümmert sie sich um das 
wahre Beste nicht im geringsten, macht vielmehr durch 
die Lockung des jedesmal Angenehmsten Jagd auf den 
Unverstand, den sie dermaßen täuscht, daß sie an Wert 
alles andere zu übertreffen scheint. In die Heilkunst 
hat sich also die Kochkunst eingeschlichen und gibt vor, 
die besten Speisen für den Leib zu kennen. Wenn also 
unter Kindern oder unter Männern, die so unverständig 
sind wie Kinder, ein Koch und ein Arzt in Wettbewerb 
treten müßten, wer von beiden der wirklich Sachverständige 
hinsichtlich der nützlichen und schädlichen Speisen ist, 
der Arzt oder der Koch, so müßte der Arzt Hungers ster- 
ben. Schmeichelei also nenne ich das, und behaupte, 
daß etwas Derartiges häßlich sei, mein Polos — denn 
damit wende ich mich an dich —, weil das erstrebte 
Ziel das Angenehme ist und nicht das wahre Beste. Eine 
Kunst nenne ich es aber nicht, sondern Erfahrenheit, 
weil sie keine Erkenntnis besitzt von der wahren Natur 
dessen, was sie darbietet, und infolgedessen nicht imstande 
ist den Grund für die einzelnen Erscheinungen anzugeben. 
Ich aber nenne nicht Kunst, was sich über die Gründe 
nicht ausweisen kann. Wenn du hierüber anderer Meinung 
bist, so bin ich bereit dir darüber Rede zu stehen. 


m ---- - -- ὦ 


Zwanzigstes Kapitel. 57 


Zwanzigstes Kapitel. 


Der Heilkunst also schiebt sich, wie gesagt, die Koch- 
kunst als Schmeichelkunst unter; der Gymnastik aber 
in der nämlichen Weise die Putzkunst, die voller Bosheit 
und Trug, unedel und kriecherisch, durch Formen und 
Farben, durch Glätte und Kleiderpracht täuscht und dazu 
führt, daß man mit fremder Schönheit prangt, dagegen 
die eigene Schönheit, die Frucht der Gymnastik, ver- 
nachlässigt. Um mich nun nicht ins Breite zu verlieren, 
will ich nach Art der Mathematiker zu dir reden — denn 
da wirst du mir wohl folgen können. Wie sich also die 
Putzkunst zur Gymnastik verhält, so die Kochkunst zur 
Heilkunst. Oder besser so: Wie sich die Putzkunst zur 
Gymnastik verhält, so die Sophistik zur Gesetzgebungs- 
kunst, und wie die Kochkunst zur Heilkunst, so die Rheto- 
rik zur Rechtspflege. Worauf ich aber hinaus will, ist 
folgendes: Der durch die Natur der Sache bestimmte Unter- 
schied ist der eben angegebene; infolge der nahen Ver- 
wandtschaft aber werden Sophisten und Rhetoren ais ein 
und demselben Gebiet angehörig zusammengemengt und 
wissen ebensowenig selbst, wozu sie eigentlich da sind, 
wie die anderen Menschen wissen, was sie aus ihnen 
machen sollen. Denn wenn die Seele nicht über den 
Leib herrschte, sondern er selbst die Herrschaft über sich Ὁ 
führte, und wenn die Kochkunst und Heilkunst nicht von 
der Seele ins Auge gefaßt und geschieden würden, sondern 
der Körper selbst nach Maßgabe dessen entschiede, woran 
er selbst Wohlgefallen findet, so würde das Wort des 
Anaxagoras®) in voller Geltung stehen, mein lieber Polos 
— denn in diesen Dingen bist du ja zu Hause —: alle 
Dinge würden in Eins. zusammengemengt, denn es gäbe 
keinen Unterschied zwischen dem, was zur Heilkunst und 
zur Gesundheit und zur Kochkunst gehört. Was ich also 
‘unter Rhetorik verstehe, hast du nun gehört: sie entspricht 
der Kochkunst, indem sie für die Seele das ist, was jene 
für den Leib. Vielleicht nun war es sonderbar von mir, 


58 Platons Gorgias. 


daß ich es dir verwehrte lange Rede zu halten, während 
ich selbst meine Rede so weit ausgedehnt habe. Ich 
darf aber immerhin einigen Anspruch auf Nachsicht 
machen. Denn als ich mich kurz faßte, verstandest du 
mich nicht und warst durchaus nicht imstande mit der 
Antwort, die ich dir gab, etwas anzufangen, sondern ver- 
langtest nach näherer Auseinandersetzung. Wenn nun 
auch ich meinerseits mit deiner Antwort mich nicht zurecht 
zu finden weiß, so dehne auch du deinen Vortrag aus, 
finde ich mich aber damit zurecht, so hindere mich nicht 
in ihrer Ausnutzung; denn das fordert die Billigkeit. 
Und wenn du jetzt mit dieser meiner Antwort etwas 
anzufangen weißt, so rücke nur mit deiner Meinung heraus. 


Einundzwanzigstes Kapitel. 


Polos. Was also ist deine Meinung? Für Schmeiche- 
lei erklärst du die Rhetorik ? | 

Sokrates. Nur für einen Teil der Schmeichelei er- 
klärte ich sie doch. So jung noch an Jahren, und schon 
so schwach an Gedächtnis, mein Polos? Wie soll das 
erst später mit dir werden? 

Polos. Meinst du denn also, die guten Redner stün- 
den wie Schmeichler in den Staaten in geringer Geltung? 

Sokrates. Soll das eine Frage sein, die du an mich 
richtest, oder der Anfang zu irgendwelcher Rede? 

Polos. Eine Frage. 

Sokrates. Ich meine, sie stehen überhaupt in gar 
keiner Geltung. 

Polos. In gar keiner Geltung? Wie? haben sie nicht 
die größte Macht in den Staaten ? 

Sokrates. Nein, sofern du das Machthaben für etwas 
Gutes erklärst für den Machthaber. 

Polos. . Das tue ich allerdings. 

Sokrates. Demnach scheinen mir denn die Redner 
die allergeringste Macht im Staate zu haben. 


466 ὃ 


Zweiundzwanzigstes Kapitel. 59 


Polos. Wie? Töten sie nicht wie die Tyrannen, 
wen sie nur wollen, rauben sie nicht ihren Mitbürgern 
das Vermögen und verjagen sie sie nicht aus den Staaten 
ganz nach ihrem Gutdünken ? 

Sokrates. Ja, beim Hunde Doch bin ich, mein 
Polos, bei jeder deiner Äußerungen in Zweifel, ob du 
selbst dies behauptest und deine eigene Meinung kundgibst, 
oder ob du mich fragst. 

Polos. Du hörst doch, ich frage dich. 

Sokrates. Gut, mein Freund. Dann richtest du 
zwei Fragen zugleich an mich. 

Polos. Wieso zwei? 

Sokrates. Außertest du dich nicht eben etwa so: 
die Redner töten, wen sie wollen, wie 416 T'yrannen, und 
sie rauben ihren Mitbürgern das Vermögen und verjagen 
sie aus den Staaten, ganz nach ihrem Gutdünken?®”) 


Polos. Jawohl. 


Zweiundzwanzigstes Kapitel. 


Sokrates. Ich behaupte nun also, dab dies zwei 
Fragen sind, und ich werde dir auf beide antworten. 
Denn meiner Meinung nach, mein Polos, haben die Redner 
und die Tyrannen in den Staaten eine verschwindend 
kleine Macht®"), wie ich eben vorhin behauptete; tun sie ΄ 
doch sozusagen gar nichts, was sie (wirklich) wollen, 
dagegen tun sie, was ihnen das Beste zu sein dünkt. 

Polos. Heißt das nicht soviel wie „große Macht 
haben‘ ? | 

Sokrates. Nein, wie wenigstens Polos behauptet:?). 

Polos. Ich wäre es, der dies leugnete? Ich bin es 
ja gerade, der es behauptet. 

Sokrates. Beim — du gewiß nicht; denn du sagst 
ja, der Besitz großer Macht sei ein Gut für den Inhaber 
dieser Macht. 

Polos. Das behaupte ich allerdings. 

Sokrates. Angenommen also, es hätte einer keinen 


60 Platons Gorgias: 


Verstand, hältst du es dann für ein Gut, wenn er das 
tut, was ihm das Beste zu sein dünkt? Und nennst du 
das große Macht haben ? 

Polos. Nein. 

Sokrates. Also mußt du mich nun Ro und 
mir beweisen, daß die Redner Einsicht besitzen und daß 
die Rhetorik eine Kunst und keine Schmeichelei sei. 
Wenn dir dies aber nicht gelingt, dann ist es auch mit 
der Behauptung vorbei, daß die Redner und die Tyrannen, 
die in den Staaten tun, was ihnen gut dünkt, dadurch ein 
Gut in ihrer Hand hätten, sofern nämlich Macht, wie du 
behauptest, ein Gut, das verstandlose Tun dessen aber, 
was einem gut dünkt, auch nach deinem Zugeständnis ein 
Übel ist. Oder nicht? 

Polos. Ja. 

Sokrates. Wie könnten also die Redner oder die 
Tyrannen in den Staaten große Macht besitzen, wenn nicht 
dem Sokrates vom Polos nachgewiesen wird, daß sie tun, 
was sie (wirklich) wollen ? | 

Polos. Da behalte einer die Geduld. 

Sokrates. Meine Behauptung ist: Sie tun nicht, 
was sie (wirklich) wollen. Nun widerlege mich doch. 

Polos. Gabst du nicht eben zu, dab sie tun, was 
ihnen das Beste zu sein dünkt? 

Sokrates. Das gebe ich auch jetzt noch zu. 

Polos. Tun sie also nicht, was sie wollen ? 

Sokrates. Nein, sage ich. 

Polos. Und doch tun sie, was ihnen dünkt ? 

Sokrates. Ja. 

Polos. Das sind ja ganz krause und uiche 
Behauptungen, mein Sokrates. 

Sokrates. Verleumde mich nicht, mein wohllöblicher 
Polos, um dich in deiner eigenen Manier?) anzureden ; 
sondern wenn du es fertig bringst mich zu fragen, so zeige, 
daß ich im Irrtum bin, wo nicht, so antworte selbst. 

Polos. Nun, ich will antworten, damit ich doch 
erfahre, was du meinst. 


"ὃ. 


ὌΝ 


Dreiundzwanzigstes Kapitel, 61 


Dreiundzwanzigstes Kapitel. 


Sokrates. Wie meinst du also? Wollen die Men- 
schen in jedem einzelnen Falle das, was sie tun, oder 
vielmehr das, um des willen sie das tun, was sie tun? 
Glaubst du z. B., daß diejenigen, welche Arznei trinken 
auf Verordnung der Ärzte, dies (wirklich) wollen, was sie 
tun, nämlich mit schmerzhafter Überwindung Arznei 
trinken, oder vielmehr das, um dessen willen sie sie trinken, 
nämlich die Gesundheit ? 3%) 

Polos. Offenbar das letztere. 

Sokrates. Und auch bei denen, die auf See fahren 
oder irgendeinem anderen Erwerb nachgehen, ist nicht 
das, was sie jedesmal tun, das eigentlich von ihnen Ge- 
wollte. Denn wer will auf der See fahren und Gefahren 
bestehen und Bedrängnisse auf sich nehmen? Nein, sie 
wollen, denke ich, das, um deswillen sie sich auf die 
See wagen, nämlich reich werden. Denn um des Reichtums 
willen fahren sie auf der See. 

Polos. Allerdings. 

Sokrates. Und gilt das nicht ganz allgemein? Wenn 
einer etwas tut um eines Zweckes willen, so will er doch 
wohl nicht das, was er gerade tut, sondern das, um des 
willen er es tut? 

Polos. Ja. | 

Sokrates. Gibt es nun irgendetwas auf der Welt, 
was nicht entweder gut ist oder schlecht oder ein Mittleres 
zwischen beiden, das heißt weder gut noch schlecht? 555) 

Polos. Dagegen läßt sich unmöglich etwas ein- 
wenden, mein Sokrates. 

Sokrates. Nennst du nun nicht Weishait, Gesund- 
heit, Reichtum und alles andere der Art gut, das Gegen- 
teil davon aber schlecht? 

Polos. Ja. | 

Sokrates. Als weder gut noch schlecht bezeichnest 
du doch wohl solches, was zuweilen am Guten, zuweilen 

st. am Schlechten, zuweilen auch an keinem von beiden teil- 


62 Platons Gorgias. 


hat, z. B. sitzen, gehen, laufen, segeln, oder auch Steine, 
Holz und anderes dieser Art? Meinst du es nicht so? 
Oder verstehst du irgend etwas anderes unter dem, was 
weder gut noch schlecht ist? 

Polos. Nein, dieses. 

Sokrates. Tut man nun dies Mittlere, wenn man es 
tut, des Guten wegen, oder das Gute des Mittleren wegen? 

Polos. Offenbar das Mittlere um des Guten willen. 

Sokrates. Also weil wir dem Guten nachtrachten, 
gehen wir, wenn wir gehen, überzeugt, daß es zweckmäßig 
ist, und umgekehrt bleiben wir auch stehen, wenn wir 
stehen bleiben, um des Nämlichen, nämlich des Guten 
willen. Oder nicht? 

Polos. Ja. 

Sokrates. Und auch wenn wir einen töten und 
vertreiben und ihm das Vermögen rauben, so tun wir 
dies in der Überzeugung, daß es für uns besser sei dies zu 
tun als nicht zu tun? | 

Polos. Allerdings. 

Sokrates. Also des Guten wegen tut man alles das, 
wenn man es tut. 

Polos. Ja. 


Vierundzwanzigstes Kapitel. 


Sokrates. Waren wir nicht einverstanden darüber, 
daß wir nicht das wollen, was wir irgendeines Zweckes 
wegen tun, sondern den Zweck, um deswillen wir es tun? 

Polos. Durchaus. 

Sokrates. Also nicht so schlechthin wollen wir hin- 
morden und aus dem Staate verjagen oder Vermögen 
rauben, sondern nur dann wollen wir es, wenn es nütz- 
lich ist; wenn es schädlich ist, dann nicht. Denn das 
Gute wollen wir, wie du sagst, was aber weder gut noch 
schlecht ist, das wollen wir nicht, und ebensowenig das 
Schlechte. Nicht wahr? Habe ich recht, mein Polos, oder 
nicht? — Warum antwortest du nicht? 


Vierundzwanzigtes Kapitel. 63 


Polos. Du hast recht. 

Sokrates. Wenn also, dieses zugestanden, einer einen 
tötet oder aus dem Staate vertreibt oder des Vermögens 
beraubt, gleichviel ob T'yrann oder Redner, in der Über- 
zeugung, es sei so gut für ihn, während es tatsächlich das 
Gegenteil ist, so tut dieser, was ihm gut dünkt. Nicht 
wahr? 


Polos. Ja. 
Sokrates. Etwa auch das, was er will, wenn dies 
tatsächlich schlecht ist? — Warum antwortest du nicht? 


Polos. Nun, er scheint mir nicht zu tun, was er will. 

Sokrates. Ist es also möglich, daß ein solcher große 
Macht in diesem Staate hat, wenn große Macht deinem 
Zugeständnis zufolge etwas Grutes ist? 

Polos. Nein. 

Sokrates. Also ich hatte recht mit meiner Behaup- 
tung, es könne vorkommen, daß ein Mensch in einem 
Staat ganz nach seinem Gutdünken handelt und keine 
große Macht hat und nicht tut, was er will. 

Polos. Als ob du, mein Sokrates, dir nicht lieber 
die Freiheit, im Staate ganz nach deinem Gutdünken zu 
handeln, gefallen lassen würdest, als das Gegenteil, und 
nicht mit Neid es ansehen würdest, wenn einer nach 


 Gutdünken einen tötet oder des Vermögens beraubt oder 


St. 


ins Gefängnis bringt. 

Sokrates. Meinst du das so, daß er es mit Recht 
oder mit Unrecht tut? 

Polos. Darauf kommt nichts an; denn ist er nicht 
in beiden Fällen beneidenswert ἢ 

Sokrates. Sprich nicht lästerlich, mein Polos. 

Polos. Wieso ? | 

Sokrates. Weil man die nicht beneiden soll, die 
nicht zu beneiden sind; sondern bemitleiden, ebenso wie 
die Elenden. 

Polos. Wie? Scheint dir das von den Leuten zu 
gelten, von denen ich spreche ? 

Sokrates. Gewiß. 


64 Platons Gorgias,. 


Polos. Wer also nach Gutdünken einen tötet und dies 
mit Recht tut, scheint dir der elend und bemitleidens- 
wert zu sein ? | 

Sokrates. Nein, das nicht, aber auch nicht be- 
neidenswert. 

Polos. Nanntest du ihn nicht eben elend? | 

Sokrates. Den, mein Bester, der ungerechter Weise 
tötet, und bemitleidenswert noch obendrein; den aber, 
der es gerechter Weise tut, bezeichnete ich als einen, 
der nicht zu beneiden ist. | 

Polos. Bemitleidenswert und elend ist doch wahr- 
lich eher der, der ungerechter Weise den Tod erleidet. 

Sokrates. In geringerem Maße als der, welcher den 
Tod herbeiführt, mein Polos, und in geringerem Maße als 
der, welcher gerechter Weise den Tod erleidet. 

Polos. Inwiefern, mein Sokrates ? 

Sokrates. Insofern, als das Unrechttun das größte 
aller Übel ist. | 

Polos. Wirklich das größte? Ist nicht das Unrecht- 
leiden ein größeres’? 

Sokrates. Durchaus nicht). 

Polos. Du also möchtest lieber Unrecht leiden als 
Unrecht tun wollen ? 

Sokrates. Wollen möchte ich keines von beiden: 
wenn ich aber unweigerlich wählen müßte zwischen Un- 
rechttun und Unrechtleiden, so würde ich mich lieber 
für das letztere entscheiden als für das erstere. 

Polos. Du würdest also nicht Tyrann sein wollen ? 

Sokrates. Nein, wenn du darunter dasselbe versteust 
wie ich. 

Polos. Nun, was ich darunter verstehe, habe ich 
eben gesagt und bleibe dabei, nämlich die Freiheit, in 
dem Staate ganz nach Gutdünken zu schalten und zu 
walten, also zu töten, zu verbannen, kurz alles zu tun nach 
eigenem Belieben. | 


Fünfundzwanzigstes Kapitel. 65 


Fünfundzwanzigstes Kapitel. 


Sokrates. Wenn ich nun meine Meinung sage, mein 
Verehrtester, so sollst du mit deiner Widerlegung nicht 
zurückhalten. Wenn ich nämlich auf menschenerfülltem 
Markt, ausgerüstet mit einem unter der Achsel verborgenen 
Dolch, zu dir sagte: Mein Polos, eben bin ich in den 
Besitz einer wunderbaren Macht und Herrscherkraft ge- 
langt; denn wenn es mir gut dünkt, daß irgendeiner der 
Menschen, die du hier beisammen siehst, augenblicklich 
den Tod erleide, so wird der dazu Ausersehene alsbald 
tot sein. Und wenn es mir gut dünkt, daß irgendeinem 
von ihnen der Schädel eingeschlagen werde, so wird ihm 
der Schädel auf der Stelle gespalten sein, und wenn ihm 
das Kleid aufgeschlitzt werden soll, wird es alsbald auf- 
geschlitzt sein. So groß ist meine Macht in diesem Staate. 
Wenn ich nun deinem Unglauben dadurch begegnete, dab 
ich dir den Dolch vorzeigte, so würdest du bei dessen 
Anblick vielleicht sagen: Mein Sokrates, auf diese Art 
wäre es niemandem verwehrt große Macht zu haben, denn 
so könnte auch jedes beliebige Haus, das du dazu auser- 
sehen hast, niedergebrannt werden und ebenso auch die 
athenischen Schiffshäuser mitsamt allen Trieren und allen 
 Lastschiffen des Staates sowohl wie der Privatleute. Aber 
der Besitz großer Macht kann doch demnach nicht darin 
bestehen, daß man tut, was einem gut dünkt. Oder meinst 
du doch? 

Polos. Nein; so wie du die Sache darstellst. natürlich 
nicht. | 

Sokrates. Und kannst du auch angeben, was du an 
einer solchen Macht auszusetzen hast? 

Polos. Gewiß. | 

Sokrates. Nun, was? Sage es. 

Polos. Dies, daß solche Handlungsweise unmöglich 
ungestraft bleiben kann. 

Sokrates. Ist aber Strafeleiden nicht ein Übel? 

Polos. Allerdings. a 


Platon. Gorgias. Phil.Bibl. Bd. 148. 5 


66 Platons Gorgias. 


Sokrates. Also nunmehr, mein Wunderlicher, denkst 
du doch wieder anders über die Sache3®). Nämlich: Wenn 
das Handeln nach Gutdünken zugleich ein nützliches Han- 
deln ist, dann ist es etwas Gutes, und nur darin besteht, 
wie es scheint, tatsächlich der Besitz großer Macht; im 
anderen Falle aber ist es etwas Schlechtes und eine arm- 
selige Macht. Sind wir nun nicht darüber einverstanden, 
daß die vorhin genannten Handlungen, das Töten und Ver- 
bannen von Mitbürgern und der Raub ihres Vermögens, 
in manchen Fällen gut, in manchen aber auch das Gegen- 
teil sind ? 

Polos. Gewiß. 

Sokrates. Dies also wird, wie es scheint, sowohl 
deinerseits wie auch meinerseits eingeräumt. 

Polos. Ja. 

Sokrates. Wann also erklärst du es für gut, dies zu 
tun? Sage, welche Bestimmung triffst du? 

Polos. Gib du doch selbst, mein Sokrates, die Ant- 
wort darauf. 

Sokrates. Nun, mein Polos, wenn du es lieber von 
mir hören willst, so erkläre ich: wenn man es gerechter 
Weise tut, dann. ist es gut, wenn aber ungerechter Weise, 
dann schlecht. 


Sechsundzwanzigstes Kapitel. 


Polos. Ein schweres Stück Arbeit, dich zu wider- 
legen, mein Sokrates. Könnte nicht aber auch ein Kind 
dich des Irrtums überführen ? 

Sokrates. Nun, ich werde dem Kinde sehr dank- 
bar sein, ebensosehr aber auch dir, wenn du mich wider- 
legst und von Hirngespinsten befreist. Laß dich’s ja nicht 
verdrießen dich einem Freunde wohltätig zu erweisen, 
sondern widerlege ihn. 

Polos. Wohl denn, mein Sokrates, ich brauche nicht 
auf längst vergangene. Dinge zurückzugreifen, um dich zu 


Sechsundzwanzigstes Kapitel, 67 


widerlegen; bekannte Vorgänge der jüngsten Zeit sind 
ganz dazu angetan dich zu widerlegen und den Beweis 
zu liefern, daß viele Menschen verbrecherisch handeln 
und doch glücklich sind. 

Sokrates. Was wären das für welche? 

Polos. Du siehst doch den Archelaos, des Perdikkas 
Sohn”), über Makedonien herrschen ? 

Sokrates. Ich sehe es nicht, aber ich weiß doch 
durch Hörensagen davon. 

Polos. Scheint er dir glücklich zu sein oder un- 
glücklich ? 

Sokrates. Ich weiß es nicht, mein Polos, denn ich 
habe noch keinen Umgang mit dem Manne gehabt. 

Polos. Wie? Nicht anders als durch Umgang 
könntest du es erkunden und erkennst nicht gleich von 
selbst, daß er glücklich ist? 

Sokrates. Nein, wahrhaftig nicht. 

Polos. Dann, mein Sokrates, wirst du ‚zweifellos 
auch behaupten, daß du den Großkönig?®) nicht als glück- 
lich erkennst. 

Sokrates. Und das mit vollem Recht; denn ich 
weiß ja nicht, wie es mit seiner Geistesbildung und mit 
seiner Gerechtigkeit steht. 

Polos. Wie? Wäre denn das der Inbegriff der Glück- 
seligkeit ? | 

Sokrates. Nach meiner Meinung ja, mein Polos. 
Denn den tugendhaften Mann wie auch das tugendhafte 
Weib nenne ich glücklich, den ungerechten und frevel- 
haften dagegen unglücklich. 

Polos. So wäre also Archelaos nach deiner Meinung 
unglücklich ἢ 

Sokrates. Ja, mein Freund, wenn er ungerecht ist. 

Polos. Wie wäre:-es möglich ihn anders zu nennen? 
Hatte er doch auf seine jetzige Herrschaft nicht den min- 
desten Anspruch. Denn er war der Sohn einer Frau, die 
die Sklavin des Alketas war, des Bruders des Perdikkas, 
und ginge es nach dem Recht, so war er der Sklave des 

ἢ Ἔ 


68 Platons Gorgias. 


Alketas. Wenn er also rechtmäßig handeln wollte, so 
stände er im Dienste des Alketas und wäre glücklich 
nach deiner Behauptung. Aber nun ist er ganz unerhört 
unglücklich geworden, da er die größten Verbrechen be- 
gangen hat. Erstens nämlich ließ er eben diesen seinen 
Herrn und Oheim zu sich kommen unter dem Vorgeben, 
ihm die Herrschaft, die Perdikkas ihm geraubt hatte, über- 
geben zu wollen, bewirtete ihn und machte ihn trunken 
wie auch den Sohn desselben, den Alexander, seinen Vetter 
und ungefähren Altersgenossen, ließ sie auf einen Wagen 
laden, schaffte sie so des Nachts hinaus, ermordete sie 
und ließ sie beide verschwinden. Und alle diese Greuel- 
taten verrichtete er, ohne zu merken, daß er dadurch höchst 
unglücklich geworden war, und empfand keine Reue dar- 
über; vielmehr ließ er kurze Zeit darauf abermals die 
Gelegenheit vorüber, sich glücklich zu machen durch recht- 
mäßige Erziehung seines Bruders, des echten Sohnes des 
Perdikkas, eines etwa siebenjährigen Knaben, dem die 
Herrschaft dem Rechte nach zukam, und durch Zurück- 
erstattung der Herrschaft an ihn, sondern er stürzte ihn in 
einen Brunnen und ließ ihn ertrinken, zur Kleopatra 
aber, der Mutter des Knaben, sagte er, er sei bei Ver- 
folgung einer Gans hineingefallen und umgekommen. Weil 
er also unter allen Makedoniern die größten Freveltaten 
begangen hat, so ist er infolgedessen der unglücklichste 
unter ihnen und nicht etwa der glücklichste, und vielleicht 
- gibt es manchen Athener, dich voran, der lieber jeder 
andere Makedonier sein wollte als Archelaos. 


Siebenundzwanzigstes Kapitel. 


Sokrales. Gleich zu Beginn unserer Unterredung, 
mein Polos, lobte ich dich, daß du meinem Dafürhalten 
nach für die Rhetorik trefflich vorgebildet seist, wogegen 
du die Dialektik vernachlässigt habest. Und soll nun 
jetzt dies der versprochene Beweis sein, mit dem mich 


S 


P 


Siebenundzwanzigstes Kapitel. 69 


auch ein Kind widerlegen würde (4700), und ist wirklich 
jetzt von dir, wie du meinst, durch diesen Beweis meine 
Behauptung widerlegt, daß der, welcher Unrecht tut, nicht 
glücklich sei? Woher denn, mein Guter? Von deinen 
Behauptungen gebe ich dir keine einzige zu. 

Polos. Du willst nur nicht, denn im Grunde denkst 
du doch so wie ich. 

Sokrates. Mein Verehrtester, du versuchst mich 
nach Rhetorenart zu widerlegen, wie die, welche vor Ge- 
richt einen angeblichen Gegenbeweis geben. Denn auch 
da glauben die einen die anderen zu widerlegen, wenn sie 
für ihre Behauptungen zahlreiche angesehene Zeugen’®) auf- 
stellen, während der Gegner nur einen einzigen oder auch 
gar keinen aufstellt. Dieser Gegenbeweis ist aber völlig be- 
langlos rücksichtlich der Wahrheit. Denn es kann vor- 
kommen, daß einer durch das falsche Zeugnis vieler 
bei der Menge in Ansehen stehender Männer mundtot 
gemacht wird. So werden äuch in diesem unserem Fall 
dir fast alle Athener und Fremden mit ihrem Zeugnis für 
dich zur Seite stehen, falls du gegen die Wahrheit meiner 
Behauptung Zeugen aufstellen willst). Als Zeugen wer- 
den für dich auftreten, wenn du es wünschst, Nikiast!), 
des Nikeratos Sohn, mitsamt seinen Brüdern, von denen 
die im Dionysosheiligtum in Reih und Glied aufgestellten 


᾿ς Dreifüße stammen, und wenn du es wünschst, auch Aristo- ἢ 


krates, des Skellias Sohn, von dem das herrliche Weih- 
geschenk im Pythischen Haine stammt, und wenn du 
es wünschst, auch des Perikles ganzes Haus oder eine 
andere Sippschaft, die du dir beliebig hier auswählen 
kannst. Aber ich ganz allein stimme dir nicht bei. Denn 
dein Beweis gegen mich hat keine zwingende Kraft, viel- 
mehr suchst du mich durch Aufstellung vieler falscher 
Zeugen gegen mich aus meinem Eigentum, das heißt 
aus der Wahrheit zu verdrängen. Ich aber muß es dahin 
bringen, dich selbst als einzigen Zeugen aufzustellen zur 
Bestätigung meiner Behauptung; sonst glaube ich nichts 


. der Rede Wertes erreicht zu haben rücksichtlich des Gegen- 


70 Platons Gorgias. 


standes unserer Untersuchung. Und auch du, glaube ich, 
hast nichts erreicht, wenn ich nicht als einziger Zeuge 
dir zur Seite stehe; alle anderen genannten magst du 
ruhig verabschieden. Es gibt also diese Art des Gegen- 
beweises, die du und viele andere für die richtige halten ; 
es gibt aber auch eine andere, die ich meinerseits für 
die richtige halte. Laß uns also beide miteinander ver- 
gleichen und prüfen, wodurch sie sich voneinander unter- 
scheiden. Denn das, worüber wir streiten, ist weit entfernt, 
etwas Unbedeutendes zu sein; vielmehr kann man sagen, 
daß es dasjenige ist, dessen Kenntnis für uns der edelste 
Besitz, dessen Nichtkenntnis dagegen der größte Vorwurf 
ist. Denn in der Hauptsache handelt es sich dabei darum, 
zu erkennen oder nicht, wer glücklich ist und wer nicht#2). 
Um gleich unseren Fall zu nehmen: wenn du den Archelaos 
für ungerecht und gleichwohl für glücklich hältst, so 
hältst du es doch für möglich, daß ein Mensch, der 
frevelt und ungerecht ist, doph glückselig sei. So müssen 
wir doch wohl deine Ansicht deuten ? 
Polos. Allerdings. 


Achtundzwanzigstes Kapitel. 


Sokrates. Ich hingegen erkläre das für unmöglich. 
Dies ist der eine Punkt, in dem wir verschiedener Meinung 
sind. Gut. Soll er, der Übeltäter, nun aber auch dann 
glücklich sein, wenn er die gebührende Strafe erhält? 

Polos. Gott bewahre, denn dann wäre er ja höcust 
unglücklich. 

Sokrates. Wenn also der Übeltäter keine Strafe 
erhält, soll er dann nach deiner Meinung glücklich sein ? 

Polos. Ja. 

Sokrates. Nach meiner Meinung dagegen, mein 
Polos, ist der Übeltäter und Ungerechte in jedem Falle 
unglücklich, aber noch unglücklicher, wenn er für sein 
Unrecht nicht zur Rechenschaft gezogen wird, dagegen 


Achtundzwanzigstes Kapitel. 71 


weniger unglücklich, wenn er zur Rechenschaft gezogen 
wird und Strafe erleidet von Göttern und Menschen. 

Polos. Das sind ja lauter Ungereimtheiten, die du 
da zu behaupten versuchst. 

Sokrates. Ich will aber versuchen, auch dich, mein 
Bester, dahin zu bringen, daß du dich zu meiner Ansicht 
bekennst. Denn ich halte dich für ‘meinen Freund. Dies 
sind also nun die Punkte, in denen wir verschiedener An- 
sicht sind. Prüfe auch du die Sache. Ich sagte doch 
vorhin, das Unrechttun sei schlimmer als das Unrecht- 
leiden #). 

Polos. Allerdings. 

Sokrates. Du dagegen das Unrechtleiden. 

Polos. Ja. 

Sokrates. Und ich behauptete, die Übeitäter seien un- 
glücklich, und ward von dir widerlegt. 

Polos. Ja, beim Zeus. 

Sokrates. Wie du meinst, mein Polos. 

Polos. Und vielleicht mit Recht. 

Sokrates. Du erklärtest ferner die Übeltäter für 
glücklich, wenn sie der Strafe entgingen. 

Polos. Gewiß. 

Sokrates. Ich aber behaupte, daß sie höchst unglück- 
lich sind, diejenigen dagegen, die Strafe erleiden, in min- 
derem Grade. Willst du auch das widerlegen ? | 

Polos. Nun, das ist wohl noch schwerer zu wider- 
legen als jenes, mein Sokrates“). 

Sokrates. So nicht, mein Polos, sondern überhaupt 
unmöglich, denn die Wahrheit wird niemals widerlegt. 

Polos. Wie? Wenn ein Mensch dabei ertappt wird, 
dab er unrechtmäßiger Weise nach der Tyrannen- 
herrschaft strebt, und daraufhin gefoltert, entmannt und 
geblendet wird und vielen anderen großen und mannig- 
fachen Schimpf nicht nur über sich selbst ergehen lassen 
muß, sondern auch an seinen Kindern und an seinem 
Weib mit ansehen muß und schließlich ans Kreuz ge- 
schlagen oder in Pech gesotten wird, so soll der glücklicher 


12 Platons Gorgias. 


sein, als wenn er glücklich durchkommt, Tyrann wird und 
bis an sein Lebensende im Staate herrscht und tut, was 


ihm beliebt, beneidet und glücklich gepriesen von seinen ° 


Mitbürgern wie von den Fremden? Das zu widerlegen 
erklärst du für unmöglich ? 


Neunundzwanzigstes Kapitel. 


Sokrates. Nun suchst du wieder durch Schreckge- 
spenster bange zu machen, mein edler Polos, aber wider- 
legen willst du nicht. Vorher verlegtest du dich darauf 
Zeugen aufzurufen. Gleichwohl komm meinem Gedächtnis 
ein wenig zu Hilfe. „Wenn er unrechtmäßiger Weise nach 
der Tyrannenherrschaft strebt‘; so sagtest du doch#). 

Polos. Ja. a 

Sokrates. Glücklicher nun wird niemals einer von 
beiden sein, weder der, welcher unrechtmäßiger Weise 
die Tyrannenherrschaft hergestellt hat, noch der, welcher 
Strafe erleidet; denn von zwei Unglücklichen wird keiner 
glücklicher sein; unglücklicher aber ist der, welcher glück- 
lich durchgekommen und Tyrann geworden ist. Wie, 
Polos? Du lachst? Ist das wieder eine neue Art von 
Beweis, zu lachen, wenn man etwas sagt, nicht aber zu 
widerlegen ? | 

Polos. Meinst du nicht widerlegt zu sein, mein So- 
krates, wenn du Dinge behauptest, die kein anderer Mensch 
sich einfallen läßt zu behaupten ? Denn frage doch einen 
der Anwesenden. | 

Sokrates. Mein Polos, ich gehöre nicht zur Zunft 
der Politiker. Als ich im vorigen Jahr Ratsherr. war“) 
und meine Phyle den Vorsitz hatte und ich die Ab- 
stimmung leiten mußte, erregte ich Heiterkeit durch meine 
Unwissenheit darüber, wie die Abstimmung in Gang zu 
bringen sei. Fordere mich also auch jetzt nicht auf, die 
Anwesenden abstimmen zu lassen, sondern wenn du keine 


474 | 


Neunundzwanzigstes Kapitel. 73 


bessere Widerlegung als die bisherige hast, so überlasse 
mir, wie vorhin gesagt#”), zur Abwechslung die Wider- 
legung und mache dich so mit derjenigen Art von Wider- 
legung bekannt, die ich für die richtige halte. Denn 
ich weiß für meine Behauptungen nur einen als Zeugen 
zu stellen, nämlich eben den, mit dem ich die Unter- 
redung führe, mit der großen Menge dagegen befasse ich 
mich gar nicht; und nur einen verstehe ich zur Abstim- 
mung zu bringen, mit der großen Menge dagegen lasse ich 
mich überhaupt auf keine Unterredung ein. Sieh also 
zu, ob du mir zur Abwechslung die Möglichkeit der 
‚Widerlegung geben willst durch Beantwortung meiner 
Fragen. Denn ich glaube, daß nicht nur ich, sondern 
auch du und die übrigen Menschen das Unrechttun für 
schlimmer halten als das Unrechtleiden und die Straf- 
losigkeit für schlimmer als die Strafe. 

Polos. Dies tue weder ich noch, wie ich glaube, 
irgendein anderer Mensch. Denn würdest du selbst denn 
lieber Unrecht leiden als Unrecht tun wollen? 

Sokrates. Nicht nur ich, sondern auch alle anderen. 

Polos. Weit gefehlt, weder ich noch du noch irgend- 
ein anderer. 

Sokrates. Willst du dich nun dazu verstehen zu 
antworten ? 

Polos. Ja gewiß. Denn ich bin voll Verlangen zu 
erfahren, was du eigentlich zu sagen haben wirst. 

Sokrates. Damit du es also erfahrest, gib mir Aus- 
kunft gerade so als ob ich dich ganz von vorn früge: 
Scheint dir, mein Polos, das Unrechttun schlimmer zu 
sein oder das Unrechtleiden ? ὶ 

Polos. Mir sicher das Unrechtleiden. 

Sokrates. Was aber häßlicher? Das Unrechttun oder 
das Unrechtleiden ? Antworte. 

Polos. Das Unrechttun. 


74 Platons Gorgias. 


Dreißigstes. Kapitel. 


Sokrates. Wenn häßlicher, dann doch auch schlechter. 

Polos. Durchaus nicht. 

Sokrates. Ich verstehe. Du hältst, wie es scheint, 
schön und gut, schlecht und häßlich nicht für dasselbe. 

Polos. Nein. 

Sokrates. Wie aber steht es nun mit dem Folgen- 
den? Alles Schöne, z. B. Körper, Farben, Gestalten, 
Stimme, Beschäftigungen nennst du doch in jedem ein- 
zelnen Falle schön in Hinblick auf irgendetwas? Wenn 
du z. B. zunächst Körper schön nennst, so ist das Be- 
stimmende für dich dabei doch entweder der Nutzen in 
Rücksicht auf den Zweck, für den ein jeder dienlich ist, 
oder ein gewisses Lustgefühl, wenn er dem Beschauer beim 
Anschauen Freude macht? Kannst du sonst noch eine 
Beziehung rücksichtlich der Schönheit anführen ἢ 48) 

Polos. Nein. 

Sokrates. Nennst du nicht in gleicher Weise auch 
alles andere wie Gestalten und Farben schön entweder 
wegen eines gewissen Lustgefühls oder wegen eines Nutzens 
oder um beider willen ? 

Polos. Ja. 

Sokrates. Nicht auch die Stimmen und alles Musi- 
kalische ? 

Polos. Ja. 

Sokrates. Und das Schöne, das sich auf Gesetze 
und Berufstätigkeit bezieht, liegt doch auch in nichts 
anderem als darin, daß es entweder nützlich oder ange- 
nehm oder beides ist. 

Polos. So ist es, wie mir scheint. 

Sokrates. Und ebenso steht es doch auch mit ders 
Schönheit der Wissenschaften ? 

Polos. Sicherlich. Und jetzt triffst du es mit deinen 
Bestimmungen ganz schön, wenn du das Schöne nach 
der Lust und dem Guten bestimmst. 


Einunddreißigstes Kapitel. 75 


Sokrates. Nicht auch das Häßliche nach dem Gegen- 
teil, nach Schmerz und Schlechtem ? 

Polos. Notwendig. 

Sokrates. Wenn also von zwei schönen Dingen 
das eine schöner ist, so liegt der Grund dafür darin, dab 
es entweder an einem von beiden oder an beiden im 
Übergewicht ist, nämlich entweder an Annehmlichkeit oder 
an Nutzen oder an beiden. 

Polos. Allerdings. 

Sokrates. Und wenn von zwei häßlichen Dingen 
das eine häßlicher ist, so wird es häßlicher sein, weil es 
entweder an Schmerz oder an Schlechtigkeit oder an beiden 
im Übergewicht ist. Oder ist das nicht notwendig? 

Polos. Ja. 

Sokrates. Also nun weiter: Was wurde denn eben 
von dem Unrechttun und Unrechtleiden behauptet? 
Sagtest du nicht, das Unrechtleiden sei schlechter, das 
Unrechttun dagegen häßlicher ? 

Polos. Ja. 

Sokrates. Wenn also das Unrechttun häßlicher ist 
als das Unrechtleiden, so ist es entweder schmerzlicher 
und also häßlicher, weil es an Schmerz überragend ist, 
oder es ist häßlicher, weil es an Schlechtigkeit oder an 
‘ beiden überragt. Ist nicht auch das notwendig’? 

Polos. Unumgänglich. 


»»--------.-.. -.- . 


Einunddreißigstes Kapitel. 


Sokrates. Laß uns nun zunächst prüfen, ob das 
Unrechttun an Schmerz das Unrechtleiden überragt und 
ob die Übeltäter mehr zu leiden haben als die Miß- 
handelten. 

Polos. Das doch keinesfalls. 

Sokrates. An Schmerz also ist es nicht überragend. 

Polos. Offenbar nicht. 


76 Platons Gorgias. 


Sokrates. Wenn also nicht an Schmerz, dann kann 
es auch nicht an beiden zusammen überragen. 

Polos. Offenbar nicht. 

Sokrates. Also nur an dem anderen. 

Polos. Ja. 

Sokrates. Nämlich dem Schlechten. 

Polos. So scheint es. 

Sokrates. Wenn also das Unrechttun an Schlechtig- 
keit überragend ist, so muß es doch schlechter sein als 
das Unrechtleiden ?49) 

Polos. Offenbar. 

Sokrates. Wurde uns nicht vorhin von der großen 
Masse der Menschen ebenso wie von dir zugestanden, daß 
das Unrechttun häßlicher sei als das Unrechtleiden ? 

Polos. Ja. | 

Sokrates. Jetzt aber stellt es sich als schlechter 
heraus. | 

Polos. So scheint es. 

Sokrates. Würdest du nun ee das Schlechtere 
und Häßlichere wählen anstatt des minder Schlechten und 
Häßlichen? Antworte unverzüglich, mein Polos — du 
brauchst nichts Schlimmes zu fürchten — und vertraue 
dich ruhig der Untersuchung an wie einem Arzt und 
antworte mit Ja oder Nein auf meine Fragen. 

Polos. Nun gut: ich würde es nicht wählen, mein 
Sokrates. 

Sokrates. Oder sonst irgendeiner ? 

Polos. Ich glaube nicht, wenigstens angesichts dieses 
Beweises. 

Sokrates. Also hatte ich recht mit meiner Behaup- 
tung, daß weder ich noch du noch irgendein anderer 
Mensch sich bereit finden wird lieber Unrecht zu tun als 
Unrecht zu leiden. Denn das erstere ist ja das Schlechtere. 

P.0108. Offenbar.‘ 

Sokrates. Du siehst also, mein Polos: Beweis gegen 
Beweis gehalten) ergibt sich ihre völlige Ungleichheit; 
denn dir stimmen alle anderen bei außer mir, mir aber 


a. 
.> 


Zweiunddreißigstes Kapitel. 77 


genügst du ganz allein zur Bestätigung und zum Zeugnis, 


.und ich lasse dich allein abstimmen, die anderen gehen 


mich nichts an. Und damit also wollen wir es so halten. 
Demnächst aber gilt es den zweiten strittigen Punkt zu 
prüfen, nämlich ob es, wie du meintest, das größte Übel 
ist für das Unrecht Strafe zu leiden, oder ob es ein 
größeres Übel ist keine Strafe zu leiden, wie ich meiner- 
seits meinte. Laß uns also folgenden Weg für die Prüfung 
einschlagen. Ist Strafeleiden und gerechte Züchtigung er- 
fahren für getanes Unrecht nach deiner Meinung ein 
und dasselbe ? 

Polos. Ja. 

Sokrates.: Kannst du nun etwa bestreiten, daß das 
Gerechte auch durchweg schön sei, sofern es gerecht ist? 
Und überlege genau, ehe du antwortest. 

Polos. Nein, mir scheint das Gerechte auch schön 
zu sein, mein Sokrates°t). 


Zweiunddreißigstes Kapitel. 


Sokrates. Richte nun deinen Blick auch auf folgen- 
des: Wenn jemand etwas tut, so muß es doch auch not- 
wendig etwas geben, was unter dieser Tätigkeit leidet>2). 

Polos. So scheint es mir. | 

Sokrates. Und es leidet dann doch wohl das, was 
der Tuende tut, und derartiges, wie es der Tuende tut? 
Ich meine es so: Wenn z. B. jemand schlägt, so muß auch 
etwas geschlagen werden? 

Polos. Notwendig. 

Sokrates. Und wenn der Schlasende kräftig oder 
schnell schlägt, so wird auch notwendig der geschlagene 
Gegenstand so geschlagen. 

Polos. Ja. | 

Sokrates. Das Leiden des Geschlagenen entspricht 
also genau dem Tun des Schlagenden ? 

Polos. Gewib. 


78 Platons Gorgias. 


Sokrates. Und wenn einer brennt, so muß auch 
etwas gebrannt werden ? 

Polos. Selbstverständlich. 

Sokrates. Und wenn er stark oder schmerzhaft 
brennt, so muß das Gebrannte so gebrannt werden, wie 
das Brennende brennt. 

Polos. Gewib. 

Sokrates. Und wenn einer schneidet, so steht es 
doch damit ebenso? Denn es wird doch etwas geschnitten. 

Polos. Ja. 

Sokrates. Und wenn der Schnitt groß oder tief oder 
schmerzhaft ist, so entspricht der Schnitt in dem Ge- 
schnittenen genau der Tätigkeit des Schneidenden ? 

Polos. Offenbar. 

Sokrates. Nun sieh zu, ob du auch mit der Ver- 
allgemeinerung des Gesagten, also seiner Ausdehnung auf 
alles einverstanden bist. Nämlich: Wie das Tun des 
Tuenden beschaffen ist, so auch das Leiden des Leidenden. 

Polos. Ja, ich bin einverstanden. 

Sokrates. Da hierüber also Einverständnis besteht, 
so sage, ob das Bestraftwerden etwas leiden heißt oder 
etwas tun? 

Polos. Zweifellos, mein Sokrates, leiden. 

Sokrates. Doch wohl unter der Tätigkeit jemandes ? 

Polos. Selbstverständlich; nämlich unter der des 
Zächtigenden. 

Sokrates. Wer aber richtig züchtigt, der züchtigt 
doch gerecht? 

Polos. Ja. 

Sokrates. Und tut recht, oder nicht? 

Polos. Recht. 

Sokrates. Also der Gezüchtigte leidet gerecht durch 
Abbüßung der Strafe? 

Polos. So scheint es. 

Sokrates. Das Gerechte aber haben wir doch als 
schön anerkannt 9 8) 

Polos. Allerdings. 


Dreiunddreißigstes Kapitel. 79 


Sokrates. Von ihnen also tut der eine Schönes, der 
andere, der Gezüchtigte nämlich, leidet es. 
Polos. Ja. 


Dreiunddreißigstes Kapitel. 


Sokrates. Wenn Schönes, dann doch auch Gutes? 
Denn das Schöne ist entweder angenehm oder nützlich. 

Polos. Notwendig. 

Sokrates. Also wer Strafe büßt, leidet Gutes? 

Polos. So scheint es. 

Sokrates. Er hat also Nutzen davon? 

Polos. Ja. 

Sokrates. Doch wohl den Nutzen, der mir dabei 
vorschwebt? An der Seele nämlich wird er gebessert, wenn 
er gerechter Weise gezüchtigt wird. 

Polos. Wahrscheinlich. 

Sokrates. Also von der Schlechtigkeit der Seele 
wird der befreit, welcher Strafe leidet? 

Polos. Ja. 

Sokrates. Ist es also nicht die größte Schlechtig- 
keit, von der er befreit wird? Mache dir das folgender- 
maßen klar: in Vermögenssachen gibt es doch, wie du 


. siehst, beim Menschen keine andere Schlechtigkeit:®) als 


Armut? 

Polos. Nein, nur Armut. 

Sokrates. Und wie steht es in Sachen der Leibes- 
beschaffenheit? Wirst du als Schlechtigkeit da nicht 
Schwäche und Krankheit und Häßlichkeit und dergleichen 
anerkennen ? 

Polos. Ja. 

Sokrates. Meinst du nun nicht, daß es auch in der 
Seele eine Schlechtigkeit gibt? 

Polos. Selbstverständlich. 

Sokrates. Nennst du diese nicht Ungerechtigkeit 
und Unwissenheit und re und dergleichen ? 

Polos. Gewib. 


80 Platons Gorgias. 


Sokrates. Also für Vermögen, für Leib und für 
Seele, diese drei Arten von Dingen, hast du drei Arten 
von Schlechtigkeit genannt, Armut, Krankheit, Ungerech- 
tigkeit ? 

Polos. Ja. | 

Sokrates. Welches ist nun die häßlichste unter 
diesen Schlechtigkeiten? Nicht die Ungerechtigkeit oder 
ganz allgemein die Schlechtigkeit der Seele? 

Polos. Weitaus. 

Sokrates. Und wenn die häßlichste, doch wohl auch 
die schlechteste ? 

Polos. Wie meinst du das, mein Sokrates? 

Sokrates. So: Am häßlichsten ist das Häßlichste 
zufolge des früher Eingeräumten5) immer deshalb, weil 
es entweder den größten Schmerz oder Schaden oder beides 
bereitet. | 

Polos. Ja. 

Sokrates. Am häßlichsten aber ist Ungerechtigkeit 
und überhaupt alle Schlechtigkeit der Seele nach dem, 
was eben eingeräumt ward. 

Polos. Ja, soistes 

Sokrates. Am häßlichsten also von allen ist sie 
doch entweder insofern, als sie am schmerzvollsten und 
durch Leid überragend ist oder weil sie durch Schädlich- 
keit oder endlich weil sie in beiden Beziehungen über- 
ragend ist? 

Polos. Notwendig. 

Sokrates. Ist nun etwa Ungarsöhiiekeäit und Zucht- 
losigkeit, Feigheit und Unwissenheit schmerzvoller als 
Armut und Krankheit? 

Polos. Das scheint mir nicht so, mein Sokrates, 
wenigstens nach dem Vorliegenden®). 

Sokrates. Also weil sie durch eine geradezu über- 
wältigend große Schädlichkeit und unerhörte Schlechtig- 
keit die anderen überragt, ist die Schlechtigkeit der Seele 
am häßlichsten von allen, da sie es ja nach deinem Zu- 
geständnis nicht durch überragenden Schmerz ist. 


5". 


Vierunddreibßigstes Kapitel. 8] 


Polos. Mag sein. 

Sokrates. Was aber durch den größten Schaden 
alles andere überragt, dürfte wohl auch das größte Übel 
auf der Welt sein. 

Polos. Ja. 

Sokrates. Die Ungerechtigkeit also und die Zucht- 
losigkeit und die sonstige Schlechtigkeit der Seele ist 
das größte Übel in der Welt? 

Polos. Allem Anschein nach. 


Vierunddreißigstes Kapitel. 


Sokrates. Welche Kunst nun befreit uns von Armut? 
Nicht die Erwerbskunst ? 

Polos. Ja. 

Sokrates. Und welche von Krankheit? Nicht die 
Heilkunst’? 

Polos. Offenbar. 

Sokrates. Welche aber von Schlechtigkeit und Un- 
gerechtigkeit? — Wenn du nicht sofort rechten Bescheid 
weißt, so mach es dir folgendermaßen klar: ‚Wohin und 
zu wem bringen wir die körperlich Kranken ? 

Polos. Zu den Ärzten, mein Sokrates. 

Sokrates. Wohin aber die Übeltäter und Zuchtlosen ? 

Polos. Zu den Richtern, meinst du doch. 

Sokrates. Nicht, um sie der strafenden Gerechtig- 
keit zu überweisen ? | 

Polos. Ja. 

Sokrates. Üben nun nicht diejenigen, welche richtig 
züchtigen, diese Züchtigung gewissermaßen im Namen 
der Gerechtigkeit aus? 

Polos. Offenbar. 

Sokrates. Die Erwerbskunst befreit uns also von 
Armut, die Heilkunde von Krankheit, die Rechtspflege von 
Zuachtlosigkeit und Ungerechtigkeit. 

Polos. Mag wohl sein. 


Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148. 6 


80 Platons Gorgias. 


Sokrates. Was ist nun unter diesen das Schönste ? 
Polos. Was meinst du mit dem ‚diesen‘ ? 
Sokrates. Erwerbskunst, Heilkunst, Recht. 

Polos. Weit obenan, mein Sokrates, steht das Recht. 

Sokrates. Wenn es also das Schönste ist, kommt das 
doch wieder auf folgendes hinaus: entweder gewährt es 
die meiste Lust oder Nutzen oder beides zusammen ? 

Polos. Ja. | 

Sokrates. Ist nun die ärztliche Behandlung ange- 
nehm und freuen sich diejenigen, die sich ihr unterziehen ? 

Polos. Das schwerlich. 

Sokrates. Aber doch nützlich. Nicht wahr? 

Polos. Ja. 

Sokrates. Denn man wird von einem großen Übel 
befreit; also lohnt es sich, den Schmerz auszuhalten und 
so gesund zu werden. 

Polos. Gewiß. 

Sokrates. Was ist nun für das leibliche Befinden 
des Menschen das größte Glück? daß er geheilt wird 
oder daß er überhaupt nicht krank wird? 

Polos. Offenbar dies, daß er überhaupt nicht krank 
wird. 

Sokrates. Denn nicht das ist, wie es scheint, das 
wahre Glück, daß man vom Übel befreit wird, sondern 
daß man überhaupt davon verschont bleibt. 

Polos. Allerdings. 

Sokrates. Wie nun aber? Wenn zwei, seiesam Leib 
oder an der Seele, mit einem Übel behaftet sind, welcher 
von ihnen ist der Unglücklichere? derjenige, welcher 
geheilt und von dem Übel befreit wird, oder der, welcher 
nicht geheilt wird, sondern so bleibt, wie er ist? 

Polos. Derjenige, der nicht geheilt wird, glaube ich. 

Sokrates. War nun nicht das Strafeleiden Befreiung 
vom größten Übel, nämlich von der Schlechtigkeit ?57) 

Polos. Ja. 

Sokrates. Denn die rechtliche Strafe weckt den 


+ 


Fünfunddreißigstes Kapitel. 83 


Sinn für Besonnenheit und Gerechtigkeit und bewährt 
sich als heilkräftig gegen die Schlechtigkeit’®) 

Polos. Ja. 

Sokrates. Am glücklichsten ist also der, dessen Seele 
mit keiner Schlechtigkeit behaftet ist, da sich dies als 
größtes aller Übel herausgestellt hat. 

Polos. Offenbar. 

Sokrates. Zunächst nach ihm steht der, der davon 
befreit wird. 

Polos. So scheint es. 

Sokrates. Das aber war der, der verwarnt und ge- 
züchtigt wird und Strafe erleidet. 

Polos. Ja. 

Sokrates. Am schlechtesten also lebt der, welcher 
mit Ungerechtigkeit behaftet ist, ohne davon befreit zu 
werden. 

Polos. Offenbar. 

Sokrates. Ist das nun nicht der, der die größten 
Freveltaten begeht und die größte Ungerechtigkeit übt 


.und es dabei doch fertig bringt weder verwarnt noch ge- 


züchtigt noch von Rechtswegen gestraft zu werden — 
dies von dir gerühmte vermeintliche Glück, zu dem 
Archelaos sich verholfen hat und die anderen Tyrannen 


und Redner und Machthaber ? 


Polos. So scheint es. 


Fünfunddreißigstes Kapitel. 


Sokrates. Denn was diese, mein Bester, fertig ge- 
bracht haben, ist ungefähr dasselbe, wie wenn ein mit 
den schwersten Krankheiten Behafteter es durchsetzte, von 
seinen körperlichen Gebrechen den Ärzten nicht Rechen- 
schaft zu geben und nicht geheilt zu werden aus kin- 
discher Angst vor dem Brennen und Schneiden, weil 
es schmerzhaft ist. Oder meinst du nicht so? 

Polos. Ja. | 

6* 


84 Platons Gorgias. 


Sokrates. Weil er, wie es scheint, nicht weiß, was 
Gesundheit und körperliche Tüchtigkeit ist. Und ähnlich 
scheint es zufolge des jetzt von uns Festgestellten auch 
mit denen zu stehen, die sich der rechtlichen Strafe zu 
entziehen suchen, mein Polos: sie sehen mit scharfem Auge 
das Schmerzhafte bei der Sache, für das Nützliche der- 
selben aber sind sie blind und sind in Unwissenheit dar- 
über, wieviel unglückseliger im Vergleich zu einem Leben 
mit ungesundem Leib ein Leben mit einer Seele ist, die 
nicht gesund, sondern schadhaft und ungerecht und gott- 
los ist. Darum setzen sie denn auch alles daran nicht 
der Gerechtigkeit überliefert und von dem größten Übel 
befreit zu werden: sie sammeln Schätze und Freunde 
und suchen sich zu den wirksamsten Rednern auszubilden. 
Wenn aber das, was wir festgestellt haben, mein Polos, 
auf ‚Wahrheit beruht, merkst du da die Folgen, die sich 
aus der Untersuchung ergeben? Oder wünschst du, dab 
wir sie zusammen entwickeln ? 

Polos. Ja, wenn es dir recht ist. 

Sokrates. Ergibt sich nicht als größtes Übel die 
Ungerechtigkeit und das Unrechttun ? 

Polos. Allem Anschein nach. 

Sokrates. Und zwar erwies sich als Befreiung von 
diesem Übel das Erleiden der Strafe ? 

Polos. So scheint es. 

Sokrates. Freibleiben von der Strafe aber als Be- 
harren des Übels? 

Polos. Ja. 

Sokrates. Also nimmt das Unrechttun rücksicht!ich 
der Größe erst die zweite Stelle unter den Übeln ein, 
dagegen für verübtes Unrecht nicht Strafe leiden, das ist 
das allergrößte und erste Übel 553). 

Polos. Es scheint so. 

Sokrates. ‘Waren wir, mein Freund, darüber nicht 
geteilter Meinung? Du priesest den Archelaos, der die 
größten Frevel verübte ohne Strafe dafür zu erleiden, ich 
glaubte umgekehrt, daß, wenn einer für begangenes Un- 


Sechsunddreißigstes Kapitel. 85 


recht nicht bestraft wird, mag es nun Archelaos sein 
oder irgendein anderer Mensch, es diesem gebühre mehr 
als alle anderen Menschen unglücklich zu sein, und dab 
immer der Übeltäter unglücklicher sei als der Mißhandelte, 
und der von Strafe frei Bleibende unglücklicher als der 
Bestrafte. Waren das nicht meine Behauptungen ? 

Polos. Ja. 

Sokrates. Ist nicht der Beweis für ihre Richtigkeit 
geliefert worden ? 

Polos. Es scheint so. 


Sechsunddreißigstes Kapitel. 


Sokrates. Gut. ‚Wenn es nun also damit seine Rich- 
tigkeit hat, mein Polos, worin besteht denn dann der 
große Nutzen der Rhetorik? Denn nach dem, was wir 
soeben festgestellt haben, muß man sich vor allem selbst 
hüten Unrecht zu tun, da es uns reichliches Übel ein- 
bringen wird. — Nicht wahr? 

Polos. Allerdings. — 

Sokrates. Wenn man aber entweder selbst Unrecht 
getan hat oder ein anderer, den man lieb hat, dann muß 
man aus freien Stücken schleunigst dahin gehen, wo man 


so rasch als möglich seine Strafe erhält, nämlich zum 


‚Richter gleichsam wie zum Arzte, auf daß die Krankheit 


der Ungerechtigkeit sich nicht einniste und die Seele 
verderbe und unheilbar mache. Oder können wir zu 
anderen Behauptungen kommen, wenn wir an unseren 
früheren Zugeständnissen festhalten, mein Polos? Ist dies 
nicht die einzig mögliche Art, in Übereinstimmung mit, 
jenen Zugeständnissen zu bleiben ? 

Polos. Was ließe sich auch anderes sagen ? 

Sokrates. Zur Verteidigung des Unrechts also, 
gleichviel ob des eigenen oder des von Eltern oder Freun- 
den oder Kindern oder auch vonseiten des Vaterlandes 
begangenen, nützt uns die Rhetorik gar nichts, mein 


86 Platons Gorgias,. 


Polos. Weit eher noch könnte man annehmen, daß sie 
für das Gegenteil nützlich sei, daß man also vor allem 
sich selbst anklagen müsse, dann aber auch seine Ver- 
wandten und sonstigen Freunde, falls einer von ihnen 
Unrecht tut, und das Unrecht nicht verschleiern, sondern 
ans Licht bringen müsse, auf daß der Übeltäter seine Strafe 


erhalte und gesund werde. Auch muß man, wie weiter 


anzunehmen, sich selbst und die anderen nötigen, ruhiges 
Blut zu bewahren und mit zugedrückten Augen und 
wackeren Mutes wie beim Schneiden und Brennen des 
Arztes still zu halten, den Blick nur auf das Gute und 
Schöne als Ziel gerichtet, unter Verachtung des Schmerz- 
vollen. Hat man also ein Unrecht begangen, das Schläge 
verdient, so muß man sich geduldig schlagen lassen; 
wenn Gefängnis, sich einkerkern lassen; wenn Geldstrafe, 
zahlen; wenn Verbannung, in die Fremde gehen; wenn 
den Tod, sterben, wobei man selbst der erste Ankläger 
ist sowohl gegen sich wie die Seinigen und die Redekunst 
dazu verwendet die Verbrechen aufzudecken und die 
Schuldigen von dem größten Übel zu befreien, von der 
Ungerechtigkeit. Sollen wir dies behaupten oder nicht, 
mein Polos? | 

Polos. Es kommt mir zwar ungereimt vor, mein 
Sokrates, indes stimmt es doch vielleicht in deinem Sinne 
mit den früheren Behauptungen zusammen. 

Sokrates. Entweder müssen wir also die früheren 
Behauptungen aufgeben, oder wir müssen die jetzigen 
Folgerungen anerkennen ? 

Polos. Ja, so ist es. 

Sokrates. Wenn man aber nun umgekehrt in die 
Lage kommt, irgendeinem Menschen Leid zufügen zu 
müssen, sei es einem Feind oder wem sonst — nur hüte 
man sich sorgfältig davor, selbst der Beleidigte zu sein, 
belasse es vielmehr bei dem Fall, daß der Feind einem 
anderen Unrecht zufügt —, muß man auf jede Weise 
durch Tat und Wort es dahin zu bringen suchen, dab er 
keine Strafe erhält und nicht vor den Richter kommt®); 


Siebenunddreißigstes Kapitel. 87 


geschieht dies aber doch, dann muß man alles daran 
setzen, daß er, der Feind, glücklich davon komme und 
frei bleibe von Strafe, daß er also, falls er viel Gold ge- 
raubt, dies nicht zurückerstatte, sondern es behalte und 
es in frevelhafter und gottloser ‚Weise für sich und die 
Seinigen vergeude, und falls er todeswürdige Verbrechen 
begangen hat, nicht zum Tode verurteilt werde, wo mög- 
lich überhaupt nicht sterbe, sondern ein endloses Dasein 
führe in seiner Ruchlosigkeit, wo nicht, doch möglichst 
lange Zeit so fortlebe. Zu solchen Zwecken scheint mir, 
mein Polos, die Rhetorik brauchbar zu sein; denn für 
den, der nicht Unrecht tun will, scheint mir ihr Nutzen 
nicht eben groß zu sein, wenn überhaupt von einem 
Nutzen die Rede sein kann, wie denn im Vorhergehenden 
ein solcher in keiner ‚Weise zutage getreten ist. 


Siebenunddreißigstes Kapitel. 


Kallikles. Sage mir, mein Chairephon, spricht So- 
krates im Ernst so oder treibt er Scherz ? 

Chairephon. Meiner Ansicht nach, mein Kallikles, 
spricht er in vollstem Ernst. Das einfachste aber ist, 
du fragst ihn selbst. 

Kallikles. Ja, bei den Göttern, das ist mein leb- 
hafter Wunsch. — Sage mir, mein Sokrates, wie sollen 
wir’s mit dir jetzt halten? Meinst du es ernst oder treibst 
du nur Scherz? Denn wenn du es ernst meinst und das, 
was du sagst, tatsächlich wahr ist, wäre dann nicht dies 
unser menschliches Leben völlig auf den Kopf gestellt? 
Ist nicht die Art, wie wir tatsächlich handeln, dem An- 
schein nach genau das Gegenteil von dem, was (nach 
deiner Ansicht) geschehen sollte ? 

Sokrates. Mein Kallikles, wenn die Menschen sich 
nicht eins wüßten in Beziehung auf einen bestimmten 
Zustand, mag er für die einen dieser, für die anderen 
ein anderer sein, vielmehr jemand sich in einem nur ihm 


88 Platons Gorgias, 


eigentümlichen, von dem aller anderen verschiedenen Zu- 
stande befände, dann wäre es nicht leicht, dem anderen 
seinen eigenen Zustand klar zu machen. Ich sage das 
im Hinblick darauf, daß ich und du uns jetzt tatsächlich in 
dem nämlichen Zustand befinden: wir sind beide verliebt 
und beide von doppelter Liebe erfüllt, ich zu Alkibiades, 


des Kleinias Sohn, und zu der Philosophie, du aber zu 


dem Volk (Demos) der Athener und zu dem Sohn (Demos) 
des Pyrilampes. Nun bemerke ich bei dir immer wieder, 
daß du trotz deiner großen Begabung, was auch deine Lieb- 
linge sagen mögen, und zu welcher Ansicht sie sich auch 
bekennen mögen, ihnen nicht widersprechen kannst, 
sondern dich hin und her windest. Wenn du nämlich in 
der Volksversammlung eine Ansicht vorträgst, die das 
Volk der Athener nicht billigt, dann schwenkst du um 
und redest ihnen nach dem Munde, und mit dem jugend- 
lich schönen Sohn des Pyrilampes geht es dir ganz 
ebenso). Denn du bist nicht imstande den Anschlägen 
und Reden deiner Lieblinge entgegenzutreten. Wenn sich 
also einer über das Ungereimte deiner Reden wundert, 
die du immer wieder ihnen zuliebe hältst, so würdest du 
ihm, wolltest du die Wahrheit sagen, vielleicht erwidern, 
wenn es nicht einem gelinge deinen Liebling von diesen 
seinen Reden abzubringen, so würdest auch du nimmer 
ablassen, so zu reden. Du mußt es also für durchaus in 
der Ordnung halten, von mir ganz Ähnliches zu hören, 
und darfst dieh nicht wundern, daß ich so rede, sondern 
mußt meinen Liebling, die Philosophie, davon abbringen 
so zu reden. Denn sie sagt, mein lieber Freund, stets das, 
was du jetzt von mir hörst, und erweist sich mir weit 
weniger veränderungssüchtig als der andere Liebling. 
Denn des Kleinias Sohn hier redet bald so bald so, die 
Philosophie aber stets auf die nämliche Weise. Sie sagt 
aber das, worüber du dich jetzt wunderst, und doch warst 
du ja selbst Zeuge der ganzen Untersuchung. Entweder 
also mußt du jene, die Philosophie, widerlegen, wie ich 
kurz vorher sagte‘), und dartun, daß Unrechttun und für 


Achtunddreißigstes Kapitel. 89 


getanes Unrecht nicht bestraft werden nicht das aller- 
größte Übel sei; oder, wenn du dieses unwiderlegt läßt, 
dann, mein Kallikles, wird, wahrlich beim Hund, dem 
ägyptischen Gott“), Kallikles nicht mit dir überein- 
stimmen, sondern sein Lebenlang mit dir im Zwiespalt 
sein®). Und doch, mein Bester, möchte ich sehr viel lieber, 
daß meine Leier verstimmt und mißtönend wäre und ein 
Chor, den ich zu leiten hätte, und daß die meisten Men- 
schen nicht mit mir derselben Ansicht wären, sondern mir 
widersprächen, als daß ich, ich einer, mit mir nicht 
in Einklang wäre und mir widerspräche. 


= - -..--. 


Achtunddreißigstes Kapitel. 


Kallikles. Mein Sokrates, deine Reden verraten 
eine ziemlich übermütige Laune und du zeigst dich als 
wirklichen Volksredner. Auch das, was du jetzt hier 
vorträgst, klingt wie eine Rede vor dem Volk), wobei es 
dem Polos ebenso erging, wie es, nach des Polos eigenem 
Zeugnis, dem Gorgias dir gegenüber erging. Denn — so 
sagte er — Gorgias, von dir gefragt, ob er einem, der sein 
Schüler in der Rhetorik werden wolle und noch ohne 
Kenntnis von dem Wesen der Gerechtigkeit sei, dieseKennt- 
‘ nis beibringen werde, habe aus einem gewissen Scham- 
gefühl diese Frage bejaht, nämlich um nicht zu ver- 
stoßen gegen die gewöhnliche Sinnesart der Menschen, 
die es einem übel auslegen, wenn man dies verneint. 
Durch dieses Zugeständnis sei er gezwungen worden, sich 
mit sich selbst in Widerspruch zu bringen; du aber 
habest eben daran deine Freude. Und er machte sich 
damals®) mit Recht, wie mir scheinen will, über dich 
lustig. Und jetzt mußte er nun seinerseits das Nämliche 
an sich selbst erleben, und ich bin eben in dieser Beziehung 
gar nicht einverstanden mit Polos, daß er dir einräumte, 
das Unrechttun sei häßlicher als das Unrechtleiden. Denn 
infolge dieses Zugeständnisses fing er sich selbst in seinen 


90 Platons Gorgias. 


eigenen Worten und wurde so von dir mundtot gemacht; 
denn er schämte sich, seine eigentliche Ansicht auszu- 
sprechen. Denn du, mein Sokrates, steuerst tatsächlich, 
unter dem Vorgeben der Wahrheit nachzugehen, auf 
solche unnatürliche und auf die große Masse berechnete 
Sätze los, die der Natur nach nicht schön sind, wohl 


aber der Satzung nach). In der Regel aber steht das mit- 


einander in Widerspruch, die Natur und die. Satzung. 
Wenn also einer aus einem gewissen Schamgefühl nicht 
wagt zu sagen, was er denkt, sieht er sich gezwungen sich 
mit sich selbst in Widerspruch zu setzen. Mit klug be- 
rechneter Benutzung dieses Kunstgriffes treibst nun auch 
du in der Unterredung ein hinterlistiges Spiel: Wenn 
einer bei seiner Behauptung die Satzung im Auge hat, 
richtest du deine Frage unvermerkt so ein, als wäre von 
der Natur die Rede, und wenn er die Natur im Auge hat, 
als wäre von der Satzung die Rede. So machtest du es z. B. 
gleich bei den vorliegenden Fragen über Unrechttun und 


Unrechtleiden: als Polos von dem redete, was der Satzung. 


nach häßlicher ist, verfuhrst du mit der Satzung so, als 
wäre es die Natur‘”). Denn der Natur nach ist häßlicher, 
was auch schlechter ist, nämlich das Unrechtleiden, der 
Satzung nach aber das Unrechttun. Denn wer ein Mann 
ist, der läßt es sich nicht gefallen Unrecht zu leiden, 
sondern nur ein Sklave, für den es besser wäre tot zu sein 
als zu leben, da er nicht imstande ist, wenn er beleidigt 
und gemißhandelt wird, sich selbst zu helfen ®) und ebenso- 
wenig einem anderen, den er lieb hat. Meiner Ansicht 
nach sind es eben die sich schwach Fühlenden unter den 
Menschen und die große Masse, die die Gesetze geben. 
In ihrem eigenen Interesse und zu ihrem Nutzen geben 
sie die Gesetze und teilen Lob und Tadel aus. Um die 
kraftvolleren Menschen, die imstande sind sich Vorteile 
zu verschaffen, einzuschüchtern, und um selbst nicht ins 
Hintertreffen zu kommen, sagen sie, das Übervorteilen sei 
häßlich und ungerecht; und darin eben bestehe das Un- 
rechttun, in dem Streben die anderen zu übervorteilen. 


+ 


Neununddreißigstes Kapitel. 9] 


Denn was sie selbst anlangt, so sind sie als die Schwäche- 
ren, glaube ich, ganz zufrieden, wenn sie nur das Gleiche 
haben ®), 


Neununddreißigstes Kapitel. 


Deshalb wird es nach Satzung für ungerecht und häß- 
lich erklärt nach Übervorteilung der großen Masse zu 
streben, und man nennt dies Unrechttun. Die Natur selbst 
aber, denke ich, gibt deutlich zu erkennen, daß es gerecht 
ist, wenn der Bessere gegen den Schlechteren und der 
Fähigere gegen den Unfähigeren im Vorteil ist. Daß 
dem so ist, zeigt sich in mannigfacher Weise nicht nur 
bei den übrigen Geschöpfen, sondern auch bei den Men- 
schen in den Verhältnissen ganzer Staaten und Ge- 
schlechter: es gilt nämlich da als ausgemachtes Recht, 
daß der Stärkere über den Schwächeren herrsche und gegen 
ihn im Vorteil sei. Auf Grund welches Rechtes wäre 
denn sonst Xerxes gegen Hellas zu Felde gezogen, oder 
sein Vater gegen die Scythen? Und tausend andere Bei- 
spiele der Art könnte man anführen. Kein Zweifel: diese 
Leute handeln nach der Natur und, beim Zeus, nach 
dem Gesetz der Natur, aber freilich nicht nach jenem 
von uns willkürlich aufgestellten Gesetz, auf Grund dessen . 
wir auf die Besten und Kraftvollsten unter uns gleich 
von Jugend auf die Hand legen und sie wie Löwen zu 


.zähmen und zu sänftigen suchen, um sie unterwürfig 


zu machen, unter dem Vorgeben, es müßte Gleichheit 
herrschen und diese sei das Schöne und Gerechte.- Aber 
laßt nur den rechten Mann erstehen, eine wirkliche Kraft- 
natur; der schüttelt all das ab, zerreißt die Fesseln und 
macht sich frei, tritt all unsere Paragraphen, unsere 
Zähmungs- und Besänftigungsmittel und den ganzen 
Schwall widernatürlicher Gesetze mit Füßen und steigt so 
vom Sklaven empor zum glänzenden Herrn über uns: 
da leuchtet denn das Recht der Natur aufs hellste hervor. 


99 Platons Gorgias. 


Auch Pindar’°) scheint mir diese meine Ansicht darzu- 
legen in dem Liede, wo es heißt: 


Das Gesetz, das König ist über alle, 
 Sterbliche wie Unsterbliche. 


Dieses (das Gesetz) aber, sagt er: 


Vollführt ohne Scheu die größte Gewalttat 
Mit machtvoller Hand; das bezeugen 
Des Herakles Taten, denn ungekauft — 


So ungefähr heißt es; denn ich weiß das Gedicht nicht 
auswendig. Der Sinn aber ist, daß er die Rinder des 
Geryones davon trieb, ohne sie zu kaufen, auch ohne sie 
von ihm geschenkt zu bekommen; denn er hielt es für 
natürliches Recht, daß Rinder und aller sonstige Besitz 
der Schlechteren und Schwächeren dem Besseren und 
Stärkeren gehören. 


Vierzigstes Kapitel. 


Mit der Wahrheit also verhält es sich so; das wird 
dir klar werden, wenn du der Philosophie nun endlich 
entsagst und dich wichtigeren Dingen zuwendest. Denn 
die Philosophie, mein Sokrates, hat in der Tat einen ge- 
wissen Reiz, wenn man sich in der Jugend maßvoll mit 
ihr befaßt‘!). Wenn man aber länger als nötig sich mit 
ihr abgibt, so ist sie der Verderb der Menschen. Denn 
wenn einer auch bei noch so hoher Begabung das Studium 
der Philosophie noch lange im Leben weiter treibt, so 
ist die notwendige Folge, daß er unbekannt bleibt mit 
allem, was derjenige kennen muß, der ein Mann von 
Stellung und Ansehen werden will. Denn diese Leute 
bleiben unbekannt mit den im Staate geltenden Gesetzen 
sowie mit den Mitteln der Rede, deren man sich im 
privaten und öffentlichen Geschäftsverkehr mit den Men- 
schen bedienen muß, ingleichen auch mit den mensch- 
lichen Freuden und Leidenschaften und überhaupt voll- 


-- 


Vierzigstes Kapitel. 93 


ständig unbekannt mit der Sinnesart der Menschen. ‚Wenn 
sie also in die Lage kommen irgendwelches persönliche 
oder staatliche Geschäft zu erledigen, machen sie sich 
lächerlich, ganz so, wie umgekehrt die Staatsmänner sich 
lächerlich machen, wenn sie etwa bei euren Übungen 
und Verhandlungen sich einfinden wollten. Denn hier 
trifft das ‚Wort des Euripides’??) zu, wenn er sagt: 


Es glänzt und sucht ein jeder seinen Ruhm in dem, 
Und wendet dem den größten Teil des Tages zu, 
Wo er sich ganz zu Haus und Meister fühlt. 


. Worin er sich dagegen schwach fühlt, das meidet er und 


schmäht es, während er das andere lobt, aus Eigenliebe, 
weil er glaubt, so sich selbst zu loben. Das Richtigste 
aber ist doch wohl, an beiden Anteil zu haben. Von 
Philosophie soviel zu verstehen, als die Bildung fordert, 
ist eine löbliche Sache und in jungen Jahren sich mit 
Philosophie zu beschäftigen ist keine Schande. Wenn 
der Mensch aber schon älter wird und immer noch Philo- 
sophie treibt, so macht er sich, mein Sokrates, allmählich 
lächerlich. Mir geht es gegenüber den der Philosophie 
Beflissenen ähnlich wie gegenüber den Stammelnden und 
sich kindisch Gebärdenden. Denn wenn ich ein Kind, 
dem seine Unfertigkeit im Sprechen noch wohl ansteht, 
stammeln und sich kindisch anstellen sehe, dann habe . 
ich meine Freude daran’®) und es scheint mir lieblich und 
unbefangen und entsprechend dem Alter des Kindes, 
während, wenn ich es sich völlig deutlich ausdrücken 
höre’®), dies für mein Gefühl etwas Unbehagliches hat; 
es beleidigt mein Ohr und erinnert mich an sklavische 
Sinnesart. Wenn man aber einen Mann stammeln hört 
und sich kindisch gebärden sieht, so erscheint das lächer- 
lich und unmännlich und man möchte zum Stocke greifen. 
Ebenso nun geht es mir mit den Philosophiebeflissenen. 
‚Wenn ich bei einem noch heranreifenden Jüngling philo- 
sophischen Trieb wahrnehme, so macht mir das Freude 
und scheint mir am Platze zu sein, und ich halte den 


94 Platons Gorgias. 


Betreffenden für einen Menschen von edler und freier 
Sinnesart, den der Philosophie Abholden aber für einen 
unedlen Menschen, der sich niemals irgendeiner schönen 
und edlen Aufgabe gewachsen fühlen wird. Wenn ich 
aber nun einen Älteren noch mit der Philosophie be- 
schäftigt sehe, so daß er sich nicht davon losmachen 


kann, so scheint mir für diesen Mann der Stock am Platze 


zu sein, mein Sokrates. Denn solch ein Mensch verfällt, 
wie eben bemerkt’5), mag er auch noch so begabt sein, 
unausbleiblich der Unmännlichkeit, da er die Brennpunkte 
des öffentlichen Lebens und die Märkte meidet, wo, wie 
der Dichter sagt (Il. 1, 441), die Männer ihre Treftlichkeit 
bewähren, und es trifft ihn das Schicksal, in stiller Zurück- 
gezogenheit in einem Winkel flüsternd mit drei oder vier 
Bürschchen sein weiteres Leben zuzubringen; ein freies und 
lautes und keckes Wort kommt aber niemals über seine 
Lippen. 


Einundvierzigstes Kapitel. 


Ich aber, mein Sokrates, habe dich herzlich lieb. Es 
scheint nun mir dir gegenüber so zu ergehen, wie dem 
Zethos des eben erwähnten Euripides gegenüber dem 
Amphion; denn es treibt mich, eine Sprache gegen dich zu 
führen, ähnlich der des Zethos, nämlich: Du läßt, Sokrates, 
das unbeachtet, dem du deine ganze Sorge zuwenden 
müßtest, und machst eine so edle Geistesanlage durch 
knabenhaftes Gebaren ihrer eigentlichen Bestim- 
mung abwendig; und weder in des Rechtes Rat könntest 
du deiner Meinung richtig Ausdruck geben, noch glaub- 
haft und wirksam reden, noch einem anderen einen herz- 


haften Rat geben. Indes, mein lieber Sokrates — und 
lege es mir nicht übel aus, denn nur, weil ich dir wohl 
will, sage ich es — scheint dir dies Verhalten nicht 


schimpflich zu sein, das du meiner Meinung nach zeigst 
und ebenso die anderen, die sich zu lange mit der Philo- 
sophie abgeben? Denn wenn jetzt einer dich oder irgend- 


Zweiundvierzigstes Kapitel. 95 


einen anderen deinesgleichen festnähme und ins Gefängnis 
schleppte’®), indem er dich fälschlich eines Verbrechens 
beschuldigte, so wüßtest du dir nicht im mindesten zu 
helfen, sondern würdest den Kopf verlieren und den Mund 
aufsperren ohne etwas sagen zu können, und vor die Richter 
gestellt und von einem rechten Erzschurken angeklagt, 
würdest du nun zum Tode verurteilt werden, wenn er 
diesen Antrag stellen wollte. Und das soll weise sein, 
mein Sokrates, wenn eine Kunst den Mann nur 
schlechter macht, der wohlbegabt von ihr emp- 
fangen ward, so daß er weder sich selbst zu helfen und 
sich aus den größten Gefahren zu retten imstande ist, noch 
irgendeinen anderen, sondern von seinen Feinden um sein 
ganzes Vermögen gebracht wird und völlig entehrt im 
Staate lebt? Einem solchen Tropf kann man, derb ge- 
sprochen, einen Backenstreich geben, ohne daß man dafür 
bestraft wird. Aber, mein Guter, folge mir, laß ab vom 
‚Widerlegen und übe die edle Kunst der Staatsgeschäfte 
und übe, was dir das Ansehen der Klugheit gibt 
und überlaß anderen diese gekräuselten Redens- 
arten oder Nichtigkeiten oder wie man sie nennen soll, 
die deinem Hause keinen Deut einbringen’), und 
eifre nicht Männern nach, die sich mit der ‚Widerlegung 
solcher Lappalien abgeben, sondern solchen, denen Ver- 
‘ mögen, Ruhm und viele andere Güter zur Verfügung 
stehen. 


Zweiundvierzigstes Kapitel. 


Sokrates. Wenn ich etwa eine goldene Seele hätte, 
mein Kallikles, sollte ich mich da nicht freuen, wenn 
ich einen jener Steine fände, an denen man das Gold 
prüft, und zwar den besten? Denn wenn sich meine 
Seele bei der prüfenden Berührung mit diesem Steine 
als wohl gebildet erwiese, dann würde ich genau wissen, 
daß ich mit ihr zufrieden sein kann und daß ich keiner 
anderen Prüfung bedarf. 


96 Platons Gorgias. 


Kallikles. Was willst du mit dieser Frage, mein 
Sokrates ? 

Sokrates. Du sollst es hören: einen solchen Glücks- 
fund glaube ich jetzt getan zu haben, da ich dich ge- 
funden habe. 

Kallikles. ‚Wieso? 


Sokrates. Wenn du beistimmend billigst, was meine 


Seele an Gedanken in sich hegt, so weiß ich bestimmt, 
daß sie die lautere Wahrheit sind. Denn nach meiner 
Ansicht muß derjenige, der durch Prüfung ein sicheres 
Urteil darüber gewinnen will, ob eine Seele in der rich- 
tigen Verfassung ist oder nicht, füglich drei Eigenschaften 
besitzen, die du alle hast: sicheres Wissen, Wohlwollen 
und Freimut. Denn ich finde viele, die nicht imstande 
sind mich zu prüfen, weil sie nicht weise sind wie du. 
Ändere sind zwar weise, wollen mir aber nicht die Wahr- 
heit sagen, weil sie mich nicht so lieb haben wie du. 
Unsere beiden Gäste aber hier, Gorgias und Polos, sind 
zwar weise und mir befreundet, aber es fehlt ihnen an 
Freimut und ihre Scheu sich bloßzusteilen geht weit über 
das rechte Maß hinaus. Liegt das nicht am Tage? Gingen 
sie doch in dieser ihrer Scheu so weit, daß aus reiner 
Schamhaftigkeit erst der eine, dann der andere es über 
sich gewinnt in Gegenwart zahlreicher Menschen sich 
selbst zu widersprechen und zwar rücksichtlich der aller- 
wichtigsten Fragen. In dir aber findet sich alles das 
vereinigt, was die anderen nicht haben, denn du hast 
hinreichende Bildung, was zahlreiche Athener wohl be- 
stätigen würden, und bist mir wohlwollend. Was hasse 
ich für einen Beweis dafür? Ich will es dir sagen. Denn 
ich weiß, mein Kallikles, daß ihr vier euch zu einem 
Bund zusammengetan habt im Streben nach Weisheit, 
du und Tisandros aus Aphidnä und Andron, des Androtion 
Sohn, und Nausikydes aus Cholargeis’®). Denn ich hörte 
einst einer Besprechung von euch zu über die Frage, wie 
weit man sich mit der Weisheit befassen müsse, und 
erinnere mich recht wohl, daß unter euch die Meinung 


Zweiundvierzigstes Kapitel, 97 


durchdrang, man dürfe nicht zu gründlich philosophieren ; 
vielmehr gabt ihr euch gegenseitig den Rat, ja nicht durch 
Erhöhung eurer Weisheit über das nötige Maß hinaus 
euch unvermerkt ins Verderben zu stürzen. Da ich nun 
höre, daß du mir ganz denselben Rat erteilst wie deinen 
vertrautesten Genossen, so ist mir das ein ausreichender 
Beweis dafür, daß du mir wohlgesinnt bist. Und dab du 
imstande bist freimütig zu reden und ohne Scham, das 
sagst du ja selbst und deine vorhin gegebenen Aus- 
führungen bezeugen es dir. Es steht also jetzt in dieser 
Beziehung so: Wenn du in den nunmehrigen Verhand- 
lungen mir in einem Punkte beistimmst, so muß dieser 


_ als hinreichend geprüft von mir und dir gelten und man 


er 


braucht ihn an keinem anderen Prüfstein zu erproben. 
Denn du wirst es mir doch nicht etwa aus Mangel an 
‚Weisheit einräumen oder unter dem Drucke der Scham, 
ebensowenig aber auch, um mich zu täuschen; denn du 
hast mich ja lieb, wie du ja selbst sagst. Es wird also 
unsere beiderseitige Übereinstimmung in der Tat die vollste 
Gewähr der Wahrheit bieten. Es gibt aber keine schönere 
Untersuchung, mein Kallikles, als die, die sich auf deinen 
gegen mich gerichteten Tadel bezieht, nämlich auf die 


. Frage, was man für Eigenschaften von einem richtigen 
 Manne fordern müsse und was er treiben müsse und wie- 


weit, in älteren und in jüngeren Jahren. Denn wenn ich 
mit meiner Lebensführung irgendwie nicht auf dem rich- 
tigen Wege bin, so kannst du glauben, daß ich diesen 
Fehler nicht freiwillig begehe, sondern aus Unwissen- 
heit meinerseits. Fahre also fort mich zu warnen, wie 
du begonnen, und zeige mir in vollem Umfang das Wesen 
der Lebensrichtung, die du mir empfiehlst, und auf welche 
‚Weise ich sie mir aneignen kann. Und solltest du finden, 
daß ich jetzt dir beistimme, späterhin aber nicht durch 
die Tat genau das bewähre, was ich jetzt zugab, so magst 
du mich für einen Tropf halten und dir jede weitere War- 
nung an mich ersparen als an einen völlig Unwürdigen. 
‚Wiederhole mir aber von vorn: Wie verhält es sich 
Platon. Gorgias. Phil. Bibl Bd. 148. 7 


98 Platons Gorgias. 


mit der der Natur gemäßen Gerechtigkeit nach deiner 
und des Pindar Meinung? Nicht so, daß der Stärkere 
die Habe der Geringeren raube und der Bessere über 
die Schlechteren herrsche und der Tüchtigere gegen den 
Untüchtigeren im Vorteil sei? Verstehst du unter Ge- 
rechtigkeit etwas anderes oder habe ich recht mit meiner 
‚Wiederholung ? | 


Dreiundvierzigstes Kapitel. 


Kallikles. Ja, das behauptete ich damals’) und 
behaupte es auch jetzt. 

Sokrates. Nennst du aber den närn LIEBER besser und 
stärker? Denn es war mir damals nicht möglich, deutlich 
zu erkennen, wie du es meinst. Nennst du die Kräftigeren 
stärker und müssen die Schwächlicheren dem Kräftigeren 
sich fügen? In diesem Sinne wiesest du doch wohl auch 
im Vorhergehenden darauf hin, dab die großen Staaten 
nach dem naturgemäßen Recht gegen die kleinen zu 
Felde ziehen, weil sie stärker sind und kräftiger, wobei 
„stärker“ und „kräftiger“ und „besser“ als identisch zu 
denken sind; oder ist es möglich, besser zu sein und doch 
geringer und schwächlicher, und stärker zu sein, aber 
doch schlechter? Oder haben „besser“ und „stärker“ ge- 
nau dieselbe Bedeutung? Eben darüber mußt du eine 
ganz bestimmte Erklärung abgeben, ob stärker und besser 
und kräftiger identisch sind oder verschieden. 

Kallikles. Nun gut, ich erkläre bestimmt, daß sie 
identisch sind. 

Sokrates. Ist nicht die große Menge von Natur 
stärker als der Einzelne? Sie ist es doch auch, welche 
die Gesetze gibt zur Niederhaltung des Einen, wie du 
eben sagtest. 

Kallikles. Ja, gewiß. 

Sokrates. Die Gesetzesbestimmungen der großen 
Menge sind also die der Stärkeren ? 


St. 


[πὸ 


Dreiundvierzigstes Kapitel. 99 


Kallikles. Allerdings. 

Sokrates. Also doch auch die der Besseren? Denn 
die Stärkeren sind nach deiner Behauptung die Besseren. 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Also sind doch die Gesetzesbestimmungen 
lieser von Natur schön, da sie ja die der Stärkeren sind? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Ist es nun nicht die Ansicht der großen 
Menge, wie du ja eben sagtest®%), Recht sei. die Gleich- 
heit und es sei schimpflicher, Unrecht zu tun als Unrecht 
zu leiden? Steht es so oder nicht? Und laß dich hierbei 
ja nicht etwa deinerseits®!) auf einer Schamhaftigkeit 
ertappen. Ist die große Menge dieser Ansicht oder ist 
sie es nicht, daß Gleichheit, nicht Übervorteilung Recht 
sei und daß das Unrechttun häßlicher sei als das Un- 
rechtleiden ? Enthalte mir diese Antwort nicht vor, mein 
Kallikles, damit, wenn du mir beistimmst, ich mich zur 
Bestätigung meiner Ansicht auf dich berufen kann, als 
auf einen durchaus urteilsfähigen Mann, der mir beige- 
stimmt hat. 

Kallikles. Ja, das ist die Ansicht der großen Menge. 

Sokrates. Nicht also nur dem Gesetze nach ist 
das Unrechttun häßlicher als das Unrechtleiden und nicht 


bloß dem Gesetze nach ist Recht Gleichheit, sondern _ 


auch von Natur. Wie es scheint, hast du also nicht 
recht mit deiner früheren Äußerung®) und klagst mich 
ohne Grund an durch die Behauptung, Gesetz und Natur 
stünden miteinander in Widerspruch und das wüßte ich 
recht wohl und stützte darauf mein hinterlistiges Ver- 
fahren in der gemeinsamen Untersuchung: wenn näm- 
lich einer die Natur meine, dann spiele ich die Sache 
auf das Gesetz hinüber, wenn aber einer das Gesetz meine, 
dann auf die Natur. 


Tr 


100 Platons Gorgias. 


Vierundvierzigstes Kapitel. 


Kallikles. Daß der Mann doch nicht von seinen 
Narrenspossen lassen kann! Sage mir, mein Sokrates 
schämst du dich nicht, bei deinen Jahren solche Wort- 
klauberei zu treiben, und wenn sich einer im Ausdruck 
vergreift, dies wie einen Glücksfund anzusehen? Denn 
glaubst du denn, daß ich unter Stärkersein etwas anderes 
verstehe als unter Bessersein? Versichere ich dir nicht 
schon lange, daß ich besser und stärker für dasselbe 
halte? Oder glaubst du etwa, ich wolle behaupten, wenn 
sich ein Haufe von Sklaven und allerlei nichtsnutzigem 
Gesindel versammelt, das höchstens durch Körperkraft 
etwas ausrichten kann, so sollte das, was diese etwa an- 
ordnen, Gesetzeskraft haben ἢ 

Sokrates. Wohl denn, mein hochweiser Kallikles; so 
meinst du? 

Kallikles. Ja, gewiß. 

Sokrates. Aber ich, mein Hochverehrter, vermute 
ja selbst schon längst, daß dir bei ‚stärker‘ so etwas 
vorschwebt, und gerade um deine Meinung deutlich zu 
erfahren, frage ich eben zu wiederholten Malen. Denn du 
bist doch nicht etwa der Meinung, zwei seien besser als 
einer oder deine Sklaven seien besser als du, weil sie 
kräftiger sind als du. Aber sage nun noch einmal, was 
du eigentlich unter den Besseren verstehst, da du nicht 
die Kräftigeren damit meinst. Und, mein Lobenswerter, 
schlag einen freundlicheren Ton bei deinen Belehrungen 
an, damit ich dir nicht aus der Schule laufe. 

Kallikles. Du wirst ironisch, mein Sokrates. 

Sokrates. Nein, mein Kallikles, beim Zethos, der 
dir eben zu einem so reichen Erguß von Ironie gegen 
mich verhelfen mußte, nein, ich will nur von dir wissen, 
wen du unter den Besseren verstehst. 

Kallikles. Die Tüchtigeren. 

Sokrates. Da siehst du nun, daß du selbst ein 
bloßes Spiel mit Worten treibst, aber keinen klaren Auf- 


St 


Fünfundvierzigstes Kapitel. 101 


schluß gibst. Willst du nicht sagen, ob du unter den 
Besseren und Stärkeren die Einsichtigeren verstehst oder 
andere ? 

Kallikles. Nun, beim Zeus, eben diese verstehe ich 
darunter und zwar mit voller Sicherheit. 

Sokrates. Oft also ist ein Einsichtiger nach deiner 
Meinung stärker als Tausende von Einsichtslosen ; dieser 
Eine nun muß herrschen, die anderen müssen gehorchen 
und der Herrscher muß im Vorteil sein gegen die Be- 
herrschten — denn das scheinst du mir sagen zu wollen, 
und ich treibe dabei keine Wortklauberei —, sofern der 
Eine stärker ist als die Tausende. 

Kallikles. Ja, so meine ich’s, denn das halte ich 
für das natürliche Recht, daß man als der Bessere und 
Einsichtigere über die Untüchtigeren herrsche und das 
Übergewicht über sie habe. 


Fünfundvierzigstes Kapitel. 


Sokrates. Hier mache ein wenig Halt. Was be- 
sagt eigentlich diese deine Behauptung? Angenommen, 
wir befänden uns in großer Zahl, wie hier jetzt, in einem 
Raum beisammen und hätten reichlich Speise und Ge- 
tränke zu gemeinsamer Verwendung, wären aber der Art 


‘ nach mannigfach verschieden, die einen kräftig, die anderen 


schwächlich, einer aber unter uns, weil Arzt, besäße in 
dieser Beziehung mehr Einsicht, wäre aber, wie zu er- 
warten, kräftiger als die einen, schwächlicher als die 
anderen, wird dieser nicht, weil einsichtsvoller als wir, 
besser und stärker hinsichtlich der eh; sein, um die 
es sich da handelt? 

Kallikles. Allerdings. 

Sokrates. Soll er nun von diesen Speisen mehr 
bekommen als wir, weil er besser ist, oder soll er als 
Herrschender zwar alles verteilen, aber in bezug auf Ver- 
wendung und Aufbrauchen für seinen eigenen Leib nichts 
voraus haben, wenn er nicht schlimme Folgen verspüren 


102 Platons Gorgias. 


soll? Vielmehr muß doch für ihn gelten: mehr als die 
einen, weniger als die anderen. Will es aber der Zufall, 
daß er von allen der Schwächlichste ist, dann muß er, 
der Beste, doch von allen am wenigsten bekommen. Nicht 
wahr, mein Guter 88). 

Kallikles. Um Speisen und Getränke und Ärzte 
und Albernheiten drehen sich deine Reden; davon rede 
ich nicht. 

Sokrates. Verstehst du unter dem Verständigeren 
den Besseren? Ja oder nein. | 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Aber meinst du nicht, daß der Bessere 
mehr haben muß? 

Kallikles. Ja, aber nicht an Speisen und Getränken. 

Sokrates. Ich verstehe; aber vielleicht an Gewändern, 
und der beste Weber muß das größte Gewand bekommen 
und muß mit den meisten und schönsten Gewändern ange- 
tan umherstolzieren ? 

Kallikles. Ach was, ee 

Sokrates. Aber an Schuhen muß doch wohl der 
ein Mehr haben, der in dieser Beziehung der Einsichts- 
vollste und Beste ist. Der Schuhmacher also muß wohl 
mit den größten und meisten Schuhen angetan umher- 
wandeln ? 

Kallikles. Laß mich in Ruhe mit deinen Schuhen! 
Du bringst ja nichts als Albernheiten zutage. 

Sokrates. Nun, wenn du es nicht so meinst, dann 
vielleicht so: du denkst etwa an einen Landwirt, der 
ein kundiger und tüchtiger Pfleger des Bodens ist; dieser 
also muß vielleicht mehr Samen haben und für sein 
Land am meisten Samen verbrauchen ? 

Kallikles. Immer bringst du wieder dasselbe vor, 
mein Sokrates. | 

Sokrates. Nicht nur dasselbe, mein Kallikles, son- 
dern auch über dieselben Sachen). 

Kallikles. .Wahrlich, bei den Göttern, unaufhör- 491 


Sechsundvierzigstes Kapitel. 103 


lich redest du von Schustern und Walkern und Köchen 
und Arzten, als ob von diesen die Rede wäre. 

Sokrates. Nun, so sage du doch, in welcher Beziehung 
man stärker und einsichtsvoller sein muß, um mit Recht 
mehr zu bekommen. Oder willst du weder meine Anregung 
dir gefallen lassen noch selbst Auskunft geben? 

Kallikles. Nun, ich gebe sie ja schon lange. Die 
wirklich Stärkeren sind meiner Meinung nach nicht 
Schuster oder Köche, sondern diejenigen, die in bezug auf 
die staatlichen Angelegenheiten einsichtsvoll sind und in 
bezug auf die beste Art ihrer Verwaltung, und nicht nur 
einsichtsvoll, sondern auch tatkräftig, indem sie ihre Ge- 
danken auch zur Ausführung zu bringen wissen und 
nicht ermatten infolge weichlicher Gemütsart. 


Sechsundvierzigstes Kapitel. 


Sokrates. Siehst du, mein bester Kallikles, daß es 
nicht die gleichen Vorwürfe sind, die wir uns gegen- 
seitig machen? Du nämlich behauptest, ich sage immer 
dasselbe, und tadelst mich deshalb; ich aber mache dir den 
entgegengesetzten Vorwurf, nämlich daß du niemals das- 
selbe sagst über die nämliche Sache, sondern einmal er- 
klärtest du die Besseren und Stärkeren als die Kräftigeren, 
dann wieder als die Einsichtigeren, und jetzt kommst 
du wieder mit etwas Neuem; als Tatkräftigere werden von 
dir die Stärkeren und Besseren bezeichnet. Aber, mein 
Guter, mache nun der Sache ein Ende und sage, wen 
du eigentlich unter den Besseren und Stärkeren verstehst 
und in welcher Beziehung. 

Kallikles. Ich hab’ es ja schon gesagt: diejenigen, 
die hinsichtlich der Staatsgeschäfte einsichtsvoll und tat- 
kräftig sind. Denn ihnen ziemt es über die Staaten zu 
herrschen, und das Recht besteht darin, daß sie vor den 
anderen im Vorteil sind, die Herrscher vor den Be- 
herrschten. 


104 Platons Gorgias, 


Sokrates. Wie aber steht es mit ihnen im Verhältnis 
zu sich selbst, mein Freund? Wie mit der Frage, ob 
sie da entweder Herrscher oder Beherrschte sind ἢ 85) 

Kallikles. Wie meinst du das? 

Sokrates. Ich meine, inwiefern ein jeder Herrscher 
über sich selbst ist. Oder wäre das nicht nötig, über sich 
selbst zu herrschen, wohl aber über andere? | 

Kallikles. Was meinst du mit der Herrschaft über 
sich selbst ? 

Sokrates. Nichts Überraschendes, sondern wie man 
es gemeinhin versteht, daß man maßvoll ist und die Ge- 
walt über sich selbst hat, indem man die Lüste und Be- 
gierden in sich beherrscht. 

Kallikles. Wie naiv bist du! Du meinst die 
Schwachköpfe, die Maßvollen ? 

Sokrates. Selbstverständlich. Es kann doch nie- 
mand verkennen, daß ich dies meine. 

Kallikles. O doch, Sokrates, erst recht. Denn wie 
könnte denn irgend jemand glücklich sein, der irgend- 
einem gehorchen muß? Nun, das naturgemäße Schöne 
und Gerechte ist das, was ich dir jetzt in freimütigen 
Worten verkünde: Wer richtig leben will, muß seine 
Begierden so groß wie möglich werden lassen ohne 
ihnen einen Zügel anzulegen; sind sie aber so groß wie 
möglich, so muß er imstande sein, ihnen mit Tapferkeit 
und Klugheit zu dienen und alles, wonach sich die Be- 
gierde regt, zur Stelle zu schaffen. Aber dies ist"natürlich 
den meisten nicht möglich. Daher tadeln sie die Ver- 
treter dieser Richtung und verbergen aus Scham unter 
diesem Tadel ihre eigene Ohnmacht und erklären die 
Zügellosigkeit für häßlich. Und so suchen sie denn, wie 
ich früher bemerkte®), die von Natur besseren Menschen 
sich unterwürfig zu machen, und selbst nicht imstande 
ihren Lüsten Befriedigung zu verschaffen, loben sie die 
Mäßigung und Gerechtigkeit aus keinem anderen Grund 
als weil sie selbst feige sind. Denn wer von vornherein 
das Glück hatte entweder ein Königssohn zu sein oder von 


492 S 


Siebenundvierziestes Kapitel. 105 


der Natur mit der Kraft ausgerüstet zu sein, um sich 
selbst zum Herrscher oder Tyrannen oder Machthaber zu 
machen, was stünde einem solchen Mann schlechter und 
schimpflicher an als Mäßigung? Sie, denen der Ge- 
nuß aller Güter freisteht und nichts im Wege steht, 
sollen selbst das Gesetz und das Gerede und den Tadel 
der großen Menge zum Herrn über sich machen? Oder 
sollten sie nicht unglückliche Menschen werden durch die 
Herrlichkeit der Gerechtigkeit und Mäßigung, bei der sie 
ihren Freunden nicht mehr Gutes zukommen lassen sollen 
als ihren Feinden und noch dazu als Herrscher im 
eigenen Staate? Du, mein Sokrates, behauptest immer 
der Wahrheit nachzugehen; in Wahrheit nun verhält es 
sich folgendermaßen: Üppigkeit, Zügellosigkeit und Frei- 
heit, wenn ihnen alle Hilfsquellen offen stehen, das ist 
Tugend und Glück, das andere aber, diese eure schönen 
Benennungen und widernatürlichen menschlichen Ab- 
machungen, ist eitel Wind und nichtig. 


Siebenundvierzigstes Kapitel. 


Sokrates. Recht mannhaft, mein Kallikles, stürmst 
du in freimütiger Rede an; denn unverblümt sagst du 
jetzt, was die anderen zwar denken, aber nicht sagen 
wollen. Ich bitte dich nun in deinem Eifer ja nicht nach- 
zulassen, damit es in Wahrheit offenbar werde, wie wir 
unser Leben gestalten müssen. Und sage mir denn: deiner 
Meinung zufolge darf man die Begierden nicht im Zaume 
halten, wenn man ein menschenwürdiges Dasein führen 
will, sondern muß sie so groß als möglich werden lassen 
und ihnen aus allen möglichen Quellen Befriedigung 
schaffen, und das ist Tugend ? 


Kallikles. Das ist meine Meinung. 


Sokrates. Also mit Unrecht sagt man, diejenigen 
seien glücklich, die nichts bedürfen 981) 


106 Platons Gorgias. 


Kallikles. Da wären ja die Steine und die Toten 


am glücklichsten. 


Sokrates. Aber auch wie du das Leben auffaßt, steht 
es schlimm damit. Denn es sollte mich nicht wundern, 
wenn Euripides recht hätte mit seinem Spruch) 


. Wer weiß, ob nicht das Leben nur ein Sterben ist, 
Das Sterben aber Leben’? 


und ob wir in der Tat nicht vielleicht tot sind. Auch 
von irgendeinem Weisen habe ich schon gehört, daß wir 
jetzt tot seien und daß unser Leib unser Grabmal sei 
und daß der Teil der Seele, in dem die Begierden ihren 
Sitz haben, der Überredung zugänglich sei und herüber 
und hinüber schwanke. Und dies brachte ein geistvoller 
Mann, ein Sizilier vielleicht oder ein Italiker, in mythischer 
Form zur Anschauung und nannte ihn mit einem auf die 
Sache hindeutenden Namen wegen seiner Faßbarkeit und 
seiner durch Überredung bestimmbaren Verfassung Faß, 
und die Einsichtslosen die Weihelosen. Bei den Weihe- 
losen aber sei der Teil der Seele, dem die Begierden ange- 
hören, also das Zügellose und Undichte, ein durch- 
löchertes Faß, ein Vergleich, der von der Unersättlich- 
keit hergenommen ist. Also das gerade Gegenteil von 
deiner Behauptung, mein Kallikles, scheint dieser zu be 
weisen, nämlich daß von den Bewohnern des Hades — 
mit dem er offenbar das Unsichtbare meint — diese Un- 
eingeweihten die unglücklichsten sind, und daß sie in 
das durchlöcherte Faß Wasser tragen mit einem gleich- 
falls durchlöcherten Gefäß, nämlich einem Sieb. Mit dem 
Sieb aber meinte er, wie mein Gewährsmann sagte, Jie 
Seele. Die Seele aber der Einsichtslosen verglich er als 
durchlöchert mit einem Siebe, da sie nichts festhalten 
kann wegen ihrer Unzuverlässigkeit und Vergeßlichkeit®?). 
Das klingt freilich etwas ungereimt, läßt. aber doch er- 
kennen, was ich dir dartun will, um dich womöglich zu 
überreden, deine Ansicht zu ändern, nämlich an Stelle 
des unersättlichen und zügellosen Lebens das maßvolle 


Achtundvierzigstes Kapitel. 107 


und mit dem Vorhandenen sich immer begnügende und 
damit auskommende Leben zu erwählen. Aber richte ich 
mit meiner Überredungskunst bei dir auch etwas aus 
und änderst du deine Ansicht dahin, daß die Maßvollen 
glücklicher sind als die Zügellosen, oder wirst du, wenn 
ich auch in noch so vielen anderen mythologischen Bil- 
dern zu dir rede, deine Ansicht gleichwohl nicht ändern ? 

Kallikles. Dies letztere trifft eher zu, mein Sokrates. 


Achtundvierzigstes Kapitel. 


Sokrates. Wohlan denn, so laß dir jetzt ein anderes 
Bild gleichen Schlages®) vorführen wie das eben mit- 
geteilte. Sieh zu, ob dir etwa folgende Ansicht über die 
beiden Lebensrichtungen, die maßvolle und die zügellose, 
einleuchtet. Nimm an, von zwei Männern hätte ein jeder 
zahlreiche Fässer und bei dem einen wären sie heil und 
voll, das eine voll Weines, das andere voll Honigs, ein 
drittes voll Milch und so noch viele mit vielerlei ange- 
füllt, die Flüssigkeiten aber für ein jedes von ihnen wären 
rar und verborgen!) und nur mit vielen Beschwerden und 
Mühen zu beschaffen. Wenn nun dieser erstere sie ge- 
füllt hätte, so würde er weder weiter zugießen noch sich 
irgendwelche Sorge machen, sondern würde, was das an- 
langt, völlig unbekümmert sein. Für den anderen gilt 
dies zwar auch wie bei jenem, daß die Flüssigkeiten 
wohl beschafft werden können, wenn auch nur mit Mühe, 
aber die Gefäße (die Fässer) sind durchlöchert und schad- 

4 st. haft, und er sieht sich genötigt sie Tag und Nacht immer 
wieder zu füllen, wofern er nicht die äußerste Pein er- 
dulden will. Angenommen also, das Leben eines jeden 
von beiden wäre von dieser Art, behauptest du da, das 
des Zügellosen sei glücklicher als das des Maßvollen ἢ 
Darf ich hoffen, mit dem Gesagten dir das Zugeständnis 
abzugewinnen, das maßvolle Leben sei besser als das 
zügellose, oder nicht? 


108 Platons Gorgias. 


Kallikles. Nein, mein Sokrates, das gelingt dir 
nicht. Denn jener erstere, der einmal die Füllung voll- 
zogen, hat überhaupt kein Vergnügen mehr, sondern hat, 
wie vorhin schon bemerkt, ein Dasein wie ein Stein, 
indem er nach vollzogener Füllung weder Freude noch 
Leid hat. Gerade darin liegt das lustvolle Leben, daß 
einem so viel wie möglich zufließt. 

Sokrates. Wenn viel zufließt, muß dann nicht not- 
wendig auch viel wieder abfließen und müssen die Löcher 
für die Abflüsse nicht recht groß sein? 

Kallikles. Allerdings. 

Sokrates. Das Leben, das du meinst, wäre also 
das einer Ente, und nicht eines Toten oder eines Steines. 
Und sage mir: bei deiner obigen Erklärung schwebt dir 
doch vor allem Hunger vor und Essen aus Hunger? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Und Durst und Trinken aus Durst? 

Kallikles. Ja, das meine ich, und daß man alle 
anderen Begierden hat und sie befriedigen kann und so 
voll Lust ein glückliches Leben führt. 


Neunundvierzigstes Kapitel. 


Sokrates. Brav so, mein Bester. Fahre nur fort, 
wie du begonnen hast, und laß dich nicht etwa durch Scham 
abhalten. Aber auch ich darf, wie es scheint, nicht ab- 
lassen aus Scham. Und zunächst sage, ob es möglich 
ist ein glückliches Leben zu führen, wenn man die Krätze 
hat und es einen juckt und man nach Herzenslust sich 
kratzen kann und dies Kratzen sein Lebenlang fortsetzt ??2) 

Kallikles. Wie abgeschmackt ist das von dir, mein 
Sokrates, und wie ganz nach der Art eines gemeinen 
Volksredners. 

Sokrates. In der Tat, mein Kallikles, den Polos 
und Gorgias habe ich eingeschüchtert und habe ihnen 
Scham beigebracht, aber du wirst dich doch nicht ein- 


er 


Neunundvierzigstes Kapitel. 109 


schüchtern lassen und dich nicht schämen! Du bist ja 
ein tapferer Mann. Aber antworte nur. 

Kallikles. So sage ich denn: Auch wer sich kratzt, 
führt ein angenehmes Leben. 

Sokrates. Und wenn ein angenehmes, dann doch 
auch ein glückliches? 

Kallikles. Allerdings. 

Sokrates. Etwa, wenn es ihn bloß am Kopfe juckı 
— oder soll ich auch noch nach Weiterem fragen? Du 
würdest doch, mein Kallikles, in große Verlegenheit mit 
der Antwort geraten, wenn einer dich auch nach allen 
folgenden Körperteilen der Reihe nach fragen wollte. 
Und, um die Hauptsache auf diesem Gebiet zu erwähnen, 
das Leben der Mannhuren, ist das nicht schmählich und 
widerwärtig und kläglich? Oder hast du den Mut, diese 
glücklich zu nennen, wenn sie in Hülle und Fülle haben, 
wonach sie begehren ? 

Kallikles. Schämst du dich nicht, mein Sokrates, 
die Rede auf dergleichen Dinge zu bringen ? 

Sokrates. Bin ich es’ denn, mein Weackerer, der 
dies tut, oder nicht vielmehr der, welcher so ohne Ein- 
schränkung behauptet, daß, wer vergnügt sei, gleichviel 
welcher Art auch das Vergnügen sei, glücklich sei, und 


. keinen Unterschied macht zwischen guten und verwerf- 


lichen Lüsten? Aber auch jetzt ist es noch nicht zu spät 
Auskunft zu geben darüber, ob du angenehm und gut 
für identisch erklärst oder ob es auch Angenehmes gibt, 
das nicht gut ist. | 

Kallikles.. Um mich nicht selbst mit meinen Be- 
hauptungen in Widerspruch zu setzen, wenn ich sie für 
verschieden erkläre, erkläre ich sie für identisch. 

Sokrates. Du machst, mein Kallikles, deine früheren 
Versicherungen zunichte und bist nicht mehr der Mann, 
mit mir die Wahrheit zu erforschen, wenn du gegen deine 
eigene Überzeugung sprichst. 

Kallikles. Du machst es ja nicht anders, mein So- 
krates. | 


110 Platons Gorgias. 


Sokrates. Wenn dem so ist, dann bin ich ebenso 
auf falschem Wege wie du. Aber, mein Verehrtester, 
sollte denn wirklich das Gute mit dem Vergnügen jedweder 
Art eins sein? Denn nicht nur die eben angedeuteten 
zahlreichen häßlichen Folgerungen ergeben sich daraus, 
wenn dem so ist, sondern noch viele andere. 

Kallikles. Nach deiner Ansicht, mein Sokrates. 

Sokrates. Du aber, mein Kallikles, hältst du denn 
wirklich an dieser Ansicht fest ? 

Kallikles. Jawohl. 


Fünfzigstes Kapitel. 


Sokrates. Sollen wir also mit dem Satze verfahren, 
als ob du ihn ernst meintest ? 

Kallikles. Durchaus. 

Sokrates. Wohlan denn, da du es so willst, gib 
mir über folgendes Auen, Auskunft: Nimmst du ein 
Wissen an? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Behauptetest du nicht vorhin®), daß es 
auch eine Tapferkeit (Tatkraft) gebe neben dem Wissen ? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Dies meintest du doch so, daß die Tapfer- 
keit von dem Wissen verschieden sei, dab sie also zwei 
seien ? | 

Kallikles. Gewiß. 

Sokrates. Wienun? Sind Lust und Wissen dasselbe 
oder verschieden ? | 

Kallikles. Offenbar verschieden, mein Aller- 
weisester. | 

Sokrates. Doch ist auch die Tapferkeit verschieden 
von der Lust? 

Kallikles. Selbstverständlich. 

Sokrates. Gut denn, das wollen wir uns genau mer- 
ken, daß Kallikles aus Acharnä „Lustvoll“ und „Gut“ für 


cr 


Fünfzigestes Kapitel. 111 


eins erklärte, Wissen aber und Tapferkeit für sowohl 
voneinander verschieden wie auch von dem Guten 34), 

Kallikles. Sokrates aber aus Alopeke gibt uns das 
nicht zu. Oder gibt er es doch zu? 

Sokrates. Nein, er gibt es nicht zu. Ich glaube 
aber auch Kallikles nicht), wenn er nur richtige Selbst- 
schau hält. Denn sage mir, wem es gut geht und wem 
es schlecht geht, befinden sich die nicht im entgegen- 
gesetzten Zustand 99) | 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Sind diese Zustände aber einander ent- 
gegengesetzt, muß es sich mit ihnen dann nicht verhalten 
wie mit Gesundheit und Krankheit? Der Mensch nämlich 
ist doch nicht zu gleicher Zeit gesund und krank und 
wird doch nicht zu gleicher Zeit der Gesundheit und der 
Krankheit ledig. 

Kallikles. Wie meinst du das? 

Sokrates. Du kannst das z. B. an jedem beliebigen 
Körperteil für sich genommen sehen. Es kommt doch vor, 


. daß ein Mensch an den Augen leidet, ein Leiden, das man 


als Augenkrankheit bezeichnet. 

Kallikles. Gewiß. 

Sokrates. Also ist er doch zu gleicher Zeit nicht 
auch an ihnen gesund? 

Kallikles. Gott bewahre. 

Sokrates. Wie aber weiter? Wenn er von der 
Augenkrankheit befreit wird, wird er dann etwa auch 
ger Gesundheit der Augen ledig und ist schließlich beider 
zu gleicher Zeit ledig geworden ἢ 

Kallikles. Nimmermehr. 

Sokrates. Denn das wäre doch wohl wunderbar 
und unbegreiflich. Nicht wahr? 

Kallikles. Sicherlich. 

Sokrates. Vielmehr erhält und verliert er doch jedes 


von beiden abwechselnd ? 
Kallikles. Ja. 


119 Platons Gorgias. 


Sokrates. Gerade so steht es doch auch mit Kraft 
und Schwäche? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Und mit Schnelligkeit und Langsamkeit ? 

Kallikles. Gewiß. 

Sokrates. Steht es auch mit dem Guten und mit dem 
Glück und ihrem Gegenteile, dem Schlechten und dem 
Unglück, so, daß man immer abwechselnd eines von beiden 
empfängt und wieder los wird ? 

Kallikles. Ganz zweifellos. 

Sokrates. 'Wenn wir also etwas finden, was der 
Mensch zu gleicher Zeit los wird und zu gleicher Zeit 
hat, so kann dies offenbar nicht das Gute und das Schlechte 
sein. Sind wir darin einverstanden? Und gib deine Ant- 
wort mit vollem Bedacht. 

Kallikles. Ich bin ganz und gar einverstanden. 


Einundfünfzigstes Kapitel. 


Sokrates. Also nun zurück zu den früheren Zuge- 
ständnissen. Erklärtest du das Hungern für angenehm 
oder für unangenehm 331) Ich meine das Hungern an sich. 

Kallikles. Für unangenehm, ich gewiß; Essen da- 
gegen, wenn man Hunger hat, für angenehm. 

Sokrates. Ich gleichfalls. Ich verstehe recht wohl. 
Also das Hungern an sich ist unangenehm. Oder nicht? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Doch wohl auch das Dürsten ἢ 

Kallikles. Erst recht. 

Sokrates. Soll ich also erst noch weiter fragen, 
oder gibst du zu, daß jedes Bedürfnis und jede Begierde 
unangenehm sei? | 

Kallikles. Du brauchst nicht erst zu fragen, ich 
gebe es zu. | 

Sokrates. Gut. Aber zu trinken, wenn man Durst 
hat, erklärst du doch für angenehm ? 


Einundfünfzigstes Kapitel. 113 


Kallikles. Ja. 

Sokrates. Von den eben genannten Worten bedeutet 
doch nun das „Durst haben“ soviel wie „Unlust haben“ ? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Das Trinken aber ist doch Befriedigung 
des Bedürfnisses und Lust ? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Insofern man trinkt, hat man doch Freude. 
Das ist doch deine Meinung ? 

Kallikles. Durchaus. 

Sokrates. Wenn man nämlich Durst hat? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Und also Unlust empfindet? 

Kallikles. Ja. | 

Sokrates. Merkst du nun das Ergebnis? Nämlich 
daß man zufolge deiner Behauptung Unlust empfindet 
und sich zugleich freut, wenn man durstet und trinkt? 
Oder geschieht dies nicht zugleich nach Ort und nach 
Zeit, gleichviel ob du das auf die Seele oder auf den Körper 
beziehst? Denn das macht, denke ich, keinen Unterschied. 


Ist es so oder nicht? 


Kallikles. Ja. 
Sokrates. Nun erklärtest du es doch für unmög- 


. lich®), daß es einem zugleich gut und schlecht gehe. 


St. 


Kallikles. Jawohl. 

Sokrates. Dagegen Unlust empfinden und sich dabei 
zu freuen, das hast du als möglich zugegeben ? 

Kallikles. Nun ja. 

Sokrates. Also ist „sich freuen“ und „sich wohl- 
befinden“ nicht dasselbe, und ebensowenig ‚„Unlust emp- 
finden“ und „sich schlecht befinden“; mithin ergibt sich 
die Verschiedenheit der Lust von dem Guten. 

Kallikles. Ich weiß nicht, was du da für Weis- 
heit auskramst, mein Sokrates. 

Sokrates. Du weißt es, aber du stellst dich dumm, 
mein Kallikles. Und fahre nur noch weiter so fort. 

Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148. ὃ 


114 Platons Gorgias. 


Kallikles. Was für eine unaufhörliche Schwätzerei 
treibst du da. | 

Sokrates. Ja, sie soll dir zeigen, was für ein Weiser 
du bist, daß du mich zurechtweist. Hört nicht bei einem 
jeden von uns mit dem Trinken der Durst und die Lust 
zugleich auf? 

Kallikles. Ich weiß mit deinen Reden nichts anzu- 
fangen und habe genug davon. 

Gorgias. Nicht so, mein Kallikles, beileibe nicht, 
sondern antworte auch uns zuliebe, damit die EERRBPNUng 
ihren Abschluß finde. 

Kallikles. Ist doch Sokrates immer derselbe, mein 
Gorgias. Immer fragt er wieder nach Kleinigkeiten und 
Nichtigkeiten und widerlegt sie. 

Gorgias. Aber was macht dir denn das aus? Das 
kommt ja doch gar nicht auf deine Rechnung, mein 
Kallikles.. Laß dich nur ruhig vom Sokrates widerlegen, 
wie es ihm gefällt. 

Kallikles. Nun, so fahre nur fort mit deinen kleinen 
und armseligen Fragen, da es Gorgias so wünscht. 


Zweiundfünfzigstes Kapitel. 


Sokrates. Glücklich zu preisen bist du, mein Kalli- 
kles, daß du die großen Weihen empfangen hast noch 
vor den kleinen®°). Ich hielt das für unzulässig. An dem 
Punkte also, wo du absprangst, setze nun mit deiner 
Antwort wieder ein, nämlich ob nicht bei einem jeden 
von uns mit dem Durst zugleich auch die Lust aufhört. 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Und auch mit dem Hunger und den 
übrigen Begierden hört doch Ze auch die Lust 
auf? 

Kallikles. So ist es. 

Sokrates. Also hören überhaupt Unlust ee Lust 
zu gleicher Zeit auf? 


Zweiundfünfzigstes Kapitel. 115 


Kallikles. Ja. 

Sokrates. Das Gute und Schlechte dagegen hört 
nicht gleichzeitig bei uns auf, wie du ja zugestandest. 
Bleibst du jetzt nicht mehr bei diesem Zugeständnis ? 

Kallikles. Doch. Aber was folgt daraus? 

Sokrates. Nun, mein Freund, daß das Gute mit 
dem Angenehmen nicht identisch ist und das Schlechte 
nicht mit dem Unangenehmen. Denn diese hören zu- 
sammen auf, jene aber nicht, da sie eben anderer Art 
sind. Wie könnte also das Angenehme mit dem Guten 
und das Unangenehme mit dem Schlechten einerlei sein ? 
Wenn du willst, kannst du die Sache auch noch von 
einer anderen Seite betrachten. Denn ich glaube, auch so 
tritt der Widerspruch hervor. Gib also acht: Gut nennst 
du doch die Guten zufolge der Anwesenheit des Guten, 
wie du diejenigen schön nennst, denen Schönheit bei- 
wohnt ἢ 100) 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Und weiter. Bezeichnest du Unvernünf- 
tige und Feige als gute Männer? Vorhin wenigstens 
tatest du das nicht, sondern nanntest die Tapferen und 
Besonnenen so!"),. Oder bezeichnest du diese nicht als 
gute? 

Kallikles. Ja gewiß. J 

Sokrates. Und hast du schon ein unvernünftiges 
Kind sich freuen sehen? 

Kallikles. Jawohl. 

Sokrates. Und hast du noch nie einen unvernünf- 
tigen Mann gesehen, der sich freute? 

Kallikles. Ich glaube doch. Aber was soll das? 

Sokrates. Nichts. Antworte nur. 

Kallikles. Ja, ich habe einen gesehen. 

Sokrates. Und weiter. Einen Vernünftigen, der Un- 
lust und Lust empfand ? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Bei wem findet sich nun mehr Lust 

8* 


116 Platons Gorgias. 


und Unlust, bei den Vernünftigen oder bei den Unver- 
nünftigen ? 

Kallikles. Ich glaube, der Unterschied ist nicht 
groß. ᾿ 

Sokrates. Nun, das genügt schon. Hast du im Krieg 
schon einen Feigling gesehen ? 

Kallikles. Wie sollte ich nicht? 

Sokrates. Wie nun? Beim Abzug der Feinde, was 
hattest du da für einen Eindruck? Wer freute sich mehr, 
die Feigen oder die Tapferen ? 

Kallikles. Beide in gleichem Maße, wie mir wenig- 
stens schien; oder wenigstens nahezu gleich. 

Sokrates. Gleichviel. Es freuen sich also jeden- 
falls auch die Feigen ? 

Kallikles. Ganz sicher. 

Sokrates. Also, scheint’s, auch die Unvernünftigen. 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Wenn die Feinde aber zum Angriff vor- 
rücken, empfinden da bloß die Feigen Unlust oder auch die 
Tapferen ? 

Kallikles. Beide. 

Sokrates. In gleichem Maße? 

Kallikles. Mehr vielleicht die Feigen. 

Sokrates. Beim Abzug der Feinde, da freuen sie 
sich doch auch wohl mehr? 

Kallikles. Vielleicht. 

Sokrates. Also Unlust und Lust empfinden Unver- 
nünftige und Vernünftige, Feige und Tapfere in nahezu 
gleichem Maße, wie du sagst, in höherem Maße aber 
doch die Feigen als die Tapferen ? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Nun sind aber doch die Vernünftigen 
und Tapferen gut, die PN und Unvernünftigen dagegen 
schlecht ? 

Kallikles. Ja. | 

Sokrates. Also in ungefähr gleichem Grade werden 


Dreiundfünfzigstes Kapitel. 117 


die Guten und die Schlechten von Lust und Unlust 
bewegt ? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Sind also nicht die Guten und die Schlech- 
ten in ungefähr gleichem Grade gut und schlecht? Oder 
sind nicht die Schlechten sogar in noch etwas höherem 
Grade gut? 


Dreiundfünfzigstes Kapitel. 


Kallikles. Beim Zeus, dabei steht mir der Ver- 
stand stille. 

Sokrates. Wie du dich erinnerst, gibst du doch zu!%), 
daß die Guten gut sind durch die Anwesenheit des Guten, 
die Schlechten schlecht durch die Anwesenheit des 
Schlechten, das Gute aber seien die Lüste, das Schlechte 
die Schmerzen ? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Nun wohnt doch wohl denen, die sich 
freuen, das Gute inne, nämlich die Lust, wenn sie wirk- 
lich sich freuen ? 

Kallikles. Selbstverständlich. 

Sokrates. Macht nun das Beiwohnen des Guten 
die Fröhlichen nicht. gut? 

Kallikles. Ja. | 

Sokrates. Und weiter. Wer Unlust empfindet, wohnt 
dem nicht das Schlechte bei, nämlich die Schmerzen ? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Die Anwesenheit des Schlechten macht 
aber doch deiner Aussage zufolge die Schlechten schlecht. 
Oder ist das nicht mehr deine Meinung? 

Kallikles. Doch. 

Sokrates. Gut also sind die, welche Lust, schlecht 
die, welche Unlust empfinden ? 

Kallikles. Allerdings. 

Sokrates. Und dem Grad der Lust und Unlust ent- 
spricht immer der Gräd der Güte und der Schlechtigkeit 


118 Platons Gorgias. 


nach Maßgabe der Bestimmungen „mehr“, „weniger“, 
„gleich“ ? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Nun behauptest du doch!®), daß die Ver- 
nünftigen und die Unvernünftigen, die Feigen und die 
Tapferen in nahezu gleichem Maße Lust und Unlust 


empfinden oder sogar noch in höherem Maße die Feigen? _ 


Kallikles. Ja. 

Sokrates. Erwäge denn nun gemeinsam mit mir, was 
sich aus unseren zugestandenen Sätzen ergibt. Denn zwei- 
mal und dreimal das Schöne zu sagen und durchzuprüfen 
ist schön, wie man zu sagen pflegt. Wir behaupten, 
daß der Vernünftige und Tapfere gut sei. Nicht wahr? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Und der Unvernünftige und Feige schlecht. 

Kallikles. Gewißb. 

Sokrates. Daß aber auch gut sei, wer Freude emp- 
findet ? 

Kallikles. Ja. | 

Sokrates. Und schlecht sei, wer Unlust empfindet? 

Kallikles. Notwendig. 

Sokrates. Daß aber Leid und Freude der Gute 
und der Schlechte in gleichem Maße empfindet, in höherem 
Maße vielleicht noch der Schlechte ὃ 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Also folgt doch, daß der Schlechte in 
gleichem Maße gut und schlecht ist wie der Gute, ja 
daß er vielleicht sogar in noch höherem Maße gut ist? 
Diese und jene früheren Folgen ergeben sich doch wohl, 
wenn man Angenehmes und Gutes für eins erklärt? Sind 
sie nicht unvermeidlich, mein Kallikles ἢ 


Vierundfünfzigstes Kapitel. 


Kallikles. Lange schon, mein Sokrates, höre ich 
dir zu und stimme dir bei1%), weil ich mir sage, daß du, 
wenn man dir auch nur im Scherze etwas hinreicht, voller 


Vierundfünfzigstes Kapitel. 119 


Freude wie die Kinder es festhältst; als ob ich oder irgend- 
ein anderer Mensch, wie du annimmst, es leugnete, dab 
die Lüste teils besser teils schlechter seien. 

Sokrates. Sieh da, mein Kallikles, was für ein 
Schelm du bist: du behandelst mich wie ein Kind; bald 
sagst du so, bald wieder anders und führst mich an der 
Nase herum. Und doch glaubte ich anfangs nicht, dab 
ich von dir absichtlich getäuscht werden würde, da du 
mein Freund bist. Doch ich sehe, ich habe mich getäuscht, 
und ich muß, wie es scheint, der alten Weisheit folgend 
die Sache nehmen wie sie ist und mich mit dem von dir 
Gebotenen abfinden. Deine jetzige Behauptung ist also, 
wie es scheint, die, daß einige Lüste gut, andere schlecht 
sind. Nicht wahr? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Gut doch wohl die nützlichen, schlecht 
dagegen die schädlichen ? 

Kallikles. Allerdings. 

Sokrates. Nützlich aber sind diejenigen, die etwas 
Gutes bewirken, schlecht dagegen diejenigen, die etwas 
Schlechtes bewirken ? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Du denkst dabei doch wohl an solche 
Lüste wie die eben genannten körperlichen beim Essen und 
Trinken. Von diesen also sind doch wohl diejenigen, 
welche den Körper gesund und kräftig und sonst noch 
tüchtig machen, gut, die Begentanlıgen schlecht ? 

Kallikles. Gewiß. 

Sokrates. Und ist es nicht ebenso mit den Schmer- 
zen? Sind nicht die einen nützlich, die anderen schädlich ? 

Kallikles. Selbstverständlich. 

Sokrates. Muß man nun nicht den nützlichen Lüsten 
und Schmerzen in Wahl und Tat nachgehen ? 

Kallikles. Allerdings. 

Sokrates. Den schädlichen aber nicht? 

Kallikles. Offenbar nicht. 


120 Platons Gorgias. 


Sokrates. Denn des Guten wegen muß alles getan 
werden. Das war, wie du dich erinnern wirst, meine 
und des Polos Ansicht!%). Bist du mit uns dieser Ansicht, 
das Ziel alles Handelns sei das Gute und um seinetwillen 
müsse alles andere getan werden, nicht aber dies um des 
anderen willen ? Gesellst du als dritter dich uns mit deiner 
Stimme bei? 

Kallikles. Ja. | 

Sokrates. Also des Guten wegen muß man, wie 
alles andere, so auch das Angenehme tun, nicht aber das 
Gute um des Angenehmen willen. 

Kallikles. Allerdings. 

Sokrates. Ist es nun jedermanns Sache, die Aus- 
wahl dessen zu treffen, was unter dem Angenehmen gut 
und was schlecht ist, oder bedarf es eines Sachverständigen 
dazu ? | 

Kallikles. Sicherlich eines Sachverständigen. 


Fünfundfünfzigstes Kapitel. 


Sokrates. Rufen wir uns also wieder in Erinnerung, 
was ich früher zum Polos und Gorgias sagte. Es war das, 
wie du dich erinnern wirst, folgendes: es gebe Berufs- 
tätigkeiten, die lediglich auf das Vergnügen und auf sonst 
nichts weiter abzielten und von dem Besseren und Schlech- 
teren nichts wüßten, andere dagegen, welche der Er- 
kenntnis dessen, was gut und was schlecht sei, nach- 
gingen. Und zu denen, die es mit der Lust zu tun haben, 
rechnete ich die erfahrungsmäßige Tätigkeit des Kochs, 
die aber keine Kunst sei, dagegen zu denen, die es mit 
dem Guten zu tun haben, die Heilkunst. Und, beim 
Grotte der Freundschaft, mein Kallikles, glaube ja nicht, 
daß du mich zum besten haben dürftest, und antworte 
nicht ins Gelage hinein gegen deine eigentliche Über- 
zeugung, sieh aber auch meine Äußerungen nicht so an, 
als ob ich dich damit zum besten hätte. Denn du siehst 


500 5 


Sechsundfünfzigstes Kapitel. 191 


doch, daß sich unsere Unterredung um eine Frage dreht, 
die jeder auch nur einigermaßen einsichtige Mensch als 
die allerwichtigste betrachtet, nämlich die, welches die 
richtige Lebensweise ist, ob die, zu der du mich auf- 
forderst, dem eigentlichen Mannesberuf, der darin be- 
.steht, daß man vor dem Volke redet und die Rednerkunst 
übt und sich in den staatlichen Geschäften so betätigt, wie 
ihr es jetzt tut, oder das der Philosophie gewidmete 
Leben, und wodurch sich dieses von jenem unterscheidet. 
Vielleicht ist es nun das Beste, die Einteilung zu treffen, 
die ich eben zu machen versuchte, nach getroffener Ein- 
teilung aber und erzielter gegenseitiger Übereinstimmung 
darüber, ob diese beiden Lebensweisen als die mabgebenden 
der Wirklichkeit entsprechen, zu prüfen, worin sie sich 
voneinander unterscheiden und welche von beiden man 
wählen muß. Vielleicht verstehst du mich noch nicht 
recht. | 

Kallikles. Allerdings nicht. 

Sokrates. So will ich es dir denn deutlicher sagen. 
Da zwischen mir und dir Einverständnis darüber herrscht, 
daß es ein Gutes gibt, ebenso auch ein Angenehmes, dab 
aber das Angenehme von dem Guten verschieden ist und 
daß es für jedes von beiden eine ihren Besitz erstrebende 
Bemühung und Berufstätigkeit gibt, hier eine Jagd auf 

‘ das Angenehme, dort auf das Gute — doch eben dies 

mußt du mir zunächst bejahen oder verneinen. Bejahst 
du es? 

Kallikles. Ja. 


—_____. 


Sechsundfünfzigstes Kapitel. 


Sokrates. Wohlan denn, erkläre dich mir darüber, 

ob ich mit dem, was ich zu diesem hier sagte, dir im 
Rechte zu sein scheine. Ich sagte aber etwa, daß mir 
die Kochkunst keine Kunst zu sein scheint, sondern eine 
Erfahrungssache, wohl aber die Heilkunst; die Heilkunst 
st. nämlich, so sagte ich, kennt durch Forschung die Natur 


199 Platons Gorgias. 


des Objektes, das sie behandelt, und den Grund für alles, 
was sie tut, und vermag über jede darauf bezügliche Frage 
Rechenschaft zu geben, die andere aber geht auf die Lust 
aus, auf die ihre gesamte Dienstleistung berechnet ist, 
ohne alle eigentliche Kunst; sie erwägt weder die Natur 
der Lust noch ihre Ursache und, enthält sich bei 
völligem Verzicht auf höhere Einsicht sozusagen jeder 
wissenschaftlichen Untersuchung, reine Übung und Er- 
fahrungssache, nur die Erinnerung festhaltend an das, was 
in der Regel geschieht, womit sie denn auch die Lust zu 
erzeugen weiß. Dies also ist das erste, dessen Gültigkeit 
du zu prüfen hast, sodann, ob es auch rücksichtlich der 
Seele gewisse entsprechende Tätigkeiten gibt, einerseits 
kunstmäßige, die für das Beste der Seele Fürsorge treffen, 
anderseits solche, die sich darum nicht kümmern, sondern 
wie dort lediglich die Lust der Seele und die Art ihrer 
Erzeugung im Auge haben, nach dem Besser oder Schlech- 
ter bei den Lüsten aber überhaupt nicht fragen und es 
sich lediglich angelegen sein lassen Wohlgefallen zu er- 
regen, gleichviel ob gutes oder schlechtes. Denn meiner 
Ansicht nach gibt es solche, mein Kallikles, und ich nenne 
eine solche Tätigkeit Schmeichelei, mag sie nun dem 
Körper gelten oder der Seele oder welchem Gegenstande 
sonst, sofern man dabei der Lust dient ohne Rücksicht auf 
das Bessere und das Schlechtere. Einigst du dich nun mit 
uns zu der nämlichen Ansicht hierüber oder erhebst du 
Widerspruch ? 

Kallikles. Nein, ich gebe es zu, damit deine Unter- 
suchung endlich zum Abschluß kommt und ich unserem 
(rorgias seinen Wunsch erfülle. 

Sokrates. Gilt das Gesagte uhr nur für eine Seele, 
für zwei oder viele aber nicht? 

Kallikles. Nein, auch für zwei und für viele. 

Sokrates. Also ist es möglich, auch einer großen 
Vielheit von Seelen Wohlgefallen einzuflößen ohne Rück- 
sicht auf das Beste? 

Kallikles. Wie mir scheint, ja. 


er 


Siebenundfünfzigstes Kapitel. 123 


Siebenundfünfzigstes Kapitel. 


Sokrates. Kannst du nun sagen, welches die Berufs- 
tätigkeiten sind, die dieses bewirken ? Oder lieber, wenn’s 
dir gefällt, antworte auf meine Frage hinsichtlich der Tätig- 
keit, die dir dahin zu gehören scheint, mit Ja, auf die gegen- 
teilige mit Nein. Zuerst laß uns das Flötenspiel daraufhin 
betrachten. Scheint es dir, mein Kallikles, nicht ganz von 
der Art zu sein, daß es nur auf unser Vergnügen aus- 
geht, ohne sich um sonst etwas zu kümmern ? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Nicht auch die anderen derartigen Künste, 
wie z. B. das Zitherspiel bei den Wettkämpfen ? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Ferner die Aufführung von Chören und 
die Dithyrambendichtung? Scheint sie dir nicht auch 
von dieser Art zu sein? Oder glaubst du, Kinesias1%), 
des Meles Sohn, kümmere sich im geringsten darum, etwas 


vorzutragen, was geeignet wäre, die Hörer besser zu 
. machen, und nicht vielmehr nur darum, der lauschenden 


Menge zu gefallen ? 

Kallikles. Von Kinesias wenigstens, mein Sokrates, 
gilt dies ganz gewiß. 

Sokrates. Und wie denkst du über seinen Vater 
Meles? Schien er dir bei seinem Zithervortrag etwa das. 
Beste im Auge zu haben? oder nicht einmal das Ange- 
nehmste? Denn er langweilte die Hörer durch seinen 
Gesang. Und scheint dir nicht bei einiger Überlegung 
überhaupt die ganze Kitharodik und Dithyrambendichtung 
nur des Vergnügens wegen erfunden zu sein ἢ 

Kallikles. Allerdings. 

Sokrates. Und was ist es, au die hochgefeierte 
und vielbewunderte Tragödiendichtung!”) ihr Absehen ge- 
richtet hat? Ist ihr Streben und Bemühen deiner Ansicht 
nach nur dies, den Zuschauern zu gefallen, oder ermannt 
sie sich auch dazu, etwas, was ihnen zwar schmeichelt und 
angenehm, aber schädlich ist, zu unterdrücken, dagegen 


194 Platons Gorgias. 


das, was etwa unangenehm, aber doch nützlich ist, durch 
‚Wort und Gesang zum Vortrag zu bringen, gleichviel ob 
es ihnen erfreulich ist oder nicht? Welche von beiden 
Beschaffenheiten zeigt nach deiner Meinung die Tragödien- 
dichtung ἢ 

Kallikles. Es liegt doch am Tage, mein Sokrates, 
daß sie mehr auf das Vergnügen und auf das Wohlgefallen 
der Zuschauer ausgeht. 

Sokrates. Bezeichneten wir ein derartiges Beginnen, 
mein Kallikles, nicht eben als Schmeichelei ? 

Kallikles. Allerdings. 

Sokrates. Wohlan denn, wenn man von der ganzen 
Dichtung die Melodie, den Rhythmus und das Versmaß 
abzieht, bleibt dann noch etwas anderes übrig als Reden ? 

Kallikles. Unmöglich. 

Sokrates. Werden nun diese Reden nicht vor großen 
Volksmassen gehalten ? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Also ist die Dichtkunst doch eine Art 
Volksrednerei ? 

Kallikles. Mag sein. 

Sokrates. Also eine rednerische Volksansprache wäre 
sie. Oder scheinen dir die Dichter in den Theatern sich 
nicht als Redner zu zeigen ? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Jetzt also hat sie sich uns enthüllt als eine 
Redefertigkeit vor dem Volke, und zwar einem solchen, 
das sich zusammensetzt aus Kindern, Weibern und 
Männern, Sklaven und Freien; hohe Achtung kann sie 
von uns nicht beanspruchen, denn wir bezeichnen sie als 
Schmeichelei. 

Kallikles. Allerdings. 


St. 


+ 


Achtundfünfzigstes Kapitel. 125 


Achtundfünfzigstes Kapitel. 


Sokrates. Gut. Aber nun die Redekunst vor dem 
Volk der Athener und vor den Versammlungen der freien 
Bürger in den anderen Staaten, welche Geltung hat sie 
in unseren Augen ? Haben die Redner nach deiner Ansicht 
bei ihren Ausführungen immer das Beste im Auge und 
sehen sie ihr Ziel darin, ihre Mitbürger durch ihre Reden 
so trefflich wie möglich zu machen, oder gehen auch 
sie bloß darauf aus sich bei ihren Mitbürgern in Gunst 
zu setzen, indem sie über ihrem persönlichen Interesse 
das Gemeinwohl vernachlässigen und mit den Versammel- 
ten wie mit Kindern umgehen, nur darauf bedacht, ihnen 
zu gefallen, und unbekümmert darum, ob sie dadurch besser 
oder schlechter werden ? 

Kallikles. Deine Frage läßt keine einfache Antwort 
zu. Denn es gibt Redner, die bei ihren Reden das Wohl 
ihrer Mitbürger im Auge haben, es gibt aber auch Redner 
des von dir gekennzeichneten Schlages. 

Sokrates. Es genügt schon. Denn wenn es hier 
auch eine Spaltung in zwei Richtungen gibt, so ist doch 
die eine Richtung Schmeichelei und häßliche Volks- 
rednerei, die andere allerdings etwas Schönes, das Streben 
nach möglichster Besserung der Seelen der Mitbürger 


- und das Einsetzen der rednerischen Kraft für das Edelste, - 


mag es nun angenehmer oder unangenehmer für die Hörer 
sein!®), Indes eine derartige Kunst der Rede hast du 
noch niemals erlebt. Oder wenn du einen solchen Redner 
zu nennen weißt, dann hast du doch allen Grund ihn mir 
zu nennen. | 

Kallikles. Beim Zeus, unter den jetzigen Rednern 
wenigstens weiß ich dir keinen zu nennen. 

Sokrates. Aber wie? Kannst du unter den alten 
einen nennen, von dem die Athener mit Recht sagen 
könnten, daß sie durch ihn nach Beginn seiner rednerischen 
Tätigkeit aus früher Schlechteren besser geworden seien ? 
Denn ich wüßte keinen zu nennen. 


126 Platons Gorgias. 


Kallikles. Wie? Weißt du nicht von anderen, daß 


Themistokles ein trefflicher Mann gewesen ist und Kimon 
und Miltiades und der jüngst verstorbene Perikles, den du 
noch selbst hast reden hören ?109) 

Sokrates. Ja, mein Kallikles, wenn, was du früher 
so nanntest!!0), die wahre Tüchtigkeit ist, nämlich die Be- 
friedigung der eigenen Begierden und der der anderen. 
Wenn sie dies aber nicht ist, sondern ihr Wesen gemäß 
den Zugeständnissen, die wir im weiteren Verlauf der 
Untersuchung zu machen uns genötigt sahen!t), darin 
besteht, diejenigen Begierden zu befriedigen, deren Be- 
friedigung den Menschen besser macht, die gegenteiligen 
aber nicht, und dies eine Kunst ist, wer möchte dann be- 
haupten, daß einer der Genannten zu dieser letzteren Art 
gehöre ? 

Kallikles. Ich kann mich damit nicht zurecht finden. 


Neunundfünfzigstes Kapitel. 


Sokrates. Aber suche nur richtig, dann wirst du 
es finden. Wir wollen also folgendermaßen in Ruhe prüfen, 
ob einer von ihnen zu dieser Art gehört. Also so: Der 
tüchtige Mann, der bei seinen Reden das Beste im Auge 
hat, wird doch nicht ins Blaue hinein reden, sondern im 
Hinblick auf ein gewisses Ziel. So überläßt denn auch 
auf anderen Gebieten kein Werkmeister die Auswahl der 
seinem Vorhaben dienlichen Mittel dem bloßen Zufall, 
sondern trifft sie im Hinblick auf den Zweck seines Werkes 
so, daß das, was er unter den Händen hat, seine richtige 
Gestalt bekomme. So beobachte nur z. B. die Maler, die 
Baumeister, die Schiffsbauer und alle anderen Werk- 
meister, welchen du willst: ein jeder von ihnen läßt für 
jeden seiner Handgriffe eine bestimmte Ordnung walten 
und zwingt das eine sich passend dem anderen anzufügen, 
bis sich das Ganze zu einem wohlgeordneten und wohlge- 
gliederten Werke zusammengeschlossen hat. So machen 


504 Si 


Neunundfünfzigstes Kapitel. 197 


es denn unter anderen Meistern auch die vorhin genannten 
mit der Körperpflege sich beschäftigenden Meister), die 
Turnlehrer und die Ärzte: sie geben dem Körper Wohlge- 
staltung und richtige Ordnung. Sind wir darüber einver- 
standen oder nicht? 

Kallikles. Es mag so sein. 

Sokrates. Ordnung also und Wohlgestalt muß ein 
Haus haben, um zweckmäßig zu sein, während Unordnung 
es unbrauchbar macht’? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Ist das Gleiche nicht der Fall bei einem 
Schiff ? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Und dasselbe gilt doch gewiß auch von 
unserem Körper ? 

Kallikles. Allerdings. 

Sokrates. Wie aber steht es mit der Seele? Wird 
sie tüchtig sein im Zustand der Ordnungslosigkeit oder in 
dem der Ordnung und Wohlgestalt? 

Kallikles. Im letzteren, wie wir nach dem Vorher- 
gehenden notwendig einräumen müssen. 

Sokrates. Wie bezeichnen wir nun beim Körper 
den aus Ordnung und Wohlgestaltung hervorgehenden Zu- 

stand ? 
| Kallikles. Als Gesundheit und Kraft, wie du viel- 
leicht meinst. 

Sokrates. Jawohl. Wie aber bezeichnen wir den 
Seelenzustand, der sich aus Ordnung und Wohlgestaltung 
ergibt ἢ Versuche den Namen aufzufinden und anzugeben, 
wie du es für den Körper tatest. 

Kallikles. Warum sagst du ihn denn nicht selbst, 
mein Sokrates ? 

Sokrates. Nun. -ı wenn es dir lieber ist, will ich 
ihn angeben. Du aber mußt, wenn ich dir recht zu 
haben scheine, mir dies bekräftigen; wo nicht, so mußt 
du mich widerlegen und mir nichts durchlassen. Meiner 
Ansicht nach werden die Ordnungsmaßregeln für den 


198 Platons Gorgias. 


Körper in dem Namen Gesund zusammengefaßt, woraus 
sich denn die Gesundheit in ihm entwickelt und die son- 
stige Tüchtigkeit des Körpers. Ist es so oder nicht? 
Kallikles. Ja. 
Sokrates. Für die Ordnungs- und Gestaltungsmaß- 
regeln der Seele aber gelten die Bezeichnungen Gesetzlich- 


keit und Gesetz, zufolge deren die Menschen gesetzlich 


und wohlgesittet werden. Eben darin aber besteht die 
zerechtigkeit und Besonnenheit. Ja oder Nein ? 
Kallikles. Meinetwegen ja. 


—n 1. 


Sechzigstes Kapitel. 


Sokrates. Auf diese Normen wird jener kunstver- 
ständige und tüchtige Redner immer seinen Blick ge- 
richtet halten bei den Reden, mit denen er die Seelen be- 
arbeitet, sowie bei allen seinen Handlungen und bei den 
(Graben, die er etwa zu verteilen hat, nicht minder auch bei 
den Lasten, die er auferlegen muß, immer darauf bedacht, 
daß in die Seelen seiner Mitbürger Gerechtigkeit einziehe, 
Ungerechtigkeit aber daraus entweiche, und Besonnenheit 
einziehe, Zügellosigkeit aber entweiche, und überhaupt. 
die Tugend ihren Einzug halte, die Schlechtigkeit aber den 
Abschied erhalte. Stimmst du bei oder nicht? 

Kallikles. Ja. | 

Sokrates. Was nützt es denn auch, einem kranken 
und elenden Körper vielerlei Speise zu reichen und die 
süßesten Getränke oder was sonst, was ihm zuweilen nickt 
nur keinen Nutzen, sondern im Gegenteil bei richtiger 
Schätzung sogar Schaden bringen wird? Ist es so? 

Kallikles. Es mag sein. | 

Sokrates. Denn ich denke, es hat für den Menschen 
keinen Nutzen zu leben, wenn er körperlich elend ist; 
denn wer so lebt, muß notwendig auch ein elendes Leben 
führen. Habe ich nicht recht ἢ 118) | 

Kallikles. Ja. 


505 


Sechzigstes Kapitel. 129 


Sokrates. Nun lassen doch auch die Ärzte einen Ge- 
sunden zwar in der Regel seine Begierden befriedigen, wie 
510 z. B. einen Hungernden oder Durstenden essen oder 
trinken lassen so viel er will, einem Kranken dagegen ver- 
bieten sie doch fast ausnahmslos sich mit dem zu füllen, 
wonach er begehrt? Gibst auch du dies zu? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Was aber die Seele anlangt, mein Bester, 
verhält es sich da nicht ebenso? Solange sie schlecht 
ist infolge von Unverstand, Zuchtlosigkeit, Ungerechtig- 
keit und Gottlosigkeit, muß man sie von den Begierden 
abhalten und darf ihr nichts anderes zu tun erlauben 
als das, was sie besser macht? Ja oder Nein? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Denn damit wird der Seele selbst doch 
besser gedient ? 

Kallikles. Allerdings. 

Sokrates. Nun heißt doch sie fernhalten von den 
Begierden nichts anderes als sie in Zucht halten ? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Die Züchtigung ist also für die Seele 
besser als die Zuchtlosigkeit, die du vorhin empfahlst!12). 

Kallikles. Ich finde mich mit dem, was du sagst, 
‚nicht zurecht, mein Sokrates; frage doch einen anderen. 

Sokrates. Dieser Mann will es sich nicht gefallen 
lassen, daß man sich ihm nützlich erweise, und will 
selbst nicht das über sich ergehen lassen, wovon die 
Rede ist, nämlich Züchtigung. ᾿ 

Kallikles. Mir ist auch völlig gleichgültig, was 
du sagst. Nur dem Gorgias zuliebe habe ich dir meine 
Antworten gegeben. 

Sokrates. Gut. Was sollen wir also tun? Brechen 
wir die Untersuchung in der Mitte ab? 

Kallikles. Das stelle ich dir anheim. 

Sokrates. Nun, selbst die Märchen, heißt es, darf 
man nicht unfertig lassen, sondern muß ihnen einen Kopf 

Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148. 9 


130 Platons Gorgias. 


aufsetzent15), damit sie nicht ohne Kopf umherwandeln. 
Beantworte also auch noch den Rest, damit unsere Unter- 
suchung ihren Kopf erhalte. 


Einundsechzigstes Kapitel. 


Kallikles. :Was für Schrauben setzest du einem 
an, mein Sokrates. Folgst du aber meinem Rate, so läbt 
du diese Untersuchung liegen oder wählst einen anderen 
zur Unterredung mit dir. 


Sokrates. Wer hat also sonst Lust dazu? Denn wir 


wollen die Untersuchung doch nicht unvollendet liegen 
lassen. | 
Kallikles.. Könntest du nicht selbst die Unter- 
suchung zu Ende führen, entweder so, daß du für dich 
‚allein sprächst oder auf deine Fragen dir selbst antwortetest? 

Sokrates. Auf daß des Epicharmos Wort!!‘) für 
mich zur Wahrheit werde, „was vordem zwei Männer 
sagten, das soll ich einer nun zu sagen imstande sein‘ ? 
Aber es scheint, ich kann an dieser Lage nichts mehr 
ändern. Wenn wir aber etwas ausrichten sollen!1), so 
glaube ich müssen wir alle unseren Ehrgeiz darein setzen, 
zu erforschen, was in bezug auf den Gegenstand unserer 
Untersuchung wahr und was falsch ist. Denn die Auf- 
klärung darüber kommt uns allen gemeinsam zugute. Ich 
will also nun die Untersuchung der Sache durchführen, 
wie sie sich mir zu verhalten scheint. Wenn es aber 
einem von euch so vorkommt, als ob das, was ich mir 
selbst einräume, nicht die Wahrheit wäre, so muß °r 
eingreifen und mich widerlegen. Denn was ich sage, 
sage ich nicht als ein Wissender, vielmehr suche ich 
mit euch gemeinsam. Wenn also der, der mich bekämpft, 
etwas Richtiges zu sagen scheint, so werde ich der erste 
sein, der zustimmt. Ich sage dies aber nur für den Fall, 
daß die Vollendung der Untersuchung notwendig erscheint. 
Wollt ihr sie aber nicht, so lassen wir die Sache auf 
sich beruhen und trennen uns. 


506 ὁ 


Zweiundsechzigstes Kapitel. 131 


᾿ς @orgias. Aber meiner Meinung nach, mein So- 
krates, liegt noch keine Veranlassung vor, uns zu trennen, 
vielmehr mußt du die Untersuchung zu Ende führen. Dies 
scheint auch die Meinung der anderen zu sein. Denn ich 
meinerseits wünsche lebhaft zu hören, wie du selbst die 
Sache zu Ende führst. 

Sokrates. Nun, mein Gorgias, auch meinerseits hätte 
ich einen Wunsch, nämlich den, daß ich mit unserem 
Kallikles hier die Unterredung so lange weiterführte, bis 
ich ihm die Rede des Amphion zurückgegeben hätte für 
die des Zethost!s), Da aber du, mein Kallikles, dich 
weigerst die Untersuchung mit mir zu Ende zu führen, 
so mache wenigstens als mein Zuhörer deine Einwen- 
dungen, wenn du einen Fehler in meinen Aufstellungen 
zu bemerken glaubst. Und wenn du mich widerlegst, 
so werde ich dir das nicht übelnehmen wie du mir, 
sondern du wirst bei mir in die Liste der Wohltäter einge- 
tragen werden und zwar als der größte derselben. 

Kallikles. Sprich nur selbst, mein Bester, und bring 
die Sache zum Abschluß. 


Zweiundsechzigstes Kapitel. 


Sokrates. So höre denn, wie ich von vorn an die 
Untersuchung wiederhole. Ist das Angenehme und das 
Gute ein und dasselbe? Nein, wie ich und Kallikles 
übereingekommen sind. Muß man aber das Angenehme 
um des Guten willen tun, oder das Gute um des Ange- 
nehmen willen? Das Angenehme um des Guten willen. 
Angenehm ist aber doch das, dessen Erscheinen bewirkt, 
daß wir uns freuen, gut aber das, dessen Anwesenheit be- 
wirkt, daß wir gut sind? Gewiß. Gut sind aber nun 
doch wir ebenso wie alles andere, was gut ist, durch die 
Anwesenheit einer gewissen Vollkommenheit (Tugend) ἢ 
Mir wenigstens scheint das notwendig zu sein, mein Kalli- 
kles. Aber die Vollkommenheit (Tugend) jeglichen Dinges, 

9Q* 


132 Platons Gorgias. 


-- 


sei es ein Geräte, oder Körper oder Seele oder irgendein 
beliebiges Geschöpf, stellt sich doch wahrlich nicht wie 
zufällig in voller Schönheit ein, sondern durch Ordnung 
und Regel und Kunst, wie sie sich für ein jedes dieser 


Dinge schickt!!°). Ist es so? Meiner Meinung nach, ja. ᾿ 


Ist nicht die Tugend eines jeden Dinges etwas durch 
Ordnung Bestimmtes und Wohlgestaltetes? Ich wenigstens 
möchte es bejahen. Also eine gewisse einem jeden Dinge 
eigentümliche Wohlgestalt ist es, deren Eintritt jegliches 
Ding in der Welt gut macht? Mir wenigstens scheint 
es so. Eine Seele also, welche die ihr eigentümliche 
Wohlgestalt hat, ist besser als eine ungestalte? Not- 
wendig. Nun ist aber diejenige, welche Wohlgestalt hat, 
eine (sittlich) wohlgestaltete? Wie sollte sie das nicht? 
Die wohlgestaltete aber ist besonnen? Unbedingt. Die 
besonnene Seele also ist gut. Ich weiß nichts anderes 
zu sagen als dieses, mein lieber Kallikles. Weißt du 
etwas anderes, so halte nicht zurück damit. 

Kallikles. Du hast das Wort, mein Bester. 

Sokrates. So sage ich denn: wenn die besonnene 
Seele gut ist, so ist die, welche sich in dem entgegenge- 
setzten Zustand befindet wie die besonnene, schlecht. Das 
war aber doch die unverständige und zuchtlose? Ja. Und 
der Besonnene wird doch tun was recht ist gegenüber 
Göttern wie Menschen? Denn er wäre doch nicht be- 
sonnen, wenn er täte was nicht recht ist? Damit ver- 
hält es sich notwendig so. Handelt er nun gegenüber den 
Menschen recht, so handelt er gerecht, gegenüber den 
Göttern aber fromm. Wer aber gerecht und fromm har: 
delt, der ist doch notwendig selbst gerecht und fromm ? 
Ja. Und auch tapfer ist er notwendig. Denn ein be- 


sonnener Mann wird nimmermehr erstreben oder meiden 


was er nicht soll, sondern er wird meiden und erstreben 
was er soll, seien es Sachen oder Menschen oder Lüste 
oder Schmerzen, und wird wacker standhalten, wo es 
die Pflicht gebietet. Mithin ist es unbedingt notwendig, 
mein Kallikles, daß der besonnene Mann, wie er sich 


507 $ 


+ 


Dreiundsechzigstes Kapitel. 133 


uns in der Untersuchung darstellte als gerecht, tapfer 
und fromm, auch ein vollkommen guter Mann ist, und 
daß der gute Mann gut und richtig tut was er tut, und 
daß der richtig Handelnde glücklich und selig ist, der 
Schlechte dagegen und schlecht Handelnde unglück- 
selig120). Das aber wäre der, der den Gegensatz bildet zum 
Besonnenen, der Zuchtlose, dessen Lob du sangst. 


Dreiundsechzigstes Kapitel. 


Dies also ist meine Ansicht und für ihre Wahrheit 
trete ich ein. Ist sie aber wahr, so muß doch wohl 
der, welcher glücklich sein will, Besonnenheit erstreben 
und üben, der Zuchtlosigkeit aber entfliehen, so rasch einen 
jeden von uns die Füße tragen; am liebsten muß man 
es dahin bringen, daß man überhaupt der Züchtigung 
nicht bedarf; wenn man aber entweder selbst derselben 
bedarf, oder irgendein Angehöriger, sei es ein Privatmann 
oder ein Gemeinwesen, so muß man, wer es auch sei, 
ihm Strafe und Züchtigung auferlegen, wenn er glücklich 
werden soll. Das scheint mir das Ziel zu sein, auf das 
man hinblicken muß, um richtig zu leben, und darauf muß 
man ali sein Tun, sowohl die eigenen Bestrebungen wie die 
des Staates hinrichten, dab Gerechtigkeit und Besonnen- 
heit sich dem beigeselle, der glücklich leben will; die 
Begierden aber darf man nicht ungezügelt walten lassen 
und sich nicht auf ihre Befriedigung verlegen, ein end- 
loses Unheil, ein Leben wie das eines Räubers. Denn ein 
solcher Mensch ist weder bei einem anderen Menschen 
beliebt noch bei Gott; denn er ist keiner Gemeinschaft 
fähig, wem aber das Gefühl der Gemeinschaft fehlt, 
bei dem kann von Freundschaft keine Rede sein. Es 
sagen ja doch die Weisen), mein Kallikles, daß die 


. Gemeinschaft und Freundschaft und Wohlverhalten und 


Besonnenheit und Gerechtigkeit es sei, die Himmel und 
Erde, Götter und Menschen zusammenhalten, und des- 


134 Platons Gorgias. 


halb nennen sie dies Weltganze Weltordnung, mein 
Freund, nicht aber Unordnung oder Zuchtlosigkeit. Du 
aber scheinst mir darauf nicht zu achten, und trotz all 
deiner ‚Weisheit bemerkst du nicht, daß die Gleichheit, 
die geometrische!2?) meine ich, bei Göttern und Menschen 
eine wichtige Rolle spielt. Du aber glaubst dem Über- 
maß nachtrachten zu müssen; von der Geometrie aber 
willst du nichts wissen. Gut. Entweder also muß unser 
Satz!®), daß durch den Erwerb der Gerechtigkeit und 
Besonnenheit die Glücklichen glücklich, durch den Besitz 
der Schlechtigkeit dagegen die Unglücklichen unglück- 
lich sind, von uns als falsch erwiesen werder, oder, wenn 
er wahr ist, müssen wir auf die Betrachtung der Folgen 
eingehen. Jene früheren Behauptungen, mein Kallikles, 
bei denen’ du mich fragtest, ob ich im Ernste sagte, 
man müsse sich selbst und seinen Sohn und Freund an- 
klagen, wenn er Unrecht tue, und sich dazu der Rhetorik 
bedienen, sind alle nur Folgen daraus. Und was, wie 
du glaubtest, Polos aus Scham einräumte, das war demnach 
lautere Wahrheit, nämlich daß das Unrechttun häßlicher 
sei als das Unrechtleiden, und je häßlicher, um so schlech- 
ter auch; und wer ein richtiger Redner werden will, der 
mub demnach gerecht und der Gerechtigkeit kundig sein, 
was, wie Polos sagte, Gorgias aus Scham zugab. 


‚Vierundsechzigstes Kapitel. 


Da dem nun so ist, so lab uns erwägen, was es 
mit deinen Schmähungen gegen mich eigentlich auf sich 
hat, ob du nämlich recht hast oder nicht mit deiner 
Behauptung, ich wäre nicht imstande mir selbst oder 
irgendeinem meiner Freunde oder Angehörigen zu helfen 
noch sie aus den größten Gefahren zu retten, und ich wäre, 
wie die Ehrlosen, jedem Angriffslustigen preisgegeben, sei 
es nun, daß er mir nach deinem kecken Ausdruck einen 
Backenstreich verabreichen, oder auch mir das Vermögen 


Vierundsechzigstes Kapitel. 135 


rauben oder mich aus der Stadt verbannen oder — das 
Äußerste — mich töten wolle. Und solches über sich 
ergehen zu lassen ist doch der größte Schimpf, wie dein 
Satz lautet. Der meine aber, der zwar schon oft aus- 
gesprochen worden ist, aber ohne Schaden immer noch 
einmal ausgesprochen werden kann, lautet so: Mein Kalli- 
kles, ungerechterweise einen Backenstreich zu erhalten 
ist nicht der größte Schimpf, auch nicht einem Mord- 
gesellen oder Beutelschneider in die Hände zu fallen; viel 
schimpflicher und schlimmer ist es, mich und die Meinigen 
ungerechterweise zu schlagen und zu verwunden; und 
auch mich zu bestehlen und in die Sklaverei zu schleppen 
und bei mir einzubrechen, kurz jeden erdenklichen Frevel 
an mir und den Meinen zu verüben ist für den Frevler 
schlimmer und schimpflicher als für mich, den vom 
Frevler Heimgesuchten. Diese Sätze, wie sie sich uns 
oben in der früheren Unterredung klar ergaben, werden, 


‘ wie ich behaupte, mag es auch etwas derb klingen, 


durch eiserne und stählerne Beweise gesichert und fest- 
gehalten, wie es wenigstens hiernach scheinen muß. Wenn 
du diese Sicherungen nicht löst oder ein anderer noch 
keckerer als du, dann muß derjenige notwendig im Un- 
recht sein, der anderes behauptet als was ich behaupte. 
Denn ich bleibe immer bei derselben Rede, daß ich nicht 
weiß, wie es sich damit verhält, daß aber von allen, 
mit denen ich zusammengetroffen bin, keiner, wie auch 
jetzt wieder, imstande ist eine andere Ansicht zu ver- 
treten, ohne sich lächerlich zu machen. Ich also halte 
meine Ansicht für die richtige. Wenn sie aber richtig 
ist und wenn demnach das Unrecht das größte Übel ist 
für den, welcher es verübt, und wenn es womöglich ein 
noch größeres Übel als dies größte ist, daß der Frevler 
nicht Strafe leidet, welches ist dann wohl die Hilfe, auf die 
der Mensch sich verstehen muß, wenn er nicht in Wahr- 
heit sich lächerlich machen will? Doch wohl die, welche 
den größten Schaden von uns abwehrt? Diese Hilfe weder 
sich selbst noch seinen Freunden und Angehörigen leisten 


136 Platons Gorgias. 


zu können, das ist doch unwidersprechlich der größte 
Schimpf; die zweite Stelle aber in bezug auf Schimpflich- 
keit nimmt das Unvermögen der Abhilfe gegen das zweit- 
größte Übel ein, die dritte das gegen das dritte und in 
diesem Verhältnis weiter. Nach der natürlichen Größe 
eines jeden Übels richtet sich auch das Lob der Abwehr- 
kraft gegen das betreffende Übel und ebenso der Schimpf 
des Mangels derselben. Verhält es sich so oder anders, 
mein Kallikles? | 
Kallikles. Nicht anders. 


Fünfundsechzigstes Kapitel. 


Sokrates. Von diesen zwei Übeln also, dem Un- 
rechttun und dem Unrechtleiden, ist das größere nach 
unserer Behauptung das Unrechttun, das kleinere das Un- 
rechtleiden. Worüber muß nun der Mensch verfügen, 
um sich selbst so helfen zu können, daß er beider Vor- 
teile teilhaftig wird, nämlich daß er weder Unrecht tut 
noch Unrecht leidet? Kommt es dabei auf ein Vermögen 
an oder auf ein Wollen? Ich meine es so: wird der 
bloße Wille nicht beleidigt zu werden ihn vor Beleidigung 
bewahren, oder wird er vor Beleidigung bewahrt bleiben, 
wenn er sich die Macht verschafft hat nicht beleidigt 
zu werden ? 

Kallikles. Offenbar das letztere, wenn er sich die 
Macht verschafft hat. 

Sokrates. Wie aber steht es nun mit dem Unrecht- 
tun? Genügt der bloße Wille nicht Unrecht zu tun — 
wird man dann wirklich nicht Unrecht tun — oder muß 
man auch dazu ein gewisses Vermögen und eine gewisse 
Kunst sich aneignen, da man, wenn man diese Dinge 
nicht erlernt und geübt hat!%), eben Unrecht tun wird ἢ 
Beantworte mir, mein Kallikles, doch sofort die Frage, 
ob dir richtig scheint, was wir, ich und Polos, in der 
früheren Unverredung uns genötigt sahen einzuräumen, 


c>+ 


Sechsundsechzigstes Kapitel, 137 


nämlich daß niemand freiwillig Unrecht tue, sondern 
alle, die Unrecht tun, es wider Willen tun. 

Kallikles. Mag es dabei sein Bewenden haben, mein 
Sokrates, auf dab du die Untersuchung zu Ende führest. 

Sokrates. Also, wie es scheint, muß man auch, 
um nicht Unrecht zu tun, sich erst ein gewisses Ver- 
mögen und eine gewisse Kunst aneignen. 

Kallikles. Allerdings. 

Sokrates. Welches ist nun die Kunst, die uns in 
die Lage bringt entweder gar kein Unrecht zu erleiden 
oder doch möglichst wenig? Sieh zu, ob sie dir dieselbe 
zu sein scheint wie mir. Mir nämlich scheint sie die 
folgende zu sein: man muß entweder selbst in dem Staate 
herrschen oder auch Tyrann sein, oder man muß Anhänger 
der bestehenden Staatsordnung sein. 

Kallikles. Siehst du, mein Sokrates, wie gern ich 
bereit. bin, dich zu loben, wenn du einmal etwas Rich- 
tiges vorbringst? Mit dieser Behauptung scheinst du mir 
vollkommen recht zu haben. 


Sechsundsechzigstes Kapitel. 


Sokrates. Sieh nun zu, ob ich auch mit dem Fol- 


_ genden deinen Beifall finde. Freundschaft bildet sich, 


wie mir scheint, am innigsten dann, wenn, wie schon 
die Alten und weise Männer sagen, sich der Gleiche dem 
Gleichen gesellt. Meinst du nicht auch? 

Kallikles. Ja. h 

Sokrates. Gesetzt also, es fände sich in einer Stadt, 
wo ein wilder und zuchtloser Tyrann herrscht, ein Mann, 
der weit besser wäre als er, so würde der Tyrann sich 
doch gewiß vor ihm fürchten und niemals von ganzem 
Herzen ihm Freund werden können ἢ 

Kallikles. So ist es. 

Sokrates. Und ebensowenig einem, der viel schlech- 


138 Platons Gorgias. 


ter wäre. Denn ihn verachtet der Tyrann und wird sich 
niemals um seine Freundschaft bemühen. 

Kallikles. Auch dies ist richtig. 

Sokrates. Als alleiniger in Frage kommender Freund 


für einen Tyrannen bleibt also übrig ein Mann, der, von 


gleicher Sinnesart und zu Lob und Tadel mit ihm gleich- 
gestimmt, sich ihm willig fügt und unterwirft. Dieser 
wird eine gewichtige Rolle in diesem Staate Papier! und 
niemand wird ungestraft ihn beleidigen. 

Kallikles. ie | 

Sokrates. Wenn also in diesem Staat einer von den 
jungen Leuten sich im stillen fragte: „Auf welche Weise 
könnte ich mir wohl zu großer Macht verhelfen und dazu, 
daß niemand mir Unrecht täte?“ so ist der Weg dazu, 
wie es scheint, dieser, daß er sich gleich von jung auf ge- 
wöhnt des Herrschers Vergnügen und Leid auch zu dem 
seinigen zu machen, und sich bemüht, ihm so ähnlich 
als möglich zu werden. Nicht wahr? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Er also darf sicher sein, daß ihm kein 
Unrecht widerfährt und daß er im Staat, wie ihr euch 
ausdrückt, eine gewichtige Rolle spielt. 

Kallikles. Allerdings. 

Sokrates. Darf er auch sicher sein, daß er kein 
Unrecht tut? Oder ist daran gar nicht zu denken, wenn 
anders er dem Herrscher, diesem Vertreter der Ungerechtig- 
keit, ähnlich sein und bei ihm großen Einfluß haben 
soll? Nein, ich glaube gerade das Gegenteil: all sein 
Streben wird darauf gerichtet sein, sich die Macht zu 
verschaffen soviel als möglich Unrecht zu tun und troız 
aller Frevel straflos zu bleiben. Nicht wahr? 

Kallikles. Mag sein. 

Sokrates. Also wird er mit dem schlimmsten Übel 
behaftet sein, da er an der Seele verdorben und geschändet 
ist durch die Nachahmung des Gebieters und durch das 
Streben nach Macht. 

Kallikles. Immer wendest du doch die Worte, ich 


Siebenundsechzigstes Kapitel. 139 


weiß nicht wie, hin und her, mein Sokrates. Oder weißt 
du nicht, daß dieser Nachahmer den, der diese Nach- 
ahmung nicht mitmacht, töten wird, wenn es ihm beliebt, 
oder ihm sein Vermögen rauben wird’? 

Sokrates. Ich weiß es wohl, mein guter Kallikles. 
Ich müßte ja sonst auch taub sein. Denn nicht nur von dir 
bekomme ich es zu hören, sondern vorhin auch zu wieder- 
holten Malen von Polos, ja fast von allen Mitbürgern. 
Aber auch du mußt nun von mir hören, daß er ihn zwar 
töten wird, wenn es ihm beliebt; aber dabei ist er ein 
Schurke und jener ein braver Mann. 

Kallikles.. Muß man nun nicht eben über diese 
Hilflosigkeit empört sein ? 

Sokrates. Nein, der Vernünftige nicht, wie das 
Gesagte zeigt. Oder glaubst du, der Mensch müsse es 
darauf ablegen, so lange als möglich zu leben und die 
Künste zu üben, die uns aus den jedesmaligen Gefahren 
retten, und so auch die, deren Pflege du mir empfiehlst, ' 
die Rhetorik, die uns vor Gericht aus der Not rettet? 

Kallikles. Beim Zeus, mit diesem Rat hat es auch 

seine volle Richtigkeit!2). 


Siebenundsechzigstes Kapitel. 


Sokrates. Wie nun, mein Bester? Hältst du auch 
die Kunst des Schwimmens für eine hoch zu preisende? 

Kallikles. Das wahrhaftig nicht. 

Sokrates. Und doch rettet auch sie die Menschen 
vom Tode, wenn sie ins Wasser gefallen sind; denn da 
bedarf es dieser Kunst. Wenn dir diese aber zu unbe- 
deutend erscheint, so will ich dir eine wichtigere nennen 
als sie, nämlich die Steuermannskunst!?), die nicht nur 
Leib und Leben, sondern außerdem auch Hab und Gut 
aus den größten Gefahren rettet, so gut wie die Rede- 
kunst. Sie ist aber anspruchslos und bescheiden und macht 
kein Aufheben von sich und gebärdet sich nicht, als ob 


140 Platons Gorgias. 


sie Wunder was ausrichtete, sondern, wenn sie dasselbe 
ausgerichtet hat wie die Gerichtsrede, wenn sie z. B. 
aus Ägina einen hierher gerettet hat, so fordert sie dafür, 
glaube ich, nur zwei Obolen; und wenn einen aus Ägypten 
oder aus dem Pontos, so fordert sie für diese große Wohl- 
tat, für diese Rettung, wie ich eben sagte, nicht nur 
seiner selbst, sondern auch von Weib und Kind und Hab 
und Gut nach glücklicher Landung im Hafen, wenn es sehr 
hoch kommt, zwei Drachmen, und er selbst, der Meister 
dieser Kunst, der dies vollbracht, steigt aus und ergeht 
sich am Meeresstrand und neben seinem Schiff in schlich- 
tem Gewande. Denn er sagt sich vermutlich, daß es 
ungewiß ist, wem von den Mitreisenden er dadurch ge- 
nützt hat, daß er ihn vor dem Ertrinken im Meere be- 
wahrt hat, und wem er geschadet hat, überzeugt, daß 
sie bei der Landung weder an Leib noch an Seele im 
geringsten besser waren als bei der Einschiffung. Er 
᾿ sagt sich also, daß, wenn ein mit schweren und unheil- 
baren körperlichen Leiden Behafteter nicht ertrunken ist, 


es für diesen ein Unglück war, nicht umgekommen. zu 


sein, ihm also durch ihn kein Nutzen widerfahren ist. 
Und da sollte es für einen, der an dem, was weit kost- 
barer ist als der Leib, an der Seele, mit vielen unheilbaren 
Krankheiten behaftet ist, ein Glück sein, weiter zu leben 
und es sollte ihm von Nutzen sein, daß man ihn, sei es 
aus dem Meere, sei es aus den Schrecken des Gerichtes 
oder sonst welcher Gefahr errettete? Nein, er weiß, dab 
es für einen Schurken kein Glück ist zu leben; denn 
das Leben, das er führt, muß notwendig ein schlechtes sein. 


— [m 


Achtundsechzigstes Kapitel. 


Daher ist es nicht üblich, daß der Steuermann sich 
groß tue, obschon er unser Retter ist. Und ebensowenig, 
mein Verehrungswürdiger, der Kriegsmaschinenbauer, der 
unter Umständen keine geringeren Rettungsdienste leistet 


512 £ 


Achtundsechzigstes Kapitel. 141 


als ein Feldherr, geschweige denn als ein Steuermann, 
oder als sonst irgendeiner; denn zuweilen rettet er ganze 
Städte. In deinen Augen ist er allerdings mit dem Ge- 
richtsredner nicht entfernt zu vergleichen. Und doch, wenn 
er eurem Beispiel, mein Kallikles, folgen und seine 
Leistung aufbauschen wollte, dann könnte er euch auf 
das dringendste zusetzen unter allen Umständen Mecha- 
niker zu werden; alles andere sei nichts. Denn an Gründen 
wird es ihm nicht fehlen. Aber du verachtest ihn und 
seine Kunst nichtsdestoweniger und würdest ihn wie zum 
Spott wegwerfend „Maschinenbauer“ nennen und würdest 
weder seinem Sohne deine Tochter geben wollen, noch 
für deinen Sohn seine Tochter nehmen wollen. Indes 
was hast du nach dem, was du an deinen Leistungen 
rühmst, für ein Recht den Maschinenbauer zu verachten 
sowie die anderen, von denen ich eben sprach? Ja, ich 
weiß wohl, du würdest sagen, du seiest besser und aus 
besserer Familie. Wenn aber das „Besser“ nicht das 
ist, was ich darunter verstehe, sondern die Tugend eben 
darin besteht, daß man sich und das Seinige rette, gleich- 
viel was für ein Mensch man ist, so machst du dich 
nur lächerlich mit deinem Tadel gegen den Maschinenbauer 
und den Arzt und gegen die anderen Künste, die für 
den Rettungsdienst geschaffen sind. Aber, Verehrtester, 
. bei näherer Betrachtung dürftest du wohl erkennen, daß - 
das Edle und Gute etwas anderes ist als Retten und 
Gerettetwerden. Denn wer ein Mann ist wie er sein soll, 
der muß sich lossagen von dem Wunsche so lange als 
möglich zu leben, und darf nicht am Leben hängen; 
diese Sorge muß er der Gottheit überlassen und der Weiber- 
weisheit vertrauen, daß dem Verhängnis niemand ent- 
rinnen kann, und des weiteren sein Augenmerk nur darauf 
richten, wie er die ihm noch bestimmte Zeit zu einem 
möglichst guten Leben gestalte, ob etwa so, daß er 
sich der Staatsordnung, in der er lebt, möglichst ähnlich 
mache, was zur Folge haben würde, daß du dem Volke 
st. der Athener so ähnlich als möglich werden mußt, wenn 


149 Platons Gorgias. 


du bei ihm beliebt sein und im Staate zu großem Einfluß 
gelangen willst. Überlege dir genau, ob dies mir und dir 
frommt, mein Preisenswerter, denn sonst könnte es uns 
vielleicht ergehen, wie es den thessalischen Weibern er- 
gehen soll, welche den Mond vom Himmel herunter ziehen, 
nämlich daß, wenn wir uns für die Wahl der Macht 
im Staate entscheiden, wir diese Wahl mit dem Liebsten 
bezahlen müssen. Wenn du aber glaubst, du könntest 
dieser Staatsordnung unähnlich sein, sei es nach der Seite 
des Besseren oder des Schlechteren, und es könnte dich 
trotzdem irgendein Mensch in den Besitz der Kunst setzen, 
die dich zu einem einflußreichen Manne in dieser Stadt 
machen wird, so bist du meiner Ansicht nach falsch 
beraten, mein Kallikles.. Mit bloßer Nachahmung ist es 

hier nicht getan; deine eigene Natur muß ganz zur ihrigen 
werden, wenn du etwas Rechtschaffenes erreichen willst 
rücksichtlich der Freundschaft zu dem Demos der Athener 
und, beim Zeus, außerdem auch noch zu dem Demos des 
‚Pyrilampes. Wer dich also ihnen so ähnlich wie mög- 
lich macht, der wird dich, wie du es so sehr begehrst, 
zu einem Staatsmann und Redner machen. Denn über 
Reden, die der eigenen Sinnesart entsprechen, freut sich 
jedermann, über andere ärgert er sich. Es müßte denn 
sein, daß du anders darüber denkst, mein trautes Haupt. 
Wollen wir etwas dagegen vorbringen, mein Kallikles? 


Neunundsechzigstes Kapitel. 


Kallikles. Ich bin mir nicht völlig klar, aber ich 
glaube fast, du hast recht, mein Sokrates. Es geht mir 
aber wie der großen Masse: ganz überzeugt bin ich nicht 
von dir!?7), 

Sokrates. Ja; mein Kallikles, die Thiebe zum Volke, 
die in deiner Seele wohnt, stellt sich mir hindernd ent- 
gegen. Aber wenn wir vielleicht öfter und besser eben 
diese Fragen durchprüfen, dann wirst du überzeugt werden. 


st 


“ 


Neunundsechzigstes Kapitel, 143 


Erinnere dich also, daß wir zwei Arten der Tätigkeit 
für die durchgehende Behandlung von Leib und Seele 
unterscheiden, einerseits die, welche dem Vergnügen dient, 
anderseits die, welche dem Besten dient und nicht auf 
bloßes Wohlgefallen ausgeht, sondern die Sache ernstlich 
angreift. Waren das nicht die Bestimmungen, die wir 
damals trafen ? 

Kallikles. Allerdings. 

Sokrates. Also die eine, die es mit dem Vergnügen 
zu tun hat, ist unedler Art und nichts anderes als Schmei- 
chelei. Nicht wahr? 

Kallikles. Mag sein, wenn du so willst. 

Sokrates. Die andere aber geht auf das wahre 
Beste dessen aus, was wir .behandeln, sei es nun Leib 
oder Seele. 

Kallikles. Allerdings. 

Sokrates. Ist nun dies nicht die Art, in der wir 
den Staat und die Mitbürger behandeln müssen, nämlich 
die Sorge, die Bürger selbst so gut wie möglich zu machen ? 
Denn ohne dieses hat es, wie wir in der früheren Unter- 
redung fanden!2), keinen Nutzen, ihnen irgendwelche 
andere Wohltat zu erweisen: die Gesinnung derer, die 
entweder großen Reichtum gewinnen oder über andere 
herrschen oder sonstwie Einfluß erlangen sollen, muß 


edel und gut sein. Wollen wir dies annehmen? 


Kallikles. Gewiß, wenn du es wünschst. 
Sokrates. Gesetzt, wir hätten im Dienste des Staates 


‘zu wirken und forderten uns einander auf zu Bauunter- 


nehmungen und zwar zur Herstellung gewaltiger Bauten 
wie Mauern oder Schiffshäuser oder Tempel, müßten wir 
dann nicht uns selbst auf das strengste prüfen, erstens 
ob wir die Kunst verstehen oder nicht, die Baukunst 
nämlich, und von wem wir sie erlernt haben? ‘Wäre das 
nötig oder nicht? 

Kallikles. Gewiß. 

Sokrates. Und dann zweitens, ob wir jemals ein 
Privatgebäude, sei es für einen unserer Freunde oder 


144 Platons Gorgias, 


für uns selbst, gebaut haben und ob dies Gebäude ge- 
lungen ist oder nicht. Und wenn diese Prüfung ergäbe, 
daß wir tüchtige und namhafte Lehrer gehabt haben und 
viele schöne Bauwerke unter Leitung unserer Lehrer und 
nach Beendigung der Lehrzeit auch viele selbständig und 
allein ausgeführt haben, dann wäre es durch die Um- 
stände gerechtfertigt und hätte Sinn und Verstand, wenn 
wir uns an Öffentliche Werke wagten. ‚Wenn wir aber 
niemanden nachweisen könnten, der unser Lehrer gewesen 
wäre, und auch von Bauwerken entweder gar keines oder 
nur viele mißlungene, dann wäre es doch unvernünftig 
uns mit Staatsbauten zu befassen und uns gegenseitig 
dazu aufzufordern. Sollen wir das für wahr gelten lassen 
oder nicht? 
Kallikles. Durchaus. 


Siebzigstes Kapitel. 


Sokrates. Und ebenso auch in allen anderen Fällen. 
Wenn wir z. B. als staatliche Ärzte wirken wollten und 
uns als angeblich befähigt dafür gegenseitig dazu auf- 
fordern wollten, so würden wir uns, nämlich ich dich und 
du mich doch wohl einander prüfen: „Bei den Göttern, 
sag an, wie steht es mit dem Sokrates selbst rücksichtlich 
seiner Leibesgesundheit? Oder ist schon sonst jemand 
durch Sokrates seine Krankheit losgeworden, ein Sklave 
oder ein Freier?“ Und ich würde meinerseits, denk’ ich, ᾿ 
dieselbe Prüfung wieder mit dir vornehmen. Und wenr 
wir nun keinen einzigen fänden, der durch uns in seinem 
leiblichen Befinden gebessert worden wäre, weder unter 
den Fremden noch unter den Einheimischen, weder einen 
Mann noch ein Weib, wäre es, beim Zeus, dann nicht 
in Wahrheit lächerlich, mein Kallikles, wenn die Men- 
schen in der Unvernunft so weit gehen wollten, daß sie, 
ohne zuvor im Privatleben sich vielfach wie es eben 
gehen wollte, erprobt, vielfach aber auch mit Glück und 


Einundsiebzigstes Kapitel. 145 


Erfolg gearbeitet und sich in ihrer Kunst gehörig aus- 
gebildet zu haben, gleich am Fasse, wie man zu sagen 
pflegt!2°), die Töpferkunst zu erlernen bestrebt und nicht 
nur selbst, in öffentliche Dienste zu treten, sondern auch 
andere dazu aufzufordern beflissen wären. Hältst du ein 
solches Verfahren nicht für unvernünftig ? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Da du nun, mein Trefflichster, eben be- 
ginnst dich selbst mit den Staatsgeschäften zu befassen, 
und mich unter Vorwürfen darüber, daß ich es nicht 
tue, dazu aufforderst, müssen wir uns da nicht gegen- 
seitig prüfen: „Sag an, hat Kallikles schon irgendeinen 
seiner Mitbürger besser gemacht? Ist irgendein Mensch, 
der früher ein Taugenichts war, ungerecht, zügellos, voller 
Unverstand, durch Kallikles brav und tüchtig geworden, 
sei es ein Fremder oder ein Einheimischer, ein Sklave oder 
ein Freier?” Sage mir, wenn jemand dich so ausforscht, 
mein Kallikles, was wirst du ihm antworten? Wen wirst 
du nennen als einen, der durch den Umgang mit dir 
besser geworden ist? Du zögerst mit der Antwort, ob 
du einen Erfolg aus deinem Privatleben aufzuweisen hast, 
ehe du dich an die Öffentlichkeit hervorwagst ἢ 

Kallikles. Es kommt dir bloß darauf an Recht zu 
behalten, mein Sokrates. | 


Einundsiebzigstes Kapitel. 


Sokrates. Nein, nicht aus Rechthaberei frage ich, 
sondern es kommt mir in Wahrheit darauf an zu erfahren, 
in welchem Sinne du glaubst unter uns die Staatsgeschäfte 


. führen zu sollen. Wird nach dem Beginn deiner staats- 


männischen Tätigkeit deine Fürsorge auf etwas anderes 

gerichtet sein als auf die möglichste Besserung von uns 

Bürgern? Oder haben wir uns nicht wiederholt schon 

darüber verständigt, daß dies die eigentliche Aufgabe des 

Staatsmannes sein muß? Ja oder nein? Antworte. Ja. 
Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Βᾶ. 148. 10 


146 Platons Gorgias. 


Dies sei die Antwort, die ich statt deiner gebe. Wenn 
also der tüchtige Mann in diesem Sinne für seinen Staat 
wirken muß, so sage mir nun in Erinnerung an die kurz 
vorher von dir genannten Männer, ob sie dir auch jetzt 
noch tüchtige Staatsmänner gewesen zu sein scheinen, 
Perikles und Kimon und Miltiades und Themistokles. 

Kallikles. Gewib. 

Sokrates. ‘Wenn sie also tüchtig waren, so hat 
offenbar ein jeder von ihnen seine Mitbürger aus schlech- 
teren zu besseren gemacht. Ja oder nein? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Also als Perikles zum ersten Male vor 
dem Volke redete, waren die Athener schlechter als da- 
mals, wo er zum letzten Male redete? 

Kallikles. Vielleicht. 

Sokrates. Nein, nicht vielleicht, mein Bester, son- 
dern ganz unwidersprechlich nach unseren Zugeständ- 
nissen, wenn er wirklich ein tüchtiger Staatsmann war. 

Kallikles. Was willst du damit? | 

Sokrates. Nichts. Aber dies sage mir nun noch, 
ob nach dem allgemeinen Urteil die Athener durch Peri- 
kles besser geworden sind, oder ob sie ganz im Gegenteil 
von ihm zugrunde gerichtet worden sind. Denn ich 
wenigstens höre, Periklest30) habe die Athener träge und 
feig und geschwätzig und geldsüchtig gemacht, indem 
er zuerst das Besoldungswesen einführte. 

Kallikles. Das hörst du von den Leuten mit den zer- 
schlagenen Ohren), mein Sokrates. 

Sokrates. Aber das Folgende höre ich nicht nur, 
sondern weiß es ganz genau, ich sowohl wie du, dab 
Perikles anfänglich in gutem Rufe stand und die Athener 
ihn nicht vor Gericht schimpflich verurteilten, solange 
sie noch schlechter waren; als sie aber durch ihn tüchtig 
und brav geworden waren, gegen Ende seiner Lebens- 


516 S 


zeit, da verurteilten sie ihn wegen Unterschlagung, und . 


es fehlte nicht viel, so hätten sie das Todesurteil über 
ihn gefällt, offenbar als über einen nichtswürdigen Mann. 


Zweiundsiebzigstes Kapitel. 147 


Zweiundsiebzigstes Kapitel. 


Kallikles. ‚Wie nun? War denn deshalb Perikles 
schlecht ? 

Sokrates. Wenigstens würde doch wohl ein Hüter 
von Eseln und Pferden und Rindern als schlecht gelten, 
wenn er es mit dieser seiner Kunst zuwege brächte, dab 
die Tiere, die er in seine Pflege übernahm, ohne dab sie 
‚gegen ihn ausschlugen und mit den Hörnern stießen und 
bissig waren, später infolge von Verwilderung alle diese 
Unarten zeigten. Oder scheint dir nicht der ein schlechter 
Hüter irgendwelcher beliebigen lebenden Wesen zu sein, 
der diese Wesen, die er in leidlich zahmem Zustand über- 
nommen hat, wilder werden ließ als sie bei der Übernahme 
waren? Ja oder nein? 

Kallikles. Ja denn, um dir zu Gefallen zu sein. 

Sokrates. Also sei auch so gefällig mir das zu 
beantworten, ob auch der Mensch eines von den leben- 
den Wesen ist oder nicht? 

Kallikles. Selbstverständlich. 

Sokrates. Waren es nicht Menschen, die Perikles 
unter seiner Obhut hatte? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Wie nun? Hätten sie nicht nach unseren . 
eben gemachten Zugeständnissen3#) durch ihn aus Un- 
gerechteren Gerechtere geworden sein müssen, wenn er 
als wirklich tüchtiger Staatsmann die Obhut über sie 
übte ἢ aa, | 

Kallikles. Allerdings. | 

Sokrates. Nun sind doch die Gerechten zahm, wie 
Homer!) sagt. Du aber, was sagst du? Nicht dasselbe? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Nun machte er sie aber doch wilder 
als sie bei der Übernahme waren, und noch dazu gegen 
ihn selbst, zu seiner schlimmsten Enttäuschung. 

Kallikles. Soll ich dir das zugeben? 

10* 


148 Platons Gorgias. 


Sokrates. Wenn du es für richtig hältst. 

Kallikles. So mag es denn so sein. 

Sokrates. Wenn er sie nun wilder machte, dann 
doch auch ungerechter und schlechter’? 

Kallikles. Mag sein. 

Sokrates. Also nach diesem Nachweis war Perikles 
kein guter Staatsmann. | 


Kallikles. Wohlgemerkt, nach deiner Meinung. 


Sokrates. Nein, beim Zeus, auch nach deiner zu- 
folge deiner Zugeständnisse. Nun weiter zum Kimon !13%) 
Haben nicht diejenigen, die unter seiner Obhut standen, 
ihn durch das Scherbengericht aus der Stadt vertrieben, 
um zehn Jahre seine Stimme nicht hören zu müssen ? 
Und dem Themistokles taten sie das Gleiche an und 
bestraften ihn außerdem noch mit Verbannung. Den 
Miltiades!35) aber, den Helden von Marathon, beschlossen 
sie in die Felsenschlucht hinabzustürzen und nur dem 
Dazwischentreten des Prytanen hatte er es zu danken, 
daß es nicht geschah. Und doch wäre ihnen das nie 
widerfahren, wenn sie, wie du sagst, tüchtige Männer 
gewesen wären. Denn es wäre doch töricht, zu glauben, 
die tüchtigen Wagenlenker, die anfangs nicht von den 
‚Wagen herunterstürzen, würden späterhin, wenn sie erst 
ihre Pferde gehörig gepflegt und selbst bessere Wagen- 
lenker geworden sind, gleichwohl herabstürzen. Nein, so 
steht es weder bei der Kunst des Wagenlenkens noch bei 
sonst einer Tätigkeit. Oder meinst du? 


Kallikles. Nein. 


Sokrates. Es hat also, wie es scheint, seine Richtig- 
keit mit unseren vorigen Behauptungen, daß wir keinen 
kennen, der in diesem unseren Staate sich als einen tüch- 
tigen Staatsmann erwiesen hätte. Du aber gabst dies 
wohl von den jetzigen Staatsmännern zu, nicht aber von 
den früheren und wiesest vorzugsweise auf die genannten 
Männer hin. Sie aber erwiesen sich als auf gleicher 
Stufe stehend mit den jetzigen. Sind sie also Redner 


Dreiundsiebzigstes Kapitel. 149 


gewesen, so haben sie weder die wahre Beredsamkeit') 
geübt — denn sonst wären sie nicht durchgefallen — 
noch auch die schmeichlerische, 


Dreiundsiebzigstes Kapitel. 


Kallikles. Aber es ist doch gar nicht daran zu 
denken, mein Sokrates, daß jemals irgendeiner der jetzigen 
Staatsmänner so große Werke schaffe, wie sie jene ohne 
Ausnahme geschaffen haben. 

Sokrates. Mein Preisenswerter, auch ich tadle sie 
ja nicht als Diener des Staates, ja sie scheinen mir 
sogar bessere Diener desselben gewesen zu sein als die 
jetzigen und fähiger die Bedürfnisse des Staates zu be- 
friedigen. Aber darin, die Begierden umzulenken und 
ihnen zu wehren durch Überredung und Nötigung zu dem, 
was die Bürger besser machen sollte, hatten sie vor. den 
jetzigen Staatsmännern auch nicht das Geringste voraus. 
Und doch ist das das einzig würdige Werk eines tüch- 
tigen Staatsmannes. Schiffe und Mauern und Schiffs- 
häuser und was dergleichen mehr ist fertigzustellen waren 
jene allerdings geschickter als die jetzigen; das gebe auch 
ich dir zu. Das Verfahren also, das wir in unserer Unter- 
suchung befolgen, ich und du, fordert geradezu‘ zum 
Lachen heraus. Denn im ganzen Verlaufe unserer Unter- 
redung sehen wir uns unaufhörlich immer wieder auf 
denselben Punkt zurückgeworfen und bleiben einander un- 
verständlich mit unseren Behauptungen. Ich nämlich 
glaube, du hast oft genug zugestanden und anerkannt, daß 
es sowohl in Beziehung auf den Körper wie auf die 
Seele eine doppelte Tätigkeit gibt, die eine eine dienende, 
die es ermöglicht, unserem Körper, wenn er hungert, 
Speisen, wenn er durstet, Getränke, wenn er friert, Kleider, 
Decken, Schuhe und was sonst der Körper zu seiner 
Befriedigung verlangt, zu liefern. Und absichtlich rede 
ich zu dir durch die nämlichen Bilder, damit du es 


150 ἱ Platons Gorgias. 


leichter verstehest. Wenn nämlich einer sich auf Be- 
schaffung dieser Dinge versteht, sei es als Krämer oder 
‘ Kaufmann oder Handwerker irgendwelcher Art, Bäcker 
oder Koch oder Weber oder Schuster oder Gerber, so 
ist es nicht zu verwundern, wenn er auf Grund solcher 
Eigenschaft sowohl in seinen eigenen Augen als auch bei 
den anderen als ein Pfleger des Leibes gilt, bei jedem 
nämlich, der nicht weiß, daß es neben allen diesen Tätig- 
keiten noch eine Kunst der Gymnastik und der Heilkunde 
gibt, die erst in Wahrheit Pflege des Körpers ist. Ihr 
kommt es denn auch zu, über alle diese Künste zu herr- 
schen und für die rechte Verwendung ihrer Leistungen 
zu sorgen, weil sie weiß, was von den Speisen und Ge- 
tränken nützlich und schädlich ist für des Leibes Tüchtig- 
keit, während alle jene anderen davon nichts verstehen. 
Daher sind denn auch diese anderen sogenannten Künste, 
die es mit der Behandlung des Leibes zu tun haben, 
niedrigen und dienenden und unfreien Charakters, während 
Gymnastik und Heilkunst den vollen Anspruch darauf 
haben, Herrinnen über jene zu sein. Wenn ich nun 
sage, daß dasselbe Verhältnis auch für die Seele gilt, 
so verstehst du, scheint es, wohl meine Meinung, wenn ich 
sie entwickele, und stimmst ihr bei als wärest du von ihrer 
Richtigkeit überzeugt; gleich darauf aber kommst du 
wieder mit der Behauptung, es habe treffliche und tüch- 
tige Staatsmänner in unserem Staate gegeben, und wenn 
ich nun frage, welche, so lautet deine Antwort mit ihrem 
Hinweis auf angebliche große Staatsmänner ganz ähnlich 
als wolltest du mir auf meine etwaige Frage, was es in 
Sachen der Gymnastik für tüchtige Pfleger des Leibes 
gegeben habe oder gebe, in vollem Ernste erwidern, dab 
der Bäcker Thearion und Mithaikos13”), der das Buch 
über die sizilische Kochkunst verfaßt hat, und der Krämer 
Sarambos1!3®) bewundernswerte Pfleger des Leibes seien, 
denn der eine bereite treffliche Brote, der andere Speisen, 
der dritte Wein. Si 


518 $i 


Vierundsiebrigstes Kapitel. 151 


Vierundsiebzigstes Kapitel. 


Vielleicht würdest du ärgerlich, wenn ich zu dir 
sagte: Mensch, du verstehst nichts von Gymnastik; du 
sprichst mir von Dienern und von Menschen, die sich 
nur mit der Befriedigung von Begierden abgeben, aber 
von dem eigentlich Guten, worauf es dabei ankommt, 
nichts verstehen; sie füllen gegebenenfalls die Leiber der 
Menschen an und machen sie fett und werden darob 
von ihnen auch noch gelobt, wenn es auch schließlich 
dahin kommt, daß sie ihnen auch ihr ursprüngliches Fleisch 
verderben. Diese letzteren aber werden in ihrer Unkennt- 
nis nicht jene Beköstiger als Urheber ihrer Krankheiten 
und des Abfalls des alten Fleisches beschuldigen, son- 
dern diejenigen, die zufällig dann ihnen zur Seite stehen 
und Rat geben, wenn die frühere Anfüllung, bei der 
keine Rücksicht auf Gesundheit genommen wurde, ge- 
raume Zeit später die Krankheit zuwege gebracht hat. 
Diese sind es dann, die sie anklagen und tadeln und wo- 
möglich mißhandeln werden, während sie jene früheren 
wirklichen Urheber des Unheils preisen werden. Und 
du, mein Kallikles, machst es jetzt genau so. Du preist 
Menschen, welche dem Athenervolke Schmausereien be- 
reitet haben, es fütternd mit dem, wonach ihm der Sinn 
stand. Und es geht die Rede, sie hätten die Stadt groß. 
gemacht, daß sie aber durch die Schuld jener alten Staats- 


. männer krankhaft aufgedunsen und vereitert ist, das 


merkt man nicht. Denn ohne Besonnenheit und Gerechtig- 
keit haben sie die Stadt mit Häfen und Schiffshäusern 
und Mauern und Tributen und dergleichen Tand ange- 
füllt. Wenn nun die Krankheit zum Ausbruch kommt, 
dann werden sie die jeweiligen Ratgeber als die Schuldigen 
anklagen, den Themistokles aber und Kimon und Perikles, 
die eigentlichen Urheber des Unheils, werden sie preisen. 
Über dich aber werden sie vielleicht herfallen, wenn du 
dich nicht in acht nimmst, und über meinen Freund Alki- 
biades, wenn sie mit dem neugewonnenen Besitz auch noch 


152 Platons Gorgias. 


den alten verlieren; und doch seid ihr höchstens mit- 
schuldig an dem Unheil, nicht die eigentlichen Urheber. 
Indes ist es doch ein unvernünftiges Schauspiel, das sich 
ebenso, ‘wie ich sehe, in der Gegenwart abspielt, wie es, 
nach dem, was ich höre, auch bei jenen alten Männern 
vorkam. Denn ich bemerke, daß, wenn der Staat einen 
von den Staatsmännern als Übeltäter hart anfaßt, sie 
in hellem Zorn auffahren und erschrecklich jammern, 
wie schlimm es ihnen ergehe; sie, die großen Wohltäter 
der Stadt, würden nun ungerechterweise von ihr zu- 
grunde gerichtet. So sagen sie. Das ist aber alles Lüge. 
Denn niemals wird auch nur ein einziger Lenker eines 
Staats von dem Staat selbst, den er lenkt, zugrunde ge- 
richtet. Denn es scheint mit denen, welche sich als Staats- 
männer aufspielen, gerade so zu stehen wie mit den Sophi- 
sten. Denn auch die Sophisten, im übrigen weise Männer, 
machen sich doch eines unbegreiflichen Widerspruchs 
schuldig. Sie behaupten nämlich Lehrer der Tugend zu 
sein und gleichwohl klagen sie oft genug ihre Schüler 
des Unrechts gegen sich an, begangen durch Vorent- 
haltung der bedungenen Bezahlung und durch sonstigen 
Undank, dessen sie sich trotz aller empfangenen Wohl- 
taten schuldig machen. Hat es aber einen Sinn, oder ist 
es nicht vielmehr reiner Unsinn, daß Menschen, die gut 
und gerecht geworden sind, dann, wenn sie durch ihren 
Lehrer die Ungerechtigkeit losgeworden und der Gerech- 
tigkeit teilhaftig geworden sind, gleichwohl Unrecht tun 189), 
also ohne Vorhandensein dessen bei ihnen, wodurch das 
Unrecht erst möglich wird? Scheint dir das nicht unge- 
reimt zu sein, mein Freund? Du hast mich, mein Kalli- 
kles, durch deine Weigerung zu antworten in der Tat 
genötigt eine lange Rede zu halten 149). 


Fünfundsicbzigstes Kapitel. 153 


Fünfundsiebzigstes Kapitel. 


Kallikles. Als ob du nicht imstande wärest auch 
ohne Antwortgeber dich verständlich zu machen! 

Sokrates. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jetzt 
wenigstens verfalle ich in die Unsitte, lange Reden zu 
halten, weil du mir nicht antworten willst. Aber, mein 
Guter, sage beim Freundesgott, scheint es dir nicht unver- 
nünftig, erst zu behaupten, man habe einen zu einem 
guten Menschen gemacht und dann ihn zu’ tadeln, dab 
er ein schlechter Mensch sei, obschon er durch uns selbst 
zum guten Menschen gemacht worden ist und es auch ist? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Vernimmst du nicht dergleichen Reden 
von denen, die behaupten, die Menschen zur Tugend 
zu erziehen ? 

Kallikles. Ja. Doch wozu Worte verlieren über 
Leute, die keiner Beachtung wert sind ? 

Sokrates. Was sagst du aber zu jenen Leuten, die 
erst vorgeben, als Leiter des Staates zu sorgen, daß er 
in den bestmöglichen Zustand gelange, und dann wieder 
gegebenenfalls ihn anklagen als angeblich den aller- 
schlechtesten ? Findest du einen Unterschied zwischen 
diesen und jenen? Nein, mein Verehrungswürdiger, 
Sophist und Redner sind dasselbe oder einander nahe 
verwandt und ähnlich, wie ich zum Polos sagte. Du 
aber hältst in deiner Unkenntnis das eine, die Rhetorik, 
für etwas Hochherrliches, das andere dagegen verachtest 
du. Tatsächlich aber steht die Sophistik an Schönheit 


‚über der Rhetorik in eben dem Maße, in dem die Ge- 


setzgebungskunst über der richterlichen und die Gym- 
nastik über der Heilkunst steht!#). Auch war ich des 
Glaubens, daß Volksredner und Sophisten die einzigen 
seien, denen es nicht zustehe diejenigen Leute, welche 
sie selbst erziehen, der Schlechtigkeit gegen sich zu be- 
zichtigen, wofern sie nicht mit eben diesem Tadel zu- 
gleich gegen sich selbst die Anklage richten wollen, daß 


154 ᾿ς Platons Gorgias. 


sie denen keinen Nutzen gebracht haben, denen sie dies 
versprachen. Ist es nicht so ὃ 

Kallikles. Allerdings. 

Sokrates. Sie allein wären doch eigentlich auch 
in der Lage, von Bezahlung für die Wohltat abzusehen, 
wofern sie die Wahrheit sagten. Denn wenn jemand eine 
Wohltat anderer Art erfahren hat,. z. B. schnellfüßig 
geworden ist durch einen Turnlehrer, so könnte er ihm 
vielleicht die Entgeltung: vorenthalten, wenn ihm der Turn- 
lehrer freie Hand gelassen und nicht sich die Zahlung 
so ausbedungen hätte, daß er womöglich ganz gleich- 
zeitig mit der Darbietung der Schnelligkeit auch sein | 
Geld bekomme. Denn ich meine, nicht die Langsamkeit 
ist es, auf Grund deren die Menschen Unrecht tun, son- 
dern die Ungerechtigkeit. Nicht wahr 142) 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. ‘Wer also eben dieses einem wegnimmt, 
die Ungerechtigkeit, der braucht nicht zu befürchten, daß 
ihm von dem Betreffenden jemals Unrecht widerfahre, 
sondern für ihn allein hat es keine Gefahr diese Wohl- 
tat frei hinzugeben, sofern er in Wahrheit imstande ist 
Menschen gut zu machen. Nicht wahr? 

Kallikles. Ja. 


Sechsundsiebzigstes Kapitel. 


Sokrates. Daraus erklärt es sich doch wohl auch, 
daß man für die anderen Ratschläge, die man erteilt, 
z. B. betreffend einen Hausbau oder andere Künste, ruhig 
(Geld nehmen kann, ohne damit etwas Unehrenhaftes zutun. 

Kallikles. So scheint es. 

Sokrates. In bezug aber auf unsere Frage, auf 
welche Weise einer so tüchtig als möglich werden und 
so gut als möglich sein Haus oder den Staat verwalten 
könne, gilt es allgemein als unehrenhaft seinen Rat zu 
verweigern, wenn man ihn nicht bezahlt bekommt. Nicht 
wahr? 


er 
. 


Scchsundsiebzigstes Kapitel. 155 


Kallikles. Ja. 

Sokrates. Offenbar ist der Grund dafür der, daß 
dies die einzige Art von Wohltat ist, die in dem Emp- 
fänger das Bestreben weckt die Wohltat durch Wohltat 
zu erwidern, so daß es als ein schönes Zeugnis gelten 
darf, wenn der Wohltäter auch seinerseits wieder Wohl- 
tat empfängt. Geschieht es nicht, so ist es ein schlimmes 
Zeichen. Verhält es sich damit so? 

Kallikles. Ja. 

Sokrates. Zu welcher Art von Tätigkeit für den 
Staat forderst du mich also auf? Gib mir genau Bescheid. 
Soll ich im Kampf mit den Athenern wie ein Arzt darauf 
hinarbeiten, daß sie möglichst gut werden, oder soll ich 
wie ein Diener ihnen nach dem Munde reden? Sage mir 


‘ die Wahrheit, mein Kallikles. Denn es ist recht und billig, 


daß du, so wie du anfänglich freimütig zu mir redetest, 
so auch bis zu Ende sagst, was du denkst. So gib auch 
jetzt eine offene und ehrliche Antwort. 

Kallikles. Gut denn, wie ein Diener. 

Sokrates. Also ein Schmeichler soll ich sein zu- 
folge deiner Aufforderung, du Allertrefflichster ? 

Kallikles. Nun, sogar ein Myser!#), mein Sokrates, 
wenn dir’s lieber ist, so zu heißen; denn wenn du das 
verweigerst — 

Sokrates. Sage nicht, was du schon oft genug ge-. 
sagt hast), daß mich jeder, der Lust hat, töten wird; 
denn sonst werde auch ich wieder sagen: „Ja, aber als 
ein Schurke einen ehrenwerten Mann.“ Und sage auch 
nicht, daß er mir rauben wird, was ich etwa besitze, 
denn sonst werde auch ich wieder sagen: „Mag er mir’s 
rauben, er wird doch nichts Rechtes damit anzufangen 
wissen, sondern wie er es mir widerrechtlich raubte, so 
wird er auch, wenn er es in Besitz hat, einen widerrecht- 
lichen Gebrauch davon machen; wenn aber widerrechtlich, 
dann häßlich, und wenn häßlich, dann schlecht.‘ 


156 Platons Gorgias, 


Siebenundsiebzigstes Kapitel. 


Kallikles. Wie sicher, mein Sokrates, scheinst du 
zu glauben, keine dieser Gefahren könne dich je treffen, 
als wohntest du ganz wo anders und als könntest du nicht 
von einem vielleicht ganz elenden und nichtswürdigen 
Menschen vor die Richter gebracht werden 1145) 

Sokrates. Ja, ich wäre allerdings, mein Kalli- 
kles, ein. großer Tor, wenn ich nicht glauben wollte, 
daß in unserem Staate jeden jedes nur denkbare Schick- 
sal treffen kann. Aber das weiß ich ganz genau: wenn 
ich aus einem der obigen Gründe angeklagt werde und 
vor die Richter gebracht werde, so ist es ein Schurke, 
der mir das antut; denn kein redlicher Mann wird einen 
schuldlosen Menschen vor Gericht bringen. Und ein Wun- 
der wäre es nicht, wenn ich zum Tode verurteilt würde. 
Soll ich dir sagen, weshalb ich darauf gefaßt bin? 

Kallikles. Jawohl. | 

Sokrates. Ich glaube allein oder nur mit wenigen 
Athenern mich der wahren Staatskunst zu befleißigen 
und allein unter den Lebenden dem Staate wahrhaft zu 
dienen. Da ich nun bei meinen vielfachen Unterhaltungen 
niemals jemandem nach dem Munde rede, sondern immer 
nur im Hinblick auf das wahre Beste und nicht auf 
das Angenehmste, und da ich mich nicht einlassen will 
auf das, wozu du aufforderst, nämlich auf jene Schön- 
rednerei, so werde ich vor Gericht nicht wissen, was 
ich zu sagen habe. Ich komme wieder auf das Nämliche 
zurück, was ich schon dem Polos gegenüber ausführte1#), 
Ich werde nämlich verurteilt werden, wie ein Arzt unter 
Kindern verurteilt würde, wenn ein Koch ihn anklagte. 
Denn frage dich nur, was ein solcher Mann als Ange- 
klagter vor ihnen wohl zu seiner Verteidigung antworten 
würde, wenn ein Ankläger ihn folgendermaßen beschul- 
digte: Liebe Kinder, dieser Mann hat euch viel Übles 
angetan und richtet auch selbst schon die jüngsten unter 
euch zugrunde mit Schneiden und Brennen und macht 


Si 
_ 


Achtundsiebzigstes Kapitel. 157 


euch dürr und welk und bereitet euch Pein durch Ver- 


. ordnung der bittersten Arzeneien und läßt euch hungern 


und dursten und regaliert euch nicht, wie ich es tat, mit 
vielen süßen und mannigfachen Speisen. Was würde wohl 
ein in solche Bedrängnis geratener Arzt zu sagen wissen’? 
Oder, wenn er die Wahrheit sagte: ‚Das alles tat ich, 
liebe Kinder, eurer Gesundheit zuliebe‘, was für ein Ge 
schrei würden dann wohl solche Richter erheben? Nicht 
ein gewaltiges ? 

Kallikles. Vielleicht. Glauben wenigstens sollte 
man es. | 
Sokrates. Wird er nicht in voller Verzweiflung 
sein, was er sagen soll? 

Kallikles. Allerdings. 


Achtundsiebzigstes Kapitel. 


Sokrates. In derselben Lage würde auch ich mich 
befinden, wenn ich vor Gericht erscheinen müßte; das 
weiß ich ganz sicher. Denn Genüsse, die ich ihnen ver- 
schafft hätte, werde ich ihnen nicht aufzählen können, 
und das ist es doch gerade, was sie als Wohltaten und 
Förderungen betrachten, während ich weder diejenigen 


- preise, die sie schaffen, noch diejenigen, denen sie ver- 


schafft worden. Und wenn einer sagt, ich verderbe junge 
Leute dadurch, daß ich sie an sich selbst irre mache, oder 
ich schmähe die Älteren durch kränkende Reden im per- 
sönlichen oder öffentlichen Verkehr, so werde ich weder 
die ‘Wahrheit sagen können: „Alles dies sage und tue 
ich im Einklang mit der Gerechtigkeit‘ — darüber zu 
urteilen ist ja eben eure Sache, ihr Richter!) —, noch 
irgend etwas anderes. Es bleibt mir also wohl nichts 
übrig, als über mich ergehen zu lassen, was das Schick- 
sal eben bringt. 

Kallikles. Was sagst du nun dazu, mein Sokrates, 
wenn ein Mensch im Staate sich in solcher Lage befindet 


158 Platons Gorgias. 


und unfähig ist, sich selbst zu helfen? Ist das etwas 
Schönes ? | 
Sokrates. Ja, wenn er eines von sich sagen darf, 
wozu du schon wiederholt deine Zustimmung gegeben 
hasti#8): wenn er sich selbst geholfen hat dadurch, daß er 
weder gegen Menschen noch Götter ein Unrecht begangen 
hat, weder in Wort noch in Tat. Denn wir haben wieder- 
holt eingeräumt, dies sei die beste Selbsthilfe. Könnte 
mir nun jemand die Unfähigkeit nachweisen, diese Hilfe 
mir selbst und einem anderen zu leisten, so würde ich 
mich schämen, möchte dieser Nachweis nun in größerem 
oder engerem Kreis oder auch bloß unter vier Augen ge- 
führt werden; und müßte ich auf Grund dieser Unfähig- 


keit den Tod erleiden, so wäre ich außer mir. Müßte ich ᾿ 


aber in den Tod gehen, weil ich ein Stümper bin in der 
schmeichlerischen Beredsamkeit, so kannst du dessen ge- 
wiß sein, daß ich den Tod leicht ertrage. Denn das 
Sterben an sich fürchtet niemand, er müßte denn keine 
Spur von Verstand und Mannhaftigkeit in sich haben, aber 
das Unrechttun fürchtet er; denn daß die Seele übervoll 
von Frevel in den Hades kommt, das ist das größte aller 
Übel. Wenn du willst, will ich dir zum Erweis dessen eine 
Greschichte erzählen. 

Kallikles. Nun, da du das andere Ban hast, 


so erledige auch das. | 


Neunundsiebzigstes Kapitel. 


Sokrates. So vernimm denn!#). — denn so beginnt 
man ja den Vortrag eines Märchens — eine sehr schöne 
Geschichte, die du vermutlich für eine Sage halten wirst, 
ich aber für eine Geschichte; denn ich werde dir als 
wahr vortragen, was ich dir zu erzählen denke. Wie 
Homer nämlich sagt, verteilten Zeus und Poseidon und 
Pluton die Herrschaft unter sich, nachdem sie sie von 
ihrem Vater erhalten hatten. Es bestand nun unter Kronos 


523 S 


Neunundsiebzigstes Kapitel. 159 


das Gesetz für die Menschen — und es gilt wie immer 
so auch jetzt noch unter den Göttern — dab derjenige, 
der sein Leben in Gerechtigkeit und Frömmigkeit voll- 
bracht hat, nach seinem Tode nach den Inseln der Seligen 
versetzt werde und dort in voller Glückseligkeit wohne, 
fern von allem Leid, während derjenige, der ein unge- 
rechtes und gottloses Leben geführt habe, in die Ge- 
fängnisstätte der Buße und Strafe komme, die sie Tartaros 
nennen. Das Richteramt hatten unter Kronos und auch 
noch unter dem seit kurzem herrschenden Zeus Lebende 
über Lebende und sie richteten an dem Tage, an dem 
die Menschen sterben sollten. Die Richtersprüche fielen 
also schlecht aus. So kamen denn Pluton und die Auf- 
seher von den Inseln der Seligen zum Zeus und be- 
klagten sich, daß beiderseits Menschen zu ihnen kämen, 
die nicht dahin gehörten. Zeus also sagte: Gut, ich 
werde dem ein Ende machen. Denn jetzt werden die 
Richtersprüche schlecht gefällt. Die zu Richtenden näm- 
lich, sagte er, haben eine Hülle um sich, wenn sie ge- 
richtet werden; denn sie leben noch, wenn sie gerichtet 
werden. Viele also, sagte er, welche schlechte Seelen 
haben, sind umkleidet mit schönen Leibern und mit Adel 
und Reichtum, und wenn das Gericht ergeht, finden sich 
viele ein um ihnen zu bezeugen, daß sie gerecht gelebt 
haben. Die Richter werden denn durch diese befangen. 
gemacht, wozu noch kommt, daß sie selbst auch als Um- 
hüllte richten, da sich vor ihrer Seele die Hülle der Augen, 
Ohren und des ganzen Leibes findet. Das alles wird 
ihnen also hinderlich, die eigene Umhüllung und die 
derer, die zu richten sind. Zunächst nun, sagte er, muß 
dem ein Ende gemacht werden, daß sie ihren Tod voraus- 
wissen; denn jetzt ist das der Fall. Dieser Auftrag ist 
denn auch an den Prometheus erteilt worden, auf daß 
er diesen Übelstand abstelle. Ferner müssen sie alle nackt 
gerichtet werden, nämlich erst wenn sie tot sind. Auch 
der Richter muß nackt sein, ein Toter, der unmittelbar 
mit der Seele die ebenfalls unbekleidete Seele des jedes- 


160 Platons Gorgias. | 


maligen unerwartet Gestorbenen beschaut, als eines solchen, 
der verlassen ist von allen seinen Verwandten und allen 
jenen Schmuck auf Erden zurückgelassen hat, damit der 
Richterspruch gerecht ausfalle. Dies alles hatte ich längst 
vor euch erkannt und bestimmte zu Richtern meine Söhne, 
zwei aus Asien, Minos und Rhadamanthys, einen aus 
Europa, Äakos. Diese also werden nach ihrem Tode das 
Richteramt üben auf der heiligen Wiese, an dem Dreiweg, 
von dem zwei Wege abgehen, der eine nach den Inseln 


524 Si 


der Seligen, der andere nach dem Tartaros. Die aus Asien 


Kommenden wird Rhadamanthys richten, die aus Europa 
Äakos. Dem Minos aber werde ich das Ehrenamt verleihen, 
die Entscheidung zu treffen, wenn die beiden anderen über 
einen Fall in Zweifel sind, damit das Urteil über das 
Ziel der Wanderung so gerecht als möglich für die Men- 
schen ausfalle. | 


— oo nn 


Achtzigstes Kapitel. 


Das ist es, mein Kallikles, was, durch Kunde ver- 
nommen, mir als unbedingt wahr gilt. Und aus dieser 
Kunde ziehe ich nun folgende Schlüsse. Der Tod ist, 
wie mir scheint, nichts anderes als die Trennung zweier 
Dinge voneinander, der Seele und des Jeibes. Nach ihrer 
Trennung aber voneinander bewahrt jedes von beiden fast 
unverändert den Zustand wie bei Lebzeiten des Menschen. 
Zunächst der Körper; seine natürliche Beschaffenheit, 
seine Lebensgewohnheiten, seine Leiden, alles ist deutlich 
an ihm ausgeprägt. Wenn z. B. jemand bei Lebzeiten 
einen großen Körper hatte, sei es von Natur oder durch 
die Art der Ernährung oder durch beides, so ist nach 
seinem Tode auch sein Leichnam groß; und wenn dick, 
dann dick auch im Tode und so weiter. Und wenn einer 
sein Haar lang wachsen ließ, so zeigt auch sein Leich- 
nam langes Haar. Und wenn einer im Leben ein ver- 
prügelter Nichtsnutz war und am Körper Narben als 


+ 


Achtzigstes Kapitel. 161 


Spuren der Schläge von Geißelhieben oder sonstigen 
blutigen Züchtigungen an sich trug, so kann man auch 
am Leibe des Gestorbenen dies alles noch erkennen. Und 
waren im Leben die Gliedmaßen jemandes gebrochen oder 
verrenkt, so ist das auch am Toten erkennbar. Kurz, die 
Merkmale, die einer bei Lebzeiten seinem Körper auf- 
geprägt hatte, die zeigen sich auch noch bei dem Toten, 
entweder sämtlich oder die meisten noch für einige Zeit. 
Und das Nämliche scheint mir auch bei der Seele der 
Fall zu sein, mein Kallikles. Alles liegt klar zutage 
an der Seele, wenn sie des Körpers entledigt ist, sowohl 
ihre natürliche Beschaffenheit wie auch die Eigentüm- 
lichkeiten, die der Mensch durch seine jeweiligen Be- 
schäftigungen der Seele eingepflanzt hat. Wenn sie nun 
vor den Richter kommen, und zwar die aus Asien vor 
den Rhadamanthys, da hält Rhadamanthys sie an und 
beschaut eines jeden Seele, ohne zu wissen, wessen sie 
ist; ja oft kommt es vor, daB er es mit dem Großkönig 
zu tun hat oder mit irgendeinem anderen König oder 
Machthaber, und er sieht nichts Gesundes an der Seele; 
sondern allenthalben zeigt sie gleichsam die Spuren der 


- Geißelhiebe und ist voller Narben infolge der Meineide 


und der Ungerechtigkeit, wie sie entsprechend der jedes- 
maligen Handlungsweise der Seele aufgeprägt wurden; 
und alles ist verkrümmt!50) an ihr infolge der Verlogen- 
heit und Prahlerei, und nichts gerade, weil sie sich nie 
an Wahrheit gewöhnt hat. Auch zeigt sich ihm die Seele 
voll von Mißverhältnis und Häßlichkeit infolge der Un- 
gebundenheit und Üppigkeit und des Übermutes und der 
Maßlosigkeit der Handlungen. Nach der Besichtigung aber 
läßt er sie sofort in entehrenden Gewahrsam bringen, 
an die Stätte, wo angelangt sie die ihr gebührenden 
Leiden auf sich nehmen muß. 


Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148. 11 


162 Platons Gorgias. 


Einundachtzigstes Kapitel. 


Der Zweck der Strafe aber ist für jeden, der sie 
erleidet und von einem anderen mit Fug und Recht be- 
straft wird, der, daß er entweder besser werde und Nutzen 
davon habe, oder daß er anderen zum warnenden Beispiel 
diene, damit diese, wenn sie seine wie immer gearteten 
Leiden sehen, aus Furcht besser werden. Es sind aber 
die von Göttern und Menschen durch Abbüßung der 
Strafe auf bessere Wege Gebrachten diejenigen, die heil- 
bare Frevel begangen haben. Gleichwohl wird ihnen dieser 
Nutzen sowohl hier auf Erden wie im Hades nur durch 
Leiden und Schmerzen zuteil; denn anders können sie 
von der Ungerechtigkeit nicht loskommen. Diejenigen aber, 
welche am schlimmsten gefrevelt haben und wegen dieser 
Frevel unheilbar geworden sind, werden zu warnenden 
Beispielen; und zwar haben sie selbst keinen Nutzen 
mehr davon, da sie unheilbar sind, wohl aber haben andere 
Nutzen davon, nämlich die, welche sehen, wie diese wegen 
ihrer Sünden die schwersten, schmerzhaftesten und furcht- 
barsten Leiden ausstehen die ganze unendliche Zeit hin- 
durch, geradezu wie Warnungstafeln aufgehängt dort in 
dem Unterweltsgefängnis, zur Schau und Abschreckung 
für alle ankommenden Sünder. Von ihnen wird einer 
auch — das behaupte ich — Archelaos sein, wenn Polos 
die Wahrheit berichtet, und alle ähnlichen Tyrannen. 
Wenn ich mich nicht täusche, sind auch die meisten dieser 
warnenden Beispiele aus Tyrannen und Königen und 
Machthabern und den politischen Leitern der Staaten 
hervorgegangen. Denn diese begehen wegen ihrer schran- 
kenlosen Macht die schwersten und göttlosesten Frevel- 
taten. Dafür zeugt auch Homer. Denn seiner Dichtung 
zufolge sind es Könige und Machthaber, die die ewigen 
Strafen im Hades erleiden, Tantalos, Sisyphos und Tityos. 
Den Thersites dagegen und sonstige Schurken aus dem 
Volk läßt kein Dichter schwere Strafen erleiden als einen 


28 St. 


Zweiundachtzigstes Kapitel. 163 


Unheilbaren. Denn er hatte nicht die Macht, große Frevel- 
taten zu verüben. Deshalb war er auch glücklicher als 
die, welche diese Macht hatten. Nein, mein Kallikles, 
die Mächtigen sind zugleich diejenigen, aus denen die 
ruchlosesten Menschen hervorgehen. Indes hindert nichts, 
daß es auch unter diesen Mächtigen ehrenwerte Männer 
gebe, und wo sich solche finden, verdienen sie ganz be- 
sondere Bewunderung. Denn schwer ist es, mein Kalli- 
kles, und großen Lobes würdig, im Besitze schranken- 
loser Freiheit zum Freveln bis ans Ende’ ein gerechtes 
Leben zu führen; nur gering ist die Zahl solcher Männer. 
Doch hat es sowohl hier wie anderwärts ehrenwerte 
Männer gegeben und wird deren, wenn ich recht sehe, 
auch künftighin geben, die ihre Ehre darein setzen, ge- 
recht zu verwalten, was man ihnen anvertraut. Einer 
aber strahlt vor allen hervor auch bei den übrigen Hel- 
lenen, Aristides151), des Lysimachos Sohn. Die große 
Mehrzahl aber der Machthaber, mein Bester, verfällt der 
Schlechtigkeit. 


Zweiundachtzigstes Kapitel. 


Wie gesagt also, wenn jener Rhadamanthys es mit 
so einem zu tun bekommt, so weiß er von ihm sonst gar 
nichts, weder wer er ist, noch welcher Herkunft, sondern 
nur das eine, daß er ein Schurke ist. Und sobald er 
dies erkannt hat, sendet er ihn nach dem Tartaros mit 
dem entsprechenden Vermerk dafür, ob er sich als heil- 
bar oder unheilbar darstellt. Dort angelangt, erleidet er 
die gebührende Strafe. Bisweilen aber schaut er auch 
eine Seele anderer Art, die ein frommes und der Wahr- 
heit geweihtes Leben, geführt hat, die Seele eines Privat- 
mannes oder sonst eines Menschen, vor allem, mein Kalli- 
kles, — merk wohl auf — eines Philosophen, der sein 
Lebtag seine Schuldigkeit getan und sich keinen Eingriff 
in anderer Rechte erlaubt hat; dieser zollt er seinen 

1" 


164 Platons Gorgias. 


Beifall und sendet sie nach den Inseln der Seligen. Und 
ebenso waltet auch Äakos seines Amtes. Beide führen 
ihr Richteramt mit einem Stab in der Hand. Minos allein 
aber hält als Oberrichter ein goldenes Szepter in der 
Hand, wie Odysseus bei Homer'’?) ihn nach seiner Aus- 
sage gesehen hat: 


Haltend das goldene Szepter und Recht erteilend den 
Toten. 


Ich nun, mein Kallikles, bin von der Wahrheit dieser 
Geschichte überzeugt, und bin beflissen dem Richter meine 
Seele in möglichst gesundem Zustande vorzuführen. Ver- 
zichtend also auf alle die Ehren der großen Masse will 
ich, der Erforschung der Wahrheit hingegeben, versuchen 
nach Möglichkeit als ein wirklich braver Mann zu leben 
und wenn es ans Sterben geht, zu sterben. Ich fordere 
aber auch alle anderen Menschen nach Kräften dazu 
auf, und so fordere ich denn nun auch dich meinerseits 
zu diesem Leben und zu diesem Wettkampf auf, den ich 
höher achte als alle Wettkämpfe hienieden; und ich mache 
es dir zum Vorwurf, daß du nicht imstande sein wirst 
dir selbst zu helfen), wenn das Gericht und das Urteil 
über dich ergeht, von dem ich soeben sprach, sondern 
wenn du vor den Richter kommst, den Sohn der Aegina, 
und dieser dich packt: und fortführt, daB du dann dort 
nicht weniger den Mund aufsperren und schwindlig wer- 
den wirst als ich hier; und vielleicht wird dir auch einer 
einen entehrenden Backenstreich versetzen und dir allen 
erdenklichen Schimpf antun. 


Dreiundachtzigstes Kapitel. 


Vielleicht nun hältst du dies für ein Märchen, für 
Altweiberweisheit, und machst dir nichts daraus. Und 
in der Tat wäre diese Abweisung auch ganz begreiflich, 
wenn wir, eifrig forschend, etwas finden könnten, was 


527 St 


Dreiundachziestes Kapitel. 165 


besser und wahrer wäre als dieses. Nun aber siehst du, 
daß ihr drei, die ihr von allen Hellenen jetzt die weisesten 
seid, du und Polos und Gorgias, nicht imstande seid zu 
beweisen, daß ein anderes Leben dem vorzuziehen sei, 
welches auch für das Jenseits sich nützlich erweist. Denn 
während von den vielen Aufstellungen alle anderen wider- 
legt wurden, blieb allein der Satz unverrückt stehen, dab 
man sich mehr hüten müsse vor dem Unrechttun als vor 
dem Unrechtleiden und daß ein Mann vor allem anderen 
danach trachten müsse, nicht gut zu scheinen, sondern 
gut zu sein!54), im persönlichen wie im Öffentlichen Ver- 
kehr. Wenn sich aber jemand in irgendeiner Beziehung 
der Schlechtigkeit schuldig macht, so muß er durch Strafe 
gezüchtigt werden, und dies ist das zweithöchste Gut 
nach dem Gerechtsein, daß man gerecht werde und durch 
Züchtigung seine Strafe erhalte. Und jede Art von 
Schmeichelei, gleichviel ob gegen sich selbst oder gegen 
die anderen, ob gegen Wenige oder gegen Viele, mub 
man meiden. Und die Redekunst muß, wenn wir uns 
ihrer bedienen, wie jede andere Handlung immer nur 
im Dienste der Gerechtigkeit stehen. 

Glaube mir also und folge mir auf dem Wege dahin, 
wo angelangt du glücklich leben und sterben wirst, wie 
das Gesagte zeigt. Und wenn dich jemand verachtet als 
Toren und dich beschimpft, so laß ihm ruhig seinen Willen 
und laß dir, beim Zeus, sogar getrost den entehrenden 
Backenstreich geben; denn damit wird dir nichts Schlim- 
mes widerfahren, wenn du nur in Wahrheit ein braver 
Mann bist und die Tugend übst. Und dann erst, wenn 
wir sie gemeinsam geübt, nicht eher, wollen wir nötigen- 
falls uns auch an die Staatsgeschäfte wagen oder über 
beliebige andere Geschäfte Rat pflegen, denn dann taugen 
wir mehr dazu als jetzt. Denn schimpflich ist es, in der 
Geistesverfassung, in der wir uns jetzt darstellen, groß 
zu tun, als wären wir etwas, die wir fortwährend in unseren 
Ansichten über die nämlichen Dinge wechseln, und zwar 
bei den allerwichtigsten Fragen. So mangelhaft ist unsere 


168 Platons Gorgias. 


Bildung. Wie einem Wegweiser also wollen wir dem jetzt 
gefundenen Spruche folgen. Er zeigt uns, daß dies die 
beste Lebensweise ist sowohl im Leben wie im Tode, 
die Gerechtigkeit und jede andere Tugend zu üben. Ihm 
also wollen wir folgen und die anderen dazu auffordern, 
nicht jenem, für den du in blindem Vertrauen auf seine 
Wahrheit mich zu gewinnen suchst. Denn er taugt nichts, 
mein Kallikles. 


Anmerkungen. 


1) S. 25. Die drei Gesprächsführer Gorgias, Polos und Kal- 
likles, die neben Sokrates und Chairephon in dem Dialog aulitreten, 
werden am Schluß des Gesprächs (527A), wenn auch nicht ohne 
Ironie, als die drei weisesten Männer des damaligen Hellas bezeichnet. 
In der Tat war der Rhetor Gorgias, von dem das Gespräch seinen 
Namen trägt, ein hochberühmter Mann. Gebürtig aus Leontini in 
Sizilien, ein Schüler des bekannten Philosophen Empedokles und 
weiterhin auch mit den Eleaten in Verbindung stehend, hat er 
mehrere philosophische Schriften verfaßt, von denen die uns im 
wesentlichen erhaltene περὲ τοῦ un ὄντος ἢ περὶ φύσεως allerdings die 
Entscheidung darüber schwer macht, ob sie bloß als ein rhetorisch- 
dialektisches Probestück oder als ein wirklich ernst gemeinter philo- 
sophischer Traktat aufzufassen sei. Sein Hauptruhm gründet sich 
Jedenfalls auf seine rhetorische Tätigkeit, die vorwiegend der epi- 
deiktischen Beredsamkeıt zugewandt war, d.h. derjenigen, die im 
Gegensatz zu der gerichtlichen Beredsamkeit sich auf Prunk- und 
‘ Musterreden vor großen Versammlungen verlegte, wie sie uns noch 
in einigen Beispielen von ihm (Lob der Helena und Verteidigung 
des Palamedes) vorliegen. In dieser Gattung, in der weiterhin sein 
Schüler Isokrates glänzte, war er Meister. Er durchwanderte ganz 
Griechenland, trat in allen bedeutenderen Orten, besonders in 
Delphi und Olympia als Festredner auf und weilte zu wiederholten 
Malen auch in Athen, zuerst als Gesandter seiner Vaterstadt im 
Jahr 427 v. Chr. Neben seinen überall, besonders in Athen, mit 
größtem Beifall aufgenommenen Reden war es auch der Unterricht 
in der Rhetorik, der ihn viel in Anspruch nahm und ihm neben 
‚großer Anerkennung auch stattliche Einnahmen einbrachte. Doch 
hielt er darauf, daß man ihn nicht Sophist, sondern Rhetor nannte. 
Er hat ein rhetorisches Handbuch (Τέχνη), eine Anweisung für Be- 
redsamkeit verfaßt. Seine Vortragsweise und sein Stil, glänzend 
durch die rhythmische Gliederung der Rede, durch wohlberechnetes 
Gleichmaß und gesuchten Gleichklang der sich entsprechenden 
Satzglieder, sowie überhaupt durch die Beherrschung aller sprach- 
lichen Mittel zur eindrucksvollen Beleuchtung des jeweiligen Gegen- 
standes, übten eine geradezu bezaubernde Wirkung auf die Hörer 
aus: wie die zierlich abgemessenen Touren eines Kontertanzes 
spielte sich dies Wunder der Rede vor den Anwesenden ab, ein 
hoher Kunstyenuß für das empfängliche Ohr der Griechen. Es war 
wie eine Offenbarung für sie. Er schien ihnen erst zu zeigen, welche 


168 Anmerkungen, 


Schätze in ihrer Sprache verborgen lagen und welcher Wirkungen 
sie fähig war. Man begreift, daß diese virtuose Handhabung der 
Sprache nicht ohne starke Einwirkung auf die Ausbildung der atti- 
schen Kunstprosa war. Zu dem Eindruck, den seine Rede machte, 
trug sein prunkvolles persönliches Auftreten bei solchen Anlässen 
nicht wenig bei. In seiner Lebensweise aber war er sehr einfach, 
ein Umstand, dem er es wohl mit zu danken hatte, daß er ein 
Lebensalter von 108 Jahren erreichte. Er starb nach der Annahme 
der alten Chronologen 376 v. Chr., doch wird seine Lebenszeit von 
manchen um 10 Jahre früher angesetzt. Platon behandelt ihn in 
unserm Dialoge, entsprechend der allgemeinen Schätzung, deren er 
sich erfreute, durchaus achtungsvoll. Weit weniger günstig ist das 
Bild, das er uns von dem Schüler und Reisebegleiter des Gorgias, 
von Polos, entwirft. Auch dieser hatte seine Heimat in Sizilien; 
er war in Agrigent geboren; es gab von ibm ebenfalls ein rhetori- 
sches Handbuch, eine Τέχνη, auf welche Platon 448C und 462B 
hinweist. Über die Person des Kallikles, die sich historisch nicht 
nachweisen läßt, sind mancherlei Vermutungen aufgestellt worden. 
Man hat u. a. an den Charikles oder Kritias gedacht als die unter 
seiner Maske dargestellten Politiker, was sich indes durch die poli- 
tische Rolle, welche diese Männer spielten, von vornherein verbietet. 
Andere haben ihn für eine rein erdichtete Figur erklärt, in welcher 
Platon die maßgebende politische Anschauungsweise seiner Zeit ver- 
körpert habe. Allein abgesehen von dem Ungewöhnlichen einer 
solchen Fiktion bei Platon sind die persönlichen Züge viel zu stark 
ausgeprägt, um eine solche Annahme zu begünstigen. Man aclıte 
nur auf den vertraulichen Ton, der zwischen Sokrates und Kallikles 
herrscht, und man wird nicht umhin können, in letzterem einen 
wirklichen Staatsmann jener Zeit zu erblicken. Ich sehe in Kal- 
likles niemand anders als den Alkibiades, der als stumme Person 
in unserem Dialog der unverkennbare Doppelgänger des Kallikles 
ist. Meine Gründe dafür habe ich entwickelt in meinen Platon- 
Aufsätzen p. 106ff. Dem dort Entwickelten füge ich hier noch fol- 
gendes bei. Hat wirklich das Pamphlet des Polykrates einigen Ein- 
fluß auf die Entstehung des Gorgias gehabt, dann wäre die Ein- 
führung des Alkibiades unter der Maske des Kallikles erst recht 
begreiflich. Denn auf das Schülerverhältnis des Alkibiades zu So- 
krates hatte Polykrates besonders hingewiesen, und wie es scheint 
war dies ein Hauptstück seiner Ausführungen; dem gegenüber würde 
nun der Gorgias das wahre Verhältnis zeigen, in dem Alkibiades zu 
Sokrates stand. Zugleich fühlt man auch heraus, weshalb Platon 
den Alkihiades nicht unmittelbar nennen wollte. Das wäre eine zu 
direkte Bezugnahme auf das an sich wertlose Pamphlet gewesen 
und hätte überhaupt den künstlerischen Charakter des Ganzen ge- 
stört. Platons Werk sollte etwas mehr sein als eine aktuelle Streit- 
schrift. — Endlich die vierte neben Sokrates auftretende Person ist 
der aus der Apologie bekannte Chairephon, ein langjähriger, tıe.er 
Anhänger des Sokrates. ) 

2) S.25. Geläufig ist uns die Wendung „post festum kommen“, 
für die das weniger bezeichnende deutsche Aquivalent einges: tzt 
werden mußte. Sehr richtig bemerkt Olympiodor zur Motivierung 


Anmerkungen. 169 


dieses Zuspätkommens, daß, wenn Sokrates noch während des Vor- 
trags erschienen wäre, er einfach hätte schweigend verharren müssen, 
wenn er nicht hätte ungezogen werden wollen, Es hätte sich also 
eine vom Standpunkt der künstlerischen Ökonomie unbrauchbare 
Situation ergeben. 

8 Κὶς, 25. Unser Dialog findet nicht in dem Hause des Kal- 
likles statt, sondern in der öffentlichen Halle, in welcher der Vor- 
trag des Gorgias gehalten worden ist, 

4 S. 26. Diese Worte hat man sich (nach 447 B) wohl an den 
Chairephon gerichtet zu denken. 

6), S. 27. Dieser Bruder des Gorgias (vgl. 456B) ist nicht zu 
verwechseln mit einem anderen (etwas älteren) bekannten Arzt dieses 
Namens, dem Herodikos aus Selymbria (oder Megara), der Prot. 810} 
und Rpl. 406 AB erwähnt wird. 

8) S, 27. Dies ist die berühmte von der Insel Thasos stam- 
mende Malerfamilie, deren namhaftestes Mitglied Polygnotos hier 
als ἀδελφὸς Aylaop@rros bezeichnet wird. 

?) S. 29. Bekannte homerische Redensart, z. B. Od. 1, 180. 

18) S.30. ὑγιαίνειν hier gesund werden. Vgl. Xen. Mem, 11,2, 10. 

8) δ, 32. Das Brettspiel, von Pl. mehrfach angeführt, wird 
schon in der Odyssee 1, 107 als Unterhaltung der Freier erwähnt. 
Unsere Stelle zeigt, daß es kein stummes Spiel war. 

9) S. 32. „Zwei Dinge,“ sagt Aristoteles, „kann billigerweise 
dem Sokrates niemand streitig machen, die Induktion und die Be- 
stimmungen der allgemeinen Begriffe“ Für das letztere und in 
gewissem Sinne auch für das erstere haben wir hier ein Beispiel, 
μιν sich deren namentlich in den früheren Dialogen noch manche 

nden. 

10) S. 33. Zusatzanträge (Amendements) zu den Ratsvorlagen 
wurden in der Volksversammlung mit den Worten eingeleitet: za 
μὲν ἄλλα καϑάπερ τῇ βουλῇ τὸ δὲ λοιπὸν κ. τ.λ. Dies wird sehr tref- 
fend auf unseren Fall angewendet. 

11) S. 33. Der Scholiast ebenso wie Olympiodor erklären das 
καὶ πρὸς αὑτὰ καὶ πρὸς ἄλληλα so, daß das erstere bedeute „Gerades 
im Verhältnis zu Geradem, bez. Ungerades im Verhältnis zu Un- 
geradem“, das letztere „Gerades im Verhältnis zu Ungeradem“. 
Allein darin liegt kein Unterschied der Rechenkunst (λογιστική) von 
der reinen Zahlenlehre (ἀριϑμητική); denn diese Verhältnisse kom- 
men auf beiden Gebieten vor. Der auch Phi. 56E, Charm. 166A, 
KRpl. 525C ff, erwähnte Unterschied zwischen beiden besteht darin, 
daß es letztere mit reinen, erstere mit benannten Zahlen zu tun hat. 
Eigentümlich nun für die Rechenkunst ist dabei der Umstand, daß 
die nämliche Zahl verschiedenen Wert haben kann, was bei der 
Arithmetik nie der Fall ist; z. B. 18 Pfennige und 18 Apfel sind 
nicht gleich, sondern wenn der Apfel 2 Pfennige kostet, so sind 
18 Pfennige = 9 Apfel.‘ Es kann also sowohl die gerade wie die 
ungerade Zahl sehr verschiedenen Wert sowohl in Beziehung auf 
sich selbst wie auch zu anderen sei es geraden oder ungeraden haben, 
Dies scheint mir der Sinn der Stelle zu sein. 

12) S. 34. Bezieht sich auf die kurzen, spruchartigen Lieder, 
Skolien genannt, die bei Gelagen von den Beteiligten zur Leier 


170 Anmerkungen. 


oder Flöte gesungen wurden. Auf das hier angeführte Skolion spielt 
Platon auch Euthyd. 279AB und Phil. 48D an, | 

18) S, 34. Durch diese Einführung des Arztes, des Turnmei- 
sters, des Handelsmannes verstärkt Sokrates in sehr wirksamer Weise 
seine Position gegenüber dem Gorgias, ein Kunstgriff, den Platon 
in mancherlei Variationen oft anwendet. Vgl. meine Plat. Auf- 
sätze p. 104. 

14) 5. 35. Darin scheint ein Widerspruch zu liegen: doch 
braucht man bei „Herrschaft“ nicht ‚gerade an dauernde politische 
Herrschaft, sondern an zeitweise Überlegenheit bei Rechtshän- 
deln u. dgl. zu denken. 

15) S. 36. Der berühmte Maler aus Heraklea in Unteritalien. 

1) 5. 38. Damit wird wohl auf die gleich folgende Unter- 
scheidung zwischen μάϑησις und πέστις hingewiesen. 

1) 8. 39. Das Wort „Glauben“ (πίστις) entspricht hier unge- 
fähr dem, was bei Pl. sonst gewöhnlich mit δόξα bezeichnet wird, 
die er, wie hier die πίστις, in δόξα ἀληϑής und ψευδής einteilt. In 
der entwickelten platonischen Lehre von den Erkenntnisweisen, wie 
sie uns im 7. Buch der Republik vorliegt, hat πέστις einen engeren 
Sinn. Da wird nämlich das Gebiet der δόξα als Erkenntnis der Er- 
scheinungswelt — im Gegensatz zu der ἐπιστήμη als der Erkenntnis 
des wahrhaft Seienden — wiederum geteilt in πίστις als sinnliche 
Erkenntnis der Naturgegenstände und sixaoia, deren Gegenstände 
die Abspieg: lungen (Bilder) der Naturdinge sind. 

18) S. 41. Gorgias hätte antworten können: das Was raten 
die Redner (Staatsmänner), das Wie (die Frage der. technischen 
Ausführung) mögen die Fachleute beantworten. Statt dessen ergeht 
er sich im Preise der Allgewalt der Rhetorik, und so läßt ihn Pl. mit 
wohlberechneter Kunst selbst die verfängliche Frage des möglichen 
Mißbrauchs ihrer Macht anschneiden, durch deren weitere Erörterung 
er auf das Trockene gesetzt wird. 

19) S. 42. S. Anm. 5. | 

20) 5. 45. Schon hierin liegt eine nicht mißzuverstehende An- 
deutung über die eigentliche Bedeutung unseres Dialogs als einer 
Erörterung der höchsten Lebensfrage. Vgl. 472CD. 

21) S. 45. Dieses Abbrechenwollen der Unterredung an kriti- 
schen Stellen ist ein beliebter Kunstgriff des platonischen Sokrates. 
Vgl. 461f., 506 A und Prot. 3350. 

22) S. 47. Das geht auf 466A ff. 

23) S. 48. Um dies Zugeständnis kann Gorgias nicht herum- 
kommen. Denn die Kenntnis des Gerechten und Guten kann und 
will er dem Redner nicht absprechen. Entweder also muß der 
Schüler der Rhetorik diese Kenntnis schon mitbringen oder — und 
das ist unser Fall — der Lehrer muß sie ihm: beibringen. Damit 
ist Gorgias gefangen. 

2) 9. 48. In den hier aufgezählten Fällen der Induktion ist 
das Wissen die zureichende Bedingung des Handelns. In Sachen 
der Ethik aber ist das Wissen nur die eine Bedingung des rich- 
tigen Handelns; die andere, weit wichtigere, ist die Wıllensbildung, 
die wohl nach Sokrates (und Platon), nicht aber nach der gemeinen 
Erfahrung mit dem Wissen zusammenfällt. Gorgias brauchte sich 


Anmerkutgen. 171 


also auf diesen spezifisch sokratischen Standpunkt gar nicht ein- 
zulassen, 

35) S. 49. Es liegt hier offenbar ein Feliler in der Überliefe- 
rung vor, der am einfachsten mit Sauppe durch Ausscheidung der 
eingeklammerten Worte beseitigt wird. 

360) Κ΄, 53. Dies darf nicht als eine völlige Verwerfung der 
Kochkunst aufrefaßt werden. Der richtige Gesichtspunkt der Be- 
urteilung ergibt sich aus 517E, wo die Kochkunst nebst andern ver- 
wandten Künsten (τέχναι braucht Sokrates da auch als Bezeichnung 
für sie) insoweit als Kunst anerkannt wird, als sie unter der Leitung 
der Heilkunde und Gymnastik steht. 

3) S. 54. Dazu vgl. 5130. Auch erinnere man sich der 
Goethischen Zeilen aus der ersten Epistel: 


Sollen wir freudig horchen und willig gehorchen, so mußt du 
Schmeicheln, Sprichst du zum Volke, zu Fürsten und Kö- 
nigen, allen 
Magst du Geschichten erzählen, worin als wirklich erscheinet, 
Was sie wünschen und was sie selber zu leben begehrten. 


=) S. 54. Wenn Gorgias hier wieder eingreift, so geschieht 
dies bloß zur Belebung der Situation, nicht um ihn wieder zum 
eigentlichen Mitunterredner zu machen. Sokrates wendet sich als- 
bald (465 A) ausdrücklich wieder an den Polos. 

22) S. 57. Das Buch des berühmten Philosophen Anaxagoras 
aus Klazomenä (500—428 v. Chr.), des Freundes des Perikles, begann 
mit den Worten: ‘Ouod πάντα χρήματα nv, ἄπειρα καὶ πλῆϑος καὶ 
σμικρότητα. Damit ward das völlige In- und Durcheinander der 
Urbestandteile der Dinge bezeichnet, in welches der ordneude Geist 
(νοῦς), das Gleichartige ausscheidend und verbindend, eingriff. An- 
gewendet auf unsern Fall heißt das: Gäbe es nicht ein höheres 
Prinzip der Scheidung und Ordnung, so würde alles ununterschieden 
durcheinander gehen. Für das körperliche Gebiet nun ist dieses 
höhere Prinzip die Seele; sie unterscheidet die dem Körper dienenden 
Künste und weist ihnen ihre wahre Stellung an. Ebenso muß es 
auch ein höheres Prinzip geben, welches den der Seele dienenden 
Künsten, nämlich der Rhetorik und Sophistik, ihre voneinander zu 
scheidenden Rollen anweist. Dies höhere Prinzip aber kann hier 
nichts anderes sein als die Philosophie, die als Vertreterin des 
höchsten Seelenteils (des νοῦς) die Funktionen des niederen Seelen- 
vermögens (der δόξα) richtig deutet und scheidet. Ohne das höhere 
Seelenvermögen wäre die richtige Scheidung zwischen Rhetorik und 
Sophistik nicht möglich. 

0) 8. 59. Diese höchst bedeutsame und merkwürdige Unter- 
scheidung zwischen Wollen und Belieben, auf die sich, wie leicht 
einzusehen, auch der bekannte Satz, daß niemand freiwillig Unrecht 
tut (οὐδεὶς ἑκὼν ἀδικεῖ), gründet, läuft im Grunde auf das hinaus, 
was Kant die Autonomie und die Heteronomie des Triebes nannte, 
d.h. die Bestimmung unseres Entschlusses entweder durch den rein- 
vernünftigen oder durch den sinnlichen Trieb. Auch im Charmides 
(167 E) findet sich diese Unterscheidung angedeutet. Platon hat sich 
weiterhin an diesen strengen Gebrauch des βούλεσϑαι durchaus nicht 


178 Anmerkungen. 


immer gebunden. Schon in unserem Dialog 505 A sagt Sokrates: οἷον 
πεινῶντα φαγεῖν ὅσον βούλεται. Am auffälligsten aber heißt es in den 
(resetzen (687 E): „Du scheinst mir sagen zu wollen, man müsse nicht 
darum beten, daß alles unserem Willen (βούλησις) gehorche, wenn 
dabei der Wille (βούλησις) selber nicht der Vernunft gehorchen soll“. 
Aristoteles hat die Unterscheidung aufgenommen, wie die Stellen 
Eth. Nie. 1113a 15, 1189a 5ff., Rihet. 1369a 3 u.a. m. zeigen. Doch 
bindet auch er sich nicht ganz streng an den Gebrauch des βούλεσϑαι 
in diesem Sinne. 

81) S. 59. Daß dies ein sehr gezwungener Begriff von „Macht“ 
ist, legt auf der Hand. Polos hätte erwidern können: Für deinen 
Begriff von Macht mußt du erst ein ganz neues Wort schaffen. Nur 
hatte er die Waffe schon aus der Hand gegeben, indem er den 
sokratischen Begriff des Gutes oder des Guten ohne weiteres sich 
hatte gıfallen lassen. Vgl. Rpl. 336 A. 

8) S. 59. Der Partner des Gesprächs muß für alles, was er 
nolens volens eingeräumt hat, als für sein Eigentum einstehen. Das 
ist eine der unverbrüchlichen Regeln der Taktik des platonischen 
Sokrates. Dazu vgl. meine Plat. Aufs. p. 99. 

ss) S. 60. Sokrates wendet sich nämlich an den Polos mit der 
Anrede: ὦ λῷστε Πῶλε, mit welchem Gleichklang er die Manier des 
Polos nachahmt. Unsere Wiedergabe ist natürlich nur ein Versuch. 

84) S. 61. Diese wichtige Unterscheidung zwischen Mittel und 
Zweck findet sich auch Lach. 185 D und sonst mehrfach wenigstens 
in Andeutungen. Das οὗ ἕνεκα geht auf das Gute als eigentlichen 
Zweck. Der Begriff des „Guten“ ist freilich in unserem Dialog ein 
schwankender und mehrdeutiger. Wenn z. B. gleich nachher (467 E) 
unter den eigentlichen Gütern auch Reichtum aufgeführt wird, so 
ist dieser doch nur ein relatives Gut, wie unser Dialog selbst (514 A 
ἐὰν un καλὴ κἀγαϑὴ N διάνοια ἦ τῶν μελλόντων χρήματα πολλὰ λαβεῖν) 
bezeugt. Platon hat es mit seinem Guten auch in unserem Dialog 
im Grunde auf das Gute an sich, auf die Tugend als Bedingung 
der Glückseligkeit abgesehen, aber er benutzt doch die Zweideutig- 
keit des Wortes vielfach in. durchaus nicht einwandfreier Weise zu 
Zwecken der Argumentation. So viel ist indes für jedermann ein- 
leuchtend, daß Menschen zu töten niemals ein Zweck an sich sein 
kann. Wer es für einen solchen hält, der täuscht sich und ver- 
wechselt Mittel und Zweck. 

848) S. 61. Vgl. Lys. 216D, 

35) S. 64. Im allgemeinen ist diese Anschauung dem Altertum 
wenig geläufig (vgl. z. B. Isocr. Panath. 117 κρείττω τὴν Ay ne εἶναι 
τοῦ δεινὰ ποιεῖν ἑτέρους ἢ πάσχειν αὐτούς), doch sagt z. B. Demokrit 
(Frg. ἃ. Vorsokr. Diels? p. 399): 6 ἀδικῶν τοῦ ἀδικουμένου κακοδαι- 
μονέστερος. Für die von Sokrates abhängigen Schulen war der Satz 
weiterhin selbstverständlich, z. B. Aristot. Khet. 1,7 p. 1864} 21: 
ἀγαϑὸν ὃ ἕλοιτ᾽ ἂν 6 βελτίων, οἷον τὸ ἀδικεῖσϑαι μᾶλλον ἢ ἀδικεῖν" τοῦτο 
γὰρ ὃ δικαιότερος ἂν ἕλοιτο Vel. auch Eth. Nie. 11888 28. Inter- 
essant ist es, die. Übereinstimmung zu bemerken, in der Kant sich 
in diesem Punkte mit Platon befindet. Bei Reicke „Aus Kants 
Briefwechsel“ 8.19 sagt er: „Die größte Gefahr für Menschen in 
ihrem Verkehr untereinander ist die, anderen Unrecht zu tun. Un- 


Anmerkungen. 173 


recht zu leiden ist hingegen für nichts zu achten, und es zu dulden 
ist oft gar verdienstlich, wenn man hoffen darf, daß eine solche 
Toleranz den Mutwillen zu beleidigen nicht noch verstärken dürfte“, 

80) S. 66. Das bezieht sich auf 466 B, wo Polos noch unbe- 
dingt für die Macht als etwas (Gutes eingetreten war. 

8) S, 67. Der König Archelaos von Makedonien, auf die hier 
geschilderte Weise zur Herrschaft gelangt, war der Sohn des Per- 
dikkas II. und einer Sklavin Simiche. Kr regierte von 413—399 
als ein aufgeklärter Despot, der viele griechische Künstler und 
Dichter an seinen Hof zog und auch den Sokrates eingeladen haben 
soll, der aber ablehnte. 

88) S. 67. Der Perserkönig, von den Griechen „Großkönig“ 
genannt, war den Alten das unübertroffene Beispiel von Glück- 
seligkeit. | 

890) S. 69. Polos hatte seine Auslassung über Archelaos mit 
einer ironischen Wendung beschlossen, die besagte, daß wohl alle 
Athener in diesem Punkte mit ihm, dem Polos, in Übereinstimmung 
sein würden. Dies Pochen auf die Majorität ist es, worauf sich di« 
hier folgende Apostrophe des Sokrates bezieht. 

4) S. 69. Zu dieser Verachtung der großen Masse im Sinne 
des Schillerschen Wortes „Man soll die Stimmen wägen und nicht 
zählen“ vgl. Kriton 440, 48 A, Lach. 184 E und meine Plat. Aufs. p. 88, 

4) S. 69. Es sind einige der bekanntesten Familien Athens, 
die hier aufgeführt werden: Nikias, der bekannte Staatsmann und 
Feldherr, der 413 v. Chr. in Syrakus als Opfer der Sizilischen Expe- 
dition starb; Aristokrates, einer der Feldherrn in der Arginusen- 
schlacht, der 406 v. Chr. mit den anderen Feldherrn dieser Schlacht 
zum Tode verurteilt wurde; Perikles, der nach 503 C schoa tot ist 

4) S, 70. Vgl. Anm. 20. 

4) S. 71. Vel. 469B. 

“) S. 71. Vgl. 470C. 

6) S. 72. Vgl. 473C. 

4) S. 72. Sokrates zieht diese an sich sehr ernste Sache, in 
der es sich um die Verurteilung der Feldherrn der Arginusenschlacht 
handelte, absichtlich hier etwas ins Lächerliche. 

4“ S. 73. Vel. 472C. Polos soll eben dadurch, daß er wieder 
die Rolle des Antwortenden übernimmt, die Widerlegung möglich 
machen; denn dadurch wird er gezwungen, dem Gedankengang des 
Sokrates zu folgen, Ä 

48) S. 74. Genau genommen würde die Bestimmung des καλόν 
als „Nützliches“ das Schöne nicht unter das οὗ ἕνεκα, sondern unter 
das ἕνεκά τινος verweisen; es würde nicht Zweck, sondern Mittel 
sein. Allein Platon braucht auch wieder den Begriff des Nützlichen 
(ὠφέλιμον) nicht nur in dem gewöhnlichen, sondern auch in dem ab- 
soluten Sinne des an sich Guten. Die hier gegebene Bestimmung 
des καλόν stimmt überein’ mit Hipp. Mai. 295 Ο verbunden mit 297E. 
Aus diesem Zusammentreffen ein Argument für die Unechtheit des 
größeren Hippias herzuleiten, wie es mehrfach versucht worden ist, 
erscheint mir unzulässig. Vgl. meine Plat. Aufs. p. 233f. Aristoteles 
erklärt dies καλόν ähnlich in der Rhetorik (1364b 27): τὸ καλόν ἐστιν 
ἤτοι τὸ ἡδὺ ἢ τὸ καϑ'᾽ αὑτὸ αἱρετόν; ebenso 1362b 8. 


174 Anmerkungen. 


4) S. 76. Auf Grund der Disjunktion τὸ αἰσχρὸν ἢ λυπηρὸν 
ἢ βλαβερὸν (κακὸν) ἢ ἀμφότερα könnte man ebenso schlagend oder 
noch schlagender nachweisen, daß gerade umgekehrt das ἀδικεῖσϑαι 
αἴσχιον sei; denn es ist 1. λυπηρόν, nach allgemeinem Zugeständnis, 
und 2. βλαβερόν, insofern nämlich, als es, geduldig hingenommen, 
die Dreistigkeit der Raufbolde nur 'noch mehr anreizt. Also es ver- 
einigt beide mögliche Bestimmungen des alozuov in sich. 

50) S. 76. Bezieht sich auf 472C. | 

51) S. 77. Es ist sehr bezeichnend für die Sinnesart der Grie- 
chen, dergemäß sie in dem Sittlichen vor allem das Geistig-Schöne 
sehen, daß Polos, der sich mit dem Verhältnis des dixaıo» und ἀγαϑόν 
nur schwer zurechtzufinden weiß, nicht die mindeste Schwierigkeit 
macht, sondern sofort bereit ist, das δίκαιον als καλόν anzuer- 
kennen. | 

52) S. 77. Ganz ähnlich wie hier wird die notwendige Zu- 
sammengehörigkeit von Tun und Leiden in genauester Entsprechung 
ihrer Modalitäten auch im Protagoras (332 Bff.) dargelegt, wozu man 
auch Hipp. Mai. 297 A vergleichen mag. Eigentümlich unserer 
Stelle aber ist die Verwendung dieses Verhältnisses für die Begrün- 
dung des Strafrechts. So entschieden für Platon in der Strafrechts- 
lehre der Gesichtspunkt der Besserung der eigentlich durchschlagende 
ist, so kann er doch um die eigentliche Rechtsidee der Strafe, die 
eben in der Vergeltung liegt, nicht herumkommen, und das zeigt 
sich besonders an unserer Stelle hier, die offenbar, bewußt oder un- 
bewußt für Platon, auf die Vergeltungsidee hinausläuft, wie sich 
weiterhin auch 478A klar zeigt. Vgl. meine Abh. über die plat, 
Straftheorie in meinen Plat. Aufsätzen, nam. p. 196 u. 198, wo ich 
nur eben unsere Stelle noch hätte hinzufügen müssen. 

2), ἃ. 78... Vgl. A76B. 

54) S. 79. Schlechtigkeit steht hier in dem Sinne des zu Ver- 
Sana Sea und zu Bekämpfenden. 

55) S. 80. Vgl. 475A. 

56) S. 80. en Zusatz „nach dem Vorliegenden“ erklärt sich 
wohl daraus, daß Polos darauf gefaßt ist, auch die allerüberraschend- 
sten Dinge aus dem Munde des Sokrates bewiesen zu sehen. 

δὴ δ᾽ 82. Vgl. 4T8A. 

55) S. 83. Darin liegt kein Widerspruch gegen die Lehre von 
der Tugend als Wissen (also durch Belehrung). Der wirkliche Ver- 
brecher muß, um überhaupt der Belehrung erst zugänglich gemacht 
zu werden, Strafe erleiden. Die Strafe wirkt eben nach Platon er- 
weckend auf den Intellekt. Von unserem Standpunkte aus könnten 
wir allerdings sagen, es sei nicht unmöglich, daß ein Verbrecher 
auch ohne Strafe allmählich zu richtiger Einsicht gelange. Wenn 
Platon diese Möglichkeit unerörtert läßt, so scheint mir das auch 
auf die Vergeltungsidee hinzudeuten, deren Unvermeidlichkeit er 
eben fühlte, wenn auch nicht klar erkannte. Die Strafe — das 
fühlte er — muß unter allen Umständen eintreten, und darum setzte 
er sie — wohlgemerkt bei Verbrechern — als der Belehrung voraus- 
gehend ohne weiteres voraus. Vgl. auch 525 Bfl. 

ὅ84) 5, 84. Die Hss. sind hier vollkommen im Recht. 

δυ) ὃ, 86. Hier gefällt sich Sokrates in scherzhaft übermütigen 


Anmerkungen, 175 


Folgerungen seines siegreich durchgeführten Standpunkter, deren 
[Ironie namentlich in dem durch die Parenthese bezeichneten Vor- 
behalt höchst ergötzlich hervortritt. 

80) $. 88. Hier finden sich in der sonst meist sehr wortge- 
treuen lat Übersetzung des Ficinus einige auffällige Auslassungen 

81) 5, 88. Vgl. 480E. 

68) S. 89. Scherzhafter Schwur bei dem hundsköpfigen Anubis, 
dem ägyptischen Gott. 

63) S. 89, Hierzu vgl. meine Plat. Aufsätze p. 100. 

86) 5, 89. Wo es nur gilt Stimmung zu machen oder die 
Leute ins Bockshorn zu jagen. 

65) δ, 89. Vgl. 473E. 

66) S. 90. Der Gegensatz zwischen φύσις und νόμος, Natur und 
Satzung, war ein beliebtes Thema in den sophistisch gebildeten 
Kreisen. Dieser Gegensatz ist ein mehrdeutiger. Man stellte die 
Natur der Satzung (ἃ. 1, nicht bloß Gesetz, sondern auch Sitte und 
Brauch) entweder in dem Sinne einander gegenüber, daß erstere das 
ewige, ungeschriebene Recht, m. a. W. das natürliche und ursprüng- 
liche Gesetz der Vernunft bedeutet (also das, was man mitunter 
auch ἄγραφοι νόμοι nannte), das andere die in den verschiedensten 
Formen sich bewegende Menschensatzung, also das positive Recht 
und den überlieferten Brauch. In diesem Sinne nimmt den Gegen- 
satz Hippias im platonischen Protagoras (337 CD). Oder man ver- 
stand unter φύσις nicht das Vernunftgesetz, sondern die ungehemmte 
Betätigung des sinnlichen Triebes, wie es hier Kallikles tut. Dann 
läuft der Gegensatz hinaus auf den von persönlicher Willkür und 
konventioneller Satzung. In beiden Auffassungen liegt eine Herab- 
setzung des νόμος gegen die φύσις; in der ersten eine berechtigte, 
denn jede positive Gesetzgebung, auch die beste, wird immer ihre 
Mängel haben, in der letzteren eine unberechtigte, denn die Herr- 
schaft der persönlichen Willkür als angeblich eigentliches, weil natür- 
liches, Recht macht überhaupt jedes positive Recht zu nichte. Nach 
ibr erscheint alle Menschensatzung gegenüber dem vorgeblich allein 
berechtigten, selbstherrlichen Belieben als ängstliches Schutzmittel 
der Schwächeren im Sinne des Schillerschen Wortes: „Das Gesetz 
ist der Freund der Schwachen, Alles will es nur eben machen“. 
Die Sache brachte es übrigens leicht mit sich, daß man diese φύσις 
auch als den wahren »ouos bezeichnete. 

6) 8. 90. d.h. du nahmst diesen Satz wie einen an sich 
(φύσει) geltenden Satz, zergliedertest den Begriff des αἰσχρόν und 
beurteiltest den doch nur konventionell geltenden Satz nach dem 
Ergebnis dieser Zergliederung. | | 

88) S. 90. In diesem Gedanken einer ganz anders gemeinten 
als der später (522 CD) von Sokrates charakterisierten Selbsthilfe 
liegt insofern ein wohlberechtigter Kern, als es wider die Ehre ist, 
eine gröbliche Beleidigung ruhig über sich ergehen zu lassen. Jeder 
soll sich dagegen nach Maßgabe der Umstände zur Wehr setzen, 
auch schon aus dem Grunde, weil sonst die Frechheit der Angreifer 
ins Ungemessene wachsen würde. In den Gesetzen, z. B. IX, 880. A ff., 
macht sich denn auch ein viel kräftigerer Geist der Abwehr geltend. 
Vgl. Hes. W. u. T. 349 ff. 709. 


178 Anmerkungen. 


ὅδ) S. 91. Ein wirklicher Rechtszustand setzt die persönliche 
Gleichheit der Menschen voraus. Daher tritt schon sehr frühzeitig, 
wenn auch in vielfach mißverständlicher Auffassung, der Begriff des 
ἴσον, der Gleichheit, als korrespondierender Begriff der δικαιοσύνη, 
der Gerechtigkeit, hervor. 

τ S. 92, Dies Gedicht des großen thebanischen Sängers 
Pindar (522—442 v.Chr) ist uns sonst nicht erhalten. 

τὺ) S. 92. Platon, der uns auch in der Republik (498 A B, vgl. 
auch 487 CD) die Verfechter dieser Ansicht schildert, war seiner- 
seits der gerade entgegengesetzten Ansicht: er wollte das Studium 
der eigentlichen Philosophie erst mit dem Eintritt in die dreißiger 
Jahre begonnen wissen, während das frühere Alter sich vorwiegend 
mit Musik und mit den mathematischen Disziplinen beschäftigen sollte. 

1) S. 93. Diese Verse sind der uns nicht erhaltenen Antiope 
des Euripides entnommen. Eine Glanzpartie dieses Stückes war 
der Wortkampf zwischen den beiden Söhnen der Antiope Amphion 
und Zethos, deren völlig verschiedene Begabung und darauf ge- 
gründete Lebensansicht darin ihren drastischen Ausdruck fand. 
Amphion, der musikalische, ist der Vertreter der kontemplativen, 
Zethos der Vertreter der praktischen Lebensrichtung. Das Stück 
bot also reichlich Wasser auf die Mühle des Kallikles, wie das Fol- 
gende zur Genüge zeigt; denn überall sind disject« membra poetae 
eingestreut. 

18) S. 93. Erinnert an 1. Kor. 13, 11. 

14) S, 93. Dies soll wohl, wenn es nicht als bloßer, für den 
Vergleich bedeutungsloser Gegensatz gemeint ist, heißen, daß junge 
Leute sich noch nicht mit Staatsgeschäften abgeben sollen. 

25) S. 94. Vgl. 484 Ὁ. 

τ) S. 95. Hier tritt die Beziehung auf das Schicksal des So- 
krates zum ersten Mal klar hervor. 

τ S. 95. Das gesperrt Gedruckte sind Worte des Euripides. 

18) S. 96. Diese Männer sind sonst wenig bekannt. 

19) S. 98. Vgl. 483 D, 484C. 

80) S. 99. Vgl. 483 0, 484 A. 

8ὴ S. 99. Vgl. 482 E. 

82) S. 99. Vgl. 483 A. 

88) S. 102. Platon preist späterhin (508 A) in hohen Ausdrücken 
die geometrische Proportion. Auch hier liegt eine geometrische 
Proportion zugrunde, und zwar eine doppelte, eine negative und 
eine positive. Nämlich: Nicht, wie der Geist des Arztes sich τὰ 
dem der anderen verhält, soll sich die Quantität der ihm zugeteilten 
Speisen zu der Quantität der den anderen zugeteilten Speisen ver- 
halten, sondern so wie sich sein Leib rücksichtlich der Gesundheit 
zu denen der anderen verhält. Vgl. Anm. 122. 

84) S. 102. Vgl. 482 A. | 

85) 5, 104. Hier erfolgt eine überraschende Wendung. So- 
krates nämlich hätte auch in gewöhnlicher Art die Merkmale des 
φρόνιμο: erkunden können. Aber er hat absichtlich erst als charak- 
teristisch für den φρόνιμος die Berechtigung über andere zu herrschen 
durch Kallikles hervorheben lassen, um nun in drastischem Gegen- 
satz zu der Herrschaft über andere das eigentlich entscheidende 


Anmerkungen. 177 


Merkmal des φρόνιμος einzuführen, nämlich die Herrschaft über sich 
selbst. Eine sehr wirkungsvolle Zuspitzung. 

86) S, 104. Vgl. 488 Ὁ, 

51) S, 105. Bedürfnislosigkeit ist ein Vorzug der Götter, kann 
aber auch ein menschliches Ideal sein, wie Antisthenes zeigt. 

88) S. 106. Diese Sentenz fand sich in zwei Stücken des Euri- 
pides, die beide verloren sind. Das eine war der Phrixos, das andere 
der Polyidos. 

80) S. 106. Die Deutung des Körpers als Grabmal mit dem 
Wortspiel σῶμα---σῆμα scheint orphischen Ursprungs zu sein. Man 
vergleiche dazu die Zeilen Schillers aus Ideal und Leben: „Ehe 
μα zum traur'gen Sarkophage die Unsterbliche (ἃ. 1. die Seele) 
herunterstieg“. Im übrigen haben wir es mit pythagoreischen Gleich- 
nisreden zu tun, und zwar ist der angedeutete Gewährsmann aller 
Wahrscheinlichkeit nach der berühmte Pythagoreer Philolaos, 
der aus seiner Heimat in Unteritalien zu Sokrates’ Zeiten nach 
Theben auswanderte. In dem Vergleich wird von dem wirklichen 
Hades (Danaiden) auf den figürlichen Hades gefolgert, in dem wir 
uns befinden, denn wir sind ja eigentlich tot. Daher auch die aus- 
drückliche Etymologie des Wortes Hades. Das Wortspiel zidos 
(Fab)—nıdarov— πειστικόν habe ich in teilweisem Anschluß an frühere 
Übersetzer, so gut es gehen wollte, wiederzugeben versucht. 

90) S. 107. Damit ist nicht eine weitere pythagoreische Gleich- 
nisrede gemeint, sondern nur eine solche ähnlichen Charakters, ähn- 
licher Färbung, und zwar stammt das Gleichnis von niemandem 
anders als von Sokrates selbst. Das hat Hirzel in s. Aufsatz Py- 
thagoreisches in Pl. Gorgias p. 13f. klar gezeigt oder wieder gezeigt, 
denn schon Olympiodor und der Scholiast geben diese Deutung. 

91) S. 107. Man streicht das lästige καὶ χαλεπὰ als angeblichen 
Einschub. Der Begriff, der hier allein am Platze ist, ist der des 
Verborgenen. Und diesen erhält man, wenn man für καὶ χαλεπά 
schreibt καὶ καλυπτά, ein Wort, das sehr leicht mit χαλεπά ver- 
wechselt werden konnte. Dieser meiner Vermutung gemäß habe 
ich denn übersetzt. | 

92) S. 108. Mit dem Jucken bei Krätze wird auch im Philebos 
(46 A ff.) exemplifiziert, der überhaupt viel Verwandtes enthält. 

98). S. 110. S. 491 A. 

%) S. 111. Man hat für das handschriftliche τοῦ ἀγαϑοῦ hier 
einsetzen zu müssen geglaubt τοῦ ἡδέος. Allein Sokrates nimmt die 
Gleichung ἡδύ — ἀγαϑόν (495 A) für gültig, wozu er nach dem Vori- 
gen durchaus berechtigt ist, und sagt darum für ἡδύ gleich ayador, 
wodurch die Rede viel energischer “wird. 

8) S. 111. Vgl. Anm. 32 c.63. Plat. Aufs. p. 995. 

96) S. 111. Der nun folgende Beweis ist ein Hauptbeispiel 
kaptiöser Argumentation, denn die Ausdrücke κακῶς und εὖ πράττειν 
bedeuten nach dem gewöhnlichen griechischen Sprachgebrauche 
nichts anderes als übles und gutes Befinden, also Unlust und Lust. 
Sie können aber auch den ethischen Sinn des schlecht und gut 
Handelns haben. Diese Zweideutigkeit wird hier ausgenutzt, wie 
denn überhaupt mit dem Begriff des ἀγαϑόν im ganzen Dialog etwas 
willkürlich umgegangen wird. Vgl, Charm. 172A. Anm. 34 u. 120. 


Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148, | 12 


178 Anmerkungen. 


”) S. 112, Vgl. 494B. Ganz ähnlich wird im Philebos (31 Ef., 
34 Cff.) die Vereinigung widersprechender Zustände beim Ablauf der 
Lustgefühle dargelegt. 

es) S, 113. Vel. 495 E. 

®).S. 114. Kallikles gibt sich den Anschein sich nur mit den 
großen Fragen des Lebens zu befassen, während er die kleinen dem 
Sokrates überläßt. Darüber scherzt Sokrates durch den Vergleich 
mit den Mysterien, Zu den großen Mysterien nämlich konnte man 
nur Zutritt finden, wenn man zuvor in die kleinen Mysterien ein- 
er war. Kallikles überspringt gewissermaßen die kleinen 

Iysterien. 

100) Κ΄, 115. Man hat in dem Ausdruck παρουσία wie weiter- 
hin in den Ausdrücken παρεῖναι, παραγίγνεσθαι (498 D, 506 C) eine 
Andeutung der Ideenlehre erkennen wollen. Gegen diese Auffassung 
spricht schon der Plural in ἀγαϑῶν παρουσίᾳ. Vgl. auch ἀρετῆς τινος 
παραγενομένης 506 D. Auch Soph. 247 A (von den Materialisten). 

101) S. 115. Vgl. 491 BC. Der folgende Beweis, an sich schon 
sehr gezwungen, beruht auf der willkürlichen Voraussetzung, daß 
Kallıkles in der angezogenen Stelle bereits die volle Anerkennung 
der guten Männer als besonnener Männer im Sinne der sokratischen 
Ethik vollzogen hätte. | 

102).8..117. Vgl: 497 E. 

108) δ, 118. Vgl. 498BC, 

104) Κ᾽ 118. Mit etwas gezwungener Verstellung tritt Kallikles 
den Rückzug an. | 

106) S. 120. Vgl. 468B. 

106) S. 123. Kinesias, ein von den Komikern mehrfach ver- 
spotteter Dithyrambendichter. Auch sein Vater Meles entging nicht 
dem Spott der Komödie, 

107) δ᾽ 123. Mit der Tragödie ging Platon bekanntlich auch 
in der Republik sowie in den Gesetzen sehr scharf ins Gericht. 

108) S. 125. Platon erkennt also die Möglichkeit einer guten 
und echten Rhetorik, deren Charakter er genau kennzeichnet, hier 
ebenso an wie im Phaidros, wo er sie nur von einem anderen Ge- 
sichtspunkt aus charakterisiert. Vgl. dazu auch 517 A. 

1090) S. 126. Es ist wohl zu beachten, daß Aristides hier nicht‘ 
mit genannt wird, dem vielmehr 526 B ein hervorragendes Lob ge- 
spendet wird. 

) S. 126. Vgl. 491 Ef. 
111) S. 126. Vgl. 499 Ef. 
) 8. 127. Vgl. 500 A ff. 

118) S. 128. Dazu vgl. meine Plat. Aufs. p. 153. 

114) S. 129, Vgl. 491 Καὶ 

115) Κὶς, 130. „Finer Sache den Kopf aufsetzen“ war eine den 
(riechen ἀρ αν Wendung für „etwas fertig machen“, 

HG 130. Epicharmos von Kos, seit der Zeit der Perser- 
kriege in Syrakus wohnhaft, war ein berühmter Komödiendichter, 
zugleich ein philosophischer Kopf. 

117) ὦ, 130. Die guten Handschriften haben hier alle reorhocnusr 
(nicht ποιήσομεν wie die Ausgaben), was ich für richtig halte rach 
Krüger ὃ 54, 12, 3. Danach habe ich übersetzt. 

1186) αὶ 131. Vgl. Anm. 72. 


Anmerkungen. 179 


119) S. 132. Maß und Ordnung sind für Platon die Grund- 
bedingungen aller Schönheit, Vollkommenheit und Tugend, Vgl. 
meine Plat. Aufs. 111 Π᾿ 

120) S, 133. In diese Ausführung spielt wieder die Zweideutig- 
keit des εὖ und κακῶς πράττειν herein. Vgl. Anm. 96. 

121) S, 133. Damit sind wohl vor allem Pythagoras (582 bis 
500) und Empedokles (490—430) gemeint, deren ersterer die Har- 
monie als Seele der Welt betrachtete, letzterer die Liebe und den 
Streit als die bildenden Grundkräfte ansah. 

122) S. 134. Die auch in den Gesetzen (VI, 757 B) gepriesene 
geometrische Gleichheit (Gleichheit, nach geometrischer Proportion) 
ist das Prinzip der Verteilung von Amtern und Ehren im Staat nach 
Leistungsfähigkeit und Würdigkeit, im Gerensatz zu dem alles nivel- 
lierenden Prinzip der arithmetischen Gleichheit, die einfach nach 
Köpfen zählt. Aristoteles, der gleichfalls der geometrischen Gleich- 
heit das größte Gewicht beilegt, hat es zur Grundlage seiner aus- 
teilenden Gerechtigkeit, der justitia distributiva gemacht, Vgl. 
Anm. 88. 

133) S. 134. Vgl. 497E, 

124) S. 136. Bemerkenswert ist hier der Begriff der ἄσκησις 
neben dem der μάϑησις in bezug auf die Erwerbung der Tugend. 
Das bedeutet einen Schritt über Sokrates hinaus, dem das bloße 
Wissen genügte. Auch 507 CD findet sich schon eine Andeutung. 

185) S. 139. Vgl. Anm. 68. 

126) S. 139. Dieser philosophische Steuermann, wie man ihn 
nennen möchte, ist von Platon vortrefflich und mit großer Kunst 
gezeichnet. Vgl. meine Plat. Aufs. p. 157ff. 

127) S, 142. Die Masse der Hörer läßt sich von dem Redner 
hinreißen, ohne doch gründlich überzeugt zu sein. Ähnlich hier 
Kallikles. 

128) S. 143. Vgl. 504 DE. 

122) S. 145. Ein Sprichwort, mit dem man die Verkehrtheit 
derer kennzeichnete, die über alle Vorübungen wegsehen zu können 
glaubten. Unter Faß ist hier ein tönernes zu verstehen. 

180) S. 146. Perikles ist es gewesen, der die Besoldung der 
Richter, vielleicht auch die der Ratsmitglieder einführte. 

181) S. 146. Damit sind die Spartanerfreunde in Athen gemeint. 

182) S. 147. Vgl. 515 Ὁ, auch 460 Dff. 

18) S. 147. Od. 6, 120. | 

154) S. 148. Kimon wurde wegen seiner Spartanerfreundlich- 
keit im J. 461 durch Ostrakismus aus Athen entfernt, aber 457 wieder 
zurückberufen, 

155) S. 148. Miltiades wurde wegen seines unglücklichen Zuges 
gegen Paros zu harter Strafe verurteilt. 

186) S. 149, Vgl. Anm. 108. 

137) S. 150. Mithaikos aus Syrakus war Verfasser eines Koch- 
buchs. Bei seinen [,andsleuten stand die Kochkunst in hohen Ehren. 
138) S. 150. Sarambos war ein bekannter Weinhändler. 

180) S. 152. Solchem Undank geben einige nette Geschichtchen 
Ausdruck, die sich zwischen Lehrern und Schülern, z. B. zwischen 
Korax und Tisias, sowie zwischen Protagoras und Euathlos abge- 
spielt haben sollen. 


12* 


180 Anmerkungen. 


140) S, 152. Das bezieht sich auf den Vorwurt, den Kallikles 
482 C gegen Sokrates ausgesprochen hatte. er sei ein wirklicher 
Volksredner. 

141) S. 153. Vel. 465 C. 

142) S. 154. Nämlich: Wer durch seine Lehrer die Langsam- 
keit losgeworden ist, der ist dadurch noch nicht auch die Unge- 
rechtigkeit losgeworden. Wer aber durch seine Lehrer die letztere 
losgeworden ist, der kann nicht mehr Unrecht tun. | 

148) S. 155. Die Myser waren besonders verachtete Sklaven 
und als solche sprichwörtlich geworden. 

14) S. 155. Vgl. 486 B, 511 A. 

145) S. 156. Hier tritt nun die Beziehung auf das Ende des 
Sokrates ganz klar hervor. 

146) S. 156. Vgl. 464 D. 

142) S. 157. Wennich vor Gericht sage: δικαέως ταῦτα λέγω, 
so ist das eigentlich nicht ein mir zustehendes, sondern ein den 
Richtern zustehendes Urteil. Das ist der Sinn der Stelle, die man 
gründlich mißverstanden und ihrer Pointe beraubt hat. Sokrates 
will dartun, daß sein Schicksal nicht in seiner, sondern in der 
Hand der Richter liege, deren Urteil er über sich ergehen lassen 
muß. Er folgert so: Ich habe mich ununterbrochen um das sittliche 
Wohl meiner Mitbürger bemüht; gleichwohl wäre es ganz nutzlos, 
Jetzt vor euch, ihr Richter, zu sagen: Δικαίως λέγω καὶ πράττω (80 
ist mit Sauppe zu interpungieren und zu ὑμέτερον ein Eorıw zu denken), 
denn dieses Urteil steht allein euch zu. Mein Schicksal hängt ja 
ganz von euch ab. Das gibt einen bündigen Schluß. Dagegen ist 
„ich handle in euerem Interesse“ hier ganz unangebracht. Ver- 
anlaßt ist diese irrtümliche Auffassung durch die falsche Beziehung 
auf Apol. 31 B, wo das za ὑμέτευα πράττω gar nicht auf die Richter, 
sondern auf die Gesamtheit der Bürger geht. 

148) S. 158. Vgl. 509 Bf. 

149) Κ΄, 158. Ἄκουε δή waren die Worte, mit denen man gern 
eine Erzählung begann. Der nun folgende Mythos — einer der 
eschatologischen Mythen wie am Schluß des Phaidon — ist mit Be- 
nutzung von Reminiszenzen aus Homer und den Orphikern sehr sinn- 
voll aufgebaut. Der Blick in das Jenseits soll die völlige Furcht- 
losigkeit des Sokrates vor dem Tode und sein Vertrauen auf, sein 
Schicksal im anderen Leben begründen, von dem er nichts UÜbles 
zu erwarten hat, da er sich keines Unrechts bewußt ist. 

150) αὶ 161. Eigentlich „krumm“, σκολιά. Vgl. J. Paul, Levana 
8 113 „seelenkrümmende Gewohnheiten“ und Schiller, Resignation: 


Hier — spricht man — warten Schrecken auf den Bösen 
Und Freuden auf den Redlichen. 

Des Herzens Krümmen werdest du entblößen, 

Der Vorsicht Rätsel werdest du mir lösen 

Und Rechnung. halten mit dem Leidenden. 


151) 8. 163. Vgl. Anm, 109. 
15) ἢ, 164. Od. 11, 569. 
153) S, 164. Vgi. 5080. 
154) S, 165. Vgl. 459 E. 


nt nn TE u 


Register. 


A. B. 
Aakos 160#. Baukunst 48. 126. 143f. 
Abfassungszeit des Dialogs 10ff. | Begierden 104ff, 133. 
Acharnä 111. Begriffsbestimmungen 44. 169. 
Agina, Insel 140. Belieben und Wollen 59ff. 171f 
Aoina, Mutter des Aakos 164. Besonnenheit 152 Ὁ, 
Aclaophon 27. 169. Besser und stärker 98f. 100. B. und 
Aegypten 140. tüchtiger 100f. 141. 


Alexander, Perdikkas II Sohn 68. | Beweisverfahren 12. 
Alketas, Bruder des Perdikkas 67f. | Bezahlung für Belehrung 152. 154. 


Alkıbiades 88. 151. 168. Bildhauerei 31. 
Alopeke 111. Bonitz, EL 7. 
Amphion 94. 131. Böse, das 47; s. schlecht. 


Anaxagoras 57 171. > 
Andron, Sohn des Androtion 96. Ü. 
Angenehm 74f. dist. gut 109ff. | Chairephon 12, 168. 


> 


131f.; s. Lust. | Charikles 168. 
Anubis 89. 175. Chorlieder 123. 
Anytos 10. |Chronologisches 9f. 
Archedemos 9. ı Cousin, V. 2. 
Archelaos, König von Makedonien | D 
16. 67ff. 70. 83. 84f. 162. 173. | Darius 91 Ἢ 
ΠΥ τ Definition, ihre Wichtigkeit 44. 
’ | Demokrit 172. 
Akon: er Demos, Sohn des Pyrilampes 88. 
\ 142. 
2. 
par en 2 εὖ Dialog Gorgias, Zweck und Form 
Be lad 2ff. Inhalt und Gliederung 12ff. 


Arzt, der 8. 27. 34f. 40. 42f. 46. Dichtkunst als Volksrednerei 124. 


BEIGE 16. 81.588. 86. 86. 1017. | Diongsorheiligiaumg SR; τ 
127. 129. 141. 144. 155. A, und , Pithyrambendichtung 123. 


Koch 56. 156f. Durst als Mischung von Lust und 
Asien 160. 161. Unlust 1121. 
Astronomie 33. 
Athen 4ff. 11. 51. 138, RB. 
Athener 69. 88. 125f. 141. 14öff. | Finsichtige, der 101f. 115. 

151. . Empedokles 133. 179. 
Augenkrankheit 111. | Epicharmos 130. 178. 


Ausgaben des Dialogs 22.  Erfahrenheit: 52. 


152 


Erfahrung 27; beruht auf Erinne- 

rung 122. 
Erkenntnis 39. 
Erwerbskunst 34f. 811. 
Euripides 93. 94. 106. 176. 177. 
Europa 160. 

F. 

Familienstolz 141. 
Faustkampf 42f. 
Feigheit 79, 104. 115#f. 
Flötenspiel 123. 
Freimut 96. 
Freundschaft 133. 137E. 
Frömmigkeit 132, 


&. 


Gemeinschaft 133. 

Geometrie 32. 134; s. Gleichheit. 

Gerade und ungerade Zahlen 33f. 
49. 

Gerechtigkeit 98. 132ff. 165f. 

Geryones 92. 

Gesetze, Schutz der Schwachen 
Y0f.; s. Satzung. 

Gesetzgebung δῖ, 98f. 153. 

Gesetzlichkeit 128. 

Gesundheit 128. 

Glauben und Wissen 39f. 170. 

Gleichheit (s. Recht), geometrische 
101f. 134. 176. 179. 

Glück und Unglück 67ff. 72f. 85. 
105£. 133. 

Goethe 171. 

Gorgias 4. 167. 

Gott 132, 153. 141. 

Großkönig 67. 161. 173. 

Gute, das 47. 60ff. 120. 131ff. 151. 
172. 177; dist. Angenehm 109 ff. 
131f. Güter dreierlei 80. 

Gutdünken und Wollen 59 ΕΓ 171. 

Gymnastik 30. 5öf. 150f. 153. 


Η. 


Hades 106. 1588. 177. 
Häßlichkeit 47. 75£. 79. 
Heilbarkeit der Seele 162 ff. 


Register. 


Hirtenkunst 147. 

Homer 29. 94. 147. 158. 162. 164. 

Hunger als Mischung von Lust 
und Unlust 112 


I. 
Ideenlehre 178. 
Induction 48. 126f. 
Inseln der Seligen 159. 164. 


K. 


Kallikles 4. 5. 7. 8. 12. 17. 168. 

Kampfkunst 42f. 

Kant 171. 172£. 

Kenner und Nichtkenner 46ft. 

Kimon 126. 146. 148. 151. 179. 

Kinesias 123. 178. 

Kleopatra 68. 

Kochkunst 53ff. 120ff. 171. Koch 
und Arzt 56. 156f. 

' Korinthischer Landmann 1. 

Körper s. Leib, 

Krankheit 79f. 

Krätze 108. 

 Kriegsmaschinenbauer 140f. 

Kritias 168. 

Kriton 9. 

Kronos 158f. 

Künste 27f. 30ff, 37f. δδΗ. 143. 


L. 


Landwirtschaft 102. 
Leben, sein Wert 128. 139ff. 


| Lebensrichtungen und Lebensauf- 


gabe 3f. 17. 44f. 97. 121. 

Leib, seine Pflege55 ff. 79.127 8.143. 
150; als Grabmal 106. 177. Be- 
schaffenheit rach dem Tode 160, 

Leiden und Tun 77ff. 

Libanius 10f. 

Literaturübersicht 22ff. 

'Lust 74f. 82. 104ff. 


M. 


Macht 58ff. 138. 172. 
Malerei 27. 31. 37. 126. 
Märchen 1291. 158. 
Maß 132. 179. 
Mathematik 57. 


Heilkunde 27. 30. 48. 55ff. 81f, | Mechaniker 141. 


120ff. 150. 153. 
Herakles 92. 


Herodikus 27. 42. 169. 


Meles 123. 178. 
Menge, die große 38. 46. 142 
Menon, Dialog 12. 


Register. 


Menschen, Bedingung ihres gegen- 
seitigen Verständnisses 87f. 

Miltiades 126. 146. 148, 179. 

Minos 160ff. 164. 

Mithaikos, Koch 150. 179. 

Mittel und Zweck 61fl. 171. 

Musik 30. 48. 74. 123. 

Myser 155. 180. 

Mysterien, große u. kleine 114. 178. 


N. 


Natur, unterschieden von Satzung 
17. 904. 99. 175. 

Nausikydes aus Cholargeis 96. 

Nikias 69, 173. 

Nützliche, das 74ft, 82. 119. 173. 


0. 


Olympiodoros 2f. 168f. 169. 177, 

Ordnung als Bedingung der Voll- 
kommenheit 127f. 132. 

Orphiker 177. 180. 

Ort der Unterredung 169. 


pP. 


Pankration, Vereinigung von Faust- 
und Ringkampf 42. 

Perdikkas II. König von Make- 
donien 67. 

Perikles 10. 41. 69. 126. 146fl. 
151. 173. 179. 

Philolaos 106f. 177. 

Philosophie 8f. 88f. 92ff. 176; 
der Philosoph im Hades 163f. 

Pindar 92. 98. 176. 

Platon, seine Kunst 4ft, 

Pluton 158f. 

Politik 54f. 55df. 

Polos 4. 5. 168. 

Polygnotos 27. 169. 

Polykrates, Sophist10f. 

Pontos 140. 

Poseidon 1588. 

Prometheus 159. 

Proportion, geometr. 101f. 176. 

Protagoras, Dialog 12. 

Prüfstein der Seele 95f. 

Putzkunst 52. 57. 

Pyrilampes 88. 

Pythagorasu. Pythagoreer 177.179. 

Pythischer Hain 69. 


185 


R. 


Rechenkunst 32. 88, 169. 

Recht (und Unrecht) 38. 47f. 63 fl. 
82. R. als Gleichheit 91. 99. R. 
des Stärkeren 91f. 98. 

Rechthaberei im Disputieren 44. 

Rechtspflege 56. 

Reden, lange 29, 58, 

Reichtum 61. 

Rhadamanthys 160 ff. 

Rhetorik und Philosophie 1. 88, 
Vermeintlicher Nutzen 85f.Mib- 
brauch 43, Definitionsversuche 
33f. 36ff. (Überredung), 47. 
52ff. (Erfahrenheit). 40 (Defini- 
tion des Sokrates). Echte Rh. 1f. 
11. 36. 125ff. 149. 178, 

Richter 85f. 157,180; in der Unter- 
welt 189 ἢ, 


S. 


Sarambos, Krämer 150. 179. 

Satzung und Natur 17. 90ff. 99 
175. 

Schädlichkeit 119. 

Schamgefühl 50. 89f. 96. 99. 108. 
134. 

Schiffsbauer 40. 126. 

Schiller 173. 175. 177. 180. 

Schlechtigkeit 61ft. τὸ ἢ, 79f. 119. 
155. 174; vgl. Übel. 

Schleierniacher 2. 

Schmeichelei u. Schmeichelkunst 
54. ὅδ. 122. 142f. 155. 165. 

Schmerz 75ff. 82. 

Schöne, das 47, 74f. 77. 118. 132. 

Schuhmacher 26 102 ἢ. 1173. 

Seele. 55 ff. 143. 149f. (ihre Pflege). 
' 127£. (ihre Vollkommenheit). 79f. 
(ihre Schlechtigkeit). 96f (Mög- 
lichkeit ihrer Prüfung). 106f. 
(Vergleich mit Faß und Sieb). 
161ff. (Zustand nach dem Tode). 

Selbstbeherrschung 104 ff. 

Selbsthilfe 90. 94f. 135 ff. 158. 175. 

Sententiöses126(Suchenu.Finden). 

Simiche, Mutter des Archelaos 67, 

syphos 163, 1173. 

olion 34. 169, 


‚Si 
Sk 
| Sokrates 2..6£.; als Elenktiker 44, 


184 Register, 


114. 130. 145; als Politiker 72, 
156; als Volksredner 89. 108. | Unrecht 38. 47f. 68. 
Hindeutung auf seinen Tod 94f, | Unrechtleiden, Schutz dagegen 
156ff. Der wirkliche 8. 9. 102.| 137ff. 
Sophistik .52. 57. 152ff. Unrechttun und Unrechtleiden 2. 
Sprachstatistik 12. 8. 16ff. 658. TIff. 89. 90f. 99. 
Sprichwörter 25. 118f. 129f. 145.| 134ff. 165. 
Staatskunst 54f.; 8. Politik. Unwissenheit 79. 
Staatsmänner 4f. 7f. 93. 103. 142. V. 
or. 10217. (vegplichanisieit) Vergeltungstheorie 78f. 174, 
en Sophisten). v -- ΤΑΝ δ Aalsnehr 
Stärker und besser 98ff. Baer Toto 31 
ermögen 136. 


Unordnung 197. 


reger der philosophische Vernünftige, der 115ff. 


Strafe, als Besserungsmittel 70Off. | W. 
δι, 82ff. 129. 162. 165. 174. | Wagenlenker 148. 


Strategik 40. Wahrheit 69. 71. 130. 
Walker 103. 

T. \Veber 102. 
Tantalos 162. Weberkunst 29. 
Tartaros 159#. Weiberweisheit 141. 164. 
Tapferkeit 110. 115ff. 132. Weltganzes und Weltordnung 134. 
Tätigkeit τύ ἢ, (Wille) Wollen u. Gutdünken 59 ff. 
Themistokles 41. 126. 146. 148. 171. 
Theorion, Bäcker 150. Wissen 39f. 110f. 170 (u. Glaube). 
Thersites 1621. Wissenschaften 74. 
Thessalierinnen (Zauberinnen) 142. Wohlgestalt 127. 182 (Bedingung 
Tisandros aus Aphidnä 96. der Vollkommenheit). 
Tityos 162. | Wohlwollen 96. 
Tod 158. 160 (definiert). x 
Tragödiendichtung 123f. 178. Ä ᾿ 
Trinklied (Skolion) 34. ren phon ΜΝ 
Tugend 128. 131. 136.141.166.179 | Xerxes 91, 
Tun und Leiden 77ff. 174. 2. 


Turnlehrer 34f. 55. 127. 154. Zethos 94. 100. 131. 
Tyrannen 60ff. 64. 72. 83. 105. Zeugenbeweis 69f. 73. 
137£. 162. Zeus 120. 153. 158ff. 

| Zeuxis 36f. 170. 


Ἷ υ. Zitherspiel 193. 

Übel 60ff. 81. 84, 135. Züchtigung 78. 129. 133; s. Strafe, 
Ubermensch, der 91f. Zuchtlosigkeit 133. 

UÜberredung 36ft. Zusatzanträge 169. 
UÜbervorteilung 90f. Zweck und Mittel 61#. 171. 
Ungerechtigkeit 79. 81. 84. Zweideutigkeiten im Gebrauch der 


Unlust 113; 8. Schmerz. Worte 172. 177. 178. 179. 


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